FRANZ KORMENDI
Versuchung in Budapest
ROMAN
DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT
G. M. B. H.
BERLIN
Einbandentwurf von Werner Beucke
Aus dem Ungarischen iibertragen von
Mirza v. Schuching
Originaltitel: ,,A Budapest! Kaland"
Nachdruck verboten • Printed in Germany
Erster Tell
DER GEDANKE
GEGEN 2chn Uht versammelten sich die Jungens im Cafe.
Die Jungens, das waren Budapester junge Leute von zwei-
unddreiBig bis dreiunddreiBig Jahren, Altersgenossen, die
zusammen das Gymnasium absolviert batten — und nun
bestand ihre Beziehung zueinander hauptsachlich darin, daB
sie sich die Jungens nannten. In der Klasse seinerzeit bilde-
ten sie eine Qique; die meisten wenigstens, die zu diesen
Zusammenkiinften im Cafe crschienen, gehorten zu einer
Gruppe. In der Schule batten sie die Platze, gleiche Inter-
essen, ahnliche Veranlagungen und gcwisse Familien- und
Vermogensverhaltnisse zusammengebracht, — wie ver-
schieden sie gewesen oder geworden warcn, bemerkten sie
erst, als an die Stelle der Schulbank der runde Marmortisch,
an die Stelle des Tintenfasses die Kaffcetasse, der Angst vor
dem An-die-Rcihe-Kommcn die Angst vor der Verantwor-
tung getreten war. Von der Cafegesellschaft blieben mit der
Zeit einige weg, dafiir aber schlossen sich ihr ein paar
Fernerstehende an; diese wurden vom Stamm anfangs mit
einem mild nachsichtigcn MiBtrauen aufgenommen, dann
gewohnte man sich allmahlich auch an sie. Wahrscheinlich
ficl es keincm von ihnen auf, daB die Zeit ihre cinstmaligc
Zusammengehorigkeit langst hinweggeschwemmt hatte,
daB dieses Aneinandergewohntsein auf den cingefleischten
kleinen Dingen des Alltags beruhte und eigendich keinen
inneren Sinn hatte. Es fillt mif immer vor cin und demselben
Schaufensterspiegel ein, daB ich mir einen ncucn Hut kaufcn
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mtiBte; an einer bestimmten StraBenbahnhaltestelle denkc
ich daran, daB es sich lohntc, ein Abonnement zu nehmen;
vor eincm bestimmten Haus in der inneren Stadt geht mir
todsicher der Gedanke dutch den Kopf, ich muBtc doch
endlich einmal ins Nationaltheatcr zu einer Shakespeare-
Vorstellung gehen. Genau so gab es ein Cafe auf dem Ring,
vor dem zehn bis zwolf jungen Leuten einfiel: Gymnasium
in der , . . -StraBe, — einfiel, daB es eine Jungensgesellschaft
gab mit einem Kelemen, einem Zatony, zwei Lewys und
noch mit diesem und jenem, — und daB es in der Woche,
spater alle zwei Wochen, dann nur noch jeden Monat einen
Tag gab, an dem sich die Jungens abends in diesem Cafe
versammelten, — So trafen sich diese jungen Leute eine
lange Reihe von Jahren hindurch, wie sicb Schulkameraden
ebcn zu treffen pflegen. Ein bis zwei Stunden zusammcn-
sitzen, um etwas voneinander zu horen, um zu erfahren, wie
es den einzelnen geht, was sie machen, wer Erfolg hat und
womit, wer Pech hat und worin, — ein biBchen plaudern,
ein biBchen lachen: das waren die ungeschriebenen Statuten
dieser Gesellschaft. Und wichtig war in diesem Programm
eigentlich nur der letzte Punkt: denn dem armen Weiner
kann ich ja auch dann nicht helfen, wenn ich wicder hore,
daB er Not leidet; und von Varga kann ich hochstens er-
fahren, daB er weiter avanciert ist in der Bank, wo der alte
Varga Generaldirektor ist ... nein, nicht das ist wichtig.
Wichtig ist: lachen. Wichtig ist, daB der kleinc Lcwy auf
einmal sagt: ,,Na, ratet mal, wen ich vorigen Dienstag auf
der Rdk6czi-Stra8e getroffen habe? den Marczinka." —
,,Wirklich? den Marczinka? also, der lebt noch? ist er alt
geworden? die Pfeife hat er natiirlich im Mund gehabt,
was? seid ihr stehengeblieben? hat er gesagt, na Lewy, Sie
Strolch?" und so. — Der kleinc Lewy steckt sich eine
Zigarette an, winkt mit einer Handbewegung das Stimmen-
gewirr ab und antwortet ordentlich, der Reihe nach auf die
Fragen. ,,Ja, wirklich, den Marczinka. Was heiBt, der lebt
noch? was heiBt, ist er alt geworden? — strammer ist er
derm jc. Die Pfeifc hat er natvirlich im Mund gehabt, abcr
gcklagt hat er, daB seine Pension nicht mal fur Tabak rcicht.
Wie er mich sah, hat er mich erkannt und mich angehalten,
bloB an meinen Namen hat er sich nicht erinnert, — also,
ich schlag die Hacken zusammen und sag briillend: Herr
Professor, ich bin Lewy, der Strolch!" Gelachter. Und in
diesem Augenblick lost sich schon irgendwo die Frage:
,JDu, Lewy, wie war das noch, als du den Pipo", — das
war Marczinkas Spitzname — ,,zum Osterkonzert cin-
geladen hast?" — ,,Das? ach ja", sagt der kleine Lewy und
zieht den Rauch in die Lunge, ,,das, ja, das war so . . ."
und da sehen die Jungens alle die Klasse vor sich, in dop-
pelter Reihe im Turnsaal auf dem Sagemehl, vor der Reihe
Marczinka, genannt Pipo, den schwerhorigen Turnlehrer;
Pipo klatscht in die Hande und briillt: ,,stillgestanden!" —
und da springt der kleine Lewy aus der Reihe vor, zieht in
Parademarsch-Schritten vor Pipo auf, schlagt die Hacken
zusammen und sagt mit seiner singenden, jiidischen Nasal-
stimme: ,,Herr Professor! Im Namen unserer Klasse . . ."
und da stockt der Klasse der Atem, und der Klasse dreht
sich der Magen, und es fangt der Klasse leise in der Kehlc
an zu kitzeln, bis schlieBlich am Ende der Rede Lewys das
losbrechende, nicht auszuhaltende, unerstickbare und tod-
lich grofie Gelachter kam. Der kleine Lewy redet, und
schon wirft das Erinnern die Goldbrocken des sorglosen,
von allem losgelosten, leichten, von Verantwortung freien,
wohltuenden Lachens unter die Jungens. Der kleine Lewy
ist gerade so weit gekommen: 9,das Kunstmusikkonzert . . ."
— und der schwerhorige Pipo versteht ihn nicht und schreit
den krummen kleinen Bengel an: ,,waas machste?!" —
worauf der kleine Lewy seinen linken Arm ausstreckt und
mit dem rechten wie mit einem Violinbogen dariiber sagt,
dann reiBt er beide Fauste an den Mund und trompetet
hinein: trara-traral! ,,Tss! Kinder", prustet der dicke,
bebrillte Laci Rona, und auch die andern krummen sich
vor hcrzhaftcm, jungem Lachen, ,,tss, Kinder! und was
hast du dann bckommen? cine Riige vom Direktor, was?
und deincn alten Herrn haben sic hinzitiert, was?" —
Manchmal ist es einfach zum Tollwerden. Die Geschichte
mit Sztcpanics und Hermann und Dorothea, oder der Muki
Hamvas als physikalische Einheit . . . Kinder, nie mehr
werden wir solchen SpaB haben wie in denjahrcn, nicht wahr ?
,Ja, das ist sicher", sagte der kleine Lewy, ,,nie mehr. So
wirds nie wieder. Jetzt sitz ich hier und lache, dabei ist
morgen eine Zahlung fallig, und es fehlen mir noch drei-
hundertsechzig Pengo . . .", aber indem er das sagt, ist der
kleine Lewy verschwunden, und an seiner Stelle sitzt
Wilhelm Lewy da, Manufaktur- und Wirkwaren-Handler,
gegenwartiger Chef der Firma I. Isidor Lewy. Da wird es
fur einen Augenblick eisig still, — nur fur einen Augen-
blick, — dann bricht der eigentliche Sinn dieser abendlichen
Zusammenkiinfte wieder durch: ,,Ach, fallig", sagt einer,
,,ich bin froh, daB ich morgen nicht bei Kristof in Latein
fallig bin . . . wiBt ihr noch, wie der sein Notizbuch heraus-
zog und — " und der dicke Rona reiBt wieder den Mund
bis an die Ohren auf.
Diese Gesellschaft hatte sich nach dem Kriege zusammen-
gefunden. Zuerst trafen sich bloB zwei oder drei, zufallig,
im Laufe der wirren, besinnungslosen Tage und ver-
angstigten Abende. Spater tauchten hier und dort bekannte
Kopfe auf, die Gesellschaft vergroBerte sich. Es kam vor,
daB einer sich in aller Stille ein paar Kronen von dem andern
pumpte, dann wieder fuhr an cinem Abend einer in cincm
nagclncucn Auto vor dem Caf6 vor. Ein Mobelhandler
heiratete jung und brachte einmal auch seine junge Frau mit.
Im geheimen besah sich jeder die neugebackene Frau sehr
genau; sie warfen sich heimlich Blicke zu, schnalzten leise
und kicherten; spater taxierten sie — allerdings mit zu-
sammcngesteckten Kopfen, aber ohne jedc Zuriickhaltung —
die korpcrlichen Qualitaten der kleincn Frau. Sie war
anfangs verwirrt und fand ihren Platz nicht, dann wurde sie
etwas warmer, lachte liber die Witze und Geschichten aus
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dcr Schule und rakelte sich heimisch an der Seite ihres
zweiundzwanzigjahrigen Bengels von Ehcmann im Kreuz-
feuer dcr gierigen Blicke der andcrn zweiundzwanzig-
jahrigen Bengels. Einer sprach in irgendeinem Zusammen-
hang das gefahrliche Wort Hochzeitsnacht aus, und in
diesem Augenblick war zu befurchten, daB das Gesprach
nun eine sanfte, aber eindeutig schliipfrige Wendung neh-
men wiirde, — da stand der Mobelhandler auf, und das
junge Paar verabschiedete sich von der Tischgesellschaft.
Die Jungens sprachen einstimmig ihr Urteil aus: primal
Damit war aber auch die Sache aus: der Mobelhandler
brachte seine Frau nicht mehr mit, spater blieb er auch
selbst fort. An seiner Stelle kam ein anderer: Suhajda. Er
trug eine Studentenmutze, benahm sich zwar ziemlich an-
standig, aber es war zu bemerken, daB er sich mit gewissen
Mitgliedern der Gesellschaft nicht einlieB. In den Zeitungen
konnte man manchmal seinen Namen lesen, im Zusammen-
hang mit den Geschichten an der Universitat, manche
glaubten sogar, allerhand von ihm zu wissen, aber da
Suhajda im ersten Jahr kaum zweimal im Caf6 erschien,
sich auch sonst still auffuhrte, kiimmerten sich die iibrigen
nicht viel um ihn. Wieder blieb einer wcg, und wieder
tauchte das eine und andere altbekannte Gesicht auf.
Kiirschner kam aus der russischen Gefangenschaft zuriick,
Tiszay trug an Stelle des linken Beines eine Prothese, Schwarz
iiber dem rechten Auge standig eine schwarze Binde. Ja,
die meisten von ihnen waren nach dem Abiturium ein-
geriickt; es gab wohl einige, die zusammen dienten,
eigentlich aber wurden sie schon nach dem Abituriums-
kommers in alle vier Winde zcrstreut und fingen erst jetzt
wieder an, irgendwie zusammenzukommen an dem Tisch
im Cafe. Gut waren diesc Abende; mal ein Ton, ein Wort
verirrte sich wohl hie und da zu den Flammenwerfern in
Flandern, den verlausten Schiitzengraben in Wolhynien,
den Drahtverhauen in Krasnojarsk, zur stinkigen Gcrste
der Kommune und zu irgendwelchen StraBcnaktioncn
schlimmen Angedenkens, die den roten Tagen f olgten, aber
der unwillkommene Ton wurde sofort verscheucht von
einem leichten Abwinken: ,,wie war das doch gleich, als der
Pepi Polgdr wahrend einer Mathematikstunde drauBen auf
dem Gang . . ."
Das ging so drei bis vier Jahre. Es gab leere Abende,
und es gab besuchte Abende. Es gab ein halbes Jahr, da
ihre Zahl auf funfundzwanzig gestiegen war. Damals
belegten sie fur den wochentlichen Abend ein Extrazimmer
im Cafe. Als aber einzelne anfingen wegzubleiben, wurden
aus den wochentlichen Zusammenkiinften zweiwochent-
liche, — und nach dem zehnjahrigen Abituriententag kamen
sie iiberein, sich von nun an jeden letzten Donnerstag im
Monat im Cafe zu treflen. Damals waren sie kaum noch
funfzehn.
Die zehnjahrige Zusammenkunft war iibrigens sehr
besucht, es fehlten nur die paar Jungens, die ins Ausland
gegangen waren. Cseh, der Oberingenieur in einer che-
mischen Fabrik in Frankfurt war; Bortko, der 1920 als
Austauschgefangener nach RuBland transportiert wurde;
Kadar, den man 1919 zuletzt in Budapest gesehen hatte und
von dem man seitdem nicht wufite, wo er war; Szalagh, der
Sekretar an der Gesandtschaft in Paris war; Bamberger, der
in Hollywood bei einem Onkel, einem Filmkonig, lebte.
Cseh und Szalagh batten iibrigens dem Direktor zum
Abituriententag geschrieben. An diesem Abend waren sie
das letztemal in grofier Menge versammelt. Siebenundvierzig
an der Zahl. Sie besahen sich gegenseitig die Anziigc,
fragten einander: ,,wie gehts dir?" — nahmen die allzu
unverhiillten Klagen oder die vornehm gedampften, be-
scheiden tuenden Prahlereien zur Kenntnis. Hielten Tisch-
reden, erzahltcn Witze, lachten, batten einander gern,
batten nichts miteinander 2u tun, und nach Mitternacht
standen die meisten mit dem beruhigten Gefiihl vom Tisch
auf, jetzt brauchten sie fiinf Jahre lang, bis 2ur n^chsten
Zusammenkunft, nichts von den andern zu horen. Aber
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diese zehn bis funfzehn jungcn Leutc hielten aneinander
fest, aus Gewohnheit und um cincs sorglos gedachten
Abends willen. Es gab Wohlhabende untcr ihnen und
Arme, cs gab Verheiratcte und Junggesellen, es gab
Christen und Juden, es gab lustige SpaBmacher und ernste
Naturen. Budapester junge Leute waren sie, kein einziger
hatte Karriere gemacht. Alle wuBten das, aber keiner sprach
davon. Bei einem zeigten sich graue Faden an den Schlafen,
bei dem andern fing der Schadel an, diskret sich zu lichten.
Die Jahre gingen iiber sie dahin, und sie sahen monatlich
an einem Abend nichts voneinander als: die Jungens sitzen
um einen Tisch im Cafe und lachen.
ANFANG November geschah es, daB Kelemen im Warte-
zimmer des Zahnarztes eine englische illustrierte Zeitschrift
in die Hand nahm und in diesem Magazin ein Bild ent-
deckte. Auf dem Bild war im Hintergrund ein prunkvolles
Gittertor zu sehen und davor etwas wie ein Zelt. Vor dem
Zelt stand ein junger Mann in dunklem Anzug, ihm gegen-
iiber eine Menge Menschen, einige in schmucker Uniform.
Unter dem Bild stand folgender Text:
PORT ELIZABETH. CAPELAND
Mr. A. T. Color (1), der beruhmte Architect ungarischer Abstammung* be-
grufit die BehSrden bei der Erdffnung seiner aus achthundert Einhdten bestehenden
neaen Villen-Stadt. Die entzUckende Kolonie, der wafer in der Vorstettung nock
in der Verwirklichung eine andere oaf der Erdc verglichen itierden (arm, street sich,
sieben Kilometer van der Stadt entfemt, am Meerestffer hin, und viele rdche BSrger
Britisch-Sudafrikas beeilten sich, au/ diesem herrlichen Fleckchen Erde etne Villa
zu fyotujcn oder zu mictent ton den tbononerurlaub Oder das Weekend dort zu
verbringen. Die Villen-Stadt 1st mil ihren Gebauden im modemsten Stil, ihren
blendenden Sportpldtzen, ihrem Klub und Kino eine wahre Zierde und Spezialitdt
des ganzen Britischen Rriches. In Anbetracht dessen, dafi Mr. Cadar ein mdchtiges
Kindererholungsheun und cine wdtere ganze Reihe Don Institoten, die den
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Interessen der Allgemeinheit dtencn, erbaut and dem Stoat gestiftet hat, bcf&rwortete
die Regienmg, daft die Kolonic nach Mr. Cadan Gemahlin Helena-Village ge-
nannt werde. und lief sick Id ihrer Erdffnmg vertreten. Die Letter des Ubcr*
nahme-Komitees smd General L. G. Baldwin (2), Sir Robert Hall Biirgermeister
von Port Elizabeth (3) und Mrs. Eliza Bdtner-Dirk. Bezirksvorstcherin far
Gesmdhdtspflege (4). Neben ihr steht Mrs. Helen Cadar (5).
Kelemen besah sich das Bild und den Text, und da er
nicht Englisch konnte, blatterte er weiter; dann, ak ihm
das unwillkiirlich ins Auge gesprungene Wort Hungarian
einfiel, blatterte er zuriick. Noch einmal las er den Text,
soweit er ihn verstand: Mr. A. T. Cadar, the famous
architect of Hungarian origin, — und er hob das Blatt
naher an die Augen. Betrachtete den vor dem Zelt stehenden
Mann, dann lieB er das Magazin sinken. Meinen Kopf geb
ich dafur, daB der Laffe hier mit dem Blatt Papier der Toni
Kddar ist. — Wieder sah er sich die Schrift an und versuchte,
die englischen Worte zu verstehen, was ihm nicht gelang.
Dennoch buchstabierte er sorgfaltig bis zu der Stelle:
Neben ihr steht Mrs. Helen Cadar (5). Mrs. Cadar, das heiBt
so vicl wie Frau Kadar, anscheinend hat er geheiratet. Dann
sieht er sich wieder das Bild an, versucht, die Figur der
Frau in Augenschein zu nehmen, aber auf dem etwas zer-
kniillten, abgegrifFcnen Blatt ist nur cine mittelgroBc
Frauengestalt in schwarzem Kleid zu seben, das Gesicht
ist ubcrhaupt nicht zu erkennen. Wer konnte den Laffen
schon heiraten? denkt er und legt nun das Magazin auf den
Tisch. Im Wartezimmcr des Zahnarztes sitzt ihm gegen-
liber auf einem niedrigen Sessel cine alte Frau, sie hilt cin
Taschentuch an ihre rechte Backe und schnauft manchmal
schmerzlich auf. Kelemen betrachtete die alte Frau, ihre
schwarze, mit Spitzen verzierte Bluse, ihren schief hingen-
den schwarzen Rock, ihre ausgetrctcnen, runzligen hohen
Knopfschuhc mit flachen Absatzen. Dann blickte er nach
der Wand, an der zwischen zwei flachen Faycnccschiisseln
cine Sammlung von Familicnfotografien hing. Sebr gut
scheints dem auch nicht zu gehen, dachte er, schabige Auf-
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machung, und nahm wieder die englische illustrierte
Zeitung in die Hand. Er schlug sofort das Bild von vorhin
auf, heftete den Blick auf die Figur des famous architect
und versuchte, das Bild zu erkennen. Auch diese Figur war
nicht sehr gut zu sehen, aber wie er sie so betrachtete,
bemerkte er plotzlich, daB der abgebildete Mann seinen
linken Arm im Ellenbogen geknickt an den Korper preCte
und die Hand vor der Brust hangen lieB. Todsicher ist das
der Kddar. Ich erkenne seine Handhaltung gam: genau, —
und da sah er Antal Kadar auf dem Schulkorridor vor einem
Fenster stehen, in der Rechten ein Buch, aus dem er auch
wahrend der Pause ochste, den linken Arm und die Hand
halt er genau so wie hier auf dem Bild, und die Jungens urn
ihn herum singen im Chor: Pin-guin! Pin-guin! — denn
wirklich, die Armhaltung Kadars erinnerte irgendwie daran,
wie sich der Fliigelstumpf dieser Vogel an ihren Leib
krampft. Todsicher ist das der Kadar. Aber warum zum
Teufel ist der hier abgebildet? in einer englischen Zeit-
schrift? Es scheint, es ist ein groBer Mann aus ihm ge-
worden, sogar seinen Namen schreiben sie A. T. Cadar. —
Besonders dieses A. T. imponierte Kelemen, verdroB ihn
sogar ein biBchen. A. T. So ein Affe. Wie unter den Bildern
Edisons, T. A. Edison. Oder: G. B. Shaw. Erstens hieB er
meines Wissens bloB Antal. Na ja, kommt ins Ausland,
kommt zu Geld, da kann er sich gleich einen zweiten Namen
leisten. Was fur eine Null der Junge in der Schule war. Mit
lautem Geraschel stieB er die Zeitung auf den Tisch und
begann, die alte Frau aggressiv zu mustern. Diese Alte
kommt noch vor mir dran, dreiviertel vier, ich komme zu
spat ins Biiro. Die alte Frau seufzte und sah zu ihm auf.
Kelemen wandte schnell den Blick ab, sah zur Decke,
stohnte laut und ging mit groBen Schritten im Wartezimmer
auf und ab. Sicher ist ein groBes Tier aus ihm geworden,
sonst ware er nicht in dem Blatt abgebildet. Gemeinheit,
seit zwanzig Minuten ist einer drin, mich schickt er nach
zwei Minuten fort, riihrt meinen Zahn kaum an. Wenn er .
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noch die einzelnen Besuche berechncn wiirde, schon, dann
konnte ichs verstehn. Aber der Preis 1st doch ausgemacht fur
beide Plomben. Als er an den kleinen runden Tisch kam,
griff er plotzlich nach dem Magazin und sah das Titelblatt
an. Eine Hautcreme-Schonheit war auf dem Titelblatt,
darunter stand: MiB Corrine Benet, the Winder's Colosseum
Star, Capetown. Dariiber der Titel des Blattes: World's
Sunday Pictures. Colonial Edition, 5th May, 1928. Wie
kommt dieses Blatt hierher? Er hielt es in der Hand, drehte
es hin und her und blickte sich uber die Schulter um. Die
alte Frau saB da, den Kopf in die Hand gestiitzt. Da hustete
Kelemen zerstreut, trat ans Fenster, riB mit einer plotzlichen
Bewegung das Blatt mit Kadars Bild heraus und hustete
noch einmal, laut. Das herausgerissene Blatt faltete er vor-
sichtig zwischen den Fingern zusammen und lieB es in die
Tasche gleiten, das Magazin legte er nun endgiiltig auf den
Tisch zuriick.
Es war halb fiinf voriiber, als er im Biiro ankam. Zuerst
entschuldigte er sich bei dem Abteilungschef wegen der
Verspatung. Herr Czilek nahm die Sache mit einer unfreund-
lichen Handbewegung zur Kenntnis, dann setzte er sich
an seinen Schreibtisch und nahm die Inkassoliste vor, die
er mittags in die Schublade gestopft hatte. Er besah sich
den Bogen. Ein schandliches Inkasso, keine sechzig Prozent
diesen Monat, der Alte wird toben. Er lehnte sich auf seinem
Stuhl zuriick, ziindete eine Zigarette an und zog das Bild aus
der Tasche hervor. Am Tisch gegeniiber saB ein kleiner,
bebrillter Jiingling mit Sommersprossen, zu dem sagte er:
,,H6ren Sic mal, Kramer, konnen Sie Englisch?"
,,Ich?" der Angeredete blickte auf, ,,nein. Warum?"
,,Wer kann hier im Biiro Englisch?"
,,Wer? Na, die Nusi aus der Korrespondenz."
Richtig, die Nusi aus der Korrespondenz, die kann gut
Englisch. Er legt seine Zigarette hin, nimmt aus der
Schublade noch ein paar Bogen, schiebt das Bild zwischen
sie und steht auf.
,,Was wollen Sic englisch?" fragt Kramer hinter dem
andern Tisch.
Er rauspert sich. ,,Ein Freund schickte mir einen eng-
lischen Artikel, der iiber ihn geschrieben wordcn ist; den
mochte ich . . ." und geht aus dem Zimmer.
Nusi aus der Korrespondenz war eine alte Person, trug
einen Kneifer, war hysterisch und schwitzte. Sie saB an der
Schreibmaschine, unter ihren Fingern knatterten die Tasten
wie ein Maschinengewehr.
,,Was wollen Sie, was wollen Sie?!" schnauzte sie, als
Kelemen sich neben sie stellte, ,,was wollen Sie, storen
Sie mich nicht ! Lieber Gott, ich werde verriickt, so viel hab
ich 2u tun!"
Mit leisem Abscheu betrachtete Kelemen einen Augen-
blick ihr olig glanzendes Haar und die Rundung ihres
Riickens, wie sie da vor der Maschine saB. ,,Liebste Nusi",
sagte er dann, ,,bloB keine Aufregung. Ich mochte Sie um
eine kleine Gefalligkeit bitten. Ubersetzen Sie mir die paar
Zeilen hier", und er zog das Bild aus den Papierbogen.
,,Was ist das, was ist das?" sie griff nach dem Blatt,
,,lieber Gott, mit solchen Blodheiten pisacken Sie einen,
wenn man so schon verriickt wird — "
,,Na, Nusichen, das bedeutet fur Sie doch bloB eine
Minute", besanftigte er sie, ,,wollen Sie zwischendurch
eine Zigarette? bitte." Sie greift grob in die hingehaltene
Papierschachtel, ziindet an und blast den Rauch in einem
geraden, harten Streifen aus.
,,BloB lesen, oder auch schreiben?" fragt sie und setzt
schon ihren Bleistift auf den Block:
Mr. A. T. Cadar, der beriihmte Architekt ungarischer
Abstammung, begruBt die Behorde . . .
,,So, fertig, aber jetzt lassen Sie mich in Ruh, danke fiir
die Zigarette", rasselte sie, als sie ihm das Blatt in die Hand
druckte und sich neben der Maschine iiber das offene
Stenogrammheft beugte.
,,Danke, Sie sind ein Engel", sagte Kelemen, trat ein
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wenig von der Maschine zuriick und flag an, den Text zu
lesen.
Also Kdddr, — das ist dieser A. T. Cadar, — der hervor-
ragende ungarische Architekt, — nicht schlecht, — seine
ftus achthundert Einheiten bestehende Villenkolonie, —
du lieber Gott, was kann denn das sein? Achthundert Ein-
heiten? Villenkolonie? seine Villenkolonie? . . . Kinder-
crholungsheim? Wohlfahrtsinstitutionen? die er dem Staat
gestiftet hat ... also ja, dieser ganze Kram ist sein Eigen-
tum, namlich die iibrigen Einheiten . . . und nach seiner
Frau ist es benannt worden? — da schlag doch einer lang
hinl Was muB der fur Geld haben!
,,Was ist los, was ist los, was brummen Sie?" knurrt
Nusi und dreht sich mit einer eckigen Bewegung um, ,,und
iiberhaupt, warum sind Sie noch immer hier? was soil denn
dieser ganze Blodsinn?"
,,Das ist Blodsinn, meine Liebe? Sie konnten sich freuen,
wenn Sie seine Sekretarin waren. Wissen Sie, was das ist?
ein Freund hat mir dieses Bild geschickt, ein Schulkamerad
von mir, ein Budapester Junge, Antal Kaddr, was soil ich
sagen, eine ganze Stadt hat er in Dings . . ." er griff nach
dem Bild und suchte nach dem Namen der Stadt, ,,ah ... in
*»ort Elizabeth."
>.,Schon, schon, ich habs ja gelesen, aber wo ist denn
dieses< port Elizabeth?"
«kn Indien, in Australien, was weiB ich, — iibrigens
steht ,das auch hier, da steht . . . Britisch-Siidafrika, also
7as fiir ein Speditor sind Sie, wenn Sie das nicht mal
wissen?"
/ ,,Was fiir ein Speditor, groBartig, Nusi, als ob das In-
/kasso damit was zu tun hatte, wo Port Arthur oder Port
' Elizabeth oder Port WasweiBich liegt?! Was glauben Sie,
der Cohn und der Lewy zahlt in Port Moritz nicht und zahlt
in Port Budapest nicht! Nicht das Port ist das Wichtige,
meine Liebe, sondern dafi mein Freund es so dick hatl
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Na, adieu, Musi, und nochmals schonen Dank", damit blies
er ihr den Rauch bin und ging.
In der Tarifabteilung suchte er Herrn Kalmdr, der Ober-
tarifor war jedoch nicht im Biiro. — ,,Haben Sie nicht einen
Weltatlas oder einen Handatlas?" fragte er einen Kollegen.
Sie suchten herum, in Kalmars Schublade fanden sie einen
deutschen Atlas. Er schlug das Register auf. Port . . . Port
Arthur, Port . . . Port-de-Paix, Port-de-Salau, Port Eliza-
beth, K 66 C 2, das wars. Er suchte die Karte Nr. 66.
Na also, — in Afrika liegts, in Siidafrika . . . C 2, wie tief,
ganz unten, na, natiirlich, Kap-Kolonie, englische Kolonie
oder Dings . . . jedenfalls ist es rosa, und das bedeutet
englisch. — Den Atlas nahm er sich gegen Quittung bis
morgen mit und ging in sein Zimmer. Neben dem Tisch
stand der Abteilungscbef.
,,Herr Kelemen, haben Sie Zahnschmerzen?" fragte erin
bosartigemTonfall, mit einer Stimme wie ein Reibeisen. ,,Ich
denke mir das ; denn kaum sind Sie mit Verspatung ins Biiro
gekommen, da sehe ich Sie schon wieder nicht arbeiten."
,,Entschuldigen Sie, Herr Czilek", sagte Kelemen, erst
mit einem kleinen aggressiven Anspringen in der Stimme,
dann aber gleich ruhiger werdend, ,,erstens habe ich wirk-
lich Zahnschmerzen. Zweitens aber bin ich einer sehr
wichtigen, halb und halb amtlichen Angelegenheit nach-
gegangen", und er nahm den Atlas vor, ,,ein Freund von
mir hat namlich aus Port Elizabeth in Siidafrika geschrieben,
er . . . wolle nach Budapest kommen, und ich mochte ihm
die Reiseroute zusammenstellen "
Er brach plotzlich ab, da Herr Czilek ganz unverschamt
den Kopf nach oben gewandt hatte und die Decke betrach-
tete, mit dem rechten FuB im Takt klopfte und mit den
Fingern auf dem Schreibtisch trommelte.
,,Port Elizabeth . . ." sagte er gedehnt, ,,und ausge-
rechnet Ihnen hat er geschrieben?"
,,Aber bitte", ein wenig verlegen und ein wenig gereizt
war seine Stimme, ,,wenn mein Freund . . ."
2 KOrmendi, Budapest IJ
,,Gut, guttc, winkte der andere ab, heute schon zum
zweitenmal und mit dem Von-oben-Herab des Chefs, das
dem nachlassigen Angestellten zukam, ,,gut, und wie stehts
mit dem Inkasso?"
Hoi dich der Teufel, dachte Kelemen und sah auf den
Bogen in seiner Hand.
,,Ich bin noch nicht ganz fertig damit", sagte er leise,
,,bisher sind in der Gruppe A — F sechzig erste, zwolf
zweite Mahnungen, sechzehn Aufforderungen durch den
Rechtsanwalt, sechs Prozesse, und Berger, Fischer & Co.
wiirde ich auch ruhig verklagen."
,,So", sagte der Abteilungschef, ,,Sie wiirden sic ruhig
verklagen? Also bitte, Herr Kelemen, das miissen Sie schon
mir iiberlassen, ob ich sie ruhig verklage oder unruhig,
aber morgen wiinsche ich die ganze Inkassoliste fertig zu
sehen, denn . . ."
Er sprach nicht weiter, sah aber wieder nach der Decke.
Kelemen setzte sich. Wenn der Kerl doch ersticken mochte,
wiinschte er und breitete seine Bogen vor sich aus. Der
andere ging vom Tisch weg.
Eine sonderbare Unruhe hatte er in sich, als er nach acht
Uhr das Biiro verlieB. Es war regnerisches, schmieriges
Herbstwetter, er fror und spannte einen baufalligen Regen-
schirm auf. Der schabige Seideniiberzug war auch schon
zerfetzt und lieB an mehreren Stellen das Wasser durch.
Hols der Kuckuck. Ein solcher . . . Affe baut sich in Siid-
afrika cine eigene Stadt, und ich muB mir hier fur drei-
hundertzwanzig Pengo das Geknurre von dem gemeinen
Czilek anhoren. Da soil einen doch die Wut packen!
Einfaltiger, gestaltloser Arger wiirgte ihm die Kehle, als
er iiber die matschige StraBe ging. Fast hatte er eine alte,
dicke Frau angeschrien, die ihren Schirm steif iiber ihren
Kopf hielt und im Vorbeigehen den seinen scheuerte. Die
dumme Kuh kann auch ihren Schirm nicht ein biBchen
hoher hebenl Er ging schnell; als er bei einer QuerstraBe
vom Biirgersteig hinuntertrat, patschte er in eine Pfutze,
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und das Wasser spritzte ihm an die Striimpfe. Zum Teufel!
Dann kehrte er im ,,Biirgerlichen Restaurant" ein, wo er
Monats-Kostganger war; den Schirm haute er in die Ecke,
kroch aus seinem Mantel, und noch auf dem Weg zu seinem
Tisch schrie er die Kellnerin mit der fleckigen Schiirze an:
,,Los, Mariska, zwei Eier, Pariser in Essig, mit Zwiebel,
NuBkipfel, los, ich bin hungrig."
Das Essen schmeckte ihm gar nicht. An den Eiern roch
er so lange herum, bis Frau Tauber hinzukam und beleidigt
versicherte, es seien die allerfrischsten durchleuchteten Tee-
Eier, die brauche man, bitte, nicht zu beriechen, die konne
man, bitte, ruhig essen. Da aB er sie auf, aUerdings mit Ekel.
An der Pariser Wurst in Essig waren zuviel Zwiebeln, und
im NuBkipfel knirschte ihm ein Kriimchen NuBschale
zwischen den Zahnen. Schmierige Garkiiche, zum Dormer-
wetter Dann nahm er den Atlas hervor. Port Eliza-
beth . . . liegt in Siidafrika. Rechts, vielmehr an der ostlichen
Kiiste. Warm wirds da sein, das ist sicher. Aber damit weiB
ich noch nicht viel. Er blatterte den Textteil auf. Afrika —
Siidafrikanischer Staatenbund, — das wirds sein. Buren,
Englander, Deutsche, Hollander . . . Hauptstadt Pretoria, —
Diamanten, Gold, Zink, Urprodukte, wichtigere Hafen-
stadte Cape Town, Port Elizabeth . . . na. Kann ein hiibsch
kleines Nest sein, sechzigtausend Einwohner. Aber sicher
lauter reiche Leute. Wo sich ein Antal Kddar achthundert
Villen leisten kann. Und wenns bloB Negerhiitten sind?
Blodsinn, wegen Negerhiitten werden sie doch nicht so viel
Radau machen wie auf dem Bild hier. Na gut, also jetzt weiB
ich: Siidafrika und Port Elizabeth, und der A. T. Cadar ist
ein beriihmter Architekt und Millionar, — nun wenn schon,
was kauf ich mir dafiir. — Am andern Tag gab er Herrn
Kalmdr den Atlas zuriick.
Diese Kddargeschichte lieB ihm indessen keine Ruhe. Ein
paar Tage dachte er nicht daran, dann fand er in der Tasche
des blauen Anzugs das herausgerissene Blatt aus dem
englischen Magazin wieder. Er betrachtete es, drehte es hin
und her, den Text konnte er schon auswendig. Was so ein
Ochse fiir Gluck hat ! Der grofite Affe war er in der Schule,—
natiirlich, der macht Karriere. Millionen muB er haben!
Achthundert Villen . . . iiberhaupt, ich versteh die Sache
nicht. Vermietet er die, oder verkauft er sie? Gehort ihm der
Grand und Boden, oder hat er bloB die Kolonie gebaut?
Und ich hier mit meinen dreihundertzwanzig Pengo
Das kam ihm immer in den Sinn, und er war in diesen Tagen
sehr schlechter Laune. Andor Kelemen, der Budapester
junge Mann mit seinen glatt nach hinten gekammten Haaren,
seinem bleichen Biiro-Gesicht, mit der etwas nachlassigen,
miiden Haltung in der hohen, breiten Gestalt, mit dem
Spiegelbild dieser Haltung, dem sauerlich verzerrten Zug
um den Mund, mit seinen zwemnddreiBig Jahren, — Andor
Kelemen stand dieser ihm zufallig zu Ohren gekommenen
Karriere unsicher und fremd gegeniiber. Dieser Toni Kaddr
ist nach der Schule gewiB ins Ausland gekommen. Andor
Kelemen aber . . . na ja, jedenfalls hat das Leben damit an-
gefangen, daB cr 1916 bei der Musterung mit der Be-
griindung: allgemeine Korperschwache nicht zum Militar
genommen wurde, und so war es das Gescheiteste, nach dem
Abitur sofort zu seinem Vater in die Rohleder-Agentur
einzutreten. Das Geschaft ging damals sehr gut, zwar gab es
Zwangswirtschaft und Lederzentrale, auch eine kleine Un-
annehmlichkeit mit dem Militar- Arar wegen irgendwelcher
verdachtiger Leder, — die Hauptsache aber war, daB das
Geschaft ging, und Kelemen dachte eigentlich erst dann
daran, daB es sich gelohnt hatte, sogar notwendig gewesen
w&re, alle Kniffe, Moglichkeiten, die ganze Technik dieser
Branche griindlich zu erlernen, als nach dem Kriege der Alte
von einem Tag auf den andern pleite war. Zum Gliick gings
noch eine geraume Zeit vom Geld der Mama, und so hatten
sie keine momentanen Sorgen; und dann, wahrend der
Kommune unterkommen? ach nein, das war iiberflussig, fiir
die paar Tage, die das Ganze noch dauern wird. Nach der
Diktatur des Proletariats veranderte sich die Welt sofort.
20
Der Fricden brach aus. Es kam cine kleinc Konjunktut
Bank, da ging die Sache ganz gut. In dem groCcn Rummd
war weder Fachkenntnis noch Befahigung notig, um zu
Geld zu kommen, hochstens der gute Budapester Blick und
die gute Nase. Na, und das hatte man ja. Nicht das Gehalt
war das Wesentliche, sondern daB man gleichsam von
Berufs wegen mit allerhand Papieren und Valuten mani-
pulieren konnte, — ganz ansehnliche Summchen gingen
damals durch seine Hand, da gabs Theater, Plattensee, ein
ganz anstandiges mobliertes Zimmer in der Aradi-StraBe fur
Extrazwecke und Frauen von leichterer und billigerer Sorte,
aber hiibsch und dekorativ. Die Sache dauerte einige Jahre,
dann krachte die kleine schmierige Bank nach Strich und
Faden ein, und nicht einmal das war das groBte Gliick, daB
er nicht mit der sogenannten Geschaftsfuhrung zusammen
ins Gefangnis wandern muBte, sondern daB er sogar ein
biBchen Geld rettete. Um die Zeit starb jedoch der alte Herr,
der iiber seinen Ledergeschichten melancholisch geworden
war, und da saB nun die Mama und die Sari und die Joly.
Sari machte zum Gliick nicht viel Umstande, sondern
heiratete einen Delikatessenhandler auf dem Ring. In der
ersten Zeit irritierte es ihn ein wenig, daB sein Schwager
selbst hinter der Theke stand und Wiirstchen verkaufte,
und den Bekannten gegeniiber sprach er durch das Mega-
phon der Budapester GroBtuerei von Fleischkommissions-
geschaft, ja sogar Wurstwarenfabrik. Egal. Das Wichtige
war, daB Karoly ein anstandiger, guter Mensch war und
Sari anbetete; Sari hatte es gut, zwar muBte auch sic sich
von morgens bis abends plagen, aber sic konnte doch die
Mama noch angemessen unterstiitzen. Joly war damals noch
cine kleine Gohre, die auBer ihrem Stiick Brot und den
Schulbiichern keine Sorgen verursachte. — Solange das
Geld reichte, hatte er ein ziemlich angenehmes und freies
Leben. Er lungerte um die B6rse herum, mal ein Pferde-
rcnnen, mal Caft, allerhand zweifelhafte, sonst aber un-
schuldige und unbedeutende Geschaftchen, geringfiigige
21
Vermittlungen; kurz, er hatte nichts Richtiges zu tun. Die
Tagc vergchcn auch so, — und plotzlich ist er so weit:
weder Stellung noch Geld noch Hoffnung, irgendwo untcr-
zukommen. Natiirlich folgt nun das verzweifelte Sich-an-
den-Kopf-Fassen. Dauernd sind an die 2ehn Moglichkeiten
da, — bloB, es gelingt nichts. Ein Wunder? In diesen
Zeiten? Gerade hatte cr den letzten Hunderttausender ge-
wechselt, den er sich vom Schwager geborgt hatte, als ein
alter Freund seines Vaters ihn in einer groBen Speditionsfirma
unterbrachte. Sechsundzwanzig Jahre war er damals, wuBte
nichts und verstand alles, schmachtete nach geordnetem,
reichem Leben und hatte es fiirchterlich satt, daB er wieder
etwas anfangen muBte, mit streng eingeteilter Zeit, mit
Gebastel an einem Schreibtisch und in der Phantasielosigkeit
von monatlich zwei Millionen. Aber man muBte in den
sauren Apfel beiBen. SchlieBlich war die Sache ja cine feste
Anstellung, eine beginnende Existenz, und wenn er auch
nach Verlauf von Monaten immer mehr fuhlte, daB die Erde
der Sonne naher war als cr an diesem Schreibtisch der
Moglichkeit, Karriere zu machen: so sah er dennoch am
Endc eines jeden Tages mehr und mehr, was heutzutage ein
sicherer Schreibtisch bedeutete. Seine Arbeit? die war ihm
langweilig und verhaBt, und da er leicht auch das Dreifache
bewaltigt hatte, vernachlassigte er sie. BloB, um der Sache
den Anschein zu wahren, bloB so viel arbeitete er, wie zur
Verteidigung dieses Schreibtisches notwendig war. Das ist
natiirlich entsetzlich und zweifellos einc Hauptursache der
standig und still bohrenden Unzufriedenheit, die ihn seit
Jahren noch keine Minute verlassen hat. Sechs Jahre, mein
Gott, sechs Jahre. Was hatte er erwartet? Eine neue Kon-
junktur, die die Moglichkeit gibt, diese ganze sinnlose, aus-
sichtslose Beschaftigung hinzuschmeiBen einem unbekann-
ten, unsicheren, aber wenigstens hofFnungsvoll scheinenden
Versuch zuliebe? Oder daB die Tochter des General-
direktors sich im Strandbad in ihn vergucke, und dann
natiirlich konne er hier raus ? Oder daB er im Euro plotzlich
ll
cine groBe Gaunerci cntdeckc und dann jcmandem den Hals
brechen und sich an dessen Stelle setzen konne? Budapester
Phantastereicn. — Was hattc er erreicht? Nach sechs Jahren
dreihundertzwanzig Pengo, einen unzufriedenen, brum-
migen, bosartigen Abteilungschef, einen langweiligen
Wirkungskreis ohne Perspektive; fur sechzig Pengo ein
Monatszimmer mit Friihstiick, fur neunzig Kost im ,,Biirger-
lichen Restaurant", fiir achtzig — die er der Mama gab —
die sorgenschwere Pose und Reizbarkeit des Familien-
erhalters und schlieBlich neunzig Pengo im Monat, die ihm
fiir Zigaretten, Elektrische, Frauen, Kino, Cafe und Radio-
teilzahlung iibrigblieben. Budapester Wirklichkeiten. Das
Haar ging ihm schon stark aus, er trug eine groBe Horn-
brille, noch aus seiner Bankierszeit, von den Menschen er-
wartete er nichts, die Dinge interessierten ihn nicht, und er
war schon iiber so vielerlei hinaus, daB er es iiberhaupt
nicht fiir der Miihc wert hielt, an das, was kommen wiirde,
zu denken. Andor Kelemen war zweiunddreiBig Jahre alt,
aber unter dem fiinfundzwanzigjahrigen AuBeren hatte sich
Langeweile und Miidigkeit fiir fiinfzig Jahre in ihm ange-
sammelt; und als er nach acht oder zehn Tagen wieder das
Bild in die Hand bckam, sah er den Pinguin vor dem prunk-
vollen Tor an und dachte: du lieber Gott, was fur ein armer
Schlucker ist aus mir geworden.
3
DER Sechsundzwanzigste, der vierte Donncrstag im Monat :
heute abend ist die Zusammenkunft im Cafe fallig.
Kelemen ging aus dem ,,Biirgerlichen Restaurant" zuerst
nach Hause, warf den Biiroanzug ab, nahm einen reinen
Kragen und zog den guten blauen Anzug an. Das gehort
zwar nicht zur obligaten Ungezwungenheit, aber an dem
grauen Anzug ist der Hosenboden schon so glanzend, und
am Ellenbogen fangt er an, fadenscheinig zu werdea. Witwe
Hunka, seine Wittin, btachte ihm die Schuhbiirste, damit
siuberte er seine Schuhe, dann polierte er sie mit der hcr-
untcrhangendcn Ecke der alten, zerschlisscnen Chaiselonguc-
decke. Neun Uhr, noch zu friih, vor zehn werden die
Jungens nicht dort sein. — Er setzte sich an den Tisch mit
der Wachstuchdecke, der zwischen zwei ungliickseligen
Stiihlen linkisch in der Mitte des Zimmers stand. Na, auch
dieser November geht vorbei, — in ein paar Wochen ist
Mamas Geburtstag. Was soil ich ihr kaufen? was? I Wofiir
werde ich Geld haben? Ich werde ihr zehn Pengo geben,
und dafur bezahle ich von der Bucherrate und der Hemden-
rate bloB die Halfte und kaufe die neue Radiorohre nachsten
Monat. — Die Biicherschulden machen noch zweiund-
zwanzig Pengo, na, auch das lauft langsam ab. Irgendwann.
Vielleicht gibts auch zu Weihnachten im Biiro ein paar
Extra-Moneten, obgleich das nicht wahrscheinlich ist. Das
Geschaft geht schlecht. Die Kerls zahlen immer schwerer,
und dafur macht der Czilek, der Ochse, mich verantwortlich.
Als ob sie meinetwcgcn nicht zahlten. Als ob ich dem . . . zum
Beispiel dcmBerger & Fischer, nicht oft gcnug gesagt hatte —
mein Herr, geben Sie mir Geld und kein Pfandrecht auf Ihren
Pfcffer, dcnn ich kann mit PfefTcr keincn KarTee verzollcn.
Und was ist das Rcsultat? Berger-Fischer gibt mir kein Geld,
well er keins hat, also verzolle ich seinen KafTee nicht, also
geht seine Kundschaft ihren KafFce bei einem anstandigen
Grossistcn kaufen, SchluB, der Umsatz geht zuriick, zahlen
kann er doch nicht, kann froh sein, wenn icb ihn nicht gleich
verklage. Feine Gcschaftspolitik. Na ja, aber man mufi doch
einsehen, die Transcontincntalc kann nicht mit PfefFer und
KafTee handeln. Hochstens versteigern lassen kann sie
PfefFer und Kaffec. Das tut sie auch. Allc lassen versteigern.
Auch Sari sagt, es sei wieder wegen meiner Steuer bei ihnen
gcpfandct worden. Eine sechs Jahre alte Geschichte, lachcr-
lichl Wo von zum Kuckuck soil ich heute bezahlen, was ich
damals nicht bezahlen konnte? Zum SchluB wird noch ein
Skandal aus der Sachc, ich mufi heute wieder dem Szende
sagen, cr sollc die Geschichtc nicht ganz und gar vernach-
lassigen. Szende war mal in Sari verliebt, damals gings uns
noch gut, wieviel hat er bei uns gehocktl Der Idiot, mir hat
er beim Latcin geholfen, aber fortwahrend nach der Sari
geschnuffelt. Wie gehts deinem Schwesterchen? das fragt
er auch jetzt noch, aber wie es meiner Steuerangelegenheit
geht, dariiber schweigt er. Hingegen die Joly, die gefallt mir
in der letzten Zeit nicht, die lauft zuviel mit diesen griinen
Jungens herum, wirklich ein Skandal, wenn ich bedenke,
zum Beispiel das ewige Geweekende . . . wenn man sie
wenigstens in einem Biiro unterbringen konnte, damit sie
verdient, was sie an Schuhen verbraucht, — aber heute?
jemanden in einem Biiro unterbringen? wo man nichts
anderes hort, als : die Unkosten reduzieren, mehr arbeiten,
bitte, meine Herren, setzen Sie sich an die Schreibmaschine,
bitte, meine Herren, sichern Sie sich Ihren Schreibtisch
durch Produktionsplus . . . Produktionsplus, Produktions-
plus, ich werde mich hiiten, ihnen neben dem Inkasso auch
noch das Biiro auszufegen! Herr Gott, was fur ein Horn-
ochse war ich, daB ich sechsundzwanzig nicht die Radiosache
mit dem Vertes gemacht habel Wer weiB, wie weit ichs
hcute gebracht hattc. Das einzige, womit man heutc noch
Geld vcrdicnen kann. Und wer ist dafiir verantwortlich?
Kdroly, natiirlich. Freu dich, daB Onkel Laci dich bei der
Transcont untergebracht hat! Gib Ruhel Hast du cine
Ahnung, was es heiBt, heutzutage selbstandig zu sein? Wirst
schon sehen, nach zwei Jahren haben die Menschen diesen
ganzen Unsinn satt, Rohrc und Antenne und Welle, aber
ich kann dir dann auch mit Krokodilstranen nicht zur
Transcont zuruckhclfcn! Ja, ja, — das ist Kirolys bequemcr
Standpunkt, er hats leicht, nicht er vcrschimmclt bei diescr
mistigen Firma. Und andere kaufen sich Villen von den
Rdhren und den Wellen
Es klopfte. ,,Herein", sagte cr und stand vom Tisch auf.
Frau Hunkas Dienstmadchen stand in der Tiir.
,,Gnidiger Hcrr, der Herr Lcwy ruft unten, daB er die
drei Treppen nicht herauf klettcrt, weil er gesehen hat, daB
im Zimmcr Licht brennt, und cr laBt sagen, ob Sie zu Hause
sind und ob Sie ins Cafe gehen."
,,Gut", antwortete er, ,,rufen Sie nur runter, ich kame
gleich."
Das kleine Bauernmadel ging und lieB die Tike auf;
Kelemen sah ihr nach. Seit ungefahr zwei Monaten dient sie
hier, nach Frau Hunkas Angaben ist sie achtzehn Jahre alt,
ganz hiibsch ist sie, hat gute, gerade Beine, und auch ihr
Wuchs ist nicht baurisch, ganz brauchbares Frauenzimmer;
neulich, als Frau Hunka eines Sonntagmorgens auf den
Friedhof gegangen war, wartete er ab, bis das Madchen sein
Zimmer aufraumen kam. Sie war zerzaust, auch unge-
waschen, roch nach Kiiche, dennoch trat er plotzlich hin zu
ihr, griff, ohne ein Wort zu sagen, an ihre Brust. Aber das
Madchen riB sich los, brummte halblaut etwas und lief aus
dem Zimmer. Vielleicht ist sie noch unberiihrt. Ach, die
wird ausgerechnet unberiihrt sein. Wahrscheinlich hat sie
jemanden und wagt nicht, mit einem andern anzufangen,
oder sie war gerade . . . Er nahm seinen Mantel vom Haken
und zog ihn auf dem Wege zum Flur an. Also, ein ganz
brauchbares kleines Frauenzimmer, diese Julie; aber als sie
ihn neulich Sonntag einfach stehenlieB, verging ihm plotz-
lich die Lust nach ibr. Doch ganz gut, daB ich nicht mit ihr
angefangen habe. — Sein Zimmer fiihrte auf einen dunklen,
engen Flur; als er am Ende des Flurs angekommen war, fiel
ihm ctwas ein, er tastete sich zuriick in sein Zimmer und
drehte das Licht an. Er suchte jenes Bild, zuerst in den
Taschen des braunen Anzugs, dann auf dem Regal zwischen
den Buchern, er fand es nicht. Er dachte nach, wohin mochte
er es getan haben? Er hatte keine Ahnung. Verflixt, schade.
Das Wort, das ist nur Gewasch, das Bild ist Beweis. Viel-
leicht habe ich es im Biiro liegen lassen.
Er war wieder im Flur, die Kuchentiir stand ofFen, das
Madchen saB auf dem Hocker und mahlte Kaffee.
,,H6ren Sie mal, mein Kind", er steckte den Schliissel ins
26
SchloB der Eingangstiire, ,,haben Sie nicht zufallig ein Bild
in meinem Zimmer gesehen?"
Das Madchen hielt im Mahlen inne und kam an die Tiire.
,,Was fur ein Bild?" sagte sic, und ihrc Stimme zitterte
ein wenig.
,,Na, ein Bild mit Menschen drauf."
,,Doch, ja, gnadiger Herr, aber ich dachte, Sie batten es
weggeworfen — "
Das Biest, hats womoglich weggeschmissen.
,,Und wo haben Sie es hingetan ?" fuhr er das Madchen an.
,,Ich habs im Madchenzimmer an die Wand genagelt, ich
wuBte nicht, daB der gnadige Herr es noch brauchen."
,,Hopp", sagte er, ,,dann ists ja gut. Nehmen wirs schnell
wieder runter, vorwarts! Natiirlich brauch ich es", und ein
leises Lachen kitzelte ihm die Kehle: Mr. A. T. Cadar mit
achthundert Villen hangt in Julies Zimmer an der Wand.
Er ging hinter dem Madchen her, das Bild hing iiber dem
niedrigen Eisenbett.
,,Ich hoi ein Messer, fur die ReiBnagel", tat das Madchen
eifrig und drehte sich um.
,,Nicht notig", er hielt den Atem an, um den sauren
Geruch des Madchenzimmers nicht zu spiiren, und mit einer
knappen Bewegung riB er das Bild unter dem Nagel weg.
,,Entschuldigen bitte", fing das Madchen wieder an, er
unterbrach sie:
,,Schon gut, schon gut, dieses Bild brauch ich, ich werde
Ihnen ein anderes dafiir geben, eine Ansichtskarte", und
damit ging er.
Im Hausflur fuhr ihn der kleine Lewy an:
,,Du denkst wohl, ich komme dich abholen, damit du
mich stundenlang warten laBt. Fallt mir nicht ein. Oder
hattest du etwa gerade mit der Dame, die vorhin runter-
rief— "
,,Dame — du Laffe. Obrigens, damit dus weiBt, ein sehr
brauchbares Frauenzimmer. Dienstmadchen, aber sehr
brauchbar. Aber ich brauch sie nicht"
,,Du GroBmogul", sagte Lcwy. ,,Na, was gibts sonst?"
,,Nichts, man lebt", antwortete Kelemen, dann nach
einer kleinen Pause: ,,oder cigentlich, wenn du nicht ge-
mault hattest, wiirde ich es dir jetzt extra sagen, so aber — "
,,Unerhort", tat der andere, ,,kannst dir gar nicht vor-
stellen, wie neugierig ich bin."
,,Denk mal an, du bist wirklich neugierig."
Der kleine Lewy war es tatsachlich, doch gab er seine
Position nicht auf.
,,Und wenn schon, was wirst du schon fur Neuigkeiten
wissen. Bist du abgebaut worden?"
,,Wasser."
,,Haupttreffer von dreiBig Pengo gemacht?"
,,Ausnahmsweise nein."
5,Willst du heiraten?"
,,Dringendst."
Kleine Pause, an der StraBcnecke blciben sic stehen, ein
Auto saust vorbei und spritzt den StraBendreck in die
Gegend. Lewy tritt zuriick und besieht sich seine Hosen-
beine.
,,Sagst dus, oder sagst dus nicht?"
Kelemcn lachte. ,,Also, du bist neugierig. Gestehs, dann
sage ichs, gestehst dus nicht, dann erst im Cafe*."
,,Kannst mir kreuzweise — " sagte der kleine Lewy und
schritt beleidigt weiter.
Nach wenigen Minuten batten sie das Cafe erreicht.
Einige von den Jungens soBen schon im oberen Raum um
den groBen Tisch herum. Schwarzc Kaffecs standen auf dem
Tisch, nur Pista Marton, der von seinem Vater ein schlecht
gehendcs Rechtsanwaltsbiiro und angcblich einen Herz-
fehler geerbt hattc, aB ein Apfelkompott. ,,Servus, servus",
— der groBe Lcwy fiihrte gerade das Wort:
„. . * wic gesagt, ich wollte meincn Augen nicht trauen.
Als ich ihn namlich vor sechs, sage und schreibc, sechs
Jahren auf dem Bahnhof in Szolnok traf, war er auch schon
Oberleutnant, dcnk mal", wendete er sich an Kelemen,
28
,,gerade erzahle ich hier, es sind noch keine drei Tage, daB
ich dem Fandler begegnete, du weiBt, der aus der Sechsten
auf die Militar-Akademie iiberging, kannst du dich er-
innern? Nun, ich komme eben auf dem Josefsring aus dem
Haus Nummer sechzig, da steht Fandler an der StraBenbahn-
haltestelle. Ich geh auf ihn zu, natiirlich erkannte er mich
auch gleich, servus, Fandler, sag ich, er salutiert, guten
Abend, sagt er. Guten Abend ist gut, denk ich mir. Na,
erkennst du mich nicht? sag ich. Er sieht sich mit einem
Blick um, es stand niemand da, es regnete; ach, macht er,
servus, jetzt erkenn ich dich erst. Ich sage, wie gehts dir,
Fandler? wohin gehst du? Zum Westbahnhof, sagt er, ich
gehe nach Hause nach Vac, ich diene da. So, sag ich, du hast
dich also von Szolnok versetzen lassen? Na, und wie bist du
zufrieden? So, so, antwortet er, ein Nest, aber es gibt ein-
zwei hubsche Frauen, und der Dienst ist ganz angenehm.
Und was bist du, wenn ich fragen darf, sag ich, denn unter
dem Mantel konnte ich den Kragen nicht sehen. Fandler
sieht zu Boden, schweigt eine Weile, dann sagt er tonlos:
Oberleutnant. Mir fiel gleich die Geschichte von Szolnok
ein, die von vor sechs Jahren, gerade wollte ich sagen, du
groBer Gott, immer noch! aber ich habs zum Gliick nicht
gesagt. Da kam die Vier, wir stiegen auf. Wir blieben vorn
beim Fahrer stehen, er wollte nicht reingehen in den Wagen,
obschon es in Stromen regnete und reinspritzte. Na schon,
ich versteh schon, mir kann man ansehn, daB ich kein
Bischof bin, ich versteh schon. Wahrend der Fahrt guckt
Fandler mich auf einmal an und sagt: jetzt warte ich auf
meine Beforderung, vielleicht kommt sie zu Neujahr. Na,
was soil ich euch sagen, es war keine Lustreise bis zum
Westbahnhof. Fandler sprach kaum ein Wort, fragen tat er
noch weniger, dieses Schweigen brachte mich geradezu in
Verlegenheit, ich wuBte nicht, wohin ich meinen Kopf
drehen sollte. Aussteigen wollte ich nicht, ich hatte in Buda
zu tun und war sowieso schon verspatet. Ja, ja, sag ich in
meiner Qual ganz blode, so lebt man. Fandler schweigt,
29
sieht mich an, dann spricht er cndlich: ja, ja, bei uns gehts
eben langsam; und was machst du, was ist aus dlr geworden,
seitdem wir uns nicht gesehen haben? Also bitte, was hatte
ich ihm darauf antworten konnen? Sollte ich ihm sagen,
in sechs Jahren war ich Borsenmakler, Getreidehandler,
Grundstiickvermittler, Biicheragent, Mitinhaber eines Cafes,
Autoagent, Radioagent und so waiter? Er hatte das gar nicht
verstanden. Ich sag ibm; na, ich lebe so hin, ich mache,
weiBt du, so ... in allerhand. Er schweigt, dann sagt er:
schwere Sache. Schwer, sag ich. Dabei, sagt er plotzlich,
und ein Zucken geht durch sein Gesicht, mein Fiihrungs-
zeugnis ist prima, und ich bin Rangaltester. Dann bricht er
ab. War auch gerade genug, was? Am Westbahnhof haben
wir uns verabschiedet, und er stieg aus. Seitdem muB ich in
einem fort dran denken, daB er auf diese Weise genau
hundertsechsundvierzig Jahre alt sein muB, wenn er
General wird." Er schwieg und sah sich um.
,,Schon", sagte der kleine Lewy, ,,ein schallendes Ge-
lachter iiber diesen Witz zuerst, dann wollen wir Kelemen
horen, der eine interessante Neuigkeit weiB."
Kelemen hiistelte.
,,Tja, wirklich traurig", sagte er.
,,Was denn?" drangte Lewy.
,,Na, die Sache mit Fandler."
,,Nicht wahr?" beeilt sich der groBe Lewy dankbar zu
bemerken, ,,bedenke doch mal . . ."
,,Da ist nichts zu bedenken", klafft jetzt mit seiner diinnen
Kinderstimme Zatony dazwischen, der elegante, zuriick-
haltende, im iibrigen hofFnungslose kleine Angestellte der
vornehmen, exklusiven Bank. ,,Da ist nichts zu bedenken,
und lassen wir lieber die Sache Fandler. SchlieBlich, ent-
schuldige, aber du muBt schon selbst zugeben, daB du,
lieber Lewy, davon gar nichts verstehst. Das Militar ist
schlieBlich weder Grundstiick noch Borse noch Radio.
Nun, Kelemen", wendet er sich diesem zu, ,,was gibt es
also?"
Kelemen riihrt in seinem schwarzen Kaffee. Auf dem
Tablett von Szende sieht er ein iiberfliissiges Stiick Zucker,
er langt danach, — ,,du gestattest ..." — dann schaukelt er
mit dem Stuhl:
,,Also, Jungens, erinnert ihr euch noch an den Kadar?"
,,Kadar?"
,,Antal Kddar?"
,,Toni Kadar?"
,,Den Pinguin?"
,,Aber natiirlich, wie sollte ich nicht?"
,,Was ist mit dem? ich hab ihn nie wieder gesehen."
,,Nun, also", sagt Kelemen, jedes Wort wichtigtuerisch
einzeln durch die Lippen siebend, ,,was wiirdet ihr dazu
sagen, wenn ich euch mitteilen wiirde, daB er es von uns
alien am weitesten gebracht hat?"
Einen kurzen Augenblick Stille.
,,Da er immer der groBte Hornochse von uns war", gibt
der groBe Lewy seine Meinung ab, „ wiirde ich mich gar
nicht dariiber wundern. Nu?"
,,Nu?" nimmt Kroh das Wort auf, ,,ist er ein Filmkonig
geworden?"
,,Das wohl nicht", sagt Doktor Marton, ,,sonst hatte ihn
unser Simon schon langst aufgeschnuppert und ihm unter-
tanigst ein Denkmal in der Kinozeitung gesetzt, nicht wahr,
Simonchen?" und er blickte den Journalisten an.
,,Mund halten", sagte Simon leise, ,,da ware es ihm
immer noch besser ergangen, als wenn er seine Strafsache
dir anvertraut hatte." Der Hieb saB; Marton hatte namlich
vor kurzem irgendeinen kleinen Defraudanten verteidigt,
den das Gericht, das war die Meinung der Jungens, haupt-
sachlich wegen des unsympathischen und ungeschickten
Auftretens des Verteidigers streng verurteilte. Mdrtons
Kneifer blitzte auf, er dachte iiber cine kurze, aber wiirdige
Entgegnung nach.
,,Na, schon gut", warf Amman dazwischen, der vor-
nehme, kiihle, immer iiberlegene Ministerialsekretar.
31
,,Ergebnis eins zu eins; fahren wit fort, was ist mit dem
Pinguin?" wandte er sich an Kelemen.
,,LaB horen", sagt auch Rona, ,,das Marchen von
Kadar."
Kelemen meinte, das Interesse sei noch nicht hoch genug
gespannt.
,,Was wiirdet ihr davon halten, wenn ich so sagte: acht-
hundert Villen an der Meereskiiste?"
,,Eine so groBe Meereskiiste gibt es gar nicht", sagte
Szende. ,,Hallo, Zigarren! Geben Sic mir eine Palatinus und
cine Papierspitze."
,,'s wird doch Hollywood sein", auBerte der groBe Lewy.
,,I wo", sagt der kleine Lewy aus Rache, ,,aufm Mond!"
,,Nicht in Hollywood und nicht auf dem Mond, laBt doch
den Blodsinn", setzt Kelemen fort. ,,Das ist eine ganz ernste
Sache."
,,Vor allem, woher weiBt dus?" fragte Kroh und
zwinkerte miBtrauisch hinter seinen drahtumranderten
Brillenglasern.
,,Von hier", antwortete Kelemen; aus der Tasche nahm
er das Magazinblatt, legte es auf den Tisch, glattete es und
legte die Faust drauf.
,,Wasistdas?"
,,Die Sache war so" : er beugte sich vor, ,,neulich war ich
bei meinem Zahnarzt, muBte warten, blatterte in allerlei
Zeitschriften . . ."
„. . . und riB aus einem dieses Blatt heraus", setzte Simon
in Kelemens Ton fort.
,,Was denn sonst? natiirlich hab ichs herausgerissen, ich
werde doch nicht das ganze Blatt schleppen", er bemiihte
sich, dies zynisch hinzuwerfen, aber ein biBchen Wut schien
in seiner Stimme zu zittern, ,,aber wenn ihr mich in einem
fort unterbrecht, kann ich ja auch aufhoren."
,,Na schon", der kleine Lewy ist neugierig, ,,man muB
nicht gleich beleidigt sein. Hort, hortl"
,,Also bitte", sagt Kelemen unlustig, ,,hier ist das Blatt,
3*
seht es euch an." Er nimmt die Faust vom Papier, dann
iiberlegt er es sich und nimmt das Blatt in die Hand. ,,Antal
Kadar", sagt er sehr betont, ,,der Pinguin, hat in Port
Elizabeth ein Millionenvermogen erworben, ist ein groBer
Mann geworden, besitzt eine regelrechte Stadt, die Re-
gierung begriiBt ihn, na, ich werde den Text vorlesen", fiigt
er hinzu und beginnt in amtlichem Ton : ,,Port Elizabeth —
Capeland. A. T. Cadar, der beriihmte Architekt ungarischer
Abstammung . . ."
Er sprach den Text zu Ende und blickte dabei auf das
Blatt.
,,So gut kannst du Englisch?" fragte Zatony, ,,du iiber-
setzt ex abrupto?"
,,Ja", antwortete er schleppend, ,,ich kann ein wenig;
kannst du?"
,,Yes", tat Zatony kiihl und vornehm, ,,nein, ich kann
nicht, hab keine Angst, ich werde dich nicht priifen. Zeig",
und streckte die Hand aus.
Kelemen gab ihm das Bktt; das Bild Toni Kddars machte
die Runde um den Tisch. Jeder einzelne nahm es in die
Hand, jeder einzelne erkannte ihn an der Armhaltung, und
jeder hatte etwas zu bemerken. Einstimmig stellten sie in-
dessen fest, daB das unbedingt eine auBerst ernste Sache sei
und daB Gott es mit dem Antal Kadar gut gemeint habe.
,,Hopp!" sagte Simon plotzlich, ,,gib doch das Blatt
noch mal her!" Er nahm es in die Hand, drehte und wendete
es, hielt es dicht an die Augen. ,,Also, erstens ist das natiir-
lich ein Reklameartikel, zeilenv»cise bezahlt, aber das macht
nichts. Aber ... ich sehe kein Datum auf dem Blatt, wann
ist das denn erschienen?"
Kelemen sah plotzlich den Schonheitscreme-Reklame-
kopf mit den Aufschriften vor sich.
,,Wann das erschienen ist?" suchte er in seinem Ge-
dachtnis auf dem Titelblatt, ,,wenn ich mich recht erinnere,
im Mai achtundzwanzig, also vor ungefahr anderthalb
Jahren."
3 K6rmendi, Budapest 33
,,Ach so", sagte der grofie Lewy miBtrauisch und ver-
achtlich, ,,dann geb ich auf das Ganze nicht viel. Inzwischen
kann er langst wieder pleite sein."
,,Bloder Kerl", meinte Marton, ,,du denkst wohl, es ist
iiberall so wie hier? Die da driiben, mein Lieber, sind keine
so schwindsiichtigen Existenzen, dafi sie beim ersten Wind-
stoB gleich anfangen zu husten."
,,Was heiBt Existenz?" warf jetzt Rona dazwischen, der
cin altes gutrenommiertes Porzellan-Engrosgeschaft in der
inneren Stadt von seinem Vater iibernommen hatte, ,,woher
willst du wissen, was der fur eine Existenz ist? Aus der
illustrierten Rcklamezeitung hier? Gut, ich will zugeben,
Existenz", und er zog ein riesengroBes goldenes Zigaretten-
etui aus seiner Westentasche, ,,aber hast du denn einen
Begriffdavon, was fur Vermogen es driiben gibt? WeiBt du
denn, was fur ein Niemand eine solche industrielle Existenz,
ein solcher Unternehmer ist im Vergleich dazu, was zum
Beispiel ein ... ein Reisplantagenbesitzer . . ."
,,In Port Elizabeth", unterbrach Kroh inn streng, ,,gibts
keine Reisplantagen."
,,Doch gibts", antwortete R6na unbeirrt, ,,und wenns
keine gibt, na, dann eben KafFeeplantagen oder Baumwoll-
plantagen . . ."
,,Aber bitte, ich verstehe gar nicht, was du eigentlich
willst", sagte Kelemen nervos, der anfing, sich gleichsam in
Kddars Namen beleidigt zu fuhlen, ,,KafFee hin, Baumwolle
her, du wirst doch nicht bezweifeln wollen, daB er viel Geld
hat?"
,,Viel Geld, viel Geld, fragt sich, was du viel Geld
nennst? Relativ . . ."
,,Relativ, Blodsinn!" schnaubte cincr, ,,wenn wir bloB
annehmen, eine solche Villa ist zehntausend Pengo wert,
dann sinds schon acht Millionen . . . vorausgesetzt, daB sie
wirklich ihm gehoren . . ."
,,Was? zehntausend Pcngo? ich kauf sie dir fur funfzehn
abl" sagt ein anderer, und nun ging das Stimmengewirr
34
iiber dem Tisch los, Alle warfen sic zugleich ihrc Mcinung
auf den Tisch; knarrende, singende, verherrlichende, be-
sanftigende und prahlerische, skeptische und terrorisicrende,
iiberlegene und gierigc, unglaubige und hungrige Laute
flogen da umher, — zehntausend, zehn Millioncn, Pengo,
Pfund, Karriere, Existenz, Immobilien, Iccres Gcwasch,
Faiseur, Spekulant, Massel, — derartigc Worte wurden
laut, — ,,seine Steuern, bloB seine Steuern, lieber Freundl"
der kiihle, elegante Amman schlug aufgeregt auf den Tisch,
— Kelemen kippte mit dem Stuhl nach hinten, besah sich
den Wirbel, den er herauf beschworen hatte, und ein leichter
Schauer lief ihm iiber den Riicken, weil ihm seine drei-
hundertzwanzig Pengo eingefallen waren.
Langsam beruhigte sich die sturmische Versammlung.
Es hatte sich ungefahr die Meinung herausgebildet, daB es
Kadar, vorausgesetzt, daB die Information, das heiBt das
Bild glaubwiirdig sei, sehr gut gehen miisse, daB aber die
ganze Angelegenheit doch keine so auBergewohnliche
Sache sei, will heiBen, am MaBstab von driiben gemessen.
Immerhin sei es beachtenswert, daB ein armer Budapester
Junge, ein Mitschuler, es verhaltnismaBig sehr weit gebracht
hatte . . . na, ja, man braucht eben bloB aus dieser elenden
Stadt herauszukommen, dann kann man, wenn man auch
noch so arm ist . . .
,,Halt, ich weiB gar nicht mal, ob er wirklich so arm war?
Er war immer ganz anstandig angezogen . . ."
,,An solche Einzelheiten kann man sich doch heute
nicht mehr erinnern, wer weiB, was das fur alter Kram
war, was dir heute im Gedachtnis als guter Anzug vor-
schwebt."
,,Nein, nein, ich erinnere mich ganz bestimmt, er stammte
aus Siebenbiirgen und wohnte bei irgendwelchen ganz
ordentlichen Verwandten . . ."
,>Das kann ja sein, mein Lieber, aber sicher ist, daB er
Biicher vom Hilfsverein benutzte und vom Schulgeld be-
freit war . . ."
J5
,,Erinncrt ihr euch", sagt Szende, ,,bei den Schul-
biichern fallt mir ein, als . . . in der Sechsten, Klivenyi
den Pinguin aufrief, kurz vor den Zeugnissen, und sagte,
er solle . . ."
,,Das 1st gar nichts!" springt der kleine Lewy mit seiner
Stimme dazwischen, ,,aber als Klivenyi mir auf der Bank
seinen langen Stock in die Hand gab, ich solle auf dem Brett
zeigen, welches das Quarzkristall ..."
„. . . und unterdessen driickte der Mungo cine halbe Tube
Syndetikon auf die Stockspitze . . ."
„. . . und der Lewy hats nicht erraten, welches das Quarz-
kristall . . ."
,,Lewy, Sie Schaf ! Wie wollen Sie mal auf eigenen FviBen
stehen im Leben, wenn Sie nicht einmal ein einfaches
Quarzkristall ..."
„. . . und rifi dir den mit Syndetikon beschmierten Stock
aus der Hand . . ."
In stiirmischem Gelachter erstickte dieser Pentalog.
,,Herr Professor, ich hab ja gar kein Gummiarabikum!"
meckert einer mit der erschrockenen Gymnasiastenstimme
des kleinen Lewy.
,,Pferdediebe ihr, Brigantis!" tobt Rona, wobei er
Professor Klivenyis Stimme markiert, ,,von eins bis zwei
sitzt die ganze Klasse nach!"
,,Lewy — raus ! Takdcs — raus ! Eggert — raus 1 Kroh —
raus!" ubernimmt Simon die Stimme des Lehrers, ,,nach der
Stunde im Lehrerzimmer melden!"
,,Das ist noch gar nichts ! Aber wie der Lajtha sein Notiz-
buch vornahm: Abonyi — Amman — Barta — Bienen-
feld — andieTafel!"
,,Na, und wie der Hampel in Szab6s Physikbuch das
pikante Witzblatt fand . . ."
Natiirlich waren im Laufe von dreizehn Jahren alle diese
lustigcn Erinnerungen wohl schon hundertmal wachgerufen
worden; und doch wird einem das nie iiber, und jeder
einzelne von ihnen kramte wieder sein Lieblingserlebnis
hervor; jeder hatte eine Geschichte, die begann: das ist noch
gar nichts, aber wie . . . Die Geschichten, die Erinnerungs-
brocken und was im Laufe der Zeiten dazugedichtet worden
war, die Stimmen flossen in einer einzigen juchzenden,
lachenden Fuge zusammen, und iiber dem Tisch dammerte
in wohltatigem Glanz, weitab von jedem Alltag, die
Gymnasiastenzeit.
Kelemen lachte nicht. Er zeigte zwar ein grinscndes
Gesicht, weil er nicht von den andern abstechen wollte, aber
eine Unzufriedenheit nagte ihm im Kopf. Er hatte das
Gefuhl, er habe nicht den richtigen Erfolg. Er hatte das
Gefiihl, das Interesse fur die Kadar-Angelegenheit nehme
zu schnell ab, — die Kadar-Sache hatte keine solche
Sensation hervorgerufen, wie er erwartet hatte. Diese Laffen
verstehen ja gar nicht . . . was verstehen sie nicht?
Aus der oberen Westentasche zog er eine verbogene
Zigarette, steckte sie an, und als er, den Rauch tief in die
Lunge ziehend, in die Luft blickte, wuBte er deutlich und
gewiB, was diese Laffen nicht verstanden.
In dieser Kddar-Geschichte steckte kaufmannische
Phantasie.
Er schloB die Augen, schaukelte mit dem Stuhl nach
hinten und lieB den Rauch langsam durch die Nase. Und
iiber dem Stimmengewirr horte er plotzlich eine gedehnte,
hohe, scharfe Stimme:
Im Leder steckt Phantasie, mein Junge, im Leder! Das
Heer braucht Schuhe, Schuhe, Gewehrriemen, Giirtel,
Sattel, Schuhe, Schuhe! Polnische Mark, lieber Freund,
polnische Mark! darin steckt die Phantasie, Sie werden
sehen, was daraus wird! Na, und die Kohlenpapiere,
Kelemen, die Kohlenpapiere!? haben Sie eine Ahnung, was
fur Phantasie in den Kohlenpapieren steckt?! Franken
geben, Franken geben, bis zur Erschopfung Franken geben,
noch nie war in einer Kontremine eine solche Phantasie wie
in der Frank-Kontremine, das konnen Sie sich merken,
Herr Direktor! Das Geschaft auf Abzahlung, mcin Lieber,
37
das Monatsratengesch&ft mit Kreditvetsicherung, spuren
Sie die Phantasie nicht darin? Das Radio, das Radio!
Wcnn Sie ahnten, was fur Phantasie im Radio steckt,
dann wiirden Sie nicht mit mir streiten! Es lohnt sich
nicht, viel zu erklaren; das einzige, worin heute noch
Phantasie steckt, ist eine feste Stellung, ein sicherer, ru-
higer Schreibtisch . . .
Sachte, sachte.
Geschickt, tiichtig und schlau muB man die Sache an-
packen und dann . . .
Macbt nichts, daB die da es nicht verstehen. Hauptsache,
daB ich weiB, daB diese Kadar-Sache ein Geschaft ist, aus
dem . . .
Er offnete die Augen, eine Sekunde lang betrachtete er
den wirren, lachenden Tisch, dann klimperte er mit seinem
goldenen Siegelring, den er nach dem Abiturium von seinem
alten Herrn bekommen hatte, an ein Tablett.
,,Kinder", sagte er leichthin, ,,wurde es euch nicht an-
genehm beriihren, wenn ihr irgendwo in wilder Fremde
plotzlich Nachricht von Zuhause bekamet?"
,,Ist die Frage . . ." beginnt Amman, doch Kroh wirft
rauh dazwischen:
,,Also, du willst an Kadar schreiben?" er nimmt seine
Brille ab und blinzelt Kelemen etwas blode ins Gesicht.
,Jawohl", antwortet der ruhig, ,,warum denn nicht?"
,,Warum denn ja?" sagt Kroh kiihl, ,,standest du etwa so
gut mit ihm?"
,,Ich? nein", antwortete er, ,,aber du auch nicht",
fiigt er plotzlich hinzu, und rote Glut durchstromt ihn
innerlich; denn fast hatte er gesagt: aber das kann noch
kommen.
,,Ich auch nicht, das stimmt", wiederholt Kroh, ,,und du,
Szende?"
,,Ich? Ich auch nicht."
,,Und du, Amman?"
,,Eigentlich . . . auch nicht sehr . . ,"
,,Und du, Mdrton?"
,,Mir war er immer verhaBt."
,,Simon, Kempner, Rona, Zatony, und ihr?"
Alle vier winken sic ncin, und der kleine Lewy fugt
spontan hinzu :
,,Der Pinguin? ein Ekel war er."
,,Na, seht ihr", sagt Kroh boshaft und mit Genug-
tuung, ,,da also keiner gut mit ihm stand, 1st es doch ganz
logisch, daB wir ihm einen GruB nach Port Elizabeth
schreiben."
,,Du Idiot", klafft einer.
Die Tischrunde gibt zweifelsohne Kroh recht.
Sachte, sachte.
,,Sieh mal, Kroh", beginnt Kelemen mit nachdenklichem
Gesicht, ,,ich versteh dich nicht. Du tust, als ob von weiB
Gott welcher groBen Sache die Rede ware. Und faBt die
Geschichte gleich so feindselig auf, als griffe jemand deine
Ehrenhaftigkeit oder dein Geld oder deine Prinzipien an,
oder als ob es sich darum handelte, daB . . . Sieh mal, will ich
denn was von Kadar? Oder willst du, oder will Szende oder
Amman was von ihm? Wenn ich etwas von ihm wollte,
dann hatte ich ihm ja langst schreiben konnen, extra, allein,
und du wxiBtest gar nichts davon. Na, siehst du. Aber wenn
du dir vorstellst, du schreibst jetzt zwei Zeilen, — Servus
Kadar, wie gehts dir, wir denken noch an dich, Gott be-
fohlen, — glaubst du nicht, daB sich selbst ein wildes Tier
dariiber freuen wiirde? Ich pfeife auf die Sentimentalitat,
das weiBt du sehr gut, aber wenn ich bedenke, daB er
die Karte gerade zu Weihnachten bekommen konnte . . .
aber wenn du aus allem eine solche Sauce machst, dann
wage ich dich nachstens nicht mehr zu griiBen auf der
StraBe; denn es konnte dir vielleicht einfallen, daB ich dich
in der Dritten mal geohrfeigt habe, und daB du seitdem
eigentlich nicht so extra gut mit mir stehst . . . hab ich
nicht recht?"
Doch, er hatte unbedingt recht. Diese ruhige, einfache,
39
resolute Rede zog die Meinung des Tisches auf Kelcmcns
Seite. Kelemen beeilte sich, seinen Sieg zu befestigen:
,,Wenn dir indessen deine Sozi-Moral oder dein Selbst-
gefuhl verbieten zu unterschreiben . . .c<
Jetzt war die Sache iiberhaupt keinc Fragc mehr.
Rona zog seinen dicken Fiillfederhalter hervor und
klopfte damit an die Tasse.
,,Herr Ober, Briefpapier und Kuvert."
In einer Minute war das Papier da. Rona schraubte die
Feder heraus :
,,Zunachst mal . . . wollen wir ihm witzig schreiben oder
ernst?"
,,Zunachst mal . . . schreibst nicht du, sondern Kelemen",
sagte Amman und nahm Rona die Feder weg in der Er-
wartung, Kelemen wiirde aus Hof lichkeit die Aufgabe ihm
zuschieben. Kelemen indessen blickte einen Augenblick
nachdenklich in die Luft, dann langte er nach Amman bin:
,,Gut . . . birte die Feder."
Als Amman sie ihm ein wenig enttauscht gab, sah
Kelemen sich um in der Runde.
,,Also . . . was sollen wir schreiben?"
,,Macht doch nicht soviel Geschichten", sagte Marton,
,,schreib, was du vorhin gesagt hast, hochstens ein biBchen
bcsser formuliert. Schreib: Lieber Kadar, wir haben
Kenntnis erhalten, daB . . ."
,,Du massenhaft Moneten hast", spottete Kroh; einer
sagte leise ,Ochse', dann kiimmerten sic sich nicht weiter
um ihn.
,,Schreiben wir so", sagte Kelemen: ,,Lieber Kadar, hier
sitzen wir zusammen in einem Cafe in Budapest und haben
dich nicht vergessen; wie wir horen, geht es dir sehr
gut..."
,,Und haben dich nicht vergessen, ist nicht gut", wirft
Zatony dazwischen, ,,schreib stattdessen . . ."
Nach einigen Minuten schrieb Kelemen, auf den dritten
Briefbogen, folgenden endgiiltigen Text;
40
Lteber Kdforl
Die herzlichsten Weihnachtsgrtifie sendet Dir cine
Gruppc Deiner friiheren Mitschuler, die darch einen Zufall Kcnntnb doom
erhalten hat, daft Da Karriere gemacht, gehdratet hast und an bertihmtcr,
rcichcr Mann geworden bist. Wir alle denken gem an die einst heiter verbrachte
gandnsame Schulzcit zuriick und wunxhen Dir ouch toeiterhin alia Gute.
,,Na", sagte er, als er damit fertig war, ,,unterschreibt",
und er hielt die Feder hin.
,,Zuerst du", sagte Rona, griff aber trotzdem nach der
Feder.
Kelemen unterschrieb seinen Namen und gab Papier und
Feder weiter.
,,Leserlich, bitte", spottete Kroh, aber keiner beachtete
ihn.
,,So", sagte Kelemen, als der Brief wieder bei ihm an-
gelangt war, ,,zwei — vier — elf ... na, Kroh, mach keine
Witze, unterschreib auch."
,,Nein", weist Kroh eigensinnig die Feder zuriick,
,,ich pfeif auf Kadar und seine Villen, laBt mich in
Frieden."
,,Bitte . . ." Kelemen zieht die Hand mit der Feder zuriick
und sieht Kroh dann scharf ins Gesicht, ,,weiBt du, was du
bist? ein Spiel verderber, ein Blodian."
,,Stimmt", antwortet Kroh brummig, ,,und ausgerechnet
du, Kelemen, kannst mich nicht beleidigen. Aber ich bin
nicht geneigt, mich auf den Bauch zu schmeiBen . . ."
,,Gut, gut", unterbrach Rona ihn nervos; Rona konnte
schon in der Schule Kroh nicht ausstehen und hatte Angst
vor ihm, und diese kindische Angst hatte er bis heute nicht
iiberwinden konnen; gesteigert wurde seine Abneigung
noch dadurch, daB Kroh Mitarbeiter der sozialistischen
Zeitung war und weder verheimlichte noch sich schamte,
daB er arm war und gewohnlich cine scharfe Sondermeinung
von den Dingen hatte. ,,Lassen wir das jetzt, schreib die
Adresse."
Auf das Kuvert schrieb Kelemen:
Mr. A. T. Cadar, Architect, Port Elizabeth, Africa.
Ein wenig stritten sie noch dariiber, wer als Absender
fungieren sollte, — das Richtigste ware, zu schreiben: Die
Donnerstagtischgesellschaft, und die Adresse des Cafe's, —
aber dann einigten sie sich dahin, daB Kelemen der Ab-
sender sein sollte, — und da steckte Kelemen den Brief in
die Tasche.
,,Ich laB ihn morgen vom Euro aus aufgeben, wir expe-
dieren sowieso von der Hauptpost."
Dann wurde vom Brief nicht mehr gesprochen. Die
Unterhaltung und das Genecke gingen in den gewohnten
Bahnen weiter; hie und da stahl sich ein klagender Ton
hindurch, hie und da flog ein dickes Kinderlachen auf, —
gegen 2wolf fingen sie an, sich zu verabschieden.
,,Du, sollte vielleicht Antwort kommen, dann sags uns
gleich", mahnte Szende beim Handereichen.
,,Wieso, sollte vielleicht?" ist Rona entriistet, ,,so'n
Bauer wird er doch nicht sein, daB er nicht antwortet?!"
Dann stehen sie auf der StraBe, vor dem Cafe.
,,Es ist ja noch friih", sagt Simon, ,,wer kommt mit ins
Kasino?"
Es fanden sich ein-zwei Partner.
,,Also, Servus, Jungens, spatestens im Dezember, am
letzten Donnerstag . . ." verabschieden sie sich und gehen.
R6na winkt mit seinem Regenschirm einer Taxe. Die
beiden Lewys gehen auf die StraBenbahnhaltestelle zu.
Amman und Zatony machen sich unter einem Schirm auf
den Weg. Es regnet; die Bogenlampen, von einem Hof
umgeben, leuchten matt; auf der kalten, feuchten StraBe
sind nur vereinzelte nachtliche FuBganger.
Gahnend dreht Kelemen in seinem Zimmer das Licht an.
Es ist kalt, der Kuckuck soil diese sparsame Person holen,
hat wieder kaum nachlegen lassen am Abend. Er wirft den
Brief auf den Tisch, das Blatt mit dem Bild legt er ins
oberste Fach im Schrank unter die Kragenschachtel. Vor
4*
dem Tisch bleibt er stehen, sieht sich den Brief an. Dumm-
heit ... so hat das nicht viel Sinn. Leerer Quatsch ist das so,
WeihnachtsgriiBe, das ist doch nichts. Darauf wird er gar
nicht antworten — ich wiirde auch nicht drauf antworten,
und wenn ich auf dem Mond saBe und sie mir vom Mars
schrieben . . . Er starrt die Decke an. Irgend etwas Person-
liches muBte es sein . . . oder etwas, was ihn interessiert . . .
Er zog seinen Rock aus, seine Weste, seinen Kragen,
warf das ganze Zeug auf einen Stuhl. Wenn ich wiiBte,
ob er hier irgend jemanden hat, oder wenn man ihn durch
irgend etwas —
Da fiel ihm etwas ein, er zog den Brief aus dem Kuvert
und las ihn durch. Dann kramte er auf dem Biicherregal
eine alte, eingetrocknete Feder hervor und suchte Tintc.
Im Zimmer war keine, aber es war ihm, als hatte er kiirzlich
einmal im Flur oben auf dem Schrank Waschblau gesehen.
Er zog die Schuhe aus und schlich auf den Zehen hinaus.
Licht wollte er nicht machen, so stieB er im Dunkeln gegen
den Schrank. Er blieb stehen. Wenn ich viel hier im
Dunkeln herummurkse, wacht die Hunka auf und denkt
noch, ich schleiche mich zu der Magd. Wenn schon. Er
tastete auf dem Schrank herum, an dem trockenen, dumpfen
Anprall der Finger fiihlte er, wie er dicken Staub fegte,
dann stieB seine Hand gegen etwas Glasernes. Wenn das das
Waschblau ist, dann ists gut, wenn nicht, schreib ich morgen
im Biiro. Es war das Waschblau. Ins Zimmer zuriick-
gekehrt, tauchte er die Feder ein; auf dem Tisch lag eine
alte Zeitung, auf deren Rand kritzelte er seinen Namen.
Die Fliissigkeit schrieb zwar ziemlich blaB, aber sie schrieb
immerhin. Dann setzte er sich barfuB, in Hemdarmeln an
den Tisch und schob sich den Brief zurecht.
LieberKdddrl
Ich schreibe Dir noch extra, ich war es namlich, der im World's
Sunday Pictures Dein Bild und Ddne Adresse entdeckt hatte. Ich habe mich aufrichtig
gefreut, etwas von Dir zu htircn, sind es doch schon vierzehn John, daft ich
Dich nicht gesehen habe. Und Du famst . . .
43
Er Ciberlegte, was nun folgen sollte —
Und Du ktmnsl Dir dock gcwif denken, dafl, warn wir ouch seinerzeit in der
Schule nicht besonders eng mitdnander befreundet waren, mich das Schicksal
ones frtiheren Kamcraden intercssiert, der so weit von Budapest verschlagen
warden ist. Die Jungenst die diesen Brief unterschrieben haben, waren alls lehr
uberrascht . . . dnige haben sich mit mir gefreut, dnige haben Dich beneidet . . .
atte aber waren wir Verblufft fiber Deine Karriere. Naturlich kpnnen wir unsgar
nicht Vorstdlen, was Du alia erlebt hast, bis Du in Port Elizabeth gelandet bist.
Ich wurde mich sehr freuent ouch privat bzw. direct etwas von Dir zu hdren, —
und ganz besonders. Dich etnmal wiederzusehen. Vielleicht?!
Er iiberlegte, ob er noch etwas schreiben sollte. Dann
schrieb er bloB noch:
Dir und Deiner verehrien Frau vide Gruflc von
Dcinem getreuen
und seinen Namen schrieb er so: « , „ ,
Bandi Kelemen.
Schnell klebte er den Brief zu und steckte ihn in seine
Mappe. Morgen eingeschrieben von der Hauptpost . . .
natiirlich kann man ihn nicht mit den Briefen der Firma
eintragen lassen, allerdings habe ich ja dem Czilek schon zu
verstehen gegeben, daB er halb und halb amtlich . . .
Er zog aus, was er noch anhatte, schliipfte in das zer-
driickte, kalte Nachthemd, legte sich bin und drehte das
Licht aus.
Eigentlich eine Gemeinheit . . . und der Kroh hat recht.
Wenigstens hatte ich nicht an denselben Brief anschreiben
sollcn ... ah, was, Detailfrage, nicht wichtig. Wenn er
zuriickkommt, kommt er doch bloB an mich zuriick,
niemand braucht davon zu wissen. Er schloB die Augen.
Du lieber Gott . . . Wenn dieser Brief nicht zuriick-
kommt, sondern ihn erreicht . , . und wenn . . . wenn ich
diesen Haupttreffer mache . . .
Phantasie . . . Kddar-Phantasie . . . nur geschickt, nur
gescheit.
Nur sachte, was kann derm passieren?
Bis jetzt kostet mich die Sache bloB eine Briefmarke,
Zwiter Teil
DER FREMDE
ANTAL Kadar war Ende November 1918 nach Budapest
zuriickgekommen, zerlumpt, verkommen, ausgehungert.
An dem Frontabschnitt, wo er zuletzt gelegen hatte, —
unter Tschechen, Bosniern und aus russischer Gefangen-
schaft zuriickgekehrten Ungarn, — war die Sache schon
Mitte Oktober nicht mehr in Ordnung. Er sagte das einfach
so ganz kurz, — die Sache ist nicht in Ordnung, und das
hieB so viel, daB einmal fiinf Tage lang kein Proviant kam, —
gut, man afi eben Schokolade, wer welche hatte, und
solange sie reichte; das war schon ofters vorgekommen,
daB die Kuche zuriickblieb und daB es ein, zwei Tage
nichts zu futtern gab, aber funf Tage? Und dann die
italienischen Flieger. Auch fruher war es schon passiert,
daB statt Bomben und Stahlpfeilen Tausende von Flug-
schriften, in tadellosem Deutsch und ziemlich gutem
Ungarisch, von den feindlichen Flugzeugen herunter-
rieselten; einmal beehrte d'Annunzios Flugapparat den
Abschnitt mit einem derartigen Propagandabesuch, fast
hatte Oberleutnant Szab6 ihn abgeschossen. Jetzt indessen
fielen Schriftstiicke anderer Art vom Himmel: ,Legt die
Waffen nieder, macht euch auf in cure Heimat, der bul-
garische Verbiindete hat den hoffhungslosen Kampf schon
aufgegeben, die siegreiche Armee der verbiindeten Staaten
nahert sich den Grenzen eurer Heimat!' — Das ungefahr
stand in den Flugschriften, und da war noch cine, die
sprach sogar davon, daB zu Hause die Revolution aus-
45
gebrochen sei: ,zieht heimwarts, verweigcrt den Gehorsam
denen, die euch auf die Schlachtbank gefiihrt haben.' —
Das waren schon ziemlich beunruhigende Dinge; und
UngewiBheit und Unruhe wurdcn noch dadurch gesteigert,
daB in der zweiten Stellung unerwartet Generalmajor
Basch auftauchte, der Bluthund, und daB Oberleutnant
Kauser einen tschechischen Korporal namens Trfcka, bei
dem man vier oder fiinf Flugschriften gefunden hatte, ohne
besondere Faxen hinter den Stellungen erschieBen HeB.
Diese Hinrichtung elektrisierte den gan2en Frontabschnitt,
groBerer Radau entstand nur darum nicht aus der Sache,
weil TrSka allgemein verhaBt war, er war ein gemeiner,
durchtriebener, verschlossener und intriganter Kerl, der
Arme. — In den letzten Oktobertagen stiirzte dann die
ganze Schweinerei zusammen, und zwar von einer Stunde
auf die andere; auch er marschierte heimwarts. Siebzig oder
achtzig Mann mochten sie gewesen sein, die von seinem
Abschnitt den Abmarsch begannen, in einer Gruppe und,
wie sie beschlossen batten: moglichst in militarischer
Disziplin, auf jeden Fall aber sehr eilig; denn die vom
weiter siidlich liegenden Abschnitt zuriickstromenden ver-
kommenen Horden erzahlten, die vordringenden italieni-
schen Truppen nahmen ganze Truppenkorper gefangen, —
und jetzt noch in Gefangenschaft zu geraten, jetzt zum
SchluB, das ware doch eine zu blode Kiste. Die zur Gruppe
gehorenden Ungarn hielten natiirlich zusammen, das
Resultat davon war vor alien Dingen, daB, als sie schon im
Hinterland herumirrten und J6ska Szilas in einem Wachter-
haus bei Innichen ein paar Dutzend versteckte und noch
nicht ganz ungenieBbare Brote entdeckte, die Tschechen
und Bosnier sie umzingelten, sich vorschriftsmaBig in ent-
wickelter Linie aufstellten und sie zweifellos nieder-
geschossen batten, ware ihnen nicht rechtzeitig eingefallen,
daB es noch immer besser sei, Luft zu schlucken, als ins
Gras zu beiBen. Er versuchte zwar, mit dem Fiihrer der
Tschechen, einem Leutnant namens Mari^ek verniinftig zu
46
reden, Marigek aber sagte bloB: ,,Dreck den Saumagyaren",
wogegen es in Anbetracht der Zahl der tschechischen Ge-
wehre kein Appellieren gab. Hinter Innichen war cine
fiirchterliche Waggonstauung; sich in den Zug zu setzen
war sinnlos, dagegen wurde von Stunde zu Stunde die
Gefahr drohender, von den Italienern eingeholt zu werden.
Viel zu iiberlegen war da nicht, also los. Auf den Wiesen
im Tauerntal fand sich zum Gliick hie und da ein ver-
gessener Kiirbis, — manchmal sogar in der GroBe eines
kleinen Passes, — den man braten konnte, aber auch roh
schmeckte er nicht schlecht. Bei Ossiach waren sic bloB
noch siebzehn; auf der LandstraBe erschlugen sic zwei
Bauern, die Schwierigkeiten machten, und von da an ging
der Weg ein Stiickchen ganz vornehm weiter, auf zwei zum
Transport von Holzstammen bestimmten Achsen mit vier
Pferden davor. Gabor, Altmann und Heczefalvy blieben in
Villach zuriick, — ein Wunder, daB sie sich bis dorthin
geschleppt hatten, — von dem rohen Kiirbis rann das Blut
nur so aus ihren Gedarmen. Es war zum Gotterbarmen
kalt, in Villach kummerte sich keine Katze um sie, alles
erwartete den Einbruch der Svidslawen. Dann gelangten sie
auf ganz unverstandliche Weise auf cinen eben abfahrenden
Zug und fuhren acht oder zehn Tage mit der Eisenbahn.
Einmal nachts, — sie hatten keine Ahnung, in welcher
Gegend sie sein mochten, — begann den Bahndamm ent-
lang eine SchieBerei, auch in ihren Waggon trafen ein paar
Kugeln, und obschon beim ersten Knall die Mechanik der
Gewohnheit sie in die verhaltnismaBig bestgeschiitzte
Stellung warf, — den einen auf die Holzbank, den andern
auf den Boden des Waggons, — fangt dennoch der kleine
Feledy mit gelbem Gesicht Gott und die Welt an zu ver-
fluchen, und an seiner linken Hand stehen an der Stelle von
zwei Fingern zwei blutige Stiimpfe hervor. Die Wunde
blutete wahnsinnig, und sein Gesicht wurde ganz gelb.
Einer turnte durch den wackelnden Zug und suchte einen
Arzt, auch die iibrigen rannten nach so vielen Richtungcn,
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wic sic waren, — das war keinc Schiitzengrabengeste mchr,
das war schon die Ratlosigkeit der Zivilwelt, der Friedens-
welt und dcs Glaubcns an die Ordnung und das System
dieser Welten. Einen Arzt fanden sie indessen nicht, und
als sich die erste zappelige Aufregung gelegt hatte, ver-
banden sie die Wunde mit allerhand schmierigen Fetzen,
Resten von Taschentiichern und FuBlappen, kauerten sich
in noch unmoglichere Posituren zusammen und legten den
kleinen Feledy auf die eine Bank des Abteils. Am dritten
Abend war aber sein Gesicht schon schwarz; morgens hielt
dann der Zug in einem Dorf, dort reichten sie die in den
Mantel gewickclte Leiche durchs Fenster hinaus. Zoltan
Szilasi nahm seine Uhr, sein Taschenmesser, sein Etui und
seine Erkennungsmarke an sich. Eine Stimmung war jetzt
im Kupee, erbarmlich. Na, der 1st schnell in der Heimat
gelandet, sagte einer, als der Zug weiterfuhr. Es regnete.
Nach Tagen sah einer von ihnen zum Fenster hinaus und
sagte: du, guck mal, eine ungarische Fahne. Tatsachlich,
auf dem Gebaude, vor dem gerade ihr Waggon stehenblieb,
flatterte eine ungarische Fahne, und an der Fassade stand:
Kotor. Sie stiegen erst dann aus, als man ihnen sagte, der
Zug fahre nicht weiter. Als aber die ganze Gruppe vor der
Station stand, kamen Gendarmen und fiihrten sie aufs
Gemeindehaus. Hier im Gemeindehaus war irgendein
Komitee, aber sie muBten gut einen halben Tag warten,
bis sich endlich jemand mit ihnen befaBte, — dann lieB man
sie nach wenigen Minuten wieder laufen. Sie sahen sich
urn, — na, was nun? Einige bliebcn im Dorf, einige gingen
an den Bahnhof zuriick: irgendwann wiirde schon wieder
ein Zug abfahren. Istvan Dobos Nagy aus Kanizsa, der die
russische Gefangenschaft schon hinter sich hatte, umarmt
sie der Reihe nach und macht sich noch an demselben
Abend zu FuB auf den Weg, — Kanizsa kann doch nicht
weit sein. Mit den iibrigen stromerte er zwischen dem Dorf
und dem Bahnhof herum, — vielleicht wiirde ihnen jemand
einen Rat geben, etwas sagen konnen, — irgendwer wiirde
48
ihnen schon den Weg weisen. — Er hatte noch sein Zehn-
kronen-Goldstiick, das ihm die Mutter 1916 in D6va, in
ein Leinensackchen genaht, um den Hals gehangt hatte.
Dieses Goldstiick kam ihm jetzt sehr zustatten. Verdammt
lang war dcr Weg durch die herbstlichen Pfiitzen bis
Murakcresztur, hier wurden sic indessen doch von an-
standigerem Volk empfangen. Das Goldstiick wechselte er
an der Bahn; im Dorf trank er eine Menge Milch und preBte,
zwei in Zeitungspapier gewickelte, ganze Brote und ein
Pfund Schaf kase unter die Achsel. Hier in Murakeresztur
waren die Soldaten von der Front schon nach Hause
gckommcn; ein Bauer, der seine beiden Sohne noch er-
wartetc, erlaubte ihm, auf dem Boden zu schlafen. Das ging
also glatt. Nach ein- bis zweitagigem Umherirren wurde er
in einen Waggon gestopft, der Wachtkommandant, ein
Gendarmerie-Oberleutnant, — jedenfalls ohne Offiziers-
rang, — driickte ihm einen griinen Zettel in die Hand, auf
den er zwischen die gedruckten Zeilen mit Kopierstift
gcschrieben hatte: Budapest, Siidbahnhof. — Der Zug fuhr
und fuhr, der Plattensee war giftiggrun, und unerbittlich
platschte der Regen hinein. Auch Zivilleute reisten im Zug,
in seinem Abteil saBen drei. Im Kupee stank es, Zigaretten-
rauch, Zigarrenrauch, Pfeifenrauch, Menschengeruch. Ihm
gegeniiber saB ein alter Mann, der einen kleinen Jungen
von zwci oder drei Jahren auf dem SchoB hielt; das Kind
schlief, und der Altc zupfte alle Augenblicke irgend
etwas an ihm zurecht, einmal legte er seinen herunter-
hangenden FuB schon in den SchoB, einmal zog er ihm die
rotkarierte Decke ganz bis an die Nase; der kleine Junge
brummte greinend und schlief weiter. — In Feh6rv£r
erlebte er eine groBe Uberraschung: am Bahnhof
wurden, — ebenfalls unter Gendarmerieassistenz und
warum, wuBtc man nicht, — die Wagen geleert, an langen
Tischen bekamen alle, die in Uniform waren, ziemlich gute
Suppe, ein Stuck weichgekochtes Rindfleisch und schwarzen
Kaffee, und am Ende des Perrons spielte die Zigeuncrbandc
4 K&rmendi, Budapest 49
in einem fort die Marseillaise. Auf dem weiBen Feld einer
groBen, in den Nationalfarben angestrichenen Tafcl stand:
Eslebe
die Ungariscbt Volks-Jiepublik!
and fiinf oder sechs kleinere Tafeln mahnten: Heirn-
kehrende Soldaten! Meldet euch sofort beim Soldatenrat
am Ort! — Kein Wort davon verstand er, aber er fragte
niemanden, und auch um ihn kiimmerte sich keine Scele,
was gut war, denn da drehte sich ihm schon alles grau vor
den Augen, und bleierne Miidigkeit hing ihm in alien
Gliedern. Gegen Abend kletterte er in einen hin und her
rangierenden Waggon und setzte sich in ein dunkles,
samtgepolstertes Abteil. Der Schaf kase, den er noch immer
mit sich schleppte, war schon stinkig geworden, er warf ihn
aus dem Fenster und aB von dem vertrocknenden Brot.
Spater kam ein Eisenbahnbeamter und wollte ihn aus dem
Kupee vertreiben. ,,Ich geh nicht", sagte er. ,,Das ist
aber — " — ,,Ich geh nicht 1" — worauf der Eisenbahner die
Achsel zuckte und ihn allein lieB. Der Zug wurde dann in den
Bahnhof geschoben, und im Nu fiillten sich alle Wagen.
Ein Herr in schwarzem Winterpaletot kam mit demselben
Eisenbahner vor das Abteil. Der Tiirriegel schnappte leise,
jetzt erst bemerkte er, daB der Mann ihn eingesperrt hatte.
,,Ich bitte gehorsamst, Herr Oberinspektor", sprach der
Eisenbahner, ,,der Soldat da will nicht rausgehen. Wic er
reingekommen ist, weiB ich nicht. — Sein's mal vernunftig,
Freundl", wandte er sich dann an ihn, es gemutlich
versuchend, aber der im Winterpaletot winkte ab, ,,lassen
Sic, werden wir halt zu zweit reisen, in der heutigen
Welt." K£d£r hob den Finger an die Miitze und verzog
sich in die Ecke. Dieses ruhige und bescheidene Benehmen
gefiel dem im Winterpaletot; als der Zug abfuhr, steckte er
sich cine Zigarre an und hot auch ihm eine an. Er rauchte,
sic sprachen zwischendurch ein paar Worte, dann schlief
er ein. — Es war finster, als er crwachte, die Menschcn
50
stiirzten auf den Gang, sie waren in Budapest angekommen.
1st das Budapest? Ja, richtig, der Bahnsteig des Siidbahn-
hofs, obschon im Dunkeln kaum zu er kennen. Die Menge
stromte aus dem Zug, es fiel gar nicht auf, daB der Bahnhof
sonst leer war, nirgends eine Seele. Die Angekommenen
standen eine Weile in kleinen Gruppen auf der StraBe, dann
zerstreuten sie sich. Das gewohnte Bild von den Platzen
vor Bahnhofen, — wimmelnde Menge, Trager, Hand-
wagen, StraBenbahnen, Equipagen, — was ist das? Was
bedeutet diese kalte Finsternis, die langsam, geradezu
erschrocken sich verziehenden kleinen Gruppen, die
Menschen, die sich angstlich davonschleichen? Das war
doch sonst nicht so?
Eine Weile geht er hinter einer kleinen Gruppe her,
dann bleibt er stehen. Budapest . . . wo gehe ich hin? Die
Frage ist nicht schlecht, wo ich hingehe. Die Garnison ist
in Gyulafeh£rvir, die Eltern sind in D£va, — in Budapest?
Budapest? Er sprach dieses Wort in fragendem Tonfall
wohl zehnmal in Gedanken und einige Male auch laut, als
erwartete er, daB in seinem Kopf eine Antwort widerhalle.
Sein Kopf aber drohnte hohl, und er fiihlte bloB einen
dumpfen Druck um beide Schlafen. Er stand in der Stille,
die plotzlich iiber ihn hereingebrochen war, und bemerkte
auf einmal, daB er allein mitten auf der StraBe stand.
Oder . . . bin ich nicht in Budapest? Er griff sich an den
Kopf, denn jetzt fuhr ein scharfer Schmerz hindurch,
irgendwo im Hinterkopf. Nach Kolozsvir fahrt der Zug
vom Ostbahnhof — wenn das wirklich Budapest ist.
Da bemerkt er gegeniiber eine Firmentafel: Cajt Pozsony.
Pozsony . . . Cafe* Pozsony. Da konnte man wohl hinein-
gehen. Die Fenster des Cafes sind dunkel, und auf der
StraBe blinzelt auch hochstens jede dritte bis vierte Gas-
laternc. Dafiir glimmeA iiber den Haustoren elcktrische
Gliihlampen wie schlafrige Zyklopenaugen in der feuchten,
nebclcrstickten StraBe. Sonderbar, friiher gabs keine
elektrischen Lampcn an den Haustoren. Dann fallt ihm auf,
daB die ganze Strafie cntlang kein lebendes Wesen zu sehen
1st. Was ist das? dachtc er, was 1st hier los? Er machte ein
paar Schritte vorwarts, dann stand er wieder still. Er
versuchte sich zu erinnern, mit wem er in den letzten
Tagen gesprochen hatte und wovon; aber er konnte sich
bloB an konfuse Stimmen erinnern: Revolution, Zu-
sammenbruch, Rcpublik, Nationalrat, Soldatenrat, Demar-
kation, Hungersnot . . . das waren aber leere Tone, er
wuBte nichts mit ihnen anzufangen, und das Ganze wurde
von der Marseillaise der Zigeunerkapelle in Feh£rvdr iiber-
drohnt. Das heiBt, der Herr, der ihm die Zigarre gab, hatte
inn gefragt, bevor er den Zigarrenstummel 2um Fenster
hinauswarf, wie er heiBe. K£dar, Antal Kaddr. Was fur ein
Kadar, aus welcher Gegend? Aus Deva. Aha, und vorher?
Vorher? Na, ob das ein magyarisierter Name sei? oder . . .
,,Ja, magyarisiert; mein GroBvater hat noch Kantner
geheiBen, als er noch in Hermannstadt lebte." — ,,Aha,
also ein Siebenbiirger Sachse. Und welchen Rang batten
Sie in der Armee?" — ,,Fahnrich." — ,,Aha, Fahnrich."
Dann beugte sich der Herr im Winterpaletot zu ihm hin
und sagte: ,,Herr Fahnrich, aushalten, der ganze Revo-
lutions-Fasching dauert nicht langer als zwei Monate."
Das hatte er zwar nicht vcrstanden, aber ihm fehlte die
Kraft, urn nachzufragen, und er schlief ein.
Immer noch stand er vor dem Caf£ Pozsony allein. Dann
kamen plotzlich vier Schutzleute mit Sabeln, Karabinern
und Revolvertaschen mitten auf dem Fahrdamm auf ihn
zu. Na, wenigstens was Lebendes. Er geht auf sie zu, die
Patrouille macht aber miBtrauisch in geschlossencr Gruppe
halt. Falsch, dachte er sich, sie batten sofort auseinander
gehen miissen, auf mindestens zehn Schritt Abstand.
,,Was gibts?" wirft der cine Schutzmann mit dem groBen
Schnurrbart hin, ,,was treiben Si sich da herum?" —
,,Bitte sehr, ich bin cben angekommen und . . ." Der
Schutzmann unterbricht ihn: „ — und es wird ratsam sein,
sich schleunigst von hier zu verziehen, die Russen kommen,
sie sind aus dcm Gefangenenlagcr ausgebrochen." Er gab
sich einen Ruck und setzte seinen Patrouillengang fort. Na,
und nun? Die Russen kommen — ? Stille. Kreuzhimmel-
donncrwetter! Da steh ich rum, als hatt mich ciner aus-
gespuckt — Wicder blickte er zum Firmenschild iiber
den dunkeln Fenstern des Cafts auf, — Cafi Po^sony . . .
hm . . . natiirlich gehe ich auf die Pozsonyer StraBe, dort
wohnt Tante Anna, sie wird nicht bosc sein, daB ich so
spat — Auf dem Sz£na-Platz bcgegnet er wieder einer
Patrouille, die halt ihn nicht an, er geht weiter. Die Haus-
tore sind geschlossen, hinter ganz vereinzelten Fenstern
brennt Licht. Seine Absatze knallen auf dem Pilaster, von
den Hausern drohnt das Echo zuriick. An der Biegung des
Rings Polizistenpatrouille, vor der Briicke Polizisten-
patrouille, driiben am Pester Bruckenkopf Militarpatrouillc,
ihn beachten sie gar nicht, die sechs-acht Menschen, die
ihm unterwegs entgegenkamen, wichen ihm im Bogen aus.
Auf der Pester Seitc eine elektrische Uhr: sie zeigt die
neuntc Stunde. Oder geht sie nicht? Bis zum Westbahnhof
ist die StraBe leer. Na, weiter, egal, ob es neun Uhr ist
oder . . . Das groBe Mietshaus auf der Pozsonyer StraBe;
interessant, das ist auch neu, das kleine Fenster da an dem
schweren Tor, das war friiher nicht. Er klingelt, klingelt,
klopft, bummst. Zum Kuckuck noch mal, einen guten
Schlaf hat der Hausmeister. Dann offnet sich das kleine
Fenster: ,,wer ist da, was wollen Sie, wohin wollen Sie,
kommen Sie doch morgens", — nach langem Handeln tut
sich dann ein schmaler Spalt des Haustors auf. Das ist nicht
der alte Hausmeister: eine vicrschrotige Gestalt steht unter
dem Torbogen, mustert ihn miBtrauisch, sieht, daB er
keine Waffe bei sich hat, und sagt: ,,na, gehn Sie nur rauf,
der Lift funktioniert nicht."
An der Entreetiir «2er kleinen Wohnung des vierten
Stocks ein Zettel: Die Klingel lautet nicht, bitte klopfen.
Er klopft, noch einmal, noch einmal. Ein erschrockener,
zerzauster Madchenkopf fur einen Augenblick im auf-
53
and zugehcnden Fenster. Stille, Schlurfcn. ,,Wcr 1st
da?" — ,,Onkcl Rudi, bist dus?" — ,,Wcr ist da?!" —
,,Ich bins, der Toni, bittc, laB mich rein!" Licht, plotzlich
oflhet sich die Tiire, dahinter steht in Untcrhoscn und im
Wintermantel Onkel Rudi. ,,KuB die Ha ..." — ,,Um
Gottes willen, du bists! Wie siehst du denn aus!" Die
Gliihlampe streut gcizig schlafriges, gelbes Licht auf den
kalten, nach Gas riechenden Flur. Onkel Rudi weicht ent-
setzt zuriick. Er hat sich nicht verandert . . . aber was
heifit das, ,,wie siehst du denn aus?" Er macht zwei lang-
same Schritte an die Flurbank, iiber der der kleine, runde
Spiegel hangt, — sieht hinein, und fahles, stoBweises
Lichen fallt aus seinem Munde. ,,Ich komme aus Asiago,
scit dem 26. Oktober . . ." sagt er in den Spiegel und dreht
sich um. Die Zimmertiir steht offen, aber Onkel Rudi ist
verschwunden. Und dann kurz darauf weint etwas weiBes,
nach Schlaf riechendes Warmes an seinem Hals, ,,Tonichen,
mein Junge, Tonichcn, bist du endlich wieder da, Kind" —
Tante Anna. Durch die 2erdriickte Nachtjacke fiihlt seine
schmutzige Hand den warmen Riicken der alten Frau, an
seinem struppigen Gesicht Kiisse und Trinen, die zer-
wiihlten alten Haare kitzeln ihm die Augen, — und da
drangt sich ein leiser, blokender, keuchender, abgerissener,
weinender Ton auf seine Lippen, und aus scincn Lidern
flieBen Tranen. — Dann erinnert er sich noch an Tiiren-
schlagen, das zrrzauste Madchen, das er zuerst hier durchs
Tiirfenster gesdnen hat, schleppt Holz und Zcitungspapier;
er sitzt auf der Bank, und ihm gegeniiber stehen die beiden
Alten im Nachtgewand; dann ist warmes Wasser in der
Wanne und Seife, und das ist so sonderbar . . . so im
warmen Wasser zu liegen; dann ein Nachthemd und cine
Unterhose von Onkel Rudi und ein nach Naphtalin riechen-
der hellbrauner Friihjahrsmantel, in den man ihn hincin-
steckt; dann sitzt er ein wenig zitternd im kalt gewordenen
EBzimmer am Tisch, trinkt Kaffce und iBt leicht an-
gebrannte KartofFelnudeln. Die beiden Alten, sein Onkel
54
und seine Tante, stehen dabei und sehen zu, wie er die
Speiscn verschlingt, und beim letzten Bissen geht das
Fragen los, Fragen, Fragen, Fragen. Woher? wo? wann?
was? mit wem? wie? wie lange? — und er versucht zu
antworten, aber als er wieder sagt, ich komme aus Asiago
seit dem sechsundzw . . . wird er plotzlich bleich, und cs
kommt ihm so vor, als ob der Kaffec und die KartofFel-
nudeln sich in einer sauren Masse zuriickbegeben wollten,
nach obcn, nach der Kehle zu. ,,LaB ihn, Rudolf", hort er
Tante Annas Stimme, ,,er kann ja gar nicht sprechen,
siehst du nicht, so miide ist er, der arme Junge, Boske!
schieb das Eisenbett rein, hier sind Laken und Kissenbezug,
nimm die braune Decke . . . das Eisenbett, Kind, in dem du
friiher geschlafen hast . . ." Dann legt er sich im EBzimmer
in der Ecke am Fenster in das ake Eisenbett, blickt starr
nach der Decke, — und da beginnt das Bett langsam den
ratternden Rhythmus des Zuges und fahrt und fahrt, und
irgend etwas drohnt ihm im Kopf, und das Drohnen wird
von dichten, zuckenden Blitzen unterbrochen; dann hort
er auf einmal das rochelnde, schwere Atmen des kleinen
Feledy, — du, Szilasi, der will noch was, verstehst du nicht,
was er sagt, du, Szilasi, sagt er nicht . . . etwas von seiner
Uhr? — Dann, als pfiffen Fliigelschlage um seine Ohren,
er horcht auf, er strengt sich an; das ist ganz anders als das
Pfeifen der Schrapnells ... als pfiffen diese Fliigel irgendwie
im Kreise . . . Kreise zittern auf dem glatten Wasserspiegel
von dem hineingeworfenen Stein, dann fangt das ganze
Bett an, sich zu drehen, und die Welt stiirzt in einem heiBen
Wirbel summend um ihn auseinander.
ZEHN bis zwolf Tage dauerte seine Krankhcit. Was ihm
eigentlich gefehlt hatte, erfuhren sic niemals genau; wahr-
scheinlich war es cine Kombination von allgemciner
55
Erschopfung und Influenza. — Am Tagc nach seiner Ankunft
schlief er, als sie zu ihm hineingingcn, mit offcnem Munde,
rochelnd-schnarchend. Nur mit Miihe konntcn sie ihn
aufwecken; er trank wicder KafFee, fiel dann zuriick aufs
Kissen und konnte nicht aufstchen. ,,Wir wollen ihn
lassen", sagte Onkel Rudi, ,,er ist miide." Gegen Abend
wurde sein Gesicht lilarot, Tante Anna kramte entsetzt
das Thermometer hervor: neununddreiBig-sechs. ,,Er-
schopfung", sagte Onkel Rudi, ,,cr muB sich ausschlafcn."
Am nachsten Morgen warcn Hals, Arme, Brust voller
kleiner roter Ausschlage. Die Alten erschraken zu Tode:
sicher hat er Flccktyphus. Doktor Webler, Onkel Rudis
alter Freund, tapperte ratios urns Bert herum. Sie maBen
wieder das Fieber: die Quecksilbersaulc kroch kaum iiber
siebenunddreiBig. ,,Das kann kein Flecktyphus sein", sagte
der alte Arzt, ,,er hat ja kaum Fieber." Die Nacht schlief
er ruhig, am Morgen war der Ausschlag verschwunden.
,,Ncsselausschlag wars", meinte Doktor Webler, ,,wahr-
scheinlich hat er sich in der letzten Zeit nicht ordentlich
ernahrt, und durch die veranderte Kost ist das jetzt raus-
gckommen." Immer noch schlief er sechzehn bis achtzehn
Stunden tiglich, und die Zeit des Wachseins verbrachte er
auch in einem halbschlafartigen Dammerzustand. Er nahrn
kaum etwas anderes zu sich als KafFee, — dann fing er an
zu husten und bekam wieder hohes Fieber, aber da war man
schon davon iiberzeugt, es sei Grippe. ,,Wenn keine
Komplikation eintritt, wird die Sache nicht schlimm",
beruhigte der Arzt die Alten. In der zweiten Woche iiber-
wand dann der zwanzigjahrige Organismus die Krankheit.
Mitte Dezember begann er frisch und gesund in der Stadt
Umschau zu halten. Bekannte Gesichter tauchten auf ; er
begegnete einem Hauptmann, der schickte ihn aufs Rathaus
zur Abriistung. Er wurde abgeriistet, bekam cine Be-
scheinigung und wurde weggeschickt. Er mcldete sich in
einigen Kasernen, auf der Stadtkommandantur und beim
Soldatenrat, wo er angeblich Geld bekommcn sollte, das
stimmtc jcdoch nicht. — Was nun tun? Was soil mit mir
werden? Die Zcit, die cr der Orientierung zugedacht hatte,
flog blind und taub iiber ihn hinweg: das Sich-Haufen der
Dinge lieB ihn nicht dazu kommen, die Ereignisse in seinem
Innern zu ordnen und zu verarbeiten. Was damals in Buda-
pest vor sich ging, war weder aus der Perspektive der
Schulbank, noch der des Schiitzengrabens zu verstehen.
Onkel Rudi sagte kopfschiittelnd : wir stiirzen nach links.
In der Zeitung las er von einer Institution, die die Be-
nennung hatte : Priesterrat. In der Stadt waren Bewegungen,
Arbeiterumziige, Demonstrationen demobilisierter Sol-
daten, auf dem groBen leeren Platz hinter der Stefania-
StraBe exerzierte franzosisches und farbiges Militar. Auf
den StraBen gab es am Tage immer Auf lauf und Schlange-
stehen, auf den Elektrischen Gedrange und Auf-dem-Tritt-
brett-Hangen, und keineswegs konnte man das Gefiihl
haben, daB jetzt Frieden sei. Oder sieht der Frieden so aus?
Das Wichtigste indessen war, daB er keinen Heller besaB,
und wenn er auch bei seinen Verwandten ruhig leben
konnte, so stieg doch tagtaglich die Frage in ihm auf: was
wird jetzt mit mir? was soil ich machen? — denn nach
irgend etwas muBte er sich doch umsehen, das stand fest.
Tante Anna gab ihm zwar gelegentlich ein paar Kronen,
und Onkel Rudi schenkte ihm seinen alten Cut, den trug
er und dazu die gelben Offiziersstiefel. — Was soil ich
anfangen, dachte er manchmal, wenn er iiber die winter-
lichen StraBen schlenderte, und er blieb nur darum nicht
zu Hause, weil er sich davor furchtete, die Alten, die den
ganzen lichen Tag zu Hause hocktcn, konnten ihn doch
einmal fragen: was wirst du anfangen? Dariiber nachzu-
denken, war unangenehm, — aber auf die aufgeworfene
Frage antworten zu miissen, odcr vielmehr nicht antworten
zu konnen: das ware fiirchterlich gewesen. Unbeholfen bin
ich, dachte er, und einmal, bei diesem Gedanken, muBte
er lachen. Bei Simp ieto, im Herbst siebzehn, nach den
ublichen . . . den iiblichen Artillerievorbereitungen
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vcrsuchten die Italicncr cincn Sturmangriff, und als cr —
es war in dcr Morgcndamtnerung — die sich von links
binunterziehenden italienischen Infanteristen mit den
Handgranaten sah . . . wie war das gleich gewesen? Eine
fiirchterliche Verknauelung gab cs, und der erste Graben
war im Handumdrehcn leer, leider. Da aber stelltcn er und
Szilasi und Altmann und noch eincr das halb auf die Seite
gekippte Maschincngewehr ein . . . na ja, natiirlich, nicht
gerade daran lags, aber es hatte doch viel dazu beigetragen,
daB der italienische AngrifF vereitelt wurde. Komisch,
da ... war ich nicht unbeholfen, und er lachte wieder. Was
soil ich anfangen? Mich auf der Universitat immatrikulieren
lassen, das hab ich verpaBt, — und iiberhaupt, wovon?
Was verstehe ich, was kann ich? Gymnasium, Abitur, —
Reifezeugnis, wird fur reif erklart . . . eine Bins in Mathe-
matik, zwei Zweien, zwei Geniigend. Zwei Jahre Front-
dienst, SchulterschuB, drei Medaillen . . . Was soil ich
anfangen? — Er stand Schlange beim Backer, vor dem
Grvinkramladen, er ging die Fleisch- und die Zuckerrationcn
holen und fiir Onkel Rudi aus der Tabak-Trafik, was man
eben bekam; so bemiihte er sich, den Alten zu helfen.
Einmal sah er auf dem Ring zwei Manner in Offiziers-
uniform, aber ohne Chargenabzeichen : von einer groBen
Gruppe von Gaffenden umringt, saBen sie auf Schemeln an
der Mauer und putzten Schuhe. Irgend etwas daran ergriff
ihn tief, und entsetzt packte er sich fort von diesem Schau-
spiel. — Immer haufiger tauchten die bekannten Gesichter
auf, und wem immer er begegncte, der versah ihn mit einem
Rat. Dcr eine schickte ihn ins Kriegsministerium, der andere
zum Soldatenrat, der dritte in die Redaktion eines kommu-
nistischen Wochenblattes, — uberall ging er hin, und iiberall
ging er wieder weg. Als er gefragt wurde, was er wolle,
konnte er nicht kurz und biindig mit einem Wort antworten:
mit langen Umschreibungen probierte er herum, — Geld,
Stellung, Beschaftigung : darauf hatte er gern hinaus-
gewollt, — aber was sollte er mit solchen Worten anfangen
58
wie Agitation im Interesse der Befestigung der Rcpublik,
vcrtraulichcs Mandat fur ProvinzstSdte, Propaganda-Tour,
Organisation der Provinz, geistige Vorarbcit? Wie, wo?
Auf Onkcl Rudis Stirn gruben sich dustere Falten ein, als
er ihm diese Dinge erzahlte. ,,Heute habe ich da und da mit
dem und dcm gesprochen, aber ich verstehe nicht ganz,
was ..." — ,,Du bist ungeschicktl" antwortete der Alte,
,,andere junge Leute kommen in leitende Stellungcn oder
erwerben sich ein Vermogen in diesen Zeiten!" Dann fiigte
er leise, nachdenklich hinzu: ,,iibrigens wundere ich mich
nicht. Das ist nichts fur uns . . ." Er erkundigte sich nicht,
wie er das meinte, aber verstehen konnte er es nicht. Fur
wen war das nichts? Fur die Ungarn? Fur die Budapester?
Fur die pensionierten Eisenbahn-Jnspektoren? Oder speziell
nichts fur Rudolf Bayer und Antal Kadar? — Die Tage
vergingen, es war barter Winter. Die ganze Welt wurde
grauer und greulicher, und nichts schritt vorwarts. Geld
muBte man verdienen. Womit kann man Geld verdienen?
Geschafte machen? Dazu gehort Geld, — Anfangskapital,
wenn auch noch so klein, — das hatte ein junger Mann
namens Robert gesagt, mit dem er in einem Wartezimmer
des Kriegsministeriums bekannt geworden war und der
eincm der Herren vom Ministerium auslandische Zigarren
lieferte. Geld muB man verdienen. Man muB sich be-
schaftigen . . . Er ging in zwei-drei Geschafte und meldete
sich als Verkaufer. In den Geschaften wurde er meist mit
einem einzigen glatten Wort erledigt, — ein Kaufmann in
der Rakoczi-StraBe wies mit aufgebauschter, theatralischer
Geste auf seine Regale: ,,Eine Stellung, mein Herr? Sehen
Sie dorthin, bald habe ich mehr Verkaufer als Warel"
Er schrieb auch Gesuche an einige Banken und Fabriken,
die Gesuche iibergab er personlich dem einen oder andern
hoflichen Herrn, der schriftliche Antwort in Aussicht
stellte. Nur cine einzige Bank teilte ihm in zwei Zeilen mit,
wir bedauern und so weiter, von den ubrigen bekam er nicht
cinmal Antwort. Geld verdienen. Vielleicht als Arbciter
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gehen? Er meldetc sich in einer Kartonfabrik; das 1st doch
keine Arbeit, die ich nicht machen konnte . . . Der Inhaber,
ein angsdicher, dicker Jude, lieB sich feige und fortwihrend
blinzclnd mit ihm ein und fragte ihn, was er konnc, und vor
allem, was seine Anspriiche seien. ,,Pardon, Herr Herz",
sagte ein kleiner junger Mann mit einem Kneifer, ,,bei
kollektiven Lohnvertragen und fachgenossenschafdicher
Lohnskala fragen Sie doch bitte nicht, was seine Anspriiche
sind", — und damit nahm er den Zwicker ab und wandte
sich an ihn: ,,Sind Sie Facharbeiter?" — ,,Nein, abgeriisteter
Fahnrich." — ,,Mitglied irgendeiner Fachgewerkschaft ?" —
,,Nein." — ,,Danke", sagte der junge Mann mit Betonung;
,,ich bedaure", sagte Herr Herz und sah auf die Erde. Er
ging weiter. Betrachtete die Firmenschilder. Biiro Rechts-
anwalt Ix Ypsilon, Ix Ypsilon, Arzt, Ix Ypsilon, Ingenieur.
Die haben eine Beschaftigung. Und die Leute auf der
StraBe, auch die leben von irgend etwas. Geld miiBte man
verdienen. Einmal in Innsbruck, als meine Schulter schon
wieder gut war, hat mich ein Jager-Oberleutnant zum
Spielen verleitet, wie hieB er doch gleich . . . na, egal; drei
Tage hindurch haben wir gemauschelt, er nannte das:
Angehn, fast dreihundert Kronen hab ich gewonnen. Ich
hatte auch ruhig verlieren konnen, — zu essen hatte ich,
zu wohnen . . . wie sagte noch Peter Sebok? Kost, Quartier
und Apotheke, ja, darum brauchen wir uns nicht zu sorgen.
Eigentlich sehe ich gar nicht ein, weshalb ich mich nicht mit
Schuhputzen besch Mathcmatik eins, Physik und
Geschichte gut, Latein und Ungarisch geniigend, — das
Geniigend in Ungarisch war peinlich ungerecht, und das
Ganze stammte blofi von dem Zank vor Ostern, als ich in
dem Aufsatz: Die religiose und patriotische Lyrik im
XVIIL Jahrhundert schrieb . . . Auf der StraBe sah er ein
Plakat, eine Frau mit wirrem Haar und entsetztem Gesicht,
beide Arme in die Hohe gestreckt:
Arbeitet, denn
das 'Brot gebt ^ttr Nciffl
60
— Gut, sagte er, vor dem Plakat stehenbleibend, arbeitet.
Aber was sollt ihr arbeiten? Wo sollt ihr arbeiten? Bitte . . .
bei tausendsechs 1st cine Veranderung zu bemerken, Fahnrich
Kdd£r und vier Mann als Auf klarungspatrouille um halb zwei
. . . wer meldet sichfreiwillig ? Das 1st gute Arbeit, die kannman
anstandig ausfiihren, man gab uns auch reichlich davon; —
oder: der gegeniiberliegende Grabenabschnitt muB aus-
gehoben werden. Fahnrich Kadar mit zwei Maschinen-
gewehren . . . jawohl, der Grabenabschnitt der Andrassy-
StraBe vom Cafe Abbazia bis zum Cafe Palermo muB aus-
gehoben werden, Fahnrich Kadar mit zwei Maschinen-
gewehren . . . Von Tante Anna kann ich wieder ein paar
Kronen bekommen. Ich brauche zwei Paar Strumpfe, und
einmal mochte ich ins Orpheum gehen Ein junges
Madchen in dunkelblauem Wintermantel und hohen
Stiefeln kam ihm entgegen. Er wandte sich ein wenig zur
Seite und betrachtete sie scharf ; auch das Madchen sah ihm
in die Augen. Er ging ihr nach und sah, daB sie vor einem
Schaufenster stehenblieb, wahrend sie tat, als betrachte
sie die Auslage, warf sie ihm scharfe Blicke und feiles
Lacheln zu. Ich gefalle ihr, dachte er, oder vielleicht lacht
sie dariiber, daB mir der Schwanz vom Cut unter dem
Fruhjahrsuberzieher hervorguckt und daB ich gelbe
Militarstiefel trage. Das Madchen, als hatte sie das Schau-
fenster satt, ruckte mit dem Kopf und ging weiter. Einen
Augenblick iiberlegte er, ob er ihr folgen solle, dann
ging er ein wenig zogernd auf die andere Seite. Geld
muBte man verdienen.
Es wurde Januar, und bis heute hatte er von Zuhause,
von den Eltern, keine Nachricht. Zuletzt war Ende Juli
oder Anfang August ein Brief aus DeVi gekommcn: von
Anfang bis Ende vorsichtiges Klagen. Kein Mensch kauft
61
Bucher, auch das Papier geht kaum, das Geschaft 1st
sozusagen vollkommen tot, von den drei Zimmern haben
wir eins vermietet mit voller Verpflegung an einen an-
gehenden Rechtsanwalt namens Kormos. Dem Vater geht
es nicht besonders gut, seit Beginn des Sommers spiirt er
wieder seinen Rheumatismus. Gott segne dich, Gott
schiitze dich, — so wie es am SchluB eines jeden Briefes
stand. — Seitdem keine Nachricht. Was jeder wufite:
rumanische Besetzung, kein Postverkehr, — zwei Briefe
hatte er nach Hause geschrieben, Antwort war nicht
gekommen, wer weiB, wo diese Briefe verloren gegangen
waren, — der Eisenbahnverkehr ist eingestellt. Tage hin-
durch waren ihm seine Eltern nicht in den Sinn gekommen,
— das war auch fruher so gewesen, als er acht Jahre als
Gymnasiast in Budapest verbracht hatte, fern von den
Eltern; manchmal waren Monate vergangen, ohne daB er
nach Hause geschrieben hatte; allerdings, damals wufite
man, daB zu Hause alles in Ordnung war, — dann gab es
Tage, da die Unruhe in ihm brannte, und unter dem Ein-
druck der einen oder andern verworrenen Nachricht, des
einen oder andern beangstigenden Zeitungsartikels sah er
Schreckensbilder.
Eines Abends trat er dann vor die Alten: ,,ich geh nach
Hause, nach Deva." — Sic sind entsetzt, sie jammern. ,,Um
Gottes willen, liebes Kind, es fahren ja nicht einmal
Ziige ..." — ,,Ich werde schon irgendwie hinkommen." —
,,Aber du hast ja keinen PaB." — ,,Werdc ich mich eben
(iber die Grenze schmuggeln." — ,,Und Geld fur die Reise
konnen wir dir auch nicht geben . . ." Er zieht vier Zehn-
kronenscheine aus der Tasche. ,,Wo hast du denn die
her?" — ,,Meine Uhr", sagt er, ,,wozu die Uhr? die brauch
ich nicht." Er lafit sich die Sache nicht ausreden: Tante
Anna weint, der alte Herr will energisch sein, bringt es
aber bloB bis zum Schmollcn, — kein Wort, kein Argument
hilft, — in einen Rucksack stopfen sie ihm etwas altc Waschc,
fiber den Cut zieht cr den Offiziersmantel und geht los.
62
Der Zug fahrt bloB bis Gyula. Dort lungert er zwei Tage
herum, versucht, mit Mcnschen ins Gesprach zu kommen
und ctwas dariiber zu erfahren, wie es mit dem Verkehr iiber
die Grenze steht. Die Menschen sind miBtrauisch und
wissen nichts. Zwei Nachtc verbringt er in einer Kneipe,
schlaft auf der Bank neben dem Tisch, und der Gastwirt ist
iiberzeugt, daB er etwas im Schilde fiihrt. Der glaubt, ich
sei ein Dieb oder Deserteur, denkt er und sagt dem Bauer,
der ihm nie in die Augen blickt und aussieht, als seien auch
seine Ohren, sein Schnurrbart und seine weinbliihende
Nase zu Boden gesenkt, daB er iiber die Grenze wolle. Der
Gastwirt nimmt die auf die Erde gestemmte Pfeife aus dem
Mund, sieht ihn an, spuckt aus und sagt kein Wort. —
Am Nachmittag kauft er ein rundes Roggenbrot und cine
diinne Stange Paprikaspeck und macht sich gegen Abend
auf den Weg. Schneeiger Bleiregen fallt, seine gelben
Stiefel patschen bis an die Knochel durch den Matsch, daran
bin ich schon gewohnt, denkt er. Uber winterliche, kahle
Felder schreitet er im Dunkeln mit dem lockeren, vor-
sichtigen Schfitt, aus dem er sich jeden Augenblick auf die
Erde werfen kann, und seine Augen, — auch das hat er
gelernt, im Dunkeln nicht blind zu sein, — passen auf die
gerade Chaussee auf, damit er nicht mehr als zwanzig
Schritt von ihr abweiche. Urns Morgengrauen stand er
dann plotzlich einem Trupp Soldaten in fremden Uniformen
gegeniiber. Er packt das Brot zwischen die Knie und hebt
bcide Arme hoch. Die rumanische Patrouille ergreift ihn,
zwei Infanteristen mit Bajonetten begleiten ihn wohl zwei
Stunden lang iiber die schneeig-dreckige LandstraBe, dann
kommen sie an einen Schuppen, da stoBen sie ihn hinein.
In dem scheunenartigen Raum sind schon an die zwanzig,
liegen auf Stroh, schlafen, brummen, weinen, stinken. Er
bleibt an die Wand gelehnt stehen und sieht sich um. Ein
Jude mit Bart, Peies und schwarzem rundem Hut richtet
sich auf dem Stroh auf, blickt ihn mit erschrockenen Augen
an, steht auf und tritt zu ihm bin. ,,Sind Sie Ungar?" fragt
63
er in seincm singenden Tonfall. Er nickt: ,,ja." — „ Aiweh",
sagt der andere, ,,mein Name 1st Spitzer, aiweh. Ich wollte
einen so kleinen Sack gerosteten Kaffee — Gott iibcr die
Welt, glauben Sie, sie werden mich erschieBen?" Kadlr sinkt
auf das Stroh, der Gestank will ihn ersticken, er starrt ins
Dunkle, es lohnt sich nicht nachzudenken. Sein Taschen-
messer, seine Papiere, das halbc Brot, seinen Rucksack und
seine sechsundzwanzig Kronen hat ihm die Patrouillc
abgenommen. Na . . . das ist nicht gerade gelungen, ich
hatte mir das denken konnen. Warum? warum hatt ich mir
das denken konnen? hatte ich mir denken konnen, der
nachtliche SturmangrifF bei Asterra wiirde gelingen oder
nicht gelingen? MuB man denn iiber alles griibeln? alles
vorher ausrechnen? — Er liegt auf dem Stroh, das leise
Murren, Weinen, Krachzen und das Schnaufen der Schlafer
rieselt durchs Dunkel, der Gestank ist unertraglich. Manch-
mal geht die Tiire auf, — fur einen Augenblick stiirzt graue
Helligkeit in die Finsternis, — es kommt jemand an. Der
Ankommling bleibt an der Wand stehen, forscht durch das
Dunkel, versucht, sich zu orientieren; der kleine Jude
richtet sich im Stroh auf. ,,Mein Name ist Spitzer . . .
aiweh . . . so ein kleiner Sack Kaffee . . . erschieBen ..." Ein
Tag, zwei Tage, drei Tage? Am harten, blauen Himmel
strahlt die Sonne, als sie ihn aus der Scheune herausfiihren.
An Schienen gehen sie entlang, wohl zu zehnt, werden in
ein weiBgetiinchtes Haus gelenkt, und dort steht cr in einem
leeren Zimmer. Eine Stunde, zwci Stunden, drei Stunden?
Dann steht er vor einem langen Tisch, der vollgepackt ist
mit Papieren, Tintenfassern, Federhaltern. Am Tisch sitzen
eine Menge rumanische Offiziere, rauchen Zigaretten,
Zigarren. Unter den RumSnen sitzt auch eine andere
Uniform, kein Rumane, ein fremder Offizier muB das sein.
Dann sagt der eine etwas auf ruminisch, er versteht ihn
nicht, aber plotzlich blitzt ihm ein Gedanke durch den Kopf,
und mit zwei Schritten steht er dem mit der fremden
Uniform gegeniibcr vor dem Tisch* Ein jugendlkhes
Gcsicht, nach den Seiten geglattetes blondes Haar, klare
hellblaue Augen. Ein englischer Offizier. Ich glaube nicht,
daB er alter 1st als ich. Kadar faBt den Rand des Schreibtisches
und sagt: ,,Mister . . . Kamerad! I am . . . ein armer
Student . . ." er strengt sich an, er qualt sich nach brauch-
baren Fremdwortern ab, — ,,ich muB zu den Eltern", hilft
er sich auf deutsch aus . . . ,,Eltern, parentes, pere et
mere . . ." In den blauen Augen erscheint ein Lacheln und
versteckt sich sofort in einer schmalen Falte auf der Stirn.
,,Ah, you want to see your parents?" — ,,Ja . . . Yes, yes !" —
,,And your parents are living in Roumania?" fragt der Eng-
lander weiter. Er antwortet aufs Geratewohl: ,,Yes,
Romania, Deva!" — ,,Ah, in Deva. And you wanted to
get there?" Er versteht die Frage nicht, verlaBt sich aber
auf den Fragenden: ,,Yes, yes", antwortet er. Die Offiziere
reden rumanisch, englisch, franzosisch dazwischen, schnell
und laut, und er versteht kein Wort. Den englischen
Offizier aber hat er schon liebgewonnen und ist ihm
dankbar, wenn auch nur darum, weil er sich bemiiht, lang-
sam zu sprechen und sich wenigstens durch die Betonung
und durch Gesten verstandlich zu machen. Der Englander
wendet sich wieder an ihn: ,,You were officer in the army
of the Monarchy, weren't you?" und mit seinem Bleistift
fahrt er an seinen Militarmantel und zeigt auf den Kragen.
,,Yes, Officier! Leutnant!" liigt er plotzlich. Wieder lautes
Gerede; aufgeregte Worte fllegen. Dann wieder der Eng-
lander: ,,Impossible, my young friend! You can't pass the
line of demarcation without official leave on the part of the
Roumanians and certainly not without any papers! Go back
immediately . . ." Stimmengewirr, Widersprechen. Er
versteht den Streit nicht, weiB aber, davon ist die Rede,
daB der englische Offizier ihn zuriickschicken will und die
Rumanen ihn nicht lassen wollen. Lange Minuten dauert
das Gestreite; ein dicker rumanischer Offizier schlagt auf
den Tisch und briillt aus voller Kehle: ,,I know the like of
them I He is a professional spyl A professional spy! Sure!"
5 Kflrmendi. Budapest 6j
Auch dcr Engender haut auf den Tisch: ,,I don't think so!
He merely wants to get to his parents ! A spy wouldn't try
to steal across the frontier in this manner!" Jetzt weiB er
schon, er gelangt nicht heim und kann sich freuen, wenn er
mit heiler Haut nach Ungarn zuriickkommt. Streit, Auf-
den-Tisch-Schlagen, aber er hort nicht mehr hin, bemiiht
sich nicht mehr, die Worte zu verstehen. Die Stimme des
kleinen englischen Offiziers kreischt: ,,I want it! I insist on
it!" Dann wird er in die Scheune zuruckgefiihrt und bleibt
bis zum nachsten Morgen da. Jetzt ist es schon ganz gleich-
gultig, was passieren wird. Moglich, sie lassen mich frei,
dann, wenn ich zehn Schritte gegangen bin, wird man mich
von hinten — Am Morgen holen drei Infanteristen mit
Bajonnetten ihn und noch funf-sechs andere aus der Scheune.
Sie setzen sich auf einen Wagen, der Wagen fahrt los,
zuriick, denselben Weg, den sie ihn vor Tagen zu FuB
herbegleitet hatten. Sein Rucksack, sein Kram ist dort
geblieben. Spitzer ist auch auf dem Wagen. ,,Du allmachti-
ger Gott", sagt er, ,,wegen eines so kleinen Sackes Kaffee
hatten sie mich doch auch nicht erschieBen lassen konnen,
hat man je sowas gehort?!" Spater muBten sie vom Wagen
steigen, der eine Infanterist wies ihnen mit der Hand die
Richtung, ,,marsch-marsch", sagte er, und als sie losgingen,
schoB er in die Luft. — In Gyula ging er zunachst in die
Kneipe; der Bauer erkannte ihn und empfing ihn sofort
damit, ob er Geld habe. Nein, er hatte keins. ,,Hinsetzen
kdnnen Sie sich", sagte er da, ,,abeir zu essen gebe ich bloB
gegen Geld." Er ging zu dem Backer, bei dem er vor ein
paar Tagen das Brot gekauft hatte, und bat um Quartier,
sagte aber gleich, daB er kein Geld habe. Der Backer warf
ihn hinaus. Er versuchte es noch in ein paar Bauernhausern
am Ende der Stadt, uberall wurde er weggeschickt. Es
sauste ihm in den Ohren, es flimmerte ihm vor den Augen
vor Hunger. Zuletzt hatte er nach dem Verhor gegessen,
Suppe und irgendeine klitschige Masse, die nach Hirse
schmeckte, aus einer klebrigen EBschale. Auf dem Haupt-
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plate setzt er sich auf cine Bank: ich will wenigstens nicht
gerade mitten auf der StraBe umfallen. Er sitzt und sitzt,
— am groBen, grauen Himmel hiipfen bunte Ringe;
gegeniiber ist ein zweistockiges Haus, ein Fenster im zwei-
ten Stock ist offen und bis 2um Kreu2 mit Bettzeug voll-
gestopft. Ganz angenehm ware so ein rotbezogenes Feder-
bett. Wenn ich darin meinen Kopf vergriibe, wiirde das
Ohrensausen aufhoren. Neben dem Haustor eine grofie
ovale Tafel, man kann sie auch von hier aus ganz gut lesen :
Borbala Kovik, dipl. Geburtshelferin, — auf die Tafel ist
auch ein Storch gepinselt, der ein Wickelkind im Schnabel
halt. Der Miihe wert . . . geboren zu werden. Oder so
geboren zu werden, daB man nichts hat. ,,Ach, sieh mal
einer an, Kadar, du?" hort er auf einmal; er blickt auf,
blinzelt ein paarmal: eine feldgraue Gestalt steht vor ihm,
in Breeches, tadellosen braunen Ledergamaschen, mit roter
Kokarde. Er erkennt ihn sofort: Lechner, — eine Zeitlang
waren sie zusammen an der Front gewesen, in Albanien.
,,Wie kommst du denn hierher?" — ,,Na, und du?"
Fragen und Antworten, gemeinsame Erinnerungen und
fremde Schicksalswendungen finden Worte hier auf der
Bank, angesichts der Federbetten und des Hebammen-
schildes. Lechner ist in Gyula beheimatet, ist nach Hause
gekommen, es geht ihm einigermaBen, man kann nicht
klagen, augenblicklich ist er Vorsitzender des Soldatenrats
am Ort. ,,WeiBt du, die Sozis und auch die Burschuis
haben Vertrauen zu mir. WeiBt du, mein alter Herr ist
Schlachter, es geht ihm, Gott sei Dank, ziemlich gut, und
als ich nach Hause kam, habe ich ihm gesagt, iiberlaB die
Sache nur mir, Papa. Na, da habe ich den Mund aufgerissen,
hab Reden gehalten, hab geschrien, ganz fein hab ich den
Krempel geschmissen." Dann nimmt Lechner ihn mit zu
sich nach Hause; vom Alten bekommt er Blut- und Leber-
wurst. Vicl kiimmern sie sich nicht um ihn; in einer leer-
geraumten Kiiche schlaft er sich groBartig aus, — niemanden
start er, man sieht ihn kaum. Am dritten Tag weist Lechner
5» 67
ihm im Rathaus funfzig Kronen an, Frau Lechner packt ihm
eincn zerrissenen Rucksack voll Mettwurst und Speck, auch
ein Topfchen Scbmalz tut sie hinein, — an dem Tage fahrt
gerade ein Zug nach Budapest, ,,na, Gott mit dir", sagt
Lechner, ,,und wenn ich mal nach Pest komme, machen wir
zusammcn einen groBen Bummel!"
Die Alten trauen ihren Augen nicht, als er vor ihnen
steht. ,,Na, bist du wieder da I 1st dir also nichts passiert?!
Warst du in Ddva? Du lieber Himmel, wo hast du denn
all das Schweinezeugs her? Und das Topfchen Schmalz?"
An dem Schmalz riecht auch Onkel Rudi, ,,prima",
sagt er.
Dann vergehen die Tage wieder in Budapest. Ziemlich
schnell sogar. Man sitzt tagelang im EBzimmer und stiert
zum Fenster hinaus, aber das ist unwichtig. Man hat Ruhe,
und die paar ubriggebliebenen Kronen reichen lange Zeit.
Man hat Ruhe, das ist die Hauptsache. Der Lechner ist ein
ordentlicher Junge, auch der englische Offizier war ein
ordcntlicher Mensch. Der kleine Feledy auch, und Altmann
und die beiden andern auch, die auf dem Heimweg Ruhr
bckommen haben. Uberhaupt sind die Menschen ziemlich
gut . . . und man muB moglichst von niemandem etwas
wollen. Ruhe, Ruhe, die ist gut. Ich bin am Leben, das ist
gut. SchlieBlich hatte ich ja auch dort bleiben konnen . . .
sagen wir ... am 9. Oktober 17, als die Italiener elfmal
nacheinander versuchten — — oder auch jetzt, an der
Detnarkationslinie, wenn sie mich zum Beispiel, als sie mich
freigelassen batten, nach zehn Schritten von hinten
reiner Zufall. Jetzt wird der Winter bald zu Ende sein,
— und Frieden ist auch. Im Herbst werde ich mich an der
Technischen Hochschule immatrikulieren lassen, um Be-
freiung vom Kolleggeld muB ich einkommen. Wohnen
kann ich hier bei Onkcl Rudi . . . vorher, vielleicht im
Sommer, gehe ich doch mal nach Hause, nach D£va.
ElNES Abends kommt Onkel Rudi mit stiirmischer
Freudc nach Hause. ,,Na, Junge, ich glaube, ich hab dcin
Gliick gemacht! Ich hab einen altcn Freund, Maxi Huber,
der 1st Biirochef bci der Metallzentrale; heute treffe ich ihn
im Cafe Zentral, auf einmal fallts mir ein, und ich sage zu
ihm : du, hor mal zu, Maxi, ich hab einen Neffen, abgeriiste-
ter Offizier ist er, hat das Gymnasium absolviert, cin an-
standiger, braver Junge, sag ich "
Am i. Marz bekam er gegen einen hellblauen Schein an
der Hauptkasse achtzig Kronen ausgezahlt und wurde in
der Metallzentrale an einen Schreibtisch gesetzt. Diese vier
Zwanzigkronenscheine, die ihm in die Hand gedriickt
wurden, riefen eine sonderbare Veranderung in ihm hervor.
Dieses Geld habe ich richtig verdient, beziehungsweise
werde ich verdienen, ging es ihm durch den Kopf, und er
fiihlte, daB dies eine andere Art Geld sei als jenes, das friiher
jeden Ersten im Monat aus Deva ankam und fur das er
eine Aufgabe zu leisten hatte, namlich zu lernen. Das ist
eine andere Art Geld als die paar Kronen, die er als Gym-
nasiast der hoheren Klassen bekam und fur die er einen
Pennaler aus der Dritten mit Arithmetik und Geometric
qualen muBte. Anders als das Geld, das man Lohnung
nannte und fur das man Lause bekommen, im Graben liegen
und dorthin schieBen muBte, wo man wuBte, da sind lebende
Menschen, und fur das man vor allem auch krepieren konnte.
Das ist kein Geld wie die in Innsbruck beim Mauscheln
gewonnenen dreihundert Kronen oder die vicrzig, die der
Juwelier auf dem Ring ihm fur seine Uhr gab, oder die
fiinfzig Kronen, die Lechnerschen. Fur dieses Geld hier
muB man regelrecht anstandig arbeiten, ein Handwcrk
erlernen, einen Beruf ausiiben . . . ,,Ehrliche, produktive
Arbeit erwarte ich von Ihnen, junger Freund", hatte Herr
Huber gesagt, als er ihm seinen Schreibtisch anwies, und
am ersten Abend, als er vom Biiio nach Hause ging in die
69
Pozsonyer StraBc, sagte cr zu Onkcl Rudi: ,,Ich glaube,
hicr werdc ich Gclcgcnhcit habcn zn chrlichcr, produktiver
Arbeit . . ."
Im Biiro wurdc cr mit den Kollegen bekannt, und still
und langsam fing cr an, die Sprache der Zeit und der
Mcnschen zu vcrstehen und zu sprechen. Den ganzcn Tag
saB er vor bunten Zetteln, Rubrikbogen, Zahlcnkolonncn,
und wenn er auch das Gefuhl hatte, irgendwo in der Mitte
der Dinge zu sein, von wo aus man weder den Anfang noch
den SchluB sehen konnte: so fiihlte er auch, daB diese vielen
Zahlen, die vielen Rubriken nur einen einzigen Sinn
hatten, — eine Zahl, die irgendeiner irgendwo in die
Rubrik ,,Reingewinn" eintragt. Und nach wenigen Tagen
formulierte er, driickte er das Gefuhl, das der erste regel-
rechte Erwerb in ihm ausgelost hatte, in Worten aus : viel
Geld muB man verdienen, man muB reich sein und gut
leben. Naturlich ist es die Frage, ob . . . es an diesem
Schreibtisch moglich sein wird. Er sah sich seine Kollegen
an. Der eine trug einen dunkelgrauen Liisterrock mit
zerrissenen Ellenbogen, das war Herr Demjen, fiinfzig,
funfundfunfzig Jahre mochte er alt sein; und da ist der
hinkende, bleiche Herr Hegyi in seinem braunen Arbeits-
rock mit viel zu kurzen Armeln, auch der ist nicht mehr
jung; Herrn Zoller fallt das ergrauende Haar wellig in die
machtige Stirn, und gewohnlich riecht er nach Bier; na,
und Herr Huber, sein Protektor, der Biirochef, der hat am
Schuh an der Seite einen aufgesteppten groBen Fleck. Diese
Herren . . . denen ist es nicht gelungen, von der ehrlichen,
produktiven Arbeit reich zu werden? Oder ist das vielleicht
keine ehrliche, keine produktive
Am 21. Marz sprangen rote Fahnen in die Fenster und
an die Stangen, Menschen und Dinge veranderten ihr
Gesicht innerhalb von Stunden, Schauer fegte durch die
Stadt, und es lag in der Luft: jetzt folge eine ganz neue
Lektion. — Im Biiro sagte einer: ,,Kadar ist schon am
Ersten mit einem Auftrag hergekommen." Er schwieg, und
so hatte niemand Grund, daran zu zweifeln. Eines Tagcs
wurde er dann cinstimmig zum politischen Vertraucnsmann
dcr Abtcilung gewahlt, — cr hatte keinc Ahnung, was das
eigcntlich war, und wehrte sich nicht; die Wahl wurde
jedoch von einer Zentrale oder Behorde nicht akzeptiert,
wcil ihn dort niemand kannte und weil man nicht wuBte,
ob er ein zuverlassiger Kommunist sci oder nicht. Auch
damit fand er sich ab, voll Freude sogar, denn wahrend der
zwei Tage seiner neuen Wiirde furchtete er standig, jemand
konne ihn um etwas bitten oder etwas fragen, worauf er
keine Antwort wiifke. Er ging ins Biiro wie die iibrigen,
arbeitete nicht, weil er nichts zu arbeiten hatte; der neue
politische Vertrauensmann, ein Externer und der neue
Abteilungschef, der Herrn Huber abgelost hatte, hielten
Versammlungen und Reden; fur die Arbeit erwarteten sic
Weisungen, die jedoch nicht kamen. Er merkte auf die
Reden und Gesprache, die wie eine Fruhjahrsuberschwem-
mung sich in die Biiros ergossen. Er horte und nahm Dinge
zur Kenntnis, von denen er keinen Begriif hatte und die sich
anhorten wie Ausdriicke einer bekannt klingenden fremden
Sprache. Ideologic, proletarische Gesinnung, Klassen-
herrschaft, orthodoxer Marxismus, Republik der Sowjets,
Genosse Lenin, Genosse Bucharin, Spartakismus, aus-
beutendes Kapital, produktive Arbeit, soziale Produktion,
geistiges Produkt, Revolutionsgericht, idealer kommunisti-
scher Staat, Gegenrevolution, kapitalistischer Patriotismus,
Internationalismus der Gegenrevolution, selbstbewuBter
Proletarier, Verrater der Diktatur . . . aber diese Worte
nahmen keine Gestalt in seinem Gehirn an, und am SchluB
der einen oder andern Rede hatte er das Gefiihl, wenn ich
jetzt diesen Genossen Blau oder Genossen Lehotay bate,
mir extra, ganz ohne Verantwortung zu erklaren, was er
mit sozialer Produktion meint, dann kame Genosse Blau
oder Genosse Lehotay genau so in Verlegenheit wie,
nehmen wir an, sic wiirden iiber die Tangenten der Hy-
perbel befragt werden . . . Er bemiihte sich, an nichts
71
teilzunehmen, cr war viclleicht der einzige, der sich auch von
den Disputcn im Biiro fernhiclt und der in keiner Frage
einen Standpunkt hatte. Worte, Worte, weit entfernt von
der Wirklichkeit und von jenem Tcil der Wirklichkeit, der
Reichtum heifit und gutes Lcben. Was ihm an freicr Zcit
zur Verfiigung stand, verbrachte er mit Onkcl und Tante;
erzahlte vom Biiro, von den Leuten, vom leeren Rede-
schwall und versuchte durch Scherze die vcrzweifelten
Alten in bessere Laune zu versetzen. — Im April bekam
er schon zweihundcrt Kronen, im Mai funfhundert, aber in
weiBem Geld, wofiir man nichts kaufen konnte. Da wuBte
er bestimmt, die Sache wiirde nicht so bleiben, konnte nicht
so bleiben; denn — so hatte das Lcben iiberhaupt keinen
Sinn. Ich werde einmal einen Arbciter fragcn, ob er es jetzt
besser hat, dachte er, abcr natiirlich tat er es nicht. Ich kann
jetzt nur dasselbe fortsetzen, was ich im Winter gemacht
habe, als ich in der Pozsonyer StraBe am Fenster saB.
Warten muB ich ... Denken ist uberfliissig.
Ende Mai — es war ein strahlender Friihsommcrtag —
kommt er eines Nachmittags nach Hause : Onkel Rudl sitzt
mit diisterem Gesicht am Tisch, Tante Anna hat verweinte
Augen. Schweigen. ,,Ist ein Ungliick passiert?" — ,,Toni,
ach Kind, etwas Schreckliches." — ,,Was denn, um Gottes
willen?!" — >,Ach, Toni, heute mittag war die Mariska
Gazda aus Deva hier, ihr Mann ist ein italienischcr Offizier,
sie sind in einer amtlichen Angelegenheit hier in Budapest,
etwas bei der Mission ..." — ,,Mariska Gazda aus Deva?"
sagt er und f lihlt in der Kehle cine kalte, beklemmende Angst,
,,und was ist denn Schreckliches — ?" ,,Vater und Mutter — "
,,Sic sind gestorben", sagt er; er fragt es nicht, er stellt es
hin. ,,Noch im November, an der Grippe, zuerst deine
Mutter, zwei Tage darauf dein armer Vater . . ." Tante
Anna lehnt sich an den Fensterrahmen und weint. Onkel
Rudi biegt den Kopf auf die Seite und kaut an den Finger-
nageln. Kddar steht in der Mitte des Zimmers. Vater und
Mutter sind tot — plotzlich dringt ihm diinnes Kinder-
weinen durch die Kehle, mit groBer Anstrengung ver-
schluckt cr cs und preBt die Lippen zusammen. Die Augen
brennen ihm rot und trocken. Er steht da im Zimmer,
dann dreht er sich um und geht hinaus. Im Flur setzt er sich
auf die Bank unter dem Spiegel und stiitzt den Kopf in
die Hand. Jetzt bricht sich das diinne Kinderweinen Bahn,
die Tranen flieBen, er schluchzt. Dann kommen die Alten
aus dem Zimmer, trosten ihn weinend, besanftigen ihn.
Sic setzen sich wieder an den EBzimmertisch und schweigen.
Tante Anna stohnt ein paarmal auf. Onkel Rudi blinzelt ihm
verstohlen ins Gesicht. Er weint nicht mehr, mit zusammen-
gepreBtem Mund sitzt er am Tisch. Spater beginnt er ein-
mal: ,,wie war es derm?" und erst da bemerkt er, daB
er allein im Zimmer ist. Es wird Abend, Boske beginnt,
mit dem Bett zu hantieren. Sowie sie damit fertig ist, legt
er sich hin. Wirre Bilder scheuchen ihn aus dem Schlaf auf:
dauernd sieht er Vater und Mutter vor sich, sie sprechen
auch, — er hort Stimmen und sieht den kleinen Papierladen,
der Vater rechnet hinter der Theke und schreibt etwas in
ein Buch, und die kleine schwarze Miitze hat er auf dem
Kopf. Mit der Mutter geht er Hand in Hand auf den Markt,
sie kaufen Fisch, und der Fisch springt auf dem Brett, wie
der Verkaufer ihn aus dem Behalter hinwirft. Er sitzt auf
einem kleinen Stuhl im Wohnzimmer unter dem Fenster
und hat ein groBes Marmeladenbrot in der Hand, — Vater
und Mutter schreien sich schrecklich an, aber er weiB nicht
mehr, worum es sich handelt. Es ist Sonntagmorgen, er geht
mit der Mutter in die Kirche, und den Bettlern gibt er
Kreuzer. Einmal, — er war noch ein ganz kleiner Junge,
— nahm der Vater die Mutter um die Taille, das war noch
im alten Haus, im Garten, zog sie an sich und kuBte sie ins
Gesicht. HeiBer Schreck und Arger flammte in ihm auf,
und mit einer kleinen Kinderharke, die er in der Hand
hatte, warf er nach der griinschillernden Glaskugel iiber
einem Rosenstrauch, die Kugel zersprang mit lautem Knall in
alle Himmelsrichtungen, Vater und Mutter sahen ihn
73
crschrockcn und ratios an. Die Mutter ist schr krank, auch
das ist lange her, ein kleines Schwesterchcn wurde gcborcn,
aber cs starb nach ein paar Stunden, lange Zeit darf er nur
bis an die Schlafzimmertiire gehen und von dort aus der
Mutter winkcn, die mit einer weiBen Haube und wciBem
Gesicht im Bett liegt, von ihrem hellblonden Haar fallt eine
Locke in die Stirn. Ferko Tiszta, der Sohn vom Backer
Tiszta, der in der Elementarschule neben ihm in der Bank
saB, erzahlt im Wohnzimmer unter dem Fenster verstohlen
etwas sehr Komisches. Wenn ein Mann und eine Frau —
aber er versteht die Geschichte nicht und kann es kaum
erwarten, daB Vater nach Hause kommt. ,,Vati, der Ferko
Tiszta hat gesagt, wenn ein Mann und eine Frau — "
,,Unsinn! sowas gibts nicht! ich werds dem Bengel bei-
bringen ! der tut mir den FuB nicht mehr iiber die Schwelle !"
Dann kurze Sommer, die er zu Hause verbrachte, — und
als er schon anfing zu wissen, daB es sowas doch gibt — die
Juliska, die Tochter vom Herrn Pfarrer Szabo, deren Hand
er einmal ergriff, — und das muBte er der Mutter erzahlen
und das auch, daB er im Kirschgarten der Juliska den Hals —
und die Mutter sagte: das macht nichts, mein Kind, nur im
Winter, wenn du zu lernen hast, dann denk nicht an
sowas . . . Und die letzten paar Tage in Deva 1916; der
Vater, der duster im kleinen Laden auf und ab ging und,
wenn er sprach, gewohnlich bloB sagte: ,,das Vaterland
verlangt von jedem Opfer, und jeder muB seine Pflicht
tun!" und die Mutter mit ihrer tausendfachen zitternden
Fiirsorge und mit den Topfenknodeln, die sie ihm am
letzten Tag zum Mittagessen kochte, und mit dem Gold-
stuck in dem kleinen Leinensackchen . . . Tausende von
Bildern machen ihn schwindeln und ermuden ihn; es wird
Morgen, bis er endlich in Schlaf versinkt, und da traumt er,
er rcist nach Deva, es ist dunkel, der Zug uberfullt, kiihle,
bedruckende Angst fiihlt er und ist hungrig. Zwei dumpfe
Anpralle, es wird durch das Kupecfenster geschosscn, und
Vater und Mutter, die auf der Bank gegeniiber sitzcn,
74
senken still die Kopfc. Da kommt der alte Duka, der
Ddvaer Stationsvorstehcr, cr bringt cinen groBcn Sack.
Mein Name 1st Spitzer, sagt er, jetzt tun wir die Alten hier
hinein und reichcn sie zum Fenster hinaus. Nein, das geb
ich nicht zu! Die Eltcrn miissen in Deva — Aber es muB
sein, der Zug darf keine Lelchen transportieren! Nein, ich
laB das nicht zul! Aber es ist Rcgimentsbefehl gekommen,
daB — Und ich gebs nicht zu!!! — Verschwitzt und mit
fliegendem Puls wacht er auf. Wie alt Vaters Gesicht war,
so habe ich ihn noch nie gesehen, so gealtert — Er ging
nicht ins Biiro ; mit verschleierten Augen und eingefallenem
Gesicht saB er im EBzimmer. Auf der StraBe scheint die
Sonne, ein groBer Trupp Schulkinder zieht singend die
Pozsonyer StraBe entlang.
Gegen Mittag kam Mariska Gazda wieder. Sie setzte sich
zu ihm ins EBzimmer, eine Weile saBen auch die Alten mit
um den Tisch, dann gingen sie leise ins Schlafzimmer.
Mariska erzahlte, was im Herbst geschehen war. ,,In Deva
wiitete die Grippe schrecklich, schon von Anfang August
an, aber den Eltern fehlte Gott sei Dank gar nichts, nur
klagten sie immer, daB vom Jungen keine Nachricht kame.
Schlimme Geschichten horte man von iiberall, es waren
auch viele entlaufene Soldaten in der Stadt, die erzahlten,
daB man den Sohn vom Backer Tiszta, vielleicht erinnerst
du dich noch an ihn, den Ferko, wahrend der Flucht er-
griffen und erschossen habe. Dabei war der Arme nicht
ganz richtig im Kopf. Dann kam die rumiinische Invasion,
o Gott, wie entsetzlich war es, diese Reiter zu sehen, als sie
vom Weinberg herkamen, man durfte nicht einmal auf die
StraBe gehen, mehrere Tage muBte man zu Hause bleiben.
Dann ging eine Patrouille zu euch, um die Landkarten zu
holen, aber dein alter Herr wollte sie nicht berausgeben,
er hatte keine, sagte er, darauf haben sie den ganzen Laden
durchwiihlt, natiirlich fanden sie allcrlci Karten, Schul-
atlanten und Ahnlichcs. Deinen Vater haben sie dann ab-
gefiihrt, auch vcrprugelt haben sie ihn und fiinf Tage lang
75
in der Kaserne gehaltcn, deine Mutter, die Arme, stand
fiinf Tage von friih morgens bis abends vor der Kaserne,
rein haben sie sic nicht gelassen, doch wegbringen lieB sie
sich auch nicht, und wenn sie die Offiziere fortgejagt
hatten, immer ging sie wieder zuriick. SchlieBlich haben sie
deinen Vater rausgelassen; denn er hatte schon hohes
Fieber, in der Kaserne hat er sich erkaltet. Tag und Nacht
war ich bei euch mit dem Doktor Moskovitz, am dritten
Tag starb dann dein Vater. Als dann der Bezirksarzt kam,
auch mit einem rumanischen Offizier, lieB er deine Mutter
sofort ins Barmherzigenspital bringen, aber du weiBt, nach
zwei Tagen — " Mariska weinte und ergriff seine Hand.
,,Toni, weiBt du, daB kaum noch was im Laden war, und die
Mobel ..." — ,,Ich weiB", sagte er, ,,wir waren arm." Mit
trockenen Augen sah er die weinende Frau an, dann starrte
er zum Fenster hinaus. Die Sonne scheint, zwei schwere
Lastwagen quietschen holpernd iiber die StraBe. Mariska
tritt neben ihn. ,,Ach, Toni . . . Tonichen, die Welt ist so
entsetzlich!" . . . Entsetzlich, entsetzlich, schwirrte es ihm
durch den Kopf, meinen Vater haben die Rumanen ver-
priigelt, mich haben sie mit heiler Haut laufen lassen . . .
Er betrachtete Mariska, sie trug ein elegantes, hellgraues
Kleid und ganz hohe braune Schniirstiefel. ,,Na, und wie
gehts dir, Maris?" fragte er, ,,ich hore, du hast einen
Italiener geheiratet, warum ist dein Mann nicht mitge-
kommen?" Mariska blickte auf die StraBe. ,,Scopelli hat
sehr viel bei der Mission zu tun, und morgen reisen wir
schon weiter nach Wien." Plotzlich dreht sie sich um: ,,du,
Toni," und sie dampft ihre Stimme bis zum Fliistern, ,,ihnen
hab ichs nicht gesagt, aber dir sag ichs ..." — ,,Na, was
denn?" — ,,Du, Toni, ich bin nicht Giuglios Frau, ich bin
bloB . . ." errdtend sucht sie nach einem Wort, ,,ich lebe
bloB mit ihm zusammen, vorlaufig. WeiBt du", hasten ihre
Worte leisc, ,,uns haben sie die Apotheke weggenommcn,
weil alle Apotheken unter behordliche Kontrolle ge-
kommen sind, und der Simiu, der Fiihrer der Rumanen,
76
hat gesagt, wir waren nicht zuverlassig, und da sind wir
nach Kolozsvdr gegangen . . . nirgends gabs ein Obdach,
im Hotel New York wohnten rumanische Offiziere, — der
AnspruchsprozeB gegen das Aerar war eingeleitet, ein
rumanischer Rechtsanwalt fuhrte ihn, aber noch vor dem
Urteil, — auf das Urteil hatte man ja ewig warten miissen! —
also, man muBte sich einigen und mit einem geringen Scha-
denersatz zufrieden sein. Nun ging unser Geld zur Neige . . .
von Woche zu Woche muBte man sich auf der Sigurantia
melden, ein furchterlich gehetztes Leben, verriickt muBte
man dabei werdenl Dann kam eine Internationale Militar-
Kommission nach Kolozsvar. Ich kann gut Rumanisch,
Deutsch und Franzosisch. Hauptmann Scopelli, — was fur
ein hiibscher und guter Mensch! — arbeiten, mein Gott,
warum sollte das eine Schande sein? — der Hauptmann
verschaffte mir eine Stellung als Stenotypistin bei der
Kommission. Da haben wir uns ineinander verliebt, aber,
glaub mir, auch die Eltern haben den Giuglio so gern, als
ware er ihr eigener Sohn . . . eine glanzende Karriere steht
ihm bevor . . . Jetzt nimmt er mich mit nach Wien, dorthin
ist er eingeteilt worden, aber sowie er Urlaub bekommt,
fahren wir nach Livorno zu seinen Eltern und heiraten." —
,,Und wie alt ist er?" — ,,DreiBig ... ein sehr lieber,
anstandiger und vornehmer Mann, seine Familie hat eine
grofie Farbenfabrik in Livorno." — ,,Und wie alt bist du?"
— ,,Ich? das weiBt du doch, vierundzwanzig." — ,,Und
ist das sicher, daB er dich heiratet?" — ,,Aber natiirlich,
warum sollte das nicht sicher sein?" — aber an ihrer
Stimme spurt man, daB diese haBliche, miBtrauische Frage
ihr weh tut. Und plotzlich lenkt sie das Gesprach ab: ,,und
du, Toni, wie gehts dir denn? Tante Anna erzahlt, du hast
eine gute Stellung." — ,,Ich?" winkt er ab, ,,ach, das ist ja
nichts. In der Sozialisierungs-Abteiiung der Metall-
zentrale . . . nichts mache ich."
Dann kamen die Alten wieder herein. Mariska wandte
sich an sie. ,,Lieber Onkel Rudi und Tante Anna, mein
77
Mann ISBt fragen, ob er euch nicht in irgend etwas helfen
konnte. Vielleicht irgendeinen Ausweis oder . . . etwas
Geld?" — ,,Liebes Kind", sagte Xante Anna, ,,was konnten
wir brauchen? Wir plagen uns und placken uns, alle
Menschen tun das. Und was wir gebrauchen konnten, cine
bessere Welt, das kann uns dein Mann doch nicht geben,
das kann bloB Gott." Da ging er plotzlich vom Fenster weg
und trat zu Mariska bin. ,,Du, Mariska, nehmt mich mit
nach Wien!" — Mariska reiBt die Augen erschrocken auf.
,,Tonichen, ich kanns ja Giuglio sagen, aber ich glaube
kaum, denn die Mission ..." — ,,Gut, gut", unterbrach er
sie, ,,ich weiB, es geht nicht, ich habs nur so gesagt.
Irgendwie werde "
Eine Zeitlang unterhielten sie sich noch, Mariska jam-
merte, wie schrecklich die verelendete Stadt aussehe, dann
ging sie. Am nachsten Morgen kamen zwei Detektive, die
sich danach erkundigten, was sie gestern und vorgestern
mit der Dame von der Mission zu tun gehabt hsitten. Tante
Anna fing zu Tode erschrocken an zu weinen: ,,das war
doch bloB eine Verwandte von uns, aus Siebenbiirgen, darf
man denn das auch nicht mehr?" Die Detektive sprachen
nicht viel, sahen sich bloB in der Wohnung um, notierten
etwas und gingen. Tante Anna und im geheimen auch
Onkel Rudi waren erst dann einigermaBen beruhigt, als
eine Woche verging, ohne daB die Sache eine Fortsetzung
gehabt hatte. Die Tage krochen leer iiber die Stadt. Er
fehlte drei Tage im Biiro, aber von den Eltern traumte er
nicht mehr. Manchmal verfolgte ihn noch das Schreckens-
bild von der Priigelstrafe in Deva, dann begann langsam
alles zu versinken. Oberlautnant Kauser lieB die Soldaten
priigcln, aber wie, und er HeB sie anbinden, auch dann
noch, als es schon verboten war. Der Italiener wird die
Mariska heiraten, warum denn nicht? Mariska ist eine
hiibsche Frau, und einmal, als er schon in der siebenten
Klasse war, hat er sie gekiiBt, — im Laboratorium der
Apotheke war das, gegen Ende des Sommers; auf dem
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groBen Tisch standen cine Menge ganz gleiche Blech-
flaschen, auf jeder war ein Etikett: Lysol Conf. Nat.
Mariska stand neben dem Tisch, als er in dem Raum mit
dem fremden, ein wenig erstickenden, aber nicht un-
angenehmen und aufregenden Apothekengeruch plotzlich
hinter sie trat und mit der einen Hand ganz leicht unter ihre
Achsel griff und ihre Brust beriihrte, und als Mariska mit
einem Ruck den Kopf nach hinten warf, kiiBte er sie auf
den Mund. Mariska ist eine schone Frau, meine Kusine
zweiten Grades. Der Italiener wird sie sicher heiraten.
Dann ging er wieder ins Euro. Die Stunden flossen
langsam, in qualender Langeweile dahin, wie ein lauwarmer,
oliger Strom. Hie und da explodierte ein aufgeregter, heiBer
Streit, aber diese Streite hatten keinen Sinn, gewohnlich
nicht einmal Inhalt; meistens entstanden sie um bestimmte
Worte, die man dauernd horen konnte, und vergingen
wieder. Weltrevolution und Gegenrevolution, Sozialisie-
rung und neue Produktion, — derartige Worte prasselten
und erstarben dann schlafrig im luftleeren Raum der
Interesselosigkeit. Er beteiligte sich an den Disputen
nicht, sie interessierten ihn nicht, er fuhlte ihre Sterilitat.
Wird Lunatscharskis Kulturpropaganda gelingen? wird
sich die russische Religiositat in kommunistische Aktivitat
umwandeln lassen? war dieser oder jener ungarische Volks-
kommissar wirklich in Moskau, oder schreibt das bloB die
rote Zeitung? — was bringen denn diese Dinge vorwarts?
Als er einmal gahnte und gerade jemand sagte: ,,die welter-
losende Kraft des Proletariats," machte ein anderer sofort
Bemerkungen iiber die im Dunkeln Schleichenden, die
Saboteure, die Spione der Gegenrevolution und die
kranken Oberbleibsel der alten verfaulten Welt, die allein
der Grund seien, weswegen das System hie und da noch
mit Schwierigkeiten zu kampfen habe . . . Er sah den
Sprechenden an, — es war Dulko, von dem jeder wuBte,
daB er zwei schone, einstockige Hauser besitzt, beziehungs-
weise vor der Kommunisierung besessen hatte, am Ende
79
dcr Fehdrvdrer Strafic. Na, durftc man da ein Wort ver-
lieren?
Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, die Gegen-
revolution sei ausgebrochen, Monitorc beschossen das
Sowjethaus, und die Volkskommissare fliichteten. Im
Handumdrehen war das Hiiro leer, alles rannte nach Hause.
Tatsachlich, irgend etwas muB los sein: die Elektrischen
verkehren nicht, man sieht nur vereinzelte stehen-
gebliebene Wagen. Auf den StraBen kaum ein paar er-
schrocken eilende Menschen; unter Sirenengeheul rasen
die Lastwagen der Terroristen. Er ging langsam iiber die
leere StraBe unter dem strahlenden Nachmittagshimmel.
Mein Gott, diese ganze Geschichte ist ja keinen Kreuzer
svert. Nach Hause gehen zu den Alten, im EBzimmer
am Fenster sitzen, am verhaBten Schreibtisch sitzen, in
der Langeweile sinnloser Phrasen, der Ziellosigkeit kopf-
loser, unniitzer Arbeit, der Hoffnungslosigkeit des Seinen-
Platz-nicht-finden-Konnens — und warten, daC irgend etwas
werde. Warten? — mit diesen Menschen oder mit diesen
Gedanken oder dieser Generation — und worauf warten?
was soil denn werden? Geld an Stelle der Papierfetzen?
Fleisch an Stelle der Kohlriiben? eine richtige Frau an Stelle
der trampligen Magd? was soil werden? Es ist Gegen-
revolution, — und was kommt nachher? werde ich spater
Skulpturen metBeln konnen oder eine Bank leiten oder
Obstbaume ziehen Zwanzig Jahre bin ich alt, stotterte
tief innen eine Stimme in ihm, ich bin niemand, ich bin
nichts; weder ein Mensch, noch ein Ding, noch eine Er-
innerung, noch ein Gedanke, nichts, an das ich mich klam-
mern konnte, das mir etwas bedeutete . . . Auch der kleine
Feledy mochte zwanzig Jahre alt gewesen sein, und der
Richter, der einen StirnschuB bekommen hat, und auch der
Tikay, dem der SchuB ins Riickgrat —
Das Haustor in der Pozsonyer StraBe offnet sich ebenso
schwer wie an jenem Novemberabend. Im Torbogen steht
ein groBer Haufen Menschen. Der Hausmeister sctzt das
80
Gezanke fort. ,,Fremde durfen hier nicht bleiben, gehen Sic
doch endlich, zum SchluB hab ich die Scherereil" Sie vcr-
suchten, ihn zu besanftigen, ein gut angezogener Herr
erklarte aufgeregt, er wolle nur so lange bleibcn, bis wieder
Menschen auf der StraBe zu sehen seien, — ,,was denken Sie,
lieber Freund, ich habe auch eine Familie, die sich zu Hause
um mich angstigt ..." — Er stand und starrte die Gruppe
hinten von der Treppe aus an, als ihn jemand am Arm
ergriff. ,,K£dar, bist dus?" sagt eine leise Stimme. Im
dunkeln Treppenflur reiBt er die Augen auf, ein bekanntes
Gesicht hat er vor sich, — doch, das ist der Vavrinec, der
sein Mitschiiler war. ,,Na, wie kommst du denn hierher?" —
,,H6r mal, du wohnst hier im Haus?" — ,Ja." — »H6r
mal, bitte, konnte ich fur diese Nacht oder fiir ein, zwei
Tage bei dir bleiben, bis ..." — ,,Was hast du denn?" —
,,Ach, bitte, lieber oben . . ." Die Alten sehen den An-
kommling erschrocken an, Kadar beruhigt sie, cs hat nichts
zu bedeuten, das ist der Pista Vavrinec aus meiner Klasse. —
Sie bleiben im EBzimmer allein. Vavrinec sagt: ,,Ich hofFe,
ich kann ofFen reden, — ich kann namlich nicht gut auf die
StraBe gehen, solange die Sache nicht entschieden ist, nach
rechts oder nach links . . . ich bin namlich Mitglied der
Berggruppe", und damit schlagt er seine Weste auf: am
Futter steckt ein Abzeichen, ein weiBes Doppelkreuz auf
gninem Schild, dariiber eine Krone. ,,So", sagt Kadar, ,,du
bist Gegenrevolutionar? und warum bist du jetzt nicht bei
deiner Gruppe oder wie das heiBt?" — ,,Ja, weiBt du, ich
war gerade unterwegs zu einer geheimen Zusammenkunft,
entschuldige, aber ich darf nicht sagen, bei wem, da sehe
ich, daB eine Sturmtruppe den Bruckenkopf besetzt halt
und vom Parlament her ein Panzcrauto ankommt ..." —
,,Darauf bist du in einen Hausflur gerannt und beabsichtigst
erst dann wieder hervorzukriechen, wcnn ihr gesiegt habt,
was?" Der andere will etwas antworten, wird aber plotzlich
bis iiber die Ohren rot und dann schneeweiB, und der Atem
stockt ihm. ,,Um Gottes willen — " in Stiickc zerbrochen
6 KOrmendl, Budapest 8 1
fallen die Worte iiber geine Lippen, ,,du bist doch nicht
etwa auch Kommunist?" Kddar sieht ihn an und mdchte
lachen. ,,Kommunist?" sagt er langsam, ,,nein, hab keine
Angst, ich bin nicht Kommunist. Aber wenn du glaubst,
mir sei ein Gegenrevolutionar sehr sympathisch, der in
sicherer Deckung abwarten will — sag mal", fallt er sich
plotzlich selbst ins Wort, ,,warst du eigentlich Soldat?"
Vavrinec ist noch immer kreidebleich. ,,Nein", sagt er ganz
leise, ,,ich war untauglich, erinnerst du dich nicht?" —
,,Und was machst du seitdem?" — ,,Was ich mache? Ich
bin das zweite Jahr auf der Technischen Hochschule,
Maschinen-Ingenieur." — ,,So. Na, ich will mal meinen
Onkel fragen, ob du fur diese Nacht hierbleiben kannst",
damit geht er ins andere Zimmer. Tante Anna fallen die
Detektive ein, und dann ist der noch nicht einmal ein Ver-
wandter, — nein, sie will ihn nicht beherbergen. Onkel
Rudi hm-t neutral, aber auch er wurde es lieber sehen,
wenn dieser junge Mann sich davonmachen wiirde, man
kann ja nicht wissen. Mit kurzen Worten redet er den Alten
zu, ,,man muB das tun, er kann sich ja kaum auf den FuBen
halten, diese Nacht soil er wenigstens hier bleiben, wir
kdnnen drei Stiihle zusammenschieben, auf denen kann er
schlafen, — schlieBlich ist er doch mit mir in eine Klasse
gegangenl" — ,,Aber wenn uns daraus Unannehmlich-
keiten entstehen, Toni." — , , Daraus konnen keine Un-
annehmlichkeiten entstehen", sagt er und verschweigt, daB
Vavrinec ein Abzeichen innen in der Weste tragt. Dann
geht er ins EBzimmer zuriick, ,,du kannst bleiben", — der
andere sagt etwas von Dank, dann schweigen sie. Seitdem
er zum Militar eingeriickt war, hatten sie einander nicht
gesehen. Vavrinec hatte hinten in der mittleren Bankreihe
gesessen und konnte schnarchen, daB es klang, als k£me
der Ton unmittelbar von vorne vor dem Katheder. Manch-
mal war es ganz lustig, hauptsachlich, wenn der Jozsi Berta
seinetwegcn in der Klemme war, mittlere Reihe, erste Bank.
Es kommt mir vor, als ware er damals magerer gewesen.
Langsam kommen die Worte in FluB, vorsichtige, neutrale
Worte. Vavrinec erzahlt, daB er auf der Technischen Hoch-
schule studiere, das heiBt, studieren wiirde, wenn das unter
diesen roten Halunken iiberhaupt moglich ware. Zum Gliick
sind die meisten von der T. H. — vielmehr nur sehr wenige
sind wirklich rot, na, und alle miissen so tun — Im iibrigen
wohnt er in Altbuda bei seinen Eltern; sie haben, vielmehr
momentan: sie batten ein kleines Haus mit Garten, ,,stell
dir vor, Mama halt im Zimmer Hiihner; mein alter Herr
hat sich zum Gliick noch sieb2ehn pensionieren lassen. Es
ware ja auch alles gut und schon, wenn diese verlotterte
Welt — na, aber bald — " Vavrinec kommt allmahlich in
Feuer. Dann, als besinne er sich, wird er plotzlich ver-
schlossen und fragt lieber. ,,Na, und was ist mit dir?" —
,,Mit mir?" Er denkt nach. Soil ich ihm erzahlen, daB ich im
Feld war, nach Albanien gekommen bin im Sommer und
dann an die italienische Front, und daB ich siebzehn einen
Granatsplitter in die Schulter bekommen habe, und daB
ich in Innsbruck im Lazarett lag, und dann, als ich wieder
gesund war, nach zwei Wochen wieder in den Schiitzen-
graben geschickt wurde, und daB ich verlaust war und
Menschen getotet habe, und dann, daB ich mit den iibrigen
zuriickgekommen bin, und daB der kleine Feledy im Zug
gestorben ist, und dann, daB ich in Budapest herum-
gelungert habe und versucht, nach Deva zu gelangen, und
dann, daB die Mariska Gazda nach Budapest gekommen ist
und die Nachricht gebracht hat, daB — Er schweigt, dann
sagt er: ,,Nichts. Ich hocke in einem Biiro." — ,,In was fiir
einem Biiro?" interessiert sich Vavrinec. Dann erzahlt er,
wie es war, daB er ein paar Tage bevor die Diktatur des Pro-
letariats ausgerufen wurde, die Stellung bekam. Vavrinec
rakelt sich, er mochte etwas fragen. ,,Ja, und . . . wie gehts
dir so im allgemeinen?" — ,,So — so", sagt er. Er denkt
nach. ,,WeiBt du, das ist keine Arbeit, das ist kein Leben.
Ich warte, daB irgend etwas kommt." Zum erstenmal
wahrend des ganzen Gesprachs atmet Vavrinec tief und frei
6* 85
auf. ,,Aha, du wartest auf das Ende." — ,,Sagen wir, auf
das Ende. Auf irgend etwas jedenfalls. Darauf, daB ich
lernen kann oder verdienen oder . . . verstehst du, nein?"
Vavrinec lachelt schlau. ,,Du, Toni", sagt er, ,,ich schwor
dir, ich hab einen groBen Schreck bekommen, ich dachte
schon, ich — ich war iiberzeugt, du seist auch Kommunist,
und ich Ochse pack dir da gleich alles aus und kann dann
von hier aus schnurstracks ins Kittchen marschieren!" Er
antwortet nicht, Vavrinec wird unruhig. ,,Ich hoffe, du
willst mich durch dein Schweigen bloB zum besten halten."
— ,,Sieh mal", sagt er, ,,ich bin weder Kommunist noch
Gegenrevolutionar. Ich . . . hab genug, ich war mit
drauBen, aber das kannst du nicht ganz verstehen. Na und,
warum soil ich dir nun glauben, daB ausgerechnet von eurer
Seite das kommen wird, worauf ich warte, etwas, was dcr
Miihe wert ist; bisher haben doch alle nur gelogen, nam-
lich . . . was sie gesagt und versprochen haben."
Vavrinec schweigt eisern. ,,Sieh mal", fahrt er fort, ,,ich
glaube, jetzt ist die ganze Welt krank, wir und RuBland, die
ganze Welt . . . den Krieg kann man nicht so leicht — oder
aber, alle miiBten sich zusammentun, die Kommunisten und
die WeiBen und . . . also alle." Spottisches Lacheln sitzt um
Vavrinecs Mund. ,,Du scheinst mir sehr lau zu sein", sagt er.
,,Aber vor alien Dingen hoffe ich, ich kann mich auf unsere
alte Freundschaft verlassen und brauche nicht zu fiirchten,
daB—"
Tante Anna kam den Tisch decken. Zum Abendessen
gab es Kurbisgemuse und dunkelgraue GrieBnudeln. Wah-
rend des Essens sprachen sie kaum, dann brachte Tante
Anna Bettzeug, und sic schoben fiir Vavrinec ein paar
Stiihle zusammen. Fruhmorgcns stand Vavrinec angezogen
am Fenster und sah auf die StraBe. ,,Ich hab gewartet, bis
du aufwachst, schon seit einer Stunde sehe ich, daB die
Elektrischen wieder fahren, ich werde jetzt gehen." Kdddr
zog sich auch an, bei den Alten war es noch still. Das
MSdchen brachte zwei Tassen Tee und zwei kleine Schnitten
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Brot herein. ,,Ich weiB nicht, soil ich warten, bis dein
Onkel und deine Tante aufwachcn, oder wirst du so gut
sein, ihnen meincn Dank auszurichtcn?" Er beruhigte ihn,
cr konne gehen, er wiirde ihn schon entschuldigcn. Vavri-
nec trat noch einmal ans Fenster. ,,Bitte . . . noch was. Ich
sehc namlich, da ziehen noch ziemlich viele rote Patrouillen
vorbei, und die Wache steht auch noch an der Briicke; es
ist nicht ausgeschlossen, daB man sich auf der StraBe
legitimieren muB, wenigstens gewisse Personen. Und
schlieBlich kann ich ja nicht wissen, ob mich nicht jcmand
erkennt, oder . . . man kann nicht vorsichtig genug sein.
Konnte ich das nicht hierlassen . . . nur ein paar Tage,
dann komm ichs mir holen, vielleicht sogar noch heute",
er machte die Hand auf, das griine Abzcichen lag darin.
,,Nein", sagte Kadar bestimmt, ,,das kannst du nicht hier-
lassen. SchlieBlich ist das hier nicht meine Wohnung, und
ich will meinen Verwandten keine Unannehmlichkeiten
verursachen. Aber wenn du es nicht tragen willst, dann
wirfs vielleicht in den Lichthof oder ins Klosett." —
,,Danke", sagte Vavrinec mit eiskalter Stimme, ,,das
nicht." Einen Augenblick herrschtc Stille. ,,t)brigens", sagt
Vavrinec dann zogernd, ,,zu Hause babe ich noch zwei
Abzcichen im Garten vergraben . . . vielleicht werfe ichs
doch in den Lichthof." Dann gingen sic zusammen weg.
Auf der StraBe trennten sic sich.
Die StraBe sah aus wie seit Monaten jeden Morgen,
aber im Biiro herrschte ein ziemlich groBes Durcheinander.
Gestern nachmittag, als die unfriedlichen Nachrichten die
Angestellten auseinandergetrieben batten, hatte jemand
die kleine Kasse erbrochen und ungefahr anderthalb
Tausend Kronen blaues Geld und einen Packen weiBe
Scheine mitgenommen, auch ein paar Schranke und Schub-
laden waren aufgebrochen und allerlei Schriften und Bucher
durcheinander geworfen worden, offcnbar um dem Ein-
bruch einen etwas ratselhafteren Anstrich zu geben. Das
hatte der Betreffcndc auch erreicht; denn der politische
Vcrtrauensmann qualifizierte den Einbruch, ohne weiter
zu iiberlegcn, als gcgcnrevolutionare Tat und leitete die
Hausuntcrsuchung in diesem Sinne. Noch bevor die De-
tcktive von der Roten Wache ankamen, lieB er das Biiro
schlicBen und ordnete allgemeine Schreibtisch- und Leibes-
visitation an, die er zum Teil personlich, zum Teil mit der
Hilfe zweier Freunde, besonders zuverlassiger Kommu-
nisten, sofort in Angriff nahm. Selbstverstandlich hatte die
Lcibesvisitation weder einen Sinn, noch fuhrte sie zu
einem Ergebnis. Dann kamen die Detektive, machten sich
wichtig und verhorten jedcn Angcstellten einzeln, zum
SchluB nahmcn sie zwei Biirogehilfen mit, und damit war
die Angelegenheit erledigt. Einige Tage spater stellte sich
Kadars Kollege Kovacs, der neben ihm am Schreibtisch saB,
zu ihm, ein kleiner junger Mann mit schlechten Zahnen,
von dem allgemein bekannt war, daB er zu Bcginn des
Krieges einen LungenschuB bekommen hatte und zwar
einigermaBen geheilt war, aber doch so, daB man nie wissen
konnte, in welchem Augenblick ihn die galoppierende
Schwindsucht erwischte. ,,Herr Kddar", sagte Kovacs,
,,warten Sie nachher auf mich, ich mochte Ihnen etwas
sagen." Spater kam er noch einmal wieder und bat ihn,
doch nicht auf ihn zu warten, sondcrn sich gegen vier Uhr
mit ihm am Westbahnhof an der StraBenbahnhaltestcile
zu treffen. Kovacs stand schon dort, als cr um vier an der
Haltestelle ankam. ,,Herr Kaddr", fangt er an, ,,es handelt
sich um cine sehr schwierigc Angelegenheit, und ich habe
das Gefuhl, mit Ihnen ganz vertraulich reden zu konnen."
— ,,Bittc sehr." — ,,Herr Kddar, — der Dieb ist einer aus
dem Biiro." — »Ach, nein . . . woher wissen Sie das?" —
^Also", sagt Kovacs unsicher, ,,ich vertrauc Ihnen und
hofFe, ich werde nicht in cine schiefe Situation kommen ..."
— ,,Aber", drangt er, ,,worum handelt es sich denn?" —
,,Also, horen Sic, heute friih komme ich ins Biiro, setze
mich an den Schreibtisch und will die Schublade auf-
schlicBcn: die Schublade ist offen. Na, denke ich, ist hier
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etwa jcmand draa gewescn? Ich ziehe die Schublade raus,
und gleich obcn, unter der Statistik vom Mai, finde ich einen
Packen fremdes Papier; ich sehe es mir an: und drin 1st
das Geld, das neulich aus der Kasse herausgenommen
wordcn ist. Nun also . . . cs ware doch meine Pflicht ge-
wesen, die Sache sofort zu melden und das Geld zuriick-
zuerstatten. Und das habe ich nicht fertiggebracht. Ich bitte
Sic, ich werde niemals in der Lage sein, zirka dreitausend
Kronen auf einmal zu besitzen, und . . . wissen Sic, wenn
ich einmal fur zwei-drei Monate in die Tatra gehen
konnte ..." Kadar sieht ihn an. Schweigend gehen Sie
auf dem Lcopoldsring nebcncinander her. Dann sagt er
plotzlich: ,,Wollen Sie das Geld bchalten?" — ,,Jawohl,"
antwortet der anderc, ohne zu iiberlegen, ,,ich fiirchte bloB,
derjenige, der es in meinc Schublade gelegt hat, wird Larm
schlagen!" Sie gehen und schweigcn. Kovacs atmct kurz
und unregelmaBig in der Hitze. Nie im Leben wird cr drei-
tausend Kronen auf einmal besitzen, nie im Leben wird er
in der Lagc sein, seiner krankcn Lunge rcine, tanncnduftende
Hohenluft zu schenken. Eincn LungcnschuB hat er gehabt,
in Galizien hat er sich den geholt. ,,Herr Kovacs", sagt er
plotzlich. ,,Sie miissen das Geld behalten. Derjenige, der
es in Ihre Schublade getan hat, wird sich nicht mucksen,
er wurde sich ja bloB sclbst vcrratcn. Aber achten Sie
jedenfalls darauf, nicht jetzt gleich auf Urlaub zu gehen,
sondern . . . spater. Hat jemand gesehen, wie Sie es heraus-
genommen habcn?" fugt er hinzm ,,Nein, es konnte nie-
mand sehen, niemand war im Zimmer." — ,,Behalten Sie
es, aber . . . gcschcit." Kovacs macht ein cigcntiimliches,
geriihrtes Gcsicht und sagt: ,,danke/* Komisch Idingt
dieses Wort, cr muB lacheln, der anderc bemerkt es. ,,Nam-
lich fur Ihr freundliches Zureden danke ich", sagt er,
,,glauben Sie mir, Herr Kadar, ich weiB sehr gut, was ich
bcgehc, wenn ich das Geld behalte. Aber ... ich denke mir,
meine halbe Lunge habe ich schlieBlich in Galizien gelasscn,
und droitausend Kronen wiirde ich doch nie — — " Sie
sind am Briickenkopf angelangt, plotzlich fallt ihm etwas
ein. Das kann er nicht vcrschluckcn, das muB er sagen.
,,Sagen Sic, Hcrr Kovacs, nchmcn Sic cs mir bitte nicht
iibcl . * ." er schweigt, abcr dcr andcrc kann aus dcr Be-
tonung und aus dcm plotzlichen Abbrechen cntnehmcn,
was cr fragcn wollte. ,,Um Gottes willen, Sic denkcn doch
nicht ctwa . . . ! nein, das Geld hat wirklich jemand in meine
Schublade gelegt . . ."
Mitte Juli bekam Kadar einen auf seinen Namen lautenden
Stellungsbefehl: dann und dann habe er sich da und da
zum Militardienst zu melden. Die Sache stand scblecht,
an der TheiB wurde die Proletaries Armee schon sehr von
den Rumanen bedrangt. Am Vormittag meldetc er sich
bcim politischen Vcrtraucnsmann und bat um einen arzt-
lichen Untersuchungsschcin. ,,Mir ist schwindlig, ich habe
Kopfschmerzen und Brechreiz, es kommt mir vor, als
hatte ich Fieber, ich weiB nicht, was mir fehlen mag."
Vom Stellungsbefehl erwahnte cr natiirlich kein Wort.
Zu Hause sagtc cr zu Tantc Anna: ,,Da ist dcr Stellungs-
befehl, abcr ich gehc nicht, ich hab genug davon. Ich leg
mich ins Bert und bleib so lange licgen, bis sic mich holcn
kommen odcr bis sonst was wird. Die Rumanen sollen
schon bci Szolnok scin. Wenn ihr Angst habt, gehc ich in
irgendein Krankenhaus, und wenn ich nicht aufgcnommen
werde, dann brcchc ich auf der StraBe zusammen, aber ein-
riickcn, nein, das tu ich nicht." Tante Anna schwieg ent-
setzt, aber dann rcdetc sic ihm zu, cr sollc sich nur hinlegen,
schliefllich seicn sic ja kcine Arztc . . . und dcr alte Wcbler
wiirdc schon konstaticrcn, was er wiinschc. — Er legt sich
ins Bett. Als er am nachsten Morgen bei strahlcndcm
Sonncnschein sich kerngesund dehnt und streckt, muB er
lachen. Das ist cine Kistel jctzt warte ich schon liegend ab,
was kommt. — Tante Anna pflegtc ihn cifrig, und durch
die Magd lieBcn sic im Hause vcrbrcitcn, cr habe hohcs
Fiebcr, seine Lunge sci nicht in Ordnung, — fur den Fall,
daB sie doch kamen, es kann nichts schadcn, wenn man im
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Hause von seiner Krankheit weiB. Nach fiinf odcr sechs
Tagen suchte ihn einer der Kollegen auf, der politische
Vertrauensmann hatte ihn geschickt, sehen, was ihm fehle.
Bis ans Kinn zugedeckt lag er im Bett bei der groBen Hitze.
Tante Anna lieB den Besucher erst nach ausgiebigen Zere-
monien ins EBzimmer, an sein Bett, fragte ihn, ob cr kcine
Angst habc, sich anzustecken, ihr Neffe huste namlich
so haBlich trocken. Zum SchluB bekam der Gast es wirklich
mit der Angst, aber . . . Befehl ist Befehl, — er ging zu ihm
ins Zimmer. Der Besucher war ein langcr, blonder Schwabc
namens Kuhnert, einer der groBten kommunistischen
Schreier im Biiro, der sich damit briistete, daB er ein un-
eheliches Kind sei, seine Mutter sei Tagelohnerin, und er
hatte es trotz groBten Elends aus eigener Kraft zu dem
gebracht, was er war. Doch weder die uneheliche Geburt
noch die Sache mit dem Tagelohn stimmte, aber der von
Schlagworten betorte griine Junge prahlte in sogenanntem
ProletarierselbstbcwuBtsein mit der erfundenen zweifel-
haften nicdrigen Abstammung. Kuhnert stand ergriflcn
in der EBzimmertur und sah Kadar an, der gerade auf dem
Riicken lag, die Augen geschlosscn hatte und vcrteufelt
schwitzte unter der Decke. ,,Guten Tag, Genossc Kadar",
sprach Kuhnert, ,,Sie sind doch hoffentlich nicht ernstlich
krank?" Kadar gab keine Antwort, dann preBte cr ein
groBes, trockenes Husten aus der Kehle, und danach, als
sei er jetzt zu sich gekommen, richtete er sich muhsam im
Bett auf. ,,Guten Tag, Genosse Kuhnert, na, was gibts
Ncues im Euro?" — ,,Das ist nicht wichrig, das ist neben-
sachlich", tat der anderc eifrig, ,,aber was ist mit Ihncn?
das ist wichtig!" Er winkte ab und hustete. ,,Nanu", sagte
Kuhnert und war wirklich erschrockcn, ,,tatsachlich etwas
Ernstcs?" — ,,Was Ernstcs . . . viclleicht gehts noch
glimpf lich ab . . . vom Krieg ist mir das zuriickgeblieben",
sagte er duster, und dabei begann ihn etwas in der Kehle
zu kitzeln, und nur mit groBer Anstrengung konnte er
das Lachen untcrdriicken. Kuhnert betrachtete ihn mit
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aagstlichem Gesicht, dann sctzte er sich und erzahlte, den
Einbrechcr babe man nocb immer nicht, und jetzt wiirde
man auch kaum noch seiner habhaft werden ; im Biiro und in
dcr Stadt seien bosc Geriicbtc im Umlauf, allerlei Schreckcns-
nachrichtcn baben sich verbreitet, vom nahen Sturz der
Diktatur, vom gemeinsamen Angriff der Tscbechen und
Rumanen, — na, aber das SelbstbewuBtsein der Arbeiter
wiirde zum ScbluB doch erwachen, fiigtc er trostend hinzu,
und vielleicht wiirde doch zur rcchten Zeit die befreiendc
russische Armce den Rumanen in den Riicken gelangen . . .
Dann ging er in der Uberzeugung, der armc Kadar wiirde
schwerlich den morgigen Tag erlebcn. — Tante Anna und
Onkel Rudi kamen herein, und im stillen veranstalteten sie
ein derartiges Gekicher, daB Tante Anna sagte, es schicke
sich wirklich nicht, mit so crnstcn Dingen solchen Scherz
zu trcibcn, noch dazu in so schrecklichen Zeitenl — Dann
behelligte ihn niemand mehr, und niemand suchtc ihn.
Er hatte ruhig aufstehen konnen, aber er blieb liegen.
Spielen wirs zu Ende, dachte er, und es fiel ihm ein, daB er
eigentlich gar nicht deshalb im Bctt lag ... sondern urn
nichts tun zu miisscn, um die Zcit zu verschlafen und in
den Stunden des Wachscins durchs EBzimmcrfenster das
Stiickchen blaucn Himmel anzustarren. In diescm Himmcl-
anstarren war etwas Bekanntes » . . ein ganz eigentvimliches
Gefiihl war cs : langsam bcwegt sich der Lazarettzug vor-
warts, mit schwerem Pusten klettert er den Berghang
hinauf, er liegt im unteren Bctt, — iiber ihm atmct jemand
mit kurzem abgerisscnem Rocheln, cr hat cincn Bauch-
schuB, in den beiden anderen Betten stdhncn sie, sonder-
barcrweise beidc mit ganz gleichen Verletzungen am GcsiB,
auf dem Bauch liegen sic und sind am Bctt festgebundcn, —
und durchs Fenster sieht man ein kleines Stiickchen kalten
Alpcnhimmel . . . jetzt ist es besser, hier, gesund daliegen
und warten — jetzt ist es wenigstens wahrscheinlich, daB
aus der Sachc keine Sepsis generalis wiri
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ElNIGE Tage spater war es mit dcr Diktatur dcs Prole-
tariats zu Ende. Sowie sich die Nachricht vom Sturz der
Arbeiterherrschaft verbreitete, stand er auf. Ein wenig
schwach war er geworden vom zweiwochigen Liegen,
trotzdem ging er noch an demselben Tag ins Biiro. Dort
herrschte wiiste Kopf losigkeit : sofort erzahlten sie ihm,
daB der politische Vertrauensmann von vier Biirodienern
blutig gepriigelt worden sei, die Leute von der Unfall-
station hatten ihn weggetragen, und wer wahrend des
Kommunismus einen groBen Mund gehabt habe, tue besser,
seine Nase hier nicht mehr reinzustecken. Die alten Direk-
toren der Zentrale, die von der Diktatur beiseite geschoben
worden waren, saBen wieder an ihren Schreibtischen und
beratschkgten wegen eines Rechtfertigungsverfahrens. In
den Euros ging das Redenschwingen weiter, nur vor-
sichtiger jetzt, und wenn ein Vorgesetzter durch eins der
Zimmer kam, verstummtcn alle sofort und beugten sich
iiber den Schreibtisch. Rein sozialistische Regierung, ge-
mischte biirgerliche Regierung, weiBe Regierung, Inter-
nationale Besetzung, rumanische Besetzung, — davon war
die Rede. Und davon: was auch immer komme, eins sei
sicher: die Verbrechen der Diktatur konnen nicht un-
geahndet bleiben. Sonderbarerweise war innerhalb von
Minuten und Stunden ein jeder zu einem Opfer der Prole-
tarierherrschaft geworden, jeder hatte plotzlich ein mehr
oder weniger gut oder schlecht gelungenes Abenteuer
hinter sich, mit den Leninschen oder mit seinem kommu-
nistischen Hausmeister oder mit cinem roten Agentcn;
und fast jeder hatte irgend jemanden, der mit knapper
Miihe mit dem Leben davongekommen war, als eines
Abends . . . und so weiter. Auf den StraBen war Gedrange,
berittene Polizisten in Paradeuniform zogen durch die Stadt,
Offiziersuniformen mit den strahlenden Sternen am Kragen
tauchten auf, die roten Fahnen verendetcn, in Fctzcn
zerrissen, auf dcm Misthaufcn, und die kommunistischcn
Plakatc waren von den Mauern abgewaschen. Aber sofort
wurden an ihre Stelle andere Plakate geklebt: die Worte
warcn anders, der Sinn der gleiche. Anstatt der roten Kehle
schrie die weiBe Kehle an alien StraBenecken Tod, an
Stelle der roten Faust drohte die weiBc Faust den Atem in
die Brust der StraBc zuriick, ganze Hauserreihen cntlang.
Auf dem Ring boten StraBenhandler sofort Schokolade
und Zigaretten feil, aber an der Peripherie schleppte man
in blutigen Tumulten halbtotgeschlagene Menschen in die
Hausflure. Mordgeruch verbreitete sich in der Luft, die
ganzc Stadt summte, und doch, fiel irgendwo ein lauteres
Wort, dann fingen die Menschen an zu renncn, — einer
sah den andern miBtrauisch an, und dennoch, wenn irgend-
wo drci stehenblieben, so scharten sich sofort weitcre
dreiBig um sie. Zeitungen, nur ein Blatt stark, heulten
Rache, und in den Schaufenstern der wieder croffneten Bank-
geschafte erschicn cine mcrkwvirdige Ncuigkeit: Die Zii-
richer Notierung der ungarischen Krone, — das stand oben
auf einem Blatt Papier. DCS Nachts konnte man wieder
SchieBen horen. — Und dann zogen bei einer lautcn, ab-
gerissenen, kecken, ein wenig barbarisch klingcnden Trom-
petcn-Melodie Rumanen iiber die Andrassy-StraBe.
Die Rechtfertigungssachc im Biiro ging sehr leicht.
Hcrr Huber, Mitglied des Rechtfertigungsausschusses,
fliistertc dem AusschuB-Prasidenten etwas zu, als Kadar
vor den langen Tisch des Sitzungssaales trat. Einmal stand
ich schon vor einem solchen langen Tisch, bloB ist auf diesem
hier griincs Tuch. ,,Nicht wahr, Sie haben das Amt eines
politischen Vcrtraucnsmanncs abgelehnt?" sagte der Prasi-
dent. ,,Ja", antwortetc Kadar. ,,Sic haben sich, nicht wahr,
am dreizehnten Juli im Biiro krank gemeldet und im Bert
gelegen, aber nur mit dem Zweck, dem roten Stcllungs-
befehl nicht Geniigc tun zu miisscn?" — »Ja." — ,,Sie
waren seinerzeit im Kriege Soldat, nicht wahr?" — ,,Ja-
wohl." — ,,Ihr Rang?" — ,,Fahnrich." — ,,Dankc." —
Ungefihr zehn Kollegen, daranter auch Kuhnert, wurden
hinausgeworfen, damit war die Angelegenheit erlcdigt.
Nach einigen Tagen setzte die sogenannte Reorganisations-
arbeit ein, die in der Hauptsache darin bestand, daB die
Korrespondenz und die sonstigen Papiere, die sich seit
dem einundzwanzigsten Marz angehauft hatten, in einen
besonderen Schrank geschlossen wurden. Um die Schreib-
tische herum bildeten sich genau so Gruppen wie vor einem
Monat, aber jetzt wurden die Tagesereignisse nicht mehr
aus dem Gesichtswinkel des orthodoxen Marxismus oder
der Proletarier-Moral diskutiert, sondern unter den Schlag-
worten vom verlorenen Krieg, vom auferstehenden
Kapitalismus und von der nationalistischen Erneuerung.
Anfang September kam dann aus authentischer Quelle
die Nachricht, die Regierung wiirde die Metallzentrale
liquidieren. Es vergingen kaum ein-zwei Tage, und ein
groBer Teil der Beamten, unter ihnen Kadar, erhielten
tatsachlich die Kiindigung fiir den ersten Oktober. Er be-
trachtete den Brief, an dessen SchluB stand, wegen der
gesetzmaBigen Abfindung konne er sich dann und dann
da und da melden. Im iibrigen fiihlte er etwas wie Be-
freiung. Also werde ich Herrn Demjen und Herrn Zoller
und Herrn Kovacs mit seincn dreitausend Kronen nicht
mehr sehen, wenigstens nicht mehr in diesem Biiro, und
die blonde Manci und die braune Kato. Ich werde von den
Rubrikbogen und den Zahlenkolonnen Abschied nehmen.
Allerdings auch von den monatlichen sechshundert Kronen.
Er ging nach Hause, teilte den Alten mit, daB er ent-
lassen sei, daB er cine Abfindungssumme bekommen
werde, und auch das sagte er, daB er auf der Technischen
Hochschule Architektur studieren wolle. — Seine Papiere
hatte er alle ordentlich beisammen, dazu legte er noch das
Schriftstuck, das sein vaterlandstrcues und sittliches Be-
tragen wahrend der Diktatur des Proletariats im Amt
bescheinigte, und eines Morgens stand er vor dem Eingang
der Technischen Hochschule. — Hicr war offensichtlich
95
etwas nicht in Ordnung. Auf dem Platz vor dem Geb&ude
lockere Gruppen streitender, larmender junger Leute, am
Donauufer zwei oder drei groBere Gruppen; auch einen
Rettungswagen mit der griinen Fahne sah er und einen
ziemlich groBen Trupp rumanischer Soldaten. Von Zur-
Verantwortung-Ziehen auf der Universitat, von Schlage-
reien horte man Gerede, — na, das diirfte ihn schwerlich
interessieren. Im Tor standen zwei junge Leute mit Stu-
dentenmiitzen. Sie sahen ihm ins Gesicht. ,,Immatriku-
lation?" — ,,Ja." — ,,Bitte." In der Vorhalle, wie er auf
der Treppe bei der Miindung des Flurs angelangt ist,
umringt ihn plotzlich cine groBe Gruppe. ,,Kommilitonen-
ausweis?" — ,,Hab ich noch nicht", sagt er, ,,ich will
mich gerade einschreiben lassen." — ,,Erstes Jahr?" —
,,Jawohl.'* — ,,Taufschein!" Er greift in die Tasche nach
seinen Papieren. ,,Antal Kadar?" hort er in diesem Moment
eine bekannte Stimme. Er blickt auf: drei Schritt von ihm
steht Vavrinec. Einen Augenblick sehen sie einander an,
dann zeigt Vavrinec mit ausgestrecktem Arm nach ihm
und schreit: ,,elender Kommunist!" Die Wimpern zucken
ihm, er kriegt zwei wahnsinnige Ohrfeigen, an der Schultcr
fiihlt er so etwas wie damals beim Granatsplitter und saust
die Treppe hinunter, noch da unten fiihlt er, daB jemand ihn
in die Seite tritt. — Einige Tage hindurch hatte er ununter-
brochen Visionen von Vavrinec, wie er nach ihm zeigt,
und hort seine Stimme: ,,elender Kommunist!" Dann kam
er wieder zu sich, es wurde ihm besser; der Schlag mit dem
Gummikniippel hatte ihm zwar den Schulterknochcn
gebrochen, aber der Bruch wuchs ohne Komplikationen
zusammen, auch der FuBtritt hatte keine weiteren Folgen
als einen lila-griinen Fleck in der GroBe einer Schuhsohle
an der Hiifte.
Ruhig lag er im Krankenhausbett, als die Alten ihn
besuchen kamen, von der Geschichte sprach er nicht. Nur
als Tante Anna eines Nachmittags an seinem Bett zu weinen
anfing: ,,Toni, Tonichen, das ist Gottes Strafe, weil du
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gesund im Bett gelegen hast !", da kam er ein wenig in Rage :
,,WeiBt du, Tante Anna, moglich, es ist Gottes Strafe, abef
auch dann bloB darum " Auf das laute Sprechen kam
sofort die Pflegerin: ,,Bitte, meine Dame, regen Sie doch
den Kranken nicht auf", — und da schwieg er auch. Im
Krankenhaussaal lagen sie zu vierundzwanzig, Operierte
und hauptsachlich solche, die einen StraBenunfall erlitten
batten. Sein Bett stand in der Ecke des Saals unter dem
hoben Fenster, neben ibm lag ein apathiscber alter Mann
mit provisorischem Verband um den zerschnittenen Baucb.
Er wandte den Kopf zur Seite und betrachtete den Alten,
der seit Tagen im Sterben lag. In langsamen, scbweren Ziigen
atmete er die Luft ein und blies sie in kleinen rochelnden
StoBen wieder aus. Die Augen hatte er geschlossen, von
Zeit zu Zeit offnete er den Mund und verzog ibn scbmerzlich
zu einer lautlosen, furchterlichen Klage. Diesen alten Nach-
barn besucbte tagelang kein Mensch; wenn die ubliche
Tagesvisite kam, nickte ein junger, blonder Arzt mit einer
anerkennenden, knappen Kopfbewegung nacb dem Alten
bin, als wollte er sagen, schau, schau, Sie leben noch? das
ist aber wirklich schon. Eines Morgens wurde dann eine
spaniscbe Wand vor das Bett des Alten gestellt, der Wagen
mit den Gummiradern rollte heran, das Bett wurde friscb
iiberzogen, und abends legten sie einen jungen Burscben
hinein, der von der StraBenbahn iiberfahren und dessen
Bein unterhalb des Knies amputiert worden war. Der
Junge war bewuBdos und keucbte wie ein gehetzter Hund
in der Hitze, und mit diinner, weinerlicber Kinderstimme
stohnte er in einem fort: ,,Mama . . . Mama . . ." Zwei
Betten weiter saB ein Mann mit rotem Gesicht im Bett,
sein ganzer Korper war eingewickelt. Er erzahlte, im
Schlachtbaus sei ein eben getoteter Ochse auf ihn gefallen
und babe ihm die inneren Teile zerquetscht, die Pflegerin
indessen sagte, auf dem Ferenc-Ring babe man ibn von der
Elektriscrwn gezerrt, verpriigelt, und so sei er hergekom-
men. Der mit dem roten Gesicht fragte bei jeder Gelegenheit
95
mit lauter Stimme den schwarzhaarigen Arzt: ,,Herr
Doktor, haben Sie die Knochen fur den Hund bekommen?
ich habs angeordnet, daB Ihnen die Knochen fur den Hund
geschickt werden." Auch ihn lieB er durch die Pflegerin
fragen, ob er keinen Hund habe, und wenn ja, ob er dann
Knochen fiir den Hund wolle. Noch ein lauter Kranker
war da, von dem wuBte er nicht, was ihm fehlte, der lag am
andern Ende des Saales, und wenn er gerade nicht im
Morphiumrausch war, sagte er laut, aber ganz mechanisch
monoton vor sich bin: ,,Sandor, ich halte das nicht aus,
Sandor, ich halte das nicht aus." — Diese Dinge regten ihn
nicht auf. Was war so ein stiller Krankensaal mit seinen
Blinddarmen, Armbriichen und von der StraBenbahn
Uberfahrenen im Vergleich zum Verbandplatz hinter der
Piave oder zum Innsbrucker Militarspital Aushilfsstelle II B I
Hier war ja niemand mit ausgelaufenen Augen, mit heraus-
hangenden Eingeweiden, mit einer abgerissenen Backe,
mit zersplitterter Hiifte, mit Zuckungen des Nervenschocks
oder mit der todlichen Erstarrung vom Luftdruck. Hier
konnte man ruhig liegen und die weiBgetiinchte, hohe
Decke anstarren, und auch hier gab es ein kleines Stiickchen
blauen Himmel, wenn er auf dem Riicken lag, den Kopf
ganz hoch hielt und zum obersten Teil des Fensters hinauf-
blickte. Vavrinec hatte ihn verpriigeln lassen, — elender
Kommunist, — das war wegen des griinen Abzeichens,
das er in den Lichthof werfen muBte. Immerhin war ich
in der Technischen Hochschule, schlieBlich ... hat das noch
nichts zu bedeuten. Wenn ich das Semester nicht verpasse,
lasse ich mich noch immatrikulicrcn. Vavrinec wird ein-
sehen, daB ich die Priigel nicht verdient habe. Taufschein!
— bitte. Bitte sehr, Ihre Papiere sind in Ordnung, Herr
Kollege. Ich glaube nicht, daB Vavrinec mir die Ohrfeigen
gegeben hat, aber ganz bestimmt hat mich einer von hinten
auf die Schulter genauen, oder wenigstens von der Seite.
Sie batten mich ebenso gut auf den Kopf schlagen kdnnen,
die Italicner haben auch nicht gcfragt, wohin sie schieBen
diirfen, die Kugel 1st mir auch in die Schulter gegangen,
hatte ebenso gut in den Kopf gehen konnen. Dem Kovdcs
ging sie in die Lunge. Vielleicht ist der schon in der Tatra
mit seinen Dreitausend, Frage, ob er mit dem weiBen Geld
etwas anfangen konnte, denn weiBes war auch dabei,
sogar mehr als blaues. In der Tatra kann man gesund werden,
hier auch, ich bleibe auch gar nicht mehr lange. Ich will
lernen und will Geld verdienen, vielleicht besuche ich die
Mariska Gazda in Wien oder in Italien, jetzt kann man
schon nach Italien, es ist ja kein Krieg mehr. Frieden ist,
und der Kommunismus hat auch aufgehort, jetzt kann man
das Leben beginnen.
Eine der Pflegerinnen, ein groBes Madchen mit schwar-
zem Haar, ging tagsiiber oft zu ihm, stellte sich an sein
Bett und sprach ein paar Worte mit ihm. Wenn aber
Schwester Agota Nachtdienst hatte, dann saB sie stunden-
lang unten auf seinem Bett, und beim Schein der blauen
Lampe unterhielten sie sich leise. ,,Na, jetzt miissen Sie
schlafen", sagte das Madchen manchmal, blieb aber auf
dem Bett sitzen, und das Gesprach ging weiter. Oft dam-
merte es schon, wenn er einschlief, aber er war nicht miide,
— er konnte ja auch am Tage schlafen, wenn er wollte.
Ein hiibsches Gesicht hat sie, dachte er, auch schone,
schmale Hande, ich kann mir nicht denken, daB sie diese
schrecklichen Kranken damit anriihrt. Ihr Haar ist schon,
unter der Haube sieht man, daB sie es in Schnecken an den
Ohren tragt. Aber sie ist kleiner als ich. — Eines Nachts
ergriff er ihren Arm, so daB er mit den Fingern auch ihre
Brust beriihrte, wie damals bei Mariska Gazda. Schwester
Agota wehrte es nicht ab, sie driickte sogar mit dem Arm
seine Hand an ihren Korper, — von da an setzte sie sich
nicht unten aufs Bett, sondern so, daB sie einander leicht
erreichen konnten, und dann hick er manchmal die halbe
Nacht ihre Hand und griff ganz mutig an ihre Brust, und
das Madchen striubte sich nicht dagegen, — aber trotzdem,
hier im Krankenhaus, auf dem Krankenbett wagte er doch
7 KOrmendi, Budapest 97
nicht mit ihr anzufangen. Als er indessen Anfang Oktober
cntlassen wurde, sagtc cr bcim Abschicd zu Agota: ,,Sagen
Sic, wiirden Sie nicht einmal mit mir . . . spazierengehen?"
Eines Sonntags nach dem Essen ging cr sie im Kranken-
haus abholen; sic trug ein brauncs Kostiim und cinen
braunen Filzhut. Die Sonne schien, die Luft war fein und
lau. ,,Wollen wir ins Nationaltheater gehen?" fragte er das
Madchen. ,,Bei dem schonen Wetter ins Theater . . . nein,
gehcn wir lieber spazieren und in einer Konditorei Kaffee
trinken, und wenn Sie wollen, konnen wir spater auch
noch ins Kino gehen", sagte sie und fiigte plotzlich hinzu :
,,Geld habe ich", und lachte. Er wurde rot. ,,Wo denken
Sie hin . . . Geld habe ich auch!" und dabei dachte er,
was fur ein Gliick, daB es Onkel Rudi gelungen ist, das
weiBe Geld bei einem bekannten Eisenbahnkassierer in
Postgeld umzuwechseln. — Sie gingen die Rakoczi-StraBe
entlang bis zum Ostbahnhof, dann weiter in den Stadtwald.
Schon war der Herbstnachmittag ; auf den Promenadcn
ein Gewoge von Menschen, vor und hinter ihnen liefcn
Kinder hin und her. Auf einer Bank saB cine dicke Frau
und saugte ein Kind mit kohlschwarzem Haar. ,,Mein Gott,
wenn ich ein Kind haben konnte", sagte das Madchen und
hing sich bei ihm ein, ,,aber das geht nun mal nicht." Wie
warm ihr Arm ist, dachte cr; ,,warum geht das nicht?"
fragte er dann dumm und taktlos, aber sie kam nicht in
Verlegenheit. ,,Es geht nicht, weil . . . na, weil es eben
nicht geht, Sie Dummchen. Einmal war es schon bcinahc
so weit und . . . also, darum kann es nicht mehr scin."
Rote Glut lief ihm durch alle Glieder. Einmal war cs schon
fast so weit: das heiBt also, daB — Sic setztcn sich auf cine
Bank, er dachte fortwahrcnd daran, daB es einmal schon
fast so weit war, dann umarmtc cr das Madchen, zog sie
an sich — cs dunkcltc schon — und kiiBtc sie. Sic cmpfing
seincn Mund mit geoffneten, darbictenden und emp-
fangcndcn Lippcn, — cincn gutcn, rcinen, kiihlen Ge-
schmack hat ihr Mund, die Erzsi vom zwcitcn Stock habe
ich nie gekiiBt ... — da stand das Madchen plotzlich auf.
,,Das mag ich nicht", sagte sie, ,,das ist Dienstbotenstil,
so im Stadtpark auf einer Bank. Gehen wir ins Kino." —
Sie setzten sich in ein Kino in der Arena-StraBe, ,Lustspiel-
Abend* kiindete ein Plakat an. Das Kino war gedrangt voll,
heiB, und es stank. Agota lachte herzhaft iiber die Filme,
,,ich schwarme fiir Burlesken", sagte sie, zwischendurch
preBten sie einander die Hande. Als die Vorstellung zu
Ende war, aBen sie in einem Cafe schlechtes Geback und
tranken Kaffee, dann stand das Madchen auf: ,,jetzt gehen
wir nach Hause." — ,,Nach Hause?" fragte er mit er-
schrockenem Beben in der Stimme. ,,Natiirlich, Sie Dum-
mer", lachte sie ihn aus, ,,natiirlich gehen wir nach Hause,
aber nicht zu Ihnen, ich weiB, Sie wohnen bei diesen Alten,
zu mir. Oder wollen Sie nicht? . . ." Er legte seine Hand in
Agotas Arm und antwortete nicht; sie brachen auf. Ein
wohliges Gefiihl hatte er in der Brust, — wir gehen nach
Hause. In wenigen Minuten waren sie an einem groBen
Mietshaus angekommen, hier wohnte sie. In der dritten
Etage traten sie in eine winzig kleine Diele und von dort
in ein hiibsches, sauberes, groBes Zimmer. Im Zimmer
standen viele Mobel, ein EBzimmertisch, zwei Schranke,
Stiihle und auBer dem Bett auch noch eine Chaiselongue.
Er zeigte auf die Chaiselongue: ,,wohnen Sie nicht allein?"
— ,,Selbstverstandlich nicht, ich wohne mit meiner
Sch wester zusammen, sie ist auch Pflegerin, jetzt hat sie
drei Tage Urlaub und ist nach Palota gefahren zu ihrem
Brautigam." Agota lachte, sie war guter Laune und hiipfte
im Zimmer umher, machte Ordnung, schliipfte in ein
Hauskleid, holte aus einer kleinen Kiiche etwas Kaltes zu
essen und stellte noch einen Rest Rum dazu auf den Tisch;
,,andere GetrSnke habe ich nicht, macht das was?" —
»I wo, das macht gar nichts." Als er sich dann an den Tisch
gesetzt hatte, trat das Madchen hinter ihn und faBte ihn
bei den Schultern. ,,Du weifit doch, daB du vor morgen
friih nicht hier weggehst? nachts iiber die StraBen zu gehen
7* 99
ist verbotcn, ich bin ja so froh, daB du die ganze Nacht hier
bleibst!"
Gegen Morgen wachtc er auf ; es war noch dunkel,
von der StraBe horte man cine Weile das Raderquietschen
eines schweren Wagens, dann war es wieder still. Agota
lag auf seinem ausgcstrcckten rechten Arm, mit schmal
zusammengepreBtem Mund schlief sie. Plotzlich taumelte
groBe Traurigkeit in seine Brust, doch war es nicht die
iibliche auf die Umarmung folgende Tristitia. Er betrachtete
die schlafende Frau von der Seite, ihr aufgelostes, dichtes,
schwarzes Haar und das im Halbdunkel blaB leuchtende
schone, ovale Gesicht. Herr Gott, wie komme ich zu dieser
Frau, zu dieser besseren Gattung? Gcohrfeigt haben sie
mich, die Schulter haben sie mir zerbrochen, mich mit FuB-
tritten hinausgeworfen . . . ob ich word noch einmal hin-
gehen kann und ihnen sagen, meine Herren, hier muB
ein Irrtum vorliegen? Ich bin Antal Kddar, Fahnrich im
Krieg, hab eine Schulterwunde, kleine und groBe Silberne
Tapferkeitsmedaille und das Karls-Kreuz, bin zwanzig
Jahre alt, reformiert, war nicht Kommunist, das beweisen
Dokumente, und das kann ein Mitschiiler von mir namens
Istvan Vavrinec beweisen, ich will zu euch, ich mochte
studieren und Architekt werden im . . . im Interesse des
ungarischen Vaterlandes und urn . . . Geld zu verdienen,
ich habe auch Talent zu diesem Fach, ich werde euch
bcstimmt keine Schande machen ... — Sein Arm zuckte,
durch die Bewcgung fuhr das Madchen auf, sie setzte sich,
und mit runden, etwas crschrockenen und fremden Augen
sab sie ihn einen Moment erstaunt an, dann hiipfte ein
leises Lachcn iiber ihre Lippen, sie warf sich wieder hin
und schmicgte sich an ihn. Um halb acht brachen sie zu-
sammen auf; iiber Nacht hatte es sich bewoikt, und jetzt
spriihte langsam der Regen. Sie gingen zu FuB auf das
Krankenhaus zu, Agota hing sich bei ihm ein und sprach
zartelnde kleine Dummheiten. ,,Donnerstag bin ich wieder
frci, dann kommst du mich mittags abholen, und wir gehen
TOO
direkt nach Hause, ja Haschen, nicht wahr, wk brauchcn
doch nirgcnds hinzugehen? Marta wcrdc ich bitten, sic
mochte den Nachtdienst iibernehmen, das wird sie tun,
ich tus auch immer fur sie, nicht wahr, das wird schon sein,
mein Liebling?"
Nach acht Uhr langte er zu Hause an : die Alten saBen im
EBzimmer, und Tante Anna hatte dunkle Rander unter den
Augen von der Aufregung und vom Wachen. ,,Aber Toni,
Kind, um Gottes willen, es ist dir doch nichts passiert? ich
habe kein Auge zugetan, so habe ich mich um dich ge-
angstigt, du bist doch kaum erst gesund!" Er zwang sich
zu freiem, unbefangenem Ton. ,,Nichts fehlt mir, Tante
Anna. Aber . . ." er schwieg und sah vor sich auf die Erde.
Vavrinec konnte es bezeugen, aber er wird es nicht tun,
im Gegenteil. — ,,Tante Anna, Onkel Rudi, eine groBe
Neuigkeit. In der Nacht ... die ganze Nacht habe ich iiber
diese Sache gesprochen und beratschlagt. Ich gehe nach
Wien, auf die Universitat. WiBt ihr, eine Stelle habe ich
nicht, hier werde ich an der Universitat nicht aufgenommen,
aber selbst wenn man mich mit Honigseim lockte ... ich bin
zwanzig Jahre alt, etwas muB ich anfangen."
Onkel Rudi lauschte dieser Rede mit miBtrauischem
Gesicht. Hier stimmt etwas nicht ganz, der Junge hat wieder
irgendeine Torheit vor. In Tante Anna wurde sofort das
ganze Orchester des Protestes laut: ,,Um Himmels willen,
liebes Kind, wie stellst du dir derm das vor, in einer fremden
Stadt? woher nimmst du das Geld, wo wirst du wohnen?
ja, und wie wirst du leben unter fremden Menschen?!"
Mit kurzen, klugen und fast kiihlen Worten antwortete er.
,,Was habe ich hier zu tun? wie kann ich hier leben und
wie lange, euch auf der Pelle? Ihr wiBt, ich habe versucht
unterzukommen, ihr wiBt, wie das ausgegangen ist. Von
der Metallzentrale bin ich entlassen worden, — konnt ihr
mir eine andere Stellung, eincn anderen Beruf verschaflFen?
Na, seht ihr." Die abratenden Worte und Argamente
flaucn plotzlich ab. ,,Ja, da drauBen ist die Welt doch
101
anders, war es auch immer", sagt Onkcl Rudi. ,,Beim Mili-
tar haben sic auch nicht gefragt, liebes Kind, wie stellst du
dir das denn vor in cincr frcmden Stadt . . . Er soil seine
Sache nur machen, wie cr cs fur am bcsten halt, so gut er
es kann. SchiieBlich ist er ja ein erwachsener Mensch, er
kann die Verantwortung iibernehmen ..."
Am Nachmittag meldete er sich in seinem friiheren Biiro,
wo sic — durch Onkel Rudi — so viel von ihm wuBten,
daB er einen StraBenunfall gehabt hatte. Sein alter Conner
hatte sich anscheinend wieder fiir ihn verwendet: die Ab-
findung von drei Monaten wurde um einen Monat ver-
langert, er bekam zweitausend Kronen in die Hand in
guten Zwanzigkronennoten. Als er nach Hause kam, zeigte
er das Geld. Davon werde ich in Wien lange leben. Fiir
Reise, Papiere und kleinere Anschaffungen werden ein paar
hundert Kronen draufgehen. DieAlten nehmen sicher keinen
Heller von mir an, — von dem Geld kann ich in Wien
lange leben.
Am nachsten Tag packte er seine Papiere zusammen
und bat auf der Polizei um einen PaB. Ein gutes Vorzeichen :
der Beamte im PaBbiiro, der ihm seine Papiere abnahni,
warf einen Blick in den Taufschein und sagt, ,,sieh mal
einer an, bist du vielleicht der Sohn vom alten Toni
Kadar?" Die Bekanntschaft stellt sich heraus; cine Stunde
spater ist der PaB fertig. Es gibt cine Rubrik: fiir welche
Lander ist der PaB giiltig? — da hinein schreibt der Beamte :
Europa. Europa, denkt er, ich reise nach Europa. Ich reise
ins Leben.
Auf dem osterreichischen Konsulat ging die Sache
schon schwerer. Zunachst dauerte es stundenlang, bis er
ins Amtszimmer gelangte, dann verweigerte ein kleiner
Herr mit einem Bart wiitend gestikulierend das Visum:
,,wir brauchen keine Leute, die uns das Brot wegessenl
ohnc Vcrmogensausweis bewillige ich die Einreise nicht 1"
Er zog den Packen Banknoten aus der Tasche; der mit dem
Bart starrtc ihn an und fing mcckernd an zu lachcn, ,,Sic
102
Kind, Sic Kind, na, halten Sic mich nicht auf, welter!"
Im Treppenhaus — er taumelte aus dem Amtszimmer wie
vor den Kopf geschlagen — tritt ein machtiger, dicker
Mann mit rotem Gesicht nebcn ihn. ,,Kein Visum, was?"
fragte er, wie er ihm in das beklommenc, nicdergeschlagene
Gesicht blinzelte. ,,Hcr mit dem PaB, junger Mann, und
dort hinter der Saule auf mich gewartetl Zwanzig Kronen
und die Spesen!" Er iiberlegtc keinen Augenblick, driickte
dem Dicken den PaB und zwei Zwanziger in die Hand und
stellte sich hinter die Saule. Vor dem Eingang steht die
Menschenschlange, und wie ein eigentumliches Zeitsignal
offnet sich in Abstanden von ein paar Minuten die braune
Tiire, die Schlange bewegt sich, riickt vor, und ganz vorn
an der Tiir stehen andere Menschen. Eine Frau mit braunem
Kopftuch, ein Herr mit steifem Hut und ein Bankbote oder
sowas mit einer Miitze und eine Dame mit einem kleinen
Jungen, der Rote ist nirgends. Ich Esei, jetzt bin ich an
einen Schwindler geraten, und auch mein PaB ist futsch . . .
ach, Unsinn, der verschaffts mir gewiB, das ist dessen Beruf
. . . wars nicht leichter, sich mit dem Geld davonzumachen,
den PaB kann er wegwerfen oder zerreiBen. Auf einmal
steht dann der Dicke neben ihm, driickt ihm den PaB in
die Hand und auch noch ctwas Kleingeld. ,,Wenn Sie
wieder mal sowas brauchen, oder ein Bekannter, Sie finden
mich hier oder bei den Tschechen, fragen Sie nur nach
Biichler. Zwanzig Kronen und die Spesen, billig, was?"
Soweit ware die Sache nun also in Ordnung. Am nachsten
Tag ging er friih an die Bahn und erkundigte sich nach
den Ziigen. Infolge des Kohlenmangels verkehrt nur ein
Zug nach Wien, Abfahrt morgens sieben Uhr. Also mit
dem werde ich fahren. Er liest eine grofie Tafel, auf der die
Abfahrtzeiten der Ziige angegeben sind. Richtung Wien:
700. Heute geht noch ein Zug, nach Szeged. Vor dem ein-
zigen geoffneten Schalter stehen die Menschen in einer un-
absehbaren Schlange. Polizisten, rumanisches Militar. Auf
dem leercn Bahnhof Eisenbahngeruch. In dem Moment
103
spurt cr das Rciscfiebcr; er geht durch die Vorhalle, will
auf den Perron, die Tiir ist geschlossen. Er tritt in den
Wartcsaal dritter Klasse, durch das Fenster betrachtet er
die paar leeren Waggons, die auf dem ersten Gleis stehen.
Ich reise. Nach Wien, nach Europa. Ins Leben.
Auf dem Heimweg kauft er in der Rakoczi-StraBe vier
Hemden, vier Unterhosen, vier Paar Striimpfe, einen
Schlips, ein halbes Dutzend Kragen und einen grauen
Wintermantel. Der Verkaufer sagt bei allem: ,,Bitte, mein
Herr, allerfeinste Friedensware; sehen Sic sich bitte diese
Striimpfe an, echt fil d'Ecossc, und dieser Mantel, bitte
sehr, das ist echter englischer Friedensstoff." Langsam
ging er weiter, und als er zu Hause ankam, war das Paket
schon da. Er machte es auf, legte die Sachen zurecht, holte
aus dem Schrank im Flur seinen iibrigen Krimskrams,
spielte damit wie ein Kind. Tante Anna sah ihm kopf-
schiittelnd, mit triib werdenden Augen zu. ,,Ich kann es
gar nicht glauben, daB du wirklich weggehst, Toni." Aus
der Kammer holte sic einen schonen groBen braunledernen
HandkofFer. ,,WeiBt du, Toni, diesen Koffer hat Onkel
Rudi friihcr benutzt, wenn er auf langere Dienstreisen
ging . . . wir schenken ihn dir, er soil dich begleiten auf
deinem Weg zum Gliick." Sic sah zu, wie er in den Sachen
kramte. ,,Du packst doch nicht etwa schon? Wann willst
du denn reisen? Ich muB dir doch erst deine Wasche
waschen lassen und deine Anziige in Ordnung bringen!"
Er sagt es heraus : er will reisen, sowie cr fcrtig ist, morgen
lost er sich schon die Fahrkarte. Tante Anna macht sofort
ihren Ausstaffierungsplan, gibt dem Madchen die Wasche,
sie solle sich noch hcute in die Kiichc stellen an den kleinen
Trog; und sic sclbst macht sich sofort iiber die Anziige
her, biirstet sie aus, entfleckt sie und naht Knopfe an.
Friihcr vor den Versctzungspriifungen hatte er in der-
artigcm Taumel gelcbt wie jetzt. Wie war das nur gekom-
mcn . . . mit Wicn? Wie war ihm das so plotzlich ein-
gef alien, nach Wien zu gehen? Als er da ncben Agota kg
104
und sic noch schlief, da dachte er, in Budapest kann man
diese ganze Sachc nicht fortsetzen, das heiBt, nicht an-
fangcn, — ich wollte nach Deva gchen, und cinmal war ich
... in Innsbruck. Und da war es ihm klar, daB er weg muB
aus Budapest, nach Deva zieht ihn jetzt nichts mehr, und
in Innsbruck war er im Kriegsspital ; nach Wien werde
ich gehen, — das ist nahe, und ich war noch nicht in Wien,
eine groBe Stadt, dort nimmt man mich sicher an der
Technischen Hochschule auf. Fahnrich Kadarl mit der
Sehnsucht nach Studium, Geld und Leben, den gegeniiber-
liegenden Grabenabschnitt, der von Wien
Donnerstag mittag nach dem Essen, bevor der alte
Herr in sein Schlafzimmer ging, trat er vor ihn hin. ,,Onkel
Rudi, ich komme heute nicht nach Hause." — ,,Nanu?"
Er sah ihn groB an. ,,Namlich, ich habe ein . . . jemanden,
und da ich doch wegreisen werde ..." — ,,Gut, gut",
Onkel Rudi wandte verschamt den Blick ab, ,,schon gut,
geh nur, der Tante werde ichs schon . . ." Rosiger Laune
spazierte er im Nachmittagssonnenschein auf das Kranken-
haus zu. Schones, langes, schwarzes Haar hat sic, auch ihr
Haar riecht gut. Plotzlich brach die gute Stimmung ab.
Soil ich ihr sagen, daB ich verreise und daB ich wahrschein-
lich nicht mehr ... — Er blieb stehen, ein stechender
kleiner Schmerz erstarrte ihm in der Brust. Ich habe
jemanden, kaum habe ich jemanden . . . du lieber Himmel,
Vater und Mutter sind gegangen, Mariska Gazda kam und
ging, und der kleine Feledy, auf den ich aufgepaBt habe,
er ist auch gegangen, und Tante Anna und Onkel Rudi,
von denen gehe ich weg, und nun auch von der Agi . . . Er
konnte nicht weitergehen und blieb minutenlang am Rande
des FuBsteiges wie gelahmt stehen und fiihlte nur: ich gehc
weg und verlasse sie, kaum daB ich jemanden habe.
Frisch trat das Madchen aus dem Tor des Kranken-
hauses, sie hatte das braune Kleid von neulich an, in der
Hand ein kleines Paket. ,,Mcin Mittagessen, das heiBt,
etwas Kaltes haben sie mir stattdcssea eingcpackt, ich habe
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namlich gcsagt, der Magcn tut mir wch, ich kann jetzt
nicht essen. Gebadct babe ich auch, deshalb komme icb
etwas spater, wir Pflegcrinncn haben namlich Anspruch auf
cin Bad/* Sofort nahra sic scincn Arm, rcdete, lachte,
,,guck mal, was fiir cin groBcr Mann, och, so groBe Manner
mag ich nicht, bloB solchc wic du; sag, Toni, hast du mich
lieb? Ich meine, liebst du mich wirklich odcr nur so . . ."
Auf cinmal sagtc sic dann: ,,du, warum bist du so schlecht
gelaunt?" Schnell jagtc cr cin Grinscn iibcr sein Gesicht,
,,ich? wieso denn, ich bin doch nicht schlecht gelaunt.'* —
,,Du, mach mir nichts vor, sag mir sofort, was du hast!" —
,,Aber, Liebling, wirklich ..." — ,,Du, sag nicht Liebling
zu mir, wenn du nicht erzahlen wills t, was du hast!" Sie
qualte und bettelte, — er hatte schon Angst, das Wort
wiirde ihm cntschliipfen : ich werde dich verlassen! Und
wie er diesen bosen Satz verscheuchte, begann langsam,
ganz langsam, wie aus einem gesprungenen Glas aus seinem
Mund die Rede zu quillen, immer schneller sprach er, und
wic der Widerstand nach und nach abbrockelte, stromte
alles aus seinem Innern heraus. Als cr mit der Marsch-
kompagnie ins Feld aufbrach: dort fing er an. Das miide
hcrbsdiche Sonncnlicht crgriff mit seinen Strahlen den auf-
gewiihlten Staub; die Worte, Bildcr, Erinnerungen der
vergangenen Jahrc stiegen im Glitzern vor ihnen in der
Rdkoczi-StraBe auf. Jcdenfalls . . . mit Gesang batten sie
begonnen. In Gyulafchdrvar, als sic auf den Bahnhof zu-
marschierten. Vielc junge Lcute waren sie, Jahrgang acht-
undneunzig, scheinbar ein reicher Jahrgang. Was sie konn-
ten? Nichts. Das Gewehr prasentieren, exerzieren, mar-
schicren, cvcntuell tiefe Kniebeuge, bis sie zu bersten
glaubten, verachtlich rcden von den Drvickebergern, den
Untauglichcn, den Schreibern. Was sie ahntcn? Es ist besser,
nicht daran zuriickzudenken. Sturmfestc Betonunterst2nde,
ruhigen Stellungskampf, Auszeichnungen, den Krieg
gewinnen. Dann kam Albanicn, wohin er zuerst geschickt
wurde, dumpfigcs, mattes, ausgcbranntes Terrain, krcpierte
1 06
Pfcrde, hie und da die Lciche eines crhangten Bauern und
sofort Malaria, die als erster Feind die Mannschaft angriff.
Das Meer, das cr bei Durazzo zum erstenmal im Leben sieht.
Noch ist Ruhe; vorlaufig sieht die Sache noch fast so aus,
wie man sic sich vorgestellt hat; wer nicht krank ist, lebt
herrlich. Eines Tages ist ein Aufmarsch am Meer, swischen
den italienischen und den osterreich-ungarischen Kriegs-
schiffen ist ein Gefecht im Gange, die italienischen SchifFe
beschieBen auch Durazzo, da sieht er zum erstenmal eine
Kriegsleiche. Einen, der den Heldentod gefiinden hat . . .
er liegt quer iiber der LandstraBe, auf ihm ein vollgetroffener
Baum, der ihn platt gedriickt hat. Er ist auf Kustenwache;
es ware schon, einen SchieBversuch auf die Mowen zu
machen. Dann kommt plotzlich der Marschbefehl, sie
ziehen los, nach Siidosten zu ; er weiB, dort sind Franzosen
und Englander mit den ubriggebliebenen Serben. Nach
ein paar Stunden wird der Befehl abgeblasen und am nach-
sten Tag das ganze Regiment einwaggoniert. Der Zug fahrt
gen Norden, man munkelt: jetzt kommt die italienische
Holle. Sie rollen, rangieren, das geht so tagelang. liitze 2um
Krepieren. Plotzlich kommen schone Gegenden, Berge,
Seen, Sagemuhlen an brausenden Fliissen, der Zug fahrt
durch Tunnels und iiber Viadukte, eine so schone Gegend
habe ich noch nie gesehen, schade, daB ich keinen foto-
grafischen Apparat habe. Sie sehen auf der Karte nach:
zweifellos, das ist der Weg nach der italienischen Front.
Dann ein zerschossenes Dorf und noch eins und noch eins.
Gorz. Raus aus dem Waggon. Zwei Tage Rast; sie bekom-
men eine Art vorziiglichen Treber. Am Abend gehen sie
in die Feuerlinie. Zum erstenmal ist er im Schutzengraben;
in diescr Gegend ist Stellungskampf, geradezu eine Kunst,
einen Graben so wunderbar anzulegen, mit Balken, Bretter-
\vanden und Sandsacken. Es ist Ruhe; ganz selten steigt
gegeniiber hie und da eine Leuchtrakete auf, das ist das
Ganze? Gegen morgen gehts dann los. Boroborobomm —
bordborobomm — wuiiiiiijj — baff — b6r6bor6bomm —
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wuiiiijj — baff . . . so irgendwie; dann kommt cin neuer
Ton: krrrrr — krrrrr — krrrrr . . . hoch und scharf; dann
wicdcr ein neuer Ton : sssz — pik, ssssz — pik . . . und dann
alles zugleich und ununterbrochen. Tagelang. Manchmal
eine Stunde Pause, aber man 1st schon taub und hort auch
die Stille nicht mehr. Dann beginnt es wieder. Weitcr,
noch immer. Zum Wahnsinnigwerden. Feri Duka sitzt
im Graben und weint, cs schiittelt ihn nur so, er schnappt
nach Luft, heult und schreit. Feri Duka ist achtzehn Jahre alt.
Er wird nach hinten gcbracht und bekommt eine Injektion.
Denes Turko, Tischlergesellc in Deva, achtzchn Jahre alt,
sitzt im Graben und weint. Injektion. Der Magen fangt
ihm an zu zittern, die Brust, die Kehle, und er fiihlt, jetzt
bricht es bei ihm aus — Essen kann er nicht, nur trinken . . .
nicht zum Aushalten ist es, wenn es losgeht: borobomm —
krrrr, wic Trommelschlag. Oder wenn es zischt und man
den Kopf auf die Seite reiflt, und dabei sitzt die Kugel schon
langst hinter einem in der Bretterwand. Eines Tages dann
. . . hat man sich daran gewohnt. Feri Duka sitzt im Graben,
die Gamaschen abgewickelt, er halt sie dicht an die kurz-
sichtigen Augen und jagt nach Lauscn. Das geht namlich
sehr schnell, das Vcrlausen. Also: man hat sich an die
Sache gewohnt. Man weiB: das ist ein Schrapnell, das eine
Sprenggranate, das der Morser, das groCte italienische
Kaliber. Der Trommelwirbel sind Maschinengewchre, abcr
es klingt eher, als trommle man ganz schnell auf ein Brett ;
das, was leise zischt, ist eine Gcwehrkugel. Der Korper
gewohnt sich bei einem bestimmten Laut an eine bestimmte
Bewegung. Man kann sich an allerhand gewohnen. Auch
daran, daB es manchmal einschlagt. Auch daran, dafi die
Kameraden mit furchterlich blutenden Wunden, mit
herausgequetschten Eingeweiden, mit schlafT hangenden
Gliedcrn aus dem Graben getragen werden; dafi man hinter
dem Sandsack stcht, der diinnc, zischende Pfiff voriiber-
saust und man vergcbcns zu dem starr dastehenden J6zsi
Koloss odet Denes Turkd spricht. Dann kommt etwas
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anderes. Berge, drei-, viertausend Meter hohe Spitzen,
jeder SchuB hallt zwanzigfach wieder; hier gibt es keine
richtigen Graben, die Deckung 1st aus Stein und miihsam
hinaufgeschleppten Tannenstammen, — was fur cine himm-
lische Gegend, wie schade, daB ich keinen fotografischen
Apparat habe . . . Weiter. Auf einem wahnsinnig sausenden
FluB treiben Baumstamme, Wagentriimmer und Leichen.
Weiter. Rings herum die Berge, aber sie sind weit; gegen-
iiber der italienische Schiitzengraben, in der Mitte das zer-
schossene, durchfressene, mit Trichtern besate Feld. Vor
den Graben die Drahtverhaue. Und dann eines Abends:
Fahnrich Kadar mit vier Mann . . . wer meldet sich frei-
willig? Als er zuriickkommt, fangt er an zu lachen, schnappt
nach Luft, schluckt, lacht. Dann eines Abends gehen sic
los, im Sturmhelm, mit Drahtscheren und Handgranatcn,
vorwarts. Er kann schon im Dunkeln sehen, er kriecht auf
dem Bauch vorwarts, etwas bewegt sich nicht weit vor ihm.
Den linken Ellenbogen kriimmt er unter den Bauch, hcbt
sich ein wenig in die Hohe, und die Handgranate fliegt.
Es explodiert rechts, und es explodiert links, sie kriechen
auf dem Bauch, die trockene Erde schlagt ihm ins Gesicht,
iiber die Stirn rinnt ihm der Matsch, dann stiirzen sie blind
los, und er hat das Gefiihl, auf einer Rutschbahn oder Seil-
bahn kreischend hinunterzusausen. Ganz nahe am ersten
italienischen Graben schleudert er noch eine Handgranate
und noch eine; Erd- und Holzklumpen fliegen, einmal habe
ich im Kino ein Bild gesehen, Sprengung in eincm Stein-
bruch in Colorado, U. S. A. . . . Im Graben liegt etwas auf
dem Bauch und rochelt, er greift an eine Schulter, hebt sic
hoch, der Kopf dreht sich nicht mit der Schulter, er hebt
auch den Kopf, an der Steile des Gesichts ist eine rote
wibbelige Masse. Dann kommen auch die Italiener, zwei-
mal, dreimal, zehnmal. Und einmal fuhlt er plotzlich einen
starkcn Schlag an der Schulter und gleich hinterhcr, als
wurde er mit tausend Nadeln gestochen. Vcrbandplatz.
Ein kleincr untcrsetztcr Herr beugt sich viber ihn, Knochen,
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nach rechts, sagt er, und er wird an der rechtcn Scitc auf die
Erde gelegt. Nach ihm ein anderer. BauchschuB, nach links,
sagt der Untersetzte. Ein anderer: Lunge, nach links. Ein
andrer: Hals, nach links. Noch einer: Unterschenkel, nach
rechts. Dann werden die von der rechten Seite weggebracht.
Innsbruck, Kriegsspital. Hier war es dann angenehm,
Arzneigeruch durchzieht den groBen Saal, so wie in Deva,
in der Apotheke bei Gazdas. Eine Menge hiibscher Pflege-
rinnen in weiBen Kleidern mit dem roten Kreuz. Die eine
1st eine alte Frau mit einer Brille, sie erzahlt fiirchterliche
Witze, man kann sich totlachen iiber sie, angeblich eine
Grafin. Die muB es dick hinter den Ohren haben. Das Essen
ist ordentlich, die Wunde heilt gut, nach einiger Zeit kann
er ausgehen; es gibt eincn Keller, wo man vorziigliches
Bier bekommt, und hintendurch kann man iiber eine kleine
Wendeltreppe in eine Wohnung steigen, da gibts kleine
Zimmer und Madchen. Aber auch auf der StraBe kann man
jede ixbeliebige ansprechen, hubsche, junge Frauen. Eines
Tages wird er dann an die Front zuriickgeschickt. Alles
fangt von vorne an. Zwei-drei Wochen im Graben, vier-
funf Wochen im Graben, dann zehn-zwolf Tage hinten.
Vorne weiB iiberhaupt niemand mehr, welcher Tag ist, und
dann hort man auch auf zu wissen, in welchem Monat, in
welchem Jahr man lebt. Man kiimmert sich auch nicht sehr
darum. Das Schlimme ist bloB, daB die Sache auf einmal
anfangt zu versauen. Ersatz fur die locherigen Schuhe, fur
die zerfetzten Unterhosen kriegt man kaum mehr. Auch
kommt es manchmal vor, daB man stundenlang nicht
schieBen kann, weil keine Munition da ist. Auf den Felsen
gliiht die untergehende Alpensonne, schade, daB ich nicht
Maler bin . . . Die Tagc werden mit Macht kiirzer, nachts
herrscht irrsinnige Kaltc, und noch immer keine gestrickten
Sachen. Und der Proviant, entsetzlich langsam setzt der sich
in Bewegung. Schokolade, Schokolade, niemals hatte ich
gcglaubt, daB einem Schokolade so zum Ekel werden kann.
Italienische Flieger werfen Flugschriften ab. TrSka, der
no
Tscheche, wird hingcrichtct. Dann blcibt eines Tages die
Kuche aus, ganz und gar, zwci Tage, funf Tage . . . und die
Flugblatter, die Nachrichten kommen, eigentumliche Be-
fehle und Reden — na, und so gings zu Ende. Auf, nach
Hause. Das Schleppen zuriick, dem Frieden zu, durch die
wildfremden Gegenden. Die erschlagenen Bauern. Der
Kiirbis. Die ruhrkranken Kameraden, im Frieden. Der
kleine Feledy, in den Mantel eingewickelt. Brot und Schaf-
kase im ersten ungarischen Dorf. Zigeunermusik in
Szekesfehervar. Budapest, die ausgestorbene Stadt. Die er-
schrockenen Alten. Seine Krankheit. Der Weg nach Deva,
der kleine englische Offizier unter den Rumanen, die Menge
Wurst in Gyula. Er sitzt am EBzimmerfenster. Das Biiro des
alten Herrn Huber. Die roten Fahnen bliihen. Der unerwartete
Besuch der Mariska Gazda. Ende der Kommune. Die
Papiere, die in Ordnung sind. Die Ohrfeigen, der Gummi-
kniippel an seiner Schulter und der FuBtritt
Seit langen Minuten stehen sie schon vor dem Haus, als
cr schweigt. Zwei geangstigte, brennende Augen starren
ihm ins Gesicht. Des Madchens Hand ist feucht, und ihr
Arm zittcrt. ,,Du . . . jetzt ist das aber alles vorbei . . . jetzt
kommst du zu mir, jetzt mufit du alles vergessen! . . ."
In nebelhaftem, leichtem Schlaf lag er betSubt im Bett;
auf dem Tisch brannte cine Stehlampe, mit einem Tuch ver-
hangt. Schlafend hatte er das Gefiihl, beobachtet zu werden.
Er erwachte, schlug die Augen auf: das Madchen saB im
Bett und sah ihn mit heiBen Augen an. ,,Was ist, Agi,
Liebling, warum schlafst du nicht?" Als hatte sie es gar
nicht gehort, starrte sie ihn weiter an, und erst nach einer
guten Weile antwortete sie. ,,Ach, Gott ... so schrecklich . . .
so schrecklich liebe ich dich, und ctwas Furchtbares ist mir
eingefallen ..." — ,,Schlaf, mein Herz, ich hatte es nicht
erzahlen sollen." Es ist still, das Madchen sitzt und blickt
ihn an, und plotzlich sagt sie, ganz leise: ,/Toni, mein
Liebling . . . du willst weggehen." Tief und heiB errdtete cr
im Halbdunkel. Keincn Ton hatte er ihr bisher von seinem
Wiener Plan gesagt, auch gar nicht daran geckcht, seitdem
sie zusammen waren. Da fiihlte er Agotas kalte Hand an
seiner Wange und gleich darauf ihre angstvolle, weinerliche
Stimme: ,,Ich wuBte es, dein Gesicht ist heiB, du bist rot
gewordenl du willst irgendwohin weggehen." Er war ver-
wirrt, suchte nach Worten, starrte aber nur blode, leer in
die Luft und verstand die ganze geheimnisvolle Sache nicht,
woher weiB sie denn — dann griff er mit instinktiver,
mannlicher Brutalitat zur einfachsten Art der Erledigung:
seine heiBe Hand beriihrte den Korper des Madchens, er
zog sie zu sich nieder, und die Ekstase der Umarmung fegte
ihre bebende, wahrheitahnende Angst hinweg. Einschlafen
konnte er aber nicht mehr. Woher weiB sie, woher weiB sie,
ich habe doch kein Wort gesagt ! rumorte die zitternde Frage
in ihm. Aber bestimmt muB ich weggehen — wenn sie es
auch weiB. Und soil ich jetzt reden? soil ich es ihr jetzt
sagcn? Oder soil ich verschwinden, ausreiBen wie ein
Halunke? oder ware es vielleicht doch besser, glatt aus ihrem
Leben zu gehen, ohne cin Wort, und dann, wenn in Wien
alles gut geht . . . was kann bis dahin noch alles sein, groBer
Gott, dann weiB sie wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer
ich war. Aber konnte cs nicht auch passieren, daB sie, wenn
ich sie verlasse, eine Dummheit . . . sie liebt mich doch, und
ich — er drehte sich plotzlich um, sie achzte neben ihm auf
und schlief weiter, und cr bohrte seinen Kopf ins Kissen. —
Und ich liebe sie auch . . . o Gott, sehr liebe ich sie, noch nie
habe ich jemanden so geliebt, selbst Mutter nicht, auch
Onkel Rudi nicht, niemanden, bei niemandem hatte icb das
Gefiihl, daB er mir so nahe ist, so in mir ist. Er schluchzte
ins Kissen, als es ihm jetzt, an der Schwelle des Abschieds,
klar wurdc, daB er sich in dicse Frau verlicbt hatte, ohne es
zu bemerken, daB cr verlicbt war in sie, in ihre leisc, nacht-
liche Stimme im Krankenhaus und in ihre kindliche Heiter-
keit und Sorglosigkcit, ihre mutterlichc, cssenmitbringcnde
Vcrz£rtclung und ihren kraftigcn, begierdcerweckenden
Korper; nein, das war nicht plotzlich gckommcn, war nicht
in der Umarmung aufgeflammt, das hatte sich schon lange
vorbereitet, vielleicht schon dort, wo er mit schreckvollem
Ekel aus den Innsbrucker Betten kroch und feige und ver-
schamt das Geld auf den Nachttisch legte, — du gehst mich
nichts an, ich habe Angst vor dir und lieber — und fort-
gesetzt hatte es sich und war im stillen gereift, als dieses
Madchen zum erstenmal an sein Bctt trat und ihre kiihle
Hand iiber seinen Arm gleiten lieB . . . Er schluchzte ins
Kissen, fiihlte sich als Betriiger und Betrogenen, well er
wuBte, daB er dennoch abreisen und diese Absicht vielleicht
leugnen wurde. Kaum habe ich jemanden Noch
immer schlief er nicht, als das Madchen gegen Morgen auf-
wachte und sich mit entflammter Begierde an ihn schmiegte.
Dann lagen sie noch da, eng nebeneinander, und da auf
einmal sagte das Madchen: ,,Tonili, schwor mir, daB du es
mir sagst, wenn du wegfahrst. Ich weiB, du bleibst nicht in
Budapest, erinner dich nur, noch im Krankenhaus hast du
gesagt, du willst studieren, willst Architekt werden, und
hier auf der Universitat haben sie dich geschlagen, du gehst
weg, wozu solitest du in Budapest bleiben? Gut, ich weiB
nicht, wieso ich daran glaube, daB du es zu etwas bringen
wirst, sehr weit wirst du es sogar einmal bringen . . . ich
weiB, du fahrst weg. Aber gib mir dein Wort, daB du es mir
sagst und . . . und daB du jetzt nicht fahrst, denn das habe
ich dir noch gar nicht erzahlt, ich habe mir drei Tage Urlaub
geben lassen, Sonntag, Montag, Dienstag, und Marta hat
mir versprochen, so lange drin zu bleiben, und dann werden
wir drei Tage leben wie Mann und Frau; ich habe noch nie
jemanden so geliebt wie dich . . . Toni, nicht wahr, du fahrst
nicht weg, bevor du einmal ganz lange mit mir zusammen
gewesen bist . . . dann gehst du ja sowieso, und ich sehe dich
vielleicht nie wieder; ich nab dich doch gepflegt . . . du,
nicht wahr, du liebst mich auch?l"
Samstag nachmittag kaufte er eine dunne Goldkette und
cin klcines goldenes vierblatterigcs Kleeblatt. Das gcbe
ich dir, damit es dir Gliick bringen soil. Damit du mich nicht
8 KflrnuMuli, {tmlape«t 113
vcrgiBt Damit . . . well du mich geliebt hast O Gott,
schwcr wird es scin. — Am Abend vcrabschicdcte cr sich
von den Altcn, er wolltc nicht, daB sie am nachsten Morgcn
in aller Hcrrgottsfriihe aufstiinden. Tantc Anna weinte und
kiiBte ihn wieder und wieder. Onkel Rudi warf verlegen ein
paar ermutigende, kiihnc Worte dazwischen und bcmiihte
sich, seine Ruhrung hinunterzuschlucken. Tante Anna sah
sich wohl hundertmal an, ob scin KofFcr auch in Ordnung
sei, ob das SchloB gut funktioniere, hundertmal sagte sie,
das Geld solle er in diesem kleinen Lcinentaschchen um den
Hals hangen und am Hemd feststecken. Onkel Rudi gab ihm
cine Hunderterpackung Zigaretten, die schicke Herr Huber,
,,ja, mein Junge, er hat dich auch schatzen gelernt." . . . Als
cr am nachsten Morgen um f iinf Uhr aufstand, — nicht cben
sehr gerne, aber diesen kleinen Schwindel muBte er schon
machen: ich kann ihnen doch nicht sagen, jetzt ziehe ich fur
drei Tage zu meiner Geliebten, — waren die Alten doch
schon auf, und auch das Dienstmadchen. Warmer Kaffee,
Kipfel, Weinen, geriihrte langc Kiisse und die brummende
alte Stimme: ,,nur Mut, mein Junge, nur Mut!" — ,,Toni,
schreib auch und schreib immer, wie — " da schlug Tante
Anna die Stimme iiber, und nachher sagte sie nur noch:
,,Rudolf . . . wir sind schon alt ". Sechs Uhr: die erstc
Elektrische fahrt ab, der Wagen ist leer, die StraBe dunkel,
leer und kalt. In einer halben Stunde ist er am Bahnhof. Der
Kofler ist nicht einmal schwer. Am Bahnhof aufgeregtes
Gewimmel, wieder fuhlt er den Eisenbahngeruch, und die
Aufregung wogt ihm zwischen Brust und Magen. Er geht
geradeswegs auf die Gepackaufbcwahrungsstclle zu, gibt
seinen Kofler ab und fragt zur Vorsicht, ob er drei Tage
hierbleiben konne. ,,Von mir aus auch drei Wochcn", sagt
der Bedienungsmann im graucn Sweater. Er geht in seinem
neuen Wintermantel auf die Arena-StraBe zu, in der Hand
cine groflc weiBe Tiite: der Reiseproviant von Tante Anna.
Drciviertcl sieben: es ist noch zu friih. Er setzt sich in ein
Cafe, laBt sich Tee gebcn, als er auf dem Tisch steht, riihrt er
ihn nicht an, er wird kalt. GroBer Gott, was fur ein Wahn-
sinn, daB ich nicht jetzt abgefahren bin. Wenn ich jetzt drei
Tagc mit ihr zusammen bin, reise ich viellcicht iiberhaupt
nicht mehr. Aber schlieBlich ... ich wufite doch bestimmt,
daB ich noch nicht abreise, sonst hatte ich ja gestern das
Kettchen in ein Kuvert getan und beim Hausmeister ab-
gegeben . . . nein, ich werde fahren, nur heutc noch nicht, ich
habs ihr doch versprochen, und drei Tage . . . Halb acht,
langsam spaziert er auf das Haus zu. Die Alten denken, ich
sitze schon lange im Zug, Tante Anna weint gewiB. Bis acht
Uhr stellt er sich vor dem Haus auf, dann geht er hinein.
Auf der ersten Etage kommt ihm ein groBes schwarzes
Madchen entgegen. Zum Verwechseln getreues Ebenbild
Agotas, nur etwas groBer vielleicht. Im Vorbeigehen lacht
sie ihn mit glanzenden weiBen Zahnen an. Marta. Er
klingelt auf der dritten Etage. Agi, in einer groBen blauen
Schiirze, ein Tuch um den Kopf und in weiBen zerrissenen
Handschuhen. ,,Bitte, mein Herr", sagt sie und lacht, ,,Sie
miissen entschuldigen, ich bin erst seit zwanzig Minuten zu
Hause, haben Sie die Giite, noch einmal hinunterzugehen
und einen Liter Spiritus zu holen, der Kaufmannsladen ist
gegeniiber, bis dahin bin ich mit dem Saubermachen fertig,
diese schreckliche Marta hat sich verschlafen und ist so
davongelaufen, ohne ihr Bett zu machen." Er lacht, geht
hinunter und holt den Spiritus. Das Madchen steht in einem
blauen Morgenrock im Flur und offnet die Tiir, noch bevor
er geklingelt hat. Sie laBt ihn herein und betrachtet ihn von
oben bis unten. ,,Bist du aber elegant ... ein neuer Winter-
mantel?" — ,,Ja." — ,,So. Und was ist in dem Paket?" —
,,Das ... das ist was zu essen." — ,,So. Von Zuhause?" —
,,Nein . . . aus einem Geschaft." Agota sieht ihn an, dann
trSgt sie, ohne ein Wort zu sagen, das Paket in die Kviche.
Als sie zuruckkommt, lacht sie schon wieder. ,,Ich habe
vorhin vergessen zu fragen, bist du beim Raufkommen
nicht Marta bcgcgnet, sie ist gerade in dem Moment weg-
gegangen." — ,,Doch, ja", antwortet er, ,,ein hxibsches
e* 115
Madchen." — ,,So, gefallt sie dir? Aber ich bin hiibschcr,
nicht wahr?" In ihrer Stirnmc klingt ein wcnig Kokctterie
und cin wenig Eifcrsucht, und sie driickt seinen Kopf an sich.
Mittwoch morgen wachtc er um fiinf Uhr auf, er kroch
aus dcm Bett, waschcn wollte cr sich nicht, um keinen Larm
zu machen, ganz still fing er im Dunkeln an, sich anzu-
zichen; spater am Bahnhof werde ich mir Gesicht und
Hande waschen. Er hing sich das Leinensackchen um den
Hals und steckte es am Hemd fest. Als er fertig war, sprach
das Madchen aus dem Bett mit sonderbarer, kalter, fremder
Stimme: ,,Jetzt morgens fahrst du ab?" Die Stimme wiihlte
wieder alles in ihm auf. Er setzte sich zu ihr ans Bett und
tastete nach ihrer Hand. ,,Agichcn ..." — ,,Antworte mir,
ob du jetzt morgens fahrst," — ihre Siimme war schon
wieder wie gewohnlich. ,,Toni, Liebling, sag mir die Wahr-
heit, ich hab ja den PaB in deiner Tasche gefunden und das
Kettchen, das du mir schenken willst." O, — so wird cs
vielleicht doch leichter sein ... so, ohne lugen und leugnen
zu miissen. Nein, ich mache ihr nichts vor, ihr nicht und
auch mir selbst nicht, ich werde kein Schwindler sein,
dachte er und sagte leise: ,,ja, ich reise jetzt." Da stand das
Madchen auf, schliipfte in den Morgenrock, lief in die
Kuche und kam sehr bald mit einem groBen Krug warmen
Wassers zuriick. ,,Wasch dich doch, Herzchen, zieh nur
ruhig den Rock wieder aus, du hast noch viel Zcit. Nicht
wahr, dein Gepack hast du am Bahnhof? sehr richtig." Sie
sicht zu, wie cr sich wascht, und rcicht ihm das Handtuch,
,,zeig mal her, dein Ohr ist ja noch voll Seife . . ." Er war
fertig und stand wieder angezogen im Zimmcr ; und da fiihlt
er, dafi die halbe Stunde, die er noch hat, bier in Agotas
Nahe gefahrliche Worte bringen kann: Worte, die entweder
wcgwischen, was kommen muB, oder vcrdcrbcn, was bisher
gewesen ist. Er beschliefit zu schweigen. Das Madchen sitzt
auf dem Bett und blickt ihn an, und dann sagt sie leise:
,,WeiBt du, Toni, der, von dem ich fast ein Kind gehabt
hatte . . . also das war so, daB er wieder an die Front zuriick-
muBte, abcr er war damals schon zwei Jahre an der rus-
sischen Front gcwesen, und so . . . als sie ihn wieder zum
Marsch cinteilten, da schoB er sich in die Hand, in die Hand-
flache wollte er, traf aber durch Zufall ins rechte Hand-
gelenk . . . weiBt du, ich war damals schon in Umstanden,
und . . . dann muBte sein rechter Arm amputiert werden.
Ich war auch damals schon im Krankenhaus, ging aber fast
jeden Tag zu ihm raus ins Garnisonslazarett, schreckliche
Angst stand der arme Junge aus, denn wegen der Selbst-
verstummelung war ein Verfahren gegen ihn eingeleitet
worden . . . und dann, als er schon wieder ganz gesund war
und aufstehen konnte, ging er auf den Gang und stiirzte
sich vom zweiten Stock in den . . ." Plotzlich wurde sie
bleich und schwieg. Stille herrschte, erst nach einer langen
Weile fuhr sie fort: ,,WeiBt du,Toni, zuerst dachte ich, das
kann man nicht uberleben . . . aber dann habe ich mich doch
langsam beruhigt und bin zu einem Arzt gegangen, weil ich
nicht wollte, daB mein Kind einen toten Vater ..." Wieder
schwieg sie. Dann: ,,er hatte ein Motoren-Installations-
geschaft in der Vacer-StraBe." Auf einmal steht sie auf und
tritt zu ihm bin : ,,aber dich habe ich mehr geliebt . . . trotz-
dem ... ich werde . . . auch das uberleben . . . Tonichen,
mein Liebling. Jetzt gib mir die Kette . . . nein, hang du sie
mir um den Hals, so. Und jetzt geh schon, fruhstiicke noch
am Bahnhof, ich kann dir kein Friihstiick machen, weil
unser Kaffee alle ist. Hast du alles? das Geld? Und dann,
wenn du in Wien bist, kannst du einmal — " Er beugte sich
zu ihr und suchte ihren Mund. ,,Agota, niemals . . . nie-
mals . . . niemals . . ." sie unterbrach ihn laut: ,,red doch
nicht!" sagte sie hart, ,,niemalst das soil man nicht sagen,
was weiBt du, was morgen sein wird . . ." Sie stehen im Flur,
sie nimmt einen blauen Wollschal vom Kleiderhaken, dreht
ihn ihm um den Hals, steckt ihn ordentlich unter den
Mantclkragen, — ,,so, damit du im Zug nicht frierstl — "
und schiebt ihn leise zur Tiir: ,,Tonichen, gch doch schon,
ich will nicht weinen "
Er steht im iiberfiillten Gang cines Wagcns dritter
Klasse, den FuB auf dcm Koffcr; der Zug rollt langsam aus
der Glashalle. Also, wir fahren ab. Ein Mann mit grauem
Hut schreitet neben dem Waggon her und ruft in den
Wagen: ,,Ede! vcrgiB ja nicht, was ich dem K. sagen lasse!"
Vom gedrangt vollen Gang ruft jemand hinunter: ,,nein,
nein, ich vergessc cs nicht!" aber er sieht nicht, wer das ist.
Der Zug fahrt schon durch den Rangierbahnhof, und da hat
er plotzlich das sonderbarc Gefiihl, in einer unbekanntcn
Stadt anzukommcn. Dieses groBe grau-gclbe Haus, was
kann das sein? das habe ich nie gesehcn, und das lange,
niedrige Gebaude da mit den Cittern an den Fenstern? . . .
war ich denn noch nie in dieser Stadt? und die Briicke, iiber
die wir jetzt fahren, mit den StraBenbahnschienen unten . . .
das sollte Budapest sein? Die bekanntc Landschaft zerfallt
in fremde Details; fremd ist das groBe Gasreservoir mit der
eigentiimlichen Uhr, fremd sind die braunen Mauern der
Lagerhauser, fremd die zu einem Netz verschlungenen
Eisensaulen der Briicke, und ein sonderbarer, fremder Berg
entschwindet langsam seinem Blick. Aus dieser fremden
Stadt ist es nicht schwer wegzureiscn . . . nicht schwer? und
die drei Tage? Sic hatten sich kaum aus dem Zimmer
geriihrt. Das Madchen hatte eine sonderbar aufregende
und gleichzeitig aussohnende Hiille um sie gezogen,
cine Hiille aus den Faden iiberstromendcr, ungestiimer
Begierde und der Sehnsucht unerreichbarcr Mutterschaft.
Sie hattc ihn gebissen und ihn verzartelt. Mit dem cincn
Wort hatte sie die Schreckbilder des Erinnerns aus seinem
Kopf verschcucht, mit dem andern cinen Funken in seine
Phantasie geworfen, und als sie vorsichtig, gleichsam zu-
fallig und sofort am erstcn Tage Wien crwahntc und sah,
wie bei dem Wort seine Augcn aufgluhtcn, da hattc sic
gefragt, ob er also nach Wien ginge. ,,Ja, nach Wien,
irgendwann", hatte er geantwortet. Er erinnerte sich, wie
seltsam still das Madchen da gelacht und seine Worte
wiederholt hattc: ,,nach Wien, irgendwann," Und nicht viel
spater, nach ciner kleinen Untersuchung seiner Rocktasche,
muBtc sich der Krcis schlieBen: ich reise, irgendwann —
der neue Wintcrmantel — die Provianttiite — der PaB mit
dem osterreichischen Visum — das Geld im Leinen-
sackchen — die diinne Goldkette . . . und da hatte sie ge-
wuBt, daB dieser Wiener Zug hier vom Bett aus abfuhr, und
daB diese dreitagige Hochzeitsnacht ein dreitagiger Abschied
war. — Er beriihrte den blauen Schal an seinem Hals und
hatte das Gefiihl, als streichle er das Gesicht des Madchens.
Tonichen, geh doch schon, ich will nicht weinen — Na.
Dem Schaffner gab er ein Trinkgeld, und so gelang es ihm,
im letzten Wagen einen Sitzplatz zu bekommen. Er saB am
Fenster, im Kupee waren sie nur zu acht. So nimmt die
Sachc einen ganz guten Anfang, dachte er und betrachtete
die neblige, herbstliche Donau. Jetzt werde ich Budapest
lange nicht wiedersehen, in Wien werde ich leben, in einer
fremden GroBstadt. Niemanden habe ich in Wicn . . . und
wie er das so in Gedanken vor sich hinsagte, niemanden
habe ich in Wien, da fiihlte er beim tonenden, klingenden
Rattern des Zuges, in der dunkel dahinschwindenden Land-
schaft und in den sieben fremden Gesichtern des Abteils,
daB diese Reise richtig war, und daB es gut war, in Wien
niemanden zu haben; — besorgte alte Verwandte in
Budapest; zwei verschwommene Schatten in Deva; eine
junge, gliihende Umarmung, um so fremder, da sie nur
angenchm gewesen war; schwere Traume, aus denen er von
Larm in der nachtlichen Stille erwacht; bekannte StraBen,
durch die er Angstgefiihle schleppt; — all das fliegt nick-
wins uber die Kilometersteine hin, iiber die jagenden
Minuten hin . . . Und als das erste offizielle deutsche Wort
ertont, hat er ein seltsames, sicheres Glanzen in den Augen;
er fuhlt, wic sich ein grauer Vorhang hintcr ihm schlieBt;
unter seinem Hemd betastet er das Gcldsackchen, in der
Tasche den PaB und die groBe schwarze lederne Brieftasche,
in der er seine Papierc bewahrt — nun, wir wollen schen,
was jetzt kommt.
119
DlE Tagc rollen dahin im kalten, nebligcn Herbst; er
bcmerkt es gar nicht, daB er schon zwei Wochen in Wien
1st. Nach dem Nest Dcva, dem verschlafenen Kolozsvar,
dem von der Gewohnheit verwaschenen Budapest, dem
Triimmerhaufen Gorz und nach Innsbruck, dem sonder-
barcn halb Krankenhaus- und halb Sommerfrische-Aufent-
halt, erwartete er mit keineswegs geleugneter innercr Span-
nung von Wien die Sensation der GroBstadt. Ein Programm
hatte er nicht, well er gar kein Programm hatte machen
konnen ; weit geoffnet erwartete er von der Stadt das Wunder
wie einer, der ohne Katalog in cine Bilderausstellung geht.
Alles war ihm neu, um so mehr, da er nur auf Neuigkeiten
eingestellt war und die Analogien von vornherein von sich
wies. — Eigentumlich gestaltete sich in ihm das Bild der
Stadt: die breiten, sauberen Straflen, die in aristokratischer
Ruhe daliegenden machtigen Platze und die groBen Hauser
im residen2haften Stil verschwammen mit den unter roten
Fahnen durch die StraBcn drangenden Menschenmassen,
den sirenetutenden Missionsautos mit den fremden Fahn-
chen, den Lichtreklamen, die plotzlich aus dem Boden
geschossene Lokale schreiend anzeigten. Hinter den elegan-
ten Spazicrgangern der innern Stadt auf den Ringen, hinter
den franzosischen, englischen und italienischen Offizieren,
den schlangestehenden Zerlumpten der AuBenbezirke,
hinter den im Stadtviertel jenseits des Kanals laut fcilschen-
den Stirnlockchenjuden konnte er den Wiener Biirger nicht
sehen; diesen Burger, der mit tragischer Stupiditat ver-
standnislos vor dem Fiaker, dem ,,Heurigen" und der
sicheren Rente stand, dem auf den Misthaufen geworfenen
und in Brand gesteckten Triptychon solider biirgerlicher
Prosperitat, und, in der Tasche die Fiktion des sterbenden
Geldes, im Herzen den lauen Rhythmus des Donauwalzers,
sein Auge nach innen wendet und 1914 triumt. Die
Tauschung berauschender Farbcn, das chaotische Getose
1 20
der irrsinnig gcwordcnen Tagc stopften ihm anfangiich
Augcn und Ohren zu, und nur deshalb kam er leicht iibcr
die fututistisch angehauchte Buhnenproduktion der bosen
Absicht und der salbungsvollen Unverantwortlichkeit
hinweg, well er von dem Glauben beseelt war, was er hier
finde, sei gut.
Olig glatt, bestechend leicht kommen seine Angelegen-
heiten in Gang. Geld hat er, und das heimatliche Geld hat
hier den dreifachen Wert. An der Technischcn Hochschule
wird er schneller und einfacher aufgenommen, als er zu
Hause zur Fahrkarte gelangte. Er lernt Menschen kennen,
— den Buchhandler, bei dem er seine Bucher kauft, einen
jungen Rechtsanwalt, der in demselben Hotel wohnt, den
Hotel-Portier, ein paar Studenten von der Hochschule,
— und durch derlei fliichtige Bekanntschaften gelangt er
nach wenigen Tagen zu einer ordentlichen Wohnung: aus
dem schmierigen, verwanzten Hotel in der TaborstraBe,
wohin ihn am ersten Tage der Rat oder vielmehr das Ein-
taxieren eines am Bahnhof Herumlungernden dirigiert
hatte, iibersiedelt er in ein sauberes, hiibsches StraBen-
zimmer im zweiten Stock, wenige Minuten von der Hoch-
schule entfernt. Seine Wirtin heiBt Frau Wessely, ist
Ministerialratswitwe, vermietet fiinf von sechs Zimmern,
in vieren wohnen Studenten, im funften cine groBe blonde
junge Dame, von der man nicht weiB, wer und was sie ist,
was sie fur eine Beschaftigung hat; nur soviel ist sicher:
wenn sie weggeht, schlieBt sie ihr Zimmer mit dem Schliissel
zu, — im iibrigen sieht man sie kaum; nachmittags ist sie
gewohnlich ein-zwei Stunden in ihrem Zimmer, vormittags
geht sie weg, wahrend die jungen Leute nicht zu Hause
sind, und kommt spat abends oder nachts zuriick. Friihstiick
gibt Frau Wessely, fur ein paar Heller iBt er in der Mcnsa
zu Mittag, Cornedbeef aus einer Blechbiichse ist sein
Abendessen, und er rechnet sich aus, daB sein Geld voraus-
sichtlich fur drei Semester in Wien reicht. Mit den Studien-
gcnossen ist bald Freundschaft gcschlosscn. Im Nebcn-
121
zimmer wobnt ein Tcchnikcr, dritter Jahrgang, namens
Hummel, auf dcssen Visitcnkartcn stcht: Carl Viktor
Hummel, vor dem 12. XL 1918 von und zu Humelberg.
Hummel ist ein ganz amusanter Kerl, ein regelrechter
Miinchhausen, eines Abends setzte er sicb zu ihm ins
Zimmer und erzahlte ihm bis zum Morgengrauen von dem
Gut in Tirol, den dazugehorigen Dorfern, Waldern und
Seen, von dem AhnenschloB, in dem alte Hummels mit
Rudolf von Habsburg gebechert habcn, von all dieser
Herrlichkeit, von der durch Wein, Kartenspiel, Weiber und
Wucherer schon vor Jahrzehnten nichts anderes mehr
iibrig war als das von und zu. Als er gegen Morgen tief
gahntc und aufstand, — ,,na, jetzt wirds aber Zcit, schlafen
zu gehen", drehte er sich an der Tiire noch einmal um:
,,und was wiirdest du dazu sagen, wenn ich dir jetzt
erklarte, daB von der ganzen Geschichte kein Wort wahr
ist, die ganze Hummeliade bloB Luft?" — ,,Macht auch
nichts", antwortete er, ,,du hast mich jedenfalls gut unter-
halten." Hummel lachte schallend in die morgendliche
Stille der Wohnung und ging. Auf der Hochschule erfuhr
er, daB Hummel der Sohn eines Sankt-Poltcner Backers sei,
der mindestens fiinf Hummels auf dem Sankt-Poltcner
Friedhof seine Ahnen nenne, lauter brave Backermeister
und Gastwirte. — Der hagere Miihlbeck, hintcn vom Ende
des Korridors, ist Philologe und ein verschlossener Mensch.
Wenn zufallig jemand die Tiir seines Zimmers aufmacht,
sitzt er gcwohnlich am Tisch, den Kopf in die Faust gestiitzt,
und schreibt mit der linken Hand in ein dickes blaues Heft.
Er erhebt sich, griiBt etwas verwirrt, setzt sich sofort wicdcr
bin und schreibt unbeirrt weiter, man konnte ruhig das
Zimmer um ihn in Brand stecken. Der dritte Hausgenosse
ist Wiedmann; seine Manic ist das Spiel, im iibrigen ist er
Kunsthistoriker. Sects tragt cr ein Spiel Karten in der
Taschc, mit Wonne ist er geneigt, stundcnlang Einund-
Twanzig zu spielcn, und sei es auch nur um cine Ohrfeige
odcr ein Glas Wasser; wenn sich aber auch dazu kein Partner
122
findet, dann spielt er fur sich alleine Bakkarat, — und
sagt: ,,meine linke Hand hat meine rechte Hand voll-
kommen gesprengt", — oder cr legt den groBen Napoleon.
Im letzten Studentenzimmer, dem geraumigsten, wohnen
vier zusammcn, vier junge Juden; drei von ihnen studieren
Medizin, der vierte geht ins Rabbiner-Seminar. Dieser
angehende Rabbiner war der Intercssanteste von der ganzen
Gesellschaft. Eine grofie gebeugte Gestalt mit brennenden
schwarzen Augen, Ohren, groB wie Segel, und einer
machtigen gebogenen Nase, die die dicken Lippen beschat-
tete. Er war aus Czernowitz nach Wien gekommen, jeden
Morgen bctetc er mit Gebetsriemen, und wenn sich manch-
mal gegen Abend die ganze Gesellschaft im Zimmer der
vier zusammensetzte, hatte man nicht geglaubt, daB es ein
angehender Rabbiner sei, dessen rein, hart und glatt
klingender Rede man lauschte. Adolf Feuerstein lehnte sich
gewohnlich ans Fenster, seine rechte, zur Faust geballte
Hand begleitete seine Satze mit vertikalen, unjiidischen
Gesten. ,,Die Hygiene der Seele ist die Religion, wie die
Hygiene des Korpers die Reinlichkeit ist. Aber stellt euch
die Sauberung an einem Brunnen vor, ohne Seife, warmes
Wasser, Zahnbiirste und saubere Kleider: genau so ist die
Religion, wenn sie die Resultate von Wissen und Asthetik
von sich wirft. Raphael war nicht nur religios, Rembrandt
nicht nur Anatom, und Dostojewskijs Messianismus erlitt
auch keinen Abbruch dort, wo er dem begegnet, was man
heute Psychoanalyse nennt. Die Wunder des Glaubens
vergehen nicht, wo die naturlichen Resultate der Wissen-
schaft beginnen, und wer die weltgestaltende und welt-
erhaltende Kraft des Glaubens leugnet, ist zum mindesten
so lacherlich wie der, der nicht geneigt ist, von der welt-
umgcstaltenden, weltvorwSrtsbringenden Kraft der Elek-
trizitfit Kenntnis zu nehmen. Das Wort der Schrift ist hcilig,
das steht auBer Zweifel, aber um so heiliger, als es die
Lesart im Sinnc des Alltags zulaBt. Der Gcdankc der Gott-
heit ist der Gcdankc des ewigen Seins, doch wer das ewige
123
Sein in der starren Unbcweglichkeit des Steins anbctct und
es nicht lebt in der ewigen Bewegung der Welt, entnickt
dem Gedanken der Gottheit mehr als derjenige, der ab-
sichtlich versucht, die Brucken zwischen sich und dem
Gottesglauben zu verbrennen." Adolf Feuerstein stand
stundcnlang am Fenster, beschrieb mit der Faust vertikale
Linien in der Luft und sprach von Beethoven und Pascal,
sprach vom Sozialismus und von Franziskus von Assisi,
sprach vom romischen Recht, von Shakespeare, von den
amehkanischen Eisenbahnen, von Manet, vom Krieg und
dem geplantcn Volkcrbund, von der chemischen Industrie
in Deutschland, von Reinhardts Theatern und Lord Roth-
schilds Schmetterlingssammlung, sprach vom Bolschewis-
mus, vom Eisenbeton-Hochbau, von der wirtschaftlichen
Krise, die die Welt bedrohte, und vom Dreifiigjahrigen
Kricg; er zitierte Goethe und die Bibel, Ruskin und Peter
Altenberg, und einmal sprach er auch von sich selbst, von
seiner Familie und einem seiner Briider, der in St. Peters-*
burg gelebt hatte und 1905, um die Zeit der Strafienkampfe,
in der Newa ertrunken war. Von Adolf Feuersteins Lippen
sprudelten die runden, kristallklar formulierten, urteilartig
abgefaBtcn Satze; dann begann die Diskussion, und lange,
lange Stunden hindurch polterten die Worte im wogenden
Zigarcttenrauch, bis schlicClich der Wunderrabbi — Hum-
mel hatte Feuerstein so genannt — die Gescllschaft aus-
einandertrieb. Die ganz neuen Worte, die neucn Namen und
die Gedanken, von denen Kadar friiher nicht einmal eine
Ahnung hatte, sturmten etwas plotzlich auf ihn ein, und in
der ersten Zeit hatte er Stunden, ahnlich denen in seiner
Kindhcit, als ihn der Vater zum erstenmal vor das Schach-
brett setzte und ihm die Ziige erklarte, und es ihm dann
nachher war, als gingen die Menschcn schrag oder in
RoBl-Spriingcn, und er vor den Jungens in der Schule nur
wagte, von Angesicht zu Angesicht stehenzubleiben, damit
sic ihn, den ungcdeckten Bauern, nicht etwa schliigen.
Der Kopf drehte sich ihm, wie er so im Bett lag, die Worte
124
vcrfolgtcn ihn, und cs dauerte Tage, bis er die Dinge
einigermaBen zu ordnen vermochte. Feuerstein war gut zu
ihm und sprach gerne mit ihm, wenn er zu ihm ins Zimmer
ging und iiber dies und jenes um Auf klarung bat, was er
nicht verstanden oder wovon er friiher noch nicht gehort
hatte. Vor dem Wunderrabbi schamte er sich seiner Un-
wissenheit nicht und war dankbar fur alles, was er lernte.
Feuerstein nahm ihn eines Sonntagsvormittags mit in eine
Galerie und zeigte und erklarte ihm die alten Bilder. Das
ist mindestcns soviel wert wie die lateinische Satzlehre oder
die Maschinengewehrkunde, dachte er, als er tagelang im
Taumel der Bilder lebte.
Eines Abends ereignete sich etwas Ungewohnliches :
Feuerstein stand am Fenster und sprach von der Wirkung
der Massenpsychose im Kriege — da geht die Tiire auf, und
die blonde Frau tritt herein. ,,Darf ich auch ein biBchen dem
Vortrag lauschen?" fragt sic und setzt sich auf den Rand
des einen Eisenbettes. Die jungen Leute werden verlegen,
stehen auf, die Frau, — sie wissen nicht mehr von ihr, als
daB sie hiibsch und Jung ist und unter dem Namen Gerda
Buhr bei Frau Wessely wohnt, — winkt ihnen, sie sollen
sich doch nicht storen lassen, — Feuerstein sagt bloB:
,,bitte, sehr gerne", und fahrt in seiner Rede fort. Die
jungen Leute betrachten sie verstohlen, die mit iiber-
einandergeschlagenen langen Beinen auf dem Bett sitzt,
raucht und mit hochgezogenen Augenbrauen zuhort. Im
Zimmer breitet sich cine Unruhe aus, der eine und andere
spricht dazwischen, zwei tuscheln miteinander, — der
Wunderrabbi haut in die Luft und redet. Die Wirkung der
Massenpsychose im Kriege — seine gliihenden Augen
stechen hypnotisicrcnd hierhin und dorthin, er fiihlt, wie
die Gegenwart der Frau den Kontakt zwischen ihm und
scinen Horern stort, aber er gibt nicht nach: seine Worte
werden schSrfcr, seine Gesten ungeduldiger, seine Augen
starren aus tiefen Hohlen, — die Massenpsychose im
Kriege — seine Stimme klingt unduldsam und bcfehlend,
125
jetzt blickt er nur noch die Prau an und die Frau ihn, und
die ganze Gesellschaft beobachtet dieses eigentiimliche
feindliche Augcnspiel, in dem des einen starke Waffe das
Wort 1st, die des andern, noch scharfer, das Schweigen,
und alle fiihlen, daB sich hicr jetzt ein unverstandlicher,
seltsamer und personlicher Kampf abspielt zwischen dem
groBen schwarzen Judcnjungen und der groBen blonden
Christin; — die Massenpsychose im Kriege — und da steht
Gerda Buhr vom Bett auf, ,,danke", sagt sie, ,,es war ganz
lustig . . . bloB sind Sie ein lauer Schwatzcr, nein, ein Kind
sind Sie", — und datnit ist sie auch schon aus dem Zimmer.
Eisige Stiile, das ist zweifellos ein sonderbarer Lohn, —
Feuersteins Augen blinzeln rasch, ringend sucht er nach
cinem Wort, Hummel rettct die Situation. ,,LaB schon gut
sein", sagt er, ,,reg dich nicht auf, Wunderrabbi. Ich kenne
diese Sorte, cine gewohnliche Dime oder eine Kommunistin,
aber ich glaube nicht, daB sie teuerer ware als zwanzig
Kronen." Damit war Gerda Buhr zur allgemeinen Beruhi-
gung erledigt, keiner widersprach Hummel, und alle
hatten sie Feuerstein gern genug, um nicht mehr von der
Sache zu reden. Die abend lichen Diskussionen nahmen
weiter ihren Gang; die Frau meldetc sich natiirlich nicht
mehr.
Angcnehm vergingen die Tage auf der Hochschule: er
studierte und arbeitete hart, sein Leben floB ruhig und ohne
Errcgung zwischen den Horsfclen, den Biichern und Feuer-
steins Zimmer dahin. Allmahlich bemerkte er, daB er in der
Stadt noch fremd war, und versuchte, Bekanntschaften zu
machen. Wien ist eine freundliche Stadt, sagte er sich, wie
um sich selbst Mut einzusprechcn, und langsam kam er
dahinter, daB sein Dreieck sich in keiner Weise erweitern
wollte. Da waren die Dinge des Alltags, uber denen die
Stadt branntc: und gerade an die konnte er sich nicht
gewohnen, gerade die interessierten ihn nicht. Er hatte keine
Ahnung, was eigentlich mit Wien und mit Osterreich
vorging. Hatte keine Ahnung, wieviele politischc Parteien
126
es gab, wclche Fragen es waren, die cinmal Masscn mit
roten Fahnen, ein anderes Mai Massen mit kurzen Karabi-
nern und Jagerhiitcn auf die StraBen warfen. Und daB er
fremd war, fiihlte er so recht erst in der Hochschule; ver-
gebcns versuchte er, die Sache einfach damit abzutun: ich
tue nichts anderes als lernen, — an den Vereinigungcn, den
Gruppen, den Gesellschaften Gieichdenkender oder Gleich-
interessierter, an Diskussionen und Zusammenkiinften, an
denen er nicht teilnahm, sah er, daB er nirgends hingehorte
und mit nichts verkniipft war. Diese Senders tellung war
weder gut noch schlecht. Gut war sie nicht, denn er fxihlte
selbst, daB er in seiner Fremdheit und Wurzellosigkeit
niemals etwas anderes sein konne als ein mit Nachsicht
Behandclter und Geduldeter; aber schlecht war sie auch
nicht, weil sie ihn allerlei Verpflichtungen enthob. Ver-
pflichtungen? . . . War er verpflichtet, mit einigen bier-
liebenden Kommilitonen allabendlich in der kleinen soliden
biirgerlichen Gaststube auf dem Ring zu sitzen? oder bei
der einen oder andern lauten Zusammenkunft einen un-
bekannten Herrn namens Renner fiir alles verantwortlich
zu machen oder — mit weniger unbekannten Phrasen —
auf die Internationale Sozialdemokratie und das Judcn-
tum zu schimpfen? odcr mit Russenkittlern in einer Vor-
stadtwohnung zu sitzen und landlaufige Marx-Ausspriiche
wiederzukauen? — Manchmal fiihlte er mit voller GewiB-
heit, daB es besser war, fremd zu sein in dieser Stadt, daB es
wenigstens vorlaufig besser war, nirgends hinzugehoren,
nicht Stellung zu nehmen, nicht voreingenommen zu sein
und dadurch keine Verpflichtungen zu haben. Wenn ich
einmal alles uber die Stadt weiB, sie ganz genau kenne, dann
viellcicht —
Der erste Brief, den er an die Alten nach Hause schrieb,
ging leicht. Ich bin gut angekommen, da und da abgcstiegen,
habe diese und jene Menschen kennengelernt, auf der
Hochschule bin ich schon aufgenommen, cs geht mir gut,
ich bin gliickjich, hierhergekommen zu sein, Dann wurde
127
das Briefschrciben immer schwerer und schwercr. Solange
es Dinge gab, die die Alten interessieren konnten, flog die
Fedcr lelcht iiber das Papier . . . ich war im Burgthc&er und
habe ein wunderbares historisches Stiick gesehen, ,,Der
junge Medardus" heiBt es, und Artur Schnitzler hat es
geschricben. Auf den Rat mcines Freundes Feuerstein habe
ich fur mein ganzes Geld Schweizer Franken gekauft, er
sagt, die Schweiz ist ein Friedensland, ihrem Geld kann
nichts passieren, und es scheint, er hat recht; jedesmal,
wenn ich Geld wechsle, bekomme ich mehr und mehr
osterrcichische Kronen fiir die Franken, andrerseits stimmt
cs aber auch, daB hier alles teurer wird, doch bleibt der
Zusammenhang, wie ich sehe, im Verhaltnis oder schlagt
vielleicht cher zu meinen Guns ten aus. Auf der Hochschule
geht es mir gut, ich habe ein Kolloquium mit Vorziiglich
bcstanden, und zwar bei einem Professor, von dem es
heiBt, er sei ein gemein strenger Kerl, zu mir war cr aber
ziemlich freundlich. Dann hatte er immer weniger zu
schreiben, richtiger gesagt: immer weniger einfach mitzu-
teilen. Oder soil ich vielleicht schreiben, daB ich diescr
Frau mit Namen Gerda auf lauere, von der Hummel sagt,
sic sei eine gewohnliche Dime oder cine Kommunistin? . . .
Es geht mir gut, ich arbeite viel: das ungcfahr ware der
standige Text der monatlichen Briefc gewesen, — Geld
habe ich, Sorgen keine, ich hofFe, auch euch geht es gut.
Ein paar Briefbogen verschmierte er, als er das erstcmal
an Agota schrieb. Agota, ich danke dir, so fing er an und
dachte an ihren Mund, dann zerriB er das Papier. Agichen,
ich denke viel an Dich . . . blodsinnig banal, das kann ich
doch der nicht schreiben, die Wochen hindurch an meincm
Bett Mit schwercr Miihe brachtc er schlieBlich
eincn zwei Seiten langen Brief zustande, und als er ihn
durchlas, kam er geradczu in Wut iiber die oberflachlichen
und gleichgiiltigcn Mitteilungen, iiber den kalten, interesse-
losen Ton, — er schickte den Brief nicht ab. Es ist besser,
schoner und stilvoller, wenn ich ihr nicht schreibc: das fiel
128
ihm eincs Tages cin, als er an sic dachtc, — spater, wenn ich
es schon zu etwas gebracht habe . . . Und dann in dcr
Sylvesternacht, als Hummel aus dem Weihnachtspaket aus
Sankt Polten die beiden Flaschen Tannengoldwasser aus-
packte und die ganze Gesellschaft sich an diesem Gift-
trank griindlich berauschte, schrieb er mit benebeltem
Kopf auf ein Stuck Papier: Ein gliickliches neues Jahr
wunsche ich Dir, ich bete Dich an und werde Dich nie
vergessen, Antal, — und das schickte er noch in derselben
Nacht von der Hauptpost ab. Zum Gliick fiel ihm diese
Tolpelhaftigkeit erst nach Tagen ein, als der Arger zu spat
kam, und so war cs besser, nicht mehr an die Sache zu
denken.
Es wurde Friihling : an den streng der Ruhe bestimmten
Sonntagen machte er groBe Spaziergange durch die Stadt,
spater auch in die nachste Umgebung. Leicht, schon waren
diese Sonntage. In zehn Minuten fand sich unbedingt ein
lautes, lachendes junges Madel, mit dem man den Sonntag-
nachmittag angenehm verbummeln konnte, und die meisten
dachten nicht lange nach, wenn er sie nach einer Tasse
KarTee oder einem Paar Wurstchen und einem Krug Bier
mit in seine Wohnung bat. Frau Wessely schloB sich ge-
wohnlich um siebcn Uhr abends in ihr Zimmer ein und war
bis zum Morgen nicht sichtbar, — nach Hummels Meinung
aus dem Grunde, weil ihr verstorbener Mann abends um
sieben im Rathauskeller vom Schlag getroffen worden war
und morgens um fiinf zum letztcnmal geatmet hatte, —
die trampelige, sommersprossige Magd verbrachte ihre
Nachte meist beim schweigsamen Miihlbeck, und so ver-
hinderte oder beanstandete nicmand die fliichtigen nacht-
lichen Besuche. Die Sonntagsmadchen, — Verkauferinnen,
Hausmeisterstochter, besserc Dienstboten, — paBten voll-
kommen in sein halbwegs unbewuBtes Programm, dessen
halbwegs unbcwufltes Leitmotiv war : keineVerpflichtungen.
Es kam zwar vor, daB ein MSdchen aus einem Blumenge-
schaft auf dem Schottenring ihn drei Sonntage nacheinander
9 KOrmendi, Budapeat 129
abholtc, als er ihr indessen am vierten Sonntag sagte:
,,ich hab* ein bifichcn Kopfschmerzen . . ." fragte sie bloB:
,,hast du wirklich Kopfschmcrzen odcr nur fiir mich?"
Er lachte und gab keinc Antwort, Da setzte sie den or-
dinaren kleinen roten Hut wieder auf, sagte: ,,Servus,
Putzi!" und lieB ihn stehen. Spater ging er in bester Laune
weg und schlenderte den ganzen Nachmittag mit einem
M£del durch den Prater, das cr in der Elektrischen auf-
gegabelt hatte. Verantwortungslosigkeit, dachte er, ich
bin fremd hier . . .
Dieses gewaltsam freie Leben dauerte so lange, bis er
Anfang Juni ein Maclchen mit Namen Kathe kennenlernte,
die im Hause eines Bankdirektors Erzieherin war. Kathe
sprach ihn an, — das geschah so, daB er eines Samstag-
abends auf dem Wege nach Hause vor einem Theater
stehenblieb und sich das Programm ansah. Dann be-
trachtete er die ins Theater Stromenden und bemerkte, daB
neben der eincn Saule eine hiibsch aussehende junge Person
mit braunem Haar stand und ihn beobachtete. Er wendete
sich ihr zu, um sie besser in Augenschein zu nehmen; in
diesem Moment trat sie vor, blieb vor ihm stehen und
sagte: ,,Entschuldigen Sie, mein Herr, konnten Sie vielleicht
fur heute abend zwei Parkettplatze gebrauchen?" — ,,Leider
nicht", sagte er kurz, doch gleich hinterher bedauerte er
diese rasche Zuriickweisung. ,,Schade", antwortete das
Madchen und fiigte hinzu, gleichsam sich entschuldigend :
,,ich habe namlich zwei Karten, aber mein Brautigam hat
abtelefoniert, und es hat keinen Sinn, daB ich allein . . ."
,,Bitte, Fraulein, cine Kartc wiirdc ich schlicBlich iibcr-
nehmen, vorausgesetzt, daB . . ." er schwieg einen Augen-
blick vcrlcgcn, ,,vorausgesct2t, daB Sie die andere behalten/*
Ein leichtcs Licheln flog \iber ihr Gcsicht. ,,Halbe Losung",
sagte sie, ,,abcr noch immer besser, als beide Billetts weg-
zuwerfcn, derm die Kasse nimmt sie nicht zuruck." Er
stellte sich vor, sic gabcn sich die Hand und gingen ins
Theater. Eine suBlichc, klcbrige Wiener Opcrcttc wurdc
130
gespielt, der obligate groBc Walzer schien ein Schlager zu
sein, den das Publikum mitsang; mit erhitztem Gesicht
flusterte das Madchen: ,,Fabelhaft! Fabelhaftl" und flotete
begeistert: ,,Prinz meines Herzens, komm zu mir in meine
Hebe alte Wiener Stadt . . ." und dann, beim Finale des
zweiten Aktes, lieB er das Programm von seinen Knieen
auf die Erde fallen, biickte sich und streifte beim Auf heben
wie zufallig des Madchens Bein. Sie tat, als bemerkte sie
es nicht. In der zweiten Pause holte er SiiBigkeiten, sie
dankte und sagte: ,,Sie sind wirklich ein Kavalier." Nach
zehn Uhr war die Vorstellung zu Ende; der laue Sommer-
abend lag im Sternenglanz des klaren blauen Himmels iiber
der Stadt, — ,,noch eine gute Stunde habe ich", sagte
Kathe, ,,wir konnten zu FuB nach Hause gehen, begleiten
Sie mich ein Stiickchen. — Prinz meines Herzens . . .
eigentlich verstehe ich selbst nicht, daB ich so ohne weiteres
mit Ihnen ins Theater gegangen bin und Ihnen nun ge-
statte, mich nach Hause zu bringen . . . dabei weiB ich nicht
einmal, wer Sie sind." Er erzahlte, er sei Ungar, aus
Budapest, besuche hier die Technische Hochschule und
wohne bei Frau Wessely. ,,Prinz meines Herzens . . . und
gefallt es Ihnen bei uns?" — ,,Mein Gott . . . konnte es mir
denn nicht gefallen in einer Stadt, in der ich Sie kennen-
lernen durfte?" Sie lachte dankbar bei diesem auf der Hand
liegenden billigen Kompliment; dann erzahlte sie, sie sei
aus Linz nach Wien gekommen, sei einundzwanzig Jahre
alt, diplomierte Kindergartnerin, habe einen Brautigam,
Aloys Tangl, der ein sehr gut gehendes Klempner- und
Installationsunternehmen besitze, das . . . das Schlimme sei
nur, daB sie schon seit einiger Zeit spiire, irgend etwas
stimme nicht ganz mit Aloys Tangl. Hie und da bleibt er
aus, kommt zu spat zu den Rendezvous, auch neulich hat
sie fast eine halbe Stunde am Praterstern auf ihn gewartet,
und da sagte der unverschamte Mcnsch noch: ,es ist wirk-
lich bloB ein Zufall, daB ich uberhaupt kommen konnte.* —
9,Sic mussen nimlich wisscn", fiigte sie hinzu, ,,daB Tangl
cine vcrwitwctc Kusine hat, die zwar ungefihr zehn Jahre
alter ist als er, aber Eigentiimerin eines schonen einstockigen
Hauses und eines sehr guten Gasthauses in Wienerneustadt
ist und auBerdem eine Villa in Mariazell besitzt, — und
nun mochte Tangls Mutter, daB er diese Witwe heirate, und
wird ihn bestimmt so lange pisacken, bis Nicht wahr,
das kann ein anstandiger Mann doch nicht tun?" fragte sie
in emportem Ton, und ein wenig resigniert fiigte sie hinzu :
,,aber schlieBlich, wcnn er sie heiratct, soil er mit ihr
gliicklich werden, ich geh deswegen nicht in die Donau." —
,,Gottbewahre", antwortete er naiv, ,,einso hiibsches junges
Madchen ..." Dann sprach Kathe von dem Haus, in dem
sic lebte, vom Bankdirektor, der dauernd unterwegs sei
zwischen Berlin, Zurich und Wien, von der Frau, die man
kaum im Hause sehe, wenn der Mann nicht da sei ; von der
zwolfjahrigen Olga, ,,ein merkwiirdiges, verschlossenes,
blasses Kind, stellen Sie sich vor: neulich, als ich mir am
Abend ein Bad gemacht hatte, war sie in den Badezimmer-
schrank gekrochen, und als ich schon in der Wanne saB,
tritt sic plotziich heraus, sagt kein Wort, guckt bloB und guckt
und fangt plotziich an zu heulen, ist kreidebleich und zittert,
und stundenlang konnte ich sie kaum beruhigen!" Sie
erzahlt vom achtjahrigen Egon, ,,ein wahres Genie, ohne
Vorlagen baut er ganze Palaste mit Richters Steinbaukasten
Nummer zwolf I" — erzahlt von dem luxuriosen Haushalt,
den groBcn Gesellschaftcn und den Dienstboten, die, —
mit Ausnahme der alten Kochin, — natiirlich immer gegen
sie intrigieren. Langsam gingen sie iibcr die StraBe, und als
sie in der inneren Stadt in eine ruhige und dunklerc StraBe
einbogen, sagtc Kathe: ,,Sie konnen sich einhangen." Er
faBte sic unter, bcugtc sich zur Scite und kiiBte durch die
dunne weiBe Bluse ihrc Schulter und dann den nackten
Hals. ,,Das habc ich Ihnen nicht erlaubt", sagte sic lachend,
,,haben Sic keinc Angst vor mcincm Brautigam?" —
,,Ach, habcn Sic dcnn wirklich einen Brautigam?" Sic zog
sofort ihren Arm aus dem seincn und sagtc : , Jctzt habcn
Sic mich beleidigt." — ,,Aber, licbe ..." — ,,Nichts
liebe, ich bin beleidigt." Schweigend gingen sie weiter,
dann blieb sie vor einem vornehmen zweistockigen Haus
stehen. ,,Hatten Sie mich nicht beleidigt, dann wiirde ich
jetzt sagen . . ." er ergriffihre Hand und kiiBte sie: ,,Kleines
Dummchen, das hab ich doch nicht ernst gemeint!" —
,,Ich weiB", antwortcte sie, ,,also dann . . . nachsten
Mittwoch habe ich einen freien Tag, kommen Sie mich um
vier abholen, wenn schones Wetter ist, gehen wir nach
Schonbrunn. Aber Sie brauchen nicht vors Haus zu
kommen, dort an der Ecke — "
Am Mittwoch rieselte der Regen vom friihen Morgen
an, Kadar stand aber Punkt vier Uhr an der Ecke; das
Madchen kam auch. ,,BloB fur einen Augenblick", sagte
sie, ,,ich konnte nur eben entwischen, — groBe Neuig-
keiten, stcllen Sie sich vor. Erstens hat Tangl sich am Sonn-
tag mit seiner Kusine verlobt, gestern kam er mir das
melden, ich habe nicht viel Faxen gemacht, bloB gesagt,
leb wohl und werde gliicklich, darauf hat er gesagt,
deswegen konnten wir ja weiter gut miteinander stehen,
und da hab ich geantwortet : Servus, da ist die Tiir, du bist
noch immer da? Na, und zweitens verreisen Lehrners am
Samstag, die ganze Familie, die Kinder mit der GroBmama
nach Aussee, die Herrschaften zusammen nach Berlin und
dann in die Schweiz. Ich und die Kochin, wir bleiben zu
Hause, mir haben sie zwar gesagt, ich kann vier Wochen
auf Urlaub gchen, aber ich habe geantwortet, es sei doch
besser, wenn eine zuverlassige Person zu Hause bliebe, und
so haben sie das Stubcnmadchen weggeschickt. Eigentlich
weiB ich gar nicht, warum ich nicht fur vier Wochen nach
Hause fahre . . . ihnen ist es jedenfalls angcnchmer, wenn ich
in der leeren Wohnung bleibe. Also, Sonntagnachmittag
um drei seien Sie auf jeden Fall hicr vor dem Haus, dann
werden wir sehen ..." — Er sucht im Telcfonbuch —
Lehrner, Lchrncr, O. Richard, Bankicr, das wird er sein,
zwei Telcfonnummern hat er, muB ein rcicher Mann sein,
133
wahrschcinlich cin Schicber. Soil ich hintclcfoniercn? —
der Hcrr 1st daucrnd auf Reisen, und die Frau wird wohl
um dicsc Zcit kaum zu Hause sein, viclleicht meldct sich
Kathe, — nein, liebcr doch nicht, wcnn sic Samstag rciscn,
sind sic jetzt sicher alle zu Hause, auch die GroBmama.
Dieser Tangl . . . ganz wahrscheinlich ist die Sache nicht,
aber iibrigens, warum sollte es nicht moglich sein? die
Hauptsache ist schlieBlich, daB Kathe hiibsch ist ... oder
sogar schon, ausgesprochen schon und liebenswiirdig. Aus
Linz ist sic gekommcn, stammt gewiB aus einer besseren,
beziehungsweise guten Familie, ihr Vater konnte Lehrer
in Linz sein, oder vielleicht Postbeamter. — Die Sonne
scheint scharf auf die StraBenzeile ; kaum ist er vor dem
Hause angelangt, da erscheint Kathe hinter dem Tor und
winkt ihm, er solle hereinkommen. Etwas verlegen tritt
er durch das Gittertor mit den geschliffenen Glasscheiben :
marmornes Treppenhaus, breite Treppe von steifer Linien-
fiihrung, weiche rote Laufer. ,,Die Wohnung haben wir
abgeschlossen", sagt Kathe und offnet cine kleine Tiirc
dem Eingang gegenuber: ,,hier liegen Kiiche, zwei Dicnst-
botenzimmer, mein Zimmer, Kinderzimmer und Schrank-
zimmer. Die Kiiche? Ja, die Kochin ist heute nicht zu Hause,
und iiberhaupt, sie ist eine sehr brave, ordentliche alte
Person." Kathes Zimmer, — iiber einen brciten, glas-
gedeckten Flur gelangen sie hin, — ein schones, hcllcs
Zimmer, das nach einem gartenartigcn Hof liegt. Die
weiBen Leinenvorhange am Fenster sind heruntergelassen,
der Tisch ist elegant, mit feinem Porzellan, zum Tec
gedeckt. Wie mogen erst die andern Zimmer aussehen,
wenn das schon so anstandig ist, denkt cr, als sein Biick
auf den eingebauten Waschtisch, das leuchtende Metallbett
und den groBen weiBlackierten Schrank fallt. Wie wenn cr
sich ein wenig geniert fiihlte, das Madchcn indessen lacht,
hiipft umher, erzahlt, und die Spannung lost sich allmahlich.
,,Denkcn Sic sich, was ich fur eine Schererei mit dem Kind
hattc; es stand schon fcrtig da im Reisekleid, das Auto
134
wartcte uotcn, die Grofimuttcr und der Herr wurdcn
ungeduldig, da fallt mir dcr Fratz urn den Hals, weint und
kuBt mich, sic konnten es kaum von mir losmachen, ich
war wahrhaftigen Gott geradezu in Verlegenheit. Ware es
cin Junge", sagt sie, ,,dann wiiBte ich, er ist in mich ver-
licbt." Und sie redet und erzahlt, von Linz, wo der Vater
stadtischcr Obergartncr ist, von ihrem Bruder, dcr seit
1910 in Chikago lebt, von Tangl, den sie zwar gehciratet
hatte . . . aber ein wenig frcut sie sich auch, ihn los zu sein,
er war kein besonders intelligenter Mensch; dann ist von
ihm die Rede, sie ist neugierig, fragt, mit was fur Leuten er
zusammen wohnt, wen er kennt, was er fur Plane hat, und
dann verwischt sich langsam die Grenze zwischen dem Sie
und dem Du, was sie sich zu sagen haben, wird immer
personlicher, ihre Blicke jagen sich mit unverhullter
Begierdc, — dann sitzt sie auf einmal auf seinem SchoB,
und seine heiBe, zitternde Hand gleitet begehrlich an den
jungen, wohlgeformten Beinen hinauf.
Wochenlang schon dauerte dicse Freundschaft und gab
ihm viel mehr, als er in den ersten Tagen geglaubt hatte.
Als er sich an jencm Sonntag gegcn Mitternacht von Kathe
verabschiedcte und sie sagte: ,,du kannst kommen, warm
du willst, du muBt mir nur vorher telefonicren, denn ich
will nicht, daB du der alten Kochin begegnest", fuhlte er,
daB sich diese Sachc nicht so gcstalten wiirde wie die bis-
herigen. Nicht darum, weil er bequem hierherkommen
konnte, nein, dieses Madchen war ganz bestimmt anders
und mehr als die iibrigen. Und da fiel ihm sofort Agota cin,
er suchte Ahnlichkeiten zwischen den beiden Frauen, als
cr aber zum zweiten und zum drittcnmal n::t Kathe zu-
sammen war, wurde es ihm klar, daB die beiden Frauen in
allcm das gcnauc Gegenteil voneinander waren. Nach
Agotas ungestiimer, freigcbigcr und fordernder Sinnlich-
keit erschien ihm Kathes dankbare, ein wenig verschamte,
empfangcndc, fast kindliche Hingabe aufregender; Kathes
Kameradschaftlichkeit war ruhegebcnder, leichtcr als
135
Agotas fesselnde Miitterlichkeit. Nacb und nach wuBte
Kathe von alien seinen Angclcgenheitcn, mit leichten und
klugcn Wortcn half sic ihm und brachtc ihn vorwarts, so
selbstverstandlich, daB er cs kaum bemcrktc. Im Sommcr
gab cs keine Mensa, und als Kathe dahinterkam, daB cr
an einen privaten Mittagstisch tcures Geld fiir ein elendes
Essen bczahltc, nahm sie ihn mit in ein kleines Restaurant
in der Nabe, und von da an aB cr immer dorr, gut und billig.
Sie sah, daB seine Wasche teucr und mit Chlor gcwaschen
wurde, und gab ihm cine Adresse, von wo er nun seine
Sachen strahlend weiB und ganz zuriickbekam, obendrein
noch um ein paar Heller billigcr. Nicmals ficl auch nur ein
einziges schwerwicgendes Wort zwischen ihnen, keincr
von beiden wollte in ihrem Verhaltnis etwas andercs
sehen als ... was denn eigentlich? Wenn wir zusammen
sind, dann ist es so, als sei sie meinc Frau, dachte er, und
wenn sie nicht bei mir ist, kommt es mir vor, als sei sie
meine Schwester. Der Sommer meintc es gut mit ihnen,
und als sie einmal weit auBerhalb der Stadt an der Donau
herumstromerten und cr das Madchen ansah, wie sie in
ihrem leichten weiBen Kleidchen mit aufgelostem Haar
flache Steine iibcr das Wasser hiipfcn lieB, loste sich ein schr
wohligcs und warmcs und freies Gcfiihl in seiner Brust;
er iibcrlcgte, wie man dieses Gefuhl wohl bcncnnen konne,
aber es fiel ihm nichts weiter ein als: zu Hause.
Bei Frau Wessely wohntcn sic damals nur noch zu
dritt, cr, Gcrda Buhr und im Zimmer der vier ein Student;
die iibrigen waren fiir den Sommer nach Hause gcgangen,
und der Wunderrabbi war im Institut unentgeltlich als
Interner aufgenommen worden. Einmal gelang es Kadar
mit Miihc, Kathe mit auf scin Zimmer zu nchmcn, — ,,das
geht denn doch nicht, daB du nicht einmal siehst, wo ich
wohne", — sic blickte sich um, machtc im Handumdrehen
Ordnung im Zimmer und im Schrank. Von da an fand sic
sich auch ofters uncrwartct bei ihm ein; ,,ich mochte gerne
wissen, was du machst, wenn du nicht mit mir zusammen
136
bist." Die Stunden ohnc Kathe warcn ziemlich cintonig:
Biicher, Zeichnungcn, Biicher, Zeichnungcn. Sein crstcs
Examcn wolltc er mit Erlaubnis des Rektors vor dem ncucn
Semester ablegen, er hatte also intensiv zu arbeiten. Kathc
betrachtete die Zeichnungen mit Andacht und ein klein
wenig MiBtrauen. Davon wird er lernen, wie man Hauser
baut? Und die Biicher und die vielen Zahlen und Ab-
bildungen . . . nein, es war doch amiisanter, wie sie sich die
Sache verges tell t hatte, — ,,so wie es dein Zogling mit dem
Steinbaukasten macbt?" warf er dazwischen. Sie lachten,
und iiberhaupt war ihr ganzes Zusammensein ein herzliches,
klarcs Lachen. Ein paar unvergeBliche strahlende Sommer-
tage im Wiener Wald an irgendeinem kleinen Ausflugs-
punkt, ,,o Gott, nocb nie habe ich einen so schonen Sommer
gehabt und werde vielleicht auch keinen solchen mehr
haben", sagte Kathe einmal, und auch er fiihlte, daB das
Leben schon und lebenswert war und daB alles glatt und in
Ordnung ging. — Niemals sagte er dem Madchen ,,ich
liebe dich", — obschon er nach jedem Tag, der vergangen
war, deutlicher wuBte, daB er Kathe hinter dem kindlichen
Aufflammen mit einem ernsten, iiber den Korper hinaus-
gehenden Geftihl liebte, — und sie fragte auch niemals
danach, sie wollte keine Gestandnisse horen. Sie wuBte, cs
gibt Dinge, die schoner und anstandiger gesagt sind, wenn
sie nicht in Worten ausgesprochenwerden; undals er einmal
von den kommenden Jahren redete, ,,ich muB mich noch
viel plagen und viel arbeiten, bis ich es zu etwas bringe,
und wenn ich fertig bin, dann will ich zuerst versuchen,
eine Stellung bei einem gutrenommierten Unternehmer zu
bekommcn, um mich einzuuben, und dann ..." — ,,na,
und was wird dann?" — ,,dann, soil ich dich dann hei-
raten?" — da fing sie an zu lachen: ,,ach Gott, du Dummer,
vielleicht lebe ich dann schon nicht mehr."
Mitte August wurde Kathc unruhig. Seit fast zwei
Wochcn hatte sie keine Nachricht von ihrer Hcrr-
schaft, — ,,sie werden doch nicht eincs Tages plotzlich
157
hereinplatzcn," — und Endc August kam sic dann cincs
Mittags zu ihm gclaufcn: cin Telegramm ist gckommcn,
die Hcrrschaftcn sind morgcn friih zu Hausc, die Kinder
kommen iibcrmorgen an. ,,Jetzt muBt du abwarten, bis
ich dir schreibc, daB du kommen kannst, oder ich komme
zu dir, du kannst dir denken, was ich in den ersten Tagen
fur einen Rummel haben werde." — Es vergingcn wohl
acht oder zehn Tagc, bis die erstc Nachricht von Kathe
kam: ich habc schrecklich viel zu tun, schrieb sic, die Kinder
haben sich nicht besonders gut crholt, der Junge hustet
jetzt noch, vorlaufig weiB ich gar nicht, wann ich Dich
sehen kann, ich werdc Dir wieder schreibcn. — Wiitcnde
Hochsommerhitze ; sinnlos und leer vergehen die Tage
ohne Kathe. Tangl? denkt er einmal, und sofort geht er hin
und schleicht cine halbe Stunde um das Haus herum, Kathe
entdeckt er jedoch in keinem der Fcnstcr. Unlustig geht
er nach Hause; und als er in der Wohnungstiire der blonden
Frau begegnet, die er seit Wochen nicht gesehen hat,
packt ihn cine sinnlose Wut, er griiBt nicht und schlagt
knallend die Tiire hinter ihr zu. — Die Zeit dcs Examens
kam naher, aber mit dem Lernen wolite es gar nicht rccht
gehen, die Zeichnungen miBlangen. Stundenlang saB er in
seinem Zimmer (iber einem aufgeschlagenen Buch oder eincr
halbfertigen Zeichnung und kritzelte sinnlose Worte auf
den Rand oder auf das Zeichenbrett. Ich langweile mich,
dachte er einmal, und da erschrak er. Darf ich mich denn
langwcilcn? kann ich mir erlauben, mich zu langweilcn? —
es geht mir wohl zu gut! — Noch einmal ging er vor das
Lehrnersche Haus, hatte sogar den Gcdankcn, zu klingcln
und Kathe hemnterrufen zu lassen. Nur . . . wenn ich sic
jetzt heruntcrrufe, werden wir uns zanken, dachte er und
zog die Hand vom Klingelknopf zuriick. — Eines Tagcs
kam dann endlich doch die Postkarte: morgen abend
komme ich zu Dir, crwartc mich zu Hause. An dicscm Abend
klagte Kathe in einem fort. ,,WciB Gott, was mit den
Gohren los ist : der Junge hustet, hat dauernd Tempcratur-
crhohung und 1st demcntsprcchcnd quengelig, und das
Made! 1st ganz vcrriickt, sic spricht mit keinem, iBt kaum
was und wird nur dann cin biBchen ruhiger, wenn ich ihr
crlaube, zu mir zu kricchcn. Die Geschichte fangt an, auBer-
ordcntlich unangenehm zu wcrden, und ich habc den
bestimmtcn Verdacht, daB das Kind widernatiirliche Ver-
anlagungen hat, aber der Mutter wage ich nicht davon zu
sprechen, schlieBlich kann oder konnte sie es ja auch sclbst
bemerken, aber es scheint, bei Lehrners stimmt auch etwas
nicht." Eines Abends, — ,,ich ordnete gerade im Schrank-
zimmer die frisch gebiigelte Kinderwasche", — wirklich
ganz zufallig horte sie da ein paar Worte, aus denen man
schlieBen kann, daB . . . namlich, der Herr und die Frau
waren im Zimmer der Frau, oder vielmehr der Mann kam
zur Frau ins Zimmer und sagte ganz laut: ,,Du, Olga, ich
halte es fur hinreichend, wenn Doktor Scholler mein
Partner bei meinen Geschaften ist." — ,,Na, und?" fragt
darauf die Frau. ,,Na, und?" antwortet Lehrner hohnisch,
,,glaubst du etwa, daB niemand die Geschichte zwischen
euch bemerkt, auch ich nicht?" — ,,Na, und?" sagt Frau
Lehrner wieder. ,,Und? ich habe nichts dagegen einzu-
wenden, daB du dich amiisierst, das weifit du sehr gut, aber
dagegen verwahre ich mich." — ,,Denkst du nicht, es
konnte vieileicht jemand im Schrankzimmer sein?" unter-
bricht ihn die Frau, ,,muBt du denn schreien? muB das
Personal alles horen?" — Da war Kathe schnell aus dem
Zimmer gegangen und hatte leise die Tiire zugemacht.
Also ... so stehts. — Nach zehn Uhr ging sie, und als er
allein gebiieben war, bemachtigte sich seiner ein kaltes,
unangenehmes Gefiihl, oder vielmehr das pcinliche, un-
ruhige Gefiihl, das seit Tagen in ihm lebte, setzte sich fort.
Irgend etwas stimmt hier nicht, oder . . . fangt an zu ver-
derben. Ich war schon zu sehr daran gewohnt, daB alles
glatt und angcnehm, nach meiner Bequemlichkeit ging.
Die aufgeregte, von fluchtigen Minuten gejagte Um-
armung hatte ihn ermiidct, miBgestimmt und schlaflos lag
139
cr im Bctt. Nach Mittcrnacht horte er, daB jemand iibcr den
Flur ging : leichte, Icisc Schritte, gewiB 1st Gerda Buhr nach
Hausc gckommcn. Was mag dicse sonderbare Frau wohl
scin? Seit damals, als sie den Wunderrabbi so schmahlich
abgetrumpft hatte, war sie unsichtbar. Eine Nachtexistenz.
Woven mag sic leben? Ob sie wirklich Kommunistin ist
oder bloB cine Art Nutte? Was gcht mich das an, wovon
sie lebt? Wovon lebe ich denn? Vielmehr wovon werde
ich leben? Die Franken sind im Sommer gewaltig zu-
sammengeschmolzen, das ahnte er mehr, als er es wufitc,
denn die Berechnung schob er immer auf, und nur blaB
hatte er das dumpfe, erschreckende Gefuhl, mehr aus-
gegeben zu haben, als er programmaBig hatte ausgcben
diirfen. Die Ausfliige, die Restaurants, die Vergniigungen,
und dann hatte er — ganz uberfliissigerweise — einen
grauen Anzug und ein Paar gelbe Halbschuhe gekauft.
Was soil das? will ich etwa ein Dandy sein? Oder will ich
Examen machen, fertig werden, eine Stcllung bekommen,
arbeiten und Geld verdienen? Hab ich denn den Verstand
verlorcn? Wochenlang gehe ich zu einer Frau in cine fremde
Wohnung wie ein Soldat oder ein Brieftrager, wic ein
Louis — und dann bin ich gereizt und lasse mich gehen,
in dem Augenblick, da dieses bequeme . . . jctzt suchtc er
nach einem Wort, das seinen plotzlich entbrannten Argcr
ableitcn sollte, an dem er sich bcruhigcn und durch das cr
sich gerechtfertigt sehen konnte; und wie er so leer und
mit dem Schreckcn des Ausgedorrtseins ins Dunkel starrte,
knirschte er mit den Zahnen. Verdammtc Blase, dachte cr,
bin ich deshalb nach Wien gekommen?! und er riB sich
die Decke iibcr den Kopf. Am nachstcn Tage stiirzte er
sich vcrbittcrt, mit wiitcndcr Gewalt in die Biicher, und
diesc Lcrn-Rage hiclt tagclang an. Beim ersten Examen
kam cr mit Stimmcnmchrhcit durch; und sofort bcgann das
ncuc Univcrsitatsjahr. Kathe kam gcwohnlich cinmal
wochentlich zu ihm, abcr dicsc Zusammcnkunftc hattcn
schon etwas Gedr&ngtes, auf halbc Stunden Bcmcsscnes
140
und Welkes, etwas . . . ctwas Fluchtartiges. Das Madchcn
lieB Unruhe und UngewiBheit hinter sich im Zimmer
2uriick; einmal, — es war zehn Uhr voriiber, — war sie
gerade im Weggehen, als er bemerkte, daB ihr Strumpf
zerrissen war. ,,Kathe", sagt er, ,,du hast ein Loch im
Strumpf." — ,,Ja, ich weiB", antwortet sie, ,,ich habs schon
gesehen, als ich ihn anzog." — ,,So? warum hast du ihn
denn dann angezogen?" — ,,Ich war doch so eilig", —
und dann geht sie. Er will ihr nach, bleibt aber und geht nur
nervos im Zimmer auf und ab. Komm du mir nicht mehr
mit zerrissenen Striimpfen, schreit eine brutale Stimme in
ihm. Ein anderes Mai sieht er, daB ihr Finger voll Tinte
ist. ,,Deine Hand ist voll Tinte*', sagt er und sieht zu Boden.
,,Oh, tatsachlich, bevor ich wegging, habe ich schnell nach
Hause geschrieben." — ,,Und warum hast du dir die Hande
nachher nicht gewaschen?" Sie blickt ihn an, aus ihren
Augen leuchtet verdutzter Schreck: ,,Toni", sagt sie leise,
,,was hast du? deine Stimme ist so eigentiimlich, du weiBt
doch, wie sehr ich mich beeilen muB." Er gibt keine Ant-
wort, und die Umarmung ver7Ogert er dadurch, daB er
umstandlich ein Pyramidon einnimmt, ,,ich habe Kopf-
schmerzen", sagt er, und eine Weile sitzen sie stumm da.
Dann, an einem sonnigen, herbstlichen Vormittag, erblickt
er Kathe zufallig, wie sie mit dem kleinen Madchen iiber
die StraBe geht. Das Kind hat sich bei ihr eingehangt. Na,
das sehe ich mir jetzt an, denkt er, aber als sie hochstens
noch zwanzig Schritt voneinander entfernt sind, bleibt er
hinter einer LitfaB-Saule stehen und laBt sie vorbeigehen.
Sie hat mich nicht bemerkt, sagt er vor sich hin, dann geht
er weiter. Sein Schritt ist leicht, und leise pfeift er.
Das neue Semester schreitet vorwarts: Biicher, Mensa,
Corned-beef. Nichts hat sich verandert; er gehort zu nie-
mandem und nirgendshin; auBer mit Kathe und scinen
Hausgenossen kommt er mit keinem Menschen zusammen.
Er lebt in ciner grauen, dehnbaren Masse, im Alltag bitterer,
zahneknirschender Entschlossenheit. Feuerstein ist nicht
141
zuriickgekommen, 1st als Internet im Seminar geblieben,
Wiedmann spielt auf der Grazer Universitat welter Karten;
in seinem Zimmer wohnt jetzt einer von den dreien, vor-
iibergehend, bis Frau Wessely es besser vermieten kann.
Die Abende verbringt er gewohnlich allein zu Hause,
manchmal plaudert er eine Stunde mit Hummel, einmal
hat er einen jungen Mann mit Namen Porosz bei sich zu
Gast, der ihn auf der StraBe angesprochen hatte: ,,nanu,
Kidar, Sie sind auch hier? auch Emigrant?" — ,,Nein",
antwortete er abweisend, ,,ich habe nichts mit — ", aber
er konnte Porosz nicht abschiitteln. ,,Ich bin leidcr
Emigrant. Hab ich diese ganze Hetz notig gehabt? Was
fur ein Blodsinn war es, bei diesen Halunken eine Rolle zu
ubernehmen . . . na ja, wer konnte damals wissen, daB wir
tatsachlich umsonst auf die Weltrevolution warten. Jetzt
hocke ich hier in Wien, mache gar nichts, verdiene mir hie
und da ein paar Kronen mit Schmahschriften, die ich im
Emigrantenblatt schreibe und von denen mir selbst iibel
wird." Dann versprach Porosz, ihn aufzusuchcn, und
loste dieses Versprechen auch ein, sehr eilig sogar. Am
nachsten Abend war er schon bei ihm, verschlang eine
Buchse Rindfleisch und weinte und jammcrte in einem fort,
,,warum um Gottes willen muBte ich auf den Quatsch cin-
gehen, jetzt sitze ich da und kann verschimmeln, niemals
laBt sich das wieder gutmachen . . ." Kathe meldete sich
piinktlich wie eine Uhr wochentlich einmal, um die Liebe
einzukassieren; und an einem scheuBlichen, kalten und
nassen Herbs tabend, als sie sich in Eile anzog, betrachtete
er vom Bett aus beim gahnenden gelben Licht einer
elektrischen Birne die doppelte Figur dcs vor dem Spiegel
stehenden Madchens. Komisch. Wie klein sie ist, und was
sie fur starkc Briiste hat. Oder hat sie zugenommen? Das
Korsctt verrutschte ihr, mit zusammengepreBtem Mund und
einer komischcn, kindlichen Grimasse versuchte sie, es
geradezuziehcn — da stieB er ein haflliches, meckerndes
Lachen aus, — ,,was ist?" fragt das Madchen und sieht ihn
142
aus dem Spiegel an. ,,Nichts", sagt er ganz obenhin und
unbeirrt, ,,du machst blofi so ein komisches Gesicht." —
,,So", antwortet sie nach einer kleinen Weile kiihl, ,,gefallt
dir mein Gesicht nicht?" — ,,Na, Kathili", beeilt er sich
ein wenig reuevoll, ,,sei doch nicht albern, es ist doch alles
gut." — ,,Woher weiBt du das so genau?" fragt Kathe nun
schon aggressiv, ,,und wenn ich nicht mehr wieder-
komme?" — ,,Na, na, bloB keine Albernheiten, natiirlich
kommst du wieder." Und natiirlich kam sie. Aber jetzt
sprachen sie kaum mehr miteinander. Wenn sie kam,
setzten sie sich an den Tisch, aBen ein paar Bissen von dem,
was er hingestellt hatte, ein Weilchen schwiegen sie, dann
flogen einige fremde, immer unsicherer klingende Worte
auf und fielen zuriick in die leere Stille. Und wenn er sie
beriihrte, dann zog sie sich gewohnlich schnell und schwei-
gend aus, und sie gingen ins Bett.
Eines Sonntagabends, — ungewohnlich heftiger Wind
fegte den schneeigen Regen iiber die Stadt, — klagte
Kathc, sie habe kaum kommen konnen, der Kopf tue ihr
weh, und sie habe ein wenig Schwindel. Er nahm ihr
Gesicht zwischen die Hande und sah ihr in die etwas
triiben, umranderten Augen. Von dieser lieben, zartlichen
Geste — wie es lange keine zwischen ihnen gegeben
hatte — wurde sie sofort weich, umarmte ihn mit groBer,
tiefer, trauriger Anhanglichkeit und fing an zu weinen.
,,Toni, du Lieber, wir haben uns doch noch lieb, ja?"
Er erschrak bei diesem Ton und furchtete, jetzt konnte eine
Auseinandersetzung folgen, Tranen, Romantik, Schwiire
und dann . . . dann wiirde er sie ganz bestimmt stehen-
lassen und aus dem Zimmer gehen, sogar aus der Wohnung.
Kathe umklammerte ihn jedoch in plotzlich erwachter
Begierde, und als er ihren heiBen, keuchenden Atem in
seinem Gesicht spiirte, dachte er, sie muB wohl Fieber
haben, anscheinend ist sie wirklich krank. — Donnerstag
friih fing ihm der Kopf an zu schmerzen, und in der Kehle
fiihltc er ein Kratzen. Mittags in der Mensa schwindelte es
ihn schon heftig, auf dem Nachhauseweg kaufte er in elner
Apotheke Aspirin und bat Frau Wessely um das Thermo-
meter: die Quecksilbersaule blieb auf vierzig-zwei stehen.
Influenza, dachte er, warf sich ins Bert und hatte nicht
einmal soviel Kraft, um ein Aspirin einnehmen zu konnen.
Der Hals tat ihm furchtbar weh, er wollte Wasser trinken,
konnte aber die Hand nicht ausstrecken, starrte nur im
Dunkel nach dem Glas hin. Er schlief noch, lag vielmehr
halb betaubt im Bett, als Frau Wessely am nachsten Morgen
an seiner Tiir klopfte. ,,Um Gottes willen", sagte sie und
wurde kreidebleich, ,,Sie haben ja das Gesicht und den Hals
voll Ausschlag, wir rmissen sofort den Arzt rufen." Im
Hause wohnte ein junger Arzt, — ,,Herr Doktor ist leider
nicht zu Hause, er ist ins Diana-Bad gegangen", sagt seine
Wirtin. Nach zwei Stunden kommt der Arzt zuriick, die
alte Frau schickt ihn sofort zu Frau Wessely hinauf. Der
Hals tut ihm nicht mehr weh, aber es schwindelt ihn, und
das Fieber tobt in seinem Korper. Der Arzt tritt ein, unter-
sucht ihn eine Sekunde, ,,Scharlach", sagt er, ,,treffen Sie
bitte sofort Vorkehrungen, daB der Kranke ins Kranken-
haus transportiert wird, oder wiinschen Sie ihn im Hause
zu pflegen?" Gerenne, Kopflosigkeit, Frau Wessely weint
handeringend, — von alledem nimmt er kaum Kenntnis,
gleichgultig liegt er da, — am friihen Morgen schon iiber
vierzig Grad Fieber. Der Arzt bekommt mit Miihe eine
Telefonverbindung mit einer Krankentransport-Gesell-
schaft und bestellt den Wagen fiir ansteckende Kranke,
dann spricht er mit einem Kollegen aus dem Allgemeinen
Krankenhaus und geht. Nach einer halben Stunde ist der
Wagen da: niemand weiB, was zu tun ist, niemand wagt,
in sein Zimmer zu gehen. Da erscheint Gerda Buhr auf dem
Korridor. ,,Schon seit einer halben Stunde hore ich mir
dieses Gejammer an", sagt sie, ,,was soil derm das, wie kann
man blofi so unbeholfen sein?" — ,,Aber, bitte sehr,
Fraulein", antwortet die sommersprossige Magd, ,,eine
ansteckende Krankhcit ... das will sich wirklich keiner
144
holenl" — ,,Wenn Sic Angst haben, dann scheren Sic sich
raus und stehen hier nicht im Weg, wenn Sie sowieso nicht
helfen", schnauzt sie das Madchen an und geht zu Kadar
ins Zimmer. Die Krankentransportleute heben ihn gerade
auf das Tragbett. Kadar blickt die Frau an, sein Mund
offnet sich langsam. ,,Schon gut", sagt sie, ,,Sie brauchen
keine Angst zu haben, 's wird schon nicht so schlimm
werden." Sie geht an seinen Schrank, stopft seine herum-
liegenden Sachen hinein, dann fangt sie an zu kramen,
unter den Hemden findet sie in einer flachen Blech-
schachtel sein Geld, ,,sieh mal einer an, Frankenl" —
sie ziihlt es und sagt zu Kadar: ,,sechshundertzwanzig
Franken habe ich hier gefunden, die nehme ich an mich,
damit sie nicht etwa ... Sie konnen ihn schon wegtragen",
wendet sie sich an die Sanitater, ,,ich komme mit." Sie
schliefit den Schrank zu, zieht den Schliissel ab, sagt ein
paar Worte zu der noch immer halbohnmachtigen Frau
Wessely, — ,,telefonieren Sie gleich an die Desinfizier-
Anstalt, sie sollen sofort kommen", — zieht einen langen
blauen Mantel an und geht der Tragbahre nach.
ALLGEMEINES Krankenhaus . . . Abteilung fur an-
steckende Krankheiten. In der ersten Etage liegt er in
einem kleinen Zimmer, dessen Fenster auf den kahlen
winterlichen Hof sieht. Wenn er die Augen offnet, blickt er
gerade in die andere Ecke des Zimmers, wo das zweite
Bett steht. Im Bett sitzt ein junger Bursche, der ihn betrach-
tet. Als er bemerkt, daB Kadir die Augcn aufschlagt,
spricht er ihn mit leiser Stimme gleich an: ,,na, geht es
Ihnen besser? wir dachten wirklich schon, daB es mit
Ihnen . . ." er schweigt verlegen. Ein Weilchen herrscht
Stille. ,,Mir gehts schon gut", fangt der Junge wieder an,
,,aber Ihnen wars jetzt drei Tage hundemaflig schlecht.
10 KGrmendi, Budapest 145
Ihre Schwester wird es Ihnen schon erzahlen." — ,,Meine
Schwester?" er offnet seit Tagen zum erstenmal den Mund:
er wundert sich, wie fremd und verschleiert seine Stimme
klingt. ,,Na ja, die blonde Dame, die taglich zweimal
herkommt. 1st das nicht Ihre Schwester?" — Er schlieBt
die Augen wieder, er ist miide und gibt keine Antwort.
Meine Schwester. Meine Schwester? vielleicht meine
Kusine? vielleicht ist Mariska wieder in Wien? sollte sie
ihr Haar blond gefarbt haben? Stille. Dann spricht der
andere wieder. ,,Wenn ich nicht irre, dann sind Sie eigent-
lich . . . kein Kind mehr. Wie kann das sein, daB Sie in dem
Alter Scharlach bekommen haben?" — Seine Augen offnen
sich weit: ,,Scharlach?l" Der Junge fangt an zu lachen,
,,was? Sie wissen vielleicht gar nicht, daB Sie Scharlach
haben?" — ,,Scharlach. Doch, natiirlich, natiirlich weiB ich
das, Scharlach." — ,,Jawohl", sagt der Junge, ,,ich hab
auch Scharlach, aber mir gehts schon gut, noch etwas mehr
als zwei Wochen, dann kann ich nach Hause gehen", —
und er schneidet eine komische Grimasse. Dann sprechen
sie lange nicht. Spater kommt die Pflegerin herein, — eine
rotwangige, stattliche Person, — ,,na, junger Mann,
zwinkern wir endlich", sagt sie, ,,haben wir keinen Hunger?
wollen Sie ein biBchen Milch? das konnen Sie haben."
In kleinen Schliickchen trinkt er die lauwarme Milch; auf
einmal fallt ihm etwas ein. ,,Mein Geld", sagt er zur
Pflegerin, die ihm die Schnabeltasse an den Mund halt,
,,Ihr Geld? na, sowas, Geld haben Sie auch? Aber ich weiB
davon nichts. Das miissen Sie Ihre Verwandte fragen, die
Sie hergebracht hat." Meine Verwandte, meine Schwester,
rumort es ihm im Kopf, Mariska? Kathe? Frau Wessely?
Tante Anna? Er ist miide, der Kopf ist ihm schwer, er
schlaft ein. Als er aufwacht, sitzt auf einem Stuhl unten am
Bett Gerda Buhr. Natiirlich, meine blonde Schwester.
,,Na, fangen Sie endlich an, sich ein biBchcn zu ruhren",
sagt sie, ,,das ist recht. Ich hoffe, Sie kommen glimpflich
davon. Wie ich hore", winkt sie nach dem andern Bett
hin, ,,haben Sie nach Ihrem Geld gefragt. Das Geld habe
ich an mich genommen, sechshundertzwanzig Franken,
das heiBt, nur sechshundert, denn zwanzig habe ich ein-
gewechselt. Zerbrechen Sie sich jetzt nicht dariiber den
Kopf, wenn Sie etwas brauehen, dann sagen Sies mir."
Er sieht sie an, wie sie da am Bett sitzt. Kurz geschnittenes
blondes Haar hat sie, stahlblaue, glanzende Augen, eine
hohe weiBe Stirn, ein blaBrosa Gesicht. Bisher habe ich ihr
Gesicht noch nie so in der Nahe gesehen. Aber . . . warum
ist sie hier? wer ist sie? was will sie? ,,Bitte", er offnet
miihsam den Mund, — ,,nun?" — ,,ein biBchen naher . . ."
und mit den Augen winkt er nach dem andern Bett hin.
Sie beugt sich zu ihm hin, ,,nun — ?" — ,,Haben Sie keine
Angst, sich anzustecken? ich habe doch Scharlach." Die
blauen Augen ziehen sich zusammen. ,,Erstens habe ich
schon Scharlach gehabt, und iiberhaupt habe ich keine
Angst." — ,,Ja, aber . . . verschleppen Sie es nicht?" —
,,H6ren Sie mal, ich weiB ganz gut, wie ich auf mich und
auf meine Umgebung aufpassen muB, — kiimmern Sie
sich nicht darum." Bei ihrem gebieterischen und, er meint,
iiberfliissig energischen Ton schweigt er. Stille. Mit halb
geschlossenen Augen betrachtet er ihr Gesicht von der
Seite. ,,Bitte", sagt er nach einem Weilchen, — ,,ja?" —
,,wie lange bin ich eigentlich schon hier?" — ,,Den vierten
Tag heute." — ,,Und . . . bin ich zu Hause nicht gesucht
worden, oder ist nichts fur mich gekommen?" — ,,Nein",
sagt Gerda, ,,die Dame ist nicht dagewesen." — Die Dame
ist nicht dagewesen, wie bestimmt sie das sagt, die Dame ist
nicht dagewesen. Hinter den geschlossenen Lidern sieht er
jetzt Kathe, wie sie vor dem Spiegel steht und an ihrem
Korsett herumzerrt. ,,Wiirden Sie so freundlich sein, etwas
auszurichten, telefoniscb ..." — „ Warum nicht?" antwortet
Gerda Buhr und nimmt ein kleines Notizbuch aus der
Tasche, ,,sagen Sie nur den Namen." — ,,Kathe Ulbrich,
bei Direktor Lehrner." — ,,Kindermadchen?" fragt
sie scharf dazwischen. ,,Erzieherin", antwortet er mit
10"
Nachdruck. ,,Na, gut, Erzieherin. Jetzt weifi ich wenigstens,
wer Sie groBen Lummel angestcckt hat. Es sollte mich
wundern, wenn Ihre Freundin nicht auch mit Scharlach im
Bctt lage!" — ,,Mit Scharlach?" fragt er entsetzt, und im
selben Moment fallt ihm ein, daB Kathe am letzten Sonntag
iiber Kopfschmerzen und Schwindel geklagt hatte und
daB ihr Atem gliihend heiB war. Plotzlich wird er sehr
unruhig, ,,bitte, ich mochte unbedingt wissen ..." sagt er
laut, Gerda mahnt ihn sofort zur Ruhe : ,,still, still, keine Auf-
regung, Sie werden genaue Nachricht iiber sie bekommen."
,,Nicht wahr, Sie sind Ungar?" fragt sparer der Junge
aus dem andern Bett. ,Ja, warum?" — ,,Aber Ihre Ver-
wandte ist Wienerin, nicht?" — Was will er bloB mit dieser
Verwandten?! ,,Sie ist keine Verwandte von mir", sagt er.
,,Wirklich? also, wer ist sie dann?" Wer ist sie dann? ,,Eine
Dame", sagt er zogernd, ,,eine gute Bekannte aus der
Pension, wo ich wohne." Der Junge fragt noch allerhand,
aber er antwortet nur obenhin und fiirchtet, der Zimmcr-
gefahrte konnte etwas iiber Gerda fragen, worauf er nicht
zu antworten weiB. Es ware doch komisch, zu sagen: ich
weiB nicht, wer sie ist, warum sie herkommt, ich weiB
iiberhaupt nichts . . . Dann sagt der Junge, ,,na, ich glaube,
Sie sind schon miide, liegen Sie jetzt cine Weile still." Er
ist froh, daB er nicht mehr zu sprechen braucht, liegt
ruhig da und schlaft dann ein.
,,Sehen Sie, ich habe recht gehabt", sagt Gerda Buhr
am nachsten Tag nach Tisch, ,,bei Lehrners ist ein regel-
rechtes kleines Krankenhaus. Ich habe mit der Frau ge-
sprochen, zwei Kinder und Ihre Kathe haben Scharlach.
Na, ich muB schon sagen, eine besonders gewisscnhafte
Dame ist das nicht, ihre Zoglinge waren schon lange
krank, und auch in ihr steckte die Krankheit langst, als sie
noch immer zu Ihnen kam. Na, aber das ist jetzt schon egal.
Ich habe ihr sagen lassen, wir gruBen sie alle vielmals, auch
ihr Vetter Anton", fiigt sie hinzu und lacht. Auch Kdddr
lacht, dann wird er ernst. Kathe ist krank. ,,Geht es ihr
MS
sehr schlecht?" — ,,Nein, ich glaube nicht . . . aber das
nachste Mai bringe ich Ihnen cine gcnauere Antwort." —
,,Also, Sic werden nochmal hintelefonieren?" — ,,Natiir-
lich." — Einc merkwiirdige Frau, diese Gerda Buhr. Sie
hat so knappe energische Bewegungen und kurz an-
gebundene befehlerische Worte. Wenn man nicht hinsieht,
wiirde man nicht glauben, daB sie eigentlich ein junges
Madchen ist — das heiBt . . . wie alt kann sie sein? Alter
als vierundzwanzig-fiinfundzwanzig sieht sie nicht aus. Ihr
Gesicht, ihre Stirn sind glatt, ihre Augen scharf und klar,
ihre Figur ist knabenhaft, ihr ganzes Wesen hat etwas
Hartes und Frisches. Niemals bleibt sie lange hier; kommt,
trifft, wenn notig, Anordnungen; sagt ein paar kluge,
heitere, ermunternde Worte; bringt ihm mit, was er braucht;
und geht wieder. Und doch ists ... als ware sie immer hier.
Wahrend der ersten acht bis zehn Tage spricht sie nicht
vicl mit ihm, es geht ihm nicht gut, er hat hohes Fieber,
und der Arzt furchtet eine Nierenkomplikation. Er liegt
und beschaftigt sich mit nichts, — die Pflegerin hat ihm
wohl eines Tages eine Zeitung gebracht, aber er konnte
nicht lesen. Wenn er wach ist, starrt er gewohnlich die
Decke an und versucht, an nichts zu denken. Weder an die
kranke Kathe noch an Gerda, die er immer nur wenige
Minuten sieht, noch daran, daB er nun mindestens sechs
Wochen von seiner Zeit verliert. Manchmal fangt im andern
Bett der Junge an zu reden
Der Zimmergefahrte, — ein sonderbarer Bengel, —
sitzt im Bett, sieht ihn unverwandt an, und sobald er die
Augen aufschlagt, spricht er zu ihm. Genau so wie das erste-
mal, als er in diesem Zimmer zum BewuBtsein kam.
,,Brauchen Sie irgend etwas?" fragt er. ,,Soll ich klingeln,
daB die Pflegerin kommt? Mochten Sie etwas zu lesen
haben? ich habe eine ,Fackel', die kennen Sie, nicht wahr?
ganz amusant, der KrauB nimmt jetzt den Werfel her. Sagen
Sie mal . . . sind Sie nicht miide? konnen Sie antworten,
wenn ich frage? waren Sie Soldat? warum sind Sie von
149
Budapest wcggegangen? wie habcn Sic zu Hausc gelcbt?
wie alt sind Sic eigentlich?" — in dieser Art. Anfangs
antwortete er nur miihsam, — was fur ein unruhiger Geist,
dieses Kind! nicht cine Minute kann er still sein, — und das
ewige Gefrage empfindet er als eine Last. Dann gewohnt er
sich ein wenig an die Stimme seines Zimmergefahrten, an
seine unvermittelten und drangenden Fragen, — wirklich,
ein komischer Bengel. Paul Pauli-HeBlein, so heiBt er,
siebzehn Jahre ist er alt. Er ist blond und hat samtgraue
Augen, und wie er ihn einmal genauer betrachtet, fallt ihm
auf, wie madchenhaft fein seine Haut ist, und seine Hande,
wie Frauenhande. ,,Sie habens gut, jeden Tag kommt
jemand sehen, ob Sie noch leben . . . fiir mich besteht kein
so groBes Intcresse", sagt er und fugt nachdenklich hinzu :
,,namlich bei meinen Eltern. Ich stehe mit meinen Eltern
nicht sehr gut", sagt er, und wenn in seiner Stimme nicht
ein kleiner bitterer Ton mitklange, miiBte man sich iiber
den abgerundeten Ernst amiisieren, mit dem Paul diese Tat-
sache konstatiert. ,,Ach, nein? und warum stehen Sie nicht
gut mit ihnen?" — ,,Ja, wissen Sie, das ist schon eine ziem-
lich alte Geschichte." Nein, dariiber muB man wirklich
lachen, wie dieser kleine madchenhafte Blondkopf mit der
weiBen Haut und seinen siebzehn Jahren das sagt: eine alte
Geschichte, und dabei verachtlich abwinkt. ,,Sehen Sie mal",
fahrt der Junge fort, ,,Sie denken wahrscheinlich, es handelt
sich hier um eine kleine Dummheit oder eine kindische
Gekranktheit. Aber nein. Die Sache fangt da an, daB mit
meiner Geburt irgend etwas nicht stimmte . . . Meine Mutter
hatte namlich um die Zeit, als ich geboren wurde, einen
Freund, so eine Jugendfreundschaft und Liebe ..." — ,,Sie
Gelbschnabel", fahrt er dazwischen, ,,schamen Sie sich nicht,
in solch einem Ton von Ihrer Mutter zu sprechen?!" —
,,H6ren Sie nur zu und unterbrechen Sie mich nicht", sagt
der Junge mit iiberlegener Ruhe, ,,ich habe gegenstandliche
Bcweise, Papas und Mamas alte Briefe, die ich voriges Jahr,
als Mama zwei Monate im Sanatorium war, im alten Kleider-
150
schrank gefunden habe. Natiirlich 1st die Tatsache allein,
daB jemand cinen Briefwechsel so peinlichen Angedenkcns
auf bewahrt, geniigend Beweis fur die Neurasthenic — aber
nicht darum handelt es sich. Was wollte ich gleich sagen . . .
ach so, ja. Ich habe den Inhalt dieser Briefe und meine
sonstigen Beobachtungen und Wahrnehmungen einem
Freund mitgeteilt, — Sie haben ihn gewiB schon hier bei mir
gesehen, den jungen Mann mit dem schwarzen Haar, — der
Nervenarzt . . . wird, jetzt studiert er noch, im vierten Jahr,
und der hat mir den Fall klargestellt. Also . . . aber inter-
essiert Sie iiberhaupt die ganze Angelegenheit?" Er nickte,
selbstverstandlich, und der andere fuhr fort: ,,Also, meine
Mutter klammerte sich auch noch nach der Heirat an den
gewissen Jugendfreund, vielmehr an die Erinnerung an
diese Freundschaft, und das konnte Papa natiirlich nicht
gefallen, was ja nicht zu verwundern ist . . . wahrscheinlich
hats da Krawalle gegeben, ob damals auBerdem noch ein
Grund existierte, das kann man natiirlich nur mutmaBen
oder rekonstruieren. Jedenfalls hat Papa einmal im Sommer
meiner Mutter nach Gmunden geschrieben : ,Wenn du jedoch
Dir und mir einreden willst, daB Deine sogenannte seelische
Krise, die angeblich mit Deiner Schwangerschaft zu-
sammenhangt, einzig durch die Anwesenheit jenes gewissen
Menschen erleichtert oder gar iiberhaupt ertraglich gemacht
werde, dann werde ich auch davor nicht zuriickschrecken,
Dir den Verkehr mit diesem betreffenden Menschen vollig
und unter den schwerwiegendsten Konsequenzen zu ver-
bieten.' — Das ist doch klar, nicht? Mein Vater ist iibrigens
Rechtsanwalt. Na, schon, also ich kam auf die Welt und war
gerade ein Jahr alt, als meine Eltern sich scheiden lieBen.
Mama heiratete aber jenen gewissen Menschen nicht, viel-
mehr er heiratete sie nicht, sondern ging nach Amerika. Vor
seiner Abreise schrieb er am SchluB eines vierundzwanzig
Seiten langen Briefes, — auch den habe ich gefunden, Mama
ist ein sehr ordentlicher Archivar, — ,auf ewig trage ich die
schonste Erinnerung meines Lebens im Hersen, und ich
glaubc, das ist fur uns bcidc besscr, als wenn ich die klein-
lichen Sorgen dcs Alltags um Frau und Kind, die ich auch
hcutc noch nicht ernahren konnte, im Herzen tragen miiBte.
Und wenn ich dies trotzdem auf mich genommen hatte: so
konnte das nur mein Verderben und durch mich auch Dein
Verderben bedeuten*. — Wohluberlegt, was? Soviel ich
weiB, war dieser Herr damals angehender Maschinen-
ingenieur. Na, schon, also er ging nach Amerika, vielleicht
ist er noch immer driiben. Aber was, glauben Sie, passiert
nach zwei Jahren? iibrigens ist das gar nicht schwer zu
erraten: Mama und Papa heirateten sich wieder. Die unzer-
reiBbare sexuelle Bindung, die alles iiberwindenden ero-
tischen Erinnerungen waren es bei Papa, wahrend es fur
Mama immerhin doch das Wichtigste war, sorglos leben zu
konnen, so erklarte mir mein Freund den Fall. Dann wurden
noch zwei Kinder geboren. Daisy, die jetzt elf Jahre alt ist,
und zwei Jahre darauf Frank. Nun also ... die Elternliebe
kann eventuell schwanken zwischen dem Erstgeborenen
und den kleineren Kindern oder zwischen dem Madchen
und dem Knaben, — aber daB sich beide Eltern so ein-
stimmig gegen mich kehrten unter dem Vorwand, du bist
der Alteste, das hat ganz andere Griinde als die normale
Verteilung oder Einseitigkeit der Elternliebe." — ,,Aber
gehn Sie, was reden Sie sich da ein?" versucht Kadar wieder
dazwischenzufahren, aber der andere laBt ihn nicht welter-
sprechen: ,,Lassen Sie mich nur, ich rede mir das nicht ein,
ich weiB auch ganz genau den Grund. Papa haBt in mir die
Vcrletzung seines Alleinbesitzenwollens, sagen wir seines
AusschlieBlichkeitsinstinktes und seiner mannlichen Eitel-
keit, Mama wiederum die Enttauschung, die ihr ihre Er-
innerungen, beziehungsweise jener gewisse Mann bereitet
hat, und zum Teil auch die Erinnerung an jenen, wahrschein-
lich nachtraglich bereuten Fehltritt." Wieder spricht er da-
zwischen, diesmal bereits mit etwas entsetztem und zugleich
erstauntem Argcr: ,,Dumme Einbildung das Ganze." —
,,Dadurch, daB Sie grob sind", sagt der Junge und hebt die
IJ2
Hand, ,,werden Sic mich nicht iiberzeugen. Nein, meine
Eltcrn hassen mich . . . sehen Sic mal, um gleich mit dem
Endc zu beginnen: Daisy und Frank sind auch krank,
wahrscheinlich hat Frank das Scharlachfieber aus der Schule
mit nach Hause geschleppt. Daisy und Frank liegen zu
Hausc, und mich haben sie hier ins Krankenhaus gesteckt.
Ware es nicht ganz gleich gewesen, ob die Pflegerin zwei
oder drei Kranke pflegt? Und auBerdem kenne ich Papas
pekuniare Verhaltnisse, er hatte auch zwei Pflegerinnen
nehmen konnen — nun, ist das nicht ganz eindeutig?" —
,,Nein", sagt er, ,,das beweist gar nichts, Sie sind schon ein
groBer Junge, der zu Hause viel schwerer ..." — ,,Weil er
dauernd weint", fahrt Paul in spottischem Ton fort, ,,weil
man ihn futtern muB und mit ihm spielen, ihn trockenlegen,
na, schon. Also, ich werde Ihnen etwas anderes erzahlen:
was sagen Sie zu einem solchen . . . Kind wie ich, das immer
zehnmal so viel Geld hat, als es haben diirfte, und fur das es
keinen Wunsch gibt, der nicht sofort erfullt wiirde, bloB —
Also, passen Sie auf, ich hatte mir ein Funktelegrafen-
Modell gewiinscht, nach zwei Tagen bekam ich es, da sage
ich zu Papa: Pappi, wie muB man damit umgehen? — LaB
mich in Ruh mit dieser Dummheit, sagt er, da ist ja die
Beschreibung, wenn du sie nicht verstehst, dann laB dir aus
dem Geschaft jemanden kommen, der dir die Sache zeigt!
Mammi, sage ich, komm, wir wollen uns gegenseitig Funk-
telegramme schicken ... — Geh mir doch mit deinem
Quatsch, telegrafier mit dem Fraulein oder mit Franz, das
war unser Diener. Ich war damals zehn Jahre alt. Pappi, ich
versteh nicht, wieso der Frosch unterm Wasser und auch
auf dem Trockenen — So, du verstehst das nicht? dann paB
nachstens besser auf in der Schule ! Aber, Pappi, das haben
wir ja in der Schule noch gar nicht gehabt, das wollte ich
bloB . . . Dann frag den Herrn Lehrer und laB mich jetzt in
Ruh. Mutti, wenn Gott allmachtig ist, wie ist es dann
moglich, daB — Halt doch den Mund! siehst du denn nicht,
daB du mich mit deinem ewigen Gefrage nervos machstl
153
Papa, ich bin Erster geworden im Wettrechnen — Schon,
sag bittc Franz, er soil mir cine Flasche eiskaltes Mutti,
wcnn ein Madchen und ein Junge — Hcrrgott, mit der-
artigcm Blodsinn pisackst du mich, anstatt deine Schul-
arbeiten zu machen! — So geht das, seitdem ich mich
crinnern kann. Weil sie dazu in der Lage sind, erfullen sie
allc meine Wiinsche, bloB um mich los zu sein. Fur jeden
Wildfremden baben sie mehr Interesse als fur mich, und
ihr Eltcrngewissen betauben sie, indem sie mich mit Geld
iiberhaufen. In Papas Biiro ist ein Angestellter, der gibt mir
das Geld. Soviel ich nur haben will . . . natiirlich innerhalb
gewisser Grenzen. Das miissen Sie so verstehen, daB ich
noch immer viel weniger zu verlangen wage, als ich bc-
kommen konnte. Bei groBeren Sachen? Du brauchst ein
Motorrad? bitte, da hast du Geld, kauf dir eins. Damals war
ich vierzehn Jahre alt. Als ich dann einmal einer Apfel-
verkauferin ihren Stand umwarf und sie sich dabei das Bein
brach, da sagte mein Vater auf dem Jugendlichen-Gericht
aus: ich habe dem Jungen die strenge Weisung gegeben,
das Motorrad nur aufierhalb der Stadt zu benutzen. Na . . .
fast hatte ich dem Richter zugeschrien, er liigt! niemals hat
er mir ein Wort davon gesagt! — egal, ich war jedenfalls
ein halbes Jahr in Krems in der Besserungsanstalt. Sehen
Sie mal", sagt er und sitzt wieder aufrecht im Bett, ,,ich bin
ein ... zugrunde gerichteter Mensch, das weiB ich. Wenn
der Teufel mir einmal etwas eingibt, wozu sie nicht genug
Geld haben, oder wenn mir Gott die Kraft nimmt, mich
sebnen zu konnen ..." — fur einen Augenblick schwieg er,
und dann kam ein ganz besonderer Glanz in seine grauen
Augen, — ,,wissen Sie, es ist nicht immer leicht. Damals in
der ersten Nacht, als ich nicht einschlafen konnte und
immerfort Mizzis nackte Schenkel vor meinen Augen sah,
wie sie auf der Leiter stand und Fenster putzte . . . wenn ich
damals vor meinen Vater hingetreten ware und ihm gesagt
hatte, Vater, in mir ist etwas Schreckliches und er
darauf vielleicht geantwortet hatte, gib mir doch mal den
154
Aschcnbcchcr, oder, frag den Herrn Lehrer — — " Er
bekam plotzlich einen roten Kopf und atmete schwer. —
Fasziniert starrte Kadar den Jungen an, und kein Ton kam
iiber seine Lippen. Paul nahm das Glas vom Tischchen und
trank einen kurzen Schluck. — ,,Na, macht nichts", sagte
er dann, ,,iiber diese Dinge sind wir hinweg. Entwachsen
sind wir ihnen. Der Mensch ist ein zum Alleinsein bc-
stimmtes . . . Tier, und ich kann noch von Gliick reden, daB
ich zunachst mal den Ludwig Wirth habe, mit dem ich von
allem sprechen kann, ich habe meine Freunde, und dann ist
mir das Ganze jetzt schon gleichgultig. Mein Vater ist ein
angesehener Mann, und es geht ihm gut, meine Mutter ist
eine schone Frau, — was will man mehr. Sie haben eine
Riesenwohnung, und cs ist doch wirklich keine Notwendig-
keit vorhanden, sich gegenseitig zu storen, es geniigt, wenn
man vom Personal weiB, daB der junge Herr nicht verloren-
gegangen ist. Ich richte mir mein Leben ein, wie ich es fur
am besten halte, und wenn es so nicht am besten ist, wie ich
es mache, dann bin ich eben nicht dafiir verantwortlich
Sonst aber ist die Hauptsache, daB wir es moglichst gut
haben.*' — ,,Wer wir?" — ,,Na, wir, ich und die ... zu mir
gehoren."
Ludwig Wirth, Student der Medizin, Pauls Freund und
Lehrer, kam wieder und brachte einige Hefte und Biicher
mit, darunter auch Wedekinds Erdgeist und Stiicke von
Shaw. Leicht war es nicht, bis Kadar auf Pauls Zureden
anting, eins davon zu lesen, — dann verlangte ihn schneller
nach dem zweiten, als er gedacht hatte, und schlieBlich hatte
er innerhalb einer Woche Pauls samtliche Biicher ver-
schlungen. Dann unterhielten sie sich stundenlang iiber
Lulu und John Tanner und Frau Warren, und er hatte das
Gefiihl, alles, was bisher gewesen war, sei unbedeutend
neben diesen Gesprachen. Jetzt fange ich an zu lernen,
dachte er, als er Pauls erstaunlich wahr scheinenden An-
sichten und iiberlegenen Erkl£rungen iiber diese neuen
Dingc lauschte. Als ware Paul der ernste und reife,
155
viclerfahrenc Mann und er dcr unbeholfene Gymnasiast. Das
war nicht das, was Fcuerstein einst gewescn war . . . mit
scincn kiihlcn Argumenten, seinen hartcn, abgerundctcn,
gebieterischen Ausspriichcn, mit den chaotischen Rhapso-
dien seines iiberladenen Gehirns. Lauer Schwatzer? — fiel
ihm einmal ein. Nein, — das ist keine Theorie, das ist kein
abstraktes Denken, das ist, als ware es das Leben — und er
bemerkte kaum, daB die manchmal geradezu verbliiffende
Dialektik des Jungen auch ihm Redelust eingab. Im An-
schluB an die eine oder andere hingeworfene geschickte
oder ganz ungehobelte Frage fing er an zu sprechen und
crzahlte Paul alles: mehr als damals den Alten an jenen
dunklen Herbstabenden, als sie in der Pozsonyer StraBe im
EBzimmer unter der Lampe saBen, mehr als Agota an
jenem sonnigen Herbstnachmittag unten vor dem Haus. —
Paul ist mein wahrer, mein einziger Freund, fuhlte er, wenn
er abends vor sich ins Dunkel starrte, und dann kam ihm
eines Tages plotzlich in den Sinn: ganz bestimmt, ich werde
es Paul sagen, das Ganze kommt daher, weil ich sie iiber
habe, und wenn ich an sie denke, sehe ich immer, wie sie
vor dem Spiegel steht und mit ihrem Korsett kampft . . .
Eines Nachmittags kommt Wirth und sagt gleich zu
Beginn der Unterhaltung zu Paul: ,,Heute mittag war ich
mit Rosette zusammen, sie hat wieder gebettelt, sie mochtc
herkommen, aber ich habs natiirlich nicht zugegeben. Sie
schickt dir GriiBe und Kiisse, du kannst dir denken, wie
ungeduldig sie schon ist ..." Kidit rumorte etwas im Kopf,
und den ganzen Nachmittag war er wortkarg, beinahe
schweigsam. Als Wirth gegangen ist, bleibt er noch ein
Weilchen stumm liegen, dann richtet er sich auf einmal im
Bett auf. Komisch, das habe ich ihn noch nie gefragt
,,Sag mal, Paul", und er blickt ihn durchdringend an, ,,hast
du schon was mit eincr Frau gehabt? ..." — ,,Ich? schon
seit fast einem Jahr ... die erste." — ,,Wer ist sie?" fragt
er dumm. ,,Ihren Namen willst du wissen", spottet Paul,
,,ubrigcns, der ist auch kein Gehcimnis, Rosette Goldrain.
156
Was interessiert dich noch? diinn und blond und hat braune
Augen und 1st rund drei Monate j linger als ich . . . ihr Vater
1st Rat im Finanzministerium und hat irgendwelche Machen-
schaften mit meinem Vater, — willst du noch was wissen?"
Fiir einen Moment stockte ihm der Atem. Ein Madchen der
Gesellschaft, keine Krankenschwester, kein Stubenmadchen
und keine Gouvernante, und siebzehn Jahre, diinn und
blond und — ,,Du flunkerst wohl", sagt er hoffend. —
,,Warum bist du denn so ergriffen, daB dus nicht mal zu
glauben wagst?" fragt der andere. ,,Ein Bild von ihr habe
ich leider nicht hier, aber wenn wir wieder gesund sind,
dann stelle ich dich ihr sowieso vor." Mancherlei mochte er
jetzt noch fragen, aber die Worte bleiben irgendwie in ihm
stecken. Erst nach langer Zeit sagt er: ,,blond?" — und
Paul fangt laut an zu lachen. Dann ist von Rosette nicht
mehr die Rede.
Eines Tages wurde der Junge dann aus dem Kranken-
haus cntlassen. Ihr Abschied war sehr kurz. ,,Paul", sagte er
mit trockener Kehle, ,,ich danke ..." — ,,Du muBt dich
nicht bedanken", schnitt er ihm das Wort ab, ,,bleib nur
schon liegen, werde gesund, natiirlich komme ich dich be-
suchen", — und damit ging er aus dem Zimmer. — Gerda
kam auch weiterhin jeden Tag, und nach diesen Besuchen
verstand Kadar die Frau noch weniger, und die Beziehung
von ihm zu ihr verwirrte sich in ihm vollkommen. Gerda
Buhr kam, setzte sich in ihrem weiBen Mantel auf den Stuhl
unten amBett. ,,Wie gehtslhnen? Wie sieht die Fieberkurve
aus? Haben Sie einen Wunsch? Ich bore, Sie essen nicht
ordentlich, waren die Speisen vielleicht nicht gut? Wollen
Sie ein biBchen Kompott haben? Neues weiB ich nicht,
heute haben die Arbeitslosen in der Stadt demonstriert, von
der Hochschule habe ich nichts gehort. Ihrer Freundin geht
es gut." All das erzahlte sie in Zeit von fiinf Minuten, dann
stand sie auf und ging. — Um was er bat, brachte sie am
nachsten Tage mit, sah sich an, was er las, einmal sagte sie:
,,wie ich sehe, freunden Sie sich mit dem Jungen da an ...
1J7
ein lebhafter Bengel, nicht?" und brachte Nachrichten von
Kathe. Anfangs waren diese Berichte ausfiihrlich und genau :
,,dann und dann habe ich dort angerufen, es geht ihr so und
so, sie hat soundsoviel Fieber, sie iBt oder hat keinen
Appetit, sie laBt das und das sagen, sie mochte das und
das . . .", dann indessen, in der vierten Woche seiner
Krankheit, wurden Gerdas Mitteilungen iiber Kathe immer
kiirzer; gewohnlich sagte sie bloB: ,,es geht ihr gut." Aber
Kadar bemerkte diese Wortkargheit iiber Kathe nicht, und
als Gerda eines Nachmittags das Madchen iiberhaupt nicht
erwahnte, fiel es ihm nicht einmal auf, daB er sich auch nicht
nach ihr erkundigte. Nein, jetzt war es Gerda, die die zahl-
reichen Stunden seines Nichtstuns in Anspruch nahm.
Warum kommt sie zu mir? schon das ist seltsam, daB sie
meine Sachen ordnete, als ich krank wurde. Jetzt sehe und
spreche ich sie schon seit Wochen jeden Tag und weiB noch
immer nichts von ihr und verstehe sie tagtaglich weniger.
Er horchte und lauschte in sich hinein: vielleicht wiirde er
in seinem Innern eine Stimme horen, vielleicht an der Frau
eine Geste bemerken, die eine Erklarung geben oder
wenigstens sie naher bringen konnte — naher bringen?
wozu? ist es nicht besser so, im stillen Dunkel, im ruhigen
Verstreichen der Stunden an sie zu denken, — und nichts
Bestimmtes zu wissen, damit ich glauben kann, was ich
gerade glauben mochte? . . .
Es schneite, iiber Nacht war der kleine Hof weich und
weiB geworden. Der Schnee brachte saubere Stille ins
Zimmer; heute freute er sich zum erstenmal, daB er all ein,
daB das andere Bett leer war. Er trank Milch, spiirte Hunger,
und die Milch schmeckte ihm; er fuhlte, wie der sich nach
Gesundheit sehnende junge Organismus gierig die langsame,
sichere Genesung einsog. Auf dem kleinen Tisch lagen die
Biicher, die er von Paul bekommen hatte, zerstreut blatterte
er in ihnen. Der Mensch ... ist ein zum Alleinsein bestimmtes
Tier. Vater und Mutter in Deva, in der Erde; Tantc Anna
und Onkel Rudi . . . jeden Monat kommt und geht ein Brief:
158
ziemlich eintonige Variationen um das Wort: es geht uns
einigermaBen. Seitdem er krank war, hatte er ihnen natiirlich
nicht geschrieben, er wollte sie nicht beunruhigen. Vielleicht
werde ich sie jahrelang nicht wiedersehen, vielleicht nie.
Zwei alte Leute, ihr Bild verblaBte von Tag zu Tag mehr.
Onkel Rudi ist schon ganz grau, Tante Anna bekommt iiber
dem Handgelenk faltige Arme. Agota . . . fast hatte sie ein
Kind gehabt von einem Monteur, der sich selbst zum
Kriippel gemacht hat . . . einen blauen Schal hat sie mir
gegeben, als ich nach den drei Tagen — Die kleinen Wiener
Madels, — Lene hieB die eine, die andere hatte einelangliche
Brandnarbe am Arm, die dritte war mit einem unertraglichen
Veilchenduft parfumiert. Kathe . . . steht vor dem Spiegel,
und das Korsett ist ihr verrutscht, — bisher war mir gar
nicht aufgefallen, daB sie so dick ist ... — Schrecklich. Was
ist diese dumpfe, leere Kalte, die er fiihlt, wenn er sich an
Namen, Gesichter, Bewegungen, Stimmen erinnert? Ist der
Mensch wirklich nicht mehr als eine Hand, die Brot reicht,
oder ein Lustobjekt, das in der Umarmung heiB siedet?
Laufen Schicksale tatsachlich aneinander vorbei wie zwei
nachtliche Ziige auf parallelen Geleisen, ihre Fenster
leuchten fur ein paar Sekunden ineinander, und der, dessen
Lokomotive starker ist, laBt den andern hinter sich? Gibt
es wirklich keinen Gefahrten in Mitgefiihl oder Abneigung,
nur verschwommene Figuren in sinnlosen Flecken, mit
unverstandlichen Zielen und unfaBbaren Tonen? Gibt es
nur Formeln? von dem bekomme ich Geld, von jenem hore
ich weise Worte, diesen meide ich, und mit jener krieche
ich zusammen in ein Bett? Der eine sagt: liebes Kind, ich
lasse dich nun allein in die Fremde, ins Leben ziehen. Der
andere verkiindet pathetisch: Sie werden fur reif erklart!
Einer brullt: nieder mit Serbien! Einer krachzt kurz:
Fahnrich Kadar mit vier Mann . . . Einer heult: elender
Kommunist I Eine zerschmilzt : ich bete dich an ! Eine fragt :
mochten Sie ein biflchen Kompott? Wen gibt es, der bleibt;
wen gibt es, der iiber die Formel hinaus etwas bedeutet,
159
mehr als die Fiktion einer fliichtigen Minute oder eines
fliichtigen Jahres? Seine Eltern, an die er sich kaum er-
innert? Mariska Gazda, die er einmal gekiiBt hat? Gerda,
die er noch nicht kennt? Paul, von dem er manchmal das
Gefiihl hat, er sei geistig nicht ganz in Ordnung? Keiner
bleibt . . . Und kann ich wirklich nur vom Geheimnis oder
von dem, was auBerhalb der Norm steht, etwas erwarten? —
Und dann posaunte mitten in diese verwirrenden und ver-
worrenen, unruhigen und beunruhigenden Meditationen
die Stimme der Gesundheit und des Wollens: ich werde
gesund! ich will arbeiten! ich verschaffe mir Freunde! ich
werde zu Geld kommen! ich werde cine Frau haben! —
und da wurde er gut gelaunt, fing an, ini Bett zu pfeifen,
und kniff der dicken Pflegerin blaue Flecke in den Arm.
Mit iiberraschender Sicherheit stellte er sich auf die FiiBe,
als der Arzt ihm in der funften Woche aufzustehen erlaubte.
Ein paar Minuten ging er im Zimmer auf und ab, friih-
stiickte mit gutem Appetit und legte sich dann vorsichts-
halber wieder ins Bett. Gestern war Paul den ganzen Nach-
mittag bei ihm und erzahlte: er habe seinem Vater erklart,
er miisse einen Nachhilfelehrer haben, um das durch die
Krankheit Versaumte nachholen zu konnen. ,,Sowie du
also ganz gesund bist, sehen wir uns jeden Tag, voraus-
gesetzt natiirlich, daB du die Rolle eines Korrepetitors bei
mir iibernehmen willst." Heiter plauderten sic, Paul hatte
Schokolade und eine Menge feiner Zigaretten mitgebracht,
das Zimmer fiillte sich mit Rauch, — seit seiner Krankheit
waren dies die ersten Zigaretten. ,,War die blonde Un-
bekannte heute auch hier?" scherzt Paul. ,,Natiirlich, sie
kommt doch jeden Tag, wie du weiBt, fur fiinf Minuten." —
,,Und bleibt sie auch jetzt nicht langer, seitdem du allein im
Zimmer bist?" Er wird rot: ,,nein, auch jetzt nicht, warum
denkst du das?" — ,,Ich hoffe, du bist dir dariiber klar, daB
diese Dame in dich verliebt ist?!" setzt er den Scherz fort.
,,Du Lausbub!" blast er ihm den Rauch ins Gesicht, ,,was
wciBt denn du von . . .", und wieder wird er rot. Daran habe
1 60
ich auf mein Wort noch nie gedacht, sagt er zu sich. Aber
es 1st ja auch Unsinn . . . sie hat mich ja vorher kaum ge-
sehen, und dann, well sie mich aus Mitleid, elend, wie ich
war, aufgeklaubt und wahrend der ganzen Zeit vielleicht
zwei Stunden an meinem Bett verbracht hat . . . ,,Nicht viel
iiberlegen", sagt Paul bestimmt und frech, ,,jetzt bist du
doch schon gesund, pack doch ihren Kopf, riihr sie doch
cndlich an, damit sie bekommt, was sie will!" — Er ist
verlegen und winkt ab. ,,Deine zynische und oberflach-
liche ..." — ,,Toni", unterbricht ihn der andere, ,,bist du
denn wirklich ganz verblodet? habe ich dich denn wochen-
lang vergebens erzogen?" — da lachen sie, eine halbe
Stunde plaudern sie noch, dann geht Paul. — Das Auf-
stehen ist ihm gut bekommen; nach einer Stunde Ruhe
steigt er wieder aus dem Bett, setzt sich ans Fenster und
betrachtet den fallenden Schnee. Kein biBchen Miidigkeit
in den Gliedern, — Herr Gott, ich bin wieder gesund. Sein
Mittagessen verschlang er mit Wolfshunger und legte sich
dann sofort wieder bin, um um drei Uhr frisch und auf den
Beinen Gerda Buhr empfangen zu konnen.
Punkt drei erscheint sie. ,,Ich gratuliere zum Aufstehen,
jetzt wird die Sache schon schnell verlaufen, wie ich sehe,
geht es Ihnen gut, also auf Wiedersehen, morgen komme
ich wieder", sagt sie in einem Atemzug, setzt sich nicht
cinmal hin, schon ist sie nicht mehr da. Dieses rasche Ver-
schwinden machte ihn miBgestimmt, er hatte sich mit ihr
unterhalten wollen und war nicht einmal dazu gekommcn,
sic zum Bleiben zu bitten. Argerlich legte er sich hin, starrte
die Wand an, und was Paul von Gerda gesagt hatte, ging
ihm fortwahrend durch den Kopf. Dann schlief er ein, —
auch Paul kam heute nicht, — und der Nachmittag floB mit
wenigen Minuten des Wachseins in den Abend iiber. —
Am nachsten Vormittag kommt die Pflegerin: ,,Fraulein
Buhr hat angerufen, sie ist erkaltet und kann weder heute
noch morgen kommen, voraussichtlich erst ubermorgen
oder Freitag. — Diese Nachricht schmifi ihn ganz um. Er
11 Kftrmendl, Budapest l6l
wurde brummig, kaute ohne Appctit an seincm Essen her-
um und war geradezu froh, als Paul und Wirth nach einem
kurzen Besuch von einer halben Stunde wiedcr gingen.
Auch der folgende Tag war nicht anders ; aber nachmittags
begann bereits die Hoffnung in ihm zu erbliihen : vielleicht
kommt sie morgen . . . und dann zog sich plotzlich eine
unertragliche heiBe Spannung durch seine Brust: sollte
Gerda in mich verliebt sein?
Am nachsten Tage nach Tisch war sie also da. Aufgeregt
saB er auf dem Bett und wartete, und als sich die Tike
offnete, sprang er auf. ,,Sie waren doch nicht ernstlich
krank?" — ,,Nein", antwortete sie, ,,ich war iiberhaupt
nicht krank, ich wollte bloB, daB Sie die ersten zwei-drei
Tage des Aufseins — beziehungsweise ich wollte nicht, daB
Sie mich vielleicht etwas fragen, worauf ich hatte antworten
rmissen." Schwer und kalt klopft es ihm in der Brust: in
diesem Ton, so unsicher hatte sie noch nie gesprochen, —
,,gibts denn etwas Unangenehmes?" fragt er ganz leisc.
,,Ja", antwortet sie und senkt den Blick zu Boden, was sie
bisher noch nie getan hatte, ,,die Kathe ist gestorben . . .
schon vor zehn Tagen, an Gehirnhautentziindung." Zuci
erschrockene Augapfel starren in den plotzlich verschwim-
menden weiB-blonden Fleck, und ein leichtes Schlucken
klopft ihm in der Kehle. Spannende Kalte steigt langsam in
seinem Innern auf, und rasche, angstliche Pulsschlage
lauschen, ob . . . hinter ihnen Entsetzen, Schmerz, Nieder-
geschlagenheit steckt? Dann klart sich der blond- weiBe
Fleck zu Gerdas Gesicht, das jagende Herzklopfen wird
stiller, tief im Kopf hort er ein stohnendes Echo, — der
Mensch ... ist ein zum Alleinsein bestimmtes Tier . . . und
in dem Augenblick fuhlt er wie ein Unbeteiligter, Fremder,
in eisig kaltem Entsetzen, daB Kathe von seiner Seite dahin-
gestorben ist, als — hatte sie niemals neben ihm gestanden,
als — als ware ein fremder Mensch auf der StraBe zusammen-
gebrochen, die Leute bleiben einen Moment stehen und gehen
dann weiter. ,,Gehirnhautentziindung . . . fiirchtcrlich",
162
murmelt cr, und etwas anderes kann er nicht sagen. —
,,Regen Sie sich moglichst nicht auf", greift Gerda nach
einem Wort, ,,aus dem Grunde habe ich es Ihnen nicht
friiher gesagt. Die arme Kathe, nach der ersten Woche
wurde ihr sehr schlecht, und in der dritten Woche trat
Nieren- und Gehirnhautentziindung ein. Vielleicht ist es
ein Gliick, daB sie vor ihrem Tode drei voile Tage bewuBt-
los lag, jedenfalls hat sie auf die Weise weniger gelitten."
Heute blieb Gerda den ganzen Nachmittag bei ihm. Sie
sah sofort, wie die Nachricht von Kathes Tod an barter
Fremdheit und kaum zu verhiillender Teilnahmlosigkeit
zerfiel; aber sie ftihlte auch, wenn sie ihn jetzt allein heBe,
dann wiirden die Fremdheit und die Teilnahmlosigkeit mit
doppelter Kraft iiber ihn herfallen und ihn qualen. Die
zwangsmaBige Ruhrung verscheuchte sie mit gescheiten
und interessanten Worten, und was sie noch nie getan hatte,
sie erkundigte sich nach seinen Privatangelegenheiten, fing
von der Hochschule und von der nachsten Zukunft an zu
sprechen. ,,Es ist auf alle Falle richtig, daB Sie in Wien
studieren, wenn auch die Wiener Vorlesungen in Architektur
nicht ebcn an erster Stelle stehen, — wenn Sie einmal weiter
gingen, nach Berlin oder nach Zurich . . . billig ist Wien
bestimmt, billiger als jede andere Stadt in Europa, besonders
fur die, die Schweizer Franken haben. Im iibrigen, — wie
Sie ja sehr gut wissen, — sind die Verhaltnisse schwer,
natiirlich nicht nur in Wien, sondern auf der ganzen Welt.
Das ist die Folge des Krieges und zum Teil die Folge davon,
daB der Krieg offensichtlich nicht in der Weise liquidiert
wird, wie es sein sollte. DaB sich nun in einigen Landern die
Staatsform geandert hat und man in RuBland einen Versuch
in die Wege leitet, der zweifellos einer der aufregendsten
Versuche der Weltgeschichte ist — ", und er bemerkt kaum,
daB sie sich uber Dinge unterhalten, iiber die sie noch nie
ein Wort verloren hat. Arbeitslosigkeit, unrichtige Ver-
teilung von Vermogen und Grundbesitz, furchtbare Ver-
schiebungen unter den einzelnen Gesellschaftsschichten . . .
11*
163
Gerda sagt: ,,jede neue Welt geht aus cinem kosmischen
Chaos hcrvor, jeder Welterncuerung muB ein gesellschaft-
liches Chaos vorangehen ..." — er wundert sich iiber die
Stimme, iiber die Worte und fiihlt, dafi er nichts dazu zu
sagen, daB er keine Idee von diesen Dingen, keine Wurzel in
ihnen hat. Diese Interesselosigkeit und den scheuen, fast sich
wehrenden Ausdruck in seinem Gesicht bemerkt Gerda, und
kaum wahrnehmbar leitet sie das Gesprach auf personliche,
Kadar direkt betreffende Dinge iiber. ,,Das osterreichische
Geld wird von Tag 2u Tag schlechter, Sie mit Ihren
Schweizer Franken beriihrt das natiirlich mcht sehr." Dann
legt sie Rechenschaft ab iiber das Geld, — fiinfhundert-
fiinfzig Francs hat er noch; Gerda rat ihm, Schiilern Nach-
hilfestunden zu geben. ,,£men Schiilcr habe ich schon",
sagt er, ,,den Pauli-HeBlein." — ,,Der kleine Junge, der Ihr
Zimmergefahrte war? mir scheint, Sie haben grofie Freund-
schaft geschlossen.** Das leugnet er nicht und spncht in
schwarmerischen Worten von seinem neuen Freund. Sie
hort sich diese Ergiisse schweigend an und bemerkt nur
zum SchluB: ,,ich glaube, Sie sind em erwas leicht beein-
fluBbarer Mensch. Passen Sie nur auf, daB diese ofFenbar
starkcrc und aktivere Personlichkeit Sie nicht in Extra-
vaganzen treibt.*' — Dariiber argerte er sich. Extra-
vaganzen? — und uberhaupt, was will diese . . . warum
warnt sie ihn vor seinem Freund? Will sie mich ihm ent-
fremden? Was gibt sie mit dafiir? Vielleicht das, daB ich sie
langer als ein Jahi kenne und sie heute zum erstenmal mehr
als drei Worte mit mir spricht ? DaB es mir wahrend eines
Jahres nicht gelungen ist zu erfahren, wer und was sie
ist? Oder . . . vielkicht, was Paul — Hcrausfordernd maB
er sie von oben bis unten und lieB die Augen aggressiv
und eindeutig an ihrer Brust haften. Gerda bemerkte
den Blick sofort, ein fliichtiges Ldcheln ging iiber ihre
Ziige, im iibrigen nahm sie von der Sache keine Notiz. Nur
ihre Stimme schien etwas kiihler als vor fiinf Minuten, abcr
das Gesprach geht weiter und flieBt bald klar und ruhig
164
dahin. ,,Paul hat ein besonders intelligentes Gesicht", sagt
Gerda, — was kannst du denn wissen, wer dieser Paul 1st,
denkt er und schweigt, — und daB letzten Endes cine der-
artige Freundschaft einem in seiner Entwicklung nur
forderlich sein kann, genau so wie spater einmal die guten
Beziehungen ... — was weiBt du, wer dieser Paul ist!
Gegen sechs Uhr kotnmen Paul und Wirth; sic stellcn sich
Gerda vor, und sie bemerkt, daB Paul sie mit demselben
Blick miBt wie vorhin Kadar. — Dann sitzen sie an scinem
Bett und sprechen vom ,,Heartbreak-House", Shaws neuem
Stuck. Dann ist von alltaglichen Dingen die Rede; Paul er-
zahlt, sein Vater habe die Verteidigung eines Nationalisten
ubernommen, der in einem Wirtshaus in Penzing einen
sozialistischen Arbeiter durchs Fenster erschossen habe.
Wirth halt einen etwas verworrenen und spitzfindigen
Vortrag iiber ein noch ungeklartes Verbrechen, das sehr
nach Lustmord aussieht und seit Tagen die Stadt in Auf-
regung halt. Spater polemisieren sie iiber die Glasarchitek-
tur, — Paul hat gerade ein hierauf beziigliches neues Buch
mitgebracht. — Gegen sieben Uhr stand Gerda auf und
nahm auch die beiden andern Besucher mit. GewiB wollte
sie nicht, daB wir von ihr reden, wenn wir allein gebliebcn
sind, dachte er.
Die wenigen Tage, die er noch im Krankenhaus zu ver-
bringen hatte, verstrichen in bleischwerer Langweile und
juckender Ungeduld. Jetzt war cs ihm schon zur GewiBheit
geworden, daB Kathe genau so aus seinem Leben ent-
schwunden war wie dieser Scharlach. Gewaltsam rief er
sich ihr Gesicht wieder vor die Augen, ihr reizendes kleines
Lacheln, damals, als sie sich zum erstenmal am Theater
begegneten, — aber das Gesicht war verschwommen, und
wenn es sehr blaB fur einen Moment in seinem Kopf er-
schien, so erkannte er es nur darum, weil er wuBte, wen er
sich ins Gedachtnis zuriickgerufen hatte. Er dachte an die
kleinen Vertraulichkeiten ihres korperlichen Zusammen-
seins, aber in diesen erzwungenen Bildern flossen
vergangenc fremde Gesichtcr und Korper ineinander,
und seine erotischen Erinnerungen schienen sich auf eine
sonderbare und erschreckende, aus hundert fremden Details
zusammengesetzte iibermenschliche Frau zu beziehen. Dann
versuchte er, sich das Gesicht der Toten vorzustellen, den
armen, kalt gewordenen Korper, — armes kleines Ding,
murmelte er im Dunkeln vor sich hin und bemiihte sich, ein
wenig Mitleid aus seinem Herzen zu pressen. Aus dieser
groBen tranenden Anstrengung wurde tiefes gesundes
Gahnen, dann schlief er ein. — Gerda hatte ihm vor kurzem
seine Lehrbiicher mitgebracht, jetzt blatterte er in ihnen
und dachte angstlich daran, wieviel er versaumt hatte. Er
begann, sich ein Programm zu machen, aber dabei iiber-
raschte ihn ein peinliches Gefuhl der Unsicherheit, so daB
er es fiir einfacher hielt, den Lauf der Dinge abzuwarten,
sich nicht vorher den Kopf zu zerbrechen und zunachst ein-
fach gesund und ungeduldig zu sein. — In diesen letzten
Tagen kam Gerda wieder nur auf fiinf Minuten, und wie
sehr er auch bestrebt war, — mit ganz derben und kindischen
Mitteln, — ihr scin Interesse deutlich zu machen, diese
kiihle, blonde Muschel, die Gerda war, begann sich un-
bemerkt und langsam, aber unerbittlich wieder zu schlieBen.
Samstag friih fuhrt ihn dann die dicke Pflegerin ins
Badezimmer. Im Ofen kocht das Wasser, eine saubere
Garnitur Unterwasche liegt auf dem Stuhl, und am Haken
hangt sein blauer Werktagsanzug und sein Wintermantel.
Im Badezimmer herrscht groBe Hitze, die Pflegerin offnet
fiir einen Augenblick, — bis der Dampf ein wenig hinaus-
zieht, — das milchglaserne Oberlicht. Durch die schmale
Spalte leuchtet der harte, klarblaue Winterhimmel. Be-
wundernd betrachtet er ihn. ,,Los", sagt die Pflegerin,
,,kann ich das Wasser einlassen? fix, fix, es wollen heute
noch viele baden."
8
AM crstcn Abend, den er wieder in Frau Wesselys
Wohnung verbrachte, vcrsammelten sich samtliche Haus-
gcnossen in seinem Zimmer. Sie brachten Geback und
Wein mit, — der Wunderrabbi hatte einen fiirchterlich
siiBen Kuchen mit Honig und Niissen aus dem Seminar
geschickt, — und Hummel iiberreichte ihm eine eigen-
handig aus Lumpen angefertigte Wickelpuppe, deren Ge-
sicht mit roten Tintenflecken bespritzt war und die ein
iiberdimensionales Latzchen um den Hals trug, auf dem
geschrieben stand: ,Zum Andenken an die gliicklich iiber-
wundene zweite Kindheit!' — Sie erzahlten ihm und
lieBen ihn erzahlen, — laBt mich in Ruh, was soil ich denn
erzahlen? sechs Wochen war ich eingesperrt! — sie iiber-
schiitteten ihn mit Witzen und stopften ihn mit SxiBigkeiten.
Zwischendurch entwischte er einmal auf den Flur und sah
nach Gerdas Tiir: sie war verschlossen. Es wurde neun
Uhr, es wurde zehn Uhr, Gerda kam noch immer nicht nach
Hause. Er ring an, unruhig zu werden, und gegen halb elf
schickte er die Jungens aus seinem Zimmer: er sei mude,
er wolle schlafen. Dann blieb er aber auf, und als das Haus
still und die Lichter geloscht worden waren, machte er
leise und nur einen Gedanken breit seine Tiire auf: er
wartete auf Gerda. Hinter der Tiir setzte er sich auf einen
Stuhl. Langsam kriechen im Finstern die dickwanstigen
Minuten auf verkummerten Beinen. Am Ende des Korri-
dors muB irgendwo eine Uhr sein, die hab ich bisher gar
nicht bemerkt, oder sollte ich sie nur vergessen haben? man
hort ihr leises Ticken, das immer langsamer zu werden
scheint. Und noch ein fortgesetztes Gerausch, auch das
klingt wie Ticken, nur schneller, eigentlich zwei Tone im
Takt, die in regelmaBigen Abstanden zusammenklingen,
dann auseinandergehen: der elektrische Stromzahler.
Plotzlich ein rauschender Ton in der Wand, wahrscheinlich
das Wasser, das durch den Kanal hinabflieBt. Wie mancherlei
167
nachtlichen Larm man nicht bemerkt, wenn man schlaft.
Oder im Traum. Leise offnet und schlieBt sich cine Tiir, die
sommcrsprossige Magd geht noch immer zu Miihlbeck?
Dann Stille, die urn so groBer wird, als er sich an das
monotone Ticken der Uhr und des Zahlers gewohnt. Er
sitzt da im Stockfinstern, — Minuten, Stunden und Jahre
vergehen . . . bloB man weiB nicht, gehen sie vorwarts oder
riickwarts ? — und plotzlich hat er das Gefiihl, im Schiitzen-
graben zu hocken, ich brauche meine Hand bloB nach
rechts und links auszustrecken, dann sitzt da Dank6 und
Zweigmiihler und Altmann und — gleich wird doch die
erste Leuchtrakete aufsteigen und dann noch eine und
noch eine, und dann weiB ich, na, jetzt gehts los. — Im
SchloB dreht sich leise ein Schliissel, — Gerda kommt. Mit
einem Satz ist er an der Flurmundung, und gleich darauf
stoBt Gerda gegen seine vorgestreckte Hand. ,,Wer ist
da?l" phosphoresziert ein erschrecktes Fliistern im Dunkel.
,,Ich, Kddar", fliistert er auch. ,,Das hatte ich mir denken
konnen . . . was wollen Sie? was bilden Sie sich denn ein,
Sie Dummer?!" — ,,Fraulein Gerda, ich muB ... ich muB
unbedingt mit Ihnen ..." — ,,Aber doch nicht um diese
Zeit! in der Nachtl kommen Sie morgen nachmittag um
sechs zu mir ins Zimmer . . ." Und wenn ich sie jetzt nicht
gelassen hatte, sondern gepackt und . . . oder — oder ihr an
die Kehle gegriffen
Auch diese Nacht vergeht. Er hat einen wiisten, kom-
plizierten Traum: cr liegt im Krankenhaus, am FuBende des
Bettcs stehen machtige, runde Milchflaschen nebeneinander
gereiht; Durst qualt ihn, und er grcift nach einer der
Flaschen, aber die Flasche weicht immer zuriick, er kann
sie nicht erreichen, dabei langt seine Hand schon bis an die
Wand, — unmoglich, Hirngespinste, die Wand ist doch
mindestcns vier Meter vom Bett entfernt, und mein Arm
kann doch nicht vier Meter lang sein. Da steht plotzlich
Paul in der Mitte des Zimmers, cr stiitzt sich auf ein Motor-
rad und winkt, komm, fahren wir los, du weiBt, wie lang
168
der Weg 1st, und wir miissen langsam fahren, damit wir die
Apfclfrau nicbt umrcmpeln. Das Motorrad pufft laut, er
setzt sich auf den Sitz hinter Paul und halt sich an dessen
Schultern fest. Jetzt hat das Zimmer keine Wand mehr, und
das Rad setzt sich lautlos in Bewegung. Sie sausen irgendwo
iiber eine ihm bekannt vorkommende Chaussee im Wiener
Wald in immer wahnsinnigerem Tempo, die StraBe fuhrt
geradeaus und abwarts. Als flogen sie. Er klammert sich
fest an den Fahrer, Paul beugt sich nach hinten, und da sieht
er, daB er einen kurzen hellblauen Rock anhat und auf dem
Kopf einen roten Hut, unter dem blondes Haar hervor-
guckt, und er erkennt: die Gestalt, die vor ihm sitzt und
an die er sich klammert, ist nicht Paul, sondern Gerda. Und
nun rasen sie zwischen riesigen, runden Steinen, die wie
Milchflaschen aussehen, in eine Art Steinbruch hinab,
Gerda hat bloB die blaue Jacke an und den Hut auf, sonst
nichts, das Motorrad saust in machtigen Spriingen unter
ihnen weg, die blaue Jacke reicht nur bis zum Giirtel und
laBt auch die Bruste frei; taumelnd stiirzen sie in die Tiefe,
und auf dem Grund des Steinbruchs fallen sie aufeinander,
da reiBt er Gerda an sich, und in schmerzlicher, rasend-
machender Wonne halten sie sich umschlungen, — naB
geschwitzt und mit Hammern im Brustkasten und in den
Schlafen wacht er erschopft auf. — Dann vergeht auch der
Vormittag, — es regnet, aber die Luft ist fast friihlings-
maBig lau, — er spaaiert auf die Hochschule, spricht mit
einem Professor und ein paar Studenten, die ihm zu seiner
Genesung gratulieren. In der Mensa iBt er zu Mittag,
schreitet vor dem Haus auf und ab, in dem Pauli-HeBleins
wohnen, und geht nach Hause. Vicr Uhr: er hort Gerda
kommen und mit Frau Wessely sprechen; die Spannung
in seinem Kopf nimmt zu ; vier Uhr zehn, — ich dachte, es
ist schon fiinf ! — er stellt sich ans Fenster und starrt
hinaus, auf der StraBe qualt sich ratternd und puffend ein
geschlosscnes Lastauto ab, um in Gang zu kommen, auf der
Seite steht daraufgemalt: Milchwirtschaft Tschuden —
169
Modling, und da fallt ihm sein Traum cin, — cine kurze,
hcllbkue Jacke hat sie angchabt — und in dem Moment
tritt Gerda ins Zimmer : ,,ich muB heutc abend fruher weg,
deshalb habe ich nicht gewartet, bis Sie zu mir kommen",
sagt sie und setzt sich. ,,Na, wie geht es Ihnen? fuhlen Sie
sich noch schwach?" Verwirrt schweigt er. ,,Zunachst",
sagt er dann zogernd, ,,mochte ich Ihnen danken." — ,,Sie
brauchen fur nichts zu danken", unterbricht sie ihn, ,,das
hatte auch jede andere gctan, die im Krieg Kranken-
schwester war und sieht, wie sich ein alleinstehender ..." —
,,Sie waren Krankenschwcster im Krieg?" fragt er er-
staunt. ,,Ja, als mein Mann gleich zu Beginn 1914 fiel — "
,,Sie waren verheiratet?!" starrt er sie an. ,,Ja, ich bin
Witwe", antwortet sie, ,,und " plotzlich schweigt sie,
und dann, als hatte sie von den Vertraulichkeiten, den iiber-
fliissigen Mitteilungen genug, fahrt sie in fremdem, kaltem
Ton fort: ,,also, Dank gebuhrt mir nicht. Hier ist Ihr Geld,
funfhundertsechsunddreiBig Franken; na, und jetzt machen
Sie sich nur ans Lernen." Und dann, er weiB selbst nicht,
wie, steht er plotzlich vor ihr, halt ihre beiden diinnen
Handgelenke fest in seinen Fausten, und stiickweise, derb
und keuchcnd brechen die Worte aus seinem Mund in
aufgeriittelter Angst. ,,Um Gottes willen! Sie wollen jetzt
hier weggehen und mich allein lassen, und seit einem
Jahr weiB ich, daB Sie auf der Welt sind, und weiB nicht,
wer Sie sind, warum Sie mich irn Krankenhaus besucht
haben, was Sie von mir wollen, und warum Sie niemals ein
Wort verloren haben, aus dem ich hatte erfahren konnen,
was Sie machen und wovon Sie leben . . . und Sie bemerken
cs nicht, daB ich dariiber verriickt werde." — ,,Loslassen!"
zischt sie und wirft den Korper nach hinten, ,,Sie Tier,
Sie! Loslassen!" Breitc rote Ringe hat sie am Handgelenk
vom Druck, ein wenig bleich ist ihr Gesicht, wie sie sich so
an die Tiire lehnt, — da steht er ihr gegcniiber, gebeugt und
verloren, — in Gerdas Wangen kehrt langsam die Farbe
wieder, ,,Sie dummes Kind", sagt sie dann icise, ,,was
170
wollcn Sie denn? w&re cs nicht schade, dicse . . . Bckannt-
schaft unfreundlich zu beschlieBcn? Und Sie wollen wissen,
warum ich gut zu Ihncn war . , . Also, mein Mann, der gefallcn
1st, hatte im Gcsicht etwas Ahnlichkeit mit Ihnen, — das ist
alles." Stille. Wenn ich sie jetzt packe und wiirge ,,Und
daB Sie seit einemjahr wissen, daB ichexistiere, und mich nicht
kennen? — Ja, wozu denn? wir haben doch nichts mitein-
ander zu tun, wir sind doch Fremde, die genau so gut in
eincm Hotel wohnen konnten und wenn ich Ihnen
nun sagte, ich bin Angestellte in einem Biiro, oder ich bin
Tanzerin, ist Ihnen das nicht ganz gleich? Sehen Sie mal,
wenn Sie sich dankbar zeigen wollen, weil ich mich wahrend
Ihrer Krankheit um Sie gekiimmert habe, dann denken Sie,
es vergehen genau wie friiher Tage und Wochen, ohne daB
wir uns auch nur zufailig auf dem Korridor begegnen, und
denken Sie nicht einmal so viel an mich wie an die arme
Kathe . . ." Sein Gesicht ist purpurrot, ,,glauben Sie, das
geht so einfach?" stottert er. ,,Oh, Sie Kind", sagt sie, und
dabei ist schon etwas iiberlegene Heiterkeit in ihrer Stimme,
,,ich bin doch mindestens sechs Jahre alter als Sie ... na, —
gabeln Sie sich ein frisches kleines Madel auf, eine Kollegin,
die auch auf Ihre Phantasie, Ihre Gedanken zu wirken
vermag, — so, und nun geben Sie mir die Hand!" sagt sie
und streckt ihm ihre schmale, weiBe Hand bin. Trocken
und kuhl ist diese Hand, — einen Augenblick meint er, vor
ihr niederfallen zu miissen oder — oder und in diesem
leeren Moment lost sich die weiBe Hand aus dem heiBen,
feuchten Druck, — und er steht allein im Zimmer.
,,Du hast dich geirrt", sagt er am nachsten Abend, als er
zum erstenmal bei Paul im Zimmer sitzt, ,,die Frau ist nicht
verliebt in mich, sondern ", und er erzahlt, was sich
zugetragen hatte. Der Junge sitzt in einem tiefen Sessel, die
FuBe laBt er iiber die Armlehne herabhangen. ,,Na und?" —
,,Was na und? weiter ist nichts." — ,,Denkst du? ich
glaube, du irrst dich, was du da erzahlt hast, bedeutet noch
nicht, daB — ", er bricht ab, und cin Weilchen schweigen
171
sie. ,,Ubrigens, gar keine unsympathische Sache. Ich halte
es auch fur richtiger, wenn du die Gcschichtc liquidierst,
das heiBt — du bist doch nicht verliebt in sie?!" Bei der
hohnisch klingenden, scharfen Frage wird er rot. ,,Nein",
sagt cr und hort den falschen Ton in seiner Stimme, ,,aber
zu wundern braucht man sich doch nicht, daft sie mich
interessiert ..." — ,,Interessiert! was, interessiert? sie soil
dich nicht interessieren ! Sie hat vollkommen recht. Erstens
bist du ein griiner Junge im Vergleich zu ihr, — gut, gut,
ich weiB, heiraten willst du sie nicht! — aber so alt ist sie
auch noch nicht, daB so griine Bengels sie reizten. Zweitens
lebt jeder von dem, was er kann, was er macht, was er
will, sie geht dich nichts an, basta. Soviel ist sicher, eine
alltagliche Frau ist sie nicht. Aber du vergiB sie nur."
Mit triiben Augen starrt er in die Luft. ,,Ich hab dir
doch erzahlt, daB Hummel mal gesagt hat, sie sei eine
Dime oder Kommunistin?" — ,,Kann sein", sagt Paul in
xibertriebcn gleichgiiltigem Ton, ,,im vibrigen guck jetzt
lieber her, Wirth arbeitet schon an seiner Dissertation,
einen Teil davon habe ich hier", und cr reicht ihm einen
dicken Manuskriptpacken hin, ,, Beit rage zur Psychologic
der Friihreife, das ist der Titel, heute abend fange ichs an
zu lesen, du ahnst wohl, wovon die Sache handelt." Kurz
darauf erscheint auch Wirth; Paul lafit vom Diener Tee,
Getranke, Geback und Obst hereinbringcn. — Kadar be-
trachtet die moderne, reiche Einrichtung des Zimmers,
den groBen gcschlossenen Biicherschrank, den breiten
Diwan, das Klavier, die flache, opalschillernde Lampe;
Paul bemerkt dieses Umschauhalten und beschreibt mit
dcm Arm einen wilden Bogen: ,,die Dokumente der elter-
lichen Liebe", sagt er, ,,aber was denkst du, wie oft sic in
diesem Zimmer waren?" er tritt an die eine Tiir: ,,die ist
immer zugcschlosscn, dahinter ist ein leeres Zimmer, das
niemand bewohnt, stell dir vor, wenn ich furchtsam ver-
anlagt ware. Und dahinter sind die Zimmer meincr lieben
Gcschwister und des Fraulcins. Ludwig, eine Zigarettc?
172
oder willst du deine Pfeife?" Wirth steckt sich cine lange
Pfeife an; die Unterhaltung kommt in Gang, es ist von einem
Buch die Rede, das sich mit dem modernen Drama aus-
einandersetzt, dann von irgend etwas, was sich im Laufe des
Tages in der Stadt ereignet hat, dann nimmt Wirth sein
Manuskript in die Hand und fangt an, seine Arbeit zu er-
klaren. ,,Um uns uberhaupt mit der Psychologic der Fnih-
reife befassen zu konnen, miissen wir zunachst streng be-
stimmen "
Tagelang sah er Gerda nicht ; als ware sie aus der Woh-
nung verschwunden. Schwere Nachte hatte er da. Ich muBte
mir Rechenschaft ablegen . . . ich miifite untersuchen, ob
es tatsachlich unertraglich ist und sein wird, daB ich Gerda
— daB ich mit Gerda nie oder ob das Ganze nur durch
Pauls Foppereien im Krankenhaus entstanden ist? Deshalb
weil einmal eine Krankenhausschwester und als ihm
jetzt der Krankenhaussaal in Budapest einfiel, jenes Bert in
der Ecke unter dem Fenster, das nachtliche schwache blaue
Licht und Agota, die auf seinem Bett saB und seine Hand
hielt: da nistete sich miide Verbitterung in seinem Innern
ein. Gut war sie zu mir — und war Gerda etwa nicht gut?
und waren ihre kiihlen und gescheiten und beruhigenden
Worte nicht gut? und ist es nicht besser, wenn ich das
Gesicht abwende und nicht an sie denke? — und er wuBte
ganz genau, daB jede Minute und jeder Gedanke, der von
nun an Gerda gehorte, ihn bloB in die Sache hineinhetzen
wiirde, — in etwas, was in keiner Weise enden konnte, weil
es ja nicht begonnen hatte. Aber jetzt waren die Tage auf
der Hochschule und die Nachmittage und Abende mit Paul
eine gute Flucht: die folgenden Tage des Abriickens von
Gerda vergingen leichter, als er befiirchtet hatte; und vor
allem begann der unterbewuBte Wunsch, sich Gerdas
Willen, der Vergessen von ihm forderte, zu fugen, ganz
langsam ihre Gestalt in seinem Kopf zu verwischen. Das
Geheimnis soil Geheimnis bleiben, — du lieber Himmel,
Dirnc oder Kommunistin 1 — damit es nicht zum Gemeinplatz
173
Tcrflache, der Fremde bewahrc seine Fremdheit vor
der Langweile des Alltags. Aber etwas 1st da, was ihm in
diesen Tagen mehrmals einfallt, zuerst nur als fliichtiger
Gedankenblitz, dann immer klarer und klarer und schlieB-
lich, — eines Nachts, als das kleine, magere, schwarze
Konditormadchen, das er sich eilig abends auf dem Ring
aufgegabelt hatte, neben ihm aus dem Bett kroch, — mit
dem furchterlich kreiBenden Schmerz der Erkenntnis : alle
gehen sie weg von mir! allein bin ich! — Nein! man kann
sich nicht aussohnen mit Pauls altkluger zynischer Be-
hauptung! Nein! — das ganze Leben dreht sich darum,
dafi man nicht allein bleiben darf . . .
Mit scheuer und kindlicher Hartnackigkeit klammert er
sich an den Jungen. Gewohnlich geht er gleich von der
Hochschule zu ihm, auch mehrere Abende verbringen sie
zusammen; ,,ich werde dich etwas sparer mit den Kindern
bekannt machen", — die Kinder, so nennt Paul seine Ge-
sellschaft, — ,,dann werden wir wahrscheinlich ohnedies
jeden Abend zusammen sein." Der Junge verfiigt mit un-
beschrSnkter Freiheit iiber seine Zeit und seine Sachen,
als lebte er allein in der Wohnung; und es vergehen tat-
sachlich mehrere Wochen dahiber, bis Kadar zufallig mit
Pauls Eltern bekannt wird. Das Zimmer ist voller Rauch;
es ist elf Uhr voriiber; sie sitzen vor dem Schreibtisch, und
Paul erzahlt von einem Sommer, den er am Genfer See in
einem Knabeninternat verbracht hat, — da tut sich die Tiir
auf: ein groBer Herr im Smoking, mit graumelierten
Schlafen, eine Gestalt wie ein Kavallerieoffizier, und eine
Dame im Abendkleid, wunderbar gewachsen und stark
geschminkt, treten ins Zimmer. ,,Guten Abend", sagt die
Dame mit defer, warmer Stimme, ,,wir kommen aus der
Oper und horen vom Diener, daB unser neuer Herr Haus-
lehrer noch hier ist ... ist es nicht schon etwas spat zum
Lerncn?" — ,,Oh, wir lernen nicht mehr, wir plaudern
blofi", sagt Kddir verlegen und sieht den Jungen an, der
zerstreut auf dem Schreibtisch zwischen Biichern und
'74
allerhand Sachelchen raumt, — ein wenig eckig verbeugt
er sich und sagt seinen Namen. Da spricht auch der Herr
mit muder, verschleierter Stimme: ,,Nicht wahr, Sie sind
kein Wiener? ich hore es an der Aussprache." — ,,Nein,
ich bin Ungar." — ,,So, Ungar . . . interessant." Dann iiber-
nimmt die Dame wieder das Wort: ,,H6r mal, Paul, dieser
furchterliche, schwere Rauchgeruch ist in der ganzen Woh-
nung zu spiiren, du miiBtest bessere Zigaretten rauchen."
Der Junge hebt die Augen und wirft Kadar einen grau
blitzenden Blick zu. ,,Ja, die billigeren Sorten, die man in
der Trafik bekommt, sind jetzt erbarmlich schlecht, konnt
ihr mir ein paar bessere Zigaretten geben?" — ,,Aber gerne",
sagt der Herr sofort, ,,ich werde dir ein paar Schachteln
hereinschicken. Also", wendet er sich wieder an Kadar,
,,Sie sind kein Osterreicher, hm . . . sondern Ungar. Und
fallt es Ihnen nicht schwer, in der deutschen Sprache zu
unterrichten?" Er fuhlt den gegen Paul gerichteten wahren
Sinn der Frage heraus und beeilt sich zu verskhern : ,,o nein,
fur uns Siebenbiirger Sachsen ist eigentlich das Deutsche
die Muttersprache, und auBerdem lebe ich ja schon das
zweite Jahr in Wien." — ,,So", sagt die Dame, ,,und wie
sind Sie mit Ihrem Schiiler zufrieden?" — ,,Paul ist ein
ganz ausgezeichneter . . .", ein strenger Blick des Jungen
hackt den schwungvollen Satz ab, Kad£r schweigt verlegen
und fahrt dann fort: ,,mit dem bisherigen Resultat bin ich
jedenfalls sehr zufrieden ..." — ,,Also, Sie sind zufrieden",
wiederholt Herr Pauli-HeBlein, ein wenig den Tonfall nach-
ahmend, ,,das freut mich. Auf Wiedersehen, lieber . . .
diirfte ich noch einmal um Ihren Namen bitten?" — ,,Ka-
dar." — ,,Herr Kdddr. Aber strengen Sie sich heute nicht
mehr viel an." Er reicht ihm die Hand, am rechten Ring-
finger steckt ein riesiger hellblauer Siegelring. Auch die
Frau gibt ihm die Hand, eine unglaublich schmale und feine
Hand in schwarzem Handschuh, — und damit gehen sie.
Fiinf Minuten spater klopft der Diener und legt fiinf groBe,
flache Blechschachteln auf den Tisch. ,,Simon Arzt", stellt
Paul fest, ,,da, nimm dir bittc zwei davon mit", — er steht
nachdenklich da, dreht cine der Schachteln in der Hand
und sagt dann: ,,was meinst du, wiirden sie darauf ein-
gehen, daB ich hier wegziehe?"
Nun gibt es also wiedcr etwas, woriiber man nach-
griibeln kann : was mag es wohl sein, was Paul an ihn bindet ?
warum ist der Junge so anhanglich? was kann er damit
be2wecken, daB er ihr offizielles Verhaltnis einfach umkehrt
und anstatt Mathematik und Chemie von ihm zu lernen,
ihn unterrichtet ... in allerhand und ihn auf Dinge bringt,
die friiher in seinem Leben nicht existierten? Biicher, —
Paul bemerkt, wie wenig er die moderne Literatur kennt,
und gibt ihm der Reihe nach neue deutsche, englisch-
amerikanische und franzosische Schriftsteller in die Hand.
Er bekommt neue Namen zu horen: Rathenau, Freud,
Spcngler; allmahlich erfahrt er, was hinter Namen stcckt
wie Wilson und Masaryk, Noske und Poincare, Korfanty,
Baldwin und Hitler. Die Namen nehmen Gestalt an,
die Worte erhalten Sinn, und vieles, was er bereits friiher
gehort und wieder vergessen hatte, bekommt Leben und
lebendiges Dasein. Dann ein neues Wunder: das machtige
amerikanische elektrische Grammophon, und tief ergriffen
geht er eines Abends nach Hause, nachdem er im Grammo-
phon C£sar Francks Senate fur Violine und Klavier gehort
hatte. Und iiber all dies gibt Paul ihm Geld, viel Geld,
der Rest seiner Franken liegt sozusagen unberuhrt in der
Blechschachtel unter seinen Hemden, — Paul zahlt ihm
fur den angeblichen Nachhilfeunterricht so viel, daB er fast
seine samtlichen Ausgaben davon decken kann. Und dann,
auch dariiber lieBe sich nachdenken, was wird, wenn das
cinmal aus ist, — und gewaltsam schiebt er diesen Gedanken
von sich. Auch das Leben hort einmal auf, und doch denke
ich daran nicht. — Wirths Besuche werden in der letzten
Zcit seltener, — ,,er sitzt iibcr seiner Doktorarbeit, und
ich glaube, er lauft machtig einer Frau nach, die nicht aus
unscrn Krcisen stammt," erklart Paul, — einen Abend in
176
det Woche verbringt er aber dennoch mit ihnen. Dann
achtet er jcdesmal still auf das, was der Junge spricht. Hie
und da korrigiert er ihn mit einem Wort oder lenkt ihn,
und Paul hort auf ihn. Einmal greift Kadar ihn deswegen
an: ,,Ich wiirde doch nicht so unbedingt Ludwigs Meinung
akzeptieren!" — ,,Warum denn nicht", antwortet er, ,,er
hat doch meistens recht. Und ich", fiigt er hinzu, ,,bin seine
Kreatur", und dabei lacht er.
Eines Tages lalk Paul ihn Rosette kennenlernen. Warum
mufite er darauf eigentlich so lange warten? tagtaglich
hatte er den Jungen schon gequalt, er mochte Rosette zu
sehen bekommen, — nun, Sonntag endlich, vormittags
um elf Uhr haben sie sich im Kunsthistorischen Museum
im alten deutschen Saal vetabredet. Als er hinkommt, sitzt
das Madchen schon in der Mitte des Saals auf einem Sofa
und blattert im Katalog. Von der Tiir aus betrachtet er sie:
diinne, schmale Figur, lange schlanke Beine, kurzes,
blondes Haar, von Gesundheit strotzende, rote Wangcn.
Sofort weiB er, das ist Rosette, aber Paul ist noch nicht da,
und er wagt nicht, sie anzusprechen. Unbeholfen steht er
in der Tiir des leeren Saales, dann stellt er sich linkisch vor
ein Bild. Da bemerkt ihn das Madchen und spricht ihn an:
,,Entschuldigen Sie ... nicht wahr, Sie sind Pauls Freund?
— kommen Sie doch her und setzen sich, ich versteh wirk-
lich nicht, wieso Paul sich verspatet." Sie geben sich die
Hand, er setzt sich neben sie und fiirchtet sich vor den
folgenden Minuten, er hat das Gefiihl, kein Gesprach an-
fangen zu konnen. Rosette betrachtet ihn aufmerksam und
sagt dann: ,,Sie sind jetzt in Verlegenheit, das ist ganz
iiberflussig. Beginnen wir, oder setzen wir fort als alte
Bekannte, ich kenne Sie schon sehr gut, wie Sie sich denken
konnen, hat Paul viel von Ihnen gesprochen." Und aus den
ersten Worten kann er entnehmen, daB Paul sehr liebevoll
von ihm gesprochen hat, — das Madchen weiB wirklich
alles von ihm, vom Krankenhaus und von den toten Htern
in Ddva angefangen, alles. Sie spricht, und die ruhigen,
12 Kflrmendi. TtudnpOMt 177
netten Worte losen auch ihm die Zunge; er bemerkt gar
nicht, wie die Minuten vergehen. Ein fast besinnungslos
groBes Erstaunen beginnt sich in ihm zu lockern. Wirth, —
gleich ist von ihm die Rede, — mag Rosette nicht leiden.
,,Vor allem finde ich es falsch, sehr falsch, daB Wirth meinen
Freund gewaltsam in cine bittere, pessimistische, zynische
Richtung lenkt, und glauben Sie mir, es kostet mich einen
groBcn schweren Kampf, Wirths schadlichen EinfluB aus-
zugleichen. Sonst halte ich ihn fiir einen wertvollen Men-
schen und bin auch iiberzeugt, daB er als Nervenarzt
Karriere machen kann, bloB . . . irgendwo stimmt die
Sache nicht. Denn entweder ist er wirklich Pessimist, und
mit einer solchen Weltanschauung kann nie ein guter
heilender Arzt aus ihm werden, oder aber er schwindelt
mit seinem Pessimismus Paul was vor und benutzt ihn nur
als Versuchsobjekt. Und dieser Gedanke verfolgt mich
immer mchr, wenn Paul von Zeit zu Zeit geistig abgehetzt
und zerqualt zu mir fliichtet . . . aber dann geniigt meist
ein Wort, um ihn vollig umzustimmen." — Erstaunen
hatte er gefuhlt? — jetzt saB er wie vor den Kopf geschlagen
auf dem Sofa neben dem Madchen. Ist das moglich? dieses
sicbzehnjahrige kleine Ding, dieser . . . Backfisch mit den
ernsten, schweren Worten auf den Lippen und den scharfen,
kiihlen Gedanken im Kopf, — so pragnant und klar spricht
sic von schwierigen menschlichen Dingen, — vielleicht
waren auch ihm diese Gedanken schon eingefallen, nur
konnte er sic nicht formulieren. Aber dieses kleine Madchen,
— wie jemand, der von der Hohe der Jahre, Erfahrungen
und der Inspiration fremde, sich qualende oder Zuflucht
suchende Menschen kiihl und objektiv beobachtet. Und
einfach verbliiffend ist es, wie sic von sich, von ihnen beiden
spricht: mit dieser objektiven Offenheit, die schon mehr ist
als Exhibitionismus, die nur Wahrheit sein kann. Kamerad-
schaftsehe, — mit diesem amerikanischen Wort bezeichnet
sie ihr Verhaltnis und sagt: ,,Glauben Sie nur, friihcr oder
spater wird die ganze Welt dahintcrkommen, daB das das
178
Richtige ist. Was 1st denn der springende Punkt bci dem
Ganzen? daB die Frau, die sich spater von ihrem Ehemann
erhalten lassen will, ihm als Tausch dafur ihre Unberiihrt-
heit bietet. Lindsey sagt, — haben Sie ihn vielleicht ge-
lesen? — sie deponiert den imaginaren Wert ihrer Unschuld
als Kapital bei ihrem Lebensgefahrten, um dann das ganze
Leben davon zu zehren. Mit keinem Wort will ich die
.biirgerliche Ehe verurteilen, die sich auf korperliche und
seelische, entwicklungsfahige und sich selbst starkende
Bande begriindet, auch nicht cine Ehe, bei der beide Teile
im voraus genau wissen und es auch voreinander nicht
leugnen, daB sie eine Interessenehe ist. Wenn sie anstandig
geschlossen wird, gehort sie schlieBlich nicht zu den niedrig-
sten Geschaften. Aber eine Frau wie ich, die arbeitet, die
sich von der eigenen Arbeit erhalten wird, also unabhangig
ist, warum sollte die nicht ebenso frei xiber ihren Korper
verfiigen, wie sie iiber ihre Gedanken verfugt? Oder halten
Sie es fur moglich, daB es eine Frau gibt, die bis zu dem
einen, gewissen einzigen Mann, dem Ehemann, an keinen
anderen Mann denkt? Gut, die Sache hat hunderterlei
Abstufungen vom gesunden Ahnen bis zur ungesunden
Traumerei. Aber wenn ein Madchen in dem Augenblick,
da sie widerspruchslos fuhlt und weiB, daB das seelische
und korperliche Alleinsein unertraglich geworden ist,
die biirgerliche Moral, die chinesische Mauer verblen-
deter Erziehung und hygienischer Unerfahrenheit nicht
umstoBen oder diese Mauer nicht umgehen kann, was
kommt dann? Hysteric, Neurasthenic, Aberrationen
odcr Liigen. Fur die organische Entwicklung, fur die
psychische Weiterbildung ist das gesunde Auslcben der
Sexualitat unumganglich notwendig. Nur die Jungens
diirfen? warum? Und was sie diirfen, ist auch bloB so cin
Gricchengeschenkl Die Prostituierten, deren Umarmung
von der Angst, sich vielleicht anzusteckcn, vergiftet wird,
oder ein Dienstmadchen, das sie iiber jene Minute hinaus
nicht mehr die Spur angcht ? Sehen Sie, ich bin dem Schicksal
12*
'79
schon heute dankbar, daB es mich alle diese Dinge recht-
zeitig hat erfahren und . . . erleben lassen. Paul and ich,
wir sind fast gleichaltrig und leben seit einem Jahr ungefahr
mitcinander. Naturlich, gewisse . . . technische Schwierig-
kciten gibt es, schlieClich 1st ja Wien nicht New York, aber
wir leben beide in dem BewuBtsein und in der Beruhigung,
daB unser junges Leben, unsere jungen Krafte, die Schon-
heit unserer Jugend weder der selbqualerischen Dummheit
noch der ungesunden Luge zum Opfer gefallen sind. Glauben
Sie, ich werde deshalb dem Manne eine schlechtcre Ge-
fahrtin sein, mit dem ich vielleicht einmal, wenn es ihm und
mir so paBt, vor dem Standesbeamten oder dem Priester
eine Ehe schlieBen werde?"
Rosette spricht und spricht; ihm gehcn Gesichter und
Slimmen im Kopf herum. Prinz meines Herzens . . . was
geht mich Kathe an, und was geht mich Agota an und das
Madel aus dem Hutsalon in der Miillnergasse in ihrer
weiBen Bluse, und die . . . ich weiB gar nicht mehr, die in
Budapest in dem Haus mit dem widerlichen Geruch, wo ich
vorher zwei Kronen ,,Und wenn ich bedenke", fahrt
Rosette fort, ,,daB es mir einmal im Leben doch schief
gehen kann, — mein Gott, man kann ja nie wissen, —
werde ich das dann nicht besser und leichter ertragen, nicht
tapferer und mit mehr Ausdauer versuchen, mich wieder
aufzurichten, wenn ich mich daran erinnere, daB ich meine
Jugend — — — " Jetzt starrt er die Sprechende mit
strengem Gesicht an. Die wollen mich wohl frozzeln, fahrt
es ihm durch den Sinn, die haben hier etwas abgckartet
und diese ganze Sache einstudiert, um mich zum Narren
zu haltcn! ,,Und wenn das vernagelte biirgerliche Gehirn
in all dem eine Verletzung der Weltordnung sieht", fahrt
das Madchen fort — und da fuhr er geradezu grob da-
zwischen: ,,Schamen Sie sich derm nicht ... Sie Kinder 1"
— ,,Ach, so", sagt Rosette, ,,ich wuBte nicht, daB Sie erst
vom Mond kommen. Sehen Sie mal, das Kulmbach-Bild
da gegeniiber ..." — ,,Rosette", sagt er da in wogender
180
Verwirrung, ,,seien Sie nicht bose, abcr wir begegncn uns
heutc zum erstenmal und . . . viclleicht haben Sie rccht,
abcr ich ..." — ,,Oh", sagt sie, ,,ich verstehc ja, ich wciB
ja. Sie stammen von daher, wo man diese Dinge gern als
die Unsittlichkeit unserer Stadt oder unserer Klasse oder
unserer Kreise hinstellt. Aber wenn Sie anfangen, hinter
die Worte zu sehen "
Paul erscheint, ein wenig auCer Atem und gut gelaunt.
,,Entschuldigt bitte die groBe Verspatung, Papa hat mich
zu einer Sonntagsaudienz empfangen, und diese scltene
Gelegenheit konnte ich nicht voriibergehen lassen, ohne
von meinem Sommerplan zu reden. Ich glaube, sie werden
keine Schwierigkeiten machen, wenn aber doch, dann er-
klare ich einfach, ich wunsche mit Mama und den Kindern
zu fahren . . . Wie ich sehe, seid ihr schon ohne mich mit-
einander bekannt geworden, Toni, was gaffst du diese
Dame so an? hast du dich vielleicht schon in sie verliebt?!"
Sie gingen im Saal umher und besahen sich die Bilder;
gegen ein Uhr setzten sie sich dann in cine Bierstube in der
inneren Stadt, wo sie von einigen Freunden und Freundin-
nen von Paul und Rosette erwartet wurden. ,,Mein Freund
Toni Kadar", sagte Paul; und nach kaum einet halben
Stunde hatte er das Gefuhl, als lebte er schon seit Monaten
und Jahren in der Gesellschaft dieser jungen Leute. Der
leichte, heitere Ton riB ihn vom ersten Augenblick an mit,
und als sie sich dann das nachste Mai und von da an immer
ofter trafen, begann er allmahlich, sich an ihre Themen und
ihren Stil zu gewohnen und sich selbst darin zu bewegen.
Trotzdem ging es ihm auch spater noch haufig durch den
Kopf, das Ganze konne nichts anderes sein als Zirkus,
eingelerntes Spiel, um ihn zu uzen, und in solchen Augen-
blicken muBte er wohl hundertmal die gehorten und ge-
sehenen Tatsachen durchdenken, um dennoch an ihre
Wirklichkeit zu glauben.
Paul und Rosettes Gesellschaft bestand auBer aus Wirth,
ciner alteren Studentin der Medizin namens Lil und eincm
181
sehr ruhigen, sympathischcn jungen Mann, der cinen be-
ruhmten alten osterrcichischen Namen trug, haupts£chlich
aus Rosettes Mitschiilern und Mitschiilerinnen vom Kon-
servatorium. Eine lustige Bande waren diese sechzehn-
bis achtzehnjahrigen Jungens und Madels, die — groBten-
teils von den schweren Sorgen des Alltags unberiihrt —
im Grunde genommen gutglaubig und mit der Grazie der
Verantwortungslosigkeit mit jenen schweren sozialen,
moralischen und sexuellen Problemen um sich warfcn, fur
die ihr befreites Leben cine Losung, zumindest aber eine
Erklarung verlangte. Die meisten waren irgendwie fiir
dieses Leben pradisponiert, — durch Begabung zu einer
Kunst oder wenigstens zu aufrichtigem Amateurtum, —
aber getrieben von der ewigen Sehnsucht des moralischen
Menschen und des Intellekts, suchten sie die Rechtferdgung
ihres Lebens. Selbstverstandlich nahmen sie alle die Vor-
teile und Geniisse und die nicht ganz echte Unbekummert-
heit dieses ,,befreiten Lebens" ernster als das Schicksal,
das hinter der Lebensform steckt, und erfreuten sich an
dem leichten, sprelerischen Jonglieren, mit dem sie das auf-
geworfene Problem auffingen, um im nachsten Augenblick
bereits eine fertige Losung zuriickfliegen zu lassen. Mit der
klaren BewuBtheit derer, die sich selbst Rechenschaft ab-
legen, spielten sie dieses up to date Hansel-und-Gretel-SpieJ,
in dem die Beteiligten mit ihrer artistischen Belastung, ihrer
literarischen Cberladenheit, ihrer (iberlegenep Zivilisiert-
heit, ihren unkontrollierten Weekends, ihrer hygienischen
Erfahrung, ihren verschliefibaren Zimmern, ihren eigenen
Haus- und Wohnungsschliisseln den Tanz der unabwcnd-
bar angekommenen ,,andern Zeiten" tanzten. — Wie an
ihre Themen und ihren Stil gewohnte Kddar sich auch
an ihr Leben; er fand diese Kamcradschaftsehepaare sclbst-
verstandlich und sinngemaB und taumelte ohne Vorbehalt
in die Einzelheiten. Als riesige Sturmflaggc flatten ihre
Jugend im Zyklon dicser ,,andern Zeiten", und unter dem
brausenden Schlagen diescr Flagge liegt das Idyll, in dem
man leben muB, damit offenbar werdc: was hier brodelt
und erhitzt, cntsteht und gcstaltet, wa'chst und wachsen
laBt, 1st das ncue ,,befreite Leben". — Er nahm es zur
Kenntnis, daB Robert und Anni Ostern nach Salzburg
fahren, daB Eva sich zu Hause stundenlang mit Hugo ein-
schlieBt, daB Hella und Arno eine gemeinsame Wohnung
gemietet haben, daB Lya, die Ungeschickte, schon zum
zweitenmal gezwungen ist, sich cinem arztlichen Eingriff
zu unterziehen, daB Ella und Albert ihre Partner getauscht
haben. Und all dies spielt sich vollkommen offentlich in
der kleinen Gesellschaft ab, aber mit der Attitude, auch
vor jedem andern, iiberhaupt vor der ganzen Welt sei
selbst iibertriebene OfFenheit besser als Verheimlichen oder
gar Leugnen. — Und die Vater und Mutter? die ehrbaren
Arzt-, Rechtsanwalts-, Beamten- und Rentier-Familien,
kurz die gutsituierten Biirgerfamilien? Sie ahnen es, viel-
leicht giauben sie es nicht ganz, und wenn sic es wissen,
leugnen sie es. — Einmal muB Kadar an Mariska Gazda
denken. Sie ware wahrscheinlich vor Scham gestorben,
wenn Tante Anna auch nur im geringsten geahnt hatte,
daB der italienische Offizier noch nicht ihr Mann war * . .
Aber wo ist heute Mariska Gazda, die Erinnerung mit
Apothekcngeruch, und wo Tante Anna? Wo Deva und
Budapest, und wo die Wohnung in der Pozsonyer StraBe
und Onkel Rudi mit der leisen, murmelnden Stimme, wo
der gelbe Schreibtisch in jenem dumpfigen alten Gebaude
mit den roten Fahnen, wo der Vormittag mit dem Gummi-
stock und das Krankenhaus und alle die Gesichter und
Stimmen, die einst Die Tage jagen, und wer zwischen-
durch stehenbleibt, um auszuruhen oder sich umzuwenden,
der fallt. Man muB mitjagen.
Der Winter geht zu Ende; Kddar arbeitet fest fur das
zweite Examen. Seine Nerven spannen sich an, er knirscht
mit den Zahnen, seine Hande ballen sich zu Faustcn, so
hockt er iiber Buchern und Zeichnungen; denn sein Geist,
sein Intercssc sind anderswo. Bci den Romanen und Theater-
stiicken, die er verschlingt; bei unvergeBlichen Theater-
abenden und Konzerten, die seine groBten Erlebnisse sind;
bei den sozialen, kiinstlerischen, politischen Fragen, bei
denen er Augen und Ohren aufsperrt; bei Paul, bei Rosette,
bei der ganzen Gesellschaft und dem guten Leben, das seine
Geldgier zu bitterem Schmachten entflammt; und bei
eincm Madchen namens Tilly, die jetzt sein ganzes Leben
ausfullt und um derentwillen seine Franken zur Neige
gehen.
Ottilie Baum, achtzehn Jahre alt, lernt im Konserva-
torium Klavier und absolviert gerade ihr letztes Jahr. Sic ist
klein und feinknochig, ihre Glieder sind so grazil, daB er
manchmal gar nicht verstehen kann, wie diese schmale Hand
solch starken Druckes fahig ist und wie diese schlanken
Beine die kilometerlangen Spaziergange aushalten. Ihr
Gesicht ist milchweiB und wirkt wie durchsichtig, was von
einigen verstreuten kleinen Sommersprossen noch bis zur
Unwahrscheinlichkeit gesteigert wird; ihr Haar ist brennend
rot, und wenn sie es auf lost, reicht es bis unter die Taille.
Tilly wohnt in einer stillen, entlegenen Gasse in einer Villa
mit einem riesigen Garten. Ihr Vater ist ein rotlicher kleiner
Jnde mit einer betrachtlichen Glatze, der in den iibergroBen
Salen, zwischen den monstrosen Mobeln und unter den
Bildern, die manchmal die halbe Wand einnehmen, fast
verlorengeht. Er hangt mit neurasthenischer Liebe an
seiner Tochter. Uberhauft sie mit Kleidern und Schmuck-
stucken, die sie nie tragt, — ,,ich sahe doch lacherlich aus
mit derartigen Perlen!" — und schiebt in Dollars Hundert-
tausende nach der Schweiz fur Tilly. Sie hatten sich bei
Rosette kennengelernt, — Tilly saB am Klavier und spielte
einen amerikanischen Foxtrott; er setzte sich neben das
Klavier und lauschte und betrachtete des Madchens Hande.
Dann iibernahm jemand anders den Platz am Klavier, da
rief Tilly ihn zum Tanz. ,,Ich kann nicht tanzen", ant-
wortcte er, ,,aber . . . ich mochte, daB Sie weiterspielen." - -
,,Lieben Sie die Musik? verstehen Sie etwas davon?" —
,,Ich liebe sie, aber schr . . . sehr viel verstehe ich nicht
davon." — ,,Ist es Ihnen dann nicht ganz gleich, wer
spielt?" — ,,Ich sehe gern ihre Hande auf den Tasten",
sagte er. Er begleitete sie nach Hause, — ,,sind Sie schlecht
gelaunt?" fragte Tilly ihn unterwegs. ,,Nein, gar nicht." —
9,Warum sind Sie dann so schweigsam?" — ,,Es ist doch
iiberflussig, viel zu reden, wenn — ", und er brach verlegen
ab. Als sie sich verabschiedeten, sagte Tilly: ,,morgen abend
sind meine Freunde bei mir, wenn Sie Lust haben, konnen
Sie auch kommen." Selbstverstandlich hatte er Lust, und
von da an trafen sie sich fast taglich. An diesen Tagen war
ein Mitglied der kleinen Gesellschaft mit Namen Norbert
immer schweigsam; zehn Tage spater lud Tilly ihn wieder
zum Abendessen ein, diesmal aber waren sie nur zu zweit.
,,Norbert hat sich heute sehr haBlich benommen", sagte
Tilly einmal, ,,er hat geweint und in mich gedrungen und
sich erniedrigt, als ich ihn verabschiedete." — ,,Als Sie ihn
verabschiedeten?" — ,,Warum tun Sie, als ob Sie das nicht
wiiBten? du weiBt doch ganz genau, daB ich ihn deinet-
wegen weggeschickt habe." — Der kleine rotiiche Kom-
merziairat weiB, daB Kadar der Freund seiner Tochter ist,
und als er ihm eines Nachmittags zufallig am Gartentor
begegnet, ergreift er ihn am Arm und geht eine Viertel-
stunde auf der StraBe mit ihm auf und ab. ,,Ich habe Sie
lange nicht gesehen, mein Junge, was gibts Neues, wie
leben Sie? Meine Tochter wird nicht bose sein, wenn Sie
ihr nachher erzahlen, daB ihr alter Herr Sie aufgehalten hat,
wir haben doch so lange nicht miteinander geplaudert!
Tilly \rird nicht bose sein, Tilly ist ein Engel, nicht wahr?
Mein Gott, wenn Sie ihre Mutter gekannt hatten, meine
selige Frau. Du Heber Gott, dann wiirden Sie mich ver-
stehen! Tilly ist das vollkommenste Madchen der Welt,
genau wie ihre Mutter war! Herrgott, wenn ich wiiBte,
daB sie gliicklich ist, wenn ich sicher ware, daB es ihr nie,
nie im Leben schlecht gehen wird! Ein etwas merkwiirdiges
Kind, und soweit ich als schwachcr Amateur das beurteilen
kann, auch Kiinstlerin, kcinc groBc Kiinstlerin, mcin Gott,
Theresa Carreno war cine groBe Kiinstlerin, — nur gerade
so wcit, daB sie auch darin mehr ist als die andern, nur so
weit, daB es urn ein Kornchen zu ihrem Gliick beitragen
kann! Mein kleines Madel, man lebt, solange man jung ist,
ihre Mutter war sechsunddreiBig Jahre alt, als sie starb,
Gott, wenn Sie sie gekannt hatten! Sie ist das schonste
Madchen, der gescheiteste Mensch, mein Gott, was kann
ich nur fur sie tun? Was niitzt das, wenn ein alter Mann,
ein Vater, sein Kind unausprechlich, geradezu unertraglich
liebt?! Sie soil es gut haben, soil leben, wie sie will, schon,
soil reich sein, sehr reich sein, ich lege viel Geld fur sie auf
die Seite . . . Herrgott, wenn ich wviBte, daB sie nie von
etwas Schlimmem betrofien wird, mein kleiner Engell" —
Kadar konnte diesen wirren, phrenetischen Stil, der ein
wenig nach Heiratsvermittler roch, kaum verstehen; wie
ihm iiberhaupt dieser kleine Mann mit seiner groBen Villa,
seinem groBen Vermogen, seinem riesigen Auto und seiner
riesigen Schwarmerei fiir Tilly und alles, was mit ihr zu-
sammenhing, unverstandlich war. Er zerbrach sich indessen
nicht viel den Kopf iiber Herrn Baum und sprach auch mit
Tilly nur sehr selten von ihm. „ Vater ist der beste Mensch
der Welt und, ich glaube, auch ciner der gescheitesten, er
muB sehr ungliicklich gewesen sein", sagte sie einmai. Als
er sie dann fragte, warum sie das denke, gab sie keine Ant-
wort. Spater einmai sagte sie noch: ,,Mama war in Briinn
Schauspielerin, als mein Vater sie heiratete." Aber das
sind alte und fernliegende Dinge, frcmde Dinge. Tillys
Augen, — leuchtende stahlblaue groBe Augen, — Tillys
Stimme, Tillys Korper und Gedanken sind bekannt, sind
hicr: das ist das, was lebt. Sie sind verliebt ineinander,
Kadir mehr und mehr mit der besinnungsiosen Hingabe,
die dem bcsseren, dem hoheren Wesen zukommt, und die
schon dariiber hinaus ist zu nehmen, die nur geben will;
das Madchen in jeder Bewegung, jedem Ton mit der von
Miidigkeit durchsetzten Erregtheit ihrer Rassc, mit dem
186
dauernden Vibricrcn eines von der Kunst betaubten Ner ven-
systems, mit vornehm verbiillter Langweile der Ober-
sattigtheit, mit der Erotik eines gierigen Kindes und zuweilen
mit der kiihlen Beherrschtheit eines Menschen, der schon
schrecklich iiber die Dinge erhaben ist. Kadar ist immer
derselbe, Tilly ist jedesmal neu und jedesmal anders; man
findet sich nicht in ibr zurecht. Sie sitzt im Musikzimmer
vor dem Konzert-Flugel und spielt Schumann. In diesem
kleinen Zimmer steht nur der riesengroBe Fliigel und der
Notenscbrank und ein paar Stiible und Sessel. Daneben liegt
ein anderes kleines Zimmer, in dem sie schlaft. Hier ist
ohne Erlaubnis der Eintritt verboten, im iibrigen ist die
ganze groBe Wobnung meistens leer. Der Vater halt sicb,
wenn er zu Hause ist, fast immer im Raucbzimmer auf;
fur ein balbes Stiindcben bettelt er sicb zu seiner Tochter
hinein, gewohnlich, wenn sie abends allein ist und Klavier
spielt. Die Toccata bammert auf den Tasten, — dann bricbt
der Ton plotzlich ab. ,,Es geht nicht, und es geht nicht I"
bricht Tilly in gereiztes Klagen aus, ,,ich kann nicht mehr,
mein Gott — ", dann Stille, einige unsichere kakophonische
Tone, und dann schlagt sie den Deckel zu: ,,es geht nicht
weiter, ich kann mich nicht mehr konzentrieren." Da batten
sie schon zwei Stunden am Klavier gesessen, und Kadar
erlebt aufgelost und in Gliick verloren die Sensation von
Brahms und Chopin, Beethoven und Schumann. Tilly steht
auf, reckt sicb, kracht mit ihren Fingern; Kadar, noch
betaubt vom letzten abgehackten Akkord, ergreift ihre
Hand, — ,,danke, Tilly", — und das Madchen, aufgewiihlt
in der Erotik der Tone, hangt schon an seinen Lippen.
Gegen halb neun klopft es leise: ,,Fraulein Tilly, kann ich
das Abendessen bringen? der gnadige Herr ist heute nicht
zu Hause." Ein glasschiliernder Tisch rollt auf groBen
Radern herein: Tee, kaiter Braten, Fisch und Aufschnitt,
kompliziert schmeckende Saucen, raffinierte Garnierungen,
Geback, Obst und ein schwerer, etwas bitterlicher Wein.
Gegen fcehn Uhr kommen cin-zwei Paare von der
187
Gesellschaft an, sic unterhalten sich cine Stundc, dann geht
Kadar mit ihncn zusammen weg. Zu Hause bleibt er im
Zimmcr stehen, auf dcm Tisch liegt das Zeichcnbrett mit
eincr angefangencn Zcichnung . . . mit Sauscn im Kopf,
mit Zick-Zack tanzenden Linien und Buchstaben vor den
Augen, mit Tillys Fluidum in jeder Nervcnfaser, mit der
Sehnsucht nach Erfolg und Geld in jedem Gedanken, mit
dem Zittern um das ungewissc Morgen in jedem Atemzug
starrt er gegen drei Uhr nachts ins Dunkel und kann nicht
einschlafen.
Nerven und Geld: beides nitnmt ab. Vor kurzem hat er
sich einen neuen Anzug machen lassen, diesmal schon bei
cinem besseren Schneider in der inneren Stadt, auch feine
Wasche und ein paar elegante Schuhe hat er sich gekauft.
Das tagliche Bad, — seitdem er Tillys marmornes, ge-
kacheltes, glasernes, in lauem WeiB strahlendes Badezimmer
kennt, hat er sich das angewohnt, — laBt Frau Wessely sich
teuer bezahlen; zu den guten Hemden waren auch bessere
Schlipse notig; Tilly tobte iiber jede Sekunde Verspatung,
und so mu8 er hin und wieder mit einer Taxe zum Rendez-
vous eilen; die Restaurants und Bars, Theater und Kinos,
die Ausfliige erschopfen seine Borse stark, obschon die
MSdchen sich gewohnlich nichts bezahlen lassen und Paul
sehr haufig fur seine Spesen mit auf kommt. Nun, und wenn
Tilly vor einem Blumenladen eine marchenhafte Rose be-
wundert, dann kann er nicht widerstehen und muB sic ihr
schicken; und wenn es Tilly um Mitternacht einfallt, tanzen
zu wollen, dann kann er ihr nicht sagen, Auto und Entree
und die Flasche Sekt seien uberfliissige Ausgaben. Ja, —
er hat auch tanzen gelernt, und als er mit seinen langen
Gliedern und etwas holzernen Bewegungen sich auf dem
Parkett drehte, schamte er sich. Von Paul hatte er — das
war schon vor etwas langerer Zeit — einen modernen
Smoking geschenkt bekommen, und als er sich geradezu
aufgebracht gegen diese Geldvcrschwendung ereiferte,
antwortete Paul bloB: ich glaube, du wirst ihn brauchen.
188
Der Junge bezahlte ihm aufierdem genau das Vierfache
von dem, was ihm fur den an und fur sich uberflussigen
Nachhilfeunterricht zugekommen ware, und Kadar nahm
das Geld von seinem Freunde an. Er fiihlte, daB vorlaufig
das Geld und die Freundschaft aufs engste zusammen-
hingen: entweder befriedigte Paul an ihm seine mazena-
tischen Neigungen, oder aber er wollte nur, daB er mit der
Gesellschaft Schritt halten konne, ohne daB die oberflach-
lichen, auBeren und doch schmerzlichen Erscheinungen des
trennenden finanziellen Unterschiedes ihn tagtaglich ver-
letzten und es ihm schlieBlich unmoglich machten, mitzu-
tun. Und vielleicht . . . weil zwei Personen mehr von dem
verdammten . . . gesegneten Geld der Eltern ausgaben.
Vorlaufig also ist Paul da, aber er fiihlte, daB dieser MiB-
brauch nicht lange dauern konne, entweder wiirde Paul eine
andere Passion finden, oder die Eltern wiirden ihn doch
einmal kiirzer halten. In stillen, angstlichen Nachten des
Alleinseins zitterte manchmal in unsicheren und drohenden
Konturen die Frage vor ihm auf : was wird, wenn das ein-
mal zu Ende ist? Und wenn er dann ofters daran dachte:
jetzt gebe ich in zwei-drei Monaten mehr |aus, als ich
friiher fur ungefahr anderthalb Jahre iiberhaupt zu leben
hatte: dann biB sich mit heiBen Zahnen wiitende Ent-
schlossenheit in sein Gehirn: das war ja auch kein Leben,
friiher!! Ich will immer so leben!! Ich will immer Geld
habenll Geld, — er hatte eigentumliche Geldphantasien.
Ich werde auch Geld haben: denn der ausgezeichnete
Architekt wird gewaldge Auftrage bekommen, und eine
Unternehmung nach der anderen — Ich werde Geld haben:
denn unerwartet wird mich einmal ein groBes Gliick treffen,
das mir zu ungeheurem Vermogen verhilft — Ich werde
Geld haben : denn ich werde jemandem begegnen, der mich
auf irgendeine besondere Weise, durch eine ungewohnliche
Spekulation — Und wenn ich Tilly heiratete? Samt den
Schweizer Millionen und der Villa und dem Auto und der
ganzen iibrigen goldklingenden Anhimmelung ihres kleinen
189
glatzkopfigen Hcrrn Papas? Und sofort muB cr an cine
Nacht denken, — erschopft liegt ihr diinner kleiner Korper
nackt in dem machtigen Bett, er selbst kauert mit geschlos-
senen Augen am FuBende des Bettes, in alien Gliedern vi-
brieren die unz&hligen neuen Sensationen der letzten Um-
armung; und als er dann in kaum spiirbarer leiser Helligkeit
die Augen aufsperrt und wieder die nie faBbaren tausend
Wunder der knabenhaften kleinen Gestalt vor sich sieht
und sie in neu erwachender Begierde anriihrt, — und das
Madchen da in einer unverstand lichen Erstarrung nur
sagt : ,,oh, geh jetzt, geh jetzt, geh jetzt . . ." diese Nacht
fallt ihm ein, und da weiB er, daB Tilly nicht seine Frau
werden wird. Tilly, die nackt mehr ist als das Millionen-
vermogen und in ihrem Palast und ihren Juwelen weniger
als die Armut, — Tilly wird ihn eines Tages mit einem Wort
wegschicken, oder . . . er wird sie eines Tages, vielleicht
ohne ein Wort, verlassen.
Damals raste Wien bereits auf der Berg- und Talbahn
der Inflationskonjunktur. Das Leichengift des Zusammen-
sturzes hatte schon den ganzen Wirtschaftskorper durch-
drungen, und wahrend die gesellschaftlich Schwacheren,
die wirtschaftlich Unorganisierten langsam sanken, immer
tiefer und tiefer abwarts, tobten die Starkeren, die (Jber-
lebenden, die groBen Rauber, die sich in alien Situationen
Zurechtfindenden mit ihrem m^chtigen Gefolge in be-
rauschtem Tanz um die in Agonie zuckende Stadt. Das
Leben huscht in bunter elektrischer Spannung, in der Er-
regung nie geahnter neuer Sensationen zwischen Himmel
und Holle dahin; Kommunistenaufzuge, die vom schnelien
Backen ein wenig angebrannt riechenden Konjunktur-
milliardare, verbitterte reaktionare poh'tische Zwischen-
spiele, zahneknirschende, magenknurrende Demonstra-
tionen von Arbcitslosen, Vermogenschiebungen, bis in den
Morgen dauernde Zechereien in den Bars, leeres Gahnen
von stillstehenden Fabriken, zum Platzen uberfiillte Ge-
schafte in den HauptstraBen; die Banaiita't von ,,Glanz und
190
Elend" so heutig geschminkt, daB sie wie cin apokalypti-
sches, nie gesehenes Wunder erscheint. Auf dieser diisteren
See segelt heiter die seltsame Luxusjacht der jugendlichen
Gesellschaft. Die Deckung des sicheren Geldes gibt die
Moglichkeit zu kritischem Verweilen; ihr biBchcn Kunst-
treiben erhebt sie iiber den Burger; und so sehr leben sie
ihr besonderes, in sich geschlossenes, befrcites Leben, daB
sie alles andere iiberlegen-interesselos mit kalter Ablehnung
betrachten. Und wie Kadar so immer mehr und mehr unter
ihnen lebt, bemerkt er eines Tages, daB er lauter Fremde
um sich hat, deren Gewohnheiten er annimmt, mehr oder
minder gut nachafft, die aber sehr wohl sehen, daB sich ein
Fremder unter ihnen befindet. Paul zuliebe und vielleicht
wegen seines Verhaltnisses mit Tilly dulden sie ihn, — aber
hie und da regt sich das Windchen, das ihn unbedingt eines
Tages mit leisem Hauch aus der Gesellschaft hinauswehen
wird. Einer macht eine Bemerkung iiber eine schlampige
spieBbiirgerliche Geste an ihm, und er wehrt sich nicht
dagegen: er geht mit einem nachlassigen Na-wenn-schon
iiber die Sache hinweg. Und da konstatieren sie im stillen,
daB er wirklich ein SpieBbiirger sei. Ein bleiches, blondes
Aristokratenbiirschchen scharwenzelt auffallend um Tilly
herum; des wegen fahrt ihm einmal ein scharfes Wort iiber
die Lippen, — und schon ist das Urteil gesprochen: er ist
eifersiichtig, er kann sich nicht iiber die Dinge erheben.
In Disputen wechselt er die Meinung: er hat keine feste
Weltanschauung. Mit kindischem Eigensinn bleibt er an
einem Standpunkt kleben: es fehlt ihm an geistiger Elastizi-
tat. An diesen Kleinigkeiten fiihlt er, daB er nur mit ihnen
getrieben wird und nicht zu ihnen gehort. Denn iiber das
hinaus, was schon und aufregend ist, gibt es eigentlich
nichts, um dcssentwillen es sich lohnte . . . nichts, das auch
nur eincn cinzigen langeren Ausblick nach dem Obermorgen
hin hatte; das Ganze ist nicht mehr als pittoreskes aber
blindes Tappen im Heute. Und trotzdem ist dieser Friihling
schon mit seincn hervorbrechenden Sehnsiichten und den
191
Erfiillungen, wie er sie sich nicht vorzustellen vermochtc,
mit den Erlebnisscn und Betaubungen, die selbst in jenen
stiirzenden Nachten noch ihre seltsame, nie gekannte,
aufregende Spannung haben. Seine junge Kraft und sein
Selbstvertrauen kampfen mit der dreifachen Probe des
Lernens, der neuen Dinge und der neuen Menschen; und
es gibt Tage, an denen er es sich selbst glaubt, daB er nicht
aussichtsvoller hatte starten konnen, daB sein Leben bis
auf gewisse Teilresultate nicht besser hatte gelingen konnen.
Ende Juni ist SchluB auf der Hochschule, SchluB mit
seinem beiseitegelegten Geld und wahrscheiniich auch mit
Tilly. Das zweite Jahr des Studiums hat er mit mittelmaBi-
gem Erfolg hinter sich. Wohnung und Kost sind zwar
bis zum ersten Juli bezahlt, aber in der Blechschachtel
liegen flach nur noch eine oder zwei Banknoten. Tilly wird
sich bis zum Herbst mit ihrem Vater in der Schweiz und
in Italien aufhalten. An einem schonen stillen Juniabend
nimmt er Abschied von ihr. Mit leer hammernder Brust,
verschleierten Augen, mit tausend plotzlich auf ihn ein-
sturzenden Schmerzen korperlicher Erinnerungen halt er
ihre Hand in der seinen; Tilly sagt leise: ,,also . . . bis
Herbst, oder fur immer." Schrecklich, unertraglich liebt
er in diesem Augenblick das kleine rote Madchen, Abende
lang halluziniert er, hort ihre Stimme, sieht ihr Bild, spurt
ihre Umarmung, lauscht den vom groBen Fliigei auf-
steigenden leisen oder donnernden Tonen. Tilly konnte
man nicht verstehen, — ihr jede Sekunde wechselndcs
Leben, ihre unerwarteten Seufzer und die unzahligen kleinen
Widerspriiche, aus denen sich ihr unauf losbar einheitliches
Wesen zusammensetzte, — Tilly konnte man niemals ver-
stehen, und niemals kann man sie vergessen.
Undindiese leeren, vergeblichen Tage rasselt wieder Paul
herein, unerwartet und heiter und ein wenig mit der Geste
einer hoheren, die Morphiumspritze dirigierenden, sicheren
Hand: ,,Du weiBt, seit Monaten bearbeite ich die Eltern
mit meinem Sommerplan, — also, wenn du willst, kannst
192
du nachste Woche mit mir nach London reisen. Die Reise
ist bis ins kleinste vorbereitet, die Geldangelegenheit in
Ordnung." Am folgenden Tage losen sie die Fahrkarten:
Basel — Paris — Calais — Dover — London. Eine kleine
Schwierigkeit verursachte nur Kadars PaB; das englische
Konsulat in Wien lehnte das Visum fur einen ungarischen
Pali ab. Bis zum nachsten Morgen verschafft ihm Herrn
Pauli-HeBleins Biiro einen osterreichischen PaB, und nun
steht der englischen Einreisebewilligung nichts mehr im
Wege. Paul ist in diesen letzten Tagen in Wien nichts als
eine hochflackernde Flamme: ,,wunderst du dich, daB meine
Ruhe bin ist? du hast mich noch nie so aufgeregt gesehen?
ahnst du denn, was London fur mich bedeutet seit ,Prinz
und Bettler4 und seit Wilde und Shaw ? Hast du eine Ahnung,
was mir, dem Wiener, die GroBstadt bedeutet?"
Eines Morgens steigen sie dann zu neun in den direkten
Wagen ein, an dem steht: Wien West — Paris Est, — eine
schreiende, lustige, aufgeregte Gesellschaft. Sieben be-
gleiten sie bis Salzburg; wahrend der halben Stunde Auf-
enthalt in Salzburg amiisierte sich der ganze Zug iiber die
unter Lachen und Kiissen Abschied nehmende Gesellschaft.
Rosette und Paul spazierten ein wenig errotet auf dem
Perron auf und ab, dann, — die Schaffner schlossen bereits
die Waggontiiren, — kiiBten sie sich. Im Gesicht des
Madchens gliihte etwas von unbekannter, sonderbarer
Bewegtheit. ,,Ach Gott, du . . .", noch hielt sie die Hand
des Jungen, der auf den Waggonsrufen stand, ,,ich hatte
doch besser mit dir gehen sollen, Paul! Sofort telegrafieren,
wenn du angekommen bist, und jeden Tag schreiben . . .
Toni, paBauf— ---"
Hinter dem Arlberg fing es an zu regnen, und von da an
ging die Fahrt fast bis Paris bei dichtem Spriihregen und
manchmal auch Nebel, als ob auch das Wetter die Absicht
hatte, ihre Aufmerksamkeit nicht durch die fremden Land-
schaften vom eigentlichen Reiseziel, von London, abzu-
lenken. Hinter Salzburg nahm Paul einen deutsch-englischen
13 Ktirmendi, Budapest 193
Sprachfiihrer aus der Handtasche und gab ihn lachend
K£d£r, ,,von jetzt an kein Wort mehr anders als Englisch,
verstandenl ich will nicht, daB du nicht weiBt, was
du anfangen sollst, wenn ich dich in London mal fiinf
Minuten allein lasse." Kadar sucht und liest die allgemein-
gebrauchlichsten Worte, die auf Reisen in einer fremd-
sprachigen Stadt gewohnlich die ersten Worte der Touristen
sind. Im Speisewagen horen sic Deutsch, Ungarisch, Ru-
manisch und Franzosisch sprechen. In Zurich wird der
uberfullte Zug ziemlich leer, in Basel aber steigen dann
wieder viele nach Paris Reisende ein. Paul, der Unruhige,
geht durch alle Wagen; er erzahlt, im Zuge sitze ein
ungarischer Ingenieur, der auf der Reise nach London und
von dort welter nach Melbourne sei. ^Wilist du riiber-
kommen und dich ein biBchen mit ihm unterhalten?** fragt
er. Einen Moment verspiirt Kadar Sehnsucht nach der
ungarischen Sprache, aber dann winkt er nein. Begrunden
kann er es nicht, warum er dem Landsmann nicht begegnen
will. Spater ging ihm einmal durch den Sinn, daB mzwischen
auch Vavrincc schon ungarischer Ingenieur sein kann . . .
Es ist Abend, als der Zug an der Gare de FEst einlauft; zwei
Stunden spacer fahrt vom Nord der Schnellzug nach Calais
ab. Durch das Fenster der Taxe betrachten sie die drangende,
brausende, leuchtende Pariser Nacht; an einer StraBen-
kreuzung bleibt das Auto sekundenlang stehen, ein blondes
Madchen mit einer weiBen Miitze rappelt am Fenster:
,,Hello, boy!" sagt sie und lacht 2u ihnen hinein. ,,H6rst
du", sagt Paul, ,,eine Englanderin, sie hat uns auch fur
Englander gehaltenl'* Dann sind sie auf dem nachtlichen
Bahnhof; Paul geht vor und sieht sich die Lokomotive an,
,,eine schone Maschine", sagt er; der Gepacktrager bringt
die Koffer und stellt sie vor einem langen griinen Pullman-
Wagen auf den Bahasteig. Am Wagen hangt ein Schild:
Paris Nord — London Victoria Station.
MAN geht in Wien, sagen wir, iiber den Ring oder die
MariahilferstraBe; man geht und tut nichts anderes. Man
hat kein Ziel und kein Programm; wenn man Lust hat,
bleibt man vor einem Schaufenster stehen und sieht es sich
an; wenn man will, dreht man sich um oder biegt in eine
andere StraBe ein; eventuell begegnet man einem Be-
kannten, den man griiBt; vielleicht rempelt man einen
Fremden an, dann sagt man pardon. Wenn einem gerade
der Sinn danach steht, geht man in ein Kaffeehaus; man
spaziert an einem groBen Gebaude vorbei, von dem man
im stillen konstatiert, das ist das Rathaus oder das Parla-
ment oder das Liechtenstein-Palais; aber man kann auch
noch auf der Treppe umkehren, wenn man zufallig doch
keine Lust hat, hinaufzugehen. Niemand kontrolliert einen,
keinerlei auBere oder innere Direktiven zwingen einen;
die Zeit wird nicht abgemessen, und keiner zahlt einem die
Schritte. Mit der Stadt kann man bekannt werden, wo und
wann man will; das nennt man Bummeln. Man ist nicht
so weit zu Hause, daB man sich Dingen und Menschen
gegeniiber gefuhllos vom Alltag mittreiben lieBe; man ist
aber auch nicht so fremd, daB man von StraBenecke zu
StraBenecke die Gebrauchsanweisung, die einem in Cooks
Reiseburo in die Hand gedriickt wird, studierte. Vielleicht
machen es in Wien die Dimensionen moglich, daB man sich
auf den Zufall verlassen kann: was fur eine Oberraschung
kann denn kommen? Ich gehe und gehe, zwanzig Minuten,
vierzig Minuten, eine Stunde, zwei Stunden: ich weiB,
jene Klavierfabrik liegt an der StraBenbahnlinie zweiund-
sechzig, und ich weiB, wohin ich mit der StraBenbahn
Nummer zweiundsechzig gelangen kann; ich weiB, in
welchem Arbeiterviertel ich jetzt angekommen bin, und
ich weiB, daB ein Kollege namens Grummer von der
Haltestelle dieser Stadtgegend taglich zwanzig Minuten bis
13*
2ur Hochschule mit der Stadtbahn fahrt. Gut, daB ich fremd
bin, derm so bin ich niemandem Rechenschaft schuldig;
und gut, daB ich dennoch nicht ganz fremd bin, denn so
kann ich mir selbst Rechenschaft geben. In London ist
das nicht so. London erfordert ein Programm. Ich wciB,
daB ich morgens um zehn Uhr die Parlaments-Bibliothek,
um zwolf Uhr die Bibliothek des British Museum, um zwei
die soziologische Buchersammlung des State-Archiv be-
sichtigen werde. Ich weiB, daB ich in machtigen Salen
schrecklich viele Biicher zu sehen bekomme und daB die
Reichhaitigkeit und Ubetfulle, der Anblick des Sammeleifers
und der Ordnung mich faszinieren werden. Heute ist Biblio-
thekentag. Ich weiB und . . . konnte nicht gerade sagen, daB
ich mich nicht wohl fuhle dabei. Nur gliicklich bin ich nicht.
Icb glaube, Paul verdirbt die Sache. Paul ist iibereifrig; er
hat zu viel erwartet und will deshalb zu vie! von London.
Allerdings kann man bei einem auf sechs bis acht Wochcn
gcplanten Aufenthalt, — einer Studienreise, wie Paul in
letzter Zeit sagt, — nicht blind draufiosleben. Sechs bis
acht Wochen sind viel und auch wenig. Zuviel, um sich
die Dinge fliichtig anzusehen und von all dem Kenntnis
zu nehmen, was hicr am besten, am schonsten und am zahl-
reichsten vcrtreten ist; zu wenig, um einmal eincn ganzcn
Vormittag allein in der Stadt umherzustreifen, und um cs
gleichgultig sein zu lassen, ob ich drci Stunden am Themse-
Ufer oder im Hyde Park spazierengehe. Nein, dazu haben
wir keine Zeit. Und — vielleicht wiirde ich es auch gar
nicht recht wagen. Ich bin fremd, ich furchte mich vor den
unbekannten StraBen und den fremden Menschen; ich
vcrstehe ihrc Sprache nicht, und wenn ich einmal zwanzig
unausgefiillte Minuten habe, dann sitze ich in mcinem
Pensionszimmer am Fenster und zahle, wieviele Autos aus
der engen StraBe in die breite StraBe biegen. Ich glaube
nicht, daB ich dies aus einer auch mir selbst verheimlichten
Miidigkeit rue. Ncin, miide bin ich nicht, und ich bin
auch viel zu bcscheiden, um nun schon gesSttigt zu sein.
196
Aber diese restlose Einteilung und Berechnung crwcckt
fortwahrend das Gef iihl in mir, daB ich hinter dem Jonglieren
mit der Zeit etwas voriibergehen lasse, was nur der Zufall
bringen kann, oder daB in dieser Zeitgleichung ohne Un-
bekannte doch irgendwo etwas Unbekanntes, etwas Un-
erwartetes verborgen liegt. Nein . . . ich fuhle mich nicht
gliicklich in London. Hatte ich mehr erwartet? Vieiieicht
weniger, ich kann es nicht sagen. Ich habe das Gefiihl, daB
Paul, der iiber unsere Zeit und unser Geld verfiigt, die
Sache verdorben hat. Hatte ich einen Kalender, so wtirde
ich hineinschreiben : Montag — Theaterkunst-Sammlung
Gordon Craigs, eine moderne Photographic- Ausstellung
und ein Vortrag iiber RuBland des Labour- Abgeordneten
Flynn, Dienstag — Lord Cressens Musikinstrumenten-
Sammlung, denn auch die ist in Pauls Programm enthalten,
Ausstellung der im Kriege verwendeten Waffen in der
Olivier Hall und Vorlesung des jungen amerikanischen
Dichters Lee-Masters, Mittwoch — nein, gliicklicherweise
habe ich keinen Kalender, heute ist Samstag, und ich habe
schon vergessen, was am Mittwoch war, ganz sicher ist
es auch nicht, daB wir die Musikinstrumente am Dienstag
besichtigt haben. Was nun wird? ich weiB es nicht, nicht
etwa, weil wir nicht fur jeden folgenden Tag ein genaues
Programm batten, sondern weil Paul augenblicklich auf
der Bank ist, um Geld zu holen. Auf jeden Fall werden wir
uns die Vorbereitungen zur Weltausstellung in Wembley
ansehen, und Paul mochte auch an einer Razzia in White-
chapel teilnehmen, er ist schon im Begriff, die entsprechen-
den Beziehungen zur Polizei zu suchen. Aber gewiB gibt es
noch eine Menge Galerien und Bibliotheken und Skulptur-
Ausstellungen und Antiquitaten-Sammlungen, die wir
besichtigen werden; eine Menge Vortrage und Vor-
lesungen und Diskussionen, die wir uns anhoren werden.
Sehr oft waren wir im Theater, ich glaube, die Biihnen-
sprache habe ich besser verstanden als das, was der Brief-
trager oder die Zigarettenverkauferin oder die Pensions-
'97
inhabcrin sagt. In dcr Queen's Hall haben wir uns ein
herrliches Mozartkonzert angehort, ein Hollander namens
Mengelberg dirigicrte die Jupiter-Symphonic, und ein
jungcs Madchen, ihren Namen habe ich vergessen, trug
das D-Moll-Klavierkonzert vor. Sic spieltc sehr schon,
abcr du spielst schoner. Unsere Pensionsinhaberin hat ein
groBes Grammophon und viele Tanzplatten. Manchmal
hore ich sie musizieren. Mit unsern Hausgenossen kommen
wir nicht sehr viel zusammen; sie sind auch fast aus-
nahmslos Londoner oder wenigstens Englander. Junge
Lcute sind kaum darunter. Ich glaube, man weiB, daB wir
Wiener sind, und ist ein biBchcn miBtrauisch uns gegeniibcr.
Sonst kennen wir nur wenige Leute. Die Familie, an die
Paul cmpfohlen worden ist, halt sich seit Ende Mai in
Schottland auf und kommt angeblich vor Herbst nicht
zuriick. Die Englander sind nicht sehr mitteilsam und
schlicBen sich schwer an. Ab und zu reden wir mit einem
jungen Mann, den Paul in ciner Bibliothck angesprochen
hat, und die Abende verbringen wir hie und da mit zwei
jungen Madchen, die wir an cinem Samstagabend auf die
Weise kennengelernt haben, daB ihr Ford auf der Land-
straBe steckenblieb und wir sie mit Pauls gemietetem Ford
in die Stadt zogen. Die cine ist Eliza Gordon, ihre Eltern
leben in Glasgow, Zia arbeitet bei einem Glashandlcr im
Euro, der ein Verwandter von ihr zu sein scheint. Von der
andern weiB ich nur den einen Namcn, Yomaya, der andcre
ist furchtbar lang; sie ist ein echtes Hindu-Blut aus
Cashmere, studiert hicr an der Universitat. Jetzt mochte ich
Dir schreiben, was ich bisher von London gehabt habc.
Eine GroBstadt im Wirbcl gehaufter Einzelhciten ohnc ein
einzigcs bekanntes Haus, cine einzige gewohnte StraBen-
eckc, cincn einzigcn vcrtrauten Ton, und dennoch wirkcn
die fremden Hauser, die unbekanntcn StraBen, die un-
gewohnten Stimmen nichr verbliiffend wie etwas absolut
Neues. Soil ich sagen: ich fiihle mich nicht zu Hause? Soil
ich hcute, in der dritten Woche sagcn: noch bin ich nicht
198
enttauscht odcr ich erwarte nicht mehr ? Nein, ich fiihle mich
nicht gliicklich in London, Tilly; vielleicht, well ich mich
sehr nach Dir sehne . . ."
„. . . Ihr konnt es mir glauben, ich selbst wundere mich
oft am meisten dariiber, daB ich nach London gekommen
bin. Das Ganze wickelte sich innerhalb weniger Tage
ab; mein Schiller, — ich sage wohl besser: mein Freund, —
iiberraschte mich ganz unvorbereitet mit der Idee, und da
war auch schon alles geregelt. Unsere Reise verlief sehr
schon und angenehm; ein ungarischer Ingenieur fuhr mit
uns bis Paris, ich habe zwar nicht mit ihm gesprochen, weiB
aber, daB er unterwegs war nach London, um sich bei einer
Fir ma vorzustellen, die ihn nach Australien engagiert hat.
Gluckssache . . . aber auch das ist Gliickssache, daB ich
jetzt in London bin. Ich wiirde kein Ende finden, Euch die
zahlreichen Wunder zu beschreiben, die ich hier gesehen
habe. Den gewaltigen Bahnhof, die riesige Stadt, den Ver-
kehr, von dem Ihr Euch gar keine Vorstellung machen
konnt, die herrlichen Gebaude. Wir wohnen in einer
Familienpension, haben zwei ineinandergehende schone
Zimmer und bekommen ausgezeichnete Verpflegung. Ich
lerne viel, wenn auch nicht direkt in mein Fach schlagende
Dinge; wir haben sympathisers und wertvolle Menschen
kennengelernt. Natiirlich vergeht der ganze Tag mit
Sehenswiirdigkeiten, in Bibliotheken und Ausstellungen,
und wenn es mir an etwas fehlt . . . nein, ich konnte nicht
sagen, daB es mir auch nur an dem Geringsten fehlte: ich
habe keine Sorgen, unserer Vcreinbarung gemaB deckt
mein Schuler unsere samtlichen Ausgaben, taglich gibt es
reichlich viel zu sehen, zu lernen, — und was ich soeben
dachte, namlich, daB mir etwas fehlen konnte, dieses
Gefuhl wird, glaube ich, durch die ungewohnte Umgebung
verursacht. Doch schlieBlich handclt es sich ja nur um
scchs Wochcn oder hochstens zwei Monate, und cs ware die
199
groBte Undankbarkcit, geradezu cine Siindc, auch nur cinen
einzigcn klagenden oder unzufricdenen Ton zu vcrlieren
intnitten der zahllosen Wunder, die ich in London erleben
darf. Diescr Tage hattc ich einc interessante Begegnung:
mein Freund Paul ging eines Vormittags bei ciner vor-
nehmen Londoner Familie einen Besuch machen, an die wir
aus Wien einen Empfehlungsbnef mitbekommen batten,
und wahrend der Zeit begab ich mich auf einen Spaziergang.
Da treffe ich plotzhch in einer der eleganten StraBen in der
Nahe eines groBen Hotels einen friiheren Mitschiiler vom
Gymnasium, vielleicht erinnert Ihr Euch noch an seinen
Namen: Istvan Varga. Uber diese unerwartete Begegnung
hier in der fremden GroBstadt freuten wir uns beide sehr.
Varga ist eigentlich gar nicht ganz fremd hier, er lebt das
drittc Jahr in England; in Cambridge — einer beriihmten
Universitatsstadt — studiert er Jura. Er hielt sich in London
nur auf der Durchreise auf, war unterwegs nach Ostende,
wo seine Eltern den Sommer verbrmgen. Es sind reiche
Lcute . . . Varga war auBerordentiich nett zu mir, ich
erzahlte ihm, wie ich nach London gekommen bin; er
bedauerte, daB er keine Gelcgenheit babe, auch meinen
Schiiler kennenzulernen, gab nur aber seine Ostender und
Londoner Adresse und bat mich, falls wir Ende August oder
Anfang September noch in London waren, mochten wir
ihn unbedingt aufsuchen und ein paar angenehme Abende
gemeinsam verbringen. Ihr konnt Euch denken, wie wohl
es mir tat,, nach so langer Zeit einmal Ungarisch zu horen
und zu sprcchen, um so mehr, als Varga, der, wie ich sagte,
aus einer vermogenden Familie stammt, seinerzeit in der
Schule nicht zu meinen Freunden gehorte und cs iiberhaupt
die armeren Jungen immer fiihlen lieB, daB cr materiell
hoher gestellt war. Einc gute halbe Stunde verbrachte ich
mit ihm zusammen, dann ging er seinen Sachen nach, und
ich begab mich auf den Heimweg. Und jetzt kann ich nur
noch einmal wiederholen, Papier und Tinte geniigen nicht,
um auch nur annahernd auszudriicken, wieviel Gutes und
200
Interessantes ich hicr schon gcnosscn habc. Vielleicht
spater, wcnn die Ruhe dcr gewohnten Wiener Tage cs
zulaBt, oder wenn mich die Vorsehung wieder einmal zu
Euch zuruckfuhrt in die Hebe, traute Wohnung in der
Pozsonyer StraBe . . ."
„. . . Vielleicht halts t Du es fur iiberfliissig, vielleicht
geradezu fur einen Mangel an Vertrauen: und ich bitte
Dich auch, sprich kein Wort von dem, was ich Dir jetzt
schreibe, zu Rosette; und wenn Du an Paul schreiben soil-
test, so laB ihn aus Deinem Brief nicht fiihlen, daB ich mich
bei Dir beklage. Denn das tue ich, Ludwig, so dumm und
undankbar es auch klingen mag. Ich beklage mich: dieser
Londoner Aufenthalt ist fiir mich vollkommen miBlungen.
Du weiBt sehr gut, ich habe keine Illusionen gehabt, keine
iibertriebenen Vorstellungen, vielleicht nicht einmal An-
spniche; und ich glaubte mich den Dingen gegeniiber um
so aufnahmefahiger, als ich von vornherein dankerfiillt die
Reise antrat. Und dennoch: London ist nicht gelungen.
Paul lebt in einer Rage, — damit sage ich Dir nichts Neues,
denn dieses Lebens tempo hast Du ihm ja eingeimpft, —
und die Oberhaufung, die Uberhetzung der ersten Tage und
Wochen haben mich aller Aufnahmefahigkeit beraubt. Ich
traumte von entsetzlichen Biicherreihen, Bildermengen,
von Stimmengewirr, unsere Tage hatten zu wenig Stunden,
unsere Stunden zu wenig Minuten; ich konnte die Dinge
nicht einmal in mir ordnen, geschweige denn sie verdauen.
Das ist kein Tempo fiir mich, — und wenn ich mich von
Paul nicht losreiBen wollte, so bist Du, Ludwig, auch
davon der Grund: erinnere Dich nur, wie Du vor unserer
Abreise sagtest, — gute Reise, Jungens, und vergeBt nicht,
daB, wcnn Paul ein guter Motor ist, Antal eine gute Bremse
sein muB. GewiB arbeitet dieser Befehl in mir, wenn ich
bemuht bin, Bremse zu sein, und ich muB einsehen, daB
ich meine Aufgabe nicht erfullen kann. Verantwortung?
zoi
Furchte ich fur Paul oder fur mich selbst? Das kannst Du
vielleicht aus dcr Fcrne besser bcurteilen. Was konnte ich
dcnn fiirchten? Geld haben wir, Ziel und Plane . . . nein,
Ziel und Plane haben wir nicht mehr. Und eben das ist es,
was mich nach den auf die Stunde eingeteilten, gehauften
und gierig verschlungenen Sammlungen, Theatern, Mee-
tings und tausenderlei andern Programms beunruhigt.
Nicht, als ob wir gesattigt waren, — obschon ich fur meine
Person wohl fiir ein ganzes Leben genug habe von Lon-
don, — nicht, als ob wir am Ende von Pauls beangstigend
vollgeschriebenem Notizbuch angeiangt waren. Wir machen
bloB jetzt gar nichts, oder machen nichts anderes als zwei
Madels nachlaufen. Eines Samstagsnachmittags fuhren wir
nach Chelmsford, — ich weiB wirklich nicht mehr, was Paul
in Chelmsford bcsichtigen wollte, — da lasen wir auf der
LandstraBe einen steckengebliebenen Ford mit zwei jungen
Damen auf; eine Englanderin, die meine Partnerin wurde,
und eine Indierin mit Namen Yomaya aus Cashmere, —
mindestcns ein hohes Vollblut, — mit dem andern Namen
heiBt sic Shitamanara; hat Paul schon von ihr geschrieben?
Wir schleppten ihren Ford in die Garage zuriick und
brachten sie in ihre Pension. Und da war es nach wenigen
Tagen mit den Bildergalerien und Biichersammlungen
vorbei. Stattdessen heiBt es jetzt Tanzlokal. Gewohnlich,
bis die letzten Lampen geloscht werden, und dann gehcn
wir mit ihnen zusammen nach Hause, — sie wohnen jetzt
nicht mehr in der Pension, sondern in einer privaten Drei-
Zimmer-Wohnung in Maida Vale, — und wenn wir dann
gegen Mittag nach Hause kommen, schlafen wir meistens
bis abends. Ich bin eine schlechte Bremsc: ich wage es nicht,
Paul Vorwiirfe zu machen, und schlieBlich hatte ich ja in
erster Linie mir selbst etwas vorzuwerfen. MiBversteh mich
nicht, ncin, nicht Tillys wegen, — ich hore Deine Stimme,
Ludwig, wie Du sagst: die drei Hauptfaktoren des mensch-
lichen Lebens sind Solitudinitat, Inkonstanz und Poly-
gamic, — sondcrn darum, weil ich dcm nicht vorzubcugcn
204
vermochte, daB unscr Weltkennenlcrnen nun in ein Aben-
tcuer versinkt, daB aus London cinfach ein Schlafzimmer
wird. Paul ist starker als ich, und ich . . . ich gestehe, ich
bin ein wenig verwirrt, ich sehe nicht klar, und irgendwie
ist mir, als finge ich an, den Kontakt mit mir selbst zu
verlieren. Glaubst Du, das sei Neurasthenie? Mag sein, ich
iibertreibe, mag sein, ich bin ohne jeden besonderen Grund
schlecht gelaunt, moglich, daB sich erst jetzt der SpieBbiirger
in mir entpuppt, moglich, daB ich bloB unausgeschlafen
bin. Morgen wird angeblich in den Burlington Galleries
eine Ausstellung moderner japanischer Maier eroffnet, die
miiBte man sich ansehen. Heute abend um sieben trefien
wir uns mit den Madels im Restaurant Kit-Cat . . ."
10
IM Morgcngrauen kamen sic nach Hause.
Mit triiben Augen und dumpfem Kopf wachte cr spater
davon auf, daB unter ihren Fenstern ein offenbar defektes
Auto unter der Qual der ubertriebencn Drehungszahl
schnarrt und stohnt. Er greift nach seiner Uhr: halb neun;
durch die halb heruntergelassene Jalousie des einen Fensters
scheint die Sonne ins Zimmer. Mit einem Ruck steht er auf
und geht ins Nebenzimmer. Paul steht bis zum Giirtel
nackt vor dem Spiegel, um die Hiiften hat er ein Handtuch
gebunden, den Kopf ganz dicht vor die Spiegelplatte
gebcugt, in der er den zitternden, irrlichternden Tanz
zweier angstlich starrender Augapfel erblickt. ,,Was soil
das, was machst du da?" redet er ihn an, und ein unbequemes
Gefiihl fcgt ihm plotzlich die taumelige Schlafrigkeit aus
dem Kopf. Paul wendet sich mit einer ungewohnt eckigen
Bewcgung um, sein Gesicht ist kreidebleich. ,,Nichts",
sagt er mit leercr, farbloser Stimme, ,,du bist schon auf?" —
,,Schlecht siehst du aus", beginnt Kadar wieder, ,,du,
Paul, gcradczu cinen crbarmlichcn Eindruck machst du,
du hast wohl zu vicl gctrunkcn, was?" — ,,Kann sein",
antwortet er ; wirft noch einen fliichtigcn Blick in den Spiegel
und beginnt sich anzuziehen. ,,Badest du nicht?" wundert
sich Kadar, ,,oder warst du schon drauBen?" — ,,Nein",
antwortet er, ein wenig an ihm vorbeiredend, ,,ich glaube,
ich bin erkaltet." Dann schweigen sic. Paul ist im Hand-
umdrehen mit dem Anziehen fertig, seine Gesichtsfarbe ist
wieder die gewohnliche, nur in den Augen hat er etwas
Fremdes. An die Tiir gelchnt beobachtet er ihn und be-
kommt das Gefiihl, daB hier etwas nicht stimme. Mit zwei
kurzen Worten verabschiedet sich Paul: ,,ich habe in der
Stadt zu tun, auf die Bank gehe ich auch, um eins bin ich
wieder zu Hause", — dann geht er. Kadar legt sich wieder
ins Bett zuriick und sperrt gahnend den Mund auf. Nach
elf Uhr erwacht er wieder, badet, fruhstiickt, nimmt die
Morgenzeitung in die Hand, stobert ungeschickt und
schwerfallig darin herum, wirft sie dann wieder beiseite
und lungert im Salon. Der Himmel ist leicht bewolkt, es
ist nicht zu heiB, dennoch hat er keine Lust auszugehen.
Ein paar Worte spricht er mit Mr. Colham; der Hauswirt
fragt ihn, ob sie nicht am Nachmittag mit ihnen zusammen
gehen mochten, heute begannen in Wimbledon die Tennis-
meisterschaftsspiele. ,,Ich weiB noch nicht", antwortet er,
,,wenn Mr. Pauli Lust hat, sehr gerne." Dann geht er doch
auf die StraCe. Mit dem Autobus fahrt er bis zur Blackfriars
Bridge, spaziert am Ufer entlang, setzt sich wieder in den
Autobus nach Hause zu, steigt aber nach einigen Halte-
stellen ab und legt ein gutcs Stuck des Heimweges zu FuB
zuriick. Ein leerer Vormittag, — lange habe ich keinen
freien Tag gehabt. Auf der Bank hat er zu tun, vielleicht
geht unser Geld schon zur Neige, friiher oder spacer fahren
wir nach Hause. Es ware an der Zeit . . . ware an der Zeit . . .
und gewaltsam verscheucht er den Gedanken an den
hiesigen Aufenthalt.
Nach ein Uhr ist er in der Wohnung angelangt; tritt in
sein Zimmer und geht dann sofort zu Paul: ohne Kragen
204
steht der Junge vor dem Spiegel. ,,Na, was gibts, wo warst
du?" fragt er. ,,In der Stadt." — ,,So? Ich auch", — dann
blickt er ihm ins Gesicht: ,,warum hast du keinen Kragen
an? Fehlt dir was?" Paul sieht in die Luft, ,,nein, nichts",
sagt er, — tritt ans Fenster, dann wieder vor den Spiegel
und steht dann plotzlich mit einem Ruck vor ihm, sein
Gesicht ist weiB wie die Wand, und mit einem ganz
eigentiimlichen, fremden, tiefen Ton sagt er: ,,Du, Toni, es
ist etwas Entsetzliches passiert . . ." Dieses Gesicht, diese
Stimme, diese Worte . . . Gestaltloser Schreck durchzuckt
ihn, ,,um Gottes willen, was denn?!" — ,,Tonichen", und
bei diesem Wort geht die tiefe Stimme in ein diinnes,
bangliches Kinderschluchzen \iber, ,,ich bin . . . die Yomaya
hat mich angesteckt." Kadar hort mit einem Ruck das Herz
auf zu klopfen. ,,GroBer Gott . . . Syphilis?" Bei dem Wort
verzerrt sich Pauls Gesicht zu einer Maske. ,,Ja . . . ich war
eben beim Arzt, er hat eine Blutuntersuchung gemacht . . .
positiv ..." Kadar kann kein Wort hervorbringen; mit
verkrampfter Brust und Wiihlen im Magen starrt er den
Jungen an, zusammengeklappt sitzt er auf einem Stuhl wie
eine Marionette, deren Draht der Puppenspieler los-
gelassen hat. Minuten dauert diese Stille? Viertelstunden?
Paul steht in der Mitte des Zimmers, halb zu ihm, halb zum
Spiegel gewendet. ,,Um Gottes willen . . . was guckst du
denn so?" stohnt er dann. Das erste Wort gibt auch Kadar
die Sprache zuriick. ,,Was nun? . . ." fragt er unbeholfen
und zugleich tief beschamt, weil er hier um Hilfe ruft, wo
er helfen miiCte. ,,Was nun? . . . wir fahren sofort nach
Hause ... ich weiB hier nicht . . ." und dann schweigt er
wieder. Paul steht im Zimmer, Kddar sitzt auf dem Stuhl.
Fiirchterliche, eiskalte Aufregung rakelt sich in ihm, ein
Ausspruch Wirths ist ihm eingefallen von gefahrlicher
Ansteckung durch fremde Rassen . . . ob Paul wohl auch
daran denkt? und er wagt kein Wort zu sagen. Und er
wagt auch nicht zu fragen, wie das denn passieren konnte —
wie es passieren konnte?! Lacherlich! — aber daB er nicht
20J
bemerkt hat, daB das Madchen krank 1st, oder hatte er das
nicht bemerkcn konnen? — Aber darf hier in dieser Minute
ein Wort, eine Stimme fragend laut werden? jetzt, da Paul
wieder vor dem Spiegel steht und das Hemd auf der Brust
geoffnet hat und mit zwei triiben Augen in den Spiegel
starrt und in den Augenwinkeln 2wei entsetzlich dicker
werdende Wassertropfen hangen hat? Da dreht er sich auf
einmal wieder um, — alle seine Bewegungen sind jetzt
eckig und fahrig, ,,Toni", sagt er, ,,ich weiB mir hier . . .
nicht zu helfen . . . und . . . heute nachmittag wollen wir
packen, morgen hole ich das Geld auf der Bank, und wir
fahren nach Hause." Dieses kindliche, zerqualte, verlorene
Gesicht — jetzt gibt es nur eins zu tun: hingehen und ihn
umarmen und kiissen, vielleicht kann ich ihm dadurch
etwas Mut wiedergeben, etwas Selbstvertrauen — und er
kann sich dort auf dem Stuhl nicht riihren, die kalte
Schlange des Ekels umringelt seinen Korper mit streifigem,
schleimigem Druck, und er weiB, wenn Paul jetzt zu ihm
hinkame und ihn anfaBte, dann wiirde er sich schroff
dieser Beriihrung entziehen. ,,Und was . . . soil heute abend
sein?l" — ,,Nein!" heult es aus Paul, ,,ich will nicht "
o Gott, natiirlich, ,ich will nicht' . . . die Madchen erwarten
uns im Kit-Cat, warten und warten, telefonieren vielleicht
her und gehen dann und lernen andere Manner kennen,
Zia und Yomaya. Jetzt schlagt Pauls Reglosigkeit plotzlich
in hysterische Unruhe um, und wie eine Motte, die sich die
Fliigel verbrannt hat, wirft er sich mit angstlichen, eigen-
tumlich abgehackten Bewegungen von einer Ecke in die
andere. Der Hausdiener bringt die Kofier, die Wirtin kommt
und erkundigt sich erstaunt, was denn sei. ,,Sie reisen? und
so pldtzlich? Sie haben ja noch nicht einmal geluncht? und
die Pension ist selbstverstandlich fur die Woche . . .
beziehungsweise die drei restlichen Tage konnen leider
nicht abgezogen werden." — ,,Naturlich, natiirlich 1" Paul
jagt die Frau mit seinen Blicken aus dem Zimmer. Anziige
und Wasche fliegen aus den Schranken in die Koffer; das
206
fieberhafte, hastige und dennoch ohnmachtige Hantieren
reiBt auch Kddar mit; zwei Stundea vergehen, und die
Koffer sind noch immer nicht fertig; vielleicht well sie
wissen, wean sie diese Arbeit erledigt haben, dann Ikgt der
ganze leere Nachmittag vor ihnen. Um vier Uhr aber haben
sie nichts mehr zu tun. Den Fahrplan . . . den Fahrplan.
Um elf Uhr fahrt der Zug von Victoria Station ab und ist
gegen Abend in Paris, dort fahren sie zum andern Bahnhof
und warten auf den ersten Zug nach Wien. Paul will mit
nichtigem, absichtlich langsamem Gebastel den Tag jagen
und den einzigen Gedanken verscheuchen, — er laBt
Mrs. Colham hereinbitten, bezahlt umstandlich die Rech-
nung fur die ganze Woche, lauft hinunter und kauft vier
Schachteln Zigaretten, nimmt wohl zehnmal den ReisepaB
und den Kreditbrief auf das Bankhaus Hudderston & Co.
Ltd. in die Hand. ,,Morgen friih hebe ich das Geld ab, acht-
undsechzig Pfund haben wir noch . . . dann losen wir die
Fahrkarten." Plotzlich bricht die groCe Lebhaftigkeit ab:
sie sitzen auf den Stiihlen und wissen nichts zu tun. Der
Schwung gleitet unter den Minu ten hinweg, sie sitzen im Zim-
mer im endlosen Dahinkriechen der Zeit und beschaftigen
sich mit nichts. Es wird sechs Uhr . . . Kadar steht auf und
betrachtet die lebhaft werdende StraBe. Ein leise, bitter,
hartnackig mahlendes Gefiihl hat er in der Brust, — diese
Geschichte ... ist nicht sehr gut gelungen . . . dieses
London. Und was nun? Was werden wir . . . was wird Paul
jetzt anfangen? Vorwiirfe werden wir bekommen alle
beide . . . von wem? Von Pauls Eltern? werden die sich
iiberhaupt um die Sache kiimmern? oder von Wirth? bin
ich vor ihm nicht vollkommen gerechtfertigt?! Nein, er
wird sagen: Paul ist doch ein Kind . . . konntest du nicht
besser auf ihn aufpassen?! — Und vor Rosette hintreten,
Herrgott, Rosette, etwas Schreckliches ist passiert, dein
Paul — kalt lauft es ihm iiber den ganzen Korper. Die
Kameradschaftsehe ist der beste Hiiter des reinen Lebens
und der ruhigen Gesundheit, hatte Paul einmal gesagt, —
207
na, und Yomaya, die schmale, kleine, schwarze Indierin
mit der hellbraunen Haut, die Studentin, die Kamerad-
schaftsgattin, mit ihrem vergifteten Blut und ihren un-
verantwortlichen Kiissen, — ,,ich kann ihr nicht wider-
stehen, laB mich, Toni", sagte Paul erst ganz kiirzlich, ,,ihrer
Fremdartigkeit kann ich nicht widerstehen, sie ist etwas so
ganz anderes . . . ich kann nicht widerstehen", sagte er wie
ein alternder Liistling, der nicht mehr viel Zeit hat, — ,,sie
ist nicht schoner als Rosette, auch nicht groBer, ihre Figur
ist genau so wie Rosettes, dennoch ist sie anders", —
natiirlich ist sie anders mit ihren gesenkten, unschuldigen,
groCen, schwarzen Augen, mit ihrer leisen, seltsam tiefen
Stimme, die immer zu singen scheint, und mit den blassen
kleinen Mordern in ihrem Blut, — vielleicht weiB sie das
selbst nicht, vielleicht hat sie sie mit auf die Welt gebracht
als Fluch einer alten bosen Umarmung.
Paul liegt schon im Bett, als es anfangt zu dunkeln; er
iBt nicht zu Abend. Fur Kadar bringt das Zimmermadchen
Tee und kalten Aufschnitt; er wiirgt ein paar Bissen hin-
unter, dann geht er zu Bett. Der Reiseplan, zwanzigmal
wiederholt, ist fertig: um acht Uhr stehen sie auf, fahren
gegen zehn mit dem Wagen zur Bank und von da direkt
an die Bahn. Er knipst das Licht aus: auf der Decke
kriechen die Lichter vom unten voruberfahrenden Autobus ;
im Zimmer ist es still. Nach Mitternacht erweckt ihn aus
blodem, taubem, traumlosem Schlaf ein plotzlicher Schreck:
es geht jemand in seinem Zimmer. Er setzt sich auf: Paul
steht vor dem Tisch, ein kaltes Kotelett in der Hand, das
noch vom Abendessen auf der Schiissel lag. ,,Ich kann nicht
schlafen", fliistert er, ,,und hab schrecklichen Hunger be-
kommen." Fast muB er . . . ein wenig lachen: Paul barfuB, in
seinem blauen Pyjama, in der Hand das Stuck Fleisch.
,,Wahrscheinlich konntest du vor Hunger nicht einschlafen",
sagt er zu ihm, ,,ifi nur, dann wirds schon gehen. " Er sinkt auf
das Kissen zuriick, — iB, mein Junge, iB das kalte Kotelett,
denkt er, und die Augen fallen ihm wieder zu, er schlaft.
208
Dieser Traum fiel ihm erst nach vielen Monaten wieder
cin, — ein Traum, den man nic mchr vergesscn kann: es
1st grauenhaft, unertr&glich hell auf einer breiten, weiBen
StraBe, und auf der einen Seite der StraBc steht ein seltsamer,
ganz glatt und rund gestutzter belaubter Baum, — ein
brauner Baum. Unter diesem Baum liegt er und kann kaum
nach der StraBe blicken, der weiBe Glanz blendet ihm die
Augen, er blinzelt und fiihlt ein qualendes Ziehen in der
Stirn um die Augen herum. Aber doch, er muB hinsehen:
auf der StraBe kommt Paul .zwischen Vater und Mutter,
das heiBt, er kommt nicht, sondern es sieht eher aus, als
wolle er sich von den andern beiden losmachen, die ihn,
der eine rechts, die andere links an der Hand halten und ihn
nach vorne ziehen. Paul versucht, sich zu widersetzen,
seinem Gesicht sieht man die furchtbare Anstrengung an.
Die ganze Erscheinung spielt sich in erschreckender Laut-
losigkeit ab. Die Eltern sind starker, und die Gruppe
kommt immer naher und naher zu ihm an den Baum, und
wie die drei sich so nahern, wachsen ihre Gestalten, sie sind
schon viel groBer als gewohnlicbe Menschen. Jetzt ver-
andert sich plotzlich die ganze Landschaft, lost sich auf
und zerflieBt, und da erkennt er mit todlicher GewiBheit
die noch immer undeutlich schwankende neue Gegend: dort
ist die Scheune, in der er so entsetzliche Wintertage an der
rumanischen Demarkationslinie verbracht hat, dort vor ihr
zieht sich die schmutzige Chaussee hin, und dort ist ...
Paul ist wieder da, in stummem Kampf auf Leben und Tod
mit den Eltern, — aber um Pauls Ohren locken sich Peies,
und am Kinn hat er einen kleinen, spitzen Judenbart; seine
Mutter und sein Vater sind in rumanischer Uniform, —
wirklich komisch, daB die Frau sich Soldatenkleider an-
zieht! — im Sturmhelm und das Gewehr mit dem Bajonett
auf der Schulter, zerren sie den Jungen an den Handen auf
ihn zu, — Paul tritt und strampelt, — stumm, immer
stumml — und windet sich zwischen ihnen nach hinten, mit
gestemmten FuBen, die bei jedem Ruck eine zusammcn-
14 KOrmendi, Budapest 209
sinkende Bewegung macben, mit angespanntco Armen und
gekriimmtcm Riickcn; und da lasscn Vater und Mutter
auf einmal seine Hande los, und Paul beginnt, unverstand-
lich und grauenhaft, riickwarts zu rollen, riickwarts und
abw£rts, — unfaBbar, wohin? — noch immer fallt er, und
dennoch 1st er noch immer da, er fliegt durch die Luft mit
ausgespreizten Armen und Beinen, mit einer riicklings
liegenden Bewegung und . . . regies, — wenn ich jetzt nach
ihm greife, erreiche ich ihn noch, wirklich, erreiche ich
ihn noch? Er hascht hin, und nun beginnt er auch 2u
fallen, aber den andern erreicht er nicht, er bleibt immer
in demselben Abstand von Paul entfernt, — sie sausen, —
und irgendwo ganz unten ist ein riesigcr braunglitzernder
Stein ... sie sausen weiter — und da stiirzt Paul riicklings
auf den Stein, und sein Kopf prallt mit einem entsetzlichen
Bums an ...
Und wie er jetzt in diesem Moment aufwacht und der
Traum nicht mehr da ist, hat er sofort ein mit Millionen
Nadeln stechendes Wachsein im Kopf, — nach dem An-
prall hort er noch ein leises, scheuerndes Gerausch, als
wiirde ausgebreitetes Leinen geglattet . . . und dann er-
starren seine Glieder in eisiger Kalte, und alle schlimme,
unverstandliche, unbekannte Angst des menschlichen
Lebens bebt in seiner Stimme, als er in der Morgen-
dammerung durch die ofiene Tiir ins andere Zimmer ruft:
,,Paul! — Paul! schlafst du noch? Paul . . ." und dann ein
Sprung an die Wand; gelb gahnt das elektrische Licht im
Zimmer; in zwei Satzen ist er nebenan vor Pauls Bett;
Paul, — Paul ist nicht im Bett . . . oder . . . er reiCt die
leichte braune Decke vom Bett; Paul liegt, das rechte Bein
bis an den Bauch gezogen, auf dem Riicken, im blauen
Pyjama und und und und und . . . sein rechter Arm und
seine Korperhalfte von der Brust an liegt unter dem groBcn
weiBen Kissen, das sein linker Arm umklammert und an
sich preBt . . . und da weiB er bestimmt und zweifellos, daB
etwas passiert ist, — und wagt nicht, das Kissen vom Kopf
wegzuziehen, in eincm Schwindel von Obelkeit steht er
einen Augenblick am Bett, und dann stiirzt sich sein Finger
auf den Klingelknopf
Im Handumdrehen ist die ganze Etage auf den Beinen,
und als im flags umgehangten braunen Schlafrock mit der
Quaste Doktor Ryborg, der alte, in der Pension wohnende
schwedische Arzt, in der Tiire erscheint, da hort man von
unten bereits in der morgendlichen Stille das Keuchen eines
haltenden Autos und das Auf- und Zugehen des schweren
Haustores. Die im Zimmer herumstehenden entsetzten
Gaffer in ihren Schlafgewandern und Pyjamas, diese angst-
vollen, weiBen Gesichter unter dem zerzausten Haar und
mit den Entsetzen ahnenden, aufgerissenen Augen machen
dem Arzt Platz, und Doktor Ryborg legt mit behutsamer
Hand den das Kissen pressenden blauen Arm neben den
Rumpf und hebt das Kissen auf. Pauls gelbes Gesicht, —
mit verzerrt aufgerissenem Mund, aus dem sich eine dicke
blutige Linie zum Kinn hinzieht, — liegt in einer roten
Lache, und auf das untere Kissen neben semen Hals ist ein
ganz kleiner, blaulich schillernder Revolver geglitten.
In allem, was dann folgte, war etwas Traumhaftes, etwas
Wirres und im Grunde genommen Fremdes und UnfaB-
bares: Manner in blauen Rocken und Miitzen, dann ein
Polizist und noch einer und ein Mann in Zivil mit grofiem
Schnurrbart, der laut redet, und sic alle bestiirmen ihn mit
Fragen, die er kaum versteht, und wenn er sie auch ver-
stunde . . , er hat in seiner ausgctrockneten Kehle keinen
Laut, und Mrs. Colham, die in einem groBgebliimten rosa
Morgenrock in der Ecke zittert und ununterbrochen
schluchzt: ,,Ah! this scandal I Ah! this scandal!" — und
dann wadist Doktor Ryborgs Gcstalt und wird iiber-
menschlich groB, wie er sich ihm zubeugt und in deutscher
Sprache Fragen an ihn richtct . . . ob er wisse oder gewuBt
h&tte oder ob er eine Ahnung oder eine Meinung oder eine
Vermutung habe . . . ,,nein, nein, nein, ich weiB nichts, nichts,
gar nichts, ich weiB nichts, nein, nein, nein . . ." und da
durchzuckt ihn dcr Gedanke: man miifite diesem Mann
doch sagen, daB Paul gestern erfahren hat, daB — Abet
nun stand schon der Hcrr mit dem groBen Schnurrbart vor
ihm, in seiner Hand rascheln zwei Bogen Papier, die er auf
dem Tisch neben dem Tablett mit den Resten vom Abend-
essen gefunden hat, diese Blatter halt er ihm vors Gesicht,
und Kaddr erkennt die blauliniierten Seiten aus Pauls
groBem Notizbuch und seine kritzelige Handschrift,
ofFenbar beim schwachen Licht, das von der StraBe herein-
drang, auf die Blatter geworfen. Auf dem einen Bogen
stehen englische Worte:
An die Polizei?
Ich habe erne wtheilbare Krankheit bekpmmen — dorian nehme
ich mir das Leben — in dnem Waffengesch&ft kqufte ich am Vormittag den Re-
volver — wain mdglich nicht tezieren — mBglichst im Londoner /Crematorium —
man rcstlichet Geld bitte mdnem Framd autzuhdndigen — warn irgend mSglich,
bitte die Sache alt Strqflenunfall hinzustellen und . . .
nun eine durchstrichcne, aber noch leserliche Zeile:
ich bitte amdrucklich darum, mdnen Eltern nur to viel mitzuteilcn, dafi der
Selbttm
Und auf dem andern Blatt drei Zeilen in deutscher
Sprache:
Tori!
Werai Da in Wien mit ihnen sprichst, to sag nur: ich liefle ihnen sagen,
et td ihretwegen getchehen. Wennt gehtt erzdhl Rotette etwas von einem Autounfall.
Dann wird die Leiche weggetragen. Der Polizeibeamte
in Zivil macht eine Aufzeichnung von Pauls Sachen, durch-
wiihlt a lies und nimmt alles in die Hand und fragt bei
jedem Stuck: ,,wem gehdrt das? Ihnen oder dem Selbst-
morder?" Auch den kleinen Revolver und die beiden Briefe
nimmt er an sich. Kadir zittert, spiirt Brechreiz und
schluckt fast erstickend die heiBe Bromlosung hinunter, die
Doktor Ryborg ihm in einer Tasse reicht. Der Sinn von
Pauls letztem Willen ist, daB . . . das ist der Sinn . . . Rosette
soil nicht erfahren . . . Kaum ist er eine Minute allein im
212
Zimmcr, da klopft Mrs. Colham* In der zitternden Hand
halt sic einige Schillingc, ,,ich mochtc Sic sehr bitten, Sie
sind cin Gentleman, ich wollte Sie bitten . . . noch heute
aus dem Zimmer auszuziehen . , . moglichst sofort, darum
mochte ich Sie bitten . . * Sie sind ein Gentleman, Sie
werden verstehen . . . der Ruf meines Hauscs . . ." GewiB,
er kann bier keine Sekunde linger bleibcn, das weiB er sehr
gut. Aber selbstverstandlich . . . k6nnte man cs dcnn iiber-
haupt hier ausbaltcn? allein ... in diesem Dunkel — das
Zimmer, die Menschen, alle Gegenstande und Ereignisse
sind dunkel, und das Sonnenlicht dort im Fensterrahmen,
selbst das ist dunkel . . . braunlich. Mir scheint, ich bin nicht
ganz bei Sinnen, — dabei ist es jetzt sehr wichtig, daB . . .
was ist wichtig? daB Rosette nicht erfahrt, warum — Mein
Herr, ich habe am Sterbebett Ihres Sohnes gestanden,
oder . . . als er mit einem jungen Madchen von hellbrauner
Hautfarbe namens Yo . . . namens Yomaya . . . namlich
namlich, es handelt sich darum, daB ich Ihnen sagen muB,
Sie und Ihre Frau Gemahlin . . . Meinen Sie, lieber . . . darf
ich noch einmal um Ihren Namen bitten? — Kadir ... —
Herr Kadar? Meine ich?l Ihr Sohn laBt Ihnen sagen, Paul
Pauli-HeBlein, nicht wahr, Ihr Sohn . . . Ah, mein Sohn?
so? gut, danke, — haben Sie bitte die Giitc, Franz zu sagen,
er mochte mir eine Flasche eiskaltes Selterw — Da rcnnt er
ans Waschbecken und sturzt drei Glas Wasser hinunter, —
komischer Geschmack . . . naturlich, das ist ja das Zahne-
putzglas . . . Pauls Glas?! — Die Angst cines aufgescheuch-
ten Tieres zittert ihm in den Gliedern, und plotzlich gibt
der Magen seinen ganzen Inhalt von sich — die Sache war
so, Rosette, wir warteten auf den Autobus, und dein Paul
rutschte zufallig aus und glitt vom Rinnstein * . . begreife
nur, die groBen Autobusse in London sausen, wo das
Sausen moglich ist, in den wenigcr verkehrsreichcn
StraBen, und wir waren gerade unterwegs nach dem Maida
Vale, um eine Sammlung zu bcsichtigcn, eine . . . eine
indischc Sammlung . . *
Es klopft : Mrs. Colham, noch immcr in ihrem gebliimten
Morgcnrock, gcfolgt von eincm Polizisten. Vorladung fur
elf Uhr zum Bezirksaufsichtsamt in dcr Bow-Street. Elf . „ .
um elf Uhr fahrt der Zug von der Victoria Station ab.
Schwankend geht er unter dem dunkeln Himmel iiber die
dunklc StraBc durch diesen zerfaserten, schlccht be-
leuchteten Film. Was wollen sic von mir? hatte ich denn
wissen miissen, daB Paul Selbstmord begehen wollte?!
Dann steht er vor einem Polizeibcamten, auf dem Tisch
liegen der Revolver, die beiden Bogen Papier und Pauls
PaB. Er wird nach seinem Namen gefragt, muB seinen PaB
hergeben; das kann er noch verstehen, dann ist es mit
seiner Wissenschaft zu Ende, man muB einen Dolmetsch
suchen. Endlich findet sich jcmand, der Deutsch kann.
,,Warum sind Sic beide nach London gekommen? was haben
Sic hicr gemacht? mit wem haben Sic verkehrt? was konnte
der Grund zum Selbstmord sein? besteht die Moglichkeit,
daB es sich tatsachlich um cine unheilbare Krankheit
handelte und um wclche? wer war der Arzt, der sic kon-
statiert hat? WuBten Sic davon, daB Ihr Freund sich einen
Revolver gckauft hat? wer sind seine El tern und in was
fur Vcrhaltnissen lebcn sic? wer ist diese Rosette?" —
Fragc iiber Fragc stiirzt auf ihn ein, und cr bemiiht sich,
kurz und genau zu antworten; dann faBt ihn der Herr mit
dem groBen Schnurrbart — auch hier ist der dabei —
kraftig am Arm, driickt ihn auf einen Stuhl nieder und
fragt: ,,ist Ihncn nicht gut? Mochten Sic cin Glas Was-
ser — ?" Das Glas mit dem Mundwassergcschmack fallt
ihm cin, und mit einer angstlichcn, krampfhaften Gestc
winkt cr ncin. ,,Ist das ein Wundcr?" sagt der mit dem
Schnurrbart zum Polizcibeamtcn, ,,scin Freund schicBt
sich zwci Meter von ihm den Kopf in Fctzen, wissen Sic,
Graham, dicse Funftcl-inch klcinen belgischcn Revolver . . ."
Und nun kommt noch cine Frage, cine furchterliche Frage:
ob er die Bcnachrichtigung der Familic und die Erlcdi-
gung der Krematoriumsangclcgcnhcit ubernehmen wollc,
214
bezichungsweise konnc? Entsetzt wehrt cr sich dagegen,
ncin, nein, ncin! ,,Gut, — dann warten Sie bitte in Ihrer
Wohnung ab, bis die Polizei sich mit der osterreichischen
Gesandtschaft in Verbindung setzt." Er sagt glcich, daB
er aus der Pension ausziehen miisse, und auf die Frage,
wohin cr iibersiedle, nennt cr den Namen eincs Hotels, der
ihm im Gedachtnis gcblicbcn war, Grosvcnor-Hotel neben
der Victoria Station, — nach ihrer Ankunft batten sie die
ersten paar Tage hicr gcwohnt. — Dann wurde cr cntlassen.
Als cr in der Pension ankommt, steht scin Koffer in der
Halle. Mrs. Colbam bedaure sehr, sie sei nicht imstande, das
Bett zu verlassen, und schicke daher auf diesem Wcge ... —
Sams tag friih hilt ein Polizist mit Motorrad vor dem
Grosvenor-Hotel, fragt nach Kddir und bringt ihm cine
Vorladung fur elf Uhr. Bci dem Polizeibeamten sind auch
der mit dem Schnurrbart und der Dolmetsch vom vorigen
Mai. Zunachst sei die Sektion in Anbetracht dessen, daB
sich nicht feststcllen lieB, wcr der behandelnde Arzt war,
nicht zu vermeiden gewesen, und sie habe ergeben, daB der
Selbstmdrder tatsachlich krank war, die Krankhcit sei als
Grund des Selbstmords anzunehmcn. Ferner habe die
Familie iiber die Gesandtschaft telegrafisch aus Gastein zur
Einaschcrung der Leiche ihre Zustimmung gegcben,
bezuglich deren die Gesandtschaft bereits die entsprechen-
dcn Verfiigungen getroffen habe. AuBerdem habe die
Familie bestimmt, daB das gegen den telegrafisch frei-
gegebenen Kreditbrief fiir den Verstorbenen abgehobene
Geld nach Abzug der Einascherungskosten und sonstiger
kleiner Ausgaben Antal K£ddr ausgehSndigt werde. Die
Spescn bctragen soundsoviel, der Preis der Verbrcnnung
soundsoviel, bleibe demnach cin Rest von zwei Pfund und
sieben Schilling, — ,,wollen Sie bitte diese Quittung
unterschreiben."
Wie warcn die beiden Tage bis Samstag vcrgangen? Er
hatte das Gefiihl, unter eincr schwarzen Hiillc in dem
wimmelnden, lirmenden, bunten Hotel zu leben, und diese
Hiillc schicn ihm Augen und Ohren von der Umwelt ab-
zuschlieBen. Er saB in seinem Zimmer und versuchte zShne-
knirschend an nichts zu dcnkcn, Speise und Trank riihrte
er kaum an; und die Tatsachc, daB er sich von allcm
isolicrtc, loste das Graucn dcr Katastrophc in cine dumpfe
Ergebung, cine dumpfe Ruhe auf. Ich darf mich nicht gehen
kssen — schliefilich . . . lastet ja auf mir keine Vcrant-
wortung . . . Verantwortung?! und Paul, mein Freund, der
dahingegangen ist, — nicht um die Verantwortung handelt
es sich, sondern um meinen Freund — Und dann wieder:
ich darf nicht denkcn. Ich wcrde nach Hause fahrcn, nach
Budapest, — ich darf nicht denken, — viclc Mcnschen
sterben, ich lebc, — Dini Turko und der kleine WeiBbcrger
mit den abstehenden Ohren sind auch an meincr Seitc im
Schiitzengraben gestorben, und der Feledy im Eisenbahn-
kupee. Jetzt geht Kidar iibcr die StraBc vom Bezirksvorstand
zum Hotel. Geht durch die brcnncnde Mittagshitze und
preBt in der Taschc die rwei Geldscheine, die er auf der
Polizei bekommen hat, in der Hand. Er geht in sein
Zimmer, setzt sich an den Tisch und packt das Geld aus der
Tasche. Zwei Pfund, sieben Schilling und etwas Kleingeld:
Pauls NachlaB. In der Brieftasche hat cr noch rwei Ein-
pfundscheinc, zwei Schilling und einige Pennies. Das
raacht zusammen . . . vier Pfund, neun Schilling und . . .
Das Geld liegt auf dem Tisch, — er geht an den Schrank,
raumt seine Anziigc aus, nimmt die Handtasche vom
Koffcrstander, stopft die Anziige mit abwesenden, starren
Bcwegungen in den Koffer, sucht die im Zimmer herum-
liegenden Kleinigkeiten zusammen, die gehen in die kleine
Handtasche, — dann klingelt er. ,,Ich bitte um die Rech-
nung . . ." aber er kann es im Zimmer nicht mehr aushalten.
Er setzt sich in dcr gcrfcuschvollen Halle der Reception
gegcniiber in cinen Scsscl, scin Gepack steht ncbcn ihm.
Bin Boy bringt die Rcchnung; die Buchstaben und Zahlcn
tanzen ihm vor den Augen, cr tritt ans Kassenfenstcr des
Office, legt die Rcchnung hin und packt s&mtliches Geld
216
aus, das er in der Taschc hat, — murmelt etwas, — der
Kassierer starrt ihn verwundert an, nimmt cinen Teil des
Geldes vom Pult und schiebt ihm den Rest wieder hin, —
das sind — ,,Wieviel ist das?" — ,,Drei Pfund, fiinf
Schilling", drei Pfund, fiinf Schilling . . . ,,Soll das Gepack
an die Bahn geschafft werden?" — ,,Ncin, nur hier an die
Autobus-Haltestelle."
Da steht cr im strahlenden Sonnenschein neben seinem
Koflcr an der Autobus-Haltestelle. Ein Autobus nach dem
andern rasselt voriiber, er weiB nicht, in wclchen er ein-
stcigen soil. Er steht und steht und wciB nicht, wohin, weiB
nicht, was nun folgen wird. Er steht und steht; und seine
Hand betastet das Geld in der Tasche, — drei Pfund, fiinf
Schilling, es ware besser gewesen . . . ein Herr in grauem
Anzug klopft seine Pfeife an der Haltestcllensaule aus, ein
Rest Tabak, Asche und etwas Glut fallen auf die Erde und
ein wenig auch auf seine Schuhe, — ,,sorry", sagt der Herr
und hebt den Zeigefinger an den Hut, dann dreht er sich
um, — es ware besser gcwcscn • . . wenn sie mir auf der
Polizei statt dieses Geldes den kleinen Revolver gegeben
hatten, es waren gcwiB noch fiinf Patronen drin.
II
REDBURN Street heiBt die StraBe, aber wcnn er zu
Hause ist, sieht er sie kaum, — sein Fenster starrt auf eine
merkwiirdige Landschaft: fiinf Meter vom Fensterkreuz
ist eine furchtbar hohc, dicke Brandmauer, die weiB ge-
tiincht war und nun gelblich-grau verblichen ist, dennoch
wirft sie gegen Mittag, wenn die Sonnc schrag auf sie
schcint, wiitende Strahlen in scin Zimmer. Irgendwo habe
ich schon einmal soldi unertraglichcs Glinzen gesehen . . .
Und dutch die andere H&lfte des Fensters sieht man auf
einen kleinen bcpfknzten Hof, der unten an der Brand-
bunt schillcrt; frischgriiner Rasen, ein paar groBe
Baume, Blumenbeete und zwischen den Baumen auf aus-
gespannten Leincn trockncndc und liiftcnde Waschestftcke
in £rmlicher Unordnung.
Den zweiten Tag sitzt cr in dieser Stubc, an diescm
Fcnstcr. Als er vorgestern cndlich doch auf einen Autobus
kletterte, hatte cr keinc Ahnung, wohin dcr ihn bringen
wiirde. Und als cr dann aufs Gcratcwohl irgendwo absticg
und der Scbaffncr ihm den KofFer absetzen half, hatte er
keinen Begriff, wo er war. An eincm groBen Platz blieb der
Wagcn stehcn; in der Mitte des Platzes cine Kirche, rings-
hcrum hohe, schmale Hauser mit abbrockelnden Mauern
und weithin von Schmutz strotzenden Fcnstcrn. Strahlen-
formig miinden die StraBen auf den Platz ; blindlings ging
er auf cine dieser StraBen los. Hier stand ein einziges nie-
driges Haus, weit iiber die Fassade ragte cine altmodische,
abgcnutztc Lichtreklame vor: Chelsea Picture Palace. Er
ging weiter und betrachtete die Buchstaben. Vor dem Haus
machte er halt, und da bemerkte er, daB am Eingang des
danebenstehenden Hauses cine kleine Tafel heraushing,
darauf war zu lesen: Hillman's Board Residence. Fiinf
Minuten spater fuhrt ihn ein ubel aussehender, schwarz-
bebriUter Mann ohne Kragen auf den zweiten Stock und
offnet die Tur cines Hofzimmers. Elektrisches Licht gibt
es und auf dem Flur auch Wasscrleitung ; das Zitnmer kostet
zwci Schilling pro Tag, fur cine Woche ist im voraus zu
zahlcn. So weit wire die Sache in Ordnung. Abends klingelt
er, bestellt etwas zu essen: derselbe Mann ohne Kragen
bringt auf einem Holztablett einc Tasse Tee, zwci Scheiben
kaltcs Fleisch und cine verschrumpfte Banane; auf dem
Tablett licgt ein Kasscnblock iibcr einen Schilling. Gut.
Im Zimmer steht ein vcrschlicBbarcr Schrank, ein Bett, —
mit Erstaunen stellt er fcst, daB die Bettwasche tadellos
saubcr ist, — ein Waschtisch mit einer emaillierten Wasch-
schussel, ein Tisch mit drei Stiihlcn. Ein Schliissel steckt
nicht in der Tiir, auch ein Ricgcl ist nicht da, anschcincnd
habcn die Lcute hicr nicht viel, was gestohlen warden
218
konnte oder ... die Besitzer mochten es vermeiden,
viellcicht die Tiiren aufbrcchcn zu miissen. Eincrlei. Er
packt seinen Koffer gar nicht aus, — cigentlich hatte ich
das Zimmer nicht gleich fur eine Woche bezahlen sollen, —
stellt sein ganzes Gepack in den Schrank und zieht den
Schliisscl ab. Wenn sic mir den aufbrechen, nun, dann kann
ich mir auch nicht helfen. Zunachst aber bleibt er zu Hause,
sitzt am Fenster, betrachtet die Brandmauer und den
kleinen Hof oder Garten. Jetzt miiBte ich zu allererst . . ,
gewisse Dinge ordnen — was fur Dinge? Paul, — natiirlich,
Paul. Paul . . . ist nicht mehr, und wenn ich . . . nicht dariiber
ersticken will, dann darf er iiberhaupt nicht gewesen sein.
Ich werde nach Hause fahren, nach Budapest. Die ganze
Angelegenheit ist zu Ende, mit Wien ist es natiirlich auch
aus . . . warum? existiert Wien nicht mehr? und existicrt
die Hochschule nicht mehr . . . und Tilly in Wien? Und
Rosette? — An Rosette miiBte ich schreiben: Liebe Rosette,
ich erfiille einc furchtbare Pflicht, indem ich die Feder in
die Hand nehme, gewiB hast Du schon durch HeCleins
erfahren — gewiB, gewiB, wenn diese Zeilen Dich er-
reichen ... die Familie hat ja aus Gastein telegrafisch ihre
Zustimmung gegeben — also . , . also das geht nicht, —
und da weiB er mit Todesbestimmtheit, daB er nicht an
Rosette schreiben wird. Und wenn ich daran dcnke, —
jetzt hort er eine Stimme, Rosettes Stimme, — daB es
mir doch einmal schief gehen wird im Leben, werde ich das
nicht besser und leichter crtragen, werde ich nicht mit mehr
Mut und Ausdauer versuchen, es wieder zum Besseren zu
lenken, wenn ich daran denke, daB meine Jugend
ncin, ich werde nicht an Rosette schreiben, und ich werde
sic auch nic mehr sehen, — aber das ist doch nicht sicher,
das l&Bt sich nicht einfach so beschlieBen, wenn ich nach
Wien . . . oder nach Budapest, oder wo immer hin — nur
weg aus dieser furchteriichen Stadt mit der fremden Sprache
und den diisteren Museen und den schrecklichen Biblio-
theken und den farbigen Frauen und dem Krematorium —
219
nach Hausc? wohin? und wic? Autobus, Abcndessen,
ctwas Trinkgeld fur den Hausknccht und cine Schachtcl
Zigarcttcn und vierzehn Schilling fiir das Zimmer, —
wohin mit knapp zweieinhalb Pfund?! Er hatte kcine
Ahnung, wicviel dicse zweieinhalb Pfund eigentlich waren,
fiihltc nur, daB cs sehr, sehr wcnig scin muBte, und hundert-
fach fiihltc cr die beangstigend zahlreichen Kilometer
zwischen London und Wien. Mit schlotternden Bcinen geht
er ins ErdgeschoB und macht sich mit Miih und Not deni
mit der schwarzen Brille verstandlich: cr moge in ein
Reisebiiro telefonieren und sich crkundigen, wieviel die
Fahrkartc nach Wien kostc. In Aufrcgung versteinert
lauscht er dem Telefongesprach. ,,Ycs, Vienna, yes", ruft
der Bebrillte in den Apparat, ,,four pounds and seventeen
and six", wiederholt er, ,,yes, thanks", bccndet er das
Gesprach. ,,About five pounds", sagt er zu Kadar. Etwa
fiinf Pfund, — und da steigt plotzlich ein wiirgender HaB
in ihm auf, und es wird ihm kaum klar, daB dieser HaB Paul
gilt: da sieht cr das todesbleichc Kindergesicht im Spiegel,
die aufgcrisscncn Augcn, — und da fangt er an, Paul
innerlich furchtbar nachzuhculen. Und wicder beginnt das
Abschiednehmen. Als es hell wird, sitzt er noch immer am
Tisch, und hundertmal wohl hatte sich das Krankenhaus-
bett ihm vor die Augen gcdrangt, in dcm Paul aufgcrichtet
sitzt und ihn ansieht; er sieht des Jungcn Zimmer vor sich
mit den Biichern und den groBen Sesseln; und zahllose
seltsame, neuc, frcmde Worte ihrer zahllosen GesprSche
klingen ihm im Ohr; Wirth kommt und Rosette und Frau
HcBlcin in schwarzen Handschuhcn bis an die Ellenbogen,
und Tilly kommt und die ganze Gesellschaft, erregtcs
Zittern spiirt cr in der Hand wie damals, als Paul ihm das
vierfache Honorar iibcrgab, und in eincm fort hort er cinen
entsctzlichen Refrain: dieses Lcben, das die Klarhcit des
Sinnes gibt und den Korpcr vor Bcsudclung bcwahrt, vor
dcm einzigen, mit dcm ich nicht ferrig wcrden konntc, —
das ist Pauls Stimmc; und im Zug auf der Hcrfahrt packt
220
Paul zwei Schinkensemmeln aus und gibt ihm eine davon,
in Wien gibts herrlichen Schinken, — und er sieht das
belebte, gerotete Gesicht des Jungen, seine hiipfenden
Augen, als sie iiber die breiten, fremden Londoner
StraBen gehen; ,,du, Toni, es 1st das einfachste, ich miete
einen Ford, das kann nicht viel kosten, was?" — und am
Rande der geraden, breiten Chaussee steht ein offener
Wagen, eine junge Dame liegt darunter und plagt sich mit
dem Motor ab, man sieht nur ihre beiden langen, schlanken
Beine, und neben dem Wagen steht eine zweite Frau in
weiBem Kleid, hellbraun leuchten ihr Gesicht und ihre
Hande . . . Und dabei fiirchtet er fortwahrend, einmal
konne er das Bett sehen, wie der alte Doktor Ryborg das
Kissen hochhebt, aber nein: die Angst halt dieses Bild von
ihm fern, nur das Gesicht des Jungen kehrt fort und fort
wieder, bleich und verkommen, im Spiegel. — Als er
sich am Morgen ins Bett wirft, schmeifk er seine Kleider
unordentlich auf die Erde. Nachmittags um halb vier wacht
er auf: sein Zimmer ist aufgeraumt, die Kleider auf einen
Stuhl gelegt. Natiirlich, sie sind zwischendurch rein-
gekommen, um zu sehen, ob nicht etwa — Der zweite
Nachmittag vergeht ebenso. Die Bilder werden triiber, und
an Stelle des Erinnerns tritt immer mehr ein einziger
Gedanke: ich muB weg von hier — ich muB nach Hause —
koste es, was es wolle, ganz gleich, wie . . . und weder
Rosette noch Tilly . . . noch sonst jemanden von ihnen habe
ich notig, nur . . . weg von hier, nach Hause — und da
weiB er, daB das Abschiednehmen von Paul bald aufhort . . .
knapp zweieinhalb Pfund . . . davon kann man vielleicht
noch einen Monat leben, — und als er am nachsten Morgen
sein Rasierzeug herausnimmt und in den Spiegel iiber dem
Waschtisch sieht, durchzuckt ihn etwas beim Anblick
seines Gesichts, — aber das dauert nur einen Augenblick,
und da macht sich plotzlich ein hartes, kaltes Gefuhl in
seineni Kopf, in seiner Brust breit : ich werde es xiberleben —
ich komme dariiber hinweg . . .
221
Ostcrreichische Gesandtschaft. Er hat seinen dunkel-
blauen Anzug angezogen und bemliht sich, das Zittern
seiner Stimme zu unterdriicken, als er sich bei einem
Legationsrat anmelden laBt. Ein jovialer glatzkopfiger Herr
empfangt ihn, der, als er seinen Namen hort, miBbilligend
mit dem Kopf nickt. ,,Ja, ja, das war eine auBerordentlich
peinliche Angelegenheit, eine ganz besonders unangenehme
Angelegenheit . . . und was wiinschen Sie? — Nach Hause?
nach Wien? das verstehe ich nicht, meines Wissens sind
Sie doch kein osterreichischer Staatsangehoriger, — oder
doch? Nein, Ungar . . . das verstehe ich nicht, — wie
konnte Ihnen dann eine osterreichische Behorde einen
osterreichischen PaB ausstellen? das miiBte man eigentlich
naher untersuchen . . . jedenfalls, was Ihre Bitte anbetrifft,
bedaure ich sehr, die Gesandtschaft ist nicht in der Lage — "
Ungarische Gesandtschaft. Er sitzt und sitzt in einem
weiten Wartesaal, dann wird er in ein reich m6bliertes
Arbcitszimmer gefiihrt. Ein eleganter blonder junger Herr
mit Tatarenbart und Monokel. ,,Sie wiinschen ?" — ,,Ich
mdchte nach Hause, nach Budapest ..." — ,,Nach Hause?
nach Budapest? ich verstehe nicht, Sie haben doch einen
osterreichischen PaB! oder sind Sie trotzdem ungarischer
Staatsbiirger? — ich verstehe das nicht, die ganze Sache
ist mir ein biBchen — Wann waren Sie zuletzt in Budapest?
aber in weichem Monat? und warum sind Sie von Budapest
weggegangen? und iiberhaupt . . . lassen Sie Ihren PaB
und Ihre Papiere hier und etwas Geld fur die Spesen . . .
eine Information, wenn Sie das wiinschen, kann die
Gesandtschaft ja einholen, aber nach Hause schicken? nein,
das gcht leider nicht, dazu ist die Gesandtschaft wirklich
nicht in der Lage — "
Am Nachmittag sitzt er iiber einem Bogen Papier und
beginnt einen Brief. Liebe Tante Anna und lieber Onkel
Rudi mein Gott. Aber . . . wie stellst du dir das denn
vor, mein Kind, in einer fremden Stadt? woher wiilst du
das Geld nehmen, wo wiilst du wohnen? wie wiilst du
222
denn leben unter fremdcn Menschcn? . . . Er soil nur seine
Sache machen, wie er es fiir am besten halt, schlieBlich 1st
er ein erwachsener Mensch, er kann die Verantwortung
iibernehmen — oh, und wenn ich hier verrecke, — kann
ich ihnen den Brief schicken?! soil ich ihnen etwa schreiben,
ich sitze hier und warte auf Geld von ihnen? ein er-
wachsener Mensch, er kann die Verantwortung iiber-
nehmen ... — und als sich am Abend der Hunger im
Magen krampft und er sich vom Tisch erhebt, steht noch
immer nicht mehr auf dem Papier als : Liebe Tante Anna
und lieber Onkel Rudi. — In der Nacht traumt er: er sitzt
vor einem ungeheuer groBen Haufen Briefpapier, auf
jedem einzelnen Bogen steht in seiner Handschrift: ich
erlaube mir ergebenst, meine Dienste anzubieten ... —
und dann befindet er sich in einem halbdunkeln Biiroraum,
steht vor einem Schreibpult einem kleinen jungen Mann
mit einem Zwicker gegeniiber; ich verbiete Herrn Herz,
Sie anzustellen, sagt der junge Mann, Sie sind kein Facharzt
und konnen unmoglich unsere Interessen vor der Polizei-
behorde entsprechend wahren. — Am Morgen, — und
dariiber ist er hochst erstaunt, — wacht er mit klarem,
frischem Kopf auf; aus dem KofFer nimmt er seinen hell-
grauen Anzug, er ist ganz und gar zerdriickt. Macht
nichts. Er lautet den Schwarzbebrillten herauf ; nach einer
halben Stunde ist sein Anzug aufgebvigelt; der Bebrillte
legt in still anerkennungsvoller Sorgfalt die Kleidungs-
stiicke einzeln aufs Bett. Sein Geld hat er in der Tasche, er
geht hinunter auf die StraBe. Unbekannte Gegend. Er geht
langsam, jede Firmentafel, jede einzelne Aufschrift sieht
er sich an. In einem Automaten verschlingt er urn die
Lunchzeit stehend zwei Bissen und geht weiter. Er kommt
in eine leere Gasse, in verkehrsreiche StraBen, durchquert
belebte und stille Platze und liest alle Firmenschilder.
Abends, als er wieder zu Hause anlangt, summen ihm die
Plakate von dreiBig bis vierzig StraBen durch den Kopf,
und die Miidigkeit von dreiBig bis viemg StraBen steckt
223
ihm in den Gliedern. Und da durchzuckt ihn krampfhaft
ein gelber Gedanke: bin ich wahnsinnig ge word en?! was
suche ich denn auf der StraBe?! was gaffe ich die Firmen-
schilder an? I — er ist nicht imstande, sich auf diese Fragen
cine Antwort zu geben; er hat das unsichere, irritierende
Gefuhl, etwas irgendwohin weggeraumt zu haben und nicht
zu wissen, wohin; ganz bcstimmt muB irgendwo etwas
sein, das ich finden muB. — Am folgenden Tag laBt er sich
vom Autobus in einen andern Stadtteil fahren, ziellos und
aufs Geratewohl; irgendwo, wo unbekannte Hauser stehen,
steigt er aus ; wieder beginnt der Spaziergang. Um ein Uhr
eine Tasse Suppe und ein paar Bisseji in einem Automaten ;
dann promeniert er bis sechs Uhr. — Am funften Tage
schaukelt ihm die graue Farbe des Asphalts in Wogen vor
den Augen, als er aufwacht, und als er auf die StraBe tritt,
erfaBt ihn ein Gefuhl der Ubelkeit beim Anblick der Farbe
des Trottoirs. Weiter. In mechanischer GleichmaBigkeit
treten seine FuBe, er schreitet in unverandertem Tempo und
atmet okonomisch; ja, diesen Gang kann man beim Militar
lernen, wenn Exerzieren und groBes Ausriicken ist, schade,
daB einem das an der Front wenig niitzte, denn dort muBte
man ganz anders gehen, — B. Dickinson, Ing. mech. agr., —
an der Front muBte man so gehen, daB man moglichst
keinen Zielpunkt bot, — Howard & Howard, Dentists, —
wenn man iiberhaupt gehen muBte, — Turnot, French Tailor
for Ladies, — aber man muBte ja selten gehen, im Schutzen-
graben, — Britisb-Westindian Company for Import of Ba-
nanas, — und auf dem Ruckmarsch kummerte sich keine
Seele darum, wie man ging, — B. Hayos, Agent, — wir
battens ihnen auch gegeben — Der Schwung bricht ab;
er bleibt stehen und tritt zuriick. B. Hayos, Agent. Das
steht auf einem kleinen Messingschild an einem Haustor
in der Rodney Street. Hayos — Haj6s? — das Herz
klopft ihm in der Kehle, er zogert keine Sekunde: schon
ist er oben auf der zweiten Etage. Er klingelt, und ein
junges Madchen mit groBer Hornbrille offnet die Tiirc.
224
,,Bitte, was wiinschen Sie?" — ,,K6nnte ich Mr. Hajos
sprechen?" fragt er und spricht den Namen ungarisch
aus, gleich hinterher fahrt er deutsch fort: ,,verstehen
Sie vielleicht Deutsch oder Ungarisch?" Das Madchen
starrt ihn durch die Brille an, zogert ein wenig und ruft
dann durch eine halboffene Tur. Gleich darauf steht
er in der kleinen Diele einer grauhaarigen, rundlichen
Frau gegeniiber. ,,Was wiinschen Sie?" fragt sie in ge-
brochenem Deutsch und miBtrauischem Ton. ,,Sind Sie
nicht Ungarn? wenn mich der Name nicht triigt ..." —
,,Wieso?" fragt die Frau weiter, nun schon ganz miB-
trauisch und mit Ablehnung in der Stimme, ,,was wiin-
schen Sie?" Er will eine lange Geschichte beginnen, aber
die Frau winkt gleich nach den ersten zehn Worten ab.
Natiirlich sei sie 2war einem Fremden keinerlei Auf-
klarung schuldig, sagt sie, aber wenn er es absolut wissen
wolle, jawohl, Mr. Hayos' Vater sei tatsachlich Ungar
gewesen, Mr. Hayos selbst aber sei schon seit mehr als
vierzig Jahren englischer Staatsbiirger, und Mr. Hayos sei
der Meinung, daB die Ungarn, die im Weltkrieg an der
Seite der teutonischen Barbaren Wieder ist er auf
der StraBe. Mr. Hayos . . . und die Teutonen, na, schon.
Das ist nicht gelungen. Gewaltsame gute Laune befallt
ihn, jetzt weiB er genau, was er seit Tagen sucht, — ein
ungarisches Schild, einen ungarischen Namen. London ist
eine groBe Stadt, mein Gott, London ist entsetzlich groB . . .
und ich werde nicht vor Hunger sterben. Nein, ganz
gewiB nicht, da ich mehr als zwei Pfund in der Tasche
habe! — Im ersten Automaten trinkt er zwei Glas Bier;
eilt wieder auf die StraBe und sinkt am Abend angezogen
aufs Bett; so miide ist er, daB er sich nicht mehr ausziehen
kann.
Zu Beginn der dritten Woche fangt die Welt an, grau
zu werden. Tag fur Tag in einem unbegreif lichen Amoklauf
auf der StraBe, mit der fixen Idee voxn ungarischen Namen,
vom ungarischen Schild, mit der festentschlossenen Absicht,
15 KOrmendi, BudapoM 22J
zu betteln, mit der ohnmichtigcn inneren Passivhat, die
ihn bestimmt zum Stehen bringt, handlungsunfahig macht
und zuriickwendet in dem Augenblick, da es den Anschein
hat, als wollte etwas gelingen. Im Fenster eines kauf-
mannischen Unternehmens erblickt er cine Tafel : Agenten
fur den Kontinent und die Balkanlander gesucht. Wohl
cine halbe Stunde steht er vor diesem Fenster und geht
nicht hinein. An einem Haustor sieht er einen Namen:
Pal. Vielleicht urspriinglich : Pal. Mogiich, daB Mr. Pal
seit langen Jahrcn cnglischer Staatsbiirger ist. Moglich,
daB Mr. Pal . . . und die Teutoncn — Etwas Geld hat er
noch in der Tasche, er wagt nicht zu zahlen, wieviel. Fein
spriiht der Regen, und als er auf die feuchte, laue StraBe
tritt, glaubt er, den ersten Menschen, der ihm begegnet,
anspringen und an der Kehle packen zu miissen. Bereits
aus Gewohnheit geht er weiter, blickt vor sich hin und
nicht auf die Firmenschilder. Ich muB jedes zweite Karo
auf dem Trottoir uberspringen, dann . . . werde ich Gliick
haben. BloB die Karos sind nicht gleichmaBig, einmal muB
ich einen groBen, einmal einen ganz kleinen Schritt machen;
wahrscheinlich kommt das von der Maschine, die die
Randsteine macht. Die Schuhc sind noch ganz gut, in Wicn
werden iiberhaupt ziemlich gute Schuhe gemacht, naturlich
haben sie eine ganz andere Form als die englischen Schuhe,
spitz sind sie. Wcnn ich viel darin gche, werde ich die
Sohlen durchlaufen, bestimmt, aber das Oberleder ist noch
ganz, ich kann sie besohlen lassen, wenn sie kaputt sind.
Tilly hat englische Schuhe getragen, solche runden, aber
trotzdem waren sie schmal, sie hat schmale FiiBe gehabt,
und sie hat auch nie hone Absatze getragen; doch, die
Lackschuhe waren mit hohen Absatzcn, die mit den zwei
Spangen iiber Kreuz und den zwei Knopfen an den
Seiten. Einmal hat sie auch gesagt: ich habe so gute Beine,
weil ich als Kind immer hohe Stiefel getragen habe, und
auch jetzt gehe ich am liebsten in Schuhen mit flachen
Absitzen. Ein Paar sandalenartige Schuhe hat sie auch
226
gehabt, aber die hat sie nur cinmal angezogen, ich kann die
Sandalen nicht ausstehen, hat sie gesagt, am liebsten mochte
ich sie Marie schenken, aber die braucht mindestens GrdBe
neununddreiBig. — Bin Autobus, der nahe an den Rinn-
stein heranfahrt, reiBt ihn beinahe um, schlotternd springt
er zuriick und blickt auf : Oxford Circus steht am Autobus,
und in dem Moment fallt ihm ein, — Langham Hotel,
zwischen dem Portland Place und dem Langham Place, bis
zum Oxford Circus kannst du mit dem Autobus fahren:
das hatte Varga gesagt und, daB er bis zum 10. September
dort wohne, und heutc ist der 3. September. Er steigt auf
den eben abfahrenden Autobus; cine halbe Stunde spater
steht er mit zitternden Bcinen in der vornehm ruhigen,
verdunkelten und kiihlen Halle des Langham Hotels.
,,Mr. Varga?" — fragt er vor dem Pult des Portiers.
,,Zweihundertacht", sagt der Portier mit einer halben
Drehung nach hinten, ,,ist aber momentan nicht zu
Hause." Er setzt sich in die Halle, macht es sich in einem
Sessel bequem und behalt den Eingang im Auge. Zehn
Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde. Er tritt
auf die StraBe und geht eine halbe Stunde auf dem Platz
spazieren. Varga. Varga wird mir helfen. Wie freundlich
cr war, als ich ihn traf. Varga wird helfen, er wird mir Geld
und Rat geben, er lebt schon lange in England, er wird mir
helfen, daB ich entweder nach Hause fahren oder hier
irgendwo unterkommen kann, Varga ist vornehm und
reich. — Es hat inzwischcn aufgehort zu regnen; er
spaziert auf dem Platz, und als die Sonne fur einen Augen-
blick durchkommt, ist er sicher, daB Varga . . . kurz, daB
seine Sachen nun in Ordnung kommen werden. —
,,Mr. Varga?" fragt er den Portier wieder. ,,Noch nicht
zu Hause." Wieder sitzt er in der Halle; dann folgt wieder
ein Spaziergang von einer halben Stunde, ein Sandwich
und ein Glas Bier, — und dann beim Portier: ,,Mr.
Varga?" — ,,Noch immer nicht zu Hause." Da beginnt in
seinem Rucken ein dunnes, spannendes Gefiihl zu kribbcln,
ts* 227
und die Kehle ist ihm ganz trocken, als er zum drittenmal
durch die Drehtiire geht. Gegeniiber auf dem FuBsteig ist
eine Uhr: halb drei. Er kehrt um, geht zuriick in die Halle,
sucht sich einen Sessel, der in einer Nische steht, und setzt
sich. Ein Boy legt ihm sofort illustrierte Blatter auf den
Tisch, eins davon nimmt er in die Hand. Varga wird helfen,
schlieBlich ist das die Pflicht eines Lands . . . Lands mannes,
Menschenpflicht. Auf dem Titelblatt der illustrierten
Zeitung sind zwei junge Madchen zu Pferd, in eleganten
Reitkostiimen. Die eine gleicht ein wenig Vargas, Dings . . .
der — Gott, wem gleicht sie nur? Es fallt ihm nicht ein, —
er betrachtet ihr Gesicht, na, egal, nicht wichtig . . . ja,
naturlich, dem kleinen blonden Madel gleicht sie, die an
der Schreibmaschine am Fenster saB in der Metallzentrale, —
wie hieB sie doch gleich? — Margit Kocsis, natiirlich. In
der Kacsa-Gasse wohnte sie, irgendwo in Buda. World's
Sunday Pictures, London Edition ist September 1921. Schones
Blatt, feines Papier, guter Druck, elegant ausgestattet.
Varga wird helfen, das ist ganz sicher, schlieBlich ist das . . .
Menschenpflicht — schlieBlich sind wir ja in eine Klasse
gegangen, und wenn es sich bloB darum handelt, mir die
paar Pfund, mit denen ich nach Hause fahren kann — vom
Victoria-Bahnhof fahrt der Zug um elf Uhr ab — jetzt kann
es vier sein oder halb vier — und fur die kleineren Aus-
gabcn habe ich hier noch was in der Tasche . . . und wenn
ich nur bis Wien fahre . . . nur bis Wien, about five, — warum
sollte ich eigentlich nicht nach Wien fahren?! Kein Mensch
aus Wien hat bisher nach mir gefragt . . . und es braucht
ja niemand zu wissen, daB ich in Wien
Plotzlich schreckt er auf, blinzelt und sicht sich ge-
blendet und verschamt um: ob jemand bemerkt habe, daB
er eingeschlafen war. Nein, anscheinend nicht. Seine Augen
suchen die groBe, blauschirnmernde Uhr in der Halle: fiinf
Uhr zchn. In drei Sfctzcn steht er wieder vor dem Portier:
,,Mr. Varga?" — ,,Zweihundertacht", sagt der Portier,
,,vor einer halben Stunde ist Mr. Varga nach Hause
228
gekommen." — ,,Danke", — und mit etwas unsicheren
Schritten geht er auf die Treppe zu. Wieder beginnt das
Spannen im Riickcn und zieht sich jctzt langsam nach dcm
Kopf zu. Na. Klarer Kopf — jetzt brauche ich einen klarea
Kopf. Auf der Treppe liegen dicke rote Laufer, solche
waren auch in Wien in Lehrners Haus, — bei der Biegung
clcr Treppe steht in der Ecke eine Statue, wie ein Grabmal
sieht sie aus: weiBer Marmor, eine Frauengestalt fast in
LebensgroBe, mit dem rechten Arm auf ein groBes Schwert
mit Kreuzgriff gestiitzt, den Kopf in die Hand gelehnt, in
der herunterhangenden linken Hand einen Kranz aus
Rosen. Einen Augenblick bleibt er vor der Statue stehen, —
irgendeine Kriegsangelegenheit, denkt er und geht dann
weiter. Zweite Etage, zweihunderteins — zwei — vier —
acht. Leise klopft er an die wciB Jackierte innere Tiir.
,,Yes!" sagt eine Mannerstimme. Er macht auf: im Zimmer
steht Varga im Smoking der Tiir zugewandt mit fragendem
Gesicht; auf einem Sessel sitzt eine groBe blonde junge
Dame in blauem Lackhut und blauem Regenmantel. ,,Ent-
schuldige bitte, daB ich dich store . . ." sagt er auf Vargas
erstaunten BHck hin; ,,aber bitte, bitte", antwortet dieser,
seine Stimme ist tadellos hoflich, ,,ich freue mich, dich zu
sehen, du muBt nur entschuldigcn, daB du mich nicht
alleine antriffst, ich wuBte nicht, daB du kommst", und
sofort stellt er vor: ,,mein Freund Kadar — Miss Evelyn
Campbell-Gray, die Schwester eines Kollegen." Kadar
stottert ein paar Entschuldigungsworte, daB er nicht gut
Englisch konne, und rotgliihend vor Scham sagt er
ungarisch zu Varga: ,,du, ich mochte dich gerne ... in
einer schr wichtigen Angelegenheit . . . wie konnte ich dich
unter vier Augen sprechen?" Varga uberfliegt ihn mit
einem Blick : seine Schuhe, — die spitzen, — ein biCchen
staubig, aber gut, sein Anzug ganz anstandig . . . ,,Aber
bitte", sagt er, ,,ich stehe dir sofort zur Verfiigung, aber
dann muBt du so gut sein, dich mit mir in den Salon hier
auf der Etage zu bemuhen . . ." Er cntschuldigt sich
229
bei Miss Campbell-Gray und vcrspricht, in wcnigcn
Minuten wieder da zu sein; Kadar verbeugt sich, die
jungc Dame neigt den Kopf, Varga macht die Tiire auf :
,,bitte schr."
In dem triptychonartigen machtigcn Fenster des Salons
eine bunte Glasmalcrci: der heilige Georg totet den Dra-
chen. Diesem farbigen Fenster sitzt er gegeniiber, steif
aufgerichtet, die Hande zitternd auf den Knien; Varga steht
noch am runden Tisch und steckt sich langsam und be-
dachtig cine Zigarette an: ,,wie gehts dir, lieber Kadar? ich
freuc mich wirklich, daB du mich aufsuchst, bloB, ich wieder-
hole, es ist schade, daB du nicht vorher telefoniert hast, wir
hatten den Abend zusammen verbringen konnen." — ,Ja,
wir hatten den Abend zusammen verbringen konnen . . ."
wiederholt Kadar unruhig, blickt wieder nach dem bunten
Fenster und holt tief Atem: ,,ich wollte dich bitten, Varga,
nimm es mir nicht iibel, daB ich hier in London ... in einer
furchterlich schwierigen Sachc mich ausgerechnet an dich
wende . . ." und gleich hier am Anfang stockt er, du lieber
Himmel, durchzuckt cs ihn, jetzt werde ich betteln —
,,Nun?" fragt Varga mit hochgezogenen Brauen, ,,was ist
denn diese schwierige Sache?" — ,,Tja ... ich bin in eine
cntsetzliche Situation geraten, aber ohne meine Schuld . . ."
und wie er das sagt, jagt purpurnc Scham uber sein Gesicht,
Herrgott, betteln werdc ich jetzt, — abcr da heftet Varga
schon vollkommen miBtrauisch den Blick auf ihn und sagt
hintcr der Deckung einer Rauchwolke: ,,also, bitte . . . was
ist denn passicrt? und worin konnte ich dir . . . oder was
mocbtest du von mir?" Und das sagt er in so crhabenem,
so erniedrigendem Nasalton, so unverkennbar ablchncnd,
daB sich in Kddar die Bettler-Scham sofort in auf lehnende,
bodenlose Wut verwandelt; er blast den Rauch zwischen
ihnen weg und sagt kurz und biindig mit trockencr Stimmc :
,,Geld." Dem andern entfahrt ein klaffendes kleines Lachen:
,,Geld? wie stellst du dir das vor? wiirdest du viclleicht so
freundlich sein, mir cin biBchen ausfiihrlichcr — " Und da
230
schliefit Kadar fur cine Sekundc die Augen, und nachdem
er zweimal leer und schmerzlich gcschluckt hat, bringt er
leise sein Anliegen vor. ,,Du weiBt, daB ich vollkommcn
sorglos, sogar in Wohllebcn — mit cinem reichen jungen
Mann aus Wicn — als desscn Erziehcr, Mentor, Freund —
auf cine mehrmonatige Studienreise — wir standen gerade
im Begriff, nach Hause zu fahren — da kommt ein un-
erwartetes Ungliick — er ist vom Autobus iiberfahren
worden,tot — und jetzt stehe ich bier mit einigenGroschen —
renne seit Wochen nach der Erlos . . . nach einer Losung —
wenn du mir vielleicht etwas leihen konntest, damit ich
nach Hause fahren kann . . ." In Vargas Gesicht sind jetzt
ganz strenge Falten, und seine Augen gliihen miBbilligend
den andern an. — Seit Wochen sucht er einen Ungarn,
einen bekannten oder fremden, der ihm in dieser grauen-
haften Situation beistande und ihm mit der kleinen Summe,
denn schlieBlich, die paar Schilling, die er noch hatte —
,,Lieber Freund*', unterbricht Varga sein Stottern, ,,du
tust mir zwar auBerordentlich leid ob dieses ungliick-
lichen . . . Abenteuers, aber leider, das muBt du einsehen,
ist cs mir nicht moglich ... die Heimreise, selbst dritter
Klasse, kostet einen ansehnlichen Betrag, den ich dir leider
nicht zur Verfugung stellen kann, leider nicht einmal
gcborgt, da ich selbst in gewissen Grenzen — nun ja, in
gewissen weiteren Grenzen — aber in cincr derartigen
Situation Geld leihen ist gleichbedeutend mit — im iibrigen
aber, wenn du das nicht ablehnst, wiirde ich mich sehr
freuen, dir mit einer kleineren Summc . . . das heiBt, letzten
Endes vermutlich . . . e-hm, mit einem Vielfachen von
dem . . . e-hm, was du augenblicklich besitzt — " und
plotzlich, wie, das merkte man nicht, schimmert zwischen
seinen Fingern ein Zehnschillingschein, und zogernd halt
er ihn Kadar hin. — Die tragische Melodic der Demiitigung
des Bctders wird von einem diinnen, grotesken Wiehern
iibertont, — ein halbcs Pfund, ein halbes Pfund bietet cr
mir an — und wenn ich ihm jetzt auf die Hand schlage und
ihm sage, mit deinem halben Pfund kannst du mir
Hatte ich bloB nicht eincn so fiirchterlichen, so erstickendcn
Druck in dcr Brust . . . Nun crtont Vargas Stimme im
sonoren Bariton dcs gutcn Willens, wahrend sich die Hand,
die das Geld halt, langsam zuriickzieht: ,,aber warum
wendest du dich nicht an die Eltern deines Schiilers?
schlieBlich tragst du doch nicht die Verantwortung fiir cine
zufallige Katastrophe! schlieBlich ist es doch ihre Pflicht,
fiir dich zu sorgen, du bist doch schlieBlich nicht zu deiner
Passion — " Er schweigt. Einen Augenblick herrscht
Stille. Kadar ist es, als senke sich vom Dach eine seltsame,
bunte Glasglocke auf ihn herab, decke ihn zu und trenne
ihn von Gegenstanden und Stimmen. Tiefe, taubc Stille
hat er in den Ohren. Die Farben des bunten Fensters oder
der Taucherglocke stechen ihm scharf in die Augen, und fiir
eine Sekundc miissen sich seine Lider senken, sonst wird
er vom wahnsinnigen Glanz der Farben blind. Aus der
Tiefe, ganz unten, hort er Stimmenfetzen : ,,die ungarische
Gesandtschaft ist in solchen Fallen verpflichtet ... die
ungarische Gesandtschaft . . ." da steht er plotzlich auf.
,,Danke schon", sagt er, ,,Servus", dreht sich um und ist
schon an der Tiir des Salons, dem andern den Riicken zu-
gewendet. In zwei Schrirten steht Varga neben ihm, aber
Kadar geht welter, seine Blicke streifcn iiber den roten
Laufer, er gcht schon die Treppcn hinunter. Im brciten
Flur dampft Varga die Stimme fast bis zum Fliistern: ,,es
wiirde mir wirklich sehr leid tun, wcnn ein MiBverstand-
nis . . . ich mochtc wirklich nicht ..." — ,,Nein, nein",
sagt Kadar, geht wciter die Stufen hinab und dreht sich
gar nicht um. Varga sieht ihm iiber das Gelander eincn
Augenblick nach, dann zuckt cr die Achseln, macht kchrt,
hiistelt und geht auf den Flur zu.
12
Tage hockt cr wieder zu Hause, — es hat keincn
Sinn, und cr kann sich auch nicht aufraffen, auf die StraBe
zu gehcn. Der Himmel wechselt fortwahrend, jede Stunde
fangt es an zu regnen, dann kommt ein wenig Sonnenschein,
und nachher rcgnct es wieder. Soil ich gehen? wozu? im
Langham Hotel war ich schon. Das beste ware . . . nichts
ware das beste, alles ist egal. So ist es viel einfacher, egal.
Ich muB mich nur nicht mit den Dingen beschaftigen. In
London ist noch niemand verhungert. Das ist zwar nicht
sicher, moglich sogar, daB sehr viele Menschen hier ver-
hungern. Und die haben noch nicht einmal die Museen und
die Bibliotheken gesehen — aber das ist nebensachlich,
man muB sich nicht um die Dinge kummern. Hier habe ich
ja meinen Koffer, den brauche ich sowieso nicht, ich bleibe
ja in London, wcrde in London leben, — den blauen Anzug
brauche ich auch nicht und den Smoking und den andern
grauen Anzug, die und den Koffer und die Handtasche
kann ich verkaufen, unten der mit der schwarzen Brille
wird sic mir abkaufen, sehr gute Sachen sind es . . . ein
Anzug geniigt in London vollkommen. Agenten suchen sie
fur die Balkanlander, — da konnte ich hingehen, und wozu
soil man Serbisch oder Griechisch konnen? Mit Englisch
finde ich mich in der ganzen Welt zurecht — und mit
Deutsch, mein Herr, in Vertretung einer groBen englischen
Firma erlaube ich mir . . . wie die italienischen Studenten,
die mit kleinen Kofferchen und Wachstuchbundeln durch
Wien ziehen, stoffe original! inglesi, signore! dabei ist
es gar nicht sicher, daB sie Studenten sind, Agenten sind sie,
die sich als Studenten ausgeben. Geld kann man auch in
London verdicnen; — ich habs bisher bloB nicht richtig
gemacht. Ich muB mir Ware verschaffen und gute Be-
zichungen erwerben, — Mr. Hayos, ich mochte Ihnen
prima englische Kohle anbieten, keine preuBische Kohle,
kcinc tcutonische Kohle, sondern englische Kohle;
Mr. Varga, ich hoffe, du kaufst mir cin Dutzend Bleistifte
ab oder wenigstens cin Stiick, ein halbcs Pfund das Stuck,
ein halbcs englisches Pfund — und dann, wie sich die
Phantasien immer mehr verwirren, so beruhigen sic sich
auch. Wicder hat cr das Gefiihl, untcr der Tauchcrglocke
zu scin; der Lebcnsmotor in ihm wird stiller, cr spiirt
kaum, daB er noch in Bctrieb ist. Taglich iBt cr nur ein paar
Bissen, sitzt auf dem Bert oder am Fenster, und ihm ist, als
lege sich ein weiches, dickcs Tuch um seincn Kopf. Er hdrt
und sieht nichts, aber auch innerlich ist Stille, und diese
Stille tut wohl. Es lohnt sich nicht, an irgend etwas zu
dcnken, also lieber nicht denken. Ein biBchen Geld hat er
noch, wieviel? das ist gleichgiiltig. Nachher kommt ja der
Koffer an die Reihe, dann die Anzuge — Ruhe, nur Ruhe,
man soil seine Krafte nicht vergebens verschwenden, und
wenn ich 1917 gefallen wSre? oder wenn mich der Autobus
iiberfahren hatte, und nicht Paul
Als Reaktion der zweitagigen Stiile kommt am dritten
Tag ein brennender Tatendrang, einc Zappeligkeit. In aller
Friihe ist er schon auf den Beinen, zieht seinen guten Anzug
und seine guten Schuhe an. Sorgfaltig rasiert er sich und
pfeift dabei, dann klingelt cr, trinkt den Tec noch ganz
heiB und zerkaut den letzten Bissen Toast, als cr auf die
StraBc tritt. Vier bis fiinf StraBen klappcrt cr ab, dann
sctzt cr sich in den Autobus, der ans FluBufer fahrt. Gold-
braun zittert das Wasser im Sonnenlicht. Unten an ciner
der Anlegebriickcn stehen weiBc Motorboote; neben dem
Bootshaus schiittelt ein Matrose cine frisch und glasern
klingende kleinc Glocke, ihr klarcr Schall fliegt in fast
sichtbarem Bogen iiber ihm hin; auf der Anlcgebriickc
steht:. Cattle Market Station — Deptford. Langsam geht
cr auf^en untercn Kai, vorn am Anlcgcsteg druckt ihm cin
Mann mit einer Taschc cine Messingmarke in die Hand,
damit stcigt cr ins Motorboot. Im hintcren Teil, — cr ist
allein, — sctzt cr sich ans Ende der Seitenbank, dann wogt
das Wasser um die Schraube schiumcnd auf, und das Boot
setzt sich in Bcwegung, stromab warts. Cattle Market, —
in diesem Tcil Londons war er noch nicht gewesen. Auf
dem Plate, — das sieht er schon von Bord des Motor-
bootcs, — 1st groCes Durcheinander; an der ganzen linken
Seite liegen Ziegel, Sand, Morteltroge und BauhoLz herum,
es wird gebaut. An der rechten Seite eine end lose Menge
von alten lagerhausahnlichen Gebauden; in der Luft ein
eigentiimlicher, roher Geruch; und ein ununterbrochenes
Summen, aus dem hie und da das schmerzliche BaB-Solo
eines Ochsen aufsteigt. In langsamem Trott kommen Ochsen
die eine Anlegebriicke herauf. Aha, der groBe Rindermarkt.
Er schlendert hinuber zum Bau, was kann das
sein? Lagerhauser? Stalle? wahrscheinlich so etwas,
man sieht schon, in den Nischen hier sind Wasser-
becken angelegt, zum Tranken. Am Kai, am Anfang
der neuen Gebaudereihe sind schlanke Hebekrane, —
wozu? — anscheinend wird das Hebewerk gerade aus-
probiert, fein und vorsichtig legt die dicke Kette die
angehangten formlosen Sackbiindel auf die Erde. — Er
geht welter; hinter dem Bau ein kleinerer Marktplatz, in
winzigen Buden und unter groBen Schirmen Apfel und
Bananen, Apfel und Bananen. Ein irritierend feiner Obst-
gcruch. Der Platz ist gedrangt voll. Er staunt die larmend
feilschcnde Menge an. Eine dickbauchige Frau mit einem
Tuch um ruft ihm zu: ,,pack doch mal den Wagen hicr an,
einen halben Schilling zahl ich dafur bis Mittag!" Er gafft
sie an, dann schtittelt er den Kopf. ,,Entschuldigen Sie",
sagt die Frau, ,,ich dachte, Sie suchen Arbeit." Er geht
weiter, sieht sich wiedcr um nach dem Bau. Die neuen
Stalle da — nicht ganz richtig, vielleicht hatte man die Sache
so losen konnen, daB die Boxes nach zwei Seiten, nach
vorn und nach hinten sehen, und die gemeinsame und ein-
heitliche Wasserversorgung — nein, das laBt sich so nicht
feststellen, gewifi waren da bestimmte Bedingungen . . . und
die Losung kann man nicht so einfach aus dem Armel
schiitteln, dariiber muB man nachdenken, — Rings um den
Plate lauft eine breitc StraBe, von der klcine Gasscn aus-
gehen. Aufs Geratewohl gcht cr auf cine von dicsen zu.
Eine Kleinstadt . . . Ein- und zweistockige Hauser, ganz
anders als in der Gegend der Redburn Street. Er geht
langsam; die StraBc ist schmutzig, aus offenstehenden
Haustiiren lugen dreckigc, abgewetzte Treppen auf die
Gasse. Die Sonne scheint, es ist sehr warm. Aus dem
Fenster ciner ebenerdigen Wohnung lehnt sich ein junges
Madchen in greller, giftgriiner Blusc; als cr am Fenster
vorbeigeht, lacht sic ihn unverschamt und fell an. Er dreht
sich um, das Madchen beugt sich so weit aus dcm Fenster,
daB sic fast hinausfallt, und lacht noch immer. Soil ich
stehenbleiben? . . . dann geht er langsam weiter. Fein scheint
die Sonne. Wie lang diese Gasse ist. London ist eine groBe,
eine schrecklich groBe Stadt. Schon eine Viertelstunde geht
er an den niedrigen Hausern entlang, das Bild ist immer
dasselbe: kiihle, iibelriechende Hauseingange, schabige
Mauern, kleine Gcschafte, hin und wieder eine leere Bau-
stelle mit einstiirzendem Zaun, hie und da eine Werkstatt,
aus der Eiscnklirren dringt, und weiter die langweiligen
kleinen Hauser. Ein Dorf. Manchmal holpert quietschend
ein iiberladcner Pferdelastwagen an ihm voriiber, andere
Fahrzeuge sieht man kaum. Hort diese Gasse denn nie auf?
noch immer kann man das Ende nicht sehen. Eine Dumm-
heit, weiterzugehen, — was suche ich denn hier? Von dem
langen Marsch wird er hungrig und sicht sich die Hauser
an, ob nicht irgendwo ein Wirtshaus oder ein Lebens-
mittelgeschaft ist. Er geht weiter, — da hinten sicht man
Dacher, vielleicht sind dort hohere Hauser, — er kommt
hin: eine sehr breite StraBe kreuzt die Gasse; die ist schon
lebhafter, stadtischer, auch eine Elektrischc fahrt da. Eine
merkwurdige StraBe : an der einen Seite lauter gleichmaBige
vierstockige Hauser, so weit man sehen kann; an der andcrn
Seite iiberhaupt kein Haus, nur ein endloser brauner
Lattenzaun von doppelter Mcnschenhohc. Das muB wohl
ein groBes Fabrikgelande sein, gegeniiber wahrscheinlich
2}6
die Arbeiterwohnungen, — stimmt, am Zaun unabsehbar
in einzelnen groBen schwarzen Buchstaben die Aufschrift:
Bertram's Deptford Universal Steel Works. Hinter dem
Zaun sieht er hie und da ein Glasdach und dann und wann
ein riesiges Tor, aus dem Schienen auf die StraBe fiihren. —
Er geht an den Hausern entlang, auch im ErdgeschoB sind
Wohnungen, Geschafte kaum, ein vereinzelter Ladenraum
hie und da, eher etwas wie ein groBes Lager; auf die truben
Fensterscheiben einige Worte gemalt: Coffee. Tea. Sugar.
Milk. Flour. Beans. Bread. Meat. Eine riesige Lebens-
mittelverteilungsstelle. Ein Fremder bekommt hier sicher
nichts. Und dann endlich an einer Ecke ein Blechschild:
Dining-Room. Er sucht den Eingang, und plotzlich stockt
ihm der Atem. Rechts neben der Tiir cine griin verblichene
Tafel, in abgewetzten, einmal rot gewesenen Buchstaben
steht darauf : Ungarisches Restaurant. Die Hand zittert ihm
dermaBen auf der Klinke, daB er sie nicht niederdrucken
kann; wohl Minuten vergehen, bis jemand von innen die
Tiire aufmacht, und da steht er in der Kneipe, mit wogender
Brust, mit brummenden Schlafen, und stotternd sagt er auf
Ungarisch: ,,guten Tag." Ein hagerer junger Mensch gafft
ihn von der langlichen Theke aus an, verschwindet wortlos,
und gleich darauf erscheinen hinter einer Glastiir ein alter
Mann mit einem Bart und einer griinen Schiirze, eine
jiingere, bleiche Frau mit eingefallenen Wangen und der
hagcre Junge. Herrgott . . . diese Worte: ,,GriiB Gott! —
Sie sind Ungar?! — wie kommen Sie denn hierher?! —
Hat Sie jemand geschickt?! — Aus Budapest?! — WuBten
Sie, daB wir hier sind?! — und sind Sie wirklich Ungar?! —
und wie kommen Sie her?!*' Das Lokal ist leer, bloB an
einem Tisch sitzt eine zerlumpte Gestalt vor einem Krug
Bier, den Kopf auf dem Tisch zwischen beide Fauste
gepreBt; reglos, als schliefe er. Und die drei hier besturmen
ihn ger6tet und wild im Rausch der Stimmen und im
Wahnsinn der Worte mit Fragen und Fragen und lassen
ihn gar nicht zum Antworten kommen.
237
SpSter sitzen sic in cincm cbcnerdigen Zimmer mit ver-
gittcrtem Fenstcr, das Fcnster geht auf cine groBe leere
Baustelle, das Zimmer ist halbdunkel; und der Fragen-
ansturm laBt langsam nach. Nun kann er erzahlen, daB er
rein zufallig in diese Gegend verschlagen worden, das
ungarische Schild an der Tiir gesehen habe und so herein-
gekommen sei, — ,,siehst du!" knurrt der Alte die Frau an,
,,schon voriges Jahr habe ich dir gesagt, hang das Schild
raus, Unannehmlichkeiten konnen daraus nicht entstehen,
aber Ungarn lockt es vielleicht rein!" Und warum er in
London sei? und wie er in dieses Viertel gekommen sei?
noch weiB er nicht, wer diese Leute sind, was fur Menschen,
und alle Zuriickhaltung und aller Widerstand fallen im
Nu in Fetzen auseinander, und die Worte platzen hervor,
die seit Wochen zuriickgedrangte Stimme, und er spricht
und spricht, verworrcn und stromend, in der erlosenden
Selbstqual der Worte. Spricht davon, warum er nach
London gekommen war, spricht von Paul und von Wien
und vom Gummiknuppel in Budapest, und dazwischen
braust die Erinnerung an die Schrecknisse der vergangenen
Tage, der Revolver, die Strapazen der langen vcrgeblichen
Wege, der mit der schwarzen Brille und der Cattle Market;
in heiBen, wie Lava stromenden Ausbruchen, verworren
und zusammenhanglos ergiefien sich die Worte, in jedem
einzelnen weint sein ganzes Elend, seine Ratlosigkeit und
Ohnmacht — so daB die drei ihn erschrocken ansehen, und
als er nach langen Minuten schweigt, herrscht angstvolle,
leere Stille im Zimmer, und wieder muB er sic unterbrechen,
dicsmal schon leise und etwas beruhigt: ,,und Sie? wie sind
Sic hicrher gekommen?" Und da, als der Reflcktor des
Wortes iiber dem fiirchtbaren fremden Schicksal erlischt,
kehrt ihnen die Sprachc wieder, und der Alte ergeht sich
in raschcn Worten und in der Wonnc, cinem Fremden,
cinem Ungarn! nach so langcr Zeit von sich selbst er-
zahlen zu konnen. — 1905 — hier beginnt die Geschichte.
Pali Csordds, das alteste der Kinder, arbcitct seit zwei
238
Jahrcn in der Ganzschen Fabrik, im Oktober muB er zum
Militar einriicken. Drei harte Soldatenjahre stehen ihm
bevor. Pali Csordas ist Socialist. Am 6. September — es
sind gerade sechzehn Jahre — haben wir ihn zum Iet2tenmal
in Budapest gesehen, in der kleinen Kneipe in der Kobanyaer
StraBe. Keiner hat eine Ahnung, wo er geblieben ist, weder
er, noch Margit, niemand. In der Fachgewerkschaft
weiB man nichts von ihm, auch in der Fabrik nicht. Die
Polizei halt den Fall noch einige Wochen in Schwebe,
man wartet, ob die Donau ihn irgendwo ans Ufer treibe,
dann ist alles still. Er ist verschwunden, SchluB. Die vielen
Plagcn und Sorgen, die Frau ist auch vor ein paar Monaten
gestorben, kaum daB sic den Kleinen auf die Welt gebracht
hat ... ,,also, es war keine Zeit, zu jammern, aber weiB der
Kuckuck, ich habe auch nicht schr gewagt, viel in der
Sache herumzustochern, ein biBchen hatte ich das Gefiihl,
er sei vor dem KommiBrock ausgeriickt." Nach einem Jahr
kommt ein Brief aus London: es geht mir gut, ich arbeite
hier in den Deptforder Stahlwerken, anbei schicke ich
zwolf Pfund, etwa hundertfiinfzig Gulden, verkauft sofort
das Wirtshaus, setzt euch in den Zug; dann eroffnen wir
hier der Fabrik gegeniiber eine Bierhalle, es gibt ziemlich
viele Ungarn hier, das wird ein glanzendes Geschaft. Dann,
Anfang Februar werden es ftinfzehn Jahre, machen sic
dem langen Lattenzaun gegeniiber das Lokal auf: Csordas'
Dining -Room & Public Bar, und auf die Seitentafel
schreiben sie: Ungarisches Restaurant. Das Geschaft
kommt gut in Gang, die Arbeitergenossen, nicht nur die
Ungarn, mogen Pali gut leiden, ihm zuliebe gewohnen sie
sich hin ; die Pennies und die Schillinge haufen sich in der
Arbcitersparkassc. August 1912: aus Margit wird eine
englische Frau, John Cresse, Werkmeister in der Fabrik,
heiratet sie. Mitgift: die Halfte des ungarischen Restaurants.
Urn dieselbe Zeit werden auch die xibrigen Cresse zuliebe
englische Staatsbiirger. Ein Jahr spatcr ist der erste Enkel
da, die kleine Margaret Cresse, — sie ist noch keine drei
239
Wochcn alt, da bekommt sic cinen Darmkatarrh, — das
hat wenigstens der Arzt gesagt, — und dann singt der
Arbcitergesangverein Traucrlieder am kleinen Grab. 1914:
der crste Sturm wind fegt die ungarische Tafel in den
Keller. Es folgen entsetzliche Aufregungen: die neue
Heirnat fuhrt Krieg gegen die alte Heimat. Anderswo leben
ais in London kann man nicht, aber Budapest kann man
auch nicht vergessen. Cresse wird im Februar 1915 ein-
gezogen. Paul, der den Stellungsbefehl einige Monate
spater erhalt, kommt als Kriegsarbeiter mit einer Sanitats-
abteilung an die Front. Nun nimmt das Leben in London
wieder seinen friedlichen Verlauf; klcine, sichere Geld-
summen haufen sich welter, — aber nur in London herrscht
Ruhe, die Welt — jenseits von Deptford — steht in Brand,
und im Dezember 1915 fallt Cresse in Flandern. — Pali
schleppt zwischen Roclincourt und Arras Verwundete und
Leichen aus den Schiitzengraben nach hinten. Marz 1916,
Juli 1916, Oktober 1916: keine Nachricht. Weder gute
noch schlechte. Gegen Weihnachten kommt die amtliche
Mitteilung: Paul Csordas ist zwischen dem ix. und
15. August beim Verwundetentransport bei Arras den
Heldentod gestorben. — Mein Gott ... die Tage gehen und
gehen dahin. Das Wirtshaus bliiht, auf der Sparkasse tragen
nun schon ansehnliche Pfunde Zinsen, ,,inzwischen batten
wir den Krieg gewonnen, — das Leben, — ja, und . . . nun
sind wir hier und sprechen seit 1914 zum erstenmal mit
einem fremden Menschen Ungarisch . . .'*
Wahrend der langen Erzahlung regt sich in Kadars
Kopf irgendwo hinten und ganz leisc ein Gcdankc: ich
bin zu Hause. Er sieht sich den Alten genauer an: ein etwas
einfaltigcs Gesicht mit einem Backenbart, ergrauendes
Haar, groBe, korpulente Gestalt, — wcnn er mir auf der
StraBe begegnete, wiirdc ich nicht annehmen, dafi cr
Ungar sei, — dann betrachtet er die Frau: ein mudes,
weiBes Gesicht unter dem schwarzen Haar, das schon von
vielen weiBcn Faden durchsetzt ist. Ihre Augen sind
240
w&sserig blau. Grofie, verarbeitcte Hande hat sic, einen
langsamen, schlampigcn Gang. Dcr Junge, — fiinfzehn bis
sechzehn Jahre mag er alt sein, — ist genau wie die andern
englischcn Jungens auf der Strafte, Ungarisch kann er kaum
ein paar Worte. Das ware also die Familie. Und . . . soil
ich ihnen jetzt gleich was sagen? oder soil ich morgen
wiederkommen? Ubereilen darf ich die Sache nicht — aber
wenn ich diesen giinstigen Moment voriibergehen lasse . . .
Da fangt der Alte an zu sprechen, bittet ihn zu bleiben:
gleich wird etwas zu essen gebracht, es ist doch Mittagszeit,
sagt er. Und da wirft Kadar ihnen plotzlich entschlossen
die Frage hin: ,,sehen Sic mal . . . jetzt wissen Sie, wer ich
bin, was ich bin, konnte ich nicht hierbleiben bei Ihnen?
konnten Sie mir nicht irgendeine Arbeit geben, von der ich
leben kann, bis ich etwas andcres finde oder nach Hause
gelangen kann?" — Seine Stimme ist leise, ruhig und
sicher, — Csordas ist ja schlieBlich nur ein alter Gastwirt,
und die Deptforder Kneipe ist nicht das Langham Hotel.
Am nachsten Morgen packt er in der Redburn Street
seine Sachen zusammen und erscheint schon vor Tisch mit
scinen Koffern bei der Familie Csordas. Der Alte hatte nicht
lange gezogert. Vielleicht waren es die Erinnerungen, die
der unerwartet aufgetauchte Landsmann hcrauf beschworen
hatte, vielleicht war es, weil sein gefallencr Sohn, als er nach
London verschwand, ungefahr in dem Alter war wie dieser
Junge hier, vielleicht auch die Aussicht auf einen billigen
Dienstboten: der Alte blickte auf Kadars Angebot ein
Weilchen vor sich hin, dann rief cr seine Tochter nebenan
in die Schwemme, — eine Minute der Spannung und der
Hoffnung, die nicht enden zu wollcn schien, — dann treten
sie wieder ein, und der Alte sagt: ,,Sie konnen bleiben. Sie
werden aushelfen in der Wirtsstubc und im Haushalt, vor-
iibergehend natiirlich, wie lange wir Sie behalten konnen,
wissen wir selbst noch nicht, — in der einen Kammer
konnen Sie wohnen und kriegen voile Vcrpflegung, Gchalt
natiirlich nicht, aber wenn Sie beim Bedienen helfcn, sind
15 Ktinuemli. Butlapest 241
Sie am Trinkgeld beteiligt, das 1st selbstverstandlich keine
groBe Sache, aber doch itnmerhin etwas Geld, und wenn
Sie eine Arbeit verrichten konnen, die wir sonst einem
andern zu bezahlen batten, sagen wir Fensterputzen "
Am nachsten Tage ist er also bei CsordaYs. Neben der
Schwemme ist der groBe Speisesaai mit ungefahr dreifiig
Tischen; hinter diesen beiden Raumen liegen die Kiiche
und vier Zimmer, deren Fenster auf die leeren Bausteilen
und deren Tiiren auf einen engen, dunkeln, gemeinsamen
Flur gehen. Im letzten Zimmer wird er wohnen; in der
Ecke neben dem Fenster steht sein Bett. Und das andere
Bett? darin schlaft Mary, die Mrs. Cresse in der Kiiche
hilft, — ,,ein tiichtiges, braves Madchen, sie arbeitet schon
seit vier Jahren bei uns; und wenn sie etwas gegen den
neuen Zimmergefahrten einzuwenden hat, dann wird die
Stube halt durch einen alten Vorhang geteilt, Sie miissen
sich eben mit dem Quartier begniigen, mehr Platz haben
wir nicht; irgendwie werden Sie sich schon zu zweit
vertragen."
Der Nachmittag vergeht mit Umschauhalten; er sitzt
in der Schenke, tritt auf die StraBe, geht bin und her,
freundet sich an mit dem Alten, dem Jungen, der StraBe
und den Hausern; am Abend, im sauber iiberzogenen
blaugestreiften Bett iiberkommt ihn ein so wohliges, be-
ruhigendes Gefuhl, als lagc dieses Zimmer im ersten Stock
des Savoy Hotel und als decke ein schweres Bankkonto
sein feines Leben. Am Morgen beginnt dann die neue
Tatigkeit : friih um fiinf steht er in der Schenke, eine griinc
Schiirze um und einen Besen in der Hand, — und nach
Mitternacht fallt er so hundemude ins Bett, daB er Mary
iibcrhaupt nicht bemerkt, die in der lauen Herbstnacht die
Decke im Traum von sich wirft und flach auf dem Riicken
daliegt, mit hinaufgerutschtem Hemd, bis an die Taille
nackt und mit halboffenem Mund keuchend schlaft. Er
bemerkt nicht, daB sie den alten braunen Vorhang in der
Mitte der Stube nicht zusammengczogcn hat. Als cr beim
242
Morgcngrauen erwacht, 1st Mary schon in der Kiiche. Er
zieht die Rolladen hoch und starrt auf den leeren Bauplatz.
Es regnet, der Himmel ist grau, nur weit hinten bei den
hohen Fabrikschornsteinen sind zwei helle Streifen zwischen
den Wolken. Pal Csordas, der heldenhafte Kriegsarbeiter
der englischen Armee — mit Englandern hat Kadar nichts
zu tun gehabt. An der italienischen Front waren wohl auch
englische und franzosische Armeegruppen, aber nie un-
mittelbar ihm gegeniiber. Als sie von Albanien herauf-
transportiert wurden, gingen sie zuerst fast in der Richtung,
wo Englander lagen. Der war aber an der westlichen Front,
der Pali Csordas. Vielieicht hat er fruher in diesem Zimmer,
in diesem Bett geschlafen. Der Schrank ist offen, seine
Anziige hangen schon in der Reihe, hinter den Frauen-
kleidern; der dunkelblaue Anzug und der Smoking und der
neue graue Anzug. Antal Kadar, der tapfere Fahnrich der
osterreich-ungarischen Armee . . . ich habe Arbeit, denkt
er, du lieber Gott, ich habe Arbeit, fur die ich zu essen
bekomme und wohnen kann und meine Kleider in den
Schrank hangen und mich waschen . . . Ich habe Arbeit,
denkt er, und groBes, reines, warmes Vertrauen drangt sich
ihm in die Brust, Herrgott, wie wohl ist mir, — dann dreht
er den Wasserhahn auf und halt den Kopf unter den dicken,
kalten Strahl. — Fegen, scheuern, Fenster putzen, mit dem
Handkarren Lebensmittel und Pakete holen, Tische und
Stiihle abwischen, — nun, das geht an. Das Schlimmste isr,
wenn er die Teller voller Speisenreste, die einem den
Appetit vertreiben, im heiBdampfenden, fettigen, stinkigen
Wasser abwaschen muB. Da kribbelt cs einem in der Nase
und kollert es im Magen, und nach dem ersten Abwaschen
rutscht kein Bissen die Kehle hinunter. Ich werde mich
schon daran gcwohnen, und er preBt die Zahne zusammen.
Besser als an der StraBenecke krepieren. Und dann
gewohnt er sich daran. Gewohnt sich an den alten Csordas
mit seinen guten und schlechten Launen, gewohnt sich
an die stille Margit, die ihr verpfuschtes Leben hinter
16* 243
hysterischem Wirtschaftcn verbirgt, gewohnt sich an den
etwas tolpelhaften Gyuri, an die beiden brummigen Kellner
in der Wirtsstube, an die proletarischen Gaste, an den Besen,
die grime Schiirze und die Abwaschbriihe; gewohnt sich
an die ganze Umgebung mit den gleichmaBigen Arbeiter-
hausern und dem endlosen braunen Lattenzaun, gewohnt
sich daran, daB von den Trinkgeld-Pennies in ein paar
Tagen manchmal sogar ein Schilling zusammenkommt,
gewohnt sich daran, auch an den sparlichen Ruhenach-
mittagen in der Schwemme zu sitzen und sich hie und da,
wenn er iiberhaupt mit jemandem redet, privat mit einem
schabigen Cast in ein Gesprach einzulassen, — und dann
eines Nachts, als er nach getaner Arbeit in die Stube tritt,
bemerkt er Mary in schwiiler Halbnacktheit mit dem
heraufgerutschten Hemd. Mary, — ein klobiges englischcs
Madchen, nicht jung und auch nicht gerade alt; bisher hatte
er sic unter Tags kaum angesehen, kaum ein paar Wortc
mit ihr gewechselt. Jetzt, — als er ins Zimmer trat, drehte
er seiner Gewohnheit gemafi ruhig das Licht an, Mary
schlief weiter, ohne sich zu mucksen, — da liegt sie im
Bett, flach auf dem Riicken, und die diinne Decke, die sic
unter beide Ellenbogen prefit, zeigt deutlich ihre Figur,
und unter der hcruntergerutschten Hemdachsel sieht man
ihre runde, pralle, weiBe Brust — und in dem Moment
durchzuckt es ihn, daB Mary den braunen Vorhang vor
dem Bett noch nie zusammengezogen hat, und es fallt ihm
ein, daB cr seit Zia, seit fast zwci Monaten, keine Frau
angeriihrt hat. Und da fahrt ihm sprudelnde Begierde durch
alle Glieder. Aber sofort wird ihm alles braun vor den
Augen, braun wie Yomayas Hautfarbe, — und ein gruse-
liger eisiger Hauch macht die eben erstandenc Rcgung
wieder ersterben. Er dreht das Licht aus, schleicht auf
Zehenspitzen an sein Bett und bohrt den Kopf ins Kissen, —
in der groBen, kiihlen Stille hort man schon die ersten
fruhen Milchautos iiber den vorderen Trakt poltcrn, als er
mit schwerem, rochelndem Atera cinschlaft.
Der tiickische Herbst stiirzt sich nicuchlings auf die
Stidt. Eines Nachts, nachdem die Schenke geschlossen
war, stellte er sich in die Tiir und starrte unter dem lau«n
Himmel den wild brennenden Sternen in die Augen, —
am folgenden Morgen goB es bereits in Stromen. Dann
ricselte oder spriihte tagelang ununterbrochen der Regen
und horte nicht auf. Plotzlich, ohne Ubergang ist es kalt
geworden; nach wenigen Tagen wird in Schwemme und
Gaststube der Dauerbrenner eingeheizt. Kadar will die
Tage nicht zahlen, nur aufs Geratewohl fiihlt er, daB er
schon seit Wochen hier und so lebt ; und Csordas* s benehmen
sich noch immer anstandig, es gibt keinerlei Scherereien mit
ihnen. Er arbeitet und bekommt dafiir, was ihm ver-
sprochen worden war, — und die paar Groschen, die er
sonst noch braucht, ergeben sich aus dem Trinkgeld. —
Die ersten Nachte nach der ihm bis dahin unbekannten
korperlichen Arbeit gehorten dem erschopften, schwarzen
Schlaf; dann gingen die zehnerlei Bewegungen und
Kriimmungen der sinnlosen, schmierigen, von Demutigung
vcrgifteten Hausarbeit ihm in Beine, Hiiften und Hande
iiber: und da begann das nachtliche Drama von Halbschlaf
und unbezwingbarem Wachsein. Anfanglich wiihlen nur
cinzelne, zusammenhanglose Bilder und Gedanken mit
crbebendcr Regung im Halbschlaf oder in der Halb-
schlaflosigkeit durch seinen benommenen Kopf, — sic
kommen und verschwinden; ein Fliigel mit geoffnetcrn
Deckel, der in goldenen Streifen das Sonnenlicht zuriick-
wirft; ein groBes, gelbgebundenes Buch mit schwarzen
Buchstaben: August Strindberg, aber was darunter stand,
konnte er schon nicht mehr sehen, nur verworrene, sinnlose
Buchstaben spiirte er; ein groBes Fenster, darunter ein
langer Zeichentisch mit einer Menge Kopfe, die sich iiber
ihn beugen; es erscheint ein sausender Bach, an seinem
Ufer ein Haufen entrindeter Baumstamme; dann sieht er
cinen Zug mit zahllosen Wagen, dann eine wimmclnde
Bahnhofshalle. Und als er sich in einen Traum hineinqualt,
da zerfallen die vom Dunst halbnacktcr, ruhcndcr Korper
faul ricchcndcn Wande dcs kleinen Zimmers, die Dcckc
tut sich ins Uncndlichc auf und das Kaleidoskop angstvoller,
unbcgrcif lichcr Traume wirbelt ihm in gcbrochcncr Bunt-
hcit Biicher, Schulbanke, unbekannte Landschaften, cine
in brauncm Gesicht weiB glanzende Zahnreihe, schmale
Damcnschuhe mit flachcn Absatzen und den langen
gclblich-weiBen Spitzbart des Zensors bei seinem erstcn
Examen vor die muden Augen. Oft befindet er sich in
Pauls Zimmer in Wien, und immer sitzt er in dcmselben
Sesscl, auch Rosette und Wirth sind da, und Paul steht vor
dem groBen Biicherregal und spricht mit ausgestreckter
Hand, aber er versteht nie, was er sagt. Und dann, in einem
schweren Traum gegen Morgen sieht er einmal ein Fenster,
davor einen Kopf und eine Faust, er weiB, die bis an die
Lippe hangende, machtige Nase, die aufgerissenen Augen
und die Ohren, groB wic Segel, sind ihm bekannt; er hort
Tone, kurz und scharf zwischen den leuchtend weiBcn
Zahnen: Ritus, Spekulation, Baudelaire, Ford ... das ist
Feuerstein! Feuerstein! Stromender Regen schlagt an das
vergitterte Fenster und stopft dem Halluzinierenden die
schlafenden Ohren mit trommelnden, chromatischen
Passagen, und unter den Tonen sieht er Tilly am Fliigel mit
der flammenden Haarkrone iiber dem milchweiBen Gesicht.
Einen Traum hat er: groBes Gewimmel ist in der Aula dcr
Wiener Hochschule, Studenten mit Miitzen drangen sich, und
undeutliche Stimmen tonen von alien Seiten, und er selbst
steht hoch oben auf einer Treppe und hat einen machtigcn
Besen in der Hand, und die Treppe herauf kommt eine
groBe, schlanke Frau mit bekanntem Gesicht und flattern-
dem blondem Haar auf ihn zu, mit ihr zusammen Onkel
Rudi, sie bleiben vor ihm stehen, und die Frau zeigt auf
ihn: wer ist das? und Onkel Rudi antwortet erstaunt:
kennen Sie ihn nicht? das ist Antal Kadir, mein NcfFe,
diplomicrtcr Hausdiencr. — Nach solchen Traumen griibt
er die Nagel in die Hand, um nicht wciter zu schlafen, —
246
und dann kommcn die bittcrcn wachcn Stunden der
Rcchenschaft. Mary im andern Bett atmet in ruhigem,
gesundem Schlaf, und da erhebt sich plotzlich in ihm wie
ein Hcnkcrsknecht die Frage: was ist aus dir geworden?
was aus dem groBen Wollcn? aus den groBen Entschliissen?
aus Musik und Biichern und der Erkenntnis neuer Dinge?
was ist daraus geworden, daB du im Kriege nicht gefailen
bist und daB dich die Rumanen an der Demarkarionslinie
nicht erschossen haben und daB du wahrend des arbeits-
losen Herumlungerns nicbt Hungers gcstorben bist und
daB dicb der Scharlach nicht dahingerafTt hat und daB
cine giftige Umarmung nicht dein Leben in den Tod
verdreckt hat? was ist daraus geworden, daB dich immer
irgend ctwas geschiitzt und geleitet, dir den Weg ge-
wiesen und dich aufgerichtet hat, wenn du schon zu-
sammenbrachst? — Und dann fallt das Schwert der
Antwort: Hausknecht in einer Deptforder Kneipe. Seines
Lebens Korn wird still zwischen den furchtbaren Miihl-
steinen der Alltage und Allnachte zermalmt, — manch-
mal aber stocken die Steine knirschend: irgendwo ganz
unten ist ein Stiickchen Stahl, winzig und nicht zu zer-
kleincrn, — ich weiB, daB ich wieder hier herauskommen
werde, aus diesem
Aus diesem? . . . Woraus? Lebst du denn nicht fein?
schlagst du dir nicht jeden Tag den Wanst voll? und hast
du nicht ein Lager, um dich auszustrecken, wenn du miidc
bist? was willst du mehr? — Der Alte ist ein braver, gut-
gcsinnter Arbeitgeber, der nur dafur lebt, jeden Tag ein
paar Groschen zu den iibrigen legen zu konnen; wenn cr
ihn zur Arbeit antreibt, so tut er es mit guten Worten, nie-
mals laBt er ihn fiihlen, was er heute gewiB schon weiB:
daB er ihn aus dem Rinnstein aufgelesen hat. Auch die Frau
hat ihn gern, dieses ruhige, narrische Geschopf, manchmal
schlieBt sic sich stundenlang in ihr Zimmer ein, einmal war
cr bloB in diesem Zimmer und nur fur einen Augcnblick:
an der Wand dem Bett gegeniiber hangen zwei lebensgroBe
Fotografien, reich mit schwarzem Flor umrahmt, sichcr
vcrgroBerte Bilder von Pali Csordas und John Crcssc. Und
der klcinc Dummkopf Gyuri steckt ihm Zigaretten zu und
nimmt ihn manchmal mit zum FuBballmatch. Geringfiigigc
Rcibcrcicn und Unannchmlichkeiten gehcn an ihm voriiber,
als wolltcn sie ihm einen Wink geben: ein gliickliches Los
hat dich hergefiihrt, wisse das zu schatzen, — ein hinaus-
gejagter Kellner zeigt sie bei der Behorde an, weil sie einen
Auslander angestellt haben: die Frau nimmt ihn mit in die
Amtsstube und sagt, er sei ihr Neffe und bekame auch gar
keinen Lohn, und schon ist die Sache erledigt. Dennoch
kann er nicht widerstehen und macht dem Alten gegeniiber
einmal cine Anspielung, ob er ihm nicht soviel Geld leihcn
wxirde, daB er nach Hause fahren konne. ,,Fiihlst du dich
denn bier nicht wohl?" fragt Csordas ein wenig tadelnd,
,,und auBerdem konntest du wissen, daB ich mein Geld nicht
dazu spare, daB — ", aber sie sind deswegen einander nicht
bdse. — Und dann schreckt er in einer Winternacht aus
einem schwiilen Traum auf und sieht im Dunkeln, daB Mary
im andern Bett sitzt. Er fliistert ihr zu : ,,Mary, schlafst du
nicht?" — ,,Nein", antwortct sie, ,,du auch nicht?" Einige
Minuten herrscht Stille, in seiner Brust tobt es wie rasend,
vor den Augen flammt ihm alles in roten Wogen, und seine
Nasc saugt in begehrlichem Hunger den Nachtgcruch dcs
schwarzen Zimmers ein, — und da steigt er vom Bctt und
geht auf zittcrnden FiiBen auf das andere Bett zu . . .
Nun, Antal Kidar, was willst du noch mehr auBer der
griinen Schurze, dem Besenstiel, dem rcichlichen Brot,
dem Freibier, dem Dampfbad am Sonntagmorgen, der
elterlichen Giite der Familie Csordis und der demuti-
gen, den Herrn in dir ahncnden Umarmung der Magd
MaryPl
'3
FAST cin Jahr ist cs schon, daB er zu Csordas's gekommen
1st. Er kann schon ganz gut Englisch. Seine Hande sind
rauh und rot. In der Gegend kennt man ihn bereits. Er
freundet sich mit den Arbeitern aus der Stahlfabrik an.
Ganz gcnau weiB er schon, welche Mannschaft in der Pro-
fessionistcn-Liga fiihrt. Und die Tage voll Hausknechts-
arbcit ziehen Paul, Biicher, Hochschule, Architektur,
Karricre hintcr einen didtfen, grauen Vorhang; und die
Nachte mit Mary verschiitten die Stimmen der Musik, die
Erinnerung an Tilly. Leben und Erinnerungen : alles wird
kleiner und triibe; an nichts braucht cr zuriickzudenken, —
er hat weder Grund noch Gelegenhcit dazu, — und dann,
selbst wenn er wollte, konnte er nicht mehr.
Eines Morgens verirrt sich wieder ein Ungar in die
Kncipe. Kadar stcht in der oficnen Tiir, die grime Schiirzc
um, cr schaut auf die StraBe. Auf dem FuBsteig kommt cin
Mann mit cincm griinen Hut; als er vor dem Eingang an-
gelangt ist, macht er plotzlich halt, bleibt einen Augenblick
stehen, dann streckt er die Hand nach dem Schild aus und
sagt auf Ungarisch: ,,ach, nein, das hab ich auch nicht
gewuBt, daB es in London ein ungarisches Restaurant
gibt!" — und erwartungsvoll blickt er Kadar an. ,Ja, ja,
das gibts", antwortet er und reicht ihm die Hand, ,,was
suchcn Sic denn in dieser Gegend?" Nur Margit ist ?u
Hause, zu dreien sitzen sie an cinem Tisch, und der An-
kommling, — Pista Toth, — erzihlt cifrig, vom Bierkrug
und der ungarischen Sprache angeregt. Pista T6th, —
so nennt er seinen Namen, — ist Privatdiencr bei Herrn
Legationsrat v. Szervinszky, hier an der Gesandtschaft, in
diesem bodenlos groBen London. Und hier in diese Gegend
war er gekommen, well der Herr Rat ihn zu scincm
friihcren cnglischcn Diener geschickt hat, nach einem
Paar Stiefel fragen, die verschwunden waren . . . es sei doch
besser, einer solchen Sache personlich nachzugehen. Aber
249
natiirlich konne er Englisch . . . nicht gcradc bcsondcrs
gut, afocr doch immerhin gcnug, daB man ihn nicht vcr-
kaufen konne, — dcnn bcvor cr hicrher gckommen sci zu
Hcrrn Rat v. Szervinszky, war er schon voile scchs Jahrc
Dicncr bci Herrn Barnes, dem graflichen cnglischcn
Trainer, in Alag gewcscn. Nun also, der gewissc fruhcre
Diener wohnt in dieser Gegend, in Deptford in einer
Griffin Street, so war er hergekommen. — Ungarische
Gesandtschaft, — vor Kddars Augen leuchtet ein Monokel
und ein scharfer Scheitcl auf hcllblondem Kopf auf, und er
hort cine Stimme: nein, das ist doch nicht Ihr Ernst . . .
die Gesandtschaft ist wirklich nicht in der Lage ... das
Bier wird ihm sauer im Mundc, aber er hort Pista Toth
wciter zu, der redselig ist und sich in der lauen, nach Bier
riechenden Schenke wohlfiihlt. Lang und breit erzahlt er
von seinem Herrn, — ein feiner Herr ist er, reitet blendend,
und die schonen englischen Damen haben ihn sehr gern, —
dann spricht er von sich, wie er eben auf Empfehlung des
Grafen nach London gekommen sei zum Herrn Rat, und
kaum sei er hier gelandet, ,,da hat mich ein Teufelswind
beinahe nach Afrika geblasen", sagt er, ,,das war eine merk-
wiirdige Geschichte. Denken Sic sich bloB, mein Herr
verkehrte hier bei einer Architektenfamilie, stcinreichen
Leuten, dort traf er eine Witwe, deren Mann, als er noch
lebte, der Kompagnon jenes Architekten war, — na, und,
Sie mogen cs glauben oder nicht, die Witwe war eine
Ungarin, stammte aus Kassa. Pista, hat der Herr Rat zu
mir gesagt, das ist eine stramme Frau, jetzt fiihrt sie das
Geschaft selbst, die muBt du dir ansehen! der Herr Rat
steht namlich sehr gut mit mir, ein netter, feiner Herr ist
er, — also, das hat er eines Morgens zu mir gesagt, als cr
mich mit einem groBen Blumenstraufi zu der Dame schickte.
Sie wohnt in einem feinen Hotel, weifi der Kuckuck, wie es
heiBt, in der StraBc, wo ihre Kompagnons das Biiro haben,
denn sie sind wohl zu vieren oder fiinfen; Alexander oder
so heiBen sie, — also, ich gehc mit meinen Blumen los in der
250
griinen Jagerlivree, und da ich nun wuBte, daB die Dame
Ungarin ist, griiBe ich sic, als man mich zu ihr reinlaBt,
kuB die Hand, gnadige Frau, guten Morgen wiinsch ich,
sag ich zu ihr auf Ungarisch. Natiirlich hat sie sich dariiber
gefreut Na, und da ergab sich ein Wort aus dem andern,
schlieBlich sagte ich zu ihr, das ware hier eine Stelle fur
mich, gnadige Frau, ich habs zwar beim Herrn Rat
Szervinszky sehr gut, aber diese Herren von der Gesandt-
schaft werden einmal hierhin versetzt, cinmal dorthin
geschickt, und so ein unruhiges Leben ist nichts fur mich,
zuletzt war ich auch sechs Jahre auf einer Stelle, in Alag.
Da fangt die Dame an zu lachen und sagt, aber ich Jebe ja
nicht in London, sondern in Kapland oder weiB der
Teufel wo, in Afrika, aber, hat sie gesagt, wenn ich wolle,
nehme sie mich mit, es sei sowieso nicht angenehm, unter
den schrecklich vielen Fremden so allein zu sein, denn Sic
wissen ja, ihr Mann ist tot. Oh, kiiB die Hand, habe ich ihr
geantwortet, das ist mir zu weit, von da kommt man ja nie
mehr zuriick . . ." Und cr redet weiter, nun wieder vom
Herrn Rat und dem feinen Leben in London und der Menge
schoner Londoner Damen, die seinen Herrn so gern haben,
und wie er so redet, da regt sich in Kadar leise und ganz
ticf innen das Stahlkornchen, und bei Pista Toths Ge-
murmel blcibcn die Miihlsteine auf einmal laut knirschend
stchen, — ,,wie heiBt die Dame eigentlich?" fragt er ganz
obenhin und hat plotzlich das bestimmte Gcfiihl, jet^r
wiirde irgend etwas beginnen ,,Eine Frau Meier",
wirft Pista Toth hin, und spricht weiter. Jetzt kann er nicht
mehr aufpassen, — Worte wiihlen ihm durch den Kopf,
keins von ihnen versteht er, keins weiB er genau; und als
nun jemand in die Wirtsstube tritt, springt er an den
Schanktisch und setzt sich dann nicht wieder zu den beiden
zuruck, sondern geht in die Stube des Alten, nimmt aus
dem Wandschrank das Telefonbuch, sucht das Branchen-
verzeichnis und blattert mit zitternder Hand bis dahin, wo
stcht: Builders. Die erste Adrcsse, die er am Anfang der
251
Spaltc erblickt, 1st: Abley, Alexis, Hutton, Myers & Scott,
42 Piccadilly. Alexander . . . das wird Alexis sein, — Myers . . .
Pista Toth hattc etwas von ciner Frau Meier gesagt. Das
Gitter am Fenster fangt an zu tanzen, die Decke klafFt
verschoben iibcr seinem Kopf, der Wandschrank will
das Telcfonbuch seiner unsichercn Hand nicht wieder ab-
nehmen, durch die offcne Tiir brummt die Stimme Toths
in leisem und monotonem Durcheinander, und in diesem
wiistcn Ringclspiel ist nur ein Ton scharf, nur ein Licht
hell, — der singt und das strahlt in seinem Inncrn: Piccadilly
14
SlND Sic diplomierter Bauingenieur?" fragt Mrs. Myers,
geborene Ilona Szabo aus Kassa. ,,Nein", antwortet er
leichthin, ,,ich habc bisher nur zwei Examina abgelegt . . .
aber ich habe Ideen." Mrs. Myers sitzt hinter einem
machtigcn, breiten Schreibtisch, Kadar ihr gegeniiber auf
einem niedrigen Sessel. Noch zwei Lehnstuhlc, an der
hintern Wand ein niedriger Glasschrank: das ist das ganzc
Mobiliar des kleinen Zimmers.
Wie war er hierher gekommen? Am Tage nachdcm
Pista Toth sich ins Wirtshaus verirrt hatte, bat er den Alten
um Urkub fur einen Vormittag; er rannte ins Dampfbad,
zog seinen guten grauen Anzug an und stand um elf Uhr
auf dem Piccadilly vor einem dreistockigen, vornehmen,
palastattigen Haus. Die durch wachte Nacht, das heifie
Wasscr und der Dampf des morgendlichen Bades rasten in
iiberhetzter Lebhaftigkcit durch seinen Korper. Am Haus-
tor hing eine schwarze Marmortafel, kaum grdficr als eine
Postkarte, und darauf stand: Ablcy, Alexis, Button,
Myers & Scott, Building Co. Ltd. Er klingelte im ersten
Stock an einer niedrigen weifien Tiir, an der kleine schwarze
Buchstaben anzeigten: Office-Bureau. Ein Diener in
dunkclblauem Dienstanzug offnetc. ,,Ich mochte Mrs. Myers
sprechen." — ,,Geschaftlich?" — ,,Nein, privat." —
,,Dann suchen Sic Mrs. Myers bitte nachmittags nach fiinf
Uhr im Berkeley Hotel auf." — Er fiihlt, wie ihm jeder
Tropfen Blut aus den Wangen weicht, als er gegen halb
sechs den Hotelportier fragt: ,,Mrs. Myers?" — ,,Jawohl,
die Dame 1st zu Hause", antwortet der Portier und sagt die
Zimmernummer. — Und dann steht er in einer Art Diele
vor einer Frau in dunklem Kleid, wohl einer Zofe. ,,Mrs.
Myers?" sagt sie, ,,ja, sie ist zu Hause, wen darf ich
melden?" — ,,Antal Kadar, sagen Sie bitte der gnadigen
Frau, ich sei Ungar und bate sie um cine kurze Unter-
redung." — Bald darauf offnet sich die kleine Glastiir.
,,Sie sind Ungar? und suchen mich?" fragt eine Jung aus-
sehende Dame im Trauerkleid, die in der Tiire steht.
Kadars groBe, breitschultrige Gestalt, sein guter Anzug
und seine guten Schuhe, sein glatt zuruckgekammtes,
leuchtend blondes Haar, sein reines Gesicht und seine
klarblickenden Augen konnten der fremden Dame den
Bettler nicht verraten — und tatsachlich: Kadar war in
diesem Augenblick alles andere als ein Bettler. Seine Ncrven
spannten sich plotzlich, seine Phantasie flog laut pochend,
und in seiner auBersten Entschlossenheit war er der
Dichter eines herrlichen Traumes, der Lenker einer ent-
scheidenden Schlacht, und wenn es sein muBte, der Rauber,
jeder Gemeinheit fahig. In leichtem, unbefangenem Ton
nennt er seinen Namen, — kraftig hebt er die Hand der
Dame an die Lippen und kuBt sie, — leicht plaudernd
bittet cr sie um eine kurze Audienz. Zwischendurch
beobachtet er erstaunt und fast verbliifTt seine eigene
Stimme, seine cigenen Bewegungen, — Theater, Herrgott,
ich spiele gut . . . oder bin ich vielleicht lacherlich und
mcrkc cs nicht?! — Er spricht mit reiner Aussprache,
fchlerlos, seine Worte sind gewahlt und dennoch einfach;
er hat nichts vergessen und verlernt, und Mrs. Myers steht
bereits im ersten Augenblick unter dem sentimentalen
Zauber der Muttcrsprachc. Sic schrciten durch zwei
pompos eingerichtete Zimmer, dann, in dem kleinen
Arbeitszimmer, setzt sich Mrs. Myers und bietct ihm gegen-
viber Platz an. Kadar betrachtet sie : kaum bis an die Schulter
mag sie ihm reichen, aber sie hat eine frische, jugendliche
Figur. Die energischen Gesichtsziige losen sich in den
Schattierungen der leicht kreolenhaften Hautfarbe auf.
Kurzes, kohlschwarzes Haar, vorn tief in die Stirn gekammt.
Auch die Augen sind kohlschwarz. Er blickt auf ihre
Hand, wie sie eine Zigarette ansteckt: die Hand 1st schmal
mit langen Fingern und rosa glanzenden Nageln. Und
ich . . . bin einen Kopf groBer, habe blondes Haar und
blaue Augen und . . . eine unbedingt schone Frau. Dieses
stille Mustern und unwillkurhche Abtaxieren wird von ihr
unterbrochen, als sie nach der Zigarettenschachtel zeigt:
,,bitte . . . also, Sie sind Ungar." — ,Ja, gnadige Frau, ich
bin Ungar . . /' und weiter beobachtet er wie sein eigcner
Zuschauer mit GenuB seine sichere, kiihl und klug iiber-
legene, ruhige Stimme: ,,Ungar . . . das heiBt, wie man es
nimmt, in gewissem Sinne Kosmopolit. Jedenfalls stamme
ich aus Siebcnbiirgen von einer sachsischen Familie ab,
bisher habe ich auBer in Budapest hauptsachlich in Wicn
und ... in Deutschland gelebt, ein wenig auch in Frankreich
und in der Schweiz, voriibergehend, nur cin paar Monate . . .
ja, die Studentenjahrc sind nur dann schon, wenn sie Ab-
wechslung bringen. Aber leider ist Mitteleuropa, vielleicht
sogar der ganze Kontinent irgendwie doch nicht das,
was ..." — er blast den Rauch hoch in die Luft und sieht
ihm mit gerunzelter Stirn nach, — ,/was den Ehrgeiz und
die Phantasie eines jungen Mannes von heute befriedigen
k6nnte. Der Krieg ist nicht in der Weise Hquidiert
worden ..." — was fiir eine fremde Stimme! — ,,der nach
dem Kriegc zusammcngebrochene und vielleicht immer
weiter sinkende Kontinent ..." — dicse Stimme . . . das
ist ja Feuersteins Stimme! ... — ,,der Kontinent ist fur
Dczennien materiel! und geistig total verwirrt, und wenn
254
ein junger Mann seinen Plate unter der Sonne finden
so gibt es keinen andern Wcg fur ihn als Amerika oder . . ."
und wie zufallig sicht er jetzt der Frau ins Gesicht, — ,,oder
die Kolonien einer Weltmacht." — ,,Meinen Sie?" sagt
Mrs. Myers, ,,und was haben Sie denn fiir Plane?" Fertige
Plane habe er vorlaufig noch nicht, vorlaufig lebe er hier
in London, voriibergehend, vielleicht wiirde er bei einem
gutrenommierten Architekten als Volontar unterzukommen
suchen. ,,So? Sind Sie fertiger Bauingenieur?" — ,,Nein,
bisher habe ich nur zwei Examina abgelegt, aber ich habe
Ideen." Da fliegr eine etwas triibe Wolke iiber ihr Gesicht,
nur fiir einen Augenblick, aber er bemerkt es und wartet
geradezu auf die Frage: ,,Sagen Sie mal, wie haben Sic
eigentlich meine — wie sind Sie eigentlich zu mir ge-
kommen?" — ,,Bei der — der Gesandtschaft . . ." entfahrt
ihm das Wort, und schon lauft es ihm kalt iiber den Riicken
wegen dieser Unbedachtsamkeit, ,,das beiBt, ein Freund, der
bei der Gesandtschaft verkehrt . . . und so, da Sie doch Ungarin
sind" — ,,Ah", sagt Mrs. Myers, erhebt sich, geht an den
Rauchtisch, eine neue Zigarette brennt in ihrem Mund,
dann stellt sie sich etwas unvermittelt und mit eckiger Be-
wegung vor ihn hin und blickt ihm ins Gesicht: ,,Sehen
Sie mal. Ich weiB nicht, wer Sie sind, aber auf zwei Fragen
mochte ich aufrichtige Antwort haben, verstehen Sie? fair
play! WuBten Sie, als Sie herkamen, daB ich durch meinen
verstorbenen Mann an einem groCen Bauunternehmen be-
teiligt bin? Ja?" — ,,Ja", antwortet er und fiihlt, wie die
zuriickgedrangte Erregung ihm den Brustkasten zu spren-
gen droht, ,,und wenn ich cs nicht gewuBt hatte, in dem
Augenblick, als ich das Firmenschild Ihres Biiros sah — tl
jja", fahrt Mrs. Myers fort, ,,und jetzt sind Sie hier, damit
ich Ihnen eine Anstellung bei unserer Firma verschaffe?
ja?" — Und nun . . . nun hinstiirzen, sich vor diese bciden
schmalen schwarzen Schuhe wcrfen und in unerhdrter
Qual hicr, vielleicht an der richtigen Stelle, alles ausweinen,
was bisher gewesen ist, das fiirchterliche Leben, die
fiirchtcrlichcn Menschen, die fiirchtcrlichcn Schicksale —
und flchen, mit der Erniedrigung eines geborcncn Settlers
oder mit der Aufrichtigkcit eines zu besserm Los Bestimmten
flehcn und nicht eher aufstehcn, als bis er eine Anstellung
als Zeichner mit vier Pfund Gchalt in der Woche — o nein.
Hier gibt es keinen Mittelwcg, kcine vier Pfund pro Woche
und keine Anstellung als Zeichner, — hier gibt es entweder
die ganze Welt oder ein paar lumpige Schilling, Vargas
lumpige Schillinge. Und dann, alle Nervenfasern bis zum
auBersten angespannt und mit einer letzten Kraftanstren-
gung hinter der faltenlosen Stirn und den frcundlich, ein
wenig ubcrlegen lachelnden blauen Augen sagt er: ,,Mein
Gott . . . cine Stellung in einem Londoner Hiiro? Sic sind
sehr liebenswiirdig, gnadige Frau, und verpflichten mich
zu groBem Dank, abcr, nehmen Sie es mir nicht iibcl,
dariiber bin ich schon hinaus." Seine Hand greift unauf-
gefordert nach der Zigarettenschachtel, macht dann in der
Luft halt, und langsam, ohne Zittern senkt sie sich auf die
Tischkante. Seine Augen suchen mit klarem, blauem
Strahlen das schwarze Augenpaar. ,,Aber . . . wenn Sie
mich mitnehmen wollcn nach Afrika, dorthin wiirde ich
mit Ihnen gehen."
Nach drei Viertelstunden ist er wieder auf dem Picca-
dilly, alles tobt und braust in ihrn, und er hat das Gefuhl,
die erste Schlacht gewonnen zu haben. Mrs. Myers hat ihm
nicht die Tvire gewiesen. Nein. Als er sagte: nach Afrika
wiirde ich mit Ihnen gehen, — brannten ihre Augen ein
wenig frappiert auf seinem Gesicht, dann glitt der Blick
von ihm ab, und Mrs. Myers sprach sofort von etwas
anderm; sie erkundigte sich nach Ungarn, das sie vor elf
Jahren als siebzehnjahriges junges Ding verlassen hatte,
um nach London ubcrzusicdcln, wo die Firma des vcr-
storbenen Herrn Myers und seiner Kompagnons war. Abcr
1913 lebten sie bereits in Sydney; Myers Icitctc namlich die
kolonialen, beziehungsweisc die au&ereurop&ischen Ange-
legenheiten der Firma, — seit 1917 wohntcn sie dann in Port
256
Elizabeth bis zum vorigen Jahr, als die grauenhafte Sache
passierte . . . ihre Augen verschleiern sich ein wenig, ,,nie-
mals war auch nur das geringste geschehen, dabei hatten
sic mindestens schon hundertmal im Flugzeug gesessen,
aber vorigen Herbs t muBte Myers in Vertretung des einen
Sozius nach Dublin reisen, und der Flugapparat erlitt in
unmittelbarer Nahe Londons, tiber Watford einen Motor-
defekt, entziindete sich und stiirzte aus siebenbundert Meter
Hohe ab . . ." — Dann sprechen sie von etwas anderm.
Von Kadar. Von seinen Eltern, die vor dem Kriege eine
Papierfabrik hatten. Von den Londoner Bekannten, bei
denen er wohnt und die Besitzer mehrerer Immobilien
in Londons Umgebung sind. Von seinem Freund, dem
jungen Wiener Millionarssohn, mit dem er auf eine mehr-
monatige Studienreise hierhergekommen und der das Opfer
eines eigenartigen StraBenunfalls geworden war . . .
,,haben Sie es nicht gelesen?" — und dann kommt das
Gesprach irgendwie wieder auf Port Elizabeth, — dk-
Verhandlungcn mit den Kompagnons sind gerade ab-
geschlossen, — sie behalt den Anteil ihres Mannes am Ge-
schaft, das heifit, sie laBt ihn sich nicht auszahlen, und das
Un*ernehmen in Kapland beabsichtigt sic weiterzufiihren,
schlieClich hat sie ja in den vier Jahren, wahrend derer sie
in den Betrieb Einblick tun konnte, die Angelegenheiten
und den Geschaftsgang iiberhaupt kennengelernt, die Leute
unten sind auch vortrefflich, und schlieBlich kann man
seine Interessen nur selbst und an Ort und Stelle ent-
sprechend wahren . . . aber vor allem, wer einmal dort
unten gelebt hat in der Kapkolonie, der kann sich anden-
wo nicht mehr recht — ,,Ungarn? mein Gott, viellcicht
spatcr einmal, aber nur auf einen kurzen Besuch . . .lfc und
dabei lacht sie, ,,nein, ich sehne mich wirklich kaum nach
Hause . . . nein, i wo, bose bin ich nicht auf meine Heimat!
ich habe nur keinen Kontakt mehr, natiirlich . . . Aber
glauben Sie mir, manchmal verlangt es einen nach der
Muttersprache, — kiirzlich hat sich mir eln ungarischer
17 Kiirincndi. ttudftpofft 257
Diener vorgestellt, er kam von einem Herrn von der
Gcsandtschaft . . . Both oder T6th hieB er . . ." — o Gott,
wenn ich jetzt rot werde . . . aber sein Gesicht blieb un-
verandert, und sein Herzklopfen horte nur cr selbst. Dann
wurde ihm gestattet, sich in den nachsten Tagen telefonisch
zu melden, und damit ging er.
Er geht iiber die StraBe : die erste Schlacht ist gewonnen.
Mrs. Myers denkt jetzt gcwiB dariiber nach, was ich von ihr
wollte . . . Die verklungenen Worte kommen ihm wieder und
wieder ins Ohr, und wie er sich das Bild der Frau vor die
Augen zuriickruft, da steigt unumstoBlich das Gefiihl in
ihm auf, von hier aus, vom Piccadilly wird sein Weg
beginnen, nun endgiiltig, aufwarts, dem Wohlstand, der
Erfiillung, dem Gelde zu! Im Voriibergehen blickt er in
einen groBen Schaufensterspiegel, — er bleibt stehen, tritt
zuriick und betrachtet seine Gestalt im Spiegel. Diesen . . .
Anzug darf ich nicht mehr ablegen! die griine Schiirze
darf ich nicht mehr anziehen! — Der Himmel ist eine einzige
graue Glocke, und zeitweise fangt es an zu regnen. Ich muB
mich in den Autobus setzen . . . oder in eine Taxe. Und wie
vieles gibt es noch, wird es noch geben, was ich jetzt, in
diesen Tagen alles noch tun oder haben muB. Vor allem
brauche ich freie Zeit, — und Geld. Wie konnte ich mir
Geld verschaffen? wen konnte ich um Geld bitten? von
wem welches bekommen? — der alte Csordas gibt mir
sicher nichts. Du weiBt doch sehr gut, daB ich mein Geld
nicht darum spare, um vielleicht Margit? Margit hat
ja kein Privatgeld, — und warum sollte sic ihm auch etwas
geben? Gyuri? von seinen zwei Schilling Taschengeld in
der Woche? Und was er selbst noch besitzt, — ein Pfund
und einige Schilling, — was kann man damit anfangen?
Abcr ich muB mir Geld verschaffen, unbedingt! zu allererst
hangt es davon ab, — alles hangt davon ab — . Am
Rande des Cattle Market stcht Barbara's Public House, —
und hinten in dem einen Lokal sind drei Automaton, ein
Penny-, ein Halber-Schilling- und ein Ein-Schilling-
258
Automat . . . einmal war ich da mit Gyuri, — Dummheit.
Wozu auch nur einen einzigen Penny fiir diesen Schwindel
riskieren? beim Mauscheln habe ich einmal dreihundert
Kronen gewonnen, in Innsbruck, aber das hier ist Schwin-
del, um Dockarbeitern, Gepacktragern, Marktstrolchen,
Schlachtergesellen ein Scherflein aus der Tasche zu
locken. — Ich muB doch den alten Csordis um Geld bitten,
naturlich nur geliehen, — Csordas bacsi, bitte nur fiir eine
Woche, nur fiir eine Woche brauch ich etwas Geld, reiche
Vcrwandte sind angekommen, und mit denen — -
Unsinn! hort er die brummige Stimme des Alten, wo von
willst du es denn zuriickbezahlen? und wenn die Verwandten
reich sind, warum bezahlen sic dann nicht das Vergniigen?
mein Geld spare ich nicht dazu — Oder vielleicht irgend-
eine Arbeit ubernehmen? . . . Idiot! jetzt auf einmal Arbeit
ubernehmen, ein gauzes Jahr lang habe ich dazu keinc
Zeit gehabt? und jetzt plotzlich werde ich ausgerechnet
eine Arbeit finden, fiir die man anstandig bezahlt? und wic
wird das mit der freien Zeit? wann denn arbeiten und
wann und hatte ich ihr nicht sagen sollen: sehen Sic
mal, ich fiihre ein unmenschliches Leben, arbeite als Dienst-
bote, obschon ich zu etwas Besserm bestimmt war, ver-
helfen Sie mir zu einer Anstellung als Zeichner mit vier
Pfund Wochengehalt und zwischendurch absolviere
ich dann die Hochschule ... Sie werden nicht verlieren,
was Sie fiir mich opfern — —
Und dann, er weiB selbst nicht, wie, steht er in der
Stube des elenden Hotels vor den Pferderenn-Automaten.
Es hat keinen . . . es hat keinen Sinn . . . mit Hellern herum-
zubasteln, also . . . geboren bin ich achtundneunzig : das ist
eins und acht und neun und acht, macht sechsundzwanxig,
gleich zwe.: und sechs, zusammen acht . . . und in die
Offnung unter der Acht driickt er einen Schilling und zieht
an dem Griff, — die Pferdchen drehen sich, und an der
roten Linie, die das Ziel bezeichnet, bleibt das rosa Pferd
stehcn: die Acht. Der Apparat klingelt, und unten fallen
17*
zwei Schillingstucke heraus. Den gewonnenen Schilling
steckt er wicder in die Offnung unter der Acht, zieht den
Griff, das Feld dreht sich, am roten Strich bleibt das rosa
Pferd stehen, der Automat klingelt, — ein guter Tip, das
Geburtsjahr. Das rosa Pferdchen holt auch zum drittenmal
den Schilling heraus; dann fallt ihm ein, daB er 1908 nach
Budapest aufs Gymnasium gekommen ist, — Resultat:
neun. Jetzt bleibt an der roten Linie ein griines Pferdchen
stehen: die Neun! Er lacht still in sich hinein. Sein Blick
fallt auf die Uhr an der Wand: halb drei. Hinter ihm bleibt
jemand stehen und sieht ihm zu. Einen Schilling auf die
Neun. Am roten Strich bleibt das lila Pferd stehen, ein
schadenfreudiger, rasselnder Ton im Automaten zeigt an,
daB er verloren hat. Einen Augenblick stutzt er, — na,
macht nichts. Einen Schilling auf die Neun. Diesmal
gewinnt das schwarze Pferd, der Automat rasselt. Nun
gerade: einen Schilling auf die Neun! Wieder siegt das
schwarze Pferd. Macht nichts! weiter mit der Neun!
Braun kommt rein. Dann . . . dann zuriick zur Acht! Wie
zum Trutz macht jetzt das griine Pferd das Rennen.
Nochmal auf die Acht! und nun stehen schon vier oder
funf Leute hinter ihm, und auch vor die andern Apparate
stellen sich ein paar, — schlieBlich sind bereits zehn und
zwanzig Menschen versammelt: abwechselnd klingeln und
rasseln die Automaten, — seiner, seiner rasselt bloB. Nach
sieben oder acht Versuchen klingelt er wieder einmal,
Kadar atmet auf: jetzt kommt das Gluck wieder. Nein, —
die nachste Drehung wird wieder von dem argerlichen
Gckrachze begleitet, es flimmert ihm vor den Augen. Ein
dichter Ring von Menschen steht hinter ihm, als er an die
Kassc wankt und sein Pfund in Schilling umwechselt, —
wieder 7uriick an den Automaten. Gegen vier Uhr rasselt
der Apparat seinen letzten Schilling weg, — da tritt er ein
wenig zuriick, und es ist ihm zumute, als miisse er jetzt mit
der Faust in die grinsendc, runde Glasschcibe haucn, untcr
der die Pferdchen laufen, — abcr da fangt er an zu lachen.
260
Sofort lacht auch eincr hintcr ihm, und dann zwei und dann
fiinf und dann zwanzig, und schlieBlich drohnt der ganze
Saal von schallendem Gelachter. ,,Prachtkerl", sagt ein
Zerlumpter hinter ihm mit der Pfeife im Mund, ,,ich hatt
dem Ding einen Tritt versetzt, und den Inhaber hatte ich
verpriigelt, gemeine Schwindler die!" — ,,Na, fein sieht
der aus", sagt ein anderer. ,,Was heiBt fein", entgegnet ein
dritter, ,,von Anfang an beobachte ich hier die Sache,
meinen Kopf drauf, wenn das Ding nicht hundert Schilling
geschluckt hat!" — ,,Der sieht gerade aus, als wenn er
hundert Schilling gehabt hatte, du Ochse, ich hab ja
gesehen, wie er eben ein Pfund an der Kasse gewechselt
hat!" — ,,Aber, wenn ich dir sage, Mensch!" — Kadar
lacht noch immer, als er auf die StraBe tritt, — futsch mein
Letztes . . . habe ich mir das nicht vorher gesagt? — na,
und? nicht schlimm. Neunundzwanzig Schilling vcr-
loren ... is t es nicht egal, ob ich neunundzwanzig habc
oder kcincn? nein, nicht neunundzwanzig Schilling machci,
cs. Er reibt die schweiBige Hand an seinem Rock, streicht
sich vor einer Personenwaage auf der StraBe das Haar glatt
und bcgibt sich nach Hause.
Csordas sitzt in seinem Zimmer am Tisch und rechnet
auf einem groBen Bogen Papier, als er eintritt. Noch in der
Tiir nimmt er einen Anlauf und erzahlt, es seien alte Be-
kannte in London angekommen, nein, keine Ungarn,
Wiener, und da er sic ein biBchen in London herumfuhren
mochte, obschon er gar kein Geld dazu habe, bitte er, ihn
ein paar Tage, sagen wir acht bis zehn Tage, zu bcur-
lauben. — Der Alte sieht ihn unlustig an. ,,Bekannter
Besuch? Na, gut, ich mag es zwar nicht sehr, wenn ein
junger Mensch wie du untatig herumstrolcht, aber wenn
du willst, schon, fur eine Woche . . .", aber umsonst leben,
das widerspricht vollkommen seinen Prinzipien, daher
konne er, wenn er wolle, fur die Zeit des Urlaubs ausziehen,
wenn nicht, dann solle cr fur Kost und Logis sagen wir
taglich . . . taglich anderthalb Schilling bezahlen, nicht
261
teucr, was? — Das Lachen, das am UngliicksaiHomaten
bcgonnen hat, kitzelt ihn wieder in dcr Kehle, nur fur einen
Augenblick, — aber es geniigt, um das herbe Wort, das
sich hcrausdrangen wollte, zuriickzuhalten. Anderthalb
Schilling taglich? billig, wirklich billig, er dankt vielmals,
noch weiB er nicht, ob er hier wohnen bleibe oder mit
seinen Gas ten — Nein, das macht die Sache nicht, und daB
er nun natiirlich den Alten nicht um Geld bitten kann, auch
das machts nicht, auch Margit kann er nicht angehen, sic
hat auch nichts und wiirde es bloB dem Alten gleich
petzen . . . das machts auch nicht, und daB er jetzt keinen
Kreuzer besitzt, das auch nicht, und wenn er irgendwo
einbrechen muB oder Brand stiften oder jemanden cr-
morden, auch das wird die Sache nicht machen
Aber als sich der Abend niedersenkt, umspinnen ihn
Unruhe und Sorge, — wo und wie werde ich mir das Geld
verschaffen? Er sieht sich die Menschen vor dem Schank-
tisch und in der Gaststube an, wie sie trinken und essen.
Vielleicht der dicke Parkins, der immer Bohnen mit Speck
iBt . . . vielleicht konnte man den fragen, oder vielleicht
den mit dem Bart, der so russisch aussieht und dessen
Namen er nicht weiB, verdachtige Gestalt, gewiB ein
Sowjetagent . . . horen Sie mal, ich weiB, wer Sie sind . . .
und schon gibt er Geld, oder aber er lacht mich aus und
macht einen Skandal . . . Oder vielleicht Frau Silber, die
hiistelnde, mage re Judin, die haben meistens etwas Geld
irgendwo versteckt, aber aus welchem Grunde sollte sic
es ihm geben? — Und dieser Dunne da, Thomas heiBt er,
der kommt auch jeden Tag her, ein trauriger Mensch ... —
Er gcht in die Gaststube und setzt sich an einen Tisch, —
ein schweigsamer junger Mann plagt sich mit schlechten
Zahnen an einem z£hen Fleischstuck ab; von einem zum
andern springen Kadars Augen, einzeln mustert er die
Gaste. Werkmeister Durham, der hat gewiB beiseite gc-
legtes Geld, — Mrs. Wynncr, Witwc und bettelarm,
Salzkartoffeln iBt sie ... und der da, der vielleicht Geld hat,
262
und jencr, der cin Geizhals 1st ... Herrgott, was fur cine
Kinderei, was fur eine Dummheit 1st das, was ich da
mache! soil ich mich etwa mitten auf den Platz stellen:
meine Herren, ich brauche zwanzig Pfund, bloB fiir eine
Woche, dann gebe ich sie zuriick . . . oder ich gebe sie nicht
zuriick . . . du lieber Himmel! wo soil ich das Geld her-
nehmen ? !
Gegen zehn Uhr hatte er die blinde Aufregung, das
fruchtlose Kopfzerbrechen bis zur Unertraglichkeit satt.
Todmiide geht er in seine Stube, wirft die Kleider ab und
legt sich ins Bett. Er starrt die Decke an. Zwanzig Pfund,
und jenes andere Leben. Ihr folgt er bis ans Ende der Welt,
jener Frau. Gnadige Frau . . . ich kann nicht ohne Sie
leben, — was fiir ein Blodsinn ! — diese schlecht gekniipfte
Scharlatanmaske abwerfen, — gnadige Frau, hier halrc
ichs nicht wciter aus, nehmen Sie mich mit, ganz gleich
als was, als Diener, als was Sie wollen . . . aber warum""
aus Mitleid? ja, aus Mitleid! weil er Ungar ist? ja, well er
Ungar ist! und weil sie reich ist und eine Frau ist und weil . . .
wenn ich neben ihr stehen wiirde — weil ich nicht mehr
kann, ich kann nicht mehr und kann nicht mehr, mein
Gott, ich kann nicht mehr, erlose mich, ich kann nicht
mehr, ich muB krepieren, erlose mich und hilf mir und gib
mir Kraft, daB ich mich umbringe oder sonstwas, aber das
halte ich nicht mehr aus, dieses Leben, Herr mein Gott,
mein Gott und seine Arme strecken sich nach dem
Dach, und mit hervortretenden Augen und stockendem
Atcm erwartet er die Erlosung — oder den Schlaf.
Nach elf Uhr offnet sich leise die Tiire, — Mary kommt
aus der Kiiche. Seltsam, bisher war er noch nie friiher
schlafen gegangen als sie. Mary macht kein Licht, sie
fliistert ihm zu, ,,Tony, schlafst du schon?" er gibt keine
Antwort und atmet laut und gleichmaBig. Im Finstern
h6rt er ihr sachtes Hantieren; dann offnet sich der Wasser-
hahn, in dunnem Strahl rieselt das Wasser, dann hort man
lange Minuten das leise Plgitschern, wie sie sich wascht.
26?
Mary seufzt tief. — Mit halb geschlossenen Lidern spaht cr
durchs Dunkel, vor dem andcrn Bett bewcgt sich cin groBer
heller Fleck, das Madchen von oben bis unten nackt,
natiirlich, sie trocknet sich ab. Dann hort er, wie das nasse
Handtuch an den Rand des Waschtisches schlagt, Leinen
knistert, ihr Hemd, dann quietscht das Bett unter ihrem
Gewicht, — da setzt er sich plotzlich in seinem Bett auf,
,,Mary", fliistert er, ,,was ist, Tony, schlafst du nicht?"
,,nein . . . du, Mary . . ." -- ,,na, was willst du denn?" er
springt auf, setzt sich an den Rand ihres Bettes, — ,,du
Mary — " Es ist ihm wohl so vorbestimmt, daB er sich Fraucn
offenbaren und sich ihnen hinwerfen muB, um in ihnen
nach Mutter und Gefahrtin zu greifen, bei ihnen Trost im
Leid, Hoffnung in der Verzweiflung zu suchen. Und da,
wie ein wildgewordener Strom, brechen sich die Worte
Bahn im Dunkel. ,,O Gott . . . du weiBt, ich war Student,
ich war ein Herr . . . ich bin nicht dazu da, hier zu dienen,
Knecht in einer Kneipe zu sein . . . ich habe Plane . . . ich
will bauen, groBe Hauser, verstehst du, Palaste . . . ver-
stehst du? . . . und ich miiBte studieren . . . du weiBt, was
fur ein MiBgeschick mich verfolgt hat, bis ich so weit
gesunken bin . . . und jetzt konnte ich mich aus diesem
Elend wieder herauskrabbeln, verstehst du? und habe kein
Geld . . . keinen Heller und weiB nicht, wo ich mir welches
verschaffen konnte . . . soil ich jemanden ermorden?! . . .
und wenn ich diese Gelegenheit verpasse . . . das konnte
ich nicht ertragen ... so halte ich es nicht mehr aus . . . und
wenn ich das jetzt nicht ausnutze . . ." und seine Worte und
Trancn flieBen zu einem fieberhaften, unverstandlichen
Stottern zusammen, und er weiB gar nicht, daB er den Kopf
auf des Madchens Brust legt und seine verworrencn,
verlorenen, kindischen Worte in ihr von Tranen feuchtes
Hemd stohnt: ,,ich halte es nicht mehr aus, du Mary . . .
ich muB mich befreien . . . verstehst du? von diesem
Kncchtsleben . . . groBe Hiuser, Palaste muB ich ...
verstehst du? und wenn ich das jetzt verpasse — *'
264
Plotzlich schiebt Mary seinen Kopf weg, und mit ihren
bciden starken Handen richtet sie ihn auf und setzt sich.
Stille. ,,Und wcnn du jetzt Geld hattest", sagt sie, ,,ist es
sicher, daB . . ." — ,,Sicher", sagt er heiser dazwischen,
,,sicher." — Stille. Marys Gesicht 1st ganz nahe. Dann
hort er eine langsame, fliisternde Stimme: ,,Du Tony. Ich
habe Geld . . . siebenundvierzig Pfund habe ich, in drei
Jahren habe ich mir die gespart . . . um, wenn ich einmaJ
alt werde . . . aber noch habe ich ja Zeit . . . funfzehn Jahrt ,
zwanzig Jahre . . . du Tony, ich wiirde dir das Geld geben . .
aber du wirst es mir nicht wiedergeben . . . du auch nichf,
Jack hats mir auch nicht wiedergegeben . . . dem habe ich
vor drei Jahren zweiunddreiBig Pfund gegeben . . . du
wirst es mir auch nicht wiedergeben." Das Zimmer drch
sich derart, daB er seinen schwindelnden Kopf kaum geradc
halten kann, — Jack hats auch nicht zuriickgegeben . .
ich werde es auch nicht wiedergeben — groBer Gnu,
hierher verkriecht er sich zu diesem Madchen, weil so in.
Ohnmacht, seine Ratlosigkeit und Verlassenheit sich
einmal Bahn brechen muBten, — und mit kindischcn,
hartnackigen, hochtrabenden Worten schreit er ihr fiinfmal,
zehmal ins Gesicht: Knechtsleben! Dienstbotenlos, das er
nicht mehr ertragen kann, weil er zum Herrn geboren ist
und Herr sein will, kein Dienstbote! — und da gibt dieses
Madchen, diese . . . Knechtin — ihm ihr Geld hin, nach den
guten Bissen, die sie ihm zugesteckt hat, nach der dankbaren
Umarmung auch noch ihr Geld ... — Jack hat es mir auch
nicht wiedergegeben, du wirst es auch nicht wiedergeben
was kann man darauf antworten, — darf man iiberhaurn
nur ein einziges Wort sagen, — zureden oder bitten?!
da Jack es ihr auch nicht wiedergegeben hat und ich . . .
cs vielleicht auch nicht wiedergeben werde . . . Und da
spurt er ihre Hand an seiner Schulter, ihre Hande pressen
ihm die Schultern, ,,du Tony", fliistert Mary, ,,gut ... ich
will dir das Geld geben ... ich wuBte ja immer, daB du
nicht zu uns gehorst, daB du anders bist als der Alte und
die Frau und ich . . . und einmal warest du ja doch ge-
gangen . . . und wenn ich dir das Geld nicht gebe, dann
passiert vielleicht noch was Schlimmes mit dir . . . also
gebe ich dir lieber funfundvierzig Pfund, und wenn du
wirklich ein reicher Mann wirst . . ." und jetzt ziehen ihre
beiden Arme seinen Kopf an sich, ,,du Tony, als du heute
nicht gearbeitet hast und in deinem grauen Anzug weg-
gegangen bist, da habe ich gleich geahnt, daB etwas
bevorsteht . . ." die Arme pressen seinen Hals, und er spurt
die Stimme des Madchens mehr an seinem Gesicht, als er
sic hort, ,,du Tony, ich geb dir das Geld . . . aber gib acht
darauf, du bist noch ein solches Kind . . . bist noch sehr
jung, und es ist sehr schwer, diese Schillinge und Pennies
beiseite zu legen —
Gegen Morgen wacht Mary auf und weckt auch ihn,
dann steigen sic vorsichtig aus dem Bett; Mary tastet sich
zum Schrank hin, kramt unten im Schrank herum, man hort
ein kleines SchloB diinn schnappen, dann zahlen sie, am
Bettrand sitzend, die Einpfundscheine, — eins, zwei, zehn,
dreiBig, funfundvierzig . . . und von den funfundvierzig
Papierscheinen schwillt seine Brieftasche dick an. Vier
Uhr, — aber er hat keine Geduld mehr, sich noch einmal
hinzulegen. Er zieht sich an; kein biBchen Schlaf hat er in
den Augen, — er sitzt am Tisch, steht auf, geht auf und ab,
tritt ans Fenster und starrt auf den dunkeln, leeren Bauplatx.
Um fiinf steht auch Mary auf; schweigend sitzen sic am
Tisch einander gegeniiber, unertraglich lange Zeit. Manch-
mal bewegen sich Marys Lippen, als wollte sie etwas sagen,
aber sie sagt nichts. Sie sehen einander an im Halbdunkel.
Dann geht Mary an ihrc Arbeit; er sitzt im Zimmer, allein,
bis es ganz hell wird. Es ist Tag, es ist heute, drauBen
beginnt das alltagliche Leben, von dem er jetzt Dann
verlaBt er das Haus, geht ins Dampf bad. Es ist kalt, langsam
tropfelt der Regen. Jetzt — ist schon alles gut, weder Kalte
noch Regen, nichts . . . Fast im Laufschritt kommt er am
Bad an; kaum zwei-drei Mcnschen lungern um die Bassins
z66
hcrutn. Bis ans Kinn taucht er ins klar blaue, hciBe Wasser.
Fiinfundvicrzig Pfund, Ich werde sie ihr wiedergeben, —
hundcrt . . . hundert Pfund werde ich ihr wiedergeben!
Fiinfundvierzig Pfund ... in die Nahe des Berkeley Hotel
werde ich ziehen, noch heute, in ein bescheideneres Hotel
oder in eine Pension — und noch heute oder morgen, ja,
morgen rufe ich sie an. Am Rand des Bassins sitzen z\vci
junge Leute, zwei diinne Burschen, wohl Kellner ode*
Handlungsgehilfen in ihren Freistunden. ,,Gehst du von
hier nach Hause, Jackie?" fragt der GroBere. ,,Ja", ant-
wortet Jackie, ,,und du?" — ,,Ich weiB noch nicht. Vor
mittags ist der Alte nicht da, aber moglich, daB ich trotzdem
nach Hause gehe." — Nach Hause — fiinfundvierzic:
Pfund . . . er muB sofort seine Koffer holen und dann aut
den Bahnhof, von der Victoria Station fahrt der Zug urn
elf Uhr ab -- bin ich wahnsinnig geworden, sagt er vor
sich hin ins Wasser, ich gehe nach Hause — bin ich wahn-
sinnig geworden . . . noch heute telefoniere ich ihr.
Aus dem Bad zuruckgekommen, meldet er dem Air en,
daB er heute seinen Urlaub beginne und wahrscheinlich
fur die eine Woche ausziehe, — dann stromert er in der
Gegend des Piccadilly herum. In den eleganten Hausern
sind lauter Privatwohnungen, nirgends sieht er ein Schild,
das eine Pension anzeigte. Er geht ein gutes Stuck die
Regent Street hinauf. Das ist eine bekannte Gegend, dieser
Platz und dieses Haus, oder gleicht es nur — dem Langham
Hotel? Einen Moment hat er das Gefiihl, jetzt miisse er
kehrt machen und davonlaufen, — dann starrt er nur das
Haus an, und bitterer Speichel lauft ihm im Mundc ?u-
sammen, — Langham Hotel. Er muB denken, jetzt gehe ich
hier hinein zur Reception und . . . bitte um das Zimmcr
zweihundertacht im zweiten Stock. — Mr. Kadar? zweiter
Stock, zweihundertacht ... — Dann verzieht er das Gesicht
und dreht sich um. Gegen Mittag, — er ist gerade am
Berkeley Hotel vorbei, vielleicht fiinf Minuten, — da fallt
sein Blick an eincm Haustor auf eine kleine schwarze Glastafel
267
mit goldcnen Buchstaben: Pension Vienna. Immcr drci
Stufcn nehmend, springt er die Treppen hinauf und kommt
auf die dritte Etage. Zehn Minuten spater zahlt er eincr
rundlichen, kleinen Wienerin mit lachelndem Gesicht den
Pensionspreis fur cine Woche im voraus, fiinf Pfund;
fliichtig blickt er in ein winziges, hiibsches Zimmer, —
dort wird er wohnen, — und in schwellender Stimmung
rennt er auf die StraBe und nach Hause. Zu Csordas's, um
seine Koffer zu holen. Das Zimmer in der ordentlichen,
feinen Pension fiir eine Woche vorausbezahlt, vierzig
Pfund in der Tasche ... — Ein Autobus kampft sich durch
die Automenge hindurch, auf seinem Schild steht: Victoria
Station. Hier fahrt der Zug ab — jawohl, ich bin wohl
wahnsinnig geworden.
15
IN der Pension Vienna, — zu sicbzchn wohnen sic hier,
Osterreicher und Deutsche, — geht allcs in mitteleuro-
paischem Stil. Um acht Uhr ist Friihstiick, um halb zwei
Mittagessen, um halb neun Abcndessen. Auf besonderen
Wunsch, — wenn jemandes Beschaftigung es erfordert,
kann man zwar auch nach englischer Zeiteinteilung leben,
aber Mrs. Knopfer, die Pensionsinhabcrin, hat das nicht
gerne, sie halt es fiir Unordnung. Am ersten Abend, bei
Tisch, wcchselt er einige Worte mit seincn Nachbarn. Der
eine ist ein dicker junger Mann mit ciner Brille, Dozcnt
Pach, der im Royal Institute of Biology arbeitet; der andcrc
ein jiidischcr Jiingling namens Wcincr, den scin Vater zu
cinem bekannten TuchgroBhandlcr hier in die Lehrc
gcschickt hat. Nach dcm Essen geht Kadar sofort in sein
Zimmer und legt sich schlafen. Nagelncue Bettwaschc,
groBartiges Messingbett mit feinen, federnden Matratzen,
hubsche Einrichtung, flieBcndes kaltes und warmes
Wasscr, — himmlisch. Die Sache fangt gut an, ein bcsser
268
gelegenes Quarticr hatte er gar nicht finden konnen. Bel
CsordaYs 1st auch alles in Ordnung . . . ganz glatt 1st die
Geschichte gegangen. Der Alte hat nicht viel geredet, —
, , bring sie vielleicht her", sagte er, — Margit wiinschte ihm
viel Vergniigen, und Gyuri umarmte ihn in seiner halb-
wiichsigen Befangenheit, Mary, — in der Kiiche, — wandte
den Kopf ab, als sie ihm die Hand hinhielt, und sagte bloB :
,,leben Sie wohl." Und jetzt, wie er hier im Bett liegt, —
nicht Deptford und nicht Redburn Street, sondern: Pension
Vienna, 9 Dover Street, London W. — denkt er gar nicht
mehr an sie. Nein, jetzt denkt er nur noch an Mrs. Myers, - -
an Ilona Szabo, die Witwe des steinreichen Architekten
Myers, die Herrin des Geschaftes in Siidafrika, an Ilon.i
Szabo aus Kassa . . . siebzehn Jahre war sie alt, als der
Englander sie heiratete, — wie war sie an den gekommen r
wie hatte sie ihn kennengelernt ? und wo? in Kassa? und
warum? und wer mochten ihre Eltern sein? und dann . . .
wie war das weiter? bis zum heutigen Tag? alles muB icii
von ihr wissen! — aber wie? durch wen? Heute ist SK-
achtundzwanzig, vier Jahrc alter als ich — na und? wenn
schon! . . . das geht mich doch wirklich nichts an. Ich will
sie doch nicht heiraten, — sondern ich will, daB — nun?
was denn? also zunachst ins Biiro eintreten, unten in Port
Elizabeth. Wenn es dort eine Universitat gibt, das Studium
beenden. Und dann bauen, groBe Hauser . . . was ist denn?
wem erzahle ich denn jetzt?! Scham uberstromt ihn, —
schnell macht er das Licht aus und schlieBt die Augen. Leb
wohl, Mary . . . wir werden bauen, leb wohl . . . Paul . . .
Tilly und Zia, lebt wohl Diese Nacht verging mit
tiefem, traumlosem, ausruhendem Schlaf. Die Gewohnheh
weckte ihn um halb fiinf, dann aber kam er langsam zur Be-
sinnung, und die groBe, klare Stille, die iiber der ganzen Um-
gebung lag, schlaferte ihn wieder ein. Es war halb zehn durch,
als er sein Zimmer verlieB; der Friihstuckstisch war schon
abgeraumt, die Pensionsgaste ihrer Arbeit nachgegangen.
An einem kleinen Tisch wird ihm das Friihstuck
269
serviert. Mrs. Knopfer setzt sich mit ihrem molletten
Lacheln ihm gegcniibcr, ,,nun, wie haben Sie die erste Nacht
geschlafcn? hoffentlich gut. (Jbrigens habe ich mir das
gleich gedacht, denn, wie ich hore, sind Sie erst nach
neun Uhr aufgestanden, es wundert micb, daB Sie nicht
friiher aufgewacht sind, denn hier war schon um acht Uhr
ein solcher Rummel!" Hoflich und gut gelaunt erkundigt
er sich, was denn fur ein Rummel gewesen sei. ,,Ach", sagt
Mrs. Knopfer, ,,zwei meiner Gastc, Wiener, sind sich iiber
das Urteil im Wiener AnarchistenprozeB in die Haare
geraten", und sie zeigt nach dem EBzimmertisch, auf dem
ein groBer Packen Zeitungen liegt: ,,aber Sie miissen das
nicht miBverstehen, meine Gaste sind alle tadellose, gut-
gesinnte Herrschaften . . . nur war der eine der Meinung,
man hattc nicht den armen, bctorten Postbeamten am
strengsten verurteilen sollen, sondern die Anstiftcr und vor
alien dieses gemeine Frauenzimmer, aber nach Doktor
Gerhammers Ansicht ist das Urteil schon allein darum
richtig", — und redet und redet mit plappernder Stimme
und versucht, mit primitiven, kleinen Worten die langen,
komplizierten Auslegungen, Meinungen und Gegen-
meinungen des Disputs wiederzugeben. Kadar hat seine
Gedanken anderswo, langweilt sich still im lauen Bad der
plappernden Stimme und stellt nur aus Hof lichkeit die eine
oder andere Frage. Ich muB hie und da etwas dazu sagen,
Interesse zeigen, ich bin auch gutgesinnt . . . ,,Hier ist die
Zeitung", sagt Frau Knopfer, ,,es ist zwar das Abendblatt,
und darin steht nur gerade das Urteil, abcr Doktor Ger-
hammer hat gewiB auch die friiheren Nummern, in dencn
konncn Sie das Ganze lesen, ich lasse sie Ihnen heraus-
suchen", — damit reicht sie ihm die Zeitung hin. Gleich
am Kopf steht fctt gcdruckt:
Urteil im Anarchisten-ProzeB
Das Schwurgericht hat samtliche Angeklagten des Monstre-
Prozesses zu schwerer Kerkcntrafe verurteilt.
270
Und der Text des Berichtes: Nach neunzehntagiger,
an hcftigcn Aufregungen reicher Verhandlung hat das
Gericht hcute nachmittag um zwei Uhr das Urteil ver-
kiindet. Aloys Hagek, der Bombenattentater, erhielt drei-
zehn Jahre; Norbert Ring, Peter SsesomofF und Gerda
Buhr, die Fiihrer der sogenannten Anarchistengruppe, jc
acht Jahre; Koloman Feher, der die Bombe hergestellr
hatte, fiinf Jahre; die iibrigen elf angeklagten Anarchisten
ein bis drei Jahre schweren Kerker. Vom Verlauf dci
Urteilsverktindung sowie von der Begriindung des UrteiU
bringen wir in unserer nachsten Morgennummer ausfuhr-
lichen, genauen Bericht. — Seine Augen iiberfliegen diesc
Notiz und springen dann vom SchluBpunkt auf einen
Namen zuriick: Gerda Buhr. Gerda Buhr? Acht Jahre
schweren Kerker? Gerda Buhr?! Eine blonde Fiille wogt
ihm cine Sekunde vor den Augen, dann knarrt und
knistert alles in ihm und steht plotzlich still wie ein^
Maschine, in die ein fremdes Eisenstuck geraten ist,
Gerda Buhr?! . . . Als Frau Knopfer wieder im EBzimmei
erscheint, einen groBen Packen Zeitungen unterm Arm,
starrt er noch immer auf den Namen und sitzt noch immer
so leer und empfindungslos da, daB er erst beim zweiten
oder dritten Mai Frau Knopfers 6timme hort: ,,bitte
schon, hier sind die Zeitungen, sie gehoren Doktor
Gerhammer, da steht alles drin . . . Herr Kadar! Hier sind
die Zeitungen . . . interessiert es Sie nicht?"
Der erste Bericht iiber die Hauptverhandlung beginnt
so: Genau heute vor zehn Monaten explodierte im groBen
Saal des Ferdinandpalastes eine Bombe. Eine Bombe, die-
den sofortigen Tod dreier Menschen, vollige Verkruppclung
von fiinf Menschen und schwerere oder leichtere Verlctzung
von vierzehn Menschen verursacht hat. Die Bombe war
nicht diesen Opfern zugcdacht: sondern jenen Mannern,
die sich, unter Hintanstellung der Weltanschauungs-,
sozialen und Partei-Unterschiede, von einem groBen, um-
fassenden Gefvihl getriebcn, an der Spitze vielcr hundert
Freunde und Fachleute an den griincn Tisch setzten, um
mit briiderlicher Opferbereitschaft, von Fachkenntnis
durchdrungen, vor groBter Offentlichkeit iiber eine — wir
wagen zu bchaupten — der wichtigstcn Fragen unsercr
zukiinftigen staatlichen Existenz zu beratcn, namlich iiber
das Problem, wie dem osterreichischen Kind geholfen
werden konne. Dem Prasidenten der Republik, dem Kanzler,
den Ministern, den staatlichen und stadtischen Wiirden-
tragern und den unterschiedslos versammelten Pro-
minenten der polidschen Parteien war die Bombe bestimmt
gewesen, die den Leib unschuldiger Menschen zerfleischte :
aber durch diese unschuldigen Leiber hat sie dem Korper
der ganzen menschlichen Gesellschaft eine schwer zu
heilende Wunde zugefiigt — und so fort, im Leitartikelstil
des flachen Zeitungspathos. — Radars Blick springt von
Zeile zu Zeile, sucht die fett gedruckten Worte und Namen,
und hinter dem Wortschwall entsteht das Bild: den
Detektiven fallt bei dieser Sitzung ein Mann auf der Galerie
auf, der sich sehr aufgcregt benimmt und um jeden Preis
tiber das Prasidentenpodium zu gelangcn versucht; und als
nach langerer Beobachtung einer der Detektive ihn an-
spricht, drangt er sich plotzlich und todesbleich durch die
dichten Reihen des Publikums ans Gelander, zieht unter
seinem Mantel eine Schachtel in der Form und GroBe einer
Zigarrenkiste hervor und schleudert sie iiber die Kopfc der
in der ersten Reihe Sitzenden hinweg in den Saal. Die
Bombe platzt ungefahr in der Mitte des Saales zwischen den
Stuhlreihen, der Detonation folgt Geschrei und Gejammer
und auf der Galerie ein RevolverschuB : den Revolver, den
der Attent£ter auf sich selbst gcrichtet hattc, schlagt ein
Detcktiv in die Hohe, und die Kugel bohrt sich in die
Dccke. Der vcrhaftete Attentatcr, Aloys Hac.ek, Post-
beamter, schweigt vcrstockt, abcr Notizen, die er zicmlich
sorglos in der Wohnung hat herumlicgen lassen, und
sonstige Spuren sprechcn; und noch an demselben Tage
wird in der Pratergegend der Hcrsteller der Bombe, ein
272
Uhrmacher namens Koloman Feher, verhaftct. Auch
Koloman Feher spricht nicht, jedoch bringen in seinem
Monatszimmer gefundene Anhaltspunkte und die strenge
Kontrolle der Grenzstationen und Bahnhofe neuerc
Resultate : in Unterdrauburg an der jugoslawischen Grenze
wird ein ehemaliger Artillerieoberleutnant namens Norbert
Ring verhaftet, und an demselben Tage fallt bei Feldkirch
an der Schweizer Grenze die angebliche Angestellte Gerda
Buhr der Polizei in die Hande; so auch der mit einem
spateren Zug ebendort ankommende Russe Peter SsesomofT,
angeblich Briefmarkenhandler; alle diese Personen sind als
am Attentat betciligt verdachtig. Die angespannte, au>-
gezeichnete Arbeit der osterreichischen Polizei und do
Untersuchungsrichters fiihrt in wenigen Tagen zur Vei-
haftung weiterer vierzehn verdachtiger Personen. Mn
filmartiger Geschwindigkeit saust das Drama der E:-
eignisse: die Verhafteten — trotz greif barer gegenstand-
licher Beweise! — leugnen ausnahmslos, doch in der
zweiten Woche bricht unerwartet Aloys Hayeks Wider-
stand, und er enthiillt die ganze Gesellschaft. Ha$ek \vird
jedem Verdachtigen einzeln gegeniibergestellt, dann erfolgt
eine allgemeine Konfrontation : die blonde Frau bleibt
schroff und hartnackig dabei, keinen einzigen zu kennen;
Oberleutnant Ring jedoch ist gestandig, und auch die
unbedeutenderen Angeklagten halten mit dem Gestandnis
nicht mehr zuruck. Dann lafit sich eines Tages Ssesomoff
zum Verhor aus seiner Zelle fiihren und sagt: es hat keinen
Sinn, weiter zu schweigen, — und da lauft es ganz \Vien
kalt uber den Riicken, als die Gestandnisse Klarheit
bringen: Nach dem Zusammenbruch kommt in XX'ien cin
junger Russe an, Emigrant, Briefmarkenhandler, angeblich
eher Briefmarkenschmuggler; er macht grofic Geschafte,
jedenfalls ist er viel auf Reisen und hat viel Geld. Seine
Korrespondenz ist ungeheuer verzweigt: mit seinen
philatelistischen Geschiftsfreunden und den Postdirekrionen
vcrschiedener Staaten wechselt er Briefe und Telegramme.
18 Kormemli, Budapest 273
Das 1st Peter Ssesomoff. Norbert Ring lebt in Wien als
abgeriisteter Oberleutnant, — im Frieden war er Okonomie-
beamter auf einem Gut in der Steiermark gewesen, — cr
lebt? nein, er lebt nicht, cr vegetiert, leidet Not, bettelt,
kann nirgends unterkommen, hat keine Freunde, in der
herbstlichen Praterallee schlaft er auf einer Bank, als
Ssesomoff ihn findet. Einen Monat darauf hat Ring cine
hiibsche Zweizimmerwohnung in der Mariahilfer StraBe
und handeit mit Tcppichen. Eines Tages hat er auf der
Polizei zu tun: da wird gerade cine hysterisch schreiende
junge Frau die Treppcn hinaufgefuhrt, — sic hat zum
zwcitenmal einen Selbstmordversuch gemacht, sagt der
Detekdv, und noch immer ist das Versprechen nicht aus
ihr herauszukriegen, daB sic ihr Vorhaben aufgeben wolle,
und iibrigens, was ist schon so ein Versprechen wert? sie
wird uns noch zu schaffen machen, ja, ja, diese Zeiten,
Kriegswitwe ist sie. Ring laBt sich mit der Frau in ein
Gesprach ein, es ist Gerda Buhr. — Briefc kommen und
gehen aus und nach Polen, Amerika, Italien, Spanien.
Gerda Buhr bezieht ein hiibsches mobliertcs Zimmer bei
einer vornehmen Witwe. Ihr Beruf : Sekretarin. — Koloman
Feher, ein verdrehter, alternder Uhrmachergehilfe, ist der
folgende Genosse, und dann ziehen sie noch hier und dort
die cine oder andere verbitterte, gcsunkene, zweifelhafte
Existenz aus dem Elcnd hervor: es gibt unter ihnen Backer-
gesellen und ehemalige Polizistcn, Nahmadchen und
Studenten, Eisenbahner und Arbeitslosc. Der fruhere
Oberleutnant arrangiert in seiner Wohnung spiritistische
Seancen: hie und da gelingt es, den einen oder andern
Hausbewohner zu solchen Zusammenkunften heranzu-
lock en, — und das Haus findet sich damit ab, daB ein paar
Narren sich durch das schonc, blonde Medium mit dem
Geist Napoleons, Gocthes, Franz Josephs oder der ver-
storbenen Verwandtschaft der Gastc unterhalten. Es ist
auch nicht ausgeschlosscn, meint cine korpulcntc Familien-
mutter mit fiinf Kindcrn, die im zwciten Stock wohnt und
sich iibcr die MaBen iiber Gerda Buhrs strahlende, blonde
Schonheit argert, daB die da im Dunkeln bloB Schweinereien
treiben. Wenn sich jedoch kein Fremder bei ihnen ein-
gefunden hat, dann ist von der korrumpierten Gesellschaft,
den rechts und links gerichteten, gleichmaBig verbreche-
rischen Regierungssystemen, von den blutigen Dikta-
turen des weiBen Kapitals und des roten Hammers, vom
Massenkonkurs der menschlichen Ideale, vom kommen-
den Jiingsten Gericht der Gesellschaft und von der allein-
seligmachenden Anarchic konfus die Rede; und immer
und vor allcm davon, daB mit Dolch und Gift, mit Bomben
und Zugentgleisungen, mit Bestechung oder Vernichtung
des Individuums, mit Aufwiegelung der Masse, mit einer
ununterbrochenen Reihe kleiner Aktionen die groBe Aktion
vorbereitet, reif gemacht und nahergebracht werden miisse.
Was sind diese kleinen Aktionen? sich in die Menschen-
schlange vor dem Lebensmittel-, Heizmaterial-, Backer-
und Zigarrenladen stellen, laut davon reden, daB in der
inneren Stadt in den Hausern der reichen Juden und der
Grafen ... — und wenn dann der Schutzmann kommt, sich
drucken. Vor Linz, im Warterhaus XVII liegt der Bahn-
warter mit blutendem Kopf besinnungslos da, und ein
Giiterzug fahrt in einen dort stehenden Personenzug hinein,
in dem sechshundert Schulkinder zu einem Ausflug ab-
fahren sollen. Im Wienerwald wird in die Sommervilla
eines politisch exponierten Bankiers geschossen, ein hoher
Beamter des Ministeriums wird nachts auf dem Ring an-
gerempelt und halbtotgeschlagen, und ein auf der Chaussee
ausgespannter Draht reiBt den Insassen des sausenden Autos
die Kopfe ab. Eine ganze Mietskascrne in der Vorstadt wird
auf einmal krank: in der Milch der Wohlfahrt werden
Typhusbazillen gefunden, obgleich die andere Halfte
desselbcn Transports tadellose Ware ist. — All dies kommt
indessen und vergeht wieder: in Wien leben zwei Millionen
Menschen, und das Getose der in der Inflation siedenden
Stadt erstickt das Echo dieser kleinen Alarmrufe. Schwer-
18*
wiegendcre Dingc sind notig, unter dcnen das ganze Land
aufstohnt, — doch diese Zwanzig hier wissen selbst noch
nicht, was eigentlich die groBe Aktion sein soil. Die Bricfe
kommen und gehen; die Spiritisten halten fast taglich bei
Norbert Ring Sitzung ab: und eines Tages wissen sic, —
dann und dann werden soundso viele Minister, Politiker,
Bankiers und Industrielle versammelt sein. Es ist nicht die
groBe Aktion, aber die erste ernste Gelegenheit. Koloman
Feher konstmiert die Ekrasitbombe, und Aloys Ha9ek . . .
Aloys Ha$ek, — schreibt die Zeitung, — ist ein vier-
schrotiges, robustes Individuum mit struppigem, schwarzem
Haar, vernachlassigtem AuBern und duckmauserischem
Blick; auf die Fragen bei der Verhandlung antwortet er
stotternd, schwer und manchmal unverstandlich im Laufe
des Verhors:
Der President: Erzahlen Sie, Hagek, wie Sie in die
Ssesomoffsche Gesellschaft gekommen sind. Sprechen Sie
nur ruhig. Also?
Hafek: Ich, Herr President, ich war Beamter bei der
Post, namlich im Postamt hundertsechs, am Schalter fur
die Einschreibesendungen, und eines Tages brachte das
Fraulein einen eingeschriebenen Brief . . .
Der President: Welches Fraulein?
Hafek : Na . . . die Buhr . . .
Der President: Ja, — fahren Sie fort.
Hafek: Also . . . gerade vor sechs kam sie mit dem
Brief, ich wollte ihn schon gar nicht mehr annehmen,
worauf sie anfing zu betteln, und so lieB ich mich mit ihr
ins Gesprach ein, und schlieBlich sagte ich, na gut, Ihnen
zuliebc, schones Friulcin — da sagt sic ... (schweigt)
Der President: Was sagt sie? nur zu! also?
Hafek: Sic wiirdc bald mal wiedcrkommcn, hat sic
gcsagt.
Gerda Buhr: Das ist gelogen.
Der President vcrwcist die Angcklagte zu schwcigcn
und wcndct sich an Hac^k: Und ist sie gekommen?
276
Hafek : Schon am nachstcn Tag . . . sechs Bricfc hat
sie gebracht, punkt sechs Uhr abends . . . ich habe die Briefe
angenommen, und dann haben wir uns cin biBchen
unterhalten
Der Prasident: Dann haben Sie sie nach Hause begleitet.
Hafek : Ja . . . sie hat namlich gewartet, bis ich meinen
AbschluB fertiggemacht hatte . . .
Der President : Sie hat auf Sie gewartet?
Hafek : Das heiBt ... ich habe sie gebetcn, ob sie nicht
warten wiirde
Der Prdsident : Aber Sie sind doch ein verheirateter
Mann und haben Familie, — warum wollten Sie, daB sie
auf Sie warte?
Hafek: Ja, Herr President, ich bin seit zwolf Jahren
verheiratet, und die Buhr . . . war so anders als
Bewegung und Heiterkeit im Saal, der Prasidcnt ver-
weist die Zuhorer energisch zur Ruhe.
Der Prdsident: Gut, fahren Sie fort, Sie haben sie also
nach Hause begleitet. Und wovon haben Sie unterwegs
gesprochen?
Hafek schweigt blodc, denkt schwer nach, dann sagt
er stockcnd : Ich hab sie eingeladen, mit mir ins Kino zu
gehen . . .
Der Prdsident : Und sind Sic dann ins Lichtspieltheatcr
gegangen?
Hafek: Ncin ... sie hat gesagt, ein anderes Mai . . .
jctzt habe sie es eilig . . .
Der Prdsident: Und wann haben Sie sich dann wieder
mit ihr gctroffen?
Hafek : Bitt schon, Hcrr Prasident . . . nach drei Tagen
kam sic wieder ins Postamt . . . hat wicdcr auf mich gewartet,
und ich hab sie wieder nach Hause begleitet . . . und das
ging so fiinf oder sechs Tagc . . . spater hat sic keinc Briefe
mehr zum Aufgcben gebracht, ist bloB so gekommen.
Der Prdsident: Und ist Ihncn das nicht aufgefallen?
haben Sic nicht dariibcr nachgedacht, warum die Buhr
immcr zu Ihnen kam? haben Sic nicht gcdacht, sic wolle
ctwas von Ihncn?
Hafek : Gcdacht . . . ja, gcdacht habe ich schon, daB sic
etwas will . . . aber ich habc an was andercs gcdacht . . .
(Bcwcgung und Hcitcrkeit im Saal, die plotzlich ab-
brechen.) Die Buhr hat namlich gcsagt ... ich gefalle ihr —
Gerda Buhr : Das ist gelogen.
Der Prdsident droht Gerda Buhr mit Ordnungsstrafe,
wendet sich dann an Hagek: Gut, — und nun erzahlen
Sie mal, Hagek, wic sich diesc Freundschaft dahin ent-
wickelt hat —
Hafek: Wohin?
Der President: Unterbrechen Sie mich nicht! — wie
sich diese Freundschaft dahin entwickelt hat, daB Gerda
Buhr Ihnen die Anarchisten-Gescllschaft erwahntc und Sie
dort einfuhrte?
Hafek: Ja, Herr Prasident, das war namlich so, daB
sic ... viclmehr . . . (aufgercgt) vielmehr daB ich einen
fiirchtbaren Fehler gcmacht habe . . . namlich, ich hatte
ganz und gar den Kopf und den Verstand verloren . . .
(seine Aufregung steigcrt sich) namlich ... ich habe mich
ganz schrecklich in die Buhr verliebt . . . und das hat sic
natiirlich bemerkt . . . und sie hatte es direkt darauf
abgesehen, daB ich (stottert vor Aufregung) Herr
PraVsident, ich ... kann so schwer —
Der Prasident: Sprcchen Sie ruhig weitcr, Hagck. Also,
sic nahm Ihrc Gefuhlc fur sic wahr, nutztc das aus und —
Dr. Fischer, Vcrteidigcr dcr Gerda Buhr, springt crrcgt
von scincm Platz auf : Ich mochtc doch bitten, Herr Pra-
sident, ich vcrwahrc mich dagegen, daB das Gericht dem
Gcstandnis dcs Angeklagten Hagek cine solche Richtung
gibt, beziehungsweise cincm Halbgcbildeten Wortc und
Ausdriicke in den Mund legt
Der Prasident: Herr Verteidigcr, ich muB Sic ob
dcr Insinuation zur Ordnung vcrweisen! ,Sic nutztc das
aus', — diescn Ausdruck hat dcr Angcklagte Hacck selbst
278
angcwendct im Laufe des Gestandnisses, das er dem
Untersuchungsrichtcr ablegte. Ha9ek, fahren Sie fort I
Hafek, dcr wahrend des Vorhergegangenen den Prasi-
denten Starr angeblickt hatte, aufgcregt : Ausgenutzt ! jawohl,
ausgenutzt hat sie es! Herr President, sie hat nicht einmal
zugelassen, daB ich ihre Hand anfaBte . . . dabei hat sie
gesehen . . . gewuBt hat sie, daB ich ganz wild geworden
war, daB ich Fieber bekam, wenn ich sie bloB ansah . . .
(in wachsender Aufregung) ich kann mich nicht mehr
erinnern, wie sie mich dahin geschleppt hat, Herr Prasi-
dent . . . aber sie hat mich immer vertrostet . . . zu den
Versammlungen hat sie mich auch bloB so verlockt,
vielleicht spater einmal . . . wenn ich gar nicht daran
denke . . . (stottert vor Aufregung) Herr President . . . mir
war es ja bloB wichtig, sie zu sehen, ich weiB gar nicht, wer
sonst noch da war . . . ich habe bloB immer darauf gewartet,
daB vielleicht doch einmal . . . einmal etwas zwischen ihr
und mir sein wiirde . . . ich bin kein Kind mehr . . . vierzig
Jahre bin ich . . . aber ich war ganz unter den EinfluB dieser
Frau gcraten, ich . . . ich
Der Prasident : Ruhe, Hac^ek, Ruhe, versuchen Sie zu-
sammenhangend —
Hafck zittert vor Aufregung und schreit: Als . . . als
sic von dem Attentat sprachen und fragtcn, wer es iiber-
nehmen wiirde, die Bombe zu wcrfen . . . und sich niemand
mcldetc . . . (bekommt einen Hustcnanfall und fahrt
muhsam fort) Herr Prasident, da ... hat die Buhr sich zu
mir gcbeugt und mir zugcfliistcrt —
Eine Frauenstimme aus den Reihcn des Publikums, fast
kreischend: Was?l
GroBc Heitcrkeit und Bewegung, auch der Prasident
lichelt, dann ruf t er die Zuhorerschaft streng zur Ordnung auf .
Der Prasident: Nun?
Hafek: Zugeflustert hat sie mir, ubernimm dus, dann
bckommst du, wonach du dich sehnst! . . . Herr President
(mit wachsender Aufregung) ich war drei Jahre an der
Front und wciB, daB die Welt ... die Welt so nicht in
Ordnung ist . . . daB alles . . . (stottert vor Aufregung) aber
wenn diese Frau das nicht getan hatte, dann . . . ware ich
nic imstande gewesen, die Bombc zu —
Der President: Einen Augenblick! wenn die Frau was
nicht getan hatte?
Hafek in maBloser Erregung: Wenn sie . . . sich mir
nicht hingegeben hatte!! (Erregtc Bewegung im ganzen
Saal.) An dem Abend, als ich die Sache ubcrnommen
hatte ... da hat sie sich mir hingegeben ... in Rings
Wohnung auf dem Sofa . . . wir waren allein geblicben . . .
und von da an (briillt) bis zum Attcntat noch viermal . . .
Herr Pr&sident . . . immer dann, wenn sie geschen hat, daB
ich schwanke . . . meine Hand hat sie genommen oder mich
gckuBt . . . wenn sic gesehen hat, daB ich nachdenklich und
angstlich war, dann hat sie sich mir hingegeben . . . mit
ihrem Korper hat sie mich gczwungen, Herr President . . .
ich war schon nicht mehr bei klarem Vcrstand ... ich bin
doch auch darauf eingegangen, mich nachher zu cr-
schieflen . . . ja, und . . . auch noch am Vormittag vor dem
Attcntat ... ich hatte mich im Amt krank gcmeldet, und da
habe ich mich auch mit ihr gctroffen . . . ich war ja wahrend
dcr ganzcn Zeit nicht bei Verstand . . . Herr President . . .
ich habe doch auch vergessen, die Sachen in meiner
Wohnung zu vcrbrennen . . . und da an dem Vormittag
ist sie nochmal mit mir ins Bctt gegangen (keuchcnd)
Herr Prisident, ich kann nicht widcrstchen —
Gerda Eubr mit scharfer, kalter Stimme: Das Ganze
ist gelogen!
Der Stoat sanwalt : Ich mochtc das Gericht ergebcnst
auffordern, die Offentlichkeit auszuschlieBcn
Der Zciningspackcn failt Kiddr aus der Hand und
knallt auf die Erdc. Gcrda Buhr, — die kiihlc abendliche
Blonde, die an seinem Krankenbett gestanden hatte wie cine
Heilige, wie cine Mutter, wie cine ,,Was ist denn, um
Gottes willen?! fehlt Ihncn was?!" ruft Frau Knopfcr aus
280
dcr Tiirc, ,,Herrgott, Sie sind ja weiB wie die Wand! um
Himmcls willenl" — >>Ach, nein", sagt er miihsam,
,,dieser . . . StrafprozeB hat mich nur etwas aufgcregt, Sie
konncn sich das gewiB vorstellcn, ich habe auch in Wicn
gelcbt, ziemlich langc Zeit." — ,,O ja, das kann ich mir
vorstellen!" bcruhigt sich Frau Knopfer, ,,du lieber
Himmel, was gibt cs doch fiir schlechte Menschen! und ich
halte die Frau fiir die Hauptschuldige, trotzdem hat sie
nicht die schwerste Strafe bekommen, sondern der arme,
betorte Postbeamte! Tja, so ist das Leben . . ." fiigt sie
picpsend hinzu, ,,ein Gliick, daB man mit solchen entsetz-
lichen Dingen nichts zu tun hat."
DaB man nichts damit zu tun hat — da steigt ihm plotz-
lich cine eisige Leere in den Kopf, — daB man nichts damit
zu tun hat ... und es uberkommt ihn eine groBe, kiihle,
fremde Ruhe. Wenn sie damals im Krankenhaus, als sie
merkte, daB das, was sie von der Welt, von der dunkeln,
einstiirzenden Welt sagte, mich nicht interessierte und daB
ich cs nicht verstand, wenn sie da nicht locker gclassen
hatte, dann hatte sie mich in ihren Bann bekommen, durch
ein cinziges Wort, das sie sicherlich hatte aussprechen
konnen. Wenn sic damals in der Nacht auf dem Flur
mich nicht von sich gestoBen hatte, sondern an sich gc-
zogcn und am nachsten Tag Menschenlcben von mir
gefordcrt hatte fur die Umarmung — Aber sic schwicg,
sticB mich zuriick, vcrschloB sich. War ich ctwa schlcchter
als dcr Hagck? — odcr war ich bcsscr? Man hat nichts damit
zu tun — was gcht sic mich an?! was geht sic mich an iibcr
die Zeitungsblatter hinaus ... sie und die iibrigcn, alle, was
gchcn sie mich an? Man ist dariibcr hinaus auch
dariiber bin ich hinaus. — Er schlicBt fiir eine Sckundc die
Augcn. Jctzt . . . handclt cs sich bereits um andcrc Dinge.
Mrs. Knopfer stebt, ctwas unschliissig, noch immcr in dcr
Tiire, — dann biickt cr sich, hcbt die Zcitungen auf, legt
sie auf den Tisch und sagt zu ihr: ,,ich habe sie durch-
gclesen, dankc vielmals."
281
i6
J A, — jetzt handelt cs sich schon um andere Dinge.
Darum, daB cr mit aller Kraftanspannung sich vom Telefon
zuriickhalt: er will Mrs. Myers nicht vor der Zcit anrufen.
Er darf nicht zu gierig, zu vereinsamt, zu sehr wic cin
MiiBigganger erscheincn. Ilona Szabo darf nicht merken,
daB nun bereits allcs, scin ganzes Leben und fiinfundvierzig
Pfund, auf die cine Moglichkeit gesctzt ist, daB doch,
ja! es wird gelingen! es muB gelingen! — diesmal lasse ich
cs nicht aus der Hand! Dieses Warten jetzt ist ein viel auf-
regendcres Spiel, als . . . zum Beispiel der Gliicksautomat
war. Es ware leichter, wenn er unter Menschen sein konnte,
vielleicht wurde die Zeit dann schneller vergehen, abcr cr
fiirchtet, die Gesellschaft Fremdcr konne ihn dem Fokus
des einzigen Gedankens cntrticken, in dem er brennt und
brcnnen will, bis — Er fiirchtet, hinter jedcm Wort, das
cr sprache, cine Idee, cinen Einfall zu verpassen, die ihm
vielleicht bchilf lich sein konnten, wcnn — Und cr fiirchtet,
die Unterhaltung mit Frcmden wiirde ihn natiirlich wieder
auf alte Dinge, altc Menschen, alte Ereignisse, altc Gc-
danken bringen. Abcr auch vor dem Alleinscin fiirchtet cr
sich: der unertragliche Druck des Alleinscins konnte die
Glasglockc zcrbrcchcn, unter die cr sich vor Zcit und
Erinncrungcn gefliichtct hat. — Er geht auf die StraBe,
macht cinen langen Spaziergang; der kiihlc Hcrbst streicht
kiihlc Ruhe um scin Haupt, und inmitten der tauscnd gleich-
giiltigen, ungcfahrlichen Fremden der StraBe hat cr allcin
Mrs. Myers, gcborcnc Ilona Szab6, vor Augcn und Ohrcn,
sic allein fiillt sein Gehirn aus. Mrs. Myers und allcs, was
um sic ist odcr sein kann oder sein wird . . . Er gcht iibcr die
StraBe, sicht sich die Schaufenster an, — das und dies und
jcncs wcrdc ich brauchcn, wcnn ich mit ihr rcisc ... —
sicht sich Menschen und Dinge an und wundert sich iibcr
die Schlendcrndcn und die Eilcndcn, iibcr die vielen fremden
Menschen, die allc an ihm voriibergchen, langsam oder
282
schncll, und nicht wisscn In cincm Biichcrladen kauft
cr sich cine Landkarte, damit gcht cr sofort nach Hausc und
brcitct sic auf dcm Tisch vor sich aus. Nord- und Siid-
Rhodesia, Transvaal, Oranje, Wcstlich-Siidafrika, Kapland,
Union der Siidafrikanischen Staaten . . . Der ganze Nach-
mittag vergeht damit, daB cr sich in das Bild von Kapland
vertieft.
Am vicrtcn Tage, — jetzt kann ich cs schon beruhigt
tun, — ruft er gegen Mittag Mrs. Myers telefonisch an.
Sic ist nicht zu Hause, und der plappernde Sopran am
andcrn Apparat wiederholt unsicher zwei-, dreimal den an-
gegcbcncn Namen. Als er die Muschel hinlegt, befallt ihn
plotzlich die Angst, daB das weibliche Wesen driiben, —
wahrscheinlich die Zofe, — gewiB nicht richtig und genau
ausrichtcn werde, wer angerufen hat. Es ist zwar nicht
schwer, es zu erraten, er kann ja auch noch einmal tele-
fonieren und wird es auch, natiirlich, — aber dennoch, so
cine ungewisse Sache — — und als er auf die StraBe
hinuntergcht, setzt er sich noch in einem fort auseinander,
daB man den etwaigen dummen Folgen eincr unrichtigen
Bestellung odcr eines falsch angegebenen Namens am
bcsten gleich vorbeugt. Er geht ins erste Blumcngeschaft
und schickt Mrs. Myers cine wunderschone, blaBblau
schatticrtc Orchidec. Auf die Karte schrcibt er: Mit
HandkuB, Antal Kddar. Anderthalb Pfund . . . nun, und?
andcrthalb Pfund. In Ordnung. Gegen Abend rufe ich sic
wicdcr an. Augen wird sic machen, wcnn ich ihr sage% daB
ich hier wohne, in ihrer unmittelbaren Nahe.
Nach Tisch sitzt cr in seinem Zimmer und bctrachtct die
Landkarte; es klopft, — das Zimmermadchcn : ,,Sie
mochtcn sich ans Telefon bcmiihcn, Mrs. Myers wiinscht
Sic zu sprcchcn." Verblufft und vcrstandnislos starrt er das
Madchcn cinen Moment an, dann stiirzt cr ans Telefon.
,,Mr. Kaddr?" fragt die Stimme im Apparat. ,,Mrs. Myers?
woher wisscn Sic denn, daB ich hier wohne?" — ,,Ich weiB
es bait", sagt Ilona Szab6, ,,gcniigt cs nicht, daB ich es
283
weiB? Ich bin sehr b6se wegen der Blumc. Dariiber werden
wir noch reden. Bis dahin vielen Dank. Haben Sic hcutc
abend Zeit? ja? gut, dann crwarte ich Sie nach sicbcn
Uhr." Er reiBt die Schranktiir auf : zcrdriickt und schmierig
hangt sein Smoking am Haken. Seit mehr als einem
Jahr . . . und das Smokinghemd ist auch nicht gestarkt, —
natiirlich zur griinen Schiirze . . . still! krachzt eine Stimme
in ihm auf, die griine Schiirze existiert nicht, hat nie
existiertl! — Die Klingel schrillt, und schon bringt das
Zimmermadchen den Anzug zum Auf biigeln, und er selbst
rennt iiber die StraBe und sucht ein Geschaft. Nervos reiBt
er dem Verkaufer das Paket aus der Hand, — zwei Hemden
mit steifer Brust, ein halbes Dutzend Kragen, cin modischer,
schmaler schwarzer Schlips, zwei Paar feine schwarze
Striimpfe, ein Paar unerhort teure hellgraue Handschuhe.
Die Aufregung tobt in ihm, als nach fiinf endlich der
frisch gebiigelte Smoking gebracht wird, — ein Skandal, in
den Spiegel haben sic am Rand einen Glanzfleck gebiigelt ! —
und dann beginnt er, sich fertig zu machen. Es ist fast
sieben Uhr, als er samtglatt rasiert, in steifer, frischer
schwarz-weiBer Abendeleganz dasteht.
Mrs. Myers erwartet ihn im kleinen Arbeitszimmer, —
vor dem niedrigen Schrank steht ein runder Tisch,
schaumend weiB fiir zwei Personen gedeckt. ,,Ah, dinner
jacket", sagt sic, als er eintritt, ,,dabei wollte ich Ihnen noch
sagen, nur ganz ungezwungen, wir sind bloB allein. Wegcn der
Blumc bin ich Ihnen sehr bose", fiigt sie dann gleich binzu,
,,Sic Kind, diese Hoflichkcit kostet Sie doch mindestcns
zwei Pfund, und wenn jcmand so wackelig steht wie Sie — "
Sein Gesicht flammt rot auf, und mit protestierender Hand-
bewegung unterbricht cr Mrs. Myers, sie fahrt aber vollig
unbeirrt fort: ,,nein, nein, keincn Widerspruch, — das
wollen wir nur gleich hinter uns haben, ich habe mich
genau informiert, wer Sie sind. Ein armer Junge wie Sie
darf kcinc so kostspieligen — nun, nun bclcidigt dvirfen
Sie nicht sein, so kommcn wir nicht vorwarts miteinandcr.
284
Im iibrigen 1st es gar keine Schande, — ich war auch keine
Prinzessin friiher ..." — und das sagt sie so nett und
schlicht, daB es eine Dummheit ware, nicht herzlich zu
lachen, und erst recht eine Dummheit ware, welter Komodie
zu spielen. ,,Sie wissen also alles von mir?" fragt er leichthin
mit leisem innerem Beben: ob sie wohl auch das mit Pista
Toth weiB? ,,Ja, alles", antwortet sie, ,,das heiBt, alles das,
was ich wissen wollte." Sie hat sich also nach mir erkundigt,
denkt er mit aufsteigender Erregung und stoBt plotzlich
hervor: ,,und wie denn?" — ,,Sie naiver junger Mann . .».
ein geschickter Biiroangestellter . . . geniigt das nicht? Sie
vergessen, daB England die Heimat Conan Doyles ist!"
und lacht, ,,sagen Sie mal, was ist diese Mrs. Cresse fur eine
Frau? wie ist noch gleich ihr Madchenname? ach ja,
Csordas. Ist sie hiibsch?" — »Alt", sagt er rasch und wird
sofort rot und liigt: ,,so um die Vierzig mag sie sein, und
schon verbliiht." — ,,Und wie sind Sie mit denen ver-
wandt? und was haben Sie dort gearbeitet?" Wieder und
wieder errotet er bei ihren Fragen und fangt lang und breit
an zu erklaren, ,,ja, die Verwandtschaft . . . das sei eigentlich
keine echte Verwandtschaft, und gearbeitet . . . ja, er habe
die Einkaufe besorgt und hauptsacblich die Geldangelegen-
heiten erledigt, zwischendurch jedoch und hauptsachlich
habe er studiert . . . das heiBt, er habe die Augen offen-
gehalten fur alles, was mit der modernen Architektur — "
,,Na, gutu, sagt sie, ,,also Mrs. Cresse ist alt und nicht hubsch.
Alt bin ich auch schon . . . wenigstens viel alter als Sie." —
,,Ist ja nicht wahr", sagt er rasch und energisch, ,,Sie
konnen hochstens gleichaltrig mit mir sein." — ,,Aber
sehen Sie mal", sagt Mrs. Myers neckisch, ,,warum wollen
Sie mir auf binden, daB Sie sich nach alldem, was ich Ihnen
von mir erzahlt habe, nicht langst ausgerechnet haben, daB
ich achtundzwanzig bin. Alt bin ich, junger Mann." —
Kdddr fiihlt, daB es ihm warm wird in der Brust, er sieht
ihr scharf in die Augen: ,,Sie sind achtundzwanzig Jahre
alt und sehen wie zwanzig aus, ich bin vierundzwanzig,
285
wie alt ich aussche, weiB ich zwar nicht, aber ich habe
mindestens doppelt so viel durchgemacht " Sie sieht
plotzlich weg von ihm, langt ein wenig zogernd nach der
Zigarettendose und sagt: ,,klingeln Sie doch bitte, ich habe
Hunger."
Mrs. Myers iBt viel und unglaublich schnell. Es gibt
unter anderm auch eine ganz merkwiirdige Speise, kalte,
stark gewiirzte Krebsschnitten auf kleinen gerosteten Brot-
scheiben, und das Ganze schwimmt in einer sauerlichen,
nach Sekt schmeckenden Sauce. Auch Kadar iBt mit gutem
Appetit, und wie er ihr so gegeniibersitzt, geht ihm fort-
wahrend durch den Kopf: achtundzwanzig, vier Jahre
alter als ich. — Mrs. Myers kann zumindest so gut plaudern
wie essen. Sofort bemerkt sic, daB Kadar wortkarg ist: sie
selbst wirft die Themen auf und erzahlt in geradezu vir-
tuosen Variationen von Sudafrika, von Mr. Myers, von den
dortigen Verhaltnissen und der Firma, den Reisen nach
London und von jener letzten traurigen Reise, von Sydney,
von ihrem friiheren Leben, — Kadar beginnt die Ohren weit
zu offnen, als sie von sich selbst spricht. — Ich war auch
keine Prinzessin . . . hallt es in seinem Kopf wider, als die
Erinnerungen an vergangene Kassaer Tage auf ihren
Lippen lebendig werden mit der nie vergehenden Macht
des Erlebens, der Aufrichtigkeit des Riickblicks auf sich
selbst. Vierzehn Jahre . . . Uona Szab6 ist vierzehn Jahre
alt, als ihr Vater — zehn Jahre nach dem Tode der Mutter —
an einem entsetzlich regnerischen Tag auf der StraBe sich
an die Brust greift, — bis man ihn nach Hause transportiert
hat, ist er bereits bewuBtlos, und als sich der alte Doktor
Terniczky iiber ihn beugt, lebt er nicht mehr. Ilona Szab6,
Schiilerin der vierten Klasse der hoheren Madchenschule,
weint ohnmachtig in Tante Boras SchoB. Keinen andern
Menschen hat sie nun mehr auf der Welt als diese altc
Haushalterin. GroBe Beerdigung, die ganze Stadt ist da,
auch der Biirgermeister; dann kommt eine Unterstxitzung
von der Stadt, — Imre Szab6 war stadtischer Archival
286
gewesen, — aber die Dreizimmerwohnung muB aufgegeben
werden, und es 1st noch ein Gliick, daB die alte Bora in den
zehn Jahren etwas Geld beiseite gelegt hat und Ilona liebt,
als ware sie ihre eigene Tochter. Zum Herbst tritt die
Wirtschafterin jedoch wieder irgendwo in Stellung, das
kleine Madchen kommt zum alten Freund ihres Vaters, zu
Onkel Vizsenyi, den das Waisenamt zum Vormund be-
stimmt hat. Onkel Vizsenyi ist Witwer, besitzt zwei schone
Mietshauser, hockt den ganzen Tag im Cafe, raucht seine
Pfeife und dreht jeden Groschen, den er ausgibt, erst
zehnmal in der Hand. Im Hause ist eine fiirchterliche, aus-
gemergelte alte Verwandte, Frau Marko, die den Haushalt
fuhrt und vor der das kleine Madchen derartige Angst hat,
daB es zittert, wenn sie es nur ansieht. Ilona kann es zu
Hause nicht aushalten, — aber weiter in die Schule gehen . . .
nein, sie muB ein Handwerk erlernen. Nahen? Gartnerei?
Kindermadchen werden? — Onkel Vizsenyi willigt ein,
daB sie Stenographic und Schreibmaschine lernt. Der
Kursus dauert ein halbes Jahr; nach Ostern bekommt sie
auch gleich eine Stelle, im Biiro bei Doktor Simoncsics;
zwanzig Kronen verdient sie im Monat, vorlaufig. Im Biiro
arbeitet ein junger, blondhaariger Referendar, Anti Peterfy.
Ilona ist funfzehn Jahre alt. Strahlende, ahnungsvolle
Sommernachmittage und -abende gehen iiber sie dahin; der
Rechtsanwalt spielt schon um fiinf Uhr im Kasino Tarock;
die beiden bleiben fast taglich allein im halbdunkeln
Buro-Hofzimmer. Ilona fiihlt und weiB, daB sie Anti
Peterfy nicht widerstehen konnte . . . der Junge, Sohn des
Gerichtsprasidenten, will nicht oder wagt nicht . . . und so
vergehen diese Stunden nur in schwulem, erregtem, auf-
reibendem Gekiisse. Der Mannesarm und Mannesmund
bliihen jedoch in dem kleinen Madchen auf, und aus der
kleinen Hi wird in wenigen Monaten die groBe Ilona, —
auf der StraBe wird sie angegafft, von den Frauen in der
Angst vor der Konkurrenz, von den Mannern mit masku-
lincr Eindeutigkeit, — die groBe Hona Szabo indessen gibt
287
bereits auf sich acht, und Anti, selbst wenn er jetzt wollte . . .
Mit angstvollcr Behutsamkeit spart sie die Kronen: sie
mochte nach Budapest, — und wenn sie dazu Geld genug
hat und Onkel Vizsdnyi es nicht erlauben sollte, dann riickt
sie einfach aus. — Anti Peterfy ist nun schon ernstlich in sie
verliebt, und die Frau Gerichtsprasidentin macht sich groBe
Sorgen ob des einen und andern Wortes, das ihr Sohn
fallen laBt. — Der Bengel ist noch imstande, diesen kleinen
Fratz zu heiraten, wenn er sein Examen gemacht hat . . .
und das darf natiirlich nicht sein. Einmal verrat Ilona dem
Jungen ihr Geheimnis, daB sie nach Budapest will; er liest
es ihr von den Lippen ab, daB sie ihn nicht mehr liebt. Da
macht er ihr eine Szene, droht mit Selbstmord . . . Ilona
lacht, sie weiB, daB diese Drohung eine Kinderei ist, und
weiB auch, daB der Junge zu einer hvibschen jungen Witwe
namens Rozsa Szelenak geht, und wenn sie auch iiberzeugt
ist, daB trotzdem sie die ernste Herzensangelegenheit ist,
so weiB sie dennoch: wenn sie einmal weg ist, wird Anti
Peterfy neben Rozsa Szelenak eine andere ernste Herzens-
angelegenheit haben. Der Junge aber bekommt geradezu
einen Anfall, als eines Tages im Zusammenhang mit einem
langwierigen, komplizierten, erbitterten ProzeB der Bau-
sachverstandige von Simoncsics* Hauptklienten, dem
exaltierten Grafen, ein Londoner Architekt namens Myers
erscheint: vom ersten Augenblick an driickt er sich um
Ilona herum und sagt wobl hundertmal am Tage scherzhaft,
ein so wunderschones MadchenI — und wenn etwas sehr
oft gesagt wird, so glauben es in der Regel zum SchluB zwei :
der es sagt und der, dem es gesagt wird. Myers ist mindestens
zehn Jahre alter als Anti P£terfy, an den Schlafen beginnt
er schon grau zu werden, und gekleidet ist er, daB die klein-
stadtischen Eleganten ruhig die Gelbsucht kriegen konnen.
Er bleibt zwei Wochen in Kassa und reist dann wieder ab.
Etwas Eigentiimliches sagt er, als er sich von dem Madchen
verabschiedet, namlich: ich mochte, daB Sie Englisch
lernen. Ilona denkt sich etwas und wird bis liber die Ohren
288
rot, — und am nachsten Tage meldet sie sich zum Sprachen-
Abendkursus in der Biirgerschule an. Mit finsterer MiB-
billigung verfolgt Anti Peterfy dieses Englischlernen. Vor-
wurfsvolle, nervose Worte fliegen zwischen ihnen hin und
her. Anti schimpft den Englander einen Halunken, Ilona
halt ihm Rozsa Szelenak vor; dann stabilisieren sich diese
Streitereien, — Ilona amiisiert sich im Grunde genommen
uber die Geschichte, Anti indessen spricht an einem ver-
bitterten Abend im Cafe beim Weinglas und in Gegenwart
Pista Garays und Viktor Szokans und Berti Molnars ein
gemeines, unbedachtes, gefliigeltes Wort aus . . . Am
folgenden Tage erzahlt Pistas Mutter einer Tante Vilma,
Viktors verheiratete Schwester einer Freundin, Bertis
Geliebte, die Kassierenn im Cafe, ihrer Chefin, daB . . . und
in zwei Tagen spricht die ganze Stadt davon, daB Ilona
Szabo die Geliebte des englischen Architekten sei. Der
Miihe wert gewesen, der nachzulaufen, sagte cine, —
nachgelaufen ist er ihr doch gar nicht, verbessert einer, der es
bcsser weiB, keine Spur von Nachlaufen, gleich am ersten
Abend . . . Zwei ncue Kleider hat sie von dem Englander
bekommen, — ach Unsinn, zwei Kleider, tausend Pfund,
verstehen Sie mich? tausend Pfund hat er ihr hiergelassen . . .
Englisch laBt er sie lernen, denn wenn sie ihm spater
nachreist, — nachreist! er wird sie sich gerade nachreisen
lassen, hochstens nach Budapest wird ihr Kurmacher sie
mitnehmen, er hat doch in London cine Frau . . . Betroffen
sieht Anti Peterfy eines Tages, was er angerichtet, was fur
eine Lawine er ins Rollen gebracht hat, — aber zu spat.
Frau Peterfy nimmt ihm das Ehrenwort ab, daB er sich mi:
dieser . . . Person nicht mehr einlasse, auBerhalb des Biiros
und amtlicher Dinge naturlich, — aber man miiBte auch
Rechtsanwalt Simoncsics darauf aufmerksam machen . . .
es passe sich schlieBlich doch nicht fur cinen Gentleman,
solch ein verworfenes Fraucnzimmer im Hause zu halten;
am Ende kommt er noch selbst in schlechten Ruf. Und der
Klatsch geht weiter und greift urn sich, iibersteigt sogar
t
19 Ktirnmidi. lliidaprst 289
ein wenig den iiblichen Lebensgehalt des Klatsches, —
tja, der Englander war auch keine alltagliche Erscheinung ! —
und selbstverstandlich kommen Ilona die Sachen wieder zu
Ohren. Soil sie weinen, oder — wie konnte sie sich dagegen
wehren? Soil sie ihren Ritter Dr. Antal Peterfy um seinen
Schutz bitten? — Zum Gliick hat sie keine gesellschaftlichen
Ambitionen in Kassa, — ihr Vormund ist fur solchen Unsinn
taub, — und dann, kein Wunder dauert ewig. Sie geht ins
Biiro, redet Anti kuhl mit Herr Doktor an, im stillen lacht
sie iiber ihn und . . . kann dem groBen dummen Jungen
nicht bose sein. Sie hat ihn schon endgiiltig iiberwunden, —
vorbei, aus, unwichtig. Wichtig aber ist, daB eines Tages
cine Karte aus London kommt, und noch eine und noch
eine, in regelmaBigen Zeitabstanden, und dann kommt eine
Karte aus Antwerpen, dann eine aus Paris, dann aus
Toronto und dann wieder eine aus London, — und dann
ist Mr. Myers eines Tages wieder in Kassa, laBt sich dem
alten Vizsenyi vorstellen, und zwei Wochen sparer reisen
Mr. und Mrs. Myers, geborene Ilona Szabo, mit dem Abend-
schnellzug in einem Extrakupee von Kassa ab. Hinter ihnen
brennt die Stadt in den knisternden Flammen des neuen,
drei Tage dauernden Wunders . . . und dann hat Kassa
Ilona Szabo schneller vergessen als Mrs. Myers Kassa, von
dem noch immer — iiber London, Sydney und Port
Elizabeth hinaus — die Erinnerung an eine unendliche,
ermudende und dennoch wohltuende Erwartung lebt.
Von unten ist sie heraufgekommen, von noch tiefer als
ich, summt eine Stimme in Kddars Kopf, und sie wird mich
mitnehmen in die Hohe. Und den ganzen Abend spricht
diese Stimme leise zu ihm, dirigiert seine Worte und Be-
wegungen, mahnt ihn zur Vorsicht und verscheucht die
bereits mehrmals ihn uberkommende bettlerhafte Selbst-
erniedrigung: gib acht, hier handelt es sich nicht um ein
Pfund, gib acht, sei nicht gierig, gib acht, verrate dich nicht.
Nach seinen personlichen Angelegenheiten fragt sie kaum;
mehr und mehr konzentriert sich das Gesprach auf
290
Siidafrika. In aufregenden Mosaikfarben sieht er das Land
der VerheiBung vor seinen Augen schillern : die aufstrebende
englische Hafenstadt mit Neapels Klima und Amsterdams
Sauberkeit und mit dem Reichtum des siidafrikanischen
Staatenbundes hinter ihr. Gleichsam von Woche zu Woche
tun sich neue StraBen auf, und es cntsteht die Stadt: reiche
hollandische und deutsche Familien wetteifern mit den
Englandern um ihr Aufbliihen und um die Befriedigung
der Anspriiche von Bequemlichkeit und Luxus. Auf den
palastartigen Klub der Hollander reagieren die Deutschen
mit einem noch pomposeren Vereinshaus, und die Englander
bauen daraufhin ein Kindererholungsheim, das mit dem
teuersten der Art in London konkurrieren kann. Die Firma
Abley & Co. nimmt sich natiirlich einen reichlichen Anteil
der Arbeit : das Biiro beschaftigt auBer den beiden leitenden
Ingenieuren rund zwanzig Angestellte, — ihr letzter Bau,
der sich gerade jetzt der Vollendung nahert, sind die neuen
Docks und Lagerhauser der Cunard Line, sie werden noch
nach Mr. Myers' Planen errichtet . . . und wenn sie jetzt
wieder nach Hause geht, nach so langer Zeit, wird es ihr
etwas sonderbar vorkommen, sich wieder an den groBen
Schreibtisch zu setzen
Kadar pochen die Schlafen vor Aufregung. Ein Wort
erwartet er jetzt, — jenes Wort . . . aber das Wort ertont
nicht. Dann, in einem momentanen Schwindel hat er das
Gefiihl: wenn er schweigt, laBt er sich den Augenblick
entrinnen, — er muB sich anbieten, er muB es aussprechen :
ich gehe mit Ihnen . . . und die Stimme in seinem Kopf, —
sie schweigt auch schon, sie befiehlt ihm auch nicht mehr,
den Mund zu schlieBen, — aber er kann nicht reden, er kann
es doch nicht aussprechen: nehmen Sie mich mit. Und als
Mrs. Myers nun von London, von Londoner Menschen
zu sprechen anfangt, beobachtet er angstvoll, wie sie sich
mit jedem Wort von Siidafrika entfernen. Die tief drohnende
Stimme des Abenteurers und das helle Jammcrn des
Bettlers ringen miteinander in seinem Kopf hinter den
19*
29I
leichten, ncutralen Worten. Die Uhr zeigt fast Mitter-
nacht, — noch 1st nichts gcschehen . . . es schickt sich, nun
bald aufzubrechen. Er wiirdc sich auch erheben, wcnn die
Erwartung seine Glieder nicht mit bleischwerem Gewicht
auf den Stuhl driickte. Und als Mrs. Myers von einem
unangenehmen Londoner Bekannten — dem einen
Sozius — spricht und sagt: ,,na, aber das macht nichts, ich
sehe ihn ja hochstens noch zehn Tage . . .", da lahmt ihm
die verzweifelte Qual der verloren geglaubten Sache wie
mit Millionen von Nadelstichen den Korper. Er sieht auf
seine Uhr und steht auf. Da fragt Mrs. Myers: ,,sagen Sie
mal, was werden Sie nun machen?" — ,,Nun? wieso
nun?" — ,,Ich meine, in den nachsten Monaten. Was
haben Sie fur Plane? Bleiben Sie in London?" Er bermiht
sich, ein gleichgiiltiges Gesicht zu zeigen, aber seine Augen
hangen zogernd an ihrem Gesicht und ihrer Gestalt. ,,Ich
weiB noch nicht", antwortet er, und tatsachlich gelingt es
ihm, seine Stimme leicht und unbefangen zu glatten,
,,vielleicht bleibe ich noch in London, vielleicht "
Und sie fahrt dazwischen: ,,und sagen Sie mal . . . soil ich
wirklich nicht bei Scott ein Wort fur Sie einlegen? damit
Sie hier im Biiro — " Nun, — jetzt aber nicht mehr weiter
Luftspriinge gemacht, — vielleicht ist das die letzte Ge-
legenheit, nun ein Ja herausquetschen : ja! sie solle ein
Wort einlegen! im Biiro! bloB um einen besseren Bissen
Brot! . . . Und da gewinnt doch der Rausch des Hasardeurs
die Oberhand, und kiihl, aber mit dankbarer Freundschaft
in der Stimme sagt er: ,,oh, nein, danke. Sclbst wenn ich
Arbeitsbewilligung bekame, hatte es keinen Sinn, fiir mich
ist das keine Losung . . . das heiBt — " Mrs. Myers' Gesicht
wird um eine leichte Nuance roter. ,,So, und wenn ich
sagen wiirde " und da, da fahrt er ihr ins Wort mit der
iiberlegenen, innerlich fieberhaft flackernden Stimme des
sicheren Gewinners und dem gemeinen Hochstaplerblick
in den Augen, aus dem blitzt : nicht um die Dinge handle
es sich, um die nebensachlichen Dinge, sondern um die
292
Personen, um cine einzige Person . . . : ,,Jawohl, das ja!" In
der Spannung, die der elektrischen Entladung vorausgeht,
brennen zwei Augenpaare ineinander, — eine frische kecke
Knabenstimme aus der Vergangenheit klingt ihm in den
Ohren: ,pack sie doch, ergreif ihren Kopf . . . damit sie be-
kommt, was sie haben will!4 In der Schulter, im Arm zuckt
ihm schon die Bewegung. Die Frau wendet rasch den Blick ab
und steht auf: ,,Woher wissen Sie, was ich sagen wollte?
daB Sie schon antworten ..." — ,,Sie wollen sagen", spricht
er hart, befehlerisch, ,,wenn Sie mich auffordern wiirden
mitzugehen ..." — In Mrs. Myers' Blick liegt etwas von
erschrockenem Zogern, von aufschiebendem Sichwehren:
,,und wenn ich das auch hatte fragen wollen . . das ware
nur ... ich habe mich noch nicht entschlossen . . . noch
gar nicht . . ." — ,,Oh", sagt er dann ganz seiner sicher,
,,miBverstehen Sie mich nicht, Mrs. Myers, halten Sie es
nicht fur Aufdringlichkeit, ich dachte mir nur, wenn Sie
mich rufen, dann gehe ich mit Ihnen, nach Afrika, wohin
Sie wollen, ans Ende der Welt."
Und wie er ihren glimmenden, vor seinen Augen
fliichtenden, unsicheren Blick mit seinen Augen jagt, und
wie sich dann die schmale Gestalt mit einer briisken Be-
wegung von ihm abwendet, — da weiB er bestimmt, daB
er ruhig seinen Koffer packen kann: Mrs. Myers nimmt ihn
mit, nach Afrika, ans Ende der Welt.
DER groBe eiserne Schrank mit den zahlreichen Fachern,
der, in die Wand des Arbeitszimmers gebaut, die wich-
tigsten Urkunden der Firma hiitet, hat einen besonderen
verschlieBbaren Teil, — hier bewahrt A. T. Cadar, der
hervorragende junge Architekt, seine privaten Schrift-
stiicke auf. Solche, die sich streng auf seine Person beziehen
oder mit ihr im Zusammenhang sind. Urkunden, Zeitungs-
blatter, Briefe, Notizen. — Hie und da in einer stillen, ein-
samen Stunde kramt Antal Kadar in den Papieren
Mr. A. T. Cadars herum.
Liste der Reisenden des Cunard-Line-Schiffes ,,Falconia",
Fahrt am .... 1922 Southampton — Gibraltar — Port
Said — Aden — Mombassa — Mosambique — Burban — Port
Elizabeth:
1 66. Mrs. Helena Myers, Unternehmerin, Port Elizabeth.
167. Mr. A. Kadar, Privatsekretar, Port Elizabeth.
Ein BeschluB der Polizeibehorde in Port Elizabeth:
. . . wird Mr. A. Kadar die vorlaufige Aufenthalts-
bewilligung erteilt, sein Gesuch um Niederlassungs-
bewilligung wird zwecks Erledigung an die Obrig-
keit weitergegeben . . .
Ein Brief von Mrs. Myers aus Cape Town:
. . . Hooley schreibt, seitdem ich fort bin, verbringen
Sie Ihren ganzen Tag im Biiro. Ich freue mich ja sehr,
wenn Sie moglichst bald viber alle unsere Angelegen-
heiten im klaren sind, aber iibertreiben diirfen Sie doch
nicht. Mir will scheinen, Hooley ist ein biBchen eifer-
siichtig auf Sie, das soil Ihnen aber auch dann nicht die
Lust nehmen, wenn Hooley Sie seine Gefiihle in seiner
gewohnten etwas derben Art merken lassen sollte.
Growham hat, wie ich sehe, gut gearbeitet, wahr-
scheinlich bekommen wir den Bau der C. T.er Biblio-
thek. Gleich nach der Entscheidung reise ich nach
Hause . . .
Bericht aus einer Sportzeitung:
Die erste Uberraschung brachte das gemischte
Doppelspiel: das Paar Kaddr-Myers schlug mit iiber-
legener Leichtigkeit — 6 : 2, 6 : o — das Siegerpaar
vom vorigen Jahr, Dunn-Dunn, Das vollkommcn
294
abgestimmte Spiel der Sieger wurde selbst vom Publikum
der Dunn-Partei mit begeistertem Beifall verfolgt . . .
Ein Brief von Dr. Bloomhard, dem Direktor der Johannes-
burger Union Technology:
. . . es wird mir zur Freude gereichen, Sie, den vor-
trefflichen Mitarbeiter der Firma Abley, unter meinen
Horern begriiBen zu konnen. Ich bin iiberzeugt, daB
Sie auf Grund Ihres Talentes und Ihrer Erfahrungen
nach zwei bis drei Monaten Arbeit das Diplom erwerben
konnen . . .
Eine Visitenkarte :
A. T. Kadar, Architect, Manager of Abley's Co., Port
Elizabeth.
Originalbrief Mr. Hooleys, des leitenden Oberingenieurs,
an Mrs. Myers:
. . . ich meinerseits kann mich nur dariiber freuen,
Mrs. Myers, daft ich durch eine aktive junge Arbeits-
kraft, vornehmlich durch eine solche, die Ihr voiles
Vertrauen zu genieBen scheint, entlastet werden soil;
ich wiederhole, ich kann mich dariiber nur freuen, ich,
der ich seit neun Jahren im Dienst der Firma stehe und
weit iiber mein vierzigstes Lebensjahr hinaus bin. Aber
gerade mein Alter und die lange Zeit, die ich bei Ihnen
vcrbracht habe, machen es mir zur Pflicht, Sie auf etwas
aufmerksam zu machen. Die Kruegersdorper Grund-
stiicksspekulation hat mir monatelang die Nachtruhe
geraubt. Sie ist gelungen, — gut, aber Monate hindurch
hat es den Anschein gehabt, daB sie nicht gelingen
wiirde. Den Bahnhofsbau in Pretoria zu ubernehmen, war
meiner Ansicht nach gleichbedeutend mit Selbstmord,
und daB wir daran kein Geld vetloren haben, ist einzig
und allein dem Zufall zu verdanken. Kurz: ich habe das
Gefuhl, daB ich trotz unverSnderter Verantwortung an
295
EinfluB bei Ihnen verloren habc und dadurch natiirlich
auch in London. Dagegen will ich keine Klage erheben,
ich mochte Sic nur zu gcsteigertcr Vorsicht mahnen und
Sic bitten: denken Sie nie, Hooley bremse aus Eifersucht,
wcnn er bremst, oder er sage aus Neid nein, wenn er nein
sagt. Ich glaube nicht, daB ich verknochert bin, vielleicht
kann ich nur die Interessen der Fitma besser wahren als
einer, der die Welt mit feungen jungen Augen sieht . . .
Amtliche Kopie eines Briefes Mr. Hooleys an die Londoner
Zcntrale, die Mrs. Myers eingeschickt wurde:
. . . mein neunjiihriger Dienst in den Kolonien
berechtigt mich mit Fug dazu, um meine Versetzung ins
Londoner Euro zu bitten. Sollte dies indessen Schwicrig-
keiten verursachen, so werde ich mich zu meinem
Bedauern gezwungen sehen, darauf zu vcrzichten,
weiterhin als bescheidener Mitarbciter Ihrer lobl.
Firmen . . .
Ein Telegramm von Alexis, einem der Kompagnons:
ankomme siebenten seid unbedingt port elizabcth
wiinsche auch kadar zu sprechen alexis
Alexis* Telegramm nach London (handschriftlichcs Kon-
zept):
alles tadellos in ordnung stop ersatz fur hooley
vollkommen uberfliissig stop kadar mufi groBtc an-
crkennung gczollt werden alexis
Abschnitt einer Postanweisung :
Empfanger: Mary Tate, London SE. Deptford,
Steelworks Row, c/o Cresse. Betrag: Pfund 100, — .
Absender: A. Kadar, Port Elizabeth.
Telegramm Growhams aus Johannesburg:
mr kadar abreise sofort lagerhausbau unser gratuliere
growham
z<)6
Ein Dokument:
. . . Minister der innercn Angelegenheiten verfugt
hiermit, Herrn Anthony Theodore Kadar als Burger
des Sudafrikanischen Staatenbundes, insbesondere Cape-
lands aufzunehmen, und bewilligt gleichzeitig, seinen
bisherigen Namen vom Tage der Unterzeichnung dieser
Urkunde an in den Namen Cadar umzuandern und
diesen Namen als gesetzlichen Namen zu gebrauchen . . .
Ein Zeitungsblatt; gesellschaftliche Nachrichten:
Mr. A. T. Cadar, der vortreffliche Architekt und
Mitchef der Firma Abley, und die Witwe seines Vor-
gangers, Mr. M. Myers', Mrs. Helena Myers, haben sich
vermahlt. Zahlreiche Spitzen unserer Stadt, des ganzen
Landes und Londons iiberhauften das junge Paar mit
Gliickwunschtelegrammen.
Duplikat einer Entscheidung des Firmenamts in London:
... die Firma Abley, Alexis, Hutton, Myers & Scott, Ar-
chitects, loscht den Firmenwortlaut und tragt stattdessen
ein: Abley, Alexis, Cadar, Hutton & Scott, Architects.
Brief an einen stadtischen Oberbeamten:
... in diesem Interesse schrecke ich auch vor
groBeren Opfern nicht zuruck, meine erste und wich-
tigste Bedingung jedoch ist es, daB der Kauf des Grund-
stiicks streng geheimgehalten werde, bis der Bau be-
ginnt oder ich selbst die offentliche Propaganda in die
Wege leite . . .
Ein Brief nach London:
. . . und schlieBlich bin ich meiner Sachc so sicher,
daB ich das Geschaft allein machen werde, wenn Sie
sich nicht daran beteiligen wollen. Heute ist es bereits
nicht nur mein Gefuhl, sondern auf Grund von Zahlen
auch meinc Oberzeugung, daB die Kolonie eines der
besten Geschafte der letzten Zeit sein wird . . .
297
Eine Urkunde:
. . . naher bezeichnet: von den im Besitz der Stadt
befindlichen freien und unbebauten Grundstiicken, die
westlich von der Stadtgrenze, ostlich von der Be-
zirksgrenze der Stadt Olchester, siidlich von der
Kiistenlinie der Algoa-Bay und nordlich von der mit
der Kustenlinie parallel laufenden und von dieser zwei
und eine halbe englische Meile entfernt liegenden Linie
begrenzt werden . . . und verkauft die auf dem durch
die vertragschlieBenden Parteien gemeinsam bestimmten
und aufgenommenen, von ihnen wechselseitig an-
erkannten und untereinander ausgetauschten topo-
graphischen Plan als neu aufgenommene Grundbuch-
eintragungen von oooi bis 1000 numerierten Grund-
stiicke zum unten festgesetzten Preis an Herrn Anthony
Theodore Cadar und seine Ehefrau und iibergibt sie in
deren Besitz . . . samtliche Einrichtungen, die in dem
diese Urkunde erganzenden Protokoll gemeinsam be-
stimmt und kurz als offentliche Betriebe bezeichnet sind,
lafk die Stadt auf eigene Kosten fertigstellen, wohin-
gegen Kaufer verpflichtet sind, die in anliegendem
Protokoll genau beschriebenen Wohlfahrts-Institute
errichten und einrichten zu lassen und der Stadt zur
Verfugung zu stellen . . .
Eine Annonce:
Der Garten Eden der Biblischen Zeit war in
Kleinasien!
Der Garten Eden der Modernen Zeit wird in
Siidafrika seinl
Verlangen Sie unverziiglich Prospekte iibcr
das Neue Eden I
Eine Annonce:
Die schonste Seekiiste der Welt war bisher die fran-
zosische Riviera — in einem Jahr wird es die Kiiste
298
der Algoa-Bay sein. Brauchen Sie ein winzig kleines
Weekend-Haus? Brauchen Sie eine prachtvolle Luxus-
villa? Bevorzugen Sie den strahlenden Sonnenschein am
Meeresstrand oder den kuhlen Schatten der wunder-
baren Walder? 1st Ihr Geschmack der Stil der Neger-
hiitten oder die moderne Glasarchitektur? Suchen Sie
noch heute unser Euro auf, nehmen Sie Einblick in
unsere Plane und beraten Sie sich mit unsern Fach-
leuten . . .
Sogenannter novellistischer Bericht in einer groBen
Tageszeitung :
. . . im zweisitzigen Cadillac des beriihmten Archi-
tekten sausen wir auf der spiegelglatten neuen Fahr-
straBe die strahlende Meereskiiste entlang. In wenigen
Minuten haben wir die im Bau begriffene neue Kolonie,
das ,,Sudafrikanische Eden", erreicht . . . und schon
sieht man die Unmengen von Baumaterial, Maschinen,
Lastautos und die endlosen Gruppen von Arbeitern in
buntem Getriebe. Eine regelrechte Stadt . . . aber eine
Wunderstadt, in der Wasser und Wald, Luxus und
zweckmaBige Einfachheit vereinigt sind. Jedes einzelne
Gebaude scheint eine kleine Burg fur sich zu sein, ein
stolzer Verkiinder des klassischen englischen Wortes . . .
und dennoch sehen wir bereits im ersten Augenblick:
wir sind unter Freunden. Die gewaltige Sportanlage,
der glanzende Filmpalast, das pompose Klubhaus . . .
jeder einzelne findet auBerhalb und innerhalb seines
Hauses die Bequemlichkeit, Freude und Zerstreuung,
die seiner Personlichkeit am besten entspricht . . .
Unterwegs unterhalten wir uns mit Mr. Cadar. ,,Ich bin
mit dem bisherigen Ergebnis des Baues zufrieden", sagt
der Architekt. ,,Mit dem materiellen Erfolg ebenso wie
mit dem moralischen: in den ersten Tagen bereits
erhielten wir Bauauftrage fur eine uber Erwarten groBe
Zahl von Einheiten, und liberdies ist sozusagen das
299
Auge des Intercsscs von ganz Afrika und dem Britischen
Reich auf uns gcrichtet . . ."
Ein Telegramm des Agenten Smith:
hundertzehn bis hundertfiinfunddreifiig verkauft re-
servieret noch mindestens funfzig
Ein Telegramm des Agenten Corbett:
achtzig hundertfunf abgeschlossen drahtantwort ob
noch zehn waldviertel bekommen kann
Ein Telegramm des Agenten Berghem:
groBer erfolg familie vandermuylen acht parzellen
hundertzehn bis siebzehn wollen bauten mit mr cadar
personlich besprechen rechne mit weiteren funfzig
Ein Telegramm des Agenten Di Marcelli:
samtliche parzellen im rayon verkauft drahtantwort ob
bauten tirolerstil iibernehmen kann
Eine behordliche Mitteilung:
. . . Bei der Einweihung von Helena -Village und der
Obernahme der Wohlfahrtsinstitute \drd sich die
Regierung durch spater noch bekanntzugebende Per-
sdnlichkeiten vertreten lassen . . .
i3
UND dann . . . ja, dann kam auch das. Die Einweihung
der neuen Kolonie. Die Vertretung der Regierung. Die
Redcn. Die Ovationen. Hurra der Sudafrikanische Staaten-
bundl Hurra das Britische Reich I Hurra Helena- Village 1
Hurra Mr. Cadar und Mrs. Cadar! Hurra die vortreff lichen
Mitarbeiter und alle, die an der Schopfung dieser wunder-
baren Statte geholfen haben Und es kam das
300
Hundertzwanzig-Personen-Bankett im Hotel Great Britain,
das um so mehr zur Zufriedenheit aller ausfiel, da jeder
bekommen hatte, was er wollte. Siidafrika das neue Eden,
der Unternehmer den Gewinn von unzahligen Pfund, die
Stadt die neuen Wohlfehrts-Anstalten, der Biirgermeister
eine Villa in der neuen Kolonie zum Vorzugspreis und so
weiter. Dann gingen sie nach Hause. Auf der aufs Meer
blickenden Terrasse der herrlichen Luxusvilla rauchten sie
noch eine Zigarette. ,,Ich bin rmide", sagte Kadar, ,,wir
wollen schlafen gehen, gut?" — ,,Gut", antwortete die
Frau; sie schwieg einen Augenblick, dann fiigte sie hinzu:
,,ich hatte zwar gedacht, wir wiirden noch ein Glas Sekt
trinken, nur wir beide, extra." — ,,Gerne", antwortete er
zogernd, ,,hast du Durst? ..." — ,,Das gerade nicht . . .
aber mir scheint, du hast vergessen ..." — ,,Verzeih
mir, Liebste", sagte er sofort, ,,ich bin wirklich gemein
und vergeBlich, aber bei dem Rummel, der heute war — "
Und gleich ging er eine Flasche franzosischen Sekt und zwei
Glaser holen. Er loste den Draht vom Flaschenhals, der
Pfropfen flog mit erregtem Knall in die blaue Nacht. In die
Nacht ihres vierten Hochzeitstages. Sic stieBen an; tranken
ihre Glaser aus; kuBten sich; dann gingen sie zu Bett.
19
JEDER Tag ist ein Ziegelstein in der Mauer, die zwischen
dem Leben Antal Kaddrs und A. T. Cadars entsteht. Sie
entsteht; nicht Kddar baut sie. Wie denn Antal Kdddr
nichts oder nur sehr wenig dazu getan hatte, es bis hierher
zu bringen. Wie denn Antal Kaddr bloB unterm Himmels-
gewolbe stand und manchmal mit zusammengepreBten
Zahnen dachte, es ware gut . . . man konnte . . . man
muBte ... — und er stand da und lieB es geschehen, daB
eine Ohrfeige oder eine Krankhcit oder ein KuB mit leichter
Brise oder mit wildem Sturm ihn A. T. Cadar zutrieb. Und
301
die Mauer, die entsteht, ist schon sehr hoch. Sie fangt
bereits die Bilder friiherer Menschen und Dinge, den Klang
alter Musik, das Aufblitzen alter Erinnerungen ab. Diesseits
der Mauer ist das Leben anders . . . nein, so ist das nicht
richtig, — diesseits der Mauer ist das Leben ein Leben.
Jenseits der Mauer? Wen interessiert das? Das groBe
Unternehmen steigt in ungebrochenem Bogen aufwarts,
die Arbeit vermehrt sich, die Bankkonti in London und
Port Elizabeth wachsen standig an. Die Frau: Gefahrtin
von der Umarmung bis zum morgendlichen Ausritt, von
den Zahlenratseln des Schreibtisches bis zu den Architektur-
Fachblattern, die sie auch alle liest, von den zahlreichen
guten Tonfilmen bis zum Revuetheater in Johannesburg,
in das Joe Lewis, ihr dortiger Vertrauensmann, sie bei
jedem Aufenthalt unerbittlich mitschleppt. Die Frau:
Gefahrtin, indem sie mit ihm zusammen ist und indem sic
ihn allein laBt, wenn notig. Wenn er miide ist. Wenn er
nervos ist. Wenn er iibersattigt ist und ein paar einsame
Stunden braucht, in der Eisenbahn oder im Weekend-
Haus in Helena- Village. Sie sind von Menschen umgeben:
von Englandern und Deutschen und Hollandern, von
Geschaftsfreunden, Bekannten und Fremden. Keincm tun
sie etwas zuleide, und keiner hat ihnen etwas an. Immer
scheint die Sonne. So vergehen die Tage; er ist breitschul-
trig, blond, ein guter Arbeiter und kerngesund. — Als der
groBe neue Radio- Apparat in der Villa angebracht worden
war, saB er Abende davor und jagte nach Tonen im Ather.
Einmal hort er deutlich cine sonore Stimme: ,. . . es folgt
ein Konzert der Zigeunerbande Laci Raczc . . . und dana
kommen die Tone an, — Zigeunermusik, ja, die Melodic
klingt bekannt, aber die Worte, an die Worte kann er sich
nicht mehr recht erinnern, — ein Weilchcn hort er mit
zuriickgehaltenem Atem zu. Seltsam ... die Hauptinstru-
mente der Zigeuner sind die Geige, das Cello und das
Cymbal, und diese Tone, als kamen sie aus Blasinstru-
menten . . . der Lautsprecher ist nicht gut — dann sucht er
302
etwas anderes. — In seinem Arbeitszimmer hangt eine
gewaltige Weltkarte. Manchmal stellt er sich davor und
betrachtet sie, — London . . . nach ihrer Hochzeit waren
sie einen Monat in London, Wien ... wo liegt das noch
gleich? ja, hier, — seit damals . . . seit damals hat er aus
Wien keine Nachricht. Budapest, — genau sechs Jahre sind
es her, daB er zuletzt aus Budapest gehort hat. Schon fast
zwei Jahre lebte er mit Mrs. Myers in Port Elizabeth, als er
eines Tages einen Brief nach Budapest schrieb, an zwei
nebelhafte alte Leute. ,,Lieber Onkel Rudi, Hebe Tante
Anna, ich weiB sehr gut, daB es haBlich und undankbar
ist, daB ich so lange Zeit nichts habe von mir horen lassen.
Jetzt geht es mir gut, und zunachst mochte ich nur wissen,
wie es euch geht, ob ich euch irgendwie helfen kann.
Ich erwarte dringendst Nachricht von euch. Seid tausend-
mal gekiiBt von eurem Toni." — Nach gut vier Monaten
kommt der Brief zuriick, vollgeklebt mit allerhand Zetteln,
die samtlich nur bedeuten, daB er unbestellbar war. Das
Recherchieramt der Post hatte wahrlich riihmenswerte Ar-
beit geleistet. Pozsonyer StraBe, — darunter klebt ein Zettel :
Verzogen. Mit Bleistift geschrieben: Maros-StraBe 17.
Darunter wieder ein Zettel: Verzogen. Wieder Bleistift-
schrift : Vorzuzeigen Szvetenay-StraBe 6, Konigin-Elisabeth-
StraBe 70. Unter der einen Adresse ein Zettel: Unbekannt.
Unter der andern als Endurteil dick mit Rotstift ein-
gerahmt : Adressat verstorben. — Er betrachtet den bunten
Briefumschlag, mit kaltem, fremdem Blick betrachtet er
ihn: vielleicht wiirde er sich fur einen guten Menschen
halten, wenn ihm jetzt eine Trane iiber die Wangen
flosse, — vielleicht aber auch nur fur einen Heuchler. Und
da Tranen bereits teurer sind als Geld, geht ein Brief ab an
die englische Gesandtschaft in Budapest, der um Auskunft
bittet, — und es kommt die Ant wort: Rudolf Bayer,
pensionierter Eisenbahn-Inspektor, ist nach zweimonatiger
Behandlung im Krankenhaus dann und dann an Magen-
krebs gestorben; seine verwitwete Frau ist einige Tage
303
nach der Beetdigung axis Budapest verzogen; in Begleitung
einer jiingercn Verwandten ist sie — nach Aussage des
Hausmeisters in der Konigin- Elisabeth -StraBe — nach
Italien gereist; wohin, ist nicht festzustellen. — Jiingere
Verwandte? Das wird Mariska sein, die Frau des italie-
nischen Offiziers. Wirklich schon von ihr. — Dann warf
er den Brief in eine Schublade. So zerriB der letzte Faden,
der ihn mit Budapest verband . . . aber das ist gut so. Ich
bin noch nicht alt ... jung bin ich noch. Ich lebe. Wozu sich
zuriickerinnern, wozu denken ... — aber wer wurde auch
jetzt noch an verblichene Gesichter denken, sich an ent-
schwundene Namen, verklungene Stimmen zuriick-
erinnern, — an all das, was einst, vor langer Zeit gewesen
ist? Man denkt nicht daran, und dann ist es iiberhaupt nicht
mehr sicher, daB es einst war.
Drifter TV/
DIE ARENA
MlSS Edna, — cine bebrillte, spindeldiirre alte Jungfer,
Kddirs Sekretarin und Vertrauensperson, — bringt die
Morgenpost herein. SiebenunddreiBig Briefe. Sie Icgt sie
an den Rand des Schreibtisches und sagt:
,,Darf ich Sie aufmerksam machen, Mr. Cadar, 2uoberst
liegt ein Brief, dem Poststempel nach aus Budapest", dann
geht sie hinaus.
Er sieht sich den Umschlag an, — tatsachlich, der
Stempel sagt: Budapest, 1929. XI. 24. — und macht den
Brief nicht auf. Was kann er wohl enthalten? wer kann mir
aus Budapest schreiben? Das gewohnliche weiBe Kuvert
liegt auf der Glasplatte des groBen Schreibtisches; es sticht
ihm in die Augen. Die Handschrift: unbekannt, — und
adressiert: A. T. Cadar . . . aus Budapest. Nicht Kadar.
Wem fallt es wohl in Budapest ein, mir zu wer weiB
in Budapest iiberhaupt auBer der englischen Gesandt-
schaft A. T. Cadar hat sich langst abgewohnt, lange
an Dingen herumzuraten, xiber die er sich in einem Augen-
blick genauen Bescheid verschaffen kann, — nur, der da
trotzdem minutenlang das Kuvert ansieht und hin und her
wendet, bis er es endlich mit dem Papiermesser auf-
schneidet, — das ist Antal Kdddr.
Und dann liest er: ,Lieber Kdddr! Die herzlichsten
WeihnachtsgruBe sendet Dir eine kleine Gruppe Deiner
friiheren Mitschiiler c na, das ist wirklich amiisant, —
wie ist denen das bloB eingefallen? und er blattert um auf
20 KSrmendi, Budapest 305
die andere Seite: da steht die Erklarung. Bandi Kelemen . . .
Bandi Kelemen . . . ach, ja, ich weiB schon, der mit dem
braunen Haar, in der vierten oder funften Bank, in der
Mitte, — und die andern, — Vilmos Lewy, — das war
so'n kleiner, dicker Rotbackiger, Zatony, wie hieB der
noch mit Vornamen? so still und diinn und blond war er.
Simon? Simon? welcher war das noch? Simon? — Dann
liest er noch einmal beide Seiten, — drollig, sagt er; legt
den Brief beiseite und fangt an, die iibrige Post zu offnen.
Nach elf Uhr kommt seine Frau herauf ins Biiro.
,,Sieh doch mal", sagt Kadar, und dann bemerkt er gar
nicht, daB er ungarisch weiterspricht : ,,den komischen
Brief da hab ich aus Budapest bekommen, lies mal. Mit
denen war ich zusammen im Gymnasium", und er reicht
ihr den Brief hin. Frau Kddar liest ihn durch und fangt an
zu lachen. ,,Drollig", sagt sie, ,,wirklich nett." — ,,Weih-
nachtsgruBe", antwortet er; dann ist von der Sache nicht
mehr die Rede.
Nach einigen Tagen fallt seiner Frau der Brief wieder ein.
,,Hast du eigentlich den Budapestern schon geant-
wortet?" fragt sie ihn.
,,Nein, noch nicht", sagt Kadar. Inzwischen hatte er
auch selbst schon daran gedacht, daB es sich schicken
wiirde zu antworten, wenn ihm auf dem Schreibtisch der
Brief in die Hande kam. Spater laBt er aus dem Presse-
Dossier die Nummer der World's Sunday Pictures heraus-
suchen und besieht sich das Bild. Ah, ja, — ,Der beriihmte
Architekt ungarischer Abstammung*, — stimmt, der Foto-
reporter wollte sich mit dem Text da gar nicht begniigen,
wollte um jeden Preis cinen Artikel iiber ihn bringen, von
seinem Werdegang, seiner Jugend . . . ganz amiisant, daB
der Kelemen ihn erkannt hat. Dann kommt die Zeitschrift
wieder zuriick in den Packen und der Brief auf die linke
Schreibtischseite zu den ,,Unerledigten".
Tage vergehen, — noch immer hat er auf den Brief nicht
geantwortet, — dann ist einmal von der fiir Februar und
306
Marz geplanten Reise nach London die Rede. Diese Lon-
doner oder besser gesagt Europa-Reise 1st schon seit etwa
einem halben Jahr Gesprachsthema: fiinf Jahre werden
es, daB sie das letztemal driiben waren, eine kleine Ruhe-
pause, eine vollige Ausspannung wiirde nichts schaden,
schlieBlich gonnen sich ja sogar die Amerikaner mal ein
Sabbath- Year ... — dann entsteht langsam ungefahr der
Plan, Ende Februar oder Anfang Marz mit einem eng-
lischen SchifF in westlicher Richtung abzufahren, den rest-
lichen Teil des April wiirden sie in London zubringen, drei
Wochen sind reichlich genug fur die Verhandlungen mit
den Kompagnons, der Mai wiirde Paris gehoren, den
Juni, Juli und August konnte man zwischen einer Nord-
landreise und der Schweiz verteilen, — ja, das wiirde
allerdings eine Abwesenheit von einem halben Jahr be-
deuten, aber warum auch nicht? Den Bau der Johannes-
burger Pferderennbahn fiihrt Growham tadellos, der
Kruegersdorper Bahnhof wird Ende Januar fertig, damit
ist nichts mehr zu tun, bei den Zehlinger-Hausera hat der
alte Zehlinger den zweiten Ingenieur, den jungen Deut-
schen Dr. Ritter, als Bauleiter regelrecht in den Preis mit
hineingehandelt, und das Haus bleibt ja schlieBlich nicht
herrenlos: Scotts Sohn, der sich schon seit mindestens
einem Jahr bereit macht, herzukommen, kann sich jede
beliebige Woche nach Port Elizabeth einschiffen. Dies
betont Frau Kadar in einem fort, wie sie es iiberhaupt im
Grunde genommen ist, die sich nach Ruhe sehnt, — einmal
entfahrt es ihr auch: ,,und bis wir wieder hier sind, soil von
Bau, von Geschaft kein Wort fallen, von morgens bis
abends und von abends bis morgens will ich nur mit dir
zusammen sein, mit dir allein ..." — nun ja, daB das der
eigentliche Zweck der Erholungsreise ist, weiB er auch sehr
wohl. Wir werden verreisen, auf dem Schiff und in der
Bahn zusammen sein, wir beide allein, und wir werden uns
fremde Gegenden und Stadte ansehen, ein reiches, schones
Lcben haben, ein Leben fur uns, wir beide allein.
20*
307
Einmal sprechen sie wieder von der Europa-Reise.
,,Was haltst du davon", sagt er plotzlich, ,,wenn wir im
AnschluB an Paris ein paar Tage in Budapest verbringen
wiirden* vielleicht cine bis zwei Wochen?"
In ihrer Stimme ist etwas von unsicherem Widerspruch:
,,Wegen dieses Briefes da? Du hast doch eigentlich
keinen Menschen in Budapest. Sentimentalitat vielleicht?
suchst du alte Erinnerungen? — ich will doch auch nicht
nach Kassa fahren."
Kddir blickt vor sich hin.
,,Ich verstehe dich nicht . . . aber, nicht wichtig. Natiir-
lich nicht wegen der Menschen, — du hast ganz recht, ich
habe dort niemanden. Budapest ist fiir mich genau so
fremd wie Rom oder Stockholm. Da kenne ich auch
niemanden. BloB habe ich zufallig einen groBen Teil meines
Lebens in dieser fremden Stadt verbracht — "
Er schweigt; es ist still, die Frau fiihlt den Vorwurf, der
in seinem plotzlichen Schweigen liegt.
,,Antal", sagt sie, ,,du weiBt doch, daB wir reisen, wohin
du willst. Mochtest du nach Budapest, gut, dann fahren wir
eben nach Budapest. Ich . . . war noch nie in Budapest."
Ich war noch nie in Budapest: das hatte er schon einmal
aus einem Frauenmund gehort; damals, — damals, als der
Vater ihn mit der Mutter in die Stadt schicken wollte aufs
Gymnasium und die Mutter nicht mit ihm allein fahren
wollte, — ich war noch nie in Budapest ... — und da hat
er das Gefiihl, er miisse der Frau, die noch nie in Budapest
war, von Budapest erzahlen, von dem Budapest, das vor
zwei Jahrzehnten den kleinen Gymnasiasten aufnahm, mit
tausend Wundern, tausend ratselhaften und unverstand-
lichen Dingen, tausend Angsten, — mit den ernsten
fremden Herren, die seine Lehrer waren; mit dem Eisenbett
im EBzimmer in der Pozsonyer StraBe; mit dem groBen
Geheule an dem Abend, als der Vater ihn bei Tante Anna
allein lieB und nach Hause zuriickfuhr; mit den ersten
Schulkameraden; mit den verbliiffend groBen Hausern und
308
den merkwiirdigen Figurcn der StraBen; mit dem ersten
Herumstreifen durch die fremden Gassen; die erste
Elcktrische, das erste Automobil, das er sah, welch riesen-
hafte Welt! . . . Dann fallt ihm das Wort Sentimentalitat
ein, — und er schweigt.
,,WeiBt du", sagt die Frau wieder, ,,als kleines Madchen
wollte ich schrecklich gerne nach Budapest, ich ware auch
dorthin ausgeriickt, wenn Myers und dann kamen so
vide fremde Stadte, bloB Budapest nicht. Heute ists dort
gewiB ganz anders, als es damals ausgesehen haben mag."
Ein lauer Wind weht durch den stillen Abend nach der
Terrasse hin, der Hauch des Indischen Ozeans.
,,Ja", sagt Kadar, ,,heute ist es gewiB ganz anders.
Sicher hat sich die Stadt seither sehr entwickelt."
ER sitzt vor der Schreibmaschine, in der Maschine ein
Brief bogen: Abley, Alexis, Cadar, Hutton & Scott,
Building Co. Ltd., das steht am Kopf, darunter in kleineren,
rotcn Buchstaben: Colonial Section, Port Elizabeth.
Licber Kelemen I
Ich habe mich sehr uber Dcinen Brief gcfreut, selbstoer-
standlich crirmcre ich mich noch an Dich und auch an allt ftbrigcn, die untcr-
schrieben haben. Sehr langc haben wir urn nicht geschen, und so ware es tchwer
und hdtte auch ^dhen Sinn, in einem kurzen Brief ctwas von mir persSnlich zu.
schreiben. Hingegen ist es leicht mtiglich, dafl wir im Laufe des FrShjahrs nach
Budapest kpmmcn, im Winter habe ich ndmlich in London zu tun, und auch ah-
gesehen davon hatten wir cine Europa-Reise gcplant. Sad also bis zum cventucllai
Wicderxhen die herzlich gegriffit.
,,Und wenn wir doch nicht nach Budapest fahren?"
fragt die Frau, als sie den Brief durchliest.
,,Auch dann ist nichts passiert. Durch diesen Brief habe
ich mich doch zu nichts verpflichtet,"
309
JULIE steht in der Kiichentiir und wischt sich die Hande
an der Schiirze ab, als Kelemen in den Flur tritt.
,,Aus Amerika ist ein Brief gekommen, aus Eliza oder
so, der Brieftrager wollte ihn gar nicht hierlassen, er miiBte
ihn personlich aushandigen, hat er gesagt, aber ich hab
ihm gesagt, lassen Sic ihn nur ruhig hier, ich werde ihn
schon dem Herrn iibergeben, wenn er am Abend nach
Hause kommt; zwischen die roten Bucher hab ich ihn
gesteckt — "
Aus Kelemens Wangen schwindet das Blut; das Mad-
chen schnattert noch immer ihre Heldentat von der An-
nahme des Briefes, — aber er ist schon in seinem Zimmer
und reiBt den Brief zwischen den ,Modernen ungarischen
und auslandischen Romandichtern* hervor. Die Hand
zittert ihm, er tritt unter die Lampe, — Herrgott, das ist
die Antwort von Kadar!
Am 24. November: voriges Jahr war das, als cr abends
sclbst die Geschaftspost mitnahm, die ganze, nur um diesen
Brief eigenhandig auf der Hauptpost aufgeben zu konnen.
Und heute ist der 16. Februar, — fast ein Vierteljahr ist
seither vergangen, und wie vergangen! A. T. Cadar, —
dieser Name war ihm geradezu zur fixen Idee geworden,
und es gab Tage, an denen er sich bereits in der unvorstell-
baren, also nach Lust und Laune vorgestellten afrikanischen
Marchenstadt sah als des Nabobs, als A. T. Cadars . . . nein,
als Toni Kadars Freund und Vertrauensmann und als seine
rechte Hand mit unbeschrankter Vollmacht. Aber cs gab
auch Nachte, die diese Phantasien aus seinem Kopf ver-
trieben; haBlicbe, gemeine Nachte, in dcnen er sich nicht
vorstcllen konnte, daB cr je im Leben mit diesem Gotzen
zusammentreffen wiirdc, — warum solltc er denn nach
Budapest kommcn? warum zum Teufel? Blodsinn, darauf
zu rechnen, daB ich ihn bei der Eitclkeit gepackt habe . . .
,Einigc habeo sich mit mir gcfreut, einige haben dich
310
bcneidet, alle aber waren wir verbliifft iiber deine Karriere — *
nein, mit sowas kann man nur auf einen Budapester Ein-
druck schinden, aber nicht auf einen Fremden, einen Aus-
lander, und wenn er hundertmal Ungar war, — gut, und
wenn schon, und wenn wir schon verbliifft sind und uns
freuen oder ihn beneiden, — selbstverstandlich beneiden
wir ihn, — was kiimmert ihn das? interessiert ihn das
etwa? Wenn ich oder Szende oder Rona in der Lotterie den
Haupttreffer machen, natiirlich ist es auch wichtig auBer
dem Geld, daB die iibrigen, die das groBe Los nicht
gezogen haben aber der? nicht im Traum wird er
sich einfallen lassen, aus dem wohlig warmen Port Elizabeth
herzukommen! — Das waren fiirchterliche Abende und
fiirchterliche Nachte, weil in der Zeit . . . Ja, Kadar und
Port Elizabeth waren das einzige, was noch nicht aus-
gespielt war. Der Winter ist immer schlecht, und wer redet
denn von groBen Dingen, von lebenswichtigen Dingen?
die kleinen Dinge, die geringfugigen Alltage zerbrockeln
einen. Weihnachten war einfach entsetzlich, eine Grati-
fikation hatten sie im Biiro nicht bekommen, nicht einmal
sic zu reklamieren hatten sie dieses Jahr gewagt; es hatte
sich ja auch kein Mensch gemuckst, als die Extraentschadi-
gung fur die Oberstunden aufhorte; — und die Neujahrs-
Remuneration war ein Viertel vom Gehalt, — achtzig
Pengo, der Kuckuck soil die Transcont holen! Und daB
diese achtzig Pengo fur lauter Quatsch draufgegangen sind,
das versteht sich von selbst. Joly bettelte ihm zehn ab, der
Mutter gab er zehn, dabei ware ja noch nichts. Aber vier-
undzwanzig hatte er im Januar mit den Jungens in Sekt
versoffen, fiir achtzehn eine Hundert-Packung Muratti-
Zigaretten gekauft, das war hirnverbrannt, das iibrige
rutschte ihm so durch die Finger, cin Kino plus, einmal
Cafe phis, das war auch hirnverbrannt. AuBerdem hat die
Firma im Januar zwolf Leute cntlassen, er war nicht
darunter, aber Czilek benimmt sich seitdem unertraglich,
jedes seiner Wortc hat einen besondcren Ton fur ihn, der
3"
sagt: diesmal war ich dir noch gnadig, aber das nachste
Mai werdc ich dir nicht gnadig sein, ich bedaure. Aber -
der Brief nach Afrika war noch nicht zuruckgekommen,
auch cine ablehnende Antwort hatte er nicht erhalten, und
soviel Zeit war noch nicht vergangen, daB man sich hatte
damit abfinden miissen, der Brief sei einfach ad acta gelegt
worden. Diese Hoffnung bestand also noch, dieses Kadar-
Spiel, mit dem man sich iiber der Inkasso-Liste die Zeit
vertreibcn konnte, dieset mit Honigscim gefullte Lutsch-
pfropfen, an dem man an bitteren einsamen Abenden
herumkauen konnte, um hie und da doch fur cine halbe
Stunde dem gelben Licht der Gluhlampe, dem schabigen
Linoleum-Tischtuch und dem kalten, hcrben Hauch des
Bettes zu entrinnen. Gut, daB diese Kadar-Sache existierte,
denn schon allein darin, daB er manchmal an sic denken
konnte, war ein Positivum, cin angenehmes Gefiihl, ein . . .
etwas, das gerade das Gegenteil von dem war, daB man
nicht ans Abitur, nicht an die Militar-Musterung und
Nachmusterung, nicht an die Pleite des Ledergeschaftes,
an den Bankkrach, an die Verhore und die bestimmt wieder
ausfallende Gehaltserhohung denken muBte. — Er ging
noch einmal auf die Hauptpost und lieB sich noch einmal
Auskunft geben, wie lange ungefahr ein Brief nach Siid-
afrika unterwegs sei. Friiher war er nach dem Mittagessen
nie nach Hause gegangen, hatte bei Sari vorgesprochen oder
eine halbe Stunde im Cafe Seemann in der Sofaecke iiber
der Zeitung geschlafen; seit vier Wochen aber rannte er
jeden Tag aus dem Biirgerlichen Restaurant nach Hause,
und seine erste Frage war: ,,keine Post fur mich da?"
Manchmal hatte er Post, — Rundschreiben, Zahlungs-
aufforderungen, — trotzdem . . . cs war nicht unangenehm,
auf etwas warten zu konnen, auf diesen Brief. Und dann
eines Abends, als er schon nicht mchr darauf wartete: hat
er den Brief in der Hand, die Antwort, die zehn mit der
Maschinc gcschriebenen Zcilcn Kaddrs: Hingegcn ist es
leicht moglich, daB wir im Laufe des Friihjahrs . . . und:
3"
also bis zum eventuellen Wiedersehen ... mehr, als
er erwartct hatte, mehr, als er gehofft hatte du groBer
Gott, — ich weiB ja, ich weiB, ich bin kein Kaiser, ich bin
doch cin armer Schlucker, aber wenn ich einmal etwas im
Gefuhl habe
. . . und den Jungens werde ich zunachst noch nichts
davon sagen. Sie noch nicht alarmieren. Dazu ist noch
Zeit, — vielleicht Donnerstagabend im Cafe. — Im Laufe
des Friihjahrs, — was meint er damit? Friihling ist vom
21. Marz bis zum 21. Juni, — Friihjahr, Friihjahr, — er
kommt, warm es ihm paBt. Hat sowieso in London zu
tun . . . gut, Lcwy, ich komme im Laufe des Nachmittags
auf eincn Sprung zu dir, ich habe sowieso in der innern
Stadt zu tun . . . na, gut, gut, immer mit der Ruhe. Zunachst
werde ich mal gleich meinen Urlaubsanspruch anmelden,
drei Wochen stehen mir zu, und wenn der Czilek auch
platzt, laB ich mir nichts abhandeln, und wenns nicht anders
geht, verschaffe ich mir ein arztliches Attest, Suhajda oder
Herman wird mir schon eins schreiben, — mein iiber-
lasteter Nervenzustand verlangt eine sofortige Aus-
spannung von mindestens drei Wochen, das kann ich
jederzeit cinreichen, und wenn nicht, — na, dann sollen sie
mir kiindigen. Im Laufe des Friihjahrs also, — also,
das erste ist, daB ich ihn anstandig unterbringe, im Ritz, —
schon, ausgerechnet mich braucht er dazu, um im Ritz
abzusteigen. Aber wenn er spatcr kommt oder das Wetter
schon schon gcnug ist, ware es besser im Gellert oder auf
der Insel . . . na, schon, wir werden ja sehen. Also, wohnen
wird cr anstandig, das ist das erste. Und dann, — was dann?
Wenn cr allein kommt . . . ncin, er schreibt ja: im Laufe des
Friihjahrs kommen wir nach Budapest . . . also die Frau
kommt mit. Na, schon, dann kommt sie eben mit. Dann
muB ich mir auch fiir sie was ausdenken, was Verniinf-
tiges . . . vielleicht bringt Amman aus dem Ministerium
oder Zatony aus dem Patria S. C. irgendeinen brauchbaren,
groBen was weiB ich, was sie fiir einen Geschmack
hat? dariiber soil ich mir jetzt schon den Kopf zerbrechen?
zum SchluB habe ich mich vielleicht noch gar nicht ge-
muckst, und sie hat schon mit einem im Wellenbad an-
gebandelt. Nein, mit uns Mannern ist es doch leichter,
zum Beispiel, wenn ich an die Freundin vom General-
direktor denke, an die Bebi, — schmutzig genug, nebenbei
bemerkt, daB er sie noch im Biiro halt bloB wegen der
lumpigen hundertachtzig Pengo, die er ihr auf diese Weise
durch die Firma zahlen lassen kann. Aber warum eigentlich
leichter? weil mir zufallig diese Bebi gefallt? — na, die
Angelegenheit ist ja noch nicht brennend, die Hauptsache
ist jedenfalls, daB der Anfang da ist, das Prinzip zum
Start . . . die Praxis ist vorlaufig noch nicht aktuell. Und . . .
wie soil sich das dann gestalten? soil ich sie in die archaolo-
gische Abteilung des Nationalmuseums fiihren? oder ins
Kunstgewerbe — — Unsinn! — allerdings, ich kann ja
nicht wissen, ob nicht gerade das ihr Spleen ist? Nein,
das laBt sich nicht so vorher ausrechnen. Wo ich sie aber
auf jeden Fall hinschleifen muB, das ist ein prima Lokai
und dann die obere Insel du lieber Himmel, schon seh
ich aus, keine andere Idee hab ich als dieses seichte
Gebummel. Ja, aber was gibts denn sonst noch? ach, das
wird sich schon von selbst finden. Und wenn die Frau
nicht Ungarisch kann? — hoffentlich kann sie nicht
Ungarisch, — und er will nicht ohne sie ins Theater gehen,
dann sollen sie ins Kino gehen, es gibt ja genug englische
Filme. Aber man konnte per Auto nach Mezokovesd
fahrcn, davon habe ich Bilder gesehen, das ist eine Sache,
die Eindruck macht, oder an den Plattensee, wenn das
Wetter gut ist. Aber was weiB ich, ob sie doch, das
sind so gute regulare Sachen, Mezokovesd und der Platten-
see ... Natiirlich, wenn gerade irgendein groBer Bau zu
besichligen ware, etwa der Turm, den die Arbeiter-
Versicherung baut . . . wer weiB, vielleicht finden sic den
zum Lachen? Na, ich brauch mich ja nicht so in die Sache
zu verrennen, irgendwie wirds schon werden, davor habe
ich keine Angst, das Wichtigste ist, daB der Rahmen, das
Prinzip stimmt, daB ich die Konturen erfasse, die Einzel-
heiten ergeben sich schon von selbst. Aber dann kommt
der springende Punkt . . . meine Angelegenheit. Zunachst
muB ich mich ganz fein und diskret nach den Verhaltnissen
da unten erkundigen, so wie sich eben ein Fremder er-
kundigt, bloB aus Hoflichkeit, wie es mit dem und jcnem
steht, und so den allgemeinen wirtschaftlichen Quatsch, —
unglaublich, diese Entwicklung, was fur Moglichkeiten . . .
und dann in einem geeigneten Augenblick: ja, siehst du,
lieber Freund, dafur gibt es hier bei uns zu Hause den
Fehler . . . zwei Fehler gibt es bei uns, — der eine ist der,
daB man das Talent nicht zur Geltung kommen laBt, —
hier kriegen doch die groBten Ochsen die fettesten Stel-
lungen, die Unbegabten, die hineingeboren oder hinein-
protegiert werden, — und wenn einer weder Protektion
noch die notigen Ellenbogen hat, dann kann er fur hundert
Pengo an einem Schreibtisch verschimmeln. Das zweite
Malheur ist die Geldlosigkeit, die allgemeine Pleite und
Stagnation . . . was konnte man hier iiberhaupt zu unter-
nehmen wagen? — ich denke dabei gar nicht etwa an
irgendeine Sache groBen Stils, wenn man sich bloB mit
Schniirsenkeln auf die StraBe stellen wollte, — erstens mal,
wer ist gut dafiir, und zweitens, wer kauft sic iiberhaupt?!
Hier gibts kein Geschaft, bloB Konkurrenz, — wiBt ihr
dort driiben, was das hciBt, erledigt sein? . . . also, hier ist
ganze StraBen entlang jeder einzelne erledigt, — nur die
Unbegabten nicht, die sich irgendwo fest reingesetzt haben,
und die Schwindler, die Schieber. Und um schieben zu
konncn, dazu — kurz und gut, hier muB man einfach
crsticken, und der ganze Krempcl hier ist nicht mehr zum
Aushalten . . , — nein, das ist wohl doch etwas zu viel
gcjammcrt, zu duster hingcstellt, dann kricgt cr am Ende
nodi eincn Schreck. Ich? . . . Gott, mir gehts so irgcndwie,
man kann ja schlieBlich das Talent untcrdriickcn, aber ganz
unterkricgen doch nicht, bloB der enge Rahmen, die un-
moglichcn Verhaltnisse . . . Wenn ich zum Beispiel bedenke,
wie ich zu meiner Firma gekommen bin, mit einer Idee, die,
ich sage dir, die das ganze Transportwesen im Binnenland
vollkommen umgestaltet hatte na, und wenn er dann
fragt, was diese Idee war? — ach, das ware fur euch da
driiben sowieso nicht aktuell, glaube ich, im iibrigen
handelt es sich datum ... ich werde ihm schon irgendwas
vorerzahlen, — aber doch, das ist riskant, was weiB ich, Bau-
unternehmer ist er, — vielleicht versteht er was von diescn
Dingen? ich darf schlieBlich doch nicht von vornherein
annehmcn, daB er ein Idiot ist ... Er ist eben bloB kein
Budapester . . . na, schon, irgendwie wird sich die Sache
schon ergeben . . . Die ganze Angelegenheit sahe anders
aus, weiBt du, wenn man sich nicht in unbedeutenden
Ressortfragen und kleinlichen Details crschopfen muBte,
wenn man Material in Handen hatte, Material und Leute,
verniinftige Arbeitskrafte und lohnendcs Material . . . mal
ein Gedanke, mal ein klares Wort von der Kommando-
briicke . . . Herrgott, ich bin wohl nicht bei SinnenI Ich
kann doch nicht gleich davon ausgehen, daB der sich alles
vormachen laBt daB er keine Augen und Ohren im
Kopf hat! ich bilde mir wohl ein, daB ich ihn mit einer
einzigen Attacke Ware cs nicht gescheiter, besser,
anstandiger, wenn ich einfach sagte: du, Kadar, du bist
ein groBes Tier geworden, und ich bin ein armer Schlucker.
Wer von uns beiden mehr Verstand hat, das weiB ich nicht,
aber daB von uns beiden du das Gliick gehabt hast, das steht
fest. Ich glaube, du bist in einer frcmden Welt allein unter
Fremden, und wenn auch hundertmal Mr. Cadar aus dir
geworden ist, fur die dort bleibst du trotzdem der Kadar
aus Budapest. Ich weiB zwar nicht, ob das dort driiben ein
Vorteil oder ein Nachteil ist, — cins ist aber sicher: mehr
Augen sehen mehr, und so weiter. Und was mich angeht,
Verstand habe ich, das siehst du, und arbeiten . . . viellcicht
hab ichs noch nicht verlernt . . . aber wer sagt denn, daB
ich uberhaupt jemals arbeiten konnte? etwa, weil ich an
der Borse verdient habe, zu einer Zeit, da alle Welt ver-
dient hat, und daB ich alles verloren habe, als im Verlieren
Konjunktur war wer sagt denn, daB es uberhaupt
je eine Arbeit gegeben hat, die ich ausgefuhrt habe, daB ich
uberhaupt je zu arbeiten verstanden habe?! . . . Und wenn
ich zu ihm sagen wiirde, irgendwann, in einem vertrau-
lichen Moment: liebster Kaddr, nimm mich doch um
Himmels willen mit, Ziegel schleppen oder Beton mischen
oder als Sekretar oder als Diener oder als was du willst . . .
nimm mich bloB mit, weg von hier, denn das hier halte ich
nicht mehr aus, dabei muB ich verrecken, man kann doch
hier nicht leben zwischen lauter Drahtverhauen . . . Herrgott,
ich bin schon total vertrottelt, tatsachlich. Das ware gerade
das Richtige . . . Na, und — wenn ich sagen wiirde: Hor
mal, Kadar, du lebst seit funfzehn oder wieviel Jahren nicht
mehr in Budapest. Du kennst diese Stadt nicht, kennst uns
nicht, die wir in ihr leben, und in erster Reihe: du hast
gewiB diejenigen vergessen, die damals mit dir zusammen
waren, namlich uns. Und nun . . . ist es mir, Ix Ypsilon,
Andor Kelemen, eingefallen, daB du, der du Karriere
gemacht, dir einen Namen erworben und vor alien Dingen
Geld verdient hast, kurz : mir ist es eingefallen, dich herzu-
rufen, in diese lumpige, abgebrannte Stadt, unter uns
Gierige, uns Hungerleider. Dich zuriickzurufen zu uns, zu
den Jungens. Aus der Feme habe ich dir suggeriert zu
kommen : und du bist drauf reingefallen, bist gekommeru
Als du noch Ungar warst ... in der Schule, da habe ich
dich fur einen Dummkopf gehalten, und ich habe das
Gefiihl, daB du auch heute nichts anderes bist, nichts anderes
sein kannst als ... ein Dummkopf, aber ein Dummkopf,
der Gliick hat. Wir hingegen haben kein Gliick gehabt.
Nun also teile ich dir mit, daB ich dich mit den schlimmsten
317
Absichten erwartet habe, — namlich, daB du herkommst
und Wunder an uns tust . . . daran konnen wir nicht mehr
glauben, daB du aber kommst und sich nichts ereignet,
daran wollen wir nicht einmal denken. — Jawohl, ich habe
dich mit schlimmen Absichten erwartet, und ich bin iiber-
zeugt, ich weiB sogar bestimmt, daB wir alle, die wir dich
erwartet haben, dich mit schlimmen Absichten erwarter
haben. Das war immer so und war auch mit andern nicht
anders, erinnerst du dich noch, in der Klasse? Varga haben
wir beneidet, weil er immer einen sauberen Kragen anhatte,
und wenn wir ranreichen konnten, haben wir ihn mit
Tinte beschmiert. R6na hatte die meisten Knopfe, wer also
Knopfe 2ahlen muBte, bloB um beim Flohspiel mittun zu
diirfen, das war Rona. Lewy wieder beneideten wir, weil er
immer Ganseleber auf seinem Zehnuhrbrot hatte, weiBt
du noch, wie oft er es aus der Hand fallen lieB, wenn wir
ihn zufallig anrannten? Und Szab6 beneideten wir, weil er
als erster von uns alien richtig bei einer Frau war. Und dem
Burjan gonnten wir nicht, daB er anderswohin zum
Religionsunterricht ging, weil er Unitarier war. Auf dich
hatten wir einen Pik, weil du allgemein als einfaltig galtest
und immer die leichtesten Fragen bekamst. Und jetzt,
Kadar, jetzt wollen wir dein Geld, und deshalb . . . ist uns
kcin Mittel zu gut oder zu schlecht, um dieses Ziel zu
erreichen. Ich zum Beispiel hatte gleich den Gedanken, dir
die Ohren mit Jazz und falschen statistischen Angaben zu
verstopfen, dir den Staub dieses westeuropaischen Stadt-
bildes und meiner eigenen finsteren Wege in die Augen zu
streuen und dein Gehirn mit Sektrausch und dem Schwindel
dieses ganzen Talmilebens zu betauben . . . aber vor allem
auf dich cine Nutte loszulassen und auf deine Frau irgend-
einen Gigolo . . . begreifst du meinen Kriegsplan? begreifst
du diese ohne dich aufgestellte Kalkulation mit deinem
Schicksal? begreifst du? nein, weil du ein Dummkopf bist
und schon lange nicht mehr unter uns lebst. Nun gilt aber
schon zufalliges Entwischen aus unserm Kreis als Fehler,
und Hervorragcn, Herausspringen, Ausbrechen aus unserm
Kreis, noch dazu bei einem, von dem wir es nicht erwartet
batten, den wir nicht als dazu geboren kannten und iiber-
haupt nicht als dafur geeignet hielten: das ist ein geradezu
nicht wieder gutzumachendes Verbrechen. Begreifst du?
nein? macht nichts, dann glaub es einfach. Glaub mir, daB
jeder von uns seine WafFe gegen dich bereit hat, denn wir
sind keine Bank und keine Firma und keine Gelegenheit,
Geld zu investieren, mit gepolsterten Turen und Bilanzen
und Rentabilitaten und sicheren Zinsen, sondern wir sind
ausgehungerte kleine Rauber, im iibrigen deine lieben alten
Freunde und friiheren Mitschuler, — und du bist nicht das
freundliche fremde Kapital, der auslandische Geschafts-
freund und der Onkel aus Amerika mit den tausend
Paragraphen und Sicherheiten deines Geldes, — du bist
Antai Kadar, der Pinguin aus unserer Klasse, den ich
hergezaubert habe, du bist das groBe, wertvolle Wild, das
wir im Grunde genommen iiber die Schulter ansehen, weil
du als einer von uns geboren bist und wir es dir nie ver-
zeihen werden, daB du uns entwachsen und fremd ge-
worden bist, wahrend wir geblieben sind, was wir waren, —
ich aber bin ein guter Junge . . . ich, dein dir aufrichtig
ergebener Bandi Kelemen, dein fruherer Klassenkamerad,
der Budapester Reprasentant meiner verkrachten Gene-
ration, eines bessern Schicksals wiirdig, und ich bin ge-
neigt, dich vor den iibrigen zu retten, — iiberleg es dir
nur: ich bin bloB einer! — ich bin geneigt, dir gnadig zu
sein, du brauchst nur hier auf die Tischkante , . . hundert
Stuck Tausender zu legen . . . was macht dir das aus? nicht
mehr, als mir eine Schachtel Memphis Du lieber
Himmel . . . jetzt ist cs aber genug — jetzt in die Kissen
mit dem Kopf und schlafen — laut zihlen oder das ABC
rtickwarts aufsagen, bis ich einschlafe — sonst kann ich
schlieBlich ohne jedes nervenarztliche Attest
5
ER iiberlegte: soil er friih gehen oder spat, Erstcr sein
oder Letzter, brockenweise sich an dem Staunen der An-
kommenden ergotzen oder hinplatzen an den besetzten
Tisch mit dem Brief in der Hand? Einzeln, das bedeutet
zweifellos einen groBeren personlichen Erfolg, — hingegen
dem Plenum die Sache vorzutragen, ist einfacher und . . .
eigentlich ist es gar nicht wichtig, daB viel von der An-
gelegenheit gesprochen wird. — Es war schon elf voriiber,
als er im Cafe ankam; er setzte sich und sagte dann im Laufe
der Unterhaltung nur so nebenbei:
,,A propos, die Antwort von Kadar ist gekommen."
Eine Sekunde lang wenden sich alle Kopfe ihm zu, —
da nimmt er Kadars Brief aus der Tasche und wirft ihn
mitten auf den Tisch. Rona greift danach.
,,Wieso schreibt er denn dir?! schlieBlich haben wir doch
alle unterschrieben!"
,,Er schreibt mir", antwortet er von oben herab, ,,ich
hoffe, du erinnerst dich noch, daB wir beschlossen hatten,
ich solle als Absender fungieren. Oder hast du das ver-
gessen?"
,,Ach, ja, stimmt. Ubrigens brauchst du nicht gleich
beleidigt zu sein, ich hab das bloB so gesagt."
,,Das Kuvert", sagt nun Simon, ,,hast du das Kuvert da?"
Kelemen greift in die Tasche:
,,Denkst du etwa, ich hab den Brief gefalscht? und hab
mir extra diesen einen Brief bogen hier drucken lassen?"
,,Ich versteh dich nicht, liebster Kelemen", Simon
nimmt den Briefumschlag in die Hand, ,,warum bist du
eigentlich heute so zanksiichtig? so nervos? Im iibrigen
ganz authentisch, und vierunddreiBig Tage war er unter-
wegs", sagt er und gibt den Umschlag weiter.
Hinter dem Brief her wandert auch das Kuvert von Hand
zu Hand. Als es bei Kempner ankommt, sieht der es an,
dreht es hin und her und wendet sich dann Kelemen zu.
320
,,Wcnn du nichts dagegen hast, Kelemen, dann reflek-
tiere ich auf die Briefmarken. Mein Junge sammelt n^mlich
Briefmarken, und ich glaube, die hier hat er noch nicht."
Und ohne die Antwort abzuwarten, nimmt er sein Taschen-
messer, zieht die kleine Nagelschere heraus und schneidet
die Ecke mit den Marken langsam und vorsichtig aus. Das
sechsjahrige Sohnchen des Gymnasiallehrers Dr. Alajos
Kempner ist also der erste, der etwas von Kadar hat. Als
Kempner das Kuvert 2uriickreicht, fangt Kroh an 2u
sprechen und starrt dabei seiner Gewohnheit gemaB dem
Angeredeten durch seine groBe Brille wild in die Augen:
,,Sag mal, Kelemen, hast du ihm auch noch extra
geschrieben?"
Kelemen wird krebsrot.
,,Was redst du derm da?" leugnet er, ,,wieso hatte ich
ihm noch extra schreiben sollen?"
,,Sieh mal an", sagt Kroh und dehnt die Worte mit
einer Langsamkeit, die einen in Wut versetzt, ,,warum bist
du bloB so reizbar? Ich habe doch nicht gefragt, ob du ihn
um etwas gebeten hast, ich habe bloB gefragt, ob du ihm
auch noch extra geschrieben hast. Aber wenn du sagst — "
Kelemen blickt verachtlich von ihm weg, und der kleine
Lewy, wie immer auf Kelemens Seite, sagt: ,,Trottel",
und Doktor Marton steckt sich die Zigarre wieder an, die
ihm ausgegangen war:
,,Na, gut", pafft er durch die Zigarrenspitze, ,,geant-
wortet hat er, das ist schon von ihm. Er schreibt, moglich,
daB er nach Budapest kommt, das ist auch schon, aber nicht
sicher."
,,Na und?" erwidert Doktor Szende, >}daB er kommt,
schon, aber wer hat ihn denn gerufen? Wenn er kommt,
dann ist er eben da, herzlich willkommen, und wenn er
nicht kommt, dann bleibt er eben, wo er ist. Aber wenn er
kommt, ich garantiere euch, ich werde nicht vor ihin auf
dem Bauch kriechen."
,,BloB nicht", sagt der groBe Lewy, ,,ich glaube, du
21 Kifrmendi, Budapest 321
wiirdest unvorteiihaft aussehen, so auf dein Asphalt auf
dem Bauch. Ich hingegen garantierc euch, wenn cr kommt,
wirst du dich schrecklich iiber ihn freuen, und wenn wir
ihn korporativ empfangen sollten, wiirdest du den Wunsch
auBern, die Festrede halten zu durfen."
,,Zumal", feindet ihn der andere an, ,,da ich meinen
Mund nicht bloB aufreiBen kann, um dummes Zeug zu
reden!"
,,Frieden, meine Herren, Frieden! ich freue mich, daB
ihr euch gern habt!" besanftigt der feine Zatony, ,,das sind
doch Zukunftsdinge, noch in weiter Feme, ihr habt noch
reichlich Zeit, euch zu zanken. Sagt mir lieber, ob ihr etwas
von der Heirat unseres Freundes Varga gehort habt."
,,Aber geh", wundert sich einer, „ Varga heiratet? und
welche pensionierte Erzherzogin ist denn die gliickliche
Braut?"
Der Tisch stoBt ein Gewieher aus; Zatony spinnt das
dankbare Thema weiter.
,,Im Gegenteil, das Schlimme ist gerade, daB es sich nicht
um eine Erzherzogin handelt. Habt ihr die Sache nicht
gehort?"
,,Nein, nein", drangen sie, ,,erzahl doch."
,,In Bankkreisen ist die Sache namlich ziemlich all-
gemein bekannt. Also, eines Tages sucht ein bekannter
Herr den alten Varga in der Bank auf, das war ungefahr
vor zwei Monaten, und sagt, mein Herr, und so weiter,
kurz, der Pista Varga sei vor kurzem auf einer groBeren
Fcstlichkeit mit der jungsten Tochter vom alten Baron
StrauB zusammen gewesen, und der alte StrauB habe so
nebenbei gesagt, na, und so weiter; also der Herr sagt, das
Madchen sei zwar keine strahlende Schonheit — mies ist
sic, kann ich euch bloB sagen, ich kenn sie namlich, so von
Ansehen — , dafiir aber gebildet, sei eben aus dem Ausland
zuruckgekommen et cetera . . . kurz und gut: der Alte sei
gcncigt, einem entsprechenden jungen Mann, der sich zu
Olga hingezogen fiihle, zwei Millionen "
322
,,Na, und der Varga hat sich hingezogen gefiihlt?"
,,Fiir zwei Millionen kann cr sich doch hingezogen fuhlen,
du Esell"
,,Bitte Ruhe, meine Herren. Also . . . dariiber laBt sich
reden, sagt Papa Varga, ich will mit Istvan sprechen. Tat-
sachlich spricht er mit Istvan, und das Hingezogenfuhlen
fangt an, und zwar mit einem besseren Blumen-Arrange-
ment und einem Besuch. Inzwischen freundet sich auch der
alte StrauB im Klub mit dem alten Varga an. Einmal bringt
dann der Baron die materielle Angelegenheit zur Sprache,
die zwei Millionen, worauf Varga verkiindet, er wiirde den
Jungen in der Bank zum Direktor avancieren lassen.
Schon. Sie sind schon bei den Einzelheiten angekommen,
als der alte Varga sagt : mein Sohn Istvan wiirde cine kirch-
liche Trauung fur angebracht halten. Aber gewiB, sagt der
Baron, darauf bestehe ich auch. Nun, und in welcher Kirche?
fragt Varga, in der Basilika oder in der Kronungskirche?
Ganz im Gegenteil — sagt der Baron, in der Synagoge in
der Dohany-Gasse. Aber ich bitte dich . . . mein Sohn ist
doch kathoiisch. So? na, dann muB er eben zuriickkehren
in den SchoB der israelitischen Gemeinde. Aber ich bitte
dich, er kann doch dorthin nicht zuriickkehren, er ist doch
nie ausgetreten, er ist doch als Katholik geboren . . . Ja so,
sagt StrauB, pardon, ich wuBte nicht, daB du schon
aber gleichgiiltig, dann soil er also zur jiidischen Religion
iibertreten. Aber ich bitte dich, das geht nicht, wehrt sich
Varga, unser ganzes Leben, unsere Familientraditionen,
unsere Beziehungen . . . und schlieBlich, der Mann meiner
Tochter Alice, der Staatssekretar . . . Tja, sagt der Baron,
wenn es dem Mann deiner Tochter keine Ehre bedeutet,
mit dem Juden StrauB verschwagert zu werden — —
Ubrigens, sagt dann der alte Varga, lassen wir vielleicht
die Sache, bis ich mit dem Jungen gesprochen habe . . .
Familienrat: Istvdn kann dem katholischen Glauben nicht
abtrxinnig werden, wenn es sich bloB darum handelt, es
gibt ja schlieBlich auch noch wirkliche Aristokraten-
21- 323
familien im Lande, die geneigt waren ... da aber zwei
Millionen immerhin doch zwei Millionen sind, noch dazu
in bar, wird beschlossen, die Sache nicht so einfach auf
sich beruhen zu lassen. Und jetzt fangen die Vargas an,
den Baron bearbeiten zu lassen, aber der Alte laBt nicht
mit sich reden. Istvan sei in seine Olgi verliebt, erzahlt man
ihm. Gut, dann solle er iibertreten, auf dem Drum und Dran
bestehe er nicht. Aber Olga liebt ja den Istvdn auch!
So? dann soil sie ihn iiberreden, Jude zu werden, oder sich
wieder entlieben. Aber Olgi ist ja schlieBlich doch schon
iiber das DreiunddreiBigste Und wenn schon, meint
der Alte, mir ist die Sache deshalb noch immer nicht
dringend, und auBerdem ist gerade deswegen jedes ihrer
Jahre Gold wert. Und wenn sie am Ende einfach eigen-
machtig heiraten . . . GroBartig, sagt StrauB, dann kriege
ich wenigstens eine Liebesehe in der Familie zu sehen,
aber dann vermache ich Olgas Anteil dem Knabenwaisen-
haus. Hier horte alle Wissenschaft auf, aber der alte Varga
lieB den Baron noch einmal besturmen. Was ware, wenn
Istvan zur reformierten Religion Was dann ware?
eine Liebesheirat. Oder zu den Unitariern? Liebesheirat I
Oder im schlirnmsten Fall konnte er Dissident . . . Auch ein
Dissident kann aus Liebe heiraten I sagt der Baron, und
dabei blieb es. Pista reiste in dringenden Bankgeschaften
fiir zwei Wochen nach London — und jetzt kommt der
Witz. Er kehrt von der Reise zuriick: also, da sind ihm
zwei niedliche, braunliche Koteletten unter den Ohren
gewachsen. Im Klub begegnet er dem jiingeren Terenyi,
von der Maschinenindustrie, Terenyi guckt ihn an und platzt
los vor Lachen: nanu, Istvdn, laBt du dir also doch Peies
wachsen? — Ohrfeige, Kartelltrager, Fechtsaal Santelli,
im dritten Gang kriegt Varga eins flach auf die Stirn, die
Arzte stellen Kampfunfahigkeit fest, Versohnung. — Na?
Was sagt ihr dazu?"
Gelachtcr, Wortstreit, Rede und Gegenrede. Es bilden sich
zwei Parteien, eine fiir den Ubertritt und eine glaubenstreuc.
324
Sie schleudern sich die Argumente pro und contra und
hohnische und zynische Bemerkungen ins Gesicht; zum
SchluB einigen sie sich dahin, daB es ja das richtigste
gewesen ware, in aller Stille Jude zu werden, die Mitgift
in Empfang zu nehmen, ein paar Jahre auf die Erbschaft
zu warten und dann zur katholischen Religion zuriick-
zukehren . . . wenn bis dahin die Interessen der Familie
Varga nicht etwa den mohammedanischen Glauben vor-
schrieben. Selbst Amman lacht, kann aber die Ansicht nicht
fur sich behalten, daB die Sache natiirlich ganz anders
beurteilt werden miiBte, wenn Varga wirklich Christ ware,
da aber, wie man wisse, sein Vater kurz vor Pistas Geburt
dem Glauben seiner Ahnen untreu geworden sei — —
Dann fiel einem von ihnen im Zusammenhang mit dieser
Geschichte ein, wie ausgerechnet Varga in der dritten
Klasse einmal auf dem Korridor Professor Griinfeld, den
jiidischen Religionslehrer, anrempelte; Pointe — Gelachter;
und davon wieder fallt einem andern ein, wie
Nach Mitternacht lost sich die Gesellschaft auf. Rona
steht gahnend als erster auf und sagt zu Kelemen :
,,Na, Servus, also auf Wiedersehen im Marz, aber wenn
bis dahin eine Nachricht von Kadar kommen sollte, dann
sag mir bitte sofort Bescheid."
Auch die iibrigen brechen auf, und jetzt hat plotzlich
jeder einzelne noch ein Wort von Kadar zu sagen. Man
miiBte ihm vielleicht noch mal schreiben, — sollte irgend-
eine Nachricht von ihm kommen, — sollte er vielleicht un-
erwartet, ohne noch mal von sich horen zu lassen, an-
kommen, — und so.
Kelemen geht mit Simon zusammen liber den Ring
nach Hause zu. Simon wirft den glimmenden Stummel
seiner Zigarette in groBem Bogen auf den Fahrdamm.
,,Du, Kelemen, was glaubst du, konnte man mit dem
nicht irgend etwas anfangen?"
,,Wieso mit dem? mit wem?" fragt er, obschon er es
ganz genau weiB, und das Herz fangt ihm an zu klopfen.
3*5
,,Na, mit dem Kidar, wcnn er vielleicht doch nach
Budapest kommt."
Vorsicht . . . aufpassen, — dieser Simon . . . er war nie
besonders befreundet mit ihm, von jeher war er ein eigen-
tiimlicher Junge und hatte immer so allerlei Stiickchen,
auch heute ist er sich nicht klar iiber ihn, angeblich ist er
Journalist, Mitarbeiter irgendwelcher Film- und Nach-
richtenblatter, seine Anziige sind immer tadellos, in Nacht-
lokalen verkehrt er, fahrt Taxe, tut, als hatte er Geld,
gewiB spielt er, der Simon . . . der kann gefahrlich werden,
aufpassen.
,Jetzt verstehe ich dich noch wcniger . . . wieso, was
denn mit ihm anfangen?"
,,Na, irgendwas mit ihm machen "
,,Ja, aber was denn?"
,,Aber tu doch nicht, als ob du ein Idiot warst! Irgcnd
ctwas mit ihm machen, vorlaufig weiB ich noch nicht, was !
irgendwas, wobei cr nicht unbedingt draufzuzahlen braucht,
aber wobei wir auf jeden Fall verdienen konnten. — Es ist
noch friih . . . hast du nicht Lust, noch einen Schwarzen
mit mir im Kasino zu trinken?"
DoKTOR Aladar Szende steht von scinem Schreibtisch
auf, nimmt den Kneifer ab und putzt ihn sorgfaltig mit
seinem lila Seidentaschentuch.
,,Nein, mein lieber Kollege", sagt er zu dem auf dem
Besuchsstuhl Sitzenden und sieht, sich nach dem Fenster
wendend, durch das gesauberte Glas, ,,hier kann ich gar
nichts mehr machen. SchlieClich werden Sie, lieber Kollege,
selbst einsehen, daB die Anleihe ... die Anleihe binnen
anderthalb Jahren riickzahlbar war und gerade Ihr ver-
ehrter Mandant sich selbst am meisten dagegen vcrwahrte,
ais ich ihm anbot, die Sachc gleich auf drei oder vier Jahre
326
abzuschlieBen, worauf mein Mandant damals eingegangen
ware. Jetzt sind wir bereits bei der vierten Vierteljahrs-
prolongierung angekommen, und da6 mein Mandant in
den heutigen Zeiten der Geldknappheit nicht weiter — "
,,Schon, schon, Herr Kollege", sagt der andere im
Sessel, ,,Sie durfen aber bitte nicht auBer acht lassen, was
jede einzelne Prolongation gekostet hat . . . schlieBlich, wenn
ich bedenke, bei Eintragung an zweiter Stelle jahrlich siebzehn
oder gar achtzehn Prozent Zinsen von sechzigtausend
Pengo auf ein Haus, das unter Brudern gut zweihundert-
tausend wert ist, und daB der vor Ihnen eingetragene Posten
nicht ganz hunderttausend ausmacht und cine langfristige
Bankanleihe ist . . ."
,,Ich weiB, Herr Kollege, ich weiB, aber was kann ich
daran machen? Versuchen Sie es mit einer Zusammen-
legung, soil Ihre Bank den Posten meines Mandanten mit
iibernehmen."
,,Schon, schon, Herr Kollege, Sie wissen sehr gut,
daB ein Haus, in dem kaum Mietswohnungen sind — "
,,Das ist es ja gerade, lieber Kollege! Der Mietsertrag
deckt ja knapp die Zinsen der Hypothek, und wenn,
Gott verhiite es, der Fabrikbetrieb Ihres Mandanten ins
Stocken gerat, dann sind unsere Zinsen nicht gesichert,
lieber Kollege."
,,Gut, gut, Herr Kollege, ich sage ja auch, daB man auf
das Haus heute keine Hypothek bekommen kann, das weiB
ich. Aber nur eine bessere Saison, — ah, Saison, drei bessere
Monate auf dem Geschaftsmarkt, und die Fabrik kann die
Hypothek selbst zuriickzahlen. Wenn man aber jetzt dem
Betrieb sechzigtausend Pengo entnehmen miiBte, ich bitte
Sie, damit konnte man alles zum Stocken bringen!"
,,Tja, lieber Koilege, leider kann sich mein Mandant...
mein Mandant gerade darum nicht kummern."
,,Nun, und wenn ich dennoch gezwungen ware, bereits
jetzt zu erklaren, daB mein Mandant leider nicht imstande
sein wird, am fiinften Mai die — "
3*7
,,Dann, lieber Kollege, miisscn wirleider klagcn, pfanden
und versteigern, wenn nicht "
Der andere atmet auf. Wenn nicht: das kostet Geld,
bestimmt. Wenn nicht: das ist das Aufblitzen des Wucher-
zahnes. Wenn nicht: und dennoch, hinter diesem Wort
kann der Strohhalm liegen, nach dem der sinkende Fabrikant
greifen wird.
,,Nun?"
,,Ich denke namlich, daB vielleicht noch vor Mai ein
Freund von mir nach Budapest kommt, ein auslandischer
Geschaftsfreund, weltberiihmter Architekt, ein vermogen-
der Mann . . . Nun also, wenn ich vielleicht dessen Inter-
esse fur das Objekt erwecken konnte, sei es in Form einer
langfristigen Anleihe, — aber vielleicht wiirde er das Objekt
sogar kaufen . . . natiirlich nur zu einem sehr giinstigen
Preis . . . die Provision konnen wir uns dann teilen, lieber
Kollege", und er lacht.
,,Und glauben Sie, Herr Kollege — "
,,Was ich Ihnen da gesagt habe, lieber Kollege, ist nur
eine Idee, ohne jede Verpflichtung, die Ankunftszeit des
Betreffenden ist ja noch nicht einmal festgesetzt, — zuletzt
schrieb er mir: im Laufe des Friihjahrs . . . aber ich betone,
es ist nur eine Idee, auf die zu bauen verfruht ware — "
Nun erhebt sich der andere.
5,Herr Kollege, ich mochte Sie nur bitten, Ihr mog-
lichstes zu tun, — es kann ja schliefilich kein Zweck sein,
eine angesehene, alte Fabrik, die unter den heutigen Ver-
haltnissen etwas schwer beweglich ist, gerade unter den
heutigen Verhaltnissen zu erdrosseln . . . Also, sooder so — "
,,Nein, nein, lieber Kollege", lacht Doktor Aladar
Szende wieder, ,,so keinesfalls, hocbstens so ... wenn der
erwahnte Geschaftsfreund Lust zu der Sache hat, — das
iiberlassen Sie nur ruhig mir, ich werde schon alles ver-
sucben ... Sie konnen sich doch vorstellen, lieber Kollege,
mir wiirde es auch nichts schadcn, wenn ich an dieser
Ungliickssache etwas verdienen konnte."
528
ICH mochte dich gehorsamst bitten, lieber Herr Haupt-
mann", sagt Simon, ,,du wiirdest mich sehr verpflichten,
es ware wirklich unendlich liebenswiirdig von dir, wenn es
dir moglich ware ..."
,,Aber bitte, bitte, sehr gern. Wie gesagt, im Strafsachen-
register ist keine Spur von ihm, vorbestraft ist er nicht,
eine Bolschewiken-Affare hat er nicht gehabt, im Herbst
1919 hat er einen regularen, fur Europa lautenden PaB
bekommen, der Liste nach hat er auch bei Hegyeshalom
die Grenze iiberschritten, nun, und dieser Rudolf Bayer,
bei dem er zuletzt in der Pozsonyer StraBe als Verwandter
angemeldet war, ja, der ist vor Jahren gestorben, das habe
ich auch ermitteln lassen. In Budapest lohnt es sich nicht
mehr, weitere Schritte zu unternehmen. Aber, wie gesagt,
wenn du es wiinschst, wende ich mich an Vitorescu bei
der Gesandtschaft, er soil weiter nachforschen ... in Deva?
nicht wahr, Deva hast du gesagt? also in Deva. So kostet
es dich wenigstens nichts, Vitorescu tut mir gerne den Ge-
fallen aus Freundschaft."
,,Du bist ein Engel, Herr Hauptmann, ein Engel, ich
werde dir ewig verbunden sein ..."
,,Also, laB mich nur aufschreiben . . . was du eigentlich
willst."
,,So ganz allgemein mochte ich dich bitten, was du
iiber ihn im allgemeinen erfahren kannst, von seiner
Familie, wenn er eine hat, ob Verwandte von ihm dort
unten leben, wer sie sind, und, nun, wie gesagt, so ganz
allgemein . . ."
,,Gut, kapiert, Universalbericht iiber Person und Cha-
rakter, wie es in den guten, alten k. u. k. Zeiten hieB. Schau
vielleicht mal wieder vorbei, oder ruf lieber an, sagen wir
in zwei bis drei Wochen, aber sagen wir lieber in drei
Wochen, — wciBt du, das nimmt ja doch Zeit in Anspruch."
,,Wie du befiehlst, lieber Herr Hauptmann, also in drei
329
Wochen. Bis dahin nochmals vielen Dank . . . ach ja, fur
wann kann ich dir die Karten fiirs Kabarett schicken?"
,,Ach ja, die Karten . . . also, egal, alter Freund, ganz
egal, aber wenn du so nett sein wiirdest, sagen wir fur
Samstag abend."
,,Aber gerne, mein lieber Herr Hauptmann, gcrne.
Auf Wiedersehen ! Servus ! "
8
NoCH auf der Schwelle setzt der groBe Lewy seinen
Hut auf, geht aber nicht hinaus durch die Tiir, sondern
dreht sich um und tritt, den Hut auf dem Kopf, in die
Mitte des Zimmers zuriick. Am Fenster steht cine stroh-
blonde, kraushaarige Frau und sieht miBmutig, daB der
groBe Lewy noch immer nicht gegangen ist.
,,Sie irren, liebe gnadige Frau", sagt er, ,,wenn Sie
glauben, die Wohnung dadurch vermieten zu konnen, daB
Sie mir den Auftrag entziehen. Sie wiirde sich viel eher
vermieten lassen, wenn Sie mir nicht den Auftrag entzogen,
sondern mit dem Preis heruntergingen. Was stellen Sie sich
vor, wer wird denn in einem alten Haus ohne Lift im dritten
Stock fiir fiinf Zimmer fiinftausend Pengo bezahlen? wer?
i.ch wills Ihnen sagen — niemand. Selbst wenn es nicht
Zimmer, sondern Tanzsale waren, und wenn sie nicht nach
der Revai-Gasse, sondern nach dem Golf von Neapel
lagen. Sie werden es noch bereuen, liebe gnadige Frau, daB
Sie sie nicht an Auers fiir dreitausendfiinfhundert ver-
mietet haben, zumal da Auers gut sind fiir das Geld und ich
auch noch fiinfzig Pengo von meiner Provision nachge-
lassen habe. Wissen Sie, was man heute fiir fiinftausend
Peqgo bekommt? die modernste Fiinfzimmer- und Dielen-
wohnung in Buda oder in der neuen Leopoldstadt,
und wenn ich mich sehr anstrenge, dann gibt man das in-
klusive Heizung, Warmwasser und Vakuumbenutzung, das
33°
bedeutet zweiundzwanzigeinhalb Prozent Rabatt bei einem
ohnedies schon herabgedriickten Preis. Aber das 1st noch
gar nichts. Wissen Sie, ich suche jetzt eine Wohnung fur
einen Geschaftsfreund, einen auslandischen Architekten,
steinreich, sag ich Ihnen, der demnachst nach Budapest
kommt, fur den brauch ich ein anstandiges Quartier, —
also, da gibts in Buda eine Villa in der Pasareter StraBe,
vier Zimmer, Halle, riesige Fenster, alles schneeweiB,
im Souterrain Kiiche, extra Badezimmer fiir die Dienst-
boten, was soil ich Ihnen sagen? einfach entziickend. Seit
anderthalb Jahr steht die Wohnung leer, — liegt ein
biBchen zu sehr abseits. Wissen Sie, was mir der Besitzer
sagt? ein gewisser Hevesi, Textilbranche, hat mal einen
grofkn Mercedes besessen, also der sagt zu mir, mein
lieber Lewy, vermieten Sie doch um Gottes willen die
Wohnung, wie sie ist, fiir viertausend, ich begniige mich
sogar mit dreitausend, wenns sein muB, zwanzig Prozent
gehoren Ihnen, aber vermieten Sie sie, ganz gleich, ob fur
zehn Jahre oder bloB fiir den Sommer, meine Nerven ver-
tragen den Zettel an der Haustiir nicht mehr. Ich denke
mir, das wird gerade das Rechte fiir meinen auslandischen
Freund sein, fiir ein viertel Jahr oder ein halbes Jahr,
je nachdem, wie lange er bleibt, ein Tausender mehr oder
weniger, das spielt bei dem keine so groBe Rolle. Nun,
also. Bedenken Sie das mal, liebe gnadige Frau — "
Vor dem Redeschwall driickt sich die Frau ganz flach
ans Fenster.
,,H6ren Sie mal, lieber Herr Lewy", sagt sie mit un-
sicherer, etwas heiserer Stimme, ,,meinen Sie nicht, wir
sollten doch nicht mit dem Preis heruntergehen, bevor
dieser auslandische Herr . . . konnten Sie dem nicht auch
meine Wohnung zeigen? die liegt doch nicht so weit ab
wie die in der Pasar&er StraBe . . ."
,,Tja, wenn sie bis dahin, Gott behiite, noch nicht ver-
mietet ist ... zeigen kann ich sie ihm ja. Was weiB ich,
vielleicht gefallt ihm ausgerechnet die."
351
AMMAN stiitzt sich mit den Ellenbogen auf den Schreib-
tisch, lehnt den Kopf an die Faust und hort Suhajda zu, der
ihm gegeniiber sitzt, streng auf die Erde schaut und ein
wenig schleppend und abgerissen spricht.
,,. . . nein, so hat das keinen Sinn. Du weiBt sehr gut, ich
beklage mich nicht, ich informiere dich blofi . . . du hast
mich wirklich aufs beste empfohlen . . . aber umsonst, ein
hoherer Druck hat sich gegen mich durchgesetzt . . . ver-
steh mich recht, nicht im Interesse der iibrigen, sondern
ausgesprochen gegen mich . . . das ist nun mal so. Eine
lumpige Stellung bei der Krankenkasse . . . nicht mal das
tagliche Brot, hochstens Brotkruste — "
,,Schrecklich", sagt Amman leise, ,,das tut mir wirklich
leid. Nun und ... die Privatpraxis ?"
,,Privatpraxis ?" Suhajda hebt den Blick vom Boden,
beinahe vorwurfsvoll, ,,du weiBt doch genau, wenn es so
weiter geht, kann ich nicht einmal ein elendes mobliertes
Zimmer bezahlen, in einem Monat schon nicht mehr.
Privatpraxis? nein, Amman, hier handelt es sich nicht um
die allgemeinen Verhaltnisse, nicht um die allgemeine Not
der Arzte, sondern um mich, um meine Person. Worum
dreht sich denn das Ganze? um Protektion und Namen.
Protektion habe ich leider nicht . . . und einen Namen?
soli ich etwa sagen, einen Namen habe ich leider? Ja . . .
dazu war ich ihnen gut, die Angelegenheiten auf der
Universitat und im Verband und in den einzelnen For-
mationen zu organisieren, dazu war ich gut, }ahrelang
meinen Namen von samtlichen jiidischen Zeitungen in den
Schmutz ziehen zu lassen . . . Du kennst doch die Situation.
Kiirzlich traf ich den Steiner, vielleicht erinnerst du dich
noch an ihn, er ging in eine Klasse mit uns, seinerzeit ist er
auf der Universitat rausgeschm — das heiBt, nicht auf-
genommen worden, dann hat er in Prag studiert, heute ist
er Direktor bei der Serumfabrik Philacto hicr in Budapest,
33*
also, ich lasse mich mit ihm ins Gesprach ein, die ganze
Bitterkeit kam aus mir raus, und ich sage zu ihm, ich habe
so gut wie gar keine Praxis, verdiene keinen Kreuzer, —
da sieht mich der lausige Jude an und sagt, na, weiBt du,
sei nicht bose, alter Freund, aber dariiber kann ich mich
wirklich nicht wundern, denn ich kann mir nicht recht
vorstellen, wer nach deiner allgemein bekannten Gummi-
kniippel-Therapie zu deiner Diagnose Vertrauen haben
sollte. Du, Amman", das schreit er fast, ,,so sieht die
Situation aus ! WeiBt du, daB mich aus dem ganzen Verband
von den Erwachenden, von den Doppelkreuzlern, auch noch
nicht zufallig eine Seele aufgesucht hat, seit Jahren?!"
Dann senkt sich seine Stimme wieder. ,,Einfach zum
Wahnsinnigwerden, kann ich dir sagen . . . mein einziges
Gliick ist, daB ich keine Familie habe . . . es sollten bloB
noch mal Arzte nach Hollandisch-Indien oder in den Grund
der Holle geworben werden "
Amman wiegt teilnahmsvoll den Kopf, — und zwischen-
durch schluckt er versteckt ein tiefes Gahnen hinunter.
,,Furchterliche Sache, wirklich furchterlich. Aber letzten
Endes muBten doch schlieBlich die Freunde ..."
Suhajda winkt ab. ,,Die Freunde . . . Du hast ein Wort
fur mich eingelegt, und die paar Jungens, mit denen wir
zusammen im Gymnasium waren . . . wenn ich so hie und
da mal hingehe ins Cafe, dann plaudert man eben bloB ein
biBchen, — vielleicht wiirden sie sogar helfen. Aber du
muBtest die Kumpane mal sehen, den Petrovics von der
Stadt und den Galambos aus dem Wohlfahrtsministerium
und den Sztepanics . . . wie die den Kopf wegdrehen, wenn
man ihnen zufallig begegnet ..."
,,Unerhort", sagt Amman, ,,unerhort."
Ein unangenehmer, kalter, diisterer Glanz leuchtet in
den Augen des andern, als er den Blick plotzlich hebt.
,,Und dann werdet ihr euch zum SchluB noch wundern,
wenn was passiert — "
333
,,Wieso?" fragt er langsam, ,,ich versteh nicht. Was soil
tlenn passieren?"
,,Ich weiB nicht", antwortet er nach einer kleinen Pause,
,,aber so gehts nicht welter, das steht fest. Irgend was muB
man machen, und du wirst schon sehen, eines Tages "
Er schweigt, blickt wieder auf die Erde und fahrt dann fort.
,,Und wenn diese Petrovics's und Galambos's meinen, uns,
mich und die iibrigen konnte man so einfach leer ausgehen
lassen, dann irren sie sich. Wenn sie glauben, heute, da die
Macht und der Ruhm bereits ihnen gehoren, wiirden wir
schon den Mund halten und uns mit unserm Gespritzten
begniigen. Bei wems iiberhaupt noch zu einem Gespritzten
reicht. Mir reichts nicht mehr dazu. Wenn sie glauben, wir,
ich und die iibrigen, wir haben euch so ganz umsonst die
heiBen Kastanien aus dem Feuer geklaubt "
Jetzt gahnt Amman schon wie ein Nilpferd. ,,Aaah
nimms mir bitte nicht iibel, aber ich habe kaum ein paar
Stunden geschlafen, die Konferenz beim Staatssekretar war
erst spat in der Nacht zu Ende. Tja . . . wirklich entsetzlich.
Und wie schwierig es auch auszusprechen ist, die einzige
Moglichkeit ist es tatsachlich, oder sagcn wir, die beste
Moglichkeit fur Leute wie du — wollte sagen, fiir dich —
ist es, auszuwandern . . ."
Und da richtet er sich plotzlich in seinem Stuhl steif auf.
,,H6r mal zu, mir fallt etwas ein. ScblieBlich kann es
einem ja mehr oder weniger Wurscht sein, wohin man
kommt, bloB gesundes Klima und anstandige Bezahlung
braucht man, nicht wahr? Nun, und, du weiBt doch, daB
der Toni Kadar nach Budapest kommen will, nicht wahr,
du weiBt, was der fiir Karriere gemacht hat da unten in
Afrika? . . . Also, paB mal auf, alter Freund, ich bin leider
nicht in der Lage, bei ihm ein Wort fiir dich einzulegen, ich
will dir offen gestehen, ich selbst mochte ihn gerne in einer
Exportangelegenheit bearbeiten, ich fiir meinen Teil, aber
wenn ich dir einen Rat geben kann, dann ist es der, dr^ngel
dich ein biBchen gescheit an ihn ran, schlieBlich braucht
334
man auch in Siidafrika Arzte . . . man kann ja nicht wissen,
was meinst du? Hast du iibrigens gut mit ihm gestanden?
Aber was ich dir da gesagt habe, bleibt natiirlich streng
untcr uns . . ."
IO
RoNA lehnt sich in seinem Stuhl zuriick, kippt sogar mit
dem Stuhl nach hinten, stemmt seine FiiBe gegen den Pfosten
des EBzimmertisches und steckt sich einen Zahnstocher in
den Mund.
,,Ach, ja, Papa, was ich sagen wollte, erinnerst du dich
noch an den Kadar aus meiner Klasse?"
,,Kadar?" sagt der alte Herr, ,,Kadar? nein. Welcher war
das noch?"
,,Der kleine Dicke, der immer bei uns Ping-Pong gespielt
hat?" fragt Mama Rona, ,,natiirlich erinnere ich mich an
den."
,,Nein, Mama", korrigiert Rona, ,,erstens war der Kadar
nicht klein und dick, sondern groB und diinn, zweitens war
er Christ und verkehrte nicht bei uns; du kannst dich
hochstens von den Schulfeiern her an ihn erinnern."
,,So?" sagt die Mama, ,,dann weiB ich nicht. Was ist
denn mit ihm?"
,,Also, der Kadar ist irgendwie nach Siidafrika gekom-
men und hat dort ein Riesenvermogen erworben."
,,Ein Riesenvermogen?" wirft Papa Rona dazwischen.
,,Und ist das sicher, daB er ein Riesenvermogen erworben
hat? Und weiBt du iiberhaupt, mein Sohn, was das ist:
ein Riesenvermogen?"
,,Aber bitte, Papa, das kannst du ganz ruhig mir iiber-
lassen. Wenn ich sage, ein Riesenvermogen! Also, dieser
Kdddr wird jetzt nach Budapest kommen."
,,Ist er verheiratet?" fragt Mama Rona, pldtelich
elektrisiert.
335
,,Jawohl", lacht der Sohn, ,,warum? die Manci hat doch
schon einen Mann, wen willst du ihm denn anhangen?"
,,O ja, die hat einen Mann", brummt der alte Herr
nachdenklich, ,,leider Gottes, genug Geld hat mich der
Rezso bis jetzt schon gekostet."
,,Ich bitte dich, Adolf, hor auf", fahrt seine Frau ihn
gleich an, ,,du weiBt, daB ich diese Redensarten nicht ver-
tragen kann!" Dann wendet sie sich dem Sohn zu: ,,Was
hast du noch gesagt, Laci? ach ja, verheiratet ist er. Schade.
Namlich die Tochter von der Szidi Rotter, die Vera "
,,Sieh mal, Mamachen", neckt Rona, ,,der Toni Kadar
ist verheiratet, da ist also vorlaufig von keiner guten Partie
die Rede, aufier, wenn du ihn dazu bringst, sich von seiner
Frau scheiden zu lassen, dann ware er bestimmt die beste
Partie in ganz Budapest. Also", wendet er sich wieder an
den Vater, ,,der Kadar kommt jetzt nach Budapest . . . ach
ja, das habe ich schon gesagt."
,,Und was wird er hier machen? Geschafte?"
,,Nein. Eine Lustreise. Es wird ihm eine Lust sein, sich
daran zu ergotzen, wie abgebrannt hier alles ist, wahrend er
dort unten sich fein raufgerappelt hat."
Der alte Herr, — der sich iibrigens vor Jahren zur Ruhe
gesetzt hat, — streicht mit dem rechten Zeigefinger iiber
seinen kleinen weiBen Spitzbart, was bei ihm das Zeichen
fur geschaftliches Nachdenken ist. — ,,Du, Laci", sagt er
nach einem Weilchen, ,,mir fallt was ein. Wenn dein Freund
wirklich ein so reicher Mann ist, konnte man ihm dann nicht
das Herender Service fur vierundzwanzig Personen an-
drehen, das du nach der Pleite der Stambachschen Grafen
auf dem Hals behalten hast? Wenn der soviel Geld hat — "
Laci R6na nimmt den Zahnstocher aus dem Mund,
zerbricht ihn zwischen zwei Fingern und wirft ihn aufs
Tischtuch.
,,Aber! er wird doch nicht ausgerechnet in Budapest
Porzellan kaufen! . . . Ubrigens . . . vielleicht doch keine
schlechte Idee, Papa. Versuchen konnte mans jedenfalls."
336
II
pRAULEIN Lya! Mademoiselle Lya!" ruft der Oberkeilner
in die trockene Loge, wo die ,,Damen" sitzen.
Lya Milton, selbstandige Nummer zu Beginn des
Programms, ein silberblondes, groBes, ausgehungert
diirres Madchen, driickt ihre Zigarette im Teller auf dem
Tisch aus und erhebt sich dienstbereit.
,,Ja, Jules?" fragt sie.
Der Oberkeilner sagt im Amtston: ,,MiB Lya wird in
Nummer zwei links gewiinscht . . ." und dann, als er sich
umdreht, kommt er ihr mit dem Kopf etwas naher und fiigt
halblaut hinzu: ,,los, los, ein Provinzler mit Moneten,
schon ziemlich angeheitert ..."
,,One moment . . . immediately", spricht Miss Lya
englisch, vornehm, laut und mit ausgezeichnetem un-
garischen Akzent, ,,ich komm schon." Dann nimmt sie
die Puderdose aus ihrer Handtasche und wendet sich dabei
nach den am Tisch sitzenden Madchen urn: „. . . also, wie
gesagt, eine ganze Stadt besitzt er, hat der Bandi Simon
erzahlt, achttausend oder wieviel Hauser, ich weiB nicht
mehr, und dann hat der Bandi Simon noch gesagt, du Lici,
ich werde dich ihm vorstellen, das Weitere iiberlasse ich
schon dir . . . was lachst du denn, Irma, jawohl, ausgerechnet
mich, du wirst ja sehen . . ." damit laBt sie die runde Puder-
dose ins Taschchen zuriickgleiten und geht mit lachelndem
Schwung auf Loge zwei links zu.
12
DR. Marton sitzt im Biirgervereinshaus des Bezirks im
sogenannten Stadtrat-Zimmer, von einer groBeren Gruppe
umgeben. Vorlaufig ist Dr. Mdrton zwar noch nicht
Stadtrat, aber fur die nachsten Wahlen ist ihm bereits ein
guter Platz auf der Liste gesichert. Dr. Marton hat einen
schonen, vollen Rednerbariton.
22 Kfirmendi, Budapest 337
>,. . . das konzediere ich, mcinc Herren, das konzediere
ich. Nemo propheta , , . ich weiB. Aber dennoch: cine
typisch ungarische Krankheit, daB wir unsere Talente nicht
crkenncn, und wenn wir sie zufallig doch erkennen, dann
wissen wir sie nicht zu schatzen, meine Herren. Erlauben
Sie mal, meine Herren, es gibt keine GroBstadt auf der
Welt, in der nicht ein ungarisches Talent oder vielleicht
auch mehrere glanzende Karriere gemacht hatten. Hier ein
Sanger, dort ein Mediziner, dort wiederum ein Filmkonig
oder ein Maler oder ein Finanzgenie oder, was Sie wollen . . .
Das kommt mir dadurch in den Sinn, meine Herren, daB
ein Freund von mir, ein Klassenkamerad vom Gymnasium,
seinerzeit iiberall verachtet und verstoBen, seiner Vaterstadt,
unserm schonen undankbaren Budapest, vor Jahren eines
Tages den Riicken wandte und in die Welt zog, in seinem
kleinen Biindel nichts anderes als sein ungebrochenes
Talent und seinen unbrechbaren Willen, — und nach einer
langen Reihe von Jahren, auf dem . . . dem Zenith seiner
Karriere angekommen, die Feder zur Hand nimmt und mir
einen Brief schreibt: ,ich sehne mich nach der ungarischen
Heimat, sehne mich danach, meine Muttersprache zu horen,
sehne mich nach Budapest, sehne mich nach meinen alten
Freunden ... ich bin euch nicht bose, und werdet ihr mich
liebend empfangen, wenn ich zu euch komme?lc Wer von
Ihnen, meine Herren, kennt den Namen Kadar? Niemand,
nicht wahr? Aber rufen Sie diesen Namen nur in jeder
beliebigen Metropole Europas, Amerikas oder Afrikas
aus, — sofort werden Hunderte und aber Hunderte auf-
horchen : aha, der beruhmte ungarische Architekt ! Und wenn
wir nach alledcm nicht die Kraft haben, meine Herren,
einen solchen Mann zum Besten unserer Kultur, unseres
wirtschaftlichen Lebens, unserer Gesamtheit, mittelbar also
zum Besten jedes Individuums, hier festzuhalten, dann,
meine Herren, kann ich nichts anderes tun, als meine
Fackel sinken lassen und sagen: wir verdienen es nicht,
daB "
338
13
So wurde Antal Kadar durch ein Magazinblatt, das
jemand im Wartezimmer des Zahnarztes herausriB, zur
Legende. Vom Stammtisch im Cafe ging der Ton aus, und
die Atherschwingungen der Phantasie sandten die Kadar-
Welle den zahllosen kleinen Empfangern der Geldgier zu.
Zuerst wuBten es nur zwolf, dann noch zwolf, — aber, nicht
wahr, es bleibt unter uns, vorlaufig ist es ja noch gar nicht
sicher, und iiberhaupt, es braucht nicht dariiber gesprochen
zu werden, — und dann noch zwolf und noch zwolf und
noch zwolf. Gehirne spannten sich, Ohren offneten sich,
Augen starrten, Hande streckten sich aus. Emsige Finger
reinigten die dem Friihling zuschwebende Stadt, die
Arena, vom Schmutz der tief gesunkenen Alltagssorgen;
behutsame, unsichtbare Schaufeln bestreuten sie mit dem
goldgelben Sand der Ideen; in der heimlichen Schwiile
kleinbiirgerlicher Wohnungen, vor den Zerrspiegeln dieser
iiberhitzten Atmosphare kleideten sich ermattete Picadore
in die Trodlerfetzen farbenblinden Hoffens, schliffen ent-
schlossene Toreadore hinter fiebernder Stirn die ver-
rosteten Klingen ihrer Bereitschaft zu allem. Jeder einzelne
will mehr, will groBer sein, um sich ein groBeres Stuck von
der Beute abreiBen zu konnen: und schon im voraus sind
sie alle betort von dem EntschluB, betoren zu wollen. Die
aufgewiihlten Phantasien schnuppern winselnd eine Gold-
grube, wilder HeiBhunger schmatzt bereits den fetten
Braten, bis zum Springen gespannte Bogen lauern auf den
Blauen Vogel. Amateure und Professionisten, Reiche und
Arme, Gefallene und Aufwartsstrebende spahen in den
Friihlingshimmel, — na, vielleicht jetzt . . . horst du noch
nichts?
Antal Kadar indessen sitzt in London in einem
Zimmer der gewaltigen Baufirma vor seiner kleinen
Portable-Schreibmaschine und scbreibt einen Brief nach
Budapest.
22* 339
Lieber Kclemcn !
Wit ich Dir bereits aus P. E. schrieb, ktitmen wir die gc-
plantt Rax nach Budapest tatsdchlich pcrwirklichen. Ende Mai oder Anfang
Juni kpmmc ich mil meiner Frou aus Pans dort an, und wcnn ich Dir mil meiner
Bitte nicht zur Last falle : dann sei so gut, nach Erhalt des Telegramms, das ich
noch schicken werde, im Ritz fur uns zwei Zimmer mit Bad reservieren zu lassen.
Solltest Du mcine Bitte nicht erfiillen Itfnnen, so nimm mir die Bel&stigung nicht
iibel and gib mir in zwei Zeilen Bescheid an meine Londoner Adresse.
Auf Witdersehen. Es griift Dich
Kdddr.
14
ElN gliicklicher Zufall . . . wahrlich ein Gluck, daB dieser
Brief wenige Tage nach dem Donnerstag-Zusammentreffen
im April ankam. Kelemen zerbrach sich nicht lange den
Kopf: sofort war sein EntschluB fertig, die Jungens von
diesem zweiten Brief nicht zu benachrichtigen. Das hat
Zeit, bis das Telegramm kommt. Man braucht nicht so viel
iiber die Sache zu sprechen, — die paar Worte, die er
neulich mit Simon gewechselt hat, haben ihn gerade zur
Geniige mit Sorgen erfiillt. Also: auch andere haben den
Gedanken, nicht bloB ich, daB — man etwas machen konnte.
Dumm. Ich muB die ganze Geschichte dampfen. Aber
geradezu entsetzt war er, als er eines Sonntagvormittags
in der Andrassy-StraBe auf Vavrinec stieB. ,,Wie ich hore",
sagt Vavrinec, ,,soil Kadar nach Budapest kommen,
wenigstens spricht man davon ..." — ,Ja", antwortete
er miBmutig, ,,es heiBt, er soil kommen, aber es ist noch
nicht sicher. Aber von wem hast dus eigentlich gehort?" —
,,Merkwiirdig genug, daB ichs nicht von euch direkt weiB.
Mein Vater hats vom Schwager Ammans gehort. Und so
interessante Nachrichten muB ich auf solchen Umwegen
erfahren?"
Also, man spricht schon davon . . . dann wird es gut
sein, wenn ich nicht auch noch Reklame fur die Sache
340
mache. Er sagte den Jungens nichts, — schrieb jedoch
sofort an Kadar nach London. Nur soviel: Ich freue mich,
dafi ihr kommt, die Zimmer werden selbstverstandlich
bestellt.
Und bis dahin . . . kann man nun diesen entsetzlichen
Friihling weiterleben. Weiterleben mit zwei Leben: das
eine ist das furchterlich langsam kriechende jammerliche
auBere Leben in der Transcont, im Cafe und bei der
Mutter, — das andere Leben beginnt am Abend, wenn er
sich zu Hause schlafen legt. Dann dreht er das Licht aus,
starrt ins Dunkel und denkt an Kadar und Port Elizabeth.
Mit der AusschlieBlichkeit der fixen Idee, mit der verhang-
nisvollen Hartnackigkeit eines irren Gehirns. Es wird
gelingen! — denkt er und kann an nichts anderes denken;
und wenn er auch Momente hatte, da sein iiberlegenes und
zynisch kaltes Budapester Ich als sein eigener Zuschauer
ihn mit hohnischer Grimasse mahnte: Blodsinn . . . ich
verrenne mich ja in die Sache, als hinge es von mir ab, wie
sie gelingt ! — so wurden diese Augenblicke doch von den
Traumereien vertrieben, in die er aus der Wirklichkeit der
vergangenen Jahre, die nur Geld, nur Geschaft, nur Kampf,
nur Erfolglosigkeit war, plotzlich umschlug. Mit dem
korperlosen, mondsiichtigen, selig verziickten Lacheln eines
Irrsinnigen sagte er vor sich hin: es wird gelingen! ich
werde Gliick haben . . . meine Gliicksstrahne beginnt . . .
hat schon damals begonnen, als ich das Bild entdeckte . . .
damit, daft ich im Januar nicht aus dem Biiro geflogen bin . . .
dafi der neue Brief nach der Zusammenkunft im Cafe ankam
und ich nicht da von zu reden brauchte . . . und die Sache mit
dem Urlaub fangt auch gut an.
Zunachst verschaffte er sich das arztliche Attest.
Nicht von Suhajda und nicht von Bermann, — die
brauchen nichts davon zu wissen, daB ich ausgerechnet
im Laufe des Friihjahrs auf Urlaub gehe; um Joly
scharwenzelt in letzter Zeit immer ein junger Arzt
herum, — und Dr. Otto Huszar war gliicklich, dem Brudet
341
Jolys einen Gcfallen crwciscn zu konnen. Dcr Ordnung
halber suchte er Kelemen auch eines Abends in Frau Hunkas
Wohnung auf ; licB ihn sich bis zum Giirtcl entbloBen, unter-
suchtc seine Augenlider, Iie8 ihn die Augen schlicBen, sich
auf die Chaiselongue legcn, horchte sein Herz ab, glitt mit
dem Rohr des Stetoskops zweimal iiber seinen Oberarm und
seinen Riicken, und lieB endlich mit dem kleinen Stahl-
hammer sein Knie hiipfen, — dann schrieb er cin Attest,
nach dem Andor Kelemen an schwerer Erschopfung der
Nervcn (Neurasthenic) leide, welcher Zustand dringendst
cine langere Zeit volliger Ruhe erforderlich mache. Mit
diesem Attest in der Tasche, — er iiberlcgte sich zwar, ob
er sich nicht unmittelbar an den Direktor wenden solle,
fiirchtete dann jedoch, der Abteilungschef konne beleidigt
sein und ihm die Sache verderben, — trat er mit Herz-
klopfen an Herrn Czileks Schreibtisch und meldetc unter
leichtcn Gesichtszuckungen, — auch ein Symptom der
Neurasthenic, — daB er seinen Urlaub gern noch im Laufc
des Friihjahrs haben mochte. Zu seiner grenzenlosen
tfberraschung antwortet Herr Czilek bloB: ,,und wann
wollen Sic den Urlaub antreten, Herr Kelemen?" — ,,Den
Tag weiB ich noch nicht genau", sagte er, ,,wissen Sic, ich
mochte mich griindlich ausruhen, und gewisse Familien-
angelegenheiten ..." — «Na, und wahrscheinlich wollen
Sie auch noch etwas Geld auftreiben, was?" nickte Herr
Czilek und blinzeltc mit den Augen. Was ist denn mit dem
los? ist der verriickt geworden? wieso ist er auf einmal so
freundlich?!
Die Ursache dieser ungewohnten guten Laune stellt
sich sofort heraus: mit einer Mitteilsamkeit, die seine
friihere Abneigung Liigcn straft, und eincm Redeschwall,
der seine friihere Wortkargkeit widerlegt, erzahlt Herr
Czilek, daB er am heutigen Tage vor der Koniglichen Kurie
den ProzeB gegen seinen Bruder gewonnen habe, einen
ProzeB in einer Grundstiickssache, der sage und schreibe
vier Jahre gedauert hat. Kelemen gratulicrt lang und breit,
34*
und Czilck fthrt fort: ,,Sic konnen mir auch gratulieren,
mcin Junge . . . denn hier war nicht das Substrat das
Wesentliche, sondern die Tatsachc, dafi ich endlich diesem
finstcrn Halunkcn gegeniiber mein Recht durchgcsetzt
habe . . ."
Zur Vorsicht bittet Kelemen noch um die Erlaubnis,
seinen Urlaub auch Direktor Molnar anmelden zu diirfen.
,,Aber gewiB, das ist nicht mehr als ordnungsgemaB",
— und Czilek schickt ihn zum Direktor. Kelemen tritt
ein und tragt seine Bitte vor. ,,Czilek?" antwortet der
kleine dicke Herr, was soviel heiBt wie: was sagt der Ab-
teilungschef dazu? ,,Er hat es zur Kcnntnis genommen",
sagt er, ,,aber selbstverstandlich nur abhangig von Ihrer
Einwilligung, Herr Direktor." — ,,Bitte, meinetwegen . . ."
erlcdigt Molnar die Angelegenheit, ,,aber bitte fur
entsprechende Vertretung sorgen!" — ,,Sehr wohl,
selbstverstandlich . . ." — Ich habe Gliick — es wird
gelingen!
Die Tage vergehen, strahlender Mai iiberschiittet die
Stadt; Kelemen lebt mit geschlossenen Augen im Rausch
des zweiten Lebens mit seinen tausend Planen und tausend
Hoffnungen . . . es wird gelingen. An einem Samstagabend
ist er bei seiner Schwester Sari zu Besuch, nach dem Essen
reicht sein Schwager ihm cine Zigarre hin, ,,Portorico",
sagt er, ,,die kannst du ruhig rauchen, ein Protektions-
exemplar aus der Fabrik in Papa." Kelemen nimmt die
Zigarre und sagt: ,,Port Elizabeth." — ,,Nein", sagt
Kdroly, ,,nix Elisabeth, Portorico." — ,,Ja, ja, Portorico."
,,Bandi, was hast du denn", fragt da seine Mutter, ,,schon
voriges Mai warst du so zerstreut und so still. Du hast doch
hoffentlich keine Unannehmlichkeiten im Biiro?" — ,,Nein,
nein, Gott sei Dank." — ,,Weibergeschichte?" fragt Sari
keck. ,,Nein, auch keine Weibergeschichte", antwortet er,
dann heftet er den Blick auf seine Schwester: ,,keine
Weibergeschichte, du Kalbchcn, eine Haupttrefier-
geschichte!" — ,,GroBer Gott", ruft die alte Frauaus,
343
,,Andor, du hast wohl den Vcrstand verloren?!" Dann
laBt sich wicdcr Karoly vcrnehmen: ,,Fang mir bloB nicht
mit Haupttrcffern an", sagt cr strcng, ,,du weiBt, Bandi, ich
kann derlei Gcschaftchcn und Spriinge nicht leiden, mach
du mir lieber keinc Haupttreffer ..."
Kelcmen antwortet nicht; cr dcnkt, daB hcute schon
dcr Siebzehnte ist, daB er nachste Woche die Jungens
im Cafe trifft, und daB dann Ende Mai da ist und An-
fang Juni kommt . . . wie wohl tate es, sich lang auf
eine groBe, griine, duftende Wiese zu legen . . . unter dem
endlosen Himmcl zu liegen und zu warten, bis dann cines
schonen Tages
AM 3. Juni erhielt Kelemen folgendcs Tclegramm aus
Paris:
ankpmmen fun/ten abends orientcxprefi
crbitten simmer
Am 4. Juni abends blieben die vormittags schnell zu-
sammengetrommelten Jungens nur wenige Minuten im
Cafe. Zatony machte den Vorschlag, — wozu Kelemen in
stummer Angst bejahend nickte, — die gewiB recht miide
Ankommenden nicht gleich zu bestiirmen; Kelemen solle
fiir Zimmer sorgen und Kadars am Bahnhof abholen. Die
Mehrheit jedoch war Simons Meinung, die Sache habe
zwar kein korporatives Geprage, es sei also nicht obli-
gatorisch, aber wer von ihnen wolle, der konne an die Bahn
gehen. Kelemen schluckte und sagte dann: ,,selbst-
vcrstandlich", — und sie cinigten sich dahin, wer zu dem
um Mitternacht ankommenden Zug gehen wolle, der solle
vorher hier ins Caf6 kommen, damit sie von hier zusammen
aufbrachen.
344
i6
hattcn sic sich um elf Uhr vollzahlig am
Stammtisch cingefunden. Rona crschien in gestrciftcr Hose
und schwarzem Rock und wehrte spottische Blicke dadurch
ab, daB er sagte, er kame gerade aus dem Theater. Sic saBen
um den Tisch, sprachen aber kaum. An diesem Abend
gehorten sie irgendwie nicht zusammen. Der Kontakt
zwischen ihnen schien zerrissen zu sein, — jawohl, der
Faden, der sie alle spinnennetzartig verband, war zerrissen:
der Faden des Pester Zynismus, der Pester Uberlegenheit,
der Pester Verachtlichkeit, der Pester Unglaubigkeit, der
Faden der sogenannten Pester Wurschtigkeit. — Nein . . .
der Brief aus Port Elizabeth, das ernsthafte, vornehme
Briefpapier mit den kleinen Buchstaben, das Telegramm
aus Paris: das ist kein Sand-in-die-Augen-Streuen, das ist
eine ernste Angelegenheit, mit der man rechnen muB, —
selbst wenn sich nichts ereignet. Was konnte sich denn
ereignen? . . . nun also . . . nichts; er kommt an, wird hier
sein, sich ein biBchen amiisieren und wieder abreisen.
Hochstens kann es zwischendurch vielleicht gelingen --
ja, vielleicht gelingt es, sich irgendwie an dieses phantastische
goldbestaubte Schicksal zu kleben. Aber dazu muB man an
dieses Schicksal glauben. Sie glaubten daran. Und sie
schwiegen, um sich nicht einander auszuliefern in dem
Augenblick, da sie die Uberheblichkeit der Budapester
Desperados verloren; aber in dieser still gespannten Er-
wartung wuBten sie, daB sie nun bald dem Besondern, AuBer-
halbstehenden begegnen wiirden, das sie innerlich voll
Neid und Ehrfurcht anstaunen: der Karriere. Verbliifft und
ein wenig verschamt horchten sie in sich hinein: sollte es
wahr sein ? ich, der Budapester junge Mann, lausche ergrifTen,
ob -- und verbliifft und verschamt gestanden sie sich im
geheimcn ein, daB sie daran glaubten, daB sie an das Wunder
glaubten, an das Phanomen, — obschon es sich um nichts
anderes handelte als um cinen Toni Kadar, den Pinguin.
345
Zwanzig Minutcn vor der fahrplanmaBigen Ankunfts-
zcit dcs Zugcs stehen sie auf dem Perron. Der Bahnhof 1st
zicmlich leer: der groBe Internationale Zug rastet einc
knappe halbe Stunde unter dem Glasdach, dann fahrt er
welter, direkte Budapester Reisende kommen mit diesem
teuren Zug kaum an. Zigarren- und Zigarettenwagen,
Zeitungs-, Obst- und Schokoladeverkaufer fahren trotzdem
vor; Simon griiBt einen sehr eleganten, groBen, schwarzen
jungen Mann mit Nachdruck, — ,,der Sekretar des Ge-
neraldirektors der Blechfabrik, wahrscheinlich erwartet cr
seinen Chef", erklart er.
Sie spaziercn auf und ab; jeder einzelne 1st bemiiht,
ein unbefangenes glcichgiiltiges Gesicht zu zcigen, —
die wahre Gemiitsverfassung jedoch erkennt man an den
Zigaretten: die eine gliiht unter nervosen Atemziigen
sekundenweise rot auf und ist mit dreifacher Schnelligkeit
abgebrannt; die andere wiederum hangt in zerstreuter
Nachdenklichkeit vergessen, ausgegangen zwischen zwei
zitternden Fingern.
Dann vibriert auf einmal nervoses Beben durch die ganze
Gesellschaft : noch weit auBerhalb der Halle tauchen die
beiden Gliihaugen der Lokomotive und der FunkenstrauB
iiber dem biifFelnackigen Schornstein auf. Auf die Sekunde
piinktlich lauft der OrientexpreB auf dem Westbahnhof
ein. Die aufgerissenen Augen heften sich auf die langsam
voriiberziehende fast vollig dunkle Fensterreihe ; Kelemen
crblickt Kadar als erster, er steht in der offenen Tiir des
Bukarester Schlafwagens.
,,Da ist er!" Er schwingt den Arm nach ihm bin, und in
diesem Moment schreit Szende:
,,Hallo, Kadar I Servus! hier sind wir!" Simon erwischt
einen Gepicktrager, und damit geht die ganze Gruppe dem
langsam einfahrenden Waggon nach. Als der Zug endlich
halt, springt Kadar auf den Perron: die ganze Versammlung
hat er vor sich. Einen Moment sehen sie einander in die
Augen. Dann unterbricht Kadar die kurze Stille:
346
,,Gutcn Abend", sagt cr; man spurt an seiner Stimme das
leichte, gleichsam fliichtige Suchen nach Worten und eincn
kaum bemerkbarcn, kleinen fremden Akzent, ,,wie ich sehe,
cine ganze Kommission . . . wirklich zu nett von euch, daB
ihr cuch mcinetwegen so bemiiht. Ich muB sagen, darauf
war ich nicht vorbereitet", und von der rechten Hand streift
er den Handschuh ab.
Kelemen, am Siedepunkt angelangt, tritt vor:
,,GruB dich Gott, Kadar. Erkennst du mich? Ich bin
Kelemen. Wir sind dich alle abholen gekommen und freuen
uns alle, daB du hier bist."
,,Jawohl", tut sich Szende hervor, ,,willkommen, bravo,
ich freu mich wirklich sehr!" und damit steht auch er vor
Kadar und reicht ihm die Hand, und dann hort man alle
Stimmen zugleich: ,,ja, Servus! ich freue mich schrecklich!
herzlich willkommen!" — und alle Hande strecken sich
auf einmal nach ihm aus, und der Reihe nach driicken sie
seine gleichsam schiitzend vor sich gehaltene Rechte. Und
nach samtlichen Handen dreht er sich nach der Waggontiir
zuriick, ,,entschuldigt, ich will nur meiner Frau herunter-
helfen", aber diese kleine Pause in der BegriiBung ist auch
sehr am Platz, sie gibt einen Augenblick Zeit, — fur Buda-
pester Augen gerade genug, — um den Fremden genau zu
betrachten.
Der erste Eindruck ist, er ist groB. GroBer als sie alle.
Seine Schultern sind breit, sein Brustkasten gewolbt, seine
Gesichtsfarbe so, als kame er gerade von der Quarz-
bestrahlung. Eine derbe englische Farbe von Sonne und
Wind. Er tragt cine hellgraue Hose und einen etwas
dunkler grauen, andersgemusterten Sportsakko. Gelbliches
Hemd, angewachsener Kragen mit groBen Fliigeln, brauner,
ganz dick und leicht gebundener Schlips. Braune Halb-
schuhe mit dreifachen Sohlen, gemustcrte, dicke, gelbliche
Striimpfe. Eine Weste hat er nicht an. Der graue Hut sitzt
etwas schief auf dem Kopf, an der rechten Seite sieht unter
dem Hut ein hellblondes Haarbuschel hervor. Die linke
347
Hand stcckt in cincm hellgraucn, dicken, gcstcpptcn Hand-
schuh aus Hundclcder. Jawohl, — unverfalschte cnglische
Tracht. In Budapest ziehen die ModeafFcn sich ungcfahr
so an.
Nun gibt cs abcr noch ctwas anderes zu sehen: von
der Ictzten Wagenstufe springt die Frau auf den Bahnstcig.
Graucs Reisekostiim, graue Kappe, graue Striimpfe,
graue Schuhe mit flachen Absatzen, grauer Schal, graue
Handschuhe. In der Hand ein sackartiges graues Necessaire.
Als Kontrast zu all dem Grau ein braunes Gcsicht, aus dem
schwarze Augen leuchten.
,,Das sind meinc friiheren Klassenkameraden", sagt
Kadar und zeigt auf die Gruppe, aber niemandem fallt es
auf, daB er Ungarisch spricht; und da tritt Kempner vor,
der, mit der Zuverlassigkeit des Lehrers und kontrolliert
vom englisch-franzosischen Kollegen, eine hiibsche kleine
englische BegruBungsrede einstudiert hat.
,, Madam! More than fourteen years have passed "
aber weiter kommt er nicht, derm Mrs. Cadar sagt mit
etwas milder Stimme, aber noch weniger fiihlbarem
fremdem Akzent als ihr Mann auf Ungarisch:
,,Sprechen Sie bitte ruhig Ungarisch, ich bin auch
Ungarin."
Diese Uberraschung war wirklich unerwartet. Kempner
kam sofort aus dem Konzept und sah sie mit etwas
geoffnetem Mund groB an, und die ganze Gesellschaft
stand so verdutzt da, daB trotz alien Staubes und RuBes,
alien Riittelns, aller Unordnung und Ermiidung der nahezu
dreiBigstiindigen Reise ein kraftiges, frisches Lachen iiber
ihre Lippen sprang:
,,Das hatten Sie nicht erwartet, nicht wahr? Ja, ich bin
auch Ungarin."
Simon erholt sich zuerst wieder.
,,Um so besser! filjen!" sagt er, und dieser Umstand ist
auf jeden Fall eine Veranlassung zu einigen stillen kleinen
Hochrufcn, die schon aus dem Grunde wic gerufen kamcn,
548
well der unprogrammaBige Verlauf des Kempner-Inter-
mezzos den ausgedachten Gang der Begriifiung etwas
gestort hatte. Unterdessen hielt Kelemen den Zeitpunkt
fur gekommen, programmaBig oder programmwidrig, aus
der Reihe der iibrigen herauszuspringen; plotzlich und laut
sagte er:
„ Wirklich groBartig . . . aber ich glaube, nach der langen
Reise lassen wirs fur heute genug sein. Ich habe die Zimmer
fur euch im Ritz bestellt; es 1st wohl das beste, wenn wir uns
jetzt verabschieden und eventuell einer von uns euch ins
Hotel begleitet."
,,O ja, Sie haben recht", sagt sie gleich, ,,ich bin tat-
sachlich ein biBchen miide."
Moglich, daB Kelemens gliihender Blick es ihm sugge-
rierte, moglich, daB es nach der Korrespondenz einfach
das Nachstliegende war, — es war auch Kadars Wunsch:
,,Ihr braucht euch wirklich nicht zu bemxihen, wir
konnen doch mit dem Auto — aber vielleicht, Kelemen,
wenn du so gut sein wiirdest, uns zu begleiten . . . aber
gehen wir vielleicht auf jeden Fall."
Nun gingen sie auf den Ausgang zu. Als sie in der Vor-
halle angelangt waren, kamen auch gerade die Trager mit
dem Gepack. Zwei Schrankkoffer und scchs kleinere
Kupee- und Kabinenkoffer.
,,Guck mail" stoBt Simon Marton mit dem Ellenbogen
an, ,,anstandig, was?"
Frau Kadar setzt sich in eine Taxe, Kelemen arrangicrt
in zwei andern Wagen die Koffer. Kadar reicht den Jungens
der Reihe nach die Hand und sagt dann:
,,Es war wirklich sehr nett von euch, daB ihr an die Bahn
gekommen seid, ich mochte euch so bald wie moglich
wiedersehen. Ich bespreche das vielleicht am besten mit
Kelemen, und er sagt euch dann Bescheid."
,,Gut, Kadar."
,,Schon. Schlaf gut I"
,,Gute Nacht, hier in Budapest! Auf Wiedersehen!"
349
,,Also, nochmals, ich freu mich, daB du hier bist, auf
Wiedersehen!"
Dann begleiten sie ihn ans Auto, und wahrend er sich
set2t, verabschieden sie sich von der Frau. Unterdessen hat
Kelemcn die beiden andern Wagen losfahren lassen, kommt
dazu und setzt sich auf den Klappsitz.
,,Na, fahren wir", drangt Frau Kadar und winkt noch
einmal durchs Fenster, dann fahren sie ab.
,,Hotel Ritz, iiber die Andrassy-StraBe", sagt Kelemen
dem SchofFor Bcscheid. Dann wendet er sich an Kadar:
,,Also, damit du informiert bist: zwei schone Zimmer mit
gemeinsamem Badezimmer, einem kleinen Vorraum und
Balkon, ich babe sie mir selbst angesehen, sehr angenehme
Zimmer, nach der Donau gelegcn, pro Tag achtundvierzig
Pengo."
,,Achtundvierzig Pengo", sagt Kadar, ,,nicht ganz zwei
Pfund, gut, ich danke dir vielmals."
Die Jungens gehen langsam auf den Ring zu. Als erster
fangt Szende an zu reden:
,,Also, das ha'tten wir hinter uns", sagt er, und einen
Schritt iiberschlagend, fiigt er hinzu: ,,Einen Privat-
sekretar hat er auch schon."
,,Aber, sei doch nicht so", wehrt der gutglaubige
Kempner ab, ,,schlieBlich schickt es sich doch, daB einer — "
,,Na, gut, ich meine ja bloB", antwortet Szende, ,,ich
hab nichts dagegen."
,,Selbstverstandlich schlieBlich", meint Marton, ,,daB
Kelemen sich um ihn kummert, cr hat ihn doch raus-
geangelt. Aber", er faBt Rona beim Arm, ,,hast du die
Koffer gesehen?! da steckt nicht bloB Luft hinter, kann ich
dir sagen!"
,,Luft! na, hor mal, wenn einer vom andern Ende der
Welt sich auf eine monatelange Reise begibtt du denkst
wohl, jedem geniigt ein Nachthemd und eine Zahnbiirste!
Ich wette mit dir, daB sie trotzdem noch mindestens . . .
mindestens alle vicrzehn Tage waschen lassen mlissen."
,,Kann sein", sagt Simon, ,,aber was sagt ihr zu dcr
Frau? Ungarin. Wo mag er sich die aufgegabelt haben?!"
,,Wirst schon noch dahinter kommen. Ich tippe auf
eine romantische Geschichte", sagt der groBe Lewy.
,,Wieso?" streitet der kleine Lewy, ,,im Gegenteil.
Gerade weil sie Ungarin ist, tippe ich auf eine ganz simple
Sache. Zwei Ungarn in der Fremde bleiben leicht aneinander
hangen."
,,Stimmt", pflichtet Simon bei, ,,aber weiBt du, die
Frau sieht ganz anstandig aus. Was fur einenprima ReisedreB
sie angehabt hat. Wie ich sie mir so fliichtig angesehen
habe — "
,,Entschuldige mal", wird Szende aggressiv, ,,erstens
mal, wie ich dich kenne, hat dein fliichtiges Ansehen darin
bestanden, daB du sie die ganze Zeit groB angegafft hast.
Aber wie ich sie mir fliichtig angesehen habe . . . sagt mal,
ist die nicht ein biBchen alt?"
,,Aber, ich bitte dich, die Reise . . ." sagt Kempner,
,,fast anderthalb Tag in dem engen Kupee — "
,,Lippenstift und Puder gibts auch im Zug, und auBer-
dem ist im Schlafwagen die lange Fahrt gar nicht so schreck-
lich anstrengend . . . aber heutzutage, wiBt ihr, laBt sich
bei den Frauen, besonders bei Auslanderinnen, das Alter
sehr schwer feststellen, ich meine von einem gewissen
Lebensalter an, aber das ist auch nebensachlich: einen
schlechten Eindruck macht die nicht, sag ich euch."
,,Na, und der Kadar!" staunt der kleine Lewy, ,,ich
schwor euch, Kinder, ich hatt ihn nicht erkannt, wenn er
mir zufallig auf der StraBe begegnet ware. Wie anstandig
der angezogen ist! der laBt sich bestimmt jedes einzelne
Stuck in London machen."
,,Ja", scherzt der groBe Lewy, ,,und bis dann so'n Anzug
da unten am Siidpol ankommt, ist er langst aus der Mode!"
,,Aber an seiner Sprache hort man deutlich, daB er schon
lange im Ausland lebt! habt ihr nicht bemerkt, immer sagt
er: vielleicht."
351
,,Na, wcifit du", sagt Zatony, ,,dar\iber braucht man
sich doch nicht zu wundern, besonders wenn man bedenkt,
daB du zum Beispiel schon ziemlich lange hier lebst und
trotzdem nicht Ungarisch kannst."
,,Ich?" fragt Simon, nun ernstlich und tief gekrankt,
,,ich kann nicht Ungarisch?! Mir schcint, du bist nicht in
dcr gliicklichen Lage, mcine Artikel — "
,,Entschuldige", schiirt Zdtony weiter, ,,was du sprichst
und schreibst, ist doch nicht Ungarisch, hochstens
Budapestisch."
Rona fangt an zu lachen. ,,Bums, das hat aber gesessen,
was? Und wer kommt nun mit, irgendwo cine Portion
Eis essen?"
,,Ich", sagt Simon, ,,oder gehen wir lieber ins Kasino,
das Sommerlokal im Stadtpark ist schon geoffnet. Aber
zuerst wollen wir vielleicht doch besprechen, wann wir
wieder mit Mister Kadar zusammensein sollen."
,,Vielleicht wiirdest du abwarten, bis er sich meldet und
dich einladt", sagt Kempner mit einer Regung von
Anstandsgef tihl .
,,Keine Spur . . . es gehort sich, daB wir uns melden,
gewissermaBen ist er doch unser Gast", sagt Rona.
,,Uns melden, schon, aber das mit dem Gast, das stimmt
nicht ganz, ich jedenfalls hab dazu kein Geld. Am besten
ware, ganz ungezwungen etwa in Buda in eincm kleinen
Gartenrestaurant — "
,,Nein", meint Marton, ,,das ist nicht das Richtige.
Denn wahlen wir da ein anstandiges Lokal, dann ist es
ebenso teuer wie jedes beliebige in der Stadt, und ihn in
irgendeine schmierige Bude zu schleifen, hat doch keinen
Sinn. Wir imissen uns schlieBlich auch fragen, was ihm
gefallcn wiirde."
,,Hab dich bloB nicht so . . ." sagt der kleine Lewy, ,,im
iibrigen hast du recht. Gehen wir ins Pilsener, Menu
zwei fiinfzig."
,,Ins Pilsener, du Ochse", winkt der grofie Lcwy ab,
,,warum dann nicht gleich in den Automaten oder in cin
vegetarisches Restaurant? Ich schlage vor — "
,,Ich schlage vor und akzeptiere ein Restaurant am
Donaukai", sagt Zatony, ,,aber nichts von Gast und ein-
laden, arrangieren tun wir nichts, wir lassen ihm ganz ein-
fach sagen, dann und dann seien wir dort zu treffen, sei
beruhigt, er kommt hin."
,,Richtig", sagt Szende, ,,also, dann werde ichs ihm
bestellen — "
,,Dann wirst dus Kelemen bestellen, er solle die Sache
mit Kadars regeln. Bleiben wir bei Samstagabend? gut."
Dariiber einigen sie sich.
Unter dem tragen weiten schwarzen Himmel der klaren
Friihsommernacht streiten sich Tausende von Lichtern aus
der Stadt mit den gliihenden Sternen. Die trottenden
kleinen Marionetten-Schatten bleiben unter den Lichtern
stehen, verabschieden sich voneinander und zerstreuen sich.
17
KELEMEN, — der gute Manager, — stcckt den Kopf
durch die halbgeoffnete Tiire, als wollte er sich davon iiber-
zeugen, ob alles in Ordnung sei. Es ist in Ordnung. Vom
Lastenaufzug wird gerade das Gepack iiber den Flur ge-
bracht. Dann reicht er Kddar noch einmal die Hand.
,,Servus, Kadar, gute Nacht. Also, es bleibt dabci,
morgen nachmittag rufe ich dich an, Aber wenn du mich
inzwischen brauchen solltest . . . meine Adresse und Telefon-
nummer hast du, nicht wahr? Also, auf Wiedersehen", und
er geht. Den Hut zieht er ein wenig in die Stirn und steigt
so die Treppen hinunter. Na, so weit klappt alles. Morgen
trete ich meinen Urlaub an. Der Nachtportier griiBt tief,
Kelemen hebt den Zeigefinger an den Hut. Zweiter Stock
zehn, elf, — achtundvierzig Pengo pro Tag, Kleinigkeit,
23 KOrmondi, Budapest 353
klappt auch. Ungarin 1st die Frau. Eine nette Erscheinung.
Ungarin . . . sichcr irgendeine abcnteucrliche Geschichte,
daB die sich so getroffen haben. Es klappt alles. Der
Start . . . ist ganz gut gelungen. Ich soil die Jungens zu-
sammenrufen, zum Abendessen, sagt er, na, gut. Je schneller
wir das hinter uns haben, desto besser. Die Insel werde ich
ihm raten, — hm, gut. — Inzwischen war er um die kleine
Anlage am Ende des Korsos herumgegangen — er hatte
gar nicht bemerkt, daB er diesen Weg einschlug, — und
stand am Donauufer dem Hotel gegeniiber. Zweiter
Stock . . . Er entdeckt die erleuchteten Fenster, — davor
auf dem Balkon zwei Schatten. Romantik . . . Na ja, sagt er
vor sich hin, dann dreht er sich um und geht fort.
Da stehen die beiden auf dem Balkon iiber dem nacht-
lichen Korso.
Lichter den Kai endang, Lichter auf dem Wasser. Die
Zitadelle und die Fischerbastei und die Kronungskirche
leuchten im biihnenhaften Glanz der Reflektoren. Rechts
irgendwo eine blafiblaue Neon-Lichtreklame. Von den
Hangen der Budaer Bergc blinzeln gelbliche Lichter. Weit
hinten an der Briicke eine griine Lampe. Den Korso ent-
lang, so weit man sehen kann, eine Reihe kleiner, wim-
melnder Lichtchen. Langsam und lautlos fahrt ein illumi-
niertes Schiff vorbei. Und die Sterne am Himmel. Aus der
Feme, dumpf, pufiit ein Auto. Plotzlich tiefes, klares, lang-
gedehntes Tuten vom Wasser her. Stille. Und irgendwo
vom Dach her diskrete, verschleierte Musik einer Jazz-
band mit dem leise klopfenden, hartweichen Rhythmus von
Klavier und Trommel und dem ruhigen und dennoch durch-
dringenden, lachenden Wcinen eines Saxophons.
,,Schon", sagt die Frau auf dem Balkon, ,,wirklich
wunderschon."
,,Ja", antwortet er, ,,Budapest ist eine schone Stadt."
,,Fast kulissenhaft . . ." Sic schweigcn. ,,Und so still."
,Ja, nach Paris . . . Dies hier ist iibrigens eine besonders
stille Gegcnd."
354
,,Eigentlich 1st es doch komisch, daB Budapest fiir
mich . . . cine fremde Stadt 1st."
,,011", sagt Kidar, ,,es ist schon so lange her. Heute 1st
sie mir auch schon fremd."
Dann wird es ganz still. Eine Zeitlang glimmen in der
Hohe der zweiten Etage noch zwei Zigaretten; und dann
sind 2wei kleine rotliche Lichter und zwei fremde Men-
schenschatten weniger am nachtlichen Donauufer.
Yierter Till
DIE VERSUCHUNG
DuRCH die schmale Spalte der beiden geoffneten Tiiren
sind iiber die Waschkabine die zwei Schlafkupecs ver-
bunden. Nur die untern Betten sind zurechtgemacht. Das
cine Abteil 1st dunkel, im andern brennt noch die Lese-
lampe am Kopfende des Bettes. Es ist still, — die Stille des
Zuges, die leise und monoton vom Taktschlag der Rader
begleitet wird. Eins — zwei — drei und — vier, eins —
zwei — drei und — vier, die Rader der Eisenbahn dirigieren
gut: richtig schlagen sic den Takt zu allerlei Musik, die
einem im Kopf spukt, einen plotzlich und frei wechselnden
Takt, — eins — zwei — drei und — vier, eins — zwei —
drei; nun Walzerrhythmus, dann eine Melodic im Doppel-
takt, jetzt schnell, auf jedes Rattern kommen vier Tone,
dann langsam wie ein Trauermarsch und dann wieder
anders: wie eben die vagen Melodien auftauchen. Manch-
mal quietschen die Schienen, lang wie in gedehntem,
hellem Schmerz, — auch das paBt gewohnlich in die
Melodien. Eins — zwei — drei und — vier Da hort
man im beleuchteten Abteil eine Zeitung rascheln: das
Papier knistert, das Blatt legt sich zischend um und
schmiegt sich an den iibrigen Packen. Ganz deutlich hort
man dies, denn das Ohr hat sich schon langst an das
Rattern der Rader gewohnt. Das Licht im Turrahmen ist
ganz seltsam, verschleiert und milde; abgestumpft falltes
hie und da von einem der Messingbeschlage; irgendwie
erinnert ihn dieses Licht an den Geschmack des Holz-
357
aofels, von dem cr einmal vor langer Zeit als Kind krank
gcworden war. Der heruntergezogene braune Vorhang
deckt das Fcnstcr nicht ganz; cben blitzte es von den
Fcnstern eines vorbeifahrenden Zuges gelblich durch die
Spalte ins Abteil. Wieder rascheln die Zeitungsblatter, leise
faltet sich der Packen zusammen. Der Schalter knipst, und
das Licht geht aus, es ist ganz dunkel. Da auf einmal spurt er
durch den Eisenbahngeruch hindurch den farblosen, kiihlen
Duft des Parfvims, das sic vor zwei Tagen zusammen
gekauft haben. Und cine Minute spater wieder das Knipsen,
das das Hellwerden der Lampe begleitet. Vom Abteil her
hort er leises Kramen.
,,Was ist denn, Kind?" ruft er hiniiber, ,,warum ver-
suchst du nicht einzuschlafen?"
Da steht sie in dem kleinen Durchgang im hellen Tiir-
rahmen. ,,Sei doch so gut . . . es ist schrecklich warm hier, und
ich kann die Liiftung nicht aufmachen, hilf mir bitte."
Er streift die leichte braune Decke ab und steht sofort
auf. Driiben im andern Abteil tritt er vorsichtig auf den
Rand des Bettes und dreht den Messinggriff der Liiftungs-
spalte um. Gleich spurt man die frische Luft.
,,Danke, ich wuBte nicht, daB man das umdrehen muB,
ich dachte, man muB an dem Griff ziehen."
,,Gut, mein Hcrz", antwortet er, ,,aber versuch jetzt zu
schlafen. Gutc Nacht."
,,Gute Nacht . . . sag mal, warm sind wir eigentlich in
Wien?"
,,Gegen Morgen", antwortet er, ,,sehr friih. Abcr wir
brauchen nicht aufzuwachen."
,,Na, gut . . . also dann gute Nacht."
,,Gute Nacht." Er setzt sich auf seinen Bettrand.
Driiben geht das Licht aus; es ist dunkel. Er streckt sich
auf dem Bett aus, jetzt werde ich schlafen, denkt er. Es ist
still, nur die Rider rattern den Takt zur Eisenbahnmusik.
Bins — zwei — drei und — vier, eins — zwci — dr
eins — zwei — drei und — vier
— cins — zwei — drei und — vier I can't give
you anything but love — zwei — drei und — vier —
baby — zwei — drei — vier es war eine reizende,
geschickte kleine Amerikanerin, die das Lied sang, mit
ihrer heiseren kleinen Stimme, — die richtige Talkie-
Stimme, — und die Jazz war auch gut, auffallend gut, die
im Savoy ist naturlich besser, — aber lauter neue Sachen
haben sie gespielt, und sehr gut, — so ganz frisch ist dies
Stuck zwar nicht mehr, driiben haben sies schon voriges
Jahr gebracht, auch auf Flatten gibts das, aber es hat
sich ziemlich lange gehalten, — also: die Jazzband war
gut auf der Margareten-Insel. Gleich im Anfang war das,
am dritten oder vierten Tag, abends auf der Insel, als wir
das erstemal mit den Jungens zusammen waren. Un-
geschickt, schrecklich ungeschickt hat Kelemen das ge-
macht, — ich hatte ihm doch vorher gesagt, sie waren
selbstvcrstandlich alle meine Gaste, und dann fing nach dem
Essen dennoch das Greifen nach den Brieftaschen und das
Hinundhererklaren an: ,,vielen Dank, aber wir konnen
das wirklich nicht annehmen . . . aber, ich bitte dich,
darauf kann ich mich auf keinen Fall einlassen . . . aber, ich
bitte dich, wir sind doch nicht deshalb zusammen-
gekommen . . ." — Der ruhige Blonde, der Zatony, hat sich
am hartnackigsten verwahrt, — eigentiimliche Leute: es
kam vor, daB er sie manchmal fiir einen Augenblick alle zu
kennen glaubte, so wie sie in der Schulbank gesessen
hatten, und dann, ein Satz, ein Wort, nur ein einziger Ton
oder eine Bewegung: wer ist dieser fremde Mensch? . . .
vierzehn Jahre, — alle sind sie mir fremd, dieser Rona und
der Szende und — kurz alle. Fiir sie war ich naturlich der
Fremde, — das war auch falsch, gleich zu Beginn, es wurde
auch sofort still am Tisch, unangenehm still, als der
Mdrton, — was hat der doch auch fiir ein anderes Gesicht
bekommen ... — als Mdrton davon anfing, daB alte groBe
359
wohlfundierte Firmen zugrunde gehen, — und dann, wic er
mich von der Seitc ansah: ,,entschuldige, Kddir, das kann
dich wohl nicht interessieren", — ,,aber bitte", — ,,nein,
nein, reden wir lieber von was anderm." Und da sprach
nicmand ein Wort, plotzlich waren sie alle verstummt. In
einer Woche reiscn wir wicder ab . . . cine Woche gemigt
gerade, um sich alles anzusehen. ,,H6rst du?" sagte Ha,
,,I can't give you ..." — die Jazz fing das an zu spielen.
Ha hat sich wohl gefuhlt, die Stadt und die Insel haben ihr
gefallen, — und von den Jungens der Amman. Er ist ja
auch hubsch, cine gute Erscheinung und hat gute Manieren,
im Smoking war er; auBer mir waren bloB Amman und
Kelemen im Smoking: das war auch nicht ganz richtig,
die iibrigen haben sich sicher unbehaglich gefuhlt in ihren
StraBenanziigen. Amman tanzte mit Ila, — da fragtc
Kelemen, ob wir nicht spater, wenn die andern gegangen
waren, noch ein Glas Wein in der Bar trinken wollten,
,,warum nicht, gerne", und dabei habe ich es gar nicht gern
getan. Die Jungens dachten es sich gewiB, daB wir drei im
AbenddreB noch was anderes vorhatten, — Kelemen hat
das Ganze nicht sehr geschickt gemacht und auch nicht
besonders taktvoll, wie er sich spater zu Amman hiniiber-
bcugte und ihm etwas zuflusterte, — es war doch schlieBlich
kcin Geheimnis, und jeder, der Lust hatte, hatte mitkommen
konnen . . . aber sie verabschiedeten sich alle, der Lcwy und
der andere Lewy und der Szende und die iibrigen, dann
fingen sie an, den Zahlkellner zu rufen, sehr peinlich war
das, — na, egal. — Nach Mitternacht gingen wir dann
hiniiber in die Bar. Auch die kleine Amerikanerin kam mit,
setztc sich neben den Jazztrommler, sang, tanzte und ging
an die Tische, machte die iiblichen kleinen Faxen, ein
niedliches kleines Geschopf. Der Saal ist auch geschickt
gemacht, etwas zu groB allerdings, das Intime der Bar war
dadurch unwichtig, — Ila hat es gefallen. Ila tanzte
wieder mit Amman, sic tanzten gerade, als die kleine
Gcsellschaft reinkam, vier oder fiinf junge Leute und drci
Frauen. An dcr Tiir bliebcn sic stehen und saben sich nach
Platz um; die cine hatte cin hellgriincs Kleid an, ein leichtcs,
etwas stilisiertes Sommerabendkleid, — kein besondcrs
elegantes Kleid, es sah aus, als sei es schon mehrmals
umgeandert worden, — immerhin ein ganz nettes leichtes
Kleidchen, — aber alle sahen sofort bin, weil sie eine
riesige schwere rote Haarkrone auf dem Kopf hatte, hell-
Icuchtend, in der Mitte gescheitelt und iiber den Ohren
zwei dicke geflochtene Knotcn, und die beiden Knoten
waren hinten im Genick durch zwei lockere Zopfe verbun-
den, — es ware wirklich schade gewesen, dieses herrlicbe
Haar kurz zu schneiden. Fast alle Leute sahen sich nach
ihr um. Ihr Blick flog iiber die Tische, und als er bei
ihrem Tisch ankam, hob sie ein wcnig den rechten Arm
und winkte mit dem weiBen Handschuh hin. ,,Ach", sagte
Kelemen, ,,meine jungste Schwester, wie kommt die denn
her ..." — da ging das Madchen schon ungezwungen und
leichtfiiBig zwischen den Tischen und dem Reflektoren-
schein der Blicke hindurch und kam an ihren Tisch. ,,Servus
Bandi", sagte sie, — eine eigentiimliche, bekannte Stimme,
und auch ihr Gesicht kam ihm bekannt vor, dieses
milchweiBe Gesicht unter dem roten Haar, und die sonder-
baren griinlich-blauen Augen, — ,,na nu? in so elegante
Lokale gehst du?" — ,,Dasselbe konnte ich dich fragen",
gab Kelemen zur Antwort, und er schien ein biBchen ver-
legen zu sein, ,,ich versteh das auch gar nicht, Joly. Mit
wem bist du denn hier?" — ,,Mit denen da", zeigte sie
nach hinten, ,,ein paar jungen Leuten und ein paar Madels",
und als sie einen leeren Tisch entdeckt, winkt sie nach der
Tiire hin und ruft: ,,Otto!" — und deutet auf den leeren
Tisch. Er stand auf, sagte: ,,Kadar" und hob die Hand.
,,Gestatte", sagte plotzlich Kelemen dazwischen, ,,dafi ich
dir meinen Freund vorstelle, Antal Kadar, du kannst dich
nicht mehr an ihn erinnern, du warst damals noch ganz
klein ..." — ,,Ja", sagt Joly, ,,Sie sind Bandis auslindischer
Schulfrcund, ich weiB . . . und Ihre Frau ist auch hier?" —
,,Ja", sagt Kelemcn rasch, ,,wcnn du spater noch mal fiir
cinen Augcnblick riibcrkommst, stellc ich dich auch Frau
Kadar vor." — Er stand noch immer. ,,Sie wuBten, wer ich
bin? daB ich iiberhaupt existiere?" — ,,Natiirlich, Bandi
hat mir doch erzahlt, daB Sic auf Besuch nach Budapest
kommcn. Wie gefallt es Ihncn dcnn hier?" — Er lachclte.
,,Oh, danke, schr gut. Budapest hat sich sehr entwickelt,
seitdem ..." — ,,Tanzen Sie?" fragt sie, den Kopf ein
wenig zur Seite gedreht. ,,Jawohl", lacht er. Ein hiibsches
Ding. ,,Darf ich Sie gleich um einen Tanz bitten?" —
,,Oh, danke . . . aber jctzt muB ich mich erst ein biBchen zu
meiner Gesellschaft setzen — — aber Sie konnen mich
spater von da wegholen." — ,,Nein, das nicht", sagt
Kelemen rasch und streng, ,,ich weiB doch gar nicht, wer
deine Leute da sind, — aber du kannst dich nachher zu
uns setzen, wenn es euch recht ist." Kadar unterbricht ihn
lachend: ,,warum bist du denn so streng zu deiner Schwester,
du Tyrann?" und zu Joly gewendet: ,,kommen Sie nachher
zu uns? es ware sehr liebenswiirdig von Ihnen." — ,,Ja,
ich kann ja ruberkommen", antwortet sie, ,,also dann . . .
Servus, Bandi, warum bist du denn so grandig?" sie lacht,
streckt ihre Hand hin, cine schone, schmale, kiihle, weiBe
Hand, und geht nach dem andern Tisch hin. I can't give
you anything auch ihr Gang ist ihm bekannt. ,,Du,
Andor, ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, daB
du cine Schwester, vielmehr Schwestern hast . . . Joly ist
noch sehr Jung, nicht?" — ,,Einundzwanzig", antwortet
er, ,,oder eigentlich erst zwanzig, vor kurzem ist sie zwanzig
geworden." — Ila tanzt groBartig; zu Hause tanzen sie
auch viel, es kommt sogar vor, daB sie manchmal abends
zu zweit nach Helena- Village hiniibergehen, ins Imperial-
Dancing, einen Cocktail trinken und ein Stiindchen tanzen.
Oder in der Villa, dann laBt Ila der Reihe nach samtliche
neuen Tanzplatten auf dem Grammophon spielen. O ja,
Ila tanzt glanzend, mit ruhigen Bewegungen, mit fast
starrer Haltung, und dabei hat sie doch im Oberkorper ein
362
ganz feincs, harmonisches Vibricren, am meisten vielleicht
in der Schulter. Ganz nette Lcute, mit denen das Madchen
dort sitzt . . . nctt, nett, gut angezogen sind sie, aber hier
sind ja die meisten Menschen gut angezogen. Kelemen
reitet noch immer darauf herum, was seine Schwester hier
zu suchen habe. ,,Ich kann das nicht begreifen", sagt er
nun schon zum drittenmal, ,,das ist doch ein teures Lokal,
ein Luxuslokal ..." — ,,Aber laB doch schon gut sein",
sagt er, ,,wie kann man denn so rigoros — ein reizendes
Madchen ist deine Schwester", fahrt er fort, ,,deine jiingste
Schwester sagtest du, wieviele Schwestern hast du denn?" —
,,Zwei, Siri hast du auch nicht gekannt? die ist schon ver-
heiratet. Aber es paBt mir nicht, daB Joly sich hier herum-
treibt . . . ich bitte dich, nicht wahr, ich kann doch offen
reden? also, das hier ist ein Luxuslokal, eigentlich etwas
fur Verschwender, und dann hat ein junges Madchen iiber-
haupt nichts in einem Tanzlokal zu suchen ..." — ,,Das
sind doch altmodische Ansichten", unterbricht er ihn, ,,alt-
modisch bist du, das wundert mich aber. Daran kann man
doch wirklich nichts auszusetzen haben, wenn ein junges
Madchen mit ihren Kameraden ", plotzlich verstummt
er. Jolys roter Kopf leuchtet iiber die Tische heriiber.
Pcriicke, denkt er, Maske und unechtes Zeug, Biihnen-
kostiim . . . und da iiberkommt ihn ein merkwiirdiges, ver-
worrenes, unsicheres Gefiihl. Joly dreht gerade den Kopf,
und er sieht das iibertrieben weiBe Gesicht mit den griin-
lich-blauen Augen und den etwas korrigierten Augcn-
brauen; und wie er in die Richtung starrt, entschliipft
seinen Lippen ein Wort im Tonfall der Frage oder eher des
Vermutens: ,,Sommersprossen . . .?" — ,,Wie bitte?" sagt
Kelemen gleich, ,,hast du was gesagt, Toni?" — ,,Nein —
ich sch nur zu, wie die Kleine, die da singt ..." — ,,Ein
prachtvolles Ding", bemerkt Kelemen eifrig, ,,ich kann dir
sagen, alter Freund, cine Kanone, aber die entziickendste
Nuttc augenblicklich in Budapest, im Winter war sie die
Freundin von dem Rotzjungen Teddy " Kelemen
363
spricht, aber er hort nicht hin, ,,cine Mengc Geld hat die
sich erwirtschaftet natiirlich hat sic ihn betrogen
rausgeschmissen . . .*' — >,Du, Andor", sagt er dazwischen,
,,storcn wollen wir sie natiirlich nicht, aber wenn meine
Frau vom Tanz zuriickkommt, dann sag doch wirklich
deiner Schwester, sie mochte ein biftchen ..." — ,,Abcr
gern", antwortet Kelemen; er reiBt die Augen auf und
bcugt sich nach dem Sektkuhler. I can't give you die
Musik wiederholt den Refrain in raschem Takt, Jolys roter
Kopf dort auf dem Parkett neigt sich ein wenig auf die
Schulter des einen Smokings, — Ila und Amman kommen
langsam zuriick zwischen den Tischen hindurch. Auf den
Tischen kleine Lampen mit bunten Schirmen, in den kleinen
Sesseln schwarze und bunte Flecke, und auf dem Parkett
verklingt langsam die Musik, — wirklich nett, stimmungs-
voll ,,Sie taazen sehr gut", sagt Ila zu Amman, als
sie sich setzen, ,,etwas anders als wir Englander, mit mehr
Temperament, aber sehr gut.** — >,Oh", sagt Amman bc-
scheiden tuend, ,,ja . . . tanzen, das konnen wir einiger-
maBen", aus den Augenwinkeln betrachtet er Ila, und sein
Finger fahrt an den kleinen blonden Tatarenschnurrbart.
,,Wcr war die hiibsche junge Dame vorhin?" fragt Ila, —
,,meine kleine Schwester", antwortet Kelemen rasch, da
reckt Ila ein wenig den Hals und blickt iiber die Tische
nach dem Parkett: ,,groBartig tanzt sie, ein entziickendes
Geschopf, — wiirden Sie sie mir nicht vorstellen?" wendct
sic sich wieder an Kelemen, ,,nach den vielen Budapester
Mannern mochte ich nun auch ein Budapester Madchen
kcnncnlcrnen, nach den vielen ernsten Mannern I" und
lacht. Die Amerikanerin singt wieder ctwas, Kelemen langt
nach dcr Scktflasche. Das Imperial-Dancing in Helena-
Village liegt am Meeresstrand ; — voriges Jahr hatten sic
deutsche Gaste, Filmleute, unter denen war ein junger
Mann, der cine Regisseur; auffallende Ahnlichkeit hatte der
mit Amman. Wihrend acht Jahren im Gymnasium habc
ich viclleicht hundert Worte mit ihm gcsprochen, und jetzt
364
sitzen wir zusammen an einem Tisch in der Bar an der
Donau. Zwanzig Jahre ist diese Joly, ich hatte nicht ge-
dacht, daB sie Kelemens Schwcster sein konnte, sic gleichcn
sich iiberhaupt nicht, allerdings ist der Altersunterschied
ziemlich groB. ,,Prosit", hebt er sein Glas Kelemen zu.
Kelemen schenkt fleiBig ein. Ha trinkt viel, sie macht sich
immer viel aus Sekt. Also, der junge Deutsche unter den
Filmleuten eigentlich ... ja, sie gleichen sich iiber-
haupt nicht. Oder ob ihr Haar gefarbt ist? nein, dies rote
Haar ist von ganz besonderem Charakter iiber dem zu
wciBen Gesicht, so kann man weder Haare farben, noch das
Gesicht schminken. Auch ihre Lippen sind nicht unbedingt
bemalt, diese rot-weiBe Rasse hat von Natur aus so rote
Lippen — und plotzlich verspiirt er Sehnsucht, Jolys
Lippen zu sehen. Ich weiB nicht mehr, hat sie dicke Lippen
oder schmale — — er sucht den roten Kopf unter den
Tanzenden, — sie tanzt aber jetzt nicht, und wie sein Blick
sich leer zuriickzieht, begegnet er Keiemens Augen. Nur
einen Moment, — Kelemen erhascht den Blick; in seinem
Gesicht liegt ein nachdenklicher Zug, er blast den Rauch
in die Luft und spricht dann weiter zu Ha : ,,der andre, der
bei ihnen sitzt, ist Bartok von der Industrie-Bank, und die
Dame da hinten am funften Tisch ist seine friihere Frau, sie
haben sich vor kurzem getrennt, ein ziemlicher Skandal
war diese Scheidung, samtliche Zeitungen haben sich damit
beschaftigt. Die Dame doit im schwarzen Kleid ist irgend-
eine Baronin." — ,,Baronin Halban", wirft Amman da-
zwischen, ,,das ist eine bekannte osterreichische Magnaten-
familie, aber die Mutter der Frau soil jiidischcr Ab-
stammung sein. Und der blonde Gent dort mit dem
Monokel und die auf Morphinistin herausgestrichene
miese alte Person da driiben und die bciden im Smo-
king mit den gelangweilten Gesichtern — — und die
wciBe Schlanke mit dem Diadem, die eben aufsteht und
gcht " Mit halbem Ohr hort er diese spitzen Worte,
die kurzen, gepfefferten Lebensgcschichten, — sein Blick
365
schweift zuriick auf das Parkett, und dann entdeckt er Joly
wiedcr; mit cinem brcitschultrigcn jungcn Mann in grauem
Anzug tanzt sie, die Kopfe der beiden sind ganz nahe an-
einander, und sie lachen. Jetzt ist Joly ihm gerade gegen-
iiber, und wie er sie betrachtet, sieht er, daB sie die Augen
nach ihrem Tisch gerichtet hat, — nein, nicht nach ihrem
Tisch: sie blickt ihm gerade in die Augen. Einen kurzen
Blick wirft er auf Ila, — mit etwas gerotetcn Wangen sitzt
sie da zwischen den beiden jungen Leuten und betrachtet
die zwischen ihren Fingern brennende Zigarette, etwas
spater sagt sie : ,,also, Kelemen, holen Sie nun Ihre Schwester
zu einem Glas Sekt her?" Kelemen halt Ausschau nach dem
andern Tisch hin und steht auf. Kelemen ist ein ziemlich
groBer Junge, hat eine gute Figur, schwarzes Haar, ein ganz
hiibsches Gesicht, — ein Dutzcndgesicht, — Joly hat rotes
Haar und ist vielleicht um einen Gedanken groBer als Ila.
Es gibt Gesichter, die einem im ersten Augenblick so be-
kannt vorkommen, und wenn man sie sich dann genauer an-
sieht, dann stellt sich heraus, daB sie einem doch ganz fremd
sind. Die Augen sind fremd, die Stirn anders, die Gesichts-
form nicht ahnlich, und der Mund ist ganz und garver-
schieden von jenem Mund, und trotzdem, das Ganze er-
innert doch genau an jetzt bemerkt er, daB Kelemen
schon drub en am Tisch angekommen ist, mit etwas ge-
senktem Kopf spricht er mit dem einen jungen Mann, und
Joly, in ihrem griinen Kleidchen, steht auf, und die Hand
auf dem Arm ihres Bruders, blickt sie sich im Saal um. Einc
ungcduldige Kopfbewegung, zerstreutcs Umsichblicken.
Sonderbar . . . wic dieses rote Haar eine sonst so unbedeu-
tende Erscheinung auffallend macht . . . das dichte rote
Haar, die weiBe Gesichtshaut; das Gesicht ist nicht schon,
nicht regelmaBig, ziemlich unruhig, es ist etwas — ja, etwas
ausgesprochen Gewohnliches ist darin. Alle Leute sehen
sie an. Auffallend ist sie. Und sie erwidert die Blicke, ein
junges Madchen! Sie provoziert es, daB man sich nach ihr
umsieht, und provoziert es, daB man sie weiter anblickt.
366
Jetzt kommen sic zwischen den Tischen durch. Joly hat
ihre Hand in Kelemens Arm gehangt, man sollte wirklich
nicht annehmen, daB sie Gcschwistcr sind. ,,Darf ich be-
kannt machen", sagt Kelemcn; Ila betrachtet Joly mil etwas
zusammengezogenen Augenbrauen. ,,Oh, freut mich sehr,
gerade habe ich zu Ihrem Bruder gesagt, was fur cine
reizende Schwester er hat." Ammans Hacken klappen
aneinander, militarisch steif steht er da, hoflich kiiBt er
Joly die Hand. Einen Augenblick scheint sie in Verlegen-
heit zu sein, — dann setzt sie sich ruhig und ungezwungen
hin und greift nach dem Sektglas, ,,ich komme nur fur ein
kleines Weilchen, ich will die Kinder da nicht lange allein
lassen ..." Ihr Mund ist nicht schon. Schmal und ctwas zu
groB ist er. ,,Ich freue mich schrecklich, Sie kennenzu-
lernen", sagt Joly zu Ila, ,,nicht wahr, Sie sind nicht bose,
wenn ich Sie einmal besuche, Sie konnen sicher sehr inter-
essante Sachen erzahlen. Eine so ganz andere Welt muB das
sein, wo Sie leben, ich kenne derartige Gegenden nur vom
Kino her und aus Reisebeschreibungen, aber das ist doch
wahrscheinlich alles gelogen — — " und dabei lacht sie
mit leisem, hellem Klang, — ein solches frisches Klingen
habe ich schon einmal gehort . . . irgendwo am Ufcr eines
Flusses auf einem Schiff. — ,,Oh, sehr lieb von Ihnen,
kommen Sie wirklich einmal zu mir", sagt Ila, — ein merk-
wiirdiges wechselndes Gesicht, ganz bestimmt habe ich
dieses Gesicht schon gesehen jetzt gleicht sie genau —
Amman erhebt sich und fordert Joly zum Tanzen auf, —
diese schmalen Schultern, die iiberschlanke Gestalt . . .
Tilly, natiirlich. Nur ist ihr Haar ctwas heller. Und ihre
Hande . . . ich muB mir ihre Hande gcnauer ansehen. Er
blickt nach dem Parkett, sucht Joly im Gewimmel. Wenn
sie nicht dieses schlechte grvine Klcid anhatte Ila
spricht von Joly. ,,Wic hiibsch, frisch und jung sie ist." —
«Ja", sagt Kelemen hartnackig, ,,cincn Augenblick war ich
bose auf sic, ich kann mich wirklich nicht damit aussohnen,
daB so ein junges Ding — " Ila lacht ein wenig hdhnend.
367
,,Die jungen Madchen in England und Amerika reisen allein
durch die Welt, und Sic findcn schon dabei was mir
ist das nicht ganz geheuer, wenn ein junger Mann sich zu
so konscrvativen Prinzipicn bekennt " Ich muB mir
ihre Hande ansehen, denkt Kadar, und als sie zur iickkommen,
steht er sofort auf: ,,wollcn wir tanzen?" — ,Ja, gerne,
aber ich mochte bloB warten, bis ein Tango oder Blues
gespielt wird, aus dieser schnelltaktigen Musik mache ich
mir nicht sehr viel." Sie setzt sich, nimmt das Sektglas in
die Hand, ihrc Hande sind auch genau so — ,,Sagen Sie,
Joly", fragt er da glcich, ,,musizieren Sie irgend etwas?" —
gewiB spielt sie Klavier, bcstimmt wird sie sagen, sie spicle
Klavier. ,,Nein, leider nicht", antwortet Joly, ,,ich habe
zwar mal angefangen, Klavier zu lernen, mein Gehor ist
ziemlich gut, aber es hat sich herausgestellt, daB ich im
iibrigen absolut nicht zum Klavierspiel begabt bin, also hab
ichs aufgegeben." — ,,Ja", sagt Kelcmen, ,,unserer ganzen
Familie fehlt das Talent zu irgendcinem Instrument, dabei
haben wir aile Gchor." Nun beginnt ein langsames Tanz-
stiick, gedehnt, schmerzlich, negerhaft, — das ist das
Saxophon, und das Klavier folgt ihm langsam in schlappen
Akkorden, — Joly steht auf: ,,wollen Sie?" Amman ver-
beugt sich leicht vor Ila; hintereinander gehen sie aufs
Parkett zu. Joly wendet das Gesicht etwas zur Seite, halt
es ganz nahe an seincn Kopf, cins von den krausen roten
Haaren kitzelt ihm die Augenwimper, — langcs Haar hat
sie, natiirlich, sie hat sich das Haar auch nicht abschneiden
lasscn, — ihre Hande sind schmal, trocken, fvihlen sich
kiihl an; ihr Haar und ihre Haut haben einen einfachcn,
kiihlen Seifengerucb, der diinnc Korpcr schmiegt sich ihm
nachgiebig an, ihr Schritt folgt wie der Schatten seincm
Schritt im langsamcn Rhythmus des Tanzes, — ich miiBte
etwas sagen . . . um nicht zu schweigcn, irgend etwas, daB
wir gates Wetter haben odcr wie schon die Insel ist odcr daB
sie jcmandcm ahnlich sieht, daB sie gut tanzt, daB ich mich
wirklich sehr freue, sic aber cr sagt nichts, und das
368
Madchen schweigt auch, nur die Musik spricht mit der
wcinenden Melodic des Saxophons, dem dumpfen Klopfen
der Trommel, der brockelnden Stimme des Klaviers, und
diese fremde, irritierende Musik umspinnt sie, der langsame,
endlose Rhythmus verbindet ihre Schritte, und da ist ihm,
als schritten sie iiber das Parkett, iiber die Bar hinaus in
einen Raum von aufgelosten Formen, in unbekannter,
unfafibarer Ruhe miteinander verschlungen durch die Zeit,
mit der einfachen Selbstverstandlichkeit des substanzlosen
Zusammengehorens, vorwarts oder zuriick — So begann es.
In den folgenden Tagen ereignete sich zunachst nichts.
Es war Budapest, das strahlende Friihsommer-Budapest,
das die Fremden anlachelte, mit der abendlichen Insel, dcm
Wellenbad am Mittag, den Motorausfliigen auf der Donau,
den nachtlichen Autofahrten auf einen der Budaer Berge,
den eleganten Frauen iiberall in der Stadt. Es war Budapest,
es war Anfang Juni. Wir sind Fremde, wir genieBen unser
ruhiges, reiches Leben in Budapest genau wie in London,
Paris oder Berlin, und dann reisen wir weiter. Haben noch
cine Stadt gesehen. Nur mit den Banalitaten kommen wir
in Beriihrung, mit den Gemeinplatzen, den Dingen an der
Oberflache, die indessen meistens den Eindruck einer Stadt
geben. Das Hotel ist westeuropaisch. Der Verkehr ist leb-
haft, groBstadtisch geregelt. Die Bank ist vornehm und
zuvorkommend. Die Menschen sind hoflich, ihre Gast-
freundschaft traditionell ungarisch. Die Kleidung der
Manner ist ziemlich schlecht, so im allgemeinen der Manner
auf der StraBe und erschreckend vide leere Geschafts-
lokale mit heruntergelassenen Rolladen und zahllose
Schilder, die in roten und schwarzen Buchstaben schreiend
letztc Okkasion, Ausverkauf, Auf losung des Geschafts an-
kiindigen. Aber das geht uns nichts an, uns Fremde, — man
braucht nicht unbedingt zu bemerken, was unangenehm ist.
Ila wollte gern die Stadt sehen, — einmal gingen sie zusammen
24 KOrmcndi, Budapest 369
iibcr die Andrassy-StraBc, cinmal ein Stiickchen iiber den
Ring, cinmal brachen sie nach einem abgclegeneren Stadtteil
auf. Sehr bald fiihlte er sich miide; auch Has Schrittc wurden
unsicher und nervos, da kehrtcn sie ins Hotel zuriick. Das
Viertel dcr Fremden sind die paat StraBen der innercn
Stadt, — und im Salon der elegantcn Konditorei braucht
man den kalten, sauerlichen Milchgcruch nicht zu spiiren,
der den Milchhallen auf dem Ring entstromt, wir sind ja
Fremde. Mit Kelemens Hilfe hatte er gleich an einem der
ersten Tage in einer Garage einen cleganten, viersitzigen,
geschlossenen Wagen gemietet; am Volant fiihlte er sich
in Budapest heimischer als zu FuB. Kelemcn meldete sich
iibrigens jeden Tag, hoflich und hciter erkundigte er sich
nach ihrem Befinden und etwaigen Wiinschen. ,,Kelcmen
ist wirklich ein netter, manierlicher Junge", meinte Ila,
,,offen gesagt, fiirchtetc ich ein biBchen, er wiirde seine
Liebcnswurdigkeit iibertreiben und uns lastig werden,
nicht? aber anscheinend habe ich mich geirrt", — und in
ihrcr Stimme lag cine kleine Unsicherheit, die gait abcr der
fremden Stadt genau so wie Kelemen, dcm Fremden. —
Er hatte Da vorher nicht viel und hochstens ganz im all-
gemeinen von Budapest erzahlt. Jctzt denkt sie sicher
dariiber nach, ging ihm durch den Kopf, wie ich wohl
friiher gelebt, in welchem Hause ich gewohnt, welche
Gegenden ich gern gehabt habe. Moglich, daB sie dahiber
nachdachte, aber sie fragte nicht, und so sprachen sie auch
nicht davon. Sie will auch durch mich Budapest nicht nahe-
kommen, so schien es ihm. Eine fremde Stadt . . . wir
werden bald wieder abreisen. Das Auto erleichtert alles,
programmlose Stunden werden vom ziellosen Herumfahren
aufs Geratewohl ausgefuilt. Es ist wie die Wochenschau im
Kino: intcressant, beweglich, oberflachlich, ohne Wichtig-
keit und ohne Bcdcutung, ohne personliche Beziehung. Nur
sehenswert. Und interessiert mich ecwas nicht, dann sehe
ich nicht bin. Wenn ich genug davon habe, h6re ich auf.
BloB, — die Sachc ist doch nicht ganz so. Auf der ersten
37°
derartigen Autofahrt kam Ha mit. Der Zufall fiihrte sie in
cine StraBe; langsam fuhr der Wagen an cinem Gebaude
vorbei: es war das Gymnasium, wo er acht Jahrc lang ein
und aus gegangen war. Acht Jahre hindurch hatte er jeden
Morgen und jeden Mittag hier einen Blinden gesehen, der
an der Ecke saC und, den umgedrehten alten Hut im SchoB,
auf Almosen wartete. Der blinde Bettler saB wieder dort
an der Ecke, vom Fahrdamm aus sah er genau so aus wie
damals. ,,Der hat auch schon vor vierzehn Jahren "
er sprach den Satz nicht zu Ende. ,,Was?" fragte Ha. ,,Ach,
nichts, mir war etwas eingefallen, nicht wichtig." Plotzlich
wurde er schlecht gelaunt. Am folgenden Tag setzte er sich
wieder in den Wagen. Ha schlief gewohnlich nach Tisch
eine oder anderthalb Stunden. Um diese Zeit machte er sich
auf die planlosen, abenteuerlichen Wege. Einmal bemerkte
er am Anfang einer breiten StraBe ein Schild : K6banyaer-
StraBe. Es war ihm, als erinnerte er sich an irgend etwas,
wuBte aber nicht genau, an was. Ein unbequemes Gefiihl
ergriff ihn. Er stoppte den Wagen ab, drebte um. Eines
Nachmittags fuhr er durch die Gegend der Stefania-StraBe,
durch schmale Gassen und an Villen mit Garten vorbei,
und plotzlich fuhr ihm durch den Kopf, jetzt wiirde er
Joly begegnen. Seine Sohle hob sich langsam vom Gas-
hebel; der Wagen bewegte sich hochstens noch im Schritt
vorwarts. Dieses sachte Weiterkriechen dauerte wohl eine
halbe Stunde, — Joly begegnete er natiirlich nicht. Tage-
lang setzte er dieses Pirschen im Auto fort. Das war friiher
nie gewesen, in keiner andern Stadt. Im Grunde genommen
fehlte ihm xiberhaupt der Trieb, so herumzustreifen, und
wenn er eine Stadt schon kannte, wenn er iiber die groBen
Sensationen der ersten Spaziergange hinaus war, regte sich
nie der Wunsch in ihm, durch cine fremde Stadt zu bum-
meln, ziellos, wie es gerade kommt, zu schreiten, sich dem
Zufall der StraBenecken, der StraBenkreuzungen zu iiber-
lassen. Das muBte irgendwie mit jenen Traumen zusammen-
hangen, — er hatte einen furchtbaren, sich immer
24*
371
wiederholendenTraum, von dcm ihn meist nur sturzartiges,
vonHerzklopfen beglcitetcsErwachcn zu bef rcien vermochte :
er geht, gcht und gcht, gebt iiber wclligen, cndloscn, grauen
Asphalt, er tut nichts, er geht nur, cr sieht nichts, er geht
nur, es ereignet sich nichts, er geht nur und geht, — bis
das Herzklopfen kommt, mit schwindelhaftem, plotzlichem
Erwachen. Manchmal packte ihn regelrechte Angst, ein
Grauen, wenn er in einer fremden Stadt einen langeren Weg
zu FuB zu machen hatte, — dann muBte er schnell nach dem
nachstliegenden Ziel greifen, — und wenn es auch nichts
anderes war, als dort driiben in dem Laden Zigaretten zu
kaufen, — um dieses qualende Gefiihl loszuwerden. Eine
Autofahrt ist etwas andres — — langsam lenkt er den
Wagen und sieht sich vom Volant aus die StraBen, Hauser
und Menschen an. Das Bild ist eine eigentumliche Mischung
aus Bekanntem und Fremdem. Manchmal kam es ihm so
vor, als kenne er dieses oder jenes Haus, aber er wuBte
nicht mehr, wo er es bereits gesehen hatte. In Budapest,
damals? In Wien? In London? In Paris? Zu Hause in Port
Elizabeth bestimmt nicht. Hie und da tauchte ein Stiick-
chen StraBe, eine Alice, ein Platz auf, die ihm so bekannt
schienen, daB er den Wagen halten lieB und ein paar
Schritte zu FuB ging. Wahrscheinlich bin ich seinerzeu
haufig durch diese Gegend gekommen, — zweifellos.
Woher sollte ich sie sonst kennen? woher kame dieses
bekannte Gefiihl? London, Paris, Johannesburg, — Buda-
pest. Das war der Ausgangspunkt. — Eines Nachmittags
fragt Ila : ,,gehst du heute wieder weg, wahrend ich schlafe ?"
,,Ja." — ,,Wohin?" — ,,Ich weiB noch nicht, ich fahre so
aufs Gcratewohl irgendwohin, wie immer." — ,,Roman-
tik?" fragt Ila; bei dem Wort wird er rot. ,,Jawohl, Roman-
tik." Tatsachlich iiberflussig dieses leere Herumstreifen.
Wir wcrden bald abreiscn.
Morgens rief Kelemen an. Mit den Jungens waren sic
ubrigens seit dem Abend auf der Insel nicht zusammcn-
gewescn, — das war schon cine Wochc her, — die Jungens
37*
batten sich nicht erkundigt, sich nicht gemcldet; er ver-
miBte sie auch nicht. Eigentiimliche Gestalten, — mit ihren
sonderbaren Blicken, merkwiirdigen Redensarten, die er
sich schon langst abgewohnt hatte, mit ihren fremden, un-
interessanten Themen, nach deren lokaler Bedeutung er gar
nicht sonderlich forschte. Amman hatte zwar einmal tele-
foniert, aber da war er nicht zu Hause gewesen, Ila hatte
mit ihm gesprochen: cine Frage im allgemeinen, wie es
ihnen ginge, hoffentlich fiihlten sie sich wohl, das war alles.
Ja, also Kelemen hatte an dem Tag schon fruhmorgens
angerufen: ,,es ist so herrliches Wetter, wahrscheinlich
wird es sehr heiB werden, hattet ihr keine Lust, euch das
Strandbad in Esztergom anzusehen?" Dann nahm Ila den
Horer, und sie verabredeten, sich im Wellenbad zu treffen.
Sie wollten dort im Bad zu Mittag essen und spater, wenn
die Hitze etwas nachgelassen hatte, nach G6doll6 fahren.
Ila packte zwei Badetaschen. In der Vorhalle stand Kelemen,
er kuBte Ila die Hand: ,,Ich habe Sie lange nicht gesehen,
glauben Sie mir, ich mache mir geradezu Gewissensbisse,
daB ich Sie in dieser schrecklich groBen Stadt alleingelassen
und nicht einmal gefragt habe, ob Sie irgendwelche
Wiinsche batten, die ich als Eingeborener . . ." — »Oh",
sagt Ila, ,,mein Mann ist doch schlieBlich nicht ganz fremd
hier, wenigstens lernt er die Stadt wieder kennen, stellen
Sie sich vor, Tag fur Tag klappert er allein die StraBen ab",
und das sagt sie mit demselben Ton, wie sie neulich gesagt
hatte: Romantik? ,,So", sagt Kelemen, ,,du irrst umher,
Toni? Jugenderinnerungen?" Das argerte ihn ein wenig,
er gab keine Antwort und ging ins Bad. Es war noch ziem-
lich leer; als er am Bassin angekommen war, erblickte er in
einem Korbsessel Joly. Ein rotes Trikot hatte sie an und
rote Badeschuhe. Ihr rotes Haar funkelt in der Sonne, es
hat dieselbe Farbe wie das Trikot und die Schuhe. ,,Guten
Morgen, Joly." — ,,Guten Morgen, Herr Kddar, wie
gehts Ihnen? wo ist Ihre Frau?" Ila kommt auch gerade
und begruBt Joly sehr herzlich. ,,Ich habe dich schon
375
reklamicrt, Klcine, eben habc ich deinen Brudcr gcfragt — "
Griinlich-blauc Augcn hat sic, das habe ich bishcr gar nicht
bemerkt, odcr hatte ich das inzwischen vergessen? Komisch,
so vielc Farben: dieses eigentiimliche WeiB, der ganze
Korper ist so weiB wie ihr Gesicht, fast unnatiirlich weiB.
Und die Augen und die Haare. Sommersprossen hat sic
nicht, — warum hatte ich mir eingebildet, sie habe Sommer-
sprossen? Und sie schminkt sich gar nicht, — natiirlich,
Tilly hatte ein paar Sommersprossen im Gesicht, darum
dachte ich. In Liegestuhlen licgen sie auf der obern Terrasse
nebeneinander. Das Sonnenlicht wirft Funken auf ihrc
Haut. ,,Ich mochte so gerne irgendwohin reisen", sagt
Joly, ,,aber ich glaube, dieses Jahr wird nichts daraus, ich
hab kein Geld." Ich hab kein Geld, wie merkwiirdig das
aus dem Munde dieses Madchens klingt, ich hab kein Geld,
sagt sie mit einer kleinen Grimasse, — ja, wie ist das eigent-
lich, — wer sorgt denn fur sic? ihre Eltern? ihr Bruder?
sind sie wohlhabend? sind sie knapp gestellt? ,,Jawohl",
hort er Jolys Stimme, ,,dieses Jahr ist groBes Zuhause-
bleiben, wie mir scheint, voriges Jahr war ich ja auch nicht
gerade weit weg, bloB in Lcllc am Plattensee, dabei mochte
ich so gerne mal ganz weit reisen, in die Schweiz oder an
die franzosische Kiiste, wenn auch nur an einen ganz be-
scheidenen kleinen Ort, — mein Gott, nebelferne Dinge — "
Und es sei auch nicht das schlechteste, jedcn Tag ins Strand-
bad zu gehen, zum Beispiel hier ins Gellert, sagt sie, aber
dazu braucht man auch viel Geld, der Sommer zu Hause
ist gar nicht so billig, am bestcn ist es noch Samstags oder
Sonntags, wenn die Jungcns frei haben und sie mit ihnen
auf die Donau gehen kann. ,,Die Jungens?" antwortet sie
dann auf lias Frage, ,,einer ist Arzt, zwei Rechtsanwalt, zwei
bei der Bank, — und die Madels natiirlich nette, lustigc
Menschen, ganz gut kann man so ein-zwei Tage in der
Woche mit ihncn rumtollen." Eincr ist Arzt, zwei Rechts-
anwalt — und die Madels, ganz gut kann man mit ihnen —
,,Wir verreisen auch, in die Schweiz, vielleicht auch nach
374
Norwegen, cs 1st noch nicht ganz sicher, aber geplant haben
wir cs." Griinlich-blau sind ihre Augen, Tilly hatte ganz
blaue Augen, klare tiefblaue. Einmal im Sommer, vor
langer Zeit, waren wir zusammen drauBen in Kritzen-
dorf aber Joly hat eine bessere Figur, oder ist sie
vielleicht bloB groBer? sie sieht groBer aus, deshalb kommt
mir ihre Figur besser vor. — Jetzt klettert Joly iiber das
Gelander, stellt sich an den Steinrand iiber dem tiefen
Wasser und macht einen Kopfsprung. Langsam hebt sie die
Arme mit einer breiten Bewegung, sie ist unter der Achsel
rasiert. Ihr Kopf neigt sich ein wenig nach hinten, ihr Rumpf
wolbt sich, die Hiiften spannen sich an, spiegelglatt zeigt
das Trikot ihren ganzen Korper, die frischen, straffen
kleinen Briiste, in feinem Bogen schwingt sich ihr Korper
ins Wasser. Eine griinlich-blaue groBe Welle treibt sie zu-
sammen, wie sie ruhig auf dem Wasser schwebt; sein Arm
beriihrt Jolys Schulter, sie dreht sich plotzlich urn, ihre
Kopfe sind einander gegeniiber, dieselbe Farbe haben ihre
Augen wie das Wasser in Kritzendorf auf dem Tages-
ausflug, das war auch im Juni, — hatte Tilly ein schwarzes
Trikot an, und an der linken Seite war ein Stern hinein-
gestickt, — Tilly ging nicht gern an den Strand, der Donau-
strand ist schmutzig, ekelhaft, wir wollen nicht mehr hin-
gehen, nicht wahr, du machst dir auch nichts draus? . . .
In Helena- Village ist der Strand nicht schmutzig, der Sand
ist goldgeib und so fein, daB man das Gefuhl hat, iiber
einen dicken, weichen Teppich zu gehen. Jemand im Wasser
gruBt Joly: ,,Servus, Ilonka", eine Frau mit weiBer Bade-
kappc, — ,,ist das nicht drollig", lacht Joly und prustet ihm
das Wasser ins Gesicht, ,,die heiBt auch Ilonka oder Ila,
und ihr Mann heiBt Antal, witzig, nicht?" Joly hat eine
rote Badekappe, genau so rot wie ihr Haar und ihr Trikot
und ihre Schuhe. Ila strahlt; strahlt im Sonnenlicht, im
blauen Wasser, in der funkelnden Luft, ihr Gesicht ist klar
und Jung, ihr schwarzes Haar gl£nzt, und die schwarzen
Augen leuchten. — Das Bad ist schon gedrangt voll, — hintcr
375
ihncn sagt jemand: ,,guck ma], da ist das fesche englischc
Ehepaar aus dem Ritz", — ,,den Mann habe ich neulich allein
im Auto gesehen", sagt eine andere Stimme, ,,abcr die
klcinc Rote, die dabei ist, die ist keine Englanderin, ich hab
sie schon haufig an der Donau gesehen und auch im Winter,
warte mal, in einem Kino . . . fesches kleines Aas, mir
scheint, sie hats auf den Englander abgesehen." Kadar
mochte sich umdrehen, um zu sehen, wer da gesprochen
hat, — blickt aber nur nach der Seite zu Ila und Joly hin.
Sie habens wohl nicht gehort. Dann nimmt er eine Zigarette
und dreht sich um, — zwei junge Leute und eine dicke,
blonde Frau sitzen hinter ihnen, die sind also der Meinung,
daB Joly Er tritt zu ihnen hin, der eine hat eine
brennende Zigarette im Mund, ,,durfte ich um Feuer bitten'*,
sagt er laut; drei verstorte Augenpaare, drei betroffene Ge-
sichter, ,,danke sehr", sagt er wieder laut und setzt sich
zuriick auf die untere Stufe. Als er sich etwas spater wieder
umdreht, sitzen die drei nicht mehr hinter ihnen. — Zum
Mittagessen bleiben sie drauCen; Kelemen geht mittags
fort, — ,,ich habe etwas zu tun, eine geschaftliche Angelegen-
heit zu erledigen, wcnn es dich interessiert, werde ichs dir
gelegentlich erzahlen", — und sie einigen sich dahin, den
am Morgen geplanten Ausflug aufzuschieben. ,,Gut, ich
werde mich also telefonisch melden, wcnn ihr nichts da-
gcgen habt." Ila iBt kaltes Fleisch und Eis, Joly dicke Milch.
Nach dem Essen ziehen sie die Liegestiihle in den Schatten;
Kadar holt sich die Times und den Daily Herald herauf und
blattert in den Zeitungen, zwischendurch hort er dem Ge-
sprach der Frauen zu. Joly liegt auf den linken Arm ge-
stiitzt, Ila zugewandt, Ila liegt, auf dem Riicken. Sie unter-
halten sich leise. Die roten Haare haben jetzt im Schatten
cinen eigentumlichen dumpfen Glanz. Und wie sein Blick
manchmal hinter der Zeitung her zu der Gestalt im roten
Trikot hiniiberflicgt, fangt das Bild des Bades sich auf cin-
mal an zu verwischen, aufzul6sen; in der ganscn Land-
schaft entsteht cin zitternder Wirbcl, — an der Stellc dcs
376
groBcn Bassins, dcs strahlenden Wassers, der sonnen-
beschienenen Menschen ist jetzt cine enge Gasse, cin
machtiger Garten hinter ciner hohen, basteiartigen Stein-
mauer; mit dem Mosaik der Sonnenflecken und der Schatten
bestreut das Laub der riesigen alten Baume den Weg zum
Tor, zur riesigen Villa, zu den riesigen Zimmern, Fenstern,
Mobeln, Bildern . . . und plotzlich ertonen in seinem Kopf
klare, scharfc, virtuoscnhafte Klavierklange, zuerst leise,
dann immer lauter und durchdringender, und schlieBlich
drohnt es ihm mit alles hinwegfegender Kraft im Ohr,
hallt es in seinem ganzen Korper wider: Schumanns
Toccata. Er laBt die Zeitungsbla'tter sinken, und uber
Menschen und Dingen, verloren in Klangen und Zcit,
brennt sein fieberndes Auge, sein hungriger, sich erinnern-
der Blick auf dem Korper im roten Trikot. — Joly spricht
von sich, und hinter lias forschenden Fragen tut sich lang-
sam ein winziges kleines Leben auf, das Lcben des un-
bemittelten Budapester Madchens. Da ist zunachst das
Heim, das langweilig, fast unertraglich eintonig hinter den
ereignislos dahinrollenden Tagen Kulisse steht. Das Heim,
die drei Zimmer, in denen sozusagen drei Familien, jeden-
falls drei Generationen zusammen leben. Die Mutter, die
altert, mude und ein wenig murrisch ist und nur dann
bessere Augenblicke hat, wenn sie sich an das Einst er-
innert und davon spricht. Manchmal wohl uberfliissiger-
wcise, manchmal etwas taktlos, etwas schmerzlich. Die
altere Schwester, die zum Denkmal der kleinbCirgerlichen
treuen Gattin und guten Mutter Modell lebt. Der Schwager,
der die Familie crhalt und die kleinlichen Aufregungen des
Gcschafts zur standigen Sensation des Heims macht. Bandi,
der eigentlich der einzige brauchbare Kerl in der ganzen
Gesellschaft ist, aber auch so sehr von seinen eigenen
Sorgen und Plagen in Anspruch genommen wird, daB er
fiir sie kaum Zeit hat. ,,Mein Gott, ich kann es so gar nicht
sagen, was ich den ganzen Tag mache, ich mache eigentlich
nichts. Ein bifichen helfe ich Siri oder unterhalte die Mama,
377
Icsc cin biBchen, — ich dachte schon, mir cine Stellung
irgcndwo im Biiro zu suchen, Stenographic und Schrcib-
maschine habc ich gelernt, aber heutzutage unterzukom-
mcn " Und dann, manchmal ist sic mit den jungen
Lcuten und den Madels zusammen, ,,im Sommer ist alles
etwas besser, da gibts den Strand und die Donau, aber im
Winter . . . sagen wir, einmal in der Woche geht man ins
Kino oder in ein ganz solides Lokal, wo man tanzen kann,
sehr selten cine Stunde Bummelns in der Stadt oder mal
Sonntagvormittags ein Spaziergang nach Buda, — man
schneidert sich die paar Fetzen zusammen, die man notig
hat, Gott, wenn du wuBtcst, wie elend einem dabei manch-
mal zumute sein kann ..." Joly spricht. Leise spricht sic,
halt den Kopf ein wenig nach oben, als Ila sich ihr zuwendet,
und ihre Stimme scheint resignicrt und zugleich etwas vor-
wurfsvoll zu klingen. Die grofie Schnccke iiber dem rechten
Ohr lost sich auf, sic greift hin, laBt den Knoten fallen,
flicht auch den andern Zopf auseinander und kammt mit
den Fingern die ganze riesige Haarmenge nach hinten.
,,Einen himmlischen Ring hast du", sagt Joly, ,,darf ich
ihn mir mal naher ansehen?" Ila hebt die Hand und zeigt
den diinnen Platinreifen mit der riesigen Perle, die sic jctzt
im Friihjahr in London gekauft haben. ,,Einfach gottlich.
Also, ja . . . manchmal gehe ich auch ins Theater, aber sehr
selten, oder ins Konzert, wenn ein guter Sanger herkommt
nach Budapest, das macht mir am meisten SpaB." Wic er
Joly so redcn hort, fallen ihm auf einmal Kclemens Worte
in der Bar auf der Insel ein : ich verstehe das nicht, in ein
so teures Lokal ... — und nun mochte er Joly fragen, wic
das dcnn eigentlich sei, dafi sie kein Geld habe zu verreisen,
oder vielmehr: woher sie Geld habe fur Strandbad und
Weekend- Ausfliige und Kino und Konzerte. Das fahrt ihm
durch den Sinn, aber entsetzt verscheucht er sofort den
Gedanken. Was geht mich das an Blodsinn! von
zu Hause bekommt sic cs, vom Schwagcr oder von ihrem
Bruder oder aber — — nichts oder aber! das geht mich
378
gar nichts an. ,,Ach Gott", sagt Joly, ,,manchmal denke
ich . . . aber ich rede da soviel Unsinn, das kann dich doch
wirklich nicht interessieren — also, manchmal denke ich,
wie unbegriindet doch die Existenz eines solchen Madchens
wie ich ist, wie leer und wie so ganz ohne ein Ziel — daB
ich nichts arbeite und bloB so in die Welt hinein lebe",
einen Augenblick schweigt sie, ,,Mama und Sari leben fur
ihre Manner und ihre Kinder, Sari erwartet schon wieder
ein Baby, und die haben immer alle Hande voli zu tun, mit
allerhand hauslichen Arbeiten so in der Wohnung und
und die Madchen, die einen Beruf haben, die studieren oder
ins Biiro gehen oder nahen wie die jungen Madchen im
Ausland . . . aber ich, ich mache iiberhaupt nichts, ich . . .
denke bloB, wie entsetzlich es ware, wenn ich auch so
heiraten miiBte, zum Beispiel einen solchen Mann, wie mein
Schwager ist. Einen so ganz simplen Menschen. Und dann
denke ich, es lohne sich bloB, reich zu sein, immer das tun
zu konnen, was man will, immer zu reisen und gar nicht zu
Hause zu sein — " sie streckt sich, setzt sich im Liegestuhl
auf, in weitem, weiBem Bogen heben sich ihre beiden Arme
vom gespannten Korper wie zwei Strahlen ab. Er hort im
Geiste die Toccata; Melodrama, denkt er, so eine Dumm-
heit, Melodrama. Er spurt Has Blick auf seinem Gesicht;
,,ach Gott, wie einfaltig ich bin", sagt Joly, ,,so dummes
Zeug zusammenzuschwatzen wollen wir nicht noch
mal ins Wasser gehen? es tutet gerade, gleich kommen
wieder die Wellen . . ." Gegen Abend setzten sie Joly
vor dem Haus am Ring ab; Ila verabschiedet sich mit ein-
ladenden Worten: ,,ich hoffe, wir sehen dich recht bald
wieder, vielleicht im Wellenbad, oder ruf uns im Hotel an,
ein paar Tage bleiben wir sicher noch, nicht wahr, And?"
— ,,Ein paar Tage? wahrschcinlich", antwortet er. Dann
gibt Joly ihm die Hand, sein Kopf beugt sich ein wenig
hinuntcr, und seine Hand hebt Jolys Hand, aber ihr
nackter Arm leistet dieser Bewegung stark und steif
Widerstand. Er setzt sich in den Wagen; der Motor
379
springt mit leisem Sausen an; Jolys weiBe Gestalt ver-
schwindct im Dunkcl des Torbogens.
Die Nummer sah er sich nicht an, aber das Haus mcrkte
cr sich, in dem Joly wohnte. Am nachsten Mittag hatten sic
cine angenchmc Oberraschung. Ein englisches Ehcpaar
hattc sich im Hotel bei ihnen anmelden lassen, Captain
Simmons von der Gesandtschaft und seine Frau. Als sic ein-
treten, stellt sich heraus, daB Edith Simmons cine alte Be-
kannte von ihnen aus London ist; ihr Mann war vor
zwei-drei Wochen nach Budapest verse tzt worden, aber
erst gestern hatten sie erfahren, daB sic auch in Budapest
seien, — der Gesandte, bei dem Kadars in den ersten Tagen
Besuch gemacht hatten, erwahnte es ihnen. ,,Das ist wirk-
lich fein! Eine Bridgepartie hatten wir also nun, — spiclen
Sie Tennis?" — ,,Naturlich,wirsindsogarTennismeister." —
,,Herrlich!" Es war zwar noch ein englisches Ehcpaar im
Hotel, O'Kerbys, aber der Mann arbeitete in der Provinz
an einer Elektrifizierung, und so hielten sic sich nur wenig
in Budapest auf. Bisher waren sie nur ein- oder zweimal
mit ihnen zusammengewesen ; Frau O'Kerby war iibrigens
keine besonders sympathische Erscheinung, etwas ver-
schlossen, etwas zerfahren, kurz : groBartig, daB Simmons
auch da sind. Sie aBen zusammen zu Mittag, nach dem Essen
gingen sie auf die Insel, der Captain war ein leidenschaft-
licher Polospieler, cr spielte in der White-Devils-Mann-
schaft, die nach aufregendem Kampf vier zu zweieinhalb
gegen die ungarische Mannschaft sicgte. Zu drirt sahen sie
dicsem Match zu, gingen dann in die Konditorci, wohin
der Captain ihnen spacer nachkam. Kadar war wahrend der
ganzen Zeit etwas unruhig, sah immerfort nach der Uhr,
,,hast du etwas vor?" fragtc Ha auf seine ungcduldigen Bc-
wegungen, ,,nein, wicso? ich hab nichts vor . . ." das war
um die Stunde, da er vorgcstern und Montag und Samstag
im Wagen durch die Stadt gefahren war. Wieder ein Blick
380
nach der Uhr: und da weiB er, die Unruhe kommt daher,
daB er jetzt diese Minuten hier sitzt auf der smaragd-
griinen Rasentribiine des Poloplatzes und zusieht, wie die
armen kleinen Poloponys sich abquSlen, — es wird schon
voriibergehen. Natiirlich wird es vergehen, Gewohn-
heit, — das ist alles. Ik ist gliicklich, heiter, angeregt, — sie
freut sich iiber die englischen Bekannten. Eigentlich ist das
auch Gewohnheit. Wir sind Englander, Siidafrikaner. Siid-
afrika ist nur ein ganz klein wenig weniger als England und
viel mehr als der Kontinent, als Ungarn . . . natiirlich freut
sie sich iiber die englischen Bekannten. Die Stunde ging
vorbei, aber die Unruhe verlieB ihn nicht, und auch dann
spukte sie noch in ihm, als sie schon lange in der Kon-
ditorei saBen. So sehr habe ich mich an dieses dumme
Herumstreifen gewohnt, — und gewaltsam stopft er sich
die Augen mit Farben, die Ohren mit Tonen 2u, um nicht
zu denken an Diskrete Jazzmusik; elegante Paare auf
dem Parkett. Er sieht auf die Uhr; seine Augen begegnen
Has Blick, — auf der Stirn hat sie eine schmale, scharfe
Falte, — Narrheit, man muB doch eine so kindische Un-
geduld bezwingen konnen Er geht mit Frau Simmons
tanzen. Inzwischen kommt auch Simmons an. ,,Eine herr-
liche Stadt ist dieses Budapest", sagt er, ,,schon vor zwei
Jahren war einmal die Rede davon, daB ich zu einer der
Gesandtschaften versetzt werde, ich wuBte nur noch nicht,
zu welcher, und Edith sagte damals, wenn wir bloB an
einen anstandigen Ort kommen, damit unsere ersten Jahre
schon werden, und da haben sie mich nach Budapest ge-
schickt, einen besseren Ort hatten wir uns wirklich nicht
wunschen konnen, nicht wahr, Edith?" Mrs. Simmons sitzt
nicht gut, sie verrenkt sich den Hals und riickt mit dem
Stub] hin und her, um die tanzenden Paare sehen zu konnen.
Kddar bemerkt es, sofort tauscht er den Platz mit ihr.
Jetzt sitzt er dem Eingang gegeniiber; er betrachtet die
Kommenden und Gehenden. Die Minuten wogen langsam
iiber das ruhig-heitere Gesprach und die Musik dahin.
Captain Simmons ist ein famoser Mensch. Edith cine licbe,
reizende Frau. Ein angenehmes, schdnes Lokal ist das hier,
ein elegantes Lokal. Ein Luxuslokal. Sie wird bestimmt
nicht kommcn, wird sich nicht zufallig ausgercchnet hier-
her verirren, in dieses elegante, teurc Luxuslokal. GewiB
sitzt sie 2u Hause und ... tut nichts. Spater tanzcn sic
wieder; dann verabreden sie sich zum Tennis, verabreden,
wann sie sich das nachstc Mai treffen wollen, und gehen.
Sic bringen Simmons nach Hause und fahren dann ins
Hotel. ,,Wollen wir hicr zu Abend essen?" fragt Ila, ,,oder
mochtest du irgendwohin gehcn?" — ,,Mir ist es gleich",
antwortet er, ,,wie du willst." — ,,Also, dann wollen wir
hicr essen, und nachher konnen wir, wenn du Lust hast,
noch fur ein halbes Stiindchen auf den Dachgartcn gehen.'4
— ,,Gut, mein Kind, auf den Dachgarten." Dort ists auch
elegant und teuer, denkt er, sie wird bestimmt auch dort
nicht scin, zufallig auf der Dachterrasse.
Ila schien es in den ersten Tagen nicht recht gepaBt zu
haben, dafi er jeden Nachmittag fortging, — zumindest
hatte sie es nicht verstanden, warum er immer wegging.
Ihre etwas scharfe, etwas spottische Fragc damals, die ihm
scither ofters eingefaDen war: Romantik? zeugte auch
davon. Aber dann muBte es ihr wohl klar geworden sein,
worum es sich bei diesen Extratourcn drehte, sie muBte es
bcgriflen haben: er suchte jene alte Stadt und wufite viel-
leicht nicht einmal, daB er sie suchte, — oder aber, sie hatte
sich einfach daran gewohnt. Eines Nachmittags blieb er zu
Hause, da fragte Ila ihn: „ warum gehst du nicht weg
heutc?" Einen Augenblick schwieg er und antwortete dann :
,,du fragst nic, woich gewesen bin." — ,,Wozu?" sagte
Ila, ,,ich weiB es doch. Dein Freund Kclcmcn hat neulich
mit eincm Wort die Erklirung gcgebcn: Jugendcrinne-
rungcn viclleicht wiirde ich es auch so machcn, wcnn
ich hicr gclcbt hatte." Wciter sprachen sic nicht mehr
382
davon. — Ila legte sich nach dem Essen hin, und er setzte
sich in den Wagen. An einem der nachsten Tage fuhr er auf
dem Riickweg den Ring entlang; auch am darauffolgenden
Tag nahm er dicsc Strecke; am dritten Tag hielt er ein paar
Minuten jencm Haus gegemibcr, aber Joly sah er nicht.
Er steht dort vor dem Haus. Diese Unruhe, die ihn von
Zeit zu Zeit iiberfallt — kommt die daher, weil ich sie heute
wieder nicht gesehen habe? weil ich glaube, ich werde sie
auch heute nicht sehen? nun, und? ist es nicht ganz glcich-
gultig? cine Kinderei, hier auf dem Ring herumzufahren.
Auf die schabige, gelbliche Mauer brennt die Sonne, fast
samtliche Fenster gaffen ihm mit heruntergelassenen
Jalousien als graue, blinde Flecken in die spihenden Augen.
Und wenn ich hinaufginge zu ihnen, fahrt es ihm plotzlich
durch den Kopf, — guten Tag, Joly, wie geht es Ihnen? —
Blodsinn! schnauzt er sich selbst an, — was soil denn das?
will ich mir etwa einreden, ich sei will ich mich hier
in etwas hineinhetzen? Wir werden abreisen, denkt er, und
mit trockener, kaltcr Riicksichtlosigkeit denkt er weiter:
nein, ich werde mich in nichts hineinhetzen. Sie sieht Tilly
ahnlich, nein, sie hat bloB auch rote Haare, sie sieht ihr gar
nicht ahnlich, SchluB. Ich werde abreisen. Seine Hand
zittert am Schalthebel, die Zahnrader beiBen knarrend in-
einander, mit einem Ruck fahrt der Wagen ab, — dann
saust er blind iiber Platze und StraBen. An einer Ecke ruft
ihm der Polizist zu: ,,los, los, sehen Sie denn nicht, daB
die Lampe griin ist!'* Als er ins Hotel zuruckkommt, sitzt
Kelemen mit Ila in scinem Zimmcr. Kelemen hatte sich
^»ihrend seiner Abwesenheit telefonisch gcmeldet, und
Ila hatte ihn hinaufgebeten. Kelemen spricht gerade von
sich, von seinem Euro. Er sei zwar augenblicklich auf Ur-
laub, trotzdcm habe ihn scin Chef heute friih in ciner
schwerwiegenden Angelegenheit rufen lassen, in einer sehr
crnsten Sachc, die er bereits vor Monaten angeregt habe
und die heute so weit gcreift sei, d<iB von der Vcrwirk-
lichung die Rede sein konne. Leidcr gebe es noch kleine
383
Meinungsverschiedenheiten mit der Direktion beziiglich ge-
wisser matcrieller Punkte. ,,Es handelt sich namlich darum,
daB mein Plan, dcssen Grundgedanke 1st, daB der kontinen-
talc Binnenlandtransport na, aber die Einzelheiten
konnen Sie wirklich nicht interessicren, — kurz: wenn sie
die Sache machen, jedoch so, daB ich nicht den entsprechen-
den Nutzen habe, dann " Jawohl, denkt Kadar, sehr
richtig, du muBt deinen entsprechenden Nutzen haben,
damit du anstandig fur deine Familie sorgen kannst . . .
„ bin ich geneigt, jedwede Konsequenz daraus zu
ziehen, das habe ich ihnen auch deutlich genug vorher
erklart " natiirlich, nur nicht weich werden, Geld
kann man bloB mit energischer Geste , . . „ und wenns
sein muB, breche ich mit ihnen und verklage sie/' Plotzlich
unterbricht er Kelemen. ,,Sag mal, Andor, wieviel ver-
dienst du eigentlich " oh, solch eine dumme, indiskrete,
taktlose Frage! Ila blickt mit peinlich erstauntem Gesicht
in die Luft, Kelemens Brauen zucken nach oben, — dumme,
taktlose Frage . . . ,,Nicht ein Fiinftel von dem", antwortet
Kelemen, ,,was ich brauche, und nicht ein Zehntel von dem,
was meine Arbeit entlohnen wiirde", — jawohl, das ist
eine wiirdige Antwort auf die dumme Frage, auf diese un-
passende, taktlose Frage, — auf Kelemens Stirn iiber den
hochgezogenen Brauen bleibt eine schmale, scharfe Falte:
,,eine Bagatelle, lieber Freund, eine Bagatelle. Sehr wenig
verdiene ich. Wenn ich dir die Ziffer sagte, wiirdest du
verdutzt sein, daB — " Wenig? manchmal sind auch
tausend Pfund wenig, und manchmal ist ein halbes Pfund
mehr als Und als Kelemen nun weiterspricht, in
bittern Worten, von dem Kampf des Talentes und der
Ellenbogen und davon, daB man langsam dahin gelangt . . .
fast wire es das beste, den Wanderstab zu crgreifen da
failt Kidan Joly ein, ihre leiscn Wortc vom gedriickten klein-
biirgcrlichcn Leben, von der Geldlosigkeit, von der Lange-
weile; er sieht das zusammengcstiickeltc griine Kleid vor
sich, das sie auf der Insel anhatte, und er muB an das im
384
Riicken tief dekolletierte, glattc, schwere schwarze Seiden-
wunder denken, das Ik sich jetzt im Friihjahr in Paris gc-
kauft hatte. ,Joly?" sagt Kelemen in diesem Moment,
,,danke, es gcht ihr einigermaBen. Jetzt hat sie sich ein paar
Tage mit einer Art Sommerschnupfen gequalt, aber sie ist
schon wieder in Ordnung, heute mittag habe ich mit ihr
gesprochen." Und dann, daB sie gewiB gliicklich ware,
wenn sie sie wieder einmal an einem Programm beteiligen
warden, wenn sie nachstens wieder zusammen irgendwo
hingingen. ,,Aber gerne", sagt Ha, ,,sagen Sie Joly un-
bedingt, ich mochte sie recht bald sehen, und ich wxirde mich
sehr freuen, wenn sie mit uns kame." Dann sprechen sie
von Ausflugsplanen, und es ergibt sich, daB sie morgen
abend, wenn das Wetter schon ist, in ein kleines Restaurant
drauBen an der LandstraBe gehen werden: Kadar mochte
am liebsten Kelemen gleich mit dem Auto zu Joly schicken,
damit sie sich nichts anderes fiir morgen vornimmt. ,Ich
bin gewohnlich zu Hause ... und tue nichts . . . sehr selten
gehe ich ausc . . . — aber trotzdem, vielleicht hat sie gerade
fiir morgen . . . Nach dem Abendessen mochte Ila einen
kleinen Spaziergang machen, nicht weit, bloB um ein
biBchen Bewegung zu haben. Sie gehen zweimal den Donau-
kai endang, setzen sich auf die Bar-Terrasse und sehen sich
das abend liche Gewimmel an. Nach wenigen Minuten
spaziert in Gesellschaft einiger junger Leute und Madchen
Joly an ihnen voriiber. Sie hat sie sofort bemerkt, und auf
lias griiBende Handbewegung kommt sie zu ihnen an den
Tisch. Sie tragt einen hellblauen leichten Rock und einen
weiBen Pullover, in der Hand halt sie einen kleinen blauen
Hut. ,,Die Kinder sind zu mir raufgekommen, und dann sind
wir schneil hergelaufen an den Korso, ein biBchen Luft
schnappen." Sie wechseln einige Worte; Ila fordert sie auf,
Platz zu nehmen, — ,,oh, sei bitte nicht bose, aber in dem
kleinen Fetzen, den ich hier anhabe, geht das wirklich
nicht, und ich kann doch auch meine Gesellschaft nicht im
Stich lassen, dabei wiirde ich wirklich hcrzlich gerne mit
25 KOrinenUi, Budapest 385
dir zusammensein ..." — ,,Na, gut, also dann morgen
abend ..." — ,,Ach, ja, danke sehr, Bandi war vorhin auf
einen Sprung bei uns oben und hat mir gesagt, daB du und
dein Mann so liebenswiirdig waret, mich fiir morgen abend
zur Autofahrt einzukden", und dann verabschieden sie sich
damit, daB Joly mit ihrem Bruder sie im Hotel abholen
kommen. ,,WeiBt du, sehr hiibsch ist dieses Madel", sagt
Ila spater, ,,dabei ist es fiir Rothaarige nicht leicht, hiibsch
zu sein, aber sie hat wunderbare Haut und so eigenartige
Augen . . . schade, daB ihr Mund nicht schoner ist,
nicht?" — ,Ja, tatsachlich, sie hat keinen schonen Mund." —
,,Nicht eben haBlich", fahrt Ila fort, ,,aber . . . was Augen,
was Mund, zwanzig Jahre ist sie, Anti, zwanzig Jahre! . . ."
Joly und ihr Bruder saBen bereits in der Halle, als sie
am nachsten Abend hinuntergingen. Joly hatte das griine
Kleid von neulich an, und nun fallt es auch Ila auf, daB das
Kleid dieselbe Farbe hat wie ihre Augen. ,,Ja, das habe ich
auch schon bemerkt", sagt Joly, ,,aber es ist wirklich nur
ein Zufall, das Kleid war mal weiB, und fiir die griine Farbe
ist die chemische Farberei verantwortlich", und lacht.
Ihr Mund ... ihr Mund ist nicht schon, etwas zu groB. Aber
ihre Zahne sind schon, wie Perlen leuchten sie, mattweiB.
Kelemen und Ila sitzen hinten, Joly vorn neben ihm.
Langsam fahren sie durch die Stadt; die abendlichen
StraBen sind voller Menschen, Fahrzeuge, blitzender und
schreiender Lichter. ,,Ich habe die Stadt am Abend viel
lieber als am Tage", sagt Joly, ,, abends ist allcs anders,
irgendwie groBer und . . . ich sehe es dann nicht so, wie ich
es am Tage kenne. Sagen Sie, in einer richtigen GroBstadt,
in Paris zum Beispiel, gibt es da viel mehr Licht?" — ,,Oh,
viel mehr, Paris ist iiberhaupt ganz anders als Budapest."
Sie fahren am Bahnhof vorbei; gerade ist ein Zug an-
gekommen, ein Schwarm von Taxen und Privatwagcn
versperrt den Weg. ,,Wissen Sie, ich bin furchtbar gcrn
auf Bahnh6fen", spricht sie wieder, ,,manchmal gche ich
bloB so, ganz ohne besondern Grund auf den Perron. Ich
386
liebe den Eisenbahngeruch, und meistens werde ich so
aufgeregt davon, als verreiste ich wirklich, und bei solchen
Gelegenheiten denke ich dann, einmal werde ich auch
verreisen, in alle moglichen Gegenden, weit weg. Drollig
war das, voriges Jahr bin ich mit meiner Schwester nach
God gefahren zu einer bekannten Familie, wissen Sie,
God, das liegt hier ungefahr eine halbe Stunde von
Budapest entfernt ..." — machtige, schwarze Heuwagen
kommen ihnen auf der Chaussee entgegen, — ,,sie schimpfte
und zankte mit mir, aber ich lieB sie reden und stieg in God
nicht aus, sondern fuhr weiter bis Vac, das ist noch eine
halbe Stunde ..." — manchmal leuchtet ihnen ein Reflek-
torenpaar in die Augen und verlischt im Vorbeifahren
hoflich fur einen Moment, — ,,so gliicklich war ich, eine
Dummheit natiirlich, aber solche kleinen albernen Freuden,
solche Illusionen . . ." Dann wurde es leer auf der Chaussee,
der starke Wagen schien ausgestreckt einen groBen Sprung
zu tun und fegte dann zischend die Kilometer hinter sich
in den Abend. Er blickt nach vorn, geradeaus auf die Fahr-
straBe, ohne mit der Wimper zu zucken, dirigiert er mit
leichter Hand das Steuerrad, — diese StraBe . . . wir sausen
in den Abend hinein nach Helena- Village zu, ein Stiind-
chen tanzen . . . An seiner rechten Seite spurt er leichte
Warme, und durch den Geruch von Ol und Benzin stiehlt
sich von rechts leise ein kuhler, reiner Seifenduft hin-
durch, — seine Augen blicken unverwandt auf die vom
Reflektorlicht bleiche StraBe, aber jetzt fiihlt er, daB das
Madchen ihn ansieht, von der Seite, wie sie zuruckgelehnt
neben ihm sitzt und mit verstohlenen, zuckenden Blicken
sein Gesicht anschaut, und dann fiihlt er, daB der Augen-
strahl plotzlich von seinem Kopf abspringt, ,,oh, hundert-
zehn Kilometer", sagt Joly, ,,ich habe immer ein biBchcn
Angst im Auto ... ich finde es zwar wunderbar, so zu
sausen, aber so im Dunkeln w5re es vielleicht doch besser,
etwas langsamer — — " Oh, ja, sausen, — mit dieser
plotzlichen Unruhe in der Brust, mit dem fremden, kuhlen
25* »ft-r
Geruch in der Nase, mit Jolys ausstrahlender WSrme an
der rcchten Seite, — sausen mit hundertzehn Kilometer
Geschwindigkeit, auf Helena- Village 2u, — oder anders-
wohin, einerlei, irgendwohin, im Strahl der ihn an-
blit2enden griinlich-blauen Augen und der Miilionen
Sterne unter dem friedlichen groBen schwarzen Himmel . . .
Das Restaurant war schon voll ; mit Miihe gelang es, direkt
am Zaun noch einen Tisch aufstellen zu lassen, unter freiem
Himmel in der Biegung der Chaussee. Die LandstraBe zog
sich in schlafriger, weiBschimmernder Ruhe in die Nacht;
vor dem helleren Schwarz des Horizonts standen mit
schwarzeren Schatten die Baume am Rande der StraBe
starr da; wohlwollend streute das Himmelsgewolbe in
schwarzer Freigebigkeit seinen Sternenschatz iiber die
Landschaft; von der Wiese her klang heiter das nachtliche
Zirp-Orchester, eine tausendrhythmige, panharmonische
Begleitung der Musiktone, die nur gedampft bis zu ihrem
Tisch drangen. Auf dem steinernen Gang unter den
Lampions wurde getanzt, — das war eigentiimlich, die
klagende, fremdartige, getragene Melodic der Jazz, die
vom Gang des landlichen Hauschens nach der niichtlichen
Wiese klang iiber die Kerzenflammen hinweg, die unter
Glasglocken auf den Tischen flackerten. Hie und da staubte
blendend das gelbe Licht auf der LandstraBe auf, zwei
gliihende Augen sausen auf sie zu und rasen an ihnen vorbei;
xnanchmal knattert maschinengewehrartig der Auspuff
eines davonfahrenden Autos. — Er betrachtet Joly. Sie
1st schweigsam, nur dann und wann sagt sie ein Wort, ihre
weiBe Hand bastelt schlafrig mit den Speisen. ,,Bist du
mude, Kleine?" fragt Ila sie einmal, ,,du kommst mir
mude oder schlecht gelaunt vor." — ,,Nein, gar nicht",
antwortet sie, ,,ich genieBe nur den Abend, es ist so schon
und so sonderbar hier." Ja, es war schon und sonderbar
hier; in dem eigenartigen, etwas gekunstelten Gemisch von
stadtischer Eleganz und zuriickgctraumter Primitivitat der
vorbildlichen Heideschenkc, von Aroma des franzosischcn
388
Sekts und nachtlichem, heuduftendem Hauch der Wiesc,
von Jazz, Autos und Kerzenflammen. Gesichter, Kleider,
Stimmen, Bewegungen : die alle gehoren in die Bar auf der
Insel. Aber der Himmel . . . der Himmel ist keine Draperie,
die Sterne keine Gliihbirnen, der Horizont keine Kulisse —
Jolys Gesicht leuchtet bleich im Kerzenlicht; einmal griff
er nach dem Brot, und seine Hand beriihrte Jolys Hand,
Joly zuckte zusammen, das sah er genau, und die weiBe
Hand zog sich plotzlich und knapp zuriick, — da spiirte er
eine Warme in der Brust aufsteigen, und, als wolle er seinen
Sruhl zurechthicken, begann er sich zu bewegen und
streifte dabei absichtlich mit der Hand an Jolys Arm, und
sie zuckte wieder zusammen und wich gleichsam zufallig ein
wenig zuriick. — Sie aBen, sprachen, tanzten; und als sie
sich bei den Klangen getragener Tanzmusik aneinander
schmiegen, driickt er Joly fester an sich, — jetzt zuckt sie
nicht zusammen? — und noch fester; er fuhlt sogar in
dieser Umarmung, wie des Madchens Atem einen Augen-
blick stockt, — und als der Tanz zu Ende ist, hebt er mit
gewalttatiger Faust Jolys schwere Hand, die sich auch
diesmal entgegenstemmt, und kuBt sie iiber dem Gelenk.
Ihr Handgelenk ist schmal, feine Knochel und schlanke
Beine hat sie, und ihre Haut ist tadellos weiB, ihre Figur,
ihre Schultern sind schmal, und — ,zwanzig Jahre ist sie,
And, zwanzig Jahre 1* . . . mit seltsamem kleinem Stutzen
hort er Has Worte in seinen Ohren klingen, zwanzig Jahre!
Sie gehen zuriick zwischen den Tischen hindurch, einen
halben Schrirt bleibt er hinter Joly zuriick, so beobachtet
er sie im unsicheren Licht der flackernden Flammen. Joly,
sie scheint schlecht gelaunt zu sein. Ila indessen trinkt
wieder viel, ist heiter und laut, hat fur alles ein herzliches,
anerkcnnendes, liebes Wort, — komisch, als ob sie jiinger
ware, viel jiinger als Joly . . . vielleicht macht das das
maskenhafte, iibertrieben weiBe Gesicht — — Sparer
kotnmt mit wildem Getute eine larmende Gesellschaft an in
einem als Rennwagen dekorierten altcn Rappelkasten; drei
389
junge Leute mit lauten Stimmen und zwei lachende Mad-
chen, die dcr Gastwirt an einem in ihrer Nahc freigcwor-
denen Tisch unterbringt. ,,Oh, kuB die Hand, meine
Damen! Scrvus, Jungens!" — Der cine Jiingling, dessen
Anzugfarbe an gemischtes Eis erinnert, tritt sofort zu ihnen
an den Tisch — Simon, mit lauten Worten und breiten
Gesten, ,,ah, wirklich groBartig, daB wir uns hicr so trcfFen,
wenn Sie gestatten, siedle ich nachher ein biBchen iiber zu
Ihnen, ich komme mir da driiben sowieso wie ein fiinftes
Rad am Wagen vor . . .", und da bemerkt er, daB auch hier
zwei Paare sitzen, aber Ila lacht schon dazwischen: ,,und
sind Sie sicher, daB es Ihnen hier besser ergeht?" — ,,An
Ihrer Seite bin ich mit tausend Freuden auch das fiinfte
Rad am Wagen!" und kaum hatte er sein Abendessen ver-
schlungen, zog er auch schon um zu ihnen. ,,Also, die haben
mich da zufallig vor dem Cafe Abbazia erwischt, und da
bin ich eben aufs Geratewohl mitgezogen, kennen Sie die?
Lori vom Operettentheater mit einem Textilmenschen und
ein Kollege von mir mit einer namenlosen Maria, sonst aber
eine recht frische Person. Ich hab mich nur ungern mit-
schleifen lassen, obschon ich wirklich nichts Besseres zu
tun hatte, aber ein Gliick, daB ich Sie hier gefunden habe,
verehrte Gesellschaft!" — sein lautes Geplapper schwebt
iiberm Tisch wie ein hingebannter Vogel, seine Worte und
sein Lachen hiipfen sprudelnd iiber seine Lippen, — Simon
ist in Stimmung, Simon kennt jeden, der hier ist, und weiB
von alien alles: wer Schuldcn hat und bei wem und wieviel,
wer um das Zwangsausgleichverfahren cinkommen wird
und warm und voraussichtlich mit welcher Quote, mit wem
die einzclnen hier sind und warum gerade in Gesellschaft
der Betreffenden, welches von den Parchen cinen ernsten
Ehebruch vorstellt und welches bloB eincn kleinen Sommcr-
flirt, welche Ehescheidungen und EhcschlieBungcn in Gang
sind und fur wicviel, — er ist iiber alle ncueren Stiickchen
der fatzkenhaften Magnatcnjiinglinge und der pseudo-
aristokratischen Lackel informiert, — und er kennt den
390
Inhalt der Taschcn und Kopfe, als waren sic umgcdreht.
Wcnigstcns nach seincm wirbclndcn Wortschwall zu
urteilen . . . aber Ila amiisiert sich anscheinend glanzend iibcr
Simons Schnurren, ermuntert ihn und fragt ihn aus ubcr
den dort mit dem Monokel und dcr Mopsnase und iibcr
jene, die aussieht wie ein zum Damon karikiertes Kinder-
madchen, — dann hort Simon fur ein Weilchen auf zu
reden und starrt nachdenklich in die Luft, ,,eigentlich",
sagt er leise, ,,ist diese ganze Sache etwas widerlich, etwas
anriichig. Wenn man mal diesem ganzen Rummel hier
hinter die Kulissen guckt . . . na, aber man braucht ja nicht
dahinterzugucken, ich bin gewiB der letzte, der seine Nase
da reins teckt, oder vielmehr, der letzte, der erzahlen wird,
was er dort gesehen hat. Jung sind wir, mein Gott, Jung!
Und die heutige Jugend ? vielleicht sogar der heutige Mensch
im allgemeinen, der Westeuropaer oder der von jenseits
des groBen Wassers — " er schweigt fiir einen Moment, —
,,die fiir den heutigen Zeitgeist charakteristischen In-
strumente sind der Volant und das Saxophon. Die Ideale,
die Sehnsiichte vereinfachen sich, die Mittel folgen der Idee
und werden unmittelbarer. Die Epoche der Prosperity, der
Week-ends und der Girl-friends tragt auf ihrem Banner
weder ein Kreuz noch ein Schwert, auch kein Buch und
keinen Geldsack, sondern den Volant und das Saxophon.
Nun ja, gewiB sind auch noch die iibrigen Spielzeuge da, die
Retorte, die Lanzette, der Tank, — aber was man sieht,
das ist doch der Volant und das Saxophon. Und sicherlich
hat das wie alle Zeitsymptome seine tiefe soziale, wirt-
schafdichc, philosophische, physiologische, psychische und
moralische Bedeutung. Wir miissen rasen, wir haben keine
Zeit, langsam zu leben im Tempo der GroBvatcr, Vater oder
auch nur der alteren Briider, wir miissen rasen, um der
Zeit und uns selbst nachzukommen, rasen mit dem Volant
und lachcn mit dem Saxophon. Und zwischcndurch ergieBt
sich iibcr die Welt der russkchc Wcizcn, das russische Ol;
die russische Produktion vcrfolgt offenbar die gchcimcn
39'
Wcgc dcs russischcn Goldes, — rasen miissen wir, und
wenn die von 1914 bis 1918 in Triimmer geschossene
Seelc dieses Tempo nicht aushalt, dann raus mit ihr, iibcr-
fliissiger Ballast ist sic, macht die Hand am Volant unsicher,
stopft dir die Ohren zu vor den Klangen des Saxophons,
die Vcrgessen und Ruhc bringen und dein femes, fremdes
Leben in dich hineinglucksen rasen muBt du, und wenn
du fur einen Augenblick haltmachst, bleibst du urn Jahre
zuriick und kannst vielleicht mit deinem ganzen Lcbcn
diesen einen Augenblick nicht mehr cinholen . . . na, und
so weiter — " resigniert winkt er ab, ,,Blodsinn, was ich da
rede, das gehort eigentlich schon zum besagten Halt-
machen." — ,,Oh, bravo!" sagt Ua, ,,bravo, Sie reden ja
blendend, einfach poetisch, ein biBchen oberflachlich zwar,
Sie entschuldigen doch, ein biBchen unwahr, ein biBchen
zynisch, kurz . . . beinahe lyrisch, — Anti, bitte, schcnk
doch ein, — aber Sie haben recht, jung sind wir in dieser
alten Welt, und das ist die Hauptsache." Jung! durchzuckt
Kadar das Wort, — zwanzig Jahre, Anti, zwanzig Jahre . . .
und ich bin zweiunddreiBig . . . und sic sechsunddreiBig. —
Die Glascr klingen in die lockendc Musik, und als sic nun
dem Tanzplatz zuschreiten, hebt er mit unwillkiirlicher,
unbewuBtcr Hartnackigkeit seine Hand nach Jolys Arm,
hangt sich in den nackten Arm ein und driickt ihn an seine
Hiifte, — ,,bitte, lassen Sie mich los", sagt Joly, ,,nicht . . .
Sic miissen nicht — " ,Was?I was muB ich nicht?! was
willst du nicht?! wogcgcn wehrst du dich?!' — er stolpcrt
iibcr ein Stuhlbein, ,,sorry", aber Jolys Arm laBt er nicht
los, erst als sic auf dem steinernen Gang cinander gegen-
iibcrstchcn, gibt er ihn fiir cincn Augenblick frei, bis sein
Arm sich urn Jolys Riicken legt, — und der griinlich-blaue
Strahl blitzt ihm mit schwachcm, kleinem Lacheln, ein
wenig erstaunt, ein wcnig frcmd . . . frcmd? — so schr, so
verbliiffend bekannt blitzt er ihm ins Auge. Plotzlich hat
cr das Gefiihl, daB jetzt ctwas — daB cs jctzt bcsscr ware,
sofort mit dieser Sache SchluB zu machen, mit dicscm Tanz
39*
und . . . mit dcm Ganzen, und nach Hause zu gehen, es war
sehr schon, und abzureiscn ,,Nicht wahr, die Eng-
lander tanzen alle gut?" fragt Joly, ,,wissen Sic, ich mag das
so gern, wcnn gleich groBe Menschcn mitcinander tanzen,
aber ich reiche Ihnen nur bis an die Schulter oder vielleicht
ein biBchen hoher ..." — Und wenn ich mich jetzt nieder-
beugte . . . nur bis an die Schulter reicht sie mir, — und sie
auf den Mund kliBte — ,,Sie tanzen auch sehr gut, Sie
zahlen ja auch schon eher als Englander als als Ungar, aber
eigentlich tanzen die Ungarn auch gut ..." Wenn ich mich
jetzt niederbeugte Auf der Heimfahrt lenkt Ila den
Wagen, Kelemen sitzt neben ihr, sie beide hinten. Joly
lehnt sich zuriick; sie hat einen schwarzen Mantel an, der
ihren ganzen Korper einhiillt und bis unter den Sitz reicht,
nur der weiBe Fleck ihres Gesichtes und das rote Haar
leuchtcn iiber dem schwarzen Stoff. Ihre Hande im SchoB
halten die Handschuhe, reglos liegen die Hande da, als
lebten sie gar nicht. Ihre Lider senken sich, sie halt die
Augen minutenlang geschlossen. Sie sprechen nicht. Ila
fahrt langsam und vorsichtig auf dem unbekannten Weg.
Kelemen, nach vorn gebeugt, sieht aufmerksam auf die im
Licht der Lampen weiBschimmernde Chaussee. — Wenn ich
jetzt sagen wiirde, Joly, geben Sie mir Ihre Hand und
da sieht er vorn im kleinen Spiegel Has strahlende schwarze
Augen, wie sic, auf die LandstraBe geheftet, im Spiegelglas
glanzen, — oh, Has treue, kluge, klare, schwarze Augen . . .
ihre bcrauschten, tiefgriindigen schwarzen Augen, in jener
ersten Nacht, auf der ersten Reise, auf dem Schiff hinter
Gibraltar ihre hungrigen, gierigen Lippen und ihren
gliihenden weiBen Korper, wie sie dort im Dunkel stand,
hinter der halbgeoffneten Kabinentur, als wenn ich
jetzt sagen wiirde, ganz leise, so daB nur sie es hort, Joly,
gcben Sie mir Ihre Hand ,Je, sehen Sie, wie es dort
glanzt", sagt Joly auf einmal, ,,haben Sies nicht gcsehen?
cs war gcwiB ein Hasc oder cine Katze, die Augen haben
so geleuchtet in der Dunkelheit, ganz griin . . ." sic richtct
393
sich auf und bcugt sich sum Fcnstcr, ,,die Lampen dort,
das ist schon Budapest, nicht wahr?" — Vor dcm Haus auf
dem Ring bleibt der Wagcn stchcn; cr stcigt aus, hilft
Joly heraus, Kelcmen ist schon am Haustor und klingelt.
Ila bleibt am Stcuerrad sitzen, durchs Fenster ruft sie noch
einmal: ,,auf Wiedersehcn, also mclde dich rccht bald,
Joly." Sie gebcn sich die Hand. ,,Gute Nacht. Auf Wicder-
sehen." Wenn ich jetzt sagcn wiirde — und da fiihlt er, da6
Jolys Hand sich in seiner Hand still und nachgiebig, gleich-
sam auffordernd nach oben bewegt; unbemerkt hebt sich
die Hand, und da neigt er sich iiber sie und kuBt sie. Als
er den Kopf aufrichtet, scheint ihm der griinlich-blaue
Strahl wieder ins Gesicht, — neben dem Wagen steht
Kelemen und betrachtet die beiden mit sonderbar auf-
merksamem, nachdenklichem Blick.
Irgcndwie hatte er das Gefiihl, Joly wiirde sich auf
Das nette Aufforderung hin doch nicht gleich am nachsten
oder iibernachsten Tag melden, — er erwartete es auch
nicht. Aber als drei Tage ohne Joly vergangen waren und
Ila an diesem Abend ihren kleinen rotledcrnen Kalender
hervornahm und sagte: ,,es wird allmahlich Zeit, in die
Schweiz zu schreiben, oder meinst du, es geniigt, wenn wir
telegrafisch mitteilen, daB wir kommen?" — da war sofort
wieder die Unruhe der vorhergchendcn Tage in ihm, und
er dachte, ware er an den letzten drci Tagen iiber den Ring
gefahren, dann hatte er wahrschcinlich . . . bestimmt Joly
getroffen. ,,Wir konnen ja schreiben", gab cr Ila zur
Antwort und schwieg. ,,Gut", fuhr Ila fort, ,,also schrcibcn
wir dann nach Sankt Moritz und nach Flims und, was
hartcst du noch damals im Winter gesagt? nach Engclberg?"
Er antwortetc nicht gleich, zcrstreut blattcrte er in der auf
dem Schreibtisch liegenden cnglischen Zeitung und sagte
oder fragtc cher ctwas vcrspitet: ,,ja?" — ,,H6rst du denn
nicht zu?" sagt Ila, ,,ich glaubc, von Budapest habca wir
394
jetzt gcnug, wir konntcn weiterfahren, nein?" — ,,Gut",
sagt er und legt die Zeitung zusammen, ,,erst abcr . . . oder
inrwischen will ich mir jcdenfalls diese Sache da ansehen,
Abley habe ichs telefonisch erwahnt." — ,,Du willst dich
damit befassen?" fragte Ha in etwas befremdetem Ton.
Plotzlich und lebhaft sagte er: ,,nun, befassen, — ich weiB
nicht, ich glaube kaum, aber ansehen will ich mir die Sache
immerhin, Abley meinte auch . . ." — ,, Abley kann doch
von dort aus nicht beurteilen", sagt Ha, ,,ob es sich iiber-
haupt lohnt, die Geschichte anzusehen, und kann erst recht
nichts dazu sagen, ob es der Miihe wert ist, sich damit zu
beschaftigen, das kannst nur du beurteilen, von bier aus.
Wenn du glaubst", sie nimmt die Zeitung vom Schreibtisch,
,,dann befaB dich damit, mir ist die Sache nicht sym-
pathisch." — Er antwortet nicht. Abley meinte auch . . .
kindisch. Was hatte Abley denn anders sagen sollen? Sieh dir
an, worum es sich handelt, ist es was Gescheites, dann
machs, aber vergiB nicht, daB wir uns auf eine stand ige
kontinentale Verpflichtung nicht einlassen, wenigstens wir
hier in London. — Es handelte sich darum, daB sich vor zwei
Tagen Doktor Szende telefonisch gemeldet hatte, sich mit
ausgesuchter Liebenswiirdigkeit nach ihrem Befinden
erkundigte und dann sagte, er mochte ihn gern sprechen,
wenn es ihm keine Last sei; in einer geschaftlichen An-
gelcgenheit mochte er ihn einesteils um seine Meinung als
Fachmann bitten, andernteils konnte er vieileicht Lust
bckommen zu einer Sache, von der er selbst der Meinung
sei, daB ,,also, das spater miindlich, wenn du ge-
stattest.'* Mit ein wenig gezwungener Hof lichkeit nahm er
den angektindigten Besuch zur Kenntnis. ,,Welcher ist
das?" fragte Ila, als er ihr erzahlte, einer von den Jungcns
namens Szende wiirde ihn aufsuchen. ,,Das ist der . . . wic
soil ich ihn dir glcich beschreibcn, also der etwas Dickliche,
Laute mit dcm schwarzcn Schnurrbart." — ,,Ich weiB nicht,
wclchcr. Und was will er?" — ,,Ich weiB nicht, cincn Rat
mochte cr habcn in einer gcschiftlichen Angelcgenhcit." —
395
,,Geschaftlichen Angelcgcnhcit? Was kannst du ihm denn
fur Rat geben?" — Dann crschicn Szende. Ila brachte cr
einen hiibschen BlumenstrauB und bedauerte sehr, ihn ihr
nicht personlich iiberrcichen zu konnen; Ila war mit
Mrs. Simmons fortgcgangen. Sic setzten sich cinandcr
gegcniibcr, Szende steckte cine Zigarette an und roch an
dem eingegossenen Glas Kognak, ,,leider kann ich das
nicht genieBen, ich bin Abstinenzler", dann trug cr vor,
weshalb er gekommen war. Die Sachc war absolut durch-
sichtig: immerhin noch schon, daB Szende es aufrichtig
anfing. Mit ciner Attacke. ,,Sieh mal, bitte", sagte er,
,,eigentlich handelt es sich nicht so sehr um einen Rat, denn
du als Fremder kannst dich ja nicht so in unsere speziellc
Lage hineindenken, und das wiirde ich auch gar nicht von
dir verlangen, von dir als Uninteressiertem. Es handelt sich
ganz einfach um ein Geschaft, das einen Fremden ebenso
interessieren kann wie einen Nicht-Fremden, wenn es sich
als gut erweist. Die Grundlage meines Gedankenganges
ist die : du bist ein Unternehmer, du hast Geld, ich wiederum
wiiBte einen Weg, um gewisse Summen vorziiglich anzu-
legen." ,,Bitte schon . . . worum handelt es sich?" —
,,Also, sieh mal, lieber Freund — — " Szende fing an zu
reden. Von einem Klienten spricht er, den er ganz be-
sonders, speziell seiner Aufmerksamkeit empfiehlt; spricht
davon, daB er auch abgesehen von diescm betreffenden
Klienten cine ziemlich bedeutende Tatigkeit im Immo-
bilienverkehr und in Bauangelegenheiten entfalte, dies auf
Grund seiner ausgezeichneten Beziehungen und seines
riesigen Bekanntenkreises ; spricht, lebhaft, mit breiten
Gcstcn, ziemlich spitzfindig, in scharfen Farben, mit
starken Unterstreichungen, gewissermaBen im Podium-
stil, — obschon sich doch die Worte um eine recht ein-
fache, durchsichtige Sache haufen. Szende manipulicrt mit
dcm Geld jenes Klienten, das Geld verleiht er gegen
Wucherzinscn auf bcsscre und schlechtere Immobilien,
und dem Schuldncr schncidet cr in dem Moment, da a
396
steckenbleibt, den Hals ab. Jener gewisse Klient ist auf
diese Weise Eigentiimer einer groBeren Menge von
besseren und schlechteren Immobilien geworden, und jetzt
wiirde Szende es fur ein sehr gutes Geschaft halten, wenn
jemand diese mehr oder weniger um einen Pappenstiel
erworbenen Immobilien zu teurerem Preis kaufte. Ein
ungemein einfaches Geschaft. Er hort sich Szendes weit-
laufiges Gerede um diese leere Sauce an, und es fallt ihm
ein wenig schwer, die Sache nicht zu belacheln. Er denkt
sich also, ich soil diese dreistockige Mietskaserne und die
ebenerdige Villa und das Fabrikgelande und den zu
parzellierenden Grundstiickskomplex kaufen? . . . ,,Als
Kapitalsanlage prima", betont Szende, ,,das weiBt du
gewiB selbst am besten, prima und sicher! Und was die
Schererei mit der Verwaltung der Hauser und dem
Parzellieren betrifft, iiberhaupt die evenruelle weitere Ab-
wicklung, so berufe ich mich in Anbetracht dessen, daB du
doch im Ausland lebst, diesbeziiglich auf meine besondere
Erfahrung in Immobilien- Angelegenheiten, diesbeziiglich
wiirde ich dir unbedingt, wenn du nichts dagegen hast,
meine besonderen Fachkenntnisse, das heiBt meine Dienste
anbieten." — In Budapest? denkt er, in Pest? In Port
Elizabeth, in London — und in Budapest? warum?
,,Wenn du dich jedoch dazu entschlieBen wiirdest, auf
gewissen Grundstiicken bauen zu lassen, so wiirde das in
seinen Grenzen fur das ganze ungarische Wirtschafts-
leben — "In Budapest? schwirrt es ihm durch den Kopf,
in Budapest bauen lassen? warum? — aber plotzlich reiBt
das Lacheln ab, seine Augen ruhen einen Moment auf
Szendes Gesicht, es fallt ihm etwas ein — ,,Was dieser
Stadt fiir cine Entwicklung bevorsteht, lieber Freund, das
kannst gerade du konstatieren, dem doch nach zehn- oder
zwolfjahriger Abwesenheit die Entwicklung des ver-
gangenen und noch dazu so schwierigen Dezenniums in die
Augen stechen muB." Er starrt in den Rauch, in die Luft, —
,,hor mal, Szende", sagt er nach kurzem Schweigen, ,,so,
397
nach dem ersten Bericht kann ich dir natiirlich keine Ant-
wort geben, nicht cinmal prinzipiell. Ich beabsichtigte nicht
mehr als ein paar Wochen in Budapest zu verbringen, und
viel Sinn hat es eigentlich nicht, daB ich mich hier in Buda-
pest irgendwie festlege, aber — " und nun blickt er wieder
in die Luft, es blitzt ihm durch den Kopf, daB sie nun schon
die vierte Woche in Budapest sind und gewiB bald weiterreisen
werden, und daB Joly seit dem Ausflug vorgestern abend
nicht telefoniert hat, — ,,aber ich kann mir ja die Sache viel-
leicht mal naher betrachten, und wenn ich den Eindruck
gewinne, sie konnte mich interessieren — " Szendes Ge-
sicht leuchtet auf, mit schlauem und rasch unterdriicktem
Lacheln glanzen die kleinen schwarzen Augen mit groBen
Pupillen hinter dem Zwicker. ,,Gut, lieber Freund, wir
reden noch dariiber, wir reden noch iiber die Sache. Ich
meinerseits stehe dir voll und ganz zu jeder beliebigen Zeit
zur Verfugung!" Und sie bleiben dabei, wegen allesWeiteren
telefonisch miteinander in Verbindung zu treten. — Kadar
ging hinaus auf den Balkon und blickte auf das Vormittags-
treiben am Korso. Der Donaukai ist noch leer; gegeniiber
auf einer Bank sitzen rittlings zwei kleine Jungen; sie
spielen Miihle; eine dicke, alte Amme schiebt einen Kinder-
wagen, im Wagen schlaft ein pausbackiges Kind. Eine
StraBenbahn, Sonderwagcn, lauter kleine proletaricrhaftc
Madelchen sitzen darin und singen ein heiteres Wanderlied.
Zwei eilende Manner mit Aktentaschen. Ein schlurfender
alter Mann, mit seinem Stock bestochert er alles, was auf
dem Weg liegt, Kieselsteine, Blatter, Zigarrenstummel,
und mit einer gereizten Bewegung stoBt er es nach dem
StraBenrand hin. In einigen Tagen reisen wir ab. Wir
haben keinen Grund, noch linger hierzubleiben, wenn
nicht Argerlich winkt er ab mit ubcrtriebener Gestc,
als wollte er sich auch dadurch iiberzeugen, es sei eine
Dummheit . . . Wir reisen weiter. In die Schweiz, nach
Sankt Moritz oder — einerlci. Nach Flims oder nach
Engelberg. Spatcstens Mitte nichstcr Woche. Ungeduldig
398
geht er ins Zimmer, sucht das Kursbuch, findet es nicht.
Wo habe ich es nur hingelegt? vielleicht in Has Zimmer —
Ja, wir reisen ab. Ganz ernstlich, auf eine weite Reise, nicht
so wie Joly nach God, eine halbe Stunde von Budapest.
Im Wagen ist sie geblieben, ist nicht ausgestiegen in God,
sondern welter gefahren, — noch eine halbe Stunde.
Hysteric. Das Kursbuch kommt nicht zum Vorschein.
Er sieht auf die Uhr, ziindet eine Zigarette an, kippt noch
ein Glas Kognak hinunter und nimmt seinen Hut. Zwischen
zwolf und halb eins sind die Damen in der Konditorei. Er
geht urn die kleine Parkanlage an der Ecke ans Donauufer.
Warm ist es. Wir konnten ins Wellenbad gehen oder auf
der Insel zu Mittag essen. Blodsinn. In Budapest soil ich
bauen. Nein, wir fahren ab. Eine nicht mehr ganz junge
Dame in wciBem Kleid mit ergrauendem Haar und klassisch
schonen Gesichtsziigen kommt ihm entgegen, er dreht sich
ein wenig nach ihr um. Wunderbare altliche Frau, vielleicht
ist sie noch gar nicht mal so alt, ihr Gesicht ist ganz faltenlos.
Warm ist es. Um diese Zeit ist es wirklich am besten in den
Bergen oder an der See. In der Konditorei sitzen Ila und
Frau Simmons bereits. ,,Nun, was war?" fragt Ila sofort.
Wir werdcn abreisen, denkt er, und dann hort er mit tiefem
Herzklopfen seine Stimme, wie sie mit kaum bemerkbar
fremder Farbung sagt: ,,ich werds dir spater ausfiihrlicher
erzahlen, ich weiB noch nicht, vielleicht miiBte man sich
die Sache naher ansehen, sie kommt mir nach dem, was ich
eben gehort habe, nicht uninteressant vor . . ." Nach Tisch
sprach er telefonisch mit Abley. Ubrigens, — das hatten sie
so vereinbart, — kam jede Woche von drtiben ein Week-
end-Telegramm vom jungen Scott, ein Bericht iiber die
verflossene Woche; und mit London sprach er wochentlich
einmal telefonisch. ,,Nichts Neues", sagte er seinem Sozius,
,,wie geht es Mrs. Hutton, ist die Operation gelungen?
gut? na, grofiartig, das freut mich. Heute habe ich ubrigens
einen ganz interessanten Geschaftsvorschlag von einem
Bekanntcn bekommen: was haltst du von ein paar guten
399
und wirklich billigcn Immobilien? cventuell von cinem
Bau? natiirlich meinc ich, was ist deine prinzipielle An-
sicht?" — Selbstverstandlich wuBte er im voraus, was
Abley sagen wiirde. ,,Wie kann ich das von hier aus
beurteilen? jedenfalls, Geschaft ist Geschaft, du kannst
dich ja mal dafur interessicren, und dann werden wir waiter
daniber reden." Abley muBte das sagen. Es gibt kein
Geschaft, das Scott nicht fiir zuviel, fiir uberflussig und
gefahrlich hielte, aber es gibt andererseits kein Geschaft,
fiir das Abley sich nicht interessierte. ,,Und wie lange bleibt
ihr noch in Budapest?" — ,,Genau weifi ich das noch nicht,
wir sind aber schon im Begriff, in die Schweiz weiter-
zureisen, selbstredend bleibe ich gerne noch ein paar Tage
hier, wenn ich sehe, daB es sich lohnt, sich mit dieser
Angelegenheit zu befassen." — Joly meldete sich auch am
folgenden Tag nicht, und als er auf Has wiedcrholtes Bitten
hin eines Abends Briefe an Schweizer Kurorte aufgab,
wuBte er genau, daB dicse Briefe vergebens abgingen: die
durchsichtige, keineswegs ernsthafte, fast lacherliche Idee,
mit der Szende an ihn herangetreten war, wird ihn eben
interessieren; er wird sich mit ihr beschaftigen, wird sie
studieren, — er bleibt noch in Budapest. Ich werde sie
beschwindeln . . . Szende auch, denn schlieBlich werde ich
die Sache ja doch nicht machen. Ich werde sie beschwin-
deln es ist bloB die Frage, ob man Ila beschwindeln
kann, dachte er kalt und vollkommen ruhig. In der letzten
Zeit, schon ungefahr seit anderthalb Jahren, kummertc Ila
sich nicht mehr urn das Geschaft, nur aus ihren Unter-
halrungen zu Hause wuBte sie im groBen und ganzen iiber
die Dinge Bescheid. Aber wenn sie mich nun fragt, worum
cs sich handle? und wenn sie sich diese Szendesche Sache
auch naher ansehen will? ganz bestimmt wiiBte sie genau
so gut wie er gleich im ersten Augenblick, daB dieser ganze
Humbug sich urn ein Absurdum dreht. Ila kann man nichts
vormachen . . . und alles h£ngt nur davon ab, ob sie der
Sache auf den Grund geht oder nicht. Nun ja, damit muB
400
man rechnen: und da wuBte er bereits klar und besonnen,
zurechtgelegt bis zum letzten begriindenden Wort, was er
Szende sagen wiirde, um das Spiel ins Rollen zu bringen,
und was er Ila sagen wiirde. Ein merkwiirdiges Pflichtgefuhl
dieser Stadt gegeniiber hat sich in mir geregt, und wenn ich
noch dazu ein gutes Geschaft machen kann Ein-zwei
Tage dauerte dieses Versteckspielen noch, ein-zwei Tage
vergingen dariiber, bis er den Widerstand gegen sich selbst
iiberwunden hatte und sich gestand: nun ja, Jolys wegen
bleibe ich noch hier. Und nun gleich die nachste Frage:
wieso bleibe ich ihretwegen hier? was will ich von ihr? —
und hier gibt es noch Liigen, die aus seinem Widerstand
entspringen, auf diese Frage kann man noch, wenns sein
muB, antworten: gar nichts. Oder: sie tut mir leid. Sie ist
ein liebcs, sympathisches Ding und hatte ein besseres,
rcicheres Los verdient, wenn man ihr vielleicht auf eine
Weise helfen konnte, daB sie nichts davon bemerkt,
eventuell uber ihren Bruder . . . und so macht er sich mit
sonst noch allerlei selbst etwas vor. Viel einfacher ist es
aber, sich diese zweite Frage gar nicht erst zu stellen. —
Joly hat sich nicht gemeldet, aber jetzt war er nicht mehr
unruhig. Ich habe noch Zeit, fiihlte er. Und er begann die
Besprechungen mit Szende. — Der arme Szende. Wenn ich
ihn gleich beim ersten Wort glatt unfreundlich abgewiesen
hatte, dann wiirde er mich sicher zehnmal, zwanzigmal
bestiirmen. Szende hat sich ganz gewiB steif und fest vor-
genommen, seinen Nutzen durch mich zu haben. Er
lachelte, gemein, finster, voll Genugtuung, als er daran
dachte. Fiir dumm hat er mich gehalten, wollte mich viber-
listen, er hats nicht besser verdient, — einmal in der Schule
hat er mir fur meinen neuen Radiergummi fiinf glanzende
Schreibfedern angedreht, und dann stellte sich heraus, daB
die Federn gar nicht neu waren, bloB ausgewaschen, ihre
Spitzen waren schon schief und abgenutzt. Armer Szende, —
und die iibrigen, — alle haben sies verdient. Szende zogerte
nicht mit dem Telefonanruf, und das fette, gespreizte
26 Ktirmendi, Budapest 40 1
Grinsen in seinem Gcsicht, als er ihn eines Vormittags 2um
zweitenmal aufsuchte, war geradezu abstoBend, unverhiillt
und triumphierend, und er warf ihn nur darum nicht glatt
hinaus einerlei. Danke sehr, Doktor Szende. — lia
war schon auf dem Tennisplatz, als Szende kam; er blieb
auch nicht lange mit ihm im Hotel. Sie gingen in Szendes
Biiro; dort setzten sie sich, Szende hinter den Schreibtisch,
er gegeniiber auf den Besuchsstuhl, und durch das offene
Fenster schien ihm die Sonne in die Augen. Szende nahm
ein gewaltiges Dossier aus der Schublade. Plane waren
darin, Terrainaufnahmen, Fotografien, Skizzen, Vert rage,
Schatzungen, Kalkulationen, ProzeBaktcn, Exposes, Par-
zellierungsplane. Von diesem Papierhaufen also ging die
Komodie aus, — armer Szende. Eigentlich hatte Kadar es
schon langst nicht mehr notig, Zeit zu gewinnen; der Vor-
wand war bereits uberfliissig geworden: Szende aber und die
iibrigen lieBen sich nicht bremsen. Szende hatte im Laufe
der Wochen eine Unmenge von Planen, Kalkulationen und
Exposes fur ihn ausgearbeitet, hatte sich massenhaft
Informationen und OfFerten verschafft, ein regelrechter
Don Quichote jener Windmiihlen-Idee war er geworden,
ob mit Biegcn oder Brechen, verdienen muBte er an
Kidar. In baufallige Vorstadthauser schleppte er ihn,
,,Arbeiterwohnungen, lieber Freund! die Arbeiterwohnun-
gen stehen nie leer, die Arbeiter sind gute Mietezahler!" —
durch Komplexe stillgelegter Fabriken schlciftc er ihn,
,,schon das allein ist ein Absurdum, lieber Freund! einen
solchcn Komplex zu dem Preis!" — in elende Stadtviertel
muBtc er mitziehen, ,,vielleicht hast du schon von den
beiden Briicken gehort, lieber Freund, die wir bauen
wollcnl also, man hat mir verraten, daB die eine davon
hicrher kommt . . . und dann setzen wir es durch, daB der
Autobus bis hierher weitergcleitet wird!" — in verkiinv
merten kleinenStaubnestcrn derUmgebung explodierte seine
Ekstase: ,,liebcr Freund! dieser sanftanstcigendeRain! hier
muB man das ungarische Helena- Village machenl . . ."
402
O ja, Szende hat es verdient. Monatelang klebte er an ihm
wie ein ausgehungerter Blutegel; monatelang mochte er
sich sein Gehirn zerqualt haben, um noch eine Idee heraus-
zupressen, bei der Kadar vielleicht endlich doch anbeiBen
wiirde. So komplizierte Sachen spekulierte er aus, daB ihre
Unverwirklichbarkeit schreiend auf der Hand lag, aber er
kam auch mit so durchsichtigen kleinen Planchen, die fast
um Erbarmen zu flehen schienen, — und manchmal war
Kadar sich nicht ganz klar dariiber, ob Szende ihn denn
tatsachlich fur dermaBen dumm halte, oder ob Szende so
dumm und verblendet sei. Mehrmals, wenn eine neue
Szende-Idee anfing, hatte er den Gedanken, jetzt aber diesen
rezitierenden, sich in Widerspriichen verwickelnden,
schmauchenden und schwitzenden Dicken einfach vor die
Tiire zu setzen, diesen Kerl, dem jeder Name, jeder EinfluB,
jede gerade oder krummwegige Macht Genosse, Kumpan,
untenvorfener Feind oder Abhangiger war, — sparer dann
hatte er die ganze Geschichte zwar schon iiber, aber er
machte sich nichts mehr daraus, daB er ihn nicht mehr los-
werden konnte. Die halbe Stunde, die er mir stiehlt,
zahlt ja nicht. Und oft ekelte ihn das Spiel geradezu an. Nun
sind wir in Budapest geblieben . . . ich muB mit Ila reden,
dachte er manchmal. Oh, bilde ich mir denn etwa ein, daB
Ila nicht langst diese simplen Geschichten durchschaut
hat! schreckte ihn zuweilen der Gedanke auf. Er schloB
die Augen, preBte den Mund zusammen. Die einfachere
Losung : der Vorwand. Man muB es vermeiden, die Sachen
zu klaren. Solange es geht. Meine Geschafte halten mich
noch in Budapest. — Jawohl, Monate hindurch, fast bis
zum letzten Tag in Budapest dauerte diese Komodie, —
und entweder hatte Szende den Mund nicht gehalten oder
aber die andern hatten eine gute Spurnase: allmahlich kamen
auch die iibrigen. Gesichter tauchten in der Hotelhalle auf,
die ihn erwartungsvoll anstarrten, Stimmen ertonten im
Telefon, deren crregtes Beben nicht zu bemerken unmoglich
war. Bckanntere Gesichter und fremdere; Gesichter von
26» 405
jenem Tisch auf der Inscl am crsten Abend und Gesichter,
die er aus dem Dunkel von vierzehn Jahren wieder hervor-
kramen muBte. Fast jede Woche trieb eine neue Stimme,
einen neuen Versuch heran, — anfanglich einen neuen
Vorwand, noch hierzubleiben, spater bereits nur noch
etwas, vor dem man gelangweilt ausweichen, sich kalt
verschlieBen muBte. Es kam Marton, der andere Rechts-
anwalt, mit einem finstern, phantastischen Ma'rchcn von
einer zu sanierenden Kleinbank oder einer Aktiengesell-
schaft: ,,Lieber Freund, eine Ausbeutungsmoglichkeit
sondergleichen gebe ich da in eine kapitalkraftige Hand!*'
Es kam der vernachlassigte, schlampige Lewy, der ein wenig
wie ein Hausierer aussah, und wunschte ihm, dem kapital-
kraftigen Unternehmer, irgendeine staatliche Lieferung zu
verschaffen, — ,,ich kann dir sagen, die Sache kommt dem
Anstandigen so nahe, daB man keine Angst davor zu haben
braucht, aber auch von einer Schiebung ist sic nicht so
weit entfernt, daB sie kein gutes Geschaft ware . . ." Es
kam der elegante Amman mit kuhlen, korrekten Worten,
im Glanz von Staatsbeziehungen und internationalen
Konzeptionen, ,,ich weiB nicht, lieber Kadar, ob du Sinn
fur Titel und Auszeichnungen hast, aber daB du Ehren-
Generalkonsul dort unten wirst, ist doch nicht zu umgehcn,
wenn sich die Sache machen liiBt, selbstverstandlich nicht
ohne materiellen Nutzen!" Es kam Simon, ohne etwas
Konkretes, aber zehnmal hervorhebend, daB er derjenige
Mann sei, den man immer und iiberall und zu allem ge-
brauchen konne, und nur ganz ncbenbei erwahnend, daB
er gelegentlich seiner letztcn Reise nach Siebenbiirgen zu-
f&llig das Grab seiner Eltern gesehen habe, unten in Deva ;
er miissc demnachst wieder hinfahren, und wenn Kadar
sich zufallig anschlieBen wiirde — Und es kam Suhajda,
der sich, zerlumpt, stotternd und unbeholfen, nach den
hygienischen Verhaltnissen dort unten crkundigte und in
dcssen Augen crbitterter, halbirrer Glanz leuchtete, als er
einige unzusammcnhangende, verworrenc Wortc verier
404
iiber die historische, schicksalhafte, aber nie zu verzeihende
Undankbarkeit, die die dem internationalen Judentum von
neuem verfallene vaterlandische christliche Gesellschaft
gerade ihren besten und aufopferungsvollsten Mitgliedern
gegenuber an den Tag lege. Und auf der StraBe erwischte
ihn einmal Rona und nahm ihn mit in den vornehmen
Laden in der innern Stadt, geradewegs ins Biiro des Chefs
und lieB ihm das prachtvolle Porzellanservice zeigen, das
er von der zugrundegegangenen graf lichen Familie zuriick-
gekauft hattc; ,,fiir einen Pappenstiel wiirde ich es hergeben,
mein Lieber, echt Herend, und trotzdem fur einen Pappen-
stiel . . . aber wer kann heute in Budapest so etwas kaufen."
Und cs kamen andere, direkt und mit Empfehlungs-
schreiben, Bekannte aus den versunkenen Jahren und
Fremde, die sich auf einen Freund, einen Schwager, einen
Vetter beriefen oder auf eine friihere Begegnung, — ,,er-
innern Sie sich nicht mehr?! da und da, in der Gesellschaft
von dem und dem ..." Und es erklangen die vorsichtigen,
lockcnden, schleierhaften, phantastischen Reden; schwer-
fallige Plane holperten, federleichte Ideen flatterten, —
Moglichkeiten, Phantasien, von denen jede einzelne etwas
Glanzendes, etwas nie dagewesenes GroBes, etwas Ein-
maliges und Unubertreffliches sein kann . . . wenn das Geld
dazu da ist. Die allc hier lebten im Glauben an die ma-
gnetische Kraft des Geldes, die das Geld anzieht, die auch
aus der Luft Geld zaubert, die nach noch mehr Geld
hungert, die liber sich selbst hinauszuwachsen vermag, die
sich danach sehnt, gewaltsam von selbst fruchtbar zu
werden und sich zu vermehren. Die alle hier hatten sich
zumindest davon berauschen lassen, daB man schon vom
BewuBtscin der Nahe des groBen Geldes satt werden
konne. Die alle brachen ein zu ihm, wild geworden von dem
roten Tuch einer Riesengeschaftsmoglichkeit, das ihnen im
Kopf schwirrte. Die alle boten an und versprachen und
lockten und redeten zu, spielten sich als Opferwillige,
Freigcbige, Wohltatige auf. Die alle . . . wagten nur nicht
405
dirckt zu bitten, wollten nicht eben bctteln, nicht aus
Schamgcfuhl, sondern: wenn man bittet, dann kann man
vielleicht . . . zehn Schilling bckommen, ich weiB. Und nur
cine einzige hemmungslose und aufrichtige Scele war
unter ihnen, cine blonde, diinnc Animierdame aus dem Ver-
gniigungslokal im Stadtpark, — dort war er an einem der
ersten Augustabende in einer kleineren Gesellschaft der
Jungens gewesen, — die mit engelhafter Offenheit und
unverbliimter Bewunderung ihre groBen, langwimperigcn
schwarzen Augen zu ihm gehoben hatte: ,,also, Sie sind
der schrecklich reiche Mann? Sie sind der, der die schreck-
lich vielen Hauser besitzt? wirklich, Bubi, Sie konnten mir
eins davon geben . . ." — Ila fuhlte sich offensichtlich wohl,
sie war guter Laune, sehr bald drangte sie nicht mehr zur
Abreise; mit leichter, iiberlegener, sorgloser Sicherheit
suchte und fand sic ihre Zerstreuung in Gemeinschaft mit
Simmons. Nur wenn von jenen Budapester Geschaften die
Rede war, wenn die phantomhaften Geschaftsfreunde sich
meldeten, wenn ihm ein plotzlich herausgegrifTenes Wort
der Erklarung iibcr die Lippcn kam, — ,,ich glaube, es ist
doch der Miihe wert, sich die Sache naher zu betrachten . . .
ich denke, ich darf mich nicht davor verschlieBen, wenn ich
sehe, daB . . ." — auch dann sagte sie nichts, nur ihre
Augenbrauen zogen sich zusammen, und auf ihrer Stirn war
eine scharfe, schmale Fake. Wieder und immer wieder
durchfuhr ihn der Gedanke: unmoglich, daB Ila nicht das
Ganze durchschauen sollte und sie schweigt. Vor-
sichtig, innerlich schwer zitternd, beobachtete er sie, ob
sich nichts an ihr verandert habe, ob zwischen ihnen sich
nicht etwas anders abspiele, sich etwas von seinem bis-
herigen Platz verschiebe. Ganz bestimmt weiB sie auch das
mit Joly, dachte er einmal, und dabei will ich, daB nichts
anders werde in ihr ... Ila sprach nicht. Und einmal, als
ihm diese Schweigsamkeit in den Sinn kam, sagte er sich
undankbar und zynisch: gut, schweigcn kann ich auch.
406
Seit Tagen schon setzte cr sich nach Tisch nicht in den
Wagen; wahrend Ila schlief, legte er sich auch auf den Diwan
in seinem Zimmer und las oder kramte in seinen Schriften.
Dinge, die zu Hause vorgingen, beschaftigten ihn selbst-
redend trotz allem, und er hatte ein paar aufgeregte, nervose
Tage, bis ein Telegramm von Scott kam : die Bloemfonteiner
Grundstiicke hat der Staat fur das Aviatische Amt iiber-
nommen und gleichzeitig der Firma die Bauarbeiten des
neuen Flugplatzes iibertragen. — Jeden Morgen spiel ten
sie mit Simmons auf der Insel Tennis. Die Tage vergingen
hinter einer groBen Erwartung, schone, leichte Sommer-
tage der reichen Fremden in Budapest. Er war ruhig, er
vertraute der Zeit und ihrem beiderseitigen Schweigen. Sie
wird in dem Moment meine Geliebte, da ich es will, das
ging ihm einmal durch den Sinn; und er lachte kurz auf, —
gar nicht notig, dachte er, ich will sie ja nicht. Sie ist nicht
einmal schon und — es handelt sich auch gar nicht darum —
Und wenn Ila das mit Joly auch weiB . . . was denn mit
Joly ? was ist denn daran zu wissen? was ist denn diese kleine
Joly? ein Begriff, eine Angelegenheit? ist sie denn iiberhaupt
jcmand? was wciB Ila? daB ich gern mit ihr zusammen bin?
daB ich mich bei ihrem Bruder nach ihr erkundige? daB ich
an sie denke? — er erschrak ein wenig. Jetzt, da er es
innerlich ausgesprochen hatte: ich denke an sie, jetzt wurde
es ihm zum erstenmal bewuBt, daB er viel an sie dachte,
daB sich Dinge um sie woben, daB er Geschehnisse im
Zusammenhang mit ihr lenkte, daB seine Gedanken sich
ununterbrochen mit ihr beschaftigten und daB . . . das
Ganze keinen Sinn hatte und es besser gewesen ware, schon
Anfang des Monats abzureisen. — Eines Mittags traf er
Joly wieder in der Stadt. ,,Guten Tag, Joly", hielt er sie
an, ,,Sie haben ja lange nichts von sich horen lassen, wie
geht es Ihnen?" Komisch eigentlich, heute fruh dachte ich,
ich werde sie treffen, und jetzt . . . als freute ich mich nicht
einmal sonderlich. ,,Tatsachlich, ich habe mich lange
nicht gemeldct, dabei war Ihre Frau so lieb, mich dazu
407
aufzufordern." — ,,Haben Sic so viel zu tun?** und sofort
fiihltc er, wic dumm dicse Frage war, und bemuhte sich, sic
zu korrigieren : ,,ich mcine, ob Sic viel herumgehen ? an den
Strand? ..." — ,,Ah, nein", antwortet Joly, ,,ich geh ja
fast nirgends hin." — ,,Warum rufen Sic uns dann nicht
an?" — ,,Eigentlich . . . eigentlich weiB ich selbst nicht."
Er sieht sie von der Seite an. ,,Nicht schon von Ihnen",
sagt er etwas verwirrt, aber Joly nimmt sofort das Wort
auf: ,,wohin gehen Sie?" fragt sie lebhaft, ,,wenn Sie nichts
Dringendes vorhaben, begleiten Sie mich ein Stiickchen,
ich muB mir ein Band auf einen alten Hut kaufen, und hier
in der Nahe ist ein Geschaft, wo ich bekannt bin und alles
billig bekomme." Sie gehen nebeneinander her und sprechen
von Nichtigkeiten. Was sie in den vergangenen Tagen
gemacht haben. DaB es warm sei. DaB die ungarische
Wasserpolo-Mannschaft die Italiener gehorig geschlagen
habe. Wie schon es neulich gewcsen sei drauften in der
Heideschenke. Zwischendurch beobachtct er Joly. Ein
weiBes Kleid hat sie an, cine kurze rote Jacke, eine weiBc
Kappe und weiBe, geflochtene Schuhe. Einen leichten
Gang hat sie, in ihrer Korperhalrung ist etwas Aufrechtes,
leicht Steifes. Selbst wenn man neben ihr geht, spurt man
manchmal den griinlich-blaucn Strahl ihrer Augen. Schone,
schmale FiiBe hat sie, sie tritt diese sandalenartigen —
einen Augenblick stocken seine Gedanken, — Sandalen
mit flachen Absatzen . . . und dann sagt er: ,,ich hatte . . .
vor Jahren kannte ich in Wien ein junges Madchen, die war
genau wie Sie, ich stand sehr gut mit ihr." Joly lacht leise,
kurz und scharf auf. ,,Und seitdem habcn Sie genug . . .
von den Roten?" Er blickt sie an, — kann man darauf . . .
was kann man darauf antworten? was muB man darauf
jetzt sofort antworten, kurz und biindig mit cinem Wort
einfach heraussagen — — ,,Oh, seien Sie nicht bose",
sagt Joly mit einem Schimmer von ironischer Reue in der
Stimmc, ,,ich wolltc dicse rothaarige Dame von fruher
wirklich nicht bcleidigcn." Er hat ein unsichcrcs, frcmdes
408
Gefuhl in der Brust. Dies Madchen bier gleicht Tilly und
gleicht ihr doch wieder nicht, ihre Hande und ihre Figur und
ihr FiiBe sind anders, und trotzdem, das Gan2e . . . im
ganzen ist sie doch genau so, und die Stimme ist dieselbe . . .
bloB hatte Tilly tausend Stimmen, aber mit Joly habe ich
ja noch kaum gesprochen, — dies Madchen hier . . . gefallt
sie mir? denkt er vorsichtig, abwehrend, — und in dem
Augenblick durchzuckt ihn ein altes Wort, eine von Tilly s
tausend Stimmen Nach einer ungeduldig wiitenden,
kindischen Kabbelei lag Tilly reglos in die Luft starrend
auf dem Diwan, er kniete neben dem Diwan, den Kopf auf
ihrer Hand, so bettelte er um Frieden, um Verzeihung, und
da sagte Tilly still in die Luft hinein: ,,siehst du. Du hast
mir gedroht . . . das kommt davon. Du kannst rnich ja nicht
verlassen, niemals. Und wenn ich es einmal will und dich
wegschicke, dich abschiittele, auch dann nicht. Du wirst
nie von mir loskommen, wir werden uns schon langst nicht
mehr haben, und du wirst mich doch nicht uberwinden
konnen. Es werden Jahre vergehen, und du wirst glauben,
wirst sagen, Gott sei Dank! und auf einmal wirst du be-
merken, daB ich noch immer . . . daB ich zuriickgekommen
bin. Dabei bin ich dann nicht zuriickgekommen, sondern
ich war immer in dir. Nur eine Zeitlang hast du mich nicht
bemerkt. Du wirst nie von mir loskommen " Oh,
eine schreckliche Stimme war das, von Tillys tausend
lebenden Stimmen diejenige, die am blutigsten, am be-
angstigendsten, am lebendigsten lebte. — ,,Aber horen Sie
mal, sind Sie wirklich bose?" unterbricht Joly die Stille,
,,das tut mir aber leid, ich wollte . . . wirklich nichts Un-
angenehmes sagen, diese Dummheit muBte ich bloB aus-
sprechen, weil Sie ein so eigenrumlicher Mensch sind." —
,,Eigentiimlich? . . . ach wo." — ,,Doch, ja. So ein Stiller.
Aber schlecht ist das nicht, daB Sie so viel schweigen. Auch
neulich abends haben Sie kaum gesprochen. Ich kanns nicht
leiden, wcnn einer immerfbrt plappert, wie zum Beispiel
der fiirchterliche Simon, — dieses Budapester Gewasch ist
409
mir vcrhaBt, and Ihnen merkt man so sehr an, daB Sic andcrs
sind, kcincr von dicsen Budapestcrn, cin Fremder, und dann
sind Sic auch alter als wir, als die Jungens, mit dencn ich
immer zusammen bin, und . . . also, Sie sind eben andcrs
und fremd, und das Komische ist, schon neulich abends,
als Sie so viel geschwicgen haben, hatte ich das Gefuhl, daB
doch etwas ganz Bekanntes an Ihnen sei, so, als ob ich Sie
schon sehr lange kenne . . . na, wissen Sie, das ist aber cine
schone Geschichte, ich mache Ihnen ja hier regelrecht den
Hof ! also, bitte : Sie sind nicht mehr bose, nicht wahr, wegen
der — " — ,,Nein, wirklich nicht", — und mit einer ganz
eckigen, fremdcn Bewegung kommt er nahe an Joly heran
und ergreift ihren Arm oben iiber dcm Handgelenk, —
,,na, bitte", sagt Joly und macht sich mit einem Ruck los;
einer mit Monokel und Panamahut guckt sic vom Rande
der StraBe neugierig an, — unangenehm . . . und Joly, als
lase sie in seincn Ziigen, sagt: ,,jetzt sind wir quitt, gut?" —
,,Eine seltsame kleine Person sind Sie", sagt er langsam.
,,So? finden Sic?" — und nach einigen wortlosen Schritten
bleibt sie an einem Geschaft stchen, ,,das ist der Laden,
kommen Sie mit rein, oder wollen Sie drauBen wartcn?
wenn Sic noch ein biBchen Zeit haben . . .4l Nach drci
Minuten tritt sie wiedcr aus der Ladcntiir, hat cine kleine
Papicrtiite am Finger baumeln. Jctzt ist ihrc Stimme ganz
anders, heiter sprudeln die Worte, ,,wissen Sie, daB ich ein
ausgezcichneter Fremdenfuhrer ware? in dem Geschaft da
driiben bekommt man die teuersten und schlechtesten
SeidenstorTe, in dcm Lcdergeschaft dort gibts cin siiBes
Ncccssaire, wcnn es inzwischcn nicht vcrkauft ist, sehcn
Sie, gerade cin solchcs Auto konnte ich gebrauchen, wic
das da im Fenstcr, wenn ich nur wuBte, was fur cine Markc
es ist ... ja, und in diescm Geschaft hier kaufc ich immcr
meine Grammophonplatten, immcr! alle Jubcljahrc mal
cine! die haben aber wirklich iibcrall den gleichen Prcis,
ich gehc schrccklich gcrnc da rein, die viclc Musik durch-
einander horen — " und dabci lacht sic, hcrzhaft und frfthiich,
410
und da lacht er mit. ,,Tatsachlich, Sie wsiren cin vor-
trefflicher Fremdcnfiihrer ..." — ,,Ja, manchmal bin ich
zwar cin biBchen verriickt", sagt Joly, ,,aber das macht
nichts, gelt?" — ,,Nein, das macht gar nichts", antwortet
er und sieht ihr wicder von der Seite ins Gesicht. Wenn ich
jetzt zu ihr sagen wiirde, Joly, ich mochte, daB Sie alles
Schonste und Beste, was auf der Welt ist, haben Ein
hiibscher junger Mann im Leinenanzug und ohne Hut
kommt ihnen entgegen, Joly hebt die Hand und winkt ihm,
da bleibt er ein wenig stutzend stehen und hebt hinter der
groBen runden Brille seinen kurzsichtig blinzelnden Blick
auf sic. Das ist einer von dcnen im Smoking neulich von
der Bar auf derlnsel. ,,Servus Jolychen, kuB die Hand!" —
,,Servus Totochen, was heiBt denn das, wo driickst du dich
dcnn um diese Zeit rum?" Und sie stellt die beiden einander
vor: ,,Herr Doktor Otto Huszar — Herr Antal Kadar,
oder vielmehr: Mister Kadar, aber seinen Vornamen weiB
ich nicht englisch, Bandis Freund, weiBt du Toto, aus Siid-
afrika. Also, laB mal horen, warum du um diese Zeit in der
Stadt rumbummelst." — ,,Was soil ich dir sagen, Jolychen",
erwidert der junge Mann, ,,ich komme von einem Kon-
silium." — ,,Na, das soil dir ein anderer glauben . . .
begleitcst du uns ein Stiickchen?" Zu dritt gehen sie weiter,
Doktor Otto Huszar begibt sich hoflich an Jolys andere
Seite. Manchmal bleibt Kadar einen Viertelschritt hinter
ihnen zuriick, sieht sie sich an und hort ihrem leichten,
narrischen Redeschwall zu. Ein merkwiirdiger Ton . . .
Budapester Ton. Jolychen, Totochen, — auf vertraulichem
FuB stehen sie, anscheinend Freunde, Kameraden? . . .
eine kleine dumpfe Bitternis steigt ihm in die Kehle, und
scin Gesicht ist fast unfreundlich, als sich der Junge an
eincr der nachsten StraBenecken verabschiedet, ,,adio, ich
muB jetzt laufen, ich hab wirklich furchtbar viel zu tun ..."
,,Was ist dieser Herr?" fragt er nach ein paar Schritten.
,,Warum sind Sie denn so giftig?" neckt Joly, ,,das ist kein
Herr, sondern ein Junge. Ansonsten Arzt, nicht gerade ein
411
beriihmter Arzt, abcr, wenn man bedenkt, daB er sich erst
ganz kiirzlich nicdergclassen hat, gcht es ihm ziemlich gut.
Dermatologc . . ." fiigt sic leicht ehrfurchtsvoll hinzu. ,,Ein
alter Freund von uns, ein netter Junge, hat was im Kopp-
chen . . . also, wohin gehen Sie jetzt? ich fangc namlich
an, nach Hause zu gehen."
Ila 1st noch nicht im Hotel, als cr ankommt. Nebcn dem
Telefon liegt ein Zettel: Ich bin mit Edith im Wellenbad,
zum Mittagessen komme ich nach Hause. Er geht im
Zimmer auf und ab. Sie ist nicht schon . . . irgendeincn
gewohnlichen Zug hat sie im Gesicht, und ihr Mund ist
nicht schon. Es ist warm, er zieht sich ein Pyjama an. Soil
ich ihnen nachgehen? Ila hat den Wagen mit. Ach, ich
bleibe zu Hause, wir konnten auf dem Zimmer essen. Was
ist heute? was ist heute? Mittwoch. Fur nach Tisch habc
ich nichts vor, abends sind wir bei dcr Gesandtschaft cin-
geladen. Na, schon. Zunachst werde ich mich ein biBchen
hinlegen . . . Er legt sich auf den Diwan. Hotelzimmer, —
drollig, man beschlieBt plotzlich, nun ein halbcs Jahr im
Hotelzimmer zu leben. Aber die Zimmer hier sind sehr
schon, Luxuszimmer. tJberhaupt . . . man kann zufricden
sein — — Das Telefon auf dem Schreibtisch knarrt gc-
dampft, diskret, — man kann zufrieden sein mit seincm
Los . . . Kelcmen. Interessanter Zufall. ,,Wic gcht es dir?
wie geht es euch? was macht ihr?" und an einem der
nachsten Tage mochte er gern mit ihm sprechen, — ,,bitte
sehr, wann es dir paBt, mir ists auch heute nachmittag
recht." Nein, heute lieber nicht, heute habc er viel zu tun,
aber wcnn cr ihn morgcn nach Tisch, wenn Ilachen sich
sowicso schlafen legt, abholen diirfte, sic konnten sich dann
irgcndwo drin odcr drauBcn hinsetzcn — also, sic ver-
abredcn, daB Kclcmcn ihn morgcn um vicr abholen kommt
und sic sich dann irgcndwo auf die Donauterrasse sctzcn.
Kclemcn. Kclcmcn ist dcr diskretcstc von alien. Es sieht
fast so aus, als ob Kclcmcn . . . gar nichts von ihm wollc,
dabci will cr abcr bcstimmt doch ctwas von ihm. Sclbst-
41 z
verstandlich. Nur so hie und da ein halber Ton, hie und da
ein unvollendeter Satz: bloB ein gutes Ohr gehort dazu,
ein geiibtes Ohr, um es herauszuhoren. Natiirlich will er
was, friiher oder spater wird er schon damit rausriicken.
Ohne Zweifel. Kelemen war der Geduldigste und der Vor-
sichtigste, — er wollte ja auch am meisten . . . andererseits
will ja auch ich von ihm am meisten Na ja, also, als
er angehangt hatte, legte er sich wieder auf den Diwan;
jetzt war es nur natiirlich und logisch, an Joly zu denken.
Wer mag der junge Mann sein, der Gelehrte mit der runden
Brille und den witzigen Budapester Redensarten, das ist
kein Herr, das ist ein Junge, ein Rotzjunge ... — er lachte.
Fiinfundzwanzig Jahre kann er sein, sagen wir sechsund-
zwanzig. Ich werde dreiunddreiBig, sieben Jahre Unter-
schied. Zu meinen Gunsten? Zu meinem Nachteil? . . .
Joly ist anscheinend sehr intim mit ihm, sie duzt ihn, und
dieser Toto hat sich bei ihr eingehangt, mit einer ganz
langsamen, gewohnten Bewegung, und Joly hat sich nicht
dagegen gewehrt, hat den Arm nicht von seiner Hand
weggezogen, wie sie es getan hat, als ich Schon
dumm klingt das, eine schone Dummheit, als ob ich auf
diesen griinen Jungen eifersuchtig ware, Albernheit.
Schone Albernheit, wiederholt er laut vor sich hin, weil ihm
die Lider schwer werden und er nicht einnicken will. Er
nimmt ein Buch in die Hand. The 42nd Parallel, Dos
Passos. Ein griesgramiger Schrifts teller. Aufregend bitter.
Er schlagt das Buch auf und blattert darin. Eigentlich . . .
muBte ich etwas von der ungarischen Literatur lesen, ich
kenne nichts von der neueren ungarischen Literatur. Und
da sieht er plotzlich einen groBen Biicherschrank vor sich,
und von den Farbenflecken der Biichergruppen kommen
ihm Namen in den Sinn : gelb — Strindberg, rot — Wede-
kind, weiB — Schnitzler, braun — Shaw, blau — Altenberg,
und eine niedrige Reihe broschierte Biicher mit weiBem
Riicken: Wilde, Jerome, Chesterton, Conrad, Wells,
Bennet ... — und auf einmal hort er eine frische, knabenhafte,
415
klarc Stimme: ich hab mir den neucn Werfel gekauft,
willst du ihn dir mitnehmen? oder hast du den Kerr noch
nicht ausgelesen? Galsworthy soil an einem neuen groBen
Roman arbeiten, die Geschichte einer Familie will er
schreiben, meinst du nicht, daB die Idee Buddenbrook-
EinfluB ist? — und dann sieht er cine andere Bibliothek,
bis an die Decke offene Facher, zuunterst das ganze Fach
der Economist, dariiber eine Reihe Moderne Baukunst,
dann links die deutschen, in dcr Mitte die englischen, rechts
franzosische und sonstige Fachbiicher, Architektur, Kunst,
Volkswirtschaft, dann eingebundene Zeitschriften : in der
Villa in Port Elizabeth, im Hcrrenzimmer. Die Biicher sind
zum groBen Teil Myers* NachlaB, und kein einziges un-
garisches Buch ist darunter, und auch Belletristik kaum,
ganz wenige neue englische und amerikanische Biicher, —
keine Zeit ... — und ctwas von seltsamer, schmerzlicher
Sehnsucht regt sich in ihm, cine namen- und ziellose
Sehnsucht, — mein Gott, alles, was ich nur will? alles, was
schon und gut und teuer ist ... alles? da es doch ganz
winzige Dinge gibt, die nicht gelingen, die ich nicht
imstande bin zu wie zum Beispiel die ungarischc
Literatur . . . oder etwas und da werden still die
Farben gcdampfter und die Tone gedampfter Als
Ila eintritt, schreckt er aus eincm leichten Halbschlaf auf.
Ila ist heiter, wirft ihre Badetasche aus blauem Lackleder
hin, das feuchte Trikot breitet sic im Badezimmer aus
und erzahlt vom Wellenbad; ,,hcute war es wunderbar,
im Gellert sind zwei neuc englische Familicn angekommen,
ein Fabrikant aus Birmingham mit Frau, Tochtcr und
Schwiegersohn und ein Herr aus London mit seiner Tochter.
Das Wasser war so hcrrlich frisch, und die Sonnc schien so
heifl, sieh mal, mein Riicken ist wieder ganz vcrbrannt."
Wahrend Ila erzahlt, iibcrlegt er sich, ob er etwas davon
sagen solle, daB er Joly getroffen hat, zufallig, — und
plotzlich kommt cr in Wut, dariiber muB man nachdenken?!
was fur cine Albernhcitl — und glcich unterbricht er Ila:
414
,,ich bin auf der StraBe Joly Kelemen begegnet, sic hat
gefragt, ob sie mal wieder mit uns zusammensein konne."
— ,,Und was hast du ihr geantwortet?" — ,,DaB wir selbst-
verstandlich zusammensein konnen, sie solle dich an-
rufen." — ,,Gut", sagt Ila, ,,ich hab sie sehr gern . . .
wovon sprach ich doch eben? ach ja, also etwas Drolligeres
als diese alte Dame, etwas Komischeres als diese Mrs.
Charvell, weiBt du, die Frau des Fabrikanten aus
Birmingham ..."
Joly wird sich wieder nicht von selbst melden, dachte
er, aber jetzt wollte er die Begegnung mit ihr nicht mehr
dem Zufall iiberlasscn. Er lieB jetzt die Aufrichtigkeit
schon so weit an sich herankommen, daB er sich sagte: ich
mochte mit ihr zusammensein, ich mochte sie sehen. Und
dariiber hinaus ist alles Grubeln, alles Rechenschaftgeben
iiberfliissig. Joly zu sehen, ist angenehm, und es ist an-
gcnehm, an sie zu denken, — groBe Worte, Quali-
fizierungen, Herumraten, Angste, — wozu? Als er am
folgenden Tag mit Kelemen auf dem Korso saB, auf der
Terrasse cines Cafes, begann er das Gesprach gleich damit,
daB er sie fur einen der nachsten Abende einlud, mit ihnen
zusammen im Hotel zu essen, ,,nachher kdnnen wir auf
den Dachgarten gehen, oder wenn die Damen etwas
anderes vorschlagen, — das Programmachen ist ja Sache der
Damen." Kelemen nahm natiirlich erfreut die Einladung an.
Sie unterhielten sich. Hinter Kelemens vorsichtigen, etwas
fluchtigcn Erkundigungen schien indessen cine Gespannt-
heit zu liegen. Anscheinend fiihlten sie sich ja recht wohl
hier, nicht? ,,na also, ich wuBte ja, daB man sich in
Budapest wohlfuhlen muB, — nSmlich als Gast," und
wie knge sie ungefahr noch blieben? Das wisse er noch
nicht genau, antwortete Kadar, sie batten sich auch
urspriinglich nicht an einen Tag gebunden, und jetzt wiirden
sie ihrc Schweizer Reise wohl ein wenig aufschieben
415
miissen, bis er diese gewissc Angclegenheit etwas genauer
untcrsucht habe, — scharf sieht er Kelemen an, — die Vor-
schlage Szendes. Kelemen bcherrscht sich gut, nur seine
Finger zittern, die Zigarette und das Streichholz, als er es
anziindet. ,,So, — also Szende ist mit einem Vorschlag
gekommen ... so, ja. Wenns was Gescheites ist — ", und
plotzlich fangt er an, von sich zu sprechen, nun schon ganz
ruhig, von seinen eigenen Angelegenheiten, die, leider
Gottes, nicht eben glanzend stehen. Vor allem . . . ja, das
ist der richtige Ausdruck: sabotiere man seine Idee, die er
neulich kurz erwahnt habe, man sage weder ja, noch lehne
man sie ab, was ein Desobligo fur ihn bedeuten wiirde . . .
kurz, man wolle ihn einfach aushungern. Schon, das ware
noch am wcnigsten schlimm unter den gegebenen Um-
standen, — pro momento, sagt er, pro momento sei der
Haken, daB er sich absolut nicht mit seinem Abteilungschef
vertragen konne. Der Abteilungschef sei ein alter Mann, sei
eifersiichtig auf ihn, fiirchte, durch ihn seine Position zu
verlieren, solange er aber noch die Macht in Handen habe,
sei er ihm gegeniiber, ihm, der er es doch aus eigenen
Kraften zu dem gebracht habe, was er sei, den keinerlei
Protektion vorgeschoben habe oder schiitze kurz
und gut, der Vorstand habe nicht miBzuvcrstehende An-
spielungen gemacht, daB unter den heutigen Verbal tnissen,
die doch alle Schranken umsticBcn, und so weiter . . . ,,Ich
wiirde mich nicht wundern", sagt er, ,,wenn ich von heute
auf morgen einen Kiindigungsbrief zugestellt bekame.4*
Und daB heutzutage die Frage, irgendwo unterzukommen,
cine eminentc Sorge sei und cine doppeltc Sorge: erstens
die Frage einer Anstellung iiberhaupt und zweitens die
Frage einer Anstellung, die seiner Begabung, seinen
Fahigkeitcn entsprache. Das Stiickchen Brot, das cine
mittlere Stellung sichert, ist manchmal ein hcmmender,
schwerer Klotz, — man kann das nicht so leicht aufs Spiel
setzen, besonders wcnn man gewissc Vcrpflichtungcn hat,
Vcrpflichtungcn der Familic gegeniiber. Davon spricht
416
er aber nicht weiter, das Gesprach kommt vielmehr gleich
auf Port Elizabeth, — und auf einmal fragt Kelemen: ,,sag
mal Antal, wic sind deine Leute? die bei dir arbeiten?" —
,,Oh, sehr gut", antwortet er, ,,ausgezeichnete Fachleute.
Sie bewegen sich in genau bestimmten Wirkungskreisen,
letzten Endes handelt es sich um ein Privatunternehmen,
wo alle Faden auf meinem eigenen Schreibtisch zusammen-
laufen." — ,,Gut und schon, ausgezeichnete Fachleute . . .
aber sind sic auch anstandig?" Er sieht ihn erstaunt an.
Zuerst versteht er den Ausdruck nicht. „ Anstandig? ob
nicht einer Unterschlagungen macht oder in die Kasse
greift?" — ,,Nein, das meine ich gerade nicht, wie soil
ich nur sagcn, — zum Beispiel der Einkaufer des Materials —
zum Beispiel Provisionen ..." — ,,Ach so, ich verstehe, du
denkst daran, ob diese Leute etwa von den Lieferanten was
annehmen, beziehungsweise irgend jemanden bevorzugen,
der sie bestochen hat." — ,,Ja, naturlich." — ,,Ach, nein,
erstens . . . aber das wird ein wenig schwer sein, dir be-
greiflich zu machen, da du doch die Verhaltnisse dort
unten nicht geniigend kennst, — erstens kommt das
deshalb nicht vor, weil entweder ich selbst oder Scott, der
Sohn meines einen Kompagnons, bestimmen, was von
den einzelnen Lieferanten gekauft wird. Zweitens arbeitet
driiben der Markt mit Standardmaterial und deklarierten
Preiscn; wenn sich demnach jemand einem Fremden da-
durch ausliefern wiirde, daB er Geld von ihm annahme, so
konnte das nie auf Kosten der Qualitat gehen, es wiirde nur
den Lieferanten schadigen, und dies ganz iiberflussiger-
weise. Wieviel nun der Lieferant bei den deklarierten
Preisen und untadeliger Qualitat verdient, das geht mich
wirklich nichts mehr an." — ,,Und wenn jemand schlechte
Ware oder Ware von anderer Qualitat ubernimmt?" —
» Ja, der betriigt dann einfach, und da kann man in vierund-
zwanzig Stunden hinterkommen und den Betrefienden ein-
sperren lassen, aber mit so etwas habe ich noch nie 211 tun
gehabt. Eine ganz andere Sache natiirlich ist die, daB im
27 KOrmendi, Budapest 417
vorigen Herbst russische Agenten auftauchten, die Benzin
und Ol drciBig Prozent billiger anboten, — in einem solchen
Fall 1st es dann wieder natiirlich, daB ein konservativ ge-
fiihrtes Unternehmen, das seine jahrzehntealten Beziehungen
und Lieferanten hat . . ." — ,,Ja, gewiB, gewiB", sagt
Kelemen, — sein Gesicht ist ein wenig verstort, und es
scheint ihm fast leid zu tun, diese Sache zur Sprache ge-
bracht zu haben, — ,,ich dachte ja auch nicht eben, daB deine
Leute unzuverlassig seien." Dann flieBt das Gesprach noch
weiter, wird aber bald farblos und matt. Es fallen unwichtigc
Worte von leeren, neutralen, allgemeinen Dingen, und der
Ton flattert erst dann wieder lebhafter auf, als Kelemen
sagt: ,,sei nicht bose, ich mochte nicht, daB du es fur eine
Indiskretion haltst, aber es wiirdc mich ungeheuer inter-
essieren, wie du es so weit gebracht hast, hier von dcr
Budapester Schulbank aus, — du nimmst es mir doch nicht
iibel, nicht wahr, aber ein so phantastisches Schicksal, eine
so seltene Karriere ..." — Er winkt ab. ,,Wie ich es so
weit gebracht habe?u sagt er, — ,,ja, das ware schwer, so
einfach zu erzahlen." Eine peinliche Banalitiit drangt sich
ihm auf die Zunge. Ich habe viel gekampft, sagt er fast,
halt das Wort aber zuriick, ,,gewissermaBen ist das auch
Gliickssache . . . Sache eines giinstigen Augenblicks oder
eines giinstigen Zufalls", sagt er nachdenklich, ,,daB man
es so weit — " So weit? dcnkt er, wahrend er spricht, wie
weit? so weit, daB ich im Alter von zweiunddreiBig Jahren
viel Geld habe, mein eigcner Herr, ein gliicklicher Mensch
bin, cinen Namen habe und innerhalb meiner Kreise eine
Macht bin und . . . nun hier mit einem uninteressantcn,
traurigen, fremden Hungerleider sitze, einem von den
unzahligen elenden, ungliicklichcn, uninteressantcn Skla-
venmenschcn, bloB deshalb, wcil — — und auch jetzt denkt
er nur: weil ich Joly schen mochte. Doch hier bleibt er
stecken, und mit fast unvcrhullter Hartnackigkeit laBt er
das Thema Joly nicht los. Also, was Joly denn mache? wie
sic lebe? ob sic irgendwelchc Plane habe, so im allgemeinen
418
furs Leben? ob es nicht gut ware, wenn sic sich mit etwas
beschaftigen wurde? ob sie keine Lust hatte zu arbeiten,
und wenn auch nur, um von irgend etwas in Anspruch
genommen zu sein, so wie die meisten heutigen jungen
Madchen? und so. Kelemen antwortet vorsichtig, ein wenig
zuriickhaltend ; er halt sich streng an die Fragen und ist jetzt
wortkarg fast bis zur Verschlossenheit. Dieses bereits auf-
fallende Zuruckziehen entgeht Kadar nicht. Halunke, denkt
er. Du hast wohl bemerkt, daB sie mich interessiert. Und
nun haltst du hinterm Berg. Willst wohl Wucher treiben.
Zwei scharfc Blicke kreuzen sich. Dann stehen sie auf. Sie
geben sich die Hand. Offenbar denkt auch Kelemen, iiber-
morgen abend
Am nachsten Tag kam Joly zu Ik ins Hotel, bei dieser
Gelegenheit sah er sie, aber aus dem verabredeten Abend
wurde nichts. — Joly hatte nachmittags vom Portier herauf-
telefoniert, ob sie kommen konne. Fiir diesen Nachmittag
hatten sie sich nichts vorgenommen, um halb sechs saBen
sie noch zu Hause, erst spater wollten sie ins Kiihle Tal
fahrcn in die Konditorei. ,,Dein Mann sagte mir, du seist
so lieb gewesen, nach mir zu fragen, jetzt war ich gerade
hier in der Nahe und bin also auf einen Sprung gekommen."
Sofort erwahnt Kadar die Verabredung fiir den nachsten
Abend, — ,,nein, Bandi hat noch nicht davon gesprochen,
allerdings habe ich ihn schon seit ein paar Tagen nicht
gesehen ..." und so nimmt sie mit sichtlicher Freude zur
Kenntnis, daB sie morgen abend zusammensein werden.
Sie sitzt in einem niedrigen Lehnstuhl, wieder fallt ihm ihre
eigentiimliche, gerade Korperhaltung auf. Aber . . . steif
ist sie deswegen doch nicht. Sie steckt sich cine Zigarette
an, schlagt die Beine iibereinander, schone, schlanke, knge
Beine hat sie, — und wieder hat sie die Sandalen an. Er
beobachtet die beiden Frauen, — als ware in ihren Stimmen
cine merkwurdige Verwandtschaft, und doch sind ihre
Stimmen ganz verschieden. Ila spricht leise, tief und flussig,
in abgerundeten Worten und tadellos durchgebildeten
27* 419
Satzen; auch Joly spricht leise, abcr ihrc Srimme 1st
hoher und auch etwas klarer, oder vielleicht hdrt sich
das nur so an, well sie hoher 1st, und ein biBchen rhapsodisch
sind ihre Worte, hie und da stockt sie oder reiBt etwas ab,
den angefangenen Satz beendet sie nicht, schiebt einen
andern Gedanken dazwischen und kehrt dann zu dem vor-
hergehenden zuriick. Und sie spricht auch sckneUer, —
oder scheint das auch nur darum so, well ihre Stimme hoher
klingt? lias Worte sind beinahe kuhl durclidacht und
korrekt, — oh, lias kluge, klare, anstandige Worte . . .
ihre Worte sind genau so wie ihre Augen, — in Jolys
Stimme schwingt manchmal ein merkwiirdiger leichtcr
Zynismus, eine Art ubertriebener stiller kleiner Selbst-
kritik, etwas wie Geringschatzung ihrer sclbst. — Er
lauscht ihrem Gesprach und wirft das eine oder anderc
Wort dazwischen. Und er beobachtet Ila, ob er in
ihrem Gesicht keinmal ein ungeduldiges, nervoses Zucken
sehe, — Joly spricht wieder von dem, wovon schon einmai
und zweimal und dreimal die Rede war. ,,Ja, Stenographic
und Schreibmaschine habe ich gelernt, aber leider niitzt mir
das nicht viel", erzahlt sie. ,,Ins Biiro gehen, mein Gott, die
paar Pengo, die man eincm dafur bietet, sagen wir, bei
einem Rechtsanwalt . . ." Ober lias Ziige huscht ein stilles
Lacheln, — ,,oder sonstwo, Anfinger wie ich wcrdcn leider
uberall schlecht bezahlt." — Das interessicrt Ila nicht, das
kann sie nicht interessicren, denkt er mit cinem peinlichen
Gefuhl und sucht Jolys Augen. Joly wird es merken, muB
es an meinen Augen merken, daB — „. . . erstens mal, bis
es einem gelingt, iiberhaupt irgendwo mit jcmandcm sprc-
chen zu konnen, der einen nicht einfach mit einem ,Zur
Zdt leider* oder ,Wir woilen cs vonncrkcn* abtut , . ."
Das Telefon klingelt. ,,Hallo — Servus Szende. Ja, nein,
du storst gar nicht, bitte schon/* — ,,Und wenn man dann
mit Miih und Not irgendwo untcrkommt, dann ist gcwohn-
lich das das Schrecklichc, daB man fur die paar Pengo . . .4<
,,Nein, im Augenblick habcn wir gerade Bcsuch . . .*' —
4ZO
,,gewohnlich muB man sich dann Frechheiten gefailen
lassen ..." — ,,Leidcr oicht, nachher gehen wir fort . . ." —
,,Na, also, nicht gerade jede muB sich das gefallen lassen,
aber gewohnlich versucht mans mit jedcr ..." — ,,Leider
bin ich noch nicht dazu gekommen, griindlich reinzu-
sehen." — ,,Einmal habe ich einen Versuch gemacht, bei
einem Textilgrossisten, auf eine Annonce hatte ich gc-
schrieben, zwei Wochen habe ichs ausgehalten ..." —
,,Morgen vormittag gern, jederzeit, meinetwegen schon
um neun ..." — ,,Da habe ich einen alten Chef gehabt, im
Anfang hat er sich sehr nett benommen, Kleine, Kleine, hat
er immer gesagt, er war mindestens funfzig Jahre alt ..." —
,,Nein, Szende, wenn wir uberhaupt hingehen, dann gehen
wir zunachst beidc allein ..." — ,,und dann nach zwei
Wochen abends bei BiiroschluB sagte er auf einmal, er kame
mich um neun abholen, ich solle vor dem Haustor auf ihn
warten, er nahme rnich mit Auto fahren ... da habe ich ihn
einfach stehenlassen." — ,,Gut, Szende, auf Wiedersehen.
Servus." — Dann fordert Ila Joly auf, mit ihnen ins Kiihle
Tal zu fahren. ,,Nein, heute kann ich leider nicht, meine
Schwester will heute abend weggehen, da muB ich bei
Mama und dem kleinen Jungen bleiben, — schade, wirklich
schade." — ,,Also dann morgen abend, wie verabredet . . .
aber warte jetzt wenigstens noch ein biBchen, ich zieh mich
schnell um, dann gehen wir zusammen weg." Joly sitzt
im kleinen Sesscl; er betrachtet sie, an die Balkontiire
gelehnt. ,,Miisscn Sie unbedingt heute abend zu Hause
bleiben?" fragt er plotzlich, seine Stimme ist ganz leise,
er wundert sich, daB er nicht lauter spricht, ein wenig
argert ihn auch diese sonderbar gedampfte, geheimnisvoll
tuende Stimme. GewiB ein Reflex, daB Joly ebenso leise
antwortet, — sie haben doch nichts zu verheimlichen in dem,
was sie einander sagen. ,,Ja, leider muB ich heute zu Hause
bleiben bei Mutter und dem Kleinen . . ." Sie schweigcn.
Und dann hort er wieder seine eigene leise, fremde Stimme,
wie sie plotzlich von der Tiir her klingt: ,,ich lade Sie auch
421
ein, Auto zu fahrcn, abcr am Tagc und zu dritt mit meincr
Frau zusammen ..." — ,,Das vcrstehe ich nicht", sagt
Joly laut, ,,was wollen Sic damit sagen?" — ,,Nichts",
antwortet er, tritt an den Schreibtisch, kramt darauf herum,
stcllt das Telefon ein biBchen weiter auf die Seite und
bastelt, um die Zeit auszufiillen und seine Vcrlegenheit zu
verbcrgen, mit Buchern und Papieren. Einmal blickt er
nach Joly hin, — aus ihren wcitgeoffneten Augen brennt
noch immer crstaunt, fragend der grunlich-blaue Strahl auf
seincm Gesicht.
Ja, — aus dcm ,,morgen abend" wurde nichts. Ila fuhr
um acht Uhr friih auf die Inscl Tennis spielen, und um halb
neun telefonicrte sic schon aufgelost und verzweifelt aus
eincm Budacr Sanatorium: Mrs. Simmons war, nachdcm
sic kaum den noch etwas feuchten Tennisplatz betreten
hattc, hingefallen und muBte allem Anschein nach einen
schweren Knochcnbruch in der Gegend des rcchten
Knochels erlitten haben; mit schrccklichen Schmerzcn hat
man sic nach Buda in ein Sanatorium transportiert, und jetzt
sucht man in der ganzen Stadt nach dem beruhmtcn
Orthopaden, der ihnen im Sanatorium cmpfohlen worden
ist. Simmons ist in Belgrad . . . ,,Anti, ich bin ganz auBcr
mir, setz dich doch bitte sofort in einen Wagen und komm
her!" Einc Minute darauf saB er in der Taxe und raste ins
Sanatorium. Ila war hochrot, Frau Simmons lag kreidc-
bleich im Bert. Nach cinem Wcilchen kam der Spezialarzt
an; die leichten, gut zuredenden Wortc dcs elegantcn,
heitern jungen Marines mit dcm graumclierten Haar
stimmten sic auch wicder frohlicher. Und als das Rontgen-
bild zeigtc, daB ein opcrativcr Eingriff notig sei, nahm
Edith cs mit Ergebung zur Kenntnis, daB der schonc
Doktor sic mittags opericren wcrdc, und sagtc bloB: ,,wir
miisscn Boy benachrichtigcn, aber bittc, crschrcckcn Sic
ihn nicht, cr darf auf keincn Fall scincn Aufenthalt in Belgrad
412
abbrechen." — Mittags fand die Operation statt, vcrlief
gut, und im AnschluB daran sprach Kadar telefonisch mit
Simmons. Er wollte sofort nach Hause kommen, mit dcm
Nachmittags-Flugzeug ; es daucrte mehrere Minuten, bis
Kadar ihn mit Hilfe des Oberarztes bcruhigen konnte, —
er solle nur ganz ruhig seine Angelegenhciten erledigen,
Ediths Zustand sei wirldich vollkommen befriedigend,
auBerdem weiche Ila nicht von ihrer Seite. Und das war
auch so : die ersten drei Nachte schlief Ila bei Frau Simmons,
und auch nachher noch half sie tagelang der Privat-
pflegerin, wohnte sozusagen im Sanatorium. — Er aB
allein im Hotel zu Mittag, ging dann auf sein Zimmer. Die
Verabredung fur den Abend fiel ihm ein. Ich muB ab-
sagen, — mehrere Viertelstunden lang konnte er sich nicht
dazu entschlieBen, das Abendprogramm riickgangig zu
machen. Auch zur Art und Weise der Absage fand er schwer
die Entscheidung. Kelemen eincn Zettel schreiben oder
Joly oder . . . hingehen und ihr bestellen lassen, — schlieB-
lich telefonierte er ins Sanatorium. Ila sprach ein wenig
ungeduldig in den Apparat. ,,Aber selbstverstandlich
konnen wir heute abend nicht ausgehen, ich jedenfalls gehe
nicht . . . aber wenn du willst, dann geht doch ruhig ohne
mich." — ,,Nein, das nicht", antwortete er; dann teilte er
in zwei Zeilen Kelemen und Joly auf je einer Visitenkartc
mit, was geschehen war; Joly bat er, die Absage zu ent-
schuldigen, und Kelemen bestellte er fur morgen vor-
mittag zu sich; dann schickte cr einen Hotelbotcn mit den
Briefen weg. Spater rkf er Szende an, der ihn am Vormittag
vergebens gesucht haben muBte; auch mit ihm verabredete
cr cine Zusammenkunft fiir morgen. Nachher fuhr cr
wieder ins Sanatorium, — gegen Abend hattc Edith
Schmerzen bekommen, und Ila war nervos und aufgcrcgt, —
dann ging er nach Hause, kramtc cine Weile im Zimmer
herum, fand das Kursbuch in der obcrstcn rechten Schreib-
tischschublade, ganz zuobcrst, las ein paar von den Tele-
grammcn aus Port Elizabeth durch, stellte sich auf den
4*3
Balkon und sah hinuntcr auf den Korso. Gegcn ncun ging
er in den Spciscsaal und wiirgte ohnc Appctit cin paar
Bissen hinuntcr; cine halbe Stundc saB er noch auf dcr
Terrasse, dann legte cr sich schlafen. Die Nacht war warm
und unruhig. Er schlicf zwar sofort cin, wachte aber sehr
bald wieder auf und lag dann lange wach. Zuerst nahm er
das Kursbuch zur Hand, blattertc darin herum, sah sich die
Annoncen dcr Schweizcr Kurortc und der Mittelmeer-
Schiflfsreisen an; dann griff er nach dcm Dos Passes und
vcrsuchtc zu lesen. Die Buchstabcn bcgannen cincn lustigen
Tanz vor seinen Augcn, die Zeilen bcwcgtcn sich in Wellen,
qualende Schlafrigkeit iibcrkam ihn. Er stand auf und setztc
sich auf den Balkon. Oberhaupt keine Luft, zu warm ist es.
Man fuhlte, wie cine langsame, geradezu gliihende Stromung
aufstieg. Er trank ein paar Glas Kognak, wurde noch
schlafrigcr und konnte doch nicht einschlafen. Ich hatte
doch ausgehen sollen, dcnkt er, wir hattcn ausgehen konnen.
Und als kindischc, furchtsame Selbstrechtfertigung sagtc cr
sich noch: Ila hat es doch auch vorgeschlagcn . . . Dann
vcrgingen wieder halbe Stunden qualendcn Herum-
walzcns im Bert, unterbrochen von plotzlichem Auf-
springen, Licht-Anundausmachen, Auf-den-Balkon-Tretcn
und verzagtem Zuriickkriechen ins Bett, — bis er cndlich
gegen drei Uhr doch einschlief.
Die Besprechung mit Szcnde crledigtc er diesmal un-
geduldig und kurz. ,,Dieser unangcnehme Zwischenfall
hat mich leider auch daran gchindert, mir deine Notizcn
endlich genau durchzusehcn, abcr in den nachsten Tagcn
werde ich hoffentlich cndlich dazu kommen, und dann
konnen wir uns die Objekte anschcn gchcn." Szcnde
schnaufte kurz und wiitend, entfernte sich aber mit breit
lachelndem Gesicht. Dann kam Kelcmcn, — und an diescm
Vormittag bcging er an Kelcmcn die — na, sagen wir cs
nur ofFen hcraus, — die Gcmcinhcit. Ein Wort war cs nur,
bloB cine undeutliche Ermuntcrung, — aber Kelcmcn saugte
wic ein gicriger, ausgctrockncter Schwamm die giftige
424
Briihe ein. Im Laufc ihrcs Gesprachs, bci dem sic alle bcide
deutlich fortwahrend etwas umgingcn und beide vom
andcrn das Wort zu erwarten schicncn . . . im Laufe dieses
unsteten, neutralen, stockenden Gesprachs sagte Kadar
einmal, bloB so nebenbei hingeworfen, dort unten, ja, dort
unten sei die Welt derm doch anders. Begabung, Kraft,
Wille — setzten sich dort letzten Endes und in irgendeiner
Form durch, und wenn einem noch obendrein jemand
stiitzend unter die Arme greife und dann sprach er
von etwas anderm, bemerkte aber sofort, wie sich Kelemens
etwas miides, etwas welkes Gesicht belebte, wie in seinen
Augen ein ungestumes, durchdringendes Leuchten auf-
flammte. Und spater sagte er noch, es konne keine Situation
geben, in der man sich selbst verlieren diirfe, und wenn
man den Glauben und die feste Einstellung habe, —
,,nenn es fixe Idee, wenn du willst, oder nenn es Selbst-
tauschung", — es wiirde besscr kommen er selbst sei
das beste Beispiel dafur; nur rmisse ein jeder wissen, von
wem er etwas zu erwarten habe und was, wem er etwas
bieten konne und was. — Ja, daraufhin hatte Kelemen
sofort herausriicken konnen, hatte bitten und anbieten
konnen . . . denn es war ja nun fur keinen von ihnen mehr
zweifelhaft, was er vom andern wollte und was er dem
andern geben konnte: aber Kelemen scbwieg, Kelemen
verfolgte wieder cine Taktik, Kelemen ging diesmal nicht
einmal bis zu den diplomatischen halben Worten, bis zum
Durchblickenlassen, — Kelemen sprach nicht davon, daB
er das Gefiihl habe, iiber die Begabung, die Kraft und den
Willen zu vcrfiigen, und daB es sich lohne, ihm helfend
unter die Arme zu greifen . . . demgegeniiber indessen
Auch sagte cr nicht: gut, ich weiB, was du willst, reden
wir deutlich miteinander — — Kelemen schwieg. Er
will, daB ich anfange zu sprcchen, er will im Vortcil
bleibcn, dachte Kddar ein wenig gereizt. Dann erblickte
er seine Augen, das finstere, erhitzte, unverhultbare
Glanzen in seinen Augen, — oh, du wirst schon den Mund
4*5
auftun. Ich kennc das, ich kcnne dicsc Taktik, dieses
Schweigcn, diese Zuriickhaltung. Wie sic so einander
gegeniibcr saBen und die Kognakglascr im dicken Rauch
hoben : da sah er sich selbst in dem kleinen Salon in London,
im tiefen Lehnstuhl, der fremden Frau im schwarzen Kleid
und mit den schimmernden schwarzen Augen und dem
glanzenden schwarzen Haar gegeniiber, wie cr an der
Grenze des Sichpreisgebens , des kraftlosen In-sich-
Zusammensinkens stutzt und mit ein paar fernen, ncutralen
Wortcn den sich bereits regenden Bettler in sein Inneres
zuriickdrangt, den Bettlcr, der um den Groschen zittert,
aber sich nicht billig hinwerfen will . . . er will viel, und ich
will viel — nun gut. Die erste in ihrem Wesen erftihlte, in
ihren Einzelheiten kalt bcrechncte Gcmeinheit war vcr-
klungen, — doch von Port Elizabeth sprachen sie nicht
mehr, auch von Joly nur noch so viel, daB es wirklich
schade sei um den gestrigen Abend und daB sie das Vcr-
saumte hoffentlich recht bald nachholen wiirden.
Gegcn Mittag ging cr ins Sanatorium ; zu Frau Simmons
konnte er nicht hinein, da sie schlief ; so plaudcrte er einigc
Minuten mit Ha in der Halle. Edith hatte am Abend Fieber
gehabt und schr schlecht geschlafen, die Armstc qualt sich
schr, wenn nur Robert schon da ware, — er hatte in der
Friih telefoniert, vielleicht konne er bereits morgen oder
iibermorgen zuriickkommcn, — cine groBe, dicke, stramme
Krankenschwcster kommt durch die Halle, in der Tiir
bleibt sie einen Augenblick stehen, sieht die bcidcn an und
geht dann weitcr. Der Arzt sagt, cs lagc kcin Grund vor,
sich zu angstigcn, man miisse aber damit rechnen, daB die
volligc Gcnesung sich noch langcre Zcit hinziehen konne.
Beim Wcggehen begcgnct cr im Flur wicder der dicken
Pflcgerin: ,,guten Tag'*, griiBt sic hoflich und scheint
stehenblciben zu wollen, ,,gutcn Tag", crwidert er den
GruB zerstreut und geht weiter. Langcre Zeit kann es
dauern, bis Edith wieder ganz hcrgcstcllt ist? — Im
Wellcnbad iBt cr zu Mittag, bleibt bis sechs Uhr drauBcn,
4*6
spricht ein paar Worte mit Simon, — ,,ich inspiziere",
sagt Simon, ,,ich muB mal nachsehen, ob die Wellen-
patientcn alle wohl und munter sind", — er liegt in der
Sonne. Dann fahrt er wieder ins Sanatorium. Eine Minute
ist er drin bei Frau Simmons; ,,vielleicht gehe ich irgend-
wohin zu Abend essen", sagt er zu Ila; auf dem Flur trifft
er wieder die dicke Pflegerin. Sie fangt an zu lacheln, tritt
auf ihn zu und halt ihn an. ,,Guten Abend, Herr Kadar.
Erkennen Sie mich nicht?" Dieses Lacheln diese
groBen schwarzen Augen in dem hiibschen dicken Gesicht
mit den regelma'Bigen Ziigen — und cine diinne Locke
kohlschwarzes Haar unter der weiBen Haube . . . ,,o ja,
natiirlich, Schwester Agota", sagt er in plotzlicher Ver-
legenheit und reicht ihr zogernd die Hand. ,,Na, ein solcher
Zufall, daB Sie ausgerechnet hierhin gekommen sind mit
der englischen Dame, ich habe Sie schon heute vormittag
erkannt, Herr Kadar, du lieber Gott, wie lange habe ich
Sie nicht gesehen! wie geht es Ihnen denn? wie sind Sie
nach Budapest gekommen? nicht wahr, Sie waren doch
seither nicht in Budapest? es geht Ihnen Gott sei Dank gut,
wie ich sehe." — Alle friiheren Ziige sind da auf dem
Gesicht, nur breiter geworden, dicker geworden, mit
zufricdenem, ruhigem, offenem Strahlen, und die Stimme . . .
die alte Stimme, die ihn mit ihrem stillen, samtwcichen
Klang Nachte hindurch gestreichelt hatte und die er einst
vom Kleinmadchen-Lachen angefangen iiber die in der
Ekstase aufbrechenden Schreie bis zum zuriickgehaltenen,
tranenfeuchten Schluchzen dcs Abschieds so genau
kannte . . . und nun sagt sie: ,,die gnadige Frau, die Ungarin,
nicht wahr, ist Ihre Frau Gemahlin? was fur eine reizende,
liebe Dame! Gott, ich mochte so gerne horcn, was sie
wahrcnd der schrecklich langen Zeit alles gemacht haben, —
aber Sie wollen schon gehen? ich begleite Sie hinunter,
Herr Kadar . . ." Schwester Agota wcndet sich hoflich und
geht an seine linke Seite, und in den drei Minuten, bis sie
unten angckommen sind, stromen die Fragcn und die
4*7
ehrfurchtsvollen Ausbriichc der Verwunderung : ,,groBer
Gott! wirklich, in Afrika lebcn Sic? na, sowas I und cs geht
Ihnen gut, Gott sci Dank, das sicht man Ihncn an! und
so lange sind Sic schon vcrheiratct? und gliicklich sind Sie
natiirlich mit diescm goldigcn Geschopf ... sic stammt
wohl gcwiB aus Budapest? nun, und ein kleincr Stamm-
haltcr? nicht? ncin, sowas, wie schadc . . . na, abet das
kommt noch, hoffentlich." Und dann erzahlt sic noch:
,,uns gcht es Gott sci Dank auch ganz gut, mir und mcincm
Mann, er ist Biirochcf hier im Sanatorium, schon vor mchr
als vier Jahrcn habe ich ihn geheiratct, seitdem ich hier
Obcrschwcster bin, es soil mir nur nic schlechter gehen,
toi, toi, toi — " — Ein angenehmes, heiteres Gefuhl durch-
stromt ihn, wie er sich die Frau so ansieht, dicse strahlende,
sorglose Gesundheit, diese sorgsame Helferin in Krankhcit.
Und als er ihr im Tor die Hand rcicht, driickt Agota, Frau
Jozscf Komivcs, sic mit starkem, hartem, bekanntem
Druck, — in ihren Augen zuckt ein Lachcln, — und an
ihrcm rundlichen, weiBen Hals offnet sic ein wenig den
weiBen Mantel und zicht ein diinnes Goldkettchen hervor,
an dem ein kleines goldenes Kleeblatt hangt, ,,das habe ich
noch, Herr Kadar . . . und werdc cs auch immer behaltcn,
es hat mir, Gott sci Dank, Gliick gcbracht."
Die magnetische Spannung, die ihn an jcnem laucn
Juliabend auf die StraBe trieb, ging wohl von dem klcinen
goldenen Kleeblatt an Schwester Agotas Hals aus. Gliicklich,
dick, zufrieden, dachtc er auf dem Hcimwcg, elf Jahrc ist
es her, geheiratct hat sic, ist dick gcworden, das Kettchcn,
das Kleeblatt hat ihr Gliick gcbracht . . . Langsam fahrt cr
durch den Tunnel und iibcr die Briickc; sicbcn Uhr ist cs,
als cr vor dem Hotel ankommt. Dcr Kopf ist ihrq ctwas
bcnommcn. Die crstc Frau war sic, mit dcr cr die
cr und jetzt sieht cr dcutlich das diinnc Kettchcn an
dem schlanken und dcnnoch voilcn, glatten, weiBen Hals,
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und mit ein wenig kindischer, spahender Neugierde ver-
sucht er, welter zuriickzublicken . . . und schon fuhlt er
ihre weiBe Hand mit den langen Fingern, sieht ihren
schlanken, kraftigen Korper und sieht ihre Schulter und ihr
aufgelostes langes schwarzes Haar und sieht die ganze
Agota von damals, in einem braunen Kleid und einer
groflen blauen Schiirze, und dann sieht er sie im Dunkeln,
im ahnungsvollen Phosphoreszieren ihres weiBen Leibes, —
und dann erbebt die Gestalt, wird undeutlich, die Farben
andern sich, die Formen zerflieBen, — das aufgeloste
schwarze Haar wird heller, er spurt etwas Blondes, zuerst
silbrig blaB, dann wieder dunkler, tiefer, bis zum bordeau-
schimrnernden Dunkelrot, — das Gesicht, das er vor sich
sieht, ist nicht fremd, aber auch nicht bekannt, als gehorten
die Nase und der Mund und die geschwungenen Augen-
brauen, die Linie des Halses, die Rundung der Schulter
und die Wolbung der Brust anderswohin: seltsam, alles ist
anders und — als hatte er diese geheimnisvolle, diese
unpersonliche Frau auch schon einmal irgendwo gesehen —
cr schlieBt die Augen, gewaltsam verscheucht er die Er-
innerung mit den hundert Gesichtern, hundert Korpern,
hundcrt Geriichen, — er steht auf und verlaBt die Hotel-
halle. Seinen Wagcn la'Bt er vor dcm Hotel stehen, geht zu
FuB auf die Andrassy-StraBe zu, — ich miiBte in mein
Zimmcr gehen, ich miiBte zu Abend essen, ich muBte mich
schlafcn legen, — und die fremde, magnetische Kraft
treibt ihn unwiderstehlich weiter wie eine komplizierte,
geistreiche, zu viclerlei Funkdonen geeignete aber leblose
Maschinc, die nur einem einzigen auBenstehenden, fremden
Befehl gehorchen kann. Seine Gedanken stocken; seine
Sinne fassen Dinge und Tone in einer beruhigenden, an-
genehmen und verantwortungslosen Verschwommenheit
auf. Wolkenlos bku ist der Himmel, langsam rieselt die
laue, abendliche Dammerung iiber die StraBe. So wohlig
ist diese samtweiche, milde, warme Luft. Er geht durch die
Andrissy-StraBe. Menschen, sommerliche, abendliche
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Menschen im heiteren, ausruhenden Wogen des miiSigen
Promcnicrens; Frauen und Madchcn gehen spazieren.
Schone Madchen, schone Menschen. Er fiihlt, wie leise
etwas in ihm versinkt, — Harte, Entschlossenheit, Kampfe,
Erfolge . . . Durstige, neugierige Jiinglingsaugen staunen
unter seiner Stirn in die Welt, hungrige Augen, die ailes
verschlingen wollen. Die StraBe wogt, Stimmen schlagen
zu ibm hin, Lachen, Wortfetzen, aus einem Fcnster
Radiomusik; Strahlen trefTen ihn aus Frauenaugen, lange,
herausfordernde Blicke und zufallige, vorbcihuschende
Blicke. Jemand beriihrt ihn, jemanden hat er angestoBen
in diesem nicht aufzuhaltenden, leisen Stromen. Am
Himmel zieht ein dicker Pinsel dunlde und dunklere
Streifen. Hie und da beeilt sich eine eifrige Lampe iiber dem
Schaufenster, den Abend zu bcschleunigen. Einige Minuten
steht er vor dem Cafe am Oktogon. Kaffeegeruch, Brot-
geruch; an der Ecke leiert eine monotone Stimme die Titel
der Abendblatter. Autos hupen, StraBcnbahnen klingcln,
aus dem Motor eines vorbeisausenden Autobus weint die zu-
nehmende Drehungszahl. Und auf einen Schlag flammen die
roten, blauen, lila und griinen Lichtreklamen auf, und frohe
AbendgruBcjuchzt der gclblaufendeelektrische Streifen. Nun
lachcn auch die ganze StraBe entlang die gclben Bogen-
lampen in der Luft. Langsam bicgt er auf den Ring ein, —
langsamc, langsame Schrittc; Menschen, Mcnschenrcihen,
Menschenketten, — ein teurcr, schoncr, vcrbergcndcr
Menschcnwald, — wciBe flute, kleinc bunte Kappcn, leichte
farbige Kleidcr, Beine in WeiB und in Fleischfarbc, lange,
schlanke junge Bcine und frischc, hartc, kcckc klcine
Briiste in der liignerischen Vcrhiillung oder der offcncn
Darbictung burner loser Fctzcn oder anlicgender Seidcn,
Mannergcsichter, Knabengcsichter mit suchenden, be-
kannten, sich erinnerndcn, entdcckendcn Blicken, — wicdcr
steht er an einer Ecke vor eincm Cafe*, und wicdcr ist der
Kaffee- und Brotgcruch da, — Mcnschcn, altc Manner und
Frauen an den Tischen in bun tern, larmcndcm Durch-
430
einander und auf der StraBe in zufalligem, zdgerndem,
miiBigem Stehenbleiben und Wciterschlendern, und wieder
iiberlaBt er sich dem Menschenstrom, weit weg, von sich
selbst entfernt, — etwas sinkt, Hauser, Turme, Schiffe,
Gewasser, Arbeiten, Metropolen, Eisenbahnen sinken, und
Pfunds, viele, vicle Pfunds, und es sinkt das in ewigem
Sonnenschein posaunende, tiefe, blaue Himmelsgewolbe, —
und in diesem unaufhaltsamen, groBen Untertauchen steigt
langsam er selbst in die magische Budapester Nacht auf,
weiB und klar wie eine Triumphstatue, nackt; Weinen und
Lachen, Nicderlagen und Erfolge von funfzehn Jahren,
das Leben, der Schlaf und der Tod von funfzehn Jahren
wogen unter seinen FiiBen, und aus seinem Kopf leuchten
wie zwei Reflektoren zwei riesige, brennende Augen. Er
geht iiber die StraBe; iiber ihm die Sicherheit des ewigen
Himmels, unter ihm der Zufall des verganglichen Augen-
blicks, hinter ihm die vergessene, iibersatte, verratene
Erfiillung, vor ihm ein schmendich angenehmes, fremdartig
groBes Heimweh, — er geht liber die StraBe im klingenden
Wirbel von Menschcn und Dingen, im Hcxentanz von
Farben und Tonen, Erinnerungen huschen auf Fledermaus-
fliigeln durch sein Inneres, Ahnungen trommeln in seinem
Blute Alarm. Und dann kommen Musikklange, ein messing-
klirrender Marsch und die pathetische Phrase einer klas-
sischen Symphonic, plarrendc Zigeunerlieder und polka-
hafte, \vieherndc Schrammclmusik, mit iiberwaltigenden
Akkorden heult ein Orchestrion in den Abend, ein Klavier-
kastcn stottert einen alten Schlager, und zu seinen FiiBen
kratzt eine diinne Bettlergeige, — und menschliche Stim-
men, Gcsang, Pfiffe, Lachen, Schreie, Rufe, gedehnte,
lange Pfcifentone, und alles das wird von der ubermensch-
lich verzerrten Stimme eines riesigen Lautsprechers xiber-
deckt, die unverstandliche Worte dunkel in den Abend
tutet, — er wird angerempelt, ,,pardon", er wird gestoBen,
,,na, konnen Sic denn nicht aufpassen?!" cr wird getriebcn,
,,hierhcr, mcine Hcrrschaften, bittc, hierherl" cr wird
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gerufen, ,,schoner Doktor mit dem Strohhut, mochtest du
nicht mit mir kommen?" er wird geschickt, ,,was gafFen
Sic denn, knger Maulaffe, haben Sic noch nic gesehen — "
auf allem liegt ein wohliges LScheln, Rufe, Schimpfworte,
Bitten, Drohungen, alles lachelt, lachelt, — und die
Dunkclhcit wird schwarzer, die Tone verklingen hinter der
Biegung der fmstern StraBen; Gaslampen zwinkern auf
£ngsdiche und entschlossenc Doppelschatten auf den
Banken; Autos huschen durch die Finsternis; Pfiffe;
Polizisten zu Rad paanveise auf dem StraBendamm ; Stille,
Abendduft, Staubgeruch, Blumenduft, Rasengeruch; —
alles lachelt, lachelt, — die breite Promenade, saubere,
elegante Menschcn auf den Stiihlen; Hunderte von Gliih-
lampcn strahlen in einem uberfiillten Garten; Autos,
beleuchtet, aus der Feme Musikkliinge — und eine schmale
Nebengassc; dunlde, groBe, vornehm geschlossene und
ruhige Villen hintcr vergitterten, ticfen Garten, —
Stille ... und dann aus der Feme ein vcrschwommener
Ton, — er bleibt stehen. Er stcht und lauscht dem Ton,
dann geht er wieder welter auf den Ton zu ; jetzt ist er schon
deutlicher . . . der Ton eines Klaviers. Er bleibt stehen und
lauscht. Wieder macht cr ein paar Schrittc, — klarc, scharfe
Klaviertone perlen auf ihn zu, — cr geht hiniiber auf die
andere Seite, fast rennt cr, — der Ton kommt von driiben,
dann bleibt er vor einem Gittcr stehen, — aus dicser Villa
dringt der Ton . . . erstarrt steht er da: Klavierklangc, das
meistcrhafte Spiel ciner virtuoscn Hand schallt aus dem
offeaen erleuchteten Fcnstcr def hinten im Garten, aus der
riesiggroBen Villa die Chopin- Sonatc, in der
klaren Pcrlenkettc der Tone, im hciBen Strahlcnbrcchcn der
Laufe, in kristallcnen Akkorden, in unfaBbarcr, Iet2tcr
Polyphonic, in der un verging! ichcn Melodic . . . aus jcncm
Stein way-Fliigcl seine Hand driickt die Klinke nicdcr,
das kiihlc Eisen gibt nicht nach, — zwei Schrittc, nun stcht
er dem Fcnstcr gcgcniiber, mit einem Sprung stcht cr auf
dem Stcinsims und klammcrt sich an die Stangcn dcs
432
Gitters, und durch das Laub bricht sein gliihender Blick ins
Zimmer ein im erleuchteten Zimmer vor dem riesigen
Fliigel die schmale Schulter, die groBe rote Haarkrone, die
strahlend weiBen Hande oh, nein. Im erleuchteten
Zimmer steht neben dem Fenster ein merkwiirdiges
Pianino, sein mittlerer Teil ist mit Glas gedeckt . . . Davor
sitzt ein kahlkopfiger, rundlicher Herr im Hausrock, seine
Hande fiihren an zwei Griffen an den Seiten eigenartige,
steife Bewegungen aus, er neigt sich, gleichmaBig und
rhythmisch neigt er sich, die FiiBe treten das Pedal, die
Pedale des Pianinos, — kein Steinway: ein Pianola, —
anstatt dcr einmaligen Klange der vollkommenen Hand die
verewigte Musik der vollendeten Maschine, Pianola, — und
dem Pianola gegeniiber sitzt in einem Rollstuhl, mit bleichem
Gesicht, geschlossenen Augen, zuriickgelehntem Kopf und
zugedeckten Beinen, ein zehn- oder zwolf jahriger kleiner
Junge
Der Traum, der verschwommene, verworrene, wir-
belnde, rauschhafte Traum schreckte hier zum Wachsein
auf; der Zauber, der ihn aus sich selbst herausgehoben
hatte, miindete hier in Wirklichkeit ; die Stimmung, die ihn
getrieben hatte, wurde hier bewuBt. Sich ans Gitter
klammernd, stand er minutenlang auf dem Steinrand in der
leeren StraBe, so starrte er in das helle Fenster. Dann sagte
er leise vor sich hin: ich liebe sie, — vorsichtig lieB er sich
auf die Erde gleiten, blieb noch einen Augenblick stehen
und ging dann. In tiefroter, nammender Krone flattern
die Tone ihm nach. Eine kurze Quergasse fvihrt ihn direkt
auf die breite StraBe; an der Ecke ein Taxenstand. In den
ersten Wagcn setzt er sich, lehnt sich auf dem Sitz tief nach
hinten. Der Wagen fahrt ab, sofort hiillt ein kuhles Liift-
chcn seinen Kopf, scinen Korpcr ein. Ich war berauscht,
das Ganze ist cine kindische, unernsthafte . . . — er sucht
in seinem Kopf nach einem cntwertenden, verurteilenden
Wort, — oder aber . . . cs fehlt mir etwas Jetzt fallt
ihm ein Wort cin, und plotzlich iiberlauft es ihn kalt:
28 KBrmendl. Budapett 433
vergiftet bin ich. Und da weifi er genau und gibt sich kalt
Rcchenschaft, daB cr vergiftet ist, jawohl, vergiftet, das
Gift hat ihn schon tief, unrettbar durchdrungen, und dieses
Gift — ncin, es ist ganz gleichgiiltig, wie man die Fiole oder
die Kapsel oder den Sirup nennt, in dem das Gift steckt, —
Romantik, Sentimentalitat, Erinnerung an die Jugendzeit,
Sehnsucht nach etwas andcrm, Zwangsvorstellungen,
Neurasthenic oder einfach einen angenehmen Abend-
spaziergang durch die Anlagen, — ganz gleichgiiltig, das
ist nur Packung, Hulle, Etikett ... — dieses Gift heiBt
Joly. Joly? das Prinzip? das Symbol? die Erinnerung? —
oh, nichts, nein, — einfach: Joly, die Frau. Die lebende, die
richtige Joly Kelemen. Mit den roten Schnecken auf den
Ohren, der schneeweiBen, gcspensterhaften Haut, den
griinlich-blau strahlenden Augen, dem nicht sehr sch6ncn
Mund, dem ausgesprochen etwas gewohnlichen Zug im
Gesicht, mit dem schmalen Korper, den schlanken Bcinen,
den Sandalen an den FiiBen, mit ihrem mageren, klein-
biirgerlichen, gelangweilten Budapester Madchenleben, die
Joly vom Ring, die den Kadar von der Pozsonyer StraBe
einst vieUeicht nicht mchr angegangen ware, als daB er sich
still, scheu, cin wenig feindselig von ihr zuriickgczogen
h£tte, und um die jetzt der Gidar aus Port Elizabeth in
plotzlich erkanntcr, schmerzlicher, an der Schwelle korper-
licher Qual stolpcrnder, unertraglichcr . . . verstehst du,
Joly? in unertraglichcr Sehnsucht brennt. Das war gcnau
so jetzt, wic es eincn Augcnblick gegcbcn hattc, da cr
wuBtc: ich bin vcrwundct, cinen Augenblick, da er wuBte:
jetzt bin ich Waise. Schrecklich . . . viclleicht unertraglich,
aber wenigstcns bcstimmt; cin Augcnblick, da die Un-
gewiBhcit aufh6rt. GroBcr Gott das ist ja entsetzlich.
Ich bin vcrlicbt in sic cntsctzlich. Und nun fiihltc cr
die Sache auf einmal umgekehrt. Ich rede da wic jcmand, der
stundenlang durchs Fcnster in den Regen starrt und dann
plotzlich sagt, sich mal einer an, es rcgnct, — mit dem cr-
schrcckteo Verdutztsein, das vicl cher der Tatsachc gilt,
daB wir es jetzt erst bcmerken, — nein, das ist auch nicht
wahr. Ich bin verliebt in sie, entsetzlich : das war auf-
richtig, das war ein Sichwehren gegen die Tatsache iiber-
haupt; ein Sichwehren dagegen, daB ich, der reichc,
unabhangige, der ernste, ausgewachsene, ausgeglichene . . .
ich, lias Mann, in dieses kleine rote Budapester oh,
das war schlimm, bitter, fast erniedrigend. Aber die Sache
steht ganz einfach so: ich liebe Joly, — und das war unend-
lich, leicht lachelnmachend, herzerwarmend gut. Jetzt dachte
er an Joly und dachte an Ila. Ila hatte ihn nie gefragt, nie
ein Wort dariiber verloren, was . . . friiher gewesen sei.
Ihr Zusammensein, ihre Zusammengehorigkeit begann bei
der Gegenwart und endete bei der Gegenwart; die Tage
alterten gemeinsam mit ihnen der Zukunft entgegen, und
was gewesen war? ... Ik hatte ihn aufgenommen, zu sich
emporgehoben, und nur das war wichtig, was ist, — was
war, das interessierte sie nicht oder das wollte sie nicht
wissen. Was war denn? was bei jedem gewesen ist, bei jedem
jungcn Mann, — Liebschaften, Frauen, bessere und
schlcchtere, um nichts interessanter als Kassa und Myers . . .
und genau so waren sie vergangen. Was ist? ... fast fiinf
Jahre ist sie alter als ich — Ila stand ihm zur Seite, war fur
ihn da, lebte fur ihn und wollte nichts anderes, als daB
auch cr zu ihr gehore, wollte nur wissen, daB er fiir sie da
sei. Als er das erstemal bei ihr eindrang, damals nachts auf
der Falconia in die Kabine: da hatte sie ihn erwartet. Zu
Hause, in Port Elizabeth, war sie wahrend der ersten Zeit
seine Geliebte, kiimmerte sich nicht darum, daB alle Welt
es wuBte. Heiraten wollte er sie nicht, erst spater, als er
gleichrangig, Ingenieur, sein eigener Herr war. Gut, —
Ik wartete. Das war alles. Manchmal, wenn er sich von
ihr entfernte, hatte er das Gefuhl, sie erwarte ihn auch jetzt.
Und nun . . . nun werde ich sie wicdcr bctriigen, fuhlte er
mit Icichter Kalte in der Brust, wiedcr werde ich ihr untreu
sein, ich bin ihr schon untreu gewesen, und wieder betriige
ich sie, — so wie im Anfang des zwcitcn Jahres, als sie
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noch nicht einmal vcrheiratct waren, in Johannesburg mit
der Tochter von Rektor Bloomhardt; wie mit der schwe-
dischen T&nzerin, zu der er ein halbes Jahr lang jeden
Monat fur ein paar Tage nach Transvaal fuhr; wie mit
Isabel, die vor zwei Jahren ein paar Monate seine Sekretarin
war und die Growham dann hciratete; wie jetzt im Winter
mit Lady Astfield, die ihm in einem hysterischen Anfall in
die Arme sank und von der er sich beim dritten Stelldichein
mitten in einem hysterischen Anfall verabschiedete, bci dem
sie ihm mit dem Revolver drohte ... — o Gott, nie konnte
ich widerstehen, wenn ich cine Frau begehrte . . . konnte
nicht verzichten, mich abwenden, konnte nicht treu
bleiben, immer habe ich die Frauen verfolgt, die ich haben
wollte, habe sie gepcinigt und gequalt, bis sie sich ergaben
wie Isabel, — und jetzt . . . jetzt wcrdc ich auch nach ihr
greifen, ich liebe sie, sie erreichen und packen und wieder
Ila betriigen, wieder Ila verraten Er schrcckt zu-
sammen, steht vom Stuhl auf, auf dem er scit langen
Minutcn im finstern Zimmer sitzt; er dreht das Licht an.
Nuchternes, klar weiBes Licht ergieBt sich, reine, reini;>ende
Helligkeit. Er vcrspiirt schrecklichen Hunger: seit Nach-
mittag hatte er nichts gegessen. Plotzlich ist das Hunger-
gefuhl unertraglich, sofort geht er hinunter in den Speise-
saal und ifit zu Abend. Es ist Mitternacht, — im Korpcr
fuhlt er die Miidigkeit dcs langen Spaziergangs, ist abcr
nicht schlafrig.
Er spaziert hinaus ans Donauufer und setzt sich dort
auf einen Stuhl. Die Luft ist schwul. Er steht auf,
promeniert weiter, am Ende des Korsos gcht cr an den
Kai hinunter. An der nahen SchirTsbriicke stehen Bankc
vor dem Wartesaal; er setzt sich. Plotzlich fiihlt cr den
Geruch des Wasscrs, seinen rcinen, erfrischcnden, luftigen
Hauch. Nicht so gcfahrlich, sagt er auf einmal laut und
blickt sich um; nicmand ist in der Nine. Die Sache ist nicht
so gefahrlich, wiederholt er vor sich hin und fiihlt cine
grofle Bcruhigung, iiberhaupt . . . es ist ja allcs in Ordnung.
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Ein leichtes, hiibschcs kleines Budapestcr Ding. Zwanzig
Jahre alt. Ich muB mich nur nicht in die Sache verrcnncn.
Alles 1st in Ordnung. Ich werde mich nicht verrcnnen.
Es war, als sei Ila wahrend dieser Tage iiberhaupt nicht
in Budapest. Fast ihren ganzen Tag verbrachte sie bei
Frau Simmons im Sanatorium, und von Abreisen wollte sic
vorliiufig nichts horen. Edith Simmons war die Freundin
von Frau Alexis, Ik hatte sie in London kennengelernt.
Es 1st zwar natiirlich, daB in der Fremde auch die fliichtigste
Bekanntschaft Icicht zu unentbehrlicher Freundschaft wird,
dcnnoch hatte Kadar das Gefiihl, als stecke hinter lias
Anhanglichkeit an Frau Simmons irgendeine Schutz-
bedurftigkeit, eine Hilflosigkeit. Unten in Afrika hatte
Ila ebensowenig cine Freundin wie er einen Freund, in dem
Sinne des Wortes, der iiber Interessengcmeinschaft, Ge-
schaftsbcziehung, Sportkameradschaft, geselligen Verkehr
und das Icichte, anspruchslose, obcrflachliche Anfreunden
der zu ihrem Krcise Gehorenden hinausfuhrte. Seit Jahren
lebcn wir ncben ihnen und unter ihnen; und hier leisten
wenige Wochen die Zusammenschmelzarbeit von Jahren,
hicr in der Fremde, Fremden gegeniiber. Und es schien ihm,
als suche Ila Schutz in dieser andern fremden Frau, —
Schutz ? gegcn die fremde Umgebung ? gegen die unbekannte
Stadt? — ja, er glaubte Ila zu verstehen: er selbst hatte
jahrclang in Budapest gelebt, bei ihm meldeten sich
unerwartet altc Bekannte, fruhere Schulkameraden luden
ihn ein, jcdcs Haus, jede StraBe konnte vielleicht fur ihn
etwas bcdeutcn, was ein anderer nicht wuBte, wenn man
ihn nicht darauf aufmerksam machte, was ein anderer nicht
verstand, wenn man es ihm nicht erklarte . . . und Ila war
noch nie in Budapest gewesen. Ila verbrachte also seit
Simmons Riickkehr aus Belgrad den groBten Teil ihres
Tages bei Edith und blieb erst dann manchmal vormittags
mit ihm zusammen, als Ediths Zustand sich langsam zu
437
bessern bcgann. An diesen Vormittagen warcn sie meistens
im Wcllenbad, aBen dort zu Mittag, und von dort aus ging
Ila ins Sanatorium. Hie und da bcglcitcte cr sic auf cinen
kurzen Bcsuch bei Edith odcr holte sic am Abend ab. An
scinen freien Nachmittagcn lag cr im vcrdunkelten, kiihlen
Zimmcx und dachtc an Joly, oder, — an wcnigcr hciBcn
Tagcn stromertc er in der Stadt umher und suchtc Joly, —
und manchmal traf er sic auch. — Ticf durchfuhr ihn oft
cin unangcnehmes, kaltes Gefiihl, wenn ihm einfiel, daB
er lange Viertelsrunden an Joly dachte, daB er halbc
Nachmittagc spazierte, mit weitgeofThcten Augen die
StraBe nach Joly durchforschend. Im drciunddreiBigsten
Jahr bin ich . . . dachte cr mit dieser kalten Angst, ich bin
doch kcin funfzehnjahriger Bengel, — abcr in vcrcinzcltcn
aufrichtigen Momenten konntc cr cs vor sich sclbst nicht
leugnen, daB dicsc Gcdankcn an Joly, diesc Jagden nach
Joly fast so schon und aufregend warcn, fast so scin ganzes
Wcsen erfullten, als ware er in Wirklichkeit mit ihr zu-
sammen. Ich bercitc mich darauf vor . . . dieses selfsame
Wort fid ihm einmal cin, und bei dcm Gcdankcn blicb cr
stehen. Ich bcrcite mich darauf vor? habe ich dcnn soviet
Zeit? — ich habe sovicl Zcit, wic ich brauchc, wic ich
haben will 1 ich bcrcite mich vor . . . ich verrennc mich in die
Sache, bcwuBt vcrrenne ich mich, und dabci diirftc ich
nicht Das warcn hartc kleinc Kampfc an einsamen
Nachmittagcn, in schlafvcrschcuchcndcn Nachtcn. Und
das Schlimme war, daB cr allmahlich unsichcr wurdc. Er
wuBte nicht mchr bcstirnmt, was die Wahrhcit war und
wann cr log. Das abcndlichc nacktc Au f Icuchtcn dcr \Vahr-
heit kampfte gcgcn die Sclbsttauschung. Lachcrlich, sagtc
er sich, sic gcht mich doch nichts an. Klcincs nichtigcs
Madcl. Aber wenn cr sich das sagtc, dann hatte schon scit
Vicrtelstundcn das flammendc Rot ihrcr Haarkronc ihm
vor den Augcn gcspukt, hatte schon scit Vicrtelstundcn dcr
kiihlc, saubcrc Scifcngcruch ihm in dcr Nasc gcstcckt, hatte
schon seit Vicrtclstundcn die Qiopin-Sonatc ihm in den
438
Ohren geklungen. Ich verrenne mich nicht in die Sachel
redete er sich sclbst zu, und dann hortc cr sofort hintcrher
Jolys Stimme, wic sie sich vorgestcrn verabschiedet und
auf seine Frage: ,,wann sehe ich Sie wieder?" gesagt
hatte: ,,wann Sie woilen, ich habe noch gar nichts vor",
mit dem stillen, unschuldigen Tonfall, der seinem offenen
Sich-Anbieten gegeniiber nur vollkommen unbewuBt sein
konnte, oder aber eindeutig bewuBt; er konnte nur ent-
wcder unschuldig sein oder nur durcli und durch verdorben.
Harte kleine Kampfe waren das, mit scharfen Argumenten
und Widerspruchen, mit der absolut gegensatzlichen
Beleuchtung der Tatsachen; und vielleicht war dies das
Schwerstc in dem Ichliebesie-ichliebesienicht-Spiel, daB er
dariiber verwirrt wurde; er lieB sich von Augenblicks-
stimmungen tragen; und er, aus dessen Munde ein ein-
willigendes oder verweigerndcs Wort, von dessen Hand
cin einziger Federzug oder die Geste, die ein Papier zerreiBt,
schwcre Vermogen und vielleicht sogar Menschenleben
bedeuten konnten, er schwankte und war sich selbst gegen-
iiber unentschlossen. — Joly verbrachte einige Vormittage
mit ihnen zusammen im Wcllenbad, und manchmal traf er
sie nachmittags, zufallig, — aber das war so, daB er aus
ihrem Gesprach entnommen hatte, Dienstag um vier gehe
ich da und da hin, Samstag um funf habe ich dort und dort
zu tun, und dann ging er hin, um sie zu treffen, zufallig.
Einmal bemerkte er Has langen, forschenden Blick auf Jolys
Gesicht, — und da muBte er denken, Ila hat nichts davon
gewuBt, daB in dem halben Jahr, als wir das Lagerhaus
bautcn, in Transvaal iiberhaupt eine Schwedin namens Inge
lebte, — aber es ist ganz ausgeschlossen, daB ihr das jetzt
nicht auffalle das jetzt? was denn? was kann denn
hier iiberhaupt auffallen? was gibt es denn hier, wovon ich
nicht will, daB es ihr auffalle? I Das war selbstredend wieder
eine Luge, cine um so groBere und tiefere Luge, als er
spfcter Ila nichts mehr davon erwahntc, wenn er Joly getrof-
fen hatte. — Joly fragte jcdes Mai: was macht Ila, wic gehts
439
Ila? — bedauerte, daB sic durch diese unangcnehmc Sache
im Sanatorium so sehr in Anspruch gcnommcn sei, — aber
sic schicn cs doch natiirlich zu finden, daB sic sich mehrmals
so zufallig trafen und oftcr zu zweit zusammen warcn als
zu dritt odcr zu vicrt, und — auch das fiel ihm auf, — nie-
mals rcklamierte sie Ila gerade dann und gcrade hicr, fragtc
nie, warum sie jetzt nicht bci ihm sci. Ihre Gesprache auf
dicscn Spaziergangen von cincr odcr anderthalb Stunden?
Gcwohnlich crzahlte Joly; cr sclbst sprach selten, ant-
wortete nur auf Fragen. Er lauschtc Jolys Stimmc, blieb
cincn halben Schritt hinter ihr zuriick und bcobachtctc ihr
Gesicht, ihre Figur, ihren Gang, — ich bereite mich vor,
regtc sich dcr Gedankc in ihm, und manchmal bcriihrtc cr
Jolys Arm. Joly piapperte von ihren geringfugigcn All-
tagen. Das war ein standiges Thcma, das wic einc fixe Idee
immer wiederkchrte. Es tut so wohl, im Gellert die schonen,
cleganten Menschcn zu sehen . . . ,,glauben Sie, die sind tat-
sachlich alle so reich, wic sie aussehcn? wic die vornehmc,
luxuriosc Umgebung den Anschein hat?'4 Gestern abend
war sie im See-Kino mit den Jungens und Madcls, cin
bidder Film lief, einc suBiiche Angelegcnheit, bioB ein ein-
zigcs hiibsches Lied war drin, cin Slow-Fox, schade, daB cr
ihr nicht einfallt, aber dann war cin Film von Paris, der war
himmlisch. Mama hat Schmerzcn im Knie und im Hand-
gclcnk, sic gcht schon scit Tagcn ins Lukacsbad, gcwohnlich
bcglcitct sic sie hin, cs ware am bcstcn, fur cincn Monat dort-
hin zu ziehcn. Bandi . . . Bandi macht ihncn crnstc Sorgcn,
cs sicht so aus, als wollc er seine Stcllung aufgcbcn, furs
crstc hat cr sich cklig mit scincm Chef gczankt und auf
Grund cincs arztlichen Attcstcs um Krankcnurlaub gcbctcn.
Und cr sollc sich vorstcllcn, mit cincr Rciscgescllschaft
ware sic bcinahc nach dcr Stcicrmark gcgangcn, in cin
kleines Nest auf Sommcrfrischc, zu bcsondcrs giinstigcn
Preiscn, fast umsonst, aber dann hat sich hcrausgestellt,
daB don Lungcnkrankc sind, und da rum hat die Familic
cs nicht zugcgcbcn, was zwar nicht schr vicl sagcn will,
440
aber sic selbst hat auch nicht viel Lust gehabt, sich unter
den T.b.cs aufzuhalten. Na, cgal. ,,Ich komme dies Jahr
anschcincnd wirklich nirgends hin. Das neue Kleid . . . also
nicht ganz neu, sondern das ist so, noch voriges Jahr im
Sommcr habe ich von Bandi sehr schones Material zu einem
Kleid bekommen, es hat mir schrecklich gefallen, und da
hab ichs gleich machen lassen, zu Hause natiirlich, von der
Hausschnciderin, sechs Pengo bekommt sie pro Tag, na,
und das Kleid hat dann auch dementsprechend ausgesehen,
fur sechs Pengo hat sies mir derart verpfuscht, daB ich fast
gcheult habe und das Kleid noch kein einziges Mai an-
hatte, — jetzt vor zwei Wochen ungefahr hab ichs dann
vorgekramt, und da sehe ich, es laBt sich schlieBlich doch
noch was draus machen, da hab ichs der Sch wester einer
Freundin gegeben, die einen kleinen Modesalon hat, bloB
fiir Bekannte arbeitet sie, — hin und her haben wirs gedreht
und gewendet, und jetzt wird ein ganz hiibsches einfaches
Kleidchen draus, siiB, Sie werden ja sehen, wie fesch ich
darin bin, das Muster ist ganz apart, hellblau und silbergrau.
Und dann ... ja, sagen Sie mal, wie ist das eigentlich da
unten bci Ihnen? Tatsachlich so wie in Europa? und gibt es
dort Negcr? wissen Sie, fiir Neger schwarme ich direkt, fiir
die Stcp-Tanzer und die Step-Platten und auch fiir die trau-
rigen rcligiosen Gesange! und wie sind die Menschen, die
dort leben? tragen sie weiBe Anziige und weiBe Helme? und
sind sic reich? und die Hauser? und wie ist die Stadt? so
zum Bcispicl wie Budapest und Wien? oder wie Abbazia?
und dann . . . waren dort unten nicht wegen des Krieges
ailerlci Geschichten so wie hier? Borse und Inflation und
Elcnd und so? und gibts Autos und Theater und Kinos?
wissen Sic, die Tonfilme sind doch was Wunderbares, viel
besscr als die bloden und langweiligen Theaterstiicke, nicht
wahr? die guten Filme meine ich natiirlich . . . und die
Negerinnen? sind die wirklich so schon im Leben? stimmt
das, daB sie die bcstc Figur haben? ich hab bloB einmal cine
in der Nahe gesehen, auf der StraBc, Josephine Baker, sie
441
stieg gerade aus dem Auto und ging ins Hotel, ich kann
Ihncn sagcn, mies fend ich sie, ihre Figur ist naturlich hcrr-
lich ..." — Er hort zu, tauscnd und tauscnd Schritte hort er
Jolys Geplapper zu, dicsen Worten, in dcncn die unbewuBte
Gereiztheit dem driickenden Kleinbiirgerlebcn, der voll-
gepfropften Dreizimmerwohnung, den billigen, gclang-
weilten Amusements gegenuber brodelt; in denen die halb
unbewuBte Sehnsucht nach dem Schoneren, Bessercn , Wcrt-
volleren weint. Und wenn sie von sich sclbst spricht: hinter
der grausamen, kaltcn Auf rich tig keit, hinter der schon
nahezu masochistischen Selbstgeringschatzung spannt sich
drohend die Emporung. — Fremd, gleichsam sich selbst
enthoben, beobachtete er sie und sich in der sommerlichen
StraBe auf diescn durch Zufall begonnenen und mit einem
stillen, unausgesprochenen Cbereinkommen zur Regel
gewordenen Spazicrgingen.. Was will ich von ihr? dachte
er, und dann fiel ihm sofort Ila cin. Was intercssicrt mich
ihre Mutter mit den Schmerzen im Knic und ihre Schwestcr,
die schon wieder in Umstanden ist? und er muBte an Ila und
Edith denken und an die Mcnschen in Port Elizabeth. Was
geht mich das an, wic schrccklich es ist, wcnn allabendlich
in alien drei Zimmern Bctten gemacht wcrden? und vor
seinen Augen erscheint die Port Elizabether Villa mit ihrer
machtigen Terrasse nach dem Mcer. Was gehen mich ihre
kleinen Sorgen an, ihre kleincn Note und ihre zahlreichen,
zwangsmaBigcn Verzichte? und cr sah die scchs gewaltigcn
glasgedeckten Hiiro raume vor sich, hortc das cmsige Klap-
pern der Schreibmaschinen, und sein Arm riihrte an die
Brusttasche, in der selbstbcwuBt das dicke Schcckbuch dcr
National Bank of S.A.S.U. ruhte. Und dann fuhr er sich
selbst im Auf blitzen dcr Wahrheit mit brutaler Aufrichtig-
keit grob an: was liigst du da?! was spielst du Komodie?!
du begehrst sicl du willst sic habenl was verstellst du dich?I
was leugnest du?l — abcr glcich war auch cine andcre
Stimmc da, und dicsc Stimme durchfuhr ihn noch defer:
wozu wartest du dann?l warum schicbst du es auf?! pack
442
sie doch Einmal iibcrfielen ihn diese beidea Stimmen
des Nachts; zitternd vor Nervositat walzte er sich im Bett;
hinter Buch, Zeitung, Balkon, Zigarette, Kognak, kalten
Umschlag auf die Stirn versuchte er sich vor ihnen zu
fluchtcn, es gclang nicht. Er muBte streiten, sich vertei-
digen, auch anklagen und schlieBlich gestehen. GroBer
Gott . . . ich bin vergiftet, verliebt bin ich in sie, nicht so
wie in die A^otas und Inges und . . . und die iibrigen, vor
Ila und neben Ila, sondern so ... wirklich und ganz und . . .
rasend, so wie in Tilly? oder glaube ich das bloB, weil sie
auch rote Haare hat? und ist nicht das Ganze nur Hirn-
gcspinst und Selbsttauschung ? Brauche ich denn jemanden
auBer Ila?! Hier stockte er. Verwirrt fragte die eine Stimme:
brauchen? brauchen? brauchen? — und die andere ant-
wortete rasch: nicht darum handelt es sich, ob du sie
brauchst oder nicht brauchst, das hangt nicht von dir ab,
das laBt sich nicht so bestimmen wie zum Beispiel, ob man
einen neuen Anzug braucht oder nicht! Ich laufe ihr nach,
um sie zu sehen, und dann bleibe ich stehen, ich habe sie
geschen, es war angenehm, danke . . . oder wage ich nicht
weiterzugehen? oder kann ich nicht weitergehen?! Undeut-
lich fuhlte er den Widcrstand, der seinen Weg kreuzte und
vor dem man Hals iiber Kopf davonlaufen oder den man
mit eincm Schwung brechen muBte, — aber zogernd davor
stchenblciben, das geht nicht. Du licber Himmel . . . ich bin
verliebt in sic und rot und tief wie ein ertapptes Kind
schamte er sich. Primanerangelegenheit . . . dreiunddreiBig
)ahre werde ich ... — Und dann in stillen, friedlichen,
kiihlen Minuten wiihlten plotzlich die neuen, die Budapester
Klaviertone in ihm, wogte in seinem Innern der abendliche
Spazicrgang, — dann wuBte er, daB das ganze Ringen ver-
gebens war: er wird nicht umkehren, er kann nicht um-
kehrcn. Dabei gab es eine Woche, da es moglich gewesen
ware, da er cs hatte tun miissen, da es vielleicht . . . auch
Icichtcr gewesen ware das war Ende Juli.
Bines Abends gingen sie zu vieren essen, in das kleine
443
Budapester Restaurant, das in Mode war, sic beide und Joly
und ihr Bruder. Das Zusammensein verlief schablonen-
haft; im lauen Bach nctter, indifferenter Worte floB dcr
Abend dahin, Kelemen war wie immer iibertrieben auf-
merksam, Ila zeigte cin wenig abwesendes Interesse, — wah-
rend des Essens erwahnte Joly einmal, da8 sie morgen nach-
mittag in einem bestimmten Geschaft in der innern Stadt zu
tun habe, und das sollte heiBen, daB sie sich in der Nahe
dieses Geschaftes mit ihm treffen mochtc. Das war damals
bereits cine eingefuhrte Geheimsprache. — Am nachsten
Morgen ging er mit Ila Tennis spielen, dann waren sie
mittags im Strandbad, nach Tisch fuhr er Ila ins Sanatorium
und raste zuriick in die Stadt. Joly erwartete ihn vor dem
Geschaft. Langsam gingen sie durch cine stille Gasse.
,,Schon gestern wollte ich es sagcn, habs dann aber doch
nicht gesagt", wirft Joly hin; — ,,nun? was wolltcn Sic dcnn
sagen?" — ,,Ich verreise am Samstag." Er blcibt stehcn.
,,Abcr nein. Wohin denn? mit wem? fur wie lange?" —
,,Ach, bloB fiir cine Woche. Und eigentlich wollte ich gar
nicht, aber die Kinder habcn mich so langc gcqualt, daB ich
wirklich schon nicht mehr . . ." — ,, Wohin?" fragt cr noch
einmal mit dumpfer Stimme. ,,Eine zicmlich drolligc Sachc",
fahrt Joly fort, ,,wissen Sie, das ist so, wir fahren zu acht
mit dem Donaudampfer nach Wicn, auch unscre bciden
Boote nehmen wir mit, und dann kommen wir von Wien
die Donau hinunter zuriick, naturlich schleppen wir cine
ganze Weekend -Ausriistung mit, auch Zcltc, wcnn wir
schoncs Wetter habcn, wird das fein, schr anstrcnt^cn
werden wir uns nicht, hauptsachlich wolicn wir uns trciben
lassen." — »So", sagt er nach einem Wcilchen, ,,xu
acht?" — ,,Ja, zu acht." Kleine Pause. ,,Viermal zwci? . . ."
Joly dreht langsam den Kopf zur Scitc, sicht ihn an, —
klcine Pause, — dann sagt sie mit cin wcnig hartcr Kaltc in
der Stimme: ,,ja, viermal zwci, warum nicht? finden Sic
etwas dabci?" — ,,o nein, gar nichts." Viermal zwci.
Und hauptsichlich trciben lassen wolicn sic sich, schr
444
schon. — Kleine Pause. ,,Ja", fangt Joly wieder an, ,,ich
hoffe, es wird fein . . . wenigstens das biBchen Sommer-
frische kriege ich auf die Weise. Glauben Sie, ich freue
mich nicht, wenigstens fur cine Woche rauszukommen aus
diesem ganzen -- na, aus dem Ganzen hier? Himmlisch
wird es sein." — ,,Und wer geht mit?" fragt er. ,,Sie kennen
sie nicht", antwortet sie, ,,wozu soil ich Ihnen die Namen
aufzahlen? Lenke Varga und Elly Stein und Gyuri Breuer
und Pista Szabados ..." — ,,Und Doktor Huszar nicht?" —
,,Doch, natiirlich, der auch." Jetzt gehen sie schweigend
nebeneinander her, lange dauert diese Stille. Sie sind am
Ende der StraBe, ein paar Schritte weiter larmt schon der
Ring an der Brucke; sie machen kehrt. Viermal zwei und
natiirlich auch Doktor Huszar, denkt er. Er greift sich an
den Kragen, nervos, — ein unangenehmes, leise mahlendes
Gefiihl hat er in der Brust. Sie schweigen. Dann fangt Joly
wieder an zu reden. ,,Eine Woche . . . das ist ja so gut wie
nichts. Ja, und ich wollte vor allem fragen, ob Sie Sonntag
iiber acht Tage noch hier sind? dann kommen wir namlich
zuriick." — ,,Ich glaube ja, ich weiB nicht", sagt er zogernd.
,,Viellcicht reisen wir inzwischen ab, vielleicht bleiben wir
noch." So. Und nun steigt plotzlich mit sonderbarer, leiser,
tiefer Stimme cine unerwartete Frage aus Jolys Mund.
,,Sagen Sie . . . soil ich nicht mitgehen?" — Blitzendes Licht
rlackert in ihm, — jetzt -- jetzt bietet sie sich an! darauf
habe ich gewartet! jetzt — die Hand nach ihr ausstrecken,
sie packen und mit mir nehmen — und dann antwortet
er ein wenig linkisch, ein wenig unbeholfen, mit stocken-
dem Atem: ,, darauf ist es wirklich schwer -- das konnen
Sie nur selbst -- das miissen Sie selbst wissen, fuhlen,
Joly -- «
Mitte der Woche kam cine Postkarte aus Wien: die
Fotografie von vier jungen Madchen und vier jungen
Leuten, immer zwei und zwci nebeneinander, an das
445
Schiffsgelander gelehnt. Wir haben uns vom Schnellfoto-
grafen auf dem SchifT aufnehmen lassen, schricb Joly mit
ihrcr steilen, diinncn Handschrift, und vom Wetter schrieb
sie, das blendend war, und davon, daB sic morgen die
Donaufahrt stromab warts beginnen und daB sie hoffe, es
gehe ihnen gut und sie werde sie Anfang dcr nachsten
Woche noch in Budapest treffen. Er sieht skh die Karte an.
Vier frische, hiibsche Madels, vicr sportgestahlte junge
Burschen. Joly steht am Ende dcr Rcihe, lacht, guckt genau
in den Apparat. Neben ihr Doktor Huszar mit der Brille,
in einer Pose von Ungezwungenhcit, ein wenig nach Joly
zu gebeugt, er steckt sich gerade einc Zigarette an.
Unsympathischer Bengel . . . ist ja nicht wahr. Er ist ja gar
nicht unsympathisch. Hat cine intclligente, hohe Stirn, ein
gut geformtes Gcsicht, klug schimmernde Augen, daran
erinnert er sich noch von der Begegnung nculich. Pro-
portionierte, breitschuhrige Gestalt, — dcr modcrne
Sportsmanns-Typ. Arzt ist er. Neben Joly steht er, bcugt
sich nach ihr hin, — und wic wenig wichtig es ist, daB er
auch auf dem Bild zufailig neben ihr steht, das hebt er
dadurch hervor, daB er sich gerade cine Zigarette ansteckt,
als wollte er sagen, diese ganze Fotograficrcrei, dieses
In-der-Reihe-Stehen ist hochst unwichtig . . . dcr ist
bestimmt Jolys Freund. Ihr . . . Kamcradschaftsgatte. Das
wciB Kadar todsicher, wie er das Bild so bctrachtct, und
plotzlich ubcrkommt ihn cine fahle, driickende Traurigkcit.
Er gibt Ik die Karte mit den englischen Zeitungen und
eincm Brief aus London zusammen. Sclbstvcrstandlich. Fort-
wihrend sind sie zusammen, gchen ins Kino, fahrcn zum
Weekend, sind unzertrcnnlich . . . und kurz und hart lacht cr
auf. Ich bctrugc Ila, und Joly betriigt dicscn Doktor Otto
Huszar jawohl, sic bctriigt ihn. Mit mir betriigt sic
ihn. BloB ein Wort, — nculich, als sie fragtc, mit dcr
sonderbaren, tiefcn Stimme, die ich noch nic gchort hattc:
sagen Sie . . . soil ich nicht mitgchcn? — das war schon
cine Untreuc, und als ich ihr dicscn zogcrndcn Quatsch
446
antwortcte . . . nein, beleidigt war sie da nicht. Angesehen
hatte sie ihn, von der Seite, nur einen kurzen Augenblick,
dann hatte sie ein Weilchen geschwiegen und schlieBlich
gesagt: das war so eine echte Antwort in Ihrem StiL —
Sie waren weitergegangen, das Gesprach floB langsam ins
alte Gcleise zuriick; auf dem Apponyi-Platz verabschiedeten
sie sich, Joly stieg in die Elektrische, er ging ins Hotel und
dann lla im Sanatorium abholen. Am nachsten oder am
dritten Tag rief Joly lla an, verabschiedete sich fur eine
Woche und sagte, ,,ich hoffe, wenn ich zuriickkomme — "
lla tritt aus ihrem Zimmer, in der einen Hand die Bade-
tasche, in der andern die Fotografie. ,,Naturlich sind wir
noch hicr", sagt sie, gleichsam die Karte beantwortend ;
dann reicht sie sie ihm hin: ,,bitte, leg sie weg, — wie
hiibsch sie auf dem Bild ist. Na, bist du ferdg, And? konnen
wir gehen?"
Er tat die Fotografie in seine Brieftasche und nahm sie
nicht mehr heraus. Doktor Huszar indessen verfolgte ihn
Nacht fur Nacht in seinen Gedanken, bis Joly wieder in
Budapest war. Wir miiBten abreisen, dachte er in diesen
Tagen, wir konnten abreisen . . . und schon und umstand-
lich legte er sich zurecht, wie und wohin sie abreisen konn-
ten. Aber wie sollen wir denn abreisen, wenn, sagen wir,
lla Ediths wegen nicht will. Ein Telegramm nach London,
von dort cine Drahtantwort, — ach, Unsinn, wir setzen uns
einfach in den Zug und fahren nach Sankt Moritz. Budapest
und Joly und Doktor Huszar und diese ganze wirre Albern-
heit einfach lassen In diesen Tagen fiihlte er, wie
lastig, langweilig, dumm und ekelhaft das war, was mit ihm
verging und im Zusammcnhang damit auch mit dem
zuruckgestautcn, sprungbereiten, zogernden Kelemen und
mit dem kcuchenden, schwitzenden Szende und dem
gewalttiitigen Marton mit der Nasalstimme — und mit
Vavrinec, den er in dieser Woche zum erstenmal traf.
Vavrinec ging den Donaukai entlang, dicht am Gitter, und
sah am Hotel hinauf, — er stand gerade am Fenster,
447
bemerkte die naherkommende Gestalt, das hinaufblickende
Gesicht und erkannte ihn sofort, — nach wenigen Minuten
kam Vavrinec von der andern Seitc zuriick und sah wiedcr
hinauf. Vavrinec, dachte cr und wurde rot, fiihltc die Glut
in den Wangen. Er ging rasch auf den Balkon hinaus und
sah ihm nach. Da war Vavrinec schon hinter den Strauchern
der Anlagc verschwunden. Vavrinec . . . dem ich das Ganze
2u verdanken habe. Einen Augenblick dachte er daran,
hinunterzugehen; in zwei Minuten kann ich unten sein,
unmoglich, daB ich ihn nicht einhole. Aber wenn er in ein
Haus gegangen ist? oder in die StraBenbahn gestiegen?
oder — vielleicht war es gar nicht Vavrinec? — Ila rief aus
dem Sanatorium an und bat ihn, heute fruher heriiber-
zukommen, Edith mochte gern cine Stunde Bridge spielen.
Mit der Nachmittagspost kam ein langerer Brief von Scott ;
in der Times war ein interessanter Artikel iiber die Lage
der englischen Bauindustrie. Kurz vor sechs verlieB er das
Hotel, und als er aus der Tiire trat, kam gegeniiber gerade
wieder Vavrinec. Natiirlich, hier ist er auf und ab spaziert,
hat auf mich gewartet, darauf gelauert, daB ich heraus-
komme . . . ,,Vavrinec", sagte er, und sie blieben einander
gegeniiber stehen. ,,Ich hab dich schon vorhin gesehen,
auf der andern Seite am Korso. Suchst du mich?" —
,,O, Servus, Kadar", antwortete Vavrinec, hob zogernd die
Hand und lieB sie dann wieder sinken, — weder sein Gesicht
noch seine Stimme haben sich verandert, — ,,nein, ich bin
ganz zufallig hier vorbeigegangen, seitdem ich nachmittags
keine Biirostunden habe, komme ich selten in die Stadt." —
,,So, so**, sagt Kddar langsam, ,,naturlich. Du wohnst in
Altbuda, in dem kleinen Haus mit dem Garten, das wohl
wieder euer Eigentum ist, seitdem die Kommunc vorbei
ist." — ,,Tatsachlich", Vavrinec reifit die Augen auf,
,,woher weiBt du das?" — ,,Woher?" antwortet er gedehnt,
,,erinnerst du dich nicht? das wundert mich aber. Du selbst
hast es mir gesagt, am vierundzwanzigsten Juni neunzehn-
hundertneunzehn nachmittags." Vavrinec' braunes Gesicht
448
wird um einen Schatten bleicher. ,,Wirklich . . . hast du
aber ein gutes Gedachtnis." — ,,O ja, das habe ich."
Kleine Pause. ,,l)brigens will ich gerade nach Buda, meine
Frau abholen, aber ein biBchen Zeit habe ich noch, komm
doch ein Stiickchen mit!" Und wie sie so nebeneinander
gehen, lafit er gleich seine Stimme auf ihn los: ,,Nun, also,
wie gehts dir, Vavrinec? wir haben uns ja so lange nicht
gesehen, erzahl was von dir, von den vergangenen Jahren.
Wie lebst du? was machst du?" Vavrinec blinzelt ihn arg-
wohnisch an. ,,Danke", sagt er, ,,es geht mir einigennaBen",
— er wirft dazwischen in freundlichem, lachendem Ton:
,,so wie den iibrigen armen Leuten, was?" Hinter dem
argwohnischen Blick blitzt ihn jetzt ein erstaunter Strahl
aus Vavrinec' Stimme an, als er antwortet. „ Jawohl . . . wie
den iibrigen armen Leuten." — ,,Aber erzahl doch, was ist
deine Tatigkeit?" Vavrinec fangt an zu sprechen, seine
Stimme wird lockerer, und der erstaunte Laut im Hinter-
grund geht nun in vertrauliches Klagen iiber. ,,Ich lebe
eben ..." Vavrinec ist Betriebsingenieur in einer groBen
Maschinenfabrik. Sein eigentliches Fach sind die Explo-
sionsmotore, in seiner jetzigen Stellung ist er jedoch Unter-
inspektor in der Kesselwerkstatt. Sein Gehalt? ,,Lieber
Freund, davon wollen wir lieber nicht reden, wenn ich
bedenke, daB ich nun schon ins vierunddreiBigste Lebens-
jahr stapfe . . ." Vavrinec wohnt bei den Eltern in Altbuda.
Inzwischen hatte er fast geheiratet, da sich indessen die
Ernennung zu dem in Aussicht gestellten Posten in der
staatlichen Fahrzeug-Reparatur-Anstalt verspatet hat, haben
sie die Hochzeit aufgeschoben und schlicfilich immer wieder
aufgeschoben, bis — ,,na, also, so stehts. Mit den Jungens
bin ich nur sehr selten zusammen. Manchmal gehe ich an
einem Donnerstag hin ins Cafe. Und sonst . . . nun, man
lebt cben so still dahin." — Er spricht, in seinem Gesicht
ist etwas Gespanntes, und wenn er zwischen zwei Satzen
einen Augenblick schweigt, so scheint darin etwas wie
Anlaufnehmen zu liegen, — aber dann spricht er doch nur
29 KOrmeudi, Budapest 449
welter von der Fabrik, von der elenden Schinderei in der
Werkstatt, von dem Leben mit wenig Geld, von dieser
ganzen verteufelten Plackerei auf der Welt, — wenn man
bloB irgendwie loskommen konnte, raus hier, und zwar,
solange man noch die Kraft dazu hat, noch nicht ganz zu-
sammengebrochen 1st Aber als sie wieder vor dem
Hotel angelangt sind, bleiben sie stehen, Kadar hat den
FuB schon auf dem Trittbrett, da sagt Vavrinec, vom
Trambulin kurzen Schweigens in das unbekannte Wasser
des schweren Wortes springend: ,,weiBt du, Kadar . . . ich
hatte dir gern noch etwas gesagt, woran ich inzwischen
sehr oft denken muBte, — ein MiBverstandnis, ein Schein,
damals, als — " O natiirlich weiB er, wovon Vavrinec jetzt
anfangen will. Und da unterbricht er ihn, mit ganz ruhiger
Stimme und Vavrinec in die Augen sehend, als lese er in
ihnen: ,,warte mal, Vavrinec. Von mir haben wir ja noch
gar nicht gesprochen, paB mal auf: ich habe dort unten,
weiBt du, ein groBes Baugeschaft, ein weltbekanntes,
bedeutendes Unternehmen. Zweiundzwanzig Angestellte
arbeiten in meinem Biiro, nur in der Zentrale, und sechs
Ingenieure, und noch ein siebenter, der Spezialist in
Explosionsmotoren ist, denn ich habe vierundzwanzig
Lastautos . . . und . . . ja, und Hunderten von Menschen
gebe ich in meinen Geschaften Brot. Vierundzwanzig Last-
autos habe ich ... und ein groBes Vermogen, ich konnte
dir sagen, ich besitze zwei Millionen Pfund oder drei oder
zehn Millionen, du weiBt ja sowieso nicht, wieviel das ist,
aber in Wirklichkeit habe ich nur cine Million Pfund, etwas
mehr . . . bloB ein paar Millionen Pengo mehr, aber egal,
du verstehst das ja doch nicht. Es gibt zwar dort unten noch
weit groBere Vermogen, aber auch das zahlt schon als
ernstlicher Reichtum, ein Kapitalist bin ich, ein GroB-
kapitalist . . . ja, und was wollte ich noch gleich sagen?
ach ja, danke schon, Vavrinec, daB du mich hast verpriigeln
und die Treppe hinunterwerfen und aus der Hochschule
jagen lassen . . , dcnn sonst ware ich vielleicht auch Bctriebs-
450
ingenieur in Budapest geworden", — zwischendurch macht
er die Wagentiire auf; schon sitzt er am Steuer, — ,,aber
nichts von Schein, nichts von MiBverstandnis, denk nur ja
nicht, daB ich dir bose sei, im Gegenteil, dankbar bin ich
dir ..." — der Motor springt an, bleibt aber wieder stehen;
sofort setzt er ihn von neuem in Gang, — ,,ein biBchen
schwer springt der an, der Akkumulator scheint schon
schwach zu sein, ein gemieteter Wagen, aber eigentlich
ganz gut, zu Hause habe ich einen Cadillac . . . na, leb wohl,
Vavrinec", — er winkt aus dem Wagen und fahrt im Schritt
ab. Innerlich lacht er. Ganz gelb war sein Gesicht, und
seine Augenlider haben gezittert. Vavrinec. Ich bin ihm
nicht bose. Wirklich, ihm habe ich doch . . . das Ganze zu
verdanken. Das Ganze, — auch Joly.
Diese Woche verging; natiirlich reisten sie nicht ab.
Uberhaupt war von der Abreise nicht mehr die Rede, bis
Ila in der ersten Augustwoche mit Edith Simmons in die
Schweiz fuhr. — Wenige Tage vor Has Abreise war die
Geschichte mit Joly auf dem Johannesberg. Mit Joly gab
es in den letzten Wochen, bei den letzten Begegnungen
Geschichten, so kleine Sachen, — geringfugige, unbedeu-
tende Zwischenfalle, iiber die man indessen immerhin nach-
denken mufite, — na . . . muBte? man konnte iiber sie
nachdenken. Er war unterwegs, um Joly zu treffen, da
stieB er auf der StraBe zufallig auf Amman, Amman
begleitete ihn und wollte ihn kaum wieder loslassen, er
war also gezwungen, einen Umweg durch mehrere StraBen
zu machen, dann blieb er vor einem wildfremden Haus
stehen und verabschiedete sich plotzlich von Amman.
,,Ich habe mich nicht verspatet", sagte Joly, als sie sich
trafen; mehr sprach sie zwar dann nicht da von, — aber
immerhin, das war die Sache mit der Verspatung. Einmal
im Gesprach fragte er sie, was dieser Doktor Huszar
W 451
eigentlich fur eine Existenz sei. ,,Huszar ist ein Kamerad
von mir aus der Kindheit, ein richtiger, treuer Freund",
sagte Joly mit raschen Worten, ,,Sie brauchen absolut nicht
spottisch iiber ihn zu reden." Das war die Sache mit
Huszar. Und noch zehn ahnliche Sachen gab es, ahnliche
Geschichten, winzige kleine wirklich, es ware schade
gewesen, sich eingehender mit ihnen zu beschaftigen. Die
Sache mit dem BlumenstrauB war etwas komplizierter, —
strahlendweiBe Rosen hatte er Joly geschickt, anonym,
ohne ein Wort dazu zu schreiben. ,,Sie haben mir die
Blumen geschickt", sagte Joly, als sie sich das nachste Mai
trafen, ,,und ich mochte Ihnen zwei Dinge sagen." —
,,Bitte." — ,,Erstens schickt man Blumen nicht anonym,
hochstens mal im Scherz, aber Sie sind kein so scherzhafter
Mensch, und ich bin es auch nicht. Zweitens: weiB Ila
etwas davon?" Bei dieser Frage machte er groBe Augen.
,,WeiB Ila davon?" wiederholte Joly. ,,Nein", antwortete
er, ,,aber Ila weiB auch davon nichts, daB wir uns zu treffen
pfiegen." — ,,Pflegen? wir pflegen uns nicht zu treffen",
sagte Joly und verzog den Mund. ,,Wir treffen uns manch-
mal zufallig. Zufallig Blumen schicken kann man aber
nicht." — ,,Soll ich also keine mehr schicken?" — „ Ano-
nym auf keinen Fall." — ,,Und sollen wir uns auch nicht
mehr treffen?" — Joly schwicg, dann sagte sie leise: ,,sehen
Sie, wenn ich Sie ware, dann wiirde ich jetzt antworten", —
sie imitiert ein wenig seine Stimme, — ,,darauf ist es mir
wirklich sehr schwer das miissen Sie selbst fiihlen . . .
aber ich antworte Ihnen nur, ich mochte mich sehr gern
manchmal mit Ihnen treffen". — Einmal fiel ein sonder-
bares, gefahrliches Wort zwischen ihnen auf einem Spazier-
gang am friihen Abend: ,, sagen Sie bloB", spricht Joly
plotzlich, ,,ich wollte Sie schon oft fragen, aber hatte bis
jetzt doch nicht ..." — ,,Nun, sagen Sie, was haben Sie
nicht gewagt zu fragen?" — ,,Es handclt sich nicht um
Wagen oder Nichtwagen", sagte Joly. ,,Ich mochte gern
wissen, wie Sie sich gefunden haben, Sie und Ihre Frau?"
45*
Er antwortet nicht gleich, und Joly fahrt fort: 5,dariiber
denken Sic nach? dann werden Sic mir keine Antwort
gebcn, das weiB ich schon, denn Manner antworten ent-
weder gleich auf eine solche Frage oder iiberhaupt nicht,
entweder gehen sie dariiber hinweg, oder sie sagen nicht
die Wahrheit . . ." — ,,Sie haben mich ja unterbrochen", ant-
wortet er. ,,Sie konnen doch nicht wissen, ob ich iiberhaupt
antworten wollte oder was ich geantwortet hatte." —
,,Sehen Sie?" sagt Joly, ,,also Sie geben keine Antwort."
Einen Augenblick schweigen sie. ,,Ihre Frau ist Ungarin",
fangt sie dann wieder an. ,,Manchmal denke ich dariiber
nach, wo Sie wohl zusammengekommen sein mogen. Wer
sie als Madchen war. Was sie gemacht hat, bis sie Sie "
wieder schweigt sie. ,,Und warum interessiert Sie das?"
fragt er unsicher. Joly sieht ihn an. ,,Sie wissen genau, wer
ich bin", sagt sie leise, ,,und ich mochte wissen, wer Ila
war." Er antwortet nicht, sie schweigen, dann sagt Joly,
,,na gut", und dann sprechen sie von etwas anderm. Das
waren winzige kleine Stationen auf der steilen Drahtseil-
bahn, — nachher konnte er weiter rutschen und sausen,
abwarts. Ja, — also die Johannesberg-Sache. Das war ihr
letzter Ausflug zu viert, an einem warmen, zauberhaften
Sonntagabend. Sie afien oben auf dem Berg zu Abend, Ila
hatte Durst auf Sekt, und sie tranken ziemlich viel. Nach
Mitternacht begaben sie sich zu FuB auf den Heimweg;
den Wagen fuhr der Schoffor des Gastwirts im Schritt
ungefahr hundert Meter vor ihnen her. Ila und Kelemen
gingen vorn; gelbe Gliihbirnen in grofien Abstanden ver-
tieftcn die Dunkelheit auf dem Weg. Plotzlich blieb er
stehen, in einem kleinen Schwindel, der ihn plotzlich befal-
len hatte unter dem lauen Himmel und den Sternen, und im
Takt mit seinem Stutzen blieb auch Joly stehen; da griff cr
mit verwegener Hand nach inn, zog sie naher zu sich heran,
aber Joly stemmte ihre beiden kleinen harten Faustc gegen
seine Brust, — ein unendlicher kcuchender Augenblick, —
>,Joly, ich licbe Siel" — und ein kurzes kaltes Zischen,
453
,,lassen Sic mich los!" — »Joly, ich liebc Sie wahnsinnig
und " und die fliisterndc Stimme vor seinem Gesicht,
in so furchterlicher Nahe: ,,passen Sie auf, lassen Sic mich
los, sonst ..." — Seine Arme wcnden Kraft an: die beiden
kleinen Fauste klappen plotzlich zuriick, an seiner Brust
fiihlt er den mageren, sich gegenstemmenden kleinen Kor-
per, mit vertrocknetem Mund sucht er den gesenkten Kopf,
seine Lippen brennen auf ihrem Haar, ihrer Stirn, ihren
Wangcn, und dann greift er mit derber Hand nach ihrem
Kinn, reiBt ihren Kopf gewaltsam hoch, und sein Mund
fallt auf Jolys kalte, starre, zusammengepreBte Lippen.
Nun la'Bt ihre Gegenwehr nach, leicht liegt der schmale
Korper in seinem Arm, die beiden kleinen Hande ruhen
offen, erschopft auf seiner Brust, die Augen hat sic miide,
zerqualt halb geschlossen, nur ihr Mund, — ein blutiger
Streifen, — ihr Mund ist zusammengepreBt und kalt. Da
laBt er sie los. Wortlos gehcn sic hinter den beiden fernen
Schatten her, — nach einer langen Weile fangt Joly an zu
sprechen. ,,Sind Sie nun gliicklich?" sagt sie gleichsam vor
sich hin mit mattem, bitterem, spottischem, herausfordern-
dem Ton. ,,Sind Sie jetzt gliicklich? ja? au . . . mir tun die
Handgelenke weh " Er antwortet nicht; sie schweigcn.
Wieder beginnt Joly, mit gedampfter Stimme: ,,Das hat
doch keinen Sinn . . . groBe Worte . . . gar nicht wahr, es
hat wirklich keinen Sinn — " Ein ersticktes, tiefes Brummen
dringt aus seinem Mund, ,,keinen Sinn?! Joly, ich liebe
dich, und ich will dich haben, und . . ." — „ Jawohl, ich will
dich haben", sagt Joly leise mit erstaunlicher Ruhe, ,,ich
will dich haben, ich weiB, ich weiB. Und dann jetzt
hab ich dich gehabt, genug, danke schon. Geld bieten Sie
mir nicht an?" sagt sie und bleibt stchen und blitzt ihm mit
dem griinlich-blauen Strahl in die Augen. Mehr sprachen
sie dann nicht, bis sie am Ende des Wcges die beiden
andern und den Wagen crreicht hatten. Auf der Heimfahrt
saB cr bis zum Wcstbahnhof ncben dem frcmden Schoffor,
die andern drei hinten. Als Joly und Kelcmen vor dem
454
Haus auf detn Ring ausstiegcn, sah er, daB Joly Rander
unter den Augcn hatte, und fiihlte, daB ihre Hand kalt war.
Jetzt war aber alles zu Ende, jetzt war er schon ganz
unten im Abgrund ; jetzt gab es nichts anderes mehr als das
eine: ich liebe dich, und ich will dich haben. Ila und Edith
fuhren nach Montreux, — der Plan entstand in Zeit von
halben Stunden, und am nachsten Tage waren die Fahr-
karten schon besorgt, — Ila fragte ihn, ob er mitfiihre, und
nahm zur Kenntnis, daB er hier bliebe, — ,,diese Sache da,
die mich noch immer beschaftigt — kt Sie horte seiner
Begriindung nicht einmal rccht zu, an ihren Augen sah er:
sic wciB, daB ich nicht mitfahre. ,,Eigentlich ist mir das
ganz recht so", sagte sie, ,,Edith ist ja noch nicht ganz auf
dem Posten, und wenn ich die Reise ihr zuliebe mache,
dann ist es besser, wenn ich nicht gebunden bin", — in
diesem Satz lag eine kleine Betonung, die gleichsam
er bemerkte es und kiimmerte sich nicht darum. Sie ver-
abredeten, wochentlich einmal telefonisch miteinander zu
sprechen, ferner, daB Ila auf jeden Fall mit Edith zusammen
nach Budapest zuriickkommen sollte. Er und Simmons
brachten die Damen an die Bahn, — sie kuBten sich, ,,auf
Wiedersehen, Kind", dann fuhr er Simmons in die Burg
und raste zuriick in die Stadt, — Joly ist um fiinf herum in
der Andrassy-StraBe. Ich liebe dich, und ich will dich
haben, — nun folgten elf Wochen in einem einzigen Tau-
mel, in einem einzigen wirren, wilden, sinnlosen Traum,
elf Wochen, bis Ik zuriickkam, um dann von Budapest
Abschied zu nehmen. Nur daran, daB Ik irgendwoher an-
rief, nahm er wahr, daB wieder eine Woche von diesen
Tagen der Zeitlosigkeit vergangen war. Das erste Mai
telefonierte sie aus Montreux, dann aus Genf, dann aus
Venedig, dann aus Padua, dann aus Rom. ,,Ein Traum ist
dicse Reise", sagte Ik, ,,einfach gottlich ... es tut mir so
leid, daB du nicht hier bist." Und Edith ginge es schon
ganz gut. Und was es Neues ga'be in Budapest? Nichts von
Belang.Scham wurgte ihn, als er sagte: nichts von Belong.
455
Und Ik fragte nicht welter, spater fragte sic dann nicht
elnmal mchr, was gibt es Neues in Budapest? ,,Rom 1st
unbeschreiblich schon . . . wie schade, daB du nicht hier
bist. Bei einem groBen Turnfest waren wir, Mussolini habe
ich gesehen, auch sprechen gehort, cine eigenartige, auBer-
gewohnliche Erscheinung. Auf der Gesandtschaft sind wir
mit Grand! bekannt geworden und noch mit einer Menge
faschistischer Politiker. Nachste Woche fahren wir wahr-
scheinlich nach Sizilien — " Eines Nachts schreckte er auf,
setzte sich auf im Bett, sein Korper zitterte in eisiger Angst.
Entfrcmden wir uns ? fragte er laut ins Dunkel, entfremden
wir uns? Leben wir uns auseinander? wegen dieser
wegcn dieser nein, kein boses Wort I auch nicht
einen einzigen schlechten Ton! Budapest und Joly; an-
scheinend muBte das sein, und beides ist vorbei, Joly und
Budapest, das Abenteuer — die Versuchung in Budapest.
Aber kein Wort, keinen Ton — Ein wirrer Traum mit
schlechtem Nachgeschmack waren diese elf Wochen, ein
Traum, in dem er sein ganzes vergangenes Leben durch-
machte und das Ende der Zeiten; in dem er an alie jenc
aufierste Gemeinheit und Giite leicht riihrte, die gewesen
war und noch kommen konnte; in dem cr sich durch-
diese schone, peinigende Liebe bis zum Alpdruck hin-
durchqualte, — dann wachte er auf, das Herzklopfen
verging langsam, er rieb sich die Augcn, seufzte, und das
Ganze war vorbei.
Eine halbe Stunde nach lias Abreise spazierte er schon
mit Joly durch die StraBen. ,,Ist sic abgefahren?" fragte
Joly. ,,Jawohl." — ,,Und Sic? warum sind Sie nicht mit-
gefahren?" — ,,Das wissen Sie doch sehr gut", antwortete
cr. ,,Kcin Grund", sagtc Joly kalt. — Kein Grund. Jetzt
packe ich sic und . . . wiirge ihr die Kehle ,,Ich liebc
Sie", sagte cr. ,,Danke", sagte Joly, ,,ich weiB. Ich licbe Sie,
ich will Sic habcn, wcitcr brauchcn Sie nichts zu sagen."
Er sah Joly an und muBtc licheln. ,,Kleine Bestic", sagtc
cr nett. ,,Ich wciB", antwortete Joly, ,,das gehort auch zu
dcm Ichliebedich-Ichwilldichhaben." — ,,Warum sind Sie
dann mit mir zusammen?! warum kommen Sie, wcnn ich
Sie rufe? was wollen Sie von mir?!" brummte er sie an.
,,Ich kann ja auch weggehen", sagte Joly und machte zwei
groBe Schritte vorwarts, — aber dann ging sie doch nicht . —
Er hatte gedacht, jetzt wiirde er Joly taglich sehen. — Die
hungrige liimmelhafte Gier des alleingekssenen frei-
gewordenen Kindes packte ihn, — das Zusammensein,
das fortwahrend wiederholte Wort und die Tage werden
ihren Widerstand schon brechen und gleich nachher:
traf er sie fiinf oder sechs Tage nicht. Joly rief ihn nicht an;
am dritten Tage schickte er ihr eine Visitenkarte, auf der er
sie um ihren Anruf bat, — sie telefonierte nicht, — am
funften Tag, nach Tisch, klingelte er auf der dritten Etage
an der Wohnungstur; ein schlampiges Dienstmadchen
offnete und lieB ihn nicht iiber die Schwelle: ,,die gnadige
Frau schlaft", sagte sie, ,,und das Fraulein, die ist nicht zu
Hause." VerdrieBlich stieg er die dunkle Treppe hinunter, —
Joly rief auch am nachsten Tag nicht an. Was kann ich tun?
ihr noch einmal schreiben? mich vors Haus stellen und das
Tor nicht aus den Augen lassen? Jawohl, aber mit einem
Revolver in der Hand . . . denn er hatte sich ganz verbissen
in die Sache. Er brannte lichterloh. Mein Gott, wie schon
das war. Jung sein und er dachte an Tilly. Dann fuhlte
er, das war furchterlich, dieser Wahnsinn. Dreiunddreifiig
Jahre werde ich alt ... Ich kann mir das erlauben! dachte
cr dann trotzig, voll Wut. Wenn ich will, bin ich wieder
zwanzig! Ich werde sie bezwingen, kaufen werde ich sie
mir Und Joly spielte mit ihm, Joly war starker als er.
Kein Wunder: er war ja schon ganz unten und hatte den
Kontakt mit sich selbst verloren. Was war das? v6llige
Ergebung? volliges Ausgeliefertsein? Und dann kam auch
das, daB er nicht mehr wollte, sich nur noch sehnte, nicht
mehr forderte, nur noch bettelte. Wirklich . . . das bin ich?
Mutig trete ich an die Hindernisse heran oder werde zufallig
hingetrieben, und dann . . . bettle ich mich iiber sie hinweg?
457
Ja, — da war die Sachc ins Kippen gekommen, daB cr sich
sein ganzcs Lebcn lang von Mcnschcn oder Dingcn hattc
trcibcn lassen, — und der Strom hattc ihn vor den Hindcr-
nissen zuriickgeworfen, oder mit dem Strom hatte er die
Felsen umschwommen und war so weitergetrieben, —
dem Geld entgcgen. Und hier? jetzt? — hier war er allein,
das zweischneidige Schwert seines Geldes in der Hand,
urn sich herum die tausend lugnerischen Fackeln gieriger
Huldigung und eine vcrzerrte Sehnsucht in der Brust, —
und gegeniiber steht ihm eine Frau mit den unzahligen
Waffen ihrcr Weiblichkeit in jenem kurzen, kalten und
dennoch nicht das letzte Wort ahnenlassenden Nein auf
den schmalen Lippen und sicherlich mit einer zitternden
Aufregung im Herzen, die sich selbst aufgab, die um den
groBen Gewinn spielte genau wie einst er selbst, — jawohl,
einst war auch mein Einsatz nicht weniger als mein Leben,
— und der Preis? der Preis war bloB, daB ich es viellcicht
ertragen werde, wenn ich nicht gewinne Will sic viel?
dachte er einmal mit gemeinem, kaltem Zynismus, gut, von
dem Vielen, das alles mein ist, werde ich ihr viel geben
Kelemen meldete sich, — er fuhr ihn geradezu an: ,,wo
ist Joly?" Kelemen nahm mit einem feinen Lacheln, das
Verstandnis fuhlen lieB, diese stiirmische, aller Vorsichtig-
keit bare Nachfrage zur Kenntnis und verabredete die
Zusammenkunft fur morgen abend in einem Ton, als wolltc
er sagen : sei beruhigt, ich verstehe die Sache, ich werde dir
Joly liefern. Kuppler, dachte er, das beste ware, offen mit
ihm zu reden, ihm Geld anzubieten, — und dann gebot er
entsetzt dem Gedanken Einhalt: bin ich krank? habe ich
mein klares Urteilsvermogen vcrloren? — Am nachsten
Abend horte er mit demselben Stutzen Jolys kiihle, ab-
wesende Stimme: ,,ja, Ihre Karte habe ich bckommen, ich
weiB auch, daB Sie nach mir gefragt haben in der Wohnung,
das Madchen hat es mir gesagt, ich konntc mir denken, daB
Sie der Herr warcn, aber ich hatte allerhand zu tun und war
auch zu nichts recht aufgclegt." Argwohnisch beobachtete
458
er sie. Sic liigt, dachte cr, sic liigt, wenn sie spricht, und sic
liigt, wenn sic schweigt, wenn sie etwas verschwcigt
Spater trafen sie sich dann haufig, und der Tag bestand
daraus, daB er einige Stunden mit Joly zusammen war, mit
ihr durch die Stadt spazierte oder durch die Gassen Budas
oder iiber die friihherbstliche Insel, — dann blieb er wieder
allein, das zuletzt verklungene zweifelhafte, ungewisse Wort
im Kopf, und lauerte gequalt auf die nachste Begegnung.
Er lag in seinem Zimmer, lungerte auf der StraBc, unterhielt
sich mit den noch immer schniiffelnden Hungerleidern und
dachte an nichts anderes als an Joly. GroBer Gott . . .
gehorig vcrgiftet bin ich. GroBer Gott, dachte cr ein-
mal in banglich kindischem Schmollen, — warum bist
du weggefahren, warum hast du mich hier allein ge-
lassen? — Er kampfte mit Phantasmagorien, bastelte mit
Unwirklichkeiten herum. Ich werde ihr Geld geben. Ich
bringe sie nach Paris und besuche sie jedes Jahr in Paris.
Viel Geld gebe ich ihr, damit sie mir treu bleibt ! Er lachte
benebelt. Blodsinn. Ich nehme sie mit nach Port Elizabeth.
Stelle sie als Sekretarin an Quatsch. Ich hole sie alle
beide riiber, ihren Bruder auch, dann sind sie eben aus-
gewandert, wen geht das was an? Sie konnen doch aus-
wandcrn, wenns ihnen paBt, konnen sich niederlassen, wo
sie wollen, niemand braucht davon zu wissen, sie werden
in Grahamstown oder in East-London leben, niemanden
gehts was an. Ik wird es nicht erfahren, — und wenn sie
es erfahrt Jetzt war er schon so weit gesunken, daB
sich das Problem nicht mehr darum drehte: soil ich es tun?
sondern : wenn sie es erfahrt . . . und das war das Schwerste
in diesem anarchischen Gewoge zwischen Betrug und
Trcue, zwischen der Realitat Ila und der Fiktion Joly.
Nach Johannesburg bringe ich sie, jeden Monat fahre ich
dann hin zu ihr, in Johannesburg kann ich ja bauen, von
Inge hat Ila ja auch nichts erfahren Und dann durch-
zuckte ihn einmal die Frage: wie lange wird das dauern?
wird das ewig dauern? — ewig, ewig, duxnmes Wort, —
459
ich wcrdc fur sic sorgcn, und wcnn wir uns iiber haben . . .
Uns iiber haben? — so weit sind wir ja noch lange nicht,
vorlaufig sind wir ja erst beim Nein und Nein und Nein —
Er war unten, ganz tief unten. Kclemen sagte er Dummhei-
ten, gemeine Dummheiten. Von Port Elizabeth erzahlte er
ihm. Vom Geld. Von den Moglichkeiten. Von seinem
Wohlwollen, mit dem er jemandem, den er fur geeignet
halt, so vorwartshelfen konne das alles gait Joly.
Eine erbarmliche, bequeme Botschaft. Uber den Kuppler . —
Damals lungerte Kelemen schon stellungslos herum, — er
wuBte nicht ganz bestimmt, ob er cntlassen worden war
oder ob er selber seinen Schreibtisch aufgegeben hatte im
Taumel; Kelemen sprach damals noch, in Liigen verwickelr,
nicht kkr dariiber, und fest stand nur, daB er keine Tatigkeit
hatte. Er kam jetzt oft zu Kadar, taglich meldete er
sich telefonisch, bat ihn aber noch immer um nichts. Die
iibrigen? die mit ihren Geschaften? zwischendurch meldete
sich dieser und jener mit kleinen Versuchen, mit Tolpcl-
haftigkeiten, die einem ein Lacheln abzwangen; sie kamen,
sic blieben aus, sie kehrten wieder. Er horte ihnen zu, mit
ernstem, interessiertcm Gesicht. Er stocherte in den An-
gelegenheiten herum, — ich weiB noch nicht, ich will mal
sehen, vielleicht . . . und immer haufigcr schrecktc er zu-
sammen iiber die haarstraubende Dummheit dieser An-
gelegenheiten, iiber seine eigene peinliche, lacherlichc
Unernsthaftigkeit, — ich stelle mich ja einfach als Idioten
bin . . . vor diesen Leuten, mit denen ich mich iibcrhaupt
nicht einlassen diirfte, die ich durch den Hausdiener raus-
werfen lassen miiBte was ist denn? ich habe ja keine
Vorwande mehr notig, brauche keine Zeit mehr zu gewin-
nen . . . was ist denn? rache ich mich an ihnen fur das, was
Joly mit mir macht? was ist denn? bin ich ein Sadist
geworden? ich hetze sie hinein, quale sic, machc ihnen
Mut, rege sie auf ... da ich doch weiB, daB ich eines Tages
dicsc ganzc Geschichte Szende meldete sich noch in
erbitterter Hartnackigkeit, Mirton war schon ausgcblieben,
Kelemen hatte tiefe Runzeln in der Stirn, wenn hie und da
von jenen andern ein Wort fiel. ,,Ich mahne dich zur Vor-
sicht", entschloB Kelemen sich einmal zum Warnruf, aber
er unterbrach ihn sofort: ,,Vorsicht?" sagte er fast veracht-
lich, undankbar, ,,glaubst du etwa, ich durchschaue die
nicht? ich wisse nicht, was sie wollen? Ochsen sind sie . . ."
Ochsen, allesamt, auch Varga, — denn auch Varga, der
reiche, der vornehme Varga, hatte sich gemeldet. Im Speise-
saal des Hotels trafen sie sich. Aus Varga war ein etwas
kahlkopfiger, etwas dicklicher, sehr eleganter, ansehnlicher
Herr geworden, die Verkorperung des erbansassigen, wohl-
verstandenen und richtig gehandhabten Wohistandes. Die
groBe, runde Brille trug er noch. Er blieb vor seinem Tisch
stehen, senkte den Kopf ein wenig und wendete ihn nach
links, — ,,oh, Kadar, nicht wahr? . . . das ist aber ein sym-
pathischer Zufall. Allerdings, offen gesagt, war ich der
Meinung, als ich kiirzlich horte, daB du in Budapest bist,
wir brauchten diese Begegnung nicht dem Zufall zu iiber-
lassen, ich dachte, du wiirdest mich besuchen ... na, ich
will nicht rekriminieren, — gestattest du? nur fur einen
Augenblick, bis meine auslandischen Gaste kommen", und
er setzte sich. ,,Ich freue mich wirklich iiber die auBer-
ordentlich gute Meinung, die unsere hiesigen Bekannten
sowie unsere namhaften Beziehungen in London iiber dich
auBern. Wie ich hore, warest du eventuell auch geneigt,
eine gewisse Tatigkeit in Ungarn zu — den Kontakt mit
dem ungarischen Wirtschaftsleben aufzunehmen, angeblich.
In dieser Hinsicht hake ich es nun vor alien Dingen fur
meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen, dir deine
zukiinftigen Partner mit der notigen Vorsicht und Strenge
auszuwahlcn, das ist doch natiirlich. Unser Haus indessen
wird dir herzlich gern zur Verfiigung stehen bei der Ab-
wicklung der Finanzangelegenheiten. Ich rechne darauf, daB
du mich bei Gelegenheit in meinem Biiro aufsuchst, — ah,
da sind meine franzosischen Herren . . . also nochmals, ich
habe mich wirklich sehr, ganz besonders gefrcut, dich nach
461
so langer Zeit " Ja, antwortete er, gewiB werde cr ihn
aufsuchen, wenn er tatsachlich hier etwas machen sollte, er
wisse ja sehr genau, wie wichtig es sei, in alien Teilen der
Welt gute Beziehungen zu haben. Wenn es iiberhaupt zu
einem AbschluB der geplanten Geschafte kommen sollte,
wiirde er wahrscheinlich auf Grund seines liebenswiirdigen
Anerbietens mit seinem Haus in Verbindung treten, wenn
auch vielleicht nur in Form einer kleineren Geldeinlage, —
wenn auch nur in Hohe von zehn Shilling, — was zwar
nicht gerade viel sei, aber manchmal doch den Anfang
einer angenehmen Verbindung darstellen konne . . . Vargas
Gesicht wird um einen kaum merklichen Schatten roter,
durch die Brille schlagt ein kurzer, diisterer Blitz, aber seine
Stimme ist unverandert korrekt, fast sogar freundschaftlich
heiter. Tatsachlich, manchmal entwachsen die groBen Be-
ziehungen aus den geringfiigigsten Dingen, und wenn man
die zehn Shilling, sagen wir, als Grundstein betrachtet oder
als Symbol, sagen wir Kadar ist schlecht gelaunt.
Nichts von Genugtuung spurt er bei dem Sichducken Var-
gas, bei der geschaftsmaBig vorsichtigen, ho f lichen und
vielleicht ein wenig verachtlichen Abwehr seiner Provo-
kation. Geschmacklos war das. SchlieBlich . . hat er es ja
damals mit den zehn Shilling nicht schlecht gemeint
bloB er hatte eben mehr gefordert. Genau so ... wie jetzt.
Von Kelemen. Und von Joly. An der alles steckenblicb.
An Joly Kelemen, die ganz einfach nicht seine Geliebte
werden wollte. Er schnitt sich ins Innere mit brennenden
Fragen in brennenden Nachten. Liebt sic mich nicht? liebt
sie einen andern? will sic Geld? was will sic? sic kann
alles haben, was sie nur will Er wurde grob. Mit
schmutzigen Worten beschimpfte cr sic im stilien, mit
crniedrigenden Ausdriicken setzte cr sic herab, — und
dann heulte er innerlich schluchzend in qualvoller Sehn-
sucht nach ihr. Albern war er, taktlos, lacherlich war er.
Er sprach von seinem Geld und davon, daB er sie mit-
nehmen und cine groBe Dame aus ihr machen wolle. ,,Ich
462
verstehe mich selbst nicht", sagte Joly, ,,wenn ein anderer
so zu mir sprechen wiirde, dann hatte ich ihm schon langst
den Riicken gekehrt." Er bettelte. ,,Ich kann nicht ohne
Sie leben. Sehen Sie mich doch an, ich verkomme ja, ich
gehe dariiber zugrunde, wenn Sie mir nicht angehoren wol-
len. Haben Sie denn keine Angst, daB ich Sie und mich "
Er zitterte, um ihren Arm beriihren zu konnen. Pfui. Er
verabscheute sich selbst. ,,Primanerangelegenheit . . . drei-
unddreiBig Jahre werde ich." Joly lachelte, ein wenig
erstaunt. ,,So darf ein ernsthafter, erwachsener Mann nicht
sprechen . . . nein, verstehen Sie, nein." Dann drohte er.
,,Ich reise sofort ab und komme nie mehr ..." — ,,Ich kann
Sie nicht zuriickhalten", sagte Joly ruhig. ,,Bin ich Ihnen
zuwider? sagen Sie, hassen Sie mich?" fragte er sie hundert-
mal. ,,Darauf gebe ich keine Antwort", erwiderte sie. ,,So?
danke schon, das geniigt, nun weiB ich alles." — ,,Was
wissen Sie?" — ,,Da6 ich Ihnen zuwider bin, daB Sie mich
hassen", sagt er, ,,nicht wahr, so ist es doch?!" — ,Jch
gebe keine Antwort . . ."
Es war Herbst; Ila rief aus Rom an, — ,,vielleicht treten
wir schon Mitte nachster Woche die Riickreise an, Anfang
der darauffolgenden Woche sind wir aber ganz bestimmt
wieder in Budapest. Was gibts Neues?" — das hatte sie
seit Wochen nicht gefragt. ,,Nichts . . ." — ,,Die geschaft-
lichen Angelegenheiten?" — ,,Nichts Besonderes, ich
glaube kaum, daB etwas daraus wird." — ,,So. Was machen
Kelemens? Joly?" — ,,Nichts Besonderes . . . hie und da
bin ich mit ihnen zusammen." In den letzten Wochen war
schon alles verworren. Er hatte kein einziges sicheres
Gefiihl mehr: von Minute zu Minute, von Gcdanken zu
Gedanken wechselten seine Affekte. Wiirgende Wut raste
und wilder HaB flammte in ihm, und dann kammte die
bettelndc Demiitigung alles glatt. Er lachte sich selbst aus.
Er bcmitleidete sich. Er war am SuBersten Ende der Dinge
463
angekommen. Er war ein Hanswurst. Das ist . . . der Preis
fur die Ruhe von funfzehn Jahren, fur das l)ber-den-Dingen-
Stehen von anderthalb Jahrzehnten. An einem klaren, lauen
Sonntagvormittag Ende Oktober fuhren sie auf den Gellert-
berg; auch Kelemen war dabei. Kadars Hand zitterte am
Steuerrad, an einer Kurve iiberfuhr er fast ein Arm in Arm
schreitendes Paar. Sie standcn oben ans Eisengitter gelehnt
und blickten auf die Stadt. Der Himmel war herbstlich hell-
blau im Sonnenlicht. Miide, tiefe Traurigkeit ergrifF ihn.
,,Wir fahren bald nach Hause", sagte er plotzlich. Kelemen
sieht ihn an und sieht Joly an. Joly laBt zerstreut das
groBe Fernglas von den Augen sinken. ,,Was ist das da
hinten, das Gebaude mit dem griinen Dach", zeigt sie hin-
unter, ,,dort hinten rechts . . . ich kanns nicht erkennen."
Ein Weilchen bleiben sie noch, dann gehen sie aufs Auto
zu. Kelemen geht vor und bleibt als erster neben dem
Wagen stehen. Joly ist ein paar Schritte vor Kadar. Braune
Schuhe mit flachen Absatzen hat sie an, Sportschuhe. Als
sie den Wagen erreicht, offnet Kelemen die Tiir, und es
sieht aus, als sagte er ctwas, ein wenig zu Joly gebeugt;
sein Mund bewegt sich, aber die Stimme hort man nicht.
,,Was?" sagt Joly laut und scharf, ,,was hast du gesagt?"
Kelemen dreht sich um, — inzwischen ist Kadar auch am
Auto angekommen, — ,,ich hab gefragt, wo du sitzen
willst", sagt er, wartet aber keine Antwort ab und setzt sich
hinten auf den Hauptsitz. ,,Es ist ziemlich kiihl", sagt Joly,
,,ich hatte einen Mantel mitnehmen sollen." Kelemen
schweigt, nur als sie aussteigen, sagt cr zweimal laut und
eifrig: ,,auf Wiedersehen." — Am folgendcn Tag ruft Joly
an. Sie habe einen freien Nachmittag, ob cr mit ihr ins
Kino gehen wolle? ,,Gut", sagt er langsam in den Apparat,
,,das konnen wir tun.*' — ,,Das konnen wir tun? . . . dann
nicht, wenn wirs bloB tun konnen." Selbstverstandlich
gingen sic doch. Im Kino fragt Joly: ,,nun, wann rciscn
Sic?" — ,,Ich weiB noch nicht gcnau." — ,,Und — mussen
Sie?" — ,, Miissen? . . . wir sind schlieBlich schon langc
464
genug unterwcgs ..." — ,,Und wenn ich nun Sagert
wiirde ..." — sie bricht ab. ,,Wenn Sic was sagen wiirden?"
fragt er gepreBt. ,,Nichts." Sie schweigen; die Bilder laufen
vor seinen Augen, seinem Ohr bieten sich Tone an, — er
sieht nichts und hort nichts. Spatcr, bereits auf der StraBe,
sagt Joly, den Blick auf die andere Seite gewendet, als
beobachte sie driiben etwas Interessantes : ,,wenn Sie noch
nicht abreisen miissen . . . wenn Sie nicht unbedingt miis-
sen — — " Seit Tagen versucht er schon, die Mauer
zwischen sich und Joly aufzubauen, — und dann kommt
ein solcher halber Satz, und im Kino, als er Jolys Hand
beriihrte, zog sie die Hand nicht weg, lieB sie ruhig in der
seinen, — und schon liegt die Mauer wieder in Triimmern,
und seine Nacht ist wild erregt. Was ist? denkt er dann
mit scharfer Spannung im Kopf, was ist? was will sie? fiihlt
sie, daB ich mich wehre? fiihlt sie, daB ich mich von ihr
losmachen will? — was ist? denkt er unsicher, will sie
etwas? oder halt sie mich nur zum besten? will sie mich
an der Nase herumfuhren? war es noch nicht genug?
Das war an jenem Samstag, nachmittags, als Ila zum
letzten Male aus Rom telefonierte. Wenige Minuten nach
dem Gesprach meldete sich Kelemen mit der iiblichen
Frage: ,,was gibts Neues? wie gehts?" — ,,Danke, ich hab
ein bifichen Kopfschmerzen. Im ubrigen habe ich soeben
mit meincr Frau gesprochen, Anfang nachster Woche
kommt sie zuriick, wahrscheinlich fahren wir also nun bald
ab." Dann legt er sich wieder auf den Diwan. Der Kopf tut
mir weh. Lange habe ich keine Kopfschmerzen gehabt.
Kopfschmerzen sind mir verhaBt. Eine sinnlose, erniedri-
gende Wciberangelegenhcit heute habe ich nichts vor,
ich bleibe zu Hausc. Ila kommt bald. Zwei und cinen halben
Monat habe ich sie nicht gesehen. — Er liegt, starrt in die
Luft und bemtiht sich, an nichts zu denken. Das ist mir
griindlich danebcn gelungen Allmahlich wird es
dunkcl. Ob wir wohl noch hierblciben? Sie wird fragen,
na, wie stchts mit den Geschaften? Einmal muB sie das doch
30 Kiirmpndl. Hii lapeat 46}
fragen. Es ware schrecklich, wenn sie nicht fragte. Wcnn
es sic nicht interessierte. Wenn sie wiiBte ... — ich werde
ihr etwas vorliigen. WeiB sie, daB ich sowieso liigen wiirde
und fragt sie darum nicht? Ob wir wohl abreisen? und wenn
ich noch hierbleiben miiBte Jetzt ist es schon ganz
dunkeL Heute habe ich nichts vor. Ich werde friih schlafen
gehen. Vielleicht gehe ich in ein Kino. Ich langweile mich,
ich muB etwas unternehmen. Die Tiir ofFnet sich, und in
dem hellen, umrahmten Fleck erkennt er gleich die ein-
tretende Gestalt: Joly. ,,Ich hab zweimal geklopft", sagt
sie, ,,aber Sie haben nicht geantwortet, ich dachte mir, ich
guck doch mal rein . . . machen Sie doch bitte Licht." Er
springt auf, knipst das Licht an. Joly schlieBt die Tiire und
tritt einen Schritt naher. Sie hat den dunkelblauen Gummi-
mantel und die dunkelblaue Kappe an. Ihr Gesicht ist ganz
weiB im Schein der Lampe. ,,Ich setz mich ein biBchen zu
Ihnen", sagt sie, ,,gut? Nach Tisch habe ich mit Bandi
gesprochen, er war einen Moment oben bei uns. Ich hore,
Ila kommt zuriick." — ,,Jawohl", antwortet er. Joly
schweigt; Stille. Was soil das? riihrt sich zitternd in ihm die
Frage, was will sie? warum ist sie gekommen? was will sie?
warum muBte sie jetzt kommen? sie weiB, daB ich allein
bin, was will sie? noch nie war sie allein hier. Ich will doch
abreisen, — warum ist sie gekommen? Joly blickt vor sich
hin, dann hebt sich das weiBe Gesicht, und zogernd, eigen-
tiimlich irrlichternd gcht der griinlich-blaue Strahl im Zim-
mer hin und her. Ich miiBte sie fragen, wie es ihr geht, was
es Neues gibt, was ihre Mutter macht, was drauBen fur
Wetter ist ... irgend etwas muB ich sie fragen — dicse
Stille ist nicht zu — da bcbt kaum merklich Jolys Mund.
,,Werden Sie nun abreisen?" fragt sie mit kurzem Atem.
,,Ja, wir reisen — " Joly schweigt und glattet ihren Hand-
schuhauf demKnie. ,,Und . . . wenn ich sagen wiirde: reisen
Sic nicht! . . .?" — ,,Warum sollte ich noch blcibcn?" fragt
er duster. Da steht Joly plotzlich auf. LeichenblaB ist ihr
Gesicht unter der roten Locke, die am Rand der Kappe
466
heraushangt. Sic hebt den Kopf eln wenig, sieht dann au£
die Erde und spricht mit ganz leiser Stimme. ,,Ich bin noch
nie allein zu Ihnen gekommen", sagt sie langsam, ,,komisch,
nicht wahr, daB ich jetzt hier bin, da ich doch weiB, Sie
wollen in ein paar Tagen wegfahren. Ich werde nicht Ihre
Geliebte . . . einem andern hatte ich mich vielleicht hin-
gegeben, Ihnen niemals. Und weifit du warum? weil ich
dich liebe. Ich bin schon, und ich bin Jung und liebe dich.
Ich habe dich gequalt . . . oh, ich weiB, wie du mich liebst,
wenn du es mir nie gesagt hattest, wuBte ich es auch. Aber
deine Geliebte werde ich nicht . . . niemals hast du das eine
Wort ausgesprochen, auf das ich gewartet habe. Ich bin
keine gute Geliebte, ich bin keine Frau groBen Stils, ich
will nicht dauernd zittern vor Angst . . . ich brauche dein
Geld nicht, und ich gehe nicht mit dir. Aber du sollst hier-
bleiben, fur mich. LaB sie nach Hause fahren. Schreib ihr . . .
telefonier ihr, sie solle nicht hierher zuriickkommen . . .
arme liebe alte I la. Sie tut mir leid, aber ich lasse dich ihr
nicht, trenn dich von ihr ... ich will nicht mit ihr teilen,
mit keiner ich will dich allein haben. Gehort das viele
Geld ihr? dann soil sie es behalten, ich brauchs nicht . . .
ich wuBte wahrend der ganze Zeit nicht, was ich machen
soil ... ich hab dich gequalt, glaubst du etwa, es war mir
leicht, zu sehen, wie du mich liebst und wie du leidest . . .
bloB das eine Wort, das wolltest du nicht aussprechen,
oder hast du es nicht gewagt? ich dachte, ich lasse dich
ruhig abreisen, du warst da und bist eben wieder ver-
schwunden . . . du hast mich fur leichtfertig gehalten —
ich bin nicht leichtfertig. Und nun habe ich gehort, daB
sie zuruckkommt, und da wuBte ich gleich, was ich zu tun
habe . . . und jetzt bleibe ich hier, wenn du willst, oder . . .
komm du lieber mit mir, es ist besser so laB ihr das
alles da . . ." Sie schweigt, denBlick auf die Erde geheftet,
steht sie rcglos da. — Eisig kalt stockt ihm der Atem.
Stille. Schauspielerin, hort cr in seinem Innern eine
kichernde, verzerrte Stimme. Jetzt weiB ich wenigstens,
w 467
was sie will. Komodiantin, kleincs Biest, macht Theater.
Mein Geld will sie ... nicht viel oder mehr, alles. Sie
teilt mit keiner. Sie wird nicht meine Geliebte. Ich lasse
mich scheiden und heirate sie Stille. Und in dieser
aufregenden Spannung der undurchdringlichen Stille klingt
plotzlich ein dummes, triviales Wort in seinen Kopf : ent-
scheidender Augenblick. Und sofort fiihlt er die Gleich-
giiltigkeit, mit der er den unabanderlichen Verlauf seines
Lebens immer betrachtet hatte, auch sich selbst gegeniiber
fremd, gleichsam ein Zuschauer; die Gleichgiiltigkeit iiber
all seinem Wollen, Hoffen und EntschlieBen ; die Gleich-
giiltigkeit, die er nur zweimal seinem aufblitzendcn,
erkennenden Willen unterjochen konnte: und da sieht er
sich an der Demarkationslinie den rumanischen Offizieren
gegeniiber, wie seine zerfetzte Seelc in dem kleinen eng-
lischen Offizier den Gefahrten erkennt und ihm zufliegt in
dem Wort: Kamerad! — und dann sieht er sich als den
Abenteurer in London, in Mrs. Myers* kleinem Salon, wie
er mit der iiberlegenen, eleganten Geste das almosendar-
bietende Wort der zweifelnden Frau und der schon halb
betorten Seele abwehrt und mit TodesgewiBheit auch dies-
mal dem erkannten Gefahrten das Wort hinwirft, das sein
Zicl nicht verfehlen kann: wenn Sie mich rufen, gehe ich
mit Ihnen, wohin Sie wollen, ans Ende der Welt! — Ent-
scheidender Augenblick? Bisher gab es in seinem Leben
zwei entscheidende Augenblicke. Und jetzt? entscheidender
Augenblick? erkannter Gefahrte? nur Mut, nur frei und
offen die Hand ausstrecken? zum drittenmal? noch cinmal?
vielleicht zum letztenmal in seinem Lebcn? . . . Stille. In
Jolys Gesicht, in ihren erwartungsvollcn Augen lost sich
plotzlich die Spannung; statt ihrer ist nun etwas von leiser
groBer Miidigkeit da. ,,Du weiBt jctzt Bescheid", sagt sic
plotzlich, ,,ich habe dir alles gesagt und . . . gib mir jetzt
keine Antwort, jetzt gehe ich und warte auf dich — "
und im nachstcn Augenblick ist er allein im Zimmer.
468
Wcnigc Tage darauf warcn Ila und Edith wieder in
Budapest. Mit Simmons 2usammen stand er morgens auf
dem Bahnhof ; Ik und Edith stiegen frisch, ausgeschkfen
und heiter aus dem Mailander Schkfwagen. An Edith war
keine Spur des Knochelbruchs mehr zu entdecken. Has
braunglanzendes Gesicht schien runder geworden, — sie
umarmen sich, sie kiissen sich. ,,Du siehst bkB aus,
Anti", sagt Ila, ,,hast du viel gearbeitet? oder viel gebum-
melt?" — und dabei kcht sie. O ja, blaB ist er. Sechs Tage.
Seit sechs Tagen hat er Joly nicht gesehen. Joly hat sich
nicht gemeldet. Sie wartete auf ihn. Sie war sicher, er wiirde
sie holen kommen Schauspielerin. Kleine rote
Komodiantin. Sie hat ihre Rolle aufgesagt, — gut hat sie
sic aufgesagt. Und der Wirkung war sie sicher; sie hat sich
nicht gemeldet. Sie wollte die Sache reifen kssen. Ihn sich
qualen kssen. Bis er ihr zu FiiBen sinken wiirde Ich
soil mich scheiden kssen und sie heiraten ... sie liebt mich,
sie betet mich an, — aber meine Geliebte wird sie nicht,
eines andern ja, wie sie es vielleicht schon war, — kleine
rote . . . teures, goldiges, schones, kleines rotes Liebchen . . .
mcine Braut jetzt gehe ich und warte auf dich —
jawohl, du wartest auf mich, mit meinem Geld, wartest
auf den reichen Brautigam, den du fur dich allein haben
willst, — ich ksse mich scheiden und schicke sie weg . . .
schicke die arme liebe alte Ik mit ihrem vielen, vielen Geld
nach Hause und heirate dich, wir brauchen nicht
cinmal zu warten, bis sie zuruckkommt, wir telegrafieren
ihr, bleib nur, du brauchst nicht mehr nach Hause zu kom-
men, herziichen GruB, Antal Kadir und Braut . . . nach so
mancher Treulosigkeit noch eine, eine letzte . . o kleine
rote Joly . . . Schauspielerin, — gkubst du vielleicht, ich
hore deine Stimme nicht, ich kenne nicht alle deine Gedan-
ken, sehe nicht dein ganzes Leben? ich verstehe nicht alle
deine Bewegungen, wie du deinen Arm zuriickgezogen
hast ja, nun weiB ich alles, — du teilst mit keiner . . .
mcin Geld teilst du mit keiner? oder brauchst du nichts?
460
alles sollen wir ihr geben? sic soil sich das Ganze mit-
nehmen, — nur mich willst du? — deinetwegen, kleincs
rotes Joly-Liebchen, soil ich sic vcrlassen ... die arme liebe
alte Ila? verlassen soil ich sie? . . . weil ich von euch Roten
niemals loskommen werde, von Tilly und dir . . . du kleine
junge Joly Jung bist du, und schon bist du, ich
weiB . . . auch sie weiB das, sie hat es sogar gesagt, die
arme liebe alte Ila ich soil sie verlassen? und zu dir
kommen mit all meinem Geld? du bist keine Frau groBen
Sdls . . . was? keine Geliebte oder keine Gattin groBen Stils?
aber ich werde schon eine Frau groBen Stils aus dir machen,
was? Frau Kadar, die Millionarin . . . ein biBchen Geld kann
ich ihr ja geben, oder viel? und lasse sie abziehen mit dem
vielen kalten Geld? lasse sie ziehen, hinunter in den Sonnen-
schein . . . und wir gehen anderswohin wir sind beide
vergiftet ... ich durch dich und du durch mein Geld
und von nun an denke ich nicht mehr ... an nichts und an
niemanden, nur an dich, kleine rote Joly deinetwegen
verbrenne ich alle Briicken hinter mir . . . nichts existiert
mehr, nichts hat je existiert, weder SchulterschuB noch
Agota noch Wien noch Paul noch London noch Familic
Csordas noch das Berkeley- Hotel noch Helena -Village noch
die arme liebe alte Ila Aber das war nur eine einzige
Nacht; und dann waren noch fiinf Nachte und sechs Tage
ohne Joly, nur mit sich allein, bis Ila ankam : sechs Tage in
hochster Siinde und ticfster BuBe, sechs triibe, regnerische
Herbsttage und sechs endlos lange Nachte. — ,,Heute habe
ich leider keine Zeit", sagte er zu Kelemen, als er sich am
Telefon meldete. ,,Ich danke dir sehr fur deine Miihe, aber
leider kann ich die Sadie doch nicht machen,** — so schickte
er Szende weg. Suhajda warf er ganz einfach hinaus. Amman
begegnete er auf der StraBe, gruBte und beschleunigte seine
Schritte. Als er Simon von weitem crblickte, ging er auf die
andere Seite. Einmal ertapptc er sich darauf, daB er vor dem
Haus in der Pozsonyer StraBe stand. Er sah hinauf, blieb ein
Weilchen vor dem Haustor stehen und ging zuriick ins Hotel.
47O
,,Es war herrlich sch6n", sagte Ha, als sic im Hotel-
zimmer angekommcn waren. ,,Du kannst dir das nicht vor-
stellen, spater erzahle ich dir allcs ausfuhrlich, aber mit dir
bin ich gar nicht zufrieden, AntL Du siehst so schlecht aus.
Also . . . was gibts Neues? was war in Budapest los, wah-
rend ich ..." — ,,Nichts", antwortet er, nimmt eine Ziga-
rettc und steckt sie an, — ,,am Achtundzwanzigsten mor-
gens fahrt das Schiff von Cherbourg ab, zufallig gerade die
Falconia, am Vierundzwanzigsten reisen wir mit dem
Abendzug ab." Er steht auf, nimmt aus der Schreibtisch-
schublade zwei rosa Umschlage und legt sie auf den runden
Tisch. Einen Augenblick ist es still. ,,So", sagt Ha langsam
und nimmt die Fahrkartenhefte in die Hand. ,,Kaum bin
ich angekommen, da fahren wir auch schon ab. Ich habe
inzwischen so vieles gesehen. Du nicht. Schade. Also . . .
genug von Budapest." Kleine Pause. ,,Also . . . die Sache
mit Joly ist aus?" Jetzt hat er plotzlich ein trauriges, ver-
wirrtcs, komisches Kleinkindergesicht. ,,Ja, aus . . ." laBt
er halb unbewuBt das Wort fallen; wieder ist es einen
Augenblick still, — dann sagt er ganz leise, mit naivem,
fliichtendem, schutzsuchendem Ton: ,,du hast das ge-
wuBt? . . ." Ila blickt nach oben, blast den Rauch in die
Luft. ,,Anti ... so eine dumme Frage. Ich wuBte und weiB
immer alles. Ich wollte es dir nur nie sagen . . . aber jetzt
sage ich es doch. Ich kenne dich. Dein Gesicht, deine Augen,
deine Stimme, deine Gedanken. Jetzt fangt etwas an ...
das wuBte ich immer ganz genau. Und auch, was dann
geschah, wuBte ich immer. Anti ... ich werde bald sieben-
unddreiBig Jahre . . . und wir . . . lieben uns. Darum wuBte
ich immer alles von dir, darum muBte ich alles wissen,
um . . . auf dich achtzugeben. Ich habe dich nie gefragt, was
friiher in deinem Leben gewesen ist, das ist unwichtig, es
gehort der Vergangenheit an, nur das, was ist, muBte ich
wissen. Verstehst du? Alles habe ich gewuBt, das mit Frau
Growham und mit der Schwedin in Transvaal und mit
Jane Astfield, Man lebt doch zusammen, ist immer
471
zusammen . . . manchmal habe ich dich allein gelasscn,
erinnerst du dich? wcnn ich fuhlte, jetzt hast du von mir
fur cin Wcilchen genug. Auch jetzt, als ich fortfuhr. Hatte
ich gcfiihlt, es konnte eine Gefahr daraus entstehen, dann
hatte ich dich nicht allein gelassen, sondern ware bei dir ge-
blieben. Aber dicse kleine rote Joly konnte keine Gefahr be-
deuten, keine Katastrophe, die konnte nur eine Versuchung
sein, ein Abenteuer, — aber das Heim heute bist du
noch bei mir zu Hause, heute ist es noch nicht gefahrlich . . .
viclleicht spater cinmal, in zehn Jahren vielleicht, wenn ich
siebenundvierzig bin und du kaum dreiundvierzig, wenn wir
so langc kben . . . aber vielleicht wird es auch dann nicht
gefahrlich, vielleicht nie. Ich weiB, manchmal muBt du ein
bifichen von mir weggehcn, aber ich wciB auch, du kommst
zuriick. Du konntest ja auch ganz wcggehen, du bist reich
und bist unabhangig . . . viclleicht wirst du mich auch
einmal vcrlassen, dagegen konnte ich nichts tun. Aber du
gehst nicht, heute noch nicht, und es kann sein, daft du
mich nie verlassen wirst . . . siehst du, ich sage dir das so
ganz offen, ich habe keine Angst, mich dir auszuliefern . . .
well du ja bei mir zu Hause bist . . ." — Stille. Nur sein
tiefcs, schweres Atmen ist horbar. — ,,Schlecht siehst du
aus, Ami. Hast du dich gequalt? hat es sich gelohnt?
Ein zcrbrochener, abgehackter Ton stohnt aus seinem
Munde: ,,Ila — ich schwor dir — — " ,,Sag nichts!"
unterbricht sie ihn, ,,genug, wir wollen nicht mehr dariiber
reden . . . genug. Das ist ja alles nicht wichtig. Und dann . . .
auch deshalb wollen wir licber nicht mehr dariiber sprechcn,
damit du nicht vielleicht noch liigst. Verschweigen darf
man, muB man sogar manchmal, man braucht nicht alles
zu sagen, aber liigen ist haBlich. Einmal hast du schon
angefangcn zu liigen . . . mit den gcschaftlichen Dingen
hier. Du hast es ja sehr bald aufgegeben, hast darunter
gelitten und dich gcschamt, ich weiB, und ich war dir so
dankbar dafiir und habe dich sehr lieb gehabt. Und jetzt
wollen wir die Sachc lassen. Was auch gewesen sein mag,
47*
es war nicht wichtig, war nicht ernst, und jetzt ist es zu
Ende, vorbei " ihre liebe, bekannte, starke Hand
ergreift seine Hand, ihre schone, reine Stirn beriihrt seine
Stirn, ihr treuer, schoner Mund sucht scinen Mund, — ncin,
das ist kein stiller Feind, der nachsichtig in resignierter
Giite verzeiht und innerlich nie vergessen kann . . . das
ist der Gefahrte, der Mensch an seiner Seite, der Gefahrte
seines Korpers, der Gefahrte seiner Gedanken, die Frau, die
stolz darauf ist, auch Geliebte zu sein, und sich nicht
schamt, daB sie gleichzeitig Mutter ist, der man sagen muB,
oh, ich weiB, nur bei dir bin ich zu Hause . . . und der
man auch sagen diirfte: weiBt du, daB etwas ... in mir
zerbrochen ist? ... sag, wird es wieder zusammenwachsen?
hilfst du mir? sag, wird es vergehen? . . .
Und dann, einige Tage spater, kamen nach telefonischem
Ruf Andor Kelemen und Joly Kelemen sie noch einmal
besuchen. Sie kamen nicht zusammen. Kelemen war blaB,
ein wenig verwirrt und wortkarg. ,,Nimm es mir nicht
ubel", hatte er am vorhergehenden Tag zum erstenmal
offen gesprochen, ,,daB ich dich so einfach frage ... ich
habe meine Stellung verloren, und, aufrichtig gesagt, ich
hatte mir eingebildet, hatte irgendwie das Gefiihl, im
Zusammenhang mit dir das Richtige zu finden — —
konnte ich nicht damit rechnen, daB du mir behilflich bist,
im Ausland unterzukommen? . . ." — ,,Sei nicht bose",
erwiderte Kadar dieses erste wahre Wort mit einer letzten
Liige, ,,diese Frage kommt mir ziemlich unerwartet, aber
um aufrichtig zu sein und dich nicht in Hoffnungen zu
wiegen: ich sehe da eigentlich keine Moglichkeit . . . worin
konnte gerade ich dir ..." — Am nachsten Tage blieb
Kelemen dann nur zehn Minuten. ,,Sie waren sehr liebens-
wiirdig", sagte Ila, ,,wir werden gerne an Sie und an Buda-
pest zuruckdenken. Ganz bestimmt haben wir noch nicht
beschlossen, an welchem Tag wir abreisen, vielleicht sehen
473
wir uns bis dahin noch einmal . . . sollten wir uns aber nicht
mchr treffen, also dann <c Joly kam eine halbe
Stunde spater, auch sie blieb nicht lange. Ik zog sich
zwischendurch um. Wenige Worte. ,,Ihr werdet uns cine
liebe Erinnerung sein . . ." Joly steht auf und zidht den
blauen Regenmantel wieder an. Ihr Gesicht ist krcidebleich.
Ja, diese zu weiCe, zu reine Haut untcr dcm roten Haar . . .
ihr Mund ist nicht schon. Auch Ila erhebt sich, ,,warte
doch cincn Augcnblick, Joly, wir gehen auch, ich will mich
nur noch zurechtmachen." Die beiden sind allein, einen
Augenblick stehen sie einander gegeniiber. Und dann ist
Joly ihm auf einmal ganz nahe, er fiihlt ihre kleine, hartc
Brust dutch den diinnen Mantel, — sie hebt das Gesicht:
,,einen KuB?" fliistert sie und sieht ihm in die Augen, — es
ist still, seine Augen halten den wilden griinlich-blauen
Blick aus, dann sagt er: ,,nein." Jolys Mund verzieht sich
ein we nig. Sie tritt zuriick und setzt sich dann. Zusammen
gehen sie hinunter in die Halle, wo Simmons sie erwarten.
,,Also, wenn wir dich nicht mehr sehen sollten — tc Ila
umarmt und kiiBt Joly, ,,leb wohl, liebe kleine Joly
ach, sieh mal, es regnet, bring doch die Kleine im Auto nach
Hause, wir warten hier, bis du zuruckkommst . . ." Lang-
sam fahrt der Wagen iiber die glitschige, frischnasse StraBe.
,,Sie haben mir keine Antwort gegeben", sagt Joly plotz-
lich, ,,keine Antwort auf das, was ich Ihnen neulich gesagt
habe. Ich habc auf Sie gewartet, aber Sie haben iiberhaupt
nichts von sich horen lassen." — ,,Nein", erwidert er
dumpf. Stille. ,,Sie wollen mich nicht haben . . . als Gattin",
beginnt Joly wieder. ,,Nein", antwortet er tonlos. ,,Auch
als Geliebte nicht . . . oder doch?" — ,,Nein", sagt er
wieder. Stille. Oann halt der Wagen vor dem Haus. Schon
seit Minuten stehen sie; wildes Herzklopfen scheint ihm
die Brust sprengen zu wollen in schmerzlicher Glut;
im Kopf gefriert ihm fluchtsuchcnd die blinde, starre
Hartnlckigkeit; Joly riihrt sich nicht, sie schwcigen.
Pldtzlich fiihlt er ihrc Hand auf seiner Hand, ihr Gesicht
474
ist wieder ganz nahc an seinem Gesicht, ihr Mund dicht an
seinem Mund. ,,Einen KuB?<c haucht sie. ,,Nein", sagt cr
ruhig. Da stcigt Joly aus, auch er tritt aus dem Wagen, und
sie stchen vor dem Haustor. Joly zieht den Handschuh aus
und reicht ihm die Hand hin, eisig kalt ist ihre Hand.
,,Kiissen Sie mir die Hand?" fragt sie, und ihre schmalen
Lippen zucken. ,,Nein", antwortet er heiser. Sie stehen
einander gegeniiber. ,,Sind Sie mir bose?" fragt sie, und in
ihren Augenwinkeln ist ein eigentiimliches, verschleiertes
Glanzen. ,,Nein," sagt er und wendet den Blick von ihr
ab. Stille. ,,Herrgott", sagt Joly ganz leise, ,,Herrgott,
vielleicht sehe ich Sie zum letztenmal im Leben, und Sie
gehen jetzt weg . . . und sagen mir kein Wort, kein einziges
Wort ..." — ,,Nein." — ,,Na dann . . . guten Abend." —
,,Guten Abend."
Joly verschwindet im Treppenhaus; er setzt sich wieder
in den Wagen. Guten Abend. Wir gehen nach Hause.
Cbermorgen fahren wir ab. Genug, vorbei nichts ist
passiert. Ein biBchen Kraft . . . und dann reden wir nicht
mehr davon, von nichts, von ganz Budapest nicht. Heute
abend gehen wir mit Simmons ins Kino, und iibennorgen
abend bis dahin kann man schlafen. Man braucht sich
nicht umzusehen, nichts ist passiert. Alles muB man an-
halten, dieses Hammern im Kopf ... es ist gar nicht so
schwcr. Nur wollen muB man. BloB fest vorzunehmen
braucht man es sich, — dann wird das Rattern da innen
gleich leiser, der Rhythmus ruhiger . . . bald werde ich
wieder groBe, wohltuende, vollige Ruhe haben. — Abends
waren sie im Kino, dann schliefen sie, aBen, plauderten,
spazierten zusammen durch die Stadt, kauften Kleinig-
keiten ein, einen Giirtel, ein Paar Handschuhe, einiges in der
Drogerie, und verabschiedeten sich von Simmons; das
Auto fuhr er am letzten Nachmittag in die Garage zuriick;
cr fuhr \iber den Ring, und ein kleiner Bengel sprang vom
StraBenrand fast vor den Wagen, er muBte plotzlich
brcmsen, der Motor blieb stehen, tatsachlich, der Anlasser
475
funktioniert schwach, es dauerte cin Weilchen, bis er den
Wagen wieder in Gang bringen konnte; zufalligerweise
gcschah das gcrade jenem Haus gcgcniiber, — dann gingen
sie vor Mitternacht auf den Bahnhof, — nun ist cs schon
ganz sicher, daB die groBe Ruhe sehr bald kommcn wird,
es wird schon stiller
das Rattcrn wird stiller, der Rhythmus ruhiger, —
dann hort man das leise scheuernde Gerausch der Bremsen,
das diinne Weinen der Schienen, und dann bleiben die
Rader stehen. Von auBen dringen sofort einige gedehnte
Rufe; Tone von Gesprachen und Schritten, Klirren von
Eiscnwerkzeugen ; fauchend fahrt cine Lokomotive vorbei ;
ein heller Klingelton knarrt, und wie cine Kuhglocke lautet
eine Eisenbahnschelle. Kadar schreckt auf. Ein wenig
schiebt er den Vorhang hoch, reibt den Schwaden von der
Scheibe und sieht zum Fenstcr hinaus. Das Gepack ist
plombiert bis Cherbourg aufgegeben; ihre Passe hat der
Schlarwagenschaffner. Sparer hort manTurenschlagen, leises
Sprechen und Kramen auf dem Gang. Es ist wieder still.
Dann hort er Has Stimme aus dcm andern Kupee :
,,Anti."
,,Ja, bitte."
,,Ich hore, du bewegst dich. Wo sind wir cigentlich?"
,,In Hegyeshalom."
,,Ist das die Grenzstation?"
„>."
Ein Weilchen Stille. Dann sagt Ila wieder:
,,Anti "
,,Was denn, Herzchen?"
,,Ich habe noch gar nicht geschlafen
,,Ich auch nicht. Aber jetzt ware es wirklich Zcit "
,,Na, ich wills versuchen, wihrend der Zug steht — "
476
Stillc. Dann hort man Deutsch sprechen, pfeifen und
wieder die ticfe Glocke und die helle rasselnde Klingel. Der
Wagen bewegt sich. Langsam drehen sich die Rader. Dann
wird der Rhythmus lebhafter, das Rattern lauter, — und
nun tont die Eisenbahnmusik wieder mit vollem Orchester
ratternd, drohnend, heulend, in freiem Takt, mit kurzem
Knacken, langem Qietschen; der Zug saust in wildem
nachtlichem Tempo in den Regen, in die Finsternis hinein,
von Budapest fort auf Wien zu, auf Cherbourg zu.
Auf die Falconia zu. Afrika zu. Nach Hause. Dem Frieden
entgegen. Oder . . . wer weiB? Ich mochte einschlafen.
Ftmftcr TV//
DIE NACHT
Es war schon welt iiber Mitternacht; Kelemen saB noch
immer im Bahnhofs restaurant, starrte durchs Fenster und
blickte auf die neblige, nasse StraBe. Wohl seit einer halben
Stunde rieselte wieder langsam der ekelhafte herbstliche
Regen; das Fenster, neben dem sein Tisch stand, wurde
sofort beschlagen, und iiber die mattgewordene Scheibe
liefen lustige, eilende Bachlein. Die StraBe sah er nur eben
in ihren Umrissen, in stumpfen Flecken; mit den Finger -
spitzen versuchte er, die Schwadenschicht von der Scheibe
zu schmieren, aber sie wurde nur fur einen Augenblick
klar, und auch dann sah er bloB ein verzerrtes Bild hinter
den Regentropfen. Uber dem Eingang im Speisesaal war
die grofie elektrische Uhr; jetzt sah er nach dem Zifferblatt,
beobachtete, wie der groBe Zeiger vorruckte, in unregel-
maBigen Zeitabstanden, einmal zwei, einmal drei Minuten
mit sich reiBend. — Es muBte angefangen haben zu regnen,
als der Zug abfuhr. Was fur ein Zufall, daB ich doch ins
Hotel telefoniert habe, — ,,jawohl, Herr Cadar reist mit
dem Schnellzug um halb zwolf ab, soeben haben wir das
groBe Gepack expediert", ohne etwas zu sagen, —
ohne ein Wort zu sagen 1 so 1st er abgefahren, als ob
nun, als ob? sie habens uns doch vorgestern gesagt, — wir
reisen ab, und wenn wir uns nicht mehr sehen sollten
nun, wir haben uns nicht mehr gesehen, das heiBt ... sie
mich nicht mehr. Bereits cine Stunde vor Abfahrt des
Zuges saB er im Bahnhofsrestaurant, in der Ecke, aus der
479
man die vorfahrenden Wagen iiberblicken konnte. Nervos
riickte er den Bierkrug vor sich hin und her, trank hie und
da einen Schluck und lieB die vor dem Haupteingang
haltenden Autos nicht aus den weitaufgerissenen Augen.
Vorlaufig kommen kaum ein paar Wagen. Langsam fegt
der Zeiger im schlafrigen, nachtlichen Speisesaal die
Minuten weg. Nun fahren schon in kleineren Abstanden
Wagen vor. Noch 7wanzig Minuten bis zur Abfahrt, — er
hat sie nicht kommen sehen. Sollte ich sic verpaBt haben?
vielleicht sind sie schon langst drin, vielleicht sogar schon
eingestiegen. Brennende Unruhe ergreift ihn. Sicher sind
sie schon drin. Na und? dann sind sie eben drin, sind ein-
gestiegen und fahren ab. Was will ich denn von ihnen?
warum bin ich iiberhaupt hergekommcn? Hege ich viel-
leicht die Hoffnung, jetzt wird sich auf einmal alles wenden?
bitte schon, lieber Kelemen, ich habe mir die Sache iiber-
legt, komm mit, wir nehmen dich mit!? . . . vielen Dank,
lieber Andor, innigen Dank fur deine Bemuhungen und
vor allem fur deine liebenswiirdige Vermittlung . . . bei
deiner lieben Schwester . . . bci der schonen roten Joly . . .
und gestatte mir, daB ich dir zum Zeichen meines Dankes
diesen Scheck Ein leichter Schauer lief ihm durch den
Korper, er stand auf und winkte dcm schlafrigen Kellner.
,,Ich komme noch zuriick", sagte er und zeigte auf den Bier-
krug, ,,lassen Sie das bitte stehen und seien Sie so freundlich,
auf meinen Mantel aufzupassen." Er trat hinaus auf den Gang,
der nach der Vorhalle fiihrt. BloB vereinzclte Menschen;
ich hatte gar nicht gedacht, da8 abends so wenige Leute
reisen, — oder gewiB sind die meisten schon drin. Langsam
und vorsichtig geht er, seine Augen blicken zitternd nach
alien Seitcn; vor der Tiir des Wartesaals erster Klasse bleibt
er stehen. ,, Bitte die Fahrkarte", sagt sofort der gclangwcilte
Kontrolleur; ,,ich geh nicht rein", antwortet cr, ,,ich suche
blofi jemandcn", und iiber das miBtrauische Gesicht des
an der Tiire Stehenden hinweg schickt er einen kurzen
Blick in den Wartesaal. Auf dem Sofa ncben dem Ausgang
480
sitzt Frau Kadar, neben ihr liegt die grauc Reisetasche. Nach
VogelstrauBart wendet er sofort den Blick ab und kehrt
mit langen Schritten in den Speisesaal zuriick. Die Unruhe
verfolgt ihn. Ungeduldig klopft er ans Tablett, bezahlt das
Bier, laBt sich in den Mantel helfen und geht auf den Aus-
gang zu. Allein sitzt sie da im Wartesaal . . . sollte Kadar
noch nicht hier sein? ausgeschlossen, in zehn Minuten fahrt
der Zug ab. Oder ist er vielleicht schon auf dem Perron? . . .
oder reist er gar nicht? . . . Aus der Tiir des Speisesaals
spaht er nach dem Bahnsteig, — von hier aus sieht man
nichts. Der Zug steht auf dem ersten Geleise, — vorsichtig
geht er am Zug entlang. Kurz ist der Zug, hochstens sechs
bis acht Wagen, man sieht, wie nahe die Lokomotive ist.
Nur erster und zweiter Klasse und lauter direkte Wagen.
Wien, Innsbruck, Genf, Basel, Hoek van Holland, Paris,
aufregende Namen, Stadtenamen Und dann, aus der
Entfernung von etwa zwei Waggons, sieht er Kadar vor dem
Pariser Schlafwagen. Seine Frau ist jetzt auch schon neben
ihm. Die Miitze in der Hand, steht der Schaffner vor Kadar.
Gern mochte er horen, was sie sprechen. Dampf pfeift, eine
Lokomotive zischt, Eisenschlage tonen, — er sieht nur, wie
Kadar dem Schaffner Geld gibt und wie der Schaffner sich
tief verneigt. Dann schwingt sich Frau Kadar mit leichten
Schritten auf die Waggonstufen, und auch Kadar steigt ein.
Da tritt Kelemen behutsam vom Zug weg und stellt sich
an die Wand. Der Gang des Schlafwagens liegt nach dem
Perron zu und ist beleuchtet. Er sieht den Schaffner
vorgehen, eine Kupeetiir offnen und dann daneben noch
eine. Man kann in die blauen Samtabteile hineinsehen. Die
Frau verschwindet in dem einen Kupee; Kadar steht im
Gang, mit dem Riicken nach dem Bahnsteig, er steckt sich
eine Zigarette an, man sieht den Rauch um seinen Kopf. —
Hinter Kelemens Riicken wird eine Tiir geoffnet, — ,,Ver-
zeihung", sagt der heraustretende Bahnbeamte und stoBt
ihn im Vorbeigehen ein wenig an, Der Beamtc hat ein
Aktenbiindel unterm Arm und geht eilenden Schrittes auf
31 Kttrmcndi, Budapest 481
den Zug zu; Kadar dreht sich um and laBt das Fenster
herunter. Jetzt kann er die Frau sehen, sie 1st auch auf den
Gang gekommen, cine Zigarette im Mund. In Kadars Hand
flammt das Feuerzeug auf, sie blast den Rauch durch die
Fensterspalte. Plotzlich ertont hinter Kelemens Riicken der
Telegrafenapparat, tata-ta-ta-tata-ta-tata und in das
Morseklappern schrillt die Telefonklingel. ,,Ostbahnhof
Verkehrsinspektion, bitte?" sagt cine schlafrige Manner-
stimme. Plotzlich, wie es begonnen hat, hort das Klappern
wieder auf. Als ich das letztemal mit Papa nach Szeged fuhr,
um die Leder zu ubernehmen, noch im Krieg, da klapperte
genau so hinter meinem Riicken auf dem Bahnhof der
Telegraf ,,Zeitung bittee — Zeitung — Biicher —
Illustrierteee — — " singt vor ihm ein nachziigelnder
Zeitungsverkaufer und schiebt sachte, schlafrig und ge-
langweilt seinen Wagen vor sich her. Der Schlafwagen-
schafFner steht wieder bei Kadars, Kadar sagt etwas, nickt
dann, und der Schaffner geht weiter. Im nachsten Augen-
blick hort man lautes Turenschlagen vorne vom Zug her,
dann noch einmal und noch einmal, — der Waggon hier
gegeniiber ist fast leer, — und dann setzt sich der Zug in
Bewegung. Kadar steht mit dem Riicken im hellen Fenster-
rahmen, die Frau an die Wand des Abteils gelehnt, an-
scheinend sprechen sie miteinander. Der Zug rollt langsam ;
das Licht aus den Fenstern spaziert in hellen Karos auf dem
Asphalt des Perrons neben dem Zug her. In leisem Takt
fahrt der letzte Waggon an Kelemen vorbei. Obcn in der
Mitte cine rote Lampe mit starkem Licht. Der Bahn-
bcamtc mit den Akten unterm Arm kommt wieder; ,,par-
don", sagt er und offnet die Tiir hinter ihm. Einen Augen-
blick stromt ihm der warme Rauchgcruch ins Gesicht. Auf
dem Perron noch zwei-drei Menschen, die dem Ausgang
zustreben. Kelemen dreht sich um, geht aber nicht auf den
Ausgang zu, sondern in den Speisesaal. Ein schlafriger
Portier sitzt in der Tiir. ,,Hier ist kcin Durchgang", sagt cr.
,,Na, Alter . . ." und er driickt ihm etwas Nickelgeld in die
482
Hand. Dann steht er im Bahnhofsrestaurant. An acht oder
zehn Tischen sitzen noch Leute; gewiB keine Reisenden,
bloB Gaste, so spat. Die Fenster nach der StraBe sind matt,
naB. Es hat wohl angefangen zu regnen. In Hut und Mantel
bleibt er unschliissig in der Mitte des Saales stehen. Es
regnet, und ich habe keinen Schirm bei mir. Langsam und
zogernd geht er auf die Tiire zu ; vor dem Ausgang dreht er
sich plotzlich um, geht an seinen friiheren Tisch, zieht den
Mantel aus und setzt sich. Der Zahlkellner stellt sich mit
fragendem Gesicht vor ihn. ,,Ein Helles", sagt er zu ihm.
,,Ein Helles", wiederholt der Oberkellner dem Getranke-
kellner, ,,ein Helles", sagt der Getrankekellner im Weiter-
gehen. Ein Helles. Einige Minuten nach halb zwolf, —
warum zum Kuckuck setze ich mich eigentlich wieder
hierhin, warum bin ich nicht nach Hause gegangen?
Morgen friih nein, morgen friih ist nichts. Ins Hiiro
brauch ich ja nicht zu gehen. Audi sonst habe ich nichts
zu tun. Die Sache ist erledigt. Sic sind abgereist. Heute ist
der Vierundzwanzigste . . . das heiBt schon der Fiinfund-
zwanzigste. Ungefahr ein Jahr ist es her, daB ich bei Doktor
Barta im Wartezimmer die illustrierte Zeitung in die Hand
nahm, — ein Jahr. Ein liebliches Jahrchen war das . . .
Plotzlich iiberfallt ihn ein Gahnkrampf; dumpfes Sausen
hat er im Kopf. Nein, mit keinem Wort hat er gesagt, daB
cr heute abreist, schon heute abreist. Wenn ich nicht zu-
fallig angerufen hatte, — na, was ware derm passiert, wenn
ich nicht angerufen hatte? er ist eben abgereist, SchluB,
was geht mich das an, wir haben uns ja verabschiedet. Das
Bier macht miide, dieses zweite Glas war vollkommen
uberfliissig, — iiberhaupt, warum bin ich eigentlich nicht
nach Hause gegangen? — warum bin ich iiberhaupt her-
gekommen? Sic sind abgereist, — das weiB ich jetzt
bestimmt, ich habs gesehen, wie der Zug mit ihnen davon-
fuhr, — na. Ich hatte gleich nach Hause gehen sollen, Leise
klopfen ihm die Morsezeichen im Ohr, ta-tata er
steht auf, tritt ans Fenster und versucht, durch die nasse
31- 483
Scheibc zu sehen. Matte Lichtflecke von Elcktrischcn mit
Anhangern hiipfen ihm vor den Augen. Zwei Kupees
haben sie sich aufmachen lassen, — feine Sache, zwei
Schlafkupecs, und iiberhaupt zu reisen. Ich miiBte ver-
reisen, nach Wien. Jawohl, und das Geld? — ach, was,
Geld, Geld, ich hab ja noch Geld, fur einen Monat reicht
das noch, in Budapest odcr in Wien, — nein, wirklich . . .
die Kadarsache hat mich nicht viel gekostct, — er lacht
still, — hat gar nicht viel gekostet. Ich bin genau so aus-
gekommen wie sonst, — zum Gliick hab ich die Sache mit
dcr notigen Einteilung gehandhabt, — bloB gerade die
vierzig Pengo habe ich noch fur mich selbst verbraucht,
die ich sonst Mama noch gebe. Aber . . . Saris hatten nichts
gegen diese Reduktion einzuwenden, haben kein Wort ge-
sagt, sic hatten wohl auch nichts dagegen gehabt, wenn er
gar nichts gegeben hatte, schlieBlich, wenn man nichts
verdient . . . Du lieber Gott, wenn Karoly wiiBte, daB sie
mich bei der Transcont nicht weggeschickt haben, sondern
daB ich von selbst gegangcn bin, als es so aussah
nein, und wenn es gar nicht so ausgesehen hatte, auch dann
hatte ichs in dem Hiiro nicht mehr ausgehalten, und friiher
oder spater ware mir ja doch gekiindigt worden, spatestens
im September mit dem Kramer zugleich. Und ich hatte
noch den Vorteil, daB sie mir ein halbes Jahresgehalt aus-
gezahlt haben, — also, das kommt auf eins heraus, — bloB
keine Gewissensbisse, keine Vorwiirfe, cine ganz klare
Sache, — wirklich . . . es war ja iiberhaupt nicht unmoglich,
kann ich aufrichtig sprechen, Herr Czilek? also, dann sage
ich es Ihnen offen, ich gehe ins Ausland, sagen wir, ich
wanderc aus, darum kiindigc ich freiwillig . . . Aber wenn
Sie in der Lage waren, eine Bitte zu unterstiitzen . . . immer-
hin, als Angestellter, der cinen wichtigcrcn Wirkungskrcis
hat, mochte ich, wenn moglich, das Gehalt von sechs
Monaten Sie hatten mir ja auch kiindigen konnen.
Aber niemand braucht davon etwas zu wissen, die Haupt-
sache ist, daB oa, jetzt muB ich abcr nach Hause
484
gchen. Bcstimmt sind sic was weiB ich, wo sic jetzt
sind? was gcht es mich an?l er 1st abgereist, damit muB ich
mich abfinden, er 1st abgereist, und die Angelegenheit 1st
erledigt. Abgeschlossen. Hingegen ... — er klopft mit dem
Geldstiick am Rand des Bierglases, — schon 1st es nicht
von ihm, daB er mir kein Wort gesagt hat, warm er fahrt, —
er brauchte doch nicht so auszuriicken Blodsinn, er
ist doch nicht ausgeriickt, wir haben uns ja ganz ordentlich
verabschiedet. Morgen oder iibermorgen, ich weiB noch
nicht er hats ja nicht geleugnet, daB sie abreisen
wollen. Und wenn ich jetzt hingegangen ware ans Schlaf-
wagenfenster — Servus, Kadar, gute Reise, und seiner Frau
ein paar Rosen gekauft hatte, — spitzes, kleines Lachen
klafft aus seinem Mund, — jawohl, ein paar schone Rosen —
Er lacht den Kellner an, der ihm den Hut reicht, der schlaf-
rige Kellner grinst gezwungen zuriick, — na, gehen wir. —
Dann steht er auf dem Platz vor dem Bahnhof im Regen.
Springt auf eine Elektrische, die nach der Rakoczi-StraBe
fahrt, und bleibt drauBen stehen. Die Uhr an der Ecke zeigt
eins; die Bahn ist leer, der Schaffner reiBt gahnend das
Umsteigebillctt vom Block. Es ist kalt und regnet heftig.
Auch die matschige StraBe ist leer; an den Ecken der
NebenstraBen schlurfen unter Schinnen schlampige Weiber,
stehen herum und trappeln weiter. Um die Lichtrcklame
liber dem Vergniigungslokal zerstaubt das Wasser. Lange
war ich da nicht drin, zuletzt voriges Jahr nach Weih-
nachten, mit den Jungcns. Ich bin neugierig, ob sie Don-
nerstag im Cafe scin werden. Wahrscheinlich wissen sic
gar nicht, daB cr schon abgereist ist. Ich werde ihnen die
Nachricht bringen . . . wie ich auch vor einem Jahr die
Nachricht gebracht habe, daB Antal Kadar iibcrhaupt
cxistiert und da und da lebt . . . Was fur ein Tag ist eigent-
lich hcute? nicht sicher, daB ich Donnerstag hingehe, ich
mag diesc Leutc nicht, und wenn ich ihnen sage, daB er
abgereist ist, werden sie wahrscheinlich — Eine Taxe
schleudcrt auf der nassen StraBe vor der Elektrischen her,
485
quietschcnd bremst die Bahn mit cincm Ruck, der Fahrcr
schreit dcm Schoffor cine Grobhcit nach. Er geht in den
Wagen und setzt sich auf den Rand der Bank. Ekclhaft ist
das Wetter. Jetzt beginnt der Hcrbst wirklich, schon cine
Woche halt dieses Matschwetter an — am Ring steige ich
um, vielleicht trinke ich noch einen Mokka in irgendeinem
Cafe oder gche zu FuB bis zum Oktogon, — wozu eigent-
lich? in dem Wetter spazieren? Von weitem sieht er, daB
vor dem Theater cine StraBenbahn steht, die ganze StraBe
hinauf ist sonst keine mehr zu sehcn, — er lauft iiber den
Damm und erreicht die eben abfahrende Bahn. Ich geh
nach Hause. Zwei ganze Schlafkupees, Kleinigkeit. Na ja,
das ncnnt man Stil. Das zahlt nicht. Mister Cadar aus Siid-
afrika kann sich das erlauben. Morgen friih sind sie in Wien,
dann in Paris, dann besteigen sie irgendwo das Schiff, dann
kommen sie zu Hause an, — dort scheint immer die Sonne wie
an der Riviera, hat die Frau gesagt. Und dann hat sie auch
noch gesagt: komisch, jetzt in Budapest fallt es mir nie mehr
ein, mit meinem Mann Englisch zu sprcchen, auch nicht,
wenn wir allein sind, dabci habe ich mich friihcr schon ganz
als Fremdc gcfiihlt. Natiirlich, das ist es ja. Als Fremde
hat sie sich gefuhlt, — sie ist ja auch cine Fremde, alle
beide sind sie Fremde. Daher kommt es . . . na, egal. Sic
kommen wieder zu Hause an. Wir sind zu Hause, nichts
ist gcwesen. — Endlich kommt der Hausmeister ans Tor
geschlurft, er brummclt etwas, als er ihn hereinlaBt. Lang-
sam geht er die dunklc Treppc hinauf, bei jedcm Treppen-
absatz probiert er mit unsicher tastenden Schritten, ob er
schon obcn ist. Der Kopf tut ihm wch. Auf einmal fiihlt er
einen dumpfen Druck und ein Sausen hinten im Kopf; das
hat mir noch gefehlt, dcnkt er wiitend, und rucksichtslos
kut schlieBt er die Tiirc auf. Die Wohnung ist dunkel, die
Kiichentiir steht offcn, er spiirt kalten Gcruch von Speisen
und Abwaschwasser. Pfui. Vor Ekel stoBt ihm das Bier
auf. Eilends tastet er sich nach seinem Zimmer. Gelbes
Licht fallt auf das aufgeschlagene Bctt, auf die sch&bige,
486
ausgefranstc dunkclrotc Chaisclongucdeckc und das Wachs-
tuch auf dem Tisch. Pfui. Pfui. Nichts andcrcs 1st jetzt in
ihm als dieses einzige Wort, dieses einzige Gefuhl: pfui.
Mit gereizten, eckigen Bewegungen wirft er die Schuhe ab
und schmciBt seine Kleider unordentlich zerstreut ins
Zimmer. Sein Nachthemd ist feucht, bei der kalten Be-
riihrung schiittelt es ihn. Dann liegt er steif im kalten Bett
und starrt in die Finsternis. Da zuckt ihm auf einmal das
Wort durch den Kopf, das seit gestern in ihm steckt und
das er seit jenem letzten Handedruck verheimlicht und von
sich abwehrt und verjagt, — das Wort mit kalter, blutiger
Aufrichtigkeit, unabanderlich wie ein letztes Urteil, ab-
geschlossen wie eine Grabsteininschrift, lautet: es ist nicht
gelungen. In eisig glanzenden Buchstaben tanzt ihm der
Satz vor den Augen: es ist nicht gelungen. Sie sind ab-
gereist. Von der StraBe tont die Klingel einer spaten
Elektrischen herauf: es ist nicht gelungen. Im Schrank
kracht es leise: es ist nicht gelungen. Der kalte Hauch des
Zimmers schlagt ihm ins Gesicht: es ist nicht gelungen.
Im Dunkeln, in seinem Kopf brennen die Buchstaben: es
ist nicht gelungen. Mit einer kindischen, flehenden Geste
zieht er die Arme unter der Decke hervor und streckt sie
vor sich in die Luft, — der Kopf tut ihm weh, und er ist
viel zu miide in dieser ihn plotzlich befallenden Erschopfung,
um denken zu konnen, um sich Rechenschaft zu geben, sich
zu wehren. Sie sind abgereist. Es ist nicht gelungen.
Irgend etwas ... ist zu Ende: das kreist ihm durch den
Korper. Dann meldct sich in seinem Kopf eine schwache,
wimmernde, miide Stimme: ich muB von neuem be-
ginnen . . . das Ganze noch einmal ... — einen Augenblick
lauscht er entsetzt nach dieser Stimme, — dann schlieBt er
wild gewaltsam die Augen, preBt den Mund zusammen
und dreht sich mit einer abgehackten, zerbrochenen Be-
wegung leise stohnend der Wand zu.
Eine erbarmliche, gemcine Nacht. Er kann nicht ein-
schlafen. Alle Mobcl krachcn und knistern, jedes Gerausch
487
hallt hundertfach in seincm Kopf wider. Stromungen sind
in dcr Luft: Kalte und Glut pcinigen seine Haut; er fangt
untcr dcr Decke an zu schwitzcn, deckt sich auf, da fegt
ihm Frosteln iiber den Korpcr. Wenn er fiir einen Moment
die Augen offnet, kriechen durch die Spalten der schicf
heruntergclassenen Jalousie beangstigende, fremdc, form-
lose Lichter von Wand und Decke und Frau Hunkas
groBer weiBer Hutschachtcl auf dem Schrank auf ihn zu.
Wie bose Nattern tasten sich die Lichter phosphoreszierend
nach seinen Augen hin; und dann, wie sich seine Lider
miide senken, schwirren sic rot und gelb hinter den ge-
schlossenen Augen. Zahe Betaubtheit stellt den unregel-
maBig pochcnden Motor in ihm ab, urn dann seinen ganzcn
Korper im Halbschlaf mit stoBweisen Zuckungen zu
schiitteln. Er fiihlt alles, und nichts ist ihm bewuBt; in
seiner Brust duckt sich cine leise winselnde, unbckannte
Angst. Die Gerausche, Lichter und Geriichc umzingcln ihn
und rasen cinen barbarischen, wiisten Tanz um ihn; die
Furcht vor dem Wachscin bindet ihn an den Marterpfahl
betaubtcn Halbschlafs, so erwartct cr die Lanzc dcs unab-
wcndbaren Erwachens, die vergifteten Pfcile der unumgang-
lichen Gedanken. Spater ziehen zwischen Traum und Vision
vibricrendc Bilder auf, — zuerst Gcsichter: Kadars Ge-
sicht, beangstigcnd iiberdimensioniert, Jolys Gcsicht,
schneewciB untcr der flammendcn Haarkrone, und das
Gcsicht der Mutter, schmerzvoli, alt und ausgcmergclt.
Diesc Gesichtcr tauchcn aus dem Chaos auf, wie cincn im
steckcngcblicbcncn Film die GroBaufnahme anstarrt, in
dcr tragisch-grotcskcn Rcglosigkcit von ctwas Abgcrissc-
nem, und plotzlich, ohnc Ubcrgang, wie die Lampc dcs
Projektionsapparatcs ausgeht, so verschwindcn sic in
schwarzcm Nichts. Und dann kommcn andcre Bilder: cr
sicht Kadars Auto leer vor dem Hotel stchen, nur cincn
Augcnblick. Frau Kiddr, im langcn wciBcn Mantel, tritt
herein, den Tcnnisschlagcr in dcr Hand. Die Terrassc des
Cafes an der Donau, vor Kddar stcht cin hohcs Glas,
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gefullt mit cinem hellgelbcn Eisgctrank. Joly und Kadar,
wie sie im Dunkeln vorgehen, auf den Wagen zu, auf dcm
Weg drauBen vor der Heideschenke. Und nun kommen
Tone, — nein, aus denen kann man nichts klar entnehmen.
Als sprachen viele Menschen auf einmal und als dominiere
iiber diesem Gewirr der kreischende Ton einer Kreissage. —
Ich schlafe ja noch immer nicht, fiihlt er zerqualt, als das
Rasseln eines schweren Fuhrwerks die Fensterscheiben
klirren macht, und er 1st fast gliicklich, als er das bekannte
Klingeln hort, — das weiB ich wenigstens bestimmt, das
1st die Klingel des Miillkutschers. Es muB schon spat
sein . . . im Winter kommt der Miillmann spat. Endlich
wurde es doch Morgen, wieder ein Heute, wieder fangt ein
ncuer Tag an ich habe zwar den alten noch nicht so
beendet, wie es sein miiBte. Wieder fiihlt er den bittern
Biergeschmack im Mund, und einen Augenblick spurt er
schwitzend und zitternd die Angst, der Magen wiirde sich
ihm umdrehen. Er greift nach der Uhr, am Heben der
Hand spurt er die graue, lahmende Miidigkeit seines blei-
schweren Korpers. Es ist noch dunkel, und er kann das
ZifTerblatt nicht sehen, hat aber keine Kraft, das Licht an-
zuknipsen. Krampfhaft preBt seine Hand die Uhr und
sinkt auf die Bettdecke zuriick, ein Weilchcn hort er noch
das Ticken, dann durchbricht sein ringendes BewuBtsein
die diinne Schranke dieses Tickens und fallt in den Strom
schweren, tauben und blinden Schlafes.
Als er crwacht, zieht das Madchen gerade die Jalousie
hoch; quietschend heben sich die Plattchcn, und graues
Licht kriecht ins Zimmcr. Mit Herzklopfen vom plotzlichcn
Aufwachen sitzt er im Bett, und angstlich blinzclnd sucht
cr sich selbst im Wachscin,
,,Entschuldigen Sie bitte, gnadiger Herr, ich habc an-
gcklopft, abcr Sie haben keine Antwort gegeben", sagt das
Madchen, ,,und da hat dann die gnadige Frau gesagt, geh
nur rein, Julie, und week den Herrn auf, es ist ja gleich
Mittag, sieh mal nach, ob ihm nicht vielleicht was fehlt, er
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bleibt doch sonst nic so langc liegcn, und wic das denn mit
dcm Saubcrmachcn wcrden soil", und dabei packt sic seine
Schuhe und seinen Anzug zusammen.
,,Schon gut", sagt er nach ciner kleinen Weile, ,,Sie
batten mich auch schon friiher wecken konnen. Bringen
Sic mir bitte das Friihstiick . . ." Seine schwitzende Rechte
preBt noch immer die Uhr. Halb zwolf. Genau ein halber
Tag, scit der Zug abgefabren ist Hefrgott, ich fang
ja gut an. Die Uhr kracht, mit leisem Klirren springt das
Glas entzwei, als seine Hand sie argerlich auf das Tisch-
chen neben dem Bett wirft. Kaputt, na schon, gratuliere.
Stehengeblieben ist sie auch. Gratuliere. Wiirgende Wut
befallt ihn, er springt aus dem Bett, dreht den Schliissel im
SchloB um, schmeiBt sein Nachthemd hin und stellt sich
nackt vor den Waschtisch. Kein warmes Wasser, na schon,
gratuliere. Das Zimmer ist kalt, der kiihle Bettgeruch, der
Nachtgeruch will ihn ersticken; das Wasser spritzt, wie er
es in die Waschschiissel gieBt; klatschend schmiert er sich
den Seifenschaum auf Hals, Gesicht, Ohren, Brust. Er ringt
mit dem beiBenden Wasser, der ordinar riechenden Seife,
dem ganzen ekligen, kalten Waschen, ringt mit sich selbst
in unverstandlicher Gereiztheit. Warum muBte ich auch die
Uhr kaputtmachen?! Ein feines warmes Badezimmcr mit
versenkter Marmorwanne, denkt er, als er mit dem unter
Gansehaut zitternden Arm nach dem Handtuch langt;
gratuliere. Feine Sache, ich geh ins Arthesische Bad, nicht
ins Dampfbad, in ein Extrabadezimmer ... — und da
zerrinnt plotzlich der Arger. Feine Sache, das Arthesische
Bad. Rot und warm werden Armc und Oberkorper, wie er sie
mit dem rauhen Handtuch trockcnreibt, — wie lange war
ich nicht mehr im Arthesischen, ich kann mich gar nicht
mehr erinncrn, wann ich das letztemal da war. Er geht an
den Schrank; es klopft, — na? — ,,ich bring das Friihstuck",
sagt das Madchen hinter der Tiir, ,,warten", antwortct er,
,,ich mach gleich auf." Aus dem Schrank nimmt er cincn
schabigcn brauncn Schlafrock, fahrt hinein und offnet die
490
Tur. Julie stcllt das Tablett auf den Tisch. — ,,Kann ich
anfangen sauberzumachen?" — ,,Keine Spur, sehen Sie
derm nicht, daB ich noch nackt bin?!" — Das Madchen
grinst und geht aus dem Zimmer. Er fangt an zu friih-
stiicken. Der Kaffee ist schon eingegossen, er schneidet
die Semmel durch und schmiert Butter darauf. Ich hab
Hunger, denkt er beim ersten Bissen, — die Butter ist ganz
gut, natiirlich, Kunststiick, im Winter frisch zu bleiben.
Ein Schluck Kaffee. Der Kuckuck soil die Uhr holen. Er
steht auf, nimmt sie in die Hand, ach nee, sie geht ja. Ein
ganz ordentliches Werk, scheint ihm nichts passiert zu
sein, hat wohl einen kleinen Schreck gekriegt. Das Glas ist
gesprungen, na, wenns weiter nichts ist, solange es nicht
rausfellt, kann ich sie ruhig noch tragen. Zwolf, — viel-
leicht geht sie ein paar Minuten nach, sie war doch stehen-
geblieben, die arme Uhr. Gut gelaunt setzt er sich wieder
an das Friihstiickstablett, er freut sich iiber die Uhr. Zwolf
Uhr, sagen wir, viertel eins ist es, ich brauch mich nicht
zu beeilen, ich hab ja nichts zu tun, zu Mittag essen kann ich
bis drei, — im Speisewagen wird jetzt schon gegessen.
Weit in Osterreich miissen sie schon sein. Als ich nach Wien
fuhr, dreiundzwanzig, habe ich auch im Zug gegessen, um
zwolf, — Mittagessen bitte, erste Serie, — na schon. Nach
Tisch konnte ich zu Sari raufgehen. MuB aber nicht sein.
Plotzlich wird er rot; sein Gesicht gliiht. Ich werde mich
lieber cine Stunde hinlegen, miide genug bin ich ... aber
das war nicht wahr: iibertriebcne, nervose, erregte Frische
hatte cr jetzt im ganzen Korper, einen versteckten Taten-
drang, Sehnsucht, etwas zu tun, die sich zunachst in raschen,
breitcn, iiberbetonten Bewegungen auflerte. Mit derartiger
Kraft schnitt er ins Brotchen, daB das Messcr durch den
sich ringelnden Teig fuhr und auf dcm Teller quietschte;
das harte Butterstiickchen verteiltc sich unter dem hitzigen
Druck der Mcsserklinge schmelzend auf der Semmel, und
als er die Tasse hob, plantschte cr einen guten Schluck auf
das Wachstuch. Na, — noch ein Glas Wasser. Dann tritt
491
cr ans Fcnstcr und fiihlt auf cinmal hcrbe VcrdricBlichkeit.
Es regnet, dichte Faden vcrbindcn die schwerhangende
grauc Wolkcnmassc mit dcr Erdc. Die StraBc schwimmt, —
rosa Dings, vcrscnktc Marmorwannc ... — untcn an dcr
Ecke bci dcr QucrstraBe vier bis fiinf Elektrische hintcr-
einander, sind wahrscheinlich stcckengcbliebcn, — Men-
schcn mit raschen Schritten unter Schirmcn, zwei hoch-
aufgcladene schwcre Kohlenwagcn trottcn hintcrcinandcr
her, die Pferde dampfcn; cin untersetzter, altlicher Zeitungs-
verkaufer rcnnt mit seinem Packcn, heiser krachzend bietet
cr sein Blatt fell, und driiben an der Ecke steht ein altcs
Mutterchen, auch sic leiert den Titel einer Zcitung; und
plotzlich saust unter lautem Tuten der Sirenc ein Rettungs-
wagen vorbci, Wasscr und StraBenschmutz in wcitcm Bogcn
nach beiden Seitcn spritzend. Ein Eisenbahnungl
vielmehr irgendcin Verkehrsunfall, wahrscheinlich. Bei
solchem Matsch wetter konncn ja die Elektrischen kaum
brcmsen, sicher sind zwei Wagen ineinander gcfahren,
Oder zwci Autos. Die Gummircifcn schlittern ja nur so.
Als wir cinmal nachts bei Rcgcn vom Plattensee kamen, sind
wir auch fast im Chausseegraben gelandet, auf der Land-
straBc 1st es namlich noch schlimmcr bei solcher Nasse.
Na, egal. Ich gch jctzt fort. Was soil ich hicr zu Hausc
machcn? die will schon aufraumcn. Er betrachtet das
Thermometer am Fenstcr, — sieben Grad, machtig ge-
fallcn, sieben Grad ist nicht viel. Kalt ist es. Dcr Winter
beginnt. Dann tritt er langsam vom Fenster wcg. Am
Kleiderstander neben dem Schrank hingt sein Winter-
mantel. Er sieht ihn sich an. Der Rand des Samtkragens ist
grau von Staub, mit den Fingerspitzen will er ihn abklopfen,
ach so, nicht mal staubig, abgewetzt ist er. In zicmlich
schlcchtcm Zustand ist dieser Oberzieher, innen ist er noch
ganz gut, abcr auBen Fiinf Jahre, — fiinf Jahre kann
man dem Samtkragen eines Wintcriibcrzichcrs wirklich
ansehen. Fiinf Jahre gehen ja auch an Menschen nicht
spurlos vohiber. An manchen doch, es gibt so entsctzlichc
492
cwige Kindergesichter, wie zum Bcispiel den Zatony. Aber
Kdd&r ist ganz anders geworden. Abgewetzt, macht nichts.
1st keine Schande. Heutzutagc sind alle Leutc zerlumpt.
Die meisten. Er nimmt den Mantel vom Haken, schliipft
hinein und driickt sich den Hut auf den Kopf. Mein
Schirm, — ach ja, im Flur hab ich ihn gelassen. In Hut und
Mantel steht er im Zimmer, blickt um sich, als suche er
noch etwas. Uber der Chaiselongue ist das Biicherbrett, —
was fur ein abscheuliches Wetter, eigentlich sollte ich nicht
ausgehen, — er tritt an die Chaiselongue, stiitzt sich mit
dem Knie dagegen, und seine Hand langt nach den Biichern
in rotem Einband. Mehr Biicher werde ich mir wohl
schwerlich kaufen, vorlaufig wenigstens. Solange ich keine
Stellung habe, bin ich nicht gut fur die Raten, was? Der
Agent wird zwar kommen, dem bin ich noch immer gut,
dem ist es gleichgiiltig, er kriegt ja seine Provision. Aber
der Kaufmann, — dem bin ich nicht gut. Ungarische und
auslandische Romandichter: von den zwolf Banden da
hab ich noch nicht viele gelesen, den Wassermann hab ich
angefangen, war nicht besonders interessant ... so endlos
lang ... — und auf einmal hat er vier-funf Bande in der
Hand, mit der Rechten blattert er rasch darin, — Moricz,
Krudy, Mann, Benoit, — er stellt die Biicher wieder zuriick
und nimmt ein paar andere Bande herunter, Kellermann,
Da Verona, hab ich auch noch nicht gelesen, — er sieht
sich die Titelblatter an und wirbelt die Seiten zwischen
zwei Fingern weiter, — wieder ein Packen, — knisternd
eilen die Blatter, — nicht drin, auch hier ist es nicht drin,
wohin kann ichs nur gelegt haben? warm hab ichs denn
zuletzt in der Hand gehabt? Dann stellt er den letzten Band
wieder an seinen Platz, drcht sich um und bleibt unschliissig
vor dem Schrank stehen, — vielleicht in einem Anzug, aber
ich hab sie doch seither alle angehabt ... — seine Hand greift
in die Hosentasche nach dem Schliissclbund, — da kommt
Julie mit Besen, Miillschippe und Staubtuch. Die Hand zieht
sich aus der Tasche zuriick; er knopft seinen Rock zu.
493
,,Julie", sagt er, ,,heizen Sic nachhcr anstandig ein,
nach Tisch komm ich nach Hause."
Er kam nicht nach Hause; nach Tisch ging er doch zu
Sari. Der Schwager war natiirlich schon weg, aber Sari
traf er an; seitdem sie wieder in Umstanden ist, geht sie
bloB vormittags fiir eine oder zwei Stunden ins Geschaft,
Mama schlief schon, wie gewohnlich. Joly sitzt im Schaukel-
stuhl, die Beine nach hinten gezogen; einen Pitigrilli-
Roman liest sie. Im EBzimmer hangt schwerer Kohlgeruch,
,,ich hab heute auch Kohl zu Mittag bekommen", sagt er,
als er eintritt. ,,Ich hab auch schon gesagt, macht doch das
Fenster auf, der Kohlgestank ist nicht zum Aushalten", —
Joly blickt vom Buch auf. Siri hebt ruhig den Kopf und
schniiflfelt. ,,Na, so gefahrlich ists nicht, nachher beschwert
ihr euch dann, ich laB die Warme raus. Aber wenn dus
nicht zum Aushalten findest, konntest du ja aufstehen und
selbst aufmachen ..." — ,,Gut", sagt Joly und liest weiter.
Er setzt sich an den EBzimmertisch ; nimmt einen Zahn-
stocher in die Hand; nimmt Mamas Brille in die Hand, die
mit ihren diinnen Silberrandern und den billigen, ovalen
Glasern bescheiden neben der zerkniillten Serviette liegt;
er blattert in einer auf den Stuhl geworfenen Nachmittags-
zeitung. Der Schrecken von Diisseldorf hat bisher sechzehn
Lustmorde eingestanden, Kleinigkeit. Bei volliger Teil-
nahmslosigkeit verlauft im Abgeordnetenhaus na,
auch gut. Die Arbeitslosigkeit in England nimmt zu.
Reichskanzler Briining iiber die Riistung in Frankreich.
Der Biirgermeister auBert sich Kampf von vierzig
Erben um die Millionenerbschaft. Freisprechung in cinem
Verleumdungs Rekord-Wahnsinn: sitzt die einund-
siebzigste Stunde in einem umgedrehten Sessel. Oberfahren
und weitergesaust — — Die Naive schlug den Hilfs-
regisseur knock-out. In Berlin Schl&gerei wegen des
Remarque -Films. Neuerlichc groBe Zahlungsunfahigkeit
in der Textilbranche. Im ganzen Land Nachtfrost zu er-
warten. Heutige Borse: weiteres Abflauen in den fiihrcnden
494
Werten na, schon. Er legt die Zeitung hin; auf
das Rascheln des Papiers blickt Joly wieder vom Buch
auf. Sin steht etwas schwerfallig auf und sammelt die
Brotreste in einen kleinen Korb.
,,Was gibts Neues, Bandi?" sagt sie dabei.
,,Nichts", antwortet er, blickt in die Luft und zwingt
gute Laune in seine Stimme, ,,hast du nicht gelesen? der
Schrecken von Diisseldorf — "
,,Schon gut", sagt Sari, ,,ich frag doch nicht im SpaB.
Was mitdir ist? Nichts?"
,,Nichts . . ." und als ob bei diesem Wort seine Stimme
schartig wiirde: ,,denkst du, das geht heutzutage so leicht?"
,,Also, mein Gott . . . und warst du bei Menczers?"
,,Nein", sagt er dumpf, ,,noch nicht. Offen gesagt,
glaube ich nicht, daft das was fur mich ist — "
,,Das ist ganz egal", sagt Sari mit harter Stimme,
,,glaub du lieber nichts vorher, sondern geh hin. Karoly
hats ihm doch schon erwahnt . . . er wird sich wirklich
wundern, daB du dir noch nicht die Miihe genommen
hast Und bei Generaldirektor Havas warst du?"
,,Auch nicht — "
Sari bleibt neben dem Tisch stehen, ein wenig thea-
tralisch.
,,WeiBt du, Bandi, ich versteh dich nicht. Du tust
gerade, als waren es noch keine vier oder fiinf Monate,
daB du arbeitslos herumlungerst "
Er will sie unterbrechen, will etwas sagen. — Joly sieht
vom Buch auf, — schweigt aber.
„ und nachher wunderst du dich, wenn nichts
gelingt, und Karoly rennt vergebens zu diesem und jenem,
schlieBlich bist du ja schon zweiunddreifiig Jahre alt ...
Jolan", fahrt sie, zu ihrer Schwester gewendet, streng fort,
weil sie nun schon in der Gereiztheit drin ist, ,,du weiBt
doch genau, daB Terez heute plattet, und siehst ruhig zu,
wie ich hier hin und her springe — "
,,Na, und? . . ."
495
,,Und?l Wiirdest du nicht so gut sein und mir helfen?!
wiirdcst du nicht so gut sein und den Tisch abraumen?!"
,,Wenns sein muB . . ." mit fauler Bewegung legt sie
das Buch aufs Fensterbrett, steht auf, reckt sich, tritt an den
Tisch und nimmt Mamas Brille in die Hand. ,,Sag mal,
Bandi, was machst du heute nachmittag?"
,,Ich weiB noch nicht. Warum?"
,,M6chtst du nicht mit mir ins Kino gehen oder in cine
Konditorei?"
,,Ins Kino? ich hab wahrhaftig kein biBchen Lust "
,,Na, mir ists ja egal, ich hab das bloB so gesagt ... ich
mochte namlich eine halbe Stunde in Ruhe mit dir reden."
,,Stor ich vielleicht?" fragt Sari zankisch.
,,Jawohl", antwortet das Madchen ruhig und sieht ihre
Schwester langsamen Blickes an. Da wirft Sari die kleine
Tischbiirste hin und verlaBt gerauschvoll das Zimmer.
Joly hantiert schweigend am Tisch herum, wirft das Tisch-
tuch und die Servietten auf das Biifett neben die Teller und
Bestecks. Dann setzt sie sich wieder in den Schaukelstuhl.
In Jolys weiBem Gesicht sind um den schmalen Mund
zwei harte, bittere Ziige ; ihre Augen sind von tiefen Randern
umschattet. Joly ist zwanzig und ein halbes Jahr — Er geht
ans andere Fenster und wirft von der Seite cinen fliichtigen
Blick nach seiner Schwester. Wie schlecht sie aussieht. Joly
sitzt im Schaukelstuhl, die Beine zieht sie wieder hoch.
Einen dunkelblauen Rock hat sie an und einen weiBen
Pullover; unter dem Rock sieht ihr Knie hervor und vom
Oberschenkel noch ein weiBer Streifen, ziemlich hoch
oben. Wie sitzt du denn, will er sagen und schluckt leise
das Wort hinunter. Es ist still; drauBen, — in dcr Rich-
tung, nach der Sa*ri verschwunden ist, — schla'gt Uut cine
Tiirc zu.
Joly blickt auf.
,,Na", sagt sie, ,,das iibliche Nachtischprogramm. Jetzt
kommt das Weinen. Du lieber Gott, wic ich das iibcr habe."
Plotzlich sagt er ablenkend:
496
,,Gut, — also, in welches Kino willst du — "
,,In gar keins", fahrt Joly dazwischen, ,,ich hab iiber-
haupt keine Lust, ins Kino zu gehen, ich auch nicht, ich
hab das bloB gesagt, damit sie sich endlich verzieht", mit
dem Kopf winkt sie nach der Tiire, ,,was ich wollte, kann
ich dir auch hier sagen."
,,Also, bitte", sagt er mit gepreCter Stimme; und in
diesem Moment weiB er ganz genau, wovon nun die Rede
sein wird. Von ihm. Selbstverstandlich. Das muBte ja
kommen, dieses Gesprach, nach dem leisen, raschen Satz
auf dem Gellertberg am Auto . . . Und wenn Joly jetzt
sagt, daB —
Das Madchen sieht ihn wieder an, jetzt fallt ihm gerade
und hart der griinlich-blaue Strahl in die Augen.
,,Sind sie abgereist?" fragt sie rasch und leise.
,,Ja."
,,Hast du sie an die Bahn gebracht?"
,,Nein . . . vielmehr — "
,,Was vielmehr? Ja oder nein?"
,,Gebracht habe ich sie nicht, ich war bloB am Bahnhof,
bin aber nicht zu ihnen hingegangen.<c
,,So", sagt Joly und schweigt. Stille. Und diese kalte
Stille ist wie ein schwerer Vorhang, der sie von der Welt
abschlieBt. Er ist nicht zu durchdringen. Alles ist gespannt.
Diese Stille ist unertraglich.
,,Das hast du gewollt?" fragt er, weil er reden muB, um
von dem Schweigen nicht zu ersticken.
,,Jawohl", antwortet sie und schweigt wieder einen
Augenblick. ,,WeiBt du, daB er hier war?"
,,Hier? warm?"
,,Ja, hier. Gestern nachmittag. Ist aber nicht rauf-
gekommcn. Ich saB den ganzen Nachmittag hier am
Fcnster, wirklich nicht um ihm aufzulauern, ich hatte bloB
keine Lust auszugehen und hab zum Fenster rausgeguckt.
Da driibcn ist sein Wagen stehengeblieben, driiben vor
dem Haus", wieder schweigt sie. ^Raufgekommen ist er
32 KOrmondl, Budapest 497
nicht, hat bloB cine Wcilc gehaltcn und ist dann weiter-
gcfahren. Ich hab den Wagen erkannt."
Wicdcr Stillc. Der Schaukclstuhl setzt sich in Be-
wegung.
,,Du, Bandi. Ich mochte gern antworte mir auf-
richtig, wcnn du kannst . . . hab ichs verdorben?"
,,Abcr Joly", qualt sich seine Stimme, ,,das ist doch
ich verstehe deine Fragc nicht, und iiberhaupt ist es iiber-
fliissig, dariiber zu reden — "
Joly steht plotzlich auf. In ihrem weiBen Gesicht brennen
auf den Wangen zwei rote Flecken.
,,Bandi . . . mir ist alles gleich aber ich muB jetzt
davon sprechen . . . mit wem soil ich denn da von sprechen ? !
ich will ja auch nicht abcr ich muB, weil Du,
Bandi . . . du weiBt, was er von mir wollte "
Angstvolle, tiefe Stille. Jetzt klingt ihre Stimme ganz
leise und heiser:
„ du weiBt, was er von mir wollte, und du hast zu
mir gesagt, ich soil klug sein "
,,Ich "
„ du hast gewuBt, daB ich nicht mehr unberiihrt
bin, und du wolltest "
,,Ich "
„ du hast gewuBt, daB er mir alles mogliche an-
geboten hat, gelogen und wahnsinnige Sachen geredet, ich
soli mit ihm gehen, oder wir beide sollen nach Siidafrika
auswandern, du und ich "
Das Gesicht unter dcm roten Haar ist cin einziger
fiammender Fleck. Stille. Dann plotzlich, ganz tief, zer-
brockelt in heisere Tone :
,,Du, Bandi . . . es kann ja sein, daB du recht hattest. BloB
weiBt du nicht, daB ich cine von der Art bin, die man leicht
uberbekommt, dann ist es auf einmal aus, und was ware
dann gewesen du weiBt nicht, daB er cin gemeiner,
kalter ich hab das gefiihlt und gewuBt, und wenn die
Sache mit mir mal zu Ende gewesen ware "
498
Mit leerem Korper und sdhlotternden Knien lehnt et
sich ins Fenster, mit weit aufgcrissenen Augen starrt er das
Madchen an.
,,WeiBt du, daB ich bei ihm im Hotel war, allein?"
Lange, entsetzliche Stille. ,,Ich glaubc, da habe ichs ver-
dorben ich hab ihm gesagt, niemals . . . diirfe er mich
anriihren, bloB wenn er sich von der alten Kuh scheiden
laBt und mich heiratet "
Ein fiirchterliches, sirenenartiges Heulen beginnt jetzt
in seinem Ohr zu klingen, zuerst ganz leise, und dann wird
der Ton immer durchdringender. Er kann kaum etwas
anderes horen.
,,Du, Bandi . . . hab ichs verdorben?! hatte ich nicht . . .
gleich alles auf einmal wollen durfen?! hatte ich mich ihm
hingeben sollen? und dann entweder — oder? du hast
gesagt, ich soil klug sein . . . also, war ich zu klug oder nicht
klug genug sag, bin ich schuld, daB die Sache ver-
dorben ist, fur dich und fur mich?!"
Auf einmal wird er kalt und hart. Die zerfallende
Seele fliichtet sich in letzter Kraftanstrengung hinter eine
Maske.
,,Ich begreife nicht, Joly, was du da redest Bist du von
Sinnen? hast du einen Knacks bekommen? du weiBt iiber-
haupt nicht, was du redest "
,,Na, egal, ich habs verdorben. Ich hatte ja auch ganz . . .
den Verstand vcrloren. Nicht gelungen. Ich werd schon
irgendwie damit fertig werden nun leben wir eben
weiter wie bisher wenn nicht mit ihm, dann eben
ohne ihn . . , dann eben mit Tot6 Huszar und dann mit
einem andern "
Mit einem Satz steht er vor ihr, packt ihre Hand und
preBt ihr wie wahnsinnig das Gelenk: ,,Du, Joly! bist du
verriickt geworden?! was redest du da fur rasendes Zeug
zusammen, vor mir, vor deinem B ruder "
Der Schmerz des Druckcs, diese korperliche Spur der
Zuriickweisung erniichtert das Madchen sofort aus dem
32»
499
taumclnden, wirbelnden Abrcchncn. Die rotcn Flccke ver-
schwinden von ihren Wangen, ihre Stimme 1st nicht mehr
heiser, sie setzt sich wieder in den Schaukelstuhl und nimmt
das Buch vom Fensterbrett.
,,Vor meinem Bruder . . . na, wie du wills t. Also, reden
wir nicht mehr davon."
Irgend etwas wiirgt ihm in der Kehle; ich muB jetzt
sofort hier weggehen ich halte es hier nicht langer
aus nicht einen Augenblick kann ich mehr hier-
bleiben Und da geht die andere Tiire auf : Mamas
rotgeschlafenes Gesicht blickt ihn an, mit blinzelndcn,
erwachenden, kleinen Augen:
,,Was ist, Bandi, du bist hier? das wuBte ich ja gar nicht.
Jolan . . . muB man euch denn jedesmal darum bitten?
warum habt ihr mich nicht schon langst geweckt?"
Jetzt ist es nicht mehr moglich, so einfach davonzu-
laufen, jetzt muB er noch drei Minuten bleiben. Ein unbe-
stimmter, stiller Schmerz schnurt ihm beim Anblick der
alten Frau die Kehle zu, ein gcstaltloses, fremdes Bedauern.
Bine weiBe Haarstrahne hangt Mama an der rechten Seite
ins Gesicht. Ihr kafFeebraunes Hauskleid hat sie an, vorn
am Rock ist ein groBer heller Fleck. Milch. Oder Fett. Die
Spitzen ihrer schwarzen Schniirschuhe sind ein wenig nach
oben gebogen. Jetzt fiirchtet er sich bereits nicht einmal
mehr davor, daB Fragen folgen konnten, die den Fragcnden
qualen und den, der ohnehin nicht auf sie zu antworten
weiB. Was macht dein auslandischer Freund? hast du dich
nach ciner Stellung umgesehen? hast du noch Geld? —
das konnte sie fragen, — aber er zittert nicht mehr vor die-
sen Fragen. Jetzt sieht er nur noch erschiittert die hangende
Haarstrahne, den Fleck am Kleid und die hochstehenden
Schuhspitzcn. Du hottest es auch besser gehabt, Mama.
Arme klcinc altc Mama, einziges, teures Miitterchen
,,Ich muB eilen, Mama, morgen oder ubermorgen komm
ich wieder", er tritt zu ihr bin und kuBt ihr die Hand.
Dann blickt er nach Joly und sagt zogernd: ,,Servus." Im
JOO
Flur vor dem groBen Schrank stcht Sari, — als er aus dcr
Tiire tritt, dreht sie sich trotzig urn, schlieBt larmend die
Schranktiir und geht wortlos in die Kiichc.
Dann steht er unten auf dem Ring im Regen. Das
Wasser klopft auf den aufgespannten Schirm, spritzt ihm
auf die Schuhe und den Hosenaufschkg. Zwischen den
dichten Regenfaden gehen die Menschen einher, als hingen
sie an diesen Faden vom Himmel herunter, Figuren eines
beangstigenden, unfaBbaren Marionettenspiels. Du lieber
Gott, — jetzt mit Toto Huszdr, dann mit einem andern,
bloB eben mit Antal Kadar nicht ... — und ob sie es ver-
dorben habe? hat sie es verdorben? Herrgott, was dcnn?!
verkauft hatte ich sie weil ich wuBte, daB sie nicht
mehr unberiihrt ist, daB sie einen Geliebten hat, Geliebte
gehabt hat und haben wird jetzt Toto Huszar, dann
einen andern . . . warum denn nicht?! ich tue, was ich will,
jawohl, nimm das bitte zur Kenntnis, ich mache mit mir,
was ich will, und wenn du die Platze kriegst und noch so
viel hinter mir her spionierst, und iiberhaupt, es geht euch
gar nichts an, wer hat dir aufgetragen, mir Moralpauken zu
halten?! ich mache, was ich will, und wenns euch nicht
paBt, konnt ihr mich ja rausschmeiBen! — was hab ich
denn von euch? um wessentwillen soil ich auf mich acht-
geben?! kannst du mir das etwa sagen werdet ihr
mich verheiraten? so, wie es mir entspricht? oder stellst du
dir etwa vor, ich heirate einen Karoly und stelle mich hinter
die Theke, Salami schneiden?! nein, danke, und steigt mir
nicht immerfort nach, und es geht euch gar nichts an, was
ich mache, und wenns euch nicht gefallt, dann seht zu, wie
ihr damit fertig werdet, schlieBlich leben wir ja nicht mehr
im Mittelalterl — Ja, das hatte Joly klipp und klar gesagt,
als er ihr einmal Vorwiirfe machte, weil sie dauernd mit
diesen jungen Leuten herumzoge . . . dann war es lange still
gewesen, sic hatten kaum miteinander gesprochen und von
solchen Dingen iiberhaupt nicht mehr bis zu dem Tag,
da er ihr sagte: sei klug! . . * Verkaufen wollte ich sie, und
joi
wenn ich nicht geahnt hatte, daB sie schon was hinter sich
hat und wcnn ich bestimmt geglaubt hatte, daB sie
noch unberiihrt ist, hattc ich sic dann nicht vcrschachern
wollen?! — viclleicht ware es gut gewesen, wenns gelungen
ware. Sowohl fur sie wie fur mich. Sei klug und nun
ists verdorbcn. Scheiden lasscn soil er sich von der altcn
Kuh Joly ist erst zwanzig, — die Kadar mag schon
sieben- oder achtunddreiBig sein, — alte Kuh? . . . und laut
lacht er in den Rcgen, und laut sagt er vor sich hin : alte Kuh,
ich trenne mich nicht von ihr! — Jemand kommt ihm ent-
gegen, einc Art Bote mit einem in Wachstuch gewickelten
Paket unterm Arm, er starrt ihn an, — ,,alte Kuh", — sagt
er laut und aggressiv noch einmal, — der mit dem Pakct
sieht ihn mit etwas schraggebogenem Kopf groB an und
geht weiter. Auf der andern Seite viber dem Kino flammt
eine rote Lichtreklame auf, er bleibt stehen und betrachtet
die roten Lichtstreifen. Joly hat rote Haare, und Antai
Kadar war in sie verliebt, war wahnsinnig verliebt in
Joly, — ist das etwa ein Wunder? daB er sich in sie verliebt
hat? Und . . . wenn sie nicht meine Sch wester ware —
hatte ich mich vielleicht nicht — Trockene Kalte schneidet
ihm wiirgend in die Kehle, — ist das ein Wunder? Und
Kadar Das hatte ich mir ja vorher ausgcrechnet, daB
er sich in Budapest in einc Frau vergaffen wiirde, bloB eben
daran hatte ich nicht gedacht, daB es ausgcrechnet — abcr
so verliebt war er doch nicht in sie, daB er sich ihretwegen
von seiner Frau hatte scheiden lasscn und sic geheiratct
hattc. Jcder wollte etwas anderes. Joly wollte Frau Kadar
wcrden, Kadar Jolys Frcund. Und . . . der cine wollte dies
nicht, die andcrc jenes nicht. Und dann ist cs verdorben —
in diesem Augenblick fiihlt er zum erstenmal klar und deut-
lich und mit der Macht der Offenbarung, daB allcs ein-
gestiirzt, allcs verschuttct war, allcs, was sich scit cinem
Jahr vorbereitet hatte . . . aber auch allcs das, was sich
hinter diesem cincn Jahr in zweiunddreiBig Jahren an-
gesammclt hattc. Jctzt wcifi er genau, dafi die Sachc falsch
JOZ
angefafit worden war, — auch ausgedacht, weitergesponnen
und aufgcbaut war sic nicht gut. Und untriiglich weiB er,
daB das Wort ,,miBlungen" hinter Menschen und Dinge,
Phantasien und Wirklichkeiten einen Punkt setzte. Und
auch das fiihlt er, daB alles, was in zweiunddreiBig Jahren
geschchcn war, Zufall und blindes Tappen im Dunkcln
war; mit kleinen Einsatzen und winzigen Resultaten,
Tappen am Ufer eines unbedeutenden, kleinen Grabcns, —
wenn man fehltritt und in den Graben rutscht, dann sagt
man, hopp, ich bin ausgeglitten, und krabbelt wieder her-
aus. Aber was jetzt geschehen war, seit November, seit
einem Jahr: das war ein Galopp in furchtbarer, unertrSg-
licher Helligkeit auf einem steilen Bergriicken, — und
wenn man da hinuntersturzt : aus dem Abgrund kann man
nicht so einfach wieder herauskriechen und sagen, na,
weiter, es ist nichts passiert. MiBlungen grauenvoll
durchzuckt ihn das Wort, wahrend der blinde Mechanismus
der Gewohnheit seine FuBe hebt und ihn vorwarts tragt
iiber die StraBe. Unter diesem Wort ist unendliche Leere
in ihm, — und die Leere wird bloB von wusten Gedankcn-
fetzen durchwiihlt. Mutter, ganz weiB ist sie. Voriges Mai
habc ich ihr auch nur vierzig Pengo gegeben. Aber jetzt
weiB ich nicht, werde ich ihr iiberhaupt noch etwas
Ich muB wegen der Stellung zu Menczers gehen. Und zu
Generaldirektor Havas. Wenn Karoly doch schon mal
davon gesprochen hat. Halb fvinf, Zeit zum Kaffeetrin-
ken ich geh in ein Cafe, die Nacht hab ich entsetzlich
schlecht geschlafen, und das Mittagessen war auch nicht
gut. Bei Sdri gabs auch Kohl, ist denn jetzt Kohlsaison?
ich muB Kaffee trinken im Zug trinken die Leute
jetzt auch Kaffee im Speisewagen Er kippt seinen
Regenschirm ein wenig nach vorn, ein eiskalter Tropfen
fallt ihm in den Kragen, am ganzen Korper erschauert er.
Pfui ... es ist auch moglich, daB mir etwas fehlt, vielleicht
habe ich mich gestern erkaltet, vielleicht habe ich sogar
Fieber. Vor einem Fenster dcs Cafes bleibt cr stehen,
503
betrachtet den braunen Halbvorhang und die beschlagenc
Scheibe. Ich geh rein und trinke eine Tasse
In dcrEcke ist ein kleiner Tisch frei; zwischen zwei
groBen Menschengruppen drangt er sich hindurch. Nach
dem ersten Schluck Kaffee fuhlt er sich von Glut iibcr-
gossen, wird rot und mochte am liebsten den Kragen ab-
legcn; der steife Kragen fiihlt sich feucht an, und sein
Druck wiirgt ihn. Gegen die Hitze muB man sich schiitzcn,
das Beste gegen die Sonne ist der mit Kork gefiitterte
Tropenhelm das Beste gegen die Hitze im Cafe jedoch
ist Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, er
greift an den Hals und zerrt an seinem Kragen. Ich werde
zu Menczers gehen und zu Herrn Generaldirektor Havas,
Karoly hat ihnen die Sache schon erwahnt, die sind bei der
Hand, wirklich ganz egal, was fur Arbeit sie mir geben
konnen, bis ich eine anstandige Stelle finde. Gut; wenn sie
im Buro keine Verwendung fiir mich haben, dann werde
ich eben im Geschaft bedienen, die Hauptsachc ist, daB ich
irgendwas anfange, irgendwas in der Hand habe, irgendwo
FuB fasse, irgendeinen Ausgangspunkt habe — — An
einexn Tisch rechts sitzt eine Schar junger Burschen, sie
disputieren laut. Ein Schwarzhaariger mit brennenden
Augen fuhrt das Wort. ,,Der Siirrealismus", sagt er, ,,ist
die einzige Richtung, die iiber den Rahmen ciner Manier,
einer einfachen Formenanschauung hinauswachst. Der
Siirrealismus ..." — das sind wohl Litcratcn, Kindskopfe,
wir haben das auch gemacht, das heiBt ich nicht, aber
manchmal bin ich hingegangen zu den Jungens, die in der
achten Klasse die ,,Gymnasiastenjahre" herausgaben. Was
fur Blodsinn die zusammengeschrieben haben, und wie sic
cinandcr kritisierten, tolle Sache, manchmal platzte man fast
vor Lachen. Zdtonys Erzihlung crinncrt ein wenig an
Jokais schonstc — Halasis neue Novelle ist gewiB unter
Krudys EinfluB entstanden — — dieses Chanson zeigt
gewissermaBen eine Nachempfindung dcs jungen Hcl-
tai Weinbergers Lyrik . . , du licber Gott, Weinbergers
504
Lyrikl — ,,Der Siirrealismus", sagt der Schwarzhaarige
rechts, ,,ist im Vcrglcich zu dem kaltcn, erfundenen
Formalismus sonstiger Ismen von demselbcn fruchtbaren
Niveau wie in der Musik die auf die atonale Theorie auf-
gebaute neuere ..." — ich habe auch zwanzig Kronen
gegeben, damit die erste Nummer erscheinen konnte. Da-
mals habe ich zum erstenmal meinen Namen gedruckt
gesehen : mit giitiger Beihilfe der Freunde unseres Blattes . . .
A. Kelemen, Klasse VIII — zwanzig Kronen. — Spacer
war ich dann noch einmal gedruckt, als die Untersuchung
in der Bankangelegenheit im Gang war moglich, daB
ich auch hatte schreiben konnen, wenigstens unter jemandes
EinfluB oder jemanden nachempfindend. Simon hat auch
geschrieben, Theaterkritiken, iiber ein Kriegsstiick hat er
cine riihrende Kritik geschrieben. Simon ist auch bei der
Feder geblieben, ich verstehe aber nicht, wie er davon
leben kann, sicher sammelt er Annoncen, schreibt solche
Theateranzeigen und Reklameartikel . . . sag mal, kennt
man da unten deine Firma zur Geniige? eine gescheite,
richtig eingestellte Reklamekampagne Was fur ein
gemeines, finsteres kleines Lachen die Antwort darauf
war, — und Kadar sagte sofort: bisher haben wir nicht
sonderlich viel Reklame gemacht, aber du kannst recht
haben, vielleicht ware das nicht ohne . . . Beschaftigst du
dich mit Reklamewesen? — das sagte er so, in einem solchen
Ton, — vertraulich und unmittelbar, man hatte wirklich
nicht gedacht, daB das Ganze bloB — ,,Der Siirrealismus ist
das Dokument jener vitalen Kraft — " nein, diese Kinder
da wissen noch nicht, konnen noch keine Ahnung haben,
was das heiBt: leben, Geld verdienen Jetzt schnauzt
in der Gruppe links eine rauhe, erregte Stimme, einer haut
klirrend auf den Tisch, ein dicker Herr mit leuchtender
Glatze und Kneifer, — ,,der Fiinfjahresplan, mcin Herr,
der Fiinfjahresplan? ein Hirngespinst ist das, ein Wahn-
sinn, das konnen Sie mir nicht einreden, daB man mit
leercm Magen einen Fiinfjahresplan machen kannl einen
Fiinfmonatsplan vielleicht, nein, nicht einmal einen Fiinf-
tagesplanl nixda Fiinfjahresplan, ganz einfach Terror, und
damit basta! Ich wcttc mit Ihnen, daB Herr Sebok kcincn
Dunst davon hat, was " — ,,Wenn nun aber jemand
behaupten will, dcr Siirrealismus und der Impressionis-
mus — " — jetzt hcbt ein diinnes kleincs, blondes Madel
mit einer tollen Mahne aufgeregt den Arm und laBt ihn
dann plotzlich wieder fallen, — fjUh", sagt sie, ,,meine
Achselspange ist mir abgerissen, der Teufcl soils holen!"
und mit der linken Hand greift sie in den Ausschnitt der
blauen Seidenbluse und hanticrt in aller Ruhe um ihre
Brust herum. ,,Darf icb behilflich sein?" sagt der Surrealist,
und der ganze Tiscb bricbt in kindiscbes Gekicber aus.
,,Soll ich nicht hclfen, Olga?" setzt er den Witz fort, und
seine Augen — genau so guckte Toni, mit demselben
gierigen, ausgelieferten Blick guckte er Joly an, als wir
das erstemal im Wellenbad zusammenwaren, Joly war
im roten Trikot und in rotcn Schuhen, — und in der
Heideschenke, an dem Abend am Tisch hat er sie auch so
angesehen, und als wir »,Der Fiinfjahresplan ist heute
einc cbenso belebende Idee fur die russischen Massen wie
friiher — " — ,,Und wer im Siirrealismus nicht das findet — "
— nein doch, er findet es nicht, du schwarzcr Laffe, du
Quatschkopf, ich finde es nicht, nein, und ich werde es nie
mehr in irgend etwas finden! — nein, ich hatte dicscn
schrecklichcn Fehler nicht begehen diirfen, mich auf einen
einzigen Gedanken einzustellcn, mein ganzes Leben auf
eine einzige Moglichkeit einzustellen ! — und wcnn ich die
Sache anders angepackt hatte? als er sagte, dort unten sei
Raum fur jeden arbeitsfahigen, klardenkenden Menschen —
— wenn ich da nicht darauf gewartet hatte, daB bin
ich denn ein klardenkender Mensch? bin ich denn arbcits-
fahig? bin ich nicht davon ausgegangen, daB Joly und
hat sie cs verdorben? sic fragt, ob sie es verdorben habe?
nein, ist ja nicht wahr! sie geht mich gar nichts an I hatte
er mich mitgenommen als Mitarbeitcr . . . was weifl ich,
506
als was, als einen, dem er cine Portion Arbeit und ein Stiick
Brot gibt, aber nicht so, als Tausch Plotzlich erhebt
cr sich in brenncnder Aufregung. Derart wild klopft cr
ans Glas, daB von rechts und von links alle Augen nach
ihm hinblickcn. Stehend wartet er, bis der Zahlkellner
kommt. Beim Hinausgehen stoBt er an Stiihle, rempelt
Leute an, und erst auf der kalten, feuchten StraBe wird er
die erstickende Glut los. Ich geh jetzt sofort zum Arzt, zum
Nervenarzt ich habe eine Kur notig . . . Herr Andor
Kelemen leidet an schwerer Erschopfung der Nerven, und
dieser Zustand erfordert eine langere Zeit volliger Ruhe,
das hat er geschrieben, im April, Dr. Otto Huszar, Toto
Huszar, mit dem Joly heute . . . und dann mit einem
andern nein, nein, das halte ich nicht aus! das kann
man ja nicht ertragen, dieses dauernde ich muB
sofort Vor dem Eingang zur Untergrundbahn
steht ein zerzaustes Frauenzimmer, von ihrem Schirm trop-
felt der Regen. Entschlossen geht er auf sie zu, bleibt vor
ihr stehen und guckt unter ihren Schirm. Sie offnet sofort
in dienstbereitem Lacheln den Mund, — an der linken Seite
hat sie nebeneinander zwei groBe Goldzahne. ,,Pardon",
sagt er und wendet den Kopf ab ; die Person zuckt miBmutig
die Achsel und dreht sich um. Schabige, niedrige Schnee-
schuhe mit abgewetztem Pelzrand hat sie an den FuBen.
Er miBt sie von hinten und macht ebenfalls kehrt. Jetzt
fiihlt er wieder den kalten, feuchten Schauer viber dem
Riicken; er gibt sich einen Ruck und geht raschen Schrittes
auf die andere Seite der StraBe; in der Mitte auf dem
Damm springt er knapp vor einem Auto hinweg und hort
die Stimme des Polizisten, der ihm etwas zuruft. Einen
Augenblick steht er am Rinnstein, — Restaurant, Restau-
rant, Restaurant ... — er geht auf die FuBgangerinsel auf
dem Damm, bleibt am Rande stehen, wartet, bis ein Auto-
bus mit feuchtem, schwerem Keuchen voriiberfahrt, dann
uberquert er die StraBe. Ich muB jetzt gleich etwas — ich
fange jetzt sofort etwas an
507
Ubcr dem Kcllcreingang brennt cine clektrischc Birne;
na, mal sehen, ob sic noch da sind. Vorsichtig gcht er die
schmalcn, quietschcndcn Holzstufen hinuntcr, offnet die
Glastiirc, sofort ertont cin heller Klingelton. Hinter der
Tiir bleibt er im gelbblinzelnden Licht stehen, einem EB-
zimmcr-Spiegelschrank gcgeniiber. Herrgott, wie schlccht
ich aussche, mein Gesicht ist ja ganz gelb, wie eine Leiche . . .
er schiittelt sich, und das gelbe Gesicht seines totcn Vaters
fallt ihm ein, mit dcm leidenden, halbgeoffneten Mund, wie
er im Belt lag, als er in jener Nacht von der Todesnachricht
zerriittet in die wcinende, besinnungslose Wohnung ge-
stiirzt kam. Er wendet den Kopf und blickt wieder in einen
Spiegel. Er schiittelt sich, und in seincm Korper macht sich
eine Bewegung los, zuriick, auf die Treppe zu, hinaus auf
die StraBe, — da steht mit leisem Schlurfen eine fett-
geschwollene, zottige alte Frau in schwarzem Klcid und
PantofFeln vor ihm und sagt unsicher:
..Geftllig?"
Das ist wahrscheinlich Mutter Menczer . . . nna.
,,Habe ich vielleicht das Vergniigcn, Frau Menczer . . . ?"
,Ja. Geflfflg?"
Er verbeugt sich. ,,Ich bin Andor Kelemcn, mein
Schwager war so freundlich war so frei — "
,,Ja so. Sie sind der junge Mann. Ja, der Karoly hat mit
meinem Sohn davon gesprochen, abcr mein Sohn ist
momentan nicht hier, um diese Zeit ist er nie hier, Sie haben
sich eine schlechte Zeit ausgesucht."
Er schluckt schwer. ,,Bitte, ich kann jederzeit kommcn."
Er schluckt noch einmal. ,tjedenfalls frcut es mich, dafi ich
die Ehre gehabt habc ... die gnSdige Frau "
,,Ja, auch sehr erfreut. Wir habcn den Kiroly sehr gcrn,
ihm zuliebe, hat mein Sohn gcsagt, ihm zulicbc, Mama,
wollen wir versuchen, mit seincm Schwager was zu machen.
Aber das sage ich Ihncn gleich, von einer festcn Stellung
war nicht die Rede, das vcrtragt das Gcschaft hcutzutage
nicht, sondern mein Sohn hat dem Kiroly gleich gcsagt,
508
wenn dein Schwager ein tiichtiger Mensch 1st, dann kann
er bci mir sehr schone Geschafte machen, wir werden ihm
ein Prozcnt mchr geben als den andern Agenten ..."
Die Kehle ist ihm ausgetrocknet, im Spiegel, iiber dem
Kopf der Alten, glanzcn seine Augcn dunkel.
,,Und wann konnte ich mit Herrn Menczer "
,,Vielleicht morgens um neun, halb neun, wir machen
schon um acht auf, Sie konnen um acht schon kommen."
,,Vielleicht morgen?"
,,Ja, gut, morgen." Sie reicht ihm ihre fettschwiilstige,
schmutzige Hand. ,,Schonen GruB an den Karoly ... ein
sehr braver Mann ..."
Er laBt die Hand der alten Frau los; ein Gefiihl hat er,
als miisse er jetzt sofort das Holzgelander der Treppe an-
packen und unbemerkt seine Hand daran abreiben. Frau
Menczer sieht ihn mit nach links geneigtem Kopf an. Die
erste Stufe quiescht unter seinem FuB auf. Es fallt ihm etwas
ein; einen Augenblick zogert er.
,,Sagen Sie bitte . . . die Mobel werden iiber diese Treppe
hinauftransportiert ?"
Das Gesicht der Frau wird sofort geschaftlich, und ihre
Stimme klingt wie die eines Fachmannes, der das Geheimnis
einer Erfindung erklart:
,,O nein! iiber diese Treppe werden keine Mobel
geschleppt. Die Mobel werden von hinten, vom Lager aus
transportiert, mit dem Lastenaufzug auf den Hof, von da
kommen sie am andern Tor auf den Wagen, diese Treppe
hier ist bloB Eingang, die wiirde ja nicht einmal einen
kleineren Schrank tragen."
Es hort auf zu regnen, dunstig gliihen im feuchten
Abend die Lichter iiber der StraBe; kleine WindstoBe zer-
reiBcn am Himmcl die schweren Wolkenfetzen. Die Neben-
straBcn sind von einer geradcn Lampenreihe beleuchtet,
auf dem durchnaBtcn Fahrdamm glimmt gclb die zweite
Lampenreihe. Gelblichc Perlen, sicher hat er ihr auch
Juwelcn versprochen mit der Hand schlagt er vor
J°9
seinem Gesicht her, als vcrjage cr einc lastige groBe Fliege;
nein, — wenn es mir jetzt nicht gelingt, diese Fliege
Er tritt in den Zigarrenladen; kauft Zigaretten, auch
Streichholzer, lange wahlt er unter den flachen und dicken
Streichholzschachteln. Dann sucht er sich noch zwei Zigar-
ren aus; cine magere Frau sieht sauerlich zu, wie er die
Zigarren in der Kiste knistern laBt. Dann laBt er sich
Ansichtskarten vorlegen, blattert in dem groBen schwarzen
Album. Ansichten von Budapest, imposante Sache das
Parlament . . . und wo mag das hier sein? ach ja, Calvin-
Platz, sieht in Wirklichkeit ganz anders aus. Jetzt kommen
Blumen im Album, bunte, siiBliche StrauBe, dick heraus-
gestanzt aus dem Grund. Jetzt ist er bei den Ulkkarten
angelangt, bei witzigen Szenen mit sogenanntcm dcrbem
Humor, — du lieber Gott, wer kauft so was? Gleich dahinter
Pikanterien, dcr Phantasie eines Fris6rlehrlings ent-
sprechend, Damen in bunten Combinaisons und sonstigen
Hullen, mutwillig die nackten Beine zeigend. Dann ziehen
romantische Duetts an seinen Augen voriiber, kniende
Kavaliere, Frauen in leichten Gewandern, auf Kanapees
hingegossen, — unglaublicher Blodsinn. Aber auch ernstere
Sachen sind da, dunkelgetonte, farbige Reproduktionen
bekannter Bilder, jaja, etwas Gottliches ist die Malerei,
was fur Kraft in dieser reitenden, nackten Gestalt steckt . . .
— und dann ist da oben ein Bild, ,,Der Daimon" steht
darunter gedruckt, — eine rothaarige Frau in dekolleticrtem
weiBem Schleppkleid mit erhobenen Armcn, vor ihr mit
gcbeugtem Kopf und gesenkten Schultern cin Mann im
Smoking plotzlich schlagt er das Album zu; die dunne
Vcrkauferin sieht ihn erschreckt an. ,,Darf ich vielleicht
etwas in Filmstars zeigen?" fragt sic, ,,ncin, danke", sagt
er, ,,ich findc nicht, was geben Sic mir bitte eine
gewohnliche Postkarte." — ,,Nach auswirts?" fragt die
Verkauferin unmotiviert. ,,Ja . . . was hab ich zu zahlen?"
Die Frau bewcgt leise den Mund. ,,Einszehn und scchsund-
siebzig und zchn und zchn, macht zwei Pengo scchs, danke
schon . . ." Er 1st wieder auf der StraBe. Na, denkt er, das
waren gute zehn Minuten. Ich werde mir die Sache auf-
teilen, so ... in Minuten. Einen Schritt weiter steht ein
Zeitungsverkaufer an der Ecke. Er tritt bin, liest die hun-
dertfach bekannten Dberschriften, kauft dann ein Abend-
blatt und eine Sportzeitung. Blodsinn. Zum Fenster raus-
geschmissenes Geld, lesen werde ich sie ja docb nicht. Er
faltet die Zeitungen zusammen und steckt sie in die innere
Tasche, von dem Packen schwillt die Tasche dick an. Er
nimmt ihn wieder heraus, legt jede Zeitung einzeln zu-
sammen und bringt sie in zwei Taschen unter. Zwei
Minuten. Er liest die Schilder iiber den Geschaften; vor
den noch beleuchteten Schaufenstern bleibt er stehen. Aber
das wird so nicht gut gehen, ich krieg den Tag nicht
um ins Kino konnte ich gehen, mir eine Frau auf-
gabeln, — wenn ich einen Freund hatte, einen einzigen
Menschen nicht von den Jungens oder den Kol-
legen . . . jemanden, mit dem man sprechen konnte, dem
man erzahlen konnte oder um Rat bitten, — ob ich
diese Stellung annehmen soil. Er bleibt stehen, jetzt weiB
er nicht, wohin er gehen soil. Ins Kino auf dem Ring, oder
ich setz mich in die Elektrische und fahre hinuntcr nach
ach was, hier ist ja auch ein Kino, zehn Schritt, gleich hinter
der Ecke. Die StraBe ist hell vom elektrischen Licht, eilend
geht er auf den beleuchteten Eingang zu. Im uberfxillten
Foyer bleibt er stehen, in wenigen Minuten beginnt die
Vorstellung, was fiir ein Film lauft hier eigentlich? einer-
lei. Er blickt um sich, jemand gruBt ihn, hab die Ehre; er
sieht sich um, als suche er einen Bekannten, mit dem er sich
verabredet hat; jemand drangt ihn vor, pardon, bitte, —
er schlangelt sich durch an die Garderobe, mustert scharf
eine groBe Garderobenfrau in schwarzem Kittel, sie er-
widert den Blick, lachelt, Garderobe gefallig? sagt sie
ermuntcrnd; er dreht sich um und drangelt sich wieder
zuruck an die Kasse; vor dem groBen Spiegel steht ein
Madchen in einer blauen Kappe mit stark geschminkten
S"
Lippen und dxinnen schwarzen Augenbrauen, ganz hub-
sches Ding, sehr schlank, was fur gute Briiste sie hat,
wahrscheinlich wartct sie auf jemanden, — sie zieht die
Handschuhe aus und kramt in ihrem Taschchen, schone
weiBe Hande hat sie, mit langen Fingern, mag Verkauferin
sein, vielleicht hier im Warenhaus, oder Biiroangestellte,
und wenn schon?! war dem Generaldirektor seine Bebi bei
der Transcont nicht cine prachtvolle Person? — Er bleibt
in der Nahe des Madchens stehen und heftet den Blick auf
sie, — wenn ihr Erwarteter kommt, dann hab ich eben in
den Spiegel gesehen, und wenns ihm nicht paBt, dann
Das Madchen sieht ihm auch in die Augen, beleckt ihre
Lippen, dann dreht sie ihm plotzlich den Riicken, und nun
begegnen sich ihre Blicke im Spiegel. Er tritt ein wenig
naher und sieht sie im Spiegel an, sie erwidert den Blick.
Na. Die scheint auf niemanden zu warten, wenn aber doch,
dann gratulier ich dem Betreffenden. Eine Klingel surrt,
die Menschenschlange vor der Kasse macht einen Ruck.
Jetzt ist er der blauen Kappe ganz nahe, — wirklich hiibsch
1st sie, hat gute Beine und tragt anstandige Schuhe, muB
wohl ein besseres Madel sein ... da dreht sie sich mit einer
raschen Bewegung vom Spiegel weg, tritt vor; und im
Vorbeigehen streift sie seinen Arm, ,,pardon", sagt er, —
der Kopf mit der blauen Kappe nickt wie zufallig, — sie
stellt sich in die Reihe vor der Kasse. Mit einem Schritt
steht er hinter ihr. Er drangt sich, bewegt sich und beriihrt
ihren Riicken. ,,Pardon", sagt er ganz leise. Der Kopf des
Madchens regt sich nicht. Jetzt knickt er das Knie ein und
beriihrt ihr Bein, das Bein zieht sich sofort zuriick. Einen
Schritt vorwirts. Wieder nahert er sich ihr mit dem Knie, —
da regt sich ihr Bein nicht. Na. Von der Wand her sieht er
ihr ins Gesicht, sie weicht dem Blick nicht aus. ,,Ein gutes
Programm ist hcute", sagt er leisc. ,,So? woher wissen Sie
das? haben Sies schon gesehen?" antwortet sie leise. ,,Nein,
ich weiB es bloB." — ,,Dann ists ja gut", sagt sie. Wieder
einen Schritt vorwarts. Noch zwei Pcrsonen stehen vor
512
ihncn. Jetzt schmiegt er sich ganz dicht an sic, sie lehnt sich
schweigcnd an ihn an. Dann beugt sich die blaue Kappe
vor dem Kassenfenster. ,,Kann ich noch Balkon-Mitte zu
einsfiinfzig bekommen?" fragt sie. ,,Balkon-Mitte . . . zwei
Pengd, fiinfte Reihe, gut?" Der Kopf des Madchens macht
cine halbe Wendung nach hinten, dann sagt sie: ,,gut." Die
Kassiererin steckt den Kopf ein wenig vor: ,,zwei?" —
,,Ja", sagt er da hinter der blauen Kappe, ,,zwei nebenein-
ander", und legt ein Fiinfpengostuck auf die Glasplatte. —
Das Madchen hciBt Maca und arbeitet in einer Drogerie,
ist vierundzwanzig Jahre alt und hat noch drei Schwestern,
zwei von ihnen nahen in einem Salon in der inneren Stadt,
die andere ist in Stellung bei einer vornehmen Familie,
Maca pflegt wirklich nicht im Kino Bekanntschaften zu
machen, hat es auch nicht notig, zwei junge Leute sind
ganz vernarrt in sie, aber sein Gesicht kam ihr so bekannt
vor . . . ob er nicht eine Familie Benedek in der Damjanich-
StraBe kenne, ob sie sich dort nicht schon begegnet seien,
nein? dann muB sie sich wohl geirrt habcn, im iibrigen
wollte sie auch an der Kasse keinen Skandal machen, des-
halb hat sie sich darauf eingelassen . . . das alles erfuhr er
zwischen dem Foyer und dem Balkon. Das Madchen roch
gut, ein wenig stark war ihr Parfum, ein wenig Drogerie-
Geruch hatte sie an sich, einen guten, schweren, kompli-
zierten Geruch, das war ja verstandlich. Wahrend des
Rcklamefilms und der Wochenschau murmelte Maca in
einem fort, — wie gerne sie ins Kino gehe und wie selten
sie dazu komme, auch heute habe sie sich nur mit Miih
und Not driicken konnen, soviel gebe es im Geschaft zu
tun, der Chef habe vor kurzem den Gehilfen abgebaut, und
jetzt musse sie bedienen und an der Kasse sitzen, das sei
sehr anstrengend, aber sie wurde auch nicht mehr da blei-
ben, weil der Sohn des Chefs sich unverschamt benommen
habe, ein Rotzbengel, der erst voriges Jahr das Abitur
gemacht habe, der sei ihr im Sotnmer damit gekommen,
sie solle mit ihm einen Weekend- Ausflug machen, — mit
33 KOrmcDdl. Budapett 5X3
Ihncn? allein? hab ich ihn gefragt, — na, natiirlich, sagt
er da, alle Flappers gehen allein mit ihren Freunden 2um
Weekend." — ,,Na", sprach er dazwischen, ,,aufrichtig,
sind Sie nicht mit ihm gegangcn?" — ,,Mit dem griinen
Jungen?! . . . einmal bin ich mitgegangen, weil er ein
Ruderboot hat und wcil ich furchtbar gcrn mal auf der
Donau rudern wollte, aber es war wirklich nichts zwischen
uns, bloB laBt er mir seitdem keine Ruhe, iiberhaupt seit
er auch ins Geschaft kommt, und wenn der Alte uns bloB
eincn Augenblick allein laBt, fangt er gleich an, Schweine-
reien zu reden, und dabei kann ich mich nicht einmal
beschweren, denn der Chef wiirde ja doch denken, ich
wolle mit dem Bengel anbandeln." Dann kam die Aus-
lands-Wochenschau, nicht mehr stumm, da muBtc man auf-
passen, also horte sie auf zu reden. Ein Bild hatte den Titel :
Palm Beach; amerikanische Madchen im Bad. Herrlich
gewachsene junge Weiber sausten auf das sch£umende
Wasser zu, sprangen auf einem riesigen Gummiwalfisch
herum und quietschten in zu hohen und zu tiefen Kino-
toncn. ,,Die habens gut**, sagte Maca, ,,dabei hab ich
gclesen, daB das auch Ladenmadchen und Manikiiren sind/*
Nun begann der groBe Film; da ergriff er Macas Hand,
natiirlich lieB sie es sich gefallen und erwiderte den Druck.
Dann taten auch ihre Arme und Knie intim miteinander, —
als der Film zu Ende war, sagte er: ,,na, Maci, jetzt gehn wir
irgendwo essen", — ,,fein", willigte sie ein, ,,bloB nicht in
einen Automaton, die sind mir verhaBt." Sie gingen in ein
Restaurant auf dem Ring, im kleineren Saal bekamen sie
einen Tisch an der Wand. Maca legte ihre blaue Kappe ab;
sie hatte glattcs, in der Mitte gescheiteltes, gl&nzend schwar-
zes Haar, und wie er ihr Gesicht so betrachtcte, entdeckte
er sofort eine leise, entfernte Ahnlichkeit zwischen ihr und
Frau Kiddr. Er wurde miBgcstimmt, zerstreut nahm er die
Spcisekarte in die Hand, rief ungeduldig nach dem Kellncr,
der erst auf den zweiten oder dritten Ruf an den Tisch kam.
Maca tat bescheidcn, sprach dazwischcn, sie wolle nur
JX4
etwas ganz Leichtes essen, er beachtete es nicht. Er bestellte
kalte Fischschnitten mit Tatarsauce und kompaktes eng-
lisches Fleisch. Das Madchen sagte: ,,ei, fein werden wir
heute leben", und schnalzte mit der Zunge, — da wurde er
noch miBgestimmter. Hunger hat die, dachte er, natiirlich,
warum sollte sic keinen Hunger haben? Sie ist doch allein
ins Kino gezogen, auf die Jagd nach einem Partner. Wahr-
scheinlich hatte sie es schon langst auf mich abgesehen, als
ich sie erblickte.Unangenehmes, kiihles Schweigen herrschte
zwischen ihnen; Maca schien zu fuhlen, daB irgend etwas
nicht ganz stimmte, und fing rasch an zu sprechen. Der
Film, den sie eben gesehen hatten, sei ziemlich dumm, —
,,der cine Tango, der war noch ganz gut, aber diese bidden
Geschichten, der Komponist und die Primadonna, das
hangt einem schon zum Halse raus ... ich habe Musik
wirklich gern, aber im Kino war doch das das Wahre,
wenn man sich aufregen konnte, ob die Rauber Tom Mix
oder Harry Piel fangen wiirden oder nicht . . . Wissen Sies
noch?" fragte sie dann, ,,haben Sies nicht im Ohr behalten?"
und leise begann sie, den Tango zu summen. Ein gutes
Gehor hat sie, dachte er, eine ganz nette kleine Stimme.
Geschickt sang Maca den ganzen Schlager, ein wenig ver-
halten und tief. Ein groBer blonder junger Mann in grauem
Anzug, der vom Nebentisch hinhorchte, betrachtete Maca
interessiert. ,,Sehr hiibsch sings t du", sagte Kelemen dann,
,,du konntest ruhig in jedem beliebigen Lokal als englische
Sangerin auftreten, du hast so eine Kinostimme." — ,,Nein,
wirklich! Sie finden das auch? das hat man mir namlich
schon ofters gesagt, bloB die Haare muBte ich mir blond
ftrben lassen, hat man mir gesagt." Blond und da
sieht er die kleine blonde Englanderin aus der Bar auf der
Insel vor sich, damals am ersten Abend . . . Verdutzt beob-
achtet das Madchen die Veranderung in seinem Gesicht, —
eincn Augenblick sieht sie auf ihren Teller, ,,was sind Sic
fur ein merkwurdiger Mensch ... ich weiB nie, ob
immer denke ich, jetzt fangen Sie an, wegen irgend etwas
33* 515
bose zu sein." Kurz und duster lacht er auf, ,,nein, nichts,
Kind", antwortet cr, ,,warum sollte ich denn bosc sein?
Ich bin sehr gut gelaunt, um mein Gesicht muBt du dich
nicht kummern." Maca ist aber nun schon unruhig. ,,Sagen
Sic ... waren Sic im Krieg? mein armer seligcr Vater war
im Feld als Landstiirmcr, und er hat immcr gesagt, noch
vor zwei Jahren hat er das gesagt, mit dcnen, die lange
drauBen waren, sei das so, manchmal uberkomme es
sic ..." — ,,Nein, ich war nicht im Krieg", antwortet er
abwehrend, ,,bitte, du muBt nicht denken, daB nichts
muBt du denken. Ich sage doch, ich bin gut gelaunt." Dann
bemiiht er sich, jedenfalls ein rundes, lachelndes Gesicht
zu zeigen, und lenkt schnell das Gesprach wieder auf Harry
Piel und die famosen Filme von fruhcr, in denen Bewcgung
und Handlung und Komplikation war, nicht bloB diese
lauen Liebesfaxen ... Sie essen; Maca ziert sich zuerst,
,,nur wenig, bitte, — bloB einen Tropfen Wein, — groBer
Gott, was fur Riesenportionen, das kann man ja gar nicht
aufessen, — ist der Senf nicht zu scharf? nein? dann bitte
ein biBchen, aber bloB ein kleines biBchen", und dann
kommt sie unbemerkt ins Schlingen. ,,Nehmen Sie das
Stuck da nicht mehr? so wenig essen Sie? Also, auf der
Schiissel laB ich das nicht . . . Die paar Kartoffeln, wenn
Sie sie nicht mehr essen, bin ich so frei." — ,,Aber bitte."
Und was sie noch mochte, Torte oder kleines Geback?
,,Fein, also dann kleines Geback, ich schwarmc fiir Petits
Fours mit Krem. Sagen Sie, ware es cine Schande, wenn
ich auch so eine Dobosch-Schnitte bestellte, die esse ich
namiich schrecklich gcrn, und davon gibts keine kleinen . . .
Und einen Apfel? Fein, ja bitte, einen schonen gelben Apfel,
ich eB fiir mein Leben gern Obst." — Er sclbst iBt kaum
etwas, die drauflosfutternde Partnerin macht ihm keinen
Apperit. Einmal, vielleicht vor acht Jahren, noch in den
guten aJten Bankzeiten, batten sie sich zu vicr Jungens zum
SpaB auf der StraBe zwei ausgehungerte Frauenzimmer auf-
gelescn, — widcrlich warea sie, nicht so nett wie diese
,16
Maca hicr, — die hatten sic mitgcnommcn in ein Wirtshaus
im Stadtpark, im Sommcr war das, und sic gcstopft wie die
Ganse, die in dcr roten Bluse vcrschlang acht Paar Wiirst-
chcn und scchs Glas Bier, nach dem Essen konnte sie sich
im wahrstcn Sinne des Wortes nicht mehr riihren und war
dem Ersticken nahe, — was fur cine Hetz war das mit den
bciden sclig vollgefressenen, keuchenden, biertrunkenen
Fraucnzimmern Ein peinliches Gefiihl stcckt ihm in
dcr Kchle, wie cr sich dieses Madchen hicr mit den glan-
zenden Augen ansieht, das schneeige Leuchten ihrer
schonen weiBen Hande um Besteck und Speisen. Ober der
Lippe hat sie einen diinnen Schokoladestreifen. ,,Wisch
dir den Mund ab", sagt er fast grob, ,,pardon", antwortet
sie unterwiirfig; nimmt aus der Handtasche den kleinen
Spiegel, schaut hinein und hebt die Serviette an den Mund,
,,ja, ach das ist ja nichts weiter, ein biBchen Schokolade."
Ein wenig hebt sie den Spiegel. ,Je, meinc Frisur ist ja
ganz verdorben", und mit dem kleinen braunen Taschen-
kamm streicht sie an der Seite das Haar glatt. ,,Was?" sagt
er tonlos, — ,,verdorben?I" — ,,Mein Gott, wie sehen Sie
mich denn an . . ." und ernste Angst huscht iiber ihr Ge-
sicht, — ,,ich versteh wirklich nicht . . . weil mir unter der
Kappe das Haar verrutscht ist — " Feuchte Kalte kriecht
ihm durch alle Glieder. Nein, gan2 bestimmt bin ich nicht
wohl, ich muB nach Hause gehen. — Er zahlt; aus dcr
Brieftasche nimmt er einen Hundertpengoschein. Maca
guckt mit zusammengezogenen Augen das Geld an. Nervos
und ungcschickt schliipft er in den Mantel, geht vor rwi-
schen den Tischen hindurch, bleibt dann verwirrt stehen
und wartet, bis das Madchen ihn erreicht hat. In der Tiir
nimmt cr ihrcn Arm. Ncin — ich kann jetzt nicht nach
Hausc gchcn . . . allein, — ich kann nicht . . . noch cine
schlaflose Nacht und dieses — Er preBt Macas Arm.
,,Maci . . . wohin gchn wir jctzt?" — ,,Wohin wollen Sic?"
fragt das Madchen unsichcr, ,,in ein Caft?" — Kliffendcs
Auf lachcn. ,,Nein, in kein Caft . . . irgcndwohin, wo wir
allein sind, Macichen." Sie macht ihren Arm los. ,,Sehen
Sic mal, ich will Ihncn aufrichtig sagen . . . ich habc Angst
vor Ihncn — " Es klopft ihm in dcr Brust. ,,Vor mir? du
bist ein Dummchen! warum hast du dcnn Angst vor mir?
ich bin kein schlcchtcr Mensch ... ich bin ein absolut gutcr
Mcnsch, Maca, vor mir brauchst du kcinc Angst zu habcn,
Kind ..." — ,,Ich hab ja bloB Scherz gemacht", sagt sic
schnell, ,,ich hab iibcrhaupt vor niemandcm Angst. Also,
wohin wollen Sie dcnn gchen? und warum solien wir allein
scin? . . ." In seinem Kopf schreit einc Stimme auf : nicht
allein sein! . . . ich will nicht allein sein Stille, er weiB
nicht, was er Maca antworten soil. Aber sic ist mit dieser
Frage bereits iiber die erste obligate Zuriickhaltung hinwcg,
sic weiB, daB man nach dcm Kino und dem iippigen Abend-
essen nicht undankbar sein darf. ,,Zu uns konnen wir nicht
gchen", sagt sic leise, ,,denn ich wohne mit der Mutter und
den Schwestern zusammcn, aber ginge es nicht bei Ihncn?
odcr wohnen Sie auch bei den Eltern? ins Hotel wiirdc ich
wirklich sehr ungern gehen." Ich wohne ich wohne
mit niemandem zusammcn, bloB die Chaiselonguc mit der
bordeauxroten Deckc und der Tisch mit dem Wachs-
tuch und wenn schon? ich hab sic ja schlieBlich im
Kino aufgelesen, ist doch ganz gleich, ist sic etwa an was
Bessercs gewohnt? und wenn sic an was Besscres gewohnt
ist, na dann ,,Wir gehen zu mir", sagt er und schiebt
seine Hand wieder unter ihren Arm, ,,ich wohne nicht
weit . . . allerdings ein biBchen — " — cr bricht ab. ,,Waa?"
fragt Maca, ,,was ist ein biBchen?" Stille. ,,Mein Zimmcr
ist nicht besonders schon", fahrt cr dann fort. ,,Mobliertcs
Zimmer?" fragt sic. ,Ja." — ,,Aha . . . aber doch gcwifl
sturmfrei", sagt sic sachverstandig. Er gibt keinc Antwort,
ein paar Schrittc gchcn sic Arm in Arm. ,,Extraeingang?"
fragt Maca wciter, ,,und habcn Sie Badczimmerbcnut-
zung?" — Er zerrt sic ein wcnig am Arm. ,,Komm, mcin
Engcl", sagt er, ,,alles habc ich, aber wir wollen aus-
schrcitcn, wic die Soldaten, eins, zwei, cs ist kalt." Da
Jl8
fallt ihm ein, daB der Ofen in seinem Zimmcr gewiB schon
langst ausgekiihlt 1st, Julie wird nicht noch mal aufgclcgt
habcn, es wird kalt sein. Egal. Wenn sic an was Besseres
gewohnt ist, kann sic ja gchen wcnn ich sic weglassc.
Nach wcnigcn Minutcn stehcn sic vor dem Haus; cr klingclt
und laBt cinen Pcngo in die Hand des Hausmeisters fallen,
sic gchen die Treppe hinauf. An dcr Hand fuhrt er sic durch
das dunkle Entree und den Flur: dann knackt der Schal-
tcr, — ,,na", sagt das Madchcn ermunternd und blickt sich
um, ,,ein ganz hiibsches Zimmer . . . nach der StraBe." Er
hebt den Finger an den Mund, sofort fangt sie an zu
fliistern: ,,schlaft jemand nebenan?" — ,,Ja", antwortet er,
,,ein Zimmer ist zwar noch dazwischen, aber trotzdem,
lieber leise . . ." Er bietet ihr Plate an und deutct nach dem
Stuhl am Tisch; dann tritt er an den Schrank, kramt darin
und holt ein halbes Paket Zwieback heraus, — na, die sind
mindestens ein halbes Jahr alt, als ich rnir das letzte Mal
den Magen verdorben hatte, — und einc Flasche Kognak.
Dann Glaser aus der Waschtischschublade. ,,Was zu trin-
ken? fein!" sagt Maca, ,,aber der Zwieback ist iiberfliissig,
ich kann sowicso nichts mehr essen." Er gieBt zwei Glaser
voll, — ,,ex", sagt Maca, ,,und Brudcrschaft, jetzt duze ich
dich auch." Er setzt sich neben sie, ihr Blick fliegt durchs
Zimmer, in jeden Winkel, pruft und taxiert alles und bleibt
dann auf dem aufgeschlagenen Bett haften. Er folgt ihrem
Blick, dann umschlingt er ihren Kopf, zieht sie an sich und
kiiBt sie. Maca schlieBt die Augen, ihre Lippen ofmen sich
ein wenig. Sie riecht nach Kognak . . . plotzlich laBt er sie
los, steht auf und zieht den Rock aus. ,,Je", sagt Maca und
stcht auch auf, ,,was ist denn?" — ,,Ich zieh mich aus",
antwortet er, ,,na, Maci ..." — ,,W(irden Sie nicht das
Licht ausmachcn?" Er schaltet das gelbe Licht aus. In
Hemdsarmeln setzt er sich aufs Bett, um die Schuhc aus*
zuziehen, — da fiihlt er einen Ruck neben sich, seine Augen
haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewohnt, — er
greift hin, neben ihm auf dem Bett sitzt Maca, mit virtuoser
519
Routine von den Kleidern entbloBt, ,,je", fliistert sie, ,,wie
kalt es 1st ... ich kricchc untcr die Decke . . . komm
schnell ..." — Das Midchen schlift lingst mit gleich-
miBigen, tiefen Atemziigen; — er kann nicht einschlafcn.
Den Kopf auf dem Arm, liegt er da und beobachtet Macas
ruhigen Schlaf. Leichte kleine Nuttc, Verkiufcrin in der
Drogerie, na . . . nettes Ding, sauber, unkompliziert, riecht
gut. Bin Kinobillctt und ein Abendcssen, — wciter nichts.
Im Handumdreben war sie nackt. Noch immer hab ichs
nicht wciter gebracht . . . komme iiber diese Einnachts-
Madcls nicht hinaus, iiber die Umarmungen im AnschluB
an Kino und Essen, iiber die Drogerie-M£dchen aus dem
Kino-Foyer oder cine von der StraBc . . . cine anstindige
Frau, cine Freundin habc ich nicht dabei braucht man
auch dazu kein Geld, es muB ja nicht wer weiB was fiir cine
Frau sein, die Welt 1st doch heute schon ganz anders, wir
leben doch nicht mehr im Mittelaltcr, heutzutage machen
die M&dchen, was sie wollen, auch die aus guter Familie,
alle . . . als ich zwanzig Jahre alt war, war das noch nicht
so auch als ich fiinfundzwanzig war, hatte ich kein
zwanzigjShriges Madchen aus guter Familie dazu bin
ich zu friih . . . und zuriick kann ich nicht mehr, hochstens
bis zu einer Maca . . . nirgends kann ich hin, aus diesem
Zimmer kann ich nicht raus Mit wcit offcnen Augen
starrt er das Madchen an, ihr schwarzes Haar 1st ein dunkler
Fleck auf dem Kissen, das Haar mit der ver der
verdorbencn Frisur . . . jctzt ist die Frisur wirklich ver-
dorbcn, — du, Maci, jctzt hab ich dir die Frisur vcrdorben,
sei nicht bdse . . . macht nichts, — mir ist auch was verdor-
ben, mcine Frisur . . . etwas du, Maca! schl&fst du?
schlaf doch nicht! nicht dazu hab ich dich mit her-
gebracht ich schwor dir, ich wollte dich ja gar nicht —
— du gutriechende kleine ich hab dich ja nicht mit
raufgebracht, datnit du bciBt . . . sondern well ich nicht
allein sein will und du schlaf st! Maci I ich mufi jeman-
den bei mir haben . . . damit nicht allcs verdirbt siehst
510
du, sic schlaft! Sichst du, Joly sic schlaft, sic verdirbt
cs mir auch du hasts mir auch vcrdorbcn . . . Jolychen,
Hcrrgott, vcrdorbcn habcn wirs Und in scincm Innern
heult bnillcnd cine Stimmc auf : Jolychcn, was soil derm nun
aus uns werden! vcrdorbcn habcn wirs und da bricht
mit ticfcm Schluchzen ein gcdchntcs Stohncn aus seiner
Kehle verdor und seine Schultern zucken; in
dem Augenblick wacht Maca auf, — ,,na, o du — " fliistert
sic, — seine Schultern und scin ganzer Korper werden in
wortios stromendem Weinkrampf geschiittelt, wic er da
auf dem Bauch liegt und den Kopf auf den Arm fallen
laBt, — mein ganzes Leben ist verdor ,,Himmel, Gott,
du — bist du hier?" fliistert das Madchen zahneklappernd,
tastet im Dunkeln nach ihm hin und beriihrt seine bebendc
Schulter, ,,Himmel, du — wcinst? ! Du lieber Himmcl . . . was
hast du dcnn?" — das laut schluchzende Weinen schiittclt
seincn Korper, — ,,Herrgott, du ich schreie!" — und
in dcr fliistcrnden Stimme zittert die nachtliche panische
Angst vor einer unbekannten Katastrophe, — ,,Gott —
Licht — " in konvulsivem Entsetzen streckt sic den Arm aus,
und der Instinkt fiihrt ihre Hand nach dem kleinen Tisch-
chcn, nach der Stehlampe, — und dann starrt sic im gedampf-
ten Licht des blauen Lampcnschirms mit aufgerissencn
Augen den Schluchzcnden an. ,,Du lieber Himmel
fehlt dir was? sag doch, Liebling ..." — ,,Nichts", stohnt
er, ,,mach das Licht aus ..." — ,,Liebling", fliistert sic
bebcnd, ,,fehlt dir wirklich nichts ? ich bin so crschrockcn . . .
iiberhaupt bin ich sehr schreckhaft . . . du hast geweint,
Lieber ... ich habs gefuhlt! hast du einen Kummer? sags
mir doch, hast du Kummer?" Da bricht scin Widerstand
entewei. ,,Kummcr . . ." stohnt cr und laBt den Kopf wiedcr
auf den Arm sinkcn, ,,schrccklichen . . . Kummer — "
,,Anncr, ich hab doch gleich gcmcrkt, daB ctwas mit dir
nicht stimmt . . . schon im Restaurant . . . armer Liebling,
sag mir doch, sags doch deincr Maca — " — wicder tastet
sic nach ihm, da erstarrt ihrc Hand auf seiner Schulter:
5>du — " zittert ihrc Stimme in furchtbarem Vcrdacht,
,,du . . . bist krank? hast du nicht ctwa . . . oinc solche
Krankheit?! . . ." Er schuttclt den Kopf, ,,krank, ach
wo — " — Stillc, cincn Augenblick, die fluchtsuchende
Stille der Besorgnis, des Zweifels und schlieBlich des
zwangsmafiigen, bequemeren Sichabfindens, — ,,Liebes-
kummer?" fragt sic dann in natiirlichem Ton, ,,sag, Licber,
wirklich?" — ,Ja", fliistert er. ,,Oh, du Armcr . . . hat sie
dich bctrogen? sprich dich nur ruhig aus, das tut gu^ hat
sie dich verlassen?" — ,,Ja", wimmert er, ,,betrogen, ver-
lasscn ..." — ,,Das macht nichts, Liebling", lallt sie, ,,ich
bin ja da, du hast ja mich, kiimmcr dich nicht mehr um
sie ... war sie hiibscher als ich?" und in ihrer fliis tern-
den Stimme ist cine kleine stechende Nadelspitze. — ,,Ja,
sie war hiibscher ..." — Stille. ,,Aber sie hat dich verlas-
sen", sagt sie dann, ,,und ich bin hier bei dir . . ." — ,,Ja — "
— ,,Und . . . war sie wirklich hiibscher?" — ,,Sie war
anders ..." — ,,Jede ist anders", fliistert sie belehrend,
,,du Dummchen, die Hauptsache ist, daB du jemanden
hast . . . und wie war sie?" — ,,Rot", stohnt er, ,,rot war
sie ..." — ,,Rot war sie? o weh, das ist schlimm, die
Roten sind falsch — " Plotzlich setzt er sich neben ihr auf.
,,Maci ... ich hab dich sehr lieb . . . um Gottes willen,
nicht wahr, du willst nicht mehr schlafen?!" — ,,Aber
Liebling . . . es ist ja noch friih, und ich bin . . . ein biBchen
miide bin ich ..." — ,,Maci wir wollen das Licht
brennen lassen, bitte, schlaf nicht, du kannst morgen den
ganzen Tag hier schlafen . . . aber jetzt bitte nicht schlafen,
ich kann ja nicht einschlafen . . . Macachen, soil ich dir
erzahlen, wie das war mit dcr Rothaarigcn?" Sie reifit die
Augen auf. ,,Ja, erzahl" . . . findct sie sich ab. Er sitzt im
Bett, das Madchen liegt neben ihm, und da fangt er heiser
fliisternd einc Geschichtc an. Von einer rothaarigen Frau . . .
einer Camilla ... sie war keine Ungarin, cine Auslanderin . . .
auf dem Schiff hatten sie sich kenncngelcrnt, auf dem
Meet, und sie war nach Budapest gckommen, seinetwegeo,
5"
denn sic batten sich ineinander vcrlicbt . . . und ein ganzcs
Jahr lang war gar nichts, cr wartete nur, daB sich cndlich
etwas ercigne, aber es war schr schwcr, denn sic war ver-
heiratet, und der Mann war auch hier ... — und die heiserc,
fliistcrndc Stimmc erzahlt und erzahlt in siedendem Phanta-
sieren, bunt und rhapsodisch, in absurden Widersprvichen,
mit schrecklichen Situationcn und peinlichen Kompli-
kationen, in schmerzlichen Dialogen, in unmenschlicher
Selbstqualerei, — die Minuten zcrflieBen ins Gestern
wahrend dieses spatherbstlichen Morgengrauens, — er
spricht nur und spricht, in wiirgendem Fliistern, in sturm-
artigem Haufen von Worten, und dann hetzt er sich mit
groBem Abflauen, mit Erinnerungen und Liigen der
Erlosung zu — ,,betrogen und belogen hat sie mich, und
dann ist sie gegangen, hat mich sitzenlassen — — "
Schon seit Viertelstunden liegt Maca leise atmend im Schlaf ;
und da bcmerkt er plotzlich, daB sie schlaft, — betrogen!
keucht die blinde Wut in ihm auf, — beschwindelt hat die
mich auch . . . hat mich im Stich gelassen, ist eingeschlafen —
ich erwiirge sie! ich erwiirge sie! — und dann, wie er sie
anriihrt und sie sich angstvoll aufrichtet, bricht er plotzlich
zusammcn. Die Umarmung, die durchwachte Nacht und
die ganze Miidigkeit des krankhaften Phantasierens sitzen
auf einmal lahmend in seinem Korper; mit brennenden
Augen und hangendem Kopf hockt er neben dem Madchen.
,,Ja", stottert Maca laut, ,,die rot ... haarige . . . Camilla" . . .
,,Pstl" mahnt er sie, still zu sein, — ,,Macachen, es ist
gleich Morgen, du muBt gehen, wir wollen zusammen ins
Dampfbad gehen, ins Arthcsische ..." — ,,Fein", willigt
Maca sofort ganz wach ein, ,,ich hab ja so schlecht gc-
schlafen." — Schweigend ziehen sie sich an, sehr bald sind
sie fcrtig. Dreiviertel sechs. In einer Vicrtelstunde steht
Julie auf. Der Flur, das Entree ist nachtlich finster, an
seincn Arm geklammert stolpert Maca hinter ihm her. Die
Haustiir ist schon offen, die in Tiichcr gewickeltc dickc
Porticrfrau fegt vor dem Haus Wasser und Schmutz weg.
Es dammert kaum. Und es 1st kalt. Grau hangen am
Himmel die dicken Wolkcn. Es wird gleich wieder rcgncn.
Rasch gchcn sic auf die andere Seite zum Taxcnstand und
setzen sich in cinen Wagen. ,,Zum Arthesischen Bad'*,
sagt cr. ,,Jawohl", antwortet der Schoffor und zcrrt an der
Kurbel, der Motor fangt an zu rattern. — Im Auto fallt ihm
etwas ein: zogernd nimmt er seine Brieftasche heraus.
,,Maca, ich mochte gern deine Adresse wissen ..." — ,,Es
ist besser, wenn du mich im Geschaft suchst, Liebling",
antwortet sie schnell, ,,dort ist auch Telefon", und sie
nennt die Adresse der Drogcrie und ihre Tclcfonnummer.
,,Aber am bestcn ist es, wenn du reinkommst, der Chef
hat es nicht gernc, wenn ich angerufcn wcrde." — ,,Gut",
sagt er. ,,Und . . . bitte, miBversteh mich nicht, Maci,
aber ..." — und er offnet die Brieftasche. ,,Nein", sagt das
Madchen unsicher, ,,Geld, das nehme ich nicht an ...
hochstens ... am Westbahnhof hab ich neulich cine ent-
ziickende weiBe Strickjacke geschcn, WeiB steht mir groB-
artig ... die konnte ich sehr billig bekommen, wenn du
mir die kaufen wiirdest ..." — ,,Gut", sagt cr, ,,aber kauf
sie dir lieber selbst, ich habe nicht viel Zeit . . ." Er grcift
in die Brieftasche, faBt den Rand eines Funfzigpcngoschcins
und zieht ihn ein wenig heraus. Des Madchens Augen
haften auf seiner Hand, sie erkennt den Schein. ,,Oh", sagt
sie, ,,viel billiger . . ." und ihre Stimme bebt leicht. ,,Ja?"
und er zieht einen Hunderter heraus und gibt ihn ihr in die
Hand, ,,da, Maci, stcck das ein." — ,,Oh . . . wirklich . . .
danke sehr, du bist so lieb . . ." — gewiB, licb bin ich, ist
es nicht ganz gleich, ob mir drcihundert Pengo iibrig-
bleiben oder zweihundert . . . und auf die Weise bin ich
wenigstens lieb . . . ,,schon gut, Kind", sagt er abwehrend,
,,und fruhstiicke dann im Bad . . . hast du Kleingeld? und
wenn du friiher weggehen solltcst als ich, also dann "
Das Auto f&hrt am Eingang vor, sie steigen aus. Er geht an
die Kasse, lost zwei Billetts und tritt vor Maca: ,,hier, deine
Karte, — und wie gesagt, solltcst du friiher weggehen, also
5*4
dann . . . komm ich dich im Geschaft bcsuchen, vielleicht
noch hcute ..." — ,,Gott, wie fein! wirklich, komm
bestimmt, ja . . ." und streckt ihm die Hand hin. Er hebt
die schone, weiBe Hand und kuBt sie. ,,Leb wohl,
Macachen."
Er ist allein im heiBen Bassin. Sitzt auf der Stufe und
schlieBt die Augen. Gut tut das . . . aus Marmor ist das
Bassin. Eigentlich wollte ich ein Extrabadezimmer . . .
egal, ist auch so gut. Was fur ein reizendes Ding diese
Maca ist. So ein nettes Madel hab ich noch nie gehabt.
Vielleicht die kleine Deutsche, die Poldi, 1924, aus dem
Kasino, — nein, die auch nicht — die hier ist das beste
Madel auf der Welt. Nachher werde ich ein biBchen
schlafen, dann friihstiicken, dann geh ich zu Menczers, der
junge Menczer ist schon um neun Uhr da, sogar schon um
acht. Vielleicht gehe ich auch heute noch zu General-
direktor Havas — der Kopf sinkt ihm auf die Seite, er
rutscht von der Stufe hinunter und taucht ins heiBe Wasser.
Na — also, hier kann man wirklich nicht schlafen, schlieB-
lich ertrinke ich noch. Oder ich schlage mich an. Bis an den
Hals sitzt er im Wasser, platschert, betrachtet seine rot-
gcbriihten Arme. Er platschert, dann geht er unter die
Dusche, kiihlt sich vorsichtig ab, legt sich auf die Pritsche,
wird eingeseift, wieder Dusche, dann setzt er sich an den
Rand des kalten Bassins. Sein Korper ist frisch und federnd,
sein Kopf klar, — wunderbar wirds im kalten Wasser sein.
Im Bassin bringt ein alter bartiger Herr einem kleinen
Jungen das Schwimmen bei. Er halt ihn hinten an den
Trftgern seines Schiirzchens, so hilft er dem Kind uber dem
Wasser bleiben. ,,Na, Jancsi, losl" kommandiert er, ,,erst
mit den Armen langsam, dann mit den Beinen schnell . . .
na, ei ns — zweil . . . ei ns "
Kelemen gleitet ins Wasser, mit breitausholenden Be-
wegungen schwimmt er zwanzig-funfundzwanzigmal das
Bassin entlang. Dann klettert er an der andern Seite heraus,
schiittelt prustend das Wasser von sich ab; in der Tiir
5*5
erwischt ihn der Bademeistcr, reibt ihn ab, hiillt ihn in ein
Leintuch, stcckt ihm die FiiBc in Pantoffeln; cr legt sich auf
ein Ruhebett. Kaltwasserkur, denkt er, ja, ja, das ist das
Rechte! was einem auch immer fehlt, die Kaltwasserkur —
und im selben Moment schlaft er ein. — Es ist elf Uhr
durch, als er in der Aradi-StraBe die krachende Holztreppe
hinunter in den Keller steigt. Die Klingel surrt, — und dann
steht die alte Frau vor ihm.
,,Es tut mir leid, daB ich nicht friiher kommen konnte,
aber eine wichtige geschaftliche Angelegenheit "
,,Ja, geschaftliche Angelegenheit, das ist wichtig . . .
macht nichts, Sie konnen meinen Sohn noch sprechen, er
ist noch hier", antwortet die Frau; sie schlurft nach hinten
und ruft nach dem am Ende des Flurs befindlichen Glas-
kafig: ,,Samu! komm mal her, der Kelemen ist da, dem
Karoly sein Sch wager!"
Eine beleibte Gestalt in Hut und Winteriiberzieher
nahert sich; hinter dem Mann kommt jemand, zu dem er
spricht. ,,Nein, lieber Freund", sagt er, ,,das ist kein Ge-
schaft fiir mich, mit der Sache befasse ich mich nicht. Ich
mag nur die ruhigen, sicheren, kleinen Geschafte, aber
das . . . sagen Sie Herrn Schlesinger, ich HeBe danken, aber
fiir mich ware das kein Geschaft." Vor Kelemen blcibt er
stehcn: ,,Hab die Ehre. Mein Name ist Menczer."
,,Andor Kelemen."
,,Jawohl, sehr erfreut. Ihr lieber Schwager hat mir
gesagt — "
Ta "
»Ja»
,,Na, und ich hab schon der Mutter gesagt, dem Kiroly
zuliebc — "
„>•"
,,Also . . . ja." Er hiistelt. ,,Sie wissen doch, worum es
sich handelt, nicbt wahr?"
,,Ja. Um eine Stellung — "
,,Jawohl, um eine Stellung, oder . . . seien wir geostu:
urn eine Stellung als Agent — "
526
,,Als Agent."
,,Ja. Namlich, heutzutage cine feste Stellung . . . ich
bitt Sic, heutzutage 1st doch iiberhaupt Administration und
dergleichen nicht notig, sondern Kaufer sind notig. Speziell
bei mir . . . Also, bitte schon, ich dcnke mir, ich stelle Sic
als Agenten an, Rayon ganz Budapest, wenn Sie wollen,
auch Umgebung, und . . . nun, wie ich der Mutter gesagt
habe, dem Karoly zuliebe geben wir Ihnen monatlich auf
alle Falle hundert Pengo VorschuB auf die Provision, und
zwar sechs Monate lang, und wenn bis dahin die Sache gut
geht, nun, dann verrechnen wir das Entnommene nicht
auf die Provision und andern die hundert Pengo in festes
Gehalt um, sagen wir, als SpesenzuschuB. Also bitte, so
habe ich mir die Sache gedacht, Herr Kelemen."
,,Bitte sehr."
,,Wir zahlen im allgemeinen sieben Prozent vom Brutto,
und ich hab schon zur Mutter gesagt, Ihnen wiirden wir,
sagen wir, siebeneinhalb Prozent zahlen . . . sagen wir acht.
Und was die Arbeit angeht, also, was soil ich Ihnen da
sagen? ein Geschaft . . . Sie sind doch Geschaftsmann,
nicht? Sie konnen sich ja das Lager und die Mobelwerkstatt
nachher ansehen, und dann gebe ich Ihnen einen Katalog, —
Sic mussen Ihre Bekannten aufsuchen, rmissen die Augen
offen haben, in den Zeitungen die Verlobungsanzeigen
verfolgen, nicht die Heiratsanzeigen, denn da sind die
Mobel schon besorgt, also die Verlobungsanzeigen und
dann sofort zu den Leuten hingehen. Und einen groBen
Vorteil hat unser Geschaft noch, namlich die Einheits-
mobel. Das ist cine billige Art, von denen auch einzelne
Stiicke erhaltlich sind, Anfangern tut das gute Dienste,
2um Beispiel in Biiros braucht man immer ein paar
Stiihle, einen Tisch oder einen Aktenschrank, na, Sie
werdens ja lernen. Also, bitte, iiberlegen Sie sich die
Sache "
,,Ich glaube "
, Ja — ?"
527
,,Ich glaube, ich nehme die Stcllung fiir den Ersten
an. Ich unterhandle zwar noch wegen einer andern
Sachc, aber wenn ich Ihnen nicht absage, selbstredend
rechtzeitig, so mochtc ich Sic bitten, mir die Stelle zu
reservieren — "
,,Ja, gewiB, wird gemacht. Ich hoffe, die Sache wird
klappen."
,,Bittc sehr."
,,Also dann . . . spatcstens am Ersten fangen wir an, zu-
nachst natiirlich, sagen wir, drei Monate Probezeit, aber
einem so gut aussehenden jungen Mann wie Sic, lieber
Freund, — mit ein biBchen Agilitat "
Mit Agilitat, natiirlich, und wenn man so gut aussieht,
lieber Freund . . . na, schon. Jet2t ware ich also Vertreter
der Mobelfirma Menczer & Co. Hab die Ehre, lieber Freund.
Brauchen Sic nicht ein Schlafzimmer oder ein Speise-
zirnmer oder . . . ein paar Stiihle? Na, gehn wir noch zu
Herrn Generaldirektor Havas. Dunnes gelbliches Novem-
bersonnenlicht flimmert iiber der Andrassy-StraBe. Lang-
sam geht er die StraBe hinunter und kommt dann durch
cine schmale Gasse an die breite, larmende QuerstraBe und
findet sich geradc dem machtigen Firmenschild mit goldenen
Buchstaben gegeniiber: J. Jozsef Havas, A.-G. Im riesigen
Geschaftslokal Durcheinander, Gelaufe, Geschrei, Kaufcr,
Verkaufer, — zogernd bleibt er in der Tiire stehen, nie-
mand beachtet ihn. Da gibt er sich einen Ruck und fragt
cinen vorubereilendcn jungen Mann, ob er den Herrn
Generaldirektor sprechen konne. Der junge Mann zeigt
nach einer Tur. Zaghaft geht er auf die Tiir zu und macht
sie auf. Ein leeres Hofzimmer, zwei Schreibtische einander
gegeniiber. Hinten noch cine Tiir. Er geht bin und offnet.
Ein lecrer Schreibtisch, davor ein rundes Tischchen. Am
Tischchen sitzt ein dickbauchiger Herr und iCt Scbinken
von einem Stuck Papier.
,,Entschuldigen Sie bitte, ich suche Herrn General-
direktor Havas "
,,Der bin ich", sagt der kleine Dicke und blickt auf*,
,,womit kann ich dienen?"
,,Andor Kelemen. Mein Schwager sagte mir, daB bei
Ihnen, Herr Generaldirektor "
,Ja. Ich weiB schon. Nehmen Sie bitte Platz. Sie ent-
schuldigen wohl, wenn ich inzwischen weiteresse. Ich bin
namlich magenleidend und muB alle zwei Stunden etwas
essen. Nicht viel, bloB eben ein paar Bissen. Tja, also . . .
wir wollen die Sache kurz machen. Ich schatze Ihre Familie
schr. Auch Ihren seligen Vater habe ich gekannt. Ein
braver Mensch war er." Er springt auf, driickt auf einen
Knopf des Telefons auf dem Schreibtisch, wartet ein
Weilchen und fangt erregt an, den Knopf ununterbrochen
zu drikken. ,,Na, was ist denn? wer dort? Fraulein Hermina?
warum melden Sie sich denn nicht? groBer Rummel?
aber ich bitte Sie, wenn das Telefon des Chefs lautet . . .
schon gut. Fraulein Hermina, schicken Sie mir ein Glas
frisches Wasser rein. Der Istvan ist nicht da? wohin haben
Sie ihn denn geschickt? Sie wissen doch, daB ich das nicht
leiden kann, wenn er immer hin und her geschickt wird!
also, dann soil Herr Somogyi mir ein Glas Wasser bringen!"
Er setzt sich wieder an das Tischchen. ,,Also . . . auch Ihr
Schwager ist mir als tuchtiger, braver Mann bekannt. Wir
wollens kurz machen. Ich brauche einen Vertreter fur
auBerhalb. Fur Miskolcz. Besser ware es naturlich, wenn
Sie schon in der Branche gearbeitet hatten, aber ich habe
zu Ihrem Schwager gesagt, mit Riicksicht auf ihn
also bitte: Abreise Sonntagnacht, Riickkehr Freitagnacht.
Fixum zahle ich nicht, ProvisionsvorschuB monatlich
hundert Pcngo vorlaufig, Reisespesen tragt die Firma,
Tagegeld acht Pengo, Provision je nach der Warcn-
kategorie sechs bis zehn Prozent. Selbstverstandlich haben
Sie nicht nur in Miskolcz, sondern in der ganzen Gegend
zu arbeiten, ich zeige Ihnen nachher Ihren Rayon auf der
Karte."
,,Ja . . . auBerhalb — ich dachte "
34 Kormcndi, Budapect
,,Bitte, bitte", sagt J. Jozsef Havas verdrieBlich, ,,das 1st
was anderes, wean Sie keine Lust haben, aus Budapest
wegzugehen . . . aber ich brauche einen Mann fur die
Provinz, — und wenn Sie sich das Ziel gesteckt haben, ein
guter Agent zu werden, dann miissen Sie in der Provinz
anfangen", er springt ans Telefon, miBhandelt den Knopf
und schreit in den Apparat: ,,Fraulein Hermina! wie lange
soil ich denn noch auf das verflixte Glas Wasser warten?!"
Kelemen erhebt sich. Wenn der Herr Generaldirektor
nichts dagegen habe, wtirde er sich die Sache noch iiber-
legen. Jedenfalls danke er fur sein Wohlwollen . . . und
wenn er sich entschlieBen konne, dann wiirde er sich
spatestens am Ersten melden. — Driiben auf der andern
Seite der StraBe dreht er sich noch einmal um. Ob er wohi
inzwischen sein Glas Wasser bekommen hat? Nun, das
ware also auch erledigt. Jetzt kann ich wahlen. Wenn ich
will, Mobel, wenn ich will, Textil. Nun kann ich doch
wirklich nicht mehr klagen. Er ist wieder auf der Andrassy-
StraBe angekommen und geht langsam auf den Stadtpark
zu. Wie warm die Sonne scheint. Dabei ist es Herbst, die
Baume sind schon ganz kahl. Was gestern fur greuliches
Wetter war. Mobelagent oder Textilagent. Ein Anfanger
zwar, aber agil, intelligent und ein gut aussehender Mann.
Mein Rayon Budapest und Umgebung und Miskolcz und
das ganze Land. Die ganze Welt, auch Sudafrika. Ich werde
der ungarischen Mobelindustrie zum Ruhm verhelfen,
eventuell der Aktiengesellschaft Havas. Lieber Freund.
Mein Ziel ist, ein guter Agent zu werden — Jedenfalls ist
das mein nachstliegcndes Ziel. Und mein ferneres Ziel, zum
Beispiel . . . was eigentlich? ich weiB es wahrhaftig nicht.
Ich habe kein ferneres Ziel. Genau iiber der Millenniums-
Saule leuchtet der strahlende Himmel in einem groBen
klarcn blauen Fleck. Schones Wetter . . . es ist Herbst.
Um diese Zeit ist die Seereise nicht mehr angenehm, da
gibt cs schon Stiirme. Ja. Warum gehc ich eigentlich jetzt
in den Stadtpark? habe ich im Stadtpark etwas zu tun?
530
habe ich dort ein naheres oder entfernteres Ziel? Ich gehe
einfach, was anderes habe ich doch nicht vor, was soil ich
sonst machen? vorlaufig verkaufe ich ja noch keine Speise-
zimmereinrichtungen oder Einheitsmobel oder . . . groBer
Gott, ich weiB ja gar nicht, womit Herr Generaldirektor
Havas eigentlich handelt. Textil. Ein weiter Begriff. Ich
hatte mir doch ansehen konnen, was es dort zu kaufen gibt,
vielmehr, was ich eventuell verkaufen werde. In Miskolcz
und Umgebung. Na, wir werden ja sehen. Aller Anfang
ist schwer. Aber — warum sollte es mir nicht gelingen?
warum sollte ich nicht dies oder das oder jenes verkaufen
konnen? warum sollte ich nicht schones Geld verdienen
konnen, ein Vermogen sammeln? Reisender, — ein ernster,
schwerer Beruf, bloB in Witzen heiBt es immer: haben Se
Interesse? In Amerika ist der Salesman der angesehenste
Mann. Dort sollte man wagen, Witze iiber ihn zu machen,
iiber den, der die Auftrage bringt. Agent, amerikanischer
Typus, moderner Typus, — lebt von dem, was er leistet,
und nicht davon, daB er erhalten wird. Der Geliebte seiner
rothaarigen Sch wester halt ihn aus, dort unten in Siidafrika,
Zuhalter. — Nein, das nicht 1 arbeiten werden wirl im
SchweiBe des Angesichts hart arbeiten um jeden Kreuzerl
Verpflichtungen habe ich nicht, fur Mama konnen Sa"ris
sorgen, bis ich wieder dazu beitragen kann, sie werden doch
einsehen — und wir werden halt hiibsch bescheiden leben.
Von hundert Pengo, wenns sein muB, bis es mehr wird,
und es wird schon mehr werden 1 ich werde nicht bei den
Einheitsmobeln oder beim Textil alt werden . . . oder wenn
doch, dann wird es sich lohnen, dabei alt zu werden! ich
werde verdienen, viel Geld — ich werde die Augen schon
ofFen halten, um mich braucht man sich nicht zu sorgen!
VerhaMtnisse, Vcrhiltnisse, — verlassen Sie sich nur auf
mich . . . lieber Freund. Mit dem wahnsinnigen Herum-
wurschteln ist cs jetzt vorbei, Kddar, Siidafrika, vorbci!
Jetzt fingt das ernste Leben an, die ernste Arbeit, der Kampf
um Dasein und Vermogen, — ganz gute Filmtitel, mein
34* J3i
Lieber. Sehr einfach : die Transcont hat mich abgebaut, ich
bin auch ein Opfer der Zeiten, — und lasse mich nicht
unterkriegen. Jetzt beginnt Er pfeift laut; wie er so
scharf ausschreitend iiber die StraBe geht, schmettert ^r
eine kriegerische, marschahnliche Melodic in die Luft.
Die Sonne steht hoch, am Himmel ziehen eigenartige,
walzenformig geballte Wolken. Die Sonne scheint, —
prachtvoll, nur mutig, die Sache wird gelingen! die Haupt-
sache ist, daB ich Lust dazu habe, daB ich die ganze Krank-
heit von mir abschiitteln kann, diesen gemeinen phan-
tastischen Blodsinn. Maca ... ein prachtiges Ding. Sauber
und gepflegt und gutriechend. Und . . . wenn ich nicht mehr
soviel Geld habe, na, dann wird sie sich eben an den Auto-
maten gewohnen. Was fur ein Gliick, daB ich die gefunden
habe. — Ein junges Kinderfraulein kommt ihm entgegen,
mit der linken Hand schiebt sie einen Kinderwagen, an der
rechten hangt ein briillender kleiner Junge. ,,Abcr Tjuri,
briill doch nicht so, alles schaut dich ja an!" versucht sie
den tobenden Kleinen zu besanftigen. Er bleibt vor ihnen
stehen, hockt sich plotzlich vor das Kind: ,,du-du-du'\
sagt er, ,,ein so groBer Junge wird doch nicht auf der StraBe
heulen! hoppla! schnell lachen! ei ns, zwei!" Die
Bonne und der Kleine starren einen Moment mit er-
schrocken aufgerissenen Augen in das komisch verzerrte
Gesicht des sich unbefugt Einmischenclen; dann blitzt aus
den tranenfeuchten, groBen, blauen Augen ein Lacheln,
gleich darauf lacht das Kind, — ,,mo — " — ,,M6, mo, mo!
na, siehst du!" Der Kleine lacht ganz laut; da steht er auf,
erwidert das dankerfiillte Lacheln des Kinderfrauleins mit
einem leichten Hutliiften und geht weiter. Sehr einfach:
man muB nur verstehen, mit den Menschen zu sprechen,
mit jcdem in seiner eigenen Sprache, das ist die ganze
Kunst. Einem heulenden kleinen Jungen muB man sagen
mo, mo, mo! — und einem andern zum Beispiel: aber,
vcrehrter Herr Obcringenieur, ein moderner Kultur-
mensch kann schlieBlich nicht inmitten so altmodischer
Mobel leben . . . das ist die ganze Kunst. Von der Bajza-
StraBe her rollt in ruhiger Wiirde ein offenes Elektromobil
von altem Typ auf die Andrassy-StraBe. Ein rotwangiger
dicker Herr im Pelz und cine behabige Dame mit hiibschem
Gesicht sitzen darin, in steifer Haltung, bis an die Taille
mit einem dunkelblauen Plaid zugedeckt. Ich hatte gar nicht
gedacht, daB es in Budapest noch solche elektrischen Wagen
gibt. Vornehme Sache, bloB ein biBchen veraltet. Miissen
wohl konservative, reiche Leute sein. Denen mliBte man
ein groBes geschlossenes Auto verkaufen, Herr Kom-
merzienrat, das elektrische Auto ist ... das Verkehrsmittel
des vorigen Jahrzehnts gewesen, ein wohlhabender Kultur-
mensch fahrt heutzutage — — Er geht weiter. An den
kahlen Baumen hie und da noch ein gelbes Blatt. Es wird
Winter, irgendwie werden wir auch iiber diesen Winter
hinwegkommen. Die Hauptsache ist, daB ich Lust zu dem
Geschaft habe, Lust habe zu leben und mein . . . Dings,
mein Leben wieder zu ordnen. — Er ist am Ende der
StraBe angekommcn. Vor dem Grab des Unbekannten
Soldaten ein berittener Polizist in Paradeuniform; vor dem
symbolischen Grabs tein einige Betrachtende mit ent-
bloBtem Haupt. Ja . . . wenn ich da durchgekommen bin,
wenn ich daraus mein Leben gerettet habe, dann werde ich
doch nicht steckcnbleiben vor einer lumpigen nein,
ich bleibe nicht stecken! ermutigt er sich selbst. Ein Weil-
chen steht er an der Ecke und geht dann wieder zuriick.
Halb eins? los, in den Autobus, nachher schlafe ich cine
Stunde nach Tisch, und dann geh ich rauf zu Mama, ich
muB ja Karoly sagen, daB die Sache mit Menczers in
Ordnung ist und daB ich auch bei Herrn Generaldirektor
Havas war. Er steigt auf den gerade abfahrenden Autobus.
Verdammt, denkt er, ich hatte doch lieber mit der Acht
fahren sollen, die halt gerade an der Ecke vor dem Restau-
rant, na, egal, — ,,Teilstrecke bitte." WeiBe Wolken um-
schleichen die Sonne und sammeln sich nach Buda zu;
unten am Himmel steht die graue Wolkenhorde des Herbstes
553
bereits auf dcr Laucr. Heute abend wirds wicder rcgncn.
Wic viele Mcnschcn, Spazierganger, die habens leicht . . .
ich rede ja Blodsinn. Warum haben die es denn leicht?
Fur mich wars auch leicht, fiinf Monate lang herum-
zulungern, — na ja, aber dieses Lungern, — das war
eigentlich eine sehr wichtige Sache, ich muBte doch
pst! still! Eine engbriistige, groBe, altere Dame im Regen-
mantel sitzt ihm gegeniiber, sie liest eine franzosische
Zeitung. Plotzlich taucht der Wunsch in ihm auf, nicht ins
Burgerliche Restaurant zu gehen. Abonniert bin ich ja
sowieso nicht mehr . . . nein, ich geh nicht in die Butike.
Ich geh an den Donaukai. Und er bleibt im Wagen sitzen.
Der Schaffner stellt sich vor ihn hin, muB ein gutes Ge-
dachtnis fur Gesichter haben. Ach ja, mein Fahrschein ist
abgelaufen. Na, die zwei Haltestellen konnte ich riskieren.
Er meldet sich nicht, der Schaffner schweigt, sieht ihn nur
an. ,,Ich fahre weiter", ruft er dann dem Schaffner zu,
,,geben Sie mir noch einen Teilstreckenschein." Auf dem
Vorosmarty-Platz steigt er aus, geht um das fur den Winter
eingehullte Denkmal herum an die Donau. Ober der Burg
sind die Wolken schon dunkelbraun, die Sonne scheint
noch, ein paar Menschen promenieren auf dem Korso,
Feine Sache, feines Wetter, — am Ersten verkaufe ich
schon Einheitsmobel oder Textilwaren in Miskolcz. Heute
esse ich im Ritz, unten im Keller. Sowieso nicht wahr-
schcinlich, daB ich dazu sobald wieder komme ich
werde sehr sparen miissen. Biirgerliches Restaurant und
Automat. — Lange liest er die Speisekarte, fragt den ge-
duldigen Kellner um Rat und bestcllt umstandlich ein
iippiges Mittagessen. Maca fallt ihm ein, und bcdachtig,
den Gcschmack der Speiscn bis zum letzten Bruchteil
gcnieBend, iBt er. Auch Torte. Und noch kleincs Geback.
Und Kase. Und Obst und schwarzen Kaffee mit Schlag-
sahne. Nach Tisch kauft er eine Schachtel agyptische
Zigarcttcn, steckt sich eine an, streckt sich bequcm im
Lehnstuhl aus und blast den Rauch in die Luft. Kein
534
Mensch kann behaupten, daB ich nicht gut lebe. GroBartig
lebe ich. Und ich werde auch immer so leben. Ich pfeife auf
die ganze Geschichte, ich kiimmere mich urn keinen
Menschen, ich hange von niemandem ab und gehorc zu
niemandem, ich pfeife auf sie. Ihr werdets schon sehen! . . .
Ganz gleich, wo rum es sich handelt, ganz gleich, was das
Material ist. Die Hand ist das Wichtigste, der Mensch, der
das Material in die Hand nimmt. Mit dem Stummel ziindet
er eine neue Zigarette an, zahlt und macht sich spazierend
auf den Weg. Na, jetzt auf einen Sprung zu Mama, — aber
vielleicht konnte ich erst irgendwo noch einen Kaffee
trinken. Und schon steht er im Cafe, blickt sich um, als
suche er jemanden, dann setzt er sich ans Fenster. Die
Brucke sieht er vor sich; energisch dirigiert der Verkehrs-
polizist die Wagen. Angenehmer Beruf, den ganzen Tag
da zu stehen, in Regen und Hitze, und zu winken, wie viele
Stunden Dienstzeit mogen die am Tag haben? und schlieB-
lich eine verantwortungsvolle Arbeit, lange hintereinander
halten die Nerven das nicht aus . . . frei I los, los, iiber die
Brucke, und jetzt quer, die Bahn ist frei, los ... auf die
Karriere zu, nach dem Geld hin, — Unsinn. Pfui, hab ich
mir den Wanst vollgeschlagen ! — ,,Ah, Herr Direktor",
sagt der Kellner, der an seinen Tisch tritt, ,,pflegen Sie jetzt
hierherzukommen? was darf ich bringen, einen Kapuziner?"
Er sieht ihm ins Gesicht. ,,Woher kenne ich Sie?" — ,,Aus
dem Seemann, wenn Sie gestatten, friiher pflegten Sie
dort hinzugehen . . . und ich bin ungefahr vor zwei Monaten
hierher iibersiedelt." Er erzahlt noch was von seiner fruheren
Stelle, wo ihn der Oberkellner rausgeekelt habe, dann geht
er. ,,Hallo, bitte . . . keinen Kapuziner, sondern Schwarzen
und einen Kognak", ruft er ihm nach. ,,Kognak, jawohl,
ungarischen oder darfs franzosischer sein?" — ,,GewiB,
gewiB, franzosischer", sagt er. — Er trinkt den Mokka
aus, riecht am Kognak und schliirft ihn. Eh gut.
Dann nimmt er eine Nachmittagszeitung in die Hand,
blattert darin und legt sie sofort wieder hin. Er winkt dem
53J
Kellner. ,,Bhte, noch so eincn Kognak." Das zweite Glas
kratzt nicht mehr, das dritte flieBt ganz glatt durch die
Kchle, und es wird ihm warm, beim viertcn fangen seine
Augcn an zu gliihen, nach dem funften wogen ihra Melo-
dicn durch den Kopf. Das sechste Anstandige
Sachc, dieser Kognak. Anstandige Sache. Alles hochst
anstandig. Na, auf lafit uns brechcn zu Sari, anstandige
Sache, anstandige Leute, brave Biirgersleute, reale Men-
schen, keine Phantasten, keine spleenigen Narren, die Sari
und ihr Mann. Um sechs wird die kleine Maci abgcholt,
dann gehn wir ins Kino oder heute lieber ins Theater, nein,
lieber ins Kabarett, ja, gut, ins Kabarett. Und nachher essen
wir schon zu Abend, anstandige Sache, was, Macichen?
Und dann gehn wir nach Haus, zu Herrn Kelemen gehn
wir, zu Bandi bacsi, schlafen . . . fein, was? Wir haben uns
lieb, stimmts, Maca? vielleicht werden wir sogar heiraten,
kaufen uns anstandige, billige Einheitsmobelchen bei
Onkel Menczer. Da schamt er sich plotzlich. Was fiir ein
Blodsinn! Hier den Betrunkenen zu spiclen! trunkenen
Quatsch zu reden - -- Ein wenig schwindlig ist ihm zwar,
aber sofort bekommt er doch wieder einen klaren, niich-
ternen Kopf. Esel Die braunen Wolken sind in-
zwischen von der Burg her bis in die Mitte des Himmels
gezogen, die Sonne scheint nicht mehr. Ein WindstoB fegt
vorbci; er schreitet schneller aus; biegt in eine QuerstraBc,
um rascher zu Sari zu gelangen. Ais er vor dem Haus an-
kommt, fallen zuerst zogernd ein paar dicke, schwere
Regentropfen, und dann ist der Asphalt plotzlich ganz naB.
Karoly ist schon ins Geschaft gegangen, Mama schlaft,
Sari sitzt am Tisch mit der Zeitung, Joly im Schaukelstuhl,
die Beine nach hinten gezogen, ihr Buch liegt auf dem
Fensterbrett.
,,Guten Tag, Kinder", griiBt er, ,,na, was gibts Neues?"
Die Schwestcrn erwidern seinen GruB mit einem
kurzen Murmeln; Stille. Er setzt sich neben Sari, hiistelt,
denkt nach, wic cr anfangen solle. Wie blaB Sdri ist, sicher
536
leidet sie schr unter der Schwangerschaft. Oder, was
verstch ich denn davon! ein Gliick, daB ich keine Familie
habc.
,,Mama schlaft?" fragt cr.
Sari nickt.
,,Wann stcht sie auf ?"
,,Wcnn wir sie nicht wecken, in einer halben Stunde."
,,Namlich . . ." er bricht ab, im Kopf probiert er den
Ton erst aus, ,,namlich, die Sache ist in Ordnung."
Sari blickt auf. ,,Wclche Sachc?"
,,Mit Menczen. '
,,\Varum sagst du das denn nicht gleich . . . na, quetsch
dich aus!" Saris Gesicht wird auf einmal rot, ,,und hast
dus Karoly schon gesagt?"
,,Nein, ich will jetzt hingehen. Also ... ich bin bei
Menczers eingetretcn."
,,Und wieviel kriegst du?"
,,Wieviel ich kriege? Zunachst hundert Pengo Fixum
und was ich noch verdiene, aber es sieht mir so aus, als
ob die Sache gehen wiirde . . ." kleine Pause, ,,heute hab
ich zufallig mit jemandem gesprochen, der . . ." er hiistelt,
,,der gerade jetzt daran denkt, sich eine Wohnung ein-
zu rich ten "
,,Na, siehst du!" sagt Sari, ,,Gott sci Dank! Geh doch
bitte gleich runter und sag Karoly Bescheid, damit er sich
auch bei Menczers bedanken kann."
,,Treib mich doch nicht so ... ich werde schon gehen."
Seine Stimme klingt etwas gereizt. ,,Jetzt warte ich erst,
bis Mama aufwacht." Stille. ,,Bei Herrn Generaldirektor
Havas war ich auch."
,,Wirklich . . . na, und?"
,,Menczer ist besser. Herr Generaldirektor Havas
braucht namlich einen Reisenden fur die Provinz, und furs
erste habe ich mich noch nicht geauBert, aber als Reserve
ist auch die Sache nicht schlecht. Ich kann die Stellung
antretcn, wanns mir paBi,"
557
,,Na, siehst du, Bandichen", sagt Sari, schmclzend vor
Dank, ,,was fur brave, anstandige Leute das sind . . . Man
muB bloB cin biBchen hinterher scin, muB bloB cin biBchen
Gliick haben, dann fangen gleich zwei Sachcn gut an. Bei
den hcutigen schlechten Verhaltnisscn . . . es 1st doch nicht
zu verachten, wenn man so ein paar kleine Beziehungen
hat — "
,,Natiirlich", antwortet cr, ,,Beziehungen sind gar nicht
zu verachten."
Stille. Er sitzt am Tisch, trommelt mit den Fingern und
starrt in die Luft. Das ist ja leicht gegangen. So leicht ist
es, den Menschen Freude zu machen. Jetzt ist Sari gliicklich
und stolz auf Karoly wegen seiner Beziehungen zu Menczer
und Havas. So ein paar kleine Beziehungen. Tja, Beziehun-
gen sind wichtig. Wenn man . . . das Ziel hat, ein guter
Agent zu werden, dann braucht man Beziehungen. Man
redet hier was und redet dort was, ist nicht an einen bidden
Schreibtisch gebunden, sieht jahrelang keine Inkasso-Listcn,
macht bloB Geschafte und verdient, so viel man nur kann —
,,Ich will mal nach Mama sehen", Sari steht auf, schwer-
fallig und leise stohnend, ,,ich mochte gern, wenn du so
bald wie moglich Karoly Bescheid sagen wiirdest . . ."
damit geht sic aus dem Zimmer.
Da laBt Joly aus dem Schaukelstuhl ihre Stimme horen:
,,Na, hast du doch Lust gehabt, ins Kino zu gehen?"
Er sieht sie an, versteht sic nicht.
,,Ich hab dicb gestern abend im Kino gesehen, mit einem
hiibschen Madel mit blauer Kappe."
Er spurt eine mcrkwiirdige, unmotivierte Gereiztheit.
,,Jawohl", antwortet er spitz, ,,na, und?'*
,,Nichts und. Ich sag bloB, ich hab dich gesehen. Wer
war die?"
,,Niemand. Ein Madel. Meine Frcundin", fiigt er plotz-
lich binzu.
,,So."
Stille.
,,Und ich war mit einem Herrn."
Stillc. In seinem Kopf hinten beginnt langsam cm
Ziehen.
,,Mit meinem Freund."
Ganz untcn, iibcr dem Genick, zieht sich sein Kopf nach
beiden Seiten.
,,Mit Doktor Toto Huszar."
Die Spannung reiBt ab; gepreBt stoBt er hervor, wie er
sich umdreht und vor seine Schwester hintritt:
,,Du . . . Jolyl was soil das? komm ich deshalb her?l"
Und da wird der griinlich-blaue Strahl auf einmal
unsicher und verwischt sich. Die beiden langen, schlanken
Bcine klappen auf die Erde, die schmalen Schultern fallen
nach hinten an die Rohrlehne, der Schaukelstuhl kommt
quietschend ins Pendeln.
,,Ach Gott", sagt Joly ganz leise und demiitig, ,,Ban-
dichen, sei nicht bose . . . mir 1st bloB so schrecklich mies
zumute "
Das keuchende Briillen bleibt ihm in der Kehle stecken,
denn in diesem Augenblick tritt Mama ins Zimmer, —
Joly reiBt den Kopf nach dem Fcnster herum, Mama geht
gleich auf ihn zu :
,,Andor, mein lieber Junge! Sari sagt, du bringst so
gute -"
,,KuB die Hand, Mama . , . ja, cine gute Nachricht — "
Er kuBt der Mutter die Hand; sie kiiBt ihn auf die
Stirn:
,,Bandi, du riechst ja nach Schnaps! was hast du ge-
trunken?"
,,Ah . . . bloB einen Gespritzten", und er bezwingt die
ihn plotzlich befallende schlechte Laune. ,,Also, Mamachen,
die Sache bei Menczers hat geklappt, und jetzt vor alien
Dingen — "
Er greift in die Brieftasche, ein wenig holzern, und legt
cinen Hundertpengoschein auf den Tisch. ,,Anzahlung auf
das Versaumte. Am Ersten bekomme ich schon mein
539
Gehalt — — - das iibrige spater, was ich dir im Sommcr
schuldig gcblieben bin/4
In iiberstromendem Dank und mit schwarmerischer
Liebe sieht sie ihn an. ,,Bandichen . . . steck das
nur schon wieder ein, du brauchst cs viel notiger als
ich, — also, wciBt du was, mein Kind, ich werde es dir
aufbewahren . . .'*
Er protestiert. Nein, auf keinen Fall solle sie es ihm
aufbewahren, sie solle es nur verbrauchen, gewiB habe sie
auch Schulden bei Sari . . . ,,Danke, lieber Junge", sagt die
Mutter, ,,ja, ja, ich hab doch immer gesagt, meine
Kinder " Da iiberkommt ihn groBe Unruhe. Schnell
verabschiedet er sich und geht. Verstohlen, gleichsam zu-
fallig sieht er Joly an, — Joly hat den Kopf noch immer
nach dem Fenster gewendet. An der Kiichentur klopft er
Sari ein Adieu zu. Einen unertraglich bittern Geschmack
hat er im Mund. Ich muBte etwas trinken . . . wenigstcns
ein Glas Wasser —
Erst als er schon in seinem Zimmer steht, fallt ihm ein,
daB er nicht bei seinem Schwager war. Soil ich wieder
runtergehen? ach, nein. Vielleicht spater, wenn ich sowieso
runtergehe, schau ich einen Moment bei ihm rein. Er hat
den Laden ja bis acht offen. Aus dem Schrank nimmt er die
Kognakflasche. Gestern abend haben wir ja kaum was
getrunken. Eine anstandige Person ist die Julie, hat die
Glaser abgewaschen und wieder weggeraumt. Na, noch ein
Glaschen Kognak kann nichts schaden. So gut wie der nach
Tisch ist er nicht, aber immerhin . . . auch nicht vom
schlechtesten. — Es klopft, zweimal, bescheiden. Wer
kann denn das sein? ,,Hcrein!" Frau Hunka. ,,Guten Tag,
Herr Kelemen." — ,,Guten Tag, bitte, nehmen Sie Platz."
,,Nein, danke, ich will nicht lange storen ..." Na, was will
denn die? es ist doch noch nicht der Erste.
,Jch wollte Sie bitten, Herr Kelemen . . ." rot vor
Vcrlegenhcit steht sie an die Tiire gelehnt, ,,es ist mir sehr
peinlich . . . aber ich — ~ "
540
,,Aber bitte", sagt er verwundert, ,,ist etwas Unan-
genehmes passiert?"
,,Passiert 1st gerade nichts . . . aber ich wollte Ihnen nur
sagen . . . ich bin die Witwe eines pensionierten stadtischen
Biirgerschuldirektors "
,,Aber, das weiB ich doch — "
9> und Herr Kelemen, Sie waren stets ein sehr
angenehmer Mieter . . . aber der Hausmeister hat mir
gesagt, Sie waren diese Nacht mit einer fremden Dame — "
Verdutzt hebt er den Kopf, Wut schaumt in ihm auf, —
nur fur einen Augenblick, — aber, bitte, gnadige Frau,
will er anfangen, — dann lacht er und sagt in heiterem,
leichtem Ton:
,,Sehen Sie ma! . . . Frau Hunka. Entweder, Sie mischen
sich nicht in meine Angelegenheiten, oder aber ... in zwei
Tagen ist der Erste, und wenn Ihnen was nicht paBt, dann
konnen Sie mir ja kiindigen. Bis dahin bringe ich in mein
Zimmer, wen ich will!" Er geht an die Tiire und macht
sie auf, Frau Hunka wankt aus dem Zimmer.
Er pustet. Alte Scharteke . . . aber sein Arger ist ver-
schwunden, und er lacht. Ich schame mich, daB ich sie
hierher bringen muB, in diese alte Bude . . . und die gries-
gramige Hexe da wagt noch Er tritt ans Fenster und
blickt hinaus. Es regnet. Abscheulichcs Herbstwetter. Wird
nicht so bald auf horen, pfui. Driiben auf dem Trottoir geht
ein alteres Paar. Der Mann gibt der Frau den Schirm; sie
treten vor eine Bank, der Mann stellt einen FuB auf die
Bank und bastelt am aufgegangenen Schniirsenkel herum,
untcrdessen halt die Frau den Schirm iiber ihn. Ein nettes
altes Ehepaar. Wenn wir heute abend ausgehen, ziehe ich
mir den Smoking an. Er geht an den Schrank, sucht ein
sauberes steifes Hemd. Alle drei sind in der untersten
Schublade unter der schmutzigcn Wasche. Sofort klingelt
er. Gleich ist Julie da.
,,Julie, nehmen Sie schnell diese drei Hemden hier und
tragen Sie sie in die Waschanstalt, sie sollen sie mir so rasch
wie moglich waschcn und raufschicken, und zwar mit ganz
steifen, glanzenden Briisten und Manschetten."
Das Madchen geht mit den Hemden ab. Dann zieht er
den Rock aus, schliipft in den zerrissenen Liister-Buro-
rock, stochert in der Glut im Ofen und legt sich auf die
Chaiselongue. Eine Stunde schlafen. Gut ware das. Auch
vorige Nacht habe ich kaum und da fallt ihm seine
nachtliche Phantasie von der rothaarigen Frau ein. GroBer
Gott das sind doch vollkommen wahnsinnige Sachen,
diese entsetzlichen Aufregungen, — auf dem Schiff habe
ich Camilla kennengelernt, — eine ganz ernstliche Krank-
heit, daB ich diese Dinge nicht aus meinem Innern vertilgen
kann, nicht verscheuchen, nicht loswerden das geht
doch wirklich nicht, daB ich mich selbst in dieser Weise
verfolge, anstatt ganz einfach, klug und niichtern zur
Kenntnis zu nehmen: es 1st aus, aus ist es, und SchluB, ich
muB was Neues anfangen, etwas anderes, und nicht davor
hangen bleiben und mich nicht aufraffen konnen, zu andern
ist doch nun einmal nichts mehr daran also, abrechnen,
klar, gescheit und einfach. Was habe ich letzten Endes ver-
loren? eine lumpige Stellung in einem mir verhaBten Biiro,
also, bitte, und wenn ich mir fur hundert Pengo ein
Lotterielos kaufe, vielleicht gewinne ich, vielleicht auch
nicht . . . oder wenn ich einen Zehnpengoschein auf die
SechsunddreiBig setze oder auf die Funfzehn, ausgerechnet
auf die Funfzehn, — vielleicht kommt die Funfzehn raus,
vielleicht auch nicht . . . Also, ich hab ausgerechnet auf
K4da*r gesetzt was denn? nichts. Sie hattcn mir ja
sowieso gekiindigt . . . hatten, hattenl und wenn sie mir
doch nicht gekiindigt hattenl und wenn ichs anders ge-
macht hatte I und wenn Joly klug gewesen ware I und wenn
Klddr geneigt gewesen ware, sich scheiden zu lassenl —
nein, das halte ich nicht aus, diese dauernden Aufregungen,
wenn ich allein bin er springt auf, schleppt sich mit
schwankenden Schritten und schwindclndcm Kopf cine
Weile im Zimmer hin und her, — ich geh runter, ich geh
54*
runter er taumelt und setzt sich auf den Rand des
Bettes; ein wenig beruhigt er sich. Albernheit. Ich lasse
mich gehen ... — nein, ich will mich nicht gehen lassen!
ich bin allein, gut, dann bin ich eben allein! ein erwachsener
Mensch mit gesundem Verstand r- Vom Biicherregal
ziebt er aufs Geratewohl ein rotes broschiertes Buch heraus.
Das Gesetz der Vier, Wallace, groBartig, noch nicht einmal
aufgeschnitten. Ein Glas Kognak, eine Zigarette, — er
legt sich wieder auf die Chaiselongue. Die alte Vettel wird
mir sicher kiindigen, na, soil sie doch, um so leichter wirds
sein, einen Strich zu machen unter das ganze bisherige
also, Das Gesetz der Vier, na, wollen mal sehen. Mit dem
Finger reiBt er den ersten Bogen auf. Der Mann, der aus
Clapham kam . . . das kommt mir bekannt vor, na, mal
sehen. Er liest den ersten Satz, langsam und vorsichtig,
jedes Wort einzeln. In der Mitte der Seite hat er die ersten
Zeilen bereits vergessen, und unten auf der Seite haben die
Worte keinen Zusammenhang mehr, — ich kann nicht
lesen, interessiert mich nicht . . . ich schick die Julie noch
mai runter, vielleicht gibts schon Abendzeitungen — —
die Entreeklingel lautet, eine Mannerstimme brummt, kurz
darauf klopft es an seiner Tiir, er ruft ,,herein" und stiitzt
sich auf den Ellenbogen.
Der Besucher ist der kleine Lewy.
,,Servus, Kelemen, — na? was ist denn los? bist du
krank?"
Was bedeutet das? was will der? um diese Zeit?
,,Du wunderst dich wohl, daB ich komme. WeiBt du,
ich war gerade hier gcgeniiber beim Arzt, — stell dir vor,
ich hab Magensaurel" sagt er in tiefgekranktem Ton, als
hattc ihn eine ganz besondere Ungerechtigkeit getrofFen.
,,Also, da ich so in der Na'he war, dachte ich mir, ich will
mal sehn, was du machst. Bist du krank?"
,,Ich?J" wundert cr sich etwas kleinlaut, ,,keine Spur,
wieso?"
,,Warum warst du denn gestern abend nicht im Caft?"
543
,Jaaa . . ." sagt er gedehnt, ,,gestern abend, ach ja,
natiirlich." Soil ich jetzt sagen, ich habs vergesscn? das
glaubt er mir ja doch nicht . . . ,,Ich konnte gestern nicht,
ich hatte eine wichtige Verhandlung, in einer Stellungs-
angelegenheit, weiBt du."
,,Aha . . . na, und wird daraus wenigstens was Ver-
niinftiges?'*
,,Ich hoffe, ja . . ." und sofort springt er vom Thcma ab,
,,na, was war denn los gestern?"
Der kleine Lewy zieht sich den Stuhl bequem zurecht,
schlagt das Bein iibers Knie und stiitzt sich mit dem Ellen-
bogen auf die Tischkante :
,,Schade, daB du nicht da warst, es war namlich Plenar-
Sitzung, alle sind erschienen, zur Abschiedssitzung, wie
Simon sagte."
„ Abschiedssitzung ?"
,,Ja, Kadars Abschied haben wir gefciert."
,,Kadar? . . ."
,,Na ja, Kadar war natiirlich nicht dabei, angeblich ist
er vor ein oder zwei Tagen abgereist, aber es war von nichts
anderm die Rede als von ihm. WeiBt du, wie soil ich gleich
sagen, wir haben die Kadar-Angelcgenheit zusammen-
gefaBt "
,,Und?"
,,Und, also, wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daB
unser beruhmter Toni Kadar noch genau derselbe Laflfe
ist, der er im Gymnasium war. Genau derselbe unent-
schlossene, unbeholfene . . . bloB daB er dazu noch gemein
geworden ist, was andererseits natiirlich ist, das kommt so
mit dem plotzlichen Reichwcrden **
Und der kleine Lewy spricht. Den rechten Ellenbogen
hat er auf den Tisch gestiitzt, mit der linken Hand gestiku-
liert er, dann steht er auf, geht auf und ab und setzt sich
wieder. Die Worte flieBen glatt von seinen Lippen, mit
farbigen Unterstreichungcn, mit pragnanten Redewendun-
gen, in der virtuosen Vielstimmigkeit von Dialogen und
544
Randbemerkungen. MVollzahlig waren sic gestern am
Stammtisch versammelt. Selbst Suhajda war da, der so
selten erscheint, und auch Vavrinec. Mir hat er gleich nicht
gcfallcn, als cr ankam, sagte Simon sofort, als von Kadar
die Rede war. Ich bitte euch, einer, von dem seit zehn
Jahren kein Mensch was gehort hat und der dann plotzlich
mit sechzehn KofFern angesetzt kommt, — so eine Sache
muB irgendeinen Haken haben. Na ja, Simon hat gleich
auf dem Fremdenmeldeamt in Erfahrung gebracht, daB die
Frau zehn Jahre alter ist als er. Ich will ja nicht sagen, ihr
habt es ja auch nicht sehr bemerkt, daB sie schon ziemlich
bei Jahren ist, denn schlieBlich die moderne Kosmetik . . .
Schon, aber mit diesen zehn Jahren ist auch die ganze
Sache schon so ungefahr erklart. Unser Pinguin ist ein
kleiner Ausgehaltener, in Pfunden naturlich, in Bauunter-
nehmungen, in groBem Stil, was immerhin etwas ganz
anderes ist, als etwa zwanzig Pengo von einer Frau anzu-
nehmen. Schade ist bloB, sagte Simon, daB man nicht
dahinterkommen konnte, wer diese ungarische Tante in
jungen Jahren gewesen und wie sie zu den Moneten ge-
kommen ist, das ware doch interessant, — schade, sagte
Simon, daB wir es in dem Punkt bei Kombinationen und
Hypothesen bewenden lassen miissen. Aber fangen wir
vielleicht gar nicht hier an, sondern schon dort, daB sich
auch herausgestellt hat, wie und hauptsachlich warum er
ins Ausland gegangen ist. Das hat Vavrinec erzahlt, der es
seinerzeit auf der Hochschule gehort hat. Unser Pinguin ist
n£mlich 1919 wegen eines kommunistischen Stuckchens
aus der Hochschule rausgepriigelt worden und dann aus
Budapest verschwunden, es ist sogar nicht ausgeschlossen,
daB er inzwischen gesessen hat, dariiber wuBte niemand
Bestimmtes. Aber man weiB, und zwar hat das Zatony von
Varga gehort, daB er einundzwanzig oder zweiundzwanzig
in London war und dort gebettelt oder gehochstapelt hat.
Varga hat er sogar um eine groBere Summe geprellt,
woran cr sich jetzt, als sie sich hier trafen, absolut nicht
35 Kftrmendi, Budapest 545
meht erinnern wollte. Kurz und gut, es zeigte sich, daB die
Sache uns alien von Anfang an nicht recht gefallen hatte,
worauf ich jedoch bemerkte, seien wir nur objektiv, im
Anfang waren wir sehr wohl alle bezaubert von ihm, was
auch verstandlich ist, pecunia non olet, nicht wahr, so heiBt
es, — worauf Simon und Szende mich niederschrien, sie
lieBen sich nicht so leicht was vormachen und so weiter,
sie hatten gleich von Anfang an gewuBt und so weiter. Na,
und dann kamen Einzelheiten, von denen ich keine Ahnung
gehabt hatte, — keine groBen Sachen weiter, — also, zum
Beispiel Szende. WeiBt du, was Kddar mit dem gemacht hat?
Eines schonen Tages fangt er an, mit ihm zu reden, er sei
doch Architekt et cetera, Szende hat bekanntlich viel mit
Grundsriicken und Hausern zu tun. Also, Kadar interessiert
und erkundigt sich so lange, bis Szende alle Bedenken
beiseite schiebt, schlieBlich ist das ja sein Geschaft, und ganz
zu verachten ist es auch von . . . von allgemeinem Standpunkt
nicht, heutzutage hier in Budapest von auslandischem Geld
bauen zu lassen, — kurz und gut, Kadar hetzt Szende da in
cine Sache hinein, und Szende macht ihm einen Vorschlag,
der Pinguin zuckt die Achsel, Szende macht einen zweiten
Vorschlag und noch einen und noch einen, der Pinguin
geht bloB ganz lau darauf ein, sagt weder ja noch nein,
Szende laBt sich verriickt machen, arbeitet, schuftet fur
ihn wie cin Taglohner, und da reist der Pinguin plotzlich
ohne Sang und Klang ab. Ist das etwa ein ernstzunehmender
Geschaftsmann? . . . nein, den kann man als Geschaftsmann
nicht ernst nehmen. Das sieht sehr nach Hochstapdei aus.
Und der Mdrton. Die Sache ist noch besser. Du weiBt, daB
Mdrton sich im siebenten Bezirk eincs sehr geschatzten
Namens erfreut. Also, Mdrton crzahlt, er sei zu K£d£r ge-
gangen, sie hatten namlich gerade beschlossen, mit einer
Bank im Bezirk irgendwas zu machen, im Interesse der
Burgerpartci und so weiter. Eine solche Sache in einer
kapitalkraftigcn Hand, hat Marton gesagt, nun, ihr wiBt
ja. Es intcressiere ihn, antwortct Kddir, gewiB, warum
546
nicht? Man konne klcinere Bauten finanzieren oder der-
gleichen. Marton geht auf die Sache ein, macht sich da-
hinter, verhandclt hier, verhandelt dort, Kadar hingegen
versinkt in Schweigen. Und was war das Ende vom Lied?
Marton hat sich drei Monate lang mit der Angelegenheit
geplagt, ist den ganzen Sommer nicht verreist, dabei hatte
der Arzt ihn dringend nach Reichenhall geschickt, und unser
Kadar dreht der ganzen Angelegenheit eines schonen Tages
glatt den Riicken. Hor nur weiter. Unglaublich, kann ich
dir sagen, einfach unglaublich, in was alles der seine Nase
reingesteckt hat. In einer Art ist er uns gegeniiber auf-
getreten, ais sei es sein einziges Ziel gewesen, — na, schon,
also jetzt Amman. Der sagte bloB, er habe ihm eine erst-
klassige Exportsache vermittelt, wobei auch der Staat
beteiligt gewesen ware, wiBt ihr, sagte er, in einem Jahr
hatte sogar ich mir ein Haus bauen konnen, so viel ware da
abgefallen, ganz zu schweigen vom moralischen Verdienst,
gewcint hat er fast, sag ich dir. WeiBt du, Kelemen, der
Pinguin hat mit jedem einzelnen angebandelt. Zu Simon
hat er gesagt, er wiirde eventuell in seine Geburtsstadt
fahren, runter nach Siebenbiirgen, ans Grab seiner Eltern,
ob er nicht mitfahren wolle, er wiirde ihn sehr gern mit-
nehmen, dann ware die Reise ihm wenigstens nicht lang-
weilig. Hast du schon mal sowas gehort? was geht Simon
das Grab von Kadars Eltern an?l Rona hat laut gelacht,
Gott sei Dank, hat er gesagt, ich bin ihm wenigstens bloB
mit einem graflichen Porzellanservice auf den Leim
gegangen, das er kaufen wollte, aber ich hab gar nichl
crnstlich mit ihm verhandelt. Na, und dann hat noch der
Lcwy ausgepackt und, was weiB ich, wer noch alles . . .
Aber das Gemeinste war doch, was er mit dem armen
Suhajda gcmacht hat. Zugegeben, der Suhajda ist kein
sympathischer Mensch, ist weiBer Terrorist gewesen, von
mir aus konnte er ruhig verrecken, aber trotzdem, —
Suhajda hat ihn ganz often und ohne Umwege gebeten, er
moge ihm riiber verhelfen nach Sudafrika, well er hier
35- 547
verhungcrn miisse, — weiBt du, was er darauf gcantwortet
hat? wenigstens nach Suhajdas Aussagen, wcnn man
denen glaubcn kann, — nein, hat cr zu ihm gesagt, erst jetzt
vor cin paar Tagen, nein! verstehst du mich? ich nehm dich
nicht mit und ich helf dir nicht und ich will iiberhaupt
nichts mehr von euch horen, verstanden! — Nun frag ich
dich, kannst du das begreifen? warum ist er denn monate-
lang hiergeblieben, was hat er sich mit uns angebiedert?!
Und wenn er dem Suhajda ein paar Pengo angeboten hatte,
hatte er sich da sehr angestrengt?! Suhajda sagt ja selbst,
er schwort, er hatte sie angenommen, weil er geradezu Not
leidet. Nna. Und dann noch die Affare mit Kroh, der Gipfel-
punkt vom Ganzen, — laB mich die noch schnell erzahlen,
also, alle bringen sie der Reihe nach ihre Geschichtchen mit
Kadar vor, bloB Kroh schweigt, spricht den ganzen Abend
kein Wort, wirft nicht mal cine Bemerkung dazwischen,
ich wuBte gar nicht, was ich davon halten solite. Auf einmal,
als schon alle referiert hatten und das einstimmige Urteil
gefallt war, da tut Kroh seinen Mund auf und sagt: na, jetzt
will ich euch mal was sagen. Ich weiB nicht, wer dieser
Kadar ist, warum er nach Budapest gekommen ist, warum er
seit Monaten hier sitzt, ich habe bloB ein einziges Mal mit
ihm gesprochen, hier im Cafe in eurer Gesellschaft, und ich
hatte den Eindruck, daB er ein kalter Mensch mit klarem
Kopf sein muB. Mich interessiert nicht, sagt Kroh, wie groB
sein Vermogen ist und woher es stammt, ich weiB nur eins,
und zwar, daB er ein Kapitalist ist, der in seinen Geschaften
aus Proletarierhanden und Proletarierkopfen die Millionen
herauspreBt. Damit ist mein ganzes personliches Interesse
fur ihn erschopft, und zwischen ihm und mir kann hochstens
in allem ein polarer Gegensatz bestehen, vielleicht sogar
Feindseligkeit, weiter nichts. Von euch alien aber weiB
ich, daB ihr an ihm einen Braten gerochen und euch auf
ihn gestiirzt habt wi* die Rauber ich kann dir sagen,
da brachte keiner mehr ein Wort hcrvor, bloB R6na sperrt
den Mund auf und stammelt: glaubst du nicht, daB das ein
548
biBchen zu stark ist? Kroh wird krebsrot, nimmt die Brille
ab, blinzelt uns kurzsichtig an und sagt, du hast recht,
Rona, das war zu stark, nicht einmal Rauber seid ihr,
hochstens winzige Hochstapler, kleine Halunken und
hauptsachlich traurige Laffen, die sich eingebildet haben,
ihn in irgendwas reinreiBen zu konnen, dabei na,
und da ging der Krach los, Kroh konnte nicht weiterreden.
Zum Gliick waren wir so viele, daB wir gleich zu Anfang
in ein Extrazimmer gehen muBten, und die Tur war
geschlossen. Ich kann dir sagen, ein Gebriill war das, du
Hund, du Blender, du Kanaille und so weiter. Da steht
Kroh wortlos auf, nimmt seine Brille und verlaBt das
Lokal. Amman wird ihn fordern, er iiberlegt sich bloB
noch, ob er iiberhaupt von einem Sozi Satisfaktion ver-
langen soli . . . eine feine Geschichte war das, mein Lieber.
Aber, weiBt du, Andor, ich will dir was sagen. Sieh mal,
ich hab meinen kleinen Laden, der geht eben, wie er geht,
ich wills nicht verschreien . . . und, weiBt du, ich hab den
Kadar keine dreimal hier in Budapest getrofFen, auf mein
Wort, ich wuBte nicht mal, ob er noch hier war oder nicht,
mir kann also wirklich niemand nachsagen, daB ich ihm
einen Ramsch Mako-Unterwasche hatte andrehen wollen,
ich wollte nichts von ihm. Ich war auch ruhig gleich dabei,
mit den iibrigen zu schimpfen, der Kadar sei ein Hoch-
stapler, ein Halunke, was kann das mir schon schaden oder
ihm? und was kanns niitzen? mich geht er doch nichts an.
Aber . , . im Vertrauen sage ich dir, der Kroh hat voll-
kommen recht gehabt, vollkommen recht. Kadar war hier,
schon, dann war er eben hier, er kann sichs leisten, kann
scin, wo er will, kann tun, was er will, fur sein Geld. Ich
hab dir nun erzahlt, was ich von den Jungens gehort habe,
nicht mchr und nicht weniger. Ich identifiziere mich eher
mit ihncn, und wenn sie mir sagen, Kadar habe sie rein-
gelegt, warum soil ich ihnen das nicht glauben? Aber wenn
ich mir die Sache iiberlege . . . unter uns gesagt, sieh mal,
was fur einen Sinn hatte es fur ihn gehabt, mit diesen
8fl Kttrmfndt, Budnpeftt
Gcschichtcn anzufangen? Mir sicht die Sadie sehr so aus,
als bitten sie sich an ihn rangemacht . . . denn schliefilich,
was braucht er ein Haus in Budapest? und eincn Grund-
stiickskomplex? wozu soil er in Budapest bauen lassen?
was braucht cr cine Aktiengeschichte im sicbenten Bezirk?
was soil er mit einer staatlichen Lieferung hier anfangen?
was wollten die denn eigentlich von ihm? . . . wollten sie
ihn etwa hier in Budapest festhalten? wollten sie sich um
jeden Preis an seine Tasche randrangeln? und die andern
wollten vielleicht, daB er sie mit riibernehme? alle wollten
sie ihm etwas bringen, um dann von ihm was wegschleppen
zu konnen? alle wollten sie unentbehrlich sein fiir ihn, um
an ihm klebenbleiben zu konnen? bloB, weil es sich nicht
um einen Mister Ix Ypsilion handelte, von dem man sich
vorstellen kann, daB er genau so gut zu rechnen versteht
wie sie? sondern weil es sich zufallig um Mister Toni Kdd£r
handelte, den Pinguin aus unserer Klasse?! von dem sie
von vornherein vorausgesetzt haben, er sei noch immer
dcrselbe Einfaltspinsel wie friiher, oder der verpflichtet
gewesen ware, ihnen — Schon, wir sind Geschaftsleute
und machen heutzutage unsere Geschafte, wie wir konnen
und wo wir konnen, — das kann ich um so eher sagen,
als ich ein reines Gewissen habe . . . aber ich bitte
dich, einen konzentrischen Angriff gegen jemanden unter-
nehmen, ihn von hier bestiirmen und von dort be-
stiirmen, jemanden, von dem sogar ich mir ausrechne,
daB es weder sein Ziel noch sein Intercsse sein kann,
ausgetippelt mit diesen Leutchen in geschaftliche Ver-
bindung zu treten, dcr doch bloB hergekommen ist fiir
eine Woche oder egal fiir wie lange, um sich zu erholen
und zu amiisieren; und das alles nur darum, weil er
friiher mal ihr Mitschiilcr, ihr Kamerad war, weil er aus
unserer Mitte stammt oder vielmehr, weil cr unsercr Mitte
entwachsen ist ... nein, Andor, ich muB schon sagcn,
aber, nicht wahr, es bleibt untcr uns, — Kroh hat in allem
recht gehabt!"
550
Kelemen hort sich die lange Rede an, liegt auf der
Chaiselongue, auf den Ellenbogen gestiitzt, dem kleinen
Lewy zugewendet. Sprich nur. Du hast recht. Es tut wohl,
das zu horen, es 1st das Fegefeuer, durch das ich hindurch
muB . . . ich habs verdient, sprich nur, Lewy, laB deine
Worte, deine weisen Urteile mich durchzucken, laB deine
Stimme mich durchbohren, ziinde unter mir den Scheiter-
haufen deiner Meinung an ... das muB so sein, ich habs
verdicnt, das brauche ich, urn iiber die Sache hinwegzu-
kommen sprich nur! — und der kleine Lewy leiert
weiter. DaB er seinerseits sich in keinerlei Aktion gegen
Kroh einlassen wiirde, schon, Kroh habe zweifellos eincn
Fehler begangen, habe sich wie ein Bauer benommen, wie
ein Tropf, aber ausgeschlossen, er, Lewy, ware auf keinen
Fall imstande, sich zu irgend etwas gegen ihn zu ent-
schlieBen ... — und als Kroh so plotzlich verschwunden
sei, da hatten sich die Gemiiter langsam beruhigt, die
Jungens waren allmahlich gegangen, dies also sei die
genaue Chronik der beriihmten Abschiedssitzung, — ,,es
kann dir leid tun, daB du nicht dabei warst, ja und • ja
und, Andor, weiBt du, etwas mochte ich dir noch sagen,
bloB ein biBchen peinlich ist die Sache . . . es handelt sich
namlich in gewissem Grade um dich — •"
,,Na?" fragt cr mit tonloser Stimme und schrecklichcm
Klopfen in der Kehle.
,Ja . . . aber du muBt mir versprechen, daB die Sache
unter uns bleibt und daB du auch sonst keinen Kasus aus
der Geschichte machst. Ich habe nSmlich das Gefiihl, daB
es eigentlich mcine Pflicht ist, dich aufmerksam zu machen,
— schlieBlich sind wir doch alte Kameraden . . .k4
,,Na?" sagt er noch einmal gequalt, und sein ganzes
Innere bebt.
,,Also, warte mal , . . Simon hat gesagt, aber nicht vor
der ganzen Versammlung naturlich, bloB R6na und Mdrton
und Szende und ich waren dabei, wir gingen zusammen
nach Hause zu — "
«• 551
,,Na?" spricht er zum dritten Mai, aber der andere
braucht eigcntlich gar nicht mehr zu reden, er weiB ohnehin,
was er sagen wird.
,,Namlich Simon . . . der 1st ja ein Schwatzer, das wissen
wir ja, — Simon hat gesagt, eigentlich sei Kadar darum so
lange hier geblieben und habe zwischendurch angeblich
seine Frau nach Italien geschickt — "
,,Warum?" stohnt er auf dem Scheiterhaufen.
,,Wegen einer Frau . . . das heifit sieh mal, ich
muB aufrichtig mit dir reden . . . du weiBt, ich bin dir von
jeher gut gesinnt, und in deinem eigenen Interesse muB ich
gcwisse Dinge aussprechen "
Kelemen richtet sich auf der Chaiselongue auf. Die
plotzliche Bewegung laBt den andern schweigen. Stille.
,,Also, redst du, oder redst du nicht?!"
,,Sofort . . . also Simon hat gesagt, Kadar soil angeblich
mit deiner jiingeren Schwester was gehabt haben — "
Er steht auf.
,,Was denn?c<
,,Na, ein Techtel-Mechtel . . . Kadar soil ihr nachgelau-
fen sein, vielmehr — '*
,,Vielmehr ?"
,,Vielmehr . . . also, sie sollen sich gut verstanden
haben . . . Mein Gott, warum soil ichs aussprechen . . .
dauernd hat man die beiden zusammen gesehen, und — -
na, du verstehst doch schon, nicht?"
Sein Gesicht ist schneeweiB; der andere springt mit
einem Ruck auf, sein Mund ist halb offen, als quale er sich,
ein herauswollendes Wort hinunterzuschlucken; seine
Augen sehen mit angstvoller Glut in das weiBe Gesicht. —
Da wendet Kelemen sich ab, tritt unsicher, schwankend vor,
nimmt einc Zigarette vom Tisch und ziindet sie an. Stille.
Dann stellt er sich wieder vor den kleinen Lewy, und seine
Stimme ist ganz ruhig und iiberlegen kalt:
,,Klatsch", sagt er, ,,nichts als dummer Klatsch ... ich
pfeif drauf, Lewy."
55*
,,Klatsch", wiederholt der andcrc eifrig, ,,das hab ich
glcich gesagt, unverschamter KJatsch . . . und ich wollts
dir nur darum sagen "
,,Danke schon. Das war . . . deine Freundespflicht. Aber
ich pfcif drauf. Ich fuhle rnich nicht beleidigt, auch fur
meine Schwester nicht. Schwcinehunde die. Zufallig bin
ich mit ihm in Verbindung getreten. Also verdien ich
schon, daB sie in ihrer Wut auf mir rumtrampeln. Und
gestern konnte ich zufallig nicht dabei sein, also lassen sie
gleich ihre Schmahreden auf mich los. Schweinebande.
Ich pfeif auf sie — "
,,Recht hast du!" hetzt der kleine Lewy, ,,pfeif nur — "
Stille. Zweimal geht Kelemen bis ans Fenster, dann
stellt er sich wieder vor den andern.
,,Du, Vili, ich will dir was sagen, aber bloB dir. t)bri-
gens . . . mir ists ganz gleich, kannst es ihnen ruhig wieder-
erzahlen," Pause, ,,sag ihnen ruhig, Kadar sei unschliissig
gewesen und ware vielleicht ganz gern auf die eine oder
andere Sache eingegangen, aber ich hab ihn gewarnt, hab
ihm gesagt, er solle sich vorsehen! Ich hab ihm gesagt,
daB sie ihn schinden wollen, er solle auf der Hut sein.
Solle sich auf nichts einlassen. Ich hab ihn aufmerksam
gemacht "
,,Wirklich . . .?" sagt Lewy ein wcnig skeptisch.
,,Und daB er einer Frau nachgelaufen ist, daB er ein
Techtel-Mechtel gehabt hat . . .", als staue sich jetzt cine
erstickte Drohung hinter seinen Lippen und in dem bittern
Zug um seinen Mund, ,,das ist doch seine Privatangclcgcn-
heit. Verstanden? seine hochsteigcne Privatangelegenheit.
Wir sind doch Erwachsene, sind doch groBjahrig. Ich pfeif
auf sic !"
Seine Stimme verklingt dumpf und kalt; der kleine Lewy
weiB nicht, was cr sagen soil. Etwas von Besorgnis, ctwas
von Zweifel steckt allerdings in ihm. Der Kreis ist nicht
ganz geschlossen, irgendwo schcint die ... grofic Ruhc
luckenhaft zu sein. — Einen Augenblick steht Kelemen
553
da, dann drcht cr sich um und zieht den zerrissencn Luster-
rock aus.
,,Ziehst du dich an?"
,,Ja." Er schliipft in den blauen Rock und betastct seine
Taschen.
,,Gehstduweg?"
,,Ja. Um sechs hab ich ein Rendezvous mit einer Frau.
Privatangclegenheit. Wir sind doch Erwachsene, dir kann
ichs schlieBlich sagen, du bist mein Frcund "
Der klcine Lewy reiBt die groBen braunen Augcn auf.
,,Bandi, sag mal . . . du wirst mirs doch nicht nach-
tragen? . . ."
,,Aber Unsinn", antwortet cr abwinkcnd, kuhl. ,,Was
sollte ich dir denn nachtragen? ausgerechnet dir? Ich nehms
ja nicht einmal dcnen iibel, keinem. Laffcn. Na, kommst du?
Pardon, cincn Moment." Er greift nach dcr Kognakflasche.
,,Darf ich dir auch cinen eingieBen?"
,,Danke", sagt dcr andere, ,,wcnns sein muB, wolln mal
sagen, dir zuliebe, auf dcin Wohl. Ich mach mir nicht vicl
aus Alkohol, erstcns hab ich Magensaure, und dann iiber-
haupt, unscre Lcut . . . du wciBt ja."
1m Haustor nimmt der klcine Lewy schleunigst Abschied
von ihm. Er cilt noch zuriick ins Gcschaft, bei LadcnschluB
ist cr immer da. Ja, und . . . Kclcmen habe ganz recht, wenn
er keine groBe Affarc aus der Sache mache, vollkommen
rccht . . . also, nichts fur ungut . . . und wir sehn uns ja
bald wieder, spatcstens am letzten Donnerstag im Decem-
ber. GcwiB, gcwiB. Also, dann bis dahin . . . Servus. Servus.
Er sieht dem kleinen Lewy nach, wie er auf die Elek-
trische steigt. Es regnet; ein wenlg steht er noch um die
Haltestelle herum, dann dreht er sich um und geht taub,
blind, gedankenlos den Ring hinauf ; seinen Regenschirm
hat er am Arm hangen, erst am Oktogon bemerkt er, daB
er ganz naB wird, und spannt den Schirm auf. Das alles
gehdrt mit dazu, um driiber weg zu kommcn es war
gut, sich das alles anhorcn zu miisscn. Das muBtc sein.
554
Und irgendwo tief innen hatte er ein ganz unklares Gcfiihl;
das Gefuhl war angenehm und schmerzlich zugleich, es
schwindeltc ihn fast davon, — es war so etwas wie das
Gcfiihl des deja vu, — bloB daB dies Gefuhl sich an einen
Ton oder an ein Wort kniipfte, eher an ein Echo, — als
halle ein Wort in seinem Kopf wider, das Wort: Leiden.
Aussprechen kann er es nicht, genau denken kann er es
auch nicht, er kann das Wort nicht losmachen, er fiihlt es
nur. Gut . . . daB der Lewy mir das alles erzahlt hat, so
wirds leichter sein, so komme ich leichter driiber hinweg, —
vielleicht kommc ich driiber hinweg Er geht dicht
an der Wand, in wenigen Minuten ist er vor Macas Dro-
gerie angekommen. Heute gehe ich mit ihr ins Theater.
Eine arbeitende Frau ist sic, macht, was sie will. Kommt
mit mir, schlaft bei mir, liebt mich. Wcnn sie will. Und
wenn sie mich iiber hat, verlaBt sie mich. Dann folgt ein
andercr, eventuell Doktor Ott na. Im Schaufenster
steht ein Eiffelturm aus blauer Glanzpappe, dahinter ein
stilisiertes Bild von Paris, kulissenartig, darunter zwei-
drei Parfumflaschen. Ganz hiibsch, das Schaufenster. Sach-
lich, diskret, nicht iiberladen, bloB so viel, daB die Auf-
merksamkeit auf das Wesentliche gelenkt wird, auf das
Parfum. Nach Paris miiBte man gehen. Dort kann man
noch was erreichen, dort gibts keine Arbeitslosigkeit, dort
ist Raum fiir odcr man miiBte einfach zum Vergnxigen
nach Paris fahrcn. Eine Luxusrcisc machen. Zwischendurch
tritt er an die Tiir. Ich werde nach Paris fahren, mit Maca . . .
irgendwie werden wir dort schon unser Auskommen finden.
Er guckt durch die Tiir: der Laden ist leer, in der Ecke
zwischen den beiden Theken sitzt auf einem niedrigen Stuhl
ein dicker Mann in weiBem Mantel, das ist sicher der Qief,
der mit dem Sohn, der voriges Jahr das Abitur gemacht . . .
groBc Sachc, ich hab auch das Abitur gemacht, Kadar auch,
Suhajda auch. Nicht das machts. Der dicke Mann dort drin
licst cine Abendzcitung. Durch die Tiir kann man schrag
auf die Kassc schcn, man sicht gcradc ein Stuck von der
555
Marmorplatte. Auf dcm grauen Marmor liegt cine Hand,
halt cinen Bleistift und bewegt sich in regelmaBigen Zeit-
abstanden, anscheincnd kontrolliert sie irgendwelche Rech-
nungsposten und hakt sie an. Natiirlich, es ist ja gleich
sechs, Kaufer sind nicht mehr da, jetzt macht sie Kassc.
Schon ist die Hand, Macas Hand, schon weiB und hat
lange Finger. Moglich, daB sie das Schaufenster arrangiert
hat, es ist ja sonst keiner mehr im Geschaft. Dabei hat sie
dann im Schaufenster gestanden, vor die Scheibe war sicher
ein groBer Bogen braunes Papier oder ein Vorhang ge-
spannt, damit das Publikum nicht sehcn konne, was da
vorbereitet wurde. Paris hat sie aufgebaut und den Eififel-
turm, und dann hat sie die Flacons daruntergestellt. Biicken
muBte sie sich dabei, gewiB konnte man bis uber die Knie
ihre wohlgeformtcn Beine sehen, und zwischen Strumpf
und Combinadon einen Streifen rosa Haut, von hintcn.
Vielleicht hat der Sohn des Chefs, der das Abitur hat,
drauBen vor dem Fenster gestanden und durch die Spake
reingeguckt. Er beugt sich ganz client an die Tiir, ob er so
vielleicht Maca erblicken kann, aber cr sieht nur die
zuckende Hand mit dem Bleistift, das iibrige ist vom Tiir-
rahmen verdeckt. Arbeitende Frau, ich arbcite auch. In
Mobeln, eventuell in Textil. Hundert Pengo Fixum ... sie
verdient sicher auch mindestens hundertsechzig, von zwei-
hundertsechzig kann man schon leben, bescheiden aller-
dings . . . aber dann kommen ja meine Provisionen, — jeder
lebt, wie er kann, und macht, was er will. Wir zum Beispicl
gehen heutc ins Theater und dann zu mir nach Hause
Seine Hand licgt auf der Klinke, sein Gesicht ist dicht an
der Glasscheibc in der Tiir, — da sieht der Dicke im weiBen
Mantel von der Zeitung auf, senkt den Kopf ein wenig und
blickt mit weitsichtigcn Augen iibcr den Kneifer hinweg
durch die Tiir ihm gerade ins Gesicht. Er tritt ein. ,,Habe
die Ehre", griiBt der Inhabcr sofort und steht auf, ,,womit
kann ich dicnen?" Gegenubcr in der Glasscheibe des
Schranks sieht er Maca in der Kassc, wie sie mit gescnktem
556
Kopf auf cinem Bogen Papier rechnet. ,,Guten Abend",
sagt er, — da hebt sie sofort den Kopf: ,,guten Abend . . ."
und steht auf. ,,Je, Sie sinds, na, das ist aber wirklich nett."
Sie geht auf ihn zu und gibt ihm die Hand. Auch Maca hat
einen weiBen Mantel an, den langen grunen Bleistift hat sie
in die kleine obere Tasche gesteckt. ,,Wollen Sie was kau-
fcn?" fragt sie, ,,Herr Hegyi, der Herr ist ein alter Bekann-
ter von uns . . . bitte, geben Sie ihm einen Extrarabatt." —
,,GewiB, gewiB<c, sagt Herr Hcgyi, ,,bitte, was steht zu
Diensten?" Unschliissig betrachtet er die Theke, die Glas-
schranke, die kleinen Flaschenturme auf der Theke, die
vielen bunten Flacons, die Tiegel, die Bonbons, die groBen
Schwamme im Korb, die Rasierklingen-Plakate, die hun-
derterlei farbigen hubschen Sachelchen, die die Kauflust
anregen. In der Drogerie riecht es nach Maca. Gut . . . Das
Madchen bedient ihn, Herr Hegyi zieht sich diskret in den
Nebenraum zuriick, laBt die Spiegeltiir jedoch ein wenig
offen. Pfui, seh ich schlecht aus, meine Augen sind ja ganz
umrandert. Rasierklingen ... die kann ich jedenfalls kaufen.
Eigentlich miiBte ich mir Rouge kaufen, mir die Backen
ein biBchen schminken, sie sind ja ekelhaft blaB. Winter-
farbe, Winterfarbe. Biirofarbe. Auch Rasierseife konnte ich
gcbrauchen. Maca laBt hinter dem Ladentisch ihre Hande
hin und her hiipfen, sie raumt die Sachen zurecht.
,,Also, Rasierklingen? da haben wir zum Beispiel diese
hier, die ist prima, die in der roten Packung, wenigstens
sagt man mir das, ich rasier mich ja nicht . . . wirklich zu
nett von Ihnen, daB Sie gekommen sind, ich freu mich
schrecklich."
,,Hast du vielleicht nicht geglaubt, daB ich kommen
wiirde?k<
,,Das schon, bloB — nein, ich war sicher, daB Sie
kommen."
,,Gehen wir heute abend irgendwohin?"
,Ja, fein, wohin sollen wir gchen?"
„ Vielleicht ins Theater?"
557
,,Fein! in welches? oh, sags mir lieber nicht, es soil cine
ttberraschung scin . . . schen Sie mal bitte, da habcn wir
cine neue Seife, ich hab mir auch ein Stiick davon gekauft,
sie ist wirklich gut."
,,Und dann gehn wir essen — "
,,In ein kleines Restaurant, ja? man hat mir erzahlt, in
der Joseph-Gasse soil es cine gemutliche kleine Kncipe — <c
,,Und nachher gehn wir nach Hause, zu mir --"
Sie reiBt den Kopf hoch, ,,pst!" hebt den Finger an den
Mund und nickt nach der kleinen Tiir hin. ,,Aber heute
abend kann ich vor siebcn nicht hier weg, ich muB namlich
den Monatsumsatz fertig machen, kommcn Sie doch nach
sieben wieder her, mich abholen . . . sagcn Sie, kann ich so
ins Theater gehen?" sie schlagt den weiBen Mantel zuriick,
einen dunkelblauen Rock und einen weiBen Pullover hat
sie darunter an.
Er sieht auf ihre spitzen kleinen Briiste. ,,So? . . ."
,,Ach ja, ich habs Ihnen ja noch gar nicht gezeigt", sagt
sic leiscr, ,,sehen Sie, das ist der neue Pullover, heute in der
Mittagspause hab ich ihn mir schnell gekauft, und dann
muB ich Ihnen noch etwas gcstehen, ich war namlich leicht-
sinnig, also passen Sie auf . . . auf dem Riickweg komm ich
iiber den Oktogon und bleib da gcradc an der Ecke stehen
und seh mir bei dem feinen Schuster die Schuhe an, wissen
Sie, entziickendc Schuhe hat der . . . na, jetzt werden Sie
bestimmt bose, — ich muBtc reingehen und mir ein Paar
graue Eidcchsenschuhe kaufcn, mit ciner Spangc, cinfach
himmlisch sind sie, aber Sic wcrdcn gcwiB jetzt schimpfen,
daB ich soviel Geld ausgegeben habe . . . stellen Sie sich
vor, ich hab nichts mehr davon iibrig "
Einen Moment fallen ihm Mamas schwarzc Schniir-
schuhe mit den hochstehenden Spitzen ein. Aber schon
stcht Maca vor ihm und zeigt ihm ihre schmalen kleinen
FiiBc in den neuen Schuhen.
,,Das sind sie ... hvibsch? nicht wahr, Icichtsinnig
bin ich?"
55«
,,Gar nicht", antwortet er zerstreut. ,,Dazu hab ichs dir
doch gegebcn . . . du kannst doch damit machcn, was du
willst, wir wollen auch nicht mehr dariiber "
,,Also, sagen Sic mal . . . kann ich so gehen? vielleicht
nchmen Sie keine besonders vornehmen Platze, sondern
hintcn oder oben ..."
,,Das konnte ich sowieso nicht", sagt er plotzlich. ,,Ich
hab gar kein Geld fiir teure Platze."
,,Sie haben kein Geld . . ." sagt das Madchen mit
reizendem Spott, ,,aber mir ists auf jeden Fall lieber, wenn
Sie ein biBchen sparen . . . na, jetzt muB ich mich aber
beeilcn, damit ich um sieben fertig bin."
Herr Hegyi kommt hinter der Spiegeltiir hervor, besieht
sich den kleinen Haufen der ausgewahlten Sachen, wirft
Maca einen zufriedenen Blick zu und legt einen Rechenzettel
vor sich hin. Klingen, Rasierseife, Eau de Cologne, kleine
Schere, Puder, kleiner roter Gummischwamm, Drahthaar-
btirste, Alaunstein, — macht zusammen . . . gehen ab fiinf
Prozent extra, — macht also netto siebzehnvierzig, sagt
er frohlich. Kelemen zahlt, griiBt und geht. Langsam geht
er durch die Andrassy-StraBe im Regen, das Paket hat er
sich an den einen Mantelknopf gehangt. Ins Lustspiel-
theater konnten wir gehen, dort wird das neue Stuck von
Molnar gcgeben, das lohnt sich bestimmt anzusehen. Ich
werde sie heiraten, sie geht gewiB darauf ein ... ganz
eincrlei, was sie friiher war. Hat gemacht, was sie wollte,
ich auch, jedcr Mensch. Wir leben ja nicht mehr im Mittel-
altcr. Sie kann gliicklich sein Quatsch. Ich phantasiere
schon wieder. Eine Zeitlang laufen wir eben miteinander,
so lange cs uns Freudc macht, bis wir uns iiber habcn, dann
trcnncn wir uns, leicht und anstandig, leb wohl, mein Kind,
adio, es war schon, ich danke dir ... bloB keine Schwicrig-
keitcn, keine Komplikationen. Heute mit ihr, dann mit
einer andern . . . nur leicht nehmcn muB man die Dinge,
nicht glcich alles zu cincr groBen umstandlichcn Geschichte
aufblasen. Ins Lustspieltheatcr gehen wir, fcin, — in einem
559
fort sagt sic fcin, — kleincs dummcs Nuttchcn, ja, cine
ganz cinfachc klcinc Person 1st sie, wahrscheinlich 1st es ihr
noch nie in den Sinn gekommen, auf irgendeine phan-
tastische Heirat zu lauern, mit einem Prinzen, mit Prinz
Andor Kelemen . . . dumm ist sie, aber das ist nun wirklich
dasjenige, was absolut nebensachlich ist, macht nichts, wenn
sie dumm ist, um so besser . . . Sie haben kein Geld?! ja-
wohl, mein Kind, ich habe kein Geld. Dariiber wollen wir
uns nur gleich im klaren sein, Geld habe ich nicht. Daran
wollen wir uns hiibsch gewohnen. Es ist gar nicht so ein-
fach, Einheitsmobel zu verkaufen, oder diesc Textil-Dinge.
Da muB man sich die Hacken abrennen, bis na, und
dann, rechnen wir mal, liebes Kind. Da ist zunachst die
Wohnung, Miete mit Friihstiick, — nein, das machen wir
von nun an ganz anders. Wohnung mit voller Verpflegung,
das kriegt man schon fur hundertzwanzig Pengo, natiirlich
keine hochherrschaftlichen Raume, aber immerhin . . . also
hundertzwanzig; nun geben wir der Mama vierzig, sind
hundertsechzig, dann zahlen wir Schulden ab, sagcn wir
zwanzig, macht hundertachtzig, dann noch zwanzig fur
dies und jenes, sind zweihundert Pengo. Nna. Zweihundert.
Nicht dreihundertzwanzig. Wir miissen klein anfangen.
Fest sind davon bloB hundert, und zu den andern hundert
muB ich verkaufen ja, na, es wird schon zusammen-
kommen. Die Hauptsache ist, daB der groBe Kuddelmuddel
aufhort und ich irgcnd etwas beginne. Klein und beschei-
den. Nur keine Phantasierereien mehr, nichts mehr von
Siidafrika . . . Aber sicher sind mir nur die hundert Pengo
Fixum. Ganz von untcn muB ich startcn. BloB nichts von
Perspcktive, — ganz iiberfliissig. Nichts von Programm.
Nur hiibsch bescheidcn an der Wand cntlang. Wir haben
uns schon mal verbrannt, mein Licber. Wir haben nichts
mehr zu riskiercn. Wir wisscn schon, was das hciBt, allcs
auf die ... SechsunddreiBig setzen. Damit ist es vorbei.
Nur das Papier und der Bleistift zihlcn. Nur das gilt, was
man kalkuliercn kann. Die hundert Pengo . . . nein, es tut
560
mir nicht leid um sie, wegen der Eidechsenschuhe bin ich
nicht bose. Aber das muB sie sich natiirlich abgewohnen.
Braucht gar nicht so unglaubig zu sagen: Sie haben kein
Geld?! — ich hab wirklich keins. Wir fangen die Sache von
vorne an, hiibsch im kleinen wie Papa damals, als er mit
siebzehn Jahren nach Budapest kam. Wir sind wieder erste
Generation, mein Schatz, die sich abrackert um den
Groschen . . . fiir die Kinder. Kinder konnen wir noch
bekommen, ich bin zweiunddreiBig und du vierundzwanzig,
und gesund sind wir beide. Wir haben keine solche Krank-
heit — wir haben bloB Pech gehabt, haben gerade jetzt
groBes, groBes Pech gehabt, — dafur kann aber niemand,
dafiir ist niemand verantwortlich, auch Joly nicht, nur ich
allein — — ich hatte mich da in einen Wahnsinn ver-
rannt . . . na, egal. Aus. Die Lehre: man darf nicht hoch-
fliegen, dann stiirzt man auch nicht . . . Vor dem Bahnhol
bleibt er einen Augenblick stehen. Hier sind sie angekom-
men. Hoho, — man darf nicht so hoch jetzt sieht er
nach der Uhr in der Mitte des Platzes. Halb sieben. Um
die Zeit hat bei der Transcont der Czilek immer geschrieen,
Herr Kelemen! was ist mit der Post! soil ich vielleicht bis
Mitternacht hier sitzen, weil meine Angestellten tagsiiber
schmusen ! ! — daB ich dem nicht ein einziges Mai cine runter-
gehauen habe . . . na, egal, jetzt ist das Ganze griindlich
verhauen. Kramer haben sie auch rausgejagt, vielleicht auch
die Nusi, aber die Bebi nicht, die bestimmt nicht. Er be-
schleunigt seine Schritte. Nach sieben wartet sie vor dem
Geschaft. Rang-Platze werde ich nehmen, in der Mitte,
und wenns keine mehr gibt, dann eben an der Seite. —
Wenige Minuten spater hat er zwei billige Karten fur die
Abendvorstellung in der Tasche. Uns gebuhren nur billige
Platze, mein Kind, und das Biirgerliche Restaurant oder
solide Hauskost. Nicht Hotel Rite. Wir besitzen keine
Millionen in Pfunds und was weiB ich wie viele Villen an
der Meereskiiste. Wir fangen klein an, — vielleicht gelingt
es . . . natiirlich, warum sollte es nicht gelingen? Klein
561
anfangcn? gewifi. Und wenn wk dann auch klein aufh6ren?
Auch gut. Es muB ja nicht jeder — es kann ja nicht jeder
reich sein. Es mufi auch Nichtreiche und Arme und Bettler
geben. MuB? jawohl, muB. Rcichtum. Nicht darum drcht
sich die Welt. Wir werden uns mit allerhand beschaftigcn.
Geld macht ja nicht gliicklich. Vielmehr, Geld allein — —
Da sind zum Beispiel wissenschaftliche Dinge, vielmehr
popularwissenschaftliche Dinge, abends zu Hause, die einen
interessieren. Naturwissenschaft. Literatur. Der Reihe nach
lesen wir die Dings, die rotgebundenen Bvicher. Sozialis-
mus. Die Dinge von der andern Seite Sozialistenfuh-
rer, — jeder kann Sozialistenfiihrer werden, die stammen
sowohl aus den untern wie aus den obern Schichten, dazu
gehort bloB Begabung und Uberzeugung. Hab ich die etwa
nicht? Doch. Wieso denn nicht? Das war ja immer das
Schlimme, daB ich mich nie interessiert habe fur solche
Ernste Dinge sind das, gleich nach dem Gymnasium hatte
man sich damit befassen miisscn. Wie Kroh es sicher getan
hat. Sich griindlich wissenschaftlich bilden, ja — nicht bloB
diejenigen auslachen, die in Bibliotheken und — — die
Sozialisten iiberhaupt, Proleten, geistiges Proletariat,
Arbeitsloser, Vagabund — Das war das Schlimme, daB ich
mich nie mit etwas Ernsterem beschaftigt habe, immer bloB
Frauen und Geld und Phantastereien, Eselei, nichts hat
man dann, keine Grundlage, keine Hoffnung, nichts,
und nachher nitscht man liber eine Apfelsinenschale aus,
die man selbst hingeworfen hat, hopplal — na, bitte, man
braucht doch nicht gleich liegen zu bleiben, es ist doch
nichts passiert, ein biBchen angeschlagen haben wir uns,
weiter nichts, nur hiibsch wieder aufgestanden, es gibt ja
so viele Dinge auf der Welt Er bemerkt, daB er in
der entgegengesetzten Richtung gcht, nicht auf den West-
bahnhof zu. Ein biBchen spazieren? gut, in zehn Minuten
bin ich ja mit der Elcktrischcn da, lieber soil sie ein biBchen
auf mich warten als ich auf sie. Es regnct, aber nicht so
gleichm&Big langwcilig wie am Nachmittag. Die kahlen,
561
nasscn Baume werden von gewalttatigen kleinen Wind-
stoBen geschiittelt; die Bogenlampcn fliichten rnit heftigem,
kurzem Pendeln vor dem Wind. ScheuBliches Wetter . . .
naturlich, in Sudafrika und jetzt fiihlt er plotzlich
tiefe, bleierne Miidigkeit. Als er vom Bahnhof nach Hause
gekommen war, nach der durchwachten Nacht, hatte er
diesc unerbittliche, niederdriickende Miidigkeit im Korper
und im Kopf gehabt. Dem Briickenkopf gegeniiber bleibt
er an der StraBenbahnhaltestelle stehen. Weit hinten von der
Pozsonyer StraBe kommt eine Bahn. Langsam nahert sie
sich und halt. Sie ist halb leer. Die fahrt gerade dorthin an
die Ecke, vor die Drogerie. Zwei Manner, Arbeiter oder so
etwas, steigen aus, — ,,hast du Feuer?" fragt der eine. Eine
dicke alte Frau mit einem Federhut auf dem Kopf und einer
vollgestopften Aktentasche in der Hand steigt ein. Was ist
die? Agentin? Der Schaffner auf der Plattform sieht ihn an
und reifit dann am Klingelriemen. An der Ecke ist eine
Milchhalle; es geht jemand hinein, sauerlicher Milchgeruch
stromt ihm in die Nase. Sudafrika mit dem Klima der
nordlichen Kiistenlander des Mittelmeers jetzt spurt
er eine leise Betaubung im Kopf. Klein fangen wir wieder
an, wenn das GroBe verdorben ist, und so wirds vielleicht
gelingen ich hatte doch in die Elektrische einsteigen
mussen. Gleich sieben Uhr. Wozu soil sie denn lange auf
mich warten, die Kleine. An der Briicke ist auch eine Halte-
stelle, von da fahre ich iiber den Ring bis zur Andrassy-
StraBe und geh das Stiickchen zu FuB und vor der
Briicke biegt er rechts ab, in den kahlen, dunklen kleinen
Park. Herrgott, — ich hatte doch links gehen mussen, die
Haltestelle ist ja driiben Als stecke er bis an die Kno-
chel im Schlamm, so schwer sind seine Schritte. Ins Lust-
spieltheater gehen wir . . . einmal werde ich auch mit Mama
ins Theater gehen, aber sie macht sich nur was aus Stiicken
mit Musik, aus Operetten. Operetten sind was Blodes, zwei
Paare und happy end, ob du willst oder nicht . . . Auf einmal
hat cr das Gefuhl, sich hinsetzen zu mussen, wenn er sich
jetzt nicht sofort hinsetzt, fallt cr um. Er fafit die Lchne
einer Bank an, sie 1st nafi, auch auf der Bank steht das
Wasser. Der Regen tropfelt. Es fangt ja erst um acht an
anscheinend bin ich doch krank. Es ist dunkel; von der
Briicke her leuchtet verschleiert die Lampenreihe. Ich muB
mich setzen, ich kann keinen Schritt weiter gehen die
feuchte Kalte zieht ihm in einem Schauer uber den Riicken.
Ich geh in ein Cafe, ein Glas Kognak oder etwas — oder
hier unten am Kai ist gewLB irgendein Wartesaal, das ist
naher.
Er geht weiter, hinunter auf den Kai. ZweiunddreiBig
Jahre . . . lebe ich in Budapest und bin noch nie hier
gegangen — — Er schleppt sich, mit tausend Wirr-
nissen im rasend hammernden Kopf, mit bohrender Miidig-
keit im heftig pulsierenden Korper und mit der ewigen
Unruhe des Entfliehenwollens. Er ist unten auf dem Kai
und geht an den Lagerhausern vorbci. Wie dunkel es ist —
als ware es schon Nacht. Wohlige, stille Nacht nach den
zahllosen entsetzlichen, lauten, hellen Tagen ich muB
mich ausschlafen bis zum Ersten, wenn die Arbeit be-
ginnt . . . ich darf abends nicht lange aufbleiben, mindestens
zwolf Stunden muB ich taglich schlafen, um auszuruhen —
Sein aufgespannter Schirm stoBt an die Wand des Lager-
hauses, er zuckt zusammen und geht einen halben Schritt
weiter an den Rand. Man kann die Laternen der oberen
Donaupromenade sehen, in dem groBen Haus ganz oben
ist ein riesiges Fenster, blendend erleuchtet, vielleicht ein
Atelier, was fur eine herrliche Sache, malen oder meiBeln,
nackte Frauen, Maca ware ein gutes Modell, sie hat eine
wunderbare Figur . . . junges Madchen, ein herrliches Bild
konnte man von ihr malen, nackt oder in einem wciBen
Abendkleid und mit roten Die Lichter der Briicke
blinzeln kaum noch durch die neblige, feuchte Luft. Plotz-
lich hort die Reihe der Bretterwandc auf, er steht vor dem
Abstieg zur Schiffsbriicke. Leer, um diese Zeit konnte es
auch schon friercn . . . im ganzen Land Nachtfroste zu
564
erwartcn dann muB die Anlegebriickc raufgezogen
wcrden. Er setzt sich auf die Bank vor dem Warteraum,
es regnet, sein Schirm ist aufgespannt, schief halt er ihn
iiberm Kopf. Na . . . jetzt aber weiter, wozu bin ich eigent-
lich noch hier — ich miiBte schon langst auf der Andrassy-
StraBe sein, Maca steht gewiB schon da und wartet, jetzt
muB ich mich in eine Taxe setzen, sonst kommen wir zu
spat ins Theater . . . dabei darf ich doch nicht verschwende-
risch sein, ich bin doch nicht in der Lage, ich muB klein
anfangen, ganz von vorne, und vielleicht gelingt es mir,
du lieber Gott, warum stehe ich denn nicht auf, wozu sitze
ich noch hier . . . aber vielleicht gelingt es mir nicht
da beiBt sich eine seltsame Kraftlosigkeit in seinen Arm, —
er laBt den Schirm los, der Schirm fallt mit weichem Puflen
auf die Erde, auf der ausgespannten Seide rollt er ein Stiick-
chen, bleibt dann stehen, mit dem Stiel nach oben wie ein
schwarzes verendetes Tier groBer Gott groBer
Gott, mir fehlt was, ich muB nach Hause, groBer Gott, mir
wird gleich schlecht, groBer Gott, ich muB den Schirm auf-
heben, was such ich denn hier, groBer Gott, groBer Gott, ich
muB mit Maca ins Theater gehen und einmal auch mit Mama,
groBer Gott, ich komm zu spat, was such ich denn hier, war-
um bin ich nicht auf die Elektrische gestiegen, groBer Gott,
kalt ist mir, es regnet, ich brauch Sonne, sofort Sonne, groBer
Gott, ich komme noch mal in die Zeitung, groBer Gott, bei
Paks trieb das Wasser eine unbekannte Leiche ans Ufer,
nein, stimmt nicht, Andor Kelemen, wohnhaft in Budapest,
groBer Gott, ich muB sofort hier weg, ich laB mich nicht, ich
laB mich nicht und in diesem Augenblick wkd es
hell in ihm, kiihl und klar : die klare, helle Ruhe der hoheren
Erkenntnis und des restlosen Verstehens der Dinge, er
steht auf und geht an den Rand des Kais, zwei Stufen
der Steintreppe steigt er hinab, — nein. Ich habe nichts
mehr zu tun ... ich kann es nicht machen, ich kann nicht
wieder von vorne anfangen, diese ganze Sinnlosigkeit —
damit mache ich jetzt ein Ende, schon schnell, ruhig und
565
klar wicdcr stcht er zwci Stufen tiefcr, — cs ist ver-
dorbcn, ich bin gcfalien, ich hatte auch im Kriege fallen
konnen ... ich hatte gerne ... ich hatte gerne irgend-
wie . . . anders . . . auch jetzt noch, aber jetzt geht es nicht
mehr, Herrgott, verzeih mir, grolle mir nicht, ich hatte
gerne anders ... ich wuBte nicht, daB ich mich nicht dazu
eigne, zu schaffen oder fortzusetzen, ich wuBte nicht, daB
ich nur beenden kann . . . nein, auch das nicht, nur ver-
derbv .1 ... unsere Generation ist nicht geeignet — kann
nicht kann nicht mehr anfangen aber ich bin
\virklich — nicht schuld daran, ich habe es wirklich —
nicht so gewolk . . . Herrgott, grolle mir nicht, laB mich
schon und rein heimgehcn zu dir Sein rechter FuB
zuckt auf, wie ihm auf der einen Stufe das Wasser bis an
den Knochel kommt, und da setzt er sich plotzlich auf die
Treppe, — pfui, kalt . . . ka Kaltwasserkur . . . ganz
gleich, was einem fehlt — — ekelhaft, Dienstmadchen-
angelegenheit, unmannlich, viel besser ware — — Das
Wasser ist dunkel, unruhig, bewegt; kleine nach hinten
blickende Wellen wenden hastig ihre zornigen Schaum-
kopfe hin und her, — bis an die Knie steht er schon im
Wasser; das eisige Wasser macht ihm sofort die FiiBe und
die Gedanken erstarren; son sonderbar, gar nicht
kalt, bloB eben lau und ich kann ja auch schwim-
men auf seinem Gesicht sitzt cine kindische, herbe
Grimasse, — es ist dunkel, nur ganz von wcitem ziehen
irgendwelche modrige Lichter an seinen Augen voruber, —
aber innen ist es hell, weiBgliihende, groBe reine Hellig-
keit . . . leeres, wohliges, leichtes, beruhigendcs Leuch-
ten und jetzt hat er plotzlich genau dassclbe Gefiibl
wie friiher einmal als kleiner Junge vor Weihnachten, als
der gcschmiickte Baum schon im EBzimmer stand, die
Geschenke schon darunter lagen und die Tiir schon zu-
gcschlossen war, — und er wuBte, daB er eine Eisenbahn
bekommt und eine Burg und eine Laterna magica, so wie
cr cs sich gewunscht hatte, — und nur das wuBte cr noch
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nicht, wic die Eisenbahn und die Burg und die Laterna
magica aussehen wiirden, ein sehr angenehmes, begliicken-
des, hoffnungsfreudiges, ahnungsvolles Gefuhl
und da HeB er sich still ins Wasser gleiten.
Das Ganze dauerte nur einen Augenblick. Er sank sofort
unter, cine wirbelnde Welle ergriff ihn und trieb ihn einige
Meter nach der Mitte zu. Dann HeB das Wasser ihn hoch-
kommen, sein Kopf tauchte hervor, und da briillte es aus
ihm mit todestrunkener oder lebensniichterner Verzweif-
lung: ,,Hiiiiilfeeee!l" Der Ton spritzte ihm das Wasser aus
Nase und Mund; dann zogen ihn die nassen Kleider wieder
in die Tiefe, und fur einen Augenblick tauchte er unter.
Wahnsinniges Toben und Haspeln mit Armen und Bei-
nen, — noch einmal taucht er zwischen den Wellen auf,
fast bis an die Taille, an seinem Mantelknopf schimmert
weiB das Drogerie-Paket, und sofort fallt er bis an den Hals
wieder zuriick, — und die urewige Todesangst der ver-
ganglichen Welt fegt iiber das Wasser, im rochelnden Schrei
des vergehenden BewuBtseins: ,,Hiiil — fe" da ver-
schlingt das Wasser mit neidischem, gierigem Sprudeln den
Ton. Er ging unter.
Der letzte Ton lauft fibers Wasser hin, am Ufer stoBt er
an die Lagerhauser und stiirzt in eine kleine Stube, — zwei
Zollbeamte rauchen ihre Pfeife im rotlichen langweiligen
Licht der elektrischen Lampe.
,,Da schreit jemand", sagt der eine, und in demselben
Augenblick sind sie auch schon beide am Ufer. Jetzt jagt
das Schreien zum zweiten Mai an ihnen vorbei, und sofort
machen sie sich auf, dem triigerischen Echo nach, in der
entgegengesetzten Richtung. Es ist dunkel. Einige sausende
Schritte, dann bleiben sie ratios stehen.
,,Siehst du was, J6zsef?"
,,Nein . . . du?"
Sie betrachten das finstere Wasser.
,,Aber es hat jemand geschrien, zweimal sogar."
,Jawohl."
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Scharfer, schneidendcr Wind peitscht an ihren Ge-
sichtern vorbei.
,,Aber ich hab hier keinen Menschen herumgehen
sehen."
,,Ich auch nicht."
Stille. Leise und sanft platschert das Wasser an die
Ufcrsteinc.
,,Aber ganz bestimmt hat zweimal jemand geschrien,
ich habs genau gehort."
,,Ja, zweimal, ganz deutlich."
Da 2uckt der GroBcre die Achsel und wendet sich vom
Wasser ab.
,,Verdammt. Wieder einer. Jetzt lebt er sowieso nicht
mehr."
,,Nein, jetzt lebt er gewiB nicht mehr."
Dann gehen sie still durch den schlafrig tropfelnden
Regen zuriick, der Wachtstube zu.
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