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Full text of "Forschungen zur Alten Geschichte"

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■|  I     Forschungen 


zur 


Alten  Geschichte 


I. 


II 


VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER,  HALLE  A.  S. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2012  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://archive.org/details/forschungenzura01meye 


Y 


FORSCHUNGEN 


ZUR 


ALTEN  GESCHICHTE 


VON 


EDUARD    MEYER. 


ERSTER  BAND. 
ZUR  ÄLTEREN  GRIECHISCHEN  GESCHICHTE. 


19  'Hi 


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HALLE  A.S. 
MAX    NIEMEYER 

1892. 


51 


Vorwort 


Die  in  diesem  Bande  vereinigten  Aufsätze  bilden  eine 
Ergänzung  zum  zweiten  Bande  meiner  „Geschichte  des  Alter- 
thums"1);  sie  behandeln  Fragen,  die  eine  eingehendere  Unter- 
suchung erforderten,  als  sie  im  Rahmen  des  grösseren  Werks 
möglich  war.  Mit  Ausnahme  der  letzten  tragen  alle  diese 
Abhandlungen  —  von  denen  die  über  die  Ionier  und  die 
über  Lykurg  bereits  früher  veröffentlicht  sind;  letztere  hat 
jetzt  umfangreiche  Zusätze  erhalten  —  in  ihren  Ergebnissen 
den  negativen  Charakter,  der  kritischen  Vorarbeiten  auf  dem 
Gebiete  der  älteren  griechischen  Geschichte  stets  anhaften 
wird.  Wer  die  Denkmäler  der  Urzeit  kennen  lernen  will, 
muss  in  die  Tiefe  graben  und  den  Schutt  schichtenweise  ab- 
tragen. Dem  wird  mancher  hübsche  Anbau  späterer  Zeit  zum 
Opfer  fallen,  manches  pittoreske  Landschaftsbild  wird  gestört 
und  umgestaltet  werden.  Von  ästhetischem  Gesichtspunkt  aus 
mag  man  darüber  klagen;  aber  wissenschaftlich  kann  gegen 
die  Männer  kein  Vorwurf  erhoben  werden,  welche  das  römische 
Forum  oder  die  Akropolis  oder  den  Palast  von  Tiryns  aus- 
gegraben haben,  wenn  sie  methodisch  verfahren  sind  und  die 
weggeräumten  Trümmer   sorgfältig   inventarisirt  haben,   es  sei 

1)  Der  Druck  hat  bereits  begonnen,  ich  hoffe  dass  er  im  Laufe  des 
nächsten  Jahres  erscheinen  wird.  Ich  habe  daher  mehrfach  bereits  auf  die 
Paragraphen  desselben  verwiesen. 


denn,  dass  der  antiquarische!]  Forschung  zu  Liebe  Denkmäler 
einer  späteren  Zeit  zerstört  werden,  deren  Erhaltung  das  histo- 
rische Interesse  verlangt.  Nicht  anders  hat  die  Erforschung 
der  griechischen,  römischen,  hebräischen,  germanischen  Urzeit 
zu  verfahren;  und  hier  ergibt  sich  noch  der  Vortheil,  dass  die 
Legenden,  die  sie  beseitigt,  nicht  vernichtet  werden,  sondern 
intakt  erhalten  bleiben.  Wen  es  danach  gelüstet,  der  kann 
sich  nach  wie  vor  an  ihnen  erbauen.  Der  Vorwurf  destruetiver 
Kritik,  der  gegen  dies  Verfahren  nicht  selten  erhoben  wird, 
ist  durchaus  unberechtigt.  Wer  die  Geschichte  der  Vergangen- 
heit wieder  aufbauen  will,  muss  zunächst  sichere  Fundamente 
gewinnen,  sonst  steht  sein  Haus  auf  Sand,  und  jeder  Wind- 
stoss  wirft  es  um. 

Halle  a.S.  im  October  1892. 

Eduard  Meyer. 


Inhalt. 


Seite 

Die  Pelasger l 

Vorbemerkungen     3 

Erstes    Kapitel.      Die    Pelasger    in    Attika    und    auf 

Lemnos 6 

Zweites   Kapitel.     Die   Pelasger   in  Thessalien,   Do- 

dona  und  Kreta 29 

1.  Die  Pelasger  in  Thessalien 29 

2.  Der  pelasgische  Zeus  von  Dodona 37 

3.  Die  Pelasger  auf  Kreta       47 

Die  Quellen  der  Angaben  über  Dodona  bei  Strabo,  Stephanus 

von  Byzanz    und  in  den  Hoinerscholien 50 

Drittes  Kapitel.    Pelasgos  in  Arkadien.    Die  Lykaon- 

sagen 53 

Viertes  Kapitel.    Pelasgos  in  Argos.    Io  und  die  Da- 

naiden.     Der  argi  vis  che  Stammbaum 67 

Beilage.     Pron  und  Haliaia  in  Argos 101 

Fünftes  Kapitel.    Pelasgos  in  Thessalien 105 

Sechstes  Kapitel.     Ergebnisse.     Geschichte  derPe- 

lasgerfrage 112 

Die  Herkunft  der  lonier  und  die  Ionsage 125 

Herodots   Chronologie    der    griechischen   Sagengeschichte. 
Mit  Excursen  zur  Geschichte  der  griechischen  Chronographie 

und  Historiographie 151 

Anhänge.     I.  Ist  Herodots  Geschichtswerk  vollendet?    ....  189 

2.  Herodots  Sprachkenntnisse 192 

3.  Herodot  von  Thurii 196 

4.  Sardanapals  Grabschrift 203 


VI 

Seite 

Lykurgos  von  Sparta 21 1 

Vorbemerkungen 213 

T.   Die   Darstellung   des   Ephoros  und  Pausanias'  Schrift  über 

Lykurg 215 

II.    Der  Ursprung   des  Ephorats  und   die  lykurgische  Landauf- 
teilung .     .  ' 244 

III.  Die  lykurgischen  Rhetren 261 

IV.  Die  Ausbildung  der  Lyknrglegende 269 

Anhang.    Die  Stammbäume  der  lakonischen  Königshäuser  .     .     .  283 

Drei  lokrische  Gesetze 287 

Vorbemerkungen 289 

I.   Gesetz  über  eine  Colonie  nach  Naupaktos 291 

Excurs:    Athen  und  Attika 305 

IIA.   Rechtsvertrag  zwischen  Oianthea  und  Chaleion       ....  307 

IIB.   Satzungen  des  Fremdenrechts Hl 2 

Nachträge  und  Berichtigungen 317 

Index 319 


Die  Pelasger. 


Meyer,    Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1. 


Vorbemerkungen. 


Die  Ansicht  über  die  Pelasger,  welche  das  Resultat  der 
folgenden  Untersuchungen  bildet,  steht  mir  im  wesentlichen 
fest,  seit  ich  im  Wintersemester  1879/80  zum  ersten  Male  grie- 
chische Geschichte  vorgetragen  habe.  Seitdem  bin  ich  oft  auf 
den  Gegenstand  zurückgekommen  und  habe  die  Untersuchung 
erweitert  und  vertieft.  Den  Plan,  sie  schriftlich  auszuarbeiten, 
habe  ich  erst  im  Herbst  1888,  bei  den  Vorarbeiten  zum  zweiten 
Bande  meiner  Geschichte  des  Alterthums,  ausführen  können: 
damals  ist  die  Abhandlung  im  wesentlichen  so  wie  sie  hier 
vorliegt  niedergeschrieben.1) 

Dass  die  Pelasgerfrage  nur  durch  eine  literarhistorische 
Untersuchung  gelöst  werden  könne,  ist  in  neuerer  Zeit  wieder- 
holt ausgesprochen  worden,  und  Anläufe  zu  einer  derartigen 
Behandlung  sind  ja  auch  gemacht  worden.  Aber  gefördert 
haben  sie  die  Erkenntniss  nicht:  denn  sie  beginnen  da  wo  sie 
aufhören  sollten.  Sie  referiren  und  discutiren  noch  einmal 
wieder  die  Ansichten  des  Herodot  und  Hellanikos  und  gar 
des  Dionys  und  Strabo,  als  ob  damit  auch  nur  ein  Schritt  vor- 
wärts zu  kommen  wäre.  Nicht  darum  handelt  es  sich,  wie 
man  in  Griechenland  seit  dem  fünften  Jahrhundert  über  die 
Frage  gedacht  hat,  sondern  wie  die  Logographen  und  die  Tra- 
giker zu  ihrer  Ansicht  gekommen  sind,  wie  beschaffen  das 
Material  gewesen  ist,  welches  sie  benutzten.  Die  Darstellung 
der  Epen,  der  homerischen  wie  der  genealogischen  Poesie,  gilt 
es  wiederzugewinnen,   ihre  Entstehung  und  die  wahre  Bedeu- 


])  Das   erste  Capitel  habe   ich  damals  im  Philologus  N.  F.  II  1889 
publicirt. 

1* 


tun-  ihrer  Angaben  zu  ermitteln.  Das  gleiche  gilt  überhaupt 
von  der  ganzen  sagengeschichtlichen  Ueberlieferung:  wer  nicht 
versucht  hat,  der  literarischen  Entwicklung,  welche  dieselbe 
bis  zum  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  durchgemacht  hat, 
bis  ins  kleinste  nachzugeben,  wird  immer  Gefahr  laufen,  zu 
irren,  und  wem  nicht  wenigstens  die  Grundziige  lebendig  sind, 
der  kann  ein  richtiges  Urtheil  über  griechische  Mythologie  und 
älteste  griechische  Geschichte  überhaupt  nicht  gewinnen. 

Die  Anschauung,  welche  ich  mir  von  dieser  Entwicklung 
gebildet  habe,  weicht  von  den  herrschenden  Ansichten  beträcht- 
lich ab.  Meiner  Meinung  nach  ist  der  Bestand  an  wirklich 
volkstümlicher  Tradition  weit  geringer,  an  individueller  Er- 
findung und  Umgestaltung  weit  grösser,  als  man  gewöhnlich 
glaubt,1)  Vor  allem  aber  unterschätzt  man  in  verhängnissvoller 
Weise  die  gelehrte  Arbeit,  welche  das  ganze  Material  wieder 
und  wieder  umgestaltet  und  zum  Theil  erst  geschaffen  hat. 
Die  genealogischen  Dichter  sind  nicht  anders  zu  beurtheilen 
als  die  Logographen  und  Ephoros.  Die  neuere  Forschung  hält 
ihre  Angaben  in  der  Regel  entweder  für  uralte  Volksüberlie- 
ferung oder  für  dreiste  Fälschung.  Beide  Schlagwörter  sind 
falsch:  es  sind  Resultate  umfassender  gelehrter  Arbeit.  Ganz 
besonders  gilt  das  von  den  Genealogien,  mit  denen  von  alten 
und  neueren  Forschern  viel  Unheil  angerichtet  ist.  Dem  Volke 
als  solchen,  d.  h.  jedem  Mitglied  der  Gesammtheit  in  gleicher 
Weise,  gehört  nur  die  alle  Lebensverhältnisse  beherrschende 
Anschauung,  dass  jede  einheitliche  Menschengruppe  von  einem 
eponymen  Ahnherrn  stammt,  und  volksthümlich  und  im  Volke 
entstanden  sind  die  Genealogien  daher,  soweit  sie  einem  ge- 
gebenen Verhältniss  seinen  für  diese  Anschauung  naturnoth- 
wendigen  Ausdruck  geben,  bei  dem  eine  andere  Auffassung 
für  alle  Betheiligten  ausgeschlossen  war,  also  im  allgemeinen 
grade  nur  da,  wo  sie  uns  etwas  lehren,  was  wir  sonst  auch 
schon  wissen  —  wie  z.  B.  die  Angabe,  dass  die  Stammväter 
der  vier  ionischen  Phylen  Söhne  Ions  waren.  Alles  weitere 
aber  hat  mit   der  „Volkstradition"    nicht   viel   mehr   zu   thun 


I)  Ich  stehe  damit  noch  nicht  auf  Niese's  Standpmict;  denn  Niese 
läugnet  überhaupt,  dass  dem  Epos  populäre  Erzählungen  zu  Grunde  liegen, 
dass  neben  dem  Dichter  eine  Sage  existirt  habe,  während  ich  glaube  eine 
fortwährende  Wechselwirkung  zwischen  beiden  annehmen  zu  müssen. 


als  in  den  mittelalterlichen  Chroniken  die  Anknüpfung  der 
Völker  und  Städte  an  das  classische  oder  hebräische  Alter- 
thirm.1)  Das  gleiche  gilt  auch  von  den  älteren  und  lebens- 
wärmeren Bestandteilen  der  Sage,  nur  dass  hier  nicht  die 
Bestrebungen  einer  in  den  Anfängen  stehenden  Forschung,  son- 
dern auf  der  einen  Seite  poetische,  auf  der  anderen  politische 
und  persönliche  Einflüsse  und  daneben  der  fortschreitende 
Wandel  der  Anschauungen  umgestaltend  und  umbildend  ge- 
wirkt haben.  Auf  diesem  Gebiete  ist  das  auch  in  manchen 
neueren  Untersuchungen  anerkannt  und  im  einzelnen  durchge- 
führt, namentlich  von  Robert  und  Wilamowitz. 

Die  Gelegenheit,  welche  die  Pelasgerfrage  bot,  umfang- 
reiche und  für  die  späteren  Anschauungen  grundlegende  Stamm- 
bäume zu  analysiren,  habe  ich  daher  nicht  vorübergehen  lassen 
mögen,  so  ermüdend  die  Einzeluntersuchung  auch  war.  Die 
literarischen  und  religionsgeschichtlichen  Ergebnisse,  zu  denen 
ich  gelangt  bin,  lohnen,  denke  ich,  die  aufgewandte  Mühe. 
Durch  manche  derselben  bin  ich  selbst  nicht  wenig  überrascht 
worden:  sie  zeigen,  wie  viel  hier  noch  zu  finden  ist,  zugleich 
aber  auch,  wie  dringend  nothwendig  es  ist,  das  gesammte  sagen- 
geschichtliche Material  sorgfältig  im  einzelnen  durchzuarbeiten: 
nur  so  können  wir  aus  dem  Tappen  im  Blinden  endlich  heraus- 
kommen und  die  Irrwege  vermeiden,  die  bei  jedem  Schritt 
verlockend  vom  Hauptpfade  ablenken.2) 

Halle  den  25.  November  1889. 


1)  Z.B.  ist  der  berühmte  Stammbaum  der  troisehen  Fürsten  F215  ff 
Zeus  —  Dardanos  —  Erichtlionios  —  Tros  —  Ilos  Assarakos  (Ganymedes) 
weder  volksthümliebe  Ueberlieferung  —  wie  sollte  das  „Volk"  darauf 
kommen,  sich  eine  derartige  Namensreihe  zusammenzustellen?  dagegen 
ist  volksthümlich  wahrscheinlich  der  schöne  Troerknabe  Ganymedes  — , 
noch  dichterische  Erfindung  (das  sind  dagegen  die  anschliessenden  Glieder 
Laomedon  —  Priamos  und  vielleicht  Kapys  —  Anchises  —  Aeneas),  son- 
dern ein  Product  individuellen  Nachdenkens,  das  wir  seiner  Tendenz  nach 
nur  als  wissenschaftliche  Thätigkeit  bezeichnen  können. 

2)  Bei  der  Drucklegung  habe  ich  in  den  drei  Jahre  vorher  abge- 
schlossenen Aufsatz  ausser  stilistischen  Aenderungen  nur  wenige  Zusätze 
eingefügt,  die  meist  durch  eckige  Klammern  bezeichnet  sind. 


Erstes    Kapitel. 
Die  Pelasger  in  Attika  und  auf  Lemnos. 

[Zuerst  gedruckt  Philologus  N.  F.  II  1889.J 


Die  Angabe,  dass  in  Attika  vor  Alters  Pelasger  ansässig" 
waren,  welche  die  Burgmauer  Athens  erbaut  haben,  ist 
scharf  zu  sondern  von  der  von  Herodot  vertretenen  Meinung, 
die  Vorfahren  der  späteren  ionischen  Athener  seien  Pelasger 
gewesen.  Diese  Annahme  ist  lediglich  eine  Folgerung,  die 
Herodot  daraus  gezogen  hat,  dass  es  Ionier  erst  gab,  seitdem 
Ion  der  Sohn  des  Xuthos  nach  Athen  gekommen  war  (VII  94. 
VIII  44);  vorher,  unter  Kranaos,  Kekrops  und  Erechtheus, 
konnten  die  Bewohner  weder  Ionier  noch  Hellenen  sein,  sie 
mussten  also  nach  Herodots  Anschauung  Pelasger  und  Barbaren 
gewesen  sein  (I  56  ff.).1) 

In  weit  späterer  Zeit,  „als  die  Athener  schon  zu  den  Hel- 
lenen zählten",2)  haben  sich,  so  berichtet  Herodot,  bei  ihnen 
Pelasger  angesiedelt  (II  51  'AdtjvaioiOL  jag  rjörj  t?]vixccvtcc  ig 
"EXXtjvaq  reXeovoi  IlsXaöyol  övvolxol  tyevovxo  Iv  rf]  x^QV  — 
ofrsvjteg  xal  °EÄfo]VctQ  r'iQ^avro  vofiio&TJvcu  fügt  er  noch  hinzu, 
da  er  weiss,  dass  seine  Theorie  von  dem  Barbarenthum  der 
Pelasger  mit  den  gangbaren  Ansichten  im  Widerspruch  steht). 
Sie  sind  nach  Attika  gekommen,  um  den  Athenern  die  Mauer 

1)  Vgl.  Kap.  6;  aus  Herodot  schöpft  Scyinnus  560. 

2)  Vgl.  VI  53  „die  Vorfahren  der  dorischen  Könige  bis  auf  Perseus 
waren  Hellenen  —  rjdrj  yag  rtjvixavza  ig  uEXfajvaq  ovxoi  ertkeov  —  wäh- 
rend die  Ahnen  der  Danae  der  Mutter  des  Perseus  echte  Aegypter  ge- 
wesen sind". 


um  die  Akropolis  zu  bauen,  und  haben  zum  Lohn  dafür  das 
Land  am  Fuss  des  Hymettos  zum  Wohnsitz  erhalten.  Dann 
werden  sie  von  den  Athenern  verjagt,  nach  Hekataeos,  weil 
diese  sahen,  dass  die  Pelasger  das  früher  werthlose  Land  gut 
bebaut  hatten  und  es  jetzt  wieder  haben  wollten  —  wie  da- 
gegen die  Athener  erzählen,  weil  die  Pelasger  ihren  Töchtern 
nachstellten,  wenn  sie  zur  Enneakrunos  Wasser  schöpfen  gingen. 
Die  Pelasger  suchen  sich  neue  Wohnsitze  und  besetzen  vor 
allem  Lemnos  (alla  rt  ö/elv  x^Q1®  xai  &)  xal  Arjfivov  —  die 
„anderen  Orte"  sind  vor  allem  Samothrake,  dessen  Bewohner 
nach  Her.  II  51  eben  dieselben  Pelasger  aus  Attika  sind,1)  und 
Imbros2)).  Von  hier  aus  überfallen  sie  die  attischen  Jungfrauen 
bei  einem  Fest  der  brauronischen  Artemis.  Was  weiter  erzählt 
wird,  wie  die  Pelasger  diese  Frauen  und  die  von  ihnen  er- 
zeugten Kinder  tödten  und  das  Orakel  ihnen  befiehlt  den 
Athenern  dafür  Genugthuung  zu  geben,  und  wie  in  Folge 
dieses  uralten  Orakelspruchs  sehr  lange  Zeit  nachher  {Ix tot 
xüqtcc  jtoXXoIoi  vortgov  tovtcov)  Lemnos  von  Miltiades  ge- 
nommen wird,  braucht  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden.3) 
An  einer  anderen  Stelle  erfahren  wir,  dass  die  Auswanderung 
der  Pelasger  nach  Lemnos  in  die  Zeit  der  Eroberung  Lako- 
niens  durch  die  Dorer  fällt,  und  dass  sie  von  hier  die  Minyer, 
Enkelkinder  der  Argonauten,  vertreiben.  Diese  wenden  sich 
dann  nach  Sparta  und  besetzen  von  hier  aus  Thera  (IV  14 5).4) 
Schon  diese  Zeitbestimmung  zeigt,  dass  wir  uns  hier  nicht 
auf  historischem,  sondern  auf  mythischem  Boden  befinden.  Die 
Kluft  zwischen  Sage  und  geschichtlicher  Erinnerung  ist  in 
der  Erzählung  Herodots  deutlich  erkennbar  und  scharf  be- 
zeichnet. Im  Uebrigen  sind  in  ihr  zwei  verschiedene  Ele- 
mente verbunden.  Der  zweite  Theil  soll  den  Ursprung  der 
Bevölkerung  von  Lemnos  erklären  und  die  Eroberung  der  Insel 
durch  die  Athener  rechtfertigen;  der  erste  Theil  erzählt  von 
Pelasgern  in  Attika  und  steht  in  untrennbarem  Zusammenhang 


1)  Herodot  benutzt  diese  Annahme,   um  den  Cultus   des  ithyphallen 
Hermes  in  Attika  und  Samothrake  zu  erklären. 

2)  Her.V2tf. 

8)  Her.  VI  137  ff.,  vgl.  I  57:  „die  Pelasger,  welche  Plakia  und  Skylake 
am  Hellespont  besiedelt  haben,  dl  ovvoixoi  eyivovzo  'A&yvaioLOi", 
4)  Daraus  entlehnt  Pausan.  VII  2?  2. 


8 

mit   der  Malier  der  Akropolis.     Wir  haben   es  fürs  erste  nur 
mit  diesem  ersten  Theile  zu  thun. 

Die  Erzählung  von  den  Pelasgern  in  Attika  gehört  weder 
dem  einheimischen  Sagenbestande  an,  noch  dem  was  die  älteren 
Dichter  als  attische  Urgeschichte  erzählten.  Weder  in  der  ge- 
nealogischen Poesie  ist  von  ihnen  die  Bede,  noch  im  attischen 
Drama,  noch  in  der  traditionellen  Stadtgeschichte,  auf  der 
Thuk.  II  15  fusst,  noch  z.  B.  bei  Aristophanes  oder  Plato  oder 
wo  man  sonst  Spuren  alter  und  ächter  einheimischer  Tradition 
suchen  könnte.  Und  doch  fliesst  grade  hier  die  Ueberlieferung 
sonst  reichlich  und  zusammenhängend  genug,  so  dass  wir  diese 
Erscheinung  nicht  durch  unser  lückenhaftes  Material  erklären 
dürfen.  Vielmehr  steht  der  Charakter  der  Pelasgererzählung 
mit  dieser  Thatsache  in  Uebereinstimmung.  Zum  Wesen  einer 
ächten  Sage  gehören  durchaus  und  in  erster  Linie  Persönlich- 
keiten: in  der  Pelasgererzählung  begegnet  uns  kein  einziger 
Name.  Der  Ursprung  der  Burgmauer  gehört  nothwendig  in 
die  Geschichte  von  der  Gründung  und  Entwickelung  der  Stadt, 
Wäre  die  Erzählung  von  dem  Mauerbau  der  Pelasger  acht,  so 
müsste  sie  unter  einen  der  stadtgründenden  Könige  gesetzt 
werden,  wie  die  von  dem  Mauerbau  der  Kyklopen  in  Tiryns 
unter  Proitos.  Statt  dessen  hinkt  sie  kläglich  nach,  nachdem 
alles  vorbei  ist;  nach  den  Thaten  des  Kekrops  Erechtheus 
Theseus  kommen  die  Pelasger,  unter  welchem  Herrscher  wissen 
wir  nicht.  Ihre  Vertreibung  ist  ebenso  zeitlos,  aber  jedenfalls 
fällt  sie  nach  dem  Tode  des  Kodros,  wo  doch  die  Sage  zu 
Ende  ist  und  die  völlige  Leere  beginnt.  Sehr  deutlich  sieht 
man,  dass  wir  es  mit  einer  späteren  Einlage  zu  thun  haben. 
Wegen  des  Alters  der  Burgmauer  musste  man  sie  möglichst 
hoch  hinaufsetzen,  aber  in  der  eigentlichen  Sagengeschichte 
war  nirgend  mehr  Platz  für  sie;  so  hat  man  sie  ans  Ende 
derselben  angeflickt. 

Und  nun  geht  ja  aus  Herodot  deutlich  hervor,  dass  die 
ganze  Erzählung  den  Athenern  erst  durch  Hekataeos  bekannt 
geworden  ist.  Was  Herodot  als  attische  Version  giebt,  ist  nicht 
etwa  ächte  einheimische  Tradition,  sondern  deutlich  Correctur 
des  hekataeischen  Berichtes.  Dass  Pelasger  in  Attika  gesessen 
und  die  Burgmauer  gebaut  hätten,  glaubte  man  dem  Schrift- 
steller;  aber   dass   die  Athener   gegen   alles   Recht   über   die 


Fremden  hergefallen  seien  und  ihnen  ihr  Land  abgenommen 
hätten,  das  konnte  man  unmöglich  auf  sich  sitzen  lassen.  Ein 
gerechter  Grund  Hess  sich  leicht  finden;  das  gewählte  Motiv 
ist  offenbar  aus  der  Sage  von  Boreas  und  Oreithyia  entnom- 
men.1) Die  Sache  liegt  hier  genau  wie  bei  den  Erzählungen 
über  den  Ursprung  des  spartanischen  Doppelkönigthums,-)  und 
wie  dort  haben  auch  hier  die  modernen  Interpreten  die  secun- 
däre  Correctur  für  das  Ursprüngliche  gehalten. 

Ob  Hekataeos  der  erste  gewesen  ist,  welcher  die  Pelasger 
nach  Attika  brachte,  oder  ob  er  darin  Vorgänger  in  der  Poesie 
gehabt  hat,  wissen  wir  nicht.  Das  ist  auch  irrelevant;  evident 
ist  dagegen,  wie  man  zu  der  Ansicht  gekommen  ist.  Sie  soll 
den  Namen  der  Burgmauer  erklären,  die  bekanntlich  gewöhn- 
lich (so  bei  Herodot  V  64)  xo  IleXaOyLxdv  rtfyoc  genannt  wird. 
Was  unter  demselben  zu  verstehen  ist,  kann  gegenwärtig  nicht 
mehr  zweifelhaft  sein.  Es  ist  die  alte,  aus  unbehauenen  (sog. 
kyklopischen)  Blöcken  aufgeführte  Ringmauer  der  Akropolis, 
die  auf  der  West-  und  Südwestseite  auf  halber  Höhe  des  Fel- 
sens lief  und  daher  hier  eine  unterhalb  des  Gipfels  und  der 
späteren  Propylaeen  liegende  Terrasse  mit  umfasste.3) 

Aber  diese  Mauer,  welche  den  Pisistratiden  noch  als  Boll- 
werk diente  und  von  den  Persern  genommen  wurde,  dann  aber 
bei  der  gänzlichen  Umgestaltung  der  Akropolis  durch  Kimon 
und  Perikles  bis  auf  wenige  Reste  verschwand  (längere  Zeit 
hindurch  diente  sie  als  Steinbruch,  bis  auf  Grund  des  Pse- 
phisma's  des  Lampon  CIA  I  27  b  die  Reste  geschützt  wurden), 
hat  in  Athen  selbst  niemals  Pelasgikon  geheissen,  sondern 
immer  nur  Pelargikon.  Seitdem  in  der  grossen  1880  gefun- 
denen eleusinischen  Inschrift  (jetzt  CIA  1  27b)  die  Schreibung 

1)  Wilamowitz,   Kydathen  136   gibt  die  Deutung:    „die  Pelasger, 

welche   die  Mädchen  von  der  Kallirrhoe  rauben,   sind die  Riesen 

des  Berglandes  im  Kampfe  mit  der  Stadt  Athen".  Das  wäre  möglich, 
wenn  hier  wirklich  eine  Sage  vorläge.  Aber  auch  hier  wieder  geht  die 
physische  Deutung  des  angeblichen  Mythos  viel  zu  tief;  in  Wirklichkeit 
haben  wir  es  nur  mit  einem  geläufigen  Märchenzug  zu  thun,  der  um  einer 
bestimmten  Tendenz  willen  zur  Ausmalung  einer  auf  literarischem  Wege 
entstandenen  Erzählung  verwerthet  ist. 

2)  S.  unten  die  Abhandlung  über  Lykurg. 

3)  S.  jetzt  vor  allem  Lolling  in  seiner  Topographie  von  Athen 
(Handbuch  der  classischen  Alterthumswissenschaft  III  S.  337). 


10 

ÜElaQyixov  zu  Tage  getreten  ist,  ist  diese  Thatsache  allge- 
mein bekannt  und  anerkannt.  Bei  Tliukydides  II  17  schreibt 
die  beste  Handschrift  (Laurentianus  C)  beidemale  IltXaQyixov; 
dieselbe  Form  bieten  Kleidemos  fr.  22  '),  Aristophanes  Aves  832 
(vgl.  869)  und  der  in  den  Scholien  dazu  citirte  Vers  des  Kalli- 
machos,  Aristoteles  pol.  Athen.  19,  Dion.  Hai.  I  28  u.  a.  Diesen 
Zeugnissen  gegenüber  hat  es  gar  keinen  Wert,  wenn  spätere 
Schriftsteller  und  schlechtere  Handschriften  die  ihnen  aus  der 
nichtattischen  Literatur  geläufigere  Form  IJeXaöyixov  geben. 

Dass  der  Name  Pelargikon  mit  den  Pelasgern  gar  nichts 
zu  thun  hat,  braucht  nun,  sollte  ich  denken,  nur  einmal  aus- 
gesprochen zu  werden,  um  allgemeine  Anerkennung  zu  finden. 
Bedeutete  der  Name  wirklich  „die  Pelasgerburg",  so  müssten 
wir  eben  auch  alte  und  ächte  Spuren  der  Pelasger  in  Athen 
finden,  sie  müssten  unter  Kekrops  oder  Erechtheus,  den  Grün- 
dern der  ältesten  Stadt,  ihren  Mauerbau  ausführen  —  ganz 
abgesehen  davon,  dass  dann  der  völlig  isolirte  Lautwandel  zu 
erklären  wäre.2)  Rhotacismus  (noch  dazu  vor  folgendem  Con- 
sonanten)  ist  im  Attischen  unerhört,  und  es  widerspricht  aller 
gesunden  Methode,  um  einer  problematischen  Erklärung  eines 
Eigennamens  willen  ein  neues  Lautgesetz  zu  statuiren. 

Warum  die  Athener  ihre  Burgmauer  Pelargikon,  d.  h.  ver- 
muthlieh  das  „Storchnest",  genannt  haben,  wissen  wir  nicht; 
wahrscheinlich  wird  es  einen  rein  äusserlichen  Grund  gehabt 
haben.     Als  aber  die  gelehrte  Forschung  begann  —  auf  diese 

1)  y.al  7]7iedt'C,ov  zr\v  (xxqÖtioXiv,  neQitßaklov  61  ivveänvlov  tb  Ilt- 
XaQytxov,  bei  Bekker  anecd.  I  S.  419,  27;  Suidas  gibt  dafür  Ilelaoyixov 
(s.  v.  aneöa).  Die  richtige  Lesung  findet  sich  auch  z.  B.  bei  Photios 
lex.  p.  407. 

2)  Bechtel,  Inschriften  des  ionischen  Dialekts  (Abh.  Gott,  Ges.  d. 
W.  1887)  S.  13  sucht  nachzuweisen,  dass  der  Rhotacismus  des  eretrischen 
Dialekts  von  Pelasgern  stamme,  die  von  Thessalien  nach  Euboea  gekom- 
men seien.  Als  Beleg  dafür  wird  der  angebliche  Rhotacismus  im  attischen 
Pelargikon  angeführt.  Also  in  diesem  einzigen  Wort,  das  noch  dazu  von 
ihrem  eigenen  Volksnamen  abgeleitet  wäre,  hätte  sich  der  Einfluss  des 
Pelasgischen  auf  den  attischen  Dialekt  bewahrt.  Aber  warum  heissen  denn 
die  Pelasger  sonst  nirgends  Pelarger,  wenn  sie  doch,  wie  Bechtel  an- 
nehmen muss,  sich  selbst  so  sprachen  ?  Wenn  an  der  ganzen  Sache  etwas 
wäre,  so'müsste  man  ja  gerade  umgekehrt  folgern,  dass  die  Athener  den 
Namen  des  fremden  Volk  rhotacistisch  umgewandelt  hätten,  während  der 
Rhotacismus  dem  „Pelasgischen"  fremd  wäre. 


11 

Bezeichnung  erhebt  ja  Hekataeos  sehr  ernstlich  Anspruch  — 
suchte  sie  auch  diesen  Namen  historisch  zu  erklären.  Dass 
man  da  aus  dem  Pelargikon  einen  Pelasgerbau  machte,  ist 
sehr  begreiflich.  Daraus  ergab  sich  das  Uebrige  von  selbst; 
wenn  man  die  Pelasger  ins  Land  gebracht  hatte,  musste  man 
sie  auch  wieder  hinausschaffen.  Von  der  Verbindung  mit  Lemnos 
wird  später  zu  reden  sein.  Im  Uebrigen  ging  Hekataeos  — 
oder  wer  etwa  sein  Vorgänger  gewesen  sein  mag  —  sehr  ehr- 
lich zu  Werke.  Die  Thatsache  stand  ihm  durch  den  Namen 
unzweifelhaft  fest,  aber  er  hat  weder  einen  König  genannt, 
noch  sonst  die  Begebenheit  weiter  ausgemalt.1)  Das  Einzige, 
was  er  hinzugefügt  hat,  ist  eigentlich,  dass  die  Athener  den 
Pelasgern  das  Land  am  Hy mettos  zuweisen  —  ob  für  diese 
Combination  irgend  ein  Anlass  vorlag,  wissen  wir  nicht.  Wo- 
her die  Pelasger  gekommen  sind,  gibt  Herodot  nicht  an;  soweit 
wir  sehen  können  hat  das  erst  Ephoros  ermittelt:  sie  waren 
von  den  Boeotern  um  die  Zeit  der  äolischen  Wanderung  ver- 
jagt worden,  nachdem  vorher  umgekehrt  die  Pelasger  und 
Thraker  die  Boeoter  verjagt  hatten.'2)  Zu  Pausanias'  Zeit 
wusste  man  natürlich  noch  besser  Bescheid:  jtvvOavo^voc  de 
otriveq  r/Gav  ovöev  aXXo  sdvvdftr/v  [lafrtlv  i)  EixsIovq  xo  ig 
CLQXrjQ  ovrag  sg  'AxaQvavlav  tteroixijöcu.  Nach  einer  Angabe 
bei  Strabo  V  2,  8  waren  sie  dagegen  unter  Führung  des  Maleas 
des  Sohnes  des  Pelasgos  aus  Regisvilla  bei  Graviscae  in  Etrurien 
gekommen.5)  Hier  ist  also  die  Auswanderung  der  Pelasger 
nach  Etrurien  einmal  in  das  Gegentheil  umgesetzt. 


1 )  Das  ist  erst  in  der  spätesten  Ueberlieferung  geschehen,  bei  Pausan. 
I  28,  3  neQißaXelv  xb  Xotnbv  XeyExai  xov  xfi%ovg  (der  Akropolisinauer, 
ausser  der  kimönischen)  ÜFXaayovq  oixr'joavxag  noxs  vnb  xr\v  axQonoXiv. 
<paal  yccQ  'AygdXav  xai  "YnfQßiov  . . .  das  Weitere  ist  ausgefallen.  Vgl. 
Plin.  VII  194  laterarias  ac  domos  constitucrunt  pHmi  Euryalus  et  Hyper- 
bios  fratres  Athenis. 

2)  Bei  Strabo  IX  2,  3  (dass  Ephoros  hier  wie  im  Vorhergehenden 
und  Folgenden  die  Quelle  ist,  ist  evident).  Das  Datuni  [die  gleiche  Zeit- 
angabe bei  Velleius  I  3]  stimmt  genau  zu  Herodot,  denn  Penthilos'  Aus- 
zug fällt  nach  Strabo  XIII  1,  3  sechzig  Jahre  nach  den  Tqojixcc.  —  Nach 
Diod.  XIX  53  werden  die  Boeoter  zur  Zeit  des  troischen  Krieges  von  den 
Pelasgern  verjagt. 

3)  [Wilamowitz,  Isyllos  von  Epidauros  S.  100,  51  will  MaXeajxov 
IlsXaoyov  lesen;   aber  der  Artikel  kann  schwerlich  fehlen.    Dagegen  hat 


12 

Die  Athener  haben  die  von  Hekataeos  gegebene  Erzählung 
in  der  Weise  modificirt,  wie  Herodot  angibt,  sonst  aber  ein- 
fach reeipirt ')  bis  auf  zwei  wichtige  Modifikationen.  Einmal 
konnten  sie  den  Namen  Pelasgikon  nicht  annehmen,  da  er 
eben  falsch  war,  und  erklärten  nun  das  Pelargikon  daraus, 
die  Pelasger  seien  wegen  ihres  vielen  Wanderns  von  den  Athe- 
nern „Störche"  IltXaQyol  genannt  worden,  daraus  sei  dann  der 
Name  Pelasger  entstanden:  Strabo  V  2,  4  (ebenso  IX  1,  18): 
xal  oi  t?)jj  'Arfriöa  övyyoaxpavTtq  loroQovöt  jrtol  rmv  IkXaöyöw 
coq  xal  A\)i]vr]6i  yEvo^tvcov,  dia  6h  ro  jtXavrjraQ  tivai  xal  ölxrjV 
OQV8COV  sjucpoizäv  eqf  ovg  srv%e  tojiovq  IJsXaQyovg  vjtö  tcov 
Jttlxcov  xXrjd-TJvai.  Gewiss  erzählte  so  Philochoros,  den  wTohl 
Strabo  auch  zunächst  im  Auge  hat  (wie  IX  1,  6):  fr.  7  bei  Ser- 
vius  ad  Aen.  VIII  600  Philochorus  ait  ideo  nominatos  Pelasgos, 
quod  velis  et  verno  tempore  advenire  visi  sunt  ut  aves.  Zweitens 
aber  hat  man  durchweg  die  attischen  Pelasger  als  Tyrsener 
bezeichnet.  So  gleich  Thukydides  IV  109:  „auf  der  Athos- 
halbinsel  wohnt  eine  zahlreiche  pelasgische  Bevölkerung,  von 
denen  welche  einst  als  Tyrsener  Lemnos  und  Athen  bewohnt 
hatten".-)  „Der  Tyrsener  Mauer,  das  Pelargikon"  (Toqot/vcov 
Ttiyiöfta  fJeXaQyixor)  lautet  ein  Fragment  des  Kallimachos.M 
Kleidemos'  Erzählung  „sie  ebneten  die  Akropolis  [was  in  Wirk- 
lichkeit Kimon   und  Perikles  gethan  haben;   so  rasch  verliert 

er  den  Maleas  richtig  mit  dem  Tyrsener  Maleas  oder  Maleotas  identificirt, 
der  als  Vater  der  Aletis  genannt  wird,  der  zu  Ehren  man  in  Athen  das 
dionysische  Fest  dkfjTtQ  oder  gciwqu  feierte  (Etym.  magn.  aXijTig,  Hesych. 
aicoQcc,  dort  MaXewTOv  %ov  Tvqqijvov,  hier  Ma'/.ti»  Tvyyrjvov  geschrieben). 
Crusius,  Piniol.  N.  F.  II  206  f.,  der  weitere  Belege  zusammenstellt,  erkennt 
in  ihm  im  Anschluss  an  0.  Müller  mit  Recht  den  Eponymus  des  Vgb.  Malea. 
Es  ist  also  ein  tyrsenischer  Räuber,  der  hier  haust  und  mit  den  Fest- 
bräuchen  des  Dionysoscults  in  Verbindung  gesetzt  wird.  Mit  dem  asklepios- 
artigen  Daemon  Malcatas  hat  er,  direct  wenigstens,  nichts  zu  thun.J 

1)  Philochoros  fr.  5.  ü  erzählt  die  Vertreibung  der  Pelasger.  ihre  An- 
siedelung auf  Lemnos  und  Imbros,  den  Ueberfall  der  Jungfrauen  bei 
Brauron  fast  genau  ebenso  wie  Herodot.  —  Die  Fragmente  sind  selbst- 
verständlich bei  Müller  viel  zu  früh  gesetzt;  sie  gehören  ans  Ende  des 
zweiten  Buchs. 

2)  Von  dieser  Thukydidesstelle  ist  Strabo  Vll  fr.  35  abhängig,  der 
die  fünf  Städte,  welche  nach  Thuk.  gemischte  Bevölkerung  haben,  von 
lemnischen  Pelasgem  bewohnt  sein  lässt. 

3)  Fr.  283  Schneider,  bei  schol.  Arist.  aves  S32. 


13 

sich  in  solchen  Dingen  die  Tradition!  — «Kleidemos  schrieb 
bekanntlich  zu  Anfang-  des  vierten  Jahrhunderts]  und  umwall- 
ten sie  mit  einer  neunthorigen  Mauer,  dem  Pelargikon"  (fr.  22, 
s.  S.  10,  1)  wird  auch  die  Tyrsener  genannt  haben.  Wenn  der 
Pelasgername  erst  in  Attika  entstanden  war,  so  war  Tyrsener 
eben  der  Name,  den  sie  bis  dahin  führten.  So  hat  Philoehoros 
die  Sache  aufgefasst,  der  fr.  5  von  den  Tyr rhenern  in  Attika 
erzählt,  was  Herodot  von  den  Pelasgern,  und  daran  offenbar 
die  eben  angeführte  Auseinandersetzung  über  den  Namen  Pe- 
larger  geknüpft  hat.1)  Ebenso  Myrsilos  von  Lesbos2)  bei  Dion. 
Hai.  T  28:  rovg  Tvqqtjvovc,  (pyptv,  bjtEtörj  rr]v  havrwv  egeJU- 
jiov,  hv  t?]  jtZävq  {itrovoiiaö^rjvaL  ütXaQyovg,  rcov  oqvscov 
rolg  xccÄovfibvoiq  jisXaQyoTg  dxaöd-tvrag,  mg  xaz  äyeZag  eg)ol- 
rcov  dg  rs  T7]V  'EXXäda  xal  rrjv  ßccQßagov.  Kai  rolg  'Af)?]- 
valoig  to  TU%og  rö  jzsql  xi]V  axQOjtoXiv  to  ÜsXaQytxoi^  xaXov- 
(ievop  rovrovg  jifoißaZüv*)  Um  dies  Auftreten  des  Tyrsener- 
namens  zu  erklären,  müssen  wir  die  Nachrichten  über  die 
lemnischen  Pelasger  genauer  untersuchen. 

Wir  gehen  aus  von  der  Eroberung  von  Lemnos  —  und 
Imbros,  das  gleichzeitig  attisch  geworden  ist,  aber  in  unserer 
Ueberlieferung  an  dieser  Stelle  nie  genannt  wird  —  durch 
Miltiades.  Was  uns  über  den  Hergang  erzählt  wird,  bietet 
dem  historischen  Verständniss  mancherlei  Schwierigkeiten.  He- 
rodot gibt  den  Bericht  darüber  nicht  im  Zusammenhang  mit 
der  älteren  Geschichte  des  Miltiades,  die  er  in  zwei  Partien 
(VI  34  ff.  103  f.)  ziemlich  ausführlich  erzählt  hat,  sondern  als 
Nachtrag  zur  Geschichte  seines  Processes  im  J.  489:  dass  Mil- 
tiades  den   Athenern  Lemnos   gewonnen   hat,   fällt   zu   seinen 


1)  Von  der  Gewaltthätigkeit  dieser  Tyrrhener  leitete  er  das  Wort 
zvgavvoq  ab,  das  sonst  gewöhnlich  für  lydisch  erklärt  wird.  (Ebenso 
Suidas  s.  v.  zvQccvvoq;  argum.  Sophocl.  Oedipus  Tyr.). 

2)  Um  250  v.Chr.,  s.  Müllenhof,  Deutsche  Alterthumskunde  I45H; 
Wilamowitz,  Antig.  v.  Karystos  24. 

3)  Vgl.  auch  Photios  lex.  IleluQyixbv  zo  vnb  zwv  zvqu.vvcjv  (leg. 
Tvqqtjvcöv)  xazaoxevaodiv  zrjq  äxQonoXeujq  TEL%oq'  zovzovq  yaQ  xXrj- 
ttrjvai  nelaQyovq  oiov  üeXaoyovq  (die  Vorlage  ist  offenbar  sehr  zusammen 
gezogen)  wq  nXävrjzaq  zivaq-  ij  ozi  löovzeq  avzovq  tcq&zov  ol  l-iS-rjvaiot 
oivöovaq  Xa/ATiQaq  nsQißeßXrjfxevovq,  TcsXapyoZq  dxaoav.  Hesych.  IIs- 
Xaayixov  zeiyiov  ovzca  iv  yA&?jvcciq  xaXov/ispov  TvQprjvüv  xzioävzwv. 
Ebenso  Eustath.  ad  Dion.  347. 


14 

Gunsten  in  die  Wagschale.  Die  Erzählung  gehört  mithin  offen- 
bar einer  andern  Traditionsschicht  an,  als  jene  Geschichten 
über  Miltiades'  Herrschaft  auf  der  Chersones  und  seine  Flucht 
vor  den  Persern.  Nun  ist  unbestreitbar,  wenn  auch  lange  nicht 
immer  genügend  beachtet,  dass  wir  in  dieser  Zeit  noch  keines- 
wegs auf  einem  Boden  stehn,  wo  sich  die  einzelnen  Berichte 
einfach  in  einander  schieben  und  zu  einem  Ganzen  verbinden 
lassen.  Dieselben  stehn  vielmehr  isolirt  neben  einander  und 
kein  einziger  von  ihnen  kann  als  völlig  authentisch  betrachtet 
werden,  am  wenigsten  natürlich  in  chronologischer  Beziehung. 
Wenn  daher  Herodot  an  einer  andern  Stelle  berichtet,  nach 
Darios'  Skythenzug  habe  Otanes  die  damals  noch  von  Pelasgern 
bewohnten  Inseln  Lemnos  und  Imbros  genommen  (um  510), 
Lemnos  habe  sich  tapfer  aber  vergeblich  vertheidigt,  und  die 
Perser  hätten  hier  als  Statthalter  Lykaretos,  den  Bruder  des 
Maiandrios  von  Samos  eingesetzt,  der  auch  auf  Lemnos  als 
Herrscher  gestorben  sei  (Her.  V  27)  —  so  haben  wir  noch 
keineswegs  das  Recht,  diese  Erzählung  mit  der  über  Miltiades 
zu  verbinden  und  zu  folgern,  Miltiades  habe  die  Inseln  erst 
nach  dem  Bruch  mit  Persien,  während  des  ionischen  Auf- 
standes, erobern  können.1)  Dass  diese  Annahme  falsch  ist, 
lässt  sich  sicher  nachweisen.  Denn  Miltiades  hat  die  Ein- 
wohner der  Inseln  verjagt2)  und  Athener  auf  ihnen  angesiedelt. 
Seitdem  sind  die  Inseln  griechisch3)  und  von  attischen  Colo- 
nisten  besetzt,  die  in  den  Todtenlisten  auf  dem  Kerameikos 
nach  den  attischen  Phylen  aufgezählt  werden.4)  Weil  die  Ver- 
triebenen Barbaren  waren,  wie  die  später  von  Kimon  vertrie- 
benen Doloper  von  Skyros,   sind  Lemnos,  Imbros  und  Skyros 


1)  So  folgern  die  Neueren  durchweg.  Nepos  Milt.  2  setzt  dagegen 
die  Einnahme  von  Lemnos  vor  Darius'  Skythenzug,  gewiss  nicht  auf  Grund 
einer  abweichenden  Tradition,  aber  historisch  wahrscheinlich  correcter. 
Wenn  es  bei  Nepos  noch  heisst  pari  felicitate  ceteras  insulas,  quae  Cy- 
clades  nominantur,  in  Atheniensium  redegit  potestatem,  so  mag  die  Quelle 
dabei  an  Imbros  gedacht  haben. 

2)  Das  sagen  alle  Quellen  übereinstimmend;  die  Zweifel  vonDüNCKEB 
G.  d.  Alt.  VII  (55  entbehren  jeder  Grundlage. 

:*)  Her.  VIII  11.  Artemidoros  von  Lemnos,  der  bei  Artemision  zu 
den  Griechen  übergeht,  rnuss  also  attischen  Ursprungs  gewesen  sein.  Hä- 
her weisen  ihm  die  Athener  Land  auf  Salamis  an. 

4)  Thuk.  VII  57.    Vgl.  III  5  IV  28  V  8.    CIA  I  443.  444. 


15 

zu  allen  Zeiten  als  rechtmässiger  attischer  Besitz  anerkannt 
worden,  der  selbst  durch  die  vom  Königsfrieden  proclamirte 
„Autonomie  aller  Hellenen"  nicht  angetastet  und  nach  dem 
Perseuskriege  noch  einmal  von  den  Römern  restaurirt  wird. 
Sehr   mit  Unrecht   hat  Kirchhoff1)  diese  Thatsache   zu   ver- 


1)  in  seinem  Aufsatze  „Die  Tributpflichtigkeit  der  attischen  Kle- 
ruchen" Abh.  Berl.  Ak.  1873  S.  30  ff.  Kirchhoff  nimmt  an,  die  Entsendung 
der  attischen  Kleruchie  falle  erst  um  Ol.  84,  2  (443/2  v.  Chr.)  und  auch 
damals  sei  noch  eine  selbständige  einheimische  Bevölkerung  auf  der  Insel 
geblieben.  Die  Neueren  sind  ihm  darin  durchweg  gefolgt  (z.  B.  Duncker 
und  Busolt,  letzterer  allerdings  nur  mit  Reserve);  ja  Köhler  hält  es  für 
denkbar,  dass  Philipp  V  im  J.  200  die  attischen  Kleruchen  vertrieben 
und  die  Regierung  der  alteinheimischen  Bevölkerung  überlassen  habe, 
welcher  dann  auch  von  den  Römern  die  Autonomie  geschenkt  worden 
sei.  (Mitth.  Arch.  Inst.  Athen.  I  263  f.).  Damals  befanden  sich  aber  die 
attischen  Kleruchen  bereits  seit  mehr  als  300  Jahren  im  ungestörten  Be- 
sitz der  Insel,  und  trotz  aller  Schwankungen  der  politischen  Verhältnisse 
hatte  Niemand  daran  gedacht,  sie  zu  vertreiben  (auch  Lysimachus  nicht, 
Phylarch  fr.  28),  so  oft  auch  die  politische  Abhängigkeit  der  Kleruchen- 
gemeinde  von  Athen  aufgehoben  war.  Das  ist  nicht  aus  zarter  Rücksicht 
auf  die  Kleruchen  geschehen,  sondern  ganz  einfach  deshalb,  weil  Niemand 
anders  da  war,  der  ein  Recht  auf  die  Inseln  hatte.  Hätte  Philipp  V  die 
Kleruchen  verjagen  wollen,  so  musste  er  die  Nachkommen  der  alten  Tyr- 
sener  aus  Plakia  und  Skylake  und  der  Athoshalbinsel  zusammensuchen 
um  der  Insel  eine  Bevölkerung  zu  geben.  Köhler  meint  freilich  im  An- 
schluss  an  Kirchhoff,  aber  im  Widerspruch  mit  aller  Ueberlieferung,  es 
habe  in  Hephaestias  und  Myrina  unterthänige  Gemeinden  einheimischer 
Bevölkerung  mit  beschränktem  Münzrechte  gegeben  (Mitth.  Arch.  Inst. 
IV  263).  Die  ganze  Hypothese  beruht  auf  Kirchhoffs  Annahme,  die 
attischen  Kleruchen  hätten  keinen  Phoros  gezahlt  —  eine  Annahme,  der 
ich  so  wenig  beistimmen  kann,  wie  den  zahlreichen  anderen  Hypothesen, 
durch  die  Kirchhoff  die  Ueberlieferung  über  die  Geschichte  des  fünften 
Jahrhunderts  umzugestalten  gesucht  hat.  Mit  Recht  hat  Beloch  Rhein. 
Mus.  XXXIX  46  und  Bevölkerung  der  griech.-röm.  Welt  81  gegen  Kirch- 
hoffs Kleruchenhypothese  protestirt  und  die  Ueberlieferung  wieder  in 
ihr  Recht  eingesetzt.  Während  dessen  hat  freilich  die  KirchhoffscIic 
Hypothese  noch  abenteuerlichere  Früchte  getrieben:  Wilamowitz  Hermes 
XXII  243  meint,  die  alten  Einwohner  von  Lemnos  und  Imbros  seien  388 
v.  Chr.  vertrieben  worden!  Dann  sind  also  Herodot,  der  ihre  Vertreibung 
erzählt,  und  Thukydides,  der  ihre  neuen  Wohnsitze  am  Athos  kennt,  Pro- 
pheten gewesen.  Hoffentlich  weist  man  demnächst  nach,  dass  die  be- 
treffenden Stellen  interpolirt  sind,  und  rettet  dadurch  auch  hier  die  von 
Kirchhoff  erkannte  Wahrheit  gegenüber  den  Irrthümern  der  Alten.  Es 
ist  leider  nicht  das  erste  Mal,  dass  Wilamowitz  sich  durch  blendende 
Hypothesen  hat  verleiten  lassen,  aller  Ueberlieferung  ins  Gesicht  zu  schlagen. 


16 

Schleiern  gesucht  und  eine  spätere  Colonisation  von  Lemnos 
und  Imbros  in  der  perikleischen  Zeit  angenommen,  von  der  die 
Quellen  nichts  wissen. 

Es  ist  nun  evident,  dass  eine  derartige  Besitzergreifung 
der  beiden  Inseln  nicht  in  den  wirren  Jahren  des  ionischen 
Aufstandes  stattgefunden  haben  kann.  Damals  hätte  die  Zeit 
kaum  gereicht  um  die  Inseln  zu  erobern  und  die  Colonie  ein- 
zurichten. Vor  Allem  aber  hätten  die  Perser,  als  sie  im  J.  493 
die  Chersones  unterwarfen  und  Miltiades  beinahe  bei  Imbros 
abfingen,  zweifellos  die  Colonisirung  rückgängig  gemacht  und 
die  alten  Bewohner  zurückgeführt,  wenn  dieselben  eben  erst 
verjagt  waren.  Lag  doch  damals  Athen  mit  dem  Perserreich 
in  offenem  Kriege.  Offenbar  muss  damals  die  Occupation  der 
Inseln  schon  seit  geraumer  Zeit  vollzogen  gewesen  sein.  Will 
man  an  Herodot's  Angabe  V  27  festhalten,  so  muss  man  an- 
nehmen, dass  Lykaretos  nur  sehr  kurze  Zeit  auf  Lemnos  ge- 
boten und  Miltiades  bald  nach  510  die  Insel  oecupirt  hat.  Viel 
wahrscheinlicher  aber  ist  mir,  dass  Herrodot  sich  geirrt  hat 
und  dass  Otanes  die  damals  schon  von  den  Athenern  besetzten 
Inseln  an  Persien  brachte  und  einem  den  Persern  ergebenen 
Herrscher  unterstellte.1)  Dann  gehört  die  Eroberung  der  Inseln 
in  beträchtlich  frühere  Zeit,  vielleicht  schon  unter  den  älteren 
Miltiades  —  wie  leicht  kann  die  Ueberlieferung  hier  eine  Ver- 
wechslung begangen  haben;2)  hat  doch  Nepos  die  beiden  Mil- 
tiades zu  einer  Person  verschmolzen  — ,  und  jedenfalls  in  die 
Zeit  der  Pisistratidenherrschaft. 

Eine  allgemeine  Erwägung  der  politischen  Verhältnisse 
dürfte  das  letztere  noch  besser  begründen  als  eine  Argumen- 
tation mit  Detailangaben,  die  alle  ihrem  Wesen  nach  unzuver- 
lässig sind.  Man  hat  durchweg  die  Festsetzung  der  Philaideu 
auf  der  Chersones  nach  sehr  einseitigen  Gesichtspunkten  be- 
urtheilt   und   im  Anschluss  an  Herodot  fast  ausschliesslich  die 


1)  Es  kommt  hinzu,  dass  Miltiades  nach  seinem  Auftreten  bei  Darius' 
Skythenfeldzug  und  nach  dem  Sturz  der  Pisistratiden  schwerlich  in  der 
Lage  war,  noch  Eroberungen  zu  machen.  Vgl,  auch  Herodot  VI  40,  Mil- 
tiades' Flucht  vor  deu  Skythen,  die  von  Herodot  ins  Jahr  4!)f>  gesetzt  wird. 

2)  Es  ist  hier  zu  beachten,  dass  die  Einnahme  von  Lemnos  bei  He- 
rodot nur  als  Nachtrag  und  zur  Motivirung  der  günstigen  Stimmung,  die 
in  Athen  für  Miltiades  herrschte,  berichtet  wird. 


17 

persönlichen  Verhältnisse  berücksichtigt.  Die  neueren  Unter- 
suchungen haben  immer  deutlicher  gezeigt,  wie  die  Pisistra- 
tiden  überall  die  Grundlage  der  späteren  Stellung  Athens  ge- 
schaffen haben,  und  so  ist  es  auch  hier  gewesen.  Mag  die 
erste  Besetzung  von  Sigeon  schon  früher  fallen,  definitiv  athe- 
nisch ist  es  erst  durch  Pisistratos  geworden.  Damit  steht  die 
Aussendung  einer  Colonie  nach  der  Chersones  und  die  Be- 
setzung der  Inseln  im  engsten  Zusammenhang:  es  galt  die 
grosse  hellespontische  Handelsstrasse  in  die  Hände  Athens  zu 
bringen.1)  Und  dies  Ziel  hat  Pisistratos  wirklich  erreicht. 
Wenn  man  dadurch,  dass  man  das  Haupt  der  Philaiden  an 
die  Spitze  der  Auswanderer  stellte,2)  einen  politischen  llivalen 
los  wurde,  um  so  besser.  Daran  dass  derselbe  sich  der  Ober- 
hoheit der  Pisistratiden  entziehen  könnte,  war  ja  nicht  zu 
denken;  im  Gegentheil,  die  Stellung  Kimons  und  die  Aus- 
sendung des  jüngeren  Miltiades  zeigen  deutlich,  wie  völlig 
sich  das  Geschlecht  der  Philaiden  in  die  Abhängigkeit  von 
den  Tyrannen  fügen  musste.  Man  hat  gemeint,  es  sei  eine 
besondere  Connivenz  des  Miltiades  gegen  Athen  gewesen,  dass 
er  die  von  ihm  eroberten  Inseln  seiner  Mutterstadt  übergab 
und  von  ihr  besetzen  Hess.  Die  Sache  liegt  gerade  umgekehrt: 
die  Philaiden  konnten  sich  auf  der  Chersones  nur  behaupten, 
geschweige  denn  Eroberungen  unternehmen,  so  lange  sie  an 
Athen  einen  Rückhalt  hatten.  Und  woher  in  aller  Welt  hätten 
sie  denn  die  Colonisten  für  Lemnos  und  Iinbros  sonst  nehmen 
sollen,  wenn  nicht  von  Athen?  Die  Griechen  auf  der  Cher- 
sones,  die  während  des  ganzen  Verlaufs  der  griechischen  Ge- 


1)  Ebenso  hat  Pisistratos  einen  Theil  der  thrakischen  Goldbergwerke 
besessen  (Herod.  I  64)  und  mit  Makedonien  Beziehungen  angeknüpft  (Her. 
V  94).  [Aus  Aristoteles  pol.  Athen.  15  wissen  wir  jetzt,  dass  Pisistratos 
während  seiner  zweiten  Verbannung  Rhaikelos  arn  therinaeischen  Golf  be- 
siedelte; ebenso  bezeugt  er  die  Festsetzung  am  Pangaion.] 

2)  Gewöhnlich  setzt  man  die  Auswanderung  des  Miltiades  I.  gleich 
ins  Jahr  560,  ob  mit  Recht,  ist  fraglich.  Sicher  ist  nur,  dass  Miltiades 
vor  Kroesos'  Sturz  bereits  auf  der  Chersones  herrschte  und  mit  Lampsakos 
Krieg  führte  (Her.  VI  37);  offenbar  strebten  die  Lampsakener  nach  der 
Suprematie  über  den  gegenüberliegenden  Theil  der  Chersones.  Dadurch 
rückt  die  spätere  Verschwägerung  der  Pisistratiden  mit  den  Tyrannen 
von  Lampsakos  (Thuk.  VI  59),  die  dem  Thukydides  als  eine  Erniedrigung 
erscheint,  erst  ins  rechte  Licht. 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  2 


18 

schichte  bis  auf  die  Römerzeiten  hinab  nicht  einmal  ihr  eigenes 
Land  gegen  die  Thraker  schützen  konnten,  waren  doch  wahr- 
lich nicht  im  Stande,  Colonisten  auszuschicken.  Ist  diese  Auf- 
fassung aber  richtig,  so  dürfte  es  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
die  Besetzung  der  Inseln  geraume  Zeit  vor  dem  Sturze  der 
Pisistratiden  erfolgt  ist. 

Die  Colonisation  von  Lemnos  —  welches  das  weniger  wich- 
tige Imbros  mit  zu  vertreten  hat  —  hat  nun  zu  der  Sage  Ver- 
anlassung gegeben,  die  Herodot  und  im  Wesentlichen  ebenso 
wohl  schon  Hekataeos  aufgezeichnet  haben.  Die  Vertreibung 
der  Bewohner  erscheint  als  die  von  der  Gottheit  befohlene 
Sühne  für  den  Frauenraub  in  Brauron  und  die  frevelhafte  Er- 
mordung der  Geraubten  und  ihrer  Kinder.  Die  Lemnier  selbst 
haben  die  Berechtigung  des  attischen  Anspruchs  anerkannt  und 
nur  hinzugefügt,  sie  wollten  die  Insel  erst  dann  übergeben, 
wenn  ein  attisches  Schiff  bei  Nordwind  an  einem  Tage  vom 
eigenen  Lande  nach  Lemnos  komme.  So  haben  sie  sich  selbst 
eine  Falle  gegraben;  Miltiades  erfüllt  die  Bedingung,  und  so 
vollzieht  sich  nach  langer  Frist  das  Geschick.  Die  Bewohner 
von  Hephaestias  fügen  sich  freiwillig,  Myrina  wird  mit  Gewalt 
bezwungen.1)     Die  Pelasger  müssen  die  Insel  räumen. 

Entstehungsart  und  Tendenz  dieser  Erzählung  ist  klar.  Sie 
genügt  allein  schon,  um  die  Unhaltbarkeit  der  Ansicht  von 
Kirchhoff  und  Düncker  zu  erweisen,  dass  die  Einwohner 
nicht  vertrieben  seien.  Das  Orakel  kann  erst  entstanden  sein, 
als  es  erfüllt  war.  Es  musste  durch  eine  Verschuldung  der 
Lemnier  gegen  Athen  motivirt  werden.  [Dazu  hat  man  wahr- 
scheinlich eine  Cultlegende  gewählt,  welche  die  Festbräuche 
der  brauronischen  Artemis  erklären  sollte  und  von  einein  Frauen- 
raube erzählte2)  —  genau  wie  die  Festbräuche  der  Thesino- 
phorien  von  Halimus  zur  Ausschmückung  der  Kriege  des  Pi- 
sistratos  mit  Megara  verwendet  und  dadurch  zugleich  ätiologisch 
erklärt  worden  sind  (Aeneas  tact.  4,  8.  Plut.  Solon  8.  9  u.  s.  w.).j 

Herodot  erzählt  die  Sage,  wie  sie  ihm  überliefert  war, 
ohne  weitere  Zusätze.  So  konnten  sie  die  Späteren  nicht 
brauchen,   und   wie   gewöhnlich   haben   sie  Ephoros   und   sein 


1)  Herod.  VI  140.    Diese  Angaben  werden  wohl  richtig  sein. 

2)  vgl.  Crusius  Piniol.  N.  F.  II  212,  40. 


19 

moderner  Nachfolger  Max  Duncker  in  pragmatische  Geschichte 
umgesezt.  In  wie  naiver  Weise  der  letztere  aus  der  Sage  Ge- 
schichte gemacht  hat,  mag  man  bei  ihm  selbst  nachlesen.1) 
Ephoros  hat  erzählt,  das  Orakel  sei  nur  Vorwand  gewesen,  in 
Wirklichkeit  hätten  die  Lemnier  sich  aus  Furcht  vor  den  Per- 
sern (deren  Vasall  ja  Miltiades  war)  ergeben.  Zur  weiteren 
Illustration  verwerthet  er  hier  wTie  an  anderen  Stellen  seines 
Werkes  ein  Sprichwort,  welches  erzwungene  Geschenke  'Equcq- 
vtioi  %(xqlt£q  nannte:  Hermon  sei  der  Herrscher  der  Lemnier 
gewesen,  welcher  die  Insel  dem  Miltiades  tibergab.2) 

Ephoros  (Diodor)  nennt  nun  die  Bewohner  von  Lemnos 
Tyrrhener,  und  diese  Bezeichnung  ist  auch  sonst  die  gebräuch- 
liche. Apollonius  Khod.  IV  1760  lässt  die  Minyer  von  Lemnos, 
welche  nach  Sparta  gehn  und  Thera  gründen,  durch  Tyrsener 
vertrieben  werden.  Plut.  de  virt.  mul.  8  (=  Polyaen.  VII  49) 
und  quaest.  gr.  12  nennt  die  Bewohner  von  Lemnos  und  Imbros, 
die  er  im  übrigen   mit  den  Minyern  zusammenwirft,   ebenfalls 

1)  Bd.  VII  S.  (14—66. 

2)  Diodor  X  19.  Dass  nicht  Deinon,  wie  Crusius,  Beiträge  zur  griech. 
Mythol.  (Progr.  Leipzig  1 886)  S.  4  meint,  sondern  Ephoros  hier  wie  über- 
all die  Quelle  Diodörs  ist,  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Demon  hat  viel- 
mehr die  Erläuterung  des  Sprichworts  aus  Ephoros  entlehnt.  Ebenso  ver- 
wendet Ephoros  die  sprichwörtliche  Gestalt  des  Verräthers  Eurybates  in 
der  Geschichte  des  Kroesos  (Diod.  IX  32);  hier  ist  der  Ursprung  aus 
Ephoros  durch  dessen  Fragment  100  (bei  Harpokration)  bewiesen,  und 
auch  hier  folgen  die  Paroemiographen  u.  s.  w.  seiner  Erzählung.  Vgl.  auch 
Diod.  X  25,  1  mit  Demon  fr.  10.  [Auch  Herodot  bezieht  sich  in  der  leni- 
nischen Geschichte  auf  das  Sprichwort  vom  Arjftviov  xaxövYl  138.]  Zu 
Diodor  stimmt  im  wesentlichen  Suidas  s.v.  ^EQfuöveioc,  x<xQiQ,  Zenobios  3,  85. 
Bei  Hesych.  s.  v.  tritt  die  Furcht  vor  den  Athenern  an  die  Stelle  der  vor 
den  Persern:  ähnlich  Nepos  Milt.  2,  der  nicht  aus  Ephoros  geschöpft  hat. 
Charax  bei  Steph.  Byz.  s.  v.  ^Hycuoziccc  hat  Ephoros  und  Herodot  mit  ein- 
ander verschmolzen  und  macht  daher  Hermon  speciell  zum  Tyrannen  von 
Hephaestias;  ferner  entlehnt  er  aus  Herodot  die  Pelasger. —  [Ein  weiteres 
Beispiel  ist  die  aus  dem  sprichwörtlichen  Gebrauch  von  dvanaQia'Qi-iv 
„nach  parischer  Art  handeln",  d.  h.  einen  Vertrag  brechen,  von  Ephoros 
construirte  Geschichte  der  Expedition  des  Miltiades  gegen  Paros,  fr.  107 
bei  Steph.  Byz.  Ilagog,  in  der  alle  Neueren  sehr  mit  Unrecht  eine  von 
Herodot  unabhängige  Ueberlieferung  gesucht  haben.  Auch  hier  ist  Ephoros' 
Erzählung  in  die  Paroemiographen  übergegangen  (Diogenian  II  35  Zenob. 
II  21).  Ebenso  haben  die  Paroemiographen  das  sprichwörtliche  Orakel 
a  <piXo%()n[AaTLa  ^EnäQzav  hkei,  alXo  dt  ovdtv  aus  Ephoros  übernommen.] 

2* 


20 

Tyrrhener.  Nach  Aristoxenos  fr.  1  bei  Diog.  Laert.  VIII,  1  (vgl. 
Clem.  Alex.  Strom.  I  14,  62,  der  auch  Theopomp  nennt)  war 
Pythagoras  TvQQijrog  cijco  fjiäq  tcov  vrjöcov,  ag  xaxsoxov  l4fr?j- 
valoi  Tvqq?p>ovq  txßaXovreg.  Kleanthes  bei  Porphyrios  vita 
Pyth.  2  sagt:  allovc  tivai,  oi  top  jzartQa  avrov  (des  P.)  Tvq- 
gtjvdv  ajio(palvovxai  tcov  t?)v  Arjpvov  ajioix?]6ccvTcov.1)  Pe- 
lasger  heissen  die  Bewohner  von  Lemnos  ausser  bei  Herodot 
nur  bei  dem  von  ihm  abhängigen  Charax  (s.  S.  19  Anm.  2)  und 
bei  Suidas  und  Zenobios  s.  v.  ^EQpimvioq  %<xqic;  (ib.). 

Wir  sehen  nun  deutlich,  wie  die  attischen  Schriftsteller 
dazu  gekommen  sind,  von  Tyrsenern  in  Attika  und  tyrsenischen 
Pelasgern  zu  reden.  Die  Bezeichnung  ist  ein  versteckter  Pro- 
test gegen  die  Pelasger.  Namentlich  in  dem  Ausdruck  des 
Thukydides  IV  109  xo  dl  jiAhötov  (der  Bewohner  der  Athos- 
halbinsel)  IltXaoyixdv  tcov  :<cd  Afjfivov  Jtore  xai  Adfjvag  Tvq- 
or/vcov  oix7]öavxcov  tritt  derselbe  sehr  deutlich  hervor.  Dass 
Pelasger  in  Attika  gewesen  und  nach  Lemnos  ausgewandert 
waren,  musste  man  den  angesehenen  Literaturwerken,  die  es 
bezeugten,  schon  glauben  —  schien  es  doch  überdies  durch 
den  Namen  Pelargikon  bestätigt  zu  werden.  Aber  man  wusste, 
dass  die  von  den  Athenern  vertriebenen  Bewohner  von  Lemnos 
nicht  Pelasger  sondern  Tyrsener  gewesen  waren.  Man  setzte 
also  beide  Namen  gleich  und  redete  von  tyrsenischen  Pelasgern, 
eine  Bezeichnung,  die  Sophokles  einmal  auf  die  argi vischen 
Pelasger  des  lnachos  angewendet  hat,2)  die  aber  sonst  von 
den  Pelasgern  im  übrigen  Griechenland  nicht  gebraucht  wird, 
sondern  auf  die  Pelasger  in  Athen  und  Lemnos  beschränkt  blieb. 

Das  Verfahren  des  Hekataeos  oder  eventuell  seines  poeti- 
schen Gewährsmannes  ist  jetzt  klar.  Die  attischen  Pelasger 
mussten  irgendwo  untergebracht  werden,  da  sie  im  Lande  nun 
einmal  nicht  ansässig  waren.  Ebenso  war  zu  ermitteln,  woher 
die  Bewohner  von  Lemnos  gekommen  waren;  denn  nach  allge- 
meiner Tradition  hatten  seit  der  Argonautenzeit  Minyer  auf  der 


1)  ebenso  der  späte  Diogenes  iv  xotq  vtiIq  Qovktjv  aniazoK;  ib.  I<>: 
<pr}ol  öij  MirqaaQXOV  TvQQrjvbv  Üvza  xaxa  ytvoq  xcöv  Aijtiror  x<u  "i/xßpov 
xal  Sxvqov  oixiyoävTujv  TvQQ-qvtBv  etc.  Pythagoras  erhält  auch  einen 
Bruder  Tyrrhenos  (ib.  2.  10  Diug.  Laert.  VIII  1,  2). 

2)  "Ivaxe  ytvvÜTO{)  ...  ixiya  iiQeoßsvwr  "ÄQyovg  r«  yvcug  "//(jag  xf 
TKxyoiq  xal  Tvyoijvoloi  üeXaoyoiQ,  bei  Dion.  Hai.  I  28. 


21 

Insel  gewohnt,  die  dann  nach  Sparta  und  Thera  gewandert 
waren;')  die  späteren  Bewohner  konnten  also  erst  nach  dieser 
Zeit  hingekommen  sein.  So  löste  man  zwei  Schwierigkeiten 
auf  einmal,  wenn  man  die  attischen  Pelasger  nach  Lemnos 
wandern  liess.  Dass  die  Lemnier  dann  wieder  von  den  Athe- 
nern vertrieben  wurden,  hat  offenbar  bei  der  Bildung  dieser 
Ansicht  noch  wesentlich  mitgewirkt. 

Auf  diesem  Wege  sind  die  barbarischen  Bewohner  der 
Inseln  im  Norden  des  ägäischen  Meeres  —  Lemnos  Imbros 
Samothrake  nennt  Herodot  —  zu  Pelasgern  geworden.  Von 
hier  hat  sich  der  Name  noch  weiter  ausgebreitet:  Ephoros 
(Diodor  XI  60)  nennt  die  Bewohner  von  Skyros,  welche  Kimon 
vertrieb,  Pelasger  und  Doloper,2)  während  sie  sonst  nur  Doloper 
heissen.  Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  aber  hielt  sich  der 
Ausdruck  Tyrsener3)  und  wurde  nun  auch  auf  die  attischen 
Pelasger  angewandt. 

Herodot  kennt  Tyrsener  im  Bereiche  des  ägäischen  Mee- 
res nicht,  TvQörjroi  sind  bei  ihm  ausschliesslich  die  italischen 
Etrusker.  Es  hat  das  seinen  guten  Grund;  er  leitet  die  letz- 
teren aus  Lydien  ab,  und  konnte  sie  daher  unmöglich  mit 
den  Pelasgern  in  Verbindung  bringen.  Ueberhaupt  geht  Hero- 
dot in  diesen  Dingen  sehr  radical  vor,  zweifellos  im  Anschluss 
an  ältere  Schriftsteller,  vielleicht  an  Hekataeos.  Die  Leleger, 
über  deren  Bedeutung  kaum  weniger  Zweifel  herrschten  wie 
über  die  Pelasger,  erklärt  er  schlechtweg-  und  ohne  weitere 
Begründung  für  einen  älteren  Namen  der  Karer  (I  171),  die 
Stadt  Antandros,  welche  Alkaeos  (Strabo  XIII  1,  51)  in  Ueber- 


1)  Pindar  Pyth.  4  setzt  in  allem  wesentlichen  dieselbe  Erzählung  vor- 
aus, welche  Herodot  gibt,  und  die  jedenfalls  schon  in  den  Eoeen  erzählt 
war  (vgl.  Kirchhoff  Odyssee  S.  321  ff.). 

2)  Nach  Skymnos  v.  584,  der  ja  von  Ephoros  abhängig  ist,  wohnen 
auf  Skyros  und  Skiathos  Pelasger  ex  &Q<xxrjq  öiaßävteq  wq  Xoyoq.  Von 
Ephoros  ist  auch  Nikolaos  von  Dainaskos  (bei  Steph.  Byz.  s.  v.  SxvQog) 
beeinflusst,  der  die  Einwohner  von  Skyros  Pelasger  und  Karer  nennt, 
vgl.  unten  S.  22  Anm.  3.  Aehnlich  lässt  Diogenes  (oben  S.  20  Anni.  1)  die 
Tyrrhener  Lemnos,  Imbros  und  Skyros  besiedeln. 

3)  Wenn  Ephoros  die  Bewohner  von  Lemnos  in  seinem  historischen 
Bericht  Tyrrhener  genannt  hat,  so  hat  er  damit  ihre  Identität  mit  den 
attischen  Pelasgern  natürlich  nicht  bestreiten  wollen. 


22 

einstimmung  mit  den  Andeutungen  der  Dias  lelegisch  nannte, 
ist  ihm  eine  Pelasgerstadt  (VII  42). l) 

Spätere  freilich  haben  zu  verbinden  gesucht,  was  Herodot 
schied.  Der  Mythograph  Antikleides  lässt  die  Pelasger  Lemnos 
und  Imbros  besiedeln,  und  dann  einen  Theil  von  ihnen  sich 
dem  Tyrrhenos  dem  Sohn  des  Atys  auf  dem  Zug  nach  Italien 
anschliessen.2)  Umgekehrt  ist  der  Schriftsteller,  aus  dem  Nepos 
Milt.  2  schöpfte  —  leider  wissen  wir  nicht,  wer  es  ist  —  ebenso 
radical  vorgegangen  wie  Herodot  und  hat  die  Bewohner  von 
Lemnos  zu  Karern  gemacht,  wie  die  der  Kykladen.3)  Ausser- 
dem aber  konnte  noch  ein  anderes  Volk  Anspruch  auf  Lemnos 
erheben,  die  Sintier.  In  der  Erzählung  von  Hephaestos'  Fall 
IL  A  594  heissen  die  Bewohner  von  Lemnos  Sintier,  ebenso 
Od.  d-  294  im  Liede  von  Ares  und  Aphrodite  21vtl£q  ayQio- 
ipoovoiA)  Nach  Strabo  sind  diese  Sintier  oder  Sivxoi  identisch 
mit  den  Saiern  des  Archilochos  und  den  Sapaeern  der  späteren 
Zeit,  die  bei  Abdera  sitzen  (X  2,  17.  XIII  3,  20);  Philochoros 
dagegen  identificirte  sie  mit  den  Pelasgern  und  Tyrrhenern, 
und  wie  er  von  diesen  das  Wort  rvQavvog  ableitete,  so  er- 
klärte er  ZivTizQ,  für  einen  denselben  wegen  ihres  Kaubzuges 
nach  Brauron  gegebenen  Beinamen,  von  oiveofrai  (fr.  6  Schol. 
II.  A  594.  Ebenso  Schol.  Ap.  Khod.  I  608).  Aehnlich  hatte  schon 
Hellanikos  den  Namen  erklärt:  die  Lemnier  seien  die  ersten 
Waffenschmiede  gewesen.  Er  hielt  sie  aber  für  Thraker,  die 
fiit-tZZrjvaq  geworden  seien  (fr.  112.  113).  Geschichtlich  ist  es 
wohl  das  wahrscheinlichste,  dass  die  Sintier  ein  thrakischer 
Stamm  sind,  welcher  mit  den  Tyrsenern  nichts  zu  thun  hat, 
sondern  vor  ihnen  die  Insel  bewohnte. 

Es  ist  nie  bezweifelt  worden,  dass  die  Tyrsener  von  Lem- 
nos identisch  sind  mit  den  tyrsenischen  Seeräubern,  welche 
aus   der   Geschichte  von   dem  Raub   des  Dionysos   und   ihrer 


1)  ebenso  Konon  41. 

2)  Strabo  V  2,  4.  Woher  hat  Strabo  diese  Notiz,  die  zwischen  Ephoros 
und  den  Atthidographen  (Philochoros)  in  der  Mitte  stellt? 

8)  Die  Einwirkung  dieser  Darstellung  zeigt  sich  auch  bei  Nie.  Dam., 
oben  S.  21  Anm.  2. 

4)  II.  #468.  2  230.  0  46.  JJJ*745  setzen  dagegen  die  aus  der  Argo- 
nautensage bekaünten  Verhältnisse  voraus. 


23 

Bestrafung'  (hymn.  hom.  5  u.s.w.)  am  bekanntesten  sind.1)  Epho- 
ros  lässt  sie  als  Seeräuber  von  den  Kretern  (die  nach  ihm  erst 
lange  nach  Minos  verwildern  und  Piraten  werden)  abgelöst 
werden  (Strabo  X  4,  9:  fisrä  yäg  rovg  TvQQrjvovg,  oi  fidXiöra 
IdijcQöap  %7]v  xaß'  fjfiag  ftalaOGav);  Kastor  nahm  sie  unter  dem 
Namen  Pelasger  in  seine  Liste  der  Seeherrscher  auf  und  Hess 
ihre  Thalassokratie  auf  Grund  der  S.  11  Anm.  2  besprochenen 
Ansätze  93  Jahre  nach  dem  troischen  Kriege  beginnen  und 
85  Jahre  dauern,  worauf  ihnen  die  Thraker  folgen  (Diodor  bei 
Euseb.  ed.  Schoene  I  225).  Bei  Homer  erscheinen  diese  Tyr- 
sener  nicht,  ebenso  wenig  in  den  Ueberresten  der  hesiodeischen 
Poesie.  Wir  dürfen  daher  vielleicht  annehmen,  dass  sie  ihre 
Seeräubereien  in  den  griechischen  Gewässern  erst  in  späterer 
Zeit,  im  siebenten  und  sechsten  Jahrhundert,  getrieben  haben, 
bis  ihnen  Miltiades  ein  Ende  machte. 

Die  von  Lenmos  und  Imbros  vertriebenen  Tyrsener  —  von 
der  ärmeren  Bevölkerung  mögen  ja  manche  als  Tagelöhner  und 
Pächter  der  attischen  Colonisten  zurückgeblieben  sein,  die  dann 
ihre  Nationalität  verloren  —  wohnten  nach  Thukydides  später 
auf  der  Athoshalbinsel.  Herodots  Angabe  I  57:  „die  Pelasger, 
welche  Plakia  und  Skylake  am  Hellespont  [östlich  von  Kyzikos] 
besiedelt  haben  und  ehemals  mit  den  Athenern  zusammen- 
wohnten,  und  was  es  sonst  noch  für  Pelasgerstädte  gibt,  die 
ihren  Namen  geändert  haben  [d.  h.  die  sich  nicht  mehr  Pelas- 
ger nennen]"  steht  damit  nicht  im  Widerspruch.  Unter  den 
letzteren  mögen  die  Athosstädte  gemeint  sein,  die  Angabe  über 
Plakia  und  Skylake  erklärt  sich  am  einfachsten  doch  so,  dass 


1)  Eine  andere  Erzählung,  die  an  den  Cult  der  Hera  von  Sainos  an- 
knüpft, bewahrt  Menodotos  bei  Athen  XV  12.  —  Auch  in  der  zu  dem 
Sprichwort  Ilizäv?]  sifil  bewahrten  Erzählung  des  Hellanikos  (fr.  115  bei 
Suidas  s.v.  Zenobios  5,  61),  die  Stadt  Pitane  sei  vonPelasgern  geknechtet, 
von  Erythraeern  befreit  worden,  dürften  die  Pelasger  wohl  tyrsenische 
Seeräuber  sein.  Wenn  nicht  erst  die  Paroemiographen  den  Pelasgernanien 
eingesetzt  haben,  so  hat  Hellanikos  den  Sprachgebrauch  Herodots  befolgt 
und  den  Tyrsenernamen  auf  Italien  beschränkt  (was  zu  seiner  Darstellung 
bei  Dion.  Hai.  I  28  sehr  gut  stimmen  würde).  [Allerdings  kennt  Hella- 
nikos auch  Tyrsener  auf  Lesbos:  Steph.  Byz.  Mezaov,  nöXic,  Aeoßov, 
?}v  Mezaq  TvQQtjvog  (oxlgev,  wq  cE?.Xavixoq  (fr.  121).  Vielleicht  hat  er 
hier  auch  die  Tyrsener  mit  den  Pelasgern  auf  Lesbos  (unten  S.  35)  iden- 
tificirt.l 


24 

ein  Theil  der  vertriebenen  Lemnier  dorthin  gewandert  sei  *) 
—  dann  hätten  die  Perser  ihnen  Aufnahme  gewährt. 

Von  diesen  Pelasgern,  d.h.  den  Tyrsenen,  sagt  nun  Hero- 
dot,  sie  sprächen  dieselbe  Sprache,  wie  „diejenigen  Pelasger, 
welche  oberhalb  der  Etrusker  die  Stadt  Cortona  bewohnen, 
die  ehemals  Nachbarn  der  Dorer  waren;  sie  wohnten  aber  da- 
mals in  dem  jetzt  Thessaliotis  genannten  Lande"  I  57:  [wenn 
man  über  die  Sprache  der  Pelasger  urtheilen  darf  nach]  zoloi 
vvv  stl  sovöl  JlsXaaycdv  rcov  vjzeq  Tvqötjvcov  Kqotcovcc  noliv 

olx80VTCOV,     Ol    OflOVQOL     X0T8     fjÖCCV    TOtÖt    VVV    AcOQl8VÖl    XCtlsO- 

fisvoiöi  (plxsov  6h  xi]vixavxa  yrjv  r?)v  vvv  &8ö6afocoTtv  xa%80- 
fiivrjv)  .  .  .  und  nachher  xal  yao  ö?)  ovre  ol  KooTcovirjTai  ovöa- 

flOlOL    TOJV    VVV    0(ptaq    JtZQlOLXEOVTCOV    slöl     OtWyÄCOÖÖOL     OVT8    OL 

IlXaxLTjvol,  ö(flöL  öl  dfioyXcoooof.  So  hat  Dionys  von  Halikar- 
nass  (I  29)  die  Stelle  gelesen,  während  unsere  Handschriften 
Kotjorcova  und  KgrjöToivirjTcu  bieten.  Dass  Dionys'  Lesung  die 
einzig  mögliche  ist,  haben  Niebuhr,  Kiepert,  Stein  und  neuer- 
dings nochmals  Hildebrandt2)  erwiesen.  Da  indessen  die 
Lesung  Kreston  noch  immer  wieder  Vertheidiger  findet,  muss 
ich  die  Argumente  noch  einmal  wiederholen. 

Wer  Kreston  und  Krestoniaten  liest,  hält  dieselben  fin- 
den thrakischen  Volksstamm  der  Krestonen  oder  Krestonaeer. 
und  erklärt  Herodots  Angabe  durch  die  wiederholt  angeführte 
Thukydidesstelle  IV  109,  nach  der  auf  der  Athoshalbinsel  tyr- 
senische   Pelasger   mit   Bisalten,   Krestonen   und  Hedonen   zu- 


1)  Bei  den  Späteren  erscheinen  Pelasger  in  der  Nähe  von  Kyzikos 
als  Feinde  der  Dolionen  (Ap.  Rhod.  I  1024  mit  den  Scholien,  vgl.  ib.  987 
schol.,  Apollod.  19,  18.  Steph.  Byz.  Btoßixoc).  Sie  sollen  zwar  von  Euboea 
(oder  nach  Deilochos  ans  Thessalien)  gekommen  sein,  werden  aber  doch 
wohl  nichts  anderes  sein  als  die  Pelasger  oder  vielmehr  Tyrsener  von 
Plakia  und  Skylake.  Konon  narr.  -II  macht  sogar  den  Kyzikos  selbst  zu 
einem  von  den  Aeolern  aus  Thessalien  vertriebenen  Pelasger,  lässt  dann 
die  Tyrsener  nach  Kyzikos  hinkommen  und  diese  von  den  Milesiern  be- 
siegt werden.  Die  Elemente,  aus  denen  diese  Geschichte  componirt  ist, 
sind  leicht  zu  erkennen.  Werth  hat  sie  so  wenig  wie  das  meiste  was 
Konon  erzählt. 

2)  Niebuhr  Rom.  Gesch.  I4  S.  37  Anm.  89.  Kiepert  Lehrbuch  der 
alten  Geogr.  §  348,  6.  Stein  zu  der  Stelle.  Hildebrandt,  de  itinerilms 
Herodoti,  diss.  Leipz.  1883.  S.  41  ff.  Stein  hätte  KQoztöva  in  seinen  Text 
aufnehmen  müssen. 


25 

sammen  wohnen.  Offenbar  haben  aber  beide  Stellen  gar  nichts 
mit  einander  zu  thun.  Nach  Thukydides  wohnen  tyrsenische 
Pelasger  und  Krestonen  durch  einander;  nach  Herodot  wären 
die  Krestionaten  Pelasger  (wovon  sonst  niemand  etwas  weiss") 
und  wohnten  oberhalb  der  Tyrsener,  die  sonst  nach  allgemeiner 
Annahme  gerade  selbst  die  Pelasger  sind.  Sodann  aber  existirt 
eine  Stadt  Kreston  überhaupt  nicht.1)  Drittens  heisst  der 
thrakische  Volksstamm  niemals  Krestoniaten,  wird  aber  bei 
Herodot  wiederholt  KorpTcovaloi  (das  Land  KQrjözmvixy)  ge- 
nannt. Endlich,  welcher  Leser  wird  bei  dem  Namen  Tyrsener 
an  die  Athoshalbinsel  denken?  Wie  kann  also  Herodot  durch 
die  Bezeichnung  „oberhalb  der  Tyrsener*'  die  Lage  von  Kreston 
näher  zu  bestimmen  suchen,  wenn  er  einen  Ort  der  Athos- 
halbinsel meint? 

Nun  sind  bei  Herodot.  wie  schon  erwähnt,  TvQör/vol  immer 
die  Etrusker  Italiens;  andere  Tyrsener  kennt  er  überhaupt  nicht. 
„Oberhalb  der  Tyrsener"  aber  liegt  die  Stadt  Cortona,  welche 
bei  den  Griechen  vielfach,  so  gleich  bei  Hellanikos,  Kroton 
genannt  wird  (vgl.  Dion.  Hai.  I  2G  Steph.  Byz.  s.  v.).  Wollte 
Herodot  von  dieser  Stadt  reden,  so  musste  er  einen  erklärenden 
Zusatz  beifügen,  um  sie  von  dem  seinen  Lesern  weit  bekann- 
teren Kroton  in  Grossgriechenland  —  das  bei  ihm  nie  einen 
Zusatz  erhält  —  zu  unterscheiden,  und  dieser  Zusatz  konnte 
wieder  nur  von  den  Etruskern  hergenommen  werden.  Endlich 
ist  das  regelrechte  und  ausnahmslos  gebrauchte  td-vtxöv  von 
Kqotcov  eben  Kqotcov  uiti]q  (-T]T7jg). 

So  steht  die  Lesung  Kqotcov  bei  Herodot  absolut  ■  fest.2) 
Es  kommt  noch  hinzu,  dass  Hellanikos  genau  mit  ihm  überein- 


1)  Steph.  Byz.  s.  v.  ist  nur  Folgerung  aus  Herodot,  s.  Anm.  2.  [Wila- 
mowitz  Homer.  Unters.  190  behauptet  „nun  wohnen  nach  Herodot  Tyrsener 
bekanntlich  (!)  zwischen  Axios  und  Strynion,  im  inneren  Makedonien".  Bei 
Herodot  steht  kein  Wort  davon.  Wenn  die  Lesung  Kqtjgtwvcc  richtig 
wäre,  so  würden  die  Tyrsener  unterhalb  der  Krestonaeer,  d.  h.  an  der 
Küste  oder  etwa  im  Norden  der  Chalkidike  zu  suchen  sein.] 

2)  Kreston  ist  bei  Herodot,  wie  auch  Kiepert  und  Hildebrandt 
hervorheben,  nicht  Verschreibung,  sondern  gelehrte  Correctur  auf  Grund 
der  Thukydidesstelle,  die  ein  Erklärer  offenbar  zur  Auslegung  des  Herodot- 
textes  herangezogen  hat,  Aus  der  Discussion  über  diese  Frage  erklärt 
sich  Steph.  Byz.:  Kq^otojv,  nöXic  0Qaxriq'  eoixe  öl  sivai  rj  Kqtjotwv 
Tiaf}'  1Hqo6ötoj.  —  Wir  haben   es  hier  mit  derselben  gelehrten  Eedaction 


26 

stimmt.  „Unter  König  Nanas,  erzählte  er  in  der  Phoronis 
(Dion.  Hai.  I  28),  wurden  die  Pelasger  von  den  Hellenen  (das 
sind  die  Dorer  Herodots)  verjagt  [aus  Thessalien],  und  nach- 
dem sie  ihre  Schiffe  am  Flusse  Spines  am  ionischen  Meerbusen 
gelassen  hatten,  nahmen  sie  die  Stadt  Kroton  im  Binnenlande, 
und  von  hier  aus  besiedelten  sie  das  jetzt  Tyrsenien  genannte 
Land  [Hellanikos  lässt  sie  in  Italien  den  Pelasgernamen  in 
Tyrsener  umwandeln]."  Hellanikos,  der  auch  hier  offenbar 
später  schreibt  als  Herodot,  unterscheidet  sich  von  ihm  nur 
dadurch,  dass  ihm  Pelasger  und  Etrusker  identisch  sind;  in 
diesem  Puncte  hat  er  Herodot  berichtigt,  sonst  gehen  beide 
offenbar  auf  dieselbe  Grundlage  zurück. 

Die  Angabe  Herodots,  dass  die  Bewohner  von  Cortona  eine 
ganz  andere  Sprache  redeten  als  die  Etrusker,  steht  völlig 
isolirt;  sonst  gilt  Cortona  immer  als  eine  Etruskerstadt,  und 
Hellanikos  hat  denn  auch  Herodots  Angabe  corrigirt.  Uns  fehlt 
jedes  Mittel,  um  Herodots  Glaubwürdigkeit  zu  prüfen.  Dass 
eine  dialektische  Verschiedenheit  zwischen  Cortona  und  dem 
übrigen  Etrurien  vorhanden  war,  ist  ja  denkbar;  weiter  zu  gehn 
wird  man  sich  schwerlich  entschliessen  können.1)  Wie  dem  aber 
auch  sei,  immer  bleibt  noch  die  sehr  positive  Angabe  Herodots 
bestehen,  dass  die  Plakiener  und  die  Krotoniaten,  d.h.  die  Be- 
wohner Cortonas,  dieselbe  Sprache  sprachen.  Wie  die  meisten 
habe  auch  ich  diese  Angabe  bisher  für  falsch  gehalten.  Aber 
irgend  welchen  Grund  haben  wir  dafür  nicht.  Und  wenn  wir 
Herodot  glauben,  müssen  wir  oben  folgern,  dass  die  Tyrsener  von 
Lemnos,  Plakia  u.  s.  w.  etruskisch  redeten,  wie  ihr  Name  sagt. 

Seitdem  im  Jahre  1886  auf  Lemnos  eine  Inschrift  zu  Tage 
gekommen  ist,   die  jedenfalls  spätestens  der  ersten  Hälfte  des 

unseres  Herodottextes  zu  thun,  welche  im  Prooemiuin  \V.ixaQvi}aaeo<;  für 
Oovqlov  eingesetzt  hat,  und  von  der  sich  wohl  auch  sonst  noch  Spuren 
finden  werden.  [Schwaktz,  Kostocker  index  lect.  S.S.  1890  sucht  die 
Lesung  Kg^arcöva  durch  Annahme  einer  Interpolation  bei  Herodot  zu 
retten.  Erwünschter  kann  die  Lesung  Kqotlövcc  nicht  bestätigt  werden, 
als  durch  eine  derartige  Bankerotterklärung  der  Gegner.  Nach  dem  jetzi- 
gen Stande  der  Philologie  ist  allerdings  zu  erwarten,  dass  die  Interpola- 
tion in  den  nächsten  Herodotausgaben  anerkannt  werden  wird.] 

1)  vgl.  Herodots  Aeusserung  über  die  vier  xqötcol  des  ionischen  Dia- 
lekts I  142,  besonders  die  Worte:  avzcu  6h  cci  nölisq  xya  Tzyozeyov  Xtyßti- 
oyoL  b[Aokoy£ovoL  xaza  ykwooav  ovöev,  a<piai  öl  ö/Liokoytovot. 


27 

sechsten  Jahrhunderts  angehört  und  in  einer  nicht  griechischen 
Sprache  abgefasst  ist,  welche  die  stärksten  Anklänge  an  das 
Etruskische  aufweist  und  wohl  jedenfalls  als  ein  etruskischer 
Dialekt  betrachtet  werden  kann,1)  scheint  nun  diese  Annahme 
als  sicher  erwiesen  zu  sein.  Dass  die  Bewohner  von  Lemnos 
Tyrsener  heissen  wie  die  Etrusker  Italiens  —  die  beiden 
Namensformen  sind  echt  italische  Gentilicia  von  dem  Stamme 
Turs,  Trus  (E-trur-ia),  die  eine  mit  dem  Suffix  -anus 
(Turs-anus),  die  andere  mit  dem  Suffix  -cus  (Turs-cus  =  Tus- 
chs, E-trus-cus)  —  darf  nicht  mehr  durch  eine  zufällge  Homo- 
nymie erklärt  werden;  beide  gehören  demselben  Volk  an.  Die 
älteste,  suffixlose  Form  ihres  Namens  findet  sich  wahrschein- 
lich in  den  Turscha  (oder  Turuscha)  der  Aegypter,  einem  Pi- 
ratenvolk, das  unter  Merneptah  und  Ramses  III  mit  anderen 
Seevölkern  verbunden  das  Nilland  heimsuchte. 

Auf  die  Frage  nach  der  Herkunft  der  Etrusker  wirft  frei- 
lich dies  Resultat  gar  kein  Licht;  vor  allem  ist  es  methodisch 
unzulässig,  die  herodotische  Erzählung  von  ihrem  lydischen 
Ursprung2)  mit  der  etruskischen  Ansiedlung  auf  Lemnos  und 
den  Nachbarinseln  in  Verbindung  zu  setzen.  An  sich  ist  es 
ebenso  zulässig,  in  ihnen  Ueberreste  einer  etruskischen  Wan- 
derung von  Osten  nach  Westen  zu  sehen,  wie  etruskische  An- 
siedler, wrelche  auf  Raubfahrten  ins  ägäische  Meer  gekommen 
sind  und  hier  die  von  der  griechischen  Colonisation  nicht  be- 
setzten Inseln  occupirt  haben.  Bis  jetzt  erscheint  mir  die 
letztere  Annahme  als  die  bei  weitem  wahrscheinlichere;  und 
sie  scheint  eine  Bestätigung  dadurch  zu  gewinnen,  dass  die 
älteste  griechische  Literatur  Tyrsener  im  ägäischen  Meere  noch 
nicht  kennt.  — 


1)  gefunden  von  Cousin  und  Durrbach,  Bull.  corr.  hell.  X  1  ff. 
Vgl.  Pauli,  eine  vorgriechische  Inschrift  von  Lemnos  1886.  Die  Inschrift 
ist  bekanntlich  auch  sonst  vielfach  besprochen. 

2)  Dieselbe  ist  überall,  wo  sie  erwähnt  wird,  direct  oder  indirect 
ans  Herodot  entlehnt.  Xanthos  wusste  bekanntlich  nichts  davon,  und 
Dionys  von  Halikarnass  hat  Herodots  Angabe  wohl  mit  Recht  dadurch 
erklärt,  dass  derselbe  aus  dem  lydischen  Volksstamme  der  Torrheber  die 
Tyrsener  gemacht  habe.  —  Dass  ich  Pauli's  Combinationen  nicht  bei- 
stimmen kann,  ergibt  sich  schon  daraus.  Ueberdies  fusst  derselbe  zum 
Theil  auf  Angaben,  deren  Werthlosigkeit  ich  im  vorstehenden  nachge- 
wiesen zu  haben  glaube. 


28 

Wie  man  dazu  gekommen  ist,  die  Etrusker  zu  Pelasgern 
zu  machen  und  somit  die  Pelasger  auch  nach  Italien  zu  bringen, 
dürfte  jetzt  ohne  weiteres  klar  sein.  Systematisch  ausgeführt 
und  in  pragmatische  Geschichte  umgesetzt  ist  diese  Ansicht 
bekanntlich  zuerst  von  Hellanikos.  Ebenso  hinfällig  sind  die 
phantastischen  Vorstellungen  von  pelasgischen  Mauerbauten, 
welche  in  den  neueren  Kunstgeschichten  eine  so  grosse  Rolle 
spielen:  sie  sind  lediglich  aus  dem  Pelargikon  abstrahirt.  Die 
eigentliche  Pelasgerfrage  dagegen  bleibt  von  dieser  Untersuchung 
völlig  unberührt.  Wir  haben  nur  eine  durch  falsche  Combi- 
nation  in  dieselbe  hineingerathene  Traditionsmasse,  welche  so 
viele  Forscher  irre  geführt  hat,  aus  ihr  wieder  ausgeschieden. 
Und  so  dürfen  wir  wohl  auch  hoffen,  dass  das  Volk  der  Pe- 
larger,  welches  sich  bei  den  Alten  verschämt  verborgen  hielt, 
in  neuester  Zeit  aber  in  mehr  als  einem  Werk  kühn  ans  Tages- 
licht hervorgewagt  hat,  recht  bald  wieder  völlig  im  Schosse 
der  Nacht  versinkt  —  bis  es  vielleicht  nach  Jahrtausenden, 
wenn  auch  von  unseren  Arbeiten  nur  in  Lexiconartikeln  und 
Scholiennotizen  dürftige  Reste  zu  finden  sein  werden,  von  einem 
grundgelehrten  Forscher  aufs  neue  hervorgezogen  wird. 


Zweites  Kapitel. 
Die  Pelasger  in  Thessalien,  Dodona  und  Kreta. 


Nach  Eliminierung  der  attischen  und  tyrsenischen  Pelasger 
können  wir  uns  der  Untersuchung  der  wahren  und  echten  Pe- 
lasger zuwenden.  Es  gibt  kaum  eine  Landschaft  Griechen- 
lands, in  der  uns  ihr  Name  nicht  gelegentlich  begegnete. 
Sofort  aber  tritt  uns  ein  tiefgreifender  Unterschied  entgegen: 
in  den  meisten  griechischen  Landschaften,  so  z.  B.  in  Arkadien 
und  Argos,  sind  die  Pelasger  ein  Volk  der  Urzeit,  das  in  der 
Überlieferung  nur  durch  seinen  Eponymos,  den  König  Pelasgos, 
vertreten  ist;  als  reales  Volk  finden  wir  sie  nur  in  Thessalien 
und  in  einer  Stelle  der  Odyssee  auf  Kreta.  Diese  Pelasger 
haben  wir  daher  zunächst  zu  behandeln ;  an  sie  reiht  sich  die 
Verbindung,  in  welcher  in  der  Patroklie  der  Pelasgername 
mit  Dodona  erscheint. 

1.  Die  Pelasger  in  Thessalien. 

Wie  bekannt  trägt  eine  der  thessalischen  Tetrarchien  bis 
in  die  späteste  Zeit  den  Namen  Pelasgiotis.  Es  ist  die  grosse 
Ebene  des  inneren  Thessaliens,  mit  der  Hauptstadt  Larisa 
am  Peneos.  „Larisa,  Mutter  der  pelasgischen  Ahnfrauen" 
lautete  der  Anfang  von  Sophokles  Larissäern. l)  Hieronymos, 
sei  es  der  Kardianer,  sei  es  der  jüngere  Khodier  (um  250  v.Chr.), 
bezeichnet  das  Land  als  „das  wir  jetzt  die  pelasgische  Ebene 
nennen"  (rö  vvv  vmXov[.i£vov  IJ^Xaoyixdp  jzediov  Strabo  IX 
5,  22);  in  älterer  Zeit  sagte  man  dafür  IleXaoyixov  'Äqjoq. 
In   einem   alten   berühmten   Orakelspruch   heisst   es  das  beste 

l)  xal  2o(poxl.TJq  tv  aQ/y  AaQiaaalwv  AaQtooa  /birjX7]Q  nQooyövojv 
IleXaayidcov,  avzixov  nQoyövwv  Apollodor  in  den  schol.  Geuev.  zu  <P  319. 


30 

(Acker)land  der  Welt ')  und  ähnlich  wird  das  Gebiet  von  La- 
risa  noch  bei  Strabo  bezeichnet;  nur  hat  es  am  nessonischen 
See  von  Überschwemmungen  zu  leiden,  doch  haben  dem  Deich- 
bauten der  Larisäer  abgeholfen  (Strabo  IX  5,  19). 

Die  späteren  kannten  den  Namen  Iltlaöyixöv  "Aoyoc.  eigent- 
lich nur,  weil  er  im  Schiffskatalog  in  der  Schilderung  des 
Gebiets  des  Achilleus  vorkam  (B  681  ff): 

o?  d'/loyoi  t'  etyov  to  neXaoyixor,  ovßag  dgovQjjg,  (so  Zenodot, 
ol  t'  "ÄXor  oi  x  AXojtijV  ot  re   TqtjxZv  Ivi^ovro,  s.u.) 

oi  x    tiyov  <Pfti?]v  Tjö'    Ellaöa  xalXiyvvaixa, 
Mvgiiidoveq  de  xaXevvro  xal  "EjLXtjvsq  xal  Äycuoi, 
tgjv  av  jiBVTi]xovTa  vicov  i]v  ((QX(j$  Ay^iXlzva. 
Hier   wird    das    pelasgische   Argos    mit    den    südthessalischen 
Landschaften   Phthia    und   Hellas    (die    unterschieden    werden 
wie  1  395  [==  /  496].  478  f.)  zum  Gebiet  des  Achilleus  gerechnet 
und  wie  es  scheint  alle  drei  als  Städtenamen  betrachtet.    Das 
ist  freilich  geographisch  unmöglich.    Aber  die  Alten  waren  von 
der  Authenticität  dieser  Angaben  für  die  Urzeit  tiberzeugt  und 
mussten  daher  zu  verzweifelten  Auswegen  greifen.     Die  Frage 
ob  Phthia   und   Hellas   Städte   oder   Landschaften   seien,   war 
viel  umstritten.'2)     Aristarch  hat    wenigstens  Hellas   als   Stadt 


1)  rai't/Q  [A£V  naor/g  xb   Tlf-Xcaiyixav  gyoc  "Aaimvor, 
iTiTioi   (iixiuXixal,  Aaxeöai^öriui  xz  yvra'ixtg, 
avdoeg  S'oi  nivovotv  vöojy  xakrjq  *Agsd-ov0tjg. 
äXX'  txi  xaX  xwv  sioiv  ä/usivoveg,  dl  xb  /neaariyr 
TiQvvd-oq  vaiovoL  xal  'ÄQxaöi?]g  7ioXv(xr)Xov, 
AQyüoi  Xlvo&wqiixzq,  xkvxQa  Tixokefioto. 

i  fitlq  6\Aiyitfg  (oder  d'o)  MiyaotZc),  ovzs  xqixoi  ovxs  xtxaoxoi 
ovxe  dvtodixaxoi,  ovx'1  iv  Xöyto  ovx1  iv  äpi^f/cö. 
Aiithol.  pal.  XIV  73.  Suidas  und  Photios  s.v.  vfietq,  schol.  Theokr.  14,-18 
Der  Spruch,  auf  den  Ion  von  Chios  (fr.  15  Bergk)  und  dann  Theokrit 
1.  c.  und  Kallimachos  epigr.  27  Schneider  anspielen,  mag  noch  ins 
siebente  Jahrhundert  hinaufragen;  schon  in  der  Mitte  des  sechsten  Jahr- 
hunderts war  es  kaum  mehr  möglich,  die  Argiver  und  Chalkidier  (vgl. 
Strabo  X  1,  13)  als  die  besten  Krieger  zu  preisen.  Auch  trügt  er  ja  durch- 
aus das  Gepräge  der  Blüthezeit  der  kleinen  aristokratischen  Gemeinwesen 
(vgl.  Wilamowitz  Hermes  IX  327).  —  Übrigens  ist  das  Orakel  auch  das 
Vorbild  des  Spruchs  xb  IleXaQyixbv  äoybv  aiAzivov  Thuk.  II  17. 

2)  s.  Strabo  IX  5,5,  natürlich  aus  Apollodor;  seine  Angaben  bilden 
zu  den  von  Leiirs  Aristarch  32*2r>  zusammengestellten  Scholiennotizen  die 
nothwendige  Ergänzung. 


31 

anerkannt; ')  mehr  als  eine  geeignete  Localität  Hess  sich  ja 
leicht  finden  (s.  Strabo).  Aber  auch  das  pelasgische  Argos  für 
eine  Stadt  zu  erklären,  wie  manche  forderten  (to  "ÄQyoo,  to 
Tibi,  oi  fthv  xal  jtoXlv  öiyovxat  Bixx aXixijv  jisql  Aagioav 
tögvfitvfjv  jrorh,  vvv  d' ovxtri  ovöav  oi  öh  ov  JtoXiv  aXXä  to 
twv  Hbxxalmv  jitdlov  etc.  Strabo  1.  c),  erschien  doch  auch  ihm 
unmöglich;  er  sah  sich  gezwungen,  seinem  Princip,  Homer  nur 
aus  sich  selbst  zu  erklären,  untreu  zu  werden  und  zu  den 
gewaltsamsten  Interpretationskünsten  zu  greifen.  Den  Ein- 
gangsvers las  er  abweichend  von  Zenodot 

vvv  av  tovq,  oöooi   ro  TltXaoyixov  "Aqjoq  tvaiov. 

und  erklärte,  dieser  Vers  bezöge  sich  nicht  auf  das  Gebiet 
des  Achill,  sondern  bilde  den  Eingang  zu  dem  ganzen  folgen- 
den Abschnitt  über  Thessalien:2)  ov  yaQ  fiovoi  to  Helaoyixov 
l4oyog  xazoixovoiv  oi  vx  ÄyiXXtl  TSTay^tvoi  (Ven.  A).  Freilich 
wird  uns  dabei  zugemuthet  das  sinnlose  vvv  av  und  einen  ganz 
in  der  Luft  schwebenden  Accusativ  tovq  in  den  Kauf  zu  nehmen, 
zu  dem  von  irgend  woher  söjttrs  oder  toten  ergänzt  werden  muss, 
und  ausserdem  am  Schluss  des  Verses  eine  starke  Interpunction 
zu  machen,  damit  man  merkt,  dass  erst  mit  dem  folgenden  Vers 
die  Aufzählung  der  Untertbanen  des  Achill  beginnt  (s.  Ven.  A.). 
Und  all  diese  Gewaltsamkeiten  führen  schliesslich  doch  nicht 
zum  Ziel,  denn  Aristarcb  muss  jetzt  die  Behauptung  aufstellen, 
IhX.  "Ayyog  sei  der  homerische  Name  Thessaliens,3)  während 
es  doch  nur  der  Name  der  Ebene  von  Larisa  ist.  Ganz  deutlich 
ergibt   sich,   dass  Zenodots  Lesung   die   einzig   richtige  ist  — 


1)  schol.  A  zu  B  529.  I  447:  Hellas  ist  nicht  Griechenland,  sondern 
fxia  nöXiq  OtooaXiac,  ijq  xovg  oix?]xoQaQ°EXXr]vag  Xsysi.  Die  Angabe  des 
schol.  B  zu  B  6b3  ' EXXäÖa  oi  fitv  itoXiv  ixiav,  oi  dt  näoav  <Pi}i(öxiv  '  o 
xal  ßtXxiov  ist  wohl  Correctur  eines  Späteren,  der  hier  bessere  Einsicht 
zeigt  als  Aristarcb,  vielleicht  des  Apollodor,  der  sich  nach  Strabo  I.e. 
nicht  entschieden  zu  haben  scheint:  ö  /dv  oiv  nor>jx?)g  ovo  noitl  (rrjv  re 
&&iav  xal  xijv  EXXaöa),  nöxtQOV  dt  noXtig  ?}  xw/uag  ov  öijXol. 

2)  XOV     'Ofo'jQOV     (flloXt'/ViüQ     WOTICQ     71 QO  Ol  [AI  Cct,0  fJ.  tVOV     dlO.     XO     (AtXCt- 

ßaivtiv   anb  xwv  vtjoiov   xai   xr,g  IIsXoTCOvvtjaov  Eni  xa  xaxa   &tOGuXiav 
schol.  A,  ähnlich  in  B  und  bei  Eustath. 

3)  vgl.  schol.  Z  152.  /  141.  T115.  a  246.  Ebenso  Strabo  VIII  6,5; 
dagegen  beschränkt  er  IX  5,  6  den  Namen  mit  Recht  auf  ro  xcöv  OsxxaXajv 

718ÖIOV. 


32 

ovfraQ  aQovQjjQ  ist  ja  völlig  correct l)  — ,  die  aristarchische  da- 
gegen eine  recht  schlechte  Correctur,  welche  die  geographischen 
Bedenken  heben  soll.  Natürlich  stammt  sie  nicht  von  Aristarch 
selbst,  sondern  von  früheren;'2)  in  unseren  Texten  hat  sie  die 
Alleinherrschaft  gewonnen.  Im  übrigen  lernen  wir  aus  der 
ganzen  Discussion  nichts,  als  dass  IIsX.  A.  wirklich  der  alte 
Name  der  Pelasgiotis  ist  und  der  Verfasser  des  Schiffskatalogs 
zwar  guten  Quellen  folgte,  aber  von  Thessalien  nur  eine  sehr 
unklare  Vorstellung  besass  —  was  sich  ja  auch  sonst  an  vielen 
Stellen  zeigt.3) 

Der  Beiname  „das  pelasgische  Argos"  unterscheidet  die 
thessalische  Ebene  von  den  gleichnamigen  Landschaften,  dem 
orestischen,  amphilochischen,  peloponnesischen.  IJeZaoyixov  als 
Appellativ  zu  erklären  wird  wohl  unmöglich  sein;4)  das  Ad- 
jectiv  muss  von  einem  Volksnamen  herstammen.  An  der  Existenz 
von  Pelasgern  in  Thessalien  ist  somit  nicht  zu  zweifeln.  In 
historischen  Zeiten  begegnen  sie  uns  hier  freilich  nicht  mehr. 
Die  Sage  lässt  sie  auswandern;  wir  dürfen  aber  wohl  anneh- 
men, dass  sie  einen  Hauptbestandteil  der  Penesten  gebildet 
haben,  der  leibeigenen  Bauern,  welche  für  die  thessalischen 
Herren  das  alte  Pelasgerland  bestellten. 

Der  Blüthezeit  des  Epos  dagegen  ist  auch  der  Volksname 
Pelasger  in  Thessalien  noch  lebendig.  Ich  will  kein  Gewicht 
darauf  legen,  dass  bei  Antoninus  Liberalis  Metamorph.  23,  der 
zunächst  Nikander  excerpirt,  unter  den  Quellen  aber  auch 
Hesiods  Eoeen  nennt,  in  der  Geschichte  vom  Rinderraube  des 
Hermes  dieser  die  Rinder  Apolls  aus  Magnesia  durchs  Pelasger- 
land {ßta  n^Xaoymv)  und  das  phthiotische  Achaia  nach  Lokris 
und  weiter  führt;  denn  wie  weit  sich  hier  noch  Hesiods  Schil- 


1)  Weniger  passend  steht  es  1 141.  283  vom  achäischen  Argos  der 
Heimath  Agamemnons. 

2)  [vgl.  meine  Bemerkungen  Hermes  XXVT  369  ff.] 

3)  S.  Niese,  der  homerische  Schiffskatalog  S.  39  ff.  —  Eine  andere 
Frage,  die  an  den  thessalischen  Katalog  anknüpft,  wie  es  komme  dass 
Phoenix  und  seine  Doloper  (7  484)  nicht  genannt  werden,  ist  bei  Strabo 
IX  6,  5  in  sehr  instructiver  Weise  behandelt, 

4)  Eine  Untersuchung  über  die  Etymologie  des  Namens  llekaoyöq 
erlässt  man  mir  hoffentlich.  Nur  das  will  ich  erwähnen,  dass  es  nahe 
liegt,  die  gleiche  Wurzel  in  IleXayiuv  und  in  Iltkoy,  das  ja  auch  ein 
Ethnikon  ist,  zu  suchen.    Auch  Tlilla  u.  ä.  gehören  vielleicht  hierher. 


33 

derung  gerettet  haben  mag,  ist  fraglich.  Aber  in  der  Patroklie 
sind  unter  die  Bundesgenossen  der  Troer  auch  die  Pelasger 
Thessaliens  aufgenommen. 

Der  Dichter  der  Patroklie  gehört  der  Zeit  der  vollendeten 
epischen  Routine  an.1)  Seine  poetische  Erfindungskraft  ist  nicht 
allzu  gross,  aber  die  Technik  beherrscht  er  vollkommen.  Er 
erzählt  breit  und  ausführlich,  mit  behaglich  ausgemalten  Gleich- 
nissen und  Schilderungen,  in  denen  ein  fester,  auf  die  Dauer 
ermüdender  Schematismus  nicht  zu  verkennen  ist.  Besonders 
zeigt  er  ein  grosses  Talent  in  der  Verwendung  der  Massen, 
die  bei  ihm  überall  den  bewegten  Hintergrund  der  Einzel - 
kämpfe  bilden.2)  Auf  ihn  geht  denn  auch  wesentlich  die  An- 
schauung zurück,  dass  den  Troern  ein  gewaltiger  Haufe  von 
Bundesgenossen  ((ivgla  <pvla  jisqlxtlovwv  tjtixoigcov  P  220) 
zur  Seite  steht.  Er  ist  der  einzige,  bei  dem  Kikonen  (P73) 
und  Phryger  (77  717)  im  troischen  Heere  erscheinen;^)  auch 
die  Paeoner  hat  er  IJ  287  P  350  wohl  zuerst  eingeführt.4)  Aus 
der  Liste  der  Führer  troischer  Bundesgenossen  P  210  ff.  hat 
dann  der  Schiffskatalog  reichlich  geschöpft,5)   und  ebenso  wie 


1)  Dass  das  Gedicht  relativ  recht  jung  ist,  wird  wohl  allgemein  zu- 
gegeben. In  der  Darstellung  von  Patroklos'  Tod  tritt  das  besonders  deut- 
lich hervor:  Hektor  wird  seines  Ruhmes  beraubt,  Patroklos'  Tod  ist  über- 
haupt nur  durch  ganz  directes  Eingreifen  Apollos  möglich,  und  daneben 
muss  ihm  noch  Euphorbos  [nach  einer  anderen  Version?]  den  entschei- 
denden Stoss  versetzen.  Das  ist  ganz  secundär.  Zweifellos  hat  in  der 
älteren  Ilias  Patroklos  nur  eine  Nebenrolle  gespielt;  sein  Tod  war  nur 
das  Motiv  für  Achills  Versöhnung  mit  Agamemnon.  Vgl.  die  bekannten 
Varianten  0  63  ff.  2  450  ff. 

2)  So  gehört  ihm  die  berühmte  Schilderung  der  geschlossenen  Pha- 
lanx an  72  212  ff.  (entlehnt  IV  131). 

3)  Beidemale  verkleidet  sich  ein  Gott  in  die  Gestalt  des  entsprechen- 
den Heerführers,  ein  P322  nochmals  von  demselben  Dichter  angewandtes 
Motiv.     P5S3  dagegen  gehört  einer  Eindichtung  an. 

4)  Asteropaios'  Tod  0140  ff.  ist  jünger  als  die  Patroklie.  Freilich 
wird  Asteropaios  P  21 7.  351  offenbar  nur  genannt,  weil  er  dem  Hörer  be- 
reits anderweitig  als  Paeonerführer  bekannt  ist.  —  Auch  die  Phoker  haben 
es  der  Patroklie  P  307  zu  danken,  dass  sie  in  der  Ilias  vorkommen.  Denn 
0  516,  wo  derselbe  Phokerfürst  Schedios  (mit  anderem  Vater)  gleichfalls 
von  Hektor  erlegt  wird,  ist  offenbar  von  P307  abhängig. 

5)  Die  Namen  für  die  Führer  der  Myser  Chromis  d.  i.  Chromios  (vgl. 
P494.  534)  Und  Ennomos  olioviGzrjg,  der  Phryger  Phorkys  (P312  ohne  An- 
gabe der  Heimath)  und  der  Maeoner  Mesthles  hat  der  Katalog  von  hier 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.   I.  3 


34 

die  Dolonie  K  428  ff.  die  genannten  Völkerschaften  den  Bundes- 
genossen der  Troer  eingereiht. 

Unter  den  von  Aias  Erschlagenen  wird  P  288  ff.  Hippo- 
thoos  der  Sohn  des  Lethos  genannt,  der  xi]X  ajto  Aaoiörjg  egi- 
ßmXaxog  gekommen  ist.  Daraus  schöpft  der  Katalog  B  840, 
der  den  Hippothoos  und  Pylaios,  Söhne  des  Teutamiden  Lethos, 
als  Führer  der  <pvla  TlsXaöycöv  byyzoißcoQcov,  xcbv  oi  Aagiöav 
tgißcöXaxa  vaurdaöxov  nennt;  ebenso  nennt  die  Dolonie  K  429 
die  Pelasger  auf  Seiten  der  Troer.  Die  Alten  haben  die  Heimath 
dieser  Pelasger  natürlich  nach  Kleinasien  gesetzt;  wie  hätten 
sie  bei  troischen  Bundesgenossen  an  die  thessalischen  Pelasger 
denken  können?  Das  Schlimme  war  nur,  dass  sich  nicht  er- 
mitteln Hess,  wo  in  Kleinasien  sie  zu  suchen  seien.  Larisen 
gab  es  hier  allerdings  drei  statt  einer:  eins  an  der  Westküste 
von  Troas,  eins  bei  Kyme  (das  phrikonische),  und  ein  Dorf 
bei  Ephesos  mit  einem  Heiligthum  Apollos  (vgl.  Strabo  XIV 
] ,  42).  Aus  Strabo  XIII  3,  2,  d.  i.  Demetrios  von  Skepsis,  ler- 
nen wir  die  Argumente  kennen,  mit  denen  die  Frage  discutirt 
wurde:  das  troische  lag  zu  nahe  bei  Ilion,  während  Hippothoos 
aus  der  Ferne  (tfjXJ  ano  Aaoiofjg)  gekommen  war,  der  mile- 
sische  Ort  lag  im  Lyderlande  und  ob  er  alt  war,  wusste  man 
nicht.  So  entscheidet  sich  Strabo  für  Larisa  Phrikonis  bei 
Kyme.  Andere  freilich  haben  trotzdem  in  alter  und  neuer 
Zeit  das  troische  Larisa  gewählt  (so  Steph.  Byz.  s.  v.),  offenbar 
weil  die  Pelasger  im  Katalog  gleich  hinter  den  troischen  Stäm- 
men genannt  sind.  Auch  in  den  sehr  dürftigen  Homerscholien 
finden  wir  ein  Schwanken:  schol.  A  zu  K  49  IkXaöyol  oi  xo 
jcagaXiov  [ttgog  x?]g  Kaglag  eyovxeg'  a^tivov  6h  Xtyeir  avxö 
ytvog  xt  jioXvjzXartg,  olxijoav  Iv  xfj  Aoia  xal  EvgcoJiy,  vvv 
de  xo  xrjq  Tocoaöoq,  [=  AI.  Troas]  jrXrjölov  olxrjöav  [o  (paöt 
ToaXZeig !)] ;    zu  jP  301    sagt   er   Aaglo?]-    txtga   eörlv   avx?j   ?} 


entlehnt.  Auch  der  Boeoter  Peneleos  B  494  stammt  ans  P597.  —  Maeoner 
nnd  Karer  werden  ausser  im  Katalog  und  in  der  Dolonie  in  der  Ilias  nie  als 
Bundesgenossen  der  Troer  genannt.  Manche  derartige  Erweiterungen  hat 
der  Katalog  wohl  hier  wie  sonst  aus  den  kyklischeo  Epen  geschöpft. 

1)  wo  auch  ein  Larisa  lag,  Strabo  IX  5,  10.  Offenbar  ist  die  Vorlage 
sehr  gekürzt;  die  Ausdrücke  klingen  an  Strabo  XIII  3,  8  an.  —  Nach  einem 
Scholion  im  Ven.  B  und  besser  bei  Eustath.  zu  B811  sind  die  Pelasger 
von  den  Aeolem  [=  Boeotern]  aus  Thessalien  nach  Kleinasien  gejagt. 


S5 

jzoIiq  Jtaga  t?)v  ßta<jalix?jv',  schol.  T  nennt  hier  Larisa  Phri- 
konis. 

Das  Unglück  war  eben,  dass  man  Pelasger  an  der  klein- 
asiatischen Küste  nirgends  nachweisen  konnte  und  aufs  rathen 
angewiesen  war.  Denn  die  bei  Strabo  XIII  3,  3  erhaltenen 
Angaben,  dass  die  Lesbier  unter  Berufung  auf  ein  oqoq  Uvlatov 
auf  der  Insel  Unterthanen  des  im  Katalog  genannten  Pelasgers 
Pylaios  gewesen  sein  wollten,1)  dass  Menekrates  von  Elea  (um 
300  v.  Chr.)  die  Pelasger  an  die  Stelle  der  sonst  immer  als 
Urbevölkerung  Ioniens  genannten  Leleger  setzte,2)  dass  Chios 
von  thessalischen  Pelasgern  besiedelt  sein  sollte,  sind  hand- 
greiflich aus  den  homerischen  Angaben  herausgesponnen.3) 
Das   wird   denn   auch   zum  Schluss   ganz   direct  eingestanden: 


1)  In  der  That  mag  der  Katalog  den  Namen  von  dem  Berge  ent- 
lehnt haben.  Nach  Lesbos  hat  schon  Ephoros  (Strabo  V  2,  4  xal  yap  xr/v 
Aboßov  IleXaoyiav  tiQrfxaoi,  xal  tolq  tv  zy  Tgtpaöi  KlXi^lv  "OftrjQog 
HQrjxs  tovq  6/auQovQ  IleXaoyovg;  Lesbos  Tltlanyta  auch  Diod.  VS1.  Plin. 
V  139,  ebenso  die  Stadt  Issa  auf  Lesbos  Steph.  Byz.  s.  v.)  die  Pelasger  ge- 
bracht. [Tümpel  Piniol.  XLIX  707  ff.  mag  darin  Recht  haben,  dass  er 
Hellanikos  als  Vorgänger  des  Ephoros  betrachtet,  vgl.  u.  cap.  5  über  Teu- 
tamides;  aber  die  Rückführung  der  Angaben  Dion.  Hai.  I  18  auf  Hellanikos 
ist  falsch,  denn  Dionys  folgt  dem  Myrsilos  von  Lesbos  (I  23).  Auch  seine 
Behandlung  von  Strabo  XIII  3,  3  S.  709  ff.  ist  verkehrt;  von  einer  Stadt 
Larisa  auf  Lesbos  ist  weder  bei  Strabo  noch  in  seiner  Vorlage  die  Rede 
gewesen.  Dass  ich  Tümpel's  Folgerungen  nicht  zustimmen  kann,  bedarf 
keiner  Bemerkung.] 

2)  wie  Herodot  die  Lelegerstadt  Antandros  zu  einer  Pelasgerstadt 
machte.  Vgl.  auch  Strabo  XIV  2,  27  AlXsyeg  xal  Utlaoyol  an  der  Küste. 
Steph.  Bjz.  Nivör]  [Aphrodisias  in  Karien]*  xTiG&tZoa  vno  räv  ReXaGyiöv 
AeXeycDV  xal  £xkq9r]  Aekiycov  nokiq. 

3)  Dementsprechend  wird  bei  Strabo  XIII  3,  3  (die  Quelle  ist  Epho- 
ros, vgl.  Herodots  Homervita  [so  auch  Tümpel])  die  Besiedelungsgeschichte 
von  Aeolis  gestaltet:  die  Aeoler  kommen  vom  Phrikiongebirge  in  Lokris 
herüber  (vgl.  XIII  1,  3),  landen  bei  Kyme,  finden  die  Pelasger  in  Folge 
des  tröischen  Krieges  geschwächt  (!),  aber  doch  noch  im  Besitz  von  Larisa, 
setzten  sich  daher  in  Neon  Teichos  [so  findet  der  Name  seine  Erklärung; 
gegründet  S  Jahre  nach  Kyme  Herod.  vit.  Hom.  9]  30  Stadien  von  Larisa 
fest,  nehmen  dies  schliesslich,  und  dann  erst  folgt  die  eigentliche  Grün- 
dung von  Kyme.  —  XIII  3,  4  wird  der  in  Larisa  verehrte  Heros  Piasos, 
von  dessen  Liebschaft  mit  seiner  Tochter  Larisa  man  erzählte  (vgl.  Eupho- 
rion  Schol.  Ap.  Rh.  I  1063,  Parthen.  28,  Nie.  Dam.  19),  zum  Herrscher  der 
Pelasger  gemacht.  Auch  die  Pelasger  in  Pitane  bei  Hellanikos  (oben  S.  23, 1) 
gehören   vielleicht   hierher.     [Ebenso   waren  nach   den  Scholien  zu  Z  397 

3* 


36 

„das  Volk  war  aber  weit  umhergetrieben  und  rasch  zu  Wande- 
rungen bereit;  es  nahm  grossen  Aufschwung  und  verschwand 
dann  völlig,  vor  allem  bei  dem  Uebergang  der  Aeoler  und 
Ionier  nach  Asien". 

Für  unser  Urtheil  können  nur  die  Angaben  der  Ilias  mass- 
gebend sein.  Wo  liegt  ihre  Heimath,  das  weit  von  Troja  ent- 
fernte „grossschollige"  d.  h.  sehr  fruchtbare  Larisa?  Sicher 
nicht  in  dem  Hügelland  der  troischen  Westküste  oder  in  der 
inneren  Kaysterebene  „näher  am  Tmolos  als  an  Ephesos" 
(Strabo  XIII  3,  2).  Eher  Hesse  sich  allerdings  an  das  phriko- 
nische  am  Nordrande  der  Mündungsebene  des  Hermos  denken. 
Aber  wirklich  passend  ist  die  Bezeichnung  tQißcoXa^  doch  nur 
für  die  Hauptstadt  des  pelasgischen  Argos.  Und  daran  zu 
denken  hindert  nichts,  sobald  wir  uns  nur  von  den  traditio- 
nellen Vorstellungen  vom  troischen  Krieg  losmachen,  wie  sie 
für  die  Alten  wie  für  uns  wesentlich  durch  den  Schiffskatalog 
geschaffen  sind.  Ein  Dichter,  der  Kikonen  und  Paeoner  den 
Troern  zu  Hülfe  ziehen  lässt,  konnte  ihnen  auch  die  Pelasger 
aus  Thessalien  zuführen.  Auf  Seiten  der  Griechen,  des  Achil- 
leus,  konnten  sie  nicht  stehen:  der  Gegensatz  zwischen  Pelas- 
gern  und  Hellenen  war  offenbar  schon  für  den  Dichter  der 
Patroklie  gegeben.  In  der  That  ist  denn  auch  bei  Homer 
zwar  von  allen  andern  Gebieten  Thessaliens,  aber  nie  von  dem 
Pelasgerlande ')  und  seiner  Hauptstadt  Larisa  die  Kede  — 
ausser  eben  an  unseren  Stellen.  Unser  Larisa  ist  das  einzige, 
das  bei  Homer  genannt  wird;  an  welches  andere  konnten  die 
Hörer  denken  als  an  das  thessalische?2).  So  erklärt  es  sich 
einfach,  dass  von  Pelasgern  in  Kleinasien  trotz  allen  Suchens 
eine  ächte  Spur  nicht  zu  finden  war. 

Zweifelhaft  kann  erscheinen,   wohin  der  Katalog  die  Pe- 
lasger gesetzt  hat.    Sie  stehen  nach  den  Troern,  vor  Thrakern, 


Adramys  der  Eponyni  von  Adramytion  und  seine  Tochter  Thebe  Pelasger, 
vgl.  Tümpel  1.  c.  118,  69.  Geschichte  des  Pelasgers  Antandros:  Conon  41.] 

1)  denn  das  pelasgische  Argos  unter  Achills  Besitzungen  im  Katalog 
kommt  hierfür  nicht  in  Betracht. 

2)  Ein  von  Eustathios  zu  B  841  angeführter  Erklärer  hat  denn  auch, 
unter  Berufung  auf  die  Anordnung  des  Katalogs,  Larisa  nach  Europa  ver- 
legt (6  tlmhv  6?Trahxr]V  rtjv  xoiavxi]v  AÜQioav).  Doch  wäre  es  denk- 
bar, dass  dabei  die  Unwissenheit  byzantinischer  Zeit  mitgespielt  hätte. 


37 

Kikonen  und  Paeonern.  Da  also  die  europäischen  Völker  von 
Ost  nach  West  fortschreiten  —  die  asiatischen  beginnen  dann 
im  fernen  Osten  mit  den  Paphlagonen  —  ist  schwerlich  noch 
an  die  thessalischen  Pelasger  gedacht;  das  pelasgische  Argos 
ist  vielmehr  dem  Achill  zugewiesen  (zu  beachten  ist  freilich, 
dass  Larisa  hier  nicht  genannt  ist,  so  wenig  wie  Krannon 
und  Pharsalos),  die  troischen  Bundesgenossen  hat  sich  der  Ver- 
fasser in  der  Nachbarschaft  der  Troer  in  Troas  oder  Aeolis 
gedacht  und  vielleicht  schon  ihre  Herrschaft  über  Lesbos  aus- 
gedehnt und  deshalb  den  Pylaios  eingeführt.  Mit  ihm  be- 
ginnt also  die  Ueberführung  des  Volks  nach  Asien.  Für  die 
Späteren  war,  schon  um  des  Achill  unterthänigen  pelasgischen 
Argos  willen,  jeder  Gedanke  an  Thessalien  ausgeschlossen.  So 
musste  man  auf  die  Suche  gehen;  mit  welchem  Resultate,  haben 
wir  bereits  gesehen. 

Wenn  der  Dichter  der  Patroklie  Pelasger  aus  Larisa  den 
Troern  zu  Hülfe  ziehen  lässt,  so  folgt  daraus  natürlich  nicht 
mit  Sicherheit,  dass  es  zu  seiner  Zeit  in  Thessalien  noch  ein 
selbständiges  Volk  der  Pelasger  gab,  sondern  nur  dass  sie 
nach  seiner  Anschauung  zur  Zeit  des  troischen  Krieges  noch 
existirt  hatten. 

2.   Der  pelasgische  Zeus  von  Dodona. 

In  der  Patroklie  erscheinen  die  Pelasger  noch  ein  zweites 
Mal  in  ganz  anderem  Zusammenhang,  in  dem  berühmten  Ge- 
bet des  Achill  an  den  pelasgischen  Zeus  von  Dodona  //  233 : 

Zev  ava  Acodowaie  [JeXaoyixe  ttjXoO-i  vaimv 
AcodmvrjQ  [leöecov  dvöyeif/eQOV  a/npl  de  o  ^EXXoi 
ool  valovG    vjioq)?]Tai  avutxojtoöeq  yafiaibvvai. 
7][iev  ör)  jtox    efiöv  exog  exXveg  evt-afievoio, 
tl^rjöag  f/ep  i[ie  cet. 

Es  entspricht  dem  Charakter  der  Patroklie,  dass  der  Dichter 
es  liebt,  seine  Gelehrsamkeit,  die  Kenntnisse  die  er  von  seinen 
Meistern  gelernt  und  auf  der  Wanderschaft  erweitert  hat,  zur 
Schau  zu  stellen.  Wie  er  die  Kikonen  Paeoner  Phryger  Pe- 
lasger Phoker  in  den  Kampf  eingeführt  hat,  so  nennt  er  den 
Axios  und  die  Stadt  Amydon  (FI  288),  die  Städte  Budeion  in 
Phokis  (?,  Z/572)   und   Lyktos   auf  Kreta   (P611);    er   weiss, 


38 

dass  Sarpedon  sein  Grabmal  in  Lykien  hat  (Fl  454  ff.  6öti  ff.),1) 
dass  der  Lykier  Amisodaros  die  Chimaira  aufgezogen  hat 
(H  288).2)  Denselben  Charakter  trägt  auch  unsere  Stelle.  Der 
Dichter  weiss,  dass  der  dodonäische  Zeus  in  Achills  Heimath 
verehrt  wird,  und  benutzt  die  Gelegenheit,  über  die  Form  seines 
Cults  einige  zwar  in  das  Gebet  absolut  nicht  hineingehörende 
aber  die  Hörer  interessirende  Bemerkungen  anzufügen.  Dass 
bestehende  Zustände  geschildert  werden,  ist  evident;  wir  kön- 
nen also  auch  nicht  zweifeln,  dass  der  Zeus  von  Dodona  den 
Beinamen  IJeXaoyixoQ  geführt  hat.  Noch  deutlicher  besagt  das 
ein  Hesiodfragment  (225  Kinkel  236  Rzach  bei  Strabo  VII  7, 10) 
Awdcövr/v  (prjyov  re,  IlsXctöycov  tdgavov,  yev.  Hier  heisst  Do- 
dona geradezu  Sitz  der  Pelasger.  Dass  Hesiod  von  77  233  ab- 
hängig wäre,  ist  schwerlich  anzunehmen. 

Weitere  Zeugnisse  für  Pelasger  in  Dodona  besitzen  wir 
nicht.  Der  Schiffskatalog  hat  zwar  B  750  wieder  einmal  die 
Patroklie  benutzt  und  entlehnt  ihr  das  Beiwort  Acoöcortjv  öv- 
aytiiitQov.  Aber  er  weist  die  Stadt  nicht  den  Pelasgern  son- 
dern den  Aenianen  (Eviijvtc)  zu,  die  mit  den  Perrhaebern  zu- 
sammen  unter   Gouneus   von  Kyphos   stehen.3)     Diese  Angabe 


1)  Gewöhnlich  hält  man  diese  Stellen  für  eine  Einlage,  doch  kann 
ich  das  so  wenig  für  berechtigt  halten  wie  Robert  Bild  und  Lied  1 1 4. 
Jedenfalls  aber  ist  die  Meinung  verkehrt,  dass  Sarpedons  Tod  der  Patro- 
klie ursprünglich  fremd  war:  ein  Gedicht,  welches  Patroklos  zum  Mittel- 
pnnct  macht,  muss  seinem  Tode  als  Gegenstück  eine  grosse  Hanptthat 
voraufgehen  lassen. 

2)  Die  Schilderung  des  Myrmidonen  und  ihrer  Heerführer  17 168 — 199 
ist  allerdings  wohl  eine  Einlage,  aber  im  Stile  des  Gedichts. 

IJ)  Der  Ort  Kyphos  war  nur  aus  dieser  Stelle  bekannt,  s.  Steph.  Byz. 
(der  durch  ein  bei  ihm  so  häufiges  Versehen  ein  perrhaebisches  und  ein 
thessalisches  Kyphos  unterscheidet),  der  einen  Fluss,  und  Strabo  IX  5,  22, 
der  einen  Berg  Kyphos  neben  der  Stadt  nennt.  Auch  Lykophron  897  mit 
den  Scholien  kennt  nur  den  Schiffskatalog.  Der  Name  rovvsvg  dagegen 
ist  ein  richtiges  Ethnikon  von  Gonnoi  (rovvsvg  neben  rovvsvg  [auf  Münzen 
rovvewv]  rovvioq  rövvioq  rovaräg,  s.  Steph.  Byz.),  und  das  ist  offenbar 
auch  gemeint;  Gonnoi  liegt  ja  in  Perrhaebien.  Der  Katalog  wird  aus  einer 
Quelle  geschöpft  haben,  in  der  Kvcpiog  oder  Knpcäog  rovvsvg  stand,  und 
hat  Eigennamen  und  Ethnikon  verwechselt  [dass  der  Peplos  32  eine  Grab- 
schrift des  Guneus  kennt,  ist  natürlich  ohne  Bedeutung].  Freilich  weist 
der  Katalog  alle  Gonnoi  benachbarten  Städte,  die  Hauptorte  Perrhaeblens, 
dem  Polypoites  zu.  Das  ist  nur  ein  Beleg  mehr  für  die  arge  geographische 
Verwirrung,  die  im  thessalischen  Katalog  herrscht, 


39 

steht  völlig  isolirt  da;  Aenianen  finden  wir  sonst  nur  am  Oeta. 
Schwerlich  ist  die  Autorität  des  Katalogs  gross  genug,  um  sie 
in  der  Urzeit  nach  Dodona  zu  versetzen;1)  ist  doch  gerade  in 
Thessalien  alles  in  ärgster  Verwirrung.  Offenbar  hat  der  Ver- 
fasser nur  eine  Gelegenheit  gesucht  um  Dodona  irgendwie 
unterzubringen;  den  Pelasgern  aber  konnte  er  es  unmöglich 
zuweisen,  weil  es  dann  ja  nicht  griechisch  gewesen  wäre. 

So  wenig  wie  von  Aenianen  finden  wir  in  historischer 
Zeit  von  Pelasgern  in  Dodona  eine  Spur.  Die  Odyssee,  in  der 
erzählt  wird,  dass  Odysseus  aus  dem  Thesproterlande  nach 
Dodona  geht  „um  aus  der  hochbelaubten  Eiche  Zeus'  Willen 
zu  hören"  (r  296,  g  327),  gibt  überhaupt  keine  ethnographische 
Angabe.  Die  Späteren  setzen  nach  Dodona  meist  Thesproter 
(so  Herod.  II  56  und  viele  andere,  namentlich  die  Dichter). 
Auch  dies  ist  vielleicht  nicht  richtig;  später  wenigstens  gehörte 
Dodona  den  Molosseru,  und  die  Thesproter  sind  wohl  nur  des- 
halb mit  Dodona  in  Verbindung  gebracht  worden,  weil  sie  als 
Küstenstamm  bekannt  waren  und  der  Weg  zum  Orakel  durch 
ihr  Gebiet  ging.  Auch  konnte  ein  flüchtiger  Leser  der  Odyssee 
annehmen,  dass  Dodona  in  ihr  zu  den  Thesprotern  gerech- 
net werde.2) 

Die  Geschichtsforschung  dagegen  hat  durchweg  an  den 
Pelasgern  in  Dodona  festgehalten  —  sie  ist  ja  nichts  anderes 
als  eine  Verarbeitung  des  in  den  Epen  gegebenen  Materials. 
Sie  half  sich  damit,  dass  sie  die  späteren  epirotischen  Be- 
wohner von  Dodona  für  einen  pelasgischen  Stamm  erklärte.  So 
Herodot,  der  diese  Ansicht  auf  die  gesammte  ältere  Bevölkerung 
Griechenlands  ausdehnt.   Die  ägyptische  Sklavin,  welche  er  aus 

1)  wie  Niese  liomer.  Schiffskatalog  43  annimmt.  Ueber  die  von 
einigen  versuchten  Auswege  s  u.  S.  46. 

2)  Vgl.  Strabo  VII  7,  11:  „Dodona  war  also  vor  Alters  den  Thes- 
protern unterthan  {yitb  0£G7iqojtoZq  ?jv)  ...  sowohl  die  Tragiker  wie  Pindar 
nennen  es  thesprotisch:  später  aber  kam  es  unter  die  Molosser".  Das  ist 
eine  naheliegende  aber  nicht  notwendige  Folgerimg.  —  Hekataeos  fr.  78 
MoXoaawv  nyog  /uEOTi/ußpirjq  oixeovoi  /Jcodüjvcäoi  beweist  nach  keiner 
Richtimg  etwas.  Bei  Aeschylos  Prom.  829  ff.  liegt  Dodona  im  Molosser- 
lande und  ist  der  Sitz  des  thesprotischen  Zeus;  letzteres  ist  die  dichte- 
rische, ersteres  die  historische  Geographie.  —  Nach  Skylax  gehören  den 
Molossem  40  Stadien  der  Küste  des  anaktorischen  Meerbusens  zwischen 
den  Kassopen  und  Ambrakia. 


40 

der  dodonaeischen  Taube,  die  das  Orakel  gründete,  gemacht  hat, 
wird  „in  das  jetzt  Hellas,  ehemals  aber  Pelasgien  genannte 
Land,  und  zwar  zu  den  Thesprotern  verkauft  und  gründet 
hier  als  Sklavin  unter  einer  Eiche  das  Heiligthum  des  Zeus" 
(II  56);  in  dem  ganzen  zugehörigen  Abschnitt  nennt  er  die 
Begründer  des  dodonaeischen  Cults  Pelasger.  Nebenbei  bemerke 
ich  gleich  hier,  dass  er  ausdrücklich  angibt,  dass  die  pelas- 
gischen  Thesproter  griechisch  sprachen  (rijv  W.läöa  yXwooav 
II  56),  ebenso  wie  er  IV  33  in  der  Erzählung  von  den  Hyper- 
boreern die  Dodonaeer  Hellenen  nennt.  Die  übrigen  Logo- 
graphen werden  die  Dinge  ganz  ähnlich  aufgefasst  haben 
wie  Herodot.  „Viele  haben  auch  die  epirotischen  Stämme 
pelasgisch  genannt,  in  der  Meinung,  dass  die  Macht  der  Pe- 
lasger sich  bis  hierher  erstreckte"  sagt  Ephoros  bei  Strabo 
V  2,  4.  Die  Neueren  haben  vielfach  ganz  ähnlich  gefolgert 
und  nur  darin  geirrt,  dass  sie  meinten,  es  stehe  ihnen  dafür 
irgend  welche  „Ueberlieferung"  zur  Seite:  die  antike  Hypo- 
these ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger  werth  als  die  moderne. 
Ephoros  selbst  schliesst  sich  seinen  Vorgängern  an  und  citirt 
Homer  und  Hesiod  zum  Beweise,  dass  Dodona  eine  pelasgische 
Gründung  sei  (bei  Strabo  VII  7,  10  »),  vgl.  auch  IX  2,  4).  und 
Strabo  meint,  aus  der  Schilderung  der  Ilias  von  den  Seilen 
gehe  deutlich  hervor,  dass  die  Bewohner  Barbaren  waren.  Dion. 
Hai.  I  18,  der  dem  Myrsilos  von  Lesbos  folgt,  lässt  die  Pelas- 
ger, als  sie  von  Deukalion  aus  Thessalien  verjagt  werden,  zu 
ihren  Verwandten  nach  Dodona  ziehen,  die  sie  weil  sie  heilig 
sind  nicht  anzugreifen  wagen:  von  hier  aus  gehen  sie  weiter 
nach  Italien.  Eine  Erzählung  bei  Plutarch  Pyrrhus  1  lässt  nach 
der  Fluth  den  Phaethon  „einen  von  denen  die  mit  Pelasgos 
nach  Epiros  gekommen  waren",  als  ersten  über  die  Thes- 
proter und  Molosser  (d.  i.  in  Dodona)  herrschen.2)  Kalli- 
machos,  der  im  Hymnos  auf  Delos  die  Hyperboreergeschichte 
nach  Herodot  erzählt,  nennt  natürlich  gleichfalls  die  Pe- 
lasger:   a   (den   heiligen  Weizen)    AcodcovrjxhL    (codd.  -d-t)    /7t- 


1)  Aus  Ephoros  schöpft  Scymn.  450:  Dodona  XöQVfia  iozi  d'  ovv  Tlt- 
laoyixöv. 

2)  Ueber  die  Fluth  s.  u.  Dass  Thesproter  und  Molosser  zusammen 
genannt  werden,  ist  ein  Versuch  die  vorhin  angeführten  widersprechenden 
Nachrichten  auszugleichen. 


41 

Xaöyol  TtjXo&tv  tößatrovra  jtoXv  jiqodxiöxo.  öeypvxai,  yr\Xe- 
Xteq  &tQÖ.jiovT£c  aöcyrjxoio  Xeßrjxog.  Hier  ist  das  Epitheton 
„auf  der  Erde  lagernd"  der  Ilias  entnommen  und  von  den 
Hellen  auf  die  Pelasger  übertragen,  JtoXv  jtQwxioxa  aus  He- 
rodot  IV  33  (vom  Adrias  jzqoq  (itor][i3Qb]v  jTQOJiefiJiofieva  jiqcq- 
xovq  AwöcovaiovQ  cEXXr'jvcov  öixeG&ai)  entstellt,  das  Becken 
stammt  aus  dem  Cult.1)  P]s  ist  unnöthig  noch  weiter  werth- 
lose  Citate  zu  häufen;  ein  anderes  Material  als  was  uns  noch 
heute  zu  Gebote  steht,  haben  ja  auch  Herodot  und  Ephoros 
für  diese  Frage  nicht  besessen. 

Wie  mit  den  Pelasgern  steht  es  auch  mit  den  Hellen  oder 
Hellen;  dieselben  kamen  nicht  einmal  bei  Hesiod  vor  —  wenn 
sie  vor  Pindar  irgend  wo  genannt  wären,  würde  die  Stelle  in 
dem  reichen  uns  erhaltenen  Material  citirt  werden  —  sondern 
waren  den  Alten  wie  uns  nur  aus  Homer  bekannt.  Sie  schwank- 
ten ob  a[i(pl  öe  o  'EXloi  oder  d[i(p\  de  SeXXoi  zu  lesen  sei. 
Pindar  hat  'EXXoi  gelesen  und  leitete  sie  von  einem  Holzhacker 
Helios  ab,  dem  die  dodonäische  Taube  das  Orakel  gezeigt  habe 
(fr.  59  Bergk,  schol.  A  zu  77  234).  Sophokles  dagegen  Track 
1166  las  2eXXoi\  seine  Ausdrücke  (et  xmv  oQeicov  xal  %anai- 
xotxcov  eyco  [Herakles]  StXXmv  toeX&ow  äXöog  elöeyQaxpa/jfjv 
jiqoq  xijg  jiaxQcoag  xal  jioXvyXwooov  öqvoq)  zeigen,  dass  er 
aus  Homer  schöpft  so  gut  wie  Kallimachos  in  dem  oben  an- 
geführten Vers.  Aristarch  (Aristonikos  in  Ven.  A)  hat  sich  für 
SeXXoi  entschieden,  indem  er  sich  auf  den  Fluss  Seileeis  bei 
Ephyra  (0  531  und  daraus  B  659)  berief,  und  seine  Ansicht 
ist  die  herrschende  geworden.  Auch  Apollodor  folgte  ihm 
darin,  indem  er  die  wie  es  scheint  bessere  Ansicht  des  De- 
metrios  von  Skepsis  verwarf,  dass  an  den  angeführten  Stellen 
das  elische,  nicht  das  thesprotische  Ephyra  gemeint  und  in 
Epiros  ein  Fluss  Seileeis  nicht  nachweisbar  sei  (Strabo  VII  7, 10. 
VIII  3,  6).  Ein  anderes  Argument  gegen  Aristarch  bringt  ein 
Scholion  des  Townl.:  edv  de  eljccofiev  2eXXo\,  eoovxcu  jiegl 
jcäöav  xi]V  Acod(ovt]V  olxovvxec,  ov  jisqI  xo  xefievoq  xov  &eov. 
Dies  Argument  scheint  mir  richtig;  „um  Dich  herum  wohnen 
die  Hellen,  Deine  Propheten"  scheint  naturgemässer,  als  „rings- 
um  wohnen   die   Seilen";    erst   durch    die   Anrede    „um   Dich 


1)  s.  die  Beilage  S.  51. 


42 

herum"  wird  eine  Verbindung  zwischen  der  beschreibenden 
Notiz  und  dem  Gebete  hergestellt.  Jedenfalls  ist  der  moder- 
nen Ansicht  gegenüber  zu  betonen,  dass  es  sich  hier  nicht  um 
eine  ältere  und  eine  jüngere  Form  handelt,  sondern  nur  um 
zwei  verschiedene  Lesungen. 

Die  Hellen,  „die  sich  ihre  Füsse  nicht  waschen  und  auf 
der  Erde  schlafen",  sind  kein  Volk  sondern  die  „Verkünder 
des  göttlichen  Willens"  (ool  vjcocpfjTcu),  die  Priester  des  dodo- 
nischen  Zeus.  Nur  durch  Flüchtigkeit  können  die  meisten 
neueren  Forscher  zu  dem  Glauben  verführt  sein,  Hesiod  fr.  150 
(156  Rzach)  stehe  dem  entgegen  und  mache  die  Hellen  zu 
einem  Volk.  Hesiod  schildert  den  Wohlstand  der  Landschaft 
Hellopien,  an  deren  Rande  Dodona  liegt;  einen  Namen  der 
Bewohner  (die  bei  ihm  wohl  Thesproter  waren)  nennt  er 
überhaupt  nicht.  Der  pindarische  Mythos,  welcher  dem  Holz- 
hacker Helios,  dem  Eponymen  des  Geschlechts,  das  Orakel 
geoffenbart  werden  lässt,  ist  daher  vollständig  correct.1) 

Die  Hesiodstelle  mit  dem  Namen  Hellopien 2)  hat  Philocho- 
ros  zur  Erläuterung  der  Hellen  herangezogen  (Strabo  VII  7, 10); 
sonst  ist  Hellopia  bekanntlich  ein  Name  Nordeuböas.3)  In  der 
That  wird  ein  Zusammenhang  der  Namen  ^EXXol,  "EXtypsg, 
'EXXäg,  'EXXojttg  nicht  zu  leugnen  sein;  aEXXoy)  ist  ein  Volks- 
name  wie  AoXoip  Agvoty  "AXkuanp  devQiotp  Kaöocojtalog  u.  s.  w., 
eine  Bildung,  die  auf  Epirus  hinweist  (vgl.  meine  G.  d.  A.  II). 

Der  Gleichklang  zwischen  'EXXoi  und  °EXX?]vtQ  hat  zu  wei- 
teren Combinationen  geführt;  vermuthlich  hat  besonders  die 
dodonäische   Priesterschaft  ihn   aufgegriffen  und  dadurch   ihr 


1)  Das  ist  Schol.  B  T  zu  n  234  weiter  ausgesponnen:  „das  Geschlecht 
(ytvog,  nicht  td-vog)  stammt  von  Sellos  (oder  Helios)  dem  Thessaler  (oder 
dem  Sohne  des  Thessalos,  natürlich  um  der  Pelasger  willen)  und  von  ihm 
stammen  die  erblichen  Priester  des  Zeus ".  Dagegen  machte  Andron  (vgl. 
u.  S.  49)  die  Seilen  zu  einem  abgehärteten  kriegerischen  Volk,  Alexander 
von  Pleuron  zu  einem  tyrrhenischen  Stamme,  bei  dem  der  Zeusdienst 
heimisch  sei  (Yen.  A). 

2)  vgl.  Plin.  IV  2.  —  Apollodor  leitete  den  Namen  von  den  Sümpfen 
bei  Dodona  ab. 

3)  Herodot  VIII  23.  Doch  gibt  es  einen  Ort  Hellopion  in  Aetolien 
Polyb  XI  7,  4  bei  Steph.  Byz.,  derselbe  wird  mlt^KXXoTiia  jieqi  Joloniav  bei 
Steph.  identisch  sein.  Niese  hat  daher  schwerlich  Recht,  wenn  er  Hermes 
XII  S.  413  meint,  Hesiod  habe  einfach  eine  Verwechselung  begangen. 


43 

thatsächlich  ja  auch  unbestrittenes  Griechenthum  im  Gegen- 
satz zu  den  epirotischen  Barbaren  weiter  gestützt.  Auf  diese 
Weise  kamen  neben  den  Pelasgern  auch  noch  die  Urhellenen 
nach  Dodona,  Deukalion  und  mit  ihm  seine  Fluth  wurde  aus 
Thessalien  nach  Epiros  versetzt.  Bei  Plutarch  Pyrrh.  1  erschei- 
nen beide  Traditionen  neben  einander:  einige  nennen  als  ersten 
König  der  Molosser  und  Thesproter  nach  der  Fluth  den  Pe- 
lasger  Phaethon  (oben  S.  40),  nach  anderen  lassen  sich  Deukalion 
und  Pyrrha  nach  Gründung  des  Heiligthums  in  Dodona  unter 
den  Molossern  nieder.  Ueber  weitere  Combinationen,  die  uns 
aus  Epaphroditos  bewahrt  sind,  s.  u.  S.  52.  Als  die  Ansicht 
aufkam,  die  Hellenen  hätten  vor  Deukalions  Sohn  Hellen  den 
Namen  Graiker  geführt,1)  wurden  auch  diese  aus  Thessalien 
nach  Dodona  versetzt.  Daher  lässt  Aristoteles  meteor.  I  14  zur 
Zeit  der  deukalionischen  Fluth  „die  Seilen  und  das  damals 
Graiker,  jetzt  Hellenen  genannte  Volk"  in  Dodona  und  am 
Acheloos  „im  alten  Hellas"  wohnen. 

Die  geschichtliche  Zeit  kannte  die  Hellen  von  Dodona 
nicht  mehr;  die  Ilias  dagegen  weiss  nichts  von  den  drei  Prie- 
sterinnen,-) welche  in  geschichtlicher  Zeit  dem  Orakel  vor- 
standen und  ihre  Kunst  auf  die  schwarze  Taube  zurückführten, 
die  auf  der  Eiche  des  Zeus  die  Stätte  des  Orakels  verkündet 
hattet)  Freilich  standen  diesen  Prophetinnen  auch  Propheten 
zur  Seite,  für  die  der  Name  rofzovQoi  überliefert  wird.4)    Aus 


1)  Apollod.  1  7,  8.  Chron.  par.  6.  Plin.  IV  28.  Steph.  Byz.  rpccixog. 
S.  die  Ausführungen  von  Niese  Hermes  XII,  mit  denen  ich  im  wesent- 
lichen übereinstimme.  Aehnlich  Unger  Hellas  in  Thessalien  S.  692  ff.  (Philol., 
II.  Suppl.). 

2)  bei  Soph.  Trach.  172  zwei  Peleiaden  (dioacöv  ex  tieäeiÜöüjv);  Euri- 
pides  nannte  nach  den  Scholien  drei. 

3)  Herod.  II  54  ff.,  der  die  Namen  der  drei  Priesterinnen  nennt.  Be- 
kanntlich macht  er  aus  der  Taube  eine  ägyptische  Sklavin  und  berichtet, 
dass  die  Priesterinnen  von  Dodona  dem  libyschen  Amonsorakel,  das  zu 
seiner  Zeit  im  höchsten  Ansehen  stand,  den  gleichen  Ursprung  beigelegt 
hätten.  —  Andere  reden  von  drei  Tauben  (Strabo  VII  fr.  1  a).  Nach  Paus. 
X  12,  10  (vgl.  VII  21,  2)  sind  die  Peleiaden  Dodonas  die  ältesten  Prophe- 
tinnen, noch  älter  als  Phemonoe  aus  Delphi.  Anus  Pelias  als  Name  der 
Prophetin  Serv.  ad  Aen.  III  406. 

4)  Strabo  VII  7,  11,  der  ihn  von  dem  Berge  Tomaros,  an  dem  Dodona 
lag,  ableitet.  Einige  lasen  Od.  n  403  Aibq  ßeyäXoio  to/uovqoi  für  &Eßiozeg, 
vgl.  die  Scholien.  Das  Wort  zöfiovQoq  gebraucht  Lykophron  223  für  Prophet. 


44 

Ephoros  erfahren  wir,  dass  den  Boeotern  allein  zu  Dodona  die 
Orakel  von  Männern  verkündet  werden  (Boiwrolc,  fiovoiQ  avÖQag 
jtQofreöJtl^eiv  sv  Aooöcovy).  Ephoros  erklärt  das  durch  eine 
Geschichte  aus  der  Zeit  der  Kämpfe  zwischen  Boeotern  und 
Pelasgern,  bei  denen  sich  jene  an  der  jrQocpr/Tig  von  Dodona 
vergriffen  hätten.  Also  auch  nach  seiner  Anschauung  gehören 
die  Prophetinnen  schon  der  Urzeit  an,  was  übrigens  aus  der 
Taubenlegende  von  selbst  folgte.  Die  Schwierigkeit,  welche 
sich  hieraus  ergibt,  hat  Apollodor  (bei  Strabo  VII  7,  12)  zu 
lösen  gesucht:  „Ursprünglich  waren  die  Propheten  Männer; 
und  das  hat  vielleicht  auch  Homer  im  Sinn,  wenn  er  die 
Seilen  vjiocpqrai  nennt,  zu  denen  wohl  auch  die  jiQO(pf/Tai 
gerechnet  werden  können.  Dann  wurden  drei  alte  Weiber 
(jQalai) ')  ernannt,  als  auch  dem  Zeus  die  Dione  als  Genossin 
im  Cult  hinzugefügt  wurde"  —  natürlich,  denn  wenn  Homer 
nur  den  Zeus  von  Dodona  kennt,  so  muss  nach  stricter  Inter- 
pretation Dione  erst  später  hinzugekommen  sein. 

Im  übrigen  werden  auch  wir  nicht  viel  weiter  kommen 
können.  Wir  stehen  vor  der  Alternative:  entweder  hat  sich 
der  dodonaeische  Cult  allmählich  geändert,  wie  der  Name  der 
Hellen  verschwunden  ist,  sind  die  Propheten  gegen  die  Pro- 
phetinnen zurückgetreten;  oder  aber  die  Hellen  standen  schon 
zur  Zeit  der  Patroklie  zu  den  Prophetinnen  in  demselben  Ver- 
hältniss  wie  die  delphische  Priesterschaft  zur  Pythia,  und  der 
Dichter  hat,  vielleicht  aus  Unkenntniss,  von  den  Frauen  ge- 
schwiegen. Möglich  sind  beide  Erklärungen,  wahrscheinlicher 
ist  mir  die  letztere.  Es  ist  zu  beachten,  dass  die  Patroklie 
von  den  sonstigen  Einrichtungen  des  dodonäischen  Cultus,  na- 
mentlich von  der  Eiche,  die  doch  die  Odyssee  und  Hesiod 
fr.  225  nennen,  nichts  erwähnt.  In  seiner  Beschreibung  Hel- 
lopiens  und  Dodonas  (fr.  150)  redet  Hesiod  von  der  Art,  wie 
das  Orakel  ertheilt  wird,  überhaupt  nicht. 

1)  Ist  der  Ausdruck  um  der  Graikeu  willen  (die  bei  Strabo  aller- 
dings nicht  vorkommen)  gewählt?  Im  übrigen  erzählt  Strabo  auch,  dass 
nach  einer  Ansicht  die  alten  Weiber  „im  Molossischen  und  Thesprotischen" 
nthai,  die  alten  Männer  nbhoi  hiessen;  daraus  sei  die  Legende  von  den 
IlfXeiuö^Q  entstanden;  nach  einer  anderen  Ansicht  hätten  die  Priesteriiinen 
aus  dem  Taubenflug  prophezeit  (Strabo  VII  fr.  1  a.  2).  Mit  Unrecht  hat 
man  diese  Einfälle  für  die  Schilderung  des  dodonaeischen  Cults  verwerthet. 


45 

Es  erübrigt  noch,  einen  Ausweg  zu  besprechen,  der  von 
den  Gelehrten  der  Zeit  nach  Ephoros ')  mehrfach  betreten  ist. 
Um  den  Schwierigkeiten  zu  entgehen,  welche  die  Pelasger 
in  Dodona  und  seine  Nennung  im  thessalischen  Katalog  boten, 
griff  man  zu  einem  sehr  oft  angewendeten  Auskunftsmittel  und 
fingirte  zwei  Dodonas,  das  epirotische  und  ein  thessalisches; 
letzteres  meine  Homer.  Der  bekannte  thessalische  Alterthums- 
forscher  Suidas,  von  dem  wir  auch  sonst  rationalistische  Kunst- 
stücke kennen  —  er  machte  Thetis  die  Mutter  Achills  zu  einer 
Tochter  Chirons,  um  so  die  Göttin  zu  beseitigen  und  Achills 
Erziehung  durch  Chiron  zu  erklären  (fr.  6)  —  entdeckte  das 
thessalische  Dodona  in  der  pelasgiotischen  Stadt  Skotussa  bei 
den  Kynoskephalai  (vgl.  Strabo  IX  5,  20).  Von  hier  sei  das 
Orakel  später  nach  Epiros  verlegt  worden  und  bei  der  Ge- 
legenheit seien  namentlich  die  Weiber  ausgewandert.  So  fanden 
zugleich  auch  der  „pelasgische"  Zeus  und  die  Thatsache  ihre 
Erklärung,  dass  in  späterer  Zeit  Weiber  das  Orakel  verkün- 
deten.2) Aehnlich  erzählte  der  Thessaler  Kineas,  wahrschein- 
lich der  Vertraute  des  Pyrrhos:  als  die  Orakeleiche  in  der 
thessalischen  Stadt  verbrannte,  wurde  das  Orakel  nach  einem 
Ausspruch  Apolls  nach  Epiros  verlegt.  Beide  Erzählungen  ver- 
danken wir  Apollodor  (bei  Strabo  VII  7,  12  und  Epaphroditos 
bei  Steph.  Byz.),  der  sich  indessen  ablehnend  gegen  diesen  Ver- 
such verhalten  zu  haben  scheint.  Die  Späteren  schwanken: 
Philoxenos  z.  B.  meinte,  in  der  Odyssee  sei  das  thesprotische, 
in  der  Ilias  das  thessalische  Dodona  gemeint  ,3)  Epaphroditos 
entschied  sich  für  das  thessalische.  Man  sieht,  wie  geringen 
Werth  die  Angaben  über  das  doppelte  Dodona  besitzen,  welche 


1)  Ephoros  weiss  von  einem  doppelten  Dodona  offenbar  noch  nichts, 
sonst  würden  wir  davon  erfahren. 

2)  Suidas  las  77  233  Zev  ava  <Pr]ycovai£  (von  der  (pr/yög),  worin  ihm 
Zenodot  folgte  (Epaphroditos  bei  Steph.  Byz.).  Für  authentisch  wird  die 
Lesung  fprjywvaie  wie  die  analoge  Bcodojvoüs  (s.  u.)  wohl  Niemand  halten; 
es  sind  deutliche  Verlegenheitsauswege. 

3)  Ebenso  schol.  Od.  £  327.  —  Achill  rief  nach  dieser  Annahme  den 
Gott  seiner  Heimath  an.  Freilich  bezeichnet  er  durch  zriXöd-i  valmv  deut- 
lich genug  den  Gott,  der  fern  innerhalb  der  epirotischen  Gebirge  zu  Hause 
ist.  Aber  auch  dafür  wusste  man  Rath:  xt]).6&i  vaimv  bezeichne  Zeus  als 
den  Gott  der  im  Aether  thront  (Schol.  Ven.  A.  Eustath.).  Neuere  Heraus- 
geber haben  das  nachgeschrieben! 


46 

die  Neueren  so  oft  genarrt  haben.  Ganz  gleichartig  ist  es, 
dass  andere  (Namen  werden  nicht  genannt)  Acodcovalz  in  Bwöco- 
vale  corrigirten  und  auf  einen  perrhäbischen  Ort  Bodone  be- 
zogen.1) Aehnlich  suchten  andere  die  Angabe  des  Katalogs 
über  Dodona  im  Gebiet  der  Aenianen  dadurch  zu  beseitigen, 
dass  sie  für  'Evitjpsq  den  Namen  "lcoloi  einsetzten,  der  von 
einem  perrhäbischen  Berge  Iolon  abgeleitet  wird.2)  Endlich  hat 
man  auch  die  Aenianen  in  der  Nähe  von  Dodona -Skotussa 
untergebracht:  sie  hätten  ursprünglich  hier  im  dotischen  Felde 
gewohnt  und  seien  von  den  Lapithen  nach  ihren  späteren 
Wohnsitzen  am  Oeta  verdrängt  worden.3)  Die  noch  spätere 
Version  bei  Plutarch  qu.  gr.  13.  26  lässt  sie  sogar  nach  Epiros 
auswandern,  zunächst  ins  Aethikerland,  dann  nach  Molossis 
und  Kassopien,  wo  die  Parauaeer  aus  ihnen  hervorgehen.  Von 
hier  gelangen  sie  endlich  über  Kirrha  in  ihre  späteren  Wohn- 
sitze. So  ist  das  harmlose  Völkchen  glücklich  bei  beiden  Do- 
donas  untergebracht  und  zu  einem  der  vom  Schicksal  am  meisten 
umhergetriebenen  Stämme  geworden. 

Es  ist  sehr  lehrreich,  dass  die  antike  Gelehrsamkeit  zur 
Aufhellung  der  homerischen  Räthsel  so  garnichts  zu  ermitteln 
vermochte;  für  analoge  Fälle  ist  dies  rein  negative  Ergebniss 
nicht  ausser  Acht  zu  lassen.  Die  grosse  Kluft,  welche  trotz  aller 
Zusammenhänge  doch  zwischen  der  Blüthezeit  des  Epos  und  der 
historischen  Zeit  klafft,  tritt  auch  darin  deutlich  zu  Tage.  — 

Die  Patroklie  nennt  den  dodonäischen  Zeus  pelasgisch, 
Hesiod  das  Orakel  einen  Sitz  der  Pelasger;  die  Patroklie  nennt 
die  Priester  Dodonas  Hellen,  Hesiod  die  Landschaft  Hellopia, 
Namen,  deren  Zusammenhang  mit  den  Hellenen  nicht  abgewiesen 
werden  kann.  Beide  Angaben  weisen  auf  eine  Verbindung 
zwischen  der  Bevölkerung  Thessaliens  und  Dodona  hin,  die  ja 
auch  in  so  manchen  anderen  Indicien  zu  Tage  tritt.  Sollen 
wir  annehmen,  dass  die  Hellenen  von  Phthiotis  wie  die  Pe- 
lasger einstmals  in  der  dodonäischen  Hochebene  gesessen  haben 
und  sich  Ueberreste  davon  bis  in  spätere  Zeit  erhielten?    Oder 

1)  Auch  diese  Deutung  kannte  Apollodor:  Steph.  Byz.  s.v.  Ba>6wvri' 
noliq  UeQQaißix^,  <i>q  \4.no).Xööit>Qoq,  oi  rf'  op&wq  OftraXiaq,  rlno  HwSw- 
vov  ij(j(üog.  o  noXizyq  Bo)öu)vcüoq.  Ob  der  Ort  wirklich  existirt  hat  oder 
nur  fingirt  ist,  weiss  ich  nicht. 

2)  Steph.  Byz.  s.  v.  "hoXor.  3)  Strabo  IX  5,  22  vgl.  I  3,  21. 


47 

ist  der  Name  "EXXqvsc  und  cEXXag  bei  den  Achäern  von  Phthia 
secundär  und  irgendwie  aus  dem  Namen  der  dodonäischen 
Priesterschaft  gebildet?  Und  beweist  der  „pelasgische  Zeus" 
nur,  dass  die  Pelasger  der  thessalischen  Ebene  den  Gott  des 
berühmten  Orakels  eifrig  verehrten?  Diese  Fragen  lassen  sich 
wohl  aufwerfen,  aber  nicht  beantworten.  Sicher  ist  nur,  dass 
die  Bevölkerung  von  Dodona  eine  griechische  war  wie  die 
Gottheiten  die  hier  verehrt  wurden,  Zeus  Naios  und  Dione. 
Und  wenn  der  Dichter  der  Patroklie  den  Achill  zum  pelas- 
gfschen  Zeus  beten  lässt,  so  war  dieser  für  ihn  ein  nationaler, 
nicht  ein  ausländischer  Gott.  Daraus  können  wir  folgern,  dass 
die  Pelasger  den  Griechen  nicht  stammfremd,  dass  sie  ein 
griechischer  Stamm  gewesen  sind,  und  das  ist  ja  auch  den 
geographischen  Verhältnissen  nach  das  einzig  wahrscheinliche. 
Ebenso  natürlich  ist  es  aber,  dass  zwischen  ihnen,  den  Bauern 
der  Ebene,  und  den  benachbarten  Bergstämmen,  speciell  den 
Hellenen  oder  Achäern  von  Phthia,  ein  fortdauernder  altererb- 
ter Gegensatz  bestand,  etwa  wie  zwischen  Kanacanäern  und 
Hebräern.  Daher  ist  es  dem  Dichter  der  Patroklie  unmöglich, 
die  Pelasger  auf  Seiten  Achills  kämpfen  zu  lassen,  wie  die 
Phoker  und  die  Boeoter;  er  hat  sie  vielmehr  unter  die  Bundes- 
genossen der  Troer  eingereiht. 

3.   Die  Pelasger  auf  Kreta. 

Die  letzte  Homerstelle,  in  der  die  Pelasger  vorkommen, 
ist  ein  Vers  der  Odyssee,  r  177.  Odysseus  gibt  sich  hier  für 
einen  Kreter  aus,  den  Bruder  des  Idomeneus;  er  schildert  der 
Penelope  die  Insel  mit  ihren  90  Städten  und  ihren  zahlreichen 
Bewohnern  verschiedenen  Stammes: 

aXXr/  d'  aXXmv  yXSöoa  {lefiiyfjtvr/'  hv  [ihr  A%atol, 
Iv  d  EreoxQrjTtg  fayaXrjTogsq,  tv  öh  Kvöcovsq, 
Acoquzq  xe  TQixcuxec,  öloi  TS  IleXaoyoL1) 


1)  Diese  Verse  erinnern  zunächst  an  die  gelehrten  Bemerkungen  in 
der  Patroklie ;  aber  sie  sind  ganz  anders  niotivirt,  wie  denn  überhaupt  der 
Dichter  dieser  Stelle  der  Odyssee  weit  höher  steht  als  der  der  Patroklie. 
Odysseus  will  der  Penelope  seine  angeblichen  Schicksale  erzählen  und 
berichtet  ihr  zunächst  von  seinem  Heimathland.  Da  ist  eine  ausgeführte 
Schilderung  völlig  an  ihrem  Platze,  zumal  da  der  Erzähler  ja  garnicht 
voraussetzen   darf,   dass  Penelope   irgend   etwas  genaueres  über  die  Insel 


48 

Diese  Verse  gehören  zu  einem  der  ältesten  Bestandteile 
unserer  Odyssee,  wie  sich  aus  Wilamowitz'  glänzender  Ana- 
lyse dieses  Abschnitts  (Hom.  Unters.  50  ff.)  ergibt.  Dass  sie  die 
auf  Kreta  zur  Zeit  des  Dichters,  also  etwa  im  achten  Jahr- 
hundert, bestehenden  Verhältnisse  schildern,  ist  allgemein  an- 
erkannt. Dass  also  damals  Pelasger  auf  Kreta  sassen,  kann 
nicht  bezweifelt  werden,  wenn  wir  auch  über  sie  aus  anderen 
Quellen  so  wenig  etwas  erfahren  wie  über  die  Kydonen,  die 
kretischen  Achaeer  und  die  Eteokreter.  Wissen  wir  doch  über- 
haupt über  die  Zustände  Kretas  so  gut  wie  garnichts. 

Im  übrigen  hat  man  in  unserer  Stelle  mit  Recht  ein  Zeug- 
niss  gesehen  aus  der  Zeit,  als  die  Dorer  —  die  bekanntlich 
bei  Homer  nur  an  dieser  Stelle  vorkommen  —  sich  auf  der 
Insel  festzusetzen  begannen.  Dass  neben  ihnen  auch  Achaeer 
und  Pelasger  hinübergekommen  sind,  enthält  nichts  auffälliges; 
finden  wir  doch  Spuren  thessalischer  Siedelungen  in  dem  ganzen 
später  von  Dorern  besetzten  Gebiet  des  ägäischen  Meeres,  na- 
mentlich auf  Kos  und  Rhodos.  Aber  weiteres  darüber  zu 
ermitteln  ist  unmöglich."2) 

Die  Alten  freilich  konnten  so  nicht  folgern.  Ihnen  bot  die 
Erwähnung  der  Dorer  auf  Kreta  in  den  Zeiten  des  troischen 
Krieges,  vor  der  Rückkehr  des  Herakliden  und  der  Besiedelung 
Kretas  durch  die  Dorer  von  Argos  grosse  Schwierigkeiten  ::<)  sie 


weiss.  So  beginnt  er  völlig  correct  Kq^xi}  xiq  yaf  toxi,  fAtoio  en  oXvoni 
tiovtü),  xaXrj  xcä  nUtQa,  tie^iqqvxoq  u.  s.  w.  Eine  Angabe  über  die  Be- 
wohner ist  hier  völlig  am  Platze  und  darf  daher  nicht  etwa  als  spätere 
Interpolation  verworfen  werden.  Dann  nennt  Odysseus  Knossos  und  seinen 
sagenberühinten  Herrscher  Minos  (der  Vers  ev&a  xe  Mivcoq  svvewQoq  ßa- 
ciksve  diöq  fxeyäXov  oaQioxtjq  ist  natürlich  dem  Dichter  bereits  aus  älterer 
Poesie  überliefert;  Odysseus  dürfte  eigentlich  so  nicht  reden,  da  Penelope 
die  Worte  unmöglich  verstehen  kann,  wie  sie  denn  auch  den  Interpreten 
Schwierigkeiten  genug  gemacht  haben);  seine  Enkel  sind  Idomeneus  und 
der  Erzähler  selbst  (Aithon). 

2)  Wenn  die  zur  bembinaeischen  Phyle  gehörige  pelasgische  Chilyastys 
(Iltkäayrjoc)  in  Ephesos  (Hicks,  anc.  Greek  inscr.  in  the  Brit.  Mus.  III 
p.  70)  irgend  etwas  mit  den  Pelasgern  zu  thun  hat,  wird  sie  auf  gleiche 
Weise  zu  erklären  sein.  Vermuthlich  aber  hat  man  bei  Schöpfung  der 
Eintheilung  lediglich  nach  passenden  Namen  gesucht. 

3)  Eine  ähnliche  Schwierigkeit,  die  schon  Ephoros  zu  lösen  gesucht 
hat  (Strabo  X  4,  15),  bot  bekanntlich  die  Nennung  von  00  Städten  auf 
Kreta,  während  der  Katalog  der  Insel  100  zuschreibt. 


49 

mussten  eine  ältere  dorische  Wanderung  nach  Kreta  annehmen. 
So  hat  Andron  [von  Halikarnass?]  —  ein  Mythenhistoriker, 
dessen  Fragmente  grade  keinen  günstigen  Eindruck  hervorrufen, 
der  aber  von  Apollodor  mehrfach  benutzt  worden  ist  —  erzählt, 
Tektaphos  der  Sohn  des  Doros  sei  aus  Hestiaeotis  [wo  ja  die 
Dorer  ursprünglich  zu  Hause  waren,  Herod.  I  56]  mit  Dorern, 
Achaeern  und  denjenigen  Pelasgern,  die  [beim  Einbruch  der 
Hellenen]  nicht  nach  Etrurien  ausgewandert  waren,  nach  Kreta 
gekommen l)  —  sassen  doch  alle  drei  Stämme  in  der  Urzeit  in 
Thessalien  bei  einander.  Etwas  anders  erzählt  Diodor  V  80, 
der  zwei  Wanderungen  statuirt:  die  ältesten  Bewohner  der 
Insel  seien  die  Eteokreter;  dann  seien  wandernde  Pelasger  dort- 
hin verschlagen,  dann'2)  Dorer  unter  Tektamos,  Doros'  Sohn, 
die  vom  Olymp  kamen,  aber  auch  Achaeer  aus  Lakonien  mit- 
brachten. Noch  später  kommen  ßiyaötg  ßägßaQOi  [das  sind 
offenbar  die  Kydonen].  Durch  Minos  und  Rhadamanthys  wer- 
den all  diese  Stämme  verschmolzen,  schliesslich  kommen  die 
heraklidischen  Dorer  aus  Argos  und  Sparta.  Die  Odyssee- 
scholien  endlich  lassen  die  Achaeer  für  sich  allein  durch  Tal- 
thybios  kurz  nach  dem  troischen  Krieg,  also  immer  noch  vor 
Odysseus'  Rückkehr  nach  Ithaka,  von  Mykenae  nach  Kreta 
geführt  werden.  Ueber  die  Pelasger  ist  in  ihnen  nichts  er- 
halten. —  Die  Wohnsitze  der  verschiedenen  Stämme  auf  der 
Insel  hat  Staphylos  von  Naukratis  (bei  Strabo  X  4,  6)  zu  be- 
stimmen gesucht,  wie  es  scheint,  ziemlich  willkürlich.  Die 
Eteokreter  hat  man  immer,  die  Kydonen  meist  für  Autochthonen 
gehalten.  Man  lernt  aus  diesen  Constructionen  nur,  dass  die 
gelehrte  Forschung  hier  so  wenig  wie  bei  Dodona  irgendwelche 
Nachrichten  zur  Erläuterung  der  homerischen  Angabe  aufzu- 
finden im  Stande  war.  Das  ist  indessen  kein  Grund,  um  an 
der  Realität  der  letzteren  zu  zweifeln. 


1)  Androns  Angaben  sind  erhalten  bei  Strabo  X  4,  (!  und  Stepli.  Byz. 
s.  v.  dojQiov,  die  beide  offenbar  aus  Apollodor  schöpfen. 

2)  Nach  Diod.  IV  60  geht  dagegen  Tektamos   der  Sohn  des  Doros 
zusammen  mit  Aeolern  und  Pelasgern  uach  Kreta. 


Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.-   1. 


50 

Die  Quellen  der  Angaben  über  Dodona  bei  Strabo,  Stephanus 
von  Byzanz  und  in  den  Homerscholien. 

Was  die  antike  Gelehrsamkeit  zur  Aufhellung  der  an  die  Homer- 
steilen  über  Dodona  anknüpfenden  Probleme  ermittelt  hat,  erfahren  wir 
im  wesentlichen  aus  drei  Quellen:  Strabo's  ausführlicher  Besprechung  von 
Dodona  (VII  7,  J  0  ff.,  der  Schluss  ist  nur  im  Auszüge  erhalten) ;  dem  im  Ori- 
ginal erhaltenen  Artikel  des  Steph.  Byz.  s.  v.  Aüjöüjvtj;  und  den  Iliasscholien 
zu  II  233,  die,  wie  gewöhnlich  wo  es  sich  um  die  reale  Seite  der  Homer- 
philologie handelt,  sehr  dürftig  sind  —  aus  ihnen  allein  würden  wir  nur 
ein  ganz  unzureichendes  Bild  der  Sachlage  gewinnen.  Die  Scholien  zum 
Schiffskatalog  bieten  an  unserer  Stelle  überhaupt  nichts.1)  Der  werth- 
vollste  Theil  der  Nachrichten  geht  bei  allen  drei  auf  Apollodors  Coni- 
nientar  zum  Schiffskatalog  zurück.  Apollodors  Angaben  sind  ziemlich  voll- 
ständig bei  Strabo  erhalten,  der  ihn  auch  citirt;  Strabo  selbst  hat  ihm  ein 
Citat  aus  Ephoros  vorgeschoben  und  die  abweichende  Ansicht  des  Deme- 
trios  von  Skepsis  über  die  Lage  des  Flusses  Selleeis  eingefügt,2).  Alles 
weitere  dürfen  wir  für  einen  Auszug  aus  Apollodor  halten;  die  Citate  des 
Suidas  und  Kineas  in  §  12  kehren  bei  Steph.  Byz.  wieder.3) 

Bei  Stephanus  wie  in  den  Scholien  liegen  dagegen  Apollodors  An- 
gaben nur  durch  spätere  Vermittelung  und  mit  Zusätzen  erweitert  vor; 
sein  Name   wird   nicht   genannt.4)    In   dem  Artikel   des  Stephanos   sind 


1)  Eustathius  in  den  Commentaren  zu  Homer  wie  zu  Dionys.  perieg.  428 
schöpft  nur  aus  diesen  auch  uns  erhaltenen  Quellen.  Einzelne  gleichlau- 
tende Angaben  sind  auch  ius  etym.  magn.  u.  a.  übergegangen. 

2)  Demetrios  handelte  hiervon  natürlich  bei  Besprechung  der  mit  den 
Troern  verbündeten  Pelasger.  —  Dass  Strabo  den  Skepsier  selbst  benutzt 
und  das  Citat  nicht  aus  Apollodor  entlehnt  hat,  geht  auch  daraus  hervor, 
dass  die  Iliasscholien  des  Ven.  A  die  apollodorische  Ansicht  genau  so 
geben  wie  Strabo,  aber  Demetrios'  Auffassung  nicht  erwähnen.  —  Das 
Citat  aus  Philochoros,  in  dem  die  Stelle  Hesiods  über  Hellopia  herange- 
zogen wird,  hat  Strabo  aus  Apollodor  übernommen.  Es  stammt  gewiss 
nicht  aus  der  Atthis,  die  Strabo  kennt,  sondern  wohl  aus  den  Büchern 
tceql  /uavxixfjq  [die  Schrift  'HneiQCDxixä,  der  Müller  das  Fragment  (187) 
einreiht,  ist  von  ihm  erfunden  und  hat  nie  existirt]. 

3)  vgl.  Niese  Rhein.  Mus.  32,  288. 

4)  Ob  Stephanus  das  Citat  aus  Apollodor  sv  a  nepl  &ewv  S.  249,  1 
direct  dieser  Schrift  oder  einer  Sammlung  entlehnt  hat,  ist  zweifelhaft  und 
für  uns  irrelevant.  Er  erklärt  hier  die  Beinamen  des  Zeus  dcuöcovaioq  ort 
didaxjLV  rj/biZv  xä  äyaSa,  IleXaayixbq  de  oxi  xrjq  yijq  neXaq  eaziv.  Aehn- 
liche  Spielereien,  die  übrigens  zum  Theil  auf  recht  alte  etymologische 
Kunststücke  zurückgehen  werden,  enthalten  auch  die  Scholien  (hierher 
gehört  auch  die  Lesung  Zev  avaöajöojvals,  naga  xrjv  avaöwoiv  xüv  aya- 
9(öv),  aus  denen  wir  auch  erfahren,  dass  einige  IleXaQytxä  (natürlich  zu- 
nächst wegen  des  Pelargikon)  oder  IIzXaoxixE  (ov  niXaq  eaxiv  6  cc/jq) 
lasen.    Ebenso  Eustath.     Die  Epitheta  der  Seilen  geben  zu  weiteren  der- 


51 

S.  247,  13  (eixdq  dt  anb  /IwSiovog  TtoTccftov)1)  —  248,  15  (dcaöcwaTog)  der 
MEiNEKEschen  Ausgabe  aus  Herodian  entnommen  und  handeln  über  die 
verschiedenen  Formen  des  Namens  Dodona.  Daran  schliessen  sich  die 
Belege  für  das  e&vcxov  aus  Hekataeos,  Homer,  Kratinos,  Apollonios,  So- 
phokles und  ein  Citat  aus  Apollodor  tisqi  &eöiv.  Den  Beschluss  bildete 
ein  grosses  Citat  aus  der  Sprichwörtersammlung  des  Lucius  von  Tarra 
(vgl.  s.  v.  T(xqqcc),  das  ebenso  in  die  Paroemiographen  und  Suidas  über- 
gegangen ist  und  auch  in  den  Intermarginalscholien  des  Venetus  B  wieder- 
kehrt. Es  wird  das  Sprichwort  /Iwöwvalov  yakxlov  erklärt,  eine  Deutung 
Demons  verworfen,  die  von  Polemo  gegebene  nach  Aristides2),  der  ihn 
ausschreibt,  mitgetheilt  —  es  bezieht  sich  auf  eine  Metallscheibe,  an  die  eine 
eherne  Peitsche,  welche  die  Statue  eines  Knaben  in  der  Hand  hält,  anschlägt 
und  dadurch  ein  tausendfaches  Echo  hervorruft.  Lucius  von  Tarra  fügt 
eine  Beschreibung  des  gegenwärtigen  Zustandes  und  ein  Citat  aus  Menander 
hinzu.  Von  diesem  Kunstwerk  ist,  wie  wir  aus  Strabo  sehen,  schon  bei 
den  älteren  Schriftstellern  in  demselben  Zusammenhange  die  Rede  ge- 
wesen. Strabo's  Schilderung  weicht  von  der  bei  Stephanos  nur  wenig 
ab  und  fügt  hinzu,  das  Denkmal  sei  ein  korkyräisches  Weihgeschenk. 
Es  ist  wohl  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  Schilderung  bei  Strabo  auf 
Polemo  zurückgeht,  aus  dem  sie  zunächst  Apollodor  entlehnt  hat. 

Was  bei  Stephanus  übrig  bleibt  (S.  246,  8  —  247,  13),  entstammt  einem 
Homercommentar;  was  im  Folgenden  gesperrt  gedruckt  ist,  kehrt  in  der- 


artigen Absurditäten  Veranlassung.  Auch  dass  Zenodot  TtoXvniöaxoq  für 
dvo%ei/u£Qov  las  (schol.  T),  sei  hier  erwähnt.  —  Folgt  übrigens  aus  der 
Deutung  Apollodors,  dass  er  keine  Pelasger  in  Dodona  annahm,  sondern 
sich  durch  die  angeführte  Etymologie  half?  In  dem  was  uns  aus  Apol- 
lodor erhalten  ist,  ist  in  der  That  von  Pelasgern  in  Dodona  nicht  die 
Rede.  —  Schol.  Ven.  A  enthalten  die  ganz  verstümmelte  Angabe  Ilekaoyia 
tcqoteqov  r)  OtaoaXia  exaXeixo,  f£  ov  Oavfxaaxbq  xai  vnb  IleXaoyiZv 
Ti/xajfitvoq,  £7iel  JJeXaoyoi  xaxwxovv  xr)v  A(i)8<i)vr\v,  exßXrj&tvxeq  anb 
BoHDiiaq  vnb  AloXtcov  (gemeint  ist:  von  den  Aeolern,  die  aus  Boeotien 
in  Thessalien  einbrachen  [und  später  als  Boeoter  nach  Boeotien  zurück- 
kehrten]), mit  der  ich  weiter  nichts  anzufangen  weiss. 

1)  Dass  der  Einschnitt  an  der  angegebenen  Stelle  ist,  hat  Meineke 
verkannt;  die  Beweise  sind  1)  was  vorangeht,  kehrt  in  den  Scholien 
wieder,  was  folgt  nicht;  2)  im  vorhergehenden  Abschnitt  leitet  Epaphro- 
ditos  den  Namen  Dodona  von  mythischen  Persönlichkeiten  ab,  Stephanus 
aber  erklärt  sich  für  die  Ableitung  Herodians  von  einem  angeblichen 
Flusse  Dodon;  3)  im  Vorhergehenden  wird  gegen  die  Unterscheidung  von 
zwei  Dodonas  polemisirt,  S.  247,  15  aber  heisst  es  öixxai  d'  tiai  dwöiövai, 
avrrj  xai  r)  iv  Oexxakia,  xa&dnep  okloi  xai  Mvaaeaq-,  ein  deutlicher  Beleg 
dafür,  dass  ein  Quellenwechsel  stattgefunden  hat.  Aus  Mnaseas  hat  He- 
rodian auch  bei  Steph.  Byz.  s.  v.  Acöxlov  die  mythische  Ableitung  des 
Namens  von  Dotos  Sohn  des  Pelasgos  entnommen,  vgl.  S.  257, 1  mit  ZI.  16. 

2)  Dafür  lesen  die  Iliasscholien ,  Suidas  und  die  Sprichwörter  des 
cod.  Coisl.  Aristoteles. 


52 

selben  Folge  im  schol.  B.  T  zu  17  233  wieder.  Wir  erfahren,  dass  Philo- 
xenos  im  Odysseecoinmentar  ein  thesprotisches  und  ein  thessalischesDodona 
unterscheidet;  letzteres  meint  Achill.  Dagegen  polemisirt  Epaphroditos 
im  Commentar  zum  77:  Achill  ruft  den  seiner  Heimath  benach- 
barten Gott  an,  ähnlich  wie  Pandaros  und  Chryses.  Der  Zeus 
von  Dodona  heisst  Naiog.1)  Zenodot  las  &rjy  (ovale ,  Suidas  sagt, 
es  gebe  in  Thessalien  ein  Heiligthum  des  Zevg  <Pr\y(ovalog 
[auf  einem  15  Stadien  von  Skotussa  entfernten  Hügel,  schol.  T],  und  dieser 
sei  gemeint.  Andere  schreiben  Bw6(ovale ,  nach  einer  Stadt 
Bodon(e)  in  Thessalien,  wo  Zeus  verehrt  wird.  Es  folgen  die  An- 
gaben aus  Kineas  über  das  thessalische  Dodona  und  schliesslich  folgendes 
Citat  aus  Epaphroditos'  Commentar  zu  Kallimachos'  Aixia  II:  (uvo/^aoxai 
6h  xaxa  OQCcovßovXov  dnb  d  (oödvtj  g  fxiäg  xöJv  '&xeavl6a)v  vvfj.- 
(ptiöv?)    Axeoxo6(OQog  6  h  äiib  d(ö  6(ov  o  g  xov  dibg  xal  Ev qoJ Tirjg. 

Es  ist  klar,  dass  die  Quelle  dieses  ganzen  Abschnittes  nur  der  von 
Stephanus  so  viel  benutzte  Epaphroditos  sein  kann,  der  zum  Schluss  seinen 
Commentar  zu  den  aixia  selbst  citirt.  Aus  derselben  Quelle  haben  (in- 
direct)  auch  die  Scholien  geschöpft.  Epaphroditos  aber  hat  das  von 
ApOllodor  zusammengetragene  Material  benutzt,  wenn  auch  nur  sehr  ver- 
stümmelt: bei  Strabo  werden  Suidas  und  Kineas  ebenso  citirt  wie  bei 
Stephanus. 

In  den  Scholien  stecken  noch  eine  Eeihe  von  Notizen,  die  auf  die- 
selbe oder  eine  ähnliche  Quelle  und  jedenfalls  in  letzter  Instanz  auf  Apol- 
lodor  zurückgehen,  namentlich  die  Discussion  über  die  Seilen,  für  die  wie 
bei  Strabo  Pindar  citirt  wird  (eine  Bemerkung,  die  an  die  Diple  zu  234 
anknüpft,  stammt  natürlich  aus  Aristarch  [Aristonikos])  und  die  Citate  aus 
Andron  und  Alexander  von  Pleuron  über  die  Seilen  (beides  Ven.  A).  Der 
allen  Scholien  gemeinsame  Satz  dcodojvcu  6h  6vo,  fj  /uhv  OeaoaXiag,  f/  6h 
MoXooaiag.  nvhg  6h  d(o6(ovr\v  xrjv  yfjv,  tkxqÖöüv  nävxa  6l6ojaiv  6voyei- 
(izqov  6h,  oxl  näyoig  xal  XQVfxoTg  vnb  xov  ovgavov  ovvtyexai  stammt 
nicht  aus  Epaphroditos,  weil  dieser  die  Unterscheidung  der  beiden  Dodona 
verwirft;  Philoxenos  nennt  Dodona  thesprotisch ,  nicht  molossisch.  Die 
Etymologie  klingt  an  Apollodor  an  und  dürfte  aus  ihm  abgeleitet  sein. 
Endlich  nennt  der  Ven.  A  zu  77  233  wie  zu  B  750  Dodona  ein  xojqiov  ev 
^YnsQßoQloig  (B  750  mit  dem  Zusatz  xi\g  OeoTiQtoxiag),  natürlich  um  der 
Hyperboreererzählung  bei  Herodot  willen.  — 

Die  Odysseescholien  zu  £  327  bieten  nichts  als  die  Unterscheidung 
der  beiden  Dodona  und  eine  auf  Proxenos,  den  Zeitgenossen  des  Pyrrhos, 
zurückgehenden  Legende  über  den  Ursprung  des  Orakels. 


1)  vÖQrika  ya.Q  xa  ixet  ycoQia  fügen  die  Scholien  hinzu.    Apollodor 
leitete  den  Namen  Hellopia  von  den  tkt]  bei  Dodona  ab  (Strabo). 

2)  die  den  Deukalion  heirathet,   schol.  T.    In  schol.  A  kehren  diese 
Angaben  sehr  verstümmelt  wieder. 


Drittes  Kapitel, 
Pelasgos  in  Arkadien.    Die  Lykaonsagen. 


Nach  der  seit  dem  fünften  Jahrhundert  in  der  griechischen 
Literatur  allgemein  herrschenden  Ansicht  haben  die  Pelasger 
die  Urbevölkerung  fast  ganz  Griechenlands  gebildet.  Man  sollte 
daher  erwarten ,  ihnen  in  der  epischen  Literatur ,  die  ja  die 
ältesten  Zustände  Griechenlands  schildert,  auf  Schritt  und  Tritt 
zu  begegnen.  Aber  genau  das  Gegentheil  ist  der  Fall.  Die 
Stellen,  an  denen  die  Pelasger  als  reales  Volk  vorkommen, 
haben  wir  sämmtlich  bereits  kennen  gelernt.  Sie  spielen  in 
Ilias  und  Odyssee  und  eben  so  bei  Ilesiod  nur  eine  ganz  unter- 
geordnete Rolle,  kaum  dass  sie  ein  oder  zweimal  genannt 
werden. 

Wo  sonst  der  Pelasgername  vorkommt,  ist  von  einem  wirk- 
lichen Volk  überhaupt  nicht  die  Rede;  sie  werden  nur  durch 
ihren  Eponymen,  den  uralten  König  Pelasgos,  vertreten.  Der- 
selbe hat  allerdings  nach  älterer  Auffassung  seinen  Nachkommen, 
nach  späterer  seinen  Unterthanen  seinen  Namen  vererbt;  aber 
schon  in  den  Zeiten,  in  denen  das  Epos  spielt,  hiessen  dieselben 
längst  nicht  mehr  so,  sie  haben  ihren  Namen  in  einzelnen  Fällen 
Fällen  sogar  wiederholt  gewechselt,  Arkader  und  Argiver 
(Danaer),  ferner  nach  der  Anschauung  der  Historiker  Epiroten 
Etrusker  Oenotrer  Peuketier  Ionier  Aeoler  sind  aus  ihnen  her- 
vorgegangen. 

Pelasgos'  Name  hat  die  Grundlage  abgegeben  für  die  ganze 
spätere  Pelasgertheorie ,  soweit  nicht  die  Tyrsener  hinein- 
spielen. Aber  auch  er  ist  im  Epos  keine  häufige  Erscheinung. 
Von  den  homerischen  Epen  kennen   ihn  nur  die  spätesten,  — 


54 

dass  er  in  llias  und  Odyssee  nicht  genannt  wird,  ist  bekannt  — 
etwas  häufiger  kommt  er  in  der  hesiodeischen  oder  genealogischen 
Poesie  vor.  Es  gilt  derselbe  als  erdgeboren,  als  der  älteste 
Mensch,  der  Stammvater  des  Menschengeschlechts;  seine  Heimath 
ist  in  der  Regel  wenigstens  Arkadien. 

Am  lebendigsten  tritt  uns  diese  Anschauung  in  einem  Frag- 
ment des  Asios  entgegen: 

'Avrifieov  de  JJeXaoyov  ev  vipixofioidiv  tiotoöiv 
yala  fieXaiv  aveöcoxev,  Yva  &vt]twv  yevog  dtj. 
Der  Zusammenhang  bei  Pausanias  (VIII  1,  4),  der  diese  Verse 
bewahrt  hat,  lehrt  dass  Pelasgos  nach  Asios  in  Arkadien  er- 
zeugt ist.  Ebenso  erzählte  Hesiod:  Pelasgos  ist  ein  Autoch- 
thone,  den  die  Erde  in  Arkadien  erzeugt  hat.1)  Er  ist  bei 
Hesiod  Vater  des  Lykaon,  und  an  diesen  schloss  Hesiod  ein 
ausführliches  Verzeichniss  seiner  fünfzig  Söhne  an: 

vlelg  e^eyevovzo  Avxdovog  avri&ioio, 

ov  noze  rlxre  IJeXaöyög2) 

Einen  dieser  Söhne,  Pallas,  von  dem  die  arkadische  Stadt 
Pallantion  den  Namen  hat,  nennt  ein  Hesiodcitat  bei  Steph  Byz.3) 
Danach  können  wir  nicht  zweifeln,  dass  auch  die  übrigen  Söhne 
mit  Namen  genannt  waren ;  sie  waren  die  Eponymen  arkadischer 
Gaue  und  Ortschaften.  Aus  Pherekydes,  der  sich  in  der 
Regel  eng  an  Hesiod  anschliesst,  bewahrt  Dion.  Hai.  I,  13  fol- 
gendes Bruchstück  (fr.  85  Müller):  „UtXaöyov  xal  Ar]iavdQitg 
ylverai  Avxdwv.  ovrog  yccfiel  KvlXrjvrjV,  vqiöa  vv[ig)7]v,  äq? 
tjg  tÖ  oqoq  r)  KvXlrjVij  xalelxai".  ejteira  rovg  ex  tovtwv  yevviy 
{hevzag  ÖLst-iwv  xal  rlvag  exoOzot  zojtovg  coxrftav,  Oivcozqov 
xal  Lfevxeziov  (auf  die  es  Dionys  ankommt)  (itfivtjOxezai  Xtyajv 
coöe  '  „xal  OhwjTQog,  dp/  ov  OlvmzQOi  xaXeovzai  ol  ei>  7zaXi?j 
olxeovxeg,  xal  IlevxexiOQ,  d(f  ov  Uevxeztoi  xaXeovzai  ol  ev  reo 
'lovico  xoXjio?".     Aehnlich   mag  das   hesiodeische   Verzeichniss 


1)  Apollodor  II  1,  I  =  III  8, 1  'Hoioöoq  de  rbv  llekaoybv  avTÖyßova 
(ptjoiv  iivai.  Servius  ad  Aen.  II  83  Pelasgi  a  Pelasgo  Terrae  tilio,  qui  iu 
Arcadia  genitus  dicitur,  ut  Hesiodus  tradit.  Strabo  V  2,  4  toJ  ö1  'Eipoyco 
rov  £§  liQxaöi'ag  iivai  xb  (pvkov  zovzo  (die  Pelasger)  tfyZtv  lHa(o6cK. 

2)  fr.  68  bei  Strabo  1.  c. 

3)  TlaXkävz iov  '  nö).iq  ^Qxaöiaq,  dnb  IläXXavToq,  hvbq  zcöv  Avxcovoq 
naidiov,  wq  c Hoioöoq. 


55 

ausgesehen  haben;  möglich  ist  allerdings  auch,  dass  die  Kata- 
loge sich  auf  ein  Namensverzeichniss  beschränkten,  wie  Apollo- 
dor  III,  8,  1 ;  was  Namen,  wie  Haimon  (Eponymos  von  Haimo- 
niai  bei  Megalopolis),  Alipheros,  Pallas,  Mantinus,  Mainalos  zu 
bedeuten  hatten,  war  ja  auch  ohne  Erläuterung  klar.  Im  ein- 
zelnen war  hier  der  Variation  der  weiteste  Spielraum  ge- 
lassen, und  Namen  wie  Peuketios  und  Oinotros  hat  Hesiod 
gewiss  noch  nicht  genannt.1)  Auch  die  Frauen  des  Pelasgos 
und  Lykaon  sind  verschieden  benannt  worden:  nach  Pherekydes 
(Dion.  Hai.  I  13)  heirathet  Pelasgos  die  Deianeira2),  Lykaon 
die  Najade  Kyllene.  Nach  anderen  ist  diese  die  Gemalin  des 
Pelasgos  und  Mutter  des  Lykaon :i),  nach  einer  dritten  Version 
ist  Pelasgos  mit  der  Okeanostochter  Meliboia  vermalt.4)  Hesiod 
dagegen  hat  wahrscheinlich  die  Meliboia  zu  Lykaons  Gemalin 
gemacht,  da  Herodian  aus  ihm  den  Vers  anführt  (fr.  70  K.  73  R) 
(peklov  lvfi(ieXi?]v  rtxt(ro  xXei)r?j  MsXlßoia*),  der  sich  schwer- 


1 )  Aus  Apollodor  (bei  dem  vier  Namen  ausgefallen  sind),  Pausan.  VIII  3, 
und  Steph.  Byz.  (der  einen  Theil  der  Namen  aus  Pausanias  entnommen  hat) 
finden  sich  zusammen  schon  70  Namen.  Nur  ein  Theil  ist  zwei  Quellen 
gemeinsam,  in  allen  drei  finden  sich  nur  Haimon,  Alipheros,  Mainalos  und 
Pallas.  Dagegen  ist  nach  Hellanikos  fr.  60  Mainalos  ein  Sohn  der  Arkas. 
Kleitor  ist  bei  Apollodor  ein  Sohn  des  Lykaon,  bei  Pausan.  VIII 4  ein  Sohn 
des  Azan,  Enkel  des  Arkas ;  ähnliches  findet  sich  mehrfach.  —  Auch  nicht- 
arkadische  Eponymen  wurden  von  den  Späteren  vielfach  zu  Söhnen  des 
Lykaon  gemacht,  so  Thesprotos  (Apoll.  Steph.  Byz.  "Eyrga,  natürlich  wegen 
der  Pelasger  von  Dodona),  Lyktos  (Steph.  Byz.  s.  v.,  bei  Apollod.  ver- 
schrieben Avxioc,  wegen  der  kretischen  Pelasger),  Phthios  und  Teleboas 
(Apollodor),  Makedon  oder  Makednos  (Apoll.  Steph.  Byz.  'ÜQionöq  —  da- 
durch werden  die  Makedonen  zu  Pelasgem  Justin  VII  1 ;  daher  herrscht 
bei  Aeschylos  suppl.  Pelasgos  über  alles  Land  bis  zum  Strymon.  Ver- 
muthlich  ist  das  eine  Erweiterung  der  Pelasger  in  Epiros ;  die  älteren  wissen 
nichts  davon.  Bei  Hesiod  sind  Makedon  und  Magnes  Söhne  des  Zeus,  bei 
Hellanikos  Makedon  ein  Sohn  des  Aiolos :  Steph.  Byz.  Maxtdovia). 

2)  Dieselbe  ist  wohl  eine  Variation  von  Arkas'  Gemalin  Asäveiya 
oder  MeyävsiQu  (Apollod.  III  9,  1  schol.  Eurip.  Orest.  1646). 

3)  Apollodor  III  8,  1,  wo  Lykaon  zahlreiche  namenlose  Frauen  hat, 
schol.  Eurip.  Orest.  1646,  mit  ganz  anderer  Genealogie  des  Pelasgos,  s.  u. 
Lykaon  heirathet  hier  die  Orthosie.  Nach  Pausan.  VIII  17,  6  ist  Nonakris 
(der  Ort  an  der  Styx)  Lykaons  Gemalin. 

4)  Apollod.  1.  c. 

5)  So  Hermann,  cod.  zexe  xft  Mel. 


56 

lieh  irgendwo  anders  einreihen  lässt.  Phellos  kann  bei  Hesiod 
unmöglich  der  Eponym  der  lykischen  Stadt  sein,  dagegen  ist 
vielleicht  an  Phellos  bei  Aigeira  in  Achaia  (Paus.  VII  26,  10) 
zu  denken;  hat  doch  auch  das  benachbarte  Hyperesia  einen 
Eponymen  Hyperes  unter  Lykaons  Söhnen  (Steph.  Byz.).  Pe- 
lasgos  kann  bei  Hesiod  nicht  Meliboias  Genial  sein,  da  er  nie 
einen  anderen  Sohn  hat  als  Lykaon. 

Hesiods  Genealogie  ist  in  den  Hauptzügen  von  allen  Spä- 
teren adoptirt  worden.  Dass  sie  volksthtimlich  und  in  Arkadien 
einheimisch  wäre,  folgt  daraus  aber  noch  nicht.  Um  sie  zu 
beurtheilen,  müssen  wir  ihre  einzelnen  Elemente  analysiren, 
und  dazu  ist  vor  allem  eine  Untersuchung  der  Lykaonsage 
und  die  Ermittelung  der  Gestalt  erforderlich,  in  welcher  Hesiod 
sie  erzählt  hat. J) 

Lykaon's  Bedeutung  besteht  darin,  dass  er  der  Gründer 
des  Zeuscults  auf  dem  Lykaion  in  Parrhasien  ist,  des  ange- 
sehensten aller  arkadischen  Culte.2)  Zu  diesem  gehört  ein 
Menschenopfer  —  wie  es  scheint  das  Opfer  eines  kleinen  Kindes, 
denn  in  den  Erzählungen  von  Lykaon  wird  durchweg  ein  solches 
genannt  {ßQtyoc,  u.  ä.).  Dieses  blutige  Opfer  stand  im  vierten 
Jahrhundert  noch  in  regelmässiger  Uebung3)  —  vermuthlich 
wurde  es  allerdings  nur  in  bestimmten  Jahren  und  bei  beson- 
deren Veranlassungen  (vgl.  das  athamantidische  Menschenopfer 
Herod.  VII  197)  dargebracht.  Es  knüpft  sich  daran  der  Glaube, 
dass  wer  von   den   menschlichen  Eingeweiden,   die   unter  die 


1)  [Seitdem  dies  geschrieben  ist,  hat  Immerwahr,  Kulte  und  Mythen 
Arkadiens  I  1891  den  Zeus  Lykaios  behandelt.  Ich  gehe  auf  seine  An- 
sichten so  wenig  ein  wie  auf  die  zahlreichen  älteren  Untersuchungen,  z.  B. 
die  H.  D.  Müller's.    Ich  wüsste  nicht,  was  eine  Polemik  hier  nützen  könnte.] 

2)  Pansan.  VIII  2  Avxdwv  6  IlsXaayov  AvxÖgovqÜv  ts  nöktv 
(pxioev  iv  zw  OQEt  rw  Avxaio),  xai  Ata  covö/naas  Avxalov,  xai  äywva 
t9tjxe  Avxcucc.  Lykosura  ist  von  Lykaon  um  des  Namens  willen  gegründet 
und  daher  die  älteste  Stadt  (Paus.  VIII  38).  Die  lykaeischen  Spiele  werden 
bekanntlich  bei  Pindar  oft  genannt.  Vgl.  auch  die  parische  Chronik  ep.  1 7, 
wo  der  Ursprung  der  eleusinischen  Spiele  und  der  Lykaeen  in  dasselbe 
Jahr,  unter  Pandion  IL,  gesetzt  wird.  Lykaon  ist  hier  also  in  viel  spätere 
Zeit  gesetzt  als  sonst. 

3)  Plato  Minos  315,  der  die  Menschenopfer  der  Athamantiden  und 
Karthager  vergleicht;  rep.VIII  565.  Theophrast  bei  Porphyr,  de  abstin.1127. 


57 

gleichzeitig"  dargebrachten  thierischen  gemengt  werden,1)  kostet, 
dadurch  zum  Wolf  wird.  Natürlich  wird  daher  auch  als  Be- 
gründer des  Kultus,  Lykaon,  von  dieser  Verwandlung  betroffen. 
Der  volksthümlichen  Anschauung  der  Zeit  Piatos  (rep.  VIII  565) 
gilt  diese  Verwandlung  als  göttliche  Strafe  für  das  wenn  auch 
zu  heiligen  Zwecken  vergossene  Menschenblut,  und  ist  auf  eine 
bestimmte  Zeitdauer  (neun  Jahre)  befristet:  wenn  der  Wolf 
während  dieser  Zeit  kein  Menschenfleisch  frisst,  wird  er  wieder 
zum  Menschen.  Das  ist  bei  dem  Parrhasier  Demainetos  that- 
sächlich  eingetreten,  der  nach  seiner  Rückverwandlung  noch 
olympische  Siege  erfochten  hat.2)  Vermuthlich  wurde  aus  den 
Theilnehmern  am  Opfer  irgendwie  (durch  das  LoosV)  einer 
bestimmt,  der  als  der  Schuldige  galt  und  neun  Jahre  land- 
flüchtig werden  musste.  Das  ist  eine  Uebertragung  der  Sühne 
für  unfreilligen  Mord  auf  das  Menschenopfer. 

In  der  diesem  Glauben  entsprechenden  Gestalt  erzählt 
noch  Pausanias  die  Geschichte  Lykaons,  nur  dass  ihm  natürlich 
Lykaon's  Opfer  eine  Verkennung  des  Wesens  der  Gottheit  ist. 
Zu  seiner  Zeit  muss  indessen  das  Menschenopfer  längst  abge- 
schafft gewesen  sein,  wenngleich  er  mit  einer  aus  Herodot  ge- 


1)  So  schildert  Apollodor  III  8,  1  das  Opfer  Lykaons.  Pausanias 
VIII  2,  3  weicht  etwas  ab  :  Avxccwv  enl  xbv  ßojftbv  xov  Avxaiov  Aibq  ßytcpog 
qveyxev  avd-Qojnov,  xal  c&vgs  xb  ßolcpog,  xal  eoneiosv  im  xov  ßcüfiov 
xb  ai/jta'  xal  avxbv  avxixa  enl  xy  &voi(i  ytvio&cu  Xvxov  (paalv  avxi 
dv&oojTiov.  Dass  wir  den  Hergang  beim  Opfer  nicht  genau  kennen,  ist 
begreiflich  genug;  er  war  Mysterium  (Paus.  VIII  38,  7  inl  xovxov  xov 
ßcofxov  xco  Avxaico  Ad  &vovoiv  sv  änoQQrjXip)  wie  alle  analogen  Cultus- 
handlungen. 

2)  Skopas  bei  Plin.  VIII  82.  Varro  bei  Augustin  civ.  dei  18,  17.  Pausan. 
VIII  2,  6  u.  a.  —  Euanthes  bei  Plin.  VIII  81  (der  Name  steht  durch  das 
Autorenverzeichniss  Ib.  I  fest  und  ist  daher  nicht  wie  vermuthet  in  Neanthes 
zu  ändern)  erzählt  abweichend :  Arcadas  scribere  ex  genere  Anthi  cuiusdam 
sorte  familiae  lectum  ad  stagnum  quoddam  regionis  eius  duci  vestituque 
in  quercu  suspenso  tranare  atque  abire  in  deserta  transfigurarique  in  lupum 
et  cum  ceteris  eiusdem  generis  (der  Wölfe)  conjugari  per  annos  novem, 
quo  in  tempore  si  homine  se  abstinuerit,  reverti  ad  idem  stagnum,  et  cum 
tranaverit,  effigiem  recipere  ad  pristinum  habitum,  addito  novem  annorum 
senio  (id  quoque  fabulosius  [?,  codd.  fabins],  eandem  reciperare  vestem). 
Danach  wäre  die  Verbannung  (Verwandlung  in  einen  Wolf)  ein  auf  einem 
bestimmten  Geschlecht  ruhender  Fluch  (ähnlich  wie  bei  den  Athamantiden) 
und  ursprünglich  wohl  ein  Ersatz  des  Menschenopfers.  Eine  anderweitige 
Bestätigung  dieses  Berichts  findet  sich  nicht. 


58 

borgten  Phrase  darüber  weggeht.1)  Denn  wenn  die  Kaiser  bis 
auf  Hadrian  hinab  die  Unterdrückung  der  Menschenopfer  sogar 
bei  Druiden  und  Semiten  durchsetzten  (Porphyr,  de  abstin.  II  56), 
so  waren  dieselben  im  Centrum  Griechenlands  von  der  fortge- 
schrittenen Humanität  schon  weit  früher  beseitigt  worden. 
Lange  vorher  aber  hatten  die  weiteren  Anschauungen  zu  einer 
gründlichen  Umwandlung  der  Sage  geführt.  War  Lykaon 
ursprünglich  der  fromme  Stifter  des  bestehenden  und  daher 
legitimen  Kultus,2)  so  wird  er  jetzt  ein  Frevler  an  der  Gottheit, 
der  sie  durch  das  vorgesetzte  Menschenfleisch  aufs  schwerste 
beleidigt  und  dafür  mit  seinem  ganzen  Geschlechte  (bis  auf 
Nyktimos)  vernichtet  wird.  Die  Verwandlung  in  den  Wolf  ist 
nicht  mehr  eine  Folge  des  vergossenen  Bluts,  sondern  die  Strafe 
für  den  ärgsten  Frevel.3) 

Diese  Auffassung  entstammt  einer  Zeit,  in  der  die  Forderung, 
dass  die  Götter  moralische  Wesen  sein  sollten,  sich  geltend 
machte  und  zu  der  tiefgreifenden  Umwandlung  der  Mythen 
führte,  die  wir  vor  allem  bei  Stesichoros  und  Pindar  kennen 
lernen.  Es  sind  denn  auch  alle  einzelnen  Züge  dieser  Erzählung 
Entlehnungen  aus  älteren  Sagen  —  die  Versuchung  der  Gottheit 
durch  das  Menschenopfer  aus  der  Pelopssage,  die  Vernichtung 
der  Schuldigen  durch  Blitze,  bis  die  Erde  ihre  Arme  ausstreckt 


1)  VIII  38,7  nokvTtQay/biov^aai  öl  ov  fioi  xa  eg  rrjv  9voiav  rjöv  ijv, 
i'/tTco  dt  cvc  eyji  xal  wg  £G'/ev  f|  «£/>)<?.  Auch  VIII  44,  6  wird  auf  den 
Charakter  des  Opfers  augespielt,  Zu  Pliuius  Zeit  und  vielleicht  schon  zur 
Zeit  seiner  Quelle  Skopas  war  es  abgeschafft :  VIII  82  Scopas  qui  Olyin- 
pionicas  scripsit  narrat ...  in  sacrificio  quod  Arcades  Jovi  Lycaeo  humana 
etiamtam  hostia  faciebant. 

2)  In  später  Zeit  klingt  diese  Auffassung  bei  Nik.  Dam.  fr.  43  nach: 
Lykaon  ist  wie  sein  Vater  Pelasgos  ein  gerechter  Herrscher,  der  um  seine 
Unterthanen  zur  Gesetzmässigkeit  zu  erziehen  vorgiebt,  dass  ihn  Zeus  in 
Menschengestalt  regelmässig  besuche.  Seine  fünfzig  Söhne  wollen  die 
Wahrheit  der  Behauptung  erproben  und  veranstalten  das  Menschenopfer. 
Dafür  trifft  sie  die  Strafe  des  Saifzöviov.  Hier  ist  die  ephorische  Auf- 
fassung von  Rhadamanthys,  Minos,  Lykurg  auf  Lykaon  übertragen.  —  Auch 
nach  schol.  Lyk.  481  sind  Lykaons  Söhne  die  Frevler. 

3)  So  uiuss  sie  natürlich  auch  Pausanias  auffassen,  obwohl  er  sonst 
die  ältere  Version  der  Sage  giebt.  —  Das  Detail  wird  vielfach  variirt, 
namentlich  betreffs  des  Nyktimos  (s.  u.).  Gelegentlich  wird  auch  erzählt, 
das  geopferte  Kind  sei  Arkas  gewesen,  Zeus  habe  ihn  wieder  zusammen- 
gesetzt wie  den  Pelops  (Erratosth.  Catast.  8.  Robert). 


59 

und  Zeus  um  Schonung  fleht,  aus  der  Gigantensage,1)  ferner 
die  Anknüpfung  der  deukalionischen  Fluth  an  Lykaons  Frevel 
—  oder  recht  armselige  Erfindungen,  wie  die  Erklärung  des 
Namens  der  benachbarten  Stadt  Trapezus.2) 

Dass  die  hesiodeischen  Gedichte  diese  ethische  Version 
nicht  gekannt  haben  können,  ist  klar.  Wir  haben  dafür,  ob- 
wohl jede  directe  Angabe  fehlt,  doch  noch  einen  äusseren 
untrüglichen  Beweis.  Den  Söhnen  Lykaons  ergeht  es  in  den 
späteren  Berichten,  z.  B.  dem  Apollodors,  wie  dem  Jabal  Jubal 
und  Tubalkain  in  der  Genesis.  Die  drei  Söhne  Lamechs  sind 
die  Väter  aller  Hirten,  Musiker  und  Schmiede;  aber  trotzdem 
ersaufen  ihre  Nachkommen  sämmtlich  in  der  Sündfluth.  Ebenso 
sind  Lykaons  Söhne  die  Eponymen  und  Stammväter  der  ar- 
kadischen Städte,  aber  bis  auf  einen  oder  einige  wenige  werden 
sie  von  Zeus  erschlagen  —  ganz  abgesehen  davon,  dass  nach 
einigen  (so  bekanntlich  auch  Ovid)3)  auch  hier  die  Sündfluth 
dahinter  kommt.  Wie  in  der  Genesis  sind  also  hier  zwei  Er- 
zählungen verbunden,  die  nichts  mit  einander  zu  thun  haben. 
Wenn  für  Hesiod  Lykaons  Söhne  die  Väter  der  Stämme  und 
Gemeinden  Arkadiens  waren,  so  können  sie  keine  ruchlosen 
Frevler,  so  müssen  sie  göttergeliebte  Heroen  gewesen  sein.  Es 
kommt  hinzu,  dass  der  Kinderreichthum  Lykaons  für  die  Er- 
zählung, welche  in  dem  Menschenopfer  einen  Frevel  sieht,  gar 
keine  Bedeutung  hat;  sie  kennt  vielmehr  seine  fünfzig  Söhne 
schon  aus  der  Ueberlieferung  und  muss  sie  zu  Frevlern  machen, 
um  ihre  Tendenz  durchzuführen. 


1)  Dazu  gehört  Pausan.  VIII  29,  1  "khyovGLV  oi  AQxäöeq  z?jv  keyo/jevtjv 
riyävziov  (jäyjiv  xal  &e(5v  evzav&a  (bei  Trapezus)  . . .  yevea&ai  xal 
d-vovoiv  doxQanalQ  avzd&L  xal  9v£kkaiq  zs  xal  ßQovzalq. 

2)  der  davon  abgeleitet  wird,  dass  Zeus  den  Opfertisch  (zyane^a) 
uingestossen  habe.  Robert  (bei  Preller  gr.  Myth.4  128,  1)  sollte  das 
nicht  als  Gründungssage  von  Trapezus  bezeichnen.  Nach  älterer  correc- 
terer  Auffassung  hat  Trapezus  seinen  Namen  von  einem  Sohne  Lykaons. 

3)  Ebenso  z.  B.  schol.  Eurip.  Orest.  1646:  Lykaon  gründet  das  Zeus- 
heiligthum  xal  nalöa  £Gyr\x(hq  eg  'Oq&cdoiccq  Nvxzi/iov  ztjv  apytjv  avza> 
xazaXFi7tei,  £<p'  ov  o  xazuxlvGßöq  eysvezo.  Hier  ist  von  Lykaons  Frevel 
nicht  die  Rede ;  beruht  die  Ansetzung  der  Fluth  unter  Nyktimos  vielleicht 
ursprünglich  lediglich  auf  chronologischen  Schlüssen?  Nach  der  parischen 
Chronik  freilich  ist  die  deukalionische  Fluth  viel  älter  als  Lykaon;  aber 
hier  sind  attische  Gesichtspunkte  massgebend. 


60 

Somit  hat  Hesiods  Erzählung-  ungefähr  ebenso  ausgesehen 
wie  die  des  Pausanias,1)  der  zwar  Lykaons  Verwandlung  als 
Strafe  für  sein  Opfer,  aber  nicht  das  Gerieht  über  Lykaons 
Söhne  kennt.  Aber  auch  diese  Darstellung  kann  nicht  die 
ursprüngliche  sein.  Das  Opfer  ist  ja  eine  heilige  Handlung, 
der  blutige  Dienst,  der  Jahrhunderte  lang  geübt  wird,  kann 
ursprünglich  nicht  für  ein  wenn  auch  nur  unfreiwilliges  Ver- 
brechen gegolten  haben.  Vielmehr  nimmt  die  Gottheit  das 
Opfer  auf  dem  Berge,  wo  sie  geboren  ist 2)  und  ihren  Wohnsitz 
hat,  wohlgefällig  entgegen  und  kostet  davon  —  wie  im  Alten 
Testament  so  vielfach  Jahwe  (oder,  was  dasselbe  sagt,  sein 
„Abgesandter")  das  Opfer  entgegennimmt  und  dadurch  den 
Cultus  sanktionirt.  Nur  so  erklärt  sich  der  Zug,  den  auch  die 
spätere  Darstellung  festhält,  dass  Zeus  zu  Lykaon  zu  Gast 
kommt  und  von  dem  geschlachteten  Kinde  isst.  Ursprünglich 
also  kann  die  Verwandlung  in  einen  Wolf  nur  eine  Folge,  nicht 
eine  Sühne  des  Menschenopfers  gewesen  sein. 

Nun  ist  längst  anerkannt,  dass  Lykaon  Niemand  anders 
ist  als  Zeus  Lykaios  selbst.  Sein  Name  ist  aus  dem  des  Gottes 
gebildet  wie  der  des  Lykurgos;  beide  sind  Heroen,  die  sich 
von  dem  Gotte  losgelöst  und  zu  Sonderwesen  entwickelt  haben. 
Dadurch  erklärt  sich  auch  die  Verwandlung  in  einen  Wolf: 
Zeus  Lykaios  wurde  in  Wolfsgestalt  vorgestellt,  wie  Artemis 
Kalliste,  aus  der  sich  Kallisto  die  Stammmutter  der  Arkader 
abgezweigt  hat,  eine  Bärin,3)  Zeus  selbst  in  anderen  Culten  ein 


1)  Damit  ist  keineswegs  gesagt,  dass  Pausanias'  Erzählung  direct 
aus  Hesiod  oder  einer  niythographischen  Bearbeitung  Hesiods  entnommen 
sei.  Vielmehr  lehrt  seine  ganze  Erzählung  deutlich,  dass  er,  wie  er  selbst 
sagt,  die  arkadischen  Traditionen  wiedergibt,  d.  h.  das,  was  die  arkadische 
Jugend  lernte  und  die  arkadischen  priesterlichen  und  profanen  Localge- 
lehrten  mündlich  und  schriftlich  erzählten.  Diese  Localtradition  ist  aber, 
wie  überall,  in  ihren  Grundlagen  durchaus  von  dem  hesiodeischen  Corpus 
abhängig.  —  Dass  im  übrigen  Pausanias  selbst  aus  einem  Literaturwerk 
geschöpft  hat  (vgl.  v.  Wilamowitz,  Isyllos  S.  84  über  analoge  epidaurische 
Traditionen),  ist  sehr  wahrscheinlich,  aber  kein  Vorwurf;  woher  kommen 
denn  in  unsere  Reisehandbücher  die  Localtraditionen? 

2)  Pausan.  VIII  38,  2,  vgl.  Callim.  hyinn.  in  Jov. 

3)  Wie  der  Lykaonmythus  unter  dem  Einfluss  der  Pelopssage,  so 
ist  der  von  Kallisto  unter  dem  Einfluss  der  Io  umgebildet  (die  Ueberein- 
stimmung  bemerkt  schon  Pausan.  I  25,  1),  nur  dass  noch  die  Verwandlung 


61 

Stier  oder  ein  Adler  ist.1)  Der  älteste  Glaube  also  war,  dass 
Zeus  in  Wolfsgestalt  das  Menschenopfer  entgegen  nimmt.  Daraus 
bildet  sich  der  Mythus,  dass  Lykaon,  der  Gründer  des  Cults, 
ein  Wolf  ist  oder  wird,  d.  h.  dass  er  durch  das  Opfer  des  Wesens 
der  Gottheit  theilhaftig  wird.  Das  gleiche  gilt  von  allen,  die 
nach  ihm  das  Opfer  richtig  vollziehen;  auch  sie  werden  zu 
Wölfen,  d.  h.  sie  werden  göttergleich.2)  Das  Opfer  bildet  das 
Band  zwischen  dem  Schutzgott  und  seinen  Verehrern.  Alles 
weitere  ist  später  moralisirende  Umbildung. 

Bei  der  Verwandlung  in  den  Wolf  hat  man  später  jeden- 
falls an  den  Gleichklang  mit  Xvxoq  gedacht.  Aber  Avxalog 
bezeichnet  den  Zeus  als  Lichtgott  wie  !vx?]ysP7/q*)  Möglich 
wäre  es,  dass  aus  diesem  Gleichklang  die  ganze  Anschauung- 
erwachsen  wäre;  aber  viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  wir 
es  hier  mit  einem  der  vielen  Reste  des  Thiercultus  bei  den 
Griechen  zu  thun  haben,  dass  ein  in  Wolfsgestalt  verehrter 
Gott  zum  Lichtgott  Zeus  geworden  ist.4)  Als  Lichtgott  tritt 
er  uns  auch  darin  entgegen,  dass  in  seinem  heiligen  Hain  auf 
dem  Lykaon,  den  bei  Todesstrafe 5)  kein  Mensch  betreten  darf, 
kein  Gegenstand  Schatten  wirft.6)     Als  Gott  des  Lichthimmels 

in  ein  Sternbild  hinzukam,  das  natürlich  längst  den  Namen  der  Bärin  trug, 
ehe  es  mit  Kallisto  identiricirt  wurde. 

1)  vgl.  die  vergoldeten  Adler  auf  zwei  xiovtq  am  Altar  des  Zeus 
Lykaios  Paus.  VIII  38,  7. 

2)  Ethnologen  werden  darin  natürlich  Totemismus  erkennen,  das  ist 
ja  nach  modernem  Glauben  die  Wurzel  aller  Religion. 

3)  Xvxa-ioq,  lvxa-a>v,  Xvxrj-yevrjc,  Xvxa-ßaq  sind  Ableitungen  von 
dem  verschollenen  nomcn  Xvxa  (Xvxrj)  „Licht  (Tag?)",  und  haben  mit  Xvxo-q 
(von  dem  z.  B.  Xvxo-oQyoq  stammt)  nichts  zu  thun.  Mit  Unrecht  meint 
Robert  bei  Preller  I*  127,  2,  Lykaion  könne  „Wolfsberg"  bedeuten.  — 
Xvxa-wv  wie  /uaxcc-ajv  u.  a. 

4)  Man  mag  dabei  immerhin  das  helle  Fell  des  Wolfs  heranziehen, 
obwohl  ich  von  diesen  in  der  Mythologie  lange  Zeit  so  beliebten  Spielereien 
nicht  viel  halte;  das  Studium  der  ägyptischen  und  semitischen  Religionen 
hat  mich  gründlich  davon  curirt.  —  Weiteres  S.  69. 

5)  So  in  der  Kallisto erzählung  bei  Hesiod  (Astronomie?):  Eratosth. 
Catast.  1  Robert.  Nach  Pausan.  VIII  38,  6  eaoöoq  ovx  sativ  ig  avxo 
(to  ze/Ltevoq)  av&Qumoiq'  vntQiöövta  öl  xov  vöfxov  xai  iaeX&övza  dvccyxrj 
Tiäacc  avxov  eviavtov  txqogü)  //r/  ßtcövcu.  Auch  hier  die  Umsetzung  der 
alten  Anschauung. 

6)  Pausan.  1.  c.  Theopomp  wird  dafür,  dass  er  das  nacherzählt  hat, 
von  Polyb.  XVI  12,  7  heftig  getadelt.  —  Die  Uebertragung  der  kretischen 


62 

ist  Zeus  Lykaios   auch   der  Regenspender   (Pausan.  1.  e.),   wie 
Zeus  Laphystios. 

Von  der  Lichtnatur  des  Gottes  hat  auch  Lykaon  eine 
Spur  bewahrt.  Von  seinen  50  Söhnen  sind  alle  anderen  Epo- 
nymen ,  aber  der  älteste, »)  der  ihm  in  der  Herrschaft  folgt, 
trägt  den  Namen  Nyktimos.  Er  nimmt  also  eine  scharf  her- 
vortretende Sonderstellung  ein.  NvxTipog  ist  eine  correcte 
Bildung  von  vvg  (vgl.  voöt-l^ioq,  (pv^-i^toq  u.  a.) :  der  „Nächtige" 
ist  der  Sohn  des  „Lichten".  Beide  Gestalten  kehren  mit  wenig 
veränderten  Namen  wieder  in  dem  boeotischen  Brüderpaar 
Nykteus  und  Lykos.2)  In  Arkadien  haben  wir  den  seltenen 
Fall,  dass  nicht  die  Nacht  „sich  den  Tag  gebiert"  oder  sein 
Bruder  ist,  sondern  als  Sohn  des  Tages  gilt.  Das  ist  eine 
Umkehr  der  naturgemässen  Anschauung  und  nur  dadurch  zu 
erklären,  dass  für  die  zu  Grunde  liegenden  Gestalten  das  Ver- 
wandschaftsverhältniss  bereits  anderweitig  feststand,  d.  h.  Nyk- 
timos ist  das  Beiwort  eines  Gottes,  der  für  den  Sohn  des  Zeus 
Lykaios  galt.  Das  kann  in  Arkadien  Niemand  besser  sein  als 
Hermes,3)  für  den  ja  das  Beiwort  vvxr^uog  trefflich  passt.    So 


Zeussage  sowie  des  Namens  Olympos   auf  das  Lykaion   (Kallim.  Pausan.) 
braucht  hier  wohl  nicht  weiter  besprochen  zu  werden. 

1)  So  Pausan.  Da  seine  Nachfolge  feststand,  lag  es  der  späteren 
Auffassung  nahe,  ihn  gerade  zum  jüngsten  Sohn  Lykaons  zu  machen,  der 
allein  am  Frevel  nicht  Theil  nimmt  und  daher  allein  verschont  wird  (so 
Apollodor).  Nach  Nik.  Dam.  ist  er  dagegen  der  Hauptanstifter  des  Opfers 
(bei  Apollodor  ist  das  der  älteste,  Mainalos).  Andere  machen  aus  Nyktimos 
das  von  Lykaon  geopferte  Kind  (schol.  Lykoph.  481.  Clem.  AI.  protr.  2,  36). 
Auch  das  ist  spätere  Erfindung ;  ein  Opfer  des  eigenen  Kindes,  wie  es  der 
phoenikische  Cult  fordert,  ist  dem  lykaeischen  Dienst  durchaus  fremd. 
Daher  sind  die  Deutungen,  welche  dies  zum  Ausgang  nehmen,  verfehlt 
(z.  B.  die  von  Welzel,  de  Jove  et  Pane  diis  arcadicis  Breslau  1879,  die 
überdies  das  Opfer  aus  dem  Mythus  erklärt,  während  der  wahre  Hergang 
der  umgekehrte  ist). 

2)  Nach  Apollodor  III  5,  5  sind  sie  die  Söhne  des  Chthonios  (eines 
Sparten  nach  III  3,  4,  5).  Der  Name  passt  ganz  gut.  Eine  Variante  III 10,  1 
macht  sie  zu  Söhnen  der  Hyrieus,  nach  III  5,  5  gründen  sie  Hyrie  Chalkis 
gegenüber.  —  Nykteus  ist  bekanntlich  der  Vater  der  Antiope. 

3)  Allerdings  ist  derselbe  am  Lykaion  nicht  nachweisbar;  man  muss 
also  an  den  kyllenischen  denken.  Darf  hierher  gezogen  werden,  dass  nach 
schol.  Theokrit  1,  122  Hermes  der  Vater  Lykaons  ist?  Die  Angabe  ist 
allerdings  ganz  isolirt  und  kann  leicht  ein  Fehler  sein.  —  Eventuell  könnte 


63 

erklären  sich  auch  die  fünfzig  [correct  allerdings  49]  d.  h.  sehr 
vielen,  namenlosen  Brüder  desselben:  es  sind  die  Sterne  des 
Nachthimmels.  Denn  dass  nicht  ihre  Namen,  aber  ihre  Existenz 
und  Zahl  der  ursprünglichen  Sage  angehören,  ist  klar;  hätte 
die  genealogische  Poesie  in  der  Ueberlieferung  nur  Lykaon 
und  Nyktimos  vorgefunden,  so  wäre  man  nie  darauf  verfallen, 
die  Eponymen  der  arkadischen  Gemeinden  an  Lykaon  anzu- 
knüpfen. Schliesslich  erwähne  ich  noch,  dass  Nyktimos  oifen- 
bar  identisch  ist  mit  Nykteus,  den  Asios  als  Vater  der  Kallisto 
nannte.1) 

Die  Grundlage  des  Mythus  ist  also  der  Glaube,  dass  der 
in  Wolfsgestalt  auf  dem  Lykaion  verehrte  Zeus  Lykaon  hier 
den  Opfercult  begründet  und  das  ihm  dargebrachte  Kind  ver- 
zehrt, und  dass  er  einen  Sohn  (Hermes?)  Nyktimos  hat.  Daraus 
erwächst  die  älteste  Gestalt  der  Sage:  „Lykaon  war  ein  uralter 
Herrscher  am  Lykaion,  der  das  Menschenopfer  des  Zeuscults 
begründet  hat.  Durch  den  Genuss  der  Opferspeise  wurde  er 
zum  Wolf.  In  der  Herrschaft  folgte  ihm  Nyktimos,  der  älteste 
seiner  fünfzig  Söhne'"  Diese  fünfzig  Söhne  boten  der  Dichtung 
eine  willkommene  Gelegenheit  zur  Unterbringung  zahlreicher 
arkadischer  Gemeinden,  Bergnamen  etc.  Dadurch  wurde  aber 
der  Charakter  Lykaons  verschoben:  der  aus  der  Götterwelt 
stammende  Stifter  eines  Cults  wurde  zum  Stammvater  der 
Arkader,2)  gewissermassen  zum  Rivalen  des  Arkas,  des  Sohnes 
des  Zeus  und  der  Kallisto  (Artemis).  Nach  correctem  genea- 
logischen Schema  müssten  alle  arkadischen  Gaue  Arkas'  Söhne 
und  Enkel  sein  und  Azan,  Apheidas,  Kleitor,  Aleos,  Stymphalos, 
Gortys  u.  a.  stammen  denn  auch  von  ihm  ab  (einige  von  ihnen 
werden  gelegentlich  auch  Söhne  Lykaons  genannt) ;  aber  durch 
Lykaon  ist  er  in  den  Hintergrund  gedrängt.*) 


vvxti[aoq  auch  ein  Beiwort  des  Pan,  des  Doppelgängers  des  Hermes,  ge- 
wesen sein. 

1)  Apollodor  III  8,  2.  Offenbar  hat  Asios  die  arkadischen  Genealogien 
eingehend  behandelt. 

2)  £s  ist  daher  ganz  correct,  wenn  Pherekydes  ihm  Kyllene  zur 
Gemalin  gab. 

3)  Die  fortschreitende  genealogische  Forschung  hat  daher  Ausgleichs- 
versuche unternommen.  Bei  Hesiod,  d.  h.  in  den  Katalogen,  war  Kallisto 
eine  Nymphe,  (Apollod.  III  8,  2),  aber  ein  anderes  hesiodeisches  Gedicht, 
wahrscheinlich  die  Astronomie,  machte  sie  zur  Tochter  Lykaons  (Erastosth. 


64 

Dass  dadurch  ein  fremdes  Element  in  die  Lykaonsage 
eingefügt  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Lykaon  ist  keine  genealo- 
gische Figur  —  daher  setzt  sich  auch  sein  Geschlecht  nicht 
weiter  fort,  weder  Nyktimos  noch  einer  seiner  Brüder  hat 
Nachkommen ; »)  —  daraus  folgt  zugleich,  dass  er  ursprünglich 
auch  keine  genealogische  Figur  zum  Vater  gehabt  hat,  mit 
anderen  Worten,  dass  auch  Pelasgos  ihm  erst  von  Hesiod  vor- 
geschoben ist.  Seinem  Wesen  nach  kann  Lykaon  nur  entweder 
ein  Autochthon2)  oder  ein  Sohn  des  Gottes  sein,  von  dem  er 
sich  abgezweigt  hat.  Aber  auch  hier  hat  die  hesiodeische  Ge- 
nealogie das  Ursprüngliche  verdrängt.  Die  einzige  Spur  einer 
abweichenden  Genealogie,  die  ich  finde,  ist  bei  Dion.  Hai.  I  11, 
wo  ein  Lykaon  Sohn  des  Aizeios  erscheint,  dessen  Tochter 
Deianeira  von  Pelasgos  dem  Enkel  des  Phoronens  (s.  Kap.  4) 
einen  zweiten  Lykaon,  den  Vater  von  22  Söhnen,  gebiert/)  Die 
Statuiruug  von  zwei  Lykaons  ist  natürlich  nur  harmonisirende 
Ausflucht;  leider  ist  aber  mit  dem  Vater  Aizeios  gar  nichts 
anzufangen.  Doch  wird  er  wohl  mit  der  Landschaft  Azania, 
deren  Eponym  sonst  Azan  ist,  zusammenhängen. 

Wie  ist  aber  Hesiod  dazu  gekommen,  dem  Lykaon  den 
Pelasgos  vorzuschieben?  Pelasgos  ist  der  Urmensch,  den,  wie 
Asios  sagt,  die  Erde  aus  sich  hervorgab,  auf  dass  das  Geschlecht 


Catast.  1),  und  später  ist  diese  Ansicht,  die  auch  Eumelos  vertrat,  die  ge- 
wöhnliche. Asios  nannte  Kallisto  eine  Tochter  des  Nykteus  (S.  03,  1), 
Pherekydes  des  Keteus  (Apollod.  1.  c).  Das  kehrt  bei  schol.  Eurip. 
Orest.  1646  wieder,  wo  wohl  Pherekydes  zu  Grunde  liegt  [allerdings  weicht 
er  vorher  von  Pher.  ab,  indem  er  Kyllene  zur  Gemalin  des  Pelasgos  macht]. 
—  Nach  Charon  Lamps.  bei  Tzetzes  ad  Lyc.  480  ist  Kallisto  Lykaons  Tochter 
die  Geliebte  Apollos ;  nach  Duris  bei  schol.  Apoll.  Rhod.  IV  264  ist  Arkas 
Sohn  des  Orchomenos. 

1 )  Nur  eine  Genealogie  bei  Pausan.  VII  24  führt  Nyktimos'  Nachkommen 
bis  auf  Psophis  hinab;  daneben  stehen  aber  ganz  andere  Ableitungen. 

2)  Ich  lege  kein  Gewicht  darauf,  dass  nach  Nikander  bei  Antoninus 
Liberalis  31  Lykaon  Autochthon  ist;  hier  kann  einfach  der  Name  seines 
Vaters  Telasgos  ausgefallen  sein. 

3)  Die  Angabe  geht  zunächst  wahrscheinlich  auf  Myrsilos,  indirect 
vielleicht  auf  Pherekydes  zurück,  der  Pelasgos  Gemalin  Deianeira  nannte 
(Dion.  Hai.  1  13).  Stammt  die  sehr  auffallende  Angabe  über  die  Zahl  der 
Sohne  Lykaon's  II.  daher,  dass  die  Quelle  nur  22  mit  Namen  zu  nennen 
wusste?  Oder  ist  sie  eine  rationalistische  Correctur,  ähnlich  der,  die  He- 
kataeos  an  der  Zahl  der  Söhne  des  Aigyptos  vornahm? 


65 

der  Sterblichen  entstehe.  Auf  der  anderen  Seite  gelten  die 
Arkader  allgemein  für  uralt;  sie  sind  jtQoöehp>caoi  „älter  als 
der  Mond"  l)  und  haben,  anders  als  die  umwohnenden  Völker, 
ihre  Heimath  nie  verlassen.  War  das  richtig,  so  mussten  sie 
direct  vom  Urmenschen  abstammen,  und  wenn  sie  nie  gewandert 
waren,  musste  dieser  in  Arkadien  geboren  sein.  War  also 
Lykaon  ein  uralter  König  und  Stammvater  der  meisten  Gaue 
Arkadiens,  so  bedurfte  es  nur  einer  einfachen  Schlussfolgerung, 
um  ihn  zum  Sohne  des  Pelasgos  zu  machen2)  und  Pelasgos 
nach  Arkadien  zu  versetzen.  Es  ist  das  durchaus  keine  Will- 
ktihr,  sondern  bei  den  Voraussetzungen,  von  denen  Hesiod  und 
die  ganze  genealogische  Dichtung  —  ich  möchte  lieber  sagen 
Forschung  —  beherrscht  wird,  ein  völlig  correcter  Schluss, 
dessen  Ergebniss  mit  gutem  Gewissen  als  völlig  feststehend 
betrachtet  werden  konnte. 

Uns  freilich  bindet  dieser  Schluss  nicht  mehr,  und  so  müssen 
wir  wieder  lösen,  was  Hesiod  zusammengefügt  hat.  Pelasgos 
hat  mit  Lykaon  nichts  zu  thun,  und  damit  fällt  alle  Verbindung 
zwischen  Pelasgern  und  Arkadern  dahin.3)  Die  Arkader  sind 
niemals  Pelasger  gewesen,  und  noch  weniger  ist  hier  eine  ältere 


1)  Lykophron  482.  Hippys  Rheg.  bei  Steph.  Byz.  liQxaSia.  schol.  Arist. 
nub.  397.  Ap.  Rh.  IV  264  mit  zahlreichen  Belegen  dazu  in  den  Scholien 
(aus  Eudoxos  u.  a.),  ferner  in  dem  Lyrikerfragment  Bergk  III  adesp.  84, 
welches  die  verschiedenen  Urmenschen  aufzählt  und  unter  ihnen  den  tiqo- 
otkavalog  IJeXaayög  in  Arkadien  nennt.  —  Spätere  haben  auch  hier  ratio- 
nalistische Deutungen  aufgestellt,  so  Aristoteles,  Mnaseas  (der  einen  König 
Proselenos  statuirt)  u.  a. 

2)  Wir  können  daraus  vielleicht  zugleich  folgern,  dass  in  den  Tra- 
ditionen, aus  denen  Hesiod  schöpfte,  sei  es  nun  die  Volkssage  selbst,  sei 
es,  was  mir  viel  wahrscheinlicher  ist,  eine  literarische  Ueberlieferung,  ein 
Vater  des  Lykaon  nicht  genannt  war. 

3)  Ich  brauche  wohl  nicht  auszuführen,  dass  die  Angaben  über  Pe- 
lasgos als  Urheber  der  ältesten  Cultur  in  Arkadien  (llüttenbau,  Eichel- 
essen u.  s.  w.)  und  die  weitere  Entwickelung  derselben  unter  Lykaon  und 
Arkas  nichts  weiter  sind  als  Versuche,  die  fortschreitende  Entwickelung 
aus  dem  Urzustände  auszumalen  (s.  namentlich  Pausan.  VIII  2  ff.,  schol. 
Eurip.  Orest.  1646,  Nie.  Dam.  fr.  43 ;  nach  Hygin  fab.  225  baut  Pelasgos  den 
ersten  Tempel  des  olympischen  Zeus  in  Arkadien,  sein  Sohn  Lykaon  den 
des  kyllenischen  Hermes).  Ganz  analoge  Dinge  werden  von  Phoroneus 
und  Inachos  erzählt.  Es  giebt  freilich  neuere  Forscher,  welche  diese  An- 
gaben über  Pelasgos  für  authentische  Ueberlieferung  halten! 

Meyer,  Forschungen  zur  alten  Geschichte.    I.  5 


66 

pelasgische  Bevölkerung  von  einer  späteren  griechischen  ver- 
drängt worden.  Das  sind  Folgerungen  aus  dem  Stammbaum, 
wie  sie  seit  Hekataeos  und  Herodot  schon  oft  gezogen  sind, 
aber  den  Urhebern  desselben  noch  völlig  fern  lagen. 

Für  Pelasgos  ist  das  Resultat  unserer  Untersuchung,  dass 
der  genealogischen  Poesie  die  Anschauung,  dass  Pelasgos  der 
Urmensch  sei,  überkommen  war.  Wo  seine  Heimath  ist,  darüber 
lehrt  uns  seine  Verbindung  mit  Lykaon  gar  nichts.  Dabei- 
haben wir  das  Recht  dieselbe  eben  da  zu  suchen,  wo  die  Pe- 
lasger  zu  Hause  sind,  d.  h.  in  Thessalien.  Eine  Spur  dieses 
Ursprungs  hat  sich  in  dem  Namen  der  Okeanostochter  Meliboia 
erhalten,  die  bei  Apollodor  seine  Gemalin,  bei  Hesiod  (s.S.  55) 
vielleicht  die  des  Lykaon  war.  Urmenschen  heirathen  entweder 
Nymphen  oder  Okeanostochter.  Aber  nach  dem  arkadischen 
Berglande  passt  eine  Meerestochter  schlecht,  und  Meliboia  ist 
bekanntlich  der  Hauptort  der  magnesischen  Küste.  Gemalin 
des  Pelasgos  kann  sie  nur  sein,  wenn  dieser  der  Urmensch  in 
Thessalien  ist.1)  Von  hier  ist  sie  wie  dieser  in  die  arkadische 
Genealogie  übertragen  worden. 


3)  nach  schol.  II.  B  756  (ebenso  Eustath.)  ist  Meliboia  ganz  correct 
Gemalin  des  Magnes,  eines  Solines  des  Aiolos. 


Viertes   Kapitel. 
Pelasgos  in  Argos. 

Io  und  die  Danaiden.    Der  argivische  Stammbaum. 


In  Argos  tritt  uns-Pelasgos  zwar  nicht  als  Urmensch,  aber 
als  ein  alter  König  des  Landes  in  der  erhaltenen  Literatur 
zuerst  in  den  Schutzflehenden  des  Aeschylos,  und  hier  noch 
dazu  leibhaftig  auf  der  Bühne  entgegen.  Er  ist  der  Sohn  des 
erdgeborenen  Palaichthon,  Nachfolger  des  Apis,  und  regiert 
über  ganz  Griechenland  bis  zum  Strymon1),  als  Danaos  und 
die  Danaiden  in  Argos  landen. 

Um  über  den  Werth  dieser  Angaben  ein  Urtheil  zu  ge- 
winnen, ist  es  nothwendig  auf  die  Entwickelung  der  Sage  von 
Io  und  den  Danaiden  näher  einzugehen.  Die  Untersuchung 
ist  um  so  wichtiger,  da  es  sich  hier  den  berühmtesten  aller 
Sagenstammbäume  handelt,  denjenigen,  dem  Perseus,  Herakles 
und  die  Könige  der  Dorer  entstammen.  Dem  entspricht  es, 
dass  derselbe  in  der  alten  Literatur  unendlich  oft  behandelt 
worden  ist.  Bereits  Phrynichos  und  Aeschylos  haben  ihm  Tra- 
gödien entnommen,'2)  Pherekydes,  Akusilaos,  Hellanikos  ihn  ein- 
gehend bearbeitet,  Herodot  verschmäht  sich  näher  auf  ihn  ein- 
zulassen, wTeil  er  zur  Genüge  von  anderen  behandelt  ist  (VI  55 
aXXoiöt  yo.Q  jisqi  avrcov  EiQrjTai).  Aus  der  epischen  Literatur 
beschäftigten   sich  mit   ihm   das   homerische  (kyklische)  Epos 


1)  wegen  der  Pelasger  in  Thessalien,  Epiros  und  Makedonien,  s.  o. 
S.  55  Anm.  t. 

2)  Das  aus  Melanippides  davaiöeq  erhaltene  Fragment  (Bergk,  Lyr. 
III  589)  gewährt  keine  weiteren  Aufschlüsse. 

5* 


68 

Aavaldsq  von  6500  Versen {)  und  das  genealogische  Epos  Pho- 
ronis-).  Im  Aigimios3)  wie  in  den  hesiodeischen  Katalogen4) 
nahm  die  Geschichte  der  Io  und  der  Danaiden  einen  breiten 
Raum  ein. 

Unsere  wichtigste  Quelle  ist  Aeschylos.  Bekanntlich  ist 
von  seiner  Danaidentrilogie  nur  das  erste  Stück  (dass  es  das 
erste  ist,  bezweifelt  jetzt  wohl  Niemand  mehr)  erhalten,  das 
inhaltlich  recht  dürftig  ist.  Vom  zweiten  Stück,  das  nach 
G.  Hermann's  von  Welcker  angenommener  Vermuthung  OaXa- 
[tojioioi  (=  AiyvjtTioiT)  geheissen  haben  wird,  ist  kein  sicheres, 
vom  dritten,  den  /lavaideg,  und  von  dem  Satyrdrama  Amymone 
sind  ganz  wenige  Fragmente  erhalten;5)  doch  lässt  sich  ihr  In- 
halt ungefähr  errathen.  Eine  wesentliche  Ergänzung  bietet  die 
Io- Episode  des  Prometheus,  deren  Angaben  sich  mit  denen 
der  Schutzflehenden  genau  decken,  und  in  denen  der  Dichter 


1)  Jahn- Michaelis  Bilderchroniken  K  2.  davatötg  lautet  der  Titel 
auf  der  BoRGiA'scheu  Tafel,  und  das  ist  offeubar  correcter  als  Javcdq  in 
den  Schriftstellercitaten. 

2)  Von  den  wenigen  erhaltenen  Fragmenten  handelt  fr.  1  Kinkel  von 
Phoroneus,  fr.  4  von  der  ersten  Herapriesterin  Kallithoe,  fr.  2  und  3  von 
den  idäischen  Daktylen  und  Kureten  (bei  der  Wanderung  Io's;  an  Apol- 
lodors  Erzählung  II  1,  3,  7  dass  die  Kureten  den  Epaphos  unsichtbar 
machen,  kann  nicht  gedacht  werden ,  s.  u.  S.  80.  Auch  in  den  Danaides 
war  nach  Philodom.  de  piet.  p.  42  bei  Kinkel  fr.  epic.  p.  313  von  den 
Kureten  die  Kede),  fr.  5  von  Hermes.  Die  Fortsetzung  des  Stammbaumes 
wird  nicht  gefehlt  haben. 

3)  Hierher  gehören  fr.  5  (Argos  navomtjc)  und  fr.  3  (Io's  Irrfahrt 
nach  Euboea),  dagegen  nicht  fr.  4  (über  Zeus'  Meineid),  das  Apollodor 
II  1,  3  unter  Hesiods  Namen  citirt;  denn  wie  Kirchhoff  mit  Recht  be- 
merkt (Odyssee  328),  citirt  Apollodor  11  1,  3,  3  und  5,  14  den  Aigimios 
unter  dein  Namen  des  Kerkops,  so  dass  ein  Hesiodcitat  sich  bei  ihm  auf 
die  Kataloge  beziehen  muss. 

4)  Apollodor  III  I,  3  über  Io's  Vater,  fr.  4  über  Zeus' Meineid  (in  den 
Fragmentsaimnlungen  talschlich  dem  Aigimios  zugeschrieben,  s.  Anm.  3), 
fr.  47.  48  Kinkel  (49.  50  Rzach)  über  Danaos  und  Aigyptos.  Wie  es 
scheint  geht  der  Grundstock  der  Erzählung  Apollodors  durchweg  auf 
Hesiod  zurück. 

5)  Die  Angabe,  dass  in  den  Aiyvnrioi  Pluto  als  Zagreus  bezeichnet 
werde  (fr.  5  Nauck),  ist  von  unsicherer  Beglaubigung  und  für  uns  lässt 
sich  aus  ihr  so  wenig  gewinnen  wie  aus  den  beiden  aus  den  Oaka/nonotot 
erhaltenen  Versen  (fr.  78).  Die  Fragmente  der  davauSeq  bei  Nauck  43—15, 
der  Amymone  fr.  13—15. 


69 

offenbar  derselben  Quelle,  bez.  seinem  älteren  Drama,  gefolgt 
ist.  Die  Quelle  des  Aeschylos  kann  nun  nicht  Hesiod  sein,  da 
dieser  den  Pelasgos  in  Argos  und  seinen  Vater  Palaichthon 
nicht  kannte  und  Io's  Vater  bei  ihm  Peiren  hiess.1)  Ebenso 
ist  der  Aigimios  ausgeschlossen,  da  in  ihm  Argos  jtavojiztjg 
Sohn  des  Argos  und  der  Ismene  ist  und  vier  Augen  hat;  bei 
Aeschylos  ist  er  yrjysvrjg  und  [ivQicojtog  (Suppl.  305  Prom.  568. 
677).  Dass  die  Phoronis  ausgeschlossen  ist  werden  wir  später 
sehen.  Somit  kann  iVeschylos  nur  aus  dem  Danaidenepos  ge- 
schöpft haben,  wie  auch  seit  Welcker  allgemein  angenommen  ist. 
To  die  Priesterin  der  Hera  (xX?jdoiyoQ  °Hgaq  Aeschylos 
suppl.  291),  die  Tochter  des  Inachos,  welche  in  Kuhgestalt  von 
Zeus  geliebt  und  begattet  wird,  ist  ursprünglich  niemand  anders 
als  die  Hera  ßocojtic,  von  Argos  selbst.  Wie  bei  Lykaon  und 
Kallisto  hat  sich  aus  der  thiergestaltigen  Gottheit  eine  my- 
thische Gestalt  entwickelt,  die  in  ihrem  Dienste  steht.2)  Aufs 
neue  finden  wir  hier  eine  Spur  altgriechischen  Thierdienstes.3) 
Derselbe  kehrt  ja  wie  der  Stein-  und  Baumcultus  in  allen 
naturwüchsigen  Religionen  wieder.  Nur  ist  er  in  den  meisten, 
und  so  auch  in  Griechenland,  allmählich  abgestorben,  wäh- 
rend er  in  Aegypten  umgekehrt  eine  immer  steigende  Bedeu- 
tung und  Ausbildung  erfahren  hat. 


1)  Inachos  wird  als  Vater  des  Io  in  den  Schutzflehenden  nicht,  aber 
wiederholt  im  Prometheus  genannt, 

2)  Im  wesentlichen  zu  denselben  Anschauungen  ist  auch  Robert  in 
der  Neubearbeitung  von  Pheller's  Mythologie  I  395  gelangt,  ohne  in- 
dessen im  Artikel  Hera  die  Consequenzen  daraus  zu  ziehen.  Sonst  herrscht 
wohl  noch  jetzt  allgemein  die  aus  dem  Alterthum  überkommene  Deutung 
der  Io  als  Mond,  der  zu  Liebe  alte  Grammatiker  ein  aegyptisches  Wort 
im  „Mond"  erfunden  und  neuere  das  koptische  Wort  iöh  (altäg.  geschrieben 
m*x)  herangezogen  haben.  Robert  1.  c.  erklärt  Io  als  hypokoristischen 
Frauennamen,  vielleicht  mit  Recht. 

3)  Ich  haben  mich  lange  dagegen  gesträubt,  in  Hera  ßowniq  eine 
kuhgestaltige  Göttin  zu  erkennen,  doch  wird  man  sich  der  Analogie  nicht 
entziehen  können.  Dass  die  zahllosen  rohen  Frauenfiguren  von  Thon  aus 
den  Schuttschichten  von  Tiryns  und  Mykenae,  in  denen  Schliemann  selt- 
samer Weise  eine  Frau  mit  einem  Kuhkopf  zu  erkennen  glaubte,  damit 
nichts  zu  thun  haben,  ist  allbekannt.  Eher  darf  man  den  schönen  mit 
einer  Rosette  geschmückten  Kuhkopf  von  Silber  mit  goldenen  Hörnern 
Mykenae  S.  250  und  die  entsprechenden  Figuren  von  Gold  und  von  Thon 
heranziehen. 


70 

Die  Ersetzung  der  Herakuh  durch  ihre  Dienerin  Io,  der 
Artemisbärin  durch  die  Nymphe  Kallisto,  des  Zeuswolfes  durch 
seinen  Diener  Lykaon  wird  eingetreten  sein,  als  die  Anschau- 
ungen, aus  denen  der  Thierdienst  erwachsen  ist,  ihre  Lebens- 
kraft verloren  hatten  und  die  Reste  desselben  nur  noch  als 
unverständliche  Reliquien  fortlebten.  Doch  mag  auch  die  in 
der.Literatur  (d.  h.  im  Epos)  sich  vollziehende  Ausbildung  einer 
allgemein  griechischen  Religion,  welche  die  localen  Anschau- 
ungen und  Cultusformen  nur  theilweise  gebrauchen  konnte,  aber 
doch  erklären  musste,  wesentlich  dabei  mitgewirkt  haben; 
wissen  wir  doch  garnicht,  ob  argivische  oder  gar  arkadische 
Einflüsse  bei  der  Ausbildung  der  literarischen  Sage  irgendwie 
mitgewirkt  haben,  ob  diese  nicht  vielmehr  den  Landschaften 
einfach  durch  die  Literatur  octroyirt  worden  ist. 

Mit  der  Kuhgestalt  erbte  Io  die  Liebe  des  Zeus.1)  Dadurch 
entstand  die  Aufgabe  ihre  Gestalt  zu  erklären.  Als  Lösung 
bot  sich  die  Eifersucht  der  Hera,  ein  in  der  Poesie  schon  lange 
lebendiges  Motiv.2)  Entweder  Hera  verwandelt  die  Io  —  so 
erzählt  Aeschylos  suppl.  299,3)  d.  i.  die  Danaides,  worauf  der  dem 
ächten  Mythus  entstammende  Zug  folgt,  dass  Zeus  alsdann  erst 
in  Stiergestalt  die  Io  begattet.  Oder  Zeus  selbst  verwandelt  die 
Io,  als  er  von  Hera  entdeckt  wird,  um  sie  dem  Zorne  seiner  Gattin 
zu  entziehen,  und  schwört  dann,  sie  nie  berührt  zu  haben  [hier 


1)  Ebenso  muss  die  arkadische  Sage  ursprünglich  gelautet  haben, 
dass  die  Bärin  Artemis  die  Geliebte  oder  Gattin  des  Zeus  ist.  Nach  Epi- 
menides  (fr.  6  Kern  1 2  Kinkel  bei  schol.  Theokrit  I  3  und  121,  schol. 
Eurip.  Rhes.  36)  ist  Kallisto  vom  Zeus  Mutter  nicht  nur  des  Arkas,  son- 
dern auch  des  Pan,  gewiss  eine  ächtarkadische  Anschauung,  die  auch  ur- 
sprünglich auf  die  Artemis  zu  beziehen  sein  wird  [vgl.  jetzt  auch  R.  Franz, 
de  Callistus  tabula,  Leipz.  Studien  XII  1890]. 

2)  Bei  der  Kallisto  war  das  nicht  brauchbar,  da  Zeus  nach  gemein- 
griechischer  Anschauung  nicht  Gemal  der  Artemis  war;  hier  wird  die 
Entrüstung  der  keuschen  Göttin  über  die  Preisgebung  ihrer  Dienerin  als 
Motiv  gewählt. 

3)  ebenso  llygin  fab.  145.  Mit  grossem  Takte  ist  der  Vorgang  im 
Prometheus  behandelt,  wo  Io  selbst  ihn  zu  erzählen  hat.  Zeus'  Lockung 
im  Traume  erzählt  sie,  aber  den  Umgang  mit  ihm  verschweigt  sie.  Ebenso 
kann  sie  nur  die  Thatsache  ihrer  Verwandlung  und  der  unerwarteten  Er- 
lösung von  Argos  berichten;  wer  sie  verwandelt  und  wer  Argos  getödtet 
hat,  weiss  sie  nicht.  Dass  Heraus  Zorn  die  Ursache  ihres  Unglückes  ist 
(601),  darf  sie  allerdings  mit  Recht  muthmassen. 


71 

hat  er  also  schon  vorher  mit  ihr  Umgang*  gepflogen]  —  seitdem 
wird  dem  Liebenden  der  Meineid  verziehen  (ex  rov  d'  6qxov 
Exhjxtv  djc?][ioi>a  cwöqcojioigl  roöqiöicov  Iqjcöv  jtegl  RvjzQidog 
Hesiod  fr.  4).1)  So  erzählte  Hesiod.'-)  Unabhängig  von  einander 
sind  die  beiden  Darstellungen  nicht,  da  das  Grundmotiv  das 
gleiche  ist.  Hesiod's  Erzählung  ist  dramatischer;  aber  eben 
deshalb  ist  sie  jünger.  Dass  Hera  sich  der  Geliebten  des  Zeus 
bemächtigt  und  sie  straft,  ohne  dass  dieser  etwas  für  sie  thut, 
konnte  Anstoss  erregen;  dieser  Anstoss  ist  von  Hesiod  sehr  ge- 
schickt beseitigt.  Zeus  verwandelt  die  Io  um  sie  zu  retten,  wird 
aber  von  der  Hera  in  seinen  eigenen  Netzen  gefangen,  indem  er 
ihr  die  Bitte,  ihr  die  schöne  Kuh  zu  schenken,  nicht  abschlagen 
kann  —  denn  nur  so  kann  Hesiod's  Erzählung  weiter  gegangen 
sein  (s.  Apollodor  und  Ovid). 

Mit  der  Iosage  ist  die  von  Argos  und  seiner  Tödtung 
durch  Hermes  verbunden.  Dass  dieselbe  uralt  ist,  bezeugt  das 
bei  Homer  schon  an  recht  alten  Stellen  (BIOS)  vorkommende 
Epitheton  apytupovr/jq.  Aber  wenn  wir  auch  Aristarchos' 
kunstliche  Etymologie  nicht  billigen  werden,  darin  hat  er 
recht,  dass  bei  demselben  an  die  spätere  Iosage  nicht  gedacht 
werden  kann.3)  Dass  auf  Io  und  alles  was  dazu  gehört  in 
Ilias  Odyssee  Theogonie  sich  nirgends  eine  Anspielung  findet, 
ist  ein  ausreichendes  Argumentum  ex  silentio.  Das  Beiwort 
ist  viel  zu  stereotyp,  als  dass  es  aus  der  Episode  einer  Sage, 
bei  der  Hermes  doch  nur  eine  recht  untergeordnete  Rolle  spielt, 
herausgesponnen  sein  könnte.  Die  Sage  von  der  Tödtung  des 
Argos  durch  Hermes  muss  ursprunglich  selbständig  und  weit 
gewichtiger,  etwa  der  von  der  Tödtung  des  Pytho  durch 
Apollo  analog  gewesen  sein.  Robert  meint,  das  Argos  nav- 
ojiTYjq  von  dem  Eponymos  der  griechischen  Landschaft,  der  in 
den  Stammbäumen  als  Sohn  des  Zeus  und  der  Niobe  erscheint, 

1)  Plato  syinpos.  183  mit  den  Schotten.  Apollodor  II  1,  3.  Hesych. 
dipQofiiaiog  oqxoq. 

2)  In  Ovids  gewandter  Bearbeitung  schimmert  die  hesiodeische  Er- 
zählung als  Grundlage  noch  durch  (Met,  I  583  ff.). 

3)  Schol.  BT  zu  B  103  d(>yei<p6vT%  agyri)  (povov  (Ven.  A  agycö  aal 
xccd-aQo)  (povov)  . .  .  xov  6h  ^lovq  sQcoicc  ovx  olösv  6  noirjz/jq,  nLnXaaxai 
6h  tolq  V£WZ8QOig  zcc  tisqI  "Apyov.  zu  S2  24  aQyziipövxriv  ov%  ort  xaxä 
xovq  ''Hoiööov  ftvd-oig  top  ßovxölov  °Iovq  iyovevosv,  «AA'  ineidt/  (lia 
navzoq  löyov  (pvatq,  ixyaiveiv  tvaoytoq  zo  voov^tvov. 


72 

sowie  von  Argos  dem  Erbauer  der  Argo,  ursprünglich  nicht 
verschieden  sei.1)  Richtiger  wäre  zu  sagen,  dass  Apollonios 
von  Rhodos  den  Argos  jzavöjtTTjc,  zum  Erbauer  der  Argo  ge- 
macht hat,2)  während  ursprünglich  der  Baumeister  des  Schiffes 
eine  durchaus  secundäre,  aus  dem  Namen  der  Argo  abgeleitete 
Gestalt  ist.  Argos  panoptes  aber  wird  ursprünglich  mit  der 
peloponnesischen  Landschaft  garnichts  zu  thun  haben,  sondern 
eine  dem  Hermesmythus  angehörige  Gestalt  sein.  Dann  dürfte 
er  in  Arkadien  heimisch  sein,  und  dafür  liegen  selbst  in  unse- 
rem dürftigen  Material  noch  Zeugnisse  vor.  In  dem  bekannten 
euhemeristischen  Abschnitt  bei  Cicero  de  nat.  deor.  III  56  wird 
unter  den  verschiedenen  Mercurii  als  fünfter  derjenige  ge- 
nannt, quem  colunt  Pheneatae,  qui  Argum  dicitur  interemisse. 
Er  soll  mit  dem  ägyptischen  Thoth  identisch  sein,  wird  da- 
gegen vom  Sohne  der  Maia  geschieden.  Nach  Apollodor  II  1,  2 
tödtet  Argos  die  Echidna,  die  Tochter  des  Tartaros  und  der 
Ge,  im  Schlafe;  nach  Epimenides  bei  Pausan.  VIII  18,2  (fr.  3 
Kern)  ist  Echidna  die  Tochter  der  Styx  und  des  Peiras3);  die 
Styx  aber  fliesst  bekanntlich  in  nächster  Nähe  von  Pheneos. 
Auch  Argos'  sonstige  Thaten,   die  Erlegung   eines   gewaltigen 

1)  In  Preller's  gr.  Myth.  I*  396,  1.  Zur  Erklärung  der  vielen  Augen 
des  Argos  verweist  er  auf  das  alte  Zeusbild  auf  der  Larisa  mit  einem 
dritten  Auge  in  der  Stirn  (Pausan.  II  24,  3).  Aber  die  Schilderungen  des 
Argos  stimmen  dazu  nicht :  nach  Aeschylos  hat  er  unzählige  Augen,  nach 
dem  Aigimios  vier,  nach  Pherekydes  eins  im  Hinterkopfe.  Und  wenn 
Argos  der  Sohn  des  Zeus  sich  aus  diesem  abgezweigt  haben  kann,  wie 
soll  man  es  erklären,  dass  er,  also  ursprünglich  Zeus,  von  Hermes  er- 
schlagen wird?  Die  vielen  Augen  haben  zu  der  in  alter  und  neuer  Zeit 
gangbaren  Deutung  des  Argos  als  des  Nachthimmels  geführt. 

2)  Denn  er  ist  bei  ihm  Sohn  des  Arestor  und  trägt  ein  Stierfell 
(I  324),  wie  sonst  Argos  navoTtzyjg  Apollodor  II  1,  2,  2,  Dionysios  Kyklo- 
graphos  bei  Schol.  Eurip.  Phoen.  1116.  Die  vielen  Augen  erwähnt  Apollo- 
nios allerdings  nicht.  Bei  Pherekydes  ist  wie  bei  Hesiod  der  Panoptes 
ein  Sohn  des  Arestor,  Argos  der  Erbauer  der  Argo  dagegen  ein  Sohn  des 
Phrixos  (schol.  Ap.  Khod.  I  4;  Apollod.  I  9,  16),  und  das  ist  offenbar  das 
ursprünglichere.  Bei  Hygin  fab.  14  p.  48,  3.  49,8  Schmidt  ist  Argos  der 
Erbauer  der  Argo  ein  Sohn  des  Danaos,  nach  anderen  Sohn  des  Polybos 
und  der  Argeie.  Also  auch  hier  wird  die  Anknüpfung  an  das  peloponne- 
sische  Argos  gesucht. 

3)  Desselben,  der  bei  Hesiod  und  anderen  der  Vater  der  Io  ist. 
Auch  hier  ist  ein,  wenn  auch  für  uns  nicht  mehr  erkennbarer,  Zu- 
sammenhang. 


73 

Stieres,  dessen  Fell  er  trägt,  und  die  Bestrafung'  des  Rinder- 
diebes Satyros,  spielen  in  Arkadien.1)  So  mag  die  Sage  von 
der  Tödtung  des  Argos  durch  Hermes  ursprünglich  in  Pheneos 
zu  Hause  sein,  dessen  Hauptgott  ja  Hermes  ist;  vielleicht  ist 
sie  aus  den  eigenartigen  Bewässerungsverhältnissen  des  phenea- 
tischen  Beckens  erwachsen.2)  Dasselbe  mag  einmal  wie  andere 
Thäler  den  Namen  Argos  getragen  haben.  Wie  alle  ähnlichen 
Gestalten  ist  Argos  ursprünglich  erdgeboren.3) 

Der  Name  gab  dann  die  Veranlassung,  den  Argos  nach 
Argolis  zu  versetzen.  Die  Uebertragung  wird  aber  nicht  älter 
sein,  als  die  poetische  Ausbildung  der  Iosage  überhaupt,  so 
dass  Argos  in  dieser  sogleich  seine  feste  Stelle  erhielt.  Neben 
ihm  steht  die  rein  genealogische  Gestalt  des  Argos  des  Sohnes 
der  Niobe,  von  deren  Ursprung  später  zu  handeln  ist. 

Wie  von  der  Kallisto  Arkas  abstammt,  so  von  Io  Danaos, 
der  Eponymos  der  Danaer.  Dass  dieser  Name  ehemals  als 
Stammname  in  der  argivischen  Ebene  wirklich  lebendig  ge- 
wesen ist,  wird  niemand  bezweifeln,4)  wenn  er  auch  selbst  in 
der  homerischen  Zeit  nur  noch  in  der  Poesie  gebräuchlich  war. 
Dass  der  Name  einen  Eponymos  forderte,  war  für  die  Zeit  der 
ausgebildeten  genealogischen  Poesie  selbstverständlich;  derselbe 
ist  dem  Geschlechte  des  Perseus  vorangeschickt  worden,  wobei 
die  weit  ältere  Gestalt  der  Danae  —  der  Name  ist  nicht  epo- 
nym,  sondern  bezeichnet  die  Mutter  des  Perseus  einfach  als 
ein  „Danaermädchen"'  —  mitgewirkt  haben  mag.  Sie  und  ihr 
Vater  Akrisios  waren  längst  feststehende  Figuren,  als  Danaos 
entstand;  über  die  weiteren  Mittelglieder  s.  u. 

Danaos  ist  dazu  da,  dem  Volke  von  Argos  seinen  Namen 
zu  geben;  weiter  hat  er  keine  Bedeutung.  Dagegen  ist  an 
seinen  Namen  eine  Sage  angeknüpft  worden,  die  aller  genea- 

1)  Apollodor  II  1,  2.  Ausserdem  soll  er  die  Mörder  des  Apis  ge- 
tödtet  haben. 

2)  Dass  ein  aus  den  arkadischen  Bergen  stammendes  Epitheton  des 
Hermes  der  epischen  Poesie  seit  Alters  geläufig  ist,  ist  nicht  auffallender, 
als  dass  sie  zo  xcazißoftevov  2zvyog  vöcoq  kennt  (0  36  =  £  185).  Vgl. 
auch  lE(>[irjv  Kvkhjviov  'AQysupövx^v  hymn.  hom.  17,  1. 

3)  So  Aeschylos,  d.  i.  die  Danaiden ,  und  Akusilaos  (Apollodor  III 
I,  3,  3). 

4)  Die  Identität  der  Danaer  mit  den  Danauna  der  Aegypter  halte 
ich  nach  wie  vor  für  höchst  wahrscheinlich. 


74 

logischen  Momente  entbehrt  und  aus  den  localen  Verhältnissen 
von  Argos  erwachsen  ist:  die  von  seinen  männermordenden 
Töchtern.  Der  ungewöhnliche  Wasserreichthum  der  Südwest- 
ecke von  Argos  im  Gegensatz  zu  der  Dürre  des  nur  durch 
künstliche  Brunnen  bewässerten  Haupttheils  der  Ebene  mit 
ihren  zahlreichen  fast  immer  trockenen  Giessbächen ')  hat  eine 
ganze  Reihe  von  Sagen  hervorgerufen.  Die  in  reicher  Fülle 
aus  dem  Felsen  hervorbrechenden  Quellen  von  Lernai,  bei 
denen,  wenn  eine  OerTnung  verstopft  wird,  an  ihrer  Stelle 
zwei  andere  hervorbrechen,  hat  in  der  Sage  von  der  Hydra 
ihren  Ausdruck  gefunden,  die  in  den  Heraklesepen  weiter  aus- 
gesponnen ist'2)  —  auch  in  Stymphalos  und  Pheneos  ist  Hera- 
kles ja  der  Bewältiger  der  Wasserfluthen.  Eine  andere  Er- 
zählung lautet,  dass  die  schöne  Amymone  —  das  ist  der  Name 
der  Hauptquelle  — ,  als  sie  Wasser  holen  ging,  dem  Poseidon 
begegnet  und  seine  Liebe  gewinnt.  Zum  Lohne  stösst  der  Gott 
den  Dreizack  in  den  Fels  und  schenkt  ihr  die  Quellen.3)  Im 
Zusammenhang   damit   steht   die   (vielleicht   übrigens  erst  der 

1)  Die  Natur  der  argivischen  Landschaft  hat  sich  in  historischen  Zeiten 
absolut  nicht  geändert,  wenn  auch  flüchtige  neuere  Forscher  gelegentlich 
das  Gegenthcil  behauptet  haben.  Als  ich  Anfang  Mai  1SS4  und  dann 
wieder  Ende  März  issS  in  Argos  war,  enthielt  das  Inachosbett  keinen 
Tropfen  Wasser,  geschweige  denn  die  übrigen  Flussläufe.  Das  gleiche 
bezeugt  für  seine  Zeit  Pausan.  11  1">,  5,  für  die  Sagenzeit  der  Name  no).v- 
öiynov  "AQyo^  und  die  zugehörigen  Mythen.  Die  lernäische  Quelle  und 
der  Erasinos  dagegen  sind  auch  jetzt  noch  eben  so  wasserreich  wie  vor 
Alters. 

2)  Pausanias  II  37,  4  citirt  für  das  Abenteuer  den  Peisandros,  d.  h.  das 
berühmteste  Heraklesepos.  Die  Deutung  der  Bewältigung  der  Hydra 
durch  Feuer  auf  Ausrodung  des  sumpfigen  Urwaldes  ist  vielleicht  rich- 
tiger, als  auf  die  Gluth  des  Hochsommers.  Denn  die  Quellen  versiegen 
auch  dann  nicht. 

3)  Der  Satyr,  der  Amymone  überfällt  und  vor  dem  sie  Poseidon 
rettet,  ist  in  die  Fabel  wohl  erst  durch  Aeschylos'  Satyrdrama  gekom- 
men. —  Das  Kind  von  Amymone  und  Poseidon  ist  Naitplios,  der  Eponym 
von  Nauplia  und  Vater  des  Palamedes.  Ihn  kennen  schon  die  Nosten 
und  der  Aigimios  (Kerkops  beiApollod.  II  \,  5,  14,  ebenso  Pherekydes  fr.  13 
bei  schol.  Ap.  Rh.  IV  1090),  aber  auch  hier  sehen  wir,  dass  die  genea- 
logische Figur  an  eine  einigermassen  geeignete  Gestalt  der  Volkssage  an- 
geknüpft wird,  weil  man  sie  irgendwo  unterbringen  muss.  Dass  Nauplios 
Sohn  der  Amymone  ist,  hat  mit  der  Amymonesage  garnichts  zu  tliun,  ja 
steht  eigentlich  im  Widerspruch  mit  ihr.    Also  ist  auch  hier  die  eponyme 


75 

attischen  Sage  nachgebildete)1)  Erzählung,  dass  Poseidon  und 
Hera  um  das  Land  streiten  und  Inachos  (mit  anderen  zu- 
sammen) zu  Gunsten  der  Hera  entscheidet,  worauf  Poseidon 
den  Flüssen  das  Wasser  entzieht  (Pausan.  II  15,5.  Apollodor 
II  1,  4,  8).     Durch  Amymone  wird  dann  sein  Zorn  besänftigt. 

Nördlich  von  den  lernäischen  Quellen  entspringt  dem  Chaon- 
gebirge  die  mächtige  Quelle  des  Erasinos,  der  unterirdische  Ab- 
fluss  des  stymphali sehen  Sees,  der  wie  der  Bach  von  Lerna 
nach  ganz  kurzem  Lauf  ins  Meer  mündet.  Das  übrige  Argos 
erhält  sein  Wasser  ausschliesslich  durch  zahlreiche  künstliche 
Brunnen"2)  (nur  bei  Mykenae  im  Gebirge  finden  sich  wieder 
Quellen,  vor  allem  die  berühmte  Perseia,  aus  der  die  Sagen- 
gestalt des  Persets  hervorgegangen  ist).  Diese  Verhältnisse 
haben  zu  der  Sage  Veranlassung  gegeben,  dass  die  Flüsse  von 
Argos  um  die  Quellnymphen  freien,  aber  diese  schlagen  ihnen 
die  Köpfe  ab  und  werfen  sie  in  den  lernäischen  Sumpf3)  — 
d.  h.  die  vom  Gebirge   herabstürmenden   und   um   die  Quellen 

Gestalt  eine  jüngere  und  vor  allem  eine  künstliche  Schöpfung.  —  Ucber 
die  Schwierigkeiten,  in  welche  die  Sagenchronologie  dadurch  geräth,  s. 
Strabo  VIII  6,  2. 

1)  Oder  ist  die  attische  Sage  der  argivischen  nachgebildet?  Das  wäre 
vielleicht  au  sich  wahrscheinlicher.  Die  Geschichte  vom  Streit  des  Posei- 
don und  der  Hera  könnte  schon  im  Hesiod  gestanden  haben. 

2)  Vgl.  Strabo  VIII  ß,  7  (wo  die  Wasserarmuth  fälschlich  für  eine 
Fabel  erklärt  wird):  xal  zrjg  tzoXecjq  (Argos)  EvnoQov^Ev^q  vöaac  (pyed- 
ztov  tcoXXojv  xal  bnmoXuiojv.  ib.  8:  xr\v  fAtv  ovv  yßQav  ovyyojQovoiv 
EvvdQeiv  (wegen  der  Lerna  u.s.  w.),  avx?)v  6t  xr\v  nöXiv  ev  avvö(JO)  /w^/w 

XElG&ai,     (fQEfXXOJV    J'  EVTlOQElv,     U.    TCÜQ   davaiGlV    avaTCXOVOlV,     Ü)Q    EXElVtüV 

e$,evqovo(Dv,  ay?  ob  xal  xb  etioq  eitxelv  xovxo  •  ^'AQyoq  avvÖQOv  eov  Aa- 
vaal  &Eoav  "Ayyoq  evvöqov".  Diesen  Vers  schreibt  Eustath.  zu  II.  d  171 
dem  Hesiod  zu  (mit  der  Variante  Aavabg  71oitjgev  evvöqov;  bei  Kinkel 
fr.  47),  der  danach  wohl  von  Brunnenanlagen  des  Danaos  und  seiner  Töchter 
erzählt  haben  muss  —  falls  der  Vers  wirklich  bei  Hesiod  stand,  wofür  die 
Eustathiosstelle  kaum  genügende  Gewähr  bietet.  Den  Späteren  gilt  daher 
Danaos  als  Erfinder  der  Brunnenanlage,  deren  Kenntniss  er  aus  Aegypten 
mitbringt:  Polyb.  bei  Strabo  I  2,  15.  Plin.  VII  195. 

3)  Nach  Apollodor  (II  1,  5)  sind  die  Köpfe  in  der  Lerna  begraben,  die 
Leiber  in  Argos  tiqo  xrjq  tiöXeüx;,  nach  Pausan.  II  24,  2  die  Köpfe  am  Auf- 
gang zur  Akropolis,  die  Leiber  in  der  Lerna.  —  Ob  die  Demetermysterien 
von  Lerna  (Pausan.  II  36.  37.  Strabo  VIII  6,  8,  xad-aQ^oi)  mit  der  Ausbil- 
dung der  Sage  etwas  zu  thun  haben,  weiss  ich  nicht,  da  mir  die  Formen 
derselben  unbekannt  sind. 


76 

der  Ebene  werbenden  Giessbäche  versiegen  (verlieren  ihre 
Köpfe)  nach  kurzem  Bestände,  und  so  hat  die  Ehe  keine 
Dauer.  Die  Wassermassen  aber,  welche  die  Berge  sammeln 
(speciell  der  Pontinos,  vgl.  Paus.  II  36,  8),  kommen  in  den  1er- 
näischen  Quellen  zum  Vorschein:  hier  liegen  also  die  Köpfe 
der  ungestümen  Freier. 

Die  Nymphen1)  wie  ihre  Freier,  beide  50  an  Zahl,  sind 
ursprünglich  namenlos.  Das  ist  ein  bezeichnender  Hinweis 
darauf,  dass  diese  Sage  in  alter  Zeit  keinen  Eingang  in  die 
epische  Literatur  gefunden  hat.  Wenn  die  Bräute  Danaiden 
heissen,  so  sollen  sie  damit  wohl  zunächst  als  Danaermädchen 
bezeichnet  werden,  braucht  doch  Hesiod  Aavaal  für  AavaiÖEq\ 
als  solche  aber  werden  sie  zu  Töchtern  des  Danaos,  und  so 
wird  der  Name  in  der  uns  erhaltenen  Literatur  immer  ver- 
standen. Dass  auch  Amymone  unter  sie  Aufnahme  gefunden 
hat,  ist  nur  natürlich.  Nur  eine  von  ihnen  verschont  ihren 
Freier,  Hypermnestra  (der  Name  ist  secundär,  wie  alle  Da- 
naidennamen  ausser  Amymone),  die  Braut  und  spätere  Gattin 
des  Lynkeus:  von  ihr  gewarnt  entflieht  er  nach  Lyrkeia.2) 
Dieser  Ort  liegt  im  Quellgebiet  des  Inachos,  und  so  ist  der 
Sinn  der  Sage  wohl,  daes  dieser  Fluss  wenigstens  in  seinem 
Oberlauf  noch  etwas  Wasser  bewahrt.  Für  die  Genealogie 
dienen  Lynkeus  und  Hypermnestra  dazu,  den  Stammbaum  des 
Danaos  weiter  fortzuführen.3) 

1)  Als  Quellnymphen  schöpfen,  die  Danaiden  bekanntlich  auch  ohne 
Unterlass  Wasser  in  ein  (durchlöchertes)  Fass.  Diese  Anschauung  ist  durch 
ihre  Versetzung-  in  die  Unterwelt  (auf  der  archaischen  Miinchener  Vase 
neben  Sisyphos  in  Baumeistek's  Denkmälern  192-1,  woselbst  auch  weiteres 
Material;  ebenso  in  der  Lesehe  des  Polygnot  Pausan.  X  31,  11,  beidemale 
ohne  den  Namen)  gründlich  umgestaltet  und  gilt  schliesslich  als  Strafe  für 
den  Gattenmord  ([Plato]  Axiochos  37 1  und  in  der  römischen  Poesie).  Ich 
kann  aber  doch  nicht  glauben,  dass  Wilamowitz  (hoiner.  Unters.  202)  mit 
der  Annahme  Eecht  hat,  dass  der  Name  auf  die  Gruppe  erst  im  dritten 
Jahrhundert  übertragen  sei. 

2)  Dass  Lynkeus  Eponymos  dieses  Ortes  ist,  ist  wohl  nicht  zu  be- 
zweifeln; nach  Pausanias  II  25  hätte  derselbe  ursprünglich  Lynkeia  ge- 
heissen,  und  sei  dann  nach  Lyrkeus.  einem  Bastard  des  Abas,  umgenannt 
worden. 

3)  Wie  ihr  Sohn  zu  dem  Namen  Abas  kommt  (daher  Pindar  Pyth. 
8,  77  "Aßavxoq  fvQvxoQovq  dyviac  als  Bezeichnung  von  Argos,  vgl.  die 
Schol.),  weiss  ich  nicht,    Derselbe  ist  Eponymos  der  Phokerstadt  Abai 


77 

In  den  uns  erhaltenen  Stammbäumen  —  in  dieser  Partie 
stimmen  sie  alle  überein  —  ist  Danaos  von  Io  durch  drei 
Zwischenglieder  getrennt.  Aber  diese  gehören  einem  ganz 
anderen  Gebiete  an  und  sind  erst  bei  der  Bearbeitung  der 
Sage  hineingekommen.  Ursprünglich  wird  Danaos  der  Sohn 
Io's  gewesen  sein,  wie  Arkas  der  der  Kallisto. 

Im  siebenten  Jahrhundert  sind  die  bisher  besprochenen 
Sagen  —  von  denen  sich  im  übrigen  nicht  bestimmen  lässt, 
ob  sie  damals  überhaupt  schon  weiter  ausgeführt  und  in  Ver- 
bindung mit  einander  gesetzt  waren  —  zusammengefasst  und 
durch  ein  neueingeführtes  Element  von  Grund  aus  umgestaltet 
worden.  Den  Anstoss  dazu  hat  die  neu  eröffnete  Bekannt- 
schaft mit  Aegypten  gegeben,  und  die  spätere  Gestalt  der 
Sage  von  Io  und  den  Danaiden  ist  einer  der  interessantesten 
Belege  für  den  tiefen  Eindruck,  den  die  Erschliessung  des 
wunderreichen  alten  Culturlandes  am  Nil  auf  den  griechischen 
Geist  geübt  hat. 

In  Aegypten  fanden  die  Griechen  den  bei  ihnen  verschol- 
lenen Thierdienst  in  vollster  Blüthe.  Zu  allen  Zeiten  hatte 
man  hier  die  Kühe  und  Stiere  für  besonders  heilig  gehalten; 
aber  grade  damals  —  etwa  seit  dem  neunten  Jahrhundert  — 
war  das  Ansehen  des  heiligen  Apisstieres  von  Memphis  in  ganz 
Unterägypten  ständig  gewachsen  und  war  eine  der  kuhgestal- 
tigen  Göttinnen,  die  Isis,  zu  der  angesehensten  und  am  eifrig- 
sten verehrten  Gottheit  Aegyptens  geworden.1)  Von  allen  ägyp- 
tischen Göttern  mussten  Apis  und  Isis  den  Griechen  zuerst 
bekannt  werden.  Kein  Wunder,  dass  man  liier  eine  schlagende 
Bestätigung  der  einheimischen  Traditionen  zu  finden  glaubte. 
Die  Io  von  Argos,  welche  Zeus  geliebt  und  in  eine  Kuh  ver- 
wandelt hatte,  hier  in  Aegypten  wurde  sie  als  Göttin  verehrt, 


(Pausan.  X  35, 1)  und  der  euböischen  Abanten  (nach  schul.  Pindar  Pyth.  8,  74 
soll  er  daher  von  Argos  nach  Euboea,  nach  Strabo  IX  5,  6  nach  dem  pe- 
lasgischen  Argos  in  Thessalien  gewandert  sein;  schol.  II.  B  536  nennen 
einen  euböischen  Abas,  der  auf  Erechtheus  zurückgeführt  wird;  noch 
anders  Steph.  Byz.  'Aßccvriq).  Er  war  jedenfalls  bereits  der  Ahnherr  des 
Persidengeschlechts,  Vater  des  Proitos,  Grossvater  des  Akrisios,  ehe  er 
zum  Sohn  des  Lynkeus  wurde. 

1)  Vgl.  über   das  Emporkommen   dieser  Culte  meine  Gesch.  Aegyp- 
tens S.  387  f. 


78 

der  Apisstier  von  Memphis  —  wie  aus  dem  ägyptischen  hapi 
das  griechische  "Ejza^og  geworden  ist,  weiss  ich  nicht  —  war 
offenbar  ihr  Sohn.  Kein  Zweifel,  dass  beide  identisch  waren;1) 
daher  stellt  man  die  Io  fortan  nach  dem  Cultbilde  der  Isis  als 
eine  Jungfrau  mit  Kuhhörnern  dar.2) 

Zu  Herodots  Zeit  würde  man  gefolgert  haben,  dass  die 
Griechen  oder  vielmehr  die  Pelasger  vor  Alters  die  ägyptische 
Isis  kennen  gelernt  und  daraus  ihre  Io  gemacht  hätten.  Aber 
im  siebenten  Jahrhundert  glaubte  man  noch  an  die  heimische 
Götterwelt  und  die  heiligen  Mythen;  da  konnten  die  fremden 
Götter  nur  für  Entlehnungen  aus  Griechenland  gelten  —  ähn- 
lich wie  den  gläubigen  Juden  und  Christen  die  Keligion  und 
Weisheit  der  Heiden  für  eine  Entstellung  der  alttestamentlichen 
Offenbarung  galt.  Man  folgerte  also,  Io  müsse  nach  Aegypten 
gekommen  sein.  Als  Motiv  dafür  bot  sich  der  Zorn  der  Hera, 
der  sie  aus  ihrem  Heimathlande  vertrieb.  War  freilich  lo  die 
Stammmutter  des  Danaos  und  andererseit  der  ägyptische  Epa- 
phos  das  Kind,  welches  sie  dem  Zeus  geboren  hatte,  so  mussten 
die  Nachommen  des  letzteren  irgendwie  wieder  nach  Argos 
zurückgebracht  werden. 


1)  Dass  daneben  Isis  als  Göttin  der  Demeter  gleichgesetzt  wird 
(Herod.  II  59  u.  a.),  ist  völlig  in  der  Ordnung:  die  grosse  Göttin  Acgyptens 
nmsste  einer  griechischen  Hauptgottheit  entsprechen.  Auch  decken  sich 
die  Functionen  beider  Göttinnen  einigermassen. 

2)  Aesch.  suppl.  568  heisst  es  von  den  Aegyptern,  sie  erschracken  über 
eine  oxpiv  ä?)&7j,  ßoxbv  eGOQtövxeg  övG'/eptQ  (j.i^öij.ß(joxov,  xav  fdv  ßobc,, 
xav  d'  av  yvvcuxoQ-,  also  ist  sie  hier  als  Weib  mit  Kuhkopf  gedacht,  wie 
ja  Isis  oft  genug  dargestellt  wird.  Gewöhnlicher  aber  ist  die  Darstellung 
in  Menschengestalt  mit  Kuhhörnem,  als  ßovxtQojq  naQ&svoq  (Aesch.  Proni. 
588,  vgl.  674),  wie  auch  Isis  meist  gebildet  wird.  Völlig  mit  Kecht  sagt 
HerodotIl4l  xb  yh.Q  xrjq'lGioq  ayciX/jca.  sbv  yvvatx?]iov  ßovxtQwv  eoxt, 
xaxa  neQ  "EXXrjveg  xfjv  'iovv  ypäcpovot.  Dem  entspricht  die  gewöhnliche 
Darstellung  der  Bildwerke  (vgl.  z.  B.  bei  Baumeister  Denkm.  Art.  Io).  Ver- 
einzelt hat  sich  auch  später  die  ursprüngliche  Darstellung  als  Kuh  erhalten, 
wie  sie  der  amykläische  Thron  zeigte  ('Hqcc  öl  depopä  tiqoq  'Iu>  r//»- 
'ivdyjrc  ßovv  ovouv  rjds  Paus.  III  18,  13).  Absurd  ist  die  Behauptung  von 
Engelmann  in  Roscher's  Myth.  Lex.  II  271,  die  Darstellung  als  gehörnte 
Jungfrau  gehe  auf  den  Einfluss  der  Tragiker  zurück,  welche  eine  Kuh 
nicht  auf  die  Bühne  bringen  konnten.  Berücksichtigung  ägyptischer  Denk- 
mäler darf  man  von  einem  Archäologen  natürlich  nicht  verlangen. 


79 

Dies  Problem  zu  lösen  hat  der  Dichter1)  des  Danaiden- 
epos  unternommen.  Er  hat  zugleich  die  bisher  höchstens  locker 
verbundenen  Sagen  von  Io,  Argos,  den  Danaiden,  Amymone  zu 
einem  einheitlichen  Gedicht  verarbeitet.2)  Mit  grosser  Ausführ- 
lichkeit hat  er  den  Stoff  behandelt,  wie  die  Ueberlieferung  über 
die  Verszahl  lehrt;  aber  die  Zeiten  schöpferischer  Sagengestal- 
tung waren  vorbei,  und  unter  allen  ausführlich  bearbeiteten 
griechischen  Sagen  ist  wohl  keine  inhaltlich  dürftiger  als  diese. 
Selbst  ein  Aeschylos  hat  ihr  wahres  Leben  nicht  einzuhauchen 
vermocht.  Dafür  ist  das  Danaidenepos  nach  anderer  Seite  literar- 
geschichtlich  um  so  interessanter.  Wir  sind,  und  mit  Recht, 
gewohnt,  die  „hesiodeische"  Poesie  als  unmittelbare  Vorgängerin 
der  Logographen  zu  betrachten;  aber  die  Danaiden  stehen  den 
letzteren  mindestens  ebenso  nahe  —  wie  sie  denn  auch  durch 
das  starke  Hervortreten  des  genealogischen  Elements  mit  He- 
siod  sich  eng  berühren  —  und  zeigen,  dass  auch  die  „home- 
rische" Poesie  der  allgemeinen  Strömung  Rechnung  getragen 
hat.  Das  Interesse  an  Ländern  und  Völkern,  an  der  Erweite- 
rung der  geographischen  Kenntnisse,  an  Urgeschichte  und 
Wanderungen  bildet  den  Inhalt  der  Danaiden  wie  der  Schrift- 
stellerei  des  Hekataeos;  ihm  verdankt  das  Epos  die  grosse 
Wirkung,  die  es  nicht  formell  aber  durch  seinen  Inhalt  erzielt 
hat.  Gleich  zu  Anfang  boten  die  Schicksale  der  Io  die  Ge- 
legenheit dazu.  Io  konnte  von  Argos  nach  Aegypten  nur  auf 
dem  Landwc^ge  gekommen  sein,  musste  also  so  ziemlich  die 
ganze  im  siebenten  Jahrhundert  den  Hellenen  bekannte  Welt 
(mit  Ausnahme  Italiens)  durchwandert  haben.  So  konnte  das 
Epos  gewissermassen  einen  Abriss  der  Geographie  geben.  Zu- 
gleich boten  einige  dürftige  und  gesuchte,  aber  dem  Geschmacke 
dieser  und  noch  einer  weit  späteren  Zeit  behagende  Etymo- 


1)  Besässen  wir  das  Epos,  so  würden  wir  wahrscheinlich  auch  hier 
eine  Schichtung-  früherer  und  späterer  Bestandteile  erkennen,  wie  z.  B. 
die  Einfügung  der  Libye  einem  anderen  Dichter  angehören  kann  als  die 
Schöpfung  des  Bruderpaares  Danaos  und  Aigyptos.  In  der  Hauptsache 
würde  indessen  eine  derartige  feinere  Analyse  schwerlich  viel  ändern. 

2)  Ueber  die  formelle  Behandlung  des  Stoffes  lässt  sich  garnichts 
sagen.  Es  wäre  z.  B.  sehr  möglich,  dass  die  älteren  Erzählungen,  wie  die 
Abenteuer  der  Io,  episodisch  in  die  concentrirte  Haupthandlung  einge- 
legt waren,  die  sich,  wie  der  Titel  deutlich  sagt,  um  die  Danaiden  ge- 
dreht hat. 


80 

log-ien  —  Aesehylos  bat  sie  geflissentlich  reproducirt  —  den 
Beleg  dafür,  dass  Io  wirklich  in  den  betreffenden  Ländern 
gewesen  war.  Ueber  Dodona  kommt  sie  an  das  Westmeer, 
das  nach  ihr  das  ionische  genannt  wird.1)  Dann  wird  sie  durch 
die  Kilidsf urth,  den  thrakischen  (Apollodor)  oder  den  kimme- 
rischen  (Aesehylos)  Bosporos"2)  nach  Asien  geführt.  An  aus- 
führlichen geographischen  Schilderungen  wird  es  hier  so  wenig 
gefehlt  haben  wie  bei  Aesehylos  (vgl.  S.  68  Anm.  2) ;  sehr  wahr- 
scheinlich ist  auch  Kirchhoff's  Vermuthung  (Odyssee  329),  dass 
auch  Hesiod  die  Schilderung  der  Makrokephalen,  Hyperboreer, 
Greifen,  Pygmaeen  bei  Gelegenheit  der  Irrfahrten  der  Io  ge- 
geben hat.  Endlich  gelangt  sie  nach  Aegypten,  und  hier  heilt 
sie  Zeus,  indem  er  sie  mit  der  Hand  berührt  und  dadurch  be- 
fruchtet. Von  der  sjtagtrj  erhält  das  Kind,  das  sie  dem  Zeus 
gebiert,  den  Namen  Epaphos.3) 

1)  xqovov  dt  zov  /utkXovza  novzioq  (jlvxoq,  aaepäig  hniozao\  'lövioq 
xsxXqoeTai,  zTtq  o?]q  noQtiaq  fivfjfia  zolq  näaiv  ßpozoiq  sagt  Prometheus 
zur  Io  bei  Aesehylos  839.  Gewiss  hat  die  Quelle  die  Nainengebung  in 
ganz  gleicherweise  berichtet  (vgl.  Apollodor);  man  sieht  wie  der  Dichter 
systematisch  nach  Belegen  für  die  Irrfahrt  suchte  und  froh  war,  wenn  er 
einen  fand.  —  Der  Aigimios  fügt  noch  Euboea  hinzu,  das  früher  Abantis 
hiess,  aber  von  Zeus  nach  der  Kuh  seinen  Namen  erhielt  (fr.  3  Steph.  Byz. 
l4ßavzk).  Dabei  hat  der  Gleichklang  mit  dem  Namen  des  Berges  Euboia, 
an  dessen  Fuss  das  argivische  lleraion  liegt,  mitgewirkt.  Aesehylos  kennt 
diesen  Zug  so  wenig  wie  Apollodor.  Dagegen  erwähnt  Strabo  X  1,  3,  dass 
Io  auf  Euboea  den  Epaphos  geboren  habe,  und  nach  Steph.  Byz.  "AQyovga 
tödtet  Hermes  den  Argos  in  Argura  auf  Euboea.  [Ohne  Werth  ist  die 
Uebertragung  der  Io  nach  Gaza,  das  7w'r//  geheissen  haben  soll:  Steph. 
Byz.  s.  v.  rä^a  und  'löviov  nlXayoq.] 

2)  Dass  Aesehylos  suppl.  544  dr/Ji  (V  avxiitOQOv  yalav  ev  alaq  öia- 
xifivovaa,  tioqov  xv/jaziav  b()iZ,si  (d.  h.  sie  gibt  ihm  den  Namen)  besagen 
soll,  sie  habe  zweimal  die  Meerfurth  durchschwömmen,  d.  h.  beide  Bospo- 
ros passirt,  wie  Welcker  u.a.  annehmen,  ist  mir  wenig  wahrscheinlich; 
dr/fj  ist  wohl  nur  Ausführung  des  ÖiatSfjivovaa.  Wie  Aesehylos  sich  aller- 
dings im  Prometheus  die  Configuration  der  skythischen  und  kaukasischen 
Lande  gedacht  hat,  ist  mir  ganz  unklar. 

3)  Die  Eymologie  bringt  Aesehylos  bei  jeder  Gelegenheit  an :  Proin.  860 
Suppl.  IS.  46.  314.  535.  1066.  Ohne  Zweifel  fand  er  sie  schon  in  seiner 
Quelle.  —  Den  weiteren  Angaben  Apollodors  über  Epaphos'  Verschwin- 
den und  sein  Aufsuchen  und  Wiederfinden  in  Byblos  durch  Io  liegt  offen- 
bar derOsirismythos  zu  Grunde,  der  auf  Epaphos  übertragen  ist;  Aesehylos' 
Darstellung  schliesst  eine  derartige  Erzählung  aus.  —  Zu  beachten  ist  die 


81 

Als  Motiv  für  die  Irrfahrt  gilt  der  Zorn  der  Hera,  der  bei 
der  Ankunft  Io's  in  Aegypten  erlischt,  ohne  dass  ein  Grund 
angegeben  wird,  weder  weshalb  ihre  Rachsucht  hier  befriedigt 
ist  noch  was  sie  davon  hat  die  Nebenbuhlerin  über  die  ganze 
Erde  zu  jagen.  Auch  darin  spricht  sich  deutlich  aus,  dass 
diese  ganze  Erzählung  secundär  ist:  man  sucht  die  Thatsache, 
dass  Io  von  Argos  nach  Aegypten  gekommen  war,  zu  erkären 
so  gut  es  geht.  Zeus'  Wege  sind  dunkel,  aber  er  macht  seine 
geheimen  Gedanken  zur  That,  ist  die  Lösung  des  Aeschylns. 
Auch  das  recht  prosaische  Mittel,  welches  Hera  gegen  Io  an- 
wendet, die  grosse  Stechfliege,  verräth  die  gesunkene  poetische 
Schöpfungskraft.  Aeschylos  nennt  daneben  das  Gespenst  des 
Argos,  das  aus  der  Erde  aufsteigt  (Prom.  567  ff.) ;  stand  das 
auch  in  seiner  Quelle? 

Durch  ihre  Verpflanzung  nach  Aegypten  wird  Io  die  Stamm- 
mutter nicht  nur  des  Danaos  sondern  auch  des  Aigyptos,  d.  h. 
die  Ahnfrau,  von  der  die  beiden  Völker  Danaer  und  Aegypter 
abstammen.  Dazwischen  aber  haben  sich  noch  einige  andere 
Gestalten  festgesetzt.  Epaphos  als  Sohn  der  Isis  ist  der  ägyp- 
tischen Religion  entnommen.1)  Seine  Tochter  (nach  Apollodor 
von  der  Niltochter  Memphis)  ist  Libye,  die  sich  mit  Posei- 
don vermalt.  Das  weist  auf  Kyrene  hin;  denn  nur  hier  ist 
Poseidon  (Herod.  II  50)  und  der  Name  Libyen  zu  Hause.2) 
Libye's  Sohn  ist  Belos,  der  Gott  der  Aramaeer,3)   der  aber  in 

Hervorhebung  von  Kanobos  bei  Aeschylos   (Prom.  846.  Suppl.  311);    am 
kanobischen  Nilarm  lag  Naukratis. 

1 )  Er  gilt  als  Gründer  der  Städte  Aegyptens :  Pindar  Nem.  1 0,  8, 
speciell  von  Memphis  (Apollodor). 

2)  Es  bedarf  wohl  kaum  des  Hinweises  darauf,  dass  die  Bemerkung 
Preller's  Myth.  II'2  50  „Libye,  das  ist  das  libysche  Festland  am  Mittel 
meere,  nach  älterem  Sprachgebrauch  mit  Inbegriff  des  Nildelta"  cten  wahren 
Sachverhalt  geradezu  umkehrt.  Von  dem  Volksstamme  der  Libyer,  die  bei 
Kyrene  sassen  und  uns  durch  die  ägyptischen  Denkmäler  genau  bekannt 
sind,  ist  der  Name  allmählich  auf  den  Continent  übertragen  worden,  zuerst 
wohl  von  den  ionischen  Geographen.  —  Auch  Telegonos  Gemal  der  Io 
bei  Apollod.  II  1,3  weist  auf  Kyrene.  —  Nach  Herod.  IV  45  ist  Libye  eine 
yvvrj  avxö%&a)V. 

3)  [Dass  Bi/Xoc;  nicht  aus  dem  phönikischen  Ba'al  entstanden  sein 
kann,  habe  ich  bereits  im  Art.  Ba'al  bei  Röscher  Myth.  Lex.  I  2874  er- 
kannt, indessen  den  Namen  nicht  zu  deuten  vermocht.  Der  babylonisch  - 
assyrische   Gott  Bei   kann  offenbar  nicht  gemeint  sein,   wohl   aber   der 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  ß 


82 

dieser  Genealogie  als  Gott  Aegyptens  erscheint,  wo  ja  syrische 
Kaufleute  in  Menge  sassen.  Neben  ihm  wird  meist  Agenor 
genannt,  der  Repräsentant  der  Phoeniker;  andere  machen  ihn 
zum  Sohne  des  Belos.1)  Belos'  Söhne,  nach  Apollodor  von  der 
Niltochter  Anchirrhoe,  sind  Aigyptos  und  Danaos.  Offenbar 
hatten  sich  alle  diese  Gestalten  an  Io  schon  angeschlossen, 
ehe  die  Sage  zusammenhängend  bearbeitet  wurde.  Dem  Dichter 
der  Danaiden  waren  sie  gegeben,  und  auch  von  den  zahlreichen 
anderen  Bearbeitern  hat  keiner  an  dieser  Genealogie  gerüttelt. 
Sie  zeigt  aber,  dass  die  Danaiden,  and  ebenso  die  entsprechen- 
den Theile  der  anderen  Epen,  keinesfalls  älter,  vielleicht  aber 
selbst  beträchtlich  jünger  sind  als  600  v.  Chr. 

Um  Danaos  nach  Argos  zurückzubringen,  benutzte  der 
Dichter  den  Mythus  von  den  Danaiden  und  ihren  ungestümen 
Freiern,  die  jetzt  zu  Söhnen  des  Aigyptos  werden  und  so  einen 
Namen  erhalten.2)  Danaos  hat  fünfzig  Töchter,  Aigyptos  fünf- 
zig Söhne;  jene  fliehen  vor  den  ungestümen  Werbern  mit  ihrem 
Vater  übers  Meer  in  die  alte  Heimath  ihres  Geschlechts5)  und 


aramaeische  Gott  Bcel  (das  ist  die  aramaeische  Form  von  Bacal).  Ara- 
raaeisch  ist  in  der  Perserzeit  die  Schriftsprache  der  in  Aegypten  ansässi- 
gen Semiten,  vermuthlich  aber  aitch  schon  unter  der  26.  Dyn.  hier  ganz 
geläufig  gewesen.  Wir  sehen  aber  auch  hier,  wie  spät  die  Ausbildung 
des  Io  -  Danaosstammbaumes  ist.] 

1)  Die  dadurch  geschaffene  Verbindung  der  Stammbäume  des  Kad- 
mos  und  des  Danaos  kann  hier  nicht  berücksichtigt  werden. 

2)  Woher  der  Name  Aigyptos  stammt,  wissen  wir  nicht.  Er  ist  von 
den  Griechen  auf  den  Nilstrom  und  das  von  ihm  durchflossene  Land  über- 
tragen. Das  kann  aber  nicht  erst  in  Folge  der  Danaidensage  geschehen 
sein,  da  diese  Uebertragung  weit  älter  ist  als  die  Ausbildung  der  Danaiden- 
sage. Den  Ausführungen  Tümpel's,  Aithiopenländer  des  Andromeda- 
lnythus,  Fl.  Jahrbb.,  16.  Suppl.-Bd.  S.  101  vermag  hier  ich  so  wenig  wie 
sonst  zu  folgen. 

',<>)  Aeschylos  weiss  nichts  davon,  dass  sie  unterwegs  in  Lindos  an- 
legen und  den  Tempel  der  Athene  gründen.  Diese  viel  erwähnte  Erzäh- 
lung (Herod.  II  1 82,  Chron.  par.  9,  Strabo  XIV  2,11,  Diod.  V  5b,  Apollod.  u.  a.; 
Athene  unterweist  daher  den  Danaos  im  Schiffsbau  Apollod.  Hygin.  M>8. 
277)  stammt  vielleicht  aus  Hesiod,  und  wirft  dann  auf  die  Entstellung 
des  betreffenden  Gedichtes  einiges  Licht.  —  Von  einem  Kampfe  in  Aegypten 
vor  der  Flucht,  den  z.  B.  Apollodor  statuirt,  wissen  die  älteren  Darstel- 
lungen nichts,  auch  Aeschylos  nicht,  für  den  die  Moderneu  vielfach  einen 
den  „Schutzflehenden"  vorausgehenden  Kampf  angenommen  haben.  Die 
von  Clem.  AI.  Strom.  IV  120  bewahrten  Verse   der  davalöeg,  die   einzigen 


83 

finden  hier  gastliche  Aufnahme.  Die  Freier  eilen  ihnen 
nach.  Wie  es  scheint  werden  die  Argiver  im  Kampfe  be- 
zwungen,1) jedenfalls  müssen  die  Danaiden  nachgeben  und  in 
die  Ehe  willigen;  die  Paare  werden  durchs  Loos  bestimmt. 
Aber  in  der  Brautnacht  ermorden  die  Danaiden  ihre  Vettern; 
nur  Lynkeus  wird  von  Hypermnestra  verschont,  aus  ihrer  Ver- 
bindung entspriesst  das  neue  Herrschergeschlecht  von  Argos.2) 
Aus  der  ursprünglichen  Gestalt  der  Sage  erklärt  es  sich, 
dass  Danaos  und  Aigyptos  in  der  epischen  Bearbeitung  völlig 
zurücktreten.  Die  Danaiden  und  ihre  Vettern  müssen  nach 
Argos,  weil  hier  der  Mord  spielt;  Danaos  ist  auch  bei  Aeschylos 
nur  im  Appendix  seiner  Töchter,15)  wenn  er  auch  um  seines 
Namens  willen  mit  nach  Argos  muss.  Aigyptos  dagegen  blieb 
nach  den  meisten  Darstellungen  zu  Hause,  als  seine  Söhne 
auszogen;  nur  Phrynichos  hat  ihn  mit  diesen  zusammen  gehen 
lassen.1)  Die  Aegyptier  fordern  die  Hand  ihrer  Basen  auf 
Grund  des  Rechtes,  das  ihnen  die  Verwandschaft  gibt  (Suppl. 
387  ff.).  Das  war  in  der  ursprünglichen  Sage  ganz  correct,  da 
das  Geschlecht   in  Argos   ansässig   und  Danaos  jedenfalls  be- 


aus  diesem  Epos  erhaltenen  (Xsyei  dh  xal  6  xr\v  davcdöa  neTtoiTjxcbg  etil 
xwv   äavaov    S-vyaxEQwv   <bös'    „xccl  xöx    ciq    wnXi'Qovxo   D-owq  Aavaolo 

&Vy<XTQ£Q     71QÖ6&SV     EVQQftOQ    TCOXCC/UOV    NslXoiO     UVUXXO^ ,     XCU    XCC    S^ijQ), 

beziehen  sich  wohl  nicht  auf  einen  Kampf,   sondern  auf  die  Ausrüstung 
zur  Abfahrt. 

1)  Dass  es  zum  Kampfe  kommt,  scheinen  die  Andeutungen  in  den 
Schutzflehenden  und  überhaupt  die  ganze  Stimmung  des  Stückes  zu  lehren. 

2)  nach  Aesch.  Prom.  853  ff. 

3)  Das  hebt  Wilamowitz,  Hermes  XXII  258  hervor,  ohne  eine  Er- 
klärung zu  versuchen. 

4)  schol.  Eurip.  Orest.  872.  Dem  sind  dann  andere  gefolgt,  daher 
Eurip.  fr.  840  (Aristoph.  Frösche  1206)  Älyvnxoq,  wq  o  tcXfioxoq  tonaQxai 
Xoyoc,  §vv  tccuoI  nevxt'ixovxa  vavxiXcp  TcXäxq  "ÄQyoQ  xaxäa%uiv.  Bei 
Aeschylos  ist  er  schwerlich  nach  Argos  gekommen.  —  Stammt  aus  Phry- 
nichos die  Darstellung,  dass  der  Streit  zwischen  Danaos  und  Aigyptos 
nach  der  Ermordung  der  Aegypter  auf  Lynkeus'  Rath  durch  ein  aus  Aegyp- 
tern  und  Argivern  zusammengesetztes  Gericht,  das  auf  der  Burg  tagt,  ent- 
schieden wird  (Eurip.  Orest.  871  ff.  mit  den  Scholien)?  Jedenfalls  ist  dieser 
Process  eine  Variante  zu  dem  der  Hypermnestra,  neben  einander  können 
beide  nicht  bestanden  haben.  Auch  die  Stätte  ist  beidemale  dieselbe  (s.  die 
Beilage  S.  101).  Nach  einer  späterenSage  bei  Pausan.  VII  21, 13  flieht  Aigyp- 
tos schliesslich  nach  Aroe,  d.  i.  Patrae. 

6* 


84 

reits  todt  war;  wenn  aber  letzterer  noch  lebt  und  mit  seinen 
Töchtern  zusammen  die  Flucht  ergreift,  wird  die  Forderung- 
widersinnig,  wie  Wilamowitz  mit  Recht  bemerkt.  —  Zugleich 
erhellt,  wie  Unrecht  ich  hatte,  wenn  ich  (GdA.  I  264)  in  der 
Erzählung1  von  Danaos'  Einwanderung-  aus  Aegypten  eine  Er- 
innerung an  uralte  Völkerbewegungen  gesucht  habe:  Danaos1 
Einwanderung  aus  Aegypten  ist  nur  die  Folge  der  Auswande- 
rung der  lo  und  nicht  älter  als  das  siebente  Jahrhundert. 

Die  Ankunft  der  Aegyptier  und  wohl  auch  noch  die  Mord- 
that  der  Danaiden  •)  hat  Aeschylos  in  dem  zweiten  Stücke  der 
Trilogie,  den  Thalamopoioi,  behandelt.  Den  Gegenstand  des 
dritten,  der  Danaiden,  bildeten  die  Folgen,  welche  die  Rettung 
des  Lynkeus  für  Hypermnestra  herbeiführte.2)  Sie  wird  von 
ihrem  Vater  als  Verrätherin  des  Vaterlandes  verklagt  und  vor 
ein  Volksgericht  gestellt,  vor  dem  sie  Aphrodite  durch  den 
Hinweis  auf  die  Allmacht  der  Liebe  vertheidigte;  ein  Bruch- 
stück ihrer  Rede  hat  Athenaeus  XIII  600  bewahrt.  Die  Frei- 
sprechung der  Hypermnestra,  die  der  Aphrodite  Nikephoros 
und  der  Artemis  Peitho  zum  Dank  Heiligthümer  weiht  (Paus. 
II 19,  6.  21, 1),  und  die  Begründung  des  ruhmreichen  agivischen 
Königshauses  durch  ihre  Ehe  mit  Lynkeus  schliesst  das  Stück. 
Das  Abenteuer  der  Amymone  mit  Poseidon  bildet  das  zuge- 
hörige Satyrdrama.  Der  Kern  der  Erzählung  von  dem  Pro- 
cess  oder  vielmehr  der  Rettung  der  Hypermnestra  vor  dem 
Zorne  ihres  Vaters  ist  vielleicht  älter,  aber  ihre  Ausbildung 
ist  gewiss  das  Werk  des  Aeschylos.  Die  Analogie  mit  den 
Eumeniden  fällt  in  die  Augen;  sie  ist  meiner  Meinung  nach 
bei  den  bisherigen  Reconstructionsversuchen  nicht  genügend 
betont  worden.  Vorbereitet  ist  das  Volksgericht  durch  die  selb- 
ständige Stellung,  die  Aeschylos  von  Anfang  an  dem  Demos 
neben  dem  König  zuweist3):   das  Volk  hat  die  Danaiden  auf- 


1)  Wo  der  Einschnitt  zwischen  dem  zweiten  und  dritten  Stück  an- 
zusetzen ist,  kann  fraglich  erscheinen.  Der  Inhalt  ergibt  sich  aus  Pro- 
metheus 856  ff. 

2)  Ob  der  Zug,  dass  Lynkeus  die  Jungfräulichkeit  seiner  Braut 
schont  und  deshalb  von  ihr  geliebt  und  gerettet  wird,  alt  ist,  wissen 
wir  nicht. 

3)  Dem  entsprechen  die  in  Argos  bestehenden  Zustände.  Denn  Argos 
hat  bekanntlich  trotz  der  Demokratie,  welche  augeblich  unter  Medon  dem 


85 

genommen  und  ist  daher  verpflichtet  sie  zu  schützen,  wie  sie 
verpflichtet  sind  für  das  Wohl  von  Argos  zu  handeln.  Das 
Gericht  über  Hypermnestra  ist  das  Vorbild  für  das  spätere 
Volksgericht,  das  dadurch  begründet  wird  —  nach  Pausanias 
(II  20,  7)  fand  der  Process  auf  der  Richtstätte  der  AixaoxrjQia 
(==  11qojv)  in  der  Nähe  des  Theaters,  am  Abhang  der  Larisa 
statt,1)  und  diese  Localität  hat  jedenfalls  schon  Aeschylos 
bezeichnet. 

Von  Danaos  und  seinen  Töchtern  stammt  das  Volk  der 
Danaer  ab.  Eine  Erzählung  —  ob  die  der  Danaiden  oder 
eines  anderen  Epos,  wissen  wir  nicht  —  berichtet,  dass  Danaos 
die  48  Töchter,  die  ihm  geblieben  waren  (Hypermnestra  und 
Amymone  waren  versorgt),  in  der  Rennbahn  als  Preis  des  Wett- 
laufs ausstellt  und  so  an  einem  Morgen  sie  sämmtlich  vermalt.2) 
In  der  Folgezeit  sind  dann  noch  manche  secundäre  und  ter- 
tiäre Züge  hier  angeknüpft  worden,  z.  B.  dass  Lynkeus  den 
Danaos  und  die  Danaiden  tödtet.3)  Darauf  brauchen  wir  ebenso 
wenig  einzugehen  wie  es  irgendwelche  Bedeutung  hat,  dass  bei 
Pausanias  Thron  und  Grab  des  Danaos1)  neben  anderen  Monu- 
menten der  Urzeit,  z.  B.  dem  Grabe  des  Phoroneus  und  des 
Argos,  gezeigt  werden. 

Danaos  ist  in  Folge  seines  Namens  natürlich  König  von 
Argos.     War  er  aus  Aegypten  eingewandert,   so  muss  er  also 


Enkel  des  Tcraenos  zur  Herrschaft  gelangt  ist  (Pausan.  II  1 9,  2),  noch  in 
Aeschylos'  Zeit  einen  König,  der  im  Felde  das  Heer  führt:  Herod.VII  149. 

1)  S.  die  Beilage  S.  IUI.  —  Dass  zu  Pausanias'  Zeit  die  äschyleische 
Darstellung  in  Argos  adoptirt  ist,  kann  nicht  Wunder  nehmen;  citirt  doch 
Pausanias  kurz  vorher  den  Aeschylos  auch  für  den  Kampf  der  Sieben 
gegen  Theben,  deren  Gräber  in  Argos  gezeigt  werden  (II  20,  5). 

2)  Pindar  Pyth.  9,  196  ff.;  in  späterer  Entstellung  Pausan.  III  12,  2. 
Vgl.  Hygin.  fab.  177  a.  E.  273.  —  Pindar  erwähnt  auch  die  That  der  Hyper- 
mnestra, Nem.  10, 10. 

6)  Sehr  bezeichnend  ist,  dass  nach  Pausan.  VII  1,  6  zwei  Söhne  des 
Achaios,  der  in  Phthiotis  herrscht,  Töchter  des  Danaos  heirathen:  so 
kommt  der  Achaeername  in  den  Peloponnes.  Freilich  schlägt  das  aller 
Sagenchronologie  ins  Gesicht.  Allerdings  scheint  auch  Herodot  VII  94  Da- 
naos und  Xuthos  (den  Vater  des  Achaios  und  Ion)  für  Zeitgenossen  zu 
halten:  die  Ionier  tiqiv  rj  davaov  xe  xal  Zovd-ov  anixbod-cu  ig  Ilekonöv- 
vtjoov,  exakeovzo  li^'kaoyoi  AtyiaXteg. 

4)  Letzteres  auch  Strabo  VIII  6,  9,  wonach  Danaos  auch  der  Gründer 
der  Burg  von  Argos  ist, 


86 

das  Königthum  nach  seiner  Ankunft  erworben  haben,  am  ein- 
fachsten, indem  ihm  der  bis  dahin  in  Argos  regierende  Herr- 
scher seine  Würde  abtrat  (Apollodor  II  1,  4  u.  a.).  So  scheint 
auch  Aeschylos  die  Sache  dargestellt  zu  haben,  bei  dem  in- 
dessen genauere  Andeutungen  nicht  erhalten  sind.  Eine  andere 
Version  erzählt,  in  Folge  eines  Wunderzeichens  (ein  Stier  wird 
von  einem  Wolf  zerrissen)  habe  das  Volk  dem  Danaos,  der  als 
Prätendent  auftrat,  die  Herrschaft  tibertragen.1)  Wie  die  Da- 
naides den  Hergang  erzählten,  wissen  wir  nicht.  Jedenfalls 
aber  war  es  nothwendig,  Argos  für  die  Zeit  von  drei  Genera- 
tionen (Epaphos,  Libye  und  Belos),  während  deren  das  Haus 
des  Inachos  in  Aegypten  war,  mit  Königen  zu  versehen.  Es 
ist  ungemein  bezeichnend,  wie  der  Dichter  der  Danaiden  sich 
geholfen  hat.  Aus  einem  Beiwort,  das  in  der  Ilias  zweimal 
dem  Peloponnes  gegeben  wird  (r?jlo&sv  &g  ajiir\Q  yab/^  „weit- 
her aus  fernem  Lande"  .4  270  F4=92)),  machte  er,  oder  hatte 
man  vielleicht  schon  vor  ihm  einen  Namen  Apia  gemacht,  und 
für  diesen  wurde  ein  Eponymos  Apis  erfunden,  der  zu  einem 
ictTQOfiävTK;  und  Sohn  Apollos  gemacht  wird  und  nach  Inachos1) 
über  Argos  herrscht.  Ein  zweiter  Herrscher  wurde  durch  eine 
analoge  Missdeutung  gewonnen,  indem  man  den  Namen  des 
pelasgischen  Argos  und  mit  ihm  den  Pelasgos  auf  das  pelo- 
ponnesische  übertrug.4)   Die  Sage,  welche  Pelasgos  zum  Auto- 


1)  Pausan.  II  19,  3.  Flut.  Pyrrh.  32.  Das  Wunderzeichen  in  anderem 
Zusammenhange  Serv.  ad  Aen.  IV  377. 

2)  In  der  Odyssee  r\  25  n  i  8  beziehen  sich  diese  Worte  nicht  auf  den 
Peloponnes.  Mit  Recht  polemisiren  die  alexandrinischen  Philologen  gegen 
die  in  der  späteren  Zeit  allgemein  recipirte  Missdeutuug  der  vtiaztgot 
(schol.  A  270.  r  49.  t]  25.  Strabo  VIII  6,  9.  Steph.  Byz.  Ania). 

3)  das  sagt  Aeschylos  zwar  nicht,  aber  es  ergibt  sich  aus  der  Sach- 
lage mit  Notwendigkeit. 

4)  Diese  Uebertragung  des  Namens  auf  das  berühmte  Argos  ist  bei 
den  Tragikern  bekanntlich  ganz  gewöhnlich.  Auf  den  ganzen  Peloponnes 
wird  er  z.  B.  in  der  berühmten  Weihinschrift  des  kyprischen  Königs  Niko- 
kreon  in  Argos  (Lebas,  inscr.  II  122)  übertragen:  /u]az(j[o7to]Xig  poi  x#wv 
üfkoTiog  xo  ÜEXa^yixov  Agyoq,  IIvvzayoQaq  de  nazijQ  Aiaxov  ex  yEveag, 
ei/ui  <5e  JSixoxqeojv  cet.  Waddington  bei  Lebas,  expl.  des  inscr.  1.  c.  hat 
den  Sinn  des  Eingangs  missverstanden,  wenn  er  meint,  Nikokreon's  Mutter 
sei  eine  Argiverin  gewesen  (dagegen  auch  Eoss  Arch.  Z.  1844,  348).  Der 
Stammvater  der  Könige  von  Salamis  ist  Teukros  der  Aiakide;  mütter- 
licherseits aber   stammen  sie  aus  Arkadien,   von  Agapenor,   dem  Gründer 


87 

chthon  macht,  kannte  der  Dichter,  und  daher  konnte  Pelasgos 
nicht  Sohn  des  Apis  werden,  sondern  dieser  musste  kinderlos 
sterben.1)  Um  aber  die  drei  Generationen  herauszubekommen, 
wurde  dem  Pelasgos  ein  Vater  Palaichthon  der  Erdgeborene 
gegeben,  bei  dessen  Namen  die  Fiction  gleichfalls  völlig  durch- 
sichtig ist.  So  wusste  man  zugleich  auch,  wie  die  Bewohner 
von  Argos  geheissen  hatten,  ehe  Danaos  hinkam  und  ihnen 
seinen  Namen  gab. 

Wir  sehen  jetzt  wie  die  Pelasger  nach  Argos  gekommen 
sind,  und  wie  verkehrt  es  ist,  von  uralten  Traditionen  zu 
sprechen,  die  bei  Aeschylos  vorlägen.  Der  allgemeine  Glaube, 
die  Urbewohner  von  Argos  seien  Pelasger,  beruht  nicht  im 
mindesten  auf  geschichtlicher  Erinnerung  oder  auch  nur  auf 
griechischer  Sage,  sondern  auf  sehr  dürftigen  und  durchsich- 
tigen Combinationen,  die  für  die  Erkenntniss  der  älteren  Ver- 
hältnisse schlechterdings  keine  Bedeutung  haben. 

Io  ist  im  Danaidenepos  die  Tochter  des  Inachos,  des 
Hauptflusses  des  Landes,  der  den  Namen  für  den  ersten  König 
hergeben  muss,  und  wie  es  sich  gebührt  ein  Sohn  des  Okeanos 
ist.2)  Weitere  Figuren  braucht  das  Epos  nicht.  So  ergibt  sich 
ein  sehr  einfaches  Schema,  das  Aeschylos  ungetrübt  bewahrt 
hat  (die  Zahlen  bezeichnen  die  Herrscherfolge) : 


von  Paphos.  Um  den  Argivern  ein  Compliment  zu  machen,  sagte  Niko- 
kreon  nicht  Arkadien,  sondern  das  pelasgische  Argos,  erklärt  dies  aber 
als  den  Peloponnes,  da  sein  Stammbaum  eben  nicht  auf  die  Stadt  Argos 
zurückgeht,  Dieser  Sachverhalt  wird  durch  Pausan.  I  3,  2  bestätigt: 
Euagoras  der  König  von  Salamis  ytvzaloyojv  ig  7t(Joy6vovc  dvtßaivt 
TtvxQov  xal  Kivvqov  ÜvyaTtQa.  Vermuthlich  hat  Kinyras'  Tochter  den 
Agapenör  geheirathet;  Kinyras  ist  ja  Zeitgenosse  Agamemnons  (11.  .120). 
Dass  wir  dafür  anderweitige  Belege  nicht  haben,  ist  kein  Gegenbeweis. 
[Vgl.  auch  Kinyras,  Vater  der  Laodike,  in  der  arkadischen  Genealogie 
Apollod.  III  9,  1  mit  Laodike  der  Tochter  des  Agapenör  Pausan.  VIII 
5,  3.  53,  7.] 

1)  So  Apollodor  und  alle  anderen  Genealogien  mit  Ausnahme  der 
sikyönischen  (bei  Pausan.  II  5,  7  und  Kastor).  Daher  stirbt  Apis  auch 
eines  gewaltsamen  Todes,  durch  Aitolos  (Apollod.  I  7,  6.  Pausan.  V  1 ,  8, 
wo  er  Sohn  des  Iason  [=  Iasos?]  ist  und  nach  Pallantion  versetzt  wird; 
auch  erhält  er  hier  um  der  Blutrache  willen  namenlose  Kinder)  oder  durch 
Thelxion  und  Teichin  (Apollod.  II  1,  1),  zu  deren  Sohn  resp.  Vater  ihn  da- 
gegen die  sikyonische  Genealogie  macht. 

2)  Die  Okeaniden  sind  xaoiyvrjxai  nargog  der  Io,  Aesch.  Prom.  636. 


Okeanos 

I 
1.  Inachos 

Argos  Io,  Gem.  Zeus 

Epaphos  2.  Apis 

Libye,  Gem.  Poseidon  3.  Palaichthon 

I  I 

Belos  4.  Pelasgos 

Aigyptos  5.  Danaos 


50  Aigyptideu  50  Danaiden,  darunter 

darunter  6.  Lynkeus     =  Hypermnestra 

7.  Abas 

I 

8.  Proitos 

u.  s.  w. 

Damit  ist  das  Danaidenepos  erledigt.1)  Die  Dürftigkeit 
seines  poetischen  Gehalts  spricht  sich  auch  darin  aus,  dass  in 
ihm  die  genealogischen  Gestalten  wuchern  wie  wohl  nirgends 
sonst.  Zu  wirklichen  Gestalten  von  Fleisch  und  Blut  sind  die- 
selben nie  geworden;  auch  bei  Aeschylos  sind  Pelasgos  und 
Danaos  nur  geflickte  Lumpenkönige.  Um  so  werthvoller  waren 
sie  für  die  pseudohistorische  Bearbeitung  der  Sagengeschichte; 
jeder  folgende  Schriftsteller  hat  mehr  von  ihnen  zu  erzählen 
gewusst. 

Wir  wenden  uns  jetzt  zu  den  übrigen  Bearbeitungen.  He- 
siod  und  der  Aigimios  haben,  soweit  wir  sehen  können,  die 
Schicksale  der  Io,  des  Danaos  und  der  Danaiden  in  allem 
wesentlichen  ebenso  erzählt  wie  das  Danaidenepos;  die  uns 
bekannten  Varianten  sind  bereits  besprochen.  Auch  der  Stamm- 
baum wird  von  Io  abwärts  von  allen  gleich  massig  gegeben. 
Um  so  stärker  sind  dagegen  die  Varianten  in  den  älteren 
Partien.  Die  Motive  derselben  sind  deutlich  erkennbar.  Wer 
wie  Hesiod  den  Pelasgos  nach  Arkadien  setzte  und  zum  Vater 
des  Lykaon  machte,  konnte  ihn  in  Argos  nicht  brauchen.  An 
seiner  Stelle  erscheint  bei  den  Späteren  als  Danaos'  Zeitgenosse 


1)  In  welchem  Zusammenhang  es  von  Erichthonios  und  Hephaestos 
gesprochen  hat  (Harpokr.  s.  v.  avxöx&oveg),  ist  nicht  zu  erkennen.  —  Ent- 
standen ist  das  Epos  gewiss  nicht  in  Argos,  das  keine  näheren  Bezie- 
hungen zu  Aegypten  hatte,  und  schwerlich  in  Aegypten  selbst,  sondern 
weit  eher  in  den  kleinasiatischen  Handelsstädten. 


Uebersicht  argivischer  Stammbäume. 


[Zu  s.  89.] 


Pausanias  II  16  Pherekydes  fr.  22 

[Die  Zahlen  bezeichnen  die  Kimigsfolge.]      (Schul.  Eurip.  Phoen. 


Apollodor 


Schul.  Eurip.  Orest   932. 


Hygin  iah.  145  (p.  24  Schmidt) 


Inachos 
I 
1  Phoroneus  [Gem.  Kerdo  II  21, 1] 

[Europs        [Kar        Niobc,  Gem.  Zeus 
|        iu  Megara        |        [II  22, 5] 
Hermion    I  39,5]    2  Argos 
II  34, 4] 


Okeanos 
Iuachos     Mclia 


Phoroneus    Aigialeus 
Gem.  Teledike 


3  Peirasos  4  Phorbas   |Epidauros 
II  26,2  nach 
den  Eoeen] 
5  Triopas 


6  Iasos   Agenor    [Pelasgos    [Messene 
|  |  II  22,1]      IV  1,2] 

Io    7  Krotopos 


Epaphos    8  Sthenelas     [Psainathe, 
Gem.  Apollo 


Libye 

Belos 

I 
10  Danaos 


9  Gelanor  Linos 

I  43,7.  II  li 


Zeus      Okeanos 

I  I 

Argos,  Gem.  Pcitho 


Apis    Niobe,  Gem.  Zeus 

Argos  [Pelasgos 

Gem.  Euadne         nach 
T.  d.  Stryinon    Akusilaos] 


Ereuthalion,   Phorbas 
Epomyne  von 

Ereiithalia    A     I 

in  Argohs 

Argos 
panoptes 


Ekbasos  Peiras  Epidau-   Kriasos 
ros 

Agenor 

Argos  panoptes,  Gem.  Isinene 

i 

Iasos 

I 

Io 


Iuachos,  erster  Herrscher  nach  der  Fluth 
Gem.  Melia 


Phoroneus,  Gem.  Peitho      Phegeus 

Aigialeus      Apis      Europs       Niobe 
Argos 


Kriasos    Ekbasos  Peirasos  Epidau-  Tiryi 
Gem.  Melantho  ros 


Phorbas        Kleoboia 
Gem.  Euboia  [Eponyme  des  Berges  am 

"Topas       Mess"etT  Hcraion] 

Gern.  Sosis 

Pelasgos    Iasos    Agenor    Xanthos 
Io 


Inachus,  Gem.  s.  Schwester  Argia 

I 
Phoroneus,  Gem.  Ciuua 

I 

Apis    Niobe,  Gem.  Juppiter 

Argus,  Gem.  Euadne 


Criasus    Piranthus    Ecbasus 

J 

Callithoe  Argus  [Arestorides]  Triopas 
[s.S.  90,3.     ]  I 

[X]anthus     Pclasgus    Agenor 
Das  weitere  ist  ganz  corrupt. 


Einzelne  Varianten  finden  sich  noch  mehrfach.  Bei  Syncell.  p.  237  u.  2^8 
werden  zwei  Io  unterschieden.  Mit  Pausanias  ist  die  Königsliste  Kastors 
(Euseb.  I  177)  nahe  verwandt:  Inachos  Phoroneus  Apis  Argos  Kriasos 
Phorbas  Triopas  Krotopos  Sthenelos   Danaos.     Die  Grundlage  ist  jedenfalls 


Hellanikos  (vgl.  S.  97  f.),  den  aber  jeder  neue  Bearbeiter  modificirt  hat.  Kastor 
machte  Io  zur  Tochter  des  Inachos  (Apollod,  II  1,  3,  I).  Seine  Liste  folgt 
auch  Clem.  Alex.  Strom.  I  21,  103. 


89 

gewönlich  der  König  Gelanor,1)  ob  schon  bei  Hesiod,  wissen 
wir  nicht.  Vielleicht  stammt  auch  er  aus  der  Quelle,  auf  die 
wir  die  übrigen  Varianten  des  Stammbaumes  zurückführen 
können,  aus  der  Phoronis. 

Die  Phoronis  führt  ihren  Namen  nach  Phoroneus,  der  ihr 
als  der  erste  Mensch  und  Herrscher  in  Argos  galt.  Sie  nannte 
ihn  Jictrega  d-vr\Tmv  av&QWJtcov  (Clem.  Alex.  Strom.  I  21,  102); 
ebenso  heisst  er  bei  Akusilaos  (ibid.)  und  Plato  (Timaeos  p.  22: 
Solon  erzählt  den  ägyptischen  Priestern  von  den  ältesten  grie- 
chischen Dingen,  Jtegl  (PmQcovtcQg  rs  rov  jiqcqtov  Zey&evToq 
xal  Nioßrjg).  Wenn  also  in  den  Stammbäumen  Phoroneus  ein 
Sohn  des  Inachos  genannt  wird,  so  ist  das  falsch;  die  richtige 
Nachricht  bewahrt  Pausanias  II  15,  5,  Phoroneus  sei  in  Argolis 
der  erste  Mensch,  Inachos  nicht  der  Mensch  sondern  der  Fluss 
sei  sein  Vater;  demnach  ist  er  vom  Fluss  geboren,  wie  Pelas- 
gos  von  der  Erde.2)  Sein  Name  haftet  am  aörv  <Poqcqvlxov 
in  Argos  (Pausan.  II  15,  5.  Steph.  Byz.  "Aqyoq),  er  hat  also  für 
Argos  dieselbe  Bedeutung  wie  Kekrops  für  Athen.  Dass  er 
wie  andere  Urmenschen  (z.  B.  Lykaon)  der  Urheber  der  Cul- 
tur  und  der  Gesetze  und  der  Erfinder  des  Feuers  ist,3)  ist 
natürlich.  Die  Ausmalung  dieser  Verhältnisse,  so  einfach  sie 
ist,  ist  ja  für  derartige  Epen  wie  die  Phoronis  etwas  ganz 
wesentliches;  in  ihr  liegt  das  Neue,  was  die  Forschung  des 
Dichters  ermittelt  hat:  die  Aufhellung  der  Urzeit  und  der  all- 
mählichen Entwicklung  des  Menschengeschlechts. 

Seine  Tochter  ist  Niobe,  von  der  Zeus  den  Argos,  den 
Eponymen  des  Landes,  erzeugt.  Dass  Niobe  die  erste  sterb- 
liche Geliebte  des  Zeus  ist,  folgt  von  selbst,  wenn  Phoroneus 
der   erste   Mensch   ist.     Niobe   ist   der   Name   einer  Quelle  in 


1)  Pausan.  II  16,  1.  Plut.  Pyrrh.  32.  Apollodor  II  1,4.  Syncell  p.  288. 
Zur  Orientirung  s.  die  Zusammenstellung  der  Stammbäume  in  der  Beilage. 

2)  Vielleicht  aber  ist  auch  das  nur  ein  Ausgleichsversuch  und  Pho- 
roneus ursprünglich  gleichfalls  erdgeboren.  Pausanias  erzählt  weiter  dass 
Phoroneus  mit  Kephisos  [Quell  in  Argos  II  20,  6],  Asterion  und  dem  Flusse 
Inachos  das  Schiedsgericht  im  Streit  zwischen  Poseidon  und  Hera  über 
den  Besitz  von  Argos  (S.  75)  gebildet  habe. 

3)  Pausan.  II 15,  5.  19,  5.  Tatian  ad  Graec.  39,  60.  Syncell  p.  236.  Vgl. 
Hygin  fab.  143.  225.  274,  wonach  er  der  Erbauer  des  Ileraheiligthums  ist. 


90 

Arg-os,1)  deren  Lage  uns  leider  nicht  bekannt  ist  (Plin.  IV  17); 
Argos  ist  eine  rein  genealogische  Gestalt,  die  mit  dem  Panoptes 
garnichts  zu  thun  hat,  sondern  von  dem  Urheber  des  Stamm- 
baumes erfunden  ist;  das  Land  musste  ja  einen  Eponymos 
haben.  Die  Phoronis  gab  also  eine  ganz  correcte  schematische 
Genealogie.  An  Argos  mag  sie  eine  ganze  Reihe  weiterer 
Eponymen  angeschlossen  haben;  genaueres  feststellen  können 
wir  nur  über  den  wichtigsten  Punkt,  die  Gestalt,  die  sie  der 
Iosage  gab. 

Soweit  wir  sehen  können,  kam  Io  überhaupt  in  der  Pho- 
ronis nicht  vor.  Ihre  Stelle  als  erste  Priesterin  der  Hera  von 
Argos  nahm  Kallithoe  ein: 

Ka?.Äi&6rj  xltidovxog  OXv[miadoq  ßaöiXloötjq 
HQijq  'AQyeirjg,  ?]  örtf/fiaöi  xal  ftvöävoiöi 
JlQCOTTj  x6o(i?]Oev  jisql  xiova  (MxxqÖv  aväöörjq 

(fr.  4  bei  Clem.  AI.  Strom.  I  164).  Unabhängig  von  einander 
sind  Io  und  Kallithoe  nicht;  Aesch.  suppl.  291  nennt  Io  xhj- 
douxog  "Hqccq  genau  wie  hier  Kallithoe  heisst.  Aber  sie  sind 
Doppelgängerinnen,  sie  haben  dieselben  Functionen.  Welche 
von  beiden  die  ältere  ist,  ist  nicht  zu  entscheiden;  möglich 
wäre  ja,  dass  die  Phoronis  älter  ist  als  die  Danaiden.  Dass 
die  Phoronis  Io's  Schicksale  auf  Kallithoe  (auch  Kallithyia  ge- 
nannt) übertrug,  ist  sehr  unwahrscheinlich;  die  Begründung  des 
Heracults  füllt  ihr  Wesen  völlig  aus.-)  Kallithoe  heisst  nun 
allgemein  eine  Tochter  des  Peiras,  und  von  diesem  wird  er- 
zählt, dass  er  aus  einem  Birnbaum  in  Tiryns  das  erste  Hera- 
bild schnitzte.3)    Diese  Angaben  gehen  jedenfalls  auf  die  Pho- 


1)  Dass  auch  die  Sage  von  der  sipylenischen  Niobe  hier  ihre  Wurzel 
hat,  ist  mir  nicht  zweifelhaft.  Für  die  Sagengeschichte  aber  sind  die 
Tochter  des  Tantalos  und  die  des  Phoroneus  zwei  ganz  gesonderte  Wesen. 

2)  Allerdings  bezieht  man  fr.  2  und  3  der  Phoronis,  wo  die  Wohn- 
sitze der  Kureten  und  Daktylen  in  Phrygien  geschildert  werden,  auf  die 
Darstellung  von  Io's  Wanderungen.  Aber  dass  Io  neben  Kallithoe  in 
der  Phoronis  vorkam,  ist  kaum  denkbar.  Direct  identificirt  werden  beide 
von  Hesych.  Icö  KaUu^veaaa  und  von  allen  Neueren.  Die  ursprüngliche 
Namensform  ist  wohl  KaXXi&vla  (vom  Opfercultus  entlehnt),  die,  weil  sie 
im  Hexameter  unmöglich  ist,  verschieden  modificirt  wird. 

3)  Plutarch  bei  Enseb.  praep.  ev.  III  8.  Africanus  bei  Sync.  p.  283. 
Hieron.  a  Abr.  376.  Hygin  fab.  1-15  ex  Pirantho  [et,  von  Scaliger  getilgt] 
Callirhoe  (leg.  Callithoe),  Argus  Arestorides  [das  Patronymikon  stammt  aus 


91 

ronis  zurück,  und  auch  in  ihr  wird,  wie  ausnahmslos  in  allen 
späteren  Stammbäumen,  Peiras  ein  Sohn  des  Argos  gewesen 
sein.  Der  Name  erscheint  auch  in  den  Varianten  Peiren  (He- 
siod)  oder  Peirasos  (Pausan.;  schol.  Eurip.  Orest.  932;  bei  Hygin 
Piranthus):  Er  hängt  zusammen  mit  dem  Namen  der  Quelle 
Peirene  in  Korinth  und  des  Baches  Peiros  bei  Dyme  in  Achaia 
(Pausan.  VII  18, 1.  22, 1);  in  Argolis  lässt  sich  ein  entsprechen- 
der Name  allerdings  nicht  nachweisen,  und  überhaupt  fehlt 
uns  jede  weitere  Angabe,1)  durch  die  sich  die  Bedeutung  des 
Peiras  genau  bestimmen  Hesse. 

Nun  erfahren  wir,  dass  Hesiod,  und  ihm  folgend  Akusilaos, 
die  Io  eine  Tochter  des  Peiren  genannt  hat  (Apollod.  I  1,  3). 
Dadurch  gewinnen  wir  ein  höchst  interessantes  Ergebniss: 
Hesiod  hat  die  Erzählung  des  Danaidenepos  mit  dem 
Stammbaum  der  Phoronis  contaminirt.  Das  ist  durch- 
aus kein  willkührliches  Verfahren  und  noch  weniger  eine 
poetische  Schöpfung,  sondern  erhebt  den  Anspruch  auf 
streng  wissenschaftliche  Methode.  Hesiod  fand  in  den 
Danaiden  eine  ausführliche  und,  wie  wir  wohl  annehmen 
dürfen,  weithin  bekannte  und  reeipirte  Darstellung,  an  deren 
Realität  zu  zweifeln  für  ihn  kein  Grund  vorlag  und  die  er 
daher  seiner  Darstellung  zu  Grunde  legte.  Daneben  bot  die 
Phoronis  einen  Stammbaum,  der  mindestens  ebenso  authentisch 
erschien,  von  dem  aber  die  Danaiden  nichts  wussten.  Wie 
sollte  man  sich  da  entscheiden?  Offenbar  bot  jedes  der  beiden 
Epen  nur  einen  Theil  der  Wahrheit,  durch  Verbindung  ihrer 
Angaben  Hess  sich  der  richtige  Sachverhalt  gewinnen.  So  hat 
gewiss    schon    Hesiod    aus    dem    Danaidenepos    den    Urkönig 


Ovid],  Triojms.  Auch  Pausan.  II  17,  5  kennt  die  Verfertigung  des  Bildes 
durch  Peirasos  S.  d.  Argos,  nennt  aber  seine  Tochter  nicht ;  später  sei  das 
Bild  aus  Tiryns  ins  Heraion  überfahrt  worden.  Clem.  AI.  protr.  4,  47  nennt 
nach  Deinetrios'  'ÄQyohxü  den  Verfertiger  Argos,  vielleicht  aus  Flüchtig- 
keit, Aristides  or.  40,  :5  erwähnt  neben  anderen  Urmenschen  KaXkaiüviav 
aQianjv  yvvaixdJv  cc/jia  xal  dvÖQcuv  yevoßeviyv. 

1)  Vielleicht  gehört  hierher,  dass  nach  Epimenides  bei  Pausan.  VIII 
18,  2  die  Okeanostochter  Styx  mit  Peiras,  ooxtq  ör]  b  IleiQaQ  eozi,  ver- 
malt ist  und  von  ihm  die  Echidna  gebiert  (s.  o.  S.  72).  —  Nach  Apollod. 
II  8,  1  tödtet  Bellerophon  mg  rivtq  <paoi  den  Peiras  (seinen  Bruder?).  Das 
ist  ursprünglich  gewiss  dieselbe  Gestalt. 


92 

Inachos  übernommen;1)  aber  dass  Io  seine  Tochter  hiess  war 
falsch.  Vielmehr  musste  an  ihn  der  Stammbaum  der  Phoronis 
ansetzen.  So  ist  Phoroneus  zum  Sohn  des  Inachos  geworden, 
während  ihrer  Bedeutung  nach  die  beiden  sich  ausschli essen: 
sie  sind  ja  beide  Urkönige.2)  Kallithoe  die  erste  Priesterin 
der  Hera  war  dann  offenbar  identisch  mit  Io;  hier  konnte  also 
die  Darstellung  der  Danaiden  wieder  einsetzen,  aber  Io's  Vater 
wird  Peiras  oder  Peiren. 

Wir  haben  also  folgende  Stammbäume: 

Phoronis  Hesiod 

Inachos 

Phoroneus  Phoroneus 

I  I 

Niobe,  Gem.  Zeus  Niobe,  Gem.  Zeus 

Argos  Argos 

I  I 

Peiras  Peiren 

I  I 

Kallithoe  Io,  Gem.  Zeus 

Epaphos 
u.  s.  w. 

Nachdem  die  Contamination,  welche  Hesiod  vorgenommen 
hat,  erwiesen  ist,  können  wir  unbedenklich  von  den  übrigen 
Namen,  die  im  argivischen  Stammbaum  erscheinen,  wie  Arestor, 
Kriasos,  Ekbasos,  Krotopos,  wenigstens  einen  Theil  der  Pho- 
ronis zuweisen.  So  z.  B.  den  Krotopos,  dessen  Tochter  Psa- 
mathe  (Name  einer  Quelle  Plin.  IV  17)  von  Apollo  den  Linos 
gebiert,  um  dessen  Tod  das  Klagefest  in  Argos  gefeiert  wird 
(Pausan.  I  43,  7.  II  19,  7.  Conon  fab.  19.  Kallim.  fr.  315  u.  a.).3) 


1)  Syncell.  p.  119  Bonn,  erwähnt,  dass  Akusilaos,  der  ja  ineist  dem 
Hesiod  folgt,  den  Inachos  den  Vater  des  Phoroneus  als  ersten  König  von 
Argos  nannte.  Der  anschliessende  Satz  xovxov  &vyatijQ  'iw,  r}v  lotv  f/tz- 
ovofxäoavxfQ  otßovoi  stammt  aber  nicht  mehr  aus  Akusilaos. 

2)  An  Phoroneus  schliessen  die  späteren  Genealogien  direct  den  Apis 
an,  als  seinen  Sohn,  der  kinderlos  stirbt.  Das  ist  ganz  correct,  denn  Apia 
ist  der  Name  den  das  Land  trug  ehe  es  Argos  hiess,  Apis  inuss  also  älter 
sein  als  Argos.  Pausanias  kennt  den  Apis  in  Argos  nicht,  sondern  nur 
im  sikyonischen  Stammbaum. 

3)  Einige  der  angeführten  Namen  sind  allerdings  offenbar  Varianten, 
die  erst  später  und  auch  nur  zum  Theil  in  den  Stammbäumen  mit  ein- 


93 

Diese  Verwerthung  einheimischer  Institutionen  und  Namen 
scheint  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Phoronis  in  Argos  selbst 
entstanden  ist.  Wenn  man  eine  kühne  Hypothese  nicht  scheut, 
könnte  man  vermuthen,  dass  die  Phoronis  den  Stammbaum  von 
Kallithoe,  oder,  wenn  diese  einfach  als  erste  Priesterin  erwähnt 
war,  von  Peiras  über  Krotopos  und  Gelanor  direct  auf  Danaos 
weiterführte.  Unzweifelhaft  ist  dagegen,  dass  sie  von  einem 
Pelasgos  in  Argos  nichts  gewusst  hat. 

Da  Hesiod  das  Danaidenepos  und  die  Phoronis  contaminirt 
hat,  so  ergibt  sich,  dass  die  betreffenden  Partien  des  unter 
seinem  Namen  gehenden  Sammelwerkes  erst  tief  im  sechsten 
Jahrhundert  entstanden  sein  können.  Das  lehrt  auch  der  wei- 
tere Fortgang.  Hesiod  ist,  soweit  wir  sehen  können,  im  wesent- 
lichen den  Danaiden  gefolgt,  indem  er  ihre  Angaben,  wo  sie 
Anstoss  erregten ')  oder  wo  die  Kenntnisse  sich  erweitert  hatten, 
umgestaltete  oder  ergänzte.  So  hat  Hesiod  dem  Belos  eine 
Tochter  Thronie  gegeben,  die  vom  Hermaon  (d.i.  Hermes)  den 
Arabos  gebiert  (fr.  43.  Strabo  I  2,  34).  In  einer  Zeit,  in  der 
Alkaeos'  Bruder  in  Nebukadnezars  Heere  diente,  wird  den 
Griechen  auch  der  Name  der  Araber  bekannt  geworden  sein; 
aber  über  das  sechste  Jahrhundert  reicht  ihre  Kunde  von  dem 
Wüstenvolk  gewiss  nicht  hinaus. 

Wie  Hesiod  ist  auch  der  Aigimios  von  der  Phoronis  ab- 
hängig, da  er  den  eponymen  Argos  kennt:  er  macht  den 
Panoptes    zu    seinem  Sohne    von    der  Ismene.2)     Hesiods    An- 


ander verbunden  sind.  —  Gehört  hierher  auch  die  nur  verstümmelt  erhal- 
tene Angabe  Hesiods  (fr.  42  bei  Strabo  X  3,  19),  dass  die  Nymphen,  Satyrn 
und  Kureten  von  Phoroneus'  Tochter  abstammen? 

1)  S.  o.  S.  71.  Auch  diese  Aenderung  ist  trotz  ihres  poetischen 
Werthes  keine  dichterische  Erfindung  sondern  eine  Hypothese,  so  gut  wie 
die  Aenderungen,  die  Stesichoros,  Pindar,  Hekataeos  aus  rationalistischen 
oder  ethischen  Gründen  an  der  Sage  vorgenommen  haben. 

2)  Apollod.  II  1,  3,  3.  Das  ist  in  Apollodors  Stammbaum  in  der 
Weise  übergegangen,  dass  Ismene  zur  Gemalin  des  Panoptes,  Mutter  des 
Iasos  wird.  Bei  Pherekydes  ist  der  Panoptes  ein  Sohn  des  Arestor  (fr.  22, 
aus  schol.  Eurip.  Phoeniss  1116,  ebenso  Ovid.  Met.  I  624  u.  a.,  vgl.  S.  94,  3; 
nach  Charax  beim  Anon.  de  incred.  15  pag.  324  in  Westermann's  Mytho- 
graphi  ist  Io  die  Tochter  des  Arestor,  Argos  ihr  Mutterbruder).  Apollodor 
nennt  ihn  Sohn  des  Agenor,  Asklepiades  (bei  Apollodor  1  c.)  macht  ihn  zum 
Sohn  des  Inachos.  Dass  der  Aigimios  ein  ziemlich  spätes  Epos  ist,  dürfen  wir 


94 

Setzung  der  Io  ist  nicht  durchgedrungen;  verbreiteter  ist  die 
Ansicht,  welche  ihr  den  Iasos  zum  Vater  gibt.  Iasos  ist  aus 
dem  in  der  Poesie  offenbar  mehrfach  gebrauchten,  aber  den 
Alten  wie  uns  in  seiner  Bedeutung  dunklen  Namen  "laöov 
"AqYoq  l)  gebildet  und  ein  treffliches  Seitenstück  zum  argivi- 
schen  Pelasgos.  Für  die  populäre  Anschauung  ist  freilich  Io 
immer  die  Inachostochter  geblieben.2) 

Zu  den  besprochenen  Bearbeitungen  der  argivischen  Sagen- 
geschichte kommen  noch  die  freilich  nicht  recht  greifbaren 
Epen,  die  als  'AQyohy.a  unter  Agias'  und  Telesarchos'  Namen 
genannt  werden.3)  Auch  sie  werden  weitere  Namen  und  Va- 
riationen gebracht  haben.  So  erklärt  es  sich,  dass  der  argi- 
vische  Stammbaum  bei  jedem  Schriftsteller  anders  aussieht: 
in  der  Gestalt,  welche  ihm  Hesiod  und  der  Aigimios  gaben, 
ist  er  nirgends  erhalten.  Auch  haben  noch  zwei  Gestalten  in 
ihm  Aufnahme  gefunden,  welche  ursprünglich  mit  Argos  gar- 
nichts  zu  thun  haben:  Phorbas  und  Triopas. 

Phorbas  ist  eine  Sagengestalt,  die  in  der  Blüthezeit  des 
Epos  viel  besungen  ist.     Die  kykli sehen  Epen  schilderten  ihn 


wohl  auch  aus  der  bei  den  Späteren   gangbaren  Zuweisung  an  Kerkops 
folgern;  derselbe  erscheint  sonst  als  Orphiker  und  Pythagoreer. 

1)  Für  uns  ist  er  allerdings  nur  Od.  o  240  erhalten.  Die  Scholien 
sowie  Strabo  VIII  6,  5  und  Steph.  Byz.  s.  v.  "Aqyoq  bieten  nichts  von  Werth. 
Da  die  betreffende  Episode  der  Odyssee,  in  der  Eurymachos  zur  Penelope 
sagt  „sl  navzfQ  oe  Xöolev  av  vlaaov"ÄQyoq  \\%aioi,  würdest  du  noch  mehr 
Freier  haben",  jedenfalls  sehr  spät  ist  (vgl.  Wilamowitz  Hoin.  Unters.  2!)  ff.), 
steht  wohl  nichts  im  Wege,  'laoov  "Ayyoq  direct  durch  „Tonierland"  zu 
übersetzen.  Jedenfalls  kann  nicht,  wie  man  gewöhnlich  erklärt,  der  Pelo- 
ponnes  gemeint  sein,  den  zu  nennen  ja  gar  keine  Veranlassung  vorlag. 
Dass  "  Ictöoq  wirklich  zu  'läwv  gehört,  lehrt  II.  0  337  verglichen  mit  2V685. 

2)  Herodot  I  1,  die  Tragiker,  Kastor  bei  Apollod.  II  1,3.  Ebenso 
z.  B.  Diodor  V  60  (III  74  wird  als  zweiter  Dionys  ein  Sohn  der  Io,  Toch- 
ter des  Inachos,  König  von  Aegypten,  genannt;  natürlich  ist  Osiris  ge- 
meint). Bezeichnend  ist  auch,  dass  Eusebius  (nach  Kastor?)  Io's  Vater 
Inachos  nennt  (a.  Abr.  479.  Syncell.  p.  237  Bonn),  der  gelehrte  Ilieronymus 
aber  (a.  Abr.  488)  sie  zur  Tochter  des  Iasos  macht. 

3)  Wilamowitz,  hom.  Unters.  S.  180.  334.  —  Auch  ein  unbekanntes 
kyklisches  Epos  gehört  hierher,  in  dem  Argos  der  Sohn  dos  Arestor  und 
der  Mykene,  der  Tochter  des  Inachos  und  der  Melia  war  (schol.  Od.  ß  1 20, 
wq  iv  tu)  xvxXw  (ptytxai  —  etwa  in  den  Nosten?  vgl.  indessen  S.  (JS.  1). 
Von  hier  stammt  Arestor,  Vater  des  Argos  panoptes  (S.  93,  2). 


95 

als  gewaltigen  Faustkämpfer,  der  jeden  Wanderer  zum  Kampfe 
zwang  und  tödtete,  bis  ihn  Apoll  bewältigte  und  erschlug.1) 
Als  auf  etwas  allbekanntes  spielt  der  Hymnus  auf  Apoll  auch 
diese  Sage  an.2)  Phorbas  ist  ein  rhodischer  Heros,  der  Gründer 
von  Ialysos;  er  hat  dasselbe  von  einer  Schlangenplage  befreit 
und  geniesst  hier  heroische  Ehren.3)  Die  Sage  von  seinem 
Kampf  mit  Apoll  wird  also  wohl  den  Kampf  zweier  Culte,  das 
Eindringen  des  Apollodienstes  bedeuten.  Ganz  naturgemäss  ist 
Phorbas  ein  Sohn  des  Triopas,  des  Eponymen  des  triopischen 
Vorgebirges,4)  der  ja  für  die  Genealogien  der  dorischen  Hexa- 
polis  den  geeignetsten  Stammvater  abgab.  Wie  so  viele  Ge- 
stalten desselben  Gebiets5)  ist  dann  Phorbas  nach  Thessalien 
versetzt  worden,  wo  es  angeblich  eine  Achaeerstadt  gleichen 
Namens  gegeben  haben  soll.")  Hier  erhält  er  den  Lapithes 
zum  Vater,  und  die  Späteren  lassen  ihn  dann  nach  Olenos  in 
Elis  auswandern  und  knüpfen  verschiedene  elische  Eponymen  an 
ihn  an7)  —  hier  liegt  also  die  so  häufige  Uebertragung  thessa- 
lischer  Gestalten  nach  Elis  vor.  Weit  besser  ist  offenbar  die  Er- 
zählung des  Dieuchidas,  dass  Triopas  aus  dem  dotischen  Gefilde 
in  Thessalien  auswandert  und  bei  dem  nach  ihm  benannten  „drei- 
seitigen" Vorgebirge  stirbt.    Unter  seinen  Mannen  bricht  Zwist 


1)  Schol.  IL  *&  660  t]  iotoqicc  naga  zolg  xvxhxoTq,  ohne  Angaben 
über  seine  Abstammung  und  über  die  Localität. 

2)  v.  211.    Leider  ist  der  Text  hier  sehr  corrupt. 

3)  Dieuchidas  bei  Athen.  VI  262  e,  wo  der  Opferritus  durch  eine  hübsche 
aber  sehr  harmlose  Erzählung  ätiologisch  erklärt  wird.  Diod.  V  58.  —  In 
den  Eoeen  (fr.  1 64)  war  nach  schol.  Apollo d.  Khod.  IV  828  Phorbas  der 
Vater  der  Skylla;  hier  ist  er  wohl  durch  ein  Versehen  an  Phorkys'  Stelle 
getreten.  —  Gehört  der  von  Hermes  beschirmte  Troer  <PoQßuQ  nofa'firjXog, 
Vater  des  Ilioneus  (£490),  hierher? 

4)  hymn.  Apollod.  211.  Dieuchidas  1.  c.  Dass  Phorbas  in  den  elischen 
Genealogien  bei  Steph.  Byz.  s.  v.  /It^a/ifvai,  schol.  Apoll.  Rhod.  I  172,  vgl. 
Apollod.  II  5,  5  ein  Sohn  des  Helios  ist,  gehört  vielleicht  auch  ursprüng- 
lich nach  Rhodos. 

5)  vgl.  Wilamowitz,  Isyllos  S.  50  iL 

6)  Steph.  Byz   4>6pßaq. 

7)  Diod.  IV 69.  Paus.V  1, 11.  Zenodot  beiAthen.X4l2a  und  die  Anm.4 
angeführten  Stellen.  —  Manche  Genealogien  versetzen  auch  den  Triopas 
allein  nach  Thessalien  und  machen  ihn  zum  Enkel  des  Aiolos  (Diod.  V  61. 
Apollodor  I  7,  4,  2)  oder  an  Stelle  des  Phorbas  zum  Sohn  des  Lapithes 
(Diod.  1.  c). 


96 

aus,  ein  Theil  kehrt  in  die  Heiinath  zurück,  seine  beiden  Söhne 
Phorbas  und  Periergos  trennen  sich,1)  jener  gründet  Ialysos, 
dieser  Kameiros.2)  Die  zu  Grunde  liegende  Anschauung,  dass 
ein  Theil  der  Bevölkerung  der  Hexapolis  aus  Thessalien  stamme, 
wird  wohl  richtig  sein. 

Dass  Phorbas'  Ringkampf  mit  Apoll  gelegentlich  auf  die 
Strasse  nach  Delphi  gesetzt  und  er  zum  König  der  räube- 
rischen Phlegyer  gemacht  wird3),  ist  offenbar  nichts  als  späte 
Willkühr.  Aelter  dagegen  ist  seine  Uebertragung  in  die  argi- 
vische  Genealogie.  Die  meisten  Stammbäume  nennen  seinen 
Namen,4)  so  schon  Pherekydes  (s.  die  Tabelle);  von  seinen  Thaten 
wird  hier  nie  etwas  berichtet.  Schwerlich  hat  man  dabei 
daran  gedacht,  dass  die  dorische  Hexapolis  von  Argos  aus  ge- 
gründet ist5);  Phorbas  ist  hier  vielmehr  der  Eponymos  des 
Gebirges  Phorbantion  bei  Troezen.6)  In  einzelnen  Fällen  ist 
ihm  dann  Triopas  gefolgt,  der  in  Argos  der  Sohn,  nicht  der 
Vater,  des  Phorbas  ist.7)  Wahrscheinlich  ist  er,  wie  wir  gleich 
sehen  werden,  zuerst  durch  Hellanikos  nach  Argos  versetzt 
worden.    Jedenfalls  aber  ist  es  klar,  wie  verkehrt  die  Meinung 


1)  bei  den  „Fluchinseln"  ('Aponal)  zwischen  Knidos  und  Syinc  ver- 
flucht Periergos  den  Phorbas.  Auch  die  Griindungsgeschichte  von  Ialysos 
ist  in  ähnlicher  Weise  ausgemalt. 

2)  Ganz  spät  und  werthlos  wie  fast  alles,  was  Diodor  gibt,  ist  die 
diodorische  Geschichte  des  Heliaden  Triopas  V  50.  57.  öl,  der  von  Rhodos 
über  Knidos  nach  Thessalien  und  dann  wieder  nach  der  kuidischen  Cher- 
sones  zurückwandert.    V  53  ist  Triopas  Gründer  von  Synie. 

3)  Ovid.  met.  11,  414.  Philostrat.  imag.  2,  19. 

4)  Daher  erklären  die  Argiver  bei  Pausan.  VII  2G,  1 2  seinen  Sohn 
Pellen,  den  Eponymos  Pellenes,  für  einen  Argiver. 

5)  eher  könnte  man  derartiges  in  der  Landung  der  Dauaiden  auf 
Rhodos  suchen  (vgl.  auch  die  Geschichte  des  Kyrnos  Diod.  V  (>0). 

6)  Steph.  Byz.  s.  v.  <PÖQßag. 

7)  Pausan.,  schol.  Eurip.  Orest.  932,  Hygin.  Seine  Tochter  ist  nach 
Pausan.  IV  1  Messene.  Ihm  schliesst  sich  mehrfach  (schol.  Orest.  1.  c.  Diod. 
V  8 1 .  Hygin)  sein  Sohn  Xanthos  an,  der  Eponymos  des  lykischen  Flusses. 
Nach  Diod.  V  81  wandert  Xanthos,  Sohn  des  Triopas,  König  der  argi- 
vischen  Pelasger,  erst  nach  Lykien,  dann  nach  Lesbos,  das  er  Pelas- 
gia  nennt;  so  wird  zugleich  das  Pelasgerthum  von  Lesbos  (S.  35,  1)  erklärt. 
Es  ist  sshr  charakteristisch,  dass  umgekehrt  bei  Diod.  IV  58,  7  Triopas, 
Phorbas' Sohn,  der  von  Thessalien  nach  Rhodos  wandert,  der  erste  helle- 
nische Besiedler  von  Rhodos  ist.  —  Tyiönag  6  "Aßavtoq  Gründer  des 
Triopions  schol.  Theokr.  17,  09. 


97 

ist,  der  Eponym  des  triopischen  Vorgebirges  sei  eine  alt- 
argivische  Gestalt  und  aus  dem  dreiäugigen  Bild  des  Zeus 
Larisaios  in  Argos  (oben  S.  72,  1)  hervorgegangen.1) 

Auf  die  Einreihung  des  Pelasgos  in  den  argivischen  Stamm- 
baum haben  wie  Hesiod  —  dem  er  ja  in  Arkadien  entstanden 
war  —  auch  die  meisten  anderen  Genealogen  verzichtet.  Und 
doch  entbehrte  man  den  Namen  nur  ungern;  es  war  sehr  ver- 
lockend einen  Ausgleich  zu  versuchen.  Den  einfachsten  Aus- 
weg betrat  Akusilaos:2)  er  gab  die  Geburt  des  Pelasgos  aus 
der  Erde  auf  und  machte  ihn  zum  Bruder  des  Argos  und  Sohn 
des  Zeus  und  der  Niobe.  Sonst  schloss  er  sich  ganz  an  Hesiod 
an;  Pelasgos'  Sohn  bleibt  bei  ihm  Lykaon.  Weit  tiefer  hat  Hel- 
lanikos  (in  der  Phoronis)  eingegriffen.  Er  führte  den  Triopas 
als  Sohn  des  Phorbas  ein  und  gab  ihm,  offenbar  mit  Rücksicht 
auf  seinen  Namen,  drei  Söhne,  Pelasgos,  Jasos  [Vater  der  lo], 
und  Agenor  [Stammvater  der  Königslinie,  die  vor  Danaos  in 
Argos  herrscht]/5)  Von  demselben  erhält  Pelasgos  das  Gebiet 
der  argivischen  Larisa  und  nennt  es  IhXaoytxov  "Aqyoq,  Iasos 
Elis,  das  daher  "laöor  "Aqjoc,  heisst,  während  Agenor  nach  dem 
Tode  seiner  Brüder  ihr  Gebiet  mit  zahlreicher  Reiterei  be- 
kriegt:  daher   der   Name   ijrjioßorov  "Agyctg.4)     So   waren   die 


1)  Dagegen  auch  Robert  in  Preller's  Mythol.  I4  155  Anm.  1. 

2)  Apollodor  II  1,1.  III  8,  I.  Was  Müller  und  die  ihm  folgen  als 
elftes  Fragment  des  Akusilaos  aus  Tzetzes  zu  Lykophron  177  anführen, 
ist  lediglich  ein  Excerpt  aus  Apollodor. 

3)  Der  Name  Agenor,  den  auch  Pausan.,  schol.  Orest.  1.  c ,  Ifygin  in 
Argos  nennen,  ist  hier  offenbar  ein  reiner  Fülluaine  ohne  Inhalt,  Vielleicht 
ist  auch  er  zunächst  durch  Hellanikos  in  den  argivischen  Stammbaum 
eingeführt 

4)  schol.  IL  r  75.  Dass  Eustathios  zu  der  Stelle  den  Phoroneus  als 
Vater  der  drei  Brüder  nennt  statt  Triopas,  widerspricht  allen  sonstigen 
Angaben. —  Pelasgos  Triopae  filius  Erbauer  des  arkadischen  Zeustempels 
Hygin  225.  —  Einen  anderen  Ausgleichsversuch  geben  die  nahe  ver- 
wandten Stammbäume  des  Charax  (Steph.  Byz.  IlaQQaoia.)  und  das  schol. 
Eurip.  Orest.  1046,  nach  denen  Pelasgos,  Arestors  Sohn,  Enkel  des  Iasos 
oder  Ekbasos,  aus  Argos  nach  Parrhasien  wandert.  Eine  etwas  andere 
Folge  gibt  Nie.  Dam.  fr.  32,  wonach  in  Argos  nach  Apis  dem  Sohne  des 
Phoroneus  der  Autochthon  Pelasgos  herrscht,  dann  Argos,  schliesslich 
Pelops.  —  Schliesslich  bemerke  ich,  dass  Kastor  den  Pelasgos  auch  in 
die  sikyonische  Königsliste  (als  25sten  Herrscher,  Euseb.  I  177)  aufge- 
nommen hat;   Pausanias,  der  sonst  zu  Kastor  stimmt,  nennt  ihn  nicht. 

Meyer,  Forschungen  zur  alten  Geschichte.    1.  7 


98 

Pelasger  für  Argos  gerettet;  nach  Pausan.  II  22,  1  hat  Peiasgos, 
Triopas1  Sohn,  hier  sein  Grab  in  der  Nähe  des  von  ihm  er- 
bauten Heilig'thums  der  Demeter  IJtlaöyk  (s.  u.  S.  101,  2). 

Der  Stammbaum  des  Hellanikos  hat  mithin  ungefähr  ebenso 
ausgesehen  wie  der  des  Pausanias  und  der  Orestesscholien.  Nur 
verwarf  er  den  Inachos  als  Urkönig  und  setzte  Phoroneus  wieder 
an  die  ihm  gebührende  Stelle:  er  schrieb  ja  eine  <Poga)viq.  Da- 
her wird  in  den  indirect  auf  Hellanikos  zurückgehenden  Stamm- 
bäumen bei  Dion.  Hai.  I  11.  17  Inachos  nicht  genannt  (ebenso 
wenig  kennt  ihn  z.  B.  Plin.  VII  193),  und  auch  Pausanias  ver- 
wirft die  Nachricht  über  sein  Königthum.  Weiteres  über  Hel- 
lanikos' Combinationen  werden  uns  die  thessalischen  Genea- 
logien lehren. 

Zum  Schluss  erwähne  ich  noch  einige  Genealogien,  die  in 
den  verschiedenen  Ueberlieferungen  an  den  Stammbaum  ange- 
knüpft werden  und  zum  Theil  vielleicht  auf  die  Phoronis  zu- 
rückgehen. In  den  Eoeen  war  Inachos'  Tochter  Mykene  ge- 
nannt, die  Gemalin  Arestors  (Pausan.  II  16,  4),1)  ebenso  Argos1 
Sohn  Epidauros  (Pausan.  II  26,  2;  ebenso  Apollodor);  schob  Eurip. 
Orest.  932  nennt  daneben  Tiryns.  Akusilaos  (Pausan.  II  16,  4) 
machte  dagegen  in  ganz  bezeichnender  Weise  Mykeneus  zum 
Sohne  des  Sparton  (des  Eponyms  von  Sparta),  kehrte  also  die 
Verhältnisse  der  Sagenzeit  auf  Grund  der  gegenwärtigen  Zu- 
stände um.  Sparton  war  ihm  ein  Sohn  des  Phoroneus.  Ein 
anderer  machte  Hermion  zum  Sohne  des  Europa  des  Sohnes 
des  Phoroneus.'-)  An  Inachos  werden  Aigialeus  und  die  Ahnen 
der  Sikyonier  angeknüpft.  Dass  Nauplios  ein  Sohn  der  Da- 
naide Amymone  ist,  ward  schon  erwähnt.  Eine  andere  Danaide. 
Polydora,  vermalt  sich  mit  dem  Spercheios  und  zeugt  den 
Dryops;:$)  denn  die  Dryoper  sassen  ursprünglich  am  Spercheios, 


1)  Ebenso  ein  Citat  aus  dem  Kyklos  oben  8.94,3,  das  dadurch  ver- 
dächtig wird. 

2)  Pausan.  II  34,  4.  Da  auf  Phoroneus  sein  Enkel  Argos  folgt,  schloss 
Ilerophanes  von  Troezen  logisch  sehr  richtig,  Europs  sei  ein  P>astard  ge- 
wesen. —  Hierher  gehört  auch  Kar,  Sohn  des  Phoroneus  (Pausan.  I  40,  6), 
der  Eponymos  der  Akropolis  von  Megara,  die  so  für  die  Urzeit  von  Argos 
aunektirt  wird. 

3)  Pherekydes  fr.  23  bei  Schol.  Apoll.  Rhod.  1  1212  (wo  fälschlich 
Peneios  steht).  Antoninus  Liberalis  32.  Bei  Aristoteles  (Strabo  VIII  6,  13) 
ist  Dryops  dagegen  ein  Sohn  des  Arkas. 


99 

später  aber  auf  der  argivischen  Akte.  Das  alles  sind  völlig 
eorrecte  Genealogien,  deren  Bedeutung  auf  den  ersten  Blick 
klar  ist;  ihre  Zahl  würde  sich  vermuthlich  bei  einigem  Suchen 
noch  vermehren  lassen. 

Wenn  der  argivische  Stammbaum,  dessen  Analyse  wir 
jetzt  beendet  haben,1)  sich  durchweg  als  ein  spätes  und  jedes 
historischen  Gehalts  entbehrendes  Machwerk  erweist,  so  ist 
seine  Wirkung  um  so  grösser  gewesen.  Die  Dürftigkeit  der 
Erzählung  hat  dieselbe  nur  erhöht;  wie  kaum  ein  anderer 
Stammbaum  trug  der  argivische  das  Gepräge  eines  rein  histo- 
rischen Dokuments.  Die  Folge  der  Geschlechter  reichte  hier 
in  eine  so  hohe  Zeit  hinauf  wie  nirgends  sonst  in  Griechen- 
land,-) und  die  eponymen  Namen  der  Könige  schienen  die 
grossen  völkergeschichtlichen  Bewegungen  der  Urzeit  zu  be- 
wahren. Aus  den  Danaiden  ergab  sich,  dass  die  Bewohner 
von  ganz  Hellas  ehemals  Pelasger  geheissen  hatten;  denn  im 
übrigen  Griechenland  war  ja  ein  selbständiges  Leben  damals 
noch  nicht  erwacht,  und  so  muss  Pelasgos'  Reich  das  ganze 
spätere  Hellas  umfasst  habend)  Durch  Danaos'  Einwanderung 
entsteht  ein  neues  Volk  und  ein  neues  kräftiges  Leben.  Für 
Aeschylos,  dem  die  Ueberlieferung  eine  heilige  Geschichte  ist 


1)  Ganz  isolirt  steht  die  Angabe  bei  Pausan.  VIII  22,  2,  Styniphalos 
sei  von  Temenos  dem  Sohne  des  Pelasgos  gegründet,  der  Hera  anferzogen 
und  ihren  Cnlt  eingeführt  habe.  Hier  ist  der  Ahne  der  dorischen  Könige 
von  Argos  an  den  Stammvater  der  Arkader  (oder  an  den  argivischen  Pe- 
lasgos?) angeknüpft.  Hängt  das  damit  zusammen,  dass  die  Stymphalier 
zu  Pausanias'  Zeiten  nicht  zu  Arkadien  sondern  zum  'ÄQyohxöv  gehörten? 
[vgl.  jetzt  meine  Gesch.  d.  Alt.  II  170J. 

2)  Dass  der  Stammbaum  von  Sikyon,  den  Pausanias  und  Kastor  (bei 
Euseb.)  im  wesentlichen  gleichmässig  geben,  noch  höher  hinaufgeführt  ist, 
ist  eine  Absurdität. 

\\)  Mitgewirkt  hat  dabei  natürlich  sehr  wesentlich,  dass  die  Pelasger 
an  den  verschiedensten  Stellen  Griechenlands,  in  Arkadien,  Attika,  Thes- 
salien, ansässig  gewesen  sein  sollten.  —  Ihren  classischen  Ausdruck  hat 
diese  Anschauung  in  den  bekannten  Versen  des  euripideischen  Archelaos 
(fr.  228)  gefunden:  Javaoq  b  nevTi]xovra  9vyaTtQü>v  tcutiiq  NfiXov  linwv 
xülXiazov  EX  yaiocQ  vöcoq  . .  .  iX&tbv  eg  "AQyoq  toxia'  'lvd%ov  noXiv,  Ü8- 
Xaoyiwraq  6  ajvo/iaa/jlvovQ  xo  nglv  /lavaovg  xaXnofrai  vöy.ov  t&r/x'  av 
'EXkaöa  —  Sophokles  in  seinem  Inachos  hat  dann,  wie  früher  (S.  20,  2) 
erwähnt,  auf  die  Argiver  des  Inachos  sogar  den  Namen  der  tyrsenischen 
Pelasger  übertragen  (Dion.  Hai.  I  2;»). 

7* 


100 

und  der  sich  den  alten  naiven  Glauben  an  ihre  Wunder  be- 
wahren möchte  —  obwohl  der  Versuch,  die  Dinge,  welche  das 
Epos  einfach  erzählt,  real  und  gegenwärtig-  vorzustellen,  den 
Keim  des  Rationalismus  bereits  mit  Naturnoth wendigkeit  in 
sich  enthält1)  —  ist  es  der  geheimnissvolle  Plan  des  Zeus, 
der  auf  diese  Weise  zur  Durchführung  kommt,  und  durch  den 
das  unendliche  Weh,  welches  Zeus  der  Io  zugefügt  hat,  ge- 
rechtfertigt wird.  Für  den  Rationalisten,  welcher  die  Wunder 
verwarf,2)  ergaben  sich  noch  bedeutendere  Folgerungen.  Ihm 
war  Io  eine  geraubte  argivische  Piincessin,  welche  von  irgend 
einem  beliebigen  Orientalen  ein  Kind  bekommen  hatte  (Herod. 
I  1).  Ihre  Nachkommen  sind  rechte  Aegypter,3)  und  so  ist 
Danaos'  Königthum  in  Argos  eine  Fremdherrschaft  so  gut  wie 
das  des  Kadmos  und  Pelops.  Diese  Anschauung  ist  im  vierten 
Jahrhundert  Allgemeingut  geworden:  „Die  Athener"  sagt  Plato 
in  der  Leichenrede  des  Menexenos  245  „sind  reine  Griechen 
und    nicht   mit   Barbaren    vermischt;    denn    kein   Pelops   oder 

1)  Ungemein  bezeichnend  dafür  ist  die  Art,  wie  er  von  der  Verbin- 
dung zwischen  Io  und  Zeus  redet  (suppl.  295  fragt  der  König  ^/)  xal 
Xöyoq  riq  ZTjvrx  la/ih'/rai  ßyoTto;  580  sagt  der  Chor  von  Io  laßovGU  ö* 
tpfta  älov  äipFviteT  Xoyu>  yeivaro  7tal(f  d/ti?/u(pfj).  Aeschjdos  ist  nicht 
mehr  im  Stande,  das  Verhältniss,  an  das  er  glaubt,  in  nackter  Wirklich- 
keit vorzuführen;  er  empfindet  den  Widerspruch,  in  dem  es  zu  dem  ge- 
läuterten Gottesbegriff  steht.  So  bleibt  es  für  ihn  eine  Art  Mysterium 
und  er  geht  mit  einer  zarten  Andeutung  darüber  hinweg,  indem  er  zu- 
gleich die  Zuverlässigkeit  der  Ueberlieferung  scharf  betont.  Man  sieht 
daraus  zugleich,  wie  vielfach  diese  Fragen  (die  ja  für  den  Adelsstand  eine 
grosse  praktische  Bedeutung  hatten)  in  jener  Zeit  discutirt  sind;  und  das 
wird  durch  die  zahlreichen  Stellen,  an  denen  Uerodot  davon  spricht,  in 
drastischer  Weise  bestätigt  Aus  Herod.  II  145  ergibt  sich  auch,  dass 
schon  Hekataeos  die  Ueberlieferung  einfach  verworfen  hat. 

2)  In  wie  reizender  Weise  Hekataeos  die  ihm  unwahrscheinliche  Zahl 
von  fünfzig  Söhnen  des  Aigyptos  beseitigt  hat,  haben  Weil  (rev.  de  philol. 
nouv.  ser.  II  84)  und  Wilamowitz  (Kydathen  94)  erkannt:  6  dt  AiyvTiroq 
uvxbq  fjikv  ovx  ?jk9tv  £iq  "Aoyoq,  Ticdösq  de,  wq  fiiv  'Haioöoq  inoitjoe, 
nsvTijxovxu,  a>q  dt  tyw  Xtyw,  ovdt  eixooi.  Vgl.  dagegen  Syncell.  p.  288: 
ovx  aniöTov  6h  iv  ßaoßaootq  tj  nolvzsxvla  dia  zo  nkrjiioq  ziüv  naU.a- 
xwv,  die  natürlich  auf  ältere  Schriftsteller  zurückgeht. 

;*)  Daher  sind  denn  auch  die  Ilerakliden  ägyptischen  Ursprungs, 
Aiyvnrioi  id-ccysvteg  Herod.  VI  5iJ.  Das  ist  längst  vor  Herodot  nachge- 
wiesen, so  dass  er  nicht  mehr  darauf  eingehen  mag  VI  55.  Danaos'  und 
Lynkeus'  Heimath  in  Chemmis  II  91. 


101 

Kadmos  oder  Aigyptos  oder  Danaos  oder  sonst  einer  von  den 
vielen  geborenen  Barbaren,  die  hellenisches  Bürgerrecht  er- 
langt haben,  (ovös  aXXoi  jtolXol  qvöhi  fihv  ßäoßagoi  ovxtg, 
vofirp  dh  "EZkrjvsc),  hat  sich  bei  uns  angesiedelt."  Ebenso  Iso- 
krates  10,  68.  12,  80.1)  Für  Herodot  ist  diese  Anschauung  eine 
Hauptstütze  seiner  Ansicht,  dass  die  griechische  Cultur  und 
Religion  aus  Aegypten  stammt,  und  so  meint  er  denn  auch, 
dass  die  Danaiden  die  Mysterien  der  Thesmophorien  aus 
Aegypten  nach  Griechenland  gebracht  und  die  pelasgischen 
Weiber  darin  unterwiesen  hätten  (II  171);  die  Neueren  halten 
das  für  uralte  Ueberlieferung  und  glauben  allen  Ernstes,  die 
Thesmophorien  seien  ein  pelasgisches  Fest.'2) 


Beilage. 
Pron  und  Haliaia  in  Argos. 

(Philologus  N.  F.  II  1881)  S.  185  ff.) 

Euripides  schildert  im  Orestes  872  ff.,  wie  das  Volk  von 
Argos,  um  über  Orestes  zu  Gericht  zu  sitzen,  zur  Burg  hinan- 
steigt an  die  Stätte,  wo  zuerst  Danaos  im  Process  mit  Aigyptos 
das  Volk  versammelt  haben  soll  (ogco  d*  oyXov  öTÜyovxa  xal 
fraööovT  axgav,  ov  (paöi  jiqcqtov  Aavabv  AiyvjiTco  öixag  ötöövr 
ä&Qolöcu  Xaov  tlg  xoivag  tögag).  Zu  v.  872  bemerken  die 
Scholien  unter  anderem  (a)  Xeyezai  64  xig  tv  "Agyti  Ilgcnv, 
ojiov  öixät^ovotv  Agyeloi.'6)  Es  wird  dann  eine  Stelle  des 
Deinias  citirt,  der  erzählt,  die  Gräber  des  Melacharis  (?)  und 
der  Kleometra  (?)  liegen  vjttgävo)  rov  xaXovy.ivov  Ilgmvdg  * 
X(5(ia   jiavrzXwg,   ov    övfißaivei   xovg  'Aoyuovg    dixä&iv.     Die 


1)  Vgl.  die  Anekdote  von  Isokrates'  Tod.  Bekanntlich  hat  man  in 
hellenistischer  Zeit  nach  der  Analogie  des  Danaos  anch  den  Kekrops  ans 
Aegypten  einwandern  lassen! 

2)  Daran  knüpft  Pausanias'  Erzählung  von  der  Aufnahme  der  Demeter 
durch  Pelasgos  von  Argos  (I  14,  2)  und  der  Erbauung  des  Heiligthums 
der  Demeter  Pelasgis  (oben  S.  98).  Neuere  Forscher  haben  darin  wirklich 
einen  alten  und  geschichtlich  werthvollen  Beinamen  der  argivischen  De- 
meter gesehen. 

3)  Ob  die  darauf  folgenden  corrupten  Worte  von  Cobet,  dem 
Schwartz  in  seiner  Ausgabe  folgt,  oder  von  Wilamowitz  Kydathen  93 
richtig  emendirt  sind,  ist  für  uns  gleichgültig. 


102 

Lage  dieser  Gerichtsstätte  Pron1)  bestimmt  Pausanias  genau:  sie 
liegt  hinter  dem  Heiligthum  der  Quelle  Kephisos  in  nächster 
Nähe  des  Theaters.2)  Pausanias  verlegt  den  oben  besprochenen 
Process  des  Hypermnestra  hierher;  zugleich  zeigen  seine  Worte, 
dass  die  Gerichtsstätte  zu  seiner  Zeit  nicht  mehr  benutzt  wurde. 
Das  Theater  ist  am  Abhang  des  langgestreckten  Rückens  der 
Larisa  in  den  Felsen  eingeschnitten,  wenig  nördlich  davon  (der 
Rücken  des  Larisa  läuft  von  N.  nach  S.)  befindet  sich  die 
polygonale  Stützmauer  einer  Terrasse  und  ein  Brunnenhaus  aus 
späterer  Zeit3)  —  offenbar  das  Kephisosheiligthum.  Danach 
lässt  sich  die  Lage  der  Richtstätte  genau  bestimmen,  und  zu- 
gleich zeigt  sich  deutlich,  dass  Euripides  dieselbe  Localität  im 
Auge  hat. 

Nun  sagen  die  Schotten  zu  V.  871  (b)  rov  flydäva  Xiysr 
evravfrd  (paot  tovq  AgyeLovc,  exxl?jGid£eii>,  bezeichnen  also  den 
Pron  als  Stätte  der  Volksversammlung.  Das  könnte  eine  ein- 
fache Flüchtigkeit  sein.  Aber  eine  weitere  Bemerkung  zu  V.  872 
lautet  (c)  tj  dixrj  (zwischen  Danaos  und  Aigyptos)  GvvTjX&rj  jilqi 
ttjv  {ieyiöTijV  ctxQav,  ev&a  xctl  'ivayog  aXlüag  rov  Xeiov  övv- 
eßovXevoev  olxi^eiv  ro  jteölov  o  de  rojiog  eg  exeivov  AXiala 
xaXeirai.*)  Hier  wird  Euripides'  Angabe  auf  die  Volksver- 
sammlung bezogen;  aber  dass  die  gemeinte  Localität  die- 
selbe ist,  wie  die  Richtstätte  Pron,  ist  evident5):  der  Name 
der  Haliaia  wird  davon  abgeleitet,  dass  Inachos  hier  an  der 
grössten  Burg  (im  Gegensatz  zu  der  zweiten  kleineren  Akro- 
polis)  d.  h.  am  Abhang  der  Larisa  das  Volk  versammelte.   Das 


1)  Pausanias  kennt  diesen  Namen  nicht,  wohl  aber  einen  Berg  Pron 
bei  Hermione  II  34,  11.  36, 1.  2. 

2)  II  20,  7  naget  de  zb  iepbv  zov  K?](pioov  MsdovG?]Q  Xi&ov  ntnonj- 
fj,evt]  xe<paX?]  . . .  zb  de  xojqiov  zb  oTito&ev  xcci  ec,  zöde  xqlx^qlov  ovo- 
fiä^ovaiv  . . .  zovzov  de  eaziv  ov  tiöqqo)  üectzpov. 

3)  Nach  Lolling's  Angaben  bei  Bädeker.  Die  Localität  des  Pron 
hat  bereits  Curtius  im  Peloponnesus  erkannt,  den  Bursian  Geogr.  von 
Griechenland  II  51  mit  Unrecht  bekämpft.  Ich  bedaure  bei  meiner  An- 
wesenheit in  Argos  mich  um  diese  Dinge  garnicht  gekümmert  zu  haben. 

4)  Dass  die  Interlinearglosse  z?]v  ^HXiaiav  (f?]oi  und  die  Bemerkung 
in  B  zu  unserer  Stelle  /)  vvv  r)Xtaicc  Xtyo/bievij  daraus  entstellt  und  werth- 
los  sind,  bemerkt  Wilamowitz  1.  c.  mit  Recht. 

5)  Das  hat  Wilamowitz  verkannt, 


103 

ist  aber  eben  auf  dem  Pron;  denn  zwei  derartige  ganz  gleichge- 
legene Versammlungsstätten  anzunehmen  wäre  baare  Willkühr. 

Nun  weist  die  Angabe  über  Inachos  auf  gute  argivische 
Tradition  hin;  und  sie  setzt  die  Volksversammlung  am  Ab- 
hang der  Burg,  im  Gegensatz  zu  der  Besiedelung  der  Ebene, 
voraus;  denn  sie  will  ja  grade  den  Namen  ahaia  erklären.  Es 
bleibt  also  nichts  übrig,  als  gegen  Wilamowitz  Kydathen  93  f. 
zu  der  alten  Ansicht  zurückzukehren,  dass  Volksgericht ')  und 
Volksversammlung  an  derselben  Stätte,  auf  dem  Pron,  zu- 
sammentraten oder  wenigstens  ursprünglich  zusammengetreten 
sind.  Das  Scholion  b  ist  also  völlig  correct.  Eine  spätere  Ver- 
legung der  Volksversammlung  in  die  ebenen  Theile  der  Stadt 
wäre  allerdings  denkbar,  ist  aber  wenig  wahrscheinlich,  da  ja 
gerade  der  Bergabhang  diesem  Zweck  vortrefflich  dient,  weil 
er  unbebaut  ist  und  die  Vorrichtungen  für  die  Versammlung 
hier  viel  leichter  getroffen  werden  können  als  in  der  Ebene, 
vgl.  die  Pnyx. 

Wenn  nun  auch  Pron  und  Haliaia  identisch  sind,  so  folgt 
daraus  freilich  noch  nicht,  dass  das  Volksgericht  den  letzteren 
Namen  gehabt  hätte.  Haliaia  mag  trotz  der  Angabe  des  Schol.  c 
nur  der  Name  der  auf  dem  Pron  tagenden  Versammlung,  nicht 
der  Localität  gewesen  sein.  Wilamowitz  hat  aber  im  An- 
schluss  an  Cobet  weiter  vermuthet,  dass  Haliaia  nur  ein  lrr- 
thum  und  durch  den  sonst  bei  den  Dorern  überlieferten  Namen 
der  Volksversammlung  aXia  zu  ersetzen  sei.  Das  schien  recht 
probabel.  Aber  eine  der  beiden  vor  kurzem  von  Tsuntas  ent- 
deckten mykenäischen  Inschriften'2)  zeigt,  dass  auch  hier  die 
Angabe  des  Scholion  vollkommen  correct  ist. 

Bekanntlich  ist  Mykenae  zur  Zeit  des  dritten  messenischen 
Kriegs,   um  460  v.  Chr.,3)   von   den  Argivern  zerstört   worden; 


1)  Wie  Aeschylos  suppl.  und  Euripides  lehren,  war  dieses  in  Argos 
mindestens  ebenso  ausgebildet  wie  in  Athen  und  vielleicht  älter. 

2)  'EiprifA.  aQzawL  1887,  155  ff.  [Wie  Swoboda  Piniol.  N.  F.  II  702 
bemerkt,  findet  sich  akiatai  t[eXehxi]  auch  auf  dem  Bruchstück  eines 
BCH  IX  352  veröffentlichten  Dekrets,  das  vielleicht  aus  Argos  selbst 
stammt.] 

3)  Diod.  XI  65  die  Argiver  öqwvteq  tovq  AccxEÖai/uovlovg  xEzanEi- 
vcofAtvovq  y.al  utj  övvafiivovq  zolq  Mvxrjvaioiq  ßoijS-Etv  greifen  Mykenae 
an.    Das  vorangehende  Kapitel   erzählt   die  Geschichte   des  messenischen 


104 

aber  in  hellenistischer  Zeit  ist  auf  den  Trümmern  der  alten 
Stadt  eine  Dorfgemeinde1)  entstanden,  von  der  uns  zwei  Be- 
schlüsse ziemlich  vollständig  erhalten  sind.  Der  eine  derselben, 
der  aus  der  Zeit  des  Nabis  stammt,  beginnt  mit  den  Worten 
frtoic  ayafrai  xvyai  aXuaai  tdot-t  reXeiai  Mvxavecov. 

Demnach  werden  wir  nicht  zweifeln  dürfen,  dass  auch  die 
argivische  Volksversammlung  aXiala  hiess.  Das  Wort  ist  jeden- 
falls eine  Weiterbildung  von  alla.  Die  Frage  ob  der  Name 
auch  das  Volksgericht  bezeichnen  konnte  und  ob  weiter  die 
athenische  fjktala  tcqv  ftsöfiofrercov  irgend  etwas  damit  zu 
thun  hat,  bleibt  davon  unberührt.  Wilamowitz  bestreitet  es 
mit  beachtenswerthen  Gründen;  doch  bleibt  die  nahe  Berüh- 
rung der  beiden  Worte  immerhin  auffallend.  Wäre  die  Ver- 
muthung  zu  gewagt,  dass  die  Athener  mit  der  Institution  das 
Wort  aus  Argos  entlehnt  und  falsch  ionisirt  haben? 


Kriegs.    Dass  Diodor  die  Zerstörung  von  Mykenae  unter  dem  Jahre  468/7 
erzählt,  beweist  nichts. 

1)  Beide  Inschriften  bezeichnen  Mykenae  als  Korne.  An  der  Spitze 
der  Verwaltung  steht  ein  Pamiorgos;  die  Bezeichnung  Janpovttvg,  welche 
dieselben  tragen,  lehrt  uns,  wie  Tsuntas  bemerkt,  eine  daiphontische 
Phyle  kennen,  die  in  der  hyrnethischen  ihr  Gegenstück  hat. 


Fünftes  Kapitel. 
Pelasgos  in  Thessalien. 


In  Thessalien,  wo  der  Pelasgername  allezeit  lebendig  ge- 
blieben ist,  hat  es  natürlich  auch  an  einem  Eponymen  Pelasgos 
nicht  gefehlt.  Eine  epische  Ueberlieferung  über  ihn  besitzen 
wir  freilich  nicht,1)  vielmehr  sind  wir  fast  ausschliesslich  auf 
Hellanikos  angewiesen.  Dieser  hat  in  seiner  Phoronis  (fr.  1 
bei  Dion.  Hai.  I  28)  folgenden  Stammbaum  gegeben : 

Pelasgos  Gem.  Menippe  Tochter 

König  der  Pelasger  des  Peneios 

I 


[Larisa 

Phrastor 

fr.  29  bei  schol. 

1 

Apoll.  Rh.  I  40, 

Amyntor 

Eponyme 

1 

der  thessalischen 

Teutamides2) 

Stadt.] 

1 

Nanas 

1)  Schol.  Apoll.  Rhod.  IV  266  Aevxalldijöiv]  oi  und  dEvxaXiiovoq  tb 
yevoq  txovzsg  eßaoikevov  OtcoaXiag,  ojq  (pr/oiv  'Exazcüoq  (fr.  334)  xal 
^Hoiodog-  rj  0EOoa?Ja  St  IleXaayia  exakeizo  änb  üeXaoyov  zov  ßaoikev- 
oavzoq  ist  zu  allgemein  gehalten,  um  als  Zeugniss  verwerthet  werden  zu 
können.  Freilich  ist  nicht  zu  zweifeln,  dass  Hesiod  und  Hekataeos  die 
Dinge  ebenso  berichteten  wie  die  Späteren.  —  Die  herrschende  Ueber- 
liefernng  formulirt  kurz  Plin.  IV  28 :  sequitur  mutatis  saepe  nominibus  Hae- 
monia,  eadem  Pelasgis  et  Pelasgicon  Argos,  Hellas,  eadem  Thessalia  et 
Dryopis,  semper  a  regibus  cognominata  .  ibi  genitus  rex  nomine  Graecus, 
a  quo  Graecia,  ibi  Hellen,  a  quo  Hellenes. 

2)  [Tümpels  Vermuthung  Philol.  NF.  III  713,  für  Tsvraßidrjg  sei  Ttv- 
zafAii]g  zu  lesen  und  dieser  sei  aus  II.  B  843  entnommen,  wo  über  die  Pe- 
lasger Hippothoos  und  Pylaios  herrschen,  vis  övoj  Atj&olo  Ilslaoyov  Ttv- 
zafilSao,  ist  in  ihrem  zweiten  Theil  evident.    Dagegen  hat  Hellanikos  wahr- 


106 

Unter  dem  letztern  werden  die  Pelasger  von  den  Hellenen 
verjagt  und  wandern  nach  Italien  aus.  Dass  der  Wohnsitz 
dieser  Pelasger  bei  Hellanikos  Thessalien  ist,  lehrt  der  Zu- 
sammenhang hei  Dionys  und  die  Abstammung  der  Gemalin 
des  Pelasgos.  Im  übrigen  kennt  auch  Herodot  diese  Erzählung: 
die  Pelasger,  welche  zu  seiner  Zeit  in  Cortona  in  Etrurien 
wohnten,  haben  ehemals  in  Thessaliotis  als  Nachbarn  der 
Hestiaeotis  bewohnenden  Dorer  gesessen  (I  57).  Es  kann  daher 
der  von  Hellanikos  hier  genannte  Pelasgos  nicht  mit  dem 
Pelasgos,  Sohn  des  Triopas,  identisch  sein,  den  Hellanikos  im 
peloponnesischen  Argos  herrschen  und  dort  auch  sterben  Hess 
(s.  o.  S.  97).  Vielmehr  hat  Hellanikos  zu  dem  beliebten  Mittel 
gegriffen,  die  Differenzen  der  Stammbäume  durch  Statuirung 
zweier  gleichnamiger  Persönlichkeiten  auszugleichen.  So  konnte 
der  argivische  Pelasgos  neben  dem  thessalischen  bestehen;  es 
ist  ein  Wunder,  dass  Hellanikos  nicht  noch  einen  dritten,  ar- 
kadischen, Pelasgos  daneben  genannt  hat.1)  Als  Heimath  der 
Pelasger  betrachtete  Hellanikos  den  Peloponnes,  von  hier  ist 
ein  Theil  des  Volkes  nach  Thessalien  gewandert,  vermuthlich 
wie  bei  Dionys  I  17  (s.  u.)  eben  unter  Führung  des  Pelasgos  IL2) 

Dass  der  von  Hellanikos  gegebene  Stammbaum  von  ihm 
im  Epos  vorgefunden,  wenn  auch  vielleicht  im  einzelnen  rec- 
tificirt  und  erweitert  worden  ist,  wird  Niemand  bezweifeln. 
Einer  der  aufgeführten  Herrscher,  Teutamides,  wird  von  Apol- 
lodor  II  4,  4  als  der  thessalische  König  genannt,  zu  dem  Akrisios 
flieht,  um  dem  ihm  von  Perseus  drohenden  Unheil  zu  entgehen, 
das  ihn  dann  doch  gerade  hier  ereilt.*)     Diese  Erzählung  hat 


scheinlich  den  Eigennamen  wirklich  Tevzafxid^q  gebildet,  nicht  Ttvza.aaq; 
denn  bei  Apollodor  II  4,  4  steht  zwar  in  den  Handschriften  Ttrza/ulov, 
aber  sowohl  bei  Tzetzes  ad  Lycophr.  838  wie  in  der  Epitome  Vaticana 
Tev  ra/iidov.} 

1)  Welche  Stellung  Hellanikos  dem  Lykaon  gab,  wissen  wir  leider 
nicht ;  aber  höchst  wahrscheinlich  ist  es  doch ,  dass  er  bei  ihm  Sohn  des 
Pelasgos  L,  Enkel  der  Triopas,  gewesen  ist.  —  Nach  Harpokration  s.  v. 
avzöx&ovtg  bezeichnete  er  die  Arkader  als  Autochthonen. 

2)  Ebenso  Staphylos  von  Naukratis  (drittes  Jhdt.)  bei  schol.  Apoll. 
Rh.  1580:  2za<f<vXoq  6  IV.  üeXaayöv  <pr\oiv  lApytTov  zb  ytro^  ftSTOMfjoai 
tiq  Ofooakiav  xai  an'  avzov  IleXaoyiav  z?jv  Oeoaakiav  xXy&rjvtiu. 

8)  Ebenso  ohne  Nennung  des  Pelasgerkönigs  Pherekydes  fr.  26  (Schol. 
Apoll.   Rhod.  IV  1091)   u.  a.     Vgl.  Steph.  Byz.   Aägioa  6tooa)Äuq,   tjv 


107 

ursprünglich  mit  dem  Pelasgerkönig  gar  nichts  zu  thun;  sie 
benutzt  vielmehr  die  Akrisiossage,  um  die  Gleichnamigkeit  der 
thessalischen  Stadt  mit  der  Burg  von  Argos  zu  erklären. 
Wer  aber  diese  Erzählung  historisch  ausmalen  wollte,  suchte 
im  Stammbaum  den  Zeitgenossen  des  Akrisios.  Wir  werden 
das  Verfahren  umkehren  dürfen ;  dann  gewinnen  wir  für  Hella- 
nikos  unter  Heranziehung  des  oben  gewonnenen  den  S.  108  auf- 
gestellten Stammbaum,  dem  ich  gleich  das  Geschlecht  des  Deu- 
kalion  und  die  attischen  Könige ')  beifüge. 

Dieser  Stammbaum  lehrt  uns  sogleich  den  ganzen  Aufriss 
der  älteren  griechischen  Geschichte  kennen,  den  Hellanikos 
gegeben  hat.  Herakles  Neleus  Pelias  Iason  Theseus  sind  der 
Ueberlieferung  nach  Zeitgenossen  und  stehen  denn  auch  in 
dem  aufgestellten  Schema  auf  gleicher  Linie.-)  Fand  nun 
Hellanikos  die  Angabe  vor,  dass  Nanas  der  letzte  König  der 
thessalischen  Pelasger  vor  dem  Einbruch  der  Hellenen  gewesen 
sei,  so  ergab  sich  die  Zahl  der  Generationen,  um  die  er  von 
Pelasgos  und  Triopas  abstand,  durch  eine  einfache  Rechnung. 
Zugleich  zeigt  sich,  dass  die  Stelle,  welche  Pelasgos  II.  erhielt, 
mit  gutem  Bedacht  bestimmt  ist.     Er  steht  auf  einer  Stufe  mit 


Axqioloq  txziot.  vgl.  schol.  Ap.  Rhod.  I  40  Aüqlguv  rijv  Otooaliaq  keyei, 
rjv  txtiGtv  Axqigioq,  ?'jTig  wvofiäad-rj  Eni  AagiGi/Q  zijg  Iltl.aGyov,  Sq  (pyotv 
'ElhxvixoQ  (fr.  2!)) ;  aus  Hellanikos  stammt  nur  die  letzte  Bemerkung,  welche 
mit  der  Gründung  durch  Akrisios  im  Widerspruch  steht.  —  Nach  Strabo 
IX  5,  0  geht  bereits  Abas  von  Argos  nach  Thessalien  und  bringt  den  Namen 
IltXaGyixov  Ayyog  mit. 

1)  Ich  halte  es  trotz  Kirchhoff  Hermes  VIII,  190  für  sicher,  dass 
Hellanikos  bereits  Kekrops  IL  und  Pandion  II.  gekannt  hat,  so  gut  wie 
die  parische  Chronik.  Dagegen  hat  auch  bei  ihm  Pandion  nach  [nicht  wie 
Schäfer,  Quellenkunde  F  18  annimmt  vor]  Erechtheus  regiert;  er  war  der 
Vater  des  Aegeus,  wie  bei  Herodot  I  173. 

2)  Herakles  und  seine  Zeitgenossen  (zu  denen  ja  auch  Priamos'  Vater 
Laomedon  gehört)  repräsentiren  die  Generation  von  den  Tywixcc,  das  gibt 
für  Pelasgos  I.  die  1 5 ,  für  seinen  Sohn  Lykaon  die  1 4  Gen.  vor  Troja. 
Dion.  Hai.  I  1 1  setzt  Lykaon's  Söhne ,  speciell  den  nach  Italien  auswan- 
dernden Oinotros  Enxaxaiötxa  yevecüq  noöxEQOv  twv  ini  Tgoiav  gtqcc- 
tevgccvtojv.  D'as  beruht  darauf,  dass  Dionys'  Quelle  den  Pelasgos  I.  zum 
Sohn  der  Niobe  und  Bruder  des  Argos  macht;  zwischen  diesem  und  Io 
haben  dann  bei  ihm  noch  drei  oder  vier  Zwischenglieder  (etwa  Kriasos, 
Agenor,  Iasos  oder  ähnl.)  gestanden;  dadurch  rücken  Lykaon  und  seine 
Söhne  bei  ihm  um  eben  so  viele  Generationen  hinauf. 


108 


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109 

den  Danaiden,  und  wenn  er  bei  Hellanikos,  was  doch  sehr 
wahrscheinlich  ist,  der  Führer  der  Auswanderung  nach  Thessa- 
lien war,  so  haben  die  Pelasger  den  Peloponnes  verlassen,  als 
hier  das  Danaervolk  entstand.  Die  Zwischenglieder  mussten 
dann,  soweit  die  Ueberlieferung  nicht  reichte,1)  durch  Combi- 
nationen  ergänzt  werden;  vielleicht  hat  Hellanikos  auch  einige 
Stellen  leer  gelassen. 

Ein  anderes  und  älteres  Schema  für  die  thessalischen 
Eponymen  bietet  der  in  den  Commentaren  zu  II.  B  68 1 2)  er- 
haltene Stammbaum: 

Thessalos 
Haimon  Gem.  Larisa  von  Argos* 


Pelasgos         Phthios         A  chaios 

Hier  sind  dem  Thessalos  und  seinem  Sohne  Haimon  —  Thes- 
salien soll  bekanntlich  früher  Haimonia  geheissen  haben,  woher 
der  Name  stammt  weiss  ich  nicht  —  die  Eponymen  einiger 
der  Hauptstämme  des  Landes  untergeordnet.  Später  kommen 
dann  Deukalion  und  die  Hellenen  ins  Land.  Schliesslich  macht 
eine  dritte  Version  den  Pelasgos  zum  Sohne  des  Poseidon  und 
der  Larisa,3)  wobei  unentschieden  bleibt,  ob  ursprünglich  die 
thessalische  oder  die  argivische  gemeint  ist. 

Diesen  Stammbaum  hat  wie  es  scheint  Myrsilos  von  Lesbos 
um  250  v.  Chr.4)  mit  dem  des  Hellanikos  contaminirt  und  zu- 
gleich an  Stelle  des  argivischen  Stammbaums  des  letzteren  einen 
andern   gesetzt,    welcher   mit  Akusilaos   Pelasgos  zum   Sohne 


1)  Der  Name  Amyntor  ist  dem  bekannten  Vater  des  Phoinix,  der  ja 
in  Thessalien  zu  Hause  ist,  entlehnt. 

2)  Im  Ven.  B  und  im  allgemeinen  besser  bei  Eustath.  (zu  684) ,  der 
zwischen  Thessalos  und  Haimon  noch  einen  Aigon  einschiebt.  Einen  um- 
gekehrten Stammbaum  gibt  Steph  Byz.  A\(iovia:  Äl^iojv  vibg  fitv  XXwyov 
xov  nzXaayov,  natijQ  dt  QegguXov,  <oq  Ptetvog  xai  aX?.oi.  Bei  Strabo 
IX  5,  23  ist  Haimon  Sohn  des  Thessalos,  bei  schol.  Apoll.  Rh.  II  504  Sohn 
des  Ares,  bei  Eustath.  ad.  II.  B  756  (in  den  Scholien  verkürzt)  ein  Enkel 
des  Aeoliden  Magnes. 

3)  Schol.  Apoll.  Rhod.  I  580.    Dion.  Hai.  I  17. 

4)  Müllenhof  Deutsche  Alterthskde  I  450.  Wilamowitz,  Antig. 
v.  Kar.  24.  Dass  er  Dionys'  Hauptquelle  für  die  Geschichte  der  Pelasger 
(die  Myrsilos  Tyrsener  nannte  c.  28)  ist,  sagt  Dionys  selbst  c.  23.  Danach 
ist  wohl  auch  der  Stammbaum  in  c.  11.  17  aus  ihm  entnommen. 


110 

des  Zeus  und   der  Niobe   macht.     So   ist   die  Genealogie   ent- 
standen, welche  Dionys.  Hai.  I  11.  17.  mittheilt: 

Phoroneus  Aizeios     | 

|  |  >  s.  o.  S.  04 

Niobe  Gem.  Zeus  Lykaon  I.  ) 

I 


Argos  Pelasgos  I.   Gem.  Deianeira 

Lykaon  IL 


[17  Gen.  vor  1  22  Söhne  [darunter  Oinotros  und  Peuketios 
Troja      J  |  nach  Pherekydes 


x. 

|  V  (i  ysvtaC 

x. 

I 
Larisa  Gem.  Poseidon 


Achaios        Phthios        Pelasgos  IL 

Pelasgos  II.  und  seine  Brüder  wandern  aus  dem  Peloponnes  nach 
Haiinonien  (=  Thessalien)  und  hier  bleiben  die  Pelasger  fünf 
Generationen  lang-  sitzen,  bis  sie  in  der  sechsten  von  den 
Kureten  (=  Aetolern)  und  Lelegern  (=  Lokrern)  •)  unter  Deu- 
kalion  verjagt  werden.  Die  Namen  der  Nachfolger  des  Pe- 
lasgos II.  werden  wohl  im  wesentlichen  mit  den  von  Hellanikos 
gegebenen  übereingestimmt  haben,  obwohl  Dionys  eine  Gene- 
ration mehr  zählt  als  dieser. 

Alle  Angaben  über  die  Geschichte  der  thessalischen  Pe- 
lasger lassen  dieselben  den  Hellenen  erliegen,'2)  und  zwar 
gleich  den  Stammvätern  der  letzteren,  dem  Deukalion  und 
Hellen.  Dadurch  werden  die  Pelasger  zu  einer  vorhellenischen 
Bevölkerung,  und  daraus  erklärt  sich  ohne  weiteres,  dass  der 
Mythus  den  Pelasgos  als  den  ersten  Menschen  betrachtet. 
Wir  haben  gesehen,  dass  diese  Anschauung  in  Thessalien  ent- 
standen ist. 

Den  Gegensatz  zwischen  Pelasgern  und  Hellenen  keimt 
bereits  die  Ilias;  er  hat  den  Dichter  der  Patroklie  veranlasst. 


1)  Diese  Gleichung  beruht  auf  dem  bekannten  Hesiodfragnu'nt  In; 
Kinkel,  111  Rzach  bei  Strabo  VII  7,  2. 

2)  vgl.  auch  Diod.  XIV  1 13.  Nur  Hieronymos  (oben  S.  2\))  bei  Strabo 
IX  5,  22  sagt,  sie  seien  von  den  Lapithen  nach  Italien  verjagt  worden. 
Nach  schol  B  und  Eustath.  zu  11  H  Sil  sind  die  Pelasger  von  den  Ai&Xideq 
d.  i.  den  Boeotern  aus  Thessalien  nach  Asien  gedrängt ;  hier  werden  sie 
zugleich  für  Griechen  erklärt. 


111 

die  Pelasger  unter  die  Bundesgenossen  der  Troer  aufzunehmen. 
Die  Sage,  welche  Deukalion  oder  seinen  Sohn  Hellen  als  Be- 
sieger der  Pelasger  nennt,  hat  damit  die  Hellenen  im  engeren 
Sinne  im  Auge,  die  Bewohner  des  phthiotischen  Hellas.  Wie 
weit  dieser  feststehende  Gegensatz  eine  historische  Thatsache 
enthält,  würde  sich  höchstens  ermitteln  lassen,  wenn  die 
thessalischen  Genealogien  und  die  noch  ganz  unaufgeklärte 
Geschichte  der  Verbeitimg  des  Hellenennamens ')  systematisch 
untersucht  wären.  Sehr  denkbar  ist  z.  B.,  dass  wir  den  Ein- 
bruch der  Thessaler  in  viel  zu  frühe  Zeit  setzen  und  dass 
etwa  im  achten  Jahrhundert  Pelasger  und  Phthioten  noch 
selbständig  waren  und  in  fortwährender  Grenzfehde  lagen  — 
bei  der  ja  die  Hellenen  (Phthioten)  das  Uebergewicht  gehabt 
haben  können.  Bei  einer  derartigen  Annahme  würde  sich  die 
Sage  sehr  einfach  erklären;  doch  ist  sehr  möglich,  dass  ihr 
historischer  Gehalt  noch  weit  geringer  ist.  Jedenfalls  sind  die 
Pelasger  nicht  den  Hellenen  Deukalions  erlegen,  sondern  den 
Thessalern,  die  ja  auch  die  Hellenen  von  Phthia,  die  Lands- 
leute Achills,  zwar  nicht  zu  Knechten  wie  die  Pelasger  aber 
zu  Unterthanen  gemacht  haben.  Freilich  gehören  auch  die 
Thessaler  zu  den  Hellenen  im  späteren,  umfassenden  Sinne; 
es  scheint  aber  nicht,  dass  der  Pelasgersage  diese  Auffassung 
ursprünglich  bereits  zu  Grunde  liegt. 


1)  Sicher  ist  nur,  dass  der  Name  Hellas  und  Hellenes  mit  dem  Volks- 
stamme derAchaecr  (in  Thessalien  und  Acliaia)  in  enger  Verbindung  steht; 
denn  das  Land  der  phthiotischen  wie  der  unteritalischen  Achaeer  trägt  den 
Eigennamen  Hellas,  letzteres  mit  dein  unterscheidenden  Zusatz  „das  grosse". 
Die  Uebersetzung  „Grossgriechenland"  ist  sehr  unglücklich.  Das  Achaeer- 
land  in  Unteritalien  führt  den  Namen  nicht  im  Gegensatz  zu  dem  eigent- 
lichen Griechenland  auf  der  Balkanhalbinsel  —  das  wäre  sachlich  absurd 
und  sprachlich  unmöglich,  da  der  Name  Hellas  in  der  classischen  Zeit 
niemals  diesen  beschränkten  Sinn  hat,  sondern  alles  Hellenenland  von 
Massalia  bis  zum  Phasis  bezeichnet  —  sondern  im  Gegensatz  zu  der  Ur- 
heimath  der  Achaeer,  dem  thessalischen  Hellas.  Damit  verglichen  ist  es 
allerdings  „das  grosse  Hellas".  Ist  der  Hellenenname  in  derselben  Weise 
wie  der  Achaeername  und  wie  so  viele  Sagenstoffe  von  Thessalien  nach 
Kleinasien  gekommen  und  hier  durch  die  Poesie  zur  Gesammtbezeichnung 
der  Nation  geworden?  Das  ist  freilich  einstweilen  nur  eine  ganz  unbe- 
wiesene Hypothese;  uns  fehlen  die  Mittelglieder,  um  sein  Aufkommen  in 
der  Literatur  zu  verfolgen  —  wie  sie  schon  den  Alten  gefehlt  haben. 


Sechstes   Kapitel. 
Ergebnisse.    Geschichte  der  Pelasgerfrage. 


Wir  haben  jetzt  alle  Berichte,  die  uns  über  Pelasgos  und 
die  Pelasger  überkommen  sind,  analysirt,1)  und  können  daher 
unsere  Ergebnisse  zusammenfassen. 

Die  Pelasger  sind  ein  griechischer  Volksstamm,2)  der  in 
der   thessalischen  Ebene,   dem  „pelasgischen  Argos",   ansässig 

1)  Einige  sporadische  Notizen  seien  hier  noch  zusammengestellt. 
Dion.  Hai.  I  18  sagt,  von  den  Pelasgern  sei  nach  ihrer  Zersprengung  durch 
die  Hellenen  der  Haupttheil  über  Dodona  nach  Spina  gezogen,  ein  Theil 
dagegen  nach  Kreta  (oben  S.  49),  andere  nach  den  Kykladen,  nach  He- 
stiaeotis  am  Fuss  des  Olymp  und  Oeta  (vgl.  Herod.  I  56.  57),  andere  nach 
Boeotien,  Phokis,  Euboea,  andere  an  den  Hellespont  (resp.  nach  Kyzikos 
nach  Deilochos  beim  schol.  Apoll.  Rhod.  I  987)  und  nach  Lesbos  (oben 
S.35,  1).  Aehnlich  hat  offenbar  schon  Ephoros  erzählt  (Strabo  IX  2,  8);  die 
nach  Boeotien  gewanderten  Pelasger  liisst  er  dann  von  den  Boeotern  nach 
Attika  gedrängt  werden  (oben  S.  II).  Delos  soll  nach  Steph.  Byz.  s.v. 
früher  unter  anderen  Namen  auch  den  Namen  Pelasgia  geführt  haben. 
Aehnliche  Angaben  mögen  sich  auch  sonst  noch  finden,  die  ich  übersehen 
habe.  Irgend  welchen  Werth  wird  ihnen  niemand  beilegen.  Ganz  spät 
und  werthlos  ist  auch  der  Stammbaum  Diod.  IV  72,  wonach  Pelasgos  und 
Ismenos  nebst  zwölf  Schwestern  die  Kinder  des  Asopos  und  der  Bfetope, 
der  Tochter  des  Ladon,  sind. 

2)  Daher  finden  sich  die  Namen  Larisa  und  Argos  wie  bei  den  thes- 
salischen Pelasgern  auch  sonst  mehrfach  in  der  griechischen  Welt;  Ueberein- 
stimmung  in  Ortsnamen  findet  sich  ja  überall  innerhalb  eines  einheitlichen 
Volksgebiets.  Die  Frage,  ob  in  diesem  Falle  ein  historischer  Zusammen- 
hang besteht,  kann  mau  aufwerfen  und  dabei  auf  das  Vorkommen  des 
Namens  Larisa  an  der  Westküste  Kleinasiens  Gewicht  legen  (vgl.  die  Zu- 
sammenstellung bei  Strabo  IX  5,  19).    Aber  mit   den  Pelasgern  hat  diese 


113 

war.  Mit  den  übrigen  nordgriechischen  Stämmen  waren  sie 
vermuthlich  aufs  nächste  verwandt,  wie  denn  die  Verbindung, 
in  der  ihr  Name  mit  dem  dodonäischen  Zeus  steht,  auf  einen 
Zusammenhang'  mit  den  epirotischen  Gebirgsstämmen  hinweist. 
Aber  der  Reichthum  der  Ebene  lockte  die  Nachbarn,  und  einem 
von  ihnen,  den  Thessalern,  sind  sie  erlegen.  Ein  alter  Bestand- 
teil der  Odyssee  kennt  Pelasger  in  Kreta;  dorhin  mag  also 
eine  Schaar  von  ihnen  beim  Einbruch  der  Thessaler  geflüchtet 
oder  schon  vorher  gewandert  sein.  Die  Mehrzahl  blieb  jeden- 
falls im  Lande  und  wurde  zu  Leibeigenen  der  Eroberer;  aus 
ihr  ist  der  Kern  des  Penestenstandes  hervorgegangen. 

Aber  wenn  so  die  Pelasger  aus  der  Zahl  der  griechischen 
Stämme  verschwanden,  so  blieb  doch  die  Erinnerung  lebendig, 
dass  die  Vorfahren  der  Bauern,  welche  jetzt  für  ihre  thessa- 
lischen  Herren  die  reichste  Pjbene  Griechenlands  pflügten,  das 
älteste  Volk  Thessaliens  gewesen  seien.  Ihren  Ahnen,  den 
Pelasgos,  hatte  die  schwarze  Erde  geboren,  damit  ein  Ge- 
schlecht sterblicher  Menschen  vorhanden  sei,  und  seine  Nach- 
kommen hatten  als  mächtige  Könige  in  Larisa  geboten,  bis  sie 
dem  neuen  Volk  der  Hellenen  erlagen. 

In  dieser  Gestalt  haben  die  Dichter  die  Sage  übernommen. 
Alles,  was  weiter  von  den  Pelasgern  erzählt  wird,  ist  das  Er- 
gebniss  eines  langen  literarischen  Processes.  Hesiod  versetzte 
den  Pelasgos  nach  Arkadien,  weil  auch  die  Arkader  für  die 
ältesten  Menschen  galten,  und  machte  ihn  zum  Vater  des  Ly- 
kaon.  Der  Dichter  der  Danaiden  übertrug,  wie  das  wohl  schon 
in  seiner  Zeit  nicht  selten  geschah,  den  Namen  des  pelas- 
gischen  Argos  auf  die  peloponnesische  Stadt,  und  erfand  für 
diese  einen  König  Pelasgos  den  Sohn  Palaichthons.  Heka- 
taeos  deutete  den  Namen  Pelargikon,  den  die  athenische  Burg- 
mauer trug,  als  „Pelasgermauer"  und  Hess  die  Pelasger  nach 
Athen  kommen  und  von  hier  wieder  nach  Lemnos  und  Imbros 
verjagt  werden,  deren  tyrsenische  Bevölkerung  er  für  Pelasger 
erklärte.  Wahrscheinlich  schon  der  Schiffskatalog  und  jeden- 
falls die  Späteren  versetzten  die  Pelasger  von  Larisa,  welche 
die  Patroklie  auf  Seiten  der  Troer  fechten  Hess,   nach  Klein- 


Frage  garnichts  zu  thun;  sie  ist  auch  von  den  Alten  nicht  in  die  Pelasger- 
frage  hineingezogen  worden. 

Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  8 


114 

asien,  und  nun  suchte  man  hier  ihre  Spuren  an  der  äolischen 
Küste,  auf  Lesbos  und  bei  Kyzikos.  Die  Verbindung  des  Pe- 
lasg'ernamens  mit  Dodona  gab  Veranlassung,  auch  in  Epirus 
Pelasger  hausen  zu  lassen.  So  ist  es  gekommen,  dass  der 
Pelasgername  tiberall  in  der  griechischen  Welt  zu  finden  war. 

Und  nun  kam  die  Zeit  der  beginnenden  Geschichtsforschung. 
Dieselbe  ist  daraus  hervorgegangen,  dass  die  Ueberlieferung 
über  die  Urzeit  und  die  Anfänge  der  einzelnen  Gemeinwesen, 
wie  sie  das  Epos  bot,  den  fortgeschrittenen  Anschauungen  nach 
keiner  Richtung  mehr  genügte.  Man  ergriff  mit  Eifer  die  Auf- 
gabe, durch  rationalistische  Kritik  und  methodische  Combinatiou 
den  wirklichen  Verlauf  der  Dinge  zu  ermitteln  und  die  „Wahr- 
heit" an  die  Stelle  der  Lügen  und  der  lächerlichen  Erfindungen 
der  Dichter  zu  setzen.1)  Unter  den  Problemen,  die  hier  vor- 
lagen, hat  von  Anfang  an  die  Frage  nach  der  Nationalität  der 
ältesten  Bevölkerung  Griechenlands  und  dem  Ursprung  des 
Hellenenthums  einen  wichtigen  Platz  eingenommen,  und  im 
Rahmen  derselben  ist  auch  die  Pelasgerfrage  nach  allen  Seiten 
eingehend  discutirt  worden.  Hellenen  sind  die  Nachkommen 
des  Hellen;  vor  Hellen  dem  Sohne  Deukalions  kann  es  mithin 
keine  Hellenen  gegeben  haben;  was  sind  dann  also  die  Volks- 
stämme und  Herrscherhäuser  gewesen,  welche  in  Arkadien,  in 
Argos,  in  Attika  u.  s.  w.  vor  Hellen  existirten?  Da  bot  sich, 
wo  nicht  die  Ueberlieferung  von  fremden  Einwanderern  sprach, 
wie  bei  Danaos,  Kadmos,  Pelops,  oder  wo  nicht  ein  coneurri- 
render  Name  vorhanden  war,  wie  der  der  Leleger,  der  Pe- 
lasgername von  selbst.  Dass  die  älteste  Bevölkerung  Griechen- 
lands aus  Pelasgern  bestanden  hat,  ist  ein  im  fünften  Jahr- 
hundert allgemein  anerkannter  Satz. 

Welcher  Nationalität  waren  die  Pelasger V  Hekataeos 
hat  den  einfachen  und  bündigen  Schluss  gezogen:  da  sie 
keine  Hellenen  waren,  so  waren  sie  Barbaren.  „Den  Pelo- 
ponnes  haben  vor  den  Hellenen  Barbaren  bewohnt"  sagt  er 
(Strabo  VII  7,  1  'Exaraloc  fiev  ovv  o  Milrjöioz  jtzqI  zijq  11t- 
Xojtovv?]öov    gnjölv   öiori   jiqo    tcov    EXXtjveor   mutrfiav   avrrjv 


1)  ^Exazcüog  MiX^oioC  coöe  /uv9sizai'  vdös  ypä<pa)  wq  jiot  aXrjS'ia 
öoxtsi  slvcu.  oi  yaQ  ''Elfa'iviov  Xoyoi  noXXoi  ze  xai  yt/.oioi,  tog  tftol  (pai- 
vovzai,  tioir.  Das  ist  die  Grundstimiming  der  gesamuiten  Logographie 
bis  auf  Herodot  und  Hellanikos. 


115 

ßctQßaQoi),  den  Haupttheil  der  vordorischen  Bevölkerung  des 
Peloponnes  bildeten  aber  die  Pelasger  (vgl.  Herod.  II 171),  die 
somit  nach  Hekataeos  Barbaren  gewesen  sind. 

Auch  dem  Aeschylos  sind  die  Pelasger  die  älteste  Bevöl- 
kerung Griechenlands.  Zur  Zeit  des  Königs  Pelasgos  gab  es 
ja  all  die  zahlreichen  Stämme  der  späteren  Zeit  noch  nicht,  da 
die  Geschichte  der  einzelnen  Landschaften  überall  erst  beträcht- 
lich später  beginnt.  Ungetheilt  gebietet  er  über  das  ganze 
Land  bis  an  den  Strymon  und  nach  Perrhaebien  und  über  den 
Pindos  hinaus  bis  zu  den  dodonäischen  Bergen;  die  Bewohner 
heissen  nach  ihm  Pelasger.  Auch  das  ist  durchaus  rationa- 
listisch, obwohl  das  Epos  die  Dinge  schon  ebenso  aufgefasst 
haben  wird.  Der  Eponymos  ist  seinem  Begriff  nach  der  Ahn- 
herr seines  Volkes,  dies  also  kann  zu  seiner  Zeit  noch  nicht 
existirt  haben;  aber  sobald  man  sich  die  Dinge  anschaulich 
machen  will,  setzt  sich  der  Stammvater  in  einen  Herrscher 
des  nach  ihm  benannten  Volkes  um.  Adam  und  seinen  Nach- 
kommen ist  es  bekanntlich  ganz  ähnlich  gegangen. 

Die  weitere  Consequenz,  dass  die  Pelasger  Barbaren  seien, 
hat  Aeschylos  nicht  gezogen.  Pelasgos  selbst  nennt  mit  argem 
Anachronismus  sein  Land  Hellas,  die  Danaiden  einen  „un- 
hellenischen, mit  barbarischen  Gewändern  bekleideten  Haufen" 
(Suppl.  234  ff.).  .Offenbar  widersprach  es  der  griechischen  Volks- 
anschauung durchaus,  dass  die  Bewohner  Griechenlands,  die 
eigenen  Ahnen,  Nichtgriechen  gewesen  sollten;  Herodot  sagt 
uns  ausdrücklich,  dass  die  Pelasger  [speciell  die  Erbauer  des 
Pelasgikon]  für  Hellenen  gehalten  würden,  und  erklärt  das 
dadurch,  dass  sie  unter  Hellenen  wohnten  (II  51  o&sv  jizq  xal 
"EllrjVtq  rjQ^avro  vofiiö&ijvai  [ol  risZaöyoi]). 

Herodot  dagegen  verfährt  in  der  Pelasgerfrage  consequent 
wie  immer.  Ihm  sind  die  Dorer  die  einzigen  reinen  Hellenen 
—  völlig  correct,  denn  einzig  bei  ihnen  gibt  es  keinen  Stamm- 
baum, der  über  Doros  den  Sohn  des  Hellen  hinaufragte.  Bei 
allen  anderen  griechischen  Stämmen  finden  wir  dagegen  vor- 
hellenische Ahnherren,  wie  etwa  Inachos  und  Phoroneus  in 
Argos,  Pelasgos  und  Lykaon  in  Arkadien,  Kranaos,  Kekrops, 
Erechtheus  in  Athen  u.  s.  w.  All  diese  Stämme  sind  daher  ur- 
sprünglich Pelasger  gewesen,  und  ausdrücklich  werden  die 
Athener  (I  50.  VIII  44)  und  die  Ionier  im  allgemeinen  (VII 94.  95), 

8* 


116 

die  Aeoler  Kleinasiens  (VII  95),  die  Arkader  (I  146,  vgl.  II  171), 
ferner  die  Bewohner  Dodonas  (II  52.  56)  *)  als  Pelasger  bezeich- 
net, ebenso  wie  die  Frauen  von  Argos  zur  Zeit  des  Danaos 
Pelasgerinnen  waren  (II  171).  Also  ganz  Griechenland,  mit  ge- 
ringen Ausnahmen,  war  ursprünglich  Pelasgerland  (II  56  Trjg 
vvv  ^Elladoq,  jiqotsqov  de  nslaöyiqq  xaXsvfiev?jg  T7Jg  avrrjq 
ravrrjg.  VIII  44  A&?]valoi  tm  fihv  FLeXadycov  tyovzoov  rr)v  vvv 
EXXaöa  xaZevfitVTjv  rjöav  IJsXaoyoi ,  ovofia^ofitvoi  Kgavaoi). 
Als  dann  Hellens  Söhne  zu  den  einzelnen  Stämmen  kamen, 
wurden  dieselben  in  Hellenen  umgewandelt,  so  speciell  die 
Athener  und  die  übrigen  Ionier  durch  Ion  (VII  94.  VIII  44. 
vgl.  II  57  und  I  57).  Das  hellenische  Volk  ist  aus  kleinem  An- 
fang zu  einer  grossen  Menge  von  Stämmen  erwachsen,  weil  die 
Pelasger2)  und  zahlreiche  andere  barbarische  Stämme  in  das- 
selbe aufgingen,  während  die  Pelasger  als  Barbaren  nie  sehr 
angewachsen  sind  (I  58). 

Die  Nationalität  der  Pelasger  sucht  Herodot  durch  eine 
Schlussfolgerung  zu  bestimmen,  die  früher  bereits  besprochen 
ist.  Da  die  jetzt  noch  vorhandenen  Reste  der  Pelasger  [in 
Wirklichkeit  der  Tyrsener]  in  Cortona,  Plakia  und  Skylake  die 
gleiche  barbarische  Sprache  reden,  so  haben,  wenn  man  sich 
auf  diese  als  Beweis  berufen  darf,  die  Pelasger  eine  barbarische 
Sprache  gesprochen.  Der  Schluss  ist  unanfechtbar,  aber  die 
Prämisse,  dass  die  Tyrsener  Pelasger  sind,  ist  falsch,  wie  wir 
gesehen  haben.  Der  Ausdruck  zeigt  denn  auch,  wie  grosse 
Bedenken  Herodot  bei  seinem  Resultat  hat;  er  wird  dadurch  zu 
der  abenteuerlichen  Annahme  gezwungen,  dass  grosse  Stämme, 
wie  Arkader  und  Ionier,  ihre  Sprache  umgelernt  haben  (I  57): 
„wenn  wirklich  alle  Pelasger  eine  barbarische  Sprache  ge- 
sprochen haben,  so  hat  das  attische  Volk,  da  es  ein  pelasgisches 
ist,  bei  der  Umwandlung  in  Hellenen  auch  die  Sprache  umge- 
lernt". Zugleich  sehen  wir  aus  Herodots  Worten,  wie  viel  über 
diese  Dinge  zu  seiner  Zeit  discutirt  worden  ist.3) 

1)  Dass  Herodot  auch  die  Lelegerstadt  Antandros  zu  einer  pelas- 
gischen  macht  (VII  42),  weil  für  ihn  Leleger  nur  ein  alter  Name  der  Karer 
sind  (I  171),  ward  schon  erwähnt, 

2)  Nach  Sauppe's  Conjectur  {nskaayiöi'  für  noXXiüv  der  Hdschrr.). 

3)  Gewiss  haben  auch  Akusilaos  und  Pherekydes  und  ebenso  jeder 
der  Horographen,  wo  ihnen  die  Pelasger  in  den  Weg  kamen,  darüber  ge- 
redet; doch  wissen  wir  von  ihren  Ansichten  nichts  genaueres. 


117 

Waren  die  Pelasger  die  älteste  Bevölkerung  Griechenlands, 
so  mussten  bei  ihnen  die  primitivsten  Zustände  geherrscht 
haben,  so  mussten  andererseits  auf  sie  die  Anfänge  der  Cultur 
zurückgehen.  „Die  Pelasger  beteten  früher  beim  Opfer  zu  den 
Göttern,1)  aber  hatten  noch  für  keinen  von  ihnen  einen  Namen, 
denn  sie  hatten  dieselben  noch  nicht  gehört",  hat  man  dem 
Herodot  in  Dodona  erzählt  (II  52).  Herodot  meint  —  so  wenig 
weiss  er  von  der  ägyptischen  Sprache  —  sie  hätten  die  Namen 
der  meisten  Götter  von  den  Aegyptern  (vgl.  II  171),  den  des 
Poseidon  von  den  Libyern  gelernt,  einige  andere  (wie  Dioskuren, 
Hera,  Histia  etc.  II  50)  selbst  hinzugefügt,  von  den  Pelasgern 
hätten  sie  die  Griechen  übernommen.  Es  macht  einen  selt- 
samen Eindruck,  dass  neuere  Gelehrte  diese  und  ähnliche 
Dinge2)  ganz  ernsthaft  als  uralte  Tradition  behandelt  und  in 
demselben  Stil  und  zum  Theil  in  noch  kindlicherer  Weise 
weiter  ausgesponnen  haben.  Alles  was  in  den  neueren  Werken 
von  pelasgischer  Einfachheit,  pelasgischen  Götterdiensten,  pe- 
lasgischer  Cultur,  pelasgischen  Mauern  (einer  aus  dem  Pelar- 
gikon  herausgesponnenen  modernen  Erfindung  0 )  zu  lesen  ist, 
trägt  diesen  Charakter,  und  es  verlohnt  sich  wirklich  nicht, 
sich  auch  nur  einen  Augenblick  dabei  aufzuhalten. 

Nach  Herodot  kam  Hellanikos.  Er  hatte  sich  zur  Auf- 
gabe gestellt,  die  gewaltige  Masse  der  Nachrichten,  welche 
die  Ueberlieferung  über  die  Urgeschichte  Griechenlands  bot, 
zu  einer  wohlgeordneten  und  in  sich  zusammenhängenden  Ge- 
schichte zu  verarbeiten  und  den  Verlauf  derselben  bis  in  die 
Gegenwart  hinabzuführen.  Die  Stammbäume  des  Phoroneus 
und  des  Deukalion,  die  attische  Königsliste,  vor  allem  aber 
das  Verzeichniss  der  argivischen  Herapriesterinnen  mit  ihren 
Jahrzahlen  boten  ihm  den  Faden,   auf  den   die  einzelnen  Be- 


1)  Daran  knüpft  Herodot  seine  Etymologie  von  Ütoi  (ozi  x6o/j.oj 
&tvztq  xa  nävxa  7i(jr}y/naTa  xal  ndaag  vofxag  elxov),  die  er  den  Pelasgern 
zuschreibt,  indem  er  dabei  vergisst,  dass  dieselben  nach  seiner  Ansicht 
eine  barbarische  Sprache  redeten. 

2)  Dazu  gehört,  dass  die  Pelasger  von  den  Phönikern  die  Schrift 
übernommen  haben  (Diod.  III  BT);  sie  haben  sie  dann  weiter  nach  Latium 
gebracht  (Plin.  VII  193). 

3)  Die  Alten  wissen  nur  von  kyklopischen  und  von  tyrsenischen 
Mauern,  welche  letzteren  aus  dem  Worte  tvqgiq  herausetyinologisirt  sind 
(Dion.  Hai.  I  26.  schol.  Lykophr.  717). 


118 

gebenheiten  nach  kritischer  (d.  h.  rationalistischer)  Sichtung 
aufgereiht  wurden.  Er  hat  seine  Aufgabe,  wenn  wir  uns  ein- 
mal auf  den  Standpunkt  seiner  Zeit  stellen,  nicht  ohne  grosses 
Geschick  durchgeführt.  Freilich  gehörte  dazu  vor  allem  eine 
für  unseren  Geschmack  entsetzliche  Nüchternheit,  bei  der  alle 
Poesie  aus  den  alten  Erzählungen  systematisch  ausgetrieben 
wurde.1)  Jedes  Wunder  wurde  sorgfältig  gestrichen,  die  alten 
Heroen  und  Eponymen  wurden  zu  langweiligen  Königen,  die 
sich  benahmen  wie  die  Machthaber  der  Gegenwart,  nur  natür- 
lich ein  gut  Theil  kindischer.  Wo  Widersprüche  vorlagen,  wo 
das  System  nicht  stimmte,  musste  oft  energisch  eingegriffen 
werden;  durch  Statuirung  mehrerer  gleichnamiger  Persönlich- 
keiten, durch  Combinirung  neuer  Stammbäume,  durch  gründ- 
liche Umwandlung  alter  Erzählungen  hat  Hellanikos  sich  ge- 
holfen. Mit  Unrecht  hat  man  ihm  in  neuerer  Zeit  daraus  einen 
Vorwurf  gemacht;  wie  konnte  er  anders  handeln?  Aber  das 
ist  richtig,  dass  alle  Nachrichten,  die  durch  ihn  hindurch 
gegangen  sind,  —  und  das  ist  weit  mehr  als  die  Fragmente 
lehren  oder  als  sich  in  jedem  einzelnen  Falle  mit  Sicherheit 
beweisen  lässt  —  für  uns  aufs  ärgste  entstellt  sind.  Besässen 
wir  nur  seine  Darstellung,  so  würden  wir  dem  griechischen 
Mythus  ungefähr  ebenso  rathlos  gegenüberstehen  wie  dem 
hebräischen,  wenn  uns  hier  nur  die  Bücher  der  Chronik  er- 
halten wären. 

Aber  durch  seine  nüchterne  Gelehrsamkeit  hat  Hellanikos 
einen  ausserordentlichen  Erfolg  erzielt.  Sein  Werk  entsprach 
so  recht  den  Bedürfnissen  der  Zeit  und  brachte  die  Forschung 
auf  diesem  Gebiet  in  allem  wesentlichen  zum  Abschluss.  An 
sein  chronologisches  System  hat  Thukydides  angeknüpft,  und 
die  Wirkung  desselben  reicht  bis  in  die  mythologischen  Wand- 
tafeln der  Kaiserzeit.  Auf  die  Auffassung  der  Späteren  von 
der  Mythenzeit  hat  Hellanikos  direct  und  indirect  mindestens 
den  gleichen  Einfluss  geübt,  wie  Ephoros  für  die  historische 
Zeit.  Auch  wo  man  von  ihm  abwich,  basirte  man  auf  seinen 
Annahmen. 

Hellanikos  ist  nun  auch  in  der  Pelasgergeschichte  für  die 


1)  Man  vgl.  z.B.  die  Geschichte  von   den   drei  Sühnen  des  Triopas 
oben  S.  97. 


119 

Späteren  massgebend  gewesen.  Sie  sind  ihm  wie  dem  Herodot 
ein  von  den  Hellenen  völlig  gesondertes  Volk.  Seine  Heimath 
ist  der  Peloponnes,  wo  der  Pelasgername  nach  ihm  zuerst  in 
Argos  entsteht.  Von  hier  wandern  sie,  als  aus  der  Verschmel- 
zung der  Urbevölkerung  mit  den  Aegyptern  die  neue  Nation 
der  Danaer  hervorgeht,  unter  Pelasgos  IL  nach  Thessalien  und 
gründen  ein  mächtiges  Reich.  Dasselbe  wird  durch  Deukalion 
und  die  Hellenen  zersprengt,  und  nun  zerstreuen  sich  die  Pe- 
lasger  in  alle  Winde.1)  Der  Haupttheil  aber  geht  nach  Italien 
hinüber;  aus  ihm  geht  die  tyrsenische  (etruskische)  Nation 
hervor.  „Unter  König  Nanas  wurden  die  Pelasger  von  den 
Hellenen  verjagt,  Hessen  am  Flusse  Spines  am  ionischen  Meer- 
busen ihre  Schiffe  zurück  und  nahmen  die  Stadt  Kroton  (Cor- 
tona)  im  Binnenlande.  Von  hier  aus  haben  sie  das  jetzt  Tyr- 
senien  (Etrurien)  benannte  Land  besiedelt"  (Hellanikos  bei 
Dion.  Hai.  I  28).  Dass  diese  Erzählung  nicht  unabhängig  ist 
von  Herodots  Angabe  „die  Pelasger,  welche  oberhalb  der  Tyr- 
sener  die  Stadt  Kroton  bewohnen  und  ehemals  Nachbarn  der 
Dorer  waren  —  damals  aber  bewohnten  sie  das  Land,  das 
jetzt  Thessaliotis  heisst"  (I  57),  liegt  auf  der  Hand,  und  ebenso 
dass  Herodot  auch  hier  älter  ist  als  Hellanikos.  Dieser  macht 
alle  Etrusker,  nicht  blos  die  von  Cortona,  zu  Pelasgern,  wäh- 
rend Herodot  die  Pelasger  von  den  aus  Lydien  abgeleiteten 
Etruskern  scharf  sonderte.  Hätte  Herodot  die  Ansicht  des 
Hellanikos  gekannt,  so  müsste  er  nothwendig  gegen  dieselbe 
poleniisiren.-)  Hellanikos  ist  derjenige,  welcher  zuerst  aus  der 
Identificirung  der  attisch -lemnischen  Tyrsener  mit  den  Pelas- 
gern die  Consequenz  gezogen  und  die  Etrusker  insgesammt  für 
Pelasger  erklärt  hat.  Durch  ihn  sind  die  Pelasger  in  die  ita- 
lische Ethnographie  eingeführt  worden  —  denn  die  zahme 
Ansetzung  von  Pelasgern  in  Cortona  bei  Herodot,  die  noch  dazu 
von   den   Späteren   aus   seinem   Text   herauscorrigirt  ist,  will 


1)  Im  einzelnen  hat  Hellanikos  dies  gewiss  in  ganz  analoger  Weise 
ausgeführt  wie  die  Späteren.  So  kommen  die  Pelasger  nach  Athen,  Kreta, 
Kleinasien  u.  s.  w. 

2)  Die  meines  Wissens  zuerst  von  Wilamowitz  erkannte  Thatsache, 
dass  Hellanikos  jünger  ist  als  Herodot,  bestätigt  sich  immer  aufs  neue. 
Von  dem  historischen  System  des  Hellanikos  findet  sich  bei  Herodot 
ebenso  wenig  eine  Spur  wie  von  seiner  Zeitrechnung. 


120 

nicht  viel  besagen.  Wie  die  Pelasger  in  Italien  weiter  ge- 
wuchert haben,  das  im  einzelnen  zu  verfolgen  wird  man  mir 
hoffentlich  erlassen1);  irgend  ein  besonderes  Resultat  (ausser 
für  die  Geschichte  der  späteren  Historiographie)  ist  ja  dabei 
nicht  zu  gewinnen.  Nur  das  sei  noch  erwähnt,  dass  um  die- 
selbe Zeit  die  Pelasger  auch  von  anderer  Seite  nach  Italien 
eingeführt  sind:  Pherekydes  hat  (ob  im  Anschluss  an  einen 
Vorgänger,  wissen  wir  nicht)  unter  Lykaons  Söhne  den  Oino- 
tros  und  den  Peuketios  aufgenommen  und  sie  nach  Unteritalien 
auswandern  lassen  (Dion.  Hai.  I  13),  und  so  sind  auch  Oenotrer 
und  Peuketier  zu  Pelasgern  geworden.2) 

Dass  Hellanikos  die  Pelasger  als  Barbaren  betrachtete  so 
gut  wie  Herodot,  ist  unzweifelhaft.  Dagegen  ist  Thukydides 
zu  der  von  Aeschylos  vertretenen  Ansicht  zurückgekehrt.  Seine 
tiefdringende  geschichtliche  Auffassung  offenbart  sich  auch 
darin,  dass  er  Bevölkerung  und  Namen  zu  trennen  weiss:  „Die 
Geschichte  lehrt,  dass  vor  dem  troischen  Krieg  Hellas  kein 
gemeinsames  Unternehmen  ausgeführt  hat;  ja  selbst  dieser 
Name,  so  meine  ich,  umfasste  damals  noch  nicht  die  Gesammt- 
heit,  sondern  vor  Hellen  dem  Sohne  Deukalions  existirte  diese 
Bezeichnung  überhaupt  noch  nicht,  vielmehr  hiessen  sie  nach 
Stämmen  und  vor  allem  war  der  Pelasgername  weit  verbreitet; 
als  aber  Hellen  und  seine  Söhne  in  Phthiotis  zu  Macht  gelangt 
waren  und  man  sie  um  bestimmter  Vortheile  willen  in  die 
übrigen  Gemeinden  herbeirief,  da  gewann  durch  die  Berührung 
mit  denselben  bei  den  einzelnen  Gemeinden  der  Hellenenname 
immer  mehr  die  Ueberhand.  Und  doch  dauerte  es  noch  lange, 
bis  er  bei  allen  herrschend  wurde.  Das  beweist  vor  allem 
Homer"  u.  s.  w.  (I  3).  Thukydides  glaubt  also  wie  Herodot  — 
und  wie   konnte   er   anders  den  Zeugnissen  des  Epos  und  der 

1)  Ich  will  nur  noch  erwähnen,  dass  nach  einer  Version  bei  Plutarch 
Rom.  1  die  Pelasger  auch  die  Gründer  Roms  sind. 

2)  Den  Oinotros  kennt  auch  Pausan.  VIII  3,  5.  Vgl.  Plin.  III  7 1  ager 
Lucanus  Bruttiusque  . . .  tenuerunt  eum  Pelasgi,  Oenotri,  Itali,  Morgetes, 
Siculi  etc.  Antiochos  von  Syrakus  (bei  Dion.  Hai.  I  1 2)  kannte  diese  Com- 
bination  offenbar  noch  nicht.  An  dieselbe  schliesst  die  Angabe  bei  Steph. 
Byz.  s.  v.  Xiog,  dass  bei  den  Italioten  (d.  h.  den  unteritalischen  Griechen) 
die  Pelasger  (d.  h.  die  einheimische  oenotrische  Bevölkerung)  eine  die- 
nende Stellung  eingenommen  hätten,  wie  die  Heloten  bei  den  Sparta- 
nern u.  s.  w.  —  eine  Notiz,  auf  die  Niebuhr  so  kühne  Schlüsse  gebaut  hat, 


121 

Stammbäume  gegenüber  — ,  dass  der  Pelasgername  in  Griechen- 
land weithin  verbreitet  war;  aber  sie  sind  ihm  von  den  Hel- 
enen nicht  verschieden,  nur  den  Namen  hat  die  Bevölkerung 
gewechselt. 

Damit  ist  die  Geschichte  der  Pelasgerfrage  eigentlich  be- 
endigt; denn  zwischen  den  Ansichten  des  Herodot  und  Hella- 
nikos  auf  der  einen,  des  Aeschylos  und  Thukydides  auf  der 
anderen  Seite  haben  alle  späteren  Forscher  alter  und  neuer 
Zeit  hin-  und  hergeschwankt,  so  viel  sie  auch  das  Detail 
modificirt  haben.    Nur  Ephoros  erfordert  noch  ein  kurzes  Wort. 

Zwar  nicht  die  historische  Darstellung,  aber  die  historische 
Kritik  hat  in  Thukydides  einen  Höhepunkt  erreicht,  zu  dem  sie 
im  Alterthum  nie  wieder  und  auch  in  neuerer  Zeit  seit  Nie- 
buhe, der  die  Geschichtsforschung  wieder  auf  Thukydides' 
Standpunkt  zurückgeführt  hat,  nur  bei  ganz  vereinzelten  For- 
schern gelangt  ist.1)  Die  grosse  Erkenntniss,  dass  sich  auf 
mündliche  Ueb erlief erungen  und  epische  Erzählungen  eine  ge- 
schichtliche Darstellung  schlechterdings  nicht  aufbauen  lässt 
und  dass  uns  einzig  übrig  bleibt,  unter  Verzicht  auf  die  Er- 
mittelung des  Einzelherganges  ein  allgemeines  Bild  der  Ent- 
wickelung  und  namentlich  ihrer  culturgeschichtlichen  Seite  zu 
gewinnen,  diese  Erkenntniss  steht  dem  Thukydides  völlig  fest. 
Wäre  er  ein  Gelehrter  gewesen  wie  Hellanikos,  hätte  er  seine 
ganze  Kraft  der  Erforschung  der  Vergangenheit  zugewendet, 
so  würde  er  auch  im  einzelnen  vielfach  die  Ergebnisse  der 
modernen  Kritik  vorweg  genommen  haben.  Sn  entnimmt  er 
das  äussere  Gerippe  der  Hergänge  dem  Hellanikos  und  anderen 

1)  Dass  wir  durch  die  angestrengte  Arbeit  Vieler  bei  den  einzelnen 
Resultaten  oft  weiter  gelangt  sind  als  Thukydides  oder  Niebuhr  oder 
Ottfried  Müller,  ist  kein  Wunder.  Aber  wer  glaubt  Thukydides  über- 
legen zu  sein,  weil  er  gelernt  hat,  dass  die  naive  Art  der  Sagenbehand- 
lung, wie  sie  z.  B.  I  9  enthält,  nicht  haltbar  ist,  oder  weil  er  auf  homerische 
Zeugnisse  (si  rw  \xavbg  rfx/urjfjiwaai  setzt  Th.  hinzu)  weniger  Gewicht 
legt  oder  wenigstens  sich  einbildet  weniger  Gewicht  zu  legen  als  Th.,  der 
zeigt  nur,  wie  wenig  er  Thukydides  zu  verstehen  und  zu  würdigen  im 
Stande  ist.  In  der  That  finden  sich  in  den  ersten  zwanzig  Kapiteln  des 
ersten  Buches  bereits  alle  die  Grundsätze  und  Methoden  angewendet,  nach 
denen  wir  verfahren  oder  wenigstens  zu  verfahren  suchen  —  wobei  wir 
uns  im  einzelnen  dem  Banne  der  Ueberlieferung  oft  genug  ebenso  wenig 
entziehen  können  wie  Thukydides. 


122 

Vorgängern  und  gibt  aus  sich  selbst  heraus  nur  eine  kurze 
Skizze  des  allgemeinen  Herganges  der  Entwicklung,  die  für 
alle  Zeiten  ihrem  Inhalt  nach  —  formell  ist  Thukydides  hier 
wie  so  vielfach  der  Sache  nicht  völlig  Herr  geworden,  weil 
er  keine  dem  Stoff  entsprechende  Form  gefunden  hat,  um  das, 
was  er  auf  dem  Herzen  hat,  im  Rahmen  seines  Werkes  zu 
sagen ')  —  zu  den  grossartigsten  Schöpfungen  der  Geschichts- 
schreibung gehört. 

Thukydides  hat  keinen  Nachfolger  gefunden,  der  seine 
Gesichtspunkte  sich  anzueignen  fähig  gewesen  wäre.  Aber  die 
von  ihm  so  scharf  betonte  Unzuverlässigkeit  der  älteren  Ueber- 
lieferung  empfand  man  doch  allgemein  und  stellte  auch  ganz 
richtige  kritische  Grundsätze  auf  (Ephoros  fr.  2.  3).  Nur  ver- 
suchte man  garnicht,  dieselben  auf  den  einzelnen  Fall  anzu- 
wenden, worauf  doch  bei  historischer  Forschung  alles  ankommt, 
sondern  begann  sofort,  aus  den  willkührlich  und  rationalistisch 
zurechtgemodelten  und  unkritisch  mit  einander  combinirten 
Bestandtheilen  der  Ueberlieferung  einen  Neubau  aufzuführen, 
der  den  späteren  Generationen  sehr  imponirt  hat,  für  uns  aber 
völlig  unbrauchbar  ist.2)  Freilich  liess  sich  diese  Methode  nur  auf 
die  der  authentisch  überlieferten  Geschichte  zunächst  liegende 
eigentlich  historische  Zeit  anwenden.  Ephoros  hat  dieselbe 
von  der  dorischen  Wanderung,  mit  der  die  zu  seiner  Zeit  be- 
stehende Gestaltung  der  Dinge  beginnt,  Eratosthenes  und  die  ihm 
folgen,  vom  troischen  Kriege  datirt.   In  der  Kaiserzeit  ist  sogar 

1)  Jeder  neuere  und  jeder  spätere  antike  Schriftsteller  würde  das 
Werk  mit  einer  kurzen  Skizze  der  älteren  Entwickelung  begonnen  haben, 
von  den  Perserkriegen  an  ausführlicher  geworden  sein  und  so  den  Ueber- 
gang  zu  den  Ursachen  des  peloponnesischen  Krieges  gefunden  haben. 
Aber  Thukydides  fühlt  sich  verpflichtet  gleich  mit  seinem  Gegenstand  zu 
beginnen;  und  so  findet  er  für  das,  was  er  über  die  ältere  Geschichte  zu 
sagen  hat,  nur  Raum,  indem  er  es  zu  dem  Nachweis  benutzt,  die  alten 
Kriege  seien  von  kleineren  Dimensionen  gewesen  als  der  peloponnesische. 
In  Wirklichkeit  ist  das  nur  ein  Vorwand,  und  zwar  ein  recht  ungeschickter; 
denn  er  bietet  doch  nur  für  einen  kleinen  Theil  des  Inhalts  der  ersten 
zwanzig  Kapitel  die  Motivirung  und  führt  zu  einer  wenig  glücklichen  Dis- 
position des  Materials.  In  gleicher  Weise  erklärt  es  sich,  dass  die  Pente- 
kontaetie  als  Episode  nach  den  kerkyräischen  und  potidäatischen  Händeln 
eingelegt  ist.     Ganz  ebenso  ist  auch  V  26  zu  beurtheilen. 

2)  Neuere  Gelehrte  sind  vielfach  ganz  ebenso  verfahren.  Typisch 
für  diese  Art  sind  z.  B.  Curtius  und  Lange. 


123 

eine  Richtung  aufgekommen,  welche  als  Vorgängerin  Grote's 
den  Beginn  der  historischen  Zeit  bis  auf  die  erste  Olympiade 
hinabrückte.  Was  über  den  jedesmaligen  Ausgangspunkt  hin- 
auslag, also  den  Haupttheil  dessen,  was  Hellanikos  so  ein- 
gehend verarbeitet  hatte,  gab  man  Preis,  an  die  Stelle  der 
von  Thukydides  geforderten  Kritik  trat  wie  gewöhnlich  eine 
unfruchtbare  Skepsis. 

Diesem  Standpunkt  entspricht  es,  dass  für  Ephoros  die 
Pelasgerfrage  geringe  Bedeutung  hat;  sie  liegt  jenseits  seines 
Ausgangspunktes,  und  wenn  er  auch  auf  die  Dinge  vor  der 
dorischen  Wanderung  in  Excursen  vielfach  eingegangen  ist,  so 
hat  er  doch  auf  eine  zusammenhängende  einheitliche  Darstellung 
derselben  verzichtet.  Daher  hat  er  denn  auch  von  den  Pelas- 
gern  nur  kurz  gehandelt.  Im  allgemeinen  schliesst  er  sich  an 
Hellanikos  an.  Ihre  Heimath  ist  ihm  der  Peloponnes,  aller- 
dings nicht  Argos,  sondern  auf  Grund  des  hesiodeischen  Zeug- 
nisses Arkadien;  aber  auch  die  ganze  Halbinsel  hiess  Pelasgia. 
Sie  waren  ein  kriegerisches  Volk  und  haben  grosse  Züge  unter- 
nommen und  dadurch  ihr  Ansehen  und  ihren  Namen  weithin 
verbreitet,  nach  Kreta,  Thessalien,  Dodona.  Viele  halten  auch 
die  epirotischen  Stämme  für  Pelasger,  und  geben  einer  ganzen 
Anzahl  von  Heroen  den  Namen  Pelasgos,  nach  denen  viele 
Stämme  den  Namen  Pelasger  erhalten  haben  (jioZZoi  öh  xcd 
ta  HjceigcQTixa  e&vij  lltXaöyixa  uQqxaoiv  .  .  .  UtXaöyovg  zt 
jroXZovg  xcd  xchv  riQcucov  övoy.a  xaXtoavTtg,  oi  voxtQOV  dji 
ixziviQv  jioXXä  rcöv  iihvcov  tjzcovvfta  jttjtoirjxaöi),  so  die  Be- 
wohner von  Lesbos  und  die  kleinasiatischen  Pelasger  (Strabo 
V  2,  4;  vgl.  oben  S.  35,  1).  Was  Ephoros  von  den  Pelasgern  in 
Boeotien  und  Attika  berichtete,  ward  schon  erwähnt;  an  der 
Zersprengung  in  Thessalien  durch  die  Hellenen  wird  auch  er 
festgehalten  haben.  Leider  wissen  wir  nicht,  wie  er  über  das 
Verhältniss  der  Pelasger  zu  den  Etruskern  dachte,  und  ebenso 
wenig  ob  er  die  Pelasger  wie  Strabo  für  Barbaren  oder  für 
einen  griechischen  Stamm  gehalten  hat. 

Die  Ansichten  der  Späteren  aufzuzählen  ist  zwecklos;  wir 
müssten  dann  an  Dionys  von  Halikarnass  und  Strabo  gleich  die 
modernen  Hypothesen  anschliessen.  Sie  alle  gehen  davon  aus, 
dass  sie  die  Angaben  des  Aeschylos,  des  Herodot,  des  Thuky- 
dides als  authentische  Ueberlieferung  betrachten  und  dieselben 


124 

acceptiren,  verwerfen  oder  so  lange  hin-  und  herzerren,  bis 
etwas  herauskommt,  was  zu  dem  jeweiligen  System  passt,  dass 
sie  die  wirren  Nachrichten  über  die  Pelasger,  welche  die  alte 
Literatur  anfüllen,  zusammentragen  und  bald  so  bald  so  com- 
biniren,  dass  sie  aus  allgemeinen  Erwägungen,  aus  Etymo- 
logien, religiösen  und  ethnographischen  Hypothesen  neues  Ma- 
terial hinzuzugewinnen  suchen.  Es  war  die  Hauptaufgabe 
unserer  Untersuchung,  zu  zeigen,  dass  alle  diese  Versuche, 
mögen  sie  noch  so  geistreich  sein,  methodisch  falsch  sind,  dass 
ihre  ganze  Grundlage  unbrauchbar  ist.  Aeschylos  und  Herodot, 
Hellanikos  und  Thukydides  wussten  über  die  Pelasger  nicht 
mehr  als  wir.  Wir  kennen,  von  Kleinigkeiten  abgesehen,  das 
gesammte  Material,  das  ihnen  zur  Beurtheilung  der  Pelasger- 
frage  zur  Verfügung  stand.  Ihre  Ansichten,  weit  entfernt  da- 
von, Ueberlieferung  zu  sein,  sind  Hypothesen,  Lösungsversuche 
des  Problems,  die  genau  so  viel  oder  so  wenig  werth  sind  wie 
die  Hypothesen  moderner  Forscher.  Zu  ermitteln,  welches 
Material  ihnen  vorlag,  und  dieses  auf  seinen  Werth  zu  prüfen, 
ist  die  Aufgabe,  die  eine  wirklich  brauchbare  Untersuchung 
über  die  Pelasger  zu  lösen  hat.  Ob  die  Resultate  stichhaltig 
sind,  zu  denen  uns  diese  Untersuchung  geführt  hat,  müssen 
andere  prüfen.  Aber  das  darf  gefordert  werden,  dass  man 
denselben  Weg  einschlage,  den  wir  gegangen  sind,  dass  man 
an  die  wahren  Quellen  herangehe  und  uns  nicht  Herodot  oder 
Aeschylos  als  Autorität  vorhalte,  wo  es  sich  um  Homer  und 
Hesiod  handelt.  Ethnologische,  historische,  philologische  Di- 
lettanten werden  auch  in  Zukunft  ebenso  viele  wilde  Com- 
binationen  über  die  Pelasger  vortragen  wie  bisher;  sollte  aber 
die  Hoffnung  zu  kühn  sein,  dass  für  den  engen  Kreis  wissen- 
schaftlicher Forscher  die  Pelasgerfrage  eine  einfache  Gestalt 
angenommen  hat,  ja  dass  in  Zukunft  dies  Problem,  welches 
länger  als  zwei  Jahrtausende  hindurch  die  wissenschaftliche 
Welt  gequält  hat,  als  ein  Phantom  anerkannt  wird? 


Die  Herkunft  der  Iouier  und  die  Ionsage. 


Die  Herkunft  der  Ionier  und  die  Ionsasre.1 


Jlis  gibt  wohl  wenige  Schriftsteller,  deren  Erklärung-  so 
vielen  Missverständnissen  ausgesetzt  ist,  wie  Herodot.  Nicht 
dass  seine  Darstellung  formell  oder  inhaltlich  grössere  Schwie- 
rigkeiten böte;  aber  es  wird  dem  modernen  Leser  schwer,  sich 
in  eine  Auffassungs weise  und  in  einen  sprachlichen  Ausdruck 
hineinzuleben,  die  noch  nicht  unter  dem  Einfluss  der  modernen 
Denkweise  und  der  ausgebildeten  Kunstsprache  stehen,  welche 
die  Sophisten  geschaffen  haben.  Eine  Fülle  von  seltsamen 
Irrthüinern  pflanzt  sich  aus  einem  Werk  ins  andere  fort,  ohne 
dass  die  gelegentlichen  Widerlegungen  sie  zu  beseitigen  ver- 
mögen. Dass  Herodot  den  Pythagoras  ^Kll^vcov  ov  xov  aafte- 
vioxaxov  öocpioT?)}'  nennt  (IV  95),  soll  eine  Geringschätzung 
des  Pythagoras  ausdrücken,  während  man  schon  aus  I,  29,  wo 
Herodot  die  sieben  Weisen  und  unter  ihnen  den  Solon  als 
6o<pi6ral  bezeichnet,  hätte  lernen  können,  dass  ihm  öotpiorrfg 
nichts  anderes  ist  als  oorpöc.  Nannten  sich  doch  die  Vertreter 
der   „Erkenntniss"    im   fünften   Jahrhundert   selbst   so.-)     Erst 


1)  Zuerst  gedruckt  in  Philologus  N.  F.  II  1889,  208  ff.,  unter  dem  Titel 
„Herodot  über  die  Ionier". 

2)  Sehr  bezeichnend  ist  der  Wandel,  den  der  Begriff  der  oorpla  vom 
sechsten  Jahrhundert  zum  fünften  durchgemacht  hat.  Im  sechsten  Jahr- 
hundert fasste  der  Volksmund  diejenigen  Staatsmänner  (ein  einsichtsvoller 
Staatsmann  war  nach  Herod.  I  170  auch  Thaies,  trotz  der  Anekdoten  bei 
Plato  und  Aristoteles),  welche  sich  durch  Einsicht  vor  allen  andern  aus- 
zeichneten, unter  dem  Namen  der  sieben  ooyoi  zusammen;  im  fünften, 
dem  Zeitalter  der  Sophistik,  wurde  der  Begriff  der  ootpia.  auf  die  theore- 
tische Erkenntniss  beschränkt  und  so  ist  es  gekommen,  dass  die  alten 
Staatsmänner,  wie  Pittakos,  Bias,  Thaies,  in  weltflüchtige  Forscher  umge- 
wandelt wurden  (Plato,  Hippias  maior  281). 


128 

die  Sokratiker  haben  den  Ausdruck  in  Misseredit  gebracht: 
sie  rühmten  sich  eben  nicht  mehr,  im  Besitze  der  Erkenntniss 
zu  sein,  sondern  nur,  nach  ihr  zu  streben.  Ebenso  hat  man 
darin  eine  Geringschätzung  gesehen,  dass  Herodot  den  Heka- 
taeos  ständig  loyonoiöq  nennt,  weil  dies  Wort  oder  das  damit 
identische  loyoyQtxcpoq  in  späterer  Zeit  im  Gegensatz  zum 
eigentlichen  Historiker  gebraucht  worden  ist.  Aber  zu  Hero- 
dots  Zeit  ist  es  der  ganz  correcte,  allgemein  übliche  Ausdruck 
für  jeden,  der  Xoyovg  noiü,  auch  für  Aesop  (TI  134).  Herodot 
hat  sich  zweifellos  selbst  so  genannt,  wie  denn  Thukydides 
(II  21  loyoyQacpoi)  und  Ktesias  (Phot.  cod.  72  init.  Zoyojzoi6c)]) 
ihn  so  nennen.  Und  welchen  Missbrauch  hat  man  mit  dem 
Worte  Xoyog  bei  Herodot  getrieben.  Namentlich  von  quellen- 
kritischer Seite  aus  hat  man  ihm  willkührlich  eine  engbegrenzte 
Bedeutung  aufzuzwingen  gesucht,  während  es  nie  etwas  anderes 
heisst  als  „Erzählung"  -),  wobei  genau  wie  bei  dem  deutschen 
Wort  je  nach  Umständen  der  Gedanke  an  den  Inhalt  der  Erzäh- 
lung, die  Ueberlieferung,  oder  an  die  Form,  die  Darstellung,  mehr 
in  den  Vordergrund  tritt.  Ein  anderes  Missverständniss  ist, 
dass  Herodot  durch  die  Bemerkung,  Thaies  sei  seiner  Abstam- 
mung nach  ein  Phöniker  (ävtxaftsr  ytvoc  ta>v  <Poivi^  I  170). 
diesen  habe  herabsetzen  wollen.  Dann  müsste  er  auch  mit  der 
Behauptung,  dass  die  dorischen  Könige  ägyptischen  Ursprungs 
seien  (VI  53  ff.),  den  Herakliden  einen  Hieb  versetzen.  In  Wirk- 
lichkeit haben  wir  es  nur  mit  Folgerungen  zu  thun,  die  jeder- 
mann aus  den  Stammbäumen  ziehen  musste  und  gezogen  hat. 
Die  Herakliden  sind  Aegypter,  weil  Danaos  aus  Aegypten  kam. 
Thaies  ist  phönikischen  Ursprungs,  weil  er  einem  der  kad- 
meischen  Adelsgeschlechter  entstammte,  die  bei  der  Besiede- 
lung  Ioniens  nach  Kleinasien  ausgewandert  waren  (Her.  I  14G; 
Thaies  war  ein  Thelide,  deren  kadmeischen  Ursprung  auch 
Diog.  Laert.  I  22  bezeugt).4)  Die  Angabe  ist  mithin  grade  um- 
gekehrt eine  Anerkennung  der  adligen  Abstammung  des  Thaies. 


1)  Photios  meint  allerdings,  der  Ausdruck  enthalte  einen  Tadel;  das 
ist  aber  offenbar  nur  ein  Missverständniss. 

2)  An  die  Ungeheuerlichkeit,   dass  Sayce  bei  Herodot  I  1.  II  3  und 
sonst  Xöyioq  durch  Prosaiker  übersetzt,  sei  hier  nur  kurz  erinnert. 

3)  Neuerdings   hat  Diels   Archiv  f.  Gesch.  der  Philosophie  II  165 ff. 
den  Thatbestand  richtig  klar  gelegt.     Auch  darin  hat  er  Recht,   dass  der 


129 

Ein  analoges  Missverständniss  ist  es,  wenn  man  aus  Herod. 
I  143  ganz  allgemein  gefolgert  hat,  es  habe  im  fünften  Jahr- 
hundert für  eine  Schande  gegolten,  ein  Ionier  zu  sein.  Bechtel 
meint  sogar,  Herodot  nenne  Halikarnass  eine  dorische  Stadt, 
während  man  in  ihr  doch  nach  Ausweis  der  Inschriften  ionisch 
sprach,,1)  weil  er  nicht  Gefahr  laufen  wollte,  als  Ionier  zu  gelten, 
da  er  I  143  schreibt:  xal  vvv  <paivovxai  /toi  ol  jtoXXol  avxwv 
[xojv  Iojvcov]  lüiaioyyviodai  xcö  ovo /tan.2)  Aber  ist  es  nicht 
ein  geradezu  ungeheuerlicher  Gedanke,  dass  im  fünften  Jahr- 
hundert die  Ionier  sich  ihres  Namens  geschämt  hätten,  in  einer 
Zeit,  wo  das  Ionierthum  auf  allen  Gebieten  die  Führerschaft  in 
der  griechischen  Welt  behauptete  und  sich  zum  entscheidenden 
Kampf  gegen  die  Dorer  anschickte?  Haben  denn  die  Athener 
sich  der  Abstammung  von  Ion  geschämt?  Haben  sie  nicht 
vielmehr  bei  jeder  Gelegenheit  ihr  Ionierthum  betont?  Es  ist 
wirklich  unnöthig,  weitere  Worte  darüber  zu  verlieren.  Im 
vierten  Jahrhundert,  nach  dem  Siege  Spartas,  könnte  man  ein 
derartiges  Urtheil  allenfalls  begreifen,  doch  in  der  Zeit  findet 
sich  davon  keine  Spur.  Aber  bei  Herodot,  dem  Parteigänger 
Athens,  müsste  man  geradezu  einen  Anfall  von  Geistesabwesen- 
heit annehmen,  wenn  die  Stelle  wirklich  das  enthielte,  was 
man  sie  besagen  lässt. 

Das  besagt  sie  denn  auch  in  keiner  Weise.  Herodot  be- 
richtet „die  übrigen  Ionier  und  [besonders]  die  Athener  haben 

Nanie  von  Thaies'  Vater,  Exaniyes,  karisch  ist.  Dagegen  sucht  auch  er 
noch  in  Herodots  Angabe  viel  zu  viel,  wenn  er  nieint,  die  Zeitgenossen 
und  Herodot  hätten  in  Thaies'  Lehren  einen  Einfluss  der  orientalischen 
Cultur  erkannt,  und  deshalb  um  so  eher  an  seine  phönikische  Abstammung 
geglaubt.  —  Die  weitere  Angabe  des  Diog.  Laert.  £7tokiioyQa(prjd-i]  öh  ev 
Mtfa'izo),  oze  rjkd-8  övv  Netltoj  txTisoövzt  4>olvixi]q,  die  Diels  nicht  er- 
klären kann,  muss  in  der  Quelle  folgendermassen  gelautet  haben:  „Thaies' 
Geschlecht  stammte  von  einem  Ahnherrn,  der  mit  Kadmos  Phoenikien 
verlassen  hatte;  ein  Nachkomme  desselben  nahm  mit  Neileus,  dem  Oekisten 
Milets,  an  der  ionischen  Wanderung  Theil  und  gewann  so  das  milesische 
Bürgerrecht1'.  Die  weitere  Angabe  wq  6'  ol  nXeiovq  (paoiv,  i&ayevrjq  Mi- 
h'jOioq  r)v  xal  yivovg  Xa/jiTcpov  ist  völlig  correct,  steht  aber  nicht  etwa  mit 
der  kadmeischen  Abstammung  in  Widerspruch,  wie  Diogenes  meint. 

1 )  In  Wirklichkeit  ist  der  Grund  einfach  der,  dass  Halikarnass  trotz 
seiner  ionischen  Sprache  doch  keine  Ionierstadt  war. 

2)  Die  Inschriften  des  ionischen  Dialekts  (Abh.  Gott.  Ges.  der  W. 
XXXIV  1887)  S.  140. 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  9 


130 

den  Namen  vermieden  (ßgyvyov)  und  wollen  nicht  Ionier  ge- 
nannt sein,  sondern  auch  jetzt  noch  scheinen  mir  die  meisten 
von  ihnen  sich  des  Namens  zu  schämen;1)  die  zwölf  Städte 
aber,  von  denen  ich  rede,  waren  stolz  auf  den  Namen  und 
gründeten  sich  ein  eigenes  Heiligthum,  das  sie  Panionion 
nannten,  und  beschlossen  an  ihm  keinem  von  den  anderen 
Ioniern  Theilnahme  zu  gewähren  (auch  hat  ausser  den  Smyr- 
naeern  Niemand  darum  gebeten);  ähnlieh  wie  die  [asiatischen] 
Dorer  u.  s.  w.  .  .  .  Zwölf  Städte  aber  haben  die  Ionier  meiner 
Meinung  nach  angelegt  und  mehr  nicht  aufnehmen  wollen,  weil 
sie  auch ,  als  sie  im  Peloponnes  wohnten ,  in  zwölf  Theile  zer- 
fielen. .  .  .  Deshalb  haben  die  Ionier  zwölf  Städte  angelegt. 
Denn  zu  behaupten,  dass  sie  mehr  Ionier  seien  als  die  übrigen 
Ionier  oder  etwas  besseres  seien,  wäre  grosse  Thorheit.  Denn 
unter  ihnen  bilden  Abanten  aus  Euboea  nicht  den  geringsten 
Bestandtheil,  die  mit  Ionien  nicht  einmal  dem  Namen  nach 
etwas  zu  thun  haben,  und  Minyer  aus  Orchomenos  sind  unter 
sie  gemischt  und  Kadmeer  und  Dryoper  und  versprengte  Phoker 
und  Molosser  und  arkadische  Pelasger  und  Dorer  von  Epidauros 
und  viele  andere  Stämme  sind  unter  sie  gemiscbt;  und  die 
unter  ihnen,  die  vom  Prytaneion  in  Athen  gekommen  sind  und 
sich  für  die  ächtesten  (y errat orarot)  der  Ionier  halten,  diese 
haben  ihre  Frauen  in  die  Ansiedlang  nicht  mitgenommen  son- 
dern sich  karische  Weiber  genommen.  . .  .  Und  sie  haben  sich 
Könige  gesetzt,  die  einen  Lykier,  die  von  Glaukos  dem  Sohne 
des  Hippolochos  abstammen,  die  anderen  Kaukonen  aus  Pylos 
von  Kodros,  Melanthos'  Sohn,  einige  auch  beide  zusammen. 
Aber  da  sie  nun  einmal  an  dem  Namen  mehr  festhalten  als 
die  anderen  Ionier,  so  mögen  sie  meinetwegen  auch  die  reinen 
Ionier  (ol  xafraQcug  ytyororfg  "icorec)  sein.  Es  sind  aber  Ionier 
alle  die,  wTelche  aus  Athen  stammen  und  das  Apaturienfest 
feiern,  und  das  thun  alle  ausser  den  Ephesiern  und  Kolopho- 
niern,  die  allein  von  den  Ioniern  die  Apaturien  nicht  feiern, 
und  zwar  um  eines  Mordes  willen." 

Das  Problem,  welches  Herodot  zu  lösen  sucht,  ist  folgen- 
des.   „Ionier  sind  die  Nachkommen  Ions"  (Arist.  metaph.  IV  28). 

1)  Besser  noch  würde  der  Sinn  von  (paivovtai  fiot  i-naioyvri  ottcu 
wiedergegeben  durch  die  Uebersetznng  „benehmen  sich  die  meisten,  als 
ob  sie  sich  des  Namens  schämten". 


131 

In  erster  Linie  müssten  mithin  die  Athener  sieh  Ionier  nennen, 
bei  denen  Ion  lebte  (und  die  denn  auch  nach  der  theoretischen 
Geschichtsconstruction  in  der  Urzeit  einmal  diesen  Namen  ge- 
führt haben  Her.  VIII  44  u.  s.  w.)  und  von  denen  die  übrigen 
Ionier  ausgegangen  sind.  In  Wirklichkeit  aber  erkennen  sie 
und  ebenso  die  Inselbewohner  wohl  an,  dass  sie  zu  den  loniern 
gehören,  aber  als  Ethnika  führen  sie  ganz  andere  Namen: 
Niemand  bezeichnet  im  gewöhnlichen  Leben  einen  Mann  aus 
Athen  als  Ionier.  Dagegen  bei  den  Colonisten  in  Kleinasien 
ist  dieser  Name  lebendig,  ihr  Land  heisst  Ionien;  und  doch 
sind  gerade  unter  ihnen  zahlreiche  Geschlechter  (wie  z.  B.  das 
des  Thaies),  die  ihren  Stammbaum  nicht  auf  Ion  und  Athen 
zurückführen,  sondern  auf  ganz  andere,  nicht  ionische  Stämme. 
Und  nicht  einmal  die,  welche  von  Vaterseite  her  wirkliche 
Ionier  sind,  haben  reines  Blut.  Wie  kommt  es  also,  dass  gerade 
hier  der  Ioniername  so  fest  haftet,  während  die  anderen,  die 
so  viel  besseren  Anspruch  darauf  haben,  ihn  nicht  führen? 

Herodot  weiss  keine  andere  Antwort  darauf  zu  geben,  als 
dass  die  Athener  und  die  Uebrigen  den  Namen  aus  irgend 
einer  Idiosynkrasie  verschmähen,1)  dass  sie  sich  seiner  schämen, 
während  die  Ionier  der  zwölf  Städte  ihn  fast  widerrechtlich 
usurpirt  haben.  Selbst  in  der  Gegenwart,  wo  durch  den  Auf- 
schwung Athens  der  ionische  Stamm  zu  so  grossem  Ansehen 
gelangt  ist  und  der  Ioniername  weit  öfter  genannt  wird  als 
früher  (wo  z.  B.  die  kleinasiatischen  Aeoler  im  officiellen  Sprach- 
gebrauch Athens  von  ihm  völlig  mitverschlungen  werden),  will 
er  doch  ausserhalb  Ioniens  nicht  recht  Wurzel  schlagen:  „aber 
auch  jetzt  noch  —  im  Gegensatz  zu  der  Zeit  des  Kyros,  von 
der  eben  vorher  die  Rede  war,  und  von  der  Herodot  sagt, 
dass  „damals,  in  einer  Zeit  allgemeiner  Schwäche  des  Hellenen- 
thums,  die  Ionier  unter  allen  Hellenen  die  schwächsten  gewesen 
seien,  da  es  ausser  Athen  keine  ionische  Stadt  von  (politischer) 
Bedeutung   gab"   —   schämen   sich   offenbar   die   meisten   von 


l)  Daher  meint  Herodot  auch  V  69,  Kleisthenes  habe  in  Athen  die 
vier  nach  Ion's  Sühnen  benannten  Phylen  abgeschafft  und  die  zehn  neuen 
Phylen  eingeführt  „aus  Abneigung  gegen  die  Ionier,  damit  Athener  und 
Ionier  nicht  dieselben  Phylen  hätten"  (öoxteiv  ifiol  xal  ovzog  [mit  Rück- 
sicht auf  I  143]  vTiFQiöiov  "Iajvccq,  ha  ßt/  acpioi  al  avzal  smai  (pvXal 
xal  "Iioai). 

9* 


132 

ihnen  des  Namens"  (aXXa  xal  rvv  tpaipovTcti  poi  ol  jtoXXol 
avrcQP  tjtcuöxvvto&ai  rm  ovvofiaxi)  —  natürlich,  denn  die 
Athener  heissen  nach  wie  vor  Athener,  nicht  Ionier.  Man  sieht, 
der  Satz  besagt  genau  das  Gegentheil  von  dem,  was  man  all- 
gemein aus  ihm  herausliest. 

Herodot  konnte  eine  andere  Lösung  nicht  geben;  er  steht 
im  Banne  der  genealogischen  Ueberlieferung,  die  für  ihn,  wenn 
man  die  Wundergeschichten  herausstreicht  oder  vielmehr  rich- 
tig, d.  h.  rationalistisch,  deutet,  unverbrüchliche  Wahrheit  ist. 
Wir  werden  uns  seiner  Erklärung  nicht  anschliessen.  Aber  das 
Problem  existirt  in  der  That:  es  ist  die  Frage  nach  dem  Ur- 
sprung des  Ioniernamens  und  des  Ionierthums.  Es  zeugt  für 
den  historischen  Sinn  Herodots,  dass  er  es  aufgeworfen  hat. 

Unsere  Antwort  wird  genau  umgekehrt  ausfallen  müssen, 
wie  die  Herodots.  Der  Ioniername  ist  da  aufgekommen,  wo 
er  zu  allen  Zeiten  allein  lebendig  gewesen  ist,  in  Ionien.1)  Vor 
der  Besiedelung  der  lydiscken  und  karischen  Küsten  durch  die 
Griechen  hat  es  auch  keine  Ionier  gegeben.  Die  „ionische 
Wanderung"  beruht  auf  dem  Vordringen  der  mittelgriechischen 
Bevölkerung  über  das  ägäische  Meer.  Einzelne  grosse  Be- 
wegungen mögen  dazu  den  Anstoss  gegeben,  mögen  die  ersten 
und  wichtigsten  Ansiedelungen  veranlasst  haben;  aber  in  der 
Hauptsache  hat  sich  die  Bewegung  gewiss  ebenso  allmählich 
und  gleichmässig  fortschreitend  vollzogen,  wie  etwa  die  Be- 
setzung Unteritaliens  durch  die  Achaeer  oder  Neuenglands 
durch  die  Engländer.  Die  überschüssige  Bevölkerung,  für 
welche  die  enge  Heimath  nicht  ausreichte,  suchte  sich  einen 
Abfluss  und  eine  neue  Heimath.  Daher  ist  es  gewiss  richtig, 
wenn  Attika  als  der  Ausgangspunkt  der  ionischen  Colonien 
gilt2)  (wie  Boeotien  und  Thessalien  als  der  der  äolischen), 
aber  nicht  in  dem  Sinne  als  seien  nun  alle  oder  auch  nur  die 
Mehrzahl  der  Auswanderer  hier  heimisch  gewesen.  Von  den 
Angaben   Herodots    über    die  nicht   attischen   Elemente  unter 


1)  Dieselbe  Ansicht  hat  auch  v.  Wilamowitz  Hermes  XXI  108  aus- 
gesprochen: „Ionisch  und  Aeolisch  sind  erst  Producte  der  Völkerwan- 
derung". 

2)  Daher  sind  die  Namen  der  Phylen  die  gleichen  in  Attika,  Milet, 
TeOS  und  vermuthlich  auch  in  anderen  ionischen  Städten,  daher  ist  das 
Apaturienfest  fast  allen  gemeinsam  u.  s.  w. 


133 

den  Ioniern  oder  vielmehr  von  den  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
Stammbäumen  der  ionischen  Adelsfamilien  mag  man  so  wenig- 
halten wie  man  will:  dass  an  der  Bildung  der  Ionier  die  ver- 
schiedenartigsten Elemente  Theil  genommen  haben,  ist  nicht 
zu  bezweifeln.  In  der  neuen  Heimath  sind  sie  zu  einer  Ein- 
heit verschmolzen,  und  dem  neuerstandenen  Volksstamm  ent- 
spricht der  neue  Name.  Die  Frage  nach  dem  Wohnsitz  der 
Ionier  vor  der  Wanderung  ist  gegenstandslos1):  vorher  hat  es 
eben  in  dem  Sinne,  in  welchem  wir  den  Namen  allein  kennen, 
keine  Ionier  gegeben. 

Auch  der  ionische  Dialekt  ist  erst  in  Ionien  entstanden; 
denn  die  Heimath  eines  Lautwandels  (in  diesem  Fall  die  Um- 
wandlung des  ä  in  offenes  e  und  der  Verlust  des  vom)  ist  da 
zu  suchen,  wo  derselbe  am  stärksten  und  consequentesten  auf- 
tritt. Von  Ionien  hat  sich  die  Spracherscheinung  auf  die  Inseln 
und  schwächer  und  durch  Gegenströmungen  gehemmt  nach 
Attika  verbreitet.  Dies  ganze  Gebiet,  das  Mittelstück  des 
ägäischen  Meeres,  bildete  sprachlich,  commerciell,  culturell 
eine  eng  zusammengehörige  Gruppe,  deren  Einheit  in  der 
grossen  Messe  von  Delos  ihren  deutlichsten  Ausdruck  fand. 
Das  leitende  Element  waren  die  Ionier.  So  ist  es  begreiflich 
genug,  dass  ihr  Name  auf  den  ganzen  Kreis  ausgedehnt  ward; 
ist  er  doch  bei  den  Asiaten  der  Name  für  alle  Hellenen  ge- 
worden. Die  genealogische  Poesie  ordnet  daher  alle  Gemein- 
den dieses  Kreises  dem  Ion  dem  Enkel  des  Hellen  unter,  be- 
trachtet sie  alle  als  seine  Nachkommen.  Wenn,  was  ja  recht 
wahrscheinlich  ist,  der  Hellenenstammbaum  in  Ionien  entstan- 
den ist,  so  war  eine  derartige  Auffassung  garnicht  zu  vermei- 
den. Auf  dem  Stammbaum  aber  beruht  es  in  erster  Linie, 
dass  die  Athener  und  die  übrigen  Ionier  der  populären  An- 
schauung als  Ionier  gelten.  Aber  die  „reinen"  oder  „ächten" 
Ionier  sind  darum  doch  immer  die  kleinasiatischen  geblieben, 
wenn  auch,  wer  wie  Herodot  an  die  Genealogie  glaubte,  ihren 
Anspruch  folgerecht  bestreiten  musste. 


1)  Damit  soll  natürlich  nicht  bestritten  werden,  dass  schon  vorher 
irgendwo  ein  Stamm  existirt  haben  mag,  der  sich  Ionier  nannte  und  nun 
dem  neuen  Volk  den  Namen  gab;  nur  wissen  wir  davon  nichts. 


134 

Ein  Angriff,  den  Ernst  Cuktius  im  Hermes  XXV  S.  141  ff. 
(,.wie  die  Athener  Ionier  wurden")  gegen  vorstehenden  Aufsatz 
gerichtet  hat,  nöthigt  mich  zu  einigen  Worten  der  Erwiderung.1) 
Curtjus  vertheidigt  seine  bekannte  Hypothese,  Ionien  sei  die 
Heimath  der  Ionier,  Attika  sei  erst  im  Lauf  der  Geschichte 
durch  Zuwanderung  von  Osten  ionisch  geworden.  Gegen  die 
einzelnen  Beweise,  die  er  hierfür  vorbringt,  hätte  ich  mancher- 
lei einzuwenden;  aber  gesetzt  sie  seien  alle  richtig  und  zwin- 
gend, die  aufgestellte  Behauptung  sei  erwiesen  —  was  folgt 
daraus  für  die  Heimath  der  Ionier?  Dass  in  den  Jahrhunderten, 
in  denen  der  Erbadel  herrschte,  in  denen  der  Pontus  und  Italien 
besiedelt  wurden,  in  der  Blüthezeit  des  Heldengesangs  und  bis 
ins  sechste  Jahrhundert  hinab  der  Schwerpunkt  der  griechi- 
schen Entwickelung  in  Kleinasien  liegt,  dass  die  Ionier  auf 
allen  Gebieten  die  Führung  haben,  ihre  Cultur,  ihre  Sprache, 
ihre  politische  Entwickelung  massgebend  wird,  das  ist  ja  all- 
bekannt —  was  ist  also  auffallendes  dabei,  wenn  in  dieser 
Zeit  ionische  Geschlechter  und  ionische  Culte  ins  griechische 
Mutterland  hinübergewandert  sind?  Eben  in  dieser  Zeit  hat 
sich  meiner  Meinung  nach  die  ionische  Gruppe  des  Griechen- 
volks zn  einer  (relativen)  Einheit  ausgebildet  im  Gegensatz  zu 
den  Dorern  im  Süden  wie  zu  den  Nordstämmen,  in  dieser  Zeit 
hat  sich  die  Anschauung  entwickelt,  dass  Athener,  Euboeer, 
Inselgriechen  Ionier  seien,  hat  sich  der  Name  der  kleinasia- 
tischen Zwölfstädte  wenigstens  in  der  Theorie  auf  das  ganze 
Gebiet  ausgedehnt.  Aber  ergibt  sich  daraus  irgend  etwas,  was 
über  die  Frage,  wo  die  Bewohner  der  ionischen  Zwölfstädte 
ursprünglich  zu  Hause  waren,  Aufschluss  gäbe? 

Um  zu  beweisen,  dass  die  Ionier  und  überhaupt  alle 
Griechen  in  Kleinasien  über  das  Meer  gekommene  Colonisten 
sind,  dazu  bedarf  es  garnicht  der  Thatsache,  dass  sie  sich  zu 
allen  Zeiten  als  solche  betrachtet  haben,  dass  das  Bewusst- 
sein,  nicht  heimisch  zu  sein  auf  dem  Boden  den  sie  bewohnten, 


1)  Dieselbe  ist  miter  dem  Titel  „Die  Heimatli  der  Ionier,  eine  Re- 
plik" im  Philologus  N.  F.  III  1890,  479  ff.  erschienen.  Da  es  mir  dringend 
nothwendig  erscheint,  dass  über  die  hier  berührten  Fragen,  über  die  meist 
sehr  verschwommene  Anschauungen  herrschen,  völlige  Klarheit  erreicht 
wird,  habe  ich  den  Aufsatz  fast  wörtlich  wieder  abdrucken  lassen  und 
nur  einige  polemische  Wendungen  gestrichen. 


135 

ihnen  immer  in  noch  weit  höherem  Grade  lebendig  gewesen 
ist  als  den  Israeliten  in  Palaestina,1)  dass  sie  ihre  Heimath 
drüben  in  Europa  suchten.  Gesetzt,  dies  Bewusstsein  wäre 
ihnen  im  Laufe  der  Jahrhunderte  abhanden  gekommen  —  frei- 
lich war  das  unmöglich ,  da  sie  mitten  unter  fremden  Völkern, 
Karern,  Lydern,  Teuthranten,  sassen  — ,  so  wäre  darum  doch 
die  Thatsache  nicht  minder  zweifellos  als  die,  dass  die  Griechen 
in  Unteritalien,  die  Phöniker  in  Africa  und  Spanien,  die  Hol- 
länder im  Kapland  übers  Meer  gekommene  Colonisten  sind. 
Eine  Bevölkerung,  welche  auf  einen  schmalen  Küstensaum 
beschränkt  ist  —  und  nicht  einmal  dieser  ist  vollständig  be- 
setzt — ,  dagegen  in  die  weiten  Ebenen  des  Inneren,  die  Thäler 
des  Kaikos,  Hermos,  Kayster,  Maeander,  nirgends 2)  einzudringen 
vermocht  hat,  kann  nicht  im  Lande  heimisch,  sonder  muss  über 
See  gekommen  sein. 

Aber  —  und  das  ist  das  Problem  um  das  es  sich  handelt 
—  Ionier  vor  der  „ionischen  Wanderung"  sind  nirgends  nach- 
weisbar. Das  hat  Cuutius  mit  vollem  Recht  betont,  ebenso 
wie  er  mit  Recht  die  aus  dem  Alterthum  überkommene  An- 
schauung bekämpft,  als  sei  die  Wanderung  über  See  eine  ein- 
malige, plötzlich  sich  vollziehende  grosse  Völkerbewegung.  Er 
folgert  daraus,  dass  die  Ionier  von  Alters  her  da  gesessen 
hätten,  wo  wir  sie  später  finden,  an  der  Küste  Kleinasiens. 
Dem  gegenüber  bin  ich  der  Meinung,  dass  es  Ionier  vor  der 
Besiedelung  Kleinasiens  überhaupt  nicht  gegeben  hat.  Sie  sind 
dadurch  entstanden,  dass  hier  Einwanderer  aus  den  verschie- 
densten Theilen  Griechenlands  zu  einer  neuen  Einheit  ver- 
schmolzen sind,  dass  aus  verschiedenen  Elementen  ein  neues 
Volk  entstanden  ist,  das  dementsprechend  auch  einen  neuen 
Namen  trägt.   Kennten  wir  die  Zustände  der  griechischen  Welt 


1)  Bei  diesen  werden  die  Stammväter  des  Volkes,  Israel,  Jakob, 
Isaak,  (Abraham),  eben  da  wohnend  gedacht,  wo  ihre  Nachkommen  sess- 
haft  sind,  Israels  Söhne  müssen  erst  aus  Kanacan  herausgebracht  werden, 
damit  deren  Nachkommen  das  Land  wieder  erobern  können.  Soweit  sind 
die  Aeoler  und  Ionier  nie  gekommen:  ihre  Ahnen  und  Heroen  sind  im 
europäischen  Mutterlande  zu  Hause.  Eine  interessante  Ausnahme  bilden 
allerdings  die  Tantaliden. 

2)  Abgesehen  von  zwei  vorgeschobenen  und  daher  auch  isolirt  ge- 
bliebenen Posten,  den  beiden  Magnesia.  Unsere  Karten  pflegen  das  von 
Griechen  besetzte  Gebiet  in  Kleinasien  viel  zu  weit  auszudehnen. 


136 

etwa  im  zwölften  oder  fünfzehnten  Jahrhundert  v.  Chr.  —  die 
Zeitangabe  ist  natürlich  ganz  vag  —  so  würden  wir  vielleicht 
sagen  können,  wo  der  Name  herstammt.  Sehr  möglich,  dass 
irgend  ein  Volksstamm,  der  ganz  oder  theilweise  nach  Klein- 
asien hinüberzog,  den  Namen  Iawoner  auch  schon  vorher  ge- 
tragen hat,  in  Boeotien  oder  in  Elis  oder  in  irgend  einer  Ge- 
gend Attikas  oder  Euboeas.1)  Ebenso  möglich  ist  es  aber,  dass 
der  Name  erst  in  Kleinasien  gebildet  ist.  Doch  wenn  auch  die 
erstere  Annahme  erwiesen  wäre,  so  wäre  nicht  viel  damit  ge- 
wonnen; für  die  Geschichte  kommen  nur  die  Ionier  Kleinasiens 
in  Betracht,  und  erst  hier  sind  dieselben  entstanden. 

Diese  Auffassung  glaubt  Curtius  energisch  abweisen  zu 
müssen.  Er  sagt:  „Territorien,  meine  ich,  haben  sich  zu  allen 
Zeiten  in  Folge  von  Kriegen  gebildet,  aber  Volksstämme  sollen 
auf  Anlass  kriegerischer  Begebenheiten  gelegentlich  neu  ent- 
standen sein?  Ich  denke,  sie  sind  das  Volk  selbst  in  seinen 
natürlichen  Zweigen,  die  ursprünglichen,  die  geborenen  Träger 
aller  Volksgeschichte.  Wir  suchen  bei  den  Gothen,  Burgun- 
dern, Franken  soweit  hinauf  wie  möglich  der  geschichtlichen 
Bewegung  nachzuspüren,  aber  ihre  Geburtszeit  zu  bestimmen, 
wer  unternähme  dasV"  (S.  149). 

Mich  hat  die  Untersuchung  der  Entstehung  von  Völkern 
und  Stämmen  überall  das  Gegentheil  gelehrt.  Für  den  Augen- 
blick erscheinen  sie  streng  geschlossen,  so  sehr,  dass  alle  Zu- 
gehörigen sich  als  eine  erweiterte  Familie,  als  Nachkommen 
eines  einzigen  Ahnherrn  betrachten,  auch  wenn  manche  von 
ihnen  sehr  wohl  wissen,  dass  sie  oder  ihre  Vorfahren  anders- 
woher stammen  und  durch  Adoption,  durch  Vertrag,  durch 
anderweitige  die  Unterschiede  allmählich  ausgleichende  Ver- 
mischung  in   die  Volksgemeinschaft   gekommen   sind,   der  sie 


1)  Möglich  ist  es  ja,  dass  die  ItoviadzQ  vv/nyai  bei  Olympia,  an  die 
Wilamowitz  Herakles  I  261  denkt  (vgl.  Töpffbr,  attische  Genealogie 
268  f.),  oder  die  Flüsse  Ion  in  Thessalien  (Strabo  VII  7,  '.))  und  Arkadien 
(Kallimachos  1,  22)  hierhergehören  —  wie  man  den  Aeolernamen  mit  der 
Phokerstadt  Aiofadeig  (Her.  VIII  35)  in  Zusammenhang  bringen  könnte. 
Doch  glaube  ich,  dass  gegen  derartige  Combinationen  die  äusserste  Zu- 
rückhaltung geboten  ist  —  es  handelt  sieh  ja  um  Verhältnisse,  die  viele 
Jahrhunderte  vor  der  historischen  Zeit  liegen,  und  man  weiss,  eine  wie 
grosse  Bolle  der  Zufall  in  solchen  Dingen  spielt. 


137 

jetzt  angehören.')  Aber  der  Forschung  zerrinnen  sie  rückwärts 
wie  vorwärts  unter  den  Händen.  Sobald  wir  nicht  einen  eng- 
begrenzten Zeitraum,  sondern  Jahrhunderte  zusammenfassend 
überblicken,  erscheint  der  Stamm  als  ein  absolut  flüssiges  Ele- 
ment; fortwährend  sondert  er  zugehörige  Bestandtheile  aus, 
zieht  fremde  an  sich  heran,  schliesslich  verschwindet  er  völlig, 
seine  Bestandtheile  verwachsen  mit  anderen  vielleicht  ganz 
fernstehenden  Stämmen  oder  Stammtheilen  zu  einer  neuen  Ein- 
heit, die  für  den  Augenblick  fest  und  dauerhaft  erscheint  wie 
Eis,  um  über  kurz  oder  lang  aufs  neue  zu  zerschellen  oder  zu 
zerschmelzen.  Das  von  Curtius  als  Beweis  für  das  Gegentheil 
angeführte  Beispiel  ist  sehr  unglücklich  gewählt.  Wo  sind 
denn  die  Ingaevonen  und  Istaevonen,  die  Markomannen  und 
Cherusker  zur  Zeit  der  Völkerwanderung,  wo  die  Franken, 
Alamannen,  Sachsen,  Bajuvaren,  Gothen  in  der  Zeit  des  Caesar 
und  TacitusV  Und  wenn  sich  ja  irgendwo  Spuren  von  ihnen 
finden,  so  erscheinen  sie  als  kleine  Volksstämme  ohne  grössere 
Bedeutung,  genau  wie  wir  von  den  Ioniern  angenommen  haben. 
Das  gleiche  lehrt  die  Geschichte  der  kanacanaeischen  und  noch 
mehr  der  arabischen  Stämme  von  den  ältesten  Zeiten  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Dass  es  in  Griechenland  genau  so  gegangen 
ist,  würde  allein  schon  die  Gestalt  der  griechischen  Religion 
beweisen,  auch  wenn  jede  sonstige  Kunde  verloren  wäre.  Erst 
wenn  eine  höhere  Culturentwickelung  eingetreten  und  die 
Lebensform  vollständig  sesshaft  geworden  ist,  wird  das  dauernde 
Moment  der  Stammesbildung  mächtiger  als  das  zersetzende,  und 
so  erhalten  die  Stämme,  welche  ins  volle  Leben  der  Geschichte 
eintreten,  eine  längere  und  festere  Dauer.  Freilich  geht  dabei 
die  ursprüngliche  Bedeutung,  des  eigentliche  Wesen  des  Stamm- 
verbandes zu  Grunde  und  macht  neuen  Lebensformen  Platz. 
Schliesslich  wird  die  Stammesangehörigkeit,  endlich  in  der 
alten  Geschichte  wenigstens  sogar  die  Nationalität  etwas  neben- 


I)  So  sind  alle  Ionier  Nachkommen  Ions,  alle  Aeoler  Nachkommen 
des  Aeolos,  obwohl  ihre  Königs-  nnd  Adelsgeschlechter  keineswegs  auf 
diese  Ahnherren  zurückgehen.  Das  verträgt  sich  für  die  völksthümliche 
Anschauung,  die  nicht  räsonnirt,  sondern  glaubt,  ebenso  gut  mit  einander 
wie  hundert  ähnliche  Widersprüche  z.  B.  auf  religiösem  Gebiete.  Erst 
die  erwachende  Forschung,  die  nothwendig  rationalistisch  ist,  nimmt  hier 
Anstoss. 


138 

sächliches,  ja  gleichgültiges  den  treibenden  Kräften  des  Lebens 
gegenüber.  Und  für  die  Ewigkeit  haben  die  grichischen  Stämme 
auch  in  der  abgeblasstesten  Form  nicht  ausgedauert,  so  wenig 
wie  es  die  deutschen  thun  werden. 

Im  Anschluss  an  diese  allgemeinen  Betrachtungen  muss 
ich  mehrere  Behauptungen  berichtigen,  die  Curtius  aufgestellt 
hat.  S.  151  sagt  er:  „Wenn  der  Verfasser  des  Aufsatzes 
'Herodot  über  die  Ionier'  sich  darüber  wundert,  dass  die  Athener, 
die  so  viel  von  den  Ioniern  empfangen,  sich  dennoch  geschämt 
hätten,  Ionier  zu  heissen  (Her.  1,143),  so  ...".  Es  ist  klar, 
dass  damit  meine  Ansicht  auf  den  Kopf  gestellt  wird.  Nicht 
darüber  wundere  ich  mich,  dass  die  Athener  nicht  Ionier 
heissen  wollen  —  das  finde  ich  vielmehr  durchaus  naturge- 
mäss  — ,  sondern  darüber,  dass  einsichtige  Männer  und  sogar 
Historiker  alles  Ernstes  glauben  können,  der  Ioniername  sei 
im  fünften  Jahrhundert  in  Verruf  gewesen;  und  den  Anstoss, 
den  Herodot  daran  nahm,  dass  Athener  und  Nesioten,  obwohl 
echte  Nachkommen  Ions,  sich  nicht  Ionier  nennen,  und  die  von 
ihm  dafür  gegebene  Erklärung  suche  ich  durch  Darlegung 
seines  Gedankengangs  ins  richtige  Licht  zu  setzen.  •) 

In  derselben  Weise  werden  mehrere  Angaben  Herodots  in 
ihr  Gegentheil  verkehrt.  Curtius  „fühlt  sich  in  seinen  ge- 
schichtlichen Anschauungen  mit  Herodot  in  vollem  Einklänge*' 
(8.  151),  und  interpretirt  daher,  so  unglaublich  das  klingt,  seine 
Hypothese  von  dem  Ursitz  der  Ionier  in  Kleinasien  und  der 
Ionisierung  Attikas  in  den  Herodot  hinein,  obwohl  doch 
gerade  Herodot  ausführlich  auseinander  setzt,  dass  die  Ionier 
ursprünglich  an  der  Nordküste  des  Peloponnes  gewohnt 
hätten  und  von  hier  von  den  Achaeern  -  vertrieben  seien, 
obwohl  Herodot  die  ionische  Wanderung  vom  Prytaneion  in 
Athen  ausgehen  und  im  übrigen  alle  möglichen  Stämme  sich 
mit   ihnen   mischen   lässt   (I  145  ff.  VII  94,   vgl.  auch  VIII  46 


1)  Wie  sehr  das  an  der  Zeit  war,  lehrt  eine  noch  vor  meinem  Aufsatz 
erschienene,  mir  erst  jetzt  zu  Gesicht  gekommene  Arbeit  von  Hauvette, 
Herodote  et  les  Ioniens,  in  der  revue  des  etudes  grecques  I  I8SS  S.  257  ff., 
in  der  der  Nachweis  versucht  wird,  dass  bei  Herodot  durchweg  ein  ionier- 
feindlicher  Standpunct  hervortrete.  Hauvette  glaubt  alles  Ernstes,  im 
fünften  Jahrhundert  sei  jeder  Ionier  erröthet,  wenn  man  ihn  nach  seiner 
Herkunft  gefragt  habe. 


139 

über  die  Besiedelung  der  Kykladen).  Aber  durch  geschickte 
Interpretation  lässt  sich  bekanntlich  manches  Kunststück  fertig 
bringen;  und  wenn  man  vor  einiger  Gewaltsamkeit  nicht  zu- 
rückschreckt, so  wird  sich  ja  wohl  nicht  nur  der  Geist  (das 
was  „Niemand  tiefer  und  persönlicher  empfunden  hat  als  He- 
rodot" und  „was  er  uns  in  seiner  schlichten  Weise  lehrt"), 
sondern  selbst  der  Buchstabe  retten  lassen. 

Bekanntlich  erzählt  Herodot  I  56,  zu  Kroesos'  Zeit  hätten 
„unter  den  Dorern  die  Lakedaemonier,  unter  den  Ioniern  die 
Athener  den  ersten  Hang  eingenommen,  von  denen  letztere  ur- 
sprünglich Pelasger,  erstere  Hellenen  waren,  xal  ro  per  (edvoq) 
ovdafiij  xco  e§excoQ?]Oe,  xo  de  Jiolvjilavrjxov  xaoxa".  Dass  He- 
rodot mit  dem  Volksstamm,  der  nie  seine  Heimath  verlassen 
habe,  nur  die  Athener  meint,  in  schönster  Uebereinstimmung 
mit  Thuk.  I  2,  daran  hat  nie  jemand  gezweifelt  und  kann  nie 
jemand  zweifeln. l)  Denn,  ganz  abgesehen  davon  dass  Herodot 
nachher  nur  von  Athen  spricht  (xo  Axxixbv  yevog  ebv  rhXaoyc- 
xbv  dfia  zt(  tuexaßoX)j  eg  'EXXrjvag  xal  xr\v  yXcööOav  fiexefta&e), 
für  die  Urzeit  sind  ja  nach  der  conventioneilen  Geschichte  die 
Athener  die  einzigen  Repräsentanten  der  Ionier,  und  dass  die 
Athener  später  Colonisten  nach  Ionien  geschickt  haben,  kommt 
für  die  Urzeit  so  wenig  in  Betracht,  wie  die  attischen  Colonien 
auf  Lemnos  und  in  Thurii.  Aber  Curtius  setzt  an  Stelle  der 
Athener  oder  Urionier  die  kleinasiatischen  Ionier  und  bezieht 
den  Satz,  „sie  haben  niemals  ihre  Heimath  verlassen",  auf  diese, 
anf  einen  Volksstamm,  dessen  Wanderungen  Herodot  selbst 
ausführlich  berichtet.  Man  höre:  „Auch  dort,  wo  er  [Herodot] 
das  dorische  und  das  ionische  Völkergeschlecht  (xa  jiQoxexoi- 
jutva   eovxa   xo   agyaiov 2)  I  50)    in  Betreif  der  Wohnungsver- 


1)  [vgl.  VII  161,  wo  die  Athener  sich  dagegen  wehren,  den  Syrakusanern 
die  Hegemonie  zu  überlassen:  ei  üvoaxoaioiöi  iovteg  l-i&tjvalot  ovyycoot'j- 
GOtiev  xrjg  tjysfjioviijQ,  uQyctioxaxov  yikv  'i&vog  nctQtyofitvoi,  fiovvoi  öl 
eovxeg  ov  fiEiaväazai  lEXX^vwv.  Ebenso  Thuk.  I  2  xrjv  yovv  ÄxTtxrjv  ex 
xov  enl  nlüoxov  öia  ib  Xenxoyeajv  daxaaiaoxov  ovoav  av^gcunoi  ojxovv 
oi  avxol  dsl.  II  36  in  Perikles'  Leichenrede:  xtjv  yag  yojQccv  del  oi  avxoi 
oixovvxeq  ötaöoyy  xajv  eniyiyvo/ievojv.  Die  Arkader,  die  den  gleichen 
Ruhm  haben,  hat  Herodot  vergessen,  während  Thuk.  I  2  sie  erwähnt.] 

2)  Diese  Deutung  der  Worte  xavxa  yag  i)v  xa.  nooxoxQifxeva  eövxa 
xo  äQ%aiov  xo  fxiv  UtXaoyixov  xb  öl  lßlXr]vixöv  s&vog  ist  zwar  mehrfach 
vertreten  (so  bei  Baehr),  aber  nicht  richtig,  wie  schon  das  bei  dieser  Auf- 


140 

hältnisse  einander  gegenüberstellt,  hat  er  vollkommen  Recht. 
Denn  das  ionische  Volk  hat  niemals,  wie  die  Dorier,  massen- 
weise seine  Heimath  verlassen  (ovöapfj  xa)  t&xcoQijöe);  Chios 
und  Umgegend ')  ist  immer  ionisches  Land  gewesen  und  ge- 
blieben''. Kann  man  die  Meinung  eines  Schriftstellers  ärger 
verdrehen? 

Nicht  besser  steht  es  mit  dem  was  Herodot  nach  Curtius 
„über  die  Entwicklung  der  Athener  von  den  Kranaern  bis  zu 
den  Ioniern  in  seiner  schlichten  Weise  lehrt"  (S.  151)  und  wor- 
über „wir  an  unserm  Büchertisch  nicht  hinaus  können".  „Die 
Hauptepoche,  heisst  es  S.  147  f.,  bleibt  immer  diejenige,  welche 
Herodot  meint,  wenn  er  uns  sagt,  dass  in  der  älteren  Zeit  nur 
die  Dynastengeschlechter  gewechselt  hätten,  durch  Ion  aber 
die  Athener  ein  anderes  Volk,  d.  h.  Ionier  geworden  seien;  und 
diese  Umänderung,  welche  die  Alten  nach  ihrer  Weise  durch 
einen  neuen  Namen  bezeichneten,  fällt  wesentlich  mit  dem 
Apollodienste  zusammen".  Bei  Herodot  steht  von  dem,  was 
Curtius  ihn  sagen  lässt,  kein  Wort,  Herodot  nennt  Ion  drei 
Mal :  V  6(5,  wo  er  berichtet,  dass  die  vier  alten  attischen  Phylen 
nach  Ions  Söhnen  benannt  sind,  V  94,  wo  er  erzählt,  die  Ionier 
hätten  als  sie  im  späteren  Achaia  wohnten,  „ehe  Danaos  und 
Xuthos2)  nach  dem  Peloponnes  kamen,  nach  hellenischer  Ueber- 
lieferung  Pelasgische  Aigialeer  geheissen,  Im  de  'leoroq  xov 
Aovfrov  "Icove*;".  Die  dritte  Stelle  ist  VIII  44,  und  diese  hat 
Curtius  offenbar  im  Auge.  Sie  lautet  „als  die  Pelasger  das 
jetzt  Hellas  benannte  Land  inne  hatten,  waren  die  Athener 
Pelasger  und  hiessen  Kranaer,  unter  König  Kekrops  wurden 
sie  Kekropiden  genannt  (axXqd-Tjöav) ,  als  dann  Erechtheus  in 
der  Herrschaft  folgte,  wurden  sie  Athener  umgenannt  (fitrcovo- 


fassung  unerträgliche  iovza  beweist.  Es  ist  mit  Bekker,  Stein  u.  a.  zu 
interpungiren  zavza  yaQ  i)v  zec  tiq.  (Sparta  und  Athen  waren  zu  Kroesos' 
Zeit  die  beiden  hervorragenden  griechischen  Staaten;  Herodot  nimmt,  wie 
so  häufig,  den  vorhergehenden  Satz  lozogtiov  öt  evqhjxe  (Kroesos)  Aaxf-d. 
xal  lid-?]valovq  7iQOE%ovza.Q  zovq  /ulv  zor  hooixov  yevovg  zovg  öt  iov 
'Iojvixov  wieder  auf),  eovza  zb  aQxcüov  zb  fxlv  IleX.  etc. 

1)  Warum  gerade  Chios?  Nach  der  Ueberlieferung,  der  doch  Cur- 
tius sonst  mehr  Werth  beimisst  als  wir  Jüngeren,  wohnen  hier  Abanten 
und  Karer  (Ion  von  Chios  bei  Pausan.  VII  4,  8  f.). 

2)  vgl.  oben  S.  85,  3. 


141 

fiaöfrrjOav) ,  und  als  Ion  der  Sohn  des  Xuthos  Heerführer 
(öTQaTaQxrjQ)  der  Athener  wurde,  wurden  sie  nach  ihm  Ionier 
genannt  (exJLi}&?]Gav)".  Also  der  Name  wechselt  je  nach  dem 
Oberhaupt,  die  Einführung  der  Namen  Kekropiden,  Athenaier, 
Ioner  wird  mit  genau  denselben  Worten  berichtet;  aber  nach 
Curtius  erzählt  Herodot,  dass  „in  der  älteren  Zeit  nur  die 
Dynastengeschlechter  gewechselt  hätten,  durch  Ion  aber  die 
Athener  ein  anderes  Volk  geworden  seien". 

Eine  Umwandlung  der  Athener  muss  Herodot  allerdings 
annehmen,  da  sie  nach  ihm  ursprünglich  Pelasger  waren  und 
er  nachweisen  zu  können  glaubt,  dass  die  Pelasger  eine  barba- 
rische Sprache  redeten:  die  Umwandlung  in  Hellenen.  Diese 
muss  stattgefunden  haben,  als  Ion  nach  Athen  kam  (vgl. 
Thuk.  I  3) ,  denn  erst  seit  Hellen  und  seinen  Söhnen  gibt  es 
Hellenen.  Aber  auch  bei  dieser  Umwandlung  verbleiben  die 
Athener  dasselbe  Volk:  „wenn  wirklich  alle  Pelasger  eine  bar- 
barische Sprache  gesprochen  haben,  so  haben  die  Athener,  da 
sie  ein  pelasgisches  Volk  waren,  zugleich  mit  der  Umwandlung 
in  Hellenen  auch  die  Sprache  umgelernt"  (I  57,  vgl.  II  51 
'AfrrjvaLoiöL  yäg  r\6r]  ttjvitcccvtcc  hq'EXh]imq  reZtovöt  etc.).  Man 
sieht,  Herodot  drückt  sich  so  vorsichtig  als  möglich  aus,  und 
was  er  behauptet,  ist  seine  eigene  Hypothese,  die  ihm  selbst 
sehr  bedenklich  vorkommt.  Davon  dass  die  Athener  ein  anderes 
Volk  geworden  seien  und  nun  gar  durch  Zuwanderung  von 
Osten,  wie  Curtius  will,  davon  ist  mit  keiner  Silbe  die  Rede. 
Ion  kommt  von  Phthiotis  [oder  vielmehr  aus  dem  Peloponnes, 
s.  u.],  wird  attischer  Feldhauptmann,  und  gibt  dem  Volke  seinen 
Namen  —  wobei  dasselbe  gleichzeitig,  wenn  Herodots  Hypo- 
these richtig  ist,  seine  Sprache  umlernte.1)  Wer  wie  Thuky- 
dides  (und  Aeschylos)  die  Pelasger  für  Griechen  hielt,  bedurfte 
dieser  Hypothese  nicht,  sondern  hatte  nur  einen  einfachen 
Namenswechsel  zu  statuiren.  # 

Curtius  hat  aus  Herodots  Angaben  über  Ion  noch  weitere 
Folgerungen  gezogen  (S.  143).  Dass  Ion  nicht  König  sondern 
Feldherr  ist,  bedeutet  „die  durch  kriegerische  Ueberlegenheit 
erworbene   Machtstellung"   der    eingewanderten   ionischen  Ge- 


1)  Auf  Curtius'  Ansicht  von  den  Pelasgern,  auf  die  er  S.  147  zu  reden 
kommt,  einzugehen,  wird  mau  mir  wohl  erlassen. 


142 

schlechter,  und  eine  „wohl  begründete  Ueberlieferung  bei  Pau- 
sanias  VII  1,  8U,  dass  man  in  Athen  die  aus  Achaia  flüchtenden 
Ionier  „um  Ions  willen  und  wegen  der  Thaten  die  er  als  atti- 
scher Polemarch  verrichtet  hatte"  aufnahm  —  wie  gut,  dass 
die  „Ueberlieferung"  die  geheimen  Motive  des  Königs  Melanthos 
des  Sohnes  des  Andropompos  bewahrt  hat!  —  muss  dem  als 
Stütze  dienen.1)  In  Wirklichkeit  haben  diese  Angaben  einen 
ganz  anderen,  völlig  durchsichtigen  Grund.  Die  Gestalt  des 
Ion,  des  Eponymos  der  Ionier,  kann  nur  in  Ionien  entstanden 
sein.  Seine  Söhne  sind  die  Stammväter  der  vier  Phylen,  die 
in  Athen,  Milet,  Teos  und  vermuthlich  auch  in  anderen  ionischen 
Städten  die  gleichen  Namen  tragen  —  genau  wie  Israel  der 
Vater  der  Eponymen  der  israelitischen  Stämme  ist. 2)     Dass  der 


1)  Eine  weitere  Stütze  soll  die  Thatsache  bieten,  „dass  der  Amtssitz 
der  attischen  Poleuiarchen  beim  Lykeion,  dem  Heiligthnm  des  Apollon  war" 
(nach  Suidas  s.  v.  üy/ojv).  Dass  dies  nur  dann  von  einiger  Bedeutung 
sein  könnte,  wenn  der  ionische  Ursprung  sowohl  des  Apollon  Lykeios  wie 
des  Polemarchats  in  Athen  anderweitig  erwiesen  wäre,  liegt  auf  der  Hand. 
[Jetzt  wissen  wir  aus  Aristoteles  pol.  Ath.  'S,  dass  das  Amtslokal  Epilykeiön 
hiess.  Die  Ableitung  des  Namens  von  einen  Polemarchen  Epilykos,  der 
es  neu  gebaut  habe,  ist  natürlich  ein  unhistorischer  Autoschediasma].  Da- 
gegen zur  Erklärung  der  weiter  aufgeführten  Thatsache,  dass  den  Pole- 
marchen die  Iurisdiction  über  die  Fremden  zusteht,  brauchen  wir  die  Ionier 
wahrlich  nicht.  Dass  der  Fremde  und  der  Feind  den  gleichen  Beamten 
augehn,  ist  das  einzig  natürliche. 

2)  Wenn  wir  eine  römische  Ueberlieferung  aus  der  Zeit  hätten,  in  der 
der  Geschlechterstaat  noch  lebendig  und  der  Erbadel  der  leitende  Factor 
des  Staats  war,  d.  h.  aus  dem  fünften  Jahrhundert,  so  würde  uns  hier 
zweifellos  Eomulus  (=  Romanus)  als  Vater  der  Eponymen  der  drei  Tribus 
entgegentreten.  Dass  in  der  römischen  Urgeschichte  genealogische  Sagen- 
gestalten fehlen  (abgesehen  von  Roinulus  und  den  von  den  Griechen  über- 
nommenen Figuren  wie  Latinus  u.  a.),  liegt  nicht  wie  man  meint  an  der 
Poesielosigkeit  der  Römer  und  mangelnder  Begabung,  sondern  daran,  dass 
die  römische  Urgeschichte  literarisch  erst  fixirt  ist  in  einer  Zeit,  für  die 
eine  genealogische  Erklärung  des  Ursprungs  der  Staatsgemeinschaft  ebenso 
absurd  gewesen  wäre  wie  etwa  in  unserer  Zeit.  Das  wird  gewöhnlich  ganz 
übersehen.  Nicht  der  Unterschied  der  Begabung  sondern  der  Unterschied 
zweier  ganz  verschiedener  Staatsformen  spiegelt  sich  wieder  in  dem  Unter- 
schied zwischen  den  griechischen  und  den  römischen  Ursprungssagen.  An 
sich  enthalten  die  Aborigines,  die  von  Romulus  zusammengerufenen  Ban- 
diten ,  der  Raub  der  Sabineriunen  u.  s.  w.  ebenso  viel  und  ebenso  wenig 
Poesie  und  Phantasie  wie  Ion  und  seine  Söhne  oder  Pelasgos  und  die 
erdgeborenen  Urahnen,  oder  wie  Jakob  und  Esau.    Beides  sind  naive  Con- 


143 

Ahnherr  des  Volks  ein  Sohn  Apolls  ist  ist  durchaus  natürlich. 
Seine  Mutter  ist  eine  attische  Prinzessin  Kreusa,  die  Tochter 
des  Urkönigs  Erechtheus.  Denn  dass  die  Ionier  aus  Athen 
kamen,  stand  mindestens  dem  7.  Jahrhundert  bereits  fest: 
IL  iV685  ff.  sind  die  'läovcg  tXxsxiTmreQ  die  Athener,  das  Heer 
des  Menestheus, l)  und  dem  entsprechend  finden  wir  0  337  einen 
"Iccöoq  als  (xqxoq  Äd-rjvaimv. 2)  Beide  Stellen  sind  freilich  für 
die  llias  jung,  aber  für  unsere  Untersuchung  recht  alte  Zeug- 
nisse. Sie  genügen  allein  schon  um  die  gegenwärtig  weit  ver- 
breitete Ansicht,  die  Ableitung  der  Ionier  aus  Athen  sei  ein 
Reflex  der  späteren  Machtstellung  Athens,  als  falsch  zu  er- 
weisen. Sie  ist  in  der  That  äusserst  unbedacht;  denn  für 
Herodot  ist  es  eine  feststehende  und  allgemein  bekannte  That- 
sache,  dass  alle  „ächten  Ionier"  vom  Prytaneion  in  Athen  aus- 


struetionen  des  Ursprungs  des  eigenen  Staatslebens.  Für  den  Römer  des 
dritten  Jahrhunderts  wäre  es  ein  läeherlicher  Gedanke  gewesen,  seinen 
Staat  als  eine  erweiterte  Familie  aufzufassen  —  während  die  Griechen  diese 
Anschauung  aus  dem  achten  und  siebenten  Jahrhundert  ererbt  haben  und 
ihre  spätere  Theorie  ebenso  wie  die  moderne  wissentlich  und  unwissentlich 
von  der  griechischen  abhängige  bis  auf  den  heutigen  Tag  daran  krankt. 
Für  den  Römer  ist  der  Staat  vielmehr  die  Gesammtheit  freier  aber  dem 
Imperium  des  Beamten  (Königs)  unterworfener  Krieger.  Wer  sich  dies 
Verhältnis  einmal  wirklich  klar  gemacht  hat,  wird  auf  immer  von  dem 
Glauben  geheilt  sein,  als  könnten  wir  aus  der  römischen  Sagengeschichte 
über  die  Zustände  der  Königszeit  auch  nur  das  Geringste  lernen  —  auch 
ganz  abgesehen  von  Trieber's  glänzender  Entdeckung  (Rh.  Mus.  XLIII,  5(59), 
dass  die  Romulusfabel  aus  der  sophokleischen  Tyro  entnommen  ist,  wo- 
durch eine  Fülle  von  Hypothesen  rettungslos  in  sich  zusammenstürzt.  — 
Die  römischen  Adelsgeschlechter  haben  wie  es  sich  gehört  zu  allen  Zeiten 
ibre  eponymen  Heroen  gehabt  so  gut  wie  die  griechischen  (Iullus,  Pompo, 
Anton  u.  s.  w.).  Wie  lebendig  diese  Anschauung  war,  hat  Niemand  deut- 
licher ausgesprochen  als  Caesar  in  der  Leichenrede  auf  seine  Tante:  Amitae 
meae  Iuliae  maternum  genus  ab  regibus  ortum,  paternum  cum  diis  immor- 
talibus  coniunetum  est.  Nam  ab  Anco  Martio  sunt  Marcii  Reges,  quo 
nomine  fuit  mater:  a  Venere  Iulii,  cuius  gentis  familia  est  nostra  .  Est  ergo 
in  genere  et  sanetitas  regum,  qui  plurimum  inter  homines  pollent,  et  caere- 
monia  Deorum,  quorum  ipsi  in  potestate  sunt  reges  (Sueton.  Caes.  6). 

1)  Dass  die  Schoben  diese  Ionier  im  späteren  Achaia  wohnen  lassen, 
ist  eine  durch  die  Sagenchronologie  nahe  gelegte  Deutung,  schlägt  aber 
dem  Wortlaut  der  Stelle  ins  Gesicht.  Die  richtige  Auffassung  gibt 
Strabo  IX  1,5. 

2)  Denn  der  Name  "laaoq  wird  von  den  Ioniern  nicht  getrennt  werden 
können. 


144 

gegangen  sind  (I  146  vgl.  IX  106  sowie  für  die  Inseln  VIII  46). 
Das  hätten  sich  die  Ionier  im  fünften  Jahrhundert  nimmermehr 
octroyiren  lassen.1) 

Ions  älterer  Bruder  ist  Achaios.  Auch  das  gehört  der  älteren 
Form  des  Stammbaumes  an,  ehe  derselbe  in  den  bekannten 
Hellenenstammbaum  äberging,  wie  deutlich  daraus  hervorgeht, 
dass  Achaios  hier  Ion's  Schicksal  theilt.  Wäre  er  erst  vom 
Verfasser  des  Hellenenstammbaumes  erfunden,  so  müsste  er, 
wenn  er  überhaupt  genannt  werden  sollte,  der  erstgeborene 
Sohn  Hellen's  sein.  Den  Sinn  dieser  Verbindung  kann  man 
auf  verschiedene  Weise  deuten;  wahrscheinlich  ist  aber  doch 
gemeint,  dass  die  Achaeer  des  Epos  die  älteren  Brüder,  die 
Vorgänger  der  Ionier  sind.  Auf  der  anderen  Seite  ist  es  un- 
möglich, diese  Verbindung  von  der  uns  zuerst  bei  Herodot 
entgegentretenden  Ableitung  der  Ionier  aus  dem  peloponne- 
sischen  Achaia  —  gewiss  aber  haben  Hekataeos  und  Pherekydes 
im  wesentlichen  ebenso  erzählt;  der  Schiffskatalog  dagegen, 
der  den  Aigialos  zum  Reich  Agamemnons  rechnet,  weiss  noch 
nichts  davon  —  zu  trennen,  sei  es,  dass  diese  Sage  vom  Stamm- 
baum bereits  vorausgesetzt  wird,  sei  es  dass  umgekehrt  der 
Stammbaum  zu  ihrer  Ausbildung  mitgewirkt  hat. 

In  dieser  Gestalt-)  hat  der  Verfasser  des  Hellenenstamm- 
baumes,  den  das  Alterthum  Hesiod  nennt,3)  den  Stammbaum 
des  Ion  übernommen.  Er  konnte  Apollo  als  Vater  des  Achaios 
und  Ion  nicht  brauchen,  da  er  dieselben  von  Hellen  ableiten 


1)  [Dazu  stimmt,  dass  Solon  Attika  „das  älteste  Land  Ioniens",  d.h. 
das  Mutterland  der  Ionier  (7iQ8aßvzäz?jv  yalav  '[aoviag,  Arist.  pol.  Ath.  5) 
nennt.  Es  ist  bezeichnend  für  die  Macht  des  Yorurtheils,  dass  Kaibel 
und  Kiessling  das  durch  „edelster  Zweig  ionischen  Stammes"  über- 
setzen.] 

2)  Wie  das  Epos  hiess,  in  dem  die  Sage  in  dieser  Gestalt  formulirt 
war,  wissen  wir  nicht.  Das  ist  auch  gleichgültig.  Namen  stehen  genug 
zur  Auswahl. 

3)  Ich  kenne  keinen  Beweis  dafür,  dass  die  Kataloge  und  Eoeen  in 
Europa  und  gar  in  Boeotien  entstanden  seien,  wie  man  allgemein  annimmt, 
wohl  aber  scheinen  mir  nicht  wenige  Indicien  nach  Kleinasien  zu  weisen. 
Die  herrschende  Ansicht  beruht,  so  weit  ich  sehe,  nur  darauf,  dass  die 
Kataloge  direct  an  die  hesiodeische  Theogonie  angeknüpft  sind.  Leider 
ist  ja  eine  gründliche  Untersuchung  über  Hesiod ,  eines  der  dringendsten 
Bedürfnisse    der  Alterthumsforschung ,    noch   immer  nicht  in  Angriff  ge- 


145 

musste.  So  ersetzte  er  ihn  durch  einen  menschlichen  Vater, 
Xuthos,  der  neben  Doros  und  Aiolos ')  zum  Sohne  Hellen's 
werden  konnte.  Es  ist  zwar  nicht  erweisbar,  aber  doch  sehr 
wahrscheinlich,  dass,  wie  0.  Müller  vermuthet  hat,  Xuthos  seinen 
Namen  einem  Epithet  Apollos  verdankt.  Jedenfalls  ist  er  keine 
genealogische  Gestalt,  und  auch  das  erweist  ihn  mitten  unter 
lauter  Eponymen  als  sekundär,  als  Product  eines  Compromisses 
zwischen  verschiedenen  zunächst  unvereinbaren  Anschauungen. 
Auch  hier  wieder  zeigt  sich,  dass  die  genealogischen  Mythen, 
welche  die  Modernen  für  Volkssagen  halten,  nichts  anderes 
sind  als  gelehrte  Combinationen. 

In  der  historischen  und  mythographischen  Litteratur  hat 
der  hesiodeische  Stammbaum  (im  Wortlaut  theilweise  erhalten 
fr.  25  Kinkel  27  Rzach)  die  Alleinherrschaft  gewonnen,  daneben 
aber  [ist  die  ältere  Fassung  für  das  Volksbewusstsein  in  Athen 
immer  lebendig  geblieben.  Denn  sie  beruht  darauf,  dass  Apollon 
jraTQcoog  der  Schutzgott  ist,  von  dem  jede  bürgerliche  Familie 
—  nicht  etwa  die  Adligen,  die  ihre  gesonderten  Stammbäume 
haben  —  abstammt  (Plato  Euthydem  302  D).  Ist  also  Ion  der 
Ahnherr  der  Athener  und  der  Stammvater  der  Phylen,  so  muss 
er   ein  Sohn  Apollo's   sein.2)]     Euripides'  Ion  ist   ein  Versuch, 

1)  Auch  Aiolos  hat  lange  eine  Sonderexistenz  gehabt,  ehe  er  zum 
Sohne  Hellens  wurde;  Ziovcpoq  AloXidrjq  Z  154  und  KQrj&tvq  AioXu)ijq 
X  237  sind  für  die  Dichter  dieser  Partien  schwerlich  schon  Enkel  des  Hellen 
gewesen.  Wahrscheinlich  war  er  ein  Sohn  des  Zeus,  wie  bei  Euripides  im 
Ion  (s.  u. ;  ist  die  Angabe  bei  Konon  narr.  27,  dass  Hellen  nach  „Einigen" 
ein  Sohn  des  Zeus  sei,  wirklich  ein  Rest  alter  Ueberlieferung?).  Im  Aiolos 
fr.  14  und  in  der  Melanippe  fr.  481  folgt  Euripides  dagegen  dem  Stamm- 
baum Hesiods.  Aiolos  ist  der  Stammvater  der  aeolischen  Helden  (Atha- 
mas,  Pelias,  Sisyphos  u.  s.  w.),  und  da  diese  in  Thessalien  heimisch  sind, 
muss  er  erst  recht  hier  gelebt  haben.  So  ist  der  Aeolername  nach  Thessa- 
lien gekommen  und  auch  Name  der  Urboeoter  geworden.  Es  ist  sehr 
seltsam,  dass  sich  immer  noch  Gelehrte  finden,  die  diese  sehr  durchsichtige 
Fiction  für  historisch  halten,    [vgl.  G.  d.  A.  II 151.] 

2)  Ebenso  Aristot.  pol.  Ath.  fr.  I  Wil.  zbvAnoXXcova  xoivüq  nazQcöov 
zijjhügiv  'A&rjvoüot  ano  "iajvoq"  zovzov  ya.Q  oixtjaavzoq  zr\v  Azzixrjv,  wg 
lAQiGZOihlriQ  (prjoi,  zovq  A&qvaiovq  "lcovaq  xXrjS-rjvcu  xal  AnöXXd)  nazywov 
avzolq  ovofiaG&rjvai  (Harpokr.  An.  naz.).  Ebenso  schol.  Arist.  Av.  1527 
nazQwov  ztßüGL  AnölXojva  A&tjVccioi,  insl  vIa>v  b  7ioXäfxaQx°Q  'A&qvaicav 
i|  AnöXXojvoq  xal  Kfjsovayq  zijq  aov&ov  [das  ist  ein  Versehen  des  Scho- 
liasten;    schol.   Euthydem  1.  c.   und  Bekker  Anecd.  I  292  haben  richtig 

Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1.  10 


146 

beide  Versionen  zu  vereinigen. ')  Man  hat  daraus  meist  gefol- 
gert, dass  die  Version,  welche  Ion  zum  Sohn  Apollos  macht, 
attischen  Ursprungs  und  Ion  in  Athen  heimisch  sei.  Anderer- 
seits betrachtet  Töpfer  (Att.  Geneal.  256.  267)  den  Ion  und 
seinen  Vater  Xuthos  als  Ahnherrn  des  attischen  Geschlechts 
der  Ioniden.  Xuthos  ist  ihm  der  Repräsentant  der  maratho- 
nischen Tetrapolis,  weil  er  sich  nach  der  bei  Strabo  VIII  7,  1 
und  Konon  narr.  27  vorliegenden  Tradition  hier  angesiedelt 
haben  soll;  er  hält  also  auch  Xuthos  für  eine  in  Attika  hei- 
mische Gestalt. 

Ich  halte  diese  Ansichten  für  grundfalsch.  Ion  und  Xuthos 
sind  den  Athenern  vollständig  fremd,  in  ihrer  Sagengeschichte, 
zwischen  den  einheimischen  Gestalten  des  Kranaos  Kekrops 
Erechtheus  Pandion  ist  für  sie  gar  kein  Platz.  Das  ist  voll- 
ständig in  der  Ordnung,  denn  der  Ioniername  ist  ja  in  Attika 
nicht  heimisch,  sondern  aus  der  Fremde  importirt.  Erst  durch 
die  Autorität  der  im  Epos  verarbeiteten  Sagengeschichte  sind 
Ion  und  Xuthos  nach  Athen  gekommen,  er  ist  den  Athenern 
octroyirt  sogut  wie  den  Dorern  im  Peloponnes  ihre  heraklidi- 
schen  Ahnen   und  den  Römern  Aeneas  und  seine  Troer.     Wie 


'EpeyßeiDQ]  eyevezo.  Vgl.  z.  B.  auch  Diod.  XVI  57,  4  'A&tjvatoi  .  .  i-vyö- 
[Ä8vot  tov  linöXXiova  tiutqwov  avxwv  slvcu  xctl  iryöyovov.  Steph.  Byz. 
"luvtet-  ovrcog  //  liztix^  TiyÖTtQOv,  uno  "Ioji'OQ  tov  linöllojvoc  xul  IiQtovotjQ 

TTJQ    'EQfyütCOQ. 

1)  Euripides  gibt  folgenden  Stammbaum : 
Zeus 

Aiolos  Erechtheus 

I  I 

Xuthos     Gem.    Kreusa     Gem.  Apollon 

I  I 

Ion 


Doros  Achaios 


Die  Eponymen  der  vier  Phvlen. 
Dafür,  dass  dem  Stammbaum  in  der  That  alte  Elemente  zu  (i  runde  liegen, 
ist  besonders  auch  das  Fehlen  Hellens  beweisend;  aber  so  wie  er  vorliegt, 
kann  er  nicht  ursprünglich  sein.  Die  Ableitung  des  Doros  von  Xuthos, 
des  Xuthos  von  Aiolos,  die  Zerreissung  der  zusammengehörigen  Eponymen 
sind  widersinnig.  Vermuthlich  hat  Euripides  selbst  die  älteren  Genealogien 
des  Aiolos  und  Ion  mit  dem  hesiodeischen  Stammbaum  contaminirt,  wenn 
er  nicht  auch  darin  schon  einen  Vorgänger  gehabt  hat,  Ilellanikos  ist  in 
zahlreichen  Fällen  in  ganz  gleicher  Weise  vorgegangen.  Leider  wissen  wir 
vom  Inhalt  der  sophokleischen  Dramen  Ion  und  Kreusa  gamichts. 


147 

der  König  Menestheus,  den  die  llias  als  Feldherrn  der  Athener 
vor  Troia  nannte, ')  und  die  pyliscken  Könige,  von  denen  sich 
die  ionischen  Königsgeschlechter  ableiteten,  nur  mit  vieler  Mühe 
in  der  attischen  Königsgeschichte  untergebracht  sind,  so  war 
es  auch  nicht  leicht,  für  Ion  und  Xuthos  Platz  zu  schaffen. 
Ihre  Zeit  war  durch  Erechtheus  bestimmt,  daher  war  es  un- 
möglich, sie  als  attische  Könige  zu  betrachten;2)  andererseits 
mussten  sie  eine  hervorragende  Rolle  gespielt  haben,  da  Ion 
dem  Volke  seinen  Namen  gibt.  Daher  wird  er  oder  Xuthos 
OTQaraQxrjQ,  Heerführer,  und  tritt  als  solcher  an  die  Spitze  des 
Volks,  dessen  Verhältnisse  er  ordnet. :{)  Die  Gelegenheit  dafür 
Hess  sich  leicht  finden;  nach  der  gewöhnlichen  Ansicht  steht 
Ion  dem  Erechtheus  im  Kriege  gegen  Eumolpos  bei  —  Philo- 
choros  fr.  33  und  wohl  schon  andere  vor  ihm  gewannen  dadurch 
eine  willkommene  Gelegenheit  den  Namen  des  Festes  der 
„Hülfsleistung",  der  Boedromia,  zu  erklären  — ,  Euripides  er- 
findet einen  Krieg  mit  Euboea,  bei  dem  Xuthos  Hülfe  leistet, 
wodurch  er  sich  die  Hand  der  Kreusa  erwirbt.    Thukydides  I  3 


1)  Iasos,  der  an  seiner  Stelle  wie  schon  erwähnt  0  337  genannt  und 
von  Aeneas  getüdtet  wird,  ist  neben  ihm  nicht  zur  Entwicklung  gelangt; 
sonst  würden  wir  vielleicht  von  einem  attischen  Doppelkünigthimi  hören. 
Den  Commentatoren  ist  er  natürlich  ein  Heerführer  des  Menestheus.  —  Die 
einzige  Homer  bekannte  Gestalt,  die  attischen  Ursprungs  ist,  ist  Erechtheus, 
von  dem  man  in  Ionien  wusste,  weil  er  im  attischen  Cult  eine  so  hervor- 
ragende Rolle  spielte.  Daher  war  er  auch  für  den  Ionstammbaum  die  ge- 
gebene und  wahrscheinlich  allein  in  Betracht  kommende  Figur. 

2)  Als  später  aus  chronologischen  Gründen  die  attische  Königsliste 
erweitert  werden  musste  (durch  Kekrops  IL  und  Pandion  IL),  hätten  sie  als 
Füllfiguren  sehr  willkommen  sein  können.  Aber  damals  war  ihre  Rolle 
sshon  anderweitig  bestimmt. 

3)  Strabo  VIII  7,  I,  wohl  im  Anschluss  an  Philochoros.  [Ebenso  Arist. 
pol.  Ath.  3,  2,  wo  das  Polemarchat  dadurch  begründet  wird,  dass  einige 
Könige  unkriegerisch  sind;  tiqöjxov  öl  xbv  "Icova  fAtzfTtE/uipavzo  ygeiaq 
xaTalaßovGi]Q.  Absurd  ist  es  freilich,  sich  neben  Theseus,  Menestheus, 
Kodros  einen  Polemarchen  zu  denken,  und  ebenso  absurd,  dass  Ion,  den 
Aristoteles  zum  Begründer  der  ersten  staatlichen  Ordnung,  der  npojzr] 
xazäozaaiq,  machen  muss,  weil  die  Phylen  und  Phylenkönige  von  ihm  her- 
stammen (pol.  Ath.  41,  2.  Heraklid.  pol.  1),  erst  nach  den  ältesten  Königen 
ins  Land  kommt.  Aber  diese  Widersprüche,  in  welche  die  historische  Be- 
handlung der  Sage  mit  Notwendigkeit  verwickelt,  hat  Aristoteles  hier  so 
wenig  wie  sonst  beachtet;  sie  sind  eben  von  seinem  Standpunkte  aus  un- 
lösbar.] 

10* 


US 

hat  diese  Erzählungen  verallgemeinert,  indem  er  die  Ausbreitung 
des  Hellenennamens  in  Griechenland  dadurch  erklärt,  dass  man, 
als  Hellen  und  seine  Söhne  mächtig  in  Phtiotis  geworden  waren, 
sie  überall  um  Hülfe  anging.  —  Ausser  den  Athenern  musste 
Ion  auch  noch  den  peloponnesischen  Ioniern  den  Namen  geben 
(wie  Achaios  den  peloponnesischen  und  phtiotischen  Achaeern 
Pausan.  VII  1,  Konon  27,  Apollodor  I  7,  3).  Es  ist  sehr  begreif- 
lich, dass  jede  der  beiden  Möglichkeiten,  dies  zu  bewerkstelligen, 
auch  ergriffen  ist:  nach  Strabo  VIII  7,  1  sind  die  Ionier  im 
Aigialos  attische  Colonisten,  nach  Pausan.  VII  1  herrscht  Ion 
erst  im  Aigialos  und  zieht  von  hier  den  Athenern  zu  Hülfe. 

Unsere  moderne  Forschung,  die  doch  sonst  mit  den  Ueber- 
lieferungen  recht  frei  schaltet  und  z.  B.  den  Hektor  zu  einem 
Thebaner  macht,  hat  eine  heilige  Scheu  vor  Grabhügeln  und 
den  ihnen  anhaftenden  Namen.  So  basirt  denn  auch  Töpffeb 
seine  Ansicht,  Ion  sei  in  Attika  heimisch,  vor  allem  darauf, 
dass  das  Grab  des  Ion  —  „bei  dem  er  heroisch  verehrt  wurde" 
setzt  er  hinzu,  wovon  Pausanias,  unsere  einzige  Quelle,  nichts 
berichtet,  (I  31,  3.  VII  1,  5)  —  „in  Potamoi  an  der  Seeküste 
lag,  etwas  nördlich  von  Thorikos,  wo  zur  Zeit  der  Kleisthe- 
nischen  Demenreform  ein  Zweig  des  Geschlechts  [der  Ioniden] 
ansässig  war,  das  in  ihm  seinen  Ahnherrn  verehrte".  Der  ein- 
zige Ionide,  den  wir  kennen,  war  allerdings  örjfjcor  Soqixioq 
(schol.  Plat.  Apol.  23) ;  und  dass  dies  Geschlecht  sich  auf  einen 
Eponymen  Ion  zurückführte,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Dass  es 
denselben  aber  mit  dem  Stammvater  der  Ionier  idenficirte,  ist 
sehr  unwahrscheinlich  und  würde  jeder  Analogie  entbehren. ') 
Weiter  wissen  wir  über  diese  Dinge  und  über  dies  Geschlecht 
gar  nichts.  Dass  man,  als  Ion  einmal  in  die  attische  Sage 
Eingang  gefundsn  hatte,  auch  sein  Grab  zeigte,  scheint  mir  das 
natürlichste  von  der  Welt.     Grabhügel  gab  es  ja  in  Attika  wie 


1)  Dass  die  ioni(a)dischen  Nymphen  iu  Elis  nach  Ion  dem  Sohne1  des 
Gargettos,  des  Eponymen  des  attischen  Demos,  benannt  sein  sollen  (Pau- 
san VI  22,  7),  bemerkt  Töpffer  selbst.  Man  kannte  also  in  Attika  jeden- 
falls zwei  Ion's,  den  Sohn  des  Xuthos  und  den  des  Gargettos;  der  Epo- 
nymos  der  Ioniden,  des  Geschlechts  und  des  Demos.  mag  ein  dritter  gewesen 
sein.  —  Dass  die  Ioniden  ein  eingewandertes  „loniergeschlecht"  waren, 
ist  möglich,  doch  mag  die  Homonymie  auch  auf  irgend  einem  andern  Wege 
entstanden  sein. 


149 

in  ganz  Griechenland  genug.  Dass  man  gerade  einen  bei  Po- 
tamoi  gelegenen  als  Grab  des  Ion  bezeichnete,  würde  sich  leicht 
erklären,  wenn  das  Ionidengeschlecht  in  dieser  Gegend  ansässig 
war  und  der  Demos,  der  seinen  Namen  trägt,  hier  zu  suchen 
ist  —  leider  ist  aber  seine  Lage  bis  jetzt  nicht  ermittelt.1) 

Auch  Xuthos  ist  in  Attika  ansässig  geworden;  nach  Strabo 
und  Konon  (s.  S.  146)  hat  er  die  marathonische  Tetrapolis  be- 
siedelt. In  Thessalien  bei  seinem  Vater  Hellen  hatte  er  nichts 
zu  thun,  dass  man  ihn  also  in  Attika  irgendwo  wohnen  Hess 
—  warum  grade  bei  Marathon,  weiss  ich  nicht  —  ist  sehr  be- 
greiflich.2) Aber  eine  alte  Ueb erlief erung,  die  auf  den  Ursprung 
der  Sage  Licht  werfen  könnte,  ist  darin  nicht  zu  suchen. 
Euripides,  der  doch  sonst  an  solchen  Dingen  nicht  vorübergeht 
und  bei  dem  es  an  Gelegenheit  dazu  nicht  fehlte,  namentlich 
bei  Xuthos'  Einführung  V  290  ff.,  macht  nicht  die  leiseste  An- 
deutung, dass  er  von  Xuthos'  Beziehungen  zu  Marathon  irgend 
etwas  wusste. 

Nach  Töpffer  1.  c.  wäre  Euripides'  Ion  „ein  politisches 
Zweckdrama",  und  hätte  der  Dichter  „den  ursprünglichen  Mythos 
tendenziös  variirt".  Ich  vermag  davon  in  dem  Stück  nichts  zu 
entdecken.  Euripides  behandelt  hier  wie  in  so  vielen  andern 
Dramen  die  zahllosen  Schwierigkeiten  und  Unmöglichkeiten, 
welche  die  Sage  bietet,  sobald  man  sich  die  überlieferte  Be- 
gebenheit in  ihrem  ganzen  Verlauf  real  und  auf  Grund  der 
Verhältnisse  und  Anschauungen  der  Gegenwart  vorzustellen  ver- 
sucht.3) Er  hat  seine  Aufgabe  meisterhaft  gelöst,  wenn  auch 
einzelne  Missstände  nicht  zu  beseitigen  waren  —  so  namentlich 
die  unvermeidliche  aber  widersinnige  Apathie,  in  die  Xuthos 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Stücks  versinkt,  und  der  fast  komisch 


1)  [Milchhöfer  Unters,  über  die  Demenordnung  des  Kleisthenes, 
Abh.  Berl.  Ak.  1892  S.  16  sucht  ihn  in  der  Nähe  von  Gargettos,  also  im 
Binnenlande.] 

2)  Andere  Hessen  ihn  nach  dem  Peloponnes  (in  den  Aigialos)  gehen 
und  hier  herrschen,  so  Herod.  V  (.)4.  Pausan.  VII  I.  Apollodor  I  7,  3.  Von 
hier  kommt  dann  sein  Sohn  Ion  nach  Athen. 

3)  Dass  der  Schauplatz  nach  Delphi  verlegt  ist  vor  die  Wohnung  des 
Gottes,  der  die  ganze  Lage  verschuldet  hat  und  nun  lösen  muss,  war 
durchaus  naturgemäss.  Die  ursprüngliche  Sage  hatte  allerdings  unter  Apollo 
nicht  den  delphischen  Gott  verstanden,  aber  in  Euripides'  Zeit  konnte  man 
an  einen  anderen  garnicht  denken. 


150 

wirkende  Befehl  Athenes,  ihm  die  Lösung  des  Räthsels  zu  ver- 
heimlichen. 

Ich  hoffe  gezeigt  zu  haben,  dass  aus  der  Ionsage  für  die 
ältere  griechische  Geschichte  nicht  der  mindeste  Aufschluss  zu 
gewinnen  ist. ')  Das  Problem  um  das  es  sich  handelt,  ist  hier 
wie  immer  ein  literarisches,  und  nur  als  solches  für  die  Ge- 
schichtsforschung von  Bedeutung. 

Zum  Schluss  möchte  ich,  vorläufig  ohne  weitere  Begründung, 
noch  eine  These  aufstellen:  Die  Besiedelung  der  Westküste 
Kleinasiens  ist  nicht,  wie  man  gegenwärtig  glaubt  —  die  Alten 
wissen  nichts  davon  — ,  eine  Folge  des  Einbruchs  der  Gebirgs- 
stämme  in  die  Culturländer  Griechenlands.  Sie  steht  mit  der 
dorischen  Wanderung  und  allem  was  dazu  gehört  in  gar  keinem 
Zusammenhang  und  ist  recht  eigentlich  ein  Produkt  der  „my- 
kenäischen"  Zeit.  Die  überschüssige  Bevölkerung  des  engbe- 
grenzten Mutterlandes  sucht  sich  zu  allen  Zeiten  eine  neue 
Heimath  zu  gewinnen  —  das  ist  ja  der  treibende  Faktor  aller 
griechischen  Volksgeschichte  bis  in  die  hellenistische  Zeit 
hinein  —  und  so  hat  die  älteste  Blüthezeit  Griechenlands  auch 
die  erste  grosse  Colonisation  geschaffen:  das  Vordringen  über 
das  ägäische  Meer  und  die  Besetzung  der  Küsten  Kleinasiens, 
einschliesslich  Pamphyliens  und  Cyperns. 


1)  In  den  Angaben  bei  Velleius  I  4  und  Vitruv  IV  1 .  dass  Ion  der 
Führer  der  Colonisation  Ioniens  gewesen  sei,  ist  schwerlich  ein  Nachklang 
der  ältesten  Sagenforni,  sondern  einfach  Flüchtigkeit  zu  suchen. 


Herodots  Chronologie 
der  griechischen  Sagengeschichte. 

Mit  Excursen  zur  Geschichte  der  griechischen 
Chronographie   und   Historiographie. 


Herodots  Chronologie 
der  griechischen  Sagengeschichte. 

Mit  Excursen  zur   Geschichte   der  griechischen 
Chronographie  und  Historiographie. 


^bekanntlich  nimmt  Herodot  an  mehreren  Stellen  seines 
Werkes  auf  ein  festes  chronologisches  System  der  griechischen 
Sagengeschichte  Bezug.  Zum  Theil  in  Generationsrechnungen 
tritt  es  uns  entgegen,  für  die  er  den  Grundsatz  aufstellt:  yeveal 
TQslg  avÖQojv  txazov  erta  eörl  II  142,  zum  Theil  in  festen 
Daten,  die  von  Herodots  Zeit  rückwärts  gerechnet  werden: 
x  Jahre  eg  efii.  Diese  Daten  sind  mit  Absicht  in  runden 
Zahlen  gegeben;  es  kommt  nur  darauf  an,  im  allgemeinen  den 
Abstand  der  Ereignisse,  z.  B.  der  Zeit  des  Herakles,  von  der 
Gegenwart  zu  bestimmen;  beides  aber  sind  allgemeine  Begriffe, 
die  sich  nicht  auf  ein  bestimmtes  Jahr  stellen  lassen.  Zu  ge- 
nauen Daten  gelangte  man  erst,  als  man  daran  ging  die  Lebens- 
dauer oder  bei  Königen  die  Regierungszeit  der  einzelnen  Per- 
sonen genau  festzusetzen,  d.  h.  die  Gesammtsumme  in  Einzel- 
posten aufzulösen  und  diese  ziemlich  willkührlich  unter  die 
Einzelnen  zu  vertheilen.  Derartige  Operationen  sind  zwar  auch 
schon  vor  und  zur  Zeit  Herodots  vorgenommen,  z.  B.  an  den 
lydischen  und  medischen  Dynastien,  aber  für  die  griechische 
Geschichte  offenbar  noch  nicht  durchgeführt  —  oder  falls  es 
hier  schon  derartige  Daten  gab,  hat  Herodot  verschmäht  sie 
zu  verwerthen.  Auf  alle  Fälle  waren  solche  bestimmte  Zahlen 
erst  auf  Grund  einer  allgemeinen  Generationenrechnung  zu  ge- 
winnen,  durch  welche   die  Zeit,   in  die   ein  jeder  gehörte,   im 


154 

allgemeinen  festgelegt  war.  Und  eben  diese  allgemeinen  An- 
sätze liegen  bei  Herodot  vor. 

Es  ist  daher  klar,  dass  Herodots  Ansätze  nicht  zu  sehr 
urgirt  werden  dürfen;  sie  sind  mit  Absicht  nicht  auf  feste 
Ephoren-  oder  Archontenjahre  nach  Art  der  parischen  Chronik 
gestellt.  Und  so  dürfen  wir,  wenn  wir  sie  in  Daten  unserer 
Zeitrechnung  umsetzen  wollen,  nicht  etwa  fragen,  in  welchem 
Jahre  das  betreffende  Kapitel  geschrieben  ist.  Das  würde  zu 
der  absurden  Annahme  führen,  dass  der  Schriftsteller  mit 
jedem  neuen  Jahre  seine  Epoche  verschoben  hätte  und  die 
Zahlen  hätte  ändern  müssen.  Vielmehr  hat  Herodot  seine 
Daten  auf  seine  Epoche  ganz  im  allgemeinen  gestellt.  Herodots 
Blüthezeit,  seine  öffentliche  und  literarische  Wirksamkeit  wie 
seine  geistigen  und  politischen  Anschauungen,  fallen  mit  der 
Regierungszeit  des  spartanischen  Königs  Archidamos  (468 — 427) 
und  der  Staatsverwaltung  des  Perikles  (ca.  459 — 429)  zusam- 
men, d.  h.  er  gehört  der  Generation  an,  welche  in  den  ersten 
Jahren  des  peloponnesischen  Krieges  abstirbt.  All  die  zahl- 
reichen und  meist  recht  unfruchtbaren  Untersuchungen  über 
die  Entstehungszeit  des  herodotischen  Geschichtswerkes  haben 
nur  ein  sicheres  Resultat  ergeben:  dass  die  letzten  Bücher  in 
der  Form,  wie  wir  sie  haben,  in  den  ersten  Jahren  des  pelo- 
ponnesischen Krieges  niedergeschrieben  sind.  Nichts  hindert, 
dies  Ergebniss  auf  das  ganze  Werk  auszudehnen,  ja  für  das 
zweite  Buch  lässt  sich  das,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  direct 
erweisen.  Damit  verträgt  sich  natürlich  vollkommen,  dass 
Herodot  einzelne  Partien  weit  früher,  vielleicht  Jahrzehnte 
vorher,  zum  Zwecke  von  Vorträgen  oder  auch  lediglich  zur 
Stütze  seines  Gedächtnisses  aufgezeichnet  und  diese  älteren 
Manuscripte  bei  der  Schlussredaction  benutzt  hat  —  genau 
wie  Thukydides  nach  seiner  eigenen  Aussage  verfahren  ist 
und  bis  auf  den  heutigen  Tag  jeder  Schriftsteller  in  gleicher 
Lage,  z.  B.  auch  der  Schreiber  dieser  Zeilen,  verfährt. 

Herodots  Generation  entspricht  also  im  allgemeinen  etwa 
den  Jahren  460 — 427  v.  Chr.  Eine  Stelle  des  zweiten  Buches 
aber  zeigt,  dass  ihm,  wie  es  natürlich  ist,  bei  seinen  Ansätzen 
zunächst  das  Ende  dieses  Zeitraumes,  d.  h.  die  Gegenwart  in 
der  er  schrieb,  vorgeschwebt  hat.  Um  sie  richtig  zu  verstehen, 
müssen  wir  zunächst  die  Zeit  seiner  ägyptischen  Reise  bestimmen. 


155 

Herodot  erzählt  III  12,  dass  er  auf  dem  Schlachtfeld  von 
Papremis,  wo  das  Perserheer  unter  Achaemenes  von  Inaros 
besiegt  wurde,  die  Schädel  der  Aegypter  hart  gefunden  habe, 
während  die  persischen  Schädel  so  weich  waren,  dass  man  sie 
mit  einem  Kieselstein  zertrümmern  konnte.  Der  Aufstand  des 
Inaros  und  die  Schlacht  bei  Papremis  fallen  ins  J.  460  v.Chr.; 
sie  gaben  bekanntlich  den  Anlass  zu  der  grossen  athenischen 
Expedition  nach  Aegypten  (459—454).  Daraus  ergibt  sich, 
dass  Herodots  ägyptische  Reise  lange  nach  460  anzusetzen  ist 
—  es  ist  mir  ganz  unverständlich  und  ein  handgreiflicher  Be- 
weis, wie  sehr  in  Vorurtheilen  befangen  man  meist  an  diese 
Fragen  herangeht,  dass  Herodots  Reise  in  Aegypten  fast  all- 
gemein vor  450  angesetzt  wird.!)  Es  ist  ja  klar,  dass  Herodot 
sehr  viel  später,  etwa  um  440,  in  Papremis  gewesen  ist. 

Auf  denselben  Zeitpunkt  weisen  alle  anderen  Angaben. 
Es  ist  schon  von  Bauer  hervorgehoben  worden,  dass  zur  Zeit  von 
Herodots  Reise  Aegypten  in  persischem  Besitz  war  (IL  30.  99). 
Seine  Reise  wäre  aber  überhaupt  unmöglich  gewesen,  ehe  die 
Herrschaft  der  Perser  in  Aegypten  wieder  hergestellt  war. 
Denn  es  ist  ein  Irrthum  zu  glauben,  dass  der  Aufstand  des 
Inaros  jemals  das  ganze  Land  ergriffen  habe.  In  der  Citadelle 
von  Memphis  haben  sich  die  Perser  xal  AiyvjtrlcQV  ol  fir]  gvv- 
ajioöTdvreq  immer  behauptet  (Thuk.  I  104),  davon  dass  Ober- 
ägypten in  die  Hände  der  Aufständischen  gefallen  sei,  kann 
gar  keine  Rede  sein;  ein  beträchtlicher  Theil  namentlich  der 
Priesterschaft  ist  immer  den  Persern  treu  geblieben  (meine 
Gesch.  Aegyptens  S.  391  ff.).  Herodot  hat  aber  ganz  Aegypten 
bis  Elephantine  hinauf  bereist.  Er  hätte  also,  wenn  er  zur 
Zeit  des  Aufstandes  reiste,  von  dem  Gebiet  der  von  Athen 
unterstützten  Rebellen  auf  persisches  Gebiet  übertreten  müssen, 
was  unmöglich   ist.    Andererseits   war  der  Aufstand  mit  der 


1)  Ad.  Bauer,  Entstehung  des  herod.  Gesehichtswerks  33,  der  die 
ägyptische  Reise  am  weitesten  hinabrückt,  entscheidet  sich  für  die  Zeit 
zwischen  449  und  444,  weil  Herodot  II  148  unter  den  bedeutendsten  Bauten 
der  Griechen,  die  mit  den  Pyramiden  verglichen  werden,  die  Tempel  auf 
der  Akropolis  nicht  erwähne.  Der  moderne  Gelehrte  wird  allerdings  zuerst 
an  diese  denken.  Herodot  aber  hatte  nicht  die  mindeste  Veranlassung, 
die  in  ihren  Dimensionen  keineswegs  sehr  bedeutenden  (überdies  auch  440 
noch  ganz  unfertigen)  Bauten  zu  nennen. 


156 

Niederlage  der  Athener  454  und  der  Gefangennahme  des  Inaros 
keineswegs  zu  Ende.  Amyrtaeos  hielt  sich  noch  lange  (Thuk. 
T  110  vgl.  Herod.  III  15),  und  449  unterstützten  ihn  die  Athener 
aufs  neue.   Erst  nach  dem  sog.  kimonischen  Frieden  von  448/7 

—  an  dessen  Realität  ich  niemals  gezweifelt  habe ')  —  kann 
Herodot  Aegypten  bereist  haben.  Und  überhaupt  sollte  es  doch 
selbstverständlich  sein,  dass  Herodot  Reisen  innerhalb  des 
persischen  Reiches,  nach  Babylon  (SusaV)  und  Tyros,  nicht 
ausgeführt  haben  kann,  ehe  zwischen  dem  attischen  und 
dem  persischen  Reich  Friede  war.  Wie  hätte  sonst  ein  ange- 
sehener Bürger  einer  abtrünnigen  persischen  Stadt,  der  mit 
Athen  in  enger,  vermuthlieh  auch  diplomatischer  Verbindung 
stand,  ungestraft  das  Reich  des  Grosskönigs  bereisen  können? 
Wenn  dem  so  ist,  so  wird  es  aber  im  höchsten  Grade  wahr- 
scheinlich, dass  Herodot  seine  grossen  Reisen,  mit  Ausnahme 
der  skythischen,  überhaupt  erst  ausgeführt  hat,  als  er  Thurii 
verlassen  hatte  und  wieder  dauernd  nach  Athen  übergesiedelt 
war,2)  d.  h.  in  dem  Decennium  440 — 430.  —  Diese  Annahme 
wird  durch  die  Schilderung  Aegyptens  bei  Herodot  lediglich 
bestätigt.  Ueberall  tritt  deutlich  hervor,  dass  der  Schriftsteller 
das  Land  zu  einer  Zeit  bereiste,  als  es  vollständig  pacificirt 
war  und  die  grosse  Rebellion  bereits  der  Vergangenheit  an- 
gehörte. 

Nun  sagt  Herodot  II  13,  wo  er  von  dem  —  von  ihm  un- 
geheuer überschätzten  —  Fortschreiten  der  Ablagerungen  des 
Nil  redet,  dass  nach  Aussage  der  Priester  zur  Zeit  des  Moeris 
eine  Anschwellung  des  Nil  um  8  Ellen  genügt  hätte  um  Unter- 
ägypten unter  Wasser  zu  setzen,  während  er  zu  seiner  Zeit 
noch  nicht  über  die  Ufer  trat,  wenn  er  15  bis  16  Ellen  hoch 
anschwoll.     Dazu  bemerkt  er:    xca  MoLqi  ovxco  r\v  evea  slva- 

XOÖUX    TST£l8VT7]x6zi,    OT£    TCüV  IQ8(X)V    TO-VTCX.    bJCÜ    7/XOVOV.       „Als 

ich  dies  von  den  Priestern  hörte,  d.  h.  als  ich  in  Aegypten 
war,   waren  seit  Moeris'  Tod  noch  nicht  900  Jahre  verflossen4' 

—  das  hat  nur  Sinn,  wenn  die  900  Jahre  jetzt  voll  geworden 
sind,  mit  anderen  Worten  wenn  von  Moeris'  Tod  xaxa  elra- 
xooia    srsa   eötl    eq   hfii.     War  Herodot   um  440  in  Aegypten. 

1)  Zu  meiner  Freude  tritt  jetzt  auch  Köhler  Hermes  XXVII  75  für 
die  Realität  des  Kalliasfriedens  ein. 

2)  vgl.  Anhang  3. 


157 

so  kann  diese  Stelle  nicht  vor  rund  430  geschrieben  sein.  Wir 
können  daher  als  die  Epoche,  in  der  er  sein  Werk  schrieb  und 
auf  die  er  seine  Rechnungen  eq  epe  gestellt  hat,  das  Jahr 
430  v.  Chr.  ansetzen  —  wobei  ich  nochmals  bemerke,  dass 
nichts  verkehrter  wäre,  als  dies  Jahr  urgiren  zu  wollen  und 
die  Rechnungen  mit  absoluter  Exactheit  durchzuführen.  Es 
handelt  sich  nur  um  runde  Zahlen,  weder  der  Anfangs-  noch 
der  Endtermin  sind  feste  Daten,  und  so  bedeutet  auch  das 
Jahr  430  im  folgenden  nichts  anderes  als  das  Jahrzehnt,  inner- 
halb dessen  Herodot  geschrieben  hat  und  in  dessen  Mitte  430 
ungefähr  liegt. 

Die  Grundlage  der  Ansätze  Herodots,  wie  aller  Sagen- 
chronologie, bilden  die  durch  Argonautenzug,  thebischen  und 
troischen  Krieg  gegebenen  Synchronismen  der  Hauptgeschlech- 
ter, nach  denen  Herakles  Telamon  Tydeus  Oedipus  Laomedon 
Neleus  Jason  Atreus  Laertes  Theseus  im  wesentlichen  die 
Generation  vor  den  Tqojixü  vertreten.1)  Dem  entspricht  es, 
dass  V  59  Herakles'  Vater  Amphitryon  ausdrücklich  als  Zeit- 
genosse des  Laios,  Vaters  des  Oedipus,  bezeichnet  wird.  Im 
übrigen  genügt  für  uns  die  folgende  Zusammenstellung. 

I.  IL  III.  IV. 

1 .  Kadinos  Poikiles 

2.  Polydoros     Semelea)    Menibliaros, 

|  |  phönikischer 

[\.        Labdakos  Dionysos     Oekist  von 
|  Thera 

4.  Laios  Amphitryon 

5.  Oedipus  Herakles 


(i.  Polyneikes  Eteokles1»)  Hyllos  Penelope        Tycoixd. 

|  |        (Gem.  Odysseus) 

II  II 

7.  Thersandros   Laodamas  (Zerstörung  Kleodaios  Pan 

|  Thebens)  | 

8.  Tisamenos  Aristomachos 

9.  Autesion  Aristodemos     Kresphontes     Temenos 
1 0.  ltas~~Arieie              verin.  mit  Argeie 

Oekist  von  Eurysthenes      Prokies. 

Thera 


1)  Daher  z.  B.  auch  VII  171  xgixy  ysvtfi  piexa  Mti'cov  x^Xevxi'ioavxa 
y?.vsa&ai  xu  Tqcolxu.  Minos'  Tochter  Ariadne  ist  die  Gemalin  des  Theseus, 
sein  Sohn  Deukalion  der  Vater  des  Idomeneus  (IV  151.  x  ISO). 


158 

Belege.  11—4:  V59;  (>— 10:  IV  147.  VI  52.  —  I  a:  II  145.  — 
Ib:  V61. 

II:  IV  147  Kadmos  lässt  bei  der  Suche  nach  Europa  auf  Thera 
akkovq  rf  rwv  <Poivlx<ov  xal  dt/  xal  xujv  scovzov  Gvyysväcov  Mefi- 
ßXiagov  zurück.  Man  wird  denselben  eine  Generation  tiefer  stellen  dürfen 
als  Kadmos.  Dann  ist  die  folgende  Angabe  ovroi  (Membliaros  und  die 
Seinen)  evefiovxo  x?}v  KakXiavtjv  xakto[itvr}v  im  ysvtäg,  tiqIv  r}  0t)Quv 
tX&elv  ix  Aaxfdai/uovoq,  6xx(h  avÖQüv,  völlig  exact. 

III:  VI  52,  wo  auch  die  Vermutung  des  Aristodeinos  mit  Argeie; 
Theras'  Vormundschaft  über  seine  Neffen  IV  147. 

IV:   II  145. 

Dasselbe  Schema  wird  auch  II  44  vorausgesetzt:  von  der 
Gründung-  des  Heraklesheiligthums  auf  Thasos  durch  die  Phoe- 
niker  oi  xar  Evqo>ji?jq  CtftTjöiv  txjrXojGavTtq  Häöov  IxTtöar, 
heisst  es:  xal  ravra  xal  uihnz  ysj^fjöi  avÖQwv  jtqot^qcc  tot) 
rj  Tor  A[i(pLTQV(DV0Q  \HQaxXta  Iv  rij  FAlaöi  ytvtöOai  Von 
Kadmos  bis  Herakles  sind,  beide  eingeschlossen,  fünf  Genera- 
tionen. Im  übrigen  sind  natürlich  kleine  Discrepanzen ,  wie 
sie  im  wirklichen  Leben  fortwährend  vorkommen,  auch  in 
diesen  Stammbäumen  nicht  zu  vermeiden.  So  fällt  die  Zer- 
störung Thebens  durch  die  Epigonen  vor  den  troischen  Krieg, 
während  König  Laodamas  eine  Generation  tiefer  steht;  so 
stehen  Theras  und  Argeie,  die  Altersgenossen  des  Aristodeinos, 
gleichfalls  eine  Generation  tiefer  als  dieser.  Die  Hauptschwierig- 
keit, die  aber  hier  nicht  in  Betracht  kommt,  bildet  die  Ord- 
nung der  mykenischen  Geschichte  von  Eurystheus  bis  Aga- 
memnon; hier  ist  ein  vollständiger  Ausgleich  niemals  möglich 
gewesen.1)  Für  uns  ist  nur  zu  beachten,  dass  wer  Herakles 
allein,  nicht  im  Zusammenhang  des  ganzen  Systems,  betrachtet, 
ihn  etwas  weiter  hinaufrücken  wird:  Nestor  und  Priamos,  die 
er  als  Kinder  auf  den  Thron  setzt,  sind  im  troischen  Krieg 
uralte  Männer,  ihre  Söhne  (Hektor,  Antilochos  etc.)  werden  als 
die  eigentlichen  Repräsentanten  der  Generation  der  Tgcoixd  zu 
gelten  haben  —  während  andererseits  Herakles  von  Telamon 
und  Theseus,  deren  Söhne  vor  Troja  kämpfen,  nicht  zu  trennen 
ist,  und  ebenso  sein  eigener  Sohn  Tlepolemos  gegen  Troja  zieht. 


] )  Agamemnon  ist  Vetter  des  Eurystheus  (vgl.  Thuk.  I  9)  und  der 
Aithra,  der  Mutter  des  Theseus.  Das  ist  ein  Resultat  der  combinatorischen 
Ausgleichung  der  Traditionen,  aber  an  sich  widersinnig. 


159 

Man  wird  ihn  daher  an  den  Anfang  der  einen,  den  troischen 
Krieg-  an  das  Ende  der  nächsten  Generation  zu  setzen  haben, 
so  dass  er,  wenn  sich  das  im  Schema  darstellen  Hesse,  etwa 
anderthalb  Generationen  vor  den  Helden  des  troischen  Krieges 
stehen  würde. 

Auf  diesem  Schema  beruhen  Herodots  Angaben  II  145: 
Aiovvöcp  fitv  vvp  toi  ix  JLt(Jth]Q  X7]q,  Eccöfiov  ZeyofitPO)  ysve- 
ofrcu  xara  [e^axoöia]  Ixta  \xaX\  yilta  (laÄiöva  toxi  ig  £//£, 
'HqcixXü  de  reo  AXxfiyprjg  xarä  elpaxoöia  erta,  UavX  de  reo 
Ix  Ih/Pskojcrjg  {ix  ravTt/Q  jag  xal  Epfiico  Xiyerat  ysviöfrcu 
vjto  1EXXt]V(dv  6  IJap)  hXaööm  sxsa  iörl  tcqp  Tqcoixcop,  xara 
oxraxooia  {lälioxa  ig  i(/s.  Die  Zeit  des  Dionysos,  des  Hera- 
kles und  des  troischen  Krieges  sind  für  Herodot  offenbar  ge- 
gebene Daten,  die  er  nicht  weiter  zu  begründen  braucht,  wäh- 
rend er  die  Epoche  des  Pan  aus  der  des  troischen  Krieges  erst 
nach  ungefährer  Abschätzung  berechnet  Pan  ist  von  Penelope 
am  Ende  ihres  Lebens  geboren,  nachdem  Odysseus  sie  nach 
seiner  Rückkehr  Verstössen  und  zum  Ikarios  nach  Arkadien 
geschickt  hat  (Apollodor  Rhein.  Mus.  XL  VI  181  vgl.  Pausan. 
VIII  12,  G  u.  a.);  seine  Geburt  fällt  also  etwa  15 — 20  Jahre 
nach  der  Zerstörung  Trojas.  Wir  dürfen  mithin  als  Epoche 
der  Tqcolxö.  etwa  820  Jahre  vor  Herodot  ansetzen.  Daraus  er- 
gibt sich  aber,  dass  diese  Ansätze  nicht  zu  Herodots  Definition 
II  142,  drei  Generationen  seien  gleich  hundert  Jahren,  stimmen. 
Es  ist  dabei  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  der  Begriff  der  Ge- 
neration nichts  genau  bestimmbares  ist.  Im  allgemeinen  wird 
man  sie  der  axfi?)  eines  Mannes  gleichsetzen;  aber  ebenso  gut 
kann  sie  auf  die  Geburt  gestellt  werden,  und  diese  hat  Hero- 
dot II  145  vor  allem  im  Auge,  da  er  anders  als  bei  Herakles 
ein  geschichtliches  Leben  des  Dionysos  und  Pan  ausdrücklich 
läugnet  und  meint,  die  Griechen  hätten  die  Geburt  dieser 
beiden  Götter  in  die  Zeit  gesetzt,  wo  sie  ihre  Namen  zuerst 
kennen  lernten.1)     Doch  selbst  wenn  wir  darauf  kein  Gewicht 


1)  vvv  öl  /liövvaöv  ze  Xeyovai  oi°HXlr]veQ  wg  avzixa  yevdfxevov  ig 
zov  (iflQOV  ivfQQaipazo  Zsvq  .  . .  xal  llavöq  ys  tilql  ovx  i'/ovoi  eineiv 
oxy  iz^änezo  ysvöftsvoq.  örjXd  [Wi  a>v  yiyove,  on  vozfqov  ETivd-ovzo 
ol  Ekkrjveq  zovztuv  ib.  ovvö^aza  rj  za  zwv  aXXcuv  üeüv  an  ov  6h 
inv&orzo  '/QÖrov,  anö  zovzov  yevsaXoyiovoi  aizwv  ttjv  yivsav. 


160 

legen,  steht  Pan  immer  nur  zwei  Generationen  tiefer  als  Hera- 
kles; und  nach  dem  vorher  bemerkten  kann,  wenn  Herakles' 
Generation  900  vor  Herodot  beginnt,  die  Zerstörung  Trojas 
höchstens  ans  Ende  der  nächsten  Generation  gesetzt  werden, 
mtisste  also  nach  Herodots  Rechnung  auf  833  vor  seiner  Zeit, 
nicht  auf  820  fallen.  Wir  erkennen  also  schon  hier,  dass  He- 
rodot seine  Ansätze  nicht  selbst  gefunden  sondern  einem  Vor- 
gänger entnommen  hat,  der  die  Generationen  nach  einem 
anderen  System  berechnete. 

Das  für  den  troischen  Krieg  gefundene  Datum  wird  durch 
die  schon  besprochene  Angabe  bestätigt,  dass  Moeris  900  Jahre 
vor  Herodot,  d.  h.  vor  430  v.  Chr.,  gestorben  sei.  Moeris  ist 
der  dritte  Vorgänger  des  Proteus,  des  Zeitgenössen  des  troi- 
schen Krieges  und  der  Irrfahrten  des  Meneläos  (II  101  ff.  Moeris, 
Sesostris,  Pheros,  Proteus).  Wir  haben  also  nach  Herodots 
Generationenrechnung  anzusetzen:  Moeris  f  900,  Sesostris  900 
bis  866,  Pheros  866—833,  Proteus  833—800.  Auch  von  hier 
aus  erhalten  wir  also  für  den  troischen  Krieg  rund  830 — 820 
vor  Herodot.1) 

Dagegen  ergibt  sich,  dass  das  handschriftliche  Datum  für 
Dionysos,  1600  J.  hq  h[ii,  nicht  richtig  sein  sein.  Dionysos  stellt 
zwei  Generationen  vor  Herakles,  Pan  zwei  nach  ihm.  Ent- 
weder sind  also,  wie  ich  im  Text  angenommen  habe,  die 
600  Jahre  zu  streichen,  und  von  Dionysos  bis  Herakles  ist, 
wie  das  bei  runder  Rechnung  wohl  zulässig  war,  ein  Jahr- 
hundert angesetzt,  oder  es  ist  l^/jxopra  trea  xai  sivaxoöia  zu 
lesen,  was  zu  Herodots  Generationsrechnung  völlig  stimmen 
würde. 

Wir  erhalten  also: 
Dionysos  1000  (960)  J.  v.  Her.  =        1430  (1390)  v.  Chr. 

Herakles  900  „       „       =        1330  v.  Chr.   (Ted 

des  Moeris). 
troischer  Krieg  ca.  830—820  „       „       =  ca.  1260—1250  v.  Chr. 
Pan  800  „       „       =        1230  v.  Chr. 


1)  Meneläos  wäre  dann  8 1 2  J.  vor  Herodot  nach  Aegypten  gekommen. 
Wenn  wir  berücksichtigen  wollen,  dass  schon  Paris  mit  der  geraubteo 
Helena  zum  Proteus  kommt  (II  118  ff.),  zehn  Jahre  vor  dem  troischen 
Kriege,    so   konnte   man  die   Epoche   der  Zerstörung  Trojas  noch   etwas 


161 

Dass  Herodots  ägyptische  Chronologie  diese  Ansätze  be- 
rücksichtigt und  mit  ihnen  übereinstimmt,  haben  wir  gesehen. 
Das  gleiche  gilt  von  der  lydischen  und  der  assyrischen  Ge- 
schichte. Bekanntlich  regieren  nach  Herodot  die  fünf  Mer- 
mnaden  über  Lydien  170  Jahre  14  Tage  =  716—546  v.  Chr., 
und  vor  ihnen  die  Herakliden  in  22  Generationen  505  Jahre 
=  1221 — 717  v.  Chr.1)  Diese  Dynastie  ist  begründet  von  Agron 
S.  d.  Ninos  S.  d.  Belos  S.  d.  Alkaios  S.  d.  Herakles  (I  7).  Ninos 
der  Vater  des  Agron  ist  unzweifelhaft  identisch  mit  dem  Be- 
gründer des  assyrischen  Reichs.  Das  assyrische  Reich  besteht 
nach  Herodot  I  96  520  Jahre  bis  zum  Abfall  der  Meder;  die 
Meder  herrschen  nach  I  130  rrjg  avco  'AXvoq  jtora^ov  liöirjg 
hji  £T£cc  XQirpcopra  xal  txarov  övolv  deovra  jzagz^  tj  ooov  oi 
Sxvftcu  r/Qxov.-)  Der  erste  medische  König,  der  Eroberungen 
unternimmt,  ist  Phraortes,  während  sein  Vater  Deiokes  ro 
Mrjdixov  sftvog  ovj'eorQtipt  fiovvov  xal  tovtov  rjQgs.  Die 
128  Jahre  der  Mederkerrschaft3)  werden,  wie  Zumpt  und 
G.  Rawlinson  zuerst  geseken  kaben,  dadurch  gewonnen,  dass 

weiter,  auf  815  —  810  v.  Her.,   herabrücken.     Das  verträgt  sich  mit  dem 
Datum  für  Pan's  Geburt  800  v.  Her.  vollkommen. 

1)  Das  herodotische  Datum  findet  sich  auch  bei  Plinius  XXXV  35 
duodevicesima  Olympiade  interiit  Candaides  ( 708/5,  das  ist  das  aus  Xanthos 
abgeleitete  Datum  für  Gyges,  Archilochos  und  die  Gründung  von  Thasos, 
das  auch  Euphorion  gab:  Clem.  Alex.  Strom.  I  1 1 7.  131),  aut  ut  quidam 
tradunt  eodem  anno  quo  Romulus,  d.  i.  nach  der  von  Plinius  befolgten 
varronischen  Rechnung  717  v.Chr.  In  Ol.  15  (720/17)  setzte  im  Anschluss 
an  Herodot  auch  Dionys  [von  Halikarnass]  die  Gründung  von  Thasos  Clem. 
Alex.  Strom.  I  131. 

2)  Die  vielumstrittene  Stelle  kann  vernünftiger  Weise  nur  heissen: 
Die  Zeit  der  Mederherrschaft  von  Phraortes  bis  Astyages  beträgt  128  J., 
innerhalb  dieses  Zeitraums  aber  haben  eine  Zeitlang  (28  J.  nach  I  104) 
nicht  die  Meder  sondern  die  Skythen  die  wirkliche  Herrschaft  ausgeübt. 

3)  Gewonnen  sind  dieselben  wohl  zweifellos  so,  dass  man  auf  die 
drei  Mederkönige  Phraortes  Kyaxares  Astyages  ein  Jahrhundert  rechnete 
und  dazu  28  Jahre  der  Skythenherrschaft  (1106)  zählte,  deren  Ursprung 
dunkel  bleibt.  Diese  Rechnung  ist  aber  nicht  etwa  von  Herodot  oder 
seinen  unmittelbaren  Gewährsmännern,  sondern  schon  vorher  gemacht, 
denn  bei  Herodot  sind  die  128  Jahre  bereits  willkührlich  und  ziemlich 
unbedacht  (denn  da  die  Skythenherrschaft  in  die  40  Jahre  des  Kyaxares 
fällt,  bleiben  für  ihn  nur  1 2  Jahre  der  selbständigen  Herrschaft,  was  ab- 
surd ist)  auf  die  drei  Konige  vertheilt. 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I,  \{ 


162 

man  c.  102  eine  Vertauschung  der  Jahre  des  Deiokes  (53)  und 
des  Phraortes  (22)  vornimmt;  dann  erhalten  wir 

Phraortes  53  -f  Kyaxares  40  (rsooeQdxovTa  szea  ovv  xolöl 
2xv&ai  rjQgav  I  107)  +  Astyages  35  =  128  J. 
Herodot  lässt,  geschichtlich  falsch  (G.  d.  A.  I  413.  461.  486),  die 
Mederherrschaft  mit  Kyros'  Regierungsantritt  in  Persien  558 
v.  Chr.  zu  Ende  gehen,  rechnet  die  128  Jahre  also  =  686 — 559 
v.  Chr.  Vorher  liegen  die  22  Jahre,  die  von  Phraortes  auf 
Dejokes  zu  übertragen  sind,  so  dass  Dejokes  708  beginnt;  dazu 
kommen  vielleicht  noch  einige  Jahre  der  Anarchie  (I  96) ')  — 
doch  ist  es  möglich,  dass  diese  bei  der  Chronologie  nicht  be- 
rücksichtigt sind.  Das  Ende  der  Assyrerherrschaft  fällt  also 
entweder  709  oder  einige  Jahre  früher,  ihr  Anfang,  d.  h.  der 
Antritt  des  Ninos,  entweder  1228  v.  Chr.  oder  etwas  vorher, 
also  etwa  rund  1240. 

Rechnen  wir  nun  von  Herakles  ==  900  Jahre  vor  Herodot 
=  1330  v.  Chr.  abwärts  3  Generationen  auf  ein  Jahrhundert, 
so  erhalten  wir: 

Herakles  1330  v.Chr. 

Alkaios  1296      ,. 

Belos  1263      „ 

Ninos  1230      „ 

Gründung  des  assyrischen  Reiches    [1240  oder]   1228      ,. 
Agron  1196      „ 

Gründung  der  lydischen  Dynastie  der  Herakliden  1221  „ 
Wie  wir  sehen  stimmt  die  Rechnung  für  Ninos  vollkommen. 
Dem  Ansatz  für  Agron's  Regierungsantritt  aber  liegt  vielleicht 
die  Annahme  zu  Grunde,  dass  Ninos  ihn  schon  wenige  Jahre 
nach  seiner  Thronbesteigung  auf  den  lydischen  Thron  gesetzt 
hat,  ehe  seine  eigene  Generation  begann.  Indessen  vielleicht 
wird  man  einen  anderen  Ausweg  vorziehen.  Es  wäre  nämlich 
denkbar,  dass  Herodot  seinen  Ansatz  der  Heraklidendynastie 
auf  505  Jahre  einem  Gewährsmann  [keinenfalls  Xanthos,  s.  u. 
S.  167  f.]  verdankt,  der  für  die  Mermnaden  eine  andere  Chrono- 
logie  befolgte   als   Herodot   (über   den  Ursprung  seiner  Daten 


1)  Man  könnte  annehmen,  dass  bierfür  die  28  Jahre,  die  Dejokes 
regiert,  auf  eine  volle  Generation  von  33  Jahren  (oder  abgerundet  WO  oder 
•40  Jahre)  zu  ergänzen  wären. 


163 

s.  u.  S.  166, 1).  Die  S.  161  Anm.  1  erwähnte  Rechnung  des  Xan- 
thos,  welche  Gyges  ins  Jahr  708/5  setzt,  würde  den  Anfang  der 
Herakliden  um  8 — 11  Jahre  herabbringen  auf  1213 — 1210  v.Chr., 
der  Ansatz  der  christlichen  Chronographen  für  Gyges'  Antritt, 
698  v.  Chr.,  vollends  um  28  Jahre  auf  1203  v.  Chr.  —  ein  Da- 
tum, das  den  Forderungen  der  obigen  Tabelle  fast  völlig  ent- 
sprechen würde.  Wenn  diese  Annahme  richtig  wäre,  so  erhiel- 
ten wir  einen  sehr  interessanten  Einblick  in  Herodots  Quellen; 
doch  wird  sie  sich  nie  streng  beweisen  lassen.  Immerhin  will 
ich  auch  noch  erwähnen,  dass  das  oben  für  Dejokes  gewonnene 
Datum  708  und  der  eventuell  etwas  früher  um  720  anzusetzende 
Abfall  der  Meder  von  den  Assyrern  vielleicht  in  Zusammenhang 
steht  mit  dem  Datum  für  Gyges,  mag  man  ihn  nun  mit  Hero- 
dot  ins  Jahr  716  setzen  oder  annehmen,  dass  seine  Quelle  das 
Datum  708 — 5  oder  696  gehabt  hat.  Es  wäre  denkbar,  dass 
der  ursprüngliche  Bericht,  dem  Herodot  folgt,  die  Herakliden 
in  Lydien  als  assyrische  Vasallenkönige  betrachtete,  und  Gyges 
wie  Dejokes  als  die  Begründer  der  Selbständigkeit  ihrer  Völker; 
vgl.  I  96  „nachdem  die  Assyrer  520  Jahre  über  das  obere  Asien 
geherrscht  hatten,  fielen  zuerst  die  Meder  von  ihnen  ab  .  .  . 
nach  ihnen  thaten  auch  die  übrigen  Völker  das  gleiche".  In 
der  That  hat  ja  die  neuere  Geschichtsforschung  vor  der  Ent- 
zifferung der  assyrischen  Inschriften  vielfach  so  gefolgert,  und 
auch  nach  derselben  bleibt  es  richtig,  dass  sich  Gyges  gegen 
die  allerdings  nur  vorübergehende  assyrische  Oberhoheit  auf- 
lehnte. Nur  ist  seine  Zeit  um  rund  ein  halbes  Jahrhundert, 
bis  auf  ca.  660,  herabzurücken,  während  Dejokes  allerdings  um 
715  lebte,  aber  in  diesem  Jahre  von  den  Assyrern  besiegt  und 
gefangen  wurde  (G.  d.  A.  I  374.  462). 

Doch  genug  der  Hypothesen.  Die  sicheren  Daten  sind 
wichtig  genug  und  reichen  zu  weiteren  Schlüssen  vollständig 
aus.  Es  gilt  die  Frage  zu  beantworten,  wie  Herakles  zu  seinen 
Ansätzen  Herakles  1330  v.Chr.,  Zerstörung  Trojas  ca.  1250  u.s.w. 
gekommen  und  wie  der  offenkundige  Zusammenhang  zwischen 
seinen  Daten  für  die  griechische  Sagengeschichte  und  die  orien- 
talische Geschichte  zu  erklären  ist. 

Dass  die  Daten  nicht  von  Herodot  selbst  gefunden  sind, 
haben  wir  schon  gesehen.  Das  wird  dadurch  bestätigt,  dass 
er  nirgends   für   sie   einen  Beweis  gibt,  sie  nirgends  als  seine 

11* 


164 

Vermuthung  bezeichnet  —  ganz  anders  lautet  seine  Behaup- 
tung über  das  Alter  Homers  und  Hesiods  II  53:  ?)Xixb/v  rttga- 
xooloiöc  Irtöi  öo'Atco  fi£v  jrQtößvTtQovg  yzvzo&ai  XCU  ov 
jtXtoot;  das  ist  seine  subjective  Meinung.  Ueberdies  besteht 
die  Abweichung  von  Herodots  Generationsrechnung  nicht  nur 
zwischen  den  Daten  für  Herakles  und  für  Troja,  sie  tritt  noch 
greller  hervor,  wenn  wir  weiter  hinabgehen.  Von  Leonidas 
f  480  bis  zu  Herakles  hinauf  enthält  der  Agiadenstammbaum 
(vgl.  u.  S.  170),  beide  eingeschlossen,  21  Generationen.  Wer 
wie  Herodot  drei  Generationen  auf  ein  Jahrhundert  rechnet, 
würde  also  für  Herakles  etwa  auf  1180  v.  Chr.,  eventuell,  wenn 
man  den  Tod  des  Kleomenes  um  die  Zeit  der  Schlacht  bei 
Marathon  zum  Ausgangspunkt  nähme,  auf  1190  v.Chr.  kommen, 
ihn  also  iy.2  Jahrhunderte  niedriger  ansetzen  müssen  als  He- 
rodot. 

Noch  weniger  stimmt  der  Ansatz  zu  Herodots  ägyptischer 
Geschichte.  Herodot  kennt  in  Aegypten  von  Menes  bis  auf 
Asychis,  den  Vorgänger  der  Dodekarchie,  nach  den  Angaben 
der  Priester  341  Könige  in  ebenso  vielen  Generationen  (II  142). 
Dieselben  sind,  mit  den  sonst  über  sie  gegebenen  Daten: 

1.  Menes  (Min), 

2 — 331.  330  Könige,  von  denen  der  letzte 

331.  Moeris    (c.  100.  101)    f  um  900  v.  Her.,     1330  v.  Chr. 

(II  13,  oben  S.  160), 

332.  Sesostris  (c.  102), 

333.  Pheros  (c.  111), 

334.  Proteus  (c.  112),   regiert  zur  Zeit  des  troischen  Krieges 

um  1250  v.  Chr., 

335.  Rhampsinit  (c.  121), 

336.  Cheops,  reg.  50  Jahre  (c.  124  ff.), 

337.  Chephren,  reg.  56  Jahre  (c.  127), 

338.  Mykerinos,  reg.  6  Jahre  (c.  129.  133), 

339.  Asychis, 

340.  Anysis,  unter  dem  der  Aethiope  Sabako  50  Jahre  lang 

Aegypten  beherrschte, 

341.  Sethos,  Zeitgenosse  des  Sanacharibos. 

Es  folgt  die  Dodekarchie,  die  frühestens  etwa  auf  700  \ .  (Mir. 
anzusetzen  wäre,  und  seit  663,  oder  nach  Herodots  Zahlen 
seit  670,  Psammetich  I. 


165 

Wie  man  sieht,  gibt  Herodot  für  die  5V2  Jahrhunderte  von 
Proteus  bis  zur  Dodekarchie  (excl.)  nur  7  Könige.  Er  hat  also 
garnieht  beachtet,  in  wie  schreiendem  Widerspruch  sein  Ansatz 
für  Moeris  und  Proteus  mit  seiner  eigenen  Geschichtserzählung 
steht,  nach  der  Proteus'  Tod  nicht  weniger  als  drei  Jahrhun- 
derte später  (etwa  930  v.  Chr.)  anzusetzen  wäre.  Wo  er  II  142 
die  Gesammtdauer  der  ägyptischen  Geschichte  von  Menes  bis 

Sethos    berechnet,    bestimmt    er    sie    auf  341  x   ^    =11340 

(richtig  113662/,})  Jahre,  kümmert  sich  also  auch  hier  um  seinen 
Ansatz  für  Moeris  nicht  —  zugleich  ein  evidentes  Beispiel  da- 
für, wie  wenig  man  in  solchen  Dingen  Consequenz  verlangen 
kann.  •) 

Hieraus  ergibt  sich  sowohl,  dass  Herodot  von  den  ägyp- 
tischen Priestern  überhaupt  keine  chronologischen  Daten  (ausser 
den  Zahlen  für  Cheops  und  seine  Nachfolger)  erhalten  hat,'2) 
wie  dass  die  Gleichung 

Proteus  ^)  =  TQcoixä  =  1250  v.  Chr. 
für  ihn  ein  fester,   aus  der  griechischen  Geschichte  gegebener 
Punkt  war,  aus  dem  das  Datum  für  Moeris  in  der  oben  ange- 
gebenen Weise  berechnet  ist. 

1)  Ganz  unmöglich  ist  dagegen  die  Angabe  II  140,  von  Anysis  bis 
auf  Aniyrtaios  (um  450)  seien  mehr  als  700  Jahre  verflossen,  wodurch 
Anysis'  Tod  auf  ca.  I  160  v.  Chr.  käme  Allgemein  hält  man  daher  die  Zahl 
für  verschrieben.  Kechnen  wir  von  Proteus  abwärts  drei  Generationen  auf 
ein  Jahrhundert,  so  wäre  Anysis  um  1030  gestorben.  Doch  kann  Herodot 
auch  ganz  anders  gerechnet  haben,  etwa  von  Psammetich  aufwärts.  Es 
ist  daher  unmöglich  die  Stelle  zu  emendiren. 

2)  In  Wirklichkeit  ist  Herodots  Königsliste  keine  zusammenhängende, 
sondern  besteht  I)  aus  einer  Liste  von  831  Namen  ohne  historische  Daten ; 
2)  aus  einzelnen  halb  oder  ganz  historischen  Königsgruppen,  die  vermuth- 
lich  ursprünglich  in  der  Liste  der  331  ihren  Platz  hatten  und  nur  durch 
Missverständniss  hinter  sie  gerückt  sind,  nämlich:  a)  Könige  des  Neuen 
Reichs,  Sesostris  bis  Rhampsinit;  b)  Pyramidenerbauer  des  Alten  Reichs, 
Cheops  bis  Asychis;  c)  Aethiopen-  und  Assyrerzeit,  Anysis  und  Setlios, 
die  an  ihrer  richtigen  Stelle  stehen  als  unmittelbare  Vorgänger  der  Dodek- 
archie und  Psammetichs. 

3)  oder  vielmehr  die  Gleichsetzung  des  ägyptischen  Königs,  der  auf 
Pheros  folgte  und  dessen  Namen  in  der  Sage  wir  nicht  kennen  [bei  Dio- 
dor  Ketes],  mit  dem  Proteus  der  Odyssee  (II  112  zovzov  exdtgaod-cu  xt\v 
ßaoikrjirjv  sXeyov  avÖQa  MefKplxrjv,  zip  xaza  xi\v  ^EkXrjVwv  yXiöooav 
ovvofxa  IlQOJxia  sivou). 


166 

Vielfach  hat  man  angenommen  (Niebuhr,  Lepsiüs,  Bran- 
dis  u.  a.),  Herodots  Ansätze  stammten  aus  der  lydischen 
Chronologie.  Hier  habe  er  zuverlässige  oder  ihm  zuverlässig 
erscheinende  Daten  erhalten,  auf  deren  Grund  er  die  Zeit  der 
älteren  griechischen  und  ägyptischen  Geschichte  bestimmt  habe. 
Aber  die  Sache  liegt  vielmehr  umgekehrt,  die  lydischen  Zahlen 
sind  aus  dem  griechischen  Ansatz  für  Herakles  berechnet.  Denn 
eine  wirkliche  lydische  Chronologie  hat  es  überhaupt  nicht  ge- 
geben. Die  drei  aus  dem  Alterthum  für  Gyges  überlieferten 
Ansätze  (716  Herodot,  708/5  Xanthos,  698  Africanus  und  Euse- 
bius)  sind  sämmtlich  den  assyrischen  Daten  gegenüber  unhalt- 
bar. Herodots  Zahl  für  die  Mermnaden  rechnet  einfach  5  Könige 
=  5  yereai  =  rund  1 70  Jahre  und  vertheilt  dann  diese  Jahre 
willkührlich  unter  die  einzelnen  Könige.1)  Selbst  für  Alyattes 
haben  wir  noch  keine  zuverlässigen  Angaben  (reg.  nach  Hero- 
dot 617 — 560,  nach  den  Chronographen  609 — 561,  nach  der 
parischen  Chronik  seit  605);  lediglich  die  14  (Chronogr.  15)  Jahre 
des  Kroesos  mögen  geschichtlich  sein.  Wenn  es  so  um  die 
Mermnaden  steht,  wie  kann  da  das  Datum  für  die  Herakliden 
historisch  sein?  Es  ist  vielmehr  aus  dem  feststehenden  Ansatz 
Herakles  =  1330  v.  Chr.  abgeleitet.  Daher  erklärt  es  sich  auch, 
dass  das  Datum  zur  Generationenrechnung  absolut  nicht  stimmt 
und  auch  historisch  zweifellos  viel  zu  niedrig  ist.  ^HQaxXtldai 
.  .  .  ccQ^avreg  eni  ovo  xe  xal  elxoöt  yeveäg  dvÖQwv  exta  ntvxt 
xt  xal  jttvxaxoöia,  Jtalg  Jtagä  jiaxQog  ixösxo/xtvog  x?)v  «Qy/ji' 
(I  7).  22  Generationen  würden  nach  Herodots  Rechnung  733'/3  J- 
ergeben.  Es  liegt  hier  der  umgekehrte  Fall  vor  wie  bei  Pro- 
teus. Beidemale  sind  die  Ansätze  für  die  orientalische  Ge- 
schichte nach  dem  griechischen  Datum  bestimmt:  Proteus  wird 

1)  Auch  hier  haben  Herodots  Angaben  eine  längere  Vorgeschichte. 
Aus  den  170  Jahren  (+  14  Tagen)  folgerte  man,  dass  die  Merninaden- 
dynastie,  der  für  Gyges'  Usurpation  die  riaiq  ig  xbv  Titixnxov  anöyovov 
rvyta)  bestimmt  war  (I  13),  durch  Apollos  Gunst  drei  Jahre  über  die 
7i?7i()a)ß8vr],  d.h.  die  den  5  yevsal  zustehenden  167  Jahre,  hinaus  regiert 
habe  (I  91,  s.  Schoene  Hermes  IX  496).  In  Wirklichkeit  ist  das  ein  Zirkel- 
schluss  [G.  d.  A.  1413  hatte  ich  das  noch  nicht  erkanntj.  Es  stimmt  voll- 
ständig zu  dem  bekannten  Charakter  des  herodoteischen  Werkes,  dass  er 
diese  religiös  gefärbte  Chronologie  aufnahm  und  vielleicht  um  ihretwillen 
die  Daten  derjenigen  Quelle,  die  er  für  die  Herakliden  benutzte,  verwarf, 
s.  o.  S.  162  f. 


167 

dadurch   viel   zu  hoch,   der  Heraklide  Agron   viel   zu   niedrig- 
angesetzt. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  zugleich,  dass  der  Rahmen  von 
Herodots  älterer  Geschichte  Lydiens  nicht  lydischen  sondern 
griechischen  Ursprungs  ist.  Nicht  aus  einheimischer  Ueber- 
lieferung  stammt  das  lydische  Königshaus  der  Herakliden  (aus 
dem  Duncker  Sandoniden  gemacht  hat  —  dass  Sandon  in 
Lydien  nichts  zu  thun  hat,  sondern  lediglich  nach  Kilikien 
gehört,  habe  ich  ZDMG.  XXXI  736  ff.  gezeigt),  sondern  aus  der 
griechischen  Sage,  welche  Herakles  zur  Omphale  führt:  Alkaios 
ist  der  Sohn  des  Herakles  und  einer  Sklavin  der  Omphale 
(Her.  I  7;  vgl.  Hellanikos  fr.  102  bei  Steph.  Byz.  'AxtXrjg-  noXig 
Avöiac  .  .  .  eoixt  dh  XtytG&ai  ajid  AxtXov,  zov  HgaxXtovg 
xal  MaXiöog  jtcudog,  öovX?jg  rijg  'OfityccXidog,  cuq  EXXavixog). 
Jetzt  wo  wir  sehen,  zu  wie  grossen  chronologischen  Unzuträg- 
lichkeiten die  Anknüpfung  der  lydischen  Könige  an  Herakles 
führt,  werden  wir  kein  Bedenken  mehr  tragen,  Herakles  (oder 
einen  ihm  entsprechenden  lydischen  Gott)  aus  der  einheimi- 
schen lydischen  Ueberlieferung  zu  streichen.  Damit  fallen  auch 
die  zwei  Dynastien,  Atyaden  und  Herakliden,  welche  bei  He- 
rodot  auffallender  Weise  der  historischen  Dynastie  der  Mer- 
mnaden  vorausgehen.  Die  Lyder  selbst  wussten  vor  den  Mer- 
mnaden  nur  von  einem  Geschlecht  von  22  Königen,  das  bis  in 
die  Urzeit  hinaufragte  und  auf  Atys  und  seinen  Sohn  Lydos, 
die  Begründer  des  Volks  (Herod.  I  7.  Xanthos  fr.  1  bei  Dion. 
Hai.  I  28),  zurückging.  Durch  die  Einführung  der  griechischen 
Heraklessage  ist  diese  Dynastie  bei  Herodot  —  natürlich  nicht 
von  ihm  sondern  schon  vor  ihm  —  in  zwei  zerrissen  worden. 
Die  einheimische  Ueberlieferung  hat  offenbar  Xanthos  gegeben; 
den  Atys  und  Lydos  kennt  er,  aber  keine  Spur  weist  darauf  hin, 
dass  er  von  den  den  Herakliden  etwas  wusste.  Bei  Nikolaos 
Dam.,  der  im  wesentlichen  dem  Xanthos  folgt,  aber  ihn  mit 
Herodot  contaminirt  hat  (so  notorisch  in  der  Kroesosgeschichte), 
finden  sich  die  Herakliden  allerdings  fr.  49,  60  Müller,  aber 
in  einer  fast  wörtlich  aus  Herodot  I  13  entnommenen  Einlage 
über  den  Spruch  des  delphischen  Orakels,  der  Gyges'  Thron- 
besteigung zulässt  (pn  roTg  'HQaxZeidaig  siq  jcdftjcrrjv  ytveav 
rpcoi  rloig  Jtagä  rcov  MsQfivaöcoi').  Auch  hier  zeigt  sich  übri- 
gens deutlich,   dass  Herodot  den  Xanthos   nicht  gekannt  oder 


168 

benutzt  hat.  Diese  weit  verbreitete  und  immer  wieder  neu 
auftauchende  Meinung  entbehrt  jedes  Schattens  von  Begrün- 
dung: wo  beide  Schriftsteller  dieselben  Ereignisse  berichten, 
weichen  sie  durchweg  aufs  stärkste  von  einander  ab.  Z.  B.  heisst 
Gyges'  Vorgänger,  Herodots  Kandaules,  bei  Xanthos  Sadyattes 
(Nie.  Dam.  49).  Offenbar  hat  Xanthos  frühestens  gleichzeitig 
mit  Herodot  (fr.  3  aus  Eratosthenes  bei  Strabo  I  3,  4),  vermuth- 
lich  aber  noch  etwas  später,  um  420  v.  Chr.,  geschrieben.1) 

Wie  mit  den  Lydern  verhält  es  sich  auch  mit  den  Assyrern. 
Die  520  Jahre  des  assyrischen  Reiches  sind  durchaus  unhisto- 
risch, und  können  gleichfalls  nur  aus  der  Anknüpfung  des 
Ninos  an  Herakles  entstanden  sein.  Dass  es  um  die  Jahre  der 
Meder,  welche  den  Schlusstermin  der  Assyrerherrschaft  bilden, 
nicht  anders  bestellt  ist,  als  um  die  der  Mermnaden,  haben 
wir  bereits  gesehen.  Im  übrigen  ist  es  wohl  schwerlich  Zufall, 
dass  Agron  von  Herakles  um  ebenso  viele  Generationen  ab- 
steht, wie  die  Söhne  des  Aristomachos,  so  dass  die  Begrün- 
dung der  Herrschaft  der  Herakliden  im  Peloponnes  und  in 
Lydien  in  dieselbe  Zeit  fallen  würde. 

Ziehen  wir  die  Summe  der  bisher  gewonnenen  Resultate. 
so  ergibt  sich: 

1.  Die  Daten  Herodots  für  die  griechische  Sagengeschichte 
sind  nicht  der  orientalischen  Chronologie  entnommen,  sondern 
müssen  aus  der  griechischen  Ueberlieferung  erklärt  werden. 

2.  Sie  sind  nicht  von  Herodot  aufgestellt,  mit  dessen  Grund- 
sätzen sie  vielmehr  in  Widerspruch  stehen,  sondern  von  ihm 

1)  Ich  benutze  diese  Gelegenheit,  um  ein  anderes  angeblich  auf 
Lydien  bezügliches  Fragment  des  Nikolaos,  das  Müller  auch  unter  die 
Ucberreste  des  Xanthos  aufgenommen  hat  (zu  fr.  S),  richtig  zu  stellen.  Ich 
meine  fr.  71  Müller,  70  Dindorf,  aus  Const,  porphyr.  de  themat.  I  ;*, 
eine  Geschichte  von  Alyattes  und  mysischen  Colonisten  in  Kleinasien.  Es 
ist  die  Geschichte,  welche  Herod.  V  12  von  Darius  und  den  Paeonern  er- 
zählt. Hier  liegt  nicht  etwa  eine  Uebertragung  vor,  sondern  einfach  eine 
Flüchtigkeit  Constantins.  Das  wird  nicht  nur  durch  die  wörtliche  Ueber- 
einstimmung  mit  Herodot  bewiesen,  sondern  vor  allem  dadurch,  dass  Con- 
stantin  das  18.  Buch  des  Nikolaos  citirt  —  die  Emendation  8  ist  verkehrt. 
Die  lydische  Geschichte  des  Nikolaos  endete  im  7.  Buch,  aber  dass  er  im 
18.  erst  bei  Darius  und  dem  ionischen  Aufstande  war,  ist  nach  der  weit- 
schweifigen Oekonomie  seines  Werkes  sehr  begreiflich.  Auch  Thraemer 
Pergaraon  325,  1  hat  auffallender  Weise  diesen  Zusammenhang  nicht  rich- 
tig erkannt. 


169 

aus  einem  älteren  Schriftsteller  ohne  weitere  Begründung  ent- 
nommen. Sie  müssen  also  auf  eine  anerkannte  Autorität  zu- 
rückgehen. 

3.  Sie  sind  bereits  vor  Herodot  benutzt  worden,  um  die 
Dauer  des  assyrischen  Reiches  und  der  Herrschaft  der  Hera- 
kliden  in  Lydien  zu  bestimmen,  und  zwar  indem  man  mittels 
der  Rechnung  von  drei  Generationen  auf  ein  Jahrhundert  von 
dem  Datum  Herakles  =  1330  v.  Chr.  aus  ihren  Anfang,  aus 
der  Königsreihe  der  Mermnaden  und  der  Meder  ihren  End- 
punkt bestimmte.1)  Der  Urheber  der  Daten  muss  also  geraume 
Zeit  vor  Herodot  gelebt  haben.  In«  derselben  Weise  hat  dann 
Herodot  selbst  von  dem  Datum  Fall  Trojas  =  1250  aus  die 
Zeit  der  ägyptischen  Könige  Proteus  und  Moeris  bestimmt. 

Fragen  wir  nun,  wer  die  Daten  aufgestellt  hat,  so  lässt 
sich  völlige  Sicherheit  allerdings  nicht  gewinnen;  aber  mit 
grösster  Wahrscheinlichkeit  wird  man  sie  auf  Hekataeos  zu- 
rückführen dürfen.  Herodot's  unmittelbare  Vorgänger  und  Zeit- 
genossen, wie  Pherekydes,  Akusilaos  u.  a.,  sind  durch  die  unter 
3.  aufgeführte  Erwägung  ausgeschlossen;  auch  findet  sich  keine 
Spur,  dass  sie  auf  Herodot  irgend  welchen  Einfluss  geübt 
hätten.  Dagegen  steht  Herodot  noch  ganz  unter  dem  Einfluss 
des  Hekataeos.  Wo  er  mehr  weiss  als  dieser  oder  ein  anderes 
Weltbild  gewonnen  hat,  wie  in  der  Geographie,  polemisirt  er 
gegen  ihn;  dadurch  wird  es  nur  um  so  wahrscheinlicher,  dass 
er  in  anderen  Fällen  sich  ihm  anschliesst,  namentlich  wenn  er 
für  den  Gegenstand  weder  Sinn2)   noch  inneres  Interesse  hat, 


1)  Dass  diese  Rechnungen  nicht  von  Herodot  selbst  angestellt  sein 
können  [etwa  in  seinen  'Aoovyiot  Xoyoi],  ergibt  ihre  oben  gegebene  Ana- 
lyse. Ueberdies  würde  Herodot  sich  ganz  anders  ausdrücken,  wenn  er 
sie  selbst  berechnet  hätte  —  ganz  abgesehen  davon,  dass  das  garnicht  zu 
seiner  Arbeitsweise  stimmen  würde.  Die  505  resp.  520  Jahre  hat  er  offen- 
bar als  feste  überkommen  und  ihrem  Ursprung  nicht  weiter  nachgespürt. 

2)  Das  beweist  sowohl  die  verkehrte  Abrundung  der  341  Generationen 
auf  11340  Jahre  II  141,  wie  die  falsche  Berechnung  der  Tagezahl  von 
70  Jahren  132  und  die  falsche  Angabe  über  das  ägyptische  Jahr  II  4. 
Das  Wesen  des  Kalenders  ist  Herodot  offenbar  völlig  dunkel  geblieben. 
Das  stimmt  vortrefflich  zu  seinem  Erdbild  und  seiner  Theorie  über  die 
Sonnenbahn  und  die  Wirkung  der  Winde  II  24  ff.  Alle  Fortschritte  der 
Naturwissenschaft  lassen  ihn  kalt;  die  Lehre  von  der  Kugelgestalt  der 
Erde,   die   er  gelegentlich  gehört  haben  muss,  wird  ihm  als  Einfall  eines 


170 

wie  bei  der  Chronologie.  Dass  Hekataeos  in  seinen  Genea- 
logien ein  allgemeines  chronologisches  System  aufgestellt  haben 
muss,  ist  ja  zweifellos;  und  es  wäre  seltsam,  wenn  dasselbe 
ganz  ohne  Wirkung  geblieben  wäre. 

Hekataeos  —  man  gestatte  mir,  fortan  diesen  Namen  zu 
gebrauchen  —  hat  wie  alle  Chronologen  seine  Daten  mittels 
der  griechischen  Stammbäume  gefunden.  Aber  er  hat  die 
Generation  nicht  zu  33*/3  sondern  zu  40  Jahren  gerechnet.  Das 
wird  sofort  klar,  wenn  wir  den  Stammbaum  der  spartanischen 
Agiaden  (Herod.  VII  204)  von  dem  Datum  Herakles  =  1330 
aus  mit  den  entsprechenden  Zahlen  versehen.1) 

1330  v.Chr.    1.  Herakles. 

1290  „        2.  Hyllos  [am  Ende  seiner  Generation  1250  Zer- 
störung Trojas], 

1250  „        3.  Kleodaios, 

1210  „        4.  Aristomachos, 

1170  „        5.  Aristodamos  [dorische  Wanderung], 

1130  „        6.  Eurysthenes, 

1090  „        7.  Agis, 

1050  „        8.  Echestratos, 

1010  „        9.  Labotas, 

970  „  10.  Doryssos, 

930  „  11.  Agesilaos, 

890  „  12.  Archelaos, 

850  „  13.  Telekles, 

810  „  14.  Alkamenes, 

770  ,,  15.  Polydoros  (1.  messen.  Krieg  ca.  735 — 715), 

730  „  16.  Eurykrates, 


Verrückten  erschienen  sein.  —  Nach  all  diesen  Proben  ist  es  übrigens 
garnicht  unmöglich,  dass  Herodot  selbst  sich  bei  der  Bestimmung  der  Zeit 
des  Anysis  verrechnet  hat  (oben  S.  105,  1). 

1)  Der  Eurypontidenstammbaum  (Herod.  VIII  131)  hat,  da  Soos  noch 
nicht  zwischen  Prokies  und  Eurypon  eingefügt  ist,  eine  Glied  weniger. 
Das  würde  sich  aber  bei  Archidamos  S.  d.  Zeuxidamos  reg.  4(ü)  -427  aus- 
gleichen, da  sein  Vater  nicht  zur  Regierung  gekommen  ist.  Er  steht  mit 
seinem  Mitkönig  Pleistoanax  nach  Herodots  Stammbaum  auf  gleicher  Linie, 
nach  den  späteren,  die  Soos  eingeschoben  haben,  um  für  die  ältere  Zeit 
die  zeitgenössischen  Könige  der  beiden  Häuser  auf  dieselbe  Linie  zu 
bringen,  um  eine  Stufe  tiefer. 


171 

090  v.  Chr.  17.  Anaxandros, 

650  „  18.  Eurykratidas, 

610  „  19.  Leon, 

570  „  20.  Anaxandridas,  Zeit  des  Kroesos  ca.  560 — 520, 

530  „  21.  Kleomenes  f  ca.  488,  Leonidas  f  480, 

490  „  22.  Pleistarchos  480—458,  Pausanias  f.  469/8, 

450  „  23.  Pleistoanax  458—408.') 

Je  weiter  wir  hinabgehen,  desto  mehr  nähern  sich  die 
gewonnenen  Ansätze  der  Wirklichkeit.  Der  einzige  ältere  König, 
dessen  Zeit  wir  annähernd  bestimmen  können,  Polydoros,  steht 
noch  beträchtlich  zu  hoch;  bei  Anaxandridas  ist  nahezu,  bei 
Kleomenes  vollständig  das  richtige  Datum  gewonnen.  Aller- 
dings hat  sein  Bruder  Leonidas  noch  10  Jahre  über  den  sup- 
ponirten  Endtermin  der  Generation  490  hinaus  gelebt;  auch 
ist  zu  beachten,  dass  die  vier  Brüder  Kleomenes  Dorieus  Leo- 
nidas Kleombrotos  sämmtlich  im  besten  Mannesalter  gestorben 
sind,  diese  Generation  also  ihr  normales  Ende  nicht  erreicht 
hat.  Andererseits  empfiehlt  sich  der  Einschnitt  um  490  auch 
durch  den  gleichzeitigen  Regierungswechsel  im  Eurypontiden- 
hause  (Demarat  wird  490  abgesetzt,  sein  Nachfolger  Leotychi- 
des  steht  eine  Generation  tiefer).  Für  die  folgenden  Genera- 
tionen dagegen,  Pleistarchos  und  Pleistoanax,  passt  der  Ein- 
schnitt 450  bereits  nicht  mehr.  Pleistarchos  stirbt  schon  acht 
Jahre  vorher  —  das  gleicht  sich  dann  allerdings  durch  Plei- 
stoanax' lange  Regierung  wieder  aus  —  die  eigentlich  für  diese 
Generation  massgebenden  Männer,  Pausanias  und  Leotychides, 
werden  noch  um  weitere  10  Jahre  vorher  (469/8)  der  eine  ge- 
tödtet,  der  andere  abgesetzt.  Demnach  ist  es  weitaus  das 
wahrscheinlichste,  dass  die  Ansätze  von  einem  Schriftsteller 
herrühren,  der  um  500  v.  Chr.  lebte  und  mit  dem  Tod  des 
Kleomenes  und  der  Absetzung  Demarats  eine  Generation  ab- 
schloss.  Wie  vortrefflich  das  für  Hekataeos  passt,  bedarf  keiner 
Bemerkung;  sein  Auftreten  beim  ionischen  Aufstand  (Herod.  V 
36.  125)  lehrt  ja,  dass  seine  Generation  in  die  Jahre  530 — 490, 
eben  in  die  Zeit  des  Kleomenes,  zu  setzen  ist.  Dies  Resultat 
wird  auch  nicht  geändert,  wenn  wir  in  Betracht  ziehen,   dass 


1)  Dass  Pleistoanax    nicht  der  Sohn   des  Pleistarchos   sondern  der 
seines  Vetters  Pausanias  ist,  ist  für  die  Generationenfolge  gleichgültig. 


172 

der  Ausgangspunkt  unserer  Kechnung  (Herodot  =  430  v.  Chr.) 
nur  ein  aproximatives,  kein  absolutes  Datum  ist,  und  in  Folge 
dessen  alle  Ansätze  aufwärts  wie  abwärts  um  ein  paar  Jahre 
verschoben  werden  können. 

Dagegen  lässt  sich  allerdings  nicht  mit  Sicherheit  be- 
haupten, dass  Hekataeos  gerade  den  Heraklidenstammbaum  in 
erster  Linie  seiner  Rechnung  zu  Grunde  gelegt  hat.  Derselbe 
war  zwar  auch  im  Jahre  500  schon  der  wichtigste  aller  grie- 
chischen Stammbäume  —  wie  es  der  einzige  uns  vollständig 
erhaltene  und  im  Detail  controllirbare  ist  — ,  aber  neben  ihm 
standen  dem  Schriftsteller  zahlreiche  andere  zur  Verfügung. 
Zunächst,  wenn  er  von  Adel  war,  wie  Hekataeos  und  Hero- 
dot,1) der  eigene.  Von  Hekataeos  wissen  wir,  dass  er  sich  im 
IG.  Gliede  auf  einen  Gott  zurückführte  (Herod.  II  143);  der 
Heros,  von  dem  sein  Geschlecht  abstammte,  stand  also  15  Ge- 
nerationen vor  ihm  (beide  eingeschlossen),  wäre  mithin  bei 
40 jähriger  Generationsdauer  auf  1090 — 1050  anzusetzen.2)  Das 
wäre  die  Epoche  der  ionischen  Wanderung;  denn  diese  fällt 
zwei  Generationen  nach  der  dorischen  Wanderung  1170  v.Chr. 
Denn  durch  die  Dorer  wird  Melanthos  aus  Pylos  verjagt  und 
gewinnt  in  Athen  das  Königthum  (Herod.  V  65.  Paus.  II  18,  8); 
nach  dem  Tode  seines  Sohnes  Kodros  aber  ziehen  die  Ionier 
unter  Neileus  nach  Milet  (Herod.  IX  97.  Paus.  VII  2)  >).  Der 
Einwand,  der  erhoben  werden  könnte,  es  sei  unwahrscheinlich, 
dass  der  gottentsprossene  Stammvater  eines  Adelsgeschlechts 

1)  s.  Anbang  2  S.  193. 

2)  Nach  Herodots  Kechnnngsweise  käme  er  auf  1000  v.  Chr.  zu  stehen, 
also  auf  alle  Fälle  beträchtlich  nach  der  ionischen  Wanderung,  welches 
Datum  man  auch  für  dieselbe  annehmen  mag. 

3)  Diese  Erwägung  hat  auch  zu  dem  uns  in  der  Literatur  allein  erhal- 
tenen Ansatz  der  ionischen  Wanderung  60  Jahre  nach  der  dorischen  geführt, 
60  Jahre  sind  offenbar  2  Generationen  zu  30  anstatt  331/;}  Jahren.  Daher 
erhalten  Melanthos  37,  Kodros  21  Jahre,  zusammen  5s  (Kastor  bei  Euseb. 
ehron.  I  ISO.  exe.  Barb.  p.  40  b).  Dieselbe  Generationsrechnung  führt  aber 
auch  dazu,  den  Abstand  von  der  Einnahme  Trojas  bis  zum  Herakliden- 
zug  auf  60  Jahre  zu  verkürzen,  und  so  rechnet  denn  auch  die  attische 
Königsliste.  Die  Einnahme  Ilions  fällt  nach  der  Sagengeschichte  ins  vor- 
letzte (chron.  par.)  oder  letzte  Jahr  des  Menestheus  oder  in  das  erste  des 
Demophon  (Clem.  Alex.  Strom.  I  104,  gewöhnlich  als  fr.  143  des  Ilellanikos 
bei  Müller  benutzt,  wo  aber  die  Stelle  ganz  verstümmelt  abgedruckt  ist). 
Die  folgenden  Könige  bis  auf  Melanthos  regieren 


173 

in  so  späte  Zeit,  ans  äusserste  Ende  der  mythischen  Epoche, 
gesetzt  worden  sei,  wird  dadurch  hinfällig,  dass  nach  officiellem 
Zeugniss  der  Ahnherr  der  Poseidonpriester  von  Halikarnass, 
Telainon  Sohn  des  Poseidon,  zur  Zeit  der  Gründung  der  Stadt 
lebte;  diese  aber  kann  frühestens  der  ionischen  Wanderung 
gleichzeitig  angesetzt  werden.1)  Wie  Hekataeos  oder  die  Priester 


nach  Kastoi 

p  bei  Eusebius 

nach  Africanus 

Deinophon 

33  Jahre, 

35  Jahre, 

Oxyntas 

12      „ 

14      „ 

Apheidas 

1        » 

1       . 

Thymoites 

8       . 

9      „ 

54  Jahre.  59  Jahre. 

[Die  Differenz  gleicht  sich  dadurch  aus,  dass  Menestheus  nach  Eusebius 
wie  nach  der  par.  Chronik  23  Jahre,  nach  Africanus  nur  1 9  Jahre  regiert.  | 
Deutlich  liegt  hier  die  Annahme  zu  Grunde,  dass  von  der  Einnahme 
Ilions  bis  zum  Heraklidenzug  60  Jahre  verlaufen  seien,  wie  Strabo  XIII  1,  3, 
offenbar  nach  Ephoros,  auch  angibt:  h^xovra  szeoi  ztöv  Tqojixöjv  vgts- 
yov,  vn  ocvti)v  tj,v  TÜv  ^HQaxXziöwv  zig  Hf).onövvr\oov  xüd-oöov.  In  der 
parischen  Chronik  sind  diese  Ansätze  wahrscheinlich  nur  ganz  wenig  nio- 
dihcirt.  Sie  setzt  den  Fall  Trojas  1209,  die  ionische  Wanderung  entweder 
K>77  (so  alle  älteren)  oder  1087  v.Chr.  (so  Gutschmid  bei  Flach  chron. 
par.  15;  erhalten  ist  nur  JIM,  das  zu  813  oder  823  ergänzt  werden  kann, 
die  Datirung  nach  dem  attischen  König  ist  durch  ein  Abschweifen  in  ZI.  39 
verschrieben,  ßaoiXfvovrog  'A&rjvajv  Msvso&iiJg  XQZioxaiöixäxov  exovg 
statt  ßao.  'A&.  Mtdovzog  . . .  txovg).  Letzteres  Datum  ist  viel  wahrschein- 
licher. Dann  beträgt  der  Abstand  beider  Ereignisse  122  Jahre,  eine  ge- 
ringfügige pragmatisirende  Correctur  von  120.  Jedenfalls  ist  die  alte  An- 
nahme, dass  das  der  Chronik  zu  Grunde  liegende  System  die  dorische 
Wanderung  60  Jahre  nach  Trojas  Fall  ins  J.  1 149  ansetzte,  richtig,  so  pro- 
blematisch auch  manche  weitere  Folgerungen  von  Boeckh  und  Brandis 
sind.  —  Da  Kastor  den  Daten  des  Eratosthenes  folgt,  welcher  die  60  Jahre 
von  der  dorischen  zur  ionischen  Wanderung  festhielt,  aber  jene  80  Jahre 
nach  Trojas  Fall  ansetzte,  haben  sich  bei  ihm  alle  Ereignisse  um  eine  Re- 
gierung verschoben:  der  Heraklidenzug  steht  unter  Melanthos,  die  Auf- 
nahme der  aus  Achaia  vertriebenen  Ionier  unter  Kodros  (Pausan.  VII  1 ,  9 
richtig  unter  Melanthos),  die  ionische  Wanderung  unter  Akastos  dem  Sohne 
Medons.  Dadurch  darf  man  sich  nicht  auf  eine  falsche  Fährte  locken  lassen. 
1)  CJG.  2655  =  Dittenberger  sylloge  372.  Mit  Recht  verwirft 
Dittenberger  Boeckh's  Ansätze.  Anthas  Sohn  des  Alkyoneus,  der  im 
Stammbaum  vorkommt,  ist  von  Anthas  dem  Gründer  von  Halikarnass,  Sohn 
des  Poseidon,  verschieden.  Die  Gründung  von  Halikarnass  durch  die 
Dorer  von  Troezen  (Kallimachos  bei  Steph.  Byz.  "AvS^r/g  ix  Tooi^tjpog 
ßtTioxrjGS  Xaßwv  xi\v  dvfxaivav  (pvli/v)  kann  frühestens  in  die  Zeit  der 
Enkel  des  Tenienos  gesetzt  werden.     Denn  Argos   wird  von  Temenos' 


174 

von  Halikarnäss  haben  natürlich  auch  andere  angesehene  Adels- 
geschlechter Ioniens  ihren  vollständigen  Stammbaum  gehabt, 
der  oft  in  weit  höhere  Zeit  hinaufragte,  z.  B.  der  des  Thaies,  der 
auf  Kadmos  zurückging;  ebenso  die  Neliden  von  Milet  u.  s.  w. 
Aber  auch  die  übrige  griechische  Welt  bot  Stammbäume  in 
Fülle.  Der  Stammbaum  der  Philaiden  von  Athen  ist  uns  aus 
Pherekydes  erhalten  (fr.  20,  bei  Marcellin.  vit.  Thuc.  3),  aber 
leider  nur  in  verstümmelter  Gestalt,  so  dass  wir  ihn  nicht  zur 
Vergleichung  heranziehen  können.1)  Dagegen  kennen  wir  den 
Stammbaum  der  Könige  von  Kyrene.  Battos,  der  Gründer 
Kyrenes,  vertrat  die  17.  Generation  nach  dem  Argonauten 
Euphemos,  dem  Eurypylos  am  Triton  die  Erdscholle  als  Sym- 
bol der  Herrschaft  seiner  Nachkommen  an  dieser  Küste  über- 


Sohn  Keisos,  die  übrigen  Städte  der  Landschaft  von  dessen  Brüdern  und 
ihrem  Schwager  Deiphontes  gegründet;  erst  die  nächste  Generation  konnte 
Colonien  gründen.  Daher  ist  Althaimenes  der  Oekist  von  Kreta  ein  Sohn 
des  Keisos.  Dass  Telamon  Sohn  des  Poseidon  zur  Zeit  der  Gründung 
der  Stadt  lebte,  sagt  die  Inschrift  ausdrücklich:  tovq  yeyerrjf/lvovc  änb 
rijQ  xtiozojq  xaru  yevog  lepelg  zov  Tloofi(ScüvoQ  xov  xjctTiÖQvd-tvtoq 
vnb  twv  ztjv  üno ixiav  ex  TQOt^fjvo g  dyayövzwv  Tloaeiöwvi  xal 
ÄnölXojvi.  Vor  der  Gründung  des  Heiligthiuns  kann  es  keine  Priester 
gegeben  haben.  Allerdings  erzählen  andere  auch  von  einer  vordorischen 
Gründung  von  Halikarnäss  durch  Anthes  (Strabo  VIII  6,  14.  XIV  2.  IC. 
Pausan.  II  30,  9).  Doch  dass  diese  hier  nicht  in  Betracht  kommen  kann, 
lehrt  die  Inschrift  selbst.  Die  agyaia  Gir/Är/.  aus  der  die  Inschrift  abge- 
schrieben ist,  nennt  27  Namen  in  (wahrscheinlich)  15  Generationen  und  gibt 
ihnen  zusammen  504  Jahre.  Setzen  wir  die  Gründung  von  Halikarnäss  mit 
der  ionischen  Wanderung  gleichzeitig  um  1090  —  1030.  so  wäre  der  letzte 
genannte  Priester,  nach  dessen  Tode  spätestens  das  Original  aufgestellt 
sein  muss,  um  590  -  530  gestorben.  Ueber  den  Anfang  des  sechsten  Jahr- 
hunderts wird  man  aber  schwerlich  die  Abfassung  eines  derartigen  Docu- 
menta hinaufrücken  können,  geschweige  denn  mit  Boeckh  bis  691  v.Chr. 
1)  Zwischen  Hippokieides  archon  of>6  und  seinem  Vater  Tisandros 
(Herod.  VI  12S)  ist  fälschlich  Miltiades  eingeschoben;  aber  es  fragt  sich 
ob  nicht  dafür  Namen  ausgefallen  sind;  auch  Kypselos,  der  Vater  des 
Miltiades  des  Oekisten  der  Chersones,  fehlt.  Denkbar  wäre  z.  B.  dass  der 
Name  Tisandros  sich  wiederholte.  Wenn  der  Stammbaum  so  reconstruirt 
werden  darf,  wie  Müller  und  Töpffer  Att.  Geneal.  'IIb  annehmen,  so 
wäre  Hippokieides  der  12.  Nachkomme  des  Philaios,  Sohnes  des  Aias 
(nach  unserer  Zählweise,  mit  Ausschluss  des  Philaios).  Aias  würde  dann 
sehr  tief  hinabgerückt,  bei  40jähriger  Generationsrechnung  auf  1040  v.Chr. 
Es  ist  möglich,  dass  der  Stammbaum  des  attischen  Adelsgesclilechts  so 
rechnete;  dann  war  er  für  den  Historiker  nicht  zu  verwerthen. 


175 

geben  hatte  (Pindar  Pyth.  4,  16).  Wie  immer  sind  auch  hier 
bei  der  Zählung  beide  mitgerechnet.  —  Wir  erhalten  also: 

1.  Der  Argonaute  Euphemos, 

17.  Battos  L,    gründet   Kyrene   um   631,    regiert   40  Jahre 

(Herod.  IV  159), 

18.  Arkesilaos  L,  regiert  16  Jahre  (ib.), 

19.  Battos  IL  o  tvöaiftcov  um  570, 

20.  Arkesilaos  IL, 

21.  Battos  III.  6  y/oloQ,  Gem.  Pheretime  (f  ca.  510), 

22.  Arkesilaos  III.,  f  ca.  520, 

23.  Battos  IV., 

24.  Arkesilaos  IV.,  siegt  in  Delphi  462  (Pindar  Pyth.  IV). 

Euphemos  ist  Zeitgenosse  des  Herakles;  in  seinen  späteren 
Gliedern  ist  dieser  Stammbaum  also  dem  der  Agiaden  um  eine 
Stelle  voraus.  Gehen  wir  dagegen  von  dem  wenn  nicht  ab- 
solut so  doch  approximativ  sicheren  Datum  der  Besiedelang 
Kyrenes  aus,  so  steht  Battos  I.  um  ein  Glied  tiefer  als  seine 
Zeitgenossen;  eine  40jährige  Generationenrechnung  von  630 
aufwärts  würde  für  Euphemos  und  den  Argonautenzug  1270 
v.  Chr.  ergeben. 

Aehnliche  Discrepanzen  zwischen  den  Stammbäumen  wer- 
den häufig  vorgekommen  sein.  Im  allgemeinen  aber  hat  offen- 
bar zwischen  ihnen  eine  weitgehende  Uebereinstimmung  ge- 
herrscht,1) nicht  etwa  weil  sie  historisch  oder  weil  sie  nach 
demselben  chronologischen  System  angefertigt  wären  —  davon 


1 )  Allerdings  gibt  es  manche  weit  kürzere  Stammbäume.  So  vielleicht 
der  der  Philaiden  (S.  I74),  sicher  der  der  molossischen  Könige  von  Epiros. 
Zwischen  König  Tharypas,  der  im  Jahre  429  noch  ein  Knabe  war  (Thuk. 
II  80),  und  Pyrrhos  dem  Sohne  des  Achilleus  lagen  nur  1 5  Generationen 
(incl.  oder  excl.?)  Pausan.  I  II.  Nach  der  Analogie  des  Agiadenstamm- 
baumes  müssten  es  mindestens  20  oder  21  sein.  Der  Stammbaum  der 
Molosserkönige  ist  aber  jedenfalls  auch  weit  später  gemacht  als  der  der 
altgriechischen  Geschlechter.  —  Erwähnung  verdient  in  diesem  Zusammen- 
hange auch,  dass  der  Zakynthier  Agathon,  dem  die  dodonäische  Weih- 
inschrift Carapanos  Dodone  pl.  22  gehört,  sich  im  MO.  Geschlecht  von  Kas- 
sandra  ableitete  (Aya&wv  'E%£(pvXov  xai  yevsa,  tiqo^svoi  MoXoggüjv  er 
TQiäxovia  yEVsalq  ix  Tpoiaq  (sie)  KaoouvÖQaq,  ysvsä(t)  ZaxvvS-wi). 
Leider  lässt  sich  die  Zeit  der  Inschrift  nicht  genauer  bestimmen. 


176 

kann  zur  Zeit  ihrer  Entstehung"  noch  keine  Rede  sein  —  son- 
dern weil  man  in  den  einzelnen  Theilen  Griechenlands  im 
wesentlichen  um  dieselbe  Zeit  begann  sie  aufzuzeichnen  —  die 
geschichtlichen  Namen  beginnen  überall  ungefähr  im  9.  Jahr- 
hundert (G.  d.  A.  II  203)  —  und  weil  ihre  Ergänzung  nach  oben 
bis  zum  Eponymen  und  eventuell  ihre  Anknüpfung  an  ein 
Heroengeschlecht  der  Sage  überall  nach  denselben  Principien 
erfolgte. 

Die  Möglichkeit  ist  also  vorhanden,  dass  Hekataeos  neben 
und  vor  dem  Agiadenstammbaum  andere  Stammbäume  be- 
nutzte. Doch  würde  dadurch  unser  Ergebniss  nicht  verschoben, 
sondern  nur  bewiesen,  dass  diese  mit  jenem  in  der  Hauptsache 
genau  übereinstimmten. 

Wer  der  Schriftsteller  ist,  der  Hekataeos'  Daten  zur  Be- 
rechnung der  Regierungszeit  der  lydischen  Herakliden  und  der 
Assyrer  verwerthete,  muss  ganz  unbestimmt  bleiben.  Am  näch- 
sten läge  es  an  Dionysios  von  Milet  zu  denken,  auf  den  wohl 
auch  sonst  manche  Trümmer  der  Ueberlieferung  über  orienta- 
lische Geschichte,  die  weder  aus  Herodot  noch  aus  Ktesias 
oder  Xenophon  stammen,  zurückzuführen  sind,  z. B.  die  werth- 
vollen  in  Justins  Geschichte  des  falschen  Smerdis  I  9  versprengten 
Nachrichten1)  oder  der  Bericht  über  Sardanapal's  Grabschrift, 
den  Kallisthenes  aus  einem  ionischen  Schriftsteller  aufnahm.'2) 
Doch  können  auch  andere  alte  Historiker  bis  auf  Charon  herab 
herangezogen  werden.  Jedenfalls  haben  sowohl  diese  Histo- 
riker wie  Herodot  die  Ansätze  des  Hekataeos  beibehalten,  aber 
die  Grundlage  seines  Systems,  die  Rechnung  der  Genera  Hon 
zu  40  Jahren,  aufgegeben;  sie  sind  also  auf  halbem  Wege 
stehen  geblieben.  Nur  um  so  deutlicher  tritt  dadurch  hervor, 
welche  Autorität  den  Ansätzen  inne  wohnte;  ihre  Rückführung 
auf  Hekataeos  wird  dadurch  um  so  wahrscheinlicher. 

Unmittelbar  nach  Herodot  hat  Hellanikos  das  System  des 
Hekataeos  endgültig  umgestossen;  unter  den  späteren  Daten 
wüsste  ich  keins,  das  auf  seine  Ansätze  zurückgeführt  werden 
könnte.     Aber    Nachwirkungen    seines    Einflusses    haben    sich 


1)  Ich  habe  früher  vermuthet,  dass  sie  aus  Deinon  stammen,  und 
das  wird  auch  richtig  sein;  aber  Deinon  muss  sie  einer  weit  älteren  Quelle 
entnommen  haben. 

2)  S.  Anhang  4. 


177 

erhalten,  vor  allem  hat  sich  die  Bestimmung  des  Intervalls 
vom  Falle  Trojas  bis  zur  Heraklidenwanderung  auf  80  Jahre 
(=  2  gen.)  dem  kürzeren  Ansätze  gegenüber  behauptet  und  ist 
wahrscheinlich  wie  von  Eratosthenes  so  schon  von  Hellanikos 
beibehalten  worden.1)  Im  übrigen  sind  im  fünften  Jahrhundert 
offenbar  zahlreiche  Versuche  vorgenommen  worden,  die  Chro- 
nologie der  Urzeit  zu  bestimmen,  welche  theils  in  der  An- 
nahme der  Dauer  der  Generation,  theils  in  den  zu  Grunde 
gelegten  Stammbäumen  von  dem  hekatäischen  abweichen. 
Weder  die  Mythenhistoriker,  wie  Akusilaos  und  Pherekydes, 
noch  die  zahlreichen  Localhistoriker  konnten  an  dieser  Frage 
vorbeigehen ;  ebenso  setzte  z.  B.  Demokrit  die  Zerstörung  Trojas 
730  Jahre  vor  seine  Zeit  (Diog.  Laert.  IX  41).  Namentlich 
verlangte  die  ältere  attische  und  die  auf  ihr  beruhende  ionische 
Geschichte  Berücksichtigung.  Die  attische  Ueberlieferung  bot 
eine  zwar  durchaus  secundäre  aber  eben  deshalb  um  so  län- 
gere Königsliste:  von  Menestheus  und  Demophon,  den  Helden 
des  troischen  Kriegs,  bis  auf  den  letzten  lebenslänglichen 
König  Alkmaeon,  dessen  Sturz  man  ins  J.  753/2  setzte,  zählt 
sie  nicht  weniger  als  17  Generationen.2)  Das  führte  natur- 
gemäss  zur  Annahme  einer  kürzeren  Generationsdauer  etwa 
von  30  Jahren,  die  uns  denn  auch  in  mehreren  Ansätzen  deut- 


1)  Die  seit  Brandis  herrschende  Ansicht  ist,  dass  Hellanikos  nach 
attischer  Kechnung  (S.  173)  den  Fall  Trojas  1209,  die  dorische  Wanderung 
1149  gesetzt  habe  Aber  bezeugt  ist  das  nirgends;  wir  wissen  nur,  dass 
Hellanikos  den  Fall  Trojas  auf  den  12.  Thargelion  setzte,  nicht  einmal  ob 
unter  Menestheus  oder  Demophon  (Clem.  AI.  Strom.  I  104).  Nun  setzt 
Thukydides  I  12  ausdrücklich  die  boeotische  Wanderung  60,  die  dorische 
80  J.  fiexa  'lllov  aXcooiv.  Da  er  zweifellos  unter  Hellanikos'  Einfluss  steht 
und  nach  der  von  diesem  eingeführten  Aera  der  Priesterinnen  von  Argos 
datirt  (112,  TV  133;  nur  aus  chronologischen  Gründen  wird  der  Brand  des 
Heratempels,  die  Absetzung  des  Chrysis  und  die  Einsetzung  des  Phaeinis 
erwähnt),  halte  ich  es  für  weitaus  das  wahrscheinlichste,  dass  er  auch  in 
diesen  Daten  dem  Hellanikos  gefolgt  ist. 

I)  Dieselben  sind  1)  Menestheus  und  Demophon,  2)  Oxyntas,  3)  dessen 
Söhne  Apheidas  und  Thymoites  und  ihr  Zeitgenosse  Melanthos,  4)  Kodros, 
5)  Medüii,  6-17)  12  Medontiden  von  Akastos  bis  Alkmaion.  Das  Datum 
753/2  ist  übrigens  nichts  weniger  als  historisch,  wie  man  meist  meint; 
man  hat  vielmehr  angenommen,  dass  die  7  zehnjährigen  Archonten  auch 
wirklich  jeder  10  Jahre  regiert  hätten,  was  historisch  im  höchsten  Grade 
unwahrscheinlich  ist. 

Meyer,  Forschungen  zur  alten  Geschichte.    I.  12 


178 

lieh  entgegentritt  (vgl.  S.  1 72,  3).  Die  uns  erhaltenen  Daten  für 
die  Kegierungszeit  der  attischen  Könige,  der  sog.  lebensläng- 
lichen Archonten,  sind  freilich  noch  weiter  reducirt;  das  zu 
Grunde  liegende  Prinzip  vermag  ich  nicht  mit  Sicherheit  zu 
erkennen. ') 

Hellanikos  hat  nun  offenbar  zwischen  den  verschiedenen 
Systemen  einen  Compromiss  zu  gewinnen  gesucht,  auch  ist  es 
ja  möglich,  dass  ihm  wirklich  eine  mit  Jahrzahlen  versehene 
Liste  der  argivischen  Herapriesterinnen  vorlag,  nach  Art  der 
Poseidonspriester  von  Halikarnass  (S.  173,  1).  Leider  vermögen 
wir  sein  System  nicht  im  einzelnen  zu  reconstruiren.  Sein 
durchschlagender  Erfolg  tritt  am  deutlichsten  darin  hervor, 
dass  Thukydides  sich  ihm  anschliesst ;  bis  in  die  Bilderchro- 
niken der  Kaiserzeit  können  wir  seine  Wirkung  verfolgen. 
Den  Gelehrten  des  vierten  Jahrhunderts  freilich  konnte  sein 
künstlicher  Bau  nicht  mehr  gentigen;  damals  begann  man  ja 
überhaupt  an  der  Möglichkeit  geschichtlicher  Erkenntniss  der 
Sagenzeit  zu  verzweifeln  (S.  122).  So  ist  es  sehr  begreiflich, 
dass  man  zu  ganz  runden  Daten  griff:  Duris  und  Timaeos 
setzen  Trojas  Fall  auf  1000  Jahre  vor  Alexanders  Uebergang 
nach  Asien.'2)  Genauer  zu  bestimmen  suchte  man  meist  nur 
noch  die  Heraklidenwanderung,  für  die  denn  z.  B.  Timaeos 
im  Anschluss  an  Klitarch  das  Datum  1154  v.  Chr.,  820  J. 
vor  Alexander  (Clem.  AI.  ström.  I  139)  gegeben  hat. :})  Am 
consequentesten  scheint  Ephoros  gewesen  zu  sein,  indem  er 
einfach  nach  dem  Ansatz  3  Generationen  auf  ein  Jahrhundert 
rechnete.  Er  setzte  die  Heraklidenwanderung  735  Jahre  vor 
Alexanders  Uebergang  nach  Asien,  also  1069  v.  Chr.  (Clem.  AI. 
1.  c;  ungenau  Diodor  XVI  76).  Von  Pausanias  f  469  v.  Chr.  bis 
auf  Aristodemos  und  seine  Brüder,  die  Führer  der  dorischen 
Wanderung,  sind,  beide  eingeschlossen,  im  Heraklidenstamni- 
baum  18  Generationen  =  600  J.     Es  ist  wohl  zweifellos,  dass 


1)  vgl.  Busolt,  griech  Gesell  I  404  f. 

2)  Duris:  Clem.  Alex.  I  139.  Für  Timaeos  ergibt  sich  das  Datum  (im 
Widerspruch  mit  der  verwirrteu  Angabe  Censorin  d.  nat.  21)  aus  fr.  53  und  (id. 

8)  Zu  den  zahlreichen  und  stark  von  einander  abweichenden  Daten, 
die  diese  Zeit  hervorgebracht  hat,  gehört  wohl  auch  der  Ansatz  von  Trojas 
Zerstörung  auf  1270  in  der  herodotischen  llomervita  38 ,  in  dem  man  mit 
Unrecht  eine  Einwirkung  des  ächten  Uerodot  gesucht  hat. 


179 

Ephoros  so  gerechnet  hat.  Daher  setzt  er  auch  den  Fall  Trojas 
60  Jahre  oder  ein  wenig-  mehr  vor  die  Herakliden Wanderung  — 
denn  das  Datum  Strabo  XIII  1,  2  geht  auf  ihn  zurück. 

Neben  diesen  verschiedenen  Ansätzen,  die  im  einzelnen 
zu  verfolgen  nicht  unsere  Aufgabe  ist,  hat  sich  für  den  spar- 
tanischen Heraklidenstammbaum  immer  die  alte  Generations- 
rechnung zu  40  Jahren  behauptet,  und  sie  liegt  auch  den  uns 
erhaltenen  Daten  für  die  einzelnen  Könige  zu  Grunde.  Nur 
hat  man  bei  ihrer  Ausbildung  der  Tradition  in  grösserem  Um- 
fange Rechnung  getragen,  als  das  bei  einem  allgemeinen 
Ueberschlag,  wie  ihn  die  älteren  vornahmen,  möglich  war,  und 
namentlich  hat  man  diejenigen  Glieder  des  Stammbaumes,  die 
nicht  zur  Regierung  gekommen  sind,  auch  nicht  mitgerechnet. 
Daher  fällt  bei  diesen  Ansätzen  auch  Aristodemos  fort;  die 
spartanische  Königsliste  beginnt  naturgemäss  mit  Eurysthenes 
und  Prokies. 

Der  Beweis  dieser  These  ist  für  Sosibios  mit  Sicherheit 
zu  führen.  Aus  Clem.  AI.  Strom.  I  117  (fr.  2)  wissen  wir,  dass 
er  nach  den  Eurypontiden  rechnete;  er  setzte  Homer  als  Zeit- 
genossen des  Lykurgos  ins  achte  Jahr  seines  Mündels  Charilaos 
und  gab  diesem  64  Jahre.  Seinem  Sohn  Nikandros  gab  er 
39  Jahre  und  setzte  in  sein  34stes  Jahr  die  erste  Olympiade. 
Dazu  kommt  die  bei  Censorin  21  erhaltene  Angabe,  dass  er 
Trojas  Fall  395  J.  vor  Ol.  1,  also  1171/0,  setzte.1)  Die  Hera- 
klidenwanderung  hat  er  also,  da  wir  ihm  ein  80jähriges  Inter- 
vall zweifellos  zuschreiben  dürfen,  auf  1091/0  gesetzt.  Nun 
regieren  von  Prokies  bis  auf  den  491/0  gestürzten  Demarat 
den  ersten  König,  dessen  Zeit  genau  bestimmbar  war,  und  mit 
dem  zugleich  die  ältere  Linie  ausgeht,  aus  dem  Eurypontiden- 
hause  15  Könige  —  Archidamos  S.  d.  Theopompos  ist  nicht 
zur  Regierung  gekommen  — ;  15  x  40  sind  600:  nach  Sosibios 
beginnt  Prokies  600  Jahre  vor  Demarats  Sturz. 

Es  lohnt  sich  seine  Daten  noch  etwas  genauer  zu  be- 
trachten und  mit  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Generations- 
rechnung sowie  mit  den  Daten  des  Eratosthenes  zu  ver- 
gleichen. 


1)  Sie  steht  allerdings  in  verdächtiger  Umgebung,  wird  aber  durch 
die  Uebereinstiniuiung  mit  den  anderen  Daten  geschützt. 

12* 


180 


poche              Sosibios 

Eratostnenes1) 

090          1.  Prokies  seit  1091/0 

seit  1104/3 

Lykurg  Regent  885/4 

850      7.  Cnarilaos  64  J.  seit  873/2 

60  J.  seit  884/3 

810      8.  Nikandros  39  J.  „    809/8 

38  J.     „     824/3 

sein  34.  J.  =  Ol.  1  =  776/5 

770      9.  Theopompos  seit  770/69 

47  J.     „     786/5 

sein  1 0.  J.  =  dem  Jahr  vor  Ol.  1=777/6 
530      15.  Demaratos  bis  491/0  bis  491/0 

Wie  man  sieht,  steht  Theopompos  genau  auf  seiner  Epoche. 
Nikandros   ist   um    1  Jahr   gekürzt,   Charilaos  dagegen  erhält 

1)  Die  Liste  des  Eratosthenes  liegt  uns  allerdings  nur  in  argentstellter 
Gestalt  bei  Euseb.  I  223  f.  ausDiodor  vor;  Diodor  schöpft  aus  Apollodor, 
der  den  Polydektes  ausgelassen  zu  haben  scheint.  Doch  stehen  die  Daten, 
auf  die  es  uns  allein  ankommt,  völlig  fest.  Eratosthenes  setzte  Lykurg's 
zmzQoniu.  108  Jahre  vor  zb  nQor\yovyi£vov  etoq  tcov  tcquhojv  'Okv/uTiiwv, 
vor  777/6  (Clem.  AI.  Strom.  I  138:  das  Datum  ist  in  alter  und  neuer  Zeit 
vielfach  dahin  missverstanden  worden,  dass  Lykurg  108  Jahre  vor  Ol.  1, 
also  884/3,  gesetzt  sei),  also  ins  Jahr  885/4.  Die  Einsetzung  der  Olympien, 
d.h.  eben  das  letzte  Jahr  vor  Ol.  1,  777/6  v.Chr.,  fällt  ins  10.  Jahr  des 
Alkamenes  und  Theopompos  (Euseb.  1  225  u.  a.);  60  J.  des  Charilaos  +  38 
des  Nikandros  +  10  des  Theopompos  =  108  J.  Lykurgs  inizQOTiia  be- 
ginnt in  dem  Jahre  vor  Charilaos'  Geburt,  das  chronographisch  offenbar 
noch  dem  Polydektes  zugerechnet  wurde,  d.  i.  in  885/4.  Es  ist  daher  falsch, 
wenn  Brandis  p.  27  die  Regierungszeit  des  Nikandros  auf  39  Jahre  er- 
höhen will.  Die  Zahl  38  wird  auch  durch  die  Daten  bei  Suidas  Avxovq- 
yoQ  d  bestätigt.  Hier  und  in  dem  gleichlautenden  schol.  Plato  rep.  X  599 
werden  allerdings  die  60  J.  des  Charilaos  in  18  der  Regentschaft  des  Ly- 
kurg und  42  der  Eigenregierung  des  Charilaos  zerlegt.  Gelzek  Rh.  Mus. 
XXVIII  10  führt  diese  Daten  wohl  mit  Recht  auf  Apollodor  zurück.  — 
Ich  bemerke  noch,  dass  die  Daten  des  Eratosthenes  fast  regelmässig  falsch 
reducirt  werden  (so  z.  B.  bei  Brandis  S.27,  in  Schäfers  Quellenkunde  I  107, 
bei  Gelzer  Africanus  I  42  u.a.)  Sein  Schema  Clem.  AI.  Strom.  I  13s  ist 
folgendes : 

Tgoiccg  akwoiq  1184/3 

von  da  bis  zum  ''HQaxXsidiöv  xäd-odog    80  J.  =  1183/2 —  1104/3 
„      „      „    zur  'iaiviag  xtiaig  60  J.  =  1103/2  —  1044/H 

„      „      „    zur  zniTQOitia  AvxovQyov  159  J.  =  1043/2 —    885/4 
„      „      „    zum  Jahr  vor  Ol.  1  108  J.  =    884/3—    777/6 

von  Ol.  1   bis  aeq^ov  öiaßccoiq  297  J.  =    776/5  —    480/79 

Das  Ereigniss,  welches  Epoche  macht,  fällt  jedesmal  in  das  Endjahr  des 
angegebenen  Zeitabschnittes.  Da  es  aber  für  die  Rechnung  nothwendig 
war,  Ol.  1,  1  nicht  als  End-  sondern  als  Anfangstermin  zu  rechneu,  ist  mit 
vollem  Recht  das  Jahr  vor  Ol.  1  als  Ende  der  vorhergehenden  Epoche 
bezeichnet. 


181 

anderthalb  Generationen  —  mit  vollem  Recht,  denn  sein  Vater 
ist  früh  gestorben  und  er  erst  nach  dessen  Tode  geboren;  er 
muss  mithin  lange  regiert  haben.  —  Die  eratosthenischen  An- 
sätze lassen  sich  nicht  in  gleicher  Weise  controlliren.  Es  ist 
aber  klar,  dass  die  Differenz  wesentlich  darauf  beruht,  dass 
Sosibios  die  Eurypontiden,  Eratosthenes  die  Agiaden  zu  Grunde 
legte.  Von  Eurysthenes  bis  auf  Leonidas  f  480  sind  16  Ge- 
nerationen. Würden  wir  dieselben  zu  40  Jahren  rechnen,  so 
käme  die  dorische  Wanderung  auf  1120  v.  Chr.  Eine  Ver- 
kürzung hat  also  stattgefunden,  aus  welchen  Gründen,  wüsste 
ich  nicht  anzugeben.  Doch  will  ich  hier  auf  die  arg  zerrüttete 
Ueberlieferung  der  Daten  der  Agiaden  nicht  weiter  eingehen.1) 
Die  Hinaufrückung  der  dorischen  Wanderung  bei  Eratosthenes 
hatte  zur  Folge,  dass  die  Daten  der  Nachfolger  Theopomps 
erhöht  werden  mussten ;  dagegen  sind  die  Ansätze  für  Charilaos 
und  Nikandros  gegen  Sosibios  verkürzt  —  aus  welchem  Grunde, 
ist  nicht  zu  erkennen. 

Dieser  Thatbestand  lässt  nun  auf  den  Werth  der  sparta- 
nischen Königslisten,  welche  Eratosthenes  zum  Fundament  der 
älteren  griechischen  Chronologie  machte,  ein  grelles  Licht  fallen. 
Es  ist  ja  möglich,  dass  man  in  Sparta  schon  in  früher  Zeit  den 
Königsnamen  Zahlen  beigeschrieben  hat;  aber  wahrscheinlich 
ist  diese  Annahme  nicht,  und  jedenfalls  haben  diese  Zahlen, 
wenn  sie  existirten,  niemals  auch  nur  die  geringste  Autorität 
gehabt.  Denn  jeder  Chronolog  gibt  für  die  spartanischen 
Könige  andere  Ansätze,  fortwährend  werden  die  Daten  hin 
und  her  geschoben.  Die  uns  überlieferten  Zahlen  sind  das 
Ergebniss  eines  langen  literarischen  Processes,  nicht  Reste  alter 


1)  Mit  Recht  heben  Brandis  p.  28  und  Rohde  Rh.  Mus.  XXXVI  351 
hervor,  dass  die  Daten  der  diodorischen  Liste  bei  Eusebius  durch  die  An- 
gabe Clem.  AI.  I  117  bestätigt  worden,  nach  Apollodor  habe  Homer  100  J. 
nach  der  ionischen  Wanderung,  also  944/3  gelebt,  'Ayrjaikdov  zov  /JoQvooalov 
Aax8dai/j.ovt(ov  ßaoileiovTog.  NachDiodor  regiert  Agesilaos  (wenn  Eche- 
stratos  35  J.  statt  der  verschriebenen  31  resp.  37  erhält)  960/59  —  9 17/6  v.Chr. 
Dadurch  steht  fest,  dass  die  Liste  um  30  J.  zu  kurz  ist,  und  so  wird  man 
in  der  That  versucht,  mit  Brandis  und  Gelzer  Africanus  I  1 42  zur  Liste 
der  exe.  Barbari  p.  42  b  zu  greifen.  Doch  kann  ich  mich  nicht  entschliessen, 
den  dort  eingeschobenen  König  Menelaos  für  recht  zu  halten.  Ein  der- 
artiges Schwanken  der  Königsliste  scheint  mir  undenkbar;  bei  Herodot 
und  Pausanias  findet  sich  von  ihm  keine  Spur. 


182 

Urkunden.  —  Dazu  kommt  die  völlig  äußerliche  Art,  in  der 
diese  Zahlen  festgestellt  sind.  Die  Listen  der  beiden  Häuser 
laufen  neben  einander  her,  ohne  die  zwischen  ihnen  bestehenden 
Synchronismen  zu  berücksichtigen.  So  kommt  es,  dass  König 
Theopompos  nicht  nur  um  ein  halbes  Jahrhundert  zu  hoch  an- 
gesetzt, sondern  auch  durch  eine  rein  äusserliche  Nebeneinander- 
legung der  beiden  Stammbäume  zum  Zeitgenossen  des  Agiaden 
Alkamenes  gemacht  wird  —  beide  haben  nach  Eratosthenes 
und  Apollodor  die  Regierung  in  demselben  Jahre  angetreten  — 
während  doch  daran  nicht  zu  zweifeln  ist,  dass  er  in  Wirk- 
lichkeit mit  Alkamenes'  Sohn  Polydoros  zusammen  regierte. 


Es  ist  nicht  meine  Absicht,  mich  tiefer  in  die  Geschichte 
der  griechischen  Chronologie  einzulassen.  Wohl  aber  möchte 
ich  noch  kurz  auf  die  Ergebnisse  unserer  Untersuchung  für 
die  Beurtheilung  Herodots  und  die  Geschichte  der  griechischen 
Historiographie  eingehen,  eine  Aufgabe,  die  weit  wichtiger  ist 
als  die  Untersuchung  chimärischer  Zahlensysteme,  und  auch 
zu  dieser  den  eigentlichen  Anlass  gegeben  hat. 

Zunächst  ist,  denke  ich,  die  Thatsache,  dass  Herodot  in 
der  Behandlung  der  ältesten  Geschichte  nicht  nur  von  einem 
sondern  von  zwei  Vorgängern  abhängig  ist  und  ihre  Daten 
kritiklos  übernommen  hat,  klar  erwiesen.  Er  hat  die  von 
Hekataeos  aufgestellten  Daten  für  Herakles,  den  troischen 
Krieg  u.  s.  w.  ohne  Bedenken  übernommen ;  er  hat  für  die  Ge- 
schichte der  orientalischen  Reiche  Zahlen  verwerthet,  die  von 
einem  jüngeren  Schriftsteller  auf  Grund  der  hekataeischen  An- 
sätze, aber  nach  einem  anderen  Princip  berechnet  sind.  Ein 
eigenes  System  hat  er  nicht;  an  den  paar  Stellen,  wo  er 
selbständig  Daten  berechnet,  folgt  er  wie  diese  jüngere  Quelle 
der  Generationsrechnung  von  33 '/3  Jahren,  ohne  zu  beachten, 
dass  dieselbe  sich  mit  seinen  grundlegenden  Daten  absolut 
nicht  verträgt. 

Denjenigen  modernen  Gelehrten,  welche  Herodot  als  einen 
oberflächlichen  Skribenten  und  elenden  Plagiator  betrachten, 
mit  dem  sich  ernstlich  zu  befassen  kaum  lohnt,  wird  dies  Er- 
gebniss  vermuthlich  willkommen  sein  und  als  neue  Bestätigung 
ihrer  Auffassung  erscheinen.     Ich  brauche  wohl  nicht  erst  zu 


183 

sagen,  dass  ich  diese  Ansicht  nicht  theile.  Dass  Herodots 
Werk  eine  der  reizvollsten  und  bedeutendsten  Erscheinungen 
der  Weltliteratur  ist,  wird  abgesehen  von  einigen  sehr  fort- 
geschrittenen philologischen  Kreisen  und  einigen  orientalistischen 
Fanatikern  kein  Mensch  läugnen;  und  ein  solches  Werk  er- 
schliesst  sich  dem  Verständniss  nur,  wenn  man  den  Gedanken 
seines  Verfassers  sorgsam  nachgeht,  nicht  wenn  man  es  im 
Bewusstsein  einer  weit  überlegenen  Bildung  benutzt  um  an 
ihm  seine  Sporen  zu  verdienen. 

Dass  Herodot  seine  Vorgänger  kennt  und  benutzt,  ist  selbst- 
verständlich ;  es  würde  ein  schwerer  Vorwurf  sein ,  wenn  er 
sie  nicht  kennte  —  oder  vielmehr,  es  wäre  überhaupt  undenkbar. 
Er  verhält  sich  aber  zu  ihnen  nicht  anders  wie  alle  Zeit  bis 
auf  den  heutigen  Tag  ein  späterer  Forscher  sich  zu  früheren 
verhält  —  wie  denn  überhaupt  die  viel  verbreitete  Meinung, 
die  Schriftsteller  des  Alterthums  hätten  anders  gearbeitet  als 
die  modernen,  eben  so  verkehrt  wie  verhängnissvoll  ist.  Auch 
wenn  Herodot  die  jüngsten  literarischen  Erscheinungen  ignorirt 
haben  sollte,  so  ist  das  ein  Vorgang,  den  jeder  aus  der  mo- 
dernen wissenschaftlichen  Literatur   tausendfach  belegen  kann 

—  es  genüge  hier  daran  zu  erinnern,  dass  Ranke  die  gelehrte 
Arbeit  der  letzten  Jahrzehnte,  ja  bei  der  Abfassung  der  Welt- 
geschichte die  eines  halben  Jahrhunderts,  fast  durchweg  un- 
berücksichtigt gelassen  hat,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil 
er  mit  seinen  Anschauungen  fertig  war  und  aus  sich  selbst 
schöpfte.  Gesetzt  dass  Xanthos  Avdiaxd  oder  die  ersten  Ar- 
beiten des  Hellanikos  vor  Herodots  Werk  erschienen  sind  — 
eine  Annahme,  die  sich  weder  beweisen  noch  widerlegen  lässt 

—  welchen  Anlass  hatte  er,  sich  um  diese  Detailarbeiten  junger 
Leute  zu  bekümmern,  wo  er  seit  Jahrzehnten  das  Material  ge- 
sammelt und  ein  historisches  Gesammtbild  gewonnen  hatte? 
Dagegen  die  älteren  Schriftsteller  berücksichtigt  er,  vor  allem 
den  Hekataeos,  bei  dem  allein  wir  die  Beziehungen  genauer 
nachweisen   können.1)     Wo  er  glaubt   ihm   überlegen  zu  sein, 


1)  vgl.  Diels  Herodot  und  Hekataios,  Hermes  Bd.  XXII.  Seine  that- 
sächlichen  Ergebnisse  halte  ich  meist  für  richtig,  aber  nicht  seine  Folge- 
rungen. Wie  man  von  Plagiat  reden  kann,  verstehe  ich  nicht,  und  ebenso 
wenig  kann  ich  die  S.  429  ff.  vorgetragenen  Ansichten  billigen.  Wo  gäbe 
es  einen  modernen  Autor,   der  nicht  aus  einem  älteren  Schriftsteller  von 


184 

wie  in  den  geographischen  Dingen,  polemisirt  er  gegen  ihn 
nicht  ohne  geringschätzige  Aeussenmgen,  doch  ohne  seinen 
Namen  zu  nennen  —  wusste  doch  jeder  wen  er  meinte,  genau 
wie  dreissig  Jahre  später  bei  den  Angriffen  des  Thukydides 
auf  Herodot  — ,  wo  er  seiner  Meinung  nach  Recht  hat,  schliesst 
er  sich  ihm  an.  So  übernimmt  er  aus  ihm  (fr.  279  bei  Aman  anab. 
V  6)  die  Bezeichnung  Aegyptens  als  Öwqov  tov  jiorccfiov  [öijXa 
yaQ  Ö7j  xal  (i?)  jiQoaxovöavxi,  lÖövxi  dt  —  also  hat  Herodot  es 
vorher  gehört  •)],  so  schliesst  er  sich  ihm  in  der  Beschreibung 
der  Krokodiljagd,  des  Nilpferdes  und  des  Phönix  eng  an  (Por- 
phyr, bei  Euseb.  praep.  ev.  X  3,  16  xara  legiv  £ieT?iveyzei> 
ßQ<x%ta  jiaQajioifjOaq) ,  und  ähnliche  Stellen  wird  Pollio  wohl 
noch  mehrere  angeführt  haben  (ib.  X  3,  23).  Er  hatte  eben  bei 
der  Ausarbeitung  der  Beschreibung  Aegyptens  den  Hekataeos 
zur  Hand,  genau  wie  das  jeder  moderne  Schriftsteller  auch 
thun  würde;  trotzdem  bleibt  es  nicht  weniger  wahr,  dass  seine 
Schilderungen  auf  Autopsie  beruhen  und  dass  Hekataeos  und 
Herodot  sich  zu  einander  verhalten  wie  zwei  moderne  Ent- 
deckungsreisende, von  denen  der  ältere  eine  kurze  Skizze,  der 
jüngere  eine  ausführliche  Schilderung  geliefert  hat. 

In  demselben  Sinne  hat  Herodot  auch  das  chronologische 
System  des  Hekataeos  und  die  orientalischen  Daten  seines 
Nachfolgers  übernommen.  Könnte  man  ihm  die  Widersprüche 
klar  machen,  in  die  er  sich  verwickelt  —  das  möchte  aller- 
dings bei  einem  so  ganz  und  garnicht  für  derartige  Dinge 
veranlagten  Kopfe  schwer  genug  gewesen  sein  — ,  so  würde 
er  sich  irgendwie  selbständig  zu  behelfen  gesucht  haben,  wäre 
Hekataeos  schon  durch  ein  neues  System  verdrängt  gewesen, 
so  hätte  er  sich  diesem  angeschlossen.    Aber  näher  eingegangen 


Bedeutung,  gegen  den  er  vielfaeh  polemisirt,  daneben  wissentlich  und  un- 
wissentlich vieles  übernommen  hätte,  ohne  ihn  zu  citiren?  Und  ist  es  bei 
uns  Brauch  den  Namen  des  bekämpften  Schriftstellers  stets  zu  nennen  — 
gerade  gegenwärtig  sind  ja  Allusionen,  die  nur  dem  ganz  Eingeweihten 
verständlich  sind,  allen  anderen  aber  völlige  Eäthsel  bleiben,  wieder  sehr 
Mode  —  oder  jeder  Erzählung  allbekannter  Dinge  ein  Citat  beizufügen? 
1)  Diese  [Stelle  hat  Diels  S.  423  sehr  richtig  beurtheilt.  —  Citirt 
wird  Hekataeos  nnr  VI  137,  wo  sein  Bericht  über  die  Pelasger  in  Attika 
gegeben  und  ihm  die  attische  Variation  gegenüber  gestellt  wird.  II  143 
ist  kein  Citat  im  eigentlichen  Sinne. 


185 

wäre  er  auf  diese  Dinge  niemals ;  er  hat  dafür  nicht  das  min- 
deste Interesse:  —  alXoitii  ya.Q  jityi  avrcov  hqijtcu,  laöofitv 
ravra  (VI  55).  Die  Geschichte  der  Sagenzeit  ist  erschöpfend 
behandelt,  hier  und  da  ist  wohl  noch  einmal  eine  Kleinigkeit 
nachzutragen,  wie  über  die  Eroberung  Lakomiens  oder  über  die 
Pelasger,  aber  im  übrigen  lohnt  es  sich  nicht,  das  so  oft  Ge- 
sagte noch  einmal  zu  wiederholen.  ')  Nur  ein  Punct  interessirt 
ihn  hier :  die  Abhängigkeit  der  ältesten  griechischen  Cultur  und 
Religion  vom  Orient,  speciell  von  Aegypten;  das  ist  die  grosse 
Entdeckung,  die  er  auf  seinen  Reisen  gemacht  hat.  Aber  im 
übrigen  ist  sein  Sinn  durchaus  den  wirklich  historischen  Ueber- 
lieferungen  und  den  realen  Verhältnissen  zugewandt ;  nicht  was 
über  den  Stammbaum  der  spartanischen  Könige  zu  sagen  ist, 
wiederholt  er,  er  erzählt  die  Rechte,  die  ihnen  zustehen.  Von 
den  grossen  und  wunderbaren  Begebenheiten  der  griechischen 
und  orientalischen  Geschichte  will  er  erzählen,  damit  sie  nicht 
der  Vergessenheit  anheimfallen  —  das  ist  buchstäblich  wahr, 
denn  was  wüssten  wir,  was  hätte  das  Alterthum  ohne  Herodot 
davon  gewusst  ?  Darin  liegt  seine  Bedeutung,  mit  Recht  trägt 
er  den  Beinamen  des  Vaters  der  Geschichte. 

Es  kann  nun  nicht  genug  betont  werden,  an  welchem 
Puncte  bei  ihm  die  griechische  Geschichte  beginnt.  Es  sind 
die  letzten  Jahrzehnte  des  siebenten  Jahrhunderts,  die  Zeit  der 
Tyrannen  und  der  Kriege  der  Lyder  gegen  die  lonier.  Darüber 
hinaus  führt  keine  Ueberlieferung ,  zwischen  der  historischen 
Zeit  und  der  Sagengeschichte  liegen  die  dunklen  Jahrhunderte 
(nach  Herodots  Chronologie  rund  500  Jahre),  aus  denen  es  gar 
nichts  zu  erzählen  gibt, 2)     Wie  im  Epos  und  bei  den  auf  seinen 


1)  Selbst  in  rationalistischer  Kritik  hatte  er  seine  Vorgänger  schwer- 
lich noch  viel  überbieten  können,  daher  nimmt  er  auch  nur  ganz  vereinzelt 
Anlass  sie  zu  üben. 

2)  Sehr  deutlich  tritt  das  Gefühl  dieser  Kluft  und  die  unbestimmte 
Empfindung,  dass  die  mythischen  Ueberlieferungen  wesentlich  anderer  Art 
sind  als  die  historischen,  in  der  Angabe  hervor,  Polykrates  sei  der  erste 
Grieche,  der  nach  einer  Seeherrschaft  gestrebt  habe,  abgesehen  von  Minos 
von  Knossos  und  wer  sonst  etwa  vor  diesem  die  See  beherrschte;  von 
der  sogenannten  menschlichen  Generation  aber  war  Poly- 
krates der  erste  (xrjg  6t  äv&QcomiirjQ  XsyofxevrjQ  ysvsrjc;  noXvxQczzrjQ 
n Qöixog,  III  122).  Trotz  aller  Historisirung  der  Mythen  sind  eben  Minos 
und  Polykrates  doch  nicht  homogen. 


186 

Spuren  wandernden  älteren  Logographen  schliesst  die  alte  Ueber- 
lieferung  mit  der  dorischen  Wanderung  und  der  xxioig  JwriKc 
ab;  daneben  steht  ganz  unvermittelt  die  von  der  Gegenwart 
um  ein  paar  Generationen  zurück  reichende  Erinnerung.  Die 
älteren  Logographen  haben  jene,  Herodot  zum  ersten  Male1) 
diese  zum  Gegenstande  der  Darstellung  gemacht. 

Die  Kluft  ist  überbrückt  worden  zunächst  in  dürftiger 
Weise  durch  die  Localchroniken ,  die  coqoi,  welche  mit  Hülfe 
der  Stammbäume  und  der  Beamtenlisten  einen  ganz  dürftigen 
von  der  Urzeit  bis  zur  Gegenwart  reichenden  Faden  herstellten. 
Dann  kam  Hellanikos.  Nachdem  er  die  Sagengeschichte  noch 
einmal  systematisch  durchgearbeitet  hatte,  hat  er  in  seinen 
Priesterinnen  der  Hera,  in  beschränkterem  Umfange  auch  in 
seiner  Atthis,  zum  ersten  Male  eine  zusammenhängende,  chro- 
nologisch geordnete  Geschichte  der  Griechen  von  der  Urzeit 
bis  zur  Gegenwart  geschaffen. 

Thukydides  hat  diese  ganze  Beb andlungs weise  verworfen; 
indem  er  im  Gegensatz  zur  rationalistischen  die  historische 
Kritik  schuf,  wies  er  auch  den  Weg,  auf  dem  allein  die  ältere 
Geschichte  Griechenlands  erkannt  und  dargestellt  werden  kann. 
Aber  er  fand  keinen  Nachfolger.  Der  Rationalismus  und  seine 
Tochter,  der  Skepticismus,  behielten  die  Herrschaft.  Ihnen  ist 
es  zu  verdanken,  dass  die  noch  im  fünften  Jahrhundert  so  klar 
vor  Augen  liegende  Kluft  zwischen  der  mythischen  und  der 
historischen  Epoche  im  vierten  so  vollständig  verschleiert 
worden  ist,  dass  sie  vor  dem  neunzehnten  Jahrhundert  n.  Chr., 
vor  Niebuhr  und  seineu  Zeitgenossen,  Niemand  wieder  zum 
Bewusstsein  kam.  Massgebend  war  hier  der  Einfluss  des 
Ephoros.  Wenn  Herodot  auf  die  Sagengeschichte  nicht  ein- 
ging, weil  sie  so  oft  erzählt  war,  Thukydides  sie  kritisch  be- 
handelte, um  aus  ihr  die  Grundzüge  der  Culturentwickelung 
zu  gewinnen,  so  Hess  Ephoros  sie  als  unzuverlässig  und  un- 
historisch bei  Seite.2)     De  Gedanke  freilich,  nun  etwa  erst  da 

])  wenigstens  in  umfassenderer  Weise.  Wie  weit  hier  etwa  Charon 
als  sein  Vorgänger  gelten  kann,  wissen  wir  nicht,  —  Die  Schriften  über 
Geschichte  des  Orients  sind  anderer  Art,  und  viel  mehr  den  geographischen 
und  ethnographischen  Schilderungen  verwandt,  welche  seit  Hekataeos  neben 
den  Genealogien  stehen  und  wie  diese  schon  im  Epos  vorgebildet  sind. 
2)  Er  spricht  dabei  einen  völligen  richtigen  kritischen  Grundsatz  aus 


187 

zu  beginnen,  wo  Herodot  anfängt,  lag  ihm  fern ;  es  wäre  ja  in 
der  That  ebenso  unmöglich  wie  historisch  verkehrt  gewesen, 
die  griechische  Geschichte  so  jung  zu  machen.  Also  setzte  er 
da  ein,  wo  die  Mythengeschichte  aufhört  und  die  gegenwärtige 
Gestaltung  der  Dinge  beginnt,  bei  der  dorischen  Wanderung. 
Von  hier  an  glaubte  er  festen  Boden  unter  den  Füssen  zu 
haben,  von  hier  aus  tiberbrückte  er  die  grosse  Kluft  bis  zum 
siebenten  Jahrhundert.  Er  konnte  das  nur  auf  Grund  der  zu 
seiner  Zeit  bestehenden  historischen  Verhältnisse.  Und  so 
stellte  er  den  Peloponnes  in  den  Mittelpunct  nicht  der  Ge- 
schichte der  Urzeit  —  das  wäre  richtig  —  sondern  der  Ge- 
schichte von  der  Wanderung  ab,  und  datirte  die  Hegemonie 
Spartas  von  da  an.  Dass  er  damit  den  wahren  Verlauf  der 
griechischen  Geschichte  geradezu  auf  den  Kopf  stellte,  ist  ihm 
so  wenig  ins  Bewusstsein  gekommen  wie  allen,  die  ihm  ge- 
folgt sind. 

Dabei  ist  es  denn  im  wesentlichen  geblieben. ')  Zwar  kam 
eine  Zeit,  wo  der  Skepticismus  noch  einen  Schritt  weiter  that 
und  den  Anfang  der  griechischen  Geschichte  bis  auf  das  erste 
chronologisch  beglaubigte  Datum,  den  olympischen  Sieg  des 
Koroibos,  hinabrückte.  Doch  ist  das  nur  eine  Verschiebung 
des  Ausgangspunktes,  nicht  der  Methode.  Es  ist  ziemlich  gleich- 
gültig, ob  man  mit  Apollodor  sagt,  die  beglaubigte  griechische 
Geschichte  beginnt  1184  oder  mit  Ephoros  1069  oder  mit 
Phlegon  und  Grote  776  v.  Chr.;  von  der  historischen  Wahrheit 
sind  alle  drei  Ansätze  gleich  weit  entfernt,  weil  die  ihnen  zu 
Grunde  liegende  Anschauungsweise  unhistorisch  ist.    Ja  Ephoros 


(fr.  2):  Tispt  /uiv  yaQ  ziüv  xccS-'  ?)ßäg  ysyevr^iivwv  zovg  axQißtazaza 
Xtyovzag  mozozäzovg  rjyovfis&cc,  ne^l  6h  zojv  JiaXaiäJv  zovg  ovzw  diz^iovzccq 
ani&avwzäzovg  eivai  vo/ji'Qo/aev,  imoXccfißävovze g  oüzs  zag  TiQcc^e ig  anäoag 
ovzs  zojv  köycov  zovg  nXeiozovg  ttxbg  eivai  iJ.vrj[.iov£v£ö&ai  öiazoaovziov; 
vgl.  auch  fr.  3.  Nur  ist  iu  der  Geschichtsforschung  die  richtige  Durch- 
führung der  kritischen  Grundsätze  die  Hauptsache;  und  zu  der  fehlte 
Ephoros  die  Methode  durchaus,  die  doch  bereits  Thukydides  praktisch 
entwickelt  hatte;  vgl.  o.  S.  122. 

1)  Dass  die  Chronographie  des  Eratosthenes  und  Apollodor  und  aller, 
die  ihnen  folgten,  so  z.  B.  Diodor,  etwas  früher  anfängt,  bei  dein  Falle  Ilions, 
ist  nur  eine  ganz  unwesentliche  Verschiebung.  Eigentlich  ist  ja  schon  mit 
dem  troischen  Kriege  und  der  Rückkehr  der  Helden  die  Sagenzeit  zu  Ende. 
Kastor  hat  dann  wieder  die  Urzeit  in  seine  Chronik  mit  aufgenommen. 


188 

steht  entschieden  über  den  Skeptikern,  insofern  er  wirklich 
conseqnent  ist  und  mit  der  dorischen  Wanderung-  einsetzt;  was 
vorher  liegt  lässt  er  bei  Seite.  Dagegen  wirklich  erst  mit  Ol.  1. 
die  griechische  Geschichte  zu  beginnen  ist  so  gut  wie  unmög- 
lich und  führt  zu  solchen  Tragelaphen  wie  Grote's  Griechischer 
Geschichte.  Und  im  Grunde  ist  doch  auch  hier  der  zweite 
Theil,  Historical  Greece,  nichts  anderes  als  ein  etwas  umge- 
stalteter Ephoros,  in  dem  die  Untersuchungen  über  Pelasger 
und  Leleger,  die  dorische  Wanderung  und  Lykurgos  den  Ein- 
gang bilden,  während  Homer  und  Hesiod,  d.  h.  alles  das  was 
wir  wirklich  von  jener  Zeit  wissen,  ins  Schattenland  des  Legen- 
dary  Greece  verbannt  sind. 

Ephoros'  Behandlung  der  älteren  Griechischen  Geschichte 
ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  massgebend  geblieben  bei  denen 
die  ihm  folgen  wie  bei  denen  die  ihn  verwerfen;  einzig  Duncker 
hat  selbständig  den  Gang  der  älteren  griechischen  Geschichte 
aufzubauen  gesucht.  Aber  Curtius  schliesst  sein  erstes  Buch 
mit  der  dorischen  Wanderung  und  lässt  dann  erst  die  pelopon- 
nesische,  dann  die  attische  Geschichte  folgen,  darauf  erst  die 
Geschichte  der  Colonisation;  bei  Busolt,  der  wieder  einmal  die 
vordorische  Geschichte  so  gut  wie  völlig  gestrichen  hat,  steht 
die  Geschichte  des  Peloponnes  bis  zu  den  messenischen  Kriegen 
vor  der  der  kleinasiatischen  Griechen.  Grote  endlich,  der 
scheinbar  ganz  selbständige,  was  giebt  er  anders  als  die  ver- 
schlechterte ephorische  Anordnung?  Nach  einem  Kapitel  über 
die  Griechen  nördlich'  vom  Isthmos,  über  die  nicht  viel  zu  sagen 
ist,  folgt  die  peloponnesische  Geschichte  bis  ca.  550,  dann  Athen 
bis  auf  Pisistratos,  darauf  die  kleinasiatischen  Griechen,  endlich 
ein  Blick  auf  die  orientalischen  Culturvölker.  Der  Ruhm  muss 
dieser  Anordnung  bleiben,  dass  eine  gründlichere  Verkehrung 
der  historischen  Ordnung  der  Dinge  schwerlich  erfunden  werden 
könnte.  Ganz  so  schlimm  ist  doch  Ephoros  nicht  verfahren, 
bei  dem  von  Homer  und  Hesiod  da  gesprochen  wurde,  wo  sie 
nach  Ephoros'  Chronologie  ihren  Platz  hatten,  und  auch  sonst 
die  kleinasiatischen  Griechen  viel  mehr  zu  ihrem  Rechte  kamen, 
als  bei  den  Neueren. 


Anhänge. 


1.  Ist  Herodots  Geschichtswerk  vollendet? 

(Rhein.  Mus.  XLII,  1887,  S.  146  f.) 

1.  Herodot  erzählt  VII  213,  Ephialtes,  der  Verräther  der 
Thermopylen,  sei  von  den  Amphiktyonen  geächtet,  und  als  er 
später  nach  Antikyra  zurückkehrte,  von  Athenadas  aus  Trachis 
getödtet  worden  :  o  dh  l4&r/vadr]q  ovxoc  ajizxxetvs  fihv  ^Emalxta 
(h3  aXXrjv  aixlrjv,  x?)v  eya>  tv  xolOt  ojviö&s  ZoyoiOi  orjfiai'tco, 
iTifiijd-7]  iih'Toi  vjto  Aaxeöaipovlojv  ovdhv  rfiöov.  Bekanntlich 
ist  dies  Versprechen  in  Herodots  Werk,  wie  es  uns  vorliegt, 
nicht  erfüllt,  und  wir  wissen  daher  auch  nicht,  bei  welcher 
Gelegenheit  Ephialtes  seinen  Tod  fand.  Kirchhoff  (Sitzungsber. 
der  Berl.  Akad.  1885,  S.  301  ff.)  hat  vermuthet,  es  sei  zur  Zeit 
der  thessalischen  Expedition  des  Spartanerkönigs  Leotychides 
(nach  Kirchhoffs  Ansicht  476/5  v.  Chr.,  nach  der  von  mir  für 
richtig  gehaltenen  469)  geschehen,  und  Herodot  verweise  auf 
die  Darstellung,  die  er  in  späteren  Partien  seines  Werkes  von 
diesem  Zuge  zu  geben  beabsichtigt  habe.  Dass  letztere  Ver- 
muthung  nicht  richtig  ist,  lässt  sich  indessen  nachweisen. 
Denn  Herodot  spricht  von  Leotychides'  Zug  nach  Thessalien, 
seiner  Bestechung  bei  demselben,  seiner  Verurtheilung  und 
seinem  Tode  in  der  Verbannung  in  Tegea  eingehend  bereits 
im  sechsten  Buche  c.  72.  Er  fügt  hinzu  xavxa  fihv  6?)  eyevsxo 
XQovw  vöxzqov.  Hätte  er  die  Absicht  gehabt,  in  einem  spä- 
teren Abschnitt  ausführlich  von  diesen  Dingen  zu  reden,  so 
würde  er  im  sechsten  Buch  sich  mit  einer  ganz  kurzen  Be- 
merkung begnügt  und  vor  allem  am  Schlüsse  gesagt  haben: 
xavxa  fisv   hv  xoiCi  ojtioco  Xoyoiöi  äjr?]yf6o}iai  oder  örjpavtat, 


190 

wie  I  75.  II  38.  II  161.  VI  39  und  in  der  angeführten  Stelle 
VII  213.  Bei  welcher  Gelegenheit  Herodot  auf  Athenadas' 
That  zurückzukommen  beabsichtigte,  bleibt  demnach  nach  wie 
vor  unbekannt. 

2.  Wie  VI  72  spricht  Herodot  auch  an  zahlreichen  andern 
Stellen  seines  Werkes  von  Begebenheiten,  die  später  als  das 
Jahr  479  v.  Chr.  fallen.  So  erwähnt  er  III  160  Megabyzos' 
Kämpfe  in  Aegypten  mit  den  Athenern  (455  v.  Chr.);  V  32  die 
beabsichtigte  Vermählung  des  Pausanias  mit  der  Tochter  des 
Megabates;  VII  106  f.  erzählt  er  ausführlich  die  Eroberung 
der  thrakischen  Castelle,  speciell  Eions,  durch  Kimon  im  Jahre 
470  (nach  andern  476);  VII  151  erwähnt  er  die  Gesandtschaft 
des  Kallias  und  die  gleichzeitige  der  Argiver  nach  Susa  im 
J.  448 ;  VIII  3  die  Uebertragung  der  Hegemonie  auf  die  Athener 
477 ;  VIII 109  Themistokles  Flucht  nach  Asien  (465) ;  IX  35  die 
Kämpfe  der  Spartaner  bei  Tegea,  Dipaia,  Ithome  und  Tanagra : 
IX  64  den  messenischen  Aufstand;  IX  105  die  Kämpfe  der 
Athener  gegen  Karystos.  An  keiner  einzigen  dieser  Stellen 
sagt  er,  dass  er  später  von  diesen  Dingen  reden  werde;  und 
doch  wäre  dieser  Zusatz  wenigstens  bei  einigen  gar  nicht  zu 
entbehren,  wenn  Herodot  wirklich  die  Absicht  hatte,  dieselben 
Begebenheiten  später  ausführlich  zu  erzählen.  Wo  er  erwähnt, 
dass  in  Folge  der  vßgiq  des  Pausanias  die  Hegemonie  zur  See 
auf  die  Athener  übertragen  sei,  fügt  er  (VIII  3)  hinzu:  dlla 
ravra  [ih>  voregov  tyivbxo,  nicht  etwa  eigr/otrai  oder  etwas 
ähnliches,  was  im  letzteren  Falle  das  einzig  naturgemässe  war. 
Und  wie  konnte  er  VII  107  ganz  ausführlich  die  heroische  Ver- 
teidigung Eions  durch  Boges  erzählen,  wenn  er  die  Absicht 
hatte,  dasselbe  Ereigniss  im  historischen  Zusammenhange  zu  be- 
richten? An  dieser  Stelle  liegt  nichts  weniger  vor,  als  eine 
beiläufige  oder  durch  den  Zusammenhang  geforderte  Erwähnung 
eines  späteren  Ereignisses  zur  Orientirung  des  Lesers,  wie  etwa 
an  den  bereits  genannten  Stellen  VII  151,  IX  35.  64.  105  oder 
VII 137  (Schicksal  der  430  gefangenen  Gesandten  der  Spartaner 
nach  Persien),  VII  233  (Ueberfall  von  Plataeae  durch  die  The- 
baner),  IX  75  (Expedition  der  Athener  gegen  die  Edoner),  IX  73 
(Verschonung  von  Dekelea  durch  die  Spartaner);  die  Erzählung 
über  Eion  ist  vielmehr  eine  ausgeführte  Episode.  Denselben 
Charakter  trägt  auch  der  Abschnitt  über  Leotychides. 


191 

3.  Während  kein  einziges  Zeugniss  dafür  vorhanden  ist, 
dass  Herodot  sein  Geschichtswerk  über  das  Jahr  479  hinaus 
fortführen  wollte,  widersprechen  die  angeführten  Stellen  dieser 
von  Dahlmann  zuerst  aufgestellten  und  neuerdings  namentlich 
von  Kirchhoff  vertheidigten  Hypothese  auf  das  entschiedenste. 
Es  liegt  aber  auch  in  allgemeinen  Erwägungen  kein  Grund, 
durch  den  dieselbe  wahrscheinlich  oder  gar  nothwendig  gemacht 
werden  könnte.  Man  hat  gemeint,  die  Schlacht  bei  Mykale 
und  die  Einnahme  von  Sestos  sei  kein  Abschluss,  weil  die 
Perserkriege  weiter  fortgingen.  Gewiss  ist  letzteres  richtig; 
aber  eben  so  sicher  ist,  dass  für  die  Anschauung  der  Griechen 
mit  der  Zeit  nach  479  in  gleichem  Masse  und  mit  demselben 
Rechte  eine  neue  Zeit  anhebt,  wie  für  uns  mit  dem  Jahre  1815. 
Die  Angriffskriege  gegen  die  Persermacht,  welche  478  beginnen, 
tragen  einen  ganz  anderen  Charakter,  als  der  grosse  Kampf 
um   die  Existenz   in  den  Jahren  490,  480  und  479.     Herodot 

VIII  3  unterscheidet  beide  Perioden  scharf;  wo  er  vom  Hege- 
moniewechsel spricht,  sagt  er:  tag  yag  örj  wöä/jsroi  tov  IltQöi]v 
jttgl  tjjq  Ixsivov  rjSrj  top  aycova  eitoisvvto;  nur  das  erstere 
ist  Gegenstand  seiner  Darstellung.  Die  Begebenheiten  seit  478 
sind  daher   auch  nie  mehr  zu    den  Mrjdixa  gerechnet  worden: 

IX  64  bezeichnet  Herodot  ein  Ereigniss  des  messenischen  Auf- 
stands durch  xqovcq  vötsqop  (utTcc  ra  Mrjöixa  —  und  doch  war 
gerade  damals  der  Krieg  Athens  gegen  Persien  in  vollem  Gange. 
Nicht  anders  redet  Thukydides :  I  23  bezeichnet  er  als  den 
grössten  der  früheren  Kriege  to  Mi]6lxov  (egyov),  von  dem  er 
sagt;  xal  rovro  b\ua>c  dvoiv  vaviiaylaiv  xal  neCpnajlaiv  ra^tlar 
t?)v  xqlölv  f'ö^s.  Ebenso  sind  I  18  und  97  rä  Mijöixä  nur  die 
Ereignisse  der  Jahre  480  und  479;  die  Begebenheiten  (itrat-v 
tovös  to\:  jroZsfiov  xal  tov  Mrjöixov  will  Thukydides  erzählen, 
die  früheren  Schriftsteller  haben  nur  rj  ra  jzqo  xcbv  Mijdixmv 
^EllrjVLxa  erzählt  ?)  avta  ra  Mr/dixä.  Dass  unter  letzterer  Be- 
zeichnung etwa  auch  die  Schlacht  am  Eurymedon  mitbegriffen 
werden  könnte,  ist  ihm  nicht  in  den  Sinn  gekommen.  Bekannt- 
lich hat  der  Terminus  rä  Mrfiixa  diese  begränzte  Bedeutung- 
alle  Zeit  behalten,  so  gut  wie  unser  Ausdruck  „die  Perserkriege". 

Die  vorstehenden  Argumente  hat  grösstenteils  schon  Otto 
Nitzsch  in  seinem  Programm  über  Herodot,  Bielefeld  1873, 
beigebracht.     Da  sie  aber  in   den  neueren  Diseussionen  nicht 


.192 

die  Berücksichtigung'  gefunden  haben,  die  sie  verdienen,  dürfte 
es  nicht  ohne  Nutzen  sein,  sie  hier  noch  einmal  in  Kürze 
wiederholt  zu  haben. 


2.  Herodots  Sprachkenntnisse. 

Dass  Herodot  die  Sprachen  der  Völker,  welche  er  auf 
seinen  Reisen  besucht  hat,  nicht  kannte,  ist  zwar  schon  öfter 
hervorgehoben;  doch  lohnt  es  sich,  die  entscheidenden  Belege 
dafür  zusammenzustellen  und  etwas  eingehender  zu  besprechen. 

I.  Aegyptisch.  Zwar  gibt  Herodot  mehrere  aegyptische 
Wörter  einigermassen  correct  wieder ;  so  II  69  yäfiipai  =  xqo- 
xödsiloi  ägypt.  geschrieben  mshu, ')  wo  wohl  bei  der  griechi- 
schen Wiedergabe  die  Aspirata  durch  eine  Art  Metathesis  an 
den  Anfang  des  Wortes  gerathen  ist ;  II  30  Ao^idy  —  so  die 
codd.  der  Classe  des  Romanus  R  und  des  Sancroftianus,  Citat 
bei  Steph.  Byz.  AvxoftokoL  mit  der  unwesentlichen  Variante 
Aöfiäyrjv;  die  codd.  der  anderen  Classe  (A  B  C)  haben  'Aöyd^  — 
ol  s§  agiöTsgijg  xtiQoe,  jcagiördfitvoi  ßaöiÄei,  äg.  smlii  „links". 
Diese  Wörter  hat  er  durch  die  Dollmetscher  richtig  kennen  ge- 
lernt. Dagegen  übersetzt  er  II  143  eins  der  allergewöhn lichsten 
ägyptischen  Wörter  falsch.  Er  sagt  Jiiomfug  toxi  xard  ^EXXdda 
yXcboöav  xaXog  xdya&oc ;  das  ägyptische  Wort  pi  römi  aber 
bedeutet  einfach  „der  Mensch"  2)  Und  erst  dadurch  wird  He- 
rodots  Erzählung  wirklich  verständlich.  Er  berichtet,  dass 
„die  Priester  mit  dem  Historiker  Hekataeos,  als  er  in  Theben 
seinen  Stammbaum  im  1 6.  Gliede  auf  einen  Gott  zurückführte, 
dasselbe  thaten  wie  mit  mir,   obwohl  ich  meinen  Stammbaum 


1)  Vocale  schreibt  die  hieroglyphiselie  Schrift  im  allgemeinen  nicht, 

2)  pi  ist  Artikel.  Das  Wort  Mensch  wird  hierogl.  einmal  mit  [sprich 
romet],  sonst  mit  Auslassung  des  Nasals  rt,  in  späterer  Zeit  auch  rm  ge- 
schrieben. Auslautendes  t  ist  im  Aegyptischen  schon  in  sehr  früher  Zeit  in 
der  Aussprache  abgefallen.  Die  Vocalisation  steht  durch  das  koptische 
röme  fest.  Wenn  A.  Wiedemann  in  dem  werthlosen  Buch  „Herodots 
zweites  Buch  mit  sachl.  Erläuterungen"  1890  S.  509  diese  Thatsache  leugnet 
und  lieber  zu  den  absurdesten  Erklärungen  seine  Zuflucht  nimmt,  so  ist 
dass  nur  ein  Beweis  von  vielen  dafür,  dass  alle  Errungenschaften,  welche 
die  Aegyptologie  seit  anderthalb  Jahrzehnten  gemacht  hat,  spurlos  an  ihm 
vorüber  gegangen  sind. 


193 

nicht  aufzählte".1)  Sie  zeigten  ihm  die  hölzernen  Colossal- 
statuen  der  Oberpriester  von  den  Zeiten  des  Menes  an  und 
erklärten,  jeder  sei  der  Sohn  seines  Vorgängers.  [In  der  ganzen 
Zeit  sei  kein  Gott  in  Menschengestalt  auf  Erden  erschienen 
c.  142.]  „Und  als  Hekataeos  seinen  Stammbaum  anführte  und 
im  sechzehnten  Glied  an  einen  Gott  anknüpfte,  zählten  sie  da- 
gegen ihre  Genealogie  auf  und  wollten  seine  Behauptung,  dass 
ein  Mensch  Sohn  eines  Gottes  sei,  nicht  anerkennen;  sie  er- 
klärten aber  bei  der  genealogischen  Rechnung,  jeder  der  Co- 
losse  sei  xigcofiiv  Ix  jtiqcqiuoq,  ytjovivai,  bis  sie  alle  345  Colosse 
durchgegangen  waren,  wobei  sie  jeden  jtlQmfiiq  nannten,  und 
knüpften  sie  weder  an  einen  Gott  noch  an  einen  Heros  an. 
jtiQcofiic  aber  heisst  auf  griechisch  xaXdq  xdya&oQ  d.  h.  ein 
Adliger."  Man  sieht  Herodot  hat  seine  Uebersetzung  aus  He- 
kataeos entnommen,  der  mithin  eben  so  wenig  ägyptisch  konnte, 
wie  er.  Mit  der  Uebersetzung,  jeder  der  Priester  sei  ein  Adliger 
Sohn  eines  Adligen,  lassen  Herodot  und  Hekataeos  die  Aegypter 
Unsinn  reden ;  denn  ob  die  Priester  adlig  waren  oder  nicht, 
ist  für  die  vorliegende  Frage  gleichgültig.  Setzen  wir  die 
richtige  Uebersetzung  „Mensch"  ein,  so  ist  alles  in  Ordnung; 
dem  Griechen,  der  über  das  hohe  Alter  der  ägyptischen  Cultur 
verblüfft  ist,  weil  nach  seiner  Anschauung  noch  vor  wenig 
Generationen  die  Götter  auf  Erden  wandelten,  erwidern  die 
Prieser  auf  sein  ungläubiges  Kopfschütteln,  alle  diese  Statuen 
stellten  Menschen  dar,  „Mensch  von  Mensch  gezeugt".  Man 
sieht,  das  Gespräch  hat  wirklich  stattgefunden  und  ist  nicht 
erst  von  Hekataeos  fingirt.  Dass  sich  dem  auf  seine  Abstam- 
mung von  den  Göttern  stolzen  Mann  der  Begriff  des  Adligen 
unterschob,  ist  begreiflich  genug;  noch  deutlicher  als  in  den 
directen  Angaben  Herodots  spricht  sich  darin  der  Eindruck  aus, 
welchen  das  Bekanntwerden  mit  dem  Alter  der  ägyptischen 
Geschichte  auf  die  Griechen  gemacht  hat.  Es  hat  ihren  Ra- 
tionalismus nicht  erzeugt  aber  wesentlich  bestärkt. 


1)  Diese  Stelle  beweist,  dass  Herodut  so  gut  wie  Hekataeos  seine 
ysveaXoyla  hatte,  d.  h.  einer  adligen  Familie  angehörte.  Wäre  das  nicht 
der  Fall,  so  würde  Herodots  Aeusserung  ihn  nur  lächerlich  machen.  Aber 
Herodot  ist  bereits  über  die  Standesvorurtheile  hinaus ;  und  daher  versetzt 
er  seinem  Vorgänger  auch  hier  einen  Hieb.  [Ich  bemerke,  dass  ich  diese 
Notiz  und  die  über  pirömi  schon  Philol.  NF.  II  S.  270,  5  publicirt  habe.J 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  ]_*} 


194 

Bei  dieser  völligen  Unkenntniss  des  Aegyptischen  wird  es 
verständlich,  dass  Herodot  allen  Ernstes  behaupten  kann,  die 
Namen  der  meisten  griechischen  Götter  stammten  aus  Aegypten 
und  seien  hier  zu  allen  Zeiten  gebräuchlich  gewesen  (IT  43.  50). 
Er  hat  eben  die  meisten  einheimischen  Namen  (ausser  Isis  Osiris 
Horos  Buto  Amnion  u.  a.)  von  seinen  Führern  nie  gehört,  son- 
dern nur  ihre  seit  langem  gangbaren  griechischen  Aequivalente. 

IL  Persisch.  Ueber  die  persische  Sprache  glaubt  He- 
rodot eine  Entdeckung  gemacht  zu  haben,  auf  die  er  nicht 
wenig  stolz  ist  (I  139):  alle  ihre  Eigennamem  gingen  auf  ,9  aus. 
Mit  Recht  bemerkt  er,  dass  die  Perser  selbst  davon  nichts 
wüssten;  die  Entdeckung  zeigt  uns,  dass  Herodot  kein  Wort 
persisch  kannte.  Denn  sie  ist  von  den  griechischen  Formen 
der  Eigennamen  abstrahirt ;  im  persischen  haben  nur  die  *-  und 
«-stamme  im  Nominativ  ein  s,  aber  nicht  die  unter  den  Eigen- 
namen weit  überwiegenden  «-stamme,  bei  denen  der  Nominativ 
vielmehr  vocalisch  ausgeht. 

Neuerdings  hat  Lagarde  (Mittheilungen  IV  S.  372)  Hero- 
dots  Angabe  mittels  des  Alten  Testamentes  retten  wollen;  hier 
zeige  der  Name  Ahasiveros  =  Xerxes  pers.  Khsajärsä  den 
Auslaut  auf  s,  wie  Kores  =  Kurus  Kvqoq  und  Darjawes  = 
Därajawahus.  Diese  Behauptung  beruht  lediglich  auf  einer 
seltsamen  Flüchtigkeit;  Lagarde  hat  sich  durch  die  absurde 
masoretische  Vocalisation  irre  führen  lassen.  Der  Auslaut  s 
ist  nicht  die  Nominativendung,  sondern  der  letzte  Consonant 
des  Stammes;  das  hebräische  'lisivrs,  zu  sprechen  etwa  'achäawars, 
entspricht  abgesehen  von  dem  wohl  verschriebenen  w  für  j  ge- 
nau dem  Persischen  Khsajärsä  äg.  Khsjarsa,  babyl.  Hisuirsi 
(resp.  -su,  -sa'). 

Die  gleiche  Unkenntniss  der  Sprache  verräth  die  Angabe 
VI  98, ')  die  Namen  der  drei  Perserkönige  Dareios  Xerxes  und 
Artaxerxes  bedeuteten  eQgtirjg,  aQ?jiog  und  {utyag  aQ/jiog.  Offen- 
bar liegt  dieser  Deutung  die  Annahme  zu  Grunde,  Artaxerxes 
sei  ein  Compositum  von  Xerxes.  Die  griechischen  Namen  sehen 
in  der  That  so  aus,  aber  die  persischen  Formen  Khsajärsä  und 
Artakhsatra  haben,  wie  man  sieht,  nicht  das  mindeste  mit  ein- 


1)  Die  Stelle  mit  Wesseling  für  eine  Interpolation  zu  erklären  liegt 
kein  Grund  vor. 


195 

ander  zu  tliun.  Von  den  gegebenen  Uebersetzungen  ist  die 
von  Dareios  „der  Halter"  vielleicht  richtig,  auch  die  Wieder- 
gabe von  Xerxes  Khsajärsä,  etwa  „der  mächtige",  durch  aQrjiog 
kann  man  vertheidigen,  aber  ArtakMatra  heisst  nicht  (ttyac 
äg?'jioc,  sondern  „der  dessen  Reich  (oder  Herrschaft)  vollkommen 
ist".  —  Mit  diesen  Irrthümern  steht  die  Behauptung  I  131, 
Mithra  sei  eine  persische  Göttin,  auf  gleicher  Linie. 

III.  Skythisch.  Hier  genügt  der  Verweis  auf  Müllen- 
hofs Untersuchungen  Ber.  Berl.  Ak.  1866.  Ich  erwähne  nur 
dass  agif/äojcoi  IV  27  nicht  {loj'opfraZfioi  heisst,  sondern  einer 
der  vielen  mit  aspa  „Pferd"  zusammengesetzten  Stammnamen 
ist,  wahrsch.  arjamäspa  „folgsame  Pferde  habend";  ebenso  be- 
deutet oiÖQjiaxa ,  der  skythische  Name  der  Amazonen,  nicht 
avÖQoxToroi  IV  110,  sondern  „Männerherrinnen"  virapatajä. 
Dem  gegenüber  können  einzelne  richtige  Uebersetzungen  nichts 
beweisen. 

Herodot  ist  zu  beurtheilen  wie  die  zahlreichen  modernen 
Orientreisenden,  welche  ihre  totale  Unkenntniss  der  einheimi- 
schen Sprache  gleich  am  Eingang  ihrer  Werke  durch  die  Be- 
hauptung verrathen,  das  muslimische  Glaubensbekenntniss  laute 
allah  ill  allah,  was  sie  womöglich  noch  durch  die  unsinnige 
„Uebersetzung"  Gott  ist  Gott  wiedergeben.  Wie  kein  beson- 
nenerer Forscher  den  Angaben  dieser  Schriftsteller  über  das 
Religionssystem  des  Islam  und  den  Zusammenhang  seiner  Lehre, 
oder  über  historische  Nachrichten,  die  selbständige  Forschung 
verlangen,  irgend  welchen  Werth  beilegen  wird,  so  wenig  ist 
das  bei  Herodot  gestattet;  wie  sie  ist  auch  er  hier  völlig  von 
ungebildeten  Dragomännern  und  von  seinen  im  Lande  ansässigen 
Landsleuten  abhängig,  die  ihm  nicht  weniger  Absurditäten  und 
Fabeln  aufgebunden  haben,  wie  jenen.  Aber  wie  jene  dabei 
vortreffliche  Beobachter  sein,  Land  und  Leute,  Sitten  und  Ge- 
bräuche ausgezeichnet  schildern  können  —  soweit  dafür  nicht 
Kenntniss  der  inneren  geistigen  Zusammenhänge  erforderlich 
ist  —  so  auch  Herodot.  Soweit  seine  Autopsie  reicht,  gibt  es 
bei  ihm  kaum  eine  Angabe  die  sich  nicht  bestätigt  hätte ;  seine 
Schilderungen  z.  B.  der  ägyptischen  Feste  oder  der  persischen 
Sitten  und  ihrer  Religionsübung  sind  völlig  correct  und  vom 
höchsten  Werthe,  obwohl  oder  vielmehr  gerade  weil  er  von 
dem  zu  Grunde  liegenden  religiösen  System  keine  Ahnung  hat. 

13* 


196 

8.  Herodot  von  Thurii.1) 

Aristoteles  Rhet.  III  9  citirt  den  Eingang  von  Herodots 
Werk  in  der  Form  cHqo66tov  Oovqiov  rjd'  lörogb/g  ajzodeit-ia. 
Ebenso  hat  offenbar  Duris  gelesen:  dovQig  6h  llavvaoiv 
AioxXiovg  T£  jialöa  dvtjQaipe  xal  JEdfiiov,  bfiolcoq  cog  xal 
cHg6dorop  Oovqiov  (Suidas  s.  v.  Ilavvaöig);  er  bezeichnete 
die  beiden  Halikarnassier  Panyassis  und  Herodot  nicht  nach 
ihrer  ursprünglichen  sondern  nach  ihrer  Adoptivheirnath.  Auch 
Avien  or.  mar.  49,  der  ja  alten  Quellen  folgt,  sagt  Herodotus 
Thurius.  In  der  hellenistischen  Literatur  stehen  dann  beide 
Lesungen  Oovqiov  und  "Alixagv^öGtog  neben  einander,  doch  so, 
dass  von  den  Schriftstellern,  die  sie  citiren,  die  letztere  bereits 
bevorzugt  wird.  So  Strabo  XIV  2,  16  „aus  Halikarnass  stammt 
der  Historiker  Herodot,  ov  vötsqov  Oovqiov  exdXeöav  6td  xo 
xoivcovrjöat  rrjg  slg  OovQiovg  ajroixiag;  und  deutlicher  noch 
Plutarch  de  exil.  13  xo  6h  ,,cHqo66tov  AXtxaQvaooscog  iöroQi?jg 
ajz66eit-ig  tJös"  JioXXol  [i£TayQa<pov6iv  ,*Hqo66tov  Oovqiov". 
fiexqyxrjOs  yaQ  eg  OovQiovg  xal  rrjg  djtotxlag  exslvrjg  f/ereöx^ 
und  de  mal.  Her.  35  „Herodot  sollte  den  medisch  gesinnten 
Griechen  keine  so  starken  Vorwürfe  machen;  denn  während 
ihn  die  übrigen  Griechen  für  einen  Thurier  hielten,  rechnet  er 
sich  selbst  zu  den  Halikarnassiern ,  die  als  Dorer  unter  jener 
Weiberherrschaft  gegen  die  Griechen  zu  Felde  zogen"  (xal 
ravra  Oovqiov  {/ev  ijto  rcov  aXXmv  vo/Jit^ofisvov,  avxbv  6h 
^AXtxaQvaöimv  jrtQiexoijevov).  Deutlich  sieht  man  aus  diesen 
Zeugnissen,  wie  die  kritisch  für  richtig  geltende  Lesart  'AZixag- 
vrjööeog  in  die  Texte  eindringt  und  das  ältere  Oovqiov  ver- 
drängt. In  unseren  Handschriften  ist  das  letztere  völlig  ver- 
schwunden. 

Schon  diese  Darlegung  zeigt,  dass  die  Lesung  OovqIov  im 
Prooemium  Herodots  die  ältere  ist,  mit  andern  Worten,  dass 
Herodot  selbst  so  geschrieben  hat.  Hätte  Herodot  sich  selbst 
als  Halikarnassier  bezeichnet,  so  wäre  gar  nicht  zu  verstehen, 
wie   die  Variante   entstanden  wäre,  ja   schwerlich  hätte  sich 


1)  Ein  Eingehen  auf  die  älteren  durchweg  überholten  Arbeiten  über 
Herodots  Leben  (darunter  den  verfehlten  Aufsatz  von  Ad.  Bauer  Bor. 
Wien.  Ak.  Bd.  89,  1878)  wird  man  mir  wohl  erlassen.  Wirklichen  Werth 
hat  jetzt  noch,  so  weit  ich  die  Literatur  übersehe,  einzig  der  Aufsatz  von 
Kühl,  Herodotisches,  Piniol.  XLI,  1 882,  54  ff. 


197 

überhaupt  irgend  welche  Kunde  davon  erhalten,  dass  er  an 
der  Gründung  der  Colonie  Theil  genommen  hat.  Umgekehrt 
aber  ist  es  sehr  wohl  begreiflich,  dass  in  hellenistischer  Zeit, 
als  der  Stolz  der  einzelnen  Städte  auf  ihre  literarischen  Grössen 
sich  entwickelte,  die  Halikarnassier  sich  ihren  berühmten  Lands- 
mann nicht  entgehen  lassen  wollten,  und  dass  ihr  Anspruch 
von  der  literarischen  Kritik  anerkannt  und  durch  sie  zur  Herr- 
schaft gelangt  ist.  Dass  Herodot  von  Geburt  Halikarnassier 
war,  wird  man  wenigstens  in  seiner  Heimath  immer  gewusst 
haben,  ja  er  mag  hier  in  jüngeren  Jahren  eine  politische, 
literarisch  oder  urkundlich  fixirte  Rolle  gespielt  haben  —  ge- 
hörte er  doch  zum  Adel  der  Stadt  (oben  S.  193, 1 ;  daher  richtig 
bei  Suidas:  'Hq.  jlhxagvaöötvg,  xwv  hjaqxxvwv).  Auch  seine 
Verwandtschaft  mit  Panyassis  ist  gewiss  geschichtlich  [nur 
wie  sie  verwandt  waren,  ob  von  Vaters  oder  von  Mutters  Seite, 
war  zweifelhaft ,  s.  Suidas  IJavvaoig] ,  und  ebenso  der  Name 
seines  Vaters  Lyxes  und  seines  Bruders  Theodoros  —  man 
sieht  nicht  ein,  aus  welchem  Grunde  letzterer  erfunden  sein 
sollte.  Dass  Panyassis,  doch  wohl  wegen  der  Tyrannis,  auf 
Samos  gelebt  hat  und  hier  das  Bürgerrecht  erwarb,  steht  durch 
Duris'  Zeugniss  fest.  Auch  dass  er  durch  Lygdamis  ermordet 
ist  (Suidas),  mag  richtig  sein.  Dagegen  ist  die  Betheiligung 
Herodots  am  Sturze  des  Tyrannen  von  Halikarnass,  die  Suidas 
behauptet,  recht  problematisch ;  Herodot  war  wohl  damals  noch 
zu  jung  um  eine  politische  Rolle  zu  spielen.  Doch  fehlt  uns 
alles  Material  um  zu  einer  sicheren  Entscheidung  zu  gelangen. *) 
Dass  Herodot  so  gut  wie  Panyassis  sich  lange  auf  Samos 
aufgehalten  hat  —  freilich  nicht  um  hier  ionisch  zu  lernen, 
wie  die  Fabel  meint;  das  sprach  er  von  Kindesbeinen  auf  — 
lehrt  sein  Werk.  Dann  ist  er  nach  Athen  gekommen,  und  hier 
mit  Sophokles  und  Perikles  in  nahe  Beziehungen  getreten,  wie 
das  für  einen  angesehenen  Bürger  aus  einer  wichtigen  Bundes- 


1)  Ueber  die  fälschlich  hierher  gezogene  Inschrift  von  Halikarnass 
vgl.  Rühl  Piniol.  41.  Herodots  Erzählungen  von  Artemisia  sprechen  nicht 
gerade  dafür,  dass  seine  Familie  von  Anfang  an  im  Gegensatz  zu  den  Ty- 
rannen stand;  der  Conflict  (falls  er  vorhanden  war)  mag  erst  nach  ihrem 
Tode  entstanden  sein  und  zur  Flucht  des  Panyassis  und  seiner  Verwandten 
nach  Samos  geführt  haben.  Doch  ist  das  nicht  mehr  als  eine  vage  Ver- 
muthung. 


198 

Stadt,  der  sich  ganz  der  attischen  Reichspolitik  angeschlossen 
hat,  natürlich  ist.1)  Denn  als  ein  begeisterter  Anhänger  der 
attischen  Herrschaft  und  der  perikleischen  Ideale  erweist  sich 
Herodot  auf  jeder  Seite  seines  Werks;  um  Perikles'  und  seines 
Hauses  willen  verfolgt  er  das  Andenken  des  Themistokles 
und  sucht  den  grössten  attischen  Staatsmann  herabzusetzen  wo 
er  kann ;  um  seinetwillen  hat  er  an  zwei  Stellen  seines  Werkes 
versucht,  die  Alkmeoniden  von  den  Makeln  freizuwaschen,  die 
an  ihrer  Geschichte  hafteten,  einmal  indirect  in  der  Geschichte 
des  kylonischen  Frevels,  einmal  in  einer  ausführlichen  Apologie, 
die  sie  von  dem  Vorwurf  des  Medismos  zur  Zeit  der  Schlacht 
bei  Marathon  befreien  soll.  Beide  Versuche  sind  freilich  gründ- 
lich missglückt:  Herodots  Darstellung  des  kylonischen  Frevels 
widerlegt  Thukydides;  und  seine  Vertheidigung  gegen  den 
Medismos  ist  so  schief  und  gekünstelt,  dass  sie  die  Richtigkeit 
der  Beschuldigung  nur  in  um  so  helleres  Licht  stellt.2) 


1 )  Ich  mache  darauf  aufmerksam,  dass  Sophokles  als  erster  Helleno- 
tamias  im  J.  443/2  nach  dem  Siege  des  Perikles  über  Thukydides  die  Neu- 
organisation des  attischen  Bundes  und  seine  Eintheilung  in  fünf  Quartiere 
durchgeführt  hat:  CIA.  I  237. 

2)  Davon  wissen  die  meisten  Darstellungen  der  griechischen  Geschichte 
nichts;  auch  Delbrück  in  seiner  trefflichen  Kritik  der  Schlacht  bei  Ma- 
rathon hält  den  Bericht  über  den  Verrath  der  Alkmeoniden  für  thürichtes 
Gerede  (Perserkriege  und  Burgunderkriege  60  ff.).  Aber  Altweibergerede 
hält  sich  nicht  60  Jahre  lang  lebendig;  Herodot  VI  121  ff.  zeigt,  wie  ein- 
gehend diese  Dinge  beim  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges,  als  die 
Angriffe  auf  Perikles  begannen,  discutirt  wurden.  Seine  Vertheidigung  ist 
so  schwach  wie  nur  möglich.  Wer  wirklich  ein  lebendiges  Bild  der  da- 
maligen Verhältnisse  Athens  gewonnen  hat,  wird  an  der  Richtigkeit  der 
Beschuldigung  nicht  zweifeln.  Seit  der  Katastrophe  Milets  hatten  die 
Alkmeoniden  allen  Einfluss  verloren  und  sahen  sich  zwischen  Themistokles 
auf  der  einen,  Miltiades  auf  der  andern  Seite,  die  um  die  politische  Leitung 
Athens  mit  einander  rangen,  erdrückt.  Da  ist  es  durchaus  natürlich,  dass 
sie  mit  Hülfe  der  Emigranten  und  der  Perser  in  die  Höhe  zu  kommen 
suchten,  genau  wie  die  die  Aleuaden  in  Thessalien,  oder  wie  der  Alkmeo- 
nide  Megakles  um  555  mit  Hülfe  des  Pisistratos,  der  Alkmeonide  Klei- 
sthenes  um  506  mit  Hülfe  der  Perser  die  Macht  zu  gewinnen  versucht  hatten. 
Dadurch,  dass  sie  den  Miltiades,  den  Themistokles,  den  Kimon  bis  in  den 
Tod  verfolgten,  haben  die  Alkmeoniden,  resp.  ihre  Erben  Xanthippos  und 
Perikles  die  Herrschaft  über  Athen  gewonnen.  —  Ueber  Herodots  Bericht 
über  Kylon  s.  G.  d.  A.  IL  Es  ist  seltsam,  dass  Nissen  Hist,  Ztschr.  NF. 
XXVII  1880,  419  f.  diese  Zusammenhänge  völlig  verkannt  hat. 


199 

Die  Verbindung  mit  Perikles  hat  offenbar  den  Anlass  ge- 
geben, dass  Herodot  mit  so  vielen  anderen  hervorragenden 
Männern  an  der  Gründung  der  panhellenischen  Colonie  Thurii 
Theil  nahm,  die  ja  den  Höhepunkt  der  perikleischen  Politik 
bilden  sollte.  Die  Thatsache  stand  dadurch  fest,  dass  Herodot 
selbst  sich  in  seinem  Werke  als  Thurier  bezeichnete;  sie  ist 
daher  von  den  Alten  benutzt  worden  um  Herodots  Lebenszeit 
zu  datiren  (Plin.  XII  18.  Pamphila  bei  Gellius  XV  23 ,  Diels 
Rhein.  Mus.  XXXI  48).  Hier  lässt  man  ihn  daher  auch  ge- 
storben und  begraben  sein  (Suid.;  Steph.  Byz.  Oovqlol)  und 
verfasste  ihm  eine  Grabschrift  mit  der  thörichten  Motivirung, 
er  habe  seine  Heimath  Halikarnass  verlassen  vor  dem  äzXrjzog 
[/cofiog  seiner  Mitbürger  fliehend. !)  Andere  haben  ihn  nach 
Analogie  des  Hellanikos,  Thukydides,  Agathon,  Euripides  an 
den  makedonischen  Hof  gebracht  und  lassen  ihn  in  Pella  sterben 
(Suidas  s.  v.  "Hqoöotoq  und  ^EXXavixoq).  Beide  Annahmen  sind 
falsch ;  denn  wie  sein  Werk  lehrt  und  seit  Kirchhofes  Nach- 
weisen unbestritten  ist,  ist  Herodot  alsbald  nach  Athen  zurück- 
gekehrt und  hat  hier  bis  in  den  Anfang  des  peloponnesischen 
Krieges  gelebt.  In  diese  Zeit  fallen  seine  Reisen  in  Asien  und 
Aegypten  (S.  156)  und  dann  die  Verarbeitung  des  seit  langem 
von  ihm  gesammelten  und  zu  Vorträgen  benutzten  Materials 
zu  einem  planmässigen  einheitlichen  Geschichtswerke.  Was 
seine  weiteren  Schicksale  gewesen  sind,  wird  sich  uie  ermitteln 
lassen;  mit  dem  Erscheinen  des  Werkes  versiegt  die  Quelle 
für  die  Erkenntniss  des  Lebens  des  Autors. 

Der  Grund,  weshalb  Herodot  Thurii  verlassen  hat,  ist  offen- 
bar in  den  politischen  Wirren  des  neugegründeten  Gemein- 
wesens zu  suchen ;  es  ist  ihm  ergangen  wie  später  dem  Lysias 
und  Polemarchos  und  dem  Euthydemos  und  Dionysodoros 
(Plato  Euthydem  271  ovtol  to  fihv  ye'voc,  wc  eyco^iai,  evxev&ev 
jio&tv  eiöiv  [da  die  Ionier  aus  Athen  stammen]  ex  Xlov, 
aJicpxtjOcw  öe  tg  Sovglovg'  (pevyovxec,  de  exü&tv  jioXX'  r}Ö)j 
Ittj  jcegi  xovoöe  tovc,  xojiovq  öiaTQlfiovöiv).  Natürlich  aber 
hat  er  damit  seine  Ansprüche  auf  das  Bürgerrecht  in  der  neuen 


1)  Dieselbe  Motivirung  findet  sich,  wohl  auf  Grund  des  Epigramms, 
bei  Suidas:  entl  votbqov  elöev  bavzöv  (pd-ovovfxsvov  vnb  zwv  tcoXitwv. 
Der  Gedanke  lag  nahe  genug;  historische  Realität  hat  er  natürlich  nicht. 


200 

Heimath  nicht  aufgegeben;  er  bleibt  Thurier,  nicht  Halikar- 
nassier,  auch  wenn  er  aus  Thurii  verbannt  ist,  genau  wie  die 
beiden  letztgenannten  (ib.  2SS  co  ccvöqsc  Qovqlol  ehe  Xloi  sift3 
ojto&sv  xal  ojry  yaiQBtor  orofta^ofiEVOi)',  dass  er  sich  'Hqoöo- 
rog  OovQLog  nennt,  ist  das  einzig  correcte. 

Dass  Herodot  historische  Vorlesungen  gehalten  hat,  lehren 
Thukydides  I  21.  22  und  einzelne  Andeutungen  seines  Werkes 
selbst.  Ob  er  dafür  Preise  erhalten  hat,  wie  die  Alten  meinen, 
wissen  wir  nicht.  Wohl  aber  hat  er  vom  athenischen  Staate 
eine  grosse  Belohnung  erhalten;  das  Zeugniss  des  Diyllos 
darüber  ist  offenbar  aus  den  Urkunden  geschöpft  (Plut.  de  mal. 
Her.  26  ort  fievroi  dexa  xalavxa  dcogeav  eZaßsv  eg  A&tjvoöv 
'Avvxov  xo  tprj(piOfia  ygäiparzoc,  av?)g  A&r/valog  ov  xcov  jzaQij- 
fieZrjfihicov  ev  IötoqIcc,  Aivllog,  uqtjxsv).  Die  Alten  lassen  ihm 
diese  Belohnung  für  eine  öffentliche  Vorlesung  seines  Werkes 
ertheilt  werden  und  setzen  sie  daher  vor  die  Auswanderung 
nach  Thurii  (Euseb.  arm.  Ol.  83,3  =  446/5,  bei  Hieron.  83,4  = 
445/4  resp.  im  cod.  Regius  84,1  =  444/3  'Hgodorog  igtoqixoq 
eTifirjfrr/  jraga  rr/g  Aftrjvaioov  ßovXijg  ejtavayvovg  avrolg  rag 
ßlßXovg).  Das  ist  eine  falsche  Combination. J)  Denn  der  An- 
tragsteller Anytos  ist  offenbar  kein  anderer  als  der  Ankläger 
des  Sokrates,  der  bekannte  Staatsmann  der  Zeit  des  Thrasybul; 
Plato  schildert  ihn  als  eifrigen  Verehrer  der  guten  alten  Zeit, 
und  dazu  passt  die  Bewunderung  für  Herodot  vortrefflich,  sie 
ist  das  Gegenstück  zur  Anklage  des  Sokrates.  Anytos'  poli- 
tische Thätigkeit  kann  aber  unmöglich  über  die  letzten  Jahre 
des  Perikles  und  den  Beginn  des  peloponnesischen  Krirges 
hinaufreichen.  In  dieser  Zeit  wäre  es  vielleicht  begreiflich, 
dass  dem  Herodot  als  Belohnung  für  den  Muth ,  mit  dem  er 
in  glänzender  Darstellung  Athens  Verdienste  vor  ganz  Hellas 
verkündete,  die  ungeheure  Summe  von  zehn  Talenten  geschenkt 
wäre.  Ueberliefert  ist  das  freilich  nicht;  und  sehr  möglich 
wäre,  dass  die  Belohnung  für  ganz  andere  Verdienste,  die 
vielleicht  mit  grossen  jetzt  wiedererstatteten  Auslagen  im  Zu- 
sammenhang standen,  ertheilt  ist ;  in  dem  Psephisma  wird  dann, 

1)  Dass  dies  von  Kirchhoff  wie  von  Bauer  gleichmässig  zum  Aus- 
gangspunkt ihrer  Untersuchungen  gemachte  Datum  lediglich  auf  einer  durch- 
sichtigen Combination  beruht,  hat  bereits  Rühl  Philol.  XLI  71  erkannt 
und  weit  früher  schon  Niebuhr  Kl.  Sehr.  1 118  A.  angedeutet. 


201 

wie  das  Usus  ist,  daneben  die  athenerfreundliehe  Haltung 
Herodots  im  allgemeinen  gerühmt  worden  sein.  Denkbar  wäre 
z.  B.,  dass  Herodot  in  diplomatischen  Diensten,  etwa  bei  Ver- 
handlungen mit  Persien,  für  Athen  thätig  gewesen  wäre.  Dass 
über  den  Grund  der  Belohnung  in  der  auf  uns  gekommenen 
Notiz  nichts  enthalten  ist,  kann  nicht  befremden.  —  Der  mehr- 
fach betretene  Ausweg,  an  dem  Psephisma  des  Anytos  festzu- 
halten, aber  die  zehn  Talente  für  Ausschmückung  zu  erklären, 
ist  zwar  sehr  verlockend,  aber  methodisch  schwerlich  zulässig. 
Ich  schliesse  mit  einer  Bemerkung  über  die  Entdeckung, 
durch  welche  Maass  unsere  Kenntniss  Herodots  bereichert 
haben  will:  dass  die  Discussionen  der  sieben  Perser  über  die 
beste  Staatsform  nach  der  Ermordung  des  Magiers,1)  deren 
historische  Realität  Herodot  zweimal  mit  grosser  Emphase  den 
ihm  geäusserten  Zweifeln  gegenüber  versichert  (III  80.  VI  43), 
aus  einer  sophistischen  Schrift  über  die  Vorzüge  der  drei 
Staatsformen  geschöpft  seien,  die  darauf  hinauslief,  die  Frage 
unentschieden  zu  lassen;  wahrscheinlich  sei  eine  Schrift  des 
Protagoras,  den  Herodot  ja  in  Thurii  kennen  lernte,  die  Quelle.2) 
Ich   will   dagegen   garnicht  polemisiren,    sondern   nur  meinen 


1)  Was  Wilamowitz  Hermes  XII  331  über  diese  Stelle  behauptet  hat, 
um  Kirchhoff's  Ansicht  zu  retten,  Herodot  habe  diese  Partie  445  in 
Athen  vorgelesen,  glaubt  er  hoffentlich  schon  lange  selbst  nicht  mehr. 
Jedenfalls  scheint  eine  Polemik  dagegen  überflüssig. 

2)  Maass  zur  Geschichte  der  griech.  Prosa,  2.  Herodot  und  Isokrates, 
Hermes  XXII  5S1  ff.  Das  von  der  Uebereinstimmung  einzelner  Wendungen 
in  Isokrates'  Nikokles  (§  14  ff.)  mit  Herodot  hergenommene  Argument  ist 
ganz  hinfällig;  wie  wäre  es  denn  denkbar,  dass  bei  einem  so  unendlich 
viel  behandelten  Thema  Anklänge  vermieden  wären?  Der  Gedanke,  dass 
Isokrates  für  diese  Ausführungen  den  Protagoras  aufgeschlagen  hätte,  ist 
geradezu  absurd;  so  schwachköpfig  war  der  angesehenste  Literat  seiner 
Zeit  doch  nicht,  um  nicht  über  dies  Thema  stundenlang  aus  eigenen 
Mitteln  reden  zu  können.  Ueberdies  hat  Maass  die  Anklänge  maasslos 
übertrieben;  sie  sind  ganz  geringfügiger  und  äusserlicher  Natur.  Isokrates' 
Behauptung  z.  B.,  in  der  Demokratie  schwimme  der  einzelne  in  der 
Masse  ((ptQso&ai  ßtxu  zov  nhj&ovg),  ohne  dass  seine  individuellen  Fällig- 
keiten erkannt  würden,  hat  doch  wirklich  mit  Herodots  Worten,  die 
unwissende  Masse  handle  ohne  Einsicht  und  stosse  die  politischen  Ange- 
legenheiten, auf  die  sie  gerathe,  ohne  Verstand  vorwärts  wie  ein  Giess- 
bach  {(o&el  ze  if/neacov  xa  TZQrjy/uaxa  avev  vöov  %ei[ji<xq(}(i)  noxa(i(ö  Ixs- 
Aoe),  nicht  das  mindeste  zu  thun. 


202 

vollsten  Dissensus  coristatiren.  Denn  die  Voraussetzungen,  von 
denen  Maass  ausgeht,  sind  von  meinen  Ansichten  so  verschie- 
den, dass  ich  mir  von  einer  Polemik  nicht  nur  keinerlei  Er- 
gelmiss  verspreche,  sondern  in  der  That  garnicht  wüsste  wie 
ich  sie  beginnen  soll,  da  dafür  jeder  gemeinsame  Boden  fehlt, 
von  dem  man  ausgehen  könnte.  Dass  Herodot  die  Erzählung 
einem  älteren  Historiker  entnommen  hat,  wäre  möglich  —  wenn 
ich  auch  meine,  dass  man  nur  Angaben  von  Persern,  denen  er 
Vertrauen  schenkte,  als  seine  Quelle  betrachten  darf;  derartige 
Diseussionen  so  gut  wie  die  I  1 — 5  berichteten  müssen  an 
den  kleinasiatischen  Satrapenhöfen  sehr  oft  geführt  worden 
sein  — ;  wenn  er  sie  frei  erfunden  hat,  so  war  er  ein  Lügner, 
und  dieser  Vorwurf  ist  ihm  wenigstens  oft  genug  gemacht 
worden,  so  unbegründet  er  ist.  Aber  Maass  macht  ihn  zu- 
gleich zu  einem  Dummkopf,  der  sich  einbildet,  Erfindungen 
seines  guten  Freundes  Protagoras  dem  Publicum  als  geschicht- 
liche Thatsachen  aufbinden  zu  können  —  vielleicht  meinte 
er  sogar  ihm  damit  eine  Schmeichelei  zu  erweisen,  wie  sie 
nach  Kirciihoff  Sophokles  dem  Herodot  erwies,  indem  er 
durch  Aufnahme  der  Intaphernesepisode  seine  Antigone  ver- 
darb. Oder  sollte  Herodot  gar  so  dumm  gewesen  sein  gar- 
nicht zu  merken,  dass  die  Discussion  am  Perserhofe  bei  Pro- 
tagoras, oder  wer  sonst  der  Sophist  war,  nur  Einkleidung  war? 
Das  ist  doch  mehr  als  bisher  irgend  jemand  dem  Herodot 
zugetraut  hat.  Und  gesetzt  auch,  es  wäre  so,  so  wäre  ihm 
auch  damit  nichts  geholfen.  Denn  sein  Publicum  wäre  so 
dumm  nicht  gewesen,  da  hätte  es  mindestens  den  einen  oder 
den  anderen  gescheiten  Mann  gegeben,  der  ihn  des  Plagiats  an 
dem  Sophisten  überführte  oder  im  anderen  Falle  über  den 
Sinn  der  Schrift  aufklärte  —  und  dann  wäre  ihm  doch  nichts 
übrig  geblieben,  als  die  Erzählung  zurückzuziehen. 

Es  bleibt  dabei:  von  Einflüssen  der  Sophistik  [und  sophi- 
stischer Rhetorik]  kann  bei  Herodot  so  wenig  die  Rede  sein, 
wie  etwa  in  der  Beredsamkeit  des  Perikles. 


203 


4.    Sardanapals  Grabschrift. 

(Zu  S.  1 76.) 

Ich  benutze  die  Erwähnung  der  Grabschrift  Sardanapals, 
um  die  sehr  interessante  Ueberlieferung  über  dieselbe  noch 
weiter  klar  zu  stellen,  als  das  von  Niese  in  einem  treff- 
lichen Breslauer  Programm  (de  Sardanapalli  epitaphio,  Sommer- 
semester 1880)  geschehen  ist  —  Niese  hat  namentlich  Arrians 
Bericht  falsch  verstanden  und  sehr  mit  Unrecht  an  dem  Vor- 
handensein des  Denkmals  gezweifelt  — ,  und  um  zugleich  den 
von  mir  zweimal  (in  Ersch  und  Gruber's  Encycl.  Art.  Kalli- 
sthenes  und  G.  d.  A.  I  386  Anm.)  gegen  Kallisthenes  erhobene- 
nen  Vorwurf,  er  habe  leichtfertig  eine  Erzählung  erfunden, 
zurückzunehmen. 

Wir  gehen  aus  von  dem  Fragment  32  des  Kallisthenes 
(bei  Suidas  und  Photios  s.  v.  2ccqö.):  SagöavajeaXXovg  ev  dtv- 
TtQco  IIsqöixcöv  ovo  <p?jol  ytyovtvat  KaXXiod^evrjg.  eva  tuev  öqcc- 
OT?]Qiov  xal  yevvalov,  aXXov  de  (JiaXaxov.  ev  Nivm  6  ejil 
xov  (ivrjf/ctTog  avxov  xovx  ejriyeyQajixaf  „JSaQÖavc- 
jtaXXog  'AvaxvvdaQä^tw  (Suid.  Phot.  -ov)  ütalg  Tagöov 
xe  xa\  AyyidXi]v  eöeifiev  TjfieQij  fiiy'  eöd-ce  jtlve  6%eve, 
cog  xd  ye  aXXa  ovde  xovxov  eöxlv  ä<-ux",  xovxeöxiv 
xov  xcov  öaxxv  Xojv  djtoxQoxr/fiaxog.  xo  ydo  eyeöxog 
xm  fiv?]iuan  ayaXfta  vjtho  xjjg  xeqxxXijg  l%ov  rag  #££()ac 
jtejioirjxai,  mg  av  ccjio Xtjxovv  xolg  daxxvXoig.  xavxo 
xal  ev  AyyidXy  xf]  JtQog  Tagöm  ejnytyQajtxca  [rjxig  vvv  xa- 
Xhlxai  ZecpvQiov  —  dieser  Zusatz  ist  unrichtig,  Anchiale  liegt 
bei  Zephyrion]. 

Dass  die  gesperrt  gedruckten  Worte  von  Kallisthenes  aus 
einem  älteren  ionisch  schreibenden  Schriftsteller  entlehnt  sind, 
hat  Niese  erkannt;  er  denkt  an  Hellanikos,  ich  würde  eher 
an  Dionysios  von  Milet  denken.  Der  Sardanapal,  von  dem 
dieser  erzählte,  kann  nicht  der  des  Ktesias  gewesen  sein;  denn 
er  hat  an  einem  Tage  zwei  grosse  Städte  erbaut,  und  er  ist 
in  seiner  Hauptstadt  begraben,  also  nicht  wie  der  ktesianische 
mit  ihr  zugleich  verbrannt.1)    Wir  haben  hier  noch  einen  Rest 


1)  Diese  Beobachtung  hat  Klitarch  fr.  2  bei  Athen.  XII  39  zu  dem 
originellen  Ausweg  veranlasst,  Sardanapal  habe  seinen  Sturz  überlebt  und 


204 

der  echten  vorktesianischen  AssyrergescMchte;  wir  dürfen  mit 
diesem  Bruchstück  den  herodotischen  Sardanapal  combiniren, 
den  schätzereichen  König-,  den  die  Diebe  bestehlen  (II  150).1) 
Bekanntlich  ist  die  Sagengestalt  Sardanapals  aus  dem  letzten 
mächtigen  Assyrerkönig  Assurbanipal  erwachsen,  der  in  der 
Sage  seine  ohnmächtigen  Nachfolger,  unter  denen  Reich  und 
Stadt  vernichtet  wurden,  mit  umschliesst.  So  ist  die  Doppel- 
gestalt Sardanapals  zu  erklären  —  als  Typus  eines  Weichlings 
kennt  ihn  schon  Aristophanes  av.  1021.  Bereits  Hellanikos  hat 
hier  Anstoss  genommen  und  zwei  Sardanapale  unterschieden 
(schol.  Arist.  av.  1021,  bei  Müller  fr.  158  falsch  citirt:  6  de 
'EZZavixog  hv  rolc  IJegoixolg  ovo  qjrjol  SaQÖavajiäZovg  yeyo- 
vevca)\  ihm  hat  sich,  wie  wir  sehen,  sodann  Kallisthenes  an- 
geschlossen. 

Mit  dem  sachlichen  Charakter  des  ersten  Theils  der  Grab- 
schrift, in  dem  wirklich  geschichtliche  Thatsachen  durchschim- 
mern (G.d.  A.  I  386.  406),  steht  der  zweite  in  auffallendem  Wider- 
spruch. Eins  ist  aber  klar,  obwohl  es  Niese  verkannt  hat:  die 
Inschrift  mit  dem  Bilde  ist  nicht  auf  Grund  der  Sage  von 
Sardanapals  Weichlichkeit  erfunden  —  wie  sollte  Jemand  auf 
eine  so  absurde  Erfindung  kommen?  — ,  sondern  sie  ist  der 
Versuch,  einen  den  Griechen  räthselhaften  Gestus  des  Bildes 
zu  erklären,  und  hat  weit  eher  umgekehrt  zur  Bildung  oder 
doch  Weiterbildung  der  Erzählung  von  Sardanapals  Weichlich- 
keit Anlass  gegeben.  Sie  setzt  also  ein  wirkliches  Denkmal 
voraus.  Es  ist  ja  kein  Zweifel,  dass  assyrische  Königsdenk- 
mäler auf  den  Trümmern  der  Hauptstädte  Assyriens  im  sechsten 
und  fünften  Jahrhundert  noch  vielfach  sichtbar  waren  und  auch 
griechischen  Reisenden  bekannt  wurden.  Wie  das  Denkmal  aus- 
gesehen hat,  zeigt  die  nebenstehende  einer  Stele  Samsira- 
män's  IV.  entnommene  Abbildung  (Perrot  et  Chipiez  hist.  de 
l'art  II  621  no.  306).  Gleichartige  assyrische  Sculpturen  sind 
ganz  gewöhnlich;  es  ist  begreiflich  genug,  dass  die  eigen- 
artige  Haltung   des  Armes  —  ein   Gestus   der  Anrufung  der 


sei  in  hohem  Alter  als  Privatmann  gestorben  (yiJQCf  ztXevxfjaai  (jletu  ti]v 
anomwöiv  xfjc  Hvqujv  aQxVQ)- 

1)  Ebenso  weiss  Herodot  bekanntlich  nichts  von  der  ktesianischen 
Semiramis.  Seine  Semiramis  (I  1S4)  ist  die  babylonische  Gemalin  des 
Assyrerkönigs  Rainänniräri  III.  (811—782). 


205 

Götter  —  von  dem  Scharfsinn  der  Griechen  eine  Erklärung 
forderte.  Dabei  hat  man  die  echt  assyrische  schematische 
Darstellung-  der  geschlossenen  Hand  als  Schnalzen  mit  den 
Fingern  bezeichnet. 

Kallisthenes  erwähnt  das  Monument  in  Ninive,  weil  Alexan- 
der auf  seinem  kilikischen  Feldzuge  in  Anchiale  ein  gleich- 
artiges Denkmal  fand ') ;  dadurch  wurde  die  Angabe  der  Grab- 


inschrift bestätigt,  und  Kallisthenes  excerpirte  sie  daher  aus 
dem  alten  Autor.  Dem  Kallisthenes  sind  dann  wie  immer  die 
übrigen  Geschichtsschreiber  Alexanders  gefolgt.  Vor  allem 
brachte  sie  Choirilos,  der  bekannte  Jammerpoet,  der  Alexanders 
Thaten  besang  (Horaz  epist.  II  1,  233.  art.  poet.  358.  Curt.  VIII 
5,  8),  in  Verse  (mit  Weglassung  ihres  geschichtlichen  Inhalts) 


1)  Niese's  Anmerkung  auf  S.  7  mit  dem  merkwürdigen  Satz:  nee 
verisimile  est  Callisthenem  conscripsisse  Alexandri  res,  quippe  qui  in 
mediis  Alexandri  rebus  diem  supremum  obierit  ist  mir  völlig  räthselhaft 
geblieben.  Daran  dass  Kallisthenes  eine  Geschichte  der  Meder  und  Perser 
geschrieben  hätte,  ist  nicht  zu  denken;  UtQGixa  ist  der  naturgemässe 
Titel  der  Geschichte  der  Perserkriege  Alexanders. 


206 

—  diese  7  Verse  sind  wie  zu  Porphyrio's  Zeiten  (zu  Horaz  1. 1.) 
so  jetzt  die  einzigen  von  Choirilos  erhaltenen.  Sie  werden  un- 
endlich oft  citirt,  meist  ohne  Nennung*  ihres  Verfassers,  so  z.  B. 
Diodor  II  23  in  der  Geschichte  Sardanapals  (ßt&sQ^vtvd-hv 
vötsqov  vxo  tlvoq  "EXXtjvoq)  l),  Chrysippos  bei  Athen.  VIII  336  a, 
der  sie  auch  parodirt  hat  so  gut  wie  schon  vor  ihm  Choirilos' 
Zeitgenosse,  der  Kyniker  Krates  (Diog.  Laert  VI  86).  Die 
Autorschaft  des  Choirilos  bezeugt  Amyntas,  der  Verfasser  eines 
Itinerars  Alexanders  (Athen.  XII  529  e):  in  Ninive  befinde  sich 
ein  hoher  aufgeschütteter  Hügel,  den  Kyros  bei  der  Belage- 
rung der  Stadt  zerstört  habe  (es  ist  die  Ruine  des  Terrassen- 
tempels gemeint;  die  Darstellung  ist  von  der  bei  Xenophon 
Anab.  III  4,  7  ff.  vorliegenden  Tradition  beeinflusst) ;  er  soll  das 
Grab  Sardanapals  sein,  kcp'  ov  xal  ajziytyQacp&ai  Iv  (jTrjXy  Xi- 
&iv\\  XaXdaixoZq  yga/jf/aoiv,  o  fierspsyxtlv  XoigiXov  sfifietgov 
jtoirjöavra,  worauf  eine  Paraphrase  des  Gedichts  folgt.2)  Dass 
auch  Klitarch  das  Denkmal  erwähnt  hat,  haben  wir  gesehen; 
seine  Fassung  der  Inschrift  ist  nicht  erhalten.  Der  Urheber  der 
Vulgata  über  Alexander  übergeht  den  Aufenthalt  in  Anchiale 
ganz,  nicht  nur  bei  Justin  und  Diodor  —  das  würde  nichts  be- 
weisen —  sondern  auch  bei  Curtius  ist  er  ausgelassen.  Plut.  de 
Alex.  virt.  II  3  gibt  Kallisthenes1  Darstellung  etwas  gemildert 
(d<PQodioia&).  Genau  an  Kallisthenes  hat  sich  Apollodor  an- 
geschlossen (schol.  Arist.  Av.  1021,  womit  Suidas  2ccqö.  Art.  d 
übereinstimmt),  etwas  abweichend  Klearch  von  Soli  (Athen. 
XII  529 d),  der  den  Gestus  erwähnt,  aber  als  Grabschrift  citirt: 
JZagd.  Avax.  'AyyiaXrjv  sösifis  xal  Tagodv  infj  rjfitgy,  aXXd 
vvv  Tefrvrjxev.  Etwas  weiter  geht  Aristobul.  Einmal  hat  er 
das  gemeine  Wort  ö/tve  durch  jtal^s  ersetzt  (Amyntas  sagte 
?}<PQodioia6a)  —  die  Ionismen  behält  auch  er  bei  — ,  sodann 
lässt  er  das  Bild  nicht  wie  Kallisthenes  beide  Hände  über  den 
Kopf  ausstrecken,   sondern  nur  mit  den  Fingern  der  rechten 


1)  Dass  Diodor  die  Verse  des  Choirilos  anführt,  ist  ein  weiterer  Be- 
weis dafür,  dass  seine  Assyrergeschichte  nicht  direct  aus  Ktesias  ge- 
schöpft ist. 

2)  bei  Strabo  XIV  5,  9,  dem  Steph.  Byz.  s.  v.  'AyyjaXrj  folgt,  wird 
durch  ein  begreifliches  Versehen  Choirilos  von  dem  Gedicht  getrennt: 
{te{AV?]Tai  6h  xal  XolqiXoq  zoizcov  xal  ötj  xal  TiE()i(pi:(Jtzai  zcc  ejirj  zavzi, 
zam  tyw  ooa  tcpayov  etc. 


207 

Hand  schnalzen  (xvjtov  ttftivov  övffßaXXovxa  xovg  xijc  öegtäg 
yeigog  öaxxvkovg  mg  av  djioxQoxovvxa),  wodurch  die  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  oben  abgebildeten  Denkmal  vollständig 
wird,  drittens  redet  er  von  dem  Denkmal  in  Ninive  überhaupt 
nicht,  sondern  nur  von  dem  Monument  und  der  Inschrift  in 
Anchiale  (fr.  6  bei  Strabo  XIV  5,  9  und  Athen.  XII  530b). 

Wesentlich  anders  berichtet  Aman.  II  5.  Die  Inschrift 
hat  zwar  jral^s  wie  Aristobul  und  dazu  die  Andeutung,  dass 
„im  assyrischen  Original"  ein  stärkerer  Ausdruck  stehe  (xal 
xo  jral^e  (mdiovQjOTtQor  eyyeyoäty&ai  lyaöav  xco  AöOvqico 
orofiaxi),  aber  alle  bisher  consequent  bewahrten  Ionismen  sind 
beseitigt,1)  und  die  metrische  Fassung,  die  Choirilos  der  Grab- 
schrift   gegeben   hatte,    wird   hier    dem   Urtext   zugeschrieben 

(öl    ffev    AöÖVQLOL    xal    f/tTQOV    StyCLÖTCOV   8JIÜPCU   XCO  6JllYQ<XfJfMTl, 

6  de  vovg  i]V  avxco  ov  ecpna^e  ra  sjtrj,  öxi  J£aoö.  o  Avax.  etc.). 
Soweit  gibt  also  Aman  eine  jüngere  Ueberarbeitung  der  ari- 
stobulischen  Fassung.  Voran  aber  geht  eine  kurze  treffliche 
Schilderung  der  Ruinen  von  Anchiale,  oder  wie  Aman  durch- 
weg sagt,  Ayyialog,  und  eine  wesentlich  abweichende  Be- 
schreibung des  Denkmals:  xavxrjv  de  Saodavdnalov  xxioat 
xov  Aoovqlov  loyog'  xal  xco  jreQißoXco  de  xal  xolg  {refieXloig 
xmv  xerywv  d?'/X?]  eötl  (/eyaXrj  re  Jidlig  xxiötielöa  xal  ejii  fieya 
eXSovöa  dvväfitcog.  xal  xo  [ivr/fia  xov  JZagdavajiäXov  eyyvg 
i)v  xeov  xeiycov  xa>v  Ayyidlov  xal  avxoq  ecpeiöxrjxei  eil  avxco 
2agdavdjtalog  ovfißeßlrjxcog  xäg  yelgag  allr\laig  mg 
fialiöxa  eg  xqoxov  öviißällovxai.  Also  das  Bild  hat  die 
Hände  zusammengelegt  wie  beim  Beifallklatschen  (so  wird  denn 
auch  die  Inschrift  erklärt).  Dass  das  nicht,  wie  Niese  meint, 
eine  dem  Arrian  vorzuwerfende  Entstellung  der  älteren  Dar- 
stelluug  ist,  sondern  eine  vortreffliche  Beschreibung  des  assy- 
rischen Denkmals,  zeigen  zahlreiche  Königsstatuen,  z.  B.  die 
umstehend  abgebildete  eines  altbabylonischen  Königs  (Perroi1 
et  Chipiez  II  PI.  VI).  Die  Haltung  der  Hände  zeigt  den  König 
im  Gebet  zur  Gottheit;  sie  bezeichnet  sonst  häufig  die  Diener, 
welche  sich  ehrfurchtsvoll  dem  Herrscher  nahen.2)    Gerade  die 


1)  auch  die  Sclilussworte   sind  verändert:    (bq  xaXXa   xa   äv&Qa- 
mva  ovx  övza  tovtov  a^ia. 

2)  z.B.  Perrot  et  Chipiez  II  S.  631.   Es  wäre  daher  möglich,  dass 
das  Monument  von  Anchiale  keine  Königsstatue,   sondern  ein  Bruchstück 


208 

Abweichung*  von  allen  anderen  Berichten  zeigt  den  hohen 
Werth  der  Beschreibung  Arrian's,  die  durch  die  Monumente 
glänzend  bestätigt  wird:  während  alle  anderen  einfach  die 
Schilderung  des  ninivitischen  Denkmals  aus  dem  alten  Chro- 
nisten auf  das  Denkmal  in  Anchiale  übertrugen,  hat  Arrian's 
Quelle  das  letztere  selbständig  und  genau  geschildert.  Da 
Aman  seine  Beschreibung  nicht  aus  Aristobul  entnommen  haben 
kann,  kann  sie  nur  aus  Ptolemaeos  stammen;  und  dafür  spricht 
ja  auch  die  Genauigkeit  der  Angaben.  Man  kann  nur  schwan- 
ken, ob  Ptolemaeos  selbst  den  angefügten  Bericht  über  die 
Inschrift  aus  Aristobul  herübergenommen  und  ein  wenig  modi- 
ficirt  hat,  oder  ob  Arrian  hier  einer  anderen  Quelle  folgt.  Doch 
ist  ersteres  wohl  weit  wahrscheinlicher ;  im  anderen  Falle  blie- 
ben die  Abweichungen  von  Aristobul  unerklärt. 


Das  Kesultat  unserer  Untersuchung  ist,  dass  beide  Monu- 
mente, das  in  Ninive  und  das  in  Anchiale,  wirklich  existirt 
haben,  aber  verschieden  gewesen  sind.  Das  Monument  von 
Ninive  hat  der  alte  griechische  Schriftsteller  auf  Sardanapal 
bezogen  und  gute  wenn  auch  möglicherweise  nicht  völlig  histo- 
rische Nachrichten  damit  verbunden.  Aber  wenigstens  die 
Möglichkeit,  dass  auf  dem  Denkmal  von  der  [Eroberung  und] 
Gründung,  d.  h.  dem  Neubau  von  Tarsos  und  Anchiale  die 
Rede  war,  wird  man  nicht  bestreiten  können;  und  dass  die 
Assyrer  in  Anchiale  Monumente  errichtet  haben,  steht  jetzt 
völlig  fest.    Von  eigenem  hat  der  Logograph  nur  die  Deutung 


einer  grösseren  Sculptur  gewesen  ist  und   einen  Beamten  des  Herrschers 
darstellte. 


200 

des  Gestus  hinzugefügt;  dass  er  dieselbe  direct  in  die  Inschrift 
aufnahm,  wird  man  ihm  gern  verzeihen.1)  Dass  er  selbst  die 
Ruinen  von  Ninive  besucht  hat,  ist  nicht  zu  bezweifeln. 
Man  wird  die  Angaben  des  Amyntas  und  Aristobul  zur  Her- 
stellung des  ursprünglichen  Berichts  verwerthen  dürfen;  offen- 
bar haben  beide  die  von  Kallisthenes  benutzte  Quelle  ein- 
gesehen und  seine  Erzählung  danach  corrigirt.  Auch  den 
seltsamen  Namen  Anakyndaraxes  hat  man  nicht  ohne  Wahr- 
scheinlichkeit aus  dem  Eingangswort  der  Inschrift  andht  „ich" 
zu  erklären  gesucht. 

Noch  wichtiger  aber  scheint  mir  auch  hier  das  methodo- 
logische Ergebniss.  Man  sieht  aufs  neue,  wie  falsch  es  ist, 
vorschnell  den  Vorwurf  der  Erfindung  und  des  Betruges  gegen 
alte  Autoren  zu  erheben.  Angaben,  die  uns  als  handgreifliche 
Unwahrheiten  erscheinen,  erklären  sich  oft  ganz  ungezwungen, 
wenn  wir  im  Stande  sind,  den  literarischen  Process,  durch  den 
sie  auf  uns  gekommen  sind,  genau  zu  verfolgen.  Wie  selten 
sind  aber  die  Fälle,  wo  uns  das  auch  nur  in  den  Hauptzügen 
möglich  ist! 


1)  In  ähnlicher  Weise  ist  gewiss  die  von  Aristobul  gegebene  Grab- 
schrift des  Kyros  (Strabo  XV  3,  7.  Arr.  VI  29)  zu  erklären.  Die  Inschrift 
kehrt  ebenso  bei  Plutarch  Alex.  69  wieder,  obwohl  dessen  Quelle  von  der 
Gestalt  des  Grabes  keine  Ahnung  hat  und  es  sich  in  der  Erde  denkt. 
Bekanntlich  stimmt  Aristobuls  Schilderung  vortrefflich  zu  dem  Grabbau 
des  Kyros  in  Murghab.  —  Onesikritos  dagegen  (bei  Strabo  1.  c.)  hat  ge- 
schwindelt wie  gewöhnlich. 


Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1.  14 


Lykurgos  von  Sparta. 

Zuerst  gedruckt  Rhein.  Mus.  Bd.  XLI  1886  und  XLII  18S7;  die  wichtigeren 
Zusätze  sind  durch  eckige  Klammern  bezeichnet. 

Ich  bemerke  noch,  dass  Aristoteles'  Politik  nach  den  Kapiteln  und 
Paragraphen   der  SüSEMiHLschen  Ausgabe  eitirt  ist 


14* 


Vorbemerkungen. 

Ueber  die  Geschichte  der  spartanischen  Verfassung'  und 
die  Ueberlieferung  von  Lykurgos  sind  in  neuerer  Zeit  so  viele 
Untersuchungen  angestellt  worden,  dass  eine  neue  Behandlung 
der  zahlreichen  Probleme,  welche  uns  hier  entgegentreten, 
kaum  auf  eine  günstige  Aufnahme  wird  rechnen  dürfen,  zumal 
wenn  sie  sich  von  Anfang  an  als  eine  Quellenuntersuchung 
ankündigt.  Es  herrscht  gegen  derartige  Abhandlungen  eine 
nur  zu  berechtigte  Abneigung,  und  speciell  bei  unserem  Thema 
wird  die  Annahme  weit  verbreitet  sein,  das  Material  sei  be- 
reits mehr  als  genügend  nach  allen  Seiten  hin  durchgearbeitet 
und  ein  sicheres  Ergebniss  sei  eben  nicht  zu  gewinnen.  So 
liegt  die  Sache  aber  keineswegs;  gerade  für  die  Ueberlieferung 
über  Lykurg  lässt  sich  aus  dem  reichen  uns  erhaltenen  Mate- 
rial für  alle  wichtigeren  Fragen  ein  völlig  befriedigendes  Re- 
sultat gewinnen,  und  es  zeigt  sich  zugleich,  dass  die  bisherigen 
Untersuchungen  trotz  mancher  ganz  richtigen  Ergebnisse  doch 
das  Hauptproblem  methodisch  falsch  angefasst  haben. 

Es  kann  als  bekannt  vorausgesetzt  werden,  dass  im  ganzen 
fünften  Jahrhundert  die  Ueberlieferung  über  Lykurg  eine  sehr 
unbestimmte  und  schwankende  gewesen  ist.  Nach  Simonides 
soll  Lykurg  ein  Sohn  des  Eurypontiden  Prytanis  gewesen  sein, 
nach  Herodot  war  er  ein  Sohn  des  Agis,  Xenophon  (pol.  Lak. 
10,8)  setzt  ihn  in  die  Zeit  der  Herakliden,  d.h.,  wie  Plutarch 
(Lyc.  1)  richtig  erklärt,  unmittelbar  nach  der  dorischen  Wan- 
derung. Nach  Herodot  stammt  die  gesammte  bestehende  Ver- 
fassung von  ihm,  und  zwar  hat  er  sie  nach  spartanischer 
Ueberlieferung  aus  Kreta,  nach  anderen  Angaben  aus  Delphi 
geholt.  Sein  jüngerer  Zeitgenosse  Hellanikos  dagegen  wusste 
von  Lykurg  überhaupt  nichts  und  bezeichnete  die  spartanische 
Verfassung  als  Werk  des  Eurysthenes  und  Prokies. 


214 

Im  vierten  Jahrhundert  dagegen  stehen  die  Hauptpunkte 
der  Ueberlieferung  über  Lykurg  fest;  die  Folgezeit  hat  wenig 
mehr  daran  geändert.  Gleichzeitig  finden  wir  Ansätze  zu  einer 
spartanischen  Verfassungsgeschichte,  welche  Zusätze  und  Er- 
weiterungen der  lykurgischen  Verfassung  kennt.  Die  erste 
Frage,  die  wir  zu  stellen  haben,  ist  also:  wie  hat  sich 
diese  ausgeführte  Ueberlieferung,  welche  uns  im  vier- 
ten Jahrhundert  entgegentritt,  gebildet? 

Für  die  literarhistorische  Untersuchung,  welche  wir  unter- 
nehmen wollen,  besitzen  wir  ein  für  griechische  Dinge  unge- 
wöhnlich reichhaltiges  Material,  weit  mehr  z.  B.  als  für  eine 
Untersuchung  über  Solon.  Ein  besonderer  Glücksfall  ist  es, 
dass  sich  der  Bericht,  welchen  Ephoros  gegeben  hat,  in  seinen 
Grundzügen  fast  völlig  herstellen  lässt.  Mit  einer  Analyse 
seiner  Darstellung  wird  unsere  Untersuchung  zu  beginnen  haben. 
In  den  Anmerkungen  habe  ich  die  Angaben  der  Späteren,  so- 
weit sie  sich  mit  Ephoros  berühren,  gleich  beigefügt.  Es  wird 
sich  ergeben,  dass,  wie  es  sich  erwarten  liess,  Ephoros  zwar 
nicht  für  die  Darstellung  der  Verfassung,  wohl  aber  für  den 
geschichtlichen  oder  biographischen  Theil  die  Grundlage  aller 
nachfolgenden  Bearbeitungen  geworden  ist,  so  viel  auch  im 
einzelnen  geändert  und  erweitert  sein  mag,  und  so  wenig  be- 
hauptet werden  kann,  dass  jeder  einzelne  der  späteren  Schrift- 
steller den  Ephoros  auch  nur  eingesehen  habe;  Plutarch  z.  B. 
hat  ihn  sicher  nicht  selbst  benutzt.  Ueber  einen  Gegenstand 
wie  die  lykurgische  Verfassung  ist  in  der  hellenistischen  und 
noch  in  der  römischen  Zeit  zahllose  Male  gehandelt  wordeu. 
von  allbekannten  Schriftstellern  ebenso  gut  wie  von  kaum  ein- 
oder  zweimal  genannten  und  von  völlig  verschollenen.  Es  ist 
daher  ein  völlig  aussichtsloses  Unternehmen,  jede  Einzelangabe 
der  Späteren  auf  ihre  Quelle  zurückführen  zu  wollen,  aber  es 
ist  in  der  Regel  auch  ziemlich  irrelevant,  wer  diese  durchaus 
secundären  Nachrichten  zuerst  in  Umlauf  gesetzt  hat.1)  —  Ge- 


1)  Dass  für  Plutarch  im  Lykurg  wie  im  Solou  eine  Ilauptquelle  Her- 
mippos  ist,  liegt  auf  der  Hand;  doch  ist  es  übertrieben,  ihn  aus  einer 
Hauptquelle  zu  der  Hauptquelle  zu  machen.  Im  allgemeinen  gilt  für  Plu- 
tarch, dass  bei  ihm  das  biographische  Material  (mit  gewissen  Einschrän- 
kungen) in  letzter  Linie  auf  Ephoros,  die  Darstellung  der  Institutionen 
auf  Aristoteles  (und  Xenophon)  zurückgeht,    [Weiteres  s.  III. J    Die  Hypo- 


215 

lesen  und  berücksichtigt  ist  Ephoros  schon  von  Aristoteles,  wie 
bereits  Trieber1)  nachgewiesen  hat.  Ich  weiss  nicht,  warum 
man  sich  sträubt  diese  Thatsache,  für  die  die  Belege  bei  den 
betreffenden  Stellen  folgen,  anzuerkennen.  Es  wäre  doch  im 
Gegentheil  ganz  unbegreiflich,  wenn  Aristoteles  das  grosse 
Werk  seines  älteren  Zeitgenossen,  in  dem  die  gesammte  ge- 
schichtliche Ueberlieferung  systematisch  verarbeitet  war,  nicht 
berücksichtigt  haben  sollte,  zumal  das  Werk  zweifellos  rasch 
in  die  Hände  aller  Gebildeten  gekommen  ist.2)  Natürlich  ist 
aber  darum  Ephoros  noch  nicht  „Quelle"  des  Aristoteles  in 
dem  modernen  Sinne  des  Wortes:  Aristoteles  kennt  und  ver- 
werthet  vielmehr  so  ziemlich  die  ganze  bis  auf  seine  Zeit  er- 
schienene Literatur,  und  weicht  wie  wir  sehen  werden  in  sehr 
wichtigen  Punkten  von  Ephoros  ab. 


I.    Die  Darstellung  des  Ephoros  und  Tansanias'  Schrift 

über  Lykurg. 

Wir  gehen  aus  von  dem  grossen  Excerpt,  welches  Strabo 
X  4,  16 — 22  aus  Ephoros'  Darstellung  der  kretischen  Verfassung 
bewahrt  hat.  Dieselbe  gilt  ihm  als  Werk  des  Minos,  der  sei- 
nen Anordnungen  dadurch  Anerkennung  verschaffte,  dass  er  in 

these,  welche  Plutarch  zum  Alisschreiber  des  zweimal  mit  ziemlicher  Ge- 
ringschätzung genannten  Spartiaten  Aristokrates  (nach  1 SO  v.  Chr.)  macht, 
bedarf  wohl  keiner  Widerlegung  mehr;  oder  glaubt  man,  dass  derselbe 
bei  seinen  Erfindungen  (Plut.  c.  4.  31)  die  abweichenden  Ansichten  aller 
anderen  Schriftsteller  ausführlich  dargelegt  hat?  —  Ganz  so  selbstständig 
wie  die  Biographien  der  attischen  Staatsmänner  des  fünften  Jahrhunderts 
sind  die  des  Lykurg  und  Solon  allerdings  nicht  gearbeitet. 

1)  Trieber,  Forschungen  zur  spartanischen  Verfassungsgesch.  1871. 

2)  [Die  selbstverständliche  Voraussetzung  dabei  ist,  dass  das  grosse 
dreissigbändige  Werk,  das  der  Verfasser  selbst  nicht  mehr  vollenden 
konnte,  partienweise  veröffentlicht  ist.  Die  ersten  Theile  mögen  etwa  um 
350  erschienen  sein,  zur  Geschichte  Philipps  ist  E.  gewiss  erst  unter 
Alexander,  ja  vielleicht  erst  nach  dessen  Tode  gelangt.  Aristoteles'  histo- 
rische Arbeiten  fallen  säinmtlich  erst  in  die  Zeit  seiner  Lehrthätigkeit  in 
Athen;  das  beweist  sowohl  die  Politik  (z.  B.  II  7,  8)  wie  die  pol.  Ath.,  die 
bekanntlich  wenige  Jahre  vor  Alexanders  Tod  geschrieben  ist.  Damals 
stand  Ephoros  offenbar  bereits  im  höchsten  Ansehen.] 


216 

Nachahmung  des  uralten  Rhadamanthys  *)  vorgab,  sie  direct 
vom  Zeus  empfangen  zu  haben  und  sich  deshalb  neun  Jahre 
lang  in  der  „Höhle  des  Zeus"  aufhielt.2)  Als  höchstes  Gut 
betrachtete  der  Gesetzgeber  die  Freiheit  (ßXtvd-tQia),  die  durch 
Eintracht  (ofiovoia)  und  Tapferkeit  (ävögeia)  gesichert  wird. 
Jene  wird  durch  Aufhebung  der  Habsucht  und  des  Luxus, 
durch  das  gemeinsame  Leben  der  Knaben  und  Männer  in  den 
ayiXai  und  avögela,  diese  durch  Abhärtung  und  WafFenübungen :5) 
erreicht. 

Manche  haben  nun  behauptet,  die  kretischen  Institutionen 
stammten  aus  Sparta.  In  Wirklichkeit  aber  haben  die  Kreter 
sie  erfunden,  die  Spartaner  nur  weiter  ausgebildet,  während 
sie  in  Kreta  verfielen.  Nach  Widerlegung  der  Argumente  der 
Gegner  führt  Ephoros  seine  Beweise  auf:  1)  Lykurg  ist  fünf 
Generationen  jünger  als  Althaimenes,  der  Gründer  der  dori- 
schen Colonien  auf  Kreta;  2)  die  Lakedämonier  selbst  bezeich- 
nen den  bei  ihnen  üblichen  Tanz  sowie  manche  Rhythmen  und 
Melodien  als  kretisch;  3)  von  den  Institutionen  haben  die  Ge- 
ronten  und  Hippeis  in  beiden  Staaten  dieselben  Namen,  den 
Ephoren  entsprechen  die  kretischen  Kosmen,  und  die  Syssitien 
wurden  in  Sparta  früher  avögüa  genannt,  wie  alle  Zeit  auf 
Kreta,  Ferner  ist  nach  kretischer  Tradition  Lykurgos  nach 
Kreta  gekommen,  nachdem  er  die  Vormundschaft  über  seinen 
Neffen  Charilaos  niedergelegt  hatte,  weil  Jemand  ihn  beschul- 
digte  demselben   nach   dem  Leben   zu   trachten.4)     Auf  Kreta 


1 )  Ephoros  unterschied  von  dem  Bruder  des  Minos  ein  uralten  Rha- 
damanthys, einen  dixcuozazoq  äv?JQ,  der  zuerst  auf  Kreta  Städte  gründete 
und  Gesetze  gab :  Strabo  X  4,  8. 

2)  Ephoros  bei  Strabo  X  4,  8,  Zu  diesem  in  der  griechischen  Historio- 
graphie seit  Hekataeos  und  Herodot  herrschenden  Rationalismus  weitere 
Parallelen  aus  Ephoros  anzuführen  ist  wohl  überflüssig. 

3)  Zu  denselben  gehören  die  von  Kures  und  Pyrrhichos  (dieser  Name 
ist  in  Strabo's  Text  ausgefallen)  erfundenen  Tänze  der  Kureten  und  Pyr- 
rhichisten,  und  die  von  Thaies  (oder  Thaletas)  erfundene  kretische  Musik. 
Vgl.  Nie.  Dam.  fr.  115  Müller,  Schol.  Pind.  Pyth.  2,  127  [wo  das  sparta- 
nische vnÖQxrjiia,  das  Pindar  Kcigtöqsiov  nennt,  aus  Kreta  abgeleitet  und 
auf  Thaies  zurückgeführt  wird],  Plin.  VII  204. 

4)  Ebenso  erzählt  Plut.  Lyc.  3,  nur  nennt  er  als  Verläumder  Leoni- 
das,  den  Bruder  der  Gemalin  des  Polydektes.  Es  ist  sehr* begreiflich, 
dass  ein  Späterer  an  die  Stelle  des  unbekannten  „Jemand"  eine  geeignet 
erscheinende  Persönlichkeit  gesetzt  hat,     Im  übrigen  scheint  der  Wortlaut 


217 

trifft  er  mit  Thaies  zusammen1)  und  erfährt  von  ihm  den 
Kunstgriff  des  Rhadamanthys  und  Minos.  Darauf  reist  er  nach 
Aegypten,  um  auch  die  dortigen  Gesetze  kennen  zu  lernen.2) 
Dann  trifft  er,   wie  einige  sagen,  den  Homer  auf  Chios3)  und 


des  Ephoros  auch  bei  Plutarch  noch  durch.  Ephoros:  XotdoQovfiEvoq  öi] 
xiq  avxtö  aacpcöq  einer  EiÖEvai  Swxi  ßaaileiooi'  Xaßwv  61  vitövoiav  exeivoc 
(bq  ex  xov  Xoyov  xovxov  dtaßaXXoixo  inißovXr]  £§  avxov  xov  naiöoq  etc.; 
Plutarch:  Aecovlöag  ...  rw  Avxovoya)  Xoiöopri&Eiq  vueIuev,  <bq  eiöeuj 
aacpwq  fiEXXovxa  ßaoiXEVEiv  avxov,  vnövoiav  öiöovq  etc.  Ganz  anders 
erzählt  dagegen  Justin,  der  hier  Herodot  folgt. 

1)  Darauf  spielt  auch  Aristoteles  Pol.  II  9,  5  an:  'Ovo/btaxQixov  yEvi- 
o&ai  OaXrjxa  hzaiQov,  QäXr\xoq  6'  axQoäxr\v  Avxovyyov  xal  ZaXsvxov, 
ZccXevxov  6t  XciQüJvöav,  was  chronologisch  unmöglich  sei.  Daher  Deme- 
trius  Magnes  bei  Diog.  Laert.  I  38  Oäkrjq  . . .  xqixoq  dy/cüoc  nävv,  xaxcc 
^HatoSov  xal  'OßrjQov  xal  AvxovQyov.  Bei  Plutarch  Lyc.  4  wird  Thaies 
von  Lykurg  nach  Sparta  geschickt,  um  durch  seine  Musik  erziehend  zu 
wirken.  Andere  dagegen  setzten  ihn  in  eine  weit  spätere  Zeit,  und  Hessen 
ihn  wegen  einer  Pest  nach  Sparta  kommen  oder  wie  Terpander  und  Tyr- 
taeos  durch  seine  Lieder  eine  axäaiq  bewältigen:  Plut.  de  mus.  9.  42  nach 
Pratinas.  cum  princ.  philos.  4  (p.  770).  Pausan.  1  14,  4.  [Alle  diese  Erzäh- 
lungen sind  Erweiterungen  und  Umbildungen  der  Verbindung  mit  Lykurg. 
Eine  historisch  greifbare  Gestalt  ist  der  kretische  Musiker  und  Dichter 
nicht,  sondern  ein  Seitenstück  zu  Olympos,  Marsyas,  Orpheus  u.  s.  w.  und 
zu  Daedalos,  der  Heros  der  kretischen  Musik,  wie  Ephoros  bei  Strabo 
X  4,  16  ja  auch  geradezu  sagt.  Ob  er  Paeane  gedichtet  habe,  war  um- 
stritten (Plut.  de  mus.  10);  existirt  haben  gewiss  keine.  Aus  unseren  Lite- 
raturgeschichten sollte  er  als  Persönlichkeit  verschwinden.] 

2)  Nach  Plut.  Lyc.  4  ist  dies  ägyptische  Ueberlieferung;  ebenso  Diod. 
I  96.  98.  Man  sieht,  welchen  Werth  derartige  angeblich  einheimische  Tra- 
ditionen haben.  Plutarch  setzt  naiv  hinzu:  xavxa  fxlv  ovv  Aiyvnxioiq  evioi 
xal  xajv  ^EXXrjvtxcöv  GvyyQa<pE(ov  [jiaQxvQovGiv.  Aristokrates  lässt  den 
Lykurg  dann  noch  wie  es  sich  gehört  zu  Libyern,  Iberern  und  Brahmanen 
reisen,  wofür  er  hoffentlich  auch  einheimische  Traditionen  beigebracht  hat. 
Aus  Aegypten  holt  Lykurg  nach  Plutarch  die  Scheidung  der  Stände.  [Die 
Sonderung  der  Krieger  und  Gewerbtreibenden  bei  Griechen  und  Barbaren 
haben  schon  Herodot  II  1 1>7  und  Aristoteles  pol.  IV  9  mit  den  angeblichen 
ägyptischen  Kasten  in  Verbindung  gebracht,  ohne  sich  über  die  Frage,  ob 
Entlehnung  stattgefunden  hat,  zu  entscheiden.  Ebenso  setzt  Aristoteles  die 
Syssitien  des  Minos  auf  Kreta  und  des  Italos  in  Oenotrien  in  Parallele. 
Vgl.  Diod.  I  28,  wo  die  älteste  Eintheilung  der  attischen  Bevölkerung  aus 
Aegypten  abgeleitet  wird.] 

3)  An  seine  Stelle  setzen,  wie  bekannt,  Heraklides  Pont.  Lac.  pol.  3, 
d.  i.  Aristoteles,  und  Plutarch  Lyc.  4  die  Nachkommen  des  Kreophylos  auf 
Samos  aus   chronologischen  Gründen,    während  Timaeos  sich  damit  half 


218 

kehrt  nach  Hause  zurück,  um  seine  Gesetze  zu  geben.1)  Zu 
dem  Zwecke  geht  er  wiederholt  nach  Delphi  ((poiTcbvra  ajg 
top  i>iov  top  Iv  /IsXcpolc)  und  holt  von  dort  die  Gebote,  wie 
Minos  aus  der  Höhle  des  Zeus.*2)  Ephoros  behandelte  das 
delphische  Orakel  mit  einem  gewissen  Respect  (Strabo  IX  3,  11) 
und  wird  es  an  demselben  auch  hier  nicht  haben  fehlen  lassen, 
aber  seine  eigentliche  Meinung  ist  zweifellos,  dass  Lykurg  sich 


einen  älteren   Zeitgenossen  des  Homer  und   einen  jüngeren  Lykurg  zur 
Zeit  der  ersten  Olympiade  zu  scheiden. 

1)  Diese  ganze  Argumentation  ist  von  Aristoteles  adoptirt,  mit  di- 
rectem  Hinweis  auf  Ephoros.  Es  heisst  pol.  II  7,  I:  xal  yap  toixe  (d.h.  es 
ergibt  sich  aus  angestellten  Untersuchungen,  nämlich  denen  des  Ephoros) 
xal  Xiyszai  öl  (d.  h.  es  ist  Tradition,  z.B.  bei  Herodot)  za  nXelaza  (jle- 
{/i/urja&ai  rtjv  Kqtjzixtjv  tzoXizsiccv  rj  xwv  Aaxwvcov,  zu.  61  nXeloza  zwv 
ägyaltov  rjzzov  öirJQ&Qwzcu  zwv  veojztQtov  (ebenso  wie  Ephoros  urtheilt). 
Dann  folgt  die  Geschichte  von  Lykurgs  Auswanderung  wie  bei  Ephoros, 
nur  dass  Aristoteles  ihn  nach  der  lakonischen  Colonie  Lyktos  gehen  lässt. 
Die  kretischen  Gesetze  stammen  von  Minos  und  sind  von  den  Einwan- 
derern adoptirt  worden.  [Das  hat  Susemihl  nicht  verstanden  und  nimmt 
daher  eine  Interpolation  an,  während  Spengel  das  wichtigste  Wort  des 
Beweises,  ol  tizqioixoi,  streichen  will.  Der  Gedankengang  ist:  dass  die 
kretischen  Institutionen  nicht  nur  von  der  herrschenden  Bevölkerung  son- 
dern auch  von  den  Perioeken,  den  Leibeigenen,  befolgt  werden,  beweist, 
dass  sie  nicht  von  den  dorischen  Eroberern,  sondern  von  dem  einheimi- 
schen König  Minos  stammen.  Das  Argument  ist  von  Aristoteles  denen 
des  Ephoros  hinzugefügt  und  ist  völlig  richtig;  nur  ist  der  Gegensatz 
lediglich  ein  künstlicher  und  durch  die  Sagengeschichte  geschaffen.  In 
Wirklichkeit  ist  Minos  der  Repräsentant  des  historischen,  d.  i.  dorischen, 
Kreta,  s.  G.  d.  A.  II  178. —  Wie  Aristoteles  es  liebt,  hat  er  eine  historische 
Hypothese  daran  angeschlossen,  die  nicht  streng  zur  Sache  gehört,  aber 
parenthetisch  mit  vorgetragen  wird  (ähnliches  findet  sich  auch  bei  Thu- 
kydides  mehrfach,  und  ist  bei  einer  so  lockeren,  als  Grundlage  für  Vor- 
lesungen dienenden  Composition,  wie  in  der  Politik,  ganz  natürlich):  Kreta 
ist  durch  seine  Lage  zur  Seeherrschaft  vorzüglich  geeignet  (das  sagt  auch 
Ephoros),  bei  dem  Versuche  dieselbe  auch  auf  Sicilien  auszudehnen  hat 
Minos  seinen  Tod  gefunden.  Diese  pragmatische  Erklärung  der  Sage  von 
Minos  und  Daedalos  ist  Aristoteles'  Eigenthum.J  Dann  folgen  die  Ueber- 
eiustimmungen  der  Verfassung:  den  Heloten  entsprechen  die  kretischen 
Perioeken,  die  Syssitien,  welche  früher  in  Sparta  avöytla  hiessen,  wie  auf 
Kreta,  sind  beiden  gemeinsam,  ebenso  die  Geronten ;  auch  Könige  gab  es 
früher  bei  beiden.  Den  Ephoren  entsprechen  die  Kosmen.  Man  sieht 
die  Uebereinstimmung  mit  Ephoros  ist  vollkommen. 

2)  Ebenso  Clem.  Alex.  Strom.  I  26,  170  unter  Berufung  auf  Plato, 
Aristoteles  und  Ephoros. 


219 

mit  der  Pythia  ins  Einvernehmen  setzte  und  sie  veranlasste, 
seinen  Gedanken  in  Orakelform  Ausdruck  zu  geben  (direct  so 
formulirt  wird  diese  Ansicht  bei  Polyb.  X  2.  Polyaen.  I  16,  1. 
VIII  4). 

Weiteres  erfahren  wir  aus  Strabo  VIII  5,  4.  5.  Strabo  gibt 
hier  zunächst  ausführlich  Ephoros'  Bericht  über  die  Einrich- 
tungen der  ersten  Könige  Sparta's,  den  wir  hier  übergehen 
können,  und  schliesst  daran  einen  kurzen  Abriss  der  Geschichte 
von  der  Achäerzeit  bis  auf  die  dorische  Eroberung.  Darauf 
heisst  es:  „die  Eroberer  Lakoniens  waren  gleich  zu  Anfang 
verständige  Leute  {xax  agxaq  y.lv  eococp^orovr,  vgl.  S.  221), 
nachdem  sie  aber  dem  Lykurg  die  Staatsordnung  überlassen 
hatten,  übertrafen  sie  alle  anderen  so  sehr,  dass  sie  allein  von 
allen  Hellenen  sowohl  zu  Lande  wie  zur  See  geherrscht  und 
ihre  Herrschaft  bis  auf  die  Zeit  der  Thebaner  und  Makedoner 
behauptet  haben".  Dass  auch  dieser  Satz  aufEphoros  zurück- 
geht, liegt  auf  der  Hand1);  Strabo  hat  ihm  einen  Excurs  über 
die  Zustände  der  Römerzeit  angefügt.  Dann  kehrt  er  zu 
Ephoros  zurück.  Derselbe  bekämpfe  den  Hellanikos,  welcher 
die  Staatsordnung  dem  Eurysthenes  und  Prokies  zuschrieb  und 
Lykurg  garnickt  erwähnte.  Ephoros  widerlegt  ihn  mit  dem 
Hinweis  auf  den  Cult  des  Lykurg  und  auf  eine  Schrift  des 
Pausanias,  von  der  später  ausführlicher  zu  handeln  sein  wird. 

Ergänzt  wird  Strabo's  Excerpt  durch  Polybios,  der  VI  45. 
46  gegen  die  landläufige  Ansicht  der  älteren  Schriftsteller  po- 
lemisirt,  dass  die  kretische  Verfassung  trefflich  und  der  spar- 
tanischen ähnlich  sei;  als  Hauptinstitutionen  der  letzteren  nennt 
er  die  Gleichheit  des  Grundbesitzes,  die  Werthlosigkeit  des 
Geldbesitzes,  die  Aemter  der  Könige  und  Geronten  (vgl.  auch 
VI  48, 3).  Als  Vertreter  der  bekämpften  Ansicht  nennt  er 
Ephoros,  Xenophon,  Kallisthenes  und  Plato.  Dass  Polybios 
unter  diesen  den  von  ihm  so  hoch  verehrten  Ephoros  in  erster 
Linie  im  Auge  hat,  ist  an  sich  klar,2)  folgt  aber  auch  daraus, 


1)  Wir  wissen  auch  sonst,  dass  Ephoros  über  die  ältere  Geschichte 
des  Peloponnes  so  völlig  im  unklaren  war,  dass  er  die  Hegemonie  der 
Spartaner  schon  vor  der  Zeit  des  Pheidon  bestehen  Hess:  Strabo  VIII  3,  33. 
Diod.  Villi. 

2)  Erkannt  hat  es  bekanntlich  zuerst  C.  Wachsmuth,  Gott.  Gel.  Anz. 
1870,  1814  ff. 


220 

dass,  was  er  des  weiteren  anführt,  bei  Xenophon  und  Plato 
nicht,  wohl  aber  bei  Ephoros  steht.  Es  heisst  nämlich,  die 
erwähnten  Schriftsteller  hätten  ihrer  Darstellung*  noch  eine 
lange  Digression  angefügt,  in  der  sie  darlegten,  dass  Lykurg 
allein  den  Kernpunkt  der  Staatsentwickelung  erkannt  habe 
(jioXvp  6r\  nva  Xoyov  Iv  i-JtifitTQco  diari&svTai,  cpdöxovreg 
xov  AvxovQyov  fiovov  tgjv  ysyovoTcov  xa  ovvtxovra  te^swqt/- 
xtvai),  und  nun  folgt  die  oben  nach  Strabo  gegebene  Ausfüh- 
rung über  ävÖQEia  und  h[i6voia  als  Grundlagen  des  Staats. 
Daran  schliesst  sich  die  Angabe,  Ephoros,  der  hier  direct  ge- 
nannt wird,  habe  diese  Ausführung  in  dem  Abschnitt  über 
Sparta  und  dem  über  Kreta,  abgesehen  von  den  Eigennamen, 
mit  denselben  Worten  gegeben,  so  dass  man,  wenn  man  auf 
die  Namen  nicht  achte,  gar  nicht  wissen  könne,  von  welchem 
der  beiden  Staaten  er  rede. 

Dass  das  richtig  ist,  können  wir  heute  noch  beweisen; 
denn  der  Abschnitt  über  Kreta  ist  bei  Strabo,  der  über  Sparta 
bei  Diodor  erhalten,  und  beide  stimmen  Satz  für  Satz  mit  ein- 
ander überein.  Es  heisst  bei  Diodor  VII  14,  3  Dindorf,  12,  3 
Vogel  (exe.  JitQt  yvm[id>v)'.  xo  6h  xtydXcuov  [der  dem  Lykurg 
gegebenen  Orakel]  rjv  6tl  (teyiöztjv  jiqovoicw  jioujztov  torlv 
Ofiovoiag  xal  avögtiaq,  cog  6id  (lövcov  tovtqjv  rrjg  tXtv- 
frtQiag  (pvXdrrtö&at  6vvafi£V?jg,  qg  xcoglg  ovdhv  wptXog  ov6' 
dXXo  tcop  jtaQa  rolg  jcoXXolg  VJCSiXrjfi/iivcov  dya&öv  lxuv  •=Tfc" 
qoiq  vji/jXoov  6vt(X'  jtdvra  ydg  rd  roiavza  rcöv  rjyovfit- 
vcov,  ov  rmv  vjtovsray [levwv  aörlv,  Sor  ujisq  Tic,  eavrm 
ßovXezac  xal  [irj  rolg  ctXXoig  xr?]üao8ai  rd  dya&d,  jzqcötov 
eori  xaraöxtvaöTeov  trjv  kXev&EQiav.  Auch  nütze  eine  der 
beiden  Eigenschaften  allein  nichts,  sondern  nur  beide  ver- 
einigt. —  Damit  vergleiche  man  den  Auszug  Strabo's  über 
Kreta:  doxel  61,  q/rjölv  (Eph.),  o  vofiofrtTf/g  fttyioror  vjio- 
fttöftai  ralg  jtoZeoiv  dyafrov  xi\v  tXtvfttQiav  ftoV7]V  yaQ 
Tavr?]V  löia  jiolüv  tcüv  xTfjöafisvcov  rd  dyafrd,  rd  6*  ev 
dovXsla  tgjv  aQxovTiov  aXX'  ovy\  tüv  ag/ofttveov 
tivaf  rolg  6'  £%ovöi  tcwtijv  <pvXax?]g  6üv  t?)v  (wer  ovv 
opovoiav  u.  s.  w.;  nachher  folgt  als  zweites  Schutzmittel  die 
dvÖQsia.  Inhaltlich  decken  sich  beide  Stellen  vollkommen; 
zugleich  aber  sieht  man,  wie  sehr  sich  die  ephorische  Dar- 
stellung in  den  unfähigen  Händen  Diodors  formell  verschlech- 


221 

tert  hat.1)  Der  stilistischen  Seite  des  Werks  und  überhaupt 
der  schriftstellerischen  Befähigung  des  Ephoros  gerecht  zu 
werden  ist*  uns  fast  unmöglich  gemacht,  da  wir  ihn  ja  vor- 
wiegend nur  aus  Diodor  kennen. 

Wenn  es  im  allgemeinen  völlig  feststeht,  dass  Diodor  die 
ältere  griechische  Geschichte  ausschliesslich  aus  Ephoros  ge- 
schöpft hat,  so  bietet  unsere  Stelle  den  Beweis,  dass  er  sich 
in  der  Darstellung  der  lykurgischen  Verfassung  bis  ins  kleinste 
genau  an  seine  Vorlage  angeschlossen,  wenn  auch  natürlich 
bedeutend  gekürzt  hat.  Auch  der  Schlusspassus  Diodors  über 
die  lykurgische  Verfassung   (exe.  de  virt.  et  vit.  VII  14,  7  D. 

12,  8  V.)  deckt  sich  mit  dem  früher  auf  Ephoros  zurückgeführten 
Abschnitt  Strabo  VIII  5,  5.  Er  lautet:  ol  Aaxsöaifiovioi  rolq 
tov  Avxovgyov  XQfjoäfievoi  v6(iOLq  ex  rajteivcov2)  öwarcoraroL 
bytvovro  twv  ^EXlr\vcov,  t?)v  6h  ?)y£tuoviav  diecpvZat-av  ejtI  st?/ 
jtXuco  xmv  t;3).  Dann  fallen  sie  von  den  Gesetzen  ab,  führen 
Luxus  und  Geld  ein,  sammeln  Reichthümer  und  verlieren  da- 
her (durch  die  Schlacht  bei  Leuktra)  die  Hegemonie.  Wenn 
die  Hegemonie  400  Jahre  ungetrübt  bis  zum  Eintritt  des  Ver- 
falls, d.  h.  bis  zum  Ende  des  peloponnesischen  Kriegs,  bestan- 

1)  Besonders  lehrreich  nach  dieser  Richtung  ist  der  Vergleich  der 
diodorischen  Auszüge  aus  Polybios  mit  dem  Original.  Die  Gedanken- 
armuth  und  Trivialität  Diodors  tritt  dabei  fast  in  jedem  Satze  hervor. 

2)  Dass  es  bei  Strabo  hiess,  sie  seien  schon  vor  Lykurg  gühpqovfq 
gewesen  (oben  S.  219),  steht  damit  nicht  im  Widerspruch ;  die  Hegemonie 
beginnt  erst  in  Folge  der  lykurgischen  Gesetze. 

3)  Wesseling  setzt  dafür  (p  ein,  eine  harmonistische  Correctur,  die 
jetzt  niemand  mehr  für  berechtigt  halten  wird.  Plutarch  Lyc.  29  und 
Nikolaos  Dam.  fr.  57  Müller  (ebenso  Plut.  inst.  lac.  42)  und  ebenso  Diod. 
XV  1.  50  geben  allerdings  500  Jahre  auf  Grund  der  alexandrinischen  Chrono- 
logie. Aber  jene  sind  selbständig  denkende  Arbeiter,  nicht  wie  Diodor 
Ausschreiber;  Diodor  hat  sich  nie  darum  gekümmert,  ob  die  chronologi- 
schen Daten  in  seinem  Texte  mit  den  von  ihm  gegebenen  Ansätzen  irgend- 
wie übereinstimmten.  —  Im  übrigen  liegt  auch  bei  Plutarch  und  Nikolaos 
Dam.  der  ephorische  Text  zu  Grunde;  bei  letzterem  heisst  es:  oi  de  nei- 
ad-Evzsg  ov  zöjv  tieqioixüjv  (lövov  aXXa  xai  nävzajv  ^EXfo'jvcov  ciqigzoi 
eyivovzo,  tjysfioveg  ze  ovv£%<Iiq  e£  ozov  TtaQeö£$,avzo  zovg  vöfxovg  enl 
ezri  TtevzaxoGia,  xai  ov  nolXov  xqovov  inl  (xeya  £%a>Qriaav  öwä^scog. 
Das  gleiche  Eaisonnement  hat  Plut.  Lyc.  29.  30,  bei  dem  auch  als  Haupt- 
vorwurf die  Einführung  von  Geld  und  Reichthum  unter  Agis  dem  Sohn 
des  Archidamos  erscheint,  genau  wie  bei  Diodor.     Ebenso  Aelian.  v.  h. 

13,  8.  14,  29  u.  a. 


222 

den  hat,  so  hat  Ephoros  den  Lykurg  ebenso  wie  Thukydides 
gegen  800  v.  Chr.  angesetzt.  Daher  erklärt  es  sich,  dass  er 
auch  seinen  Zeitgenossen  Homer  spät  ansetzen  und  jünger  als 
Hesiod  machen  musste. 

Was  uns  sonst  aus  Diodors  Darstellung  erhalten  ist  (die 
Fragmente  stammen  ausser  einem  werthlosen  Bruchstück  in  den 
exe.  de  virt.  et  vit.  sämmtlich  aus  den  exe.  de  sentent),  besteht 
in  einer  Reihe  von  Orakeln,  die  mit  der  Sentenz  abgeschlossen 
werden  ort  xovg  fir)  diacpvldxxovxag  xtjv  Jigog  xo  ftelov  svot- 
ßsiav  JtoXv  nallov  firj  xtjqhv  xa  jtgög  rovg  avfrQoiJtovq  ölxaia, 
womit  das  Motiv  gegeben  wird,  weshalb  Lykurg  seine  Gesetz- 
gebung in  eine  religiöse  Form  eingekleidet  hat.  Im  übrigen 
stimmen  diese  Orakel  bei  Diodor  völlig  zu  der  Angabe  Strabos, 
dass  nach  Ephoros  Lykurg  in  fortwährendem  Verkehr  mit  dem 
Orakel  gestanden  habe  (oben  S.  218).  Dasselbe  sagt  Polybios 
X  2,  11  Avxovgyog  atl  JiQoaXafjßavofitvog  xalg  lölaig  tjußokaig 
xtjv  ex  xr\g  Uv$iag  (prjfirjV  zvJtaQadtxxoxtQag  xai  Ttiöxotigag 
tJtoiti  xag  lölag  kutivolag. 

Von  den  Sprüchen  Diodors  kehren  zwei  unter  den  Orakeln 
wieder,  welche  Oinomaos  von  Gadara  in  seiner  yorjxcov  (fWQa 
verhöhnt,  von  der  uns  Eusebius  praep.  ev.  V  18  ff.  grosse  Bruch- 
stücke bewahrt  hat.  Vermuthlich  hat  Oinomaos  sie,  wenn  nich 
aus  Ephoros  selbst,  so  direct  aus  Diodor  entnommen,  in  dessen 
Fragmenten  sich  auch  sonst  noch  mehrere  andere  der  hier 
vorgeführten  Orakel  wieder  finden.1)     Wir  dürfen  daher  auch 

1)  [Rohde,  Psyche  137,  1  sagt:  „Oinomaos  entlehnt  sie  (wie  alle 
Orakel,  die  er  in  seiner  ror'jTcov  <pa>Qa  verarbeitet)  einer  Sammlung  von 
Orakelsprüchen,  gewiss  nicht  dem  Ephoros,  wie  E.  Meyer  annimmt  (um 
von  dem  König  Pausanias  ganz  zu  schweigen)."  Wenn  diese  Behauptung 
richtig  ist,  was  sehr  gerne  möglich  ist,  so  bleibt  die  Frage,  woher  diese 
Sammlung  sie  genommen  hat;  die  Quellenfrage  wird  nicht  aufgehoben, 
sondern  nur  um  ein  völlig  untergeordnetes  Moment  verschoben.  Nun  steht 
das  eine  Kroesosorakel  Euseb.  V  20,  8  bei  Diod.  IX  3 1  Vogel,  das  andere 

V  24,  8  bei  Diod.  IX  31,  2,    das  eine  Orakel  über  den  messenischen  Krieg 

V  27,  1  bei  Diod.  VIII  13,  2,  das  andere  V  27,  4  wenigstens  dem  Inhalte 
nach  bei  Diod.  VIII  8;  dass  Ephoros  sich  die  zahlreichen  Orakel  bei  lle- 
rodot  über  die  Perserkriege  u.  a.,  die  Oinomaos  anführt,  nicht  hat  ent- 
gehen lassen,  lehren  zahlreiche  Belege  bei  Diodor.  Dazu  kommen  dann 
die  Lykurgorakel.  Dass  also  Oinomaos  oder  seine  Quelle  entweder  den 
Ephoros  selbst  oder  seinen  Ausschreiber  Diodor  oder  meinetwegen  Doch 
eine  andere  Mittelquclle  benutzt  hat,  scheint  mir  unbestreitbar.] 


223 

einen   dritten  Spruch,   der   sich   nur   hier   findet,   auf  dieselbe 
Quelle  zurückführen. 

Den  Anfang  macht  der  aus  Herodot  I  65  bekannte  Spruch 
der  Pythia,  in  dem  sie  den  Lykurg  zögernd  als  Gott  anerkennt. 
In  der  Diodorhandschrift  ist  nur  der  Schluss  erhalten,  dagegen 
finden  sich  hier  wie  bei  Eusebius  zwei  Verse  mehr.  Derjenige 
welcher  in  hellenistischer  Zeit  das  Orakel  in  Delphi  auf  einen 
Inschriftenstein  setzte, !)  kannte  diesen  Zusatz  nicht  oder  hat 
ihn  verworfen.     Der  Text  lautet  bei  Eusebius  und  Diodor: 

A      Ijxeig  co  Avxöegyt'1)  S(iov  jtorl  jilova  V7]bv 

Zi]v\  cplXoq  xal  Jiaöiv  'OXvfZJtia  dojfiar  eyovOi' 
(J'/gco  rj  öe  fteop  fiavTsvöofiai  rj  apftgomov 
aXX  src  xal  [iäXXov  d-töv  sXjtofiai  d>  Avxosgye*). 
5  [tjxslq  6  ivvopiiav  ahsvkusvoq'  avräg  lymys 
öwöco,  xi]V  ovx  aXXr/  ejuy&ovir/  JioXiq  tgsi*).] 

In  dieser  Gestalt  kennt  auch  Plutarch  das  Orakel  (Lyc.  5), 
da  es  aber  allbekannt  ist,  gibt  er  es  nur  in  prosaischer  Um- 
schreibung: top  diaßor/TOV  yQ?jOfi6v,  co  &£0(piXr)  tuh>  avrov  y 
IJvßia  jtQOöujie  xal  freov  fiäXXov  r)  cw&qcojiov,  svvofiiag  6e 
yQ?J£oi>ri  ÖLÖovat  xai  xaraivuv  Etptj  rov  &edv,  rj  JtoXv  xga- 
tlöttj  tgov  aXXmv  lörai  jioXiT£L(bv.b)     Herodot  dagegen  kennt 


1)  Foucart  im  Bull.  corr.  hell.  V  43  nach  einer  Abschrift  des  Cyriacus 
von  Ancona. 

2)  So  Euseb.  und  die  Inschrift,  Die  correcte  Form,  welche  bei  He- 
rodot und  ebenso  IL  Z  130.  H  142  ff.  vorliegt,  ist  bekanntlich  AvxöoQyoa. 
Bei  Diodor  steht  in  v.  4  AvxovQye  [ebenso  schol.  Aristot.  p.  7».  13»  ed. 
Berlin.],  was  die  Herausgeber  schwerlich  mit  Recht  in  AvxöoQyt  ver- 
wandeln [so  auch  noch  Vogel,  der  die  Lesung  der  Handschrift  nicht 
einmal  anführt].  —  Für  yxeiQ  hat  die  Inschrift  r/kvO-ig,  in  v.  2  schreibt  sie 
r/ovoiv,  in  v.  3  ai  für  jj  und  am  Schluss  ?je  xai  avöga. 

3)  So  Herodot  und  Euseb.  In  der  Inschrift:  /uakkov  xoi  &eov  skno- 
liai  SfjLfxsvaL  io  Avxoz Q[ye].  Bei  Diodor  ist  erhalten :  er'  otogen  w  Av- 
xovQys. 

4)  So  Diodor;  bei  Euseb.  r'jxeiq  svvo/ui^v  dig'rifxevoQ'  avxccg  syiv  xoi 
tiojoü),  xal  xa  xovxoiq  avveinXeyöfjieva. 

5)  Nach  Plut.  adv.  Coloten  17  soll  das  Orakel  (mit  oder  ohne  den 
Zusatz?)  in  den  naXatöxaxai  ävaypacpat  der  Lakedaemonier  gestanden 
haben  —  wie  die  Geschichten  von  König  Romulus  in  den  annales  maximi 
nicht  gefehlt  haben  werden. 


224 

die  Zusatzverse  noch  nicht,1)  wohl  aber  ihren  Inhalt.  Er  be- 
merkt im  Anschluss  an  das  Orakel:  ot  fiev  öt]  nveg  jiqoc 
tovtoiCl  XsyovöL  xcä  cfQaoai  avxm  ttjv  Ilvi^irjv  rov  vvv  xax- 
sötscötcc  xoof/ov  2jiaQTLTjTipi.  Also  was  Herodot  als  Tradition 
Einzelner  gibt,  ist  bei  Ephoros  in  Verse  gebracht  und  dem 
alten  Orakel  direct  angehängt.  Zu  dem  ursprünglichen  Sinn 
des  Orakels  passt  dieser  Anhang  allerdings  schlecht  genug, 
da  in  ihm  von  der  Gesetzgebung  garnicht,  sondern  nur  von 
der  Frage  die  Kede  ist,  ob  Lykurg  ein  Mensch  oder  ein  Gott 
sei.2)  Aber  diese  Verse  waren  nun  einmal  gegeben,  und  wer 
auf  Grund  der  bei  Herodot  mitgetheilten  Tradition  die  ganze 
Gesetzgebung  in  Orakelform  einkleiden  wollte,  wie  das  Epho- 
ros, oder  vielmehr  die  Quelle  aus  der  er  schöpft,  gethan  hat, 
konnte  dieselben  nicht  gut  umgehen.  So  werden  sie  denn 
hier  zur  einfachen  Begrüssungsformel,  von  der  durch  die  Zu- 
satzverse der  Uebergang  zu  der  Offenbarung  der  Grundprinci- 
pien  der  neuen  Staatsordnung,  der  tvvofila,  gemacht  wird.1) 

Nach   der  ßegrüssung  fragt  Lykurg,   welche  Gesetze  den 
Spartiaten  am  nützlichsten  sein  würden.   Die  Pythia  antwortet: 
B      täv  rovc  uev  xaXcög  rflüöd-ai,  rovq  6h  jtEi&aQytir 

VOflO&8T?}0)j, 

und  auf  die  Frage,  wie  das  zu  machen  sei,  folgt  das  auch  bei 
Eusebius  erhaltene  Orakel: 
C     doiv  odol  ovo  jtXuarov  an  aXXtjXow  aji&yovoai, 
7]  uev  eXevfrsgiag  kg  rifiiov  oixov  ayovöa, 

1)  Ebenso  kennt  Xenophon,  Apol.  Soor.  15  das  Orakel  nur  in  der 
herodotischen  Fassung:  <pqovxCC,ü>  noxega  üsov  os  sitko  ij  avd-QcoTtov. 

2)  [Dieser  Anstoss  hat  zu  der  Antliol.  pal.  XIV  77  bewahrten  Um- 
wandlung des  Orakels  geführt:  oXßioq  ovxoq  ävtjQ  oq  vvv  xaxh  Xüirov 
ovöbv  <Poißov  linoXXcüvoq  yQr\oxr\Qiov  eioavaßaivei '  qXvd-sv  svvofiiTjv  fa- 
grjfxevoq  etc.  So  hätte  das  Orakel  allerdings  lauten  müssen,  wenn  es  Sinn 
haben  sollte.] 

3)  [Oinomaos  redet  in  seinen  Ausführungen  zu  dem  Spruch  den  py- 
thischen  Gott  an:  ccXXcc  av  xdv  TvQxaiov  (so  cod.  A,  Dindorf  -ov)  tiqo- 
xa&tiy£fAova  xal  axoitbv  zX&övxa  noxt  ibq  oh  qxEiv  ecprjq  ix  xoifo/q 
Aax£dai[Aovoq  Zr\v\  cpiXov  etc.  Die  richtige  Lesung  und  den  Sinn  der 
Stelle  hat  Saarmann  im  Dortmunder  Gymuasialprogr.  1889,  29  erkannt: 
Lycuryum  qui  S/lüsv  evvo/uiav  akrjacov  scite  Oenomaus  TvQtaiov  (sie 
rede  unus  A)  TtQoxafhjyofiEva  appellat  propter  celeberrivni  carminis  titu- 
lum  qui  fuit  svvoßia.] 


225 

i]  6  hüti  öovXeiag  pevxtdv  66[iov  ?]fi8Qioiöi' 
xal  T7}v  (dhv  öia  r  dvÖQOövvrjg  iSQTJg1)  0-'  Ofzovoiag 
5  söti  jiEQav,  y]v  ör\  Xaolg  TjyeiöOs2)  xeXsv&ov, 
t?)v  de  öia  örvysQrjg  sgidog  xal  avaXxiöog  az7]g 
tlöag)ixdvovöiv'  ttjv  6?)  ji£<pvXat-o'5)  (läXiöra. 
Daran   schliesst  sich   die  S.  220  angeführte  Ausführung  xo  öh 
xstpäXaiov  r\v\  man  sieht  Ephoros  hat  seine  Auseinandersetzung 
über   die   Tendenz   der  Verfassung   an   das   Orakelwort   ange- 
schlossen  und   seine   Theorie   überdies    nicht   selbst   erfunden, 
sondern  nur  weiter  ausgeführt;  der  Grundgedanke,  der  ja  auch 
nichts  weniger  als  originell  ist,   ist  schon  in  dem  übrigens  an 
sich  recht  trivialen  Orakel  enthalten. 

Es  folgt  der  nur  bei  Eusebius  erhaltene  Spruch4): 
D      cqq  av  (iai>TehjGiv  vjiooyjöidg  rs  xal  ogxovg  (?) 
xal  öixag  aXX/jXoiöi  xal  aXXoöajiolöi  öiöwzs, 
ayvcog  xal  xaftaQcctg  jiQeößrjyeveag  Tiftwvzsg, 
Twöaglöag  6'  ejiojii^ofitvoi,  MsviXav  tb  xal  dXXovg 
5  adavarovg  ygcoag,  oi  lv  Aaxeöaifion  öl?], 
ovxco  öfj  x  vficov  jisQKpzidoiT  svQvojia  Zevg. 

Das  Alter  dieses  Spruchs  hat  jetzt  durch  die  Gedichte  des 
lsyllos  von  Epidauros  (Wilamowitz  philol.  Unters.  IX)  eine 
höchst  willkommene  Bestätigung  erhalten,  die  zugleich  beweist, 
dass  zu  Ende  des  vierten  Jahrhunderts5)  die  Ansicht,  Lykurg 


1)  So  Euseb.     Bei  Diodor  ccQerfjq,  was  Dindorf  in  iQarrjg  ändert. 

2)  Diod.  rjyElc9cu. 

3)  Euseb.  6h  negjvXäyßai. 

4)  Es  geht  dort  dem  Orakel  C  voran.  Der  erste  Vers  ist  zweifel- 
los corrupt,  aber  eine  Heilung  noch  nicht  gelungen. 

5)  [Im  Gegensatz  zu  Wilamowitz  setzt  Blass  Jahrbb.  f.  Phil.  1885, 
822  ff.  (vgl.  Collitz  Dialektinschr.  3342)  lsyllos  an  den  Anfang  des  zweiten 
Jahrhunderts.  lsyllos  berichtet,  wie  Asklepios  Sparta  geschützt  habe  oxa 
6rj  gtqü.tov  tfya  <PiXt7i7ioQ  siq  HnäQzi]v,  i&eXwv  dvsktiv  ßaaiX?]i6a  ti/u/jv. 
Blass  bezieht  das  auf  den  Zug  Philipp's  V.  gegen  Sparta  im  Bundes- 
genossenkrieg 218  v.  Chr.  (Polyb.  V  18).  Aber  damals  hatte  ja  Sparta  eben 
die  grossen  Revolutionen  hinter  sich,  das  Königthum  war  Jahre  lang  nicht 
besetzt  gewesen,  und  die  Stelle  des  einen  Hauses  bekleidete  ein  durchaus 
illegitimer  König  (Polyb.  IV  35);  wie  passen  da  lsyllos'  Aeusserungen,  dass 
die  Spartaner  den  Geboten  des  Lykurgos  getreu  seien?  Auch  ist  es  höchst 
unwahrscheinlich,  dass  Philipp  218  daran  dachte  das  Königthum  in  Sparta 
zu  beseitigen.    Dazu  kommt,  dass  die  Oligarchie  in  Epidauros  hergestellt 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  J5 


226 

habe  seine  Gesetze  einzeln  in  Orakelform  erhalten,  allgemein 
anerkannt  war.  In  der  Vision,  die  berichtet  wird,  sagt  Askle- 
pios  dem  Knaben  Isyllos  „er  wolle  Sparta  vor  Philipps  An- 
griff retten  ovvexa  rovg  <Polßov  xQrjöfiovG  aco^ovn  dixalmg, 
ovg  fiavTSvöa/isvog  jzaQSTat-s  jzoXtjl  AvxovQyog".  Isyllos 
selbst  ahmt  diese  Orakel  nach,  speciell  eben  dies  Orakel  D; 
sein  Gedicht  über  den  von  ihm  gegebenen  lagog  voy.og  schliesst 
mit  den  Worten:  ovrco  zol  x  aficov  jteQUfsidoLx  evgvojta 
Zevq.  Ebenso  kennt  er,  wie  wir  sehen  werden,  die  prosaischen 
Rhetren. 

Wie  dies  Orakel  Detailvorschriften  gibt,  so  auch  das  bei 
Diodor  folgende,  welches  das  Verbot  des  Geldes  bezweckt.  Es 
ist  der  bekannte  Vers 

E     a  cfiiXoxQTjfiarla  J£jictQTav  fUot1),  aXXo  6h  ovötv. 

Man  möchte  den  Ephoros  gerne  von  der  Gedankenlosigkeit 
freisprechen,  er  habe  diesen  Vers,  der,  wie  Diodor  selbst  be- 
merkt, zum  Sprichwort  geworden  ist  und  denn  auch  bei  den 
Paroemiographen   steht   (die   hier   wie   so   vielfach   ephorische 

wurde,  als  Isyllos  bereits  alt  war;  also  nach  Blass'  Annahme  im  zweiten 
Jahrhundert,  als  Epidauros  zum  achäischen  Bunde  gehörte  und  die  römische 
Suprematie  in  Griechenland  bestand.  Dass  das  unmöglich  ist,  liegt  auf 
der  Hand.  Auch  weist  der  ganze  Geist  der  Inschrift  in  eine  weit  frühere 
Zeit,  in  die  Epoche  der  Wirren,  Tyrannenherrschaften  und  Restaurations- 
versuche  nach  Demetrios'  Sturz  und  in  der  Zeit  der  Antigonos  Gonatas. 
Sie  passt  etwa  in  die  Zeit  von  Areus'  Zug  280.  Es  bleibt  also  dabei,  dass 
mit  Philipp  der  Vater  Alexanders  und  sein  Zug  gegen  Sparta  337  gemeint 
ist.  —  Wie  es  zu  gehen  pflegt,  hat  Blass'  Ansatz  trotz  seiner  Unnahbar- 
keit allgemeinen  Anklang  gefunden.  Er  veranlasst  Rohde  Psyche  137  Anm. 
zu  der  Bemerkung:  „die  Orakelverse  aus  Oenomaos  sind  wohl  recht  jung 
. . .  wiewohl  älter  als  das  2.  Jahrhundert  (vgl.  Isyllos  v.  26) ".  Das  wäre 
verkehrt,  auch  wenn  der  Ansatz  für  Isyllos  richtig  wäre.  Rohde  inuss 
die  von  mir  nachgewiesenen  Thatsachen  anerkennen,  aber  da  sie  ihm  un- 
bequem sind,  sucht  er  ihre  Tragweite  möglichst  einzuschränken.  —  In 
derselben  Anmerkung  stellt  Rohde  die  erstaunliche  Behauptung  auf:  „Mit 
der  Entrückung  des  Menelaos  nach  Elysion  (Odyss.  ö)  hat  sein  Cult  in 
Therapne  nichts  zu  thun".  Das  ist  allerdings  von  seinem  Standpunkt  aus 
consequent;  aber  ich  verstehe  nicht,  wie  man  an  einem  Standpunkt  fest- 
halten kann,  der  durch  solche  Consequenzen  ad  absurdum  geführt  wird.] 

1)  Ebenso  die  Paroemiographen;  bei  Plutarch  inst,  lac.  42  oXet  Als 
Orakel  wird  der  Spruch  citirt  bei  Plut.  Agis  9,  Cicero  de  oft'.  II  77.  Schol. 
Aristoph.  Pac.  622  =  Suid.  6ieiq(ov6B,£vol. 


227 

Nachrichten  aufgenommen  haben,  vgl.  oben  S.  19),  für  ein 
Product  der  lykurgischen  Zeit  gehalten,  während  er  doch  erst 
in  Lysanders  Zeit  entstanden  sein  kann.1)  Und  doch  hat 
Ephoros  so  berichtet,  denn  auch  Aristoteles  kennt  den  Vers 
als  Orakelspruch  (Zenob.  II  24),  offenbar  weil  er  dem  Ephoros 
folgte.2)  Auch  erhält  ja  so  erst  das  Schlusswort  des  Ephoros 
zur  lykurgischen  Verfassung  seine  rechte  Beziehung,  in  dem, 
wie  wir  sahen,  den  Spartanern  die  Einführung  des  Geldes 
zum  schlimmsten  Vorwurf  gemacht  wird. 

Es  folgen  bei  Diodor  Verse  wesentlich  verschiedener  Art,3) 
Distichen,  von  denen  v.  3 — 6  mit  einem  anderen  Eingang  auch 
bei  Plutarch  Lyc.  6  als  Verse  des  Tyrtaeos  augeführt  werden. 
Sie  lauten: 

F    6fj  yag  dgyvgoxot-og  ava§  txa£gyog  'AjcoäZcov 
XQvOox6fi?]g  SXQ7]  niovog  Ig  advxov, 
agysiv  {jev  ßovXi]*)  &£otiutJtovq  ßaCikijag, 
olöt  {izlki  2jzdgx?]gb)  IfiSQOSOöa  JioXig, 
5  jiQ£ößvyevelgQ)  rs1)  yigovxag,  sjteira  de  ör\y,6xag  avdgaq, 
£V&£iaig*>)  grjxgatg  dvxaJia[i£ißo(i£VOvg. 
[fiv&elö&ai  ös  xä  xala  xal  egöeiv  jtdvxa  ölxaia, 

{/TjÖETl  £Jtißovl£V£iv  tf]ös  JtoXei9). 
örjfiov  rs  jihföst  vlxrjv  xal  xdgxog  £Ji£ö&ai' 
10        <Poißog  yag  jt£gl  xcov  coÖ  dv£(prjv£  jrofet.] 


1)  Bergk  nimmt  ihn  unter  die  Fragmente  des  Tyrtaeos  auf! 

2)  Andere  wollten  auch  hier  wieder  klüger  sein  als  ihre  Quellen,  von 
denen  sie  doch  total  abhängig  waren,  und  machten  den  Vers  zu  einem 
dem  Alkamenes  und  Theopomp  gegebenen  Orakel  (Plut.  inst.  lac.  42)  — 
wobei  nur  übersehen  ist,  dass  diese  beiden  Könige  wohl  in  den  Listen 
der  Alexandriner,  aber  nicht  in  Wirklichkeit  Zeitgenossen  waren. 

3)  Am  Rande  der  Handschrift  stehen  die  Worte  rj  llv&ia  sxQrjas  reo 
AvxovQyco  Tieyl  zwv  nokinxtöv  ovtojq,  die  vor  den  betr.  Versen  einzu- 
schalten sind,  vgl.  Herwerden  Spicil.  Vat.  3.  15. 

4)  Plut.  ßovXrjQ. 

5)  Plut.  UnixQTuq.     Diod.  laxsQÖeaaa. 

6)  Plut.  TtQeoßvxag. 

7)  Diod.  öh,  was  keinen  Sinn  gibt. 

8)  Diod.  ev&elriq  (so  nach  Herwerden;  Mai  las  fälschlich  -r\v)  ^rjTQccg. 

9)  Wilamowitz  höin.  Unters.  S.  282  Anm.  nimmt  wohl  mit  Recht  an, 
dass  hier  keine  Corruptel  vorliegt,  sondern  der  Text  gekürzt  und  deshalb 
Prosa  geworden  ist. 

15* 


228 

Die  beiden  ersten  Verse  lauten  bei  Plutarch: 

<Poißov  axovöavTsq  Ilv&eQv6&£V  olxad*  evsixav 
fiavrsiag  rs  &tov  xal  rsXtsjn  sjita, 

weichen  also  wohl  im  Ausdruck,  aber  nicht  im  Inhalt  von 
Diodor  ab. 

Von  den  Herausgebern  wird  nach  v.  6  nicht  interpungirt 
und  v.  7  re  in  de  geändert,  so  dass  fiv&tTc&ai  Prädicat  zu 
ö?]iuoraQ  avdgaq  wäre.  Dass  das  falsch  ist,  lehrt  schon  der 
Umstand,  dass  Plutarch  mit  v.  6  schliesst  und  doch  sein  Citat 
als  ein  vollständiges  gibt;  also  muss  mit  [ivfrelofrai  ein  neuer 
Satz  beginnen,  in  Uebereinstimmung  mit  der  handschriftlichen 
Ueberlieferung.  „Ziemlich  zu  reden  und  recht  zu  handeln" 
wird  nicht  nur  dem  Demos,  sondern  allen  Spartanern  befohlen. 
Zu  d?]fi6rag  avÖQaq  ist  aus  dem  vorhergehenden  aQ/sir  ein 
Verbum  wie  tjtsö&cu  zu  suppliren.  „Vorangehen  im  Käthe 
sollen  die  Könige  und  Geronten,  alsdann  [folgen]  die  Männer 
des  Volks,  den  richtigen  Rhetren  erwiedernd"  [d.  h.  der  Demos 
soll  durch  seinen  zustimmenden  Ruf  die  Rhetren  (Anträge,  s.  u.), 
wenn  sie  richtig  (gerade)  sind,  annehmen.  So  hat  Plutarch 
die  Verse  verstanden,  denn  er  findet  in  ihnen,  nicht  etwa  in 
dem  ihm  unbekannten  Schluss,  der  ja  auch  ganz  anderes  be- 
sagt, die  Unterordnung  des  Demos  unter  die  Entscheidung  der 
Könige  und  der  Geronten  ausgedrückt;  wenn  krumme  (unge- 
rechte) Rhetren  vom  Demos  angenommen  werden,  haben  die 
Könige  und  Geronten  das  Recht,  die  Entscheidung  des  Volks 
zu  verwerfen  und  die  Versammlung  aufzulösen.  Diese  Be- 
stimmung, die  auf  eine  Rhetra  der  Könige  Polydor  und  Theo- 
pomp zurückgeführt  wird,  ist  nach  Plutarch  (resp.  natürlich 
nach  der  Auffassung  seiner  Quelle)  in  den  Versen  1 — 6  ent- 
halten, und  er  folgert  aus  denselben  weiter,  dass  die  Könige 
sie  ebenso  wie  Lykurg  auf  einen  Spruch  des  Orakels  zurück- 
geführt hatten  (ßxsiöav  dh  xal  avxoi  r?)v  jtoliv  cog  tov  &eov 
ravta  jrQoördoöovTOc,  wq  jtov  TvQtaloq  fitftvrjzai  öia  xovtcov). 

Die  Zusatzverse  bei  Diodor  sind  nun  offenbar  nicht  eine 
weitere  Ausführung  der  Verse  3 — 6.  Die  herrschende  Meinung, 
dass  Plutarch  von  demselben  Gedicht  einige  Verse  weniger, 
Diodor  einige  mehr  citire,  ist  falsch.  Vielmehr  enthalten  die 
Zusatzverse   bei  Diodor   deutlich   eine  Polemik   gegen   die  bei 


229 

Plutarch  vorgetragene  Auffassung.  Von  einer  Unterordnung 
des  Demos  unter  die  Könige  und  Geronten  wollen  sie  nichts 
wissen.  Sie  betonen  vielmehr  so  scharf  wie  möglich  die  Sou- 
veränetät  des  Demos:  dijfiov  dh  jcXrjOet  vixrjv  xal  xägrog  ejce- 
6&cu,  das  ist  es  was  Phoebos  angeordnet  hat.  Nach  den 
Diodorversen  haben  Könige  und  Geronten  durchaus  nicht  das 
Recht,  einen  missliebigen  Volkssehluss  zu  verwerfen.  Die  dio- 
dorische  Fassung  ist  also  jünger  als  die  plutarchische ;  sie 
rectificirt  die  ältere  Ueberlieferung,  und  führt  uns  hinein  in 
eine  Polemik  über  die  Grundlagen  der  spartanischen  Staats- 
ordnung, die  mit  tendenziös  fabricirten  Gedichten  als  Be- 
weisstücken operirt  und  in  sehr  fundamentalen  Fragen  scharf 
entgegengesetzte  Auffassungen  erkennen  lässt.  Da  zu  der  An- 
nahme, Diodor  habe  hier  aus  einer  anderen  Quelle  eine  Ein- 
lage gemacht,  nicht  der  mindeste  Grund  vorliegt,  ist  diese 
Polemik  älter  als  Ephoros.] 

Wie  die  Distichen  in  dem  Diodorexcerpt  stehen,  scheinen 
sie  als  Orakel  bezeichnet  zu  werden.  Es  ist  indessen  kaum 
denkbar,  dass  Diodor,  unmöglich,  dass  Ephoros  sie  so  aufge- 
fasst  hat:  vielmehr  sind  sie  offenbar  citirt  worden  zum  Beleg, 
dass  auch  die  einzelnen  Grundinstitutionen  der  Verfassung  auf 
Aussprüchen  Apollos  beruhen.  Plutarch  schreibt  sie  dem  Tyr- 
taeos  zu,  mit  der  sehr  unbestimmten  Wendung  Sg  nov  Tvq- 
ralog  £ju[i8[/vt]Tcu  öia  tovtcov.1)  Die  Neueren  haben  ihm 
Glauben  geschenkt,  auch  v.  Wilamowitz  hom.  Unters.  S.  282, 
der  doch  mit  Recht  gegen  die  herkömmliche  Ausgleichung  der 
Varianten  protestirt.  Nun  wäre  es  zwar  möglich,  dass  in  den 
Auszügen  aus  Diodor  der  Name  Tyrtaeos  ausgefallen  wäre, 
aber  wahrscheinlich  ist  das  nicht  gerade.  Vielmehr  sind  sie 
ursprünglich  anonym  überliefert.  Dass  man,  wenn  man  den  Ver- 
fasser der  Verse  nennen  wollte,  Tyrtaeos  wählte,  ist  nur  natür- 
lich; er  ist  ja  der  einzige,  der  überhaupt  in  Betracht  kommt. 

Dass  die  Verse  nicht  von  Tyrtaeos  stammen,  steht,  ganz 
abgesehen  von  ihrer  verschiedenen  Fassung,  durch  ihren  Inhalt 

1)  Also  haben  die  Neueren  mit  doppeltem  Unrecht  das  Bruchstück 
der  tivvo/Aia  zugewiesen:  dies  Gedicht  war  dem  Aristoteles  wie  der  Quelle 
Strabo's  (VIII  4,  10)  noch  vollständig  bekannt,  und  wenn  die  Verse  daher 
stammten,  würde  es  bei  Plutarch  nicht  nov,  sondern  ev  t%  Evvofila  xa- 
Xovnävy  heissen. 


230 

vollkommen  fest.  Denn  noch  im  fünften  Jahrhundert 
wusste  man  in  Sparta  nichts  davon,  dass  die  Verfas- 
sung aus  Delphi  stamme.  Ausdrücklich  sagt  Herodot  I  65 
„einige  sagen,  die  Pythia  habe  dem  Lykurg  die  bei  den  Spar- 
tiaten  bestehende  Ordnung  geoffenbart;  wie  aber  die  Lake- 
daemonier  selbst  sagen,  hat  Lykurg  .  .  .  diese  Dinge  aus 
Kreta  geholt".  Die  Neueren  sind  dieser  Stelle  meist  so  viel 
wie  möglich  aus  dem  Wege  gegangen.  Und  doch  konnte  He- 
rodot so  nicht  schreiben,  wenn  zu  seiner  Zeit  die  Ableitung 
von  Delphi  in  Sparta  längst  in  der  Weise,  wie  in  dem  angeb- 
lichen Tyrtaeosfragment,  als  sichere  Thatsache  anerkannt  war, 
und  ebenso  wenig  konnte  dann  Hellanikos  die  vom  Gott  offen- 
barten (jiv&oxQrjöToi)  Gesetze  einfach  als  Werk  der  ersten 
Könige  bezeichnen.  Man  pflegt  sich  wohl  auf  die  enge  Ver- 
bindung des  historischen  Sparta  mit  Delphi,  auf  die  von  den 
Pythiern  bewahrten  Orakel  (Herod.  VI  57)  zu  berufen.  Aber 
daraus  folgt  nur  das  Gegentheil:  trotz  dieser  Verbindung  dachte 
man  zu  Herodots  Zeiten  in  Sparta  garnicht  daran,  die  Ver- 
fassung aus  Delphi  abzuleiten.  Man  holte  sich  fleissig  beim 
delphischen  Apoll  Kath,  ebenso  gut  wie  beim  Zeus  von  Olympia 
(Plut.  Ages.  11);  aber  die  Schutzgötter  des  Staats  waren  viel- 
mehr Zeus  und  Athene  (s.  u.).1)  Die  Verfassung  galt  den  Spar- 
tiaten  als  etwas  naturwüchsiges,  nicht  wie  den  Fremden  für 
ein  seltsames  Kunstproduct,  zu  dessen  Erzeugung  es  des  Orakel- 
apparats bedurft  hätte.  Dass  auf  Kreta  ähnliche  Institutionen 
bestanden,  wie  bei  ihnen,  wussten  sie;  und  so  mögen  sie  dazu 
gekommen  sein,  dieselbe  aus  Kreta  holen  zu  lassen.  Diese 
ältere  Ansicht  erscheint  auch  in  dem  unter  Piatos  Schriften 
stehenden  Dialog  Minos  p.  318  ohne  Verquickung  mit  dem  del- 
phischen Orakel.  Der  Dialog  muss  seinem  ganzen  Inhalt  nach 
recht  alt  sein;  auch  wenn  er  nicht  von  Plato  geschrieben  ist, 
stammt  er  jedenfalls  aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  vierten 
Jahrhunderts,  so  gut  wie  der  Hipparchos  und  der  meiner  Mei- 
nung nach  zweifellos  platonische  Ion.2) 


1)  Erwähnt  werden  mag  immerhin,  dass  auch  in  der  allerdings  ab- 
sichtlich alles  Details  entkleideten  Angabe  des  Thukydides  I  IS  über  die 
spartanische  Verfassung  von  der  Ableitung  aus  Delphi  so  wenig  die  Eede 
ist  wie  von  Lykurg. 

2)  Bekanntlich  wird  im  Minos  Lykurgs  Zeit  „300  Jahre   oder  etwas 


231 

Herodots  Werk  ist  erschienen  in  den  ersten  Jahren  des 
peloponnesischen  Kriegs,  Hellanikos'  literarische  Thätigkeit  — 
in  welcher  Schrift  er  von  Lykurg  gehandelt  oder  vielmehr 
nicht  gehandelt  hat,  lässt  sich  nicht  sicher  erkennen,  am  näch- 
sten liegt  es,  mit  Niese  Hermes  XXIII  89  an  die  Heraprieste- 
rinnen  zu  denken  —  fällt  im  allgemeinen  etwas  später.  Wenige 
Jahre  darauf,  zu  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts,  ist  die  Ab- 
leitung aus  Delphi  mit  einem  Male  allgemein  anerkannt  und 
in  Sparta  selbst  officiell  recipirt.  König  Pausanias  theilt  die 
dem  Lykurg  gegebenen  Orakelsprüche  mit,  Xenophon,  der  um 
375  v.  Chr.  schreibt,  bezeichnet  es  als  einen  besonders  feinen 
Kunstgriff  des  Lykurg,  dass  er  die  Gesetze  nicht  eher  erliess, 
als  bis  er  sie  vom  Orakel  hatte  sanctioniren  lassen:  jzoXXcqv 
de  xal  ccXXtov  övxcov  (irjxavrjfiazcov  xaXcov  reo  Avxovqjo) 
eig  rö  Jieifrsofl-cu  IfriXeLv  xovg  üioXixag,  iv  xolg  xaXXiöxoig  xal 
xovxo  (tot  öoxel  elvai,  ort  ov  jiQoxtoov  ajiedwxs  tgj  jrXrfösi 
xovg  vofiovq,  .jtqIv  tXdwv  Ovv  xolg  xqaxiöxoig  dg  AeX(povg 
ejzrjQsxo  xov  Osov  d  Xrpov  xal  a^ieivov  ur/  rf]  ÜJidoxy  jiti&o- 
(i£V?j  oig  avxog  ld?jxt  vofioig.  sjttl  de  avstXe  tcq  uiavxl  a^iuvov 
uvai,  tote  äjteömxev,  ov  f/ovov  dvofiov  aXXä  xal  avo- 
6iov  ß-elg  to  jiv&oxor]öToig  vofiotg  firj  jrsi&eöd-aL  (rep. 
Lac.  8).  Man  sieht,  seine  Darstellung  ist  ganz  rationalistisch 
gefärbt,  wie  es  sich  gehört,  da  er  für  die  gebildete  Welt 
schreibt;  sie  berührt  sich  zum  Theil  fast  wörtlich  mit  den  Aus- 
führungen des  Ephoros.  Bei  Plato  in  den  Gesetzen  gilt  es  als 
feststehend  und  von  den  Lakedämoniern  selbst  anerkannt,  dass 
die  Gesetze  von  Apoll  stammen,  wie  die  kretischen  von  Zeus 
(I  p.  624  „der  Urheber  der  Gesetze  ist  die  Gottheit,  jiaoa,  (ihv 
?I[mv  [in  Kreta]  Zsvg,  jiaocc  dh  Aax8Öaituovioig,  6&ev  bös  [Me- 
gillos]  edriv,  oiftai  cpävai  xovxovg  ÄjtoXXwva,  was  Megillos 
bestätigt").  Lykurg  wird  gewissermassen  zum  Propheten  der 
Gottheit:  tpvüLg  ng  av&Qomivr}  fiefiiyftevrj  Oela  xivl  övväfizi 
(III  691 E).  Plato  setzt  also  dieselbe  Darstellung  voraus,  welche 
Ephoros  gegeben,  aber  rationalistisch  eingekleidet  hat. 

Es  steht  also  fest,  die  Legende  von  dem  delphischen  Ur- 


mehr"  vor  die  Gegenwart,  d.  h.  die  Zeit  des  Sokrates,  angesetzt.  —  Einen 
sicheren  Beweis  für  die  Unächtheit  des  Dialogs  kenne  ich  nicht.  Dass 
er  über  Lykurg  eine  andere  Ansicht  hat  als  die  weit  späteren  Gesetze, 
kann  jedenfalls  nichts  entscheiden. 


232 

Sprung  der  Verfassung  ist  den  Spartanern  von  aussen  octroyirt [) 
und  um  das  Jahr  400  v.  Chr.,  in  der  Zeit  des  Lysander,  officiell 
recipirt  worden.  Es  war  das  eine  Epoche  der  tiefsten  poli- 
tischen Bewegung,  in  der  der  spartanische  Staat  gerade  in 
Folge  seiner  gewaltigen  Siege  innerlich  überall  aus  den  Fugen 
ging.  Nicht  nur  dass  es  in  den  Unterthanen  und  Halbbürgern 
gährte  und  die  alte  Bürgerschaft  durch  den  Krieg  decimirt 
war:  weit  schlimmer  erschien,  dass  alle  Grundlagen  des  über- 
lieferten xoöfiog  angetastet  wurden.  Grosse  Schätze  flössen  in 
Sparta  zusammen,  Luxus  und  Habsucht  rissen  ein,  eine  neue 
Politik  kam  auf,  welche  den  alten  ehrenhaften  Grundsätzen 
zuwider  auf  krummen  Wegen  wandelte  und  vor  List  und  Ge- 
walt, ja  vor  Verbrechen  nicht  zurückscheute,  um  die  Macht 
Spartas  und  seines  Adels  zu  sichern.  Die  Seele  dieser  Neue- 
rungen war  Lysander,  der  gewissenlose  aber  unentbehrliche 
Feldherr,  der  damit  umging  die  alte  Verfassung  zu  stürzen 
und  die  Vorrechte  der  Königsgeschlechter  zu  beseitigen.  Wir 
wissen  wie  vielfach  die  besseren  Elemente  der  Bürgerschaft 
sich  gegen  dies  neue  Treiben  gesträubt  haben:  Kallikratidas 
wird  hunderte  von  Gesinnungsgenossen  gehabt  haben.  König 
Pausanias  hat  es  durchgesetzt,  dass  Lysanders  Plan,  Athen 
dauernd  zu  knechten,  vereitelt  wurde,  dass  man  seine  Zwing- 
herrschaften in  den  griechischen  Gemeinden  sürzte  —  die  Folge 
war  allerdings,  dass  eine  neue  Erhebung  Griechenlands,  die  sich 
auf  Persien  stützte,  die  Notwendigkeit  der  lysandrischen  Po- 
litik nur  zu  schlagend  bewies.  Man  sieht  aber  daraus,  wie 
thätig  die  conservativen  Elemente  Spartas  gewesen  sein  müssen. 
Es  ist  ja  nicht  angeborene  Bösartigkeit  und  moralische  Ver- 
stocktheit, was  die  Spartaner  zu  der  Politik  trieb,  welche  in 
den  Zeiten  des  Lysander  und  Agesilaos  herrschte,  sondern  der 
Zwang  der  Verhältnisse,  der  mächtiger  war  als  die  reinen 
Absichten,  mit  denen  der  bessere  Theil  Spartas  den  Krieg 
gegen  Athen  zu  Ende  geführt  hatte.  Bei  solcher  Lage  war 
es  begreiflich,  dass  man  nach  jedem  Mittel  griff,  welches  ge- 
eignet erscheinen  konnte,  die  wankende  Ordnung  zu  stützen. 
So  erklärt  es  sich,  dass  jetzt  der  delphische  Ursprung  der- 
selben anerkannt  wurde,  um  so  eine  göttliche  Sanction  für  sie 


1)  Ueber  ihre  Entstehung  s.  u.  IV. 


233 

zu  gewinnen.  In  dieser  Zeit  also  sind  die  angeblichen  Tyr- 
taeosverse  entstanden;  sie  stehen  mit  Recht  neben  dem  Spruch, 
der  vor  der  (piXoxQrjuarla  warnt  und  direct  gegen  Lysander, 
Gylippos  und  ihre  Genossen  gerichtet  ist. 

Wenn  die  Distichen  einen  kurzen  Abriss  der  spartanischen 
Institutionen  geben  und  auf  das  Orakel  zurückführen,  so  sehen 
wir  aus  Ephoros  (und  auch  Plato  weist  ja  darauf  hin,  wäh- 
rend bei  Xenophon  nur  von  einer  einmaligen  Sanction  der 
lykurgischen  Ordnungen  in  Bausch  und  Bogen  die  Rede  ist), 
dass  daneben  die  Orakel  auch  im  einzelnen  ausgeführt  worden 
sind.  Dass  das  in  derselben  Zeit  geschehen  ist,  liegt  auf  der 
Hand.  Wir  können  aber  auch  noch  nachweisen,  woher  Ephoros 
die  Orakel  genommen  hat. 

In  seiner  Polemik  gegen  Hellanikos'  Behauptung,  die  Ver- 
fassung stamme  von  Eurysthenes  und  Prokies,  bringt  Ephoros 
zwei  Argumente  vor:  erstlich  werden  diese  beiden  Könige  in 
Sparta  so  wenig  geehrt,  dass  sie  nicht  einmal  ihren  Geschlech- 
tern den  Namen  gegeben  haben,  Lykurg  dagegen  hat  Tempel 
und  Opfer.  Zweitens  hat  Pausanias  in  seiner  Verbannung  eine 
Schrift  über  Lykurg  geschrieben,  in  der  er  die  Orakel  mit- 
theilt. 

Die  Stelle  über  Pausanias  ist  bei  Strabo  VIII  5,  5  nur  in 
der  Pariser  Handschrift  A  erhalten  und  auch  da  nur  mit  einer 
Lücke  von  etwa  15  Buchstaben  in  jeder  Zeile.  Da  ich  die 
Richtigkeit  der  von  Korais,  Krämer  und  Meineke  gegebenen 
Ergänzungen,  auf  denen  auch  die  Darstellung  bei  Wilamowitz, 
Hom.  Unters.  272  beruht,  zum  Theil  entschieden  bestreiten 
muss,  setze  ich  zunächst  den  handschriftlich  erhaltenen  Text 
hierher  und  füge  nur  diejenigen  Ergänzungen  bei,  die  für 
sicher  gelten  können. 

[Hierfür  hat  mir  Herr  Dr.  Trieber  freundlichst  eine  noch- 
malige Collation  der  betreffenden  Stelle  überlassen,  die  er 
Herrn  Jacob,  Professeur  a  l'ecole  des  hautes  etudes,  verdankt. 
Sie  zeigt,  dass  der  Text,  welchen  Kramer  in  der  praefatio 
zu  Bd.  1  p.  62  mitgetheilt  hat,  völlig  correct  ist,  während  die 
von  ihm  im  Contexte  gegebene  und  die  von  Meineke  befolgte 
Lesung  einzelne  Fehler  enthält:] 

1  IIav\öavlav  rs  xwv  Evqvjkdvtlöcov  kxjieö6v\ra  .  .  . 

2  oixlaq  Iv  xfj  tyvyfj  öwrctgai  Xoy[ov Avxovq] 


234 

3  yov  voficov  övrog  xfjg  txßa?.Zovo?][g  .  .  .  .,  hv  m  xal] 

4  zovg  zQtjöfiovg  Xtyei  xovg  6o0-£vv[ag  avvco  jzsqX  tcjv] 

5  jtluörcov. 

ZI.  1  cod.  Ev(jv7iod(vv.  7A.  2  oixt'aq  cod.,  oixsiag  Kramer,  Meineke. 
ZI.  3  £xßaXXovoq[g]  cod.  Kramer,  txßa?.ovo?]g  Korais,  Meineke.  ZI.  4 
Xeysi  cod.,  keyeiv  Kramer,  Meineke. 

In  diesen  Worten  ist  offenbar  von  dem  vorhin  erwähnten 
Könige  Pausanias  die  Rede,  der  nach  der  Schlacht  bei  Haliar- 
tos  395  nach  Tegea  in  die  Verbannung*  gehen  musste  —  denn 
der  Sieger  von  Plataeae  ist  sicher  nicht  literarisch  thätig  ge- 
wesen. Pausanias  aber  war  Agiade,  und  daher  ist  es  unmög- 
lich, mit  den  bisherigen  Herausgebern  Ilavoariai'  rs  rcöv  Evqv- 
jiovtiöcdv  IxjtEöovxa  .  .  .  xrtg  olxttag  zu  lesen.  Die  Ergänzung 
txjt£o6v[ra  freilich  wird  durch  das  folgende  erfordert;  der  Sinn 
aber  kann  nur  gewesen  sein,  dass  Pausanias  durch  den  Hass 
und  die  Intriguen  des  rivalisirenden  Hauses  verbannt  sei.  Da- 
her ist  mit  Trieber  zu  ergänzen:  Ilavoavlav  rs  xcov  Evqv- 
jiovxiöwv  txjt£ö6v\ra  fjioti  (oder  f^fra),  rijg  ixegag]  olxlag, 
sv  rf]  cpvyf]  etc.1)  —  Die  folgenden  Zeilen  ergänzen  Kramer 
und  Meineke  övvra^at  Xoy[ov  xaxa  rov  AvxovQ\yov,  vo/mov 
övxog  xf\g  £xßaXotör/[g  (Krämer  txßall.)  amov  ahiov,  xcd]  etc., 
wobei  ich  bekennen  muss,  dass  mir  die  letzten  Worte  dunkel 
geblieben  sind;  soll  zu  rrjg  ixßaZovoijg  einfach  jtoXecog  ergänzt 
werden?  Das  wäre  doch  eine  unerträgliche  Härte.  Indessen 
die  Annahme,  Pausanias  habe  eine  Schrift  gegen  Lykurg  ge- 
schrieben, kann  nicht  richtig  sein.  Ephoros  will  die  Realität 
der  lykurgischen  Gesetzgebung  beweisen;  wie  kann  er  da  eine 
„Schmähschrift"  brauchen,  die  „den  heiligen  Trug,  der  die 
Oligarchie  sicherte,  ans  Licht  zog",  wie  Wilamowitz  meint. 
Und  wie  stimmt  eine  derartige  Schrift  zu  dem  Charakter  des 
Pausanias,  des  Hauptgegners  des  Lysander,  des  Vertreters  einer 
ehrenhaften  Politik,  welche  das  feierlich  verpfändete  Wort 
Spartas,  es  sei  gekommen,  die  Hellenen  zu  befreien,  wahr 
machen  wollte,  des  Königs,  der  die  Vergewaltigung  Athens 
hinderte  und  noch  in  der  Verbannung  durch  seine  Verwendung 


1)  Meine  frühere  Verinuthung,  es  sei  vor  zajv  Evqvtc.  ein  vnb  ein- 
zuschieben, die  dem  Sinne  nach  auf  dasselbe  hinauskam,  ziehe  ich  dem 
gegenüber  natürlich  zurück;  sie  ist  kritisch  nicht  haltbar. 


235 

bei  seinem  Sohn  und  Nachfolger  die  mantineischen  Demokraten 
vom  Tode  und  Sparta  von  der  Schmach  rettete  (Xen.  Hell. 
V  2,  6)?  Dieser  Pausanias  soll  eine  Schmähschrift  gegen  Lykurg 
geschrieben  haben,  gegen  den  Urheber  der  weisen  Ordnung, 
welche  Ehrenhaftigkeit  und  Pflichtgefühl  zum  obersten  Gebot 
machte,  auf  dessen  Gesetzen  auch  die  Machtstellung  der  Könige 
ruhte,  welche  die  Neuerer  zu  untergraben  strebten?  Nicht 
eine  Schrift  gegen,  sondern  eine  über  Lykurg  hat  Pausanias 
geschrieben:  von  der  Stadt,  welche  ihn  in  die  Verbannung  ge- 
jagt und  die  alte  Ordnung  mit  Füssen  getreten  hatte,  appellirte 
er  an  den  Gesetzgeber,  dem  sie  ihre  Grösse  verdankte.  Eine 
mir  genügende  Ergänzung  der  Lücke  habe  ich  nicht  finden 
können;  als  Kern  des  Satzes  aber  ergibt  sich:  awra^ac  Xo[yov 
jzsql  rwv  AvxovQ]yov  popcov,1)  ...[..  Iv  m  xal]  xovq  %qt}- 
öfiovg  ktysi  rovc  öod-bVTa\q  avrco  jzeqi  to)v\  jiXhötcov. 

Die  letzte  Bemerkung  ist  die,  um  derentwillen  Ephoros 
überhaupt  von  Pausanias  redet:  in  seiner  Schrift  waren  die 
Orakel  mitgetheilt,  auf  denen  die  lykurgische  Gesetzgebung 
beruhte,  die  authentischen  Urkunden,  welche  Hellanikos'  An- 
sicht widerlegten.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  dass  dieselben 
vor  Pausanias  noch  nicht  publicirt  waren,  und  dass  Ephoros 
sie  aus  Pausanias  entlehnt  hat. 

Wir  sehen,  wie  sich  jetzt  alles  zusammenfügt.  Wir  be- 
greifen, wie  Ephoros  dazu  gekommen  ist,  die  Orakel  des  Lykurg 
mitzutheilen,  die  seinem  kritischen  Scharfsinne  so  wenig  Ehre 
machen,  und  diese  erscheinen  nicht  mehr  als  literarische  Spie- 
lerei oder  antiquarische  Fälschung,  sondern  als  Produkt  einer 
politischen  Bewegung  mit  sehr  realen  Tendenzen.  Dadurch 
gewinnen  sie  trotz  ihrer  Trivialität  für  uns  ein  hohes  Interesse ; 
sie  sind  ein  Versuch  die  Grundlagen  der  altererbten  Staats- 
form und  Lebensordnung  in  idealem  Gewände  zu  codificiren 
und  als  göttliche  Offenbarung  hinzustellen,  um  dadurch  die 
Gegenwart  zum  rechten  und  gottwohlgefälligen  Leben  zurück- 
zuführen. Daher  die  Warnung  vor  der  (pikoxQrjfiazia  (E),  da- 
her die  Betonung  der  Eintracht  neben  der  Tapferkeit  (C),  da- 

1)  Im  folgenden  ist  vielleicht  zu  lesen:  övxog  rrjq  ixßaX?.ovo[t]g 
olxiaq.  Lykurg  war  ja  nach  der  schon  zu  Pausanias'  Zeit  herrschenden 
Ansicht  Eurypontide.  Dann  würde  er  hier  seinen  entarteten  Nachkommen 
(Agesilaos)  gegenüber  gestellt. 


236 

her  die  Ermahnung  zum  Gehorsam  gegen  die  recht  erzogenen 
Führer  (B),  daher  die  Verpflichtung  den  Orakeln  zu  gehorchen, 
zu  reden  wie  es  sich  geziemt  und  Gerechtigkeit  zu  üben  unter 
einander  wie  gegen  die  Fremden  (D  1.  2,  F  7).  Sind  das  doch 
alles  Dinge,  an  denen  die  Modernen,  Lysander  und  seine  Ge- 
nossen, sich  tagtäglich  versündigten.  Im  Mittelpunkt  der  Be- 
wegung, aus  der  die  Sprüche  hervorgegangen  sind,  steht  König 
Tansanias,  der  gewiss  an  ihrer  Abfassung  direct  oder  indirect 
betheiligt  gewesen  ist. 

[Die  Ausbildung  der  lykurgischen  Gesetzgebung  in  der 
Form  von  Orakelsprüchen  in  der  Absicht,  damit  politische  Wir- 
kungen zu  erzielen,  erinnert  lebhaft  an  die  Gesetzbücher  der 
Juden  und  der  Perser.  Auch  hier  tritt  das  Programm  für  die 
Zukunft,  durch  das  die  Gott  wohlgefällige  Ordnung  hergestellt 
werden  soll,  auf  in  der  Form  einer  göttlichen  Offenbarung  an 
den  uralten  Propheten;  auch  hier  treten  wie  in  Sparta  ver- 
schiedene Strömungen  und  Redaktionen  hervor.  Nur  ist  das 
Werk  hier  völlig  durchgeführt  und  zu  grösster  historischer 
Wirkung  gelangt,  während  man  in  Sparta  historisch  und  poli- 
tisch nicht  über  die  ersten  Ansätze  hinausgelangt  ist.  Auch 
die  Gesetzbücher  des  Numa,  welche  im  Jahre  181  v.  Chr.  ans 
Tageslicht  traten,  in  einer  Zeit,  da  in  Rom  das  Alte  ins 
Schwanken  gerieth  und  eine  neue  weiten  Kreisen  unheilvoll 
erscheinende  Politik  aufkam,  haben  gewiss  ähnliche  Tendenzen 
verfolgt;  der  Senat  hat  ihre  Wirkung  durch  Verbrennung  des 
apokryphen  Machwerks  vereitelt.  Auch  auf  griechischem  Boden 
fehlt  es  nicht  an  Analogien.  Das  ..Gesetzbuch  des  Zaleukos*', 
von  dem  Diodor  XII  20  f.  einen  Auszug  bewahrt,  berührt  sich 
eng  mit  den  lykurgischen  Orakeln.  Es  beginnt  mit  religiös - 
politischen  Speculationen,  mit  der  Ermahnung  zur  evöeßeia 
und  öixaioövvq  als  den  Grundlagen  jeder  guten  Staatsordnung, 
und  knüpft  daran  eine  Reihe  ethischer  Bestimmungen.  Nur 
fehlt  hier  die  Anknüpfung  an  die  Gottheit,  und  die  politische 
Tendenz,  die  gewiss  vorhanden  war,  ist  für  uns  nicht  mehr 
erkennbar.  Noch  augenfälliger  ist  die  Analogie  der  „Gesetze 
des  Drakon".  Dass  die  überraschenden  Mittheilungen,  welche 
Aristoteles  pol.  Ath.  4  über  dieselben  macht,  nicht  geschicht- 
lich sein  können,  sondern  Aristoteles  sich  durch  ein  apokryphes 
Product  hat  täuschen  lassen,  ist  alsbald  nach  Auffindung  der 


237 

Schrift  von  den  verschiedensten  Seiten  ausgesprochen  worden, 
so  dass  ich  die  Beweise  hier  nur  kurz  zu  skizziren  brauche. 
Die  wichtigsten  sind:  1)  Das  Vorkommen  der  solonischen  Classen. 
2)  Die  Geldsätze  in  Minen  und  Drachmen  für  das  Vermögen 
und  die  Strafen,  während  noch  die  solonische  Ordnung  das 
Vermögen  nach»  dem  Ertrage  schätzt  und  Solon  vielleicht  noch 
Strafen  in  Vieh  angesetzt  hat  (Plut.  Sol.  23).  Man  hat  ange- 
nommen, die  drakonischen  Sätze  seien  später  in  Geld  umge- 
rechnet worden;  aber  wie  wäre  das  bei  diesen  ephemeren  Be- 
stimmungen denkbar,  wenn  selbst  die  Sätze  für  die  solonischen 
Classen,  die  doch  noch  im  vierten  Jahrhundert  zu  Recht  be- 
standen, niemals  in  Geld  umgesetzt  sind?  3)  Solon  reservirt  die 
Bekleidung  der  höheren  Aemter  den  Pentakosiomedimnen,  die 
übrigen  politischen  Rechte  [ausser  der  Theilnahme  an  Volks- 
versammlung und  Gericht]  den  drei  ersten  Classen.  Drakon 
berücksichtigt  für  seine  Staatsordnung  diese  Classen,  die  doch 
unter  ihm  existirt  haben  sollen,  garnicht,  sondern  verlangt  für 
die  Archonten  und  Schatzmeister  ein  Vermögen  von  10,  für  die 
Strategen  und  Hipparchen  eins  von  100  Minen,  die  niedrigen 
Aemter  lässt  er  ex  rwv  ojtXa  jraQsyofitvmv  besetzen.  Das  setzt 
die  Zustände  des  capitalistisch  entwickelten  Staats  der  peri- 
kleischen  Zeit  und  des  vierten  Jahrhunderts  voraus,  wo  die 
solonischen  Classen  als  eine  praktisch  bedeutungslose  Anti- 
quität l)  fortbestanden  auch  noch  als  durch  die  Schätzung  unter 
Nausinikos  und  die  Symmorien  das  Steuerwesen  auf  ganz  andere 
Grundlagen  gestellt  war,  ist  aber  absurd  für  das  siebente  Jahr- 
hundert. 4)  Auch  der  vorsolonische  Rath  der  400  oder  viel- 
mehr 401  gibt  zu  starken  Bedenken  Anlass.  5)  Völlig  durch- 
schlagend ist  die  Thatsache,  dass  die  Strategen  (und  Hipparchen) 
als  die  ersten  Beamten  erscheinen,  für  die  zehnmal  mehr  Ver- 
mögen verlangt  wird  als  für  die  Archonten.  Dieser  Zustand 
besteht  in  Athen  seit  den  Reformen  von  487  und  457,  durch 
die  das  Archontat  alle  politische  Bedeutung  verloren  hat,  ist 
aber  undenkbar  im  siebenten  Jahrhundert,  wo  der  Archon  noch 
im  Vollbesitz   der   königlichen   Machtbefugnisse   war    und   die 


1)  z.  B.  pol.  Atli.  7,  4  ötb  xal  vvv  tntiöav  eQrjzai  zbv  (AtXXovia 
xhigovoSat  tiv  c\qii]v,  nolov  xe/.og  lektl,  ovo*  av  eiq  sinoi  &t]xix6v, 
c.  26,  3.  47,  1. 


238 

Strategen,  wenn  sie  überhaupt  schon  existirten,  Untergebene 
des  Obercommandanten,  des  Polemarchen,  waren. 

Aristoteles'  Erzählung  ist  denn  auch  von  seinen  Nachfol- 
gern sofort  als  unhaltbar  erkannt  worden.  Die  eigene  Schule 
hat  sie  fallen  lassen;  nur  so  kann  jetzt  die  Bemerkung  in  dem 
Anhang  zum  zweiten  Buch  der  Politik  verstanden  werden  (9,  9): 
/Iqccxovtoq  de  vöfioi  (ilv  doi,  jtoXtxda  d*  vjhxqxovö?]  rovq  vo- 
fiovg  sdyxB.  Die  Späteren  wissen  von  der  drakonischen  Ver- 
fassung nichts  mehr.  Bei  Plutarch  Solon  19  wird  die  Frage, 
ob  zu  Drakons  Zeit  der  Areopag  bestand,  eingehend  discutirt; 
von  Aristoteles'  Bericht,  der  ihn  nennt,  ist  nicht  die  Rede. 
Also  haben  schon  Plutarchs  Gewährsmänner  Aristoteles'  Bericht 
entweder  nicht  mehr  gekannt  oder  als  unhaltbar  nicht  in  die 
Discussion  gezogen.  Die  Stelle  ist  zugleich  nicht  der  einzige 
aber  der  zwingendste  Beweis  dafür,  dass  Plutarch  die  Schrift 
des  Aristoteles  nicht  benutzt  hat,  sondern  nur  aus  zweiter 
Hand  kennt. 

Aristoteles'  Erzählung  über  Drakon  ist  eine  Einlage  in 
seinem  Hauptbericht  —  leider  sind  dadurch  authentische  Nach- 
richten über  Drakons  Rechtsordnung,  die  in  der  Quelle  gewiss 
standen,1)  verdrängt  worden.  Die  Erzählung  über  Solon  weiss 
von  der  Verfassung  Drakons,  die  ja  auch  mit  Solons  Ordnungen 
im  schärfsten  Widerspruch  steht,  nichts  mehr.  Die  Dissonanz 
hat  Aristoteles  gefühlt;  mit  einer  verlegenen  Wendung  gleitet 
er  darüber  hinweg:  c.  7  Solon  riftrjfiara  öielXev  slg  rtrraQa 
xiXrj,  za&aji8Q  öl?]q?jvto  xal  jigortgov.2)  Dass  er  damit 
einen  absoluten  Widerspruch  ausspricht,  hat  er  nicht  empfunden. 
Einen  zu  schweren  Vorwurf  darf  man  ihm  daraus  nicht  machen; 
nicht  nur  in  populären  Broschüren,  sondern  auch  in  streng  wissen- 
schaftlicheD  Geschichtswerken  von  der  ältesten  bis  zur  neuesten 
Zeit  finden  sich  derartige  missglückte  Compromisse  oft  genug.  — 
Wer  Aristoteles'  Quelle  war,  wird  sich  nicht  ermitteln  lassen. 
Möglicherweise  eine  Atthis,  freilich  nicht  die,  der  er  vorwiegend 
folgte;  vielleicht  aber  auch  eine  selbständige  Schrift.    In  Bro- 

1)  Aristoteles  erwähnt  sie  nur  bei  ihrer  Aufhebung  c.  7  xolq  öh  <4q<x- 
xovxoq  d-£Gtuolg  inavoavxo  xqo>ia.8voi  tz?Jjv  xwv  ipovmwv.  In  der  Quelle 
muss  darüber  mehr  berichtet  sein. 

2)  ebenso  sagt  er  c.  8,  4  ganz  ruhig  ßov?Jjv  cT  inoirjas  xexQaxooiovq. 
Dass  dieser  Rath  schon  unter  Drakon  bestand,  wird  einfach  ignorirt. 


239 

schüren  nach  Art  dos  Areopagitikos  und  Panathenaikos  des 
Isokrates  Hesse  sich  eine  derartige  Ausführung  sehr  gut  denken. 
Ihre  Tendenz  aber  ist  völlig  klar:  es  gilt  ein  Idealbild  einer 
Verfassung  zu  entwerfen,  welche  die  corrupte  attische  Demo- 
kratie ersetzen  soll  und  deshalb  älter  sein  muss  als  der  Vater 
der  Demokratie.  Da  bot  sich  Drakons  Gestalt  als  Gegenbild 
zu  Solon  ganz  von  selbst.1)  Dass  dies  Idealbild  im  Zusammen- 
hang steht  mit  den  Versuchen,  die  radicale  Demokratie  zu 
stürzen,  mit  Bestrebungen  wie  sie  411,  404,  322  zum  Siege 
gelangten  und  in  der  Zwischenzeit  niemals  völlig  verschwan- 
den, ist  evident;  dass  Aristoteles,  dessen  Gesinnungen  es  so 
völlig  entsprach,  sich  dadurch  täuschen  Hess,  ist  sehr  be- 
greiflich.] 

[Von  den  theils  zustimmenden,  theils  polemischen  Be- 
sprechungen, welche  sich  an  meinen  Aufsatz  angeschlossen 
haben,  erfordern  die  leider  bisher  nur  auszugsweise  vorliegen- 
den Ausführungen  Trieber's2)  eine  eingehendere  Berücksichti- 
gung. Während  er  im  übrigen  dem  Kern  meiner  Ausführungen 
zustimmt  und  auf  die  völlig  richtige  Thatsache  hinweist,  dass 
die  Abstracta,  die  in  den  Orakeln  vorkommen  „Worte  wie 
hlevOiQia,  davlda,  ofiovoia,  alle  jungen  Ursprungs  sind",3) 
bestreitet  er  die  Zurückführung  auf  Pausanias  und  setzt  an 
seine  Stelle  den  Hippias  von  Elis.  In  seinen  Olympioniken 
habe  derselbe  die  Gründung  der  olympischen  Spiele  durch 
Lykurg  und  Iphitos  vorgetragen;  auf  ihn  gehen  die  Orakel 
zurück,  welche  in  die  Geschichte  der  Spiele  bei  Phlegon  und 
Eusebios  (Africanus)  verwoben  sind;  er  habe  bei  dieser  Ge- 
legenheit auch  von  Lykurgs  Gesetzgebung  gesprochen  und  die 
Orakel  verfertigt,  deren  Tendenz  im  übrigen  nicht  bestritten 
wird. 


1)  Mau  könnte  sich  sehr  gut  denken,  dass  das  Idealbild,  welches 
Isokrates  von  den  Zuständen  der  attischen  Königszeit  entwirft,  in  gleicher 
Weise  zu  einem  vollständigen  Verfassungsentwurf  ausgemalt  worden  wäre. 

2)  Berichte  des  freien  Deutschen  Hochstifts,  1889  Heft  2,  3.  Abth. 
für  Sprachwissenschaft  S.  133  ff. 

3)  Seine  Angabe,  öfiovoia  sei  sonst  vor  Plato  nicht  nachweisbar, 
ist,  wie  er  mir  mittheilt,  nicht  richtig.  Es  findet  sich  schon  bei  Thuk. 
VIII  75.  93  und  bei  Lysias. 


240 

Von  Hippias  wissen  wir,  dass  er  der  erste  war,  der  die 
Olympionikenliste  behandelt  hat,1)  und  dabei  wird  er  natürlich 
auch  über  die  Einsetzung  der  Spiele  gesprochen  haben.  Anderer- 
seits stand  er  zu  Sparta  in  nahen  Beziehungen;  vielfach  ist  er 
in  wichtigen  Angelegenheiten  als  elischer  Gesandter  nach  Sparta 
gegangen  (Plato  Hipp.  mai.  281).  Hier  hat  er,  wie  bekannt, 
auch  Vorträge  über  die  Urgeschichte  gehalten,  die  bei  den 
Spartanern  lebhaften  Anklang  fanden  (jitgl  xwv  ysvwv  xmv  xs 
?jQokvv  xal  xcov  av&QCQjtwv  xal  xcov  xaxoixiötwv,  cog  TO  «()- 
-yaiov  ixxlöd-rfiav  al  jtoXtiq,  xal  OvlXrjßStp  jtäorjg  xfjg  agyaio- 
Xoylaq  rjdioxa  axQocovxai,  Sox'  lycoys  öl  avxovq  Tjvayxaöfiai 
txfisfiafrtjxtraL  xs  xal  sxfiefiskf]X7jxevai  jzävxa  xa  xoiavxa-) 
ib.  285).  Es  wäre  also  sehr  wohl  möglich,  dass  Hippias  das 
historische  Verhältniss  zwischen  Elis  und  Sparta  in  die  Urzeit 
projicirt  und  die  olympischen  Spiele  als  das  gemeinsame  Werk 
des  Iphitos  und  Lykurgos  dargestellt  hätte  —  wenn  nur  irgend 
ein  Beweis  dafür  vorhanden  wäre.  Aber  das  Gegentheil  ist 
der  Fall;  denn  noch  Ephoros  weiss  nichts  von  einer  Einsetzung 
der  Spiele  durch  Iphitos  und  Lykurg,  sondern  führt  sie  ledig- 
lich auf  Iphitos   zurück   (Strabo  VIII  3,  33).     Erst  Aristoteles 


1)  Plut.  Nuraa  1.  Plutarch  bespricht  das  Verhältniss  Nuuias  zu  Py- 
thagoras  und  die  vielfach  vorgebrachte  Vermuthung,  der  Lehrer  Nuuias 
sei  der  Lakone  Pythagoras,  der  in  der  16.  Ol.  iui  Stadion  siegte.  Er  hat 
hier  wie  sonst  wenig  Neigung  sich  auf  chronologische  Fragen  einzulassen 
und  behauptet  daher  rote  iJ.lv  ovv  yQÖvovq  i^axQißojaai  yaltnöv  eazi, 
xal  (lükiGza  zovg  ix  tüjv  'OkvfiniovLXwv  ävayo/utvovg,  (bv  zijv  dvayQacprjv 
oxpb  (paoi  ^Innlav  ixdovvai  zbv  'Hkelov  an  ovdtvbg  oq/lko/lisvov  ävayxaiov 
tiqoq  niozLV.  Der  Zweifel  richtet  sich  hier  nicht  sowohl  gegen  Hippias 
wie  gegen  die  Glaubwürdigkeit  der  Olympionikenliste  und  hat  lediglich 
den  Werth  einer  Verlegenheitsphrase;  mit  Unrecht  hat  Trieber  darauf 
Gewicht  gelegt. 

2)  Trieber  meint  „dass  die  Wissbegierde  der  Spartaner  von  Piaton 
nur  ironisch  gemeint  sein  kann,  dürfte  niemandem  entgehen".  Ich  bin 
dieser  Niemand;  im  Gegentheil,  die  Angabe  ist  durchaus  ernst  gemeint 
und  völlig  correct,  Von  sophistischen  Vorträgen  wollten  die  Spartaner 
nichts  wissen,  aber  an  der  Sagengeschichte,  wie  sie  die  genealogischen 
Dichter  und  die  Logographen  behandelten,  hatten  sie  natürlich  sehr  leb- 
haftes Interesse.  Das  ist  ja  die  Literatur  des  Adels.  —  Sehr  mit  Unrecht 
hat  Nitzsch  Herodots  Quellen  der  Perserkriege  Rhein.  Mus.  XXVII  1872 
S.  231  die  Stelle  auch  auf  Vorträge  über  geschichtliche  Ereignisse,  z.  B.  über 
die  Perserkriege,  bezogen. 


241 

schreibt  nickt  etwa  die  Einrichtung-  der  Spiele,  sondern  spe- 
ciell  die  Einsetzimg  der  Ekecheirie  dem  Iphitos  und  Lykurgos 
gemeinsam  zu,  nicht  auf  Grund  einer  Tradition  oder  der  Berichte 
des  Hippias,  sondern  weil  die  Diskosinschrift  den  Namen  Ly- 
kurgs nannte  (Plut.  Lyk.  1),  und  erst  durch  ihn  ist  diese  That- 
sache  in  die  Literatur  eingeführt.  Das  hat  Trieber  verkannt, 
nach  dem  schon  Ephoros  von  Lykurgs  Verbindung  mit  Iphitos 
erzählt  hätte. 

Nicht  anders  ist  es  auch  um  die  Orakelsprüche  bestellt. 
Dass  Hippias  die  Einrichtungen  der  Spiele  und  die  Anerken- 
nung des  Gottesfriedens  im  Peloponnes  auf  den  Rath  des  del- 
phischen Gottes  zurückführte,  ist  sehr  möglich;  und  die  Orakel, 
welche  bei  Phlegon  und  Eusebius  erhalten  sind,  stammen  jeden- 
falls aus  derselben  Zeit  und  zeigen  die  gleiche  Mache  wie  die 
Lykurgorakel  und  die  zahlreichen  Orakel  über  Coloniegrün- 
dungen ')  und  die  über  die  messenischen  Kriege,  welche  Ephoros 
aufgenommen  hat.  Aber  von  Hippias  können  die  den  Eliern 
gegebenen  Sprüche  nicht  stammen;  denn  sie  zeigen  antisparta- 
nische Tendenzen.  Als  die  Spartaner  bald  nach  Ol.  1  Helos 
belagern  und  die  Elier  anfragen,  ob  sie  ihnen  helfen  sollten, 
verweist  sie  der  Gott  zur  Ruhe: 

TTjV    aVTWV    (>V£6t)£    ütaxQav,    JtoXtflOV    Ö*   CUTtytÖ&S, 

xoLVOÖixov  g)iXlr]g  rjyov^ufvoi  cEXX?p>£66iv, 
eöx  av  jrsvratT7]g  aX&?]  g)iXo<pQcov  hviavxoq. 2) 


1)  die  allerdings  zum  Theil  älter  sind. 

2)  Damit  verbindet  Trieber  den  bisher  ganz  unverständlich  geblie- 
benen Spruch  an  die  Könige  Charilaos  und  Archelaos,  den  Oinomaos  bei 
Euseb.  praep.  ev.  V  32  bewahrt  hat 

ei  xev  eTiixzrjzov  ßOLQTjg  Xa%oq  'AtcÖXXojvl 
tj/Ltiov  daoowvzcu,  nokv  Xojiov  toosiai  avzolq. 
Trieber  meint,  hier  sei  von  der  Eroberung  von  Helos  die  Rede,  die  vom 
Gott  gemissbilligt  werde.  Allerdings  setzt  das  den  Eleern  gegebene 
Orakel  den  Krieg  gegen  Helos  nach  Ol.  1.  Aber  dass  es  von  Charilaos 
und  Archelaos  erobert  sei,  wird  nirgends  berichtet.  Die  ältere  Ueberliefe- 
rung,  der  Ephoros  folgt  (Strabo  VIII  5,  4),  setzt  die  Einnahme  von  Helos 
untere  Agis,  die  jüngere  bei  Pausan.  III  2,  7  unter  Alkamenes,  der  nach 
der  alexandrinischen  Chronologie  zur  Zeit  von  Ol.  1  regierte.  Dagegen 
fällt  eben  nach  Pausanias  III  2,  5.  7,  3  unter  Archelaos  und  Charilaos  die 
Eroberung  der  Aigytis  und  der  unglückliche  Krieg  gegen  Tegea,  wo  die 
Spartaner,  durch  das  bei  Herodot  I  66  mitgetheilte  Orakel  getäuscht,  das 
zu  erobernde  Land  auftheilen  wollen,  aber  schmählich  geschlagen  werden. 

Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1.  jß 


242 

Das  stimmt  in  der  Tendenz  ganz  gut  zu  der  Darstellung*,  die 
Epkoros  von  der  älteren  Geschichte  von  Elis  gab.1)  wenn  auch 
nicht  zu  seinem  Ansatz  der  Eroberung  von  Helos  unter  Agis, 
aber  unmöglich  kann  der  Spartanerfreund  Hippias  eine  der- 
artige Tendenz  verfolgt  haben. 

Ebenso  steht  es  mit  der  Annahme,  Hippias  sei  der  Autor 
der  Lykurgorakel.  Wir  wissen,  dass  Hippias  bekauptete  Av~ 
xovgyov  jtoXefiixcaraTOV  yevtöd-ai  xal  jioIXcqv  sfijteigov  orga- 
xumv  (Plut.  Lyc.  23).  Das  ist  der  alte  Lykurg,  der  bei  He- 
rodot  erkennbar  ist,  wo  die  Ordnung  des  Heerwesens  sein 
wicktigstes  Werk  ist,  aber  nicht  der  philosophische  Gesetzgeber 
der  Orakel.  Hippias  steht  auf  Seiten  des  offiziellen  Spartas, 
nicht  auf  Seiten  der  Reformpartei. 

Somit  wird  es  also  doch  beim  König  Pausanias  bleiben. 
Und  ich  sehe  nicht,  wie  man  Ephoros'  Zeugniss  in  der  Art, 
wie  es  Trieber  thut,  bei  Seite  schieben  kann:  „Zudem  besagen 
jene  Worte  des  Ephoros  nur  das  eine,  dass  Pausanias  in  seinem 
Werke  jene  unechten  Orakel  verwerthet  habe.  Demnach  fand 
er  sie  schon  vor".  Ephoros  beruft  sich,  um  die  Realität  der 
lykurgischen  Gesetzgebung  zu  erweisen  —  und  das  ist,  was 
nicht  genug  betont  werden  kann,  der  einzige  positive 
Beweis,  den  er  beibringt  —  auf  die  Schrift  des  Pausanias, 
in  der  die  Orakel  mitgetheilt  seien.  Wie  können  dieselben 
also  schon  vor  Pausanias  in  einer  anderen  Schrift  publicirt  sein? 

Mit  Recht  sagt  Trieber,  Pausanias  als  Agiade  könne  nicht 
den  Lykurg  zum  Eurypontiden  gemacht  haben.  Das  habe  ich 
aber  auch  nicht  behauptet;  vielmehr  folgt  Pausanias  hierin  nur 
der  zu  seiner  Zeit  herrschenden  Meinung.  Schon  bei  Simonides 
(unten  S.  276)  ist  Lykurg  ein  Eurypontide.  Derselbe  Stamm- 
baum, den  Ephoros  gibt,  hat  bereits  seinem  älteren  Zeitgenossen 


Eben  diese  verunglückte  Expedition  wird  in  dem  Orakel  bei  Oinoinaos 
gemeint  sein:  „wenn  sie  die  Hälfte  des  eroberten  Landes  dem  Apollo  zu- 
theilten,  wird  es  ihnen  besser  gehen". 

1)  Eher  mag  die  in  die  Zeit  nach  Pheidon  gesetzte  Verbindung 
zwischen  Sparta  und  Elis  (Strabo  VIII  3,  :<3.  Diod.  Villi)  und  die  Be- 
hauptung, Elis  sei  als  heiliges  Land  anerkannt  und  daher  von  der  Ver- 
pflichtung zur  Theilnahme  an  Kriegen  (auch  am  Perserkrieg!)  entbunden, 
auf  Hippias  zurückgehen.  Eine  derartige  Stellung  mochte  ein  spartaner- 
freundlicher elischer  Patriot  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  für  seine 
Heimath  erstreben. 


243 

Dieucliidas  von  Megara  vorgelegen  (Plut.  Lyc.  1),  denn  dieser 
hat  nicht  etwa  den  später  recipirten  Stammbaum  erfunden, 
sondern  ihn  durch  den  Zusatz  erweitert,  Polydektes  sei  der 
Sohn  des  Eunomos  aus  erster  Ehe,  Lykurg  aus  zweiter  Ehe, 
mit  Dionassa,  gewesen.1)  Ephoros  sagt  daher  ausdrücklich: 
AvxovQyov  ofjioXoyslo&ai  jzccqcI  jzavxwv  (das  ist  allerdings 
nicht  richtig)  extov  ajto  IJQOxkeovg  yeyovtvat  (Strabo  X  4, 18). 
Also  ist  Tbiebee's  Behauptung,  Ephoros  „gebe  die  Genealogie 
des  Lykurg  in  einer  so  eigentümlichen,  von  allen  seinen  Vor- 
gängern abweichenden  Form  .  .  .,  dass  derjenige,  bei  dem  sich 
dieselbe  auffällige  Bezeichnung  der  Abstammung  und  viel- 
leicht gar  dasselbe  Zusammenwirken  mit  Iphitos  nachweisen 
liesse,  unbedingt  der  Gewährsmann  des  Ephoros  sein  müsste", 
nicht  richtig,  und  die  Annahme,  dieser  Stammbaum  sei  von 
Hippias  erfunden,  schwebt  vollends  in  der  Luft.  Sie  wird  da- 
mit begründet,  dass  derselbe  Stammbaum  sich  in  der  Geschichte 
der  olympischen  Spiele  bei  Eusebius  angedeutet  findet  (Phlegon 
gibt  den  Stammbaum  des  Simonides).  Aber  die  Annahme,  dass 
diese  aus  Hippias  stamme,  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  un- 
haltbar; höchstens  ihre  Urwurzeln  gehen  auf  Hippias  zurück. 

Im  übrigen  hebe  ich  noch  hervor,  dass  ich  nicht  behaup- 
tet habe,  Pausanias  selbst  habe  die  Orakel  verfasst.  Ich  halte 
das  kaum  für  wahrscheinlich;  derartige  Dinge  pflegen  Könige 
und  Staatsmänner  selten  zu  verfassen,  wohl  aber  zu  benutzen.'2) 
Und  dass  die  Lykurgorakel  in  ihrer  Tendenz  genau  mit  den 
politischen  Zielen  des  Königs  Pausanias  übereinstimmen,  in 
dessen  Zeit  sie  entstanden,  in  dessen  Schrift  sie  veröffentlicht 
sind,  wird,  wer  die  damaligen  Verhältnisse  Spartas  sich  wirk- 


1)  Das  ist  der  Grund,  weshalb  Dieucliidas  bei  Plut.  Lyc.  I  citirt 
wird,  nicht  etwa  als  Autorität  für  den  Stammbaum  im  allgemeinen.  Plu- 
tarch  gibt  die  Genealogie  des  Simonides  und  fährt  dann  fort:  oi  nXelaroi 
oxedbv  ovx  ovrco  yevsaloyovotv,  dkkcc  ÜQOxkiovq  fxhv  yevzo&ai  Sojov  . . . 
Evv6(j.ov  öh  IlokvöixTTjv  ex  TCQOTEQaq  yvvaixbq,  AvxovQyov  öl  veojteqov 
ix  dMoväoGqc,  (oq  /ltev[Tv]yJdaq  lara/Qrjxsv.  Der  Schluss  txxov  /utv  dnb 
ÜQOxXtovq,  hvötxazov  c)'  «</?'  "H^axltorq  (=  Ephoros)  gehört  nicht  mehr 
dem  Dieuchidas  speciell,  sondern  der  recipirten  Genealogie  im  allge- 
meinen an. 

2)  Dass  auch  die  Distichen  (F)  von  Pausanias  mitgetheilt  waren,  ist 
möglich,  aber  durchaus  nicht  nothwendig.  Jedenfalls  entspricht  seinen 
Tendenzen  die  ältere  plutarchische  Fassung,  nicht  die  diodorische. 

16* 


244 

lieh   lebendig  gemacht  hat,   nicht  bestreiten  können.     Das  ist 
im  folgenden  genauer  darzulegen.  — 

Schliesslich  verdanke  ich  einer  mündlichen  Mittheilung 
Trieber's  den  Hinweis  darauf,  dass  die  Art,  wie  Lysander 
seine  Umsturzpläne  durchzusetzen  versuchte,  welche  die  Be- 
seitigung der  beiden  Königshäuser  und  die  Erwählung  der 
Könige  aus  allen  Herakliden,  oder  nach  anderen  aus  allen 
Spartiaten,  erstrebten,  das  genaue  Gegenstück  zu  unseren  Ly- 
kurgorakeln bietet.  Nach  Ephoros1  Bericht,  der  uns  ausführ- 
lich erhalten  ist,1)  Hess  er  sich  zuerst  eine  Rede  von  Kleon 
von  Halikarnass  ausarbeiten,  versuchte  dann  die  Orakel  von 
Delphi,  Dodona,  Ammonion  zu  seinem  Zwecke  zu  benutzen, 
und  trieb  schliesslich  einen  angeblichen  Sohn  Apollos  Namens 
Silenos  auf,  dem  nach  einem  von  Lysander  in  Umlauf  ge- 
setzten Orakelspruch  das  Recht  zustehen  sollte,  die  kv  yqcc[/- 
fiaoiv  ajioQQTjTotq  bewahrten  jcaf/jiäXatoi  yQrjöuol  zu  unter- 
suchen. Unter  diese  hatte  Lysander  einen  Spruch  einge- 
schwärzt wg  atiavov  urj  xal  Xmiov  ^JjiaQTiaraig  ex  tcov  agi- 
ötcov  üioXixmv  aiQovfttvoig  rovc  ßaöiXtag.  Man  sieht  wie  stark 
damals  mit  Orakelsprüchen  operirt  wurde.  Dass  die  Gegen- 
partei dasselbe  Mittel  benutzte,  ist  nur  natürlich.  Schliesslich 
versagten  Lysanders  Werkzeuge  und  die  ganze  weit  angelegte 
Maschinerie  führte  nicht  zum  Ziel.l 


IL   Der  Ursprung  des  Ephorats  und  die  lykurgische 
Landaufteilung. 

Ueber  die  politische  Stellung  des  Königs  Pausanias  haben 
wir,  abgesehen  von  dem  was  sich  aus  seinem  Verhalten  im 
Jahre  403  ergibt,  zwei  sehr  werthvolle  Angaben  in  Aristoteles' 
Politik.  IV  13,  13  heisst  es,  die  Lakonen  werfen  ihm  vor,  er 
habe  sich,  nicht  zufrieden  damit,  dass  er  König  war,  auch 
zum  Herrscher  über  Sparta  machen  wollen;  und  VIII  1,  5,  er 
habe  die  Ephoren  stürzen  wollen  wie  Lysander  das  König- 
thum.  Beide  Angaben  decken  sich  offenbar:  eben  durch  den 
Sturz  des  übermächtig  gewordenen  Ephorats  wollte  er  die  alte 


1)  Plut.  Lys.  25  f.  30,  vgl.  20  tin.  Diod.  XIV  13.   Nepos  Lys.  3. 


245 

Machtstellung  des  Königthurns  wieder  gewinnen.  Den  bisher 
entwickelten  Tendenzen  widerspricht  das  keineswegs:  sind 
doch  die  Ephoren  die  Leiter  der  modernen  Politik,  und  über- 
dies der  Bestechung*  und  dem  Luxus  zugänglich.1) 

Daher  ist  denn  auch  in  den  Sprüchen  vom  Ephorat  nir- 
gends mit  einer  Silbe  die  Rede,  während  der  Gehorsam  gegen 
das  Königthum  und  die  Geronten  (jcQeoßvyerelc)  besonders  ein- 
geschätzt wird  (B.  F  3 — 5).  Denn  auch  die  Geronten  sind  durch 
das  Ephorat  aus  ihrem  Ansehen  verdrängt  (vgl.  Xenophons 
Schilderung  der  Macht  der  Ephoren  und  Aristoteles'  Bemer- 
kungen über  die  Geronten);  der  König  mochte  daher  hoffen 
im  Rathe  der  Alten  eine  Stütze  für  seine  Pläne  zu  finden. 
Auch  in  Orakel  D  wird  befohlen  die  Geronten  zu  ehren,  wäh- 
rend anstatt  der  Könige  ihr  mythischer  Vorgänger  Menelaos, 
der  neben  der  Helena  in  Therapne  als  Gott  verehrt  wird  (Isokr. 
Hei.  63),  und  ihre  Schutgötter,  die  Tyndariden,  erscheinen. 
Denn  das  ist  die  Bedeutung  der  Dioskuren  im  sparta- 
nischen Staat,  wie  Herodot  ausdrücklich  berichtet  (V  75): 
mit  jedem  der  beiden  Könige  zieht  einer  der  beiden  Zwillings- 
götter ins  Feld.2) 

Wenn   es  gewiss  nicht  Zufall  ist,  dass  an  diesen  Stellen 


1)  Arist.  pol.  II  6,  14  noXXäxiq  e/j-ninzovaiv  ccv&qojtioi  ocpööpa  ne- 
v?]Z8c  elq  zb  agyelov  (das  Ephorat),  oi  öicc  zr\v  anoQtav  (övioi  tjoav.  eörj- 
Icoaav  de  Tiolkäxig  [xev  xal  tzqozsqov  (also  jedenfalls  zur  Zeit  des  Pau- 
sanias),  xal  vvv  6h  etc.  —  Ferner  II  6,  16  eazi  de  xal  ?]  öicuza  zcöv  i(p6- 
Qcov  . . .  aveifievr]  Xiav. 

2)  Ich  halte  es  für  evident,  dass  die  Dioskuren  aus  dem  spartani- 
schen Doppelkönigthuni  erwachsen  und  lediglich  sein  Abbild  in  der  Götter- 
welt sind.  Die  Mythen,  welche  an  sie  anknüpfen,  sind  seeundärer  Natur; 
es  sind  Deutungen,  nicht  Voraussetzungen  des  Cultus.  —  Bei  Homer  er- 
scheinen sie  nur  an  den  verhältnissmässig  recht  späten  Stellen  I7  237.  k  300. 
[Ich  würde  das  jetzt  etwas  anders  fassen:  die  seit  uralter  Zeit  in  Sparta 
verehrten  Zwillingsgötter  sind  durch  die  Dorer  in  Schutzgötter  des  Doppel- 
königthums  umgewandelt.  Dass  der  schon  A  301  erwähnte  Mythus  von 
ihrem  abwechselnden  Leben  und  Sterben  (pi  xal  vegd-ev  yrjq  ziurjv  7Zqoq 
Ztjvbg  syovzeg  aXXoze  fiev  Qcöova'1  eze^ßeQoi,  aXXozs  d'  avze  zs&väoiv, 
zi/irjv  de  XeXöyyaat  loa  d-eolotv)  daraus  erwachsen  ist  und  garkeine  phy- 
sische Bedeutung  hat,  ist  klar:  offenbar  hat  in  Sparta  ebenso  wie  bei  den 
römischen  Consuln  ursprünglich,  so  lange  beide  Könige  zusammen  aus- 
zogen, das  Commando  tagtäglich  gewechselt,  und  das  ist  denn  auf  die 
Schutzgötter  übertragen.  | 


246 

von  den  Ephoren  vollständig-  geschwiegen  wird,  so  wird  damit 
die  Wandelung  zusammenhängen,  welche  sich  eben  in  der  Zeit 
des  Pausanias  in  den  Anschauungen  über  den  Ursprung  des 
Ephorats  vollzieht.  Bei  Herodot  sind  die  Ephoren  so  gut  von 
Lykurg  eingesetzt  wie  die  Geronten  und  überhaupt  alle  anderen 
Institutionen  mit  Ausnahme  des  Königthums,  das  naturgemäss 
über  den  Ursprung  der  Verfassung  hinaufragt.  Ebenso  führt 
Isokrates  Panath.  153  die  Ephoren  (das  sind  die  agycd  algtral) 
auf  Lykurg  zurück.  Vereinzelt  findet  sich  das  noch  in  spä- 
terer Zeit,  so  bei  lustin.  III  3:  Lycurgus  regibus  potestatem 
bellorum,  magistratibus  (das  sind  die  Ephoren)  iudicia  et  annuos 
successores,  senatui  (den  Geronten)  custodiam  legum,  populo 
sublegendi  senatum  vel  creandi  quos  vellet  magistratus  (auch 
Aristoteles  bezeugt,  dass  die  Ephoren  vom  Volke  £g  ajtavxcov 
gewählt  werden)  potestatem  permisit.  Auch  Satyros  (bei  Diog. 
Laert.  I  68)  hat  die  Ephoren  auf  Lykurg  zurückgeführt. 

Dagegen  nach  Plato  de  legg.  III  692  A  hat  Lykurg  dem 
Königthum  nur  die  Geronten  beigeordnet,  ein  Späterer  (rgizog 
ocottjq)  die  Ephoren  hinzugefügt.  Einen  Namen  nennt  Plato 
nicht,  doch  hat  er  an  derselben  Stelle  auch  Lykurg  nicht  mit 
Namen  genannt,  so  dass  es  wohl  nicht  zweifelhaft  ist,  dass  er 
denselben  meint,  den  alle  Späteren1)  nennen,  nämlich  König 
Theopomp.  Die  Massregel  wird  als  eine  heilsame  Mässigung 
der  absoluten  Königsgewalt  betrachtet,  durch  die  dem  König- 
thum zwar  ,ein  Theil  seiner  Macht  geraubt,  aber  eben  da- 
durch lange  Dauer  verliehen  wird  —  eine  Auffassung,  die 
schon  Plato  ausspricht,  während  sie  sonst  mehrfach  im  Ge- 
wände einer  Anekdote  erscheint:  die  Frau  des  Theopomp 
habe  ihn  gefragt,  ob  er  sich  nicht  schäme,  das  Königthum 
seinen  Söhnen  in  geschmälerterer  Gestalt  zu  hinterlassen,  als 
er  es  von  seinem  Vater  erhalten  habe,  er  aber  habe  geant- 
wortet: nein,  denn  ich  lasse  es  ihnen  dauerhafter.2)   Nach  den 


1)  Denn  Sosikrates  bei  Diog.  Laert.  I  68  xai  tiqütov  syopov  yevt- 
o9ai  {XeiXcjva)  etil  Ev&vörifjiov,  d.i.  556/5  v.  Chr..  sagt  nicht,  wie  Dio- 
genes und  O.Müller  Dorier  II  108  die  Stelle  auffassen,  er  sei  der  erste, 
sondern  er  sei  in  diesem  Jahre  zum  ersten  Male  Ephor  gewesen. 

2)  Aristot.  pol.  VIII  9,  1.  Plut.  Lyc.  7.  Val.  Max.  IV  1  ext.  8  in  fast 
gleichlautender  Fassung.  Plutarch  im  Lykurg  nimmt  auf  Angaben  der 
aristotelischen  Politik  auch  sonst  Rücksicht  (c.  14  =  pol.  II  6,  8),  doch  ver- 


247 

alexandrinischen  Chronologen  Eratosthenes,  Apollodor  und  ihren 
Nachfolgern  ist  das  Ephorat  Ol.  6,  2  =  755/4 l)  eingesetzt.  Das 
Datum  ist  unzweifelhaft  historisch,  d.h.  die  Ephorenliste,  welche 
den  Alexandrinern  vorlag  und  welche  schon  Tiniaeos  zu  chrono- 
logischen Zwecken  herangezogen  hatte  (Polyb.  XII  11),  begann 
mit  diesem  Jahre.  Denn  die  Angabe  des  Eusebius  (Anm.  1), 
dass  mit  Alkamenes  das  Königthum  in  Sparta  aufgehört  habe, 
besagt,  in  die  Auffassung  seiner  Quelle  zurückübersetzt,  nichts 
anderes,  als  dass  es  von  jetzt  an  nicht  mehr  nöthig  war  in 
der  spartanischen  Chronologie  nach  den  immer  unsicheren 
Königsjahren  zu  rechnen,  sondern  die  Liste  der  jährlich  wech- 
selnden und  darum  chronologisch  weit  werthvolleren  Ephoren 
an  ihre  Stelle  treten  konnte.2)  Auch  hat  es  ja  nichts  auf- 
fallendes, dass  man  damals,  zwanzig  Jahre  nach  dem  Beginn 
der  Olympionikenliste,   anfing   die   Namen   der   eponymen  Be- 


nmthlich  nur  scheinbar,  weil  sie  auch  in  der  von  ihm  vielbenutzten  noki- 
zzia  Aaxeöaifxovlwv  gestanden  haben  werden.  —  Cic.  de  rep.  II  59.  de 
leg.  III  16,  bei  dem  wir  ja  Angaben  der  Peripatetiker  erwarten  dürfen, 
erwähnt  gleichfalls  die  spätere  Einsetzung  der  Ephoren  und  vergleicht  sie 
mit  den  Tribunen,  worin  ihm  Val.  Max.  folgt. 

1)  Die  Handschriften  des  Eusebius  und  Hieronymus  geben  allerdings 
Ol.  5,  3  oder  4  (welches  Datum  der  cod.  R  gibt,  ist  aus  Schöne's  Bemer- 
kungen I  p.  127  leider  nicht  zu  ersehen);  aber  zwei  von  einander  ganz 
unabhängige  Zeugnisse  führen  übereinstimmend  auf  das  oben  gegebene 
Datum.  Einmal  sagt  Plut.  Lyc.  7,  die  Einsetzung  der  Ephoren  durch 
Theopomp  falle  ezsot  nov  (xuliara  TQiaxovxa  xal  exazbv  fiexa  Av- 
xovgyov,  d.  i.  da  Lykurg  von  Eratosthenes  und  Apollodor  ins  Jahr  885/4 
gesetzt  wird,  ins  Jahr  755/4.  Zweitens  bemerkt  Eusebius  bei  Ol.  1,  wo 
in  Folge  der  heillosen  Verwirrung  seiner  lakonischen  Königsliste  die  Re- 
gierung des  Alkamenes  zu  Ende  geht  (ebenso  Hieron.  bei  der  Einsetzung 
der  Ephoren  und  die  exe.  Barbari  in  der  Königsliste  p.  42  a.  b),  die  sparta- 
nischen Könige  hätten  350  Jahre  regiert,  das  wäre  von  der  dorischen 
Wanderung  1104/3  wieder  bis  755/4. 

2)  [Das  hat  Gelzer  Africanus  I  142  übersehen.  Er  meint  man  habe 
die  spartanischen  Königslisten  mit  dem  Beginn  der  Olympiadenrechnung 
abgebrochen.  Das  wäre  ein  sehr  unverständiges  Verfahren  gewesen,  da 
zwischen  den  Olympiaden  und  der  spartanischen  Chronologie  keine  Bezie- 
hungen vorlagen.  Dagegen  konnte  man  die  Ephorenliste  mit  den  attischen 
Archonten  und  den  Olympioniken  gleichen,  wie  das  schon  Timaeos  ge- 
than  hat.  Ich  kann  daher  den  chronologischen  Folgerungen  Gelzer's  so 
wenig  zustimmen,  wie  denen  Busolt's  Griech.  Gesch.  I  146,  6.] 


248 

amten ')  aufzuzeichnen.  Aber  dass  damals  die  Ephoren  zuerst 
eingesetzt  seien,  folgt  daraus  noch  nicht;  sie  können  schon 
Jahrhunderte  bestanden  haben,  ehe  man  ihre  Namen  aufzu- 
zeichnen begann.  Nach  der  alexandrinischen  Chronologie  stimmt 
das  Jahr  755/4  vortrefflich  zu  der  Einsetzung  der  Ephoren 
durch  Theopomp;  nach  Apollodor  (Diodor  bei  Euseb.  I  223) 
fällt  die  erste  Olympienfeier  ins  zehnte  Jahr  Theopomps,  775/4 
ist  also  sein  31.  Jahr.  In  Wirklichkeit  folgt  eben  daraus,  dass 
die  Ephoren  nicht  von  Theopomp  eingesetzt  sein  können,  da 
dieser  frühestens  erst  etwa  zwanzig  Jahre  später,  um  735  v.  Chr., 
zur  Regierung  kam2)  —  für  den  viel  zu  hohen  Ansatz  seines 
Regierungsantritts  ist  vielleicht  auch  die  Ephorenliste  von 
Einfluss  gewesen. 

[Auch  Xenophon  steht  nicht  mehr  auf  dem  naiven  Stand- 
punkt Herodots,  sondern  kennt  die  neue  Auffassung  Lykurgs. 
Die  Angabe,  dass  er  seine  Gesetze  durch  den  delphischen  Gott 
habe  sanctioniren  lassen,  hat  er  recipirt  (rep.  Lac.  8,  5),  die  An- 
sicht von  dem  secundären  Ursprueg  des  Ephorats  dagegen  ver- 
worfen. Seine  Ausdrücke  zeigen  aber  deutlich,  dass  die  Frage 
damals  vielfach  discutirt  wurde:  elxoq  dh  xal  r?)v  rrjg  kpo- 
Qsiag  övvaßiv  rovg  üvtovq  rovrovq  (die  Genossen  des  Lykurg) 
övyxaraöxevaöai,  ejtsljcsQ  tyvcoöav  to  Jteiftzö&ai  [isyiöTOv  aya- 
&6v  üvai  xal  kv  jtoXsi  xal  ev  Organa  xal  hv  oixco.  „Es  ist 
wahrscheinlich  (oder  begreiflich),  dass  Lykurg  und  seine  Ge- 
nossen die  Ephorenmacht  begründet  haben"  —  so  würde  er 
nicht  reden,  wenn  die  Einsetzung  der  Ephoren  durch  Lykurg 
unbestrittene  Ueberlieferung  wäre.  In  der  Motivirung  stellt  er 
sie,  die  den  Gegnern  als  Usurpatoren  gelten,  als  die  rechten 
Zuchtmeister  Spartas,  als  die  wichtigsten  Träger  der  lykur- 
gischen Ordnung  hin.  Es  ist  das  für  Xenophon  sehr  charakte- 
ristisch.  Seine  Schrift  trägt  ja  einen  gewissermassen  offiziellen 

1)  Im  fünften  Jahrhundert  wird  bei  den  Schriftstellern  wie  in  den 
Urkunden  (Inscr.  Gr.  Ant.  83  ff.)  bekanntlich  nach  den  Ephoren  datirt. 
Freilich  haben  wir  noch  im  sechsten  Jahrhundert  für  Cheilons  Ephorat 
verschiedene  Ansätze:  doch  hat  wenigstens  Sosikrates  ein  ganz  bestimm- 
tes Jahr  genannt,  Ol.  56,  1,  das  auch  von  der  Pamphila  adoptirt  ist  (Diog. 
Laert.  I  68)  und  sich  bei  Hieronymus  wenigstens  in  den  cod.  M  und  A 
findet  —  die  anderen  Handschriften  geben  abweichende  Daten. 

2)  Seine  Zeit  ist  durch  den  ersten  messenischen  Krieg  bestimmt.  Im 
übrigen  vgl.  oben  S.  171.  180  ff. 


249 

Charakter,  sie  verherrlicht  alle  spartanischen  Institutionen  und 
stellt  sie  vom  Standpunkt  des  Agesilaos  aus  dar,  nicht  von 
dem  der  Reformpartei.  Nur  die  Ausschreitungen  der  letzten 
Jahrzehnte  nach  dem  peloponnesischen  Kriege  und  dem  Antal- 
kidasfrieden  kann  er  nicht  mehr  ganz  billigen  (c.  14  „wenn 
man  mich  fragt,  ob  Lykurgs  Gesetze  noch  jetzt  unverändert 
bestehen,  tovto  fia  Ai'  ovx  av  tri  ftgaöecog  eljioi(iiu)  — 
denn  die  Wagschale  beginnt  sich  zu  Ungunsten  Spartas  zu 
senken,  und  wenn  irgendjemand,  so  ist  Xenophon  ein  durchaus 
naiver  und  gläubiger  Anbeter  des  Erfolgs.  Zugleich  aber  ge- 
winnen wir  durch  Xenophon  ein  sehr  willkommenes  chrono- 
logisches Datum;  denn  seine  Schrift  ist  um  375  geschrieben, 
nach  der  Erhebung  Thebens  und  der  Neugründung  des  attischen 
Seebundes  und  vor  der  Schlacht  bei  Leuktra.1)  Vor  diesem 
Termin  ist  also  die  neue  Ansicht  über  das  Ephorat  aufgekom- 
men, d.  h.  eben  in  der  Zeit  des  Pausanias.] 

Die  Auffassung  der  Einsetzung  der  Ephoren,  welche  den 
angeführten  Berichten  (auch  bei  Plato)  zu  Grunde  liegt,  gibt 
sich  selbst  deutlich  als  secundär:  es  ist  eine  durchaus  gekün- 
stelte Reflexion,  dass  König  Theopomp  in  der  Voraussicht,  die 
Stellung  des  Königthums  dadurch  für  die  Zukunft  zu  sichern, 
sich  eines  Theils  seiner  Rechte2)  freiwillig  entäussert  habe. 
Vielmehr  ist  diese  Erzählung  nur  die  Berichtigung  einer  älte- 
ren Auffassung,  welche  in  der  Anekdote  der  Frau  in  den  Mund 
gelegt  wird.  Ursprünglich  ist  erzählt  worden,  dass  die  Könige 
sich  dadurch,  dass  sie  das  Ephorencollegium  sich  zur  Seite 
setzten,  schweren  Schaden  zugefügt  haben.  Eine  derartige 
Darstellung  vom  Ursprung  des  Ephorats  hat  bekanntlich  König 


1)  [denn  nach  dieser  gingen  keine  Spartaner  mehr  als  Harinosten 
in  die  Städte,  was  sie  nach  c.  14,  2.  4  gegenwärtig  noch  thun.  Die  früher 
von  mir  geäusserte  Meinung,  dies  Kapitel  sei  ein  späterer  Zusatz,  „der 
mit  der  Tendenz  der  übrigen  Schrift  und  namentlich  ihren  Eingangsworten 
in  schroffem  Widerspruch  steht",  war  wenig  überlegt  und  ist  ganz  un- 
haltbar.] 

2)  0£O7i6fXTiov  fzezQidoavtog  (rr]v  ßaaiksiav)  tolq  xe  äk). o ig  xccl 
xrjv  twv  ecpÖQcov  ccqxvv  BTtLxaxaaxrioavTOQ  heisst  es  bei  Aristoteles  VIII 
9,  1.  Was  für  andere  Dinge  das  sind,  wissen  wir  nicht,  denn  an  die  sog. 
Zusatzrhetra  kann  doch  hier  nicht  gedacht  werden.  Sehr  glaublich  ist  es 
aber,  dass  die  Urheber  dieser  Version  das  weise  Verfahren  des  alten 
Königs,  sich  selbst  zu  beschränken,  noch  weiter  illustrirt  haben. 


250 

Kleomenes  III.  gegeben,  als  er  sich  wegen  der  Beseitigung 
dieser  Behörde  rechtfertigte1):  Lykurg  habe  den  Königen  nur 
die  Geronten  zur  Seite  gesetzt,  und  erst  weit  später,  als  im 
messenischen  Kriege  die  Könige  (d.  i.  Theopomp  und  sein  Col- 
lege) lange  im  Felde  standen  und  keine  Zeit  hatten  Recht  zu 
sprechen,  hätten  sie  die  Ephoren  als  ihre  Stellvertreter  er- 
nannt. Ganz  allmählich  und  namentlich  durch  Asteropos  habe 
sich  dann  das  Collegium  zu  einer  selbständigen  Behörde  ent- 
wickelt, die  selbst  das  Königsthum  unter  ihre  Macht  zwang. 
Diese  Darstellung  gibt  sich  selbst  nicht  als  allbekannte  Ueber- 
lieferung,  sondern  als  Reconstruction,  und  operirt  daher  mit 
Beweisstücken  (arjfisla):  der  König  erscheint  vor  dem  Richter- 
stuhl der  Ephoren  erst  wenn  er  dreimal  geladen  ist.  Ich  will 
durchaus  nicht  behaupten,  dass  diese  Version  direct  auf  Pau- 
sanias  zurückgeht:  aber  dass  derselbe  den  Ursprung  der  Epho- 
ren ähnlich  erzählt  haben  muss,  wie  sein  Nachkomme,  der  seine 
Pläne  ausführte,  dürfte  klar  sein.  Pausanias'  Behauptung,  die 
Ephoren  stammten  erst  von  Theopomp,  ist  von  seinen  Nach- 
folgern'-) adoptirt  —  wurde  sie  doch  durch  die  angeblich  ur- 
alten Orakel  gestützt  —  aber  in  dem  Sinne,  den  wir  bei  Plato 
und  Aristoteles  finden,  umgeändert  worden.  Wer  der  Urheber 
dieser  Berichtigung  ist,  lässt  sich  nicht  sagen:  es  liegt  ja  nahe 
auf  Thibron  zu  rathen,  an  den  v.  Wilamowttz  Hom.  Unters.  273 
als  Quelle  Piatos  denkte)  Doch  wer  sich  von  der  literarischen 
Bewegung  des  vierten  Jahrhunderts  eine  klare  Anschauung  ge- 
macht hat,  wird  nicht  in  Zweifel  sein,  dass  in  der  Zeit  zwischen 
Thukydides  und  Aristoteles  wie  über  jeden  andern  Gegenstand 
von  allgemeinem  Interesse  so  auch  über  die  lakonische  Ver- 
fassung eine  ganze  Reihe  von  Schriften  erschienen  sind,  von 
denen   nicht   einmal   der  Name   auf  uns  gekommen  ist.4)     Die 


1)  Plut.  Cleomenes  10,  d.  i.  Phylarch.  Wir  können  nicht  zweifeln, 
dass  uns  die  von  Kleomenes  gegebene  Darlegung  der  Hauptsache  nach 
in  authentischer  Gestalt  erhalten  ist. 

2)  d.h.  vor  allem  in  der  Literatur;  in  Sparta  selbst  wird  sie  schwer- 
lich je  völlig  officiell  anerkannt  worden  sein. 

3)  Wir  wissen  von  Thibron  nur,  dass  er  den  Lykurg  besonders  als 
Urheber  der  militärischen  Ausbildung  verherrlicht  hat,  auf  der  die  Vor- 
herrschaft Spartas  beruhte:  Arist.  pol.  IV  13,  11. 

4)  Vgl.  Stellen  wie  Isokr.  panathen.  177.  Arist.  pol.  IV  13,  11  OißQwv 
, . .  xal   tojv  äXXojv  txaatog   xöjv  ygcupöviojv  nepi   xi\o,   nohrsiag  avxwv, 


251 

Darstellung  des  Isokrates  panath.  177  ff.  (vgl  153  ff.)  geht  auf 
Quellen  zurück,  die  für  uns  völlig  verschollen  sind.  Auch  von 
Pausanias'  und  Thibrons  Schriften  erfahren  wir  nur  durch  je 
eine  ganz  gelegentliche  Notiz;  und  was  wissen  wir  z.  B.  über 
Inhalt,  Abfassungszeit  und  Tendenz  von  Dioskorides'  Aaxcovcov 
jtoXiTsia  [falls  sie  in  diese  Zeit  gehört,  s.  u.  S.  280,  2]?  Auch 
von  dem  Megarer  Dieuchidas,  den  Wilamowitz  zum  Urheber  der 
Lykurglegende  machen  möchte,  ist  uns  weiter  nichts  bekannt, 
als  dass  er  von  Lykurgs  Genealogie  handelte  (Plut.  Lyc.  1)  und 
dass  er  [im  Widerspruch  mit  der  Generationenrechnung]  seine 
Zeit  auf  200  Jahre  nach  dem  Fall  Trojas  bestimmte  (Clem. 
Alex,  ström.  I  119),  also  ihn  jedenfalls  beträchtlich  früher  an- 
setzte als  Thukydides  und  Ephoros  oder  gar  Plato's  Minos. 

Leider  fehlt  uns  eine  positive  Angabe  darüber,  was  Epho- 
ros über  den  Ursprung  des  Ephorats  berichtet  hat,  Man  könnte 
daraus,  dass  er  die  Ephoren  den  Kosmen  gleichsetzt,  also  für 
eins  der  Stücke  erklärt,  welche  die  spartanische  Verfassung 
aus  Kreta  entnommen  hat,  folgern,  dass  er  ihre  Einsetzung 
dem  Lykurg  zuschrieb,  und  eine  weitere  Spur  davon  darin 
erkennen,  dass  Aristoteles  in  seiner  Kritik  der  spartanischen 
Verfassung  II  6,  15  ausdrücklich  die  Ephoren  als  ein  Werk 
des  vofiofrfrrjq  bezeichnet,  im  Widerspruch  mit  VIII  9,  1.  Dann 
wäre  Ephoros  in  diesem  Punkte  von  Pausanias  abgewichen 
und  hätte  sich  der  älteren,  auch  von  Isokrates  vertretenen 
Ansicht  angeschlossen.  Indessen  können  diese  Stellen  wenig 
beweisen:  ist  es  doch  allgemein  griechische  Anschauung,  die 
Verfassung  als  eine  Einheit  anzusehen,  so  dass  selbst  Plutarch 
Ages.  5  in  einer  Betrachtung,  die  nicht  entlehnt  sein  kann,  den 
Hader  zwischen  Königen  und  Ephoren  als  Werk  des  Aaxcovixoq 
vo{iod-ET?iq  betrachtet.  Den  angeführten  Gründen  steht  gegen- 
über, dass  Polybios,  wo  er  von  der  lykurgischen  Verfassung 
spricht  (VI  10  und  45),  nur  die  Könige  und  Geronten ,  aber 
nicht  die  Ephoren  nennt,1)  sowie  die  Erwägung,  dass  die  all- 


vgl.  kurz  vorher  xojv  voxsqov  [im  Gegensatz  zu  den  alten  Gesetzgebern] 
xiveq  yQaxpavxojv.  Ephoros  bei  Strabo  X  4,  17:  Xeyeo&aL  6'  vno  tlvojv  wq 
AaxiovLxu  tXr}  xa  nokla  xwv  vofAi^ofxevcov  Kq^xlxwv  u.  s.  w.  Uns  ist  kein 
einziger  Vertreter  dieser  Ansicht  bekannt. 

1)  Justin  resp.  Trogus,  auf  den   man  sich  hier  etwa  noch  berufen 
könnte,   da  er  sonst  vielfach  Ephoros  folgt,  hat  in  dem  Abschnitt  über 


252 

gemeine  Reception  der  Annahme,  die  Ephoren  seien  von  Theo- 
pomp eingeführt,  kaum  begreiflich  wäre,  wenn  Ephoros  anders 
erzählt  hätte;  mindestens  dürften  wir  dann  erwarten,  die  ab- 
weichende Angabe  des  Ephoros  irgendwo  erwähnt  zu  finden. 

Die  Behauptung  des  Pausanias  und  seiner  Nachfolger  über 
den  Ursprung  des  Ephorats  beruht  auf  der  Thatsache,  dass 
das  Königthum  von  Generation  zu  Generation  immer  mehr  unter 
die  Herrschaft  der  Ephoren  gezwängt  worden  ist,  und  auf  der 
ganz  richtigen  Annahme,  dass  das  Königthum  einst  in  Sparta 
das  gewesen  ist,  was  sein  Name  besagt,  die  höchstgebietende 
staatliche  Macht.  Aber  irgend  welchen  andern  Werth  für  die 
Erkenntniss  des  älteren  Zustandes  als  den  einer  auf  ihre  Wahr- 
scheinlichkeit hin  zu  prüfenden  Hypothese  hat  sie  nicht:  über- 
liefert ist  nur,  dass  die  Ephoren  eben  so  gut  auf  Lykurg  zu- 
rückgehen wie  alle  anderen  Institutionen  Spartas.  Und  formell 
hat  die  Ueberlieferung  zweifellos  recht:  die  Ephoren,  eine  Be- 
hörde, der  wir,  wie  0.  Müller  mit  Recht  hervorhebt,  in  einer 
ganzen  Reihe  dorischer  Staaten  begegnen,  werden  auch  in 
Sparta  bereits  der  ältesten  Zeit  des  Staates  angehören.  Sie 
sind  die   Richter   in   allen  Civilsachen,1   entsprechen   also   ur- 


Lykurg- Ephoros  höchstens  nebenbei  benutzt,  da  er  über  die  Zeit  der  Ge- 
setzgebung —  Lykurg  habe  dieselbe  während  seiner  Vormundschaft  er- 
lassen  -    wie  über  Lykurgs  Tod  abweichend  von  ihm  berichtet. 

1)  Gegenüber  den  verschiedenen  und  zum  Theil  recht  abenteuerlichen 
Theorien  über  den  Ursprung  des  Ephorats  ist  daran  festzuhalten,  dass  die 
Jurisdiction  in  Civilsachen  zu  allen  Zeiten  der  Beruf  der  Ephoren  gewesen 
ist.  Ihre  politische  Rolle  ist  daraus  erst  abgeleitet.  Mit  vollem  Rechte 
sucht  daner  die  angeführte  Speculation  bei  Plut.  Kleom.  10  in  der  richter- 
lichen Function  den  Ursprung  des  Ephorats.  Die  Processe  wurden  unter 
die  einzelnen  Ephoren  vertheilt,  wie  in  Athen  unter  die  Archonten :  Arist. 
pol.  III  1,7  (tvioi)  zag  öixag  ötxä^ovai  xaza  [xeoog,  oiov  ev  Aaxeöai/iovi 
rag  xöjv  ov^ßoXaiajv  öixd^si  ztiüv  itpopcov  äXXog  aXXag,  ol  öh  yeoovzeg 
zäg  (povixäg,  zzfQa  d'  tacog  äoyrj  zag  ezäpag.  vgl.  II  8,  4  aQiatoxQazixöv 
.  . .  zb  zag  öixag  vnb  züv  aQ^elojv  ötxaQta&at  näaag,  xai  fxr]  aXXag  vti' 
aXXcov,  xa&äntQ  iv  Aaxsdalfwvi.  Plut.  Apophth.  lac.  Eurykratidas :  ttv9o- 
fievov  zivbg  öia.  zl  za  7tfQi  zwv  ovßßoXaiiDV  öixaia  hxäazrjg  rifiEgag  xql- 
vovöl  ol  t<po()ot.  Es  ist  seltsam,  dass  Gilbert  in  seinem  sonst  so  brauch- 
baren Handbuche  diese  Thätigkeit  der  Ephoren,  welche  bei  weitem  den 
grössten  Theil  ihrer  Amtszeit  in  Anspruch  genommen  haben  wird,  nur 
ganz  anhangsweise  erwähnt.  Die  Rechtsprechung  geschah  natürlich  nach 
Gewohnheitsrecht,  daher  die  angebliche  Rhetra,  keine  geschriebenen  Ge- 


253 

sprtinglicli  genau  den  attischen  Tkesmotketen ;  und  dass  in 
einem  Staate,  der  sich  nicht  auf  eine  einzige  jtofag  beschränkte, 
sondern  eine  ziemlich  ausgedehnte  Landschaft  umfasste,  die 
Könige  jemals  allein  die  Gerichtsbarkeit  geübt  haben  sollten, 
ist  recht  unwahrscheinlich. 

Dadurch,  dass  die  Ephoren  dann  auch  politische  Angelegen- 
heiten vor  ihren  Richterstuhl  zu  ziehen  begannen,  ist  ihre  Macht 
allmählich  zu  der  einer  Staatsinquisition  erwachsen,  gegen  die 
das  Königthum  in  derselben  Weise  zurücktreten  musste,  wie 
das  Herzogthum  in  Venedig  gegen  den  Rath  der  Zehn.  Die 
Criminalgerichtsbarkeit  haben  die  Ephoren  immer  nur  über 
Perioeken  und  Heloten  ausgeübt,  mit  denen  kurzer  Process 
gemacht  wird  (Isokr.  panath.  181);  Leib  und  Leben  des  Voll- 
bürgers können  sie  nicht  antasten,  aber  sie  eignen  sich  das 
Recht  zu,  ihn  vor  dem  Rath  der  Alten  auf  den  Tod  zu  ver- 
klagen. Wenn  sie  weiter  die  Beamten  vor  ihren  Richterstuhl 
ziehen,  von  ihnen  Rechenschaft  fordern,  ihnen  Busse  auferlegen 
und  sie  vom  Amte  suspendiren  (Xen.  rep.  Lac.  8),  so  wird  dabei 
gewiss  irgend  eine  legale  Fiction  angewandt  worden  sein. l) 
Schliesslich  wird  auch  der  König  geladen,  und  wenn  er  auch 
nicht  will,  der  dritten  Ladung  muss  er  Folge  leisten  —  man 
sieht  deutlich,  dass  ein  bestimmtes  geschichtliches  Ereigniss 
zu  einem  Conflict  geführt  hat,  der  damit  endete,  dass  der 
König  es  nicht  wagte  sich  der  Forderung  der  Ephoren  zu 
entziehen;2)  dieser  Hergang  ist  dann  als  Präcedenzfall  be- 
trachtet worden.  Die  Gerichtsbarkeit  der  Könige  wird  auf 
wenige  Fälle  beschränkt:  Wegebau,  Adoption,  Entscheidung 
beim  Streit  über  eine  Erbtochter  (Herod.  VI  57).  Dann  wird 
auch  die  Selbständigkeit  des  Königs  im  Felde  beseitigt:  ,. da- 
mit keine  Ungebührlichkeiten  vorkommen  und  die  Bürger  sich 


setze  zu  haben ,  vgl.  Arist.  pol.  II  6,  16  en  dt  xal  xqigzwv  elai  fteyaXwv 
xvqiol  ,  ÖLÖntQ  ovx  avxoyvcofiovaq  ßtXxiov  xoiveiv  dkka  xaxa  xa  yQafx- 
[iccxcc  xal  xovq  vo/uovg. 

1)  Vgl  Arist.  pol.  II 6,  18  öö&te  d'  av  fj  xäJv  icpÖQcov  aQyji  näaaq 
8v9vvsiv  xaq  äpyäq  (auch  die  Geronten).  xovxo  dt  x?j  tyoQtia  fxtya 
)dav  xb  dcuQov,  xal  xöv  xqotiov  ov  tovxov  kiyo^tv  öiöövai  öelv  xaq 
ev9vvaq. 

2)  Wenn  man  will,  mag  man  das  Ephorat  des  Asteropos,  von  dem 
Kleomenes  spricht,  auf  diesen  Vorgang  beziehen. 


254 

im  Lager  vernünftig  benehmen",  begleiten  den  König  seit  dem 
fünften  Jahrhundert  zwei  Ephoren  in  den  Krieg,  die  im  übrigen, 
wie  uns  Xenophon  versichert,  ganz  artig  sind  und  sich  um 
nichts  kümmern,  wenn  es  ihnen  nicht  der  König  befiehlt.1) 
So  ist  das  Königthum  völlig  geknebelt,  und  sollte  es  ja  noch 
Zeichen  von  Eigenwillen  zeigen,  so  gibt  es  in  der  staatsrecht- 
lichen Rumpelkammer  noch  ein  religiöses  Mittelchen,  den  un- 
bequemen Herrscher  durch  Sternschnuppenbeobachtung  zu  be- 
seitigen (Plut.  Agis  11 )  —  ein  Mittel  um  das  Bibulus  die  Ephoren 
hätte  beneiden  können.  In  der  Regel  geht  alles  friedlich  zu. 
wie  es  sich  für  einen  Idealstaat  gehört :  allmonatlich  schwören 
Könige  und  Ephoren,  die  gegenseitigen  Rechte2)  gewissenhaft 
zu  achten.3)  —  Wenn  Pausanias  und  Kleomenes  behaupteten, 
dass  das  Ephorat  nichts  ursprüngliches  sei,  sondern  auf  Usur- 
pation beruhe,  so  hatten  sie  vollständig  recht :  es  ist  das  Pro- 
dukt einer  langsamen  aber  stetigen  Entwickelung,  die  sich  im 
sechsten  und  fünften  Jahrhundert  vollzogen  hat.4)  Nur  haben 
sie,  indem  sie  dies  Ephorat  aus  dem  dem  Lykurg  zugeschrie- 
benen Idealbilde  beseitigten,  gerade  das  Element  weggeschnitten, 
auf  dem  dasjenige  ruht,  was  man  lykurgische  Verfassung  nannte 
und  was  in  Wirklichkeit  die  Organisation  des  spartanischen 
Adelsstaates  gewesen  ist:  ohne  Ephorat  existirt  auch  dieser 
Adelsstaat  nicht.6) 


1)  Xen.  rep.  Lac.  13  nägeiGi  öl  (bei  dem  Auszugsopfer  des  Königs, 
um   den  Glanz  des  Stabes  zu  erhöhen)   xal  züv  icpogiov  ovo,  oi  nokv- 

TZQCtyflOVOVGt     (AtV     OVÖtV,     7]V    fjLf)     0     ßdGlXtVq    TtQOGXaly,    OQfOVTSQ    dt     OTl 

TtoieZ  hxaGToo,    TiavzccQ  G(jj(pQoviL>ovGtv,   (vg    to   eixog.     Es  ist  einer  der 
naivsten  Sätze,  welche  Xenophon  je  geschrieben  hat. 

2)  Bei  den  Ephoren  heisst  das  die  Rechte  der  nohc.  d.  i.  in  Sparta 
der  dorischen  Herren. 

3)  Xen.  rep.  Lac.  15,  7.  Bei  Nie.  Dam,  fr.  114,  16  ist  daraus  ein  Eid 
vor  dem  Amtsantritt  der  Könige  gemacht. 

4)  Völlig  richtig  erkannt  und  mit  klarem  Verständniss  dargelegt  ist 
diese  Entwickelung  von  Duncker,  der  auch  darin  Recht  haben  wird,  dass 
er  den  weissen  Cheilon  als  einen  der  Hauptgestalter  dieser  Entwickelung, 
als  den  eigentlich  geschichtlichen  Lykurg  betrachtet.  Nur  entziehen  sich 
die  einzelnen  Vorgänge  fast  völlig  unserer  Kenntnisse. 

5)  Die  lykurgische  Idealverfassung  ohne  Ephorat,  wie  sie  bei  Plutarch 
geschildert  wird  und  schon  Ephoros  sie  dargestellt  haben  wird,  ist  ge- 
schichtlich ein  Unding  und  hat  nie  existirt. 


255 

Wenn  ich  für  die  Anuahme,  dass  der  spätere  Bericht  über 
das  Ephorat  seinem  Kerne  nach  auf  Pausanias  zurückgeht,  auf 
Zustimmung  hoffe,  so  trage  ich  eine  weitere  Yermuthung  nur 
mit  aller  Reserve  vor.  In  Sparta  hat  zu  allen  Zeiten  der 
Reichthum  in  Ehren  gestanden  so  gut  wie  in  Rom,  das  in 
dieser  wie  in  so  vielen  anderen  Beziehungen  das  vollständige 
Analogon  zu  Sparta  ist.  Es  ist  das,  wie  Aristoteles  mit  Recht 
bemerkt,  eine  bei  kriegerischen  und  erobernden  Stämmen  ganz 
natürliche  Erscheinung, ')  die  zu  vertuschen  den  späteren  Lob- 
rednern nie  völlig  gelungen  ist.  Hat  doch  ein  Spartaner,  Aristo- 
damos,  den  Ausspruch  gethan,  dass  die  Habe  den  Mann  macht: 
XQ7](iax  ar?}Q ,  kein  Armer  kann  edel  sein. 2)  Nur  sind  die 
Formen  des  Staatslebens  frühzeitig  so  erstarrt,  dass  als  die 
lydische  Erfindung  des  geprägten  Geldes  sich  über  das  grie- 
chische Mutterland  verbreitete,  Sparta  dieselbe  nicht  wie  die 
übrigen  Staaten  adoptirte,  sondern  bei  dem  altern  Tauschver- 
kehr stehen  blieb,  in  dem  besonders  Eisenbarren  als  Werth- 
messer  verwendet  worden  waren.     Man   betrachtete  die  neuen 

1)  wax"1  avayxalov  iv  xy  xoiavxy  Trokixeia  xi/näo&ai  xbv  nXovxov. 

2)  Alkaios  fr.  49.  /Qr^mxa  ist  hier,  zu  Ende  des  siebenten  Jahrhun- 
derts, noch  nicht  mit  Geld  zu  übersetzen.  Nach  Pindar,  Isthm.  2,  15, 
stammte  der  Ausspruch  von  einem  Argiver.  Darauf  kommt  wenig  an ;  das 
maassgebende  ist,  dass  man  ihn  überhaupt  einem  Spartaner  in  den  Mund 
legen  konnte.  Im  übrigen  vergleiche  die  Zusammenstellung  der  zahlreichen 
hierher  gehörigen  Belegstellen  bei  Gilbert,  Handbuch  der  Staatsalt.  I  12 
Anm.  2,  der  nur  darin  vollständig  fehl  gegriffen  hat,  dass  er  einen  Geburts- 
adel innerhalb  der  dorischen  Spartiaten  annimmt,  von  dem  sich  in  unserer 
Ueberlieferung  nirgends  eine  Spur  findet.  Ausnahmslos  berichten  die  Alten, 
dass  alle  Spartiaten,  soweit  sie  nicht  die  bürgerlichen  Ehrenrechte  verloren 
haben,  einander  rechtlich  gleich  stehen:  daher  ist  ja  Sparta  eine  Demo- 
kratie. Die  xalol  xdya&ol,  aus  denen  nach  Aristoteles  II  9  die  Gerusie 
gewählt  wird,  sind  hier  so  wenig  wie  sonst  irgendwo  bei  Aristoteles  der 
Geburtsadel,  sondern  die  „Besten",  d.  h.  die  welche  sich  ausgezeichnet  haben 
und  zur  Leitung  der  Staatsgeschäfte  befähigt  sind,  wie  er  an  der  ange- 
führten Stelle  selbst  sagt:  ä&Xov  yäQ  rj  ä$yjl  uvxi]  (die  Gerusie)  xrjq 
dQsxrjq  ioxiv;  vgl.  Aeschines  c.  Tim.  173,  die  Lak.  xa&ioxäoi  ccvxovg  (die 
Geronten)  ix  xwv  ix  naiöoq  eig  yijQccq  ocoyQovmv.  Ihnen  steht  die  grosse 
Masse  der  ihrem  Werthe  nach  indifferenten  Vollbürger  (ol  xvyövxsq)  als 
ST([A.oq  gegenüber.  —  Gleichzeitig  bemerke  ich,  dass  dpioxivötjv  (Polyb. 
VI  10,  9.  24,  1  Arist.  pol.  II  8,  5  ebenso  in  den  Urkunden  IGA.  322  CIA.  I  61 
Lebas  II  IT)  seinem  Wortsinne  nach  niemals  „nach  dem  Adel"  bedeutet, 
sondern  soviel  wie  xax1  äQtxrjv,  wie  nXovxivöijv  identisch  ist  mitwar«  nXovxov. 


256 

Münzen  und  die  auf  ihnen  beruhende  Umwandlung  des  Besitzes 
als  eine  staatsverderbende  Neuerung,  und  so  wurde  nicht  nur 
kein  Geld  geprägt,  sondern  auch  der  Besitz  desselben  verboten 
(Xen.  rep.  Lac.  7).  Die  reichen  Leute,  welche  auf  dasselbe 
doch  nicht  verzichten  wollten  oder  konnten,  halfen  sich  be- 
kanntlich damit,  dass  sie  ihr  Geld  ausser  Landes,  namentlich 
in  Tegea,  deponirten  (1GA  68.  Posidon.  fr.  48. J)  So  konnten 
diejenigen,  welche  aus  politischem  oder  idealem  Interesse,  wie 
Xenophon  und  Ephoros,  den  spartanischen  Staat  als  vollendeten 
Musterstaat  darstellen  wollten,  behaupten,  die  bewegliche  Habe 
spiele  in  Sparta  gar  keine  Rolle,2)  wenn  auch  selbst  noch  die 
Urheber  des  ganz  verzerrten  Bildes ,  welches  bei  Plutarch  im 
Lykurg  gegeben  wird,  zugeben  mussten,  dass  eine  wirkliche 
Gleichheit  des  beweglichen  Vermögens  in  Sparta  selbst  in  der 
idealen  Urzeit  nicht  hergestellt  worden  sei.  Lykurg  habe  es 
zwar  gewollt,  aber  nicht  durchführen  können,  und  daher  auf 
Umwegen,  durch  Verbot  des  Gold-  und  Silbergeldes  und  Ein- 
führung der  eisernen  Münzen,  sein  Ziel  zu  erreichen  gesucht 
(Plut.  Lyc.  9). 

Wir  müssen  uns  hüten,  diesen  idealen  Schilderungen  irgend- 
wie zu  glauben,  und  am  wenigsten  der  Behauptung,  man  habe 
mit  dem  Reichthum  in  Sparta  nichts  anfangen  können.  Wenn 
Xenophon  c.  7  behaupten  möchte ,  selbst  bei  den  Syssitien 
könnten  die  Wohlhabenden  ihren  Besitz  nicht  verwerthen,  so 
lernen  wir  aus  c.  5,  dass  die  Reichen  hier  sehr  wohl  für  bessere 
Kost  sorgten:    ol  de  jikovöioi   eoriv  ore  xal  (xqzov  avrLJtaga- 


1)  Xuthias  bat  iin  ganzen  10  Talente  in  Tegea  deponirt.  Auch  Mo- 
lobros  und  der  Sohn  des  Lyreidas,  die  IGA.  69  dem  Staate  grosse  Geld- 
summen schenken,  also  Geld  besitzen,  sind  doch  offenbar  Spartiaten. 

2)  Xen.  rep.  Lac.  7.  Polyb.  VI  45,  4,  im  wesentlichen  nach  Ephoros : 
T7jq  Aax£Öai[Aovi<üv  7Zo/nxeiaq  töiov  elvai  cpaai  (Ephoros,  Xenophon  etc.) 
.  .  .  öevxspov  xa  tcsqi  xr^v  xov  öiatpoQOv  xxrjoiv,  rjq  eiq  xtloq  aöoxi/aov 
nag'  avxolq  vnaQ/ovarjq  aQÖrjv  ix  xrjq  noXixsiaq  avtjQrjo&cu  avfißaivei 
xr\v  TiEQL  xb  TtXelov  xal  xovXaxxov  (piXoxttuiav.  Vgl.  Plut.  Lys.  17,  wo  die 
nach  Lysanders  Siegen  beschlossene  Erlaubniss  der  Einführung  des  Geldes 
für  Staatszwecke  nach  Theopomp  und  Ephoros  erzählt  wird.  Danach 
scheint  auch  Ephoros  wie  Xenophon  dem  Lykurg  das  Verbot  von  Gold- 
und  Silbergeld  zugeschrieben  zu  haben;  hatte  er  dabei  vergessen,  dass 
dasselbe  nach  seiner  eigenen,  freilich  auch  nicht  richtigen,  Darstellung 
(bei  Strabo  VIII  3,  33)  erst  von  Pheidon  erfunden  sein  soll? 


257 

ßdZXovöiv;  überhaupt  wird  in  Sparta  gegen  die  vorgeschriebene 
einfache  Kost  —  die  übrigens  weiter  nichts  ist  als  eine  Be- 
wahrung roher  Zustände  und  ihrem  Ursprung  nach  durchaus 
keine  asketische  Tendenz  hat [)  —  eben  so  viel  gesündigt  sein, 
wie  im  Islam  gegen  das  Weinverbot  und  die  Fasten  der  Ra- 
madan (vgl.  Aristot.  II  6,  16  „die  Ephoren  leben  übermässig 
luxuriös,  für  die  übrigen  sind  die  diätarischen  Vorschriften  zu 
streng,  so  dass  sie  sich  ihnen  heimlich  entziehen  und  sich  ver- 
botene Genüsse  verschaffen").  Auf  die  Bedeutung,  welche  die 
Rossezucht  in  Sparta  hatte,  macht  Gilbert  mit  Recht  auf- 
merksam, und  überhaupt  ist  die  Pflege  der  einheimischen  wie 
der  Nationalspiele  zu  allen  Zeiten  nur  recht  Wohlhabenden 
möglich  gewesen.  Auch  renommirte  man  ganz  gerne  mit  seinem 
Reich thum:  Lichas  ist  in  ganz  Hellas  berühmt  geworden,  weil 
er  bei  den  Gymnopaedien  alle  Fremden  zu  Gaste  lud  (Xen. 
Memorab.  I  2,  61).  Endlich  ist  der  politische  Einfluss  der  Fa- 
milien wie  der  Einzelnen  in  Sparta  —  ebenso  wie  in  Rom  und 
schliesslich  überall  auf  Erden  —  ganz  wesentlich  vom  Reich- 
thum  abhängig  gewesen.2) 

Diesen  Thatsachen  entspricht  es,  dass  auch  die  Grundlage 
des  Lebens  der  Spartiaten,  der  Grundbesitz,  keineswegs  gleich- 
massig  vertheilt  war.3)  Indessen  bei  einem  durch  ErobeniDg 
gegründeten  Staat,  in  dem  der  Stand  der  Eroberer  sich  gegen 
die  Unterworfenen  streng  abgesondert  hielt,  ist  es  natürlich,  dass 
jeder  Vollbürger   einen  Antheil  an  dem  occupirten  feindlichen 


1)  [Wie  sich  die  spartanischen  Zustände  erst  allmählich  consolidirt 
haben  und  die  greisenhafte  Erstarrung  und  Ablehnung  aller  natürlichen 
Lebensverhältnisse  der  älteren  Zeit  noch  durchaus  fremd  ist,  zeigen  na- 
mentlich die  Fragmente  des  Alkman.  Alkman  isst  denn  auch  „die  gemeine 
Kost  wgtisq  6  däfxoq"  fr.  33  und  klagt,  dass  es  im  Frühjahr  nicht  genug 
zu  essen  gibt  fr.  70.  Er  war  zwar  kein  Spartiate,  aber  deutlich  sieht  man, 
dass  auch  für  diese  die  starre  Syssitienordnung  damals  noch  nicht  bestand.] 

2)  [vgl.  auch  Plato  Alkib.  T  122  f.  Auch  nach  Plato  Hippias  mai.  283  D 
haben  die  Spartaner  „Geld  genug".] 

3)  [Die  anschliessenden  Fragen  sind  in  grösserem  Zusammenhang  in 
meiner  G.  d.  A.  II  194  f.  210  f.  behandelt;  namentlich  ist  dort  nachgewiesen, 
wie  sich  in  den  Angaben  über  die  Grösse  und  ursprüngliche  Gleichheit  des 
Landlooses  älteste  Zustände  bewahrt  haben.  Hier  habe  ich  daher  die  alte 
Darstellung  bis  auf  formelle  Aenderungen  unverändert  gelassen  undjiur 
directe  Fehler  berichtigt.] 

Meyer,  Forschungen  zur  alten  Geschichte.   I.  17 


258 

Lande  besitzt:  und  umgekehrt,  nur  wer  grösseren  Grundbesitz 
hat,  kann  Vollbttrger  sein,  da  es  sich  für  diesen  nicht  ziemt, 
von  seiner  Hände  Arbeit  zu  leben,  sondern  er  seine  ganze  Per- 
sönlichkeit dem  Staate  widmen  soll.  Daher  ist  das  Erbgut 
die  Grundlage  des  Bestehens  einer  Familie,  und  nach  einer 
auch  sonst,  z.  ß.  bei  den  Lokrern  und  in  Leukas,1)  vorkom- 
menden Anschauung  gilt  es  für  schimpflich,  dasselbe  zu  ver- 
äussern. 2)  Indessen  wurde  diese  Satzung  durch  eine  juristische 
Fiction,  an  denen  Sparta  eben  so  reich  gewesen  sein  wird  wie 
Rom,  umgangen:  die  Grundstücke,  welche  man  officiell  nicht 
verkaufen  durfte,  verschenkte  mau  oder  vermachte  man  testa- 
mentarisch.3)    Dazu  kam,  dass  die  Töchter  eine  beliebig  grosse 


1)  Arist.  pol.  II  4,  5  b/ioicug  6t  xal  xrjv  ovoiav  Tuokeiv  ol  vöfioi  xw- 

XvOVGlV,    WOTltQ    tV    AöXQOXg    vÖjjLOQ    tozl    (JLT]    TllüXtlV,    £OLV   fi?j    (paVSQaV  CCXV- 

yiav  6si^y  avfißeßtjxvlav.  exi  6t  xovg  n aXaiovg  xXygovg  öiaow^etv. 
xovxo  6t  Xv&tv  xal  neQL  Atvxaöa  6qiuoxixrjv  anoitjae  Xltxv  xt/v  noXixtiar 
avxwv.  Ebenso  iu  Philolaos'  Gesetzgebung  in  Theben:  öncog  b  aQiO-fxbg 
owty/Tca  xwv  xkrjQCJv  II  9,  7.  Vgl.  in  der  nächsten  Abh.  das  Gesetz  über 
Naupaktos. 

2)  Arist.  pol.  II  6,  10  wvtZa&ai  yaQ  1}  vcwXelv  xr\v  vnaQyovoav 
(ycöoav)  E7zoi7]aev  oh  xaXbv;  Heracl.  pol.  2,  7  (d.  i.  Aristoteles)  nojXeiv 
Öe  yrjv  Aaxedai/uovioig  aiayoov  vtvdfjiioxai'  xrjg  (6t)  aQyaiag  [toiQag 
ovdh  e^eaxtv.  Dieser  „alte  TheiP  [d.  h.  der  Antheil  an  der  tioXixixJ/  ywoa 
(unten  S.  260,  3)  im  Gegensatz  wahrscheinlich  vor  allem  zu  dem  in  Messenien 
eroberten  Gebiet]  ist  nichts  anderes  als  das  von  Lykurg  zugewiesene  Land- 
loos  :  Plut.  inst.  lac.  22  tvioi  6'  tcpaoav,  oxt  xal  xwv  £tvcov  og  av  iTCOfAtivfr 
xavxrjv  xyv  aoxTjotv  xfjg  noXixtiag  (vgl.  Xen.  Hell.  V  3,  9),  xaxa  xo  ßovXr\na 
xov  AvxovQyov  [Asxsrye  xijg  aQyij9tv  6 1  ax  tx  ay (itvijg  itoipag. 
ttojXslv  d'  ovx  i£fjv. 

3)  Diese  Umgehung  der  alten  Satzung  —  dass  es  sich  dabei  in  Wirk- 
lichkeit um  einen  Kauf  handelt ,  liegt  auf  der  Hand  —  kennt  Aristoteles 
II  6,  10  und  macht  dem  Gesetzgeber  daraus  schwere,  indessen  diesmal 
wirklich  ganz  unberechtigte  Vorwürfe.  Nach  Plutarch  Agis  5  (Phjiarch), 
dem  die  Neueren  folgen,  ginge  die  Form  der  Umgehung  auf  eine  Rhetra 
des  bösen  Ephoren  Epitadeus  zurück,  der  sich  mit  seinem  Sohne  über- 
worfen  hatte  und  denselben  zu  enterben  wünschte.  Ich  würde  gerne 
glauben,  dass  diesmal  die  spätere  detaillirtc  Angabe  wirklich  auf  einer 
Erweiterung  der  antiquarischen  Kenntnisse  beruhe;  indessen  die  Erzählung 
trägt  handgreiflich  den  Charakter  einer  ätiologischen  Anekdote,  wie  uns 
deren  in  der  römischen  Ueberlieferung  so  viele  begegnen;  ihre  ganze  Be- 
deutung beruht  auf  der  individuellen  Motivirung,  die  sie  der  Institution 
gibt.  Völlig  entscheidend  ist,  dass  die  Rhetra  ganz  unnöthig  ist;  wir 
haben  es  ja  mit  einer  legalen  Fiction  zu  thun ,   deren  Wesen  eben  darin 


259 

Mitgift  erhalten  konnten  und  um  eines  reichen  oder  einfluss- 
reichen Schwiegersohnes  willen  gewiss  oft  genug-  erhalten 
haben, ')  und  dass  namentlich  in  Folge  der  Kriege  die  Familien 
sehr  oft  bis  auf  eine  Erbtochter  ausstarben.  In  letzterem  Falle 
hatte  ursprünglich  der  König  zu  entscheiden,  wer  sie  zu  hei- 
rathen  hatte  und  dadurch  das  Erbgut  gewann  (Herod.  VI  57) ; 2) 
zu  Aristoteles  Zeit  verfügte  der  nächste  Verwandte  über  ihre 
Hand  und  vergab  sie  gewiss  oft  genug  nicht  an  einen  armen 
Verwandten,  der  dadurch  die  Familie  erhalten  konnte,  sondern 
an  einen  reichen  Mann,  der  seinen  Plänen  passte. 

Auf  diese  Weise  ist  der  Herrenstand  von  Sparta  noch  weit 
mehr  als  durch  die  fortwährenden  Kriege  decimirt  worden: 
wer  zu  wenig  besass,  um  seinen  Beitrag  zu  den  Syssitien  noch 
zahlen  zu  können,  schied  damit  aus  der  Zahl  der  Vollbürger. 
Zu  Aristoteles  Zeit  gab  es  keine  1000  Spartiaten  mehr,  und 
unter  ihnen  bildeten  die  Armen  vielleicht  schon  die  Mehrzahl. 
Jeder  Weiterdenkende  musste  sehen,  dass  dadurch  nicht  nur 
die  Machtstellung,  sondern  selbst  die  Existenz  des  Staates  ge- 
fährdet war.  wie  denn  auch  schon  im  fünften  Jahrhundert  kein 
Moment  für  die  spartanische  Politik  so  massgebend  gewesen 
ist,  wie  die  Rücksicht  auf  die  geringe  Zahl  der  Vollbürger.3) 
Es  lag  nahe,  auch  hier  mit  Reformideen  hervorzutreten.  Das 
ist  denn  auch  geschehen;  aus  ihnen  ist  die  Tradition  von  der 


besteht,  dass  das  alte  Gesetz  der  Form  nach  beobachtet,  also  gerade  nicht 
abgeändert  wird.  [Ueberdies  ist  Epitadeus' Gesetz  nachPlutarch  erst  ge- 
raume Zeit  nach  dem  Ende  des  peloponnesischen  Kriegs  erlassen;  wie  wäre 
es  aber  möglich ,  dass  es  dann  zu  Aristoteles'  Zeit  schon  in  dem  Umfang 
gewirkt  hätte,  wie  aus  dessen  Schilderungen  hervorgeht?] 

1)  Auch  inGortyn  wird  die  Höhe  der  Mitgift  erst  durch  das  „Gesetz 
von  Görtyn"  begrenzt,  nämlich  auf  die  Hälfte  des  Antheils  eines  Sohns. 
lustin  III  8  erzählt  freilich  von  Lykurg:  virgines  sine  dote  nubere  iussit; 
ebenso  Plut.  apophth.  Lac.  Lyc.  15.  Auch  hier  sind  die  idealen  Phantasien 
in  unseren  Berichten  einfach  an  die  Stelle  der  realen  Verhältnisse  gesetzt. 

2)  Vgl.  die  ausführlichen  Bestimmungen  über  die  Verheirathung  der 
Erbtochter  im  Gesetz  von  Gortyn. 

3)  vgl.  Xen.  pol.  Lac.  1,1  >/  Ztkxqtti  tüv  okiyav&QcoTtozäzüJv  noksajv 
ovaa.  Isokrates  panath.  255  sagt  von  den  Spartanern  zur  Zeit  der  Be- 
gründung des  Staates  ovxeq  ob  nlsiovq  xoxs  Sia/jXlcov.  Dem  stehen  He- 
rodots  7000  Spartiaten  (VII  234),  von  denen  5000  bei  Plataeae  kämpfen 
(IX  10.  28),  und  Aristoteles  Angabe  II  6,  12  xai  (paoiv  iivai  noxe  xotq  Snap- 
xiäxaiq  xai  fxvQtovq  gegenüber. 

17* 


260 

lykurgischen  Landaufteilung   erwachsen,   deren  vorbildlichen 
Charakter  Gkote  mit  Recht  betont  hat 

[Bekanntlich  gehen  die  Nachrichten  über  dieselbe  nicht 
weniger  stark  auseinander,  als  über  den  Ursprung  des  Ephorats. 
Grote's  Ansicht,  sie  sei  eine  Erfindung  des  dritten  Jahrhun- 
derts, ist  längst  aufgegeben ;  es  steht  durch  Polybios  fest,  dass 
Ephoros  sie  gekannt  hat. l)  Aber  Herodot,  der  die  von  Lykurg 
eingeführten  Neuerungen  aufzählen  will  ((xtrsorrjöe  xä  vofii^ia 
jiavza  etc.),  erwähnt  sie  nicht,  Xenophon  redet  nicht  von  ihr, 
Aristoteles,  der  doch  die  spartanischen  Grundbesitzverhält- 
nisse einer  scharfen  Kritik  unterzieht,  eben  so  wenig.  Auch 
Isokrates  panath.  178  bespricht  zwar  die  spartanischen  Grund- 
besitzverhältnisse —  alles  beste  Land  nehmen  die  Spartiaten 
für  sich,  und  zwar  soviel,  wie  sonst  niemand  in  Hellas  besitzt, 
die  Masse  der  Perioeken  erhält  das  dürftigste  Land,  von  dem 
sie  eben  leben  können  —  aber  von  einer  gleichmässigen  Ver- 
keilung des  Besitzes  ist  auch  hier  nicht  die  Rede.2)  Bei 
Plato  de  legg.  III  684  (vgl.  V  736  C)  ist  sie  direct  ausgeschlossen: 
die  Gesetzgeber  der  Dorer  haben  keine  Landaufteilung  und 
Schuldentilgung  nöthig  gehabt,  weil  durch  die  Eroberung  der 
Besitz  gleichmässig  vertheilt  war.  Dagegen  nach  Polybios, 
der  dem  Ephoros  folgt,  ist  die  Landaufteilung  das  wichtigste 
Werk  des  Lykurg.  Auf  ihn  geht  ?]  jrtQi  rag  xrrjöeig  loözrjg 
xal  jzzqI  ttjv  diatrav  a(piXtta  xal  xoivori]g  zurück,  welche  sie 
zu  oaxpQoveg  und  ihren  Staat  döraölaörog  macht  (VI  48) ;  ra 
jt£(ßl  rag  hyyaiovq  xrrjosig,  wv  ovdsvl  fitreorL  nlüov,  aXXcc 
jtavrag  rovg  üzoXixag  loov  %xuv  ^u  rrjg  JioXirixijg  yoiQag,*) 
daneben  die  Wertlosigkeit  des  Geldes,  und  die  Stellung  der 
Könige  und  Geronten  —  das  sind  die  Grundzüge  der  sparta- 
nischen  Staatsordnung  (VI  45).     Die   späteren   haben  Ephoros 


1)  Wachsmuth  Gott.  Gel.  Anz.  1870,  1814  ff. 

2)  Isokr.  Panath.  259  (ovöl  nokirelag  /ueraßolr/v  ovöl  /qecöv  anoxo- 
naq  ovöl  yrjq  avaöaoßbv  kann  man  bei  den  Spartiaten  naehweisen)  be- 
weist nach  keiner  Seite  hin  etwas,  da  hier  nur  von  der  historischen  Zeit 
die  Rede  ist,  nicht  von  der  Urzeit.  Im  übrigen  führt  auch  Leonidas  gegen 
Agis  Reformen  au,  dass  Lykurg  keine  Schuldentilgung  vorgenommen  habe 
(Plut.Agis  10). 

3)  [d.  i.  von  dem  Stadtgebiet  von  Sparta,  dem  Eurotasthai,  im  Gegen- 
satz sowohl  zu  dem  Ackerland  der  Perioekenstädte  wie  zu  den  ausserhalb 
Lakoniens  eroberten  Gebieten.    Die  Stelle  habe  ich  früher  missverstanden.] 


261 

Erzählung*  aufgenommen  und  weitergebildet;  mit  mehreren 
Varianten  liegt  sie  bei  Justin  und  Plutarch  vor.]  Als  einfache 
historische  Legende  hat  eine  derartige  Erzählung  keinen  Sinn ; 
auch  hier  besteht  ihr  Werth  lediglich  darin,  dass  sie  den  Zeit- 
genossen im  Spiegel  der  idealisirten  Vergangenheit  vorhält, 
was  sie  zu  thun  haben.  So  hat  sie  denn  auch  im  dritten  Jahr- 
hundert auf  Agis  und  Kleomenes  gewirkt.  Sollte  es  zu  kühn 
sein,  auch  hier  wieder  an  den  König  Pausanias  zu  denken? 
Dann  wäre  die  Speculation,  welche  Plato  in  den  Gesetzen 
vorträgt,  nichts  anderes  als  wieder  eine  Rectification  der  An- 
sicht des  Pausanias.  Ausdrücklich  hebt  Plato  hervor,  dass 
dem  Gesetzgeber  durch  diese  bei  der  Eroberung  selbst  ge- 
schaffene Gleichheit  die  gehässige  Aufgabe,  die  Vermögens- 
verhältnisse umzugestalten,  erspart  geblieben  sei.  Aristoteles 
hat  dann  die  Landauftheilung  ebenso  verworfen  oder  vielleicht 
einfach  ignorirt,  wie  er,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  die 
Orakel  bei  Ephoros  verworfen  hat. 


III.  Die  lykurgischen  Rhetreii. 

Von  der  Darstellung  des  Ephoros  weicht  die  bei  Plutarch 
gegebene  in  einem  wesentlichen  Punkte  ab.  Ueber  die  Insti- 
tutionen hat  er  in  der  Hauptsache  die  gleichen  Anschauungen: 
das  Ephorat  ist  spätem  Ursprungs,  Lykurgs  Hauptwerke  sind 
die  Einsetzung  der  Geronten  und  die  Landvertheilung,  daneben 
steht  als  tqitov  jtoXtTsvixa  xcu  xalXiöxov  die  Einsetzung  der 
Syssitien.  Auch  nach  Plutarch  lernt  Lykurg  die  kretischen 
Institutionen  kennen  und  holt  sich  die  Bekräftigung  seiner 
Pläne  aus  Delphi.  Ferner  kennt  er  den  Spruch  rpcuo,  cb  Av- 
xooQye  nebst  dem  Zusatz.  Die  weiteren  Orakel  des  Ephoros 
dagegen  sind  ihm  nicht  bekannt.  An  ihre  Stelle  treten  pro- 
saische Sprüche,  die  sogenannten  Rhetren.  Ausdrücklich  be- 
merkt Plutarch  in  der  Untersuchung,  weshalb  die  Pythia  jetzt 
nicht  mehr  in  Versen  weissage  (de  Pyth.  orac.  19),  die  Rhetren 
seien  dem  Lykurg  vom  Orakel  in  Prosa  gegeben  worden1)  — 


1)  ai   QrjiQai,   öi'   ojv   £xoo{j.t]G8   ztjv  Aaxeöaifiovlwv  noXixeiav  Av- 
xovQyoq,  eöo&rjoav  avxä>  xaza^oyäörjv. 


262 

zugleich  ein  Beweis,  dass  Plutarch  den  Ephoros  selbst  niemals 
eingesehen  hat,  wenn  er  ihm  auch  indirect  sehr  viel  Material 
verdankt. 

Diese  abweichende  Darstellung  Plutarchs  geht  nun  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  auf  Aristoteles  zurück,  aus  dem  ja 
überhaupt  ein  grosser  Theil  der  plutarchischen  Lykurgbiographie 
stammt  (c.  1.  5.  6.  14.  28  bis.  31). ')  Im  cap.  6  citirt  Plutarch 
nämlich  eine  erklärende  Bemerkung  des  Aristoteles  zu  der 
ersten  und  wichtigsten  dieser  Rhetren.  Wir  dürfen  also  an- 
nehmen, dass  Aristoteles  in  diesem  Punkte  dem  Bericht  des 
Ephoros  nicht  gefolgt  ist  —  vielleicht  erkannte  er  den  spä- 
teren Ursprung  seiner  Orakel  — ,  dass  er  dagegen  in  den  Rhetren 
ein  authentisches  Document  aus  der  Zeit  Lykurgs  zu  besitzen 
glaubte.  Wir  haben  uns  zunächst  mit  der  ersten  Rhetra  zu 
beschäftigen,  die  allgemein  ausser  von  Trieber2)  als  ein 
authentisches  und  uraltes  Document  anerkannt  wird.  Jetzt 
steht  durch  die  Gedichte  des  Isyllos  fest,  dass  sie  zu  Anfang 
des  dritten  Jahrhunderts  allbekannt  war,  denn  Isyllos  entlehnt 
aus  ihr  in  demselben  Gedicht  über  den  lagog  vofioq,  das  mit 
der  Nachahmung  des  Orakels  D  schliesst,  die  Worte  cogaig 
£§  cogäv  vofiov  ad  topos  oeßovrac. 

[Nach  Plutarch  sind  die  Rhetren  „Sprüche"'  der  Gottheit, 
die  dem  Gesetzgeber  als  Normen  dienen  (Sott  navxdav  sx 
AsXtpwv  xofiiöai  Jisgl  avrrjg  [die  Gerusia],  rjv  grjtgav  xaXovöiv 
Lyc.  6).  Dem  gegenüber  meinen  Gilbert3)  und  Wilamowitz,4) 
das  Wort  bedeute  „Vertrag",  und  es  liege  uns  hier  ein  uraltes 


1)  [ferner  ist  die  Erzählung  von  Tkeopoinps  Einsetzung  des  Ephorats 
c.  7  aus  Aristoteles  entnommen,  und  die  Begegnung  mit  Kreophylos  stimmt 
zu  Herakl.  pont.  (oben  S.  217,  3).  Seit  wir  wissen,  dass  Plutarch  die  pol. 
Athen,  des  Aristoteles  nicht  selbst  benutzt  hat,  sondern  nur  durch  spätere 
Vermittelung  kennt  —  eine  Thatsache,  die  mich  sehr  überrascht  hat  —  ist 
das  gleiche  natürlich  auch  für  das  Verhältniss  von  Plutarchs  Lykurg  zur 
noXiteia  Aaxsöaifioviojv  anzunehmen.] 

2)  Trieber  (Forschungen  zur  spart.  Verfassungsgesch.)  war  durch 
Rose's  Aristoteles  pseudopigraphus  verführt  worden,  die  Rhetra  nebst 
Aristoles'  Commentar  dazu  als  das  Werk  eines  späteren  Fälschers  zu  be- 
trachten. Er  hat  diese  Meinung  längst  zurückgenommen:  Gott.  Gel.  An/. 
1872,  828. 

3)  Studien  zur  altspart.  Gesch.    Gr.  Staatsalt.  I  8. 

4)  Homer.  Unters.  280, 


263 

Document  vor,  welches  die  durch  einen  Vertrag',  sei  es  zwischen 
den  verschiedenen  Gemeinden  oder  Staaten,  aus  denen  nach 
dieser  Ansicht  Sparta  erwachsen  wäre  (Gilbert),  sei  es  zwischen 
Königen  und  Adel  (Wilamowitz)  geschaffene  Neuordnung  des 
spartanischen  Staates  enthalte.  Es  gilt  daher  zunächst  die 
wirkliche  Bedeutung  des  Wortes  festzustellen. 

Q?jTQa  ist  eins  der  zahlreichen  homerischen  Worte,  die  der 
classischen  Sprache  verloren,  dagegen  dialektisch  lebendig  ge- 
bliehen sind.  Wir  finden  es  auf  Cypern,  in  Elis  und  in  Sparta 
—  sprachliche  Berührungen  zwischen  Elis  und  Sparta  finden 
sich  ja  vielfach.  In  der  Odyssee  g  393  bezeichnet  es  einen 
Vertrag,  ein  Abkommen  zwischen  Odysseus  und  Eumaios,  die 
grosse  Tafel  von  Idalion  (Collitz  60,  28.  29)  enthält  rag  fgrj- 
zag[)  „die  Verträge,  Abmachungen",  welche  Stasikypros  und 
die  Idalier  mit  dem  Arzt  Onasilos  geschlossen  haben  (svfQTjra- 
öarv  ßaöiZevg  xag  a  Jiohg  (ZI.  4  14).  Die  olympische  Bronze 
IGA.  110  enthält  die  fgarga  d.  h.  den  Vertrag  zwischen  Eliern 
und  Heraeern;  IGA.  118  die  fgarga  zwischen  Anaitern  und 
Metapiern.  Aber  IGA.  112  a  fgarga  xotg  faksioig  heisst  „Ge- 
setz für  die  Elier",  IGA.  112,  2  a  fgaxga  a  dafioöLct  „das  Volks- 
gesetz", und  auch  IGA.  113  a  fgaxga  xolq  XaXaÖQiOQ  xcu  Atv- 
xaXiovi  sollte  man  fgaxga  nicht  mit  Vertrag  übersetzen,  denn 
von  Gegenseitigkeit  ist  hier  keine  Rede;  es  ist  ein  Gemeinde- 
schluss,  durch  den  dem  Deukalion  das  Bürgerrecht  und  wei- 
tere Privilegien  verliehen  werden.  Bei  Xenophon  anab.  VI  6,  28 
iva  .  . .  öiaocoOtis  xolg  hjöxalg  jiaga  ttjv  grjxgav  xa  igf^iaxa 
bezeichnet  das  Wort  einen  Beschluss  des  Heeres  (et  xig  ycogig 
ajieZ&cov  laßoi  xi,  örjfioöLOv  ldo$tv  etvat  VI  6,  2)2).  Mithin  be- 
deutet das  Wort  sowohl  „Vertrag",  wie  „Gesetz",  oder  viel- 
mehr ganz  im  allgemeinen  ..Spruch"  in  dem  Sinne  einer  recht- 
lich bindenden  „Satzung".3) 

1)  Das  zweite  q  ist  im  Kyprischeii  ausgestossen. 

2)  Wilamowitz  1.  c.  behauptet,  es  bedeute  auch  hier  „Vertrag",  und 
zwar  „im  Munde  eines  Spartiaten".  Aber  was  ein  Heer  über  sich  beschliesst, 
ist  kein  Vertrag,  sondern  eine  Satzung,  ein  Gesetz,  und  der  Redner  bei 
Xenophon  ist  kein  Spartiate,  sondern  ein  gemeiner  Soldat  aus  dem  Xö%og 
des  Stymphaliers  Agasias. 

3)  Im  übrigen  vgl.  Photius  s.  v.  grjTQca  ■  avv&rjxai,  köyoi,  öftokoyicu. 
TaQavxlvoi  dt  vö/iov  xal  oiov  iptjcpiG/uara.  naga  AazEÖcufxovioig  Q^zga 
AvxovQyov  vo/uoq,  (bq  ex  '/QrjG/Lidjv  Tid-e/Aevoq. 


264 

In  Sparta  wird  QrjfCQa  im  dritten  Jahrhundert  zur  Bezeich- 
nung eines  regelrecht  zu  Stande  gekommenen  Gesetzes,  ja  auch 
zur  Bezeichnung  des  an  die  Volksversammlung  gebrachten  Ge- 
setzesantrags gebraucht.  Das  angebliche  Gesetz  des  Epitadeus 
(S.  258,  3)  heisst  eine  (rfxga  (Plut.  Agis  5),  ebenso  wird  Agis' 
Landvertheilungsbill  genannt  (Plut.  Agis  8.  9).  Wir  haben  nicht 
den  mindesten  Grund  anzunehmen,  dass  Plutarch  oder  vielmehr 
Phylarch  das  Wort  lediglich  einer  antiquarischen  Schrulle  zu 
Liebe  gebraucht  habe:  Agis  hat  offenbar  seinen  Antrag  selbst 
als  Rhetra  bezeichnet.  Dieselbe  Bedeutung  hat  das  Wort  be- 
reits in  den  oben  besprochenen  Distichon  F.  v.  6  „evfcfatg 
QtjTQcug  dvTcuiafiEißofupovc"  d.  h.  der  Demos  soll  den  Rhetren, 
den  Gesetzesanträgen,  wenn  sie  richtig  sind,  zustimmen  (oben 
S.  228).  Wir  können  daher  nicht  zweifeln,  dass  Qtjxga  in  Sparta 
selbst  weder  die  Bedeutung  „Vertrag"  noch  die  ihm  von  Plutarch 
zugeschriebene  Bedeutung  eines  von  der  Gottheit  gegebenen 
Spruchs  gehabt  hat,  sondern  einfach  „Gesetz"  und  „Gesetzes- 
antrag" (vielleicht  mit  Beschränkung  auf  constitutive  Ord- 
nungen) bedeutete.] 

Indessen  sehen  wir  uns  die  lykurgische  Rhetra  selbst  näher 
an.     Sie  lautet  in  den  Handschriften: 

Aiog  SvXXaviov  xal  l4&?]väg  2vXXaviag  l)  ItQov  lögvöd^itvog 
(leg.  -ov),  cpvXag  (pvXd^avxa  xal  mßag  wßd^avxa ,  xgidxovxa 
yegovöiav  övv  dgxaytxatg  xaxaOxijöavxa,  a>Qag  e$  a>gag  anhX- 
Xd^uv  (leg.  -C,eiv)  (isxagv  Baßvxaq  xt  xal  Kvaxiowog,'1)  ovxwg 
slcrpdQEiv  xe  xal  d<plaxaö&ai'  ya^möav  yoQiavrjfttjv*)  xal  xqd- 

1)  Man  pflegt  die  Beinamen  in  ''Ellavioq  (-a)  zu  ändern.  Wilamo- 
witz,  Hom.  Unters.  94  Anm.,  bezieht  darauf  Herod.  V  49 ,  wo  Aristagoras 
den  Kleomenes  als  7tQoaxaxr]q  xt\c,  ^EXkäöog  beschwürt:  tiqoq  &E(öv  xwv 
^EU.Tjvlwv  Qvaao^e  "Iwvaq  etc.  Möglich  ist  das,  aber  nöthig  nicht;  es  kann 
auch  einfach  soviel  heissen  wie  „bei  den  Göttern  von  Hellas".  Ebenso 
sagen  die  Athener  Herod.  IX  7  rj/uelc  de  dia  xe  "ElXi/viov  aiöead-Evzeg  etc. 
[Zu  dem  Beinamen  Svkkaviog  vgl.  Zekkccvvov  als  Name  einer  Oertlichkeit 

\  zwischen  Epidauros  und  Korinth  in  dem  megarischen  Schiedsspruch  'E(p. 
üqx.   1887,  11  ==  Collitz  3025  ZI.  4.J 

2)  Ueber  die  Frage,  was  das  für  Localitäten  waren,  sind,  wie  Plutarch 
bemerkt,  Aristoteles  und  andere  alte  Ausleger  verschiedener  Meinung  ge- 
wesen. Es  ist  daher  völlig  unmöglich,  dass  wir  darüber  etwas  aussagen 
können. 

3)  Die  Stelle  ist  ganz  corrupt.  Man  pflegt  zu  emendiren:  öa^y  dl 
xav  xvqiav  tfaev. 


265 

rog'  dl  öe  öxoltäv  6  öäfiog  Iqolto,[)  tovq  jtQsößvysveaq  xal 
agiaytraq  ajtoöraTrjQaq  ijfisv.  Dieser  letzte  Satz  ist  nach 
Plutarch  ein  Zusatz  des  Polydor  und  Theopomp,  das  übrige 
ist  der  dem  Lykurg  gewordene  Götterspruch.  Nach  Gilbert 
dagegen  wäre  es  ein  Vertrag  zwischen  den  drei  Gemeinden  der 
Agiaden,  Eurypontiden  und  Aigiden,  aus  denen  nach  ihm  Sparta 
synoekisirt  sein  soll,  nach  Wilamowitz  ein  Vertrag  zwischen 
König  und  Demos  d.  h.  der  Adelskaste,  nach  allgemeiner  An- 
nahme das  Grundgesetz  des  spartanischen  Staates.  Ich  muss 
offen  bekennen,  dass  ich  nicht  verstehe,  wie  man  irgend  eine 
dieser  Auffassungen  für  richtig  halten  kann.  „Theile  das  Land 
in  Provinzen  und  Kreise  —  die  Bedeutung  des  Staatsheilig- 
thums  lässt  sich  in  modernen  Verhältnissen  nicht  wiedergeben 
—  berufe  einen  Reichrath  von  30  Männern  mit  Einschluss  des 
Königs,  halte  jeden  Monat  (Sgaa  sg  wQaq)  eine  Parlament- 
sitzung in  Berlin  ab  und  bringe  da  deine  Anträge  ein  —  oder 
was  ovrcog  riöyeQecv  tf  xal  a<piöraG&ai  sonst  bedeuten  mag 2)  — ; 
das  Parlament  aber  soll  die  Entscheidung  haben  [falls  die 
Correctur  der  verstümmelten  Stelle  das  richtige  trifft]".  Ist 
denn  das  ein  Gesetz  oder  ein  Vertrag,  durch  den  beispiels- 
weise der  preussische  Staat  oder  das  deutsche  Reich  begründet 
oder  geordnet  werden  könnte?  Bei  keiner  einzigen  der  Vor- 
schriften steht  ja  irgend  etwas  über  den  Modus  der  Austührung 
darin.  Plutarch's  Anschauung  ist  wenigstens  insofern  conse- 
quent,  als  bei  ihm  die  Rhetra  nur  eine  dem  Lykurg  von  der 
Gottheit  gegebene  Directive  ist,  die  er  ins  Detail  ausführt. 
Aber  die  Neueren  sehen  in  der  Formel  einen  constitutionellen 
Act,  bei  dem  ja  gerade  das  Detail,  die  Abgrenzung  der  Rechte 
der  einzelnen  Factoren  das  maasgebende  ist.  Wie  viele  Phylen 
und   Oben    sollen   eingerichtet   werden?3)    welche   Functionen 


1)  So  die  Handschriften:  gewöhnlich  liest  man  tXoizo,  Reiske  aiQolzo. 

2)  Ueber  die  Bedeutung'  der  Worte  ist  viel  gestritten  worden.  Plu- 
tarch erklärt  den  Schlusspassus:  zov  dl  n).rid-ovQ  a&QOLO&ivzoq  elnelv 
ßhv  ovdsvl  yvojfitjv  zwv  aXXajv  htpelzo,  ztjv  (T  vnb  zwv  yEQÖvzwv  xal  zo~jv 
ßaoiXzojv  Tigozz&Hoav  InixQivai  xvqioq  yjv  6  öfjfxog.  In  der  Zusatzrhetra 
erklärt  Plutarch  das  dnoozazrj^aq  }}ßtv  durch  fA.rj  xvqovv  aXX''  oXwq 
ä<piGzao&cu  xal  diaXvsiv  zov  dfjfxov.  Danach  heisst  äcpiozaa&ai  „weg- 
treten lassen",  „auflösen". 

3)  Wir  wissen  denn  auch  in  der  That  gar  nichts  über  die  sparta- 
nischen Phylen  und  Oben, 


266 

stehen  ihnen  im  Staatlichen  zu?  Wie  werden  die  achtund- 
zwanzig  Alten  gewählt,  was  haben  sie  zu  thun,  wie  stehen  sie 
dem  König  gegenüber?  wer  hat  die  Initiative  der  Gesetz- 
gebung? nur  die  Könige  oder  auch  der  Eath  oder  auch  noch 
andere  Beamte  oder  jeder  Bürger?  Einzig  die  Rechte  des 
Demos  scheinen  genauer  bestimmt  und  doch  vermissen  wir 
auch  hier  gar  manches.  Wie  stimmt  der  Demos  ab?  als  Ge- 
sammtheit  oder  klassenweise,  etwTa  nach  Phylen  und  Oben 
geordnet?  Welche  Dinge  gehören  zu  seiner  Competenz?  jede 
Verwaltungsmassregel  oder  nur  ein  Theil  derselben  oder  nur 
die  eigentliche  Gesetzgebung  oder  was  sonst  für  Möglichkeiten 
sind?  Genug,  wohin  wir  blicken,  überall  treten  uns  Fragen 
in  Masse  entgegen,  aber  nirgends  erhalten  wir  eine  Antwort. 
Auf  die  lykurgische  Rhetra  lässt  sich  ein  Staat  so  wenig 
gründen  wie  etwa  auf  die  Menschenrechte  Lafayette's.  Und 
liegt  es  denn  im  übrigen  nicht  auf  der  Hand,  dass  dieser  Rhetra 
die  zwar  dem  ganzen  Alterthum  allein  geläufige  aber  völlig 
unhistorische  Anschauung  zu  Grunde  liegt,  eine  Staatsordnung 
entstehe  durch  den  Willen  eines  Gesetzgebers,  der  sie  aus  dem 
Nichts  oder  dem  Chaos  hervorzaubert?  Wer  glaubt,  dass  in 
Sparta  die  Eintheilung  des  Volks  in  Phylen  und  Oben,  der 
Rath  der  Alten  und  das  Recht  der  Volksversammlung  durch 
einen  einmaligen  Akt  ins  Leben  gerufen  seien,  der  muss  auch 
glauben,  dass  König  Romulus  in  Folge  einer  Eingebung  seines 
souverainen  Willens  das  Volk  in  Tribus  und  Curien,  in  Patrieier 
und  Plebeier  getheilt  hat. 

Auf  alle  die  Fragen,  welche  wir  eben  aufgeworfen  haben, 
bedurfte  nur  derjenige  keiner  Antwort,  welcher  im  spartanischen 
Staate  lebte  und  die  Functionen  der  einzelnen  Factoren  von 
Jugend  auf  tagtäglich  sich  vollziehen  sah.  Für  ihn  war  die 
Bedeutung  der  Phylen  und  Oben,  die  Competenz  der  Alten 
und  der  Könige  etwas  selbstverständliches,  von  der  Natur  ge- 
gebenes. Mit  anderen  Worten,  die  Rhetra  ist  nichts  anderes 
als  eine  Formulirung  der  im  spartanischen  Staate  bestehenden 
Ordnung,  aber  nicht  etwa  die  Grundlage,  auf  der  diese  letztere 
aufgebaut  ist.  Sie  hat  ihr  Analogon  in  den  Gesetzesformeln, 
welche  Cicero  in  den  leges  gibt  und  mit  denen  auch  kein 
Mensch  etwas  anfangen  kann,  der  die  Institutionen  des  römi- 
schen  Staates   nicht  kennt.    Sie    ist  ein   secundäres   Product, 


267 

eine  Prosaredaction  der  Grundzüge  der  Verfassung-,  welche  der 
oben  besprochenen  poetischen,  namentlich  den  angeblichen 
Tyrtaeosversen,  die  denselben  Inhalt  haben,  gleich  werthig  zur 
Seite  steht.  Aelter  als  diese  Verse  ist  sie  denn  auch  auf 
keinen  Fall.  Sie  stimmt  inhaltlich  genau  zu  den  Versen  aQxstv 
fiev  ßovhj  etc.  und  schliesst  das  Ephorat  von  den  lykurgischen 
Einrichtungen  aus.  Hätte  es  zu  Herodots  Zeit  schon  eine  der- 
artige Formulirung  gegeben,  so  würde  in  ihr  das  tcpopovq 
xaraöT?jöavra  ebenso  gut  stehen  wie  in  Herodots  Bericht  (jtqoc; 
öh  tovtoiq  zovg  hrpoQOVQ,  xal  ytQorraQ  sortjoe  AvxovQyoo). 
Es  mögen  vielleicht  ältere  Formulirungen  zu  Grunde  liegen, 
aber  so  wie  Aristoteles  sie  aufzeichnete,  war  die  Rhetra  höch- 
stens etwa  fünfzig  Jahre  alt. 

[Ferner  aber  setzt  die  Rhetra  die  Ansicht  voraus,  dass 
die  Verfassung  von  Apoll  stammt ;  die  Plutarchische  Erklärung, 
sie  sei  der  dem  Lykurg  gegebene  Spruch,  die  allgemeine  Di- 
rective,  nach  der  er  die  Verfassung  ordnen  sollte,  bleibt  die 
einzig  haltbare.  Sie  wird  bestätigt  durch  den  Dialekt;  denn 
dieser  ist  keineswegs  der  spartanische,  sondern  der  spätere 
delphische,  den  wir  aus  den  zahlreichen  delphischen  Urkunden 
kennen. l)  Daraus  erhellt  zugleich,  dass  die  Rhetra  nicht  etwa, 
wie  ich  früher  glaubte,  spartanischen  Ursprungs,  sondern  ein 
Erzeugniss  der  Literatur  ist,  genau  so  gut  wie  die  Orakel. 
Und  damit  fällt  endlich  auch  auf  die  eigenthümliche  Bedeu- 
tung, in  der  das  Wort  Qr/rga  hier  verwendet  wird,  ein  helles 
Licht.  Der  Verfasser  wusste,  dass  man  in  Sparta  die  Gesetze 
als  QTjTQai  bezeichnete,  verstand  aber  das  ihm  unbekannte  Wort 
fälschlich  als  „Spruch".  Das  konnte  natürlich  für  jemanden, 
der  an  die  Ableitung  aus  Delphi  glaubte,  nur  ein  Spruch  des 
Gottes  an  Lykurg  sein.  Damit  ist  das  Machwerk  völlig  ent- 
larvt ; 2)  und  es  ist  zugleich  klar,  dass  in  Sparta  selbst  das  Wort 
(njTQa  niemals  den  Sinn  gehabt  hat,  der  ihm  hier  untergelegt 
wird  —  ebenso  wenig  wie  sonst  irgendwo  in  Griechenland.] 


1)  Diese  evidente  Entdeckung,  die  ich  1887  übersehen  hatte,  stammt 
von  Bergk  (Lyrici  II4  p.  10). 

2)  Trotzdem  behält  es  für  uns  als  Quelle  für  die  Kenntniss  der  in 
historischer  Zeit  in  Sparta  bestehenden  Verhältnisse  bei  der  Dürftigkeit 
unseres  sonstigen  Materials  einen  gewissen  Werth. 


268 

Mit  dem  Haupttheil  der  Rhetra  fällt  auch  der  angebliche 
Zusatz  des  Polydor  und  Theopomp,  die  Bestimmung*,  welche 
den  Königen  und  dem  Rath  der  Alten  das  Recht  gibt,  die  Be- 
schlüsse des  Demos  zu  confisciren.  Wie  sich  ihre  Zurückfüh- 
rung  auf  Theopomp  zu  der  Ansicht  verhält,  der  letztere  habe 
die  Ephoren  eingesetzt,  ist  völlig  unklar.  Nur  sollten  wir  uns 
nicht  einbilden,  über  die  spartanische  Verfassungsgeschichte 
im  achten  Jahrhundert  eine  ächte  Ueberlieferung  zu  haben, 
wo  uns  selbst  aus  dem  fünften  und  vierten  Jahrhundert  keine 
Spur  derselben  vorliegt.1) 

Bestätigt  wird  das  hier  ausgesprochene  Urtheil  über  die 
Rhetra  dadurch,  dass  neben  ihr  noch  drei  andere  überliefert 
werden,  welche  eben  so  gut  bezeugt  sind  wie  die  besprochene. 
Es  sind  die  drei  Sätze,  keine  geschriebenen  Gesetze  zu  haben 
(d.  h.  nicht  nach  einem  Gesetzbuch,  sondern  nach  Herkommen 
Recht  zu  sprechen),  das  Dach  des  Hauses  nur  mit  dem  Beil, 
die  Thür  nur  mit  der  Säge  zu  verfertigen,  und  nicht  wieder- 
holt gegen  dieselben  Feinde  zu  kämpfen  (Plut.  Lyc.  12,  Ages.  26, 
de  esu  carnis  2,  6,  6  u.  sonst).  Diese  drei  kleinen  Rhetren  sind 
uns  ebenso  gut  wie  die  grosse  nur  aus  Plutarch  bekannt;  wir 
dürfen  also,  wie  Goettltn<j  und  Trieber  mit  Recht  hervor- 
heben, die  grosse  nicht  als  echt  anerkennen,  wenn  wir  die 
kleinen  verwerfen.     Und  umgekehrt  wird  Aristoteles  die  letz- 


1)  Es  ist  seltsam,  dass  Pausanias'  Angabe  III  11,  tu,  das  Staatssiegel 
der  spartanischen  Beamten ,  d.  i.  der  Ephoren .  sei  das  Bild  Polvdors  ge- 
wesen, noch  immer  auf  Treu  und  Glauben  angenommen  und  zur  Stütze 
dieser  verfassungsgeschichtlichen  Angaben  verwerthet  wird.  Wie  spät 
kommt  selbst  in  streng  monarchischen  Staaten  der  Brauch  auf,  den  Kopf 
des  Königs  auf  die  Münzen  zu  setzen !  Und  gab  es  im  achten  Jahrhundert 
in  dem  recht  wenig  cultivirten  Sparta  Steinschneider,  welche  ein  Portrait 
zu  graviren  die  Fertigkeit  und  die  Gelegenheit  gehabt  hätten?  Eine 
menschliche  Figur  —  die  natürlich  einen  Gott  darstellen  sollte  —  wird  auf 
dem  Siegel  wohl  gewesen  sein,  und  ein  späterer  Antiquar  hat  sie  dann 
für  das  Bild  des  guten  Königs  Polydoros  ausgegeben,  der  trotz  all  seiner 
Güte  und  Volksfreundlichkeit  (xal  xaxa  yvojturjv  Accxeöatfiovicov  /nahaza 
ovtl  zw  6)}ficp  heisst  es  bei  Pausanias  —  diese  Quelle  weiss  also  von  der 
Zusatzrhetra  nichts)  dennoch  von  dem  bösen  Polemarchos  ermordet  wird, 
der  freilich  auch  sein  Grabmonument  in  Sparta  hat  (Pausan.  III  3).  Man 
sollte  doch  endlich  aufhören,  aus  solcher  Afterweisheit  die  ältere  grie- 
chische Geschichte  zu  „reconstruiren". 


269 

tereu  eben  so  gut  angeführt  haben  wie  die  erstere.  Bei  den 
kleinen  Rhetren  lehrt  aber  der  erste  Blick,  dass  sie  nichts 
weiter  sind  als  knappe  Formulirungen  herkömmlicher  Bräuche 
und  Grundsätze,  welche  dem  Gesetzgeber  resp.  dem  Orakel  in 
den  Mund  gelegt  werden. ')  Von  Lykurg  stammen  alle  vier 
Rhetren  ebensowenig  wie  z.  B.  das  Verbot  des  Geldes,  das  es 
zu  Lykurg's  Zeit  noch  gar  nicht  gab. 


IV.  Die  Ausbildung  der  Lykurglegeude. 

Durch  die  vorausgehenden  Untersuchungen  haben  wir,  wie 
ich  glaube,  über  die  Entstehung  der  detaillirten  Berichte  über 
das  Werk  des  Lykurgos  eine  in  den  Grundzügen  gesicherte 
Einsicht  gewonnen.  Wie  Ephoros'  Darstellung  entstanden  ist, 
liegt  klar  vor  Augen.  Auf  der  einen  Seite  fand  er  die  schon 
zu  Herodots  Zeit  in  Sparta  herrschende  Ansicht ,  die  Gesetz- 
gebung stamme  aus  Kreta,  die  sich  inzwischen  weit  über 
Griechenland  (vgl.  Plato's  Minos)  und  auch  nach  Kreta  selbst 
verbreitet  hatte.  Auf  der  anderen  Seite  war  die  Ableitung 
von  Delphi  jetzt  in  Sparta  officiell  anerkannt  und  die  authen- 
tische Fassung  der  Orakel  lag  in  Pausanias'  Schrift  vor.  Ephoros 
combinirte  die  beiden  sich  ursprünglich  ausschliessenden  Mei- 
nungen durch  seine  rationalistische  Deutung.  Hierin  sind  ihm 
alle  Späteren  gefolgt;  dagegen  ersetzte  Aristoteles  die  Orakel- 
verse durch  die  prosaischen  Rhetren.  Daher  sind  die  Spä- 
teren über  die  Frage,  wieviel  von  Lykurgs  Gesetzen  im 
einzelnen  auf  Delphi  zurückgeht,  verschiedener  Ansicht: 
Diodor  folgt  dem  Ephoros,  Plutarch  dem  Aristoteles,  aber 
Trogus 2)  begnügt  sich  mit  der  von  Xenophon  ausgesprochenen 
Ansicht,   dass  Lykurg  den  Apoll   für  den  Urheber   seiner  Ge- 


1)  Plu/tarch  kennt  weitere  Rhetren  als  die  grosse  und  die  drei  kleinen 
nicht,  sei  es  dass  man  überhaupt  nicht  mehr  verfertigt  hat,  sei  es  dass 
seine  Quellen  —  das  ist  in  letzter  Linie  Aristoteles  —  weitere  nicht  auf- 
genommen haben. 

2)  In  Justins  Geschichte  des  Lykurg  zeigt  sich  durchweg,  dass 
Trogus  nichts  weniger  als  ein  Ausschreiber  war,  sondern  die  verschieden- 
sten Quellen  mit  grosser  Umsicht  in  einander  gearbeitet  hat,  ebenso  wie 
in  der  persischen  Geschichte.    Vgl.  S.  273. 


270 

setze  ausgegeben  habe,  ohne  im  einzelnen  die  Orakel  auszu- 
führen (III  3,  10).  Im  übrigen  ist  es  sehr  bezeichnend,  dass 
Aristoteles  in  der  äusseren  Geschichte  der  Verfassung",  die  für 
ihn  mehr  nebensächlich  ist,  sich  in  den  wesentlichen  Punkten 
an  Ephoros  angeschlossen,  dagegen  die  Darstellung  der  In- 
stitutionen völlig  selbständig  und  abweichend  von  ihm  ge- 
geben hat. 

Während  die  ältere  Auffassung  die  bestehende  Verfassung 
als  eine  Einheit  betrachtet,  haben  die  politischen  Bewegungen 
der  Zeit  des  Pausanias  zur  Folge  gehabt,  dass  man  ältere  und 
jüngere  Institutionen,  angeblich  echt  lykurgische  Satzungen  und 
spätere  Neuerungen  zu  scheiden  begann.  So  kam  man  zu  den 
Grundzügen  einer  Verfassungsgeschichte,  von  der  die  Aelteren 
nichts  gewusst  hatten.  Wie  vielfach  diese  Dinge  im  vierten 
Jahrhundert  discutirt  wurden,  lehrt  der  Eingang  des  Heraklides 
Ponticus:  t?)v  Aaxtdcufiovicov  jioXtTt'iav  rivhq  Avxoi'gyoj  jiqo- 
öäjiTovöi  jcäöav,  ein  Satz,  der  aus  der  Einleitung  von  Aristo- 
teles üiolirda  Aaxtöaifiovicov  excerpirt  ist. !) 

Ueber  die  Gesetzgebung  sind  wir  mithin  im  reinen. 
Die  Aelteren  führten  einfach  die  zu  ihrer  Zeit  bestehenden 
Institutionen  auf  Lykurg  —  oder  wie  Hellanikos  auf  die  ersten 
Könige  —  zurück,  die  Späteren  folgen  einer  ausgeführten  Be- 
arbeitung der  Gesetzgebung,  welche  sehr  bestimmte  praktische 
Ziele  verfolgt  und  in  Wirklichkeit  mit  Lykurg  gar  nichts  zu 
thun  hat.  Eine  Ueberlieferung  über  die  spartanische 
Verfassungsgeschichte  gibt  es  nicht. 

Wie  steht  es  aber  mit  der  Person  des  Gesetzgebers? 
Ziehen  wir  zunächst  alles  ab,  was  sich  als  Combination  erweist. 
Lykurg  holt  seine  Gesetze  von  Kreta;  mithin  ergab  sich  von 
selbst,  dass  er  gereist  war,  und  dass  er  bei  der  Gelegenheit 
sich  auch  die  Institutionen  des  uralten  Culturstaates  Aegypten 
ansah,  war  nur  natürlich.  Ebenso  entspringt  die  persönliche 
Begegnung  mit  Homer  —  die  dann  von  den  Späteren  entweder 
aus  chronologischen  Bedenken  rectificirt  oder  zu  Combinationen 
über  die  Schicksale  der  homerischen  Poesie  verwerthet  wird  — 
demselben   Triebe,    der   die   sieben   Weisen   an    den   Hof  des 


1)  Dass  die  Politien   des  sogenannten  Heraklides  nichts  sind  als  ein 
sehr  flüchtiges  Excerpt  uns  Aristoteles,  ist  jetzt  durch  die  pol.  Ath.  erwiesen. 


271 

Kroesos   geführt  oder  Lykurg*   und  Zaleukos   zu  Schülern   des 
Kreters  Thaies  (Arist.  pol.  II,  9,  5)  gemacht  hat.  *) 

Von  der  Art,  wie. Lykurg  seine  Gesetze  durchgeführt  habe, 
ein  klares  Bild  zu  entwerfen  ist  keinem  der  Alten  gelungen, 
wie  es  denn  ja  auch  eine  ungeheuerliche  Vorstellung  ist,  dass 
ein  Mann  durch  weise  Vorschriften  die  ganze  Lebensweise 
eines  Volksstammes  umgestaltet.  Doch  war  es  natürlich,  dass 
man,  als  man  die  Gesetzgebungsgeschichte  weiter  ausbildete, 
auch  einige  Anschaulichkeit  in  dieselbe  hineinzutragen  ver- 
suchte. So  meint  Xenophon,  Lykurg  könne  unmöglich  auch 
nur  versucht  haben,  seine  Ordnung  durchzuführen,  ohne  sich 
vorher  mit  den  angesehensten  Männern  verständigt  zu  haben 
(8,  1  eyca  y.ivxoi  ovo'  ayyeioijöcu  oi^iai  jzqotsqov  top  Avxovqjov 
xavxi]V  x?]v  ivta^lav  xa&iozavca  jiqIv  Ofioyvwfiorag  EJiotrjöaro 
xovg  xQctTiöTOVQ  Tojp  Iv  zf]  jiolzi).  Diese  Vermuthung  haben 
die  folgenden  aufgegriffen,  um  damit  zugleich  die  Zahl  der 
Geronten  zu  erklären:  Aristoteles  meinte,  es  seien  dreissig  Ge- 
nossen gewesen,  von  denen  zwei  zurücktraten,  während  Sphairos 
es  von  Anfang  an  nur  28  sein  Hess.  Wie  es  sich  gehörte, 
wusste  Hermippos  zwanzig  von  ihnen  bei  Namen  zu  nennen, 
darunter    als    wichtigsten    Arthmiadas    (Plut.  Lyc.  5).  •)     Dass 


1)  Die  persönliche  Bewegung  des  Homer  und  Lykurg  ist  dem  Ephoros 
überliefert:  evxvyövxa  ti  wg  (paal  xivfq  xal  ^Optr'jQa)  öiaxQißovxi  iv  Xica. 
Dass  er  bei  dieser  Gelegenheit  die  homerischen  Gedichte  kennen  lernt  und 
auch  mitnimmt,  wird  Ephoros  wohl  schon  erzählt  haben;  aber  dahinter 
mit  Wilamowitz  Hom.  Unters.  286  irgend  etwas  weiteres  zu  suchen,  sehe 
ich  keinen  Grund.  Dass  Homer  in  Sparta  bekannt  und  angesehen  war, 
sagt  Megillos  in  den  platonischen  Gesetzen  III  (580  c  rj.uetq  d'  av  "/Qalfte&a 
(xlv  ('O/ut'/Qü))  xal  toizs  ys  xgaxtlv  xcöv  xoiovxwv  (der  auswärtigen) 
Tioirjxwv  und  wird  überdies  durch  die  systematische  Anknüpfung  an  die 
homerischen  Gedichte  bewiesen  (Ueberführting  der  Leiche  des  Orestes, 
Geschlecht  der  Talthybiaden,  Herod.  VII  159  u.  a.).  Aber  dass  hier  irgend- 
wie ein  Gegensatz  gegen  die  attische  Redaction  und  Interpolation  des 
Solön  und  Pisistratos  beabsichtigt  sei,  ist  durch  nichts  angedeutet,  eben- 
sowenig dass  die  Nachricht  auf  Dieuchidas  zurückgehe,  was  Wilamowitz 
voraussetzt,  —  [Wie  mit  Homer  und  dem  Kreter  Thaies  haben  andere 
den  Lykurg  mit  Terpander  in  Verbindung  gebracht,  dessen  Zeit  ja  auch 
stark  schwankte :  nach  dem  Peripatetiker  Hieronymos  (Athen.  XIV  635  f.) 
sind  beide  Zeitgenossen.] 

1)  Auch  in  diesem  Capitel  zeigt  sich  wieder  Aristoteles  als  letzte 
Grundlage  der  plutarchischen  Version,  während  Ephoros  auch  hier  nicht 


272 

diese  ätiologische  Erzählung-  zum  Institut  des  Gerusia  sehr 
schlecht  stimmte,  hat  Aristoteles  übersehen:  die  Geronten  sind 
Greise,  die  Genossen  des  Lykurg  müssen  als  kräftige  Männer 
gedacht  werden  —  zur  Einschüchterung  der  Bürger  lässt  man 
sie  bewaffnet  den  Markt  besetzen. 

In  ähnlicher  Weise  erzählt  Aristoteles  pol.  II  6,  8  eine  Ge- 
schichte, Lykurg  habe  auch  die  Frauen  zur  Zucht  bringen 
wollen,  habe  das  aber  in  Folge  ihres  Widerspruchs  aufgeben 
müssen  —  eine  Erzählung,  die  bei  den  spätem  Lykurgenthusiasten 
argen  Anstoss  erregte  (Plut.  Lyc.  14).  Ebenso  ist  es  nur  eine  Com- 
bination,  wenn  Hippias  (Plut.  Lyc.  23,  oben  S.  242)  behauptete, 
Lykurg  sei  sehr  kriegerisch  gewesen  und  habe  viele  Feldzüge 
mitgemacht:  entsprach  das  doch  dem  Charakter  der  von  ihm 
gebildeten  Spartaner.  Die  Späteren,  denen  Lykurg  der  weise 
Gesetzgeber  ist,  der  des  rohen  Kriegs  nicht  bedarf,1)  wollten 
auch  davon  nichts  wissen,  so  schon  Demetrios  von  Phaleron 
(Plut.  Lyc.  23).  Gewiss  spielt  dabei  die  Thatsache  mit,  dass 
man  in  der  Ueberlief erung  keine  Kriege  fand,  in  denen  Lykurg 
gekämpft  hatte.  Auf  Tradition  beruhen  alle  diese  Dinge  so 
wenig  wie  der  kindische  Gedanke,  den  die  Eitelkeit  dem  alten 
Isokrates  eingab,  Lykurg  habe  seine  Institutionen  denen  der 
Athener  nachgeahmt  (Panathen.  153). 

Auch  über  Lykurgs  Tod  hat  es  keine  Ueberlieferung  ge- 
geben, sonst  würde  nicht  ein  jeder  anders  erzählen.  Herodot 
nimmt  offenbar  an,  er  sei  in  Sparta  gestorben,  sonst  könnte  er 
nicht  einfach  erzählen,  „nach  seinem  Tode  (reo  de  AvxovQym 
TsXsvzrjöavTL)  bauten  sie  ihm  ein  Heiligthum".  Die  verschie- 
denen Ansichten  der  Späteren  über  seinen  Tod  zählt  Ptutarch 
c.  31  auf:  nach  „einigen"  starb  er  in  Kirra,  nach  Apollothemis 


erwähnt  wird.  Ebenso  ist  er  die  Quelle  des  Berichts  über  die  Krypteia, 
welche  Plutarch  so  gern  von  Lykurg  abwälzen  möchte  (Lyc.  28;  vergl. 
Heraklides  pol.  2,  4). 

1)  Es  ist  sehr  charakteristisch,  wie  in  diesem  Punkte  die  Darstellung 
völlig  gewechselt  hat:  bei  Herodot  stehen  die  militärischen  Einrichtungen 
im  Vordergrund,  bei  Xenophon  werden  sie  eingehend  dargelegt,  Plato 
macht  dem  Lykurg  den  Vorwurf,  die  ganze  Staatsordnung  einseitig  auf 
den  Krieg  zugespitzt  zu  haben,  wie  ihn  Thibron  deswegen  lobt  (Arist. 
pol.  IV  13,  11).  Bei  Plutarch  dagegen  ist  von  der  militärischen  Ordnung 
kaum  irgendwo  die  Rede. 


273 

in  Elis,  nach  Timaeos  und  Aristoxenos  auf  Kreta;  Aristokrates, 
Hipparchs  Sohn,  den  wir  als  Erlinder  müssiger  Geschichten 
schon  kennen  (oben  S.  217,  2),  hat  die  Legende  von  Solons  Tod 
auf  ihn  übertragen :  man  habe  seine  Asche  auf  Kreta  ins  Meer 
gestreut,  damit  nicht  einmal  seine  Ueberreste  nach  der  Heimath 
zurückkehren  und  die  Spartaner  von  ihrem  Schwur,  den  Ge- 
setzen zu  gehorchen ,  befreien  könnten  (ebenso  Justin  III  3 : 
Trogus  hat  also  hier  direkt  oder  indirekt  aus  dieser  späten 
Quelle  geschöpft. ')  Diese  Zusammenstellung  ist  bei  Plutarch 
aber  nur  ein  Nachtrag  zu  der  ausführlichen  Erzählung  von 
Lykurgs  Ende,  welche  er  c.  29  ohne  Anstand  gegeben  hat. 
Nach  derselben  hat  er  erklärt,  den  Gott  noch  über  einen 
Hauptpunkt  befragen  zu  müssen,  und  Könige,  Geronten  und 
Volk  schwören  lassen,  nichts  an  den  Gesetzen  zu  ändern,  bis 
er  aus  Delphi  zurückgekehrt  sei.  Als  dann  Apoll  erklärte,  die 
Verfassung  sei  gut,  habe  Lykurg  beschlossen,  seinem  Leben 
freiwillig  ein  Ende  zu  machen,  damit  die  Spartaner  für  immer 
durch  ihren  Eid  gebunden  wären,  und  sich  der  Nahrung  ent- 
halten. Dies  ist  die  Erzählung  des  Ephoros  gewesen,  wie  wir 
aus  Aelian  var.  bist.  13,  23  erfahren:  Xiyu  de  "Ecpogog  avrov 
Xi{uciJ  diaxaQTSQi'jöavza  hv  tyvyf]  [das  ist  ein  entstellender  Aus- 
druck Aelians,  der  aus  der  Tendenz  der  an  dieser  Stelle  zu- 
sammengestellten Geschichten  hervorgegangen  ist]  ano&avüv. 
Ferner  berichtet  Nie.  Dam.  fr.  57  Müller  genau  wie  Plutarch, 
und  Nikolaos  hat  die  ältere  griechische  Geschichte  durchweg 
aus  Ephoros  geschöpft. 2)  Ueberdies  schliesst  bei  Plutarch  wie 
bei  Nikolaos  der  Abschnitt  über  die  Wirkung  und  Dauer  der 
lykurgischen  Verfassung,  der,  wie  wir  oben  S.  221,  3  sahen,  aus 
Ephoros  stammt,  unmittelbar  an  diese  Erzählung.  Nikolaos 
nennt  als  Ort  seines  Todes  Krisa  (=  Kirra);  was  bei  Plutarch 
c.  31  als  Angabe  der  ol  fihv  angeführt  wird,  Lykurg  sei  in 
Kirra  gestorben,  ist  mithin   die  Darstellung   des  Ephoros,   die 


1)  Stein  (Kritik  der  U  eberlief erung  über  Lykurg,  Progr.  Glatz  1882) 
und  Wilamowitz  S.  271  möchten  die  ganze  Lykurgbiographie  für  einen 
Abklatsch  der  solonischen  erklären.  Nachweisbar  ist  das  nirgends  ausser 
in  diesem  Punkte ;  aber  da  ist  die  Erfindung  auch  nicht  älter  als  das  zweite 
Jahrhundert  v.  Chr. 

2)  Vgl.  fr.  36  über  den  Verräther  Philönomos ;  fr.  39.  40  über  die  Ein- 
teilung Messeniens  in  fünf  Districte. 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1.  lg 


274 

auch  hier  wieder  zur  Vulgata  geworden  ist  und  daher  bei 
Plutarch  ausführlich  gegeben  wird.  Ich  denke  nun  es  liegt 
auf  der  Hand,  dass  auch  diese  Erzählung  des  Ephoros  auf 
Pausanias  zurückgeht.  Erst  dadurch  erklärt  sie  Werth  und 
Beziehung:  der  Eid  s^/itvelv  xal  xQ/joeofrcu  r?j  xad-sorojoij  jzo- 
lixda  {it%QiQ  av  IjiavtXd-rj  6  AvxovQyog,  die  Verpflichtung 
fjr/dev  aXlaöuv  ft?]6h  fieraxwelv  [also  auch  die  Ephoren  nicht 
zur  Macht  gelangen  zu  lassen]  besteht  noch  für  die  Zeitgenossen 
des  Pausanias  in  voller  Kraft,  obwohl  sie  ihren  Schwur  mein- 
eidig Tag  für  Tag  brechen  und  dadurch  die  Verheissung  des 
Orakels  xi)v  jioXiv  erdogordr?]»  öiay.zvüv  rf]  AvxovQyov  XQ™' 
Hivijv  jioXtrda  zu  Schanden  machen. ') 

Aus  der  Lykurglegende  ist  des  weiteren  auszuscheiden  die 
Erzählung  von  seiner  Betheiligung  an  der  Stiftung  der  olym- 
pischen Spiele.  Seit  Aristoteles  den  Namen  des  Lykurgos 
[neben  dem  des  Iphitos?]  auf  dem  Diskos  in  Olympia  entdeckt 
hatte,  der  die  Satzungen  des  Festfriedens  enthielt,"2)  ist  diese 
Thätigkeit  allgemein  anerkannt  worden*),  und  Hermippos,  der 
Meister  im  Erlinden  thörichter  Geschichten,  hat  sich  die  Ge- 
legenheit nicht  entgehen  lassen,  noch  eine  Geschichte  dazu  zu 
erfinden,  wie  Lykurg  durch  eine  geheimnissvolle  Stimme  zu 
dem  Werk  aufgefordert  wird  (Plut.  Lyc.  23).  Die  älteren  wissen 
von  der  Sache  gar  nichts,  auch  Ephoros  nicht.  Ihm  gilt  viel- 
mehr Iphitos  als  der  alleinige  Stifter,  die  Lakedaemonier  ver- 
binden sich  mit  den  Eliern  erst  um  Pheidon  von  Argos  zu 
stürzen  und  die  Elier  für  sich  unschädlich  zu  machen.4)  Eine 
Sage  oder  Tradition,  welche  Lykurg  mit  Olympia  in  Verbindung 
brachte,  gab  es  mithin  nicht.  Ebenso  wenig  aber  kann  die 
Diskosinschrift  eine  aus  dem  Streben,  die  späteren  Beziehungen 
zwischen  Sparta    und  Olympia   durch   eine  Urkunde   als   uralt 


1)  Man  vergleiche  zu  dieser  Erzählung  die  letzte  Rede  des  Josua 
im  Buch  Josua  c.  24 ,  die  eine  gauz  ähnliche  Tendenz  hat ;  vgl.  Zeitschr. 
f.  alttestamentl.  Wissensch.  I  S.  144. 

2)  Plut.  Lyc.  1 .  Der  „Diskos  des  Iphitos"  wurde  noch  zu  Pausanias' 
Zeit  gezeigt  (V  20,  i);  die  Inschrift  wird  nach  seiner  Beschreibung  etwa 
ausgesehen  haben  wie  die  des  Bybon  1GA.  370. 

3)  So  von  Timaeos.  Vgl.  auch  Herakl.  Pont.  2,  3  xal  xoivbv  aya&ov 
zag  txexeiQi'ag  xaxtGTi]Of. 

4)  Ephoros  bei  Strabo  VIII  3,  3:',  vgl.  Diod.  VIII  1. 


275 

nachzuweisen,  hervorgegange  Fälsckung  sein.  Denn  an  einer 
derartigen  Fälsckung  katte  in  der  Zeit,  wo  die  Urkunde  ans 
Lickt  gezogen  wurde.  Niemand  Interesse  rnekr.  Ist  die  ln- 
sckrift  also,  was  ja  auck  ihre  Form  lehrt,  alt  und  autkentisck, 
so  stekt  dock  fest,  dass  Aristoteles  sick  in  ihrer  Deutung  geirrt 
hat.  Denn  vor  der  Unterwerfung  Messeniens  hat  Sparta  mit 
Olympia  keine  Berührungen  gehabt;  in  Ol.  15  erscheint  zum 
ersten  Male  eine  Lakone  unter  den  Olympioniken,  und  seitdem 
begegnen  sie  uns  dann  fast  bei  jeder  Feier.  Der  Lykurg,  von 
dem  die  Inschrift  redete,  kann  also  nicht  der  spartanische 
Gesetzgeber  sein.  Hier  scheint  mir  Wilamowitz'  Deutung 
recht  wahrscheinlich,  dass  die  Inschrift  die  Satzungen  der  Fest- 
feier an  Gestalten  der  Heroenzeit  anknüpfen  wollte,  dass  der 
Lykurg  des  Diskos  kein  anderer  ist  als  der  arkadische  Heros 
Lykoorgos. 

Was  wir  bisher  kennen  gelernt  haben,  sind  geschichtlich 
werthlose  Combinationen,  die  über  das  vierte  Jahrhundert  nicht 
hinausreichen.  Zwar  etwas  älter,  aber  um  nichts  werthvoller 
sind  die  Versuche,  Lykurgs  Stellung  in  der  Königsliste  zu  be- 
stimmen. Im  vierten  Jahrhundert  gilt  er  allgemein  als  Mitglied 
des  Eurypontidengeschlechts ,  Sohn  des  Eunomos,  Bruder  des 
Polydektes,  Oheim  des  Charilaos;  Dieuchidas  (oben  S.  243,  1) 
nannte  auch  seine  Mutter  Dionassa,  Diese  Ansicht  gilt  dem 
Ephoros  als  allgemein  anerkannt;  da  zu  seiner  Zeit  die  Ein- 
schiebung  des  Soos  in  den  Stammbaum  zwischen  dem  Eponymos 
des  Geschlechts  Eurypon  und  seinem  angeblichen  Ahnherrn 
Prokies  bereits  stattgefunden  hatte, x)  war  ihm  Lykurg  der 
sechste  von  Prokies  und  der  elfte  von  Herakles:  AvxovQyov  d* 
opioloyMöfrai   jiagä   jzavrmv   txxov    ajto  IlQoxleovQ  yeyovivai 

1)  Der  spätere  Staunnbauni  ist  Prokies,  Soos,  Eurypon,  Prytanis, 
Eunomos,  Polydektes.  Dass  Ephoros  denselben  so  kennt,  lehrt  die  an- 
geführte Stelle;  mithin  beruht  dnö  EvQimwvzoq  xov  IIqoxIsovq  bei 
Strabo  VIII  5,  5  auf  einer  Flüchtigkeit.  Dagegen  kennt  Herodot  den  Soos 
bekanntlich  noch  nicht  (VIII  131),  und  da  im  Stammbaum  Agis  ein  Sohn 
des  Eurysthenes  ist,  hat  Soos  keine  Berechtigung.  Er  ist  lediglich  zur 
Ausgleichung  der  Stammbäume  eingeschoben.  Dass  die  Späteren  auch 
von  seinen  Thaten  (gegen  Kleitor !)  zu  erzählen  wissen  (Plut.  Lyc.  2 ; 
anders  Pausan.  III  7),  ist  nicht  wunderbar,  wohl  aber,  dass  sehr  angesehene 
neuere  Historiker  diese  Geschichten  als  brauchbares  Material  verwerthet 
haben. 

18* 


276 

Strabo  X  4,  18  =  Plut.  Lye.  1.  Freilich  ist  diese  Angabe  nur 
eine  Correctur  der  älteren,  dass  Lykurg  Sohn  des  Prytanis 
und  Bruder  des  Eunonios  sei,  einer  Angabe,  die  Plutarch  auf 
Simonides  zurückführt ')  und  die  später  bei  Phlegon  fr.  1  wie- 
der auftaucht;  die  Correctur  geht  wohl  darauf  zurück,  dass 
mau  um  des  Namens  willen  den  Gesetzgeber  zum  Sohn  des 
Eunonios  machen  wollte.  Denn  dass  nicht,  wie  so  oft  behauptet 
wird,  der  Name  Eunonios  aus  dem  Umstand  gebildet  ist,  dass 
für  den  Gesetzgeber  ein  passender  Vater  gesucht  wurde,  geht 
daraus  hervor,  dass  diese  Verbindung  den  älteren  Quellen 
noch  unbekannt  ist  und  sie  doch  den  Namen  des  Eunonios 
kennen.  Die  Namen  der  ersten  Eurypontiden,  des  Prytanis 
und  Eunonios,  sind  zwar  schwerlich  historisch,  aber  doch  weit 
älter  als  die  Einreihung  des  Lykurg  in  ihren  Stammbaum. 

Wenn  Simonides  wirklich  so  berichtet  hat,  wie  Plutarch 
erzählt,  so  hat  er  doch  zu  seiner  Zeit  mit  seiner  Ansicht  sehr 
allein  gestanden.  Denn  Hellanikos  weiss  von  Lykurg  garnichts, 
Xenophon  macht  ihn  zum  Zeitgenossen  der  Herakliden,  d.  h.  der 
dorischen  Wanderung  (o  yag  AvxovQyoq  xarä  rov^  HQaxXdöaq 
keyerac  ytvtad-ai  10,  8),  und  nach  Herodot  war  er  der  Oheim 
und  Vormund  des  Leobotes  (Labotas),  also  Bruder  des  Eche- 
stratos  und  Sohn  des  Agis.  Letzteres  ist  offenbar  das,  worauf 
es  bei  dieser  Version  eigentlich  ankommt:  der  Gesetzgeber  ist 
der  Sohn  des  Ahnherrn  des  angeseheneren  der  beiden  Königs- 
geschlechter, des  Herrschers,  auf  den  nach  der  bei  Ephoros 
(Strabo  VIII  5,  4)  vorliegenden  Erzählung  die  eigentliche  Grün- 
dung des  spartanischen  Staates,  die  Unterordnung  der  Perioeken 
und  Heloten  unter  die  dorischen  Herren,  zurückgeht.2) 

1)  Schol.  Plato  rep.  V  599,  wo  dieselbe  Ansicht  angeführt  wird,  ist 
aus  Plutarch  und  einer  Chronik  coinbinirt.  Sollte  die  Augabe  wirklich  auf 
den  Dichter  Simonides  zurückgehen?  Plutarch  nennt  ihn  allerdings  aus- 
drücklich (2.  6  7ioLtiTt]q)',  aber  sehr  naheliegend  ist  es  doch,  eine  Ver- 
wechselung mit  dem  jüngeren  Genealogen  anzunehmen,  der  etwa  um  440 
geschrieben  haben  mag  (Müller  F.  H.  G.  II  42).  —  Beachtenswerth  ist, 
dass  bei  Herodot  VIII  131  Polydektes  und  Eunonios  in  umgekehrter 
Reihenfolge  erscheinen  wie  bei  den  Späteren.  Das  ist  indessen  bei  Simo- 
nides nach  Plutarchs  Angabe  nicht  der  Fall  gewesen. 

2)  Daher  erzählt  Plut.  Lyc.  2  von  Agis'  Zeitgenossen  Soos:  £</  '" 
xal  tovq  E(iXlot(xq  enon'jGavzo  dovkove  oi  2naQTiärai.  —  Beruht  der  Sieg 
der  Ansicht,    Lykurg   sei    ein  Eurypontide.    auf  der    leitenden   Stellung, 


277 

Wir  sehen,  eine  geschichtliche  Ueherlieferung  hat  es  auch 
über  Lykurgs  Stammbaum  nicht  gegeben;  der  einzige  Punkt, 
den  alle  Darstellungen  gleichmässig  festhalten,  ist,  dass  er  als 
Oheim  und  Vormund  eines  regierenden  Königs  seine  Gesetze 
gab.1)  Der  Grund  dafür  dürfte  einfach  der  sein,  dass  einem 
Gesetzgeber  nach  spartanischer  Anschauung  die  königliche 
Machtstellung  ebenso  wenig  fehlen  konnte,  wie  nach  römischer. 
Die  Königslisten  aber  waren,  als  die  Erzählung  von  Lykurg 
aufkam,  längst  fixirt,  sein  Name  liess  sich  darin  nicht  mehr 
unterbringen;  so  blieb  nichts  übrig,  als  ihm  wenigstens  die 
königliche  Machtbefugniss  in  der  Stellung  eines  Vormunds 
zu  geben. 

Wenn  die  Ordnung  des  spartanischen  Staates  auf  Lykurg 
zurückging,  so  muss  vorher  Unordnung  geherrscht  haben.  So 
berichten  denn  auch  Herodot  und  Thukydides  I  18.  Nur  wei- 
tere Ausspinnung  dieses  Motivs  ist  es,  wenn  bei  Aristoteles 
(pol.  VIII  10,  3)  Charilaos  zum  Tyrannen,'2)  umgekehrt  bei  Plu- 
tarch  zum  Schwächling,  der  keine  Ordnung  halten  kann,  ge- 
macht wird.  Ephoros  hat  dies  Motiv  nicht  benutzt;  nach  ihm 
wandelt,  wie  wir  oben  sahen,  Sparta  schon  vor  Lykurg  auf 
verständigen  Bahnen.  Aehnlich  ist  die  Auffassung  in  Piatos 
Gesetzen;  bei  Plutarch  dagegen  (Lyc.  2)  ist  die  alte  Auf- 
fassung wieder  aufgenommen.3) 


welche  die  Eurypontiden  Archidamos,  Agis,  Agesilaos  eingenommen 
haben?  Zu  ihrer  Zeit  war  das  Agiadengeschlecht  durchaus  in  den  Hinter- 
grund gedrängt. 

1)  Im  Detail  variiren  auch  hier  die  Angaben:  nach  Herodot  gibt  er 
die  Gesetze  gleich  beim  Antritt  der  Vormundschaft,  und  diese  Darstellung, 
die  natürlich  das  ursprüngliche  ist,  hat  auch  Justins  Quelle  wieder  auf- 
genommen. Ephoros  dagegen,  resp.  die  bei  ihm  vorliegende  Version,  be- 
nutzt die  Ueberliefernng  von  der  Vormundschaft,  um  Lykurgs  Uneigen- 
nützigkeit  ins  Licht  zu  stellen  und  zugleich  ein  Motiv  für  die  Reise  nach 
Kreta  zu  gewinnen,  und  lässt  die  Gesetzgebung  erst  nach  der  Rückkehr 
eintreten. 

2)  Ebenso  Heracl.  polit.  2,  4. 

3)  In  einer  eigenartigen  Umgestaltung  erscheint  dieselbe  bei  Isokrates 
pauath.  177  ff.  Danach  herrschten  bei  den  Lakedaemoniern  zu  Anfang  die 
grössten  Wirren  (gzcctiüocci  (izv  <paoiv  avrovq  oi  xäxelvwv  dxQi- 
ßovvxrq  wq  ovöevag  äXXovq  xcöv  ^EkXtfvwv),  bis  die  (aeZ^ov  tov  TtktjO-ovg 
(pQovovvxtQ  sich  selbst  zu  Herren,  die  übrigen  zu  Perioeken  und  Heloten 
machen.     Das   ist   also   ungefähr   dasselbe,   was   Ephoros   berichtet  hat, 


278 

Es  gibt  mithin  eine  alte  Ueberlieferung  über  den 
Gesetzgeber  ebenso  wenig  wie  über  sein  Werk.  Plu- 
tarch  hat  völlig  Recht,  wenn  er  seine  Biographie  mit  den 
Worten  beginnt:  „Betreffs  Lykurgs  gibt  es  keinen  Punkt  der 
Ueberlieferung,  der  unbestritten  wäre";  aber  er  hat  nicht  ge- 
wusst,  die  Consequenz  aus  dieser  Thatsache  zu  ziehen.  Das 
Ergebniss  kann  uns  nicht  befremden;  denn  in  Sparta  gibt  es 
überhaupt  keine  Ueberlieferung,  die  über  den  Anfang  des 
sechsten  Jahrhunderts,  die  Zeit  der  Könige  Leon  und  Agesi- 
kles  (Her.  I  65),  hinaufragte.  Dass  Messenien  unterworfen  war, 
lehrte  der  Augenschein;  dass  das  aber  unter  König  Theopomp 
stattgefunden  hatte,  wusste  man  nicht  aus  der  Ueberlieferung, 
sondern  aus  Tyrtaeos'  Liedern.  Denn  vom  zweiten  Krieg, 
dessen  Realität  wiederum  Tyrtaeos  bezeugte,  wusste  man  nicht 
einmal  so  viel;  unter  welche  Könige  er  fiel,  war  gänzlich  un- 
bekannt, da  ihre  Namen  bei  Tytaeos  nicht  vorkamen.  So  ist 
Theopomp  der  einzige  König  der  älteren  Zeit,  von  dem  man 
überhaupt  etwas  zu  erzählen  wusste  •)  —  daher  wird  er  wohl 
auch  zum  Urheber  des  Ephorats  und  der  Zusatzrhetra  gemacht 
sein.  Es  ist  also  schon  a  priori  unmöglich,  dass  über  die  Ver- 
fassungsgeschichte des  neunten  Jahrhnnderts  irgend  welche 
Ueberlieferung  existiren  könnte.  Nur  von  der  Urzeit  des  Staates, 
der  Gründungsgeschichte  und  dem  was  damit  zusammenhing, 
erzählte  man  wie  überall  so  auch  in  Sparta  gern  (Plato  Hippias 
maior  285,  s.  o.  S.  240),  und  darauf  bezügliche  Sagen  und  Ge- 
schichten sind  uns  denn  auch  von  Herodot  an  genug  erhalten. 

Ueber  den  Ursprung  ihrer  Staatsordnung  sich  den  Kopf 
zu  zerbrechen  hatten  dagegen  die  Spartiaten  wenig  Veran- 
lassung.2) Ihnen  war  dieselbe  ja  nicht,  wie  sie  den  übrigen 
erschien,  etwas  Seltsames   und  Fremdartiges,   sondern   etwas 

Eurysthenes  und  Prokies  hätten  den  Unterworfenen  das  Bürgerrecht  ge- 
geben, Agis  habe  diese  Massregel  wieder  rückgängig  gemacht. 

1)  Dass  in  der  spätesten  Ueberlieferungsschicht,  bei  Pausanias,  auch 
die  meisten  der  älteren  Könige  mit  einzelnen  Thaten  ausstaffirt  sind,  ist 
nur  in  der  Ordnung.  —  Die  Partheniergeschichte  beruht  nicht  auf  sparta- 
nischer Ueberlieferung,  sondern  ist  die  Gründungssage  von  Tarent. 

2)  Auch  Kritias  hat,  nach  den  Fragmenten  zu  urtheilen,  in  seiner 
nol.  Aax.  davon  nicht  gehandelt,  sondern  die  Sitten  und  Institutionen  dar- 
gestellt. Wenn  er  von  Lykurg  etwas  besonderes  erzählt  hätte,  würden 
wir  wohl  davon  erfahren. 


279 

durchaus  Naturwüchsiges,  welches  sie  von  den  Vätern  und 
diese  wieder  von  den  Ahnen  tiberkommen  hatten.  Man  lebte 
in  Sparta  getreu  den  Satzungen  des  Aigimios,  des  alten  dori- 
schen Urkönigs,  von  dessen  drei  Söhnen')  alle  Dorer  ab- 
stammten-); die  Ordnung  des  Staates  geht  zurück  auf  die  Zeit 
seiner  Gründung,  auf  König  Agis,  oder  auch  auf  Eurysthenes 
und  Prokies,  welche  die  Dichter  als  die  Ahnen  der  beiden 
Königshäuser  nennen.3)  Die  Schirmherren  des  Staats  sind  Zeus 
und  Athene,  die  Götter,  denen  der  König  das  feierliche  Opfer 
darbringt,  ehe  er  auf  einem  Kriegszug  die  Grenze  überschreitet 
(Xen.  rep.  Lac.  13,  2),  und  die  im  Mittelpunkt  des  Landes  als 
„syllanische"  Götter  -  -  oder  was  sonst  für  ein  uns  nicht  mehr 
deutbares  Beiwort  in  der  Namensform  der  Rhetra  stecken 
mag  —  ihr  Heiligthum  haben.  Daneben  kommt  dann  allmäh- 
lich, und  vermuthlich  erst  als  man  sich  seit  den  Perserkriegen 
der  Eigenart  der  heimischen  Ordnung  mehr  bewusst  wurde, 
der  Glaube  auf,  dieselbe  sei  eine  Schöpfung  des  Lykurgos, 
dieser  habe  seine  Ordnungen  aus  dem  stammverwandten  Kreta 
geholt,  wo  man  nach  den  Satzungen  des  Minos,  die  von  Zeus 
stammten,  in  ähnlicher  Organisation  lebte,  wie  in  Sparta.  Mit 
diesem  Glauben  war  zugleich  die  Aufgabe  gegeben,  den  Ly- 
kurg irgendwo  in  der  Geschichte  unterzubringen. 

Wer  ist  denn  nun  dieser  Lykurgos?  Das  einzige,  was  wir 
sicher  von  ihm  wissen,  ist,  dass  er  ein  Gott  war,  der  in  Sparta 
hoch  verehrt  wurde,  ein  uqov  und  ein  jährliches  Opferfest 
hattet)    Ein  alter  Spruch  des  delphischen  Orakels,  weitaus  das 


1)  Dass  in  unserer  Ueberlieferuog  Hyllos  nicht  Sohn,  sondern  Adoptiv- 
sohn des  Aigimios  ist,  ist  handgreiflich  ein  harmonistischer  Ausweg  der 
genealogischen  Poesie,  welche  die  Aufgabe  hatte,  die  Nachkommen  des 
argivischen  Herakles  zu  den  Dorern  zu  bringen.  Für  die  Dorer  selbst  ist 
Herakles  natürlich  kein  Argiver  oder  Thebaner,  sondern  eben  ein  Dorer 
gewesen,  der  Ahnherr  ihrer  angestammten  Könige. 

2)  Pindar  Pyth.  I  120:  &iXovu  öl  üafKpvÄov  xai  (xav  HQaxksiöäv 
ixyovot  6'/9cug  vrco  Tavyizov  valovztg  aiel  fxeveiv  zsS^/notatv  ev  Alytfxtov 
Jcuqiziq.  Im  vierten  Jahrhundert  hätte  man  gesagt:  iv  zeS/ioioi  Av- 
xovQyov. 

3)  Vgl.  den  Anhang. 

4)  Herod.  I  66  zoj  AvxovQycp  zektvzyaavzi  ieqov  eioa/Aevoi  oeßovzcu 
(Ätyakwg.  Ephoros  bei  Strabo  VIII  5,  5  Avxovyyoj  itpbv  Iöqvo&ou  (zovq 
Aax.)  xai  9-veoS-ai  xaz'  ezog.    Aristoteles  bei  Plut.  Lyc.  31  Isqov  zs  yaQ 


280 

älteste  Zeugniss,  das  wir  über  ihn  haben,  erkannte  ihn  zögernd 
als  Gott  an;  dadurch  soll,  wie  es  scheint,  sein  Cnlt  legitimirt 
werden.  Davon,  dass  der  Gott  zugleich  der  Gesetzgeber  Spartas 
ist,  erwähnt  dieser  Spruch  noch  nichts.  Auf  diese  mythische 
Gestalt  bezieht  sich  denn  auch  die  einzige  Erzählung*  der  Ly- 
kurglegende, welche  wir  noch  zu  besprechen  haben:  Lykurg 
sei  auf  Widerstand  gestossen  und  Alkandros  habe  ihm  mit 
dem  Stocke  ein  Auge  ausgeschlagen.  ..Daher  tragen  die  Spar- 
taner in  der  Volksversammlung  keine  Stöcke  bis  auf  diesen 
Tag"  heisst  es,  wie  im  Alten  Testament.  Zur  Erinnerung  an 
den  Vorfall  baute  Lykurg  einen  Tempel  der  Athena  Optilitis, 
der  „Augengöttin".1)  Eine  abgeschwächte  Version  der  Ge- 
schichte gab  Dioskorides2):  das  Auge  sei  verletzt,  aber  wieder 
geheilt  worden.  Dass  sie  nicht  aus  der  Rolle  des  Gesetzgebers 
herausgesponnen  ist,  liegt  auf  der  Hand;  offenbar  ist  sie  my- 
thisch. Ein  einäugiger  Zeus  Lykurgos  ist  ja  ebenso  gut  denk- 
bar, wie  der  einäugige  Wotan.  Im  übrigen  ist  es  bezeichnend, 
dass  Lykurg  hier  in  Verbindung  mit  Athene  erscheint,  die  ja 
mit  Zeus  zusammen  die  Schutzgöttin  des  Staates  ist.  Es  ist 
das  ein  Fingerzeig  dafür,  auf  welchem  Wege  aus  dem  Schutz- 
gott Zeus  der  Gesetzgeber  Lykurgos  geworden  ist. 

Zu  dem  Cult  des  Gottes  Lykurgos  werden  auch  die  Fest- 
versammlungen an  den  AvxovQylösg  genannten  Tagen  gehört 
haben.  Nach  Plutarchs  Ausdruck  (Lyc.  31)  scheint  es  ein  gen- 
tilicisches  Fest  gewesen  zu  sein:  „Lykurgs  Geschlecht  ist  mit 
seinem  Sohne  Antioros  ausgestorben,  oi  d'  stalgot  xal  oixttoi 
öiado*/7]V  TLva  xal  övvoöov  em  jcoXXovg  ygovovg  öiapielvaCav 


iaziv  ccvrov  xal  &vovol  xa&'  exaatov  eviavtbv  wq  S-ew.  Ein  STtifiekrjrijq 
...  öeov  AvxovQyov  C1G.  1341.  Erst  Nie.  Dam.  fr.  57  Müller  hat  aus 
dem  Gotte  einen  Heros  gemacht. 

1)  Plut.  Lyc.  11.  Pausan.  III  18,  2.  Auch  Aelian  v.  hist.  XIII  23  er- 
wähnt sie  (mit  der  Bemerkung,  dass  er  nach  einigen  das  Auge  durch  einen 
Steinwurf  verlor),  und  schliesst  daran  Ephoros'  Angabe  über  Lykurgs  Tod. 
Also  ist  Ephoros  vielleicht  auch  hier  Quelle. 

2)  [Dass  Dioskorides  der  Verfasser  der  Aax.  nol.  nicht  der  Isokrateer 
ist,  wie  man  bisher  annahm,  sondern  der  um  100  v.Chr.  lebende  Gramma- 
tiker, hat  R.  Weber  de  Dioscoridis  ne ql  ziov  nag'  'O/utJqü)  vöfia)v,  Leipz. 
Stud.  XI  p.  190  erwiesen.  Nach  den  Citaten  bei  Athen.  IV  140  b.  f  ist  er 
jünger  als  Persaios.] 


281 

xatsdrfjöav  xal  rag  rjiiEQag  iv  alg  öw/jq/ovio  AvxovQjiöag 
jiQOöriyoQbVöav" . 

[Die  ursprüngliche,  rein  religiöse  Gestalt  des  Lykurgos  ist 
nun  noch  ganz  wohl  fassbar.  Schon  Wilamowitz  (Hom.  Unters. 
284  f.)  hat  mit  dem  spartanischen  Gott  den  arkadischen  und 
attischen  Heros  identificirt  und  auf  diese  Weise  auch  die  Iden- 
tität des  spartanischen  Lykurgos  mit  dem  olympischen  gerettet. 
Auch  dieser  ist  so  wenig  eine  historische  Gestalt  wie  Iphitos 
der  Begründer  der  Spiele,  mit  dem  zusammen  er  die  Satzungen 
der  Ekecheirie  feststellt:  beide  sind  ursprünglich  nichts  anderes 
als  die  aus  dem  Epos  wohlbekannten  Heroen,  Iphitos  der  Sohn 
des  Eurytos  von  Oichalia,  den  zahlreiche  Sagen  schon  bei 
Homer  nach  Messenien  versetzen  (g>  14  ff.,  vgl.  B  596),  Lykurgos 
der  arkadische  Heros,  von  dessen  Thaten  Nestor  //142ff.  er- 
zählt. Lykurgos  erscheint  als  Sohn  des  Arkaders  Aleos  und 
König  von  Lepreon  in  Triphylien.1)  Ein  anderer  Lykurgos  ist 
König  von  Nemea,  seinem  Sohne  Opheltes  Archemoros  zu  Ehren 
begründen  die  Sieben  auf  dem  Zuge  gegen  Theben  die  ne- 
meischen  Spiele.2)  In  letzter  Linie  wird  dieser  peloponnesische 
Lykurgos  auch  von  dem  Gegner  des  Dionysos,  dem  wilden 
Edonenkönig,  den  Zeus  zur  Strafe  blendet  (Z139),  nicht  ge- 
trennt werden  können.  Doch  können  wir  das  hier  nicht 
weiter  verfolgen.3) 

Lykoorgos  heisst  „Wolfsmuth",  wie  Wilamowitz  richtig 
übersetzt.  Der  arkadische  Heros  ist  von  dem  arkadischen  Wolfs- 
gott Zeus  nicht  zu  trennen;  er  tritt  einer  anderen  Abzweigung 
desselben,  dem  „Lichten",  Lykaon,  gleichberechtigt  zur  Seite. 
Und  gerade  in  dem  für  uns  wesentlichsten  Zuge  decken  sich 
beide  vollständig.  Lykaon  ist  der  Begründer  des  Lykaeischen 
Zeuscults  und  der  mit  demselben  verbundenen  Festspiele  (oben 
S.  56,  2).  Ebenso  begründet  Lykurgos  mit  Iphitos  zusammen 
die  olympischen  Spiele,  in  Nemea  werden  unter  seiner  Regie- 


1)  Pausan.  V  5,  5.  VIII  4,  8.  10.  Apollod.  III  9,  1.  1. 

2)  Argum.  Pind.  nein.  Pausan.  II  15,  3.  Apoll.  I  9,  1-1.  III  6,  4.  Wahr- 
scheinlich ist  er,  wie  Wilamowitz  annimmt,  mit  dem  von  Asklepios 
wiederbelebten  Sohn  des  Pronax  (Stesich.  fr.  16),  der  in  die  thebanische 
Sage  verwebt  ist,  identisch  (Apollod.  19,  13.  III  10,  3.  Pansan.  III  18,  12). 

3)  vgl.  jetzt  Wide  Bern,  zu  der  spart.  Lykurglegende,  Skandinav. 
Archiv  I  1891, 


282 

rung  und  ursprünglich  doch  wohl  von  ihm  die  nemeischen 
Spiele  eingesetzt.  Alle  drei  sind  Zeusfeste,  und  wenigstens 
in  Olympia  wird  daneben  Zeus  selbst  als  Begründer  der 
Spiele  genannt  (Pausan.  V  7, 10.  ¥1112,2).')  Dazu  passt  es 
aufs  beste,  dass  in  Sparta  der  Gott  Lykurgos  als  Begründer 
der  religiösen  und  politischen  Ordnung  des  Staats  betrachtet 
wird.  Wir  erkennen  also  eine  gemeinsame  peloponnesische 
Anschauung,  welche  den  aus  dem  Wolfszeus  abgezweigten  Gott 
oder  Heros  und  ursprünglich  den  höchsten  Gott,  den  Wolfs- 
zeus selbst,  als  Begründer  der  bestehenden  Ordnugen  verehrt. 
Daraus  können  wir  zugleich  folgern,  dass  diese  Anschauung 
in  ihren  Wurzeln  vordorisch  ist.  Die  Dorer  von  Sparta  haben 
den  Lykurgos  von  der  älteren  Bevölkerung  des  Landes  über- 
nommen und  ihren  Anschauungen  angepasst,  so  gut  wie  den 
Cult  der  Helena  und  ihrer  Brüder  und  Retter,  der  Dioskuren 
und  des  Agamemnon  und  Menelaos. 

Die  weitere  Entwicklung  liegt  klar  vor  Augen.  Seitdem 
Lykurg  in  Sparta  als  Urheber  der  einheimischen  Ordnungen 
galt,  lag  es  für  den  Fremden  nahe  genug,  den  ihm  gewordenen 
Orakelspruch  dahin  umzudeuten,  er  habe  sich  seine  Weisheit 
von  dem  delphischen  Gotte  geholt.'2)  Zu  Ende  des  peloponne- 
sischen  Krieges  ist  diese  Ansicht  in  Sparta  recipirt  und  für 
politische  Beformbestrebungen  verwerthet  worden;  Ephoros  hat 
sie  mit  der  älteren  Tradition,  welche  die  spartanischen  Ord- 
nungen aus  Kreta  ableitet,3)  durch  eine  rationalistische  Umdeu- 
tung  verbunden.  In  derselben  Zeit  hat  die  herrschende  Stellung 
Spartas  und  die  sich  entwickelnde  politische  Doctrin,  welche 
die  Misere  der  Gegenwart  durch  eine  Idealverfassung  zu  heilen 
suchte,  zahlreiche  Schriften  über  Sparta  und  seine  Verfassung 
hervorgerufen.  Damals  ist  die  neuerdings  durch  Niese4)  re- 
pristinirte  Ansicht  aufgekommen,  Sparta  sei  eine  ausgebildete 

1)  In  Olympia  und  Nemea  wird  daneben  unter  anderen  Concurrenten 
Herakles  als  Begründer  der  Spiele  genannt.  Das  ist  vielleicht  dorischer 
Eiufluss. 

2)  Anzunehmen,  dass  die  delphische  Priesterschaft  bei  der  Bildung 
dieser  Erzählung  mitgewirkt  habe,  ist  nicht  einmal  nöthig. 

3)  Ich  mache  noch  darauf  aufmerksam,  dass  Xenophon,  der  die  Ab- 
leitung von  Delphi  anerkennt,  eben  desshalb  die  von  Kreta  nicht  erwähnt. 
Damals  vertrug  sich  beides  noch  nicht  mit  einander. 

4)  Zur  Verfassungsgeschichte  Lakedaemons,  Hist.  Ztschr.  NF.  XXVI. 


283 

Demokratie,  während  andere  seine  Verfassung  für  oligarchisch 
erklärten.1)  Den  meisten  Beifall  fand  die  Ansicht,  welche  die 
Vortrefflichkit  der  spartanischen  Verfassung  daraus  erklärte, 
dass  sie  eine  Mischung  aus  Königthum,  Aristokratie  und  Demo- 
kratie sei"2)  —  eine  Theorie,  die  dann  später  von  Polybios 
auf  Rom  übertragen  und  aus  ihm  wieder  von  Cicero  ent- 
nommen ist.] 


Anhang. 

Die  Stammbäume  der  lakonischen  Königshäuser.3) 

Ich  habe  oben  angedeutet,  dass  ich  die  Könige  Eurysthenes 
und  Prokies  weder  für  geschichtliche  Herrscher  noch  für  Ge- 
stalten der  Volkssage  halte.  Zu  einer  ausführlichen  Begrün- 
dung ist  an  dieser  Stelle  kein  Kaum:  die  Voraussetzung  einer 
gründlichen  Kritik  der  Ueberlieferungen  über  die  dorische 
Wanderung  ist  auch  hier  die  Reconstruction  des  Berichts  des 
Ephoros,  die  unter  anderem  vor  solchen  MissgrifTen  bewahren 
wird,  wie  dem,  dass  die  Eurysthiden  bei  Polyaen  I  10  mit 
dem  Geschlechte  des  Eurysthenes  identisch  wären  und  dass 
man  überhaupt  aus  dieser  Stelle  für  die  ältere  spartanische 
Geschichte  irgend  etwas  lernen  könnte.  Hier  möchte  ich  nur 
auf  die  Thatsache  aufmerksam  machen,  dass  mit  Ausnahme 
der  Temeniden  von  Argos  keines  der  Heraklidengeschlechter 
nach  dem  Namen  bezeichnet  wird,  welchen  die  Ueberlieferung 

1)  Arist.  pol.  VI  7,  5  noXXol  yuQ  ty'/eiyovoi  Xeyeiv  u)q  örjfxoxQaxiaq 
ovoijq  ölo.  xb  6r]fxoxQaxixa.  tcokXo.  tqv  zü^iv  t%tiv,  oiov  . .  .  dl  d'  o)aya.()- 
yiav  öioc  xb  noD.a  1%£lv  o'kiya.Q^ixä,  vgl.  Isokr.  pauath.  178  'Ena.Qxtaxwv 
xovq  vovv  t%ovxccq  (im  Gegensatz  zu  dein  in  Argos  und  Messene  g^gen 
die  Unterworfenen  eingeschlagenen  Verfahren)  .  . .  naget  acpioi  /utv  avxolq 
iaovo/niav  xaxaGxrjoai  xal  drjfioxQaxiav  xoiavxijv,  oiav  tleq  xqtj  xovq  [*£&- 
lovxaq  anavxa  xbv  yQÖvov  bfxovorjaeiv,  xbv  dt  örjfiov  ntQioixovq  noii]oa- 
o9cu  u.  s.  w. 

2)  Aristot.  1.  c.  und  II  3,  10.  Vgl.  Isokrates  pauath.  153  AvxovQyov 
.  . .  xi]v  örjjjioxQaxiav  xaxaoxtföavxoq  naQ1  avxolq  xfi  aQioxoxQaxia  /ue/uiy- 
(jlbvt]v  in  Nachahmung  der  Verfassung  der  attischen  Königszeit.  Polyb. 
VI  10,  6. 

3)  An  diesem  Abschnitt,  der  die  Grundlage  weitergehender  Aus- 
führungen in  meiner  G.  d.  A.  II  bildet,  habe  ich  eben  darum  ausser  einer 
Streichung  nichts  geändert. 


284 

an  seine  Spitze  stellt.  In  Sparta  herrschen  die  Agiaden  und 
Eurypontiden,  deren  Eponymen  Söhne  des  Eurysthenes  und 
Prokies  sind;  in  Messenien  die  Aipytiden,  die  nach  dem  Sohne 
des  Kresphontes  benannt  sind,  in  Korinth  die  Bakchiaden,  die 
sich  von  Bakchis  ableiten,  dem  vierten  Nachkommen  des  Hera- 
kliden  Aletes,  der  Korinth  eroberte.  Ebenso  heissen  die  atti- 
schen Könige  Medontiden  nach  dem  Sohne  des  Kodros,  die 
von  Lesbos  Penthiliden  nach  dem  Sohne  des  Orestes,  die  von 
Makedonien  Argeaden  wahrscheinlich  nach  Argaios  dem  Sohne 
des  Perdikkas,  [die  ionischen  Neliden  nach  dem  Sohne  des 
Kodros].  Diese  Erscheinung-  kann  nicht  Zufall  sein:  vielmehr 
sehen  wir  hier  sehr  deutlich  die  Fuge,  welche  Mythus  und 
Geschichte  verbindet.  Jedes  Geschlecht  leitet  nach  antiker 
Anschauung  seinen  Namen  her  von  einem  eponymen  Ahnherrn, 
der  im  Stammbaum  den  ältesten  in  der  Erinnerung  bewahrten 
Namen,  sei  es  direct,  sei  es,  was  von  den  Eurypontiden  wahr- 
scheinlich ist,  nach  Einschiebimg  mehrerer  Mittelglieder  vor- 
geordnet wird,  aber  im  allgemeinen  nicht  historisch  ist.1)  Die- 
sen Eponymen  sind  nun  in  den  griechischen  Stammbäumen 
durchweg  mythische  Gestalten  vorangestellt.  Das  ist  nicht  das 
Werk  einer  spontanen  Thätigkeit  des  Volksgeistes,  sondern 
einer  durchaus  künstlichen  Thätigkeit,  welche  mit  vollem  Be- 
wusstsein  versucht,  die  Herrschergeschlechter  der  Gegenwart 
mit  den  Gestalten  der  Sage  zu  verbinden,  genau  gleichartig 
der  Art  wie  die  mittelalterlichen  und  modernen  Genealogen 
den  Ursprung  der  modernen  Völker  an  die  Heroen  des  Alter- 
thums  anknüpfen.  Diese  künstliche  Verknüpfung  ist  in  Griechen- 
land das  Werk  der  Dichter,  vor  allem  der  sogenannten  hesio- 
deischen  oder  genealogischen  Poesie.  Wer  volksthümliche  Ueber- 
lieferung  darin  sucht,  verkennt  die  Entwicklung  vollkommen. 
Für  Sparta  können  wir  direct  beweisen,  dass  die  traditio- 
nelle Urgeschichte  des  Staates  das  Werk  fremder  Dichter  ist, 
welche  die  bestehenden  Zustände  in  ihrer  Weise  zu  erklären 
versuchten;  die  einheimische  Ueberlieferung  hat  auf  die  Ge- 
staltung  der  Sage   gar   keinen  Einfluss   ausgeübt.     Von  Eurv- 


1)  Ebenso  bezeichnet  z.  B.  bei  den  Persern  der  Name  Achaeinenes 
keine  historische  Persönlichkeit  und  wird  daher  auch  von  Darius  nicht  als 
König  gerechnet:  Gesch.  des  Alterth.  I  466. 


285 

sthenes  und  Prokies  wusste  man  in  Sparta  garnichts:  als 
Begründer  des  Staates  galt  Agis  (S.  276).  Was  unsere  Ueber- 
lieferung  von  dem  Zwillingspaar  erzählt,  ist  handgreiflich 
weiter  nichts  als  ein  Versuch  zu  erklären,  warum  ihr  Andenken 
in  Sparta  verschollen  war:  sie  hätten,  berichtete  Ephoros,  den 
Unterworfenen  gleiche  Rechte  mit  den  Dorern  verliehen,  Agis 
habe  das  rückgängig  gemacht.1)  Dass  man  unter  der  Führung 
zweier  Säuglinge  die  neue  Heimath  erobert  habe,  wie  die 
Dichter  erzählten,  erschien  den  Spartanern  undenkbar:  die 
Namen  und  den  allgemeinen  Gang  der  Ereignisse  adoptirte 
man  aus  der  poetischen  Darstellung,  denn  diese  trat  mit  der 
gewaltigen  Autorität  eines  Literaturwerks  dem  noch  ungebil- 
deten Volke  entgegen;  aber  man  corrigirte  sie  dahin,  dass  der 
Vater  der  Zwillinge  das  Land  erobert  habe  und  dann  erst  ge- 
storben sei.2)  Die  Herleitung  der  beiden  Königshäuser  von 
den  Zwillingskindern  ist  ein  naiver  Versuch,  die  auffallende 
Erscheinung  des  Doppelkönigthums  zu  erklären,  der  aber  mit 
den  realen  Verhältnissen  schlecht  stimmte:  denn  die  beiden 
Häuser  waren  keineswegs,  wie  diese  Erzählung  annahm,  gleich- 
berechtigt, sondern  die  Agiaden  die  angeseheneren.  Auch  hier 
wagte  man  nicht  der  Autorität  der  Dichter  direct  zu  wider- 
sprechen: man  hat,  so  erzählten  die  Spartaner  dem  Herodot, 
durch  genaue  Beobachtung  der  Mutter  herausgefunden,  dass 
Eurysthenes,  der  Ahnherr  der  Agiaden,  früher  geboren  war  als 
sein  Bruder  und  ihm  daher  grössere  Ehren  erwiesen.3) 

Diese  Dinge  erzählten  die  Lakedämonier,  wie  Herodot  uns 
mittheilt,  „abweichend  von  allen  Dichtern"  (VI  52  Aaxtdatf/o- 


1)  [Anders  Plut.  apophth.  lac.  Pleistarchos  1  „die  ersten  Könige  woll- 
ten lieber  ayttv  als  ßaathevtiv,  deshalb  sind  sie  nicht  Eponyinen  ge- 
worden".] 

2)  So  ausser  Herodot  auch  Xenophon  Ages.  8,  7.  —  Charakteristisch 
ist  auch,  dass  Aristodenios  vor  seinem  Tode  noch  die  Zwillinge  als  Kinder 
anerkennen  niuss:  zavTrjv  6h  (Argeie)  rzxtlv  öidvfxa,  ijtiöövza  6h  xbv 
IAqlgtoöiuiov  ?&  Ttxva  vovgoj  televxäv. 

3)  Bei  Ephoros  wird  dies  Verhältniss  umgekehrt:  Prokies  gilt  bei 
hm  für  den  tüchtigeren  der  beiden  Zwillinge,  der  Sparta  gründet  (daher 
auch  Polyaen  I  10),  während  Eurysthenes  nichts  geleistet  hat  (Strabo 
X  4,  18.  Cicero  de  div.  II  DO).  Man  sieht  wie  im  vierten  Jahrhundert  die 
Eurypontiden  in  den  Vordergrund  gedrängt  werden,  fast  wie  Jakob  dem 
Esau  den  Rang  abläuft. 


286 

noi  yag  oftoZoyeorTtg  ovöevi  jroujtf]  Xiyovöi  .  .  .  ravra  fiev 
Aaxsöaifioi'ioi  Itjovoi  fioviwi  'EZÄrjvcov).  Es  ist  mir  unbe- 
greiflich, wie  man  allgemein  hat  annehmen  können,  der  lako- 
nische Bericht  sei  der  ältere  und  volksthtimliche,  der  poetische 
beruhe  auf  Entstellung.  Es  liegt  doch  auf  der  Hand,  dass  die 
lakonische  nur  eine  nachträgliche  Correctur  der  dichterischen 
Version  ist  und  nie  entstanden  wäre,  wenn  die  letztere  nicht 
vorgelegen  hätte. 

Für  die  Geschichte  ist  das  Resultat,  dass  im  günstig- 
sten Falle  die  Söhne  des  Agis  und  Eurypon  die  ältesten  ge- 
schichtlichen Könige  Spartas  sind.  Chronologisch  bestimmbar 
sind  zuerst  Polydoros  und  Theopomp,  die  in  die  Zeit  des  ersten 
messenischen  Krieges  um  720  fallen;  über  diese  reicht  der 
Stammbaum  der  Agiaden  im  besten  Falle  um  sieben,  der  eury- 
pontidische  um  fünf  (wahrscheinlich  nur  um  drei)  Glieder  hin- 
auf. Das  heisst  mit  anderen  Worten:  die  historische  Erinne- 
rung in  dürftigster,  genealogischer  Form  reichte  in  dem  ange- 
seheneren der  beiden  Königshäuser  bis  etwa  zum  Anfang  des 
neunten  Jahrhunderts  hinauf  —  eine  Thatsache,  die  zu  allem 
was  wir  sonst  von  der  ältesten  griechischen  Geschichte  wissen, 
vollständig  stimmt.  Wie  viele  Generationen  von  Königen  be- 
reits vorher  auf  dem  Thron  gesessen  haben  mögen  und  in 
welche  Zeit  die  Eroberung  des  hohlen  Lakedaemon  durch  die 
Dorer  zu  setzen  ist  —  darauf  vermag  der  Stammbaum  weder 
positiv  noch  negativ  irgend  eine  Antwort  zu  gewähren. 


Drei  lokrische  Gesetze. 


Vorbemerkungen. 

11  ttr  die  Erkenntniss  des  ältesten  griechischen  Staates  sind 
die  beiden  lokrischen  Bronzen  IGA.  321.  322  von  höchster  Be- 
deutung. Zustände,  die  sich  anderswo  nur  in  Rudimenten  erhalten 
haben,  treten  uns  hier  noch  im  fünften  Jahrhundert  in  vollem 
Leben  entgegen,  daneben  sehen  wir,  wie  unter  dem  Einfluss  eines 
regeren  Verkehrs  die  alten  unbeholfenen  Verhältnisse  sich  um- 
zuwandeln beginnen  und  wie  neue  Rechtsordnungen  sich  ent- 
wickeln.1) Beide  Texte  sind  vollständig  erhalten  und  über  die 
Lesung  der  Buchstaben  herrscht  nirgends  Zweifel;  aber  sprach- 
lich wie  sachlich  bieten  sie  dem  Verständniss  sehr  grosse 
Schwierigkeiten.  Nicht  wenige  derselben  sind  durch  das  Ver- 
dienst der  hervorragenden  Gelehrten  gehoben  worden,  welche, 
wie  Vischer  und  Kirchhoff,  die  Inschriften  zusammenhängend 
commentirt  oder  einzelne  Stellen  kürzer  oder  ausführlicher  be- 
sprochen haben;  vor  allem  aber  sind  die  zahlreichen  Schwierig- 
keiten, welche  sich  aus  der  primitiven  Schreibweise  ergeben, 
durch  die  Fortschritte  der  Dialektforschung  wohl  überall  be- 
seitigt. Trotzdem  sind,  wie  ich  glaube,  noch  manche  wichtige 
Punkte  nicht  oder  nur  theilweise  richtig  verstanden.  Es  kommt 
hinzu,  dass  die  Bearbeitung  und  Uebersetzung  der  beiden  In- 
schriften durch  Röhl  in  den  Inscr.  Gr.  ant.  trotz  einiger  rich- 
tiger Bemerkungen  ungenügend  ist;  auch  vor  zehn  Jahren  schon 
war  eine  bessere  Erklärung  der  Texte  möglich.  Daher  wird 
eine  Neubearbeitung  derselben  nicht  unzeitgemäss  sein. 

1)  Auch  sprachlich  sind  die  Texte  höchst  interessant.  Sie  gehören 
zu  den  wenigen  grösseren  Texten,  die  uns  einen  griechischen  Dialekt  in 
unverfälschter  Gestalt  zeigen.  Die  grosse  Masse  der  Dialektinschriften, 
die  der  Zeit  seit  dem  vierten  Jahrhundert  entstammt,  zeigt  in  Wahrheit 
attisches  Griechisch,  das  in  die  Dialekte  zurückübersetzt  ist. 

Meyer,  Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    I.  19 


290 

Ich  schicke  einige  Bemerkungen  über  die  Schrift  voraus. 
Die  Zeichen  jj  und  co  kennt  keine  der  beiden  Tafeln;  das  ge- 
dehnte s  und  o  dagegen  ist  auf  der  ersten,  wie  in  der  ionischen 
Schrift,  durch  u  und  ov  bezeichnet.  Die  erste  Tafel  schreibt  vor 
dumpfem  Vokal  noch  das  Qoppa,  die  zweite  nicht  mehr.  Das 
7/  wird  durch  H  geschrieben.  Beide  Tafeln  haben,  wie  die 
meisten  altgriechischen  Inschriften,  Worttrennung,  die  auf  I 
und  IIA  durch  drei,  auf  IIB  durch  zwei  Punkte  bezeichnet 
wird;  doch  ist  sie  wie  überall  so  auch  hier  nur  unregelmässig 
gesetzt.  Elision  und  Krasis  werden  durchweg  beobachtet.  Die 
Worte  hoöGTLc,  und  faöörog  [ausser  einmal  II B  2,  2]  werden 
mit  doppeltem  o  geschrieben,  sonst  dagegen  wird  die  Doppel- 
setzung eines  Consonannten  hier  so  gut  wie  in  anderen  grie- 
chischen Inschriften  und  wie  in  der  ägyptischen,  phönikischeu, 
altlateinischen  Schrift  durchaus  vermieden,  nicht  nur  in  der 
Mitte  des  Wortes,  z.  B.  dalaoaq,  sondern  auch  wo  eine  Par- 
tikel auf  denselben  Consonanten  endigt,  mit  dem  das  folgende 
Wort  beginnt,  z.  B.  xarovde  =  xar  rcovdz ,  airiovloi  =  ai  ti^ 
CvXmi,  selbst  hojio&vov  =  ojicoq  t-trov;  nur  II  B  2,  2  steht 
xaraöövrßoZaq  =  xar  rag  övvfioXaq  und  durchweg  wird  sr 
Navjtaztov  geschrieben.  In  diesen  Fällen  habe  ich  den  betr. 
Consonanten  in  ( )  ergänzt.  Auch  den  Apostroph  habe  ich  ein- 
gesetzt und  die  Worttrennung  durchgeführt.  Weiter  zu  gehen 
kann  ich  mich  nicht  entschliessen.  Spiritus  und  Accente  ge- 
hören nicht  in  die  Transcription  einer  alten  Inschrift,1)  und  die 
Einsetzung  von  u  und  r\  resp.  ov  und  co  für  t  und  o  des  Textes 
trägt  vollends  die  Interpretation  in  die  Ueberlieferung  hinein 
und  stört  dem  Leser  das  eigene  Urtheil. 

Die  zweite  Inschrift  habe  ich  in  Paragraphen  getheilt  und 
in  beiden  bei  längeren  Paragraphen  um  der  Bequemlichkeit 
des  Citirens  willen  die  einzelnen  Sätze  durch  Ziffern  bezeich- 
net. Sonst  gebe  ich  den  Text  wie  er  auf  den  Tafeln  steht, 
nur  in  Minuskeln.  Das  Heta  transcribire  ich  mit  //.  Nur  das 
Qoppa  habe  ich  aus  typographischen  Gründen  durch  x  wieder- 
gegeben; hier  ist  ja  jedes  Missverständniss  ausgeschlossen. 

An   Stellen,   die   besondere  Schwierigkeiten   bieten,   habe 

1)  Der  Missbraucli,  eiu  Iota  subscriptum  zu  schreiben,  wo  es  im  Text 
als  vollwertiger  Buchstabe  steht,  wird  hoffentlich  aus  unseren  Inschriften- 
werken allmählich  völlig  verschwinden. 


291 

ich  die  Lesung  in  gewöhnlicher  Schrift  in  Klammern  beigefügt. 
Zur  Orientirung  über  den  Dialekt  bemerke  ich  noch,  dass  das 
Lokrische  die  Präposition  de;  nicht  kennt,  sondern  dafür  h 
c.  acc.  braucht  (daher  auch  tvxe  —  söre  „bis"),  und  dass  Ix 
immer  (ausser  I  §  2)  in  der  Form  £  erscheint. 

Sehreibfehler  finden  sich  mehrfach  namentlich  in  I.  Sehr 
oft  ist  xa  nach  ai  ausgelassen,  wo  es  die  Grammatik  erfordert, 
so  oft,  dass  man  fast  glauben  könnte,  das  Lokrische  habe  al 
xa  =  hav  und  cd  promiscue  mit  dem  Conjunctiv  construirt  (vgl. 
IIA  3).  An  einer  Stelle  (I  7)  scheinen  unheilbare  Verschrei- 
bungen  vorzuliegen.  Im  übrigen  kann  man  mit  der  Annahme 
von  Fehlern  in  inschriftlich  vorliegenden  Texten  nicht  vor- 
sichtig genug  sein.  Die  Art,  wie  Röhl  diese  und  andere  In- 
schriften behandelt,  zeigt,  dass  er  aus  den  Missgriffen,  welche 
Boeckh  —  quem  honoris  causa  nomino  —  bei  der  Behandlung 
der  älteren  Inschriften  begangen  hat  und  welche  man  sich  auch 
bei  attischen  Inschriften  des  fünften  Jahrhunderts  sprachlich 
und  sachlich  nicht  selten  erlaubt  hat,1)  bis  neue  Funde  die 
Richtigkeit  des  überlieferten  Textes  sicher  stellten,  nichts  ge- 
lernt hat. 


I.    Gesetz  über  eine  Colonie  nach  Nanpaktos. 

Die  grössere  der  beiden  Bronzen  (IGA.  321)  enthält  ein 
Gesetz  der  hypoknemidischen  (östlichen)  Lokrer  über  die 
Rechtsverhältnisse,  welche  zwischen  dem  Mutterlande  und  den 
von  ihnen  nach  Naupaktos  im  Gebiet  der  westlichen  Lokrer 
entsandten  Ansiedlern  bestehen  sollen.  Gefunden  ist  sie  in 
Galaxidi,  dem  alten  Oianthea,  am  krisäischen  Golf,'2)   und  ge- 


1)  Ein  schlimmes  Beispiel  bietet  CIA.  I  27  a,  52  ff.,  wo  der  durchaus 
tadellose,  aber  acht  griechische  Text  von  mehr  als  einem  Commentator  aufs 
schlimmste  misshandelt  ist. 

2)  zuerst  publicirt  von  Oikonomides  1869,  dann  mit  trefflichem  Com- 
mentar  von  W.  Vischer  Rhein.  Mus.  XXVI  =  Kl.  Sehr.  II,  ferner  G.  Cur- 
tius,  Studien  II,  Cauer  delectus  91,  Hicks  Manual  ofGreek  Inscr.  p.  117 
(ohne  Bedeutung),  Roberts  Introd.  in  Greek  Epigraphy  no.  231  und  p.  346  ff. 
und  die  Notizen  von  Riedenauer  Hermes  VII  111  und  Breal  Rev.  arch. 
XXXII  1876,  115.  Werthvoll  sind  auch  die  kurzen  Notizen  von  Bechtel 
in  der  Sammlung  der  griech.  Dialektinschr.  II  1478,  nebst  dem  Nach- 
trag S.  90. 

19* 


292 

schrieben  nicht  in  der  Schrift  der  östlichen,  sondern  in  der 
der  westlichen  Lokrer,  die  sich  von  jener  durch  die  Form  des 
X  und  des  ö  unterscheidet  (Kirchhopf  Alphabet4  143  ff.).  Das 
erklärt  sich  wahrscheinlich  durch  die  Bestimmung,  welche  den 
Schluss  der  Inschrift  bildet: 

xai  xo   &t&(itov  .  toiq  hvjioxvafiidioig  AoxQoiq  .  ravra 

rsktov  SLfiev  .  Xaleisoig  .  roig  övv  AvTi<parai  .  foixeTaig. 
„Und  die  Satzung*  für  die  hypoknemidischen  Lokrer  soll 

in  gleicher  Weise  (xavtä)  gültig  sein  für  die  Chaleier,  welche 

sich  unter  Führung  des  Antiphates  angesiedelt  haben  (foi- 

xrjTCcl)". 

Naupaktos  war  eine  Gemeinde  der  westlichen  Lokrer,  die 
lange  vor  der  Entsendung  der  Colonisten  bestanden  hat.  Eben 
darum  heisst  die  Ansiedlung  niemals  ajtoixla,  sondern  ejtifoixia, 
die  Ansiedler  ljiif-oixoi\  sie  treten  zu  den  älteren  Bewohnern 
hinzu.1)  Wie  die  östlichen  Lokrer  hat  offenbar  auch  die  zu  den 
westlichen  Lokrern  gehörige  Gemeinde  Chaleion,  die  gleichfalls 
am  krisäischen  Meerbusen  liegt,  Ansiedler  nach  Naupaktos 
gesandt,  unter  Führung  des  Antiphates,  und  diese  haben  für 
ihr  Verhältniss  zur  Muttergemeinde  die  Bestimmungen  der 
hypoknemidischen  Lokrer  in  Bausch  und  Bogen  angenommen, 
so  dass  sie  an  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  nichts  änderten, 
sondern  nur  die  Schlussklausel  hinzufügten.2)  Jede  Bestimmung, 
die  nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  für  die  hypoknemidischen 
Lokrer  in  ihrem  Verhältniss  zur  Heimath  gilt,  gilt  daher  auch 
für  die  Chaleier  in  Naupaktos  in  Beziehung  zu  Chaleion.3) 
Mithin  stammt  unser  Text  entweder  aus  Naupaktos  oder  aus 
Chaleion,  und  daraus  erklärt  sich  die  Anwendung  der  ozolischen 
Schrift.  Wenn  sie  wirklich  in  Galaxidi  gefunden  und  nicht 
blos  hier  in  den  Handel  gekommen  ist,  muss  sie  dorthin  ver- 
schleppt sein. 


1)  Für  die  Bedeutung  von  tnoixoq  vgl.  z.  B.  Charon  fr.  G.  Ephoros  fr.  73. 

2)  Röhl  meint,  die  hypoknemidischen  Lokrer  hätten  auch  nach 
Chaleion  eine  Colonie  entsandt,  und  diese  habe  das  Gesetz  über  Naupaktos 
auch  für  sich  angenommen.  Dem  widerspricht  der  Wortlaut.  XaXeif-ou 
roig  avv  Avxupaxai  FoLX^xaiq  kann  nicht  heissen  „für  die  nach  Chaleion 
entsandten  Colonisten",  sondern  nur  „für  die  Ansiedler  aus  Chaleion"  — 
natürlich  in  Naupaktos. 

3)  Nur  §  4  wird  vermuthlich  keine  Anwendung  haben  linden  können. 


293 

Naupaktos  ist  ein  gegen  die  Aetoler  vorgeschobener  Posten 
der  westlichen,  ozoli sehen  Lokrer.1)  Es  ist  daher  begreiflich, 
dass  die  dort  ansässige  Bevölkerung  sich  nicht  stark  genug 
fühlte  und  Zuzug  erhielt  nicht  nur  aus  einer  heimischen  Ge- 
meinde (Chaleion),  sondern  auch  von  den  stammverwandten 
Lokrern  am  euböischen  Meer.  Auch  jetzt  noch  mag  die  Lage 
precär  genug  gewesen  sein;  daher  nimmt  das  Gesetz  ausdrück- 
lich auf  den  Fall  Bezug,  dass  die  Ansiedler  mit  Gewalt  ver- 
trieben werden  (pr.  4).  Die  Ansiedler  treten  in  den  neuen 
Gemeindeverband  ein,  sie  werden  Naupaktier  (pr.  1),  sie  sind 
den  Gesetzen  der  westlichen  Lokrer  unterthan  und  zahlen 
hier  ihre  Steuern  (pr.  5.  §  2).  Die  ozolischen  Lokrer  bilden 
trotz  der  freien  Bewegung  der  einzelnen  Gemeinden  einen  ein- 
heitlichen Stammstaat  (Thuk.  III  95,  Xen.  Hell.  IV  2,  17  u.  a., 
vgl.  G.  d.  A.  II  214).  Zwischen  den  beiden  Gruppen  der  Lokrer 
besteht  offenbar  ein  Bundesverhältniss,  die  Stammverwandt- 
schaft (und  vermuthlich  der  gemeinsame  Gegensatz  gegen  die 
Phoker)  findet  auch  politisch  ihren  Ausdruck.  Daher  die  Be- 
stimmung des  §  2,  dass,  wer  Naupaktos  verlässt,  ohne  seine 
Steuern  bezahlt  zu  haben,  aufhört,  überhaupt  ein  Lokrer  zu 
sein  (ajtoXoxQov  efyev),  d.  h.  bei  beiden  Gruppen  der  Lokrer 
seine  politischen  Rechte  verliert;  vgl.  auch  §  3.  In  der  äusseren 
Stellung  von  Naupaktos  hat  sich  daher  durch  die  Ansiedlung 
nichts  geändert;  bis  zur  Einnahme  durch  die  Athener  bald 
nach  460,  die  dann  454  hier  die  Messenier  ansiedeln,  gehört 
es  zum  Gebiet  der  ozolischen  Lokrer  (Thuk.  I  103  Navjcaxrov, 
?}v  Ixvyov  fjQt/xoTtg  vtcoörl  Aoxqwv  xmv  O^okcov  b/ßvxmv). 
Dass  unsere  Inschrift  geraume  Zeit  älter  sein  muss  als  dieses 
Ereigniss,  ist  jetzt  (gegen  Vischer)  allgemein  anerkannt;  ver- 
muthlich gehört  sie  noch  der  Zeit  vor  den  Perserkriegen  an. 

Wenn  die  Muttergemeinde  über  die  Verhältnisse  der  An- 
siedler in  ihrer  neuen  Heimath  nichts  zu  sagen  hat,  so  hat  sie 
dagegen  ihre  Beziehungen  (Pflichten  und  Rechte)  zur  alten 
Heimath  genau  zu  regeln.  Das  und  nichts  anderes  ist  der 
Inhalt  unseres  Gesetzes.  Es  ist  ganz  vollständig;  das  Thema 
ist   erschöpfend   behandelt.     Dadurch  wird   die  aus  einem  un- 


1)  Officiell  heissen  sie,   wie  es  scheint,  immer  A.  honigioi,  so  auch 
hier  pr.  5.    'O^öXat  ist  der  Name,    den  ihnen  die  übrigen  Griechen  gaben. 


294 

berechtigten  formellen  Anstosse  (s.  u.)  entnommene  Behauptung 
Kirchhoff's  *),  die  erhaltene  Tafel  enthalte  nur  den  Schluss 
der  Urkunde,  der  erste  Theil  habe  auf  einer  anderen  verlore- 
nen Tafel  gestanden,  hinfällig. 

Die  Muttergemeinde  wird  bald  als  AoxqoI  rol  cFjtoxv<x- 
liidLOi,  bald  als  'Ojiovtloi  (oder  c0jr.)2)  bezeichnet.  Dass  beide 
Ausdrücke  die  Gesammtheit  der  Lokrer  am  euböischen  Meer 
bezeichnen,  die  trotz  der  (zeitweiligen?)  Zerreissung  ihres  Ge- 
biets durch  die  Phoker  von  Daphnus  immer  nur  einen  Staat 
gebildet  haben,  hat  Vischer  eingehend  erwiesen.  Aber  die 
allgemeine  Annahme,  beide  Bezeichnungen  seien  identisch,  ist 
falsch  und  hat  eine  sehr  wichtige  Thatsache  der  Erkenntniss 
verschlossen.  Schon  an  sich  ist  es  ja  undenkbar,  dass  ein  Volk 
sich  in  einer  rechtlichen  Urkunde  promiscue  mit  zwei  ver- 
schiedenen Namen  bezeichne,  und  thatsächlich  sind  denn  auch 
beide  Ausdrücke  scharf  geschieden.  Sie  verhalten  sich  zu  ein- 
ander wie  Romani  zu  Latini,  wie  !dd-?]valoi  zu  'AttixoL  IJjcclq- 
riärai  zu  Aaxtdaifionoi ,  ßrjßaioi  zu  Boicoroi  (G.  d.  A.  II  218, 
vgl.  den  Excurs  S.  305).  Das  Volk  heisst  Aoxqol  rol  'Yjto- 
xvafiiöioi,  und  überall,  wo  es  nur  auf  die  Volksangehörigkeit 
ankommt,  wird  ausschliesslich  dieser  Ausdruck  gebraucht.  M 
Aber  die  Herrschaft,  die  politische  Leitung  des  Volks  gehört 
der  „Gemeide  der  Tausend  in  Opus"  (§  9,  1);  die  Hauptstadt 
herrscht  hier  wie  in  den  meisten  altgriechischen  Städten  mit 
Ausschluss  des  Westens  (Elis,  Achaia,  Phoker,  ozolische  Lokrer4), 
Dorer,  Aetoler,  Akarnanen  u.  a.)  über  das  flache  Land  und  über 
die  Landgemeinden  (jtoktig  §  4.  5),  deren  Bewohner  zwar  persön- 
lich frei  sind  und  ihr  eigenes  Localrecht  haben  (§  5),  vielleicht 
auch  ihre  Gemeindeangelegenheiten  selbst  regeln,  aber  von  allen 
staatlichen  Rechten  ausgeschlossen,  Unterthanen  des  Vororts  sind. 


1)  Alphabet4  14(i,  1.    Sie  wird  aueli  von  Röhl  verworfen. 

2)  So,  nicht  'Otiüjvtioi  oder'ÜTiovvTioi,  richtig  Bechtel  I.e.  Ebenso 
schreiben  die  Münzen  des  vierten  Jahrhunderts,  während  die  Späteren 
Otiovviicov  haben. 

3)  Später  ist  AoxqoI  oi  'Onovvzioi  der  gewöhnliche  Name  des  Volks 
geworden,  so  bei  den  Historikern  und  in  der  Olympionikenliste  Ol.  70. 

4)  Bei  den  ozolischen  Lokrern  gibt  es  keine  herrschende  Gemeinde; 
Träger  der  politischen  Souveränetät  war  offenbar  eine  Staimnesversamm- 
lung.  Daher  nehmen  hier,  wie  überall  wo  dieselbe  Verfassung  herrscht, 
die  einzelnen  Gemeinden  eine  sehr  selbständige  Stellung  ein. 


295 

Daher  steht  ausschliesslich  'Ojiovtloi,  wo  von  politischen  Ver- 
hältnissen oder  von  der  Judicatur  die  Kede  ist  (§  1.  7.  9).  Durch 
die  Revolutionen  des  fünften  und  vierten  Jahrhunderts  ist  die 
alte  Ordnung  in  den  meisten  griechischen  Städten  gebrochen 
und  mit  der  Demokratie  auch  das  Land  zu  politischen  Rechten 
gelangt.  Wenn  ein  Kassander  von  dem  xoivbv  Aoxqcqv  tojp 
'Hoicov  einen  Kranz  erhält  (Dittenberger  Sylloge  211,  7),  wenn 
Inschriften  der  hellenistischen  Zeit  Beschlüsse  der  'Ojtovvtiol 
xal  AoxqoI  ol  fjtza  'Ojzovvticov  enthalten  (Gr.  Dialektinschr. 
II  1504  ff.),  wenn  in  der  augusteischen  Amphiktyonie  die  bei- 
den lokrischen  Stimmen  auf  die  AoxqoI  ^EgjiIqiol  und  die  Ao- 
xqoI 'Yjioxvjjf/iötoi  vertheilt  sind,  so  beweist  dies,  dass  diese 
Entwickelung  auch  bei  den  östlichen  Lokrern  eingetreten  ist.  — 

Wir  können  jetzt  zur  Einzelerklärung  übergehen.  Die 
Formulirung  der  Gesetze,  Beschlüsse  u.  ä.  in  älterer  Zeit  unter- 
scheidet sich  von  der  später  üblichen  in  Griechenland  wie  über- 
all vor  allem  dadurch,  dass  alles,  was  für  das  Gemeindemit- 
glied selbstverständlich  ist  oder  sich  aus  dem  Zusammenhang 
mit  Notwendigkeit  ergibt,  nicht  erst  ausdrücklich  gesagt  wird 
—  der  Möglichkeit  von  Missverständnissen  oder  Zweideutig- 
keiten in  Rechtssätzen  wird  dagegen  durch  ganz  genaue,  vor 
keiner  Wiederholung  zurückschreckende  Formulirung  vorge- 
beugt. Vor  allem  geht  man  gleich  in  medias  res:  si  in  ius 
vocat,  ito;  ni  it,  antestamino  beginnen  die  zwölf  Tafeln,  og 
x  eXtv&tQWL  ))  öovXojl  (itkei  dvjiifioZrjv,  jiqo  dixaq  [li]  aytiv 
das  Recht  von  Gortyn.  Die  später  so  sorgfältig  —  in  Athen 
seit  dem  vierten  Jahrhundert  in  abschreckender  Breite  —  ent- 
wickelten Präscripte  fehlen  gänzlich  oder  sind  ganz  kurz  ge- 
halten; dass  es  sich  um  ein  Gesetz  der  Opuntier  handelt,  weiss 
ja  jeder  den  es  angeht,  ohne  dass  es  ihm  ausdrücklich  gesagt 
wird.  Auch  selbstverständliche  Verba  lässt  man  weg.  Die 
(von  Röhl  arg  misshandelte)  elische  Bronze  IGA.  118  =  Griech. 
Dialektinschr.  1 1150  a  fgarga  ro(i)q  AvaiTo(io)  xat  ro(ig)  Mera- 
jtio(i)g  .  ytliav  Jisvxaxovxa  ftzea  (sc.  r/fi£v)  .  .  .  ai  to(p)  oqxov 
jzaQßcuvoiav,  yvoiiav  (d.  i.  yvcb(ir}V,  sc.  etwa  öopttv)  toq  i(<xq)o- 
fiaog  roAvpjziai  (d.  i.  rovq  hQOfidovg  rovg  'OAvfijtia)  bietet 
dafür  ein  charakteristisches  Beispiel. 

Dementsprechend  lautet  das  Präscript  unseres  Textes: 
er  Navjiaxrov  .  xa(r)  rovöe  .  hajiifoixia. 


296 

„Die  Ansiedlung  nach  Naupaktos  soll  nach  folgenden 
Bestimmungen  stattfinden",  oder  einfacher  „Bestimmungen 
für  die  Colonie  nach  Naupaktos". 

Kirchhoff  (s.  o.  S.  294)  und  Röhl,  der  sich  durch  eine 
lange  Auslassung  des  Schreibers  helfen  will,  halten  den  Text 
für  unvollständig.  Dazu  liegt  kein  Anlass  vor;  die  Auslassung 
des  Verbums  ist  durch  die  angeführten  Analogien  geschützt. 
Dass  xar  rcovös  zu  lesen  ist,  hat  Dittenberger  im  index  lect. 
Halle   1885/6  S.  11  erwiesen. 

Der  Text  des  Gesetzes  ist  in  Paragraphen  getheilt,  die 
durch  liegende  Buchstaben  bezeichnet  sind.  Das  erste  Para- 
graphenzeichen steht  am  Schluss  des  ersten  Abschnittes.  Auch 
das  ist  bisher  falsch  aufgefasst;  ein  Blick  ins  Corpus  iuris 
lehrt,  wie  es  zu  verstehen  ist.  Bekanntlich  werden  hier  die 
Paragraphen  nicht  vorn  Anfang  des  einzelnen  Gesetzes,  sondern 
vom  ersten  Einschnitt  ab  gezählt.  Den  Eingang  bezeichnet 
man  als  principium,  §  1  ist,  was  wir  §  2  nennen  würden.  Genau 
ebenso  sind  die  Lokrer  verfahren;  daher  werde  ich  auch  hier 
den  Terminus  principium  (pr.)  zur  Bezeichnung  des  ersten  Ab- 
schnittes verwenden.  Wo  ein  Paragraph  mehrere  Sätze  enthält, 
habe  ich  sie  durch  Ziffern  bezeichnet. 

pr.  1.  Aoxqov  top  .  hvjioxva[iidiov  .  sjibi  xa  XavjraxTioQ. 
ytverai  .  Navjiaxriov  eovra  .  hono(q)  2-tvov  .  oöia  lavyaruv. 
xai  ftvtiv  .  sgeifitv  .  ejiixvyovxa  .  at  xa  deiXerai  .  ai  xa  ött- 
Xerai  .  ftveiv  xai  Xav^arstv  .  xt  (=  xal  ex)  dafio  xt  (==  xai 
Ix)  xotvavov  .  avxov  xai  zo  yevog  .  xaz  aiHi. 

„1.  Dem  hypokn.  Lokrer  steht  es,  wenn  er  Naupaktier 
geworden  ist,  frei,  wenn  er  zu  Besuch  kommt,  wie  ein  Frem- 
der die  Gastgaben  zu  erhalten  und  zu  opfern,  falls  er  will; 
falls  er  aber  will,  zu  opfern  und  Gaben  zu  erhalten  inner- 
halb der  Demos  und  der  Genossen,  ihm  und  seinem  Geschlecht 
alle  Zeit." 

Dieser  Satz  ist  nie  richtig  verstanden  und  von  Röhl  aufs 
ärgste  misshandelt.  Wer  nach  Naupaktos  zieht,  scheidet  damit 
für  sich  und  seine  Nachkommen  aus  der  Muttergemeinde  aus. 
Aber  wenn  er  in  die  Heimath  zurückkehrt,  leben  die  alten 
Bande  wieder  auf;  er  will  nicht  von  den  Seinen  geschieden 
sein,  an  den  Festen  und  Opfern  in  dem  Kreise  theil  nehmen, 
dem  er  ehemals  angehörte.     Das  wird  ihm  und  seinen  Nach- 


297 

kommen  auf  alle  Zeit  frei  gestellt.  Mancher  mag  es  allerdings 
vorziehen,  lieber  die  Ehren  zu  gemessen,  die  dem  von  den 
Göttern  geschützten  Fremden  zustehen  und  den  Antheil  zu 
empfangen,  den  dieser  bei  Festen  und  Opfern  enthält.  Auch 
das  wird  ihm  frei  gestellt.  Dass  die  Entscheidung  darüber  aus- 
schliesslich im  Belieben  des  Colonisten  liegt,  wird  so  scharf 
wie  möglich  betont.  Deshalb  ist  „wenn  er  will"  zweimal  ge- 
setzt. Natürlich  gehört  es  das  eine  mal  zu  der  ersten,  das 
andere  mal  zu  der  zweiten  Hälfte  des  Satzes.1)  —  Ein  ana- 
loges Verhältniss  besteht  bekanntlich  zwischen  Rom  und  den- 
jenigen seiner  Kinder,  die  als  Bürger  neuer  selbständiger  Ge- 
meinden in  die  latinischen  Colonien  deducirt  sind.  Nur  hat 
Rom,  in  Sachen  des  Bürgerrechts  der  liberalste  Staat,  den  die 
Geschichte  gesehen  hat,  seinen  ausgeschiedenen  Angehörigen 
gestattet,  beim  Besuch  der  Heimath  auch  ihre  politischen  Rechte 
wieder  aufzunehmen. 

Dass  ootog  der  Gegensatz  zu  hgog  ist  und  O-vtiv  sich 
auf  die  religiösen,  ooia  Xay/dpstv  auf  die  übrigen  dem  Frem- 
den zustehenden  Rechte  bezieht  (es  zu  übersetzen,  ist  für  uns 
unmöglich),  würde  ich  nicht  ausdrücklich  bemerken,  wenn  nicht 
Vischer  es  auffallender  Weise  verkannt  hätte,  obwohl  er  selbst 
aus  kretischen  Inschriften  eine  Reihe  von  Parallelen  anführt, 
in  denen  zwei  Staaten  ihren  Angehörigen  gegenseitig  (xeroxctv 
d-eivwv  xal  avd-Qcojtivmv  ndvxmv  zusichern  (CIG.  2551,  26. 
2556,  13.  2557,  16  u.  a.).  Auch  xrj  ödfiov  xr}  xocvavwv  ist  kaum 
zu  übersetzen.  Es  heisst,  „er  erhält  seinen  Antheil  aus  dem, 
was  bei  Opfern,  Gastmählern,  Verth eilung  von  jGemeindeein- 
nahmen  u.  a.  dem  öfjfioq  oder  den  xoivavoi  zufällt."  xoivävoi 
sind  offenbar  ein  religiös -geschlechtlicher  Verband  nach  Art 
der  Phratrien. 

pr.  2.  rtlog  rovg  .  sjiifoixovq  Aoxqov  .  top  hvjzoxvctf/i- 
diov  .  (ie  (paouv  .  sv  Aoxqolq  tovq  hvjroxvafztdtoiQ  .  (pgcv  x 
avrig  Aoxgoq  ysvtxai  top  hvjtoxva^tötov. 


1)  Röhl  will  es  im  Anschlags  au  Wilamowitz  (Ztschr.  f.  Gyuiu.- 
Wesen  XXXI  637)  einmal  streichen,  ebenso  wie  er  onojq  gsvov  [zuerst 
von  Cauer  erkannt]  in  oitm  x  y  Aoxqwv,  ^evcov  verwandelt  bat.  Die  alte 
Regel,  dass  wer  einen  Text  corrigirt,  ihn  nicht  versteht,  bewährt  sich 
auch  hier. 


298 

3.  at  (xa)  öuXbt  av%OQSiv  xaraXetxov.ra1)  tv  rat  to- 
rtai  jtatöa  heßanxv  eöeZq)tov  (d.  i.  rj  adtX<pt6v)  .  egtifitp  avtv 

SVtTtQlOJP. 

4.  at  xa  hvjt  avavxag  ajieXaovzat  .  £  Xavjtaxro  .  Aoxoot 
rot  Jivjioxvaf/tdtot  .  e§£ifisv  avyoottv  .  Jiojio  (=  ojico)  ftxaqxoc, 
tv  (=  ?)v)  avtv  evtxsQtov. 

5.  xtloq  (A£  yaouv  fieÖtv  .  hört  ^t  f/era2)  Aoxqov  tov 
ftöJraQtor. 

„2.  Abgaben  sollen  die  Colonisten  der  hyp.  L.  unter  den 
h.  L.  nicht  zahlen,  ehe  er  wieder  ein  Lokrer  von  den  hypokne- 
midischen  wird.  3.  Wenn  er  dauernd  in  die  Heimath  zu- 
rückkehren will,  steht  es  ihm,  wenn  er  an  seinem  Herde 
einen  erwachsenen  Sohn  oder  Bruder  zurücklässt,  ohne  Ein- 
trittsgeld frei.  4.  Wenn  aber  die  hyp.  L.  mit  Gewalt  aus 
Naupaktos  vertrieben  werden,  können  sie  dahin,  woher  ein 
Jeder  stammt,  ohne  Eintrittsgeld  zurückkehren.  5.  Sie  sollen 
[alsdann]  keine  Abgaben  zahlen,  die  sie  nicht  bei  den  west- 
lichen Lokrern  [gezahlt  haben]". 

pr.  2.  der  Wechsel  im  Numerus  ist  absichtlich,  damit  man 
sieht,  dass  die  Bestimmung  sich  auf  die  Einzelnen,  nicht  auf 
die  Gesammtheit  bezieht.  Die  Abgaben  bestehen  natürlich  hier 
und  im  folgenden  nicht  aus  einer  eiöcfooa,  einer  Vermögens- 
oder Einkommensteuer,  sondern  aus  Zöllen,  Verkaufssteuern. 
Gerichtsgeldern,  und  vielleicht  Leistungen  nach  Art  der  attischen 
Leiturgien. 

pr.  1  und  2  regeln  die  Verhältnisse  des  Einzelnen  bei  vor- 
übergehendem Aufenthalte  in  der  Heimath  ;  die  folgenden  Sätze 
beziehen  sich  auf  die  dauernde  Rückkehr,  sie  sei  freiwillig 
(pr.  3)  oder  gezwungen  (pr.  4).  Danach  bleibt  für  pr.  5  nur  die 
von  mir  gegebene  Uebersetzung  möglich ;  dass  sie  vor  dauernder 
Rückkehr  in  die  Heimath  keine  Abgaben  zahlen  sollten,  war 
schon  pr.  2  gesagt,  Roiils  Uebersetzung:  Vertigal  ne  pendunto 
(sc.  Naupacti)  nisi  id  quod  ipsi  Locri  occidentales  pendunt  ist 
unmöglich;  die  Abgaben  in  Naupaktos  gehen  die  Opuntier 
garnichts   an.  —   Die   Bestimmung  pr.  3  entspricht  den   römi- 


1)  sie. 

2)  verschrieben  vexa. 


299 

sehen  über  die  latinischen  Colonisten;  der  Bestand  wehrfähiger 
Männer  soll  der  Colonie  erhalten  bleiben. 

§  1.  (Ä)  bpoqxop  toiq  sjcifoLxoiq  ev  NavjiaxTOP  .  (it- 
jioorafitv  (=  (17]  ajt.)  .  an  (Ojz)optiov{)  tsxvccl  xat  (taxu-wi  • 
fi&dtfuai  .  fsxovvac  top  Iioqxov  t§eifiev  .  at  xa  öuXovxai  . 
tjzaystp  fitra  zgiaxorra  ferset  .  üjzo  to  Jioqxo  htxarov  avögag 
Ojiopriotq  .  Navjiaxxiov  xat  NavjiaxTtotq  Ojzovtiovc. 

„Die   Colonisten    nach   Naupaktos    schwören,    von    den 
Opuntiern   auf   keinerlei   Weise   freiwillig   abzufallen.     Den 
Eid   können,    wenn    sie   wollen,    dreissig   Jahre    nach    dem 
[jetzigen]  Schwur  hundert  Männer  von  den  Naupaktiern  den 
Opuntiern  und  die  Opuntier  den  Naupaktiern  auferlegen". 
Die  Colonisten  sollen   dem  Mutterlande   treu   bleiben   und 
keinen  Krieg   gegen   dasselbe   führen.     Mehr  besagt  /j?)   cuto- 
ötafitv  nicht,   denn  weitere  Kechte  auf  Naupaktos,   etwa   das 
der  politischen  Oberleitung,   haben   die  Opuntier  nicht.     Viel- 
mehr werden   die   Beziehungen   durch   die  Verträge   zwischen 
den  westlichen  Lokrern  und  den  Opuntiern  geregelt  sein.     Auch 
die  Naupaktier  haben  Anrecht  auf  die  Treue  des  Mutterlandes : 
daher  kann  der  Eid  von  beiden  Seiten  erneuert  werden.     Dass 
hier  die  Opuntier,   nicht  die  hyp.  L.  genannt  sind,   zeigt  klar 
die  politische  Verschiedenheit  der  beiden  Namen. 

§  2.  {B)  JioöOTiQ  xa  lutoreXeei  ty  Navjiaxro  .  top  tJttfot- 
xov  .  ajroZoxQOP  eifisv  .  bpts  x  ajroreiOec  .  ra  vofiia  Nav- 
jiaxTioig. 

„Wer  von  den  Colonisten  mit  Hinterlassung  von  Abgaben 
aus  Naupaktos  fortgeht,  verliert  sein  lokrisches  Bürgerrecht, 
bis  er  den  Naupaktiern  ihre  Gebühren  bezahlt  hat". 

Vgl.  S.  293.  Nur  hier  ist  die  Präposition  ix  mit  dem  End- 
consonanten  geschrieben,  wohl  um  jede  Verwechselung  mit  ev  zu 
vermeiden.  Die  Ergänzung  des  Vordersatzes,  dass  der  Schuldner 
den  Versuch  macht,  in  die  Heimath  zurückzukehren,  versteht 
sich  von  selbst. 

§  3.  (r)  ai  xa  fit  ytpoc  tv  xat  töxiat  .  tt  (==  (/)  tyeJta- 
fiov  .  top  ejiifoixop  .  [et] l)  bp  Navjiaxroi  Aoxqop  .  top  hv- 
jtoxpafadtop  .  top  enapyjLöTOV  .  xoaTetp  Aoxqov  hojto  x    et 


1)  Schreibfehler. 


300 

(=  ojzcq  x    ?j)  .  avrov  lovra  ctt  x  avtp  ti  t  Jtatg  .  zgtov  (it- 
vov  .  ai  dt  fit  zu  ig  NavjiaxTioig  .  vofiioig  yptgTai. 

„Wenn   am  Hansherde   kein  erbberechtigtes  Geschlecht 
da  ist  unter  den  Colonisten  der  hyp.  L.  in  Naupaktos,  soll 
der  nächstverwandte  Lokrer,   woher   er   auch   stamme,   die 
Erbschaft  erhalten  unter  der  Bedingung,  dass  er  selbst,  sei 
Mann  oder  Knabe,  hingeht  innerhalb  dreier  Monate.    Wenn 
aber  nicht,  soll  man  die  naupaktischen  Rechtsstätze  anwenden." 
Wenn  der  Colonist   an  seinem  Herde   keinen  berechtigten 
Erben  hinterlässt,   tritt  das  Erbrecht  des   nächsten  lokrischen 
Geschlechts  verwandten  —  ganz  allgemein,  sei  er  Hypoknemidier 
oder  Ozoler1)  —  ein,   falls   er  binnen  drei  Monaten  persönlich 
sein  Erbe  antritt.     Diese  Bestimmung  wahrt  das  Erbrecht  der 
Angehörigen  des  Mutterlandes  in  der  Colonie,  wie  umgekehrt 
§  6  das  Erbrecht  der  Colonisten  in  der  Heimath.     Was  zu  ge- 
schehen hat,  wenn  die  Bedingung  nicht  gehalten  wird,  können 
die    Opuntier     nicht    festsetzen;     da    tritt    das    naupaktische 
Recht  ein. 

§  4  (A)  t  NavjiaxTO  avyootovTct  .  tv  Aoxgovg  tovq  hv- 
jioxvafiiöiovg  .  tv  Naxmaxxoi  .  xagvgai  tv  Tayogai  (=  tu. 
ayooä)  .  xtv  (=  xal  tv)  Aoxgoig  .  zotig)'1)  hvjtoxvafiidiotg  . 
tv  zcu  tcoXi  ho  x    ti  (=  d)  x    ij)  .  xaQv^ai  tv  zayoQtxi. 

„Wer  aus  Naupaktos  fortzieht  in  das  Gebiet  der  hyp.  L.. 
soll  es  in  Naupaktos  auf  dem  Markt  durch  Heroldsruf  be- 
kannt machen  und  ebenso  bei  den  hyp.  L.  in  der  Stadt,  aus 
der  er  stammt"  [und  in  die  er  selbstverständlich  zurückkehrt]. 
§  5.  (E)  1.  UtQxoOagiav  .  xai  Mvoaytov  .  tjiti  xa  Nav- 
jtaxTiiog  Ti)g  .2)  ytvtzai  .  avTog  xcu  x.a  yotfiaTa  .  Ttv  (=  tu 
tv)  AavjraxTOt  .  zoig  tv  NavjtaxTOi :])  yotörai  .  t<x  6'  tv  Ao- 
xgoig  Toig  hvjioxvafiidioig  .  yQt^iaTa  xoig  hvjtoxvctfitdioig  . 
voftioig  XQtöxai  .  hojtog  a  jtoXig  ftxaozov  vofiiCti  .  Aoxqov 
zov  hvjioxva^tiöiov .   2.  ai(xa)  zig  livjio  zov  vofitov  tov  tjtt- 


1)  onu)  =  imod-Ev  wie  pr.  4  und  uj  =  o&ev  §  4,  nicht  —  otcov,  wie 
Kohl  übersetzt  (ubicuinque),  der  die  Stelle  sonst  richtig  verstunden  hat. 
Bechtel  interpungirt  falsch. 

2)  Schreibfehler. 

: ■'■)  Die  allgemeine  Annahme,  hier  sei  vo(jlioiq  vom  Schreiber  ausge- 
lassen, scheint  mir  unnöthig;  das  folgende  vofiioiq  genügt  für  beide. 


301 

foixov  .  avyoQtu    IJzQxo&aoiav    xai    MvGayzov  .  xoic   avxov 
i'Of/LOLQ  .  yotöxai  .  xaxa  jtoliv  fsxaöxovq. 

„1.  Wenn  einer  von  den  Perkothariern  und  Mysacheern 
Naupaktier  wird,  soll  er  selbst  und  der  Besitz,  den  er  in 
Naupaktos  hat,  dem  Naupaktischen  Recht  unterstehen,  sein 
Besitz  bei  den  hyp.  L.  aber  dem  hypoknemidischen  Recht, 
wie  es  in  der  Heimathsgemeinde  eines  Jeden  bei  den  h.  L. 
gültig  ist.  2.  Wenn  aber  einer  der  Perkotharier  oder  My- 
sacheer  zurückkehrt  heraus  aus  dem  Bereiche  des  Rechts 
der  Colonisten  (vjtö  xd>v  vo/ticov  xwv  ejiifolxcov),1)  soll  er 
dem  eigenen  Recht  (xolg  avxcov  vo(jioiq)  unterstehen,  ein 
jeder  nach  seiner  Heimathgemeinde." 

Dass  die  Perkotharier  und  Mysacheer  Adels-  oder  Priester- 
geschlechter („Reiniger"  und  „Schuldheiler"?)  sein  müssen,  ist 
allgemein  anerkannt.  Sie  haben  grosse  Besitzungen  und  für 
dieselben  ein  besonderes  Recht.  Wenn  sie  nach  Naupaktos 
übersiedeln,  bestimmt  über  ihre  dortigen  Verhältnisse  das  nau- 
paktische  Recht,  aber  über  den  zurückgelassenen  Besitz  das 
heimathliche.  Das  hypoknemidische  Recht  ist  nicht  einheitlich, 
sondern  jede  Gemeinde  hat  unbeschadet  der  politischen  und 
Stammeseinheit  ihren  besonderen  coutumes  vor  allem  auf  dem 
Gebiete  des  Erb-  und  Familienrechts,  ganz  analog  z.  B.  den 
deutschen  Zuständen.  Ebenso  herrscht  in  Naupaktos  eine  locale 
Form  des  ozolischen  Rechts;  und  auch  in  Attika,  Lakonien 
und  sonst  werden  ursprünglich  die  Landgemeinden  ein  beson- 
deres von  dem  der  Hauptstadt  in  einzelnen  Bestimmungen  ver- 
schiedenes Landrecht  gehabt  haben. 

§  6.  (/)  ca  x  adtlcp&oi  Eovzi  .  ro  'v  (=  rov  sv)  Navjzax- 
tov  foixsovxog  .  hojioq  xat  Aoxqov  .  xov  hvjtoxvafiiöiov  . 
fexaorov  ro/iog  sotl  .  ai  x  ajio&avzi  xov  xq£(mxtov  XQaxttv  . 
xov  sjufoixov  xo  xaxixofizvov  xoaxsiv. 

„Wenn  der  Ansiedler  nach  Naupaktos  [in  der  Heimath] 
Brüder  hat,  so  soll,  wie  es  bei  den  einzelnen  hyp.  Lokrern 
Recht  ist,  wenn  er  [d.  h.  einer  der  Brüder]  stirbt,  der  Colo- 
nist  das  Vermögen  erben,  [d.  h.]  er  soll  den  ihm  zustehenden 
Theil  erben." 


1)  So  richtig  schon  Vischer. 


302 

Dem  Colonisten  wird  sein  Erbrecht  in  der  Heimath  ge- 
wahrt, je  nach  den  Satzungen  seiner  Gemeinde.  Die  Unbe- 
holfenheit der  alten  Sprache  und  dem  gegenüber  das  Streben, 
jedes  Missverständniss  unmöglich  zu  machen,  treten  in  diesem 
Paragraphen  besonders  bezeichnend  hervor.  Damit  man  nicht 
etwa  glaube,  dem  Colonisten  werde  ein  Anspruch  auf  das  ge- 
sammte  Vermögen  des  Erblassers  mit  Ausschluss  der  übrigen 
Erbberechtigten  zugesprochen,  wird  noch  ausdrücklich  ange- 
fügt: xo  xaxixofievov  xoaxzlv.  Röhl,  der  das  zweite  xgaxilv 
streichen  will,  verwischt  damit  einen  charakteristischen  Zug 
des  Textes.  Genau  ebenso  wird  7,  1  und  9,  2  das  Verb  um 
wiederholt;  Röhl  hat  es  wirklich  fertig  gebracht,  es  auch  an 
diesen  Stellen  zu  streichen. 

$  7.  (Z)  1.  xovg  sjtifoixovq  .  tv  NavjcaxTOV  .  xav  dixar 
jTQodixov  .  haQtöxai  jzo(x)  xovg  dixaöxsoaq  .  hagsorca  xai 
dofitv  .  tv  Ojzosvxl  xaxa  f&og  avxa[iaoo)\  2.  Aoxqov  xov 
livjioxvafiiötov  .  jiQooxaxav  xaxaoxaöca  .  xov  Aoxqov  xo- 
jttfoixoL  (=  to?  ejt.)  .  xül  xov  sjufoixov  xoi  Aoxqoi  .  hoiriveg 
xajciaxsq  evxifioc  sc. 

„1.  Die  Colonisten  nach  Naupaktos  sollen  für  ihre  Pro- 
cesse  Vorzugsrecht  haben  bei  den  Richtern.  Sie  sollen  (Recht) 
nehmen  und  geben  in  Opus  xaxa  ftog  gleich  an  demselben 
Tage.  2.  Aus  den  hypokn.  Lokrern  (Aoxqwv  xa>v  vji.)  soll 
man  einen  Gerichts  vorstand  einsetzen  der  Lokrer  dem  Colo- 
nisten und  der  Colonist  dem  Lokrer,  welche  xajziaxeg  unbe- 
scholten eg.u 

Dieser  Paragraph  ist  der  schwierigste  von  allen,  da  hier 
zweifellose  Verschreibungen  vorliegen,  die  trotz  alles  darauf 
verwandten  Scharfsinnes  zu  beseitigen  nicht  gelungen  ist.  Die 
richtige  Interpretation  gibt  im  wesentlichen  schon  Vischer, 
während  Röhl  ganz  in  die  Irre  geht. 

Wir  beginnen  mit  §  7,  2.  Hier  tritt  uns  die  Exclusivität 
des  griechischen  Parti cularismus  drastisch  entgegen.  Auf  privat- 
rechtlichem und  religiösem  Gebiete  bleiben  den  Colonisten  ihre 
alten  Rechte  gewahrt,  aber  politische  Rechte  können  sie  nicht 
mehr  ausüben,  da  sie  einer  fremden  Gemeinde  angehören.  Sie 
können  daher  nicht  selbst  einen  Process  führen  —  wozu  doch 
oft   genug,    namentlich  in   den   in  diesem   Gesetze   geregelten 


303 

Erbschaftssachen,  Anlass  sein  wird.  Der  gewöhnliche  Fremde 
wird  vor  Gericht  durch  seinen  jtqo^evoc,  vertreten;  den  Stamm- 
verwandten wird  die  Concession  gemacht,  dass  sie  wie  Metoeken 
behandelt  werden,  und  daher  einen  Vertreter,  jTQooraTfjg  (Röhl 
übersetzt  das  Wort  mit  praetor!),  erhalten.  Das  gleiche  gilt 
von  den  Hypoknemidiern,  wenn  sie  nach  Naupaktos  kommen. 
In  beiden  Fällen  soll  aber  dieser  Vertreter  aus  den  Lands- 
leuten, aus  Hypoknemidiern,  genommen  werden.  Die  jtqo- 
ördrai  (der  Wechsel  des  Numerus  ist  ganz  naturgemäss)  sollen 
natürlich  unbescholtene  Leute  sein.  Das  ist  in  den  evriftoi  des 
Nebensatzes  deutlich  erkennbar.  Das  Wort  kann  hier  nicht, 
wie  Vlscher  annimmt,  heissen  „welche  in  den  rifial  (Aemtern) 
sind",  denn  aus  den  Beamten  werden  die  jTQoörarai  nicht  ge- 
nommen, auch  würde  das  anders  (durch  rthj)  ausgedrückt 
werden;  sondern  tvrifiog  ist  einfach  der  Gegensatz  von  arifjog. 
Dadurch  fällt  auch  die  Deutung  des  vorhergehenden  xajtiarec 
als  xa  InitTsq,  ganz  abgesehen  von  dem  unzulässigen  Ausfall 
des  f.  x  oder  xa  ist  natürlich  die  Partikel,  jciartg  oder  amareo, 
muss  eine  nähere  Bestimmung  von  \vxL{iot  enthalten.  Es  liegt 
nahe  an  axi]  zu  denken,  das  in  der  Bedeutung  „Verschuldung" 
bei  den  Lokrern  lebendig  war,  wie  die  folgende  Urkunde  lehrt. 
Aber  die  Annahme  einer  starken  Verschreibimg  bleibt  unum- 
gänglich. In  dem  EU  am  Schluss  muss  eine  Verbalform  von 
dvai  stecken.  Der  Sinn  ist  jedenfalls  „welche  fleckenlos  und 
im  Besitz  der  bürgerlichen  Rechte  sind". 

Dieser  Satz  zeigt,  dass  hier  nicht  von  der  Ordnung  der 
Rechtsverhältnisse  der  Colonisten  vor  ihrem  Auszug  die  Rede 
ist,  wie  Röhl  meint,  sondern  wie  in  allen  anderen  Paragraphen 
von  dem  zukünftigen  Verhältniss  zwischen  Colonisten  und  Mutter- 
land. Danach  ist  auch  §  7,  1  zu  interpretiren.  Nicht  für  die 
Zeit  vor  dem  Auszug,  sondern  für  die  Zukunft  wird  den  Colo- 
nisten zugesichert,  dass  ihre  Processe  den  Vorrag  haben  sollen 
—  eine  Bestimmung,  die  oft  gegeben  wird  und  für  den  Fremden, 
der  kommt  um  eine  Klage  zu  erheben,  ja  nur  billig  ist.  Er 
kann  nicht  so  lange  warten  wie  der  Einheimische.  Der  Gerichts- 
ort ist  Opus;  was  aber  sonst  in  dem  Satze  ageörcu  xal  dofitv 
kv  Ojzoevti  xaxa  fsog  aviäfiagov  steckt,  ist  nicht  zu  ermitteln, 
da  feoq  (afsogty  jedenfalls  verschrieben  ist.  Die  Correctur 
Hroq  liegt  nahe,  aber  ich  vermag  ihr  keinen  erträglichen  Sinn 


304 

abzugewinnen.     Sicher   ist   nur,  dass  auch  hier  rasche  Erledi- 
gung der  Klagen  für  und  gegen  Colonisten  zugesichert  wird. 

§  8  (H)  hoööxig  x  ajtoXtJctt  .  jiaxaga  xai  xo  fiegog  . 
top  xQ8iuaxov  TOi  kwzqi  .  £Jtei  x  ajzoyevsrcu  .  et-eiftev  ajto- 
Xayeiv  .  xov  emfoixov  .  tv  Navjtaxxov. 

„Wenn  einer  einen  Vater  und  bei  dem  Vater  sein  Ver- 
mögenstheil  zurückgelassen  hat,  so  darf,  wenn  er  (der  Vater) 
heimgeht,  der  Colonist  nach  Naupaktos  das  Erbe  antreten." 

Die  Colonisten  mit  Ausnahme  der  Mysacheer  und  Perko- 
tharier  nehmen  ihren  Besitz  mit  sich.  Wenn  aber  der  Vater 
noch  lebt,  wird  der  Sohn  ihm  in  der  Regel  sein  Erbtheil  lassen. 
Dann  darf  er  dasselbe  nach  dem  Tode  des  Vaters  erheben. 
xo  [uqoq  xmv  yo?][iäxcov  heisst  nicht  „einen  Theil  seiner  Habe", 
sondern  „sein  Erbtheil";  fitgog  ist  bei  den  Lokrern  ein  recht- 
licher Terminus  ungefähr  wie  xXijgog,  s.  §  9,  3. 

§  9  (ß)  1.  hoööxig  .  xa  xa  fefadtxoxa  .  öiaqftagti  .  T£%- 
vai  xai  {layavai  .  xai  fiiai  .  Jioxi  xa  (ie  avcpoxagoig  .  doxtei  . 
IIojiovxiov  .  xs  yiXiov  .  JtXt&ai  xai  Nafjiaxxiov  (sie)  .  xov 
tjzifoixov  .  jiXtSai  .  axifiop  sifiev  .  xai  ygspaxa  Jtafxaxor/a- 
ysiöxai.  2.  xovxaXet^svoi  (==  xm  syxaXsifuvm)  .  xav  öixav  . 
dofitv  xov  agyov  ev  xgiaxovx'  afiagaig  .  öofiev  .  ai  xa  xgia- 
xovx'  afiagai  .  Xtutovxai  xag  agyag.  3.  ai  xa  fts  öidoi  .  xoi 
e.vxaXsi^evoi  .  xav  öixav  .  axifiov  tifiev  .  xai  ygefiaxa  jiayia- 
xoyayeiöxai  .  xo  fiegog  psxa  foixiaxav.  4.  diokuoöai  liogxov  . 
xov  vofiiov  .  sv  vögiav  .  xav  tpag:i^[^]iv l)  tijisv. 

„1.  Wer  diesen  Beschluss  zerstört  auf  irgend  eine  Weise, 
wenn  nicht  beide  einverstanden  sind,  die  Versammlung  der 
Tausend  in  Opus  und  die  Versammlung  der  naupaktischen  Co- 
lonisten, soll  in  Atimie  verfallen  und  sein  Vermögen  confiscirt 
werden.  2.  Dem  Beklagten  soll  der  Beamte  den  Process  geben, 
binnen  dreissig  Tagen  soll  er  ihn  geben,  wenn  noch  dreissig 
Tage  von  seiner  Amtsführung  übrig  sind.  3.  Wenn  er  (der 
Beamte)  dem  Beklagten  den  Process  nicht  gibt,  soll  er  in 
Atimie  verfallen  und  sein  Vermögen  confiscirt  werden,  das 
Erbtheil  mit  den  Sklaven.  4.  Man  soll  den  gesetzlichen  Eid 
schwören,  die  Abstimmung  soll  in  einen  Krug  stattfinden." 

1)  verschrieben. 


305 

Bestimmungen  über  die  Bestrafung  dessen,  der  den  Ver- 
trag' verletzt.  Wie  in  allen  solchen  Fällen  wird  auch  hier  dem 
Beamten,  welcher  die  Klage  verschleppt  oder  niederschlägt, 
dieselbe  Strafe  angedroht,  die  den  Schuldigen  trifft.  §  9,  4 
handelt  ganz  kurz  über  das  Processverfahren,  da  der  Gang 
desselben  im  allgemeinen  längst  anderweitig  feststeht.  Nur 
dass  die  Richter  vereidigt  werden  und  die  Abstimmung  ge- 
heim ist,  wird  besonders  festgesetzt,  Dass  ro  [itQoq  fzera  foi- 
xtaxav  nicht  zu  9,  4,  sondern  zum  vorhergehenden  gehört,  hat 
Röhl  gegen  Vischer,  dem  Bechtel  folgt,  richtig  erkannt, 
lieber  die  Bedeutung  von  (itQOQ  s.  §  8.  —  tyxaXslfisvog  ist 
wohl  mit  Vischer  passiv  „der  Beklagte",  nicht  medial  „der 
Kläger"  (so  Röhl)  zu  verstehen,  öixav  öofjtv  heisst  hier  „den 
Process  geben",  d.  h.  die  Gerichtsverhandlung  ansetzen,  oben 
§  7  dagegen  wird  es  von  dem  Beklagten  gebraucht  (im  Gegen- 
satz zu  öixav  agtorai  „Recht  oder  Process  nehmen"),  der  sich 
dem  Kläger  vor  Gericht  stellt.  —  jihjda  in  9,  1  ist  wohl  nicht 
die  „Majorität"  (Vischer,  Röhl;  II  B  2.  3  hat  jzlrßvc,  aller- 
dings diese  Bedeutung),  sondern  „die  Menge",  d.  h.  die  Volks- 
versammlung. Wir  lernen  hier,  dass  dieselbe  in  Opus  wie  in 
manchen  anderen  Staaten  aus  tausend  Mitgliedern  bestand.  Es 
ist  wenig  bedacht,  wenn  man  das  eine  „Oligarchie"  nennt 
(Gilbert,  Staatsalt.  II  39);  wie  viele  Einwohner  hatte  denn 
Opus?  Es  ist  vielmehr  die  altberechtigte  erbgesessene  Bürger- 
schaft der  Hauptstadt  der  hypoknemidischen  Lokrer.  — 

Die  Schlussclausel  über  die  Chaleier  ist  schon  oben  be- 
sprochen. 


Athen  und  Attika. 

(Excurs  zu  S.  294.) 

Wie  sich  SjiaQTiarijQ  und  Aaxcov  oder  Aaxedaifioviog 
unterscheiden,  weiss  jeder;  jenes  bezeichnet  die  Bürger  der 
herrschenden  Gemeinde  Sparta,  dies  sämmtliche  Einwohner 
des  Lau  des  Lakedaimon  ohne  Rücksicht  auf  ihre  politische 
Stellung.  Daher  wird  von  Fremden  und  den  Fremden  gegen- 
über ausschliesslich  Aaxedaifioviog  oder  Aaxwv  gesagt,  so  in  der 
Olympionikenliste,  so  im  Sprachgebrauch  aller  Schriftsteller, 
die  exaet  reden,  wie  Thukydides  und  Xenophon;  daher  heissen 

Meyer,   Forschungen  zur  Alten  Geschichte.    1.  20 


306 

die  Könige  ßaöiktiq  Aaxsdaifjtovtcov  —  sie  beherrschen  das 
ganze  Land,  nicht  nur  die  Hauptstadt.  Der  Unterschied  zwi- 
schen Spartiaten  und  Perioeken  ist  ein  innerer,  der  die  Aus- 
wärtigen zunächst  nichts  angeht. 

Dass  derselbe  Unterschied  ursprünglich  zwischen  Ü&rjvaloi 
und  Arrtxoi  bestand,  dürfte  dagegen  ganz  unbekannt  sein. 
Und  doch  ist  er  für  das  Verständniss  der  älteren  attischen 
Geschichte  von  fundamentaler  Bedeutung.  Es  ist  ja  sehr  auf- 
fallend und  aller  Analogie  widersprechend,  dass  die  Bewohner 
einer  einheitlichen  Landschaft  nicht  nach  dieser,  sondern  nach 
der  Hauptstadt  benannt  werden.  Das  ist  denn  auch  ursprüng- 
lich nicht  der  Fall  gewesen.  Die  Sprache  der  Athener  heisst 
immer  attisch,  genau  wie  die  Römer  lateinisch  reden.1)  Erst 
allmählich  hat  sich  der  Name  A&r/raloi  statt  Ättixoi  bei  den 
Fremden  eingebürgert.  Noch  in  Piatos  Gesetzen  sagt  der 
Kreter,  er  wolle  den  Fremdling  nicht  \Axxixoq  nennen,  sondern 
Afrrjvaioq  nach  der  Göttin  (I  626  d  cb  geve  A&rjvaTe  —  ov  ydg 
08  jIttlxov  i&tloi[i  av  jigooayoQevetv  öoxüq  yag  (iot  rrjg 
fttov  ejt(X)vv(iiaq  a§tog  eivai  tuäZXoi>  tJtovofiä^so&ai).  Vor  der 
solonischen  Gesetzgebung  hat  man  denn  auch  die  Bewohner 
des  Landes,  des  Gesammtstaates,  'Arrixoi  genannt2):  Alkaeos 
klagt,  seinen  Schild  hätten  die  Attiker  —  nicht  die  Athener  — 
im  Tempel  der  Glaukopis  aufgehängt  (fr.  32  bei  Strabo  XIII 1,  38: 
apexQSfiaöav  Attlxo'i).  Ganz  scharf  tritt  der  Unterschied  in  der 
solonischen  Elegie  Salamis  hervor: 

drjv  ö?i  tot  eycb   <PoltyavÖQioq  r/  2ixirr/T?jq 
avx\  y   l4&r]vaiov,  jicctqiö   ä/seityccfisvoq' 

ahpa  yag  qxxxiq  rjös  {ist   avOgcönoiöL  ytvoiro' 
'Arrixoq  ovzoq  avrjQ  xmv  ^aXafiipacpsrcüP. 


1)  Der  Unterschied  zwischen  Israeliten  und  Hebraeern  ist  ähnlich, 
aber  nicht  identisch.  Das  Volk  selbst  nennt  sich  Israel,  die  Nachbarn 
aber  nennen  es  „die  von  drüben",  Hebraeer.  Jenes  ist  daher  der  Name 
des  Staats,  dies  die  gewöhnliche  Bezeichnung  der  Nationalität  und  daher 
auch  der  Sprache. 

2)  Allerdings  sagt  die  Ilias  durchweg  'Ad-tjvaiot  (J328.  N 196.  689. 
Ö  337  und  im  Katalog).  Das  beruht  darauf,  dass  die  Kleinasiaten  nur  den 
engbegrenzten  Stadtstaat  kennen,  nicht  die  Einheit  der  Landschaft.  Die 
Ilias  verwerthet  auch  Aaxsöaifiiov  als  Stadtnamen  und  als  gleichbedeu- 
tend mit  ^nä^Ttj. 


307 

Der  Wechsel  der  Bezeichnung-  ist  nicht  etwa  poetische  Varia- 
tion, sondern  staatsrechtlich  völlig  correct:  Solon  selbst  nennt 
sich  einen  Athener,  denn  er  ist  Bürger  der  herrschenden  Stadt; 
aber  im  Munde  der  Fremden  lässt  er  sich  als  Attiker  be- 
zeichnen. 

Dem  entspricht  die  Schilderung  der  Zustände  des  Landes, 
welche  Solon  in  seiner  grossen  vor  seinem  Archotat  gedichteten 
Elegie  fr.  4  (jetzt  zu  ergänzen  durch  Arist.  pol.  Ath.  5)  entwirft. 
Hier  stehen  sich  gegenüber  die  doroi  mit  den  d/nuov  ijytfiovtc 
an  der  Spitze  (v.  5 — 23)  und  die  jttvr/Qoi  auf  dem  Lande 
(v.  23 — 27).  Die  letzteren  haben  keine  politischen  Rechte,  sie 
gehören  nicht  zum  dijjnoQ.  Der  Gegensatz  wird  ganz  scharf 
bezeichnet:  ravra  ftsv  sv  6r/f/co  orgecptTca  xaxa'  tcov  de 
ntviyQtöv  txvovvTca  jiolhn  yaiav  ig  aXXoöajtijv  jigafrevreq 
heisst  es  v.  23.  Solons  Gesetzgebung  hat  diesen  Unterschied 
aufgehoben.  Seine  politisch  bedeutendste  That  ist  es  gewesen, 
dass  er  die  lirrizol  zu  Ädrjvaloi,  die  Bauern  der  Landgemeinde 
zu  Bürgern  der  Hauptstadt  gemacht  hat. 


IIA.   Rechts  vertrag  zwischen  Oianthea  und  Chaleion. 

Die  zweite  lokrische  Bronzetafel,  früher  gefunden  als  die 
erste,  stammt  gleichfalls  aus  Galaxidi  (Oianthea).1)  Die  Formen 
der  Buchstaben  sind  etwas  jünger  als  auf  dem  Gesetz  über 
Naupaktos,  das  Qoppa  wird  nicht  mehr  gebraucht;  danach 
wird  die  Urkunde  etwa  aus  der  Mitte  des  fünften  Jahrhun- 
derts stammen.2)  Im  Unterschiede  von  jenem  wird  aber  das 
aus  langem  e  und  o  hervorgegangene  ei  und  ov  auf  die- 
ser Tafel  nicht  bezeichnet,  sondern  durch  e  und  o  wieder- 
gegeben. 

Die  Tafel  zeigt  zwei  verschiedene  Hände,  die  sich  nament- 
lich in  den  Formen  des  /,  p,  v  und  in  der  Interpunction  unter- 
scheiden.    Die  erste  verwendet  drei,   die  zweite  zwei  Punkte 


1)  publicirt  von  Oekonomides  1850  und  danach  von  Ross.  Grund- 
legende Bearbeitung  von  Kirchhoff  Philol.  XIII  1  ff.  Ferner  Cauer  del. 
no.  94.  IGA.  322.  Hicks  no.  32.  Roberts  no.  232  und  p.  354  ff.  Bechtel 
in  der  Sammlung  griech.  Dialektinsclir.  II  1479  und  S.  90. 

2)  Ueber  die  Schrift  s.  Kirchhoff  Alphabet4  144 ff. 

20* 


308 

zur  Worttrennung'.  Dass  dieser  Unterschied  nicht  nur  äusser- 
lich  ist,  sondern  zwei  ganz  verschiedene  Urkunden  auf  der 
Tafel  vereinigt  sind,  werden  wir  später  sehen.  Die  erste  Hand 
hat  die  Vorderseite  geschrieben;  die  zweite  hat  auf  dem  freien 
Raum  am  Ende  der  Vorderseite  noch  eine  Bestimmung  ange- 
fügt und  die  Rückseite  beschrieben. 

Das  von  der  ersten  Hand  geschriebene  Gesetz  ist  ein 
Rechtsvertrag  (ovf/ßoXov)  zwischen  den  ozolischen  Gemeinden 
Oianthea  und  Chaleion.  Kirchhoff,  dem  alle  Neueren  folgen, 
meint,  auch  hier  läge  uns  nur  der  Schluss  der  Urkunde  vor, 
der  Haupttheil  habe  auf  anderen  ergänzenden  Tafeln  gestanden. 
Diese  Annahme,  schon  an  sich  höchst  unwahrscheinlich,  zumal 
angesichts  der  Kleinheit  der  Tafel,  ist  durch  den  Inhalt  aus- 
geschlossen, der  nirgends  etwas  vermissen  lässt.  Dass  ein 
Präscript  fehlt,  kann  nichts  beweisen;  dass  es  sich  um  einen 
Vertrag  zwischen  den  beiden  Gemeinden  handelt,  lehrt  ja  der 
erste  Blick. 

Das  Gesetz  lautet  (auch  am  Anfang  steht  ein  Interpunctions- 
zeichen): 

(1) .  rov  t-evov  fi£  haysv  .  e  zag  Xalztöog  .  rov  Oiavfhea 
fisde  rov  XaXaisa  .  s  rag  Otai^iöog  .  fiede  %Q8iuara  ac  n(g) 
övloi  .  rov  de  övXovra  avaro(g)  ovXev  (2)  ra  f-tvixa  e 
fralaöag   haysv  .  aovXov  .  JtXav    s    Xif/evog  .  ro    xaxa    JtoXiv. 

(3)  ac    y!  adixo(g)    ovXoi  -1)    rsxoosg    ögayjiai  .  ai    dz   JiXtov 
ösx'  ctfiaoav  8%oi   ro   övXov   hefiioXov   oyXtxo  fori   övXaoai. 

(4)  ai   [itrafoixeoi   jcXeov   pevog  e   o  XaXtitvg  tv  Oiavfrsca 
s  (o)  Oiavfrevg  ev  XaXsiot  rat  sjiidctfiica  dixai  ygeoro. 

„1.  Den  Fremden  soll  der  Oiantheer  nicht  aus  dem  Ge- 
biet von  Chaleion  und  der  Chaleier  nicht  aus  dem  von 
Oianthea  fortführen,  noch  seine  Habe,  wenn  er  auf  Pfänden 
auszieht;  den  Pfändenden  aber  darf  er  ohne  Verschuldung 
pfänden.  2.  Aus  dem  Meer  darf  man  fremde  Waaren  weg- 
führen ohne  der  Pfändung  zu  verfallen,  ausser  aus  dem  Stadt- 
hafen. 3.  Wer  widerrechtlich  pfändet,  vier  Drachmen;  be- 
hält er  aber  das  Pfand  länger  als  zehn  Tage,  soll  er  andert- 
halb mal  den  Betrag  dessen  schulden,  was  er  in  Pfandbesitz 

I)  Ob  hier  ein  Schreibfehler  vorliegt  oder  ai  xa  wirklich  im  Lokri- 
scken auch  den  Optativ  regiert  hat,  ist  nicht  zu  entscheiden. 


309 

genommen  hat.  4.  Wenn  der  Chaleier  sich  länger  als  einen 
Monat  in  Oianthea  oder  der  Oiantheer  in  Chaleion  nieder- 
lässt,  soll  er  dem  einheimischen  Rechte  (des  Ortes,  an  dem 
er  wohnt)  unterstehen." 

Worum  es  sich  handelt,  hat  Kirchhoff  klar  dargelegt. 
Bei  Streitigkeiten  um  Mein  und  Dein  zwischen  Bürgern  ent- 
scheiden die  Gerichte;  will  aber  Jemand  einen  Rechtsanspruch 
gegen  den  Angehörigen  eines  fremden  Staats  geltend  machen, 
so  bleibt  ihm  nur  der  Weg,  sich  durch  seinen  eigenen  oder 
den  staatlichen  Gastfreund  (idioc  gevoc  und  ngogevoq,  s.  u.)  an 
die  dortigen  Gerichte  zu  wenden,  ein  Verfahren,  das  sehr  um- 
ständlich und  bei  der  Parteilichkeit  der  Richter  für  ihre  Lands- 
leute sehr  problematisch  ist.  Es  ist  begreiflich,  dass  man 
andere  Hülfe  sucht;  man  sucht  sich  in  den  Besitz  eines  dem 
Gegner  gehörigen  Werthobjectes  zu  setzen  (Waaren,  Vieh,  Skla- 
ven) und  dadurch  ein  Aequivalent  zu  gewinnen,  oder  man  be- 
mächtigt sich  auch  seiner  Person  selbst.  Dadurch  wird  der 
Gegner  gezwungen,  sich  jetzt  an  die  Gerichte  des  Pfänden- 
den zu  wenden  oder  ein  Abkommen  mit  dem  Gegner  zu 
schliessen;  die  Rolle  der  beiden  Parteien  wird  also  umgekehrt. 
Dies  Verfahren  heisst  ovläv,  ein  Begriff,  den  wir  nur  sehr 
unvollkommen  durch  „pfänden,  ein  Pfand  gewinnen"  aus- 
drücken können,1)  die  Wegführung  der  Habe  zu  diesem  Zwecke 
wird  als  (pbQEiv,  die  von  Vieh  und  Menschen  als  ayeiv  be- 
zeichnet. Natürlich  führt  das  Verfahren  zu  den  schwersten 
Störungen  von  Handel  und  Verkehr,  zu  vollständiger  Unsicher- 
heit der  Land-  und  Wasserstrassen.  Nicht  selten  wird  es  den 
Anlass  zu  Kriegen  gegeben  haben.  Man  sucht  ihm  daher  ent- 
gegen zu  wirken  durch  Verträge  (uvfißoZa),  welche  ein  ge- 
richtliches Verfahren  regeln  und  in  der  Regel  den  Process  vor 
das  Forum  des  Beklagten  verweisen,  zugleich  aber  den  betr. 
Staat  verpflichten,  die  Klage  anzunehmen.2)    Indessen  ist  man 


1)  vgl.  in  den  Delphischen  Freilassungsurkunden:  „wenn  jemand 
die  Freigelassene  zur  Sklavin  machen  will,  arÄyToj  6  TzapaTv/wv  <bq  ekev- 
9£qccv  iovoav  Griech.  Dialektinschr.  1705;  b/noiiog  6t  xal  oi  naQaxvyxä- 
vovxeg  xvqlol  eovtojv  ovkeovzeg  \4.Q[Aoöixav  (üq  iXsv&£Qav  iovoav  CCL,ä/UlOl 
iövxeq  xal  avvnööixot  näaag  öixag  xai  'C,a(j.iaq  ib.  1685  ff.  Hier  hat  avkäv 
ganz  die  Bedeutung  des  römischen  vindicare,  wie  ayeiv  auf  Kreta. 

2)  Der  erste  Vertrag  zwischen  Rom  und  Karthago  fordert  für  jedes 


310 

erst  spät  dazu  gekommen,  derartige  Verträge  zu  schliessen; 
kein  Staat  wollte  ein  Tüttelchen  seiner  Souveränetät  opfern. 
In  Ionien  haben  erst  die  Perser  im  Jahre  493  eine  derartige 
Ordnung  geschaffen:  Her.  VI  42  Artaphernes  lässt  Gesandte  aus 
den  Städten  zu  sich  kommen  und  ovv&rjxag  oyioi  avroloi  zovg 
'lwvag  ijrdyxaot  jzodeö&cu,  um  doöidtxoi  titv  y.cä  firj  aXXrjXovg 
c/tQoiiv  xt  xal  ayoitv.  Zahlreiche  derartige  Verträge  hat  dann 
Athen  mit  den  von  ihm  abhängigen  Gemeinden  geschlossen, 
nur  dass  es  hier  durchweg  die  Judicatur  in  den  gvpßoXaiou 
d'txai  an  sich  nahm  (Thuk.  I  77,  vgl.  [Xen.]  pol.  Ath.  1, 16).  Der- 
selben Zeit  gehört  auch  unser  Vertrag  an.  Von  Parallelen  aus 
späterer  Zeit  führe  ich  die  Bestimmungen  eines  Vertrags  zwi- 
schen den  kretischen  Gemeinden  Lyttos  und  Malla  an  (Bull, 
corr.  Hell.  IX  S.  10  =  Mus.  ital.  III  636):  tutj  t&ozco  de  ovXlv 
[fMjTt]  tov  Avttiov  tv  rat  xcov  MaXXaiwv  (ir/Tt  x\ov  MaX\Xaiov 
sv  xai  twv  Avttlcov  .  cu  dt  ng  xa  6v[Xao?ji],  ajtoreivvzco  ro 
T£  XQeo$  °  xa  OvXaö7][i  xcu  üTar?i]Qaq  txaxov  .  o  dt  xoöfiog 
jtQa^avrcov  (sie)  [tvrog  ötx] ')  afitQav  xov  tXovfrtQor,  aXXo 
d'  ai  x\tg  övXaöa]t  ev  a^tgaig  ixaxi  .  cu  dt  fzy  jigat-aitv  oi 
[xoüfioc],  ajioxtiöavTcov  txaoxog  r.  xoöfto  (?,  wohl  verschrieben 
für  xeov  xoüftcor)  ora[T7]Qag]  ntvxaxaxiog  xat  jioXi,  ojivj  xa 
övXao[?ji]  (d.  i.  „der  Stadt,  aus  der  er  gepfändet  hat"). 

Zwischen  Oianthea  und  Chaleion  bedarf  es  eines  derartigen 
Vertrages  nicht.  Die  beiden  Gemeinden  haben  zwar  locale 
Autonomie,  eigene  Beamte  und  eigenes  Recht,  aber  sie  sind, 
wie  schon  früher  erwähnt,  doch  nur  Glieder  eines  grösseren, 
politisch  organisirten  Stammverbandes,  innerhalb  dessen  Land- 
friede und  geregeltes  Rechtsverfahren  entweder  durch  ältere 
Verträge  geschaffen  ist  oder,  was  weit  wahrscheinlicher  ist, 
von  Anfang  an  bestanden  hat.  Aber  der  Fremde,  z.  B.  der 
korinthische  oder  attische  Kaufmann,  der  auf  dem  Gebiete  der 
einen  Stadt  verweilt  oder  an  ihrer  Küste  anlegt,  ist  gegen  die 
Angriffe   der   Bürger    der   Nachbargemeinde    schutzlos,    ihrem 

Handelsgeschäft  die  Gegenwart  eines  xijQvg  oder  yyatiffazevc,  garantirt 
aber  alsdann  die  Schuld  drj/nooicf  nlazei.  Auf  Sicilien  werden  die  Römer 
und  ebenso  wohl  alle  fremden  Kaufleute  den  Karthagern  völlig  gleich- 
gestellt, ebenso  im  zweiten  Vertrag  auch  in  Karthago  selbst.  Das  ist  die 
Politik  eines  grossen  Handelsstaats. 

1)  oder  mit  IIalbherr  xäv  öex1  ccßSQäv. 


311 

övXäv  ohne  Hülfe  preisgegeben.  Diesem  Zustand  will  unser 
Vertrag  abhelfen;  es  ist  ein  Beleg  dafür,  wie  die  Satzungen 
eines  geregelten  Verkehrslebens  auch  in  diese  bisher  von  den 
Fortschritten  der  Cultur  fast  unberührten  Gebiete  (Thuk.  I  5) 
einzudringen  beginnen.  Der  Vertrag  verbietet  dem,  der  auf 
övXäv  auszieht,  einen  Fremden  oder  seine  Habe  aus  dem  Ge- 
biete einer  der  beiden  Städte  wegzuführen.  Die  folgenden 
Worte  haben  Schwierigkeiten  bereitet.  Die  ältere,  auch  von 
Bechtel  beibehaltene  Lesung  ist  xov  de  ovXajvra  avä  ro 
OvXfjv  tö  gevixa  s  daXäooaq  ayeiv  aövXov  „Wer  pfändet,  darf 
beim  Pfänden  die  Waaren  aus  dem  Meer  straflos  (äovXog) 
wegführen".  Diese  Interpretation  kann  nicht  richtig  sein;  denn 
1)  ist  alsdann  ava  ro  övXFjv  ganz  überflüssig,  weil  schon  in 
dem  rdv  de  ovXcorra  enthalten;  2)  ist  bei  dieser  Deutung  das 
de  unerträglich;  3)  würde  „wer  pfändet"  heissen  at  xiq  ovXcöi; 
4)  bleibt  bei  dieser  Auffassung  aovXov  unerklärt.  Die  richtige 
Lesung  gefunden  zu  haben  ist  Kohl's  Verdienst1):  rdv  de  ov- 
Xwvra  avazmq  ovXijv  „den  Pfändenden  darf  man  ohne  axy, 
ohne  Verschuldung  (vgl.  I  §  7)  pfänden",  d.  h.  wer  die  vorher- 
gehende Bestimmung  übertritt,  wird  damit  selbst  dem  Pfand- 
recht freigegeben.  Daran  schliesst  sich  die  folgende  Bestim- 
mung „wer  aber  fremde  Waaren  vom  Meer  fortführt,  ist  aövXog, 
gegen  ihn  darf  keine  Pfändung  geübt  werden".  Nur  das  Land 
ist  geschützt,  auf  dem  Meer  bis  zum  Strand  gilt  mit  Ausschluss 
des  Stadthafens  nach  wie  vor  das  Recht  des  övXav. 

Die  übrigen  Bestimmungen  bieten  keine  Schwierigkeiten. 
Der  Chaleier,  der  vorübergehend  nach  Oianthea  kommt,  behält 
sein  Heimathsrecht,  d.  h.  er  kann  nur  vor  dem  Gericht  in 
Chaleion  belangt  werden,  und  umgekehrt;  hält  er  sich  aber 
länger  als  einen  Monat  in  dem  anderen  Ort  auf,  so  wird  an- 
genommen, dass  er  dorthin  übergesiedelt,  dass  er  zum  Metoeken 
geworden  ist,  und  so  untersteht  er  von  da  an  dem  Rechte  des 
Orts,  an  dem  er  jetzt  wohnt,  er  muss  hier  der  Ladung  vor 
Gericht  folgen. 


1)  Dass  nach  ot-Xf/v  keine  Interpunction  steht,  beweist  bei  der  nach- 
lässigen Setzung  derselben  nichts.    Ebenso  fehlt  sie  I  §  1  nach  Ffxovzag. 


312 


IIB.    Satzungen  des  Fremdenrechts. 

Die  von  zweiter  Hand  auf  der  Tafel  eingetragenen  Rechts- 
sätze sind  nicht  nur  jünger  als  der  Vertrag,  sondern  sie  haben 
auch  mit  diesem  nichts  mehr  zu  thun.  Es  sind  nicht  Satzungen 
eines  Vertrags  zwischen  zwei,  sondern  Gesetze  einer  Gemeinde. 
Dass  die  Gemeinde,  welche  sie  erlassen  hat,  nur  eine  der 
beiden  in  dem  vorigen  Vertrage  genannten  sein  kann,  ist  klar; 
da  die  Tafel  in  Oianthea  gefunden  ist,  werden  sie  dieser  Stadt 
angehören.  Auf  der  Tafel,  welche  den  Vertrag  enthält,  sind 
sie  aufgezeichnet,  weil  sie  diesem  inhaltlich  verwandt  sind. 
Sie  enthalten  gleichfalls  Satzungen  des  Fremdenrechts,  aber 
Satzungen,  welche  nicht  nur  die  Nachbargemeinde,  sondern 
die  Fremden  ganz  im  allgemeinen  angehen. 

Auf  der  Vorderseite  hat  noch  folgende  Bestimmung  Platz 
gefunden: 

(1)  tov  jcQogtvov  .  ai  ipevdta  jzqo&veoi.  öutXeioi  froieozo. 
„Wenn  der  Proxenos  sein  Amt  unrecht  ausübt,   soll  er 
um  das  doppelte  gestraft  werden." 

Die  Schlussworte  sind,  wie  Dittenbergek  ind.  lect.  Halle 
1885/6  S.  12  erwiesen  hat,  im  Anschluss  an  Röhl  zu  lesen 
öuiXtio)  fro/ijöTco  (=  attisch  9-ö?«ö^co).  Den  Sinn  können  wir 
nur  durch  eine  Umschreibung  wiedergeben:  „wenn  ein  Pro- 
xenos, der  Vertreter  der  Bürger  eines  fremden  Staats,  die 
ihm  anvertraute  Aufgabe  wider  besseres  Wissen  (das  liegt 
in  ipsvöea)  vernachlässigt  und  die  Interessen  seines  Clienten 
schädigt,  soll  er  als  Strafe  den  doppelten  Betrag  zahlen, 
um  den  der  Client  geschädigt  ist".  Wie  mächtig  in  primi- 
tiven Verhältnissen  innerhalb  der  Bürgerschaft  das  Gefühl 
der  Zusammengehörigkeit  dem  Fremden  gegenüber  ist,  wie 
schwer  es  oft  dem  einzelnen  verargt  wird,  wenn  er  auch 
in  der  gerechtesten  Sache  für  den  Fremden  Partei  ergreift, 
wie  gross  endlich  die  Versuchung  ist,  den  Fremden  zu  be- 
trügen, ist  bekannt.  Dem  soll  diese  Bestimmung  entgegen- 
treten.1)    Es   ist   klar,   dass   sie   sich    nicht  lediglich   auf  den 

1)  In  mehreren  westgriechischen  Staaten  scheint  man,  um  diesem 
Uebelstand  vorzubeugen  und  zugleich  jedem  Fremden,  woher  er  auch 
stamme,   eine  Vertretung  vor  Gericht  zu   schaffen,   die  Proxenie  als  Gc- 


313 

Proxenos  der  Chaleier  bezieht  —  es  ist  sehr  fraglich,  oh  diese 
überhaupt  einen  Proxenos  in  Oianthea  hatten,  da  beides 
lokrische  Gemeinden  sind  —  sondern  auf  den  Proxenos  eines 
jeden  Staats,  der  in  Oianthea  vertreten  ist. 

Die  Rückseite  enthält  nicht,  wie  bisher  angenommen,  zwei 
verschiedene  Gesetze,  sondern  nur  ein  einziges,  das  aus  drei 
Sätzen  besteht: 

(2,  1)  ai  x  ardr/a^ovxi  .  xoi  gtvodixai  .  ejtofwxag  .  ht- 
Xtöxo  .  o  gtvog  .  ojrayov  (==  o  ejtaywv)  .  xav  öixav  .  ey&oc 
(=  kxxog)  jtQogtvo  xai  fiöto  g^ro  .  aoiöxivöav  .  8 Jtt  fisv  xaig 
[ivaiauxiq  .  xai  jzltov  .  Jtsvxsxaidexa  avögag  .  tjti  xaig  tU£io- 
votg  .  svve  avdoag.  (2,  2)  at  x'  o  faöoxog  jioi  ')  xov  faoxov 
öixa^exat  xa(x)  tag  ovvßolag  .  daftiooyog  (=  dafitoQyovg) 
hsXeöxai  .  xog  hooxof/oxag  agiöxivöav  xav  jievxogxiav  ofco- 
öavxag.  (2,  3)  xog  hoQxoftoxag  xov  avxov  hoQxov  of/vvtv  . 
jilefrvv  ös  vixev 

„(2,  1)  Wenn  die  Fremdenrichter  verschiedener  Meinung 
sind,  soll  der  Fremde,  der  den  Process  anstrengt,  Zusatz- 
geschworene wählen  mit  Ausschluss  seines  Proxenos  und 
seines  eigenen  Gastfreundes,  nach  der  Tüchtigkeit,  bei  Pro- 
cessen um  eine  Mine  und  mehr  fünfzehn  Männer,  bei  ge- 
ringeren neun  Männer.  (2,  2)  Wenn  der  Bürger  gegen  den 
Bürger  einen  Process  führt  nach  den  Rechtsverträgen,  sollen 
die  Damiurgen  die  Geschworenen  nach  der  Tüchtigkeit 
wählen,  nachdem  sie  vorher  den  Fünfeid  geschworen  haben. 
(2,  3)  Die  Geschworenen  sollen  denselben  Eid  schwören,  die 
Mehrzahl  soll  siegen." 

Aus  2,  1  lernen  wir,  dass  es  wie  in  Rom  einen  praetor 
inter  cives  et  peregrinos,  so  in  Oianthea  £-£vodixai  gab,  welche 
die  Klagen  der  Fremden  gegen  Bürger  zu  entscheiden  haben  — 
die  Klagen  der  Bürger  gegen  Fremde  gehen  vor  das  regel- 
mässige Beamtengericht.     Vermuthlich  waren  es  zwei,  jeden- 

meiüdeamt  eingerichtet  und  jährlich  durch  Wahl  besetzt  zu  haben.  Nur 
so  erklärt  sich,  dass  in  Elis  (IGA.  113.  118)  und  Unteritalien  (Kroton? 
IGA.  544)  KQÖ&voq  als  Beaintentitel  erscheint;  ebenso  werden  sie  in 
Sparta  vom  König  ernannt  Her.  VI  57. 

1)  no'C  =■  Hon ;  Röhl's  Correctur  noz  ist  unmöglich,  da  nor  top 
FaGxov  nur  itorov  geschrieben  sein  könnte. 


314 

falls  ein  Collegium  von  gerader  Zahl.  Sie  sind  natürlich  nicht 
erst  durch  dies  Gesetz  geschaffen,  sondern  bestehen  schon  lange. 
Stimmen  sie  tiberein,  so  ist  die  Sache  entschieden;  sind  sie 
verschiedener  Meinung  so  giebt  dies  Gesetz  dem  fremden  Kläger 
das  Recht,  sich  die  besten  Männer ')  als  Hülfsgeschworene  aus- 
zusuchen. Nur  seinen  ^trog  und  seinen  jrQo^rog  darf  er  nicht 
wählen,  da  diese  verpflichtet  sind,  für  ihn  Partei  zu  nehmen. 
Der  beklagte  Kläger  ist  schon  durch  den  Parteigeist  seiuer 
Mitbürger,  die  für  den  Fremden  nur  höchst  ungern  entscheiden 
werden,  gegen  Uebervortheilung  geschützt. 

§  2,  2,  vielleicht  der  merkwürdigste  Satz  beider  Tafeln, 
ist  bisher  allgemein  missverstanden.  Von  dem  Glauben  aus- 
gehend, es  handle  sich  auch  hier  noch  um  einen  Vertrag 
zwischen  Oianthea  und  Chaleion,  übersetzt  inan  die  Worte  al 
x  o  faorog  jtol  rov  faörov  dixaCrjrai  xarxag  ovfißokäg  durch 
„wenn  ein  Bürger  einer  der  beiden  Gemeinden  gegen  den  der 
anderen  auf  Grund  der  Rechtsverträge  einen  Process  führt". 
Aber  das  müsste  heissen  al  x  o  XaXtievq  Jtol  xbv  Olavftta  ?) 
o  Oiavdtvq  jtol  rov  XaXtita  ötxa^r\xai.  faorog  heisst  Bürger 
und  nichts  anderes;  wie  kann  man  in  Oianthea  den  Chaleier 
faörog  nennen  und  umgekehrt?  Man  denke  sich  eine  römische 
Rechtsbestimmung  si  civis  cum  civi  litigat;  kann  das  heissen 
„wenn  ein  Römer  mit  einem  Praenestiner  Process  führt"  V  Auch 
sachlich  ist  die  recipirte  Deutung  nicht  minder  unmöglich. 
Entweder  ist  der  Chaleier  in  Oianthea  ein  givoa,  dann  gehört 
er  vor  die  gtvoöixar,  oder  er  nimmt  eine  Sonderstellung  ähnlich 
dem  Bürger  ein,  dann  gehört  die  Bestimmung  über  die  gtvo- 
öixac  nicht  in  den  Vertrag;  denn  wie  man  in  Oianthea  mit 
Fremden  aus  Korinth  oder  Delphi  verfährt,  geht  die  Chaleier 
gar  nichts  an.  Ueberdies  kann  der  Chaleier  mit  den  Bürger- 
meistern von  Oianthea,  den  da/MOQyoi,  auf  keinen  Fall  etwas 
zu  thun  haben.  Mithin  ist  die  Auffassung,  welche  hier  noch 
Vertragsbestimmungen  sucht,  unhaltbar;  faorog  bedeutet  beide- 


1)  Dass  die  Uebersetzung  ex  optimatibus  falsch  ist,  liegt  auf  der 
Hand.  Nicht  nach  dem  Stammbaum,  sondern  nacli  der  Tüchtigkeit  sucht 
sich  der  Fremde  seine  Richter  aus.  Dass  beides  in  aristokratischen  Stauten 
thatsächlich  vielfach  zusammenfällt,  ist  selbstverständlich,  aber  hier 
handelt  es  sich  um  einen  rechtlichen  Ausdruck.    Vgl.  oben  S.  255,  2. 


315 

male  Bürger   derselben  Gemeinde,   also  wenn   das   Gesetz   aus 
Oianthea  stammt,  Bürger  dieser  Stadt. 

Dann  kann  aber  die  Bestimmung-  „wenn  ein  Bürger  gegen 
einen  andern  nach  den  Rechtsverträgen  processirt"  nur  besagen, 
dass  es  den  Bürgern  freigestellt  ist,  ihre  Processe  unter  ein- 
ander nicht  nach  dem  alten  Landrecht,  sondern  nach  dem 
Recht  der  Handelsverträge  (öixai  xarräg  ovrßoZaq  sind  was 
man  in  Athen  dixai  äxö  övtußolcov  nennt)  zu  führen.  Das  ist 
eine  Entwickelung,  wie  sie  sich  in  Rom  vollzogen  hat,  wo  die 
starren  Formeln  des  Legisactionen  -  Processes  und  die  Strenge 
des  alten  Rechts  durch  die  Entwickelung  eines  freien  Verkehrs-" 
rechts  überwunden  werden,  die  wesentlich  durch  die  Judicatur 
des  Peregrinenpraetors  herbeigeführt  ist.  Die  Erscheinung 
an  sich  ist  also  nicht  wunderbar ;  höchst  überraschend  aber  ist 
es,  ihr  hier  bei  den  Lokrern  zu  begegnen.  Aber  wer  bedenkt, 
zu  welchen  Absurditäten  das  Formelwesen  des  altrömischen 
Civilprocesses  geführt  hat,  oder  erwägt,  dass  in  Kyme  im 
Criminalprocess  die  Zahl  der  Zeugen  die  Entscheidung  gab,1) 
wird  nicht  zweifeln,  dass  es  im  lokrischen  Process  eine  Fülle 
von  Formalitäten  und  Bestimmungen  gegeben  hat,  welche  dem 
fortgeschrittenen  Verkehrsleben  unerträgliche  Fesseln  anlegten. 
Durch  Einsetzung  der  gevodixai  und  damit  des  Fremdenpro- 
cesses  wurde  zugleich  ein  freies  Verkehrsrecht  geschaffen, 
welches  die  Formalitäten  bei  Seite  warf  und  lediglich  die 
Rechtsfrage  selbst  ins  Auge  fasste.  So  waren  die  Fremden 
besser  gestellt  als  die  Bürger.  Es  ist  begreiflich,  dass  diese 
die  Vortheile  des  neuen  Verfahrens  sich  anzueignen  suchten. 
So  entstand  die  Gesetzesbestimmung,  welche  ihnen  freistellt 
xccttccq  ov//ßoXdq  zu  processiren.  Wir  gewinnen  hier  einen 
Einblick  in  die  griechische  Rechtsgeschichte,  dessen  Bedeutung 
kaum  überschätzt  werden  kann.  Was  in  Rom  die  Forschung 
mühevoll  als  wichtigste  Triebfeder  der  Entwickelung  erkannt 
hat,  tritt  uns  hier  in  einer  lokrischen  Stadt  in  Gesetzesform 
entgegen. 

An  die  gsvodixai   freilich   konnte   man   die  Bürger  nicht 


1)  sv  Kvß%  Tit^L  iä  (povixä  v(')(aoq  BGxiv,  av  7iXfj&6<;  n  TtccQaoxrjxai 
{jkxqxvqujv  o  öuöxcov  zov  <povov  xwv  ccvxov  ovyysvwv,  tvo%ov  sivai  X(Ö 
(pövtp  xbv  (ptvyovza  Arist.  pol.  II  5,  12.    Vgl.  die  deutschen  Eideshelfer. 


316 

verweisen;  sie  unterstehen  vielmehr  der  Competenz  der  da- 
(iioQyoi.  Daher  werden  hier  auch  keine  Zusatzgeschworenen 
(tjccoftozai)  gewählt,  sondern  einfach  Geschworene  (oQxcofiorai) 
—  ohne  Zweifel  in  derselben  Zahl  wie  beim  Fremdenprocess. 
die  Bestimmungen  2,  1  und  2,  2  gehören  eng  zusammen.  Aber 
dem  Kläger  kann  man  hier  ihre  Wahl  nicht  überlassen,  wie 
beim  Fremden;  das  würde  zur  ärgsten  Parteilichkeit  führen. 
Daher  werden  die  Damiurgen  angewiesen,  nach  feierlichem 
Eidschwur  (vermuthlich  war  die  jcerroQxla  ein  Eid  bei  fünf 
Göttern)  die  Auswahl  nach  der  Tüchtigkeit  —  nicht  nach  dem 
'Adel!  —  zu  treffen. 

2,  3  regelt  das  Processverfahren;  die  Geschworenen  werden 
vereidigt,  die  Majorität  entscheidet.  Es  ist  klar,  dass  diese 
Bestimmung  für  2,  1  und  2,  2  gilt,  dass  hier  unter  den  „Ge- 
schworenen" die  „Zusatzgeschworenen"  mit  zu  verstehen  sind; 
sonst  wäre  über  das  Verfahren  der  ejicofiorca  des  Fremden- 
processes  garnichts  gesagt,  das  Gesetz  also  lückenhaft. 


Nachträge  und  Berichtigungen. 


Zu  S.  11  (12),  3.  Nach  den  Paroeiniographen  (Zenob.  V  74  etc.)  erhält 
Maleas  der  Pelasger  auf  eine  Anfrage  negl  oixrjGfcug  vom  Orakel  als  Ant- 
wort das  Sprichwort  naoa  yrj  natQiq  (nach  Dionysios  von  Chalkis  und 
Mnaseas).    Das  ist  auch  eine  Lösung  der  Pelasgerfrage. 

S.  20,  2  1.  Dion.  Hai.  I  25  (Aeschylos  fr.  248  Nauck). 

Zu  S.  24,  1.  Ephoros  fr.  104  (schol.  Apoll.  Rhod.  I  1037)  macht  die 
Dolionen  zu  aus  Thessalien  vertriebenen  Pelasgern;  daher  seien  sie  gegen 
die  Argonauten  feindlich  aufgetreten. 

S.  32,  2  1.  Hermes  XXVII. 

S.  58  ZI.  6  1.  reineren  Anschauungen. 

S.  83  ZI.  12  1.  ein  Appendix. 

S.  167  Z.  11  1.  eine  Sklavin  des  Iardanos,  des  Vaters  der  Omphale. 

S.  167  Z.  31  ff.  habe  ich  übersehen,  dass  Nikolaos  auch  fr.  40,  28  und  41 
die  Herakliden  erwähnt.  Die  Vermuthung,  dass  er  sie  aus  Herodot  entnom- 
men und  in  den  Bericht  des  Xanthos  eingefügt  hat,  wird  dadurch  aber 
nicht  berührt.  Vielleicht  ist  hierfür  zu  beachten,  dass  nach  schol.  Plato  Ti- 
maeos  25  Agron,  bei  Herodot  der  Begründer  der  Heraklidendynastie,  als 
Sohn  des  Atys  S.  d.  Lydos  und  Vater  des  Tyrrhenos  erscheint.  Xanthos' 
Bericht  ist  das  freilich  nicht;  nach  ihm  sind  Lydos  und  Torrhebos  die 
Söhne  des  Atys  (Dion.  Hai.  I  28);  aber  vielleicht  liegt  auch  in  der  Scholien- 
notiz  der  Nachklang  eines  Ausgleichsversuchs  vor. 

S.  178,  2.  Geffcken,  Timaios'  Geographie  des  Westens  (Philolog. 
Unters.  XIII  1892)  S.  13,  4  und  48,  4  bemerkt  mit  Recht,  dass  Timaeos  fr.  66 
(Tzetzes  ad  Lycophr.  1141)  eine  Contamination  der  Scholiennotiz  über  Ti- 
maeos mit  Apollodors  Erzählung  (epit.  Vat.  p.  75  Wagner)  ist  und  für 
seine  Chronologie  nicht  in  Betracht  kommt.  Trotzdem  bleibt  Censorins 
Angabe  c  21,  Timaeos  setze  den  Fall  Trojas  417  J.  vor  Ol.  1  (1193  v.  Chr.), 
unmöglich  und  muss  darauf  beruhen,  dass  die  ganze  Stelle  corrupt  über- 
liefert ist.  Denn  nach  fr.  53  (schol.  Apoll.  Rhod.  IV  1216)  setzte  Timaeos 
die  Gründung  Korkyras  durch  Chersikrates  von  Korinth  600  Jahre  nach 
Trojas  Fall.  Das  führt  für  Trojas  Fall  jedenfalls  auf  rund  1340  v.Chr.; 
setzen  wir  die  Gründung  von  Korkyra  nach  Timaeos  ins  Jahr  734,  das 
gangbare  Grüiidungsdatum  von  Syrakus  —  nach  Ephoros  bei  Strabo  VI  2,  4 
lässt  Archias  auf  der  Fahrt  nach   Syrakus   den  Chersikrates  in  Korkyra 


318 

zurück  — ,  so  fällt  Trojas  Zerstörung  1384,  genau  1 000  Jahre  vor  Alexanders 
Uebergang  nach  Asien.  Das  kann  nicht  Zufall  sein;  es  ist  dasselbe  Datum, 
welches  nach  Clem.  Alex,  ström.  1 139  Duris  gab.  Bestätigt  wird  dies  Re- 
sultat dadurch,  dass  Timaeos  nach  Clemens  1.  c.  von  der  Herakliden- 
wanderung  bis  auf  Alexanders  Uebergang  nach  Asien  820  Jahre  (das  sind 
vielleicht  201/2  40jährige  Generationen,  denn  Alexander  ist  der  21ste  von 
Temenos)  rechnete,  jene  also  1154  v.Chr.  setzte,  das  ist  180  Jahre  nach 
Trojas  Fall.  Unmittelbar  vorher  sagt  Clemens,  einige  rechneten  von 
Trojas  Fall  bis  zur  Heraklidenwanderung  trrj  exaxbv  hxooi  ?j  hxazbv 
oydotjxovxa;  letzteres  ist  der  Ansatz  des  Timaeos.  Dass  Timaeos  diesen 
Zwischenraum  auf  40  Jahre  angesetzt  hätte,  wie  wir  annehmen  müssten, 
wenn  Censorins  Datum  richtig  wäre,  halte  ich  trotz  Geffcken's  Hinweis 
auf  Diod.  IV  58  für  undenkbar. 

S.  181,  1  Z.  3  v.  u.  1.  acht  für  recht. 

Zu  S.  291.  Nach  Drucklegung  dieses  Bogens  erhalte  ich  die  Be- 
sprechung des  Gesetzes  über  Naupaktos  im  Recueil  des  inscriptions  juri- 
diques  grecques  von  Dareste,  Haussoullier  und  Reinach,  fasc.  2.  Auch 
hier  kehren  lediglich  die  traditionellen  Erklärungen  wieder,  so  dass  ich 
nichts  nachzutragen  habe.  Nur  der  Schlusspassus  über  Chaleion  ist  hier 
richtig  erklärt. 


Index. 


Abas  76,3. 

Achaeer  111,1;   auf  Kreta  49. 

Achaeos  85,  3.  144. 

Aegypten,  Aufstand  gegen  die  Perser 
im  5.  Jhdt.  155.  Aeg.  Chronologie 
Herodots  160.  164  f.  Aeg.  Sprach- 
kenntnisse Herodots  192.  Lykurg 
in  Aeg.  217,  2. 

Aenianen  38.  46. 

Aeoler,  Heimath  136,1.  145,  1. 

Aeschylos  Schutzflehende  67  ff.  0a- 
kaftoTtoioiimd/lavcdösg  84.  Amy- 
mone  74.  84.  Io-Episode  des  Pro- 
metheus 68.  70,  3.  80.  Auffassung 
der  Sage  99.  115. 

uye iv  xal  (pegsiv  309  f. 

Agenor  in  Argos  97. 

Agiaden,  Stammbaum  und  Chrono- 
logie 180  f.  283  ff. 

Agis,  Begründer  des  spart.  Staats  276. 

Aigimios,  dorischer  König  279.  Epos 
68,3.  74,3.  80,  1.  88.  93. 

Aigyptos  und  s.  Söhne  81  if.  Name 
82,2. 

Aiolos  145,  1. 

Aizeios  64. 

Akrisios  in  Thessalien  106. 

Akusilaos,  Logograph  89.  91.  92,1. 
97.  98. 

Alkmeoniden,  ihre  Politik  198. 

Alkman  257,  1. 

Amymone,  Quelle  74. 

Amyntas  über  Sardanapal  206.  209. 

Anchiale,  Denkmal  Sardanapals  205  ff. 


Andron  42,  1.  49. 
Antandros  pelasgisch  21.  35,2. 
Antikleides,  Mythograph  22. 
Anytos,  athen.  Staatsmann  200. 
Apis,  ag.  Gott  77.     Kg.  von  Argos, 

\\nlri  yalri  86.  87,  1.  92,  2. 
Apollo  ttcctqüjoq,  Vater  Ions  1 43.  145. 

Kampf  mit  Phorbas  95. 
Apollödor,  spart.  Chronologie  180,  1. 

181,1.  über  Sardanapal  206.  Com- 

mentar   zum   Schiffskatalog    30  ff. 

passim.  50  f. 
Arabos,  Araber  bei  Hesiod  93. 
Aramaeer  in  Aegypten  81  f. 
\  Arestor  92.  93,  2.  94,  2.  98. 
Argos  navoTtzrjQ  69.  71  f.  93.     S.  d. 

Zeus  und  der  Niobe  89  f. 
Argos,Verbreitung  des  Namens  1 1 2, 2. 

pelasgisches  s.  das.    Demokratie  in 

Argos  84,3.  Volksgericht  85.  100  ff. 

Analogie  argivischer  und  attischer 

Sagen  75. 
Äpyofaxä,  Epos  94. 
Aristarch  31  f.  41.  71. 
aQiazivötjv  255,  1.  313,2. 
Aristobul  über  Sardanapal  206  f.  2<)9. 

über  Kyros'  Grab  209, 1. 
Aristokrates  von  Sparta  213,  1.  217, 2. 

273. 
Aristoteles     benutzt    Ephoros    215. 

218,1.     nol.  A&.  über  das  Pole- 

marchat  147,3.   über  Drakon  236  ff. 

über  Ion  und  Apollo  145,  2.    nok. 

Aax.  269  f.    über  die  lykurg.  Rhe- 


320 


treu  262.  über  die  Geronten  271. 
über  die  Ephoren  246.  251.  252,1. 
Erziehung  der  Frauen  272.  Land- 
besitz 260  f.  über  den  olympi- 
schen Diskus  241.  274  f.  über 
Minos  (pol.  II  7,  1)  218,1.  über 
die  Syssitien  217,  2. 

Aman  über  Sardanapal  207  f. 

Arkas  55, 1.  63.  Arkader  TiQootXrj- 
vcuoi  05. 

Artemis  von  Brauron  18.  KaXXioTij 
60. 

Asios,  Epiker  54.  63. 

Assyrische  Chronologie  Herodots 
161  ff.  168.  ass.  Geschichte  vor 
Ktesias  204. 

Asteropos,  Ephor  250.  253,  2. 

Athene  und  Zeus  Schutzgötter  Spartas 
270.     A.  optilitis  280. 

Athener  Autochthonen  139,1.  'Ad-rj- 
valoL  und  jixtixoi  306  f. 

Attische  Chronologie  172,  3.  177. 
Königsstammbaum  107,  1.  147. 

Azan  55, 1.  64. 

Belos  =  Bcel,    Gott  der  Aramaeer 

81  f. 
Boedromia  147. 
Bosporos  80. 

Chaleiön  292.  308  f. 
Charax  von  Pergamou  19,2. 
Charon  von  Lampsakos  186,  1. 
Cheilon  254,1.     Ephorat  248,1. 
Chios,  Pelasger  auf  35. 
Choirilos,  Dichter  2()5  f. 
Cortona,  Pelasger  in  24  ff. 

Danae  73. 

Danaer,  Danauna  73. 

Dauaiden   75  f.   82  f.    Vermälung   in 

der  Rennbahn  85. 
Aavaiösq,  Epos  6S  ff.  79  ff. 
Dauaos  73.  83.  86. 
Daiphontische  Phyle  104,  1. 
Deianeira,  Gem.  d.  Pelasgos  55.  64,  3. 
Deinon,  pers.  Geschichte  176,  1. 


Delos  pelasgisch  112,  1 . 
Demainetos  der  Parrhasier  57. 
Demeter  ÜFlccayig  98.  101,2. 
Deuietrios  von  Skepsis  34.  41.  50. 
Demon,  Sprichwörtersammlung  19,2. 
Deukalion  in  Dodona  43. 
Dieuchidas  von  Megara  95.  243.  251. 
Diodors    Assyr.   Geschichte    206,  1. 

über  Lykurg  220  ff. 
Dionysios  von  Milet  TIfqoixÜ   178. 
Dionysios  von  Halikarnass  über  die 

Pelasger  109  f. 
Dionysos.  Geburtsdatum  bei  Hero- 

dot  159  f. 
Dioskuren,  Bedeutung  245. 
Dioskorides  über  Sparta  280,  2. 
Diyllos  von  Athen  200. 
Dodona  37  ff. 

Dolionen  und  Pelasger  24,  1.  317. 
Dorer  auf  Kreta  48  f. 
Dotos  S.  d.  Pelasgos  51,  1. 
Drakon,  Verfassung  nach  Aristoteles 

unhistorisch  236  ff. 
Dryops  98. 
Duris  von  Samos  178.  196. 

Echidna  72. 

Ekbasos  92. 

Epaphos  78.  80  f. 

Epaphrodites,  Homercommentar  5 1  f. 

Ephesos,  pelasgische  Chiliastys  48,  :<. 

Ephialtes'  Tod  189. 

Ephoren  244  ff.  Richterliche  Func- 
tionen 252, 1 .  Beginn  der  Ephoren- 
liste  247. 

Ephoros'  Behandlung  der  ältesten 
Geschichte  122.  186  f.  Benutzung 
von  Sprüchwörtern  19,  2.  Chrono- 
logie 172(173),  3.  178.  Ueber  die 
Pelasger  11,  2.  21.  35,  1.  112,  I. 
123.317.  über  die  Tyrsener  19.  23. 
über  Lykurg  214  ff.  243.  269.  sein 
Tod  und  göttl.  Verehrung  273. 
279, 1.  s.  Stammbaum  275.  Land- 
aufteilung 260.  Ephorat  251.  Geld 
in  Sparta  256, 1.  über  älteste  pelop. 
Geschichte  219,  I.   überElis  242, 1. 


321 


Eroberung  von  Leinnos  durch  Mil- 

tiades  19. 
Epidauros,  Eponymos  98.  Im  3.  Jhdt. 

225,  5. 
Epimenides,  Genealogien  72.  91,1. 
Epirus,  Pelasger  in  E.  40. 
Epitadeus,    angebl.  Rhetra   des   E. 

258,  3. 
Erasinos,  Fluss  75. 
Eratosthenes,  chronol.  System  180  f. 
Erechtheus,  Vater  der  Kreusa   143. 

147,  1. 
Etrusker  21.    auf  Lemnos  26  f.,  vgl. 

Tyrsener. 
Euboia,  Io  auf  80,  1. 
Eunomos,  spart.  König  276. 
Euripides  Archelaos   94,  3.     Orestes 

v.  872  ff.   101.     Ion   145  f.   149  f. 
Eurypontiden,     Stellung     276,  2. 

Stammbaum  179  ff.  275,1.  283  ff. 
Eurysthenes  und  Prokies  283  ff. 

Fremdenrecht  297.  313  ff. 

Gaza,  Io  in  80,  1. 

Gelanor,  Kg.  v.  Argos  89. 

Genealogische  Poesie  und  Sage  4. 
05.   130  f.  142,2.  284  f. 

Generationenrechnung,  zu  40  J.  170. 
1 79.  zu  3  Gen.  auf  das  Jahrhundert 
153  ff.  178.     zu  30  J.  172,3.  177. 

Gonnoi   38,3. 

Graiker  in  Dodona  43. 

Grote  1 87  f. 

Guneus  von  Kyphos  38,3. 

Haimon  in  Arkadien  55.  in  Thes- 
salien 109. 

Haliaia  in  Argos  101  ff. 

Halikarnass,  Stammbaum  der  Posei- 
donspriester 173  f.  Gründungs- 
datum 173,  1.  zur  Geschichte  im 
5.  Jhdt.  197.     dorisch  129. 

Handelsverträge  308  f. 

Hekataeos,  Chronologie  169  ff.  über 
die  Pelasger  1 1 .  20.  100.  114.  Le- 
benszeit 171.    Stammbaum  172.   in 


Aegypten  192  f.  Verhältniss  zu 
Herodot  169.  183  f. 

Heliaia  in  Athen  104. 

Hellanikos'  Arbeitsweise  1 1 7  ff.  1 86. 
genealog.  System  105  ff.  chronol. 
System  176  ff.  über  die  Pelasger 
26.  97  ff.  105  ff.  Tyrsener  22.  23,1. 
26.  über  die  spartan.  Verf.  213. 
219.   231. 

Hellas,  Name  111,1.  in  Thessalien  30. 

Hellenenstammbaum  144  f.  Hellenen 
und  Pelasger  36.  46  f.  110  f.  in 
Phthiotis  46  f. 

'EXloi  (ZsXXoi)  41  ff.  Helios,  epon. 
41.  42. 

Hellopien  42. 

Helos,  Eroberung  durch  die  Spar- 
taner 241. 

Hera  ßowmq  69.  Cult  und  Bild  iu 
Argos  89,  3.  90. 

Herakles,  Zeit  158  f.  bei  den  Dorern 
279,  1. 

Herakliden,  in  Lydien  161  f.  166  f. 
316.  spartanische  H.,  Stammbaum 
170  f.  179  f.  283  f. 

Heraklides,  Politien  270,  1. 

Hermes  in  Arkadien  62.  Argeiphon- 
tes  71  f. 

Hermippos,  Quelle  Plutarchs  214,1. 
271.  274. 

Hermion,  epon.  98. 

^Equüjvelol  xaQixet;  19. 

Herodian  bei  Steph.  Byz.  51. 

Herodot,  Leben  196  ff.  adlig  193,1. 
Reisen  155  f.  Sprachkenntnisse 
192  ff.  Verhältniss  zu  den  exacten 
Wissensch.  169,2.  184.  zu  s.  Vor- 
gängern 182  ff.  Vollendung  des 
Werks  189  ff.  Redaction  des  Tex- 
tes 25,  2.  196  f.  Standpunkt  und 
Beurtheilung  100.  115  ff.  127  f. 
182  ff.  Chronologie  153  ff.  Ueber 
die  Pelasger  21.  100.  115  ff.  über 
die  Etrusker  21.  27,2.  über  Lykurg 
213.  272.     über  III  80  ff.  201. 

Hesiod,  Zeit  der  Kataloge  93.  Ort 
144,  3.    contaminirt  Danaiden  und 


Meyer,  Forschungen  zur  alten  Geschichte.    I. 


21 


322 


Phoronis  91  f.   Pelasger  in  Dodona 

38.     Hellopien  42.    Pelasgos  und 

Lykaon  54  f.  64  f.     Kallisto   63,  3. 

Argiv.  Sagen  68.  88  ff.   Iosage  70  f. 

91  f.      Hellenenstammbaum    144. 

Astronomie  63,  3. 
Hippias  von  Elis,  geneal.  Vorträge 

240.     Olympioniken   239  ff.    über 

Lykurg  272. 
Homer  und  Lykurg  217,3.  270.  271,1. 

in  Sparta  bekannt  271,  1. 
Hyllos  bei  den  Dorern  279,  1 . 
Hyperboreer  40.  52. 
Hypermnestra  76. 

Iasos,  "Iaoov  "AQ-yoq  94.  97.     Athen. 

Heerführer  143.  147,1. 
Imbros  s.  Lemnos. 
Inachos,    Fluss    74,  1.    75.      König, 

Vater  der  Io    87.   89.   92.  94.  98. 

102  f. 
Io  69  ff.  78  ff.   fehlt  in  der  Phoronis 

90.    bei  Hesiod  91  f. 
"IcoXol  46. 
Ion    140.  141  ff.  146  ff.     Heimath  in 

Athen  143  f.   inAchaia  143,  1.  148. 

in  Ionien  150,  1. 
Ioniden,  Geschlecht  und  Demos  in 

Attika  148  f. 
Ionier     129  ff.      Urheimath    136,  1. 

Phylen    5.    131,  1.      Epoche    der 

Wanderung  172. 
Ionisches  Meer  nach  Io  benannt  80. 
Iphitos  von  Elis  274.  281. 
Isis  und  Io  77  f. 
Isokrates  über  Lykurg  und  Sparta 

260.  272.  277,  3.  283,  2.     Idealbild 

der    attischen    Urgeschichte    239. 

Nikokles  201,2. 
Israelitische  Stammbäume  135,1.  142. 
Isyllos  von  Epidauros,   Zeit  225,  5. 

benutzt   die   lykurgischen  Orakel 

226,    die  Rhetren  262. 
Italioten    und    pelasgische    Sklaven 

120,2. 
Justin  über  Sparta  246.  251, 1.  259, 1. 

269,1.  273. 


1  Kadmeischer  Ursprung  des  Thaies 

128. 
Kallimachos  über  die  Tyrsener  12, 

über  die  Hyperboreer  40. 
Kallisthenes  über  Sardanapal  203  ff. 
Kallisto  60.  61,5.  63.  70,1. 
Kallithoe,  Kallithyia  in  Argos  90. 
Kar  S.  d.  Phoroneus  98,  2. 
Kastor,  Chronograph  23.   97,4.    172 

(173),  3.  187,1. 
Kerkops,  Verf.  des  Aigimios  68,  3. 
Kimonischer  oder  Kalliasfriede  156. 
Kineas,  thessal.  Gesch.  45. 
Kinyras  von  Paphos  86,  4. 
Klearchos  v.  Soli  über  Sardanapal  206. 
Kleidemos  Atthis  12  f. 
Kleitarchos  über  Sardanapal  203,  1. 

206.     Chronologie  178. 
Kleomenes  III.  über  dieEphoren  250. 
Kleruchen  auf  Lemnos  und  Imbros, 

Tributpflichtigkeit  1 4  f. 
j  Krestonaeer  24  f. 
Kreta,  Pelasger  auf  K.  48  f. 
Kriasos  92. 

Kritias  über  Sparta  278,  2. 
Krotön  s.  Cortona. 
Kro topos  92. 
Kures,   Epon.  der   Kureten   216,  3. 

Kureten  68,  2.  90,  2. 
Kyme,  Criminalrecht  315. 
Kyphos,  angebl.  thessal.  Stadt  38,  3. 
Kyrene,     Stammbaum    der    Könige 

1 74  f.    Einfluss  auf  das  Danaiden- 

epos  81. 
Kyros'  Grab  209, 1. 
Kyzikos,  Pelasger  in  24,  1 . 

Lapithes  95. 

Larisa    29.    34  ff.    107.     Verbreitung 

des  Namens  1 1 2,  2. 
Leleger  21. 

Lemnos  und  Imbros  Uff. 
Leotychides  in  Thessalien  189. 
Lesbos,   pelasgisch   23,1.   35.   96.7. 

112,1. 
Lernai,  Quellen  74. 
Libye  81. 


323 


Lindos,  Danaiden  in  82,  3. 

Linos  in  Argos  92. 

Logographen,  Name  128.  Logogra- 
graphie  4.  114.  186. 

Lokrer  293  ff. 

Lydische  Chronologie  und  Dynastien 
bei  Herodot  161.  156  ff.  317. 

Lykaeen,  Spiele  56,2.  281. 

Lykaon  54  ff.  281  f. 

Lykos  in  Boeotien  62. 

Lykurgos,  Name  223,  2.  Gott  279. 
Identität  mit  den  gleichnamigen 
Gestalten  und  Lykaon  281.  Vor- 
dorischer Ursprung  282. 

Lynkeus,  Lyrkeia  76. 

Lysander  232.  244. 

MakedonerPelasger,Makednos  55, 1. 

Maleas,  Tyrsener  11,3.  317. 

Medische  Chronologie  Herodots  1 6 1  f. 

Megarara,  Sagen  über  Pisistratos' 
Krieg  gegen  M.  18. 

Meliboia,  Gem.  d.  Pelasgos  oder  Ly- 
kaon 55.  66. 

Menschenopfer  56  ff. 

Messenische  Kriege  278. 

Metoeken  303.  311. 

Miltiades  auf  der  Chersones  und 
Lemnos  13  ff.    gegen  Paros  19,2. 

Minos  218, 1. 

Minyer  auf  Lemnos  7.  19.  20. 

Mnaseus  bei  Herodian  (Steph.  Byz.) 
51,1. 

Molosser  in  Dodona  39.  Königs- 
stammbaum 175,  1. 

Mykene,  epon.  98.  Königsstamm- 
bäume 158.  Zerstörung  und  spä- 
tere Schicksale  103  f. 

Myrsilös  von  Lesbos  über  die  Pe- 
lasger  13.  35,  1.  40.  109. 

Nanas,  Pelasgerkönig  105  f. 

Naupaktos  292. 

Nauplios  74,  3. 

Neileus,  Oekist  von  Milet  1 28,  3. 

Nemeische  Spiele,  Gründung  281  f. 

Nepos'  Miltiades  19,2.  22. 


Niebuhr  121.  156. 

Nikokreon  von  Kypros,  Inschrift  des 

86,4. 
Nikolaos  von  Damaskos  über  Lykaon 

58,  2.     lydische   Geschichte    167. 

168, 1.  317.  Von  Ephoros  abhängig 

21,2.  221,3.  273.  279,  1. 
Niobe  89  f. 

Numa,  Gesetzbücher  des  236. 
Nyktimos,  Nykteus  62  f. 

Oenotrer,  Oinotros  54,  120. 

Oianthea  291.  307  ff. 

Oinomaos  von  Gadara,  yorjrwv  (piÖQa 
222  f.  241,  1. 

Olympische  Spiele,  Geschichte  240  ff. 
durch  Lykurg  gegründet  274  f. 
281  f. 

Opuntier  294.  Volksvers,  der  Tau- 
send 305. 

Palaichthön  87. 

Pan  S.  d.  Penelope,  Zeit  159  f. 

Panyassis  196  f. 

Parische  Chronik  172,3. 

Paroemiographen  19,2.  23,  1.51.  226. 

Patroklie  33  f.  37  f. 

Pausanias    König   von   Sparta    232. 

234  f.  244.     Schrift   über   Lykurg 

233  ff.  242  f.  261.  272. 
Pausanias  über  Lykaon,  Quelle  60,1. 
Peiras,  Peiren  72.  90  f. 
Pelargikon  10 f.  30,  l.  Pelargerl2.  28. 
Pelasger,   Name   32, 4.     Nationalität 

47.    110  f.    112  f.      Schicksale    32. 

112  f.    vor  Troja  34  ff.    in  Italien 

119  f.     in  Eom  120,1,  vgl.  117,2. 

Mauerbauten  28.  117.   Ziegel  11,1. 

Cultur    und    Religion    65,3.    101. 

117.    Pelasgos  I  und  II  106. 
Pelasgiotis  29.    Pel.  Argos  29  ff.  86. 
Perikles  198. 
Perseia,  Quelle  75. 
Persische  Sprachkenntnisse  Herodots 

194. 
Peuketios,  Peuketier  54.  120. 
Phaethon,  Pelasger  40.  43. 

21* 


324 


Phellos  S.  d.  Meliboia  55  f. 

Pheneos  in  Arkadien  72. 

Pherekydes  54.  63,2.3.  96.   120. 

Philaiden,  Stammbaum  174,  1.  auf 
der  Chersones  17. 

Philochoros  12.  13.  22.  50,2. 

Phorbas  94  ff. 

Phoroneus  89.  Phoronis,  Epos  6s,  2. 
89  ff.   —  des  Hellanikos  97.  105  ff. 

Phrynichos'  Danaiden  83. 

Phthia,  Stadt  oder  Land?  30. 

Phylarch  250,1.  264. 

niQCDf/ig  192  f. 

Pisistratos,  Politik  1 6  f.  Krieg  mit 
Megara  18. 

Pitane  pelasgisch  23,  1.  35,3. 

Plakia  pelasgisch  23. 

Plato  Minos  230.  Hippias  maior  240. 
Menexenos  100.  Euthydem  p.  271: 
199,  über  Apollo  tkxtqüoq  145.  Ge- 
setze, über  die  spartanische  Ver- 
fassung 231.  246.  260  f. 

Plutarch's  Lykurg  benutzt  Aristo- 
teles nicht  direct  238.  262, 1 .  Ab- 
hängigkeit von  Aristoteles  246,  2. 
271,2.  Sonstige  Quellen  214,1. 
261  f. 

Polemarch  in  Athen  142,  1.  147. 

Polydoros  Kg.  von  Sparta,  Zeit  1 82. 
Rhetra  228.  265.  268.  Erzählungen 
über  ihn  268,  2. 

Poseidon,  Streit  mit  Hera  über  Argos 
75. 

Pron  in  Argos  101  ff. 

Protagoras,  angebl.  Quelle  Herodots 
201. 

tiqo&voq  303.  309.  312.  313  f.  als 
Amtstitel  312,  1. 

Ptolemaios  bei  Arrian  über  Sardana- 
pal  208. 

Pylaios,  Pelasger  34.  35.  37. 

Pythagoras,  Tyrsener  20. 

Pyrrhichos  216,  3. 

Ranke  183. 

Rationalismus  100.   114. 
Rechtsverträge  308  f. 


QrjtQa  262  ff. 
Rhadamanthys  216. 
Rhodische  Sagen  95  f.,  vgl.  82,  3. 
Römische  Ursprungssagen  142,  2. 
Romulus  142,2. 

Salamis  auf  Cypern,  Stammbaum  der 
Könige  86,4. 

Sardanapal  203  ff. 

Schiffskatalog  30  ff. 

Seilen  41  ff. 

Sikyonische  Stammbäume  87,  1 .  98. 
99,2. 

Simonides  über  Lykurg  213.  276. 

Sintier  22. 

Skepticismus  in  der  späteren  Ge- 
schichtsschreibung 186  f. 

Skotussa  in  Thessalien  45. 

Skythische  Sprachkenntnisse  Hero- 
dots 195. 

Solon  307. 

Soos   im  Eurypontidenstammbaum 
eingeschoben  275. 

oocpiozai  127. 

Sophokles  Hellenotainias  198,  1. 

Sosibios,  Chronograph  179  f. 

Spartanische  Chronologie  1 70  f.  1 79  ff. 
Stammbäume  283  ff.  Verfassung 
demokratisch  oder  aristokratisch? 
282  f.  Spartiaten  und  Lakedai- 
monier  305. 

Sparton,  Epon.  98. 

Spercheios,  Epon.  98. 

Stammesleben  136  f. 

Staphylos  von  Naukratis  49.  100,2- 

Suidas  der  Thessaler  45. 

ovläv  309  f. 

avßßokov,dlxai  anb  ovfj.ß6Xü)v30%&. 
315. 

Temenos   S.  d.  Pelasgos    in    Stym- 

phalos  99, 1 . 
Terpander  und  Lykurg  271,  1. 
Teutamides,  Pelasger  105,2.  106. 
Thaies  von  Milet   127,2.   128.    von 

Kreta  (Thaletas)  216,3.  217,1. 
Theopomp,  Kg.  v.  Sparta,  Zeit  180  ff. 

227,  2.    Zusatzrhetra  228.  265.  268. 


325 


setzt  die  Ephoren  ein  246  ff.  er- 
obert Messenien  278. 

Thesmophorien  pelasgisch  IUI. 

Thesproter  in  Dodona  39.  Thespro- 
tos  55,  1. 

Thessalien,  Thessalos  105, 1.  1 09.  1 1 1 . 

Thiercult  in  Griechenland  60  f.  69  f. 

Thibron  über  spart.  Verf.  250.  272, 1. 

Thukydides,  seine  Behandlung  der 
älteren  Geschichte  120.  121  f.  186. 
Ueber  Hellen  und  s.  Söhne  147  f. 
tyrsen.  Pelasger  1 2.  Abhängigkeit 
von  Hellanikos  \1',\.  178. 

Thurii,  Gründung  199. 

Timaeos,  Chronologie  178.  247.  'Ml f. 
über  Lykurg  217,3.  273. 

Tiryns,  Epon.  98. 

Torrheber  27,  1. 

Trapezus  in  Arkadien  59,  2. 

Triopas  95  ff. 

Troerstamnibaum  5. 

Trogus  Poinpeius  s.  Justin. 

Turuscha  27. 

Tyrsener,   Name    27.    auf  Lemnos, 


tyrs.  Pelasger  13  ff.  19  ff.  116.  119. 
Seeräuber  22  f. 
Tyrtaeos,  svvo/uia  224,3.  229, 1.  An- 
gebliches Gedicht  über  die  spart. 
Verf.  227  ff. 

Xanthos   in   der   argiv.   Genealogie 

96,7. 
Xanthos  der  Lyder  161,1.  167f.  317. 

Angebl.  Fragm.  8:  168, 1. 
t-erodixca  313. 
Xenophon  nol.  Aax.  Abfassungszeit 

249,1.     über   Lykurg   213.   224,1. 

231.     kennt    die    Ableitung    und 

Kreta  nicht  282,  3.    Ephoren  248. 

254,  1.     Geronten  271. 
Xuthos  85,3.  145  ff.  149. 

Zaleukos,  Gesetzbuch  des  236. 

Zenodots  Lesung  B  681  gerechtfer- 
tigt 30  f. 

Zeus  Lykaios  56  ff.  60  f.  63.  Zeus 
und  Lykurgos  280  ff.  Zeus  und 
Athene  Schutzgötter  Spartas  279  f. 


Druck  von  Ehrhardt  Karras   Halle  a.  S. 


Aus  dem  Verlag  von  MAX  NIE  MEYER  in  Halle  a.  S. 

Anemüller,  E.,  Geschichte  der  Verfassung  Mailands  in  den  Jah- 
ren 1075 — 1117.  Nebst  einem  Anhang:  Ueber  das  Consulat 
zu  Cremona.     1881.     gr.  8.  Jk  1,60 

liramies,  H.,  Abhandlungen  zur  Geschichte  des  Orients  im 
Alterthum.  (Der  Assyrische  Eponymenkanon.  —  Die  Chro- 
nologie der  beiden  Hebräischen  Königsreihen.  —  Die  Aegypt. 
Apokatastasenjahre.)     1874.     gr.  8.  Jk,  4,00 

Denicke,  H.,  Die  Hansestädte,  Dänemark  und  Norwegen  von 
1369—1376.     1880.     8.  **  7,00 

Goldziher,  J.,  Muhamedanische  Studien.  Th.I.  1889.  8.    ^8,00 

—  Theil  IL     1890.  Jk  12,00 
Grüldenpenning,  A.,  Geschichte  des  Oströmischen  Reiches  unter 

den  Kaisern  Arcadius  u.  Theodosius  IL  1885.  gr.  8.    Jk.  10,00 

—  Die  Kirchengeschichte  des  Theodoret  von  Kyrrhos.  Eine 
Untersuchung  ihrer  Quellen.     1889.     gr.  8.  Jk  2,00 

Güldenpenning,  A.,  u.  J.  Ifland,  Der  Kaiser  Theodosius  d.  Gr. 
Ein  Beitrag  z.  römischen  Kaisergeschichte.  1878.  gr.  8.   ^.7,00 

Hartwig,  O.,  Quellen  und  Forschungen  zur  ältesten  Geschichte 
der  Stadt  Florenz.     1880.     4.     2  Bde.  Jk  23,20 

Heidenhain,  Arthur,  Die  Unionspolitik  Landgraf  Philipps  von 
Hessen  1557  —  1562.     1890.    8.  Jk  lüflO 

Henke,  E.  L.  Th.,  Neuere  Kirchengeschichte.  Nachgelassene 
Vorlesungen  für  den  Druck  bearbeitet  und  herausgegeben  von 
Dr.  W.  Gass.     3  Bde.     1874—1880.    gr.  8.  Jk.  12,00. 

Jacobi,  R.,  Die  Quellen  der  Langobardengeschichte  des  Paulus 
Diaconus.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  deutscher  Historio- 
graphie.    1877.     gr.  8.  Jk  2,80 

Kaweran,  W.,  Culturbilder  aus  dem  Zeitalter  der  Aufklärung. 

Bd.  I.  II      1886  —  88.  Jk  12,00 

I.    Aus  Magdeburgs  Vergangenheit.     1886.  Ji  6,00 

II.    Aus  Halles  Litteraturleben.     1888.  Ji  6,00 

Knrth,  O.,  Landulf  der  Aeltere  von  Mailand.  Ein  Beitrag  zur 
Kritik  italienischer  Geschichtsschreiber.     1885.     8.      Jk.  1,20 

Löning,  E.,  Die  Gemeindeverfassung  des  Urchristenthums.  Eine 
kirchenrechtliche  Untersuchung.     1889.     8.  Jk.  4,00 

Materialien  znr  neueren  Geschichte.  Herausgegeben  von 
G.  Droysen.    Heft  1—6.     1880  —  85.     kl.  8. 

Heft  1.    Gedruckte  Relationen  über  die  Schlacht  bei  Lützen   1632. 

1880.  Ji  1,20 
Heft  2.   Zeitgenössische  Berichte  über  die  Eroberung  von  Rom  1527. 

1881.  Ji  1,20 
Heft  3.   Peter  Haar  er  s  Beschreibung  des  Bauernkrieges  1525.  Nebst 

einem   Anhange:    Zeitgenössisches    über    die   Schlacht    bei 

Frankenhausen.     1881.  Ji  1,20 

Heft  4.    Gedruckte  Relationen  über  die  Schlacht  bei  Nördlingen  1634. 

1885.  Ji  1,20 

Heft  5/6.    Thomas    Carve's    Itinerarium.     Eine    Quellenschrift    des 

30jährigen  Krieges.     1885.  Ji  2,40 


Perlbach,  M.,  Preussisch-polnische  Studien  zur  Geschichte  des 

Mittelalters.  2  Hefte.  Mit  6  Schrifttafeln.  1886.   gr.8.   Ji  10,00 

Heft  1.    Zur   Kritik   der    ältesten    preussischen    Urkunden.      Mit   4 

Schrifttafeln.  einzeln  Ji  7,00 

Heft  2.    Das  Urkundenwesen  Herzogs  Mestwin  II.  von  Pommerellen.— 

Die  grosspoln.  Annalen.  —  Die  ältesten  preuss.  Annalen.— 

Zu  Peter  von  Dusburg.     Mit  2  Schrifttfln.     einzeln  Ji  7,00 

—  Die  Statuten  des  deutschen  Ordens  nach  den  ältesten  Hand- 
schriften herausgegeben.     1890.    4.  Ji.  30.00 

Rodenherg,  Carl,  Innocenz  IV  und  das  Königreich  Sicilien 
1245  —  1254.     1892.     8.  Ji  6,00 

Sackur,  Ernst,  Die  Cluniacenser  in  ihrer  kirchlichen  und  all- 
gemeingeschichtlichen Wirksamkeit  bis  zur  Mitte  des  elften 
Jahrhunderts.    Bd.  1.    1892.    8.  Ji  10,00 

Schlomka,  Ernst,  Kurfürst  Moritz  und  Heinrich  II.  von  Frank- 
reich von  1550—1552.     1884.     8.  Ji  1,20 

Schneider,  Joh.,  Die  kirchliche  und  politische  Wirksamkeit  des 
Legaten  Raimund  Peraudi  (1486  — 1505).  Unter  Benutzung 
ungedruckter  Quellen  bearbeitet.     1882.     8.  Ji  3,00 

Schneider,  Paulus,  Die  Siedelungen  an  Meerbusen  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  den  geograph.  Bedingungen.  1883.  8.     J6.  \fo() 

Täglichsfoeck,  O.,  Die  Fahnen  des  Infanterie -Regiments  von 
Treskow  (Nr.  17)  im  Gefecht  bei  Halle  a.  S.  am  17.  Oktober 
1806.  Ein  kriegsgeschichtlicher  Beitrag  zur  Geschichte  des 
Jahres  1806  und  zur  Lokalgeschichte  von  Halle  a.  S.  Unter 
Benutzung  der  Akten  des  Königl.  Kriegsarchivs  in  Berlin. 
Mit  2  Uniformsbildern,  1  Plane  u.  2  Anlagen.  1886.  8.   Ji  3,60 

Tollin,  H.,   Geschichte  der  französischen  Colonie  von  Magde- 
burg.  Jubiläumsschrift.   Bd.  I.  II.  III 2.    1887/89.8.     ^.28,00 
Band  III  Heft  1  erscheint  später. 

Urkunden,  lomoardische ,  des  XL  Jahrh.  aus  der  Sammlung 
Morbio  auf  der  Königl.  Univ.-Bibliothek  zu  Halle.  Herausg. 
von  A.  Hortzschansky  u.  M.  Perlbach.    1890.   8.     Ji  2,80 

Voss,  M.  von,  Zur  Geschichte  der  Autonomie  der  Stadt  Halle. 
1873.     8.  Ji  1,50 

Weise,  J.,  Italien  und  die  Langobardenherrscher  von  568  bis 
628.     1887.    8.  Ji  6,00 

Wenck,  Dr.  Carl,  Die  Entstehung  der  Reinhardsbrunner  Ge- 
schichtsbücher. Im  Anhang:  Eine  Reinhardsbrunner  Chro- 
nik des  XIII.  Jahrhunderts  und  Schedel's  Excerpte  der 
Münchener  Handschrift.     1878.    gr.8.  ^3,60 

—  Clemens  V.  und  Heinrich  VII.  Die  Anfänge  des  französi- 
schen Papstthums.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  XIV. 
Jahrhunderts.     1882.     8.  Jk  5,00 

Wülcker,  R.,  Fünfzig  Feldpostbriefe  eines  Frankfurters  aus 
den  Jahren  1870  und  1871.     2.  Aufl.  1876.     8.  ^.2,00 


57  ;en  zur 

Geschic 


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