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600070273P
•Uli
70273P
Fragen und Bedenken
über die
nächste Fortbildung deutscher Speculation,
Fragen und Bedenken
über die
nächste Fortbildung deutscher Speculation.
Sendschreiben
an Herrn Professor Dr. E. Zeller
mit Bezug
auf dessen „Geschichte der deutschen Philosophie
seit Leibniz".
Von
Immanuel Hermann Fichte.
Leipzig:
F. A. Brockhaus.
(-^
187C.
2i5 . c . 3
i
77
* Das Recht der üebersetzung ist vorbehalten.
Vorwort
Der günstige Leser wird den Zweck dieser Gelegen-
heitsschrift am besten erkennen, wenn er den Schluss des
Ganzen (im „Fünften Sendschreiben") ins Auge fassen will.
Sie hat durchaus keine blos polemische oder antikritische Ab-
sicht; es gilt der Vertheidigung einer wohlbegründeten phi-
losophischen Weltansicht, welche, jetzt geflissentlich zurück-
gedrängt, durch falsche Berichte entstellt, um so stärker
das Recht hat gehört zu werden, als sich ergeben mochte,
dass gerade in ihr — und ich bin so keck zu behaupten,
nur in ihr — die Rettung gefunden werde, um der deutschen
Speculation aus der verwirrenden Zersplitterung herauszu-
helfen, in welche sie nach der Kundigen Urtheil jetzt sich
verfangen hat. In dieser Nachweisung bitte ich den eigent-
lichen Zweck der Schrift zu sehen und danach ihren rela-
tiven Werth zu beurtheilen. Und ich stehe keineswegs allein
mit jenem Urtheil und jener Klage; vielmehr habe ich Grund
zu hoffen, dass in der ganz gleichen Absicht um jenen Ent-
stellungen zu begegnen auch noch von andern Seiten Er-
klärungen sich vernehmen lassen werden, welche für die
wahre Bedeutung der von uns vertretenen Sache Zeugniss
ablegen.
War nun dies Urtheil allseitig zu begründen , so musste
die Schrift etwas weiter zurückgreifen in die nächste Ver-
gangenheit unserer Speculation und den eigentlichen Gang
ihrer Entwickelung darlegen, der immer noch herrschenden faU
VI
sehen Auffassung gegenüber, welche auch in E. Zeller's sonst
so vorzuglichem Geschichtswerke*) zum Ausdruck kommt.
(„Erstes Sendschreiben.'^) Es soll, namentlich seit Kant, eine
stetig fortlaufende und streng geschlossene Reihe dialektisch
auseinander sich entwickelnder Systeme gegeben haben, deren
»
vollendender Gipfel und eigentlicher, darum auch allein gül-
tiger Abschluss in HegePs Lehre anzuerkennen sei. „Die
letzte Wahrheit von Kant'sidealismus wird inHegel
gefunden." Zwar räumt man ein, dass des letztern Lehre
in gewissen Punkten der Berichtigung bedürfe. Aber nach
welchem philosophischen Principe, noch mehr nach wel-
cher Richtung dies zu geschehen habe, ob nach der linken
oder der rechten Seite der Schule, bleibt im Dunkel, während
doch dem Verfasser die Bedeutung der historischen That-
sache nicht entgehen konnte, dass aus den Hegel'schen
Principien mit einiger Consequenz nicht nur die von ihm
verleugnete linke Seite des Hegelthums (in der ich noch
immer den richtigen Sinn des Systems erkenne), sondern
auch der Sensualismus Feuerbach's sich entwickeln konnte.
Und selbst Strauss, dessen wissenschaftliche Bedeutung und
Wirkung dort so hoch gestellt werden, hat er nicht in sei-
nem letzten Werke Hegel gründlich den Rücken gewandt,
um in ganz andern, sehr niedrig gelegenen Regionen der
Forschung Surrogate zu finden für die dort ihm nicht mehr
gewährte Befriedigung? Kann ein so vieldeutig auslaufen-
des System überhaupt für ein „Definitivum", für ein festes,
zweifelloses Ergebniss gehalten werden, auf welchem mit
Sicherheit fortzubauen sei?
Die Behauptung ferner, Kant's Idealismus habe in Hegel
seinen wahren Abschluss gefunden, ist mindestens von sehr
bestreitbarer Natur. Ich meine sogar, dass in derselben
der eigentliche Sinn und Werth von Kant's Leistung völlig
verkannt worden sei. Und ebenso erachte ich, dass diese
*) Dr. K. Zell er, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz.
München 1873.
VII
Diflferenz der Meinungen nicht blos eine gleichgültige, rück-
wärts liegende Schulfrage betreffe, sondern dass gerade durch
ihre richtige Losung über die nächste Zukunft „deutscher
Speculation" entschieden werde. Sollte jene Meinung mass-
gebend werden — und sie steht nicht vereinzelt da — so
wäre nach meiner durch die nachfolgende Untersuchung all-
seitig begründeten Ueberzeugung das jetzt. Nothwendige und
eigentlich zu L.eistende gründlich verkannt, ja der Keim
wahrer philosophischer Fortbildung ertodtet.
Dies alles veranlasste mich nun zum Versuche, jener
Darstellung eines so bedeutenden, von verdienter Autorität
getragenen Werkes eine andere Auffassung der Geschichte
neuerer Philosophie entgegenzustellen; in dreifachem Sinne.
Ich hatte die falsche üeberschätzung Hegel's, und was da-
mit im Principe zusammenfällt, zugleich das eigentlich
Wichtige ist, die üeberschätzung des Pantheismus in jeder-
lei Gestalt zurückzuweisen. Ich hatte sodann zu zeigen,
, wie den gleichzeitigen Denkern neben Hegel eine viel höhere
Beachtung zukomme, als es in jenem Werke geschehen sei.
Daraus gingen die „Rettungen" hervor, mit denen das
„zweite Sendschreiben" sich beschäftigt. Ich hatte endlich
nachzuweisen , wie aus den Elementen dieser philosophischen
Vergangenheit unsere Zukunft sich gestalten müsse in dßr
wahrhaften, darin vorgebildeten Weise, indem alle in ihr
enthaltenen Keime der Fortbildung zu ihrem Rechte gelangen
müssen. („Drittes und viertes Sendschreiben.") Daraus er-
gab sich zuletzt („Fünftes Sendschreiben"): was nach diesen,
vielfach erweiterten Prämissen und Vorbereitungen unsere
nächste Aufgabe sein werde, an welcher mitzuarbeiten,
parteilos und frei von den bisherigen Schulabzeichen und
Sektennamen, die eigentlich unzutreffend geworden, jeder
Kundige berufen sei, der gründlich mit uns diese stetige
Gedankenentwickelung der Systeme verfolgt hat.
Dann wäre vielleicht noch ein Grösseres zu erreichen
möglich, was bisher bei der strengen Sonderung der Wissens-
•j
VIII
gebiete und ihrer Methoden unerreichbar erschien: ein mit
Bewus8tsein gepflegter allgemeiner Bund der Forscher, wie
schon Leibniz ihn sich dachte, die ihre Uebereinstimmung
nicht im Ausprägen subjectiver Meinungen suchen und fin-
den wollen, sondern in der gemeinsamen Erforschung des
ewig festen und über den Meinungswechsel hinaus sicher
gegründeten Objectiven der Weltgegebenheit, des „Kos-
mos". Der frühere Schelling, in der schönsten Periode
seiner philosophischen Entwickelung, strebte dies an und
bezeichnete es, der damaligen Sprache seines Systems gemäss,
mit begeisterten, aus der Tiefe der Sache geschöpften Wor-
ten also:
„Wie es Eine Natur ist, die alle Dinge erzeugt und
hervortreibt und ihre Freiheit allgewaltig beherrscht: so
muss es Eine den Menschen göttlich überwälti-
gende Grundansohauung und Ansicht des Geistes
sein, aus welcher Alles, was göttlicher Art ist, in
Wissenschaft und Kunst hervorgeht. Was nicht
aus dieser entspringt, ist eitel, ist Artefact, ist mensch-
liches, nicht Natur werk." „Das heilige Band, das die
Dinge der Natur vereinigt, ohne sie zu unterdrücken, ist
auch unter den Geistern möglich und in dem Masse mög-
lich, in welchem die Anschauung der Natur und des Uni-
versums in ihnen wiedergeboren wird."*)
Gegenwärtig, wo die tiefer dringende Naturforschung
sich zu Fragen erhebt, welche ohne die Beihülfe speculativen
Denkens nicht zu lösen sind, wo andererseits die Specula-
tion anerkennt, dass sie durchaus der gesicherten Ergebnisse
der Erfahrung bedarf, um selbst zu festen Schlüssen und
Theorien zu gelangen, scheint mit diesem klar erkannten
wechselseitigen Bedürfnisse erreichbar, ja ausdrücklich ge-
*) Schelling, Jahrbücher der Medicln (Tübingen 1806), I. Band,
1. Heft, S. IX.
IX
fordert, was bisher nur als vorübergehender Versuch, als
Wunsch hervortrat und dann wieder verklang.
Aber auch hier wird das feste, all versöhnende Band
nur sein können ^in höher Einendes, jene „Eine, den Men-
schen überwältigende Grundanschauung^^, die wir ausdrück-
lich nur als die theistische bezeichnen können. Der Geist
wahrhafter Naturforschimg hat schon ursprünglich einen tief
religiösen Charakter und erzeugt zugleich solche Stimmung.
Denn ihn spornt die niemals getäuschte Erwartung, in der
Natur bis in ihr Einzelnstes hinein Vernunft, ein tief Ab-
sichtsvolles zu entdecken. Dies lässt ihn hineinblicken in
eine ewige, weisheitsvolle Ordnung, welche alles umfasst;
und dies eben, richtig erwogen, ist nicht blos geglaubter
oder gefühlter, sondern klar erkannter Theismus, welcher
durch Speculation sich zu ergänzen, zu vollenden hat.
Ebenso von der philosophischen Seite, trotz des sprö-
den Ablehnens solcher Regungen bei den jetzt herrschenden
Speculanten, welches eigentlich doch nur auf Misverstand
und wissenschaftlicher Halbheit beruht, darf ich getrosten
Muthes die hier vertretene Ansicht der zukünftigen Ent-
wickelung anvertrauen. Abgesehen von den näher mir ver-
bundenen Forschern, deren ich am Schlüsse des Werkes
dankbar gedenke, kann ich mich in allen wesentlichen Punk-
ten zum Einverständniss bekennen mit einem Denker, dessen
Gewicht viel andere Namen aufwiegt. Es ist Hermann
Lotze, von dessen Wirken und Leisten die deutsche Philo-
sophie der Gegenwart ohne Zweifel die wesentlichste För-
derung zu erwarten hat.
Stuttgart, im Frühjahr 1876.
Der Verfasser*
Inhaltsverzeichniss.
Erstes Sendschreiben.
Die nächsten „Fragen" und. „Bedenken".
Seit«
Absiebt und Aufgabe der Schrift. — Hegel und Herbart in
ihrem gegenseitigen Verhältnisse, als die beiden Ausgangspunkte
(„Monismus** und „Individualismus**) der gegenwartigen Specula-
tion. — Stellung des letztern zum „Zweckbegriffe** und Weiter-
führang der Speculation von hier aus 1 — 21
Zweites Sendschreiben.
Rückschauende „Rettungen" und Kritiken.
J. J. Fries; Werth seiner religiös - ästhetischen Weltansicht. —
Franz von Baader, als Mitbegründer der wahren JSthik und
Religionsphilosophie. — Franz Hoffmann. Hoher Werth seiner
kritischen Arbeiten. — K. Chr. Fr. Krause, als systematischer
Denker und Begründer eines rationalen Theismus. — Die wahre
und die falsche philosophische Kritik 22—43
Drittes Sendschreiben.
Die philosophische Gegenwart.
Allgemeine Gesichtspunkte zur Beurtheilung derselben. — Stellung
des „Theismus'* zu Hegel und zur philosophischen Vergangen-
heit. — Doppelauffassung in der neuen Begründung desselben von
Weisse und vom Verfasser. — Grundzüge von Weisse's Lehre;
ihr überwiegend transscendenter und theologischer Charakter. —
Kritik derselben und Vertheidigung meines universalen Standpunk-
tes. — Wahre Quelle und Beglaubigung des „ethischen** Theis-
mus. Sein freies Verhältniss zur Theologie. (Strauss und
L. Feuerbach.) — Beide, an sich unabhängig voneinander,
sollen sich ergänzen, nicht vermischen oder identificiren. — Die
XII
Seite
„christliche Glaubenserfahrung^' und die Aufgabe, sie
zur „universalen Weltreligion" zu erweitern. — Berichti-
gung einiger kritischer Irrthümer 44 — 72
Viertes Sendschreiben.
Fortsetzung des Vorhergehenden.
Durchgreifender Gegensatz der mechanischen und der teleo-
logischen Weltansicht. — Relative Berechtigung der erstem
innerhalb bestimmter Grenzen. Ihre Forschungsweise betrifft
lediglich das Gebiet des äussern Geschehens, die „phänome-
nale Welt". — Die „metaphysische" Erforschung der Real-
gründe und des Urgrundes erzeugt die „teleologische" Welt-
ansicht. Dies das Gebiet des hypothetischen Denkens, der
Wahrscheinlichkeitsschlüsse. — Universaler, vielfachster
Ausbildung fähiger Charakter des „theistischen" Grundgedan-
kens. — Wie derselbe zum Begriffe des „ethischen" Theismus
sich vollenden müsse. — Angebliche „Schwierigkeiten" und „Wider-
sprüche" im Begriffe einer Persönlichkeit Gottes. — Be-
dingungen zur Lösung derselben. Entscheidend dabei die metaphy-
sische Bearbeitung des „Zweckbegriffs", die von Hegel ver-
fehlt worden. — Nachwirkung dieser Versäumniss bis in die Gegen-
wart, welche darum den (pantheistlschen) Monismus noch nicht
überwunden hat. — Zwei Hauptinstanzeu des Theismus gegen den
(einseitigen) Monismus : die vertieftere Begründung des Zweckbe-
griffs in Bezug auf die endliche Welt, und die vollständige Ent-
wickelung des Begriffs eines zwecksetzenden Absoluten. — Da-
durch zugleich die Vollendung des theistischen Grundgedankens
zum ethischen Theismus angebahnt. — Die charakteristischen
Grundzüge dese^lben, dem pantheistischen Monismus und dem bis-
herigen Theismus gegenüber, im Begriff der „Persönlichkeit"
Gottes culminirend. — Gesammtresultat des Bisherigen 73 — 108
Fünftes Sendschreiben.
Aussichten — vielleicht Hoffnungen — für die Zukunft
deutscher Speculation.
Was in der Speculation überhaupt das „Recht" der Zukunft be-
sitze? Bisher herrschende irrthümliche Vorstellungen darüber. —
Nothwendigkeit einer neuen Forschungsweise in der Philosophie.
„Theilung der Arbeit." Ablehnung der angeblichen „Oberherr-
schaft" eines einzelnen Systems für die Zukunft. — Irrig behaup-
teter „Abschluss" des Idealismus Kant's durch Hegel. — Die
beiden einzigen zukunftbereehtigten Denker : L e i b n i z und Kant.
— Universelle Bedeutung des erstem auch für die Gegenwart.
Wahrer Sinn und bleibende Bedeutung seiner „prästabilirten
Harmonie" und „Monadologie". — In welcher Art beide
Sehe
einer Umbildung bedürfen? — Sein „Determinismus" und
„Deismus^'. — Uebergang zu Kant. Der „anthropocen-
trischo" Standpunkt der einzig mögliche und für die Philosophie
berechtigte. — Gesammtergebniss der „Kritik der reinen Ver-
nunft". — Ihr „subjectiver" Idealismus vollendet von Fichte,
ins Objective übertragen von Schellin g. — Verhältniss von
Fichte's und Schelling's Idealismus. — Wie allein die „Einheit"
des Subjectiven und Objectiven (eigentlicher: die „Immanenz"
des Objectiven im Subjectiven) wahrhaft zu begründen sei? Das
„unmittelbare" und das „mittelbare" Object des Bewusstseins. —
Der Geist ein vorbewusstes Reale, nach dem eigenen imma-
nenten Gesetze seines Wesens ins Bewusstsein sich erhebend
und nach Analogie dieses Gesetzes das Wesen des Objectiven
erkennend. — Daraus der einzig wahre und erweisbare Real-
idealismus, dessen Begründung vom Menschengeiste aus die
„Anthropologie" und „Psychologie" unternommen haben.
Sie zeigen denselben als ein transscendentales, „apriorisches'^
Wesen, darum als ein „Jenseitiges" im Diesseits seines eigenen
Sinnenlebens. Darumist er allein geschichtsbildendes Prin-
cip. — Darin die nothwendige Hinwendung der Speculation zum
Theismus begründet. Denn nicht in der ewig gleichen Natur-
ordnung, sondern in der fortschreitenden Geschichte oflfen-
bart sich das göttliche Wesen als „persönlicher Gott "(„Vor-
sehung"). Nach Kant: nicht „Physikotheologie", sondern
„Ethikotheologie". — Damit wird der Theismus zu seiner
höchsten Gestalt: dem „ethisch-religiösen", gesteigert durch
die Betrachtung, dass „nur von der höchsten Weltthatsache aus
die höchste Weltursache richtig erkannt werden könne". — Was
diesem das „Recht" auf Zukunft verbürge? — Charakteristik
der Zeitstimmung, welcher diese Weltansicht gegenübertritt. —
Verschiedener Ausdruck jener Stimmung in Frankreich und in
Deutschland: die „Positiven" und die „Negativen". —
Die hier vertretene Lehre nicht eine blos „vermittelnde" zwischen
den Positiven und Negativen; vielmehr die Erhebung über beide
durch den Hinweis auf die höchste göttlich-menschliche „That-
sache". — Schlussbetrachtung: ob darauf ein philosophisches
„System" von innerer Festigkeit zu gründen sei? 109—140
Erstes Sendschreiben.
Die nächsten „Fragen" und „Bedenken",
Stuttgart, im Mai 1875.
iJestatten Sie mir, hochgeehrter Herr College, den In-
halt Desjenigen, was ich, angeregt durch Ihr letztes philo-
sophisch-historisches Werk öffentlich zu sagen wünschte,
unmittelbar an Sie zu richten und Ihrem Urtheile vorzu-
legen. Die nachfolgende Erörterung getraut sich nämlich
um so eher Ihnen vor Augen gebracht zu werden, als sie
durchaus nicht polemischer Natur ist, vielmehr einen An-
hang, eine vervollständigte, vielleicht auch berichtigende
Fortsetzung zu dem kntischen Schlussergebniss Ihres Buches
darbieten soll.*) Die dabei sich aufdrängenden „Fragen"
und „Bedenken" werden schärfer erwogen zu gewissen
Ergebnissen, zu „Antworten" führen, die, wie ich hoffe,
zur schärfern Orientirung über den gegenwärtigen Stand
der philosophischen Parteien dienen könnten. Und zugleich
erachte ich, dass dies nicht blos untergeordnete Fragen
*) Dass ich erst jetzt darüber mich äussere, geraume Zeit nach dem
Erscheinen Ihrer ,,6eschichte der deutschen Philosophie", wollen Sie ent-
schuldigen, als durch mein Augenleiden veranlasst, welches mir lange
nicht erlaubte eingehend mit Ihrem Werke mich zu beschäftigen.
Fichte, Fragen und Bedenken. ]^
2
betrifft, sondern solche, durch welche die gesammte Weiter-
entwickelung der gegenwärtigen, ins Stocken und in Ver-
.wirrung gerathenen deutschen Speculation entscheidend be-
dingt wird.
Sie errathcn gewiss, was ich besonders dabei im Auge
habe. Bei dem offenkundigen Widerspruche zwischen Dem,
was sich jetzt „Wissenschaft" nennt, und zwischen den un-
vertilgbaren Anforderungen des religiösen Bewusstseins wie
des verletzten sittlichen Gefühls, sind Sie gewiss ebenso
iiberzeugt, wie ich, dass nicht Theologie, weder historische
noch dogmatische, nicht blosse Geschichtsforschung, nicht
auch Physik und Physiologie, wie neuerdings vorgeschlagen
worden, sondern nur freie, voraussetzungslosc Speculation,
aber mit vollem Eingehen auf die Tiefen und Käthsel des
Menschenwesens, griiudlich und nachhaltig dies Misverhältniss
tilgen könne; und zwar nicht durch „geniale Apercus",
oder durch rhapsodisch einseitige Versuche, deren einen Sie
in Schopenhauer's Lehre so scharf und glücklich charakte-
risirt haben (S. 872 — 894), sondern durch stetige und sorg-
same Weiterbildung alles wirklich schon Erreichten und bis-
her Festgestellten, kurz durch strenges Innehalten
der historischen Continuität.
Nicht weniger sodann sind Sie wol mit mir darüber
einverstanden, dass gerade jetzt es hoch an der Zeit sei,
der andringenden Denkverwilderung, die von zwei entgegen-
gesetzten Seiten unsere Bildung gefährdet, dem Aberglau-
ben eines breit sich machenden atheistischen Bekenntnisses,
wie andererseits den Prätensionen einer innerlich abgestor-
benen Kirchenlehre die Spitze zu bieten. Beide , gleich sehr
überschritten und in ihren Lehren von der Wissenschaft an-
tiquirt, drängen sich doch jetzt von neuem der urtheillosen,
autoritätsbedürftigen Menge als das einzig Wahre und Ge-
wisse auf. Da wird es für jeden Einsichtigengebieterische
Pflicht, einer gründlichem Wissenschaftsbildung wieder
Bahn zu machen. Ihre Wirkung freilich ist eine langsame
und allmäbliche; dennoch ist dies der einzig mögliche, wie
der einzig sichere Weg eines bleibenden Erfolges.
Auch darüber haben Sie keinen Widerspruch von mir
zu befahren, dass die HegeFsche Lehre als der passendste,
wenn auch nicht einzig mögliche Ausgangs- und Orien-
tirungspimkt solcher Weiterbildung betrachtet werden dürfe.
Hat sie doch ganz iiberwicgend die wirksamste Herrschaft
über die Geister geübt; und wenn auch in ihrer Alleinge-
walt nicht unbestritten, enthält sie doch so viel Wahres,
Tiefes und Berechtigtes, dass es jetzt sogar als Pflicht er-
scheinen konnte, den neuesten Verscichtigern des grossen,
von ihm vertretenen Princips gegenüber, auf iliren eigcn-
thümliehen Wertli und ihre dauernde historische Bedeutung
zurückzuweisen. Und in diesem Sinne besonders hat mich
Ihre lichtvolle Darstellung der Hegerschen Lehre ange-
sprochen, während sie zugleich Ihre eigenen sehr tiefgrei-
fenden Bedenken gegen wesentliche Sätze derselben nicht
verschweigt. Sie erlauben auf diese Andeutungen noch
weiter zurückzukommen. Denn sie gerade sind es, welche
mir Veranlassung gaben, mein Wort an Sie zu richten, in-
dem dieselben mir eine mögliche Verständigung in Aussicht
stellen.
Daraus erklärt sich zugleich , warum mir der Schluss-
abschnitt Ihres Werkes („Die jüngste Vergangenheit und
die Gegenwart'^, S. 894 fg.) von besonderer Bedeutung
sein musste. Es war für mich wichtig zu erfahren, wie ein
Mann von Ihrer wissenschaftlichen Autorität in einer Ge-
schichte deutscher Philosophie bis zur „Gegenwart" über
das Gesammtergebniss cbendieser Gegenwart sich aus-
spricht; ingleichen welche Bahnen ihrer Weiterbildung von
da aus er ihr anweist. Und da Sie endlich bisher zu den
Anhängern der Hegerschen Lehre gezählt wurden, war es
für mich von besonderm Interesse zu wissen, wie Sie sich
über das von Hegel Geleistete wie Verfehlte erklären wür-
1*
den. Deshalb erlauben Sie mir, Urnen über dies alles meine
unmassgeblichen „Bedenken" offen darzulegen.
In Betreff von Hegel's „Logik*' bemerken Sie (S. 801 fg.) :
man könne ihr die Anerkennung nicht versagen, dass sie
eine der hervorragendsten Leistungen des metaphysischen
Denkens sei. Nicht blos der grossartige, mit angestrengter
geistiger Arbeit methodisch durchgeführte Grundgedanke
des Ganzen, sondern auch die einzelnen Untersuchungen,
welche auf einem breiten Untergründe der marinichfachsten,
in denkender Betrachtung vertieften Erfahrung ruhen, seien
von solcher Bedeutung, dass „mau auch dann noch viel von
ihr wird lernen können, wenn man weder mit der hier ver-
suchten Vereinigung der Logik mit der Metaphysik,
noch mit der apriorischen Construction der metaphy-
sischen Begriffe einverstanden ist. Noch stärkeres Be-
denken gegen dieses Verfahren gibt aber aller-
dings seine Anwendung auf die concreto Wirklich-
keit, wie sich dies gleich beim Uebergange von der
Logik in die Naturphilosophie zeigt".
Ich finde dies Urtheil so gerecht als zutreffend, und ich
unterschreibe es völlig, da was ich aus Hegel's Logik „ler-
nen" zu können glaubte, ich selbst in meiner „Ontologie"
(1836) redlich zu benutzen versuchte. Aber ich hätte ge-
wünscht, gleichwie Sie es bei der Kritik anderer Denker in
Ihrem Werke gethan, entschiedener, wenn auch nur in
Kürze, ausgesprochen zu sehen, welchen andern Begriff und
welche andere Stellung der Logik im Ganzen der philoso-
phischen Wissenschaft Sie selbst nunmehr für die richtige
halten; was Sie an die Stelle des „absoluten Denkens in
seiner dialektischen Selbstbewegung" zu setzen gedenken,
ob eine vollständige, von psychologischen Untersuchungen
ausgehende „Erkenntnisslehre", ob eine blos „formale
Logik"? Endlich aber und vor allem: ob Sie den gerade
hier, im Ausgangspunkte des Systems liegenden Grundfehler
desselben ins Auge gefasst haben, der mit strenger Conse-
5
quenz durchgeführt (in welcher Consequenz eben die Grösse
und die Kraft des Hegel'schen Denkens besteht), zu jenem
pantheistischen Monismus führen musste, dessen vollen-
detste, wie vergeistigtste Gestalt ich in jenem Systeme zwar
anerkannte, aber im Princip bestreiten musste. Deshalb
musste ich behaupten, dass in Hegel's Lehre nicht der
Anfang einer neuen speculativen Zukunft, sondern der Ab-
schluss einer zunächst von Spinoza beginnenden Vergangen-
heit gegeben sei, dass mit ihr das einseitig pantheisti-
sche Princip sich ausgelebt habe. Und auch jetzt
noch halte ich die Entscheidung darüber für die Cardinalfrage
der philosophischen Gegenwart, in Betreff welcher jedes
Schwanken unzulässig, klare Entschiedenheit zu fordern ist.
Von welchem Gewichte daher eben von Ihnen , verehrter Col-
lege, eine entscheidende Erklärung gewesen wäre, die nach
Ihren obigen Andeutungen kaum in einem mich bestreitenden
Sinne hätte ausfallen können, mögen Sie selbst hiernach
erwägen. Denn es entgeht Ihnen nicht, dass gerade jetzt
sogar von neuem jenes Grundgebrechen monistisch -pan-
theistischer Einseitigkeit in allerlei Nachgeburten sich Luft
macht, die so ephemer sie vielleicht auch nach Ihrem Ur-
theile sein mögen, doch die philosophische Tagesstimmung
beherrschen und dem wahren, durch Kritik der Vergangen-
heit vorbereiteten Fortschritt in den Weg treten. Wer
überhaupt, nach Hegel's grossartiger und umfassender Lei-
stung, noch mit einem nachträglichen Pantheismus debutiren
will, erinnert einigermassen an den Versuch einer Ilias post
Homerum.
Nicht minder bedeutungsvoll wäre mir ferner gewesen,
was Sie über Hegel's Religionsphilosophie erinnern, wenn
ich nicht auch hierbei mehr nur kurze Andeutungen über
Ihre abweichende Meinung gefunden hätte, als entscheidende
Erklärungen und zutreffende Winke. Namentlich das princi-
pielle Gebrechen seiner Religionsphilosophie, der* grund-
falsche, durchaus unpsychologische Begriff vom „Wesen"
der Religion wird zwar angeführt (S. 829), nicht ohne Tadel
der dabei geübten Polemik gegen Schleiermacher, welcher
hier gerade in seinem Kecht gewesen ist. Das Entscheidende
aber, was daraus folgt, scheint Ihnen entgangen zu sein.
Für Hegel ist die Religion ein theoretischer Act, ein
„Denken des Absoluten"; ausdrücklich aber noch nicht in
der rein begriflfemässigen Form des speculativen Gedankens,
sondern in der inadäquaten Gestalt der Vorstellung oder
des (dunkeln, unbestimmten) Gefühls. Daraus ergibt sich
ihm die Nothwendigkeit, dass dies in die Form der Vor-
stellung und des Gefühls verwickelte (religiöse) Denken von
dieser Form sich abreinige und seinen Inhalt in die Form
des speculativen Gedankens als in seine Wahrheit umge-
stalte, d. h. dass die Religion sich in Philosophie ver-
wandle. (Vgl. S. 835.) ^ An sich selbst nämlich ist die Re-
ligion nach HegeFs von Ihnen selbst angeführter authentischer
Erklärung: „Das Wissen des göttlichen Geistes an sich
selbst durch Vermittelung des endlichen Geistes", das
„Selbstbcwusstsein Gottes" im Menschen.
Dieser zudem noch rein pantheistische Religionsbegriff
(wenn Hegel persönlich auch immerhin die wärmste Frömmig-
keit in ihn hineinlegen konnte, gleich manchen Mystikern)
bezeichnet nun unbestreitbar nichts anderes, als einen der
mancherlei philosophischen Standpunkte, nach denen das
Wesen der Religion definirt werden kann, eine bestimmte
Ansichtsweise neben andern, um das Verhältniss Gottes
zur Welt, des Menschen zu Gott theoretisch zu fixiren,
nicht aber Religion nach ihrem specifischen Wesen und
eigenthümlichen Gefühlszustande, am allerwenigsten die
„absolute" Religion, welche Hegel im Christenthum findet,
dessen Dogmen er dennoch in jenem Geiste interpretirt.
Die lebendige Quelle eigentlicher Religiosität wäre versiegt,
— und wir haben Beispiele davon — wenn ihr wahrhafter
Werth. hineinverlegt würde in theologisch-dogmatische Be-
stimmungen , wenn man überhaupt sie abhängig machte von
irgendwelchen theoretischen Annahmen und Vorötellungs-
weisen, statt ihren Ursprung in das Gefühl und in den
Willen zu verlegen. ,,Man kann die (vermeintlich oder
wirklich) richtigsten theoretischen Begriffe von Gott und
den gottlichen Dingen an sich bringen, mit seinem Gefühl
und seinem Willen aber in der rcligionsfeindlichstcn Stim-
mung der Selbstsucht und des Hochmuthes verharren ; ja in
unseliger Verblendung meinen, weil man theoretisch «den
einzig richtigen Glauben» besitze, darum auch wahrhaft
religiös zu sein."*)
Mit einem Worte: der gemeinsame Ursprung all jener
folgenreichen Irrthümer ist die alte, unheilvolle Verwechse-
lung, welcher auch Hegel nicht hat sich entwinden können,
— die Verwechselung von Theologie mit Religion, von
theoretischem Denken iiber Gottliches mit der Gemiiths-
stimmung, welche uns zum Gottlichen hinfiihrt. Da ist
es nach meiner Ueberzeugung das epochemachende Verdienst
Schleiermacher 's, und nicht sein geringstes, diesen Irr-
thum aufgedeckt, das religiöse Bewusstsein in seine selb-
ständigen Rechte eingesetzt zu haben. Die Alternative der
Entscheidung, welche hier sich Ihnen aufdrängte, scheint
indess Ihrer Aufmerksamkeit entgangen zu sein. Dies ist
um so mehr zu bedauern, als damit auch der imzweifelhaft
pantheistische Nebensinn des HegePschen Rcligionsbegriffes
mit einer gewissen Berechtigung auch für Sie bestehen
bleibt, während Sie doch hinwiederum andererseits keines-
wegs billigend oder, beistimmend anführen (S. 832): dass es
schwer sei, die eigentliche Meinung IlegePs über die Per-
sönlichkeit Gottes aus seinen Aeusserungcn darüber zu
entnehmen. Ziehe man jedoch das Ganze seiner Philosophie
*) Worte aus meiner „Psychologie", deren Entwickclung des wahren
Begriffes der Religion in ihren vcrsclüedenen Formen und Abstufungen
ich Sie zu vergleichen und zu prüfen bitte. „Psychologie, die Lehre vom
bewussten Geiste des Menschen" (Leipzig 18G4), I, 710—737, §. 374—390).
8
ZU Rathe, so ergebe sich allerdings für ihn nur der Sinn^
„dass das Personlichwerden Gottes in der mensch-
lichen Persönlichkeit" gemeint sei. Hiermit ist jedoch
der Hegel'sche Pantheismus, und zwar nicht in beistimmen-
dem Sinne, ausdrücklich von Ihnen anerkannt. Sie haben
damit indirect Partei genommen in dem vielverhandelten
Streite, ob Hegel pantheistisch (nach Art der „linken Seite^')
auszulegen sei oder nicht; und Sie lassen dabei wenigstens
durchschimmern, dass dieser Standpunkt Sie nicht befriedige.
Ebenso ist anerkennend hervorzuheben, dass Sie,
offenbar aus demselben Grunde, mit HegePs Ausdeu-
tung der christlichen Hauptdogmen nach jenem Princip
keineswegs einverstanden sind. Aber diese Deutung ist doch
nur, wie alles übrige des Systems, der nothwendige und
consequente Ausfluss jenes ganzen Princips ; und Consequenz
an sich in wissenschaftlichen Dingen ist nicht zu tadeln,
sondern mit Anerkennung zu begrüssen. Hier galt es daher
für Ihre Kritik, statt jener indirecten Einzelproteste,
mit dem Princip selbst entschieden und offenkundig zu
brechen, oder noch besser den Punkt zu bezeichnen, wo
seine Berechtigung aufhört und wo in ihm selbst die Noth-
wendigkeit eines Uebergangs in einen höhern Standpunkt
sich kennbar mächt. Dies alles ist nicht geschehen; und so
behalten Ihre vielfachen Ausstellungen und Bedenken etwas
Schwankendes, ja Unberechtigtes. Fasst man endlich die
Summe dieser Bedenken ins Auge und erwägt ihre innere
Bedeutung, so ist damit das hochstellende Urtheil nicht
recht in Einklang zu bringen, welches Sie dennoch dem
Systeme im ganzen gespendet haben. Und hierüber er-
lauben Sie mir noch eine weitere Bemerkung.
Sie gehen von Hegel unmittelbar zu Herbart über
und leiten diesen Uebergang durch die bedeutungsvolle Be-
trachtung ein (S. 835) : „Wenn sich uns in 'der Hegel'schen
Philosophie die systematische Vollendung des nach-
kantischen Idealismus darstellte, so begegnet uns
9
gleichzeitig bei Ilerbart der Versuch, dass dasjenige^ was
Kant von der frühern deutschen Philosophie noch hcriiber-
genommen hatte, weiter verfolgt, die Leibnizisch-
Wolff'sche Metaphysik dem veränderten wissen-
schaftlichen Standpunkt und Bediirfniss entspre-
chend umgebildet werde." Und weiterhin heisst es von
Herbart durchaus zutreffend und richtig (S. 836): „Wenn
Fichte Kant's Ding an sich beseitigt hatte, um die Erschei-
nungen ausschliesslich aus dem vorstellenden Ich zu erklären,
so beseitigt Herbart Kant's Lehre von den reinen An-
schauungen und Kategorien, um das Ding an sich nicht zu
verlieren; und er geht demnach für die Erklärung der Er-
scheinungen und des vorstellenden Ich selbst auf die meta-
physische Untersuchung über das Ansich der Dinge, der
Kealen, zurück. Diese Dinge aber fasst er, im Gegensatz
zu Schelling und Spinoza" — (warum lassen Sie Hegel
hier aus , welcher bekanntlich viel antiindividualistischer
dachte, als Schelling jemals gethan?) — „mit Wolfi* und
Leibniz als durchaus individuelle, schlechthin einfache und
durch keine reale Wechselwirkung miteinander verbundene
Wesen. Sein System ist daher im Unterschiede von
der vorherrschenden Richtung des nachkantischen
Idealismus als realistisch, im Unterschiede von
der pantheistischcn Wendung desselben" (wo ist
diese „Wendung" geschehen, blos bei dem früh er n Schel-
ling oder auch bei Hegel?) „als individualistisch zu
bezeichnen."
So richtig und sachgemäss diese Erklärung ist, so halte
ich sie doch nicht für durchaus erschöpfend, wenigstens
den Punkt nicht bezeichnend, auf den es meiner Ueber-
zeugung nach ankommt. Eine vollständige Begrün-
dung des Realismus und Individualismus enthält
mittelbar zugleich die principielle Widerlegung
des Pantheismus in jederlei Gestalt. Und eben dies
war einer der Punkte, auf welchen ich im Vorhergehenden
10
hindeutete, als ich die Noth wendigkeit eines Hinausgehens über
Hegel Ihnen gegenüber betonte und zugleich eine zutrcflTende
Erklärung über den Werth seiner Lehre Ihrerseits vermisste.
Deshalb gehört Herbart, weil er eine solche Begrün-
dung anbahnte, an den Ausgangspunkt der neuen, nach-
hegeFschen Speculation ; denn mit ihm ist der Einschritt be-
zeichnet, der eine neue Epoche inaugurirt; und nur so erklärt
sich sein Werth für die philosophische Gegenwart, welcher
in diesem Betreff noch nicht allgemein anerkannt ist, weil
dieser Werth weit mehr in der Anerkennung des ganzen
(individualistischen) Princips liegt, als in der bestimmten
Gestalt, wie Herbart dasselbe in seinem Systeme hinterlassen.
Hegel aber, wie alles blos Pantheistische, verfällt unwieder-
bringlich der Vergangenheit, weil in ihm ein anderes grosses
Princip zwar zur höchsten Ausbildung gelangt ist, aber ge-
rade daran sich ausgelebt hat. Dies alles, wie es in
meinen kritischen Schriften längst ausgeführt ist, durfte ich
hier nicht unerwähnt lassen, um meine gänzlich abweichende
Ansicht über die Fortbildung der neuern Speculation Ihnen
gegenüber zu motiviren und zugleich dieselbe Ihrer freund-
lichen Aufmerksamkeit zu empfehlen.
Ich gebe zu: was Herbart für die Philosophie erworben,
bietet im Verhältniss zu Kant, zu Schelling, zu Hegel u. a.
nur ein wenig umfangreiches Gesammtergebniss. Aber es
ist in seiner Art ein sicheres, genau und fest begründetes;
und mit vollem Rechte konnte dieser gewissenhafte Forscher
von sich sag^n: man möge sich auf seine Schultern stellen,
um vielleicht weiter zu sehen. Das aber sei gewiss, dass
der Boden unter ihnen nicht sinken werde! Darum ist
mir Herbart ein Denker erster Ordnung; darum beginnt
mit ihm eine neue, noch lange nicht ausgelebte Rich-
tung in der Philosophie. Denn er hat die philosophischen
Hauptprobleme unter ganz neue Gesichtspunkte gebracht;
weshalb ich auch Ihre Behauptung nicht ganz motivirt finde,
dass er die Leibnizisch - Wolff 'sehe Metaphysik dem ver-
11
änderten philosophischen Bedürfniss gemäss blos „umge-
bildet" habe. Er hat jenen Problemen, welche in den
vor und nach Kant herrschenden Systemen zwar im ein-
zelnen sehr verschieden, immer jedoch aus gewissen gemein-
samen, mehr oder minder traditionell gewordenen Gesichts-
punkten behandelt wurden, abbrechend von dieser Tradi-
tion (weshalb er auch die Geschichte der Philosophie ge-
ringschätzte und ihr Studium sogar widerrieth) von ganz
neuen Seiten beizukommen gewusst, und damit auch den
Leser zu einer neuen, kritisch prüfenden Betrachtungsweise
der nächsten Vergangenheit aufgefordert.
Und darin sehe ich auch für die Gegenwart noch einen
andern Vorzug, den das Studium seiner Schriften bietet.
Bei der Sorgfalt, Pünktlichkeit und Consequenz, mit welcher
er seine Untersuchungen führt, wobei die Schwierigkeiten,
Lücken, Unbestimmtheiten, die seine Behauptungen im ein-
zelnen übriglassen, nicht vertuscht oder beschönigt, son-
dern aufs gewissenhafteste ins Licht gestellt werden, über-
zeugt er durchaus nicht immer von der Wahrheit des Re-
sultats oder von der definitiven Erledigung eines Problems.
Aber sicherlich regt er zum selbständigen Fortdenken an
und dadurch zur Herbeiführung des ergänzenden Gedankens,
mit welchem die Untersuchung gerade auf der angetretenen
Bahn fortzuführen wäre. Dass dies zugleich die einzig gründ-
liche, wie wahrhaft gerechte Kritik eines sonst tüchtigen
philosophischen Werkes sei, wird wol allgemein zugestanden
werden, wenn auch die unmittelbarste Gegenwart wenig
Proben solcher Kritik aufzuweisen hat.
Die Nothwendigkeit jenes Verfahrens hat sich mir nun
in Betreff eines Punktes der Herbart'schen Lehre besonders
lebhaft aufgedrängt, welcher zugleich gerade jetzt eine Car-
dinalfrage in sich schliesst, bei der Herbart scheinbar, aber
nur scheinbar, eine willkommene Autorität werden konnte
für die passionirten Gegner des „Zweckbegriffs" und
alles übrigen, was mit diesem Begriffe zusammenhängt.
12
Darum halte ich es für wohlgethan, auf jenen Punkt hier
näher einzugehen. Denn der Zweckbegriff bildet die noth-
wendige Ergänzung zum Begriffe des Individualismus;
dies einzusehen ist auch für alles Folgende von entscheiden-
der Bedeutung.
Es ist bekannt, dass Herbart stets es abgelehnt hat, in
seinen metaphysischen Untersuchungen auf Berücksichtigung
des Zweckbegriffes einzugehen, weil er behauptete, er liege jen-
seit des Gebiets der eigentlich und unmittelbar „gegebenen''
Begriffe, deren „Bearbeitung" (Befreiung von „Wider-
sprüchen") die einzige Aufgabe der Metaphysik sei. Bei der
Feststellung dieses unmittelbar „Gegebenen" begnügt er sich
indess mit sehr abstracten und elementaren Begriffen. Er findet
nur ein vollkommeneres oder unvollkommeneres „Zusam-
men" einfacher realer Wesen, die in qualitativem „Gegen-
sätze" stehen, darum sich „stören", aber um ihrer „Einfach-
heit^' willen unzerstörbar, trotz jener Störungen dennoch „in
ihrer Ursprünglichkeit sich erhalten". Auf diesem Wege gelangt
er zu seiner Fundamentaltheorie von den „Störungen und
Selbsterhaltungen" realer Wesen, und diese Selbsterhaltungen
sind ihm „das einzige wahrhafte Geschehen". Welchen
ausgiebigen Gebrauch Herbart von dieser Hypothese in
seiner Naturphilosophie und Psychologie, sogar in seiner
Lehre vom Staate gemacht hat, darauf brauche ich hier
nicht einzugehen. Hiernach muss eingestanden werden, dass
jene Hypothese die Grundlage des ganzen Systems bilde,
mit deren Gültigkeit es steht oder fällt; und da nun glaube
ich früher gezeigt zu haben , dass gerade die Verschmähung
des Zweckbegriffs, — dieser in seiner ganzen Tiefe zugleich
und Allgemeinheit erfasst — für die Hypothese und
somit für seine ganze Metaphysik verhängnissvoll ge-
worden sei.
Bei jener Auffassung des „unmittelbar Gegebenen" näm-
lich wollte mir nicht einleuchten, weder dass darin das Ge-
gebene vollständig und charakteristisch aufgefasst worden,
13
noch, (lass die tiefer liegenden Bedingungen erschöpft seieii,
um jenes „Zusammen" der Realen und die daraus ent-
springende wechselseitige „Störung" überhaupt nur zu
einer denkbaren „widerspruchsfreien" zu machen.
„Störung" zuvörderst ist ein ungenügender, weil ein-
seitiger Begriff. Durchaus nicht alle Wechselwirkungen der
realen Wesen bewirken „Störung" in ihrer Selbsterhaltung,
„Hemmung" (ein anderer häufig wiederkehrender Ausdruck
bei Herbart) oder Beeinträchtigung ihres Wesens. Die
meisten, zugleich die ursprünglichsten und mächtigsten
Wechselwirkungen (besonders im Reich des Organischen) sind
auf den entgegengesetzten Begriff des ergänzenden Gegen-
satzes zurückzuführen, mit dem Erfolge der Forderung,
der Wohlfahrt, bei empfindungsfähigen Wesen sogar des
Wohlgefühls, Genusses für den einen Theil oder für beide.
Dies ganze Verhältniss kann jedoch überhaupt nur als die
unableugbare Wirkung eines ursprünglichen Bezogen-
seins, einer in die Realwesen hineingelegten Uran läge
gedacht werden, was übersehen worden ist.
Und dies leitet zum zweiten, zugleich dem entscheiden-
den Grunde, um jene Hypothese zu berichtigen, den gfin-
zen Gesichtskreis des Systems zu erweitern.
Jenes vollkommenere oder unvollkommenere „Zusam-
men" der Weltwesen, ihre daraus hervorgehende wechsel-
seitige Störung und Selbsterhaltung lässt Herbart's System
als etwas Letztes, alles Erklärendes, selbst aber keiner Er-
klärung Bedürftiges stehen. Ich habe gezeigt, dass dem
nicht so sein könne, dass gerade hier zu allererst die Mög-
lichkeit einer wechselseitigen Störung überhaupt begreif-
lich gemacht werden müsse; d. h. allgemeiner und richtiger:
wie jene einfachen Realen Her bart's zunächst nur füreinander
dasein können, um überhaupt in Wechselwirkung sei's der
Störung, sei's der Ergänzung zu treten. Denn für ihn selber
sind sie nicht nur Ansichseiende, innerlich Unbezogene,
sondern zugleich soll in ihnen die Möglichkeit liegen, für-
14
einander zu sein, sich Blosse zu geben in einem gemein-
sam sie umfassenden Systeme von Beziehungen, um da-
durch überhaupt nur aufeinander wirken zu können. Diese
tieferliegende, von Herbart stillschweigend vorausgesetzte
Bedingung übersehen zu haben, ist die grosse Lücke seines
Systems, ist aber auch der allerdings mit starrer Consequenz
festgehaltene Grund, welcher den Denker einer metaphy-
sischen „Bearbeitung" des ZweckbcgriflFs unzugänglich machte,
der ihn aber zugleich in all die abstrusen Hypothesen ver-
wickelte, welche ihm seine Gegner (zu denen ich nicht ge-
höre) oft bitter genug vorgeworfen haben.
Hier genügt es vollkommen, lediglich historisch auszu-
sprechen, wie jene Lücke auszufüllen sei. Nur dadurch
können die an sich unterschiedenen „einfachen Wesen^* in
ein „Füreinander" treten, dass durch sie alle hindurch
eine ursprüngliche Wechselbeziehung hindurchgreift, dass
sie ein ursprüngliches System (>c6a(i.0(;) , eine Ordnung (ordo
ordinatus) ausmachen. Und ebendics ist es, was ich als
„innere Zweckmässigkeit" der Weltwesen füreinander
bezeichnete und den in der Welt (die ebendainim „Univer-
sum", geschlossene Totalität ist) realisirten Zweckbegriff
nannte. Welche weitem, tiefreichenden Consequenzen in
der fernem Entwickelung dieses Begriffes liegen, braucht
hier nicht näher dargelegt zu werden.
Für Herbart's System ist diese Frage einer nothwendigen
Ergänzung übrigens schon einmal im Jahre 1845 zwischen
Herrn Professor D robisch und mir ausführlich verhandelt
worden, mit dem Erfolge einer wenigstens theil weisen An-
näherung.*) An gegenwärtiger Stelle verfolge ich mit der
Erwähnung jener Verhandlungen eine andere, weit allge-
*) „Monadologie und speculative Theologie, Schreiben an den Heraus-
geber von Professor M.W. Drobisch" und „Herbart's monadologisches System
und der Idealismus in ihren Principicn verglichen; Anhang zum vorigen
Aufsatze vom Herausgeber" in meiner „Zeitschrift für Philoso-
phie" etc., XIV, 77—135.
15
meinere Absiebt. leb wollte von einer neuen in die Augen
fallenden Seite, an einem Beriibmten System zeigen, dass
der Begriff „innerer Wecbselbeziebung", eines (idealen)
„Fiireinanderseins" der Weltwesen, kurz „innerer Zweck-
mässigkeit" in der genau bisber bestimmten Bedeutung, —
ein universell tbatsächlieber , darum notbwendiger sei,
und sogar die stillscbweigende , nur nicbt deutlicb erkannte
Voraussetzung bleibe, um auch nur die mecba-
niscbe Wechselwirkung unter den Weltwesen in
letzter Instanz begreiflich zu machen.
Die Mechanisten heutigen Tags freilich sind stolz darauf,
sich dieser zwingenden Einsicht hartnäckig zu verschliesson.
Sie finden sogar den Triumph der „Wissenschaft" eben darin,
in diesem Betreff blind zu bleiben! Ilerbart ist im Ganzen
seiner Denkweise von solcher Blindheit weit entfernt.
Es ist höchst bezeichnend und könnte auch fiir Jene beleh-
rend werden, zu sehen, an welchen Stellen seiner For-
schung er ausdrücklich auf die teleologische Weltansicht
hinweist, als zum vollständigen Verständniss gewisser, zu-
gleich hochwichtiger Thatsachengebiete unerlässlich. Warum
sie nicht auf seine ,.Metaphysik" Einiluss gewinnen konnte,
habe ich erwähnt. Diese Enthaltsamkeit sowol, wie jener
nach andern Seiten hin offene Sinn fi'ir die Eigenthimilich-
keit der Probleme und die gewissenhafte Besonnenheit des
Urtheils, welche daraus hervorleuchtet, machen mir eben
Herbart zu dem Denker erster Ordnung, welchen ich stets
in ihm gesehen!
Am Schlüsse seiner „Metaphysik"*), der auch in
andern! Betracht höchst beachtenswerth ist, finden sich i'iber
den angeregten Punkt folgende Erklärungen: „Finden sich
in diesem Buche übereilte Deutungen, so wird die Nfitur
sie zurückweisen; und es verlohnt dann nicht, über die
*) „Allgemeine Metaphysik nebst den Anfangen der philosophischen
Naturlehre« (Königsberg 1829), II, 677— C79.
16
teleologischen Ansichten, die nicht vergessen, sondern
absichtlich verschwiegen werden, etwas beizufügen.
Bestätigt dagegen die Natur, was hier .... vorgetragen ist:
so kehrt die Tcleologie von selbst in ihre alten
Rechte wieder zurück. Denn diejenige Art der
Naturforschung, welche man hier findet, steht ihr
sicher nicht im Wege. Sie macht nicht den mindesten
Anspruch zu erklären, wie in Menschen und in Thieren die
Muskeln in gehöriger Anzahl und Gestalt an die rechten
Stellen kamen" (nach allgemeinerer Bezeichnung: wie die
„innere Zweckmässigkeit" der Organisation überhaupt
zu erklären sei). „Sie begnügt sich nach der Contraction
irgendeines vorhandenen Muskels zu fragen und darauf
eine wahrscheinliche Antwort zu geben." Mit andern Worten:
sie begnügt sich, das mechanische Geschehen, d.h. die
Leistungen und Wirkungen jener teleologischen Anord-
nung der Theile des Organismus zu ermitteln und daraus
ihren Hergang zu erklären. Man kann nicht kürzer und
zutreffender das sich ergänzende Verhältniss zwischen Tcleo-
logie und Mechanismus bezeichnen, als hier von Herbart
geschehen ist.
Dass wir hierin Herbart's Sinn getroffen, ergibt sich
noch deutlicher aus der Art, wie er an andern Stellen seiner
Werke die Unzulänglichkeit der mechanischen Erklärungs-
weise und die Noth wendigkeit teleologischer Ursachen be-
tont. So bei Erwähnung der äusserlich unregelmässigen
Vertheilung der Planetenmassen unsers Sonnensystems, in
welcher doch gerade die Bedingung der fortdauernden Er-
haltung seiner regelmässigen Bewegungen enthalten ist.
So in der unregelmässigen Bildung der äussern und innern
Organe des Korpers (z. B. des räthselhaften Baues des
menschlichen Gehirns) und ihrer bald symmetrischen, bald
unsymmetrischen Anordnung, die aber, wie der Erfolg lehrt,
gerade eine solche ist, dass dadurch die Erhaltung des Or-
ganismus und seiner Lebensthätigkeit nothwendig bedingt
17
ist. Gleicherweise, wenn er am Schlüsse seines „Lehr-
buchs zur Psychologie"*) nach den Grundsätzen seiner
,,Statik und Mechanik des Geistes" den Zustand der mensch-
lichen Seele nach dem Tode untersucht und in dem allge-
meinen Resultate abschliesst: „Im Tode, frei vom Leibe,
inuss die Seele vollkommener wachen, als jemals im Leben":
bricht er am Schlüsse dieser Betrachtungen in die merk-
würdigen Worte aus: „Wahrscheinlich ist alles noch
anders eingerichtet, blos schon darum, weil überhaupt
irgendeine göttliche Einrichtung wahrscheinlich
ist, im Vorhergehenden aber nur das erwogen wurde, was
ohne alle Veranstaltung von selbst erfolgen mochte"
(a. a. O., S. 174).
Dies alles lässt nun für Hcrbart's allgemeine Denk-
weise den Ausblick auf eine ethisch -religiöse Weltauf-
fassung iibrig, für welche er besonders in seinen Aeusse-
rungen über das „Bedürfniss der Religion" entschiedenes
Zeugniss gegel)en.
Für seine Metaphysik haben jene Betrachtungen keine
Frucht getragen. Denn in Betreff all jener teleologischen
Thatsachcn bekennt diese, durch ihre ontologischen, syn-
echologischen und eidolologischen Untersuchungen keine spe-
ciellen Erklärungsgründe zu besitzen. Sie begnügt sich da-
her mit dem allgemeinen Gedanken, „dass jeder wahre,
realisirte Zweck ein vorher vorgestellter, dann gewollter
sein muss, dass der gewollte Zweck, um realisirt zu werden,
die Wahl von Mitteln erheischt, also Intelligenz und
Willen zur Voraussetzung hat, die wiederum nur als innere
Thätigkeit eines geistigen (göttlichen) Wesens gedacht
werden können. Sie vermisst aber die hinreichenden Data,
*) Dritte Auflage, herausgegeben von G. Hartenstein (Leipzig
1850), S. 171—174.
Fichte, Fragen und Bedenkeu. 2
18
um die Natur dieses Wesens mit Sicherheit und Vollständig-
keit zu bestimmen" u. s. w.*)
Nicht minder bedeutungsvoll ist, was Herbart in jenem
Schlüsse seiner „Metaphysik" über die Grosse unserer
„Unwissenheit" sagt, bei welcher er drei Theile unter-
scheidet. Der erste gehört dem Gebiete an, welches durch
künftige erweiterte Erfahrungen verringert werden kann.
Der zweite begreift in sich die Erfahrungen, für welche es
einen Schauplatz gibt, den wir nicht erreichen können.
Aber „es gibt noch eine dritte unendlich höhere Sphäre
unserer Unwissenheit, die der hohem geistigen Natur.
Sie ist über uns; aber der Abgrund der Schwärmerei er-
öffnet sich neben uns, sobald wir uns nicht ausdrücklich
verbieten, in jene ims hineindenken zu wollen. Darum bleibt
der Glaube im Felde der praktischen Ideen; die Meta-
physik aber versucht sich an der sichtbaren Natur" (a. a. O.,
S. 679).
Unter dem Begriffe der „hohem geistigen Natur" kann
or offenbar nur verstehen die unsichtbare, „intelligible Welt"
in allen ihren für uns denkbaren Beziehungen. Wenn er
indess hierbei an den „Abgrund der Schwärmerei" erinnert,
so mag dies eine dankenswerthe populäre Warnung für
Solche sein, denen ihre Phantasie oder ihre Glaubensseligkeit
in dergleichen Dingen einen Possen spielt. Philosophischen
Werth hat diese Warnung nicht; denn die metaphysische
Forschung an sich wird dadurch sich nicht abhalten lassen,^
die Schranken zu durchbrechen, welche die seinige hiei
sich selber gezogen durch mangelhafte Auffassung des em —
pirisch „Gegebenen", um auch jener intelligiblen Welt, in^
welcher allein doch die wahren Ursachen des Gege-
benen zu finden sind, auf ruhig besonnenem Wege des
♦)Drobisch am oben angeführten Orte, S. 31, welcher mir am
kürzesten und treuesten in diesen Worten Herbart's Denkweise über
jenen wichtigen Punkt ausgedrückt zu haben scheint.
19
Rückschlusses von jenem Gegebenen, so viel Erkennbares
als möglich abzugewinnen, w^as durch einen ganz unbe-
stimmten „Glauben" an die Existenz einer intelligiblen
Welt nicht ersetzt veerden kann.
Demunerachtet muss ich nach einer ganz andern Seite
hin in Herbart's Auffassung des Wesens der Religion eine
sehr heilsame Gegenwirkung finden wider die damalige und
zum Theil jetzt noch herrschende, durch Schelling und
Hegel angebahnte philosophische Behandlung dieses hoch-
wichtigen Gegenstandes. Bei den Letztem ist es die schon
m
oben gerügte Verwechselung der Theologie mit der Religion,
welche sie dahin bringt, gewisse christlich-dogmatische Be-
stimmungen, die gottliche Trinität, die Menschwerdung
Gottes, die Christologie u. s. w., als Hauptprobleme einer
allgemeinen Religionsphilosophie zu behandeln, welches
alles durchaus nichts zu thun hat mit dem eigenthümlichen
Gemüthszustande, den wir Religion nennen, und welches
weit davon abliegt, ihr charakteristisches Wesen und ihren
psychologischen Ursprung aufzuhellen.
Von all diesen Vermischungen und Irrthümern ist Her-
bart frei, wie Kant und wie Fichte es waren. Obgleich
er keine Religionsphilosophie verfasst, hat er doch nach
meiner Ueberzeugung das allgemeine Gebiet und damit den
rechten Ausgangspunkt weit zutreffender bezeichnet, aus
welchem die Religion als subjectives Bedürfniss, wie als
objective Erfüllung dieses Bedürfnisses erwachsen muss, denn
jene Denker mit ihren theils mystischen, theils dialektischen
Entwickelungen aus der „Idee", d. h. aus transscendentalen
Voraussetzungen. Herbart dem gegenüber stellte sich mitten
ins Leben und seine praktischen Erfahrungen. Dem Men-
schen drängt sich der Zwiespalt zwischen seinem Wünschen
und dem wirklich Erreichbaren, ebenso zwischen dem, was
er soll, und dem, was er leistet, unablässig und höchst
empfindlich auf. Er bedarf der Hülfe, des Beistandes durch
eine höhere', mehr als menschliche Macht. Auf diese
2*
20
und deren Hülfe, als eine wirklieb existente, thatsäehliehe
wie thatkräftige, verweist ihn die Religion; sie lehrt ihn
„glauben".
Diese ist daher einerseits eine Ergänzung der „prakti-
schen Philosophie", als Lehre von Gütern, Tugenden und
Pflichten ; andererseits wird sie theoretisch unterstützt durch
teleologische Betrachtungen, die ihre ausreichende Erklärung
nur in einer gottlichen Intelbgenz finden können, welchem
Begriffe die „ethischen, mit dem Pantheismus unvereinbaren
Prädicate der Heiligkeit, Liebe und Gerechtigkeit sich an-
scbliessen. Aber ein wissenschaftliches Lehrgebäude
der natürlichen Theologie ist unerreichbar". So
Ilerbart!
In welchen bestimmten Beziehungen ich mich jenem
Ausspruche anzuschliessen vermöchte, habe ich soeben an-
gedeutet. Andererseits erheHt aber zugleich aus Herbart's
eigenen Erklärungen, welch ein rein theoretisches Bedürf-
niss für ihn selbst vorhanden war, jene sporadischen An-
deutungen über Teleologie, an die er selber fast „gläubig"
sich anklammert, zu systematischer Ausbildung gelangen zu
lassen; und eben dies ist es, worin meine metaphysischen
Forschungen, unabhängig von ihm, sich versucht haben.
Wenn aber auch eine Weiterbildung des Herbart'schen Sy-
stems aus ihm selber angestrebt wird, so könnte sie offen-
bar im eigenen Geiste ihres Urhebers nur von jenem
Punkte, von der Weiterführung seiner teleologischen Be-
trachtungen, ausgehen.
Sie selbst bemerken am Schlüsse Ihrer Charakteristik
yon Herbart's Lehre (S. 865), dass er „genauer und in selb-
ständiger Untersuchung weder auf den Gottesbegriff (der
auch seiner Metaphysik ganz besondere Schwierigkeiten
dargeboten hätte), noch auf das Wesen und die Haiipt-
formen der Religion eingegangen sei". Und nicht ohne
Ironie setzen Sie hinzu: „dass es sich daraus erkläre, wie
in seiner Schule verschiedene Ansichten über diese Fragen
21
hervortreten konnten , indem neben der vorherrschenden , mit
Herbart's eigener Denkweise übereinstimmenden Richtung
auf einen nüchternen moralischen Kationalismus auch ein
krasser Wunderglaube in derselben seine Vertretung gefunden
habe".
Dies Misgeschick lastet aber ganz ebenso und vielleicht
noch in einem hohem Grade auf IlegeTs Lehre. Von der
einen Seite das resolute Aussprechen ihrer eigentlichen
Consequenzen und wahren Ergebnisse bis herab zu einem
„krassen" Pantheismus, falls Sie mir erlauben, hier Ihren
Ausdruck von neuem anzuwenden; — von der andern Seite
eine allegorisirende „christliche" Speculation, die bis in die
einzelnsten Facticitäten hinein den „dialektischen Process"
des Weltgeistes auszuwittern wusste. (Ich erinnere nur bei-
spielsweise an die Deutung eines damals gefeierten Theolo-
gieprofessors von den beiden Schachern, welche links und
rechts das Kreuz des Erlösers als Repräsentanten der heid-
nischen und der jüdischen Welt, umgeben mussten.) Der
Unterschied zwischen Hegel und Herbart in diesem Betreft'
besteht jedoch darin, dass Hegel an dieser Doppeldeutung
seiner Lehre nicht ohne Schuld war, wie Sie selbst (S. 833)
es anzudeuten nicht unterlassen haben, indem Sie von einem
„Halbdunkel" sprechen, in welchem er seine theologischen
Ansichten gelassen. Herbart's Meinung war dagegen klar
und keiner Doppeldeutung fähig; und sein Schuler Taute,
vrenn er zu einem „krassen Aberglauben" überging, hat
dies ganz auf eigene Rechnung gethan.
Und auch dies ist ein Grund von nicht unerheblichem
Gewicht, warum ich mich nicht entschliessen konnte, der
Autorität eines Urtheils beizutreten, welches jenen Denker
andern gegenüber unter seinen wahren Werth herabsetzt,
namentlich unter die Bedeutung, welche er für die philoso-
phische Gegenwart und Zukunft noch haben könnte.
Zweites SendsehreibeiL
Rückschauende ^Rettungen- und Kritiken.
Wenn ich weiter noch der andero philosophischen For-
scher erwähnen darf, die gleichzeitig neben Hegel um die
Palme der Anerkennung mit ihm gerungen haben und welche
dessen würdig waren. — ich meine J. Fr. Fries, Schleier-
macher, Franz Baader und Chr. Krause, — so wer*
den dieselben zwar in Ihrem Werke mehr oder minder aus-
führlich besprochen. Aber es Hesse sich darüber noch ver-
handeln, ob jedem von ihnen auch der eigenthümliche W^ertb,
die rechte Stellung gegeben sei. Zunächst hat mir in der
B'rihe dieser Manner die sachgemässe. rein objective Darstel-
lung von Fries' Lehre zugesagt, wenn ich auch einen Haupt-
punkt in derselben vermisse: da Ihnen, als dem Anhänger
Hegel's, der anthropologische Standpunkt jenes Denkers
nur wenig zusagen konnte. Eben dieser hat jedoch für mich
entschiedenem Werth, und er ist mir stets als ein nothiges
Complement erschienen gegen die ins Absolute sich hinein-
speculirende Ueberstürzung der damals herrsehenden Schule.
Hieran ist daher auch jetzt noch mit Fug zu erinnern;
ebenso aber auch an den für die Gegenwart noch wichtigem
Umstand — imd Sie haben Dessen wenigstens kurze Er-
wähnung gethan, — dass Fries in seiner Naturphilosophie
23
(„Mathematische Naturphilosophie", Heidelberg 1822), mit
strengem Festhalten am Begriffe des Mechanismus zur
Erklärung der Naturerscheinungen, dafür die Einmischung
der Teleologie consequent zurückweist. Und er betont dies
so scharf, als nur der entschiedenste Materialist heutigen
Schlages es zu thun vermochte. Im ganzen seiner Weltan-
sicht dagegen zeigt er das Einseitige und Beschränkte dieser
Auffassung. In den Naturerscheinungen als solchen,
lehrt er, herrscht mit absoluter Noth wendigkeit das Causali-
tätsgesetz. Aber in der Wirkung, wie in dem Gesammt-
erfolge tragen die „Naturgesetze" dennoch das Gepräge
vollendeter Zweckmässigkeit und durchgreifender Ueberein-
stimmung unter sich.
Dies Verhältniss von Mechanismus und Teleologie so
scharf und richtig bezeichnet zu haben , muss als ein grosses
Verdienst anerkannt werden, indem die damals herrschende
Naturphilosophie in diese höchsten Principien derselben
Unklarheit und Verwirrung hineingebracht hatte. Dass hierin
aber zugleich ein weiteres tiefgreifendes Problem vorliege
hat Fries zwar sich nicht verborgen; fiir seinen anthropo-
logischen Standpunkt bleibt es indess unlösbar auf objectivc
Weise. Dagegen sucht er es auf anthropologischem Wege
zu losen. Nach Kant's Vorgange zeigt er, dass die Natur-
gesetze nur als „Gesetze der sinnlichen Auffassung für den
Menschen" gelten können, während jener beschränkten,
endlichen Ansicht gegenüber in den Ideen die vollendete,
ewige Wahrheit, das Wesen der Dinge sich offenbart. Um
die Naturdinge wissen wir; aber wir sollen daran nicht
glauben, weil dies blos unsere, eine menschliche Vorstel-
lungsart des Realen ist. An die ewigen Ideen dagegen
glauben wir, weil in ihnen für unser Bewusstsein erst der
Werth und die Bestimmung unsers Daseins sich aufthut.
Die Ideenlehre ist Glaubenslehre, und in den Gefühlen
des Schönen und Erhabenen erkennt die Ahnung die ewigen
Wahrheiten auch für die Naturerscheinungen an. Die
24
Ideen des Schönen und Erhabenen »ind uns die Deuterinnen
des Weltalls nach den Gesetzen der ewigen Güte, aus der
es entsprungen ist.
So schliesst die Lehre sich ab in einer religiös-ästheti-
schen Weltansicht, deren Begründung man vielleicht lücken-
haft und ungenügend finden mag, deren Geist und Tendenz
aber von hoher, unverlierbarer Bedeutung ist. Diese Ge-
danken sind, wie bekannt, kürzlich auf höchst bedeutsame
Weise von neuem angeregt worden; und es hätte darum
sich verlohnt, ihres ersten Anregers zu gedenken.
Ueber Schleier mach er und sein inneres Verbal tniss zu
Hegel einiges zu bemerken gibt es vielleicht späterhin eine
passendere Veranlassung. Wichtiger ist mir, ja es könnte als
eine Principienfrage von mir bezeichnet werden, die Bedeutung
festzustellen, welche Franz Baader und K. Chr. Krause
für die nächste philosophische Vergangenheit gehabt haben,
und was ihnen auch für die Gegenwart ihren Werth sichert.
Sie waren vor allen Dingen entschiedene, in sich selbst
klare und jedes Compromiss mit dem Gegner abweisende
Vertreter des speculativen Theismus, dem herrschenden,
in Hegel's Lehre culminirenden Pantheismus gegenüber. Des
si^eculativen Theismus, sage ich; — denn beide waren
ebenso entschiedene Gegner des gcfühlsgläubigen Theismus
Jacobi's und seiner Geistesverwandten, dessen Schwäch-
lichkeit sie, Baader in gelegentlichen Bemerkungen schlagend-
ster Art, Krause in einer umständlichen Beurtheilimg von
Fr. Bouterwek's „Religion der Vernunft" (Göttingen 1824)
gründlich beleuchteten. Wollten wir mit Antithesen spielen,
so könnten wir Baader den katholisch-mittelalterlichen Ver-
treter dieses grossen Princips nennen. Krause den pro-
testantischen und modernen. Denn jener wollte durch tiefere
Begründung der theologischen Wissenschaft die alte Kirche
erneuern, dieser die Kirche durch einen rationalen Theis-
mus, durch sittliche Cultur, durch philanthropische Bünde
ergänzen oder ersetzen. Dabei ist aber zu sagen, dass
25
Krause als Philosoph und systematischer Denker gar vieles
von den tiefen Baader'schen Ideen in seine Lehre hätte auf-
nehmen und mit seinem analytischen Scharfsinn, seiner Pünkt-
lichkeit rationell verarbeiten sollen ; — wenn jener umgekehrt
die streng systematische Form des andern sich hätte zum
Muster nehmen können: eine Wechselergänzung heilsamster
Art, während beide Männer, wiewol geistesverwandt, keine
Kunde voneinander genommen zu haben scheinen.
Was ist nun der Grund, — so können Sie mich fragen
— welcher mich veranlasst, die beiden Denker eben jetzt
in so entschiedener Weise hervorzuziehen und sie nament-
lich Hegel entgegenzustellen? Nach Ihrer Auffassung können
sie nur eine untergeordnete Seitenstellung neben Hegel be-
anspruchen, während ich der streng motivirten üeberzeugung
bin, dass beide vielmehr über Ilegel's Standpunkt, ihn be-
richtigend, in die Gegenwart hineinragen, dass Hegers
Standpunkt dagegen, nach meiner gleichfalls motivirten Mei-
nung, der Vergangenheit angehört und dieselbe in gewissem
Sinne abschliesst.
Angedeutet ist jener Grund schon im Vorigen. Ein
Weiteres ist hier noch zu sagen, freilich mit dem Verzicht,
Ihnen und mir selbst völlig damit genugzuthun, indem dies
alles in meinen frühern , theils kritischen , theils dogmatischen
Werken vollständig ausgeführt ist. Hier möchte ich mehr
daran erinnern, als in Wiederholungen mich verlieren.
Baader^s epochemachendes Verdienst finde ich darin^
dass er ein für allemal den Grundirrthum des Pantheismus
in all seinen Formen und Entwickelungsphasen blossgelegt
hat. Und dass dies Verdienst ein jetzt noch geltendes, in
seinen Wirkungen heilsames sei, werden Sie nicht verkennen,
wenn Sie auch nur auf die etwas zwerghaften Nachgeburten
des Pantheismus aus der jüngsten Gegenwart einen Blick
werfen wollen.
Die Quelle jenes Irrthums liegt im voreiligen Hinein-
tragen („Verabsolutiren") des Weltbegriflfs in den Begriff
26
des Urgrundes, im durchgreifenden Gleichstellen des „Uni-
versums'* der endlichen Dinge, d. h. der unendlichen Summe
der Wirkungen, mit dem Wesen ihrer Grundursache. So
auch bei Hegel, welcher ^ar das bedeutungsvolle Wort
ausgesprochen, dass alles darauf ankomme, die Substanz
als Subject zu fassen, ohne doch dies Wort in voller Be-
deutung wahrmachen zu können. Damit hat er allerdings
den Pantheismus Spinoza's widerlegt; aber er selbst sinkt
wieder in ihn zuriick, indem das Absolute für ihn nur in
den endlichen Geistern Subject wird, die im ewigen Processc
der Menschwerdung auftauchen und wieder verschwinden.
Gegen dergleichen Ergebnisse hat sich Baader gleich
anfangs und als der Erste mit Entschiedenheit erklärt, die
„Herrlichkeit" des gottlichen Lebens gerade darein zu setzen,
dass es seine Geburten stets wieder in sich aufzehre, dass
die absolute Position nur in einem Wechsel unendlicher
Negationen bestehen solle. Diesen Widerspruch des sich
selbstzerstorenden Lebens, wo er wirklich vorhanden, erklärt
er vielmehr als einen durchaus nicht primitiven, sondern
secundären, herbeigefiihrt durch den Abfall der Creatur von
seinem ursprünglichen Zustande. „Und hier", fährt er fort,
„in dieser Höllenpein des Seins, nicht in dessen Seligkeit,
muss man das Original (jenes Zwiespaltes) suchen, wenn
schon manche Naturphilosophen diesen innersten Hader des
satanischen Lebens uns mit wahrer Naivetät als das Pri-
mum und Perpetuum mobile des göttlichen Lebens vorcon-
struiren." („Ueber Divination u. s. w.", S. 54, Note 57, 58.)
Und in den „Beiträgen zur dynamischenPhilosophie"
(„Ueber Starres und Fliessendes", S. 158) heisst es: „Der
Mensch braucht nicht etwa seine Existenz und Persönlich-
keit aufzugeben, und als ob diese, d. h. sein Geworden-
sein zur Creatur, die Sünde wäre, seinem Gotte zum
Opfer darzubringen, damit dieser grässliche Gott oder Un-
gott, gleichviel ob in Zorn oder in Liebe, seine Creatur wie-
der aufspeise, sondern — die Selbstsucht aufgebend wird
27
er selber als Persönlichkeit die Ewigkeit in Gott gewinnen."
BUeran schliesst sich, was Baader späterhin, mit deutlicher
Beziehung auf HegeFs „gute'' und „schlechte" Unendlichkeit,
vom Begriffe der „guten" und „schlechten" Endlichkeit
behauptet („Fermenta cognitionis^', Heft I, S. 67).
In spätem Erklärungen, welche noch directer gegen
Hegel's Lehre gerichtet sind, bezeichnet er seinen Stand-
punkt als den einer „All-in-Einslehre" in Paulinischem
Sinne, der monistischen Alleinslehre gegenüber, welcher
er mit dem treffenden Worte entgegentritt, dass sie den
Inbegriff, der über allem Seienden waltet, mit dem Col-
lectivbegriffe verwechsele, welcher Alles sei. Darum
conftindire Hegel beständig den ewigen Selbsterzeugungs-
process Gottes mit dem Creationsacte der endlichen Dinge,
„gleich als ob Gott die Schöpfung nöthig gehabt hätte, um
sich Motion zu machen". Der wahre Theismus sei ebenso
entfernt von dem schalen, gefühlsgläubigen Deismus, der
Gott nur als abstractes Sein fasse, wie vom ebenso schalen
Identischsetzen des Endlichen und Ewigen, der geschaffenen
Natur mit der ewigen Natur in Gott. Auch der Behaup-
tung HegePs, dass die Substanz als Subject aufzufassen,
darum aber als der unendliche Process des Subjectwerdens
im Menschen zu denken sei, stellt er eine andere, tiefere
und richtigere Fassung und Begründung entgegen. Der
Urgrund ist nur als selbstbewusster zu denken, weil er nicht
einfache, ruhende Einheit, sondern lebendige, aus der Glie-
derung und Unterscheidung in sich zurückkehrende Einheit
ist, was auf vollkommene Weise nur im Acte des
Selbstbewusstseins sich vollziehen kann. Diesen all-
gemeinen Begriff legt er an einer Analyse des menschlichen
Selbstbewusstseins dar, was er eine anthropologische Be-
gründung oder ein regressives Aufsteigen vom Abbilde im
Menschen zum Original in Gott nennt. Denn so gewiss
dies Resultat aus dem allgemeinen Begriffe des Geistes folgt,
muss es darum auch vom Begriffe des absoluten Geistes gel-
28
ten. („Vorlesungen über speculative Dogmatik" in seinen
„Werken", Bd. III, passim. Nähere Angaben und Belege bei
Erdmann: „Entwickelung der deutsehenSpeculation
seit Kant", Leipzig 1853, II, 600 fg.)
Dies alles nun auch fiir die Gegenwart ins Gedächtniss
zu rufen und zu ernster Erwägung zu empfehlen, scheint
mir gerade jetzt nöthig und wohlgethan. Denn man wird
gestehen müssen, dass jener Grundirrthum, jener „moni-
stische" Wahn auch jetzt noch herrsche in verschiedener
Gestalt, ja der innerste Kern und gemeinsame Grund-
gedanke in den Speculationen Schopenhauer's und der „Phi-
losophie des Unbewussten" geblieben sei.
Von Baader's Lehre geben Sie eine genügende Ueber-
sicht (S. 732 — 737), indess mehr in referirender Absicht und
zumeist mit tadelndem Urtheil, als mit dem kritischen In-
teresse hervorzuheben, was Baader demungeachtet für den po-
sitiven Ausbau der Wissenschaft geleistet. Erlauben Sie mir,
einiges darüber nachzutragen, wenn es auch nur wäre, um
meine vorhergehenden Behauptungen näher zu begründen.
Ich sehe dabei ab von Baader's Lehre über den imma-
nenten Process des göttlichen Lebens und seines ewigen
Sichoflfenbarwerdens im göttlichen „Ternar" und von den
weitern daran gereihten Entwickelungen. Diese Geheim-
nisse des innern göttlichen Wesens liegen für mich durch-
aus jenseit aller Speculation, welche den „anthropocentri-
schen" Standpunkt nie aufgeben darf, noch weniger je-
mals ihn zu überschreiten vermag. Ebenso wenig kann
ich mich seiner Hypothese anschliessen von einem „Abfalle"
Lucifer's sammt seiner Engel weit, der treugebliebenen Engel-
welt gegenüber, sowie von seiner unheilvollen Wirkung auf
den Menschen und auf die gesammte Natur, welche erst
dadurch und seitdem raumzeitlich und materiell geworden
sei. Diese Lehre hat ihren Ursprung in einer mythisch
aufs mannichfachste ausgestalteten Menschheitstradition von
einem Abfalle des Menschen von Gott, der wie ein „Fluch"
29
auf ihm laste, als „Erbsünde" von Geschlecht zu Geschlecht
sich fortpflanze und alles Böse im Menschen und in der
äussern Natur verschuldet habe. Es ist dies die älteste und
ursprunglichste Deutung des tiefliegenden Gefühls im Men-
schen von dem „Nichtseinsollenden" vielfachster Art,
welches sein eigenes Innere bedrückt und welches die Aussen-
vcrhältnisse ihm unablässig bereiten. Es ist sozusagen der
unschädlichste Ausdruck für jenen unwillkürlichen Pessimis-
mus, dessen Gefühl ein sehr erklärliches und berechtigtes
ist, indem es gerade das tiefste Räthsel des Menschendaseins
berührt. Dies Gefühl ist zugleich insofern sogar ein gesun-
des, in gewissem Sinne ethisch berechtigtes zu nennen,
indem es den Ursprung und die Quelle jenes „Nichtsein-
sollenden" keineswegs in das Absolute, in Gott selber ver-
legt, es nicht für etwas Ursprüngliches oder Nothwendiges
hält (wie ^ies der moderne, philosophisch sich iiennende
Pessimismus zu behaupten sich erdreistet), sondern für ein
solches, welchem durch Gott selber Wiederherstellung, „Er-
lösung", bereitet sei.
Für die Wissenschaft selbst kann indess jene mythisch-
traditionelle Form von keiner andern Bedeutung sein, als
dass sie auch in dieser Hülle den innern Wahrheitsgehalt
zu entdecken sucht. An sich selbst enthält derselbe für die
Wissenschaft ein ernstes, schwerwiegendes, sogar schwieriges
Problem, welches aber nur gelöst werden kann auf dem
Wege einer objectiven, streng voraussetzungslosen Forschung,
durch immer tieferes Eindringen in die wahre Beschaflfenheit
der Dinge, nicht aus transscendenten Voraussetzungen.
Hier nun weiss die Naturwissenschaft nichts von einem
Fluche, der auf der Natur laste, und von einer Materiali-
sirung derselben durch die Sünde des Menschen. Und der
Anthropologie kann eine solche Deutung um so weniger ge-
nügen, als sie die Möglichkeit jener behaupteten Wirkung
völlig im Dunkel lässt und auf die wirklichen, höchst man-
nichfachen Probleme, welche hier sich aufdrängen, nicht
30
eingeht. Dagegen muss ich die Gesammtauffassung des
menschlichen Zustandes in seiner factischen Unmittelbar-
keit, wie Baader sie gibt, höchst bedeutsam und tiefbe-
lehrend finden. Ich lege daher den höchsten Werth darauf,
dass die dort angeregten Gesichtspunkte auch jetzt noch
der Aufmerksamkeit der anthropologischen Forscher nicht
entgehen.
Es zieht sich nämlich der Grundgedanke durch seine
ganze Lehre hindurch, dass es mit dem gegenwärtigen Zu-
stande des Menschen „nicht mehr res integra sei", dass ein
tiefer Zwiespalt bestehe zwischen dem, was seine ursprüng-
liche (gottliche) Bestimmung gewesen, und was jetzt sein
factisches Verhalten biete. Und zwar dies nicht nur in ob-
jectiver Weise, für einen etwa draussenstehcnden Beobachter,
sondern für das eigene Bewusstsein des Menschen, für sein
Gefühl und sein Urtheil über sich selbst. Daher die ver-
zehrende Unruhe seines Daseins, das Verlangen nach einer
niemals erreichten Befriedigung, der ganze Tantaluszustand,
der sein dem Irdischen zugewandtes Leben verzehrt. Dies
alles wird für Baader der Grund , an die religiöse Tradition
vom Sündenfall in der Geisterwelt, wie abgeleiteterweise im
ersten Menschen anzuknüpfen, welche von ihm weiter ausge-
führt und mit seiner ganzen Naturphilosophie und Schopftings-
lehre in Zusammenhang gebracht, wird. Man kann die That-
sache aufs vollständigste anerkennen, ja Baader es danken,
mit solcher Energie auf ihre universelle Bedeutung im
Menschen hingewiesen zu haben, ohne seiner Auslegung
derselben und der daraus erflossenen allgemeinen Theorie
beizutreten. Denn der Ursprung und Charakter Dessen,
was man das „Nichtseinsollende" im Menschen nennen
kann, ist ein so verschiedenartiger, so sehr bedürftig genau
zu sondernder Erklärungsweisen, dass mit jener sum-
marischen Auskunft kaum etwas gewonnen, kaum etwas
wirklich erklärt ist.
Dagegen bin ich gedrungen, der „Ethik" Baader's,
31
d. h. seiner Lehre von der Wiederherstellung des Menschen,
meine volle BeistimnHing zu widmen. Ja ich sehe in ihr
sogar ein jetzt höchst nöthiges Corrcctiv für die Irrthümer
der Gegenwart, welche glaubt, mit stolzem Selbstgefühl zu
einer „gottlosen", von allen religiösen Beziehungen abgetrenn-
ten Moral sich bekennen zu dürfen und darin den Triumph
der Wahrheit und das Bedürfniss der Zeit zu sehen. Baa-
der's Ethik ist dagegen durchaus auf religiösem Grunde ge-
baut und er hat damit (mögen andere denken, wie sie wollen)
das einzig Richtige getroffen.
Begreiflicherweise soll dies nicht bedeuten, weder für
ihn noch für uns, dass die Ethik zur Begründung ihrer
Lehren religiöser Motive und ihrer Autorität sich bediene,
dass sie Betrachtungen über göttlichen Lohn oder Strafe in
den Kreis ihrer Gründe ziehe, um ihren „Vorschriften"
Nachdruck zu geben. Dergleichen, wie Mahnung oder Ab-
mahnung, gehören überhaupt nicht mehr in den objectivcn,
rein betrachtenden Stil der Ethik. Diese ist die Lehre vom
Grund willen im Menschen, von Dem, was er eigentlich
erstrebt in den unmittelbar noch verworrenen Trieben
und Zwecksetzungen seines Wesens. Dieser Grundwillo ist
aber nicht der blos menschliche, empirisch erklärbare, ebenso
in seiner Verwircklichung nicht durch blos menschliche Kraft
zu erreichende, sondern er ist ein ewiges, aufs eigentlichste
„apriorisches" Wollen in uns, welches uns erst vollendet,
indem es uns von der Selbstsucht befreit. Der Antheil des
Subjects am sittlichen Processe ist nur der vorbereitende
einer steten Entselbstung, der Erhaltung des stets that-
bereiten „guten Willens". Ueber ihn kommt erst die Er-
füllung, das Positive der sittlichen Idee, welche nirgends
ein abstractes oder ungewisses ist, sondern sich als „ein-
gegeben" bewährt mit unverkennbarer sittlicher Evidenz
(„Pflicht"). Und so handelt im Sittlichen nicht blos der
subjective Einzelwille, sondern durch ihn hindurch der ewige
Wille des Guten, d. h. ein „mehr als Menschliches", was
32
sich als solches auch entschieden genug dem menschlichen
Bcwusstsein („Gewissen") ankündigt. So ist das Subject,
durch das Medium seines Willens hindurch, eins mit „Gott"
geworden; denn diese hohe Bezeichnung hier anzuwenden,
Gott nicht blos als ein abstractes Absolute, oder einen unbe-
wussten Urgrund zu denken, ergibt sich als innere Nothwendig-
keit des Denkens selber; so gewiss es der erreichbar höchste
Begriflf, der ethische, vom absoluten Wesen ist, ihn als
den Wirker des „Guten" zu bezeichnen. Jene Einheit
aber kann nur vollendet, das Subject in ihr befestigt, ihrer
gewiss, durch sie „glücklich" sein, wenn es dieselbe zum
Bewusstsein und zu lebendigem Gefühle erhebt, d. h.
wenn sie in ihm die Gestalt der Religion gewonnen hat.
Jede Moralität ist kalt, unlebendig, ihrer eigenen Fort-
dauer nicht sicher, wenn sie nicht von religiöser Begeiste-
rung getragen wird.
Diese Sätze oder Andeutungen aus meinem „System
der Ethik" mögen trotz ihrer Kürze genügen, um zu be-
zeichnen, worauf es hier mir ankommt. Es ist einerseits die
höchst nothige Hinweisung darauf, dass Religion nicht von
Theologie oder Dogmatik abhängig sei, — denn sittliches
Handeln bedarf keiner dogmatischen Formeln; — anderer-
seits gilt es aber auch der Bekämpfung des landläufig ver-
breiteten Wahns, als ob ohne Religion in jenem tiefern und
echten Sinne der Mensch sittlich zu sein vermöge oder, . was
Dasselbe bedeutet, überhaupt seine Vollexistenz errei-
chen könne.
Für das Recht dieser Auffassung ist nun Baader zu
seiner Zeit entscheidend in die Schranken getreten; und es
ist an dies Verdienst gerade jetzt zu erinnern, selbst nach
der eigenthümlichen Richtung, in welcher er jener Wahrheit
Ausdruck gegeben. Denn er hat auch hier an bestimmte
theologische Lehren angeknüpft, diese aber doch in eigen-
thümlicher, tiefsinniger Weise ausgedeutet. Die wahre, d. h.
die religiöse Ethik ist jene, welche erkennt, „dass Gott,
nt]
welcher das Gesetz gibt, es auch in uns erfüllt".
(Vortrefflich und von weitreichender Bedeutung!) Den
Mittelpunkt der ganzen Ethik bildet ihm daher der Begriff
der Versöhnung. Diese aber setzt Entzweiung voraus,
Unangemessenheit des menschlichen Willens dem göttlichen
Gebote gegenüber. Der Ursprung derselben kann nur auf
einem „Sündenfall" beruhen, durch welchen der Mensch
von Gott, d.h. „dem Elemente, von welchem er lebt",
sich loszumachen versuchte. Darum lastet jetzt Gott auf
ihm als Gesetz und Gebot, und der Mensch, der zu Gottes
„Mitwirker" bestimmt war, ist nunmehr blos sein „Werk-
zeug" geworden. Aber zugleich hat er damit die Fähig-
keit verloren, sich selbst wiederherzustellen, was nur durch
Gott und dessen Kraft geschehen kann, indem er selbst mit
dieser Kraft in ihn eintritt. „Der gefallene Mensch bedarf
des sich entäussernden, mit ihm auf ein Niveau sich stellen-
den Gottes"; und so beginnt die Menschwerdung zugleich
mit dem Falle des Menschen.
Wenn daher in der ersten Schöpfung (vor dem Falle)
Gott der „Vater" allein sich offenbarte, des „Sohnes"
und des „Geistes" Wirken dagegen im Verborgenen blieb:
so ist nach dem Falle der Sohn der eigentlich Wirkende,
aber zugleich auch der Leidende; denn mit dem Abfall des
Menschen beginnt schon dies Leiden. In der zweiten
Schöpfimg (der gegenwärtigen Weltepoche) ist daher der
Sohn so sehr der Mittelpunkt aller Geschichte, dass es der
eigentlichen Wahrheit nach gar keinen andern Inhalt der-
selben gibt, als die Erlösungs- und Offenbarungsgeschichte.
In Jesus (dem Sohne Maria's) tritt nun der Sohn äusserlich
sichtbar mitten in die Geschichte hinein, und in ihm erscheint
der Mensch, wie er eigentlich sein sollte, der neue Adam,
das Urbild des Menschen und das Vorbild für uns. Mau
kann dies eine Menschwerdung des moralischen Gesetzes
nennen; aber es ist durch die reale Verwirklichung in Christus
nicht mehr Gesetz, sondern es ist inneres Leben, eine im
Fichte, Fragen und Bedenken. 3
34
Menschen wirkende Kraft geworden. Dadurch begreift sich,
wie von der Person Christi durch Mittheilung („Infection'')
eine physisch heilende, ethisch erlösende Wirkung ausgehen
könne über die ganze Menschheit. (Deutung der „Euchari-
stie" in diesem Sinne, aber auch der Heilungs- und Wun-
derkraft Christi, weil in ihm die ursprünglich dem Menschen
verliehene Macht über die Natur wiederhergestellt sei.)
Das Ziel wie der Erfolg jenes Erlösungsprocesses be-
ruht aber darauf, die „Ichheit", nicht das ,,Ich'^, das Sich-
selbstwollen, nicht das Selbst, untergehen zu lassen; und
darum ist auch die „Askese", als äusserliche Vorübung dazu,
nicht zu verwerfen. Sie ist, richtig erkannt und angewandt,
ein Demüthigen, Sichunterwerfen der Selbstsucht unter das
göttliche Gebot, woraus endlich die positive Versöhnung
mit ihm, die freie Liebe desselben und damit der Zustand
der Vollendung („Seligkeit") erreicht wird, welcher eben
Reintegration, Wiederherstellung des Ich in sein ursprüng-
liches Wesen ist. Hierin liegt aber zugleich die eigentliche
Garantie der Unsterblichkeit; denn damit wird zugleich er-
sichtlich, dass jedes Menschenindividuum, gleichwie es (ur-
bildlich) zur Wiederherstellung und Erlösung befähigt und
dazu bestimmt ist, eben darum auch schlechthin unersetz-
bar sein müsse in der geschlossenen Totalität der Menschen-
gattung. (Belege und weitere Ausführung dieser Sätze in
Baader's Werken gibt Erdmann, a. a. O., S. 622--628.)
Nicht ohne Bedacht habe ich mir erlaubt, diese er-
gänzenden Züge zur Charakteristik Baader'scher Speculation
Ihrer Darstellung derselben hinzuzufiigen. Sie zeigen meines
Erachtens: dass die mythologisirende Tradition, an welche
er anknüpft, gar wohl fähig sei, im Sinne einer tiefen, ethi-
schen und religionsphilosophischen Wahrheit erfasst zu wer-
den; denn sie enthält aufs entschiedenste, worauf es hier
gerade ankommt. Und es muss namentlich einem Theologen,
der Sie sind oder waren, sogar von einigem Werthe sein,
in apologetischem Interesse darauf hingewiesen zu werden.
36
Zudem kann man, näher betrachtet, die ganze Lehre von
dem ursprünglichen Abfalle Lucifer's, wie vom dadurch
veranlassten Sündenfalle Adam's annehmen oder als philoso-
phisch unerweisbar auf sich beruhen lassen, ohne für Be-
gründung des eigentlichen Wahrheitsgehaltes dieser tiefsinni-
gen Sätze eine Lücke zu lassen oder ihrem Gehalte eine
nothwendige Stütze zu entziehen.
Denn es ist, vom philosophischen Standpunkte und
nach billigem Masstabe beurtheilt, keine Differenz von ent-
scheidender Bedeutung, wenn das Ursprüngliche, aber
Vorbewusste, verborgen Wirkende und danmi stets Gesuchte
und Ersehnte vom Menschen auf den Standpinikt seiner
Unmittelbarkeit imd Facticität unter dem Bilde eines
schon dagewesenen, gleichfalls faetischen Zustandes, eines
verlorenen Paradieses, eines durch eigene Schuld verscherz-
ten goldenen Zeitalters gefasst wird. Ja es ist sogar zu be-
haupten, dass jenes den Menschen tief durchdringende Gefühl
der Entzweiung, der Unbefriedigung mit seinem unmittel-
baren Zustande nicht eindringlicher und zugleich fasslicher
für sein gläubiges Bewusstsein sich darstellen kann, als
durch die gleichsam historische Auskunft, dass er verloren
habe, was ihm ursprünglich bestimmt war. Mir ist dies
nur einer der zahlreichen Belege von dem tiefen Wahrheits-
gehalte, der in jenen Bildern und Ausdrucksweisen der reli-
giösen Tradition niedergelegt ist. Dies hat jedoch, wie Sie
sehen, nicht das Geringste gemein mit der bekannten For-
mulirung des Verhältnisses zwischen Religion und Specula-
tion, wonach jene nur „in der Form der Vorstellung" das-
selbe enthalte, was diese sodann in der Form des freien
gereinigten Denkens darbiete. Hier ist nicht die Rede von
einem allgemeinen theoretischen Uebergangc aus „Vorstellung''
in „Begriff", von einem „dialektischen Processe", sondern
das tiefergriffene Gefühl prägt durch unwillkürlich erregte
Phantasiethätigkeit seine religiöse Evidenz in einem Bilde
ab, welches jenem Gefühle den völlig erschöpfenden Ausdruck
3*
36
verleiht und ihm zugleich einen versöhnenden Abschhiss
bietet. Dies ist nicht blos das poetisch Geniale, sondern
das menschlich Wahre aller echten, d.h. aus unwillkürlicher
Eingebung des Gefühls hervorgegangenen Sagenbildung, und
kein grosses Ereigniss, keine gewaltige Geisteserregung zeigt
uns die Geschichte bis in die neuern Zeiten, an die nicht
die Sage fortdichtend in solcher Weise sich angeschlossen
hätte.
Sie selbst rügen streng Baader's Anlehnung an Tradition
und katholisches Kirchendogma, ohne dies zu berücksichti-
gen, ebenso die historischen Bedingungen (Vaterland und
Jugendbildung), aus denen sein Geist zu der hohen Selbst-
ständigkeit sich entwickelte, in welcher wir dennoch ihn
finden. Zugleich aber ist seine Hauptautorität Jakob Böhme,
der durchaus protestantischen Geistes von der eigentlichen
Orthodoxie seiner Kirche höchstens geduldet, nicht anerkannt
war. Und so erging es in diesem Betreff auch Baader.
üeberdies dürfte man behaupten, dass man alle jene dog-
matisch kirchlichen Beziehungen und mythischen Anknüpfun-
gen von Baader's Lehre abstreifen könnte, ohne dass Geist
und Charakter derselben verloren ginge oder nicht in ge-
läuterter Form fortzuwirken im Stande wäre.
Möchte doch sein würdiger Vertreter und Nachfolger,
Franz Hoffmann, recht bald sein Versprechen erfüllen,
Baader's Lehre, frei von jenen exoterischen Beziehungen, in
rein wissenschaftlichem Zusammenhange darzustellen. Die
in ihr liegenden Anregungen würden dadurch erst recht her-
vortreten und der wissenschaftlichen Verseichtigung der Zeit
ein heilsames Gegengewicht bieten. Vorläufig, und bis dieser
Wunsch erfüllt ist, hat er indess durch die Sammlung und
Herausgabe seiner kritischen Arbeiten*) uns reichhaltige Ge-
legenheit gegeben, die Tiefe und den Umfang Baader'scher
*) ,,Philosophische Schriften von Dr. Fr. Hoffmann^' (Er-
langen, A. Deichert; Band I, 1868; Band II, 1869; Band III, 1872).
37
Ideen kennen zu lernen. Diese Kritiken, welche zugleich
in ihrer Gesamratheit eine fast vollständige Geschichte der
neuem und neuesten Philosophie enthalten, sind von einem
so überlegenen Standpunkte entworfen, sind in den Gesichts-
punkten, von welchen sie ausgehen, so zutreffend und meist
so überzeugend, dass dieser Kraft und Vielseitigkeit des
kritischen Urtheils gegenüber die gewohnlich jetzt geübte
philosophische Kritik in sehr verblasster Gestalt daneben
erscheint. Es ist nun die schlimme Sitte des heutigen Par-
teiwesens, das ihm Unbequeme, Widerstreitende, mit dem
Interdict des Ignorirens und Verschweigens tödten zu wollen;
soweit man dies vermag. Auch die kritischen Arbeiten llofl-
mann^s scheint dies Loos getroffen zu haben; — aus erklär-
lichen Gründen. Denn die fest gewordenen Lieblingsmcimm-
gen der philosophischen Tagesliteratur bekämpft er mit ein-
dringender Schärfe und mit seltener Uncrschrockenheit. Da
wird einem Fernerstehenden, der zwar grosser Verehrer,
nicht aber Anhänger IJaader's ist, es erlaubt sein, die Un-
achtsamen auf den hohen Werth jener Leistungen aufmerk-
sam zu machen."
Fast noch weniger kann ich mich befriedigt fühlen durch
Ihre Auffassung der Krause 'sehen Philosophie. Sie stellen
dieselbe weit zurück; ich muss sie als von wesentlicher Be-
deutung für die Gegenwart betrachten, und darum bin ich
verpflichtet, auch hier diese Difierenz unserer Urtheile zur
Sprache zu bringen. Sehr bedauern musste ich ausserdem,
dass Sie es nicht unter Ihrer Würde fanden, die ganz un-
berechtigten Spottereien anderer über die von ihm erfundene
deutsche Wissenschaftssprache , über die Pedantereien seines
FormaKsmus u. dgl. noch nachträglich mit einer Art von
Behagen sich anzueignen, wie sie seit geraumer Zeit statt
alles tiefern Eingehens auf den Geist und Inhalt seiner Lehre
38
vernommen worden sind. Der edle Denker hat während
seines Lebens das herbe Geschick ungerechter Miskennung,
und was vielleicht noch schlimmer, äusserer Nichtbeachtung
ertragen müssen. Jetzt, nachdem dessen treue und be-
geisterte Schüler seine Werke gesammelt haben, verscheucht
man die Leser durch die Tradition ihrer Ungeniessbarkeit
und ihres geringen Originalgehaltes.
Ich kann dies weder für gerecht noch für zutreffend
halten. Ich glaube dem gewissenhaften Forscher, dem hoch-
sittlichen Charakter eine ganz andere Stellung geben zu
niiissen. Und dies geschieht nicht jetzt zum ersten mal.
Schon in meinen frühesten kritischen Schriften habe ich ihm,
und zwar aus denselben Gründen, wie gegenwärtig, die
gleiche Bedeutung Schelling und Hegel gegenüber zu vindi-
ciren gesucht, welche ich jetzt behaupte.*)
Ein zwiefaches Verdienst ist bei ihm zu bezeichnen,
welches noch in voller Geltung besteht und woran zu er-
innern bleibt, wenn auch eingestanden werden darf, dass
die volle, in allen Theilen gleich gelungene Ausführung seiner
Hauptgedanken damit nicht behauptet werden soll, wenig-
stens nicht von meiner Seite.
Krause hat richtig und scharf die beiden Zielpunkte
bezeichnet, welche ein Ueberschreiten des Schelling-Hegel'-
schen Standpunktes, überhaupt ein Ablenken von der näch-
sten Vergangenheit und deren Einseitigkeiten bedingen, in
welche auch die Gegenwart noch vielfach verwickelt ist.
Zuerst ist es der Grundgedanke, in echt Kantischem Geiste
von der „Selbsterkenntniss des Ich^^ auszugehen und erst
von diesem sichern Punkte aus zur Untersuchung über das
absolute Princip vorzudringen. Und bei diesem methodi-
*) „üeber Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger
Philosophie" (Heidelberg 1832), S. 232 fg. „System der Ethik:
«rster kritischer Theil" (Leipzig 1850). „Chr. Fr. Krause",
S. 233—276.
39
sehen Anfange mit einer sorgfältig begründeten Erkennt-
nisslehre wird es wol für alle Zukunft sein Bewenden
haben, wenn überhaupt noch von besonnener Speculation
die Rede sein soll. Der „anthropocentrische" Augpunkt
(wie ich ihn nenne), den keine Wissenschaft, auch nicht die
speculative, jemals zu überschreiten vermag, dessen Beach-
tung allein vor tumultuarisch entworfenen Hypothesen bewahrt,
ist damit zu entschiedener Anerkenntniss gelangt. Krause's
Lehre gehört darum, ihrem Geiste und ihrer Intention nach,
der neuen philosophischen Epoche, der Gegenwart an.
Sodann hat er ebenso scharf auf das Grundgebrechen
der pantheistischen Weltansicht in allen ihren Formen und
Ausgestaltungen hingewiesen. Es besteht, aufs einfachste
ausgedrückt, darin, dass der Pantheismus über das tuöcv, den
Begriff der blossen Totalität (des All, Universum), nie-
mals hinauskommt; denn er vermag nicht zu erklären, wie
diese Totalität dazu gelange, zugleich ev zu sein; viel-
mehr behaupte er dies blos oder postulire es, gestützt auf
die allerdings factisch durchwaltende Weltharmonie. Der
Pantheismus wird daher durch die Betrachtung abgewiesen,
dass „Urwesen nicht ein blosses Vereinwesen alles
dessen sein könne, was in ihm ist"; sondern dass es, eben
um als Vereinwesen denkbar zu sein, nur als „Selbst", als
selbstbewusste Einheit, „Selbstinnesein", gedacht werden
könne. „Das Selbstinnesein Gottes ist sein seliges Selbst-
bewusstsein oder seine selbstbewusste Seligkeit. Darum ist
man berechtigt, ihn unendliche, unbedingte Persönlichkeit,
Vernunftperson zu nennen, obgleich man besser thäte, sol-
cher (anthropomorphischer) Bezeichnungen sich zu enthalten,
die unedle Beziehungen mit sich führen." Hieran schliesst
sich der sehr bedeutende, weiterer Ausbildung würdige Ge-
danke: dass „das Selbstinnesein Gottes nicht vom mensch-
lichen Selbstinnesein erst abstrahirt sei, dass letzteres viel-
mehr seinen eigenen Grund nur in jenem haben könne und
nur ihm ähnlich sei". Ein Gedanke, der an den tiefsinnigen
40
Ausspruch Fr. Baader's erinnert und eigentlich dasselbe be»
iseichnet: „intelligo, quia intelligor". *)
So hat Krause klar erkannt, warum der letzte, ein-
zig zutreffende, weil erst volle Einsicht gewährende Er-
klärungsgrund dafür, dass die Welttotalität dem Effecte
nach Eines, ein in Harmonie Erhaltenes sei, ein „System',
ineinanderwirkender Kräfte und Beziehungen, nur im Be-
griffe einer absoluten Intelligenz, eines All- und Selbst-
bewusstseins des Urgrundes gefunden werden könne. Damit
hat er zugleich richtig den Weg bezeichnet, im streng fest-
gehaltenen Begriffe der „Immanenz^' selbst die Noth wen-
digkeit einer „Transsoendenz" des Urgrundes aufzuweisen.
Ich werde Veranlassung haben, im weitern Verlaufe diesen
wichtigen Lehrpunkt noch einmal zu berühren.
Nicht mindern Werth hat die Krause^sche Philosophie
aber auch dadurch für mich, dass sie vom tiefsten ethisch-
religiösen Geiste durchdrungen ist, ohne doch im mindesten
Theologisches oder Dogmatisches in sich aufzunehmen, kurz
ohne eine philosophisch verbesserte Theologie (Dogmatik)
geben zu wollen. Es ist wol nicht zu viel gesagt, wenn
man behauptet, dass dies gerade die Klippe geworden, an
welcher die Lehren Hegers und die des spätem Schelling
gescheitert sind. Und auch mein unvergesslicher Freund
Weisse hat sein grosses und gedankenreiches Werk einer
„philosophischen Dogmatik" fast nur dadurch dem
wissenschaftlichen Publikum unzugänglich gemacht, weil er
darin Philosophisches und Theologisches zu verschmelzen
suchte. Jeder der beiden angesprochenen Theile lehnte diese
Mischung ab; und dabei wird es wol bleiben müssen. Denn
*) Ich verweise wegen des Vorstehenden auf eine lehrreiche Ab-
handlung des leider zu früh verstorbenen ausgezeichneten Schülers von
Krause: Professor Lindemann „lieber Krause's Philosophie" in meiner
„Zeitschrift für Philosophie und speculative Theologie",
Bd. XV, S. 52 fg. (1842), worin Lindemann mit sorgfältigem Eingehen
auf die Entwickelungsgeschichte des Krause'schen Systems jene Gedanjcen
lichtvoll hervorhebt. Weitere Belege dafür gibt Erdmann, a. a. O., S. 655.
41
die Theologie ist eine historische, historisch-kritische
Wissenschaft, mit eigener dadurch ihr auferlegter Forschungs-
methode. Sie muss die Speculation ein für allemal unbeein-
flusst lassen.
Frei von allen diesen Beziehungen hat sich Krause gehal-
ten; und dennoch ist ihm die „Grundschauung des Wesens",
die Idee Gottes, der Mittelpunkt aller objectiven Wahrheit,
wie auch aller systematischen Gliederung der Wissenschaft.
Ebenso ist ihm die „Wesensinnigkeit'' (das Gottesbewusst-
sein) der Mittelpunkt des wahren Erkennens (in der „Grund-
-wissenschaft", Philosophie), des wahren Fühlens (daraus
seine Aesthetik) und des wahrhaften Wollens (dies das Prin-
cip seiner Ethik). Es ist das Wollen der „innern Ge-
rechtigkeit^', welche ihren Ursprung in Gott hat für jedes
(endliche) Wesen. Sie stammt aus der gottverliehenen Eigcn-
thümlichkeit dieses Wesens und macht sein „Lebwesent-
liches" aus, welches, von dem Wesen selber nun dargelebt,
seine Sittlichkeit wird. Das Sittliche ist die eigene gott-
vcrliehene Natur des menschlichen Willens, das in seinem
Darleben „Wesentliche". Das „innere" und das „äussere"
Recht sind die nähern Bedingungen , welche aus jenem Be-
griffe des „Lebwesentlichen" für alle Verhältnisse des „Ver-
einlebens" hervorgehen. Aus dem innern Rechte ergibt
sich das äussere jedes Wesens; und die fortschreitende
Vollendung des „Staates" besteht darin, immer mehr sich
also zu organisiren, dass allmählich jedem Wesen dies aus
seiner innersten Individualität hervorgehende äussere Recht
zutheil werde. — Hiermit ist auch nach meiner Ueberzeugung
(und den Beweis davon hat meine eigene „Ethik" in ihrer
Ausführung der „Gütcrlehrc" gegeben) das einzig rechte
Ziel gezeigt, welchem die ganze Menschheitsentwickelung
nach einem innern, ewig waltenden Gesetze langsam, aber
sicher sich zubewegen muss.
Ich kann mich nicht enthalten, den Schluss meiner im
Jahre 1850 geschriebenen Kritik der Krause'schen Lehre
42
hier auszuheben , weil er vollständig noch auf die Gegenwart
zu passen scheint.*) ,,Das Krause'sche System verdient zu
einer grössern Wirkung und Anerkenntniss zu gelangen als
bisher. Diese wird zwar kaum darin bestehen, dass in seiner
unterscheidenden methodischen Form «eine Schule sich bilde»,
wie man dies zu bezeichnen und zu hoffen pflegt, sondern
darin, dass seine leitenden Ideen frei gestaltend in die Wissen-
schaft und in die Behandlung ihrer praktischen-Fragen
aufgenommen werden, welches ihnen um so eher zutheil wer-
den kann, als sie bisjetzt wenigstens nicht in die
ausschliessenden Schul- und Parteigegensätze ver-
wickelt sind, welchen unser übriges wissenschaft-
liches Leben auf eine so lähmende Weise verfal-
len ist."
Im Rückblick auf das Vorgehende ist mir wol eine
apologetische Bemerkung über mich selbst gestattet, die zu-
gleich eine Forderung, einen Wunsch in sich schliesst. In
den kritischen Bemerkungen über die Systeme unserer philo-
sophischen Vorgänger war ich bemüht, das Positive, Blei-
bende und darum Fortwirkende in ihren Leistungen stärker
hervorzuheben, als dies in der gewohnlichen, für „parteilos"
oder für „objectiv" gehaltenen Kritik zu geschehen pflegt,
welche zumeist blos referirend sich verhält. Dennoch halte
ich diese Art von Kritik weder für forderlich noch für eigent-
lich gründlich, ja nicht einmal für „parteilos" oder „objec-
tiv". Denn gerade die gerechte Parteilosigkeit und Ob-
jectivität kann nur darin gefunden werden , für das Tüchtige,
Gelungene, bleibend WerthvoUe Partei zu ergreifen inner-
halb des Mangelhaften, welches jedem menschlichen Bestreben
sich anfügt, jenes zur Geltung zu bringen, dies der Ver-
*) „System der Ethik: erster kritischer TheU", S. 275 fg. Eine
Erwägung des weitem Inhalts dieser Kritik wird mich übrigens von dem
Verdachte einseitiger Ueberschatzung jener Lehre freisprechen, da ich
dort deutlich gezeigt zu haben glaube, in welchen Punkten weder ihr
Frincip noch ihre methodische Ausführung mir genügend erscheint
43
gesseuheit zu überlassen. Und so möchte ich das Vorstehende
zugleich als einen Versuch bezeichnen, wie ich wünschte,
dass man die Denksysteme beurtheile, um von ihren Leistun-
gen wie von ihren Mängeln die Anregung weitern Forschens
zu gewinnen, statt der gewohnlichen kurzsichtigen und un-
productiven Kritik, welche umgekehrt es für ihre Aufgabe
hält, an die Mängel und verletzbaren Stellen sich anzu-
klammern, um zu zeigen, wie sehr man selber über sie
hinaus sei. Jene positiv fordernde Kritik zu üben war ich
stets bemüht; die andere erfreut sich grosserer Beistimmung;
und irre ich nicht, so steht sie jetzt gerade in wirksamster
Blüte. Sehen wir indess genauer zu, was sie selbst Neues
und Positives zu bieten vermöge, so ist ein bedeutendes
Misverhältniss nicht zu verkennen. Indem sie in ihrem posi-
tiven Wiederaufbau der Wissenschaft nur Originales zu er-
zeugen behauptet, vermag sie zumeist doch nur Früheres,
zum Theil schon besser Geleistetes in kaum verändertem
Gewände vorzubringen. Dies mit Beispielen zu belegen wäre
nicht schwer, wenn es nicht besser dem Urtheil der Kundi-
gen überlassen bliebe. Hier sei es nur ausgesprochen, um
meine Behauptung zu motiviren, welche das Folgende genauer
zu begründen hat, dass ich die nächste Fortbildung deutscher
Speculation, den wirklich neuen Fortschritt an einer ganz
andern Stelle suche, als wo die neuesten Vertreter derselben
ihn gefunden zu haben meinen.
Drittes Sendschi-eiben.
Die philosophische Gegenwart.
Ich habe im Vorhergehenden, vielleicht nicht ganz ge-
nügend, aber in offenbar parteilosem Sinne einige „Rettun-
gen" älterer Denker gewagt. Dadurch vorbereitet wird es
jetzt mir gestattet sein, meine eigene „Rettung" zu ver-
suchen, und die einiger anderer mir näher verbundener
Forscher. Doch ist es, wie eben der Rückblick auf das
Vorhergehende lehrt, durchaus kein blos personliches oder
Partei-Interesse, welches ich dabei vertrete. Es ist vielmehr
meine tiefste, zugleich wohlgeprüfte Ueberzeugung, dass eine
stetige, gesicherte Fortbildung der deutschen Speculation
lediglich auf dem Wege und in der Richtung gelingen
könne, welche schon Kant bezeichnet und angebahnt, welche
jedoch sehr verschiedener Ausbildung fähig ist, und
auf der ich selbst einige Schritte vorwärts gethan zu haben
glaube.
Warum ich aber dabei gerade von mir zu sprechen Ver-
anlassung finde? — Die Antwort darauf scheint mir natür-
lich und nicht weit zu suchen.
Ein jeder Forscher darf am Schlüsse einer langen Lauf-
bahn dem Wunsche Raum geben, der Mit- und Nachwelt
ein klares , authentisches Bild seines eigentlichen Strebens und
45
Leistens zu hinterlassen, gegenüber den mancherlei theils
unvollständigeu , theils irreführenden Urtheilen, welche die
verschiedenen Parteien über ihn gefällt. Er hat wenigstens
Anspruch darauf , bei dem Endurthcil über ihn, selber ge-
hört zu werden, ohne doss dies als Anniassung ausgedeutet
werden konnte. Denn es lässt sieh erwarten, dass bei einiger
Besonnenheit er selbst über das eigentliche Ziel seines Stre-
bens klarer gewesen sei, als die neben ihm Stehenden und
mit fremdem Blick ihn Betrachtenden. Indess kann schlecht-
hin keiner dabei sich dem Bekenntniss entziehen, dass ein
bedeutender Rückstand bleibe zwischen Dem, was er eigent-
lich wollte, und Dem, was er wirklich vollbrachte. Das
Bewusstsein dieser Dificrenz, die grösser oder kleiner sein
kann, die aber niemals unscrm Gefühle sich unbezeugt liisst,
ist eben der nothwcndigc Ausdruck der Bedingtheit und der
Schranke, in welche jede cigenthümliche Begabung, gerade
darum, weil sie dies ist, sieh eingeschlossen füblt. Sic
bedarf deshalb der Ergänzung durch andere; sie stimmt
zugleich zur Selbstbescheidung und Demuth. Und doch ist
eben dies Gefühl der Eigcnthümlichkcit zugleich das Ein-
zige, was unscrm Streben Werth und Befriedigung verleiht,
dessen klare Erkenntniss den zugewiesenen ,^Beruf^' uns
ergreifen und energisch behaupten Hisst. Beides daher:
Eigenthümlichkeit und Ergänzung, gehört unzertrennlich zu-
sammen; und wer dies tief erkennt, wird ohne Selbstüber-
hebung kaum irregehen in der Stellung, die er sich anzu-
weisen hat. Aber ebenso wäre es nur feige Selbstbeschei-
dung oder heuchlerisches Dcmuthszeugniss , wenn man eine
„ Ergänzung ^^ durch Dasjenige sich bieten Hesse, was man
entschieden als seicht und verwerflich erkannt hat.
Es liegt etwas tief Charakteristisches, ja Entscheidendes
in dem, was zuerst den einzelnen zur philosophischen For-
schung treibt, sie ihm sogar als Bedürfniss aufnöthigt. Was
für mich dies Treibende und Nöthigende war, darüber habe
46
ich schon einmal berichtet.*) Des Folgenden halber hebe ich
den Grundgedanken Dessen hervor, was ich dabei suchte,
und was ich auch gefunden zu haben die feste Ueberzeugung
hege (a. a. O., S. 33 fg.).
Es ist aufs einfachste ausgedriickt, als Forderung wie
als erreichtes Ziel, die volle Harmonie geistigen Lebens und
Wirkens, die völlige Eintracht zwischen Gemüth und Er-
kenntniss, wie zwischen dem Gesollten und Gewollten. Gar
sehr hatte ich Gelegenheit, das unselige Loos derjenigen
kennen zu lernen, die nach einem berühmt gewordenen
Worte Fr. H. Jacobi's, in stetem Schwanken „zwischen
zwei Wassern schwimmen", dem des „Glaubens" und dem
des „Verstandes", und welche gleich ihm diesen Zwiespalt
durch ihr Leben zu tragen verurtheilt sind. Mir selbst stand
es fest, wenn auch zunächst nur als Forderung, dass er
ausgeglichen werden müsse, somit auch es könne.
Dürfen wir nun leugnen, wenn wir einen Blick auf die
unmittelbarste Gegenwart werfen, dass eben jener früher
leise sich meldende Zwiespalt gerade jetzt zur trennenden
Spaltung geworden sei, welche in den kolossalsten Dimen-
sionen unser ganzes religiöses, wissenschaftliches und sociales
Leben durchzieht? Theil weise Compromisse, halbe wechsel-
seitige Zugeständnisse helfen nichts; das hätte man an ihren
verfehlten Versuchen erkennen müssen. Sie geben nur ein
factisches, aber unwiderlegliches Zeugniss davon, dass
eine solche innere Zwietracht dem Menschenwesen unerträg-
lich, dass sie im universalsten, wie im tiefsten Sinne nur
das „Nichtseinsollende", zu Ueberwindende sein könne.
Darum ist zu zeigen — dieser Beweis kann aber wol zuge-
ständlich nur die Sache des „Verstandes", der freien For-
schung sein, — dass in Wahrheit ein solcher Zwiespalt gar
*) „Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie
und Ethik'* (Leipzig 1869), I. Band: „Bericht über meine philoso-
phische Selbstbildung«, S. 3—60.
47
nicht besteht, dass vielmehr der menschliche Geist auch in
freibewusster Erkenntniss muss besitzen können, woran zu
„glauben^', d. h. dem zu vertrauen (Glauben ist „Ver-
trauen", Fides, unwillkürliches üeberzeugtsein) er durch ein
unwiderstehliches Begehren hingedrängt wird. Gerade dies
und durchaus nur dies ist das Ziel meiner wissenschaftlichen
Bestrebungen. Und da einmal von „Ganzen" und von
„Halben" im Kreise der Wissenschaft die Rede war, so
kann ich nur den Ganzen, Entschiedenen zugesprochen
werden; aber nicht blos den Halben, Unentschiedenen gegen-
über, sondern weit mehr noch im Kampfe gegen diejenigen
angeblich „Ganzen", welche in trauriger Selbstverstümme-
lung der Halbheit der Negation sich in die Arme werfen,
um mit dem Verzicht auf den besten Geistesgehalt des Men-
schen, welchen allein zu erforschen der Mühe lohnt, als
ganze und als kühne Denker sich begrüssen zu lassen.
Darum kann ich auch nicht zugeben oder stillschweigend
dahinnehmen, wenn Dasjenige, was nach meiner Ueberzeu-
nung den einzig rechten Weg aus diesen Irrnissen zeigt,
was überhaupt geeignet ist, der gesammten Speculation einen
neuen Aufschwung, wie erweiterte Gesichtspunkte zu geben,
von einer bedeutenden Autorität als ein blos beiläufiges
Nachspiel der philosophischen Vergangenheit beurtheilt wird.
Und dies ist es, ausdrücklich sei es bekannt, was mir nicht
in polemischer, sondern in defensiver Absicht, Veranlassung
zu den nachfolgenden Bemerkungen gegeben. Sachlich kann
ich darin um so kürzer mich fassen , als ich dabei auf ältere
Erklärungen und namentlich auf meine letzte Schrift*) mich
zu berufen das Recht habe.
Sie sprechen sich (S. 901 fg.) über die Wendung der
neuern Speculation zum „Theismus", und zwar zum ethi-
*) „Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung'*
(Leipzig 1873).
48
sehen, und über seine Vertreter in zwar lässlicher^ aber
keineswegs zutreffender Weise aus.
Nach Ihrem Berichte hätte innerhalb der Hegel'schen
Schule, als Rückschlag gegen die negative Kritik der „lin-
ken Seite" derselben, eine Gruppe von Männern sich,, ab-
gezweigt", welche das System des Stifters im Sinne einer
„positiven Philosophie" umbilden und dadurch jene „Ver-
söhnung des Glaubens mit Wissen herbeiführen wollen,
welche Hegel mislungen sei". Als ihre „Stifter" und
„Ilauptwortführer" werden Weisse und mein Name genannt,
denen sich dann eine Reihe von andern Denkern (ülrici ,
Chalybäus, Carriere, J. U. Wirth u. a.) zugesellt
hätten. Das gemeinsame Band sei gewesen, gewisse religiöse
und ethische üeberzeugungen zu retten, welche durch die
Hegersche Philosophie bedroht schienen. Im besondern
seien drei Hauptfragen in Betracht gekommen: die theolo-
gische, die anthropologische, und bei einem Theile jener
Männer auch die christologische. In der Theologie soll die
Persönlichkeit Gottes gewahrt, dabei aber die Begriffe der
Transscendenz neben der Immanenz gerettet, Theismus und
Pantheismus „verknüpft" (?) werden. Die Lösung dieser
Aufgabe zeigte sich indess um so schwieriger, je ernster
man es damit nahm; wobei „sich namentlich Weisse (aber
mehr oder weniger auch die andern, welche mit ihm die Per-
sönlichkeit mittels der Trinitätslehre zu construiren ver-
suchten) zu sehr seltsamen, an die späteste Form der Schel-
ling' sehen Speculation anknüpfenden Vorstellungen verleiten
Hess". Was die anthropologische Frage betrifft, so han-
delte es sich hier vor allem um die Unsterblichkeit, „die
aber Weisse und auch Fichte (?) auf einen Theil des Men-
schen beschränken wollte". In Fichte's Metaphysik „spie-
len, wenigstens in der spätem Zeit, die ürpositioncn eine
grosse Rolle, welche das Wesen der endlichen Dinge in
ewiger Weise enthalten und den idealen Stoff bilden sollen,
aus dem Gott die Welt schuf" (S. 903).
49
So weit der vollständige Inhalt dos über die tlieistiscben
Denker von Ihnen Berichteten. Dies sehr summarische Re-
ferat ist nun nicht geradezu unrichtig, aber so unvollständig
lind unbestimmt, so bis zum ünkenntHchcn al)gesch wacht,
dass es als Quelle und Autorität für die künftige Geschichts-
schreibung der Philosophie benutzt, geradezu die Bestre-
bungen jener Männer und ihr eigentliches Ziel, ebenso den
relativen (grossem oder geringern) Werth ihrer Leistungen
völlig in Schatten stellen müsste. Sehr fern bin ich dal)oi,
— und es ist meine aufrichtige Meinung — diese Mängel
Ihrer Darstellung aus irgendeiner Parteiabsichtlichkeit Ihrer-
seits herzuleiten. Sie sind mir blos der Beweis, dass es
Ihnen nicht der Mühe weilh erschien, in den Werken jener
Männer etwas genauer sich umzus(^hen. Deshalb gestatten
Sie mir wol, in diesem Betreff das Factische hier vollstän-
diger und zugleich authentisch festzustellen.
Nach Ilwer Darstellung gehörten wir eigentlich zu der
innerhalb der llegerschen Schule verbliebenen be-
sondern „Gruppe" der sogenannten „rechten Seite". Wir
kämen denmach als Geistesverwandte neben Göschel,
Gabler, Iluss, Conradi, Bruno Bauer in seiner ersten
Periode, unter den Theologen etwa neben Marheineke
zu stehen. Und das wegwerfende Urtheil, welches Sie
Selbst iiber diese Richtung in der llegerschen Schule fällen
(S. 897), gilt consequenterweise vollständig auch für uns.
Dies alles verhält sich nun in Wahrheit ganz anders;
und darüber irrezugehen war kaum möglich, da Weisse und
ich, welche Sie die Stifter und Ilauptwortführer jener Rich-
tung nennen^ gleich bei unsern ersten Erklärungen ausdrück-
lich bezeichnet hatten , dass und warum wir uns ausserhalb
des Hegel'schen Standpunkts stellen müssten, keine „Ab-
zweigung", sondern Gegner desselben seien.
Auch war diese Gegnerschaft keineswegs eine willkür-
lich gesuchte oder aus Osten tation hervorgegangene, wie
gehässige Deutungen es uns schuldgaben. Denn bei der
Fichte, Fragen und Bedenkea. 4
50
begünstigten Stellung, deren damals die HegePscbe Schule
als geschlossene Partei sich erfreute, und nach den äussern
Erfolgen, welche sie dieser Parteiorganisation verdankte,
war es die schlimmste Wahl, die wir treffen konnten, und
eine notorische Unklugheit, deren Folgen wir lange zu tra-
gen hatten.
Dennoch war der innere Erfolg in der Hauptsache ein
entscheidender. Nicht blos äusserlich und vor dem grossem
Publikum war die unbedingte Autorität der HegePschen
Lehre durchbrochen; sondern wissenschaftlich und sachlich
machte sich immer mehr die Ansicht Bahn, dass gerade in
den Punkten, welche wir als die schadhaften bezeichnet
hatten, eine Umbildung der Lehre nöthig sei. Diese Punkte
(ganz abweichend von Ihrem Bericht) betrafen ein Drei-
faches : die unkritische und blos postulirte Behauptung einer
„Identität von Denken und Sein"; infolge deren das „reine
Denken" in seiner „dialektischen Selbstbewegung" die „ob-
jective Wahrheit" aus sich zu entwickeln vermögt. Der
ganze pantheistische und antiindividualistische Geist des Sy-
stems sodann, welcher principiell nur durch den Beweis von
der Wahrheit und Realität der „Individuation" widerlegt
werden kann. Endlich die Nachweisung der Folgen , welche
die consequente Durchführung jenes einseitigen Princips für
die besondern Lehren des Systems gehabt habe: in Betreff
des Begriffes vom Absoluten, als nicht der absoluten Per-
sönlichkeit , sondern des unendlichen Personwerdens im Men-
schen; in Betreff des abstract ungenügenden, unvollständigen,
aufs eigentlichste oberflächlichen Begriffes vom „Endlichen",
als dem „daseienden", darum stets sich selbst aufhebenden
„Widerspruche"; zuletzt in Betreff des menschlichen Geistes,
als einer gleichfalls sich aufhebenden, vergänglichen Gestalt
des absoluten Geistes , als der in seiner Menschwerdung un-
endlich „übergreifenden Subjectivität".
Eine erschöpfende Kritik des Systems von diesem
Standpunkt, zugleich die früheste in der Reihe dieser
51
Kritiken, enthalten meine „Beiträge zur Charakteristik
derneuern Philosophie^' (erste Auflage, 1829, zweite sehr
vermehrte und verbesserte Auflage, 1841, mit einer genau
quellenmässig gearbeiteten Darstellung der Lehre in allen
ihren Theilen, S. 782—1033). Dass diese Kritik eine zu-
treffende und überzeugende gewesen, wird mir dadurch be-
wiesen, dass meine Deutung des Sinnes und der Consequenz
von Hegel's Lehre seitdem in den nichthegerschen Kreisen
notorisch die anerkannte und herrschende wurde; und dass
eben damit der Sturz des IlegePschen Systems entschieden,
das Bediirfniss einer Weiterbildung der Speculation aner-
kannt war. Diesen Thatbestand leugnen oder ignoriren
zu wollen, ist nicht statthaft; denn er ist historisch aner-
kannt, auch von solchen, welche zu Hegel's Schule sich
bekennen. Ich darf nur an Erdmann's sehr verdienstvolle
Darstellung der philosophischen „Neuzeit" erinnern („Grund-
riss der Geschichte der Philosophie von J. E. Erd-
mann. Zweiter und letzter Band: Philosophie der Neu-
zeit", Berlin, zweite Auflage, 1870). Und auch Sie Selbst
können nicht umhin, dieselben Einwände gegen Hegel's
Lehre hervorzuheben und Ihre Beistimmung dazu wenig-
stens durchschimmern zu lassen, welche ich in jenem Werke
zuerst ihr entgegenstellte.
Auch Weisse hat, wiewol nicht ganz aus denselben
wissenschaftlichen Motiven, seine Trennung von Hegel und
die Gründe derselben schon bei seinem ersten Hervortreten
(„System der Aesthetik", 1830) aufs bestimmteste ausge-
sprochen und nachher diese Trennung nur verschärft und
radicaler durchgeführt in seinem eigenen Systeme.*) Er
*) Das Nähere darüber mit Anfulirmig der Stellen ans Weisse's Wer-
ken in meinen „Vermischten Schriften" (1869), Bd. I. „Mein wissen-
schaftliches Verhältniss zu Chr. H. Weisse**, S. Gl — 81. Auch niuss ich
wegen meines eigenen Verhältnisses zu Weisse, von welchem in Kürze
nachher, auf die weitern Ausführungen daselbst verweisen (S. 82 — 117).
4*
52
fand den Grundinangel der Ilcgerschen Lehre darin, dass
sie die Vernunft, die „absolute Idee'' als solche, und nur
die Vernunft, zum Principe des Ganzen gemacht habe.
Denn die Vernunft, die absolute Idee, wie Hegel sie in
seiner „Logik" dargestellt, sei nur das in sich geschlossene
System der ewigen Formenwelt, „die an sich leere To-
talität der Kategorien", kurz dasjenige, was Weisse seiner-
seits das „negativ Absolute" nennt. Und der eigent-
liche Fehler Hegel's besteht nach ihm eben darin, dass er
„dies an sich leere Form absolute" zum Wesen und zur
Wahrheit von allem Dasein, zum eigentlichen Realen
gemacht habe.
Ich selbst — beiläufig sei es bemerkt — war mit dieser
Auffassung und Deutung von Hegel's Lehre keineswegs ein-
verstanden. Ich machte den Freund in einer kritischen Be-
antwortung seiner „Sendschreiben" an mich auf das Ge-
zwungene und Gewagte seiner Behauptungen über das Prin-
cip IlegcFs aufmerksam, der wirklichen Ausfidirung des
Systems gegeniiber, und suchte statt dessen meine Auffas-
sung der Hegel'schen Lehre zu vertreten, welche durchaus
mit derjenigen übereinstimmte, die von der „linken Seite"
der Schule vertreten wurde. Ich gab dieser vollständig
recht in ihrer Deutung der Sätze des „Meisters" als der
einzig consequenten , aufrichtigen und klaren. Ebendies
jedoch entzweite mich aufs tiefste mit dem ganzen Princip
und Hess mich andere Bahnen aufsuchen. Aber auch Weisse
blieb seiner üeberzeugung getreu und verfolgte seinen Weg
nur um so entschiedener. Dass aus dieser kritischen Diffe-
renz für uns beide zugleich eine verschiedene Ansicht über
die nächsten Aufgaben der Philosophie, namentlich der Me-
taphysik, erwachsen müsse, verbargen wir uns nicht; auch
nicht dem Publikum gegenüber. Und so waren wir dem
Ausgangspunkte sowie dem letzten Ziele nach Einverstandene
oder Gesinnungsgenossen, ohne im Ganzen dadurch in der
53
freien Ausbildung unserer eigenthiiinlichen üeberzeugungen
uns beengen zu lassen.*)
Was nun Weisse auf seinem Wege der Speculation als
neue und eigenthumliehe Gabe zugebracht, das finde ich in
den bisherigen kritischen Werken, soweit ich dieselben
kenne, auch in dem Ihrigen, nur sehr ungenügend bezeichnet.
Und doch verlohnt es sicherlich der Mühe, demjenigen
näher zu treten, was ein so gewissenhafter und tief über-
zeugter Forscher, ein so energischer und ausdauernder Cha-
rakter, bei so reichen und vielseitigen Studien, wie wir dies
alles in ihm vereinigt erblicken, leisten wollte und der Haupt-
sache nach auch geleistet hat. Nur in einem einzigen kriti-
schen Werke, auf welches überhaupt erneuert hinzuweisen
mir Pflicht scheint, in K. Fortlage's „Genetischer Ge-
schichte der Philosophie seit Kant"**) finde ich eine
zutreflfende Charakteristik von Weisse's speculativer Gottes-
lehre. Aber sie konnte nur auf seinen altern Werken fussen:
der „Idee der Gottheit", Dresden 1833, und den „Grund-
zügen der Metaphysik", Gotha 1835, während die Lehre
auch in diesem Theile späterhin wesentliche Modificationen
und Erweiterungen erfuhr.
Ich selbst lege deshalb für den gegenwärtigen Zweck
einer Charakteristik seiner Hauptgedanken nicht seine altern
Schriften, auch nicht sein grosses theologisches Werk: „Phi-
losophische Dogmatik" (1856 — 62) zu Grunde, sondern
seine spätere, mehr übersichtlich gehaltene, aber reifste Dar-
stellung in der Ersch-Gruber'schen „Allgemeinen Encyklo-
pädie der Wissenschaften und Künste", S.v. „Gott" (Erste
Section, LXXV, S. 365 fg.).
„Alle Erkenn tniss übersinnlicher Dinge ist für den
menschlichen Geist in doppelter Weise bedingt : zuerst durch
die Immanenz des Vernunftabsoluten (als unendlicher, in
*) Die literarischen Belege dafür a. a. 0., S. 80.
**) Leipzig, Brockhaus, 1852, S. 336 fg.
54
einem Cyklus schlechthin nothwendiger Denk- und Daseins-
formen) in diesem Geiste; sodann durch religiöse Erfah-
rung, welche durch Geschichte ihm zutheil wird und
durch eine Steigerung innerhalb dieser Geschichte sich
immer mehr in ihm vollendet."
Die Idee jenes Absoluten in rein theoretischer und rein
vernunftnothwendiger Weise aufgefasst, ist daher scharf zu
unterscheiden vom Begriflfe der „Gottheit", weil dieser
von sittlichen und praktischen Beziehungen iinabtrennlich ist,
welche in jener Idee an sich noch nicht enthalten sein können.
Ein Beweis für das Dasein Gottes würde daher wesentlich
den Zweck haben zu zeigen, „dass die Verbindung der
Idee des Absoluten mit dem Principe der Sittlichkeit unum-
gänglich sei".
Schon hier sei bemerkt, dass ich diese Gedankenwendung
Weisse's für ebenso entscheidend in Bezug auf seine Be-
handlung der metaphysischen Probleme halten muss, als
charakteristisch für den Geist und das letzte Ziel seiner
ganzen Lehre. Und in diesem Ziele gerade stimmen wir
beide überein; über den begründenden Weg zu demselben
sind wir verschiedener Meinung. Es ist bei Weisse der
nämliche Grundgedanke, welcher mich behaupten Hess —
in directem Gegensatze wider allen Pantheismus, wie im
Unterschiede von Dem, was ich „naturalistischen" Theis-
mus nennen zu dürfen glaubte, dessen theil weise Züge ich
in Schelling's späterer Lehre entdeckte: — dass nur der
„ethische" Theismus die höchste, die ausgebildeste, die
allein befriedigende Gestalt desselben sei. Mit Weisse in-
dess im Wege der Begründung übereinzustimmen, hinderten
mich vollständig meine erkenntnisstheorethischen und metho-
dologischen Grundsätze; und ich hatte dessen ihm gegenüber
kein Hehl.
Aber auch jetzt noch liegt für mich eine der grossen
Principienfragen, nach denen sich die glückliche Fortbildung
der Speculation für die Gegenwart entscheidet, in der Durch-
55
führuDg jenes ethisch theistischen Gedankens. Von der
Gefahr der Versumpfung in Materialismus und Nihilismus
ist sie grimdlich nur zu retten, wenn der „Beweis für das
Dasein tiottes^^ vollendet, d. h. wenn die Idee eines
„zwecksetzenden" Absoluten in der Natur, einer all-
gegenwärtig sich kundgebenden „sittlichen Welt Ord-
nung'' im menschlichen Bewusstsein, wie in der Weltge-
schichte, thatsächlich dargethan wird. Deshalb wird es
erlaubt sein, ja ich darf es als den Hauptzweck der vor-
liegenden Gelegenheitsschrift bezeichnen, jene Gesichtspunkte
weiter zu verfolgen, und genau dabei zu scheiden, was
Weisse fiir jene Aufgabe geleistet und was mir dabei vor-
behalten blieb.
Weisse an seinem Theile entwickelt jenen Begrifl* des
Absoluten, als der „Daseinsmoglichkeit" alles Wirklichen,
weiter dahin: derselbe sei keineswegs ein leerer, inhaltsloser;
vielmehr schliesse er eine Mannichfaltigkeit von Bestimmungen
in sich, welche ohne selbst ein Wirkliches zu sein, dennoch
insgesammt aller Wirklichkeit „als Gesetze, als Formen, mit
Einem Worte: als durch eine ewige Nothwendigkeit
gezogene Grenze ihrer Möglichkeit" zu Grunde liegen.
In diesem Begriflfe einer Urmöglichkeit liegt nach
Weisse zugleich der Gedanke eines Absoluten, als „eines
höchsten oder letzten Möglichkeitsgrundes für alles
Wirkliche, sowol der Gottheit selbst, als der ge-
sammten endlichen Dinge". Zugleich glaubt er darin
das einzig Wahre und bleibend Wahre des „ontologischen
Beweises" zu finden. Ich musste der letztern Behauptung
widersprechen und versuchte bei dieser Veranlassung auf
kritisch historischem Wege den wahren Sinn und die blei-
bende Bedeutung jenes Beweises in anderer Richtung fest-
zustellen.*)
Aber ganz abgesehen von diesem kritischen Bedenken,
*) „Vermischte Schriften", a. a. 0., S. 83—93.
56
erhebt sich hier die Frage: wie Weisse von jenem Begriflfe
der Urmöglichkeit zu dem der Wirklichkeit, „sowol
Gottes als der endlichen Welt^', den „speculativen Ueber-
gang'', die Vcrmittelung im „metaphysischen" Denken ge-
funden habe? Um es kurz zu sagen: hier, in diesem nicht
gehörig begründeten und auf diesem Wege auch niemals
begründbaren „ Uebergange " liegt die schadhafte Stelle,
sowol der spätem Schelling'schen Unterscheidung zwischen
„negativer" und „positiver" Philosophie, wie derWeisse'schen
Lehre. Der Gegensatz von Möglichkeit und Wirklich-
keit, des „Quid" und des „Qu od", wie Schelling sich
ausdrückt, beruht auf einem künstlichen Reflexionsacte, auf
einer an sich berechtigten, aber subjcctiven Unterscheidung
unsers Denkens, welche wir nicht im mindesten das Recht
haben überzutragen in die reale Sphäre der objectiven
Welt, und am allerwenigsten das Recht, -eine solche Unter-
scheidung im „Absoluten", im gottlichen Wesen selbst an-
zunehmen. Der natürliche, durch das „Gegebene", in
welchem ja die philosophischen Probleme liegen, uns vorge-
schriebene Gang der Betrachtung ist vielmehr der umge-
kehrte, von diesem „gegebenen" Wirklichen sich zur „Idee"
des Urwirklichen zu erheben, in welcher eben damit auch
der Gnmd und der Inbegrifi* aller „Möglichkeiten" (ewigen
Wahrheiten) für die endliche Welt und für unser Denken
derselben enthalten sein muss. Diesen einzig berechtigten,
weil allein besonnenen und gründlichen Erkenntnissweg habe
ich selbst unverbrüchlich verfolgt, und ihn zu vertreten nach
allen Seiten hin scheint mir auch jetzt noch ein dringendes
Bedürfniss.
Auf welche Art Schelling bei jenem „Uebergange" sich
geholfen, gehört nicht hierher. Ich habe in meiner Abhand-
lung „Ueber den Unterschied zwischen ethischem und
naturalistischem Theismus", 1856*), dies hinreichend
*
) Wiederabgedruckt in den „Vermischten Schriften", Bd. I, S. 265 — 339.
57
beleuchtet. Weisse hat sich in diesem Betreff mit charak-
teristischer Kürze also erklärt: „Was liegt näher als die An-
nahme, dass diese Urmöglichkeit, um aus ihrem Schose
eine Wirklichkeit zu erzeugen, sich selbst wird denkend
ergreifen, sich ihrer selbst und eben damit dessen, was
in ihr als möglich gesetzt ist, bewusst werden müssen?"
Wir ergänzen diesen jedenfalls ungenauen Ausdruck in
Weisse's eigenem Sinne dahin: das „absolute Subject",
das „Ur-Ich", dessen Annahme er dabei stillschweigend
voraussetzt, habe sich durch einen Reflexionsact, ganz analog
dem menschlichen, in seiner blossen Möglichkeit „denkend"
ergriffen, um dieselbe von seiner Wirklichkeit zu unter-
scheiden. So ist Weisse wenigstens freizusprechen von der
HegePschen Unart, metaphysische Kategorien, namentlich
blosse Eigenschaftsbestimmungen eines unbewusst dabei
vorausgesetzten Subjects, wie „absolute Idee", „Vernunft",
„Denken", ohne weiteres zu hypostasiren und mytholo-
gischen Persönlichkeiten vergleichbar, für sich selbst allerlei
thun und bewirken zu lassen.
Dagegen beachtet er nicht, abgesehen von anderm Be-
denken, dass jener Reflexionsact im Absoluten, wenn er auch
als erwiesen zugegeben werden wollte, doch unmöglich einem
realen Uebergange von „Möglichkeit" zu „Wirklichkeit" im
göttlichen Wesen, ja einer „Genesis des Urbewusst-
seins" gleichgestellt werden könne, um dadurch sich „zum
Herrn über die in ihm enthaltene Daseinsmöglichkeit erst
zu machen". Vielmehr muss es bei der auch sonst folgen-
reichen Behauptung verbleiben: dass eine reale Unterschei-
dung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nur bei dem
endlichen Wesen denkbar bleibt, welches, eben als end-
liches, den Uebergang von seiner Möglichkeit in Wirklich-
keit in letzter Instanz nur aus dem Urgründe, als dem
Urquell aller Wirklichkeit, schöpfen kann, für welchen eben-
darum jene ganze Unterscheidung völlig unanwendbar bleibt.
Dass gleicherweise damit auch der Gegensatz eines „ Form-
58
absoluten" und „Realabsoluten" nicht im Sinne einer vom
Philosophon selbstbeliebig angestellten Unterscheidung, son-
dern als objective Bestimmung für das Absolute selbst,
vollständig dahinfällt, bedarf kaum noch besonderer Er-
wähnung.
So viel, was zunächst Weisse's eigene Lehre betrifft!
Aber auch in anderm Betracht halte ich diese Erörterung
nicht für überflüssig. Denn nicht blos bei Schelling seit
seiner Abhandlung „über die Freiheit" (1809), sondern auch
bei andern Denkern dieses Kreises finden sich Behauptungen
analoger Art, von einem „Gegensatze" im gottlichen Wesen,
von einer „realen Genesis" und „Selbstentfaltung", die eben
die endliche Welt erzeuge, und Aehnliches dieser Art. Ich
selbst konnte nicht umhin, allem Dergleichen stets mit dem
einfachen, aber völlig entscheidenden Einwände entgegenzu-
treten, „dass wir von unserm unüberschreitbaren anthropo-
centrischen Standpunkt aus davon schlechthin nichts
wissen können". Dass damit auch eine Reihe anderer
Fragen, die einer unserm Bewusstsein transscendenten Region
angehören, indirect sich erledige, davon wird in weiterm
Fortgange noch mehrfach die Rede sein müssen.
Weisse seinerseits argumentirt nun weiter also, — und
ich freue mich von hier aus beistimmend ihn begleiten zu
können, weil er nunmehr nach einzig wahrer Methode vom
Gegebenen zurückschliessend zur Idee des Absoluten auf-
steigt: — Zu dem Erweise, dass jene zunächst blos als
Möglichkeit gesetzte Selbstergreifung des Absoluten im
Solbstbewusstsein wirklich sich vollzogen habe, bedarf es
nothwendig des Rückblickes auf die empirische Thatsache,
dass in Zeit und Raum wirklich Etwas existirt; — „wäre
dies Etwas auch nur das eigene empirische Selbst des In-
dividuums, welches diese Betrachtung anstellt". Denn schon
diese Einzelexistenz würde zureichen, um die „Urthatsache"
zu beweisen, „dass jenes Absolute aus seiner Verschlossen-
heit herausgegangen sei zu einem raumzeitlichen Dasein;
59
und daes diese Urthatsache ihrerseits nicht denkbar wäre,
ohne dass ein Ur-Ich, ein Urbewusstsein gesetzt werden
müsse, dies hat uns der ontologische Beweis gezeigt".
Die Folgerung aus der empirischen Existenz, sagt
Weisse, kann man mit dem Namen des kosmologischen
Arguments bezeichnen. Aber sogleich fügen sich hier Ge-
danken an, welche dem teleologischen Argumente ver-
wandt sind.
So wenig wir nämlich die Grundthatsache der Existenz
einer endlichen Welt überhaupt aufgeben können, ebenso
wenig können wir unbeachtet lassen, dass darin zugleich
noch eine andere Grundthatsache mitenthalten sei : die That-
sache innerer, den endlichen Dingen im Einzelnen, wie
dem ganzen Weltzusammenhange eingepflanzter Zweck-
mässigkeit. (Weisse bezeichnet damit den Begriflf „imma-
nenter Teleologie", in seinem höchst wesentlichen Unter-
schiede von dem gewöhnlich angewendeten empirischen Bc-
grifie der Zweckmässigkeit: — ein Unterschied, welchen
freilich die antiteleologischen Himmelsstürmer noch immer
nicht begreifen in ihrer sinnlosen Polemik gegen den Zweck'
begriff!)
Wir müssen weiter daher auch dem innern Grunde
und den nähern Bedingungen nachforschen, welche einen
solchen allgemeinen Zweckzusammenhang und das im Welt-
ganzen uns vor Augen liegende „System'' von Zwecken und
Mitteln an sich möglich, und für uns denkbar machen.
Die Prämissen dazu sind aber schon in Demjenigen gegeben,
sagt Weisse, was das kosmologische und das ontologische
Argument uns darbot. „Soll Gott in der Schöpfung und
Leitung des Universums als ein nach selbstgesetzten Zwecken
handelnder, diese Zwecke durch freierwählte Mittel ver-
wirklichender Wille erkannt werden: so muss auch in seinem
ursprünglichen Wesen, d. h. nach Obigem in seinem
vorweltlichen Bewusstsein und Selbstbewusstsein eine solche
Zweckbeziehung erkannt werden. Die ursprüngliche
60
That der Selbsterfassung im Bewusstsein muss daher zugleich
als ein teleologischer Process im Wesen der Gott-
heit gefasst werden." «Wie zufolge des Gesetzes der
reinen Vernunftnoth wendigkeit, welches in der Idee des Ab-
soluten enthalten und durch philosophische Speculation aus
ihr zu entwickeln ist, Gott, falls er ist, nur sein kann als
Zweck seiner selbst, Zweck der idealen, in unendlicher
Mannichfaltigkeit sich ausbreitenden Thätigkeit, aus der sein
*
einheitliches Selbst hervorgeht: auf ganz entsprechende
Weise kann, zufolge desselben Gesetzes, eine endliche Welt
nur sein als Inbegriff von Selbstzwecken, welche durch
jenen obersten Selbstzweck mit Bewusstsein gesetzt, d. h.
gewollt werden. Auch die Verwirklichung dieser Zwecke
ist an Mittel gebunden, den Mitteln analog, durch welche
die Wirklichkeit des Urzwecks bedingt ist. Sie ist gebunden
an ein Gedankenleben, welches wie dort nach dem Ur-
zwecke hin, so hier von dem Urzwecke ausgeht, in beiden
Kichtungen aber den Inhalt der ewigen Noth wendigkeit ab-
spiegelt in einem Elemente, welches nicht selbst ein
nothwendiges, sondern ein freies, nicht ein abstrac-
tes und unveränderliches, sondern ein unendlich
bewegtes und fliessendes ist.''
Was im Verlaufe dieser Beweisführung abermals an
jene transscendenten Ueberschwenglichkeiten erinnert, welche
wir oben ein für allemal ablehnen mussten, lassen wir hier'
billig beiseite, weil sie die Wahrheit der Begründung im
Ganzen nicht beeinträchtigen und so an ihren Ort gestellt
worden können. Die Thatsache „ innerer '', den endlichen
Dingen im Einzelnen, wie im ganzen Weltzusammenhange
eingepflanzter Zweckmässigkeit, auf welche sich Weisse be-
ruft, genügt hier vollkommen, um den Schluss zu begründen,
dass das Absolute in Bezug auf die endliche Welt nur
als Zwecksetzendes zu denken sei, sammt all den weitem
Folgerungen, welche in dieser hochwichtigen Bestimmung
enthalten sind.
ßl
So viel, behauptet Weisse, lässt sich schon aus reiner
Vernunftnot hwendigkcit erkennen, theils iiber die Idee
der Gottheit, theils ul)er die Grundheschaffcnheit einer end-
lichen Welt, falls es eine solche gibt. In Bezug auf die
Wirklichkeit der Zwecke in dieser endlichen Welt l)edarr
es jedoch des Rückblickes auf die Erfahrung.
Und hiermit werden wir sogleich auf die höchste
Thatsache, auf die „religiöse Erfahrung", speciell auf die
„christlich- religiöse Erfiihrung" verwiesen. Denn allein
in der grossen, sittlich-religiösen Gemeinschaft aller
Vermin ftwesen, von welcher wir durch die christliche lleli-
gionserfahnmg Kunde haben, kann die Teleologie des Welt-
daseins, des Naturlebens wie des Geisteslebens, ihre Vollen-
dung finden. Den höchsten Zweck alles Daseins in der
blossen Existenz vernünftiger Wesen, des Menschen auf
der Erde, anderer (xeistergeschlechter vielleicht auf andern
Weltkorpern finden zu wollen, wie die gewöhnliche Physiko-
theologie behauptet, geni'igt keineswegs. Er kann nur in
dem Begriffe der Gemeinschaft dieser Vernunftwesen, und
zwar der Gemeinschaft durch ethisch -religiöse Gesinnung
gefunden werden. Denn nur die „höchste Weltthat-
sache" kann uns Antwort geben auf die Frage, wie der
Begriff der Teleologie im Weltdasein sich bewähre. Weisse
legt mit höchstem Recht entscheidenden Werth auf diesen
Gedanken; auch ist er der leitende Faden, der durch seine
„philosophische Dogmatik" sich hindurchzieht.
Es versteht sich von selbst, dass ich diese letzte Ge-
dankenwendung des Freundes stets mit innigster Beistim-
mung begrüsst habe, wo mir nur Gelegenheit gegeben wurde
mich darüber zu erklären. Sie einigt uns wahrhaft trotz
unserer methodologischen Differenzen; und mit erneuertem
Nachdruck muss ich daher auch hier auf den entscheidenden
Werth hinweisen, den sein eben angeführtes theologisches
Werk für jeden nicht nur theologischen, sondern philoso-
phischen Forscher dadurch besitzt, dass es jenen allgemei-
62
nen, zugleich allentscheidenden Gedanken zum Mittelpunkt
hat. Dieser ist die echte Blüte, wie die reifste Frucht des
Idealismus. Er scheidet uns bis auf die Wurzel ab, richtig
erwogen und in allen Consequenzcn erschöpft, vom Pan-
theismus in jeglicher Gestalt, wie von den zweideutigen Ele-
menten eines „naturalistischen" Theismus, dem Schelling
auch in der letzten Gestalt seines Systems nicht völlig ent-
sagt hat. Er leitet endlich uns zurück in die feste Conti-
nuität der gesammten philosophischen Entwickelung von
Piaton an durch das Mittelalter hindurch bis auf Leibniz,
ja bis auf Kant, der in seinem grossartigen Gedanken einer
„Ethikotheologie" uns nur dasselbe Ziel zeigte, in der Neu-
zeit zu Franz Baader, zu Krause, zum Theologen
Schleiermacher, während auf seinem philosophischen Stand-
punkt dies grosse Princip mehr im Hintergrunde bleibt.
Und gerade in demselben Sinne habe ich den Ausspruch
gewagt, dass nur im „ethischen Theismus" der letzte Schleier
gehoben werden könne vom liäthsel der endlichen Welt und
des Menschendaseins.
Dennoch ist dies die Grenze einer unbedingten Beistim-
mung, wenigstens von meiner Seite, zu der Art und Weise,
wie bei Weisse der ethische Theismus sich oinfi'ihrt. Und
es scheint mir sogar hoch von notlien, diese Differenz ins
Klare zu stellen, um den Theismus in dieser Gestalt von
den eigentlich ihm fremden theologisch -dogmatischen Ele-
menten abzuscheiden , welche seine philosophische Bedeutung
nur zu schwächen, seinen universalen Werth zu beeinträch-
tigen vermögen. Und auch dieser Protest datirt nicht erst
von heute; aber auch heute erscheint er nicht überflüssig
bei den schwankenden Vorstellungen, welche über den eigent-
lichen Charakter jenes Grundgedankens noch immer obwalten,
bei den Bekennern, wie bei den Gegnern desselben.
Der ethische Theismus schöpft seine Begründung nicht
aus metaphysisch-theoretischen Erwägungen; ebenso wenig
findet er seinen Beweis in theologisch-dogmatischen Begriffen
63
oder bedarf er einer Beglaubigung durcb dieselben. Seine
einzige und unversiogbfire Quelle ist die religiöse Erfah-
rung, wie auch Weisse mit Schleiermacher richtig und zu-
versichtlich behjiuptcte. Diese aber bedarf keines Zeugnisses
aus zweiter Hand; denn sie selbst ist das Ursprünglichste
und Erste, von welchem alles ausgeht, auch der Glaube an
das Historische. Was daher an ihrem traditionellen Inhalte
eines solchen Zeugnisses wirklich bedürfte, gehört eben-
darum nicht mehr zum Wesentlichen und Unentbehrlichent-
scheidenden für den „Glauben". Die Tauschung über dies
alles hat ihre Wurzel in der schon gerügten grundverderb-
lichen Verwechselung, den „wahren Glauben" durch die
Anerkennung gewisser dogmatischer oder historischer Siitze
bedingt sein zu lassen, d. h. Theologisches an die
Stelle der Religion setzen zu wollen. Dies war im Grossen
und Ganzen bisher der Stand der Dinge. Seitdem jedoch
Kritik und freiere Forschung die historischen Stützen der
Theologie wankend gemacht, ist jenes Verhaltniss von Gnmd
aus erschüttert. Mit der preisgegebenen Autorität der theolo-
gischen Ergebnisse erscheint auch der Glaube mitpreis-
gegeben imd im Innersten gefährdet. Da gilt es, das ur-
sprüngliche und reine Verhaltniss wiederherzustellen.
Ein eclatanter Beleg jener Folgen, welcher hätte be-
lehren und warnen können, ist Strauss, dem mit seiner
kritischen Bekämpfung der Theologie auch sein Glaube djihiu-
schwand, für welchen er nachher, in seinem letzten, noto-
risch verfehlten Werke, ein dürftiges Surrogat sich ersinnen
musste; — ist L. Feuerbach, welcher noch radicaler, aber
consequenter, wenigstens in seiner ersten nachhegerscheu,
noch nicht materiaUstischen Periode, richtig erkannte, dass
der Ursprung und das Wesen der Religion eine psycho-
logisch, nicht theologisch zu losende Frage sei, darin
freilich schwer irregehend, dass er sich einbildete, jene
mächtigste und tiefgreifendste Menschheitsthatsache echt
sensnalistisch oder empiristisch für eine blosse Erfindung des
CA
„Sfflhstsrichtigen'' Monscliengeistes zu erklären, der, was er
wünsche und was seine Neigungen befriedigen könne, als
„Gottheit" verehre. Aber selbst dabei ist seine Kritik des
religiösen Bewusstseins weit mehr antitheologischen als eigent-
lich antireligiösen Charakters. Wenn er den Zelotismus und
die Unduldsamkeit bekämpft, den Aberglauben verklagt,
der die freie Wissenschaft unterdrückt, welcher den Regungen
der Menschenliebe sich verschliesst in frommer Verfolgungs-
sucht, welcher die Sittlichkeit vergiftet, indem er sie in emdu
äiisserlichen Ceremonialdienst verwandelt: so sind diese An-
klagen nicht gegen das Wesen eigentlicher und echter Re-
ligiosität gerichtet, in deren eigenem Sinne er vielmehr das
Wort führt, ohne es selbst zu wissen oder zu wollen. Es
ist das theologische Element, der nie aufhörende „Kirchen-
streit" um Dogmatisches, dessen Folgen er bekämpft. Es
war dies ein tiefgreifendes Misverständniss, eine ihm seihst
verderbliche Einseitigkeit, die man wol seinem leidenschaft-
lich zu Extremen stürmenden Geiste zurechnen durfte. Aber
er verleugnete darin doch nicht die ideale Natur des Men-
schen, sein für freie Sittlichkeit geschaffenes Wesen. Von
hier aus wäre ihm noch immer die Rückkehr^ die bessere
Orientirung geblieben.
Erst später, als ihm der Mensch nur das Product dessen
war, „was er isst", hatte er sich unrettbar den Rückweg
abgeschnitten zu jeder idealen, d. h. gründlichem Auffassung
des Menschenwesens. Denn vom Materialismus gilt in vollem
Masse die Inschrift der Dante'schen Holle, dass wer ihm
verfallen, ewig verzichten müsse auf die Rückkehr in die
Region der „himmlischen Gestirne '', deren Wiederanblick
den Dichter so entzückt bei dem Aufklinimen aus der „hol-
lischen Tiefe". —
Weisse indessen ist in der eigenen Gedankenentwicke-
lung jener Vermischung des religiösen Gehalts mit Theolo-
gischem nicht völlig entgangen, und dies ist ein zweiter
Grund meiner Abweichung von ihm. Er erinnert zunächst
G5
zwar mit Recht daran, dass das „Absolute der reinen Ver-
nunft" noch nicht der „persönliche Gott" sei, sondern nur
die „Möglichkeit" dieses Gedankens in sich schliesse.
Dieser Bogriff der Möglichkeit kann jedoch in doppeltem
Sinne gefj|sst werden; und eben über die Deutung dieses
Sinnes gehen er und ich in entgegengesetzte Auffassungen
auseinander. Er denkt an eine objective Möglichkeit, als
das Princip im Wesen der Gottheit selbst, aus wel-
chem sich dieselbe zufolge eines Processes „realer Selbst-
crzeugung" zur „Persönlichkeit" erst fortbestimmt und
solchergestalt seine an sich „unendliche" Möglichkeit ein
für allemal zur Wirklichkeit entschieden habe. Und der
„speculative" Beweis ffir das Dasein, nicht blos eines Ab-
soluten, sondern der absoluten Persönlichkeit Gottes
soll na(!h ihm in der Aufweisung (in der Nachconstruction)
dieses „göttlichen Ilealprocesses" bestehen. Er fällt
ihm mit der ('onstructiou der „immanenten Wesenstri-
nitiit" zusammen; — „denn nur der dreieinige Gott
ist ihm der persönliche".
Diese immanente oder WesenstrinitlU spiegelt sich ab
und wird „nachbildlich" verwirklicht in der „Offenbarungs-
trini tat", für welche die von der kirchlichen Dogmatik
gewäliltcn Ausdrficke „Vater", „Sohn", „Geist" eigentlich
erst zutreffend sind. Weisse schliesst seine Gednnkenent-
wickelung in nachfolgenden Siitzen ab:
„Der Menschensohn wird gezeugt und geboren, wie
der ewige Logos, in einem Processe göttlicher Gedanken-
zeugung; denn er ist ein Gebilde, welches sich ohne vor-
gängiges Bewusstsein oder zuvor gefasste Absicht aus dem
gottbefruchteten Schose der Gottheit emporringt. Der Geist,
der göttliche und der gottmenschliche Wille, geht aus, so
hier, wie dort, von dem Vater und dem Sohne, d. h. er
entsteht zwar gleich ursprünglich mit dem Sohn aus dem
Wesen des Vaters; aber er vermittelt sich zugleich durch
das lebendige, schon vorhandene Selbstbewusstsein, durch
Fichte, Fragen und Bedenken. 5
66
das roin göttliche, in der Sphäre des Vorweltlichen —
durch das gott menschliche des Menschensohnes in der
geschichtlichen des Menschendascins."*)
Diese Ausführungen mögen nun wol Werth und Be-
deutung haben für den Theologen zur schärfern Bestimmimg
exegetischer und dogmatischer Sätze. Für eine speculative
Keligionsphilosophie, welche auf allgemein menschlicher, d. h.
psychologischer Grundlage ruht, somit auch zur Feststellung
der Grundbegriffe eines ethischen Theismus allein genügt,
musste ich sie stets als unanwendbar, ja als ableitend vom
wahren Ziele erklären. Und auch die „christliche Glau-
benserfahrung" — Schlciermacher hat dies, denk ich, bis
zur Evidenz gezeigt — bedarf solcher subtilen theoretischen
Unterscheidungen nicht.
Um bei dem rein Speculativen oder Metaphysischen von
Weisse's Beweisführung stehen zu bleiben, so ist deren Grund-
lage die folgende. Weil „Gott an sich selbst'^, seinem Wesen
nach, „Zweck seiner selbst" ist, so muss der gleiche Process
(abbildlich) auch in der endlichen Welt stattfinden und zwar
unter analogen Bedingungen seiner Verwirklichung. Dies
heisst dann „Deduction", „Ableiten'' aus dem höchsten
Princip: — ein Verfohren, in welchem Schelling, Hegel,
die ganze neuere Speculation, wie Sie bei anderer Veran-
lassung sagen (S. 81)7) — allerdings „Merkwürdiges geleistet
hat". Weisse scheint mir das Charakteristische desselben
hier auf die einfachste Formel zurückgeführt zu haben.
Ich will nicht auf den offenbaren Cirkel in diesem Be-
weise noch besonders hindeuten, welcher doch nur, was er
in der gegebenen Welt gefunden, nämlich Zweckbeziehung
imd innere Zweckmässigkeit, nun sofort auf das transscen-
dentale Wesen Gottes überträgt; mit welcher Berechtigung,
*) Die Belege und die weitere Ausfuhrung dieser Sätze, von meinen
kritischen Bemerkungen begleitet, finden sich in den „Vermischten
Schriften", a. a. O., S. 103—117.
()7
bleibt dahingestellt; umgekehrt aber soll dennoch aus jener
Bestimmung im gottlichen Wesen die Zweckmassigkeit des
Weltganzen erst abgeleitet und bcgriindet werden!
Ungleich wichtiger ist es mir, auch hier die scharfe
Grenze zu bezeichnen, innerhalb deren allein, hier aber
auch sicher und entscheidend, das teleologische Beweisver-
fahren Geltung hat und unantastbar besteht. Es begründet
nicht den aus Hegel heriibergcnommenen Begriff Gottes als
„des absoluten Zweckes"*), sondern lediglich und aus-
schliesslich den Begriff eines zwecksetzenden Absoluten
in Bezug auf die endliche Welt, welche nur darum
„Schöpfung" zu heissen verdient. Es begriindet ihn ledig-
lich daher für die endliche Welt und als letzten ErkÜirungs-
grund ihres Daseins und ihrer Beschaffenheit. Niemals
aber können wir die Berechtigung dieses Schlusses so weit
ausdehnen, um eine „Nachconstruction" dos innern göttlichen
Wesens, vollends eine „trinitarische", oder dem Aehnliches
darauf zu gründen.
Indess würde ich das Gefühl eines ernsten Vorwurfs
kaum von mir abhalten können, mit einer vielleicht über-
flüssigen Polemik die Lehre eines tiefsinnigen, gesinnungs-
verwandten, persönlich mir befreimdcten Forschers beleuchtet
zu haben, wenn nicht eine tiefere, weiter reichende Absicht
ihr zu Grunde liige. Es galt mir früher und es scheint auch
jetzt noch nöthig, ein Doppeltes zu zeigen: zunächst wie die
Vermischung rein metaphysischer und rein theologischer
Elemente beiden Gebieten nicht zur Förderung, sondern
zum Ilemmniss gereiche, indem nur Halbheiten, Umdeutungen,
aufgezwungene Compromisse die Ergebnisse solchen Bundes
gewesen sind ; wie aber andererseits der philosophische Theis-
mus selbst nach seinem wahren und entscheidenden Charak-
♦) Vgl. dessen Behandlung des teleologischen Beweises im „Anhange**
seiner Religionsphilosophie (Werke, Bd. XII, S. 469, 470).
5*
68
ter, (1. h. oben als „otbischor", einer solchen theologischen
Unterstützung nicht bedürfe, sondern in seiner reinen selbst-
standigen Begründung das Zeugniss der Wahrheit an sich
trage.
Aber noch mehr: erst nach dieser vollständigen Sonde-
rung oder Grenzberichtigung können beide wahrhaft und
erfolgreich sich wechselseitig unterstützen, erleuchten, be-
stätigen in ihrem eigenen und eigenthümlichen Werthe.
Denn wer mochte verkennen, dass die „christliche Glau-
ben serfahrung", gerade in solcher Reinheit und klaren
Bestimmtheit, wie Weisse sie aufgefasst und zur Grundlage
seiner „theologischen Dogmatik" gemacht hat, theils als
psychologische Thatsache, theils als historisch gewor-
dene Weltreligion auch für die Speculation als solche von
höchster Bedeutung und entscheidendem Interesse sei. Eine
Psychologie und Ueligionsphilosophie , welche jener grossen
Thatsache nicht gewachsen wäre, erwiese sich eben darum
als imvollständig und zurückgeblieben, und eine „Philoso-
phie der Geschichte" würde mittelpunktslos und desorientict
im Blinden tappen ohne die Anerkenntniss ihrer geschicht-
lichen Bedeutung. Aber metaphysische Bestimmungen
auf sie zu gründen halte ich fiir unstatthaft und kritiklos
aus den schon dargelegten methodologischen Gründen.
Endlich erachte ich für geboten, jenen specifisch
„christlichen" Theismus, zum universalen, zum „hu-
manistischen" zu erweitern. Denn die tiefer gewonnene
Einsicht von dem Gotteingegebenen und wahrhaft Provi-
dentiellen jeder echten Culturentwickelung — und eben
diese Einsicht ist ja die reifste Frucht des Humanismus und
der Geist derselben wird immer mehr sich Bahn brechen in
der allgemeinen Bildung, — sie fordert auch die Anerken-
nung, dass durchaus nicht mehr der bisherige christliche
Vorstellungskreis die einzige Erkenntnissquelle und der aus-
schliessende Massstab bleiben könne, um das Wesen und
die Form der sittlich-religiösen Wahrheit danach zu bemessen.
69
Seine Gegner haben von einer „Selbstzersetzung" des
alten, von der Noth wendigkeit eines „neuen" Glaubens ge-
sprochen; — ein kurzsichtiger Irrthum! Wir bedürfen keines
neuen Glaubens; wir bedürfen nur der Fortentwickelung des
alten aus seinem ewigen, darum auch ewig neuen und neu-
erfrischenden Grunde. Soll das Christenthum zu dem sich
verwirklichen, was es der Möglichkeit und dem welthisto-
rischen Keime nach zwar ist, was ihm aber in seiner gegen-
wärtigen Gestalt durchaus noch gebricht, — zur universalen
Weltreligion: so muss es sich allen Culturaufgaben und
Bildungsrichtungen der Menschheit nicht nur gewachsen
zeigen, sondern innerlich ihnen überlegen sein durch den
Geist der Weihe und Heiligung, welcher von ihr aus (und
nur die Religion vermag dies Höchste der Gesinnung über-
haupt zu verleihen) jedes Leisten und Vollbringen, das un-
scheinbarste wie das mächtigste, dadurch adelt, dass es ihm
den Stempel eigentlicher Religiosität, der Gewissenhaftigkeit
und der Liebe aufdrückt. W^ie weit dahinter zurückgeblieben
noch das Urtheil wie die Praxis der gewöhnlich „Kirch-
lichen" sei, braucht wol nicht noch besonders erwiesen zu
werden. „Man vergönne dem Christenthum endlich zu
seiner angestammten Kraft sich zu erheben, als die reine
Religion der Liebe hervorzutreten, und nichts Anderes
sein zu wollen, als dies: dann wird es auch seine umge-
staltende Allgewalt auf die Gemüther üben, den einge-
borenen Keim der Liebe unwiderstehlich in ihnen zu wecken.
Nur darum und nur insofern ist das Christenthum uns die
absolute Religion, der Glaube der Zukunft, weil sie
richtig gedeutet am Reinsten die Religion der Liebe ist."*)
*) „System der Ethik", 1853,11.2,0.425. Um hier iceine Mis-
deutung zu befahren von zwei entgegengesetzten Seiten, der Icirchlichen
wie der gegenkirchlichen, ebenso um zu zeigen, welch einen reichen
Geistesgehalt jenes Princip der „Liebe" in sich umfasse, muss es mir er-
laubt sein, auf meine Ausführung in der „Ethik" (ebendaselbst: „Die
Religion und die kirchliche Gemeinschaft", §. 176 — 187) zu verweisen.
70
Von diesen ofientlich geführten, lang sich dahinziehen-
den Verhandlungen haben Sie nun offenbar nicht die geringste
Kunde gehabt; sonst hätten Sie gewissenhafter weise unsere
Namen von Denen sondern müssen, welche Sie die „Posi-
tiven^^ nennen, und die Sie mit einer auch sonst nicht ganz
zu rechtfertigenden, gegen den ruhigen Ton Ihrer. sonstigen
Darstellung deutlich abstechenden Geringschätzung behandeln.
Denn dass Ihr hochverehrter Meister Hegel, welcher Ihnen
doch eigentlich noch immer als Leuchtstern und Mittelpunkt
deutscher Philosophie gilt, gar sehr mitbetheiligt sei an
diesem „ Positivismus ^S j^ ^^^^ ^^ ^^^^ Eigentlichste dessen
Miturheber geworden sei, so gewiss aus ihm jene „rechte
Seite" sich entwickeln konnte, während doch nach Ihrer
und vollständig auch nach meiner Ueberzeugung allein die
„linke Seite" die rechte Consequenz seiner Lehre gezogen,
dies Alles werden Sie nicht verkennen. Es hätte Ihr Urtheil
über jene Mitverehrer HegePs etwas mildern dürfen.
Von der neuern Schule der Thcisten, wie man sie nennt,
ist eigentlich nur Weisse, theils durch seinen nähern An-
schluss an Hegers methodischen Standpunkt, theils durch
das Hereinziehen eigentlich theologischer (namentlich christo-
logischer) Fragen jener altern Richtung einigermassen ver-
haftet geblieben. Die andern theistischen Denker, welche
Sie nennen (S. 902) und denen ich noch weitere, nicht
minder bedeutende Namen beizugesellen hätte, haben durch-
aus davon sich freigehalten.
Auch darin kann ich nur eine compromittirende Ent-
stellung unserer Ansichten sehen, wenn Sie behaupten
(S. 903), „wir hätten Theismus und Pantheismus miteinander
verknüpfen wollen", d. h. etwas durchaus Incompatible«
nebeneinanderzustellen, vielleicht zusammenzuleimen versucht!
Nicht doch! Wir haben gezeigt, wenigstens nachzuweisen
beabsichtigt, dass der Pantheismus in seiner höchsten und
ausgebildetsten Form, wie er in der Hegerschen Lehre sich
darstelle, nach innerer Nothwendigkeit in den „concreten".
71
Immanenz und TninssccnJenz vereinigenden „Theismus" sich
aufheben, durch ihn sich vollenden , darum sich aufgeben
müsse, um selbst nur denkbar und widerspruchs-
frei zu werden. Bei der entschiedenen Wichtigkeit dieser
Frage, welche zudem noch mit andern, methodologischen
Erwägungen innig zusammenhängt, wird es mir gestattet
sein, nachher noch Einiges darüber zu sagen.
Endlich muss ich noch Verwahrung einlegen gegen
Ihre Aeusserung: ich hätte, gleich Weisse'n, „die Unsterb-
lichkeit nur auf einen Theil der Menschen einschränken
wollen" (ibid.). Auch die Unsterblichkeitsfrage erachte ich
als eine hochwichtige, ja als entscheidend für den Gesammt-
charakter eines philosophischen Systems. (Andere mögen
anders darüber denken!) Ich kann daher nicht zugeben,
mir Ansichten darüber nachsagen zu lassen, welche in
diametralem Gegensatze stehen zu meiner Grundauffassung
der ganzen Frage, die nach meiner Ueberzeugung nicht
isolirt und rhapsodisch, sondern nur im Zusammenhange
mit allgemein metaphysischen und psychologischen Ergeb-
nissen behandelt werden kann. Dies ist von mir geschehen,
und so darf ich jenem Ignoriren gegenüber hier mit einem
einfachen Proteste mich begnügen.
Vielleicht ist es im Vorstehenden mir gelungen, in Be-
zug auf die Bemerkungen Ihrer Schrift, theils berichtigend,
theils ergänzend meine wissenschaftliche Stellung innerhalb
der philosophischen Parteien der Gegenwart in authentischer
und unzweideutiger Weise festzustellen. Auf das Besondere
meiner Lehre und ihrer Methode einzugehen, schien dabei
iiberflüssig. Es ist dies noch kürzlich, ausreichend wie ich
glaube, in meiner Schrift: „Die theistische Weltansicht und
ihre Berechtigung" (Leipzig 1873) geschehen und ich ver-
möchte nichts davon zurückzunehmen oder hinzuzufügen,
dennoch wünschte ich auch bei dieser Veranlassung nach
Kräften die Erörterung vom Persönlichen hinweg ins All-
gemeine und allgemein Belehrende zu erheben; und dabei
72
noch Mancherlei nachzutragen, was bisher die passende
Stelle nicht finden konnte. Um in diesem Betreff das
Wichtigste voranzustellen, gestatten Sie mir, zunächst von
einer Charakteristik der jetzt vorwiegend herrschenden phi-
losophischen Denkweise zu beginnen , welcher meine eigenen
Ansichten gegenüberzutreten und den Kampf mit ihr zu
bestehen haben.
Viertes Sendschreiben.
Fortsetzung des Voi'hergehenden,
Um den Charakter und die eigentliche Signatur der
philosophischen Gegenwart zu bezeichnen, genügt es lange
nicht mehr, zur Unterscheidung ihrer Parteien der alten
Formeln sich zu bedienen: des Gegensatzes etwa von Pan-
theismus und Deismus, von Dualismus und Monismus, oder
nach der erkenntnisstheoretischen Seite hin von Sensualis-
mus und Intellectualismus, von Idealismus und Realismus,
endlich von Dynamismus und Atomismus u. s. w. Alle jene
Particulargegensätze sind heute untergegangen, gleichsam
verschlungen von dem Grundgegensatze der mechanischen
Weltansicht und der teleologischen; oder kürzer, präg-
nanter und verständlicher: von Theismus und Atheismus.
Der grosse Culturkampf, welchen die Gegenwart durch alle
Verzweigungen ihrer wissenschaftlichen Bildung durch-
zustreiten hat, gipfelt definitiv — man bedenke dies wohl
— in jener höchsten oder letzten Alternative: ob in der
physischen wie in der moralischen Welt lediglich die blinde
Noth wendigkeit eines zwingenden „Naturgesetzes" walte,
also dasjenige, was man als ,,zwecklosen Zufall" zu charak-
terisiren das Recht hat; — oder ob im Gegen theil das sicht-
bare Universum, wie die innere Welt des bewussten Geistes,
74
nach ihrer gesammten Thatsächlichkeit, in letzter In-
stanz allein erklärbar und begreiflich werde durch die An-
nahme eines (irgendwie zu denkenden) absolut intelligen-
ten Princips.
Aber nicht die wissenschaftliche Bildung allein ist
betheiligt bei diesem Kampfe zweier unversohnbarer Gegen-
sätze. Auch der vielbeklagte Widerstreit von „Gemüth'*
und „Verstand ^^, von „Glauben" und „Wissen", welcher
die Gegenwart zerrüttet, ist auf jenen schärfsten und zugleich
einfachsten Ausdruck zurückzuführen. Aber dieser Zwie-
spalt verräth zugleich die Schwäche des „Verstandes *' dieser
Gegenwart, gerade weil er nicht verstanden hat, jenen Wi-
derstreit zu heilen, welcher durchaus unverträglich ist mit
der Einheit und innern Harmonie des Menschenwesens. Der
Verstand muss eben darin seine Stärke zeigen , dass er dem
Gcmüthe völliges Genügen bietet durch eine begeisternd er-
hebende Weltansicht, in welcher dasselbe vor skeptischen
Anfechtungen gesichert wohnen könne. Der „Glaube" an-
dererseits hat diesem Verstände sich zu unterwerfen, und
mit seinem gesammten Begriffs- und Vorstellungskreise, wo
nöthig, durch ihn sich berichtigen zu lassen. Dies alles
scheint nun klar für sich und keinem Widerspruche ausge-
setzt, weil es unzweifelhaft das definitive Ziel aller eigent-
lichen „Bildung" bezeichnet. Dagegen kann es die Frage
sein — und die factischc Beschaffenheit unserer Bildung be-
rechtigt gar sehr zu dieser Frage — inwiefern der herrschende
„Verstand" der Gegenwart fähig sei, wirklich eine solche
Versöhnung zu bieten?
Denn zum Tröste gleichsam jenes angeblich unvermeid-
lichen Zwiespaltes hat man nicht ohne Geist gesagt: gleich-
wie das Licht einerseits Lichtstrahlen , andererseits Wärme-
strahlen aussende, ebenalso könnte auch Glauben und Wissen
nebeneinander bestehen, ohne sich stören zu dürfen, da sie
ja nur einer, übrigens unbekannten Quelle entströmen, da
man ja auch vom innersten Wesen Dessen, was uns als Licht
75
und als Wärme erscheint, keinen objcctiven „Begriff" habe.
Hier ist wenigstens eine sinnreiche Analogie gezeigt, um
jenen Zwiespalt erträglicher zu machen. Andere haben —
willkürlich und oberflächlich genug, sodass es beinahe den
Spott herausfordern konnte — den Antrag gestellt, die Kunst
und den Kunstgenuss an die Stelle der antiquirten Religion
treten zu lassen oder auch der „Phantasie" zu gestatten,
nach Herzenslust und Bedürfniss eine Glaubenswelt sich aus-
zumalen, die ihren Wünschen genügt!
Alle diese erzwungenen Surrogate und hohlen, ja lüg-
nerischen Compromisse deuten nur darauf hin, wie tief und
unaustilgbar das Bedürfniss des Geistes sei, die ,^Fühlung"
mit der idealen Welt nicht zu verlieren, sollte sich diese
auch nur in verblasstem Abbilde, in sehr beschränkter Form
ihm offenbaren. Man hat ferner behauptet, dass der Mensch
den „Glauben" an ein Jenseitiges, über ihm Waltendes nicht
los werden könne; und die Erfahrung bestätigt es bis zum
heutigen Tage, wo man oft genug irgendeinen willkürlich
ersonnenen Aberglauben dicht neben den entschiedensten
Unglauben treten sieht in einem und demselben Individuum,
welches, obwol „hochgebildet", dieser ünzuträglichkeit gar
nicht inne zu werden scheint. Die tiefere Frage jedoch,
warum dem so sein müsse, welche uns später beschäf-
tigen soll, deutet abermals darauf hin, dass endlich doch
nur der „Verstand", die gründlichere Einsicht jene Ver-
wirrungen in letzter Instanz zu losen vermöge.
Historisch jedoch und wie jetzt die Zeiten angethan
sind, ist nicht zu verkennen, dass eben dieser Verstand,
vertreten durch die gegenwärtig herrschende wissenschaft-
liche Denkweise, gerade jetzt entschieden die mechanische
Weltansicht begünstige, während dieselbe sogar aus prak-
tischen Gründen empfohlen und vertheidigt wird. Dass
diese Parteinahme nicht lediglich auf Zufall beruhe, oder
durch willkürlichen Eigensinn veranlasst sei, gestehen wir
zu. Indem wir jedoch die tiefer liegende Ursache dieser
76
Erscheinung begründen, ihr somit indirect eine gewisse Be-
rechtigung zugestehen, so wird wol andererseits daraus ihre
wissenschaftliche Berichtigung von selbst sich ergeben.
Die in den letzten Decennien so glänzend bewährten
Fortschritte der empirischen Naturwissenschaft und die grossen
Entdeckungen, welche sie ihrer festgegründeten Methode
verdankt, sind allerseits anerkannt und mit Recht bewundert
worden. Sie beruhen insgesammt auf dem Begriffe der
Noth wendigkeit und der strengen Consequenz, welche im
Causalitätsgesetze liegt, zufolge dessen, mit absolutem
Ausschluss alles Zufalles, wie alles Andersseinkönnens,
aus jeder bestimmten Ursache nur eine einzige, genau ihr
entsprechende Wirkung hervorgehen kann. Dies grosse
„Naturgesetz", wie es unbestritten in der Sphäre der phy-
sischen Veränderungen waltet, muss nothwendig auch die
Veränderungen in der moralischen Welt beherrschen. Es
gibt keine „Freiheit". Auch die vermeintlich freien Hand-
lungen sind „determinirt", sind die nothwendigen Producte
zwingender Ursachen, welche nur nicht ins Bewusstsein
treten und deshalb die Täuschung übrig lassen, dass hier
eine Unterbrechung des Causalitätsgesetzes stattfinde, dass
der Mensch „frei" und zudem noch nach „Zwecken", selbst-
gewählten Zielen handle.
Dieselbe Täuschung findet nach oben, in der Bestim-
mung des Urgrundes statt. Auch er soll, menschenähn-
lich, nach Absichten und Zwecken das Universum leiten.
Dies ist ein „Phantasiegebilde". Die nüchterne Wissen-
schaft findet statt dessen hier nur dasselbe blinde Causali-
tätsgesetz, welches uns auch in der Natur begegnete. Die
Welt ist eine „Summe" ewig und unveränderlich wirken-
der Naturgesetze. Dies ist das feste, vor Augen liegende
Ergebniss, bei welchem als dem letzten, uns erreichbaren
Wesens- und Erklärungsgrunde, die „exacte Forschung"
stehen bleiben muss. Die Universalität des mechanischen
Geschehens ist damit behauptet, die Teleologie abgewiesen.
77
Diesen Erwägungen muss jedoch unsererseits sogleich
eine genauere Unterscheidung entgegengehalten werden.
Schärfer erwogen ist damit nur gezeigt: dass aus der An-
nahme von „Zwecken" in der Natur keine einzige Natur-
orscheinuns: nach ihrer wirklichen Beschaffenheit sich erkla-
ron lasse oder dass über die dabei concurrirenden äussern
Ursachen und Wirkungen die geringste Einsicht gewonnen
wi'irde. Dass das Auge den „Zweck" habe, dem Bedürfniss
des Sehens zu genügen, liegt am Tage, macht aber durch-
aus nicht begreiflich , wie und durch welche factischen Mittel
und Werkzeuffe dieser Zweck erfüllt werde. Die Annahme
o
von Zwecken ist daher überhaupt etwas völlig Ueberflüssiges
zur Erklärung der Naturerscheinungen in ihrer äussern
Beschaffenheit und Facticität. Dies ist festgestellt
und längst zugestanden; auch ist es der Teleologic in ihren
wahren Vertretern nie eingefallen, das Recht der mechani-
schen Erklärungs weise in ihrer Sphäre zu bestreiten oder
sich an ihre Stelle setzen zu wollen.
Aber eben wie weit diese Sphäre reiche, wie weit
überhaupt das mechanische Causalitätsgesetz zur vollständi-
gen Erklärung des Thatsächlichen genüge, das ist die hier
unbeachtet gebliebene Frage. Der Wendepunkt der Ent-
scheidung darüber liegt an einer ganz andern Stelle. Auch
bedarf es in diesem Betreff nicht im geringsten etwas Neues
zu sagen, oder etwas irgendwie Bestreitbares; sofern man
nur, wieman doch sollte, das Weltproblem vollständig
und nach allen Beziehungen ins Auge fasst, nicht blos
mechanisch oder physikalisch einseitig nach seinem unmittel-
baren Effecte oder nach seinem äussern Verlaufe be-
* urtheilt.
Die Universalität des äussern mechanischen Ge-
schehens ist zugestanden und darüber kein Streit. Aber
der innere Charakter und der Gesammtersatz desselben ist
dabei übersehen worden und bedauerhch preisgegeben. Denn
dieser Erfolg zeigt mit ebenso universaler Thatsächli(;hkeit
78
ene „Naturgesetze" gerade in ihrem blind mecbanischen
Wirken zugleich als in innerer Beziehung zueinanderstehend,
als harmonisch ineinandergreifend, kurz einem in ihre
Mannich faltigkeit hineingelegten G es ammt zweck
dienend. Und eben in dieser vorausbestimmten Com-
bination der mechanischen Wirkungen, die zugleich ein
universal Thatsachliches ist, liegt der entscheidende
Wendepunkt für das Denken, die Nothwendigkeit, bei der
mechanischen Weltansicht und ihrer Erklärungsweise nicht
stehenzubleiben, und damit das „metaphysische" Gebiet
zu betreten.
Der Mechanismus und seine Gesetze (die sogenannten
„Naturgesetze") sind weder etwas Letztes, Fürsichbestehen-
des, noch etwas eigentlich Objectives. Sie sind erwiesener-
massen lediglich die deutlich erkennbaren Producte eines
abstrahirenden Denkens, durch welches die Beobach-
tung gewisse Gruppen regelmässig wiederkehrender oder
stets verbundener Erscheinungen in einen Gesamnitaus-
druck zusammcufasst, ohne damit weder den letzten Grund
dieser Regelmässigkeit erklären zu können oder nur zu
wollen, noch auch im geringsten die Denknothwendig-
keit dafür zu erhärten.
Auch der letztere Umstand ist bedeutungsvoll. Er be-
zeichnet, dass wir hier nicht mit blos formalen (logischen
oder mathematischen) Wahrheiten zu thun haben, deren
Gegentheil als absoluter Widerspruch sich ankündigt; dass
hier vielmehr das Gebiet realer Ursachen betreten wer-
den muss, in denen jedoch nicht blos mechanisches Wirken,
sondern zugleich innere „Regelmässigkeit", teleologischer
Zusammenhang zur Erscheinung kommt. Das Ineinander-
greifen jener „Naturgesetze" ist nicht lediglich ein conse-
quentes, stets wiederkehrendes, sondern ein wohlgeordne-
tes, „zweckmässiges", wie der universale Erfolg es lehrt.
Aber ebendarum verräth es sich als Resultat einer Anord-
nung, die ganz anders gedacht werden konnte, eben weil
79
sie das Gepräge einer absoluten Deuknothwendigkeit durch-
aus nicht an sich trägt.
Hiermit ist nun das innere Verhältniss von Mechanis-
mus und Teleologie entscheidend festgestellt. Die Erfor-
schung der „Naturgesetze" und ihrer Wirkungen gilt durch-
aus nur für die Sphäre des äussern Geschehens, der un-
mittelbaren Thatsächlichkeit. Sie betriflFfc lediglich die
„phänomenale Welt". Für die darin wirkenden Real-
gründe dagegen, für die Deutung des innern Zusammen-
hanges unter denselben, für die Erkenntniss ihres eigent-
lichen Wesens, für die Erforschung des höchsten, abso-
luten Realgrundes vollends hat sie keine Competenz und
keinen Massstab der Entscheidung.
Für ihr Forschungsgebiet wie für ihr Bedürfniss gibt
es daher auch keine Teleologie, noch kann die Frage über
Theismus oder Atheismus in diesem ganzen Bereiche auch
nur berührt werden; so wenig als auf dem Gebiete der rei-
nen und der angewandten Mathematik wie der experimen-
tirenden Naturforschung. Dagegen wäre es ein bedauer-
licher Wahn blindester Anmassung, um dieser methodo-
logisch gebotenen Enthaltung willen die Existenz jenes
ganzen Gebietes von llealgründen, der eben darum „im-
materiellen Welt", hinwegdecretiren zu wollen. So ver-
fährt jedoch mit hartnäckiger Selbstverblendung die j)hilo-
sophischc Schule des „Naturalismus", welche man mit den
echten und eigentlichen Naturforschern durchaus nicht ver-
wechseln wolle. Man beurtheile danach das Mass der Ge-
ringschätzung, mit welcher jeder wahrhaft Unterrichtete auf
das atheistisch-materialistische Gebaren herabschauen muss,
welches jetzt zur philosophischen Tagesordnung gehört.
Zunächst nun muss sich die Frage erheben, welche
gleichfalls noch nicht das Gebiet des Factischen überschreitet :
was der innere Charakter und der thatsächliche Erfolg jener
„Anordnung" sei, infolge deren wir die „Naturgesetze"
stetig und zugleich geeinigt ineinanderwirken sehen. Und
80
difis treibt uns ganz unvermeidlich zu hohem, d.h. „teleo-
logischen" Betrachtungen.
Mit diesem Schritte gehen wir jedoch über die Unmit-
telbarkeit der phänomenalen Welt und über den blossen Be-
griff der Naturgesetze hinaus, welche nunmehr selbst
das Zuerklarende werden. Wir betreten das nicht mehr
der unmittelbaren Beobachtung zugängliche, „transscen den-
tale" Gebiet von Ursachen und Wirkungen, deren Erfor-
schung, wenn überhaupt möglich, nur auf dem Wege des
Riickschlusses vom empirisch Gegebenen, und insofern
Festen und Controlirbaren, auf dem hypothetisch dafür an-
zunehmenden Real- und Erklärungsgrund sich vollziehen
kann. Dieser, als nicht empirisch gegeben, ist darum auch
empirisch nicht controlirbar, der Beobachtung, der Messung,
dem Experimente unzugänglich. Er wird fest nur dadurch,
dass er nach den Gesetzen des schliessenden Denkens als
ein nothwendig (oder vielleicht auch nur wahrschein-
lich) Anzunehmendes sich erweist. Was jenen Denkgesetzen
selber Gültigkeit verleiht, dies zu zeigen, ist einer der
„Metaphysik" vorausgehenden Wissenschaft, der „Erkennt-
nisslehre" zu überlassen.
Ich brauche diese kritische Orientirung nicht fortzu-
setzen, bei der ich von Ihrer Seite, verehrter Herr College,
wol keinen Einwand zu befahren habe. Sie sollte hier nur
dienen, um einer völlig desorientirten Auffassung gegenüber
scharf und durchgreifend das Gebiet abzuscheiden, auf wel-
chem die „Metaphysik", die Erforschung der Realur-
sachen, sich bewegt. Diese hat, der unvermeidlichen Natur
der Sache nach, der Erfahrung gegenüber mit dem Nach-
theile zu kämpfen, dass sie zur Erklärung der Probleme,
welche eben diese Erfahrung ihr aufnothigt, nur Hypo-
thesen zu bieten vermag, die den Vortheil derThatsäch-
81
liobkci t nicht anzusprechen haben. Wohl aber dürfen sie einen
bestimmten Grad von Gewissheit in Anspruch nehmen,
je mehr es einer Hypothese gelungen ist, theils das Charak-
teristische der Thatsachen zutreffend und erschöpfend zu er-
klären, theils durch immer erweiterte Anwendung auf man-
nichfache Thatsachengebiete sich bestätigt zu sehen.
Dies Gebiet hypothetischen Denkens ist jedoch eben-
deshalb eine Sphäre des Streites; — nur sollte es kein
Streit, es sollte Verhandlung sein. Denn durch die scharfe
Bestimmtheit des Thatsächlichen nicht eingeschränkt, son-
dern seiner freien Erwägung überlassen, bietet sich dem
(metaphysischen) Denken ein gewisser Spielraum von Mög-
lichkeiten , die zu verschiedenen Auffassungen der Probleme,
wie zu verschiedenen Erklärungsweisen Veranlassung geben.
Die Geschichte der Metaphysik ist daher ein Bild von
wechselnden Systemen , von Kämpfen, von Siegen und Nie-
derlagen; uAd aus diesem Grunde hat man sie neuerdings
sogar sehr unbedachterweise in Abgang erklärt. Denn gerade
die „Naturwissenschaft", welche in einem Theile ihrer Ver-
treter jenes Verdict vollzogen, hätte sich erinnern sollen,
in welchen Streit der Hypothesen sie selbst hineingerätfi
bei allen Fragen, welche über das blos Thatsächliche hinaus
das „Wesen" der Materie, den Begriff der „Atome", das
Verhältniss von „Kraft und Stoff", von „Vitalismus" und
„Mechanismus" in der organischen Welt u. s. w. betreffen.
Hier wäre ihr eine logische Controle durch „Metaphysik"
sehr wohlthätig gewesen, wenn sie dieselbe nicht zu aller-
meist hätte verschmähen wollen. Uebrigens ist man, wenig-
stens in den eigentlich philosophischen Kreisen, über das
Vorurtheil hinaus, im Streite der Systeme etwas Schädliches
oder die betreffende Wissenschaft Compromittirendes zu sehen.
Und diese Einsicht verdanken wir nicht zum geringsten
Theile den Leistungen Ihres verehrten Meisters Hegel und
dem Einflüsse seiner gründlichem Einsicht auf das Urtheil
der wissenschaftlich Gebildeten.
Fichte, Fragen und Bedenken.
82
Wie nun ich selbst den Einschritt und die Entwickelung
der „Metaphysik" in ihren Hauptmomenten mir gedacht
habe, darüber hier zu berichten, halte ich für überflüssig.
Es ist in meiner „Theistischen Weltansicht" (1873) ausrei-
chend geschehen, als deren Anhang ich gegenwärtige Ge-
legcnheitsschrift ausdrücklich angekündigt habe. Ungleich
wichtiger scheint mir dagegen die Hervorhebung eines an-
dern Gesichtspunktes, für welchen ich vielleicht auch bei
Ihnen besonderes Interesse glaube hoffen zu dürfen. Sie
sprechen von den Schwierigkeiten, welche der Begriff einer
„Persönlichkeit" Gottes für Sie übriglasse. xVber ganz ab-
weichend von der höhnisch ablehnenden Art, wie die gegen-
wärtigen Tonangeber in Sachen der Philosophie gegen jede
derartige „Vorstellung" sich vernehmen lassen , zu gerechter
Entrüstung der Ernstgesinnten, — vielmehr mit der Ge-
wissenhaftigkeit, wie sie einem besonnen prüfenden Denker
geziemt, der auch das Erwünschte doch nur als ein Er-
wiesenes sich gefallen lassen will, erwähnen Sie Ihrer
Zweifel, bekennen aber die hohe Wichtigkeit des Problems.
Erlauben Sie mir daher über den eigentlichen Charakter
des „Theismus", wie ich ihn verstehe und auszubilden ver-
sucht habe, ein allgemein orientirendes Wort zu sagen. Phi-
losophisch begründet kann derselbe nach meiner Ueberzeu-
gung nur werden durch ein Doppeltes: überhaupt auf der
allgemeinen Grundlage eines streng innegehaltenen „anthro-
pocentrischen" Standpunktes, dessen „Besonnenheit" von
vornherein alle transscendenten Nebenfragen, als eben darum
unbeantwortbare zur Seite lässt; — sodann im Beson-
dern auf" der Grundlage und in unauflöslicher Verbindung
mit dem streng begründeten, dadurch zugleich von Bei-
werken gereinigten Begriffe einer Teleologie, als dessen
Resultat sich ergibt, dass der Mechanismus nur der univer-
sale Ausdruck „teleologischer", zwecksetzender und zweck-
auswirkender Ursachen sei. Eben dies ist es, vor dem
die Mechanisten hartnäckig die Augen verschliessen: der
83
teleologische Hintergrund aller, ausnahmslos aller
mechanischen Wirkungen in der Natur, die wir er-
forschen können, ohne dessen Voraussetzung oder Anerken-
nung man aufs eigentlichste (um einer Jacobi'schen Wen-
dung mich zu bedienen) „nicht zu Tisch und Bette kommen
konnte"! Indem die mechanische Naturerklärung von der
noth wendigen Voraussetzung eines übereinstimmenden
Ineinandergreife ns der einfachen Naturelemente ausgeht,
legt sie eben damit unbewussterweise den Zweckbegriff
ihren Erklärungen zu Grunde, während sie in ihrer Polemik
gegen denselben nicht ihn selber trifft, sondern eine veraltete
und längst widerlegte Auffassung desselben.
Darin liegt aber zugleich der universale Charakter des
„Theismus". Er ist durchaus nicht blos, wofür man gemein-
hin ihn hält, eine philosophische Schulmeinung neben an-
dern, oder auch eine bestimmte Religionsform, der poly-
theistischen etwa gegenüber, überhaupt nicht eine hypothe-
tische , dem menschlichen Geiste künstlich eingewöhnte Vor-
stellungsweise, welche man zeitweise durch Bildung ihm
gegeben, zeitweise daher auch, durch höhere Bildung und
Einsicht etwa, wie man jetzt meint, ihm hin wegnehmen
konnte. Der Theismus liegt im ursprünglichen Wesen un-
sers grundsuchenden Denkens. Sein Anfang und Keim
ist das Bewusstwerden der ursprünglich in uns liegenden
„Idee" eines Unbedingten, an welchem und im Unter-
schiede von welchem wir erst uns selbst, und alles empirisch
uns Gegebene, als bedingt, abhängig, endlich innewerden
(sowol „fühlen" als „denken") müssen. Die Philosophie,
die „Metaphysik" versucht nichts anderes und vermag nichts
mehr zu vollbringen, als dies ursprünglich menschliche „Ver-
nunftbewusstsein " (wie man es mit Fug genannt hat) zu
vollständig bewusster Entwickelung, zu erschöpfendem
Selbstverständniss zu bringen, mit allem, was verborgener-
weise in ihm mitenthalten ist, wovon noch weiter zu
reden sein wird.
6*
84
Nicht minder ist es die stillschweigend gehegte Grund-
prämisse alles Dessen, was Abhängigkeits*, Andachtsgefühl,
kurz Religion genannt wird, ein Ursein, eine all waltende
Weltursache vorauszusetzen , welche jedoch auch vom nieder-
sten Religionsbewusstsein durchaus nicht als blindes Schick-
sal, als sinnloses Ungefähr geglaubt wird, sondern als über
dem Menschen erhabene, aber ihm wesens verwandte, d.h.
geistbegabte Macht. Jede Religion als solche ist theistischen,
nicht naturalistischen Charakters. Denn weder religiöse
Furcht, noch vertrauende Hingebung, weder Scheu noch
Liebe vermochte ein abstract allgemeines, ein willenloses
Verhängniss einzuflossen; und auch der beschränkteste Fe-
tischanbeter sucht und meint hinter dem selbstgewähltCD
Gegenstande seiner vorübergehenden Verehrung ein ganz
anderes, ein bewusst wollendes, darum auch, wie er glaubt,
durch ihn bestimmbares Walten.
Aber dies ursprünglich unserm Bewusstsein einwohnende
Religionsgefühl, dauernder und intensiver wirkend , wird da-
durch zur anregenden Macht für die gestaltenbildende Phan-
tasie; und der Polytheismus erhebt sich allmählich aus
dem dunkeln Hintergrunde jenes unentwickelten gestaltlosen
Monotheismus, den auch die vergleichende historische
Forschung der Gegenwart als die früheste, aber niederste
Form des religiösen Bewusstseins bei den Naturvölkern
nachweist.
Beide jedoch sind „Theismus" zu nennen in dem
charakteristischen Sinne dieses Werkes, bezeichnend den
wenn auch dunkeln Glauben an ein urgeistiges Princip.
Und darum ist selbst dieser Theismus gesunder, naturgemässer
und wahrer, als der völlig abirrende Wahn einer blind zu-
tappenden Speculation, welche den .„Zufall" oder die „Ma-
terie" zum höchsten Götzen ihres Denkens macht.
Weiter jedoch zeigt nun jenem vielgestaltigen Polytheis-
mus, wie dem dürftigen Monotheismus gegenüber die Men-
schengeschichte uns eine „Offenbarungsreligion", welche
85
dem Polytheismus mit dem mächtigen Worte: „Du sollst
Dir kein Bildniss von mir machen", jede Wurzel abschneidet,
den bildlosen Monotheismus aber zur reinsten und höchsten
Form ethischer Vorstellungen von der Gottheit erhebt. So
dürfen wir sagen: all dies Tiefursprüngliche, darum gemeinsam
Menschliche im Menschen wesen, die eigentliche Signatur
desselben, ist anfangs verschleierter, dann immer
mehr zur Klarheit und Gewissheit entwickelter
Theismus.
Hier nun muss auch der selbstzufriedenste Sensualist
oder Empirist bei etwas tieferer Erwägung sich bekennen,
dass jene grossartigste Thatsache der Menschengeschichte,
die welthistorische religiöse Erziehung der Menschheit,
unmöglich das Product sein könne weder einer menschlichen
„Einrichtung", werde sie nun als „Erfindung" Einzelner
oder als „Uebereinkunfl" gedacht (pragmatisch historische
Erklärungsweise), noch auch einer durch Wunsch und Be-
dürfniss entstandenen, dann unablässig genährten „Illusion"
(subjectivistisch psychologische Erklärung, welche jetzt als
die geltende bezeichnet werden darf). Denn eben die Er-
scheinung eines so allgemeinen und unwiderstehlichen „Be-
dürfnisses" im Menschengeschlecht, — um nur bei dieser
Hypothese stehen zu bleiben — bedarf unverkennbar einer
tiefern, nicht blos subjectivistischen Erklärung. Das reli-
giöse Bewusstsein, in seiner untersten wie in seiner ent-
wickeltsten Gestalt, trägt den gemeinsamen Charakter eines
unwillkürlichen Anerkennungsactes für ein mehr als
Menschliches, „Göttliches", und einer Unterwerfung
unter sein Walten ; und erst darin ist sein eigentliches Wesen
erfasst. Was man dort Bedürfniss nennt, ist blos eine acci-
dentelle Folge jenes Anerkennungsactes.
Was nun die objective Ursache jener Anregungen
sei, ist für die Speculation ein Problem, für das religiöse
Bewusstsein ein Gegenstand des Glaubens. Ob jene durch
ihre Forschung diesen Glauben bestätige, begründe und da-
86
durch rechtfertige, ist bis heute die vielverhandelte Contro-
verse. Dass jedoch jene Ursache in letzter Instanz nicht
innerhalb der endlichen und empirischen Wirkungen gesucht
werden könne, welche in sonstiger Weise das menschliche
Bewusstsein anregen, dass sie nur schlechthin transscenden-
talen,%ber empirischen Charakters sein könne, folgt aus
dem Bisherigen und liegt in dem specifischen Charakter
des religiösen Bewusstseins. Damit wird die Lösung jenes
Problems zur Aufgabe einer auf metaphysischer Grundlage
ruhenden Psychologie. Beide aber, Metaphysik wie Psy-
chologie, werden wol keine andere endgültige Antwort
finden als die: dass nur das Ursein selber jene an-
regende Ursache in uns sein könne, so gewiss es
überhaupt als absolut zwecksetzende Ursache, d.h.
als teleologisch wirkendes Princip im ganzen Uni-
versum gedacht werden müsse.
Was ferner in diesem einfachen Begriff eines „zweck-
setzenden" Absoluten liegt, ist ein Doppeltes. Theils ent-
hält es in Bezug auf die Idee des Absoluten selbst die Noth-
wendigkeit, jenen zunächst noch abstracten Begriff eines
,^Zwecksetzens^^ zum allein adäquaten und darum verstand-
lichen Begriff eines selbstbewussten und allbewussten Ur-
geistes, einer göttlichen „Persönlichkeif zu entwickeln.
(Ueber Zulässigkeit des letztern Ausdruckes nachher noch
eine Bemerkung!) Theils in Bezug auf den Menschen und
seine Bestimmung liegt darin die Anerkennung einer „Vor-
sehung" in eigentlichster und speciellster Bedeutung, d.h.
die Annahme einer ethischen Zwecksetzung, einer göttlich-
sittlichen Weltregierung innerhalb des Menschengeschlechts
und seiner Geschichte. Und dies Doppelte wäre zugleich
die höchste, abschliessende Definition vom Wesen des Ur-
seins, zugleich das höchste philosophische Ergebniss über-
haupt.
Wie weit nun es mir gelungen sei, jene Begründung
in der bezeichneten doppelten Richtung erbracht zu haben,
87
darin allein möcht' ich den relativen Werth meiner Bestre-
bungen finden, aber zugleich auch fordern, es in der rechten
Weise anerkannt zu sehen, nämlich prüfend und aussondernd
das objectiv Gesicherte von Dem, was den sübjectiven Bei-
mischungen angehört. Auf das Besondere dabei hier noch
einmal zurückzugehen, wäre überflüssig, da es in dem an-
gegebenen Werke ausreichend geschehen ist. Nur in Betreff
der hier angeregten psychologischen Frage über den
eigentlichen Charakter und den objectiven Ursprung des
religiösen Bewusstseins muss ich, um dem Scheine blos un-
bewiesener Behauptungen zu entgehen, auf meine „Psycho-
logie" und das Schlussergebniss derselben mich berufen.*)
Wenn es Ihnen nun gefallen hat, geehrter Herr College,
die vorstehenden Betrachtungen (die freilich hier nur den
Charakter kurzer Andeutungen haben) mit prüfender Theil-
nahme zu begleiten, so hoffe ich auch bei Ihnen der Ueber-
zeugung Bahn gemacht zu haben, dass die Schwierigkeiten
und Widersprüche, welche Sie im Begriffe „göttlicher Per-
sönlichkeit" finden, nicht eigentlich sachlicher, objectiver
Natur sind, sondern auf einer Art von traditionellem Vor-
urtheil beruhen, welches höchst unkritischerweise dem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauche einen unbedingten Werth bei-
legt. Der allein hier entscheidende Gesichtspunkt ist, ob
die Weltgegebenheit, weil sie zugleich als vollkommenste
Weltordnung, als „System" ineinandergegliederter, für-
einander berechneter Mittel und Zwecke facti seh sich be-
währt, widerspruchsfrei sich denken lasse, ohne die An-
nahme einer absolut intelligenten Weltursache. Dass
dieser zunächst noch ganz allgemeine, aber allein das Welt-
*) „Psychologie. Die Lehre vom bewnssten Geiste des Menschen."
1. Theil (Leipzig 1864), §. 375—395, S. 721—744.
88
problem in letzter Instanz wirklich erklärende Begriff an
sich selbst keinen Widerspruch, nichts a priori Undenk-
bares enthalte, wird zugegeben werden müssen. Die Be-
denken gegen denselben sind ganz anderer, sehr vermittelter
Art. Ebenso ist dieser Gedanke in seiner noch unentwickel-
ten Gestalt keineswegs das Ergebniss einer künstlichen Re-
flexion, oder einer weithergeholten, mühsam ersonnenen
„Hypothese", dergleichen freilich die angeblich „exacte"
Wissenschaft täglich neue erfindet und mit grosser Zuver-
sicht Glauben für sie verlangt, während sie jenem Glauben
ernstlich sich widersetzt oder ihn hohnisch verwirft. Viel-
mehr ist er ein direct sich einstellender Gedanke, eine un-
gesucht und natürlich sich darbietende Folgerung , welche sich
tausendfachen Ausdruck gegeben hat, sei es, wo der begeisterte
Seher die Wunderwerke der „Schöpfung" preist, oder wo
der abgezogenste Denker dem höchsten „zureichenden Grunde"
der Dinge nachforscht. Ja man konnte ihn sogar den Ver-
nunftschluss xax' ^^o^i^v nennen, weil er zu allernächst
sich einstellt, gleichsam an sich erinnert, sobald die That-
sache eines verborgenen, aber tieif providentiellen Natur-
zusammenhanges uns überrascht. Da darf der kindliche
Geist der Naturmenschen wie der prüfende Verstand des
Forschers ahnen oder erkennen, dass darin nur eine höchste
intelligente Macht sich offenbare, dass hier „der Geist Gottes
nahe sei". Und wenn gegenwärtig statt der angeblich ent-
thronten „persönlichen" Gottheit als Surrogat der Cultus,
die bewundernde Anbetung des „Universums" in Vorschlag
gebracht wird: was ist dies Anderes, als die verkümmerte,
bis zur Un Verständlichkeit corrumpirte Parodie jenes ein-
fachen und an sich klaren Grundgedankens?
Wie weit derselbe indess zu einem speculativen Be-
weise ausgestaltet werden könne, wozu übrigens vielfache
Versuche vorliegen, ist eine andere, von der ursprünglichen
Ueberzeugungskraft jenes Gedankens völlig unabhängige
Frage. Denn hier treten methodologische Erwägungen ganz
89
allgemeiner Art in ihr Recht; und ich selbst habe im Vor-
hergehenden bestimmt genug den Standpunkt angegeben (den
,,anthropocentrischen^^ nämlich), von welchem nach meiner
Ueberzeugung allein jener Beweis mit streng Wissenschaft*
lieber ,^Be8onnenheit^^ geführt werden könne. Es ergibt sich
daraus, dass er seiner Form nach lediglich den Werth einer
Hypothese besitze, neben andern, gleichfalls denkbaren,
und dass er diese Form nie abstreifen könne. Dies braucht
uns indess weder zu überraschen noch bedenklich zu machen
über den innern Erfolg dieses methodischen Verfahrens. Im
Gegentheil ist es von entschiedener Bedeutung, darüber volle
Klarheit zu verbreiten.
Es gibt im Bereiche der empirischen Wissenschaften
Hypothesen, deren „Wahrscheinlichkeit" (denn über diese
logische Form kommt man hier allerdings nicht hinaus) dennoch
einen so hohen Grad von Ueberzeugungskraft erreicht, weil
diese Hypothese allseitig und ausnahmlos an der fortschrei-
tenden Erfahrung sich bestätigt, dass sie dicht vor der ab-
soluten „Gewissheit" anlangt und als erwiesene Wahrheit
gelten darf. Ein belehrendes Beispiel dafür gibt uns die
Astronomie, die Wissenschaft, welche die strengsten An-
forderungen an ihre Methodik zu machen gewohnt ist. Ja
dies Beispiel bietet noch tiefere Analogien zu der hier be-
rührten philosophischen Frage. Das Kopernicanische Welt-
system ist bekanntlich eine „blosse" Hypothese, beruhend
auf indirecter Beweisführung, indem durch hypothetische
Annahme derselben die Bewegungen der Weltkörper unsers
Planetensystems leichter und vollständiger erklärt werden,
als durch Annahme des Ptolemäischen Systems, welches
eben darum von der astronomischen Theorie aufgegeben
worden, weil es ungleich unwahrscheinlicher ist, als die
Hypothese des Kopernicus. Für beide jedoch gibt es keine
directe Beweisart; sie unterscheiden sich daher lediglich
durch den höhern oder geringern Grad ihrer Wahrschein-
lichkeit. Und eben jetzt hat einer unserer ausgezeichnetsten
90
Astronomen ausdrücklich auf diese Beschaffenheit des astro-
nomischen Beweisverfahrens im hier vorliegenden Falle, aber
auch auf seinen Werth und seine Fruchtbarkeit aufmerksam
gemacht.*) Forster belehrt etwaige Zweifler, „dass das
Kopernicanische Weltsystem durch die Arbeiten seiner Wissen-
schaft fortwährend überraschende Bestätigungen erhalte, die
nach dem Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung
einer absoluten, directen Beweisführung fast schon
gleichkommen". (S. Kreyssig, a. a. O.)
Auf völlig analoge Weise muss auch die metaphy-
sische Untersuchung über das Wesen der höchsten Welt-
ursache geführt werden; und ihr Ergebniss, welches es auch
sei, wird nur mit einem genau bestimmten Grade von Wahr-
scheinlichkeit zum Abschluss gebracht werden können.
Denn es ist nur gewonnen durch Rückschluss von der
thatsächlich gegebenen Beschaffenheit der endlichen Welt
auf die hypothetisch dafür anzunehmende, sie erklärbar
machende Ursache^ die da nicht gegeben ist. Gleicherweise
kann die relative Gewissheit ihrer Gründe nur dadurch gestei-
gert und zugleich an dem doppelten Kriterium ihrer Gültigkeit
gemessen werden: je umfassender die Erfahrungsdata sind,
welche die Hypothese unterstützen, ebenso je unmittelbarer
und einleuchtender die hypothetische Ursache dem daraus
zu Erklärenden entspricht, einen desto höhern Grad von
Wahrscheinlichkeit hat die Hypothese anzusprechen.
Ueberhaupt aber ist es ein blosses Vorurtheil und eine
falsche Anmassung, welche endlich aufzugeben ist und die
ohnehin zu schwinden beginnt, wenn man behauptet, dass
die Metaphysik darauf angewiesen oder im Stande sei, mit
absoluter Gewissheit ihre Hypothesen zu begründen und
*) „Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Vortrag, gehalten im
Wissenschaftlichen Vereine von Prof. Dr. W. Förster" (Berlin 1875).
Vgl. Fr. Kreyssig's „Literarische Rundschau" in J. Rodenberg's
„Deutscher Rundschau", October 1875, S. 134.
91
damit etwas schlechthin Unmethodisches sich anzumuthen
oder anzumassen. Denn dass ihr Gebiet gerade das der
Hypothese sei , ergibt sich von selbst aus dem unterscheiden-
den Charakter ihrer Aufgabe, das Gegebene zu erklären
aus Ursachen, die nicht gegeben sind. Und die besondern
Schwierigkeiten, von denen diese Aufgabe umgeben ist, ebenso
die Differenz der Ansichten, welche dabei sich geltend machen,
— alles dies trägt den gemeinsamen, aber unvermeidlichen
Charakter, dass es Hypothesen betrifft, für welche der
directe Beweis unmöglich ist. Niemand hat unter den
Neuern entschiedener dies anerkannt und dem Gefühle der
hier nöthigen Selbstbescheidung gewissenhafter Ausdruck ge-
geben, als Herbart in seiner eigenen Metaphysik, worin ich
eines seiner grössten Verdienste erkenne.
Auf der Grundlage dieser allgemein methodologischen
Betrachtungen mit den daraus hervorgehenden Cautelen ist
nun die „metaphysische^^ Begründung des Theismus ent-
worfen worden, welche ich versucht habe; und gerade die
Cautelen, welche dabei mir massgebend waren, dürften ihr
ein Kecht auf nähere Beachtung verleihen. Das genauere
Eingehen auf ihre dialektische Entwickelung halte ich hier
für überflüssig. Ich darf darüber auf die „Theistische Welt-
ansicht'^ (1873) und auf die ausgeführtere Darstellung in
der „speculativen Theologie" (1845) verweisen.
Statt dessen sei mir erlaubt, sogleich hier den entschei-
denden Wendepunkt hervorzuheben, der jederlei Pantheis-
mus ein Ende macht und welcher damit die eigentliche
Grundlage für die theistische Weltansicht bildet. Ihrer Be-
achtung hoffe ich denselben vielleicht dadurch zu empfehlen,
wenn ich ihn als die weitere Entwickelung oder eigentlicher
als die kritische Berichtigung von HegePs Gotteslehre
vorführe.
Hegel in seinen „Vorlesungen über die Beweise vom
Dasein Gottes", in welchen er wol am klarsten und aus-
92
geführtesten seine Gotteslehre dargelegt hat*), führt die
bekannten drei Schulbeweise, den „kosmologischen^^, ,,teleo-
logischen" und „ontologischen" — in dieser Ordnung stellt
er hier sie auf; anders in seinen „Vorlesungen über die Ge-
schichte der Philosophie", wo er den ontologischen zum
ersten und zum Ausgangspunkte macht**) — er führt diese
Beweise dort auf die gemeinsame Bestimmung zurück, „die
Aufhebung des Endlichen ins Unendliche" im Den-
ken sich vollziehen zu lassen. Der einzige Inhalt und die
Wahrheit jener Beweise sei, „die Identität des Endlichen
und Unendlichen" durchgreifend zu begründen.
Das kosmologische Argument, aus der Form des
blos reflectirenden Denkens, welches am Gegensatze des
Endlichen und Unendlichen haften bleibt, zu seiner „specu-
lativen" Bedeutung erhoben, hat die „dialektische Selbstauf-
hebung des Endlichen ins Unendliche" zu zeigen. „Das
Sein des Endlichen ist nicht sein eigenes Sein, vielmehr
das Sein eines andern, des Unendlichen." Daraus folgt
zugleich, „dass das Unendliche in sich selbst sich zum
Endlichen vermittelt". Das Endliche ist „blosse Erschei-
nung^^; und gerade darin zeigt sich „die absolute Macht
des Unendlichen".
Der teleologische Beweis fügt jenem Grundgedsuiken
nur eine neue, im Sinne wenig veränderte Bestimmung hinzu.
„Weil Einrichtungen, Zwecke in der Welt des Lebens und
des Geistes vorhanden sind, existirt eine dies alles zusam-
menordnende, disponirende Weisheit." Aber dies, sagt
Hegel, ist nicht die „Hauptsache", sondern „das negative
Moment": dass „im endlichen Leben und auch im end-
lichen Geiste keine Wahrheit sei. Jenes hebt sich auf im
unendlichen Leben, der endliche Geist im unendlichen".
*) Werke, Band XII, S. 291 fg. (Erste Ausgabe.) Vgl. über das
Genauere meiner Kritik die „Theistiscbe Weltansicht*', S. 166—179.
**) Werke, Band XV, S. 168, 169.
93
Das wahre Ergebniss des Schlusses ist daher: „das Endliche
der Geister ist kein wahrhaftes Sein; es ist an ihm selbst
die Dialektik, sich aufzuheben, zu negiren; und die Nega-
tion dieses Endlichen ist die Affirmation als Unend-
liches, als an imd für sich Allgemeines". Der ontolo-
gische Beweis, als das Dritte, sagt wiederum nur dasselbe
in veränderter Form: „Das Endliche besteht darin, dass
sein Sein dem Begriffe nicht entspricht. DieUntrenn-
barkeit des Begriffes und des Seins ist absolut nur
der Fall bei Gott."
Fügen wir endlich noch den hellsten Lichtpunkt und
das höchste Ergebniss des Ganzen in Hegel's eigenen Wor-
ten bei: „Das absolute Wesen ist Ich = Ich, denkendes
Selbstbewusstsein, und zwar so, dass Ich, Jeder der
denkt, das Moment dieses Selbstbewusstseins ist."
Dies ist aber zugleich das „Herabsteigen und Sichaufschlies-
sen des absoluten Geistes" zu unendlichen Lichtpunkten
der Persönlichkeit. Beide Bewegungen aber, die „aufstei-
gende" des endlichen Geistes in den absoluten, wie die ab-
wärts gehende des Sichaufschliessens des absoluten Geistes
im endlichen, „sind schlechthin Eins".*) Dies ist es auch,
was Hegel am Schlüsse seiner „Religionsphilosophie" („Das
Reich des Geistes") als die eigentliche Wahrheit des „christ-
lichen Bewusstseins" und als den „speculativen Inhalt" der
Religion bezeichnet.
Ich würde es nicht für nothig gehalten haben , an diese
bekannten und vielverhandelten Hegel'schen Sätze hier von
neuem zu erinnern, wenn ich ihnen nicht einen gewissen
classischen Werth beilegen müsste, und darum eine ent-
scheidende Bedeutung für die Kritik des Pantheismus, der
auch jetzt noch nicht aussterben zu wollen scheint. Denn
sie sprechen die höchste, und setze ich hinzu, die ver-
geistigtste Form des Pantheismus aus, in welche man aller-
*) Hegel's „Geschichte der Philosophie*', a. a. 0., S. 169.
96
selben auffordern, welche namentlich von meiner Theorie
über Raum und Zeit (Dauer) auszugehen hätte, die ich für
den passendsten Eingang in das Ganze meiner Weltansicht
halten darf.
Der zweite Wendepunkt, welclier besonders von Hegel
aus weiter führt, trifft den von ihm gänzlich miskannten und
entstellten Sinn des teleologischen Beweises. Der Gegensatz
seiner Auffassung und der meinigen lässt sich auf die zwei
antithetischen Sätze zurückführen: „Gott ist der absolute
Zweck in der endlichen Welt" ; und „Gott ist der zweck-
setzende Grund in und für die endliche Welt". Im Be-
griffe des Zweck Setzens liegt der Unterschied und in der
Analyse dieses Begriffes der weiter führende Wendepunkt,
Darüber nun sei mir noch ein erläuterndes Wort ge-
stattet! Zunächst besorge ich nicht den Vorwurf, in der
Formulirung jenes ersten Satzes HegePs wahren Sinn ver-
fehlt oder entstellt zu haben, trotz der bedenklichen Conse-
quenzen, welche aus ihm gefolgert werden konnten, von
denen die Gesinnung des würdigen Denkers übrigens weit
entfernt war. Jener Satz ist mir nur die Consequenz des
von ihm vertretenen monistischen Princips und die Um-
schreibung seiner authentischen Worte: „Das endliche Leben
hebt sich auf im Einen unendlichen Leben, in der allgemei-
nen Seele." — „Es sind endliche Geister; aber die Wahr-
heit der endlichen Geister ist der absolute Geist." Das
Endliche ist an sich selbst ,,die Dialektik sich aufzuheben,
und die Negation dieses Endlichen ist die Affirmation
als Unendliches, als an und für sich Allgemeines". Das
Endliche in jederlei Gestalt^, in der höchsten wie der gering-
sten, ist durchaus gleichmässig daher nicht Selbstzweck,
hat keinen Selbstwerth. Es ist nur dazu bestimmt, um als
„Mittel'' zu dienen und verzehrt zu werden in dem unend-
lichen Processe „des allgemeinen Lebens" wie „des absolu-
ten Geistes".
Dies trostlose, an sich aber unvermeidliche Ergebniss
97
des Pantheismus, welches lebhaft an den classischen Aus-
spruch Fr. Baader^s erinnert (vgl. oben S. 26), „es sei
gleichviel, ob dieser grässliche Gott oder Ungott seine Crea-
tur in Zorn oder in Liebe wieder aufspeise", — dies Er-
gebniss hat für die Speculation im ganzen indess nur den
Werth, „sich selbst aufzuheben", um einem bessern, zugleich
gründlichem Ergebniss die Bahn zu bereiten, welches dem
einseitig hier zurückgedrängten Principe des „Individua-
lismus" zu seinem Rechte verhilft. Dass dies nur durch
eine sorgfältigere Entwickelung des „Zweckbegriffes"
erreicht werden könne, hat sich im Bisherigen von verschie-
denen Seiten her geltend gemacht.
Die allgemeine Stimmung jedoch, welche der Monismus
hinterlässt, je strenger gerade er durchgeführt wird, kann
nur das Gefühl der muthlosesten Eesignation, der tiefsten
Lebensmüdigkeit sein. Denn im ganzen Bereiche der end-
lichen Dinge hat nach dieser Weltauffassung schlechthin
Nichts eigenen Werth und Bedeutung. Sie gehen zwecklos
unter, wie sie zwecklos erschienen sind. Eine heilsame In-
consequenz des Gefühls hält oft genug uns ab, das letzte
Wort eines Ergebnisses sich zu bekennen. Ist es einmal
aber ausgesprochen, so ist die Wirkung um so entscheiden-
der. Und eben dies Bekenntniss hat der jetzt herrschende
Pessimismus sehr vernehmlich und nur consequent an den
Tag gebracht.
Jenem Satze stellt nun der Theismus den andern gegen-
über: „Gott ist zwecksetzender Urgrund in und für die
endliche Welt." Damit eröffnet sich eine völlig neue Perspec-
tive für die Erforschung der endlichen Dinge, die nunmehr als
zweckerfüllt Werth und Bedeutung für sich selbst gewinnen ;
wie gleicherweise für die Erkenntniss der höchsten Welt-
ursache, weil deren „Zwecksetzungen" im Weltganzen auf un-
mittelbare Weise sich uns darbieten und darum erforschbar
sind, ohne transscendente Voraussetzungen oder hypothe-
tische Hülfsbegriffe dafür in Anspruch zu nehmen. Denn
Ficbte, Fragen und Bedenken. 7
98
ganz von selbst wird uns die gegebene Welt von hier aus
zum-Spiegel und Zeugniss eines in ihr niedergelegten ewigen
„Weltplanes", weil und sogewiss im Ganzen wie im
Besondem derselben sich jene innere Wechselbeziehung
uns offenbart, welche die Weltdinge verbindet und weit
hinausgreifend über alle Trennungen der Zeit- und Raum-
unterschiede ihre Unendlichkeit zur Einheit, zum „Kos-
mos" zusammenzwingt. Dieser gewaltigen Qrrundthatsache
gegenüber hat selbst die dem Theismus abgeneigteste
Naturforschung dem Begriffe und der Annahme eines
„Schopfungsplanes" sich nicht entziehen können.
Dass jedoch die Folgerung aus jener universalen Welt-
thatsache ihrer logischen Form nach lediglich eine Hypo-
these bleibe, ist vollständig zuzugeben und wegen der theo-
retischen Cautelen, welche daraus sich ergeben, sogar aus-
drücklich einzuschärfen. Daraus folgt ein Doppeltes. Als Hy-
pothese kann sie überhaupt nur auf „Wahrscheinlichkeit"
in genau bestimmtem Grade Anspruch machen. Näher jedoch
erwogen, ist diese „Wahrscheinlichkeit" solcher Art, dass
sie einestheils desto mehr sich bestätigt, steigert und ver-
stärkt, je umfassender die empirische Forschung in den all-
gemeinen Zusammenhang der Weltgesetze eindringt, und
je genauere Einsicht sie in die besondern Weltbeziehungen
gewinnt, während andern theils gegen sie keinerlei empirische
Gegeninstanz, keine gesicherte Thatsache' einer wirklichen
Lücke oder eines Chaotischen im Weltganzen geltend ge-
macht werden kann. Denn die schon erwähnten pessimisti-
schen Weltanklagen, die zeitweise sich Luft machen, be-
treffen nicht das Gebiet der Natur; sie gehören dem sub-
jectiv ethischen Empfinden des Menschen an und finden in
einer ethischen Weltauffasung ihre Erledigung.
Aus allen diesen Gründen ergibt sich nun für jene Hy-
pothese ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit, welche
zugleich, wie sich zeigte, durch die stets sich erweiternde
Welterfahrung bestätigt zu werden hoffen darf, dass sie gar
99
wol, analog der Kopernicanischen Hypothese, deren wir
oben gedachten (S. 90), „nach dem Gesetze der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung einer absoluten, directen
Beweisführung fast schon gleichkommen konnte".
Ob dies einer theoretischen „Gewissheit" gleichzu-
stellen sei, dies zu entscheiden oder vollends darüber zu
streiten, ist volUg bedeutungslos und eine überflüssige Sub-
tilität. Denn jener grosse Gedanke des Theismus wird
nicht allein nach den Gesichtspunkten der Metaphysik und
der Naturbetrachtung entschieden, welche hier zunächst
geltend gemacht werden, sondern weit eigentlicher auf dem
Gebiete der Ethik und der Religionsphilosophie. Denn es ist
für die hier vertretene Weltansicht der methodologische Kanon
massgebend geblieben: dass die Erkenntniss der höchsten Welt-
ursache definitiv und entscheidend auch nur aus den höch-
sten, uns gegebenen Weltthatsachen geschöpft werden
könne. Es sind dies aber wol zugeständlich die ethisch-
religiösen des menschlichen Bewusstseins , mit ihrer eigen-
thümlichen Evidenz und Ueberzeugungskraft. Und so glaubte
ich von hier aus das Recht zu gewinnen, nicht bei einer
allgemeinen theistischen Weltansicht stehen zu bleiben,
sondern nur in einem „ethischen" Theismus die Vollendung
des ganzen Princips finden zu können.
Gleichermassen folgt aus dieser Betrachtung, dass
nicht jener Begriff einer allordnenden, allgegenwärtig wirk-
samen Weltvernunft, einer „allgemeinen Vorsehung"
genüge, zu deren Anerkenntniss selbst die besonnene Natur-
betrachtung genöthigt ist, um den eigentlichen Charakter
des ethischen Theismus zu bezeichnen. Es muss vielmehr
auf der gesicherten Grundlage jener Anerkenntniss zugleich
der weitere oder höhere Begriff einer „individuellen Vor-
sehung" sich erheben, welcher den factisch hervortreten-
den Widerstreit löst zwischen dem universalen Walten der
Vernunft in der Natur und der (ethisch berechtigten) For-
derung einer Vernunft in der Geschichte des Einzel-
7*
100
menschen, wie der gesammten Menschheit. Die Losung dieser
kühnsten, weil schwierigsten und verwickeltsten Frage habe
ich versucht, wenigstens angebahnt am Schlüsse der „Theisti-
schen Weltansicht''.
Es ist sehr Mannichfaches und Tiefgreifendes, dessen
Berücksichtigung bei dieser Frage zusammentrifft. Von der
einen Seite müssen wir die Thatsache anerkennen, dass
trotz des unbedingten und unvergleichbaren Werthes, den
für unser Urtheil wie für unsem Willen die ethischen
Zwecke besitzen, dennoch weder die äussere Natur noch
auch der geschichtliche Weltverlauf auch nur im geringsten
diesen Werth anzuerkennen scheint oder wie durch ein inne-
res Gesetz genothigt wenigstens mittelbar ihm sich unter-
worfen zeigt. Dem unmittelbaren Anscheine nach wäre man
vielmehr berechtigt, von einer „Ironie des Schicksals", oder,
wie die Alten vermeinten, von einer „Misgunst der Gotter"
zu sprechen, welche das Grosse, Edle, Wohlgemeinte mit
dem Banne trifft.
Dennoch ist es anderntheils dieser Thatsache gegen-
über das gleichfalls nicht aufzugebende Postulat, das Da-
sein und die Wirkung einer „individuellen Vorsehung" für
den Einzelnen wie für die Menschengeschichte, d. h. einer
sittlichen Weltregierung anzuerkennen, die da mitten
im gleichgültigen Wechsel der Naturereignisse und trotz des
entgegengesetzten Anscheines eines geschichtlichen Wider-
standes den absoluten Weltzweck durchzuführen weiss,
ohne dessen Annahme dem gesammten Weltverlaufe über-
haupt kein innerer Werth und keine definitive Bedeutung
beigelegt werden konnte.
Soll aber diese entscheidende üeberzeugung nicht ein
blosses Postulat, ein frommer Wunsch bleiben, wie es
wol zugeständlich bisher sich verhielt: so ist schlechthin von
nöthen, das eigentliche Organ und die bestimmte Wir-
kungsweise kennen zu lernen, durch welche jene „indivi-
duelle" Vorsehung unverkennbar und wie vor Aller Augen
101
ihre Segnungen wie ihre Gerichte vollzieht, also gleichfalls als
Thatsache sich uns kundgibt. Was ich dort darüber vorerst
mehr angedeutet als ausgeführt habe, möge auch in dieser
Gestalt der Beachtung der Mitforscher empfohlen sein.
Dies ist jedoch nur die eine, gleichsam nach unten,
dem Weltbegriflfe zugekehrte Seite Dessen, was hier zu
sagen war. Die andere Seite, in Bezug auf die „Idee" der
absoluten Ursache, und damit zugleich betreffend das viel-
verhandelte Problem der „Persönlichkeit" Gottes, bietet nicht
minder wesentliche Gesichtspunkte zur Charakteristik des
„ethischen" Theismus, wie ich ihn auszuführen versuchte,
im Unterschiede vom altern „speculativen" Theismus,
welchem wir im Vorhergehenden schon in verschiedenen Ge-
stalten begegnet sind.
Das gemeinsam Charakteristische des letztern, wie es bei
Fr. Baader, bei dem spätem Schelling, bei Weisse u.a. erscheint,
lässt sich kürzlich auf folgende Grundzüge zurückführen. Sei-
nen Gegensatz zum Monismus und Pantheismus begründet er
durch die Unterscheidung eines „vorweltlichen" Selbst-
zeugungs- und Selbsterkenntnissprocesses in Gott vom Be-
griffe der „Weltschopfung". Beides ist streng ausein-
anderzuhalten, ohne doch damit bis zur Trennung zwischen
Gott und der endlichen Welt, bis zur Günther'schen „Contra-
position", fortzugehen. Der Erbfehler des Pantheismus in
all seinen Gestalten ist es dagegen, beide Begriffe zusam-
menfallen zu lassen. In jenem ewigen Selbstzeugungs- und
Selbsterkenntnissacte ist nun das wahre, in und für sich
seiende Wesen Gottes vor aller endlichen Welt erkannt.
Darin ist er nicht sowol als „Persönlichket", denn als der
„Dreieinige", als „Dreipersonlichkeit" zu bezeichnen. Aus
dieser selbstgenugsamen Seligkeit, welche der Welt nicht
bedarf, hat nun Gott, durch freie ,,Willens-(Liebe8-)that",
ein Endliches, Seiner Bedürftiges „geschaffen"; und erst
dadurch wird das rechte Verhältniss der „Unterordnung",
nicht der „Identität" des Endlichen und Unendlichen,
102
speculativ begründet und begrifflich festgestellt. Wenn man
dagegen jenen ewigen Selbstzeugungsprocess in Gott auf
die endliche Welt überträgt und in ihr, d.h. im Entstehen
und Vergehen der endlichen Dinge, den Verwirklichungs-
schauplatz dafür sucht: so entsteht der Fantheismus, der
auch in seiner geläutertsten Form nicht dem Vorwurfe ent-
geht, das Ewige verendlicht, damit zugleich aber den Be-
griff der „Schöpfung'' gründlich miskannt zu haben.
Wir an unserm Theile konnten nicht umhin — abgesehen
von dem kritischen Bedenken, von jenem immanenten Pro-
cesse im gottlichen Wesen schlechthin nichts wissen zu kön-
nen, — dem gegenüber den Zweifel auszusprechen: ob man
wirklich dadurch vor einem „Rückfall" in den Pantheismus
so gesichert sei, als man es scheine. Wir suchen und —
finden diese Sicherheit an einer ganz andern Stelle. Denn
jenes ewige „Sichselbstzeugen'' Gottes, welches eine unend-
liche Fülle von Realität in sich birgt, — in welcher andern
Wirklichkeitssphäre kann es auf eine uns begreifliche
und zugleich erkennbare Weise sich vollziehen, als in
der factischen, uns gegenwärtigen Realwelt, jenseits wel-
cher wir keine andere kenneu, noch uns vorzustellen ver-
möchten, weil sie für uns doch nur in Analogie mit der
gegenwärtigen denkbar wie vorstellbar wäre, somit lediglich
in einer unberechtigten Verdoppelung derselben bestände?
Eine ganz andere Gestalt gewinnt jenes Problem auf
dem Standpunkte des ethischen Theismus. Er transscen-
dirt gar nicht in so unberechtigter und bedenklicher Weise,
weil er dessen bewusst bleibt, vom anthropocentrischen
Augpunkte aus, dem allein möglichen und statthaften,
jene Fragen nach dem immanenten Wesen Gottes imd seiner
„Selbstzeugung" gar nicht beantworten, darum auch nicht
aufwerfen zu können mit wissenschaftlicher Berechtigung
und mit Hoffnung des Erfolges auf diesem Erkenntnisswege.
Aber aus gleichem Grunde wird von hier aus auch dem
Pajitheismus in jeglicher Gestalt der Boden einer ange-
103
massten Berechtigung entzogen; denn er ist nicht weniger
transscendent und überfliegend in seinen Behauptungen, als
sein bisheriger Gegner, — man könnte sagen, nur in ent-
gegengesetzter Richtung, wie dieser. Indem er die „Identi-
tät des Endlichen und Unendlichen*' zu seinem Princip,
eigentlicher zu seiner unbewiesenen Voraussetzung macht,
begeht er die schwere Uebereilung, die Gesammtheit der
endlichen Dinge, die Summe alles Bedingten, mit unbe-
dachtem üeberspringen aller Zwischenprobleme, dem Abso-
luten gleichzustellen, ohne nach der Möglichkeit zu fra-
gen, wie diese Unendlichkeit dazu gelangen könne, abso-
lute Einheit, Harmonie, überhaupt „Vernunft" zu sein.
Es ist eine Behauptung, keine Erklärung, noch weniger eine
eigentliche Begründung, wie dies alles im Vorhergehenden
an Hegel sich ergeben hat.
Beiden tritt gleichmässig berichtigend der ethische Theis-
mus gegenüber. Vor allen Dingen dadurch, dass er, in des
Altmeisters Kant Nachfolge, auf die Bedingungen, damit
zugleich auf die scharf gezogene Grenze menschlicher For-
schung hinweist. Und die Erinnerung an unsern lediglich
anthropocentrischen Standpunkt ist eine so unabweis-
bare, zugleich so unmittelbar einleuchtende und an sich ge-
wisse, dass sie, einmal erhoben, keinen Widerspruch, nicht
einmal eine Einwendung zu befahren hat. Sie kann nur
übersehen, aber ihr Recht nicht bezweifelt werden. Und
sicherlich ist es eine echt philosophische That, sogar in ge-
wissen Epochen theoretischer Uebermuthung eine dringende
Pflicht, auf die geziemende Demuth und vorsichtige Selbst-
bescheidung zu verweisen, welche der Forschung nicht min-
der nöthig ist, als sie im sittlichen Leben uns geboten er-
scheint. Ihr allgemeiner Grund aber beruht auf der be-
sonnenen Einsicht, dass der Umfang des unserer Erfahrung
sicher Gegebenen auch die nothwendige Grenze des für uns
sicher Erkennbaren bleibe.
Diesem wohlbegründeten Erkenntnisskanon getreu weist
104
nun der ethische Theismus die Frätension eines directen
(„adäquaten") Erkennens Gottes in jeder Gestalt zurück,
welches consequenterweise nur auf dem (pantheistischen)
Standpunkte der „Identität" des Endlichen und Unendlichen
sich rechtfertigen, annährend sich begreiflich machen Hesse. £r
behauptet dagegen um so entschiedener die Erkennbarkeit
des Urgrundes auf dem Wege des Kückschlusses vom
Weltbegriflfe aus, so gewiss (und zugleich insoweit) Gott
durch seine Wirkungen innerhalb dieser Welt uns sein
Wesen offenbart Damit ist einestheils jener Begriff einer
„Identität" beider principiell abgewiesen, andererseits der
Begriff und der (nicht mehr pantheistisch zu deutende) Cha-
rakter der Bedingtheit und Abhängigkeit des Weltdaseins
festgestellt und durchgreifend gewahrt.
Aus jenem Verhältniss, dass der Urgrund nur auf in-
directem Wege, nur mittelbar erkannt werden könne, folgt
weiter, dass er nicht, gleich einem Erfahrungsgegenstande, in
den Bereich des empirischen Erkennens falle, sondern nur
als der transscendentale Grund der Weltgegebenheit, d.h.
seiner „Idee" nach, gedacht werden könne, indem sich
erweist, dass in dieser Idee allein die erklärende Bedingung,
die Begreiflichkeit der Weltbeschaffenheit gefunden werde.
Der Grad der Gewissheit endlich, welche hiemach dieser
Idee zukommt, entspricht genau der Gewissheit, mit welcher
jene Wirkungen in der Weltthatsache sich auf stetige und
auf universale Art uns bewähren. Es ist für diese Erfor-
schungsweise daher die Möglichkeit einer Steigerung dieser
Gewissheit, überhaupt eine Perfectibilität ihrer Ergebnisse
in Aussicht gestellt, je vielseitiger und zugleich je tiefgreifen-
der die Weltthatsache nach ihren letzten Bedingungen und
Gründen erforscht wird. Ihre Aufgabe ist eine niemals er-
schöpfte,' aber nicht im Sinne eines Schwankens oder un-
sichern Tastens, sondern eine steigernd sich vervollkomm-
nende, auf völlig analoge Weise, wie dies auch von der
105
empirischen Wissenschaft gilt, weil beide auf demselben
Ausgangspunkte ruhen, auf der Erfahrung.
Der Weltbegriff ist dabei die feste Grundlage, das un-
leugbar Sichere, der Schluss auf die ihm entsprechende, weil
ihn allein begreiflich machende Idee ist das durch reines
Denken zu Ermittelnde, mit demjenigen Grade der Gewiss-
heit, welche aus der Sicherheit der Prämissen entspringt.
So entsteht eine sich steigerQde Reihe von Auffassungen des
Weltbegriffs, welchem entsprechend die Idee des Urgrundes
gedacht werden muss. Und aus der höchsten, mensch-
licher Erfahrung gegebenen Weltthatsache wird consequen-
terweise auch allein die vollkommenste Idee des Urgrundes
zu schöpfen sein. Diese endlich wird auch nach rückwärts
sicherlich den höchsten Aufschluss uns gewähren über den
eigentlichen Charakter und die allgemeine Bestimmung des
Weltdaseins. Darum wird es erlaubt sein, zufolge des Grund-
satzes: a potiore fiat denominatio, nach diesem höchsten Er-
gebnisse der gewonnenen Weltansicht auch die unterschei-
dende Bezeichnung für sie zu wählen. Darum „ethischer"
Theismus.
An dieser Stelle nun wäre es überflüssig, jene Keihe
von innerlich sich steigernden Begriffsbestimmungen der Idee
des Urgrundes in ihrer sich ablösenden und damit ergänzen-
den Stufenfolge von neuem begründen zu wollen. Hier
reicht es aus sie kurz zu bezeichnen. Das Absolute^
in abstractester Weise gefasst, als der eine, allein
existirende Urgrund der Welt; entwickelter als „allver-
mittelnde Welteinheit", als „immanente Weltseele", höher
als absolute „Welt Vernunft" (Weltgeist); endlich um alle
vorhergehenden Bestimmungen selbst begreiflich zu machen:
als selbst- und allbewusstes, „transscendentales" Ursubject.
(Was nunmehr nach populärer Bezeichnung ohne Schaden
für den philosophischen Begriff auch „Persönlichkeit"
Gottes genannt werden darf. Denn es wäre nur ein sehr
überflüssiger Namenspurismus, jenes allgemein verständliche
106
Wort zu vermeiden oder darin blos einen menschlich-end-
lichen Er&hrungsbegriff zu sehen, um die allgemeine Wahr-
heit des Begriffes zu verleugnen, deren Anerkenntniss
man sich doch nicht für immer wird entziehen können!
Und hierbei ist vielleicht ein Kückblick auf den ersten Ur-
heber jenes kritischen Bedenkens gegen den Begriff göttlicher
Persönlichkeit, J. G. Fichte, am besten geeignet, den
eigentlichen Sinn und die Tragweite dieses Bedenkens fest-
zustellen. Nur in Betreff der Schranken und der dadurch
bedingten Endlichkeit im Begriffe Gottes weist er den
Ausdruck „Persönlichkeit" zurück. Dem Wesen nach ist ihm
die Gottheit „lauter Bewusstsein, reine Intelligenz , geistiges
Leben und Thätigkeit. Dieses Intelligente aber in einen
Begriff zu fassen und zu beschreiben, wie es von sich
und Anderm wisse, ist schlechthin unmöglich". — ^jBe-
wusstsein Gottes möchte noch zulässig sein. Denn wir
müssen einen Zusammenhang ^ des Göttlichen mit unserm
Wissen annehmen, den wir füglich nicht anders, denn als
ein Wissen der Materie nach denken können, nur nicht
der Form nnsers discnrsiven Benrnsstseliis nach.
Nur das Letztere leugnete ich und werde es leug-
nen, solange ich meiner Vernunft mächtig bin."*] —
So weit Fichte, wovon er auch später nichts zurückgenom-
men hat, noch zurückzunehmen brauchte; denn es wird diese
Erinnerung wol so lange in ihrem Rechte bleiben, als über-
haupt das Princip der „Besonnenheit" der Speculation noch
nicht abhanden gekommen ist.)
Erst in jener höchsten Idee findet die metaphysische
Entwickelung ihr Ziel und ihren Abschluss, weil nur darin
der allerklärende Begriff zur Lösung des Weltproblems ge-
funden ist. Aber auch für den Weltbegriff selbst entstehen
damit neue Gesichtspunkte und eine vertieftere, wie zusam-
*) Die Stellen sind in meiner „Vorrede" zu J. G. Ficht e*s „Sämmt-
lichen Werken«, V. Band, S. XXIX— XXXI, vollständiger angegeben.
107
menhangsvollere Auffassung der einzelnen Weltprobleme.
Wenn Schelling einmal mit richtigem ürtheil und in voller
Wahrheit behauptet hat, dass durch die idealistische Welt-
ansicht ein völlig neues Bildungselement in die gesammte
Wissenschaft, nicht blos in die Speculation, gekommen sei,
so ist mit der Begründung des Theismus der zweite, erst
vollendende Schritt geschehen. Der Begriff der „immanen-
ten Teleologie'^, welcher die eigentliche Errungenschaft dieses
Idealismus ist, — hier wird er theils erst begreiflich und
erklärbar, theils wird er zum fruchtbaren heuristischen Prin-
cipe der gesammten Forschung. Denn der grosse Gedanke
eines „persönlichen" Welturhebers kann einmal anerkannt,
unmöglich blos wie eine vielleicht plausible Hypothese oder
ein unwirksamer Glaubensartikel müssig im Hintergrunde
des Geistes verharren. Es igt dies eine Ueberzeugung von
so entscheidender Wirkung auf Denken wie auf Gemüth,
dass damit die ganze Weltansicht um eine Stufe höher ge-
rückt wird, dass auch das Einzelne, bisher Bedeutungslose
uns in höherm Lichte erscheint. Es entsteht der Begriff
einer „gottoffenbarenden Empirie", von der ich schon
in den Anfängen meines Philosophirens zu sprechen wagte,
die nichts Transscendentes oder Nebulistisches ist, sondern
den eigentlichen Sinn und die Wahrheit Desjenigen enthält,
was der gewöhnliche Empirismus oberflächlich genug „Na-
turgesetz", natürliche Anordnung u. dgl. nennt. Und
nichts Stolzeres, zugleich Begeisternderes kann dem Natur-
erforscher gewährt sein, als die Ueberzeugung, in den Er-
gebnissen seiner Forschung (um das Ewige in menschlichem
Worte auszudrücken) mit göttlichen Gedanken und Be-
schlüssen verkehren zu dürfen. Auch ist dies weder neu,
noch paradox oder überschwenglich. Der innerste Vernunft-
instinct gerade der geistvollsten und glücklichsten Natur-
forscher hat dies lange gewusst und nur in dieser Richtung,
in keiner andern, gewirkt. Es ist, könnte man sagen, eine
theistische Ahnung, welche sie auf das Richtige leitete
108
und mit einer weihevollen, recht eigentlich religiös zu
nennenden Begeisterung erfüllte, welche in dem immer tiefer
erforschten Kunstwerke der Natur ewige Gedanken zu ent-
decken gewiss ist. Und eben dies ist auch wol zugestand-
lieh der unverkennbare Gegensatz, welcher den geistvollen
empirischen Forscher vom geistentfremdeten Thatsachen-
sammler unterscheidet. Dort ein ahnungsvoll idealistischer
Zug nach oben, hier ein bornirter Kealismus , der sich müh-
sam in bedeutungslose Einzelheiten verliert!
Ueber jene Naturoffenbarung hinaus erheben sich indess
die Thatsachen des ethischen und des religiösen Be-
wusstseins. Und erst diesen zugewendet und in ihren Inhalt
sich vertiefend, wird jene Ahnung eines „Weltplanes" imd,
was davon unabtrennlich^ eines höchsten „Weltzweckes"
ein nachweisbarer Begriff und eine innerlich zu erlebende
Thatsache. Beide, wechselseitig sich bestätigend und er-
gänzend, bilden damit die Prämissen einer fest in sich begrün-
deten ethisch-religiösen Weltansicht, die man wol anzweifeln,
bestreiten, nimmermehr aber achtlos beiseiteschieben kann.
Denn sie macht gerade Dasjenige zu ihrem höchsten wissen-
schaftlichen Ergebniss, was in allen Gestalten und Rich-
tungen menschlichen Wollens und Strebens als das einzig
Werthvolle und jedem Einzelstreben allein .Werthgebende
empfunden wird. Es ist die unerschütterliche und darum
auch stets gefühlte Ueberzeugung, deren jedes ideale Streben
gewiss sein muss, um nicht in Widerspruch mit sich selber
zu gerathen, dass es nicht um ein Sinnliches oder Endliches
ringt, sondern dass der menschliche Geist darin gewürdigt
werde, das bewusste Organ eines göttlichen Weltplanes zu
'sein, während dies Bewusst sein eben den „rechten Glauben"
erzeugt und zugleich der innere Lohn seines Strebens ist.
Erst hiermit ist auch die Religion als das Beseelende jeglicher
Cultur aufgewiesen und so in den Mittelpunkt aller Bildung
gestellt, damit aber auch der beengenden Formen entkleidet,
denen sie bisher zu allermeist verhaftet war.
Fünftes Sendschreiben.
Aussichten — vielleicht Hoffnungen — für
die Zukunft deutscher Speculation.
Man hat von einer Philosophie der „Zukunft" ge-
sprochen und eifrig darüber gestritten, welchem der jetzt
herrschenden „Systeme" etwa es beschieden sei, über die
Gegenwart hinaus einer gesicherten Nachwirkung oder einer
wiederhergestellten Oberherrschaft sich erfreuen zu dürfen.
Bisher war man getheilter Meinung zwischen den Ansprüchen,
welche HegeTs oder Herbart 's Lehren, ebenso anderer-
seits Baader oder Krause in diesem Wettkampfe erheben
konnten. Und auch jetzt ist der Streit nicht geschlichtet,
ja überhaupt noch nicht zu einer gemeinsamen, die Gründe
aller Parteien abwägenden Verhandlung gebracht worden.
Nach meinem Dafürhalten kann nur diejenige Weltan-
sicht auf eigentliche „Zukunft", auf dauernde Nachwirkung
rechnen, welche schon eine reiche Vergangenheit hinter
sich hat; d. h. deren Princip und leitender Grundgedanke
im Wechsel der Zeiten und Systeme immer von neuem in
seiner Berechtigung sich geltend macht, in verschiedener
Gestalt und Ausbildung, aber nach einem gemeinsamen Ziele
und zu verwandtem Ergebniss. Nur einer solchen weitumfassen-
den Grundansicht könnte man den Charakter innerer ,>Un-
110
Sterblichkeit" vindiciren , den ephemeren Erzengnissen gegen-
über, welche gewissen einseitigen oder vorübergehenden-
Bildungsrichtungen entsprechen und die nur darin eine rela-
tive Berechtigung finden können, wenn sie mit Scharfsinn
und Consequenz in einem bestimmten „Systeme" sich abge-
schlossen und vollendet haben. Ein solches System ist dann
innerhalb der allgemeinen Entwicklung der speculativen
Wissenschaft an seiner Stelle berechtigt, aber in seiner be-
stimmten Form vergänglich, darum zukunftslos, oder eigent-
licher im Gedächtniss der Vergangenheit aufbewahrt!
Es wird gestattet sein, nach dieser nicht immer zur
Klarheit gebrachten Unterscheidung das Prognostiken zu
stellen für die „Zukunft" deutscher Speculation, wie dieselbe
aus ihrer vor uns liegenden Gegenwart sich entwickeln
dürfte, — wenigstens es sollte! Darum reden wir zugleich
voü „Hoffnungen", von Wünschen.
Die trübseligen Philosophien des Welthasses und der
Weltanklage zunächst, wie sie heute Beistimmung, wenig-
stens theilweise Anerkennung gefunden, mochten kaum jenen
Vorzug innerer Unsterblichkeit besitzen. Sie sind patholo-
gischer Natur; sie entspringen subjectiven Stimmungen,
welche dem Subjecte allerdings berechtigt scheinen mögen;
die darum auch wiederkehren von Zeit zu Zeit und geistvolle
Vertreter finden in Dichtung mehr als in Wissenschaft.
Aber es ist gerade der Erfolg einer gründlichen speculativen
Bildung, den Geist über jene Regungen hinaus durch freie
Einsicht auch zu einer gefesteten Stimmung zu erheben.
Der weithin herrschende Pantheismus unserer Tage
andererseits enthält ein grosses, relativ sogar berechtigtes
Princip. Meine bisherige Berichterstattung mochte indess
gezeigt haben, dass der Pantheismus als solcher, nach rück-
wärts gewendet, einem dualistischen, Gott und Welt tren-
nenden Deismus gegenüber, hochberechtigt war, nunmehr
aber im gegenwärtigen Stadium der Speculation sich aus-
gelebt habe. Was konnte nach HegePs in dieser Richtung
111
abschliessenden Leistungen noch Höheres versucht werden?
Wer vermöchte , oder wer mochte auch nur diese PaJme des
Verdienstes ihm streitig machen? Aber zu seiner Lehre,
wie zu seiner gesammten Anschauungsweise wird die Zukunft
schwerlich zurückkehren^ wenn auch die Gegenwart noch
keineswegs jenem Bildungsstandpunkte nach seinem allge-
meinen Geiste wie seinen Nebenfolgen völlig sich zu ent-
winden vermochte.
Sie selbst im Schlussabschnitt Ihres Werkes bemerken
über jene Frage der „Zukunft": dass durch die Rückisicht-
nahme der neuern Speculation auf die Ergebnisse der em-
pirischen Forschung nicht vorauszusehen sei, „wie bald und
in welcher Weise es wieder zu einem einen kleinern oder
grössern Zeitabschnitt beherrschenden Systeme kommen
werde" (S. 915). Sie scheinen damit einen Mangel, eine
Art von üncorrectheit der gegenwärtigen philosophischen
Entwickelung andeuten zu wollen, da nach dem bekannten
Hegel'schen Kanon der regelrechte Verlauf der Speculation
in einer nur stetigen Reihe sich vollziehen soll, wonach
ganz folgerichtig jedesmal blos ein „System" das herr-
schende zu sein das Recht hat, während die andern werth-
los dagegen abfallen.
Ich lasse unentschieden, ob ich damit Ihre eigene Ueber-
zeugung getroffen; ich erlaube mir nur die Bemerkung, dass
ich darüber entgegengesetzter Meinung stets war und noch
bin. Abgesehen von den Befangenheiten und Vorurtheilen,
welche die geschichtliche Auffassung der Systeme dadurch
sich aufladet, ist aus tiefern und allgemeinern Gründen diese
Ansicht abzulehnen. Wozu die „allgemeine Herrschaft"
eines Systems zu irgendeiner Zeit überhaupt nothwendig sei,
ja was sie bedeuten, worin sie bestehen solle, ist höchst
unklar und fraglich. Auch hat sie historisch in eigentlichem
Sinne kaum irgendeinmal bestanden, d. h. ist sie allseitig
anerkannt worden , wenigstens nicht im Bereiche der neuern
Speculation.
112
Ein philosophisches System vollends „aus einem Stück'^,
welches in stetiger, rein begriffsmässiger (überempirischer)
Gedankenentwickelung das ganze Universum zu umspannen
und die „innere Dialektik ^^ des Weltprocesses darzulegen
sich getraut, ist theoretisch betrachtet ein unvoUziehbares
Ideal, praktisch erwogen eine jetzt mehr als je unmögliche
Au%abe, auch wenn die methodischen Voraussetzungen,
welche jener Frätension zu Grunde liegen, überhaupt richtig
oder irgendwie erwiesen wären. Bei dem gewaltigen Um-
fange neuer Probleme und Aufgaben, welche durch das
täglich sich häufende empirische Material auch für das philo-
sophische Denken angeregt werden , ist eine andere Methode
mit zunächst gesonderten Untersuchungsgebieten in Anwen-
dung zu bringen, was in wirklicher Ausführung auch für
die Speculation sich wol am kürzesten als „Theilung der
Arbeit" charakterisiren lässt. Bei einer solchen Theilung
wird das fest Zusammenschliessende, gemeinsam Orientirende
offenbar nicht mehr in einem schon fertigen aprioristischen
Schematismus bestehen können, in welchen die einzelnen
Untersuchungsgebiete encyklopädisch eingeschaltet werden
(auch dies ist versucht und solche „philosophischen Ency-
klopädien" mannichfach entworfen worden).
Vielmehr kann jetzt jenes Einende nur liegen in einem
gemeinsamen Grundbegriffe, — nennen wir ihn Hypothese
oder eine noch nicht zu voller Gewissheit gelangte Grundan-
schauung, welche jedoch der Fortgang der Untersuchung
immer mehr zu bestätigen verspricht, — kurz Dasjenige,
was ich als „heuristisches Princip" zu bezeichnen gewohnt
bin. Die methodologischen Bedingungen dieses Verfahrens
sind iin Vorhergehenden erörtert worden, und eine Probe
der Ausführung mochte vielleicht die „Theistische Weltan-
sicht" darbieten.
Ueber diese durchgreifende Umgestaltung der philoso-
phischen Forschungsweise volle Klarheit und grosseres Ein-
verständniss zu erzeugen, scheint mir der erste Schritt,
113
welcher die neue philosophische Epoche von der unmittelbar
vorhergehenden, bisher wenigstens vorherrschenden, scharf
abscheiden und die Forschung in neue Bahnen lenken muss.
Er ist, wiewol zunächst nur methodologischer. Natur, den-
noch durchgreifend und entscheidend. Er macht der soge-
nannten „Oberherrschaft" eines einzelnen Systems, als einer
unberechtigten , wenigstens überflüssigen Prätension , ein
Ende. Er nothigt zu steter, wechselseitiger Rücksichtnahme,
theils auf die Leistungen der andern philosophischen For-
scher, theils auf die Ergebnisse der empirischen Wissen-
schaften, ohne deren feste Unterlage das eigene Werk un-
sicher oder lückenhaft bleibt. Und erst dadurch allein, —
dies sei wohl erwogen, — kann auch die philosophische
Forschung überhaupt das Ansehen und Vertrauen wieder-
gewinnen, welches sie nicht ohne eigene Schuld verscherzt
hat, das aber einem Kant und seiner besonnenen Methodik
niemals entzogen war. Eben dies war es endlich, was gleich
bei meinem ersten Hervortreten mich zu dem damals so sehr
mir verargten Ausspruch veranlasste: es sei wieder auf den
„ehrlichen" Forschungsweg Kant's zurückzukommen. Die
nächste Folgezeit hat den Sinn dieses Ausspruchs sich an-
geeignet, und seitdem ist Kant von Neuem der Ausgangs-
punkt kritischer Erforschung geworden, nicht um bei ihm
stehen zu bleiben, sondern um sich zu orientiren über das
gesicherte weitere Fortschreiten auf jener Grundlage.
Und auch Sie scheinen nach den Andeutungen am
Schlüsse Ihres Werkes nicht durchaus abgeneigt, dieser
Auffassung sich anzuschliessen. Sie heben hervor, dass der
Widerspruch der empirischen Wissenschaften mit den „Be-
hauptungen*' der Speculation (bei Schelling und Hegel) ein
durchgreifendes Mistrauen erzeugt habe gegen das aprio-
ristische Construiren überhaupt. Der Einfluss der Natur-
wissenschaften auf die „Methode", wie auf die „Ergebnisse"
der Philosophie sei unverkennbar. Erst durch Benutzung
des ganzen empirischen Materials, um darauf die philoso-
Fichte, Fragen und Bedenken. 3
114
phische Forschung zu gründcD, sei fortan in ihr weiter zu
kommen. Zudem würden die Berührungspunkte zwischen
Physik und Metaphysik, zwischen Physiologie und Psycho-
logie taglich sichtbarer; die Physiologie unserer Zeit habe
der Psychologie grosse Dienste geleistet und verspreche ihr
noch grossere, u. s. w. (S. 912 — 914).
Alle diese Zugestand nisse von Ihrer Seite, dem aner-
kannten Vertreter der Hegel'schen Lehre und Richtung unter
uns, lassen voraussetzen, dass auch Sie gegenwärtig, was
wir andern schon lange gethan , zu zweifeln beginnen an der
wissenschaftlichen Haltbarkeit ihrer Methode und ihres ganzen
Princips. Wie weit auch der Zweifel an der Wahrheit ihrer
speciellen Ergebnisse sich erstreckt, darüber haben Sie uns
einigermassen im Dunkeln gelassen.
Doch vielleicht kann uns in diesem Betreff Ihr Bekennt-
niss über die hohe Bedeutung des ^,Idealismus^^ einen
Wink geben, welches Sie in demselben Zusammenhange
ablegen und damit zugleich das Gesammtergebniss Ihres
Werkes zusammenfassen (S. 915 — 917).
Jener, der Idealismus, ist nach Ihnen die eigenthüm-
lichste Erscheinung des deutschen Geistes; denn er wurzelt
in der Innerlichkeit und der Tiefe unsers Gemüthslebens und
treibt aus dieser immer neue Blüten in Dichtung wie in
Speculation. Wie die Mystik eines Eckart und Jakob Böhme
aus ihm entsprang, so sei die Reformation und der Huma-
nismus das hervorragendste Erzeugniss dieses Geistes. Mit
anderm Erfolge jedoch und in bescheidenerer Form , als bei
den benachbarten Cultumationen; denn die deutsche Refor-
mation unterscheide sich von der schweizerisch-franzosischen
und von der englischen in erster Reihe auch dadurch, dass
ihr jeder Trieb einer nach aussen wirkenden Thatkrafb ab-
gehe. Auch das Studium des classischen Älterthums sei für
uns nur zu bald ein Änlass geworden, über der bewundern-
den Betrachtung einer vergangenen Welt die eigene natio-
nale Gesinnung hintanzusetzen. Die deutsche Aufklärung
115
endlich enthalte nur wenig von den politischen Trieben der
franzosischen; und während in unserer Dichtung die herr-
lichsten Blüten einer schonen Menschlichkeit sich entfalteten,
wurden über der kosmopolitischen Begeisterung die nächsten
Bedürfnisse der Gegenwart und der Heimat fast vergessen.
Darum sei es nicht zu verwundern, dass das deutsche Volk
auch in seiner Philosophie überwiegend dem idealistischen
Zuge seiner Natur folge. Von Leibniz bis auf Hegel bleibe
die Tendenz immer dieselbe; die Aussenwelt werde bald
unmittelbar aus der innern hergeleitet, bald wenigstens nach
der Analogie dessen erklärt, was unser eigenes Bewusstsein
uns zeigt. Der Geist ist das Erste und das Letzte;
die Natur ist nichts Anderes als die Erscheinung
des Geistes.
In Hegel's apriorischer Construction des Universums
habe dieser Idealismus seine systematische Vollendung
gefeiert. Seitdem aber sei (aus dem oben schon angegebenen
Grunde) eine Stockung der philosophischen Productivität,
eine allmähliche Zersetzung der grossem Schulen eingetreten;
eine Zerfahrenheit und Unsicherheit habe sich der philoso-
phischen Bestrebungen bemächtigt; was Alles erkennen lasse,
dass das Bedürfniss einer veränderten Richtung
des Denkens sich geltend mache. Am Entschiedensten
trete aber dabei das Bedürfniss der Philosophie hervor, sich
an der Erfahrung zu orientiren und den Idealismus durch
einen gesunden Realismus zu ergänzen« „Die Zukunft
der deutschen Philosophie in erster Stelle wird davon ab-
hängen, in welchem Grade es ihr gelingt, sich das Auge
für die thatsächliche Beschaffenheit und den tiefer liegenden
Zusammenhang der Dinge für die subjectiven und die ob-
jectiven Elemente der Vorstellungen, für die natürlichen
Ursachen und die idealen Gründe der Erscheinungen gleich
offen zu erhalten ^^ (S. 917).
Wenn dieses Bild unserer Vergangenheit und diese For-
derungen an unsere Zukunft, im Allgemeinen wenigstens,
8*
116
die BeistimmuDg jedes Einsichtigen und tiefer Denkenden
finden werden: so lassen sie doch für Denjenigen, welcher
daraus bestimmtere philosophische Belehrung und eine schär-
fere Orientirung über eben diese Zukunft zu erhalten wünscht, .
manche Frage unerortert, manchen Zweifel ungelöst. Auch
tritt die Grunddifferenz unserer beiderseitigen Ansichten eben
hier am Schlüsse in bestimmtester Weise und an ihrer ein-
leuchtendsten Stelle wieder hervor.
Ich lasse zur Seite das beinahe traditionell gewordene
„Vornrtheil" des Hegelianismus (vergeben Sie mir der Kürze
halb diesen Ausdruck!), nach welchem Sie in Hegel allein
den Abschluss der Kant'schen Philosophie und ihr rechtes
Ergebniss finden, wo doch seine Zeitgenossen und Mitstre-
benden, von der realistischen Seite ein Herbart, von der
subjectiven ein Fries, von der entgegengesetzten objectiven
Seite ein Schelling, ein Schleiermacher, ein Krause
und vor allen Fr. Baader, mit seinen auf Tieferes deuten-
den Anregungen das Recht haben, mitgenannt und in ihrem
Werthe miterwogen zu werden. Ich glaube darüber im
Vorhergehenden das Nothige gesagt zu haben und berufe
mich darauf.
Von bedeutenderm Belang ist die üngenauigkeit, den
Idealismus Kant's und den von Hegel als ganz derselben
Art zu bezeichnen , somit jenen als die Wurzel und den noch
unentwickelten Keim, diesen als das wahre Ergebniss und
die einzig rechte Vollendung zu behaupten. Diese Auffassung
ist nicht nur historisch durchaus unrichtig, sondern sie hat
auch für die Zukunft, für die Fortbildung der Philosophie
die schwersten Misverständnisse im Gefolge. In Kaufs
Idealismus ist ein Element, das der Subjectivität, gerade
das wichtigste und sorgsam zu pflegende, nicht mit einge-
gangen in den objectiven Idealismus Schelling^s und
HegePs. Nicht Kant hat in Hegel „seine Vollendung ge-
feiert", sondern die pantheistische Richtung Spinoza 's,
dessen starrer, realistischer Monismus allerdings durch den
117
■
Geist des Idealismus „verklärt" (wie einst Schelling sagte),
zugleich auch verständlicher gemacht worden ist. Dies hat
ebensowol Schelling in seiner Kritik Spinoza's (in der Ab-
handlung „über die Freiheit") zutreffend nachgewiesen, als
das Nämliche auch der bekannten HegePschen Behauptung
zu Grunde liegt, dass der (spinozistische) Begriff der Sub-
stanz durch den Begriff der Subjektivität ergänzt werden
müsse.
Aus dem Allen scheint indess noch das Weitere zu
folgen, dass wer gleich Ihnen in diesem Hegel'schen Idea-
lismus nicht blos die „Vollendung" Kant's sieht, sondern
überhaupt definitive Wahrheit findet, — und Sie haben an
keiner Stelle Ihres Werks dieser Auffassung direct wider-
sprochen: — dass ein Solcher consequenter Weise unmög-
lich der Richtung beistimmen könne, mit welcher die nach-
hegel'sche Speculation auf den echt Kantischen Geist der
Forschung zurücklenkt, die „apriorische Construction" ver-
lässt und an der Erfahrung sich zu orientiren sucht. Sie be-
richten zwar von dieser neuen Wendung; aber Sie misbilli-
gen, wie es scheint, keineswegs Dasjenige, was einem über-
zeugten Hegelianer ein offenbarer Rückfall in den überwunde-
nen Kantischen Standpunkt erscheinen muss. Und der alte
Hegel, der Consequenz seines Princips bewusst, würde sehr
energisch gegen eine solche Ergänzung oder angebliche
Weiterführung seiner Lehre protestirt haben. Hier liegt ein
innerer Widerstreit der Principien vor, ein Entweder — Oder,
kein Sowol — Alsauch; und keineswegs also, wie es bei
Ihnen erscheint, kann das wahre Verhältniss zwischen Kant
und Hegel bestimmt werden. Hier daher von Neuem wird
die Ungewissheit rege, welche mich überhaupt bei dem Stu-
dium Ihres Werkes begleitet hat: was Ihre eigentliche und
eigene Meinung sei über die nächste Fortbildung „deutscher
Speculation", für welche der beiden entgegengesetzten
Richtungen in derselben, die annoch im Kampfe liegen, Sie
definitiv Farbe bekennen wollen.
118
Ich selbst kenne innerhalb des Umkreises, welchen. Ihr
Werk umfasst, überhaupt nur zwei bahnbrechende und in
diesem Sinne zugleich prophetische Geister deutscher Spe-
culation: es ist Leibniz und es ist sein grosser, in anderer
Richtung ihn ergänzender Nachfolger, Immanuel Kant.
Und auch Sie scheinen dem Erstem wenigstens jene beson-
dere Bedeutung zugestehen zu wollen, nach der hervor-
ragenden Stellung, welche Sie ihm und seiner Lehre in
Ihrem Werke gegeben haben. Doch habe ich selbst dabei
nicht sowol im Auge den epochemachenden Einfluss> welchen
er auf seine nächste Folgezeit übte. Auch rede ich hier
nicht von seiner allgemeinen wissenschaftlichen Bedeutung,
von seinem vermittelnden Geiste und der Neigung, auch in
gegnerischen Ansichten noch ein Berechtigtes herauszufinden,
nicht von der innigen Frömmigkeit seines Wesens, die in
der höchst merkwürdigen (auch von Ihnen angeführten)
kleinen Schrift „von der wahren theologia mystica" bis zum
tiefsten Kerne der Mystik und der Theosophie sich erhebt.
Nicht auf dies Alles kommt es mir an, wiewol es hinreichen
würde, jenen Genius auch jetzt noch jedem Spätem als vor-
leuchtendes Muster wissenschaftlicher Denkart vorhalten zu
können. Ich rede von den grossen , durchgreifenden Grund-
gedanken, welche er angeregt hat und die eine ganze Welt
von allgemeinen, noch weiter zu entwickelnden Wahrheiten
in sich bergen.
Er hat jederlei Dualismus überwunden, sowol den von
Descartes und der ganzen Denkart seiner Zeit ihm über-
kommenen von „Materie" und „Geist", als den ebenso
hemmenden und die rechte Einsicht störenden Gegensatz
von „Mechanismus" und „Teleologie"; endlich den
noch tiefer greifenden Gegensatz von „Monismus" und
„Individualismus", und diesen zwar also, dass bei ihm
jedes dieser beiden Principien auf das andere hinweist und
es als noth wendig Ergänzendes fordert. Mit einem Worte:
er hat im Principe und Ausgangspunkt überwun-
119
den all die Gebrechen, mit denen grosstentheils
noch jetzt unsere philosophische Bildung beiiaftet
ist, welche daher von ihm auch jetzt noch Befreiung, tiefere
Orientirung, weitern ümblick empfangen könnte.
Und er hat jene Gebrechen überwunden, — auch dies
sei nachdriicklich hervorgehoben, — durchaus nicht eigent-
lich auf dem Wege der von ihm empfohlenen „mathematisch
demonstrativen Methode", welche überhaupt nicht erfindet,
sondern das Gefundene nur in logischer Ordnung vorträgt,
noch auch infolge „speculativer" Begriffsentwickelung von
einem höchsten Principe herab, sondern ganz im Gegen-
theil auf dem heuristischen Wege der Induction, durch
eindringendstes Studium des Charakteristischen der Tliat-
sachen und auf dem Wege des darauf gebauten Rück-
schlusses von der Folge auf ihren „zureichenden" Grund
und des Analogieschlusses. Seine Monadologie, seine
ganze dynamische Weltansicht, welche nichts Todtes, keine
äusserlich mechanischen Wirkungen als letzten Grund der
Veränderungen aüerkennt, sondern nur aus dem eigenen
Innern der „Kraftwesen"*) sich entwickelnde Verände-
rungen zulässt, — sie sind keine mühsam erdachten Hypo-
thesen, sondern das Erzeugniss der Beobachtung eines in
jeder Veränderung der Weltwesen sich kundgebenden indivi-
dualistischen („monadischen") Princips, welches unver-
tilgbar sich behauptet und jeder Veränderung seine Eigen-
*) Dies ist nämlich nach Leibniz der einzig richtige Begri£f der
Substanz. Sie sei nicht ohne den Begriff wirksamer Kraft (vis
activa) zu denken, welche nicht etwa, im Sinne der Scholastiker, bios
ein schlummerndes Vermögen bezeichne, das erst des Anreizes von Aussen
bedürfe, um in Wirksamkeit zu treten, sondern vielmehr stets und von
selbst wirksam sei, sobald die Hindemisse seines Wirkens beseitigt sind.
Demgemäss sei jede Substanz stets in Veränderung aus sich selbst be-
griffen, die aber eben damit auch eine hlos innerliche bleibe. Das
Reale in jedem Dinge ist einzig seine Kraft zu wirken. Was wir
dagegen unmittelbar an ihm wahrnehmen , ist nichts als eine der Erschei-
nungen > welche aus dieser Kraft sich ergibt.
120
thümliübkeit aufdrückt. Darum muss es^ein Beharrliches,
von ausseu her Unzerstörbares, zugleich einheitlich Ge-
schlossenes (,^Monas^^) sein.
Aber ebenso zeigt die Beobachtung weiter, dass die
Gesammtheit jener monadischen Wesen (das Weltganze) in
ihren Wirkungen und Veränderungen dem Erfolge nach
das durchgreifende Gepräge einer innern wechselseitigen
Entsprechung, einer „vorherbestimmten Harmonie^^, an
sich trage, deren „zureichende Ursache ^^ weder in einem
Einzelnen aus der Keihe derselben, noch auch in ihrer
Gesammtheit als solcher liegen ^önne. Sie kann nur
ausserhalb dieser Reihe in einem „ überweltlichen ^^ Wesen
gesucht werden. Ebenso muss diese Ursache nach den
Wirkungen und Erfolgen, welche das Weltganze uns zeigt,
als vollkommenste Intelligenz gedacht werden, was auf
den Begriff eines „Schopfers" zurückweist.
Diese ganze, durch ihren Ausgangspunkt vom That-
sächlichen sicher festgestellte Beweisführung des Denkers,
welche eben damit der vielfachsten Ausführung und weiterer
Bestätigung fähig ist — wie sie denn im vorigen Jahrhun-
dert zu manchen kleinlichen und schiefen Anwendungen der
Teleologie Veranlassung gegeben, ohne dadurch ihren innern
unverwüstlichen Werth zu verlieren, — sie kann richtig er-
wogen und eben auf jenen innern Werth zurückgeführt, gleich-
massig den einseitigen Monismus widerlegen (Spinoza und
den Pantheismus überhaupt; — „gäbe es thatsächlich keine
Monaden, so hätte Spinoza Recht ^^, sagt Leibniz durchaus
zutreffend), wie den nicht minder einseitigen Individualis-
mus (Herbart und den Empirismus überhaupt; — denn:
„gäbe es kein inneres Entsprechen der Weltwesen, keine
«vorherbestimmte Harmonie» derselben, so konnte der Em-
pirismus genügen", vermöchte Leibniz mit ganz gleichem
Rechte zu sagen).
Aber in allem Diesen ist zugleich die bündigste Ver-
mittelung von Mechanismus und Teleologie enthalten;
121
und wahrhaft unbegreiflich bleibt es , wie nach den Leistungen
Leibnizens in dieser Hinsicht eine angeblich ,,6xacte^^ Natur-
forschung noch immer sich einbilden könne, aus mechani-
schen Ursachen allein den Weltzusammenhang, eben
jenes innere Entsprechen der Dinge, genügend zu erklären.
Leibniz hat, so darf man wol behaupten, die mechanische
Erklärungsweise bis an die äusserste, d. h. an die allein be-
rechtigte Grenze ihrer Geltung gefuhrt, und im Besondem
zu ihrem vollen Rechte gebracht, indem er z. B. die New-
ton^sche Lehre von der allgemeinen Anziehungskraft der
Korper, als eine unbegreifliche „Wirkung in die Ferne",
ebenso die Hypothese von einem ersten Anstosse der kos-
mischen Bewegung durch einen gottlichen Willensact aus-
drücklich verwirft, als ein nichtserklärendes ^ den stetigen
Naturzusammenhang durchbrechendes „Wunder". Alle Vor-
gänge und Veränderungen in der Natur geschehen nach
stetig wirkenden^ rein mechanischen Gesetzen. Denn infolge
des allgemeingültigen Causalitätsgesetzes kann jede er-
scheinende Wirkung nur die genau entsprechende Folge
ihrer Ursache sein. Sein System ist von dieser Seite ein
streng deterministisches. Sofern wir aber den (zweck-
mässigen) Erfolg jener mechanischen Wirkungen im Ein-
zelnen, ebenso die Gesammtheit dieser Erfolge im Welt-
ganzen ins Auge fassen, so genügt nicht mehr jene blos
deterministische Erklärungsweise eines blind wirkenden Mecha-
nismus. Wir müssen als den letzten Grund aller mecha-
nischen Wirkungen eine zwecksetzende Weltursache an-
erkennen. So Leibniz!
Von diesem Funkte aus — es ist die Thatsache einer
„vorausbestimmten Harmonie" zwischen den Weltwesen -—
lässt sich nun auch die Metaphysik Leibnizens richtig be-
urtheilen; — mit ihren Kühnheiten (z. B. dem Begriff der
„besten Welt", angeblich nach getroffener „Auswahl" Gottes
unter den gleichmöglichen andern Weltplanen, nach dem
Motive der höchsten Vollkommenheit und des Guten), wie
122
mit ihren Paradoxien (z. B. von dem absoluten Wider-
spruche und der Unmöglichkeit irgendeiner directen Ein-
wirkung der Monaden aufeinander). Ebenso kann man erst
von hier aus sich befriedigend erklären, was der eigentliche
Grund der unverkennbaren Einseitigkeit war , in welcher die
Lehre sich abschliesst: Determinismus und iiber wiegendes
Hervortretenlassen der Transscendenz Gottes, dem nicht
minder berechtigten, hier aber zurückgedrängten Begriffe
seiner Immanenz gegenüber. Und eben die letztere Wen-
dung hatte jenen Determinismus unvermeidlich im Gefolge, wel-
cher das System auch in seinen Einzelergebnissen beherrscht,
seinem eigentlichen Geist aber widerspricht. Denn es ist daran
zu erinnern, dass die Anerkenntniss der Individuation prin-
cipiell eine Widerlegung des Determinismus in sich schliesse.
Die Einseitigkeiten und Irrthümer eines grossen Genius
nach ihren innern Gründen zu würdigen, bleibt indess far
die Nachkommen von der belehrendsten Wirkung. Solcher
Nachweis hat nämlich das Doppelte zu zeigen: die ursprüng-
liche Berechtigung jener Einseitigkeit und damit ihre rela-
tive Wahrheit im ersten Entstehen; aber ebenso tritt klar
dabei zu Tage, was weiter dazu kommen müsse, um jene
relative Wahrheit zu ergänzen und zur vollständigen Wahr-
heit abzuschliessen.
Dabei ist vor Allem zu wiederholen, dass der Begriff
der „vorherbestimmten Harmonie^', d. h. des innern ursprüng-
lichen Entsprechens der Weltwesen, keines^wegs eine philo-
sophische Hypothese ist, dazu bestimmt oder ersonnen, um
etwas Thatsächliches zu erklären; sondern umgekehrt ist er
allein und lediglich die Bezeichnung einer Universalthat-
sache, welche selbst zu erklären eine der philosophischen
Aufgaben sein wird. Als Thatsache daher ist sie keinem
Zweifel unterworfen. Denn ebenso gewiss, als eine Mannich-
faltigkeit von Realen „gegeben" ist, steht mit gleicher Ge-
wissheit die Thatsache fest, dass diese Realen nicht be-
ziehungslos vereinzelt blos nebeneinanderbestehen^ sondern
123
eine innere Wechselbeziehung, eine Ordnung bilden, welche
auf eine ordnende Ursache zurückweist. Wie jene Wechsel-
beziehung zu erklären, ist von hier aus ein, verschiedener
Auslegung unterworfenes philosophisches Problem und eine
offene Frage.
Für Leibniz nimmt dagegen jene Thatsache einer
„prästabilirten Harmonie" unvermerkt den Charakter eines
philosophischen Erklärungsprincips an; ja sie wird ihm
zum Hauptbeweisgrunde für sein ganzes System. Nach dem
* von ihm auf die abstracteste Spitze getriebenen Begriffe des
untheilbar Einfachen, Monadischen, soll schlechthin keine
reale Wechseleinwirkung zwischen den Monaden möglich
sein, vielmehr nur eine ideale. Dies ideale Entsprechen
lässt sich jedoch nur also denken, dass es als ursprüng-
liche Anlage in die Realwesen „eingeschaffen" sei, welche
nunmehr, unabhängig voneinander, „zweien gleichgestellten
Uhrwerken vergleichbar", diese ideale Harmonie im Welt-
ganzen darstellen, mit der Noth wendigkeit einer ewigen
Vorausbestimmung. Resultat: unbedingter Determinismus.
Dass diese ursprüngliche, höchst vollkommene und kunst-
reiche „Einrichtung" des Weltganzen nur das Werk eines
höchst vollkommenen, allmächtigen und allweisen Geistes
sein könne, leuchtet ihm unmittelbar ein. Und so stützt
Leibniz seine eindringenden Beweise von Gottes Dasein im
Wesentlichen und Ganzen unmittelbar auf die Gewissheit
der „prästabilirten Harmonie", mittelbar eigentlich doch
aber nur auf seine precäre Hypothese von der Unmöglich-
keit einer directen Wechselwirkung unter den Monaden.
Dies ist der schwache Punkt seines Systems, welches von
hier aus einer Fortbildung entgegengeführt werden muss.
Was meines Erachtens dafür der geeignete historische An-
knüpfungspunkt sei, dafür scheint mir der Weg sehr klar
vorgezeichnet. Er kann nur in einer verbessernden Umbil-
dung des monadologischen Grundgedankens bestehen. Was
Herbart dafür geleistet, ist im Vorhergehenden erörtert
124
worden. Was weiter von da aus geschehen muss, habe ich
in meiner ^, Anthropologie^^ nachzuweisen versucht, ausgehend
von einer Kritik des altern Atomismus und einer Umgestal-
tung des bisherigen Raum- und Zeitbegriffes.
Andererseits wird jedoch durch diese ganze determini-
stische Grundansicht Leibnizens Lehre dazu hingedrängt,
den Immanenzbegriff auf das geringste Mass innerer Be-
rechtigung einzuschränken, ja beinahe ganz zu eliminiren.
Gott ist nach den eigenen Erklärungen des Denkers der
„Baumeister*' einer höchst vollkommen eingerichteten „Welt-
maschine'S ^^^ ^ factischen Weltverlaufe von Anfang an
bis zu dem seit Ewigkeit ihr vorgesteckten Ziele aus eigenem^
in sie hineingelegten Vermögen selbständig sich abspinnt.
Die „prästabilirte Harmonie*' ist somit eine anticipirte voll-
ständige „Vorsehung". Die „Welterhaltung", deren Begriff
Leibniz allerdings sehr stark betont, kann für ihn nur die
Bedeutung übrig behalten, indem Gott ja überhaupt als die
Quelle aller Realität und alles Bestehens der endlichen Dinge
gedacht werden muss, dass er das Weltganze in seinem
Allgemeinbestande formaliter erhalte, ohne doch realiter,
mit seinem „Willen", als eigentliche „Vorsehung", in ihm
gegenwärtig zu sein. Und diese Denkweise von Leib-
nizens Nachfolgern weiter ausgesponnen und popularisirt,
ist eben die Ursache jenes Deismus geworden, welcher die
Aufklärungsperiode charakterisirt und mit dem man bis auf
M. Mendelssohn hin den Spinozismus zu bekämpfen
trachtete, dessen eigene Einseitigkeit, wie geist- und gemüth-
lose Starrheit jedoch ganz im Gegentheil dem Spinozismus
zur Wiedererstehung verhalf. Die Vorankündiger dieser
Wendung waren Lessing und Herder, welche, jeder in.
anderer Weise, jenen Gottesbegriflf ungenügend, die deisti-
schen Vorstellungen „ungeniessbar" fanden; bis Kant durch
sein mächtiges Auftreten auch diese Frage unter ganz neue
Gesichtspunkte brachte.
Doch mochte ich nicht so weit gehen, aus allen diesen
125
Gründen mit Ihnen zu behaupten (S. 177 fg.), dass dieser
Theismus um seiner deterministischen Consequenzen willen
in Gefahr sei, auf den ^ Substanzbegriff Spinoza's zurückzu-
fallen, indem Gott, als AUbewirker in jeglichem Welt-
wesen und dessen gesammten Verändenmgen, eigentlich nicht
mehr blos der „Schöpfer", sondern die „Substanz^^ aller
endlichen Wesen sei. Es bleibt doch ein principieller Gegen-
satz bestehen selbst zwischen jenem Deismus und dem pan-
theistischen Substanzbegriffe, wie vielmehr noch zwischen
diesem und dem vollständig ausgebildeten Theismus, welcher
gerade durch den Begriff der Immanenz hindurch den
Begriff der Transscendenz begründet. Denn schon im
Principe besteht eine nicht zu überbrückende Kluft zwischen
dem Substanzbegriffe, werde er nun in spinozistischer oder
in hegerscher Weise gedacht, und dem theistischen Grund-
gedanken eines absoluten Subjects, oder populär ausge-
drückt: zwischen Urpersonlichkeit von Anfang und im Prin-
cipe und dem Begriffe eines endlosen Persönlichwerdens des
göttlichen „Geistes'^ in den menschlichen Individuen.
In welcher Art endlich der eigentliche, d. h. erfahrungs-
mässige Begriff von der Immanenz Gottes zu begründen
sei , darüber habe ich schon im Vorhergehenden mich erklärt.
Es liegt in der einfachen Consequenz dieser ganzen Unter-
suchungsweise, dass er nur erschlossen werden könne aus
der höchsten Wirkung des absoluten Geistes in dem unserer
Erkenntniss zugänglichen Gebiete der Thatsachen, d. h. aus
der höchsten Weltthatsache, welche dem menschlichen
Bewusstsein sich darbietet. Und unbezweifelt . ist diese die
ethisch-religiöse, in dem ganzen reichen Umfange ihrer
(weltgeschichtlichen) Wirkungen. Damit werden wir jedoch
zunächst wiederum an Kant verwiesen, so befremdlich viel-
leicht dies Wort manchem auch erscheinen möge.
Leibniz hat zu wiederholten malen erinnert, dass das
einzige Reale, welches wir unmittelbar und darum auf
126
wahrhafte Weise zu erkennen vermögen, lediglich unser
eigenes Innere, unsere Seele sei. Darum können wir nur
nach Analogie ihres Wesens auf das Wesen, das „Innere",
des Realen ausser uns schliessen. Diese einfache, aber ent-
scheidende Betrachtung hat nun Kant zum Mittelpunkt
seiner Lehre gemacht , freilich ohne damit historisch an den
Gedanken Leibnizens anzuknüpfen, da er vielmehr bezeugt,
durch Hume^s Skepsis aus seinem „dogmatischen Schlummer^'
erweckt worden zu sein.
Es ist der „anthropocentrische" Standpunkt, wie
ich ihn zu bezeichnen gewohnt bin, welcher, an sich schlecht-
hin unüberschreitbar für unser Bewusstsein, aber auch sein
unverlierbarer Augpunkt, allmählich zwar zum „kosmocen-
trischen" sich zu erweitem vermag, niemals aber zum
„theocentrischen" (zu einer angeblichen „Identität" des .
Endlichen und unendlichen) sich erschwingen kann. Hier-
mit glaube ich nicht nur den allgemeinen Geist, sondern
auch das Gesammtergebniss des theoretischen Theiles von
Kaufs Lehre charakterisirt zu haben. Und dies Ergebniss
ist es zugleich, bei welchem nach meiner TJeberzeugung es
ein für allemal sein Bewenden haben muss, wenn die Specu-
lation den Charakter besonnener Wissenschaftlichkeit nicht
verleugnen will. Dass damit nicht zugleich die bestimmte
Formulirung, welche Kant jener Wahrheit gegeben, als die
letzte und definitive zu betrachten sei, wird zugestanden.
Aber es bleibt in hohem Grade belehrend auch zur Orien-
tirung der Gegenwart, sich dessen zu erinnern, wie Kant
seine Behauptungen motivirte, welche auf den entschiedensten
Empirismus hinauszulaufen schienen, und welchergestalt er
dennoch diese Schranken durchbrochen hat.
Kant's Begründung in der „Kritik der reinen Vemunfl"
lässt sich kürzlich dahin zusammenfassen: dass der Begriff
eines Unendlichen für alles Endliche, eines Unbedingten für
alles Bedingte zwar eine nicht aufzugebende („apriorische")
„Idee" sei, zugleich aber ein blosses „Vernunft ideal"
127
bleibe, über dessen objective Wahrheit durch „theoretische"
Vernunft zu entscheiden unmöglich bleibe, „weil das für
uns Erkennbare nur das Bedingte sei". Dagegen werde
jenes Vernunftideal gerade für die Erforschung des Beding-
ten der nie ruhende Antrieb, bei keinem gegebenen Be-
dingten als dem Letzten stehen zu bleiben, sondern die „Er-
fahrungsforschung" über alles Bedingte hin ins Unend-
liche auszudehnen.
Zu jenem an sich unbestreitbaren Grunde von dem
„Nichtgegebensein" eines Unbedingten kommt für Kant
noch ein zweiter von zweifelhaftem Gewichte und von dis-
putabler Beschaffenheit. Nach der ganzen „Einrichtung"
unsers Erkenntnissvermogens kann auch die Erforschung
des Bedingten nur auf „subjective" Geltung Anspruch
machen. Von dem objectiven Wesen des Realen, von den
„Dingen an sich" wissen wir nichts. Denn Raum und Zeit,
„die apriorischen Formen der Anschauung", in denen
alles Bedingte ausnahmslos uns gegeben ist, sind (eben um
ihrer Apriorität willen, behauptet Kant) von blos sub-
jectiver Beschaffenheit, sind Formen unsers Bewusst-
seins, deren Inhalt daher unanwendbar bleibt^ um das „An-
sich" des Realen zu bestimmen. Die „Sinnlichkeit" bietet
uns blosse „Erscheinungen" des Realen, eine subjective
Erscheinungswelt.
Aber auch der „Verstand" führt uns über diese sub-
jective Schranke nicht hinaus. Er verknüpft auf gesetz-
massige Weise das sinnlich Gegebene zu Begriffen, Urtheilen,
Schlüssen nach den „Kategorien des Denkens", durch
welche dieselben in eine „nothwendige Verknüpfung"
gebracht werden. Der Grund dieser Nothwendigkeit kann
aber nicht in dem sinnlich Gegebenen als solchem liegen;
denn dies bietet uns blos thatsächliche , d. h. zufällige Ver-
knüpfungen; und auf diese beschränkt oder blos auf diese
angewiesen, würden wir unsern Begriffen, Urtheilen und
Schlüssen niemals eine irgendwie nothwendige Gültigkeit
128
beizulegen im Stande sein. Wir können daher nur annehmen,
dass der Grund dieser gesetzmässigen Verknüpfung der Er-
scheinungen allein in uns selber liegen könne, und zwar
deshalb, weil wir um der Einheit unsers Bewusstseins
willen — nach Kantus Bezeichnung: nach dem Principe der
„Einheit der Apperception" — die vereinzelt gegebe-
nen und nur äusserlich verknüpften Erscheinungen in eine
innere und nothwendige Verbindung bringen müssen und
auch es vermögen nach den Gesetzen unsers denkenden
Bewusstseins, den Kategorien. Die subjective, zugleich aber
ursprüngliche („apriorische") Einheit der Apperception ist
daher der wahre und der einzige Grund des „Verstandes-
gebrauchs", d.h. der Möglichkeit, dass wir die Gesetze des
Denkens auf die Erscheinungen anwenden und damit eine
verständige, aber durchaus nur subjective Ansicht von
der Erscheinungswelt gewinnen. Das Vermittelnde aber,
welches zwischen „Sinnlichkeit" und „Verstand" eintritt,
ist die „productive Einbildungskraft". Sie gehört
einestbeils der Sinnlichkeit an, indem sie den Inhalt ihrer
Erzeugnisse von dieser empfängt; aber indem sie andemtheils
fähig ist, die sinnlichen Anschauungen zur Einheit zusam-
menzufassen, und so neue Einheiten zu erzeugen, ist sie
dem Verstände verwandt und arbeitet unterstützend seiner
Thätigkeit vor.
So weit das summarische Ergebniss von Kant's Kritik
der reinen Vernunft, abgesehen von der kritischen Anwen-
dung derselben auf die Lehren und Behauptungen der altem
Metaphysik in den Gebieten der Kosmologie, Psychologie
und natürlichen Theologie. Es gibt kein Wissen über die
„Erfahrung" hinaus. Dies ist aber nur ein Wissen von der
Erscbeinungswelt, nicht von den „Dingen an sich".
Damit war der Idealismus auf seine subjectivste Spitze
hinaufgetrieben, obwol Kant noch ausdrücklich ein objectiv
Reales, als Veranlassendes, übrigens aber Unbekanntes, für
129
die sinnliche Erscheinung stehen liess. Nur ein Schritt war
in dieser nach vorwärts dringenden Forschung noch übrig,
den Fichte that, welchem auch späterhin Schopenhauer
sich ans(Moss, auch jenen Begriff des ,,Realen^^ zu beseiti-
gen und die Sinnen- oder Erscheinungswelt aus dem Selbst-
bewusstsein, aus jener ,,Einheit der Apperception^^
(dem ,,Ich") abzuleiten, d. h. die Vorstellung eines „Nicht-
ich^^ aus den nothwendigen Bedingungen des Selbstbewusst-
seins für sich selber zu erklären. Seine Lehre kann da-
her als der entschiedenste „Akosmismus^^ bezeichnet wer-
den, wie er selbst einmal sie nennt dem Vorwurfe des
„Atheismus^^ gegenüber; und von dieser Auffassung ist er
bei allen Erweiterungen und Modificationen seiner Lehre nie-
mals abgegangen.
Es ist nun bekannt^ wie sein grosser Nachfolger Schel-
ling jenen durch die unendliche Thätigkeit des Ich hervor-
gebrachten, aber nur innerhalb seiner Subjectivität vorgehen-
den, aufsteigenden Process von Selbstbeschränkung und
von üeberschreitung derselben, welche auf jeder Stufe eine
neue und immer höhere (freiere und bewusstere) Gattung
von Vors tellungs Verhältnissen zwischen Ich und Nichtich
erzeugt, — mit genialer Kühnheit sofort ins Objective über-
setzte und (um es mit einem kurzen Worte zu bezeichnen)
zum immanenten Gesetze der Weltentwickelung aus der
„Natur'^ zum „Geiste" erhob. Damit stellte er zugleich
dem „auf dem subjectiven Reflexionsstandpunkte hängen-
gebliebenen'^ Idealismus Fichte's den objectiven, „abso-
luten" Idealismus gegenüber. An die weitere Entwickelung
und Vollendung des letztem durch Hegel braucht nur er-
innert zu werden.
Dieser umdeutenden Wendung des Idealismus als einer
unbewiesenen, darum unberechtigten, hat nun Fichte stets
sich widersetzt und aus diesem Grunde seinen damit zum
Gegner gewordenen Nachfolger „hartnäckige Besinnungs-
Fichte, Fragen und Bedenken. 9
130
losigkeit^^ vorgeworfen.*) Und dies mit seinem und mit Kantus
gutem Rechte! Denn der ,,anthropocentri8che^^ Augpunkt,
wie jedem speculativ sich ,,Besinnenden^^ an sich selbst evi-
dent sein muss, kann niemals überschritten werden, so ge-
wiss jegliches als wahr Erkannte nur in unserm Bewusst-
sein und für ein Bewusstsein existirt. Auch jetzt daher
und für die zukünftige Fortbildung der Speculation ist es
noch immer eine entscheidende Frage: auf welchem Wege
und in welchem Sinne die Einheit des Subjectiven
und Objectiven, d. h. die Immanenz des Objec*
tiven Im Subjectiven, behauptet und begründet
werden könne? Aber gerade hier, bei dem allerentschei-
dendsten Funkte, ist die Continuitat der Forschung sorgsam
zu bewahren, um jenem verderblich gewordenen sprungweisen
Abbrechen von der Vergangenheit jede Berechtigung zu ent-
ziehen, gleichwie dies Verfahren in den empirischen Wissen-
schaften mit Recht verrufen ist.
Deshalb wird mir gestattet sein, meiner eigenen Unter-
suchungen über jenes Hauptproblem aller Speculation und
des dabei gewonnenen Ergebnisses hier zu gedenken. Sie
haben ^ nach rückwärts sich wendend, wie es sich geziemt,
ihren Ausgangspunkt von Kant genommen, um die ersten
Gründe und Veranlassungen des durchgeführten Subjectivis-
mus seiner Erkenntnisstheorie aufzusuchen und dieselben
einer durchgreifenden Kritik zu unterwerfen.
Um darüber so kurz als möglich mich auszusprechen,
aber eben damit vielleicht auch die Prüfung meines Gesammt-
ergebnisses zu erleichtern, bemerke ich Folgendes« Bei den
*) So schon in einem höchst bedeutenden Privatschreiben Fichte's an
Schelling aus dem Jahre 1800 („Leben und literarischer Briefwechsel*',
2. Aufl., Band II, S. 320 fg.), dessen Inhalt ich überhaupt der Aufinerksam-
keit der Geschichtsschreiber über neuere Philosophie empfehle, bis zu der
herben Kritik des Schelling'schen Standpunktes in dem 1806 verfassten
„Berichte über den Begri£f der Wissenschaftslehre und der bisherigen
Schicksale derselben" (Werke, Band VIII, S. 384 fg.).
131
Beweisen von der „Aprioritäf der Raum» und Zeitanscliauung,
gleicherweise der Kategorien und der Idee eines Unbeding-
ten verfährt Kant durchgreifend also. Indem er den unbe-
streitbar gelungenen Beweis von dem nicht empirischen, son-
dern „apriorischen« Ursprung jener Anschauungs- und Denk-
formen in unserm Bewusstsein führt, setzt er stillschwei-
gend voraus^ dass dadurch auch ihr lediglich subjectiver,
nur für den Bereich unsers Bewusstseins gültiger
Charakter miterwiesen sei; weshalb es unmöglich bleibe,
dieselben auf den Bereich der „Dinge an sich", überhaupt
auf das Objective anzuwenden.
Hier nun wird offenbar eine doppelte Frage übersprungen.
Zuerst: ob jene stillschweigende Voraussetzung von der Be-
schränkung des Apriorischen auf den Bereich des „Subjec-
tiven", des Bewusstseins, überhaupt richtig sei? Denn
es lassen sich dabei noch ganz andere Möglichkeiten den-
ken. Die zweite Frage ist, — und diese wirkt auch ent-
scheidend auf die erstere zurück: — was überhaupt im ur-
sprünglichen und damit zugleich allgemeinen Begriffe des
Objectiven enthalten sei, und wie darum das erste, das ur-
sprüngliche, das Grund verhältniss von Subject und Ob-
ject überhaupt gedacht werden müsse?
Da hat nun die „Anthropologie" und „Psychologie" nicht
aprioristisch, sondern auf dem Wege des Bückschlusses
von den anthropologischen Thatsachen den durchgreifenden
Beweis geführt:
„Der Menschengeist enthält nicht blos in seinem Be-
wusstsein gewisse vorempirische Bestandtheile (Uran-
schauungs- und Denkformen, Urgefühle, Urstrebungen),
sondern er Ist nach seinem eigentlichen Urbestande selbst
ein vorempirisches («apriorisches») Wesen, aus seinen
übersinnlichen Grundanlagen, in Wechselwirkung mit den
andern Realen, sich organisch herausgestaltend in die Sinnen -
weit, ebenso daraus allmählich sich erzeugend das Bewusst-
sein dieser Welt und seines Selbst."
9*
132
Daraus folgt nun mit einfacher Nothwendigkeit die ur-
sprüngliche und unauflösbare Einheit von Object und Sub-
ject im Realwesen des Geistes selbst In ihm ist sein
Objectives stets und unverlierbar seinem Subjectiven imma-
nent, als der reale Träger des letztern. Und stets von
neuem erhebt sich aus ihm, durch seine eigene That
(„das Ich setzt sich selbst^^), seine Subjectivität, darin
eine nachweisbare „Entwickelungsgeschichte^^ des Bewusst-
seins durchschreitend, niemals aber die Einheit verlierend
mit seiner objectiven Grundlage, der steten Quelle seines
Bewusstseins, wie dem Substantiellen seiner Persön-
lichkeit.
Das unmittelbare Object ist stets daher der Geist
sich selber; darum bleibt sein Blick und Augpunkt unver-
rückbar der „anthropocentrische^^ Alles andere seiner
empirischen Erkenntniss ist ihm nur zweites, mittelbares
Object; und darum in seinem Erkannt werden mit Nothwen-
digkeit an die apriorischen Bedingungen dieser anthropo-
centrischen Stellung gebunden.
Darum hatte Kant Recht, wenn er dem Inhalte der
Sinnenempfindung, als durch die Bedingungen unserer
Organisation und des Sinnenapparates veranlasst, blosse
„Phänomenalität^^ beilegte (darum als „Himbewusstsein^^,
„Erdgesicht" von uns bezeichnet; — was durch die Resul-
tate der neuem physiologischen Forschung vollständig be-
stätigt worden ist); — Unrecht aber, die Raum- imd Zeit-
anschauung in diese Subjectivität mit hineinzuziehen.
Das bewusste Denken und denkende Erkennen sodann
fällt selbst schon innerhalb des entwickelten Gegensatzes
von Subjectivem und Objectivem; denn es gehört der mit
der „Sinnlichkeit" schon verwachsenen Bewusstseinsform
des Geistes an, welche darum ihrem Allgemeincharakter nach
auf der Seite des Subjectiven steht, dem „mittelbaren*' Objecte
S
(O. IL) seines Bewusstseins gegenüber (S.xO II, nicht ^'
133
Es i^t der factische, empirische Standpunkt desselben; und
darum der zunächst uns bekannte und allein bisher beachtete.
Dass aber auch diese Bewusstseinsform nichts blos
Subjectives sei, unfähig das Wesen der „Dinge an sich"
zu erkennen, wie Kant und alle subjectivistischen Philosophen
es behaupteten, ist damit keineswegs zuzugeben. Dieser lang-
gehegte, übrigens durch die blos behauptete , Identität des
Subjectiven und Objectiven" nicht berichtigte Irrthum hat
darin seine nächste Veranlassung, dass man zwischen dem
unmittelbaren und dem mittelbaren Objecte des Bewusst-
seins nicht unterschied. Der Grund der tiefem Einheit des
Subjectiven und Objectiven liegt jenseits alles Bewusst-
seins, in der vorbewussten Region des Geistes, mithin
in jenem gemeinsamen Ursprünge alles endlich Realen,
in welchem der Geist selber noch ein Objectives ist, nicht
aber dabei in der Isolirung eines in sich verschlossenen
Daseins verharrt, sondern ebenso ursprünglich in Wech-
selbeziehung (innerer „Einheit") mit dem Weltganzen sich
befindet. In dieser vorbewussten, apriorisch eingeschaffenen
Uebereinstimmung des „Geistes" mit der objectiven „Natur"
liegt daher auch der letzte oder der eigentliche Grund, dass
das Apriorische unsers Bewusstseins auch als das
Apriorische in der objectiven Welt sich erweist, dass z. B.
(auf welches Phänomen Kant so viel Gewicht legte) es eine
durch apriorisches Denken entworfene Geometrie gibt, welche
zugleich die allgemeingültigen Gesetze aller objectiven
Raumgestaltung enthält.
Und hier empfängt auch der „anthropocentrische" Stand-
punkt seinen eigentlichen Sinn und seine tiefere Bedeutung.
Er ist uns unüberschreitbar, aber in seinem Gehalte verbirgt
er unübersehbare Schätze , die eben die Forschung allmählich
ins Bewusstsein zu erheben hat. Wenn Leibniz bemerkte,
dass wir unmittelbar nur unser eigenes Wesen kennen und
darum eigentlich nur nach Analogie desselben alles andere
Reale beurtheilen: so ist die Rechtfertigung dieses unwill-
134
kürlichen Thuns eben im Bisherigen enthalten. Der Grund
jenes Parallelismus liegt nicht in der bewussten Sphäre des
Subjectiven oder Objectiven, wo man bisher zumeist ihn
suchte in Logik wie in Psychologie; er liegt im vorbewuss- /
ten Ursprünge unsers Geistes und in der durchgreifenden
Harmonie, die apriorischer Weise alle Weltwesen mit-
einander verbindet; ebenso in dem^ was weiter daraus folgt,
dass das Apriorische unsers Anschauens und Denkens, die
Ideen unsers Geistes zugleich das wahre Wesen der Dinge
ausdrücken, ja ebenso Gesetze der Natur wie des Geistes,
des Seins wie des Denkens sein müssen.
Dies nun ist der Real- Idealismus, zu welchem ich
mich bekenne und den ich von einer Seite zu begründen
versuchte, welche bisher fast unbeachtet bUeb. Es ist die
tiefere Erforschung des vorbewussten Lebens und Wirkens
im Menschengeiste und das genauere Eingehen auf die un-
willkürlichen, aber sicher leitenden Instinctwirkungen,
welche hinter unserm Bewusstsein vorgehen, aber bei unsern
Bewusstseins- und Vorstellungsprocessen ununterbrochen mit
thätig sind, zugleich aber auch unter gewissen (genau er-
forschbaren) Bedingungen selbst ins bewusste Leben des
Geistes treten können. Es ist femer die Ermittelung, dass
es ein sicheres „centrales^^ Schauen im Menschen gebe,
dem „peripherischen^^, empirisch gewonnenen, mit lücken-
hafter Unsicherheit umgebenen Erfahrung s wissen gegen-
über; dessen Vermögen in jeglichem Geiste liegt, das aber
nur selten und nur vorübergehend in unser volles, waches
Bewusstsein tritt.
Auch ist es ein uralter Glaube, der bisher jedoch mehr
Ahnung blieb, ajs zur festen, ausgebildeten Erkenntniss sich
gestaltete, dass im Wesen des Menschen (dem „Mikrokos-
mus") wie in einem Mittelpunkte die Wechselbeziehungen
von Natur und Geisterwelt zusammenlaufen, sodass ihm,
als eigentlichem „Mittelwesen", in beide ein „magischer Ein-
blick" gestattet sei; oder wie Goethe verständlicher und
135
zugleich speculativer denselben Gedanken anspricht: „dass
der Kern der Natur im Herzen des Menschen liege".
Dennoch würde ich vergeblich an diese unbestimmten
Ahnungen appelliren, wenn es nicht gelungen wäre, ihnen
in der Erfahrung die breiteste Bestätigung geben zu können,
gerade in dem von der angeblichen „Erfahrungsseelenlehre"
vernachlässigten Gebiete der „unerklärbaren", möglichst
darum wegzuleugnenden psychischen Tbatsachen«
Ich fasse dies Gebiet in den Ällgemeinbegriff der objec«
tiv bewusstlosen (instinctiv vorbewussten) und der ins Be-
wusstsein tretenden Phantasiethätigkeit zusammen. Der
erstem Seite ist die „Anthropologie" gewidmet. Die
zweite, aus jener ins Bewusstsein emporsteigende Stufe
der Phantasiethätigkeit behandelt die „Psychologie"; und
indem ich auf das ausführliche Kapitel in derselben über
den „Wach träum" verweise, habe ich hinreichend bezeich^
net, von welcher hohen, über den Grundcharakter des Men-
schen allentscheidenden Bedeutung jene Ergebnisse sind.
Denn es ist ein durchaus vertiefterer Begriff vom Wesen
des Menschen, welcher von hier aus sich ergibt; und was un-
mittelbar daraus folgt: auch eine richtigere Einsicht über
seine gesammte Weltstellung, namentlich über sein wahres
Verhältniss zur Natur, wie es der Idee nach (nicht mystisch
oder magisch) besteht, aber wie es auch factisch immer
mehr sich herausbilden sollte.
Der Menschengeist ist ein „transscendentales",
vorempirisches Wesen, darum ein jenseitiges im Dies-
Sjeits seines eigenen Sinnenlebens. Diese kühnste Behaup-
tung ist nur das Ergebniss nüchternster Betrachtung des
Menschen nach seiner universalen Erscheinung. Was inner-
halb der allgemeinen Naturordnung und ihrer festen, unüber-
schreitbaren Bedingungen, welche eben darum auch dem
Menschen nach seiner organischen Seite und mit seinen
seelischen Instincten auferlegt sind, — was ihn dennoch
nach seinem specifischen Charakter unterscheidet von
136
allen epitellurischen Wesen, dies lässi sich mit einem einzi-
gen Worte bezeichnen: er ist ein geschichtebildendes
Wesen, und nur er ist es im Umkreise aller sichtbaren
Greschopfe. Durch ihn erhebt sich über der alten, unwan-
delbaren und unerschütterlichen, aber auch unTeränderlichen
„Natnrordnung^^ eine neue Schöpfung, eine ideale, aber
zugleich veränderliche, eine kampfyolle, aber zur „Perfecti-
bilität" hinstrebende, die „Geschichte", wie verworren
zunächst auch oft genug factisch dies Streben sich gestal-
ten möge.
Daraus ergibt sich wol unbestreitbar ein Doppeltes«
Mit jener grossen Thatsache eines geschichtebildenden,
die apriorischen Ideen ins Diesseits verwirklichenden Processes
durch den Menschengeist, werden wir gerade über dessen
Sphäre hinausgewiesen zur Idee eines ewigen Geistes, dessen
Organ zu werden , immer tiefer und inniger „Eingebungen^^
von dorther empfangen zu können, als die eigenthümliche
Begabung des Menschengeistes erkannt wird. Seine höchste
Vollendung, wie sein höchstes Glück ist es, unablässiges
„Offenbarungsorgan" einer jenseitigen Welt im Diesseits
zu werden, und zugleich darum das eigene Bewusstsein zu
entsinnlichen.
Das für die Psychologie grundlegende Ergebniss daraus
lässt sich daher also aussprechen. Unser Geist empfängt nicht
lediglich seinen Inhalt aus der Sinnenwelt, um dies empi-
risch Gegebene durch reflectirendes Denken sich zur Er-
fahrung zu verarbeiten, sondern weit tiefer und eigentlicher
wird durch Eingebungen geistiger Art ihm ein eigenthum-
licher Inhalt geboten, welcher für die Sinnenerfahrung ein
Transscendentales, Neues, Unerwartetes ist, aber darum
nicht weniger als real, ja über alles Empirische oder durch
Erfahrung zu Gewinnende erhaben, ihr unerschwinglich er-
scheint. Dafür ist zunächst an die Wissens- und Kunst-
eingebung jeglicher Art zu erinnern, aber ebenso auch
an die Erscheinungen ethischer Begeisterung, in denen
137
ein Ideal dessen, was „schlechthin sein soU^^, dem Geiste
sich offenbart und ihn unablässig anspornt, es zu verwirk-
lichen.
Als die höchste, vollendende Stufe in dieser Reihe er-
weist sich aber die religiöse Offenbarung; denn sie um-
fasst nicht nur alle jene Richtungen, sondern reinigt und
heiligt sie zugleich, indem sie allein die gründliche Um-
schaffung unsers Willens, der „Gesinnung^^ zu bewirken
vermag, welche wir überhaupt als vollige Hingabe des Men-
schen an die „Idee'^ bezeichnen können. Damit weist diese
Thatsache zugleich zurück auf den wahren Ursprung und
die heilige Quelle , welcher auch jene andern Eingebungen
entstammen, so sie echt und von Beimischungen der Selbst-
heit gereinigt ins Dasein treten.
Dies ist, philosophisch beurtheilt, der Uebergang zum
ethischen Theismus, weil er allein dieser höchsten psychi-
schen Thatsache das rechte Gewicht beilegt. Vom allgemein
menschlichen Standpunkte des religiösen Bewusstseins und
Lebens betrachtet, ist' es der starke, in sich befestigte
„Glaube^^, der keiner dogmatischen Formeln, auch keiner
speoulativen Beweise bedarf zur Ueberzeugung vom „Dasein
Gottes^^, als eines persönlichen und als eines heiligen Wesens,
so gewiss er erkennt und es erlebt, mit wie vielen Stimmen
er im Innersten zu uns redet.*)
Damit ist aber auch zugleich dem zweiten Resultate
der Weg gebahnt. Es lässt sich aussprechen in dem schon
vorher begründeten Erkenntnisskanon: dass nur aus der
höchsten Weltthatsache, — wir haben sie gefunden — die
höchste Weltursache richtig erkannt zu werden vermöge.
So hoffe ich nun die prüfenden Mitforscher — und auch
Sie darf ich ohne Zweifel zu denselben rechnen, — an der
Stelle abgesetzt zu haben, wo sie authentisch orientirt über
*) „Psychologie", Band I, S. 655, wo die Ausführung dieser
Gedanken in weiterm Zusammenhange yorliegt.
138
die Bedeutung und das Ziel des hier vertretenen philoso-
phischen Standpunktes, auch seiner metaphysischen Be-
gründung näher treten können. Für diese Prüfung schlage
ich, der Kürze halber, meine letzte Schrift, die „Theistische
Weltansicht", vor (1873, vom zweiten bis sechsten Abschnitt),
zu welcher die gegenwärtige Rechtfertigungsschrift ohnehin
nur eine ,,Beilage^^ sein soll. Und dies um so mehr, als
jenes Werk auch in kritische Verhandlungen über die jüng-
sten philosophischen Lehren eingetreten ist.
Nur daran wäre etwa noch zu erinnern, ja es wäre
diese Betrachtung sogar einzuschärfen, dass jene ethischen
Thatsachen, auf deren Wahrheit der hier vertretene Theis-
mus seine Folgerungen gründet, nicht dieselbe, gleichsam
handgreifliche Anerkenntniss erzwingen können wie die all-
gemeinen Naturvorgänge, welche den Schlüssen einer wissen-
schaftlichen Naturansicht zu Grunde liegen. Ihr Werth,
wie ihre eigenthümliche Evidenz kann nur allmählich erwor-
ben werden durch ernste Gemüthsbildung und tiefdringende
Lebenserfahrung; und mehr als je muss man gerade in die-
sem Falle sich des alten Wortes erinnern: dass zu welcher
philosophischen Denkweise man sich bekenne , nicht lediglich
abhängt von streng logischen Erwägungen, dass die Ge-
sinnung, die Persönlichkeit in ihrer Totalität, das Talent
und der Instinct der Wahrheit dabei den entscheidenden
Ausschlag geben. Unstreitig hat dies nun für den Theismus
die Folge, dass er in der Gestalt, wie er hier sich bietet,
kaum auf weite Verbreitung , auf Popularität in hergebrach-
tem Sinne zu rechnen hat. Andererseits liegt aber darin
der grosse Vorzug, dass diese Unpopularität rohe und ge-
meine Geister von ihm zurückscheucht, die seine nothwen-
digen Gegner und tiefabgeneigten Widersacher bleiben
müssen. Es ist diese Gegnerschaft eine unwillkürliche, aber
untrügliche Selbstcharakteristik der Geister, ein Gericht,
welches sie selbst an sich zu vollziehen genöthigt sind.
Denn bestreiten oder verleugnen kann man jene Weltan-
139
sieht; man kann sie eines überspannten Idealismus be-
sehuldigen; aber sie zu Terachten, geringzuschätzen vermag
man nicht.
Am Schlüsse dieser Bechenschaftsablegung bleibt nur
noch eine Frage. Es ist die, was uns berechtige, in jener
Gestalt der philosophischen Weltansicht allein die rechte
Weiterentwickelung gegenwärtiger Speculation zu erkennen,
oder was dasselbe heisst, gerade für sie das Recht einer
„Zukunft^^ in Anspruch zu nehmen? Zudem noch einer
Zeit gegenüber, deren Auge in der Mehrzahl ihrer Stimm-
führer dafür blind geworden ist, ja in diesem Betreff ganz
zu erblinden droht!
Man ist in grosser Täuschung befangen, wenn man
meint, der gewaltige Ciüturkampf, in dessen Anfängen wir
stehen, umfasse nur den Gegensatz zwischen den Glaubens-
formen des Mittelalters und zwischen den Ergebnissen der
freien Wissenschaft mit den neuerworbenen Lebensanschauun-
gen der Gegenwart. Er greift weit tiefer und hat einen
ungleich bedrohlichem Charakter.
Dass das Mittelalter in allen seinen Ueberlieferungen
nur noch historische Bedeutung habe und um deswillen
keine Autorität mehr besitzen könne für die Gegenwart,
darüber ist das Einverständniss der Kundigen und Stimm-
berechtigten wol festgestellt. Der Gegensatz und Kampf
der Bildungsrichtungen hat sich statt dessen in der Ge-
genwart zu ganz neuen Formen gestaltet und mit ganz
neuen Gefahren umgeben. Es ist nicht sowol die allverbrei-
tete „Glaubenslosigkeit", die man in erster Instanz zu verkla-
gen hätte. Diese ist selbst nur Symptom und Wirkung
eines tiefem üebels: des sich mehrenden Absterbens aller
idealen Regungen, des Hinneigens und Sichzufriedengebens
mit dem Sinnlichen , Phänomenalen und Vergänglichen«
140
Im praktischen Verhalten zeigt sich dies in einer gemüth-
yerodenden Genusssucht, die nach noth wendigem Gesetze in
pessimistischer Ermattung endet; in der Kunst ein empiristi-
scher Realismus, der selbstsüchtig nur auf „Erfolge^^ sinnt;
in der Wissenschaft, bei grossen Entdeckungen und wirk-
lichen Leistungen exacter Forschung, daneben ein Aufhäufen
von empirischem Material in kaum noch zu übersehenden
Einzeluntersuchungen, und bei dem Ablehnen aller leitenden
speculatiyen Ideen, ein Ueberschätzen des Werthes solcher
zusammenhangloser, eigentlich nichts erklärender Ergebnisse;
kurz ein ideenloser Empirismus, dessen letztes Resultat
naturgemäss nur ein theoretischer Materialismus sein kann,
welcher consequent verfolgt ebenso naturgemäss in morali-
schem Nihilismus zu enden droht.
Ist dies unbestritten die Signatur der gegenwärtigen
Welt- und Zeitstimmung, so lässt die Zukunft, sich selbst
überlassen, nur noch gesteigertere Wirkungen derselben er-
warten. Und so ist zu besorgen, dass wir allmählich dnem
Abgrunde zugleiten, welcher Zustände in sich birgt, wie sie
geschichtlich etwa das Römerthum unter der Herrschaft der
Cäsaren darbot. Damals, wie jetzt, verband sich grosse
Verstandesbildung und vielseitige Empfänglichkeit für ästhe-
tisch verschönerten Lebensgenuss mit erschreckender Selbst-
sucht und rücksichtsloser Gemüthshärte. lieber allem aber
schwebte ein tiefes Gefühl vom Unwerthe des ganzen irdi-
schen Daseins, welches den Tod durch Selbstmord als
bereites Auskunfbsmittel sich vorbehält, wenn der Genuss
versiegt und Schmerz oder äussere Noth eingezogen ist.
Hat man diese merkwürdige, tief bedeutungsvolle Erschei-
nung, die nothwendige Rückwirkung solcher Lebensgrund-
sätze, wie sie in der Jetztzeit aufzutreten beginnt, einer
tiefem Beachtung noch nicht werth gefunden?
Schon vor geraumer Zeit, als die ersten Symptome
jenes Versinkens sich ankündigten, haben wohlmeinende,
aber ungenügend orientirte Männer von einer „Umkehr^^
141
der Wissenschaft gesprochen, als dem einzigen Hulfsmittel
gegen jene Gefahr. Sie meinten aber damit die Rückkehr
unter den alten Autoritätsglauben. Dass zu solcher Rück-
kehr, wenn sie überhaupt möglich, die Wissenschaft am
allerwenigsten ihre Hand bieten könne, übersahen sie. Denn
die Wissenschaft lebt nur, indem sie das Alte umbildet und
darüber hinausschreitend Neues gewinnt.
Aber wohlbegründet war die Einsicht, dass in ihrem
letzten Grunde oder auf die wahre Quelle zurückgehend,
doch nur durch erhöhtere Bildung, kurz durch Erziehung
des Volkes in weitestem Sinne jene grosse Aufgabe seiner
Versittlichung gelöst werden könne. Bildung aber oder Er-
ziehung überhaupt beruht in Entwickelung der Persönlich-
keit, setzt Freiheit im Menschen voraus und erzeugt freie
Ueberzeugung, das Gegentheil jeglichen Autoritätsglaubens.
Und wie energisch und wie wirksam haben die deutschen
Denker gerade in diesem Sinne und auf dieses Ziel gerichtet
den Gedanken einer Volkserziehung angeregt, der so sehr
2ur Grundüberzeugung deutschen Geistes geworden,, dass
an eine Rückkehr oder an eine Ablenkung davon zu denken,
sicher eine vergebliche Hoffnung ist.
Da hat sich nun die merkwürdige Thatsache ereignet,
dass im Nachbarlande gerade jetzt der Versuch gemacht
wird, auf dem Deutschen entgegengesetzte Weise jenes Ziel
zu erreichen, die Nation zu retten durch radicale Unter-
werfimg der Wissenschaft und der Bildung unter die härteste
Form des Autoritätsglaubens, ihrQ Geschichte zum Stillstand
zu bringen und das Bildungsergebniss derselben ins Gegen-
theil zu verkehren. Das Experiment ist von einer gross-
artigen Kühnheit und sein Erfolg mit Spannung abzuwarten.
Nach der Kraft und der Consequenz, welche dafür verwandt
werden, wird irgendeine Nachwirkung davon nicht ausblei-
ben; denn es ist mit vollem Nachdruck anzuerkennen, dass
auch von dem „Ultramontanismus^' in seiner Weise die heiligen
und ewigen Interessen der Menschheit vertreten werden. Für
142
uns ergibt sich aber das denkwürdige weltgeschichtliche
Verhältniss: dass zwei benachbarte Caltonrolker, in einem
wichtigen Wendepunkte ihrer eigenen Geschicke, nach ganz
entgegengesetzter Richtung ihre Wiederherstellung bewirken
wollen.
Wir, die Deutschen, haben jedoch zunächst nur die
Pflicht für uns selbst zu sorgen. Und so ist wol für Deutsch-
land und in deutschem Geiste die Frage von entscheiden-
der Bedeutung, welcher philosophischen Richtung man
seine Zukunft anvertrauen soll. Sofern wir der deutschen
Philosophie jetzt überhaupt noch die Kraft zutrauen, ent-
scheidenden Einfluss zu üben auf die allgemeine Bildung der
Nation, und zugleich damit auf die geschichtliche Entwicke-
lung einer ganzen Culturperiode, wie dies seit Leibniz und
Wolfl, seit Lessing, Herder, den beiden grossen Dichter-
heroen, seit Kant bis auf Hegel unbestritten der Fall war:
so tritt diese ernste Frage jetzt mit verdoppeltem Gewicht
an uns heran; und kaum sage ich zu viel, wenn ich behaupte,
dass auch von ihrer richtigen Losung unsere nationale Zu-
kunft wesentlich mitbedingt sei.
Wir Deutschen sind nicht sowol ein „Volk von Den-
kern", — was weder nothig noch möglich, — als vielmehr,
infolge unsers stark ausgeprägten Individuationstriebes, eine
Gemeinschaft von „Originalen^', nicht von „schlechten^^,' wie
einst Frau von Stael meinte, sondern von gesunden und
naturwüchsigen, die nach eigener Kraft bemüht sind, über
ihren Glauben und ihr WoUen durch Yemunftgründe sich
Rechenschaft zu geben, überhaupt unabhängig von An-
derer Urtheil den selbstgewählten Weg der üeberzeugung
zu wandeln. Darum sind wir aber zugleich empfanglich
für das Urtheil hervorragender Geister, für die Ergebnisse
der Wissenschaft nach ihrem jeweiligen Wechsel; und diesen
unterwerfen wir uns oft genug ohne tiefere Prüfung.
Da ist nun Johannes Huber wol im Rechte, wenn
er behauptet, dass gegenwärtig bei uns neben den materia-
143
listischen Lehren der Pessimismus am meisten Anhänger
zähle, jene bis in die untersten Schichten des Volkes herab,
dieser in den hohem Gesellschaftskreisen. Dem gegenüber
ist wol zu fragen, ob man wimschen könne, dass eine der
beiden oder beide Weltansichten im Verein die geistigen
Leiter unserer Bildung, die Muster und Vorkämpfer unserer
Gesittung werden, überhaupt unsere Zukunft beherrschen
sollen? Denn dass dieser negative Beformationsprocess in
der Gegenwart versuchsweise schon begonnen habe und
in allerlei Proben seine Wirkungen bereits verrathe, wird
man nicht leugnen wollen.
Es versteht sich: die Wissenschaft ist frei, und jede
Ansicht hat das gleiche Recht sich geltend zu machen. Ein
anderer Gesichtspunkt des Urtheils jedoch ist ebenso un-
verwerflich: welche Wirkung auf Gesinnung und Handeln
eine bestimmte Weltansicht ausübe, welche praktische
Lebensansicht sie erzeuge; und auch danach ihren tiefern
Charakter zu bemessen, ist selbst vom wissenschaftlichen
Standpunkte stets als ein mit Recht anzuwendender Mass-
stab der Beurtheilung angesehen worden.
Hier dürfen wir nun aussprechen, nicht anklagend, aber
charakterisirend, was offen zu Tage liegt: jene beiden
Weltansichten sind von absolut culturfeindlicher Wirkung.
Und wenn ihre praktischen Consequenzen auch niemals in
vollständiger Verwirklichung hervortreten können, ja von
ihren Urhebern selbst verleugnet werden, aus dem einfachen
Grunde, der im Wesen der dort verleugneten Vernunft
selber liegt, indem der Instinct der Wahrheit allmählich jene
ephemeren Irrthümer wieder ausheilt: so ist doch die theo-
retische Wirkung solcher Lehren im Einzelnen nicht weni-
ger in Anschlag zu bringen. Wer die Immanenz des Zweck-
begriffes, die Gegenwart der Vernunft im Universum ver-
wirft; Wem der menschliche Geist nur als das Product
stofflicher Combinationen gilt, und die Weltgeschichte als
das Getriebe eines blinden, zweck- und ziellosen Causalitäts-
144
gesetzes: Der hat eben damit — will er klar über sich blei-
•
ben und bis zu Ende denken — den innem Trieb wie die
äussere Anregung jeglicher Perfectibilitat in sich und in
andern gründlich ausgetilgt. Es wäre der höchste Selbst-
widerspruch, mit solchen Ueberzeugungen auf den Welt-
verlauf verbessernd einwirken zu wollen, überhaupt ihn an-
ders zu betrachten, als mit dem Blicke halbironischer Gleich-
gültigkeit über die Illusionen der Uneingeweihten und die
Thorheit eines sich selbst opfernden angeblichen Idealismus.
Und auch die Wissenschaft, die Forschung kann für
einen Solchen keinen selbständigen, hochbegeistemden Werth
mehr besitzen, — denn das an sich Vemunftlose erregt über-
haupt kein Interesse; — sie kann für ihn nur dem Zwecke
der Verbesserung irdischer Zustände, der „Nützlichkeit^^
dienen. Wenn femer eine damit verwandte naturwissen-
schaftliche Richtung gegenwärtig der Hypothese sich zuneigt,
dass die Erde, zuletzt das ganze Universum einem allmähli-
chen Erkalten und endlicher Auflösung durch Erstarren
entgegengehe: so anticipirt jene Philosophie aufs eigent-
lichste dies Ergebniss für den Geist. Das Absterben alles
Glaubens an die ideale Welt, der erstarrende Geistestod
wäre der sichere Erfolg jener Prämissen und der unausbleib-
liche Abschluss alles Ringens nach Wahrheit und innerlich
genügender Ueberzeugung.
Wäre dies alles nun wahrhaft begründet und in der
That das definitive Ergebniss besonnener („exacter*') Wissen-
schaft: so müsste man ohne Zweifel sich ihm gefangen geben
mit all seinen unvermeidlichen Consequenzen. Aber nicht
also verhält es sich; denn die Widerlegung ist jenen Be-
hauptungen auf dem Fusse gefolgt. Sie sind aufgewiesen
worden als die Nachwirkung falsch gedeuteter, rein natur-
wissenschaftlicher Ergebnisse, deren Analogien man völlig
unberechtigt ausgedehnt hat auf ganz ihnen inconunensurable
Erkenntnissgebiete; während man zugleich die widerstreiten-
den Ansichten zurückzudrängen sucht durch einen klug
145
berechneten Terrorismus, der zwar wenig Vertrauen verräth
zur innern Kraft seiner Gründe, wohl aber geeignet ist, di§
Unkundigen zu blenden, den Unentschiedenen zu imponiren.
Was wir Andersdenkenden unter solchen Umständen
fordern müssen, ist nur das Billige und Geziemende. Das
Gleichgewicht zwischen Gunst und Ungunst der Meinungen
muss wiederhergestellt werden, wie es sonst bestand in
jedem freien Wissenschaftsverkehr. Jenem geflissentlichen
Ignoriren, jenem geringschätzenden Herabsetzen und Ent-
stellen gegnerischer Lehren , wie es jetzt zu den ausgebilde-
ten Künsten der Tagesliteratur gehört, muss ein gründ-
liches Ende gemacht werden durch Wiederkehr der Gewissen-
haftigkeit des Urtheils in literarischen Dingen, und durch
die sichere Erwartung des Miserfolgs bei entgegengesetztem
Beginnen.
Am wenigsten aber können wir in dem grossen Geister-
kampfe, der über die Zukunft unserer Bildung entscheidet,
den Vertretern der Negation, ebenso wenig aber auch ihren
extremsten Gegnern, den Positiven, das Feld allein über-
lassen. Geschähe dies, wäre der Kampf allein zwischen
den beiden Extremen, so wird die absolute Negation sicher-
lich am Ende den Sieg behalten, weil sie die radicalste und
kühnste ist. Auch wollen wir selbst nicht etwa „vermittelnd"
zwischen beiden Gegnern die belobte Mittelstrasse einhalten,
indem wir jedem von ihnen gewisse Zugeständnisse machen,
wie dies gleichfalls zu den geschicktesten Hülfsmitteln gehört,
um selbst am Leben zu bleiben. Wir wissen vielmehr und
haben das klare Bewusstsein der Gründe dieses Wissens,
dass wir das gerade jetzt Geforderte, von jenen beiden Ex-
tremen Uebersprungene und Vernachlässigte darzubieten im
Stande sind. Darum behaupten wir auch mit Zuversicht,
dass uns die Zukunft angehört, nicht in anmasslicher
Ueberhebung, sondern aus keinem andern Grunde, als dem
durchaus entscheidenden: dass wir in der geschichtlichen
Entwickelung der Speculation die unterbrochene Stetigkeit
F i c h t e I Fragea and Bedenken. 10
146
^wiederherstellen, indem wir anknüpfen an das eigentlich
und dauernd Geleistete in ihrer nächsten Vergangenheit.
Dies ist jedoch nur die eine Seite. Noch wichtiger
scheint mir die andere, gleichfalls schon erörterte. Man
kann die hier vertretene Weltansicht als Real-Idealis-
mus, als Vermittelang von Transscendenz und Immanenz,
als Erhebung des Pantheismus in seiner höchsten vergeistigt-
sten Gestalt (durch Hegel) zum eigentlichen Theismus be-
zeichnen und man wird sie nicht unrichtig bezeichnet haben.
Dennoch fehlt hierbei die Hervorhebung des eigentlich
Charakteristischen derselben und eben damit ihre tie&te Be-
gründung und ihr eigenthümlicher Werth.
Es hat sich ergeben : das höchste Weltprincip kann nur
von der höchsten Weltthatsache aus recht erkannt werden;
und nur dieser höchste Begriff wird auch nach rückwärts auf
das ganze Weltproblem sein verklärendes Licht ausbreiten
können. Jene höchste Thatsache ist aber allein (aus schon
entwickelten Gründen) die ethisch-religiöse, deren tiefster
Ursprung darum aufzusuchen, deren einfachster Ausdruck
festzustellen ist.
Für diesen einfachsten Ausdruck gibt es zwei univer-
sale, innig verwandte, genau verbundene geistige Thatsachen,
welche nach Kant 's tief bedeutungsvollem Worte den „sinn-
lich empirischen^^ Menschen (homo phaenomenon) zum „über-
sinnlichen^^ Geistwesen (homo noumenon) und damit zum
Gliede einer höhern Geisterordnung, einer neuen Welt er-
heben. Es ist das Bewusstsein von der Unbedingtheit des
sittlichen Gebotes einerseits, verbunden andererseits mit dem
tiefen Gefühle der eigenen factischen Unangemessenheit
ihm gegenüber und damit des Bedürfnisses einer höhern,
„mehr als menschlichen^^ Ergänzung. Es ist sodann, um
gleichfalls aufs einfachste das Vielseitigste und Inhaltsreichste
zu bezeichnen : die „Begeisterung für die Ideen" und für
ihre Verwirklichung in der Erscheinungswelt.
Beiden ist die charakteristische Wirkung eigen, und
147
ihnen nur allein, das menschlich Mächtigste in uns,,
den Individualitätstrieb, die Selbstigkeit zu überwinden und
in dieser Selbstopferung gerade die höchste Selbstbefriedi-
gung finden zu lassen^ um das wahre Selbst aus jenem
sinnlich-phänomenalen herauszuläutern.
In diesen beiden psychischen Thatsachen liegt nun, wie
in einem Keimpunkte , die Forderung einer Weiterentwicke-
lung des theistischen Grundgedankens auch von selten der
Wissenschaft. In ihnen ist eine Reihe von psychologischen
und metaphysischen Problemen enthalten, völlig unverständ-
lich für Den, welchem jenes innere Leben des Geistes bis-
her noch verschlossen blieb, durchaus aber begreiflich imd
darum gefordert von Dem, welcher einheimisch geworden^
in jener Welt „begeisternder" Ideen. In der Erledigung
jener Probleme besteht nun, was wir nur als „ethischen"
Theismus bezeichnen können, weil er im eigenen Verlaufe
in einem ethischen „Beweise für das Dasein Gottes" sich*
abschliesst; nicht aber in der alten, verblassten Weise eines
logischen „Vernunftschlusses", sondern durch den Hinweis
auf ein Objectives, Thatsächliches. Es ist der Hinweia
auf die charakteristischen Wirkungen einer mehr ala
menschlichen Kraft im Menschen, auf die darin sich ver-^
kündende Gegenwart einer providentiellen Macht für den
Einzelmenschen, wie in der Menschengeschichte. Es gilt
hier zu wissen und davon Zeugniss zu geben: „Nicht Ich
lebe und wirke; in mir lebt, durch mich wirkt fortan die
Kraft eines hohem, heiligenden Willens."
Diese ethisch-religiöse Grundanschauung, zur Wissen-
schaft erhoben, in ihren theoretischen Consequenzen begründet,
nach ihren thatsächlichen Erscheinungsweis.en möglichst er-
schöpft, — eine sehr tiefgehende, fast unendliche Aufgabe^
— eine solche Anschauung und Wissenschaft ist nun, wie
leicht zu erachten, am vrenigsten das Eigenthum oder das
Erzeugniss irgendeiner ausschliesslichen philosophischen oder
theologischen Schule; und hier am allerwenigsten können
10*
148
Namen gelten oder als Autoritäten sich hervordrängen
wollen.
Aber ebenso sicher kann diese Weltansicht auf „Zukunft"
rechnen, weil sie als Ahnung oder als Glaube stets schon
lebte und wirkte aus dem geheimnissvollen Innern des Men-
schengeistes hervor, weil sie zugleich von dorther immer von
neuem sich geltend machte und Mahnungen erliess. Wenn
wir bestimmter dan6 die Geschichte der Philosophie befragen,
so ist es überhaupt der Geist des Idealismus in seinen
verschiedenen Gestalten, näher und in ausgesprochenerer
Weise der Geist der Theosophie und der von einzelnen
Schlacken gereinigten, christlichen Mystik, welcher uns
voranging. Wie sehr aber gerade im gegenwärtigen hoch-
bedenklichen Zeitmomente, wo die frechste Negation auf
offenem Markte ihre Orgien feiert, jene tiefere Richtung der
Wissenschaft uns von nothen sei, wie sie aber ihre talent-
vollen und entschiedenen Vertreter auch jetzt gefunden, daran
brauche ich hier nur zu erinnern.
Und einen besondern Vorzug dieser Richtung darf ich
auch darin finden, dass ihr Vereinigendes nicht das Band
einer bestimmten Schule unter bestimmten Formeln ist, son-
dern die freie Uebereinstimmung in jener schon geschilder-
ten theistischen Grundiiberzeugung, welche der verschieden-
sten Auffassung und der vielseitigsten Begründung fähig
bleibt, aber zugleich damit für jene Einverstandenen die
scharfabgrenzende Scheidung bildet gegen alle Nachwirkun-
gen des Pantheismus einerseits, wie andererseits den Protest
gegen die materialistischen und pessimistischen Lehren heuti-
ger Zeit.*)
*) Verlangt man dafür Namen und Belege, so berufe ich mich am
einfachsten darüber auf M. Carriere, der selbst ein entschiedener und
hochbegabter Bekenner dieser Ueberzeugungen, am Schlüsse seines
grossen Werkes: „Die Kunst im Zusamm enhange der Cultur-
entwickelung und die Ideale der Menschheit" (fünfter Band,
Leipzig 1873, S. 632 — 634), den gegenwärtigen Wendepunkt der deutschen
149
Hoffentlich indess werden überhaupt die hergebrachten
engen Begriffe von „Schule" und von Schule-Machenwollen,
wie alte üble Gewohnheiten, noch mehr als etwas völlig
Ueberflüssiges allmählich von selbst verschwinden. Denn
was als objective Wahrheit in sich Bestand hat, lässt sich
eben darum von den verschiedensten Gesichtspunkten, die
in ihr selber liegen, behandeln un4 darstellen. Und jeder
eigentliche, darum selbständige Denker wird definitiv doch
nur seine eigene Ueberzeugung vertreten wollen und können.
In diesem freien, unbefangenen Geiste auch die Ge- *
schichte der Philosophie in ihren bisherigen Systemen wie
in den Aufgaben ihrer Zukunft aufzufassen, habe ich stets
gestrebt. Ich hoffe darin, wenigstens im allgemeinen, auch
Ihrem Einverständniss zu begegnen, geehrter Herr College;
und im Sinne einer solchen hohem Versöhnung empfehle
ich mich Ihnen!
Wissenschaft und Cultur besprechend, die grosse Bedeutung jener ViTen-
düng in der Speculation hervorhebt und ihre Hauptvertreter kurz, aber
geistvoll charakterisirt. Seit jenem Zeitpunkte (1873) wären noch mehrere
Namen zu nennen, die jener Kichtung sich angeschlossen.
Berichtigung.
Seite 49, Zeile 15 v. u., statt : Russ , lies : Rust
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