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Full text of "Franz Kormendi Versuchung In Budapest Roman"

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FRANZ  KORMENDI 


Versuchung  in  Budapest 


ROMAN 


DEUTSCHE  BUCH-GEMEINSCHAFT 

G.     M.     B.     H. 
BERLIN 


Einbandentwurf  von  Werner  Beucke 


Aus  dem  Ungarischen  iibertragen  von 
Mirza  v.  Schuching 

Originaltitel:  ,,A  Budapest!  Kaland" 


Nachdruck  verboten  •  Printed  in  Germany 


Erster  Tell 
DER  GEDANKE 


GEGEN  2chn  Uht  versammelten  sich  die  Jungens  im  Cafe. 
Die  Jungens,  das  waren  Budapester  junge  Leute  von  zwei- 
unddreiBig  bis  dreiunddreiBig  Jahren,  Altersgenossen,  die 
zusammen  das  Gymnasium  absolviert  batten  —  und  nun 
bestand  ihre  Beziehung  zueinander  hauptsachlich  darin,  daB 
sie  sich  die  Jungens  nannten.  In  der  Klasse  seinerzeit  bilde- 
ten  sie  eine  Qique;  die  meisten  wenigstens,  die  zu  diesen 
Zusammenkiinften  im  Cafe  crschienen,  gehorten  zu  einer 
Gruppe.  In  der  Schule  batten  sie  die  Platze,  gleiche  Inter- 
essen,  ahnliche  Veranlagungen  und  gcwisse  Familien-  und 
Vermogensverhaltnisse  zusammengebracht,  —  wie  ver- 
schieden  sie  gewesen  oder  geworden  warcn,  bemerkten  sie 
erst,  als  an  die  Stelle  der  Schulbank  der  runde  Marmortisch, 
an  die  Stelle  des  Tintenfasses  die  Kaffcetasse,  der  Angst  vor 
dem  An-die-Rcihe-Kommcn  die  Angst  vor  der  Verantwor- 
tung  getreten  war.  Von  der  Cafegesellschaft  blieben  mit  der 
Zeit  einige  weg,  dafiir  aber  schlossen  sich  ihr  ein  paar 
Fernerstehende  an;  diese  wurden  vom  Stamm  anfangs  mit 
einem  mild  nachsichtigcn  MiBtrauen  aufgenommen,  dann 
gewohnte  man  sich  allmahlich  auch  an  sie.  Wahrscheinlich 
ficl  es  keincm  von  ihnen  auf,  daB  die  Zeit  ihre  cinstmaligc 
Zusammengehorigkeit  langst  hinweggeschwemmt  hatte, 
daB  dieses  Aneinandergewohntsein  auf  den  cingefleischten 
kleinen  Dingen  des  Alltags  beruhte  und  eigendich  keinen 
inneren  Sinn  hatte.  Es  fillt  mif  immer  vor  cin  und  demselben 
Schaufensterspiegel  ein,  daB  ich  mir  einen  ncucn  Hut  kaufcn 

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mtiBte;  an  einer  bestimmten  StraBenbahnhaltestelle  denkc 
ich  daran,  daB  es  sich  lohntc,  ein  Abonnement  zu  nehmen; 
vor  eincm  bestimmten  Haus  in  der  inneren  Stadt  geht  mir 
todsicher  der  Gedanke  dutch  den  Kopf,  ich  muBtc  doch 
endlich  einmal  ins  Nationaltheatcr  zu  einer  Shakespeare- 
Vorstellung  gehen.  Genau  so  gab  es  ein  Cafe  auf  dem  Ring, 
vor  dem  zehn  bis  zwolf  jungen  Leuten  einfiel:  Gymnasium 
in  der , . .  -StraBe,  —  einfiel,  daB  es  eine  Jungensgesellschaft 
gab  mit  einem  Kelemen,  einem  Zatony,  zwei  Lewys  und 
noch  mit  diesem  und  jenem,  —  und  daB  es  in  der  Woche, 
spater  alle  zwei  Wochen,  dann  nur  noch  jeden  Monat  einen 
Tag  gab,  an  dem  sich  die  Jungens  abends  in  diesem  Cafe 
versammelten,  —  So  trafen  sich  diese  jungen  Leute  eine 
lange  Reihe  von  Jahren  hindurch,  wie  sicb  Schulkameraden 
ebcn  zu  treffen  pflegen.  Ein  bis  zwei  Stunden  zusammcn- 
sitzen,  um  etwas  voneinander  zu  horen,  um  zu  erfahren,  wie 
es  den  einzelnen  geht,  was  sie  machen,  wer  Erfolg  hat  und 
womit,  wer  Pech  hat  und  worin,  —  ein  biBchen  plaudern, 
ein  biBchen  lachen:  das  waren  die  ungeschriebenen  Statuten 
dieser  Gesellschaft.  Und  wichtig  war  in  diesem  Programm 
eigentlich  nur  der  letzte  Punkt:  denn  dem  armen  Weiner 
kann  ich  ja  auch  dann  nicht  helfen,  wenn  ich  wicder  hore, 
daB  er  Not  leidet;  und  von  Varga  kann  ich  hochstens  er- 
fahren, daB  er  weiter  avanciert  ist  in  der  Bank,  wo  der  alte 
Varga  Generaldirektor  ist ...  nein,  nicht  das  ist  wichtig. 
Wichtig  ist:  lachen.  Wichtig  ist,  daB  der  kleinc  Lcwy  auf 
einmal  sagt:  ,,Na,  ratet  mal,  wen  ich  vorigen  Dienstag  auf 
der  Rdk6czi-Stra8e  getroffen  habe?  den  Marczinka."  — 
,,Wirklich?  den  Marczinka?  also,  der  lebt  noch?  ist  er  alt 
geworden?  die  Pfeife  hat  er  natiirlich  im  Mund  gehabt, 
was?  seid  ihr  stehengeblieben?  hat  er  gesagt,  na  Lewy,  Sie 
Strolch?"  und  so.  —  Der  kleinc  Lewy  steckt  sich  eine 
Zigarette  an,  winkt  mit  einer  Handbewegung  das  Stimmen- 
gewirr  ab  und  antwortet  ordentlich,  der  Reihe  nach  auf  die 
Fragen.  ,,Ja,  wirklich,  den  Marczinka.  Was  heiBt,  der  lebt 
noch?  was  heiBt,  ist  er  alt  geworden?  —  strammer  ist  er 


derm  jc.  Die  Pfeifc  hat  er  natvirlich  im  Mund  gehabt,  abcr 
gcklagt  hat  er,  daB  seine  Pension  nicht  mal  fur  Tabak  rcicht. 
Wie  er  mich  sah,  hat  er  mich  erkannt  und  mich  angehalten, 
bloB  an  meinen  Namen  hat  er  sich  nicht  erinnert,  —  also, 
ich  schlag  die  Hacken  zusammen  und  sag  briillend:  Herr 
Professor,  ich  bin  Lewy,  der  Strolch!"  Gelachter.  Und  in 
diesem  Augenblick  lost  sich  schon  irgendwo  die  Frage: 
,JDu,  Lewy,  wie  war  das  noch,  als  du  den  Pipo",  —  das 
war  Marczinkas  Spitzname  —  ,,zum  Osterkonzert  cin- 
geladen  hast?"  —  ,,Das?  ach  ja",  sagt  der  kleine  Lewy  und 
zieht  den  Rauch  in  die  Lunge,  ,,das,  ja,  das  war  so . . ." 
und  da  sehen  die  Jungens  alle  die  Klasse  vor  sich,  in  dop- 
pelter  Reihe  im  Turnsaal  auf  dem  Sagemehl,  vor  der  Reihe 
Marczinka,  genannt  Pipo,  den  schwerhorigen  Turnlehrer; 
Pipo  klatscht  in  die  Hande  und  briillt:  ,,stillgestanden!"  — 
und  da  springt  der  kleine  Lewy  aus  der  Reihe  vor,  zieht  in 
Parademarsch-Schritten  vor  Pipo  auf,  schlagt  die  Hacken 
zusammen  und  sagt  mit  seiner  singenden,  jiidischen  Nasal- 
stimme:  ,,Herr  Professor!  Im  Namen  unserer  Klasse . . ." 
und  da  stockt  der  Klasse  der  Atem,  und  der  Klasse  dreht 
sich  der  Magen,  und  es  fangt  der  Klasse  leise  in  der  Kehlc 
an  zu  kitzeln,  bis  schlieBlich  am  Ende  der  Rede  Lewys  das 
losbrechende,  nicht  auszuhaltende,  unerstickbare  und  tod- 
lich  grofie  Gelachter  kam.  Der  kleine  Lewy  redet,  und 
schon  wirft  das  Erinnern  die  Goldbrocken  des  sorglosen, 
von  allem  losgelosten,  leichten,  von  Verantwortung  freien, 
wohltuenden  Lachens  unter  die  Jungens.  Der  kleine  Lewy 
ist  gerade  so  weit  gekommen:  9,das  Kunstmusikkonzert . .  ." 
—  und  der  schwerhorige  Pipo  versteht  ihn  nicht  und  schreit 
den  krummen  kleinen  Bengel  an:  ,,waas  machste?!"  — 
worauf  der  kleine  Lewy  seinen  linken  Arm  ausstreckt  und 
mit  dem  rechten  wie  mit  einem  Violinbogen  dariiber  sagt, 
dann  reiBt  er  beide  Fauste  an  den  Mund  und  trompetet 
hinein:  trara-traral!  ,,Tss!  Kinder",  prustet  der  dicke, 
bebrillte  Laci  Rona,  und  auch  die  andern  krummen  sich 
vor  hcrzhaftcm,  jungem  Lachen,  ,,tss,  Kinder!  und  was 


hast  du  dann  bckommen?  cine  Riige  vom  Direktor,  was? 
und  deincn  alten  Herrn  haben  sic  hinzitiert,  was?"  — 
Manchmal  ist  es  einfach  zum  Tollwerden.  Die  Geschichte 
mit  Sztcpanics  und  Hermann  und  Dorothea,  oder  der  Muki 
Hamvas  als  physikalische  Einheit . . .  Kinder,  nie  mehr 
werden  wir  solchen  SpaB  haben  wie  in  denjahrcn,  nicht  wahr  ? 
,Ja,  das  ist  sicher",  sagte  der  kleine  Lewy,  ,,nie  mehr.  So 
wirds  nie  wieder.  Jetzt  sitz  ich  hier  und  lache,  dabei  ist 
morgen  eine  Zahlung  fallig,  und  es  fehlen  mir  noch  drei- 
hundertsechzig  Pengo  . . .",  aber  indem  er  das  sagt,  ist  der 
kleine  Lewy  verschwunden,  und  an  seiner  Stelle  sitzt 
Wilhelm  Lewy  da,  Manufaktur-  und  Wirkwaren-Handler, 
gegenwartiger  Chef  der  Firma  I.  Isidor  Lewy.  Da  wird  es 
fur  einen  Augenblick  eisig  still,  —  nur  fur  einen  Augen- 
blick,  —  dann  bricht  der  eigentliche  Sinn  dieser  abendlichen 
Zusammenkiinfte  wieder  durch:  ,,Ach,  fallig",  sagt  einer, 
,,ich  bin  froh,  daB  ich  morgen  nicht  bei  Kristof  in  Latein 
fallig  bin . . .  wiBt  ihr  noch,  wie  der  sein  Notizbuch  heraus- 
zog  und  — "  und  der  dicke  Rona  reiBt  wieder  den  Mund 
bis  an  die  Ohren  auf. 

Diese  Gesellschaft  hatte  sich  nach  dem  Kriege  zusammen- 
gefunden.  Zuerst  trafen  sich  bloB  zwei  oder  drei,  zufallig, 
im  Laufe  der  wirren,  besinnungslosen  Tage  und  ver- 
angstigten  Abende.  Spater  tauchten  hier  und  dort  bekannte 
Kopfe  auf,  die  Gesellschaft  vergroBerte  sich.  Es  kam  vor, 
daB  einer  sich  in  aller  Stille  ein  paar  Kronen  von  dem  andern 
pumpte,  dann  wieder  fuhr  an  cinem  Abend  einer  in  cincm 
nagclncucn  Auto  vor  dem  Caf6  vor.  Ein  Mobelhandler 
heiratete  jung  und  brachte  einmal  auch  seine  junge  Frau  mit. 
Im  geheimen  besah  sich  jeder  die  neugebackene  Frau  sehr 
genau;  sie  warfen  sich  heimlich  Blicke  zu,  schnalzten  leise 
und  kicherten;  spater  taxierten  sie  —  allerdings  mit  zu- 
sammcngesteckten  Kopfen,  aber  ohne  jedc  Zuriickhaltung — 
die  korpcrlichen  Qualitaten  der  kleincn  Frau.  Sie  war 
anfangs  verwirrt  und  fand  ihren  Platz  nicht,  dann  wurde  sie 
etwas  warmer,  lachte  liber  die  Witze  und  Geschichten  aus 

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dcr  Schule  und  rakelte  sich  heimisch  an  der  Seite  ihres 
zweiundzwanzigjahrigen  Bengels  von  Ehcmann  im  Kreuz- 
feuer  dcr  gierigen  Blicke  der  andcrn  zweiundzwanzig- 
jahrigen Bengels.  Einer  sprach  in  irgendeinem  Zusammen- 
hang  das  gefahrliche  Wort  Hochzeitsnacht  aus,  und  in 
diesem  Augenblick  war  zu  befurchten,  daB  das  Gesprach 
nun  eine  sanfte,  aber  eindeutig  schliipfrige  Wendung  neh- 
men  wiirde,  —  da  stand  der  Mobelhandler  auf,  und  das 
junge  Paar  verabschiedete  sich  von  der  Tischgesellschaft. 
Die  Jungens  sprachen  einstimmig  ihr  Urteil  aus:  primal 
Damit  war  aber  auch  die  Sache  aus:  der  Mobelhandler 
brachte  seine  Frau  nicht  mehr  mit,  spater  blieb  er  auch 
selbst  fort.  An  seiner  Stelle  kam  ein  anderer:  Suhajda.  Er 
trug  eine  Studentenmutze,  benahm  sich  zwar  ziemlich  an- 
standig,  aber  es  war  zu  bemerken,  daB  er  sich  mit  gewissen 
Mitgliedern  der  Gesellschaft  nicht  einlieB.  In  den  Zeitungen 
konnte  man  manchmal  seinen  Namen  lesen,  im  Zusammen- 
hang  mit  den  Geschichten  an  der  Universitat,  manche 
glaubten  sogar,  allerhand  von  ihm  zu  wissen,  aber  da 
Suhajda  im  ersten  Jahr  kaum  zweimal  im  Caf6  erschien, 
sich  auch  sonst  still  auffuhrte,  kiimmerten  sich  die  iibrigen 
nicht  viel  um  ihn.  Wieder  blieb  einer  wcg,  und  wieder 
tauchte  das  eine  und  andere  altbekannte  Gesicht  auf. 
Kiirschner  kam  aus  der  russischen  Gefangenschaft  zuriick, 
Tiszay  trug  an  Stelle  des  linken  Beines  eine  Prothese,  Schwarz 
iiber  dem  rechten  Auge  standig  eine  schwarze  Binde.  Ja, 
die  meisten  von  ihnen  waren  nach  dem  Abiturium  ein- 
geriickt;  es  gab  wohl  einige,  die  zusammen  dienten, 
eigentlich  aber  wurden  sie  schon  nach  dem  Abituriums- 
kommers  in  alle  vier  Winde  zcrstreut  und  fingen  erst  jetzt 
wieder  an,  irgendwie  zusammenzukommen  an  dem  Tisch 
im  Cafe.  Gut  waren  diesc  Abende;  mal  ein  Ton,  ein  Wort 
verirrte  sich  wohl  hie  und  da  zu  den  Flammenwerfern  in 
Flandern,  den  verlausten  Schiitzengraben  in  Wolhynien, 
den  Drahtverhauen  in  Krasnojarsk,  zur  stinkigen  Gcrste 
der  Kommune  und  zu  irgendwelchen  StraBcnaktioncn 


schlimmen  Angedenkens,  die  den  roten  Tagen  f olgten,  aber 
der  unwillkommene  Ton  wurde  sofort  verscheucht  von 
einem  leichten  Abwinken:  ,,wie  war  das  doch  gleich,  als  der 
Pepi  Polgdr  wahrend  einer  Mathematikstunde  drauBen  auf 
dem  Gang  . . ." 

Das  ging  so  drei  bis  vier  Jahre.  Es  gab  leere  Abende, 
und  es  gab  besuchte  Abende.  Es  gab  ein  halbes  Jahr,  da 
ihre  Zahl  auf  funfundzwanzig  gestiegen  war.  Damals 
belegten  sie  fur  den  wochentlichen  Abend  ein  Extrazimmer 
im  Cafe.  Als  aber  einzelne  anfingen  wegzubleiben,  wurden 
aus  den  wochentlichen  Zusammenkiinften  zweiwochent- 
liche,  —  und  nach  dem  zehnjahrigen  Abituriententag  kamen 
sie  iiberein,  sich  von  nun  an  jeden  letzten  Donnerstag  im 
Monat  im  Cafe  zu  treflen.  Damals  waren  sie  kaum  noch 
funfzehn. 

Die  zehnjahrige  Zusammenkunft  war  iibrigens  sehr 
besucht,  es  fehlten  nur  die  paar  Jungens,  die  ins  Ausland 
gegangen  waren.  Cseh,  der  Oberingenieur  in  einer  che- 
mischen  Fabrik  in  Frankfurt  war;  Bortko,  der  1920  als 
Austauschgefangener  nach  RuBland  transportiert  wurde; 
Kadar,  den  man  1919  zuletzt  in  Budapest  gesehen  hatte  und 
von  dem  man  seitdem  nicht  wufite,  wo  er  war;  Szalagh,  der 
Sekretar  an  der  Gesandtschaft  in  Paris  war;  Bamberger,  der 
in  Hollywood  bei  einem  Onkel,  einem  Filmkonig,  lebte. 
Cseh  und  Szalagh  batten  iibrigens  dem  Direktor  zum 
Abituriententag  geschrieben.  An  diesem  Abend  waren  sie 
das  letztemal  in  grofier  Menge  versammelt.  Siebenundvierzig 
an  der  Zahl.  Sie  besahen  sich  gegenseitig  die  Anziigc, 
fragten  einander:  ,,wie  gehts  dir?"  —  nahmen  die  allzu 
unverhiillten  Klagen  oder  die  vornehm  gedampften,  be- 
scheiden  tuenden  Prahlereien  zur  Kenntnis.  Hielten  Tisch- 
reden,  erzahltcn  Witze,  lachten,  batten  einander  gern, 
batten  nichts  miteinander  2u  tun,  und  nach  Mitternacht 
standen  die  meisten  mit  dem  beruhigten  Gefiihl  vom  Tisch 
auf,  jetzt  brauchten  sie  fiinf  Jahre  lang,  bis  2ur  n^chsten 
Zusammenkunft,  nichts  von  den  andern  zu  horen.  Aber 

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diese  zehn  bis  funfzehn  jungcn  Leutc  hielten  aneinander 
fest,  aus  Gewohnheit  und  um  cincs  sorglos  gedachten 
Abends  willen.  Es  gab  Wohlhabende  untcr  ihnen  und 
Arme,  cs  gab  Verheiratcte  und  Junggesellen,  es  gab 
Christen  und  Juden,  es  gab  lustige  SpaBmacher  und  ernste 
Naturen.  Budapester  junge  Leute  waren  sie,  kein  einziger 
hatte  Karriere  gemacht.  Alle  wuBten  das,  aber  keiner  sprach 
davon.  Bei  einem  zeigten  sich  graue  Faden  an  den  Schlafen, 
bei  dem  andern  fing  der  Schadel  an,  diskret  sich  zu  lichten. 
Die  Jahre  gingen  iiber  sie  dahin,  und  sie  sahen  monatlich 
an  einem  Abend  nichts  voneinander  als:  die  Jungens  sitzen 
um  einen  Tisch  im  Cafe  und  lachen. 


ANFANG  November  geschah  es,  daB  Kelemen  im  Warte- 
zimmer  des  Zahnarztes  eine  englische  illustrierte  Zeitschrift 
in  die  Hand  nahm  und  in  diesem  Magazin  ein  Bild  ent- 
deckte.  Auf  dem  Bild  war  im  Hintergrund  ein  prunkvolles 
Gittertor  zu  sehen  und  davor  etwas  wie  ein  Zelt.  Vor  dem 
Zelt  stand  ein  junger  Mann  in  dunklem  Anzug,  ihm  gegen- 
iiber  eine  Menge  Menschen,  einige  in  schmucker  Uniform. 
Unter  dem  Bild  stand  folgender  Text: 

PORT  ELIZABETH.  CAPELAND 

Mr.  A.  T.  Color  (1),  der  beruhmte  Architect  ungarischer  Abstammung*  be- 
grufit  die  BehSrden  bei  der  Erdffnung  seiner  aus  achthundert  Einhdten  bestehenden 
neaen  Villen-Stadt.  Die  entzUckende  Kolonie,  der  wafer  in  der  Vorstettung  nock 
in  der  Verwirklichung  eine  andere  oaf  der  Erdc  verglichen  itierden  (arm,  street  sich, 
sieben  Kilometer  van  der  Stadt  entfemt,  am  Meerestffer  hin,  und  viele  rdche  BSrger 
Britisch-Sudafrikas  beeilten  sich,  au/  diesem  herrlichen  Fleckchen  Erde  etne  Villa 
zu  fyotujcn  oder  zu  mictent  ton  den  tbononerurlaub  Oder  das  Weekend  dort  zu 
verbringen.  Die  Villen-Stadt  1st  mil  ihren  Gebauden  im  modemsten  Stil,  ihren 
blendenden  Sportpldtzen,  ihrem  Klub  und  Kino  eine  wahre  Zierde  und  Spezialitdt 
des  ganzen  Britischen  Rriches.  In  Anbetracht  dessen,  dafi  Mr.  Cadar  ein  mdchtiges 
Kindererholungsheun  und  cine  wdtere  ganze  Reihe  Don  Institoten,  die  den 

II 


Interessen  der  Allgemeinheit  dtencn,  erbaut  and  dem  Stoat  gestiftet  hat,  bcf&rwortete 
die  Regienmg,  daft  die  Kolonic  nach  Mr.  Cadan  Gemahlin  Helena-Village  ge- 
nannt  werde.  und  lief  sick  Id  ihrer  Erdffnmg  vertreten.  Die  Letter  des  Ubcr* 
nahme-Komitees  smd  General  L.  G.  Baldwin  (2),  Sir  Robert  Hall  Biirgermeister 
von  Port  Elizabeth  (3)  und  Mrs.  Eliza  Bdtner-Dirk.  Bezirksvorstcherin  far 
Gesmdhdtspflege  (4).  Neben  ihr  steht  Mrs.  Helen  Cadar  (5). 

Kelemen  besah  sich  das  Bild  und  den  Text,  und  da  er 
nicht  Englisch  konnte,  blatterte  er  weiter;  dann,  ak  ihm 
das  unwillkiirlich  ins  Auge  gesprungene  Wort  Hungarian 
einfiel,  blatterte  er  zuriick.  Noch  einmal  las  er  den  Text, 
soweit  er  ihn  verstand:  Mr.  A.  T.  Cadar,  the  famous 
architect  of  Hungarian  origin,  —  und  er  hob  das  Blatt 
naher  an  die  Augen.  Betrachtete  den  vor  dem  Zelt  stehenden 
Mann,  dann  lieB  er  das  Magazin  sinken.  Meinen  Kopf  geb 
ich  dafur,  daB  der  Laffe  hier  mit  dem  Blatt  Papier  der  Toni 
Kddar  ist.  —  Wieder  sah  er  sich  die  Schrift  an  und  versuchte, 
die  englischen  Worte  zu  verstehen,  was  ihm  nicht  gelang. 
Dennoch  buchstabierte  er  sorgfaltig  bis  zu  der  Stelle: 
Neben  ihr  steht  Mrs.  Helen  Cadar  (5).  Mrs.  Cadar,  das  heiBt 
so  vicl  wie  Frau  Kadar,  anscheinend  hat  er  geheiratet.  Dann 
sieht  er  sich  wieder  das  Bild  an,  versucht,  die  Figur  der 
Frau  in  Augenschein  zu  nehmen,  aber  auf  dem  etwas  zer- 
kniillten,  abgegrifFcnen  Blatt  ist  nur  cine  mittelgroBc 
Frauengestalt  in  schwarzem  Kleid  zu  seben,  das  Gesicht 
ist  ubcrhaupt  nicht  zu  erkennen.  Wer  konnte  den  Laffen 
schon  heiraten?  denkt  er  und  legt  nun  das  Magazin  auf  den 
Tisch.  Im  Wartezimmcr  des  Zahnarztes  sitzt  ihm  gegen- 
liber  auf  einem  niedrigen  Sessel  cine  alte  Frau,  sie  hilt  cin 
Taschentuch  an  ihre  rechte  Backe  und  schnauft  manchmal 
schmerzlich  auf.  Kelemen  betrachtete  die  alte  Frau,  ihre 
schwarze,  mit  Spitzen  verzierte  Bluse,  ihren  schief  hingen- 
den  schwarzen  Rock,  ihre  ausgetrctcnen,  runzligen  hohen 
Knopfschuhc  mit  flachen  Absatzen.  Dann  blickte  er  nach 
der  Wand,  an  der  zwischen  zwei  flachen  Faycnccschiisseln 
cine  Sammlung  von  Familicnfotografien  hing.  Sebr  gut 
scheints  dem  auch  nicht  zu  gehen,  dachte  er,  schabige  Auf- 

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machung,  und  nahm  wieder  die  englische  illustrierte 
Zeitung  in  die  Hand.  Er  schlug  sofort  das  Bild  von  vorhin 
auf,  heftete  den  Blick  auf  die  Figur  des  famous  architect 
und  versuchte,  das  Bild  zu  erkennen.  Auch  diese  Figur  war 
nicht  sehr  gut  zu  sehen,  aber  wie  er  sie  so  betrachtete, 
bemerkte  er  plotzlich,  daB  der  abgebildete  Mann  seinen 
linken  Arm  im  Ellenbogen  geknickt  an  den  Korper  preCte 
und  die  Hand  vor  der  Brust  hangen  lieB.  Todsicher  ist  das 
der  Kddar.  Ich  erkenne  seine  Handhaltung  gam:  genau,  — 
und  da  sah  er  Antal  Kadar  auf  dem  Schulkorridor  vor  einem 
Fenster  stehen,  in  der  Rechten  ein  Buch,  aus  dem  er  auch 
wahrend  der  Pause  ochste,  den  linken  Arm  und  die  Hand 
halt  er  genau  so  wie  hier  auf  dem  Bild,  und  die  Jungens  urn 
ihn  herum  singen  im  Chor:  Pin-guin!  Pin-guin!  —  denn 
wirklich,  die  Armhaltung  Kadars  erinnerte  irgendwie  daran, 
wie  sich  der  Fliigelstumpf  dieser  Vogel  an  ihren  Leib 
krampft.  Todsicher  ist  das  der  Kadar.  Aber  warum  zum 
Teufel  ist  der  hier  abgebildet?  in  einer  englischen  Zeit- 
schrift?  Es  scheint,  es  ist  ein  groBer  Mann  aus  ihm  ge- 
worden,  sogar  seinen  Namen  schreiben  sie  A.  T.  Cadar.  — 
Besonders  dieses  A.  T.  imponierte  Kelemen,  verdroB  ihn 
sogar  ein  biBchen.  A.  T.  So  ein  Affe.  Wie  unter  den  Bildern 
Edisons,  T.  A.  Edison.  Oder:  G.  B.  Shaw.  Erstens  hieB  er 
meines  Wissens  bloB  Antal.  Na  ja,  kommt  ins  Ausland, 
kommt  zu  Geld,  da  kann  er  sich  gleich  einen  zweiten  Namen 
leisten.  Was  fur  eine  Null  der  Junge  in  der  Schule  war.  Mit 
lautem  Geraschel  stieB  er  die  Zeitung  auf  den  Tisch  und 
begann,  die  alte  Frau  aggressiv  zu  mustern.  Diese  Alte 
kommt  noch  vor  mir  dran,  dreiviertel  vier,  ich  komme  zu 
spat  ins  Biiro.  Die  alte  Frau  seufzte  und  sah  zu  ihm  auf. 
Kelemen  wandte  schnell  den  Blick  ab,  sah  zur  Decke, 
stohnte  laut  und  ging  mit  groBen  Schritten  im  Wartezimmer 
auf  und  ab.  Sicher  ist  ein  groBes  Tier  aus  ihm  geworden, 
sonst  ware  er  nicht  in  dem  Blatt  abgebildet.  Gemeinheit, 
seit  zwanzig  Minuten  ist  einer  drin,  mich  schickt  er  nach 
zwei  Minuten  fort,  riihrt  meinen  Zahn  kaum  an.  Wenn  er . 

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noch  die  einzelnen  Besuche  berechncn  wiirde,  schon,  dann 
konnte  ichs  verstehn.  Aber  der  Preis  1st  doch  ausgemacht  fur 
beide  Plomben.  Als  er  an  den  kleinen  runden  Tisch  kam, 
griff  er  plotzlich  nach  dem  Magazin  und  sah  das  Titelblatt 
an.  Eine  Hautcreme-Schonheit  war  auf  dem  Titelblatt, 
darunter  stand:  MiB  Corrine  Benet,  the  Winder's  Colosseum 
Star,  Capetown.  Dariiber  der  Titel  des  Blattes:  World's 
Sunday  Pictures.  Colonial  Edition,  5th  May,  1928.  Wie 
kommt  dieses  Blatt  hierher?  Er  hielt  es  in  der  Hand,  drehte 
es  hin  und  her  und  blickte  sich  uber  die  Schulter  um.  Die 
alte  Frau  saB  da,  den  Kopf  in  die  Hand  gestiitzt.  Da  hustete 
Kelemen  zerstreut,  trat  ans  Fenster,  riB  mit  einer  plotzlichen 
Bewegung  das  Blatt  mit  Kadars  Bild  heraus  und  hustete 
noch  einmal,  laut.  Das  herausgerissene  Blatt  faltete  er  vor- 
sichtig  zwischen  den  Fingern  zusammen  und  lieB  es  in  die 
Tasche  gleiten,  das  Magazin  legte  er  nun  endgiiltig  auf  den 
Tisch  zuriick. 

Es  war  halb  fiinf  voriiber,  als  er  im  Biiro  ankam.  Zuerst 
entschuldigte  er  sich  bei  dem  Abteilungschef  wegen  der 
Verspatung.  Herr  Czilek  nahm  die  Sache  mit  einer  unfreund- 
lichen  Handbewegung  zur  Kenntnis,  dann  setzte  er  sich 
an  seinen  Schreibtisch  und  nahm  die  Inkassoliste  vor,  die 
er  mittags  in  die  Schublade  gestopft  hatte.  Er  besah  sich 
den  Bogen.  Ein  schandliches  Inkasso,  keine  sechzig  Prozent 
diesen  Monat,  der  Alte  wird  toben.  Er  lehnte  sich  auf  seinem 
Stuhl  zuriick,  ziindete  eine  Zigarette  an  und  zog  das  Bild  aus 
der  Tasche  hervor.  Am  Tisch  gegeniiber  saB  ein  kleiner, 
bebrillter  Jiingling  mit  Sommersprossen,  zu  dem  sagte  er: 
,,H6ren  Sic  mal,  Kramer,  konnen  Sie  Englisch?" 
,,Ich?"  der  Angeredete  blickte  auf,  ,,nein.  Warum?" 
,,Wer  kann  hier  im  Biiro  Englisch?" 
,,Wer?  Na,  die  Nusi  aus  der  Korrespondenz." 
Richtig,  die  Nusi  aus  der  Korrespondenz,  die  kann  gut 
Englisch.  Er  legt  seine  Zigarette  hin,  nimmt  aus  der 
Schublade  noch  ein  paar  Bogen,  schiebt  das  Bild  zwischen 
sie  und  steht  auf. 


,,Was  wollen  Sic  englisch?"  fragt  Kramer  hinter  dem 
andern  Tisch. 

Er  rauspert  sich.  ,,Ein  Freund  schickte  mir  einen  eng- 
lischen  Artikel,  der  iiber  ihn  geschrieben  wordcn  ist;  den 
mochte  ich  .  .  ."  und  geht  aus  dem  Zimmer. 

Nusi  aus  der  Korrespondenz  war  eine  alte  Person,  trug 
einen  Kneifer,  war  hysterisch  und  schwitzte.  Sie  saB  an  der 
Schreibmaschine,  unter  ihren  Fingern  knatterten  die  Tasten 
wie  ein  Maschinengewehr. 

,,Was  wollen  Sie,  was  wollen  Sie?!"  schnauzte  sie,  als 
Kelemen  sich  neben  sie  stellte,  ,,was  wollen  Sie,  storen 
Sie  mich  nicht !  Lieber  Gott,  ich  werde  verriickt,  so  viel  hab 
ich  2u  tun!" 

Mit  leisem  Abscheu  betrachtete  Kelemen  einen  Augen- 
blick  ihr  olig  glanzendes  Haar  und  die  Rundung  ihres 
Riickens,  wie  sie  da  vor  der  Maschine  saB.  ,,Liebste  Nusi", 
sagte  er  dann,  ,,bloB  keine  Aufregung.  Ich  mochte  Sie  um 
eine  kleine  Gefalligkeit  bitten.  Ubersetzen  Sie  mir  die  paar 
Zeilen  hier",  und  er  zog  das  Bild  aus  den  Papierbogen. 

,,Was  ist  das,  was  ist  das?"  sie  griff  nach  dem  Blatt, 
,,lieber  Gott,  mit  solchen  Blodheiten  pisacken  Sie  einen, 
wenn  man  so  schon  verriickt  wird  — " 

,,Na,  Nusichen,  das  bedeutet  fur  Sie  doch  bloB  eine 
Minute",  besanftigte  er  sie,  ,,wollen  Sie  zwischendurch 
eine  Zigarette?  bitte."  Sie  greift  grob  in  die  hingehaltene 
Papierschachtel,  ziindet  an  und  blast  den  Rauch  in  einem 
geraden,  harten  Streifen  aus. 

,,BloB  lesen,  oder  auch  schreiben?"  fragt  sie  und  setzt 
schon  ihren  Bleistift  auf  den  Block: 

Mr.  A.  T.  Cadar,  der  beriihmte  Architekt  ungarischer 
Abstammung,  begruBt  die  Behorde  . . . 

,,So,  fertig,  aber  jetzt  lassen  Sie  mich  in  Ruh,  danke  fiir 
die  Zigarette",  rasselte  sie,  als  sie  ihm  das  Blatt  in  die  Hand 
druckte  und  sich  neben  der  Maschine  iiber  das  offene 
Stenogrammheft  beugte. 

,,Danke,  Sie  sind  ein  Engel",  sagte  Kelemen,  trat  ein 

15 


wenig  von  der  Maschine  zuriick  und  flag  an,  den  Text  zu 
lesen. 

Also  Kdddr,  —  das  ist  dieser  A.  T.  Cadar,  —  der  hervor- 
ragende  ungarische  Architekt,  —  nicht  schlecht,  —  seine 
ftus  achthundert  Einheiten  bestehende  Villenkolonie,  — 
du  lieber  Gott,  was  kann  denn  das  sein?  Achthundert  Ein- 
heiten? Villenkolonie?  seine  Villenkolonie?  .  .  .  Kinder- 
crholungsheim?  Wohlfahrtsinstitutionen?  die  er  dem  Staat 
gestiftet  hat  ...  also  ja,  dieser  ganze  Kram  ist  sein  Eigen- 
tum,  namlich  die  iibrigen  Einheiten  .  .  .  und  nach  seiner 
Frau  ist  es  benannt  worden?  —  da  schlag  doch  einer  lang 
hinl  Was  muB  der  fur  Geld  haben! 

,,Was  ist  los,  was  ist  los,  was  brummen  Sie?"  knurrt 
Nusi  und  dreht  sich  mit  einer  eckigen  Bewegung  um,  ,,und 
iiberhaupt,  warum  sind  Sie  noch  immer  hier?  was  soil  denn 
dieser  ganze  Blodsinn?" 

,,Das  ist  Blodsinn,  meine  Liebe?  Sie  konnten  sich  freuen, 
wenn  Sie  seine  Sekretarin  waren.  Wissen  Sie,  was  das  ist? 
ein  Freund  hat  mir  dieses  Bild  geschickt,  ein  Schulkamerad 
von  mir,  ein  Budapester  Junge,  Antal  Kaddr,  was  soil  ich 
sagen,  eine  ganze  Stadt  hat  er  in  Dings  .  .  ."  er  griff  nach 
dem  Bild  und  suchte  nach  dem  Namen  der  Stadt,  ,,ah  ...  in 
*»ort  Elizabeth." 

>.,Schon,  schon,  ich  habs  ja  gelesen,  aber  wo  ist  denn 
dieses<  port  Elizabeth?" 

«kn  Indien,  in  Australien,  was  weiB  ich,  —  iibrigens 
steht  ,das  auch  hier,  da  steht  .  .  .  Britisch-Siidafrika,  also 


7as  fiir  ein  Speditor  sind  Sie,  wenn  Sie  das  nicht  mal 
wissen?" 

/    ,,Was  fiir  ein  Speditor,  groBartig,  Nusi,  als  ob  das  In- 

/kasso  damit  was  zu  tun  hatte,  wo  Port  Arthur  oder  Port 

'  Elizabeth  oder  Port  WasweiBich  liegt?!  Was  glauben  Sie, 

der  Cohn  und  der  Lewy  zahlt  in  Port  Moritz  nicht  und  zahlt 

in  Port  Budapest  nicht!  Nicht  das  Port  ist  das  Wichtige, 

meine  Liebe,  sondern  dafi  mein  Freund  es  so  dick  hatl 

16 


Na,  adieu,  Musi,  und  nochmals  schonen  Dank",  damit  blies 
er  ihr  den  Rauch  bin  und  ging. 

In  der  Tarifabteilung  suchte  er  Herrn  Kalmdr,  der  Ober- 
tarifor  war  jedoch  nicht  im  Biiro.  —  ,,Haben  Sie  nicht  einen 
Weltatlas  oder  einen  Handatlas?"  fragte  er  einen  Kollegen. 
Sie  suchten  herum,  in  Kalmars  Schublade  fanden  sie  einen 
deutschen  Atlas.  Er  schlug  das  Register  auf.  Port . . .  Port 
Arthur,  Port . . .  Port-de-Paix,  Port-de-Salau,  Port  Eliza- 
beth, K  66  C  2,  das  wars.  Er  suchte  die  Karte  Nr.  66. 
Na  also,  —  in  Afrika  liegts,  in  Siidafrika . . .  C  2,  wie  tief, 
ganz  unten,  na,  natiirlich,  Kap-Kolonie,  englische  Kolonie 
oder  Dings . . .  jedenfalls  ist  es  rosa,  und  das  bedeutet 
englisch.  —  Den  Atlas  nahm  er  sich  gegen  Quittung  bis 
morgen  mit  und  ging  in  sein  Zimmer.  Neben  dem  Tisch 
stand  der  Abteilungscbef. 

,,Herr  Kelemen,  haben  Sie  Zahnschmerzen?"  fragte  erin 
bosartigemTonfall,  mit  einer  Stimme  wie  ein  Reibeisen.  ,,Ich 
denke  mir  das ;  denn  kaum  sind  Sie  mit  Verspatung  ins  Biiro 
gekommen,  da  sehe  ich  Sie  schon  wieder  nicht  arbeiten." 

,,Entschuldigen  Sie,  Herr  Czilek",  sagte  Kelemen,  erst 
mit  einem  kleinen  aggressiven  Anspringen  in  der  Stimme, 
dann  aber  gleich  ruhiger  werdend,  ,,erstens  habe  ich  wirk- 
lich  Zahnschmerzen.  Zweitens  aber  bin  ich  einer  sehr 
wichtigen,  halb  und  halb  amtlichen  Angelegenheit  nach- 
gegangen",  und  er  nahm  den  Atlas  vor,  ,,ein  Freund  von 
mir  hat  namlich  aus  Port  Elizabeth  in  Siidafrika  geschrieben, 
er . . .  wolle  nach  Budapest  kommen,  und  ich  mochte  ihm 
die  Reiseroute  zusammenstellen " 

Er  brach  plotzlich  ab,  da  Herr  Czilek  ganz  unverschamt 
den  Kopf  nach  oben  gewandt  hatte  und  die  Decke  betrach- 
tete,  mit  dem  rechten  FuB  im  Takt  klopfte  und  mit  den 
Fingern  auf  dem  Schreibtisch  trommelte. 

,,Port  Elizabeth . . ."  sagte  er  gedehnt,  ,,und  ausge- 
rechnet  Ihnen  hat  er  geschrieben?" 

,,Aber  bitte",  ein  wenig  verlegen  und  ein  wenig  gereizt 
war  seine  Stimme,  ,,wenn  mein  Freund  . . ." 

2  KOrmendi,  Budapest  IJ 


,,Gut,  guttc,  winkte  der  andere  ab,  heute  schon  zum 
zweitenmal  und  mit  dem  Von-oben-Herab  des  Chefs,  das 
dem  nachlassigen  Angestellten  zukam,  ,,gut,  und  wie  stehts 
mit  dem  Inkasso?" 

Hoi  dich  der  Teufel,  dachte  Kelemen  und  sah  auf  den 
Bogen  in  seiner  Hand. 

,,Ich  bin  noch  nicht  ganz  fertig  damit",  sagte  er  leise, 
,,bisher  sind  in  der  Gruppe  A — F  sechzig  erste,  zwolf 
zweite  Mahnungen,  sechzehn  Aufforderungen  durch  den 
Rechtsanwalt,  sechs  Prozesse,  und  Berger,  Fischer  &  Co. 
wiirde  ich  auch  ruhig  verklagen." 

,,So",  sagte  der  Abteilungschef,  ,,Sie  wiirden  sic  ruhig 
verklagen?  Also  bitte,  Herr  Kelemen,  das  miissen  Sie  schon 
mir  iiberlassen,  ob  ich  sie  ruhig  verklage  oder  unruhig, 
aber  morgen  wiinsche  ich  die  ganze  Inkassoliste  fertig  zu 
sehen,  denn  . . ." 

Er  sprach  nicht  weiter,  sah  aber  wieder  nach  der  Decke. 
Kelemen  setzte  sich.  Wenn  der  Kerl  doch  ersticken  mochte, 
wiinschte  er  und  breitete  seine  Bogen  vor  sich  aus.  Der 
andere  ging  vom  Tisch  weg. 

Eine  sonderbare  Unruhe  hatte  er  in  sich,  als  er  nach  acht 
Uhr  das  Biiro  verlieB.  Es  war  regnerisches,  schmieriges 
Herbstwetter,  er  fror  und  spannte  einen  baufalligen  Regen- 
schirm  auf.  Der  schabige  Seideniiberzug  war  auch  schon 
zerfetzt  und  lieB  an  mehreren  Stellen  das  Wasser  durch. 
Hols  der  Kuckuck.  Ein  solcher  .  .  .  Affe  baut  sich  in  Siid- 
afrika  cine  eigene  Stadt,  und  ich  muB  mir  hier  fur  drei- 
hundertzwanzig  Pengo  das  Geknurre  von  dem  gemeinen 
Czilek  anhoren.  Da  soil  einen  doch  die  Wut  packen! 

Einfaltiger,  gestaltloser  Arger  wiirgte  ihm  die  Kehle,  als 
er  iiber  die  matschige  StraBe  ging.  Fast  hatte  er  eine  alte, 
dicke  Frau  angeschrien,  die  ihren  Schirm  steif  iiber  ihren 
Kopf  hielt  und  im  Vorbeigehen  den  seinen  scheuerte.  Die 
dumme  Kuh  kann  auch  ihren  Schirm  nicht  ein  biBchen 
hoher  hebenl  Er  ging  schnell;  als  er  bei  einer  QuerstraBe 
vom  Biirgersteig  hinuntertrat,  patschte  er  in  eine  Pfutze, 

18 


und  das  Wasser  spritzte  ihm  an  die  Striimpfe.  Zum  Teufel! 
Dann  kehrte  er  im  ,,Biirgerlichen  Restaurant"  ein,  wo  er 
Monats-Kostganger  war;  den  Schirm  haute  er  in  die  Ecke, 
kroch  aus  seinem  Mantel,  und  noch  auf  dem  Weg  zu  seinem 
Tisch  schrie  er  die  Kellnerin  mit  der  fleckigen  Schiirze  an: 

,,Los,  Mariska,  zwei  Eier,  Pariser  in  Essig,  mit  Zwiebel, 
NuBkipfel,  los,  ich  bin  hungrig." 

Das  Essen  schmeckte  ihm  gar  nicht.  An  den  Eiern  roch 
er  so  lange  herum,  bis  Frau  Tauber  hinzukam  und  beleidigt 
versicherte,  es  seien  die  allerfrischsten  durchleuchteten  Tee- 
Eier,  die  brauche  man,  bitte,  nicht  zu  beriechen,  die  konne 
man,  bitte,  ruhig  essen.  Da  aB  er  sie  auf,  aUerdings  mit  Ekel. 
An  der  Pariser  Wurst  in  Essig  waren  zuviel  Zwiebeln,  und 
im  NuBkipfel  knirschte  ihm  ein  Kriimchen  NuBschale 
zwischen  den  Zahnen.  Schmierige  Garkiiche,  zum  Dormer- 
wetter  Dann  nahm  er  den  Atlas  hervor.  Port  Eliza- 
beth . . .  liegt  in  Siidafrika.  Rechts,  vielmehr  an  der  ostlichen 
Kiiste.  Warm  wirds  da  sein,  das  ist  sicher.  Aber  damit  weiB 
ich  noch  nicht  viel.  Er  blatterte  den  Textteil  auf.  Afrika  — 
Siidafrikanischer  Staatenbund,  —  das  wirds  sein.  Buren, 
Englander,  Deutsche,  Hollander . . .  Hauptstadt  Pretoria,  — 
Diamanten,  Gold,  Zink,  Urprodukte,  wichtigere  Hafen- 
stadte  Cape  Town,  Port  Elizabeth  .  .  .  na.  Kann  ein  hiibsch 
kleines  Nest  sein,  sechzigtausend  Einwohner.  Aber  sicher 
lauter  reiche  Leute.  Wo  sich  ein  Antal  Kddar  achthundert 
Villen  leisten  kann.  Und  wenns  bloB  Negerhiitten  sind? 
Blodsinn,  wegen  Negerhiitten  werden  sie  doch  nicht  so  viel 
Radau  machen  wie  auf  dem  Bild  hier.  Na  gut,  also  jetzt  weiB 
ich:  Siidafrika  und  Port  Elizabeth,  und  der  A.  T.  Cadar  ist 
ein  beriihmter  Architekt  und  Millionar,  —  nun  wenn  schon, 
was  kauf  ich  mir  dafiir.  —  Am  andern  Tag  gab  er  Herrn 
Kalmdr  den  Atlas  zuriick. 

Diese  Kddargeschichte  lieB  ihm  indessen  keine  Ruhe.  Ein 
paar  Tage  dachte  er  nicht  daran,  dann  fand  er  in  der  Tasche 
des  blauen  Anzugs  das  herausgerissene  Blatt  aus  dem 
englischen  Magazin  wieder.  Er  betrachtete  es,  drehte  es  hin 


und  her,  den  Text  konnte  er  schon  auswendig.  Was  so  ein 
Ochse  fiir  Gluck  hat !  Der  grofite  Affe  war  er  in  der  Schule,— 
natiirlich,  der  macht  Karriere.  Millionen  muB  er  haben! 
Achthundert  Villen  .  .  .  iiberhaupt,  ich  versteh  die  Sache 
nicht.  Vermietet  er  die,  oder  verkauft  er  sie?  Gehort  ihm  der 
Grand  und  Boden,  oder  hat  er  bloB  die  Kolonie  gebaut? 

Und  ich  hier  mit  meinen  dreihundertzwanzig  Pengo 

Das  kam  ihm  immer  in  den  Sinn,  und  er  war  in  diesen  Tagen 
sehr  schlechter  Laune.  Andor  Kelemen,  der  Budapester 
junge  Mann  mit  seinen  glatt  nach  hinten  gekammten  Haaren, 
seinem  bleichen  Biiro-Gesicht,  mit  der  etwas  nachlassigen, 
miiden  Haltung  in  der  hohen,  breiten  Gestalt,  mit  dem 
Spiegelbild  dieser  Haltung,  dem  sauerlich  verzerrten  Zug 
um  den  Mund,  mit  seinen  zwemnddreiBig  Jahren,  —  Andor 
Kelemen  stand  dieser  ihm  zufallig  zu  Ohren  gekommenen 
Karriere  unsicher  und  fremd  gegeniiber.  Dieser  Toni  Kaddr 
ist  nach  der  Schule  gewiB  ins  Ausland  gekommen.  Andor 
Kelemen  aber  .  . .  na  ja,  jedenfalls  hat  das  Leben  damit  an- 
gefangen,  daB  cr  1916  bei  der  Musterung  mit  der  Be- 
griindung:  allgemeine  Korperschwache  nicht  zum  Militar 
genommen  wurde,  und  so  war  es  das  Gescheiteste,  nach  dem 
Abitur  sofort  zu  seinem  Vater  in  die  Rohleder-Agentur 
einzutreten.  Das  Geschaft  ging  damals  sehr  gut,  zwar  gab  es 
Zwangswirtschaft  und  Lederzentrale,  auch  eine  kleine  Un- 
annehmlichkeit  mit  dem  Militar- Arar  wegen  irgendwelcher 
verdachtiger  Leder,  —  die  Hauptsache  aber  war,  daB  das 
Geschaft  ging,  und  Kelemen  dachte  eigentlich  erst  dann 
daran,  daB  es  sich  gelohnt  hatte,  sogar  notwendig  gewesen 
w&re,  alle  Kniffe,  Moglichkeiten,  die  ganze  Technik  dieser 
Branche  griindlich  zu  erlernen,  als  nach  dem  Kriege  der  Alte 
von  einem  Tag  auf  den  andern  pleite  war.  Zum  Gliick  gings 
noch  eine  geraume  Zeit  vom  Geld  der  Mama,  und  so  hatten 
sie  keine  momentanen  Sorgen;  und  dann,  wahrend  der 
Kommune  unterkommen?  ach  nein,  das  war  iiberflussig,  fiir 
die  paar  Tage,  die  das  Ganze  noch  dauern  wird.  Nach  der 
Diktatur  des  Proletariats  veranderte  sich  die  Welt  sofort. 


20 


Der  Fricden  brach  aus.  Es  kam  cine  kleinc  Konjunktut 
Bank,  da  ging  die  Sache  ganz  gut.  In  dem  groCcn  Rummd 
war  weder  Fachkenntnis  noch  Befahigung  notig,  um  zu 
Geld  zu  kommen,  hochstens  der  gute  Budapester  Blick  und 
die  gute  Nase.  Na,  und  das  hatte  man  ja.  Nicht  das  Gehalt 
war  das  Wesentliche,  sondern  daB  man  gleichsam  von 
Berufs  wegen  mit  allerhand  Papieren  und  Valuten  mani- 
pulieren  konnte,  —  ganz  ansehnliche  Summchen  gingen 
damals  durch  seine  Hand,  da  gabs  Theater,  Plattensee,  ein 
ganz  anstandiges  mobliertes  Zimmer  in  der  Aradi-StraBe  fur 
Extrazwecke  und  Frauen  von  leichterer  und  billigerer  Sorte, 
aber  hiibsch  und  dekorativ.  Die  Sache  dauerte  einige  Jahre, 
dann  krachte  die  kleine  schmierige  Bank  nach  Strich  und 
Faden  ein,  und  nicht  einmal  das  war  das  groBte  Gliick,  daB 
er  nicht  mit  der  sogenannten  Geschaftsfuhrung  zusammen 
ins  Gefangnis  wandern  muBte,  sondern  daB  er  sogar  ein 
biBchen  Geld  rettete.  Um  die  Zeit  starb  jedoch  der  alte  Herr, 
der  iiber  seinen  Ledergeschichten  melancholisch  geworden 
war,  und  da  saB  nun  die  Mama  und  die  Sari  und  die  Joly. 
Sari  machte  zum  Gliick  nicht  viel  Umstande,  sondern 
heiratete  einen  Delikatessenhandler  auf  dem  Ring.  In  der 
ersten  Zeit  irritierte  es  ihn  ein  wenig,  daB  sein  Schwager 
selbst  hinter  der  Theke  stand  und  Wiirstchen  verkaufte, 
und  den  Bekannten  gegeniiber  sprach  er  durch  das  Mega- 
phon  der  Budapester  GroBtuerei  von  Fleischkommissions- 
geschaft,  ja  sogar  Wurstwarenfabrik.  Egal.  Das  Wichtige 
war,  daB  Karoly  ein  anstandiger,  guter  Mensch  war  und 
Sari  anbetete;  Sari  hatte  es  gut,  zwar  muBte  auch  sic  sich 
von  morgens  bis  abends  plagen,  aber  sic  konnte  doch  die 
Mama  noch  angemessen  unterstiitzen.  Joly  war  damals  noch 
cine  kleine  Gohre,  die  auBer  ihrem  Stiick  Brot  und  den 
Schulbiichern  keine  Sorgen  verursachte.  —  Solange  das 
Geld  reichte,  hatte  er  ein  ziemlich  angenehmes  und  freies 
Leben.  Er  lungerte  um  die  B6rse  herum,  mal  ein  Pferde- 
rcnnen,  mal  Caft,  allerhand  zweifelhafte,  sonst  aber  un- 
schuldige  und  unbedeutende  Geschaftchen,  geringfiigige 

21 


Vermittlungen;  kurz,  er  hatte  nichts  Richtiges  zu  tun.  Die 
Tagc  vergchcn  auch  so,  —  und  plotzlich  ist  er  so  weit: 
weder  Stellung  noch  Geld  noch  Hoffnung,  irgendwo  untcr- 
zukommen.  Natiirlich  folgt  nun  das  verzweifelte  Sich-an- 
den-Kopf-Fassen.  Dauernd  sind  an  die  2ehn  Moglichkeiten 
da,  —  bloB,  es  gelingt  nichts.  Ein  Wunder?  In  diesen 
Zeiten?  Gerade  hatte  cr  den  letzten  Hunderttausender  ge- 
wechselt,  den  er  sich  vom  Schwager  geborgt  hatte,  als  ein 
alter  Freund  seines  Vaters  ihn  in  einer  groBen  Speditionsfirma 
unterbrachte.  Sechsundzwanzig  Jahre  war  er  damals,  wuBte 
nichts  und  verstand  alles,  schmachtete  nach  geordnetem, 
reichem  Leben  und  hatte  es  fiirchterlich  satt,  daB  er  wieder 
etwas  anfangen  muBte,  mit  streng  eingeteilter  Zeit,  mit 
Gebastel  an  einem  Schreibtisch  und  in  der  Phantasielosigkeit 
von  monatlich  zwei  Millionen.  Aber  man  muBte  in  den 
sauren  Apfel  beiBen.  SchlieBlich  war  die  Sache  ja  cine  feste 
Anstellung,  eine  beginnende  Existenz,  und  wenn  er  auch 
nach  Verlauf  von  Monaten  immer  mehr  fuhlte,  daB  die  Erde 
der  Sonne  naher  war  als  cr  an  diesem  Schreibtisch  der 
Moglichkeit,  Karriere  zu  machen:  so  sah  er  dennoch  am 
Endc  eines  jeden  Tages  mehr  und  mehr,  was  heutzutage  ein 
sicherer  Schreibtisch  bedeutete.  Seine  Arbeit?  die  war  ihm 
langweilig  und  verhaBt,  und  da  er  leicht  auch  das  Dreifache 
bewaltigt  hatte,  vernachlassigte  er  sie.  BloB,  um  der  Sache 
den  Anschein  zu  wahren,  bloB  so  viel  arbeitete  er,  wie  zur 
Verteidigung  dieses  Schreibtisches  notwendig  war.  Das  ist 
natiirlich  entsetzlich  und  zweifellos  einc  Hauptursache  der 
standig  und  still  bohrenden  Unzufriedenheit,  die  ihn  seit 
Jahren  noch  keine  Minute  verlassen  hat.  Sechs  Jahre,  mein 
Gott,  sechs  Jahre.  Was  hatte  er  erwartet?  Eine  neue  Kon- 
junktur,  die  die  Moglichkeit  gibt,  diese  ganze  sinnlose,  aus- 
sichtslose  Beschaftigung  hinzuschmeiBen  einem  unbekann- 
ten,  unsicheren,  aber  wenigstens  hofFnungsvoll  scheinenden 
Versuch  zuliebe?  Oder  daB  die  Tochter  des  General- 
direktors  sich  im  Strandbad  in  ihn  vergucke,  und  dann 
natiirlich  konne  er  hier  raus  ?  Oder  daB  er  im  Euro  plotzlich 

ll 


cine  groBe  Gaunerci  cntdeckc  und  dann  jcmandem  den  Hals 
brechen  und  sich  an  dessen  Stelle  setzen  konne?  Budapester 
Phantastereicn. — Was  hattc  er  erreicht?  Nach  sechs  Jahren 
dreihundertzwanzig  Pengo,  einen  unzufriedenen,  brum- 
migen,  bosartigen  Abteilungschef,  einen  langweiligen 
Wirkungskreis  ohne  Perspektive;  fur  sechzig  Pengo  ein 
Monatszimmer  mit  Friihstiick,  fur  neunzig  Kost  im  ,,Biirger- 
lichen  Restaurant",  fiir  achtzig  —  die  er  der  Mama  gab  — 
die  sorgenschwere  Pose  und  Reizbarkeit  des  Familien- 
erhalters  und  schlieBlich  neunzig  Pengo  im  Monat,  die  ihm 
fiir  Zigaretten,  Elektrische,  Frauen,  Kino,  Cafe  und  Radio- 
teilzahlung  iibrigblieben.  Budapester  Wirklichkeiten.  Das 
Haar  ging  ihm  schon  stark  aus,  er  trug  eine  groBe  Horn- 
brille,  noch  aus  seiner  Bankierszeit,  von  den  Menschen  er- 
wartete  er  nichts,  die  Dinge  interessierten  ihn  nicht,  und  er 
war  schon  iiber  so  vielerlei  hinaus,  daB  er  es  iiberhaupt 
nicht  fiir  der  Miihc  wert  hielt,  an  das,  was  kommen  wiirde, 
zu  denken.  Andor  Kelemen  war  zweiunddreiBig  Jahre  alt, 
aber  unter  dem  fiinfundzwanzigjahrigen  AuBeren  hatte  sich 
Langeweile  und  Miidigkeit  fiir  fiinfzig  Jahre  in  ihm  ange- 
sammelt;  und  als  er  nach  acht  oder  zehn  Tagen  wieder  das 
Bild  in  die  Hand  bckam,  sah  er  den  Pinguin  vor  dem  prunk- 
vollen  Tor  an  und  dachte:  du  lieber  Gott,  was  fur  ein  armer 
Schlucker  ist  aus  mir  geworden. 


3 

DER  Sechsundzwanzigste,  der  vierte  Donncrstag  im  Monat : 
heute  abend  ist  die  Zusammenkunft  im  Cafe  fallig. 

Kelemen  ging  aus  dem  ,,Biirgerlichen  Restaurant"  zuerst 
nach  Hause,  warf  den  Biiroanzug  ab,  nahm  einen  reinen 
Kragen  und  zog  den  guten  blauen  Anzug  an.  Das  gehort 
zwar  nicht  zur  obligaten  Ungezwungenheit,  aber  an  dem 
grauen  Anzug  ist  der  Hosenboden  schon  so  glanzend,  und 
am  Ellenbogen  fangt  er  an,  fadenscheinig  zu  werdea.  Witwe 


Hunka,  seine  Wittin,  btachte  ihm  die  Schuhbiirste,  damit 
siuberte  er  seine  Schuhe,  dann  polierte  er  sie  mit  der  hcr- 
untcrhangendcn  Ecke  der  alten,  zerschlisscnen  Chaiselonguc- 
decke.  Neun  Uhr,  noch  zu  friih,  vor  zehn  werden  die 
Jungens  nicht  dort  sein.  —  Er  setzte  sich  an  den  Tisch  mit 
der  Wachstuchdecke,  der  zwischen  zwei  ungliickseligen 
Stiihlen  linkisch  in  der  Mitte  des  Zimmers  stand.  Na,  auch 
dieser  November  geht  vorbei,  —  in  ein  paar  Wochen  ist 
Mamas  Geburtstag.  Was  soil  ich  ihr  kaufen?  was? I  Wofiir 
werde  ich  Geld  haben?  Ich  werde  ihr  zehn  Pengo  geben, 
und  dafur  bezahle  ich  von  der  Bucherrate  und  der  Hemden- 
rate  bloB  die  Halfte  und  kaufe  die  neue  Radiorohre  nachsten 
Monat.  —  Die  Biicherschulden  machen  noch  zweiund- 
zwanzig  Pengo,  na,  auch  das  lauft  langsam  ab.  Irgendwann. 
Vielleicht  gibts  auch  zu  Weihnachten  im  Biiro  ein  paar 
Extra-Moneten,  obgleich  das  nicht  wahrscheinlich  ist.  Das 
Geschaft  geht  schlecht.  Die  Kerls  zahlen  immer  schwerer, 
und  dafur  macht  der  Czilek,  der  Ochse,  mich  verantwortlich. 
Als  ob  sie  meinetwcgcn  nicht  zahlten.  Als  ob  ich  dem . . .  zum 
Beispiel  dcmBerger  &  Fischer,  nicht  oft  gcnug  gesagt  hatte  — 
mein  Herr,  geben  Sie  mir  Geld  und  kein  Pfandrecht  auf  Ihren 
Pfcffer,  dcnn  ich  kann  mit  PfefTcr  keincn  KarTee  verzollcn. 
Und  was  ist  das  Rcsultat?  Berger-Fischer  gibt  mir  kein  Geld, 
well  er  keins  hat,  also  verzolle  ich  seinen  KafTee  nicht,  also 
geht  seine  Kundschaft  ihren  KafFce  bei  einem  anstandigen 
Grossistcn  kaufen,  SchluB,  der  Umsatz  geht  zuriick,  zahlen 
kann  er  doch  nicht,  kann  froh  sein,  wenn  icb  ihn  nicht  gleich 
verklage.  Feine  Gcschaftspolitik.  Na  ja,  aber  man  mufi  doch 
einsehen,  die  Transcontincntalc  kann  nicht  mit  PfefFer  und 
KafTee  handeln.  Hochstens  versteigern  lassen  kann  sie 
PfefFer  und  Kaffec.  Das  tut  sie  auch.  Allc  lassen  versteigern. 
Auch  Sari  sagt,  es  sei  wieder  wegen  meiner  Steuer  bei  ihnen 
gcpfandct  worden.  Eine  sechs  Jahre  alte  Geschichte,  lachcr- 
lichl  Wo  von  zum  Kuckuck  soil  ich  heute  bezahlen,  was  ich 
damals  nicht  bezahlen  konnte?  Zum  SchluB  wird  noch  ein 
Skandal  aus  der  Sachc,  ich  mufi  heute  wieder  dem  Szende 


sagen,  cr  sollc  die  Geschichtc  nicht  ganz  und  gar  vernach- 
lassigen.  Szende  war  mal  in  Sari  verliebt,  damals  gings  uns 
noch  gut,  wieviel  hat  er  bei  uns  gehocktl  Der  Idiot,  mir  hat 
er  beim  Latcin  geholfen,  aber  fortwahrend  nach  der  Sari 
geschnuffelt.  Wie  gehts  deinem  Schwesterchen?  das  fragt 
er  auch  jetzt  noch,  aber  wie  es  meiner  Steuerangelegenheit 
geht,  dariiber  schweigt  er.  Hingegen  die  Joly,  die  gefallt  mir 
in  der  letzten  Zeit  nicht,  die  lauft  zuviel  mit  diesen  griinen 
Jungens  herum,  wirklich  ein  Skandal,  wenn  ich  bedenke, 
zum  Beispiel  das  ewige  Geweekende  .  .  .  wenn  man  sie 
wenigstens  in  einem  Biiro  unterbringen  konnte,  damit  sie 
verdient,  was  sie  an  Schuhen  verbraucht,  —  aber  heute? 
jemanden  in  einem  Biiro  unterbringen?  wo  man  nichts 
anderes  hort,  als :  die  Unkosten  reduzieren,  mehr  arbeiten, 
bitte,  meine  Herren,  setzen  Sie  sich  an  die  Schreibmaschine, 
bitte,  meine  Herren,  sichern  Sie  sich  Ihren  Schreibtisch 
durch  Produktionsplus  .  .  .  Produktionsplus,  Produktions- 
plus, ich  werde  mich  hiiten,  ihnen  neben  dem  Inkasso  auch 
noch  das  Biiro  auszufegen!  Herr  Gott,  was  fur  ein  Horn- 
ochse  war  ich,  daB  ich  sechsundzwanzig  nicht  die  Radiosache 
mit  dem  Vertes  gemacht  habel  Wer  weiB,  wie  weit  ichs 
hcute  gebracht  hattc.  Das  einzige,  womit  man  heutc  noch 
Geld  vcrdicnen  kann.  Und  wer  ist  dafiir  verantwortlich? 
Kdroly,  natiirlich.  Freu  dich,  daB  Onkel  Laci  dich  bei  der 
Transcont  untergebracht  hat!  Gib  Ruhel  Hast  du  cine 
Ahnung,  was  es  heiBt,  heutzutage  selbstandig  zu  sein?  Wirst 
schon  sehen,  nach  zwei  Jahren  haben  die  Menschen  diesen 
ganzen  Unsinn  satt,  Rohrc  und  Antenne  und  Welle,  aber 
ich  kann  dir  dann  auch  mit  Krokodilstranen  nicht  zur 
Transcont  zuruckhclfcn!  Ja,  ja,  —  das  ist  Kirolys  bequemcr 
Standpunkt,  er  hats  leicht,  nicht  er  vcrschimmclt  bei  diescr 
mistigen  Firma.  Und  andere  kaufen  sich  Villen  von  den 
Rdhren  und  den  Wellen 

Es  klopfte.  ,,Herein",  sagte  cr  und  stand  vom  Tisch  auf. 
Frau  Hunkas  Dienstmadchen  stand  in  der  Tiir. 

,,Gnidiger  Hcrr,  der  Herr  Lcwy  ruft  unten,  daB  er  die 


drei  Treppen  nicht  herauf  klettcrt,  weil  er  gesehen  hat,  daB 
im  Zimmcr  Licht  brennt,  und  cr  laBt  sagen,  ob  Sie  zu  Hause 
sind  und  ob  Sie  ins  Cafe  gehen." 

,,Gut",  antwortete  er,  ,,rufen  Sie  nur  runter,  ich  kame 
gleich." 

Das  kleine  Bauernmadel  ging  und  lieB  die  Tike  auf; 
Kelemen  sah  ihr  nach.  Seit  ungefahr  zwei  Monaten  dient  sie 
hier,  nach  Frau  Hunkas  Angaben  ist  sie  achtzehn  Jahre  alt, 
ganz  hiibsch  ist  sie,  hat  gute,  gerade  Beine,  und  auch  ihr 
Wuchs  ist  nicht  baurisch,  ganz  brauchbares  Frauenzimmer; 
neulich,  als  Frau  Hunka  eines  Sonntagmorgens  auf  den 
Friedhof  gegangen  war,  wartete  er  ab,  bis  das  Madchen  sein 
Zimmer  aufraumen  kam.  Sie  war  zerzaust,  auch  unge- 
waschen,  roch  nach  Kiiche,  dennoch  trat  er  plotzlich  hin  zu 
ihr,  griff,  ohne  ein  Wort  zu  sagen,  an  ihre  Brust.  Aber  das 
Madchen  riB  sich  los,  brummte  halblaut  etwas  und  lief  aus 
dem  Zimmer.  Vielleicht  ist  sie  noch  unberiihrt.  Ach,  die 
wird  ausgerechnet  unberiihrt  sein.  Wahrscheinlich  hat  sie 
jemanden  und  wagt  nicht,  mit  einem  andern  anzufangen, 
oder  sie  war  gerade  . . .  Er  nahm  seinen  Mantel  vom  Haken 
und  zog  ihn  auf  dem  Wege  zum  Flur  an.  Also,  ein  ganz 
brauchbares  kleines  Frauenzimmer,  diese  Julie;  aber  als  sie 
ihn  neulich  Sonntag  einfach  stehenlieB,  verging  ihm  plotz- 
lich die  Lust  nach  ibr.  Doch  ganz  gut,  daB  ich  nicht  mit  ihr 
angefangen  habe.  —  Sein  Zimmer  fiihrte  auf  einen  dunklen, 
engen  Flur;  als  er  am  Ende  des  Flurs  angekommen  war,  fiel 
ihm  ctwas  ein,  er  tastete  sich  zuriick  in  sein  Zimmer  und 
drehte  das  Licht  an.  Er  suchte  jenes  Bild,  zuerst  in  den 
Taschen  des  braunen  Anzugs,  dann  auf  dem  Regal  zwischen 
den  Buchern,  er  fand  es  nicht.  Er  dachte  nach,  wohin  mochte 
er  es  getan  haben?  Er  hatte  keine  Ahnung.  Verflixt,  schade. 
Das  Wort,  das  ist  nur  Gewasch,  das  Bild  ist  Beweis.  Viel- 
leicht habe  ich  es  im  Biiro  liegen  lassen. 

Er  war  wieder  im  Flur,  die  Kuchentiir  stand  ofFen,  das 
Madchen  saB  auf  dem  Hocker  und  mahlte  Kaffee. 

,,H6ren  Sie  mal,  mein  Kind",  er  steckte  den  Schliissel  ins 

26 


SchloB  der  Eingangstiire,  ,,haben  Sie  nicht  zufallig  ein  Bild 
in  meinem  Zimmer  gesehen?" 

Das  Madchen  hielt  im  Mahlen  inne  und  kam  an  die  Tiire. 

,,Was  fur  ein  Bild?"  sagte  sic,  und  ihrc  Stimme  zitterte 
ein  wenig. 

,,Na,  ein  Bild  mit  Menschen  drauf." 

,,Doch,  ja,  gnadiger  Herr,  aber  ich  dachte,  Sie  batten  es 
weggeworfen  — " 

Das  Biest,  hats  womoglich  weggeschmissen. 

,,Und  wo  haben  Sie  es  hingetan  ?"  fuhr  er  das  Madchen  an. 

,,Ich  habs  im  Madchenzimmer  an  die  Wand  genagelt,  ich 
wuBte  nicht,  daB  der  gnadige  Herr  es  noch  brauchen." 

,,Hopp",  sagte  er,  ,,dann  ists  ja  gut.  Nehmen  wirs  schnell 
wieder  runter,  vorwarts!  Natiirlich  brauch  ich  es",  und  ein 
leises  Lachen  kitzelte  ihm  die  Kehle:  Mr.  A.  T.  Cadar  mit 
achthundert  Villen  hangt  in  Julies  Zimmer  an  der  Wand. 

Er  ging  hinter  dem  Madchen  her,  das  Bild  hing  iiber  dem 
niedrigen  Eisenbett. 

,,Ich  hoi  ein  Messer,  fur  die  ReiBnagel",  tat  das  Madchen 
eifrig  und  drehte  sich  um. 

,,Nicht  notig",  er  hielt  den  Atem  an,  um  den  sauren 
Geruch  des  Madchenzimmers  nicht  zu  spiiren,  und  mit  einer 
knappen  Bewegung  riB  er  das  Bild  unter  dem  Nagel  weg. 

,,Entschuldigen  bitte",  fing  das  Madchen  wieder  an,  er 
unterbrach  sie: 

,,Schon  gut,  schon  gut,  dieses  Bild  brauch  ich,  ich  werde 
Ihnen  ein  anderes  dafiir  geben,  eine  Ansichtskarte",  und 
damit  ging  er. 

Im  Hausflur  fuhr  ihn  der  kleine  Lewy  an: 

,,Du  denkst  wohl,  ich  komme  dich  abholen,  damit  du 
mich  stundenlang  warten  laBt.  Fallt  mir  nicht  ein.  Oder 
hattest  du  etwa  gerade  mit  der  Dame,  die  vorhin  runter- 
rief— " 

,,Dame  —  du  Laffe.  Obrigens,  damit  dus  weiBt,  ein  sehr 
brauchbares  Frauenzimmer.  Dienstmadchen,  aber  sehr 
brauchbar.  Aber  ich  brauch  sie  nicht" 


,,Du  GroBmogul",  sagte  Lcwy.  ,,Na,  was  gibts  sonst?" 

,,Nichts,  man  lebt",  antwortete  Kelemen,  dann  nach 
einer  kleinen  Pause:  ,,oder  cigentlich,  wenn  du  nicht  ge- 
mault  hattest,  wiirde  ich  es  dir  jetzt  extra  sagen,  so  aber  — " 

,,Unerhort",  tat  der  andere,  ,,kannst  dir  gar  nicht  vor- 
stellen,  wie  neugierig  ich  bin." 

,,Denk  mal  an,  du  bist  wirklich  neugierig." 

Der  kleine  Lewy  war  es  tatsachlich,  doch  gab  er  seine 
Position  nicht  auf. 

,,Und  wenn  schon,  was  wirst  du  schon  fur  Neuigkeiten 
wissen.  Bist  du  abgebaut  worden?" 

,,Wasser." 

,,Haupttreffer  von  dreiBig  Pengo  gemacht?" 

,,Ausnahmsweise  nein." 

5,Willst  du  heiraten?" 

,,Dringendst." 

Kleine  Pause,  an  der  StraBcnecke  blciben  sic  stehen,  ein 
Auto  saust  vorbei  und  spritzt  den  StraBendreck  in  die 
Gegend.  Lewy  tritt  zuriick  und  besieht  sich  seine  Hosen- 
beine. 

,,Sagst  dus,  oder  sagst  dus  nicht?" 

Kelemcn  lachte.  ,,Also,  du  bist  neugierig.  Gestehs,  dann 
sage  ichs,  gestehst  dus  nicht,  dann  erst  im  Cafe*." 

,,Kannst  mir  kreuzweise  — "  sagte  der  kleine  Lewy  und 
schritt  beleidigt  weiter. 

Nach  wenigen  Minuten  batten  sie  das  Cafe  erreicht. 
Einige  von  den  Jungens  soBen  schon  im  oberen  Raum  um 
den  groBen  Tisch  herum.  Schwarzc  Kaffecs  standen  auf  dem 
Tisch,  nur  Pista  Marton,  der  von  seinem  Vater  ein  schlecht 
gehendcs  Rechtsanwaltsbiiro  und  angcblich  einen  Herz- 
fehler  geerbt  hattc,  aB  ein  Apfelkompott.  ,,Servus,  servus", 
—  der  groBe  Lcwy  fiihrte  gerade  das  Wort: 

„.  .  *  wic  gesagt,  ich  wollte  meincn  Augen  nicht  trauen. 
Als  ich  ihn  namlich  vor  sechs,  sage  und  schreibc,  sechs 
Jahren  auf  dem  Bahnhof  in  Szolnok  traf,  war  er  auch  schon 
Oberleutnant,  dcnk  mal",  wendete  er  sich  an  Kelemen, 

28 


,,gerade  erzahle  ich  hier,  es  sind  noch  keine  drei  Tage,  daB 
ich  dem  Fandler  begegnete,  du  weiBt,  der  aus  der  Sechsten 
auf  die  Militar-Akademie  iiberging,  kannst  du  dich  er- 
innern?  Nun,  ich  komme  eben  auf  dem  Josefsring  aus  dem 
Haus  Nummer  sechzig,  da  steht  Fandler  an  der  StraBenbahn- 
haltestelle.  Ich  geh  auf  ihn  zu,  natiirlich  erkannte  er  mich 
auch  gleich,  servus,  Fandler,  sag  ich,  er  salutiert,  guten 
Abend,  sagt  er.  Guten  Abend  ist  gut,  denk  ich  mir.  Na, 
erkennst  du  mich  nicht?  sag  ich.  Er  sieht  sich  mit  einem 
Blick  um,  es  stand  niemand  da,  es  regnete;  ach,  macht  er, 
servus,  jetzt  erkenn  ich  dich  erst.  Ich  sage,  wie  gehts  dir, 
Fandler?  wohin  gehst  du?  Zum  Westbahnhof,  sagt  er,  ich 
gehe  nach  Hause  nach  Vac,  ich  diene  da.  So,  sag  ich,  du  hast 
dich  also  von  Szolnok  versetzen  lassen?  Na,  und  wie  bist  du 
zufrieden?  So,  so,  antwortet  er,  ein  Nest,  aber  es  gibt  ein- 
zwei  hubsche  Frauen,  und  der  Dienst  ist  ganz  angenehm. 
Und  was  bist  du,  wenn  ich  fragen  darf,  sag  ich,  denn  unter 
dem  Mantel  konnte  ich  den  Kragen  nicht  sehen.  Fandler 
sieht  zu  Boden,  schweigt  eine  Weile,  dann  sagt  er  tonlos: 
Oberleutnant.  Mir  fiel  gleich  die  Geschichte  von  Szolnok 
ein,  die  von  vor  sechs  Jahren,  gerade  wollte  ich  sagen,  du 
groBer  Gott,  immer  noch!  aber  ich  habs  zum  Gliick  nicht 
gesagt.  Da  kam  die  Vier,  wir  stiegen  auf.  Wir  blieben  vorn 
beim  Fahrer  stehen,  er  wollte  nicht  reingehen  in  den  Wagen, 
obschon  es  in  Stromen  regnete  und  reinspritzte.  Na  schon, 
ich  versteh  schon,  mir  kann  man  ansehn,  daB  ich  kein 
Bischof  bin,  ich  versteh  schon.  Wahrend  der  Fahrt  guckt 
Fandler  mich  auf  einmal  an  und  sagt:  jetzt  warte  ich  auf 
meine  Beforderung,  vielleicht  kommt  sie  zu  Neujahr.  Na, 
was  soil  ich  euch  sagen,  es  war  keine  Lustreise  bis  zum 
Westbahnhof.  Fandler  sprach  kaum  ein  Wort,  fragen  tat  er 
noch  weniger,  dieses  Schweigen  brachte  mich  geradezu  in 
Verlegenheit,  ich  wuBte  nicht,  wohin  ich  meinen  Kopf 
drehen  sollte.  Aussteigen  wollte  ich  nicht,  ich  hatte  in  Buda 
zu  tun  und  war  sowieso  schon  verspatet.  Ja,  ja,  sag  ich  in 
meiner  Qual  ganz  blode,  so  lebt  man.  Fandler  schweigt, 

29 


sieht  mich  an,  dann  spricht  er  cndlich:  ja,  ja,  bei  uns  gehts 
eben  langsam;  und  was  machst  du,  was  ist  aus  dlr  geworden, 
seitdem  wir  uns  nicht  gesehen  haben?  Also  bitte,  was  hatte 
ich  ihm  darauf  antworten  konnen?  Sollte  ich  ihm  sagen, 
in  sechs  Jahren  war  ich  Borsenmakler,  Getreidehandler, 
Grundstiickvermittler,  Biicheragent,  Mitinhaber  eines  Cafes, 
Autoagent,  Radioagent  und  so  waiter?  Er  hatte  das  gar  nicht 
verstanden.  Ich  sag  ibm;  na,  ich  lebe  so  hin,  ich  mache, 
weiBt  du,  so  ...  in  allerhand.  Er  schweigt,  dann  sagt  er: 
schwere  Sache.  Schwer,  sag  ich.  Dabei,  sagt  er  plotzlich, 
und  ein  Zucken  geht  durch  sein  Gesicht,  mein  Fiihrungs- 
zeugnis  ist  prima,  und  ich  bin  Rangaltester.  Dann  bricht  er 
ab.  War  auch  gerade  genug,  was?  Am  Westbahnhof  haben 
wir  uns  verabschiedet,  und  er  stieg  aus.  Seitdem  muB  ich  in 
einem  fort  dran  denken,  daB  er  auf  diese  Weise  genau 
hundertsechsundvierzig  Jahre  alt  sein  muB,  wenn  er 
General  wird."  Er  schwieg  und  sah  sich  um. 

,,Schon",  sagte  der  kleine  Lewy,  ,,ein  schallendes  Ge- 
lachter  iiber  diesen  Witz  zuerst,  dann  wollen  wir  Kelemen 
horen,  der  eine  interessante  Neuigkeit  weiB." 

Kelemen  hiistelte. 

,,Tja,  wirklich  traurig",  sagte  er. 

,,Was  denn?"  drangte  Lewy. 

,,Na,  die  Sache  mit  Fandler." 

,,Nicht  wahr?"  beeilt  sich  der  groBe  Lewy  dankbar  zu 
bemerken,  ,,bedenke  doch  mal . . ." 

,,Da  ist  nichts  zu  bedenken",  klafft  jetzt  mit  seiner  diinnen 
Kinderstimme  Zatony  dazwischen,  der  elegante,  zuriick- 
haltende,  im  iibrigen  hofFnungslose  kleine  Angestellte  der 
vornehmen,  exklusiven  Bank.  ,,Da  ist  nichts  zu  bedenken, 
und  lassen  wir  lieber  die  Sache  Fandler.  SchlieBlich,  ent- 
schuldige,  aber  du  muBt  schon  selbst  zugeben,  daB  du, 
lieber  Lewy,  davon  gar  nichts  verstehst.  Das  Militar  ist 
schlieBlich  weder  Grundstiick  noch  Borse  noch  Radio. 
Nun,  Kelemen",  wendet  er  sich  diesem  zu,  ,,was  gibt  es 
also?" 


Kelemen  riihrt  in  seinem  schwarzen  Kaffee.  Auf  dem 
Tablett  von  Szende  sieht  er  ein  iiberfliissiges  Stiick  Zucker, 
er  langt  danach,  —  ,,du  gestattest ..."  —  dann  schaukelt  er 
mit  dem  Stuhl: 

,,Also,  Jungens,  erinnert  ihr  euch  noch  an  den  Kadar?" 

,,Kadar?" 

,,Antal  Kddar?" 

,,Toni  Kadar?" 

,,Den  Pinguin?" 

,,Aber  natiirlich,  wie  sollte  ich  nicht?" 

,,Was  ist  mit  dem?  ich  hab  ihn  nie  wieder  gesehen." 

,,Nun,  also",  sagt  Kelemen,  jedes  Wort  wichtigtuerisch 
einzeln  durch  die  Lippen  siebend,  ,,was  wiirdet  ihr  dazu 
sagen,  wenn  ich  euch  mitteilen  wiirde,  daB  er  es  von  uns 
alien  am  weitesten  gebracht  hat?" 

Einen  kurzen  Augenblick  Stille. 

,,Da  er  immer  der  groBte  Hornochse  von  uns  war",  gibt 
der  groBe  Lewy  seine  Meinung  ab,  „ wiirde  ich  mich  gar 
nicht  dariiber  wundern.  Nu?" 

,,Nu?"  nimmt  Kroh  das  Wort  auf,  ,,ist  er  ein  Filmkonig 
geworden?" 

,,Das  wohl  nicht",  sagt  Doktor  Marton,  ,,sonst  hatte  ihn 
unser  Simon  schon  langst  aufgeschnuppert  und  ihm  unter- 
tanigst  ein  Denkmal  in  der  Kinozeitung  gesetzt,  nicht  wahr, 
Simonchen?"  und  er  blickte  den  Journalisten  an. 

,,Mund  halten",  sagte  Simon  leise,  ,,da  ware  es  ihm 
immer  noch  besser  ergangen,  als  wenn  er  seine  Strafsache 
dir  anvertraut  hatte."  Der  Hieb  saB;  Marton  hatte  namlich 
vor  kurzem  irgendeinen  kleinen  Defraudanten  verteidigt, 
den  das  Gericht,  das  war  die  Meinung  der  Jungens,  haupt- 
sachlich  wegen  des  unsympathischen  und  ungeschickten 
Auftretens  des  Verteidigers  streng  verurteilte.  Mdrtons 
Kneifer  blitzte  auf,  er  dachte  iiber  cine  kurze,  aber  wiirdige 
Entgegnung  nach. 

,,Na,  schon  gut",  warf  Amman  dazwischen,  der  vor- 
nehme,  kiihle,  immer  iiberlegene  Ministerialsekretar. 

31 


,,Ergebnis  eins  zu  eins;  fahren  wit  fort,  was  ist  mit  dem 
Pinguin?"  wandte  er  sich  an  Kelemen. 

,,LaB  horen",  sagt  auch  Rona,  ,,das  Marchen  von 
Kadar." 

Kelemen  meinte,  das  Interesse  sei  noch  nicht  hoch  genug 
gespannt. 

,,Was  wiirdet  ihr  davon  halten,  wenn  ich  so  sagte:  acht- 
hundert  Villen  an  der  Meereskiiste?" 

,,Eine  so  groBe  Meereskiiste  gibt  es  gar  nicht",  sagte 
Szende.  ,,Hallo,  Zigarren!  Geben  Sic  mir  eine  Palatinus  und 
cine  Papierspitze." 

,,'s  wird  doch  Hollywood  sein",  auBerte  der  groBe  Lewy. 

,,I  wo",  sagt  der  kleine  Lewy  aus  Rache,  ,,aufm  Mond!" 

,,Nicht  in  Hollywood  und  nicht  auf  dem  Mond,  laBt  doch 
den  Blodsinn",  setzt  Kelemen  fort.  ,,Das  ist  eine  ganz  ernste 
Sache." 

,,Vor  allem,  woher  weiBt  dus?"  fragte  Kroh  und 
zwinkerte  miBtrauisch  hinter  seinen  drahtumranderten 
Brillenglasern. 

,,Von  hier",  antwortete  Kelemen;  aus  der  Tasche  nahm 
er  das  Magazinblatt,  legte  es  auf  den  Tisch,  glattete  es  und 
legte  die  Faust  drauf. 

,,Wasistdas?" 

,,Die  Sache  war  so" :  er  beugte  sich  vor,  ,,neulich  war  ich 
bei  meinem  Zahnarzt,  muBte  warten,  blatterte  in  allerlei 
Zeitschriften . . ." 

„. . .  und  riB  aus  einem  dieses  Blatt  heraus",  setzte  Simon 
in  Kelemens  Ton  fort. 

,,Was  denn  sonst?  natiirlich  hab  ichs  herausgerissen,  ich 
werde  doch  nicht  das  ganze  Blatt  schleppen",  er  bemiihte 
sich,  dies  zynisch  hinzuwerfen,  aber  ein  biBchen  Wut  schien 
in  seiner  Stimme  zu  zittern,  ,,aber  wenn  ihr  mich  in  einem 
fort  unterbrecht,  kann  ich  ja  auch  aufhoren." 

,,Na  schon",  der  kleine  Lewy  ist  neugierig,  ,,man  muB 
nicht  gleich  beleidigt  sein.  Hort,  hortl" 

,,Also  bitte",  sagt  Kelemen  unlustig,  ,,hier  ist  das  Blatt, 

3* 


seht  es  euch  an."  Er  nimmt  die  Faust  vom  Papier,  dann 
iiberlegt  er  es  sich  und  nimmt  das  Blatt  in  die  Hand.  ,,Antal 
Kadar",  sagt  er  sehr  betont,  ,,der  Pinguin,  hat  in  Port 
Elizabeth  ein  Millionenvermogen  erworben,  ist  ein  groBer 
Mann  geworden,  besitzt  eine  regelrechte  Stadt,  die  Re- 
gierung  begriiBt  ihn,  na,  ich  werde  den  Text  vorlesen",  fiigt 
er  hinzu  und  beginnt  in  amtlichem  Ton :  ,,Port  Elizabeth  — 
Capeland.  A.  T.  Cadar,  der  beriihmte  Architekt  ungarischer 
Abstammung . . ." 

Er  sprach  den  Text  zu  Ende  und  blickte  dabei  auf  das 
Blatt. 

,,So  gut  kannst  du  Englisch?"  fragte  Zatony,  ,,du  iiber- 
setzt  ex  abrupto?" 

,,Ja",  antwortete  er  schleppend,  ,,ich  kann  ein  wenig; 
kannst  du?" 

,,Yes",  tat  Zatony  kiihl  und  vornehm,  ,,nein,  ich  kann 
nicht,  hab  keine  Angst,  ich  werde  dich  nicht  priifen.  Zeig", 
und  streckte  die  Hand  aus. 

Kelemen  gab  ihm  das  Bktt;  das  Bild  Toni  Kddars  machte 
die  Runde  um  den  Tisch.  Jeder  einzelne  nahm  es  in  die 
Hand,  jeder  einzelne  erkannte  ihn  an  der  Armhaltung,  und 
jeder  hatte  etwas  zu  bemerken.  Einstimmig  stellten  sie  in- 
dessen  fest,  daB  das  unbedingt  eine  auBerst  ernste  Sache  sei 
und  daB  Gott  es  mit  dem  Antal  Kadar  gut  gemeint  habe. 

,,Hopp!"  sagte  Simon  plotzlich,  ,,gib  doch  das  Blatt 
noch  mal  her!"  Er  nahm  es  in  die  Hand,  drehte  und  wendete 
es,  hielt  es  dicht  an  die  Augen.  ,,Also,  erstens  ist  das  natiir- 
lich  ein  Reklameartikel,  zeilenv»cise  bezahlt,  aber  das  macht 
nichts.  Aber  ...  ich  sehe  kein  Datum  auf  dem  Blatt,  wann 
ist  das  denn  erschienen?" 

Kelemen  sah  plotzlich  den  Schonheitscreme-Reklame- 
kopf  mit  den  Aufschriften  vor  sich. 

,,Wann  das  erschienen  ist?"  suchte  er  in  seinem  Ge- 
dachtnis  auf  dem  Titelblatt,  ,,wenn  ich  mich  recht  erinnere, 
im  Mai  achtundzwanzig,  also  vor  ungefahr  anderthalb 
Jahren." 

3  K6rmendi,  Budapest  33 


,,Ach  so",  sagte  der  grofie  Lewy  miBtrauisch  und  ver- 
achtlich,  ,,dann  geb  ich  auf  das  Ganze  nicht  viel.  Inzwischen 
kann  er  langst  wieder  pleite  sein." 

,,Bloder  Kerl",  meinte  Marton,  ,,du  denkst  wohl,  es  ist 
iiberall  so  wie  hier?  Die  da  driiben,  mein  Lieber,  sind  keine 
so  schwindsiichtigen  Existenzen,  dafi  sie  beim  ersten  Wind- 
stoB  gleich  anfangen  zu  husten." 

,,Was  heiBt  Existenz?"  warf  jetzt  Rona  dazwischen,  der 
cin  altes  gutrenommiertes  Porzellan-Engrosgeschaft  in  der 
inneren  Stadt  von  seinem  Vater  iibernommen  hatte,  ,,woher 
willst  du  wissen,  was  der  fur  eine  Existenz  ist?  Aus  der 
illustrierten  Rcklamezeitung  hier?  Gut,  ich  will  zugeben, 
Existenz",  und  er  zog  ein  riesengroBes  goldenes  Zigaretten- 
etui  aus  seiner  Westentasche,  ,,aber  hast  du  denn  einen 
Begriffdavon,  was  fur  Vermogen  es  driiben  gibt?  WeiBt  du 
denn,  was  fur  ein  Niemand  eine  solche  industrielle  Existenz, 
ein  solcher  Unternehmer  ist  im  Vergleich  dazu,  was  zum 
Beispiel  ein  ...  ein  Reisplantagenbesitzer . . ." 

,,In  Port  Elizabeth",  unterbrach  Kroh  inn  streng,  ,,gibts 
keine  Reisplantagen." 

,,Doch  gibts",  antwortete  R6na  unbeirrt,  ,,und  wenns 
keine  gibt,  na,  dann  eben  KafFeeplantagen  oder  Baumwoll- 
plantagen . . ." 

,,Aber  bitte,  ich  verstehe  gar  nicht,  was  du  eigentlich 
willst",  sagte  Kelemen  nervos,  der  anfing,  sich  gleichsam  in 
Kddars  Namen  beleidigt  zu  fuhlen,  ,,KafFee  hin,  Baumwolle 
her,  du  wirst  doch  nicht  bezweifeln  wollen,  daB  er  viel  Geld 
hat?" 

,,Viel  Geld,  viel  Geld,  fragt  sich,  was  du  viel  Geld 
nennst?  Relativ  .  . ." 

,,Relativ,  Blodsinn!"  schnaubte  cincr,  ,,wenn  wir  bloB 
annehmen,  eine  solche  Villa  ist  zehntausend  Pengo  wert, 
dann  sinds  schon  acht  Millionen  .  .  .  vorausgesetzt,  daB  sie 
wirklich  ihm  gehoren  . . ." 

,,Was?  zehntausend  Pcngo?  ich  kauf  sie  dir  fur  funfzehn 
abl"  sagt  ein  anderer,  und  nun  ging  das  Stimmengewirr 

34 


iiber  dem  Tisch  los,  Alle  warfen  sic  zugleich  ihrc  Mcinung 
auf  den  Tisch;  knarrende,  singende,  verherrlichende,  be- 
sanftigende  und  prahlerische,  skeptische  und  terrorisicrende, 
iiberlegene  und  gierigc,  unglaubige  und  hungrige  Laute 
flogen  da  umher,  —  zehntausend,  zehn  Millioncn,  Pengo, 
Pfund,  Karriere,  Existenz,  Immobilien,  Iccres  Gcwasch, 
Faiseur,  Spekulant,  Massel,  —  derartigc  Worte  wurden 
laut,  —  ,,seine  Steuern,  bloB  seine  Steuern,  lieber  Freundl" 
der  kiihle,  elegante  Amman  schlug  aufgeregt  auf  den  Tisch, 
—  Kelemen  kippte  mit  dem  Stuhl  nach  hinten,  besah  sich 
den  Wirbel,  den  er  herauf  beschworen  hatte,  und  ein  leichter 
Schauer  lief  ihm  iiber  den  Riicken,  weil  ihm  seine  drei- 
hundertzwanzig  Pengo  eingefallen  waren. 

Langsam  beruhigte  sich  die  sturmische  Versammlung. 
Es  hatte  sich  ungefahr  die  Meinung  herausgebildet,  daB  es 
Kadar,  vorausgesetzt,  daB  die  Information,  das  heiBt  das 
Bild  glaubwiirdig  sei,  sehr  gut  gehen  miisse,  daB  aber  die 
ganze  Angelegenheit  doch  keine  so  auBergewohnliche 
Sache  sei,  will  heiBen,  am  MaBstab  von  driiben  gemessen. 
Immerhin  sei  es  beachtenswert,  daB  ein  armer  Budapester 
Junge,  ein  Mitschuler,  es  verhaltnismaBig  sehr  weit  gebracht 
hatte  .  .  .  na,  ja,  man  braucht  eben  bloB  aus  dieser  elenden 
Stadt  herauszukommen,  dann  kann  man,  wenn  man  auch 
noch  so  arm  ist  .  .  . 

,,Halt,  ich  weiB  gar  nicht  mal,  ob  er  wirklich  so  arm  war? 
Er  war  immer  ganz  anstandig  angezogen  . . ." 

,,An  solche  Einzelheiten  kann  man  sich  doch  heute 
nicht  mehr  erinnern,  wer  weiB,  was  das  fur  alter  Kram 
war,  was  dir  heute  im  Gedachtnis  als  guter  Anzug  vor- 
schwebt." 

,,Nein,  nein,  ich  erinnere  mich  ganz  bestimmt,  er  stammte 
aus  Siebenbiirgen  und  wohnte  bei  irgendwelchen  ganz 
ordentlichen  Verwandten  .  . ." 

,>Das  kann  ja  sein,  mein  Lieber,  aber  sicher  ist,  daB  er 
Biicher  vom  Hilfsverein  benutzte  und  vom  Schulgeld  be- 
freit  war  . . ." 


J5 


,,Erinncrt  ihr  euch",  sagt  Szende,  ,,bei  den  Schul- 
biichern  fallt  mir  ein,  als  .  .  .  in  der  Sechsten,  Klivenyi 
den  Pinguin  aufrief,  kurz  vor  den  Zeugnissen,  und  sagte, 
er  solle  .  .  ." 

,,Das  1st  gar  nichts!"  springt  der  kleine  Lewy  mit  seiner 
Stimme  dazwischen,  ,,aber  als  Klivenyi  mir  auf  der  Bank 
seinen  langen  Stock  in  die  Hand  gab,  ich  solle  auf  dem  Brett 
zeigen,  welches  das  Quarzkristall ..." 

„. . .  und  unterdessen  driickte  der  Mungo  cine  halbe  Tube 
Syndetikon  auf  die  Stockspitze  . . ." 

„. . .  und  der  Lewy  hats  nicht  erraten,  welches  das  Quarz- 
kristall . . ." 

,,Lewy,  Sie  Schaf !  Wie  wollen  Sie  mal  auf  eigenen  FviBen 
stehen  im  Leben,  wenn  Sie  nicht  einmal  ein  einfaches 
Quarzkristall ..." 

„. . .  und  rifi  dir  den  mit  Syndetikon  beschmierten  Stock 
aus  der  Hand . . ." 

In  stiirmischem  Gelachter  erstickte  dieser  Pentalog. 

,,Herr  Professor,  ich  hab  ja  gar  kein  Gummiarabikum!" 
meckert  einer  mit  der  erschrockenen  Gymnasiastenstimme 
des  kleinen  Lewy. 

,,Pferdediebe  ihr,  Brigantis!"  tobt  Rona,  wobei  er 
Professor  Klivenyis  Stimme  markiert,  ,,von  eins  bis  zwei 
sitzt  die  ganze  Klasse  nach!" 

,,Lewy  —  raus !  Takdcs  —  raus !  Eggert  —  raus  1  Kroh  — 
raus!"  ubernimmt  Simon  die  Stimme  des  Lehrers,  ,,nach  der 
Stunde  im  Lehrerzimmer  melden!" 

,,Das  ist  noch  gar  nichts !  Aber  wie  der  Lajtha  sein  Notiz- 
buch  vornahm:  Abonyi  —  Amman  —  Barta  —  Bienen- 
feld  — andieTafel!" 

,,Na,  und  wie  der  Hampel  in  Szab6s  Physikbuch  das 
pikante  Witzblatt  fand  . . ." 

Natiirlich  waren  im  Laufe  von  dreizehn  Jahren  alle  diese 
lustigcn  Erinnerungen  wohl  schon  hundertmal  wachgerufen 
worden;  und  doch  wird  einem  das  nie  iiber,  und  jeder 
einzelne  von  ihnen  kramte  wieder  sein  Lieblingserlebnis 


hervor;  jeder  hatte  eine  Geschichte,  die  begann:  das  ist  noch 
gar  nichts,  aber  wie  .  .  .  Die  Geschichten,  die  Erinnerungs- 
brocken  und  was  im  Laufe  der  Zeiten  dazugedichtet  worden 
war,  die  Stimmen  flossen  in  einer  einzigen  juchzenden, 
lachenden  Fuge  zusammen,  und  iiber  dem  Tisch  dammerte 
in  wohltatigem  Glanz,  weitab  von  jedem  Alltag,  die 
Gymnasiastenzeit. 

Kelemen  lachte  nicht.  Er  zeigte  zwar  ein  grinscndes 
Gesicht,  weil  er  nicht  von  den  andern  abstechen  wollte,  aber 
eine  Unzufriedenheit  nagte  ihm  im  Kopf.  Er  hatte  das 
Gefuhl,  er  habe  nicht  den  richtigen  Erfolg.  Er  hatte  das 
Gefiihl,  das  Interesse  fur  die  Kadar-Angelegenheit  nehme 
zu  schnell  ab,  —  die  Kadar-Sache  hatte  keine  solche 
Sensation  hervorgerufen,  wie  er  erwartet  hatte.  Diese  Laffen 
verstehen  ja  gar  nicht .  . .  was  verstehen  sie  nicht? 

Aus  der  oberen  Westentasche  zog  er  eine  verbogene 
Zigarette,  steckte  sie  an,  und  als  er,  den  Rauch  tief  in  die 
Lunge  ziehend,  in  die  Luft  blickte,  wuBte  er  deutlich  und 
gewiB,  was  diese  Laffen  nicht  verstanden. 

In  dieser  Kddar-Geschichte  steckte  kaufmannische 
Phantasie. 

Er  schloB  die  Augen,  schaukelte  mit  dem  Stuhl  nach 
hinten  und  lieB  den  Rauch  langsam  durch  die  Nase.  Und 
iiber  dem  Stimmengewirr  horte  er  plotzlich  eine  gedehnte, 
hohe,  scharfe  Stimme: 

Im  Leder  steckt  Phantasie,  mein  Junge,  im  Leder!  Das 
Heer  braucht  Schuhe,  Schuhe,  Gewehrriemen,  Giirtel, 
Sattel,  Schuhe,  Schuhe!  Polnische  Mark,  lieber  Freund, 
polnische  Mark!  darin  steckt  die  Phantasie,  Sie  werden 
sehen,  was  daraus  wird!  Na,  und  die  Kohlenpapiere, 
Kelemen,  die  Kohlenpapiere!?  haben  Sie  eine  Ahnung,  was 
fur  Phantasie  in  den  Kohlenpapieren  steckt?!  Franken 
geben,  Franken  geben,  bis  zur  Erschopfung  Franken  geben, 
noch  nie  war  in  einer  Kontremine  eine  solche  Phantasie  wie 
in  der  Frank-Kontremine,  das  konnen  Sie  sich  merken, 
Herr  Direktor!  Das  Geschaft  auf  Abzahlung,  mcin  Lieber, 

37 


das  Monatsratengesch&ft  mit  Kreditvetsicherung,  spuren 
Sie  die  Phantasie  nicht  darin?  Das  Radio,  das  Radio! 
Wcnn  Sie  ahnten,  was  fur  Phantasie  im  Radio  steckt, 
dann  wiirden  Sie  nicht  mit  mir  streiten!  Es  lohnt  sich 
nicht,  viel  zu  erklaren;  das  einzige,  worin  heute  noch 
Phantasie  steckt,  ist  eine  feste  Stellung,  ein  sicherer,  ru- 
higer  Schreibtisch  . . . 

Sachte,  sachte. 

Geschickt,  tiichtig  und  schlau  muB  man  die  Sache  an- 
packen  und  dann  . . . 

Macbt  nichts,  daB  die  da  es  nicht  verstehen.  Hauptsache, 
daB  ich  weiB,  daB  diese  Kadar-Sache  ein  Geschaft  ist,  aus 
dem . .  . 

Er  offnete  die  Augen,  eine  Sekunde  lang  betrachtete  er 
den  wirren,  lachenden  Tisch,  dann  klimperte  er  mit  seinem 
goldenen  Siegelring,  den  er  nach  dem  Abiturium  von  seinem 
alten  Herrn  bekommen  hatte,  an  ein  Tablett. 

,,Kinder",  sagte  er  leichthin,  ,,wurde  es  euch  nicht  an- 
genehm  beriihren,  wenn  ihr  irgendwo  in  wilder  Fremde 
plotzlich  Nachricht  von  Zuhause  bekamet?" 

,,Ist  die  Frage  .  .  ."  beginnt  Amman,  doch  Kroh  wirft 
rauh  dazwischen: 

,,Also,  du  willst  an  Kadar  schreiben?"  er  nimmt  seine 
Brille  ab  und  blinzelt  Kelemen  etwas  blode  ins  Gesicht. 

,Jawohl",  antwortet  der  ruhig,  ,,warum  denn  nicht?" 

,,Warum  denn  ja?"  sagt  Kroh  kiihl,  ,,standest  du  etwa  so 
gut  mit  ihm?" 

,,Ich?  nein",  antwortete  er,  ,,aber  du  auch  nicht", 
fiigt  er  plotzlich  hinzu,  und  rote  Glut  durchstromt  ihn 
innerlich;  denn  fast  hatte  er  gesagt:  aber  das  kann  noch 
kommen. 

,,Ich  auch  nicht,  das  stimmt",  wiederholt  Kroh,  ,,und  du, 
Szende?" 

,,Ich?  Ich  auch  nicht." 

,,Und  du,  Amman?" 

,,Eigentlich . . .  auch  nicht  sehr . . ," 


,,Und  du,  Mdrton?" 

,,Mir  war  er  immer  verhaBt." 

,,Simon,  Kempner,  Rona,  Zatony,  und  ihr?" 

Alle  vier  winken  sic  ncin,  und  der  kleine  Lewy  fugt 
spontan  hinzu : 

,,Der  Pinguin?  ein  Ekel  war  er." 

,,Na,  seht  ihr",  sagt  Kroh  boshaft  und  mit  Genug- 
tuung,  ,,da  also  keiner  gut  mit  ihm  stand,  1st  es  doch  ganz 
logisch,  daB  wir  ihm  einen  GruB  nach  Port  Elizabeth 
schreiben." 

,,Du  Idiot",  klafft  einer. 

Die  Tischrunde  gibt  zweifelsohne  Kroh  recht. 

Sachte,  sachte. 

,,Sieh  mal,  Kroh",  beginnt  Kelemen  mit  nachdenklichem 
Gesicht,  ,,ich  versteh  dich  nicht.  Du  tust,  als  ob  von  weiB 
Gott  welcher  groBen  Sache  die  Rede  ware.  Und  faBt  die 
Geschichte  gleich  so  feindselig  auf,  als  griffe  jemand  deine 
Ehrenhaftigkeit  oder  dein  Geld  oder  deine  Prinzipien  an, 
oder  als  ob  es  sich  darum  handelte,  daB  . . .  Sieh  mal,  will  ich 
denn  was  von  Kadar?  Oder  willst  du,  oder  will  Szende  oder 
Amman  was  von  ihm?  Wenn  ich  etwas  von  ihm  wollte, 
dann  hatte  ich  ihm  ja  langst  schreiben  konnen,  extra,  allein, 
und  du  wxiBtest  gar  nichts  davon.  Na,  siehst  du.  Aber  wenn 
du  dir  vorstellst,  du  schreibst  jetzt  zwei  Zeilen,  —  Servus 
Kadar,  wie  gehts  dir,  wir  denken  noch  an  dich,  Gott  be- 
fohlen,  —  glaubst  du  nicht,  daB  sich  selbst  ein  wildes  Tier 
dariiber  freuen  wiirde?  Ich  pfeife  auf  die  Sentimentalitat, 
das  weiBt  du  sehr  gut,  aber  wenn  ich  bedenke,  daB  er 
die  Karte  gerade  zu  Weihnachten  bekommen  konnte  .  .  . 
aber  wenn  du  aus  allem  eine  solche  Sauce  machst,  dann 
wage  ich  dich  nachstens  nicht  mehr  zu  griiBen  auf  der 
StraBe;  denn  es  konnte  dir  vielleicht  einfallen,  daB  ich  dich 
in  der  Dritten  mal  geohrfeigt  habe,  und  daB  du  seitdem 
eigentlich  nicht  so  extra  gut  mit  mir  stehst .  .  .  hab  ich 
nicht  recht?" 

Doch,  er  hatte  unbedingt  recht.  Diese  ruhige,  einfache, 

39 


resolute  Rede  zog  die  Meinung  des  Tisches  auf  Kelcmcns 
Seite.  Kelemen  beeilte  sich,  seinen  Sieg  zu  befestigen: 

,,Wenn  dir  indessen  deine  Sozi-Moral  oder  dein  Selbst- 
gefuhl  verbieten  zu  unterschreiben  . .  .c< 

Jetzt  war  die  Sache  iiberhaupt  keinc  Fragc  mehr. 

Rona  zog  seinen  dicken  Fiillfederhalter  hervor  und 
klopfte  damit  an  die  Tasse. 

,,Herr  Ober,  Briefpapier  und  Kuvert." 

In  einer  Minute  war  das  Papier  da.  Rona  schraubte  die 
Feder  heraus : 

,,Zunachst  mal . . .  wollen  wir  ihm  witzig  schreiben  oder 
ernst?" 

,,Zunachst  mal . . .  schreibst  nicht  du,  sondern  Kelemen", 
sagte  Amman  und  nahm  Rona  die  Feder  weg  in  der  Er- 
wartung,  Kelemen  wiirde  aus  Hof  lichkeit  die  Aufgabe  ihm 
zuschieben.  Kelemen  indessen  blickte  einen  Augenblick 
nachdenklich  in  die  Luft,  dann  langte  er  nach  Amman  bin: 

,,Gut . . .  birte  die  Feder." 

Als  Amman  sie  ihm  ein  wenig  enttauscht  gab,  sah 
Kelemen  sich  um  in  der  Runde. 

,,Also  . . .  was  sollen  wir  schreiben?" 

,,Macht  doch  nicht  soviel  Geschichten",  sagte  Marton, 
,,schreib,  was  du  vorhin  gesagt  hast,  hochstens  ein  biBchen 
bcsser  formuliert.  Schreib:  Lieber  Kadar,  wir  haben 
Kenntnis  erhalten,  daB  . . ." 

,,Du  massenhaft  Moneten  hast",  spottete  Kroh;  einer 
sagte  leise  ,Ochse',  dann  kiimmerten  sic  sich  nicht  weiter 
um  ihn. 

,,Schreiben  wir  so",  sagte  Kelemen:  ,,Lieber  Kadar,  hier 
sitzen  wir  zusammen  in  einem  Cafe  in  Budapest  und  haben 
dich  nicht  vergessen;  wie  wir  horen,  geht  es  dir  sehr 
gut..." 

,,Und  haben  dich  nicht  vergessen,  ist  nicht  gut",  wirft 
Zatony  dazwischen,  ,,schreib  stattdessen  . . ." 

Nach  einigen  Minuten  schrieb  Kelemen,  auf  den  dritten 
Briefbogen,  folgenden  endgiiltigen  Text; 

40 


Lteber  Kdforl 

Die  herzlichsten  Weihnachtsgrtifie  sendet  Dir  cine 
Gruppc  Deiner  friiheren  Mitschuler,  die  darch  einen  Zufall  Kcnntnb  doom 
erhalten  hat,  daft  Da  Karriere  gemacht,  gehdratet  hast  und  an  bertihmtcr, 
rcichcr  Mann  geworden  bist.  Wir  alle  denken  gem  an  die  einst  heiter  verbrachte 
gandnsame  Schulzcit  zuriick  und  wunxhen  Dir  ouch  toeiterhin  alia  Gute. 

,,Na",  sagte  er,  als  er  damit  fertig  war,  ,,unterschreibt", 
und  er  hielt  die  Feder  hin. 

,,Zuerst  du",  sagte  Rona,  griff  aber  trotzdem  nach  der 
Feder. 

Kelemen  unterschrieb  seinen  Namen  und  gab  Papier  und 
Feder  weiter. 

,,Leserlich,  bitte",  spottete  Kroh,  aber  keiner  beachtete 
ihn. 

,,So",  sagte  Kelemen,  als  der  Brief  wieder  bei  ihm  an- 
gelangt  war,  ,,zwei  —  vier  —  elf ...  na,  Kroh,  mach  keine 
Witze,  unterschreib  auch." 

,,Nein",  weist  Kroh  eigensinnig  die  Feder  zuriick, 
,,ich  pfeif  auf  Kadar  und  seine  Villen,  laBt  mich  in 
Frieden." 

,,Bitte . . ."  Kelemen  zieht  die  Hand  mit  der  Feder  zuriick 
und  sieht  Kroh  dann  scharf  ins  Gesicht,  ,,weiBt  du,  was  du 
bist?  ein  Spiel verderber,  ein  Blodian." 

,,Stimmt",  antwortet  Kroh  brummig,  ,,und  ausgerechnet 
du,  Kelemen,  kannst  mich  nicht  beleidigen.  Aber  ich  bin 
nicht  geneigt,  mich  auf  den  Bauch  zu  schmeiBen  .  .  ." 

,,Gut,  gut",  unterbrach  Rona  ihn  nervos;  Rona  konnte 
schon  in  der  Schule  Kroh  nicht  ausstehen  und  hatte  Angst 
vor  ihm,  und  diese  kindische  Angst  hatte  er  bis  heute  nicht 
iiberwinden  konnen;  gesteigert  wurde  seine  Abneigung 
noch  dadurch,  daB  Kroh  Mitarbeiter  der  sozialistischen 
Zeitung  war  und  weder  verheimlichte  noch  sich  schamte, 
daB  er  arm  war  und  gewohnlich  cine  scharfe  Sondermeinung 
von  den  Dingen  hatte.  ,,Lassen  wir  das  jetzt,  schreib  die 
Adresse." 


Auf  das  Kuvert  schrieb  Kelemen: 

Mr.  A.  T.  Cadar,  Architect,  Port  Elizabeth,  Africa. 

Ein  wenig  stritten  sie  noch  dariiber,  wer  als  Absender 
fungieren  sollte,  —  das  Richtigste  ware,  zu  schreiben:  Die 
Donnerstagtischgesellschaft,  und  die  Adresse  des  Cafe's,  — 
aber  dann  einigten  sie  sich  dahin,  daB  Kelemen  der  Ab- 
sender sein  sollte,  —  und  da  steckte  Kelemen  den  Brief  in 
die  Tasche. 

,,Ich  laB  ihn  morgen  vom  Euro  aus  aufgeben,  wir  expe- 
dieren  sowieso  von  der  Hauptpost." 

Dann  wurde  vom  Brief  nicht  mehr  gesprochen.  Die 
Unterhaltung  und  das  Genecke  gingen  in  den  gewohnten 
Bahnen  weiter;  hie  und  da  stahl  sich  ein  klagender  Ton 
hindurch,  hie  und  da  flog  ein  dickes  Kinderlachen  auf,  — 
gegen  2wolf  fingen  sie  an,  sich  zu  verabschieden. 

,,Du,  sollte  vielleicht  Antwort  kommen,  dann  sags  uns 
gleich",  mahnte  Szende  beim  Handereichen. 

,,Wieso,  sollte  vielleicht?"  ist  Rona  entriistet,  ,,so'n 
Bauer  wird  er  doch  nicht  sein,  daB  er  nicht  antwortet?!" 

Dann  stehen  sie  auf  der  StraBe,  vor  dem  Cafe. 

,,Es  ist  ja  noch  friih",  sagt  Simon,  ,,wer  kommt  mit  ins 
Kasino?" 

Es  fanden  sich  ein-zwei  Partner. 

,,Also,  Servus,  Jungens,  spatestens  im  Dezember,  am 
letzten  Donnerstag  . . ."  verabschieden  sie  sich  und  gehen. 
R6na  winkt  mit  seinem  Regenschirm  einer  Taxe.  Die 
beiden  Lewys  gehen  auf  die  StraBenbahnhaltestelle  zu. 
Amman  und  Zatony  machen  sich  unter  einem  Schirm  auf 
den  Weg.  Es  regnet;  die  Bogenlampen,  von  einem  Hof 
umgeben,  leuchten  matt;  auf  der  kalten,  feuchten  StraBe 
sind  nur  vereinzelte  nachtliche  FuBganger. 

Gahnend  dreht  Kelemen  in  seinem  Zimmer  das  Licht  an. 
Es  ist  kalt,  der  Kuckuck  soil  diese  sparsame  Person  holen, 
hat  wieder  kaum  nachlegen  lassen  am  Abend.  Er  wirft  den 
Brief  auf  den  Tisch,  das  Blatt  mit  dem  Bild  legt  er  ins 
oberste  Fach  im  Schrank  unter  die  Kragenschachtel.  Vor 

4* 


dem  Tisch  bleibt  er  stehen,  sieht  sich  den  Brief  an.  Dumm- 
heit ...  so  hat  das  nicht  viel  Sinn.  Leerer  Quatsch  ist  das  so, 
WeihnachtsgriiBe,  das  ist  doch  nichts.  Darauf  wird  er  gar 
nicht  antworten  —  ich  wiirde  auch  nicht  drauf  antworten, 
und  wenn  ich  auf  dem  Mond  saBe  und  sie  mir  vom  Mars 
schrieben  . . .  Er  starrt  die  Decke  an.  Irgend  etwas  Person- 
liches  muBte  es  sein  .  . .  oder  etwas,  was  ihn  interessiert . . . 

Er  zog  seinen  Rock  aus,  seine  Weste,  seinen  Kragen, 
warf  das  ganze  Zeug  auf  einen  Stuhl.  Wenn  ich  wiiBte, 
ob  er  hier  irgend  jemanden  hat,  oder  wenn  man  ihn  durch 
irgend  etwas  — 

Da  fiel  ihm  etwas  ein,  er  zog  den  Brief  aus  dem  Kuvert 
und  las  ihn  durch.  Dann  kramte  er  auf  dem  Biicherregal 
eine  alte,  eingetrocknete  Feder  hervor  und  suchte  Tintc. 
Im  Zimmer  war  keine,  aber  es  war  ihm,  als  hatte  er  kiirzlich 
einmal  im  Flur  oben  auf  dem  Schrank  Waschblau  gesehen. 
Er  zog  die  Schuhe  aus  und  schlich  auf  den  Zehen  hinaus. 
Licht  wollte  er  nicht  machen,  so  stieB  er  im  Dunkeln  gegen 
den  Schrank.  Er  blieb  stehen.  Wenn  ich  viel  hier  im 
Dunkeln  herummurkse,  wacht  die  Hunka  auf  und  denkt 
noch,  ich  schleiche  mich  zu  der  Magd.  Wenn  schon.  Er 
tastete  auf  dem  Schrank  herum,  an  dem  trockenen,  dumpfen 
Anprall  der  Finger  fiihlte  er,  wie  er  dicken  Staub  fegte, 
dann  stieB  seine  Hand  gegen  etwas  Glasernes.  Wenn  das  das 
Waschblau  ist,  dann  ists  gut,  wenn  nicht,  schreib  ich  morgen 
im  Biiro.  Es  war  das  Waschblau.  Ins  Zimmer  zuriick- 
gekehrt,  tauchte  er  die  Feder  ein;  auf  dem  Tisch  lag  eine 
alte  Zeitung,  auf  deren  Rand  kritzelte  er  seinen  Namen. 
Die  Fliissigkeit  schrieb  zwar  ziemlich  blaB,  aber  sie  schrieb 
immerhin.  Dann  setzte  er  sich  barfuB,  in  Hemdarmeln  an 
den  Tisch  und  schob  sich  den  Brief  zurecht. 

LieberKdddrl 

Ich  schreibe  Dir  noch  extra,  ich  war  es  namlich,  der  im  World's 
Sunday  Pictures  Dein  Bild  und  Ddne  Adresse  entdeckt  hatte.  Ich  habe  mich  aufrichtig 
gefreut,  etwas  von  Dir  zu  htircn,  sind  es  doch  schon  vierzehn  John,  daft  ich 
Dich  nicht  gesehen  habe.  Und  Du  famst . . . 

43 


Er  Ciberlegte,  was  nun  folgen  sollte  — 

Und  Du  ktmnsl  Dir  dock  gcwif  denken,  dafl,  warn  wir  ouch  seinerzeit  in  der 
Schule  nicht  besonders  eng  mitdnander  befreundet  waren,  mich  das  Schicksal 
ones  frtiheren  Kamcraden  intercssiert,  der  so  weit  von  Budapest  verschlagen 
warden  ist.  Die  Jungenst  die  diesen  Brief  unterschrieben  haben,  waren  alls  lehr 
uberrascht . . .  dnige  haben  sich  mit  mir  gefreut,  dnige  haben  Dich  beneidet . . . 
atte  aber  waren  wir  Verblufft  fiber  Deine  Karriere.  Naturlich  kpnnen  wir  unsgar 
nicht  Vorstdlen,  was  Du  alia  erlebt  hast,  bis  Du  in  Port  Elizabeth  gelandet  bist. 
Ich  wurde  mich  sehr  freuent  ouch  privat  bzw.  direct  etwas  von  Dir  zu  hdren,  — 
und  ganz  besonders.  Dich  etnmal  wiederzusehen.  Vielleicht?! 

Er  iiberlegte,  ob  er  noch  etwas  schreiben  sollte.  Dann 
schrieb  er  bloB  noch: 

Dir  und  Deiner  verehrien  Frau  vide  Gruflc  von 

Dcinem  getreuen 

und  seinen  Namen  schrieb  er  so:  «    ,  „  , 

Bandi  Kelemen. 

Schnell  klebte  er  den  Brief  zu  und  steckte  ihn  in  seine 
Mappe.  Morgen  eingeschrieben  von  der  Hauptpost . .  . 
natiirlich  kann  man  ihn  nicht  mit  den  Briefen  der  Firma 
eintragen  lassen,  allerdings  habe  ich  ja  dem  Czilek  schon  zu 
verstehen  gegeben,  daB  er  halb  und  halb  amtlich . . . 

Er  zog  aus,  was  er  noch  anhatte,  schliipfte  in  das  zer- 
driickte,  kalte  Nachthemd,  legte  sich  bin  und  drehte  das 
Licht  aus. 

Eigentlich  eine  Gemeinheit . . .  und  der  Kroh  hat  recht. 
Wenigstens  hatte  ich  nicht  an  denselben  Brief  anschreiben 
sollcn ...  ah,  was,  Detailfrage,  nicht  wichtig.  Wenn  er 
zuriickkommt,  kommt  er  doch  bloB  an  mich  zuriick, 
niemand  braucht  davon  zu  wissen.  Er  schloB  die  Augen. 

Du  lieber  Gott . . .  Wenn  dieser  Brief  nicht  zuriick- 
kommt, sondern  ihn  erreicht . , .  und  wenn  . . .  wenn  ich 
diesen  Haupttreffer  mache . . . 

Phantasie  . . .  Kddar-Phantasie  . . .  nur  geschickt,  nur 
gescheit. 

Nur  sachte,  was  kann  derm  passieren? 

Bis  jetzt  kostet  mich  die  Sache  bloB  eine  Briefmarke, 


Zwiter  Teil 
DER  FREMDE 


ANTAL  Kadar  war  Ende  November  1918  nach  Budapest 
zuriickgekommen,  zerlumpt,  verkommen,  ausgehungert. 
An  dem  Frontabschnitt,  wo  er  zuletzt  gelegen  hatte,  — 
unter  Tschechen,  Bosniern  und  aus  russischer  Gefangen- 
schaft  zuriickgekehrten  Ungarn,  —  war  die  Sache  schon 
Mitte  Oktober  nicht  mehr  in  Ordnung.  Er  sagte  das  einfach 
so  ganz  kurz,  —  die  Sache  ist  nicht  in  Ordnung,  und  das 
hieB  so  viel,  daB  einmal  fiinf  Tage  lang  kein  Proviant  kam, — 
gut,  man  afi  eben  Schokolade,  wer  welche  hatte,  und 
solange  sie  reichte;  das  war  schon  ofters  vorgekommen, 
daB  die  Kuche  zuriickblieb  und  daB  es  ein,  zwei  Tage 
nichts  zu  futtern  gab,  aber  funf  Tage?  Und  dann  die 
italienischen  Flieger.  Auch  fruher  war  es  schon  passiert, 
daB  statt  Bomben  und  Stahlpfeilen  Tausende  von  Flug- 
schriften,  in  tadellosem  Deutsch  und  ziemlich  gutem 
Ungarisch,  von  den  feindlichen  Flugzeugen  herunter- 
rieselten;  einmal  beehrte  d'Annunzios  Flugapparat  den 
Abschnitt  mit  einem  derartigen  Propagandabesuch,  fast 
hatte  Oberleutnant  Szab6  ihn  abgeschossen.  Jetzt  indessen 
fielen  Schriftstiicke  anderer  Art  vom  Himmel:  ,Legt  die 
Waffen  nieder,  macht  euch  auf  in  cure  Heimat,  der  bul- 
garische  Verbiindete  hat  den  hoffhungslosen  Kampf  schon 
aufgegeben,  die  siegreiche  Armee  der  verbiindeten  Staaten 
nahert  sich  den  Grenzen  eurer  Heimat!'  —  Das  ungefahr 
stand  in  den  Flugschriften,  und  da  war  noch  cine,  die 
sprach  sogar  davon,  daB  zu  Hause  die  Revolution  aus- 

45 


gebrochen  sei:  ,zieht  heimwarts,  verweigcrt  den  Gehorsam 
denen,  die  euch  auf  die  Schlachtbank  gefiihrt  haben.'  — 
Das  waren  schon  ziemlich  beunruhigende  Dinge;  und 
UngewiBheit  und  Unruhe  wurdcn  noch  dadurch  gesteigert, 
daB  in  der  zweiten  Stellung  unerwartet  Generalmajor 
Basch  auftauchte,  der  Bluthund,  und  daB  Oberleutnant 
Kauser  einen  tschechischen  Korporal  namens  Trfcka,  bei 
dem  man  vier  oder  fiinf  Flugschriften  gefunden  hatte,  ohne 
besondere  Faxen  hinter  den  Stellungen  erschieBen  HeB. 
Diese  Hinrichtung  elektrisierte  den  gan2en  Frontabschnitt, 
groBerer  Radau  entstand  nur  darum  nicht  aus  der  Sache, 
weil  TrSka  allgemein  verhaBt  war,  er  war  ein  gemeiner, 
durchtriebener,  verschlossener  und  intriganter  Kerl,  der 
Arme.  —  In  den  letzten  Oktobertagen  stiirzte  dann  die 
ganze  Schweinerei  zusammen,  und  zwar  von  einer  Stunde 
auf  die  andere;  auch  er  marschierte  heimwarts.  Siebzig  oder 
achtzig  Mann  mochten  sie  gewesen  sein,  die  von  seinem 
Abschnitt  den  Abmarsch  begannen,  in  einer  Gruppe  und, 
wie  sie  beschlossen  batten:  moglichst  in  militarischer 
Disziplin,  auf  jeden  Fall  aber  sehr  eilig;  denn  die  vom 
weiter  siidlich  liegenden  Abschnitt  zuriickstromenden  ver- 
kommenen  Horden  erzahlten,  die  vordringenden  italieni- 
schen  Truppen  nahmen  ganze  Truppenkorper  gefangen,  — 
und  jetzt  noch  in  Gefangenschaft  zu  geraten,  jetzt  zum 
SchluB,  das  ware  doch  eine  zu  blode  Kiste.  Die  zur  Gruppe 
gehorenden  Ungarn  hielten  natiirlich  zusammen,  das 
Resultat  davon  war  vor  alien  Dingen,  daB,  als  sie  schon  im 
Hinterland  herumirrten  und  J6ska  Szilas  in  einem  Wachter- 
haus  bei  Innichen  ein  paar  Dutzend  versteckte  und  noch 
nicht  ganz  ungenieBbare  Brote  entdeckte,  die  Tschechen 
und  Bosnier  sie  umzingelten,  sich  vorschriftsmaBig  in  ent- 
wickelter  Linie  aufstellten  und  sie  zweifellos  nieder- 
geschossen  batten,  ware  ihnen  nicht  rechtzeitig  eingefallen, 
daB  es  noch  immer  besser  sei,  Luft  zu  schlucken,  als  ins 
Gras  zu  beiBen.  Er  versuchte  zwar,  mit  dem  Fiihrer  der 
Tschechen,  einem  Leutnant  namens  Mari^ek  verniinftig  zu 

46 


reden,  Marigek  aber  sagte  bloB:  ,,Dreck  den  Saumagyaren", 
wogegen  es  in  Anbetracht  der  Zahl  der  tschechischen  Ge- 
wehre  kein  Appellieren  gab.  Hinter  Innichen  war  cine 
fiirchterliche  Waggonstauung;  sich  in  den  Zug  zu  setzen 
war  sinnlos,  dagegen  wurde  von  Stunde  zu  Stunde  die 
Gefahr  drohender,  von  den  Italienern  eingeholt  zu  werden. 
Viel  zu  iiberlegen  war  da  nicht,  also  los.  Auf  den  Wiesen 
im  Tauerntal  fand  sich  zum  Gliick  hie  und  da  ein  ver- 
gessener  Kiirbis,  —  manchmal  sogar  in  der  GroBe  eines 
kleinen  Passes,  —  den  man  braten  konnte,  aber  auch  roh 
schmeckte  er  nicht  schlecht.  Bei  Ossiach  waren  sic  bloB 
noch  siebzehn;  auf  der  LandstraBe  erschlugen  sic  zwei 
Bauern,  die  Schwierigkeiten  machten,  und  von  da  an  ging 
der  Weg  ein  Stiickchen  ganz  vornehm  weiter,  auf  zwei  zum 
Transport  von  Holzstammen  bestimmten  Achsen  mit  vier 
Pferden  davor.  Gabor,  Altmann  und  Heczefalvy  blieben  in 
Villach  zuriick,  —  ein  Wunder,  daB  sie  sich  bis  dorthin 
geschleppt  hatten,  —  von  dem  rohen  Kiirbis  rann  das  Blut 
nur  so  aus  ihren  Gedarmen.  Es  war  zum  Gotterbarmen 
kalt,  in  Villach  kummerte  sich  keine  Katze  um  sie,  alles 
erwartete  den  Einbruch  der  Svidslawen.  Dann  gelangten  sie 
auf  ganz  unverstandliche  Weise  auf  cinen  eben  abfahrenden 
Zug  und  fuhren  acht  oder  zehn  Tage  mit  der  Eisenbahn. 
Einmal  nachts,  —  sie  hatten  keine  Ahnung,  in  welcher 
Gegend  sie  sein  mochten,  —  begann  den  Bahndamm  ent- 
lang  eine  SchieBerei,  auch  in  ihren  Waggon  trafen  ein  paar 
Kugeln,  und  obschon  beim  ersten  Knall  die  Mechanik  der 
Gewohnheit  sie  in  die  verhaltnismaBig  bestgeschiitzte 
Stellung  warf,  —  den  einen  auf  die  Holzbank,  den  andern 
auf  den  Boden  des  Waggons,  —  fangt  dennoch  der  kleine 
Feledy  mit  gelbem  Gesicht  Gott  und  die  Welt  an  zu  ver- 
fluchen,  und  an  seiner  linken  Hand  stehen  an  der  Stelle  von 
zwei  Fingern  zwei  blutige  Stiimpfe  hervor.  Die  Wunde 
blutete  wahnsinnig,  und  sein  Gesicht  wurde  ganz  gelb. 
Einer  turnte  durch  den  wackelnden  Zug  und  suchte  einen 
Arzt,  auch  die  iibrigen  rannten  nach  so  vielen  Richtungcn, 

47 


wic  sic  waren,  —  das  war  keinc  Schiitzengrabengeste  mchr, 
das  war  schon  die  Ratlosigkeit  der  Zivilwelt,  der  Friedens- 
welt  und  dcs  Glaubcns  an  die  Ordnung  und  das  System 
dieser  Welten.  Einen  Arzt  fanden  sie  indessen  nicht,  und 
als  sich  die  erste  zappelige  Aufregung  gelegt  hatte,  ver- 
banden  sie  die  Wunde  mit  allerhand  schmierigen  Fetzen, 
Resten  von  Taschentiichern  und  FuBlappen,  kauerten  sich 
in  noch  unmoglichere  Posituren  zusammen  und  legten  den 
kleinen  Feledy  auf  die  eine  Bank  des  Abteils.  Am  dritten 
Abend  war  aber  sein  Gesicht  schon  schwarz;  morgens  hielt 
dann  der  Zug  in  einem  Dorf,  dort  reichten  sie  die  in  den 
Mantel  gewickclte  Leiche  durchs  Fenster  hinaus.  Zoltan 
Szilasi  nahm  seine  Uhr,  sein  Taschenmesser,  sein  Etui  und 
seine  Erkennungsmarke  an  sich.  Eine  Stimmung  war  jetzt 
im  Kupee,  erbarmlich.  Na,  der  1st  schnell  in  der  Heimat 
gelandet,  sagte  einer,  als  der  Zug  weiterfuhr.  Es  regnete. 
Nach  Tagen  sah  einer  von  ihnen  zum  Fenster  hinaus  und 
sagte:  du,  guck  mal,  eine  ungarische  Fahne.  Tatsachlich, 
auf  dem  Gebaude,  vor  dem  gerade  ihr  Waggon  stehenblieb, 
flatterte  eine  ungarische  Fahne,  und  an  der  Fassade  stand: 
Kotor.  Sie  stiegen  erst  dann  aus,  als  man  ihnen  sagte,  der 
Zug  fahre  nicht  weiter.  Als  aber  die  ganze  Gruppe  vor  der 
Station  stand,  kamen  Gendarmen  und  fiihrten  sie  aufs 
Gemeindehaus.  Hier  im  Gemeindehaus  war  irgendein 
Komitee,  aber  sie  muBten  gut  einen  halben  Tag  warten, 
bis  sich  endlich  jemand  mit  ihnen  befaBte,  —  dann  lieB  man 
sie  nach  wenigen  Minuten  wieder  laufen.  Sie  sahen  sich 
urn,  —  na,  was  nun?  Einige  bliebcn  im  Dorf,  einige  gingen 
an  den  Bahnhof  zuriick:  irgendwann  wiirde  schon  wieder 
ein  Zug  abfahren.  Istvan  Dobos  Nagy  aus  Kanizsa,  der  die 
russische  Gefangenschaft  schon  hinter  sich  hatte,  umarmt 
sie  der  Reihe  nach  und  macht  sich  noch  an  demselben 
Abend  zu  FuB  auf  den  Weg,  —  Kanizsa  kann  doch  nicht 
weit  sein.  Mit  den  iibrigen  stromerte  er  zwischen  dem  Dorf 
und  dem  Bahnhof  herum,  —  vielleicht  wiirde  ihnen  jemand 
einen  Rat  geben,  etwas  sagen  konnen,  —  irgendwer  wiirde 

48 


ihnen  schon  den  Weg  weisen.  —  Er  hatte  noch  sein  Zehn- 
kronen-Goldstiick,  das  ihm  die  Mutter  1916  in  D6va,  in 
ein  Leinensackchen  genaht,  um  den  Hals  gehangt  hatte. 
Dieses  Goldstiick  kam  ihm  jetzt  sehr  zustatten.  Verdammt 
lang  war  dcr  Weg  durch  die  herbstlichen  Pfiitzen  bis 
Murakcresztur,  hier  wurden  sic  indessen  doch  von  an- 
standigerem  Volk  empfangen.  Das  Goldstiick  wechselte  er 
an  der  Bahn;  im  Dorf  trank  er  eine  Menge  Milch  und  preBte, 
zwei  in  Zeitungspapier  gewickelte,  ganze  Brote  und  ein 
Pfund  Schaf  kase  unter  die  Achsel.  Hier  in  Murakeresztur 
waren  die  Soldaten  von  der  Front  schon  nach  Hause 
gckommcn;  ein  Bauer,  der  seine  beiden  Sohne  noch  er- 
wartetc,  erlaubte  ihm,  auf  dem  Boden  zu  schlafen.  Das  ging 
also  glatt.  Nach  ein-  bis  zweitagigem  Umherirren  wurde  er 
in  einen  Waggon  gestopft,  der  Wachtkommandant,  ein 
Gendarmerie-Oberleutnant,  —  jedenfalls  ohne  Offiziers- 
rang,  —  driickte  ihm  einen  griinen  Zettel  in  die  Hand,  auf 
den  er  zwischen  die  gedruckten  Zeilen  mit  Kopierstift 
gcschrieben  hatte:  Budapest,  Siidbahnhof.  —  Der  Zug  fuhr 
und  fuhr,  der  Plattensee  war  giftiggrun,  und  unerbittlich 
platschte  der  Regen  hinein.  Auch  Zivilleute  reisten  im  Zug, 
in  seinem  Abteil  saBen  drei.  Im  Kupee  stank  es,  Zigaretten- 
rauch,  Zigarrenrauch,  Pfeifenrauch,  Menschengeruch.  Ihm 
gegeniiber  saB  ein  alter  Mann,  der  einen  kleinen  Jungen 
von  zwci  oder  drei  Jahren  auf  dem  SchoB  hielt;  das  Kind 
schlief,  und  der  Altc  zupfte  alle  Augenblicke  irgend 
etwas  an  ihm  zurecht,  einmal  legte  er  seinen  herunter- 
hangenden  FuB  schon  in  den  SchoB,  einmal  zog  er  ihm  die 
rotkarierte  Decke  ganz  bis  an  die  Nase;  der  kleine  Junge 
brummte  greinend  und  schlief  weiter.  —  In  Feh6rv£r 
erlebte  er  eine  groBe  Uberraschung:  am  Bahnhof 
wurden,  —  ebenfalls  unter  Gendarmerieassistenz  und 
warum,  wuBtc  man  nicht,  —  die  Wagen  geleert,  an  langen 
Tischen  bekamen  alle,  die  in  Uniform  waren,  ziemlich  gute 
Suppe,  ein  Stuck  weichgekochtes  Rindfleisch  und  schwarzen 
Kaffee,  und  am  Ende  des  Perrons  spielte  die  Zigeuncrbandc 

4  K&rmendi,  Budapest  49 


in  einem  fort  die  Marseillaise.  Auf  dem  weiBen  Feld  einer 
groBen,  in  den  Nationalfarben  angestrichenen  Tafcl  stand: 

Eslebe 
die  Ungariscbt  Volks-Jiepublik! 

and  fiinf  oder  sechs  kleinere  Tafeln  mahnten:  Heirn- 
kehrende  Soldaten!  Meldet  euch  sofort  beim  Soldatenrat 
am  Ort!  —  Kein  Wort  davon  verstand  er,  aber  er  fragte 
niemanden,  und  auch  um  ihn  kiimmerte  sich  keine  Scele, 
was  gut  war,  denn  da  drehte  sich  ihm  schon  alles  grau  vor 
den  Augen,  und  bleierne  Miidigkeit  hing  ihm  in  alien 
Gliedern.  Gegen  Abend  kletterte  er  in  einen  hin  und  her 
rangierenden  Waggon  und  setzte  sich  in  ein  dunkles, 
samtgepolstertes  Abteil.  Der  Schaf  kase,  den  er  noch  immer 
mit  sich  schleppte,  war  schon  stinkig  geworden,  er  warf  ihn 
aus  dem  Fenster  und  aB  von  dem  vertrocknenden  Brot. 
Spater  kam  ein  Eisenbahnbeamter  und  wollte  ihn  aus  dem 
Kupee  vertreiben.  ,,Ich  geh  nicht",  sagte  er.  ,,Das  ist 
aber  — "  —  ,,Ich  geh  nicht  1"  —  worauf  der  Eisenbahner  die 
Achsel  zuckte  und  ihn  allein  lieB.  Der  Zug  wurde  dann  in  den 
Bahnhof  geschoben,  und  im  Nu  fiillten  sich  alle  Wagen. 
Ein  Herr  in  schwarzem  Winterpaletot  kam  mit  demselben 
Eisenbahner  vor  das  Abteil.  Der  Tiirriegel  schnappte  leise, 
jetzt  erst  bemerkte  er,  daB  der  Mann  ihn  eingesperrt  hatte. 
,,Ich  bitte  gehorsamst,  Herr  Oberinspektor",  sprach  der 
Eisenbahner,  ,,der  Soldat  da  will  nicht  rausgehen.  Wic  er 
reingekommen  ist,  weiB  ich  nicht.  —  Sein's  mal  vernunftig, 
Freundl",  wandte  er  sich  dann  an  ihn,  es  gemutlich 
versuchend,  aber  der  im  Winterpaletot  winkte  ab,  ,,lassen 
Sic,  werden  wir  halt  zu  zweit  reisen,  in  der  heutigen 
Welt."  K£d£r  hob  den  Finger  an  die  Miitze  und  verzog 
sich  in  die  Ecke.  Dieses  ruhige  und  bescheidene  Benehmen 
gefiel  dem  im  Winterpaletot;  als  der  Zug  abfuhr,  steckte  er 
sich  cine  Zigarre  an  und  hot  auch  ihm  eine  an.  Er  rauchte, 
sic  sprachen  zwischendurch  ein  paar  Worte,  dann  schlief 
er  ein.  —  Es  war  finster,  als  er  crwachte,  die  Menschcn 

50 


stiirzten  auf  den  Gang,  sie  waren  in  Budapest  angekommen. 
1st  das  Budapest?  Ja,  richtig,  der  Bahnsteig  des  Siidbahn- 
hofs,  obschon  im  Dunkeln  kaum  zu  er kennen.  Die  Menge 
stromte  aus  dem  Zug,  es  fiel  gar  nicht  auf,  daB  der  Bahnhof 
sonst  leer  war,  nirgends  eine  Seele.  Die  Angekommenen 
standen  eine  Weile  in  kleinen  Gruppen  auf  der  StraBe,  dann 
zerstreuten  sie  sich.  Das  gewohnte  Bild  von  den  Platzen 
vor  Bahnhofen,  —  wimmelnde  Menge,  Trager,  Hand- 
wagen,  StraBenbahnen,  Equipagen,  —  was  ist  das?  Was 
bedeutet  diese  kalte  Finsternis,  die  langsam,  geradezu 
erschrocken  sich  verziehenden  kleinen  Gruppen,  die 
Menschen,  die  sich  angstlich  davonschleichen?  Das  war 
doch  sonst  nicht  so? 

Eine  Weile  geht  er  hinter  einer  kleinen  Gruppe  her, 
dann  bleibt  er  stehen.  Budapest  .  .  .  wo  gehe  ich  hin?  Die 
Frage  ist  nicht  schlecht,  wo  ich  hingehe.  Die  Garnison  ist 
in  Gyulafeh£rvir,  die  Eltern  sind  in  D£va,  —  in  Budapest? 
Budapest?  Er  sprach  dieses  Wort  in  fragendem  Tonfall 
wohl  zehnmal  in  Gedanken  und  einige  Male  auch  laut,  als 
erwartete  er,  daB  in  seinem  Kopf  eine  Antwort  widerhalle. 
Sein  Kopf  aber  drohnte  hohl,  und  er  fiihlte  bloB  einen 
dumpfen  Druck  um  beide  Schlafen.  Er  stand  in  der  Stille, 
die  plotzlich  iiber  ihn  hereingebrochen  war,  und  bemerkte 
auf  einmal,  daB  er  allein  mitten  auf  der  StraBe  stand. 
Oder  .  .  .  bin  ich  nicht  in  Budapest?  Er  griff  sich  an  den 
Kopf,  denn  jetzt  fuhr  ein  scharfer  Schmerz  hindurch, 
irgendwo  im  Hinterkopf.  Nach  Kolozsvir  fahrt  der  Zug 
vom  Ostbahnhof  —  wenn  das  wirklich  Budapest  ist. 
Da  bemerkt  er  gegeniiber  eine  Firmentafel:  Cajt  Pozsony. 
Pozsony  .  .  .  Cafe*  Pozsony.  Da  konnte  man  wohl  hinein- 
gehen.  Die  Fenster  des  Cafes  sind  dunkel,  und  auf  der 
StraBe  blinzelt  auch  hochstens  jede  dritte  bis  vierte  Gas- 
laternc.  Dafiir  glimmeA  iiber  den  Haustoren  elcktrische 
Gliihlampen  wie  schlafrige  Zyklopenaugen  in  der  feuchten, 
nebclcrstickten  StraBe.  Sonderbar,  friiher  gabs  keine 
elektrischen  Lampcn  an  den  Haustoren.  Dann  fallt  ihm  auf, 


daB  die  ganze  Strafie  cntlang  kein  lebendes  Wesen  zu  sehen 
1st.  Was  ist  das?  dachtc  er,  was  1st  hier  los?  Er  machte  ein 
paar  Schritte  vorwarts,  dann  stand  er  wieder  still.  Er 
versuchte  sich  zu  erinnern,  mit  wem  er  in  den  letzten 
Tagen  gesprochen  hatte  und  wovon;  aber  er  konnte  sich 
bloB  an  konfuse  Stimmen  erinnern:  Revolution,  Zu- 
sammenbruch,  Rcpublik,  Nationalrat,  Soldatenrat,  Demar- 
kation,  Hungersnot  .  .  .  das  waren  aber  leere  Tone,  er 
wuBte  nichts  mit  ihnen  anzufangen,  und  das  Ganze  wurde 
von  der  Marseillaise  der  Zigeunerkapelle  in  Feh£rvdr  iiber- 
drohnt.  Das  heiBt,  der  Herr,  der  ihm  die  Zigarre  gab,  hatte 
inn  gefragt,  bevor  er  den  Zigarrenstummel  2um  Fenster 
hinauswarf,  wie  er  heiBe.  K£dar,  Antal  Kaddr.  Was  fur  ein 
Kadar,  aus  welcher  Gegend?  Aus  Deva.  Aha,  und  vorher? 
Vorher?  Na,  ob  das  ein  magyarisierter  Name  sei?  oder  .  .  . 
,,Ja,  magyarisiert;  mein  GroBvater  hat  noch  Kantner 
geheiBen,  als  er  noch  in  Hermannstadt  lebte."  —  ,,Aha, 
also  ein  Siebenbiirger  Sachse.  Und  welchen  Rang  batten 
Sie  in  der  Armee?"  —  ,,Fahnrich."  —  ,,Aha,  Fahnrich." 
Dann  beugte  sich  der  Herr  im  Winterpaletot  zu  ihm  hin 
und  sagte:  ,,Herr  Fahnrich,  aushalten,  der  ganze  Revo- 
lutions-Fasching  dauert  nicht  langer  als  zwei  Monate." 
Das  hatte  er  zwar  nicht  vcrstanden,  aber  ihm  fehlte  die 
Kraft,  urn  nachzufragen,  und  er  schlief  ein. 

Immer  noch  stand  er  vor  dem  Caf£  Pozsony  allein.  Dann 
kamen  plotzlich  vier  Schutzleute  mit  Sabeln,  Karabinern 
und  Revolvertaschen  mitten  auf  dem  Fahrdamm  auf  ihn 
zu.  Na,  wenigstens  was  Lebendes.  Er  geht  auf  sie  zu,  die 
Patrouille  macht  aber  miBtrauisch  in  geschlossencr  Gruppe 
halt.  Falsch,  dachte  er  sich,  sie  batten  sofort  auseinander 
gehen  miissen,  auf  mindestens  zehn  Schritt  Abstand. 
,,Was  gibts?"  wirft  der  cine  Schutzmann  mit  dem  groBen 
Schnurrbart  hin,  ,,was  treiben  Si  sich  da  herum?"  — 
,,Bitte  sehr,  ich  bin  cben  angekommen  und  .  .  ."  Der 
Schutzmann  unterbricht  ihn:  „ —  und  es  wird  ratsam  sein, 
sich  schleunigst  von  hier  zu  verziehen,  die  Russen  kommen, 


sie  sind  aus  dcm  Gefangenenlagcr  ausgebrochen."  Er  gab 
sich  einen  Ruck  und  setzte  seinen  Patrouillengang  fort.  Na, 
und  nun?  Die  Russen  kommen  — ?  Stille.  Kreuzhimmel- 
donncrwetter!  Da  steh  ich  rum,  als  hatt  mich  ciner  aus- 
gespuckt  —  Wicder  blickte  er  zum  Firmenschild  iiber 
den  dunkeln  Fenstern  des  Cafts  auf,  —  Cafi  Po^sony  .  .  . 
hm  .  .  .  natiirlich  gehe  ich  auf  die  Pozsonyer  StraBe,  dort 
wohnt  Tante  Anna,  sie  wird  nicht  bosc  sein,  daB  ich  so 
spat  —  Auf  dem  Sz£na-Platz  bcgegnet  er  wieder  einer 
Patrouille,  die  halt  ihn  nicht  an,  er  geht  weiter.  Die  Haus- 
tore  sind  geschlossen,  hinter  ganz  vereinzelten  Fenstern 
brennt  Licht.  Seine  Absatze  knallen  auf  dem  Pilaster,  von 
den  Hausern  drohnt  das  Echo  zuriick.  An  der  Biegung  des 
Rings  Polizistenpatrouille,  vor  der  Briicke  Polizisten- 
patrouille,  driiben  am  Pester  Bruckenkopf  Militarpatrouillc, 
ihn  beachten  sie  gar  nicht,  die  sechs-acht  Menschen,  die 
ihm  unterwegs  entgegenkamen,  wichen  ihm  im  Bogen  aus. 
Auf  der  Pester  Seitc  eine  elektrische  Uhr:  sie  zeigt  die 
neuntc  Stunde.  Oder  geht  sie  nicht?  Bis  zum  Westbahnhof 
ist  die  StraBe  leer.  Na,  weiter,  egal,  ob  es  neun  Uhr  ist 
oder  .  .  .  Das  groBe  Mietshaus  auf  der  Pozsonyer  StraBe; 
interessant,  das  ist  auch  neu,  das  kleine  Fenster  da  an  dem 
schweren  Tor,  das  war  friiher  nicht.  Er  klingelt,  klingelt, 
klopft,  bummst.  Zum  Kuckuck  noch  mal,  einen  guten 
Schlaf  hat  der  Hausmeister.  Dann  offnet  sich  das  kleine 
Fenster:  ,,wer  ist  da,  was  wollen  Sie,  wohin  wollen  Sie, 
kommen  Sie  doch  morgens",  —  nach  langem  Handeln  tut 
sich  dann  ein  schmaler  Spalt  des  Haustors  auf.  Das  ist  nicht 
der  alte  Hausmeister:  eine  vicrschrotige  Gestalt  steht  unter 
dem  Torbogen,  mustert  ihn  miBtrauisch,  sieht,  daB  er 
keine  Waffe  bei  sich  hat,  und  sagt:  ,,na,  gehn  Sie  nur  rauf, 
der  Lift  funktioniert  nicht." 

An  der  Entreetiir  «2er  kleinen  Wohnung  des  vierten 
Stocks  ein  Zettel:  Die  Klingel  lautet  nicht,  bitte  klopfen. 
Er  klopft,  noch  einmal,  noch  einmal.  Ein  erschrockener, 
zerzauster  Madchenkopf  fur  einen  Augenblick  im  auf- 

53 


and  zugehcnden  Fenster.  Stille,  Schlurfcn.  ,,Wcr  1st 
da?"  —  ,,Onkcl  Rudi,  bist  dus?"  —  ,,Wcr  ist  da?!"  — 
,,Ich  bins,  der  Toni,  bittc,  laB  mich  rein!"  Licht,  plotzlich 
oflhet  sich  die  Tiire,  dahinter  steht  in  Untcrhoscn  und  im 
Wintermantel  Onkel  Rudi.  ,,KuB  die  Ha  ..."  —  ,,Um 
Gottes  willen,  du  bists!  Wie  siehst  du  denn  aus!"  Die 
Gliihlampe  streut  gcizig  schlafriges,  gelbes  Licht  auf  den 
kalten,  nach  Gas  riechenden  Flur.  Onkel  Rudi  weicht  ent- 
setzt  zuriick.  Er  hat  sich  nicht  verandert  .  .  .  aber  was 
heifit  das,  ,,wie  siehst  du  denn  aus?"  Er  macht  zwei  lang- 
same  Schritte  an  die  Flurbank,  iiber  der  der  kleine,  runde 
Spiegel  hangt,  —  sieht  hinein,  und  fahles,  stoBweises 
Lichen  fallt  aus  seinem  Munde.  ,,Ich  komme  aus  Asiago, 
scit  dem  26.  Oktober  .  .  ."  sagt  er  in  den  Spiegel  und  dreht 
sich  um.  Die  Zimmertiir  steht  offen,  aber  Onkel  Rudi  ist 
verschwunden.  Und  dann  kurz  darauf  weint  etwas  weiBes, 
nach  Schlaf  riechendes  Warmes  an  seinem  Hals,  ,,Tonichen, 
mein  Junge,  Tonichcn,  bist  du  endlich  wieder  da,  Kind"  — 
Tante  Anna.  Durch  die  2erdriickte  Nachtjacke  fiihlt  seine 
schmutzige  Hand  den  warmen  Riicken  der  alten  Frau,  an 
seinem  struppigen  Gesicht  Kiisse  und  Trinen,  die  zer- 
wiihlten  alten  Haare  kitzeln  ihm  die  Augen,  —  und  da 
drangt  sich  ein  leiser,  blokender,  keuchender,  abgerissener, 
weinender  Ton  auf  seine  Lippen,  und  aus  scincn  Lidern 
flieBen  Tranen.  —  Dann  erinnert  er  sich  noch  an  Tiiren- 
schlagen,  das  zrrzauste  Madchen,  das  er  zuerst  hier  durchs 
Tiirfenster  gesdnen  hat,  schleppt  Holz  und  Zcitungspapier; 
er  sitzt  auf  der  Bank,  und  ihm  gegeniiber  stehen  die  beiden 
Alten  im  Nachtgewand;  dann  ist  warmes  Wasser  in  der 
Wanne  und  Seife,  und  das  ist  so  sonderbar  .  .  .  so  im 
warmen  Wasser  zu  liegen;  dann  ein  Nachthemd  und  cine 
Unterhose  von  Onkel  Rudi  und  ein  nach  Naphtalin  riechen- 
der  hellbrauner  Friihjahrsmantel,  in  den  man  ihn  hincin- 
steckt;  dann  sitzt  er  ein  wenig  zitternd  im  kalt  gewordenen 
EBzimmer  am  Tisch,  trinkt  Kaffce  und  iBt  leicht  an- 
gebrannte  KartofFelnudeln.  Die  beiden  Alten,  sein  Onkel 

54 


und  seine  Tante,  stehen  dabei  und  sehen  zu,  wie  er  die 
Speiscn  verschlingt,  und  beim  letzten  Bissen  geht  das 
Fragen  los,  Fragen,  Fragen,  Fragen.  Woher?  wo?  wann? 
was?  mit  wem?  wie?  wie  lange?  —  und  er  versucht  zu 
antworten,  aber  als  er  wieder  sagt,  ich  komme  aus  Asiago 
seit  dem  sechsundzw  .  .  .  wird  er  plotzlich  bleich,  und  cs 
kommt  ihm  so  vor,  als  ob  der  Kaffec  und  die  KartofFel- 
nudeln  sich  in  einer  sauren  Masse  zuriickbegeben  wollten, 
nach  obcn,  nach  der  Kehle  zu.  ,,LaB  ihn,  Rudolf",  hort  er 
Tante  Annas  Stimme,  ,,er  kann  ja  gar  nicht  sprechen, 
siehst  du  nicht,  so  miide  ist  er,  der  arme  Junge,  Boske! 
schieb  das  Eisenbett  rein,  hier  sind  Laken  und  Kissenbezug, 
nimm  die  braune  Decke  . .  .  das  Eisenbett,  Kind,  in  dem  du 
friiher  geschlafen  hast .  .  ."  Dann  legt  er  sich  im  EBzimmer 
in  der  Ecke  am  Fenster  in  das  ake  Eisenbett,  blickt  starr 
nach  der  Decke,  —  und  da  beginnt  das  Bett  langsam  den 
ratternden  Rhythmus  des  Zuges  und  fahrt  und  fahrt,  und 
irgend  etwas  drohnt  ihm  im  Kopf,  und  das  Drohnen  wird 
von  dichten,  zuckenden  Blitzen  unterbrochen;  dann  hort 
er  auf  einmal  das  rochelnde,  schwere  Atmen  des  kleinen 
Feledy,  —  du,  Szilasi,  der  will  noch  was,  verstehst  du  nicht, 
was  er  sagt,  du,  Szilasi,  sagt  er  nicht  .  .  .  etwas  von  seiner 
Uhr?  —  Dann,  als  pfiffen  Fliigelschlage  um  seine  Ohren, 
er  horcht  auf,  er  strengt  sich  an;  das  ist  ganz  anders  als  das 
Pfeifen  der  Schrapnells  ...  als  pfiffen  diese  Fliigel  irgendwie 
im  Kreise  .  .  .  Kreise  zittern  auf  dem  glatten  Wasserspiegel 
von  dem  hineingeworfenen  Stein,  dann  fangt  das  ganze 
Bett  an,  sich  zu  drehen,  und  die  Welt  stiirzt  in  einem  heiBen 
Wirbel  summend  um  ihn  auseinander. 


ZEHN  bis  zwolf  Tage  dauerte  seine  Krankhcit.  Was  ihm 
eigentlich  gefehlt  hatte,  erfuhren  sic  niemals  genau;  wahr- 
scheinlich  war  es  cine  Kombination  von  allgemciner 

55 


Erschopfung  und  Influenza.  —  Am  Tagc  nach  seiner  Ankunft 
schlief  er,  als  sie  zu  ihm  hineingingcn,  mit  offcnem  Munde, 
rochelnd-schnarchend.  Nur  mit  Miihe  konntcn  sie  ihn 
aufwecken;  er  trank  wicder  KafFee,  fiel  dann  zuriick  aufs 
Kissen  und  konnte  nicht  aufstchen.  ,,Wir  wollen  ihn 
lassen",  sagte  Onkel  Rudi,  ,,er  ist  miide."  Gegen  Abend 
wurde  sein  Gesicht  lilarot,  Tante  Anna  kramte  entsetzt 
das  Thermometer  hervor:  neununddreiBig-sechs.  ,,Er- 
schopfung",  sagte  Onkel  Rudi,  ,,cr  muB  sich  ausschlafcn." 
Am  nachsten  Morgen  warcn  Hals,  Arme,  Brust  voller 
kleiner  roter  Ausschlage.  Die  Alten  erschraken  zu  Tode: 
sicher  hat  er  Flccktyphus.  Doktor  Webler,  Onkel  Rudis 
alter  Freund,  tapperte  ratios  urns  Bert  herum.  Sie  maBen 
wieder  das  Fieber:  die  Quecksilbersaulc  kroch  kaum  iiber 
siebenunddreiBig.  ,,Das  kann  kein  Flecktyphus  sein",  sagte 
der  alte  Arzt,  ,,er  hat  ja  kaum  Fieber."  Die  Nacht  schlief 
er  ruhig,  am  Morgen  war  der  Ausschlag  verschwunden. 
,,Ncsselausschlag  wars",  meinte  Doktor  Webler,  ,,wahr- 
scheinlich  hat  er  sich  in  der  letzten  Zeit  nicht  ordentlich 
ernahrt,  und  durch  die  veranderte  Kost  ist  das  jetzt  raus- 
gckommen."  Immer  noch  schlief  er  sechzehn  bis  achtzehn 
Stunden  tiglich,  und  die  Zeit  des  Wachseins  verbrachte  er 
auch  in  einem  halbschlafartigen  Dammerzustand.  Er  nahrn 
kaum  etwas  anderes  zu  sich  als  KafFee,  —  dann  fing  er  an 
zu  husten  und  bekam  wieder  hohes  Fieber,  aber  da  war  man 
schon  davon  iiberzeugt,  es  sei  Grippe.  ,,Wenn  keine 
Komplikation  eintritt,  wird  die  Sache  nicht  schlimm", 
beruhigte  der  Arzt  die  Alten.  In  der  zweiten  Woche  iiber- 
wand  dann  der  zwanzigjahrige  Organismus  die  Krankheit. 
Mitte  Dezember  begann  er  frisch  und  gesund  in  der  Stadt 
Umschau  zu  halten.  Bekannte  Gesichter  tauchten  auf ;  er 
begegnete  einem  Hauptmann,  der  schickte  ihn  aufs  Rathaus 
zur  Abriistung.  Er  wurde  abgeriistet,  bekam  cine  Be- 
scheinigung  und  wurde  weggeschickt.  Er  mcldete  sich  in 
einigen  Kasernen,  auf  der  Stadtkommandantur  und  beim 
Soldatenrat,  wo  er  angeblich  Geld  bekommcn  sollte,  das 


stimmtc  jcdoch  nicht.  —  Was  nun  tun?  Was  soil  mit  mir 
werden?  Die  Zcit,  die  cr  der  Orientierung  zugedacht  hatte, 
flog  blind  und  taub  iiber  ihn  hinweg:  das  Sich-Haufen  der 
Dinge  lieB  ihn  nicht  dazu  kommen,  die  Ereignisse  in  seinem 
Innern  zu  ordnen  und  zu  verarbeiten.  Was  damals  in  Buda- 
pest vor  sich  ging,  war  weder  aus  der  Perspektive  der 
Schulbank,  noch  der  des  Schiitzengrabens  zu  verstehen. 
Onkel  Rudi  sagte  kopfschiittelnd :  wir  stiirzen  nach  links. 
In  der  Zeitung  las  er  von  einer  Institution,  die  die  Be- 
nennung  hatte :  Priesterrat.  In  der  Stadt  waren  Bewegungen, 
Arbeiterumziige,  Demonstrationen  demobilisierter  Sol- 
daten,  auf  dem  groBen  leeren  Platz  hinter  der  Stefania- 
StraBe  exerzierte  franzosisches  und  farbiges  Militar.  Auf 
den  StraBen  gab  es  am  Tage  immer  Auf  lauf  und  Schlange- 
stehen,  auf  den  Elektrischen  Gedrange  und  Auf-dem-Tritt- 
brett-Hangen,  und  keineswegs  konnte  man  das  Gefiihl 
haben,  daB  jetzt  Frieden  sei.  Oder  sieht  der  Frieden  so  aus? 
Das  Wichtigste  indessen  war,  daB  er  keinen  Heller  besaB, 
und  wenn  er  auch  bei  seinen  Verwandten  ruhig  leben 
konnte,  so  stieg  doch  tagtaglich  die  Frage  in  ihm  auf:  was 
wird  jetzt  mit  mir?  was  soil  ich  machen?  —  denn  nach 
irgend  etwas  muBte  er  sich  doch  umsehen,  das  stand  fest. 
Tante  Anna  gab  ihm  zwar  gelegentlich  ein  paar  Kronen, 
und  Onkel  Rudi  schenkte  ihm  seinen  alten  Cut,  den  trug 
er  und  dazu  die  gelben  Offiziersstiefel.  —  Was  soil  ich 
anfangen,  dachte  er  manchmal,  wenn  er  iiber  die  winter- 
lichen  StraBen  schlenderte,  und  er  blieb  nur  darum  nicht 
zu  Hause,  weil  er  sich  davor  furchtete,  die  Alten,  die  den 
ganzen  lichen  Tag  zu  Hause  hocktcn,  konnten  ihn  doch 
einmal  fragen:  was  wirst  du  anfangen?  Dariiber  nachzu- 
denken,  war  unangenehm,  —  aber  auf  die  aufgeworfene 
Frage  antworten  zu  miissen,  odcr  vielmehr  nicht  antworten 
zu  konnen:  das  ware  fiirchterlich  gewesen.  Unbeholfen  bin 
ich,  dachte  er,  und  einmal,  bei  diesem  Gedanken,  muBte 
er  lachen.  Bei  Simp  ieto,  im  Herbst  siebzehn,  nach  den 
ublichen  .  .  .  den  iiblichen  Artillerievorbereitungen 

57 


vcrsuchten  die  Italicncr  cincn  Sturmangriff,  und  als  cr  — 
es  war  in  dcr  Morgcndamtnerung  —  die  sich  von  links 
binunterziehenden  italienischen  Infanteristen  mit  den 
Handgranaten  sah  .  .  .  wie  war  das  gleich  gewesen?  Eine 
fiirchterliche  Verknauelung  gab  cs,  und  der  erste  Graben 
war  im  Handumdrehcn  leer,  leider.  Da  aber  stelltcn  er  und 
Szilasi  und  Altmann  und  noch  eincr  das  halb  auf  die  Seite 
gekippte  Maschincngewehr  ein  .  .  .  na  ja,  natiirlich,  nicht 
gerade  daran  lags,  aber  es  hatte  doch  viel  dazu  beigetragen, 
daB  der  italienische  AngrifF  vereitelt  wurde.  Komisch, 
da  ...  war  ich  nicht  unbeholfen,  und  er  lachte  wieder.  Was 
soil  ich  anfangen?  Mich  auf  der  Universitat  immatrikulieren 
lassen,  das  hab  ich  verpaBt,  —  und  iiberhaupt,  wovon? 
Was  verstehe  ich,  was  kann  ich?  Gymnasium,  Abitur,  — 
Reifezeugnis,  wird  fur  reif  erklart  .  .  .  eine  Bins  in  Mathe- 
matik,  zwei  Zweien,  zwei  Geniigend.  Zwei  Jahre  Front- 
dienst,  SchulterschuB,  drei  Medaillen  .  .  .  Was  soil  ich 
anfangen?  —  Er  stand  Schlange  beim  Backer,  vor  dem 
Grvinkramladen,  er  ging  die  Fleisch-  und  die  Zuckerrationcn 
holen  und  fiir  Onkel  Rudi  aus  der  Tabak-Trafik,  was  man 
eben  bekam;  so  bemiihte  er  sich,  den  Alten  zu  helfen. 
Einmal  sah  er  auf  dem  Ring  zwei  Manner  in  Offiziers- 
uniform,  aber  ohne  Chargenabzeichen :  von  einer  groBen 
Gruppe  von  Gaffenden  umringt,  saBen  sie  auf  Schemeln  an 
der  Mauer  und  putzten  Schuhe.  Irgend  etwas  daran  ergriff 
ihn  tief,  und  entsetzt  packte  er  sich  fort  von  diesem  Schau- 
spiel.  —  Immer  haufiger  tauchten  die  bekannten  Gesichter 
auf,  und  wem  immer  er  begegncte,  der  versah  ihn  mit  einem 
Rat.  Dcr  eine  schickte  ihn  ins  Kriegsministerium,  der  andere 
zum  Soldatenrat,  der  dritte  in  die  Redaktion  eines  kommu- 
nistischen  Wochenblattes,  —  uberall  ging  er  hin,  und  iiberall 
ging  er  wieder  weg.  Als  er  gefragt  wurde,  was  er  wolle, 
konnte  er  nicht  kurz  und  biindig  mit  einem  Wort  antworten: 
mit  langen  Umschreibungen  probierte  er  herum,  —  Geld, 
Stellung,  Beschaftigung :  darauf  hatte  er  gern  hinaus- 
gewollt,  —  aber  was  sollte  er  mit  solchen  Worten  anfangen 

58 


wie  Agitation  im  Interesse  der  Befestigung  der  Rcpublik, 
vcrtraulichcs  Mandat  fur  ProvinzstSdte,  Propaganda-Tour, 
Organisation  der  Provinz,  geistige  Vorarbcit?  Wie,  wo? 
Auf  Onkcl  Rudis  Stirn  gruben  sich  dustere  Falten  ein,  als 
er  ihm  diese  Dinge  erzahlte.  ,,Heute  habe  ich  da  und  da  mit 
dem  und  dcm  gesprochen,  aber  ich  verstehe  nicht  ganz, 
was  ..."  —  ,,Du  bist  ungeschicktl"  antwortete  der  Alte, 
,,andere  junge  Leute  kommen  in  leitende  Stellungcn  oder 
erwerben  sich  ein  Vermogen  in  diesen  Zeiten!"  Dann  fiigte 
er  leise,  nachdenklich  hinzu:  ,,iibrigens  wundere  ich  mich 
nicht.  Das  ist  nichts  fur  uns  . . ."  Er  erkundigte  sich  nicht, 
wie  er  das  meinte,  aber  verstehen  konnte  er  es  nicht.  Fur 
wen  war  das  nichts?  Fur  die  Ungarn?  Fur  die  Budapester? 
Fur  die  pensionierten  Eisenbahn-Jnspektoren?  Oder  speziell 
nichts  fur  Rudolf  Bayer  und  Antal  Kadar?  —  Die  Tage 
vergingen,  es  war  barter  Winter.  Die  ganze  Welt  wurde 
grauer  und  greulicher,  und  nichts  schritt  vorwarts.  Geld 
muBte  man  verdienen.  Womit  kann  man  Geld  verdienen? 
Geschafte  machen?  Dazu  gehort  Geld,  —  Anfangskapital, 
wenn  auch  noch  so  klein,  —  das  hatte  ein  junger  Mann 
namens  Robert  gesagt,  mit  dem  er  in  einem  Wartezimmer 
des  Kriegsministeriums  bekannt  geworden  war  und  der 
eincm  der  Herren  vom  Ministerium  auslandische  Zigarren 
lieferte.  Geld  muB  man  verdienen.  Man  muB  sich  be- 
schaftigen  .  .  .  Er  ging  in  zwei-drei  Geschafte  und  meldete 
sich  als  Verkaufer.  In  den  Geschaften  wurde  er  meist  mit 
einem  einzigen  glatten  Wort  erledigt,  —  ein  Kaufmann  in 
der  Rakoczi-StraBe  wies  mit  aufgebauschter,  theatralischer 
Geste  auf  seine  Regale:  ,,Eine  Stellung,  mein  Herr?  Sehen 
Sie  dorthin,  bald  habe  ich  mehr  Verkaufer  als  Warel" 
Er  schrieb  auch  Gesuche  an  einige  Banken  und  Fabriken, 
die  Gesuche  iibergab  er  personlich  dem  einen  oder  andern 
hoflichen  Herrn,  der  schriftliche  Antwort  in  Aussicht 
stellte.  Nur  cine  einzige  Bank  teilte  ihm  in  zwei  Zeilen  mit, 
wir  bedauern  und  so  weiter,  von  den  ubrigen  bekam  er  nicht 
cinmal  Antwort.  Geld  verdienen.  Vielleicht  als  Arbciter 


59 


gehen?  Er  meldetc  sich  in  einer  Kartonfabrik;  das  1st  doch 
keine  Arbeit,  die  ich  nicht  machen  konnte  .  .  .  Der  Inhaber, 
ein  angsdicher,  dicker  Jude,  lieB  sich  feige  und  fortwihrend 
blinzclnd  mit  ihm  ein  und  fragte  ihn,  was  er  konnc,  und  vor 
allem,  was  seine  Anspriiche  seien.  ,,Pardon,  Herr  Herz", 
sagte  ein  kleiner  junger  Mann  mit  einem  Kneifer,  ,,bei 
kollektiven  Lohnvertragen  und  fachgenossenschafdicher 
Lohnskala  fragen  Sie  doch  bitte  nicht,  was  seine  Anspriiche 
sind",  —  und  damit  nahm  er  den  Zwicker  ab  und  wandte 
sich  an  ihn:  ,,Sind  Sie  Facharbeiter?"  —  ,,Nein,  abgeriisteter 
Fahnrich."  —  ,,Mitglied  irgendeiner  Fachgewerkschaft  ?"  — 
,,Nein."  —  ,,Danke",  sagte  der  junge  Mann  mit  Betonung; 
,,ich  bedaure",  sagte  Herr  Herz  und  sah  auf  die  Erde.  Er 
ging  weiter.  Betrachtete  die  Firmenschilder.  Biiro  Rechts- 
anwalt  Ix  Ypsilon,  Ix  Ypsilon,  Arzt,  Ix  Ypsilon,  Ingenieur. 
Die  haben  eine  Beschaftigung.  Und  die  Leute  auf  der 
StraBe,  auch  die  leben  von  irgend  etwas.  Geld  miiBte  man 
verdienen.  Einmal  in  Innsbruck,  als  meine  Schulter  schon 
wieder  gut  war,  hat  mich  ein  Jager-Oberleutnant  zum 
Spielen  verleitet,  wie  hieB  er  doch  gleich  .  .  .  na,  egal;  drei 
Tage  hindurch  haben  wir  gemauschelt,  er  nannte  das: 
Angehn,  fast  dreihundert  Kronen  hab  ich  gewonnen.  Ich 
hatte  auch  ruhig  verlieren  konnen,  —  zu  essen  hatte  ich, 
zu  wohnen  . . .  wie  sagte  noch  Peter  Sebok?  Kost,  Quartier 
und  Apotheke,  ja,  darum  brauchen  wir  uns  nicht  zu  sorgen. 
Eigentlich  sehe  ich  gar  nicht  ein,  weshalb  ich  mich  nicht  mit 

Schuhputzen  besch Mathcmatik  eins,  Physik  und 

Geschichte  gut,  Latein  und  Ungarisch  geniigend,  —  das 

Geniigend  in  Ungarisch  war  peinlich  ungerecht,  und  das 

Ganze  stammte  blofi  von  dem  Zank  vor  Ostern,  als  ich  in 

dem  Aufsatz:   Die  religiose  und  patriotische  Lyrik  im 

XVIIL  Jahrhundert  schrieb  .  .  .  Auf  der  StraBe  sah  er  ein 

Plakat,  eine  Frau  mit  wirrem  Haar  und  entsetztem  Gesicht, 

beide  Arme  in  die  Hohe  gestreckt: 

Arbeitet,  denn 

das  'Brot  gebt  ^ttr  Nciffl 

60 


—  Gut,  sagte  er,  vor  dem  Plakat  stehenbleibend,  arbeitet. 
Aber  was  sollt  ihr  arbeiten?  Wo  sollt  ihr  arbeiten?  Bitte  . . . 
bei  tausendsechs  1st  cine  Veranderung  zu  bemerken,  Fahnrich 
Kdd£r  und  vier  Mann  als  Auf  klarungspatrouille  um  halb  zwei 
. . .  wer  meldet  sichfreiwillig  ?  Das  1st  gute  Arbeit,  die  kannman 
anstandig  ausfiihren,  man  gab  uns  auch  reichlich  davon;  — 
oder:  der  gegeniiberliegende  Grabenabschnitt  muB  aus- 
gehoben  werden.  Fahnrich  Kadar  mit  zwei  Maschinen- 
gewehren  .  .  .  jawohl,  der  Grabenabschnitt  der  Andrassy- 
StraBe  vom  Cafe  Abbazia  bis  zum  Cafe  Palermo  muB  aus- 
gehoben  werden,  Fahnrich  Kadar  mit  zwei  Maschinen- 
gewehren  .  .  .  Von  Tante  Anna  kann  ich  wieder  ein  paar 
Kronen  bekommen.  Ich  brauche  zwei  Paar  Strumpfe,  und 

einmal  mochte  ich  ins  Orpheum  gehen Ein  junges 

Madchen  in  dunkelblauem  Wintermantel  und  hohen 
Stiefeln  kam  ihm  entgegen.  Er  wandte  sich  ein  wenig  zur 
Seite  und  betrachtete  sie  scharf ;  auch  das  Madchen  sah  ihm 
in  die  Augen.  Er  ging  ihr  nach  und  sah,  daB  sie  vor  einem 
Schaufenster  stehenblieb,  wahrend  sie  tat,  als  betrachte 
sie  die  Auslage,  warf  sie  ihm  scharfe  Blicke  und  feiles 
Lacheln  zu.  Ich  gefalle  ihr,  dachte  er,  oder  vielleicht  lacht 
sie  dariiber,  daB  mir  der  Schwanz  vom  Cut  unter  dem 
Fruhjahrsuberzieher  hervorguckt  und  daB  ich  gelbe 
Militarstiefel  trage.  Das  Madchen,  als  hatte  sie  das  Schau- 
fenster satt,  ruckte  mit  dem  Kopf  und  ging  weiter.  Einen 
Augenblick  iiberlegte  er,  ob  er  ihr  folgen  solle,  dann 
ging  er  ein  wenig  zogernd  auf  die  andere  Seite.  Geld 
muBte  man  verdienen. 


Es  wurde  Januar,  und  bis  heute  hatte  er  von  Zuhause, 
von  den  Eltern,  keine  Nachricht.  Zuletzt  war  Ende  Juli 
oder  Anfang  August  ein  Brief  aus  DeVi  gekommcn:  von 
Anfang  bis  Ende  vorsichtiges  Klagen.  Kein  Mensch  kauft 

61 


Bucher,  auch  das  Papier  geht  kaum,  das  Geschaft  1st 
sozusagen  vollkommen  tot,  von  den  drei  Zimmern  haben 
wir  eins  vermietet  mit  voller  Verpflegung  an  einen  an- 
gehenden  Rechtsanwalt  namens  Kormos.  Dem  Vater  geht 
es  nicht  besonders  gut,  seit  Beginn  des  Sommers  spiirt  er 
wieder  seinen  Rheumatismus.  Gott  segne  dich,  Gott 
schiitze  dich,  —  so  wie  es  am  SchluB  eines  jeden  Briefes 
stand.  —  Seitdem  keine  Nachricht.  Was  jeder  wufite: 
rumanische  Besetzung,  kein  Postverkehr,  —  zwei  Briefe 
hatte  er  nach  Hause  geschrieben,  Antwort  war  nicht 
gekommen,  wer  weiB,  wo  diese  Briefe  verloren  gegangen 
waren,  —  der  Eisenbahnverkehr  ist  eingestellt.  Tage  hin- 
durch  waren  ihm  seine  Eltern  nicht  in  den  Sinn  gekommen, 
—  das  war  auch  fruher  so  gewesen,  als  er  acht  Jahre  als 
Gymnasiast  in  Budapest  verbracht  hatte,  fern  von  den 
Eltern;  manchmal  waren  Monate  vergangen,  ohne  daB  er 
nach  Hause  geschrieben  hatte;  allerdings,  damals  wufite 
man,  daB  zu  Hause  alles  in  Ordnung  war,  —  dann  gab  es 
Tage,  da  die  Unruhe  in  ihm  brannte,  und  unter  dem  Ein- 
druck  der  einen  oder  andern  verworrenen  Nachricht,  des 
einen  oder  andern  beangstigenden  Zeitungsartikels  sah  er 
Schreckensbilder. 

Eines  Abends  trat  er  dann  vor  die  Alten:  ,,ich  geh  nach 
Hause,  nach  Deva."  —  Sic  sind  entsetzt,  sie  jammern.  ,,Um 
Gottes  willen,  liebes  Kind,  es  fahren  ja  nicht  einmal 
Ziige  ..."  —  ,,Ich  werde  schon  irgendwie  hinkommen."  — 
,,Aber  du  hast  ja  keinen  PaB."  —  ,,Werdc  ich  mich  eben 
(iber  die  Grenze  schmuggeln."  —  ,,Und  Geld  fur  die  Reise 
konnen  wir  dir  auch  nicht  geben  .  .  ."  Er  zieht  vier  Zehn- 
kronenscheine  aus  der  Tasche.  ,,Wo  hast  du  denn  die 
her?"  —  ,,Meine  Uhr",  sagt  er,  ,,wozu  die  Uhr?  die  brauch 
ich  nicht."  Er  lafit  sich  die  Sache  nicht  ausreden:  Tante 
Anna  weint,  der  alte  Herr  will  energisch  sein,  bringt  es 
aber  bloB  bis  zum  Schmollcn,  —  kein  Wort,  kein  Argument 
hilft,  —  in  einen  Rucksack  stopfen  sie  ihm  etwas  altc  Waschc, 
fiber  den  Cut  zieht  cr  den  Offiziersmantel  und  geht  los. 

62 


Der  Zug  fahrt  bloB  bis  Gyula.  Dort  lungert  er  zwei  Tage 
herum,  versucht,  mit  Mcnschen  ins  Gesprach  zu  kommen 
und  ctwas  dariiber  zu  erfahren,  wie  es  mit  dem  Verkehr  iiber 
die  Grenze  steht.  Die  Menschen  sind  miBtrauisch  und 
wissen  nichts.  Zwei  Nachtc  verbringt  er  in  einer  Kneipe, 
schlaft  auf  der  Bank  neben  dem  Tisch,  und  der  Gastwirt  ist 
iiberzeugt,  daB  er  etwas  im  Schilde  fiihrt.  Der  glaubt,  ich 
sei  ein  Dieb  oder  Deserteur,  denkt  er  und  sagt  dem  Bauer, 
der  ihm  nie  in  die  Augen  blickt  und  aussieht,  als  seien  auch 
seine  Ohren,  sein  Schnurrbart  und  seine  weinbliihende 
Nase  zu  Boden  gesenkt,  daB  er  iiber  die  Grenze  wolle.  Der 
Gastwirt  nimmt  die  auf  die  Erde  gestemmte  Pfeife  aus  dem 
Mund,  sieht  ihn  an,  spuckt  aus  und  sagt  kein  Wort.  — 
Am  Nachmittag  kauft  er  ein  rundes  Roggenbrot  und  cine 
diinne  Stange  Paprikaspeck  und  macht  sich  gegen  Abend 
auf  den  Weg.  Schneeiger  Bleiregen  fallt,  seine  gelben 
Stiefel  patschen  bis  an  die  Knochel  durch  den  Matsch,  daran 
bin  ich  schon  gewohnt,  denkt  er.  Uber  winterliche,  kahle 
Felder  schreitet  er  im  Dunkeln  mit  dem  lockeren,  vor- 
sichtigen  Schfitt,  aus  dem  er  sich  jeden  Augenblick  auf  die 
Erde  werfen  kann,  und  seine  Augen,  —  auch  das  hat  er 
gelernt,  im  Dunkeln  nicht  blind  zu  sein,  —  passen  auf  die 
gerade  Chaussee  auf,  damit  er  nicht  mehr  als  zwanzig 
Schritt  von  ihr  abweiche.  Urns  Morgengrauen  stand  er 
dann  plotzlich  einem  Trupp  Soldaten  in  fremden  Uniformen 
gegeniiber.  Er  packt  das  Brot  zwischen  die  Knie  und  hebt 
bcide  Arme  hoch.  Die  rumanische  Patrouille  ergreift  ihn, 
zwei  Infanteristen  mit  Bajonetten  begleiten  ihn  wohl  zwei 
Stunden  lang  iiber  die  schneeig-dreckige  LandstraBe,  dann 
kommen  sie  an  einen  Schuppen,  da  stoBen  sie  ihn  hinein. 
In  dem  scheunenartigen  Raum  sind  schon  an  die  zwanzig, 
liegen  auf  Stroh,  schlafen,  brummen,  weinen,  stinken.  Er 
bleibt  an  die  Wand  gelehnt  stehen  und  sieht  sich  um.  Ein 
Jude  mit  Bart,  Peies  und  schwarzem  rundem  Hut  richtet 
sich  auf  dem  Stroh  auf,  blickt  ihn  mit  erschrockenen  Augen 
an,  steht  auf  und  tritt  zu  ihm  bin.  ,,Sind  Sie  Ungar?"  fragt 

63 


er  in  seincm  singenden  Tonfall.  Er  nickt:  ,,ja."  —  „  Aiweh", 
sagt  der  andere,  ,,mein  Name  1st  Spitzer,  aiweh.  Ich  wollte 
einen  so  kleinen  Sack  gerosteten  Kaffee  —  Gott  iibcr  die 
Welt,  glauben  Sie,  sie  werden  mich  erschieBen?"  Kadlr  sinkt 
auf  das  Stroh,  der  Gestank  will  ihn  ersticken,  er  starrt  ins 
Dunkle,  es  lohnt  sich  nicht  nachzudenken.  Sein  Taschen- 
messer,  seine  Papiere,  das  halbc  Brot,  seinen  Rucksack  und 
seine  sechsundzwanzig  Kronen  hat  ihm  die  Patrouillc 
abgenommen.  Na  .  .  .  das  ist  nicht  gerade  gelungen,  ich 
hatte  mir  das  denken  konnen.  Warum?  warum  hatt  ich  mir 
das  denken  konnen?  hatte  ich  mir  denken  konnen,  der 
nachtliche  SturmangrifF  bei  Asterra  wiirde  gelingen  oder 
nicht  gelingen?  MuB  man  denn  iiber  alles  griibeln?  alles 
vorher  ausrechnen?  —  Er  liegt  auf  dem  Stroh,  das  leise 
Murren,  Weinen,  Krachzen  und  das  Schnaufen  der  Schlafer 
rieselt  durchs  Dunkel,  der  Gestank  ist  unertraglich.  Manch- 
mal  geht  die  Tiire  auf,  —  fur  einen  Augenblick  stiirzt  graue 
Helligkeit  in  die  Finsternis,  —  es  kommt  jemand  an.  Der 
Ankommling  bleibt  an  der  Wand  stehen,  forscht  durch  das 
Dunkel,  versucht,  sich  zu  orientieren;  der  kleine  Jude 
richtet  sich  im  Stroh  auf.  ,,Mein  Name  ist  Spitzer  .  .  . 
aiweh . . .  so  ein  kleiner  Sack  Kaffee  .  . .  erschieBen  ..."  Ein 
Tag,  zwei  Tage,  drei  Tage?  Am  harten,  blauen  Himmel 
strahlt  die  Sonne,  als  sie  ihn  aus  der  Scheune  herausfiihren. 
An  Schienen  gehen  sie  entlang,  wohl  zu  zehnt,  werden  in 
ein  weiBgetiinchtes  Haus  gelenkt,  und  dort  steht  cr  in  einem 
leeren  Zimmer.  Eine  Stunde,  zwci  Stunden,  drei  Stunden? 
Dann  steht  er  vor  einem  langen  Tisch,  der  vollgepackt  ist 
mit  Papieren,  Tintenfassern,  Federhaltern.  Am  Tisch  sitzen 
eine  Menge  rumanische  Offiziere,  rauchen  Zigaretten, 
Zigarren.  Unter  den  RumSnen  sitzt  auch  eine  andere 
Uniform,  kein  Rumane,  ein  fremder  Offizier  muB  das  sein. 
Dann  sagt  der  eine  etwas  auf  ruminisch,  er  versteht  ihn 
nicht,  aber  plotzlich  blitzt  ihm  ein  Gedanke  durch  den  Kopf, 
und  mit  zwei  Schritten  steht  er  dem  mit  der  fremden 
Uniform  gegeniibcr  vor  dem  Tisch*  Ein  jugendlkhes 


Gcsicht,  nach  den  Seiten  geglattetes  blondes  Haar,  klare 
hellblaue  Augen.  Ein  englischer  Offizier.  Ich  glaube  nicht, 
daB  er  alter  1st  als  ich.  Kadar  faBt  den  Rand  des  Schreibtisches 
und  sagt:  ,,Mister  .  .  .  Kamerad!  I  am  .  .  .  ein  armer 
Student .  .  ."  er  strengt  sich  an,  er  qualt  sich  nach  brauch- 
baren  Fremdwortern  ab,  —  ,,ich  muB  zu  den  Eltern",  hilft 
er  sich  auf  deutsch  aus  .  .  .  ,,Eltern,  parentes,  pere  et 
mere  .  .  ."  In  den  blauen  Augen  erscheint  ein  Lacheln  und 
versteckt  sich  sofort  in  einer  schmalen  Falte  auf  der  Stirn. 
,,Ah,  you  want  to  see  your  parents?"  —  ,,Ja . . .  Yes,  yes !" — 
,,And  your  parents  are  living  in  Roumania?"  fragt  der  Eng- 
lander  weiter.  Er  antwortet  aufs  Geratewohl:  ,,Yes, 
Romania,  Deva!"  —  ,,Ah,  in  Deva.  And  you  wanted  to 
get  there?"  Er  versteht  die  Frage  nicht,  verlaBt  sich  aber 
auf  den  Fragenden:  ,,Yes,  yes",  antwortet  er.  Die  Offiziere 
reden  rumanisch,  englisch,  franzosisch  dazwischen,  schnell 
und  laut,  und  er  versteht  kein  Wort.  Den  englischen 
Offizier  aber  hat  er  schon  liebgewonnen  und  ist  ihm 
dankbar,  wenn  auch  nur  darum,  weil  er  sich  bemiiht,  lang- 
sam  zu  sprechen  und  sich  wenigstens  durch  die  Betonung 
und  durch  Gesten  verstandlich  zu  machen.  Der  Englander 
wendet  sich  wieder  an  ihn:  ,,You  were  officer  in  the  army 
of  the  Monarchy,  weren't  you?"  und  mit  seinem  Bleistift 
fahrt  er  an  seinen  Militarmantel  und  zeigt  auf  den  Kragen. 
,,Yes,  Officier!  Leutnant!"  liigt  er  plotzlich.  Wieder  lautes 
Gerede;  aufgeregte  Worte  fllegen.  Dann  wieder  der  Eng- 
lander: ,,Impossible,  my  young  friend!  You  can't  pass  the 
line  of  demarcation  without  official  leave  on  the  part  of  the 
Roumanians  and  certainly  not  without  any  papers!  Go  back 
immediately  .  .  ."  Stimmengewirr,  Widersprechen.  Er 
versteht  den  Streit  nicht,  weiB  aber,  davon  ist  die  Rede, 
daB  der  englische  Offizier  ihn  zuriickschicken  will  und  die 
Rumanen  ihn  nicht  lassen  wollen.  Lange  Minuten  dauert 
das  Gestreite;  ein  dicker  rumanischer  Offizier  schlagt  auf 
den  Tisch  und  briillt  aus  voller  Kehle:  ,,I  know  the  like  of 
them  I  He  is  a  professional  spyl  A  professional  spy!  Sure!" 

5  Kflrmendi.  Budapest  6j 


Auch  dcr  Engender  haut  auf  den  Tisch:  ,,I  don't  think  so! 
He  merely  wants  to  get  to  his  parents !  A  spy  wouldn't  try 
to  steal  across  the  frontier  in  this  manner!"  Jetzt  weiB  er 
schon,  er  gelangt  nicht  heim  und  kann  sich  freuen,  wenn  er 
mit  heiler  Haut  nach  Ungarn  zuriickkommt.  Streit,  Auf- 
den-Tisch-Schlagen,  aber  er  hort  nicht  mehr  hin,  bemiiht 
sich  nicht  mehr,  die  Worte  zu  verstehen.  Die  Stimme  des 
kleinen  englischen  Offiziers  kreischt:  ,,I  want  it!  I  insist  on 
it!"  Dann  wird  er  in  die  Scheune  zuruckgefiihrt  und  bleibt 
bis  zum  nachsten  Morgen  da.  Jetzt  ist  es  schon  ganz  gleich- 
gultig,  was  passieren  wird.  Moglich,  sie  lassen  mich  frei, 
dann,  wenn  ich  zehn  Schritte  gegangen  bin,  wird  man  mich 
von  hinten  —  Am  Morgen  holen  drei  Infanteristen  mit 
Bajonnetten  ihn  und  noch  funf-sechs  andere  aus  der  Scheune. 
Sie  setzen  sich  auf  einen  Wagen,  der  Wagen  fahrt  los, 
zuriick,  denselben  Weg,  den  sie  ihn  vor  Tagen  zu  FuB 
herbegleitet  hatten.  Sein  Rucksack,  sein  Kram  ist  dort 
geblieben.  Spitzer  ist  auch  auf  dem  Wagen.  ,,Du  allmachti- 
ger  Gott",  sagt  er,  ,,wegen  eines  so  kleinen  Sackes  Kaffee 
hatten  sie  mich  doch  auch  nicht  erschieBen  lassen  konnen, 
hat  man  je  sowas  gehort?!"  Spater  muBten  sie  vom  Wagen 
steigen,  der  eine  Infanterist  wies  ihnen  mit  der  Hand  die 
Richtung,  ,,marsch-marsch",  sagte  er,  und  als  sie  losgingen, 
schoB  er  in  die  Luft.  —  In  Gyula  ging  er  zunachst  in  die 
Kneipe;  der  Bauer  erkannte  ihn  und  empfing  ihn  sofort 
damit,  ob  er  Geld  habe.  Nein,  er  hatte  keins.  ,,Hinsetzen 
kdnnen  Sie  sich",  sagte  er  da,  ,,abeir  zu  essen  gebe  ich  bloB 
gegen  Geld."  Er  ging  zu  dem  Backer,  bei  dem  er  vor  ein 
paar  Tagen  das  Brot  gekauft  hatte,  und  bat  um  Quartier, 
sagte  aber  gleich,  daB  er  kein  Geld  habe.  Der  Backer  warf 
ihn  hinaus.  Er  versuchte  es  noch  in  ein  paar  Bauernhausern 
am  Ende  der  Stadt,  uberall  wurde  er  weggeschickt.  Es 
sauste  ihm  in  den  Ohren,  es  flimmerte  ihm  vor  den  Augen 
vor  Hunger.  Zuletzt  hatte  er  nach  dem  Verhor  gegessen, 
Suppe  und  irgendeine  klitschige  Masse,  die  nach  Hirse 
schmeckte,  aus  einer  klebrigen  EBschale.  Auf  dem  Haupt- 

66 


plate  setzt  er  sich  auf  cine  Bank:  ich  will  wenigstens  nicht 
gerade  mitten  auf  der  StraBe  umfallen.  Er  sitzt  und  sitzt, 
—  am  groBen,  grauen  Himmel  hiipfen  bunte  Ringe; 
gegeniiber  ist  ein  zweistockiges  Haus,  ein  Fenster  im  zwei- 
ten  Stock  ist  offen  und  bis  2um  Kreu2  mit  Bettzeug  voll- 
gestopft.  Ganz  angenehm  ware  so  ein  rotbezogenes  Feder- 
bett.  Wenn  ich  darin  meinen  Kopf  vergriibe,  wiirde  das 
Ohrensausen  aufhoren.  Neben  dem  Haustor  eine  grofie 
ovale  Tafel,  man  kann  sie  auch  von  hier  aus  ganz  gut  lesen : 
Borbala  Kovik,  dipl.  Geburtshelferin,  —  auf  die  Tafel  ist 
auch  ein  Storch  gepinselt,  der  ein  Wickelkind  im  Schnabel 
halt.  Der  Miihe  wert . . .  geboren  zu  werden.  Oder  so 
geboren  zu  werden,  daB  man  nichts  hat.  ,,Ach,  sieh  mal 
einer  an,  Kadar,  du?"  hort  er  auf  einmal;  er  blickt  auf, 
blinzelt  ein  paarmal:  eine  feldgraue  Gestalt  steht  vor  ihm, 
in  Breeches,  tadellosen  braunen  Ledergamaschen,  mit  roter 
Kokarde.  Er  erkennt  ihn  sofort:  Lechner,  —  eine  Zeitlang 
waren  sie  zusammen  an  der  Front  gewesen,  in  Albanien. 
,,Wie  kommst  du  denn  hierher?"  —  ,,Na,  und  du?" 
Fragen  und  Antworten,  gemeinsame  Erinnerungen  und 
fremde  Schicksalswendungen  finden  Worte  hier  auf  der 
Bank,  angesichts  der  Federbetten  und  des  Hebammen- 
schildes.  Lechner  ist  in  Gyula  beheimatet,  ist  nach  Hause 
gekommen,  es  geht  ihm  einigermaBen,  man  kann  nicht 
klagen,  augenblicklich  ist  er  Vorsitzender  des  Soldatenrats 
am  Ort.  ,,WeiBt  du,  die  Sozis  und  auch  die  Burschuis 
haben  Vertrauen  zu  mir.  WeiBt  du,  mein  alter  Herr  ist 
Schlachter,  es  geht  ihm,  Gott  sei  Dank,  ziemlich  gut,  und 
als  ich  nach  Hause  kam,  habe  ich  ihm  gesagt,  iiberlaB  die 
Sache  nur  mir,  Papa.  Na,  da  habe  ich  den  Mund  aufgerissen, 
hab  Reden  gehalten,  hab  geschrien,  ganz  fein  hab  ich  den 
Krempel  geschmissen."  Dann  nimmt  Lechner  ihn  mit  zu 
sich  nach  Hause;  vom  Alten  bekommt  er  Blut-  und  Leber- 
wurst.  Vicl  kiimmern  sie  sich  nicht  um  ihn;  in  einer  leer- 
geraumten  Kiiche  schlaft  er  sich  groBartig  aus, — niemanden 
start  er,  man  sieht  ihn  kaum.  Am  dritten  Tag  weist  Lechner 

5»  67 


ihm  im  Rathaus  funfzig  Kronen  an,  Frau  Lechner  packt  ihm 
eincn  zerrissenen  Rucksack  voll  Mettwurst  und  Speck,  auch 
ein  Topfchen  Scbmalz  tut  sie  hinein,  —  an  dem  Tage  fahrt 
gerade  ein  Zug  nach  Budapest,  ,,na,  Gott  mit  dir",  sagt 
Lechner,  ,,und  wenn  ich  mal  nach  Pest  komme,  machen  wir 
zusammcn  einen  groBen  Bummel!" 

Die  Alten  trauen  ihren  Augen  nicht,  als  er  vor  ihnen 
steht.  ,,Na,  bist  du  wieder  da  I  1st  dir  also  nichts  passiert?! 
Warst  du  in  Ddva?  Du  lieber  Himmel,  wo  hast  du  denn 
all  das  Schweinezeugs  her?  Und  das  Topfchen  Schmalz?" 
An  dem  Schmalz  riecht  auch  Onkel  Rudi,  ,,prima", 
sagt  er. 

Dann  vergehen  die  Tage  wieder  in  Budapest.  Ziemlich 
schnell  sogar.  Man  sitzt  tagelang  im  EBzimmer  und  stiert 
zum  Fenster  hinaus,  aber  das  ist  unwichtig.  Man  hat  Ruhe, 
und  die  paar  ubriggebliebenen  Kronen  reichen  lange  Zeit. 
Man  hat  Ruhe,  das  ist  die  Hauptsache.  Der  Lechner  ist  ein 
ordentlicher  Junge,  auch  der  englische  Offizier  war  ein 
ordcntlicher  Mensch.  Der  kleine  Feledy  auch,  und  Altmann 
und  die  beiden  andern  auch,  die  auf  dem  Heimweg  Ruhr 
bckommen  haben.  Uberhaupt  sind  die  Menschen  ziemlich 
gut . . .  und  man  muB  moglichst  von  niemandem  etwas 
wollen.  Ruhe,  Ruhe,  die  ist  gut.  Ich  bin  am  Leben,  das  ist 
gut.  SchlieBlich  hatte  ich  ja  auch  dort  bleiben  konnen  .  .  . 
sagen  wir ...  am  9.  Oktober  17,  als  die  Italiener  elfmal 
nacheinander  versuchten  —  —  oder  auch  jetzt,  an  der 
Detnarkationslinie,  wenn  sie  mich  zum  Beispiel,  als  sie  mich 

freigelassen  batten,  nach  zehn  Schritten  von  hinten 

reiner  Zufall.  Jetzt  wird  der  Winter  bald  zu  Ende  sein, 
—  und  Frieden  ist  auch.  Im  Herbst  werde  ich  mich  an  der 
Technischen  Hochschule  immatrikulieren  lassen,  um  Be- 
freiung  vom  Kolleggeld  muB  ich  einkommen.  Wohnen 
kann  ich  hier  bei  Onkcl  Rudi .  . .  vorher,  vielleicht  im 
Sommer,  gehe  ich  doch  mal  nach  Hause,  nach  D£va. 


ElNES  Abends  kommt  Onkel  Rudi  mit  stiirmischer 
Freudc  nach  Hause.  ,,Na,  Junge,  ich  glaube,  ich  hab  dcin 
Gliick  gemacht!  Ich  hab  einen  altcn  Freund,  Maxi  Huber, 
der  1st  Biirochef  bci  der  Metallzentrale;  heute  treffe  ich  ihn 
im  Cafe  Zentral,  auf  einmal  fallts  mir  ein,  und  ich  sage  zu 
ihm :  du,  hor  mal  zu,  Maxi,  ich  hab  einen  Neffen,  abgeriiste- 
ter  Offizier  ist  er,  hat  das  Gymnasium  absolviert,  cin  an- 

standiger,  braver  Junge,  sag  ich " 

Am  i.  Marz  bekam  er  gegen  einen  hellblauen  Schein  an 
der  Hauptkasse  achtzig  Kronen  ausgezahlt  und  wurde  in 
der  Metallzentrale  an  einen  Schreibtisch  gesetzt.  Diese  vier 
Zwanzigkronenscheine,  die  ihm  in  die  Hand  gedriickt 
wurden,  riefen  eine  sonderbare  Veranderung  in  ihm  hervor. 
Dieses  Geld  habe  ich  richtig  verdient,  beziehungsweise 
werde  ich  verdienen,  ging  es  ihm  durch  den  Kopf,  und  er 
fiihlte,  daB  dies  eine  andere  Art  Geld  sei  als  jenes,  das  friiher 
jeden  Ersten  im  Monat  aus  Deva  ankam  und  fur  das  er 
eine  Aufgabe  zu  leisten  hatte,  namlich  zu  lernen.  Das  ist 
eine  andere  Art  Geld  als  die  paar  Kronen,  die  er  als  Gym- 
nasiast  der  hoheren  Klassen  bekam  und  fur  die  er  einen 
Pennaler  aus  der  Dritten  mit  Arithmetik  und  Geometric 
qualen  muBte.  Anders  als  das  Geld,  das  man  Lohnung 
nannte  und  fur  das  man  Lause  bekommen,  im  Graben  liegen 
und  dorthin  schieBen  muBte,  wo  man  wuBte,  da  sind  lebende 
Menschen,  und  fur  das  man  vor  allem  auch  krepieren  konnte. 
Das  ist  kein  Geld  wie  die  in  Innsbruck  beim  Mauscheln 
gewonnenen  dreihundert  Kronen  oder  die  vicrzig,  die  der 
Juwelier  auf  dem  Ring  ihm  fur  seine  Uhr  gab,  oder  die 
fiinfzig  Kronen,  die  Lechnerschen.  Fur  dieses  Geld  hier 
muB  man  regelrecht  anstandig  arbeiten,  ein  Handwcrk 
erlernen,  einen  Beruf  ausiiben .  . .  ,,Ehrliche,  produktive 
Arbeit  erwarte  ich  von  Ihnen,  junger  Freund",  hatte  Herr 
Huber  gesagt,  als  er  ihm  seinen  Schreibtisch  anwies,  und 
am  ersten  Abend,  als  er  vom  Biiio  nach  Hause  ging  in  die 

69 


Pozsonyer  StraBc,  sagte  cr  zu  Onkcl  Rudi:  ,,Ich  glaube, 
hicr  werdc  ich  Gclcgcnhcit  habcn  zn  chrlichcr,  produktiver 
Arbeit . . ." 

Im  Biiro  wurdc  cr  mit  den  Kollegen  bekannt,  und  still 
und  langsam  fing  cr  an,  die  Sprache  der  Zeit  und  der 
Mcnschen  zu  vcrstehen  und  zu  sprechen.  Den  ganzcn  Tag 
saB  er  vor  bunten  Zetteln,  Rubrikbogen,  Zahlcnkolonncn, 
und  wenn  er  auch  das  Gefuhl  hatte,  irgendwo  in  der  Mitte 
der  Dinge  zu  sein,  von  wo  aus  man  weder  den  Anfang  noch 
den  SchluB  sehen  konnte:  so  fiihlte  er  auch,  daB  diese  vielen 
Zahlen,  die  vielen  Rubriken  nur  einen  einzigen  Sinn 
hatten,  —  eine  Zahl,  die  irgendeiner  irgendwo  in  die 
Rubrik  ,,Reingewinn"  eintragt.  Und  nach  wenigen  Tagen 
formulierte  er,  driickte  er  das  Gefuhl,  das  der  erste  regel- 
rechte  Erwerb  in  ihm  ausgelost  hatte,  in  Worten  aus :  viel 
Geld  muB  man  verdienen,  man  muB  reich  sein  und  gut 
leben.  Naturlich  ist  es  die  Frage,  ob . . .  es  an  diesem 
Schreibtisch  moglich  sein  wird.  Er  sah  sich  seine  Kollegen 
an.  Der  eine  trug  einen  dunkelgrauen  Liisterrock  mit 
zerrissenen  Ellenbogen,  das  war  Herr  Demjen,  fiinfzig, 
funfundfunfzig  Jahre  mochte  er  alt  sein;  und  da  ist  der 
hinkende,  bleiche  Herr  Hegyi  in  seinem  braunen  Arbeits- 
rock  mit  viel  zu  kurzen  Armeln,  auch  der  ist  nicht  mehr 
jung;  Herrn  Zoller  fallt  das  ergrauende  Haar  wellig  in  die 
machtige  Stirn,  und  gewohnlich  riecht  er  nach  Bier;  na, 
und  Herr  Huber,  sein  Protektor,  der  Biirochef,  der  hat  am 
Schuh  an  der  Seite  einen  aufgesteppten  groBen  Fleck.  Diese 
Herren . . .  denen  ist  es  nicht  gelungen,  von  der  ehrlichen, 
produktiven  Arbeit  reich  zu  werden?  Oder  ist  das  vielleicht 
keine  ehrliche,  keine  produktive 

Am  21.  Marz  sprangen  rote  Fahnen  in  die  Fenster  und 
an  die  Stangen,  Menschen  und  Dinge  veranderten  ihr 
Gesicht  innerhalb  von  Stunden,  Schauer  fegte  durch  die 
Stadt,  und  es  lag  in  der  Luft:  jetzt  folge  eine  ganz  neue 
Lektion.  —  Im  Biiro  sagte  einer:  ,,Kadar  ist  schon  am 
Ersten  mit  einem  Auftrag  hergekommen."  Er  schwieg,  und 


so  hatte  niemand  Grund,  daran  zu  zweifeln.  Eines  Tagcs 
wurde  er  dann  cinstimmig  zum  politischen  Vertraucnsmann 
dcr  Abtcilung  gewahlt,  —  cr  hatte  keinc  Ahnung,  was  das 
eigcntlich  war,  und  wehrte  sich  nicht;  die  Wahl  wurde 
jedoch  von  einer  Zentrale  oder  Behorde  nicht  akzeptiert, 
wcil  ihn  dort  niemand  kannte  und  weil  man  nicht  wuBte, 
ob  er  ein  zuverlassiger  Kommunist  sci  oder  nicht.  Auch 
damit  fand  er  sich  ab,  voll  Freude  sogar,  denn  wahrend  der 
zwei  Tage  seiner  neuen  Wiirde  furchtete  er  standig,  jemand 
konne  ihn  um  etwas  bitten  oder  etwas  fragen,  worauf  er 
keine  Antwort  wiifke.  Er  ging  ins  Biiro  wie  die  iibrigen, 
arbeitete  nicht,  weil  er  nichts  zu  arbeiten  hatte;  der  neue 
politische  Vertrauensmann,  ein  Externer  und  der  neue 
Abteilungschef,  der  Herrn  Huber  abgelost  hatte,  hielten 
Versammlungen  und  Reden;  fur  die  Arbeit  erwarteten  sic 
Weisungen,  die  jedoch  nicht  kamen.  Er  merkte  auf  die 
Reden  und  Gesprache,  die  wie  eine  Fruhjahrsuberschwem- 
mung  sich  in  die  Biiros  ergossen.  Er  horte  und  nahm  Dinge 
zur  Kenntnis,  von  denen  er  keinen  Begriif  hatte  und  die  sich 
anhorten  wie  Ausdriicke  einer  bekannt  klingenden  fremden 
Sprache.  Ideologic,  proletarische  Gesinnung,  Klassen- 
herrschaft,  orthodoxer  Marxismus,  Republik  der  Sowjets, 
Genosse  Lenin,  Genosse  Bucharin,  Spartakismus,  aus- 
beutendes  Kapital,  produktive  Arbeit,  soziale  Produktion, 
geistiges  Produkt,  Revolutionsgericht,  idealer  kommunisti- 
scher  Staat,  Gegenrevolution,  kapitalistischer  Patriotismus, 
Internationalismus  der  Gegenrevolution,  selbstbewuBter 
Proletarier,  Verrater  der  Diktatur . . .  aber  diese  Worte 
nahmen  keine  Gestalt  in  seinem  Gehirn  an,  und  am  SchluB 
der  einen  oder  andern  Rede  hatte  er  das  Gefiihl,  wenn  ich 
jetzt  diesen  Genossen  Blau  oder  Genossen  Lehotay  bate, 
mir  extra,  ganz  ohne  Verantwortung  zu  erklaren,  was  er 
mit  sozialer  Produktion  meint,  dann  kame  Genosse  Blau 
oder  Genosse  Lehotay  genau  so  in  Verlegenheit  wie, 
nehmen  wir  an,  sic  wiirden  iiber  die  Tangenten  der  Hy- 
perbel  befragt  werden . . .  Er  bemiihte  sich,  an  nichts 

71 


teilzunehmen,  cr  war  viclleicht  der  einzige,  der  sich  auch  von 
den  Disputcn  im  Biiro  fernhiclt  und  der  in  keiner  Frage 
einen  Standpunkt  hatte.  Worte,  Worte,  weit  entfernt  von 
der  Wirklichkeit  und  von  jenem  Tcil  der  Wirklichkeit,  der 
Reichtum  heifit  und  gutes  Lcben.  Was  ihm  an  freicr  Zcit 
zur  Verfiigung  stand,  verbrachte  er  mit  Onkcl  und  Tante; 
erzahlte  vom  Biiro,  von  den  Leuten,  vom  leeren  Rede- 
schwall  und  versuchte  durch  Scherze  die  vcrzweifelten 
Alten  in  bessere  Laune  zu  versetzen.  —  Im  April  bekam 
er  schon  zweihundcrt  Kronen,  im  Mai  funfhundert,  aber  in 
weiBem  Geld,  wofiir  man  nichts  kaufen  konnte.  Da  wuBte 
er  bestimmt,  die  Sache  wiirde  nicht  so  bleiben,  konnte  nicht 
so  bleiben;  denn  —  so  hatte  das  Lcben  iiberhaupt  keinen 
Sinn.  Ich  werde  einmal  einen  Arbciter  fragcn,  ob  er  es  jetzt 
besser  hat,  dachte  er,  abcr  natiirlich  tat  er  es  nicht.  Ich  kann 
jetzt  nur  dasselbe  fortsetzen,  was  ich  im  Winter  gemacht 
habe,  als  ich  in  der  Pozsonyer  StraBe  am  Fenster  saB. 
Warten  muB  ich  ...  Denken  ist  uberfliissig. 

Ende  Mai  —  es  war  ein  strahlender  Friihsommcrtag  — 
kommt  er  eines  Nachmittags  nach  Hause :  Onkel  Rudl  sitzt 
mit  diisterem  Gesicht  am  Tisch,  Tante  Anna  hat  verweinte 
Augen.  Schweigen.  ,,Ist  ein  Ungliick  passiert?"  —  ,,Toni, 
ach  Kind,  etwas  Schreckliches."  —  ,,Was  denn,  um  Gottes 
willen?!"  —  >,Ach,  Toni,  heute  mittag  war  die  Mariska 
Gazda  aus  Deva  hier,  ihr  Mann  ist  ein  italienischcr  Offizier, 
sie  sind  in  einer  amtlichen  Angelegenheit  hier  in  Budapest, 
etwas  bei  der  Mission  ..."  —  ,,Mariska  Gazda  aus  Deva?" 
sagt  er  und  f  lihlt  in  der  Kehle  cine  kalte,  beklemmende  Angst, 
,,und  was  ist  denn  Schreckliches  — ?"  ,,Vater  und  Mutter  — " 
,,Sic  sind  gestorben",  sagt  er;  er  fragt  es  nicht,  er  stellt  es 
hin.  ,,Noch  im  November,  an  der  Grippe,  zuerst  deine 
Mutter,  zwei  Tage  darauf  dein  armer  Vater . . ."  Tante 
Anna  lehnt  sich  an  den  Fensterrahmen  und  weint.  Onkel 
Rudi  biegt  den  Kopf  auf  die  Seite  und  kaut  an  den  Finger- 
nageln.  Kddar  steht  in  der  Mitte  des  Zimmers.  Vater  und 
Mutter  sind  tot  —  plotzlich  dringt  ihm  diinnes  Kinder- 


weinen  durch  die  Kehle,  mit  groBer  Anstrengung  ver- 
schluckt  cr  cs  und  preBt  die  Lippen  zusammen.  Die  Augen 
brennen  ihm  rot  und  trocken.  Er  steht  da  im  Zimmer, 
dann  dreht  er  sich  um  und  geht  hinaus.  Im  Flur  setzt  er  sich 
auf  die  Bank  unter  dem  Spiegel  und  stiitzt  den  Kopf  in 
die  Hand.  Jetzt  bricht  sich  das  diinne  Kinderweinen  Bahn, 
die  Tranen  flieBen,  er  schluchzt.  Dann  kommen  die  Alten 
aus  dem  Zimmer,  trosten  ihn  weinend,  besanftigen  ihn. 
Sic  setzen  sich  wieder  an  den  EBzimmertisch  und  schweigen. 
Tante  Anna  stohnt  ein  paarmal  auf.  Onkel  Rudi  blinzelt  ihm 
verstohlen  ins  Gesicht.  Er  weint  nicht  mehr,  mit  zusammen- 
gepreBtem  Mund  sitzt  er  am  Tisch.  Spater  beginnt  er  ein- 
mal:  ,,wie  war  es  derm?"  und  erst  da  bemerkt  er,  daB 
er  allein  im  Zimmer  ist.  Es  wird  Abend,  Boske  beginnt, 
mit  dem  Bett  zu  hantieren.  Sowie  sie  damit  fertig  ist,  legt 
er  sich  hin.  Wirre  Bilder  scheuchen  ihn  aus  dem  Schlaf  auf: 
dauernd  sieht  er  Vater  und  Mutter  vor  sich,  sie  sprechen 
auch,  —  er  hort  Stimmen  und  sieht  den  kleinen  Papierladen, 
der  Vater  rechnet  hinter  der  Theke  und  schreibt  etwas  in 
ein  Buch,  und  die  kleine  schwarze  Miitze  hat  er  auf  dem 
Kopf.  Mit  der  Mutter  geht  er  Hand  in  Hand  auf  den  Markt, 
sie  kaufen  Fisch,  und  der  Fisch  springt  auf  dem  Brett,  wie 
der  Verkaufer  ihn  aus  dem  Behalter  hinwirft.  Er  sitzt  auf 
einem  kleinen  Stuhl  im  Wohnzimmer  unter  dem  Fenster 
und  hat  ein  groBes  Marmeladenbrot  in  der  Hand,  —  Vater 
und  Mutter  schreien  sich  schrecklich  an,  aber  er  weiB  nicht 
mehr,  worum  es  sich  handelt.  Es  ist  Sonntagmorgen,  er  geht 
mit  der  Mutter  in  die  Kirche,  und  den  Bettlern  gibt  er 
Kreuzer.  Einmal,  —  er  war  noch  ein  ganz  kleiner  Junge, 
—  nahm  der  Vater  die  Mutter  um  die  Taille,  das  war  noch 
im  alten  Haus,  im  Garten,  zog  sie  an  sich  und  kuBte  sie  ins 
Gesicht.  HeiBer  Schreck  und  Arger  flammte  in  ihm  auf, 
und  mit  einer  kleinen  Kinderharke,  die  er  in  der  Hand 
hatte,  warf  er  nach  der  griinschillernden  Glaskugel  iiber 
einem  Rosenstrauch,  die  Kugel  zersprang  mit  lautem  Knall  in 
alle  Himmelsrichtungen,  Vater  und  Mutter  sahen  ihn 

73 


crschrockcn  und  ratios  an.  Die  Mutter  ist  schr  krank,  auch 
das  ist  lange  her,  ein  kleines  Schwesterchcn  wurde  gcborcn, 
aber  cs  starb  nach  ein  paar  Stunden,  lange  Zeit  darf  er  nur 
bis  an  die  Schlafzimmertiire  gehen  und  von  dort  aus  der 
Mutter  winkcn,  die  mit  einer  weiBen  Haube  und  wciBem 
Gesicht  im  Bett  liegt,  von  ihrem  hellblonden  Haar  fallt  eine 
Locke  in  die  Stirn.  Ferko  Tiszta,  der  Sohn  vom  Backer 
Tiszta,  der  in  der  Elementarschule  neben  ihm  in  der  Bank 
saB,  erzahlt  im  Wohnzimmer  unter  dem  Fenster  verstohlen 
etwas  sehr  Komisches.  Wenn  ein  Mann  und  eine  Frau  — 
aber  er  versteht  die  Geschichte  nicht  und  kann  es  kaum 
erwarten,  daB  Vater  nach  Hause  kommt.  ,,Vati,  der  Ferko 
Tiszta  hat  gesagt,  wenn  ein  Mann  und  eine  Frau  — " 
,,Unsinn!  sowas  gibts  nicht!  ich  werds  dem  Bengel  bei- 
bringen !  der  tut  mir  den  FuB  nicht  mehr  iiber  die  Schwelle !" 
Dann  kurze  Sommer,  die  er  zu  Hause  verbrachte,  —  und 
als  er  schon  anfing  zu  wissen,  daB  es  sowas  doch  gibt  —  die 
Juliska,  die  Tochter  vom  Herrn  Pfarrer  Szabo,  deren  Hand 
er  einmal  ergriff,  —  und  das  muBte  er  der  Mutter  erzahlen 
und  das  auch,  daB  er  im  Kirschgarten  der  Juliska  den  Hals  — 
und  die  Mutter  sagte:  das  macht  nichts,  mein  Kind,  nur  im 
Winter,  wenn  du  zu  lernen  hast,  dann  denk  nicht  an 
sowas  . . .  Und  die  letzten  paar  Tage  in  Deva  1916;  der 
Vater,  der  duster  im  kleinen  Laden  auf  und  ab  ging  und, 
wenn  er  sprach,  gewohnlich  bloB  sagte:  ,,das  Vaterland 
verlangt  von  jedem  Opfer,  und  jeder  muB  seine  Pflicht 
tun!"  und  die  Mutter  mit  ihrer  tausendfachen  zitternden 
Fiirsorge  und  mit  den  Topfenknodeln,  die  sie  ihm  am 
letzten  Tag  zum  Mittagessen  kochte,  und  mit  dem  Gold- 
stuck  in  dem  kleinen  Leinensackchen . . .  Tausende  von 
Bildern  machen  ihn  schwindeln  und  ermuden  ihn;  es  wird 
Morgen,  bis  er  endlich  in  Schlaf  versinkt,  und  da  traumt  er, 
er  rcist  nach  Deva,  es  ist  dunkel,  der  Zug  uberfullt,  kiihle, 
bedruckende  Angst  fiihlt  er  und  ist  hungrig.  Zwei  dumpfe 
Anpralle,  es  wird  durch  das  Kupecfenster  geschosscn,  und 
Vater  und  Mutter,  die  auf  der  Bank  gegeniiber  sitzcn, 

74 


senken  still  die  Kopfc.  Da  kommt  der  alte  Duka,  der 
Ddvaer  Stationsvorstehcr,  cr  bringt  cinen  groBcn  Sack. 
Mein  Name  1st  Spitzer,  sagt  er,  jetzt  tun  wir  die  Alten  hier 
hinein  und  reichcn  sie  zum  Fenster  hinaus.  Nein,  das  geb 
ich  nicht  zu!  Die  Eltcrn  miissen  in  Deva  —  Aber  es  muB 
sein,  der  Zug  darf  keine  Lelchen  transportieren!  Nein,  ich 
laB  das  nicht  zul!  Aber  es  ist  Rcgimentsbefehl  gekommen, 
daB  —  Und  ich  gebs  nicht  zu!!!  —  Verschwitzt  und  mit 
fliegendem  Puls  wacht  er  auf.  Wie  alt  Vaters  Gesicht  war, 
so  habe  ich  ihn  noch  nie  gesehen,  so  gealtert  —  Er  ging 
nicht  ins  Biiro ;  mit  verschleierten  Augen  und  eingefallenem 
Gesicht  saB  er  im  EBzimmer.  Auf  der  StraBe  scheint  die 
Sonne,  ein  groBer  Trupp  Schulkinder  zieht  singend  die 
Pozsonyer  StraBe  entlang. 

Gegen  Mittag  kam  Mariska  Gazda  wieder.  Sie  setzte  sich 
zu  ihm  ins  EBzimmer,  eine  Weile  saBen  auch  die  Alten  mit 
um  den  Tisch,  dann  gingen  sie  leise  ins  Schlafzimmer. 
Mariska  erzahlte,  was  im  Herbst  geschehen  war.  ,,In  Deva 
wiitete  die  Grippe  schrecklich,  schon  von  Anfang  August 
an,  aber  den  Eltern  fehlte  Gott  sei  Dank  gar  nichts,  nur 
klagten  sie  immer,  daB  vom  Jungen  keine  Nachricht  kame. 
Schlimme  Geschichten  horte  man  von  iiberall,  es  waren 
auch  viele  entlaufene  Soldaten  in  der  Stadt,  die  erzahlten, 
daB  man  den  Sohn  vom  Backer  Tiszta,  vielleicht  erinnerst 
du  dich  noch  an  ihn,  den  Ferko,  wahrend  der  Flucht  er- 
griffen  und  erschossen  habe.  Dabei  war  der  Arme  nicht 
ganz  richtig  im  Kopf.  Dann  kam  die  rumiinische  Invasion, 
o  Gott,  wie  entsetzlich  war  es,  diese  Reiter  zu  sehen,  als  sie 
vom  Weinberg  herkamen,  man  durfte  nicht  einmal  auf  die 
StraBe  gehen,  mehrere  Tage  muBte  man  zu  Hause  bleiben. 
Dann  ging  eine  Patrouille  zu  euch,  um  die  Landkarten  zu 
holen,  aber  dein  alter  Herr  wollte  sie  nicht  berausgeben, 
er  hatte  keine,  sagte  er,  darauf  haben  sie  den  ganzen  Laden 
durchwiihlt,  natiirlich  fanden  sie  allcrlci  Karten,  Schul- 
atlanten  und  Ahnlichcs.  Deinen  Vater  haben  sie  dann  ab- 
gefiihrt,  auch  vcrprugelt  haben  sie  ihn  und  fiinf  Tage  lang 

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in  der  Kaserne  gehaltcn,  deine  Mutter,  die  Arme,  stand 
fiinf  Tage  von  friih  morgens  bis  abends  vor  der  Kaserne, 
rein  haben  sie  sic  nicht  gelassen,  doch  wegbringen  lieB  sie 
sich  auch  nicht,  und  wenn  sie  die  Offiziere  fortgejagt 
hatten,  immer  ging  sie  wieder  zuriick.  SchlieBlich  haben  sie 
deinen  Vater  rausgelassen;  denn  er  hatte  schon  hohes 
Fieber,  in  der  Kaserne  hat  er  sich  erkaltet.  Tag  und  Nacht 
war  ich  bei  euch  mit  dem  Doktor  Moskovitz,  am  dritten 
Tag  starb  dann  dein  Vater.  Als  dann  der  Bezirksarzt  kam, 
auch  mit  einem  rumanischen  Offizier,  lieB  er  deine  Mutter 
sofort  ins  Barmherzigenspital  bringen,  aber  du  weiBt,  nach 
zwei  Tagen  — "  Mariska  weinte  und  ergriff  seine  Hand. 
,,Toni,  weiBt  du,  daB  kaum  noch  was  im  Laden  war,  und  die 
Mobel ..."  —  ,,Ich  weiB",  sagte  er,  ,,wir  waren  arm."  Mit 
trockenen  Augen  sah  er  die  weinende  Frau  an,  dann  starrte 
er  zum  Fenster  hinaus.  Die  Sonne  scheint,  zwei  schwere 
Lastwagen  quietschen  holpernd  iiber  die  StraBe.  Mariska 
tritt  neben  ihn.  ,,Ach,  Toni . .  .  Tonichen,  die  Welt  ist  so 
entsetzlich!"  .  .  .  Entsetzlich,  entsetzlich,  schwirrte  es  ihm 
durch  den  Kopf,  meinen  Vater  haben  die  Rumanen  ver- 
priigelt,  mich  haben  sie  mit  heiler  Haut  laufen  lassen  . .  . 
Er  betrachtete  Mariska,  sie  trug  ein  elegantes,  hellgraues 
Kleid  und  ganz  hohe  braune  Schniirstiefel.  ,,Na,  und  wie 
gehts  dir,  Maris?"  fragte  er,  ,,ich  hore,  du  hast  einen 
Italiener  geheiratet,  warum  ist  dein  Mann  nicht  mitge- 
kommen?"  Mariska  blickte  auf  die  StraBe.  ,,Scopelli  hat 
sehr  viel  bei  der  Mission  zu  tun,  und  morgen  reisen  wir 
schon  weiter  nach  Wien."  Plotzlich  dreht  sie  sich  um:  ,,du, 
Toni,"  und  sie  dampft  ihre  Stimme  bis  zum  Fliistern,  ,,ihnen 
hab  ichs  nicht  gesagt,  aber  dir  sag  ichs  ..."  —  ,,Na,  was 
denn?"  —  ,,Du,  Toni,  ich  bin  nicht  Giuglios  Frau,  ich  bin 
bloB . . ."  errdtend  sucht  sie  nach  einem  Wort,  ,,ich  lebe 
bloB  mit  ihm  zusammen,  vorlaufig.  WeiBt  du",  hasten  ihre 
Worte  leisc,  ,,uns  haben  sie  die  Apotheke  weggenommcn, 
weil  alle  Apotheken  unter  behordliche  Kontrolle  ge- 
kommen  sind,  und  der  Simiu,  der  Fiihrer  der  Rumanen, 

76 


hat  gesagt,  wir  waren  nicht  zuverlassig,  und  da  sind  wir 
nach  Kolozsvdr  gegangen . . .  nirgends  gabs  ein  Obdach, 
im  Hotel  New  York  wohnten  rumanische  Offiziere,  —  der 
AnspruchsprozeB  gegen  das  Aerar  war  eingeleitet,  ein 
rumanischer  Rechtsanwalt  fuhrte  ihn,  aber  noch  vor  dem 
Urteil,  —  auf  das  Urteil  hatte  man  ja  ewig  warten  miissen!  — 
also,  man  muBte  sich  einigen  und  mit  einem  geringen  Scha- 
denersatz  zufrieden  sein.  Nun  ging  unser  Geld  zur  Neige . . . 
von  Woche  zu  Woche  muBte  man  sich  auf  der  Sigurantia 
melden,  ein  furchterlich  gehetztes  Leben,  verriickt  muBte 
man  dabei  werdenl  Dann  kam  eine  Internationale  Militar- 
Kommission  nach  Kolozsvar.  Ich  kann  gut  Rumanisch, 
Deutsch  und  Franzosisch.  Hauptmann  Scopelli,  —  was  fur 
ein  hiibscher  und  guter  Mensch!  —  arbeiten,  mein  Gott, 
warum  sollte  das  eine  Schande  sein?  —  der  Hauptmann 
verschaffte  mir  eine  Stellung  als  Stenotypistin  bei  der 
Kommission.  Da  haben  wir  uns  ineinander  verliebt,  aber, 
glaub  mir,  auch  die  Eltern  haben  den  Giuglio  so  gern,  als 
ware  er  ihr  eigener  Sohn  . .  .  eine  glanzende  Karriere  steht 
ihm  bevor  .  .  .  Jetzt  nimmt  er  mich  mit  nach  Wien,  dorthin 
ist  er  eingeteilt  worden,  aber  sowie  er  Urlaub  bekommt, 
fahren  wir  nach  Livorno  zu  seinen  Eltern  und  heiraten."  — 
,,Und  wie  alt  ist  er?"  —  ,,DreiBig  ...  ein  sehr  lieber, 
anstandiger  und  vornehmer  Mann,  seine  Familie  hat  eine 
grofie  Farbenfabrik  in  Livorno."  —  ,,Und  wie  alt  bist  du?" 
—  ,,Ich?  das  weiBt  du  doch,  vierundzwanzig."  —  ,,Und 
ist  das  sicher,  daB  er  dich  heiratet?"  —  ,,Aber  natiirlich, 
warum  sollte  das  nicht  sicher  sein?"  —  aber  an  ihrer 
Stimme  spurt  man,  daB  diese  haBliche,  miBtrauische  Frage 
ihr  weh  tut.  Und  plotzlich  lenkt  sie  das  Gesprach  ab:  ,,und 
du,  Toni,  wie  gehts  dir  denn?  Tante  Anna  erzahlt,  du  hast 
eine  gute  Stellung."  —  ,,Ich?"  winkt  er  ab,  ,,ach,  das  ist  ja 
nichts.  In  der  Sozialisierungs-Abteiiung  der  Metall- 
zentrale  . . .  nichts  mache  ich." 

Dann  kamen  die  Alten  wieder  herein.  Mariska  wandte 
sich  an  sie.  ,,Lieber  Onkel  Rudi  und  Tante  Anna,  mein 

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Mann  ISBt  fragen,  ob  er  euch  nicht  in  irgend  etwas  helfen 
konnte.  Vielleicht  irgendeinen  Ausweis  oder . . .  etwas 
Geld?"  —  ,,Liebes  Kind",  sagte  Xante  Anna,  ,,was  konnten 
wir  brauchen?  Wir  plagen  uns  und  placken  uns,  alle 
Menschen  tun  das.  Und  was  wir  gebrauchen  konnten,  cine 
bessere  Welt,  das  kann  uns  dein  Mann  doch  nicht  geben, 
das  kann  bloB  Gott."  Da  ging  er  plotzlich  vom  Fenster  weg 
und  trat  zu  Mariska  bin.  ,,Du,  Mariska,  nehmt  mich  mit 
nach  Wien!"  —  Mariska  reiBt  die  Augen  erschrocken  auf. 
,,Tonichen,  ich  kanns  ja  Giuglio  sagen,  aber  ich  glaube 
kaum,  denn  die  Mission  ..."  —  ,,Gut,  gut",  unterbrach  er 
sie,  ,,ich  weiB,  es  geht  nicht,  ich  habs  nur  so  gesagt. 

Irgendwie  werde " 

Eine  Zeitlang  unterhielten  sie  sich  noch,  Mariska  jam- 
merte,  wie  schrecklich  die  verelendete  Stadt  aussehe,  dann 
ging  sie.  Am  nachsten  Morgen  kamen  zwei  Detektive,  die 
sich  danach  erkundigten,  was  sie  gestern  und  vorgestern 
mit  der  Dame  von  der  Mission  zu  tun  gehabt  hsitten.  Tante 
Anna  fing  zu  Tode  erschrocken  an  zu  weinen:  ,,das  war 
doch  bloB  eine  Verwandte  von  uns,  aus  Siebenbiirgen,  darf 
man  denn  das  auch  nicht  mehr?"  Die  Detektive  sprachen 
nicht  viel,  sahen  sich  bloB  in  der  Wohnung  um,  notierten 
etwas  und  gingen.  Tante  Anna  und  im  geheimen  auch 
Onkel  Rudi  waren  erst  dann  einigermaBen  beruhigt,  als 
eine  Woche  verging,  ohne  daB  die  Sache  eine  Fortsetzung 
gehabt  hatte.  Die  Tage  krochen  leer  iiber  die  Stadt.  Er 
fehlte  drei  Tage  im  Biiro,  aber  von  den  Eltern  traumte  er 
nicht  mehr.  Manchmal  verfolgte  ihn  noch  das  Schreckens- 
bild  von  der  Priigelstrafe  in  Deva,  dann  begann  langsam 
alles  zu  versinken.  Oberlautnant  Kauser  lieB  die  Soldaten 
priigcln,  aber  wie,  und  er  HeB  sie  anbinden,  auch  dann 
noch,  als  es  schon  verboten  war.  Der  Italiener  wird  die 
Mariska  heiraten,  warum  denn  nicht?  Mariska  ist  eine 
hiibsche  Frau,  und  einmal,  als  er  schon  in  der  siebenten 
Klasse  war,  hat  er  sie  gekiiBt,  —  im  Laboratorium  der 
Apotheke  war  das,  gegen  Ende  des  Sommers;  auf  dem 

78 


groBen  Tisch  standen  cine  Menge  ganz  gleiche  Blech- 
flaschen,  auf  jeder  war  ein  Etikett:  Lysol  Conf.  Nat. 
Mariska  stand  neben  dem  Tisch,  als  er  in  dem  Raum  mit 
dem  fremden,  ein  wenig  erstickenden,  aber  nicht  un- 
angenehmen  und  aufregenden  Apothekengeruch  plotzlich 
hinter  sie  trat  und  mit  der  einen  Hand  ganz  leicht  unter  ihre 
Achsel  griff  und  ihre  Brust  beriihrte,  und  als  Mariska  mit 
einem  Ruck  den  Kopf  nach  hinten  warf,  kiiBte  er  sie  auf 
den  Mund.  Mariska  ist  eine  schone  Frau,  meine  Kusine 
zweiten  Grades.  Der  Italiener  wird  sie  sicher  heiraten. 

Dann  ging  er  wieder  ins  Euro.  Die  Stunden  flossen 
langsam,  in  qualender  Langeweile  dahin,  wie  ein  lauwarmer, 
oliger  Strom.  Hie  und  da  explodierte  ein  aufgeregter,  heiBer 
Streit,  aber  diese  Streite  hatten  keinen  Sinn,  gewohnlich 
nicht  einmal  Inhalt;  meistens  entstanden  sie  um  bestimmte 
Worte,  die  man  dauernd  horen  konnte,  und  vergingen 
wieder.  Weltrevolution  und  Gegenrevolution,  Sozialisie- 
rung  und  neue  Produktion,  —  derartige  Worte  prasselten 
und  erstarben  dann  schlafrig  im  luftleeren  Raum  der 
Interesselosigkeit.  Er  beteiligte  sich  an  den  Disputen 
nicht,  sie  interessierten  ihn  nicht,  er  fuhlte  ihre  Sterilitat. 
Wird  Lunatscharskis  Kulturpropaganda  gelingen?  wird 
sich  die  russische  Religiositat  in  kommunistische  Aktivitat 
umwandeln  lassen?  war  dieser  oder  jener  ungarische  Volks- 
kommissar  wirklich  in  Moskau,  oder  schreibt  das  bloB  die 
rote  Zeitung?  —  was  bringen  denn  diese  Dinge  vorwarts? 
Als  er  einmal  gahnte  und  gerade  jemand  sagte:  ,,die  welter- 
losende  Kraft  des  Proletariats,"  machte  ein  anderer  sofort 
Bemerkungen  iiber  die  im  Dunkeln  Schleichenden,  die 
Saboteure,  die  Spione  der  Gegenrevolution  und  die 
kranken  Oberbleibsel  der  alten  verfaulten  Welt,  die  allein 
der  Grund  seien,  weswegen  das  System  hie  und  da  noch 
mit  Schwierigkeiten  zu  kampfen  habe . . .  Er  sah  den 
Sprechenden  an,  —  es  war  Dulko,  von  dem  jeder  wuBte, 
daB  er  zwei  schone,  einstockige  Hauser  besitzt,  beziehungs- 
weise  vor  der  Kommunisierung  besessen  hatte,  am  Ende 

79 


dcr  Fehdrvdrer  Strafic.  Na,  durftc  man  da  ein  Wort  ver- 
lieren? 

Eines  Tages  verbreitete  sich  die  Nachricht,  die  Gegen- 
revolution  sei  ausgebrochen,  Monitorc  beschossen  das 
Sowjethaus,  und  die  Volkskommissare  fliichteten.  Im 
Handumdrehen  war  das  Hiiro  leer,  alles  rannte  nach  Hause. 
Tatsachlich,  irgend  etwas  muB  los  sein:  die  Elektrischen 
verkehren  nicht,  man  sieht  nur  vereinzelte  stehen- 
gebliebene  Wagen.  Auf  den  StraBen  kaum  ein  paar  er- 
schrocken  eilende  Menschen;  unter  Sirenengeheul  rasen 
die  Lastwagen  der  Terroristen.  Er  ging  langsam  iiber  die 
leere  StraBe  unter  dem  strahlenden  Nachmittagshimmel. 
Mein  Gott,  diese  ganze  Geschichte  ist  ja  keinen  Kreuzer 
svert.  Nach  Hause  gehen  zu  den  Alten,  im  EBzimmer 
am  Fenster  sitzen,  am  verhaBten  Schreibtisch  sitzen,  in 
der  Langeweile  sinnloser  Phrasen,  der  Ziellosigkeit  kopf- 
loser,  unniitzer  Arbeit,  der  Hoffnungslosigkeit  des  Seinen- 
Platz-nicht-finden-Konnens  —  und  warten,  daC  irgend  etwas 
werde.  Warten?  —  mit  diesen  Menschen  oder  mit  diesen 
Gedanken  oder  dieser  Generation  —  und  worauf  warten? 
was  soil  denn  werden?  Geld  an  Stelle  der  Papierfetzen? 
Fleisch  an  Stelle  der  Kohlriiben?  eine  richtige  Frau  an  Stelle 
der  trampligen  Magd?  was  soil  werden?  Es  ist  Gegen- 
revolution,  —  und  was  kommt  nachher?  werde  ich  spater 
Skulpturen  metBeln  konnen  oder  eine  Bank  leiten  oder 

Obstbaume  ziehen Zwanzig  Jahre  bin  ich  alt,  stotterte 

tief  innen  eine  Stimme  in  ihm,  ich  bin  niemand,  ich  bin 
nichts;  weder  ein  Mensch,  noch  ein  Ding,  noch  eine  Er- 
innerung,  noch  ein  Gedanke,  nichts,  an  das  ich  mich  klam- 
mern  konnte,  das  mir  etwas  bedeutete . . .  Auch  der  kleine 
Feledy  mochte  zwanzig  Jahre  alt  gewesen  sein,  und  der 
Richter,  der  einen  StirnschuB  bekommen  hat,  und  auch  der 
Tikay,  dem  der  SchuB  ins  Riickgrat  — 

Das  Haustor  in  der  Pozsonyer  StraBe  offnet  sich  ebenso 
schwer  wie  an  jenem  Novemberabend.  Im  Torbogen  steht 
ein  groBer  Haufen  Menschen.  Der  Hausmeister  sctzt  das 

80 


Gezanke  fort.  ,,Fremde  durfen  hier  nicht  bleiben,  gehen  Sic 
doch  endlich,  zum  SchluB  hab  ich  die  Scherereil"  Sie  vcr- 
suchten,  ihn  zu  besanftigen,  ein  gut  angezogener  Herr 
erklarte  aufgeregt,  er  wolle  nur  so  lange  bleibcn,  bis  wieder 
Menschen  auf  der  StraBe  zu  sehen  seien,  —  ,,was  denken  Sie, 
lieber  Freund,  ich  habe  auch  eine  Familie,  die  sich  zu  Hause 
um  mich  angstigt ..."  —  Er  stand  und  starrte  die  Gruppe 
hinten  von  der  Treppe  aus  an,  als  ihn  jemand  am  Arm 
ergriff.  ,,K£dar,  bist  dus?"  sagt  eine  leise  Stimme.  Im 
dunkeln  Treppenflur  reiBt  er  die  Augen  auf,  ein  bekanntes 
Gesicht  hat  er  vor  sich,  —  doch,  das  ist  der  Vavrinec,  der 
sein  Mitschiiler  war.  ,,Na,  wie  kommst  du  denn  hierher?"  — 
,,H6r  mal,  du  wohnst  hier  im  Haus?"  —  ,Ja."  —  »H6r 
mal,  bitte,  konnte  ich  fur  diese  Nacht  oder  fiir  ein,  zwei 
Tage  bei  dir  bleiben,  bis ..."  —  ,,Was  hast  du  denn?"  — 
,,Ach,  bitte,  lieber  oben . . ."  Die  Alten  sehen  den  An- 
kommling  erschrocken  an,  Kadar  beruhigt  sie,  cs  hat  nichts 
zu  bedeuten,  das  ist  der  Pista  Vavrinec  aus  meiner  Klasse.  — 
Sie  bleiben  im  EBzimmer  allein.  Vavrinec  sagt:  ,,Ich  hofFe, 
ich  kann  ofFen  reden,  —  ich  kann  namlich  nicht  gut  auf  die 
StraBe  gehen,  solange  die  Sache  nicht  entschieden  ist,  nach 
rechts  oder  nach  links  .  . .  ich  bin  namlich  Mitglied  der 
Berggruppe",  und  damit  schlagt  er  seine  Weste  auf:  am 
Futter  steckt  ein  Abzeichen,  ein  weiBes  Doppelkreuz  auf 
gninem  Schild,  dariiber  eine  Krone.  ,,So",  sagt  Kadar,  ,,du 
bist  Gegenrevolutionar?  und  warum  bist  du  jetzt  nicht  bei 
deiner  Gruppe  oder  wie  das  heiBt?"  —  ,,Ja,  weiBt  du,  ich 
war  gerade  unterwegs  zu  einer  geheimen  Zusammenkunft, 
entschuldige,  aber  ich  darf  nicht  sagen,  bei  wem,  da  sehe 
ich,  daB  eine  Sturmtruppe  den  Bruckenkopf  besetzt  halt 
und  vom  Parlament  her  ein  Panzcrauto  ankommt ..."  — 
,,Darauf  bist  du  in  einen  Hausflur  gerannt  und  beabsichtigst 
erst  dann  wieder  hervorzukriechen,  wcnn  ihr  gesiegt  habt, 
was?"  Der  andere  will  etwas  antworten,  wird  aber  plotzlich 
bis  iiber  die  Ohren  rot  und  dann  schneeweiB,  und  der  Atem 
stockt  ihm.  ,,Um  Gottes  willen  — "  in  Stiickc  zerbrochen 

6  KOrmendl,  Budapest  8 1 


fallen  die  Worte  iiber  geine  Lippen,  ,,du  bist  doch  nicht 
etwa  auch  Kommunist?"  Kddar  sieht  ihn  an  und  mdchte 
lachen.  ,,Kommunist?"  sagt  er  langsam,  ,,nein,  hab  keine 
Angst,  ich  bin  nicht  Kommunist.  Aber  wenn  du  glaubst, 
mir  sei  ein  Gegenrevolutionar  sehr  sympathisch,  der  in 
sicherer  Deckung  abwarten  will  —  sag  mal",  fallt  er  sich 
plotzlich  selbst  ins  Wort,  ,,warst  du  eigentlich  Soldat?" 
Vavrinec  ist  noch  immer  kreidebleich.  ,,Nein",  sagt  er  ganz 
leise,  ,,ich  war  untauglich,  erinnerst  du  dich  nicht?"  — 
,,Und  was  machst  du  seitdem?"  —  ,,Was  ich  mache?  Ich 
bin  das  zweite  Jahr  auf  der  Technischen  Hochschule, 
Maschinen-Ingenieur."  —  ,,So.  Na,  ich  will  mal  meinen 
Onkel  fragen,  ob  du  fur  diese  Nacht  hierbleiben  kannst", 
damit  geht  er  ins  andere  Zimmer.  Tante  Anna  fallen  die 
Detektive  ein,  und  dann  ist  der  noch  nicht  einmal  ein  Ver- 
wandter,  —  nein,  sie  will  ihn  nicht  beherbergen.  Onkel 
Rudi  hm-t  neutral,  aber  auch  er  wurde  es  lieber  sehen, 
wenn  dieser  junge  Mann  sich  davonmachen  wiirde,  man 
kann  ja  nicht  wissen.  Mit  kurzen  Worten  redet  er  den  Alten 
zu,  ,,man  muB  das  tun,  er  kann  sich  ja  kaum  auf  den  FuBen 
halten,  diese  Nacht  soil  er  wenigstens  hier  bleiben,  wir 
kdnnen  drei  Stiihle  zusammenschieben,  auf  denen  kann  er 
schlafen,  —  schlieBlich  ist  er  doch  mit  mir  in  eine  Klasse 
gegangenl"  —  ,,Aber  wenn  uns  daraus  Unannehmlich- 
keiten  entstehen,  Toni."  —  , , Daraus  konnen  keine  Un- 
annehmlichkeiten  entstehen",  sagt  er  und  verschweigt,  daB 
Vavrinec  ein  Abzeichen  innen  in  der  Weste  tragt.  Dann 
geht  er  ins  EBzimmer  zuriick,  ,,du  kannst  bleiben",  —  der 
andere  sagt  etwas  von  Dank,  dann  schweigen  sie.  Seitdem 
er  zum  Militar  eingeriickt  war,  hatten  sie  einander  nicht 
gesehen.  Vavrinec  hatte  hinten  in  der  mittleren  Bankreihe 
gesessen  und  konnte  schnarchen,  daB  es  klang,  als  k£me 
der  Ton  unmittelbar  von  vorne  vor  dem  Katheder.  Manch- 
mal  war  es  ganz  lustig,  hauptsachlich,  wenn  der  Jozsi  Berta 
seinetwegcn  in  der  Klemme  war,  mittlere  Reihe,  erste  Bank. 
Es  kommt  mir  vor,  als  ware  er  damals  magerer  gewesen. 


Langsam  kommen  die  Worte  in  FluB,  vorsichtige,  neutrale 
Worte.  Vavrinec  erzahlt,  daB  er  auf  der  Technischen  Hoch- 
schule  studiere,  das  heiBt,  studieren  wiirde,  wenn  das  unter 
diesen  roten  Halunken  iiberhaupt  moglich  ware.  Zum  Gliick 
sind  die  meisten  von  der  T.  H.  —  vielmehr  nur  sehr  wenige 
sind  wirklich  rot,  na,  und  alle  miissen  so  tun  —  Im  iibrigen 
wohnt  er  in  Altbuda  bei  seinen  Eltern;  sie  haben,  vielmehr 
momentan:  sie  batten  ein  kleines  Haus  mit  Garten,  ,,stell 
dir  vor,  Mama  halt  im  Zimmer  Hiihner;  mein  alter  Herr 
hat  sich  zum  Gliick  noch  sieb2ehn  pensionieren  lassen.  Es 
ware  ja  auch  alles  gut  und  schon,  wenn  diese  verlotterte 
Welt  —  na,  aber  bald  — "  Vavrinec  kommt  allmahlich  in 
Feuer.  Dann,  als  besinne  er  sich,  wird  er  plotzlich  ver- 
schlossen  und  fragt  lieber.  ,,Na,  und  was  ist  mit  dir?"  — 
,,Mit  mir?"  Er  denkt  nach.  Soil  ich  ihm  erzahlen,  daB  ich  im 
Feld  war,  nach  Albanien  gekommen  bin  im  Sommer  und 
dann  an  die  italienische  Front,  und  daB  ich  siebzehn  einen 
Granatsplitter  in  die  Schulter  bekommen  habe,  und  daB 
ich  in  Innsbruck  im  Lazarett  lag,  und  dann,  als  ich  wieder 
gesund  war,  nach  zwei  Wochen  wieder  in  den  Schiitzen- 
graben  geschickt  wurde,  und  daB  ich  verlaust  war  und 
Menschen  getotet  habe,  und  dann,  daB  ich  mit  den  iibrigen 
zuriickgekommen  bin,  und  daB  der  kleine  Feledy  im  Zug 
gestorben  ist,  und  dann,  daB  ich  in  Budapest  herum- 
gelungert  habe  und  versucht,  nach  Deva  zu  gelangen,  und 
dann,  daB  die  Mariska  Gazda  nach  Budapest  gekommen  ist 
und  die  Nachricht  gebracht  hat,  daB  —  Er  schweigt,  dann 
sagt  er:  ,,Nichts.  Ich  hocke  in  einem  Biiro."  —  ,,In  was  fiir 
einem  Biiro?"  interessiert  sich  Vavrinec.  Dann  erzahlt  er, 
wie  es  war,  daB  er  ein  paar  Tage  bevor  die  Diktatur  des  Pro- 
letariats ausgerufen  wurde,  die  Stellung  bekam.  Vavrinec 
rakelt  sich,  er  mochte  etwas  fragen.  ,,Ja,  und  . . .  wie  gehts 
dir  so  im  allgemeinen?"  —  ,,So  —  so",  sagt  er.  Er  denkt 
nach.  ,,WeiBt  du,  das  ist  keine  Arbeit,  das  ist  kein  Leben. 
Ich  warte,  daB  irgend  etwas  kommt."  Zum  erstenmal 
wahrend  des  ganzen  Gesprachs  atmet  Vavrinec  tief  und  frei 

6*  85 


auf.  ,,Aha,  du  wartest  auf  das  Ende."  —  ,,Sagen  wir,  auf 
das  Ende.  Auf  irgend  etwas  jedenfalls.  Darauf,  daB  ich 
lernen  kann  oder  verdienen  oder . . .  verstehst  du,  nein?" 
Vavrinec  lachelt  schlau.  ,,Du,  Toni",  sagt  er,  ,,ich  schwor 
dir,  ich  hab  einen  groBen  Schreck  bekommen,  ich  dachte 
schon,  ich  —  ich  war  iiberzeugt,  du  seist  auch  Kommunist, 
und  ich  Ochse  pack  dir  da  gleich  alles  aus  und  kann  dann 
von  hier  aus  schnurstracks  ins  Kittchen  marschieren!"  Er 
antwortet  nicht,  Vavrinec  wird  unruhig.  ,,Ich  hoffe,  du 
willst  mich  durch  dein  Schweigen  bloB  zum  besten  halten." 
—  ,,Sieh  mal",  sagt  er,  ,,ich  bin  weder  Kommunist  noch 
Gegenrevolutionar.  Ich . . .  hab  genug,  ich  war  mit 
drauBen,  aber  das  kannst  du  nicht  ganz  verstehen.  Na  und, 
warum  soil  ich  dir  nun  glauben,  daB  ausgerechnet  von  eurer 
Seite  das  kommen  wird,  worauf  ich  warte,  etwas,  was  dcr 
Miihe  wert  ist;  bisher  haben  doch  alle  nur  gelogen,  nam- 

lich . . .  was  sie  gesagt  und  versprochen  haben." 

Vavrinec  schweigt  eisern.  ,,Sieh  mal",  fahrt  er  fort,  ,,ich 
glaube,  jetzt  ist  die  ganze  Welt  krank,  wir  und  RuBland,  die 
ganze  Welt .  . .  den  Krieg  kann  man  nicht  so  leicht  —  oder 
aber,  alle  miiBten  sich  zusammentun,  die  Kommunisten  und 
die  WeiBen  und  . . .  also  alle."  Spottisches  Lacheln  sitzt  um 
Vavrinecs  Mund.  ,,Du  scheinst  mir  sehr  lau  zu  sein",  sagt  er. 
,,Aber  vor  alien  Dingen  hoffe  ich,  ich  kann  mich  auf  unsere 
alte  Freundschaft  verlassen  und  brauche  nicht  zu  fiirchten, 
daB—" 

Tante  Anna  kam  den  Tisch  decken.  Zum  Abendessen 
gab  es  Kurbisgemuse  und  dunkelgraue  GrieBnudeln.  Wah- 
rend  des  Essens  sprachen  sie  kaum,  dann  brachte  Tante 
Anna  Bettzeug,  und  sic  schoben  fiir  Vavrinec  ein  paar 
Stiihle  zusammen.  Fruhmorgcns  stand  Vavrinec  angezogen 
am  Fenster  und  sah  auf  die  StraBe.  ,,Ich  hab  gewartet,  bis 
du  aufwachst,  schon  seit  einer  Stunde  sehe  ich,  daB  die 
Elektrischen  wieder  fahren,  ich  werde  jetzt  gehen."  Kdddr 
zog  sich  auch  an,  bei  den  Alten  war  es  noch  still.  Das 
MSdchen  brachte  zwei  Tassen  Tee  und  zwei  kleine  Schnitten 

84 


Brot  herein.  ,,Ich  weiB  nicht,  soil  ich  warten,  bis  dein 
Onkel  und  deine  Tante  aufwachcn,  oder  wirst  du  so  gut 
sein,  ihnen  meincn  Dank  auszurichtcn?"  Er  beruhigte  ihn, 
cr  konne  gehen,  er  wiirde  ihn  schon  entschuldigcn.  Vavri- 
nec  trat  noch  einmal  ans  Fenster.  ,,Bitte  . . .  noch  was.  Ich 
sehc  namlich,  da  ziehen  noch  ziemlich  viele  rote  Patrouillen 
vorbei,  und  die  Wache  steht  auch  noch  an  der  Briicke;  es 
ist  nicht  ausgeschlossen,  daB  man  sich  auf  der  StraBe 
legitimieren  muB,  wenigstens  gewisse  Personen.  Und 
schlieBlich  kann  ich  ja  nicht  wissen,  ob  mich  nicht  jcmand 
erkennt,  oder . . .  man  kann  nicht  vorsichtig  genug  sein. 
Konnte  ich  das  nicht  hierlassen . . .  nur  ein  paar  Tage, 
dann  komm  ichs  mir  holen,  vielleicht  sogar  noch  heute", 
er  machte  die  Hand  auf,  das  griine  Abzcichen  lag  darin. 
,,Nein",  sagte  Kadar  bestimmt,  ,,das  kannst  du  nicht  hier- 
lassen. SchlieBlich  ist  das  hier  nicht  meine  Wohnung,  und 
ich  will  meinen  Verwandten  keine  Unannehmlichkeiten 
verursachen.  Aber  wenn  du  es  nicht  tragen  willst,  dann 
wirfs  vielleicht  in  den  Lichthof  oder  ins  Klosett."  — 
,,Danke",  sagte  Vavrinec  mit  eiskalter  Stimme,  ,,das 
nicht."  Einen  Augenblick  herrschtc  Stille.  ,,t)brigens",  sagt 
Vavrinec  dann  zogernd,  ,,zu  Hause  babe  ich  noch  zwei 
Abzcichen  im  Garten  vergraben . . .  vielleicht  werfe  ichs 
doch  in  den  Lichthof."  Dann  gingen  sic  zusammen  weg. 
Auf  der  StraBe  trennten  sic  sich. 

Die  StraBe  sah  aus  wie  seit  Monaten  jeden  Morgen, 
aber  im  Biiro  herrschte  ein  ziemlich  groBes  Durcheinander. 
Gestern  nachmittag,  als  die  unfriedlichen  Nachrichten  die 
Angestellten  auseinandergetrieben  batten,  hatte  jemand 
die  kleine  Kasse  erbrochen  und  ungefahr  anderthalb 
Tausend  Kronen  blaues  Geld  und  einen  Packen  weiBe 
Scheine  mitgenommen,  auch  ein  paar  Schranke  und  Schub- 
laden  waren  aufgebrochen  und  allerlei  Schriften  und  Bucher 
durcheinander  geworfen  worden,  offcnbar  um  dem  Ein- 
bruch  einen  etwas  ratselhafteren  Anstrich  zu  geben.  Das 
hatte  der  Betreffcndc  auch  erreicht;  denn  der  politische 


Vcrtrauensmann  qualifizierte  den  Einbruch,  ohne  weiter 
zu  iiberlegcn,  als  gcgcnrevolutionare  Tat  und  leitete  die 
Hausuntcrsuchung  in  diesem  Sinne.  Noch  bevor  die  De- 
tcktive  von  der  Roten  Wache  ankamen,  lieB  er  das  Biiro 
schlicBen  und  ordnete  allgemeine  Schreibtisch-  und  Leibes- 
visitation  an,  die  er  zum  Teil  personlich,  zum  Teil  mit  der 
Hilfe  zweier  Freunde,  besonders  zuverlassiger  Kommu- 
nisten,  sofort  in  Angriff  nahm.  Selbstverstandlich  hatte  die 
Lcibesvisitation  weder  einen  Sinn,  noch  fuhrte  sie  zu 
einem  Ergebnis.  Dann  kamen  die  Detektive,  machten  sich 
wichtig  und  verhorten  jedcn  Angcstellten  einzeln,  zum 
SchluB  nahmcn  sie  zwei  Biirogehilfen  mit,  und  damit  war 
die  Angelegenheit  erledigt.  Einige  Tage  spater  stellte  sich 
Kadars  Kollege  Kovacs,  der  neben  ihm  am  Schreibtisch  saB, 
zu  ihm,  ein  kleiner  junger  Mann  mit  schlechten  Zahnen, 
von  dem  allgemein  bekannt  war,  daB  er  zu  Bcginn  des 
Krieges  einen  LungenschuB  bekommen  hatte  und  zwar 
einigermaBen  geheilt  war,  aber  doch  so,  daB  man  nie  wissen 
konnte,  in  welchem  Augenblick  ihn  die  galoppierende 
Schwindsucht  erwischte.  ,,Herr  Kddar",  sagte  Kovacs, 
,,warten  Sie  nachher  auf  mich,  ich  mochte  Ihnen  etwas 
sagen."  Spater  kam  er  noch  einmal  wieder  und  bat  ihn, 
doch  nicht  auf  ihn  zu  warten,  sondcrn  sich  gegen  vier  Uhr 
mit  ihm  am  Westbahnhof  an  der  StraBenbahnhaltestcile 
zu  treffen.  Kovacs  stand  schon  dort,  als  cr  um  vier  an  der 
Haltestelle  ankam.  ,,Herr  Kaddr",  fangt  er  an,  ,,es  handelt 
sich  um  cine  sehr  schwierigc  Angelegenheit,  und  ich  habe 
das  Gefuhl,  mit  Ihnen  ganz  vertraulich  reden  zu  konnen." 

—  ,,Bittc  sehr."  —  ,,Herr  Kddar,  —  der  Dieb  ist  einer  aus 
dem  Biiro."  —  »Ach,  nein  . . .  woher  wissen  Sie  das?"  — 
^Also",  sagt  Kovacs  unsicher,  ,,ich  vertrauc  Ihnen  und 
hofFe,  ich  werde  nicht  in  cine  schiefe  Situation  kommen ..." 

—  ,,Aber",  drangt  er,  ,,worum  handelt  es  sich  denn?"  — 
,,Also,  horen  Sic,  heute  friih  komme  ich  ins  Biiro,  setze 
mich  an  den  Schreibtisch  und  will  die  Schublade  auf- 
schlicBcn:  die  Schublade  ist  offen.  Na,  denke  ich,  ist  hier 

86 


etwa  jcmand  draa  gewescn?  Ich  ziehe  die  Schublade  raus, 
und  gleich  obcn,  unter  der  Statistik  vom  Mai,  finde  ich  einen 
Packen  fremdes  Papier;  ich  sehe  es  mir  an:  und  drin  1st 
das  Geld,  das  neulich  aus  der  Kasse  herausgenommen 
wordcn  ist.  Nun  also . . .  cs  ware  doch  meine  Pflicht  ge- 
wesen,  die  Sache  sofort  zu  melden  und  das  Geld  zuriick- 
zuerstatten.  Und  das  habe  ich  nicht  fertiggebracht.  Ich  bitte 
Sic,  ich  werde  niemals  in  der  Lage  sein,  zirka  dreitausend 
Kronen  auf  einmal  zu  besitzen,  und  . . .  wissen  Sic,  wenn 
ich  einmal  fur  zwei-drei  Monate  in  die  Tatra  gehen 
konnte ..."  Kadar  sieht  ihn  an.  Schweigend  gehen  Sie 
auf  dem  Lcopoldsring  nebcncinander  her.  Dann  sagt  er 
plotzlich:  ,,Wollen  Sie  das  Geld  bchalten?"  —  ,,Jawohl," 
antwortet  der  anderc,  ohne  zu  iiberlegen,  ,,ich  fiirchte  bloB, 
derjenige,  der  es  in  meinc  Schublade  gelegt  hat,  wird  Larm 
schlagen!"  Sie  gehen  und  schweigcn.  Kovacs  atmct  kurz 
und  unregelmaBig  in  der  Hitze.  Nie  im  Leben  wird  cr  drei- 
tausend Kronen  auf  einmal  besitzen,  nie  im  Leben  wird  er 
in  der  Lagc  sein,  seiner  krankcn  Lunge  rcine,  tanncnduftende 
Hohenluft  zu  schenken.  Eincn  LungcnschuB  hat  er  gehabt, 
in  Galizien  hat  er  sich  den  geholt.  ,,Herr  Kovacs",  sagt  er 
plotzlich.  ,,Sie  miissen  das  Geld  behalten.  Derjenige,  der 
es  in  Ihre  Schublade  getan  hat,  wird  sich  nicht  mucksen, 
er  wurde  sich  ja  bloB  sclbst  vcrratcn.  Aber  achten  Sie 
jedenfalls  darauf,  nicht  jetzt  gleich  auf  Urlaub  zu  gehen, 
sondern  . . .  spater.  Hat  jemand  gesehen,  wie  Sie  es  heraus- 
genommen habcn?"  fugt  er  hinzm  ,,Nein,  es  konnte  nie- 
mand  sehen,  niemand  war  im  Zimmer."  —  ,,Behalten  Sie 
es,  aber . . .  gcschcit."  Kovacs  macht  ein  cigcntiimliches, 
geriihrtes  Gcsicht  und  sagt:  ,,danke/*  Komisch  Idingt 
dieses  Wort,  cr  muB  lacheln,  der  anderc  bemerkt  es.  ,,Nam- 
lich  fur  Ihr  freundliches  Zureden  danke  ich",  sagt  er, 
,,glauben  Sie  mir,  Herr  Kadar,  ich  weiB  sehr  gut,  was  ich 
bcgehc,  wenn  ich  das  Geld  behalte.  Aber ...  ich  denke  mir, 
meine  halbe  Lunge  habe  ich  schlieBlich  in  Galizien  gelasscn, 
und  droitausend  Kronen  wiirde  ich  doch  nie  —  — "  Sie 


sind  am  Briickenkopf  angelangt,  plotzlich  fallt  ihm  etwas 
ein.  Das  kann  er  nicht  vcrschluckcn,  das  muB  er  sagen. 
,,Sagen  Sic,  Hcrr  Kovacs,  nchmcn  Sic  cs  mir  bitte  nicht 
iibcl .  * ."  er  schweigt,  abcr  dcr  andcrc  kann  aus  dcr  Be- 
tonung  und  aus  dcm  plotzlichen  Abbrechen  cntnehmcn, 
was  cr  fragcn  wollte.  ,,Um  Gottes  willen,  Sic  denkcn  doch 
nicht  ctwa  . . . !  nein,  das  Geld  hat  wirklich  jemand  in  meine 
Schublade  gelegt . . ." 

Mitte  Juli  bekam  Kadar  einen  auf  seinen  Namen  lautenden 
Stellungsbefehl:  dann  und  dann  habe  er  sich  da  und  da 
zum  Militardienst  zu  melden.  Die  Sache  stand  scblecht, 
an  der  TheiB  wurde  die  Proletaries  Armee  schon  sehr  von 
den  Rumanen  bedrangt.  Am  Vormittag  meldetc  er  sich 
bcim  politischen  Vcrtraucnsmann  und  bat  um  einen  arzt- 
lichen  Untersuchungsschcin.  ,,Mir  ist  schwindlig,  ich  habe 
Kopfschmerzen  und  Brechreiz,  es  kommt  mir  vor,  als 
hatte  ich  Fieber,  ich  weiB  nicht,  was  mir  fehlen  mag." 
Vom  Stellungsbefehl  erwahnte  cr  natiirlich  kein  Wort. 
Zu  Hause  sagtc  cr  zu  Tantc  Anna:  ,,Da  ist  dcr  Stellungs- 
befehl, abcr  ich  gehc  nicht,  ich  hab  genug  davon.  Ich  leg 
mich  ins  Bert  und  bleib  so  lange  licgen,  bis  sic  mich  holcn 
kommen  odcr  bis  sonst  was  wird.  Die  Rumanen  sollen 
schon  bci  Szolnok  scin.  Wenn  ihr  Angst  habt,  gehc  ich  in 
irgendein  Krankenhaus,  und  wenn  ich  nicht  aufgcnommen 
werde,  dann  brcchc  ich  auf  der  StraBe  zusammen,  aber  ein- 
riickcn,  nein,  das  tu  ich  nicht."  Tante  Anna  schwieg  ent- 
setzt,  aber  dann  rcdetc  sic  ihm  zu,  cr  sollc  sich  nur  hinlegen, 
schliefllich  seicn  sic  ja  kcine  Arztc  . . .  und  dcr  alte  Wcbler 
wiirdc  schon  konstaticrcn,  was  er  wiinschc.  —  Er  legt  sich 
ins  Bett.  Als  er  am  nachsten  Morgen  bei  strahlcndcm 
Sonncnschein  sich  kerngesund  dehnt  und  streckt,  muB  er 
lachen.  Das  ist  cine  Kistel  jctzt  warte  ich  schon  liegend  ab, 
was  kommt.  —  Tante  Anna  pflegtc  ihn  cifrig,  und  durch 
die  Magd  lieBcn  sic  im  Hause  vcrbrcitcn,  cr  habe  hohcs 
Fiebcr,  seine  Lunge  sci  nicht  in  Ordnung,  —  fur  den  Fall, 
daB  sie  doch  kamen,  es  kann  nichts  schadcn,  wenn  man  im 

88 


Hause  von  seiner  Krankheit  weiB.  Nach  fiinf  odcr  sechs 
Tagen  suchte  ihn  einer  der  Kollegen  auf,  der  politische 
Vertrauensmann  hatte  ihn  geschickt,  sehen,  was  ihm  fehle. 
Bis  ans  Kinn  zugedeckt  lag  er  im  Bett  bei  der  groBen  Hitze. 
Tante  Anna  lieB  den  Besucher  erst  nach  ausgiebigen  Zere- 
monien  ins  EBzimmer,  an  sein  Bett,  fragte  ihn,  ob  cr  kcine 
Angst  habc,  sich  anzustecken,  ihr  Neffe  huste  namlich 
so  haBlich  trocken.  Zum  SchluB  bekam  der  Gast  es  wirklich 
mit  der  Angst,  aber  . . .  Befehl  ist  Befehl,  —  er  ging  zu  ihm 
ins  Zimmer.  Der  Besucher  war  ein  langcr,  blonder  Schwabc 
namens  Kuhnert,  einer  der  groBten  kommunistischen 
Schreier  im  Biiro,  der  sich  damit  briistete,  daB  er  ein  un- 
eheliches  Kind  sei,  seine  Mutter  sei  Tagelohnerin,  und  er 
hatte  es  trotz  groBten  Elends  aus  eigener  Kraft  zu  dem 
gebracht,  was  er  war.  Doch  weder  die  uneheliche  Geburt 
noch  die  Sache  mit  dem  Tagelohn  stimmte,  aber  der  von 
Schlagworten  betorte  griine  Junge  prahlte  in  sogenanntem 
ProletarierselbstbcwuBtsein  mit  der  erfundenen  zweifel- 
haften  nicdrigen  Abstammung.  Kuhnert  stand  ergriflcn 
in  der  EBzimmertur  und  sah  Kadar  an,  der  gerade  auf  dem 
Riicken  lag,  die  Augen  geschlosscn  hatte  und  vcrteufelt 
schwitzte  unter  der  Decke.  ,,Guten  Tag,  Genossc  Kadar", 
sprach  Kuhnert,  ,,Sie  sind  doch  hoffentlich  nicht  ernstlich 
krank?"  Kadar  gab  keine  Antwort,  dann  preBte  cr  ein 
groBes,  trockenes  Husten  aus  der  Kehle,  und  danach,  als 
sei  er  jetzt  zu  sich  gekommen,  richtete  er  sich  muhsam  im 
Bett  auf.  ,,Guten  Tag,  Genosse  Kuhnert,  na,  was  gibts 
Ncues  im  Euro?"  —  ,,Das  ist  nicht  wichrig,  das  ist  neben- 
sachlich",  tat  der  anderc  eifrig,  ,,aber  was  ist  mit  Ihncn? 
das  ist  wichtig!"  Er  winkte  ab  und  hustete.  ,,Nanu",  sagte 
Kuhnert  und  war  wirklich  erschrockcn,  ,,tatsachlich  etwas 
Ernstcs?"  —  ,,Was  Ernstcs . . .  viclleicht  gehts  noch 
glimpf  lich  ab  . . .  vom  Krieg  ist  mir  das  zuriickgeblieben", 
sagte  er  duster,  und  dabei  begann  ihn  etwas  in  der  Kehle 
zu  kitzeln,  und  nur  mit  groBer  Anstrengung  konnte  er 
das  Lachen  untcrdriicken.  Kuhnert  betrachtete  ihn  mit 

89 


aagstlichem  Gesicht,  dann  sctzte  er  sich  und  erzahlte,  den 
Einbrechcr  babe  man  nocb  immer  nicht,  und  jetzt  wiirde 
man  auch  kaum  noch  seiner  habhaft  werden ;  im  Biiro  und  in 
dcr  Stadt  seien  bosc  Geriicbtc  im  Umlauf,  allerlei  Schreckcns- 
nachrichtcn  baben  sich  verbreitet,  vom  nahen  Sturz  der 
Diktatur,  vom  gemeinsamen  Angriff  der  Tscbechen  und 
Rumanen,  —  na,  aber  das  SelbstbewuBtsein  der  Arbeiter 
wiirde  zum  ScbluB  doch  erwachen,  fiigtc  er  trostend  hinzu, 
und  vielleicht  wiirde  doch  zur  rcchten  Zeit  die  befreiendc 
russische  Armce  den  Rumanen  in  den  Riicken  gelangen  . . . 
Dann  ging  er  in  der  Uberzeugung,  der  armc  Kadar  wiirde 
schwerlich  den  morgigen  Tag  erlebcn.  —  Tante  Anna  und 
Onkel  Rudi  kamen  herein,  und  im  stillen  veranstalteten  sie 
ein  derartiges  Gekicher,  daB  Tante  Anna  sagte,  es  schicke 
sich  wirklich  nicht,  mit  so  crnstcn  Dingen  solchen  Scherz 
zu  trcibcn,  noch  dazu  in  so  schrecklichen  Zeitenl  —  Dann 
behelligte  ihn  niemand  mehr,  und  niemand  suchtc  ihn. 
Er  hatte  ruhig  aufstehen  konnen,  aber  er  blieb  liegen. 
Spielen  wirs  zu  Ende,  dachte  er,  und  es  fiel  ihm  ein,  daB  er 
eigentlich  gar  nicht  deshalb  im  Bctt  lag ...  sondern  urn 
nichts  tun  zu  miisscn,  um  die  Zcit  zu  verschlafen  und  in 
den  Stunden  des  Wachscins  durchs  EBzimmcrfenster  das 
Stiickchen  blaucn  Himmel  anzustarren.  In  diescm  Himmcl- 
anstarren  war  etwas  Bekanntes  » . .  ein  ganz  eigentvimliches 
Gefiihl  war  cs :  langsam  bcwegt  sich  der  Lazarettzug  vor- 
warts,  mit  schwerem  Pusten  klettert  er  den  Berghang 
hinauf,  er  liegt  im  unteren  Bctt,  —  iiber  ihm  atmct  jemand 
mit  kurzem  abgerisscnem  Rocheln,  cr  hat  cincn  Bauch- 
schuB,  in  den  beiden  anderen  Betten  stdhncn  sie,  sonder- 
barcrweise  beidc  mit  ganz  gleichen  Verletzungen  am  GcsiB, 
auf  dem  Bauch  liegen  sic  und  sind  am  Bctt  festgebundcn,  — 
und  durchs  Fenster  sieht  man  ein  kleines  Stiickchen  kalten 
Alpcnhimmel . . .  jetzt  ist  es  besser,  hier,  gesund  daliegen 
und  warten  —  jetzt  ist  es  wenigstens  wahrscheinlich,  daB 
aus  der  Sachc  keine  Sepsis  generalis  wiri 


90 


5 

ElNIGE  Tage  spater  war  es  mit  dcr  Diktatur  dcs  Prole- 
tariats zu  Ende.  Sowie  sich  die  Nachricht  vom  Sturz  der 
Arbeiterherrschaft  verbreitete,  stand  er  auf.  Ein  wenig 
schwach  war  er  geworden  vom  zweiwochigen  Liegen, 
trotzdem  ging  er  noch  an  demselben  Tag  ins  Biiro.  Dort 
herrschte  wiiste  Kopf losigkeit :  sofort  erzahlten  sie  ihm, 
daB  der  politische  Vertrauensmann  von  vier  Biirodienern 
blutig  gepriigelt  worden  sei,  die  Leute  von  der  Unfall- 
station  hatten  ihn  weggetragen,  und  wer  wahrend  des 
Kommunismus  einen  groBen  Mund  gehabt  habe,  tue  besser, 
seine  Nase  hier  nicht  mehr  reinzustecken.  Die  alten  Direk- 
toren  der  Zentrale,  die  von  der  Diktatur  beiseite  geschoben 
worden  waren,  saBen  wieder  an  ihren  Schreibtischen  und 
beratschkgten  wegen  eines  Rechtfertigungsverfahrens.  In 
den  Euros  ging  das  Redenschwingen  weiter,  nur  vor- 
sichtiger  jetzt,  und  wenn  ein  Vorgesetzter  durch  eins  der 
Zimmer  kam,  verstummtcn  alle  sofort  und  beugten  sich 
iiber  den  Schreibtisch.  Rein  sozialistische  Regierung,  ge- 
mischte  biirgerliche  Regierung,  weiBe  Regierung,  Inter- 
nationale Besetzung,  rumanische  Besetzung,  —  davon  war 
die  Rede.  Und  davon:  was  auch  immer  komme,  eins  sei 
sicher:  die  Verbrechen  der  Diktatur  konnen  nicht  un- 
geahndet  bleiben.  Sonderbarerweise  war  innerhalb  von 
Minuten  und  Stunden  ein  jeder  zu  einem  Opfer  der  Prole- 
tarierherrschaft  geworden,  jeder  hatte  plotzlich  ein  mehr 
oder  weniger  gut  oder  schlecht  gelungenes  Abenteuer 
hinter  sich,  mit  den  Leninschen  oder  mit  seinem  kommu- 
nistischen  Hausmeister  oder  mit  cinem  roten  Agentcn; 
und  fast  jeder  hatte  irgend  jemanden,  der  mit  knapper 
Miihe  mit  dem  Leben  davongekommen  war,  als  eines 
Abends  . . .  und  so  weiter.  Auf  den  StraBen  war  Gedrange, 
berittene  Polizisten  in  Paradeuniform  zogen  durch  die  Stadt, 
Offiziersuniformen  mit  den  strahlenden  Sternen  am  Kragen 
tauchten  auf,  die  roten  Fahnen  verendetcn,  in  Fctzcn 


zerrissen,  auf  dcm  Misthaufcn,  und  die  kommunistischcn 
Plakatc  waren  von  den  Mauern  abgewaschen.  Aber  sofort 
wurden  an  ihre  Stelle  andere  Plakate  geklebt:  die  Worte 
warcn  anders,  der  Sinn  der  gleiche.  Anstatt  der  roten  Kehle 
schrie  die  weiBe  Kehle  an  alien  StraBenecken  Tod,  an 
Stelle  der  roten  Faust  drohte  die  weiBc  Faust  den  Atem  in 
die  Brust  der  StraBc  zuriick,  ganze  Hauserreihen  cntlang. 
Auf  dem  Ring  boten  StraBenhandler  sofort  Schokolade 
und  Zigaretten  feil,  aber  an  der  Peripherie  schleppte  man 
in  blutigen  Tumulten  halbtotgeschlagene  Menschen  in  die 
Hausflure.  Mordgeruch  verbreitete  sich  in  der  Luft,  die 
ganzc  Stadt  summte,  und  doch,  fiel  irgendwo  ein  lauteres 
Wort,  dann  fingen  die  Menschen  an  zu  renncn,  —  einer 
sah  den  andern  miBtrauisch  an,  und  dennoch,  wenn  irgend- 
wo drci  stehenblieben,  so  scharten  sich  sofort  weitcre 
dreiBig  um  sie.  Zeitungen,  nur  ein  Blatt  stark,  heulten 
Rache,  und  in  den  Schaufenstern  der  wieder  croffneten  Bank- 
geschafte  erschicn  cine  mcrkwvirdige  Ncuigkeit:  Die  Zii- 
richer  Notierung  der  ungarischen  Krone,  —  das  stand  oben 
auf  einem  Blatt  Papier.  DCS  Nachts  konnte  man  wieder 
SchieBen  horen.  —  Und  dann  zogen  bei  einer  lautcn,  ab- 
gerissenen,  kecken,  ein  wenig  barbarisch  klingcnden  Trom- 
petcn-Melodie  Rumanen  iiber  die  Andrassy-StraBe. 

Die  Rechtfertigungssachc  im  Biiro  ging  sehr  leicht. 
Hcrr  Huber,  Mitglied  des  Rechtfertigungsausschusses, 
fliistertc  dem  AusschuB-Prasidenten  etwas  zu,  als  Kadar 
vor  den  langen  Tisch  des  Sitzungssaales  trat.  Einmal  stand 
ich  schon  vor  einem  solchen  langen  Tisch,  bloB  ist  auf  diesem 
hier  griincs  Tuch.  ,,Nicht  wahr,  Sie  haben  das  Amt  eines 
politischen  Vcrtraucnsmanncs  abgelehnt?"  sagte  der  Prasi- 
dent.  ,,Ja",  antwortetc  Kadar.  ,,Sic  haben  sich,  nicht  wahr, 
am  dreizehnten  Juli  im  Biiro  krank  gemeldet  und  im  Bert 
gelegen,  aber  nur  mit  dem  Zweck,  dem  roten  Stcllungs- 
befehl  nicht  Geniigc  tun  zu  miisscn?"  —  »Ja."  —  ,,Sie 
waren  seinerzeit  im  Kriege  Soldat,  nicht  wahr?"  —  ,,Ja- 
wohl."  —  ,,Ihr  Rang?"  —  ,,Fahnrich."  —  ,,Dankc."  — 


Ungefihr  zehn  Kollegen,  daranter  auch  Kuhnert,  wurden 
hinausgeworfen,  damit  war  die  Angelegenheit  erlcdigt. 
Nach  einigen  Tagen  setzte  die  sogenannte  Reorganisations- 
arbeit  ein,  die  in  der  Hauptsache  darin  bestand,  daB  die 
Korrespondenz  und  die  sonstigen  Papiere,  die  sich  seit 
dem  einundzwanzigsten  Marz  angehauft  hatten,  in  einen 
besonderen  Schrank  geschlossen  wurden.  Um  die  Schreib- 
tische  herum  bildeten  sich  genau  so  Gruppen  wie  vor  einem 
Monat,  aber  jetzt  wurden  die  Tagesereignisse  nicht  mehr 
aus  dem  Gesichtswinkel  des  orthodoxen  Marxismus  oder 
der  Proletarier-Moral  diskutiert,  sondern  unter  den  Schlag- 
worten  vom  verlorenen  Krieg,  vom  auferstehenden 
Kapitalismus  und  von  der  nationalistischen  Erneuerung. 

Anfang  September  kam  dann  aus  authentischer  Quelle 
die  Nachricht,  die  Regierung  wiirde  die  Metallzentrale 
liquidieren.  Es  vergingen  kaum  ein-zwei  Tage,  und  ein 
groBer  Teil  der  Beamten,  unter  ihnen  Kadar,  erhielten 
tatsachlich  die  Kiindigung  fiir  den  ersten  Oktober.  Er  be- 
trachtete  den  Brief,  an  dessen  SchluB  stand,  wegen  der 
gesetzmaBigen  Abfindung  konne  er  sich  dann  und  dann 
da  und  da  melden.  Im  iibrigen  fiihlte  er  etwas  wie  Be- 
freiung.  Also  werde  ich  Herrn  Demjen  und  Herrn  Zoller 
und  Herrn  Kovacs  mit  seincn  dreitausend  Kronen  nicht 
mehr  sehen,  wenigstens  nicht  mehr  in  diesem  Biiro,  und 
die  blonde  Manci  und  die  braune  Kato.  Ich  werde  von  den 
Rubrikbogen  und  den  Zahlenkolonnen  Abschied  nehmen. 
Allerdings  auch  von  den  monatlichen  sechshundert  Kronen. 

Er  ging  nach  Hause,  teilte  den  Alten  mit,  daB  er  ent- 
lassen  sei,  daB  er  cine  Abfindungssumme  bekommen 
werde,  und  auch  das  sagte  er,  daB  er  auf  der  Technischen 
Hochschule  Architektur  studieren  wolle.  —  Seine  Papiere 
hatte  er  alle  ordentlich  beisammen,  dazu  legte  er  noch  das 
Schriftstuck,  das  sein  vaterlandstrcues  und  sittliches  Be- 
tragen  wahrend  der  Diktatur  des  Proletariats  im  Amt 
bescheinigte,  und  eines  Morgens  stand  er  vor  dem  Eingang 
der  Technischen  Hochschule.  —  Hicr  war  offensichtlich 


95 


etwas  nicht  in  Ordnung.  Auf  dem  Platz  vor  dem  Geb&ude 
lockere  Gruppen  streitender,  larmender  junger  Leute,  am 
Donauufer  zwei  oder  drei  groBere  Gruppen;  auch  einen 
Rettungswagen  mit  der  griinen  Fahne  sah  er  und  einen 
ziemlich  groBen  Trupp  rumanischer  Soldaten.  Von  Zur- 
Verantwortung-Ziehen  auf  der  Universitat,  von  Schlage- 
reien  horte  man  Gerede,  —  na,  das  diirfte  ihn  schwerlich 
interessieren.  Im  Tor  standen  zwei  junge  Leute  mit  Stu- 
dentenmiitzen.  Sie  sahen  ihm  ins  Gesicht.  ,,Immatriku- 
lation?"  —  ,,Ja."  —  ,,Bitte."  In  der  Vorhalle,  wie  er  auf 
der  Treppe  bei  der  Miindung  des  Flurs  angelangt  ist, 
umringt  ihn  plotzlich  cine  groBe  Gruppe.  ,,Kommilitonen- 
ausweis?"  —  ,,Hab  ich  noch  nicht",  sagt  er,  ,,ich  will 
mich  gerade  einschreiben  lassen."  —  ,,Erstes  Jahr?"  — 
,,Jawohl.'*  —  ,,Taufschein!"  Er  greift  in  die  Tasche  nach 
seinen  Papieren.  ,,Antal  Kadar?"  hort  er  in  diesem  Moment 
eine  bekannte  Stimme.  Er  blickt  auf:  drei  Schritt  von  ihm 
steht  Vavrinec.  Einen  Augenblick  sehen  sie  einander  an, 
dann  zeigt  Vavrinec  mit  ausgestrecktem  Arm  nach  ihm 
und  schreit:  ,,elender  Kommunist!"  Die  Wimpern  zucken 
ihm,  er  kriegt  zwei  wahnsinnige  Ohrfeigen,  an  der  Schultcr 
fiihlt  er  so  etwas  wie  damals  beim  Granatsplitter  und  saust 
die  Treppe  hinunter,  noch  da  unten  fiihlt  er,  daB  jemand  ihn 
in  die  Seite  tritt.  —  Einige  Tage  hindurch  hatte  er  ununter- 
brochen  Visionen  von  Vavrinec,  wie  er  nach  ihm  zeigt, 
und  hort  seine  Stimme:  ,,elender  Kommunist!"  Dann  kam 
er  wieder  zu  sich,  es  wurde  ihm  besser;  der  Schlag  mit  dem 
Gummikniippel  hatte  ihm  zwar  den  Schulterknochcn 
gebrochen,  aber  der  Bruch  wuchs  ohne  Komplikationen 
zusammen,  auch  der  FuBtritt  hatte  keine  weiteren  Folgen 
als  einen  lila-griinen  Fleck  in  der  GroBe  einer  Schuhsohle 
an  der  Hiifte. 

Ruhig  lag  er  im  Krankenhausbett,  als  die  Alten  ihn 
besuchen  kamen,  von  der  Geschichte  sprach  er  nicht.  Nur 
als  Tante  Anna  eines  Nachmittags  an  seinem  Bett  zu  weinen 
anfing:  ,,Toni,  Tonichen,  das  ist  Gottes  Strafe,  weil  du 

94 


gesund  im  Bett  gelegen  hast !",  da  kam  er  ein  wenig  in  Rage : 
,,WeiBt  du,  Tante  Anna,  moglich,  es  ist  Gottes  Strafe,  abef 

auch  dann  bloB  darum "  Auf  das  laute  Sprechen  kam 

sofort  die  Pflegerin:  ,,Bitte,  meine  Dame,  regen  Sie  doch 
den  Kranken  nicht  auf",  —  und  da  schwieg  er  auch.  Im 
Krankenhaussaal  lagen  sie  zu  vierundzwanzig,  Operierte 
und  hauptsachlich  solche,  die  einen  StraBenunfall  erlitten 
batten.  Sein  Bett  stand  in  der  Ecke  des  Saals  unter  dem 
hoben  Fenster,  neben  ibm  lag  ein  apathiscber  alter  Mann 
mit  provisorischem  Verband  um  den  zerschnittenen  Baucb. 
Er  wandte  den  Kopf  zur  Seite  und  betrachtete  den  Alten, 
der  seit  Tagen  im  Sterben  lag.  In  langsamen,  scbweren  Ziigen 
atmete  er  die  Luft  ein  und  blies  sie  in  kleinen  rochelnden 
StoBen  wieder  aus.  Die  Augen  hatte  er  geschlossen,  von 
Zeit  zu  Zeit  offnete  er  den  Mund  und  verzog  ibn  scbmerzlich 
zu  einer  lautlosen,  furchterlichen  Klage.  Diesen  alten  Nach- 
barn  besucbte  tagelang  kein  Mensch;  wenn  die  ubliche 
Tagesvisite  kam,  nickte  ein  junger,  blonder  Arzt  mit  einer 
anerkennenden,  knappen  Kopfbewegung  nacb  dem  Alten 
bin,  als  wollte  er  sagen,  schau,  schau,  Sie  leben  noch?  das 
ist  aber  wirklich  schon.  Eines  Morgens  wurde  dann  eine 
spaniscbe  Wand  vor  das  Bett  des  Alten  gestellt,  der  Wagen 
mit  den  Gummiradern  rollte  heran,  das  Bett  wurde  friscb 
iiberzogen,  und  abends  legten  sie  einen  jungen  Burscben 
hinein,  der  von  der  StraBenbahn  iiberfahren  und  dessen 
Bein  unterhalb  des  Knies  amputiert  worden  war.  Der 
Junge  war  bewuBdos  und  keucbte  wie  ein  gehetzter  Hund 
in  der  Hitze,  und  mit  diinner,  weinerlicber  Kinderstimme 
stohnte  er  in  einem  fort:  ,,Mama  . . .  Mama  . . ."  Zwei 
Betten  weiter  saB  ein  Mann  mit  rotem  Gesicht  im  Bett, 
sein  ganzer  Korper  war  eingewickelt.  Er  erzahlte,  im 
Schlachtbaus  sei  ein  eben  getoteter  Ochse  auf  ihn  gefallen 
und  babe  ihm  die  inneren  Teile  zerquetscht,  die  Pflegerin 
indessen  sagte,  auf  dem  Ferenc-Ring  babe  man  ibn  von  der 
Elektriscrwn  gezerrt,  verpriigelt,  und  so  sei  er  hergekom- 
men.  Der  mit  dem  roten  Gesicht  fragte  bei  jeder  Gelegenheit 

95 


mit  lauter  Stimme  den  schwarzhaarigen  Arzt:  ,,Herr 
Doktor,  haben  Sie  die  Knochen  fur  den  Hund  bekommen? 
ich  habs  angeordnet,  daB  Ihnen  die  Knochen  fur  den  Hund 
geschickt  werden."  Auch  ihn  lieB  er  durch  die  Pflegerin 
fragen,  ob  er  keinen  Hund  habe,  und  wenn  ja,  ob  er  dann 
Knochen  fiir  den  Hund  wolle.  Noch  ein  lauter  Kranker 
war  da,  von  dem  wuBte  er  nicht,  was  ihm  fehlte,  der  lag  am 
andern  Ende  des  Saales,  und  wenn  er  gerade  nicht  im 
Morphiumrausch  war,  sagte  er  laut,  aber  ganz  mechanisch 
monoton  vor  sich  bin:  ,,Sandor,  ich  halte  das  nicht  aus, 
Sandor,  ich  halte  das  nicht  aus."  —  Diese  Dinge  regten  ihn 
nicht  auf.  Was  war  so  ein  stiller  Krankensaal  mit  seinen 
Blinddarmen,  Armbriichen  und  von  der  StraBenbahn 
Uberfahrenen  im  Vergleich  zum  Verbandplatz  hinter  der 
Piave  oder  zum  Innsbrucker  Militarspital  Aushilfsstelle  II B I 
Hier  war  ja  niemand  mit  ausgelaufenen  Augen,  mit  heraus- 
hangenden  Eingeweiden,  mit  einer  abgerissenen  Backe, 
mit  zersplitterter  Hiifte,  mit  Zuckungen  des  Nervenschocks 
oder  mit  der  todlichen  Erstarrung  vom  Luftdruck.  Hier 
konnte  man  ruhig  liegen  und  die  weiBgetiinchte,  hohe 
Decke  anstarren,  und  auch  hier  gab  es  ein  kleines  Stiickchen 
blauen  Himmel,  wenn  er  auf  dem  Riicken  lag,  den  Kopf 
ganz  hoch  hielt  und  zum  obersten  Teil  des  Fensters  hinauf- 
blickte.  Vavrinec  hatte  ihn  verpriigeln  lassen,  —  elender 
Kommunist,  —  das  war  wegen  des  griinen  Abzeichens, 
das  er  in  den  Lichthof  werfen  muBte.  Immerhin  war  ich 
in  der  Technischen  Hochschule,  schlieBlich  ...  hat  das  noch 
nichts  zu  bedeuten.  Wenn  ich  das  Semester  nicht  verpasse, 
lasse  ich  mich  noch  immatrikulicrcn.  Vavrinec  wird  ein- 
sehen,  daB  ich  die  Priigel  nicht  verdient  habe.  Taufschein! 
—  bitte.  Bitte  sehr,  Ihre  Papiere  sind  in  Ordnung,  Herr 
Kollege.  Ich  glaube  nicht,  daB  Vavrinec  mir  die  Ohrfeigen 
gegeben  hat,  aber  ganz  bestimmt  hat  mich  einer  von  hinten 
auf  die  Schulter  genauen,  oder  wenigstens  von  der  Seite. 
Sie  batten  mich  ebenso  gut  auf  den  Kopf  schlagen  kdnnen, 
die  Italicner  haben  auch  nicht  gcfragt,  wohin  sie  schieBen 


diirfen,  die  Kugel  1st  mir  auch  in  die  Schulter  gegangen, 
hatte  ebenso  gut  in  den  Kopf  gehen  konnen.  Dem  Kovdcs 
ging  sie  in  die  Lunge.  Vielleicht  ist  der  schon  in  der  Tatra 
mit  seinen  Dreitausend,  Frage,  ob  er  mit  dem  weiBen  Geld 
etwas  anfangen  konnte,  denn  weiBes  war  auch  dabei, 
sogar  mehr  als  blaues.  In  der  Tatra  kann  man  gesund  werden, 
hier  auch,  ich  bleibe  auch  gar  nicht  mehr  lange.  Ich  will 
lernen  und  will  Geld  verdienen,  vielleicht  besuche  ich  die 
Mariska  Gazda  in  Wien  oder  in  Italien,  jetzt  kann  man 
schon  nach  Italien,  es  ist  ja  kein  Krieg  mehr.  Frieden  ist, 
und  der  Kommunismus  hat  auch  aufgehort,  jetzt  kann  man 
das  Leben  beginnen. 

Eine  der  Pflegerinnen,  ein  groBes  Madchen  mit  schwar- 
zem  Haar,  ging  tagsiiber  oft  zu  ihm,  stellte  sich  an  sein 
Bett  und  sprach  ein  paar  Worte  mit  ihm.  Wenn  aber 
Schwester  Agota  Nachtdienst  hatte,  dann  saB  sie  stunden- 
lang  unten  auf  seinem  Bett,  und  beim  Schein  der  blauen 
Lampe  unterhielten  sie  sich  leise.  ,,Na,  jetzt  miissen  Sie 
schlafen",  sagte  das  Madchen  manchmal,  blieb  aber  auf 
dem  Bett  sitzen,  und  das  Gesprach  ging  weiter.  Oft  dam- 
merte  es  schon,  wenn  er  einschlief,  aber  er  war  nicht  miide, 
—  er  konnte  ja  auch  am  Tage  schlafen,  wenn  er  wollte. 
Ein  hiibsches  Gesicht  hat  sie,  dachte  er,  auch  schone, 
schmale  Hande,  ich  kann  mir  nicht  denken,  daB  sie  diese 
schrecklichen  Kranken  damit  anriihrt.  Ihr  Haar  ist  schon, 
unter  der  Haube  sieht  man,  daB  sie  es  in  Schnecken  an  den 
Ohren  tragt.  Aber  sie  ist  kleiner  als  ich.  —  Eines  Nachts 
ergriff  er  ihren  Arm,  so  daB  er  mit  den  Fingern  auch  ihre 
Brust  beriihrte,  wie  damals  bei  Mariska  Gazda.  Schwester 
Agota  wehrte  es  nicht  ab,  sie  driickte  sogar  mit  dem  Arm 
seine  Hand  an  ihren  Korper,  —  von  da  an  setzte  sie  sich 
nicht  unten  aufs  Bett,  sondern  so,  daB  sie  einander  leicht 
erreichen  konnten,  und  dann  hick  er  manchmal  die  halbe 
Nacht  ihre  Hand  und  griff  ganz  mutig  an  ihre  Brust,  und 
das  Madchen  striubte  sich  nicht  dagegen,  —  aber  trotzdem, 
hier  im  Krankenhaus,  auf  dem  Krankenbett  wagte  er  doch 

7  KOrmendi,  Budapest  97 


nicht  mit  ihr  anzufangen.  Als  er  indessen  Anfang  Oktober 
cntlassen  wurde,  sagtc  cr  bcim  Abschicd  zu  Agota:  ,,Sagen 
Sic,  wiirden  Sie  nicht  einmal  mit  mir  . . .  spazierengehen?" 
Eines  Sonntags  nach  dem  Essen  ging  cr  sie  im  Kranken- 
haus  abholen;  sic  trug  ein  brauncs  Kostiim  und  cinen 
braunen  Filzhut.  Die  Sonne  schien,  die  Luft  war  fein  und 
lau.  ,,Wollen  wir  ins  Nationaltheater  gehen?"  fragte  er  das 
Madchen.  ,,Bei  dem  schonen  Wetter  ins  Theater .  .  .  nein, 
gehcn  wir  lieber  spazieren  und  in  einer  Konditorei  Kaffee 
trinken,  und  wenn  Sie  wollen,  konnen  wir  spater  auch 
noch  ins  Kino  gehen",  sagte  sie  und  fiigte  plotzlich  hinzu : 
,,Geld  habe  ich",  und  lachte.  Er  wurde  rot.  ,,Wo  denken 
Sie  hin  . . .  Geld  habe  ich  auch!"  und  dabei  dachte  er, 
was  fur  ein  Gliick,  daB  es  Onkel  Rudi  gelungen  ist,  das 
weiBe  Geld  bei  einem  bekannten  Eisenbahnkassierer  in 
Postgeld  umzuwechseln.  —  Sie  gingen  die  Rakoczi-StraBe 
entlang  bis  zum  Ostbahnhof,  dann  weiter  in  den  Stadtwald. 
Schon  war  der  Herbstnachmittag ;  auf  den  Promenadcn 
ein  Gewoge  von  Menschen,  vor  und  hinter  ihnen  liefcn 
Kinder  hin  und  her.  Auf  einer  Bank  saB  cine  dicke  Frau 
und  saugte  ein  Kind  mit  kohlschwarzem  Haar.  ,,Mein  Gott, 
wenn  ich  ein  Kind  haben  konnte",  sagte  das  Madchen  und 
hing  sich  bei  ihm  ein,  ,,aber  das  geht  nun  mal  nicht."  Wie 
warm  ihr  Arm  ist,  dachte  cr;  ,,warum  geht  das  nicht?" 
fragte  er  dann  dumm  und  taktlos,  aber  sie  kam  nicht  in 
Verlegenheit.  ,,Es  geht  nicht,  weil . . .  na,  weil  es  eben 
nicht  geht,  Sie  Dummchen.  Einmal  war  es  schon  bcinahc 
so  weit  und . . .  also,  darum  kann  es  nicht  mehr  scin." 
Rote  Glut  lief  ihm  durch  alle  Glieder.  Einmal  war  cs  schon 
fast  so  weit:  das  heiBt  also,  daB  —  Sic  setztcn  sich  auf  cine 
Bank,  er  dachte  fortwahrcnd  daran,  daB  es  einmal  schon 
fast  so  weit  war,  dann  umarmtc  cr  das  Madchen,  zog  sie 
an  sich  —  cs  dunkcltc  schon  —  und  kiiBtc  sie.  Sic  cmpfing 
seincn  Mund  mit  geoffneten,  darbictenden  und  emp- 
fangcndcn  Lippcn,  —  cincn  gutcn,  rcinen,  kiihlen  Ge- 
schmack  hat  ihr  Mund,  die  Erzsi  vom  zwcitcn  Stock  habe 


ich  nie  gekiiBt ...  —  da  stand  das  Madchen  plotzlich  auf. 
,,Das  mag  ich  nicht",  sagte  sie,  ,,das  ist  Dienstbotenstil, 
so  im  Stadtpark  auf  einer  Bank.  Gehen  wir  ins  Kino."  — 
Sie  setzten  sich  in  ein  Kino  in  der  Arena-StraBe,  ,Lustspiel- 
Abend*  kiindete  ein  Plakat  an.  Das  Kino  war  gedrangt  voll, 
heiB,  und  es  stank.  Agota  lachte  herzhaft  iiber  die  Filme, 
,,ich  schwarme  fiir  Burlesken",  sagte  sie,  zwischendurch 
preBten  sie  einander  die  Hande.  Als  die  Vorstellung  zu 
Ende  war,  aBen  sie  in  einem  Cafe  schlechtes  Geback  und 
tranken  Kaffee,  dann  stand  das  Madchen  auf:  ,,jetzt  gehen 
wir  nach  Hause."  —  ,,Nach  Hause?"  fragte  er  mit  er- 
schrockenem  Beben  in  der  Stimme.  ,,Natiirlich,  Sie  Dum- 
mer",  lachte  sie  ihn  aus,  ,,natiirlich  gehen  wir  nach  Hause, 
aber  nicht  zu  Ihnen,  ich  weiB,  Sie  wohnen  bei  diesen  Alten, 
zu  mir.  Oder  wollen  Sie  nicht?  . . ."  Er  legte  seine  Hand  in 
Agotas  Arm  und  antwortete  nicht;  sie  brachen  auf.  Ein 
wohliges  Gefiihl  hatte  er  in  der  Brust,  —  wir  gehen  nach 
Hause.  In  wenigen  Minuten  waren  sie  an  einem  groBen 
Mietshaus  angekommen,  hier  wohnte  sie.  In  der  dritten 
Etage  traten  sie  in  eine  winzig  kleine  Diele  und  von  dort 
in  ein  hiibsches,  sauberes,  groBes  Zimmer.  Im  Zimmer 
standen  viele  Mobel,  ein  EBzimmertisch,  zwei  Schranke, 
Stiihle  und  auBer  dem  Bett  auch  noch  eine  Chaiselongue. 
Er  zeigte  auf  die  Chaiselongue:  ,,wohnen  Sie  nicht  allein?" 
—  ,,Selbstverstandlich  nicht,  ich  wohne  mit  meiner 
Sch wester  zusammen,  sie  ist  auch  Pflegerin,  jetzt  hat  sie 
drei  Tage  Urlaub  und  ist  nach  Palota  gefahren  zu  ihrem 
Brautigam."  Agota  lachte,  sie  war  guter  Laune  und  hiipfte 
im  Zimmer  umher,  machte  Ordnung,  schliipfte  in  ein 
Hauskleid,  holte  aus  einer  kleinen  Kiiche  etwas  Kaltes  zu 
essen  und  stellte  noch  einen  Rest  Rum  dazu  auf  den  Tisch; 
,,andere  GetrSnke  habe  ich  nicht,  macht  das  was?"  — 
»I  wo,  das  macht  gar  nichts."  Als  er  sich  dann  an  den  Tisch 
gesetzt  hatte,  trat  das  Madchen  hinter  ihn  und  faBte  ihn 
bei  den  Schultern.  ,,Du  weifit  doch,  daB  du  vor  morgen 
friih  nicht  hier  weggehst?  nachts  iiber  die  StraBen  zu  gehen 

7*  99 


ist  verbotcn,  ich  bin  ja  so  froh,  daB  du  die  ganze  Nacht  hier 
bleibst!" 

Gegen  Morgen  wachtc  er  auf ;  es  war  noch  dunkel, 
von  der  StraBe  horte  man  cine  Weile  das  Raderquietschen 
eines  schweren  Wagens,  dann  war  es  wieder  still.  Agota 
lag  auf  seinem  ausgcstrcckten  rechten  Arm,  mit  schmal 
zusammengepreBtem  Mund  schlief  sie.  Plotzlich  taumelte 
groBe  Traurigkeit  in  seine  Brust,  doch  war  es  nicht  die 
iibliche  auf  die  Umarmung  folgende  Tristitia.  Er  betrachtete 
die  schlafende  Frau  von  der  Seite,  ihr  aufgelostes,  dichtes, 
schwarzes  Haar  und  das  im  Halbdunkel  blaB  leuchtende 
schone,  ovale  Gesicht.  Herr  Gott,  wie  komme  ich  zu  dieser 
Frau,  zu  dieser  besseren  Gattung?  Gcohrfeigt  haben  sie 
mich,  die  Schulter  haben  sie  mir  zerbrochen,  mich  mit  FuB- 
tritten  hinausgeworfen . . .  ob  ich  word  noch  einmal  hin- 
gehen  kann  und  ihnen  sagen,  meine  Herren,  hier  muB 
ein  Irrtum  vorliegen?  Ich  bin  Antal  Kddar,  Fahnrich  im 
Krieg,  hab  eine  Schulterwunde,  kleine  und  groBe  Silberne 
Tapferkeitsmedaille  und  das  Karls-Kreuz,  bin  zwanzig 
Jahre  alt,  reformiert,  war  nicht  Kommunist,  das  beweisen 
Dokumente,  und  das  kann  ein  Mitschiiler  von  mir  namens 
Istvan  Vavrinec  beweisen,  ich  will  zu  euch,  ich  mochte 
studieren  und  Architekt  werden  im . . .  im  Interesse  des 
ungarischen  Vaterlandes  und  urn .  . .  Geld  zu  verdienen, 
ich  habe  auch  Talent  zu  diesem  Fach,  ich  werde  euch 
bcstimmt  keine  Schande  machen ...  —  Sein  Arm  zuckte, 
durch  die  Bewcgung  fuhr  das  Madchen  auf,  sie  setzte  sich, 
und  mit  runden,  etwas  crschrockenen  und  fremden  Augen 
sab  sie  ihn  einen  Moment  erstaunt  an,  dann  hiipfte  ein 
leises  Lachcn  iiber  ihre  Lippen,  sie  warf  sich  wieder  hin 
und  schmicgte  sich  an  ihn.  Um  halb  acht  brachen  sie  zu- 
sammen  auf;  iiber  Nacht  hatte  es  sich  bewoikt,  und  jetzt 
spriihte  langsam  der  Regen.  Sie  gingen  zu  FuB  auf  das 
Krankenhaus  zu,  Agota  hing  sich  bei  ihm  ein  und  sprach 
zartelnde  kleine  Dummheiten.  ,,Donnerstag  bin  ich  wieder 
frci,  dann  kommst  du  mich  mittags  abholen,  und  wir  gehen 

TOO 


direkt  nach  Hause,  ja  Haschen,  nicht  wahr,  wk  brauchcn 
doch  nirgcnds  hinzugehen?  Marta  wcrdc  ich  bitten,  sic 
mochte  den  Nachtdienst  iibernehmen,  das  wird  sie  tun, 
ich  tus  auch  immer  fur  sie,  nicht  wahr,  das  wird  schon  sein, 
mein  Liebling?" 

Nach  acht  Uhr  langte  er  zu  Hause  an :  die  Alten  saBen  im 
EBzimmer,  und  Tante  Anna  hatte  dunkle  Rander  unter  den 
Augen  von  der  Aufregung  und  vom  Wachen.  ,,Aber  Toni, 
Kind,  um  Gottes  willen,  es  ist  dir  doch  nichts  passiert?  ich 
habe  kein  Auge  zugetan,  so  habe  ich  mich  um  dich  ge- 
angstigt,  du  bist  doch  kaum  erst  gesund!"  Er  zwang  sich 
zu  freiem,  unbefangenem  Ton.  ,,Nichts  fehlt  mir,  Tante 
Anna.  Aber  . . ."  er  schwieg  und  sah  vor  sich  auf  die  Erde. 
Vavrinec  konnte  es  bezeugen,  aber  er  wird  es  nicht  tun, 
im  Gegenteil.  —  ,,Tante  Anna,  Onkel  Rudi,  eine  groBe 
Neuigkeit.  In  der  Nacht ...  die  ganze  Nacht  habe  ich  iiber 
diese  Sache  gesprochen  und  beratschlagt.  Ich  gehe  nach 
Wien,  auf  die  Universitat.  WiBt  ihr,  eine  Stelle  habe  ich 
nicht,  hier  werde  ich  an  der  Universitat  nicht  aufgenommen, 
aber  selbst  wenn  man  mich  mit  Honigseim  lockte  ...  ich  bin 
zwanzig  Jahre  alt,  etwas  muB  ich  anfangen." 

Onkel  Rudi  lauschte  dieser  Rede  mit  miBtrauischem 
Gesicht.  Hier  stimmt  etwas  nicht  ganz,  der  Junge  hat  wieder 
irgendeine  Torheit  vor.  In  Tante  Anna  wurde  sofort  das 
ganze  Orchester  des  Protestes  laut:  ,,Um  Himmels  willen, 
liebes  Kind,  wie  stellst  du  dir  derm  das  vor,  in  einer  fremden 
Stadt?  woher  nimmst  du  das  Geld,  wo  wirst  du  wohnen? 
ja,  und  wie  wirst  du  leben  unter  fremden  Menschen?!" 
Mit  kurzen,  klugen  und  fast  kiihlen  Worten  antwortete  er. 
,,Was  habe  ich  hier  zu  tun?  wie  kann  ich  hier  leben  und 
wie  lange,  euch  auf  der  Pelle?  Ihr  wiBt,  ich  habe  versucht 
unterzukommen,  ihr  wiBt,  wie  das  ausgegangen  ist.  Von 
der  Metallzentrale  bin  ich  entlassen  worden,  —  konnt  ihr 
mir  eine  andere  Stellung,  eincn  anderen  Beruf  verschaflFen? 
Na,  seht  ihr."  Die  abratenden  Worte  und  Argamente 
flaucn  plotzlich  ab.  ,,Ja,  da  drauBen  ist  die  Welt  doch 

101 


anders,  war  es  auch  immer",  sagt  Onkcl  Rudi.  ,,Beim  Mili- 
tar  haben  sic  auch  nicht  gefragt,  liebes  Kind,  wie  stellst  du 
dir  das  denn  vor  in  cincr  frcmden  Stadt . . .  Er  soil  seine 
Sache  nur  machen,  wie  cr  cs  fur  am  bcsten  halt,  so  gut  er 
es  kann.  SchiieBlich  ist  er  ja  ein  erwachsener  Mensch,  er 
kann  die  Verantwortung  iibernehmen  ..." 

Am  Nachmittag  meldete  er  sich  in  seinem  friiheren  Biiro, 
wo  sic  —  durch  Onkel  Rudi  —  so  viel  von  ihm  wuBten, 
daB  er  einen  StraBenunfall  gehabt  hatte.  Sein  alter  Conner 
hatte  sich  anscheinend  wieder  fiir  ihn  verwendet:  die  Ab- 
findung  von  drei  Monaten  wurde  um  einen  Monat  ver- 
langert,  er  bekam  zweitausend  Kronen  in  die  Hand  in 
guten  Zwanzigkronennoten.  Als  er  nach  Hause  kam,  zeigte 
er  das  Geld.  Davon  werde  ich  in  Wien  lange  leben.  Fiir 
Reise,  Papiere  und  kleinere  Anschaffungen  werden  ein  paar 
hundert  Kronen  draufgehen.  DieAlten  nehmen  sicher  keinen 
Heller  von  mir  an,  —  von  dem  Geld  kann  ich  in  Wien 
lange  leben. 

Am  nachsten  Tag  packte  er  seine  Papiere  zusammen 
und  bat  auf  der  Polizei  um  einen  PaB.  Ein  gutes  Vorzeichen : 
der  Beamte  im  PaBbiiro,  der  ihm  seine  Papiere  abnahni, 
warf  einen  Blick  in  den  Taufschein  und  sagt,  ,,sieh  mal 
einer  an,  bist  du  vielleicht  der  Sohn  vom  alten  Toni 
Kadar?"  Die  Bekanntschaft  stellt  sich  heraus;  cine  Stunde 
spater  ist  der  PaB  fertig.  Es  gibt  cine  Rubrik:  fiir  welche 
Lander  ist  der  PaB  giiltig?  —  da  hinein  schreibt  der  Beamte : 
Europa.  Europa,  denkt  er,  ich  reise  nach  Europa.  Ich  reise 
ins  Leben. 

Auf  dem  osterreichischen  Konsulat  ging  die  Sache 
schon  schwerer.  Zunachst  dauerte  es  stundenlang,  bis  er 
ins  Amtszimmer  gelangte,  dann  verweigerte  ein  kleiner 
Herr  mit  einem  Bart  wiitend  gestikulierend  das  Visum: 
,,wir  brauchen  keine  Leute,  die  uns  das  Brot  wegessenl 
ohnc  Vcrmogensausweis  bewillige  ich  die  Einreise  nicht  1" 
Er  zog  den  Packen  Banknoten  aus  der  Tasche;  der  mit  dem 
Bart  starrtc  ihn  an  und  fing  mcckernd  an  zu  lachcn,  ,,Sic 

102 


Kind,  Sic  Kind,  na,  halten  Sic  mich  nicht  auf,  welter!" 
Im  Treppenhaus  —  er  taumelte  aus  dem  Amtszimmer  wie 
vor  den  Kopf  geschlagen  —  tritt  ein  machtiger,  dicker 
Mann  mit  rotem  Gesicht  nebcn  ihn.  ,,Kein  Visum,  was?" 
fragte  er,  wie  er  ihm  in  das  beklommenc,  nicdergeschlagene 
Gesicht  blinzelte.  ,,Hcr  mit  dem  PaB,  junger  Mann,  und 
dort  hinter  der  Saule  auf  mich  gewartetl  Zwanzig  Kronen 
und  die  Spesen!"  Er  iiberlegtc  keinen  Augenblick,  driickte 
dem  Dicken  den  PaB  und  zwei  Zwanziger  in  die  Hand  und 
stellte  sich  hinter  die  Saule.  Vor  dem  Eingang  steht  die 
Menschenschlange,  und  wie  ein  eigentumliches  Zeitsignal 
offnet  sich  in  Abstanden  von  ein  paar  Minuten  die  braune 
Tiire,  die  Schlange  bewegt  sich,  riickt  vor,  und  ganz  vorn 
an  der  Tiir  stehen  andere  Menschen.  Eine  Frau  mit  braunem 
Kopftuch,  ein  Herr  mit  steifem  Hut  und  ein  Bankbote  oder 
sowas  mit  einer  Miitze  und  eine  Dame  mit  einem  kleinen 
Jungen,  der  Rote  ist  nirgends.  Ich  Esei,  jetzt  bin  ich  an 
einen  Schwindler  geraten,  und  auch  mein  PaB  ist  futsch  . . . 
ach,  Unsinn,  der  verschaffts  mir  gewiB,  das  ist  dessen  Beruf 
. .  .  wars  nicht  leichter,  sich  mit  dem  Geld  davonzumachen, 
den  PaB  kann  er  wegwerfen  oder  zerreiBen.  Auf  einmal 
steht  dann  der  Dicke  neben  ihm,  driickt  ihm  den  PaB  in 
die  Hand  und  auch  noch  ctwas  Kleingeld.  ,,Wenn  Sie 
wieder  mal  sowas  brauchen,  oder  ein  Bekannter,  Sie  finden 
mich  hier  oder  bei  den  Tschechen,  fragen  Sie  nur  nach 
Biichler.  Zwanzig  Kronen  und  die  Spesen,  billig,  was?" 
Soweit  ware  die  Sache  nun  also  in  Ordnung.  Am  nachsten 
Tag  ging  er  friih  an  die  Bahn  und  erkundigte  sich  nach 
den  Ziigen.  Infolge  des  Kohlenmangels  verkehrt  nur  ein 
Zug  nach  Wien,  Abfahrt  morgens  sieben  Uhr.  Also  mit 
dem  werde  ich  fahren.  Er  liest  eine  grofie  Tafel,  auf  der  die 
Abfahrtzeiten  der  Ziige  angegeben  sind.  Richtung  Wien: 
700.  Heute  geht  noch  ein  Zug,  nach  Szeged.  Vor  dem  ein- 
zigen  geoffneten  Schalter  stehen  die  Menschen  in  einer  un- 
absehbaren  Schlange.  Polizisten,  rumanisches  Militar.  Auf 
dem  leercn  Bahnhof  Eisenbahngeruch.  In  dem  Moment 

103 


spurt  cr  das  Rciscfiebcr;  er  geht  durch  die  Vorhalle,  will 
auf  den  Perron,  die  Tiir  ist  geschlossen.  Er  tritt  in  den 
Wartcsaal  dritter  Klasse,  durch  das  Fenster  betrachtet  er 
die  paar  leeren  Waggons,  die  auf  dem  ersten  Gleis  stehen. 
Ich  reise.  Nach  Wien,  nach  Europa.  Ins  Leben. 

Auf  dem  Heimweg  kauft  er  in  der  Rakoczi-StraBe  vier 
Hemden,  vier  Unterhosen,  vier  Paar  Striimpfe,  einen 
Schlips,  ein  halbes  Dutzend  Kragen  und  einen  grauen 
Wintermantel.  Der  Verkaufer  sagt  bei  allem:  ,,Bitte,  mein 
Herr,  allerfeinste  Friedensware;  sehen  Sic  sich  bitte  diese 
Striimpfe  an,  echt  fil  d'Ecossc,  und  dieser  Mantel,  bitte 
sehr,  das  ist  echter  englischer  Friedensstoff."  Langsam 
ging  er  weiter,  und  als  er  zu  Hause  ankam,  war  das  Paket 
schon  da.  Er  machte  es  auf,  legte  die  Sachen  zurecht,  holte 
aus  dem  Schrank  im  Flur  seinen  iibrigen  Krimskrams, 
spielte  damit  wie  ein  Kind.  Tante  Anna  sah  ihm  kopf- 
schiittelnd,  mit  triib  werdenden  Augen  zu.  ,,Ich  kann  es 
gar  nicht  glauben,  daB  du  wirklich  weggehst,  Toni."  Aus 
der  Kammer  holte  sic  einen  schonen  groBen  braunledernen 
HandkofFer.  ,,WeiBt  du,  Toni,  diesen  Koffer  hat  Onkel 
Rudi  friihcr  benutzt,  wenn  er  auf  langere  Dienstreisen 
ging . . .  wir  schenken  ihn  dir,  er  soil  dich  begleiten  auf 
deinem  Weg  zum  Gliick."  Sic  sah  zu,  wie  er  in  den  Sachen 
kramte.  ,,Du  packst  doch  nicht  etwa  schon?  Wann  willst 
du  denn  reisen?  Ich  muB  dir  doch  erst  deine  Wasche 
waschen  lassen  und  deine  Anziige  in  Ordnung  bringen!" 
Er  sagt  es  heraus :  er  will  reisen,  sowie  cr  fcrtig  ist,  morgen 
lost  er  sich  schon  die  Fahrkarte.  Tante  Anna  macht  sofort 
ihren  Ausstaffierungsplan,  gibt  dem  Madchen  die  Wasche, 
sie  solle  sich  noch  hcute  in  die  Kiichc  stellen  an  den  kleinen 
Trog;  und  sic  sclbst  macht  sich  sofort  iiber  die  Anziige 
her,  biirstet  sie  aus,  entfleckt  sie  und  naht  Knopfe  an. 

Friihcr  vor  den  Versctzungspriifungen  hatte  er  in  der- 
artigcm  Taumel  gelcbt  wie  jetzt.  Wie  war  das  nur  gekom- 
mcn . . .  mit  Wicn?  Wie  war  ihm  das  so  plotzlich  ein- 
gef alien,  nach  Wien  zu  gehen?  Als  er  da  ncben  Agota  kg 

104 


und  sic  noch  schlief,  da  dachte  er,  in  Budapest  kann  man 
diese  ganze  Sachc  nicht  fortsetzen,  das  heiBt,  nicht  an- 
fangcn,  —  ich  wollte  nach  Deva  gchen,  und  cinmal  war  ich 
...  in  Innsbruck.  Und  da  war  es  ihm  klar,  daB  er  weg  muB 
aus  Budapest,  nach  Deva  zieht  ihn  jetzt  nichts  mehr,  und 
in  Innsbruck  war  er  im  Kriegsspital ;  nach  Wien  werde 
ich  gehen,  —  das  ist  nahe,  und  ich  war  noch  nicht  in  Wien, 
eine  groBe  Stadt,  dort  nimmt  man  mich  sicher  an  der 
Technischen  Hochschule  auf.  Fahnrich  Kadarl  mit  der 
Sehnsucht  nach  Studium,  Geld  und  Leben,  den  gegeniiber- 
liegenden  Grabenabschnitt,  der  von  Wien 

Donnerstag  mittag  nach  dem  Essen,  bevor  der  alte 
Herr  in  sein  Schlafzimmer  ging,  trat  er  vor  ihn  hin.  ,,Onkel 
Rudi,  ich  komme  heute  nicht  nach  Hause."  —  ,,Nanu?" 
Er  sah  ihn  groB  an.  ,,Namlich,  ich  habe  ein  .  .  .  jemanden, 
und  da  ich  doch  wegreisen  werde  ..."  —  ,,Gut,  gut", 
Onkel  Rudi  wandte  verschamt  den  Blick  ab,  ,,schon  gut, 
geh  nur,  der  Tante  werde  ichs  schon . . ."  Rosiger  Laune 
spazierte  er  im  Nachmittagssonnenschein  auf  das  Kranken- 
haus  zu.  Schones,  langes,  schwarzes  Haar  hat  sic,  auch  ihr 
Haar  riecht  gut.  Plotzlich  brach  die  gute  Stimmung  ab. 
Soil  ich  ihr  sagen,  daB  ich  verreise  und  daB  ich  wahrschein- 
lich  nicht  mehr ...  —  Er  blieb  stehen,  ein  stechender 
kleiner  Schmerz  erstarrte  ihm  in  der  Brust.  Ich  habe 
jemanden,  kaum  habe  ich  jemanden  . . .  du  lieber  Himmel, 
Vater  und  Mutter  sind  gegangen,  Mariska  Gazda  kam  und 
ging,  und  der  kleine  Feledy,  auf  den  ich  aufgepaBt  habe, 
er  ist  auch  gegangen,  und  Tante  Anna  und  Onkel  Rudi, 
von  denen  gehe  ich  weg,  und  nun  auch  von  der  Agi . . .  Er 
konnte  nicht  weitergehen  und  blieb  minutenlang  am  Rande 
des  FuBsteiges  wie  gelahmt  stehen  und  fiihlte  nur:  ich  gehc 
weg  und  verlasse  sie,  kaum  daB  ich  jemanden  habe. 

Frisch  trat  das  Madchen  aus  dem  Tor  des  Kranken- 
hauses,  sie  hatte  das  braune  Kleid  von  neulich  an,  in  der 
Hand  ein  kleines  Paket.  ,,Mcin  Mittagessen,  das  heiBt, 
etwas  Kaltes  haben  sie  mir  stattdcssea  eingcpackt,  ich  habe 

105 


namlich  gcsagt,  der  Magcn  tut  mir  wch,  ich  kann  jetzt 
nicht  essen.  Gebadct  babe  ich  auch,  deshalb  komme  icb 
etwas  spater,  wir  Pflegcrinncn  haben  namlich  Anspruch  auf 
cin  Bad/*  Sofort  nahra  sic  scincn  Arm,  rcdete,  lachte, 
,,guck  mal,  was  fiir  cin  groBcr  Mann,  och,  so  groBe  Manner 
mag  ich  nicht,  bloB  solchc  wic  du;  sag,  Toni,  hast  du  mich 
lieb?  Ich  meine,  liebst  du  mich  wirklich  odcr  nur  so . . ." 
Auf  cinmal  sagtc  sic  dann:  ,,du,  warum  bist  du  so  schlecht 
gelaunt?"  Schnell  jagtc  cr  cin  Grinscn  iibcr  sein  Gesicht, 
,,ich?  wieso  denn,  ich  bin  doch  nicht  schlecht  gelaunt.'*  — 
,,Du,  mach  mir  nichts  vor,  sag  mir  sofort,  was  du  hast!"  — 
,,Aber,  Liebling,  wirklich  ..."  —  ,,Du,  sag  nicht  Liebling 
zu  mir,  wenn  du  nicht  erzahlen  wills t,  was  du  hast!"  Sie 
qualte  und  bettelte,  —  er  hatte  schon  Angst,  das  Wort 
wiirde  ihm  cntschliipfen :  ich  werde  dich  verlassen!  Und 
wie  er  diesen  bosen  Satz  verscheuchte,  begann  langsam, 
ganz  langsam,  wie  aus  einem  gesprungenen  Glas  aus  seinem 
Mund  die  Rede  zu  quillen,  immer  schneller  sprach  er,  und 
wic  der  Widerstand  nach  und  nach  abbrockelte,  stromte 
alles  aus  seinem  Innern  heraus.  Als  cr  mit  der  Marsch- 
kompagnie  ins  Feld  aufbrach:  dort  fing  er  an.  Das  miide 
hcrbsdiche  Sonncnlicht  crgriff  mit  seinen  Strahlen  den  auf- 
gewiihlten  Staub;  die  Worte,  Bildcr,  Erinnerungen  der 
vergangenen  Jahrc  stiegen  im  Glitzern  vor  ihnen  in  der 
Rdkoczi-StraBe  auf.  Jcdenfalls  .  .  .  mit  Gesang  batten  sie 
begonnen.  In  Gyulafchdrvar,  als  sic  auf  den  Bahnhof  zu- 
marschierten.  Vielc  junge  Lcute  waren  sie,  Jahrgang  acht- 
undneunzig,  scheinbar  ein  reicher  Jahrgang.  Was  sie  konn- 
ten?  Nichts.  Das  Gewehr  prasentieren,  exerzieren,  mar- 
schicren,  cvcntuell  tiefe  Kniebeuge,  bis  sie  zu  bersten 
glaubten,  verachtlich  rcden  von  den  Drvickebergern,  den 
Untauglichcn,  den  Schreibern.  Was  sie  ahntcn?  Es  ist  besser, 
nicht  daran  zuriickzudenken.  Sturmfestc  Betonunterst2nde, 
ruhigen  Stellungskampf,  Auszeichnungen,  den  Krieg 
gewinnen.  Dann  kam  Albanicn,  wohin  er  zuerst  geschickt 
wurde,  dumpfigcs,  mattes,  ausgcbranntes  Terrain,  krcpierte 

1 06 


Pfcrde,  hie  und  da  die  Lciche  eines  crhangten  Bauern  und 
sofort  Malaria,  die  als  erster  Feind  die  Mannschaft  angriff. 
Das  Meer,  das  cr  bei  Durazzo  zum  erstenmal  im  Leben  sieht. 
Noch  ist  Ruhe;  vorlaufig  sieht  die  Sache  noch  fast  so  aus, 
wie  man  sic  sich  vorgestellt  hat;  wer  nicht  krank  ist,  lebt 
herrlich.  Eines  Tages  ist  ein  Aufmarsch  am  Meer,  swischen 
den  italienischen  und  den  osterreich-ungarischen  Kriegs- 
schiffen  ist  ein  Gefecht  im  Gange,  die  italienischen  SchifFe 
beschieBen  auch  Durazzo,  da  sieht  er  zum  erstenmal  eine 
Kriegsleiche.  Einen,  der  den  Heldentod  gefiinden  hat .  .  . 
er  liegt  quer  iiber  der  LandstraBe,  auf  ihm  ein  vollgetroffener 
Baum,  der  ihn  platt  gedriickt  hat.  Er  ist  auf  Kustenwache; 
es  ware  schon,  einen  SchieBversuch  auf  die  Mowen  zu 
machen.  Dann  kommt  plotzlich  der  Marschbefehl,  sie 
ziehen  los,  nach  Siidosten  zu ;  er  weiB,  dort  sind  Franzosen 
und  Englander  mit  den  ubriggebliebenen  Serben.  Nach 
ein  paar  Stunden  wird  der  Befehl  abgeblasen  und  am  nach- 
sten  Tag  das  ganze  Regiment  einwaggoniert.  Der  Zug  fahrt 
gen  Norden,  man  munkelt:  jetzt  kommt  die  italienische 
Holle.  Sie  rollen,  rangieren,  das  geht  so  tagelang.  liitze  2um 
Krepieren.  Plotzlich  kommen  schone  Gegenden,  Berge, 
Seen,  Sagemuhlen  an  brausenden  Fliissen,  der  Zug  fahrt 
durch  Tunnels  und  iiber  Viadukte,  eine  so  schone  Gegend 
habe  ich  noch  nie  gesehen,  schade,  daB  ich  keinen  foto- 
grafischen  Apparat  habe.  Sie  sehen  auf  der  Karte  nach: 
zweifellos,  das  ist  der  Weg  nach  der  italienischen  Front. 
Dann  ein  zerschossenes  Dorf  und  noch  eins  und  noch  eins. 
Gorz.  Raus  aus  dem  Waggon.  Zwei  Tage  Rast;  sie  bekom- 
men  eine  Art  vorziiglichen  Treber.  Am  Abend  gehen  sie 
in  die  Feuerlinie.  Zum  erstenmal  ist  er  im  Schutzengraben; 
in  diescr  Gegend  ist  Stellungskampf,  geradezu  eine  Kunst, 
einen  Graben  so  wunderbar  anzulegen,  mit  Balken,  Bretter- 
\vanden  und  Sandsacken.  Es  ist  Ruhe;  ganz  selten  steigt 
gegeniiber  hie  und  da  eine  Leuchtrakete  auf,  das  ist  das 
Ganze?  Gegen  morgen  gehts  dann  los.  Boroborobomm  — 
bordborobomm  —  wuiiiiiijj  —  baff  —  b6r6bor6bomm  — 

107 


wuiiiijj  —  baff . . .  so  irgendwie;  dann  kommt  cin  neuer 
Ton:  krrrrr  —  krrrrr  —  krrrrr . . .  hoch  und  scharf;  dann 
wicdcr  ein  neuer  Ton :  sssz  —  pik,  ssssz  —  pik  . .  .  und  dann 
alles  zugleich  und  ununterbrochen.  Tagelang.  Manchmal 
eine  Stunde  Pause,  aber  man  1st  schon  taub  und  hort  auch 
die  Stille  nicht  mehr.  Dann  beginnt  es  wieder.  Weitcr, 
noch  immer.  Zum  Wahnsinnigwerden.  Feri  Duka  sitzt 
im  Graben  und  weint,  cs  schiittelt  ihn  nur  so,  er  schnappt 
nach  Luft,  heult  und  schreit.  Feri  Duka  ist  achtzehn  Jahre  alt. 
Er  wird  nach  hinten  gcbracht  und  bekommt  eine  Injektion. 
Denes  Turko,  Tischlergesellc  in  Deva,  achtzchn  Jahre  alt, 
sitzt  im  Graben  und  weint.  Injektion.  Der  Magen  fangt 
ihm  an  zu  zittern,  die  Brust,  die  Kehle,  und  er  fiihlt,  jetzt 
bricht  es  bei  ihm  aus  —  Essen  kann  er  nicht,  nur  trinken  . . . 
nicht  zum  Aushalten  ist  es,  wenn  es  losgeht:  borobomm  — 
krrrr,  wic  Trommelschlag.  Oder  wenn  es  zischt  und  man 
den  Kopf  auf  die  Seite  reiflt,  und  dabei  sitzt  die  Kugel  schon 
langst  hinter  einem  in  der  Bretterwand.  Eines  Tages  dann 
. . .  hat  man  sich  daran  gewohnt.  Feri  Duka  sitzt  im  Graben, 
die  Gamaschen  abgewickelt,  er  halt  sie  dicht  an  die  kurz- 
sichtigen  Augen  und  jagt  nach  Lauscn.  Das  geht  namlich 
sehr  schnell,  das  Vcrlausen.  Also:  man  hat  sich  an  die 
Sache  gewohnt.  Man  weiB:  das  ist  ein  Schrapnell,  das  eine 
Sprenggranate,  das  der  Morser,  das  groCte  italienische 
Kaliber.  Der  Trommelwirbel  sind  Maschinengewchre,  abcr 
es  klingt  eher,  als  trommle  man  ganz  schnell  auf  ein  Brett ; 
das,  was  leise  zischt,  ist  eine  Gcwehrkugel.  Der  Korper 
gewohnt  sich  bei  einem  bestimmten  Laut  an  eine  bestimmte 
Bewegung.  Man  kann  sich  an  allerhand  gewohnen.  Auch 
daran,  daB  es  manchmal  einschlagt.  Auch  daran,  dafi  die 
Kameraden  mit  furchterlich  blutenden  Wunden,  mit 
herausgequetschten  Eingeweiden,  mit  schlafT  hangenden 
Gliedcrn  aus  dem  Graben  getragen  werden;  dafi  man  hinter 
dem  Sandsack  stcht,  der  diinnc,  zischende  Pfiff  voriiber- 
saust  und  man  vergcbcns  zu  dem  starr  dastehenden  J6zsi 
Koloss  odet  Denes  Turkd  spricht.  Dann  kommt  etwas 

108 


anderes.  Berge,  drei-,  viertausend  Meter  hohe  Spitzen, 
jeder  SchuB  hallt  zwanzigfach  wieder;  hier  gibt  es  keine 
richtigen  Graben,  die  Deckung  1st  aus  Stein  und  miihsam 
hinaufgeschleppten  Tannenstammen,  —  was  fur  cine  himm- 
lische  Gegend,  wie  schade,  daB  ich  keinen  fotografischen 
Apparat  habe  . . .  Weiter.  Auf  einem  wahnsinnig  sausenden 
FluB  treiben  Baumstamme,  Wagentriimmer  und  Leichen. 
Weiter.  Rings  herum  die  Berge,  aber  sie  sind  weit;  gegen- 
iiber  der  italienische  Schiitzengraben,  in  der  Mitte  das  zer- 
schossene,  durchfressene,  mit  Trichtern  besate  Feld.  Vor 
den  Graben  die  Drahtverhaue.  Und  dann  eines  Abends: 
Fahnrich  Kadar  mit  vier  Mann . . .  wer  meldet  sich  frei- 
willig?  Als  er  zuriickkommt,  fangt  er  an  zu  lachen,  schnappt 
nach  Luft,  schluckt,  lacht.  Dann  eines  Abends  gehen  sic 
los,  im  Sturmhelm,  mit  Drahtscheren  und  Handgranatcn, 
vorwarts.  Er  kann  schon  im  Dunkeln  sehen,  er  kriecht  auf 
dem  Bauch  vorwarts,  etwas  bewegt  sich  nicht  weit  vor  ihm. 
Den  linken  Ellenbogen  kriimmt  er  unter  den  Bauch,  hcbt 
sich  ein  wenig  in  die  Hohe,  und  die  Handgranate  fliegt. 
Es  explodiert  rechts,  und  es  explodiert  links,  sie  kriechen 
auf  dem  Bauch,  die  trockene  Erde  schlagt  ihm  ins  Gesicht, 
iiber  die  Stirn  rinnt  ihm  der  Matsch,  dann  stiirzen  sie  blind 
los,  und  er  hat  das  Gefiihl,  auf  einer  Rutschbahn  oder  Seil- 
bahn  kreischend  hinunterzusausen.  Ganz  nahe  am  ersten 
italienischen  Graben  schleudert  er  noch  eine  Handgranate 
und  noch  eine;  Erd-  und  Holzklumpen  fliegen,  einmal  habe 
ich  im  Kino  ein  Bild  gesehen,  Sprengung  in  eincm  Stein- 
bruch  in  Colorado,  U.  S.  A. . . .  Im  Graben  liegt  etwas  auf 
dem  Bauch  und  rochelt,  er  greift  an  eine  Schulter,  hebt  sic 
hoch,  der  Kopf  dreht  sich  nicht  mit  der  Schulter,  er  hebt 
auch  den  Kopf,  an  der  Steile  des  Gesichts  ist  eine  rote 
wibbelige  Masse.  Dann  kommen  auch  die  Italiener,  zwei- 
mal,  dreimal,  zehnmal.  Und  einmal  fuhlt  er  plotzlich  einen 
starkcn  Schlag  an  der  Schulter  und  gleich  hinterhcr,  als 
wurde  er  mit  tausend  Nadeln  gestochen.  Vcrbandplatz. 
Ein  kleincr  untcrsetztcr  Herr  beugt  sich  viber  ihn,  Knochen, 

109 


nach  rechts,  sagt  er,  und  er  wird  an  der  rechtcn  Scitc  auf  die 
Erde  gelegt.  Nach  ihm  ein  anderer.  BauchschuB,  nach  links, 
sagt  der  Untersetzte.  Ein  anderer:  Lunge,  nach  links.  Ein 
andrer:  Hals,  nach  links.  Noch  einer:  Unterschenkel,  nach 
rechts.  Dann  werden  die  von  der  rechten  Seite  weggebracht. 
Innsbruck,  Kriegsspital.  Hier  war  es  dann  angenehm, 
Arzneigeruch  durchzieht  den  groBen  Saal,  so  wie  in  Deva, 
in  der  Apotheke  bei  Gazdas.  Eine  Menge  hiibscher  Pflege- 
rinnen  in  weiBen  Kleidern  mit  dem  roten  Kreuz.  Die  eine 
1st  eine  alte  Frau  mit  einer  Brille,  sie  erzahlt  fiirchterliche 
Witze,  man  kann  sich  totlachen  iiber  sie,  angeblich  eine 
Grafin.  Die  muB  es  dick  hinter  den  Ohren  haben.  Das  Essen 
ist  ordentlich,  die  Wunde  heilt  gut,  nach  einiger  Zeit  kann 
er  ausgehen;  es  gibt  eincn  Keller,  wo  man  vorziigliches 
Bier  bekommt,  und  hintendurch  kann  man  iiber  eine  kleine 
Wendeltreppe  in  eine  Wohnung  steigen,  da  gibts  kleine 
Zimmer  und  Madchen.  Aber  auch  auf  der  StraBe  kann  man 
jede  ixbeliebige  ansprechen,  hubsche,  junge  Frauen.  Eines 
Tages  wird  er  dann  an  die  Front  zuriickgeschickt.  Alles 
fangt  von  vorne  an.  Zwei-drei  Wochen  im  Graben,  vier- 
funf  Wochen  im  Graben,  dann  zehn-zwolf  Tage  hinten. 
Vorne  weiB  iiberhaupt  niemand  mehr,  welcher  Tag  ist,  und 
dann  hort  man  auch  auf  zu  wissen,  in  welchem  Monat,  in 
welchem  Jahr  man  lebt.  Man  kiimmert  sich  auch  nicht  sehr 
darum.  Das  Schlimme  ist  bloB,  daB  die  Sache  auf  einmal 
anfangt  zu  versauen.  Ersatz  fur  die  locherigen  Schuhe,  fur 
die  zerfetzten  Unterhosen  kriegt  man  kaum  mehr.  Auch 
kommt  es  manchmal  vor,  daB  man  stundenlang  nicht 
schieBen  kann,  weil  keine  Munition  da  ist.  Auf  den  Felsen 
gliiht  die  untergehende  Alpensonne,  schade,  daB  ich  nicht 
Maler  bin  .  .  .  Die  Tagc  werden  mit  Macht  kiirzer,  nachts 
herrscht  irrsinnige  Kaltc,  und  noch  immer  keine  gestrickten 
Sachen.  Und  der  Proviant,  entsetzlich  langsam  setzt  der  sich 
in  Bewegung.  Schokolade,  Schokolade,  niemals  hatte  ich 
gcglaubt,  daB  einem  Schokolade  so  zum  Ekel  werden  kann. 
Italienische  Flieger  werfen  Flugschriften  ab.  TrSka,  der 

no 


Tscheche,  wird  hingcrichtct.  Dann  blcibt  eines  Tages  die 
Kuche  aus,  ganz  und  gar,  zwci  Tage,  funf  Tage  .  .  .  und  die 
Flugblatter,  die  Nachrichten  kommen,  eigentumliche  Be- 
fehle  und  Reden  —  na,  und  so  gings  zu  Ende.  Auf,  nach 
Hause.  Das  Schleppen  zuriick,  dem  Frieden  zu,  durch  die 
wildfremden  Gegenden.  Die  erschlagenen  Bauern.  Der 
Kiirbis.  Die  ruhrkranken  Kameraden,  im  Frieden.  Der 
kleine  Feledy,  in  den  Mantel  eingewickelt.  Brot  und  Schaf- 
kase  im  ersten  ungarischen  Dorf.  Zigeunermusik  in 
Szekesfehervar.  Budapest,  die  ausgestorbene  Stadt.  Die  er- 
schrockenen  Alten.  Seine  Krankheit.  Der  Weg  nach  Deva, 
der  kleine  englische  Offizier  unter  den  Rumanen,  die  Menge 
Wurst  in  Gyula.  Er  sitzt  am  EBzimmerfenster.  Das  Biiro  des 
alten  Herrn  Huber.  Die  roten  Fahnen  bliihen.  Der  unerwartete 
Besuch  der  Mariska  Gazda.  Ende  der  Kommune.  Die 
Papiere,  die  in  Ordnung  sind.  Die  Ohrfeigen,  der  Gummi- 
kniippel  an  seiner  Schulter  und  der  FuBtritt 

Seit  langen  Minuten  stehen  sie  schon  vor  dem  Haus,  als 
cr  schweigt.  Zwei  geangstigte,  brennende  Augen  starren 
ihm  ins  Gesicht.  Des  Madchens  Hand  ist  feucht,  und  ihr 
Arm  zittcrt.  ,,Du  .  .  .  jetzt  ist  das  aber  alles  vorbei .  .  .  jetzt 
kommst  du  zu  mir,  jetzt  mufit  du  alles  vergessen!  .  .  ." 

In  nebelhaftem,  leichtem  Schlaf  lag  er  betSubt  im  Bett; 
auf  dem  Tisch  brannte  cine  Stehlampe,  mit  einem  Tuch  ver- 
hangt.  Schlafend  hatte  er  das  Gefiihl,  beobachtet  zu  werden. 
Er  erwachte,  schlug  die  Augen  auf:  das  Madchen  saB  im 
Bett  und  sah  ihn  mit  heiBen  Augen  an.  ,,Was  ist,  Agi, 
Liebling,  warum  schlafst  du  nicht?"  Als  hatte  sie  es  gar 
nicht  gehort,  starrte  sie  ihn  weiter  an,  und  erst  nach  einer 
guten  Weile  antwortete  sie.  ,,Ach,  Gott ...  so  schrecklich . . . 
so  schrecklich  liebe  ich  dich,  und  ctwas  Furchtbares  ist  mir 
eingefallen  ..."  —  ,,Schlaf,  mein  Herz,  ich  hatte  es  nicht 
erzahlen  sollen."  Es  ist  still,  das  Madchen  sitzt  und  blickt 
ihn  an,  und  plotzlich  sagt  sie,  ganz  leise:  ,/Toni,  mein 
Liebling  . . .  du  willst  weggehen."  Tief  und  heiB  errdtete  cr 
im  Halbdunkel.  Keincn  Ton  hatte  er  ihr  bisher  von  seinem 


Wiener  Plan  gesagt,  auch  gar  nicht  daran  geckcht,  seitdem 
sie  zusammen  waren.  Da  fiihlte  er  Agotas  kalte  Hand  an 
seiner  Wange  und  gleich  darauf  ihre  angstvolle,  weinerliche 
Stimme:  ,,Ich  wuBte  es,  dein  Gesicht  ist  heiB,  du  bist  rot 
gewordenl  du  willst  irgendwohin  weggehen."  Er  war  ver- 
wirrt,  suchte  nach  Worten,  starrte  aber  nur  blode,  leer  in 
die  Luft  und  verstand  die  ganze  geheimnisvolle  Sache  nicht, 
woher  weiB  sie  denn  —  dann  griff  er  mit  instinktiver, 
mannlicher  Brutalitat  zur  einfachsten  Art  der  Erledigung: 
seine  heiBe  Hand  beriihrte  den  Korper  des  Madchens,  er 
zog  sie  zu  sich  nieder,  und  die  Ekstase  der  Umarmung  fegte 
ihre  bebende,  wahrheitahnende  Angst  hinweg.  Einschlafen 
konnte  er  aber  nicht  mehr.  Woher  weiB  sie,  woher  weiB  sie, 
ich  habe  doch  kein  Wort  gesagt !  rumorte  die  zitternde  Frage 
in  ihm.  Aber  bestimmt  muB  ich  weggehen  —  wenn  sie  es 
auch  weiB.  Und  soil  ich  jetzt  reden?  soil  ich  es  ihr  jetzt 
sagcn?  Oder  soil  ich  verschwinden,  ausreiBen  wie  ein 
Halunke?  oder  ware  es  vielleicht  doch  besser,  glatt  aus  ihrem 
Leben  zu  gehen,  ohne  cin  Wort,  und  dann,  wenn  in  Wien 
alles  gut  geht . . .  was  kann  bis  dahin  noch  alles  sein,  groBer 
Gott,  dann  weiB  sie  wahrscheinlich  nicht  einmal  mehr,  wer 
ich  war.  Aber  konnte  cs  nicht  auch  passieren,  daB  sie,  wenn 
ich  sie  verlasse,  eine  Dummheit . . .  sie  liebt  mich  doch,  und 
ich  —  er  drehte  sich  plotzlich  um,  sie  achzte  neben  ihm  auf 
und  schlief  weiter,  und  cr  bohrte  seinen  Kopf  ins  Kissen.  — 
Und  ich  liebe  sie  auch . . .  o  Gott,  sehr  liebe  ich  sie,  noch  nie 
habe  ich  jemanden  so  geliebt,  selbst  Mutter  nicht,  auch 
Onkel  Rudi  nicht,  niemanden,  bei  niemandem  hatte  icb  das 
Gefiihl,  daB  er  mir  so  nahe  ist,  so  in  mir  ist.  Er  schluchzte 
ins  Kissen,  als  es  ihm  jetzt,  an  der  Schwelle  des  Abschieds, 
klar  wurdc,  daB  er  sich  in  dicse  Frau  verlicbt  hatte,  ohne  es 
zu  bemerken,  daB  cr  verlicbt  war  in  sie,  in  ihre  leisc,  nacht- 
liche  Stimme  im  Krankenhaus  und  in  ihre  kindliche  Heiter- 
keit  und  Sorglosigkcit,  ihre  mutterlichc,  cssenmitbringcnde 
Vcrz£rtclung  und  ihren  kraftigcn,  begierdcerweckenden 
Korper;  nein,  das  war  nicht  plotzlich  gckommcn,  war  nicht 


in  der  Umarmung  aufgeflammt,  das  hatte  sich  schon  lange 
vorbereitet,  vielleicht  schon  dort,  wo  er  mit  schreckvollem 
Ekel  aus  den  Innsbrucker  Betten  kroch  und  feige  und  ver- 
schamt  das  Geld  auf  den  Nachttisch  legte,  —  du  gehst  mich 
nichts  an,  ich  habe  Angst  vor  dir  und  lieber  —  und  fort- 
gesetzt  hatte  es  sich  und  war  im  stillen  gereift,  als  dieses 
Madchen  zum  erstenmal  an  sein  Bctt  trat  und  ihre  kiihle 
Hand  iiber  seinen  Arm  gleiten  lieB  .  .  .  Er  schluchzte  ins 
Kissen,  fiihlte  sich  als  Betriiger  und  Betrogenen,  well  er 
wuBte,  daB  er  dennoch  abreisen  und  diese  Absicht  vielleicht 

leugnen  wurde.  Kaum  habe  ich  jemanden Noch 

immer  schlief  er  nicht,  als  das  Madchen  gegen  Morgen  auf- 
wachte  und  sich  mit  entflammter  Begierde  an  ihn  schmiegte. 
Dann  lagen  sie  noch  da,  eng  nebeneinander,  und  da  auf 
einmal  sagte  das  Madchen:  ,,Tonili,  schwor  mir,  daB  du  es 
mir  sagst,  wenn  du  wegfahrst.  Ich  weiB,  du  bleibst  nicht  in 
Budapest,  erinner  dich  nur,  noch  im  Krankenhaus  hast  du 
gesagt,  du  willst  studieren,  willst  Architekt  werden,  und 
hier  auf  der  Universitat  haben  sie  dich  geschlagen,  du  gehst 
weg,  wozu  solitest  du  in  Budapest  bleiben?  Gut,  ich  weiB 
nicht,  wieso  ich  daran  glaube,  daB  du  es  zu  etwas  bringen 
wirst,  sehr  weit  wirst  du  es  sogar  einmal  bringen  .  .  .  ich 
weiB,  du  fahrst  weg.  Aber  gib  mir  dein  Wort,  daB  du  es  mir 
sagst  und  .  .  .  und  daB  du  jetzt  nicht  fahrst,  denn  das  habe 
ich  dir  noch  gar  nicht  erzahlt,  ich  habe  mir  drei  Tage  Urlaub 
geben  lassen,  Sonntag,  Montag,  Dienstag,  und  Marta  hat 
mir  versprochen,  so  lange  drin  zu  bleiben,  und  dann  werden 
wir  drei  Tage  leben  wie  Mann  und  Frau;  ich  habe  noch  nie 
jemanden  so  geliebt  wie  dich . . .  Toni,  nicht  wahr,  du  fahrst 
nicht  weg,  bevor  du  einmal  ganz  lange  mit  mir  zusammen 
gewesen  bist . . .  dann  gehst  du  ja  sowieso,  und  ich  sehe  dich 
vielleicht  nie  wieder;  ich  nab  dich  doch  gepflegt  .  .  .  du, 
nicht  wahr,  du  liebst  mich  auch?l" 

Samstag  nachmittag  kaufte  er  eine  dunne  Goldkette  und 
cin  klcines  goldenes  vierblatterigcs  Kleeblatt.  Das  gcbe 
ich  dir,  damit  es  dir  Gliick  bringen  soil.  Damit  du  mich  nicht 

8  KflrnuMuli,  {tmlape«t  113 


vcrgiBt  Damit  .  .  .  well  du  mich  geliebt  hast  O  Gott, 
schwcr  wird  es  scin.  —  Am  Abend  vcrabschicdcte  cr  sich 
von  den  Altcn,  er  wolltc  nicht,  daB  sie  am  nachsten  Morgcn 
in  aller  Hcrrgottsfriihe  aufstiinden.  Tantc  Anna  weinte  und 
kiiBte  ihn  wieder  und  wieder.  Onkel  Rudi  warf  verlegen  ein 
paar  ermutigende,  kiihnc  Worte  dazwischen  und  bcmiihte 
sich,  seine  Ruhrung  hinunterzuschlucken.  Tante  Anna  sah 
sich  wohl  hundertmal  an,  ob  scin  KofFcr  auch  in  Ordnung 
sei,  ob  das  SchloB  gut  funktioniere,  hundertmal  sagte  sie, 
das  Geld  solle  er  in  diesem  kleinen  Lcinentaschchen  um  den 
Hals  hangen  und  am  Hemd  feststecken.  Onkel  Rudi  gab  ihm 
cine  Hunderterpackung  Zigaretten,  die  schicke  Herr  Huber, 
,,ja,  mein  Junge,  er  hat  dich  auch  schatzen  gelernt."  .  . .  Als 
cr  am  nachsten  Morgen  um  f iinf  Uhr  aufstand,  —  nicht  cben 
sehr  gerne,  aber  diesen  kleinen  Schwindel  muBte  er  schon 
machen:  ich  kann  ihnen  doch  nicht  sagen,  jetzt  ziehe  ich  fur 
drei  Tage  zu  meiner  Geliebten,  —  waren  die  Alten  doch 
schon  auf,  und  auch  das  Dienstmadchen.  Warmer  Kaffee, 
Kipfel,  Weinen,  geriihrte  langc  Kiisse  und  die  brummende 
alte  Stimme:  ,,nur  Mut,  mein  Junge,  nur  Mut!"  —  ,,Toni, 
schreib  auch  und  schreib  immer,  wie  — "  da  schlug  Tante 
Anna  die  Stimme  iiber,  und  nachher  sagte  sie  nur  noch: 

,,Rudolf .  .  .  wir  sind  schon  alt ".  Sechs  Uhr:  die  erstc 

Elektrische  fahrt  ab,  der  Wagen  ist  leer,  die  StraBe  dunkel, 
leer  und  kalt.  In  einer  halben  Stunde  ist  er  am  Bahnhof.  Der 
Kofler  ist  nicht  einmal  schwer.  Am  Bahnhof  aufgeregtes 
Gewimmel,  wieder  fuhlt  er  den  Eisenbahngeruch,  und  die 
Aufregung  wogt  ihm  zwischen  Brust  und  Magen.  Er  geht 
geradeswegs  auf  die  Gepackaufbcwahrungsstclle  zu,  gibt 
seinen  Kofler  ab  und  fragt  zur  Vorsicht,  ob  er  drei  Tage 
hierbleiben  konne.  ,,Von  mir  aus  auch  drei  Wochcn",  sagt 
der  Bedienungsmann  im  graucn  Sweater.  Er  geht  in  seinem 
neuen  Wintermantel  auf  die  Arena-StraBe  zu,  in  der  Hand 
cine  groflc  weiBe  Tiite:  der  Reiseproviant  von  Tante  Anna. 
Drciviertcl  sieben:  es  ist  noch  zu  friih.  Er  setzt  sich  in  ein 
Cafe,  laBt  sich  Tee  gebcn,  als  er  auf  dem  Tisch  steht,  riihrt  er 


ihn  nicht  an,  er  wird  kalt.  GroBer  Gott,  was  fur  ein  Wahn- 
sinn,  daB  ich  nicht  jetzt  abgefahren  bin.  Wenn  ich  jetzt  drei 
Tagc  mit  ihr  zusammen  bin,  reise  ich  viellcicht  iiberhaupt 
nicht  mehr.  Aber  schlieBlich  ...  ich  wufite  doch  bestimmt, 
daB  ich  noch  nicht  abreise,  sonst  hatte  ich  ja  gestern  das 
Kettchen  in  ein  Kuvert  getan  und  beim  Hausmeister  ab- 
gegeben . . .  nein,  ich  werde  fahren,  nur  heutc  noch  nicht,  ich 
habs  ihr  doch  versprochen,  und  drei  Tage  .  .  .  Halb  acht, 
langsam  spaziert  er  auf  das  Haus  zu.  Die  Alten  denken,  ich 
sitze  schon  lange  im  Zug,  Tante  Anna  weint  gewiB.  Bis  acht 
Uhr  stellt  er  sich  vor  dem  Haus  auf,  dann  geht  er  hinein. 
Auf  der  ersten  Etage  kommt  ihm  ein  groBes  schwarzes 
Madchen  entgegen.  Zum  Verwechseln  getreues  Ebenbild 
Agotas,  nur  etwas  groBer  vielleicht.  Im  Vorbeigehen  lacht 
sie  ihn  mit  glanzenden  weiBen  Zahnen  an.  Marta.  Er 
klingelt  auf  der  dritten  Etage.  Agi,  in  einer  groBen  blauen 
Schiirze,  ein  Tuch  um  den  Kopf  und  in  weiBen  zerrissenen 
Handschuhen.  ,,Bitte,  mein  Herr",  sagt  sie  und  lacht,  ,,Sie 
miissen  entschuldigen,  ich  bin  erst  seit  zwanzig  Minuten  zu 
Hause,  haben  Sie  die  Giite,  noch  einmal  hinunterzugehen 
und  einen  Liter  Spiritus  zu  holen,  der  Kaufmannsladen  ist 
gegeniiber,  bis  dahin  bin  ich  mit  dem  Saubermachen  fertig, 
diese  schreckliche  Marta  hat  sich  verschlafen  und  ist  so 
davongelaufen,  ohne  ihr  Bett  zu  machen."  Er  lacht,  geht 
hinunter  und  holt  den  Spiritus.  Das  Madchen  steht  in  einem 
blauen  Morgenrock  im  Flur  und  offnet  die  Tiir,  noch  bevor 
er  geklingelt  hat.  Sie  laBt  ihn  herein  und  betrachtet  ihn  von 
oben  bis  unten.  ,,Bist  du  aber  elegant ...  ein  neuer  Winter- 
mantel?"  —  ,,Ja."  —  ,,So.  Und  was  ist  in  dem  Paket?"  — 
,,Das  ...  das  ist  was  zu  essen."  —  ,,So.  Von  Zuhause?"  — 
,,Nein  .  .  .  aus  einem  Geschaft."  Agota  sieht  ihn  an,  dann 
trSgt  sie,  ohne  ein  Wort  zu  sagen,  das  Paket  in  die  Kviche. 
Als  sie  zuruckkommt,  lacht  sie  schon  wieder.  ,,Ich  habe 
vorhin  vergessen  zu  fragen,  bist  du  beim  Raufkommen 
nicht  Marta  bcgcgnet,  sie  ist  gerade  in  dem  Moment  weg- 
gegangen."  —  ,,Doch,  ja",  antwortet  er,  ,,ein  hxibsches 

e*  115 


Madchen."  —  ,,So,  gefallt  sie  dir?  Aber  ich  bin  hiibschcr, 
nicht  wahr?"  In  ihrer  Stirnmc  klingt  ein  wcnig  Kokctterie 
und  cin  wenig  Eifcrsucht,  und  sie  driickt  seinen  Kopf  an  sich. 
Mittwoch  morgen  wachtc  er  um  fiinf  Uhr  auf,  er  kroch 
aus  dcm  Bett,  waschcn  wollte  cr  sich  nicht,  um  keinen  Larm 
zu  machen,  ganz  still  fing  er  im  Dunkeln  an,  sich  anzu- 
zichen;  spater  am  Bahnhof  werde  ich  mir  Gesicht  und 
Hande  waschen.  Er  hing  sich  das  Leinensackchen  um  den 
Hals  und  steckte  es  am  Hemd  fest.  Als  er  fertig  war,  sprach 
das  Madchen  aus  dem  Bett  mit  sonderbarer,  kalter,  fremder 
Stimme:  ,,Jetzt  morgens  fahrst  du  ab?"  Die  Stimme  wiihlte 
wieder  alles  in  ihm  auf.  Er  setzte  sich  zu  ihr  ans  Bett  und 
tastete  nach  ihrer  Hand.  ,,Agichcn ..."  —  ,,Antworte  mir, 
ob  du  jetzt  morgens  fahrst,"  —  ihre  Siimme  war  schon 
wieder  wie  gewohnlich.  ,,Toni,  Liebling,  sag  mir  die  Wahr- 
heit,  ich  hab  ja  den  PaB  in  deiner  Tasche  gefunden  und  das 
Kettchen,  das  du  mir  schenken  willst."  O,  —  so  wird  cs 
vielleicht  doch  leichter  sein  ...  so,  ohne  lugen  und  leugnen 
zu  miissen.  Nein,  ich  mache  ihr  nichts  vor,  ihr  nicht  und 
auch  mir  selbst  nicht,  ich  werde  kein  Schwindler  sein, 
dachte  er  und  sagte  leise:  ,,ja,  ich  reise  jetzt."  Da  stand  das 
Madchen  auf,  schliipfte  in  den  Morgenrock,  lief  in  die 
Kuche  und  kam  sehr  bald  mit  einem  groBen  Krug  warmen 
Wassers  zuriick.  ,,Wasch  dich  doch,  Herzchen,  zieh  nur 
ruhig  den  Rock  wieder  aus,  du  hast  noch  viel  Zcit.  Nicht 
wahr,  dein  Gepack  hast  du  am  Bahnhof?  sehr  richtig."  Sie 
sicht  zu,  wie  cr  sich  wascht,  und  rcicht  ihm  das  Handtuch, 
,,zeig  mal  her,  dein  Ohr  ist  ja  noch  voll  Seife  .  .  ."  Er  war 
fertig  und  stand  wieder  angezogen  im  Zimmcr ;  und  da  fiihlt 
er,  dafi  die  halbe  Stunde,  die  er  noch  hat,  bier  in  Agotas 
Nahe  gefahrliche  Worte  bringen  kann:  Worte,  die  entweder 
wcgwischen,  was  kommen  muB,  oder  vcrdcrbcn,  was  bisher 
gewesen  ist.  Er  beschliefit  zu  schweigen.  Das  Madchen  sitzt 
auf  dem  Bett  und  blickt  ihn  an,  und  dann  sagt  sie  leise: 
,,WeiBt  du,  Toni,  der,  von  dem  ich  fast  ein  Kind  gehabt 
hatte . . .  also  das  war  so,  daB  er  wieder  an  die  Front  zuriick- 


muBte,  abcr  er  war  damals  schon  zwei  Jahre  an  der  rus- 
sischen  Front  gcwesen,  und  so  .  .  .  als  sie  ihn  wieder  zum 
Marsch  cinteilten,  da  schoB  er  sich  in  die  Hand,  in  die  Hand- 
flache  wollte  er,  traf  aber  durch  Zufall  ins  rechte  Hand- 
gelenk  .  .  .  weiBt  du,  ich  war  damals  schon  in  Umstanden, 
und  .  .  .  dann  muBte  sein  rechter  Arm  amputiert  werden. 
Ich  war  auch  damals  schon  im  Krankenhaus,  ging  aber  fast 
jeden  Tag  zu  ihm  raus  ins  Garnisonslazarett,  schreckliche 
Angst  stand  der  arme  Junge  aus,  denn  wegen  der  Selbst- 
verstummelung  war  ein  Verfahren  gegen  ihn  eingeleitet 
worden  . .  .  und  dann,  als  er  schon  wieder  ganz  gesund  war 
und  aufstehen  konnte,  ging  er  auf  den  Gang  und  stiirzte 
sich  vom  zweiten  Stock  in  den  .  .  ."  Plotzlich  wurde  sie 
bleich  und  schwieg.  Stille  herrschte,  erst  nach  einer  langen 
Weile  fuhr  sie  fort:  ,,WeiBt  du,Toni,  zuerst  dachte  ich,  das 
kann  man  nicht  uberleben  . . .  aber  dann  habe  ich  mich  doch 
langsam  beruhigt  und  bin  zu  einem  Arzt  gegangen,  weil  ich 
nicht  wollte,  daB  mein  Kind  einen  toten  Vater  ..."  Wieder 
schwieg  sie.  Dann:  ,,er  hatte  ein  Motoren-Installations- 
geschaft  in  der  Vacer-StraBe."  Auf  einmal  steht  sie  auf  und 
tritt  zu  ihm  bin :  ,,aber  dich  habe  ich  mehr  geliebt . .  .  trotz- 
dem  ...  ich  werde  .  .  .  auch  das  uberleben  .  .  .  Tonichen, 
mein  Liebling.  Jetzt  gib  mir  die  Kette  .  . .  nein,  hang  du  sie 
mir  um  den  Hals,  so.  Und  jetzt  geh  schon,  fruhstiicke  noch 
am  Bahnhof,  ich  kann  dir  kein  Friihstiick  machen,  weil 
unser  Kaffee  alle  ist.  Hast  du  alles?  das  Geld?  Und  dann, 
wenn  du  in  Wien  bist,  kannst  du  einmal  — "  Er  beugte  sich 
zu  ihr  und  suchte  ihren  Mund.  ,,Agota,  niemals  .  .  .  nie- 
mals  .  .  .  niemals  .  .  ."  sie  unterbrach  ihn  laut:  ,,red  doch 
nicht!"  sagte  sie  hart,  ,,niemalst  das  soil  man  nicht  sagen, 
was  weiBt  du,  was  morgen  sein  wird . . ."  Sie  stehen  im  Flur, 
sie  nimmt  einen  blauen  Wollschal  vom  Kleiderhaken,  dreht 
ihn  ihm  um  den  Hals,  steckt  ihn  ordentlich  unter  den 
Mantclkragen,  —  ,,so,  damit  du  im  Zug  nicht  frierstl  — " 
und  schiebt  ihn  leise  zur  Tiir:  ,,Tonichen,  gch  doch  schon, 
ich  will  nicht  weinen " 


Er  steht  im  iiberfiillten  Gang  cines  Wagcns  dritter 
Klasse,  den  FuB  auf  dcm  Koffcr;  der  Zug  rollt  langsam  aus 
der  Glashalle.  Also,  wir  fahren  ab.  Ein  Mann  mit  grauem 
Hut  schreitet  neben  dem  Waggon  her  und  ruft  in  den 
Wagen:  ,,Ede!  vcrgiB  ja  nicht,  was  ich  dem  K.  sagen  lasse!" 
Vom  gedrangt  vollen  Gang  ruft  jemand  hinunter:  ,,nein, 
nein,  ich  vergessc  cs  nicht!"  aber  er  sieht  nicht,  wer  das  ist. 
Der  Zug  fahrt  schon  durch  den  Rangierbahnhof,  und  da  hat 
er  plotzlich  das  sonderbarc  Gefiihl,  in  einer  unbekanntcn 
Stadt  anzukommcn.  Dieses  groBe  grau-gclbe  Haus,  was 
kann  das  sein?  das  habe  ich  nie  gesehcn,  und  das  lange, 
niedrige  Gebaude  da  mit  den  Cittern  an  den  Fenstern?  .  .  . 
war  ich  denn  noch  nie  in  dieser  Stadt?  und  die  Briicke,  iiber 
die  wir  jetzt  fahren,  mit  den  StraBenbahnschienen  unten  .  .  . 
das  sollte  Budapest  sein?  Die  bekanntc  Landschaft  zerfallt 
in  fremde  Details;  fremd  ist  das  groBe  Gasreservoir  mit  der 
eigentiimlichen  Uhr,  fremd  sind  die  braunen  Mauern  der 
Lagerhauser,  fremd  die  zu  einem  Netz  verschlungenen 
Eisensaulen  der  Briicke,  und  ein  sonderbarer,  fremder  Berg 
entschwindet  langsam  seinem  Blick.  Aus  dieser  fremden 
Stadt  ist  es  nicht  schwer  wegzureiscn  . . .  nicht  schwer?  und 
die  drei  Tage?  Sic  hatten  sich  kaum  aus  dem  Zimmer 
geriihrt.  Das  Madchen  hatte  eine  sonderbar  aufregende 
und  gleichzeitig  aussohnende  Hiille  um  sie  gezogen, 
cine  Hiille  aus  den  Faden  iiberstromendcr,  ungestiimer 
Begierde  und  der  Sehnsucht  unerreichbarcr  Mutterschaft. 
Sie  hattc  ihn  gebissen  und  ihn  verzartelt.  Mit  dem  cincn 
Wort  hatte  sie  die  Schreckbilder  des  Erinnerns  aus  seinem 
Kopf  verschcucht,  mit  dem  andern  cinen  Funken  in  seine 
Phantasie  geworfen,  und  als  sie  vorsichtig,  gleichsam  zu- 
fallig  und  sofort  am  erstcn  Tage  Wien  crwahntc  und  sah, 
wie  bei  dem  Wort  seine  Augcn  aufgluhtcn,  da  hattc  sic 
gefragt,  ob  er  also  nach  Wien  ginge.  ,,Ja,  nach  Wien, 
irgendwann",  hatte  er  geantwortet.  Er  erinnerte  sich,  wie 
seltsam  still  das  Madchen  da  gelacht  und  seine  Worte 
wiederholt  hattc:  ,,nach  Wien,  irgendwann,"  Und  nicht  viel 


spater,  nach  ciner  kleinen  Untersuchung  seiner  Rocktasche, 
muBtc  sich  der  Krcis  schlieBen:  ich  reise,  irgendwann  — 
der  neue  Wintcrmantel  —  die  Provianttiite  —  der  PaB  mit 
dem  osterreichischen  Visum  —  das  Geld  im  Leinen- 
sackchen  —  die  diinne  Goldkette  .  .  .  und  da  hatte  sie  ge- 
wuBt,  daB  dieser  Wiener  Zug  hier  vom  Bett  aus  abfuhr,  und 
daB  diese  dreitagige  Hochzeitsnacht  ein  dreitagiger  Abschied 
war.  —  Er  beriihrte  den  blauen  Schal  an  seinem  Hals  und 
hatte  das  Gefiihl,  als  streichle  er  das  Gesicht  des  Madchens. 
Tonichen,  geh  doch  schon,  ich  will  nicht  weinen  —  Na. 
Dem  Schaffner  gab  er  ein  Trinkgeld,  und  so  gelang  es  ihm, 
im  letzten  Wagen  einen  Sitzplatz  zu  bekommen.  Er  saB  am 
Fenster,  im  Kupee  waren  sie  nur  zu  acht.  So  nimmt  die 
Sachc  einen  ganz  guten  Anfang,  dachte  er  und  betrachtete 
die  neblige,  herbstliche  Donau.  Jetzt  werde  ich  Budapest 
lange  nicht  wiedersehen,  in  Wien  werde  ich  leben,  in  einer 
fremden  GroBstadt.  Niemanden  habe  ich  in  Wicn  .  .  .  und 
wie  er  das  so  in  Gedanken  vor  sich  hinsagte,  niemanden 
habe  ich  in  Wien,  da  fiihlte  er  beim  tonenden,  klingenden 
Rattern  des  Zuges,  in  der  dunkel  dahinschwindenden  Land- 
schaft  und  in  den  sieben  fremden  Gesichtern  des  Abteils, 
daB  diese  Reise  richtig  war,  und  daB  es  gut  war,  in  Wien 
niemanden  zu  haben;  —  besorgte  alte  Verwandte  in 
Budapest;  zwei  verschwommene  Schatten  in  Deva;  eine 
junge,  gliihende  Umarmung,  um  so  fremder,  da  sie  nur 
angenchm  gewesen  war;  schwere Traume,  aus  denen  er  von 
Larm  in  der  nachtlichen  Stille  erwacht;  bekannte  StraBen, 
durch  die  er  Angstgefiihle  schleppt;  —  all  das  fliegt  nick- 
wins  uber  die  Kilometersteine  hin,  iiber  die  jagenden 
Minuten  hin  .  .  .  Und  als  das  erste  offizielle  deutsche  Wort 
ertont,  hat  er  ein  seltsames,  sicheres  Glanzen  in  den  Augen; 
er  fuhlt,  wic  sich  ein  grauer  Vorhang  hintcr  ihm  schlieBt; 
unter  seinem  Hemd  betastet  er  das  Gcldsackchen,  in  der 
Tasche  den  PaB  und  die  groBe  schwarze  lederne  Brieftasche, 
in  der  er  seine  Papierc  bewahrt  —  nun,  wir  wollen  schen, 
was  jetzt  kommt. 

119 


DlE  Tagc  rollen  dahin  im  kalten,  nebligcn  Herbst;  er 
bcmerkt  es  gar  nicht,  daB  er  schon  zwei  Wochen  in  Wien 
1st.  Nach  dem  Nest  Dcva,  dem  verschlafenen  Kolozsvar, 
dem  von  der  Gewohnheit  verwaschenen  Budapest,  dem 
Triimmerhaufen  Gorz  und  nach  Innsbruck,  dem  sonder- 
barcn  halb  Krankenhaus-  und  halb  Sommerfrische-Aufent- 
halt,  erwartete  er  mit  keineswegs  geleugneter  innercr  Span- 
nung  von  Wien  die  Sensation  der  GroBstadt.  Ein  Programm 
hatte  er  nicht,  well  er  gar  kein  Programm  hatte  machen 
konnen ;  weit  geoffnet  erwartete  er  von  der  Stadt  das  Wunder 
wie  einer,  der  ohne  Katalog  in  cine  Bilderausstellung  geht. 
Alles  war  ihm  neu,  um  so  mehr,  da  er  nur  auf  Neuigkeiten 
eingestellt  war  und  die  Analogien  von  vornherein  von  sich 
wies.  —  Eigentumlich  gestaltete  sich  in  ihm  das  Bild  der 
Stadt:  die  breiten,  sauberen  Straflen,  die  in  aristokratischer 
Ruhe  daliegenden  machtigen  Platze  und  die  groBen  Hauser 
im  residen2haften  Stil  verschwammen  mit  den  unter  roten 
Fahnen  durch  die  StraBcn  drangenden  Menschenmassen, 
den  sirenetutenden  Missionsautos  mit  den  fremden  Fahn- 
chen,  den  Lichtreklamen,  die  plotzlich  aus  dem  Boden 
geschossene  Lokale  schreiend  anzeigten.  Hinter  den  elegan- 
ten  Spazicrgangern  der  innern  Stadt  auf  den  Ringen,  hinter 
den  franzosischen,  englischen  und  italienischen  Offizieren, 
den  schlangestehenden  Zerlumpten  der  AuBenbezirke, 
hinter  den  im  Stadtviertel  jenseits  des  Kanals  laut  fcilschen- 
den  Stirnlockchenjuden  konnte  er  den  Wiener  Biirger  nicht 
sehen;  diesen  Burger,  der  mit  tragischer  Stupiditat  ver- 
standnislos  vor  dem  Fiaker,  dem  ,,Heurigen"  und  der 
sicheren  Rente  stand,  dem  auf  den  Misthaufen  geworfenen 
und  in  Brand  gesteckten  Triptychon  solider  biirgerlicher 
Prosperitat,  und,  in  der  Tasche  die  Fiktion  des  sterbenden 
Geldes,  im  Herzen  den  lauen  Rhythmus  des  Donauwalzers, 
sein  Auge  nach  innen  wendet  und  1914  triumt.  Die 
Tauschung  berauschender  Farbcn,  das  chaotische  Getose 

1 20 


der  irrsinnig  gcwordcnen  Tagc  stopften  ihm  anfangiich 
Augcn  und  Ohren  zu,  und  nur  deshalb  kam  er  leicht  iibcr 
die  fututistisch  angehauchte  Buhnenproduktion  der  bosen 
Absicht  und  der  salbungsvollen  Unverantwortlichkeit 
hinweg,  well  er  von  dem  Glauben  beseelt  war,  was  er  hier 
finde,  sei  gut. 

Olig  glatt,  bestechend  leicht  kommen  seine  Angelegen- 
heiten  in  Gang.  Geld  hat  er,  und  das  heimatliche  Geld  hat 
hier  den  dreifachen  Wert.  An  der  Technischcn  Hochschule 
wird  er  schneller  und  einfacher  aufgenommen,  als  er  zu 
Hause  zur  Fahrkarte  gelangte.  Er  lernt  Menschen  kennen, 

—  den  Buchhandler,  bei  dem  er  seine  Bucher  kauft,  einen 
jungen  Rechtsanwalt,  der  in  demselben  Hotel  wohnt,  den 
Hotel-Portier,  ein  paar  Studenten  von  der  Hochschule, 

—  und  durch  derlei  fliichtige  Bekanntschaften  gelangt  er 
nach  wenigen  Tagen  zu  einer  ordentlichen  Wohnung:  aus 
dem  schmierigen,  verwanzten  Hotel  in  der  TaborstraBe, 
wohin  ihn  am  ersten  Tage  der  Rat  oder  vielmehr  das  Ein- 
taxieren   eines    am    Bahnhof  Herumlungernden   dirigiert 
hatte,  iibersiedelt  er  in  ein  sauberes,  hiibsches  StraBen- 
zimmer  im  zweiten  Stock,  wenige  Minuten  von  der  Hoch- 
schule  entfernt.    Seine   Wirtin  heiBt   Frau   Wessely,   ist 
Ministerialratswitwe,  vermietet  fiinf  von  sechs  Zimmern, 
in  vieren  wohnen  Studenten,  im  funften  cine  groBe  blonde 
junge  Dame,  von  der  man  nicht  weiB,  wer  und  was  sie  ist, 
was  sie  fur  eine  Beschaftigung  hat;  nur  soviel  ist  sicher: 
wenn  sie  weggeht,  schlieBt  sie  ihr  Zimmer  mit  dem  Schliissel 
zu,  —  im  iibrigen  sieht  man  sie  kaum;  nachmittags  ist  sie 
gewohnlich  ein-zwei  Stunden  in  ihrem  Zimmer,  vormittags 
geht  sie  weg,  wahrend  die  jungen  Leute  nicht  zu  Hause 
sind,  und  kommt  spat  abends  oder  nachts  zuriick.  Friihstiick 
gibt  Frau  Wessely,  fur  ein  paar  Heller  iBt  er  in  der  Mcnsa 
zu  Mittag,   Cornedbeef  aus   einer  Blechbiichse  ist  sein 
Abendessen,  und  er  rechnet  sich  aus,  daB  sein  Geld  voraus- 
sichtlich  fur  drei  Semester  in  Wien  reicht.  Mit  den  Studien- 
gcnossen  ist  bald  Freundschaft  gcschlosscn.  Im  Nebcn- 

121 


zimmer  wobnt  ein  Tcchnikcr,  dritter  Jahrgang,  namens 
Hummel,  auf  dcssen  Visitcnkartcn  stcht:  Carl  Viktor 
Hummel,  vor  dem  12.  XL  1918  von  und  zu  Humelberg. 
Hummel  ist  ein  ganz  amusanter  Kerl,  ein  regelrechter 
Miinchhausen,  eines  Abends  setzte  er  sicb  zu  ihm  ins 
Zimmer  und  erzahlte  ihm  bis  zum  Morgengrauen  von  dem 
Gut  in  Tirol,  den  dazugehorigen  Dorfern,  Waldern  und 
Seen,  von  dem  AhnenschloB,  in  dem  alte  Hummels  mit 
Rudolf  von  Habsburg  gebechert  habcn,  von  all  dieser 
Herrlichkeit,  von  der  durch  Wein,  Kartenspiel,  Weiber  und 
Wucherer  schon  vor  Jahrzehnten  nichts  anderes  mehr 
iibrig  war  als  das  von  und  zu.  Als  er  gegen  Morgen  tief 
gahntc  und  aufstand,  —  ,,na,  jetzt  wirds  aber  Zcit,  schlafen 
zu  gehen",  drehte  er  sich  an  der  Tiire  noch  einmal  um: 
,,und  was  wiirdest  du  dazu  sagen,  wenn  ich  dir  jetzt 
erklarte,  daB  von  der  ganzen  Geschichte  kein  Wort  wahr 
ist,  die  ganze  Hummeliade  bloB  Luft?"  —  ,,Macht  auch 
nichts",  antwortete  er,  ,,du  hast  mich  jedenfalls  gut  unter- 
halten."  Hummel  lachte  schallend  in  die  morgendliche 
Stille  der  Wohnung  und  ging.  Auf  der  Hochschule  erfuhr 
er,  daB  Hummel  der  Sohn  eines  Sankt-Poltcner  Backers  sei, 
der  mindestens  fiinf  Hummels  auf  dem  Sankt-Poltcner 
Friedhof  seine  Ahnen  nenne,  lauter  brave  Backermeister 
und  Gastwirte.  —  Der  hagere  Miihlbeck,  hintcn  vom  Ende 
des  Korridors,  ist  Philologe  und  ein  verschlossener  Mensch. 
Wenn  zufallig  jemand  die  Tiir  seines  Zimmers  aufmacht, 
sitzt  er  gcwohnlich  am  Tisch,  den  Kopf  in  die  Faust  gestiitzt, 
und  schreibt  mit  der  linken  Hand  in  ein  dickes  blaues  Heft. 
Er  erhebt  sich,  griiBt  etwas  verwirrt,  setzt  sich  sofort  wicdcr 
bin  und  schreibt  unbeirrt  weiter,  man  konnte  ruhig  das 
Zimmer  um  ihn  in  Brand  stecken.  Der  dritte  Hausgenosse 
ist  Wiedmann;  seine  Manic  ist  das  Spiel,  im  iibrigen  ist  er 
Kunsthistoriker.  Sects  tragt  cr  ein  Spiel  Karten  in  der 
Taschc,  mit  Wonne  ist  er  geneigt,  stundcnlang  Einund- 
Twanzig  zu  spielcn,  und  sei  es  auch  nur  um  cine  Ohrfeige 
odcr  ein  Glas  Wasser;  wenn  sich  aber  auch  dazu  kein  Partner 

122 


findet,  dann  spielt  er  fur  sich  alleine  Bakkarat,  —  und 
sagt:  ,,meine  linke  Hand  hat  meine  rechte  Hand  voll- 
kommen  gesprengt",  —  oder  cr  legt  den  groBen  Napoleon. 
Im  letzten  Studentenzimmer,  dem  geraumigsten,  wohnen 
vier  zusammcn,  vier  junge  Juden;  drei  von  ihnen  studieren 
Medizin,  der  vierte  geht  ins  Rabbiner-Seminar.  Dieser 
angehende  Rabbiner  war  der  Intercssanteste  von  der  ganzen 
Gesellschaft.  Eine  grofie  gebeugte  Gestalt  mit  brennenden 
schwarzen  Augen,  Ohren,  groB  wie  Segel,  und  einer 
machtigen  gebogenen  Nase,  die  die  dicken  Lippen  beschat- 
tete.  Er  war  aus  Czernowitz  nach  Wien  gekommen,  jeden 
Morgen  bctetc  er  mit  Gebetsriemen,  und  wenn  sich  manch- 
mal  gegen  Abend  die  ganze  Gesellschaft  im  Zimmer  der 
vier  zusammensetzte,  hatte  man  nicht  geglaubt,  daB  es  ein 
angehender  Rabbiner  sei,  dessen  rein,  hart  und  glatt 
klingender  Rede  man  lauschte.  Adolf  Feuerstein  lehnte  sich 
gewohnlich  ans  Fenster,  seine  rechte,  zur  Faust  geballte 
Hand  begleitete  seine  Satze  mit  vertikalen,  unjiidischen 
Gesten.  ,,Die  Hygiene  der  Seele  ist  die  Religion,  wie  die 
Hygiene  des  Korpers  die  Reinlichkeit  ist.  Aber  stellt  euch 
die  Sauberung  an  einem  Brunnen  vor,  ohne  Seife,  warmes 
Wasser,  Zahnbiirste  und  saubere  Kleider:  genau  so  ist  die 
Religion,  wenn  sie  die  Resultate  von  Wissen  und  Asthetik 
von  sich  wirft.  Raphael  war  nicht  nur  religios,  Rembrandt 
nicht  nur  Anatom,  und  Dostojewskijs  Messianismus  erlitt 
auch  keinen  Abbruch  dort,  wo  er  dem  begegnet,  was  man 
heute  Psychoanalyse  nennt.  Die  Wunder  des  Glaubens 
vergehen  nicht,  wo  die  naturlichen  Resultate  der  Wissen- 
schaft  beginnen,  und  wer  die  weltgestaltende  und  welt- 
erhaltende  Kraft  des  Glaubens  leugnet,  ist  zum  mindesten 
so  lacherlich  wie  der,  der  nicht  geneigt  ist,  von  der  welt- 
umgcstaltenden,  weltvorwSrtsbringenden  Kraft  der  Elek- 
trizitfit  Kenntnis  zu  nehmen.  Das  Wort  der  Schrift  ist  hcilig, 
das  steht  auBer  Zweifel,  aber  um  so  heiliger,  als  es  die 
Lesart  im  Sinnc  des  Alltags  zulaBt.  Der  Gcdankc  der  Gott- 
heit  ist  der  Gcdankc  des  ewigen  Seins,  doch  wer  das  ewige 

123 


Sein  in  der  starren  Unbcweglichkeit  des  Steins  anbctct  und 
es  nicht  lebt  in  der  ewigen  Bewegung  der  Welt,  entnickt 
dem  Gedanken  der  Gottheit  mehr  als  derjenige,  der  ab- 
sichtlich  versucht,  die  Brucken  zwischen  sich  und  dem 
Gottesglauben  zu  verbrennen."  Adolf  Feuerstein  stand 
stundcnlang  am  Fenster,  beschrieb  mit  der  Faust  vertikale 
Linien  in  der  Luft  und  sprach  von  Beethoven  und  Pascal, 
sprach  vom  Sozialismus  und  von  Franziskus  von  Assisi, 
sprach  vom  romischen  Recht,  von  Shakespeare,  von  den 
amehkanischen  Eisenbahnen,  von  Manet,  vom  Krieg  und 
dem  geplantcn  Volkcrbund,  von  der  chemischen  Industrie 
in  Deutschland,  von  Reinhardts  Theatern  und  Lord  Roth- 
schilds Schmetterlingssammlung,  sprach  vom  Bolschewis- 
mus,  vom  Eisenbeton-Hochbau,  von  der  wirtschaftlichen 
Krise,  die  die  Welt  bedrohte,  und  vom  Dreifiigjahrigen 
Kricg;  er  zitierte  Goethe  und  die  Bibel,  Ruskin  und  Peter 
Altenberg,  und  einmal  sprach  er  auch  von  sich  selbst,  von 
seiner  Familie  und  einem  seiner  Briider,  der  in  St.  Peters-* 
burg  gelebt  hatte  und  1905,  um  die  Zeit  der  Strafienkampfe, 
in  der  Newa  ertrunken  war.  Von  Adolf  Feuersteins  Lippen 
sprudelten  die  runden,  kristallklar  formulierten,  urteilartig 
abgefaBtcn  Satze;  dann  begann  die  Diskussion,  und  lange, 
lange  Stunden  hindurch  polterten  die  Worte  im  wogenden 
Zigarcttenrauch,  bis  schlicClich  der  Wunderrabbi  —  Hum- 
mel hatte  Feuerstein  so  genannt  —  die  Gescllschaft  aus- 
einandertrieb.  Die  ganz  neuen  Worte,  die  neucn  Namen  und 
die  Gedanken,  von  denen  Kadar  friiher  nicht  einmal  eine 
Ahnung  hatte,  sturmten  etwas  plotzlich  auf  ihn  ein,  und  in 
der  ersten  Zeit  hatte  er  Stunden,  ahnlich  denen  in  seiner 
Kindhcit,  als  ihn  der  Vater  zum  erstenmal  vor  das  Schach- 
brett  setzte  und  ihm  die  Ziige  erklarte,  und  es  ihm  dann 
nachher  war,  als  gingen  die  Menschcn  schrag  oder  in 
RoBl-Spriingcn,  und  er  vor  den  Jungens  in  der  Schule  nur 
wagte,  von  Angesicht  zu  Angesicht  stehenzubleiben,  damit 
sic  ihn,  den  ungcdeckten  Bauern,  nicht  etwa  schliigen. 
Der  Kopf  drehte  sich  ihm,  wie  er  so  im  Bett  lag,  die  Worte 

124 


vcrfolgtcn  ihn,  und  cs  dauerte  Tage,  bis  er  die  Dinge 
einigermaBen  zu  ordnen  vermochte.  Feuerstein  war  gut  zu 
ihm  und  sprach  gerne  mit  ihm,  wenn  er  zu  ihm  ins  Zimmer 
ging  und  iiber  dies  und  jenes  um  Auf  klarung  bat,  was  er 
nicht  verstanden  oder  wovon  er  friiher  noch  nicht  gehort 
hatte.  Vor  dem  Wunderrabbi  schamte  er  sich  seiner  Un- 
wissenheit  nicht  und  war  dankbar  fur  alles,  was  er  lernte. 
Feuerstein  nahm  ihn  eines  Sonntagsvormittags  mit  in  eine 
Galerie  und  zeigte  und  erklarte  ihm  die  alten  Bilder.  Das 
ist  mindestcns  soviel  wert  wie  die  lateinische  Satzlehre  oder 
die  Maschinengewehrkunde,  dachte  er,  als  er  tagelang  im 
Taumel  der  Bilder  lebte. 

Eines  Abends  ereignete  sich  etwas  Ungewohnliches : 
Feuerstein  stand  am  Fenster  und  sprach  von  der  Wirkung 
der  Massenpsychose  im  Kriege  —  da  geht  die  Tiire  auf,  und 
die  blonde  Frau  tritt  herein.  ,,Darf  ich  auch  ein  biBchen  dem 
Vortrag  lauschen?"  fragt  sic  und  setzt  sich  auf  den  Rand 
des  einen  Eisenbettes.  Die  jungen  Leute  werden  verlegen, 
stehen  auf,  die  Frau,  —  sie  wissen  nicht  mehr  von  ihr,  als 
daB  sie  hiibsch  und  Jung  ist  und  unter  dem  Namen  Gerda 
Buhr  bei  Frau  Wessely  wohnt,  —  winkt  ihnen,  sie  sollen 
sich  doch  nicht  storen  lassen,  —  Feuerstein  sagt  bloB: 
,,bitte,  sehr  gerne",  und  fahrt  in  seiner  Rede  fort.  Die 
jungen  Leute  betrachten  sie  verstohlen,  die  mit  iiber- 
einandergeschlagenen  langen  Beinen  auf  dem  Bett  sitzt, 
raucht  und  mit  hochgezogenen  Augenbrauen  zuhort.  Im 
Zimmer  breitet  sich  cine  Unruhe  aus,  der  eine  und  andere 
spricht  dazwischen,  zwei  tuscheln  miteinander,  —  der 
Wunderrabbi  haut  in  die  Luft  und  redet.  Die  Wirkung  der 
Massenpsychose  im  Kriege  —  seine  gliihenden  Augen 
stechen  hypnotisicrcnd  hierhin  und  dorthin,  er  fiihlt,  wie 
die  Gegenwart  der  Frau  den  Kontakt  zwischen  ihm  und 
scinen  Horern  stort,  aber  er  gibt  nicht  nach:  seine  Worte 
werden  schSrfcr,  seine  Gesten  ungeduldiger,  seine  Augen 
starren  aus  tiefen  Hohlen,  —  die  Massenpsychose  im 
Kriege  —  seine  Stimme  klingt  unduldsam  und  bcfehlend, 

125 


jetzt  blickt  er  nur  noch  die  Prau  an  und  die  Frau  ihn,  und 
die  ganze  Gesellschaft  beobachtet  dieses  eigentiimliche 
feindliche  Augcnspiel,  in  dem  des  einen  starke  Waffe  das 
Wort  1st,  die  des  andern,  noch  scharfer,  das  Schweigen, 
und  alle  fiihlen,  daB  sich  hicr  jetzt  ein  unverstandlicher, 
seltsamer  und  personlicher  Kampf  abspielt  zwischen  dem 
groBen  schwarzen  Judcnjungen  und  der  groBen  blonden 
Christin;  —  die  Massenpsychose  im  Kriege  —  und  da  steht 
Gerda  Buhr  vom  Bett  auf,  ,,danke",  sagt  sie,  ,,es  war  ganz 
lustig  . . .  bloB  sind  Sie  ein  lauer  Schwatzcr,  nein,  ein  Kind 
sind  Sie",  —  und  datnit  ist  sie  auch  schon  aus  dem  Zimmer. 
Eisige  Stiile,  das  ist  zweifellos  ein  sonderbarer  Lohn,  — 
Feuersteins  Augen  blinzeln  rasch,  ringend  sucht  er  nach 
cinem  Wort,  Hummel  rettct  die  Situation.  ,,LaB  schon  gut 
sein",  sagt  er,  ,,reg  dich  nicht  auf,  Wunderrabbi.  Ich  kenne 
diese  Sorte,  cine  gewohnliche  Dime  oder  eine  Kommunistin, 
aber  ich  glaube  nicht,  daB  sie  teuerer  ware  als  zwanzig 
Kronen."  Damit  war  Gerda  Buhr  zur  allgemeinen  Beruhi- 
gung  erledigt,  keiner  widersprach  Hummel,  und  alle 
hatten  sie  Feuerstein  gern  genug,  um  nicht  mehr  von  der 
Sache  zu  reden.  Die  abend  lichen  Diskussionen  nahmen 
weiter  ihren  Gang;  die  Frau  meldetc  sich  natiirlich  nicht 
mehr. 

Angcnehm  vergingen  die  Tage  auf  der  Hochschule:  er 
studierte  und  arbeitete  hart,  sein  Leben  floB  ruhig  und  ohne 
Errcgung  zwischen  den  Horsfclen,  den  Biichern  und  Feuer- 
steins Zimmer  dahin.  Allmahlich  bemerkte  er,  daB  er  in  der 
Stadt  noch  fremd  war,  und  versuchte,  Bekanntschaften  zu 
machen.  Wien  ist  eine  freundliche  Stadt,  sagte  er  sich,  wie 
um  sich  selbst  Mut  einzusprechcn,  und  langsam  kam  er 
dahinter,  daB  sein  Dreieck  sich  in  keiner  Weise  erweitern 
wollte.  Da  waren  die  Dinge  des  Alltags,  uber  denen  die 
Stadt  branntc:  und  gerade  an  die  konnte  er  sich  nicht 
gewohnen,  gerade  die  interessierten  ihn  nicht.  Er  hatte  keine 
Ahnung,  was  eigentlich  mit  Wien  und  mit  Osterreich 
vorging.  Hatte  keine  Ahnung,  wieviele  politischc  Parteien 

126 


es  gab,  wclche  Fragen  es  waren,  die  cinmal  Masscn  mit 
roten  Fahnen,  ein  anderes  Mai  Massen  mit  kurzen  Karabi- 
nern  und  Jagerhiitcn  auf  die  StraBen  warfen.  Und  daB  er 
fremd  war,  fiihlte  er  so  recht  erst  in  der  Hochschule;  ver- 
gebcns  versuchte  er,  die  Sache  einfach  damit  abzutun:  ich 
tue  nichts  anderes  als  lernen,  —  an  den  Vereinigungcn,  den 
Gruppen,  den  Gesellschaften  Gieichdenkender  oder  Gleich- 
interessierter,  an  Diskussionen  und  Zusammenkiinften,  an 
denen  er  nicht  teilnahm,  sah  er,  daB  er  nirgends  hingehorte 
und  mit  nichts  verkniipft  war.  Diese  Senders  tellung  war 
weder  gut  noch  schlecht.  Gut  war  sie  nicht,  denn  er  fxihlte 
selbst,  daB  er  in  seiner  Fremdheit  und  Wurzellosigkeit 
niemals  etwas  anderes  sein  konne  als  ein  mit  Nachsicht 
Behandclter  und  Geduldeter;  aber  schlecht  war  sie  auch 
nicht,  weil  sie  ihn  allerlei  Verpflichtungen  enthob.  Ver- 
pflichtungen?  .  . .  War  er  verpflichtet,  mit  einigen  bier- 
liebenden  Kommilitonen  allabendlich  in  der  kleinen  soliden 
biirgerlichen  Gaststube  auf  dem  Ring  zu  sitzen?  oder  bei 
der  einen  oder  andern  lauten  Zusammenkunft  einen  un- 
bekannten  Herrn  namens  Renner  fiir  alles  verantwortlich 
zu  machen  oder  —  mit  weniger  unbekannten  Phrasen  — 
auf  die  Internationale  Sozialdemokratie  und  das  Judcn- 
tum  zu  schimpfen?  odcr  mit  Russenkittlern  in  einer  Vor- 
stadtwohnung  zu  sitzen  und  landlaufige  Marx-Ausspriiche 
wiederzukauen?  —  Manchmal  fiihlte  er  mit  voller  GewiB- 
heit,  daB  es  besser  war,  fremd  zu  sein  in  dieser  Stadt,  daB  es 
wenigstens  vorlaufig  besser  war,  nirgends  hinzugehoren, 
nicht  Stellung  zu  nehmen,  nicht  voreingenommen  zu  sein 
und  dadurch  keine  Verpflichtungen  zu  haben.  Wenn  ich 
einmal  alles  uber  die  Stadt  weiB,  sie  ganz  genau  kenne,  dann 
viellcicht  — 

Der  erste  Brief,  den  er  an  die  Alten  nach  Hause  schrieb, 
ging  leicht.  Ich  bin  gut  angekommen,  da  und  da  abgcstiegen, 
habe  diese  und  jene  Menschen  kennengelernt,  auf  der 
Hochschule  bin  ich  schon  aufgenommen,  cs  geht  mir  gut, 
ich  bin  gliickjich,  hierhergekommen  zu  sein,  Dann  wurde 

127 


das  Briefschrciben  immer  schwerer  und  schwercr.  Solange 
es  Dinge  gab,  die  die  Alten  interessieren  konnten,  flog  die 
Fedcr  lelcht  iiber  das  Papier . . .  ich  war  im  Burgthc&er  und 
habe  ein  wunderbares  historisches  Stiick  gesehen,  ,,Der 
junge  Medardus"  heiBt  es,  und  Artur  Schnitzler  hat  es 
geschricben.  Auf  den  Rat  mcines  Freundes  Feuerstein  habe 
ich  fur  mein  ganzes  Geld  Schweizer  Franken  gekauft,  er 
sagt,  die  Schweiz  ist  ein  Friedensland,  ihrem  Geld  kann 
nichts  passieren,  und  es  scheint,  er  hat  recht;  jedesmal, 
wenn  ich  Geld  wechsle,  bekomme  ich  mehr  und  mehr 
osterrcichische  Kronen  fiir  die  Franken,  andrerseits  stimmt 
cs  aber  auch,  daB  hier  alles  teurer  wird,  doch  bleibt  der 
Zusammenhang,  wie  ich  sehe,  im  Verhaltnis  oder  schlagt 
vielleicht  cher  zu  meinen  Guns  ten  aus.  Auf  der  Hochschule 
geht  es  mir  gut,  ich  habe  ein  Kolloquium  mit  Vorziiglich 
bcstanden,  und  zwar  bei  einem  Professor,  von  dem  es 
heiBt,  er  sei  ein  gemein  strenger  Kerl,  zu  mir  war  cr  aber 
ziemlich  freundlich.  Dann  hatte  er  immer  weniger  zu 
schreiben,  richtiger  gesagt:  immer  weniger  einfach  mitzu- 
teilen.  Oder  soil  ich  vielleicht  schreiben,  daB  ich  diescr 
Frau  mit  Namen  Gerda  auf  lauere,  von  der  Hummel  sagt, 
sic  sei  eine  gewohnliche  Dime  oder  cine  Kommunistin?  . .  . 
Es  geht  mir  gut,  ich  arbeite  viel:  das  ungcfahr  ware  der 
standige  Text  der  monatlichen  Briefc  gewesen,  —  Geld 
habe  ich,  Sorgen  keine,  ich  hofFe,  auch  euch  geht  es  gut. 
Ein  paar  Briefbogen  verschmierte  er,  als  er  das  erstcmal 
an  Agota  schrieb.  Agota,  ich  danke  dir,  so  fing  er  an  und 
dachte  an  ihren  Mund,  dann  zerriB  er  das  Papier.  Agichen, 
ich  denke  viel  an  Dich  .  .  .  blodsinnig  banal,  das  kann  ich 
doch  der  nicht  schreiben,  die  Wochen  hindurch  an  meincm 

Bett Mit  schwercr  Miihe  brachtc  er  schlieBlich 

eincn  zwei  Seiten  langen  Brief  zustande,  und  als  er  ihn 
durchlas,  kam  er  geradczu  in  Wut  iiber  die  oberflachlichen 
und  gleichgiiltigcn  Mitteilungen,  iiber  den  kalten,  interesse- 
losen  Ton,  —  er  schickte  den  Brief  nicht  ab.  Es  ist  besser, 
schoner  und  stilvoller,  wenn  ich  ihr  nicht  schreibc:  das  fiel 

128 


ihm  eincs  Tages  cin,  als  er  an  sic  dachtc,  —  spater,  wenn  ich 
es  schon  zu  etwas  gebracht  habe  .  .  .  Und  dann  in  dcr 
Sylvesternacht,  als  Hummel  aus  dem  Weihnachtspaket  aus 
Sankt  Polten  die  beiden  Flaschen  Tannengoldwasser  aus- 
packte  und  die  ganze  Gesellschaft  sich  an  diesem  Gift- 
trank  griindlich  berauschte,  schrieb  er  mit  benebeltem 
Kopf  auf  ein  Stuck  Papier:  Ein  gliickliches  neues  Jahr 
wunsche  ich  Dir,  ich  bete  Dich  an  und  werde  Dich  nie 
vergessen,  Antal,  —  und  das  schickte  er  noch  in  derselben 
Nacht  von  der  Hauptpost  ab.  Zum  Gliick  fiel  ihm  diese 
Tolpelhaftigkeit  erst  nach  Tagen  ein,  als  der  Arger  zu  spat 
kam,  und  so  war  cs  besser,  nicht  mehr  an  die  Sache  zu 
denken. 

Es  wurde  Friihling :  an  den  streng  der  Ruhe  bestimmten 
Sonntagen  machte  er  groBe  Spaziergange  durch  die  Stadt, 
spater  auch  in  die  nachste  Umgebung.  Leicht,  schon  waren 
diese  Sonntage.  In  zehn  Minuten  fand  sich  unbedingt  ein 
lautes,  lachendes  junges  Madel,  mit  dem  man  den  Sonntag- 
nachmittag  angenehm  verbummeln  konnte,  und  die  meisten 
dachten  nicht  lange  nach,  wenn  er  sie  nach  einer  Tasse 
KarTee  oder  einem  Paar  Wurstchen  und  einem  Krug  Bier 
mit  in  seine  Wohnung  bat.  Frau  Wessely  schloB  sich  ge- 
wohnlich  um  siebcn  Uhr  abends  in  ihr  Zimmer  ein  und  war 
bis  zum  Morgen  nicht  sichtbar,  —  nach  Hummels  Meinung 
aus  dem  Grunde,  weil  ihr  verstorbener  Mann  abends  um 
sieben  im  Rathauskeller  vom  Schlag  getroffen  worden  war 
und  morgens  um  fiinf  zum  letztcnmal  geatmet  hatte,  — 
die  trampelige,  sommersprossige  Magd  verbrachte  ihre 
Nachte  meist  beim  schweigsamen  Miihlbeck,  und  so  ver- 
hinderte  oder  beanstandete  nicmand  die  fliichtigen  nacht- 
lichen  Besuche.  Die  Sonntagsmadchen,  —  Verkauferinnen, 
Hausmeisterstochter,  besserc  Dienstboten,  —  paBten  voll- 
kommen  in  sein  halbwegs  unbewuBtes  Programm,  dessen 
halbwegs  unbcwufltes  Leitmotiv  war :  keineVerpflichtungen. 
Es  kam  zwar  vor,  daB  ein  MSdchen  aus  einem  Blumenge- 
schaft  auf  dem  Schottenring  ihn  drei  Sonntage  nacheinander 

9  KOrmendi,  Budapeat  129 


abholtc,  als  er  ihr  indessen  am  vierten  Sonntag  sagte: 
,,ich  hab*  ein  bifichcn  Kopfschmerzen  .  .  ."  fragte  sie  bloB: 
,,hast  du  wirklich  Kopfschmcrzen  odcr  nur  fiir  mich?" 
Er  lachte  und  gab  keinc  Antwort,  Da  setzte  sie  den  or- 
dinaren  kleinen  roten  Hut  wieder  auf,  sagte:  ,,Servus, 
Putzi!"  und  lieB  ihn  stehen.  Spater  ging  er  in  bester  Laune 
weg  und  schlenderte  den  ganzen  Nachmittag  mit  einem 
M£del  durch  den  Prater,  das  cr  in  der  Elektrischen  auf- 
gegabelt  hatte.  Verantwortungslosigkeit,  dachte  er,  ich 
bin  fremd  hier  .  .  . 

Dieses  gewaltsam  freie  Leben  dauerte  so  lange,  bis  er 
Anfang  Juni  ein  Maclchen  mit  Namen  Kathe  kennenlernte, 
die  im  Hause  eines  Bankdirektors  Erzieherin  war.  Kathe 
sprach  ihn  an,  —  das  geschah  so,  daB  er  eines  Samstag- 
abends  auf  dem  Wege  nach  Hause  vor  einem  Theater 
stehenblieb  und  sich  das  Programm  ansah.  Dann  be- 
trachtete  er  die  ins  Theater  Stromenden  und  bemerkte,  daB 
neben  der  eincn  Saule  eine  hiibsch  aussehende  junge  Person 
mit  braunem  Haar  stand  und  ihn  beobachtete.  Er  wendete 
sich  ihr  zu,  um  sie  besser  in  Augenschein  zu  nehmen;  in 
diesem  Moment  trat  sie  vor,  blieb  vor  ihm  stehen  und 
sagte:  ,,Entschuldigen  Sie,  mein  Herr,  konnten  Sie  vielleicht 
fur  heute  abend  zwei  Parkettplatze  gebrauchen?"  —  ,,Leider 
nicht",  sagte  er  kurz,  doch  gleich  hinterher  bedauerte  er 
diese  rasche  Zuriickweisung.  ,,Schade",  antwortete  das 
Madchen  und  fiigte  hinzu,  gleichsam  sich  entschuldigend : 
,,ich  habe  namlich  zwei  Karten,  aber  mein  Brautigam  hat 
abtelefoniert,  und  es  hat  keinen  Sinn,  daB  ich  allein  .  .  ." 
,,Bitte,  Fraulein,  cine  Kartc  wiirdc  ich  schlicBlich  iibcr- 
nehmen,  vorausgesetzt,  daB  .  .  ."  er  schwieg  einen  Augen- 
blick  vcrlcgcn,  ,,vorausgesct2t,  daB  Sie  die  andere  behalten/* 
Ein  leichtcs  Licheln  flog  \iber  ihr  Gcsicht.  ,,Halbe  Losung", 
sagte  sie,  ,,abcr  noch  immer  besser,  als  beide  Billetts  weg- 
zuwerfcn,  derm  die  Kasse  nimmt  sie  nicht  zuruck."  Er 
stellte  sich  vor,  sic  gabcn  sich  die  Hand  und  gingen  ins 
Theater.  Eine  suBlichc,  klcbrige  Wiener  Opcrcttc  wurdc 

130 


gespielt,  der  obligate  groBc  Walzer  schien  ein  Schlager  zu 
sein,  den  das  Publikum  mitsang;  mit  erhitztem  Gesicht 
flusterte  das  Madchen:  ,,Fabelhaft!  Fabelhaftl"  und  flotete 
begeistert:  ,,Prinz  meines  Herzens,  komm  zu  mir  in  meine 
Hebe  alte  Wiener  Stadt  .  .  ."  und  dann,  beim  Finale  des 
zweiten  Aktes,  lieB  er  das  Programm  von  seinen  Knieen 
auf  die  Erde  fallen,  biickte  sich  und  streifte  beim  Auf heben 
wie  zufallig  des  Madchens  Bein.  Sie  tat,  als  bemerkte  sie 
es  nicht.  In  der  zweiten  Pause  holte  er  SiiBigkeiten,  sie 
dankte  und  sagte:  ,,Sie  sind  wirklich  ein  Kavalier."  Nach 
zehn  Uhr  war  die  Vorstellung  zu  Ende;  der  laue  Sommer- 
abend  lag  im  Sternenglanz  des  klaren  blauen  Himmels  iiber 
der  Stadt,  —  ,,noch  eine  gute  Stunde  habe  ich",  sagte 
Kathe,  ,,wir  konnten  zu  FuB  nach  Hause  gehen,  begleiten 
Sie  mich  ein  Stiickchen.  —  Prinz  meines  Herzens  .  .  . 
eigentlich  verstehe  ich  selbst  nicht,  daB  ich  so  ohne  weiteres 
mit  Ihnen  ins  Theater  gegangen  bin  und  Ihnen  nun  ge- 
statte,  mich  nach  Hause  zu  bringen  .  .  .  dabei  weiB  ich  nicht 
einmal,  wer  Sie  sind."  Er  erzahlte,  er  sei  Ungar,  aus 
Budapest,  besuche  hier  die  Technische  Hochschule  und 
wohne  bei  Frau  Wessely.  ,,Prinz  meines  Herzens  .  .  .  und 
gefallt  es  Ihnen  bei  uns?"  —  ,,Mein  Gott .  .  .  konnte  es  mir 
denn  nicht  gefallen  in  einer  Stadt,  in  der  ich  Sie  kennen- 
lernen  durfte?"  Sie  lachte  dankbar  bei  diesem  auf  der  Hand 
liegenden  billigen  Kompliment;  dann  erzahlte  sie,  sie  sei 
aus  Linz  nach  Wien  gekommen,  sei  einundzwanzig  Jahre 
alt,  diplomierte  Kindergartnerin,  habe  einen  Brautigam, 
Aloys  Tangl,  der  ein  sehr  gut  gehendes  Klempner-  und 
Installationsunternehmen  besitze,  das  .  .  .  das  Schlimme  sei 
nur,  daB  sie  schon  seit  einiger  Zeit  spiire,  irgend  etwas 
stimme  nicht  ganz  mit  Aloys  Tangl.  Hie  und  da  bleibt  er 
aus,  kommt  zu  spat  zu  den  Rendezvous,  auch  neulich  hat 
sie  fast  eine  halbe  Stunde  am  Praterstern  auf  ihn  gewartet, 
und  da  sagte  der  unverschamte  Mcnsch  noch:  ,es  ist  wirk- 
lich bloB  ein  Zufall,  daB  ich  uberhaupt  kommen  konnte.*  — 
9,Sic  mussen  nimlich  wisscn",  fiigte  sie  hinzu,  ,,daB  Tangl 


cine  vcrwitwctc  Kusine  hat,  die  zwar  ungefihr  zehn  Jahre 
alter  ist  als  er,  aber  Eigentiimerin  eines  schonen  einstockigen 
Hauses  und  eines  sehr  guten  Gasthauses  in  Wienerneustadt 
ist  und  auBerdem  eine  Villa  in  Mariazell  besitzt,  —  und 
nun  mochte  Tangls  Mutter,  daB  er  diese  Witwe  heirate,  und 

wird  ihn  bestimmt  so  lange  pisacken,  bis Nicht  wahr, 

das  kann  ein  anstandiger  Mann  doch  nicht  tun?"  fragte  sie 
in  emportem  Ton,  und  ein  wenig  resigniert  fiigte  sie  hinzu : 
,,aber  schlieBlich,  wcnn  er  sie  heiratct,  soil  er  mit  ihr 
gliicklich  werden,  ich  geh  deswegen  nicht  in  die  Donau."  — 
,,Gottbewahre",  antwortete  er  naiv,  ,,einso  hiibsches  junges 
Madchen  ..."  Dann  sprach  Kathe  von  dem  Haus,  in  dem 
sic  lebte,  vom  Bankdirektor,  der  dauernd  unterwegs  sei 
zwischen  Berlin,  Zurich  und  Wien,  von  der  Frau,  die  man 
kaum  im  Hause  sehe,  wenn  der  Mann  nicht  da  sei ;  von  der 
zwolfjahrigen  Olga,  ,,ein  merkwiirdiges,  verschlossenes, 
blasses  Kind,  stellen  Sie  sich  vor:  neulich,  als  ich  mir  am 
Abend  ein  Bad  gemacht  hatte,  war  sie  in  den  Badezimmer- 
schrank  gekrochen,  und  als  ich  schon  in  der  Wanne  saB, 
tritt  sic  plotziich  heraus,  sagt  kein  Wort,  guckt  bloB  und  guckt 
und  fangt  plotziich  an  zu  heulen,  ist  kreidebleich  und  zittert, 
und  stundenlang  konnte  ich  sie  kaum  beruhigen!"  Sie 
erzahlt  vom  achtjahrigen  Egon,  ,,ein  wahres  Genie,  ohne 
Vorlagen  baut  er  ganze  Palaste  mit  Richters  Steinbaukasten 
Nummer  zwolf  I"  —  erzahlt  von  dem  luxuriosen  Haushalt, 
den  groBcn  Gesellschaftcn  und  den  Dienstboten,  die,  — 
mit  Ausnahme  der  alten  Kochin,  —  natiirlich  immer  gegen 
sie  intrigieren.  Langsam  gingen  sie  iibcr  die  StraBe,  und  als 
sie  in  der  inneren  Stadt  in  eine  ruhige  und  dunklerc  StraBe 
einbogen,  sagtc  Kathe:  ,,Sie  konnen  sich  einhangen."  Er 
faBte  sic  unter,  bcugtc  sich  zur  Scite  und  kiiBte  durch  die 
dunne  weiBe  Bluse  ihrc  Schulter  und  dann  den  nackten 
Hals.  ,,Das  habc  ich  Ihnen  nicht  erlaubt",  sagte  sic  lachend, 
,,haben  Sic  keinc  Angst  vor  mcincm  Brautigam?"  — 
,,Ach,  habcn  Sic  dcnn  wirklich  einen  Brautigam?"  Sic  zog 
sofort  ihren  Arm  aus  dem  seincn  und  sagtc :  ,  Jctzt  habcn 


Sic  mich  beleidigt."  —  ,,Aber,  licbe  ..."  —  ,,Nichts 
liebe,  ich  bin  beleidigt."  Schweigend  gingen  sie  weiter, 
dann  blieb  sie  vor  einem  vornehmen  zweistockigen  Haus 
stehen.  ,,Hatten  Sie  mich  nicht  beleidigt,  dann  wiirde  ich 
jetzt  sagen  .  .  ."  er  ergriffihre  Hand  und  kiiBte  sie:  ,,Kleines 
Dummchen,  das  hab  ich  doch  nicht  ernst  gemeint!"  — 
,,Ich  weiB",  antwortcte  sie,  ,,also  dann  .  .  .  nachsten 
Mittwoch  habe  ich  einen  freien  Tag,  kommen  Sie  mich  um 
vier  abholen,  wenn  schones  Wetter  ist,  gehen  wir  nach 
Schonbrunn.  Aber  Sie  brauchen  nicht  vors  Haus  zu 
kommen,  dort  an  der  Ecke  — " 

Am  Mittwoch  rieselte  der  Regen  vom  friihen  Morgen 
an,  Kadar  stand  aber  Punkt  vier  Uhr  an  der  Ecke;  das 
Madchen  kam  auch.  ,,BloB  fur  einen  Augenblick",  sagte 
sie,  ,,ich  konnte  nur  eben  entwischen,  —  groBe  Neuig- 
keiten,  stcllen  Sie  sich  vor.  Erstens  hat  Tangl  sich  am  Sonn- 
tag  mit  seiner  Kusine  verlobt,  gestern  kam  er  mir  das 
melden,  ich  habe  nicht  viel  Faxen  gemacht,  bloB  gesagt, 
leb  wohl  und  werde  gliicklich,  darauf  hat  er  gesagt, 
deswegen  konnten  wir  ja  weiter  gut  miteinander  stehen, 
und  da  hab  ich  geantwortet :  Servus,  da  ist  die  Tiir,  du  bist 
noch  immer  da?  Na,  und  zweitens  verreisen  Lehrners  am 
Samstag,  die  ganze  Familie,  die  Kinder  mit  der  GroBmama 
nach  Aussee,  die  Herrschaften  zusammen  nach  Berlin  und 
dann  in  die  Schweiz.  Ich  und  die  Kochin,  wir  bleiben  zu 
Hause,  mir  haben  sie  zwar  gesagt,  ich  kann  vier  Wochen 
auf  Urlaub  gchen,  aber  ich  habe  geantwortet,  es  sei  doch 
besser,  wenn  eine  zuverlassige  Person  zu  Hause  bliebe,  und 
so  haben  sie  das  Stubcnmadchen  weggeschickt.  Eigentlich 
weiB  ich  gar  nicht,  warum  ich  nicht  fur  vier  Wochen  nach 
Hause  fahre  . . .  ihnen  ist  es  jedenfalls  angcnchmer,  wenn  ich 
in  der  leeren  Wohnung  bleibe.  Also,  Sonntagnachmittag 
um  drei  seien  Sie  auf  jeden  Fall  hicr  vor  dem  Haus,  dann 
werden  wir  sehen  ..."  —  Er  sucht  im  Telcfonbuch  — 
Lehrner,  Lchrncr,  O.  Richard,  Bankicr,  das  wird  er  sein, 
zwei  Telcfonnummern  hat  er,  muB  ein  rcicher  Mann  sein, 

133 


wahrschcinlich  cin  Schicber.  Soil  ich  hintclcfoniercn?  — 
der  Hcrr  1st  daucrnd  auf  Reisen,  und  die  Frau  wird  wohl 
um  dicsc  Zcit  kaum  zu  Hause  sein,  viclleicht  meldct  sich 
Kathe,  —  nein,  liebcr  doch  nicht,  wcnn  sic  Samstag  rciscn, 
sind  sic  jetzt  sicher  alle  zu  Hause,  auch  die  GroBmama. 
Dieser  Tangl  .  .  .  ganz  wahrscheinlich  ist  die  Sache  nicht, 
aber  iibrigens,  warum  sollte  es  nicht  moglich  sein?  die 
Hauptsache  ist  schlieBlich,  daB  Kathe  hiibsch  ist  ...  oder 
sogar  schon,  ausgesprochen  schon  und  liebenswiirdig.  Aus 
Linz  ist  sic  gekommcn,  stammt  gewiB  aus  einer  besseren, 
beziehungsweise  guten  Familie,  ihr  Vater  konnte  Lehrer 
in  Linz  sein,  oder  vielleicht  Postbeamter.  —  Die  Sonne 
scheint  scharf  auf  die  StraBenzeile ;  kaum  ist  er  vor  dem 
Hause  angelangt,  da  erscheint  Kathe  hinter  dem  Tor  und 
winkt  ihm,  er  solle  hereinkommen.  Etwas  verlegen  tritt 
er  durch  das  Gittertor  mit  den  geschliffenen  Glasscheiben : 
marmornes  Treppenhaus,  breite  Treppe  von  steifer  Linien- 
fiihrung,  weiche  rote  Laufer.  ,,Die  Wohnung  haben  wir 
abgeschlossen",  sagt  Kathe  und  offnet  cine  kleine  Tiirc 
dem  Eingang  gegenuber:  ,,hier  liegen  Kiiche,  zwei  Dicnst- 
botenzimmer,  mein  Zimmer,  Kinderzimmer  und  Schrank- 
zimmer.  Die  Kiiche?  Ja,  die  Kochin  ist  heute  nicht  zu  Hause, 
und  iiberhaupt,  sie  ist  eine  sehr  brave,  ordentliche  alte 
Person."  Kathes  Zimmer,  —  iiber  einen  brciten,  glas- 
gedeckten  Flur  gelangen  sie  hin,  —  ein  schones,  hcllcs 
Zimmer,  das  nach  einem  gartenartigcn  Hof  liegt.  Die 
weiBen  Leinenvorhange  am  Fenster  sind  heruntergelassen, 
der  Tisch  ist  elegant,  mit  feinem  Porzellan,  zum  Tec 
gedeckt.  Wie  mogen  erst  die  andern  Zimmer  aussehen, 
wenn  das  schon  so  anstandig  ist,  denkt  cr,  als  sein  Biick 
auf  den  eingebauten  Waschtisch,  das  leuchtende  Metallbett 
und  den  groBen  weiBlackierten  Schrank  fallt.  Wie  wenn  cr 
sich  ein  wenig  geniert  fiihlte,  das  Madchcn  indessen  lacht, 
hiipft  umher,  erzahlt,  und  die  Spannung  lost  sich  allmahlich. 
,,Denkcn  Sic  sich,  was  ich  fur  eine  Schererei  mit  dem  Kind 
hattc;  es  stand  schon  fcrtig  da  im  Reisekleid,  das  Auto 

134 


wartcte  uotcn,  die  Grofimuttcr  und  der  Herr  wurdcn 
ungeduldig,  da  fallt  mir  dcr  Fratz  urn  den  Hals,  weint  und 
kuBt  mich,  sic  konnten  es  kaum  von  mir  losmachen,  ich 
war  wahrhaftigen  Gott  geradezu  in  Verlegenheit.  Ware  es 
cin  Junge",  sagt  sie,  ,,dann  wiiBte  ich,  er  ist  in  mich  ver- 
licbt."  Und  sie  redet  und  erzahlt,  von  Linz,  wo  der  Vater 
stadtischcr  Obergartncr  ist,  von  ihrem  Bruder,  dcr  seit 
1910  in  Chikago  lebt,  von  Tangl,  den  sie  zwar  gehciratet 
hatte  .  .  .  aber  ein  wenig  frcut  sie  sich  auch,  ihn  los  zu  sein, 
er  war  kein  besonders  intelligenter  Mensch;  dann  ist  von 
ihm  die  Rede,  sie  ist  neugierig,  fragt,  mit  was  fur  Leuten  er 
zusammen  wohnt,  wen  er  kennt,  was  er  fur  Plane  hat,  und 
dann  verwischt  sich  langsam  die  Grenze  zwischen  dem  Sie 
und  dem  Du,  was  sie  sich  zu  sagen  haben,  wird  immer 
personlicher,  ihre  Blicke  jagen  sich  mit  unverhullter 
Begierdc,  —  dann  sitzt  sie  auf  einmal  auf  seinem  SchoB, 
und  seine  heiBe,  zitternde  Hand  gleitet  begehrlich  an  den 
jungen,  wohlgeformten  Beinen  hinauf. 

Wochenlang  schon  dauerte  dicse  Freundschaft  und  gab 
ihm  viel  mehr,  als  er  in  den  ersten  Tagen  geglaubt  hatte. 
Als  er  sich  an  jencm  Sonntag  gegcn  Mitternacht  von  Kathe 
verabschiedcte  und  sie  sagte:  ,,du  kannst  kommen,  warm 
du  willst,  du  muBt  mir  nur  vorher  telefonicren,  denn  ich 
will  nicht,  daB  du  der  alten  Kochin  begegnest",  fuhlte  er, 
daB  sich  diese  Sachc  nicht  so  gcstalten  wiirde  wie  die  bis- 
herigen.  Nicht  darum,  weil  er  bequem  hierherkommen 
konnte,  nein,  dieses  Madchen  war  ganz  bestimmt  anders 
und  mehr  als  die  iibrigen.  Und  da  fiel  ihm  sofort  Agota  cin, 
er  suchte  Ahnlichkeiten  zwischen  den  beiden  Frauen,  als 
cr  aber  zum  zweiten  und  zum  drittcnmal  n::t  Kathe  zu- 
sammen  war,  wurde  es  ihm  klar,  daB  die  beiden  Frauen  in 
allcm  das  gcnauc  Gegenteil  voneinander  waren.  Nach 
Agotas  ungestiimer,  freigcbigcr  und  fordernder  Sinnlich- 
keit  erschien  ihm  Kathes  dankbare,  ein  wenig  verschamte, 
empfangcndc,  fast  kindliche  Hingabe  aufregender;  Kathes 
Kameradschaftlichkeit  war  ruhegebcnder,  leichtcr  als 

135 


Agotas  fesselnde  Miitterlichkeit.  Nacb  und  nach  wuBte 
Kathe  von  alien  seinen  Angclcgenheitcn,  mit  leichten  und 
klugcn  Wortcn  half  sic  ihm  und  brachtc  ihn  vorwarts,  so 
selbstverstandlich,  daB  er  cs  kaum  bemcrktc.  Im  Sommcr 
gab  cs  keine  Mensa,  und  als  Kathe  dahinterkam,  daB  cr 
an  einen  privaten  Mittagstisch  tcures  Geld  fiir  ein  elendes 
Essen  bczahltc,  nahm  sie  ihn  mit  in  ein  kleines  Restaurant 
in  der  Nabe,  und  von  da  an  aB  cr  immer  dorr,  gut  und  billig. 
Sie  sah,  daB  seine  Wasche  teucr  und  mit  Chlor  gcwaschen 
wurde,  und  gab  ihm  cine  Adresse,  von  wo  er  nun  seine 
Sachen  strahlend  weiB  und  ganz  zuriickbekam,  obendrein 
noch  um  ein  paar  Heller  billigcr.  Nicmals  ficl  auch  nur  ein 
einziges  schwerwicgendes  Wort  zwischen  ihnen,  keincr 
von  beiden  wollte  in  ihrem  Verhaltnis  etwas  andercs 
sehen  als  ...  was  denn  eigentlich?  Wenn  wir  zusammen 
sind,  dann  ist  es  so,  als  sei  sie  meinc  Frau,  dachte  er,  und 
wenn  sie  nicht  bei  mir  ist,  kommt  es  mir  vor,  als  sei  sie 
meine  Schwester.  Der  Sommer  meintc  es  gut  mit  ihnen, 
und  als  sie  einmal  weit  auBerhalb  der  Stadt  an  der  Donau 
herumstromerten  und  cr  das  Madchen  ansah,  wie  sie  in 
ihrem  leichten  weiBen  Kleidchen  mit  aufgelostem  Haar 
flache  Steine  iibcr  das  Wasser  hiipfcn  lieB,  loste  sich  ein  schr 
wohligcs  und  warmcs  und  freies  Gcfiihl  in  seiner  Brust; 
er  iibcrlcgte,  wie  man  dieses  Gefuhl  wohl  bcncnnen  konne, 
aber  es  fiel  ihm  nichts  weiter  ein  als:  zu  Hause. 

Bei  Frau  Wessely  wohntcn  sic  damals  nur  noch  zu 
dritt,  cr,  Gcrda  Buhr  und  im  Zimmer  der  vier  ein  Student; 
die  iibrigen  waren  fiir  den  Sommer  nach  Hause  gcgangen, 
und  der  Wunderrabbi  war  im  Institut  unentgeltlich  als 
Interner  aufgenommen  worden.  Einmal  gelang  es  Kadar 
mit  Miihc,  Kathe  mit  auf  scin  Zimmer  zu  nchmcn,  —  ,,das 
geht  denn  doch  nicht,  daB  du  nicht  einmal  siehst,  wo  ich 
wohne",  —  sic  blickte  sich  um,  machtc  im  Handumdrehen 
Ordnung  im  Zimmer  und  im  Schrank.  Von  da  an  fand  sic 
sich  auch  ofters  uncrwartct  bei  ihm  ein;  ,,ich  mochte  gerne 
wissen,  was  du  machst,  wenn  du  nicht  mit  mir  zusammen 

136 


bist."  Die  Stunden  ohnc  Kathe  warcn  ziemlich  cintonig: 
Biicher,  Zeichnungcn,  Biicher,  Zeichnungcn.  Sein  crstcs 
Examcn  wolltc  er  mit  Erlaubnis  des  Rektors  vor  dem  ncucn 
Semester  ablegen,  er  hatte  also  intensiv  zu  arbeiten.  Kathc 
betrachtete  die  Zeichnungen  mit  Andacht  und  ein  klein 
wenig  MiBtrauen.  Davon  wird  er  lernen,  wie  man  Hauser 
baut?  Und  die  Biicher  und  die  vielen  Zahlen  und  Ab- 
bildungen  .  .  .  nein,  es  war  doch  amiisanter,  wie  sie  sich  die 
Sache  verges  tell  t  hatte,  —  ,,so  wie  es  dein  Zogling  mit  dem 
Steinbaukasten  macbt?"  warf  er  dazwischen.  Sie  lachten, 
und  iiberhaupt  war  ihr  ganzes  Zusammensein  ein  herzliches, 
klarcs  Lachen.  Ein  paar  unvergeBliche  strahlende  Sommer- 
tage  im  Wiener  Wald  an  irgendeinem  kleinen  Ausflugs- 
punkt,  ,,o  Gott,  nocb  nie  habe  ich  einen  so  schonen  Sommer 
gehabt  und  werde  vielleicht  auch  keinen  solchen  mehr 
haben",  sagte  Kathe  einmal,  und  auch  er  fiihlte,  daB  das 
Leben  schon  und  lebenswert  war  und  daB  alles  glatt  und  in 
Ordnung  ging.  —  Niemals  sagte  er  dem  Madchen  ,,ich 
liebe  dich",  —  obschon  er  nach  jedem  Tag,  der  vergangen 
war,  deutlicher  wuBte,  daB  er  Kathe  hinter  dem  kindlichen 
Aufflammen  mit  einem  ernsten,  iiber  den  Korper  hinaus- 
gehenden  Geftihl  liebte,  —  und  sie  fragte  auch  niemals 
danach,  sie  wollte  keine  Gestandnisse  horen.  Sie  wuBte,  cs 
gibt  Dinge,  die  schoner  und  anstandiger  gesagt  sind,  wenn 
sie  nicht  in  Worten  ausgesprochenwerden;  undals  er  einmal 
von  den  kommenden  Jahren  redete,  ,,ich  muB  mich  noch 
viel  plagen  und  viel  arbeiten,  bis  ich  es  zu  etwas  bringe, 
und  wenn  ich  fertig  bin,  dann  will  ich  zuerst  versuchen, 
eine  Stellung  bei  einem  gutrenommierten  Unternehmer  zu 
bekommcn,  um  mich  einzuuben,  und  dann  ..."  —  ,,na, 
und  was  wird  dann?"  —  ,,dann,  soil  ich  dich  dann  hei- 
raten?"  —  da  fing  sie  an  zu  lachen:  ,,ach  Gott,  du  Dummer, 
vielleicht  lebe  ich  dann  schon  nicht  mehr." 

Mitte  August  wurde  Kathc  unruhig.  Seit  fast  zwei 
Wochcn  hatte  sie  keine  Nachricht  von  ihrer  Hcrr- 
schaft,  —  ,,sie  werden  doch  nicht  eincs  Tages  plotzlich 

157 


hereinplatzcn,"  —  und  Endc  August  kam  sic  dann  cincs 
Mittags  zu  ihm  gclaufcn:  cin  Telegramm  ist  gckommcn, 
die  Hcrrschaftcn  sind  morgcn  friih  zu  Hausc,  die  Kinder 
kommen  iibcrmorgen  an.  ,,Jetzt  muBt  du  abwarten,  bis 
ich  dir  schreibc,  daB  du  kommen  kannst,  oder  ich  komme 
zu  dir,  du  kannst  dir  denken,  was  ich  in  den  ersten  Tagen 
fur  einen  Rummel  haben  werde."  —  Es  vergingcn  wohl 
acht  oder  zehn  Tagc,  bis  die  erstc  Nachricht  von  Kathe 
kam:  ich  habc  schrecklich viel  zu  tun,  schrieb  sic,  die  Kinder 
haben  sich  nicht  besonders  gut  crholt,  der  Junge  hustet 
jetzt  noch,  vorlaufig  weiB  ich  gar  nicht,  wann  ich  Dich 
sehen  kann,  ich  werdc  Dir  wieder  schreibcn.  —  Wiitcnde 
Hochsommerhitze ;  sinnlos  und  leer  vergehen  die  Tage 
ohne  Kathe.  Tangl?  denkt  er  einmal,  und  sofort  geht  er  hin 
und  schleicht  cine  halbe  Stunde  um  das  Haus  herum,  Kathe 
entdeckt  er  jedoch  in  keinem  der  Fcnstcr.  Unlustig  geht 
er  nach  Hause;  und  als  er  in  der  Wohnungstiire  der  blonden 
Frau  begegnet,  die  er  seit  Wochen  nicht  gesehen  hat, 
packt  ihn  cine  sinnlose  Wut,  er  griiBt  nicht  und  schlagt 
knallend  die  Tiire  hinter  ihr  zu.  —  Die  Zeit  dcs  Examens 
kam  naher,  aber  mit  dem  Lernen  wolite  es  gar  nicht  rccht 
gehen,  die  Zeichnungen  miBlangen.  Stundenlang  saB  er  in 
seinem  Zimmer  (iber  einem  aufgeschlagenen  Buch  oder  eincr 
halbfertigen  Zeichnung  und  kritzelte  sinnlose  Worte  auf 
den  Rand  oder  auf  das  Zeichenbrett.  Ich  langweile  mich, 
dachte  er  einmal,  und  da  erschrak  er.  Darf  ich  mich  denn 
langwcilcn?  kann  ich  mir  erlauben,  mich  zu  langweilcn?  — 
es  geht  mir  wohl  zu  gut!  —  Noch  einmal  ging  er  vor  das 
Lehrnersche  Haus,  hatte  sogar  den  Gcdankcn,  zu  klingcln 
und  Kathe  hemnterrufen  zu  lassen.  Nur  .  .  .  wenn  ich  sic 
jetzt  heruntcrrufe,  werden  wir  uns  zanken,  dachte  er  und 
zog  die  Hand  vom  Klingelknopf  zuriick.  —  Eines  Tagcs 
kam  dann  endlich  doch  die  Postkarte:  morgen  abend 
komme  ich  zu  Dir,  crwartc  mich  zu  Hause.  An  dicscm  Abend 
klagte  Kathe  in  einem  fort.  ,,WciB  Gott,  was  mit  den 
Gohren  los  ist :  der  Junge  hustet,  hat  dauernd  Tempcratur- 


crhohung  und  1st  demcntsprcchcnd  quengelig,  und  das 
Made!  1st  ganz  vcrriickt,  sic  spricht  mit  keinem,  iBt  kaum 
was  und  wird  nur  dann  cin  biBchen  ruhiger,  wenn  ich  ihr 
crlaube,  zu  mir  zu  kricchcn.  Die  Geschichte  fangt  an,  auBer- 
ordcntlich  unangenehm  zu  wcrden,  und  ich  habc  den 
bestimmtcn  Verdacht,  daB  das  Kind  widernatiirliche  Ver- 
anlagungen  hat,  aber  der  Mutter  wage  ich  nicht  davon  zu 
sprechen,  schlieBlich  kann  oder  konnte  sie  es  ja  auch  sclbst 
bemerken,  aber  es  scheint,  bei  Lehrners  stimmt  auch  etwas 
nicht."  Eines  Abends,  —  ,,ich  ordnete  gerade  im  Schrank- 
zimmer  die  frisch  gebiigelte  Kinderwasche",  —  wirklich 
ganz  zufallig  horte  sie  da  ein  paar  Worte,  aus  denen  man 
schlieBen  kann,  daB  .  .  .  namlich,  der  Herr  und  die  Frau 
waren  im  Zimmer  der  Frau,  oder  vielmehr  der  Mann  kam 
zur  Frau  ins  Zimmer  und  sagte  ganz  laut:  ,,Du,  Olga,  ich 
halte  es  fur  hinreichend,  wenn  Doktor  Scholler  mein 
Partner  bei  meinen  Geschaften  ist."  —  ,,Na,  und?"  fragt 
darauf  die  Frau.  ,,Na,  und?"  antwortet  Lehrner  hohnisch, 
,,glaubst  du  etwa,  daB  niemand  die  Geschichte  zwischen 
euch  bemerkt,  auch  ich  nicht?"  —  ,,Na,  und?"  sagt  Frau 
Lehrner  wieder.  ,,Und?  ich  habe  nichts  dagegen  einzu- 
wenden,  daB  du  dich  amiisierst,  das  weifit  du  sehr  gut,  aber 
dagegen  verwahre  ich  mich."  —  ,,Denkst  du  nicht,  es 
konnte  vieileicht  jemand  im  Schrankzimmer  sein?"  unter- 
bricht  ihn  die  Frau,  ,,muBt  du  denn  schreien?  muB  das 
Personal  alles  horen?"  —  Da  war  Kathe  schnell  aus  dem 
Zimmer  gegangen  und  hatte  leise  die  Tiire  zugemacht. 
Also  ...  so  stehts.  —  Nach  zehn  Uhr  ging  sie,  und  als  er 
allein  gebiieben  war,  bemachtigte  sich  seiner  ein  kaltes, 
unangenehmes  Gefiihl,  oder  vielmehr  das  pcinliche,  un- 
ruhige  Gefiihl,  das  seit  Tagen  in  ihm  lebte,  setzte  sich  fort. 
Irgend  etwas  stimmt  hier  nicht,  oder  .  .  .  fangt  an  zu  ver- 
derben.  Ich  war  schon  zu  sehr  daran  gewohnt,  daB  alles 
glatt  und  angcnehm,  nach  meiner  Bequemlichkeit  ging. 
Die  aufgeregte,  von  fluchtigen  Minuten  gejagte  Um- 
armung  hatte  ihn  ermiidct,  miBgestimmt  und  schlaflos  lag 

139 


cr  im  Bctt.  Nach  Mittcrnacht  horte  er,  daB  jemand  iibcr  den 
Flur  ging :  leichte,  Icisc  Schritte,  gewiB  1st  Gerda  Buhr  nach 
Hausc  gckommcn.  Was  mag  dicse  sonderbare  Frau  wohl 
scin?  Seit  damals,  als  sie  den  Wunderrabbi  so  schmahlich 
abgetrumpft  hatte,  war  sie  unsichtbar.  Eine  Nachtexistenz. 
Woven  mag  sic  leben?  Ob  sie  wirklich  Kommunistin  ist 
oder  bloB  cine  Art  Nutte?  Was  gcht  mich  das  an,  wovon 
sie  lebt?  Wovon  lebe  ich  denn?  Vielmehr  wovon  werde 
ich  leben?  Die  Franken  sind  im  Sommer  gewaltig  zu- 
sammengeschmolzen,  das  ahnte  er  mehr,  als  er  es  wufitc, 
denn  die  Berechnung  schob  er  immer  auf,  und  nur  blaB 
hatte  er  das  dumpfe,  erschreckende  Gefuhl,  mehr  aus- 
gegeben  zu  haben,  als  er  programmaBig  hatte  ausgcben 
diirfen.  Die  Ausfliige,  die  Restaurants,  die  Vergniigungen, 
und  dann  hatte  er  —  ganz  uberfliissigerweise  —  einen 
grauen  Anzug  und  ein  Paar  gelbe  Halbschuhe  gekauft. 
Was  soil  das?  will  ich  etwa  ein  Dandy  sein?  Oder  will  ich 
Examen  machen,  fertig  werden,  eine  Stcllung  bekommen, 
arbeiten  und  Geld  verdienen?  Hab  ich  denn  den  Verstand 
verlorcn?  Wochenlang  gehe  ich  zu  einer  Frau  in  cine  fremde 
Wohnung  wie  ein  Soldat  oder  ein  Brieftrager,  wic  ein 
Louis  —  und  dann  bin  ich  gereizt  und  lasse  mich  gehen, 
in  dem  Augenblick,  da  dieses  bequeme  .  .  .  jctzt  suchtc  er 
nach  einem  Wort,  das  seinen  plotzlich  entbrannten  Argcr 
ableitcn  sollte,  an  dem  er  sich  bcruhigcn  und  durch  das  cr 
sich  gerechtfertigt  sehen  konnte;  und  wie  er  so  leer  und 
mit  dem  Schreckcn  des  Ausgedorrtseins  ins  Dunkel  starrte, 
knirschte  er  mit  den  Zahnen.  Verdammtc  Blase,  dachte  cr, 
bin  ich  deshalb  nach  Wien  gekommen?!  und  er  riB  sich 
die  Decke  iibcr  den  Kopf.  Am  nachstcn  Tage  stiirzte  er 
sich  vcrbittcrt,  mit  wiitcndcr  Gewalt  in  die  Biicher,  und 
diesc  Lcrn-Rage  hiclt  tagclang  an.  Beim  ersten  Examen 
kam  cr  mit  Stimmcnmchrhcit  durch;  und  sofort  bcgann  das 
ncuc  Univcrsitatsjahr.  Kathe  kam  gcwohnlich  cinmal 
wochentlich  zu  ihm,  abcr  dicsc  Zusammcnkunftc  hattcn 
schon  etwas  Gedr&ngtes,  auf  halbc  Stunden  Bcmcsscnes 

140 


und  Welkes,  etwas  .  .  .  ctwas  Fluchtartiges.  Das  Madchcn 
lieB  Unruhe  und  UngewiBheit  hinter  sich  im  Zimmer 
2uriick;  einmal,  —  es  war  zehn  Uhr  voriiber,  —  war  sie 
gerade  im  Weggehen,  als  er  bemerkte,  daB  ihr  Strumpf 
zerrissen  war.  ,,Kathe",  sagt  er,  ,,du  hast  ein  Loch  im 
Strumpf."  —  ,,Ja,  ich  weiB",  antwortet  sie,  ,,ich  habs  schon 
gesehen,  als  ich  ihn  anzog."  —  ,,So?  warum  hast  du  ihn 
denn  dann  angezogen?"  —  ,,Ich  war  doch  so  eilig",  — 
und  dann  geht  sie.  Er  will  ihr  nach,  bleibt  aber  und  geht  nur 
nervos  im  Zimmer  auf  und  ab.  Komm  du  mir  nicht  mehr 
mit  zerrissenen  Striimpfen,  schreit  eine  brutale  Stimme  in 
ihm.  Ein  anderes  Mai  sieht  er,  daB  ihr  Finger  voll  Tinte 
ist.  ,,Deine  Hand  ist  voll  Tinte*',  sagt  er  und  sieht  zu  Boden. 
,,Oh,  tatsachlich,  bevor  ich  wegging,  habe  ich  schnell  nach 
Hause  geschrieben."  —  ,,Und  warum  hast  du  dir  die  Hande 
nachher  nicht  gewaschen?"  Sie  blickt  ihn  an,  aus  ihren 
Augen  leuchtet  verdutzter  Schreck:  ,,Toni",  sagt  sie  leise, 
,,was  hast  du?  deine  Stimme  ist  so  eigentiimlich,  du  weiBt 
doch,  wie  sehr  ich  mich  beeilen  muB."  Er  gibt  keine  Ant- 
wort,  und  die  Umarmung  ver7Ogert  er  dadurch,  daB  er 
umstandlich  ein  Pyramidon  einnimmt,  ,,ich  habe  Kopf- 
schmerzen",  sagt  er,  und  eine  Weile  sitzen  sie  stumm  da. 
Dann,  an  einem  sonnigen,  herbstlichen  Vormittag,  erblickt 
er  Kathe  zufallig,  wie  sie  mit  dem  kleinen  Madchen  iiber 
die  StraBe  geht.  Das  Kind  hat  sich  bei  ihr  eingehangt.  Na, 
das  sehe  ich  mir  jetzt  an,  denkt  er,  aber  als  sie  hochstens 
noch  zwanzig  Schritt  voneinander  entfernt  sind,  bleibt  er 
hinter  einer  LitfaB-Saule  stehen  und  laBt  sie  vorbeigehen. 
Sie  hat  mich  nicht  bemerkt,  sagt  er  vor  sich  hin,  dann  geht 
er  weiter.  Sein  Schritt  ist  leicht,  und  leise  pfeift  er. 

Das  neue  Semester  schreitet  vorwarts:  Biicher,  Mensa, 
Corned-beef.  Nichts  hat  sich  verandert;  er  gehort  zu  nie- 
mandem  und  nirgendshin;  auBer  mit  Kathe  und  scinen 
Hausgenossen  kommt  er  mit  keinem  Menschen  zusammen. 
Er  lebt  in  ciner  grauen,  dehnbaren  Masse,  im  Alltag  bitterer, 
zahneknirschender  Entschlossenheit.  Feuerstein  ist  nicht 


141 


zuriickgekommen,  1st  als  Internet  im  Seminar  geblieben, 
Wiedmann  spielt  auf  der  Grazer  Universitat  welter  Karten; 
in  seinem  Zimmer  wohnt  jetzt  einer  von  den  dreien,  vor- 
iibergehend,  bis  Frau  Wessely  es  besser  vermieten  kann. 
Die  Abende  verbringt  er  gewohnlich  allein  zu  Hause, 
manchmal  plaudert  er  eine  Stunde  mit  Hummel,  einmal 
hat  er  einen  jungen  Mann  mit  Namen  Porosz  bei  sich  zu 
Gast,  der  ihn  auf  der  StraBe  angesprochen  hatte:  ,,nanu, 
Kidar,  Sie  sind  auch  hier?  auch  Emigrant?"  —  ,,Nein", 
antwortete  er  abweisend,  ,,ich  habe  nichts  mit  — ",  aber 
er  konnte  Porosz  nicht  abschiitteln.  ,,Ich  bin  leidcr 
Emigrant.  Hab  ich  diese  ganze  Hetz  notig  gehabt?  Was 
fur  ein  Blodsinn  war  es,  bei  diesen  Halunken  eine  Rolle  zu 
ubernehmen  .  .  .  na  ja,  wer  konnte  damals  wissen,  daB  wir 
tatsachlich  umsonst  auf  die  Weltrevolution  warten.  Jetzt 
hocke  ich  hier  in  Wien,  mache  gar  nichts,  verdiene  mir  hie 
und  da  ein  paar  Kronen  mit  Schmahschriften,  die  ich  im 
Emigrantenblatt  schreibe  und  von  denen  mir  selbst  iibel 
wird."  Dann  versprach  Porosz,  ihn  aufzusuchcn,  und 
loste  dieses  Versprechen  auch  ein,  sehr  eilig  sogar.  Am 
nachsten  Abend  war  er  schon  bei  ihm,  verschlang  eine 
Buchse  Rindfleisch  und  weinte  und  jammcrte  in  einem  fort, 
,,warum  um  Gottes  willen  muBte  ich  auf  den  Quatsch  cin- 
gehen,  jetzt  sitze  ich  da  und  kann  verschimmeln,  niemals 
laBt  sich  das  wieder  gutmachen  .  .  ."  Kathe  meldete  sich 
piinktlich  wie  eine  Uhr  wochentlich  einmal,  um  die  Liebe 
einzukassieren;  und  an  einem  scheuBlichen,  kalten  und 
nassen  Herbs tabend,  als  sie  sich  in  Eile  anzog,  betrachtete 
er  vom  Bett  aus  beim  gahnenden  gelben  Licht  einer 
elektrischen  Birne  die  doppelte  Figur  dcs  vor  dem  Spiegel 
stehenden  Madchens.  Komisch.  Wie  klein  sie  ist,  und  was 
sie  fur  starkc  Briiste  hat.  Oder  hat  sie  zugenommen?  Das 
Korsctt  verrutschte  ihr,  mit  zusammengepreBtem  Mund  und 
einer  komischcn,  kindlichen  Grimasse  versuchte  sie,  es 
geradezuziehcn  —  da  stieB  er  ein  haflliches,  meckerndes 
Lachen  aus,  —  ,,was  ist?"  fragt  das  Madchen  und  sieht  ihn 

142 


aus  dem  Spiegel  an.  ,,Nichts",  sagt  er  ganz  obenhin  und 
unbeirrt,  ,,du  machst  blofi  so  ein  komisches  Gesicht."  — 
,,So",  antwortet  sie  nach  einer  kleinen  Weile  kiihl,  ,,gefallt 
dir  mein  Gesicht  nicht?"  —  ,,Na,  Kathili",  beeilt  er  sich 
ein  wenig  reuevoll,  ,,sei  doch  nicht  albern,  es  ist  doch  alles 
gut."  —  ,,Woher  weiBt  du  das  so  genau?"  fragt  Kathe  nun 
schon  aggressiv,  ,,und  wenn  ich  nicht  mehr  wieder- 
komme?"  —  ,,Na,  na,  bloB  keine  Albernheiten,  natiirlich 
kommst  du  wieder."  Und  natiirlich  kam  sie.  Aber  jetzt 
sprachen  sie  kaum  mehr  miteinander.  Wenn  sie  kam, 
setzten  sie  sich  an  den  Tisch,  aBen  ein  paar  Bissen  von  dem, 
was  er  hingestellt  hatte,  ein  Weilchen  schwiegen  sie,  dann 
flogen  einige  fremde,  immer  unsicherer  klingende  Worte 
auf  und  fielen  zuriick  in  die  leere  Stille.  Und  wenn  er  sie 
beriihrte,  dann  zog  sie  sich  gewohnlich  schnell  und  schwei- 
gend  aus,  und  sie  gingen  ins  Bett. 

Eines  Sonntagabends,  —  ungewohnlich  heftiger  Wind 
fegte  den  schneeigen  Regen  iiber  die  Stadt,  —  klagte 
Kathc,  sie  habe  kaum  kommen  konnen,  der  Kopf  tue  ihr 
weh,  und  sie  habe  ein  wenig  Schwindel.  Er  nahm  ihr 
Gesicht  zwischen  die  Hande  und  sah  ihr  in  die  etwas 
triiben,  umranderten  Augen.  Von  dieser  lieben,  zartlichen 
Geste  —  wie  es  lange  keine  zwischen  ihnen  gegeben 
hatte  —  wurde  sie  sofort  weich,  umarmte  ihn  mit  groBer, 
tiefer,  trauriger  Anhanglichkeit  und  fing  an  zu  weinen. 
,,Toni,  du  Lieber,  wir  haben  uns  doch  noch  lieb,  ja?" 
Er  erschrak  bei  diesem  Ton  und  furchtete,  jetzt  konnte  eine 
Auseinandersetzung  folgen,  Tranen,  Romantik,  Schwiire 
und  dann  .  .  .  dann  wiirde  er  sie  ganz  bestimmt  stehen- 
lassen  und  aus  dem  Zimmer  gehen,  sogar  aus  der  Wohnung. 
Kathe  umklammerte  ihn  jedoch  in  plotzlich  erwachter 
Begierde,  und  als  er  ihren  heiBen,  keuchenden  Atem  in 
seinem  Gesicht  spiirte,  dachte  er,  sie  muB  wohl  Fieber 
haben,  anscheinend  ist  sie  wirklich  krank.  —  Donnerstag 
friih  fing  ihm  der  Kopf  an  zu  schmerzen,  und  in  der  Kehle 
fiihltc  er  ein  Kratzen.  Mittags  in  der  Mensa  schwindelte  es 


ihn  schon  heftig,  auf  dem  Nachhauseweg  kaufte  er  in  elner 
Apotheke  Aspirin  und  bat  Frau  Wessely  um  das  Thermo- 
meter: die  Quecksilbersaule  blieb  auf  vierzig-zwei  stehen. 
Influenza,  dachte  er,  warf  sich  ins  Bert  und  hatte  nicht 
einmal  soviel  Kraft,  um  ein  Aspirin  einnehmen  zu  konnen. 
Der  Hals  tat  ihm  furchtbar  weh,  er  wollte  Wasser  trinken, 
konnte  aber  die  Hand  nicht  ausstrecken,  starrte  nur  im 
Dunkel  nach  dem  Glas  hin.  Er  schlief  noch,  lag  vielmehr 
halb  betaubt  im  Bett,  als  Frau  Wessely  am  nachsten  Morgen 
an  seiner  Tiir  klopfte.  ,,Um  Gottes  willen",  sagte  sie  und 
wurde  kreidebleich,  ,,Sie  haben  ja  das  Gesicht  und  den  Hals 
voll  Ausschlag,  wir  rmissen  sofort  den  Arzt  rufen."  Im 
Hause  wohnte  ein  junger  Arzt,  —  ,,Herr  Doktor  ist  leider 
nicht  zu  Hause,  er  ist  ins  Diana-Bad  gegangen",  sagt  seine 
Wirtin.  Nach  zwei  Stunden  kommt  der  Arzt  zuriick,  die 
alte  Frau  schickt  ihn  sofort  zu  Frau  Wessely  hinauf.  Der 
Hals  tut  ihm  nicht  mehr  weh,  aber  es  schwindelt  ihn,  und 
das  Fieber  tobt  in  seinem  Korper.  Der  Arzt  tritt  ein,  unter- 
sucht  ihn  eine  Sekunde,  ,,Scharlach",  sagt  er,  ,,treffen  Sie 
bitte  sofort  Vorkehrungen,  daB  der  Kranke  ins  Kranken- 
haus  transportiert  wird,  oder  wiinschen  Sie  ihn  im  Hause 
zu  pflegen?"  Gerenne,  Kopflosigkeit,  Frau  Wessely  weint 
handeringend,  —  von  alledem  nimmt  er  kaum  Kenntnis, 
gleichgultig  liegt  er  da,  —  am  friihen  Morgen  schon  iiber 
vierzig  Grad  Fieber.  Der  Arzt  bekommt  mit  Miihe  eine 
Telefonverbindung  mit  einer  Krankentransport-Gesell- 
schaft  und  bestellt  den  Wagen  fiir  ansteckende  Kranke, 
dann  spricht  er  mit  einem  Kollegen  aus  dem  Allgemeinen 
Krankenhaus  und  geht.  Nach  einer  halben  Stunde  ist  der 
Wagen  da:  niemand  weiB,  was  zu  tun  ist,  niemand  wagt, 
in  sein  Zimmer  zu  gehen.  Da  erscheint  Gerda  Buhr  auf  dem 
Korridor.  ,,Schon  seit  einer  halben  Stunde  hore  ich  mir 
dieses  Gejammer  an",  sagt  sie,  ,,was  soil  derm  das,  wie  kann 
man  blofi  so  unbeholfen  sein?"  —  ,,Aber,  bitte  sehr, 
Fraulein",  antwortet  die  sommersprossige  Magd,  ,,eine 
ansteckende  Krankhcit  ...  das  will  sich  wirklich  keiner 

144 


holenl"  —  ,,Wenn  Sic  Angst  haben,  dann  scheren  Sic  sich 
raus  und  stehen  hier  nicht  im  Weg,  wenn  Sie  sowieso  nicht 
helfen",  schnauzt  sie  das  Madchen  an  und  geht  zu  Kadar 
ins  Zimmer.  Die  Krankentransportleute  heben  ihn  gerade 
auf  das  Tragbett.  Kadar  blickt  die  Frau  an,  sein  Mund 
offnet  sich  langsam.  ,,Schon  gut",  sagt  sie,  ,,Sie  brauchen 
keine  Angst  zu  haben,  's  wird  schon  nicht  so  schlimm 
werden."  Sie  geht  an  seinen  Schrank,  stopft  seine  herum- 
liegenden  Sachen  hinein,  dann  fangt  sie  an  zu  kramen, 
unter  den  Hemden  findet  sie  in  einer  flachen  Blech- 
schachtel  sein  Geld,  ,,sieh  mal  einer  an,  Frankenl"  — 
sie  ziihlt  es  und  sagt  zu  Kadar:  ,,sechshundertzwanzig 
Franken  habe  ich  hier  gefunden,  die  nehme  ich  an  mich, 
damit  sie  nicht  etwa  ...  Sie  konnen  ihn  schon  wegtragen", 
wendet  sie  sich  an  die  Sanitater,  ,,ich  komme  mit."  Sie 
schliefit  den  Schrank  zu,  zieht  den  Schliissel  ab,  sagt  ein 
paar  Worte  zu  der  noch  immer  halbohnmachtigen  Frau 
Wessely,  —  ,,telefonieren  Sie  gleich  an  die  Desinfizier- 
Anstalt,  sie  sollen  sofort  kommen",  —  zieht  einen  langen 
blauen  Mantel  an  und  geht  der  Tragbahre  nach. 


ALLGEMEINES  Krankenhaus  .  .  .  Abteilung  fur  an- 
steckende  Krankheiten.  In  der  ersten  Etage  liegt  er  in 
einem  kleinen  Zimmer,  dessen  Fenster  auf  den  kahlen 
winterlichen  Hof  sieht.  Wenn  er  die  Augen  offnet,  blickt  er 
gerade  in  die  andere  Ecke  des  Zimmers,  wo  das  zweite 
Bett  steht.  Im  Bett  sitzt  ein  junger  Bursche,  der  ihn  betrach- 
tet.  Als  er  bemerkt,  daB  Kadir  die  Augcn  aufschlagt, 
spricht  er  ihn  mit  leiser  Stimme  gleich  an:  ,,na,  geht  es 
Ihnen  besser?  wir  dachten  wirklich  schon,  daB  es  mit 
Ihnen  .  .  ."  er  schweigt  verlegen.  Ein  Weilchen  herrscht 
Stille.  ,,Mir  gehts  schon  gut",  fangt  der  Junge  wieder  an, 
,,aber  Ihnen  wars  jetzt  drei  Tage  hundemaflig  schlecht. 

10  KGrmendi,  Budapest  145 


Ihre  Schwester  wird  es  Ihnen  schon  erzahlen."  —  ,,Meine 
Schwester?"  er  offnet  seit  Tagen  zum  erstenmal  den  Mund: 
er  wundert  sich,  wie  fremd  und  verschleiert  seine  Stimme 
klingt.  ,,Na  ja,  die  blonde  Dame,  die  taglich  zweimal 
herkommt.  1st  das  nicht  Ihre  Schwester?"  —  Er  schlieBt 
die  Augen  wieder,  er  ist  miide  und  gibt  keine  Antwort. 
Meine  Schwester.  Meine  Schwester?  vielleicht  meine 
Kusine?  vielleicht  ist  Mariska  wieder  in  Wien?  sollte  sie 
ihr  Haar  blond  gefarbt  haben?  Stille.  Dann  spricht  der 
andere  wieder.  ,,Wenn  ich  nicht  irre,  dann  sind  Sie  eigent- 
lich  .  .  .  kein  Kind  mehr.  Wie  kann  das  sein,  daB  Sie  in  dem 
Alter  Scharlach  bekommen  haben?"  —  Seine  Augen  offnen 
sich  weit:  ,,Scharlach?l"  Der  Junge  fangt  an  zu  lachen, 
,,was?  Sie  wissen  vielleicht  gar  nicht,  daB  Sie  Scharlach 
haben?"  —  ,,Scharlach.  Doch,  natiirlich,  natiirlich  weiB  ich 
das,  Scharlach."  —  ,,Jawohl",  sagt  der  Junge,  ,,ich  hab 
auch  Scharlach,  aber  mir  gehts  schon  gut,  noch  etwas  mehr 
als  zwei  Wochen,  dann  kann  ich  nach  Hause  gehen",  — 
und  er  schneidet  eine  komische  Grimasse.  Dann  sprechen 
sie  lange  nicht.  Spater  kommt  die  Pflegerin  herein,  —  eine 
rotwangige,  stattliche  Person,  —  ,,na,  junger  Mann, 
zwinkern  wir  endlich",  sagt  sie,  ,,haben  wir  keinen  Hunger? 
wollen  Sie  ein  biBchen  Milch?  das  konnen  Sie  haben." 
In  kleinen  Schliickchen  trinkt  er  die  lauwarme  Milch;  auf 
einmal  fallt  ihm  etwas  ein.  ,,Mein  Geld",  sagt  er  zur 
Pflegerin,  die  ihm  die  Schnabeltasse  an  den  Mund  halt, 
,,Ihr  Geld?  na,  sowas,  Geld  haben  Sie  auch?  Aber  ich  weiB 
davon  nichts.  Das  miissen  Sie  Ihre  Verwandte  fragen,  die 
Sie  hergebracht  hat."  Meine  Verwandte,  meine  Schwester, 
rumort  es  ihm  im  Kopf,  Mariska?  Kathe?  Frau  Wessely? 
Tante  Anna?  Er  ist  miide,  der  Kopf  ist  ihm  schwer,  er 
schlaft  ein.  Als  er  aufwacht,  sitzt  auf  einem  Stuhl  unten  am 
Bett  Gerda  Buhr.  Natiirlich,  meine  blonde  Schwester. 
,,Na,  fangen  Sie  endlich  an,  sich  ein  biBchcn  zu  ruhren", 
sagt  sie,  ,,das  ist  recht.  Ich  hoffe,  Sie  kommen  glimpflich 
davon.  Wie  ich  hore",  winkt  sie  nach  dem  andern  Bett 


hin,  ,,haben  Sie  nach  Ihrem  Geld  gefragt.  Das  Geld  habe 
ich  an  mich  genommen,  sechshundertzwanzig  Franken, 
das  heiBt,  nur  sechshundert,  denn  zwanzig  habe  ich  ein- 
gewechselt.  Zerbrechen  Sie  sich  jetzt  nicht  dariiber  den 
Kopf,  wenn  Sie  etwas  brauehen,  dann  sagen  Sies  mir." 
Er  sieht  sie  an,  wie  sie  da  am  Bett  sitzt.  Kurz  geschnittenes 
blondes  Haar  hat  sie,  stahlblaue,  glanzende  Augen,  eine 
hohe  weiBe  Stirn,  ein  blaBrosa  Gesicht.  Bisher  habe  ich  ihr 
Gesicht  noch  nie  so  in  der  Nahe  gesehen.  Aber  .  .  .  warum 
ist  sie  hier?  wer  ist  sie?  was  will  sie?  ,,Bitte",  er  offnet 
miihsam  den  Mund,  —  ,,nun?"  —  ,,ein  biBchen  naher  .  .  ." 
und  mit  den  Augen  winkt  er  nach  dem  andern  Bett  hin. 
Sie  beugt  sich  zu  ihm  hin,  ,,nun  — ?"  —  ,,Haben  Sie  keine 
Angst,  sich  anzustecken?  ich  habe  doch  Scharlach."  Die 
blauen  Augen  ziehen  sich  zusammen.  ,,Erstens  habe  ich 
schon  Scharlach  gehabt,  und  iiberhaupt  habe  ich  keine 
Angst."  —  ,,Ja,  aber  .  .  .  verschleppen  Sie  es  nicht?"  — 
,,H6ren  Sie  mal,  ich  weiB  ganz  gut,  wie  ich  auf  mich  und 
auf  meine  Umgebung  aufpassen  muB,  —  kiimmern  Sie 
sich  nicht  darum."  Bei  ihrem  gebieterischen  und,  er  meint, 
iiberfliissig  energischen  Ton  schweigt  er.  Stille.  Mit  halb 
geschlossenen  Augen  betrachtet  er  ihr  Gesicht  von  der 
Seite.  ,,Bitte",  sagt  er  nach  einem  Weilchen,  —  ,,ja?"  — 
,,wie  lange  bin  ich  eigentlich  schon  hier?"  —  ,,Den  vierten 
Tag  heute."  —  ,,Und  .  .  .  bin  ich  zu  Hause  nicht  gesucht 
worden,  oder  ist  nichts  fur  mich  gekommen?"  —  ,,Nein", 
sagt  Gerda,  ,,die  Dame  ist  nicht  dagewesen."  —  Die  Dame 
ist  nicht  dagewesen,  wie  bestimmt  sie  das  sagt,  die  Dame  ist 
nicht  dagewesen.  Hinter  den  geschlossenen  Lidern  sieht  er 
jetzt  Kathe,  wie  sie  vor  dem  Spiegel  steht  und  an  ihrem 
Korsett  herumzerrt.  ,,Wiirden  Sie  so  freundlich  sein,  etwas 
auszurichten,  telefoniscb  ..."  —  „  Warum  nicht?"  antwortet 
Gerda  Buhr  und  nimmt  ein  kleines  Notizbuch  aus  der 
Tasche,  ,,sagen  Sie  nur  den  Namen."  —  ,,Kathe  Ulbrich, 
bei  Direktor  Lehrner."  —  ,,Kindermadchen?"  fragt 
sie  scharf  dazwischen.  ,,Erzieherin",  antwortet  er  mit 

10" 


Nachdruck.  ,,Na,  gut,  Erzieherin.  Jetzt  weifi  ich  wenigstens, 
wer  Sie  groBen  Lummel  angestcckt  hat.  Es  sollte  mich 
wundern,  wenn  Ihre  Freundin  nicht  auch  mit  Scharlach  im 
Bctt  lage!"  —  ,,Mit  Scharlach?"  fragt  er  entsetzt,  und  im 
selben  Moment  fallt  ihm  ein,  daB  Kathe  am  letzten  Sonntag 
iiber  Kopfschmerzen  und  Schwindel  geklagt  hatte  und 
daB  ihr  Atem  gliihend  heiB  war.  Plotzlich  wird  er  sehr 
unruhig,  ,,bitte,  ich  mochte  unbedingt  wissen  ..."  sagt  er 
laut,  Gerda  mahnt  ihn  sofort  zur  Ruhe :  ,,still,  still,  keine  Auf- 
regung,  Sie  werden  genaue  Nachricht  iiber  sie  bekommen." 

,,Nicht  wahr,  Sie  sind  Ungar?"  fragt  sparer  der  Junge 
aus  dem  andern  Bett.  ,Ja,  warum?"  —  ,,Aber  Ihre  Ver- 
wandte  ist  Wienerin,  nicht?"  —  Was  will  er  bloB  mit  dieser 
Verwandten?!  ,,Sie  ist  keine  Verwandte  von  mir",  sagt  er. 
,,Wirklich?  also,  wer  ist  sie  dann?"  Wer  ist  sie  dann?  ,,Eine 
Dame",  sagt  er  zogernd,  ,,eine  gute  Bekannte  aus  der 
Pension,  wo  ich  wohne."  Der  Junge  fragt  noch  allerhand, 
aber  er  antwortet  nur  obenhin  und  fiirchtet,  der  Zimmcr- 
gefahrte  konnte  etwas  iiber  Gerda  fragen,  worauf  er  nicht 
zu  antworten  weiB.  Es  ware  doch  komisch,  zu  sagen:  ich 
weiB  nicht,  wer  sie  ist,  warum  sie  herkommt,  ich  weiB 
iiberhaupt  nichts  .  .  .  Dann  sagt  der  Junge,  ,,na,  ich  glaube, 
Sie  sind  schon  miide,  liegen  Sie  jetzt  cine  Weile  still."  Er 
ist  froh,  daB  er  nicht  mehr  zu  sprechen  braucht,  liegt 
ruhig  da  und  schlaft  dann  ein. 

,,Sehen  Sie,  ich  habe  recht  gehabt",  sagt  Gerda  Buhr 
am  nachsten  Tag  nach  Tisch,  ,,bei  Lehrners  ist  ein  regel- 
rechtes  kleines  Krankenhaus.  Ich  habe  mit  der  Frau  ge- 
sprochen,  zwei  Kinder  und  Ihre  Kathe  haben  Scharlach. 
Na,  ich  muB  schon  sagen,  eine  besonders  gewisscnhafte 
Dame  ist  das  nicht,  ihre  Zoglinge  waren  schon  lange 
krank,  und  auch  in  ihr  steckte  die  Krankheit  langst,  als  sie 
noch  immer  zu  Ihnen  kam.  Na,  aber  das  ist  jetzt  schon  egal. 
Ich  habe  ihr  sagen  lassen,  wir  gruBen  sie  alle  vielmals,  auch 
ihr  Vetter  Anton",  fiigt  sie  hinzu  und  lacht.  Auch  Kdddr 
lacht,  dann  wird  er  ernst.  Kathe  ist  krank.  ,,Geht  es  ihr 

MS 


sehr  schlecht?"  —  ,,Nein,  ich  glaube  nicht  .  .  .  aber  das 
nachste  Mai  bringe  ich  Ihnen  cine  gcnauere  Antwort."  — 
,,Also,  Sic  werden  nochmal  hintelefonieren?"  —  ,,Natiir- 
lich."  —  Einc  merkwiirdige  Frau,  diese  Gerda  Buhr.  Sie 
hat  so  knappe  energische  Bewegungen  und  kurz  an- 
gebundene  befehlerische  Worte.  Wenn  man  nicht  hinsieht, 
wiirde  man  nicht  glauben,  daB  sie  eigentlich  ein  junges 
Madchen  ist  —  das  heiBt  .  .  .  wie  alt  kann  sie  sein?  Alter 
als  vierundzwanzig-fiinfundzwanzig  sieht  sie  nicht  aus.  Ihr 
Gesicht,  ihre  Stirn  sind  glatt,  ihre  Augen  scharf  und  klar, 
ihre  Figur  ist  knabenhaft,  ihr  ganzes  Wesen  hat  etwas 
Hartes  und  Frisches.  Niemals  bleibt  sie  lange  hier;  kommt, 
trifft,  wenn  notig,  Anordnungen;  sagt  ein  paar  kluge, 
heitere,  ermunternde  Worte;  bringt  ihm  mit,  was  er  braucht; 
und  geht  wieder.  Und  doch  ists  ...  als  ware  sie  immer  hier. 
Wahrend  der  ersten  acht  bis  zehn  Tage  spricht  sie  nicht 
vicl  mit  ihm,  es  geht  ihm  nicht  gut,  er  hat  hohes  Fieber, 
und  der  Arzt  furchtet  eine  Nierenkomplikation.  Er  liegt 
und  beschaftigt  sich  mit  nichts,  —  die  Pflegerin  hat  ihm 
wohl  eines  Tages  eine  Zeitung  gebracht,  aber  er  konnte 
nicht  lesen.  Wenn  er  wach  ist,  starrt  er  gewohnlich  die 
Decke  an  und  versucht,  an  nichts  zu  denken.  Weder  an  die 
kranke  Kathe  noch  an  Gerda,  die  er  immer  nur  wenige 
Minuten  sieht,  noch  daran,  daB  er  nun  mindestens  sechs 
Wochen  von  seiner  Zeit  verliert.  Manchmal  fangt  im  andern 

Bett  der  Junge  an  zu  reden 

Der  Zimmergefahrte,  —  ein  sonderbarer  Bengel,  — 
sitzt  im  Bett,  sieht  ihn  unverwandt  an,  und  sobald  er  die 
Augen  aufschlagt,  spricht  er  zu  ihm.  Genau  so  wie  das  erste- 
mal,  als  er  in  diesem  Zimmer  zum  BewuBtsein  kam. 
,,Brauchen  Sie  irgend  etwas?"  fragt  er.  ,,Soll  ich  klingeln, 
daB  die  Pflegerin  kommt?  Mochten  Sie  etwas  zu  lesen 
haben?  ich  habe  eine  ,Fackel',  die  kennen  Sie,  nicht  wahr? 
ganz  amusant,  der  KrauB  nimmt  jetzt  den  Werfel  her.  Sagen 
Sie  mal  .  .  .  sind  Sie  nicht  miide?  konnen  Sie  antworten, 
wenn  ich  frage?  waren  Sie  Soldat?  warum  sind  Sie  von 

149 


Budapest  wcggegangen?  wie  habcn  Sic  zu  Hausc  gelcbt? 
wie  alt  sind  Sic  eigentlich?"  —  in  dieser  Art.  Anfangs 
antwortete  er  nur  miihsam,  —  was  fur  ein  unruhiger  Geist, 
dieses  Kind!  nicht  cine  Minute  kann  er  still  sein,  —  und  das 
ewige  Gefrage  empfindet  er  als  eine  Last.  Dann  gewohnt  er 
sich  ein  wenig  an  die  Stimme  seines  Zimmergefahrten,  an 
seine  unvermittelten  und  drangenden  Fragen,  —  wirklich, 
ein  komischer  Bengel.  Paul  Pauli-HeBlein,  so  heiBt  er, 
siebzehn  Jahre  ist  er  alt.  Er  ist  blond  und  hat  samtgraue 
Augen,  und  wie  er  ihn  einmal  genauer  betrachtet,  fallt  ihm 
auf,  wie  madchenhaft  fein  seine  Haut  ist,  und  seine  Hande, 
wie  Frauenhande.  ,,Sie  habens  gut,  jeden  Tag  kommt 
jemand  sehen,  ob  Sie  noch  leben  .  .  .  fiir  mich  besteht  kein 
so  groBes  Intcresse",  sagt  er  und  fugt  nachdenklich  hinzu : 
,,namlich  bei  meinen  Eltern.  Ich  stehe  mit  meinen  Eltern 
nicht  sehr  gut",  sagt  er,  und  wenn  in  seiner  Stimme  nicht 
ein  kleiner  bitterer  Ton  mitklange,  miiBte  man  sich  iiber 
den  abgerundeten  Ernst  amiisieren,  mit  dem  Paul  diese  Tat- 
sache  konstatiert.  ,,Ach,  nein?  und  warum  stehen  Sie  nicht 
gut  mit  ihnen?"  —  ,,Ja,  wissen  Sie,  das  ist  schon  eine  ziem- 
lich  alte  Geschichte."  Nein,  dariiber  muB  man  wirklich 
lachen,  wie  dieser  kleine  madchenhafte  Blondkopf  mit  der 
weiBen  Haut  und  seinen  siebzehn  Jahren  das  sagt:  eine  alte 
Geschichte,  und  dabei  verachtlich  abwinkt.  ,,Sehen  Sie  mal", 
fahrt  der  Junge  fort,  ,,Sie  denken  wahrscheinlich,  es  handelt 
sich  hier  um  eine  kleine  Dummheit  oder  eine  kindische 
Gekranktheit.  Aber  nein.  Die  Sache  fangt  da  an,  daB  mit 
meiner  Geburt  irgend  etwas  nicht  stimmte . . .  Meine  Mutter 
hatte  namlich  um  die  Zeit,  als  ich  geboren  wurde,  einen 
Freund,  so  eine  Jugendfreundschaft  und  Liebe  ..."  —  ,,Sie 
Gelbschnabel",  fahrt  er  dazwischen,  ,,schamen  Sie  sich  nicht, 
in  solch  einem  Ton  von  Ihrer  Mutter  zu  sprechen?!"  — 
,,H6ren  Sie  nur  zu  und  unterbrechen  Sie  mich  nicht",  sagt 
der  Junge  mit  iiberlegener  Ruhe,  ,,ich  habe  gegenstandliche 
Bcweise,  Papas  und  Mamas  alte  Briefe,  die  ich  voriges  Jahr, 
als  Mama  zwei  Monate  im  Sanatorium  war,  im  alten  Kleider- 

150 


schrank  gefunden  habe.  Natiirlich  1st  die  Tatsache  allein, 
daB  jemand  cinen  Briefwechsel  so  peinlichen  Angedenkcns 
auf  bewahrt,  geniigend  Beweis  fur  die  Neurasthenic  —  aber 
nicht  darum  handelt  es  sich.  Was  wollte  ich  gleich  sagen  . . . 
ach  so,  ja.  Ich  habe  den  Inhalt  dieser  Briefe  und  meine 
sonstigen  Beobachtungen  und  Wahrnehmungen  einem 
Freund  mitgeteilt,  —  Sie  haben  ihn  gewiB  schon  hier  bei  mir 
gesehen,  den  jungen  Mann  mit  dem  schwarzen  Haar,  —  der 
Nervenarzt .  .  .  wird,  jetzt  studiert  er  noch,  im  vierten  Jahr, 
und  der  hat  mir  den  Fall  klargestellt.  Also  .  .  .  aber  inter- 
essiert  Sie  iiberhaupt  die  ganze  Angelegenheit?"  Er  nickte, 
selbstverstandlich,  und  der  andere  fuhr  fort:  ,,Also,  meine 
Mutter  klammerte  sich  auch  noch  nach  der  Heirat  an  den 
gewissen  Jugendfreund,  vielmehr  an  die  Erinnerung  an 
diese  Freundschaft,  und  das  konnte  Papa  natiirlich  nicht 
gefallen,  was  ja  nicht  zu  verwundern  ist .  .  .  wahrscheinlich 
hats  da  Krawalle  gegeben,  ob  damals  auBerdem  noch  ein 
Grund  existierte,  das  kann  man  natiirlich  nur  mutmaBen 
oder  rekonstruieren.  Jedenfalls  hat  Papa  einmal  im  Sommer 
meiner  Mutter  nach  Gmunden  geschrieben :  ,Wenn  du  jedoch 
Dir  und  mir  einreden  willst,  daB  Deine  sogenannte  seelische 
Krise,  die  angeblich  mit  Deiner  Schwangerschaft  zu- 
sammenhangt,  einzig  durch  die  Anwesenheit  jenes  gewissen 
Menschen  erleichtert  oder  gar  iiberhaupt  ertraglich  gemacht 
werde,  dann  werde  ich  auch  davor  nicht  zuriickschrecken, 
Dir  den  Verkehr  mit  diesem  betreffenden  Menschen  vollig 
und  unter  den  schwerwiegendsten  Konsequenzen  zu  ver- 
bieten.' —  Das  ist  doch  klar,  nicht?  Mein  Vater  ist  iibrigens 
Rechtsanwalt.  Na,  schon,  also  ich  kam  auf  die  Welt  und  war 
gerade  ein  Jahr  alt,  als  meine  Eltern  sich  scheiden  lieBen. 
Mama  heiratete  aber  jenen  gewissen  Menschen  nicht,  viel- 
mehr er  heiratete  sie  nicht,  sondern  ging  nach  Amerika.  Vor 
seiner  Abreise  schrieb  er  am  SchluB  eines  vierundzwanzig 
Seiten  langen  Briefes,  —  auch  den  habe  ich  gefunden,  Mama 
ist  ein  sehr  ordentlicher  Archivar,  —  ,auf  ewig  trage  ich  die 
schonste  Erinnerung  meines  Lebens  im  Hersen,  und  ich 


glaubc,  das  ist  fur  uns  bcidc  besscr,  als  wenn  ich  die  klein- 
lichen  Sorgen  dcs  Alltags  um  Frau  und  Kind,  die  ich  auch 
hcutc  noch  nicht  ernahren  konnte,  im  Herzen  tragen  miiBte. 
Und  wenn  ich  dies  trotzdem  auf  mich  genommen  hatte:  so 
konnte  das  nur  mein  Verderben  und  durch  mich  auch  Dein 
Verderben  bedeuten*.  —  Wohluberlegt,  was?  Soviel  ich 
weiB,  war  dieser  Herr  damals  angehender  Maschinen- 
ingenieur.  Na,  schon,  also  er  ging  nach  Amerika,  vielleicht 
ist  er  noch  immer  driiben.  Aber  was,  glauben  Sie,  passiert 
nach  zwei  Jahren?  iibrigens  ist  das  gar  nicht  schwer  zu 
erraten:  Mama  und  Papa  heirateten  sich  wieder.  Die  unzer- 
reiBbare  sexuelle  Bindung,  die  alles  iiberwindenden  ero- 
tischen  Erinnerungen  waren  es  bei  Papa,  wahrend  es  fur 
Mama  immerhin  doch  das  Wichtigste  war,  sorglos  leben  zu 
konnen,  so  erklarte  mir  mein  Freund  den  Fall.  Dann  wurden 
noch  zwei  Kinder  geboren.  Daisy,  die  jetzt  elf  Jahre  alt  ist, 
und  zwei  Jahre  darauf  Frank.  Nun  also  ...  die  Elternliebe 
kann  eventuell  schwanken  zwischen  dem  Erstgeborenen 
und  den  kleineren  Kindern  oder  zwischen  dem  Madchen 
und  dem  Knaben,  —  aber  daB  sich  beide  Eltern  so  ein- 
stimmig  gegen  mich  kehrten  unter  dem  Vorwand,  du  bist 
der  Alteste,  das  hat  ganz  andere  Griinde  als  die  normale 
Verteilung  oder  Einseitigkeit  der  Elternliebe."  —  ,,Aber 
gehn  Sie,  was  reden  Sie  sich  da  ein?"  versucht  Kadar  wieder 
dazwischenzufahren,  aber  der  andere  laBt  ihn  nicht  welter- 
sprechen:  ,,Lassen  Sie  mich  nur,  ich  rede  mir  das  nicht  ein, 
ich  weiB  auch  ganz  genau  den  Grund.  Papa  haBt  in  mir  die 
Vcrletzung  seines  Alleinbesitzenwollens,  sagen  wir  seines 
AusschlieBlichkeitsinstinktes  und  seiner  mannlichen  Eitel- 
keit,  Mama  wiederum  die  Enttauschung,  die  ihr  ihre  Er- 
innerungen, beziehungsweise  jener  gewisse  Mann  bereitet 
hat,  und  zum  Teil  auch  die  Erinnerung  an  jenen,  wahrschein- 
lich  nachtraglich  bereuten  Fehltritt."  Wieder  spricht  er  da- 
zwischen,  diesmal  bereits  mit  etwas  entsetztem  und  zugleich 
erstauntem  Argcr:  ,,Dumme  Einbildung  das  Ganze."  — 
,,Dadurch,  daB  Sie  grob  sind",  sagt  der  Junge  und  hebt  die 

IJ2 


Hand,  ,,werden  Sic  mich  nicht  iiberzeugen.  Nein,  meine 
Eltcrn  hassen  mich  .  .  .  sehen  Sic  mal,  um  gleich  mit  dem 
Endc  zu  beginnen:  Daisy  und  Frank  sind  auch  krank, 
wahrscheinlich  hat  Frank  das  Scharlachfieber  aus  der  Schule 
mit  nach  Hause  geschleppt.  Daisy  und  Frank  liegen  zu 
Hausc,  und  mich  haben  sie  hier  ins  Krankenhaus  gesteckt. 
Ware  es  nicht  ganz  gleich  gewesen,  ob  die  Pflegerin  zwei 
oder  drei  Kranke  pflegt?  Und  auBerdem  kenne  ich  Papas 
pekuniare  Verhaltnisse,  er  hatte  auch  zwei  Pflegerinnen 
nehmen  konnen  —  nun,  ist  das  nicht  ganz  eindeutig?"  — 
,,Nein",  sagt  er,  ,,das  beweist  gar  nichts,  Sie  sind  schon  ein 
groBer  Junge,  der  zu  Hause  viel  schwerer ..."  —  ,,Weil  er 
dauernd  weint",  fahrt  Paul  in  spottischem  Ton  fort,  ,,weil 
man  ihn  futtern  muB  und  mit  ihm  spielen,  ihn  trockenlegen, 
na,  schon.  Also,  ich  werde  Ihnen  etwas  anderes  erzahlen: 
was  sagen  Sie  zu  einem  solchen  . . .  Kind  wie  ich,  das  immer 
zehnmal  so  viel  Geld  hat,  als  es  haben  diirfte,  und  fur  das  es 
keinen  Wunsch  gibt,  der  nicht  sofort  erfullt  wiirde,  bloB  — 
Also,  passen  Sie  auf,  ich  hatte  mir  ein  Funktelegrafen- 
Modell  gewiinscht,  nach  zwei  Tagen  bekam  ich  es,  da  sage 
ich  zu  Papa:  Pappi,  wie  muB  man  damit  umgehen?  —  LaB 
mich  in  Ruh  mit  dieser  Dummheit,  sagt  er,  da  ist  ja  die 
Beschreibung,  wenn  du  sie  nicht  verstehst,  dann  laB  dir  aus 
dem  Geschaft  jemanden  kommen,  der  dir  die  Sache  zeigt! 
Mammi,  sage  ich,  komm,  wir  wollen  uns  gegenseitig  Funk- 
telegramme  schicken  ...  —  Geh  mir  doch  mit  deinem 
Quatsch,  telegrafier  mit  dem  Fraulein  oder  mit  Franz,  das 
war  unser  Diener.  Ich  war  damals  zehn  Jahre  alt.  Pappi,  ich 
versteh  nicht,  wieso  der  Frosch  unterm  Wasser  und  auch 
auf  dem  Trockenen  —  So,  du  verstehst  das  nicht?  dann  paB 
nachstens  besser  auf  in  der  Schule !  Aber,  Pappi,  das  haben 
wir  ja  in  der  Schule  noch  gar  nicht  gehabt,  das  wollte  ich 
bloB  .  .  .  Dann  frag  den  Herrn  Lehrer  und  laB  mich  jetzt  in 
Ruh.  Mutti,  wenn  Gott  allmachtig  ist,  wie  ist  es  dann 
moglich,  daB  —  Halt  doch  den  Mund!  siehst  du  denn  nicht, 
daB  du  mich  mit  deinem  ewigen  Gefrage  nervos  machstl 

153 


Papa,  ich  bin  Erster  geworden  im  Wettrechnen  —  Schon, 

sag  bittc  Franz,  er  soil  mir  cine  Flasche  eiskaltes Mutti, 

wcnn  ein  Madchen  und  ein  Junge  —  Hcrrgott,  mit  der- 
artigcm  Blodsinn  pisackst  du  mich,  anstatt  deine  Schul- 
arbeiten  zu  machen!  —  So  geht  das,  seitdem  ich  mich 
crinnern  kann.  Weil  sie  dazu  in  der  Lage  sind,  erfullen  sie 
allc  meine  Wiinsche,  bloB  um  mich  los  zu  sein.  Fur  jeden 
Wildfremden  baben  sie  mehr  Interesse  als  fur  mich,  und 
ihr  Eltcrngewissen  betauben  sie,  indem  sie  mich  mit  Geld 
iiberhaufen.  In  Papas  Biiro  ist  ein  Angestellter,  der  gibt  mir 
das  Geld.  Soviel  ich  nur  haben  will  .  .  .  natiirlich  innerhalb 
gewisser  Grenzen.  Das  miissen  Sie  so  verstehen,  daB  ich 
noch  immer  viel  weniger  zu  verlangen  wage,  als  ich  bc- 
kommen  konnte.  Bei  groBeren  Sachen?  Du  brauchst  ein 
Motorrad?  bitte,  da  hast  du  Geld,  kauf  dir  eins.  Damals  war 
ich  vierzehn  Jahre  alt.  Als  ich  dann  einmal  einer  Apfel- 
verkauferin  ihren  Stand  umwarf  und  sie  sich  dabei  das  Bein 
brach,  da  sagte  mein  Vater  auf  dem  Jugendlichen-Gericht 
aus:  ich  habe  dem  Jungen  die  strenge  Weisung  gegeben, 
das  Motorrad  nur  aufierhalb  der  Stadt  zu  benutzen.  Na  .  .  . 
fast  hatte  ich  dem  Richter  zugeschrien,  er  liigt!  niemals  hat 
er  mir  ein  Wort  davon  gesagt!  —  egal,  ich  war  jedenfalls 
ein  halbes  Jahr  in  Krems  in  der  Besserungsanstalt.  Sehen 
Sie  mal",  sagt  er  und  sitzt  wieder  aufrecht  im  Bett,  ,,ich  bin 
ein  ...  zugrunde  gerichteter  Mensch,  das  weiB  ich.  Wenn 
der  Teufel  mir  einmal  etwas  eingibt,  wozu  sie  nicht  genug 
Geld  haben,  oder  wenn  mir  Gott  die  Kraft  nimmt,  mich 
sebnen  zu  konnen ..."  —  fur  einen  Augenblick  schwieg  er, 
und  dann  kam  ein  ganz  besonderer  Glanz  in  seine  grauen 
Augen,  —  ,,wissen  Sie,  es  ist  nicht  immer  leicht.  Damals  in 
der  ersten  Nacht,  als  ich  nicht  einschlafen  konnte  und 
immerfort  Mizzis  nackte  Schenkel  vor  meinen  Augen  sah, 
wie  sie  auf  der  Leiter  stand  und  Fenster  putzte  . .  .  wenn  ich 
damals  vor  meinen  Vater  hingetreten  ware  und  ihm  gesagt 

hatte,  Vater,  in  mir  ist  etwas  Schreckliches und  er 

darauf  vielleicht  geantwortet  hatte,  gib  mir  doch  mal  den 

154 


Aschcnbcchcr,  oder,  frag  den  Herrn  Lehrer  —  — "  Er 
bekam  plotzlich  einen  roten  Kopf  und  atmete  schwer.  — 
Fasziniert  starrte  Kadar  den  Jungen  an,  und  kein  Ton  kam 
iiber  seine  Lippen.  Paul  nahm  das  Glas  vom  Tischchen  und 
trank  einen  kurzen  Schluck.  —  ,,Na,  macht  nichts",  sagte 
er  dann,  ,,iiber  diese  Dinge  sind  wir  hinweg.  Entwachsen 
sind  wir  ihnen.  Der  Mensch  ist  ein  zum  Alleinsein  bc- 
stimmtes  .  .  .  Tier,  und  ich  kann  noch  von  Gliick  reden,  daB 
ich  zunachst  mal  den  Ludwig  Wirth  habe,  mit  dem  ich  von 
allem  sprechen  kann,  ich  habe  meine  Freunde,  und  dann  ist 
mir  das  Ganze  jetzt  schon  gleichgultig.  Mein  Vater  ist  ein 
angesehener  Mann,  und  es  geht  ihm  gut,  meine  Mutter  ist 
eine  schone  Frau,  —  was  will  man  mehr.  Sie  haben  eine 
Riesenwohnung,  und  cs  ist  doch  wirklich  keine  Notwendig- 
keit  vorhanden,  sich  gegenseitig  zu  storen,  es  geniigt,  wenn 
man  vom  Personal  weiB,  daB  der  junge  Herr  nicht  verloren- 
gegangen  ist.  Ich  richte  mir  mein  Leben  ein,  wie  ich  es  fur 
am  besten  halte,  und  wenn  es  so  nicht  am  besten  ist,  wie  ich 

es  mache,  dann  bin  ich  eben  nicht  dafiir  verantwortlich 

Sonst  aber  ist  die  Hauptsache,  daB  wir  es  moglichst  gut 
haben.*'  —  ,,Wer  wir?"  —  ,,Na,  wir,  ich  und  die  ...  zu  mir 
gehoren." 

Ludwig  Wirth,  Student  der  Medizin,  Pauls  Freund  und 
Lehrer,  kam  wieder  und  brachte  einige  Hefte  und  Biicher 
mit,  darunter  auch  Wedekinds  Erdgeist  und  Stiicke  von 
Shaw.  Leicht  war  es  nicht,  bis  Kadar  auf  Pauls  Zureden 
anting,  eins  davon  zu  lesen,  —  dann  verlangte  ihn  schneller 
nach  dem  zweiten,  als  er  gedacht  hatte,  und  schlieBlich  hatte 
er  innerhalb  einer  Woche  Pauls  samtliche  Biicher  ver- 
schlungen.  Dann  unterhielten  sie  sich  stundenlang  iiber 
Lulu  und  John  Tanner  und  Frau  Warren,  und  er  hatte  das 
Gefiihl,  alles,  was  bisher  gewesen  war,  sei  unbedeutend 
neben  diesen  Gesprachen.  Jetzt  fange  ich  an  zu  lernen, 
dachte  er,  als  er  Pauls  erstaunlich  wahr  scheinenden  An- 
sichten  und  iiberlegenen  Erkl£rungen  iiber  diese  neuen 
Dingc  lauschte.  Als  ware  Paul  der  ernste  und  reife, 

155 


viclerfahrenc  Mann  und  er  dcr  unbeholfene  Gymnasiast.  Das 
war  nicht  das,  was  Fcuerstein  einst  gewescn  war  .  .  .  mit 
scincn  kiihlcn  Argumenten,  seinen  hartcn,  abgerundctcn, 
gebieterischen  Ausspriichcn,  mit  den  chaotischen  Rhapso- 
dien  seines  iiberladenen  Gehirns.  Lauer  Schwatzer?  —  fiel 
ihm  einmal  ein.  Nein,  —  das  ist  keine  Theorie,  das  ist  kein 
abstraktes  Denken,  das  ist,  als  ware  es  das  Leben  —  und  er 
bemerkte  kaum,  daB  die  manchmal  geradezu  verbliiffende 
Dialektik  des  Jungen  auch  ihm  Redelust  eingab.  Im  An- 
schluB  an  die  eine  oder  andere  hingeworfene  geschickte 
oder  ganz  ungehobelte  Frage  fing  er  an  zu  sprechen  und 
crzahlte  Paul  alles:  mehr  als  damals  den  Alten  an  jenen 
dunklen  Herbstabenden,  als  sie  in  der  Pozsonyer  StraBe  im 
EBzimmer  unter  der  Lampe  saBen,  mehr  als  Agota  an 
jenem  sonnigen  Herbstnachmittag  unten  vor  dem  Haus.  — 
Paul  ist  mein  wahrer,  mein  einziger  Freund,  fuhlte  er,  wenn 
er  abends  vor  sich  ins  Dunkel  starrte,  und  dann  kam  ihm 
eines  Tages  plotzlich  in  den  Sinn:  ganz  bestimmt,  ich  werde 
es  Paul  sagen,  das  Ganze  kommt  daher,  weil  ich  sie  iiber 
habe,  und  wenn  ich  an  sie  denke,  sehe  ich  immer,  wie  sie 
vor  dem  Spiegel  steht  und  mit  ihrem  Korsett  kampft  .  .  . 
Eines  Nachmittags  kommt  Wirth  und  sagt  gleich  zu 
Beginn  der  Unterhaltung  zu  Paul:  ,,Heute  mittag  war  ich 
mit  Rosette  zusammen,  sie  hat  wieder  gebettelt,  sie  mochtc 
herkommen,  aber  ich  habs  natiirlich  nicht  zugegeben.  Sie 
schickt  dir  GriiBe  und  Kiisse,  du  kannst  dir  denken,  wie 
ungeduldig  sie  schon  ist ..."  Kidit  rumorte  etwas  im  Kopf, 
und  den  ganzen  Nachmittag  war  er  wortkarg,  beinahe 
schweigsam.  Als  Wirth  gegangen  ist,  bleibt  er  noch  ein 
Weilchen  stumm  liegen,  dann  richtet  er  sich  auf  einmal  im 

Bett  auf.  Komisch,  das  habe  ich  ihn  noch  nie  gefragt 

,,Sag  mal,  Paul",  und  er  blickt  ihn  durchdringend  an,  ,,hast 
du  schon  was  mit  eincr  Frau  gehabt?  ..."  —  ,,Ich?  schon 
seit  fast  einem  Jahr  ...  die  erste."  —  ,,Wer  ist  sie?"  fragt 
er  dumm.  ,,Ihren  Namen  willst  du  wissen",  spottet  Paul, 
,,ubrigcns,  der  ist  auch  kein  Gehcimnis,  Rosette  Goldrain. 

156 


Was  interessiert  dich  noch?  diinn  und  blond  und  hat  braune 
Augen  und  1st  rund  drei  Monate  j linger  als  ich  . . .  ihr  Vater 
1st  Rat  im  Finanzministerium  und  hat  irgendwelche  Machen- 
schaften  mit  meinem  Vater,  —  willst  du  noch  was  wissen?" 
Fiir  einen  Moment  stockte  ihm  der  Atem.  Ein  Madchen  der 
Gesellschaft,  keine  Krankenschwester,  kein  Stubenmadchen 
und  keine  Gouvernante,  und  siebzehn  Jahre,  diinn  und 
blond  und  —  ,,Du  flunkerst  wohl",  sagt  er  hoffend.  — 
,,Warum  bist  du  denn  so  ergriffen,  daB  dus  nicht  mal  zu 
glauben  wagst?"  fragt  der  andere.  ,,Ein  Bild  von  ihr  habe 
ich  leider  nicht  hier,  aber  wenn  wir  wieder  gesund  sind, 
dann  stelle  ich  dich  ihr  sowieso  vor."  Mancherlei  mochte  er 
jetzt  noch  fragen,  aber  die  Worte  bleiben  irgendwie  in  ihm 
stecken.  Erst  nach  langer  Zeit  sagt  er:  ,,blond?"  —  und 
Paul  fangt  laut  an  zu  lachen.  Dann  ist  von  Rosette  nicht 
mehr  die  Rede. 

Eines  Tages  wurde  der  Junge  dann  aus  dem  Kranken- 
haus  cntlassen.  Ihr  Abschied  war  sehr  kurz.  ,,Paul",  sagte  er 
mit  trockener  Kehle,  ,,ich  danke  ..."  —  ,,Du  muBt  dich 
nicht  bedanken",  schnitt  er  ihm  das  Wort  ab,  ,,bleib  nur 
schon  liegen,  werde  gesund,  natiirlich  komme  ich  dich  be- 
suchen",  —  und  damit  ging  er  aus  dem  Zimmer.  —  Gerda 
kam  auch  weiterhin  jeden  Tag,  und  nach  diesen  Besuchen 
verstand  Kadar  die  Frau  noch  weniger,  und  die  Beziehung 
von  ihm  zu  ihr  verwirrte  sich  in  ihm  vollkommen.  Gerda 
Buhr  kam,  setzte  sich  in  ihrem  weiBen  Mantel  auf  den  Stuhl 
unten  amBett.  ,,Wie  gehtslhnen?  Wie  sieht  die  Fieberkurve 
aus?  Haben  Sie  einen  Wunsch?  Ich  bore,  Sie  essen  nicht 
ordentlich,  waren  die  Speisen  vielleicht  nicht  gut?  Wollen 
Sie  ein  biBchen  Kompott  haben?  Neues  weiB  ich  nicht, 
heute  haben  die  Arbeitslosen  in  der  Stadt  demonstriert,  von 
der  Hochschule  habe  ich  nichts  gehort.  Ihrer  Freundin  geht 
es  gut."  All  das  erzahlte  sie  in  Zeit  von  fiinf  Minuten,  dann 
stand  sie  auf  und  ging.  —  Um  was  er  bat,  brachte  sie  am 
nachsten  Tage  mit,  sah  sich  an,  was  er  las,  einmal  sagte  sie: 
,,wie  ich  sehe,  freunden  Sie  sich  mit  dem  Jungen  da  an  ... 

1J7 


ein  lebhafter  Bengel,  nicht?"  und  brachte  Nachrichten  von 
Kathe.  Anfangs  waren  diese  Berichte  ausfiihrlich  und  genau : 
,,dann  und  dann  habe  ich  dort  angerufen,  es  geht  ihr  so  und 
so,  sie  hat  soundsoviel  Fieber,  sie  iBt  oder  hat  keinen 
Appetit,  sie  laBt  das  und  das  sagen,  sie  mochte  das  und 
das  .  .  .",  dann  indessen,  in  der  vierten  Woche  seiner 
Krankheit,  wurden  Gerdas  Mitteilungen  iiber  Kathe  immer 
kiirzer;  gewohnlich  sagte  sie  bloB:  ,,es  geht  ihr  gut."  Aber 
Kadar  bemerkte  diese  Wortkargheit  iiber  Kathe  nicht,  und 
als  Gerda  eines  Nachmittags  das  Madchen  iiberhaupt  nicht 
erwahnte,  fiel  es  ihm  nicht  einmal  auf,  daB  er  sich  auch  nicht 
nach  ihr  erkundigte.  Nein,  jetzt  war  es  Gerda,  die  die  zahl- 
reichen  Stunden  seines  Nichtstuns  in  Anspruch  nahm. 
Warum  kommt  sie  zu  mir?  schon  das  ist  seltsam,  daB  sie 
meine  Sachen  ordnete,  als  ich  krank  wurde.  Jetzt  sehe  und 
spreche  ich  sie  schon  seit  Wochen  jeden  Tag  und  weiB  noch 
immer  nichts  von  ihr  und  verstehe  sie  tagtaglich  weniger. 
Er  horchte  und  lauschte  in  sich  hinein:  vielleicht  wiirde  er 
in  seinem  Innern  eine  Stimme  horen,  vielleicht  an  der  Frau 
eine  Geste  bemerken,  die  eine  Erklarung  geben  oder 
wenigstens  sie  naher  bringen  konnte  —  naher  bringen? 
wozu?  ist  es  nicht  besser  so,  im  stillen  Dunkel,  im  ruhigen 
Verstreichen  der  Stunden  an  sie  zu  denken,  —  und  nichts 
Bestimmtes  zu  wissen,  damit  ich  glauben  kann,  was  ich 
gerade  glauben  mochte?  .  .  . 

Es  schneite,  iiber  Nacht  war  der  kleine  Hof  weich  und 
weiB  geworden.  Der  Schnee  brachte  saubere  Stille  ins 
Zimmer;  heute  freute  er  sich  zum  erstenmal,  daB  er  all  ein, 
daB  das  andere  Bett  leer  war.  Er  trank  Milch,  spiirte  Hunger, 
und  die  Milch  schmeckte  ihm;  er  fuhlte,  wie  der  sich  nach 
Gesundheit  sehnende  junge  Organismus  gierig  die  langsame, 
sichere  Genesung  einsog.  Auf  dem  kleinen  Tisch  lagen  die 
Biicher,  die  er  von  Paul  bekommen  hatte,  zerstreut  blatterte 
er  in  ihnen.  Der  Mensch ...  ist  ein  zum  Alleinsein  bestimmtes 
Tier.  Vater  und  Mutter  in  Deva,  in  der  Erde;  Tantc  Anna 
und  Onkel  Rudi . . .  jeden  Monat  kommt  und  geht  ein  Brief: 

158 


ziemlich  eintonige  Variationen  um  das  Wort:  es  geht  uns 
einigermaBen.  Seitdem  er  krank  war,  hatte  er  ihnen  natiirlich 
nicht  geschrieben,  er  wollte  sie  nicht  beunruhigen.  Vielleicht 
werde  ich  sie  jahrelang  nicht  wiedersehen,  vielleicht  nie. 
Zwei  alte  Leute,  ihr  Bild  verblaBte  von  Tag  zu  Tag  mehr. 
Onkel  Rudi  ist  schon  ganz  grau,  Tante  Anna  bekommt  iiber 
dem  Handgelenk  faltige  Arme.  Agota  .  .  .  fast  hatte  sie  ein 
Kind  gehabt  von  einem  Monteur,  der  sich  selbst  zum 
Kriippel  gemacht  hat  .  .  .  einen  blauen  Schal  hat  sie  mir 
gegeben,  als  ich  nach  den  drei  Tagen  —  Die  kleinen  Wiener 
Madels,  —  Lene  hieB  die  eine,  die  andere  hatte  einelangliche 
Brandnarbe  am  Arm,  die  dritte  war  mit  einem  unertraglichen 
Veilchenduft  parfumiert.  Kathe  .  .  .  steht  vor  dem  Spiegel, 
und  das  Korsett  ist  ihr  verrutscht,  —  bisher  war  mir  gar 
nicht  aufgefallen,  daB  sie  so  dick  ist ...  —  Schrecklich.  Was 
ist  diese  dumpfe,  leere  Kalte,  die  er  fiihlt,  wenn  er  sich  an 
Namen,  Gesichter,  Bewegungen,  Stimmen  erinnert?  Ist  der 
Mensch  wirklich  nicht  mehr  als  eine  Hand,  die  Brot  reicht, 
oder  ein  Lustobjekt,  das  in  der  Umarmung  heiB  siedet? 
Laufen  Schicksale  tatsachlich  aneinander  vorbei  wie  zwei 
nachtliche  Ziige  auf  parallelen  Geleisen,  ihre  Fenster 
leuchten  fur  ein  paar  Sekunden  ineinander,  und  der,  dessen 
Lokomotive  starker  ist,  laBt  den  andern  hinter  sich?  Gibt 
es  wirklich  keinen  Gefahrten  in  Mitgefiihl  oder  Abneigung, 
nur  verschwommene  Figuren  in  sinnlosen  Flecken,  mit 
unverstandlichen  Zielen  und  unfaBbaren  Tonen?  Gibt  es 
nur  Formeln?  von  dem  bekomme  ich  Geld,  von  jenem  hore 
ich  weise  Worte,  diesen  meide  ich,  und  mit  jener  krieche 
ich  zusammen  in  ein  Bett?  Der  eine  sagt:  liebes  Kind,  ich 
lasse  dich  nun  allein  in  die  Fremde,  ins  Leben  ziehen.  Der 
andere  verkiindet  pathetisch:  Sie  werden  fur  reif  erklart! 
Einer  brullt:  nieder  mit  Serbien!  Einer  krachzt  kurz: 
Fahnrich  Kadar  mit  vier  Mann  .  .  .  Einer  heult:  elender 
Kommunist  I  Eine  zerschmilzt :  ich  bete  dich  an !  Eine  fragt : 
mochten  Sie  ein  biflchen  Kompott?  Wen  gibt  es,  der  bleibt; 
wen  gibt  es,  der  iiber  die  Formel  hinaus  etwas  bedeutet, 

159 


mehr  als  die  Fiktion  einer  fliichtigen  Minute  oder  eines 
fliichtigen  Jahres?  Seine  Eltern,  an  die  er  sich  kaum  er- 
innert?  Mariska  Gazda,  die  er  einmal  gekiiBt  hat?  Gerda, 
die  er  noch  nicht  kennt?  Paul,  von  dem  er  manchmal  das 
Gefiihl  hat,  er  sei  geistig  nicht  ganz  in  Ordnung?  Keiner 
bleibt .  .  .  Und  kann  ich  wirklich  nur  vom  Geheimnis  oder 
von  dem,  was  auBerhalb  der  Norm  steht,  etwas  erwarten?  — 
Und  dann  posaunte  mitten  in  diese  verwirrenden  und  ver- 
worrenen,  unruhigen  und  beunruhigenden  Meditationen 
die  Stimme  der  Gesundheit  und  des  Wollens:  ich  werde 
gesund!  ich  will  arbeiten!  ich  verschaffe  mir  Freunde!  ich 
werde  zu  Geld  kommen!  ich  werde  cine  Frau  haben!  — 
und  da  wurde  er  gut  gelaunt,  fing  an,  ini  Bett  zu  pfeifen, 
und  kniff  der  dicken  Pflegerin  blaue  Flecke  in  den  Arm. 
Mit  iiberraschender  Sicherheit  stellte  er  sich  auf  die  FiiBe, 
als  der  Arzt  ihm  in  der  funften  Woche  aufzustehen  erlaubte. 
Ein  paar  Minuten  ging  er  im  Zimmer  auf  und  ab,  friih- 
stiickte  mit  gutem  Appetit  und  legte  sich  dann  vorsichts- 
halber  wieder  ins  Bett.  Gestern  war  Paul  den  ganzen  Nach- 
mittag  bei  ihm  und  erzahlte:  er  habe  seinem  Vater  erklart, 
er  miisse  einen  Nachhilfelehrer  haben,  um  das  durch  die 
Krankheit  Versaumte  nachholen  zu  konnen.  ,,Sowie  du 
also  ganz  gesund  bist,  sehen  wir  uns  jeden  Tag,  voraus- 
gesetzt  natiirlich,  daB  du  die  Rolle  eines  Korrepetitors  bei 
mir  iibernehmen  willst."  Heiter  plauderten  sic,  Paul  hatte 
Schokolade  und  eine  Menge  feiner  Zigaretten  mitgebracht, 
das  Zimmer  fiillte  sich  mit  Rauch,  —  seit  seiner  Krankheit 
waren  dies  die  ersten  Zigaretten.  ,,War  die  blonde  Un- 
bekannte  heute  auch  hier?"  scherzt  Paul.  ,,Natiirlich,  sie 
kommt  doch  jeden  Tag,  wie  du  weiBt,  fur  fiinf  Minuten."  — 
,,Und  bleibt  sie  auch  jetzt  nicht  langer,  seitdem  du  allein  im 
Zimmer  bist?"  Er  wird  rot:  ,,nein,  auch  jetzt  nicht,  warum 
denkst  du  das?"  —  ,,Ich  hoffe,  du  bist  dir  dariiber  klar,  daB 
diese  Dame  in  dich  verliebt  ist?!"  setzt  er  den  Scherz  fort. 
,,Du  Lausbub!"  blast  er  ihm  den  Rauch  ins  Gesicht,  ,,was 
wciBt  denn  du  von . . .",  und  wieder  wird  er  rot.  Daran  habe 

1 60 


ich  auf  mein  Wort  noch  nie  gedacht,  sagt  er  zu  sich.  Aber 
es  1st  ja  auch  Unsinn  .  .  .  sie  hat  mich  ja  vorher  kaum  ge- 
sehen,  und  dann,  well  sie  mich  aus  Mitleid,  elend,  wie  ich 
war,  aufgeklaubt  und  wahrend  der  ganzen  Zeit  vielleicht 
zwei  Stunden  an  meinem  Bett  verbracht  hat .  .  .  ,,Nicht  viel 
iiberlegen",  sagt  Paul  bestimmt  und  frech,  ,,jetzt  bist  du 
doch  schon  gesund,  pack  doch  ihren  Kopf,  riihr  sie  doch 
cndlich  an,  damit  sie  bekommt,  was  sie  will!"  —  Er  ist 
verlegen  und  winkt  ab.  ,,Deine  zynische  und  oberflach- 
liche ..."  —  ,,Toni",  unterbricht  ihn  der  andere,  ,,bist  du 
denn  wirklich  ganz  verblodet?  habe  ich  dich  denn  wochen- 
lang  vergebens  erzogen?"  —  da  lachen  sie,  eine  halbe 
Stunde  plaudern  sie  noch,  dann  geht  Paul.  —  Das  Auf- 
stehen  ist  ihm  gut  bekommen;  nach  einer  Stunde  Ruhe 
steigt  er  wieder  aus  dem  Bett,  setzt  sich  ans  Fenster  und 
betrachtet  den  fallenden  Schnee.  Kein  biBchen  Miidigkeit 
in  den  Gliedern,  —  Herr  Gott,  ich  bin  wieder  gesund.  Sein 
Mittagessen  verschlang  er  mit  Wolfshunger  und  legte  sich 
dann  sofort  wieder  bin,  um  um  drei  Uhr  frisch  und  auf  den 
Beinen  Gerda  Buhr  empfangen  zu  konnen. 

Punkt  drei  erscheint  sie.  ,,Ich  gratuliere  zum  Aufstehen, 
jetzt  wird  die  Sache  schon  schnell  verlaufen,  wie  ich  sehe, 
geht  es  Ihnen  gut,  also  auf  Wiedersehen,  morgen  komme 
ich  wieder",  sagt  sie  in  einem  Atemzug,  setzt  sich  nicht 
cinmal  hin,  schon  ist  sie  nicht  mehr  da.  Dieses  rasche  Ver- 
schwinden  machte  ihn  miBgestimmt,  er  hatte  sich  mit  ihr 
unterhalten  wollen  und  war  nicht  einmal  dazu  gekommcn, 
sic  zum  Bleiben  zu  bitten.  Argerlich  legte  er  sich  hin,  starrte 
die  Wand  an,  und  was  Paul  von  Gerda  gesagt  hatte,  ging 
ihm  fortwahrend  durch  den  Kopf.  Dann  schlief  er  ein,  — 
auch  Paul  kam  heute  nicht,  —  und  der  Nachmittag  floB  mit 
wenigen  Minuten  des  Wachseins  in  den  Abend  iiber.  — 
Am  nachsten  Vormittag  kommt  die  Pflegerin:  ,,Fraulein 
Buhr  hat  angerufen,  sie  ist  erkaltet  und  kann  weder  heute 
noch  morgen  kommen,  voraussichtlich  erst  ubermorgen 
oder  Freitag.  —  Diese  Nachricht  schmifi  ihn  ganz  um.  Er 

11  Kftrmendl,  Budapest  l6l 


wurde  brummig,  kaute  ohne  Appctit  an  seincm  Essen  her- 
um  und  war  geradezu  froh,  als  Paul  und  Wirth  nach  einem 
kurzen  Besuch  von  einer  halben  Stunde  wiedcr  gingen. 
Auch  der  folgende  Tag  war  nicht  anders ;  aber  nachmittags 
begann  bereits  die  Hoffnung  in  ihm  zu  erbliihen :  vielleicht 
kommt  sie  morgen  .  .  .  und  dann  zog  sich  plotzlich  eine 
unertragliche  heiBe  Spannung  durch  seine  Brust:  sollte 
Gerda  in  mich  verliebt  sein? 

Am  nachsten  Tage  nach  Tisch  war  sie  also  da.  Aufgeregt 
saB  er  auf  dem  Bett  und  wartete,  und  als  sich  die  Tike 
offnete,  sprang  er  auf.  ,,Sie  waren  doch  nicht  ernstlich 
krank?"  —  ,,Nein",  antwortete  sie,  ,,ich  war  iiberhaupt 
nicht  krank,  ich  wollte  bloB,  daB  Sie  die  ersten  zwei-drei 
Tage  des  Aufseins  —  beziehungsweise  ich  wollte  nicht,  daB 
Sie  mich  vielleicht  etwas  fragen,  worauf  ich  hatte  antworten 
rmissen."  Schwer  und  kalt  klopft  es  ihm  in  der  Brust:  in 
diesem  Ton,  so  unsicher  hatte  sie  noch  nie  gesprochen,  — 
,,gibts  denn  etwas  Unangenehmes?"  fragt  er  ganz  leisc. 
,,Ja",  antwortet  sie  und  senkt  den  Blick  zu  Boden,  was  sie 
bisher  noch  nie  getan  hatte,  ,,die  Kathe  ist  gestorben  .  .  . 
schon  vor  zehn  Tagen,  an  Gehirnhautentziindung."  Zuci 
erschrockene  Augapfel  starren  in  den  plotzlich  verschwim- 
menden  weiB-blonden  Fleck,  und  ein  leichtes  Schlucken 
klopft  ihm  in  der  Kehle.  Spannende  Kalte  steigt  langsam  in 
seinem  Innern  auf,  und  rasche,  angstliche  Pulsschlage 
lauschen,  ob  .  .  .  hinter  ihnen  Entsetzen,  Schmerz,  Nieder- 
geschlagenheit  steckt?  Dann  klart  sich  der  blond- weiBe 
Fleck  zu  Gerdas  Gesicht,  das  jagende  Herzklopfen  wird 
stiller,  tief  im  Kopf  hort  er  ein  stohnendes  Echo,  —  der 
Mensch  ...  ist  ein  zum  Alleinsein  bestimmtes  Tier . . .  und 
in  dem  Augenblick  fuhlt  er  wie  ein  Unbeteiligter,  Fremder, 
in  eisig  kaltem  Entsetzen,  daB  Kathe  von  seiner  Seite  dahin- 
gestorben  ist,  als  —  hatte  sie  niemals  neben  ihm  gestanden, 
als  —  als  ware  ein  fremder  Mensch  auf  der  StraBe  zusammen- 
gebrochen,  die  Leute  bleiben  einen  Moment  stehen  und  gehen 
dann  weiter.  ,,Gehirnhautentziindung  .  .  .  fiirchtcrlich", 

162 


murmelt  cr,  und  etwas  anderes  kann  er  nicht  sagen.  — 
,,Regen  Sie  sich  moglichst  nicht  auf",  greift  Gerda  nach 
einem  Wort,  ,,aus  dem  Grunde  habe  ich  es  Ihnen  nicht 
friiher  gesagt.  Die  arme  Kathe,  nach  der  ersten  Woche 
wurde  ihr  sehr  schlecht,  und  in  der  dritten  Woche  trat 
Nieren-  und  Gehirnhautentziindung  ein.  Vielleicht  ist  es 
ein  Gliick,  daB  sie  vor  ihrem  Tode  drei  voile  Tage  bewuBt- 
los  lag,  jedenfalls  hat  sie  auf  die  Weise  weniger  gelitten." 
Heute  blieb  Gerda  den  ganzen  Nachmittag  bei  ihm.  Sie 
sah  sofort,  wie  die  Nachricht  von  Kathes  Tod  an  barter 
Fremdheit  und  kaum  zu  verhiillender  Teilnahmlosigkeit 
zerfiel;  aber  sie  ftihlte  auch,  wenn  sie  ihn  jetzt  allein  heBe, 
dann  wiirden  die  Fremdheit  und  die  Teilnahmlosigkeit  mit 
doppelter  Kraft  iiber  ihn  herfallen  und  ihn  qualen.  Die 
zwangsmaBige  Ruhrung  verscheuchte  sie  mit  gescheiten 
und  interessanten  Worten,  und  was  sie  noch  nie  getan  hatte, 
sie  erkundigte  sich  nach  seinen  Privatangelegenheiten,  fing 
von  der  Hochschule  und  von  der  nachsten  Zukunft  an  zu 
sprechen.  ,,Es  ist  auf  alle  Falle  richtig,  daB  Sie  in  Wien 
studieren,  wenn  auch  die  Wiener  Vorlesungen  in  Architektur 
nicht  ebcn  an  erster  Stelle  stehen,  —  wenn  Sie  einmal  weiter 
gingen,  nach  Berlin  oder  nach  Zurich  .  .  .  billig  ist  Wien 
bestimmt,  billiger  als  jede  andere  Stadt  in  Europa,  besonders 
fur  die,  die  Schweizer  Franken  haben.  Im  iibrigen,  —  wie 
Sie  ja  sehr  gut  wissen,  —  sind  die  Verhaltnisse  schwer, 
natiirlich  nicht  nur  in  Wien,  sondern  auf  der  ganzen  Welt. 
Das  ist  die  Folge  des  Krieges  und  zum  Teil  die  Folge  davon, 
daB  der  Krieg  offensichtlich  nicht  in  der  Weise  liquidiert 
wird,  wie  es  sein  sollte.  DaB  sich  nun  in  einigen  Landern  die 
Staatsform  geandert  hat  und  man  in  RuBland  einen  Versuch 
in  die  Wege  leitet,  der  zweifellos  einer  der  aufregendsten 
Versuche  der  Weltgeschichte  ist  — ",  und  er  bemerkt  kaum, 
daB  sie  sich  uber  Dinge  unterhalten,  iiber  die  sie  noch  nie 
ein  Wort  verloren  hat.  Arbeitslosigkeit,  unrichtige  Ver- 
teilung  von  Vermogen  und  Grundbesitz,  furchtbare  Ver- 
schiebungen  unter  den  einzelnen  Gesellschaftsschichten  .  .  . 


11* 


163 


Gerda  sagt:  ,,jede  neue  Welt  geht  aus  cinem  kosmischen 
Chaos  hcrvor,  jeder  Welterncuerung  muB  ein  gesellschaft- 
liches  Chaos  vorangehen  ..."  —  er  wundert  sich  iiber  die 
Stimme,  iiber  die  Worte  und  fiihlt,  dafi  er  nichts  dazu  zu 
sagen,  daB  er  keine  Idee  von  diesen  Dingen,  keine  Wurzel  in 
ihnen  hat.  Diese  Interesselosigkeit  und  den  scheuen,  fast  sich 
wehrenden  Ausdruck  in  seinem  Gesicht  bemerkt  Gerda,  und 
kaum  wahrnehmbar  leitet  sie  das  Gesprach  auf  personliche, 
Kadar  direkt  betreffende  Dinge  iiber.  ,,Das  osterreichische 
Geld  wird  von  Tag  2u  Tag  schlechter,  Sie  mit  Ihren 
Schweizer  Franken  beriihrt  das  natiirlich  mcht  sehr."  Dann 
legt  sie  Rechenschaft  ab  iiber  das  Geld,  —  fiinfhundert- 
fiinfzig  Francs  hat  er  noch;  Gerda  rat  ihm,  Schiilern  Nach- 
hilfestunden  zu  geben.  ,,£men  Schiilcr  habe  ich  schon", 
sagt  er,  ,,den  Pauli-HeBlein."  —  ,,Der  kleine  Junge,  der  Ihr 
Zimmergefahrte  war?  mir  scheint,  Sie  haben  grofie  Freund- 
schaft  geschlossen.**  Das  leugnet  er  nicht  und  spncht  in 
schwarmerischen  Worten  von  seinem  neuen  Freund.  Sie 
hort  sich  diese  Ergiisse  schweigend  an  und  bemerkt  nur 
zum  SchluB:  ,,ich  glaube,  Sie  sind  em  erwas  leicht  beein- 
fluBbarer  Mensch.  Passen  Sie  nur  auf,  daB  diese  ofFenbar 
starkcrc  und  aktivere  Personlichkeit  Sie  nicht  in  Extra- 
vaganzen  treibt.*'  —  Dariiber  argerte  er  sich.  Extra- 
vaganzen?  —  und  uberhaupt,  was  will  diese  .  .  .  warum 
warnt  sie  ihn  vor  seinem  Freund?  Will  sie  mich  ihm  ent- 
fremden?  Was  gibt  sie  mit  dafiir?  Vielleicht  das,  daB  ich  sie 
langer  als  ein  Jahi  kenne  und  sie  heute  zum  erstenmal  mehr 
als  drei  Worte  mit  mir  spricht  ?  DaB  es  mir  wahrend  eines 
Jahres  nicht  gelungen  ist  zu  erfahren,  wer  und  was  sie 
ist?  Oder  .  . .  vielkicht,  was  Paul  —  Hcrausfordernd  maB 
er  sie  von  oben  bis  unten  und  lieB  die  Augen  aggressiv 
und  eindeutig  an  ihrer  Brust  haften.  Gerda  bemerkte 
den  Blick  sofort,  ein  fliichtiges  Ldcheln  ging  iiber  ihre 
Ziige,  im  iibrigen  nahm  sie  von  der  Sache  keine  Notiz.  Nur 
ihre  Stimme  schien  etwas  kiihler  als  vor  fiinf  Minuten,  abcr 
das  Gesprach  geht  weiter  und  flieBt  bald  klar  und  ruhig 

164 


dahin.  ,,Paul  hat  ein  besonders  intelligentes  Gesicht",  sagt 
Gerda,  —  was  kannst  du  denn  wissen,  wer  dieser  Paul  1st, 
denkt  er  und  schweigt,  —  und  daB  letzten  Endes  cine  der- 
artige  Freundschaft  einem  in  seiner  Entwicklung  nur 
forderlich  sein  kann,  genau  so  wie  spater  einmal  die  guten 
Beziehungen  ...  —  was  weiBt  du,  wer  dieser  Paul  ist! 
Gegen  sechs  Uhr  kotnmen  Paul  und  Wirth;  sic  stellcn  sich 
Gerda  vor,  und  sie  bemerkt,  daB  Paul  sie  mit  demselben 
Blick  miBt  wie  vorhin  Kadar.  —  Dann  sitzen  sie  an  scinem 
Bett  und  sprechen  vom  ,,Heartbreak-House",  Shaws  neuem 
Stuck.  Dann  ist  von  alltaglichen  Dingen  die  Rede;  Paul  er- 
zahlt,  sein  Vater  habe  die  Verteidigung  eines  Nationalisten 
ubernommen,  der  in  einem  Wirtshaus  in  Penzing  einen 
sozialistischen  Arbeiter  durchs  Fenster  erschossen  habe. 
Wirth  halt  einen  etwas  verworrenen  und  spitzfindigen 
Vortrag  iiber  ein  noch  ungeklartes  Verbrechen,  das  sehr 
nach  Lustmord  aussieht  und  seit  Tagen  die  Stadt  in  Auf- 
regung  halt.  Spater  polemisieren  sie  iiber  die  Glasarchitek- 
tur,  —  Paul  hat  gerade  ein  hierauf  beziigliches  neues  Buch 
mitgebracht.  —  Gegen  sieben  Uhr  stand  Gerda  auf  und 
nahm  auch  die  beiden  andern  Besucher  mit.  GewiB  wollte 
sie  nicht,  daB  wir  von  ihr  reden,  wenn  wir  allein  gebliebcn 
sind,  dachte  er. 

Die  wenigen  Tage,  die  er  noch  im  Krankenhaus  zu  ver- 
bringen  hatte,  verstrichen  in  bleischwerer  Langweile  und 
juckender  Ungeduld.  Jetzt  war  cs  ihm  schon  zur  GewiBheit 
geworden,  daB  Kathe  genau  so  aus  seinem  Leben  ent- 
schwunden  war  wie  dieser  Scharlach.  Gewaltsam  rief  er 
sich  ihr  Gesicht  wieder  vor  die  Augen,  ihr  reizendes  kleines 
Lacheln,  damals,  als  sie  sich  zum  erstenmal  am  Theater 
begegneten,  —  aber  das  Gesicht  war  verschwommen,  und 
wenn  es  sehr  blaB  fur  einen  Moment  in  seinem  Kopf  er- 
schien,  so  erkannte  er  es  nur  darum,  weil  er  wuBte,  wen  er 
sich  ins  Gedachtnis  zuriickgerufen  hatte.  Er  dachte  an  die 
kleinen  Vertraulichkeiten  ihres  korperlichen  Zusammen- 
seins,  aber  in  diesen  erzwungenen  Bildern  flossen 


vergangenc  fremde  Gesichtcr  und  Korper  ineinander, 
und  seine  erotischen  Erinnerungen  schienen  sich  auf  eine 
sonderbare  und  erschreckende,  aus  hundert  fremden  Details 
zusammengesetzte  iibermenschliche  Frau  zu  beziehen.  Dann 
versuchte  er,  sich  das  Gesicht  der  Toten  vorzustellen,  den 
armen,  kalt  gewordenen  Korper,  —  armes  kleines  Ding, 
murmelte  er  im  Dunkeln  vor  sich  hin  und  bemiihte  sich,  ein 
wenig  Mitleid  aus  seinem  Herzen  zu  pressen.  Aus  dieser 
groBen  tranenden  Anstrengung  wurde  tiefes  gesundes 
Gahnen,  dann  schlief  er  ein.  —  Gerda  hatte  ihm  vor  kurzem 
seine  Lehrbiicher  mitgebracht,  jetzt  blatterte  er  in  ihnen 
und  dachte  angstlich  daran,  wieviel  er  versaumt  hatte.  Er 
begann,  sich  ein  Programm  zu  machen,  aber  dabei  iiber- 
raschte  ihn  ein  peinliches  Gefuhl  der  Unsicherheit,  so  daB 
er  es  fiir  einfacher  hielt,  den  Lauf  der  Dinge  abzuwarten, 
sich  nicht  vorher  den  Kopf  zu  zerbrechen  und  zunachst  ein- 
fach  gesund  und  ungeduldig  zu  sein.  —  In  diesen  letzten 
Tagen  kam  Gerda  wieder  nur  auf  fiinf  Minuten,  und  wie 
sehr  er  auch  bestrebt  war,  —  mit  ganz  derben  und  kindischen 
Mitteln,  —  ihr  scin  Interesse  deutlich  zu  machen,  diese 
kiihle,  blonde  Muschel,  die  Gerda  war,  begann  sich  un- 
bemerkt  und  langsam,  aber  unerbittlich  wieder  zu  schlieBen. 
Samstag  friih  fuhrt  ihn  dann  die  dicke  Pflegerin  ins 
Badezimmer.  Im  Ofen  kocht  das  Wasser,  eine  saubere 
Garnitur  Unterwasche  liegt  auf  dem  Stuhl,  und  am  Haken 
hangt  sein  blauer  Werktagsanzug  und  sein  Wintermantel. 
Im  Badezimmer  herrscht  groBe  Hitze,  die  Pflegerin  offnet 
fiir  einen  Augenblick,  —  bis  der  Dampf  ein  wenig  hinaus- 
zieht,  —  das  milchglaserne  Oberlicht.  Durch  die  schmale 
Spalte  leuchtet  der  harte,  klarblaue  Winterhimmel.  Be- 
wundernd  betrachtet  er  ihn.  ,,Los",  sagt  die  Pflegerin, 
,,kann  ich  das  Wasser  einlassen?  fix,  fix,  es  wollen  heute 
noch  viele  baden." 


8 

AM  crstcn  Abend,  den  er  wieder  in  Frau  Wesselys 
Wohnung  verbrachte,  vcrsammelten  sich  samtliche  Haus- 
gcnossen  in  seinem  Zimmer.  Sie  brachten  Geback  und 
Wein  mit,  —  der  Wunderrabbi  hatte  einen  fiirchterlich 
siiBen  Kuchen  mit  Honig  und  Niissen  aus  dem  Seminar 
geschickt,  —  und  Hummel  iiberreichte  ihm  eine  eigen- 
handig  aus  Lumpen  angefertigte  Wickelpuppe,  deren  Ge- 
sicht  mit  roten  Tintenflecken  bespritzt  war  und  die  ein 
iiberdimensionales  Latzchen  um  den  Hals  trug,  auf  dem 
geschrieben  stand:  ,Zum  Andenken  an  die  gliicklich  iiber- 
wundene  zweite  Kindheit!'  —  Sie  erzahlten  ihm  und 
lieBen  ihn  erzahlen,  —  laBt  mich  in  Ruh,  was  soil  ich  denn 
erzahlen?  sechs  Wochen  war  ich  eingesperrt!  —  sie  iiber- 
schiitteten  ihn  mit  Witzen  und  stopften  ihn  mit  SxiBigkeiten. 
Zwischendurch  entwischte  er  einmal  auf  den  Flur  und  sah 
nach  Gerdas  Tiir:  sie  war  verschlossen.  Es  wurde  neun 
Uhr,  es  wurde  zehn  Uhr,  Gerda  kam  noch  immer  nicht  nach 
Hause.  Er  ring  an,  unruhig  zu  werden,  und  gegen  halb  elf 
schickte  er  die  Jungens  aus  seinem  Zimmer:  er  sei  mude, 
er  wolle  schlafen.  Dann  blieb  er  aber  auf,  und  als  das  Haus 
still  und  die  Lichter  geloscht  worden  waren,  machte  er 
leise  und  nur  einen  Gedanken  breit  seine  Tiire  auf:  er 
wartete  auf  Gerda.  Hinter  der  Tiir  setzte  er  sich  auf  einen 
Stuhl.  Langsam  kriechen  im  Finstern  die  dickwanstigen 
Minuten  auf  verkummerten  Beinen.  Am  Ende  des  Korri- 
dors  muB  irgendwo  eine  Uhr  sein,  die  hab  ich  bisher  gar 
nicht  bemerkt,  oder  sollte  ich  sie  nur  vergessen  haben?  man 
hort  ihr  leises  Ticken,  das  immer  langsamer  zu  werden 
scheint.  Und  noch  ein  fortgesetztes  Gerausch,  auch  das 
klingt  wie  Ticken,  nur  schneller,  eigentlich  zwei  Tone  im 
Takt,  die  in  regelmaBigen  Abstanden  zusammenklingen, 
dann  auseinandergehen:  der  elektrische  Stromzahler. 
Plotzlich  ein  rauschender  Ton  in  der  Wand,  wahrscheinlich 
das  Wasser,  das  durch  den  Kanal  hinabflieBt.  Wie  mancherlei 

167 


nachtlichen  Larm  man  nicht  bemerkt,  wenn  man  schlaft. 
Oder  im  Traum.  Leise  offnet  und  schlieBt  sich  cine  Tiir,  die 
sommcrsprossige  Magd  geht  noch  immer  zu  Miihlbeck? 
Dann  Stille,  die  urn  so  groBer  wird,  als  er  sich  an  das 
monotone  Ticken  der  Uhr  und  des  Zahlers  gewohnt.  Er 
sitzt  da  im  Stockfinstern,  —  Minuten,  Stunden  und  Jahre 
vergehen  .  .  .  bloB  man  weiB  nicht,  gehen  sie  vorwarts  oder 
riickwarts  ?  —  und  plotzlich  hat  er  das  Gefiihl,  im  Schiitzen- 
graben  zu  hocken,  ich  brauche  meine  Hand  bloB  nach 
rechts  und  links  auszustrecken,  dann  sitzt  da  Dank6  und 
Zweigmiihler  und  Altmann  und  —  gleich  wird  doch  die 
erste  Leuchtrakete  aufsteigen  und  dann  noch  eine  und 
noch  eine,  und  dann  weiB  ich,  na,  jetzt  gehts  los.  —  Im 
SchloB  dreht  sich  leise  ein  Schliissel,  —  Gerda  kommt.  Mit 
einem  Satz  ist  er  an  der  Flurmundung,  und  gleich  darauf 
stoBt  Gerda  gegen  seine  vorgestreckte  Hand.  ,,Wer  ist 
da?l"  phosphoresziert  ein  erschrecktes  Fliistern  im  Dunkel. 
,,Ich,  Kddar",  fliistert  er  auch.  ,,Das  hatte  ich  mir  denken 
konnen  .  .  .  was  wollen  Sie?  was  bilden  Sie  sich  denn  ein, 
Sie  Dummer?!"  —  ,,Fraulein  Gerda,  ich  muB  ...  ich  muB 
unbedingt  mit  Ihnen ..."  —  ,,Aber  doch  nicht  um  diese 
Zeit!  in  der  Nachtl  kommen  Sie  morgen  nachmittag  um 
sechs  zu  mir  ins  Zimmer  .  .  ."  Und  wenn  ich  sie  jetzt  nicht 
gelassen  hatte,  sondern  gepackt  und  . .  .  oder  —  oder  ihr  an 

die  Kehle  gegriffen 

Auch  diese  Nacht  vergeht.  Er  hat  einen  wiisten,  kom- 
plizierten  Traum:  cr  liegt  im  Krankenhaus,  am  FuBende  des 
Bettcs  stehen  machtige,  runde  Milchflaschen  nebeneinander 
gereiht;  Durst  qualt  ihn,  und  er  grcift  nach  einer  der 
Flaschen,  aber  die  Flasche  weicht  immer  zuriick,  er  kann 
sie  nicht  erreichen,  dabei  langt  seine  Hand  schon  bis  an  die 
Wand,  —  unmoglich,  Hirngespinste,  die  Wand  ist  doch 
mindestcns  vier  Meter  vom  Bett  entfernt,  und  mein  Arm 
kann  doch  nicht  vier  Meter  lang  sein.  Da  steht  plotzlich 
Paul  in  der  Mitte  des  Zimmers,  cr  stiitzt  sich  auf  ein  Motor- 
rad  und  winkt,  komm,  fahren  wir  los,  du  weiBt,  wie  lang 

168 


der  Weg  1st,  und  wir  miissen  langsam  fahren,  damit  wir  die 
Apfclfrau  nicbt  umrcmpeln.  Das  Motorrad  pufft  laut,  er 
setzt  sich  auf  den  Sitz  hinter  Paul  und  halt  sich  an  dessen 
Schultern  fest.  Jetzt  hat  das  Zimmer  keine  Wand  mehr,  und 
das  Rad  setzt  sich  lautlos  in  Bewegung.  Sie  sausen  irgendwo 
iiber  eine  ihm  bekannt  vorkommende  Chaussee  im  Wiener 
Wald  in  immer  wahnsinnigerem  Tempo,  die  StraBe  fuhrt 
geradeaus  und  abwarts.  Als  flogen  sie.  Er  klammert  sich 
fest  an  den  Fahrer,  Paul  beugt  sich  nach  hinten,  und  da  sieht 
er,  daB  er  einen  kurzen  hellblauen  Rock  anhat  und  auf  dem 
Kopf  einen  roten  Hut,  unter  dem  blondes  Haar  hervor- 
guckt,  und  er  erkennt:  die  Gestalt,  die  vor  ihm  sitzt  und 
an  die  er  sich  klammert,  ist  nicht  Paul,  sondern  Gerda.  Und 
nun  rasen  sie  zwischen  riesigen,  runden  Steinen,  die  wie 
Milchflaschen  aussehen,  in  eine  Art  Steinbruch  hinab, 
Gerda  hat  bloB  die  blaue  Jacke  an  und  den  Hut  auf,  sonst 
nichts,  das  Motorrad  saust  in  machtigen  Spriingen  unter 
ihnen  weg,  die  blaue  Jacke  reicht  nur  bis  zum  Giirtel  und 
laBt  auch  die  Bruste  frei;  taumelnd  stiirzen  sie  in  die  Tiefe, 
und  auf  dem  Grund  des  Steinbruchs  fallen  sie  aufeinander, 
da  reiBt  er  Gerda  an  sich,  und  in  schmerzlicher,  rasend- 
machender  Wonne  halten  sie  sich  umschlungen,  —  naB 
geschwitzt  und  mit  Hammern  im  Brustkasten  und  in  den 
Schlafen  wacht  er  erschopft  auf.  —  Dann  vergeht  auch  der 
Vormittag,  —  es  regnet,  aber  die  Luft  ist  fast  friihlings- 
maBig  lau,  —  er  spaaiert  auf  die  Hochschule,  spricht  mit 
einem  Professor  und  ein  paar  Studenten,  die  ihm  zu  seiner 
Genesung  gratulieren.  In  der  Mensa  iBt  er  zu  Mittag, 
schreitet  vor  dem  Haus  auf  und  ab,  in  dem  Pauli-HeBleins 
wohnen,  und  geht  nach  Hause.  Vicr  Uhr:  er  hort  Gerda 
kommen  und  mit  Frau  Wessely  sprechen;  die  Spannung 
in  seinem  Kopf  nimmt  zu ;  vier  Uhr  zehn,  —  ich  dachte,  es 
ist  schon  fiinf !  —  er  stellt  sich  ans  Fenster  und  starrt 
hinaus,  auf  der  StraBe  qualt  sich  ratternd  und  puffend  ein 
geschlosscnes  Lastauto  ab,  um  in  Gang  zu  kommen,  auf  der 
Seite  steht  daraufgemalt:  Milchwirtschaft  Tschuden  — 

169 


Modling,  und  da  fallt  ihm  sein  Traum  cin,  —  cine  kurze, 
hcllbkue  Jacke  hat  sie  angchabt  —  und  in  dem  Moment 
tritt  Gerda  ins  Zimmer :  ,,ich  muB  heutc  abend  fruher  weg, 
deshalb  habe  ich  nicht  gewartet,  bis  Sie  zu  mir  kommen", 
sagt  sie  und  setzt  sich.  ,,Na,  wie  geht  es  Ihnen?  fuhlen  Sie 
sich  noch  schwach?"  Verwirrt  schweigt  er.  ,,Zunachst", 
sagt  er  dann  zogernd,  ,,mochte  ich  Ihnen  danken."  —  ,,Sie 
brauchen  fur  nichts  zu  danken",  unterbricht  sie  ihn,  ,,das 
hatte  auch  jede  andere  gctan,  die  im  Krieg  Kranken- 
schwester  war  und  sieht,  wie  sich  ein  alleinstehender ..."  — 
,,Sie  waren  Krankenschwcster  im  Krieg?"  fragt  er  er- 
staunt.  ,,Ja,  als  mein  Mann  gleich  zu  Beginn  1914  fiel  — " 
,,Sie  waren  verheiratet?!"  starrt  er  sie  an.  ,,Ja,  ich  bin 

Witwe",  antwortet  sie,  ,,und "  plotzlich  schweigt  sie, 

und  dann,  als  hatte  sie  von  den  Vertraulichkeiten,  den  iiber- 
fliissigen  Mitteilungen  genug,  fahrt  sie  in  fremdem,  kaltem 
Ton  fort:  ,,also,  Dank  gebuhrt  mir  nicht.  Hier  ist  Ihr  Geld, 
funfhundertsechsunddreiBig  Franken;  na,  und  jetzt  machen 
Sie  sich  nur  ans  Lernen."  Und  dann,  er  weiB  selbst  nicht, 
wie,  steht  er  plotzlich  vor  ihr,  halt  ihre  beiden  diinnen 
Handgelenke  fest  in  seinen  Fausten,  und  stiickweise,  derb 
und  keuchcnd  brechen  die  Worte  aus  seinem  Mund  in 
aufgeriittelter  Angst.  ,,Um  Gottes  willen!  Sie  wollen  jetzt 
hier  weggehen  und  mich  allein  lassen,  und  seit  einem 
Jahr  weiB  ich,  daB  Sie  auf  der  Welt  sind,  und  weiB  nicht, 
wer  Sie  sind,  warum  Sie  mich  irn  Krankenhaus  besucht 
haben,  was  Sie  von  mir  wollen,  und  warum  Sie  niemals  ein 
Wort  verloren  haben,  aus  dem  ich  hatte  erfahren  konnen, 
was  Sie  machen  und  wovon  Sie  leben .  . .  und  Sie  bemerken 
cs  nicht,  daB  ich  dariiber  verriickt  werde."  —  ,,Loslassen!" 
zischt  sie  und  wirft  den  Korper  nach  hinten,  ,,Sie  Tier, 
Sie!  Loslassen!"  Breitc  rote  Ringe  hat  sie  am  Handgelenk 
vom  Druck,  ein  wenig  bleich  ist  ihr  Gesicht,  wie  sie  sich  so 
an  die  Tiire  lehnt,  —  da  steht  er  ihr  gegcniiber,  gebeugt  und 
verloren,  —  in  Gerdas  Wangen  kehrt  langsam  die  Farbe 
wieder,  ,,Sie  dummes  Kind",  sagt  sie  dann  icise,  ,,was 

170 


wollcn  Sie  denn?  w&re  cs  nicht  schade,  dicse  .  .  .  Bckannt- 
schaft  unfreundlich  zu  beschlieBcn?  Und  Sie  wollen  wissen, 
warum  ich  gut  zu  Ihncn  war . , .  Also,  mein  Mann,  der  gefallcn 
1st,  hatte  im  Gcsicht  etwas  Ahnlichkeit  mit  Ihnen,  —  das  ist 

alles."  Stille.  Wenn  ich  sie  jetzt  packe  und  wiirge ,,Und 

daB  Sie  seit  einemjahr  wissen,  daB  ichexistiere,  und  mich  nicht 
kennen?  —  Ja,  wozu  denn?  wir  haben  doch  nichts  mitein- 
ander  zu  tun,  wir  sind  doch  Fremde,  die  genau  so  gut  in 

eincm  Hotel  wohnen  konnten und  wenn  ich  Ihnen 

nun  sagte,  ich  bin  Angestellte  in  einem  Biiro,  oder  ich  bin 
Tanzerin,  ist  Ihnen  das  nicht  ganz  gleich?  Sehen  Sie  mal, 
wenn  Sie  sich  dankbar  zeigen  wollen,  weil  ich  mich  wahrend 
Ihrer  Krankheit  um  Sie  gekiimmert  habe,  dann  denken  Sie, 
es  vergehen  genau  wie  friiher  Tage  und  Wochen,  ohne  daB 
wir  uns  auch  nur  zufailig  auf  dem  Korridor  begegnen,  und 
denken  Sie  nicht  einmal  so  viel  an  mich  wie  an  die  arme 
Kathe  .  .  ."  Sein  Gesicht  ist  purpurrot,  ,,glauben  Sie,  das 
geht  so  einfach?"  stottert  er.  ,,Oh,  Sie  Kind",  sagt  sie,  und 
dabei  ist  schon  etwas  iiberlegene  Heiterkeit  in  ihrer  Stimme, 
,,ich  bin  doch  mindestens  sechs  Jahre  alter  als  Sie  ...  na,  — 
gabeln  Sie  sich  ein  frisches  kleines  Madel  auf,  eine  Kollegin, 
die  auch  auf  Ihre  Phantasie,  Ihre  Gedanken  zu  wirken 
vermag,  —  so,  und  nun  geben  Sie  mir  die  Hand!"  sagt  sie 
und  streckt  ihm  ihre  schmale,  weiBe  Hand  bin.  Trocken 
und  kuhl  ist  diese  Hand,  —  einen  Augenblick  meint  er,  vor 

ihr  niederfallen  zu  miissen  oder  —  oder und  in  diesem 

leeren  Moment  lost  sich  die  weiBe  Hand  aus  dem  heiBen, 
feuchten  Druck,  —  und  er  steht  allein  im  Zimmer. 

,,Du  hast  dich  geirrt",  sagt  er  am  nachsten  Abend,  als  er 
zum  erstenmal  bei  Paul  im  Zimmer  sitzt,  ,,die  Frau  ist  nicht 

verliebt  in  mich,  sondern ",  und  er  erzahlt,  was  sich 

zugetragen  hatte.  Der  Junge  sitzt  in  einem  tiefen  Sessel,  die 
FuBe  laBt  er  iiber  die  Armlehne  herabhangen.  ,,Na  und?"  — 
,,Was  na  und?  weiter  ist  nichts."  —  ,,Denkst  du?  ich 
glaube,  du  irrst  dich,  was  du  da  erzahlt  hast,  bedeutet  noch 
nicht,  daB  — ",  er  bricht  ab,  und  cin  Weilchen  schweigen 

171 


sie.  ,,Ubrigens,  gar  keine  unsympathische  Sache.  Ich  halte 
es  auch  fur  richtiger,  wenn  du  die  Gcschichtc  liquidierst, 
das  heiBt  —  du  bist  doch  nicht  verliebt  in  sie?!"  Bei  der 
hohnisch  klingenden,  scharfen  Frage  wird  er  rot.  ,,Nein", 
sagt  cr  und  hort  den  falschen  Ton  in  seiner  Stimme,  ,,aber 
zu  wundern  braucht  man  sich  doch  nicht,  daft  sie  mich 
interessiert ..."  —  ,,Interessiert!  was,  interessiert?  sie  soil 
dich  nicht  interessieren !  Sie  hat  vollkommen  recht.  Erstens 
bist  du  ein  griiner  Junge  im  Vergleich  zu  ihr,  —  gut,  gut, 
ich  weiB,  heiraten  willst  du  sie  nicht!  —  aber  so  alt  ist  sie 
auch  noch  nicht,  daB  so  griine  Bengels  sie  reizten.  Zweitens 
lebt  jeder  von  dem,  was  er  kann,  was  er  macht,  was  er 
will,  sie  geht  dich  nichts  an,  basta.  Soviel  ist  sicher,  eine 
alltagliche  Frau  ist  sie  nicht.  Aber  du  vergiB  sie  nur." 
Mit  triiben  Augen  starrt  er  in  die  Luft.  ,,Ich  hab  dir 
doch  erzahlt,  daB  Hummel  mal  gesagt  hat,  sie  sei  eine 
Dime  oder  Kommunistin?"  —  ,,Kann  sein",  sagt  Paul  in 
xibertriebcn  gleichgiiltigem  Ton,  ,,im  vibrigen  guck  jetzt 
lieber  her,  Wirth  arbeitet  schon  an  seiner  Dissertation, 
einen  Teil  davon  habe  ich  hier",  und  cr  reicht  ihm  einen 
dicken  Manuskriptpacken  hin,  ,, Beit  rage  zur  Psychologic 
der  Friihreife,  das  ist  der  Titel,  heute  abend  fange  ichs  an 
zu  lesen,  du  ahnst  wohl,  wovon  die  Sache  handelt."  Kurz 
darauf  erscheint  auch  Wirth;  Paul  lafit  vom  Diener  Tee, 
Getranke,  Geback  und  Obst  hereinbringcn.  —  Kadar  be- 
trachtet  die  moderne,  reiche  Einrichtung  des  Zimmers, 
den  groBen  gcschlossenen  Biicherschrank,  den  breiten 
Diwan,  das  Klavier,  die  flache,  opalschillernde  Lampe; 
Paul  bemerkt  dieses  Umschauhalten  und  beschreibt  mit 
dcm  Arm  einen  wilden  Bogen:  ,,die  Dokumente  der  elter- 
lichen  Liebe",  sagt  er,  ,,aber  was  denkst  du,  wie  oft  sic  in 
diesem  Zimmer  waren?"  er  tritt  an  die  eine  Tiir:  ,,die  ist 
immer  zugcschlosscn,  dahinter  ist  ein  leeres  Zimmer,  das 
niemand  bewohnt,  stell  dir  vor,  wenn  ich  furchtsam  ver- 
anlagt  ware.  Und  dahinter  sind  die  Zimmer  meincr  lieben 
Gcschwister  und  des  Fraulcins.  Ludwig,  eine  Zigarettc? 

172 


oder  willst  du  deine  Pfeife?"  Wirth  steckt  sich  cine  lange 
Pfeife  an;  die  Unterhaltung  kommt  in  Gang,  es  ist  von  einem 
Buch  die  Rede,  das  sich  mit  dem  modernen  Drama  aus- 
einandersetzt,  dann  von  irgend  etwas,  was  sich  im  Laufe  des 
Tages  in  der  Stadt  ereignet  hat,  dann  nimmt  Wirth  sein 
Manuskript  in  die  Hand  und  fangt  an,  seine  Arbeit  zu  er- 
klaren.  ,,Um  uns  uberhaupt  mit  der  Psychologic  der  Fnih- 
reife  befassen  zu  konnen,  miissen  wir  zunachst  streng  be- 

stimmen " 

Tagelang  sah  er  Gerda  nicht ;  als  ware  sie  aus  der  Woh- 
nung  verschwunden.  Schwere  Nachte  hatte  er  da.  Ich  muBte 
mir  Rechenschaft  ablegen  .  .  .  ich  miifite  untersuchen,  ob 
es  tatsachlich  unertraglich  ist  und  sein  wird,  daB  ich  Gerda 

—  daB  ich  mit  Gerda  nie oder  ob  das  Ganze  nur  durch 

Pauls  Foppereien  im  Krankenhaus  entstanden  ist?  Deshalb 

weil  einmal  eine  Krankenhausschwester und  als  ihm 

jetzt  der  Krankenhaussaal  in  Budapest  einfiel,  jenes  Bert  in 
der  Ecke  unter  dem  Fenster,  das  nachtliche  schwache  blaue 
Licht  und  Agota,  die  auf  seinem  Bett  saB  und  seine  Hand 
hielt:  da  nistete  sich  miide  Verbitterung  in  seinem  Innern 
ein.  Gut  war  sie  zu  mir  —  und  war  Gerda  etwa  nicht  gut? 
und  waren  ihre  kiihlen  und  gescheiten  und  beruhigenden 
Worte  nicht  gut?  und  ist  es  nicht  besser,  wenn  ich  das 
Gesicht  abwende  und  nicht  an  sie  denke?  —  und  er  wuBte 
ganz  genau,  daB  jede  Minute  und  jeder  Gedanke,  der  von 
nun  an  Gerda  gehorte,  ihn  bloB  in  die  Sache  hineinhetzen 
wiirde,  —  in  etwas,  was  in  keiner  Weise  enden  konnte,  weil 
es  ja  nicht  begonnen  hatte.  Aber  jetzt  waren  die  Tage  auf 
der  Hochschule  und  die  Nachmittage  und  Abende  mit  Paul 
eine  gute  Flucht:  die  folgenden  Tage  des  Abriickens  von 
Gerda  vergingen  leichter,  als  er  befiirchtet  hatte;  und  vor 
allem  begann  der  unterbewuBte  Wunsch,  sich  Gerdas 
Willen,  der  Vergessen  von  ihm  forderte,  zu  fugen,  ganz 
langsam  ihre  Gestalt  in  seinem  Kopf  zu  verwischen.  Das 
Geheimnis  soil  Geheimnis  bleiben,  —  du  lieber  Himmel, 
Dirnc  oder  Kommunistin  1 — damit  es  nicht  zum  Gemeinplatz 

173 


Tcrflache,  der  Fremde  bewahrc  seine  Fremdheit  vor 
der  Langweile  des  Alltags.  Aber  etwas  1st  da,  was  ihm  in 
diesen  Tagen  mehrmals  einfallt,  zuerst  nur  als  fliichtiger 
Gedankenblitz,  dann  immer  klarer  und  klarer  und  schlieB- 
lich,  —  eines  Nachts,  als  das  kleine,  magere,  schwarze 
Konditormadchen,  das  er  sich  eilig  abends  auf  dem  Ring 
aufgegabelt  hatte,  neben  ihm  aus  dem  Bett  kroch,  —  mit 
dem  furchterlich  kreiBenden  Schmerz  der  Erkenntnis :  alle 
gehen  sie  weg  von  mir!  allein  bin  ich!  —  Nein!  man  kann 
sich  nicht  aussohnen  mit  Pauls  altkluger  zynischer  Be- 
hauptung!  Nein!  —  das  ganze  Leben  dreht  sich  darum, 
dafi  man  nicht  allein  bleiben  darf .  . . 

Mit  scheuer  und  kindlicher  Hartnackigkeit  klammert  er 
sich  an  den  Jungen.  Gewohnlich  geht  er  gleich  von  der 
Hochschule  zu  ihm,  auch  mehrere  Abende  verbringen  sie 
zusammen;  ,,ich  werde  dich  etwas  sparer  mit  den  Kindern 
bekannt  machen",  —  die  Kinder,  so  nennt  Paul  seine  Ge- 
sellschaft,  —  ,,dann  werden  wir  wahrscheinlich  ohnedies 
jeden  Abend  zusammen  sein."  Der  Junge  verfiigt  mit  un- 
beschrSnkter  Freiheit  iiber  seine  Zeit  und  seine  Sachen, 
als  lebte  er  allein  in  der  Wohnung;  und  es  vergehen  tat- 
sachlich  mehrere  Wochen  dahiber,  bis  Kadar  zufallig  mit 
Pauls  Eltern  bekannt  wird.  Das  Zimmer  ist  voller  Rauch; 
es  ist  elf  Uhr  voriiber;  sie  sitzen  vor  dem  Schreibtisch,  und 
Paul  erzahlt  von  einem  Sommer,  den  er  am  Genfer  See  in 
einem  Knabeninternat  verbracht  hat,  —  da  tut  sich  die  Tiir 
auf:  ein  groBer  Herr  im  Smoking,  mit  graumelierten 
Schlafen,  eine  Gestalt  wie  ein  Kavallerieoffizier,  und  eine 
Dame  im  Abendkleid,  wunderbar  gewachsen  und  stark 
geschminkt,  treten  ins  Zimmer.  ,,Guten  Abend",  sagt  die 
Dame  mit  defer,  warmer  Stimme,  ,,wir  kommen  aus  der 
Oper  und  horen  vom  Diener,  daB  unser  neuer  Herr  Haus- 
lehrer  noch  hier  ist ...  ist  es  nicht  schon  etwas  spat  zum 
Lerncn?"  —  ,,Oh,  wir  lernen  nicht  mehr,  wir  plaudern 
blofi",  sagt  Kddir  verlegen  und  sieht  den  Jungen  an,  der 
zerstreut  auf  dem  Schreibtisch  zwischen  Biichern  und 

'74 


allerhand  Sachelchen  raumt,  —  ein  wenig  eckig  verbeugt 
er  sich  und  sagt  seinen  Namen.  Da  spricht  auch  der  Herr 
mit  muder,  verschleierter  Stimme:  ,,Nicht  wahr,  Sie  sind 
kein  Wiener?  ich  hore  es  an  der  Aussprache."  —  ,,Nein, 
ich  bin  Ungar."  —  ,,So,  Ungar  . . .  interessant."  Dann  iiber- 
nimmt  die  Dame  wieder  das  Wort:  ,,H6r  mal,  Paul,  dieser 
furchterliche,  schwere  Rauchgeruch  ist  in  der  ganzen  Woh- 
nung  zu  spiiren,  du  miiBtest  bessere  Zigaretten  rauchen." 
Der  Junge  hebt  die  Augen  und  wirft  Kadar  einen  grau 
blitzenden  Blick  zu.  ,,Ja,  die  billigeren  Sorten,  die  man  in 
der  Trafik  bekommt,  sind  jetzt  erbarmlich  schlecht,  konnt 
ihr  mir  ein  paar  bessere  Zigaretten  geben?"  —  ,,Aber  gerne", 
sagt  der  Herr  sofort,  ,,ich  werde  dir  ein  paar  Schachteln 
hereinschicken.  Also",  wendet  er  sich  wieder  an  Kadar, 
,,Sie  sind  kein  Osterreicher,  hm  .  .  .  sondern  Ungar.  Und 
fallt  es  Ihnen  nicht  schwer,  in  der  deutschen  Sprache  zu 
unterrichten?"  Er  fuhlt  den  gegen  Paul  gerichteten  wahren 
Sinn  der  Frage  heraus  und  beeilt  sich  zu  verskhern :  ,,o  nein, 
fur  uns  Siebenbiirger  Sachsen  ist  eigentlich  das  Deutsche 
die  Muttersprache,  und  auBerdem  lebe  ich  ja  schon  das 
zweite  Jahr  in  Wien."  —  ,,So",  sagt  die  Dame,  ,,und  wie 
sind  Sie  mit  Ihrem  Schiiler  zufrieden?"  —  ,,Paul  ist  ein 
ganz  ausgezeichneter . .  .",  ein  strenger  Blick  des  Jungen 
hackt  den  schwungvollen  Satz  ab,  Kad£r  schweigt  verlegen 
und  fahrt  dann  fort:  ,,mit  dem  bisherigen  Resultat  bin  ich 
jedenfalls  sehr  zufrieden  ..."  —  ,,Also,  Sie  sind  zufrieden", 
wiederholt  Herr  Pauli-HeBlein,  ein  wenig  den  Tonfall  nach- 
ahmend,  ,,das  freut  mich.  Auf  Wiedersehen,  lieber . . . 
diirfte  ich  noch  einmal  um  Ihren  Namen  bitten?"  —  ,,Ka- 
dar."  —  ,,Herr  Kdddr.  Aber  strengen  Sie  sich  heute  nicht 
mehr  viel  an."  Er  reicht  ihm  die  Hand,  am  rechten  Ring- 
finger  steckt  ein  riesiger  hellblauer  Siegelring.  Auch  die 
Frau  gibt  ihm  die  Hand,  eine  unglaublich  schmale  und  feine 
Hand  in  schwarzem  Handschuh,  —  und  damit  gehen  sie. 
Fiinf  Minuten  spater  klopft  der  Diener  und  legt  fiinf  groBe, 
flache  Blechschachteln  auf  den  Tisch.  ,,Simon  Arzt",  stellt 


Paul  fest,  ,,da,  nimm  dir  bittc  zwei  davon  mit",  —  er  steht 
nachdenklich  da,  dreht  cine  der  Schachteln  in  der  Hand 
und  sagt  dann:  ,,was  meinst  du,  wiirden  sie  darauf  ein- 
gehen,  daB  ich  hier  wegziehe?" 

Nun  gibt  es  also  wiedcr  etwas,  woriiber  man  nach- 
griibeln  kann :  was  mag  es  wohl  sein,  was  Paul  an  ihn  bindet  ? 
warum  ist  der  Junge  so  anhanglich?  was  kann  er  damit 
be2wecken,  daB  er  ihr  offizielles  Verhaltnis  einfach  umkehrt 
und  anstatt  Mathematik  und  Chemie  von  ihm  zu  lernen, 
ihn  unterrichtet ...  in  allerhand  und  ihn  auf  Dinge  bringt, 
die  friiher  in  seinem  Leben  nicht  existierten?  Biicher,  — 
Paul  bemerkt,  wie  wenig  er  die  moderne  Literatur  kennt, 
und  gibt  ihm  der  Reihe  nach  neue  deutsche,  englisch- 
amerikanische  und  franzosische  Schriftsteller  in  die  Hand. 
Er  bekommt  neue  Namen  zu  horen:  Rathenau,  Freud, 
Spcngler;  allmahlich  erfahrt  er,  was  hinter  Namen  stcckt 
wie  Wilson  und  Masaryk,  Noske  und  Poincare,  Korfanty, 
Baldwin  und  Hitler.  Die  Namen  nehmen  Gestalt  an, 
die  Worte  erhalten  Sinn,  und  vieles,  was  er  bereits  friiher 
gehort  und  wieder  vergessen  hatte,  bekommt  Leben  und 
lebendiges  Dasein.  Dann  ein  neues  Wunder:  das  machtige 
amerikanische  elektrische  Grammophon,  und  tief  ergriffen 
geht  er  eines  Abends  nach  Hause,  nachdem  er  im  Grammo- 
phon C£sar  Francks  Senate  fur  Violine  und  Klavier  gehort 
hatte.  Und  iiber  all  dies  gibt  Paul  ihm  Geld,  viel  Geld, 
der  Rest  seiner  Franken  liegt  sozusagen  unberuhrt  in  der 
Blechschachtel  unter  seinen  Hemden,  —  Paul  zahlt  ihm 
fur  den  angeblichen  Nachhilfeunterricht  so  viel,  daB  er  fast 
seine  samtlichen  Ausgaben  davon  decken  kann.  Und  dann, 
auch  dariiber  lieBe  sich  nachdenken,  was  wird,  wenn  das 
cinmal  aus  ist,  —  und  gewaltsam  schiebt  er  diesen  Gedanken 
von  sich.  Auch  das  Leben  hort  einmal  auf,  und  doch  denke 
ich  daran  nicht.  —  Wirths  Besuche  werden  in  der  letzten 
Zcit  seltener,  —  ,,er  sitzt  iibcr  seiner  Doktorarbeit,  und 
ich  glaube,  er  lauft  machtig  einer  Frau  nach,  die  nicht  aus 
unscrn  Krcisen  stammt,"  erklart  Paul,  —  einen  Abend  in 

176 


det  Woche  verbringt  er  aber  dennoch  mit  ihnen.  Dann 
achtet  er  jcdesmal  still  auf  das,  was  der  Junge  spricht.  Hie 
und  da  korrigiert  er  ihn  mit  einem  Wort  oder  lenkt  ihn, 
und  Paul  hort  auf  ihn.  Einmal  greift  Kadar  ihn  deswegen 
an:  ,,Ich  wiirde  doch  nicht  so  unbedingt  Ludwigs  Meinung 
akzeptieren!"  —  ,,Warum  denn  nicht",  antwortet  er,  ,,er 
hat  doch  meistens  recht.  Und  ich",  fiigt  er  hinzu,  ,,bin  seine 
Kreatur",  und  dabei  lacht  er. 

Eines  Tages  lalk  Paul  ihn  Rosette  kennenlernen.  Warum 
mufite  er  darauf  eigentlich  so  lange  warten?  tagtaglich 
hatte  er  den  Jungen  schon  gequalt,  er  mochte  Rosette  zu 
sehen  bekommen,  —  nun,  Sonntag  endlich,  vormittags 
um  elf  Uhr  haben  sie  sich  im  Kunsthistorischen  Museum 
im  alten  deutschen  Saal  vetabredet.  Als  er  hinkommt,  sitzt 
das  Madchen  schon  in  der  Mitte  des  Saals  auf  einem  Sofa 
und  blattert  im  Katalog.  Von  der  Tiir  aus  betrachtet  er  sie: 
diinne,  schmale  Figur,  lange  schlanke  Beine,  kurzes, 
blondes  Haar,  von  Gesundheit  strotzende,  rote  Wangcn. 
Sofort  weiB  er,  das  ist  Rosette,  aber  Paul  ist  noch  nicht  da, 
und  er  wagt  nicht,  sie  anzusprechen.  Unbeholfen  steht  er 
in  der  Tiir  des  leeren  Saales,  dann  stellt  er  sich  linkisch  vor 
ein  Bild.  Da  bemerkt  ihn  das  Madchen  und  spricht  ihn  an: 
,,Entschuldigen  Sie  ...  nicht  wahr,  Sie  sind  Pauls  Freund? 
—  kommen  Sie  doch  her  und  setzen  sich,  ich  versteh  wirk- 
lich  nicht,  wieso  Paul  sich  verspatet."  Sie  geben  sich  die 
Hand,  er  setzt  sich  neben  sie  und  fiirchtet  sich  vor  den 
folgenden  Minuten,  er  hat  das  Gefiihl,  kein  Gesprach  an- 
fangen  zu  konnen.  Rosette  betrachtet  ihn  aufmerksam  und 
sagt  dann:  ,,Sie  sind  jetzt  in  Verlegenheit,  das  ist  ganz 
iiberflussig.  Beginnen  wir,  oder  setzen  wir  fort  als  alte 
Bekannte,  ich  kenne  Sie  schon  sehr  gut,  wie  Sie  sich  denken 
konnen,  hat  Paul  viel  von  Ihnen  gesprochen."  Und  aus  den 
ersten  Worten  kann  er  entnehmen,  daB  Paul  sehr  liebevoll 
von  ihm  gesprochen  hat,  —  das  Madchen  weiB  wirklich 
alles  von  ihm,  vom  Krankenhaus  und  von  den  toten  Htern 
in  Ddva  angefangen,  alles.  Sie  spricht,  und  die  ruhigen, 

12  Kflrmendi.  TtudnpOMt  177 


netten  Worte  losen  auch  ihm  die  Zunge;  er  bemerkt  gar 
nicht,  wie  die  Minuten  vergehen.  Ein  fast  besinnungslos 
groBes  Erstaunen  beginnt  sich  in  ihm  zu  lockern.  Wirth,  — 
gleich  ist  von  ihm  die  Rede,  —  mag  Rosette  nicht  leiden. 
,,Vor  allem  finde  ich  es  falsch,  sehr  falsch,  daB  Wirth  meinen 
Freund  gewaltsam  in  cine  bittere,  pessimistische,  zynische 
Richtung  lenkt,  und  glauben  Sie  mir,  es  kostet  mich  einen 
groBcn  schweren  Kampf,  Wirths  schadlichen  EinfluB  aus- 
zugleichen.  Sonst  halte  ich  ihn  fiir  einen  wertvollen  Men- 
schen  und  bin  auch  iiberzeugt,  daB  er  als  Nervenarzt 
Karriere  machen  kann,  bloB  . .  .  irgendwo  stimmt  die 
Sache  nicht.  Denn  entweder  ist  er  wirklich  Pessimist,  und 
mit  einer  solchen  Weltanschauung  kann  nie  ein  guter 
heilender  Arzt  aus  ihm  werden,  oder  aber  er  schwindelt 
mit  seinem  Pessimismus  Paul  was  vor  und  benutzt  ihn  nur 
als  Versuchsobjekt.  Und  dieser  Gedanke  verfolgt  mich 
immer  mchr,  wenn  Paul  von  Zeit  zu  Zeit  geistig  abgehetzt 
und  zerqualt  zu  mir  fliichtet . . .  aber  dann  geniigt  meist 
ein  Wort,  um  ihn  vollig  umzustimmen."  —  Erstaunen 
hatte  er  gefuhlt?  —  jetzt  saB  er  wie  vor  den  Kopf  geschlagen 
auf  dem  Sofa  neben  dem  Madchen.  Ist  das  moglich?  dieses 
sicbzehnjahrige  kleine  Ding,  dieser  . . .  Backfisch  mit  den 
ernsten,  schweren  Worten  auf  den  Lippen  und  den  scharfen, 
kiihlen  Gedanken  im  Kopf,  —  so  pragnant  und  klar  spricht 
sic  von  schwierigen  menschlichen  Dingen,  —  vielleicht 
waren  auch  ihm  diese  Gedanken  schon  eingefallen,  nur 
konnte  er  sic  nicht  formulieren.  Aber  dieses  kleine  Madchen, 
—  wie  jemand,  der  von  der  Hohe  der  Jahre,  Erfahrungen 
und  der  Inspiration  fremde,  sich  qualende  oder  Zuflucht 
suchende  Menschen  kiihl  und  objektiv  beobachtet.  Und 
einfach  verbliiffend  ist  es,  wie  sic  von  sich,  von  ihnen  beiden 
spricht:  mit  dieser  objektiven  Offenheit,  die  schon  mehr  ist 
als  Exhibitionismus,  die  nur  Wahrheit  sein  kann.  Kamerad- 
schaftsehe,  —  mit  diesem  amerikanischen  Wort  bezeichnet 
sie  ihr  Verhaltnis  und  sagt:  ,,Glauben  Sie  nur,  friihcr  oder 
spater  wird  die  ganze  Welt  dahintcrkommen,  daB  das  das 

178 


Richtige  ist.  Was  1st  denn  der  springende  Punkt  bci  dem 
Ganzen?  daB  die  Frau,  die  sich  spater  von  ihrem  Ehemann 
erhalten  lassen  will,  ihm  als  Tausch  dafur  ihre  Unberiihrt- 
heit  bietet.  Lindsey  sagt,  —  haben  Sie  ihn  vielleicht  ge- 
lesen?  —  sie  deponiert  den  imaginaren  Wert  ihrer  Unschuld 
als  Kapital  bei  ihrem  Lebensgefahrten,  um  dann  das  ganze 
Leben  davon  zu  zehren.  Mit  keinem  Wort  will  ich  die 
.biirgerliche  Ehe  verurteilen,  die  sich  auf  korperliche  und 
seelische,  entwicklungsfahige  und  sich  selbst  starkende 
Bande  begriindet,  auch  nicht  cine  Ehe,  bei  der  beide  Teile 
im  voraus  genau  wissen  und  es  auch  voreinander  nicht 
leugnen,  daB  sie  eine  Interessenehe  ist.  Wenn  sie  anstandig 
geschlossen  wird,  gehort  sie  schlieBlich  nicht  zu  den  niedrig- 
sten  Geschaften.  Aber  eine  Frau  wie  ich,  die  arbeitet,  die 
sich  von  der  eigenen  Arbeit  erhalten  wird,  also  unabhangig 
ist,  warum  sollte  die  nicht  ebenso  frei  xiber  ihren  Korper 
verfiigen,  wie  sie  iiber  ihre  Gedanken  verfugt?  Oder  halten 
Sie  es  fur  moglich,  daB  es  eine  Frau  gibt,  die  bis  zu  dem 
einen,  gewissen  einzigen  Mann,  dem  Ehemann,  an  keinen 
anderen  Mann  denkt?  Gut,  die  Sache  hat  hunderterlei 
Abstufungen  vom  gesunden  Ahnen  bis  zur  ungesunden 
Traumerei.  Aber  wenn  ein  Madchen  in  dem  Augenblick, 
da  sie  widerspruchslos  fuhlt  und  weiB,  daB  das  seelische 
und  korperliche  Alleinsein  unertraglich  geworden  ist, 
die  biirgerliche  Moral,  die  chinesische  Mauer  verblen- 
deter  Erziehung  und  hygienischer  Unerfahrenheit  nicht 
umstoBen  oder  diese  Mauer  nicht  umgehen  kann,  was 
kommt  dann?  Hysteric,  Neurasthenic,  Aberrationen 
odcr  Liigen.  Fur  die  organische  Entwicklung,  fur  die 
psychische  Weiterbildung  ist  das  gesunde  Auslcben  der 
Sexualitat  unumganglich  notwendig.  Nur  die  Jungens 
diirfen?  warum?  Und  was  sie  diirfen,  ist  auch  bloB  so  cin 
Gricchengeschenkl  Die  Prostituierten,  deren  Umarmung 
von  der  Angst,  sich  vielleicht  anzusteckcn,  vergiftet  wird, 
oder  ein  Dienstmadchen,  das  sie  iiber  jene  Minute  hinaus 
nicht  mehr  die  Spur  angcht  ?  Sehen  Sie,  ich  bin  dem  Schicksal 


12* 


'79 


schon  heute  dankbar,  daB  es  mich  alle  diese  Dinge  recht- 
zeitig  hat  erfahren  und  . . .  erleben  lassen.  Paul  and  ich, 
wir  sind  fast  gleichaltrig  und  leben  seit  einem  Jahr  ungefahr 
mitcinander.  Naturlich,  gewisse  . . .  technische  Schwierig- 
kciten  gibt  es,  schlieClich  1st  ja  Wien  nicht  New  York,  aber 
wir  leben  beide  in  dem  BewuBtsein  und  in  der  Beruhigung, 
daB  unser  junges  Leben,  unsere  jungen  Krafte,  die  Schon- 
heit  unserer  Jugend  weder  der  selbqualerischen  Dummheit 
noch  der  ungesunden  Luge  zum  Opfer  gefallen  sind.  Glauben 
Sie,  ich  werde  deshalb  dem  Manne  eine  schlechtcre  Ge- 
fahrtin  sein,  mit  dem  ich  vielleicht  einmal,  wenn  es  ihm  und 
mir  so  paBt,  vor  dem  Standesbeamten  oder  dem  Priester 
eine  Ehe  schlieBen  werde?" 

Rosette  spricht  und  spricht;  ihm  gehcn  Gesichter  und 
Slimmen  im  Kopf  herum.  Prinz  meines  Herzens  .  .  .  was 
geht  mich  Kathe  an,  und  was  geht  mich  Agota  an  und  das 
Madel  aus  dem  Hutsalon  in  der  Miillnergasse  in  ihrer 
weiBen  Bluse,  und  die . . .  ich  weiB  gar  nicht  mehr,  die  in 
Budapest  in  dem  Haus  mit  dem  widerlichen  Geruch,  wo  ich 

vorher  zwei  Kronen ,,Und  wenn  ich  bedenke",  fahrt 

Rosette  fort,  ,,daB  es  mir  einmal  im  Leben  doch  schief 
gehen  kann,  —  mein  Gott,  man  kann  ja  nie  wissen,  — 
werde  ich  das  dann  nicht  besser  und  leichter  ertragen,  nicht 
tapferer  und  mit  mehr  Ausdauer  versuchen,  mich  wieder 
aufzurichten,  wenn  ich  mich  daran  erinnere,  daB  ich  meine 
Jugend  —  —  — "  Jetzt  starrt  er  die  Sprechende  mit 
strengem  Gesicht  an.  Die  wollen  mich  wohl  frozzeln,  fahrt 
es  ihm  durch  den  Sinn,  die  haben  hier  etwas  abgckartet 
und  diese  ganze  Sache  einstudiert,  um  mich  zum  Narren 
zu  haltcn!  ,,Und  wenn  das  vernagelte  biirgerliche  Gehirn 
in  all  dem  eine  Verletzung  der  Weltordnung  sieht",  fahrt 
das  Madchen  fort  —  und  da  fuhr  er  geradezu  grob  da- 
zwischen:  ,,Schamen  Sie  sich  derm  nicht  ...  Sie  Kinder  1" 
—  ,,Ach,  so",  sagt  Rosette,  ,,ich  wuBte  nicht,  daB  Sie  erst 
vom  Mond  kommen.  Sehen  Sie  mal,  das  Kulmbach-Bild 
da  gegeniiber ..."  —  ,,Rosette",  sagt  er  da  in  wogender 

180 


Verwirrung,  ,,seien  Sie  nicht  bose,  abcr  wir  begegncn  uns 
heutc  zum  erstenmal  und  . . .  viclleicht  haben  Sie  rccht, 
abcr  ich ..."  —  ,,Oh",  sagt  sie,  ,,ich  verstehc  ja,  ich  wciB 
ja.  Sie  stammen  von  daher,  wo  man  diese  Dinge  gern  als 
die  Unsittlichkeit  unserer  Stadt  oder  unserer  Klasse  oder 
unserer  Kreise  hinstellt.  Aber  wenn  Sie  anfangen,  hinter 
die  Worte  zu  sehen " 

Paul  erscheint,  ein  wenig  auCer  Atem  und  gut  gelaunt. 
,,Entschuldigt  bitte  die  groBe  Verspatung,  Papa  hat  mich 
zu  einer  Sonntagsaudienz  empfangen,  und  diese  scltene 
Gelegenheit  konnte  ich  nicht  voriibergehen  lassen,  ohne 
von  meinem  Sommerplan  zu  reden.  Ich  glaube,  sie  werden 
keine  Schwierigkeiten  machen,  wenn  aber  doch,  dann  er- 
klare  ich  einfach,  ich  wunsche  mit  Mama  und  den  Kindern 
zu  fahren  .  . .  Wie  ich  sehe,  seid  ihr  schon  ohne  mich  mit- 
einander  bekannt  geworden,  Toni,  was  gaffst  du  diese 
Dame  so  an?  hast  du  dich  vielleicht  schon  in  sie  verliebt?!" 
Sie  gingen  im  Saal  umher  und  besahen  sich  die  Bilder; 
gegen  ein  Uhr  setzten  sie  sich  dann  in  cine  Bierstube  in  der 
inneren  Stadt,  wo  sie  von  einigen  Freunden  und  Freundin- 
nen  von  Paul  und  Rosette  erwartet  wurden.  ,,Mein  Freund 
Toni  Kadar",  sagte  Paul;  und  nach  kaum  einet  halben 
Stunde  hatte  er  das  Gefuhl,  als  lebte  er  schon  seit  Monaten 
und  Jahren  in  der  Gesellschaft  dieser  jungen  Leute.  Der 
leichte,  heitere  Ton  riB  ihn  vom  ersten  Augenblick  an  mit, 
und  als  sie  sich  dann  das  nachste  Mai  und  von  da  an  immer 
ofter  trafen,  begann  er  allmahlich,  sich  an  ihre  Themen  und 
ihren  Stil  zu  gewohnen  und  sich  selbst  darin  zu  bewegen. 
Trotzdem  ging  es  ihm  auch  spater  noch  haufig  durch  den 
Kopf,  das  Ganze  konne  nichts  anderes  sein  als  Zirkus, 
eingelerntes  Spiel,  um  ihn  zu  uzen,  und  in  solchen  Augen- 
blicken  muBte  er  wohl  hundertmal  die  gehorten  und  ge- 
sehenen  Tatsachen  durchdenken,  um  dennoch  an  ihre 
Wirklichkeit  zu  glauben. 

Paul  und  Rosettes  Gesellschaft  bestand  auBer  aus  Wirth, 
ciner  alteren  Studentin  der  Medizin  namens  Lil  und  eincm 

181 


sehr  ruhigen,  sympathischcn  jungen  Mann,  der  cinen  be- 
ruhmten  alten  osterrcichischen  Namen  trug,  haupts£chlich 
aus  Rosettes  Mitschiilern  und  Mitschiilerinnen  vom  Kon- 
servatorium.  Eine  lustige  Bande  waren  diese  sechzehn- 
bis  achtzehnjahrigen  Jungens  und  Madels,  die  —  groBten- 
teils  von  den  schweren  Sorgen  des  Alltags  unberiihrt  — 
im  Grunde  genommen  gutglaubig  und  mit  der  Grazie  der 
Verantwortungslosigkeit  mit  jenen  schweren  sozialen, 
moralischen  und  sexuellen  Problemen  um  sich  warfcn,  fur 
die  ihr  befreites  Leben  cine  Losung,  zumindest  aber  eine 
Erklarung  verlangte.  Die  meisten  waren  irgendwie  fiir 
dieses  Leben  pradisponiert,  —  durch  Begabung  zu  einer 
Kunst  oder  wenigstens  zu  aufrichtigem  Amateurtum,  — 
aber  getrieben  von  der  ewigen  Sehnsucht  des  moralischen 
Menschen  und  des  Intellekts,  suchten  sie  die  Rechtferdgung 
ihres  Lebens.  Selbstverstandlich  nahmen  sie  alle  die  Vor- 
teile  und  Geniisse  und  die  nicht  ganz  echte  Unbekummert- 
heit  dieses  ,,befreiten  Lebens"  ernster  als  das  Schicksal, 
das  hinter  der  Lebensform  steckt,  und  erfreuten  sich  an 
dem  leichten,  sprelerischen  Jonglieren,  mit  dem  sie  das  auf- 
geworfene  Problem  auffingen,  um  im  nachsten  Augenblick 
bereits  eine  fertige  Losung  zuriickfliegen  zu  lassen.  Mit  der 
klaren  BewuBtheit  derer,  die  sich  selbst  Rechenschaft  ab- 
legen,  spielten  sie  dieses  up  to  date  Hansel-und-Gretel-SpieJ, 
in  dem  die  Beteiligten  mit  ihrer  artistischen  Belastung,  ihrer 
literarischen  Cberladenheit,  ihrer  (iberlegenep  Zivilisiert- 
heit,  ihren  unkontrollierten  Weekends,  ihrer  hygienischen 
Erfahrung,  ihren  verschliefibaren  Zimmern,  ihren  eigenen 
Haus-  und  Wohnungsschliisseln  den  Tanz  der  unabwcnd- 
bar  angekommenen  ,,andern  Zeiten"  tanzten.  —  Wie  an 
ihre  Themen  und  ihren  Stil  gewohnte  Kddar  sich  auch 
an  ihr  Leben;  er  fand  diese  Kamcradschaftsehepaare  sclbst- 
verstandlich  und  sinngemaB  und  taumelte  ohne  Vorbehalt 
in  die  Einzelheiten.  Als  riesige  Sturmflaggc  flatten  ihre 
Jugend  im  Zyklon  dicser  ,,andern  Zeiten",  und  unter  dem 
brausenden  Schlagen  diescr  Flagge  liegt  das  Idyll,  in  dem 


man  leben  muB,  damit  offenbar  werdc:  was  hier  brodelt 
und  erhitzt,  cntsteht  und  gcstaltet,  wa'chst  und  wachsen 
laBt,  1st  das  ncue  ,,befreite  Leben".  —  Er  nahm  es  zur 
Kenntnis,  daB  Robert  und  Anni  Ostern  nach  Salzburg 
fahren,  daB  Eva  sich  zu  Hause  stundenlang  mit  Hugo  ein- 
schlieBt,  daB  Hella  und  Arno  eine  gemeinsame  Wohnung 
gemietet  haben,  daB  Lya,  die  Ungeschickte,  schon  zum 
zweitenmal  gezwungen  ist,  sich  cinem  arztlichen  Eingriff 
zu  unterziehen,  daB  Ella  und  Albert  ihre  Partner  getauscht 
haben.  Und  all  dies  spielt  sich  vollkommen  offentlich  in 
der  kleinen  Gesellschaft  ab,  aber  mit  der  Attitude,  auch 
vor  jedem  andern,  iiberhaupt  vor  der  ganzen  Welt  sei 
selbst  iibertriebene  OfFenheit  besser  als  Verheimlichen  oder 
gar  Leugnen.  —  Und  die  Vater  und  Mutter?  die  ehrbaren 
Arzt-,  Rechtsanwalts-,  Beamten-  und  Rentier-Familien, 
kurz  die  gutsituierten  Biirgerfamilien?  Sie  ahnen  es,  viel- 
leicht  giauben  sie  es  nicht  ganz,  und  wenn  sic  es  wissen, 
leugnen  sie  es.  —  Einmal  muB  Kadar  an  Mariska  Gazda 
denken.  Sie  ware  wahrscheinlich  vor  Scham  gestorben, 
wenn  Tante  Anna  auch  nur  im  geringsten  geahnt  hatte, 
daB  der  italienische  Offizier  noch  nicht  ihr  Mann  war * .  . 
Aber  wo  ist  heute  Mariska  Gazda,  die  Erinnerung  mit 
Apothekcngeruch,  und  wo  Tante  Anna?  Wo  Deva  und 
Budapest,  und  wo  die  Wohnung  in  der  Pozsonyer  StraBe 
und  Onkel  Rudi  mit  der  leisen,  murmelnden  Stimme,  wo 
der  gelbe  Schreibtisch  in  jenem  dumpfigen  alten  Gebaude 
mit  den  roten  Fahnen,  wo  der  Vormittag  mit  dem  Gummi- 
stock  und  das  Krankenhaus  und  alle  die  Gesichter  und 

Stimmen,  die  einst Die  Tage  jagen,  und  wer  zwischen- 

durch  stehenbleibt,  um  auszuruhen  oder  sich  umzuwenden, 
der  fallt.  Man  muB  mitjagen. 

Der  Winter  geht  zu  Ende;  Kddar  arbeitet  fest  fur  das 
zweite  Examen.  Seine  Nerven  spannen  sich  an,  er  knirscht 
mit  den  Zahnen,  seine  Hande  ballen  sich  zu  Faustcn,  so 
hockt  er  iiber  Buchern  und  Zeichnungen;  denn  sein  Geist, 
sein  Intercssc  sind  anderswo.  Bci  den  Romanen  und  Theater- 


stiicken,  die  er  verschlingt;  bei  unvergeBlichen  Theater- 
abenden  und  Konzerten,  die  seine  groBten  Erlebnisse  sind; 
bei  den  sozialen,  kiinstlerischen,  politischen  Fragen,  bei 
denen  er  Augen  und  Ohren  aufsperrt;  bei  Paul,  bei  Rosette, 
bei  der  ganzen  Gesellschaft  und  dem  guten  Leben,  das  seine 
Geldgier  zu  bitterem  Schmachten  entflammt;  und  bei 
eincm  Madchen  namens  Tilly,  die  jetzt  sein  ganzes  Leben 
ausfullt  und  um  derentwillen  seine  Franken  zur  Neige 
gehen. 

Ottilie  Baum,  achtzehn  Jahre  alt,  lernt  im  Konserva- 
torium  Klavier  und  absolviert  gerade  ihr  letztes  Jahr.  Sic  ist 
klein  und  feinknochig,  ihre  Glieder  sind  so  grazil,  daB  er 
manchmal  gar  nicht  verstehen  kann,  wie  diese  schmale  Hand 
solch  starken  Druckes  fahig  ist  und  wie  diese  schlanken 
Beine  die  kilometerlangen  Spaziergange  aushalten.  Ihr 
Gesicht  ist  milchweiB  und  wirkt  wie  durchsichtig,  was  von 
einigen  verstreuten  kleinen  Sommersprossen  noch  bis  zur 
Unwahrscheinlichkeit  gesteigert  wird;  ihr  Haar  ist  brennend 
rot,  und  wenn  sie  es  auf  lost,  reicht  es  bis  unter  die  Taille. 
Tilly  wohnt  in  einer  stillen,  entlegenen  Gasse  in  einer  Villa 
mit  einem  riesigen  Garten.  Ihr  Vater  ist  ein  rotlicher  kleiner 
Jnde  mit  einer  betrachtlichen  Glatze,  der  in  den  iibergroBen 
Salen,  zwischen  den  monstrosen  Mobeln  und  unter  den 
Bildern,  die  manchmal  die  halbe  Wand  einnehmen,  fast 
verlorengeht.  Er  hangt  mit  neurasthenischer  Liebe  an 
seiner  Tochter.  Uberhauft  sie  mit  Kleidern  und  Schmuck- 
stucken,  die  sie  nie  tragt,  —  ,,ich  sahe  doch  lacherlich  aus 
mit  derartigen  Perlen!"  —  und  schiebt  in  Dollars  Hundert- 
tausende  nach  der  Schweiz  fur  Tilly.  Sie  hatten  sich  bei 
Rosette  kennengelernt,  —  Tilly  saB  am  Klavier  und  spielte 
einen  amerikanischen  Foxtrott;  er  setzte  sich  neben  das 
Klavier  und  lauschte  und  betrachtete  des  Madchens  Hande. 
Dann  iibernahm  jemand  anders  den  Platz  am  Klavier,  da 
rief  Tilly  ihn  zum  Tanz.  ,,Ich  kann  nicht  tanzen",  ant- 
wortcte  er,  ,,aber  .  .  .  ich  mochte,  daB  Sie  weiterspielen."  -  - 
,,Lieben  Sie  die  Musik?  verstehen  Sie  etwas  davon?"  — 


,,Ich  liebe  sie,  aber  schr .  .  .  sehr  viel  verstehe  ich  nicht 
davon."  —  ,,Ist  es  Ihnen  dann  nicht  ganz  gleich,  wer 
spielt?"  —  ,,Ich  sehe  gern  ihre  Hande  auf  den  Tasten", 
sagte  er.  Er  begleitete  sie  nach  Hause,  —  ,,sind  Sie  schlecht 
gelaunt?"  fragte  Tilly  ihn  unterwegs.  ,,Nein,  gar  nicht."  — 
9,Warum  sind  Sie  dann  so  schweigsam?"  —  ,,Es  ist  doch 
iiberflussig,  viel  zu  reden,  wenn  — ",  und  er  brach  verlegen 
ab.  Als  sie  sich  verabschiedeten,  sagte  Tilly:  ,,morgen  abend 
sind  meine  Freunde  bei  mir,  wenn  Sie  Lust  haben,  konnen 
Sie  auch  kommen."  Selbstverstandlich  hatte  er  Lust,  und 
von  da  an  trafen  sie  sich  fast  taglich.  An  diesen  Tagen  war 
ein  Mitglied  der  kleinen  Gesellschaft  mit  Namen  Norbert 
immer  schweigsam;  zehn  Tage  spater  lud  Tilly  ihn  wieder 
zum  Abendessen  ein,  diesmal  aber  waren  sie  nur  zu  zweit. 
,,Norbert  hat  sich  heute  sehr  haBlich  benommen",  sagte 
Tilly  einmal,  ,,er  hat  geweint  und  in  mich  gedrungen  und 
sich  erniedrigt,  als  ich  ihn  verabschiedete."  —  ,,Als  Sie  ihn 
verabschiedeten?"  —  ,,Warum  tun  Sie,  als  ob  Sie  das  nicht 
wiiBten?  du  weiBt  doch  ganz  genau,  daB  ich  ihn  deinet- 
wegen  weggeschickt  habe."  —  Der  kleine  rotiiche  Kom- 
merziairat  weiB,  daB  Kadar  der  Freund  seiner  Tochter  ist, 
und  als  er  ihm  eines  Nachmittags  zufallig  am  Gartentor 
begegnet,  ergreift  er  ihn  am  Arm  und  geht  eine  Viertel- 
stunde  auf  der  StraBe  mit  ihm  auf  und  ab.  ,,Ich  habe  Sie 
lange  nicht  gesehen,  mein  Junge,  was  gibts  Neues,  wie 
leben  Sie?  Meine  Tochter  wird  nicht  bose  sein,  wenn  Sie 
ihr  nachher  erzahlen,  daB  ihr  alter  Herr  Sie  aufgehalten  hat, 
wir  haben  doch  so  lange  nicht  miteinander  geplaudert! 
Tilly  \rird  nicht  bose  sein,  Tilly  ist  ein  Engel,  nicht  wahr? 
Mein  Gott,  wenn  Sie  ihre  Mutter  gekannt  hatten,  meine 
selige  Frau.  Du  Heber  Gott,  dann  wiirden  Sie  mich  ver- 
stehen!  Tilly  ist  das  vollkommenste  Madchen  der  Welt, 
genau  wie  ihre  Mutter  war!  Herrgott,  wenn  ich  wiiBte, 
daB  sie  gliicklich  ist,  wenn  ich  sicher  ware,  daB  es  ihr  nie, 
nie  im  Leben  schlecht  gehen  wird!  Ein  etwas  merkwiirdiges 
Kind,  und  soweit  ich  als  schwachcr  Amateur  das  beurteilen 


kann,  auch  Kiinstlerin,  kcinc  groBc  Kiinstlerin,  mcin  Gott, 
Theresa  Carreno  war  cine  groBe  Kiinstlerin,  —  nur  gerade 
so  wcit,  daB  sie  auch  darin  mehr  ist  als  die  andern,  nur  so 
weit,  daB  es  urn  ein  Kornchen  zu  ihrem  Gliick  beitragen 
kann!  Mein  kleines  Madel,  man  lebt,  solange  man  jung  ist, 
ihre  Mutter  war  sechsunddreiBig  Jahre  alt,  als  sie  starb, 
Gott,  wenn  Sie  sie  gekannt  hatten!  Sie  ist  das  schonste 
Madchen,  der  gescheiteste  Mensch,  mein  Gott,  was  kann 
ich  nur  fur  sie  tun?  Was  niitzt  das,  wenn  ein  alter  Mann, 
ein  Vater,  sein  Kind  unausprechlich,  geradezu  unertraglich 
liebt?!  Sie  soil  es  gut  haben,  soil  leben,  wie  sie  will,  schon, 
soil  reich  sein,  sehr  reich  sein,  ich  lege  viel  Geld  fur  sie  auf 
die  Seite .  .  .  Herrgott,  wenn  ich  wviBte,  daB  sie  nie  von 
etwas  Schlimmem  betrofien  wird,  mein  kleiner  Engell"  — 
Kadar  konnte  diesen  wirren,  phrenetischen  Stil,  der  ein 
wenig  nach  Heiratsvermittler  roch,  kaum  verstehen;  wie 
ihm  iiberhaupt  dieser  kleine  Mann  mit  seiner  groBen  Villa, 
seinem  groBen  Vermogen,  seinem  riesigen  Auto  und  seiner 
riesigen  Schwarmerei  fiir  Tilly  und  alles,  was  mit  ihr  zu- 
sammenhing,  unverstandlich  war.  Er  zerbrach  sich  indessen 
nicht  viel  den  Kopf  iiber  Herrn  Baum  und  sprach  auch  mit 
Tilly  nur  sehr  selten  von  ihm.  „  Vater  ist  der  beste  Mensch 
der  Welt  und,  ich  glaube,  auch  ciner  der  gescheitesten,  er 
muB  sehr  ungliicklich  gewesen  sein",  sagte  sie  einmai.  Als 
er  sie  dann  fragte,  warum  sie  das  denke,  gab  sie  keine  Ant- 
wort.  Spater  einmai  sagte  sie  noch:  ,,Mama  war  in  Briinn 
Schauspielerin,  als  mein  Vater  sie  heiratete."  Aber  das 
sind  alte  und  fernliegende  Dinge,  frcmde  Dinge.  Tillys 
Augen,  —  leuchtende  stahlblaue  groBe  Augen,  —  Tillys 
Stimme,  Tillys  Korper  und  Gedanken  sind  bekannt,  sind 
hicr:  das  ist  das,  was  lebt.  Sie  sind  verliebt  ineinander, 
Kadir  mehr  und  mehr  mit  der  besinnungsiosen  Hingabe, 
die  dem  bcsseren,  dem  hoheren  Wesen  zukommt,  und  die 
schon  dariiber  hinaus  ist  zu  nehmen,  die  nur  geben  will; 
das  Madchen  in  jeder  Bewegung,  jedem  Ton  mit  der  von 
Miidigkeit  durchsetzten  Erregtheit  ihrer  Rassc,  mit  dem 

186 


dauernden  Vibricrcn  eines  von  der  Kunst  betaubten  Ner  ven- 
systems,  mit  vornehm  verbiillter  Langweile  der  Ober- 
sattigtheit,  mit  der  Erotik  eines  gierigen  Kindes  und  zuweilen 
mit  der  kiihlen  Beherrschtheit  eines  Menschen,  der  schon 
schrecklich  iiber  die  Dinge  erhaben  ist.  Kadar  ist  immer 
derselbe,  Tilly  ist  jedesmal  neu  und  jedesmal  anders;  man 
findet  sich  nicht  in  ibr  zurecht.  Sie  sitzt  im  Musikzimmer 
vor  dem  Konzert-Flugel  und  spielt  Schumann.  In  diesem 
kleinen  Zimmer  steht  nur  der  riesengroBe  Fliigel  und  der 
Notenscbrank  und  ein  paar  Stiible  und  Sessel.  Daneben  liegt 
ein  anderes  kleines  Zimmer,  in  dem  sie  schlaft.  Hier  ist 
ohne  Erlaubnis  der  Eintritt  verboten,  im  iibrigen  ist  die 
ganze  groBe  Wobnung  meistens  leer.  Der  Vater  halt  sicb, 
wenn  er  zu  Hause  ist,  fast  immer  im  Raucbzimmer  auf; 
fur  ein  balbes  Stiindcben  bettelt  er  sicb  zu  seiner  Tochter 
hinein,  gewohnlich,  wenn  sie  abends  allein  ist  und  Klavier 
spielt.  Die  Toccata  bammert  auf  den  Tasten,  —  dann  bricbt 
der  Ton  plotzlich  ab.  ,,Es  geht  nicht,  und  es  geht  nicht  I" 
bricht  Tilly  in  gereiztes  Klagen  aus,  ,,ich  kann  nicht  mehr, 
mein  Gott  — ",  dann  Stille,  einige  unsichere  kakophonische 
Tone,  und  dann  schlagt  sie  den  Deckel  zu:  ,,es  geht  nicht 
weiter,  ich  kann  mich  nicht  mehr  konzentrieren."  Da  batten 
sie  schon  zwei  Stunden  am  Klavier  gesessen,  und  Kadar 
erlebt  aufgelost  und  in  Gliick  verloren  die  Sensation  von 
Brahms  und  Chopin,  Beethoven  und  Schumann.  Tilly  steht 
auf,  reckt  sicb,  kracht  mit  ihren  Fingern;  Kadar,  noch 
betaubt  vom  letzten  abgehackten  Akkord,  ergreift  ihre 
Hand,  —  ,,danke,  Tilly",  —  und  das  Madchen,  aufgewiihlt 
in  der  Erotik  der  Tone,  hangt  schon  an  seinen  Lippen. 
Gegen  halb  neun  klopft  es  leise:  ,,Fraulein  Tilly,  kann  ich 
das  Abendessen  bringen?  der  gnadige  Herr  ist  heute  nicht 
zu  Hause."  Ein  glasschiliernder  Tisch  rollt  auf  groBen 
Radern  herein:  Tee,  kaiter  Braten,  Fisch  und  Aufschnitt, 
kompliziert  schmeckende  Saucen,  raffinierte  Garnierungen, 
Geback,  Obst  und  ein  schwerer,  etwas  bitterlicher  Wein. 
Gegen  fcehn  Uhr  kommen  cin-zwei  Paare  von  der 

187 


Gesellschaft  an,  sic  unterhalten  sich  cine  Stundc,  dann  geht 
Kadar  mit  ihncn  zusammen  weg.  Zu  Hause  bleibt  er  im 
Zimmcr  stehen,  auf  dcm  Tisch  liegt  das  Zeichcnbrett  mit 
eincr  angefangencn  Zcichnung  . . .  mit  Sauscn  im  Kopf, 
mit  Zick-Zack  tanzenden  Linien  und  Buchstaben  vor  den 
Augen,  mit  Tillys  Fluidum  in  jeder  Nervcnfaser,  mit  der 
Sehnsucht  nach  Erfolg  und  Geld  in  jedem  Gedanken,  mit 
dem  Zittern  um  das  ungewissc  Morgen  in  jedem  Atemzug 
starrt  er  gegen  drei  Uhr  nachts  ins  Dunkel  und  kann  nicht 
einschlafen. 

Nerven  und  Geld:  beides  nitnmt  ab.  Vor  kurzem  hat  er 
sich  einen  neuen  Anzug  machen  lassen,  diesmal  schon  bei 
cinem  besseren  Schneider  in  der  inneren  Stadt,  auch  feine 
Wasche  und  ein  paar  elegante  Schuhe  hat  er  sich  gekauft. 
Das  tagliche  Bad,  —  seitdem  er  Tillys  marmornes,  ge- 
kacheltes,  glasernes,  in  lauem  WeiB  strahlendes  Badezimmer 
kennt,  hat  er  sich  das  angewohnt,  —  laBt  Frau  Wessely  sich 
teuer  bezahlen;  zu  den  guten  Hemden  waren  auch  bessere 
Schlipse  notig;  Tilly  tobte  iiber  jede  Sekunde  Verspatung, 
und  so  mu8  er  hin  und  wieder  mit  einer  Taxe  zum  Rendez- 
vous eilen;  die  Restaurants  und  Bars,  Theater  und  Kinos, 
die  Ausfliige  erschopfen  seine  Borse  stark,  obschon  die 
MSdchen  sich  gewohnlich  nichts  bezahlen  lassen  und  Paul 
sehr  haufig  fur  seine  Spesen  mit  auf  kommt.  Nun,  und  wenn 
Tilly  vor  einem  Blumenladen  eine  marchenhafte  Rose  be- 
wundert,  dann  kann  er  nicht  widerstehen  und  muB  sic  ihr 
schicken;  und  wenn  es  Tilly  um  Mitternacht  einfallt,  tanzen 
zu  wollen,  dann  kann  er  ihr  nicht  sagen,  Auto  und  Entree 
und  die  Flasche  Sekt  seien  uberfliissige  Ausgaben.  Ja,  — 
er  hat  auch  tanzen  gelernt,  und  als  er  mit  seinen  langen 
Gliedern  und  etwas  holzernen  Bewegungen  sich  auf  dem 
Parkett  drehte,  schamte  er  sich.  Von  Paul  hatte  er  —  das 
war  schon  vor  etwas  langerer  Zeit  —  einen  modernen 
Smoking  geschenkt  bekommen,  und  als  er  sich  geradezu 
aufgebracht  gegen  diese  Geldvcrschwendung  ereiferte, 
antwortete  Paul  bloB:  ich  glaube,  du  wirst  ihn  brauchen. 

188 


Der  Junge  bezahlte  ihm  aufierdem  genau  das  Vierfache 
von  dem,  was  ihm  fur  den  an  und  fur  sich  uberflussigen 
Nachhilfeunterricht  zugekommen  ware,  und  Kadar  nahm 
das  Geld  von  seinem  Freunde  an.  Er  fiihlte,  daB  vorlaufig 
das  Geld  und  die  Freundschaft  aufs  engste  zusammen- 
hingen:  entweder  befriedigte  Paul  an  ihm  seine  mazena- 
tischen  Neigungen,  oder  aber  er  wollte  nur,  daB  er  mit  der 
Gesellschaft  Schritt  halten  konne,  ohne  daB  die  oberflach- 
lichen,  auBeren  und  doch  schmerzlichen  Erscheinungen  des 
trennenden  finanziellen  Unterschiedes  ihn  tagtaglich  ver- 
letzten  und  es  ihm  schlieBlich  unmoglich  machten,  mitzu- 
tun.  Und  vielleicht .  .  .  weil  zwei  Personen  mehr  von  dem 
verdammten  .  .  .  gesegneten  Geld  der  Eltern  ausgaben. 
Vorlaufig  also  ist  Paul  da,  aber  er  fiihlte,  daB  dieser  MiB- 
brauch  nicht  lange  dauern  konne,  entweder  wiirde  Paul  eine 
andere  Passion  finden,  oder  die  Eltern  wiirden  ihn  doch 
einmal  kiirzer  halten.  In  stillen,  angstlichen  Nachten  des 
Alleinseins  zitterte  manchmal  in  unsicheren  und  drohenden 
Konturen  die  Frage  vor  ihm  auf :  was  wird,  wenn  das  ein- 
mal zu  Ende  ist?  Und  wenn  er  dann  ofters  daran  dachte: 
jetzt  gebe  ich  in  zwei-drei  Monaten  mehr  |aus,  als  ich 
friiher  fur  ungefahr  anderthalb  Jahre  iiberhaupt  zu  leben 
hatte:  dann  biB  sich  mit  heiBen  Zahnen  wiitende  Ent- 
schlossenheit  in  sein  Gehirn:  das  war  ja  auch  kein  Leben, 
friiher!!  Ich  will  immer  so  leben!!  Ich  will  immer  Geld 
habenll  Geld,  —  er  hatte  eigentumliche  Geldphantasien. 
Ich  werde  auch  Geld  haben:  denn  der  ausgezeichnete 
Architekt  wird  gewaldge  Auftrage  bekommen,  und  eine 
Unternehmung  nach  der  anderen  —  Ich  werde  Geld  haben: 
denn  unerwartet  wird  mich  einmal  ein  groBes  Gliick  treffen, 
das  mir  zu  ungeheurem  Vermogen  verhilft  —  Ich  werde 
Geld  haben :  denn  ich  werde  jemandem  begegnen,  der  mich 
auf  irgendeine  besondere  Weise,  durch  eine  ungewohnliche 
Spekulation  —  Und  wenn  ich  Tilly  heiratete?  Samt  den 
Schweizer  Millionen  und  der  Villa  und  dem  Auto  und  der 
ganzen  iibrigen  goldklingenden  Anhimmelung  ihres  kleinen 

189 


glatzkopfigen  Hcrrn  Papas?  Und  sofort  muB  cr  an  cine 
Nacht  denken,  —  erschopft  liegt  ihr  diinner  kleiner  Korper 
nackt  in  dem  machtigen  Bett,  er  selbst  kauert  mit  geschlos- 
senen  Augen  am  FuBende  des  Bettes,  in  alien  Gliedern  vi- 
brieren  die  unz&hligen  neuen  Sensationen  der  letzten  Um- 
armung;  und  als  er  dann  in  kaum  spiirbarer  leiser  Helligkeit 
die  Augen  aufsperrt  und  wieder  die  nie  faBbaren  tausend 
Wunder  der  knabenhaften  kleinen  Gestalt  vor  sich  sieht 
und  sie  in  neu  erwachender  Begierde  anriihrt,  —  und  das 
Madchen  da  in  einer  unverstand  lichen  Erstarrung  nur 
sagt :  ,,oh,  geh  jetzt,  geh  jetzt,  geh  jetzt . .  ."  diese  Nacht 
fallt  ihm  ein,  und  da  weiB  er,  daB  Tilly  nicht  seine  Frau 
werden  wird.  Tilly,  die  nackt  mehr  ist  als  das  Millionen- 
vermogen  und  in  ihrem  Palast  und  ihren  Juwelen  weniger 
als  die  Armut,  —  Tilly  wird  ihn  eines  Tages  mit  einem  Wort 
wegschicken,  oder .  .  .  er  wird  sie  eines  Tages,  vielleicht 
ohne  ein  Wort,  verlassen. 

Damals  raste  Wien  bereits  auf  der  Berg-  und  Talbahn 
der  Inflationskonjunktur.  Das  Leichengift  des  Zusammen- 
sturzes  hatte  schon  den  ganzen  Wirtschaftskorper  durch- 
drungen,  und  wahrend  die  gesellschaftlich  Schwacheren, 
die  wirtschaftlich  Unorganisierten  langsam  sanken,  immer 
tiefer  und  tiefer  abwarts,  tobten  die  Starkeren,  die  (Jber- 
lebenden,  die  groBen  Rauber,  die  sich  in  alien  Situationen 
Zurechtfindenden  mit  ihrem  m^chtigen  Gefolge  in  be- 
rauschtem  Tanz  um  die  in  Agonie  zuckende  Stadt.  Das 
Leben  huscht  in  bunter  elektrischer  Spannung,  in  der  Er- 
regung  nie  geahnter  neuer  Sensationen  zwischen  Himmel 
und  Holle  dahin;  Kommunistenaufzuge,  die  vom  schnelien 
Backen  ein  wenig  angebrannt  riechenden  Konjunktur- 
milliardare,  verbitterte  reaktionare  poh'tische  Zwischen- 
spiele,  zahneknirschende,  magenknurrende  Demonstra- 
tionen  von  Arbcitslosen,  Vermogenschiebungen,  bis  in  den 
Morgen  dauernde  Zechereien  in  den  Bars,  leeres  Gahnen 
von  stillstehenden  Fabriken,  zum  Platzen  uberfiillte  Ge- 
schafte  in  den  HauptstraBen;  die  Banaiita't  von  ,,Glanz  und 

190 


Elend"  so  heutig  geschminkt,  daB  sie  wie  cin  apokalypti- 
sches,  nie  gesehenes  Wunder  erscheint.  Auf  dieser  diisteren 
See  segelt  heiter  die  seltsame  Luxusjacht  der  jugendlichen 
Gesellschaft.  Die  Deckung  des  sicheren  Geldes  gibt  die 
Moglichkeit  zu  kritischem  Verweilen;  ihr  biBchcn  Kunst- 
treiben  erhebt  sie  iiber  den  Burger;  und  so  sehr  leben  sie 
ihr  besonderes,  in  sich  geschlossenes,  befrcites  Leben,  daB 
sie  alles  andere  iiberlegen-interesselos  mit  kalter  Ablehnung 
betrachten.  Und  wie  Kadar  so  immer  mehr  und  mehr  unter 
ihnen  lebt,  bemerkt  er  eines  Tages,  daB  er  lauter  Fremde 
um  sich  hat,  deren  Gewohnheiten  er  annimmt,  mehr  oder 
minder  gut  nachafft,  die  aber  sehr  wohl  sehen,  daB  sich  ein 
Fremder  unter  ihnen  befindet.  Paul  zuliebe  und  vielleicht 
wegen  seines  Verhaltnisses  mit  Tilly  dulden  sie  ihn,  —  aber 
hie  und  da  regt  sich  das  Windchen,  das  ihn  unbedingt  eines 
Tages  mit  leisem  Hauch  aus  der  Gesellschaft  hinauswehen 
wird.  Einer  macht  eine  Bemerkung  iiber  eine  schlampige 
spieBbiirgerliche  Geste  an  ihm,  und  er  wehrt  sich  nicht 
dagegen:  er  geht  mit  einem  nachlassigen  Na-wenn-schon 
iiber  die  Sache  hinweg.  Und  da  konstatieren  sie  im  stillen, 
daB  er  wirklich  ein  SpieBbiirger  sei.  Ein  bleiches,  blondes 
Aristokratenbiirschchen  scharwenzelt  auffallend  um  Tilly 
herum;  des  wegen  fahrt  ihm  einmal  ein  scharfes  Wort  iiber 
die  Lippen,  —  und  schon  ist  das  Urteil  gesprochen:  er  ist 
eifersiichtig,  er  kann  sich  nicht  iiber  die  Dinge  erheben. 
In  Disputen  wechselt  er  die  Meinung:  er  hat  keine  feste 
Weltanschauung.  Mit  kindischem  Eigensinn  bleibt  er  an 
einem  Standpunkt  kleben:  es  fehlt  ihm  an  geistiger  Elastizi- 
tat.  An  diesen  Kleinigkeiten  fiihlt  er,  daB  er  nur  mit  ihnen 
getrieben  wird  und  nicht  zu  ihnen  gehort.  Denn  iiber  das 
hinaus,  was  schon  und  aufregend  ist,  gibt  es  eigentlich 
nichts,  um  dcssentwillen  es  sich  lohnte  . . .  nichts,  das  auch 
nur  eincn  cinzigen  langeren  Ausblick  nach  dem  Obermorgen 
hin  hatte;  das  Ganze  ist  nicht  mehr  als  pittoreskes  aber 
blindes  Tappen  im  Heute.  Und  trotzdem  ist  dieser  Friihling 
schon  mit  seincn  hervorbrechenden  Sehnsiichten  und  den 


191 


Erfiillungen,  wie  er  sie  sich  nicht  vorzustellen  vermochtc, 
mit  den  Erlebnisscn  und  Betaubungen,  die  selbst  in  jenen 
stiirzenden  Nachten  noch  ihre  seltsame,  nie  gekannte, 
aufregende  Spannung  haben.  Seine  junge  Kraft  und  sein 
Selbstvertrauen  kampfen  mit  der  dreifachen  Probe  des 
Lernens,  der  neuen  Dinge  und  der  neuen  Menschen;  und 
es  gibt  Tage,  an  denen  er  es  sich  selbst  glaubt,  daB  er  nicht 
aussichtsvoller  hatte  starten  konnen,  daB  sein  Leben  bis 
auf  gewisse  Teilresultate  nicht  besser  hatte  gelingen  konnen. 

Ende  Juni  ist  SchluB  auf  der  Hochschule,  SchluB  mit 
seinem  beiseitegelegten  Geld  und  wahrscheiniich  auch  mit 
Tilly.  Das  zweite  Jahr  des  Studiums  hat  er  mit  mittelmaBi- 
gem  Erfolg  hinter  sich.  Wohnung  und  Kost  sind  zwar 
bis  zum  ersten  Juli  bezahlt,  aber  in  der  Blechschachtel 
liegen  flach  nur  noch  eine  oder  zwei  Banknoten.  Tilly  wird 
sich  bis  zum  Herbst  mit  ihrem  Vater  in  der  Schweiz  und 
in  Italien  aufhalten.  An  einem  schonen  stillen  Juniabend 
nimmt  er  Abschied  von  ihr.  Mit  leer  hammernder  Brust, 
verschleierten  Augen,  mit  tausend  plotzlich  auf  ihn  ein- 
sturzenden  Schmerzen  korperlicher  Erinnerungen  halt  er 
ihre  Hand  in  der  seinen;  Tilly  sagt  leise:  ,,also .  . .  bis 
Herbst,  oder  fur  immer."  Schrecklich,  unertraglich  liebt 
er  in  diesem  Augenblick  das  kleine  rote  Madchen,  Abende 
lang  halluziniert  er,  hort  ihre  Stimme,  sieht  ihr  Bild,  spurt 
ihre  Umarmung,  lauscht  den  vom  groBen  Fliigei  auf- 
steigenden  leisen  oder  donnernden  Tonen.  Tilly  konnte 
man  nicht  verstehen,  —  ihr  jede  Sekunde  wechselndcs 
Leben,  ihre  unerwarteten  Seufzer  und  die  unzahligen  kleinen 
Widerspriiche,  aus  denen  sich  ihr  unauf  losbar  einheitliches 
Wesen  zusammensetzte,  —  Tilly  konnte  man  niemals  ver- 
stehen, und  niemals  kann  man  sie  vergessen. 

Undindiese  leeren,  vergeblichen  Tage  rasselt  wieder  Paul 
herein,  unerwartet  und  heiter  und  ein  wenig  mit  der  Geste 
einer  hoheren,  die  Morphiumspritze  dirigierenden,  sicheren 
Hand:  ,,Du  weiBt,  seit  Monaten  bearbeite  ich  die  Eltern 
mit  meinem  Sommerplan,  —  also,  wenn  du  willst,  kannst 

192 


du  nachste  Woche  mit  mir  nach  London  reisen.  Die  Reise 
ist  bis  ins  kleinste  vorbereitet,  die  Geldangelegenheit  in 
Ordnung."  Am  folgenden  Tage  losen  sie  die  Fahrkarten: 
Basel  —  Paris  —  Calais  —  Dover  —  London.  Eine  kleine 
Schwierigkeit  verursachte  nur  Kadars  PaB;  das  englische 
Konsulat  in  Wien  lehnte  das  Visum  fur  einen  ungarischen 
Pali  ab.  Bis  zum  nachsten  Morgen  verschafft  ihm  Herrn 
Pauli-HeBleins  Biiro  einen  osterreichischen  PaB,  und  nun 
steht  der  englischen  Einreisebewilligung  nichts  mehr  im 
Wege.  Paul  ist  in  diesen  letzten  Tagen  in  Wien  nichts  als 
eine  hochflackernde  Flamme:  ,,wunderst  du  dich,  daB  meine 
Ruhe  bin  ist?  du  hast  mich  noch  nie  so  aufgeregt  gesehen? 
ahnst  du  denn,  was  London  fur  mich  bedeutet  seit  ,Prinz 
und  Bettler4  und  seit  Wilde  und  Shaw  ?  Hast  du  eine  Ahnung, 
was  mir,  dem  Wiener,  die  GroBstadt  bedeutet?" 

Eines  Morgens  steigen  sie  dann  zu  neun  in  den  direkten 
Wagen  ein,  an  dem  steht:  Wien  West — Paris  Est,  —  eine 
schreiende,  lustige,  aufgeregte  Gesellschaft.  Sieben  be- 
gleiten  sie  bis  Salzburg;  wahrend  der  halben  Stunde  Auf- 
enthalt  in  Salzburg  amiisierte  sich  der  ganze  Zug  iiber  die 
unter  Lachen  und  Kiissen  Abschied  nehmende  Gesellschaft. 
Rosette  und  Paul  spazierten  ein  wenig  errotet  auf  dem 
Perron  auf  und  ab,  dann,  —  die  Schaffner  schlossen  bereits 
die  Waggontiiren,  —  kiiBten  sie  sich.  Im  Gesicht  des 
Madchens  gliihte  etwas  von  unbekannter,  sonderbarer 
Bewegtheit.  ,,Ach  Gott,  du  .  .  .",  noch  hielt  sie  die  Hand 
des  Jungen,  der  auf  den  Waggonsrufen  stand,  ,,ich  hatte 
doch  besser  mit  dir  gehen  sollen,  Paul!  Sofort  telegrafieren, 
wenn  du  angekommen  bist,  und  jeden  Tag  schreiben .  . . 
Toni,  paBauf—  ---" 

Hinter  dem  Arlberg  fing  es  an  zu  regnen,  und  von  da  an 
ging  die  Fahrt  fast  bis  Paris  bei  dichtem  Spriihregen  und 
manchmal  auch  Nebel,  als  ob  auch  das  Wetter  die  Absicht 
hatte,  ihre  Aufmerksamkeit  nicht  durch  die  fremden  Land- 
schaften  vom  eigentlichen  Reiseziel,  von  London,  abzu- 
lenken.  Hinter  Salzburg  nahm  Paul  einen  deutsch-englischen 

13  Ktirmendi,  Budapest  193 


Sprachfiihrer  aus  der  Handtasche  und  gab  ihn  lachend 
K£d£r,  ,,von  jetzt  an  kein  Wort  mehr  anders  als  Englisch, 
verstandenl  ich  will  nicht,  daB  du  nicht  weiBt,  was 
du  anfangen  sollst,  wenn  ich  dich  in  London  mal  fiinf 
Minuten  allein  lasse."  Kadar  sucht  und  liest  die  allgemein- 
gebrauchlichsten  Worte,  die  auf  Reisen  in  einer  fremd- 
sprachigen  Stadt  gewohnlich  die  ersten  Worte  der  Touristen 
sind.  Im  Speisewagen  horen  sic  Deutsch,  Ungarisch,  Ru- 
manisch  und  Franzosisch  sprechen.  In  Zurich  wird  der 
uberfullte  Zug  ziemlich  leer,  in  Basel  aber  steigen  dann 
wieder  viele  nach  Paris  Reisende  ein.  Paul,  der  Unruhige, 
geht  durch  alle  Wagen;  er  erzahlt,  im  Zuge  sitze  ein 
ungarischer  Ingenieur,  der  auf  der  Reise  nach  London  und 
von  dort  welter  nach  Melbourne  sei.  ^Wilist  du  riiber- 
kommen  und  dich  ein  biBchen  mit  ihm  unterhalten?**  fragt 
er.  Einen  Moment  verspiirt  Kadar  Sehnsucht  nach  der 
ungarischen  Sprache,  aber  dann  winkt  er  nein.  Begrunden 
kann  er  es  nicht,  warum  er  dem  Landsmann  nicht  begegnen 
will.  Spater  ging  ihm  einmal  durch  den  Sinn,  daB  mzwischen 
auch  Vavrincc  schon  ungarischer  Ingenieur  sein  kann .  . . 
Es  ist  Abend,  als  der  Zug  an  der  Gare  de  FEst  einlauft;  zwei 
Stunden  spacer  fahrt  vom  Nord  der  Schnellzug  nach  Calais 
ab.  Durch  das  Fenster  der  Taxe  betrachten  sie  die  drangende, 
brausende,  leuchtende  Pariser  Nacht;  an  einer  StraBen- 
kreuzung  bleibt  das  Auto  sekundenlang  stehen,  ein  blondes 
Madchen  mit  einer  weiBen  Miitze  rappelt  am  Fenster: 
,,Hello,  boy!"  sagt  sie  und  lacht  2u  ihnen  hinein.  ,,H6rst 
du",  sagt  Paul,  ,,eine  Englanderin,  sie  hat  uns  auch  fur 
Englander  gehaltenl'*  Dann  sind  sie  auf  dem  nachtlichen 
Bahnhof;  Paul  geht  vor  und  sieht  sich  die  Lokomotive  an, 
,,eine  schone  Maschine",  sagt  er;  der  Gepacktrager  bringt 
die  Koffer  und  stellt  sie  vor  einem  langen  griinen  Pullman- 
Wagen  auf  den  Bahasteig.  Am  Wagen  hangt  ein  Schild: 
Paris  Nord — London  Victoria  Station. 


MAN  geht  in  Wien,  sagen  wir,  iiber  den  Ring  oder  die 
MariahilferstraBe;  man  geht  und  tut  nichts  anderes.  Man 
hat  kein  Ziel  und  kein  Programm;  wenn  man  Lust  hat, 
bleibt  man  vor  einem  Schaufenster  stehen  und  sieht  es  sich 
an;  wenn  man  will,  dreht  man  sich  um  oder  biegt  in  eine 
andere  StraBe  ein;  eventuell  begegnet  man  einem  Be- 
kannten,  den  man  griiBt;  vielleicht  rempelt  man  einen 
Fremden  an,  dann  sagt  man  pardon.  Wenn  einem  gerade 
der  Sinn  danach  steht,  geht  man  in  ein  Kaffeehaus;  man 
spaziert  an  einem  groBen  Gebaude  vorbei,  von  dem  man 
im  stillen  konstatiert,  das  ist  das  Rathaus  oder  das  Parla- 
ment  oder  das  Liechtenstein-Palais;  aber  man  kann  auch 
noch  auf  der  Treppe  umkehren,  wenn  man  zufallig  doch 
keine  Lust  hat,  hinaufzugehen.  Niemand  kontrolliert  einen, 
keinerlei  auBere  oder  innere  Direktiven  zwingen  einen; 
die  Zeit  wird  nicht  abgemessen,  und  keiner  zahlt  einem  die 
Schritte.  Mit  der  Stadt  kann  man  bekannt  werden,  wo  und 
wann  man  will;  das  nennt  man  Bummeln.  Man  ist  nicht 
so  weit  zu  Hause,  daB  man  sich  Dingen  und  Menschen 
gegeniiber  gefuhllos  vom  Alltag  mittreiben  lieBe;  man  ist 
aber  auch  nicht  so  fremd,  daB  man  von  StraBenecke  zu 
StraBenecke  die  Gebrauchsanweisung,  die  einem  in  Cooks 
Reiseburo  in  die  Hand  gedriickt  wird,  studierte.  Vielleicht 
machen  es  in  Wien  die  Dimensionen  moglich,  daB  man  sich 
auf  den  Zufall  verlassen  kann:  was  fur  eine  Oberraschung 
kann  denn  kommen?  Ich  gehe  und  gehe,  zwanzig  Minuten, 
vierzig  Minuten,  eine  Stunde,  zwei  Stunden:  ich  weiB, 
jene  Klavierfabrik  liegt  an  der  StraBenbahnlinie  zweiund- 
sechzig, und  ich  weiB,  wohin  ich  mit  der  StraBenbahn 
Nummer  zweiundsechzig  gelangen  kann;  ich  weiB,  in 
welchem  Arbeiterviertel  ich  jetzt  angekommen  bin,  und 
ich  weiB,  daB  ein  Kollege  namens  Grummer  von  der 
Haltestelle  dieser  Stadtgegend  taglich  zwanzig  Minuten  bis 

13* 


2ur  Hochschule  mit  der  Stadtbahn  fahrt.  Gut,  daB  ich  fremd 
bin,  derm  so  bin  ich  niemandem  Rechenschaft  schuldig; 
und  gut,  daB  ich  dennoch  nicht  ganz  fremd  bin,  denn  so 
kann  ich  mir  selbst  Rechenschaft  geben.  In  London  ist 
das  nicht  so.  London  erfordert  ein  Programm.  Ich  wciB, 
daB  ich  morgens  um  zehn  Uhr  die  Parlaments-Bibliothek, 
um  zwolf  Uhr  die  Bibliothek  des  British  Museum,  um  zwei 
die  soziologische  Buchersammlung  des  State-Archiv  be- 
sichtigen  werde.  Ich  weiB,  daB  ich  in  machtigen  Salen 
schrecklich  viele  Biicher  zu  sehen  bekomme  und  daB  die 
Reichhaitigkeit  und  Ubetfulle,  der  Anblick  des  Sammeleifers 
und  der  Ordnung  mich  faszinieren  werden.  Heute  ist  Biblio- 
thekentag.  Ich  weiB  und  . . .  konnte  nicht  gerade  sagen,  daB 
ich  mich  nicht  wohl  fuhle  dabei.  Nur  gliicklich  bin  ich  nicht. 
Icb  glaube,  Paul  verdirbt  die  Sache.  Paul  ist  iibereifrig;  er 
hat  zu  viel  erwartet  und  will  deshalb  zu  vie!  von  London. 
Allerdings  kann  man  bei  einem  auf  sechs  bis  acht  Wochcn 
gcplanten  Aufenthalt,  —  einer  Studienreise,  wie  Paul  in 
letzter  Zeit  sagt,  —  nicht  blind  draufiosleben.  Sechs  bis 
acht  Wochen  sind  viel  und  auch  wenig.  Zuviel,  um  sich 
die  Dinge  fliichtig  anzusehen  und  von  all  dem  Kenntnis 
zu  nehmen,  was  hicr  am  besten,  am  schonsten  und  am  zahl- 
reichsten  vcrtreten  ist;  zu  wenig,  um  einmal  eincn  ganzcn 
Vormittag  allein  in  der  Stadt  umherzustreifen,  und  um  cs 
gleichgultig  sein  zu  lassen,  ob  ich  drci  Stunden  am  Themse- 
Ufer  oder  im  Hyde  Park  spazierengehe.  Nein,  dazu  haben 
wir  keine  Zeit.  Und  —  vielleicht  wiirde  ich  es  auch  gar 
nicht  recht  wagen.  Ich  bin  fremd,  ich  furchte  mich  vor  den 
unbekannten  StraBen  und  den  fremden  Menschen;  ich 
vcrstehe  ihrc  Sprache  nicht,  und  wenn  ich  einmal  zwanzig 
unausgefiillte  Minuten  habe,  dann  sitze  ich  in  mcinem 
Pensionszimmer  am  Fenster  und  zahle,  wieviele  Autos  aus 
der  engen  StraBe  in  die  breite  StraBe  biegen.  Ich  glaube 
nicht,  daB  ich  dies  aus  einer  auch  mir  selbst  verheimlichten 
Miidigkeit  rue.  Ncin,  miide  bin  ich  nicht,  und  ich  bin 
auch  viel  zu  bcscheiden,  um  nun  schon  gesSttigt  zu  sein. 

196 


Aber  diese  restlose  Einteilung  und  Berechnung  crwcckt 
fortwahrend  das  Gef iihl  in  mir,  daB  ich  hinter  dem  Jonglieren 
mit  der  Zeit  etwas  voriibergehen  lasse,  was  nur  der  Zufall 
bringen  kann,  oder  daB  in  dieser  Zeitgleichung  ohne  Un- 
bekannte  doch  irgendwo  etwas  Unbekanntes,  etwas  Un- 
erwartetes  verborgen  liegt.  Nein . . .  ich  fuhle  mich  nicht 
gliicklich  in  London.  Hatte  ich  mehr  erwartet?  Vieiieicht 
weniger,  ich  kann  es  nicht  sagen.  Ich  habe  das  Gefiihl,  daB 
Paul,  der  iiber  unsere  Zeit  und  unser  Geld  verfiigt,  die 
Sache  verdorben  hat.  Hatte  ich  einen  Kalender,  so  wtirde 
ich  hineinschreiben :  Montag  —  Theaterkunst-Sammlung 
Gordon  Craigs,  eine  moderne  Photographic- Ausstellung 
und  ein  Vortrag  iiber  RuBland  des  Labour- Abgeordneten 
Flynn,  Dienstag  —  Lord  Cressens  Musikinstrumenten- 
Sammlung,  denn  auch  die  ist  in  Pauls  Programm  enthalten, 
Ausstellung  der  im  Kriege  verwendeten  Waffen  in  der 
Olivier  Hall  und  Vorlesung  des  jungen  amerikanischen 
Dichters  Lee-Masters,  Mittwoch  —  nein,  gliicklicherweise 
habe  ich  keinen  Kalender,  heute  ist  Samstag,  und  ich  habe 
schon  vergessen,  was  am  Mittwoch  war,  ganz  sicher  ist 
es  auch  nicht,  daB  wir  die  Musikinstrumente  am  Dienstag 
besichtigt  haben.  Was  nun  wird?  ich  weiB  es  nicht,  nicht 
etwa,  weil  wir  nicht  fur  jeden  folgenden  Tag  ein  genaues 
Programm  batten,  sondern  weil  Paul  augenblicklich  auf 
der  Bank  ist,  um  Geld  zu  holen.  Auf  jeden  Fall  werden  wir 
uns  die  Vorbereitungen  zur  Weltausstellung  in  Wembley 
ansehen,  und  Paul  mochte  auch  an  einer  Razzia  in  White- 
chapel  teilnehmen,  er  ist  schon  im  Begriff,  die  entsprechen- 
den  Beziehungen  zur  Polizei  zu  suchen.  Aber  gewiB  gibt  es 
noch  eine  Menge  Galerien  und  Bibliotheken  und  Skulptur- 
Ausstellungen  und  Antiquitaten-Sammlungen,  die  wir 
besichtigen  werden;  eine  Menge  Vortrage  und  Vor- 
lesungen  und  Diskussionen,  die  wir  uns  anhoren  werden. 
Sehr  oft  waren  wir  im  Theater,  ich  glaube,  die  Biihnen- 
sprache  habe  ich  besser  verstanden  als  das,  was  der  Brief- 
trager  oder  die  Zigarettenverkauferin  oder  die  Pensions- 

'97 


inhabcrin  sagt.  In  dcr  Queen's  Hall  haben  wir  uns  ein 
herrliches  Mozartkonzert  angehort,  ein  Hollander  namens 
Mengelberg  dirigicrte  die  Jupiter-Symphonic,  und  ein 
jungcs  Madchen,  ihren  Namen  habe  ich  vergessen,  trug 
das  D-Moll-Klavierkonzert  vor.  Sic  spieltc  sehr  schon, 
abcr  du  spielst  schoner.  Unsere  Pensionsinhaberin  hat  ein 
groBes  Grammophon  und  viele  Tanzplatten.  Manchmal 
hore  ich  sie  musizieren.  Mit  unsern  Hausgenossen  kommen 
wir  nicht  sehr  viel  zusammen;  sie  sind  auch  fast  aus- 
nahmslos  Londoner  oder  wenigstens  Englander.  Junge 
Lcute  sind  kaum  darunter.  Ich  glaube,  man  weiB,  daB  wir 
Wiener  sind,  und  ist  ein  biBchcn  miBtrauisch  uns  gegeniibcr. 
Sonst  kennen  wir  nur  wenige  Leute.  Die  Familie,  an  die 
Paul  cmpfohlen  worden  ist,  halt  sich  seit  Ende  Mai  in 
Schottland  auf  und  kommt  angeblich  vor  Herbst  nicht 
zuriick.  Die  Englander  sind  nicht  sehr  mitteilsam  und 
schlicBen  sich  schwer  an.  Ab  und  zu  reden  wir  mit  einem 
jungen  Mann,  den  Paul  in  ciner  Bibliothck  angesprochen 
hat,  und  die  Abende  verbringen  wir  hie  und  da  mit  zwei 
jungen  Madchen,  die  wir  an  cinem  Samstagabend  auf  die 
Weise  kennengelernt  haben,  daB  ihr  Ford  auf  der  Land- 
straBe  steckenblieb  und  wir  sie  mit  Pauls  gemietetem  Ford 
in  die  Stadt  zogen.  Die  cine  ist  Eliza  Gordon,  ihre  Eltern 
leben  in  Glasgow,  Zia  arbeitet  bei  einem  Glashandlcr  im 
Euro,  der  ein  Verwandter  von  ihr  zu  sein  scheint.  Von  der 
andern  weiB  ich  nur  den  einen  Namcn,  Yomaya,  der  andcre 
ist  furchtbar  lang;  sie  ist  ein  echtes  Hindu-Blut  aus 
Cashmere,  studiert  hicr  an  der  Universitat.  Jetzt  mochte  ich 
Dir  schreiben,  was  ich  bisher  von  London  gehabt  habc. 
Eine  GroBstadt  im  Wirbcl  gehaufter  Einzelhciten  ohnc  ein 
einzigcs  bekanntes  Haus,  cine  einzige  gewohnte  StraBen- 
eckc,  cincn  einzigcn  vcrtrauten  Ton,  und  dennoch  wirkcn 
die  fremden  Hauser,  die  unbekanntcn  StraBen,  die  un- 
gewohnten  Stimmen  nichr  verbliiffend  wie  etwas  absolut 
Neues.  Soil  ich  sagen:  ich  fiihle  mich  nicht  zu  Hause?  Soil 
ich  hcute,  in  der  dritten  Woche  sagcn:  noch  bin  ich  nicht 

198 


enttauscht  odcr  ich  erwarte  nicht  mehr  ?  Nein,  ich  fiihle  mich 
nicht  gliicklich  in  London,  Tilly;  vielleicht,  well  ich  mich 
sehr  nach  Dir  sehne  .  .  ." 


„.  .  .  Ihr  konnt  es  mir  glauben,  ich  selbst  wundere  mich 
oft  am  meisten  dariiber,  daB  ich  nach  London  gekommen 
bin.  Das  Ganze  wickelte  sich  innerhalb  weniger  Tage 
ab;  mein  Schiller,  —  ich  sage  wohl  besser:  mein  Freund,  — 
iiberraschte  mich  ganz  unvorbereitet  mit  der  Idee,  und  da 
war  auch  schon  alles  geregelt.  Unsere  Reise  verlief  sehr 
schon  und  angenehm;  ein  ungarischer  Ingenieur  fuhr  mit 
uns  bis  Paris,  ich  habe  zwar  nicht  mit  ihm  gesprochen,  weiB 
aber,  daB  er  unterwegs  war  nach  London,  um  sich  bei  einer 
Fir  ma  vorzustellen,  die  ihn  nach  Australien  engagiert  hat. 
Gluckssache  .  .  .  aber  auch  das  ist  Gliickssache,  daB  ich 
jetzt  in  London  bin.  Ich  wiirde  kein  Ende  finden,  Euch  die 
zahlreichen  Wunder  zu  beschreiben,  die  ich  hier  gesehen 
habe.  Den  gewaltigen  Bahnhof,  die  riesige  Stadt,  den  Ver- 
kehr,  von  dem  Ihr  Euch  gar  keine  Vorstellung  machen 
konnt,  die  herrlichen  Gebaude.  Wir  wohnen  in  einer 
Familienpension,  haben  zwei  ineinandergehende  schone 
Zimmer  und  bekommen  ausgezeichnete  Verpflegung.  Ich 
lerne  viel,  wenn  auch  nicht  direkt  in  mein  Fach  schlagende 
Dinge;  wir  haben  sympathisers  und  wertvolle  Menschen 
kennengelernt.  Natiirlich  vergeht  der  ganze  Tag  mit 
Sehenswiirdigkeiten,  in  Bibliotheken  und  Ausstellungen, 
und  wenn  es  mir  an  etwas  fehlt  .  .  .  nein,  ich  konnte  nicht 
sagen,  daB  es  mir  auch  nur  an  dem  Geringsten  fehlte:  ich 
habe  keine  Sorgen,  unserer  Vcreinbarung  gemaB  deckt 
mein  Schuler  unsere  samtlichen  Ausgaben,  taglich  gibt  es 
reichlich  viel  zu  sehen,  zu  lernen,  —  und  was  ich  soeben 
dachte,  namlich,  daB  mir  etwas  fehlen  konnte,  dieses 
Gefuhl  wird,  glaube  ich,  durch  die  ungewohnte  Umgebung 
verursacht.  Doch  schlieBlich  handclt  es  sich  ja  nur  um 
scchs  Wochcn  oder  hochstens  zwei  Monate,  und  cs  ware  die 

199 


groBte  Undankbarkcit,  geradezu  cine  Siindc,  auch  nur  cinen 
einzigcn  klagenden  oder  unzufricdenen  Ton  zu  vcrlieren 
intnitten  der  zahllosen  Wunder,  die  ich  in  London  erleben 
darf.  Diescr  Tage  hattc  ich  einc  interessante  Begegnung: 
mein  Freund  Paul  ging  eines  Vormittags  bei  ciner  vor- 
nehmen  Londoner  Familie  einen  Besuch  machen,  an  die  wir 
aus  Wien  einen  Empfehlungsbnef  mitbekommen  batten, 
und  wahrend  der  Zeit  begab  ich  mich  auf  einen  Spaziergang. 
Da  treffe  ich  plotzhch  in  einer  der  eleganten  StraBen  in  der 
Nahe  eines  groBen  Hotels  einen  friiheren  Mitschiiler  vom 
Gymnasium,  vielleicht  erinnert  Ihr  Euch  noch  an  seinen 
Namen:  Istvan  Varga.  Uber  diese  unerwartete  Begegnung 
hier  in  der  fremden  GroBstadt  freuten  wir  uns  beide  sehr. 
Varga  ist  eigentlich  gar  nicht  ganz  fremd  hier,  er  lebt  das 
drittc  Jahr  in  England;  in  Cambridge  —  einer  beriihmten 
Universitatsstadt  —  studiert  er  Jura.  Er  hielt  sich  in  London 
nur  auf  der  Durchreise  auf,  war  unterwegs  nach  Ostende, 
wo  seine  Eltern  den  Sommer  verbrmgen.  Es  sind  reiche 
Lcute  .  .  .  Varga  war  auBerordentiich  nett  zu  mir,  ich 
erzahlte  ihm,  wie  ich  nach  London  gekommen  bin;  er 
bedauerte,  daB  er  keine  Gelcgenheit  babe,  auch  meinen 
Schiiler  kennenzulernen,  gab  nur  aber  seine  Ostender  und 
Londoner  Adresse  und  bat  mich,  falls  wir  Ende  August  oder 
Anfang  September  noch  in  London  waren,  mochten  wir 
ihn  unbedingt  aufsuchen  und  ein  paar  angenehme  Abende 
gemeinsam  verbringen.  Ihr  konnt  Euch  denken,  wie  wohl 
es  mir  tat,,  nach  so  langer  Zeit  einmal  Ungarisch  zu  horen 
und  zu  sprcchen,  um  so  mehr,  als  Varga,  der,  wie  ich  sagte, 
aus  einer  vermogenden  Familie  stammt,  seinerzeit  in  der 
Schule  nicht  zu  meinen  Freunden  gehorte  und  cs  iiberhaupt 
die  armeren  Jungen  immer  fiihlen  lieB,  daB  cr  materiell 
hoher  gestellt  war.  Einc  gute  halbe  Stunde  verbrachte  ich 
mit  ihm  zusammen,  dann  ging  er  seinen  Sachen  nach,  und 
ich  begab  mich  auf  den  Heimweg.  Und  jetzt  kann  ich  nur 
noch  einmal  wiederholen,  Papier  und  Tinte  geniigen  nicht, 
um  auch  nur  annahernd  auszudriicken,  wieviel  Gutes  und 


200 


Interessantes  ich  hicr  schon  gcnosscn  habc.  Vielleicht 
spater,  wcnn  die  Ruhe  dcr  gewohnten  Wiener  Tage  cs 
zulaBt,  oder  wenn  mich  die  Vorsehung  wieder  einmal  zu 
Euch  zuruckfuhrt  in  die  Hebe,  traute  Wohnung  in  der 
Pozsonyer  StraBe  .  .  ." 


„.  .  .  Vielleicht  halts t  Du  es  fur  iiberfliissig,  vielleicht 
geradezu  fur  einen  Mangel  an  Vertrauen:  und  ich  bitte 
Dich  auch,  sprich  kein  Wort  von  dem,  was  ich  Dir  jetzt 
schreibe,  zu  Rosette;  und  wenn  Du  an  Paul  schreiben  soil- 
test,  so  laB  ihn  aus  Deinem  Brief  nicht  fiihlen,  daB  ich  mich 
bei  Dir  beklage.  Denn  das  tue  ich,  Ludwig,  so  dumm  und 
undankbar  es  auch  klingen  mag.  Ich  beklage  mich:  dieser 
Londoner  Aufenthalt  ist  fiir  mich  vollkommen  miBlungen. 
Du  weiBt  sehr  gut,  ich  habe  keine  Illusionen  gehabt,  keine 
iibertriebenen  Vorstellungen,  vielleicht  nicht  einmal  An- 
spniche;  und  ich  glaubte  mich  den  Dingen  gegeniiber  um 
so  aufnahmefahiger,  als  ich  von  vornherein  dankerfiillt  die 
Reise  antrat.  Und  dennoch:  London  ist  nicht  gelungen. 
Paul  lebt  in  einer  Rage,  —  damit  sage  ich  Dir  nichts  Neues, 
denn  dieses  Lebens tempo  hast  Du  ihm  ja  eingeimpft,  — 
und  die  Oberhaufung,  die  Uberhetzung  der  ersten  Tage  und 
Wochen  haben  mich  aller  Aufnahmefahigkeit  beraubt.  Ich 
traumte  von  entsetzlichen  Biicherreihen,  Bildermengen, 
von  Stimmengewirr,  unsere  Tage  hatten  zu  wenig  Stunden, 
unsere  Stunden  zu  wenig  Minuten;  ich  konnte  die  Dinge 
nicht  einmal  in  mir  ordnen,  geschweige  denn  sie  verdauen. 
Das  ist  kein  Tempo  fiir  mich,  —  und  wenn  ich  mich  von 
Paul  nicht  losreiBen  wollte,  so  bist  Du,  Ludwig,  auch 
davon  der  Grund:  erinnere  Dich  nur,  wie  Du  vor  unserer 
Abreise  sagtest,  —  gute  Reise,  Jungens,  und  vergeBt  nicht, 
daB,  wcnn  Paul  ein  guter  Motor  ist,  Antal  eine  gute  Bremse 
sein  muB.  GewiB  arbeitet  dieser  Befehl  in  mir,  wenn  ich 
bemuht  bin,  Bremse  zu  sein,  und  ich  muB  einsehen,  daB 
ich  meine  Aufgabe  nicht  erfullen  kann.  Verantwortung? 

zoi 


Furchte  ich  fur  Paul  oder  fur  mich  selbst?  Das  kannst  Du 
vielleicht  aus  dcr  Fcrne  besser  bcurteilen.  Was  konnte  ich 
dcnn  fiirchten?  Geld  haben  wir,  Ziel  und  Plane  .  .  .  nein, 
Ziel  und  Plane  haben  wir  nicht  mehr.  Und  eben  das  ist  es, 
was  mich  nach  den  auf  die  Stunde  eingeteilten,  gehauften 
und  gierig  verschlungenen  Sammlungen,  Theatern,  Mee- 
tings und  tausenderlei  andern  Programms  beunruhigt. 
Nicht,  als  ob  wir  gesattigt  waren,  —  obschon  ich  fur  meine 
Person  wohl  fiir  ein  ganzes  Leben  genug  habe  von  Lon- 
don, —  nicht,  als  ob  wir  am  Ende  von  Pauls  beangstigend 
vollgeschriebenem  Notizbuch  angeiangt  waren.  Wir  machen 
bloB  jetzt  gar  nichts,  oder  machen  nichts  anderes  als  zwei 
Madels  nachlaufen.  Eines  Samstagsnachmittags  fuhren  wir 
nach  Chelmsford,  —  ich  weiB  wirklich  nicht  mehr,  was  Paul 
in  Chelmsford  bcsichtigen  wollte,  —  da  lasen  wir  auf  der 
LandstraBe  einen  steckengebliebenen  Ford  mit  zwei  jungen 
Damen  auf;  eine  Englanderin,  die  meine  Partnerin  wurde, 
und  eine  Indierin  mit  Namen  Yomaya  aus  Cashmere,  — 
mindestcns  ein  hohes  Vollblut,  —  mit  dem  andern  Namen 
heiBt  sic  Shitamanara;  hat  Paul  schon  von  ihr  geschrieben? 
Wir  schleppten  ihren  Ford  in  die  Garage  zuriick  und 
brachten  sie  in  ihre  Pension.  Und  da  war  es  nach  wenigen 
Tagen  mit  den  Bildergalerien  und  Biichersammlungen 
vorbei.  Stattdessen  heiBt  es  jetzt  Tanzlokal.  Gewohnlich, 
bis  die  letzten  Lampen  geloscht  werden,  und  dann  gehcn 
wir  mit  ihnen  zusammen  nach  Hause,  —  sie  wohnen  jetzt 
nicht  mehr  in  der  Pension,  sondern  in  einer  privaten  Drei- 
Zimmer-Wohnung  in  Maida  Vale,  —  und  wenn  wir  dann 
gegen  Mittag  nach  Hause  kommen,  schlafen  wir  meistens 
bis  abends.  Ich  bin  eine  schlechte  Bremsc:  ich  wage  es  nicht, 
Paul  Vorwiirfe  zu  machen,  und  schlieBlich  hatte  ich  ja  in 
erster  Linie  mir  selbst  etwas  vorzuwerfen.  MiBversteh  mich 
nicht,  ncin,  nicht  Tillys  wegen,  —  ich  hore  Deine  Stimme, 
Ludwig,  wie  Du  sagst:  die  drei  Hauptfaktoren  des  mensch- 
lichen  Lebens  sind  Solitudinitat,  Inkonstanz  und  Poly- 
gamic,  —  sondcrn  darum,  weil  ich  dcm  nicht  vorzubcugcn 

204 


vermochte,  daB  unscr  Weltkennenlcrnen  nun  in  ein  Aben- 
tcuer  versinkt,  daB  aus  London  cinfach  ein  Schlafzimmer 
wird.  Paul  ist  starker  als  ich,  und  ich  .  .  .  ich  gestehe,  ich 
bin  ein  wenig  verwirrt,  ich  sehe  nicht  klar,  und  irgendwie 
ist  mir,  als  finge  ich  an,  den  Kontakt  mit  mir  selbst  zu 
verlieren.  Glaubst  Du,  das  sei  Neurasthenie?  Mag  sein,  ich 
iibertreibe,  mag  sein,  ich  bin  ohne  jeden  besonderen  Grund 
schlecht  gelaunt,  moglich,  daB  sich  erst  jetzt  der  SpieBbiirger 
in  mir  entpuppt,  moglich,  daB  ich  bloB  unausgeschlafen 
bin.  Morgen  wird  angeblich  in  den  Burlington  Galleries 
eine  Ausstellung  moderner  japanischer  Maier  eroffnet,  die 
miiBte  man  sich  ansehen.  Heute  abend  um  sieben  trefien 
wir  uns  mit  den  Madels  im  Restaurant  Kit-Cat  .  .  ." 


10 

IM  Morgcngrauen  kamen  sic  nach  Hause. 
Mit  triiben  Augen  und  dumpfem  Kopf  wachte  cr  spater 
davon  auf,  daB  unter  ihren  Fenstern  ein  offenbar  defektes 
Auto  unter  der  Qual  der  ubertriebencn  Drehungszahl 
schnarrt  und  stohnt.  Er  greift  nach  seiner  Uhr:  halb  neun; 
durch  die  halb  heruntergelassene  Jalousie  des  einen  Fensters 
scheint  die  Sonne  ins  Zimmer.  Mit  einem  Ruck  steht  er  auf 
und  geht  ins  Nebenzimmer.  Paul  steht  bis  zum  Giirtel 
nackt  vor  dem  Spiegel,  um  die  Hiiften  hat  er  ein  Handtuch 
gebunden,  den  Kopf  ganz  dicht  vor  die  Spiegelplatte 
gebcugt,  in  der  er  den  zitternden,  irrlichternden  Tanz 
zweier  angstlich  starrender  Augapfel  erblickt.  ,,Was  soil 
das,  was  machst  du  da?"  redet  er  ihn  an,  und  ein  unbequemes 
Gefiihl  fcgt  ihm  plotzlich  die  taumelige  Schlafrigkeit  aus 
dem  Kopf.  Paul  wendet  sich  mit  einer  ungewohnt  eckigen 
Bewcgung  um,  sein  Gesicht  ist  kreidebleich.  ,,Nichts", 
sagt  er  mit  leercr,  farbloser  Stimme,  ,,du  bist  schon  auf?"  — 
,,Schlecht  siehst  du  aus",  beginnt  Kadar  wieder,  ,,du, 
Paul,  gcradczu  cinen  crbarmlichcn  Eindruck  machst  du, 


du  hast  wohl  zu  vicl  gctrunkcn,  was?"  —  ,,Kann  sein", 
antwortet  er ;  wirft  noch  einen  fliichtigcn  Blick  in  den  Spiegel 
und  beginnt  sich  anzuziehen.  ,,Badest  du  nicht?"  wundert 
sich  Kadar,  ,,oder  warst  du  schon  drauBen?"  —  ,,Nein", 
antwortet  er,  ein  wenig  an  ihm  vorbeiredend,  ,,ich  glaube, 
ich  bin  erkaltet."  Dann  schweigen  sic.  Paul  ist  im  Hand- 
umdrehen  mit  dem  Anziehen  fertig,  seine  Gesichtsfarbe  ist 
wieder  die  gewohnliche,  nur  in  den  Augen  hat  er  etwas 
Fremdes.  An  die  Tiir  gelchnt  beobachtet  er  ihn  und  be- 
kommt  das  Gefiihl,  daB  hier  etwas  nicht  stimme.  Mit  zwei 
kurzen  Worten  verabschiedet  sich  Paul:  ,,ich  habe  in  der 
Stadt  zu  tun,  auf  die  Bank  gehe  ich  auch,  um  eins  bin  ich 
wieder  zu  Hause",  —  dann  geht  er.  Kadar  legt  sich  wieder 
ins  Bett  zuriick  und  sperrt  gahnend  den  Mund  auf.  Nach 
elf  Uhr  erwacht  er  wieder,  badet,  fruhstiickt,  nimmt  die 
Morgenzeitung  in  die  Hand,  stobert  ungeschickt  und 
schwerfallig  darin  herum,  wirft  sie  dann  wieder  beiseite 
und  lungert  im  Salon.  Der  Himmel  ist  leicht  bewolkt,  es 
ist  nicht  zu  heiB,  dennoch  hat  er  keine  Lust  auszugehen. 
Ein  paar  Worte  spricht  er  mit  Mr.  Colham;  der  Hauswirt 
fragt  ihn,  ob  sie  nicht  am  Nachmittag  mit  ihnen  zusammen 
gehen  mochten,  heute  begannen  in  Wimbledon  die  Tennis- 
meisterschaftsspiele.  ,,Ich  weiB  noch  nicht",  antwortet  er, 
,,wenn  Mr.  Pauli  Lust  hat,  sehr  gerne."  Dann  geht  er  doch 
auf  die  StraCe.  Mit  dem  Autobus  fahrt  er  bis  zur  Blackfriars 
Bridge,  spaziert  am  Ufer  entlang,  setzt  sich  wieder  in  den 
Autobus  nach  Hause  zu,  steigt  aber  nach  einigen  Halte- 
stellen  ab  und  legt  ein  gutcs  Stuck  des  Heimweges  zu  FuB 
zuriick.  Ein  leerer  Vormittag,  —  lange  habe  ich  keinen 
freien  Tag  gehabt.  Auf  der  Bank  hat  er  zu  tun,  vielleicht 
geht  unser  Geld  schon  zur  Neige,  friiher  oder  spacer  fahren 
wir  nach  Hause.  Es  ware  an  der  Zeit . . .  ware  an  der  Zeit . . . 
und  gewaltsam  verscheucht  er  den  Gedanken  an  den 
hiesigen  Aufenthalt. 

Nach  ein  Uhr  ist  er  in  der  Wohnung  angelangt;  tritt  in 
sein  Zimmer  und  geht  dann  sofort  zu  Paul:  ohne  Kragen 

204 


steht  der  Junge  vor  dem  Spiegel.  ,,Na,  was  gibts,  wo  warst 
du?"  fragt  er.  ,,In  der  Stadt."  —  ,,So?  Ich  auch",  —  dann 
blickt  er  ihm  ins  Gesicht:  ,,warum  hast  du  keinen  Kragen 
an?  Fehlt  dir  was?"  Paul  sieht  in  die  Luft,  ,,nein,  nichts", 
sagt  er,  —  tritt  ans  Fenster,  dann  wieder  vor  den  Spiegel 
und  steht  dann  plotzlich  mit  einem  Ruck  vor  ihm,  sein 
Gesicht  ist  weiB  wie  die  Wand,  und  mit  einem  ganz 
eigentiimlichen,  fremden,  tiefen  Ton  sagt  er:  ,,Du,  Toni,  es 
ist  etwas  Entsetzliches  passiert  .  .  ."  Dieses  Gesicht,  diese 
Stimme,  diese  Worte  .  .  .  Gestaltloser  Schreck  durchzuckt 
ihn,  ,,um  Gottes  willen,  was  denn?!"  —  ,,Tonichen",  und 
bei  diesem  Wort  geht  die  tiefe  Stimme  in  ein  diinnes, 
bangliches  Kinderschluchzen  \iber,  ,,ich  bin  . . .  die  Yomaya 
hat  mich  angesteckt."  Kadar  hort  mit  einem  Ruck  das  Herz 
auf  zu  klopfen.  ,,GroBer  Gott .  .  .  Syphilis?"  Bei  dem  Wort 
verzerrt  sich  Pauls  Gesicht  zu  einer  Maske.  ,,Ja  .  .  .  ich  war 
eben  beim  Arzt,  er  hat  eine  Blutuntersuchung  gemacht .  .  . 
positiv  ..."  Kadar  kann  kein  Wort  hervorbringen;  mit 
verkrampfter  Brust  und  Wiihlen  im  Magen  starrt  er  den 
Jungen  an,  zusammengeklappt  sitzt  er  auf  einem  Stuhl  wie 
eine  Marionette,  deren  Draht  der  Puppenspieler  los- 
gelassen  hat.  Minuten  dauert  diese  Stille?  Viertelstunden? 
Paul  steht  in  der  Mitte  des  Zimmers,  halb  zu  ihm,  halb  zum 
Spiegel  gewendet.  ,,Um  Gottes  willen  .  .  .  was  guckst  du 
denn  so?"  stohnt  er  dann.  Das  erste  Wort  gibt  auch  Kadar 
die  Sprache  zuriick.  ,,Was  nun?  .  .  ."  fragt  er  unbeholfen 
und  zugleich  tief  beschamt,  weil  er  hier  um  Hilfe  ruft,  wo 
er  helfen  miiCte.  ,,Was  nun?  .  .  .  wir  fahren  sofort  nach 
Hause  ...  ich  weiB  hier  nicht  .  .  ."  und  dann  schweigt  er 
wieder.  Paul  steht  im  Zimmer,  Kddar  sitzt  auf  dem  Stuhl. 
Fiirchterliche,  eiskalte  Aufregung  rakelt  sich  in  ihm,  ein 
Ausspruch  Wirths  ist  ihm  eingefallen  von  gefahrlicher 
Ansteckung  durch  fremde  Rassen  .  .  .  ob  Paul  wohl  auch 
daran  denkt?  und  er  wagt  kein  Wort  zu  sagen.  Und  er 
wagt  auch  nicht  zu  fragen,  wie  das  denn  passieren  konnte  — 
wie  es  passieren  konnte?!  Lacherlich!  —  aber  daB  er  nicht 

20J 


bemerkt  hat,  daB  das  Madchen  krank  1st,  oder  hatte  er  das 
nicht  bemerkcn  konnen?  —  Aber  darf  hier  in  dieser  Minute 
ein  Wort,  eine  Stimme  fragend  laut  werden?  jetzt,  da  Paul 
wieder  vor  dem  Spiegel  steht  und  das  Hemd  auf  der  Brust 
geoffnet  hat  und  mit  zwei  triiben  Augen  in  den  Spiegel 
starrt  und  in  den  Augenwinkeln  2wei  entsetzlich  dicker 
werdende  Wassertropfen  hangen  hat?  Da  dreht  er  sich  auf 
einmal  wieder  um,  —  alle  seine  Bewegungen  sind  jetzt 
eckig  und  fahrig,  ,,Toni",  sagt  er,  ,,ich  weiB  mir  hier  .  .  . 
nicht  zu  helfen  .  .  .  und  .  .  .  heute  nachmittag  wollen  wir 
packen,  morgen  hole  ich  das  Geld  auf  der  Bank,  und  wir 
fahren  nach  Hause."  Dieses  kindliche,  zerqualte,  verlorene 
Gesicht  —  jetzt  gibt  es  nur  eins  zu  tun:  hingehen  und  ihn 
umarmen  und  kiissen,  vielleicht  kann  ich  ihm  dadurch 
etwas  Mut  wiedergeben,  etwas  Selbstvertrauen  —  und  er 
kann  sich  dort  auf  dem  Stuhl  nicht  riihren,  die  kalte 
Schlange  des  Ekels  umringelt  seinen  Korper  mit  streifigem, 
schleimigem  Druck,  und  er  weiB,  wenn  Paul  jetzt  zu  ihm 
hinkame  und  ihn  anfaBte,  dann  wiirde  er  sich  schroff 
dieser  Beriihrung  entziehen.  ,,Und  was  .  .  .  soil  heute  abend 

sein?l"  —  ,,Nein!"  heult  es  aus  Paul,  ,,ich  will  nicht " 

o  Gott,  natiirlich,  ,ich  will  nicht' . . .  die  Madchen  erwarten 
uns  im  Kit-Cat,  warten  und  warten,  telefonieren  vielleicht 
her  und  gehen  dann  und  lernen  andere  Manner  kennen, 
Zia  und  Yomaya.  Jetzt  schlagt  Pauls  Reglosigkeit  plotzlich 
in  hysterische  Unruhe  um,  und  wie  eine  Motte,  die  sich  die 
Fliigel  verbrannt  hat,  wirft  er  sich  mit  angstlichen,  eigen- 
tumlich  abgehackten  Bewegungen  von  einer  Ecke  in  die 
andere.  Der  Hausdiener  bringt  die  Kofier,  die  Wirtin  kommt 
und  erkundigt  sich  erstaunt,  was  denn  sei.  ,,Sie  reisen?  und 
so  pldtzlich?  Sie  haben  ja  noch  nicht  einmal  geluncht?  und 
die  Pension  ist  selbstverstandlich  fur  die  Woche  .  .  . 
beziehungsweise  die  drei  restlichen  Tage  konnen  leider 
nicht  abgezogen  werden."  —  ,,Naturlich,  natiirlich  1"  Paul 
jagt  die  Frau  mit  seinen  Blicken  aus  dem  Zimmer.  Anziige 
und  Wasche  fliegen  aus  den  Schranken  in  die  Koffer;  das 

206 


fieberhafte,  hastige  und  dennoch  ohnmachtige  Hantieren 
reiBt  auch  Kddar  mit;  zwei  Stundea  vergehen,  und  die 
Koffer  sind  noch  immer  nicht  fertig;  vielleicht  well  sie 
wissen,  wean  sie  diese  Arbeit  erledigt  haben,  dann  Ikgt  der 
ganze  leere  Nachmittag  vor  ihnen.  Um  vier  Uhr  aber  haben 
sie  nichts  mehr  zu  tun.  Den  Fahrplan  .  .  .  den  Fahrplan. 
Um  elf  Uhr  fahrt  der  Zug  von  Victoria  Station  ab  und  ist 
gegen  Abend  in  Paris,  dort  fahren  sie  zum  andern  Bahnhof 
und  warten  auf  den  ersten  Zug  nach  Wien.  Paul  will  mit 
nichtigem,  absichtlich  langsamem  Gebastel  den  Tag  jagen 
und  den  einzigen  Gedanken  verscheuchen,  —  er  laBt 
Mrs.  Colham  hereinbitten,  bezahlt  umstandlich  die  Rech- 
nung  fur  die  ganze  Woche,  lauft  hinunter  und  kauft  vier 
Schachteln  Zigaretten,  nimmt  wohl  zehnmal  den  ReisepaB 
und  den  Kreditbrief  auf  das  Bankhaus  Hudderston  &  Co. 
Ltd.  in  die  Hand.  ,,Morgen  friih  hebe  ich  das  Geld  ab,  acht- 
undsechzig  Pfund  haben  wir  noch  .  .  .  dann  losen  wir  die 
Fahrkarten."  Plotzlich  bricht  die  groCe  Lebhaftigkeit  ab: 
sie  sitzen  auf  den  Stiihlen  und  wissen  nichts  zu  tun.  Der 
Schwung  gleitet  unter  den  Minu ten  hinweg,  sie  sitzen  im  Zim- 
mer  im  endlosen  Dahinkriechen  der  Zeit  und  beschaftigen 
sich  mit  nichts.  Es  wird  sechs  Uhr  .  .  .  Kadar  steht  auf  und 
betrachtet  die  lebhaft  werdende  StraBe.  Ein  leise,  bitter, 
hartnackig  mahlendes  Gefiihl  hat  er  in  der  Brust,  —  diese 
Geschichte  ...  ist  nicht  sehr  gut  gelungen  .  .  .  dieses 
London.  Und  was  nun?  Was  werden  wir . . .  was  wird  Paul 
jetzt  anfangen?  Vorwiirfe  werden  wir  bekommen  alle 
beide  .  .  .  von  wem?  Von  Pauls  Eltern?  werden  die  sich 
iiberhaupt  um  die  Sache  kiimmern?  oder  von  Wirth?  bin 
ich  vor  ihm  nicht  vollkommen  gerechtfertigt?!  Nein,  er 
wird  sagen:  Paul  ist  doch  ein  Kind  .  .  .  konntest  du  nicht 
besser  auf  ihn  aufpassen?!  —  Und  vor  Rosette  hintreten, 
Herrgott,  Rosette,  etwas  Schreckliches  ist  passiert,  dein 
Paul  —  kalt  lauft  es  ihm  iiber  den  ganzen  Korper.  Die 
Kameradschaftsehe  ist  der  beste  Hiiter  des  reinen  Lebens 
und  der  ruhigen  Gesundheit,  hatte  Paul  einmal  gesagt,  — 

207 


na,  und  Yomaya,  die  schmale,  kleine,  schwarze  Indierin 
mit  der  hellbraunen  Haut,  die  Studentin,  die  Kamerad- 
schaftsgattin,  mit  ihrem  vergifteten  Blut  und  ihren  un- 
verantwortlichen  Kiissen,  —  ,,ich  kann  ihr  nicht  wider- 
stehen,  laB  mich,  Toni",  sagte  Paul  erst  ganz  kiirzlich,  ,,ihrer 
Fremdartigkeit  kann  ich  nicht  widerstehen,  sie  ist  etwas  so 
ganz  anderes  .  .  .  ich  kann  nicht  widerstehen",  sagte  er  wie 
ein  alternder  Liistling,  der  nicht  mehr  viel  Zeit  hat,  —  ,,sie 
ist  nicht  schoner  als  Rosette,  auch  nicht  groBer,  ihre  Figur 
ist  genau  so  wie  Rosettes,  dennoch  ist  sie  anders",  — 
natiirlich  ist  sie  anders  mit  ihren  gesenkten,  unschuldigen, 
groCen,  schwarzen  Augen,  mit  ihrer  leisen,  seltsam  tiefen 
Stimme,  die  immer  zu  singen  scheint,  und  mit  den  blassen 
kleinen  Mordern  in  ihrem  Blut,  —  vielleicht  weiB  sie  das 
selbst  nicht,  vielleicht  hat  sie  sie  mit  auf  die  Welt  gebracht 
als  Fluch  einer  alten  bosen  Umarmung. 

Paul  liegt  schon  im  Bett,  als  es  anfangt  zu  dunkeln;  er 
iBt  nicht  zu  Abend.  Fur  Kadar  bringt  das  Zimmermadchen 
Tee  und  kalten  Aufschnitt;  er  wiirgt  ein  paar  Bissen  hin- 
unter,  dann  geht  er  zu  Bett.  Der  Reiseplan,  zwanzigmal 
wiederholt,  ist  fertig:  um  acht  Uhr  stehen  sie  auf,  fahren 
gegen  zehn  mit  dem  Wagen  zur  Bank  und  von  da  direkt 
an  die  Bahn.  Er  knipst  das  Licht  aus:  auf  der  Decke 
kriechen  die  Lichter  vom  unten  voruberfahrenden  Autobus ; 
im  Zimmer  ist  es  still.  Nach  Mitternacht  erweckt  ihn  aus 
blodem,  taubem,  traumlosem  Schlaf  ein  plotzlicher  Schreck: 
es  geht  jemand  in  seinem  Zimmer.  Er  setzt  sich  auf:  Paul 
steht  vor  dem  Tisch,  ein  kaltes  Kotelett  in  der  Hand,  das 
noch  vom  Abendessen  auf  der  Schiissel  lag.  ,,Ich  kann  nicht 
schlafen",  fliistert  er,  ,,und  hab  schrecklichen  Hunger  be- 
kommen."  Fast  muB  er . . .  ein  wenig  lachen:  Paul  barfuB,  in 
seinem  blauen  Pyjama,  in  der  Hand  das  Stuck  Fleisch. 
,,Wahrscheinlich  konntest  du  vor  Hunger  nicht  einschlafen", 
sagt  er  zu  ihm,  ,,ifi  nur,  dann  wirds  schon  gehen. "  Er  sinkt  auf 
das  Kissen  zuriick,  —  iB,  mein  Junge,  iB  das  kalte  Kotelett, 
denkt  er,  und  die  Augen  fallen  ihm  wieder  zu,  er  schlaft. 

208 


Dieser  Traum  fiel  ihm  erst  nach  vielen  Monaten  wieder 
cin,  —  ein  Traum,  den  man  nic  mchr  vergesscn  kann:  es 
1st  grauenhaft,  unertr&glich  hell  auf  einer  breiten,  weiBen 
StraBe,  und  auf  der  einen  Seite  der  StraBc  steht  ein  seltsamer, 
ganz  glatt  und  rund  gestutzter  belaubter  Baum,  —  ein 
brauner  Baum.  Unter  diesem  Baum  liegt  er  und  kann  kaum 
nach  der  StraBe  blicken,  der  weiBe  Glanz  blendet  ihm  die 
Augen,  er  blinzelt  und  fiihlt  ein  qualendes  Ziehen  in  der 
Stirn  um  die  Augen  herum.  Aber  doch,  er  muB  hinsehen: 
auf  der  StraBe  kommt  Paul  .zwischen  Vater  und  Mutter, 
das  heiBt,  er  kommt  nicht,  sondern  es  sieht  eher  aus,  als 
wolle  er  sich  von  den  andern  beiden  losmachen,  die  ihn, 
der  eine  rechts,  die  andere  links  an  der  Hand  halten  und  ihn 
nach  vorne  ziehen.  Paul  versucht,  sich  zu  widersetzen, 
seinem  Gesicht  sieht  man  die  furchtbare  Anstrengung  an. 
Die  ganze  Erscheinung  spielt  sich  in  erschreckender  Laut- 
losigkeit  ab.  Die  Eltern  sind  starker,  und  die  Gruppe 
kommt  immer  naher  und  naher  zu  ihm  an  den  Baum,  und 
wie  die  drei  sich  so  nahern,  wachsen  ihre  Gestalten,  sie  sind 
schon  viel  groBer  als  gewohnlicbe  Menschen.  Jetzt  ver- 
andert  sich  plotzlich  die  ganze  Landschaft,  lost  sich  auf 
und  zerflieBt,  und  da  erkennt  er  mit  todlicher  GewiBheit 
die  noch  immer  undeutlich  schwankende  neue  Gegend:  dort 
ist  die  Scheune,  in  der  er  so  entsetzliche  Wintertage  an  der 
rumanischen  Demarkationslinie  verbracht  hat,  dort  vor  ihr 
zieht  sich  die  schmutzige  Chaussee  hin,  und  dort  ist  ... 
Paul  ist  wieder  da,  in  stummem  Kampf  auf  Leben  und  Tod 
mit  den  Eltern,  —  aber  um  Pauls  Ohren  locken  sich  Peies, 
und  am  Kinn  hat  er  einen  kleinen,  spitzen  Judenbart;  seine 
Mutter  und  sein  Vater  sind  in  rumanischer  Uniform,  — 
wirklich  komisch,  daB  die  Frau  sich  Soldatenkleider  an- 
zieht!  —  im  Sturmhelm  und  das  Gewehr  mit  dem  Bajonett 
auf  der  Schulter,  zerren  sie  den  Jungen  an  den  Handen  auf 
ihn  zu,  —  Paul  tritt  und  strampelt,  —  stumm,  immer 
stumml  —  und  windet  sich  zwischen  ihnen  nach  hinten,  mit 
gestemmten  FuBen,  die  bei  jedem  Ruck  eine  zusammcn- 

14  KOrmendi,  Budapest  209 


sinkende  Bewegung  macben,  mit  angespanntco  Armen  und 
gekriimmtcm  Riickcn;  und  da  lasscn  Vater  und  Mutter 
auf  einmal  seine  Hande  los,  und  Paul  beginnt,  unverstand- 
lich  und  grauenhaft,  riickwarts  zu  rollen,  riickwarts  und 
abw£rts,  —  unfaBbar,  wohin?  —  noch  immer  fallt  er,  und 
dennoch  1st  er  noch  immer  da,  er  fliegt  durch  die  Luft  mit 
ausgespreizten  Armen  und  Beinen,  mit  einer  riicklings 
liegenden  Bewegung  und  .  . .  regies,  —  wenn  ich  jetzt  nach 
ihm  greife,  erreiche  ich  ihn  noch,  wirklich,  erreiche  ich 
ihn  noch?  Er  hascht  hin,  und  nun  beginnt  er  auch  2u 
fallen,  aber  den  andern  erreicht  er  nicht,  er  bleibt  immer 
in  demselben  Abstand  von  Paul  entfernt,  —  sie  sausen,  — 
und  irgendwo  ganz  unten  ist  ein  riesigcr  braunglitzernder 
Stein  ...  sie  sausen  weiter  —  und  da  stiirzt  Paul  riicklings 
auf  den  Stein,  und  sein  Kopf  prallt  mit  einem  entsetzlichen 
Bums  an  ... 

Und  wie  er  jetzt  in  diesem  Moment  aufwacht  und  der 
Traum  nicht  mehr  da  ist,  hat  er  sofort  ein  mit  Millionen 
Nadeln  stechendes  Wachsein  im  Kopf,  —  nach  dem  An- 
prall  hort  er  noch  ein  leises,  scheuerndes  Gerausch,  als 
wiirde  ausgebreitetes  Leinen  geglattet  .  .  .  und  dann  er- 
starren  seine  Glieder  in  eisiger  Kalte,  und  alle  schlimme, 
unverstandliche,  unbekannte  Angst  des  menschlichen 
Lebens  bebt  in  seiner  Stimme,  als  er  in  der  Morgen- 
dammerung  durch  die  ofiene  Tiir  ins  andere  Zimmer  ruft: 
,,Paul!  —  Paul!  schlafst  du  noch?  Paul  .  .  ."  und  dann  ein 
Sprung  an  die  Wand;  gelb  gahnt  das  elektrische  Licht  im 
Zimmer;  in  zwei  Satzen  ist  er  nebenan  vor  Pauls  Bett; 
Paul,  —  Paul  ist  nicht  im  Bett  .  .  .  oder  .  .  .  er  reiCt  die 
leichte  braune  Decke  vom  Bett;  Paul  liegt,  das  rechte  Bein 
bis  an  den  Bauch  gezogen,  auf  dem  Riicken,  im  blauen 
Pyjama  und  und  und  und  und  .  .  .  sein  rechter  Arm  und 
seine  Korperhalfte  von  der  Brust  an  liegt  unter  dem  groBcn 
weiBen  Kissen,  das  sein  linker  Arm  umklammert  und  an 
sich  preBt .  . .  und  da  weiB  er  bestimmt  und  zweifellos,  daB 
etwas  passiert  ist,  —  und  wagt  nicht,  das  Kissen  vom  Kopf 


wegzuziehen,  in  eincm  Schwindel  von  Obelkeit  steht  er 
einen  Augenblick  am  Bett,  und  dann  stiirzt  sich  sein  Finger 
auf  den  Klingelknopf 

Im  Handumdrehen  ist  die  ganze  Etage  auf  den  Beinen, 
und  als  im  flags  umgehangten  braunen  Schlafrock  mit  der 
Quaste  Doktor  Ryborg,  der  alte,  in  der  Pension  wohnende 
schwedische  Arzt,  in  der  Tiire  erscheint,  da  hort  man  von 
unten  bereits  in  der  morgendlichen  Stille  das  Keuchen  eines 
haltenden  Autos  und  das  Auf-  und  Zugehen  des  schweren 
Haustores.  Die  im  Zimmer  herumstehenden  entsetzten 
Gaffer  in  ihren  Schlafgewandern  und  Pyjamas,  diese  angst- 
vollen,  weiBen  Gesichter  unter  dem  zerzausten  Haar  und 
mit  den  Entsetzen  ahnenden,  aufgerissenen  Augen  machen 
dem  Arzt  Platz,  und  Doktor  Ryborg  legt  mit  behutsamer 
Hand  den  das  Kissen  pressenden  blauen  Arm  neben  den 
Rumpf  und  hebt  das  Kissen  auf.  Pauls  gelbes  Gesicht,  — 
mit  verzerrt  aufgerissenem  Mund,  aus  dem  sich  eine  dicke 
blutige  Linie  zum  Kinn  hinzieht,  —  liegt  in  einer  roten 
Lache,  und  auf  das  untere  Kissen  neben  semen  Hals  ist  ein 
ganz  kleiner,  blaulich  schillernder  Revolver  geglitten. 

In  allem,  was  dann  folgte,  war  etwas  Traumhaftes,  etwas 
Wirres  und  im  Grunde  genommen  Fremdes  und  UnfaB- 
bares:  Manner  in  blauen  Rocken  und  Miitzen,  dann  ein 
Polizist  und  noch  einer  und  ein  Mann  in  Zivil  mit  grofiem 
Schnurrbart,  der  laut  redet,  und  sic  alle  bestiirmen  ihn  mit 
Fragen,  die  er  kaum  versteht,  und  wenn  er  sie  auch  ver- 
stunde  .  .  ,  er  hat  in  seiner  ausgctrockneten  Kehle  keinen 
Laut,  und  Mrs.  Colham,  die  in  einem  groBgebliimten  rosa 
Morgenrock  in  der  Ecke  zittert  und  ununterbrochen 
schluchzt:  ,,Ah!  this  scandal  I  Ah!  this  scandal!"  —  und 
dann  wadist  Doktor  Ryborgs  Gcstalt  und  wird  iiber- 
menschlich  groB,  wie  er  sich  ihm  zubeugt  und  in  deutscher 
Sprache  Fragen  an  ihn  richtct .  .  .  ob  er  wisse  oder  gewuBt 
h&tte  oder  ob  er  eine  Ahnung  oder  eine  Meinung  oder  eine 
Vermutung  habe . . .  ,,nein,  nein,  nein,  ich  weiB  nichts,  nichts, 
gar  nichts,  ich  weiB  nichts,  nein,  nein,  nein  .  .  ."  und  da 


durchzuckt  ihn  dcr  Gedanke:  man  miifite  diesem  Mann 
doch  sagen,  daB  Paul  gestern  erfahren  hat,  daB  —  Abet 
nun  stand  schon  der  Hcrr  mit  dem  groBen  Schnurrbart  vor 
ihm,  in  seiner  Hand  rascheln  zwei  Bogen  Papier,  die  er  auf 
dem  Tisch  neben  dem  Tablett  mit  den  Resten  vom  Abend- 
essen  gefunden  hat,  diese  Blatter  halt  er  ihm  vors  Gesicht, 
und  Kaddr  erkennt  die  blauliniierten  Seiten  aus  Pauls 
groBem  Notizbuch  und  seine  kritzelige  Handschrift, 
ofFenbar  beim  schwachen  Licht,  das  von  der  StraBe  herein- 
drang,  auf  die  Blatter  geworfen.  Auf  dem  einen  Bogen 
stehen  englische  Worte: 

An  die  Polizei? 

Ich  habe  erne  wtheilbare  Krankheit  bekpmmen  —  dorian  nehme 
ich  mir  das  Leben  —  in  dnem  Waffengesch&ft  kqufte  ich  am  Vormittag  den  Re- 
volver —  wain  mdglich  nicht  tezieren  —  mBglichst  im  Londoner  /Crematorium  — 
man  rcstlichet  Geld  bitte  mdnem  Framd  autzuhdndigen  —  warn  irgend  mSglich, 
bitte  die  Sache  alt  Strqflenunfall  hinzustellen  und . . . 

nun  eine  durchstrichcne,  aber  noch  leserliche  Zeile: 

ich  bitte  amdrucklich  darum,  mdnen  Eltern  nur  to  viel  mitzuteilcn,  dafi  der 
Selbttm 

Und  auf  dem  andern  Blatt  drei  Zeilen  in  deutscher 
Sprache: 

Tori! 

Werai  Da  in  Wien  mit  ihnen  sprichst,  to  sag  nur:  ich  liefle  ihnen  sagen, 
et  td  ihretwegen  getchehen.  Wennt  gehtt  erzdhl  Rotette  etwas  von  einem  Autounfall. 

Dann  wird  die  Leiche  weggetragen.  Der  Polizeibeamte 
in  Zivil  macht  eine  Aufzeichnung  von  Pauls  Sachen,  durch- 
wiihlt  a  lies  und  nimmt  alles  in  die  Hand  und  fragt  bei 
jedem  Stuck:  ,,wem  gehdrt  das?  Ihnen  oder  dem  Selbst- 
morder?"  Auch  den  kleinen  Revolver  und  die  beiden  Briefe 
nimmt  er  an  sich.  Kadir  zittert,  spiirt  Brechreiz  und 
schluckt  fast  erstickend  die  heiBe  Bromlosung  hinunter,  die 
Doktor  Ryborg  ihm  in  einer  Tasse  reicht.  Der  Sinn  von 
Pauls  letztem  Willen  ist,  daB . . .  das  ist  der  Sinn  . . .  Rosette 
soil  nicht  erfahren  .  .  .  Kaum  ist  er  eine  Minute  allein  im 


212 


Zimmcr,  da  klopft  Mrs.  Colham*  In  der  zitternden  Hand 
halt  sic  einige  Schillingc,  ,,ich  mochtc  Sic  sehr  bitten,  Sie 
sind  cin  Gentleman,  ich  wollte  Sie  bitten  .  .  .  noch  heute 
aus  dem  Zimmer  auszuziehen  .  , .  moglichst  sofort,  darum 
mochte  ich  Sie  bitten  .  .  *  Sie  sind  ein  Gentleman,  Sie 
werden  verstehen  .  .  .  der  Ruf  meines  Hauscs  .  .  ."  GewiB, 
er  kann  bier  keine  Sekunde  linger  bleibcn,  das  weiB  er  sehr 
gut.  Aber  selbstverstandlich  .  .  .  k6nnte  man  cs  dcnn  iiber- 
haupt  hier  ausbaltcn?  allein  ...  in  diesem  Dunkel  —  das 
Zimmer,  die  Menschen,  alle  Gegenstande  und  Ereignisse 
sind  dunkel,  und  das  Sonnenlicht  dort  im  Fensterrahmen, 
selbst  das  ist  dunkel . . .  braunlich.  Mir  scheint,  ich  bin  nicht 
ganz  bei  Sinnen,  —  dabei  ist  es  jetzt  sehr  wichtig,  daB  .  .  . 
was  ist  wichtig?  daB  Rosette  nicht  erfahrt,  warum  —  Mein 
Herr,  ich  habe  am  Sterbebett  Ihres  Sohnes  gestanden, 
oder  .  .  .  als  er  mit  einem  jungen  Madchen  von  hellbrauner 

Hautfarbe  namens  Yo  . .  .  namens  Yomaya  .  .  .  namlich 

namlich,  es  handelt  sich  darum,  daB  ich  Ihnen  sagen  muB, 
Sie  und  Ihre  Frau  Gemahlin  . . .  Meinen  Sie,  lieber  . . .  darf 
ich  noch  einmal  um  Ihren  Namen  bitten?  —  Kadir  ...  — 
Herr  Kadar?  Meine  ich?l  Ihr  Sohn  laBt  Ihnen  sagen,  Paul 
Pauli-HeBlein,  nicht  wahr,  Ihr  Sohn  .  .  .  Ah,  mein  Sohn? 
so?  gut,  danke,  —  haben  Sie  bitte  die  Giitc,  Franz  zu  sagen, 
er  mochte  mir  eine  Flasche  eiskaltes  Selterw  —  Da  rcnnt  er 
ans  Waschbecken  und  sturzt  drei  Glas  Wasser  hinunter,  — 
komischer  Geschmack  .  .  .  naturlich,  das  ist  ja  das  Zahne- 
putzglas  . . .  Pauls  Glas?!  —  Die  Angst  cines  aufgescheuch- 
ten  Tieres  zittert  ihm  in  den  Gliedern,  und  plotzlich  gibt 
der  Magen  seinen  ganzen  Inhalt  von  sich  —  die  Sache  war 
so,  Rosette,  wir  warteten  auf  den  Autobus,  und  dein  Paul 
rutschte  zufallig  aus  und  glitt  vom  Rinnstein  *  .  .  begreife 
nur,  die  groBen  Autobusse  in  London  sausen,  wo  das 
Sausen  moglich  ist,  in  den  wenigcr  verkehrsreichcn 
StraBen,  und  wir  waren  gerade  unterwegs  nach  dem  Maida 
Vale,  um  eine  Sammlung  zu  bcsichtigcn,  eine  .  .  .  eine 
indischc  Sammlung  . .  * 


Es  klopft :  Mrs.  Colham,  noch  immcr  in  ihrem  gebliimten 
Morgcnrock,  gcfolgt  von  eincm  Polizisten.  Vorladung  fur 
elf  Uhr  zum  Bezirksaufsichtsamt  in  dcr  Bow-Street.  Elf .  „  . 
um  elf  Uhr  fahrt  der  Zug  von  der  Victoria  Station  ab. 
Schwankend  geht  er  unter  dem  dunkeln  Himmel  iiber  die 
dunklc  StraBc  durch  diesen  zerfaserten,  schlccht  be- 
leuchteten  Film.  Was  wollen  sic  von  mir?  hatte  ich  denn 
wissen  miissen,  daB  Paul  Selbstmord  begehen  wollte?! 
Dann  steht  er  vor  einem  Polizeibcamten,  auf  dem  Tisch 
liegen  der  Revolver,  die  beiden  Bogen  Papier  und  Pauls 
PaB.  Er  wird  nach  seinem  Namen  gefragt,  muB  seinen  PaB 
hergeben;  das  kann  er  noch  verstehen,  dann  ist  es  mit 
seiner  Wissenschaft  zu  Ende,  man  muB  einen  Dolmetsch 
suchen.  Endlich  findet  sich  jcmand,  der  Deutsch  kann. 
,,Warum  sind  Sic  beide  nach  London  gekommen?  was  haben 
Sic  hicr  gemacht?  mit  wem  haben  Sic  verkehrt?  was  konnte 
der  Grund  zum  Selbstmord  sein?  besteht  die  Moglichkeit, 
daB  es  sich  tatsachlich  um  cine  unheilbare  Krankheit 
handelte  und  um  wclche?  wer  war  der  Arzt,  der  sic  kon- 
statiert  hat?  WuBten  Sic  davon,  daB  Ihr  Freund  sich  einen 
Revolver  gckauft  hat?  wer  sind  seine  El  tern  und  in  was 
fur  Vcrhaltnissen  lebcn  sic?  wer  ist  diese  Rosette?"  — 
Fragc  iiber  Fragc  stiirzt  auf  ihn  ein,  und  cr  bemiiht  sich, 
kurz  und  genau  zu  antworten;  dann  faBt  ihn  der  Herr  mit 
dem  groBen  Schnurrbart  —  auch  hier  ist  der  dabei  — 
kraftig  am  Arm,  driickt  ihn  auf  einen  Stuhl  nieder  und 
fragt:  ,,ist  Ihncn  nicht  gut?  Mochten  Sic  cin  Glas  Was- 
ser  — ?"  Das  Glas  mit  dem  Mundwassergcschmack  fallt 
ihm  cin,  und  mit  einer  angstlichcn,  krampfhaften  Gestc 
winkt  cr  ncin.  ,,Ist  das  ein  Wundcr?"  sagt  der  mit  dem 
Schnurrbart  zum  Polizcibeamtcn,  ,,scin  Freund  schicBt 
sich  zwci  Meter  von  ihm  den  Kopf  in  Fctzen,  wissen  Sic, 
Graham,  dicse  Funftcl-inch  klcinen  belgischcn  Revolver . . ." 
Und  nun  kommt  noch  cine  Frage,  cine  furchterliche  Frage: 
ob  er  die  Bcnachrichtigung  der  Familic  und  die  Erlcdi- 
gung  der  Krematoriumsangclcgcnhcit  ubernehmen  wollc, 

214 


bezichungsweise  konnc?  Entsetzt  wehrt  cr  sich  dagegen, 
ncin,  nein,  ncin!  ,,Gut,  —  dann  warten  Sie  bitte  in  Ihrer 
Wohnung  ab,  bis  die  Polizei  sich  mit  der  osterreichischen 
Gesandtschaft  in  Verbindung  setzt."  Er  sagt  glcich,  daB 
er  aus  der  Pension  ausziehen  miisse,  und  auf  die  Frage, 
wohin  cr  iibersiedle,  nennt  cr  den  Namen  eincs  Hotels,  der 
ihm  im  Gedachtnis  gcblicbcn  war,  Grosvcnor-Hotel  neben 
der  Victoria  Station,  —  nach  ihrer  Ankunft  batten  sie  die 
ersten  paar  Tage  hicr  gcwohnt.  —  Dann  wurde  cr  cntlassen. 

Als  cr  in  der  Pension  ankommt,  steht  scin  Koffer  in  der 
Halle.  Mrs.  Colbam  bedaure  sehr,  sie  sei  nicht  imstande,  das 
Bett  zu  verlassen,  und  schicke  daher  auf  diesem  Wcge ...  — 
Sams  tag  friih  hilt  ein  Polizist  mit  Motorrad  vor  dem 
Grosvenor-Hotel,  fragt  nach  Kddir  und  bringt  ihm  cine 
Vorladung  fur  elf  Uhr.  Bci  dem  Polizeibeamten  sind  auch 
der  mit  dem  Schnurrbart  und  der  Dolmetsch  vom  vorigen 
Mai.  Zunachst  sei  die  Sektion  in  Anbetracht  dessen,  daB 
sich  nicht  feststcllen  lieB,  wcr  der  behandelnde  Arzt  war, 
nicht  zu  vermeiden  gewesen,  und  sie  habe  ergeben,  daB  der 
Selbstmdrder  tatsachlich  krank  war,  die  Krankhcit  sei  als 
Grund  des  Selbstmords  anzunehmcn.  Ferner  habe  die 
Familie  iiber  die  Gesandtschaft  telegrafisch  aus  Gastein  zur 
Einaschcrung  der  Leiche  ihre  Zustimmung  gegcben, 
bezuglich  deren  die  Gesandtschaft  bereits  die  entsprechen- 
dcn  Verfiigungen  getroffen  habe.  AuBerdem  habe  die 
Familie  bestimmt,  daB  das  gegen  den  telegrafisch  frei- 
gegebenen  Kreditbrief  fiir  den  Verstorbenen  abgehobene 
Geld  nach  Abzug  der  Einascherungskosten  und  sonstiger 
kleiner  Ausgaben  Antal  K£ddr  ausgehSndigt  werde.  Die 
Spescn  bctragen  soundsoviel,  der  Preis  der  Verbrcnnung 
soundsoviel,  bleibe  demnach  cin  Rest  von  zwei  Pfund  und 
sieben  Schilling,  —  ,,wollen  Sie  bitte  diese  Quittung 
unterschreiben." 

Wie  warcn  die  beiden  Tage  bis  Samstag  vcrgangen?  Er 
hatte  das  Gefiihl,  unter  eincr  schwarzen  Hiillc  in  dem 
wimmelnden,  lirmenden,  bunten  Hotel  zu  leben,  und  diese 


Hiillc  schicn  ihm  Augen  und  Ohren  von  der  Umwelt  ab- 
zuschlieBen.  Er  saB  in  seinem  Zimmer  und  versuchte  zShne- 
knirschend  an  nichts  zu  dcnkcn,  Speise  und  Trank  riihrte 
er  kaum  an;  und  die  Tatsachc,  daB  er  sich  von  allcm 
isolicrtc,  loste  das  Graucn  dcr  Katastrophc  in  cine  dumpfe 
Ergebung,  cine  dumpfe  Ruhe  auf.  Ich  darf  mich  nicht  gehen 
kssen  —  schliefilich  .  .  .  lastet  ja  auf  mir  keine  Vcrant- 
wortung  . . .  Verantwortung?!  und  Paul,  mein  Freund,  der 
dahingegangen  ist,  — nicht  um  die  Verantwortung  handelt 
es  sich,  sondern  um  meinen  Freund  —  Und  dann  wieder: 
ich  darf  nicht  denkcn.  Ich  wcrde  nach  Hause  fahrcn,  nach 
Budapest,  —  ich  darf  nicht  denken,  —  viclc  Mcnschen 
sterben,  ich  lebc,  —  Dini  Turko  und  der  kleine  WeiBbcrger 
mit  den  abstehenden  Ohren  sind  auch  an  meincr  Seitc  im 
Schiitzengraben  gestorben,  und  der  Feledy  im  Eisenbahn- 
kupee.  Jetzt  geht  Kidar  iibcr  die  StraBc  vom  Bezirksvorstand 
zum  Hotel.  Geht  durch  die  brcnncnde  Mittagshitze  und 
preBt  in  der  Taschc  die  rwei  Geldscheine,  die  er  auf  der 
Polizei  bekommen  hat,  in  der  Hand.  Er  geht  in  sein 
Zimmer,  setzt  sich  an  den  Tisch  und  packt  das  Geld  aus  der 
Tasche.  Zwei  Pfund,  sieben  Schilling  und  etwas  Kleingeld: 
Pauls  NachlaB.  In  der  Brieftasche  hat  cr  noch  rwei  Ein- 
pfundscheinc,  zwei  Schilling  und  einige  Pennies.  Das 
raacht  zusammen  .  .  .  vier  Pfund,  neun  Schilling  und  .  .  . 
Das  Geld  liegt  auf  dem  Tisch,  —  er  geht  an  den  Schrank, 
raumt  seine  Anziigc  aus,  nimmt  die  Handtasche  vom 
Koffcrstander,  stopft  die  Anziige  mit  abwesenden,  starren 
Bcwegungen  in  den  Koffer,  sucht  die  im  Zimmer  herum- 
liegenden  Kleinigkeiten  zusammen,  die  gehen  in  die  kleine 
Handtasche,  —  dann  klingelt  er.  ,,Ich  bitte  um  die  Rech- 
nung  . . ."  aber  er  kann  es  im  Zimmer  nicht  mehr  aushalten. 
Er  setzt  sich  in  dcr  gcrfcuschvollen  Halle  der  Reception 
gegcniiber  in  cinen  Scsscl,  scin  Gepack  steht  ncbcn  ihm. 
Bin  Boy  bringt  die  Rcchnung;  die  Buchstaben  und  Zahlcn 
tanzen  ihm  vor  den  Augen,  cr  tritt  ans  Kassenfenstcr  des 
Office,  legt  die  Rcchnung  hin  und  packt  s&mtliches  Geld 

216 


aus,  das  er  in  der  Taschc  hat,  —  murmelt  etwas,  —  der 
Kassierer  starrt  ihn  verwundert  an,  nimmt  cinen  Teil  des 
Geldes  vom  Pult  und  schiebt  ihm  den  Rest  wieder  hin,  — 
das  sind  —  ,,Wieviel  ist  das?"  —  ,,Drei  Pfund,  fiinf 
Schilling",  drei  Pfund,  fiinf  Schilling  .  .  .  ,,Soll  das  Gepack 
an  die  Bahn  geschafft  werden?"  —  ,,Ncin,  nur  hier  an  die 
Autobus-Haltestelle." 

Da  steht  cr  im  strahlenden  Sonnenschein  neben  seinem 
Koflcr  an  der  Autobus-Haltestelle.  Ein  Autobus  nach  dem 
andern  rasselt  voriiber,  er  weiB  nicht,  in  wclchen  er  ein- 
stcigen  soil.  Er  steht  und  steht  und  wciB  nicht,  wohin,  weiB 
nicht,  was  nun  folgen  wird.  Er  steht  und  steht;  und  seine 
Hand  betastet  das  Geld  in  der  Tasche,  —  drei  Pfund,  fiinf 
Schilling,  es  ware  besser  gewesen  .  .  .  ein  Herr  in  grauem 
Anzug  klopft  seine  Pfeife  an  der  Haltestcllensaule  aus,  ein 
Rest  Tabak,  Asche  und  etwas  Glut  fallen  auf  die  Erde  und 
ein  wenig  auch  auf  seine  Schuhe,  —  ,,sorry",  sagt  der  Herr 
und  hebt  den  Zeigefinger  an  den  Hut,  dann  dreht  er  sich 
um,  —  es  ware  besser  gcwcscn  •  .  .  wenn  sie  mir  auf  der 
Polizei  statt  dieses  Geldes  den  kleinen  Revolver  gegeben 
hatten,  es  waren  gcwiB  noch  fiinf  Patronen  drin. 


II 

REDBURN  Street  heiBt  die  StraBe,  aber  wcnn  er  zu 
Hause  ist,  sieht  er  sie  kaum,  —  sein  Fenster  starrt  auf  eine 
merkwiirdige  Landschaft:  fiinf  Meter  vom  Fensterkreuz 
ist  eine  furchtbar  hohc,  dicke  Brandmauer,  die  weiB  ge- 
tiincht  war  und  nun  gelblich-grau  verblichen  ist,  dennoch 
wirft  sie  gegen  Mittag,  wenn  die  Sonnc  schrag  auf  sie 
schcint,  wiitende  Strahlen  in  scin  Zimmer.  Irgendwo  habe 
ich  schon  einmal  soldi  unertraglichcs  Glinzen  gesehen  .  .  . 
Und  dutch  die  andere  H&lfte  des  Fensters  sieht  man  auf 
einen  kleinen  bcpfknzten  Hof,  der  unten  an  der  Brand- 
bunt schillcrt;  frischgriiner  Rasen,  ein  paar  groBe 


Baume,  Blumenbeete  und  zwischen  den  Baumen  auf  aus- 
gespannten  Leincn  trockncndc  und  liiftcnde  Waschestftcke 
in  £rmlicher  Unordnung. 

Den  zweiten  Tag  sitzt  cr  in  dieser  Stubc,  an  diescm 
Fcnstcr.  Als  er  vorgestern  cndlich  doch  auf  einen  Autobus 
kletterte,  hatte  cr  keinc  Ahnung,  wohin  dcr  ihn  bringen 
wiirde.  Und  als  cr  dann  aufs  Gcratcwohl  irgendwo  absticg 
und  der  Scbaffncr  ihm  den  KofFer  absetzen  half,  hatte  er 
keinen  Begriff,  wo  er  war.  An  eincm  groBen  Platz  blieb  der 
Wagcn  stehcn;  in  der  Mitte  des  Platzes  cine  Kirche,  rings- 
hcrum  hohe,  schmale  Hauser  mit  abbrockelnden  Mauern 
und  weithin  von  Schmutz  strotzenden  Fcnstcrn.  Strahlen- 
formig  miinden  die  StraBen  auf  den  Platz ;  blindlings  ging 
er  auf  cine  dieser  StraBen  los.  Hier  stand  ein  einziges  nie- 
driges  Haus,  weit  iiber  die  Fassade  ragte  cine  altmodische, 
abgcnutztc  Lichtreklame  vor:  Chelsea  Picture  Palace.  Er 
ging  weiter  und  betrachtete  die  Buchstaben.  Vor  dem  Haus 
machte  er  halt,  und  da  bemerkte  er,  daB  am  Eingang  des 
danebenstehenden  Hauses  cine  kleine  Tafel  heraushing, 
darauf  war  zu  lesen:  Hillman's  Board  Residence.  Fiinf 
Minuten  spater  fuhrt  ihn  ein  ubel  aussehender,  schwarz- 
bebriUter  Mann  ohne  Kragen  auf  den  zweiten  Stock  und 
offnet  die  Tur  cines  Hofzimmers.  Elektrisches  Licht  gibt 
es  und  auf  dem  Flur  auch  Wasscrleitung ;  das  Zitnmer  kostet 
zwci  Schilling  pro  Tag,  fur  cine  Woche  ist  im  voraus  zu 
zahlcn.  So  weit  wire  die  Sache  in  Ordnung.  Abends  klingelt 
er,  bestellt  etwas  zu  essen:  derselbe  Mann  ohne  Kragen 
bringt  auf  einem  Holztablett  einc  Tasse  Tee,  zwci  Scheiben 
kaltcs  Fleisch  und  cine  verschrumpfte  Banane;  auf  dem 
Tablett  licgt  ein  Kasscnblock  iibcr  einen  Schilling.  Gut. 
Im  Zimmer  steht  ein  vcrschlicBbarcr  Schrank,  ein  Bett,  — 
mit  Erstaunen  stellt  er  fcst,  daB  die  Bettwasche  tadellos 
saubcr  ist,  —  ein  Waschtisch  mit  einer  emaillierten  Wasch- 
schussel,  ein  Tisch  mit  drei  Stiihlcn.  Ein  Schliissel  steckt 
nicht  in  der  Tiir,  auch  ein  Ricgcl  ist  nicht  da,  anschcincnd 
habcn  die  Lcute  hicr  nicht  viel,  was  gestohlen  warden 

218 


konnte  oder  ...  die  Besitzer  mochten  es  vermeiden, 
viellcicht  die  Tiiren  aufbrcchcn  zu  miissen.  Eincrlei.  Er 
packt  seinen  Koffer  gar  nicht  aus,  —  cigentlich  hatte  ich 
das  Zimmer  nicht  gleich  fur  eine  Woche  bezahlen  sollen,  — 
stellt  sein  ganzes  Gepack  in  den  Schrank  und  zieht  den 
Schliisscl  ab.  Wenn  sic  mir  den  aufbrechen,  nun,  dann  kann 
ich  mir  auch  nicht  helfen.  Zunachst  aber  bleibt  er  zu  Hause, 
sitzt  am  Fenster,  betrachtet  die  Brandmauer  und  den 
kleinen  Hof  oder  Garten.  Jetzt  miiBte  ich  zu  allererst  .  .  , 
gewisse  Dinge  ordnen  —  was  fur  Dinge?  Paul,  —  natiirlich, 
Paul.  Paul . . .  ist  nicht  mehr,  und  wenn  ich  . . .  nicht  dariiber 
ersticken  will,  dann  darf  er  iiberhaupt  nicht  gewesen  sein. 
Ich  werde  nach  Hause  fahren,  nach  Budapest.  Die  ganze 
Angelegenheit  ist  zu  Ende,  mit  Wien  ist  es  natiirlich  auch 
aus  .  .  .  warum?  existiert  Wien  nicht  mehr?  und  existicrt 
die  Hochschule  nicht  mehr  .  .  .  und  Tilly  in  Wien?  Und 
Rosette?  —  An  Rosette  miiBte  ich  schreiben:  Liebe  Rosette, 
ich  erfiille  einc  furchtbare  Pflicht,  indem  ich  die  Feder  in 
die  Hand  nehme,  gewiB  hast  Du  schon  durch  HeCleins 
erfahren  —  gewiB,  gewiB,  wenn  diese  Zeilen  Dich  er- 
reichen  ...  die  Familie  hat  ja  aus  Gastein  telegrafisch  ihre 
Zustimmung  gegeben  —  also  .  ,  .  also  das  geht  nicht,  — 
und  da  weiB  er  mit  Todesbestimmtheit,  daB  er  nicht  an 
Rosette  schreiben  wird.  Und  wenn  ich  daran  dcnke,  — 
jetzt  hort  er  eine  Stimme,  Rosettes  Stimme,  —  daB  es 
mir  doch  einmal  schief  gehen  wird  im  Leben,  werde  ich  das 
nicht  besser  und  leichter  crtragen,  werde  ich  nicht  mit  mehr 
Mut  und  Ausdauer  versuchen,  es  wieder  zum  Besseren  zu 

lenken,  wenn  ich  daran  denke,  daB  meine  Jugend 

ncin,  ich  werde  nicht  an  Rosette  schreiben,  und  ich  werde 
sic  auch  nic  mehr  sehen,  —  aber  das  ist  doch  nicht  sicher, 
das  l&Bt  sich  nicht  einfach  so  beschlieBen,  wenn  ich  nach 
Wien  .  .  .  oder  nach  Budapest,  oder  wo  immer  hin  —  nur 
weg  aus  dieser  furchteriichen  Stadt  mit  der  fremden  Sprache 
und  den  diisteren  Museen  und  den  schrecklichen  Biblio- 
theken  und  den  farbigen  Frauen  und  dem  Krematorium  — 

219 


nach  Hausc?  wohin?  und  wic?  Autobus,  Abcndessen, 
ctwas  Trinkgeld  fur  den  Hausknccht  und  cine  Schachtcl 
Zigarcttcn  und  vierzehn  Schilling  fiir  das  Zimmer,  — 
wohin  mit  knapp  zweieinhalb  Pfund?!  Er  hatte  kcine 
Ahnung,  wicviel  dicse  zweieinhalb  Pfund  eigentlich  waren, 
fiihltc  nur,  daB  cs  sehr,  sehr  wcnig  scin  muBte,  und  hundert- 
fach  fiihltc  cr  die  beangstigend  zahlreichen  Kilometer 
zwischen  London  und  Wien.  Mit  schlotternden  Bcinen  geht 
er  ins  ErdgeschoB  und  macht  sich  mit  Miih  und  Not  deni 
mit  der  schwarzen  Brille  verstandlich:  cr  moge  in  ein 
Reisebiiro  telefonieren  und  sich  crkundigen,  wieviel  die 
Fahrkartc  nach  Wien  kostc.  In  Aufrcgung  versteinert 
lauscht  er  dem  Telefongesprach.  ,,Ycs,  Vienna,  yes",  ruft 
der  Bebrillte  in  den  Apparat,  ,,four  pounds  and  seventeen 
and  six",  wiederholt  er,  ,,yes,  thanks",  bccndet  er  das 
Gesprach.  ,,About  five  pounds",  sagt  er  zu  Kadar.  Etwa 
fiinf  Pfund,  —  und  da  steigt  plotzlich  ein  wiirgender  HaB 
in  ihm  auf,  und  es  wird  ihm  kaum  klar,  daB  dieser  HaB  Paul 
gilt:  da  sieht  cr  das  todesbleichc  Kindergesicht  im  Spiegel, 
die  aufgcrisscncn  Augcn,  —  und  da  fangt  er  an,  Paul 
innerlich  furchtbar  nachzuhculen.  Und  wicder  beginnt  das 
Abschiednehmen.  Als  es  hell  wird,  sitzt  er  noch  immer  am 
Tisch,  und  hundertmal  wohl  hatte  sich  das  Krankenhaus- 
bett  ihm  vor  die  Augen  gcdrangt,  in  dcm  Paul  aufgcrichtet 
sitzt  und  ihn  ansieht;  er  sieht  des  Jungcn  Zimmer  vor  sich 
mit  den  Biichern  und  den  groBen  Sesseln;  und  zahllose 
seltsame,  neuc,  frcmde  Worte  ihrer  zahllosen  GesprSche 
klingen  ihm  im  Ohr;  Wirth  kommt  und  Rosette  und  Frau 
HcBlcin  in  schwarzen  Handschuhcn  bis  an  die  Ellenbogen, 
und  Tilly  kommt  und  die  ganze  Gesellschaft,  erregtcs 
Zittern  spiirt  cr  in  der  Hand  wie  damals,  als  Paul  ihm  das 
vierfache  Honorar  iibcrgab,  und  in  eincm  fort  hort  er  cinen 
entsctzlichen  Refrain:  dieses  Lcben,  das  die  Klarhcit  des 
Sinnes  gibt  und  den  Korpcr  vor  Bcsudclung  bcwahrt,  vor 
dcm  einzigen,  mit  dcm  ich  nicht  ferrig  wcrden  konntc,  — 
das  ist  Pauls  Stimmc;  und  im  Zug  auf  der  Hcrfahrt  packt 

220 


Paul  zwei  Schinkensemmeln  aus  und  gibt  ihm  eine  davon, 
in  Wien  gibts  herrlichen  Schinken,  —  und  er  sieht  das 
belebte,  gerotete  Gesicht  des  Jungen,  seine  hiipfenden 
Augen,  als  sie  iiber  die  breiten,  fremden  Londoner 
StraBen  gehen;  ,,du,  Toni,  es  1st  das  einfachste,  ich  miete 
einen  Ford,  das  kann  nicht  viel  kosten,  was?"  —  und  am 
Rande  der  geraden,  breiten  Chaussee  steht  ein  offener 
Wagen,  eine  junge  Dame  liegt  darunter  und  plagt  sich  mit 
dem  Motor  ab,  man  sieht  nur  ihre  beiden  langen,  schlanken 
Beine,  und  neben  dem  Wagen  steht  eine  zweite  Frau  in 
weiBem  Kleid,  hellbraun  leuchten  ihr  Gesicht  und  ihre 
Hande  .  .  .  Und  dabei  fiirchtet  er  fortwahrend,  einmal 
konne  er  das  Bett  sehen,  wie  der  alte  Doktor  Ryborg  das 
Kissen  hochhebt,  aber  nein:  die  Angst  halt  dieses  Bild  von 
ihm  fern,  nur  das  Gesicht  des  Jungen  kehrt  fort  und  fort 
wieder,  bleich  und  verkommen,  im  Spiegel.  —  Als  er 
sich  am  Morgen  ins  Bett  wirft,  schmeifk  er  seine  Kleider 
unordentlich  auf  die  Erde.  Nachmittags  um  halb  vier  wacht 
er  auf:  sein  Zimmer  ist  aufgeraumt,  die  Kleider  auf  einen 
Stuhl  gelegt.  Natiirlich,  sie  sind  zwischendurch  rein- 
gekommen,  um  zu  sehen,  ob  nicht  etwa  —  Der  zweite 
Nachmittag  vergeht  ebenso.  Die  Bilder  werden  triiber,  und 
an  Stelle  des  Erinnerns  tritt  immer  mehr  ein  einziger 
Gedanke:  ich  muB  weg  von  hier  —  ich  muB  nach  Hause  — 
koste  es,  was  es  wolle,  ganz  gleich,  wie  .  .  .  und  weder 
Rosette  noch  Tilly  . . .  noch  sonst  jemanden  von  ihnen  habe 
ich  notig,  nur  .  .  .  weg  von  hier,  nach  Hause  —  und  da 
weiB  er,  daB  das  Abschiednehmen  von  Paul  bald  aufhort . . . 
knapp  zweieinhalb  Pfund  .  .  .  davon  kann  man  vielleicht 
noch  einen  Monat  leben,  —  und  als  er  am  nachsten  Morgen 
sein  Rasierzeug  herausnimmt  und  in  den  Spiegel  iiber  dem 
Waschtisch  sieht,  durchzuckt  ihn  etwas  beim  Anblick 
seines  Gesichts,  —  aber  das  dauert  nur  einen  Augenblick, 
und  da  macht  sich  plotzlich  ein  hartes,  kaltes  Gefuhl  in 
seineni  Kopf,  in  seiner  Brust  breit :  ich  werde  es  xiberleben  — 
ich  komme  dariiber  hinweg  .  .  . 

221 


Ostcrreichische  Gesandtschaft.  Er  hat  seinen  dunkel- 
blauen  Anzug  angezogen  und  bemliht  sich,  das  Zittern 
seiner  Stimme  zu  unterdriicken,  als  er  sich  bei  einem 
Legationsrat  anmelden  laBt.  Ein  jovialer  glatzkopfiger  Herr 
empfangt  ihn,  der,  als  er  seinen  Namen  hort,  miBbilligend 
mit  dem  Kopf  nickt.  ,,Ja,  ja,  das  war  eine  auBerordentlich 
peinliche  Angelegenheit,  eine  ganz  besonders  unangenehme 
Angelegenheit . . .  und  was  wiinschen  Sie?  —  Nach  Hause? 
nach  Wien?  das  verstehe  ich  nicht,  meines  Wissens  sind 
Sie  doch  kein  osterreichischer  Staatsangehoriger,  —  oder 
doch?  Nein,  Ungar  .  .  .  das  verstehe  ich  nicht,  —  wie 
konnte  Ihnen  dann  eine  osterreichische  Behorde  einen 
osterreichischen  PaB  ausstellen?  das  miiBte  man  eigentlich 
naher  untersuchen  .  .  .  jedenfalls,  was  Ihre  Bitte  anbetrifft, 
bedaure  ich  sehr,  die  Gesandtschaft  ist  nicht  in  der  Lage  — " 

Ungarische  Gesandtschaft.  Er  sitzt  und  sitzt  in  einem 
weiten  Wartesaal,  dann  wird  er  in  ein  reich  m6bliertes 
Arbcitszimmer  gefiihrt.  Ein  eleganter  blonder  junger  Herr 
mit  Tatarenbart  und  Monokel.  ,,Sie  wiinschen  ?"  —  ,,Ich 
mdchte  nach  Hause,  nach  Budapest ..."  —  ,,Nach  Hause? 
nach  Budapest?  ich  verstehe  nicht,  Sie  haben  doch  einen 
osterreichischen  PaB!  oder  sind  Sie  trotzdem  ungarischer 
Staatsbiirger?  —  ich  verstehe  das  nicht,  die  ganze  Sache 
ist  mir  ein  biBchen  —  Wann  waren  Sie  zuletzt  in  Budapest? 
aber  in  weichem  Monat?  und  warum  sind  Sie  von  Budapest 
weggegangen?  und  iiberhaupt  .  .  .  lassen  Sie  Ihren  PaB 
und  Ihre  Papiere  hier  und  etwas  Geld  fur  die  Spesen  .  .  . 
eine  Information,  wenn  Sie  das  wiinschen,  kann  die 
Gesandtschaft  ja  einholen,  aber  nach  Hause  schicken?  nein, 
das  gcht  leider  nicht,  dazu  ist  die  Gesandtschaft  wirklich 
nicht  in  der  Lage  — " 

Am  Nachmittag  sitzt  er  iiber  einem  Bogen  Papier  und 
beginnt  einen  Brief.  Liebe  Tante  Anna  und  lieber  Onkel 

Rudi mein  Gott.  Aber  .  .  .  wie  stellst  du  dir  das  denn 

vor,  mein  Kind,  in  einer  fremden  Stadt?  woher  wiilst  du 
das  Geld  nehmen,  wo  wiilst  du  wohnen?  wie  wiilst  du 


222 


denn  leben  unter  fremdcn  Menschcn?  .  .  .  Er  soil  nur  seine 
Sache  machen,  wie  er  es  fiir  am  besten  halt,  schlieBlich  1st 
er  ein  erwachsener  Mensch,  er  kann  die  Verantwortung 
iibernehmen  —  oh,  und  wenn  ich  hier  verrecke,  —  kann 
ich  ihnen  den  Brief  schicken?!  soil  ich  ihnen  etwa  schreiben, 
ich  sitze  hier  und  warte  auf  Geld  von  ihnen?  ein  er- 
wachsener Mensch,  er  kann  die  Verantwortung  iiber- 
nehmen ...  —  und  als  sich  am  Abend  der  Hunger  im 
Magen  krampft  und  er  sich  vom  Tisch  erhebt,  steht  noch 
immer  nicht  mehr  auf  dem  Papier  als :  Liebe  Tante  Anna 
und  lieber  Onkel  Rudi.  —  In  der  Nacht  traumt  er:  er  sitzt 
vor  einem  ungeheuer  groBen  Haufen  Briefpapier,  auf 
jedem  einzelnen  Bogen  steht  in  seiner  Handschrift:  ich 
erlaube  mir  ergebenst,  meine  Dienste  anzubieten  ...  — 
und  dann  befindet  er  sich  in  einem  halbdunkeln  Biiroraum, 
steht  vor  einem  Schreibpult  einem  kleinen  jungen  Mann 
mit  einem  Zwicker  gegeniiber;  ich  verbiete  Herrn  Herz, 
Sie  anzustellen,  sagt  der  junge  Mann,  Sie  sind  kein  Facharzt 
und  konnen  unmoglich  unsere  Interessen  vor  der  Polizei- 
behorde  entsprechend  wahren.  —  Am  Morgen,  —  und 
dariiber  ist  er  hochst  erstaunt,  —  wacht  er  mit  klarem, 
frischem  Kopf  auf;  aus  dem  KofFer  nimmt  er  seinen  hell- 
grauen  Anzug,  er  ist  ganz  und  gar  zerdriickt.  Macht 
nichts.  Er  lautet  den  Schwarzbebrillten  herauf ;  nach  einer 
halben  Stunde  ist  sein  Anzug  aufgebvigelt;  der  Bebrillte 
legt  in  still  anerkennungsvoller  Sorgfalt  die  Kleidungs- 
stiicke  einzeln  aufs  Bett.  Sein  Geld  hat  er  in  der  Tasche,  er 
geht  hinunter  auf  die  StraBe.  Unbekannte  Gegend.  Er  geht 
langsam,  jede  Firmentafel,  jede  einzelne  Aufschrift  sieht 
er  sich  an.  In  einem  Automaten  verschlingt  er  urn  die 
Lunchzeit  stehend  zwei  Bissen  und  geht  weiter.  Er  kommt 
in  eine  leere  Gasse,  in  verkehrsreiche  StraBen,  durchquert 
belebte  und  stille  Platze  und  liest  alle  Firmenschilder. 
Abends,  als  er  wieder  zu  Hause  anlangt,  summen  ihm  die 
Plakate  von  dreiBig  bis  vierzig  StraBen  durch  den  Kopf, 
und  die  Miidigkeit  von  dreiBig  bis  viemg  StraBen  steckt 

223 


ihm  in  den  Gliedern.  Und  da  durchzuckt  ihn  krampfhaft 
ein  gelber  Gedanke:  bin  ich  wahnsinnig  ge  word  en?!  was 
suche  ich  denn  auf  der  StraBe?!  was  gaffe  ich  die  Firmen- 
schilder  an? I  —  er  ist  nicht  imstande,  sich  auf  diese  Fragen 
cine  Antwort  zu  geben;  er  hat  das  unsichere,  irritierende 
Gefuhl,  etwas  irgendwohin  weggeraumt  zu  haben  und  nicht 
zu  wissen,  wohin;  ganz  bcstimmt  muB  irgendwo  etwas 
sein,  das  ich  finden  muB.  —  Am  folgenden  Tag  laBt  er  sich 
vom  Autobus  in  einen  andern  Stadtteil  fahren,  ziellos  und 
aufs  Geratewohl;  irgendwo,  wo  unbekannte  Hauser  stehen, 
steigt  er  aus ;  wieder  beginnt  der  Spaziergang.  Um  ein  Uhr 
eine  Tasse  Suppe  und  ein  paar  Bisseji  in  einem  Automaten ; 
dann  promeniert  er  bis  sechs  Uhr.  —  Am  funften  Tage 
schaukelt  ihm  die  graue  Farbe  des  Asphalts  in  Wogen  vor 
den  Augen,  als  er  aufwacht,  und  als  er  auf  die  StraBe  tritt, 
erfaBt  ihn  ein  Gefuhl  der  Ubelkeit  beim  Anblick  der  Farbe 
des  Trottoirs.  Weiter.  In  mechanischer  GleichmaBigkeit 
treten  seine  FuBe,  er  schreitet  in  unverandertem  Tempo  und 
atmet  okonomisch;  ja,  diesen  Gang  kann  man  beim  Militar 
lernen,  wenn  Exerzieren  und  groBes  Ausriicken  ist,  schade, 
daB  einem  das  an  der  Front  wenig  niitzte,  denn  dort  muBte 
man  ganz  anders  gehen,  —  B.  Dickinson,  Ing.  mech.  agr.,  — 
an  der  Front  muBte  man  so  gehen,  daB  man  moglichst 
keinen  Zielpunkt  bot,  —  Howard  &  Howard,  Dentists,  — 
wenn  man  iiberhaupt  gehen  muBte,  —  Turnot,  French  Tailor 
for  Ladies,  —  aber  man  muBte  ja  selten  gehen,  im  Schutzen- 
graben,  —  Britisb-Westindian  Company  for  Import  of  Ba- 
nanas, —  und  auf  dem  Ruckmarsch  kummerte  sich  keine 
Seele  darum,  wie  man  ging,  —  B.  Hayos,  Agent,  —  wir 
battens  ihnen  auch  gegeben  —  Der  Schwung  bricht  ab; 
er  bleibt  stehen  und  tritt  zuriick.  B.  Hayos,  Agent.  Das 
steht  auf  einem  kleinen  Messingschild  an  einem  Haustor 
in  der  Rodney  Street.  Hayos  —  Haj6s?  —  das  Herz 
klopft  ihm  in  der  Kehle,  er  zogert  keine  Sekunde:  schon 
ist  er  oben  auf  der  zweiten  Etage.  Er  klingelt,  und  ein 
junges  Madchen  mit  groBer  Hornbrille  offnet  die  Tiirc. 

224 


,,Bitte,  was  wiinschen  Sie?"  —  ,,K6nnte  ich  Mr.  Hajos 
sprechen?"  fragt  er  und  spricht  den  Namen  ungarisch 
aus,  gleich  hinterher  fahrt  er  deutsch  fort:  ,,verstehen 
Sie  vielleicht  Deutsch  oder  Ungarisch?"  Das  Madchen 
starrt  ihn  durch  die  Brille  an,  zogert  ein  wenig  und  ruft 
dann  durch  eine  halboffene  Tur.  Gleich  darauf  steht 
er  in  der  kleinen  Diele  einer  grauhaarigen,  rundlichen 
Frau  gegeniiber.  ,,Was  wiinschen  Sie?"  fragt  sie  in  ge- 
brochenem  Deutsch  und  miBtrauischem  Ton.  ,,Sind  Sie 
nicht  Ungarn?  wenn  mich  der  Name  nicht  triigt  ..."  — 
,,Wieso?"  fragt  die  Frau  weiter,  nun  schon  ganz  miB- 
trauisch  und  mit  Ablehnung  in  der  Stimme,  ,,was  wiin- 
schen Sie?"  Er  will  eine  lange  Geschichte  beginnen,  aber 
die  Frau  winkt  gleich  nach  den  ersten  zehn  Worten  ab. 
Natiirlich  sei  sie  2war  einem  Fremden  keinerlei  Auf- 
klarung  schuldig,  sagt  sie,  aber  wenn  er  es  absolut  wissen 
wolle,  jawohl,  Mr.  Hayos'  Vater  sei  tatsachlich  Ungar 
gewesen,  Mr.  Hayos  selbst  aber  sei  schon  seit  mehr  als 
vierzig  Jahren  englischer  Staatsbiirger,  und  Mr.  Hayos  sei 
der  Meinung,  daB  die  Ungarn,  die  im  Weltkrieg  an  der 

Seite  der  teutonischen  Barbaren Wieder  ist  er  auf 

der  StraBe.  Mr.  Hayos  .  .  .  und  die  Teutonen,  na,  schon. 
Das  ist  nicht  gelungen.  Gewaltsame  gute  Laune  befallt 
ihn,  jetzt  weiB  er  genau,  was  er  seit  Tagen  sucht,  —  ein 
ungarisches  Schild,  einen  ungarischen  Namen.  London  ist 
eine  groBe  Stadt,  mein  Gott,  London  ist  entsetzlich  groB  . . . 
und  ich  werde  nicht  vor  Hunger  sterben.  Nein,  ganz 
gewiB  nicht,  da  ich  mehr  als  zwei  Pfund  in  der  Tasche 
habe!  —  Im  ersten  Automaten  trinkt  er  zwei  Glas  Bier; 
eilt  wieder  auf  die  StraBe  und  sinkt  am  Abend  angezogen 
aufs  Bett;  so  miide  ist  er,  daB  er  sich  nicht  mehr  ausziehen 
kann. 

Zu  Beginn  der  dritten  Woche  fangt  die  Welt  an,  grau 
zu  werden.  Tag  fur  Tag  in  einem  unbegreif  lichen  Amoklauf 
auf  der  StraBe,  mit  der  fixen  Idee  voxn  ungarischen  Namen, 
vom  ungarischen  Schild,  mit  der  festentschlossenen  Absicht, 

15  KOrmendi,  BudapoM  22J 


zu  betteln,  mit  der  ohnmichtigcn  inneren  Passivhat,  die 
ihn  bestimmt  zum  Stehen  bringt,  handlungsunfahig  macht 
und  zuriickwendet  in  dem  Augenblick,  da  es  den  Anschein 
hat,  als  wollte  etwas  gelingen.  Im  Fenster  eines  kauf- 
mannischen  Unternehmens  erblickt  er  cine  Tafel :  Agenten 
fur  den  Kontinent  und  die  Balkanlander  gesucht.  Wohl 
cine  halbe  Stunde  steht  er  vor  diesem  Fenster  und  geht 
nicht  hinein.  An  einem  Haustor  sieht  er  einen  Namen: 
Pal.  Vielleicht  urspriinglich :  Pal.  Mogiich,  daB  Mr.  Pal 
seit  langen  Jahrcn  cnglischer  Staatsbiirger  ist.  Moglich, 
daB  Mr.  Pal  .  .  .  und  die  Teutoncn  —  Etwas  Geld  hat  er 
noch  in  der  Tasche,  er  wagt  nicht  zu  zahlen,  wieviel.  Fein 
spriiht  der  Regen,  und  als  er  auf  die  feuchte,  laue  StraBe 
tritt,  glaubt  er,  den  ersten  Menschen,  der  ihm  begegnet, 
anspringen  und  an  der  Kehle  packen  zu  miissen.  Bereits 
aus  Gewohnheit  geht  er  weiter,  blickt  vor  sich  hin  und 
nicht  auf  die  Firmenschilder.  Ich  muB  jedes  zweite  Karo 
auf  dem  Trottoir  uberspringen,  dann  .  .  .  werde  ich  Gliick 
haben.  BloB  die  Karos  sind  nicht  gleichmaBig,  einmal  muB 
ich  einen  groBen,  einmal  einen  ganz  kleinen  Schritt  machen; 
wahrscheinlich  kommt  das  von  der  Maschine,  die  die 
Randsteine  macht.  Die  Schuhc  sind  noch  ganz  gut,  in  Wicn 
werden  iiberhaupt  ziemlich  gute  Schuhe  gemacht,  naturlich 
haben  sie  eine  ganz  andere  Form  als  die  englischen  Schuhe, 
spitz  sind  sie.  Wcnn  ich  viel  darin  gche,  werde  ich  die 
Sohlen  durchlaufen,  bestimmt,  aber  das  Oberleder  ist  noch 
ganz,  ich  kann  sie  besohlen  lassen,  wenn  sie  kaputt  sind. 
Tilly  hat  englische  Schuhe  getragen,  solche  runden,  aber 
trotzdem  waren  sie  schmal,  sie  hat  schmale  FiiBe  gehabt, 
und  sie  hat  auch  nie  hone  Absatze  getragen;  doch,  die 
Lackschuhe  waren  mit  hohen  Absatzcn,  die  mit  den  zwei 
Spangen  iiber  Kreuz  und  den  zwei  Knopfen  an  den 
Seiten.  Einmal  hat  sie  auch  gesagt:  ich  habe  so  gute  Beine, 
weil  ich  als  Kind  immer  hohe  Stiefel  getragen  habe,  und 
auch  jetzt  gehe  ich  am  liebsten  in  Schuhen  mit  flachen 
Absitzen.  Ein  Paar  sandalenartige  Schuhe  hat  sie  auch 

226 


gehabt,  aber  die  hat  sie  nur  cinmal  angezogen,  ich  kann  die 
Sandalen  nicht  ausstehen,  hat  sie  gesagt,  am  liebsten  mochte 
ich  sie  Marie  schenken,  aber  die  braucht  mindestens  GrdBe 
neununddreiBig.  —  Bin  Autobus,  der  nahe  an  den  Rinn- 
stein  heranfahrt,  reiBt  ihn  beinahe  um,  schlotternd  springt 
er  zuriick  und  blickt  auf :  Oxford  Circus  steht  am  Autobus, 
und  in  dem  Moment  fallt  ihm  ein,  —  Langham  Hotel, 
zwischen  dem  Portland  Place  und  dem  Langham  Place,  bis 
zum  Oxford  Circus  kannst  du  mit  dem  Autobus  fahren: 
das  hatte  Varga  gesagt  und,  daB  er  bis  zum  10.  September 
dort  wohne,  und  heutc  ist  der  3.  September.  Er  steigt  auf 
den  eben  abfahrenden  Autobus;  cine  halbe  Stunde  spater 
steht  er  mit  zitternden  Bcinen  in  der  vornehm  ruhigen, 
verdunkelten  und  kiihlen  Halle  des  Langham  Hotels. 
,,Mr.  Varga?"  —  fragt  er  vor  dem  Pult  des  Portiers. 
,,Zweihundertacht",  sagt  der  Portier  mit  einer  halben 
Drehung  nach  hinten,  ,,ist  aber  momentan  nicht  zu 
Hause."  Er  setzt  sich  in  die  Halle,  macht  es  sich  in  einem 
Sessel  bequem  und  behalt  den  Eingang  im  Auge.  Zehn 
Minuten,  zwanzig  Minuten,  eine  halbe  Stunde.  Er  tritt 
auf  die  StraBe  und  geht  eine  halbe  Stunde  auf  dem  Platz 
spazieren.  Varga.  Varga  wird  mir  helfen.  Wie  freundlich 
cr  war,  als  ich  ihn  traf.  Varga  wird  helfen,  er  wird  mir  Geld 
und  Rat  geben,  er  lebt  schon  lange  in  England,  er  wird  mir 
helfen,  daB  ich  entweder  nach  Hause  fahren  oder  hier 
irgendwo  unterkommen  kann,  Varga  ist  vornehm  und 
reich.  —  Es  hat  inzwischcn  aufgehort  zu  regnen;  er 
spaziert  auf  dem  Platz,  und  als  die  Sonne  fur  einen  Augen- 
blick  durchkommt,  ist  er  sicher,  daB  Varga  .  .  .  kurz,  daB 
seine  Sachen  nun  in  Ordnung  kommen  werden.  — 
,,Mr.  Varga?"  fragt  er  den  Portier  wieder.  ,,Noch  nicht 
zu  Hause."  Wieder  sitzt  er  in  der  Halle;  dann  folgt  wieder 
ein  Spaziergang  von  einer  halben  Stunde,  ein  Sandwich 
und  ein  Glas  Bier,  —  und  dann  beim  Portier:  ,,Mr. 
Varga?"  —  ,,Noch  immer  nicht  zu  Hause."  Da  beginnt  in 
seinem  Rucken  ein  dunnes,  spannendes  Gefiihl  zu  kribbcln, 

ts*  227 


und  die  Kehle  ist  ihm  ganz  trocken,  als  er  zum  drittenmal 
durch  die  Drehtiire  geht.  Gegeniiber  auf  dem  FuBsteig  ist 
eine  Uhr:  halb  drei.  Er  kehrt  um,  geht  zuriick  in  die  Halle, 
sucht  sich  einen  Sessel,  der  in  einer  Nische  steht,  und  setzt 
sich.  Ein  Boy  legt  ihm  sofort  illustrierte  Blatter  auf  den 
Tisch,  eins  davon  nimmt  er  in  die  Hand.  Varga  wird  helfen, 
schlieBlich  ist  das  die  Pflicht  eines  Lands  .  .  .  Lands mannes, 
Menschenpflicht.  Auf  dem  Titelblatt  der  illustrierten 
Zeitung  sind  zwei  junge  Madchen  zu  Pferd,  in  eleganten 
Reitkostiimen.  Die  eine  gleicht  ein  wenig  Vargas,  Dings  . . . 
der  —  Gott,  wem  gleicht  sie  nur?  Es  fallt  ihm  nicht  ein,  — 
er  betrachtet  ihr  Gesicht,  na,  egal,  nicht  wichtig  .  .  .  ja, 
naturlich,  dem  kleinen  blonden  Madel  gleicht  sie,  die  an 
der  Schreibmaschine  am  Fenster  saB  in  der  Metallzentrale,  — 
wie  hieB  sie  doch  gleich?  —  Margit  Kocsis,  natiirlich.  In 
der  Kacsa-Gasse  wohnte  sie,  irgendwo  in  Buda.  World's 
Sunday  Pictures,  London  Edition  ist  September  1921.  Schones 
Blatt,  feines  Papier,  guter  Druck,  elegant  ausgestattet. 
Varga  wird  helfen,  das  ist  ganz  sicher,  schlieBlich  ist  das  . . . 
Menschenpflicht  —  schlieBlich  sind  wir  ja  in  eine  Klasse 
gegangen,  und  wenn  es  sich  bloB  darum  handelt,  mir  die 
paar  Pfund,  mit  denen  ich  nach  Hause  fahren  kann  —  vom 
Victoria-Bahnhof  fahrt  der  Zug  um  elf  Uhr  ab  —  jetzt  kann 
es  vier  sein  oder  halb  vier  —  und  fur  die  kleineren  Aus- 
gabcn  habe  ich  hier  noch  was  in  der  Tasche  . . .  und  wenn 
ich  nur  bis  Wien  fahre . . .  nur  bis  Wien,  about  five,  —  warum 
sollte  ich  eigentlich  nicht  nach  Wien  fahren?!  Kein  Mensch 
aus  Wien  hat  bisher  nach  mir  gefragt  .  .  .  und  es  braucht 

ja  niemand  zu  wissen,  daB  ich  in  Wien 

Plotzlich  schreckt  er  auf,  blinzelt  und  sicht  sich  ge- 
blendet  und  verschamt  um:  ob  jemand  bemerkt  habe,  daB 
er  eingeschlafen  war.  Nein,  anscheinend  nicht.  Seine  Augen 
suchen  die  groBe,  blauschirnmernde  Uhr  in  der  Halle:  fiinf 
Uhr  zchn.  In  drei  Sfctzcn  steht  er  wieder  vor  dem  Portier: 
,,Mr.  Varga?"  —  ,,Zweihundertacht",  sagt  der  Portier, 
,,vor  einer  halben  Stunde  ist  Mr.  Varga  nach  Hause 

228 


gekommen."  —  ,,Danke",  —  und  mit  etwas  unsicheren 
Schritten  geht  er  auf  die  Treppe  zu.  Wieder  beginnt  das 
Spannen  im  Riickcn  und  zieht  sich  jctzt  langsam  nach  dcm 
Kopf  zu.  Na.  Klarer  Kopf  —  jetzt  brauche  ich  einen  klarea 
Kopf.  Auf  der  Treppe  liegen  dicke  rote  Laufer,  solche 
waren  auch  in  Wien  in  Lehrners  Haus,  —  bei  der  Biegung 
clcr  Treppe  steht  in  der  Ecke  eine  Statue,  wie  ein  Grabmal 
sieht  sie  aus:  weiBer  Marmor,  eine  Frauengestalt  fast  in 
LebensgroBe,  mit  dem  rechten  Arm  auf  ein  groBes  Schwert 
mit  Kreuzgriff  gestiitzt,  den  Kopf  in  die  Hand  gelehnt,  in 
der  herunterhangenden  linken  Hand  einen  Kranz  aus 
Rosen.  Einen  Augenblick  bleibt  er  vor  der  Statue  stehen,  — 
irgendeine  Kriegsangelegenheit,  denkt  er  und  geht  dann 
weiter.  Zweite  Etage,  zweihunderteins  —  zwei  —  vier  — 
acht.  Leise  klopft  er  an  die  wciB  Jackierte  innere  Tiir. 
,,Yes!"  sagt  eine  Mannerstimme.  Er  macht  auf:  im  Zimmer 
steht  Varga  im  Smoking  der  Tiir  zugewandt  mit  fragendem 
Gesicht;  auf  einem  Sessel  sitzt  eine  groBe  blonde  junge 
Dame  in  blauem  Lackhut  und  blauem  Regenmantel.  ,,Ent- 
schuldige  bitte,  daB  ich  dich  store  .  .  ."  sagt  er  auf  Vargas 
erstaunten  BHck  hin;  ,,aber  bitte,  bitte",  antwortet  dieser, 
seine  Stimme  ist  tadellos  hoflich,  ,,ich  freue  mich,  dich  zu 
sehen,  du  muBt  nur  entschuldigcn,  daB  du  mich  nicht 
alleine  antriffst,  ich  wuBte  nicht,  daB  du  kommst",  und 
sofort  stellt  er  vor:  ,,mein  Freund  Kadar  —  Miss  Evelyn 
Campbell-Gray,  die  Schwester  eines  Kollegen."  Kadar 
stottert  ein  paar  Entschuldigungsworte,  daB  er  nicht  gut 
Englisch  konne,  und  rotgliihend  vor  Scham  sagt  er 
ungarisch  zu  Varga:  ,,du,  ich  mochte  dich  gerne  ...  in 
einer  schr  wichtigen  Angelegenheit .  .  .  wie  konnte  ich  dich 
unter  vier  Augen  sprechen?"  Varga  uberfliegt  ihn  mit 
einem  Blick :  seine  Schuhe,  —  die  spitzen,  —  ein  biCchen 
staubig,  aber  gut,  sein  Anzug  ganz  anstandig  .  .  .  ,,Aber 
bitte",  sagt  er,  ,,ich  stehe  dir  sofort  zur  Verfiigung,  aber 
dann  muBt  du  so  gut  sein,  dich  mit  mir  in  den  Salon  hier 
auf  der  Etage  zu  bemuhen  .  .  ."  Er  cntschuldigt  sich 

229 


bei  Miss  Campbell-Gray  und  vcrspricht,  in  wcnigcn 
Minuten  wieder  da  zu  sein;  Kadar  verbeugt  sich,  die 
jungc  Dame  neigt  den  Kopf,  Varga  macht  die  Tiire  auf : 
,,bitte  schr." 

In  dem  triptychonartigen  machtigcn  Fenster  des  Salons 
eine  bunte  Glasmalcrci:  der  heilige  Georg  totet  den  Dra- 
chen.  Diesem  farbigen  Fenster  sitzt  er  gegeniiber,  steif 
aufgerichtet,  die  Hande  zitternd  auf  den  Knien;  Varga  steht 
noch  am  runden  Tisch  und  steckt  sich  langsam  und  be- 
dachtig  cine  Zigarette  an:  ,,wie  gehts  dir,  lieber  Kadar?  ich 
freuc  mich  wirklich,  daB  du  mich  aufsuchst,  bloB,  ich  wieder- 
hole,  es  ist  schade,  daB  du  nicht  vorher  telefoniert  hast,  wir 
hatten  den  Abend  zusammen  verbringen  konnen."  —  ,Ja, 
wir  hatten  den  Abend  zusammen  verbringen  konnen . . ." 
wiederholt  Kadar  unruhig,  blickt  wieder  nach  dem  bunten 
Fenster  und  holt  tief  Atem:  ,,ich  wollte  dich  bitten,  Varga, 
nimm  es  mir  nicht  iibel,  daB  ich  hier  in  London  ...  in  einer 
furchterlich  schwierigen  Sachc  mich  ausgerechnet  an  dich 
wende  .  . ."  und  gleich  hier  am  Anfang  stockt  er,  du  lieber 
Himmel,  durchzuckt  cs  ihn,  jetzt  werde  ich  betteln  — 
,,Nun?"  fragt  Varga  mit  hochgezogenen  Brauen,  ,,was  ist 
denn  diese  schwierige  Sache?"  —  ,,Tja  ...  ich  bin  in  eine 
cntsetzliche  Situation  geraten,  aber  ohne  meine  Schuld  . . ." 
und  wie  er  das  sagt,  jagt  purpurnc  Scham  uber  sein  Gesicht, 
Herrgott,  betteln  werdc  ich  jetzt,  —  abcr  da  heftet  Varga 
schon  vollkommen  miBtrauisch  den  Blick  auf  ihn  und  sagt 
hintcr  der  Deckung  einer  Rauchwolke:  ,,also,  bitte  .  .  .  was 
ist  denn  passicrt?  und  worin  konnte  ich  dir  .  .  .  oder  was 
mocbtest  du  von  mir?"  Und  das  sagt  er  in  so  crhabenem, 
so  erniedrigendem  Nasalton,  so  unverkennbar  ablchncnd, 
daB  sich  in  Kddar  die  Bettler-Scham  sofort  in  auf  lehnende, 
bodenlose  Wut  verwandelt;  er  blast  den  Rauch  zwischen 
ihnen  weg  und  sagt  kurz  und  biindig  mit  trockencr  Stimmc : 
,,Geld."  Dem  andern  entfahrt  ein  klaffendes  kleines  Lachen: 
,,Geld?  wie  stellst  du  dir  das  vor?  wiirdest  du  viclleicht  so 
freundlich  sein,  mir  cin  biBchen  ausfiihrlichcr  — "  Und  da 

230 


schliefit  Kadar  fur  cine  Sekundc  die  Augen,  und  nachdem 
er  zweimal  leer  und  schmerzlich  gcschluckt  hat,  bringt  er 
leise  sein  Anliegen  vor.  ,,Du  weiBt,  daB  ich  vollkommcn 
sorglos,  sogar  in  Wohllebcn  —  mit  cinem  reichen  jungen 
Mann  aus  Wicn  —  als  desscn  Erziehcr,  Mentor,  Freund  — 
auf  cine  mehrmonatige  Studienreise  —  wir  standen  gerade 
im  Begriff,  nach  Hause  zu  fahren  —  da  kommt  ein  un- 
erwartetes  Ungliick  —  er  ist  vom  Autobus  iiberfahren 
worden,tot — und  jetzt  stehe  ich  bier  mit  einigenGroschen — 
renne  seit  Wochen  nach  der  Erlos  . . .  nach  einer  Losung  — 
wenn  du  mir  vielleicht  etwas  leihen  konntest,  damit  ich 
nach  Hause  fahren  kann  .  .  ."  In  Vargas  Gesicht  sind  jetzt 
ganz  strenge  Falten,  und  seine  Augen  gliihen  miBbilligend 
den  andern  an.  —  Seit  Wochen  sucht  er  einen  Ungarn, 
einen  bekannten  oder  fremden,  der  ihm  in  dieser  grauen- 
haften  Situation  beistande  und  ihm  mit  der  kleinen  Summe, 
denn  schlieBlich,  die  paar  Schilling,  die  er  noch  hatte  — 
,,Lieber  Freund*',  unterbricht  Varga  sein  Stottern,  ,,du 
tust  mir  zwar  auBerordentlich  leid  ob  dieses  ungliick- 
lichen  .  .  .  Abenteuers,  aber  leider,  das  muBt  du  einsehen, 
ist  cs  mir  nicht  moglich  ...  die  Heimreise,  selbst  dritter 
Klasse,  kostet  einen  ansehnlichen  Betrag,  den  ich  dir  leider 
nicht  zur  Verfugung  stellen  kann,  leider  nicht  einmal 
gcborgt,  da  ich  selbst  in  gewissen  Grenzen  —  nun  ja,  in 
gewissen  weiteren  Grenzen  —  aber  in  cincr  derartigen 
Situation  Geld  leihen  ist  gleichbedeutend  mit  —  im  iibrigen 
aber,  wenn  du  das  nicht  ablehnst,  wiirde  ich  mich  sehr 
freuen,  dir  mit  einer  kleineren  Summc  . .  .  das  heiBt,  letzten 
Endes  vermutlich  .  .  .  e-hm,  mit  einem  Vielfachen  von 
dem  .  .  .  e-hm,  was  du  augenblicklich  besitzt  — "  und 
plotzlich,  wie,  das  merkte  man  nicht,  schimmert  zwischen 
seinen  Fingern  ein  Zehnschillingschein,  und  zogernd  halt 
er  ihn  Kadar  hin.  —  Die  tragische  Melodic  der  Demiitigung 
des  Bctders  wird  von  einem  diinnen,  grotesken  Wiehern 
iibertont,  —  ein  halbcs  Pfund,  ein  halbes  Pfund  bietet  cr 
mir  an  —  und  wenn  ich  ihm  jetzt  auf  die  Hand  schlage  und 


ihm  sage,  mit  deinem  halben  Pfund  kannst  du  mir 

Hatte  ich  bloB  nicht  eincn  so  fiirchterlichen,  so  erstickendcn 
Druck  in  dcr  Brust  .  .  .  Nun  crtont  Vargas  Stimme  im 
sonoren  Bariton  dcs  gutcn  Willens,  wahrend  sich  die  Hand, 
die  das  Geld  halt,  langsam  zuriickzieht:  ,,aber  warum 
wendest  du  dich  nicht  an  die  Eltern  deines  Schiilers? 
schlieBlich  tragst  du  doch  nicht  die  Verantwortung  fiir  cine 
zufallige  Katastrophe!  schlieBlich  ist  es  doch  ihre  Pflicht, 
fiir  dich  zu  sorgen,  du  bist  doch  schlieBlich  nicht  zu  deiner 
Passion  — "  Er  schweigt.  Einen  Augenblick  herrscht 
Stille.  Kadar  ist  es,  als  senke  sich  vom  Dach  eine  seltsame, 
bunte  Glasglocke  auf  ihn  herab,  decke  ihn  zu  und  trenne 
ihn  von  Gegenstanden  und  Stimmen.  Tiefe,  taubc  Stille 
hat  er  in  den  Ohren.  Die  Farben  des  bunten  Fensters  oder 
der  Taucherglocke  stechen  ihm  scharf  in  die  Augen,  und  fiir 
eine  Sekundc  miissen  sich  seine  Lider  senken,  sonst  wird 
er  vom  wahnsinnigen  Glanz  der  Farben  blind.  Aus  der 
Tiefe,  ganz  unten,  hort  er  Stimmenfetzen :  ,,die  ungarische 
Gesandtschaft  ist  in  solchen  Fallen  verpflichtet  ...  die 
ungarische  Gesandtschaft  .  .  ."  da  steht  er  plotzlich  auf. 
,,Danke  schon",  sagt  er,  ,,Servus",  dreht  sich  um  und  ist 
schon  an  der  Tiir  des  Salons,  dem  andern  den  Riicken  zu- 
gewendet.  In  zwei  Schrirten  steht  Varga  neben  ihm,  aber 
Kadar  geht  welter,  seine  Blicke  streifcn  iiber  den  roten 
Laufer,  er  gcht  schon  die  Treppcn  hinunter.  Im  brciten 
Flur  dampft  Varga  die  Stimme  fast  bis  zum  Fliistern:  ,,es 
wiirde  mir  wirklich  sehr  leid  tun,  wcnn  ein  MiBverstand- 
nis  .  .  .  ich  mochtc  wirklich  nicht ..."  —  ,,Nein,  nein", 
sagt  Kadar,  geht  wciter  die  Stufen  hinab  und  dreht  sich 
gar  nicht  um.  Varga  sieht  ihm  iiber  das  Gelander  eincn 
Augenblick  nach,  dann  zuckt  cr  die  Achseln,  macht  kchrt, 
hiistelt  und  geht  auf  den  Flur  zu. 


12 


Tage  hockt  cr  wieder  zu  Hause,  —  es  hat  keincn 
Sinn,  und  cr  kann  sich  auch  nicht  aufraffen,  auf  die  StraBe 
zu  gehcn.  Der  Himmel  wechselt  fortwahrend,  jede  Stunde 
fangt  es  an  zu  regnen,  dann  kommt  ein  wenig  Sonnenschein, 
und  nachher  rcgnct  es  wieder.  Soil  ich  gehen?  wozu?  im 
Langham  Hotel  war  ich  schon.  Das  beste  ware  .  .  .  nichts 
ware  das  beste,  alles  ist  egal.  So  ist  es  viel  einfacher,  egal. 
Ich  muB  mich  nur  nicht  mit  den  Dingen  beschaftigen.  In 
London  ist  noch  niemand  verhungert.  Das  ist  zwar  nicht 
sicher,  moglich  sogar,  daB  sehr  viele  Menschen  hier  ver- 
hungern.  Und  die  haben  noch  nicht  einmal  die  Museen  und 
die  Bibliotheken  gesehen  —  aber  das  ist  nebensachlich, 
man  muB  sich  nicht  um  die  Dinge  kummern.  Hier  habe  ich 
ja  meinen  Koffer,  den  brauche  ich  sowieso  nicht,  ich  bleibe 
ja  in  London,  wcrde  in  London  leben,  —  den  blauen  Anzug 
brauche  ich  auch  nicht  und  den  Smoking  und  den  andern 
grauen  Anzug,  die  und  den  Koffer  und  die  Handtasche 
kann  ich  verkaufen,  unten  der  mit  der  schwarzen  Brille 
wird  sic  mir  abkaufen,  sehr  gute  Sachen  sind  es  .  .  .  ein 
Anzug  geniigt  in  London  vollkommen.  Agenten  suchen  sie 
fur  die  Balkanlander,  —  da  konnte  ich  hingehen,  und  wozu 
soil  man  Serbisch  oder  Griechisch  konnen?  Mit  Englisch 
finde  ich  mich  in  der  ganzen  Welt  zurecht  —  und  mit 
Deutsch,  mein  Herr,  in  Vertretung  einer  groBen  englischen 
Firma  erlaube  ich  mir  .  .  .  wie  die  italienischen  Studenten, 
die  mit  kleinen  Kofferchen  und  Wachstuchbundeln  durch 
Wien  ziehen,  stoffe  original!  inglesi,  signore!  dabei  ist 
es  gar  nicht  sicher,  daB  sie  Studenten  sind,  Agenten  sind  sie, 
die  sich  als  Studenten  ausgeben.  Geld  kann  man  auch  in 
London  verdicnen;  —  ich  habs  bisher  bloB  nicht  richtig 
gemacht.  Ich  muB  mir  Ware  verschaffen  und  gute  Be- 
zichungen  erwerben,  —  Mr.  Hayos,  ich  mochte  Ihnen 
prima  englische  Kohle  anbieten,  keine  preuBische  Kohle, 
kcinc  tcutonische  Kohle,  sondern  englische  Kohle; 


Mr.  Varga,  ich  hoffe,  du  kaufst  mir  cin  Dutzend  Bleistifte 
ab  oder  wenigstens  cin  Stiick,  ein  halbcs  Pfund  das  Stuck, 
ein  halbcs  englisches  Pfund  —  und  dann,  wie  sich  die 
Phantasien  immer  mehr  verwirren,  so  beruhigen  sic  sich 
auch.  Wicder  hat  cr  das  Gefiihl,  untcr  der  Tauchcrglocke 
zu  scin;  der  Lebcnsmotor  in  ihm  wird  stiller,  cr  spiirt 
kaum,  daB  er  noch  in  Bctrieb  ist.  Taglich  iBt  cr  nur  ein  paar 
Bissen,  sitzt  auf  dem  Bert  oder  am  Fenster,  und  ihm  ist,  als 
lege  sich  ein  weiches,  dickcs  Tuch  um  seincn  Kopf.  Er  hdrt 
und  sieht  nichts,  aber  auch  innerlich  ist  Stille,  und  diese 
Stille  tut  wohl.  Es  lohnt  sich  nicht,  an  irgend  etwas  zu 
dcnken,  also  lieber  nicht  denken.  Ein  biBchen  Geld  hat  er 
noch,  wieviel?  das  ist  gleichgiiltig.  Nachher  kommt  ja  der 
Koffer  an  die  Reihe,  dann  die  Anzuge  —  Ruhe,  nur  Ruhe, 
man  soil  seine  Krafte  nicht  vergebens  verschwenden,  und 
wenn  ich  1917  gefallen  wSre?  oder  wenn  mich  der  Autobus 

iiberfahren  hatte,  und  nicht  Paul 

Als  Reaktion  der  zweitagigen  Stiile  kommt  am  dritten 
Tag  ein  brennender  Tatendrang,  einc  Zappeligkeit.  In  aller 
Friihe  ist  er  schon  auf  den  Beinen,  zieht  seinen  guten  Anzug 
und  seine  guten  Schuhe  an.  Sorgfaltig  rasiert  er  sich  und 
pfeift  dabei,  dann  klingelt  cr,  trinkt  den  Tec  noch  ganz 
heiB  und  zerkaut  den  letzten  Bissen  Toast,  als  cr  auf  die 
StraBc  tritt.  Vier  bis  fiinf  StraBen  klappcrt  cr  ab,  dann 
sctzt  cr  sich  in  den  Autobus,  der  ans  FluBufer  fahrt.  Gold- 
braun  zittert  das  Wasser  im  Sonnenlicht.  Unten  an  ciner 
der  Anlegebriickcn  stehen  weiBc  Motorboote;  neben  dem 
Bootshaus  schiittelt  ein  Matrose  cine  frisch  und  glasern 
klingende  kleinc  Glocke,  ihr  klarcr  Schall  fliegt  in  fast 
sichtbarem  Bogen  iiber  ihm  hin;  auf  der  Anlcgebriickc 
steht:.  Cattle  Market  Station  —  Deptford.  Langsam  geht 
cr  auf^en  untercn  Kai,  vorn  am  Anlcgcsteg  druckt  ihm  cin 
Mann  mit  einer  Taschc  cine  Messingmarke  in  die  Hand, 
damit  stcigt  cr  ins  Motorboot.  Im  hintcren  Teil,  —  cr  ist 
allein,  —  sctzt  cr  sich  ans  Ende  der  Seitenbank,  dann  wogt 
das  Wasser  um  die  Schraube  schiumcnd  auf,  und  das  Boot 


setzt  sich  in  Bcwegung,  stromab warts.  Cattle  Market,  — 
in  diesem  Tcil  Londons  war  er  noch  nicht  gewesen.  Auf 
dem  Plate,  —  das  sieht  er  schon  von  Bord  des  Motor- 
bootcs,  —  1st  groCes  Durcheinander;  an  der  ganzen  linken 
Seite  liegen  Ziegel,  Sand,  Morteltroge  und  BauhoLz  herum, 
es  wird  gebaut.  An  der  rechten  Seite  eine  end  lose  Menge 
von  alten  lagerhausahnlichen  Gebauden;  in  der  Luft  ein 
eigentiimlicher,  roher  Geruch;  und  ein  ununterbrochenes 
Summen,  aus  dem  hie  und  da  das  schmerzliche  BaB-Solo 
eines  Ochsen  aufsteigt.  In  langsamem  Trott  kommen  Ochsen 
die  eine  Anlegebriicke  herauf.  Aha,  der  groBe  Rindermarkt. 
Er  schlendert  hinuber  zum  Bau,  was  kann  das 
sein?  Lagerhauser?  Stalle?  wahrscheinlich  so  etwas, 
man  sieht  schon,  in  den  Nischen  hier  sind  Wasser- 
becken  angelegt,  zum  Tranken.  Am  Kai,  am  Anfang 
der  neuen  Gebaudereihe  sind  schlanke  Hebekrane,  — 
wozu?  —  anscheinend  wird  das  Hebewerk  gerade  aus- 
probiert,  fein  und  vorsichtig  legt  die  dicke  Kette  die 
angehangten  formlosen  Sackbiindel  auf  die  Erde.  —  Er 
geht  welter;  hinter  dem  Bau  ein  kleinerer  Marktplatz,  in 
winzigen  Buden  und  unter  groBen  Schirmen  Apfel  und 
Bananen,  Apfel  und  Bananen.  Ein  irritierend  feiner  Obst- 
gcruch.  Der  Platz  ist  gedrangt  voll.  Er  staunt  die  larmend 
feilschcnde  Menge  an.  Eine  dickbauchige  Frau  mit  einem 
Tuch  um  ruft  ihm  zu:  ,,pack  doch  mal  den  Wagen  hicr  an, 
einen  halben  Schilling  zahl  ich  dafur  bis  Mittag!"  Er  gafft 
sie  an,  dann  schtittelt  er  den  Kopf.  ,,Entschuldigen  Sie", 
sagt  die  Frau,  ,,ich  dachte,  Sie  suchen  Arbeit."  Er  geht 
weiter,  sieht  sich  wiedcr  um  nach  dem  Bau.  Die  neuen 
Stalle  da  —  nicht  ganz  richtig,  vielleicht  hatte  man  die  Sache 
so  losen  konnen,  daB  die  Boxes  nach  zwei  Seiten,  nach 
vorn  und  nach  hinten  sehen,  und  die  gemeinsame  und  ein- 
heitliche  Wasserversorgung  —  nein,  das  laBt  sich  so  nicht 
feststellen,  gewifi  waren  da  bestimmte  Bedingungen  . . .  und 
die  Losung  kann  man  nicht  so  einfach  aus  dem  Armel 
schiitteln,  dariiber  muB  man  nachdenken,  —  Rings  um  den 


Plate  lauft  eine  breitc  StraBe,  von  der  klcine  Gasscn  aus- 
gehen.  Aufs  Geratewohl  gcht  cr  auf  cine  von  dicsen  zu. 
Eine  Kleinstadt  .  .  .  Ein-  und  zweistockige  Hauser,  ganz 
anders  als  in  der  Gegend  der  Redburn  Street.  Er  geht 
langsam;  die  StraBc  ist  schmutzig,  aus  offenstehenden 
Haustiiren  lugen  dreckigc,  abgewetzte  Treppen  auf  die 
Gasse.  Die  Sonne  scheint,  es  ist  sehr  warm.  Aus  dem 
Fenster  ciner  ebenerdigen  Wohnung  lehnt  sich  ein  junges 
Madchen  in  greller,  giftgriiner  Blusc;  als  cr  am  Fenster 
vorbeigeht,  lacht  sic  ihn  unverschamt  und  fell  an.  Er  dreht 
sich  um,  das  Madchen  beugt  sich  so  weit  aus  dcm  Fenster, 
daB  sic  fast  hinausfallt,  und  lacht  noch  immer.  Soil  ich 
stehenbleiben? . . .  dann  geht  er  langsam  weiter.  Fein  scheint 
die  Sonne.  Wie  lang  diese  Gasse  ist.  London  ist  eine  groBe, 
eine  schrecklich  groBe  Stadt.  Schon  eine  Viertelstunde  geht 
er  an  den  niedrigen  Hausern  entlang,  das  Bild  ist  immer 
dasselbe:  kiihle,  iibelriechende  Hauseingange,  schabige 
Mauern,  kleine  Gcschafte,  hin  und  wieder  eine  leere  Bau- 
stelle  mit  einstiirzendem  Zaun,  hie  und  da  eine  Werkstatt, 
aus  der  Eiscnklirren  dringt,  und  weiter  die  langweiligen 
kleinen  Hauser.  Ein  Dorf.  Manchmal  holpert  quietschend 
ein  iiberladcner  Pferdelastwagen  an  ihm  voriiber,  andere 
Fahrzeuge  sieht  man  kaum.  Hort  diese  Gasse  denn  nie  auf? 
noch  immer  kann  man  das  Ende  nicht  sehen.  Eine  Dumm- 
heit,  weiterzugehen,  —  was  suche  ich  denn  hier?  Von  dem 
langen  Marsch  wird  er  hungrig  und  sicht  sich  die  Hauser 
an,  ob  nicht  irgendwo  ein  Wirtshaus  oder  ein  Lebens- 
mittelgeschaft  ist.  Er  geht  weiter,  —  da  hinten  sicht  man 
Dacher,  vielleicht  sind  dort  hohere  Hauser,  —  er  kommt 
hin:  eine  sehr  breite  StraBe  kreuzt  die  Gasse;  die  ist  schon 
lebhafter,  stadtischer,  auch  eine  Elektrischc  fahrt  da.  Eine 
merkwurdige  StraBe :  an  der  einen  Seite  lauter  gleichmaBige 
vierstockige  Hauser,  so  weit  man  sehen  kann;  an  der  andcrn 
Seite  iiberhaupt  kein  Haus,  nur  ein  endloser  brauner 
Lattenzaun  von  doppelter  Mcnschenhohc.  Das  muB  wohl 
ein  groBes  Fabrikgelande  sein,  gegeniiber  wahrscheinlich 

2}6 


die  Arbeiterwohnungen,  —  stimmt,  am  Zaun  unabsehbar 
in  einzelnen  groBen  schwarzen  Buchstaben  die  Aufschrift: 
Bertram's  Deptford  Universal  Steel  Works.  Hinter  dem 
Zaun  sieht  er  hie  und  da  ein  Glasdach  und  dann  und  wann 
ein  riesiges  Tor,  aus  dem  Schienen  auf  die  StraBe  fiihren.  — 
Er  geht  an  den  Hausern  entlang,  auch  im  ErdgeschoB  sind 
Wohnungen,  Geschafte  kaum,  ein  vereinzelter  Ladenraum 
hie  und  da,  eher  etwas  wie  ein  groBes  Lager;  auf  die  truben 
Fensterscheiben  einige  Worte  gemalt:  Coffee.  Tea.  Sugar. 
Milk.  Flour.  Beans.  Bread.  Meat.  Eine  riesige  Lebens- 
mittelverteilungsstelle.  Ein  Fremder  bekommt  hier  sicher 
nichts.  Und  dann  endlich  an  einer  Ecke  ein  Blechschild: 
Dining-Room.  Er  sucht  den  Eingang,  und  plotzlich  stockt 
ihm  der  Atem.  Rechts  neben  der  Tiir  cine  griin  verblichene 
Tafel,  in  abgewetzten,  einmal  rot  gewesenen  Buchstaben 
steht  darauf :  Ungarisches  Restaurant.  Die  Hand  zittert  ihm 
dermaBen  auf  der  Klinke,  daB  er  sie  nicht  niederdrucken 
kann;  wohl  Minuten  vergehen,  bis  jemand  von  innen  die 
Tiire  aufmacht,  und  da  steht  er  in  der  Kneipe,  mit  wogender 
Brust,  mit  brummenden  Schlafen,  und  stotternd  sagt  er  auf 
Ungarisch:  ,,guten  Tag."  Ein  hagerer  junger  Mensch  gafft 
ihn  von  der  langlichen  Theke  aus  an,  verschwindet  wortlos, 
und  gleich  darauf  erscheinen  hinter  einer  Glastiir  ein  alter 
Mann  mit  einem  Bart  und  einer  griinen  Schiirze,  eine 
jiingere,  bleiche  Frau  mit  eingefallenen  Wangen  und  der 
hagcre  Junge.  Herrgott  .  .  .  diese  Worte:  ,,GriiB  Gott!  — 
Sie  sind  Ungar?!  —  wie  kommen  Sie  denn  hierher?!  — 
Hat  Sie  jemand  geschickt?!  —  Aus  Budapest?!  —  WuBten 
Sie,  daB  wir  hier  sind?!  —  und  sind  Sie  wirklich  Ungar?!  — 
und  wie  kommen  Sie  her?!*'  Das  Lokal  ist  leer,  bloB  an 
einem  Tisch  sitzt  eine  zerlumpte  Gestalt  vor  einem  Krug 
Bier,  den  Kopf  auf  dem  Tisch  zwischen  beide  Fauste 
gepreBt;  reglos,  als  schliefe  er.  Und  die  drei  hier  besturmen 
ihn  ger6tet  und  wild  im  Rausch  der  Stimmen  und  im 
Wahnsinn  der  Worte  mit  Fragen  und  Fragen  und  lassen 
ihn  gar  nicht  zum  Antworten  kommen. 

237 


SpSter  sitzen  sic  in  cincm  cbcnerdigen  Zimmer  mit  ver- 
gittcrtem  Fenstcr,  das  Fcnster  geht  auf  cine  groBe  leere 
Baustelle,  das  Zimmer  ist  halbdunkel;  und  der  Fragen- 
ansturm  laBt  langsam  nach.  Nun  kann  er  erzahlen,  daB  er 
rein  zufallig  in  diese  Gegend  verschlagen  worden,  das 
ungarische  Schild  an  der  Tiir  gesehen  habe  und  so  herein- 
gekommen  sei,  —  ,,siehst  du!"  knurrt  der  Alte  die  Frau  an, 
,,schon  voriges  Jahr  habe  ich  dir  gesagt,  hang  das  Schild 
raus,  Unannehmlichkeiten  konnen  daraus  nicht  entstehen, 
aber  Ungarn  lockt  es  vielleicht  rein!"  Und  warum  er  in 
London  sei?  und  wie  er  in  dieses  Viertel  gekommen  sei? 
noch  weiB  er  nicht,  wer  diese  Leute  sind,  was  fur  Menschen, 
und  alle  Zuriickhaltung  und  aller  Widerstand  fallen  im 
Nu  in  Fetzen  auseinander,  und  die  Worte  platzen  hervor, 
die  seit  Wochen  zuriickgedrangte  Stimme,  und  er  spricht 
und  spricht,  verworrcn  und  stromend,  in  der  erlosenden 
Selbstqual  der  Worte.  Spricht  davon,  warum  er  nach 
London  gekommen  war,  spricht  von  Paul  und  von  Wien 
und  vom  Gummiknuppel  in  Budapest,  und  dazwischen 
braust  die  Erinnerung  an  die  Schrecknisse  der  vergangenen 
Tage,  der  Revolver,  die  Strapazen  der  langen  vcrgeblichen 
Wege,  der  mit  der  schwarzen  Brille  und  der  Cattle  Market; 
in  heiBen,  wie  Lava  stromenden  Ausbruchen,  verworren 
und  zusammenhanglos  ergiefien  sich  die  Worte,  in  jedem 
einzelnen  weint  sein  ganzes  Elend,  seine  Ratlosigkeit  und 
Ohnmacht  —  so  daB  die  drei  ihn  erschrocken  ansehen,  und 
als  er  nach  langen  Minuten  schweigt,  herrscht  angstvolle, 
leere  Stille  im  Zimmer,  und  wieder  muB  er  sic  unterbrechen, 
dicsmal  schon  leise  und  etwas  beruhigt:  ,,und  Sie?  wie  sind 
Sic  hicrher  gekommen?"  Und  da,  als  der  Reflcktor  des 
Wortes  iiber  dem  fiirchtbaren  fremden  Schicksal  erlischt, 
kehrt  ihnen  die  Sprachc  wieder,  und  der  Alte  ergeht  sich 
in  raschcn  Worten  und  in  der  Wonnc,  cinem  Fremden, 
cinem  Ungarn!  nach  so  langcr  Zeit  von  sich  selbst  er- 
zahlen zu  konnen.  —  1905  —  hier  beginnt  die  Geschichte. 
Pali  Csordds,  das  alteste  der  Kinder,  arbcitct  seit  zwei 

238 


Jahrcn  in  der  Ganzschen  Fabrik,  im  Oktober  muB  er  zum 
Militar  einriicken.  Drei  harte  Soldatenjahre  stehen  ihm 
bevor.  Pali  Csordas  ist  Socialist.  Am  6.  September  —  es 
sind  gerade  sechzehn  Jahre  —  haben  wir  ihn  zum  Iet2tenmal 
in  Budapest  gesehen,  in  der  kleinen  Kneipe  in  der  Kobanyaer 
StraBe.  Keiner  hat  eine  Ahnung,  wo  er  geblieben  ist,  weder 
er,  noch  Margit,  niemand.  In  der  Fachgewerkschaft 
weiB  man  nichts  von  ihm,  auch  in  der  Fabrik  nicht.  Die 
Polizei  halt  den  Fall  noch  einige  Wochen  in  Schwebe, 
man  wartet,  ob  die  Donau  ihn  irgendwo  ans  Ufer  treibe, 
dann  ist  alles  still.  Er  ist  verschwunden,  SchluB.  Die  vielen 
Plagcn  und  Sorgen,  die  Frau  ist  auch  vor  ein  paar  Monaten 
gestorben,  kaum  daB  sic  den  Kleinen  auf  die  Welt  gebracht 
hat ...  ,,also,  es  war  keine  Zeit,  zu  jammern,  aber  weiB  der 
Kuckuck,  ich  habe  auch  nicht  schr  gewagt,  viel  in  der 
Sache  herumzustochern,  ein  biBchen  hatte  ich  das  Gefiihl, 
er  sei  vor  dem  KommiBrock  ausgeriickt."  Nach  einem  Jahr 
kommt  ein  Brief  aus  London:  es  geht  mir  gut,  ich  arbeite 
hier  in  den  Deptforder  Stahlwerken,  anbei  schicke  ich 
zwolf  Pfund,  etwa  hundertfiinfzig  Gulden,  verkauft  sofort 
das  Wirtshaus,  setzt  euch  in  den  Zug;  dann  eroffnen  wir 
hier  der  Fabrik  gegeniiber  eine  Bierhalle,  es  gibt  ziemlich 
viele  Ungarn  hier,  das  wird  ein  glanzendes  Geschaft.  Dann, 
Anfang  Februar  werden  es  ftinfzehn  Jahre,  machen  sic 
dem  langen  Lattenzaun  gegeniiber  das  Lokal  auf:  Csordas' 
Dining -Room  &  Public  Bar,  und  auf  die  Seitentafel 
schreiben  sie:  Ungarisches  Restaurant.  Das  Geschaft 
kommt  gut  in  Gang,  die  Arbeitergenossen,  nicht  nur  die 
Ungarn,  mogen  Pali  gut  leiden,  ihm  zuliebe  gewohnen  sie 
sich  hin ;  die  Pennies  und  die  Schillinge  haufen  sich  in  der 
Arbcitersparkassc.  August  1912:  aus  Margit  wird  eine 
englische  Frau,  John  Cresse,  Werkmeister  in  der  Fabrik, 
heiratet  sie.  Mitgift:  die  Halfte  des  ungarischen  Restaurants. 
Urn  dieselbe  Zeit  werden  auch  die  xibrigen  Cresse  zuliebe 
englische  Staatsbiirger.  Ein  Jahr  spatcr  ist  der  erste  Enkel 
da,  die  kleine  Margaret  Cresse,  —  sie  ist  noch  keine  drei 

239 


Wochcn  alt,  da  bekommt  sic  cinen  Darmkatarrh,  —  das 
hat  wenigstens  der  Arzt  gesagt,  —  und  dann  singt  der 
Arbcitergesangverein  Traucrlieder  am  kleinen  Grab.  1914: 
der  crste  Sturm  wind  fegt  die  ungarische  Tafel  in  den 
Keller.  Es  folgen  entsetzliche  Aufregungen:  die  neue 
Heirnat  fuhrt  Krieg  gegen  die  alte  Heimat.  Anderswo  leben 
ais  in  London  kann  man  nicht,  aber  Budapest  kann  man 
auch  nicht  vergessen.  Cresse  wird  im  Februar  1915  ein- 
gezogen.  Paul,  der  den  Stellungsbefehl  einige  Monate 
spater  erhalt,  kommt  als  Kriegsarbeiter  mit  einer  Sanitats- 
abteilung  an  die  Front.  Nun  nimmt  das  Leben  in  London 
wieder  seinen  friedlichen  Verlauf;  klcine,  sichere  Geld- 
summen  haufen  sich  welter,  —  aber  nur  in  London  herrscht 
Ruhe,  die  Welt  —  jenseits  von  Deptford  —  steht  in  Brand, 
und  im  Dezember  1915  fallt  Cresse  in  Flandern.  —  Pali 
schleppt  zwischen  Roclincourt  und  Arras  Verwundete  und 
Leichen  aus  den  Schiitzengraben  nach  hinten.  Marz  1916, 
Juli  1916,  Oktober  1916:  keine  Nachricht.  Weder  gute 
noch  schlechte.  Gegen  Weihnachten  kommt  die  amtliche 
Mitteilung:  Paul  Csordas  ist  zwischen  dem  ix.  und 
15.  August  beim  Verwundetentransport  bei  Arras  den 
Heldentod  gestorben.  —  Mein  Gott ...  die  Tage  gehen  und 
gehen  dahin.  Das  Wirtshaus  bliiht,  auf  der  Sparkasse  tragen 
nun  schon  ansehnliche  Pfunde  Zinsen,  ,,inzwischen  batten 
wir  den  Krieg  gewonnen,  —  das  Leben,  —  ja,  und  . . .  nun 
sind  wir  hier  und  sprechen  seit  1914  zum  erstenmal  mit 
einem  fremden  Menschen  Ungarisch  .  .  .'* 

Wahrend  der  langen  Erzahlung  regt  sich  in  Kadars 
Kopf  irgendwo  hinten  und  ganz  leisc  ein  Gcdankc:  ich 
bin  zu  Hause.  Er  sieht  sich  den  Alten  genauer  an:  ein  etwas 
einfaltigcs  Gesicht  mit  einem  Backenbart,  ergrauendes 
Haar,  groBe,  korpulente  Gestalt,  —  wcnn  er  mir  auf  der 
StraBe  begegnete,  wiirdc  ich  nicht  annehmen,  dafi  cr 
Ungar  sei,  —  dann  betrachtet  er  die  Frau:  ein  mudes, 
weiBes  Gesicht  unter  dem  schwarzen  Haar,  das  schon  von 
vielen  weiBcn  Faden  durchsetzt  ist.  Ihre  Augen  sind 

240 


w&sserig  blau.  Grofie,  verarbeitcte  Hande  hat  sic,  einen 
langsamen,  schlampigcn  Gang.  Dcr  Junge,  —  fiinfzehn  bis 
sechzehn  Jahre  mag  er  alt  sein,  —  ist  genau  wie  die  andern 
englischcn  Jungens  auf  der  Strafte,  Ungarisch  kann  er  kaum 
ein  paar  Worte.  Das  ware  also  die  Familie.  Und  .  .  .  soil 
ich  ihnen  jetzt  gleich  was  sagen?  oder  soil  ich  morgen 
wiederkommen?  Ubereilen  darf  ich  die  Sache  nicht  —  aber 
wenn  ich  diesen  giinstigen  Moment  voriibergehen  lasse  .  .  . 
Da  fangt  der  Alte  an  zu  sprechen,  bittet  ihn  zu  bleiben: 
gleich  wird  etwas  zu  essen  gebracht,  es  ist  doch  Mittagszeit, 
sagt  er.  Und  da  wirft  Kadar  ihnen  plotzlich  entschlossen 
die  Frage  hin:  ,,sehen  Sic  mal  .  .  .  jetzt  wissen  Sie,  wer  ich 
bin,  was  ich  bin,  konnte  ich  nicht  hierbleiben  bei  Ihnen? 
konnten  Sie  mir  nicht  irgendeine  Arbeit  geben,  von  der  ich 
leben  kann,  bis  ich  etwas  andcres  finde  oder  nach  Hause 
gelangen  kann?"  —  Seine  Stimme  ist  leise,  ruhig  und 
sicher,  —  Csordas  ist  ja  schlieBlich  nur  ein  alter  Gastwirt, 
und  die  Deptforder  Kneipe  ist  nicht  das  Langham  Hotel. 
Am  nachsten  Morgen  packt  er  in  der  Redburn  Street 
seine  Sachen  zusammen  und  erscheint  schon  vor  Tisch  mit 
scinen  Koffern  bei  der  Familie  Csordas.  Der  Alte  hatte  nicht 
lange  gezogert.  Vielleicht  waren  es  die  Erinnerungen,  die 
der  unerwartet  aufgetauchte  Landsmann  hcrauf  beschworen 
hatte,  vielleicht  war  es,  weil  sein  gefallencr  Sohn,  als  er  nach 
London  verschwand,  ungefahr  in  dem  Alter  war  wie  dieser 
Junge  hier,  vielleicht  auch  die  Aussicht  auf  einen  billigen 
Dienstboten:  der  Alte  blickte  auf  Kadars  Angebot  ein 
Weilchen  vor  sich  hin,  dann  rief  cr  seine  Tochter  nebenan 
in  die  Schwemme,  —  eine  Minute  der  Spannung  und  der 
Hoffnung,  die  nicht  enden  zu  wollcn  schien,  —  dann  treten 
sie  wieder  ein,  und  der  Alte  sagt:  ,,Sie  konnen  bleiben.  Sie 
werden  aushelfen  in  der  Wirtsstubc  und  im  Haushalt,  vor- 
iibergehend  natiirlich,  wie  lange  wir  Sie  behalten  konnen, 
wissen  wir  selbst  noch  nicht,  —  in  der  einen  Kammer 
konnen  Sie  wohnen  und  kriegen  voile  Vcrpflegung,  Gchalt 
natiirlich  nicht,  aber  wenn  Sie  beim  Bedienen  helfcn,  sind 

15  Ktinuemli.  Butlapest  241 


Sie  am  Trinkgeld  beteiligt,  das  1st  selbstverstandlich  keine 
groBe  Sache,  aber  doch  itnmerhin  etwas  Geld,  und  wenn 
Sie  eine  Arbeit  verrichten  konnen,  die  wir  sonst  einem 

andern  zu  bezahlen  batten,  sagen  wir  Fensterputzen " 

Am  nachsten  Tage  ist  er  also  bei  CsordaYs.  Neben  der 
Schwemme  ist  der  groBe  Speisesaai  mit  ungefahr  dreifiig 
Tischen;  hinter  diesen  beiden  Raumen  liegen  die  Kiiche 
und  vier  Zimmer,  deren  Fenster  auf  die  leeren  Bausteilen 
und  deren  Tiiren  auf  einen  engen,  dunkeln,  gemeinsamen 
Flur  gehen.  Im  letzten  Zimmer  wird  er  wohnen;  in  der 
Ecke  neben  dem  Fenster  steht  sein  Bett.  Und  das  andere 
Bett?  darin  schlaft  Mary,  die  Mrs.  Cresse  in  der  Kiiche 
hilft,  —  ,,ein  tiichtiges,  braves  Madchen,  sie  arbeitet  schon 
seit  vier  Jahren  bei  uns;  und  wenn  sie  etwas  gegen  den 
neuen  Zimmergefahrten  einzuwenden  hat,  dann  wird  die 
Stube  halt  durch  einen  alten  Vorhang  geteilt,  Sie  miissen 
sich  eben  mit  dem  Quartier  begniigen,  mehr  Platz  haben 
wir  nicht;  irgendwie  werden  Sie  sich  schon  zu  zweit 
vertragen." 

Der  Nachmittag  vergeht  mit  Umschauhalten;  er  sitzt 
in  der  Schenke,  tritt  auf  die  StraBe,  geht  bin  und  her, 
freundet  sich  an  mit  dem  Alten,  dem  Jungen,  der  StraBe 
und  den  Hausern;  am  Abend,  im  sauber  iiberzogenen 
blaugestreiften  Bett  iiberkommt  ihn  ein  so  wohliges,  be- 
ruhigendes  Gefuhl,  als  lagc  dieses  Zimmer  im  ersten  Stock 
des  Savoy  Hotel  und  als  decke  ein  schweres  Bankkonto 
sein  feines  Leben.  Am  Morgen  beginnt  dann  die  neue 
Tatigkeit :  friih  um  fiinf  steht  er  in  der  Schenke,  eine  griinc 
Schiirze  um  und  einen  Besen  in  der  Hand,  —  und  nach 
Mitternacht  fallt  er  so  hundemude  ins  Bett,  daB  er  Mary 
iibcrhaupt  nicht  bemerkt,  die  in  der  lauen  Herbstnacht  die 
Decke  im  Traum  von  sich  wirft  und  flach  auf  dem  Riicken 
daliegt,  mit  hinaufgerutschtem  Hemd,  bis  an  die  Taille 
nackt  und  mit  halboffenem  Mund  keuchend  schlaft.  Er 
bemerkt  nicht,  daB  sie  den  alten  braunen  Vorhang  in  der 
Mitte  der  Stube  nicht  zusammengczogcn  hat.  Als  cr  beim 

242 


Morgcngrauen  erwacht,  1st  Mary  schon  in  der  Kiiche.  Er 
zieht  die  Rolladen  hoch  und  starrt  auf  den  leeren  Bauplatz. 
Es  regnet,  der  Himmel  ist  grau,  nur  weit  hinten  bei  den 
hohen  Fabrikschornsteinen  sind  zwei  helle  Streifen  zwischen 
den  Wolken.  Pal  Csordas,  der  heldenhafte  Kriegsarbeiter 
der  englischen  Armee  —  mit  Englandern  hat  Kadar  nichts 
zu  tun  gehabt.  An  der  italienischen  Front  waren  wohl  auch 
englische  und  franzosische  Armeegruppen,  aber  nie  un- 
mittelbar  ihm  gegeniiber.  Als  sie  von  Albanien  herauf- 
transportiert  wurden,  gingen  sie  zuerst  fast  in  der  Richtung, 
wo  Englander  lagen.  Der  war  aber  an  der  westlichen  Front, 
der  Pali  Csordas.  Vielieicht  hat  er  fruher  in  diesem  Zimmer, 
in  diesem  Bett  geschlafen.  Der  Schrank  ist  offen,  seine 
Anziige  hangen  schon  in  der  Reihe,  hinter  den  Frauen- 
kleidern;  der  dunkelblaue  Anzug  und  der  Smoking  und  der 
neue  graue  Anzug.  Antal  Kadar,  der  tapfere  Fahnrich  der 
osterreich-ungarischen  Armee  .  .  .  ich  habe  Arbeit,  denkt 
er,  du  lieber  Gott,  ich  habe  Arbeit,  fur  die  ich  zu  essen 
bekomme  und  wohnen  kann  und  meine  Kleider  in  den 
Schrank  hangen  und  mich  waschen  .  .  .  Ich  habe  Arbeit, 
denkt  er,  und  groBes,  reines,  warmes  Vertrauen  drangt  sich 
ihm  in  die  Brust,  Herrgott,  wie  wohl  ist  mir,  —  dann  dreht 
er  den  Wasserhahn  auf  und  halt  den  Kopf  unter  den  dicken, 
kalten  Strahl.  —  Fegen,  scheuern,  Fenster  putzen,  mit  dem 
Handkarren  Lebensmittel  und  Pakete  holen,  Tische  und 
Stiihle  abwischen,  —  nun,  das  geht  an.  Das  Schlimmste  isr, 
wenn  er  die  Teller  voller  Speisenreste,  die  einem  den 
Appetit  vertreiben,  im  heiBdampfenden,  fettigen,  stinkigen 
Wasser  abwaschen  muB.  Da  kribbelt  cs  einem  in  der  Nase 
und  kollert  es  im  Magen,  und  nach  dem  ersten  Abwaschen 
rutscht  kein  Bissen  die  Kehle  hinunter.  Ich  werde  mich 
schon  daran  gcwohnen,  und  er  preBt  die  Zahne  zusammen. 
Besser  als  an  der  StraBenecke  krepieren.  Und  dann 
gewohnt  er  sich  daran.  Gewohnt  sich  an  den  alten  Csordas 
mit  seinen  guten  und  schlechten  Launen,  gewohnt  sich 
an  die  stille  Margit,  die  ihr  verpfuschtes  Leben  hinter 

16*  243 


hysterischem  Wirtschaftcn  verbirgt,  gewohnt  sich  an  den 
etwas  tolpelhaften  Gyuri,  an  die  beiden  brummigen  Kellner 
in  der  Wirtsstube,  an  die  proletarischen  Gaste,  an  den  Besen, 
die  grime  Schiirze  und  die  Abwaschbriihe;  gewohnt  sich 
an  die  ganze  Umgebung  mit  den  gleichmaBigen  Arbeiter- 
hausern  und  dem  endlosen  braunen  Lattenzaun,  gewohnt 
sich  daran,  daB  von  den  Trinkgeld-Pennies  in  ein  paar 
Tagen  manchmal  sogar  ein  Schilling  zusammenkommt, 
gewohnt  sich  daran,  auch  an  den  sparlichen  Ruhenach- 
mittagen  in  der  Schwemme  zu  sitzen  und  sich  hie  und  da, 
wenn  er  iiberhaupt  mit  jemandem  redet,  privat  mit  einem 
schabigen  Cast  in  ein  Gesprach  einzulassen,  —  und  dann 
eines  Nachts,  als  er  nach  getaner  Arbeit  in  die  Stube  tritt, 
bemerkt  er  Mary  in  schwiiler  Halbnacktheit  mit  dem 
heraufgerutschten  Hemd.  Mary,  —  ein  klobiges  englischcs 
Madchen,  nicht  jung  und  auch  nicht  gerade  alt;  bisher  hatte 
er  sic  unter  Tags  kaum  angesehen,  kaum  ein  paar  Wortc 
mit  ihr  gewechselt.  Jetzt,  —  als  er  ins  Zimmer  trat,  drehte 
er  seiner  Gewohnheit  gemafi  ruhig  das  Licht  an,  Mary 
schlief  weiter,  ohne  sich  zu  mucksen,  —  da  liegt  sie  im 
Bett,  flach  auf  dem  Riicken,  und  die  diinne  Decke,  die  sic 
unter  beide  Ellenbogen  prefit,  zeigt  deutlich  ihre  Figur, 
und  unter  der  hcruntergerutschten  Hemdachsel  sieht  man 
ihre  runde,  pralle,  weiBe  Brust  —  und  in  dem  Moment 
durchzuckt  es  ihn,  daB  Mary  den  braunen  Vorhang  vor 
dem  Bett  noch  nie  zusammengezogen  hat,  und  es  fallt  ihm 
ein,  daB  cr  seit  Zia,  seit  fast  zwci  Monaten,  keine  Frau 
angeriihrt  hat.  Und  da  fahrt  ihm  sprudelnde  Begierde  durch 
alle  Glieder.  Aber  sofort  wird  ihm  alles  braun  vor  den 
Augen,  braun  wie  Yomayas  Hautfarbe,  —  und  ein  gruse- 
liger  eisiger  Hauch  macht  die  eben  erstandenc  Rcgung 
wieder  ersterben.  Er  dreht  das  Licht  aus,  schleicht  auf 
Zehenspitzen  an  sein  Bett  und  bohrt  den  Kopf  ins  Kissen,  — 
in  der  groBen,  kiihlen  Stille  hort  man  schon  die  ersten 
fruhen  Milchautos  iiber  den  vorderen  Trakt  poltcrn,  als  er 
mit  schwerem,  rochelndem  Atera  cinschlaft. 


Der  tiickische  Herbst  stiirzt  sich  nicuchlings  auf  die 
Stidt.  Eines  Nachts,  nachdem  die  Schenke  geschlossen 
war,  stellte  er  sich  in  die  Tiir  und  starrte  unter  dem  lau«n 
Himmel  den  wild  brennenden  Sternen  in  die  Augen,  — 
am  folgenden  Morgen  goB  es  bereits  in  Stromen.  Dann 
ricselte  oder  spriihte  tagelang  ununterbrochen  der  Regen 
und  horte  nicht  auf.  Plotzlich,  ohne  Ubergang  ist  es  kalt 
geworden;  nach  wenigen  Tagen  wird  in  Schwemme  und 
Gaststube  der  Dauerbrenner  eingeheizt.  Kadar  will  die 
Tage  nicht  zahlen,  nur  aufs  Geratewohl  fiihlt  er,  daB  er 
schon  seit  Wochen  hier  und  so  lebt ;  und  Csordas*  s  benehmen 
sich  noch  immer  anstandig,  es  gibt  keinerlei  Scherereien  mit 
ihnen.  Er  arbeitet  und  bekommt  dafiir,  was  ihm  ver- 
sprochen  worden  war,  —  und  die  paar  Groschen,  die  er 
sonst  noch  braucht,  ergeben  sich  aus  dem  Trinkgeld.  — 
Die  ersten  Nachte  nach  der  ihm  bis  dahin  unbekannten 
korperlichen  Arbeit  gehorten  dem  erschopften,  schwarzen 
Schlaf;  dann  gingen  die  zehnerlei  Bewegungen  und 
Kriimmungen  der  sinnlosen,  schmierigen,  von  Demutigung 
vcrgifteten  Hausarbeit  ihm  in  Beine,  Hiiften  und  Hande 
iiber:  und  da  begann  das  nachtliche  Drama  von  Halbschlaf 
und  unbezwingbarem  Wachsein.  Anfanglich  wiihlen  nur 
cinzelne,  zusammenhanglose  Bilder  und  Gedanken  mit 
crbebendcr  Regung  im  Halbschlaf  oder  in  der  Halb- 
schlaflosigkeit  durch  seinen  benommenen  Kopf,  —  sic 
kommen  und  verschwinden;  ein  Fliigel  mit  geoffnetcrn 
Deckel,  der  in  goldenen  Streifen  das  Sonnenlicht  zuriick- 
wirft;  ein  groBes,  gelbgebundenes  Buch  mit  schwarzen 
Buchstaben:  August  Strindberg,  aber  was  darunter  stand, 
konnte  er  schon  nicht  mehr  sehen,  nur  verworrene,  sinnlose 
Buchstaben  spiirte  er;  ein  groBes  Fenster,  darunter  ein 
langer  Zeichentisch  mit  einer  Menge  Kopfe,  die  sich  iiber 
ihn  beugen;  es  erscheint  ein  sausender  Bach,  an  seinem 
Ufer  ein  Haufen  entrindeter  Baumstamme;  dann  sieht  er 
cinen  Zug  mit  zahllosen  Wagen,  dann  eine  wimmclnde 
Bahnhofshalle.  Und  als  er  sich  in  einen  Traum  hineinqualt, 


da  zerfallen  die  vom  Dunst  halbnacktcr,  ruhcndcr  Korper 
faul  ricchcndcn  Wande  dcs  kleinen  Zimmers,  die  Dcckc 
tut  sich  ins  Uncndlichc  auf  und  das  Kaleidoskop  angstvoller, 
unbcgrcif  lichcr  Traume  wirbelt  ihm  in  gcbrochcncr  Bunt- 
hcit  Biicher,  Schulbanke,  unbekannte  Landschaften,  cine 
in  brauncm  Gesicht  weiB  glanzende  Zahnreihe,  schmale 
Damcnschuhe  mit  flachcn  Absatzen  und  den  langen 
gclblich-weiBen  Spitzbart  des  Zensors  bei  seinem  erstcn 
Examen  vor  die  muden  Augen.  Oft  befindet  er  sich  in 
Pauls  Zimmer  in  Wien,  und  immer  sitzt  er  in  dcmselben 
Sesscl,  auch  Rosette  und  Wirth  sind  da,  und  Paul  steht  vor 
dem  groBen  Biicherregal  und  spricht  mit  ausgestreckter 
Hand,  aber  er  versteht  nie,  was  er  sagt.  Und  dann,  in  einem 
schweren  Traum  gegen  Morgen  sieht  er  einmal  ein  Fenster, 
davor  einen  Kopf  und  eine  Faust,  er  weiB,  die  bis  an  die 
Lippe  hangende,  machtige  Nase,  die  aufgerissenen  Augen 
und  die  Ohren,  groB  wic  Segel,  sind  ihm  bekannt;  er  hort 
Tone,  kurz  und  scharf  zwischen  den  leuchtend  weiBcn 
Zahnen:  Ritus,  Spekulation,  Baudelaire,  Ford  ...  das  ist 
Feuerstein!  Feuerstein!  Stromender  Regen  schlagt  an  das 
vergitterte  Fenster  und  stopft  dem  Halluzinierenden  die 
schlafenden  Ohren  mit  trommelnden,  chromatischen 
Passagen,  und  unter  den  Tonen  sieht  er  Tilly  am  Fliigel  mit 
der  flammenden  Haarkrone  iiber  dem  milchweiBen  Gesicht. 
Einen  Traum  hat  er:  groBes  Gewimmel  ist  in  der  Aula  dcr 
Wiener  Hochschule,  Studenten  mit  Miitzen  drangen  sich,  und 
undeutliche  Stimmen  tonen  von  alien  Seiten,  und  er  selbst 
steht  hoch  oben  auf  einer  Treppe  und  hat  einen  machtigcn 
Besen  in  der  Hand,  und  die  Treppe  herauf  kommt  eine 
groBe,  schlanke  Frau  mit  bekanntem  Gesicht  und  flattern- 
dem  blondem  Haar  auf  ihn  zu,  mit  ihr  zusammen  Onkel 
Rudi,  sie  bleiben  vor  ihm  stehen,  und  die  Frau  zeigt  auf 
ihn:  wer  ist  das?  und  Onkel  Rudi  antwortet  erstaunt: 
kennen  Sie  ihn  nicht?  das  ist  Antal  Kadir,  mein  NcfFe, 
diplomicrtcr  Hausdiencr.  —  Nach  solchen  Traumen  griibt 
er  die  Nagel  in  die  Hand,  um  nicht  wciter  zu  schlafen,  — 

246 


und  dann  kommcn  die  bittcrcn  wachcn  Stunden  der 
Rcchenschaft.  Mary  im  andern  Bett  atmet  in  ruhigem, 
gesundem  Schlaf,  und  da  erhebt  sich  plotzlich  in  ihm  wie 
ein  Hcnkcrsknecht  die  Frage:  was  ist  aus  dir  geworden? 
was  aus  dem  groBen  Wollcn?  aus  den  groBen  Entschliissen? 
aus  Musik  und  Biichern  und  der  Erkenntnis  neuer  Dinge? 
was  ist  daraus  geworden,  daB  du  im  Kriege  nicht  gefailen 
bist  und  daB  dich  die  Rumanen  an  der  Demarkarionslinie 
nicht  erschossen  haben  und  daB  du  wahrend  des  arbeits- 
losen  Herumlungerns  nicbt  Hungers  gcstorben  bist  und 
daB  dicb  der  Scharlach  nicht  dahingerafTt  hat  und  daB 
cine  giftige  Umarmung  nicht  dein  Leben  in  den  Tod 
verdreckt  hat?  was  ist  daraus  geworden,  daB  dich  immer 
irgend  ctwas  geschiitzt  und  geleitet,  dir  den  Weg  ge- 
wiesen  und  dich  aufgerichtet  hat,  wenn  du  schon  zu- 
sammenbrachst?  —  Und  dann  fallt  das  Schwert  der 
Antwort:  Hausknecht  in  einer  Deptforder  Kneipe.  Seines 
Lebens  Korn  wird  still  zwischen  den  furchtbaren  Miihl- 
steinen  der  Alltage  und  Allnachte  zermalmt,  —  manch- 
mal  aber  stocken  die  Steine  knirschend:  irgendwo  ganz 
unten  ist  ein  Stiickchen  Stahl,  winzig  und  nicht  zu  zer- 
kleincrn,  —  ich  weiB,  daB  ich  wieder  hier  herauskommen 

werde,  aus  diesem 

Aus  diesem?  .  .  .  Woraus?  Lebst  du  denn  nicht  fein? 
schlagst  du  dir  nicht  jeden  Tag  den  Wanst  voll?  und  hast 
du  nicht  ein  Lager,  um  dich  auszustrecken,  wenn  du  miidc 
bist?  was  willst  du  mehr?  —  Der  Alte  ist  ein  braver,  gut- 
gcsinnter  Arbeitgeber,  der  nur  dafur  lebt,  jeden  Tag  ein 
paar  Groschen  zu  den  iibrigen  legen  zu  konnen;  wenn  cr 
ihn  zur  Arbeit  antreibt,  so  tut  er  es  mit  guten  Worten,  nie- 
mals  laBt  er  ihn  fiihlen,  was  er  heute  gewiB  schon  weiB: 
daB  er  ihn  aus  dem  Rinnstein  aufgelesen  hat.  Auch  die  Frau 
hat  ihn  gern,  dieses  ruhige,  narrische  Geschopf,  manchmal 
schlieBt  sic  sich  stundenlang  in  ihr  Zimmer  ein,  einmal  war 
cr  bloB  in  diesem  Zimmer  und  nur  fur  einen  Augcnblick: 
an  der  Wand  dem  Bett  gegeniiber  hangen  zwei  lebensgroBe 


Fotografien,  reich  mit  schwarzem  Flor  umrahmt,  sichcr 
vcrgroBerte  Bilder  von  Pali  Csordas  und  John  Crcssc.  Und 
der  klcinc  Dummkopf  Gyuri  steckt  ihm  Zigaretten  zu  und 
nimmt  ihn  manchmal  mit  zum  FuBballmatch.  Geringfiigigc 
Rcibcrcicn  und  Unannchmlichkeiten  gehcn  an  ihm  voriiber, 
als  wolltcn  sie  ihm  einen  Wink  geben:  ein  gliickliches  Los 
hat  dich  hergefiihrt,  wisse  das  zu  schatzen,  —  ein  hinaus- 
gejagter  Kellner  zeigt  sie  bei  der  Behorde  an,  weil  sie  einen 
Auslander  angestellt  haben:  die  Frau  nimmt  ihn  mit  in  die 
Amtsstube  und  sagt,  er  sei  ihr  Neffe  und  bekame  auch  gar 
keinen  Lohn,  und  schon  ist  die  Sache  erledigt.  Dennoch 
kann  er  nicht  widerstehen  und  macht  dem  Alten  gegeniiber 
einmal  cine  Anspielung,  ob  er  ihm  nicht  soviel  Geld  leihcn 
wxirde,  daB  er  nach  Hause  fahren  konne.  ,,Fiihlst  du  dich 
denn  bier  nicht  wohl?"  fragt  Csordas  ein  wenig  tadelnd, 
,,und  auBerdem  konntest  du  wissen,  daB  ich  mein  Geld  nicht 
dazu  spare,  daB  — ",  aber  sie  sind  deswegen  einander  nicht 
bdse.  —  Und  dann  schreckt  er  in  einer  Winternacht  aus 
einem  schwiilen  Traum  auf  und  sieht  im  Dunkeln,  daB  Mary 
im  andern  Bett  sitzt.  Er  fliistert  ihr  zu :  ,,Mary,  schlafst  du 
nicht?"  —  ,,Nein",  antwortct  sie,  ,,du  auch  nicht?"  Einige 
Minuten  herrscht  Stille,  in  seiner  Brust  tobt  es  wie  rasend, 
vor  den  Augen  flammt  ihm  alles  in  roten  Wogen,  und  seine 
Nasc  saugt  in  begehrlichem  Hunger  den  Nachtgcruch  dcs 
schwarzen  Zimmers  ein,  —  und  da  steigt  er  vom  Bctt  und 
geht  auf  zittcrnden  FiiBen  auf  das  andere  Bett  zu  .  .  . 
Nun,  Antal  Kidar,  was  willst  du  noch  mehr  auBer  der 
griinen  Schurze,  dem  Besenstiel,  dem  rcichlichen  Brot, 
dem  Freibier,  dem  Dampfbad  am  Sonntagmorgen,  der 
elterlichen  Giite  der  Familie  Csordis  und  der  demuti- 
gen,  den  Herrn  in  dir  ahncnden  Umarmung  der  Magd 
MaryPl 


'3 

FAST  cin  Jahr  ist  cs  schon,  daB  er  zu  Csordas's  gekommen 
1st.  Er  kann  schon  ganz  gut  Englisch.  Seine  Hande  sind 
rauh  und  rot.  In  der  Gegend  kennt  man  ihn  bereits.  Er 
freundet  sich  mit  den  Arbeitern  aus  der  Stahlfabrik  an. 
Ganz  gcnau  weiB  er  schon,  welche  Mannschaft  in  der  Pro- 
fessionistcn-Liga  fiihrt.  Und  die  Tage  voll  Hausknechts- 
arbcit  ziehen  Paul,  Biicher,  Hochschule,  Architektur, 
Karricre  hintcr  einen  didtfen,  grauen  Vorhang;  und  die 
Nachte  mit  Mary  verschiitten  die  Stimmen  der  Musik,  die 
Erinnerung  an  Tilly.  Leben  und  Erinnerungen :  alles  wird 
kleiner  und  triibe;  an  nichts  braucht  cr  zuriickzudenken,  — 
er  hat  weder  Grund  noch  Gelegenhcit  dazu,  —  und  dann, 
selbst  wenn  er  wollte,  konnte  er  nicht  mehr. 

Eines  Morgens  verirrt  sich  wieder  ein  Ungar  in  die 
Kncipe.  Kadar  stcht  in  der  oficnen  Tiir,  die  grime  Schiirzc 
um,  cr  schaut  auf  die  StraBe.  Auf  dem  FuBsteig  kommt  cin 
Mann  mit  cincm  griinen  Hut;  als  er  vor  dem  Eingang  an- 
gelangt  ist,  macht  er  plotzlich  halt,  bleibt  einen  Augenblick 
stehen,  dann  streckt  er  die  Hand  nach  dem  Schild  aus  und 
sagt  auf  Ungarisch:  ,,ach,  nein,  das  hab  ich  auch  nicht 
gewuBt,  daB  es  in  London  ein  ungarisches  Restaurant 
gibt!"  —  und  erwartungsvoll  blickt  er  Kadar  an.  ,Ja,  ja, 
das  gibts",  antwortet  er  und  reicht  ihm  die  Hand,  ,,was 
suchcn  Sic  denn  in  dieser  Gegend?"  Nur  Margit  ist  ?u 
Hause,  zu  dreien  sitzen  sie  an  cinem  Tisch,  und  der  An- 
kommling,  —  Pista  Toth,  —  erzihlt  cifrig,  vom  Bierkrug 
und  der  ungarischen  Sprache  angeregt.  Pista  T6th,  — 
so  nennt  er  seinen  Namen,  —  ist  Privatdiencr  bei  Herrn 
Legationsrat  v.  Szervinszky,  hier  an  der  Gesandtschaft,  in 
diesem  bodenlos  groBen  London.  Und  hier  in  diese  Gegend 
war  er  gekommen,  well  der  Herr  Rat  ihn  zu  scincm 
friihcren  cnglischcn  Diener  geschickt  hat,  nach  einem 
Paar  Stiefel  fragen,  die  verschwunden  waren  . . .  es  sei  doch 
besser,  einer  solchen  Sache  personlich  nachzugehen.  Aber 

249 


natiirlich  konne  er  Englisch  .  .  .  nicht  gcradc  bcsondcrs 
gut,  afocr  doch  immerhin  gcnug,  daB  man  ihn  nicht  vcr- 
kaufen  konne,  —  dcnn  bcvor  cr  hicrher  gckommen  sci  zu 
Hcrrn  Rat  v.  Szervinszky,  war  er  schon  voile  scchs  Jahrc 
Dicncr  bci  Herrn  Barnes,  dem  graflichen  cnglischcn 
Trainer,  in  Alag  gewcscn.  Nun  also,  der  gewissc  fruhcre 
Diener  wohnt  in  dieser  Gegend,  in  Deptford  in  einer 
Griffin  Street,  so  war  er  hergekommen.  —  Ungarische 
Gesandtschaft,  —  vor  Kddars  Augen  leuchtet  ein  Monokel 
und  ein  scharfer  Scheitcl  auf  hcllblondem  Kopf  auf,  und  er 
hort  cine  Stimme:  nein,  das  ist  doch  nicht  Ihr  Ernst  .  .  . 
die  Gesandtschaft  ist  wirklich  nicht  in  der  Lage  ...  das 
Bier  wird  ihm  sauer  im  Mundc,  aber  er  hort  Pista  Toth 
wciter  zu,  der  redselig  ist  und  sich  in  der  lauen,  nach  Bier 
riechenden  Schenke  wohlfiihlt.  Lang  und  breit  erzahlt  er 
von  seinem  Herrn,  —  ein  feiner  Herr  ist  er,  reitet  blendend, 
und  die  schonen  englischen  Damen  haben  ihn  sehr  gern,  — 
dann  spricht  er  von  sich,  wie  er  eben  auf  Empfehlung  des 
Grafen  nach  London  gekommen  sei  zum  Herrn  Rat,  und 
kaum  sei  er  hier  gelandet,  ,,da  hat  mich  ein  Teufelswind 
beinahe  nach  Afrika  geblasen",  sagt  er,  ,,das  war  eine  merk- 
wiirdige  Geschichte.  Denken  Sic  sich  bloB,  mein  Herr 
verkehrte  hier  bei  einer  Architektenfamilie,  stcinreichen 
Leuten,  dort  traf  er  eine  Witwe,  deren  Mann,  als  er  noch 
lebte,  der  Kompagnon  jenes  Architekten  war,  —  na,  und, 
Sie  mogen  cs  glauben  oder  nicht,  die  Witwe  war  eine 
Ungarin,  stammte  aus  Kassa.  Pista,  hat  der  Herr  Rat  zu 
mir  gesagt,  das  ist  eine  stramme  Frau,  jetzt  fiihrt  sie  das 
Geschaft  selbst,  die  muBt  du  dir  ansehen!  der  Herr  Rat 
steht  namlich  sehr  gut  mit  mir,  ein  netter,  feiner  Herr  ist 
er,  —  also,  das  hat  er  eines  Morgens  zu  mir  gesagt,  als  cr 
mich  mit  einem  groBen  Blumenstraufi  zu  der  Dame  schickte. 
Sie  wohnt  in  einem  feinen  Hotel,  weifi  der  Kuckuck,  wie  es 
heiBt,  in  der  StraBc,  wo  ihre  Kompagnons  das  Biiro  haben, 
denn  sie  sind  wohl  zu  vieren  oder  fiinfen;  Alexander  oder 
so  heiBen  sie,  —  also,  ich  gehc  mit  meinen  Blumen  los  in  der 

250 


griinen  Jagerlivree,  und  da  ich  nun  wuBte,  daB  die  Dame 
Ungarin  ist,  griiBe  ich  sic,  als  man  mich  zu  ihr  reinlaBt, 
kuB  die  Hand,  gnadige  Frau,  guten  Morgen  wiinsch  ich, 
sag  ich  zu  ihr  auf  Ungarisch.  Natiirlich  hat  sie  sich  dariiber 
gefreut  Na,  und  da  ergab  sich  ein  Wort  aus  dem  andern, 
schlieBlich  sagte  ich  zu  ihr,  das  ware  hier  eine  Stelle  fur 
mich,  gnadige  Frau,  ich  habs  zwar  beim  Herrn  Rat 
Szervinszky  sehr  gut,  aber  diese  Herren  von  der  Gesandt- 
schaft  werden  einmal  hierhin  versetzt,  cinmal  dorthin 
geschickt,  und  so  ein  unruhiges  Leben  ist  nichts  fur  mich, 
zuletzt  war  ich  auch  sechs  Jahre  auf  einer  Stelle,  in  Alag. 
Da  fangt  die  Dame  an  zu  lachen  und  sagt,  aber  ich  Jebe  ja 
nicht  in  London,  sondern  in  Kapland  oder  weiB  der 
Teufel  wo,  in  Afrika,  aber,  hat  sie  gesagt,  wenn  ich  wolle, 
nehme  sie  mich  mit,  es  sei  sowieso  nicht  angenehm,  unter 
den  schrecklich  vielen  Fremden  so  allein  zu  sein,  denn  Sic 
wissen  ja,  ihr  Mann  ist  tot.  Oh,  kiiB  die  Hand,  habe  ich  ihr 
geantwortet,  das  ist  mir  zu  weit,  von  da  kommt  man  ja  nie 
mehr  zuriick  .  .  ."  Und  cr  redet  weiter,  nun  wieder  vom 
Herrn  Rat  und  dem  feinen  Leben  in  London  und  der  Menge 
schoner  Londoner  Damen,  die  seinen  Herrn  so  gern  haben, 
und  wie  er  so  redet,  da  regt  sich  in  Kadar  leise  und  ganz 
ticf  innen  das  Stahlkornchen,  und  bei  Pista  Toths  Ge- 
murmel  blcibcn  die  Miihlsteine  auf  einmal  laut  knirschend 
stchen,  —  ,,wie  heiBt  die  Dame  eigentlich?"  fragt  er  ganz 
obenhin  und  hat  plotzlich  das  bestimmte  Gcfiihl,  jet^r 

wiirde  irgend  etwas  beginnen ,,Eine  Frau  Meier", 

wirft  Pista  Toth  hin,  und  spricht  weiter.  Jetzt  kann  er  nicht 
mehr  aufpassen,  —  Worte  wiihlen  ihm  durch  den  Kopf, 
keins  von  ihnen  versteht  er,  keins  weiB  er  genau;  und  als 
nun  jemand  in  die  Wirtsstube  tritt,  springt  er  an  den 
Schanktisch  und  setzt  sich  dann  nicht  wieder  zu  den  beiden 
zuruck,  sondern  geht  in  die  Stube  des  Alten,  nimmt  aus 
dem  Wandschrank  das  Telefonbuch,  sucht  das  Branchen- 
verzeichnis  und  blattert  mit  zitternder  Hand  bis  dahin,  wo 
stcht:  Builders.  Die  erste  Adrcsse,  die  er  am  Anfang  der 

251 


Spaltc  erblickt,  1st:  Abley,  Alexis,  Hutton,  Myers  &  Scott, 
42  Piccadilly.  Alexander . . .  das  wird  Alexis  sein,  —  Myers . . . 
Pista  Toth  hattc  etwas  von  ciner  Frau  Meier  gesagt.  Das 
Gitter  am  Fenster  fangt  an  zu  tanzen,  die  Decke  klafFt 
verschoben  iibcr  seinem  Kopf,  der  Wandschrank  will 
das  Telcfonbuch  seiner  unsichercn  Hand  nicht  wieder  ab- 
nehmen,  durch  die  offcne  Tiir  brummt  die  Stimme  Toths 
in  leisem  und  monotonem  Durcheinander,  und  in  diesem 
wiistcn  Ringclspiel  ist  nur  ein  Ton  scharf,  nur  ein  Licht 
hell,  —  der  singt  und  das  strahlt  in  seinem  Inncrn:  Piccadilly 


14 

SlND  Sic  diplomierter  Bauingenieur?"  fragt  Mrs.  Myers, 
geborene  Ilona  Szabo  aus  Kassa.  ,,Nein",  antwortet  er 
leichthin,  ,,ich  habc  bisher  nur  zwei  Examina  abgelegt .  .  . 
aber  ich  habe  Ideen."  Mrs.  Myers  sitzt  hinter  einem 
machtigcn,  breiten  Schreibtisch,  Kadar  ihr  gegeniiber  auf 
einem  niedrigen  Sessel.  Noch  zwei  Lehnstuhlc,  an  der 
hintern  Wand  ein  niedriger  Glasschrank:  das  ist  das  ganzc 
Mobiliar  des  kleinen  Zimmers. 

Wie  war  er  hierher  gekommen?  Am  Tage  nachdcm 
Pista  Toth  sich  ins  Wirtshaus  verirrt  hatte,  bat  er  den  Alten 
um  Urkub  fur  einen  Vormittag;  er  rannte  ins  Dampfbad, 
zog  seinen  guten  grauen  Anzug  an  und  stand  um  elf  Uhr 
auf  dem  Piccadilly  vor  einem  dreistockigen,  vornehmen, 
palastattigen  Haus.  Die  durch wachte  Nacht,  das  heifie 
Wasscr  und  der  Dampf  des  morgendlichen  Bades  rasten  in 
iiberhetzter  Lebhaftigkcit  durch  seinen  Korper.  Am  Haus- 
tor  hing  eine  schwarze  Marmortafel,  kaum  grdficr  als  eine 
Postkarte,  und  darauf  stand:  Ablcy,  Alexis,  Button, 
Myers  &  Scott,  Building  Co.  Ltd.  Er  klingelte  im  ersten 
Stock  an  einer  niedrigen  weifien  Tiir,  an  der  kleine  schwarze 
Buchstaben  anzeigten:  Office-Bureau.  Ein  Diener  in 


dunkclblauem  Dienstanzug  offnetc.  ,,Ich  mochte  Mrs.  Myers 
sprechen."  —  ,,Geschaftlich?"  —  ,,Nein,  privat."  — 
,,Dann  suchen  Sic  Mrs.  Myers  bitte  nachmittags  nach  fiinf 
Uhr  im  Berkeley  Hotel  auf."  —  Er  fiihlt,  wie  ihm  jeder 
Tropfen  Blut  aus  den  Wangen  weicht,  als  er  gegen  halb 
sechs  den  Hotelportier  fragt:  ,,Mrs.  Myers?"  —  ,,Jawohl, 
die  Dame  1st  zu  Hause",  antwortet  der  Portier  und  sagt  die 
Zimmernummer.  —  Und  dann  steht  er  in  einer  Art  Diele 
vor  einer  Frau  in  dunklem  Kleid,  wohl  einer  Zofe.  ,,Mrs. 
Myers?"  sagt  sie,  ,,ja,  sie  ist  zu  Hause,  wen  darf  ich 
melden?"  —  ,,Antal  Kadar,  sagen  Sie  bitte  der  gnadigen 
Frau,  ich  sei  Ungar  und  bate  sie  um  cine  kurze  Unter- 
redung."  —  Bald  darauf  offnet  sich  die  kleine  Glastiir. 
,,Sie  sind  Ungar?  und  suchen  mich?"  fragt  eine  Jung  aus- 
sehende  Dame  im  Trauerkleid,  die  in  der  Tiire  steht. 
Kadars  groBe,  breitschultrige  Gestalt,  sein  guter  Anzug 
und  seine  guten  Schuhe,  sein  glatt  zuruckgekammtes, 
leuchtend  blondes  Haar,  sein  reines  Gesicht  und  seine 
klarblickenden  Augen  konnten  der  fremden  Dame  den 
Bettler  nicht  verraten  —  und  tatsachlich:  Kadar  war  in 
diesem  Augenblick  alles  andere  als  ein  Bettler.  Seine  Ncrven 
spannten  sich  plotzlich,  seine  Phantasie  flog  laut  pochend, 
und  in  seiner  auBersten  Entschlossenheit  war  er  der 
Dichter  eines  herrlichen  Traumes,  der  Lenker  einer  ent- 
scheidenden  Schlacht,  und  wenn  es  sein  muBte,  der  Rauber, 
jeder  Gemeinheit  fahig.  In  leichtem,  unbefangenem  Ton 
nennt  er  seinen  Namen,  —  kraftig  hebt  er  die  Hand  der 
Dame  an  die  Lippen  und  kuBt  sie,  —  leicht  plaudernd 
bittet  cr  sie  um  eine  kurze  Audienz.  Zwischendurch 
beobachtet  er  erstaunt  und  fast  verbliifTt  seine  eigene 
Stimme,  seine  cigenen  Bewegungen,  —  Theater,  Herrgott, 
ich  spiele  gut  .  .  .  oder  bin  ich  vielleicht  lacherlich  und 
mcrkc  cs  nicht?!  —  Er  spricht  mit  reiner  Aussprache, 
fchlerlos,  seine  Worte  sind  gewahlt  und  dennoch  einfach; 
er  hat  nichts  vergessen  und  verlernt,  und  Mrs.  Myers  steht 
bereits  im  ersten  Augenblick  unter  dem  sentimentalen 


Zauber  der  Muttcrsprachc.  Sic  schrciten  durch  zwei 
pompos  eingerichtete  Zimmer,  dann,  in  dem  kleinen 
Arbeitszimmer,  setzt  sich  Mrs.  Myers  und  bietct  ihm  gegen- 
viber  Platz  an.  Kadar  betrachtet  sie :  kaum  bis  an  die  Schulter 
mag  sie  ihm  reichen,  aber  sie  hat  eine  frische,  jugendliche 
Figur.  Die  energischen  Gesichtsziige  losen  sich  in  den 
Schattierungen  der  leicht  kreolenhaften  Hautfarbe  auf. 
Kurzes,  kohlschwarzes  Haar,  vorn  tief  in  die  Stirn  gekammt. 
Auch  die  Augen  sind  kohlschwarz.  Er  blickt  auf  ihre 
Hand,  wie  sie  eine  Zigarette  ansteckt:  die  Hand  1st  schmal 
mit  langen  Fingern  und  rosa  glanzenden  Nageln.  Und 
ich  .  .  .  bin  einen  Kopf  groBer,  habe  blondes  Haar  und 
blaue  Augen  und  .  .  .  eine  unbedingt  schone  Frau.  Dieses 
stille  Mustern  und  unwillkurhche  Abtaxieren  wird  von  ihr 
unterbrochen,  als  sie  nach  der  Zigarettenschachtel  zeigt: 
,,bitte  .  .  .  also,  Sie  sind  Ungar."  —  ,Ja,  gnadige  Frau,  ich 
bin  Ungar  .  .  /'  und  weiter  beobachtet  er  wie  sein  eigcner 
Zuschauer  mit  GenuB  seine  sichere,  kiihl  und  klug  iiber- 
legene,  ruhige  Stimme:  ,,Ungar  .  .  .  das  heiBt,  wie  man  es 
nimmt,  in  gewissem  Sinne  Kosmopolit.  Jedenfalls  stamme 
ich  aus  Siebcnbiirgen  von  einer  sachsischen  Familie  ab, 
bisher  habe  ich  auBer  in  Budapest  hauptsachlich  in  Wicn 
und  ...  in  Deutschland  gelebt,  ein  wenig  auch  in  Frankreich 
und  in  der  Schweiz,  voriibergehend,  nur  cin  paar  Monate  . . . 
ja,  die  Studentenjahrc  sind  nur  dann  schon,  wenn  sie  Ab- 
wechslung  bringen.  Aber  leider  ist  Mitteleuropa,  vielleicht 
sogar  der  ganze  Kontinent  irgendwie  doch  nicht  das, 
was  ..."  —  er  blast  den  Rauch  hoch  in  die  Luft  und  sieht 
ihm  mit  gerunzelter  Stirn  nach,  —  ,/was  den  Ehrgeiz  und 
die  Phantasie  eines  jungen  Mannes  von  heute  befriedigen 
k6nnte.  Der  Krieg  ist  nicht  in  der  Weise  Hquidiert 
worden  ..."  —  was  fiir  eine  fremde  Stimme!  —  ,,der  nach 
dem  Kriegc  zusammcngebrochene  und  vielleicht  immer 
weiter  sinkende  Kontinent  ..."  —  dicse  Stimme  .  .  .  das 
ist  ja  Feuersteins  Stimme!  ...  —  ,,der  Kontinent  ist  fur 
Dczennien  materiel!  und  geistig  total  verwirrt,  und  wenn 

254 


ein  junger  Mann  seinen  Plate  unter  der  Sonne  finden 
so  gibt  es  keinen  andern  Wcg  fur  ihn  als  Amerika  oder . .  ." 
und  wie  zufallig  sicht  er  jetzt  der  Frau  ins  Gesicht,  —  ,,oder 
die  Kolonien  einer  Weltmacht."  —  ,,Meinen  Sie?"  sagt 
Mrs.  Myers,  ,,und  was  haben  Sie  denn  fiir  Plane?"  Fertige 
Plane  habe  er  vorlaufig  noch  nicht,  vorlaufig  lebe  er  hier 
in  London,  voriibergehend,  vielleicht  wiirde  er  bei  einem 
gutrenommierten  Architekten  als  Volontar  unterzukommen 
suchen.  ,,So?  Sind  Sie  fertiger  Bauingenieur?"  —  ,,Nein, 
bisher  habe  ich  nur  zwei  Examina  abgelegt,  aber  ich  habe 
Ideen."  Da  fliegr  eine  etwas  triibe  Wolke  iiber  ihr  Gesicht, 
nur  fiir  einen  Augenblick,  aber  er  bemerkt  es  und  wartet 
geradezu  auf  die  Frage:  ,,Sagen  Sie  mal,  wie  haben  Sic 
eigentlich  meine  —  wie  sind  Sie  eigentlich  zu  mir  ge- 
kommen?"  —  ,,Bei  der  —  der  Gesandtschaft  .  .  ."  entfahrt 
ihm  das  Wort,  und  schon  lauft  es  ihm  kalt  iiber  den  Riicken 
wegen  dieser  Unbedachtsamkeit,  ,,das  beiBt,  ein  Freund,  der 
bei  der  Gesandtschaft  verkehrt . . .  und  so,  da  Sie  doch  Ungarin 
sind"  —  ,,Ah",  sagt  Mrs.  Myers,  erhebt  sich,  geht  an  den 
Rauchtisch,  eine  neue  Zigarette  brennt  in  ihrem  Mund, 
dann  stellt  sie  sich  etwas  unvermittelt  und  mit  eckiger  Be- 
wegung  vor  ihn  hin  und  blickt  ihm  ins  Gesicht:  ,,Sehen 
Sie  mal.  Ich  weiB  nicht,  wer  Sie  sind,  aber  auf  zwei  Fragen 
mochte  ich  aufrichtige  Antwort  haben,  verstehen  Sie?  fair 
play!  WuBten  Sie,  als  Sie  herkamen,  daB  ich  durch  meinen 
verstorbenen  Mann  an  einem  groCen  Bauunternehmen  be- 
teiligt  bin?  Ja?"  —  ,,Ja",  antwortet  er  und  fiihlt,  wie  die 
zuriickgedrangte  Erregung  ihm  den  Brustkasten  zu  spren- 
gen  droht,  ,,und  wenn  ich  cs  nicht  gewuBt  hatte,  in  dem 
Augenblick,  als  ich  das  Firmenschild  Ihres  Biiros  sah  — tl 
jja",  fahrt  Mrs.  Myers  fort,  ,,und  jetzt  sind  Sie  hier,  damit 
ich  Ihnen  eine  Anstellung  bei  unserer  Firma  verschaffe? 
ja?"  —  Und  nun  .  .  .  nun  hinstiirzen,  sich  vor  diese  bciden 
schmalen  schwarzen  Schuhe  wcrfen  und  in  unerhdrter 
Qual  hicr,  vielleicht  an  der  richtigen  Stelle,  alles  ausweinen, 
was  bisher  gewesen  ist,  das  fiirchterliche  Leben,  die 


fiirchtcrlichcn  Menschen,  die  fiirchtcrlichcn  Schicksale  — 
und  flchen,  mit  der  Erniedrigung  eines  geborcncn  Settlers 
oder  mit  der  Aufrichtigkcit  eines  zu  besserm  Los  Bestimmten 
flehcn  und  nicht  eher  aufstehcn,  als  bis  er  eine  Anstellung 
als  Zeichner  mit  vier  Pfund  Gchalt  in  der  Woche  —  o  nein. 
Hier  gibt  es  keinen  Mittelwcg,  kcine  vier  Pfund  pro  Woche 
und  keine  Anstellung  als  Zeichner,  —  hier  gibt  es  entweder 
die  ganze  Welt  oder  ein  paar  lumpige  Schilling,  Vargas 
lumpige  Schillinge.  Und  dann,  alle  Nervenfasern  bis  zum 
auBersten  angespannt  und  mit  einer  letzten  Kraftanstren- 
gung  hinter  der  faltenlosen  Stirn  und  den  frcundlich,  ein 
wenig  ubcrlegen  lachelnden  blauen  Augen  sagt  er:  ,,Mein 
Gott  .  .  .  cine  Stellung  in  einem  Londoner  Hiiro?  Sic  sind 
sehr  liebenswiirdig,  gnadige  Frau,  und  verpflichten  mich 
zu  groBem  Dank,  abcr,  nehmen  Sie  es  mir  nicht  iibcl, 
dariiber  bin  ich  schon  hinaus."  Seine  Hand  greift  unauf- 
gefordert  nach  der  Zigarettenschachtel,  macht  dann  in  der 
Luft  halt,  und  langsam,  ohne  Zittern  senkt  sie  sich  auf  die 
Tischkante.  Seine  Augen  suchen  mit  klarem,  blauem 
Strahlen  das  schwarze  Augenpaar.  ,,Aber  .  .  .  wenn  Sie 
mich  mitnehmen  wollcn  nach  Afrika,  dorthin  wiirde  ich 
mit  Ihnen  gehen." 

Nach  drei  Viertelstunden  ist  er  wieder  auf  dem  Picca- 
dilly, alles  tobt  und  braust  in  ihrn,  und  er  hat  das  Gefuhl, 
die  erste  Schlacht  gewonnen  zu  haben.  Mrs.  Myers  hat  ihm 
nicht  die  Tvire  gewiesen.  Nein.  Als  er  sagte:  nach  Afrika 
wiirde  ich  mit  Ihnen  gehen,  —  brannten  ihre  Augen  ein 
wenig  frappiert  auf  seinem  Gesicht,  dann  glitt  der  Blick 
von  ihm  ab,  und  Mrs.  Myers  sprach  sofort  von  etwas 
anderm;  sie  erkundigte  sich  nach  Ungarn,  das  sie  vor  elf 
Jahren  als  siebzehnjahriges  junges  Ding  verlassen  hatte, 
um  nach  London  ubcrzusicdcln,  wo  die  Firma  des  vcr- 
storbenen  Herrn  Myers  und  seiner  Kompagnons  war.  Abcr 
1913  lebten  sie  bereits  in  Sydney;  Myers  Icitctc  namlich  die 
kolonialen,  beziehungsweisc  die  au&ereurop&ischen  Ange- 
legenheiten  der  Firma,  —  seit  1917  wohntcn  sie  dann  in  Port 

256 


Elizabeth  bis  zum  vorigen  Jahr,  als  die  grauenhafte  Sache 
passierte  .  .  .  ihre  Augen  verschleiern  sich  ein  wenig,  ,,nie- 
mals  war  auch  nur  das  geringste  geschehen,  dabei  hatten 
sic  mindestens  schon  hundertmal  im  Flugzeug  gesessen, 
aber  vorigen  Herbs t  muBte  Myers  in  Vertretung  des  einen 
Sozius  nach  Dublin  reisen,  und  der  Flugapparat  erlitt  in 
unmittelbarer  Nahe  Londons,  tiber  Watford  einen  Motor- 
defekt,  entziindete  sich  und  stiirzte  aus  siebenbundert  Meter 
Hohe  ab  .  .  ."  —  Dann  sprechen  sie  von  etwas  anderm. 
Von  Kadar.  Von  seinen  Eltern,  die  vor  dem  Kriege  eine 
Papierfabrik  hatten.  Von  den  Londoner  Bekannten,  bei 
denen  er  wohnt  und  die  Besitzer  mehrerer  Immobilien 
in  Londons  Umgebung  sind.  Von  seinem  Freund,  dem 
jungen  Wiener  Millionarssohn,  mit  dem  er  auf  eine  mehr- 
monatige  Studienreise  hierhergekommen  und  der  das  Opfer 
eines  eigenartigen  StraBenunfalls  geworden  war  .  .  . 
,,haben  Sie  es  nicht  gelesen?"  —  und  dann  kommt  das 
Gesprach  irgendwie  wieder  auf  Port  Elizabeth,  —  dk- 
Verhandlungcn  mit  den  Kompagnons  sind  gerade  ab- 
geschlossen,  —  sie  behalt  den  Anteil  ihres  Mannes  am  Ge- 
schaft,  das  heifit,  sie  laBt  ihn  sich  nicht  auszahlen,  und  das 
Un*ernehmen  in  Kapland  beabsichtigt  sic  weiterzufiihren, 
schlieClich  hat  sie  ja  in  den  vier  Jahren,  wahrend  derer  sie 
in  den  Betrieb  Einblick  tun  konnte,  die  Angelegenheiten 
und  den  Geschaftsgang  iiberhaupt  kennengelernt,  die  Leute 
unten  sind  auch  vortrefflich,  und  schlieBlich  kann  man 
seine  Interessen  nur  selbst  und  an  Ort  und  Stelle  ent- 
sprechend  wahren  .  .  .  aber  vor  allem,  wer  einmal  dort 
unten  gelebt  hat  in  der  Kapkolonie,  der  kann  sich  anden- 
wo  nicht  mehr  recht  —  ,,Ungarn?  mein  Gott,  viellcicht 
spatcr  einmal,  aber  nur  auf  einen  kurzen  Besuch  .  .  .lfc  und 
dabei  lacht  sie,  ,,nein,  ich  sehne  mich  wirklich  kaum  nach 
Hause  .  .  .  nein,  i  wo,  bose  bin  ich  nicht  auf  meine  Heimat! 
ich  habe  nur  keinen  Kontakt  mehr,  natiirlich  .  .  .  Aber 
glauben  Sie  mir,  manchmal  verlangt  es  einen  nach  der 
Muttersprache,  —  kiirzlich  hat  sich  mir  eln  ungarischer 

17  Kiirincndi.  ttudftpofft  257 


Diener  vorgestellt,  er  kam  von  einem  Herrn  von  der 
Gcsandtschaft .  .  .  Both  oder  T6th  hieB  er .  .  ."  —  o  Gott, 
wenn  ich  jetzt  rot  werde  .  .  .  aber  sein  Gesicht  blieb  un- 
verandert,  und  sein  Herzklopfen  horte  nur  cr  selbst.  Dann 
wurde  ihm  gestattet,  sich  in  den  nachsten  Tagen  telefonisch 
zu  melden,  und  damit  ging  er. 

Er  geht  iiber  die  StraBe :  die  erste  Schlacht  ist  gewonnen. 
Mrs.  Myers  denkt  jetzt  gcwiB  dariiber  nach,  was  ich  von  ihr 
wollte  . . .  Die  verklungenen  Worte  kommen  ihm  wieder  und 
wieder  ins  Ohr,  und  wie  er  sich  das  Bild  der  Frau  vor  die 
Augen  zuriickruft,  da  steigt  unumstoBlich  das  Gefiihl  in 
ihm  auf,  von  hier  aus,  vom  Piccadilly  wird  sein  Weg 
beginnen,  nun  endgiiltig,  aufwarts,  dem  Wohlstand,  der 
Erfiillung,  dem  Gelde  zu!  Im  Voriibergehen  blickt  er  in 
einen  groBen  Schaufensterspiegel,  —  er  bleibt  stehen,  tritt 
zuriick  und  betrachtet  seine  Gestalt  im  Spiegel.  Diesen  .  .  . 
Anzug  darf  ich  nicht  mehr  ablegen!  die  griine  Schiirze 
darf  ich  nicht  mehr  anziehen!  —  Der  Himmel  ist  eine  einzige 
graue  Glocke,  und  zeitweise  fangt  es  an  zu  regnen.  Ich  muB 
mich  in  den  Autobus  setzen  .  .  .  oder  in  eine  Taxe.  Und  wie 
vieles  gibt  es  noch,  wird  es  noch  geben,  was  ich  jetzt,  in 
diesen  Tagen  alles  noch  tun  oder  haben  muB.  Vor  allem 
brauche  ich  freie  Zeit,  —  und  Geld.  Wie  konnte  ich  mir 
Geld  verschaffen?  wen  konnte  ich  um  Geld  bitten?  von 
wem  welches  bekommen?  —  der  alte  Csordas  gibt  mir 
sicher  nichts.  Du  weiBt  doch  sehr  gut,  daB  ich  mein  Geld 

nicht  darum  spare,  um vielleicht  Margit?  Margit  hat 

ja  kein  Privatgeld,  —  und  warum  sollte  sic  ihm  auch  etwas 
geben?  Gyuri?  von  seinen  zwei  Schilling  Taschengeld  in 
der  Woche?  Und  was  er  selbst  noch  besitzt,  —  ein  Pfund 
und  einige  Schilling,  —  was  kann  man  damit  anfangen? 
Abcr  ich  muB  mir  Geld  verschaffen,  unbedingt!  zu  allererst 
hangt  es  davon  ab,  —  alles  hangt  davon  ab  — .  Am 
Rande  des  Cattle  Market  stcht  Barbara's  Public  House,  — 
und  hinten  in  dem  einen  Lokal  sind  drei  Automaton,  ein 
Penny-,  ein  Halber-Schilling-  und  ein  Ein-Schilling- 

258 


Automat  .  .  .  einmal  war  ich  da  mit  Gyuri,  —  Dummheit. 
Wozu  auch  nur  einen  einzigen  Penny  fiir  diesen  Schwindel 
riskieren?  beim  Mauscheln  habe  ich  einmal  dreihundert 
Kronen  gewonnen,  in  Innsbruck,  aber  das  hier  ist  Schwin- 
del, um  Dockarbeitern,  Gepacktragern,  Marktstrolchen, 
Schlachtergesellen  ein  Scherflein  aus  der  Tasche  zu 
locken.  —  Ich  muB  doch  den  alten  Csordis  um  Geld  bitten, 
naturlich  nur  geliehen,  —  Csordas  bacsi,  bitte  nur  fiir  eine 
Woche,  nur  fiir  eine  Woche  brauch  ich  etwas  Geld,  reiche 
Vcrwandte  sind  angekommen,  und  mit  denen  —  - 
Unsinn!  hort  er  die  brummige  Stimme  des  Alten,  wo  von 
willst  du  es  denn  zuriickbezahlen?  und  wenn  die  Verwandten 
reich  sind,  warum  bezahlen  sic  dann  nicht  das  Vergniigen? 
mein  Geld  spare  ich  nicht  dazu  —  Oder  vielleicht  irgend- 
eine  Arbeit  ubernehmen?  .  .  .  Idiot!  jetzt  auf  einmal  Arbeit 
ubernehmen,  ein  gauzes  Jahr  lang  habe  ich  dazu  keinc 
Zeit  gehabt?  und  jetzt  plotzlich  werde  ich  ausgerechnet 
eine  Arbeit  finden,  fiir  die  man  anstandig  bezahlt?  und  wic 
wird  das  mit  der  freien  Zeit?  wann  denn  arbeiten  und 

wann und  hatte  ich  ihr  nicht  sagen  sollen:  sehen  Sic 

mal,  ich  fiihre  ein  unmenschliches  Leben,  arbeite  als  Dienst- 
bote,  obschon  ich  zu  etwas  Besserm  bestimmt  war,  ver- 
helfen  Sie  mir  zu  einer  Anstellung  als  Zeichner  mit  vier 

Pfund  Wochengehalt und  zwischendurch  absolviere 

ich  dann  die  Hochschule  ...  Sie  werden  nicht  verlieren, 
was  Sie  fiir  mich  opfern  —  — 

Und  dann,  er  weiB  selbst  nicht,  wie,  steht  er  in  der 
Stube  des  elenden  Hotels  vor  den  Pferderenn-Automaten. 
Es  hat  keinen  . .  .  es  hat  keinen  Sinn  .  .  .  mit  Hellern  herum- 
zubasteln,  also  .  .  .  geboren  bin  ich  achtundneunzig :  das  ist 
eins  und  acht  und  neun  und  acht,  macht  sechsundzwanxig, 
gleich  zwe.:  und  sechs,  zusammen  acht  .  .  .  und  in  die 
Offnung  unter  der  Acht  driickt  er  einen  Schilling  und  zieht 
an  dem  Griff,  —  die  Pferdchen  drehen  sich,  und  an  der 
roten  Linie,  die  das  Ziel  bezeichnet,  bleibt  das  rosa  Pferd 
stehcn:  die  Acht.  Der  Apparat  klingelt,  und  unten  fallen 

17* 


zwei  Schillingstucke  heraus.  Den  gewonnenen  Schilling 
steckt  er  wicder  in  die  Offnung  unter  der  Acht,  zieht  den 
Griff,  das  Feld  dreht  sich,  am  roten  Strich  bleibt  das  rosa 
Pferd  stehen,  der  Automat  klingelt,  —  ein  guter  Tip,  das 
Geburtsjahr.  Das  rosa  Pferdchen  holt  auch  zum  drittenmal 
den  Schilling  heraus;  dann  fallt  ihm  ein,  daB  er  1908  nach 
Budapest  aufs  Gymnasium  gekommen  ist,  —  Resultat: 
neun.  Jetzt  bleibt  an  der  roten  Linie  ein  griines  Pferdchen 
stehen:  die  Neun!  Er  lacht  still  in  sich  hinein.  Sein  Blick 
fallt  auf  die  Uhr  an  der  Wand:  halb  drei.  Hinter  ihm  bleibt 
jemand  stehen  und  sieht  ihm  zu.  Einen  Schilling  auf  die 
Neun.  Am  roten  Strich  bleibt  das  lila  Pferd  stehen,  ein 
schadenfreudiger,  rasselnder  Ton  im  Automaten  zeigt  an, 
daB  er  verloren  hat.  Einen  Augenblick  stutzt  er,  —  na, 
macht  nichts.  Einen  Schilling  auf  die  Neun.  Diesmal 
gewinnt  das  schwarze  Pferd,  der  Automat  rasselt.  Nun 
gerade:  einen  Schilling  auf  die  Neun!  Wieder  siegt  das 
schwarze  Pferd.  Macht  nichts!  weiter  mit  der  Neun! 
Braun  kommt  rein.  Dann  .  .  .  dann  zuriick  zur  Acht!  Wie 
zum  Trutz  macht  jetzt  das  griine  Pferd  das  Rennen. 
Nochmal  auf  die  Acht!  und  nun  stehen  schon  vier  oder 
funf  Leute  hinter  ihm,  und  auch  vor  die  andern  Apparate 
stellen  sich  ein  paar,  —  schlieBlich  sind  bereits  zehn  und 
zwanzig  Menschen  versammelt:  abwechselnd  klingeln  und 
rasseln  die  Automaten,  —  seiner,  seiner  rasselt  bloB.  Nach 
sieben  oder  acht  Versuchen  klingelt  er  wieder  einmal, 
Kadar  atmet  auf:  jetzt  kommt  das  Gluck  wieder.  Nein,  — 
die  nachste  Drehung  wird  wieder  von  dem  argerlichen 
Gckrachze  begleitet,  es  flimmert  ihm  vor  den  Augen.  Ein 
dichter  Ring  von  Menschen  steht  hinter  ihm,  als  er  an  die 
Kassc  wankt  und  sein  Pfund  in  Schilling  umwechselt,  — 
wieder  7uriick  an  den  Automaten.  Gegen  vier  Uhr  rasselt 
der  Apparat  seinen  letzten  Schilling  weg,  —  da  tritt  er  ein 
wenig  zuriick,  und  es  ist  ihm  zumute,  als  miisse  er  jetzt  mit 
der  Faust  in  die  grinsendc,  runde  Glasschcibe  haucn,  untcr 
der  die  Pferdchen  laufen,  —  abcr  da  fangt  er  an  zu  lachen. 

260 


Sofort  lacht  auch  eincr  hintcr  ihm,  und  dann  zwei  und  dann 
fiinf  und  dann  zwanzig,  und  schlieBlich  drohnt  der  ganze 
Saal  von  schallendem  Gelachter.  ,,Prachtkerl",  sagt  ein 
Zerlumpter  hinter  ihm  mit  der  Pfeife  im  Mund,  ,,ich  hatt 
dem  Ding  einen  Tritt  versetzt,  und  den  Inhaber  hatte  ich 
verpriigelt,  gemeine  Schwindler  die!"  —  ,,Na,  fein  sieht 
der  aus",  sagt  ein  anderer.  ,,Was  heiBt  fein",  entgegnet  ein 
dritter,  ,,von  Anfang  an  beobachte  ich  hier  die  Sache, 
meinen  Kopf  drauf,  wenn  das  Ding  nicht  hundert  Schilling 
geschluckt  hat!"  —  ,,Der  sieht  gerade  aus,  als  wenn  er 
hundert  Schilling  gehabt  hatte,  du  Ochse,  ich  hab  ja 
gesehen,  wie  er  eben  ein  Pfund  an  der  Kasse  gewechselt 
hat!"  —  ,,Aber,  wenn  ich  dir  sage,  Mensch!"  —  Kadar 
lacht  noch  immer,  als  er  auf  die  StraBe  tritt,  —  futsch  mein 
Letztes  .  .  .  habe  ich  mir  das  nicht  vorher  gesagt?  —  na, 
und?  nicht  schlimm.  Neunundzwanzig  Schilling  vcr- 
loren  ...  is t  es  nicht  egal,  ob  ich  neunundzwanzig  habc 
oder  kcincn?  nein,  nicht  neunundzwanzig  Schilling  machci, 
cs.  Er  reibt  die  schweiBige  Hand  an  seinem  Rock,  streicht 
sich  vor  einer  Personenwaage  auf  der  StraBe  das  Haar  glatt 
und  bcgibt  sich  nach  Hause. 

Csordas  sitzt  in  seinem  Zimmer  am  Tisch  und  rechnet 
auf  einem  groBen  Bogen  Papier,  als  er  eintritt.  Noch  in  der 
Tiir  nimmt  er  einen  Anlauf  und  erzahlt,  es  seien  alte  Be- 
kannte  in  London  angekommen,  nein,  keine  Ungarn, 
Wiener,  und  da  er  sic  ein  biBchen  in  London  herumfuhren 
mochte,  obschon  er  gar  kein  Geld  dazu  habe,  bitte  er,  ihn 
ein  paar  Tage,  sagen  wir  acht  bis  zehn  Tage,  zu  bcur- 
lauben.  —  Der  Alte  sieht  ihn  unlustig  an.  ,,Bekannter 
Besuch?  Na,  gut,  ich  mag  es  zwar  nicht  sehr,  wenn  ein 
junger  Mensch  wie  du  untatig  herumstrolcht,  aber  wenn 
du  willst,  schon,  fur  eine  Woche  .  .  .",  aber  umsonst  leben, 
das  widerspricht  vollkommen  seinen  Prinzipien,  daher 
konne  er,  wenn  er  wolle,  fur  die  Zeit  des  Urlaubs  ausziehen, 
wenn  nicht,  dann  solle  cr  fur  Kost  und  Logis  sagen  wir 
taglich  .  .  .  taglich  anderthalb  Schilling  bezahlen,  nicht 

261 


teucr,  was?  —  Das  Lachen,  das  am  UngliicksaiHomaten 
bcgonnen  hat,  kitzelt  ihn  wieder  in  dcr  Kehle,  nur  fur  einen 
Augenblick,  —  aber  es  geniigt,  um  das  herbe  Wort,  das 
sich  hcrausdrangen  wollte,  zuriickzuhalten.  Anderthalb 
Schilling  taglich?  billig,  wirklich  billig,  er  dankt  vielmals, 
noch  weiB  er  nicht,  ob  er  hier  wohnen  bleibe  oder  mit 
seinen  Gas  ten  —  Nein,  das  macht  die  Sache  nicht,  und  daB 
er  nun  natiirlich  den  Alten  nicht  um  Geld  bitten  kann,  auch 
das  machts  nicht,  auch  Margit  kann  er  nicht  angehen,  sic 
hat  auch  nichts  und  wiirde  es  bloB  dem  Alten  gleich 
petzen  .  .  .  das  machts  auch  nicht,  und  daB  er  jetzt  keinen 
Kreuzer  besitzt,  das  auch  nicht,  und  wenn  er  irgendwo 
einbrechen  muB  oder  Brand  stiften  oder  jemanden  cr- 

morden,  auch  das  wird  die  Sache  nicht  machen 

Aber  als  sich  der  Abend  niedersenkt,  umspinnen  ihn 
Unruhe  und  Sorge,  —  wo  und  wie  werde  ich  mir  das  Geld 
verschaffen?  Er  sieht  sich  die  Menschen  vor  dem  Schank- 
tisch  und  in  der  Gaststube  an,  wie  sie  trinken  und  essen. 
Vielleicht  der  dicke  Parkins,  der  immer  Bohnen  mit  Speck 
iBt  .  .  .  vielleicht  konnte  man  den  fragen,  oder  vielleicht 
den  mit  dem  Bart,  der  so  russisch  aussieht  und  dessen 
Namen  er  nicht  weiB,  verdachtige  Gestalt,  gewiB  ein 
Sowjetagent  .  .  .  horen  Sie  mal,  ich  weiB,  wer  Sie  sind  .  .  . 
und  schon  gibt  er  Geld,  oder  aber  er  lacht  mich  aus  und 
macht  einen  Skandal  .  .  .  Oder  vielleicht  Frau  Silber,  die 
hiistelnde,  mage  re  Judin,  die  haben  meistens  etwas  Geld 
irgendwo  versteckt,  aber  aus  welchem  Grunde  sollte  sic 
es  ihm  geben?  —  Und  dieser  Dunne  da,  Thomas  heiBt  er, 
der  kommt  auch  jeden  Tag  her,  ein  trauriger  Mensch  ...  — 
Er  gcht  in  die  Gaststube  und  setzt  sich  an  einen  Tisch,  — 
ein  schweigsamer  junger  Mann  plagt  sich  mit  schlechten 
Zahnen  an  einem  z£hen  Fleischstuck  ab;  von  einem  zum 
andern  springen  Kadars  Augen,  einzeln  mustert  er  die 
Gaste.  Werkmeister  Durham,  der  hat  gewiB  beiseite  gc- 
legtes  Geld,  —  Mrs.  Wynncr,  Witwc  und  bettelarm, 
Salzkartoffeln  iBt  sie  ...  und  der  da,  der  vielleicht  Geld  hat, 

262 


und  jencr,  der  cin  Geizhals  1st  ...  Herrgott,  was  fur  cine 
Kinderei,  was  fur  eine  Dummheit  1st  das,  was  ich  da 
mache!  soil  ich  mich  etwa  mitten  auf  den  Platz  stellen: 
meine  Herren,  ich  brauche  zwanzig  Pfund,  bloB  fiir  eine 
Woche,  dann  gebe  ich  sie  zuriick  .  .  .  oder  ich  gebe  sie  nicht 
zuriick  .  .  .  du  lieber  Himmel!  wo  soil  ich  das  Geld  her- 
nehmen  ? ! 

Gegen  zehn  Uhr  hatte  er  die  blinde  Aufregung,  das 
fruchtlose  Kopfzerbrechen  bis  zur  Unertraglichkeit  satt. 
Todmiide  geht  er  in  seine  Stube,  wirft  die  Kleider  ab  und 
legt  sich  ins  Bett.  Er  starrt  die  Decke  an.  Zwanzig  Pfund, 
und  jenes  andere  Leben.  Ihr  folgt  er  bis  ans  Ende  der  Welt, 
jener  Frau.  Gnadige  Frau  .  .  .  ich  kann  nicht  ohne  Sie 
leben,  —  was  fiir  ein  Blodsinn !  —  diese  schlecht  gekniipfte 
Scharlatanmaske  abwerfen,  —  gnadige  Frau,  hier  halrc 
ichs  nicht  wciter  aus,  nehmen  Sie  mich  mit,  ganz  gleich 
als  was,  als  Diener,  als  was  Sie  wollen  .  .  .  aber  warum"" 
aus  Mitleid?  ja,  aus  Mitleid!  weil  er  Ungar  ist?  ja,  well  er 
Ungar  ist!  und  weil  sie  reich  ist  und  eine  Frau  ist  und  weil .  . . 
wenn  ich  neben  ihr  stehen  wiirde  —  weil  ich  nicht  mehr 
kann,  ich  kann  nicht  mehr  und  kann  nicht  mehr,  mein 
Gott,  ich  kann  nicht  mehr,  erlose  mich,  ich  kann  nicht 
mehr,  ich  muB  krepieren,  erlose  mich  und  hilf  mir  und  gib 
mir  Kraft,  daB  ich  mich  umbringe  oder  sonstwas,  aber  das 
halte  ich  nicht  mehr  aus,  dieses  Leben,  Herr  mein  Gott, 

mein  Gott und  seine  Arme  strecken  sich  nach  dem 

Dach,  und  mit  hervortretenden  Augen  und  stockendem 
Atcm  erwartet  er  die  Erlosung  —  oder  den  Schlaf. 

Nach  elf  Uhr  offnet  sich  leise  die  Tiire,  —  Mary  kommt 
aus  der  Kiiche.  Seltsam,  bisher  war  er  noch  nie  friiher 
schlafen  gegangen  als  sie.  Mary  macht  kein  Licht,  sie 
fliistert  ihm  zu,  ,,Tony,  schlafst  du  schon?"  er  gibt  keine 
Antwort  und  atmet  laut  und  gleichmaBig.  Im  Finstern 
h6rt  er  ihr  sachtes  Hantieren;  dann  offnet  sich  der  Wasser- 
hahn,  in  dunnem  Strahl  rieselt  das  Wasser,  dann  hort  man 
lange  Minuten  das  leise  Plgitschern,  wie  sie  sich  wascht. 

26? 


Mary  seufzt  tief.  —  Mit  halb  geschlossenen  Lidern  spaht  cr 
durchs  Dunkel,  vor  dem  andcrn  Bett  bewcgt  sich  cin  groBer 
heller  Fleck,  das  Madchen  von  oben  bis  unten  nackt, 
natiirlich,  sie  trocknet  sich  ab.  Dann  hort  er,  wie  das  nasse 
Handtuch  an  den  Rand  des  Waschtisches  schlagt,  Leinen 
knistert,  ihr  Hemd,  dann  quietscht  das  Bett  unter  ihrem 
Gewicht,  —  da  setzt  er  sich  plotzlich  in  seinem  Bett  auf, 
,,Mary",  fliistert  er,  ,,was  ist,  Tony,  schlafst  du  nicht?" 
,,nein  .  .  .  du,  Mary  .  .  ."  --  ,,na,  was  willst  du  denn?"  er 
springt  auf,  setzt  sich  an  den  Rand  ihres  Bettes,  —  ,,du 
Mary  — "  Es  ist  ihm  wohl  so  vorbestimmt,  daB  er  sich  Fraucn 
offenbaren  und  sich  ihnen  hinwerfen  muB,  um  in  ihnen 
nach  Mutter  und  Gefahrtin  zu  greifen,  bei  ihnen  Trost  im 
Leid,  Hoffnung  in  der  Verzweiflung  zu  suchen.  Und  da, 
wie  ein  wildgewordener  Strom,  brechen  sich  die  Worte 
Bahn  im  Dunkel.  ,,O  Gott  .  .  .  du  weiBt,  ich  war  Student, 
ich  war  ein  Herr  .  .  .  ich  bin  nicht  dazu  da,  hier  zu  dienen, 
Knecht  in  einer  Kneipe  zu  sein  .  .  .  ich  habe  Plane  .  .  .  ich 
will  bauen,  groBe  Hauser,  verstehst  du,  Palaste  .  .  .  ver- 
stehst  du?  .  .  .  und  ich  miiBte  studieren  .  .  .  du  weiBt,  was 
fur  ein  MiBgeschick  mich  verfolgt  hat,  bis  ich  so  weit 
gesunken  bin  .  .  .  und  jetzt  konnte  ich  mich  aus  diesem 
Elend  wieder  herauskrabbeln,  verstehst  du?  und  habe  kein 
Geld  . . .  keinen  Heller  und  weiB  nicht,  wo  ich  mir  welches 
verschaffen  konnte  .  .  .  soil  ich  jemanden  ermorden?!  .  .  . 
und  wenn  ich  diese  Gelegenheit  verpasse  .  .  .  das  konnte 
ich  nicht  ertragen  ...  so  halte  ich  es  nicht  mehr  aus  .  . .  und 
wenn  ich  das  jetzt  nicht  ausnutze  . . ."  und  seine  Worte  und 
Trancn  flieBen  zu  einem  fieberhaften,  unverstandlichen 
Stottern  zusammen,  und  er  weiB  gar  nicht,  daB  er  den  Kopf 
auf  des  Madchens  Brust  legt  und  seine  verworrencn, 
verlorenen,  kindischen  Worte  in  ihr  von  Tranen  feuchtes 
Hemd  stohnt:  ,,ich  halte  es  nicht  mehr  aus,  du  Mary  .  .  . 
ich  muB  mich  befreien  .  .  .  verstehst  du?  von  diesem 
Kncchtsleben  .  .  .  groBe  Hiuser,  Palaste  muB  ich  ... 
verstehst  du?  und  wenn  ich  das  jetzt  verpasse  —  *' 

264 


Plotzlich  schiebt  Mary  seinen  Kopf  weg,  und  mit  ihren 
bciden  starken  Handen  richtet  sie  ihn  auf  und  setzt  sich. 
Stille.  ,,Und  wcnn  du  jetzt  Geld  hattest",  sagt  sie,  ,,ist  es 
sicher,  daB  .  .  ."  —  ,,Sicher",  sagt  er  heiser  dazwischen, 
,,sicher."  —  Stille.  Marys  Gesicht  1st  ganz  nahe.  Dann 
hort  er  eine  langsame,  fliisternde  Stimme:  ,,Du  Tony.  Ich 
habe  Geld  .  .  .  siebenundvierzig  Pfund  habe  ich,  in  drei 
Jahren  habe  ich  mir  die  gespart  .  .  .  um,  wenn  ich  einmaJ 
alt  werde  .  .  .  aber  noch  habe  ich  ja  Zeit .  .  .  funfzehn  Jahrt , 
zwanzig  Jahre  . . .  du  Tony,  ich  wiirde  dir  das  Geld  geben  .  . 
aber  du  wirst  es  mir  nicht  wiedergeben  .  .  .  du  auch  nichf, 
Jack  hats  mir  auch  nicht  wiedergegeben  .  .  .  dem  habe  ich 
vor  drei  Jahren  zweiunddreiBig  Pfund  gegeben  .  .  .  du 
wirst  es  mir  auch  nicht  wiedergeben."  Das  Zimmer  drch 
sich  derart,  daB  er  seinen  schwindelnden  Kopf  kaum  geradc 
halten  kann,  —  Jack  hats  auch  nicht  zuriickgegeben  .  . 
ich  werde  es  auch  nicht  wiedergeben  —  groBer  Gnu, 
hierher  verkriecht  er  sich  zu  diesem  Madchen,  weil  so  in. 
Ohnmacht,  seine  Ratlosigkeit  und  Verlassenheit  sich 
einmal  Bahn  brechen  muBten,  —  und  mit  kindischcn, 
hartnackigen,  hochtrabenden  Worten  schreit  er  ihr  fiinfmal, 
zehmal  ins  Gesicht:  Knechtsleben!  Dienstbotenlos,  das  er 
nicht  mehr  ertragen  kann,  weil  er  zum  Herrn  geboren  ist 
und  Herr  sein  will,  kein  Dienstbote!  —  und  da  gibt  dieses 
Madchen,  diese  . .  .  Knechtin  —  ihm  ihr  Geld  hin,  nach  den 
guten  Bissen,  die  sie  ihm  zugesteckt  hat,  nach  der  dankbaren 
Umarmung  auch  noch  ihr  Geld  ...  —  Jack  hat  es  mir  auch 
nicht  wiedergegeben,  du  wirst  es  auch  nicht  wiedergeben 
was  kann  man  darauf  antworten,  —  darf  man  iiberhaurn 
nur  ein  einziges  Wort  sagen,  —  zureden  oder  bitten?! 
da  Jack  es  ihr  auch  nicht  wiedergegeben  hat  und  ich  .  .  . 
cs  vielleicht  auch  nicht  wiedergeben  werde  .  .  .  Und  da 
spurt  er  ihre  Hand  an  seiner  Schulter,  ihre  Hande  pressen 
ihm  die  Schultern,  ,,du  Tony",  fliistert  Mary,  ,,gut  ...  ich 
will  dir  das  Geld  geben  ...  ich  wuBte  ja  immer,  daB  du 
nicht  zu  uns  gehorst,  daB  du  anders  bist  als  der  Alte  und 


die  Frau  und  ich  .  .  .  und  einmal  warest  du  ja  doch  ge- 
gangen  .  .  .  und  wenn  ich  dir  das  Geld  nicht  gebe,  dann 
passiert  vielleicht  noch  was  Schlimmes  mit  dir  .  .  .  also 
gebe  ich  dir  lieber  funfundvierzig  Pfund,  und  wenn  du 
wirklich  ein  reicher  Mann  wirst  .  .  ."  und  jetzt  ziehen  ihre 
beiden  Arme  seinen  Kopf  an  sich,  ,,du  Tony,  als  du  heute 
nicht  gearbeitet  hast  und  in  deinem  grauen  Anzug  weg- 
gegangen  bist,  da  habe  ich  gleich  geahnt,  daB  etwas 
bevorsteht  .  .  ."  die  Arme  pressen  seinen  Hals,  und  er  spurt 
die  Stimme  des  Madchens  mehr  an  seinem  Gesicht,  als  er 
sic  hort,  ,,du  Tony,  ich  geb  dir  das  Geld  .  .  .  aber  gib  acht 
darauf,  du  bist  noch  ein  solches  Kind  .  .  .  bist  noch  sehr 
jung,  und  es  ist  sehr  schwer,  diese  Schillinge  und  Pennies 
beiseite  zu  legen  — 

Gegen  Morgen  wacht  Mary  auf  und  weckt  auch  ihn, 
dann  steigen  sic  vorsichtig  aus  dem  Bett;  Mary  tastet  sich 
zum  Schrank  hin,  kramt  unten  im  Schrank  herum,  man  hort 
ein  kleines  SchloB  diinn  schnappen,  dann  zahlen  sie,  am 
Bettrand  sitzend,  die  Einpfundscheine,  —  eins,  zwei,  zehn, 
dreiBig,  funfundvierzig  .  .  .  und  von  den  funfundvierzig 
Papierscheinen  schwillt  seine  Brieftasche  dick  an.  Vier 
Uhr,  —  aber  er  hat  keine  Geduld  mehr,  sich  noch  einmal 
hinzulegen.  Er  zieht  sich  an;  kein  biBchen  Schlaf  hat  er  in 
den  Augen,  —  er  sitzt  am  Tisch,  steht  auf,  geht  auf  und  ab, 
tritt  ans  Fenster  und  starrt  auf  den  dunkeln,  leeren  Bauplatx. 
Um  fiinf  steht  auch  Mary  auf;  schweigend  sitzen  sic  am 
Tisch  einander  gegeniiber,  unertraglich  lange  Zeit.  Manch- 
mal  bewegen  sich  Marys  Lippen,  als  wollte  sie  etwas  sagen, 
aber  sie  sagt  nichts.  Sie  sehen  einander  an  im  Halbdunkel. 
Dann  geht  Mary  an  ihrc  Arbeit;  er  sitzt  im  Zimmer,  allein, 
bis  es  ganz  hell  wird.  Es  ist  Tag,  es  ist  heute,  drauBen 

beginnt  das  alltagliche  Leben,  von  dem  er  jetzt Dann 

verlaBt  er  das  Haus,  geht  ins  Dampf  bad.  Es  ist  kalt,  langsam 
tropfelt  der  Regen.  Jetzt  —  ist  schon  alles  gut,  weder  Kalte 
noch  Regen,  nichts  .  .  .  Fast  im  Laufschritt  kommt  er  am 
Bad  an;  kaum  zwei-drei  Mcnschen  lungern  um  die  Bassins 

z66 


hcrutn.  Bis  ans  Kinn  taucht  er  ins  klar  blaue,  hciBe  Wasser. 
Fiinfundvicrzig  Pfund,  Ich  werde  sie  ihr  wiedergeben,  — 
hundcrt  .  .  .  hundert  Pfund  werde  ich  ihr  wiedergeben! 
Fiinfundvierzig  Pfund  ...  in  die  Nahe  des  Berkeley  Hotel 
werde  ich  ziehen,  noch  heute,  in  ein  bescheideneres  Hotel 
oder  in  eine  Pension  —  und  noch  heute  oder  morgen,  ja, 
morgen  rufe  ich  sie  an.  Am  Rand  des  Bassins  sitzen  z\vci 
junge  Leute,  zwei  diinne  Burschen,  wohl  Kellner  ode* 
Handlungsgehilfen  in  ihren  Freistunden.  ,,Gehst  du  von 
hier  nach  Hause,  Jackie?"  fragt  der  GroBere.  ,,Ja",  ant- 
wortet  Jackie,  ,,und  du?"  —  ,,Ich  weiB  noch  nicht.  Vor 
mittags  ist  der  Alte  nicht  da,  aber  moglich,  daB  ich  trotzdem 
nach  Hause  gehe."  —  Nach  Hause  —  fiinfundvierzic: 
Pfund  .  .  .  er  muB  sofort  seine  Koffer  holen  und  dann  aut 
den  Bahnhof,  von  der  Victoria  Station  fahrt  der  Zug  urn 
elf  Uhr  ab  --  bin  ich  wahnsinnig  geworden,  sagt  er  vor 
sich  hin  ins  Wasser,  ich  gehe  nach  Hause  —  bin  ich  wahn- 
sinnig geworden  .  .  .  noch  heute  telefoniere  ich  ihr. 

Aus  dem  Bad  zuruckgekommen,  meldet  er  dem  Air  en, 
daB  er  heute  seinen  Urlaub  beginne  und  wahrscheinlich 
fur  die  eine  Woche  ausziehe,  —  dann  stromert  er  in  der 
Gegend  des  Piccadilly  herum.  In  den  eleganten  Hausern 
sind  lauter  Privatwohnungen,  nirgends  sieht  er  ein  Schild, 
das  eine  Pension  anzeigte.  Er  geht  ein  gutes  Stuck  die 
Regent  Street  hinauf.  Das  ist  eine  bekannte  Gegend,  dieser 
Platz  und  dieses  Haus,  oder  gleicht  es  nur  —  dem  Langham 
Hotel?  Einen  Moment  hat  er  das  Gefiihl,  jetzt  miisse  er 
kehrt  machen  und  davonlaufen,  —  dann  starrt  er  nur  das 
Haus  an,  und  bitterer  Speichel  lauft  ihm  im  Mundc  ?u- 
sammen,  —  Langham  Hotel.  Er  muB  denken,  jetzt  gehe  ich 
hier  hinein  zur  Reception  und  .  .  .  bitte  um  das  Zimmcr 
zweihundertacht  im  zweiten  Stock.  —  Mr.  Kadar?  zweiter 
Stock,  zweihundertacht ...  —  Dann  verzieht  er  das  Gesicht 
und  dreht  sich  um.  Gegen  Mittag,  —  er  ist  gerade  am 
Berkeley  Hotel  vorbei,  vielleicht  fiinf  Minuten,  —  da  fallt 
sein  Blick  an  eincm  Haustor  auf  eine  kleine  schwarze  Glastafel 

267 


mit  goldcnen  Buchstaben:  Pension  Vienna.  Immcr  drci 
Stufcn  nehmend,  springt  er  die  Treppen  hinauf  und  kommt 
auf  die  dritte  Etage.  Zehn  Minuten  spater  zahlt  er  eincr 
rundlichen,  kleinen  Wienerin  mit  lachelndem  Gesicht  den 
Pensionspreis  fur  cine  Woche  im  voraus,  fiinf  Pfund; 
fliichtig  blickt  er  in  ein  winziges,  hiibsches  Zimmer,  — 
dort  wird  er  wohnen,  —  und  in  schwellender  Stimmung 
rennt  er  auf  die  StraBe  und  nach  Hause.  Zu  Csordas's,  um 
seine  Koffer  zu  holen.  Das  Zimmer  in  der  ordentlichen, 
feinen  Pension  fiir  eine  Woche  vorausbezahlt,  vierzig 
Pfund  in  der  Tasche  ...  —  Ein  Autobus  kampft  sich  durch 
die  Automenge  hindurch,  auf  seinem  Schild  steht:  Victoria 
Station.  Hier  fahrt  der  Zug  ab  —  jawohl,  ich  bin  wohl 
wahnsinnig  geworden. 


15 

IN  der  Pension  Vienna,  —  zu  sicbzchn  wohnen  sic  hier, 
Osterreicher  und  Deutsche,  —  geht  allcs  in  mitteleuro- 
paischem  Stil.  Um  acht  Uhr  ist  Friihstiick,  um  halb  zwei 
Mittagessen,  um  halb  neun  Abcndessen.  Auf  besonderen 
Wunsch,  —  wenn  jemandes  Beschaftigung  es  erfordert, 
kann  man  zwar  auch  nach  englischer  Zeiteinteilung  leben, 
aber  Mrs.  Knopfer,  die  Pensionsinhabcrin,  hat  das  nicht 
gerne,  sie  halt  es  fiir  Unordnung.  Am  ersten  Abend,  bei 
Tisch,  wcchselt  er  einige  Worte  mit  seincn  Nachbarn.  Der 
eine  ist  ein  dicker  junger  Mann  mit  ciner  Brille,  Dozcnt 
Pach,  der  im  Royal  Institute  of  Biology  arbeitet;  der  andcrc 
ein  jiidischcr  Jiingling  namens  Wcincr,  den  scin  Vater  zu 
cinem  bekannten  TuchgroBhandlcr  hier  in  die  Lehrc 
gcschickt  hat.  Nach  dcm  Essen  geht  Kadar  sofort  in  sein 
Zimmer  und  legt  sich  schlafen.  Nagelncue  Bettwaschc, 
groBartiges  Messingbett  mit  feinen,  federnden  Matratzen, 
hubsche  Einrichtung,  flieBcndes  kaltes  und  warmes 
Wasscr,  —  himmlisch.  Die  Sache  fangt  gut  an,  ein  bcsser 

268 


gelegenes  Quarticr  hatte  er  gar  nicht  finden  konnen.  Bel 
CsordaYs  1st  auch  alles  in  Ordnung  .  .  .  ganz  glatt  1st  die 
Geschichte  gegangen.  Der  Alte  hat  nicht  viel  geredet,  — 
, , bring  sie  vielleicht  her",  sagte  er,  —  Margit  wiinschte  ihm 
viel  Vergniigen,  und  Gyuri  umarmte  ihn  in  seiner  halb- 
wiichsigen  Befangenheit,  Mary,  —  in  der  Kiiche,  —  wandte 
den  Kopf  ab,  als  sie  ihm  die  Hand  hinhielt,  und  sagte  bloB : 
,,leben  Sie  wohl."  Und  jetzt,  wie  er  hier  im  Bett  liegt,  — 
nicht  Deptford  und  nicht  Redburn  Street,  sondern:  Pension 
Vienna,  9  Dover  Street,  London  W.  —  denkt  er  gar  nicht 
mehr  an  sie.  Nein,  jetzt  denkt  er  nur  noch  an  Mrs.  Myers,  -  - 
an  Ilona  Szabo,  die  Witwe  des  steinreichen  Architekten 
Myers,  die  Herrin  des  Geschaftes  in  Siidafrika,  an  Ilon.i 
Szabo  aus  Kassa  .  .  .  siebzehn  Jahre  war  sie  alt,  als  der 
Englander  sie  heiratete,  —  wie  war  sie  an  den  gekommen  r 
wie  hatte  sie  ihn  kennengelernt ?  und  wo?  in  Kassa?  und 
warum?  und  wer  mochten  ihre  Eltern  sein?  und  dann  .  .  . 
wie  war  das  weiter?  bis  zum  heutigen  Tag?  alles  muB  icii 
von  ihr  wissen!  —  aber  wie?  durch  wen?  Heute  ist  SK- 
achtundzwanzig,  vier  Jahrc  alter  als  ich  —  na  und?  wenn 
schon!  .  .  .  das  geht  mich  doch  wirklich  nichts  an.  Ich  will 
sie  doch  nicht  heiraten,  —  sondern  ich  will,  daB  —  nun? 
was  denn?  also  zunachst  ins  Biiro  eintreten,  unten  in  Port 
Elizabeth.  Wenn  es  dort  eine  Universitat  gibt,  das  Studium 
beenden.  Und  dann  bauen,  groBe  Hauser  .  .  .  was  ist  denn? 
wem  erzahle  ich  denn  jetzt?!  Scham  uberstromt  ihn,  — 
schnell  macht  er  das  Licht  aus  und  schlieBt  die  Augen.  Leb 
wohl,  Mary  .  .  .  wir  werden  bauen,  leb  wohl  .  .  .  Paul  .  .  . 

Tilly  und  Zia,  lebt  wohl Diese  Nacht  verging  mit 

tiefem,  traumlosem,  ausruhendem  Schlaf.  Die  Gewohnheh 
weckte  ihn  um  halb  fiinf,  dann  aber  kam  er  langsam  zur  Be- 
sinnung,  und  die  groBe,  klare  Stille,  die  iiber  der  ganzen  Um- 
gebung  lag,  schlaferte  ihn  wieder  ein.  Es  war  halb  zehn  durch, 
als  er  sein  Zimmer  verlieB;  der  Friihstuckstisch  war  schon 
abgeraumt,  die  Pensionsgaste  ihrer  Arbeit  nachgegangen. 
An  einem  kleinen  Tisch  wird  ihm  das  Friihstuck 

269 


serviert.  Mrs.  Knopfer  setzt  sich  mit  ihrem  molletten 
Lacheln  ihm  gegcniibcr,  ,,nun,  wie  haben  Sie  die  erste  Nacht 
geschlafcn?  hoffentlich  gut.  (Jbrigens  habe  ich  mir  das 
gleich  gedacht,  denn,  wie  ich  hore,  sind  Sie  erst  nach 
neun  Uhr  aufgestanden,  es  wundert  micb,  daB  Sie  nicht 
friiher  aufgewacht  sind,  denn  hier  war  schon  um  acht  Uhr 
ein  solcher  Rummel!"  Hoflich  und  gut  gelaunt  erkundigt 
er  sich,  was  denn  fur  ein  Rummel  gewesen  sei.  ,,Ach",  sagt 
Mrs.  Knopfer,  ,,zwei  meiner  Gastc,  Wiener,  sind  sich  iiber 
das  Urteil  im  Wiener  AnarchistenprozeB  in  die  Haare 
geraten",  und  sie  zeigt  nach  dem  EBzimmertisch,  auf  dem 
ein  groBer  Packen  Zeitungen  liegt:  ,,aber  Sie  miissen  das 
nicht  miBverstehen,  meine  Gaste  sind  alle  tadellose,  gut- 
gesinnte  Herrschaften  .  .  .  nur  war  der  eine  der  Meinung, 
man  hattc  nicht  den  armen,  bctorten  Postbeamten  am 
strengsten  verurteilen  sollen,  sondern  die  Anstiftcr  und  vor 
alien  dieses  gemeine  Frauenzimmer,  aber  nach  Doktor 
Gerhammers  Ansicht  ist  das  Urteil  schon  allein  darum 
richtig",  —  und  redet  und  redet  mit  plappernder  Stimme 
und  versucht,  mit  primitiven,  kleinen  Worten  die  langen, 
komplizierten  Auslegungen,  Meinungen  und  Gegen- 
meinungen  des  Disputs  wiederzugeben.  Kadar  hat  seine 
Gedanken  anderswo,  langweilt  sich  still  im  lauen  Bad  der 
plappernden  Stimme  und  stellt  nur  aus  Hof  lichkeit  die  eine 
oder  andere  Frage.  Ich  muB  hie  und  da  etwas  dazu  sagen, 
Interesse  zeigen,  ich  bin  auch  gutgesinnt  .  .  .  ,,Hier  ist  die 
Zeitung",  sagt  Frau  Knopfer,  ,,es  ist  zwar  das  Abendblatt, 
und  darin  steht  nur  gerade  das  Urteil,  abcr  Doktor  Ger- 
hammer  hat  gewiB  auch  die  friiheren  Nummern,  in  dencn 
konncn  Sie  das  Ganze  lesen,  ich  lasse  sie  Ihnen  heraus- 
suchen",  —  damit  reicht  sie  ihm  die  Zeitung  hin.  Gleich 
am  Kopf  steht  fctt  gcdruckt: 

Urteil  im  Anarchisten-ProzeB 

Das  Schwurgericht  hat  samtliche  Angeklagten  des  Monstre- 
Prozesses  zu  schwerer  Kerkcntrafe  verurteilt. 

270 


Und  der  Text  des  Berichtes:  Nach  neunzehntagiger, 
an  hcftigcn  Aufregungen  reicher  Verhandlung  hat  das 
Gericht  hcute  nachmittag  um  zwei  Uhr  das  Urteil  ver- 
kiindet.  Aloys  Hagek,  der  Bombenattentater,  erhielt  drei- 
zehn  Jahre;  Norbert  Ring,  Peter  SsesomofF  und  Gerda 
Buhr,  die  Fiihrer  der  sogenannten  Anarchistengruppe,  jc 
acht  Jahre;  Koloman  Feher,  der  die  Bombe  hergestellr 
hatte,  fiinf  Jahre;  die  iibrigen  elf  angeklagten  Anarchisten 
ein  bis  drei  Jahre  schweren  Kerker.  Vom  Verlauf  dci 
Urteilsverktindung  sowie  von  der  Begriindung  des  UrteiU 
bringen  wir  in  unserer  nachsten  Morgennummer  ausfuhr- 
lichen,  genauen  Bericht.  —  Seine  Augen  iiberfliegen  diesc 
Notiz  und  springen  dann  vom  SchluBpunkt  auf  einen 
Namen  zuriick:  Gerda  Buhr.  Gerda  Buhr?  Acht  Jahre 
schweren  Kerker?  Gerda  Buhr?!  Eine  blonde  Fiille  wogt 
ihm  cine  Sekunde  vor  den  Augen,  dann  knarrt  und 
knistert  alles  in  ihm  und  steht  plotzlich  still  wie  ein^ 
Maschine,  in  die  ein  fremdes  Eisenstuck  geraten  ist, 
Gerda  Buhr?!  .  .  .  Als  Frau  Knopfer  wieder  im  EBzimmei 
erscheint,  einen  groBen  Packen  Zeitungen  unterm  Arm, 
starrt  er  noch  immer  auf  den  Namen  und  sitzt  noch  immer 
so  leer  und  empfindungslos  da,  daB  er  erst  beim  zweiten 
oder  dritten  Mai  Frau  Knopfers  6timme  hort:  ,,bitte 
schon,  hier  sind  die  Zeitungen,  sie  gehoren  Doktor 
Gerhammer,  da  steht  alles  drin  .  .  .  Herr  Kadar!  Hier  sind 
die  Zeitungen  .  .  .  interessiert  es  Sie  nicht?" 

Der  erste  Bericht  iiber  die  Hauptverhandlung  beginnt 
so:  Genau  heute  vor  zehn  Monaten  explodierte  im  groBen 
Saal  des  Ferdinandpalastes  eine  Bombe.  Eine  Bombe,  die- 
den  sofortigen  Tod  dreier  Menschen,  vollige  Verkruppclung 
von  fiinf  Menschen  und  schwerere  oder  leichtere  Verlctzung 
von  vierzehn  Menschen  verursacht  hat.  Die  Bombe  war 
nicht  diesen  Opfern  zugcdacht:  sondern  jenen  Mannern, 
die  sich,  unter  Hintanstellung  der  Weltanschauungs-, 
sozialen  und  Partei-Unterschiede,  von  einem  groBen,  um- 
fassenden  Gefvihl  getriebcn,  an  der  Spitze  vielcr  hundert 


Freunde  und  Fachleute  an  den  griincn  Tisch  setzten,  um 
mit  briiderlicher  Opferbereitschaft,  von  Fachkenntnis 
durchdrungen,  vor  groBter  Offentlichkeit  iiber  eine  —  wir 
wagen  zu  bchaupten  —  der  wichtigstcn  Fragen  unsercr 
zukiinftigen  staatlichen  Existenz  zu  beratcn,  namlich  iiber 
das  Problem,  wie  dem  osterreichischen  Kind  geholfen 
werden  konne.  Dem  Prasidenten  der  Republik,  dem  Kanzler, 
den  Ministern,  den  staatlichen  und  stadtischen  Wiirden- 
tragern  und  den  unterschiedslos  versammelten  Pro- 
minenten  der  polidschen  Parteien  war  die  Bombe  bestimmt 
gewesen,  die  den  Leib  unschuldiger  Menschen  zerfleischte : 
aber  durch  diese  unschuldigen  Leiber  hat  sie  dem  Korper 
der  ganzen  menschlichen  Gesellschaft  eine  schwer  zu 
heilende  Wunde  zugefiigt  —  und  so  fort,  im  Leitartikelstil 
des  flachen  Zeitungspathos.  —  Radars  Blick  springt  von 
Zeile  zu  Zeile,  sucht  die  fett  gedruckten  Worte  und  Namen, 
und  hinter  dem  Wortschwall  entsteht  das  Bild:  den 
Detektiven  fallt  bei  dieser  Sitzung  ein  Mann  auf  der  Galerie 
auf,  der  sich  sehr  aufgcregt  benimmt  und  um  jeden  Preis 
tiber  das  Prasidentenpodium  zu  gelangcn  versucht;  und  als 
nach  langerer  Beobachtung  einer  der  Detektive  ihn  an- 
spricht,  drangt  er  sich  plotzlich  und  todesbleich  durch  die 
dichten  Reihen  des  Publikums  ans  Gelander,  zieht  unter 
seinem  Mantel  eine  Schachtel  in  der  Form  und  GroBe  einer 
Zigarrenkiste  hervor  und  schleudert  sie  iiber  die  Kopfc  der 
in  der  ersten  Reihe  Sitzenden  hinweg  in  den  Saal.  Die 
Bombe  platzt  ungefahr  in  der  Mitte  des  Saales  zwischen  den 
Stuhlreihen,  der  Detonation  folgt  Geschrei  und  Gejammer 
und  auf  der  Galerie  ein  RevolverschuB :  den  Revolver,  den 
der  Attent£ter  auf  sich  selbst  gcrichtet  hattc,  schlagt  ein 
Detcktiv  in  die  Hohe,  und  die  Kugel  bohrt  sich  in  die 
Dccke.  Der  vcrhaftete  Attentatcr,  Aloys  Hac.ek,  Post- 
beamter,  schweigt  vcrstockt,  abcr  Notizen,  die  er  zicmlich 
sorglos  in  der  Wohnung  hat  herumlicgen  lassen,  und 
sonstige  Spuren  sprechcn;  und  noch  an  demselben  Tage 
wird  in  der  Pratergegend  der  Hcrsteller  der  Bombe,  ein 

272 


Uhrmacher  namens  Koloman  Feher,  verhaftct.  Auch 
Koloman  Feher  spricht  nicht,  jedoch  bringen  in  seinem 
Monatszimmer  gefundene  Anhaltspunkte  und  die  strenge 
Kontrolle  der  Grenzstationen  und  Bahnhofe  neuerc 
Resultate :  in  Unterdrauburg  an  der  jugoslawischen  Grenze 
wird  ein  ehemaliger  Artillerieoberleutnant  namens  Norbert 
Ring  verhaftet,  und  an  demselben  Tage  fallt  bei  Feldkirch 
an  der  Schweizer  Grenze  die  angebliche  Angestellte  Gerda 
Buhr  der  Polizei  in  die  Hande;  so  auch  der  mit  einem 
spateren  Zug  ebendort  ankommende  Russe  Peter  SsesomofT, 
angeblich  Briefmarkenhandler;  alle  diese  Personen  sind  als 
am  Attentat  betciligt  verdachtig.  Die  angespannte,  au>- 
gezeichnete  Arbeit  der  osterreichischen  Polizei  und  do 
Untersuchungsrichters  fiihrt  in  wenigen  Tagen  zur  Vei- 
haftung  weiterer  vierzehn  verdachtiger  Personen.  Mn 
filmartiger  Geschwindigkeit  saust  das  Drama  der  E:- 
eignisse:  die  Verhafteten  —  trotz  greif barer  gegenstand- 
licher  Beweise!  —  leugnen  ausnahmslos,  doch  in  der 
zweiten  Woche  bricht  unerwartet  Aloys  Hayeks  Wider- 
stand,  und  er  enthiillt  die  ganze  Gesellschaft.  Ha$ek  \vird 
jedem  Verdachtigen  einzeln  gegeniibergestellt,  dann  erfolgt 
eine  allgemeine  Konfrontation :  die  blonde  Frau  bleibt 
schroff  und  hartnackig  dabei,  keinen  einzigen  zu  kennen; 
Oberleutnant  Ring  jedoch  ist  gestandig,  und  auch  die 
unbedeutenderen  Angeklagten  halten  mit  dem  Gestandnis 
nicht  mehr  zuruck.  Dann  lafit  sich  eines  Tages  Ssesomoff 
zum  Verhor  aus  seiner  Zelle  fiihren  und  sagt:  es  hat  keinen 
Sinn,  weiter  zu  schweigen,  —  und  da  lauft  es  ganz  \Vien 
kalt  uber  den  Riicken,  als  die  Gestandnisse  Klarheit 
bringen:  Nach  dem  Zusammenbruch  kommt  in  XX'ien  cin 
junger  Russe  an,  Emigrant,  Briefmarkenhandler,  angeblich 
eher  Briefmarkenschmuggler;  er  macht  grofic  Geschafte, 
jedenfalls  ist  er  viel  auf  Reisen  und  hat  viel  Geld.  Seine 
Korrespondenz  ist  ungeheuer  verzweigt:  mit  seinen 
philatelistischen  Geschiftsfreunden  und  den  Postdirekrionen 
vcrschiedener  Staaten  wechselt  er  Briefe  und  Telegramme. 

18  Kormemli,  Budapest  273 


Das  1st  Peter  Ssesomoff.  Norbert  Ring  lebt  in  Wien  als 

abgeriisteter  Oberleutnant,  —  im  Frieden  war  er  Okonomie- 

beamter  auf  einem  Gut  in  der  Steiermark  gewesen,  —  cr 

lebt?  nein,  er  lebt  nicht,  cr  vegetiert,  leidet  Not,  bettelt, 

kann  nirgends  unterkommen,  hat  keine  Freunde,  in  der 

herbstlichen   Praterallee   schlaft   er   auf  einer   Bank,    als 

Ssesomoff  ihn  findet.  Einen  Monat  darauf  hat  Ring  cine 

hiibsche  Zweizimmerwohnung  in  der  Mariahilfer  StraBe 

und  handeit  mit  Tcppichen.  Eines  Tages  hat  er  auf  der 

Polizei  zu  tun:  da  wird  gerade  cine  hysterisch  schreiende 

junge  Frau  die  Treppcn  hinaufgefuhrt,  —  sic  hat  zum 

zwcitenmal  einen   Selbstmordversuch  gemacht,  sagt  der 

Detekdv,  und  noch  immer  ist  das  Versprechen  nicht  aus 

ihr  herauszukriegen,  daB  sic  ihr  Vorhaben  aufgeben  wolle, 

und  iibrigens,  was  ist  schon  so  ein  Versprechen  wert?  sie 

wird  uns  noch  zu  schaffen  machen,  ja,  ja,  diese  Zeiten, 

Kriegswitwe  ist  sie.  Ring  laBt  sich  mit  der  Frau  in  ein 

Gesprach  ein,  es  ist  Gerda  Buhr.  —  Briefc  kommen  und 

gehen  aus  und  nach  Polen,   Amerika,  Italien,   Spanien. 

Gerda  Buhr  bezieht  ein  hiibsches  mobliertcs  Zimmer  bei 

einer  vornehmen  Witwe.  Ihr  Beruf :  Sekretarin.  —  Koloman 

Feher,  ein  verdrehter,  alternder  Uhrmachergehilfe,  ist  der 

folgende  Genosse,  und  dann  ziehen  sie  noch  hier  und  dort 

die  cine  oder  andere  verbitterte,  gcsunkene,  zweifelhafte 

Existenz  aus  dem  Elcnd  hervor:  es  gibt  unter  ihnen  Backer- 

gesellen    und    ehemalige    Polizistcn,    Nahmadchen    und 

Studenten,    Eisenbahner    und    Arbeitslosc.    Der   fruhere 

Oberleutnant  arrangiert  in  seiner  Wohnung  spiritistische 

Seancen:  hie  und  da  gelingt  es,  den  einen  oder  andern 

Hausbewohner   zu    solchen    Zusammenkunften   heranzu- 

lock  en,  —  und  das  Haus  findet  sich  damit  ab,  daB  ein  paar 

Narren  sich  durch  das  schonc,  blonde  Medium  mit  dem 

Geist  Napoleons,  Gocthes,  Franz  Josephs  oder  der  ver- 

storbenen  Verwandtschaft  der  Gastc  unterhalten.  Es  ist 

auch  nicht  ausgeschlosscn,  meint  cine  korpulcntc  Familien- 

mutter  mit  fiinf  Kindcrn,  die  im  zwciten  Stock  wohnt  und 


sich  iibcr  die  MaBen  iiber  Gerda  Buhrs  strahlende,  blonde 
Schonheit  argert,  daB  die  da  im  Dunkeln  bloB  Schweinereien 
treiben.  Wenn  sich  jedoch  kein  Fremder  bei  ihnen  ein- 
gefunden  hat,  dann  ist  von  der  korrumpierten  Gesellschaft, 
den  rechts  und  links  gerichteten,  gleichmaBig  verbreche- 
rischen  Regierungssystemen,  von  den  blutigen  Dikta- 
turen  des  weiBen  Kapitals  und  des  roten  Hammers,  vom 
Massenkonkurs  der  menschlichen  Ideale,  vom  kommen- 
den  Jiingsten  Gericht  der  Gesellschaft  und  von  der  allein- 
seligmachenden  Anarchic  konfus  die  Rede;  und  immer 
und  vor  allcm  davon,  daB  mit  Dolch  und  Gift,  mit  Bomben 
und  Zugentgleisungen,  mit  Bestechung  oder  Vernichtung 
des  Individuums,  mit  Aufwiegelung  der  Masse,  mit  einer 
ununterbrochenen  Reihe  kleiner  Aktionen  die  groBe  Aktion 
vorbereitet,  reif  gemacht  und  nahergebracht  werden  miisse. 
Was  sind  diese  kleinen  Aktionen?  sich  in  die  Menschen- 
schlange  vor  dem  Lebensmittel-,  Heizmaterial-,  Backer- 
und  Zigarrenladen  stellen,  laut  davon  reden,  daB  in  der 
inneren  Stadt  in  den  Hausern  der  reichen  Juden  und  der 
Grafen ...  —  und  wenn  dann  der  Schutzmann  kommt,  sich 
drucken.  Vor  Linz,  im  Warterhaus  XVII  liegt  der  Bahn- 
warter  mit  blutendem  Kopf  besinnungslos  da,  und  ein 
Giiterzug  fahrt  in  einen  dort  stehenden  Personenzug  hinein, 
in  dem  sechshundert  Schulkinder  zu  einem  Ausflug  ab- 
fahren  sollen.  Im  Wienerwald  wird  in  die  Sommervilla 
eines  politisch  exponierten  Bankiers  geschossen,  ein  hoher 
Beamter  des  Ministeriums  wird  nachts  auf  dem  Ring  an- 
gerempelt  und  halbtotgeschlagen,  und  ein  auf  der  Chaussee 
ausgespannter  Draht  reiBt  den  Insassen  des  sausenden  Autos 
die  Kopfe  ab.  Eine  ganze  Mietskascrne  in  der  Vorstadt  wird 
auf  einmal  krank:  in  der  Milch  der  Wohlfahrt  werden 
Typhusbazillen  gefunden,  obgleich  die  andere  Halfte 
desselbcn  Transports  tadellose  Ware  ist.  —  All  dies  kommt 
indessen  und  vergeht  wieder:  in  Wien  leben  zwei  Millionen 
Menschen,  und  das  Getose  der  in  der  Inflation  siedenden 
Stadt  erstickt  das  Echo  dieser  kleinen  Alarmrufe.  Schwer- 


18* 


wiegendcre  Dingc  sind  notig,  unter  dcnen  das  ganze  Land 
aufstohnt,  —  doch  diese  Zwanzig  hier  wissen  selbst  noch 
nicht,  was  eigentlich  die  groBe  Aktion  sein  soil.  Die  Bricfe 
kommen  und  gehen;  die  Spiritisten  halten  fast  taglich  bei 
Norbert  Ring  Sitzung  ab:  und  eines  Tages  wissen  sic,  — 
dann  und  dann  werden  soundso  viele  Minister,  Politiker, 
Bankiers  und  Industrielle  versammelt  sein.  Es  ist  nicht  die 
groBe  Aktion,  aber  die  erste  ernste  Gelegenheit.  Koloman 
Feher  konstmiert  die  Ekrasitbombe,  und  Aloys  Ha9ek  .  .  . 
Aloys  Ha$ek,  —  schreibt  die  Zeitung,  —  ist  ein  vier- 
schrotiges,  robustes  Individuum  mit  struppigem,  schwarzem 
Haar,  vernachlassigtem  AuBern  und  duckmauserischem 
Blick;  auf  die  Fragen  bei  der  Verhandlung  antwortet  er 
stotternd,  schwer  und  manchmal  unverstandlich  im  Laufe 
des  Verhors: 

Der  President:  Erzahlen  Sie,  Hagek,  wie  Sie  in  die 
Ssesomoffsche  Gesellschaft  gekommen  sind.  Sprechen  Sie 
nur  ruhig.  Also? 

Hafek:  Ich,  Herr  President,  ich  war  Beamter  bei  der 
Post,  namlich  im  Postamt  hundertsechs,  am  Schalter  fur 
die  Einschreibesendungen,  und  eines  Tages  brachte  das 
Fraulein  einen  eingeschriebenen  Brief  .  .  . 

Der  President:  Welches  Fraulein? 

Hafek :  Na  .  .  .  die  Buhr  .  .  . 

Der  President:  Ja,  —  fahren  Sie  fort. 

Hafek:  Also  .  .  .  gerade  vor  sechs  kam  sie  mit  dem 
Brief,  ich  wollte  ihn  schon  gar  nicht  mehr  annehmen, 
worauf  sie  anfing  zu  betteln,  und  so  lieB  ich  mich  mit  ihr 
ins  Gesprach  ein,  und  schlieBlich  sagte  ich,  na  gut,  Ihnen 
zuliebc,  schones  Friulcin  —  da  sagt  sic  ...  (schweigt) 

Der  President:  Was  sagt  sie?  nur  zu!  also? 

Hafek:  Sic  wiirdc  bald  mal  wiedcrkommcn,  hat  sic 
gcsagt. 

Gerda  Buhr:  Das  ist  gelogen. 

Der  President  vcrwcist  die  Angcklagte  zu  schwcigcn 
und  wcndct  sich  an  Hac^k:  Und  ist  sie  gekommen? 

276 


Hafek :  Schon  am  nachstcn  Tag  .  .  .  sechs  Bricfc  hat 
sie  gebracht,  punkt  sechs  Uhr  abends  .  . .  ich  habe  die  Briefe 
angenommen,  und  dann  haben  wir  uns  cin  biBchen 
unterhalten 

Der  Prasident:  Dann  haben  Sie  sie  nach  Hause  begleitet. 

Hafek :  Ja  .  .  .  sie  hat  namlich  gewartet,  bis  ich  meinen 
AbschluB  fertiggemacht  hatte  .  .  . 

Der  President :  Sie  hat  auf  Sie  gewartet? 

Hafek :  Das  heiBt ...  ich  habe  sie  gebetcn,  ob  sie  nicht 
warten  wiirde 

Der  Prdsident :  Aber  Sie  sind  doch  ein  verheirateter 
Mann  und  haben  Familie,  —  warum  wollten  Sie,  daB  sie 
auf  Sie  warte? 

Hafek:  Ja,  Herr  President,  ich  bin  seit  zwolf  Jahren 
verheiratet,  und  die  Buhr  .  .  .  war  so  anders  als 

Bewegung  und  Heiterkeit  im  Saal,  der  Prasidcnt  ver- 
weist  die  Zuhorer  energisch  zur  Ruhe. 

Der  Prdsident:  Gut,  fahren  Sie  fort,  Sie  haben  sie  also 
nach  Hause  begleitet.  Und  wovon  haben  Sie  unterwegs 
gesprochen? 

Hafek  schweigt  blodc,  denkt  schwer  nach,  dann  sagt 
er  stockcnd :  Ich  hab  sie  eingeladen,  mit  mir  ins  Kino  zu 
gehen  .  .  . 

Der  Prdsident :  Und  sind  Sic  dann  ins  Lichtspieltheatcr 
gegangen? 

Hafek:  Ncin  ...  sie  hat  gesagt,  ein  anderes  Mai  .  .  . 
jctzt  habe  sie  es  eilig  .  .  . 

Der  Prdsident:  Und  wann  haben  Sie  sich  dann  wieder 
mit  ihr  gctroffen? 

Hafek :  Bitt  schon,  Hcrr  Prasident .  .  .  nach  drei  Tagen 
kam  sic  wieder  ins  Postamt . . .  hat  wicdcr  auf  mich  gewartet, 
und  ich  hab  sie  wieder  nach  Hause  begleitet .  .  .  und  das 
ging  so  fiinf  oder  sechs  Tagc  . . .  spater  hat  sic  keinc  Briefe 
mehr  zum  Aufgcben  gebracht,  ist  bloB  so  gekommen. 

Der  Prdsident:  Und  ist  Ihncn  das  nicht  aufgefallen? 
haben  Sic  nicht  dariibcr  nachgedacht,  warum  die  Buhr 


immcr  zu  Ihnen  kam?  haben  Sic  nicht  gcdacht,  sic  wolle 
ctwas  von  Ihncn? 

Hafek :  Gcdacht .  .  .  ja,  gcdacht  habe  ich  schon,  daB  sic 
etwas  will .  .  .  aber  ich  habc  an  was  andercs  gcdacht .  .  . 
(Bcwcgung  und  Hcitcrkeit  im  Saal,  die  plotzlich  ab- 
brechen.)  Die  Buhr  hat  namlich  gcsagt ...  ich  gefalle  ihr  — 

Gerda  Buhr :  Das  ist  gelogen. 

Der  Prdsident  droht  Gerda  Buhr  mit  Ordnungsstrafe, 
wendet  sich  dann  an  Hagek:  Gut,  —  und  nun  erzahlen 
Sie  mal,  Hagek,  wic  sich  diesc  Freundschaft  dahin  ent- 
wickelt  hat  — 

Hafek:  Wohin? 

Der  President:  Unterbrechen  Sie  mich  nicht!  —  wie 
sich  diese  Freundschaft  dahin  entwickelt  hat,  daB  Gerda 
Buhr  Ihnen  die  Anarchisten-Gescllschaft  erwahntc  und  Sie 
dort  einfuhrte? 

Hafek:  Ja,  Herr  Prasident,  das  war  namlich  so,  daB 
sic  ...  viclmehr  .  .  .  (aufgercgt)  vielmehr  daB  ich  einen 
fiirchtbaren  Fehler  gcmacht  habe  .  .  .  namlich,  ich  hatte 
ganz  und  gar  den  Kopf  und  den  Verstand  verloren  .  .  . 
(seine  Aufregung  steigcrt  sich)  namlich  ...  ich  habe  mich 
ganz  schrecklich  in  die  Buhr  verliebt  .  .  .  und  das  hat  sic 
natiirlich  bemerkt  .  .  .  und  sie  hatte  es  direkt  darauf 

abgesehen,  daB  ich (stottert  vor  Aufregung)  Herr 

PraVsident,  ich  ...  kann  so  schwer  — 

Der  Prasident:  Sprcchen  Sie  ruhig  weitcr,  Hagck.  Also, 
sic  nahm  Ihrc  Gefuhlc  fur  sic  wahr,  nutztc  das  aus  und  — 

Dr.  Fischer,  Vcrteidigcr  dcr  Gerda  Buhr,  springt  crrcgt 
von  scincm  Platz  auf :  Ich  mochtc  doch  bitten,  Herr  Pra- 
sident, ich  vcrwahrc  mich  dagegen,  daB  das  Gericht  dem 
Gcstandnis  dcs  Angeklagten  Hagek  cine  solche  Richtung 
gibt,  beziehungsweise  cincm  Halbgcbildeten  Wortc  und 
Ausdriicke  in  den  Mund  legt 

Der  Prasident:  Herr  Verteidigcr,  ich  muB  Sic  ob 
dcr  Insinuation  zur  Ordnung  vcrweisen!  ,Sic  nutztc  das 
aus',  —  diescn  Ausdruck  hat  dcr  Angcklagte  Hacck  selbst 

278 


angcwendct  im  Laufe  des  Gestandnisses,  das  er  dem 
Untersuchungsrichtcr  ablegte.  Ha9ek,  fahren  Sie  fort  I 

Hafek,  dcr  wahrend  des  Vorhergegangenen  den  Prasi- 
denten  Starr  angeblickt  hatte,  aufgcregt :  Ausgenutzt !  jawohl, 
ausgenutzt  hat  sie  es!  Herr  President,  sie  hat  nicht  einmal 
zugelassen,  daB  ich  ihre  Hand  anfaBte  .  .  .  dabei  hat  sie 
gesehen  .  .  .  gewuBt  hat  sie,  daB  ich  ganz  wild  geworden 
war,  daB  ich  Fieber  bekam,  wenn  ich  sie  bloB  ansah  .  .  . 
(in  wachsender  Aufregung)  ich  kann  mich  nicht  mehr 
erinnern,  wie  sie  mich  dahin  geschleppt  hat,  Herr  Prasi- 
dent  .  .  .  aber  sie  hat  mich  immer  vertrostet  .  .  .  zu  den 
Versammlungen  hat  sie  mich  auch  bloB  so  verlockt, 
vielleicht  spater  einmal  .  .  .  wenn  ich  gar  nicht  daran 
denke  .  .  .  (stottert  vor  Aufregung)  Herr  President  .  .  .  mir 
war  es  ja  bloB  wichtig,  sie  zu  sehen,  ich  weiB  gar  nicht,  wer 
sonst  noch  da  war  . . .  ich  habe  bloB  immer  darauf  gewartet, 
daB  vielleicht  doch  einmal  .  .  .  einmal  etwas  zwischen  ihr 
und  mir  sein  wiirde  .  .  .  ich  bin  kein  Kind  mehr  .  .  .  vierzig 
Jahre  bin  ich  .  . .  aber  ich  war  ganz  unter  den  EinfluB  dieser 
Frau  gcraten,  ich  .  .  .  ich 

Der  Prasident :  Ruhe,  Hac^ek,  Ruhe,  versuchen  Sie  zu- 
sammenhangend  — 

Hafck  zittert  vor  Aufregung  und  schreit:  Als  .  .  .  als 
sic  von  dem  Attentat  sprachen  und  fragtcn,  wer  es  iiber- 
nehmen  wiirde,  die  Bombe  zu  wcrfen  . .  .  und  sich  niemand 
mcldetc  .  .  .  (bekommt  einen  Hustcnanfall  und  fahrt 
muhsam  fort)  Herr  Prasident,  da  ...  hat  die  Buhr  sich  zu 
mir  gcbeugt  und  mir  zugcfliistcrt  — 

Eine  Frauenstimme  aus  den  Reihcn  des  Publikums,  fast 
kreischend:  Was?l 

GroBc  Heitcrkeit  und  Bewegung,  auch  der  Prasident 
lichelt,  dann  ruf t  er  die  Zuhorerschaft  streng  zur  Ordnung  auf  . 

Der  Prasident:  Nun? 

Hafek:  Zugeflustert  hat  sie  mir,  ubernimm  dus,  dann 
bckommst  du,  wonach  du  dich  sehnst!  .  .  .  Herr  President 
(mit  wachsender  Aufregung)  ich  war  drei  Jahre  an  der 


Front  und  wciB,  daB  die  Welt  ...  die  Welt  so  nicht  in 
Ordnung  ist  .  .  .  daB  alles  .  .  .  (stottert  vor  Aufregung)  aber 
wenn  diese  Frau  das  nicht  getan  hatte,  dann  .  .  .  ware  ich 
nic  imstande  gewesen,  die  Bombc  zu  — 

Der  President:  Einen  Augenblick!  wenn  die  Frau  was 
nicht  getan  hatte? 

Hafek  in  maBloser  Erregung:  Wenn  sie  .  .  .  sich  mir 
nicht  hingegeben  hatte!!  (Erregtc  Bewegung  im  ganzen 
Saal.)  An  dem  Abend,  als  ich  die  Sache  ubcrnommen 
hatte  ...  da  hat  sie  sich  mir  hingegeben  ...  in  Rings 
Wohnung  auf  dem  Sofa  .  .  .  wir  waren  allein  geblicben  .  .  . 
und  von  da  an  (briillt)  bis  zum  Attcntat  noch  viermal  .  .  . 
Herr  Pr&sident .  .  .  immer  dann,  wenn  sie  geschen  hat,  daB 
ich  schwanke  .  .  .  meine  Hand  hat  sie  genommen  oder  mich 
gckuBt .  .  .  wenn  sic  gesehen  hat,  daB  ich  nachdenklich  und 
angstlich  war,  dann  hat  sie  sich  mir  hingegeben  .  .  .  mit 
ihrem  Korper  hat  sie  mich  gczwungen,  Herr  President .  .  . 
ich  war  schon  nicht  mehr  bei  klarem  Vcrstand  ...  ich  bin 
doch  auch  darauf  eingegangen,  mich  nachher  zu  cr- 
schieflen  .  .  .  ja,  und  .  .  .  auch  noch  am  Vormittag  vor  dem 
Attcntat ...  ich  hatte  mich  im  Amt  krank  gcmeldet,  und  da 
habe  ich  mich  auch  mit  ihr  gctroffen  .  . .  ich  war  ja  wahrend 
dcr  ganzcn  Zeit  nicht  bei  Verstand  .  .  .  Herr  President .  .  . 
ich  habe  doch  auch  vergessen,  die  Sachen  in  meiner 
Wohnung  zu  vcrbrennen  .  .  .  und  da  an  dem  Vormittag 

ist  sie  nochmal  mit  mir  ins  Bctt  gegangen (keuchcnd) 

Herr  Prisident,  ich  kann  nicht  widcrstchen  — 

Gerda  Eubr  mit  scharfer,  kalter  Stimme:  Das  Ganze 
ist  gelogen! 

Der  Stoat sanwalt :  Ich  mochtc  das  Gericht  ergebcnst 
auffordern,  die  Offentlichkeit  auszuschlieBcn 

Der  Zciningspackcn  failt  Kiddr  aus  der  Hand  und 
knallt  auf  die  Erdc.  Gcrda  Buhr,  —  die  kiihlc  abendliche 
Blonde,  die  an  seinem  Krankenbett  gestanden  hatte  wie  cine 

Heilige,  wie  cine  Mutter,  wie  cine ,,Was  ist  denn,  um 

Gottes  willen?!  fehlt  Ihncn  was?!"  ruft  Frau  Knopfcr  aus 

280 


dcr  Tiirc,  ,,Herrgott,  Sie  sind  ja  weiB  wie  die  Wand!  um 
Himmcls  willenl"  —  >>Ach,  nein",  sagt  er  miihsam, 
,,dieser  .  .  .  StrafprozeB  hat  mich  nur  etwas  aufgcregt,  Sie 
konncn  sich  das  gewiB  vorstellcn,  ich  habe  auch  in  Wicn 
gelcbt,  ziemlich  langc  Zeit."  —  ,,O  ja,  das  kann  ich  mir 
vorstellen!"  bcruhigt  sich  Frau  Knopfer,  ,,du  lieber 
Himmel,  was  gibt  cs  doch  fiir  schlechte  Menschen!  und  ich 
halte  die  Frau  fiir  die  Hauptschuldige,  trotzdem  hat  sie 
nicht  die  schwerste  Strafe  bekommen,  sondern  der  arme, 
betorte  Postbeamte!  Tja,  so  ist  das  Leben  .  .  ."  fiigt  sie 
picpsend  hinzu,  ,,ein  Gliick,  daB  man  mit  solchen  entsetz- 
lichen  Dingen  nichts  zu  tun  hat." 

DaB  man  nichts  damit  zu  tun  hat  —  da  steigt  ihm  plotz- 
lich  cine  eisige  Leere  in  den  Kopf,  —  daB  man  nichts  damit 
zu  tun  hat  ...  und  es  uberkommt  ihn  eine  groBe,  kiihle, 
fremde  Ruhe.  Wenn  sie  damals  im  Krankenhaus,  als  sie 
merkte,  daB  das,  was  sie  von  der  Welt,  von  der  dunkeln, 
einstiirzenden  Welt  sagte,  mich  nicht  interessierte  und  daB 
ich  cs  nicht  verstand,  wenn  sie  da  nicht  locker  gclassen 
hatte,  dann  hatte  sie  mich  in  ihren  Bann  bekommen,  durch 
ein  cinziges  Wort,  das  sie  sicherlich  hatte  aussprechen 
konnen.  Wenn  sic  damals  in  der  Nacht  auf  dem  Flur 
mich  nicht  von  sich  gestoBen  hatte,  sondern  an  sich  gc- 
zogcn  und  am  nachsten  Tag  Menschenlcben  von  mir 
gefordcrt  hatte  fur  die  Umarmung  —  Aber  sic  schwicg, 
sticB  mich  zuriick,  vcrschloB  sich.  War  ich  ctwa  schlcchter 
als  dcr  Hagck?  —  odcr  war  ich  bcsscr?  Man  hat  nichts  damit 
zu  tun  —  was  gcht  sic  mich  an?!  was  geht  sic  mich  an  iibcr 
die  Zeitungsblatter  hinaus  ...  sie  und  die  iibrigcn,  alle,  was 

gchcn  sie  mich  an?  Man  ist  dariibcr  hinaus auch 

dariiber  bin  ich  hinaus.  —  Er  schlicBt  fiir  eine  Sckundc  die 
Augcn.  Jctzt  .  .  .  handclt  cs  sich  bereits  um  andcrc  Dinge. 
Mrs.  Knopfer  stebt,  ctwas  unschliissig,  noch  immcr  in  dcr 
Tiire,  —  dann  biickt  cr  sich,  hcbt  die  Zcitungen  auf,  legt 
sie  auf  den  Tisch  und  sagt  zu  ihr:  ,,ich  habe  sie  durch- 
gclesen,  dankc  vielmals." 

281 


i6 

J A,  —  jetzt  handelt  cs  sich  schon  um  andere  Dinge. 
Darum,  daB  cr  mit  aller  Kraftanspannung  sich  vom  Telefon 
zuriickhalt:  er  will  Mrs.  Myers  nicht  vor  der  Zcit  anrufen. 
Er  darf  nicht  zu  gierig,  zu  vereinsamt,  zu  sehr  wic  cin 
MiiBigganger  erscheincn.  Ilona  Szabo  darf  nicht  merken, 
daB  nun  bereits  allcs,  scin  ganzes  Leben  und  fiinfundvierzig 

Pfund,  auf  die  cine  Moglichkeit  gesctzt  ist,  daB doch, 

ja!  es  wird  gelingen!  es  muB  gelingen!  —  diesmal  lasse  ich 
cs  nicht  aus  der  Hand!  Dieses  Warten  jetzt  ist  ein  viel  auf- 
regendcres  Spiel,  als  .  .  .  zum  Beispiel  der  Gliicksautomat 
war.  Es  ware  leichter,  wenn  er  unter  Menschen  sein  konnte, 
vielleicht  wurde  die  Zeit  dann  schneller  vergehen,  abcr  cr 
fiirchtet,  die  Gesellschaft  Fremdcr  konne  ihn  dem  Fokus 
des  einzigen  Gedankens  cntrticken,  in  dem  er  brennt  und 
brcnnen  will,  bis  —  Er  fiirchtet,  hinter  jedcm  Wort,  das 
cr  sprache,  cine  Idee,  cinen  Einfall  zu  verpassen,  die  ihm 
vielleicht  bchilf  lich  sein  konnten,  wcnn  —  Und  cr  fiirchtet, 
die  Unterhaltung  mit  Frcmden  wiirde  ihn  natiirlich  wieder 
auf  alte  Dinge,  altc  Menschen,  alte  Ereignisse,  altc  Gc- 
danken  bringen.  Abcr  auch  vor  dem  Alleinscin  fiirchtet  cr 
sich:  der  unertragliche  Druck  des  Alleinscins  konnte  die 
Glasglockc  zcrbrcchcn,  unter  die  cr  sich  vor  Zcit  und 
Erinncrungcn  gefliichtct  hat.  —  Er  geht  auf  die  StraBe, 
macht  cinen  langen  Spaziergang;  der  kiihlc  Hcrbst  streicht 
kiihlc  Ruhe  um  scin  Haupt,  und  inmitten  der  tauscnd  gleich- 
giiltigen,  ungcfahrlichen  Fremden  der  StraBe  hat  cr  allcin 
Mrs.  Myers,  gcborcnc  Ilona  Szab6,  vor  Augcn  und  Ohrcn, 
sic  allein  fiillt  sein  Gehirn  aus.  Mrs.  Myers  und  allcs,  was 
um  sic  ist  odcr  sein  kann  oder  sein  wird . . .  Er  gcht  iibcr  die 
StraBe,  sicht  sich  die  Schaufenster  an,  —  das  und  dies  und 
jcncs  wcrdc  ich  brauchcn,  wcnn  ich  mit  ihr  rcisc  ...  — 
sicht  sich  Menschen  und  Dinge  an  und  wundert  sich  iibcr 
die  Schlendcrndcn  und  die  Eilcndcn,  iibcr  die  vielen  fremden 
Menschen,  die  allc  an  ihm  voriibergchen,  langsam  oder 

282 


schncll,  und  nicht  wisscn In  cincm  Biichcrladen  kauft 

cr  sich  cine  Landkarte,  damit  gcht  cr  sofort  nach  Hausc  und 
brcitct  sic  auf  dcm  Tisch  vor  sich  aus.  Nord-  und  Siid- 
Rhodesia,  Transvaal,  Oranje,  Wcstlich-Siidafrika,  Kapland, 
Union  der  Siidafrikanischen  Staaten  .  .  .  Der  ganze  Nach- 
mittag  vergeht  damit,  daB  cr  sich  in  das  Bild  von  Kapland 
vertieft. 

Am  vicrtcn  Tage,  —  jetzt  kann  ich  cs  schon  beruhigt 
tun,  —  ruft  er  gegen  Mittag  Mrs.  Myers  telefonisch  an. 
Sic  ist  nicht  zu  Hause,  und  der  plappernde  Sopran  am 
andcrn  Apparat  wiederholt  unsicher  zwei-,  dreimal  den  an- 
gegcbcncn  Namen.  Als  er  die  Muschel  hinlegt,  befallt  ihn 
plotzlich  die  Angst,  daB  das  weibliche  Wesen  driiben,  — 
wahrscheinlich  die  Zofe,  —  gewiB  nicht  richtig  und  genau 
ausrichtcn  werde,  wer  angerufen  hat.  Es  ist  zwar  nicht 
schwer,  es  zu  erraten,  er  kann  ja  auch  noch  einmal  tele- 
fonieren  und  wird  es  auch,  natiirlich,  —  aber  dennoch,  so 
cine  ungewisse  Sache  —  —  und  als  er  auf  die  StraBe 
hinuntergcht,  setzt  er  sich  noch  in  einem  fort  auseinander, 
daB  man  den  etwaigen  dummen  Folgen  eincr  unrichtigen 
Bestellung  odcr  eines  falsch  angegebenen  Namens  am 
bcsten  gleich  vorbeugt.  Er  geht  ins  erste  Blumcngeschaft 
und  schickt  Mrs.  Myers  cine  wunderschone,  blaBblau 
schatticrtc  Orchidec.  Auf  die  Karte  schrcibt  er:  Mit 
HandkuB,  Antal  Kddar.  Anderthalb  Pfund  .  .  .  nun,  und? 
andcrthalb  Pfund.  In  Ordnung.  Gegen  Abend  rufe  ich  sic 
wicdcr  an.  Augen  wird  sic  machen,  wcnn  ich  ihr  sage%  daB 
ich  hier  wohne,  in  ihrer  unmittelbaren  Nahe. 

Nach  Tisch  sitzt  cr  in  seinem  Zimmer  und  bctrachtct  die 
Landkarte;  es  klopft,  —  das  Zimmermadchcn :  ,,Sie 
mochtcn  sich  ans  Telefon  bcmiihcn,  Mrs.  Myers  wiinscht 
Sic  zu  sprcchcn."  Verblufft  und  vcrstandnislos  starrt  er  das 
Madchcn  cinen  Moment  an,  dann  stiirzt  cr  ans  Telefon. 
,,Mr.  Kaddr?"  fragt  die  Stimme  im  Apparat.  ,,Mrs.  Myers? 
woher  wisscn  Sic  denn,  daB  ich  hier  wohne?"  —  ,,Ich  weiB 
es  bait",  sagt  Ilona  Szab6,  ,,gcniigt  cs  nicht,  daB  ich  es 

283 


weiB?  Ich  bin  sehr  b6se  wegen  der  Blumc.  Dariiber  werden 
wir  noch  reden.  Bis  dahin  vielen  Dank.  Haben  Sic  hcutc 
abend  Zeit?  ja?  gut,  dann  crwarte  ich  Sie  nach  sicbcn 
Uhr."  Er  reiBt  die  Schranktiir  auf :  zcrdriickt  und  schmierig 
hangt  sein  Smoking  am  Haken.  Seit  mehr  als  einem 
Jahr  .  .  .  und  das  Smokinghemd  ist  auch  nicht  gestarkt,  — 
natiirlich  zur  griinen  Schiirze  .  .  .  still!  krachzt  eine  Stimme 
in  ihm  auf,  die  griine  Schiirze  existiert  nicht,  hat  nie 
existiertl!  —  Die  Klingel  schrillt,  und  schon  bringt  das 
Zimmermadchen  den  Anzug  zum  Auf  biigeln,  und  er  selbst 
rennt  iiber  die  StraBe  und  sucht  ein  Geschaft.  Nervos  reiBt 
er  dem  Verkaufer  das  Paket  aus  der  Hand,  —  zwei  Hemden 
mit  steifer  Brust,  ein  halbes  Dutzend  Kragen,  cin  modischer, 
schmaler  schwarzer  Schlips,  zwei  Paar  feine  schwarze 
Striimpfe,  ein  Paar  unerhort  teure  hellgraue  Handschuhe. 
Die  Aufregung  tobt  in  ihm,  als  nach  fiinf  endlich  der 
frisch  gebiigelte  Smoking  gebracht  wird,  —  ein  Skandal,  in 
den  Spiegel  haben  sic  am  Rand  einen  Glanzfleck  gebiigelt !  — 
und  dann  beginnt  er,  sich  fertig  zu  machen.  Es  ist  fast 
sieben  Uhr,  als  er  samtglatt  rasiert,  in  steifer,  frischer 
schwarz-weiBer  Abendeleganz  dasteht. 

Mrs.  Myers  erwartet  ihn  im  kleinen  Arbeitszimmer,  — 
vor  dem  niedrigen  Schrank  steht  ein  runder  Tisch, 
schaumend  weiB  fiir  zwei  Personen  gedeckt.  ,,Ah,  dinner 
jacket",  sagt  sic,  als  er  eintritt,  ,,dabei  wollte  ich  Ihnen  noch 
sagen,  nur  ganz  ungezwungen,  wir  sind  bloB  allein.  Wegcn  der 
Blumc  bin  ich  Ihnen  sehr  bose",  fiigt  sie  dann  gleich  binzu, 
,,Sic  Kind,  diese  Hoflichkcit  kostet  Sie  doch  mindestcns 
zwei  Pfund,  und  wenn  jcmand  so  wackelig  steht  wie  Sie  — " 
Sein  Gesicht  flammt  rot  auf,  und  mit  protestierender  Hand- 
bewegung  unterbricht  cr  Mrs.  Myers,  sie  fahrt  aber  vollig 
unbeirrt  fort:  ,,nein,  nein,  keincn  Widerspruch,  —  das 
wollen  wir  nur  gleich  hinter  uns  haben,  ich  habe  mich 
genau  informiert,  wer  Sie  sind.  Ein  armer  Junge  wie  Sie 
darf  kcinc  so  kostspieligen  —  nun,  nun  bclcidigt  dvirfen 
Sie  nicht  sein,  so  kommcn  wir  nicht  vorwarts  miteinandcr. 

284 


Im  iibrigen  1st  es  gar  keine  Schande,  —  ich  war  auch  keine 
Prinzessin  friiher  ..."  —  und  das  sagt  sie  so  nett  und 
schlicht,  daB  es  eine  Dummheit  ware,  nicht  herzlich  zu 
lachen,  und  erst  recht  eine  Dummheit  ware,  welter  Komodie 
zu  spielen.  ,,Sie  wissen  also  alles  von  mir?"  fragt  er  leichthin 
mit  leisem  innerem  Beben:  ob  sie  wohl  auch  das  mit  Pista 
Toth  weiB?  ,,Ja,  alles",  antwortet  sie,  ,,das  heiBt,  alles  das, 
was  ich  wissen  wollte."  Sie  hat  sich  also  nach  mir  erkundigt, 
denkt  er  mit  aufsteigender  Erregung  und  stoBt  plotzlich 
hervor:  ,,und  wie  denn?"  —  ,,Sie  naiver  junger  Mann  .  .». 
ein  geschickter  Biiroangestellter  .  .  .  geniigt  das  nicht?  Sie 
vergessen,  daB  England  die  Heimat  Conan  Doyles  ist!" 
und  lacht,  ,,sagen  Sie  mal,  was  ist  diese  Mrs.  Cresse  fur  eine 
Frau?  wie  ist  noch  gleich  ihr  Madchenname?  ach  ja, 
Csordas.  Ist  sie  hiibsch?"  —  »Alt",  sagt  er  rasch  und  wird 
sofort  rot  und  liigt:  ,,so  um  die  Vierzig  mag  sie  sein,  und 
schon  verbliiht."  —  ,,Und  wie  sind  Sie  mit  denen  ver- 
wandt?  und  was  haben  Sie  dort  gearbeitet?"  Wieder  und 
wieder  errotet  er  bei  ihren  Fragen  und  fangt  lang  und  breit 
an  zu  erklaren,  ,,ja,  die  Verwandtschaft . . .  das  sei  eigentlich 
keine  echte  Verwandtschaft,  und  gearbeitet  .  .  .  ja,  er  habe 
die  Einkaufe  besorgt  und  hauptsacblich  die  Geldangelegen- 
heiten  erledigt,  zwischendurch  jedoch  und  hauptsachlich 
habe  er  studiert  .  .  .  das  heiBt,  er  habe  die  Augen  offen- 
gehalten  fur  alles,  was  mit  der  modernen  Architektur  — " 
,,Na,  gutu,  sagt  sie,  ,,also  Mrs.  Cresse  ist  alt  und  nicht  hubsch. 
Alt  bin  ich  auch  schon  .  .  .  wenigstens  viel  alter  als  Sie."  — 
,,Ist  ja  nicht  wahr",  sagt  er  rasch  und  energisch,  ,,Sie 
konnen  hochstens  gleichaltrig  mit  mir  sein."  —  ,,Aber 
sehen  Sie  mal",  sagt  Mrs.  Myers  neckisch,  ,,warum  wollen 
Sie  mir  auf  binden,  daB  Sie  sich  nach  alldem,  was  ich  Ihnen 
von  mir  erzahlt  habe,  nicht  langst  ausgerechnet  haben,  daB 
ich  achtundzwanzig  bin.  Alt  bin  ich,  junger  Mann."  — 
Kdddr  fiihlt,  daB  es  ihm  warm  wird  in  der  Brust,  er  sieht 
ihr  scharf  in  die  Augen:  ,,Sie  sind  achtundzwanzig  Jahre 
alt  und  sehen  wie  zwanzig  aus,  ich  bin  vierundzwanzig, 

285 


wie  alt  ich  aussche,  weiB  ich  zwar  nicht,  aber  ich  habe 

mindestens  doppelt  so  viel  durchgemacht "  Sie  sieht 

plotzlich  weg  von  ihm,  langt  ein  wenig  zogernd  nach  der 
Zigarettendose  und  sagt:  ,,klingeln  Sie  doch  bitte,  ich  habe 
Hunger." 

Mrs.  Myers  iBt  viel  und  unglaublich  schnell.  Es  gibt 
unter  anderm  auch  eine  ganz  merkwiirdige  Speise,  kalte, 
stark  gewiirzte  Krebsschnitten  auf  kleinen  gerosteten  Brot- 
scheiben,  und  das  Ganze  schwimmt  in  einer  sauerlichen, 
nach  Sekt  schmeckenden  Sauce.  Auch  Kadar  iBt  mit  gutem 
Appetit,  und  wie  er  ihr  so  gegeniibersitzt,  geht  ihm  fort- 
wahrend  durch  den  Kopf:  achtundzwanzig,  vier  Jahre 
alter  als  ich.  —  Mrs.  Myers  kann  zumindest  so  gut  plaudern 
wie  essen.  Sofort  bemerkt  sic,  daB  Kadar  wortkarg  ist:  sie 
selbst  wirft  die  Themen  auf  und  erzahlt  in  geradezu  vir- 
tuosen  Variationen  von  Sudafrika,  von  Mr.  Myers,  von  den 
dortigen  Verhaltnissen  und  der  Firma,  den  Reisen  nach 
London  und  von  jener  letzten  traurigen  Reise,  von  Sydney, 
von  ihrem  friiheren  Leben,  —  Kadar  beginnt  die  Ohren  weit 
zu  offnen,  als  sie  von  sich  selbst  spricht.  —  Ich  war  auch 
keine  Prinzessin  .  .  .  hallt  es  in  seinem  Kopf  wider,  als  die 
Erinnerungen  an  vergangene  Kassaer  Tage  auf  ihren 
Lippen  lebendig  werden  mit  der  nie  vergehenden  Macht 
des  Erlebens,  der  Aufrichtigkeit  des  Riickblicks  auf  sich 
selbst.  Vierzehn  Jahre  .  .  .  Uona  Szab6  ist  vierzehn  Jahre 
alt,  als  ihr  Vater  —  zehn  Jahre  nach  dem  Tode  der  Mutter  — 
an  einem  entsetzlich  regnerischen  Tag  auf  der  StraBe  sich 
an  die  Brust  greift,  —  bis  man  ihn  nach  Hause  transportiert 
hat,  ist  er  bereits  bewuBtlos,  und  als  sich  der  alte  Doktor 
Terniczky  iiber  ihn  beugt,  lebt  er  nicht  mehr.  Ilona  Szab6, 
Schiilerin  der  vierten  Klasse  der  hoheren  Madchenschule, 
weint  ohnmachtig  in  Tante  Boras  SchoB.  Keinen  andern 
Menschen  hat  sie  nun  mehr  auf  der  Welt  als  diese  altc 
Haushalterin.  GroBe  Beerdigung,  die  ganze  Stadt  ist  da, 
auch  der  Biirgermeister;  dann  kommt  eine  Unterstxitzung 
von  der  Stadt,  —  Imre  Szab6  war  stadtischer  Archival 

286 


gewesen,  —  aber  die  Dreizimmerwohnung  muB  aufgegeben 
werden,  und  es  1st  noch  ein  Gliick,  daB  die  alte  Bora  in  den 
zehn  Jahren  etwas  Geld  beiseite  gelegt  hat  und  Ilona  liebt, 
als  ware  sie  ihre  eigene  Tochter.  Zum  Herbst  tritt  die 
Wirtschafterin  jedoch  wieder  irgendwo  in  Stellung,  das 
kleine  Madchen  kommt  zum  alten  Freund  ihres  Vaters,  zu 
Onkel  Vizsenyi,  den  das  Waisenamt  zum  Vormund  be- 
stimmt  hat.  Onkel  Vizsenyi  ist  Witwer,  besitzt  zwei  schone 
Mietshauser,  hockt  den  ganzen  Tag  im  Cafe,  raucht  seine 
Pfeife  und  dreht  jeden  Groschen,  den  er  ausgibt,  erst 
zehnmal  in  der  Hand.  Im  Hause  ist  eine  fiirchterliche,  aus- 
gemergelte  alte  Verwandte,  Frau  Marko,  die  den  Haushalt 
fuhrt  und  vor  der  das  kleine  Madchen  derartige  Angst  hat, 
daB  es  zittert,  wenn  sie  es  nur  ansieht.  Ilona  kann  es  zu 
Hause  nicht  aushalten,  —  aber  weiter  in  die  Schule  gehen . . . 
nein,  sie  muB  ein  Handwerk  erlernen.  Nahen?  Gartnerei? 
Kindermadchen  werden?  —  Onkel  Vizsenyi  willigt  ein, 
daB  sie  Stenographic  und  Schreibmaschine  lernt.  Der 
Kursus  dauert  ein  halbes  Jahr;  nach  Ostern  bekommt  sie 
auch  gleich  eine  Stelle,  im  Biiro  bei  Doktor  Simoncsics; 
zwanzig  Kronen  verdient  sie  im  Monat,  vorlaufig.  Im  Biiro 
arbeitet  ein  junger,  blondhaariger  Referendar,  Anti  Peterfy. 
Ilona  ist  funfzehn  Jahre  alt.  Strahlende,  ahnungsvolle 
Sommernachmittage  und  -abende  gehen  iiber  sie  dahin;  der 
Rechtsanwalt  spielt  schon  um  fiinf  Uhr  im  Kasino  Tarock; 
die  beiden  bleiben  fast  taglich  allein  im  halbdunkeln 
Buro-Hofzimmer.  Ilona  fiihlt  und  weiB,  daB  sie  Anti 
Peterfy  nicht  widerstehen  konnte  .  .  .  der  Junge,  Sohn  des 
Gerichtsprasidenten,  will  nicht  oder  wagt  nicht .  .  .  und  so 
vergehen  diese  Stunden  nur  in  schwulem,  erregtem,  auf- 
reibendem  Gekiisse.  Der  Mannesarm  und  Mannesmund 
bliihen  jedoch  in  dem  kleinen  Madchen  auf,  und  aus  der 
kleinen  Hi  wird  in  wenigen  Monaten  die  groBe  Ilona,  — 
auf  der  StraBe  wird  sie  angegafft,  von  den  Frauen  in  der 
Angst  vor  der  Konkurrenz,  von  den  Mannern  mit  masku- 
lincr  Eindeutigkeit,  —  die  groBe  Hona  Szabo  indessen  gibt 

287 


bereits  auf  sich  acht,  und  Anti,  selbst  wenn  er  jetzt  wollte  . . . 
Mit  angstvollcr  Behutsamkeit  spart  sie  die  Kronen:  sie 
mochte  nach  Budapest,  —  und  wenn  sie  dazu  Geld  genug 
hat  und  Onkel  Vizsdnyi  es  nicht  erlauben  sollte,  dann  riickt 
sie  einfach  aus.  —  Anti  Peterfy  ist  nun  schon  ernstlich  in  sie 
verliebt,  und  die  Frau  Gerichtsprasidentin  macht  sich  groBe 
Sorgen  ob  des  einen  und  andern  Wortes,  das  ihr  Sohn 
fallen  laBt.  —  Der  Bengel  ist  noch  imstande,  diesen  kleinen 
Fratz  zu  heiraten,  wenn  er  sein  Examen  gemacht  hat  .  .  . 
und  das  darf  natiirlich  nicht  sein.  Einmal  verrat  Ilona  dem 
Jungen  ihr  Geheimnis,  daB  sie  nach  Budapest  will;  er  liest 
es  ihr  von  den  Lippen  ab,  daB  sie  ihn  nicht  mehr  liebt.  Da 
macht  er  ihr  eine  Szene,  droht  mit  Selbstmord  .  .  .  Ilona 
lacht,  sie  weiB,  daB  diese  Drohung  eine  Kinderei  ist,  und 
weiB  auch,  daB  der  Junge  zu  einer  hvibschen  jungen  Witwe 
namens  Rozsa  Szelenak  geht,  und  wenn  sie  auch  iiberzeugt 
ist,  daB  trotzdem  sie  die  ernste  Herzensangelegenheit  ist, 
so  weiB  sie  dennoch:  wenn  sie  einmal  weg  ist,  wird  Anti 
Peterfy  neben  Rozsa  Szelenak  eine  andere  ernste  Herzens- 
angelegenheit haben.  Der  Junge  aber  bekommt  geradezu 
einen  Anfall,  als  eines  Tages  im  Zusammenhang  mit  einem 
langwierigen,  komplizierten,  erbitterten  ProzeB  der  Bau- 
sachverstandige  von  Simoncsics*  Hauptklienten,  dem 
exaltierten  Grafen,  ein  Londoner  Architekt  namens  Myers 
erscheint:  vom  ersten  Augenblick  an  driickt  er  sich  um 
Ilona  herum  und  sagt  wobl  hundertmal  am  Tage  scherzhaft, 
ein  so  wunderschones  MadchenI  —  und  wenn  etwas  sehr 
oft  gesagt  wird,  so  glauben  es  in  der  Regel  zum  SchluB  zwei : 
der  es  sagt  und  der,  dem  es  gesagt  wird.  Myers  ist  mindestens 
zehn  Jahre  alter  als  Anti  P£terfy,  an  den  Schlafen  beginnt 
er  schon  grau  zu  werden,  und  gekleidet  ist  er,  daB  die  klein- 
stadtischen  Eleganten  ruhig  die  Gelbsucht  kriegen  konnen. 
Er  bleibt  zwei  Wochen  in  Kassa  und  reist  dann  wieder  ab. 
Etwas  Eigentiimliches  sagt  er,  als  er  sich  von  dem  Madchen 
verabschiedet,  namlich:  ich  mochte,  daB  Sie  Englisch 
lernen.  Ilona  denkt  sich  etwas  und  wird  bis  liber  die  Ohren 

288 


rot,  —  und  am  nachsten  Tage  meldet  sie  sich  zum  Sprachen- 
Abendkursus  in  der  Biirgerschule  an.  Mit  finsterer  MiB- 
billigung  verfolgt  Anti  Peterfy  dieses  Englischlernen.  Vor- 
wurfsvolle,  nervose  Worte  fliegen  zwischen  ihnen  hin  und 
her.  Anti  schimpft  den  Englander  einen  Halunken,  Ilona 
halt  ihm  Rozsa  Szelenak  vor;  dann  stabilisieren  sich  diese 
Streitereien,  —  Ilona  amiisiert  sich  im  Grunde  genommen 
uber  die  Geschichte,  Anti  indessen  spricht  an  einem  ver- 
bitterten  Abend  im  Cafe  beim  Weinglas  und  in  Gegenwart 
Pista  Garays  und  Viktor  Szokans  und  Berti  Molnars  ein 
gemeines,  unbedachtes,  gefliigeltes  Wort  aus  .  .  .  Am 
folgenden  Tage  erzahlt  Pistas  Mutter  einer  Tante  Vilma, 
Viktors  verheiratete  Schwester  einer  Freundin,  Bertis 
Geliebte,  die  Kassierenn  im  Cafe,  ihrer  Chefin,  daB . . .  und 
in  zwei  Tagen  spricht  die  ganze  Stadt  davon,  daB  Ilona 
Szabo  die  Geliebte  des  englischen  Architekten  sei.  Der 
Miihe  wert  gewesen,  der  nachzulaufen,  sagte  cine,  — 
nachgelaufen  ist  er  ihr  doch  gar  nicht,  verbessert  einer,  der  es 
bcsser  weiB,  keine  Spur  von  Nachlaufen,  gleich  am  ersten 
Abend  .  .  .  Zwei  ncue  Kleider  hat  sie  von  dem  Englander 
bekommen,  —  ach  Unsinn,  zwei  Kleider,  tausend  Pfund, 
verstehen  Sie  mich?  tausend  Pfund  hat  er  ihr  hiergelassen . . . 
Englisch  laBt  er  sie  lernen,  denn  wenn  sie  ihm  spater 
nachreist,  —  nachreist!  er  wird  sie  sich  gerade  nachreisen 
lassen,  hochstens  nach  Budapest  wird  ihr  Kurmacher  sie 
mitnehmen,  er  hat  doch  in  London  cine  Frau  .  .  .  Betroffen 
sieht  Anti  Peterfy  eines  Tages,  was  er  angerichtet,  was  fur 
eine  Lawine  er  ins  Rollen  gebracht  hat,  —  aber  zu  spat. 
Frau  Peterfy  nimmt  ihm  das  Ehrenwort  ab,  daB  er  sich  mi: 
dieser  .  .  .  Person  nicht  mehr  einlasse,  auBerhalb  des  Biiros 
und  amtlicher  Dinge  naturlich,  —  aber  man  miiBte  auch 
Rechtsanwalt  Simoncsics  darauf  aufmerksam  machen  .  .  . 
es  passe  sich  schlieBlich  doch  nicht  fur  cinen  Gentleman, 
solch  ein  verworfenes  Fraucnzimmer  im  Hause  zu  halten; 
am  Ende  kommt  er  noch  selbst  in  schlechten  Ruf.  Und  der 

Klatsch  geht  weiter  und  greift  urn  sich,  iibersteigt  sogar 

t 

19  Ktirnmidi.  lliidaprst  289 


ein  wenig  den  iiblichen  Lebensgehalt  des  Klatsches,  — 
tja,  der  Englander  war  auch  keine  alltagliche  Erscheinung !  — 
und  selbstverstandlich  kommen  Ilona  die  Sachen  wieder  zu 
Ohren.  Soil  sie  weinen,  oder  —  wie  konnte  sie  sich  dagegen 
wehren?  Soil  sie  ihren  Ritter  Dr.  Antal  Peterfy  um  seinen 
Schutz  bitten?  —  Zum  Gliick  hat  sie  keine  gesellschaftlichen 
Ambitionen  in  Kassa,  —  ihr  Vormund  ist  fur  solchen  Unsinn 
taub,  —  und  dann,  kein  Wunder  dauert  ewig.  Sie  geht  ins 
Biiro,  redet  Anti  kuhl  mit  Herr  Doktor  an,  im  stillen  lacht 
sie  iiber  ihn  und  .  .  .  kann  dem  groBen  dummen  Jungen 
nicht  bose  sein.  Sie  hat  ihn  schon  endgiiltig  iiberwunden,  — 
vorbei,  aus,  unwichtig.  Wichtig  aber  ist,  daB  eines  Tages 
cine  Karte  aus  London  kommt,  und  noch  eine  und  noch 
eine,  in  regelmaBigen  Zeitabstanden,  und  dann  kommt  eine 
Karte  aus  Antwerpen,  dann  eine  aus  Paris,  dann  aus 
Toronto  und  dann  wieder  eine  aus  London,  —  und  dann 
ist  Mr.  Myers  eines  Tages  wieder  in  Kassa,  laBt  sich  dem 
alten  Vizsenyi  vorstellen,  und  zwei  Wochen  sparer  reisen 
Mr.  und  Mrs.  Myers,  geborene  Ilona  Szabo,  mit  dem  Abend- 
schnellzug  in  einem  Extrakupee  von  Kassa  ab.  Hinter  ihnen 
brennt  die  Stadt  in  den  knisternden  Flammen  des  neuen, 
drei  Tage  dauernden  Wunders  .  .  .  und  dann  hat  Kassa 
Ilona  Szabo  schneller  vergessen  als  Mrs.  Myers  Kassa,  von 
dem  noch  immer  —  iiber  London,  Sydney  und  Port 
Elizabeth  hinaus  —  die  Erinnerung  an  eine  unendliche, 
ermudende  und  dennoch  wohltuende  Erwartung  lebt. 

Von  unten  ist  sie  heraufgekommen,  von  noch  tiefer  als 
ich,  summt  eine  Stimme  in  Kddars  Kopf,  und  sie  wird  mich 
mitnehmen  in  die  Hohe.  Und  den  ganzen  Abend  spricht 
diese  Stimme  leise  zu  ihm,  dirigiert  seine  Worte  und  Be- 
wegungen,  mahnt  ihn  zur  Vorsicht  und  verscheucht  die 
bereits  mehrmals  ihn  uberkommende  bettlerhafte  Selbst- 
erniedrigung:  gib  acht,  hier  handelt  es  sich  nicht  um  ein 
Pfund,  gib  acht,  sei  nicht  gierig,  gib  acht,  verrate  dich  nicht. 
Nach  seinen  personlichen  Angelegenheiten  fragt  sie  kaum; 
mehr  und  mehr  konzentriert  sich  das  Gesprach  auf 

290 


Siidafrika.  In  aufregenden  Mosaikfarben  sieht  er  das  Land 
der  VerheiBung  vor  seinen  Augen  schillern :  die  aufstrebende 
englische  Hafenstadt  mit  Neapels  Klima  und  Amsterdams 
Sauberkeit  und  mit  dem  Reichtum  des  siidafrikanischen 
Staatenbundes  hinter  ihr.  Gleichsam  von  Woche  zu  Woche 
tun  sich  neue  StraBen  auf,  und  es  cntsteht  die  Stadt:  reiche 
hollandische  und  deutsche  Familien  wetteifern  mit  den 
Englandern  um  ihr  Aufbliihen  und  um  die  Befriedigung 
der  Anspriiche  von  Bequemlichkeit  und  Luxus.  Auf  den 
palastartigen  Klub  der  Hollander  reagieren  die  Deutschen 
mit  einem  noch  pomposeren  Vereinshaus,  und  die  Englander 
bauen  daraufhin  ein  Kindererholungsheim,  das  mit  dem 
teuersten  der  Art  in  London  konkurrieren  kann.  Die  Firma 
Abley  &  Co.  nimmt  sich  natiirlich  einen  reichlichen  Anteil 
der  Arbeit :  das  Biiro  beschaftigt  auBer  den  beiden  leitenden 
Ingenieuren  rund  zwanzig  Angestellte,  —  ihr  letzter  Bau, 
der  sich  gerade  jetzt  der  Vollendung  nahert,  sind  die  neuen 
Docks  und  Lagerhauser  der  Cunard  Line,  sie  werden  noch 
nach  Mr.  Myers'  Planen  errichtet  .  .  .  und  wenn  sie  jetzt 
wieder  nach  Hause  geht,  nach  so  langer  Zeit,  wird  es  ihr 
etwas  sonderbar  vorkommen,  sich  wieder  an  den  groBen 

Schreibtisch  zu  setzen 

Kadar  pochen  die  Schlafen  vor  Aufregung.  Ein  Wort 
erwartet  er  jetzt,  —  jenes  Wort  .  .  .  aber  das  Wort  ertont 
nicht.  Dann,  in  einem  momentanen  Schwindel  hat  er  das 
Gefiihl:  wenn  er  schweigt,  laBt  er  sich  den  Augenblick 
entrinnen,  —  er  muB  sich  anbieten,  er  muB  es  aussprechen : 
ich  gehe  mit  Ihnen  .  .  .  und  die  Stimme  in  seinem  Kopf,  — 
sie  schweigt  auch  schon,  sie  befiehlt  ihm  auch  nicht  mehr, 
den  Mund  zu  schlieBen,  —  aber  er  kann  nicht  reden,  er  kann 
es  doch  nicht  aussprechen:  nehmen  Sie  mich  mit.  Und  als 
Mrs.  Myers  nun  von  London,  von  Londoner  Menschen 
zu  sprechen  anfangt,  beobachtet  er  angstvoll,  wie  sie  sich 
mit  jedem  Wort  von  Siidafrika  entfernen.  Die  tief  drohnende 
Stimme  des  Abenteurers  und  das  helle  Jammcrn  des 
Bettlers  ringen  miteinander  in  seinem  Kopf  hinter  den 


19* 


29I 


leichten,  ncutralen  Worten.  Die  Uhr  zeigt  fast  Mitter- 
nacht,  —  noch  1st  nichts  gcschehen  .  .  .  es  schickt  sich,  nun 
bald  aufzubrechen.  Er  wiirdc  sich  auch  erheben,  wcnn  die 
Erwartung  seine  Glieder  nicht  mit  bleischwerem  Gewicht 
auf  den  Stuhl  driickte.  Und  als  Mrs.  Myers  von  einem 
unangenehmen  Londoner  Bekannten  —  dem  einen 
Sozius  —  spricht  und  sagt:  ,,na,  aber  das  macht  nichts,  ich 
sehe  ihn  ja  hochstens  noch  zehn  Tage .  .  .",  da  lahmt  ihm 
die  verzweifelte  Qual  der  verloren  geglaubten  Sache  wie 
mit  Millionen  von  Nadelstichen  den  Korper.  Er  sieht  auf 
seine  Uhr  und  steht  auf.  Da  fragt  Mrs.  Myers:  ,,sagen  Sie 
mal,  was  werden  Sie  nun  machen?"  —  ,,Nun?  wieso 
nun?"  —  ,,Ich  meine,  in  den  nachsten  Monaten.  Was 
haben  Sie  fur  Plane?  Bleiben  Sie  in  London?"  Er  bermiht 
sich,  ein  gleichgiiltiges  Gesicht  zu  zeigen,  aber  seine  Augen 
hangen  zogernd  an  ihrem  Gesicht  und  ihrer  Gestalt.  ,,Ich 
weiB  noch  nicht",  antwortet  er,  und  tatsachlich  gelingt  es 
ihm,  seine  Stimme  leicht  und  unbefangen  zu  glatten, 

,,vielleicht  bleibe  ich  noch  in  London,  vielleicht " 

Und  sie  fahrt  dazwischen:  ,,und  sagen  Sie  mal  .  .  .  soil  ich 
wirklich  nicht  bei  Scott  ein  Wort  fur  Sie  einlegen?  damit 
Sie  hier  im  Biiro  — "  Nun,  —  jetzt  aber  nicht  mehr  weiter 
Luftspriinge  gemacht,  —  vielleicht  ist  das  die  letzte  Ge- 
legenheit,  nun  ein  Ja  herausquetschen :  ja!  sie  solle  ein 
Wort  einlegen!  im  Biiro!  bloB  um  einen  besseren  Bissen 
Brot! .  .  .  Und  da  gewinnt  doch  der  Rausch  des  Hasardeurs 
die  Oberhand,  und  kiihl,  aber  mit  dankbarer  Freundschaft 
in  der  Stimme  sagt  er:  ,,oh,  nein,  danke.  Sclbst  wenn  ich 
Arbeitsbewilligung  bekame,  hatte  es  keinen  Sinn,  fiir  mich 
ist  das  keine  Losung  .  .  .  das  heiBt  — "  Mrs.  Myers'  Gesicht 
wird  um  eine  leichte  Nuance  roter.  ,,So,  und  wenn  ich 

sagen  wiirde "  und  da,  da  fahrt  er  ihr  ins  Wort  mit  der 

iiberlegenen,  innerlich  fieberhaft  flackernden  Stimme  des 
sicheren  Gewinners  und  dem  gemeinen  Hochstaplerblick 
in  den  Augen,  aus  dem  blitzt :  nicht  um  die  Dinge  handle 
es  sich,  um  die  nebensachlichen  Dinge,  sondern  um  die 

292 


Personen,  um  cine  einzige  Person  . . . :  ,,Jawohl,  das  ja!"  In 
der  Spannung,  die  der  elektrischen  Entladung  vorausgeht, 
brennen  zwei  Augenpaare  ineinander,  —  eine  frische  kecke 
Knabenstimme  aus  der  Vergangenheit  klingt  ihm  in  den 
Ohren:  ,pack  sie  doch,  ergreif  ihren  Kopf . . .  damit  sie  be- 
kommt,  was  sie  haben  will!4  In  der  Schulter,  im  Arm  zuckt 
ihm  schon  die  Bewegung.  Die  Frau  wendet  rasch  den  Blick  ab 
und  steht  auf:  ,,Woher  wissen  Sie,  was  ich  sagen  wollte? 
daB  Sie  schon  antworten ..."  —  ,,Sie  wollen  sagen",  spricht 
er  hart,  befehlerisch,  ,,wenn  Sie  mich  auffordern  wiirden 
mitzugehen  ..."  —  In  Mrs.  Myers'  Blick  liegt  etwas  von 
erschrockenem  Zogern,  von  aufschiebendem  Sichwehren: 
,,und  wenn  ich  das  auch  hatte  fragen  wollen  .  .  das  ware 
nur  ...  ich  habe  mich  noch  nicht  entschlossen  .  .  .  noch 
gar  nicht  .  .  ."  —  ,,Oh",  sagt  er  dann  ganz  seiner  sicher, 
,,miBverstehen  Sie  mich  nicht,  Mrs.  Myers,  halten  Sie  es 
nicht  fur  Aufdringlichkeit,  ich  dachte  mir  nur,  wenn  Sie 
mich  rufen,  dann  gehe  ich  mit  Ihnen,  nach  Afrika,  wohin 
Sie  wollen,  ans  Ende  der  Welt." 

Und  wie  er  ihren  glimmenden,  vor  seinen  Augen 
fliichtenden,  unsicheren  Blick  mit  seinen  Augen  jagt,  und 
wie  sich  dann  die  schmale  Gestalt  mit  einer  briisken  Be- 
wegung von  ihm  abwendet,  —  da  weiB  er  bestimmt,  daB 
er  ruhig  seinen  Koffer  packen  kann:  Mrs.  Myers  nimmt  ihn 
mit,  nach  Afrika,  ans  Ende  der  Welt. 


DER  groBe  eiserne  Schrank  mit  den  zahlreichen  Fachern, 
der,  in  die  Wand  des  Arbeitszimmers  gebaut,  die  wich- 
tigsten  Urkunden  der  Firma  hiitet,  hat  einen  besonderen 
verschlieBbaren  Teil,  —  hier  bewahrt  A.  T.  Cadar,  der 
hervorragende  junge  Architekt,  seine  privaten  Schrift- 
stiicke  auf.  Solche,  die  sich  streng  auf  seine  Person  beziehen 
oder  mit  ihr  im  Zusammenhang  sind.  Urkunden,  Zeitungs- 


blatter,  Briefe,  Notizen.  —  Hie  und  da  in  einer  stillen,  ein- 
samen  Stunde  kramt  Antal  Kadar  in  den  Papieren 
Mr.  A.  T.  Cadars  herum. 

Liste  der  Reisenden  des  Cunard-Line-Schiffes  ,,Falconia", 
Fahrt  am  ....  1922  Southampton — Gibraltar — Port 
Said  —  Aden  —  Mombassa — Mosambique — Burban — Port 
Elizabeth: 

1 66.  Mrs.  Helena  Myers,  Unternehmerin,  Port  Elizabeth. 

167.  Mr.  A.  Kadar,  Privatsekretar,  Port  Elizabeth. 

Ein  BeschluB  der  Polizeibehorde  in  Port  Elizabeth: 

.  .  .  wird  Mr.  A.  Kadar  die  vorlaufige  Aufenthalts- 
bewilligung  erteilt,  sein  Gesuch  um  Niederlassungs- 
bewilligung  wird  zwecks  Erledigung  an  die  Obrig- 
keit  weitergegeben  .  .  . 

Ein  Brief  von  Mrs.  Myers  aus  Cape  Town: 

.  .  .  Hooley  schreibt,  seitdem  ich  fort  bin,  verbringen 
Sie  Ihren  ganzen  Tag  im  Biiro.  Ich  freue  mich  ja  sehr, 
wenn  Sie  moglichst  bald  viber  alle  unsere  Angelegen- 
heiten  im  klaren  sind,  aber  iibertreiben  diirfen  Sie  doch 
nicht.  Mir  will  scheinen,  Hooley  ist  ein  biBchen  eifer- 
siichtig  auf  Sie,  das  soil  Ihnen  aber  auch  dann  nicht  die 
Lust  nehmen,  wenn  Hooley  Sie  seine  Gefiihle  in  seiner 
gewohnten  etwas  derben  Art  merken  lassen  sollte. 
Growham  hat,  wie  ich  sehe,  gut  gearbeitet,  wahr- 
scheinlich  bekommen  wir  den  Bau  der  C.  T.er  Biblio- 
thek.  Gleich  nach  der  Entscheidung  reise  ich  nach 
Hause . . . 

Bericht  aus  einer  Sportzeitung: 

Die  erste  Uberraschung  brachte  das  gemischte 
Doppelspiel:  das  Paar  Kaddr-Myers  schlug  mit  iiber- 
legener  Leichtigkeit  —  6  :  2,  6  :  o  —  das  Siegerpaar 
vom  vorigen  Jahr,  Dunn-Dunn,  Das  vollkommcn 

294 


abgestimmte  Spiel  der  Sieger  wurde  selbst  vom  Publikum 
der  Dunn-Partei  mit  begeistertem  Beifall  verfolgt  .  .  . 

Ein  Brief  von  Dr.  Bloomhard,  dem  Direktor  der  Johannes- 
burger  Union  Technology: 

.  .  .  es  wird  mir  zur  Freude  gereichen,  Sie,  den  vor- 
trefflichen  Mitarbeiter  der  Firma  Abley,  unter  meinen 
Horern  begriiBen  zu  konnen.  Ich  bin  iiberzeugt,  daB 
Sie  auf  Grund  Ihres  Talentes  und  Ihrer  Erfahrungen 
nach  zwei  bis  drei  Monaten  Arbeit  das  Diplom  erwerben 
konnen . . . 

Eine  Visitenkarte : 

A.  T.  Kadar,  Architect,  Manager  of  Abley's  Co.,  Port 
Elizabeth. 

Originalbrief  Mr.  Hooleys,  des  leitenden  Oberingenieurs, 
an  Mrs.  Myers: 

.  .  .  ich  meinerseits  kann  mich  nur  dariiber  freuen, 
Mrs.  Myers,  daft  ich  durch  eine  aktive  junge  Arbeits- 
kraft,  vornehmlich  durch  eine  solche,  die  Ihr  voiles 
Vertrauen  zu  genieBen  scheint,  entlastet  werden  soil; 
ich  wiederhole,  ich  kann  mich  dariiber  nur  freuen,  ich, 
der  ich  seit  neun  Jahren  im  Dienst  der  Firma  stehe  und 
weit  iiber  mein  vierzigstes  Lebensjahr  hinaus  bin.  Aber 
gerade  mein  Alter  und  die  lange  Zeit,  die  ich  bei  Ihnen 
vcrbracht  habe,  machen  es  mir  zur  Pflicht,  Sie  auf  etwas 
aufmerksam  zu  machen.  Die  Kruegersdorper  Grund- 
stiicksspekulation  hat  mir  monatelang  die  Nachtruhe 
geraubt.  Sie  ist  gelungen,  —  gut,  aber  Monate  hindurch 
hat  es  den  Anschein  gehabt,  daB  sie  nicht  gelingen 
wiirde.  Den  Bahnhofsbau  in  Pretoria  zu  ubernehmen,  war 
meiner  Ansicht  nach  gleichbedeutend  mit  Selbstmord, 
und  daB  wir  daran  kein  Geld  vetloren  haben,  ist  einzig 
und  allein  dem  Zufall  zu  verdanken.  Kurz:  ich  habe  das 
Gefuhl,  daB  ich  trotz  unverSnderter  Verantwortung  an 

295 


EinfluB  bei  Ihnen  verloren  habc  und  dadurch  natiirlich 
auch  in  London.  Dagegen  will  ich  keine  Klage  erheben, 
ich  mochte  Sic  nur  zu  gcsteigertcr  Vorsicht  mahnen  und 
Sic  bitten:  denken  Sie  nie,  Hooley  bremse  aus  Eifersucht, 
wcnn  er  bremst,  oder  er  sage  aus  Neid  nein,  wenn  er  nein 
sagt.  Ich  glaube  nicht,  daB  ich  verknochert  bin,  vielleicht 
kann  ich  nur  die  Interessen  der  Fitma  besser  wahren  als 
einer,  der  die  Welt  mit  feungen  jungen  Augen  sieht .  .  . 

Amtliche  Kopie  eines  Briefes  Mr.  Hooleys  an  die  Londoner 
Zcntrale,  die  Mrs.  Myers  eingeschickt  wurde: 

.  .  .  mein  neunjiihriger  Dienst  in  den  Kolonien 
berechtigt  mich  mit  Fug  dazu,  um  meine  Versetzung  ins 
Londoner  Euro  zu  bitten.  Sollte  dies  indessen  Schwicrig- 
keiten  verursachen,  so  werde  ich  mich  zu  meinem 
Bedauern  gezwungen  sehen,  darauf  zu  vcrzichten, 
weiterhin  als  bescheidener  Mitarbciter  Ihrer  lobl. 
Firmen  .  .  . 

Ein  Telegramm  von  Alexis,  einem  der  Kompagnons: 

ankomme  siebenten  seid  unbedingt  port  elizabcth 
wiinsche  auch  kadar  zu  sprechen  alexis 

Alexis*  Telegramm  nach  London  (handschriftlichcs  Kon- 

zept): 

alles  tadellos  in  ordnung  stop  ersatz  fur  hooley 
vollkommen  uberfliissig  stop  kadar  mufi  groBtc  an- 
crkennung  gczollt  werden  alexis 

Abschnitt  einer  Postanweisung : 

Empfanger:  Mary  Tate,  London  SE.  Deptford, 
Steelworks  Row,  c/o  Cresse.  Betrag:  Pfund  100, — . 
Absender:  A.  Kadar,  Port  Elizabeth. 

Telegramm  Growhams  aus  Johannesburg: 

mr  kadar  abreise  sofort  lagerhausbau  unser  gratuliere 
growham 

z<)6 


Ein  Dokument: 

.  .  .  Minister  der  innercn  Angelegenheiten  verfugt 
hiermit,  Herrn  Anthony  Theodore  Kadar  als  Burger 
des  Sudafrikanischen  Staatenbundes,  insbesondere  Cape- 
lands  aufzunehmen,  und  bewilligt  gleichzeitig,  seinen 
bisherigen  Namen  vom  Tage  der  Unterzeichnung  dieser 
Urkunde  an  in  den  Namen  Cadar  umzuandern  und 
diesen  Namen  als  gesetzlichen  Namen  zu  gebrauchen  .  .  . 

Ein  Zeitungsblatt;  gesellschaftliche  Nachrichten: 

Mr.  A.  T.  Cadar,  der  vortreffliche  Architekt  und 
Mitchef  der  Firma  Abley,  und  die  Witwe  seines  Vor- 
gangers,  Mr.  M.  Myers',  Mrs.  Helena  Myers,  haben  sich 
vermahlt.  Zahlreiche  Spitzen  unserer  Stadt,  des  ganzen 
Landes  und  Londons  iiberhauften  das  junge  Paar  mit 
Gliickwunschtelegrammen. 

Duplikat  einer  Entscheidung  des  Firmenamts  in  London: 

...  die  Firma  Abley,  Alexis,  Hutton,  Myers  &  Scott,  Ar- 
chitects, loscht  den  Firmenwortlaut  und  tragt  stattdessen 
ein:  Abley,  Alexis,  Cadar,  Hutton  &  Scott,  Architects. 

Brief  an  einen  stadtischen  Oberbeamten: 

...  in  diesem  Interesse  schrecke  ich  auch  vor 
groBeren  Opfern  nicht  zuruck,  meine  erste  und  wich- 
tigste  Bedingung  jedoch  ist  es,  daB  der  Kauf  des  Grund- 
stiicks  streng  geheimgehalten  werde,  bis  der  Bau  be- 
ginnt  oder  ich  selbst  die  offentliche  Propaganda  in  die 
Wege  leite  .  .  . 

Ein  Brief  nach  London: 

.  .  .  und  schlieBlich  bin  ich  meiner  Sachc  so  sicher, 
daB  ich  das  Geschaft  allein  machen  werde,  wenn  Sie 
sich  nicht  daran  beteiligen  wollen.  Heute  ist  es  bereits 
nicht  nur  mein  Gefuhl,  sondern  auf  Grund  von  Zahlen 
auch  meinc  Oberzeugung,  daB  die  Kolonie  eines  der 
besten  Geschafte  der  letzten  Zeit  sein  wird  . . . 


297 


Eine  Urkunde: 

.  .  .  naher  bezeichnet:  von  den  im  Besitz  der  Stadt 
befindlichen  freien  und  unbebauten  Grundstiicken,  die 
westlich  von  der  Stadtgrenze,  ostlich  von  der  Be- 
zirksgrenze  der  Stadt  Olchester,  siidlich  von  der 
Kiistenlinie  der  Algoa-Bay  und  nordlich  von  der  mit 
der  Kustenlinie  parallel  laufenden  und  von  dieser  zwei 
und  eine  halbe  englische  Meile  entfernt  liegenden  Linie 
begrenzt  werden  .  .  .  und  verkauft  die  auf  dem  durch 
die  vertragschlieBenden  Parteien  gemeinsam  bestimmten 
und  aufgenommenen,  von  ihnen  wechselseitig  an- 
erkannten  und  untereinander  ausgetauschten  topo- 
graphischen  Plan  als  neu  aufgenommene  Grundbuch- 
eintragungen  von  oooi  bis  1000  numerierten  Grund- 
stiicke  zum  unten  festgesetzten  Preis  an  Herrn  Anthony 
Theodore  Cadar  und  seine  Ehefrau  und  iibergibt  sie  in 
deren  Besitz  .  .  .  samtliche  Einrichtungen,  die  in  dem 
diese  Urkunde  erganzenden  Protokoll  gemeinsam  be- 
stimmt  und  kurz  als  offentliche  Betriebe  bezeichnet  sind, 
lafk  die  Stadt  auf  eigene  Kosten  fertigstellen,  wohin- 
gegen  Kaufer  verpflichtet  sind,  die  in  anliegendem 
Protokoll  genau  beschriebenen  Wohlfahrts-Institute 
errichten  und  einrichten  zu  lassen  und  der  Stadt  zur 
Verfugung  zu  stellen  .  .  . 

Eine  Annonce: 

Der  Garten  Eden  der  Biblischen  Zeit  war  in 
Kleinasien! 

Der  Garten  Eden  der  Modernen  Zeit  wird  in 
Siidafrika  seinl 

Verlangen   Sie  unverziiglich  Prospekte  iibcr 
das  Neue  Eden  I 

Eine  Annonce: 

Die  schonste  Seekiiste  der  Welt  war  bisher  die  fran- 
zosische  Riviera  —  in  einem  Jahr  wird  es  die  Kiiste 

298 


der  Algoa-Bay  sein.  Brauchen  Sie  ein  winzig  kleines 
Weekend-Haus?  Brauchen  Sie  eine  prachtvolle  Luxus- 
villa?  Bevorzugen  Sie  den  strahlenden  Sonnenschein  am 
Meeresstrand  oder  den  kuhlen  Schatten  der  wunder- 
baren  Walder?  1st  Ihr  Geschmack  der  Stil  der  Neger- 
hiitten  oder  die  moderne  Glasarchitektur?  Suchen  Sie 
noch  heute  unser  Euro  auf,  nehmen  Sie  Einblick  in 
unsere  Plane  und  beraten  Sie  sich  mit  unsern  Fach- 
leuten  .  .  . 

Sogenannter    novellistischer    Bericht    in    einer    groBen 
Tageszeitung : 

.  .  .  im  zweisitzigen  Cadillac  des  beriihmten  Archi- 
tekten  sausen  wir  auf  der  spiegelglatten  neuen  Fahr- 
straBe  die  strahlende  Meereskiiste  entlang.  In  wenigen 
Minuten  haben  wir  die  im  Bau  begriffene  neue  Kolonie, 
das  ,,Sudafrikanische  Eden",  erreicht  .  .  .  und  schon 
sieht  man  die  Unmengen  von  Baumaterial,  Maschinen, 
Lastautos  und  die  endlosen  Gruppen  von  Arbeitern  in 
buntem  Getriebe.  Eine  regelrechte  Stadt  .  .  .  aber  eine 
Wunderstadt,  in  der  Wasser  und  Wald,  Luxus  und 
zweckmaBige  Einfachheit  vereinigt  sind.  Jedes  einzelne 
Gebaude  scheint  eine  kleine  Burg  fur  sich  zu  sein,  ein 
stolzer  Verkiinder  des  klassischen  englischen  Wortes  . . . 
und  dennoch  sehen  wir  bereits  im  ersten  Augenblick: 
wir  sind  unter  Freunden.  Die  gewaltige  Sportanlage, 
der  glanzende  Filmpalast,  das  pompose  Klubhaus  .  .  . 
jeder  einzelne  findet  auBerhalb  und  innerhalb  seines 
Hauses  die  Bequemlichkeit,  Freude  und  Zerstreuung, 
die  seiner  Personlichkeit  am  besten  entspricht  .  .  . 
Unterwegs  unterhalten  wir  uns  mit  Mr.  Cadar.  ,,Ich  bin 
mit  dem  bisherigen  Ergebnis  des  Baues  zufrieden",  sagt 
der  Architekt.  ,,Mit  dem  materiellen  Erfolg  ebenso  wie 
mit  dem  moralischen:  in  den  ersten  Tagen  bereits 
erhielten  wir  Bauauftrage  fur  eine  uber  Erwarten  groBe 
Zahl  von  Einheiten,  und  liberdies  ist  sozusagen  das 

299 


Auge  des  Intercsscs  von  ganz  Afrika  und  dem  Britischen 
Reich  auf  uns  gcrichtet  .  .  ." 

Ein  Telegramm  des  Agenten  Smith: 

hundertzehn  bis  hundertfiinfunddreifiig  verkauft  re- 
servieret  noch  mindestens  funfzig 

Ein  Telegramm  des  Agenten  Corbett: 

achtzig  hundertfunf  abgeschlossen  drahtantwort  ob 
noch  zehn  waldviertel  bekommen  kann 

Ein  Telegramm  des  Agenten  Berghem: 

groBer  erfolg  familie  vandermuylen  acht  parzellen 
hundertzehn  bis  siebzehn  wollen  bauten  mit  mr  cadar 
personlich  besprechen  rechne  mit  weiteren  funfzig 

Ein  Telegramm  des  Agenten  Di  Marcelli: 

samtliche  parzellen  im  rayon  verkauft  drahtantwort  ob 
bauten  tirolerstil  iibernehmen  kann 

Eine  behordliche  Mitteilung: 

.  .  .  Bei  der  Einweihung  von  Helena -Village  und  der 
Obernahme  der  Wohlfahrtsinstitute  \drd  sich  die 
Regierung  durch  spater  noch  bekanntzugebende  Per- 
sdnlichkeiten  vertreten  lassen  .  .  . 


i3 

UND  dann  .  .  .  ja,  dann  kam  auch  das.  Die  Einweihung 
der  neuen  Kolonie.  Die  Vertretung  der  Regierung.  Die 
Redcn.  Die  Ovationen.  Hurra  der  Sudafrikanische  Staaten- 
bundl  Hurra  das  Britische  Reich  I  Hurra  Helena- Village  1 
Hurra  Mr.  Cadar  und  Mrs.  Cadar!  Hurra  die  vortreff lichen 
Mitarbeiter  und  alle,  die  an  der  Schopfung  dieser  wunder- 
baren  Statte  geholfen  haben Und  es  kam  das 

300 


Hundertzwanzig-Personen-Bankett  im  Hotel  Great  Britain, 
das  um  so  mehr  zur  Zufriedenheit  aller  ausfiel,  da  jeder 
bekommen  hatte,  was  er  wollte.  Siidafrika  das  neue  Eden, 
der  Unternehmer  den  Gewinn  von  unzahligen  Pfund,  die 
Stadt  die  neuen  Wohlfehrts-Anstalten,  der  Biirgermeister 
eine  Villa  in  der  neuen  Kolonie  zum  Vorzugspreis  und  so 
weiter.  Dann  gingen  sie  nach  Hause.  Auf  der  aufs  Meer 
blickenden  Terrasse  der  herrlichen  Luxusvilla  rauchten  sie 
noch  eine  Zigarette.  ,,Ich  bin  rmide",  sagte  Kadar,  ,,wir 
wollen  schlafen  gehen,  gut?"  —  ,,Gut",  antwortete  die 
Frau;  sie  schwieg  einen  Augenblick,  dann  fiigte  sie  hinzu: 
,,ich  hatte  zwar  gedacht,  wir  wiirden  noch  ein  Glas  Sekt 
trinken,  nur  wir  beide,  extra."  —  ,,Gerne",  antwortete  er 
zogernd,  ,,hast  du  Durst?  ..."  —  ,,Das  gerade  nicht  .  .  . 
aber  mir  scheint,  du  hast  vergessen  ..."  —  ,,Verzeih 
mir,  Liebste",  sagte  er  sofort,  ,,ich  bin  wirklich  gemein 
und  vergeBlich,  aber  bei  dem  Rummel,  der  heute  war  — " 
Und  gleich  ging  er  eine  Flasche  franzosischen  Sekt  und  zwei 
Glaser  holen.  Er  loste  den  Draht  vom  Flaschenhals,  der 
Pfropfen  flog  mit  erregtem  Knall  in  die  blaue  Nacht.  In  die 
Nacht  ihres  vierten  Hochzeitstages.  Sic  stieBen  an;  tranken 
ihre  Glaser  aus;  kuBten  sich;  dann  gingen  sie  zu  Bett. 


19 

JEDER  Tag  ist  ein  Ziegelstein  in  der  Mauer,  die  zwischen 
dem  Leben  Antal  Kaddrs  und  A.  T.  Cadars  entsteht.  Sie 
entsteht;  nicht  Kddar  baut  sie.  Wie  denn  Antal  Kdddr 
nichts  oder  nur  sehr  wenig  dazu  getan  hatte,  es  bis  hierher 
zu  bringen.  Wie  denn  Antal  Kaddr  bloB  unterm  Himmels- 
gewolbe  stand  und  manchmal  mit  zusammengepreBten 
Zahnen  dachte,  es  ware  gut  .  .  .  man  konnte  .  .  .  man 
muBte  ...  —  und  er  stand  da  und  lieB  es  geschehen,  daB 
eine  Ohrfeige  oder  eine  Krankhcit  oder  ein  KuB  mit  leichter 
Brise  oder  mit  wildem  Sturm  ihn  A.  T.  Cadar  zutrieb.  Und 


301 


die  Mauer,  die  entsteht,  ist  schon  sehr  hoch.  Sie  fangt 
bereits  die  Bilder  friiherer  Menschen  und  Dinge,  den  Klang 
alter  Musik,  das  Aufblitzen  alter  Erinnerungen  ab.  Diesseits 
der  Mauer  ist  das  Leben  anders  .  .  .  nein,  so  ist  das  nicht 
richtig,  —  diesseits  der  Mauer  ist  das  Leben  ein  Leben. 
Jenseits  der  Mauer?  Wen  interessiert  das?  Das  groBe 
Unternehmen  steigt  in  ungebrochenem  Bogen  aufwarts, 
die  Arbeit  vermehrt  sich,  die  Bankkonti  in  London  und 
Port  Elizabeth  wachsen  standig  an.  Die  Frau:  Gefahrtin 
von  der  Umarmung  bis  zum  morgendlichen  Ausritt,  von 
den  Zahlenratseln  des  Schreibtisches  bis  zu  den  Architektur- 
Fachblattern,  die  sie  auch  alle  liest,  von  den  zahlreichen 
guten  Tonfilmen  bis  zum  Revuetheater  in  Johannesburg, 
in  das  Joe  Lewis,  ihr  dortiger  Vertrauensmann,  sie  bei 
jedem  Aufenthalt  unerbittlich  mitschleppt.  Die  Frau: 
Gefahrtin,  indem  sie  mit  ihm  zusammen  ist  und  indem  sic 
ihn  allein  laBt,  wenn  notig.  Wenn  er  miide  ist.  Wenn  er 
nervos  ist.  Wenn  er  iibersattigt  ist  und  ein  paar  einsame 
Stunden  braucht,  in  der  Eisenbahn  oder  im  Weekend- 
Haus  in  Helena- Village.  Sie  sind  von  Menschen  umgeben: 
von  Englandern  und  Deutschen  und  Hollandern,  von 
Geschaftsfreunden,  Bekannten  und  Fremden.  Keincm  tun 
sie  etwas  zuleide,  und  keiner  hat  ihnen  etwas  an.  Immer 
scheint  die  Sonne.  So  vergehen  die  Tage;  er  ist  breitschul- 
trig,  blond,  ein  guter  Arbeiter  und  kerngesund.  —  Als  der 
groBe  neue  Radio- Apparat  in  der  Villa  angebracht  worden 
war,  saB  er  Abende  davor  und  jagte  nach  Tonen  im  Ather. 
Einmal  hort  er  deutlich  cine  sonore  Stimme:  ,.  .  .  es  folgt 
ein  Konzert  der  Zigeunerbande  Laci  Raczc  .  .  .  und  dana 
kommen  die  Tone  an,  —  Zigeunermusik,  ja,  die  Melodic 
klingt  bekannt,  aber  die  Worte,  an  die  Worte  kann  er  sich 
nicht  mehr  recht  erinnern,  —  ein  Weilchcn  hort  er  mit 
zuriickgehaltenem  Atem  zu.  Seltsam  ...  die  Hauptinstru- 
mente  der  Zigeuner  sind  die  Geige,  das  Cello  und  das 
Cymbal,  und  diese  Tone,  als  kamen  sie  aus  Blasinstru- 
menten  .  .  .  der  Lautsprecher  ist  nicht  gut  —  dann  sucht  er 

302 


etwas  anderes.  —  In  seinem  Arbeitszimmer  hangt  eine 
gewaltige  Weltkarte.  Manchmal  stellt  er  sich  davor  und 
betrachtet  sie,  —  London  .  .  .  nach  ihrer  Hochzeit  waren 
sie  einen  Monat  in  London,  Wien  ...  wo  liegt  das  noch 
gleich?  ja,  hier,  —  seit  damals  .  .  .  seit  damals  hat  er  aus 
Wien  keine  Nachricht.  Budapest,  —  genau  sechs  Jahre  sind 
es  her,  daB  er  zuletzt  aus  Budapest  gehort  hat.  Schon  fast 
zwei  Jahre  lebte  er  mit  Mrs.  Myers  in  Port  Elizabeth,  als  er 
eines  Tages  einen  Brief  nach  Budapest  schrieb,  an  zwei 
nebelhafte  alte  Leute.  ,,Lieber  Onkel  Rudi,  Hebe  Tante 
Anna,  ich  weiB  sehr  gut,  daB  es  haBlich  und  undankbar 
ist,  daB  ich  so  lange  Zeit  nichts  habe  von  mir  horen  lassen. 
Jetzt  geht  es  mir  gut,  und  zunachst  mochte  ich  nur  wissen, 
wie  es  euch  geht,  ob  ich  euch  irgendwie  helfen  kann. 
Ich  erwarte  dringendst  Nachricht  von  euch.  Seid  tausend- 
mal  gekiiBt  von  eurem  Toni."  —  Nach  gut  vier  Monaten 
kommt  der  Brief  zuriick,  vollgeklebt  mit  allerhand  Zetteln, 
die  samtlich  nur  bedeuten,  daB  er  unbestellbar  war.  Das 
Recherchieramt  der  Post  hatte  wahrlich  riihmenswerte  Ar- 
beit geleistet.  Pozsonyer  StraBe,  —  darunter  klebt  ein  Zettel : 
Verzogen.  Mit  Bleistift  geschrieben:  Maros-StraBe  17. 
Darunter  wieder  ein  Zettel:  Verzogen.  Wieder  Bleistift- 
schrift :  Vorzuzeigen  Szvetenay-StraBe  6,  Konigin-Elisabeth- 
StraBe  70.  Unter  der  einen  Adresse  ein  Zettel:  Unbekannt. 
Unter  der  andern  als  Endurteil  dick  mit  Rotstift  ein- 
gerahmt :  Adressat  verstorben.  —  Er  betrachtet  den  bunten 
Briefumschlag,  mit  kaltem,  fremdem  Blick  betrachtet  er 
ihn:  vielleicht  wiirde  er  sich  fur  einen  guten  Menschen 
halten,  wenn  ihm  jetzt  eine  Trane  iiber  die  Wangen 
flosse,  —  vielleicht  aber  auch  nur  fur  einen  Heuchler.  Und 
da  Tranen  bereits  teurer  sind  als  Geld,  geht  ein  Brief  ab  an 
die  englische  Gesandtschaft  in  Budapest,  der  um  Auskunft 
bittet,  —  und  es  kommt  die  Ant  wort:  Rudolf  Bayer, 
pensionierter  Eisenbahn-Inspektor,  ist  nach  zweimonatiger 
Behandlung  im  Krankenhaus  dann  und  dann  an  Magen- 
krebs  gestorben;  seine  verwitwete  Frau  ist  einige  Tage 

303 


nach  der  Beetdigung  axis  Budapest  verzogen;  in  Begleitung 
einer  jiingercn  Verwandten  ist  sie  —  nach  Aussage  des 
Hausmeisters  in  der  Konigin- Elisabeth -StraBe  —  nach 
Italien  gereist;  wohin,  ist  nicht  festzustellen.  —  Jiingere 
Verwandte?  Das  wird  Mariska  sein,  die  Frau  des  italie- 
nischen  Offiziers.  Wirklich  schon  von  ihr.  —  Dann  warf 
er  den  Brief  in  eine  Schublade.  So  zerriB  der  letzte  Faden, 
der  ihn  mit  Budapest  verband  .  .  .  aber  das  ist  gut  so.  Ich 
bin  noch  nicht  alt ...  jung  bin  ich  noch.  Ich  lebe.  Wozu  sich 
zuriickerinnern,  wozu  denken  ...  —  aber  wer  wurde  auch 
jetzt  noch  an  verblichene  Gesichter  denken,  sich  an  ent- 
schwundene  Namen,  verklungene  Stimmen  zuriick- 
erinnern, —  an  all  das,  was  einst,  vor  langer  Zeit  gewesen 
ist?  Man  denkt  nicht  daran,  und  dann  ist  es  iiberhaupt  nicht 
mehr  sicher,  daB  es  einst  war. 


Drifter  TV/ 
DIE  ARENA 


MlSS  Edna,  —  cine  bebrillte,  spindeldiirre  alte  Jungfer, 
Kddirs  Sekretarin  und  Vertrauensperson,  —  bringt  die 
Morgenpost  herein.  SiebenunddreiBig  Briefe.  Sie  Icgt  sie 
an  den  Rand  des  Schreibtisches  und  sagt: 

,,Darf  ich  Sie  aufmerksam  machen,  Mr.  Cadar,  2uoberst 
liegt  ein  Brief,  dem  Poststempel  nach  aus  Budapest",  dann 
geht  sie  hinaus. 

Er  sieht  sich  den  Umschlag  an,  —  tatsachlich,  der 
Stempel  sagt:  Budapest,  1929.  XI.  24.  —  und  macht  den 
Brief  nicht  auf.  Was  kann  er  wohl  enthalten?  wer  kann  mir 
aus  Budapest  schreiben?  Das  gewohnliche  weiBe  Kuvert 
liegt  auf  der  Glasplatte  des  groBen  Schreibtisches;  es  sticht 
ihm  in  die  Augen.  Die  Handschrift:  unbekannt,  —  und 
adressiert:  A.  T.  Cadar  .  .  .  aus  Budapest.  Nicht  Kadar. 

Wem  fallt  es  wohl  in  Budapest  ein,  mir  zu wer  weiB 

in  Budapest  iiberhaupt  auBer  der  englischen  Gesandt- 

schaft A.  T.  Cadar  hat  sich  langst  abgewohnt,  lange 

an  Dingen  herumzuraten,  xiber  die  er  sich  in  einem  Augen- 
blick  genauen  Bescheid  verschaffen  kann,  —  nur,  der  da 
trotzdem  minutenlang  das  Kuvert  ansieht  und  hin  und  her 
wendet,  bis  er  es  endlich  mit  dem  Papiermesser  auf- 
schneidet,  —  das  ist  Antal  Kdddr. 

Und  dann  liest  er:  ,Lieber  Kdddr!  Die  herzlichsten 
WeihnachtsgruBe  sendet  Dir  eine  kleine  Gruppe  Deiner 

friiheren  Mitschiiler c  na,  das  ist  wirklich  amiisant,  — 

wie  ist  denen  das  bloB  eingefallen?  und  er  blattert  um  auf 

20  KSrmendi,  Budapest  305 


die  andere  Seite:  da  steht  die  Erklarung.  Bandi  Kelemen . . . 
Bandi  Kelemen  .  .  .  ach,  ja,  ich  weiB  schon,  der  mit  dem 
braunen  Haar,  in  der  vierten  oder  funften  Bank,  in  der 
Mitte,  —  und  die  andern,  —  Vilmos  Lewy,  —  das  war 
so'n  kleiner,  dicker  Rotbackiger,  Zatony,  wie  hieB  der 
noch  mit  Vornamen?  so  still  und  diinn  und  blond  war  er. 
Simon?  Simon?  welcher  war  das  noch?  Simon?  —  Dann 
liest  er  noch  einmal  beide  Seiten,  —  drollig,  sagt  er;  legt 
den  Brief  beiseite  und  fangt  an,  die  iibrige  Post  zu  offnen. 

Nach  elf  Uhr  kommt  seine  Frau  herauf  ins  Biiro. 
,,Sieh  doch  mal",  sagt  Kadar,  und  dann  bemerkt  er  gar 
nicht,  daB  er  ungarisch  weiterspricht :  ,,den  komischen 
Brief  da  hab  ich  aus  Budapest  bekommen,  lies  mal.  Mit 
denen  war  ich  zusammen  im  Gymnasium",  und  er  reicht 
ihr  den  Brief  hin.  Frau  Kddar  liest  ihn  durch  und  fangt  an 
zu  lachen.  ,,Drollig",  sagt  sie,  ,,wirklich  nett."  —  ,,Weih- 
nachtsgruBe",  antwortet  er;  dann  ist  von  der  Sache  nicht 
mehr  die  Rede. 

Nach  einigen  Tagen  fallt  seiner  Frau  der  Brief  wieder  ein. 

,,Hast  du  eigentlich  den  Budapestern  schon  geant- 
wortet?"  fragt  sie  ihn. 

,,Nein,  noch  nicht",  sagt  Kadar.  Inzwischen  hatte  er 
auch  selbst  schon  daran  gedacht,  daB  es  sich  schicken 
wiirde  zu  antworten,  wenn  ihm  auf  dem  Schreibtisch  der 
Brief  in  die  Hande  kam.  Spater  laBt  er  aus  dem  Presse- 
Dossier  die  Nummer  der  World's  Sunday  Pictures  heraus- 
suchen  und  besieht  sich  das  Bild.  Ah,  ja,  —  ,Der  beriihmte 
Architekt  ungarischer  Abstammung*,  —  stimmt,  der  Foto- 
reporter  wollte  sich  mit  dem  Text  da  gar  nicht  begniigen, 
wollte  um  jeden  Preis  cinen  Artikel  iiber  ihn  bringen,  von 
seinem  Werdegang,  seiner  Jugend  .  .  .  ganz  amiisant,  daB 
der  Kelemen  ihn  erkannt  hat.  Dann  kommt  die  Zeitschrift 
wieder  zuriick  in  den  Packen  und  der  Brief  auf  die  linke 
Schreibtischseite  zu  den  ,,Unerledigten". 

Tage  vergehen,  —  noch  immer  hat  er  auf  den  Brief  nicht 
geantwortet,  —  dann  ist  einmal  von  der  fiir  Februar  und 

306 


Marz  geplanten  Reise  nach  London  die  Rede.  Diese  Lon- 
doner oder  besser  gesagt  Europa-Reise  1st  schon  seit  etwa 
einem  halben  Jahr  Gesprachsthema:  fiinf  Jahre  werden 
es,  daB  sie  das  letztemal  driiben  waren,  eine  kleine  Ruhe- 
pause,  eine  vollige  Ausspannung  wiirde  nichts  schaden, 
schlieBlich  gonnen  sich  ja  sogar  die  Amerikaner  mal  ein 
Sabbath- Year  ...  —  dann  entsteht  langsam  ungefahr  der 
Plan,  Ende  Februar  oder  Anfang  Marz  mit  einem  eng- 
lischen  SchifF  in  westlicher  Richtung  abzufahren,  den  rest- 
lichen  Teil  des  April  wiirden  sie  in  London  zubringen,  drei 
Wochen  sind  reichlich  genug  fur  die  Verhandlungen  mit 
den  Kompagnons,  der  Mai  wiirde  Paris  gehoren,  den 
Juni,  Juli  und  August  konnte  man  zwischen  einer  Nord- 
landreise  und  der  Schweiz  verteilen,  —  ja,  das  wiirde 
allerdings  eine  Abwesenheit  von  einem  halben  Jahr  be- 
deuten,  aber  warum  auch  nicht?  Den  Bau  der  Johannes- 
burger  Pferderennbahn  fiihrt  Growham  tadellos,  der 
Kruegersdorper  Bahnhof  wird  Ende  Januar  fertig,  damit 
ist  nichts  mehr  zu  tun,  bei  den  Zehlinger-Hausera  hat  der 
alte  Zehlinger  den  zweiten  Ingenieur,  den  jungen  Deut- 
schen  Dr.  Ritter,  als  Bauleiter  regelrecht  in  den  Preis  mit 
hineingehandelt,  und  das  Haus  bleibt  ja  schlieBlich  nicht 
herrenlos:  Scotts  Sohn,  der  sich  schon  seit  mindestens 
einem  Jahr  bereit  macht,  herzukommen,  kann  sich  jede 
beliebige  Woche  nach  Port  Elizabeth  einschiffen.  Dies 
betont  Frau  Kadar  in  einem  fort,  wie  sie  es  iiberhaupt  im 
Grunde  genommen  ist,  die  sich  nach  Ruhe  sehnt,  —  einmal 
entfahrt  es  ihr  auch:  ,,und  bis  wir  wieder  hier  sind,  soil  von 
Bau,  von  Geschaft  kein  Wort  fallen,  von  morgens  bis 
abends  und  von  abends  bis  morgens  will  ich  nur  mit  dir 
zusammen  sein,  mit  dir  allein ..."  —  nun  ja,  daB  das  der 
eigentliche  Zweck  der  Erholungsreise  ist,  weiB  er  auch  sehr 
wohl.  Wir  werden  verreisen,  auf  dem  Schiff  und  in  der 
Bahn  zusammen  sein,  wir  beide  allein,  und  wir  werden  uns 
fremde  Gegenden  und  Stadte  ansehen,  ein  reiches,  schones 
Lcben  haben,  ein  Leben  fur  uns,  wir  beide  allein. 


20* 


307 


Einmal  sprechen  sie  wieder  von  der  Europa-Reise. 

,,Was  haltst  du  davon",  sagt  er  plotzlich,  ,,wenn  wir  im 
AnschluB  an  Paris  ein  paar  Tage  in  Budapest  verbringen 
wiirden*  vielleicht  cine  bis  zwei  Wochen?" 

In  ihrer  Stimme  ist  etwas  von  unsicherem  Widerspruch: 

,,Wegen  dieses  Briefes  da?  Du  hast  doch  eigentlich 
keinen  Menschen  in  Budapest.  Sentimentalitat  vielleicht? 
suchst  du  alte  Erinnerungen?  —  ich  will  doch  auch  nicht 
nach  Kassa  fahren." 

Kddir  blickt  vor  sich  hin. 

,,Ich  verstehe  dich  nicht .  .  .  aber,  nicht  wichtig.  Natiir- 
lich  nicht  wegen  der  Menschen,  —  du  hast  ganz  recht,  ich 
habe  dort  niemanden.  Budapest  ist  fiir  mich  genau  so 
fremd  wie  Rom  oder  Stockholm.  Da  kenne  ich  auch 
niemanden.  BloB  habe  ich  zufallig  einen  groBen  Teil  meines 
Lebens  in  dieser  fremden  Stadt  verbracht  — " 

Er  schweigt;  es  ist  still,  die  Frau  fiihlt  den  Vorwurf,  der 
in  seinem  plotzlichen  Schweigen  liegt. 

,,Antal",  sagt  sie,  ,,du  weiBt  doch,  daB  wir  reisen,  wohin 
du  willst.  Mochtest  du  nach  Budapest,  gut,  dann  fahren  wir 
eben  nach  Budapest.  Ich  .  .  .  war  noch  nie  in  Budapest." 

Ich  war  noch  nie  in  Budapest:  das  hatte  er  schon  einmal 
aus  einem  Frauenmund  gehort;  damals,  —  damals,  als  der 
Vater  ihn  mit  der  Mutter  in  die  Stadt  schicken  wollte  aufs 
Gymnasium  und  die  Mutter  nicht  mit  ihm  allein  fahren 
wollte,  —  ich  war  noch  nie  in  Budapest ...  —  und  da  hat 
er  das  Gefiihl,  er  miisse  der  Frau,  die  noch  nie  in  Budapest 
war,  von  Budapest  erzahlen,  von  dem  Budapest,  das  vor 
zwei  Jahrzehnten  den  kleinen  Gymnasiasten  aufnahm,  mit 
tausend  Wundern,  tausend  ratselhaften  und  unverstand- 
lichen  Dingen,  tausend  Angsten,  —  mit  den  ernsten 
fremden  Herren,  die  seine  Lehrer  waren;  mit  dem  Eisenbett 
im  EBzimmer  in  der  Pozsonyer  StraBe;  mit  dem  groBen 
Geheule  an  dem  Abend,  als  der  Vater  ihn  bei  Tante  Anna 
allein  lieB  und  nach  Hause  zuriickfuhr;  mit  den  ersten 
Schulkameraden;  mit  den  verbliiffend  groBen  Hausern  und 

308 


den  merkwiirdigen  Figurcn  der  StraBen;  mit  dem  ersten 
Herumstreifen  durch  die  fremden  Gassen;  die  erste 
Elcktrische,  das  erste  Automobil,  das  er  sah,  welch  riesen- 
hafte  Welt!  .  .  .  Dann  fallt  ihm  das  Wort  Sentimentalitat 
ein,  —  und  er  schweigt. 

,,WeiBt  du",  sagt  die  Frau  wieder,  ,,als  kleines  Madchen 
wollte  ich  schrecklich  gerne  nach  Budapest,  ich  ware  auch 

dorthin  ausgeriickt,  wenn  Myers und  dann  kamen  so 

vide  fremde  Stadte,  bloB  Budapest  nicht.  Heute  ists  dort 
gewiB  ganz  anders,  als  es  damals  ausgesehen  haben  mag." 

Ein  lauer  Wind  weht  durch  den  stillen  Abend  nach  der 
Terrasse  hin,  der  Hauch  des  Indischen  Ozeans. 

,,Ja",  sagt  Kadar,  ,,heute  ist  es  gewiB  ganz  anders. 
Sicher  hat  sich  die  Stadt  seither  sehr  entwickelt." 


ER  sitzt  vor  der  Schreibmaschine,  in  der  Maschine  ein 
Brief  bogen:  Abley,  Alexis,  Cadar,  Hutton  &  Scott, 
Building  Co.  Ltd.,  das  steht  am  Kopf,  darunter  in  kleineren, 
rotcn  Buchstaben:  Colonial  Section,  Port  Elizabeth. 

Licber  Kelemen  I 

Ich  habe  mich  sehr  uber  Dcinen  Brief  gcfreut,  selbstoer- 
standlich  crirmcre  ich  mich  noch  an  Dich  und  auch  an  allt  ftbrigcn,  die  untcr- 
schrieben  haben.  Sehr  langc  haben  wir  urn  nicht  geschen,  und  so  ware  es  tchwer 
und  hdtte  auch  ^dhen  Sinn,  in  einem  kurzen  Brief  ctwas  von  mir  persSnlich  zu. 
schreiben.  Hingegen  ist  es  leicht  mtiglich,  dafl  wir  im  Laufe  des  FrShjahrs  nach 
Budapest  kpmmcn,  im  Winter  habe  ich  ndmlich  in  London  zu  tun,  und  auch  ah- 
gesehen  davon  hatten  wir  cine  Europa-Reise  gcplant.  Sad  also  bis  zum  cventucllai 
Wicderxhen  die  herzlich  gegriffit. 


,,Und  wenn  wir  doch  nicht  nach  Budapest  fahren?" 
fragt  die  Frau,  als  sie  den  Brief  durchliest. 

,,Auch  dann  ist  nichts  passiert.  Durch  diesen  Brief  habe 
ich  mich  doch  zu  nichts  verpflichtet," 

309 


JULIE  steht  in  der  Kiichentiir  und  wischt  sich  die  Hande 
an  der  Schiirze  ab,  als  Kelemen  in  den  Flur  tritt. 

,,Aus  Amerika  ist  ein  Brief  gekommen,  aus  Eliza  oder 
so,  der  Brieftrager  wollte  ihn  gar  nicht  hierlassen,  er  miiBte 
ihn  personlich  aushandigen,  hat  er  gesagt,  aber  ich  hab 
ihm  gesagt,  lassen  Sic  ihn  nur  ruhig  hier,  ich  werde  ihn 
schon  dem  Herrn  iibergeben,  wenn  er  am  Abend  nach 
Hause  kommt;  zwischen  die  roten  Bucher  hab  ich  ihn 
gesteckt  — " 

Aus  Kelemens  Wangen  schwindet  das  Blut;  das  Mad- 
chen  schnattert  noch  immer  ihre  Heldentat  von  der  An- 
nahme  des  Briefes,  —  aber  er  ist  schon  in  seinem  Zimmer 
und  reiBt  den  Brief  zwischen  den  ,Modernen  ungarischen 
und  auslandischen  Romandichtern*  hervor.  Die  Hand 
zittert  ihm,  er  tritt  unter  die  Lampe,  —  Herrgott,  das  ist 
die  Antwort  von  Kadar! 

Am  24.  November:  voriges  Jahr  war  das,  als  cr  abends 
sclbst  die  Geschaftspost  mitnahm,  die  ganze,  nur  um  diesen 
Brief  eigenhandig  auf  der  Hauptpost  aufgeben  zu  konnen. 
Und  heute  ist  der  16.  Februar,  —  fast  ein  Vierteljahr  ist 
seither  vergangen,  und  wie  vergangen!  A.  T.  Cadar,  — 
dieser  Name  war  ihm  geradezu  zur  fixen  Idee  geworden, 
und  es  gab  Tage,  an  denen  er  sich  bereits  in  der  unvorstell- 
baren,  also  nach  Lust  und  Laune  vorgestellten  afrikanischen 
Marchenstadt  sah  als  des  Nabobs,  als  A.  T.  Cadars  . . .  nein, 
als  Toni  Kadars  Freund  und  Vertrauensmann  und  als  seine 
rechte  Hand  mit  unbeschrankter  Vollmacht.  Aber  cs  gab 
auch  Nachte,  die  diese  Phantasien  aus  seinem  Kopf  ver- 
trieben;  haBlicbe,  gemeine  Nachte,  in  dcnen  er  sich  nicht 
vorstcllen  konnte,  daB  cr  je  im  Leben  mit  diesem  Gotzen 
zusammentreffen  wiirdc,  —  warum  solltc  er  denn  nach 
Budapest  kommcn?  warum  zum  Teufel?  Blodsinn,  darauf 
zu  rechnen,  daB  ich  ihn  bei  der  Eitclkeit  gepackt  habe  .  .  . 
,Einigc  habeo  sich  mit  mir  gcfreut,  einige  haben  dich 

310 


bcneidet,  alle  aber  waren  wir  verbliifft  iiber  deine  Karriere  — * 
nein,  mit  sowas  kann  man  nur  auf  einen  Budapester  Ein- 
druck  schinden,  aber  nicht  auf  einen  Fremden,  einen  Aus- 
lander,  und  wenn  er  hundertmal  Ungar  war,  —  gut,  und 
wenn  schon,  und  wenn  wir  schon  verbliifft  sind  und  uns 
freuen  oder  ihn  beneiden,  —  selbstverstandlich  beneiden 
wir  ihn,  —  was  kiimmert  ihn  das?  interessiert  ihn  das 
etwa?  Wenn  ich  oder  Szende  oder  Rona  in  der  Lotterie  den 
Haupttreffer  machen,  natiirlich  ist  es  auch  wichtig  auBer 
dem  Geld,  daB  die  iibrigen,  die  das  groBe  Los  nicht 

gezogen  haben aber  der?  nicht  im  Traum  wird  er 

sich  einfallen  lassen,  aus  dem  wohlig  warmen  Port  Elizabeth 
herzukommen!  —  Das  waren  fiirchterliche  Abende  und 
fiirchterliche  Nachte,  weil  in  der  Zeit  .  .  .  Ja,  Kadar  und 
Port  Elizabeth  waren  das  einzige,  was  noch  nicht  aus- 
gespielt  war.  Der  Winter  ist  immer  schlecht,  und  wer  redet 
denn  von  groBen  Dingen,  von  lebenswichtigen  Dingen? 
die  kleinen  Dinge,  die  geringfugigen  Alltage  zerbrockeln 
einen.  Weihnachten  war  einfach  entsetzlich,  eine  Grati- 
fikation  hatten  sie  im  Biiro  nicht  bekommen,  nicht  einmal 
sic  zu  reklamieren  hatten  sie  dieses  Jahr  gewagt;  es  hatte 
sich  ja  auch  kein  Mensch  gemuckst,  als  die  Extraentschadi- 
gung  fur  die  Oberstunden  aufhorte;  —  und  die  Neujahrs- 
Remuneration  war  ein  Viertel  vom  Gehalt,  —  achtzig 
Pengo,  der  Kuckuck  soil  die  Transcont  holen!  Und  daB 
diese  achtzig  Pengo  fur  lauter  Quatsch  draufgegangen  sind, 
das  versteht  sich  von  selbst.  Joly  bettelte  ihm  zehn  ab,  der 
Mutter  gab  er  zehn,  dabei  ware  ja  noch  nichts.  Aber  vier- 
undzwanzig  hatte  er  im  Januar  mit  den  Jungens  in  Sekt 
versoffen,  fiir  achtzehn  eine  Hundert-Packung  Muratti- 
Zigaretten  gekauft,  das  war  hirnverbrannt,  das  iibrige 
rutschte  ihm  so  durch  die  Finger,  cin  Kino  plus,  einmal 
Cafe  phis,  das  war  auch  hirnverbrannt.  AuBerdem  hat  die 
Firma  im  Januar  zwolf  Leute  cntlassen,  er  war  nicht 
darunter,  aber  Czilek  benimmt  sich  seitdem  unertraglich, 
jedes  seiner  Wortc  hat  einen  besondcren  Ton  fur  ihn,  der 

3" 


sagt:  diesmal  war  ich  dir  noch  gnadig,  aber  das  nachste 
Mai  werdc  ich  dir  nicht  gnadig  sein,  ich  bedaure.  Aber  - 
der  Brief  nach  Afrika  war  noch  nicht  zuruckgekommen, 
auch  cine  ablehnende  Antwort  hatte  er  nicht  erhalten,  und 
soviel  Zeit  war  noch  nicht  vergangen,  daB  man  sich  hatte 
damit  abfinden  miissen,  der  Brief  sei  einfach  ad  acta  gelegt 
worden.  Diese  Hoffnung  bestand  also  noch,  dieses  Kadar- 
Spiel,  mit  dem  man  sich  iiber  der  Inkasso-Liste  die  Zeit 
vertreibcn  konnte,  dieset  mit  Honigscim  gefullte  Lutsch- 
pfropfen,  an  dem  man  an  bitteren  einsamen  Abenden 
herumkauen  konnte,  um  hie  und  da  doch  fur  cine  halbe 
Stunde  dem  gelben  Licht  der  Gluhlampe,  dem  schabigen 
Linoleum-Tischtuch  und  dem  kalten,  hcrben  Hauch  des 
Bettes  zu  entrinnen.  Gut,  daB  diese  Kadar-Sache  existierte, 
denn  schon  allein  darin,  daB  er  manchmal  an  sic  denken 
konnte,  war  ein  Positivum,  cin  angenehmes  Gefiihl,  ein  .  .  . 
etwas,  das  gerade  das  Gegenteil  von  dem  war,  daB  man 
nicht  ans  Abitur,  nicht  an  die  Militar-Musterung  und 
Nachmusterung,  nicht  an  die  Pleite  des  Ledergeschaftes, 
an  den  Bankkrach,  an  die  Verhore  und  die  bestimmt  wieder 
ausfallende  Gehaltserhohung  denken  muBte.  —  Er  ging 
noch  einmal  auf  die  Hauptpost  und  lieB  sich  noch  einmal 
Auskunft  geben,  wie  lange  ungefahr  ein  Brief  nach  Siid- 
afrika  unterwegs  sei.  Friiher  war  er  nach  dem  Mittagessen 
nie  nach  Hause  gegangen,  hatte  bei  Sari  vorgesprochen  oder 
eine  halbe  Stunde  im  Cafe  Seemann  in  der  Sofaecke  iiber 
der  Zeitung  geschlafen;  seit  vier  Wochen  aber  rannte  er 
jeden  Tag  aus  dem  Biirgerlichen  Restaurant  nach  Hause, 
und  seine  erste  Frage  war:  ,,keine  Post  fur  mich  da?" 
Manchmal  hatte  er  Post,  —  Rundschreiben,  Zahlungs- 
aufforderungen,  —  trotzdem  .  . .  cs  war  nicht  unangenehm, 
auf  etwas  warten  zu  konnen,  auf  diesen  Brief.  Und  dann 
eines  Abends,  als  er  schon  nicht  mchr  darauf  wartete:  hat 
er  den  Brief  in  der  Hand,  die  Antwort,  die  zehn  mit  der 
Maschinc  gcschriebenen  Zcilcn  Kaddrs:  Hingegcn  ist  es 
leicht  moglich,  daB  wir  im  Laufe  des  Friihjahrs  .  .  .  und: 

3" 


also  bis  zum  eventuellen  Wiedersehen  ... mehr,  als 

er  erwartct  hatte,  mehr,  als  er  gehofft  hatte du  groBer 

Gott,  —  ich  weiB  ja,  ich  weiB,  ich  bin  kein  Kaiser,  ich  bin 
doch  cin  armer  Schlucker,  aber  wenn  ich  einmal  etwas  im 
Gefuhl  habe 


.  .  .  und  den  Jungens  werde  ich  zunachst  noch  nichts 
davon  sagen.  Sie  noch  nicht  alarmieren.  Dazu  ist  noch 
Zeit,  —  vielleicht  Donnerstagabend  im  Cafe.  —  Im  Laufe 
des  Friihjahrs,  —  was  meint  er  damit?  Friihling  ist  vom 
21.  Marz  bis  zum  21.  Juni,  —  Friihjahr,  Friihjahr,  —  er 
kommt,  warm  es  ihm  paBt.  Hat  sowieso  in  London  zu 
tun  .  .  .  gut,  Lcwy,  ich  komme  im  Laufe  des  Nachmittags 
auf  eincn  Sprung  zu  dir,  ich  habe  sowieso  in  der  innern 
Stadt  zu  tun  . . .  na,  gut,  gut,  immer  mit  der  Ruhe.  Zunachst 
werde  ich  mal  gleich  meinen  Urlaubsanspruch  anmelden, 
drei  Wochen  stehen  mir  zu,  und  wenn  der  Czilek  auch 
platzt,  laB  ich  mir  nichts  abhandeln,  und  wenns  nicht  anders 
geht,  verschaffe  ich  mir  ein  arztliches  Attest,  Suhajda  oder 
Herman  wird  mir  schon  eins  schreiben,  —  mein  iiber- 
lasteter  Nervenzustand  verlangt  eine  sofortige  Aus- 
spannung  von  mindestens  drei  Wochen,  das  kann  ich 
jederzeit  cinreichen,  und  wenn  nicht,  —  na,  dann  sollen  sie 

mir  kiindigen.  Im  Laufe  des  Friihjahrs also,  —  also, 

das  erste  ist,  daB  ich  ihn  anstandig  unterbringe,  im  Ritz,  — 
schon,  ausgerechnet  mich  braucht  er  dazu,  um  im  Ritz 
abzusteigen.  Aber  wenn  er  spatcr  kommt  oder  das  Wetter 
schon  schon  gcnug  ist,  ware  es  besser  im  Gellert  oder  auf 
der  Insel .  .  .  na,  schon,  wir  werden  ja  sehen.  Also,  wohnen 
wird  cr  anstandig,  das  ist  das  erste.  Und  dann,  —  was  dann? 
Wenn  cr  allein  kommt . . .  ncin,  er  schreibt  ja:  im  Laufe  des 
Friihjahrs  kommen  wir  nach  Budapest  .  .  .  also  die  Frau 
kommt  mit.  Na,  schon,  dann  kommt  sie  eben  mit.  Dann 


muB  ich  mir  auch  fiir  sie  was  ausdenken,  was  Verniinf- 
tiges  .  .  .  vielleicht  bringt  Amman  aus  dem  Ministerium 
oder  Zatony  aus  dem  Patria  S.  C.  irgendeinen  brauchbaren, 

groBen was  weiB  ich,  was  sie  fiir  einen  Geschmack 

hat?  dariiber  soil  ich  mir  jetzt  schon  den  Kopf  zerbrechen? 
zum  SchluB  habe  ich  mich  vielleicht  noch  gar  nicht  ge- 
muckst,  und  sie  hat  schon  mit  einem  im  Wellenbad  an- 
gebandelt.  Nein,  mit  uns  Mannern  ist  es  doch  leichter, 
zum  Beispiel,  wenn  ich  an  die  Freundin  vom  General- 
direktor  denke,  an  die  Bebi,  —  schmutzig  genug,  nebenbei 
bemerkt,  daB  er  sie  noch  im  Biiro  halt  bloB  wegen  der 
lumpigen  hundertachtzig  Pengo,  die  er  ihr  auf  diese  Weise 
durch  die  Firma  zahlen  lassen  kann.  Aber  warum  eigentlich 
leichter?  weil  mir  zufallig  diese  Bebi  gefallt?  —  na,  die 
Angelegenheit  ist  ja  noch  nicht  brennend,  die  Hauptsache 
ist  jedenfalls,  daB  der  Anfang  da  ist,  das  Prinzip  zum 
Start . .  .  die  Praxis  ist  vorlaufig  noch  nicht  aktuell.  Und  .  .  . 
wie  soil  sich  das  dann  gestalten?  soil  ich  sie  in  die  archaolo- 
gische  Abteilung  des  Nationalmuseums  fiihren?  oder  ins 
Kunstgewerbe  —  —  Unsinn!  —  allerdings,  ich  kann  ja 
nicht  wissen,  ob  nicht  gerade  das  ihr  Spleen  ist?  Nein, 
das  laBt  sich  nicht  so  vorher  ausrechnen.  Wo  ich  sie  aber 
auf  jeden  Fall  hinschleifen  muB,  das  ist  ein  prima  Lokai 

und  dann  die  obere  Insel du  lieber  Himmel,  schon  seh 

ich  aus,  keine  andere  Idee  hab  ich  als  dieses  seichte 
Gebummel.  Ja,  aber  was  gibts  denn  sonst  noch?  ach,  das 
wird  sich  schon  von  selbst  finden.  Und  wenn  die  Frau 
nicht  Ungarisch  kann?  —  hoffentlich  kann  sie  nicht 
Ungarisch,  —  und  er  will  nicht  ohne  sie  ins  Theater  gehen, 
dann  sollen  sie  ins  Kino  gehen,  es  gibt  ja  genug  englische 
Filme.  Aber  man  konnte  per  Auto  nach  Mezokovesd 
fahrcn,  davon  habe  ich  Bilder  gesehen,  das  ist  eine  Sache, 
die  Eindruck  macht,  oder  an  den  Plattensee,  wenn  das 

Wetter  gut  ist.  Aber  was  weiB  ich,  ob  sie doch,  das 

sind  so  gute  regulare  Sachen,  Mezokovesd  und  der  Platten- 
see ...  Natiirlich,  wenn  gerade  irgendein  groBer  Bau  zu 


besichligen  ware,  etwa  der  Turm,  den  die  Arbeiter- 
Versicherung  baut  .  .  .  wer  weiB,  vielleicht  finden  sic  den 
zum  Lachen?  Na,  ich  brauch  mich  ja  nicht  so  in  die  Sache 
zu  verrennen,  irgendwie  wirds  schon  werden,  davor  habe 
ich  keine  Angst,  das  Wichtigste  ist,  daB  der  Rahmen,  das 
Prinzip  stimmt,  daB  ich  die  Konturen  erfasse,  die  Einzel- 
heiten  ergeben  sich  schon  von  selbst.  Aber  dann  kommt 
der  springende  Punkt  .  .  .  meine  Angelegenheit.  Zunachst 
muB  ich  mich  ganz  fein  und  diskret  nach  den  Verhaltnissen 
da  unten  erkundigen,  so  wie  sich  eben  ein  Fremder  er- 
kundigt,  bloB  aus  Hoflichkeit,  wie  es  mit  dem  und  jcnem 
steht,  und  so  den  allgemeinen  wirtschaftlichen  Quatsch,  — 
unglaublich,  diese  Entwicklung,  was  fur  Moglichkeiten  .  .  . 
und  dann  in  einem  geeigneten  Augenblick:  ja,  siehst  du, 
lieber  Freund,  dafur  gibt  es  hier  bei  uns  zu  Hause  den 
Fehler  .  .  .  zwei  Fehler  gibt  es  bei  uns,  —  der  eine  ist  der, 
daB  man  das  Talent  nicht  zur  Geltung  kommen  laBt,  — 
hier  kriegen  doch  die  groBten  Ochsen  die  fettesten  Stel- 
lungen,  die  Unbegabten,  die  hineingeboren  oder  hinein- 
protegiert  werden,  —  und  wenn  einer  weder  Protektion 
noch  die  notigen  Ellenbogen  hat,  dann  kann  er  fur  hundert 
Pengo  an  einem  Schreibtisch  verschimmeln.  Das  zweite 
Malheur  ist  die  Geldlosigkeit,  die  allgemeine  Pleite  und 
Stagnation  .  .  .  was  konnte  man  hier  iiberhaupt  zu  unter- 
nehmen  wagen?  —  ich  denke  dabei  gar  nicht  etwa  an 
irgendeine  Sache  groBen  Stils,  wenn  man  sich  bloB  mit 
Schniirsenkeln  auf  die  StraBe  stellen  wollte,  —  erstens  mal, 
wer  ist  gut  dafiir,  und  zweitens,  wer  kauft  sic  iiberhaupt?! 
Hier  gibts  kein  Geschaft,  bloB  Konkurrenz,  —  wiBt  ihr 
dort  driiben,  was  das  hciBt,  erledigt  sein?  .  .  .  also,  hier  ist 
ganze  StraBen  entlang  jeder  einzelne  erledigt,  —  nur  die 
Unbegabten  nicht,  die  sich  irgendwo  fest  reingesetzt  haben, 
und  die  Schwindler,  die  Schieber.  Und  um  schieben  zu 
konncn,  dazu  —  kurz  und  gut,  hier  muB  man  einfach 
crsticken,  und  der  ganze  Krempcl  hier  ist  nicht  mehr  zum 
Aushalten  .  .  ,  —  nein,  das  ist  wohl  doch  etwas  zu  viel 


gcjammcrt,  zu  duster  hingcstellt,  dann  kricgt  cr  am  Ende 
nodi  eincn  Schreck.  Ich?  .  .  .  Gott,  mir  gehts  so  irgcndwie, 
man  kann  ja  schlieBlich  das  Talent  untcrdriickcn,  aber  ganz 
unterkricgen  doch  nicht,  bloB  der  enge  Rahmen,  die  un- 
moglichcn  Verhaltnisse  . . .  Wenn  ich  zum  Beispiel  bedenke, 
wie  ich  zu  meiner  Firma  gekommen  bin,  mit  einer  Idee,  die, 
ich  sage  dir,  die  das  ganze  Transportwesen  im  Binnenland 

vollkommen  umgestaltet  hatte na,  und  wenn  er  dann 

fragt,  was  diese  Idee  war?  —  ach,  das  ware  fur  euch  da 
driiben  sowieso  nicht  aktuell,  glaube  ich,  im  iibrigen 
handelt  es  sich  datum  ...  ich  werde  ihm  schon  irgendwas 
vorerzahlen,  —  aber  doch,  das  ist  riskant,  was  weiB  ich,  Bau- 
unternehmer  ist  er,  —  vielleicht  versteht  er  was  von  diescn 
Dingen?  ich  darf  schlieBlich  doch  nicht  von  vornherein 
annehmcn,  daB  er  ein  Idiot  ist  ...  Er  ist  eben  bloB  kein 
Budapester  .  .  .  na,  schon,  irgendwie  wird  sich  die  Sache 
schon  ergeben  .  .  .  Die  ganze  Angelegenheit  sahe  anders 
aus,  weiBt  du,  wenn  man  sich  nicht  in  unbedeutenden 
Ressortfragen  und  kleinlichen  Details  crschopfen  muBte, 
wenn  man  Material  in  Handen  hatte,  Material  und  Leute, 
verniinftige  Arbeitskrafte  und  lohnendcs  Material  .  .  .  mal 
ein  Gedanke,  mal  ein  klares  Wort  von  der  Kommando- 
briicke  .  .  .  Herrgott,  ich  bin  wohl  nicht  bei  SinnenI  Ich 
kann  doch  nicht  gleich  davon  ausgehen,  daB  der  sich  alles 

vormachen  laBt daB  er  keine  Augen  und  Ohren  im 

Kopf  hat!  ich  bilde  mir  wohl  ein,  daB  ich  ihn  mit  einer 

einzigen  Attacke Ware  cs  nicht  gescheiter,  besser, 

anstandiger,  wenn  ich  einfach  sagte:  du,  Kadar,  du  bist 
ein  groBes  Tier  geworden,  und  ich  bin  ein  armer  Schlucker. 
Wer  von  uns  beiden  mehr  Verstand  hat,  das  weiB  ich  nicht, 
aber  daB  von  uns  beiden  du  das  Gliick  gehabt  hast,  das  steht 
fest.  Ich  glaube,  du  bist  in  einer  frcmden  Welt  allein  unter 
Fremden,  und  wenn  auch  hundertmal  Mr.  Cadar  aus  dir 
geworden  ist,  fur  die  dort  bleibst  du  trotzdem  der  Kadar 
aus  Budapest.  Ich  weiB  zwar  nicht,  ob  das  dort  driiben  ein 
Vorteil  oder  ein  Nachteil  ist,  —  cins  ist  aber  sicher:  mehr 


Augen  sehen  mehr,  und  so  weiter.  Und  was  mich  angeht, 
Verstand  habe  ich,  das  siehst  du,  und  arbeiten  . . .  viellcicht 
hab  ichs  noch  nicht  verlernt  .  .  .  aber  wer  sagt  denn,  daB 
ich  uberhaupt  jemals  arbeiten  konnte?  etwa,  weil  ich  an 
der  Borse  verdient  habe,  zu  einer  Zeit,  da  alle  Welt  ver- 
dient  hat,  und  daB  ich  alles  verloren  habe,  als  im  Verlieren 

Konjunktur  war wer  sagt  denn,  daB  es  uberhaupt 

je  eine  Arbeit  gegeben  hat,  die  ich  ausgefuhrt  habe,  daB  ich 
uberhaupt  je  zu  arbeiten  verstanden  habe?!  .  .  .  Und  wenn 
ich  zu  ihm  sagen  wiirde,  irgendwann,  in  einem  vertrau- 
lichen  Moment:  liebster  Kaddr,  nimm  mich  doch  um 
Himmels  willen  mit,  Ziegel  schleppen  oder  Beton  mischen 
oder  als  Sekretar  oder  als  Diener  oder  als  was  du  willst .  .  . 
nimm  mich  bloB  mit,  weg  von  hier,  denn  das  hier  halte  ich 
nicht  mehr  aus,  dabei  muB  ich  verrecken,  man  kann  doch 
hier  nicht  leben  zwischen  lauter  Drahtverhauen . . .  Herrgott, 
ich  bin  schon  total  vertrottelt,  tatsachlich.  Das  ware  gerade 
das  Richtige  .  .  .  Na,  und  —  wenn  ich  sagen  wiirde:  Hor 
mal,  Kadar,  du  lebst  seit  funfzehn  oder  wieviel  Jahren  nicht 
mehr  in  Budapest.  Du  kennst  diese  Stadt  nicht,  kennst  uns 
nicht,  die  wir  in  ihr  leben,  und  in  erster  Reihe:  du  hast 
gewiB  diejenigen  vergessen,  die  damals  mit  dir  zusammen 
waren,  namlich  uns.  Und  nun  .  .  .  ist  es  mir,  Ix  Ypsilon, 
Andor  Kelemen,  eingefallen,  daB  du,  der  du  Karriere 
gemacht,  dir  einen  Namen  erworben  und  vor  alien  Dingen 
Geld  verdient  hast,  kurz :  mir  ist  es  eingefallen,  dich  herzu- 
rufen,  in  diese  lumpige,  abgebrannte  Stadt,  unter  uns 
Gierige,  uns  Hungerleider.  Dich  zuriickzurufen  zu  uns,  zu 
den  Jungens.  Aus  der  Feme  habe  ich  dir  suggeriert  zu 
kommen :  und  du  bist  drauf  reingefallen,  bist  gekommeru 
Als  du  noch  Ungar  warst  ...  in  der  Schule,  da  habe  ich 
dich  fur  einen  Dummkopf  gehalten,  und  ich  habe  das 
Gefiihl,  daB  du  auch  heute  nichts  anderes  bist,  nichts  anderes 
sein  kannst  als  ...  ein  Dummkopf,  aber  ein  Dummkopf, 
der  Gliick  hat.  Wir  hingegen  haben  kein  Gliick  gehabt. 
Nun  also  teile  ich  dir  mit,  daB  ich  dich  mit  den  schlimmsten 

317 


Absichten  erwartet  habe,  —  namlich,  daB  du  herkommst 
und  Wunder  an  uns  tust  .  .  .  daran  konnen  wir  nicht  mehr 
glauben,  daB  du  aber  kommst  und  sich  nichts  ereignet, 
daran  wollen  wir  nicht  einmal  denken.  —  Jawohl,  ich  habe 
dich  mit  schlimmen  Absichten  erwartet,  und  ich  bin  iiber- 
zeugt,  ich  weiB  sogar  bestimmt,  daB  wir  alle,  die  wir  dich 
erwartet  haben,  dich  mit  schlimmen  Absichten  erwarter 
haben.  Das  war  immer  so  und  war  auch  mit  andern  nicht 
anders,  erinnerst  du  dich  noch,  in  der  Klasse?  Varga  haben 
wir  beneidet,  weil  er  immer  einen  sauberen  Kragen  anhatte, 
und  wenn  wir  ranreichen  konnten,  haben  wir  ihn  mit 
Tinte  beschmiert.  R6na  hatte  die  meisten  Knopfe,  wer  also 
Knopfe  2ahlen  muBte,  bloB  um  beim  Flohspiel  mittun  zu 
diirfen,  das  war  Rona.  Lewy  wieder  beneideten  wir,  weil  er 
immer  Ganseleber  auf  seinem  Zehnuhrbrot  hatte,  weiBt 
du  noch,  wie  oft  er  es  aus  der  Hand  fallen  lieB,  wenn  wir 
ihn  zufallig  anrannten?  Und  Szab6  beneideten  wir,  weil  er 
als  erster  von  uns  alien  richtig  bei  einer  Frau  war.  Und  dem 
Burjan  gonnten  wir  nicht,  daB  er  anderswohin  zum 
Religionsunterricht  ging,  weil  er  Unitarier  war.  Auf  dich 
hatten  wir  einen  Pik,  weil  du  allgemein  als  einfaltig  galtest 
und  immer  die  leichtesten  Fragen  bekamst.  Und  jetzt, 
Kadar,  jetzt  wollen  wir  dein  Geld,  und  deshalb  .  .  .  ist  uns 
kcin  Mittel  zu  gut  oder  zu  schlecht,  um  dieses  Ziel  zu 
erreichen.  Ich  zum  Beispiel  hatte  gleich  den  Gedanken,  dir 
die  Ohren  mit  Jazz  und  falschen  statistischen  Angaben  zu 
verstopfen,  dir  den  Staub  dieses  westeuropaischen  Stadt- 
bildes  und  meiner  eigenen  finsteren  Wege  in  die  Augen  zu 
streuen  und  dein  Gehirn  mit  Sektrausch  und  dem  Schwindel 
dieses  ganzen  Talmilebens  zu  betauben  .  .  .  aber  vor  allem 
auf  dich  cine  Nutte  loszulassen  und  auf  deine  Frau  irgend- 
einen  Gigolo  .  . .  begreifst  du  meinen  Kriegsplan?  begreifst 
du  diese  ohne  dich  aufgestellte  Kalkulation  mit  deinem 
Schicksal?  begreifst  du?  nein,  weil  du  ein  Dummkopf  bist 
und  schon  lange  nicht  mehr  unter  uns  lebst.  Nun  gilt  aber 
schon  zufalliges  Entwischen  aus  unserm  Kreis  als  Fehler, 


und  Hervorragcn,  Herausspringen,  Ausbrechen  aus  unserm 
Kreis,  noch  dazu  bei  einem,  von  dem  wir  es  nicht  erwartet 
batten,  den  wir  nicht  als  dazu  geboren  kannten  und  iiber- 
haupt  nicht  als  dafur  geeignet  hielten:  das  ist  ein  geradezu 
nicht  wieder  gutzumachendes  Verbrechen.  Begreifst  du? 
nein?  macht  nichts,  dann  glaub  es  einfach.  Glaub  mir,  daB 
jeder  von  uns  seine  WafFe  gegen  dich  bereit  hat,  denn  wir 
sind  keine  Bank  und  keine  Firma  und  keine  Gelegenheit, 
Geld  zu  investieren,  mit  gepolsterten  Turen  und  Bilanzen 
und  Rentabilitaten  und  sicheren  Zinsen,  sondern  wir  sind 
ausgehungerte  kleine  Rauber,  im  iibrigen  deine  lieben  alten 
Freunde  und  friiheren  Mitschuler,  —  und  du  bist  nicht  das 
freundliche  fremde  Kapital,  der  auslandische  Geschafts- 
freund  und  der  Onkel  aus  Amerika  mit  den  tausend 
Paragraphen  und  Sicherheiten  deines  Geldes,  —  du  bist 
Antai  Kadar,  der  Pinguin  aus  unserer  Klasse,  den  ich 
hergezaubert  habe,  du  bist  das  groBe,  wertvolle  Wild,  das 
wir  im  Grunde  genommen  iiber  die  Schulter  ansehen,  weil 
du  als  einer  von  uns  geboren  bist  und  wir  es  dir  nie  ver- 
zeihen  werden,  daB  du  uns  entwachsen  und  fremd  ge- 
worden  bist,  wahrend  wir  geblieben  sind,  was  wir  waren,  — 
ich  aber  bin  ein  guter  Junge  .  .  .  ich,  dein  dir  aufrichtig 
ergebener  Bandi  Kelemen,  dein  fruherer  Klassenkamerad, 
der  Budapester  Reprasentant  meiner  verkrachten  Gene- 
ration, eines  bessern  Schicksals  wiirdig,  und  ich  bin  ge- 
neigt,  dich  vor  den  iibrigen  zu  retten,  —  iiberleg  es  dir 
nur:  ich  bin  bloB  einer!  —  ich  bin  geneigt,  dir  gnadig  zu 
sein,  du  brauchst  nur  hier  auf  die  Tischkante  ,  .  .  hundert 
Stuck  Tausender  zu  legen . . .  was  macht  dir  das  aus?  nicht 

mehr,  als  mir  eine  Schachtel  Memphis Du  lieber 

Himmel  .  .  .  jetzt  ist  cs  aber  genug  —  jetzt  in  die  Kissen 
mit  dem  Kopf  und  schlafen  —  laut  zihlen  oder  das  ABC 
rtickwarts  aufsagen,  bis  ich  einschlafe  —  sonst  kann  ich 
schlieBlich  ohne  jedes  nervenarztliche  Attest 


5 

ER  iiberlegte:  soil  er  friih  gehen  oder  spat,  Erstcr  sein 
oder  Letzter,  brockenweise  sich  an  dem  Staunen  der  An- 
kommenden  ergotzen  oder  hinplatzen  an  den  besetzten 
Tisch  mit  dem  Brief  in  der  Hand?  Einzeln,  das  bedeutet 
zweifellos  einen  groBeren  personlichen  Erfolg,  —  hingegen 
dem  Plenum  die  Sache  vorzutragen,  ist  einfacher  und  .  .  . 
eigentlich  ist  es  gar  nicht  wichtig,  daB  viel  von  der  An- 
gelegenheit  gesprochen  wird.  —  Es  war  schon  elf  voriiber, 
als  er  im  Cafe  ankam;  er  setzte  sich  und  sagte  dann  im  Laufe 
der  Unterhaltung  nur  so  nebenbei: 

,,A  propos,  die  Antwort  von  Kadar  ist  gekommen." 

Eine  Sekunde  lang  wenden  sich  alle  Kopfe  ihm  zu,  — 
da  nimmt  er  Kadars  Brief  aus  der  Tasche  und  wirft  ihn 
mitten  auf  den  Tisch.  Rona  greift  danach. 

,,Wieso  schreibt  er  denn  dir?!  schlieBlich  haben  wir  doch 
alle  unterschrieben!" 

,,Er  schreibt  mir",  antwortet  er  von  oben  herab,  ,,ich 
hoffe,  du  erinnerst  dich  noch,  daB  wir  beschlossen  hatten, 
ich  solle  als  Absender  fungieren.  Oder  hast  du  das  ver- 
gessen?" 

,,Ach,  ja,  stimmt.  Ubrigens  brauchst  du  nicht  gleich 
beleidigt  zu  sein,  ich  hab  das  bloB  so  gesagt." 

,,Das  Kuvert",  sagt  nun  Simon,  ,,hast  du  das  Kuvert  da?" 

Kelemen  greift  in  die  Tasche: 

,,Denkst  du  etwa,  ich  hab  den  Brief  gefalscht?  und  hab 
mir  extra  diesen  einen  Brief  bogen  hier  drucken  lassen?" 

,,Ich  versteh  dich  nicht,  liebster  Kelemen",  Simon 
nimmt  den  Briefumschlag  in  die  Hand,  ,,warum  bist  du 
eigentlich  heute  so  zanksiichtig?  so  nervos?  Im  iibrigen 
ganz  authentisch,  und  vierunddreiBig  Tage  war  er  unter- 
wegs",  sagt  er  und  gibt  den  Umschlag  weiter. 

Hinter  dem  Brief  her  wandert  auch  das  Kuvert  von  Hand 
zu  Hand.  Als  es  bei  Kempner  ankommt,  sieht  der  es  an, 
dreht  es  hin  und  her  und  wendet  sich  dann  Kelemen  zu. 


320 


,,Wcnn  du  nichts  dagegen  hast,  Kelemen,  dann  reflek- 
tiere  ich  auf  die  Briefmarken.  Mein  Junge  sammelt  n^mlich 
Briefmarken,  und  ich  glaube,  die  hier  hat  er  noch  nicht." 
Und  ohne  die  Antwort  abzuwarten,  nimmt  er  sein  Taschen- 
messer,  zieht  die  kleine  Nagelschere  heraus  und  schneidet 
die  Ecke  mit  den  Marken  langsam  und  vorsichtig  aus.  Das 
sechsjahrige  Sohnchen  des  Gymnasiallehrers  Dr.  Alajos 
Kempner  ist  also  der  erste,  der  etwas  von  Kadar  hat.  Als 
Kempner  das  Kuvert  2uriickreicht,  fangt  Kroh  an  2u 
sprechen  und  starrt  dabei  seiner  Gewohnheit  gemaB  dem 
Angeredeten  durch  seine  groBe  Brille  wild  in  die  Augen: 

,,Sag  mal,  Kelemen,  hast  du  ihm  auch  noch  extra 
geschrieben?" 

Kelemen  wird  krebsrot. 

,,Was  redst  du  derm  da?"  leugnet  er,  ,,wieso  hatte  ich 
ihm  noch  extra  schreiben  sollen?" 

,,Sieh  mal  an",  sagt  Kroh  und  dehnt  die  Worte  mit 
einer  Langsamkeit,  die  einen  in  Wut  versetzt,  ,,warum  bist 
du  bloB  so  reizbar?  Ich  habe  doch  nicht  gefragt,  ob  du  ihn 
um  etwas  gebeten  hast,  ich  habe  bloB  gefragt,  ob  du  ihm 
auch  noch  extra  geschrieben  hast.  Aber  wenn  du  sagst  — " 

Kelemen  blickt  verachtlich  von  ihm  weg,  und  der  kleine 
Lewy,  wie  immer  auf  Kelemens  Seite,  sagt:  ,,Trottel", 
und  Doktor  Marton  steckt  sich  die  Zigarre  wieder  an,  die 
ihm  ausgegangen  war: 

,,Na,  gut",  pafft  er  durch  die  Zigarrenspitze,  ,,geant- 
wortet  hat  er,  das  ist  schon  von  ihm.  Er  schreibt,  moglich, 
daB  er  nach  Budapest  kommt,  das  ist  auch  schon,  aber  nicht 
sicher." 

,,Na  und?"  erwidert  Doktor  Szende,  >}daB  er  kommt, 
schon,  aber  wer  hat  ihn  denn  gerufen?  Wenn  er  kommt, 
dann  ist  er  eben  da,  herzlich  willkommen,  und  wenn  er 
nicht  kommt,  dann  bleibt  er  eben,  wo  er  ist.  Aber  wenn  er 
kommt,  ich  garantiere  euch,  ich  werde  nicht  vor  ihin  auf 
dem  Bauch  kriechen." 

,,BloB  nicht",  sagt  der  groBe  Lewy,  ,,ich  glaube,  du 

21  Kifrmendi,  Budapest  321 


wiirdest  unvorteiihaft  aussehen,  so  auf  dein  Asphalt  auf 
dem  Bauch.  Ich  hingegen  garantierc  euch,  wenn  cr  kommt, 
wirst  du  dich  schrecklich  iiber  ihn  freuen,  und  wenn  wir 
ihn  korporativ  empfangen  sollten,  wiirdest  du  den  Wunsch 
auBern,  die  Festrede  halten  zu  durfen." 

,,Zumal",  feindet  ihn  der  andere  an,  ,,da  ich  meinen 
Mund  nicht  bloB  aufreiBen  kann,  um  dummes  Zeug  zu 
reden!" 

,,Frieden,  meine  Herren,  Frieden!  ich  freue  mich,  daB 
ihr  euch  gern  habt!"  besanftigt  der  feine  Zatony,  ,,das  sind 
doch  Zukunftsdinge,  noch  in  weiter  Feme,  ihr  habt  noch 
reichlich  Zeit,  euch  zu  zanken.  Sagt  mir  lieber,  ob  ihr  etwas 
von  der  Heirat  unseres  Freundes  Varga  gehort  habt." 

,,Aber  geh",  wundert  sich  einer,  „ Varga  heiratet?  und 
welche  pensionierte  Erzherzogin  ist  denn  die  gliickliche 
Braut?" 

Der  Tisch  stoBt  ein  Gewieher  aus;  Zatony  spinnt  das 
dankbare  Thema  weiter. 

,,Im  Gegenteil,  das  Schlimme  ist  gerade,  daB  es  sich  nicht 
um  eine  Erzherzogin  handelt.  Habt  ihr  die  Sache  nicht 
gehort?" 

,,Nein,  nein",  drangen  sie,  ,,erzahl  doch." 

,,In  Bankkreisen  ist  die  Sache  namlich  ziemlich  all- 
gemein  bekannt.  Also,  eines  Tages  sucht  ein  bekannter 
Herr  den  alten  Varga  in  der  Bank  auf,  das  war  ungefahr 
vor  zwei  Monaten,  und  sagt,  mein  Herr,  und  so  weiter, 
kurz,  der  Pista  Varga  sei  vor  kurzem  auf  einer  groBeren 
Fcstlichkeit  mit  der  jungsten  Tochter  vom  alten  Baron 
StrauB  zusammen  gewesen,  und  der  alte  StrauB  habe  so 
nebenbei  gesagt,  na,  und  so  weiter;  also  der  Herr  sagt,  das 
Madchen  sei  zwar  keine  strahlende  Schonheit  —  mies  ist 
sic,  kann  ich  euch  bloB  sagen,  ich  kenn  sie  namlich,  so  von 
Ansehen  — ,  dafiir  aber  gebildet,  sei  eben  aus  dem  Ausland 
zuruckgekommen  et  cetera  . .  .  kurz  und  gut:  der  Alte  sei 
gcncigt,  einem  entsprechenden  jungen  Mann,  der  sich  zu 
Olga  hingezogen  fiihle,  zwei  Millionen " 

322 


,,Na,  und  der  Varga  hat  sich  hingezogen  gefiihlt?" 
,,Fiir  zwei  Millionen  kann  cr  sich  doch  hingezogen  fuhlen, 
du  Esell" 

,,Bitte  Ruhe,  meine  Herren.  Also  . . .  dariiber  laBt  sich 
reden,  sagt  Papa  Varga,  ich  will  mit  Istvan  sprechen.  Tat- 
sachlich  spricht  er  mit  Istvan,  und  das  Hingezogenfuhlen 
fangt  an,  und  zwar  mit  einem  besseren  Blumen-Arrange- 
ment  und  einem  Besuch.  Inzwischen  freundet  sich  auch  der 
alte  StrauB  im  Klub  mit  dem  alten  Varga  an.  Einmal  bringt 
dann  der  Baron  die  materielle  Angelegenheit  zur  Sprache, 
die  zwei  Millionen,  worauf  Varga  verkiindet,  er  wiirde  den 
Jungen  in  der  Bank  zum  Direktor  avancieren  lassen. 
Schon.  Sie  sind  schon  bei  den  Einzelheiten  angekommen, 
als  der  alte  Varga  sagt :  mein  Sohn  Istvan  wiirde  cine  kirch- 
liche  Trauung  fur  angebracht  halten.  Aber  gewiB,  sagt  der 
Baron,  darauf  bestehe  ich  auch.  Nun,  und  in  welcher  Kirche? 
fragt  Varga,  in  der  Basilika  oder  in  der  Kronungskirche? 
Ganz  im  Gegenteil  —  sagt  der  Baron,  in  der  Synagoge  in 
der  Dohany-Gasse.  Aber  ich  bitte  dich .  .  .  mein  Sohn  ist 
doch  kathoiisch.  So?  na,  dann  muB  er  eben  zuriickkehren 
in  den  SchoB  der  israelitischen  Gemeinde.  Aber  ich  bitte 
dich,  er  kann  doch  dorthin  nicht  zuriickkehren,  er  ist  doch 
nie  ausgetreten,  er  ist  doch  als  Katholik  geboren  . . .  Ja  so, 

sagt  StrauB,  pardon,  ich  wuBte  nicht,  daB  du  schon 

aber  gleichgiiltig,  dann  soil  er  also  zur  jiidischen  Religion 
iibertreten.  Aber  ich  bitte  dich,  das  geht  nicht,  wehrt  sich 
Varga,  unser  ganzes  Leben,  unsere  Familientraditionen, 
unsere  Beziehungen .  .  .  und  schlieBlich,  der  Mann  meiner 
Tochter  Alice,  der  Staatssekretar .  . .  Tja,  sagt  der  Baron, 
wenn  es  dem  Mann  deiner  Tochter  keine  Ehre  bedeutet, 
mit  dem  Juden  StrauB  verschwagert  zu  werden  —  — 
Ubrigens,  sagt  dann  der  alte  Varga,  lassen  wir  vielleicht 
die  Sache,  bis  ich  mit  dem  Jungen  gesprochen  habe . . . 
Familienrat:  Istvdn  kann  dem  katholischen  Glauben  nicht 
abtrxinnig  werden,  wenn  es  sich  bloB  darum  handelt,  es 
gibt  ja  schlieBlich  auch  noch  wirkliche  Aristokraten- 

21-  323 


familien  im  Lande,  die  geneigt  waren ...  da  aber  zwei 
Millionen  immerhin  doch  zwei  Millionen  sind,  noch  dazu 
in  bar,  wird  beschlossen,  die  Sache  nicht  so  einfach  auf 
sich  beruhen  zu  lassen.  Und  jetzt  fangen  die  Vargas  an, 
den  Baron  bearbeiten  zu  lassen,  aber  der  Alte  laBt  nicht 
mit  sich  reden.  Istvan  sei  in  seine  Olgi  verliebt,  erzahlt  man 
ihm.  Gut,  dann  solle  er  iibertreten,  auf  dem  Drum  und  Dran 
bestehe  er  nicht.  Aber  Olga  liebt  ja  den  Istvdn  auch! 
So?  dann  soil  sie  ihn  iiberreden,  Jude  zu  werden,  oder  sich 
wieder  entlieben.  Aber  Olgi  ist  ja  schlieBlich  doch  schon 

iiber  das  DreiunddreiBigste Und  wenn  schon,  meint 

der  Alte,  mir  ist  die  Sache  deshalb  noch  immer  nicht 
dringend,  und  auBerdem  ist  gerade  deswegen  jedes  ihrer 
Jahre  Gold  wert.  Und  wenn  sie  am  Ende  einfach  eigen- 
machtig  heiraten  .  .  .  GroBartig,  sagt  StrauB,  dann  kriege 
ich  wenigstens  eine  Liebesehe  in  der  Familie  zu  sehen, 
aber  dann  vermache  ich  Olgas  Anteil  dem  Knabenwaisen- 
haus.  Hier  horte  alle  Wissenschaft  auf,  aber  der  alte  Varga 
lieB  den  Baron  noch  einmal  besturmen.  Was  ware,  wenn 

Istvan  zur  reformierten  Religion Was  dann  ware? 

eine  Liebesheirat.  Oder  zu  den  Unitariern?  Liebesheirat  I 
Oder  im  schlirnmsten  Fall  konnte  er  Dissident .  .  .  Auch  ein 
Dissident  kann  aus  Liebe  heiraten  I  sagt  der  Baron,  und 
dabei  blieb  es.  Pista  reiste  in  dringenden  Bankgeschaften 
fiir  zwei  Wochen  nach  London  —  und  jetzt  kommt  der 
Witz.  Er  kehrt  von  der  Reise  zuriick:  also,  da  sind  ihm 
zwei  niedliche,  braunliche  Koteletten  unter  den  Ohren 
gewachsen.  Im  Klub  begegnet  er  dem  jiingeren  Terenyi, 
von  der  Maschinenindustrie,  Terenyi  guckt  ihn  an  und  platzt 
los  vor  Lachen:  nanu,  Istvdn,  laBt  du  dir  also  doch  Peies 
wachsen?  —  Ohrfeige,  Kartelltrager,  Fechtsaal  Santelli, 
im  dritten  Gang  kriegt  Varga  eins  flach  auf  die  Stirn,  die 
Arzte  stellen  Kampfunfahigkeit  fest,  Versohnung.  —  Na? 
Was  sagt  ihr  dazu?" 

Gelachtcr, Wortstreit,  Rede  und  Gegenrede.  Es  bilden  sich 
zwei  Parteien,  eine  fiir  den  Ubertritt  und  eine  glaubenstreuc. 

324 


Sie  schleudern  sich  die  Argumente  pro  und  contra  und 
hohnische  und  zynische  Bemerkungen  ins  Gesicht;  zum 
SchluB  einigen  sie  sich  dahin,  daB  es  ja  das  richtigste 
gewesen  ware,  in  aller  Stille  Jude  zu  werden,  die  Mitgift 
in  Empfang  zu  nehmen,  ein  paar  Jahre  auf  die  Erbschaft 
zu  warten  und  dann  zur  katholischen  Religion  zuriick- 
zukehren  .  .  .  wenn  bis  dahin  die  Interessen  der  Familie 
Varga  nicht  etwa  den  mohammedanischen  Glauben  vor- 
schrieben.  Selbst  Amman  lacht,  kann  aber  die  Ansicht  nicht 
fur  sich  behalten,  daB  die  Sache  natiirlich  ganz  anders 
beurteilt  werden  miiBte,  wenn  Varga  wirklich  Christ  ware, 
da  aber,  wie  man  wisse,  sein  Vater  kurz  vor  Pistas  Geburt 
dem  Glauben  seiner  Ahnen  untreu  geworden  sei  —  — 
Dann  fiel  einem  von  ihnen  im  Zusammenhang  mit  dieser 
Geschichte  ein,  wie  ausgerechnet  Varga  in  der  dritten 
Klasse  einmal  auf  dem  Korridor  Professor  Griinfeld,  den 
jiidischen  Religionslehrer,  anrempelte;  Pointe  —  Gelachter; 
und  davon  wieder  fallt  einem  andern  ein,  wie 

Nach  Mitternacht  lost  sich  die  Gesellschaft  auf.  Rona 
steht  gahnend  als  erster  auf  und  sagt  zu  Kelemen : 

,,Na,  Servus,  also  auf  Wiedersehen  im  Marz,  aber  wenn 
bis  dahin  eine  Nachricht  von  Kadar  kommen  sollte,  dann 
sag  mir  bitte  sofort  Bescheid." 

Auch  die  iibrigen  brechen  auf,  und  jetzt  hat  plotzlich 
jeder  einzelne  noch  ein  Wort  von  Kadar  zu  sagen.  Man 
miiBte  ihm  vielleicht  noch  mal  schreiben,  —  sollte  irgend- 
eine  Nachricht  von  ihm  kommen,  —  sollte  er  vielleicht  un- 
erwartet,  ohne  noch  mal  von  sich  horen  zu  lassen,  an- 
kommen,  —  und  so. 

Kelemen  geht  mit  Simon  zusammen  liber  den  Ring 
nach  Hause  zu.  Simon  wirft  den  glimmenden  Stummel 
seiner  Zigarette  in  groBem  Bogen  auf  den  Fahrdamm. 

,,Du,  Kelemen,  was  glaubst  du,  konnte  man  mit  dem 
nicht  irgend  etwas  anfangen?" 

,,Wieso  mit  dem?  mit  wem?"  fragt  er,  obschon  er  es 
ganz  genau  weiB,  und  das  Herz  fangt  ihm  an  zu  klopfen. 

3*5 


,,Na,  mit  dem  Kidar,  wcnn  er  vielleicht  doch  nach 
Budapest  kommt." 

Vorsicht . . .  aufpassen,  —  dieser  Simon  . . .  er  war  nie 
besonders  befreundet  mit  ihm,  von  jeher  war  er  ein  eigen- 
tiimlicher  Junge  und  hatte  immer  so  allerlei  Stiickchen, 
auch  heute  ist  er  sich  nicht  klar  iiber  ihn,  angeblich  ist  er 
Journalist,  Mitarbeiter  irgendwelcher  Film-  und  Nach- 
richtenblatter,  seine  Anziige  sind  immer  tadellos,  in  Nacht- 
lokalen  verkehrt  er,  fahrt  Taxe,  tut,  als  hatte  er  Geld, 
gewiB  spielt  er,  der  Simon  .  .  .  der  kann  gefahrlich  werden, 
aufpassen. 

,Jetzt  verstehe  ich  dich  noch  wcniger .  . .  wieso,  was 
denn  mit  ihm  anfangen?" 

,,Na,  irgendwas  mit  ihm  machen " 

,,Ja,  aber  was  denn?" 

,,Aber  tu  doch  nicht,  als  ob  du  ein  Idiot  warst!  Irgcnd 
ctwas  mit  ihm  machen,  vorlaufig  weiB  ich  noch  nicht,  was ! 
irgendwas,  wobei  cr  nicht  unbedingt  draufzuzahlen  braucht, 
aber  wobei  wir  auf  jeden  Fall  verdienen  konnten.  —  Es  ist 
noch  friih  .  .  .  hast  du  nicht  Lust,  noch  einen  Schwarzen 
mit  mir  im  Kasino  zu  trinken?" 


DoKTOR  Aladar  Szende  steht  von  scinem  Schreibtisch 
auf,  nimmt  den  Kneifer  ab  und  putzt  ihn  sorgfaltig  mit 
seinem  lila  Seidentaschentuch. 

,,Nein,  mein  lieber  Kollege",  sagt  er  zu  dem  auf  dem 
Besuchsstuhl  Sitzenden  und  sieht,  sich  nach  dem  Fenster 
wendend,  durch  das  gesauberte  Glas,  ,,hier  kann  ich  gar 
nichts  mehr  machen.  SchlieClich  werden  Sie,  lieber  Kollege, 
selbst  einsehen,  daB  die  Anleihe ...  die  Anleihe  binnen 
anderthalb  Jahren  riickzahlbar  war  und  gerade  Ihr  ver- 
ehrter  Mandant  sich  selbst  am  meisten  dagegen  vcrwahrte, 
ais  ich  ihm  anbot,  die  Sachc  gleich  auf  drei  oder  vier  Jahre 

326 


abzuschlieBen,  worauf  mein  Mandant  damals  eingegangen 
ware.  Jetzt  sind  wir  bereits  bei  der  vierten  Vierteljahrs- 
prolongierung  angekommen,  und  da6  mein  Mandant  in 
den  heutigen  Zeiten  der  Geldknappheit  nicht  weiter  — " 

,,Schon,  schon,  Herr  Kollege",  sagt  der  andere  im 
Sessel,  ,,Sie  durfen  aber  bitte  nicht  auBer  acht  lassen,  was 
jede  einzelne  Prolongation  gekostet  hat . . .  schlieBlich,  wenn 
ich  bedenke,  bei  Eintragung  an  zweiter  Stelle  jahrlich  siebzehn 
oder  gar  achtzehn  Prozent  Zinsen  von  sechzigtausend 
Pengo  auf  ein  Haus,  das  unter  Brudern  gut  zweihundert- 
tausend  wert  ist,  und  daB  der  vor  Ihnen  eingetragene  Posten 
nicht  ganz  hunderttausend  ausmacht  und  cine  langfristige 
Bankanleihe  ist .  .  ." 

,,Ich  weiB,  Herr  Kollege,  ich  weiB,  aber  was  kann  ich 
daran  machen?  Versuchen  Sie  es  mit  einer  Zusammen- 
legung,  soil  Ihre  Bank  den  Posten  meines  Mandanten  mit 
iibernehmen." 

,,Schon,  schon,  Herr  Kollege,  Sie  wissen  sehr  gut, 
daB  ein  Haus,  in  dem  kaum  Mietswohnungen  sind  — " 

,,Das  ist  es  ja  gerade,  lieber  Kollege!  Der  Mietsertrag 
deckt  ja  knapp  die  Zinsen  der  Hypothek,  und  wenn, 
Gott  verhiite  es,  der  Fabrikbetrieb  Ihres  Mandanten  ins 
Stocken  gerat,  dann  sind  unsere  Zinsen  nicht  gesichert, 
lieber  Kollege." 

,,Gut,  gut,  Herr  Kollege,  ich  sage  ja  auch,  daB  man  auf 
das  Haus  heute  keine  Hypothek  bekommen  kann,  das  weiB 
ich.  Aber  nur  eine  bessere  Saison,  —  ah,  Saison,  drei  bessere 
Monate  auf  dem  Geschaftsmarkt,  und  die  Fabrik  kann  die 
Hypothek  selbst  zuriickzahlen.  Wenn  man  aber  jetzt  dem 
Betrieb  sechzigtausend  Pengo  entnehmen  miiBte,  ich  bitte 
Sie,  damit  konnte  man  alles  zum  Stocken  bringen!" 

,,Tja,  lieber  Koilege,  leider  kann  sich  mein  Mandant... 
mein  Mandant  gerade  darum  nicht  kummern." 

,,Nun,  und  wenn  ich  dennoch  gezwungen  ware,  bereits 
jetzt  zu  erklaren,  daB  mein  Mandant  leider  nicht  imstande 
sein  wird,  am  fiinften  Mai  die  — " 

3*7 


,,Dann,  lieber  Kollege,  miisscn  wirleider  klagcn,  pfanden 
und  versteigern,  wenn  nicht " 

Der  andere  atmet  auf.  Wenn  nicht:  das  kostet  Geld, 
bestimmt.  Wenn  nicht:  das  ist  das  Aufblitzen  des  Wucher- 
zahnes.  Wenn  nicht:  und  dennoch,  hinter  diesem  Wort 
kann  der  Strohhalm  liegen,  nach  dem  der  sinkende  Fabrikant 
greifen  wird. 

,,Nun?" 

,,Ich  denke  namlich,  daB  vielleicht  noch  vor  Mai  ein 
Freund  von  mir  nach  Budapest  kommt,  ein  auslandischer 
Geschaftsfreund,  weltberiihmter  Architekt,  ein  vermogen- 
der  Mann . . .  Nun  also,  wenn  ich  vielleicht  dessen  Inter- 
esse  fur  das  Objekt  erwecken  konnte,  sei  es  in  Form  einer 
langfristigen  Anleihe,  —  aber  vielleicht  wiirde  er  das  Objekt 
sogar  kaufen  .  .  .  natiirlich  nur  zu  einem  sehr  giinstigen 
Preis  . .  .  die  Provision  konnen  wir  uns  dann  teilen,  lieber 
Kollege",  und  er  lacht. 

,,Und  glauben  Sie,  Herr  Kollege  — " 

,,Was  ich  Ihnen  da  gesagt  habe,  lieber  Kollege,  ist  nur 
eine  Idee,  ohne  jede  Verpflichtung,  die  Ankunftszeit  des 
Betreffenden  ist  ja  noch  nicht  einmal  festgesetzt,  —  zuletzt 
schrieb  er  mir:  im  Laufe  des  Friihjahrs  .  . .  aber  ich  betone, 
es  ist  nur  eine  Idee,  auf  die  zu  bauen  verfruht  ware  — " 

Nun  erhebt  sich  der  andere. 

5,Herr  Kollege,  ich  mochte  Sie  nur  bitten,  Ihr  mog- 
lichstes  zu  tun,  —  es  kann  ja  schliefilich  kein  Zweck  sein, 
eine  angesehene,  alte  Fabrik,  die  unter  den  heutigen  Ver- 
haltnissen  etwas  schwer  beweglich  ist,  gerade  unter  den 
heutigen  Verhaltnissen  zu  erdrosseln . . .  Also,  sooder  so  — " 

,,Nein,  nein,  lieber  Kollege",  lacht  Doktor  Aladar 
Szende  wieder,  ,,so  keinesfalls,  hocbstens  so  ...  wenn  der 
erwahnte  Geschaftsfreund  Lust  zu  der  Sache  hat,  —  das 
iiberlassen  Sie  nur  ruhig  mir,  ich  werde  schon  alles  ver- 
sucben  ...  Sie  konnen  sich  doch  vorstellen,  lieber  Kollege, 
mir  wiirde  es  auch  nichts  schadcn,  wenn  ich  an  dieser 
Ungliickssache  etwas  verdienen  konnte." 

528 


ICH  mochte  dich  gehorsamst  bitten,  lieber  Herr  Haupt- 
mann",  sagt  Simon,  ,,du  wiirdest  mich  sehr  verpflichten, 
es  ware  wirklich  unendlich  liebenswiirdig  von  dir,  wenn  es 
dir  moglich  ware  ..." 

,,Aber  bitte,  bitte,  sehr  gern.  Wie  gesagt,  im  Strafsachen- 
register  ist  keine  Spur  von  ihm,  vorbestraft  ist  er  nicht, 
eine  Bolschewiken-Affare  hat  er  nicht  gehabt,  im  Herbst 
1919  hat  er  einen  regularen,  fur  Europa  lautenden  PaB 
bekommen,  der  Liste  nach  hat  er  auch  bei  Hegyeshalom 
die  Grenze  iiberschritten,  nun,  und  dieser  Rudolf  Bayer, 
bei  dem  er  zuletzt  in  der  Pozsonyer  StraBe  als  Verwandter 
angemeldet  war,  ja,  der  ist  vor  Jahren  gestorben,  das  habe 
ich  auch  ermitteln  lassen.  In  Budapest  lohnt  es  sich  nicht 
mehr,  weitere  Schritte  zu  unternehmen.  Aber,  wie  gesagt, 
wenn  du  es  wiinschst,  wende  ich  mich  an  Vitorescu  bei 
der  Gesandtschaft,  er  soil  weiter  nachforschen  ...  in  Deva? 
nicht  wahr,  Deva  hast  du  gesagt?  also  in  Deva.  So  kostet 
es  dich  wenigstens  nichts,  Vitorescu  tut  mir  gerne  den  Ge- 
fallen  aus  Freundschaft." 

,,Du  bist  ein  Engel,  Herr  Hauptmann,  ein  Engel,  ich 
werde  dir  ewig  verbunden  sein  ..." 

,,Also,  laB  mich  nur  aufschreiben  .  .  .  was  du  eigentlich 
willst." 

,,So  ganz  allgemein  mochte  ich  dich  bitten,  was  du 
iiber  ihn  im  allgemeinen  erfahren  kannst,  von  seiner 
Familie,  wenn  er  eine  hat,  ob  Verwandte  von  ihm  dort 
unten  leben,  wer  sie  sind,  und,  nun,  wie  gesagt,  so  ganz 
allgemein  .  .  ." 

,,Gut,  kapiert,  Universalbericht  iiber  Person  und  Cha- 
rakter,  wie  es  in  den  guten,  alten  k.  u.  k.  Zeiten  hieB.  Schau 
vielleicht  mal  wieder  vorbei,  oder  ruf  lieber  an,  sagen  wir 
in  zwei  bis  drei  Wochen,  aber  sagen  wir  lieber  in  drei 
Wochen,  —  wciBt  du,  das  nimmt  ja  doch  Zeit  in  Anspruch." 

,,Wie  du  befiehlst,  lieber  Herr  Hauptmann,  also  in  drei 

329 


Wochen.  Bis  dahin  nochmals  vielen  Dank . . .  ach  ja,  fur 
wann  kann  ich  dir  die  Karten  fiirs  Kabarett  schicken?" 

,,Ach  ja,  die  Karten . . .  also,  egal,  alter  Freund,  ganz 
egal,  aber  wenn  du  so  nett  sein  wiirdest,  sagen  wir  fur 
Samstag  abend." 

,,Aber  gerne,  mein  lieber  Herr  Hauptmann,  gcrne. 
Auf  Wiedersehen !  Servus ! " 


8 

NoCH  auf  der  Schwelle  setzt  der  groBe  Lewy  seinen 
Hut  auf,  geht  aber  nicht  hinaus  durch  die  Tiir,  sondern 
dreht  sich  um  und  tritt,  den  Hut  auf  dem  Kopf,  in  die 
Mitte  des  Zimmers  zuriick.  Am  Fenster  steht  cine  stroh- 
blonde,  kraushaarige  Frau  und  sieht  miBmutig,  daB  der 
groBe  Lewy  noch  immer  nicht  gegangen  ist. 

,,Sie  irren,  liebe  gnadige  Frau",  sagt  er,  ,,wenn  Sie 
glauben,  die  Wohnung  dadurch  vermieten  zu  konnen,  daB 
Sie  mir  den  Auftrag  entziehen.  Sie  wiirde  sich  viel  eher 
vermieten  lassen,  wenn  Sie  mir  nicht  den  Auftrag  entzogen, 
sondern  mit  dem  Preis  heruntergingen.  Was  stellen  Sie  sich 
vor,  wer  wird  denn  in  einem  alten  Haus  ohne  Lift  im  dritten 
Stock  fiir  fiinf  Zimmer  fiinftausend  Pengo  bezahlen?  wer? 
i.ch  wills  Ihnen  sagen  —  niemand.  Selbst  wenn  es  nicht 
Zimmer,  sondern  Tanzsale  waren,  und  wenn  sie  nicht  nach 
der  Revai-Gasse,  sondern  nach  dem  Golf  von  Neapel 
lagen.  Sie  werden  es  noch  bereuen,  liebe  gnadige  Frau,  daB 
Sie  sie  nicht  an  Auers  fiir  dreitausendfiinfhundert  ver- 
mietet  haben,  zumal  da  Auers  gut  sind  fiir  das  Geld  und  ich 
auch  noch  fiinfzig  Pengo  von  meiner  Provision  nachge- 
lassen  habe.  Wissen  Sie,  was  man  heute  fiir  fiinftausend 
Peqgo  bekommt?  die  modernste  Fiinfzimmer-  und  Dielen- 
wohnung  in  Buda  oder  in  der  neuen  Leopoldstadt, 
und  wenn  ich  mich  sehr  anstrenge,  dann  gibt  man  das  in- 
klusive  Heizung,  Warmwasser  und  Vakuumbenutzung,  das 

33° 


bedeutet  zweiundzwanzigeinhalb  Prozent  Rabatt  bei  einem 
ohnedies  schon  herabgedriickten  Preis.  Aber  das  1st  noch 
gar  nichts.  Wissen  Sie,  ich  suche  jetzt  eine  Wohnung  fur 
einen  Geschaftsfreund,  einen  auslandischen  Architekten, 
steinreich,  sag  ich  Ihnen,  der  demnachst  nach  Budapest 
kommt,  fur  den  brauch  ich  ein  anstandiges  Quartier,  — 
also,  da  gibts  in  Buda  eine  Villa  in  der  Pasareter  StraBe, 
vier  Zimmer,  Halle,  riesige  Fenster,  alles  schneeweiB, 
im  Souterrain  Kiiche,  extra  Badezimmer  fiir  die  Dienst- 
boten,  was  soil  ich  Ihnen  sagen?  einfach  entziickend.  Seit 
anderthalb  Jahr  steht  die  Wohnung  leer,  —  liegt  ein 
biBchen  zu  sehr  abseits.  Wissen  Sie,  was  mir  der  Besitzer 
sagt?  ein  gewisser  Hevesi,  Textilbranche,  hat  mal  einen 
grofkn  Mercedes  besessen,  also  der  sagt  zu  mir,  mein 
lieber  Lewy,  vermieten  Sie  doch  um  Gottes  willen  die 
Wohnung,  wie  sie  ist,  fiir  viertausend,  ich  begniige  mich 
sogar  mit  dreitausend,  wenns  sein  muB,  zwanzig  Prozent 
gehoren  Ihnen,  aber  vermieten  Sie  sie,  ganz  gleich,  ob  fur 
zehn  Jahre  oder  bloB  fiir  den  Sommer,  meine  Nerven  ver- 
tragen  den  Zettel  an  der  Haustiir  nicht  mehr.  Ich  denke 
mir,  das  wird  gerade  das  Rechte  fiir  meinen  auslandischen 
Freund  sein,  fiir  ein  viertel  Jahr  oder  ein  halbes  Jahr, 
je  nachdem,  wie  lange  er  bleibt,  ein  Tausender  mehr  oder 
weniger,  das  spielt  bei  dem  keine  so  groBe  Rolle.  Nun, 
also.  Bedenken  Sie  das  mal,  liebe  gnadige  Frau  — " 

Vor  dem  Redeschwall  driickt  sich  die  Frau  ganz  flach 
ans  Fenster. 

,,H6ren  Sie  mal,  lieber  Herr  Lewy",  sagt  sie  mit  un- 
sicherer,  etwas  heiserer  Stimme,  ,,meinen  Sie  nicht,  wir 
sollten  doch  nicht  mit  dem  Preis  heruntergehen,  bevor 
dieser  auslandische  Herr  .  .  .  konnten  Sie  dem  nicht  auch 
meine  Wohnung  zeigen?  die  liegt  doch  nicht  so  weit  ab 
wie  die  in  der  Pasar&er  StraBe  .  .  ." 

,,Tja,  wenn  sie  bis  dahin,  Gott  behiite,  noch  nicht  ver- 
mietet  ist  ...  zeigen  kann  ich  sie  ihm  ja.  Was  weiB  ich, 
vielleicht  gefallt  ihm  ausgerechnet  die." 

351 


AMMAN  stiitzt  sich  mit  den  Ellenbogen  auf  den  Schreib- 
tisch,  lehnt  den  Kopf  an  die  Faust  und  hort  Suhajda  zu,  der 
ihm  gegeniiber  sitzt,  streng  auf  die  Erde  schaut  und  ein 
wenig  schleppend  und  abgerissen  spricht. 

,,.  .  .  nein,  so  hat  das  keinen  Sinn.  Du  weiBt  sehr  gut,  ich 
beklage  mich  nicht,  ich  informiere  dich  blofi  .  .  .  du  hast 
mich  wirklich  aufs  beste  empfohlen  .  .  .  aber  umsonst,  ein 
hoherer  Druck  hat  sich  gegen  mich  durchgesetzt  .  .  .  ver- 
steh  mich  recht,  nicht  im  Interesse  der  iibrigen,  sondern 
ausgesprochen  gegen  mich  .  .  .  das  ist  nun  mal  so.  Eine 
lumpige  Stellung  bei  der  Krankenkasse  .  .  .  nicht  mal  das 
tagliche  Brot,  hochstens  Brotkruste  — " 

,,Schrecklich",  sagt  Amman  leise,  ,,das  tut  mir  wirklich 
leid.  Nun  und  ...  die  Privatpraxis  ?" 

,,Privatpraxis  ?"  Suhajda  hebt  den  Blick  vom  Boden, 
beinahe  vorwurfsvoll,  ,,du  weiBt  doch  genau,  wenn  es  so 
weiter  geht,  kann  ich  nicht  einmal  ein  elendes  mobliertes 
Zimmer  bezahlen,  in  einem  Monat  schon  nicht  mehr. 
Privatpraxis?  nein,  Amman,  hier  handelt  es  sich  nicht  um 
die  allgemeinen  Verhaltnisse,  nicht  um  die  allgemeine  Not 
der  Arzte,  sondern  um  mich,  um  meine  Person.  Worum 
dreht  sich  denn  das  Ganze?  um  Protektion  und  Namen. 
Protektion  habe  ich  leider  nicht  .  .  .  und  einen  Namen? 
soli  ich  etwa  sagen,  einen  Namen  habe  ich  leider?  Ja  .  .  . 
dazu  war  ich  ihnen  gut,  die  Angelegenheiten  auf  der 
Universitat  und  im  Verband  und  in  den  einzelnen  For- 
mationen  zu  organisieren,  dazu  war  ich  gut,  }ahrelang 
meinen  Namen  von  samtlichen  jiidischen  Zeitungen  in  den 
Schmutz  ziehen  zu  lassen  .  . .  Du  kennst  doch  die  Situation. 
Kiirzlich  traf  ich  den  Steiner,  vielleicht  erinnerst  du  dich 
noch  an  ihn,  er  ging  in  eine  Klasse  mit  uns,  seinerzeit  ist  er 
auf  der  Universitat  rausgeschm  —  das  heiBt,  nicht  auf- 
genommen  worden,  dann  hat  er  in  Prag  studiert,  heute  ist 
er  Direktor  bei  der  Serumfabrik  Philacto  hicr  in  Budapest, 

33* 


also,  ich  lasse  mich  mit  ihm  ins  Gesprach  ein,  die  ganze 
Bitterkeit  kam  aus  mir  raus,  und  ich  sage  zu  ihm,  ich  habe 
so  gut  wie  gar  keine  Praxis,  verdiene  keinen  Kreuzer,  — 
da  sieht  mich  der  lausige  Jude  an  und  sagt,  na,  weiBt  du, 
sei  nicht  bose,  alter  Freund,  aber  dariiber  kann  ich  mich 
wirklich  nicht  wundern,  denn  ich  kann  mir  nicht  recht 
vorstellen,  wer  nach  deiner  allgemein  bekannten  Gummi- 
kniippel-Therapie  zu  deiner  Diagnose  Vertrauen  haben 
sollte.  Du,  Amman",  das  schreit  er  fast,  ,,so  sieht  die 
Situation  aus !  WeiBt  du,  daB  mich  aus  dem  ganzen  Verband 
von  den  Erwachenden,  von  den  Doppelkreuzlern,  auch  noch 
nicht  zufallig  eine  Seele  aufgesucht  hat,  seit  Jahren?!" 
Dann  senkt  sich  seine  Stimme  wieder.  ,,Einfach  zum 
Wahnsinnigwerden,  kann  ich  dir  sagen  .  .  .  mein  einziges 
Gliick  ist,  daB  ich  keine  Familie  habe  .  .  .  es  sollten  bloB 
noch  mal  Arzte  nach  Hollandisch-Indien  oder  in  den  Grund 

der  Holle  geworben  werden " 

Amman  wiegt  teilnahmsvoll  den  Kopf,  —  und  zwischen- 
durch  schluckt  er  versteckt  ein  tiefes  Gahnen  hinunter. 
,,Furchterliche  Sache,  wirklich  furchterlich.  Aber  letzten 
Endes  muBten  doch  schlieBlich  die  Freunde  ..." 

Suhajda  winkt  ab.  ,,Die  Freunde  .  .  .  Du  hast  ein  Wort 
fur  mich  eingelegt,  und  die  paar  Jungens,  mit  denen  wir 
zusammen  im  Gymnasium  waren  .  .  .  wenn  ich  so  hie  und 
da  mal  hingehe  ins  Cafe,  dann  plaudert  man  eben  bloB  ein 
biBchen,  —  vielleicht  wiirden  sie  sogar  helfen.  Aber  du 
muBtest  die  Kumpane  mal  sehen,  den  Petrovics  von  der 
Stadt  und  den  Galambos  aus  dem  Wohlfahrtsministerium 
und  den  Sztepanics  .  .  .  wie  die  den  Kopf  wegdrehen,  wenn 
man  ihnen  zufallig  begegnet ..." 

,,Unerhort",  sagt  Amman,  ,,unerhort." 

Ein  unangenehmer,  kalter,  diisterer  Glanz  leuchtet  in 
den  Augen  des  andern,  als  er  den  Blick  plotzlich  hebt. 

,,Und  dann  werdet  ihr  euch  zum  SchluB  noch  wundern, 
wenn  was  passiert  — " 

333 


,,Wieso?"  fragt  er  langsam,  ,,ich  versteh  nicht.  Was  soil 
tlenn  passieren?" 

,,Ich  weiB  nicht",  antwortet  er  nach  einer  kleinen  Pause, 
,,aber  so  gehts  nicht  welter,  das  steht  fest.  Irgend  was  muB 

man  machen,  und  du  wirst  schon  sehen,  eines  Tages " 

Er  schweigt,  blickt  wieder  auf  die  Erde  und  fahrt  dann  fort. 
,,Und  wenn  diese  Petrovics's  und  Galambos's  meinen,  uns, 
mich  und  die  iibrigen  konnte  man  so  einfach  leer  ausgehen 
lassen,  dann  irren  sie  sich.  Wenn  sie  glauben,  heute,  da  die 
Macht  und  der  Ruhm  bereits  ihnen  gehoren,  wiirden  wir 
schon  den  Mund  halten  und  uns  mit  unserm  Gespritzten 
begniigen.  Bei  wems  iiberhaupt  noch  zu  einem  Gespritzten 
reicht.  Mir  reichts  nicht  mehr  dazu.  Wenn  sie  glauben,  wir, 
ich  und  die  iibrigen,  wir  haben  euch  so  ganz  umsonst  die 
heiBen  Kastanien  aus  dem  Feuer  geklaubt " 

Jetzt  gahnt  Amman  schon  wie  ein  Nilpferd.  ,,Aaah 

nimms  mir  bitte  nicht  iibel,  aber  ich  habe  kaum  ein  paar 
Stunden  geschlafen,  die  Konferenz  beim  Staatssekretar  war 
erst  spat  in  der  Nacht  zu  Ende.  Tja  .  .  .  wirklich  entsetzlich. 
Und  wie  schwierig  es  auch  auszusprechen  ist,  die  einzige 
Moglichkeit  ist  es  tatsachlich,  oder  sagcn  wir,  die  beste 
Moglichkeit  fur  Leute  wie  du  —  wollte  sagen,  fiir  dich  — 
ist  es,  auszuwandern  .  .  ." 

Und  da  richtet  er  sich  plotzlich  in  seinem  Stuhl  steif  auf. 

,,H6r  mal  zu,  mir  fallt  etwas  ein.  ScblieBlich  kann  es 
einem  ja  mehr  oder  weniger  Wurscht  sein,  wohin  man 
kommt,  bloB  gesundes  Klima  und  anstandige  Bezahlung 
braucht  man,  nicht  wahr?  Nun,  und,  du  weiBt  doch,  daB 
der  Toni  Kadar  nach  Budapest  kommen  will,  nicht  wahr, 
du  weiBt,  was  der  fiir  Karriere  gemacht  hat  da  unten  in 
Afrika?  .  .  .  Also,  paB  mal  auf,  alter  Freund,  ich  bin  leider 
nicht  in  der  Lage,  bei  ihm  ein  Wort  fiir  dich  einzulegen,  ich 
will  dir  offen  gestehen,  ich  selbst  mochte  ihn  gerne  in  einer 
Exportangelegenheit  bearbeiten,  ich  fiir  meinen  Teil,  aber 
wenn  ich  dir  einen  Rat  geben  kann,  dann  ist  es  der,  dr^ngel 
dich  ein  biBchen  gescheit  an  ihn  ran,  schlieBlich  braucht 

334 


man  auch  in  Siidafrika  Arzte  .  .  .  man  kann  ja  nicht  wissen, 
was  meinst  du?  Hast  du  iibrigens  gut  mit  ihm  gestanden? 
Aber  was  ich  dir  da  gesagt  habe,  bleibt  natiirlich  streng 
untcr  uns  .  .  ." 


IO 

RoNA  lehnt  sich  in  seinem  Stuhl  zuriick,  kippt  sogar  mit 
dem  Stuhl  nach  hinten,  stemmt  seine  FiiBe  gegen  den  Pfosten 
des  EBzimmertisches  und  steckt  sich  einen  Zahnstocher  in 
den  Mund. 

,,Ach,  ja,  Papa,  was  ich  sagen  wollte,  erinnerst  du  dich 
noch  an  den  Kadar  aus  meiner  Klasse?" 

,,Kadar?"  sagt  der  alte  Herr,  ,,Kadar?  nein.  Welcher  war 
das  noch?" 

,,Der  kleine  Dicke,  der  immer  bei  uns  Ping-Pong  gespielt 
hat?"  fragt  Mama  Rona,  ,,natiirlich  erinnere  ich  mich  an 
den." 

,,Nein,  Mama",  korrigiert  Rona,  ,,erstens  war  der  Kadar 
nicht  klein  und  dick,  sondern  groB  und  diinn,  zweitens  war 
er  Christ  und  verkehrte  nicht  bei  uns;  du  kannst  dich 
hochstens  von  den  Schulfeiern  her  an  ihn  erinnern." 

,,So?"  sagt  die  Mama,  ,,dann  weiB  ich  nicht.  Was  ist 
denn  mit  ihm?" 

,,Also,  der  Kadar  ist  irgendwie  nach  Siidafrika  gekom- 
men  und  hat  dort  ein  Riesenvermogen  erworben." 

,,Ein  Riesenvermogen?"  wirft  Papa  Rona  dazwischen. 
,,Und  ist  das  sicher,  daB  er  ein  Riesenvermogen  erworben 
hat?  Und  weiBt  du  iiberhaupt,  mein  Sohn,  was  das  ist: 
ein  Riesenvermogen?" 

,,Aber  bitte,  Papa,  das  kannst  du  ganz  ruhig  mir  iiber- 
lassen.  Wenn  ich  sage,  ein  Riesenvermogen!  Also,  dieser 
Kdddr  wird  jetzt  nach  Budapest  kommen." 

,,Ist  er  verheiratet?"  fragt  Mama  Rona,  pldtelich 
elektrisiert. 


335 


,,Jawohl",  lacht  der  Sohn,  ,,warum?  die  Manci  hat  doch 
schon  einen  Mann,  wen  willst  du  ihm  denn  anhangen?" 

,,O  ja,  die  hat  einen  Mann",  brummt  der  alte  Herr 
nachdenklich,  ,,leider  Gottes,  genug  Geld  hat  mich  der 
Rezso  bis  jetzt  schon  gekostet." 

,,Ich  bitte  dich,  Adolf,  hor  auf",  fahrt  seine  Frau  ihn 
gleich  an,  ,,du  weiBt,  daB  ich  diese  Redensarten  nicht  ver- 
tragen  kann!"  Dann  wendet  sie  sich  dem  Sohn  zu:  ,,Was 
hast  du  noch  gesagt,  Laci?  ach  ja,  verheiratet  ist  er.  Schade. 
Namlich  die  Tochter  von  der  Szidi  Rotter,  die  Vera " 

,,Sieh  mal,  Mamachen",  neckt  Rona,  ,,der  Toni  Kadar 
ist  verheiratet,  da  ist  also  vorlaufig  von  keiner  guten  Partie 
die  Rede,  aufier,  wenn  du  ihn  dazu  bringst,  sich  von  seiner 
Frau  scheiden  zu  lassen,  dann  ware  er  bestimmt  die  beste 
Partie  in  ganz  Budapest.  Also",  wendet  er  sich  wieder  an 
den  Vater,  ,,der  Kadar  kommt  jetzt  nach  Budapest .  .  .  ach 
ja,  das  habe  ich  schon  gesagt." 

,,Und  was  wird  er  hier  machen?  Geschafte?" 

,,Nein.  Eine  Lustreise.  Es  wird  ihm  eine  Lust  sein,  sich 
daran  zu  ergotzen,  wie  abgebrannt  hier  alles  ist,  wahrend  er 
dort  unten  sich  fein  raufgerappelt  hat." 

Der  alte  Herr,  —  der  sich  iibrigens  vor  Jahren  zur  Ruhe 
gesetzt  hat,  —  streicht  mit  dem  rechten  Zeigefinger  iiber 
seinen  kleinen  weiBen  Spitzbart,  was  bei  ihm  das  Zeichen 
fur  geschaftliches  Nachdenken  ist.  —  ,,Du,  Laci",  sagt  er 
nach  einem  Weilchen,  ,,mir  fallt  was  ein.  Wenn  dein  Freund 
wirklich  ein  so  reicher  Mann  ist,  konnte  man  ihm  dann  nicht 
das  Herender  Service  fur  vierundzwanzig  Personen  an- 
drehen,  das  du  nach  der  Pleite  der  Stambachschen  Grafen 
auf  dem  Hals  behalten  hast?  Wenn  der  soviel  Geld  hat  — " 

Laci  R6na  nimmt  den  Zahnstocher  aus  dem  Mund, 
zerbricht  ihn  zwischen  zwei  Fingern  und  wirft  ihn  aufs 
Tischtuch. 

,,Aber!  er  wird  doch  nicht  ausgerechnet  in  Budapest 
Porzellan  kaufen!  .  .  .  Ubrigens  .  .  .  vielleicht  doch  keine 
schlechte  Idee,  Papa.  Versuchen  konnte  mans  jedenfalls." 

336 


II 

pRAULEIN  Lya!  Mademoiselle  Lya!"  ruft  der  Oberkeilner 
in  die  trockene  Loge,  wo  die  ,,Damen"  sitzen. 

Lya  Milton,  selbstandige  Nummer  zu  Beginn  des 
Programms,  ein  silberblondes,  groBes,  ausgehungert 
diirres  Madchen,  driickt  ihre  Zigarette  im  Teller  auf  dem 
Tisch  aus  und  erhebt  sich  dienstbereit. 

,,Ja,  Jules?"  fragt  sie. 

Der  Oberkeilner  sagt  im  Amtston:  ,,MiB  Lya  wird  in 
Nummer  zwei  links  gewiinscht  .  .  ."  und  dann,  als  er  sich 
umdreht,  kommt  er  ihr  mit  dem  Kopf  etwas  naher  und  fiigt 
halblaut  hinzu:  ,,los,  los,  ein  Provinzler  mit  Moneten, 
schon  ziemlich  angeheitert  ..." 

,,One  moment  .  .  .  immediately",  spricht  Miss  Lya 
englisch,  vornehm,  laut  und  mit  ausgezeichnetem  un- 
garischen  Akzent,  ,,ich  komm  schon."  Dann  nimmt  sie 
die  Puderdose  aus  ihrer  Handtasche  und  wendet  sich  dabei 
nach  den  am  Tisch  sitzenden  Madchen  urn:  „.  .  .  also,  wie 
gesagt,  eine  ganze  Stadt  besitzt  er,  hat  der  Bandi  Simon 
erzahlt,  achttausend  oder  wieviel  Hauser,  ich  weiB  nicht 
mehr,  und  dann  hat  der  Bandi  Simon  noch  gesagt,  du  Lici, 
ich  werde  dich  ihm  vorstellen,  das  Weitere  iiberlasse  ich 
schon  dir . . .  was  lachst  du  denn,  Irma,  jawohl,  ausgerechnet 
mich,  du  wirst  ja  sehen  . .  ."  damit  laBt  sie  die  runde  Puder- 
dose ins  Taschchen  zuriickgleiten  und  geht  mit  lachelndem 
Schwung  auf  Loge  zwei  links  zu. 


12 

DR.  Marton  sitzt  im  Biirgervereinshaus  des  Bezirks  im 
sogenannten  Stadtrat-Zimmer,  von  einer  groBeren  Gruppe 
umgeben.  Vorlaufig  ist  Dr.  Mdrton  zwar  noch  nicht 
Stadtrat,  aber  fur  die  nachsten  Wahlen  ist  ihm  bereits  ein 
guter  Platz  auf  der  Liste  gesichert.  Dr.  Marton  hat  einen 
schonen,  vollen  Rednerbariton. 

22  Kfirmendi,  Budapest  337 


>,.  .  .  das  konzediere  ich,  mcinc  Herren,  das  konzediere 
ich.  Nemo  propheta  ,  ,  .  ich  weiB.  Aber  dennoch:  cine 
typisch  ungarische  Krankheit,  daB  wir  unsere  Talente  nicht 
crkenncn,  und  wenn  wir  sie  zufallig  doch  erkennen,  dann 
wissen  wir  sie  nicht  zu  schatzen,  meine  Herren.  Erlauben 
Sie  mal,  meine  Herren,  es  gibt  keine  GroBstadt  auf  der 
Welt,  in  der  nicht  ein  ungarisches  Talent  oder  vielleicht 
auch  mehrere  glanzende  Karriere  gemacht  hatten.  Hier  ein 
Sanger,  dort  ein  Mediziner,  dort  wiederum  ein  Filmkonig 
oder  ein  Maler  oder  ein  Finanzgenie  oder,  was  Sie  wollen  . . . 
Das  kommt  mir  dadurch  in  den  Sinn,  meine  Herren,  daB 
ein  Freund  von  mir,  ein  Klassenkamerad  vom  Gymnasium, 
seinerzeit  iiberall  verachtet  und  verstoBen,  seiner  Vaterstadt, 
unserm  schonen  undankbaren  Budapest,  vor  Jahren  eines 
Tages  den  Riicken  wandte  und  in  die  Welt  zog,  in  seinem 
kleinen  Biindel  nichts  anderes  als  sein  ungebrochenes 
Talent  und  seinen  unbrechbaren  Willen,  —  und  nach  einer 
langen  Reihe  von  Jahren,  auf  dem  .  .  .  dem  Zenith  seiner 
Karriere  angekommen,  die  Feder  zur  Hand  nimmt  und  mir 
einen  Brief  schreibt:  ,ich  sehne  mich  nach  der  ungarischen 
Heimat,  sehne  mich  danach,  meine  Muttersprache  zu  horen, 
sehne  mich  nach  Budapest,  sehne  mich  nach  meinen  alten 
Freunden  ...  ich  bin  euch  nicht  bose,  und  werdet  ihr  mich 
liebend  empfangen,  wenn  ich  zu  euch  komme?lc  Wer  von 
Ihnen,  meine  Herren,  kennt  den  Namen  Kadar?  Niemand, 
nicht  wahr?  Aber  rufen  Sie  diesen  Namen  nur  in  jeder 
beliebigen  Metropole  Europas,  Amerikas  oder  Afrikas 
aus,  —  sofort  werden  Hunderte  und  aber  Hunderte  auf- 
horchen :  aha,  der  beruhmte  ungarische  Architekt !  Und  wenn 
wir  nach  alledcm  nicht  die  Kraft  haben,  meine  Herren, 
einen  solchen  Mann  zum  Besten  unserer  Kultur,  unseres 
wirtschaftlichen  Lebens,  unserer  Gesamtheit,  mittelbar  also 
zum  Besten  jedes  Individuums,  hier  festzuhalten,  dann, 
meine  Herren,  kann  ich  nichts  anderes  tun,  als  meine 
Fackel  sinken  lassen  und  sagen:  wir  verdienen  es  nicht, 
daB " 

338 


13 

So  wurde  Antal  Kadar  durch  ein  Magazinblatt,  das 
jemand  im  Wartezimmer  des  Zahnarztes  herausriB,  zur 
Legende.  Vom  Stammtisch  im  Cafe  ging  der  Ton  aus,  und 
die  Atherschwingungen  der  Phantasie  sandten  die  Kadar- 
Welle  den  zahllosen  kleinen  Empfangern  der  Geldgier  zu. 
Zuerst  wuBten  es  nur  zwolf,  dann  noch  zwolf,  —  aber,  nicht 
wahr,  es  bleibt  unter  uns,  vorlaufig  ist  es  ja  noch  gar  nicht 
sicher,  und  iiberhaupt,  es  braucht  nicht  dariiber  gesprochen 
zu  werden,  —  und  dann  noch  zwolf  und  noch  zwolf  und 
noch  zwolf.  Gehirne  spannten  sich,  Ohren  offneten  sich, 
Augen  starrten,  Hande  streckten  sich  aus.  Emsige  Finger 
reinigten  die  dem  Friihling  zuschwebende  Stadt,  die 
Arena,  vom  Schmutz  der  tief  gesunkenen  Alltagssorgen; 
behutsame,  unsichtbare  Schaufeln  bestreuten  sie  mit  dem 
goldgelben  Sand  der  Ideen;  in  der  heimlichen  Schwiile 
kleinbiirgerlicher  Wohnungen,  vor  den  Zerrspiegeln  dieser 
iiberhitzten  Atmosphare  kleideten  sich  ermattete  Picadore 
in  die  Trodlerfetzen  farbenblinden  Hoffens,  schliffen  ent- 
schlossene  Toreadore  hinter  fiebernder  Stirn  die  ver- 
rosteten  Klingen  ihrer  Bereitschaft  zu  allem.  Jeder  einzelne 
will  mehr,  will  groBer  sein,  um  sich  ein  groBeres  Stuck  von 
der  Beute  abreiBen  zu  konnen:  und  schon  im  voraus  sind 
sie  alle  betort  von  dem  EntschluB,  betoren  zu  wollen.  Die 
aufgewiihlten  Phantasien  schnuppern  winselnd  eine  Gold- 
grube,  wilder  HeiBhunger  schmatzt  bereits  den  fetten 
Braten,  bis  zum  Springen  gespannte  Bogen  lauern  auf  den 
Blauen  Vogel.  Amateure  und  Professionisten,  Reiche  und 
Arme,  Gefallene  und  Aufwartsstrebende  spahen  in  den 
Friihlingshimmel,  —  na,  vielleicht  jetzt  .  .  .  horst  du  noch 
nichts? 

Antal  Kadar  indessen  sitzt  in  London  in  einem 
Zimmer  der  gewaltigen  Baufirma  vor  seiner  kleinen 
Portable-Schreibmaschine  und  scbreibt  einen  Brief  nach 
Budapest. 

22*  339 


Lieber  Kclemcn ! 

Wit  ich  Dir  bereits  aus  P.  E.  schrieb,  ktitmen  wir  die  gc- 
plantt  Rax  nach  Budapest  tatsdchlich  pcrwirklichen.  Ende  Mai  oder  Anfang 
Juni  kpmmc  ich  mil  meiner  Frou  aus  Pans  dort  an,  und  wcnn  ich  Dir  mil  meiner 
Bitte  nicht  zur  Last  falle :  dann  sei  so  gut,  nach  Erhalt  des  Telegramms,  das  ich 
noch  schicken  werde,  im  Ritz  fur  uns  zwei  Zimmer  mit  Bad  reservieren  zu  lassen. 
Solltest  Du  mcine  Bitte  nicht  erfiillen  Itfnnen,  so  nimm  mir  die  Bel&stigung  nicht 
iibel  and  gib  mir  in  zwei  Zeilen  Bescheid  an  meine  Londoner  Adresse. 

Auf  Witdersehen.  Es  griift  Dich 

Kdddr. 


14 

ElN  gliicklicher  Zufall . . .  wahrlich  ein  Gluck,  daB  dieser 
Brief  wenige  Tage  nach  dem  Donnerstag-Zusammentreffen 
im  April  ankam.  Kelemen  zerbrach  sich  nicht  lange  den 
Kopf:  sofort  war  sein  EntschluB  fertig,  die  Jungens  von 
diesem  zweiten  Brief  nicht  zu  benachrichtigen.  Das  hat 
Zeit,  bis  das  Telegramm  kommt.  Man  braucht  nicht  so  viel 
iiber  die  Sache  zu  sprechen,  —  die  paar  Worte,  die  er 
neulich  mit  Simon  gewechselt  hat,  haben  ihn  gerade  zur 
Geniige  mit  Sorgen  erfiillt.  Also:  auch  andere  haben  den 
Gedanken,  nicht  bloB  ich,  daB  —  man  etwas  machen  konnte. 
Dumm.  Ich  muB  die  ganze  Geschichte  dampfen.  Aber 
geradezu  entsetzt  war  er,  als  er  eines  Sonntagvormittags 
in  der  Andrassy-StraBe  auf  Vavrinec  stieB.  ,,Wie  ich  hore", 
sagt  Vavrinec,  ,,soil  Kadar  nach  Budapest  kommen, 
wenigstens  spricht  man  davon  ..."  —  ,Ja",  antwortete 
er  miBmutig,  ,,es  heiBt,  er  soil  kommen,  aber  es  ist  noch 
nicht  sicher.  Aber  von  wem  hast  dus  eigentlich  gehort?"  — 
,,Merkwiirdig  genug,  daB  ichs  nicht  von  euch  direkt  weiB. 
Mein  Vater  hats  vom  Schwager  Ammans  gehort.  Und  so 
interessante  Nachrichten  muB  ich  auf  solchen  Umwegen 
erfahren?" 

Also,  man  spricht  schon  davon  .  .  .  dann  wird  es  gut 
sein,  wenn  ich  nicht  auch  noch  Reklame  fur  die  Sache 

340 


mache.  Er  sagte  den  Jungens  nichts,  —  schrieb  jedoch 
sofort  an  Kadar  nach  London.  Nur  soviel:  Ich  freue  mich, 
dafi  ihr  kommt,  die  Zimmer  werden  selbstverstandlich 
bestellt. 

Und  bis  dahin  .  .  .  kann  man  nun  diesen  entsetzlichen 
Friihling  weiterleben.  Weiterleben  mit  zwei  Leben:  das 
eine  ist  das  furchterlich  langsam  kriechende  jammerliche 
auBere  Leben  in  der  Transcont,  im  Cafe  und  bei  der 
Mutter,  —  das  andere  Leben  beginnt  am  Abend,  wenn  er 
sich  zu  Hause  schlafen  legt.  Dann  dreht  er  das  Licht  aus, 
starrt  ins  Dunkel  und  denkt  an  Kadar  und  Port  Elizabeth. 
Mit  der  AusschlieBlichkeit  der  fixen  Idee,  mit  der  verhang- 
nisvollen  Hartnackigkeit  eines  irren  Gehirns.  Es  wird 
gelingen!  —  denkt  er  und  kann  an  nichts  anderes  denken; 
und  wenn  er  auch  Momente  hatte,  da  sein  iiberlegenes  und 
zynisch  kaltes  Budapester  Ich  als  sein  eigener  Zuschauer 
ihn  mit  hohnischer  Grimasse  mahnte:  Blodsinn  .  .  .  ich 
verrenne  mich  ja  in  die  Sache,  als  hinge  es  von  mir  ab,  wie 
sie  gelingt !  —  so  wurden  diese  Augenblicke  doch  von  den 
Traumereien  vertrieben,  in  die  er  aus  der  Wirklichkeit  der 
vergangenen  Jahre,  die  nur  Geld,  nur  Geschaft,  nur  Kampf, 
nur  Erfolglosigkeit  war,  plotzlich  umschlug.  Mit  dem 
korperlosen,  mondsiichtigen,  selig  verziickten  Lacheln  eines 
Irrsinnigen  sagte  er  vor  sich  hin:  es  wird  gelingen!  ich 
werde  Gliick  haben  .  .  .  meine  Gliicksstrahne  beginnt  .  .  . 
hat  schon  damals  begonnen,  als  ich  das  Bild  entdeckte  .  .  . 
damit,  daft  ich  im  Januar  nicht  aus  dem  Biiro  geflogen  bin . . . 
dafi  der  neue  Brief  nach  der  Zusammenkunft  im  Cafe  ankam 
und  ich  nicht  da  von  zu  reden  brauchte . . .  und  die  Sache  mit 
dem  Urlaub  fangt  auch  gut  an. 

Zunachst  verschaffte  er  sich  das  arztliche  Attest. 
Nicht  von  Suhajda  und  nicht  von  Bermann,  —  die 
brauchen  nichts  davon  zu  wissen,  daB  ich  ausgerechnet 
im  Laufe  des  Friihjahrs  auf  Urlaub  gehe;  um  Joly 
scharwenzelt  in  letzter  Zeit  immer  ein  junger  Arzt 
herum,  —  und  Dr.  Otto  Huszar  war  gliicklich,  dem  Brudet 

341 


Jolys  einen  Gcfallen  crwciscn  zu  konnen.  Dcr  Ordnung 
halber  suchte  er  Kelemen  auch  eines  Abends  in  Frau  Hunkas 
Wohnung  auf ;  licB  ihn  sich  bis  zum  Giirtcl  entbloBen,  unter- 
suchtc  seine  Augenlider,  Iie8  ihn  die  Augen  schlicBen,  sich 
auf  die  Chaiselongue  legcn,  horchte  sein  Herz  ab,  glitt  mit 
dem  Rohr  des  Stetoskops  zweimal  iiber  seinen  Oberarm  und 
seinen  Riicken,  und  lieB  endlich  mit  dem  kleinen  Stahl- 
hammer  sein  Knie  hiipfen,  —  dann  schrieb  er  cin  Attest, 
nach  dem  Andor  Kelemen  an  schwerer  Erschopfung  der 
Nervcn  (Neurasthenic)  leide,  welcher  Zustand  dringendst 
cine  langere  Zeit  volliger  Ruhe  erforderlich  mache.  Mit 
diesem  Attest  in  der  Tasche,  —  er  iiberlcgte  sich  zwar,  ob 
er  sich  nicht  unmittelbar  an  den  Direktor  wenden  solle, 
fiirchtete  dann  jedoch,  der  Abteilungschef  konne  beleidigt 
sein  und  ihm  die  Sache  verderben,  —  trat  er  mit  Herz- 
klopfen  an  Herrn  Czileks  Schreibtisch  und  meldetc  unter 
leichtcn  Gesichtszuckungen,  —  auch  ein  Symptom  der 
Neurasthenic,  —  daB  er  seinen  Urlaub  gern  noch  im  Laufc 
des  Friihjahrs  haben  mochte.  Zu  seiner  grenzenlosen 
tfberraschung  antwortet  Herr  Czilek  bloB:  ,,und  wann 
wollen  Sic  den  Urlaub  antreten,  Herr  Kelemen?"  —  ,,Den 
Tag  weiB  ich  noch  nicht  genau",  sagte  er,  ,,wissen  Sic,  ich 
mochte  mich  griindlich  ausruhen,  und  gewisse  Familien- 
angelegenheiten  ..."  —  «Na,  und  wahrscheinlich  wollen 
Sie  auch  noch  etwas  Geld  auftreiben,  was?"  nickte  Herr 
Czilek  und  blinzeltc  mit  den  Augen.  Was  ist  denn  mit  dem 
los?  ist  der  verriickt  geworden?  wieso  ist  er  auf  einmal  so 
freundlich?! 

Die  Ursache  dieser  ungewohnten  guten  Laune  stellt 
sich  sofort  heraus:  mit  einer  Mitteilsamkeit,  die  seine 
friihere  Abneigung  Liigcn  straft,  und  eincm  Redeschwall, 
der  seine  friihere  Wortkargkeit  widerlegt,  erzahlt  Herr 
Czilek,  daB  er  am  heutigen  Tage  vor  der  Koniglichen  Kurie 
den  ProzeB  gegen  seinen  Bruder  gewonnen  habe,  einen 
ProzeB  in  einer  Grundstiickssache,  der  sage  und  schreibe 
vier  Jahre  gedauert  hat.  Kelemen  gratulicrt  lang  und  breit, 

34* 


und  Czilck  fthrt  fort:  ,,Sic  konnen  mir  auch  gratulieren, 
mcin  Junge  .  .  .  denn  hier  war  nicht  das  Substrat  das 
Wesentliche,  sondern  die  Tatsachc,  dafi  ich  endlich  diesem 
finstcrn  Halunkcn  gegeniiber  mein  Recht  durchgcsetzt 
habe  .  .  ." 

Zur  Vorsicht  bittet  Kelemen  noch  um  die  Erlaubnis, 
seinen  Urlaub  auch  Direktor  Molnar  anmelden  zu  diirfen. 
,,Aber  gewiB,  das  ist  nicht  mehr  als  ordnungsgemaB", 
—  und  Czilek  schickt  ihn  zum  Direktor.  Kelemen  tritt 
ein  und  tragt  seine  Bitte  vor.  ,,Czilek?"  antwortet  der 
kleine  dicke  Herr,  was  soviel  heiBt  wie:  was  sagt  der  Ab- 
teilungschef  dazu?  ,,Er  hat  es  zur  Kcnntnis  genommen", 
sagt  er,  ,,aber  selbstverstandlich  nur  abhangig  von  Ihrer 
Einwilligung,  Herr  Direktor."  —  ,,Bitte,  meinetwegen  . . ." 
erlcdigt  Molnar  die  Angelegenheit,  ,,aber  bitte  fur 
entsprechende  Vertretung  sorgen!"  —  ,,Sehr  wohl, 
selbstverstandlich  .  .  ."  —  Ich  habe  Gliick  —  es  wird 
gelingen! 

Die  Tage  vergehen,  strahlender  Mai  iiberschiittet  die 
Stadt;  Kelemen  lebt  mit  geschlossenen  Augen  im  Rausch 
des  zweiten  Lebens  mit  seinen  tausend  Planen  und  tausend 
Hoffnungen  . . .  es  wird  gelingen.  An  einem  Samstagabend 
ist  er  bei  seiner  Schwester  Sari  zu  Besuch,  nach  dem  Essen 
reicht  sein  Schwager  ihm  cine  Zigarre  hin,  ,,Portorico", 
sagt  er,  ,,die  kannst  du  ruhig  rauchen,  ein  Protektions- 
exemplar  aus  der  Fabrik  in  Papa."  Kelemen  nimmt  die 
Zigarre  und  sagt:  ,,Port  Elizabeth."  —  ,,Nein",  sagt 
Kdroly,  ,,nix  Elisabeth,  Portorico."  —  ,,Ja,  ja,  Portorico." 
,,Bandi,  was  hast  du  denn",  fragt  da  seine  Mutter,  ,,schon 
voriges  Mai  warst  du  so  zerstreut  und  so  still.  Du  hast  doch 
hoffentlich  keine  Unannehmlichkeiten  im  Biiro?"  —  ,,Nein, 
nein,  Gott  sei  Dank."  —  ,,Weibergeschichte?"  fragt  Sari 
keck.  ,,Nein,  auch  keine  Weibergeschichte",  antwortet  er, 
dann  heftet  er  den  Blick  auf  seine  Schwester:  ,,keine 
Weibergeschichte,  du  Kalbchcn,  eine  Haupttrefier- 
geschichte!"  —  ,,GroBer  Gott",  ruft  die  alte  Frauaus, 

343 


,,Andor,  du  hast  wohl  den  Vcrstand  verloren?!"  Dann 
laBt  sich  wicdcr  Karoly  vcrnehmen:  ,,Fang  mir  bloB  nicht 
mit  Haupttrcffern  an",  sagt  cr  strcng,  ,,du  weiBt,  Bandi,  ich 
kann  derlei  Gcschaftchcn  und  Spriinge  nicht  leiden,  mach 
du  mir  lieber  keinc  Haupttreffer  ..." 

Kelcmen  antwortet  nicht;  cr  dcnkt,  daB  hcute  schon 
dcr  Siebzehnte  ist,  daB  er  nachste  Woche  die  Jungens 
im  Cafe  trifft,  und  daB  dann  Ende  Mai  da  ist  und  An- 
fang  Juni  kommt  .  .  .  wie  wohl  tate  es,  sich  lang  auf 
eine  groBe,  griine,  duftende  Wiese  zu  legen  .  .  .  unter  dem 
endlosen  Himmcl  zu  liegen  und  zu  warten,  bis  dann  cines 
schonen  Tages 


AM   3.  Juni   erhielt   Kelemen  folgendcs  Tclegramm   aus 
Paris: 

ankpmmen  fun/ten  abends  orientcxprefi 

crbitten  simmer 


Am  4.  Juni  abends  blieben  die  vormittags  schnell  zu- 
sammengetrommelten  Jungens  nur  wenige  Minuten  im 
Cafe.  Zatony  machte  den  Vorschlag,  —  wozu  Kelemen  in 
stummer  Angst  bejahend  nickte,  —  die  gewiB  recht  miide 
Ankommenden  nicht  gleich  zu  bestiirmen;  Kelemen  solle 
fiir  Zimmer  sorgen  und  Kadars  am  Bahnhof  abholen.  Die 
Mehrheit  jedoch  war  Simons  Meinung,  die  Sache  habe 
zwar  kein  korporatives  Geprage,  es  sei  also  nicht  obli- 
gatorisch,  aber  wer  von  ihnen  wolle,  der  konne  an  die  Bahn 
gehen.  Kelemen  schluckte  und  sagte  dann:  ,,selbst- 
vcrstandlich",  —  und  sie  cinigten  sich  dahin,  wer  zu  dem 
um  Mitternacht  ankommenden  Zug  gehen  wolle,  der  solle 
vorher  hier  ins  Caf6  kommen,  damit  sie  von  hier  zusammen 
aufbrachen. 


344 


i6 


hattcn  sic  sich  um  elf  Uhr  vollzahlig  am 
Stammtisch  cingefunden.  Rona  crschien  in  gestrciftcr  Hose 
und  schwarzem  Rock  und  wehrte  spottische  Blicke  dadurch 
ab,  daB  er  sagte,  er  kame  gerade  aus  dem  Theater.  Sic  saBen 
um  den  Tisch,  sprachen  aber  kaum.  An  diesem  Abend 
gehorten  sie  irgendwie  nicht  zusammen.  Der  Kontakt 
zwischen  ihnen  schien  zerrissen  zu  sein,  —  jawohl,  der 
Faden,  der  sie  alle  spinnennetzartig  verband,  war  zerrissen: 
der  Faden  des  Pester  Zynismus,  der  Pester  Uberlegenheit, 
der  Pester  Verachtlichkeit,  der  Pester  Unglaubigkeit,  der 
Faden  der  sogenannten  Pester  Wurschtigkeit.  —  Nein  .  .  . 
der  Brief  aus  Port  Elizabeth,  das  ernsthafte,  vornehme 
Briefpapier  mit  den  kleinen  Buchstaben,  das  Telegramm 
aus  Paris:  das  ist  kein  Sand-in-die-Augen-Streuen,  das  ist 
eine  ernste  Angelegenheit,  mit  der  man  rechnen  muB,  — 
selbst  wenn  sich  nichts  ereignet.  Was  konnte  sich  denn 
ereignen?  .  .  .  nun  also  .  .  .  nichts;  er  kommt  an,  wird  hier 
sein,  sich  ein  biBchen  amiisieren  und  wieder  abreisen. 
Hochstens  kann  es  zwischendurch  vielleicht  gelingen  -- 
ja,  vielleicht  gelingt  es,  sich  irgendwie  an  dieses  phantastische 
goldbestaubte  Schicksal  zu  kleben.  Aber  dazu  muB  man  an 
dieses  Schicksal  glauben.  Sie  glaubten  daran.  Und  sie 
schwiegen,  um  sich  nicht  einander  auszuliefern  in  dem 
Augenblick,  da  sie  die  Uberheblichkeit  der  Budapester 
Desperados  verloren;  aber  in  dieser  still  gespannten  Er- 
wartung  wuBten  sie,  daB  sie  nun  bald  dem  Besondern,  AuBer- 
halbstehenden  begegnen  wiirden,  das  sie  innerlich  voll 
Neid  und  Ehrfurcht  anstaunen:  der  Karriere.  Verbliifft  und 
ein  wenig  verschamt  horchten  sie  in  sich  hinein:  sollte  es 
wahr  sein  ?  ich,  der  Budapester  junge  Mann,  lausche  ergrifTen, 
ob  --  und  verbliifft  und  verschamt  gestanden  sie  sich  im 
geheimcn  ein,  daB  sie  daran  glaubten,  daB  sie  an  das  Wunder 
glaubten,  an  das  Phanomen,  —  obschon  es  sich  um  nichts 
anderes  handelte  als  um  cinen  Toni  Kadar,  den  Pinguin. 

345 


Zwanzig  Minutcn  vor  der  fahrplanmaBigen  Ankunfts- 
zcit  dcs  Zugcs  stehen  sie  auf  dem  Perron.  Der  Bahnhof  1st 
zicmlich  leer:  der  groBe  Internationale  Zug  rastet  einc 
knappe  halbe  Stunde  unter  dem  Glasdach,  dann  fahrt  er 
welter,  direkte  Budapester  Reisende  kommen  mit  diesem 
teuren  Zug  kaum  an.  Zigarren-  und  Zigarettenwagen, 
Zeitungs-,  Obst-  und  Schokoladeverkaufer  fahren  trotzdem 
vor;  Simon  griiBt  einen  sehr  eleganten,  groBen,  schwarzen 
jungen  Mann  mit  Nachdruck,  —  ,,der  Sekretar  des  Ge- 
neraldirektors  der  Blechfabrik,  wahrscheinlich  erwartet  cr 
seinen  Chef",  erklart  er. 

Sie  spaziercn  auf  und  ab;  jeder  einzelne  1st  bemiiht, 
ein  unbefangenes  glcichgiiltiges  Gesicht  zu  zcigen,  — 
die  wahre  Gemiitsverfassung  jedoch  erkennt  man  an  den 
Zigaretten:  die  eine  gliiht  unter  nervosen  Atemziigen 
sekundenweise  rot  auf  und  ist  mit  dreifacher  Schnelligkeit 
abgebrannt;  die  andere  wiederum  hangt  in  zerstreuter 
Nachdenklichkeit  vergessen,  ausgegangen  zwischen  zwei 
zitternden  Fingern. 

Dann  vibriert  auf  einmal  nervoses  Beben  durch  die  ganze 
Gesellschaft :  noch  weit  auBerhalb  der  Halle  tauchen  die 
beiden  Gliihaugen  der  Lokomotive  und  der  FunkenstrauB 
iiber  dem  biifFelnackigen  Schornstein  auf.  Auf  die  Sekunde 
piinktlich  lauft  der  OrientexpreB  auf  dem  Westbahnhof 
ein.  Die  aufgerissenen  Augen  heften  sich  auf  die  langsam 
voriiberziehende  fast  vollig  dunkle  Fensterreihe ;  Kelemen 
crblickt  Kadar  als  erster,  er  steht  in  der  offenen  Tiir  des 
Bukarester  Schlafwagens. 

,,Da  ist  er!"  Er  schwingt  den  Arm  nach  ihm  bin,  und  in 
diesem  Moment  schreit  Szende: 

,,Hallo,  Kadar  I  Servus!  hier  sind  wir!"  Simon  erwischt 
einen  Gepicktrager,  und  damit  geht  die  ganze  Gruppe  dem 
langsam  einfahrenden  Waggon  nach.  Als  der  Zug  endlich 
halt,  springt  Kadar  auf  den  Perron:  die  ganze  Versammlung 
hat  er  vor  sich.  Einen  Moment  sehen  sie  einander  in  die 
Augen.  Dann  unterbricht  Kadar  die  kurze  Stille: 

346 


,,Gutcn  Abend",  sagt  cr;  man  spurt  an  seiner  Stimme  das 
leichte,  gleichsam  fliichtige  Suchen  nach  Worten  und  eincn 
kaum  bemerkbarcn,  kleinen  fremden  Akzent,  ,,wie  ich  sehe, 
cine  ganze  Kommission  . . .  wirklich  zu  nett  von  euch,  daB 
ihr  cuch  mcinetwegen  so  bemiiht.  Ich  muB  sagen,  darauf 
war  ich  nicht  vorbereitet",  und  von  der  rechten  Hand  streift 
er  den  Handschuh  ab. 

Kelemen,  am  Siedepunkt  angelangt,  tritt  vor: 

,,GruB  dich  Gott,  Kadar.  Erkennst  du  mich?  Ich  bin 
Kelemen.  Wir  sind  dich  alle  abholen  gekommen  und  freuen 
uns  alle,  daB  du  hier  bist." 

,,Jawohl",  tut  sich  Szende  hervor,  ,,willkommen,  bravo, 
ich  freu  mich  wirklich  sehr!"  und  damit  steht  auch  er  vor 
Kadar  und  reicht  ihm  die  Hand,  und  dann  hort  man  alle 
Stimmen  zugleich:  ,,ja,  Servus!  ich  freue  mich  schrecklich! 
herzlich  willkommen!"  —  und  alle  Hande  strecken  sich 
auf  einmal  nach  ihm  aus,  und  der  Reihe  nach  driicken  sie 
seine  gleichsam  schiitzend  vor  sich  gehaltene  Rechte.  Und 
nach  samtlichen  Handen  dreht  er  sich  nach  der  Waggontiir 
zuriick,  ,,entschuldigt,  ich  will  nur  meiner  Frau  herunter- 
helfen",  aber  diese  kleine  Pause  in  der  BegriiBung  ist  auch 
sehr  am  Platz,  sie  gibt  einen  Augenblick  Zeit,  —  fur  Buda- 
pester  Augen  gerade  genug,  —  um  den  Fremden  genau  zu 
betrachten. 

Der  erste  Eindruck  ist,  er  ist  groB.  GroBer  als  sie  alle. 
Seine  Schultern  sind  breit,  sein  Brustkasten  gewolbt,  seine 
Gesichtsfarbe  so,  als  kame  er  gerade  von  der  Quarz- 
bestrahlung.  Eine  derbe  englische  Farbe  von  Sonne  und 
Wind.  Er  tragt  cine  hellgraue  Hose  und  einen  etwas 
dunkler  grauen,  andersgemusterten  Sportsakko.  Gelbliches 
Hemd,  angewachsener  Kragen  mit  groBen  Fliigeln,  brauner, 
ganz  dick  und  leicht  gebundener  Schlips.  Braune  Halb- 
schuhe  mit  dreifachen  Sohlen,  gemustcrte,  dicke,  gelbliche 
Striimpfe.  Eine  Weste  hat  er  nicht  an.  Der  graue  Hut  sitzt 
etwas  schief  auf  dem  Kopf,  an  der  rechten  Seite  sieht  unter 
dem  Hut  ein  hellblondes  Haarbuschel  hervor.  Die  linke 


347 


Hand  stcckt  in  cincm  hellgraucn,  dicken,  gcstcpptcn  Hand- 
schuh  aus  Hundclcder.  Jawohl,  —  unverfalschte  cnglische 
Tracht.  In  Budapest  ziehen  die  ModeafFcn  sich  ungcfahr 
so  an. 

Nun  gibt  cs  abcr  noch  ctwas  anderes  zu  sehen:  von 
der  Ictzten  Wagenstufe  springt  die  Frau  auf  den  Bahnstcig. 
Graucs  Reisekostiim,  graue  Kappe,  graue  Striimpfe, 
graue  Schuhe  mit  flachen  Absatzen,  grauer  Schal,  graue 
Handschuhe.  In  der  Hand  ein  sackartiges  graues  Necessaire. 
Als  Kontrast  zu  all  dem  Grau  ein  braunes  Gcsicht,  aus  dem 
schwarze  Augen  leuchten. 

,,Das  sind  meinc  friiheren  Klassenkameraden",  sagt 
Kadar  und  zeigt  auf  die  Gruppe,  aber  niemandem  fallt  es 
auf,  daB  er  Ungarisch  spricht;  und  da  tritt  Kempner  vor, 
der,  mit  der  Zuverlassigkeit  des  Lehrers  und  kontrolliert 
vom  englisch-franzosischen  Kollegen,  eine  hiibsche  kleine 
englische  BegruBungsrede  einstudiert  hat. 

,, Madam!  More  than  fourteen  years  have  passed " 

aber  weiter  kommt  er  nicht,  derm  Mrs.  Cadar  sagt  mit 
etwas  milder  Stimme,  aber  noch  weniger  fiihlbarem 
fremdem  Akzent  als  ihr  Mann  auf  Ungarisch: 

,,Sprechen  Sie  bitte  ruhig  Ungarisch,  ich  bin  auch 
Ungarin." 

Diese  Uberraschung  war  wirklich  unerwartet.  Kempner 
kam  sofort  aus  dem  Konzept  und  sah  sie  mit  etwas 
geoffnetem  Mund  groB  an,  und  die  ganze  Gesellschaft 
stand  so  verdutzt  da,  daB  trotz  alien  Staubes  und  RuBes, 
alien  Riittelns,  aller  Unordnung  und  Ermiidung  der  nahezu 
dreiBigstiindigen  Reise  ein  kraftiges,  frisches  Lachen  iiber 
ihre  Lippen  sprang: 

,,Das  hatten  Sie  nicht  erwartet,  nicht  wahr?  Ja,  ich  bin 
auch  Ungarin." 

Simon  erholt  sich  zuerst  wieder. 

,,Um  so  besser!  filjen!"  sagt  er,  und  dieser  Umstand  ist 
auf  jeden  Fall  eine  Veranlassung  zu  einigen  stillen  kleinen 
Hochrufcn,  die  schon  aus  dem  Grunde  wic  gerufen  kamcn, 

548 


well  der  unprogrammaBige  Verlauf  des  Kempner-Inter- 
mezzos  den  ausgedachten  Gang  der  Begriifiung  etwas 
gestort  hatte.  Unterdessen  hielt  Kelemen  den  Zeitpunkt 
fur  gekommen,  programmaBig  oder  programmwidrig,  aus 
der  Reihe  der  iibrigen  herauszuspringen;  plotzlich  und  laut 
sagte  er: 

„  Wirklich  groBartig  .  . .  aber  ich  glaube,  nach  der  langen 
Reise  lassen  wirs  fur  heute  genug  sein.  Ich  habe  die  Zimmer 
fur  euch  im  Ritz  bestellt;  es  1st  wohl  das  beste,  wenn  wir  uns 
jetzt  verabschieden  und  eventuell  einer  von  uns  euch  ins 
Hotel  begleitet." 

,,O  ja,  Sie  haben  recht",  sagt  sie  gleich,  ,,ich  bin  tat- 
sachlich  ein  biBchen  miide." 

Moglich,  daB  Kelemens  gliihender  Blick  es  ihm  sugge- 
rierte,  moglich,  daB  es  nach  der  Korrespondenz  einfach 
das  Nachstliegende  war,  —  es  war  auch  Kadars  Wunsch: 

,,Ihr  braucht  euch  wirklich  nicht  zu  bemxihen,  wir 
konnen  doch  mit  dem  Auto  —  aber  vielleicht,  Kelemen, 
wenn  du  so  gut  sein  wiirdest,  uns  zu  begleiten  .  .  .  aber 
gehen  wir  vielleicht  auf  jeden  Fall." 

Nun  gingen  sie  auf  den  Ausgang  zu.  Als  sie  in  der  Vor- 
halle  angelangt  waren,  kamen  auch  gerade  die  Trager  mit 
dem  Gepack.  Zwei  Schrankkoffer  und  scchs  kleinere 
Kupee-  und  Kabinenkoffer. 

,,Guck  mail"  stoBt  Simon  Marton  mit  dem  Ellenbogen 
an,  ,,anstandig,  was?" 

Frau  Kadar  setzt  sich  in  eine  Taxe,  Kelemen  arrangicrt 
in  zwei  andern  Wagen  die  Koffer.  Kadar  reicht  den  Jungens 
der  Reihe  nach  die  Hand  und  sagt  dann: 

,,Es  war  wirklich  sehr  nett  von  euch,  daB  ihr  an  die  Bahn 
gekommen  seid,  ich  mochte  euch  so  bald  wie  moglich 
wiedersehen.  Ich  bespreche  das  vielleicht  am  besten  mit 
Kelemen,  und  er  sagt  euch  dann  Bescheid." 

,,Gut,  Kadar." 

,,Schon.  Schlaf  gut  I" 

,,Gute  Nacht,  hier  in  Budapest!  Auf  Wiedersehen!" 

349 


,,Also,  nochmals,  ich  freu  mich,  daB  du  hier  bist,  auf 
Wiedersehen!" 

Dann  begleiten  sie  ihn  ans  Auto,  und  wahrend  er  sich 
set2t,  verabschieden  sie  sich  von  der  Frau.  Unterdessen  hat 
Kelemcn  die  beiden  andern  Wagen  losfahren  lassen,  kommt 
dazu  und  setzt  sich  auf  den  Klappsitz. 

,,Na,  fahren  wir",  drangt  Frau  Kadar  und  winkt  noch 
einmal  durchs  Fenster,  dann  fahren  sie  ab. 

,,Hotel  Ritz,  iiber  die  Andrassy-StraBe",  sagt  Kelemen 
dem  SchofFor  Bcscheid.  Dann  wendet  er  sich  an  Kadar: 
,,Also,  damit  du  informiert  bist:  zwei  schone  Zimmer  mit 
gemeinsamem  Badezimmer,  einem  kleinen  Vorraum  und 
Balkon,  ich  babe  sie  mir  selbst  angesehen,  sehr  angenehme 
Zimmer,  nach  der  Donau  gelegcn,  pro  Tag  achtundvierzig 
Pengo." 

,,Achtundvierzig  Pengo",  sagt  Kadar,  ,,nicht  ganz  zwei 
Pfund,  gut,  ich  danke  dir  vielmals." 

Die  Jungens  gehen  langsam  auf  den  Ring  zu.  Als  erster 
fangt  Szende  an  zu  reden: 

,,Also,  das  ha'tten  wir  hinter  uns",  sagt  er,  und  einen 
Schritt  iiberschlagend,  fiigt  er  hinzu:  ,,Einen  Privat- 
sekretar  hat  er  auch  schon." 

,,Aber,  sei  doch  nicht  so",  wehrt  der  gutglaubige 
Kempner  ab,  ,,schlieBlich  schickt  es  sich  doch,  daB  einer  — " 

,,Na,  gut,  ich  meine  ja  bloB",  antwortet  Szende,  ,,ich 
hab  nichts  dagegen." 

,,Selbstverstandlich  schlieBlich",  meint  Marton,  ,,daB 
Kelemen  sich  um  ihn  kummert,  cr  hat  ihn  doch  raus- 
geangelt.  Aber",  er  faBt  Rona  beim  Arm,  ,,hast  du  die 
Koffer  gesehen?!  da  steckt  nicht  bloB  Luft  hinter,  kann  ich 
dir  sagen!" 

,,Luft!  na,  hor  mal,  wenn  einer  vom  andern  Ende  der 
Welt  sich  auf  eine  monatelange  Reise  begibtt  du  denkst 
wohl,  jedem  geniigt  ein  Nachthemd  und  eine  Zahnbiirste! 
Ich  wette  mit  dir,  daB  sie  trotzdem  noch  mindestens  .  .  . 
mindestens  alle  vicrzehn  Tage  waschen  lassen  mlissen." 


,,Kann  sein",  sagt  Simon,  ,,aber  was  sagt  ihr  zu  dcr 
Frau?  Ungarin.  Wo  mag  er  sich  die  aufgegabelt  haben?!" 

,,Wirst  schon  noch  dahinter  kommen.  Ich  tippe  auf 
eine  romantische  Geschichte",  sagt  der  groBe  Lewy. 

,,Wieso?"  streitet  der  kleine  Lewy,  ,,im  Gegenteil. 
Gerade  weil  sie  Ungarin  ist,  tippe  ich  auf  eine  ganz  simple 
Sache.  Zwei  Ungarn  in  der  Fremde  bleiben  leicht  aneinander 
hangen." 

,,Stimmt",  pflichtet  Simon  bei,  ,,aber  weiBt  du,  die 
Frau  sieht  ganz  anstandig  aus.  Was  fur  einenprima  ReisedreB 
sie  angehabt  hat.  Wie  ich  sie  mir  so  fliichtig  angesehen 
habe  — " 

,,Entschuldige  mal",  wird  Szende  aggressiv,  ,,erstens 
mal,  wie  ich  dich  kenne,  hat  dein  fliichtiges  Ansehen  darin 
bestanden,  daB  du  sie  die  ganze  Zeit  groB  angegafft  hast. 
Aber  wie  ich  sie  mir  fliichtig  angesehen  habe  .  .  .  sagt  mal, 
ist  die  nicht  ein  biBchen  alt?" 

,,Aber,  ich  bitte  dich,  die  Reise  .  .  ."  sagt  Kempner, 
,,fast  anderthalb  Tag  in  dem  engen  Kupee  — " 

,,Lippenstift  und  Puder  gibts  auch  im  Zug,  und  auBer- 
dem  ist  im  Schlafwagen  die  lange  Fahrt  gar  nicht  so  schreck- 
lich  anstrengend  .  .  .  aber  heutzutage,  wiBt  ihr,  laBt  sich 
bei  den  Frauen,  besonders  bei  Auslanderinnen,  das  Alter 
sehr  schwer  feststellen,  ich  meine  von  einem  gewissen 
Lebensalter  an,  aber  das  ist  auch  nebensachlich:  einen 
schlechten  Eindruck  macht  die  nicht,  sag  ich  euch." 

,,Na,  und  der  Kadar!"  staunt  der  kleine  Lewy,  ,,ich 
schwor  euch,  Kinder,  ich  hatt  ihn  nicht  erkannt,  wenn  er 
mir  zufallig  auf  der  StraBe  begegnet  ware.  Wie  anstandig 
der  angezogen  ist!  der  laBt  sich  bestimmt  jedes  einzelne 
Stuck  in  London  machen." 

,,Ja",  scherzt  der  groBe  Lewy,  ,,und  bis  dann  so'n  Anzug 
da  unten  am  Siidpol  ankommt,  ist  er  langst  aus  der  Mode!" 

,,Aber  an  seiner  Sprache  hort  man  deutlich,  daB  er  schon 
lange  im  Ausland  lebt!  habt  ihr  nicht  bemerkt,  immer  sagt 
er:  vielleicht." 


351 


,,Na,  wcifit  du",  sagt  Zatony,  ,,dar\iber  braucht  man 
sich  doch  nicht  zu  wundern,  besonders  wenn  man  bedenkt, 
daB  du  zum  Beispiel  schon  ziemlich  lange  hier  lebst  und 
trotzdem  nicht  Ungarisch  kannst." 

,,Ich?"  fragt  Simon,  nun  ernstlich  und  tief  gekrankt, 
,,ich  kann  nicht  Ungarisch?!  Mir  schcint,  du  bist  nicht  in 
dcr  gliicklichen  Lage,  mcine  Artikel  — " 

,,Entschuldige",  schiirt  Zdtony  weiter,  ,,was  du  sprichst 
und  schreibst,  ist  doch  nicht  Ungarisch,  hochstens 
Budapestisch." 

Rona  fangt  an  zu  lachen.  ,,Bums,  das  hat  aber  gesessen, 
was?  Und  wer  kommt  nun  mit,  irgendwo  cine  Portion 
Eis  essen?" 

,,Ich",  sagt  Simon,  ,,oder  gehen  wir  lieber  ins  Kasino, 
das  Sommerlokal  im  Stadtpark  ist  schon  geoffnet.  Aber 
zuerst  wollen  wir  vielleicht  doch  besprechen,  wann  wir 
wieder  mit  Mister  Kadar  zusammensein  sollen." 

,,Vielleicht  wiirdest  du  abwarten,  bis  er  sich  meldet  und 
dich  einladt",  sagt  Kempner  mit  einer  Regung  von 
Anstandsgef tihl . 

,,Keine  Spur  .  .  .  es  gehort  sich,  daB  wir  uns  melden, 
gewissermaBen  ist  er  doch  unser  Gast",  sagt  Rona. 

,,Uns  melden,  schon,  aber  das  mit  dem  Gast,  das  stimmt 
nicht  ganz,  ich  jedenfalls  hab  dazu  kein  Geld.  Am  besten 
ware,  ganz  ungezwungen  etwa  in  Buda  in  eincm  kleinen 
Gartenrestaurant  — " 

,,Nein",  meint  Marton,  ,,das  ist  nicht  das  Richtige. 
Denn  wahlen  wir  da  ein  anstandiges  Lokal,  dann  ist  es 
ebenso  teuer  wie  jedes  beliebige  in  der  Stadt,  und  ihn  in 
irgendeine  schmierige  Bude  zu  schleifen,  hat  doch  keinen 
Sinn.  Wir  imissen  uns  schlieBlich  auch  fragen,  was  ihm 
gefallcn  wiirde." 

,,Hab  dich  bloB  nicht  so  .  . ."  sagt  der  kleine  Lewy,  ,,im 
iibrigen  hast  du  recht.  Gehen  wir  ins  Pilsener,  Menu 
zwei  fiinfzig." 


,,Ins  Pilsener,  du  Ochse",  winkt  der  grofie  Lcwy  ab, 
,,warum  dann  nicht  gleich  in  den  Automaten  oder  in  cin 
vegetarisches  Restaurant?  Ich  schlage  vor  — " 

,,Ich  schlage  vor  und  akzeptiere  ein  Restaurant  am 
Donaukai",  sagt  Zatony,  ,,aber  nichts  von  Gast  und  ein- 
laden,  arrangieren  tun  wir  nichts,  wir  lassen  ihm  ganz  ein- 
fach  sagen,  dann  und  dann  seien  wir  dort  zu  treffen,  sei 
beruhigt,  er  kommt  hin." 

,,Richtig",  sagt  Szende,  ,,also,  dann  werde  ichs  ihm 
bestellen  — " 

,,Dann  wirst  dus  Kelemen  bestellen,  er  solle  die  Sache 
mit  Kadars  regeln.  Bleiben  wir  bei  Samstagabend?  gut." 

Dariiber  einigen  sie  sich. 

Unter  dem  tragen  weiten  schwarzen  Himmel  der  klaren 
Friihsommernacht  streiten  sich  Tausende  von  Lichtern  aus 
der  Stadt  mit  den  gliihenden  Sternen.  Die  trottenden 
kleinen  Marionetten-Schatten  bleiben  unter  den  Lichtern 
stehen,  verabschieden  sich  voneinander  und  zerstreuen  sich. 


17 

KELEMEN,  —  der  gute  Manager,  —  stcckt  den  Kopf 
durch  die  halbgeoffnete  Tiire,  als  wollte  er  sich  davon  iiber- 
zeugen,  ob  alles  in  Ordnung  sei.  Es  ist  in  Ordnung.  Vom 
Lastenaufzug  wird  gerade  das  Gepack  iiber  den  Flur  ge- 
bracht.  Dann  reicht  er  Kddar  noch  einmal  die  Hand. 

,,Servus,  Kadar,  gute  Nacht.  Also,  es  bleibt  dabci, 
morgen  nachmittag  rufe  ich  dich  an,  Aber  wenn  du  mich 
inzwischen  brauchen  solltest . . .  meine  Adresse  und  Telefon- 
nummer  hast  du,  nicht  wahr?  Also,  auf  Wiedersehen",  und 
er  geht.  Den  Hut  zieht  er  ein  wenig  in  die  Stirn  und  steigt 
so  die  Treppen  hinunter.  Na,  so  weit  klappt  alles.  Morgen 
trete  ich  meinen  Urlaub  an.  Der  Nachtportier  griiBt  tief, 
Kelemen  hebt  den  Zeigefinger  an  den  Hut.  Zweiter  Stock 
zehn,  elf,  —  achtundvierzig  Pengo  pro  Tag,  Kleinigkeit, 

23  KOrmondi,  Budapest  353 


klappt  auch.  Ungarin  1st  die  Frau.  Eine  nette  Erscheinung. 
Ungarin  .  .  .  sichcr  irgendeine  abcnteucrliche  Geschichte, 
daB  die  sich  so  getroffen  haben.  Es  klappt  alles.  Der 
Start  .  .  .  ist  ganz  gut  gelungen.  Ich  soil  die  Jungens  zu- 
sammenrufen,  zum  Abendessen,  sagt  er,  na,  gut.  Je  schneller 
wir  das  hinter  uns  haben,  desto  besser.  Die  Insel  werde  ich 
ihm  raten,  —  hm,  gut.  —  Inzwischen  war  er  um  die  kleine 
Anlage  am  Ende  des  Korsos  herumgegangen  —  er  hatte 
gar  nicht  bemerkt,  daB  er  diesen  Weg  einschlug,  —  und 
stand  am  Donauufer  dem  Hotel  gegeniiber.  Zweiter 
Stock  .  .  .  Er  entdeckt  die  erleuchteten  Fenster,  —  davor 
auf  dem  Balkon  zwei  Schatten.  Romantik  .  .  .  Na  ja,  sagt  er 
vor  sich  hin,  dann  dreht  er  sich  um  und  geht  fort. 

Da  stehen  die  beiden  auf  dem  Balkon  iiber  dem  nacht- 
lichen  Korso. 

Lichter  den  Kai  endang,  Lichter  auf  dem  Wasser.  Die 
Zitadelle  und  die  Fischerbastei  und  die  Kronungskirche 
leuchten  im  biihnenhaften  Glanz  der  Reflektoren.  Rechts 
irgendwo  eine  blafiblaue  Neon-Lichtreklame.  Von  den 
Hangen  der  Budaer  Bergc  blinzeln  gelbliche  Lichter.  Weit 
hinten  an  der  Briicke  eine  griine  Lampe.  Den  Korso  ent- 
lang,  so  weit  man  sehen  kann,  eine  Reihe  kleiner,  wim- 
melnder  Lichtchen.  Langsam  und  lautlos  fahrt  ein  illumi- 
niertes  Schiff  vorbei.  Und  die  Sterne  am  Himmel.  Aus  der 
Feme,  dumpf,  pufiit  ein  Auto.  Plotzlich  tiefes,  klares,  lang- 
gedehntes  Tuten  vom  Wasser  her.  Stille.  Und  irgendwo 
vom  Dach  her  diskrete,  verschleierte  Musik  einer  Jazz- 
band  mit  dem  leise  klopfenden,  hartweichen  Rhythmus  von 
Klavier  und  Trommel  und  dem  ruhigen  und  dennoch  durch- 
dringenden,  lachenden  Wcinen  eines  Saxophons. 

,,Schon",  sagt  die  Frau  auf  dem  Balkon,  ,,wirklich 
wunderschon." 

,,Ja",  antwortet  er,  ,,Budapest  ist  eine  schone  Stadt." 
,,Fast  kulissenhaft  .  .  ."  Sic  schweigcn.  ,,Und  so  still." 
,Ja,  nach  Paris  .  .  .  Dies  hier  ist  iibrigens  eine  besonders 
stille  Gegcnd." 

354 


,,Eigentlich  1st  es  doch  komisch,  daB  Budapest  fiir 
mich  .  .  .  cine  fremde  Stadt  1st." 

,,011",  sagt  Kidar,  ,,es  ist  schon  so  lange  her.  Heute  1st 
sie  mir  auch  schon  fremd." 

Dann  wird  es  ganz  still.  Eine  Zeitlang  glimmen  in  der 
Hohe  der  zweiten  Etage  noch  zwei  Zigaretten;  und  dann 
sind  2wei  kleine  rotliche  Lichter  und  zwei  fremde  Men- 
schenschatten  weniger  am  nachtlichen  Donauufer. 


Yierter  Till 
DIE  VERSUCHUNG 


DuRCH  die  schmale  Spalte  der  beiden  geoffneten  Tiiren 
sind  iiber  die  Waschkabine  die  zwei  Schlafkupecs  ver- 
bunden.  Nur  die  untern  Betten  sind  zurechtgemacht.  Das 
cine  Abteil  1st  dunkel,  im  andern  brennt  noch  die  Lese- 
lampe  am  Kopfende  des  Bettes.  Es  ist  still,  —  die  Stille  des 
Zuges,  die  leise  und  monoton  vom  Taktschlag  der  Rader 
begleitet  wird.  Eins  —  zwei  —  drei  und  —  vier,  eins  — 
zwei  —  drei  und  —  vier,  die  Rader  der  Eisenbahn  dirigieren 
gut:  richtig  schlagen  sic  den  Takt  zu  allerlei  Musik,  die 
einem  im  Kopf  spukt,  einen  plotzlich  und  frei  wechselnden 
Takt,  —  eins  —  zwei  —  drei  und  —  vier,  eins  —  zwei  — 
drei;  nun  Walzerrhythmus,  dann  eine  Melodic  im  Doppel- 
takt,  jetzt  schnell,  auf  jedes  Rattern  kommen  vier  Tone, 
dann  langsam  wie  ein  Trauermarsch  und  dann  wieder 
anders:  wie  eben  die  vagen  Melodien  auftauchen.  Manch- 
mal  quietschen  die  Schienen,  lang  wie  in  gedehntem, 
hellem  Schmerz,  —  auch  das  paBt  gewohnlich  in  die 

Melodien.  Eins  —  zwei  —  drei  und  —  vier Da  hort 

man  im  beleuchteten  Abteil  eine  Zeitung  rascheln:  das 
Papier  knistert,  das  Blatt  legt  sich  zischend  um  und 
schmiegt  sich  an  den  iibrigen  Packen.  Ganz  deutlich  hort 
man  dies,  denn  das  Ohr  hat  sich  schon  langst  an  das 
Rattern  der  Rader  gewohnt.  Das  Licht  im  Turrahmen  ist 
ganz  seltsam,  verschleiert  und  milde;  abgestumpft  falltes 
hie  und  da  von  einem  der  Messingbeschlage;  irgendwie 
erinnert  ihn  dieses  Licht  an  den  Geschmack  des  Holz- 


357 


aofels,  von  dem  cr  einmal  vor  langer  Zeit  als  Kind  krank 
gcworden  war.  Der  heruntergezogene  braune  Vorhang 
deckt  das  Fcnstcr  nicht  ganz;  cben  blitzte  es  von  den 
Fcnstern  eines  vorbeifahrenden  Zuges  gelblich  durch  die 
Spalte  ins  Abteil.  Wieder  rascheln  die  Zeitungsblatter,  leise 
faltet  sich  der  Packen  zusammen.  Der  Schalter  knipst,  und 
das  Licht  geht  aus,  es  ist  ganz  dunkel.  Da  auf  einmal  spurt  er 
durch  den  Eisenbahngeruch  hindurch  den  farblosen,  kiihlen 
Duft  des  Parfvims,  das  sic  vor  zwei  Tagen  zusammen 
gekauft  haben.  Und  cine  Minute  spater  wieder  das  Knipsen, 
das  das  Hellwerden  der  Lampe  begleitet.  Vom  Abteil  her 
hort  er  leises  Kramen. 

,,Was  ist  denn,  Kind?"  ruft  er  hiniiber,  ,,warum  ver- 
suchst  du  nicht  einzuschlafen?" 

Da  steht  sie  in  dem  kleinen  Durchgang  im  hellen  Tiir- 
rahmen.  ,,Sei  doch  so  gut . . .  es  ist  schrecklich  warm  hier,  und 
ich  kann  die  Liiftung  nicht  aufmachen,  hilf  mir  bitte." 

Er  streift  die  leichte  braune  Decke  ab  und  steht  sofort 
auf.  Driiben  im  andern  Abteil  tritt  er  vorsichtig  auf  den 
Rand  des  Bettes  und  dreht  den  Messinggriff  der  Liiftungs- 
spalte  um.  Gleich  spurt  man  die  frische  Luft. 

,,Danke,  ich  wuBte  nicht,  daB  man  das  umdrehen  muB, 
ich  dachte,  man  muB  an  dem  Griff  ziehen." 

,,Gut,  mein  Hcrz",  antwortet  er,  ,,aber  versuch  jetzt  zu 
schlafen.  Gutc  Nacht." 

,,Gute  Nacht .  .  .  sag  mal,  warm  sind  wir  eigentlich  in 
Wien?" 

,,Gegen  Morgen",  antwortet  er,  ,,sehr  friih.  Abcr  wir 
brauchen  nicht  aufzuwachen." 

,,Na,  gut .  .  .  also  dann  gute  Nacht." 

,,Gute  Nacht."  Er  setzt  sich  auf  seinen  Bettrand. 

Driiben  geht  das  Licht  aus;  es  ist  dunkel.  Er  streckt  sich 
auf  dem  Bett  aus,  jetzt  werde  ich  schlafen,  denkt  er.  Es  ist 
still,  nur  die  Rider  rattern  den  Takt  zur  Eisenbahnmusik. 

Bins  —  zwei  —  drei  und  —  vier,  eins  —  zwci  —  dr 

eins  —  zwei  —  drei  und  —  vier 


—  cins  —  zwei  —  drei  und  —  vier I  can't  give 

you  anything  but  love  —  zwei  —  drei  und  —  vier  — 

baby  —  zwei  —  drei  —  vier es  war  eine  reizende, 

geschickte  kleine  Amerikanerin,  die  das  Lied  sang,  mit 
ihrer  heiseren  kleinen  Stimme,  —  die  richtige  Talkie- 
Stimme,  —  und  die  Jazz  war  auch  gut,  auffallend  gut,  die 
im  Savoy  ist  naturlich  besser,  —  aber  lauter  neue  Sachen 
haben  sie  gespielt,  und  sehr  gut,  —  so  ganz  frisch  ist  dies 
Stuck  zwar  nicht  mehr,  driiben  haben  sies  schon  voriges 
Jahr  gebracht,  auch  auf  Flatten  gibts  das,  aber  es  hat 
sich  ziemlich  lange  gehalten,  —  also:  die  Jazzband  war 
gut  auf  der  Margareten-Insel.  Gleich  im  Anfang  war  das, 
am  dritten  oder  vierten  Tag,  abends  auf  der  Insel,  als  wir 
das  erstemal  mit  den  Jungens  zusammen  waren.  Un- 
geschickt,  schrecklich  ungeschickt  hat  Kelemen  das  ge- 
macht,  —  ich  hatte  ihm  doch  vorher  gesagt,  sie  waren 
selbstvcrstandlich  alle  meine  Gaste,  und  dann  fing  nach  dem 
Essen  dennoch  das  Greifen  nach  den  Brieftaschen  und  das 
Hinundhererklaren  an:  ,,vielen  Dank,  aber  wir  konnen 
das  wirklich  nicht  annehmen  .  .  .  aber,  ich  bitte  dich, 
darauf  kann  ich  mich  auf  keinen  Fall  einlassen  .  .  .  aber,  ich 
bitte  dich,  wir  sind  doch  nicht  deshalb  zusammen- 
gekommen  . . ."  —  Der  ruhige  Blonde,  der  Zatony,  hat  sich 
am  hartnackigsten  verwahrt,  —  eigentiimliche  Leute:  es 
kam  vor,  daB  er  sie  manchmal  fiir  einen  Augenblick  alle  zu 
kennen  glaubte,  so  wie  sie  in  der  Schulbank  gesessen 
hatten,  und  dann,  ein  Satz,  ein  Wort,  nur  ein  einziger  Ton 
oder  eine  Bewegung:  wer  ist  dieser  fremde  Mensch?  .  .  . 
vierzehn  Jahre,  —  alle  sind  sie  mir  fremd,  dieser  Rona  und 
der  Szende  und  —  kurz  alle.  Fiir  sie  war  ich  naturlich  der 
Fremde,  —  das  war  auch  falsch,  gleich  zu  Beginn,  es  wurde 
auch  sofort  still  am  Tisch,  unangenehm  still,  als  der 
Mdrton,  —  was  hat  der  doch  auch  fiir  ein  anderes  Gesicht 
bekommen  ...  —  als  Mdrton  davon  anfing,  daB  alte  groBe 

359 


wohlfundierte  Firmen  zugrunde  gehen,  —  und  dann,  wic  er 
mich  von  der  Seitc  ansah:  ,,entschuldige,  Kddir,  das  kann 
dich  wohl  nicht  interessieren",  —  ,,aber  bitte",  —  ,,nein, 
nein,  reden  wir  lieber  von  was  anderm."  Und  da  sprach 
nicmand  ein  Wort,  plotzlich  waren  sie  alle  verstummt.  In 
einer  Woche  reiscn  wir  wicder  ab  .  .  .  cine  Woche  gemigt 
gerade,  um  sich  alles  anzusehen.  ,,H6rst  du?"  sagte  Ha, 
,,I  can't  give  you  ..."  —  die  Jazz  fing  das  an  zu  spielen. 
Ha  hat  sich  wohl  gefuhlt,  die  Stadt  und  die  Insel  haben  ihr 
gefallen,  —  und  von  den  Jungens  der  Amman.  Er  ist  ja 
auch  hubsch,  cine  gute  Erscheinung  und  hat  gute  Manieren, 
im  Smoking  war  er;  auBer  mir  waren  bloB  Amman  und 
Kelemen  im  Smoking:  das  war  auch  nicht  ganz  richtig, 
die  iibrigen  haben  sich  sicher  unbehaglich  gefuhlt  in  ihren 
StraBenanziigen.  Amman  tanzte  mit  Ila,  —  da  fragtc 
Kelemen,  ob  wir  nicht  spater,  wenn  die  andern  gegangen 
waren,  noch  ein  Glas  Wein  in  der  Bar  trinken  wollten, 
,,warum  nicht,  gerne",  und  dabei  habe  ich  es  gar  nicht  gern 
getan.  Die  Jungens  dachten  es  sich  gewiB,  daB  wir  drei  im 
AbenddreB  noch  was  anderes  vorhatten,  —  Kelemen  hat 
das  Ganze  nicht  sehr  geschickt  gemacht  und  auch  nicht 
besonders  taktvoll,  wie  er  sich  spater  zu  Amman  hiniiber- 
bcugte  und  ihm  etwas  zuflusterte,  —  es  war  doch  schlieBlich 
kcin  Geheimnis,  und  jeder,  der  Lust  hatte,  hatte  mitkommen 
konnen  . . .  aber  sie  verabschiedeten  sich  alle,  der  Lcwy  und 
der  andere  Lewy  und  der  Szende  und  die  iibrigen,  dann 
fingen  sie  an,  den  Zahlkellner  zu  rufen,  sehr  peinlich  war 
das,  —  na,  egal.  —  Nach  Mitternacht  gingen  wir  dann 
hiniiber  in  die  Bar.  Auch  die  kleine  Amerikanerin  kam  mit, 
setztc  sich  neben  den  Jazztrommler,  sang,  tanzte  und  ging 
an  die  Tische,  machte  die  iiblichen  kleinen  Faxen,  ein 
niedliches  kleines  Geschopf.  Der  Saal  ist  auch  geschickt 
gemacht,  etwas  zu  groB  allerdings,  das  Intime  der  Bar  war 

dadurch unwichtig,  —  Ila  hat  es  gefallen.  Ila  tanzte 

wieder  mit  Amman,  sic  tanzten  gerade,  als  die  kleine 
Gcsellschaft  reinkam,  vier  oder  fiinf  junge  Leute  und  drci 


Frauen.  An  dcr  Tiir  bliebcn  sic  stehen  und  saben  sich  nach 
Platz  um;  die  cine  hatte  cin  hellgriincs  Kleid  an,  ein  leichtcs, 
etwas  stilisiertes  Sommerabendkleid,  —  kein  besondcrs 
elegantes  Kleid,  es  sah  aus,  als  sei  es  schon  mehrmals 
umgeandert  worden,  —  immerhin  ein  ganz  nettes  leichtes 
Kleidchen,  —  aber  alle  sahen  sofort  bin,  weil  sie  eine 
riesige  schwere  rote  Haarkrone  auf  dem  Kopf  hatte,  hell- 
Icuchtend,  in  der  Mitte  gescheitelt  und  iiber  den  Ohren 
zwei  dicke  geflochtene  Knotcn,  und  die  beiden  Knoten 
waren  hinten  im  Genick  durch  zwei  lockere  Zopfe  verbun- 
den,  —  es  ware  wirklich  schade  gewesen,  dieses  herrlicbe 
Haar  kurz  zu  schneiden.  Fast  alle  Leute  sahen  sich  nach 
ihr  um.  Ihr  Blick  flog  iiber  die  Tische,  und  als  er  bei 
ihrem  Tisch  ankam,  hob  sie  ein  wcnig  den  rechten  Arm 
und  winkte  mit  dem  weiBen  Handschuh  hin.  ,,Ach",  sagte 
Kelemen,  ,,meine  jungste  Schwester,  wie  kommt  die  denn 
her  ..."  —  da  ging  das  Madchen  schon  ungezwungen  und 
leichtfiiBig  zwischen  den  Tischen  und  dem  Reflektoren- 
schein  der  Blicke  hindurch  und  kam  an  ihren  Tisch.  ,,Servus 
Bandi",  sagte  sie,  —  eine  eigentiimliche,  bekannte  Stimme, 
und  auch  ihr  Gesicht  kam  ihm  bekannt  vor,  dieses 
milchweiBe  Gesicht  unter  dem  roten  Haar,  und  die  sonder- 
baren  griinlich-blauen  Augen,  —  ,,na  nu?  in  so  elegante 
Lokale  gehst  du?"  —  ,,Dasselbe  konnte  ich  dich  fragen", 
gab  Kelemen  zur  Antwort,  und  er  schien  ein  biBchen  ver- 
legen  zu  sein,  ,,ich  versteh  das  auch  gar  nicht,  Joly.  Mit 
wem  bist  du  denn  hier?"  —  ,,Mit  denen  da",  zeigte  sie 
nach  hinten,  ,,ein  paar  jungen  Leuten  und  ein  paar  Madels", 
und  als  sie  einen  leeren  Tisch  entdeckt,  winkt  sie  nach  der 
Tiire  hin  und  ruft:  ,,Otto!"  —  und  deutet  auf  den  leeren 
Tisch.  Er  stand  auf,  sagte:  ,,Kadar"  und  hob  die  Hand. 
,,Gestatte",  sagte  plotzlich  Kelemen  dazwischen,  ,,dafi  ich 
dir  meinen  Freund  vorstelle,  Antal  Kadar,  du  kannst  dich 
nicht  mehr  an  ihn  erinnern,  du  warst  damals  noch  ganz 
klein ..."  —  ,,Ja",  sagt  Joly,  ,,Sie  sind  Bandis  auslindischer 
Schulfrcund,  ich  weiB  .  .  .  und  Ihre  Frau  ist  auch  hier?"  — 


,,Ja",  sagt  Kelemcn  rasch,  ,,wcnn  du  spater  noch  mal  fiir 
cinen  Augcnblick  riibcrkommst,  stellc  ich  dich  auch  Frau 
Kadar  vor."  —  Er  stand  noch  immer.  ,,Sie  wuBten,  wer  ich 
bin?  daB  ich  iiberhaupt  existiere?"  —  ,,Natiirlich,  Bandi 
hat  mir  doch  erzahlt,  daB  Sic  auf  Besuch  nach  Budapest 
kommcn.  Wie  gefallt  es  Ihncn  dcnn  hier?"  —  Er  lachclte. 
,,Oh,  danke,  schr  gut.  Budapest  hat  sich  sehr  entwickelt, 
seitdem  ..."  —  ,,Tanzen  Sie?"  fragt  sie,  den  Kopf  ein 
wenig  zur  Seite  gedreht.  ,,Jawohl",  lacht  er.  Ein  hiibsches 
Ding.  ,,Darf  ich  Sie  gleich  um  einen  Tanz  bitten?"  — 
,,Oh,  danke  . . .  aber  jctzt  muB  ich  mich  erst  ein  biBchen  zu 
meiner  Gesellschaft  setzen  —  —  aber  Sie  konnen  mich 
spater  von  da  wegholen."  —  ,,Nein,  das  nicht",  sagt 
Kelemen  rasch  und  streng,  ,,ich  weiB  doch  gar  nicht,  wer 
deine  Leute  da  sind,  —  aber  du  kannst  dich  nachher  zu 
uns  setzen,  wenn  es  euch  recht  ist."  Kadar  unterbricht  ihn 
lachend:  ,,warum  bist  du  denn  so  streng  zu  deiner  Schwester, 
du  Tyrann?"  und  zu  Joly  gewendet:  ,,kommen  Sie  nachher 
zu  uns?  es  ware  sehr  liebenswiirdig  von  Ihnen."  —  ,,Ja, 
ich  kann  ja  ruberkommen",  antwortet  sie,  ,,also  dann  .  .  . 
Servus,  Bandi,  warum  bist  du  denn  so  grandig?"  sie  lacht, 
streckt  ihre  Hand  hin,  cine  schone,  schmale,  kiihle,  weiBe 
Hand,  und  geht  nach  dem  andern  Tisch  hin.  I  can't  give 

you  anything auch  ihr  Gang  ist  ihm  bekannt.  ,,Du, 

Andor,  ich  kann  mich  gar  nicht  mehr  daran  erinnern,  daB 
du  cine  Schwester,  vielmehr  Schwestern  hast  .  .  .  Joly  ist 
noch  sehr  Jung,  nicht?"  —  ,,Einundzwanzig",  antwortet 
er,  ,,oder  eigentlich  erst  zwanzig,  vor  kurzem  ist  sie  zwanzig 
geworden."  —  Ila  tanzt  groBartig;  zu  Hause  tanzen  sie 
auch  viel,  es  kommt  sogar  vor,  daB  sie  manchmal  abends 
zu  zweit  nach  Helena- Village  hiniibergehen,  ins  Imperial- 
Dancing,  einen  Cocktail  trinken  und  ein  Stiindchen  tanzen. 
Oder  in  der  Villa,  dann  laBt  Ila  der  Reihe  nach  samtliche 
neuen  Tanzplatten  auf  dem  Grammophon  spielen.  O  ja, 
Ila  tanzt  glanzend,  mit  ruhigen  Bewegungen,  mit  fast 
starrer  Haltung,  und  dabei  hat  sie  doch  im  Oberkorper  ein 

362 


ganz  feincs,  harmonisches  Vibricren,  am  meisten  vielleicht 
in  der  Schulter.  Ganz  nette  Lcute,  mit  denen  das  Madchen 
dort  sitzt  .  .  .  nctt,  nett,  gut  angezogen  sind  sie,  aber  hier 
sind  ja  die  meisten  Menschen  gut  angezogen.  Kelemen 
reitet  noch  immer  darauf  herum,  was  seine  Schwester  hier 
zu  suchen  habe.  ,,Ich  kann  das  nicht  begreifen",  sagt  er 
nun  schon  zum  drittenmal,  ,,das  ist  doch  ein  teures  Lokal, 
ein  Luxuslokal  ..."  —  ,,Aber  laB  doch  schon  gut  sein", 
sagt  er,  ,,wie  kann  man  denn  so  rigoros  —  ein  reizendes 
Madchen  ist  deine  Schwester",  fahrt  er  fort,  ,,deine  jiingste 
Schwester  sagtest  du,  wieviele  Schwestern  hast  du  denn?"  — 
,,Zwei,  Siri  hast  du  auch  nicht  gekannt?  die  ist  schon  ver- 
heiratet.  Aber  es  paBt  mir  nicht,  daB  Joly  sich  hier  herum- 
treibt  .  .  .  ich  bitte  dich,  nicht  wahr,  ich  kann  doch  offen 
reden?  also,  das  hier  ist  ein  Luxuslokal,  eigentlich  etwas 
fur  Verschwender,  und  dann  hat  ein  junges  Madchen  iiber- 
haupt  nichts  in  einem  Tanzlokal  zu  suchen  ..."  —  ,,Das 
sind  doch  altmodische  Ansichten",  unterbricht  er  ihn,  ,,alt- 
modisch  bist  du,  das  wundert  mich  aber.  Daran  kann  man 
doch  wirklich  nichts  auszusetzen  haben,  wenn  ein  junges 

Madchen  mit  ihren  Kameraden ",  plotzlich  verstummt 

er.  Jolys  roter  Kopf  leuchtet  iiber  die  Tische  heriiber. 
Pcriicke,  denkt  er,  Maske  und  unechtes  Zeug,  Biihnen- 
kostiim  .  .  .  und  da  iiberkommt  ihn  ein  merkwiirdiges,  ver- 
worrenes,  unsicheres  Gefiihl.  Joly  dreht  gerade  den  Kopf, 
und  er  sieht  das  iibertrieben  weiBe  Gesicht  mit  den  griin- 
lich-blauen  Augen  und  den  etwas  korrigierten  Augcn- 
brauen;  und  wie  er  in  die  Richtung  starrt,  entschliipft 
seinen  Lippen  ein  Wort  im  Tonfall  der  Frage  oder  eher  des 
Vermutens:  ,,Sommersprossen  .  .  .?"  —  ,,Wie  bitte?"  sagt 
Kelemen  gleich,  ,,hast  du  was  gesagt,  Toni?"  —  ,,Nein  — 
ich  sch  nur  zu,  wie  die  Kleine,  die  da  singt ..."  —  ,,Ein 
prachtvolles  Ding",  bemerkt  Kelemen  eifrig,  ,,ich  kann  dir 
sagen,  alter  Freund,  cine  Kanone,  aber  die  entziickendste 
Nuttc  augenblicklich  in  Budapest,  im  Winter  war  sie  die 
Freundin  von  dem  Rotzjungen  Teddy "  Kelemen 

363 


spricht,  aber  er  hort  nicht  hin,  ,,cine  Mengc  Geld  hat  die 

sich  erwirtschaftet natiirlich  hat  sic  ihn  betrogen 

rausgeschmissen . . .*'  —  >,Du,  Andor",  sagt  er  dazwischen, 
,,storcn  wollen  wir  sie  natiirlich  nicht,  aber  wenn  meine 
Frau  vom  Tanz  zuriickkommt,  dann  sag  doch  wirklich 
deiner  Schwester,  sie  mochte  ein  biftchen  ..."  —  ,,Abcr 
gern",  antwortet  Kelemen;  er  reiBt  die  Augen  auf  und 

bcugt  sich  nach  dem  Sektkuhler.  I  can't  give  you die 

Musik  wiederholt  den  Refrain  in  raschem  Takt,  Jolys  roter 
Kopf  dort  auf  dem  Parkett  neigt  sich  ein  wenig  auf  die 
Schulter  des  einen  Smokings,  —  Ila  und  Amman  kommen 
langsam  zuriick  zwischen  den  Tischen  hindurch.  Auf  den 
Tischen  kleine  Lampen  mit  bunten  Schirmen,  in  den  kleinen 
Sesseln  schwarze  und  bunte  Flecke,  und  auf  dem  Parkett 
verklingt  langsam  die  Musik,  —  wirklich  nett,  stimmungs- 

voll ,,Sie  taazen  sehr  gut",  sagt  Ila  zu  Amman,  als 

sie  sich  setzen,  ,,etwas  anders  als  wir  Englander,  mit  mehr 
Temperament,  aber  sehr  gut.**  —  >,Oh",  sagt  Amman  bc- 
scheiden  tuend,  ,,ja  .  .  .  tanzen,  das  konnen  wir  einiger- 
maBen",  aus  den  Augenwinkeln  betrachtet  er  Ila,  und  sein 
Finger  fahrt  an  den  kleinen  blonden  Tatarenschnurrbart. 
,,Wcr  war  die  hiibsche  junge  Dame  vorhin?"  fragt  Ila,  — 
,,meine  kleine  Schwester",  antwortet  Kelemen  rasch,  da 
reckt  Ila  ein  wenig  den  Hals  und  blickt  iiber  die  Tische 
nach  dem  Parkett:  ,,groBartig  tanzt  sie,  ein  entziickendes 
Geschopf,  —  wiirden  Sie  sie  mir  nicht  vorstellen?"  wendct 
sic  sich  wieder  an  Kelemen,  ,,nach  den  vielen  Budapester 
Mannern  mochte  ich  nun  auch  ein  Budapester  Madchen 
kcnncnlcrnen,  nach  den  vielen  ernsten  Mannern  I"  und 
lacht.  Die  Amerikanerin  singt  wieder  ctwas,  Kelemen  langt 
nach  dcr  Scktflasche.  Das  Imperial-Dancing  in  Helena- 
Village  liegt  am  Meeresstrand ;  —  voriges  Jahr  hatten  sic 
deutsche  Gaste,  Filmleute,  unter  denen  war  ein  junger 
Mann,  der  cine  Regisseur;  auffallende  Ahnlichkeit  hatte  der 
mit  Amman.  Wihrend  acht  Jahren  im  Gymnasium  habc 
ich  viclleicht  hundert  Worte  mit  ihm  gcsprochen,  und  jetzt 

364 


sitzen  wir  zusammen  an  einem  Tisch  in  der  Bar  an  der 
Donau.  Zwanzig  Jahre  ist  diese  Joly,  ich  hatte  nicht  ge- 
dacht,  daB  sie  Kelemens  Schwcster  sein  konnte,  sic  gleichcn 
sich  iiberhaupt  nicht,  allerdings  ist  der  Altersunterschied 
ziemlich  groB.  ,,Prosit",  hebt  er  sein  Glas  Kelemen  zu. 
Kelemen  schenkt  fleiBig  ein.  Ha  trinkt  viel,  sie  macht  sich 
immer  viel  aus  Sekt.  Also,  der  junge  Deutsche  unter  den 

Filmleuten eigentlich  ...  ja,  sie  gleichen  sich  iiber- 

haupt  nicht.  Oder  ob  ihr  Haar  gefarbt  ist?  nein,  dies  rote 
Haar  ist  von  ganz  besonderem  Charakter  iiber  dem  zu 
wciBen  Gesicht,  so  kann  man  weder  Haare  farben,  noch  das 
Gesicht  schminken.  Auch  ihre  Lippen  sind  nicht  unbedingt 
bemalt,  diese  rot-weiBe  Rasse  hat  von  Natur  aus  so  rote 
Lippen  —  und  plotzlich  verspiirt  er  Sehnsucht,  Jolys 
Lippen  zu  sehen.  Ich  weiB  nicht  mehr,  hat  sie  dicke  Lippen 
oder  schmale  —  —  er  sucht  den  roten  Kopf  unter  den 
Tanzenden,  —  sie  tanzt  aber  jetzt  nicht,  und  wie  sein  Blick 
sich  leer  zuriickzieht,  begegnet  er  Keiemens  Augen.  Nur 
einen  Moment,  —  Kelemen  erhascht  den  Blick;  in  seinem 
Gesicht  liegt  ein  nachdenklicher  Zug,  er  blast  den  Rauch 
in  die  Luft  und  spricht  dann  weiter  zu  Ha :  ,,der  andre,  der 
bei  ihnen  sitzt,  ist  Bartok  von  der  Industrie-Bank,  und  die 
Dame  da  hinten  am  funften  Tisch  ist  seine  friihere  Frau,  sie 
haben  sich  vor  kurzem  getrennt,  ein  ziemlicher  Skandal 
war  diese  Scheidung,  samtliche  Zeitungen  haben  sich  damit 
beschaftigt.  Die  Dame  doit  im  schwarzen  Kleid  ist  irgend- 
eine  Baronin."  —  ,,Baronin  Halban",  wirft  Amman  da- 
zwischen,  ,,das  ist  eine  bekannte  osterreichische  Magnaten- 
familie,  aber  die  Mutter  der  Frau  soil  jiidischcr  Ab- 
stammung  sein.  Und  der  blonde  Gent  dort  mit  dem 

Monokel und  die  auf  Morphinistin  herausgestrichene 

miese  alte  Person  da  driiben und  die  bciden  im  Smo- 
king mit  den  gelangweilten  Gesichtern  —  —  und  die 
wciBe  Schlanke  mit  dem  Diadem,  die  eben  aufsteht  und 

gcht "  Mit  halbem  Ohr  hort  er  diese  spitzen  Worte, 

die  kurzen,  gepfefferten  Lebensgcschichten,  —  sein  Blick 

365 


schweift  zuriick  auf  das  Parkett,  und  dann  entdeckt  er  Joly 
wiedcr;  mit  cinem  brcitschultrigcn  jungcn  Mann  in  grauem 
Anzug  tanzt  sie,  die  Kopfe  der  beiden  sind  ganz  nahe  an- 
einander,  und  sie  lachen.  Jetzt  ist  Joly  ihm  gerade  gegen- 
iiber,  und  wie  er  sie  betrachtet,  sieht  er,  daB  sie  die  Augen 
nach  ihrem  Tisch  gerichtet  hat,  —  nein,  nicht  nach  ihrem 
Tisch:  sie  blickt  ihm  gerade  in  die  Augen.  Einen  kurzen 
Blick  wirft  er  auf  Ila,  —  mit  etwas  gerotetcn  Wangen  sitzt 
sie  da  zwischen  den  beiden  jungen  Leuten  und  betrachtet 
die  zwischen  ihren  Fingern  brennende  Zigarette,  etwas 
spater  sagt  sie :  ,,also,  Kelemen,  holen  Sie  nun  Ihre  Schwester 
zu  einem  Glas  Sekt  her?"  Kelemen  halt  Ausschau  nach  dem 
andern  Tisch  hin  und  steht  auf.  Kelemen  ist  ein  ziemlich 
groBer  Junge,  hat  eine  gute  Figur,  schwarzes  Haar,  ein  ganz 
hiibsches  Gesicht,  —  ein  Dutzcndgesicht,  —  Joly  hat  rotes 
Haar  und  ist  vielleicht  um  einen  Gedanken  groBer  als  Ila. 
Es  gibt  Gesichter,  die  einem  im  ersten  Augenblick  so  be- 
kannt  vorkommen,  und  wenn  man  sie  sich  dann  genauer  an- 
sieht,  dann  stellt  sich  heraus,  daB  sie  einem  doch  ganz  fremd 
sind.  Die  Augen  sind  fremd,  die  Stirn  anders,  die  Gesichts- 
form  nicht  ahnlich,  und  der  Mund  ist  ganz  und  garver- 
schieden  von  jenem  Mund,  und  trotzdem,  das  Ganze  er- 

innert  doch  genau  an jetzt  bemerkt  er,  daB  Kelemen 

schon  drub  en  am  Tisch  angekommen  ist,  mit  etwas  ge- 
senktem  Kopf  spricht  er  mit  dem  einen  jungen  Mann,  und 
Joly,  in  ihrem  griinen  Kleidchen,  steht  auf,  und  die  Hand 
auf  dem  Arm  ihres  Bruders,  blickt  sie  sich  im  Saal  um.  Einc 
ungcduldige  Kopfbewegung,  zerstreutcs  Umsichblicken. 
Sonderbar  .  .  .  wic  dieses  rote  Haar  eine  sonst  so  unbedeu- 
tende  Erscheinung  auffallend  macht  .  .  .  das  dichte  rote 
Haar,  die  weiBe  Gesichtshaut;  das  Gesicht  ist  nicht  schon, 
nicht  regelmaBig,  ziemlich  unruhig,  es  ist  etwas  —  ja,  etwas 
ausgesprochen  Gewohnliches  ist  darin.  Alle  Leute  sehen 
sie  an.  Auffallend  ist  sie.  Und  sie  erwidert  die  Blicke,  ein 
junges  Madchen!  Sie  provoziert  es,  daB  man  sich  nach  ihr 
umsieht,  und  provoziert  es,  daB  man  sie  weiter  anblickt. 

366 


Jetzt  kommen  sic  zwischen  den  Tischen  durch.  Joly  hat 
ihre  Hand  in  Kelemens  Arm  gehangt,  man  sollte  wirklich 
nicht  annehmen,  daB  sie  Gcschwistcr  sind.  ,,Darf  ich  be- 
kannt  machen",  sagt  Kelemcn;  Ila  betrachtet  Joly  mil  etwas 
zusammengezogenen  Augenbrauen.  ,,Oh,  freut  mich  sehr, 
gerade  habe  ich  zu  Ihrem  Bruder  gesagt,  was  fur  cine 
reizende  Schwester  er  hat."  Ammans  Hacken  klappen 
aneinander,  militarisch  steif  steht  er  da,  hoflich  kiiBt  er 
Joly  die  Hand.  Einen  Augenblick  scheint  sie  in  Verlegen- 
heit  zu  sein,  —  dann  setzt  sie  sich  ruhig  und  ungezwungen 
hin  und  greift  nach  dem  Sektglas,  ,,ich  komme  nur  fur  ein 
kleines  Weilchen,  ich  will  die  Kinder  da  nicht  lange  allein 
lassen  ..."  Ihr  Mund  ist  nicht  schon.  Schmal  und  ctwas  zu 
groB  ist  er.  ,,Ich  freue  mich  schrecklich,  Sie  kennenzu- 
lernen",  sagt  Joly  zu  Ila,  ,,nicht  wahr,  Sie  sind  nicht  bose, 
wenn  ich  Sie  einmal  besuche,  Sie  konnen  sicher  sehr  inter- 
essante  Sachen  erzahlen.  Eine  so  ganz  andere  Welt  muB  das 
sein,  wo  Sie  leben,  ich  kenne  derartige  Gegenden  nur  vom 
Kino  her  und  aus  Reisebeschreibungen,  aber  das  ist  doch 
wahrscheinlich  alles  gelogen  —  — "  und  dabei  lacht  sie 
mit  leisem,  hellem  Klang,  —  ein  solches  frisches  Klingen 
habe  ich  schon  einmal  gehort  .  .  .  irgendwo  am  Ufcr  eines 
Flusses  auf  einem  Schiff.  —  ,,Oh,  sehr  lieb  von  Ihnen, 
kommen  Sie  wirklich  einmal  zu  mir",  sagt  Ila,  —  ein  merk- 
wiirdiges  wechselndes  Gesicht,  ganz  bestimmt  habe  ich 

dieses  Gesicht  schon  gesehen jetzt  gleicht  sie  genau  — 

Amman  erhebt  sich  und  fordert  Joly  zum  Tanzen  auf,  — 
diese  schmalen  Schultern,  die  iiberschlanke  Gestalt  .  .  . 
Tilly,  natiirlich.  Nur  ist  ihr  Haar  ctwas  heller.  Und  ihre 
Hande  .  .  .  ich  muB  mir  ihre  Hande  gcnauer  ansehen.  Er 
blickt  nach  dem  Parkett,  sucht  Joly  im  Gewimmel.  Wenn 

sie  nicht  dieses  schlechte  grvine  Klcid  anhatte Ila 

spricht  von  Joly.  ,,Wic  hiibsch,  frisch  und  jung  sie  ist."  — 
«Ja",  sagt  Kelemen  hartnackig,  ,,cincn  Augenblick  war  ich 
bose  auf  sic,  ich  kann  mich  wirklich  nicht  damit  aussohnen, 
daB  so  ein  junges  Ding  — "  Ila  lacht  ein  wenig  hdhnend. 

367 


,,Die  jungen  Madchen  in  England  und  Amerika  reisen  allein 

durch  die  Welt,  und  Sic  findcn  schon  dabei  was mir 

ist  das  nicht  ganz  geheuer,  wenn  ein  junger  Mann  sich  zu 

so  konscrvativen  Prinzipicn  bekennt "  Ich  muB  mir 

ihre  Hande  ansehen,  denkt  Kadar,  und  als  sie  zur  iickkommen, 
steht  er  sofort  auf:  ,,wollcn  wir  tanzen?"  —  ,Ja,  gerne, 
aber  ich  mochte  bloB  warten,  bis  ein  Tango  oder  Blues 
gespielt  wird,  aus  dieser  schnelltaktigen  Musik  mache  ich 
mir  nicht  sehr  viel."  Sie  setzt  sich,  nimmt  das  Sektglas  in 
die  Hand,  ihrc  Hande  sind  auch  genau  so  —  ,,Sagen  Sie, 
Joly",  fragt  er  da  glcich,  ,,musizieren  Sie  irgend  etwas?"  — 
gewiB  spielt  sie  Klavier,  bcstimmt  wird  sie  sagen,  sie  spicle 
Klavier.  ,,Nein,  leider  nicht",  antwortet  Joly,  ,,ich  habe 
zwar  mal  angefangen,  Klavier  zu  lernen,  mein  Gehor  ist 
ziemlich  gut,  aber  es  hat  sich  herausgestellt,  daB  ich  im 
iibrigen  absolut  nicht  zum  Klavierspiel  begabt  bin,  also  hab 
ichs  aufgegeben."  —  ,,Ja",  sagt  Kelcmen,  ,,unserer  ganzen 
Familie  fehlt  das  Talent  zu  irgendcinem  Instrument,  dabei 
haben  wir  aile  Gchor."  Nun  beginnt  ein  langsames  Tanz- 
stiick,  gedehnt,  schmerzlich,  negerhaft,  —  das  ist  das 
Saxophon,  und  das  Klavier  folgt  ihm  langsam  in  schlappen 
Akkorden,  —  Joly  steht  auf:  ,,wollen  Sie?"  Amman  ver- 
beugt  sich  leicht  vor  Ila;  hintereinander  gehen  sie  aufs 
Parkett  zu.  Joly  wendet  das  Gesicht  etwas  zur  Seite,  halt 
es  ganz  nahe  an  seincn  Kopf,  cins  von  den  krausen  roten 
Haaren  kitzelt  ihm  die  Augenwimper,  —  langcs  Haar  hat 
sie,  natiirlich,  sie  hat  sich  das  Haar  auch  nicht  abschneiden 
lasscn,  —  ihre  Hande  sind  schmal,  trocken,  fvihlen  sich 
kiihl  an;  ihr  Haar  und  ihre  Haut  haben  einen  einfachcn, 
kiihlen  Seifengerucb,  der  diinnc  Korpcr  schmiegt  sich  ihm 
nachgiebig  an,  ihr  Schritt  folgt  wie  der  Schatten  seincm 
Schritt  im  langsamcn  Rhythmus  des  Tanzes,  —  ich  miiBte 
etwas  sagen  .  .  .  um  nicht  zu  schweigcn,  irgend  etwas,  daB 
wir  gates  Wetter  haben  odcr  wie  schon  die  Insel  ist  odcr  daB 
sie  jcmandcm  ahnlich  sieht,  daB  sie  gut  tanzt,  daB  ich  mich 
wirklich  sehr  freue,  sic aber  cr  sagt  nichts,  und  das 

368 


Madchen  schweigt  auch,  nur  die  Musik  spricht  mit  der 
wcinenden  Melodic  des  Saxophons,  dem  dumpfen  Klopfen 
der  Trommel,  der  brockelnden  Stimme  des  Klaviers,  und 
diese  fremde,  irritierende  Musik  umspinnt  sie,  der  langsame, 
endlose  Rhythmus  verbindet  ihre  Schritte,  und  da  ist  ihm, 
als  schritten  sie  iiber  das  Parkett,  iiber  die  Bar  hinaus  in 
einen  Raum  von  aufgelosten  Formen,  in  unbekannter, 
unfafibarer  Ruhe  miteinander  verschlungen  durch  die  Zeit, 
mit  der  einfachen  Selbstverstandlichkeit  des  substanzlosen 
Zusammengehorens,  vorwarts  oder  zuriick  —  So  begann  es. 


In  den  folgenden  Tagen  ereignete  sich  zunachst  nichts. 
Es  war  Budapest,  das  strahlende  Friihsommer-Budapest, 
das  die  Fremden  anlachelte,  mit  der  abendlichen  Insel,  dcm 
Wellenbad  am  Mittag,  den  Motorausfliigen  auf  der  Donau, 
den  nachtlichen  Autofahrten  auf  einen  der  Budaer  Berge, 
den  eleganten  Frauen  iiberall  in  der  Stadt.  Es  war  Budapest, 
es  war  Anfang  Juni.  Wir  sind  Fremde,  wir  genieBen  unser 
ruhiges,  reiches  Leben  in  Budapest  genau  wie  in  London, 
Paris  oder  Berlin,  und  dann  reisen  wir  weiter.  Haben  noch 
cine  Stadt  gesehen.  Nur  mit  den  Banalitaten  kommen  wir 
in  Beriihrung,  mit  den  Gemeinplatzen,  den  Dingen  an  der 
Oberflache,  die  indessen  meistens  den  Eindruck  einer  Stadt 
geben.  Das  Hotel  ist  westeuropaisch.  Der  Verkehr  ist  leb- 
haft,  groBstadtisch  geregelt.  Die  Bank  ist  vornehm  und 
zuvorkommend.  Die  Menschen  sind  hoflich,  ihre  Gast- 
freundschaft  traditionell  ungarisch.  Die  Kleidung  der 
Manner  ist  ziemlich  schlecht,  so  im  allgemeinen  der  Manner 

auf  der  StraBe und  erschreckend  vide  leere  Geschafts- 

lokale  mit  heruntergelassenen  Rolladen  und  zahllose 
Schilder,  die  in  roten  und  schwarzen  Buchstaben  schreiend 
letztc  Okkasion,  Ausverkauf,  Auf  losung  des  Geschafts  an- 
kiindigen.  Aber  das  geht  uns  nichts  an,  uns  Fremde,  —  man 
braucht  nicht  unbedingt  zu  bemerken,  was  unangenehm  ist. 
Ila  wollte  gern  die  Stadt  sehen, — einmal  gingen  sie  zusammen 

24  KOrmcndi,  Budapest  369 


iibcr  die  Andrassy-StraBc,  cinmal  ein  Stiickchen  iiber  den 
Ring,  cinmal  brachen  sie  nach  einem  abgclegeneren  Stadtteil 
auf.  Sehr  bald  fiihlte  er  sich  miide;  auch  Has  Schrittc  wurden 
unsicher  und  nervos,  da  kehrtcn  sie  ins  Hotel  zuriick.  Das 
Viertel  dcr  Fremden  sind  die  paat  StraBen  der  innercn 
Stadt,  —  und  im  Salon  der  elegantcn  Konditorei  braucht 
man  den  kalten,  sauerlichen  Milchgcruch  nicht  zu  spiiren, 
der  den  Milchhallen  auf  dem  Ring  entstromt,  wir  sind  ja 
Fremde.  Mit  Kelemens  Hilfe  hatte  er  gleich  an  einem  der 
ersten  Tage  in  einer  Garage  einen  cleganten,  viersitzigen, 
geschlossenen  Wagen  gemietet;  am  Volant  fiihlte  er  sich 
in  Budapest  heimischer  als  zu  FuB.  Kelemcn  meldete  sich 
iibrigens  jeden  Tag,  hoflich  und  hciter  erkundigte  er  sich 
nach  ihrem  Befinden  und  etwaigen  Wiinschen.  ,,Kelcmen 
ist  wirklich  ein  netter,  manierlicher  Junge",  meinte  Ila, 
,,offen  gesagt,  fiirchtetc  ich  ein  biBchen,  er  wiirde  seine 
Liebcnswurdigkeit  iibertreiben  und  uns  lastig  werden, 
nicht?  aber  anscheinend  habe  ich  mich  geirrt",  —  und  in 
ihrcr  Stimme  lag  cine  kleine  Unsicherheit,  die  gait  abcr  der 
fremden  Stadt  genau  so  wie  Kelemen,  dcm  Fremden.  — 
Er  hatte  Da  vorher  nicht  viel  und  hochstens  ganz  im  all- 
gemeinen  von  Budapest  erzahlt.  Jctzt  denkt  sie  sicher 
dariiber  nach,  ging  ihm  durch  den  Kopf,  wie  ich  wohl 
friiher  gelebt,  in  welchem  Hause  ich  gewohnt,  welche 
Gegenden  ich  gern  gehabt  habe.  Moglich,  daB  sie  dahiber 
nachdachte,  aber  sie  fragte  nicht,  und  so  sprachen  sie  auch 
nicht  davon.  Sie  will  auch  durch  mich  Budapest  nicht  nahe- 
kommen,  so  schien  es  ihm.  Eine  fremde  Stadt  .  .  .  wir 
werden  bald  wieder  abreisen.  Das  Auto  erleichtert  alles, 
programmlose  Stunden  werden  vom  ziellosen  Herumfahren 
aufs  Geratewohl  ausgefuilt.  Es  ist  wie  die  Wochenschau  im 
Kino:  intcressant,  beweglich,  oberflachlich,  ohne  Wichtig- 
keit  und  ohne  Bcdcutung,  ohne  personliche  Beziehung.  Nur 
sehenswert.  Und  interessiert  mich  ecwas  nicht,  dann  sehe 
ich  nicht  bin.  Wenn  ich  genug  davon  habe,  h6re  ich  auf. 
BloB,  —  die  Sachc  ist  doch  nicht  ganz  so.  Auf  der  ersten 

37° 


derartigen  Autofahrt  kam  Ha  mit.  Der  Zufall  fiihrte  sie  in 
cine  StraBe;  langsam  fuhr  der  Wagen  an  cinem  Gebaude 
vorbei:  es  war  das  Gymnasium,  wo  er  acht  Jahrc  lang  ein 
und  aus  gegangen  war.  Acht  Jahre  hindurch  hatte  er  jeden 
Morgen  und  jeden  Mittag  hier  einen  Blinden  gesehen,  der 
an  der  Ecke  saC  und,  den  umgedrehten  alten  Hut  im  SchoB, 
auf  Almosen  wartete.  Der  blinde  Bettler  saB  wieder  dort 
an  der  Ecke,  vom  Fahrdamm  aus  sah  er  genau  so  aus  wie 

damals.  ,,Der  hat  auch  schon  vor  vierzehn  Jahren " 

er  sprach  den  Satz  nicht  zu  Ende.  ,,Was?"  fragte  Ha.  ,,Ach, 
nichts,  mir  war  etwas  eingefallen,  nicht  wichtig."  Plotzlich 
wurde  er  schlecht  gelaunt.  Am  folgenden  Tag  setzte  er  sich 
wieder  in  den  Wagen.  Ha  schlief  gewohnlich  nach  Tisch 
eine  oder  anderthalb  Stunden.  Um  diese  Zeit  machte  er  sich 
auf  die  planlosen,  abenteuerlichen  Wege.  Einmal  bemerkte 
er  am  Anfang  einer  breiten  StraBe  ein  Schild :  K6banyaer- 
StraBe.  Es  war  ihm,  als  erinnerte  er  sich  an  irgend  etwas, 
wuBte  aber  nicht  genau,  an  was.  Ein  unbequemes  Gefiihl 
ergriff  ihn.  Er  stoppte  den  Wagen  ab,  drebte  um.  Eines 
Nachmittags  fuhr  er  durch  die  Gegend  der  Stefania-StraBe, 
durch  schmale  Gassen  und  an  Villen  mit  Garten  vorbei, 
und  plotzlich  fuhr  ihm  durch  den  Kopf,  jetzt  wiirde  er 
Joly  begegnen.  Seine  Sohle  hob  sich  langsam  vom  Gas- 
hebel;  der  Wagen  bewegte  sich  hochstens  noch  im  Schritt 
vorwarts.  Dieses  sachte  Weiterkriechen  dauerte  wohl  eine 
halbe  Stunde,  —  Joly  begegnete  er  natiirlich  nicht.  Tage- 
lang  setzte  er  dieses  Pirschen  im  Auto  fort.  Das  war  friiher 
nie  gewesen,  in  keiner  andern  Stadt.  Im  Grunde  genommen 
fehlte  ihm  xiberhaupt  der  Trieb,  so  herumzustreifen,  und 
wenn  er  eine  Stadt  schon  kannte,  wenn  er  iiber  die  groBen 
Sensationen  der  ersten  Spaziergange  hinaus  war,  regte  sich 
nie  der  Wunsch  in  ihm,  durch  cine  fremde  Stadt  zu  bum- 
meln,  ziellos,  wie  es  gerade  kommt,  zu  schreiten,  sich  dem 
Zufall  der  StraBenecken,  der  StraBenkreuzungen  zu  iiber- 
lassen.  Das  muBte  irgendwie  mit  jenen  Traumen  zusammen- 
hangen,  —  er  hatte  einen  furchtbaren,  sich  immer 


24* 


371 


wiederholendenTraum,  von  dcm  ihn  meist  nur  sturzartiges, 
vonHerzklopfen  beglcitetcsErwachcn  zu  bef rcien  vermochte : 
er  geht,  gcht  und  gcht,  gebt  iiber  wclligen,  cndloscn,  grauen 
Asphalt,  er  tut  nichts,  er  geht  nur,  cr  sieht  nichts,  er  geht 
nur,  es  ereignet  sich  nichts,  er  geht  nur  und  geht,  —  bis 
das  Herzklopfen  kommt,  mit  schwindelhaftem,  plotzlichem 
Erwachen.  Manchmal  packte  ihn  regelrechte  Angst,  ein 
Grauen,  wenn  er  in  einer  fremden  Stadt  einen  langeren  Weg 
zu  FuB  zu  machen  hatte,  —  dann  muBte  er  schnell  nach  dem 
nachstliegenden  Ziel  greifen,  —  und  wenn  es  auch  nichts 
anderes  war,  als  dort  driiben  in  dem  Laden  Zigaretten  zu 
kaufen,  —  um  dieses  qualende  Gefiihl  loszuwerden.  Eine 
Autofahrt  ist  etwas  andres  —  —  langsam  lenkt  er  den 
Wagen  und  sieht  sich  vom  Volant  aus  die  StraBen,  Hauser 
und  Menschen  an.  Das  Bild  ist  eine  eigentumliche  Mischung 
aus  Bekanntem  und  Fremdem.  Manchmal  kam  es  ihm  so 
vor,  als  kenne  er  dieses  oder  jenes  Haus,  aber  er  wuBte 
nicht  mehr,  wo  er  es  bereits  gesehen  hatte.  In  Budapest, 
damals?  In  Wien?  In  London?  In  Paris?  Zu  Hause  in  Port 
Elizabeth  bestimmt  nicht.  Hie  und  da  tauchte  ein  Stiick- 
chen  StraBe,  eine  Alice,  ein  Platz  auf,  die  ihm  so  bekannt 
schienen,  daB  er  den  Wagen  halten  lieB  und  ein  paar 
Schritte  zu  FuB  ging.  Wahrscheinlich  bin  ich  seinerzeu 
haufig  durch  diese  Gegend  gekommen,  —  zweifellos. 
Woher  sollte  ich  sie  sonst  kennen?  woher  kame  dieses 
bekannte  Gefiihl?  London,  Paris,  Johannesburg,  —  Buda- 
pest. Das  war  der  Ausgangspunkt.  —  Eines  Nachmittags 
fragt  Ila :  ,,gehst  du  heute  wieder  weg,  wahrend  ich  schlafe  ?" 
,,Ja."  —  ,,Wohin?"  —  ,,Ich  weiB  noch  nicht,  ich  fahre  so 
aufs  Gcratewohl  irgendwohin,  wie  immer."  —  ,,Roman- 
tik?"  fragt  Ila;  bei  dem  Wort  wird  er  rot.  ,,Jawohl,  Roman- 
tik."  Tatsachlich  iiberflussig  dieses  leere  Herumstreifen. 
Wir  wcrden  bald  abreiscn. 

Morgens  rief  Kelemen  an.  Mit  den  Jungens  waren  sic 
ubrigens  seit  dem  Abend  auf  der  Insel  nicht  zusammcn- 
gewescn,  —  das  war  schon  cine  Wochc  her,  —  die  Jungens 

37* 


batten  sich  nicht  erkundigt,  sich  nicht  gemcldet;  er  ver- 
miBte  sie  auch  nicht.  Eigentiimliche  Gestalten,  —  mit  ihren 
sonderbaren  Blicken,  merkwiirdigen  Redensarten,  die  er 
sich  schon  langst  abgewohnt  hatte,  mit  ihren  fremden,  un- 
interessanten  Themen,  nach  deren  lokaler  Bedeutung  er  gar 
nicht  sonderlich  forschte.  Amman  hatte  zwar  einmal  tele- 
foniert,  aber  da  war  er  nicht  zu  Hause  gewesen,  Ila  hatte 
mit  ihm  gesprochen:  cine  Frage  im  allgemeinen,  wie  es 
ihnen  ginge,  hoffentlich  fiihlten  sie  sich  wohl,  das  war  alles. 
Ja,  also  Kelemen  hatte  an  dem  Tag  schon  fruhmorgens 
angerufen:  ,,es  ist  so  herrliches  Wetter,  wahrscheinlich 
wird  es  sehr  heiB  werden,  hattet  ihr  keine  Lust,  euch  das 
Strandbad  in  Esztergom  anzusehen?"  Dann  nahm  Ila  den 
Horer,  und  sie  verabredeten,  sich  im  Wellenbad  zu  treffen. 
Sie  wollten  dort  im  Bad  zu  Mittag  essen  und  spater,  wenn 
die  Hitze  etwas  nachgelassen  hatte,  nach  G6doll6  fahren. 
Ila  packte  zwei  Badetaschen.  In  der  Vorhalle  stand  Kelemen, 
er  kuBte  Ila  die  Hand:  ,,Ich  habe  Sie  lange  nicht  gesehen, 
glauben  Sie  mir,  ich  mache  mir  geradezu  Gewissensbisse, 
daB  ich  Sie  in  dieser  schrecklich  groBen  Stadt  alleingelassen 
und  nicht  einmal  gefragt  habe,  ob  Sie  irgendwelche 
Wiinsche  batten,  die  ich  als  Eingeborener .  .  ."  —  »Oh", 
sagt  Ila,  ,,mein  Mann  ist  doch  schlieBlich  nicht  ganz  fremd 
hier,  wenigstens  lernt  er  die  Stadt  wieder  kennen,  stellen 
Sie  sich  vor,  Tag  fur  Tag  klappert  er  allein  die  StraBen  ab", 
und  das  sagt  sie  mit  demselben  Ton,  wie  sie  neulich  gesagt 
hatte:  Romantik?  ,,So",  sagt  Kelemen,  ,,du  irrst  umher, 
Toni?  Jugenderinnerungen?"  Das  argerte  ihn  ein  wenig, 
er  gab  keine  Antwort  und  ging  ins  Bad.  Es  war  noch  ziem- 
lich  leer;  als  er  am  Bassin  angekommen  war,  erblickte  er  in 
einem  Korbsessel  Joly.  Ein  rotes  Trikot  hatte  sie  an  und 
rote  Badeschuhe.  Ihr  rotes  Haar  funkelt  in  der  Sonne,  es 
hat  dieselbe  Farbe  wie  das  Trikot  und  die  Schuhe.  ,,Guten 
Morgen,  Joly."  —  ,,Guten  Morgen,  Herr  Kddar,  wie 
gehts  Ihnen?  wo  ist  Ihre  Frau?"  Ila  kommt  auch  gerade 
und  begruBt  Joly  sehr  herzlich.  ,,Ich  habe  dich  schon 

375 


reklamicrt,  Klcine,  eben  habc  ich  deinen  Brudcr  gcfragt  — " 
Griinlich-blauc  Augcn  hat  sic,  das  habe  ich  bishcr  gar  nicht 
bemerkt,  odcr  hatte  ich  das  inzwischen  vergessen?  Komisch, 
so  vielc  Farben:  dieses  eigentiimliche  WeiB,  der  ganze 
Korper  ist  so  weiB  wie  ihr  Gesicht,  fast  unnatiirlich  weiB. 
Und  die  Augen  und  die  Haare.  Sommersprossen  hat  sic 
nicht,  —  warum  hatte  ich  mir  eingebildet,  sie  habe  Sommer- 
sprossen? Und  sie  schminkt  sich  gar  nicht,  —  natiirlich, 
Tilly  hatte  ein  paar  Sommersprossen  im  Gesicht,  darum 
dachte  ich.  In  Liegestuhlen  licgen  sie  auf  der  obern  Terrasse 
nebeneinander.  Das  Sonnenlicht  wirft  Funken  auf  ihrc 
Haut.  ,,Ich  mochte  so  gerne  irgendwohin  reisen",  sagt 
Joly,  ,,aber  ich  glaube,  dieses  Jahr  wird  nichts  daraus,  ich 
hab  kein  Geld."  Ich  hab  kein  Geld,  wie  merkwiirdig  das 
aus  dem  Munde  dieses  Madchens  klingt,  ich  hab  kein  Geld, 
sagt  sie  mit  einer  kleinen  Grimasse,  —  ja,  wie  ist  das  eigent- 
lich,  —  wer  sorgt  denn  fur  sic?  ihre  Eltern?  ihr  Bruder? 
sind  sie  wohlhabend?  sind  sie  knapp  gestellt?  ,,Jawohl", 
hort  er  Jolys  Stimme,  ,,dieses  Jahr  ist  groBes  Zuhause- 
bleiben,  wie  mir  scheint,  voriges  Jahr  war  ich  ja  auch  nicht 
gerade  weit  weg,  bloB  in  Lcllc  am  Plattensee,  dabei  mochte 
ich  so  gerne  mal  ganz  weit  reisen,  in  die  Schweiz  oder  an 
die  franzosische  Kiiste,  wenn  auch  nur  an  einen  ganz  be- 
scheidenen  kleinen  Ort,  —  mein  Gott,  nebelferne  Dinge  — " 
Und  es  sei  auch  nicht  das  schlechteste,  jedcn  Tag  ins  Strand- 
bad  zu  gehen,  zum  Beispiel  hier  ins  Gellert,  sagt  sie,  aber 
dazu  braucht  man  auch  viel  Geld,  der  Sommer  zu  Hause 
ist  gar  nicht  so  billig,  am  bestcn  ist  es  noch  Samstags  oder 
Sonntags,  wenn  die  Jungcns  frei  haben  und  sie  mit  ihnen 
auf  die  Donau  gehen  kann.  ,,Die  Jungens?"  antwortet  sie 
dann  auf  lias  Frage,  ,,einer  ist  Arzt,  zwei  Rechtsanwalt,  zwei 
bei  der  Bank,  —  und  die  Madels  natiirlich  nette,  lustigc 
Menschen,  ganz  gut  kann  man  so  ein-zwei  Tage  in  der 
Woche  mit  ihncn  rumtollen."  Eincr  ist  Arzt,  zwei  Rechts- 
anwalt —  und  die  Madels,  ganz  gut  kann  man  mit  ihnen  — 
,,Wir  verreisen  auch,  in  die  Schweiz,  vielleicht  auch  nach 

374 


Norwegen,  cs  1st  noch  nicht  ganz  sicher,  aber  geplant  haben 
wir  cs."  Griinlich-blau  sind  ihre  Augen,  Tilly  hatte  ganz 
blaue  Augen,  klare  tiefblaue.  Einmal  im  Sommer,  vor 
langer  Zeit,  waren  wir  zusammen  drauBen  in  Kritzen- 

dorf aber  Joly  hat  eine  bessere  Figur,  oder  ist  sie 

vielleicht  bloB  groBer?  sie  sieht  groBer  aus,  deshalb  kommt 
mir  ihre  Figur  besser  vor.  —  Jetzt  klettert  Joly  iiber  das 
Gelander,  stellt  sich  an  den  Steinrand  iiber  dem  tiefen 
Wasser  und  macht  einen  Kopfsprung.  Langsam  hebt  sie  die 
Arme  mit  einer  breiten  Bewegung,  sie  ist  unter  der  Achsel 
rasiert.  Ihr  Kopf  neigt  sich  ein  wenig  nach  hinten,  ihr  Rumpf 
wolbt  sich,  die  Hiiften  spannen  sich  an,  spiegelglatt  zeigt 
das  Trikot  ihren  ganzen  Korper,  die  frischen,  straffen 
kleinen  Briiste,  in  feinem  Bogen  schwingt  sich  ihr  Korper 
ins  Wasser.  Eine  griinlich-blaue  groBe  Welle  treibt  sie  zu- 
sammen, wie  sie  ruhig  auf  dem  Wasser  schwebt;  sein  Arm 
beriihrt  Jolys  Schulter,  sie  dreht  sich  plotzlich  urn,  ihre 
Kopfe  sind  einander  gegeniiber,  dieselbe  Farbe  haben  ihre 

Augen  wie  das  Wasser in  Kritzendorf  auf  dem  Tages- 

ausflug,  das  war  auch  im  Juni,  —  hatte  Tilly  ein  schwarzes 
Trikot  an,  und  an  der  linken  Seite  war  ein  Stern  hinein- 
gestickt,  —  Tilly  ging  nicht  gern  an  den  Strand,  der  Donau- 
strand  ist  schmutzig,  ekelhaft,  wir  wollen  nicht  mehr  hin- 
gehen,  nicht  wahr,  du  machst  dir  auch  nichts  draus?  .  .  . 
In  Helena- Village  ist  der  Strand  nicht  schmutzig,  der  Sand 
ist  goldgeib  und  so  fein,  daB  man  das  Gefuhl  hat,  iiber 
einen  dicken,  weichen  Teppich  zu  gehen.  Jemand  im  Wasser 
gruBt  Joly:  ,,Servus,  Ilonka",  eine  Frau  mit  weiBer  Bade- 
kappc,  —  ,,ist  das  nicht  drollig",  lacht  Joly  und  prustet  ihm 
das  Wasser  ins  Gesicht,  ,,die  heiBt  auch  Ilonka  oder  Ila, 
und  ihr  Mann  heiBt  Antal,  witzig,  nicht?"  Joly  hat  eine 
rote  Badekappe,  genau  so  rot  wie  ihr  Haar  und  ihr  Trikot 
und  ihre  Schuhe.  Ila  strahlt;  strahlt  im  Sonnenlicht,  im 
blauen  Wasser,  in  der  funkelnden  Luft,  ihr  Gesicht  ist  klar 
und  Jung,  ihr  schwarzes  Haar  gl£nzt,  und  die  schwarzen 
Augen  leuchten. — Das  Bad  ist  schon  gedrangt  voll, — hintcr 

375 


ihncn  sagt  jemand:  ,,guck  ma],  da  ist  das  fesche  englischc 
Ehepaar  aus  dem  Ritz",  —  ,,den  Mann habe ich neulich  allein 
im  Auto  gesehen",  sagt  eine  andere  Stimme,  ,,abcr  die 
klcinc  Rote,  die  dabei  ist,  die  ist  keine  Englanderin,  ich  hab 
sie  schon  haufig  an  der  Donau  gesehen  und  auch  im  Winter, 
warte  mal,  in  einem  Kino  .  .  .  fesches  kleines  Aas,  mir 
scheint,  sie  hats  auf  den  Englander  abgesehen."  Kadar 
mochte  sich  umdrehen,  um  zu  sehen,  wer  da  gesprochen 
hat,  —  blickt  aber  nur  nach  der  Seite  zu  Ila  und  Joly  hin. 
Sie  habens  wohl  nicht  gehort.  Dann  nimmt  er  eine  Zigarette 
und  dreht  sich  um,  —  zwei  junge  Leute  und  eine  dicke, 
blonde  Frau  sitzen  hinter  ihnen,  die  sind  also  der  Meinung, 

daB  Joly Er  tritt  zu  ihnen  hin,  der  eine  hat  eine 

brennende  Zigarette  im  Mund,  ,,durfte  ich  um  Feuer  bitten'*, 
sagt  er  laut;  drei  verstorte  Augenpaare,  drei  betroffene  Ge- 
sichter,  ,,danke  sehr",  sagt  er  wieder  laut  und  setzt  sich 
zuriick  auf  die  untere  Stufe.  Als  er  sich  etwas  spater  wieder 
umdreht,  sitzen  die  drei  nicht  mehr  hinter  ihnen.  —  Zum 
Mittagessen  bleiben  sie  drauCen;  Kelemen  geht  mittags 
fort,  —  ,,ich  habe  etwas  zu  tun,  eine  geschaftliche  Angelegen- 
heit  zu  erledigen,  wcnn  es  dich  interessiert,  werde  ichs  dir 
gelegentlich  erzahlen",  —  und  sie  einigen  sich  dahin,  den 
am  Morgen  geplanten  Ausflug  aufzuschieben.  ,,Gut,  ich 
werde  mich  also  telefonisch  melden,  wcnn  ihr  nichts  da- 
gcgen  habt."  Ila  iBt  kaltes  Fleisch  und  Eis,  Joly  dicke  Milch. 
Nach  dem  Essen  ziehen  sie  die  Liegestiihle  in  den  Schatten; 
Kadar  holt  sich  die  Times  und  den  Daily  Herald  herauf  und 
blattert  in  den  Zeitungen,  zwischendurch  hort  er  dem  Ge- 
sprach  der  Frauen  zu.  Joly  liegt  auf  den  linken  Arm  ge- 
stiitzt,  Ila  zugewandt,  Ila  liegt,  auf  dem  Riicken.  Sie  unter- 
halten  sich  leise.  Die  roten  Haare  haben  jetzt  im  Schatten 
cinen  eigentumlichen  dumpfen  Glanz.  Und  wie  sein  Blick 
manchmal  hinter  der  Zeitung  her  zu  der  Gestalt  im  roten 
Trikot  hiniiberflicgt,  fangt  das  Bild  des  Bades  sich  auf  cin- 
mal  an  zu  verwischen,  aufzul6sen;  in  der  ganscn  Land- 
schaft  entsteht  cin  zitternder  Wirbcl,  —  an  der  Stellc  dcs 

376 


groBcn  Bassins,  dcs  strahlenden  Wassers,  der  sonnen- 
beschienenen  Menschen  ist  jetzt  cine  enge  Gasse,  cin 
machtiger  Garten  hinter  ciner  hohen,  basteiartigen  Stein- 
mauer;  mit  dem  Mosaik  der  Sonnenflecken  und  der  Schatten 
bestreut  das  Laub  der  riesigen  alten  Baume  den  Weg  zum 
Tor,  zur  riesigen  Villa,  zu  den  riesigen  Zimmern,  Fenstern, 
Mobeln,  Bildern  .  .  .  und  plotzlich  ertonen  in  seinem  Kopf 
klare,  scharfc,  virtuoscnhafte  Klavierklange,  zuerst  leise, 
dann  immer  lauter  und  durchdringender,  und  schlieBlich 
drohnt  es  ihm  mit  alles  hinwegfegender  Kraft  im  Ohr, 
hallt  es  in  seinem  ganzen  Korper  wider:  Schumanns 
Toccata.  Er  laBt  die  Zeitungsbla'tter  sinken,  und  uber 
Menschen  und  Dingen,  verloren  in  Klangen  und  Zcit, 
brennt  sein  fieberndes  Auge,  sein  hungriger,  sich  erinnern- 
der  Blick  auf  dem  Korper  im  roten  Trikot.  —  Joly  spricht 
von  sich,  und  hinter  lias  forschenden  Fragen  tut  sich  lang- 
sam  ein  winziges  kleines  Leben  auf,  das  Lcben  des  un- 
bemittelten  Budapester  Madchens.  Da  ist  zunachst  das 
Heim,  das  langweilig,  fast  unertraglich  eintonig  hinter  den 
ereignislos  dahinrollenden  Tagen  Kulisse  steht.  Das  Heim, 
die  drei  Zimmer,  in  denen  sozusagen  drei  Familien,  jeden- 
falls  drei  Generationen  zusammen  leben.  Die  Mutter,  die 
altert,  mude  und  ein  wenig  murrisch  ist  und  nur  dann 
bessere  Augenblicke  hat,  wenn  sie  sich  an  das  Einst  er- 
innert  und  davon  spricht.  Manchmal  wohl  uberfliissiger- 
wcise,  manchmal  etwas  taktlos,  etwas  schmerzlich.  Die 
altere  Schwester,  die  zum  Denkmal  der  kleinbCirgerlichen 
treuen  Gattin  und  guten  Mutter  Modell  lebt.  Der  Schwager, 
der  die  Familie  crhalt  und  die  kleinlichen  Aufregungen  des 
Gcschafts  zur  standigen  Sensation  des  Heims  macht.  Bandi, 
der  eigentlich  der  einzige  brauchbare  Kerl  in  der  ganzen 
Gesellschaft  ist,  aber  auch  so  sehr  von  seinen  eigenen 
Sorgen  und  Plagen  in  Anspruch  genommen  wird,  daB  er 
fiir  sie  kaum  Zeit  hat.  ,,Mein  Gott,  ich  kann  es  so  gar  nicht 
sagen,  was  ich  den  ganzen  Tag  mache,  ich  mache  eigentlich 
nichts.  Ein  bifichen  helfe  ich  Siri  oder  unterhalte  die  Mama, 

377 


Icsc  cin  biBchen,  —  ich  dachte  schon,  mir  cine  Stellung 
irgcndwo  im  Biiro  zu  suchen,  Stenographic  und  Schrcib- 
maschine  habc  ich  gelernt,  aber  heutzutage  unterzukom- 

mcn "  Und  dann,  manchmal  ist  sic  mit  den  jungen 

Lcuten  und  den  Madels  zusammen,  ,,im  Sommer  ist  alles 
etwas  besser,  da  gibts  den  Strand  und  die  Donau,  aber  im 
Winter  .  .  .  sagen  wir,  einmal  in  der  Woche  geht  man  ins 
Kino  oder  in  ein  ganz  solides  Lokal,  wo  man  tanzen  kann, 
sehr  selten  cine  Stunde  Bummelns  in  der  Stadt  oder  mal 
Sonntagvormittags  ein  Spaziergang  nach  Buda,  —  man 
schneidert  sich  die  paar  Fetzen  zusammen,  die  man  notig 
hat,  Gott,  wenn  du  wuBtcst,  wie  elend  einem  dabei  manch- 
mal zumute  sein  kann  ..."  Joly  spricht.  Leise  spricht  sic, 
halt  den  Kopf  ein  wenig  nach  oben,  als  Ila  sich  ihr  zuwendet, 
und  ihre  Stimme  scheint  resignicrt  und  zugleich  etwas  vor- 
wurfsvoll  zu  klingen.  Die  grofie  Schnccke  iiber  dem  rechten 
Ohr  lost  sich  auf,  sic  greift  hin,  laBt  den  Knoten  fallen, 
flicht  auch  den  andern  Zopf  auseinander  und  kammt  mit 
den  Fingern  die  ganze  riesige  Haarmenge  nach  hinten. 
,,Einen  himmlischen  Ring  hast  du",  sagt  Joly,  ,,darf  ich 
ihn  mir  mal  naher  ansehen?"  Ila  hebt  die  Hand  und  zeigt 
den  diinnen  Platinreifen  mit  der  riesigen  Perle,  die  sic  jctzt 
im  Friihjahr  in  London  gekauft  haben.  ,,Einfach  gottlich. 
Also,  ja  .  .  .  manchmal  gehe  ich  auch  ins  Theater,  aber  sehr 
selten,  oder  ins  Konzert,  wenn  ein  guter  Sanger  herkommt 
nach  Budapest,  das  macht  mir  am  meisten  SpaB."  Wic  er 
Joly  so  redcn  hort,  fallen  ihm  auf  einmal  Kclemens  Worte 
in  der  Bar  auf  der  Insel  ein :  ich  verstehe  das  nicht,  in  ein 
so  teures  Lokal ...  —  und  nun  mochte  er  Joly  fragen,  wic 
das  dcnn  eigentlich  sei,  dafi  sie  kein  Geld  habe  zu  verreisen, 
oder  vielmehr:  woher  sie  Geld  habe  fur  Strandbad  und 
Weekend- Ausfliige  und  Kino  und  Konzerte.  Das  fahrt  ihm 
durch  den  Sinn,  aber  entsetzt  verscheucht  er  sofort  den 

Gedanken.  Was  geht  mich  das  an Blodsinn!  von 

zu  Hause  bekommt  sic  cs,  vom  Schwagcr  oder  von  ihrem 
Bruder  oder  aber  —  —  nichts  oder  aber!  das  geht  mich 

378 


gar  nichts  an.  ,,Ach  Gott",  sagt  Joly,  ,,manchmal  denke 
ich  .  .  .  aber  ich  rede  da  soviel  Unsinn,  das  kann  dich  doch 
wirklich  nicht  interessieren  —  also,  manchmal  denke  ich, 
wie  unbegriindet  doch  die  Existenz  eines  solchen  Madchens 
wie  ich  ist,  wie  leer  und  wie  so  ganz  ohne  ein  Ziel  —  daB 
ich  nichts  arbeite  und  bloB  so  in  die  Welt  hinein  lebe", 
einen  Augenblick  schweigt  sie,  ,,Mama  und  Sari  leben  fur 
ihre  Manner  und  ihre  Kinder,  Sari  erwartet  schon  wieder 
ein  Baby,  und  die  haben  immer  alle  Hande  voli  zu  tun,  mit 

allerhand  hauslichen  Arbeiten  so  in  der  Wohnung  und 

und  die  Madchen,  die  einen  Beruf  haben,  die  studieren  oder 
ins  Biiro  gehen  oder  nahen  wie  die  jungen  Madchen  im 
Ausland  .  .  .  aber  ich,  ich  mache  iiberhaupt  nichts,  ich  .  .  . 
denke  bloB,  wie  entsetzlich  es  ware,  wenn  ich  auch  so 
heiraten  miiBte,  zum  Beispiel  einen  solchen  Mann,  wie  mein 
Schwager  ist.  Einen  so  ganz  simplen  Menschen.  Und  dann 
denke  ich,  es  lohne  sich  bloB,  reich  zu  sein,  immer  das  tun 
zu  konnen,  was  man  will,  immer  zu  reisen  und  gar  nicht  zu 
Hause  zu  sein  — "  sie  streckt  sich,  setzt  sich  im  Liegestuhl 
auf,  in  weitem,  weiBem  Bogen  heben  sich  ihre  beiden  Arme 
vom  gespannten  Korper  wie  zwei  Strahlen  ab.  Er  hort  im 
Geiste  die  Toccata;  Melodrama,  denkt  er,  so  eine  Dumm- 
heit,  Melodrama.  Er  spurt  Has  Blick  auf  seinem  Gesicht; 
,,ach  Gott,  wie  einfaltig  ich  bin",  sagt  Joly,  ,,so  dummes 

Zeug  zusammenzuschwatzen wollen  wir  nicht  noch 

mal  ins  Wasser  gehen?  es  tutet  gerade,  gleich  kommen 
wieder  die  Wellen  .  .  ."  Gegen  Abend  setzten  sie  Joly 
vor  dem  Haus  am  Ring  ab;  Ila  verabschiedet  sich  mit  ein- 
ladenden  Worten:  ,,ich  hoffe,  wir  sehen  dich  recht  bald 
wieder,  vielleicht  im  Wellenbad,  oder  ruf  uns  im  Hotel  an, 
ein  paar  Tage  bleiben  wir  sicher  noch,  nicht  wahr,  And?" 
—  ,,Ein  paar  Tage?  wahrschcinlich",  antwortet  er.  Dann 
gibt  Joly  ihm  die  Hand,  sein  Kopf  beugt  sich  ein  wenig 
hinuntcr,  und  seine  Hand  hebt  Jolys  Hand,  aber  ihr 
nackter  Arm  leistet  dieser  Bewegung  stark  und  steif 
Widerstand.  Er  setzt  sich  in  den  Wagen;  der  Motor 

379 


springt  mit  leisem  Sausen  an;  Jolys  weiBe  Gestalt  ver- 
schwindct  im  Dunkcl  des  Torbogens. 


Die  Nummer  sah  er  sich  nicht  an,  aber  das  Haus  mcrkte 
cr  sich,  in  dem  Joly  wohnte.  Am  nachsten  Mittag  hatten  sic 
cine  angenchmc  Oberraschung.  Ein  englisches  Ehcpaar 
hattc  sich  im  Hotel  bei  ihnen  anmelden  lassen,  Captain 
Simmons  von  der  Gesandtschaft  und  seine  Frau.  Als  sic  ein- 
treten,  stellt  sich  heraus,  daB  Edith  Simmons  cine  alte  Be- 
kannte  von  ihnen  aus  London  ist;  ihr  Mann  war  vor 
zwei-drei  Wochen  nach  Budapest  verse tzt  worden,  aber 
erst  gestern  hatten  sie  erfahren,  daB  sic  auch  in  Budapest 
seien,  —  der  Gesandte,  bei  dem  Kadars  in  den  ersten  Tagen 
Besuch  gemacht  hatten,  erwahnte  es  ihnen.  ,,Das  ist  wirk- 
lich  fein!  Eine  Bridgepartie  hatten  wir  also  nun,  —  spiclen 
Sie  Tennis?"  —  ,,Naturlich,wirsindsogarTennismeister." — 
,,Herrlich!"  Es  war  zwar  noch  ein  englisches  Ehcpaar  im 
Hotel,  O'Kerbys,  aber  der  Mann  arbeitete  in  der  Provinz 
an  einer  Elektrifizierung,  und  so  hielten  sic  sich  nur  wenig 
in  Budapest  auf.  Bisher  waren  sie  nur  ein-  oder  zweimal 
mit  ihnen  zusammengewesen ;  Frau  O'Kerby  war  iibrigens 
keine  besonders  sympathische  Erscheinung,  etwas  ver- 
schlossen,  etwas  zerfahren,  kurz :  groBartig,  daB  Simmons 
auch  da  sind.  Sie  aBen  zusammen  zu  Mittag,  nach  dem  Essen 
gingen  sie  auf  die  Insel,  der  Captain  war  ein  leidenschaft- 
licher  Polospieler,  cr  spielte  in  der  White-Devils-Mann- 
schaft,  die  nach  aufregendem  Kampf  vier  zu  zweieinhalb 
gegen  die  ungarische  Mannschaft  sicgte.  Zu  drirt  sahen  sie 
dicsem  Match  zu,  gingen  dann  in  die  Konditorci,  wohin 
der  Captain  ihnen  spacer  nachkam.  Kadar  war  wahrend  der 
ganzen  Zeit  etwas  unruhig,  sah  immerfort  nach  der  Uhr, 
,,hast  du  etwas  vor?"  fragtc  Ha  auf  seine  ungcduldigen  Bc- 
wegungen,  ,,nein,  wicso?  ich  hab  nichts  vor  .  .  ."  das  war 
um  die  Stunde,  da  er  vorgcstern  und  Montag  und  Samstag 
im  Wagen  durch  die  Stadt  gefahren  war.  Wieder  ein  Blick 

380 


nach  der  Uhr:  und  da  weiB  er,  die  Unruhe  kommt  daher, 
daB  er  jetzt  diese  Minuten  hier  sitzt  auf  der  smaragd- 
griinen  Rasentribiine  des  Poloplatzes  und  zusieht,  wie  die 
armen  kleinen  Poloponys  sich  abquSlen,  —  es  wird  schon 
voriibergehen.  Natiirlich  wird  es  vergehen,  Gewohn- 
heit,  —  das  ist  alles.  Ik  ist  gliicklich,  heiter,  angeregt,  —  sie 
freut  sich  iiber  die  englischen  Bekannten.  Eigentlich  ist  das 
auch  Gewohnheit.  Wir  sind  Englander,  Siidafrikaner.  Siid- 
afrika  ist  nur  ein  ganz  klein  wenig  weniger  als  England  und 
viel  mehr  als  der  Kontinent,  als  Ungarn  .  .  .  natiirlich  freut 
sie  sich  iiber  die  englischen  Bekannten.  Die  Stunde  ging 
vorbei,  aber  die  Unruhe  verlieB  ihn  nicht,  und  auch  dann 
spukte  sie  noch  in  ihm,  als  sie  schon  lange  in  der  Kon- 
ditorei  saBen.  So  sehr  habe  ich  mich  an  dieses  dumme 
Herumstreifen  gewohnt,  —  und  gewaltsam  stopft  er  sich 
die  Augen  mit  Farben,  die  Ohren  mit  Tonen  2u,  um  nicht 

zu  denken  an Diskrete  Jazzmusik;  elegante  Paare  auf 

dem  Parkett.  Er  sieht  auf  die  Uhr;  seine  Augen  begegnen 
Has  Blick,  —  auf  der  Stirn  hat  sie  eine  schmale,  scharfe 
Falte,  —  Narrheit,  man  muB  doch  eine  so  kindische  Un- 

geduld  bezwingen  konnen Er  geht  mit  Frau  Simmons 

tanzen.  Inzwischen  kommt  auch  Simmons  an.  ,,Eine  herr- 
liche  Stadt  ist  dieses  Budapest",  sagt  er,  ,,schon  vor  zwei 
Jahren  war  einmal  die  Rede  davon,  daB  ich  zu  einer  der 
Gesandtschaften  versetzt  werde,  ich  wuBte  nur  noch  nicht, 
zu  welcher,  und  Edith  sagte  damals,  wenn  wir  bloB  an 
einen  anstandigen  Ort  kommen,  damit  unsere  ersten  Jahre 
schon  werden,  und  da  haben  sie  mich  nach  Budapest  ge- 
schickt,  einen  besseren  Ort  hatten  wir  uns  wirklich  nicht 
wunschen  konnen,  nicht  wahr,  Edith?"  Mrs.  Simmons  sitzt 
nicht  gut,  sie  verrenkt  sich  den  Hals  und  riickt  mit  dem 
Stub]  hin  und  her,  um  die  tanzenden  Paare  sehen  zu  konnen. 
Kddar  bemerkt  es,  sofort  tauscht  er  den  Platz  mit  ihr. 
Jetzt  sitzt  er  dem  Eingang  gegeniiber;  er  betrachtet  die 
Kommenden  und  Gehenden.  Die  Minuten  wogen  langsam 
iiber  das  ruhig-heitere  Gesprach  und  die  Musik  dahin. 


Captain  Simmons  ist  ein  famoser  Mensch.  Edith  cine  licbe, 
reizende  Frau.  Ein  angenehmes,  schdnes  Lokal  ist  das  hier, 
ein  elegantes  Lokal.  Ein  Luxuslokal.  Sie  wird  bestimmt 
nicht  kommcn,  wird  sich  nicht  zufallig  ausgercchnet  hier- 
her  verirren,  in  dieses  elegante,  teurc  Luxuslokal.  GewiB 
sitzt  sie  2u  Hause  und  ...  tut  nichts.  Spater  tanzcn  sic 
wieder;  dann  verabreden  sie  sich  zum  Tennis,  verabreden, 
wann  sie  sich  das  nachstc  Mai  treffen  wollen,  und  gehen. 
Sic  bringen  Simmons  nach  Hause  und  fahren  dann  ins 
Hotel.  ,,Wollen  wir  hicr  zu  Abend  essen?"  fragt  Ila,  ,,oder 
mochtest  du  irgendwohin  gehcn?"  —  ,,Mir  ist  es  gleich", 
antwortet  er,  ,,wie  du  willst."  —  ,,Also,  dann  wollen  wir 
hicr  essen,  und  nachher  konnen  wir,  wenn  du  Lust  hast, 
noch  fur  ein  halbes  Stiindchen  auf  den  Dachgartcn  gehen.'4 
—  ,,Gut,  mein  Kind,  auf  den  Dachgarten."  Dort  ists  auch 
elegant  und  teuer,  denkt  er,  sie  wird  bestimmt  auch  dort 
nicht  scin,  zufallig  auf  der  Dachterrasse. 


Ila  schien  es  in  den  ersten  Tagen  nicht  recht  gepaBt  zu 
haben,  dafi  er  jeden  Nachmittag  fortging,  —  zumindest 
hatte  sie  es  nicht  verstanden,  warum  er  immer  wegging. 
Ihre  etwas  scharfe,  etwas  spottische  Fragc  damals,  die  ihm 
scither  ofters  eingefaDen  war:  Romantik?  zeugte  auch 
davon.  Aber  dann  muBte  es  ihr  wohl  klar  geworden  sein, 
worum  es  sich  bei  diesen  Extratourcn  drehte,  sie  muBte  es 
bcgriflen  haben:  er  suchte  jene  alte  Stadt  und  wufite  viel- 
leicht  nicht  einmal,  daB  er  sie  suchte,  —  oder  aber,  sie  hatte 
sich  einfach  daran  gewohnt.  Eines  Nachmittags  blieb  er  zu 
Hause,  da  fragte  Ila  ihn:  „ warum  gehst  du  nicht  weg 
heutc?"  Einen  Augenblick  schwieg  er  und  antwortete  dann : 
,,du  fragst  nic,  woich  gewesen  bin."  —  ,,Wozu?"  sagte 
Ila,  ,,ich  weiB  es  doch.  Dein  Freund  Kclcmcn  hat  neulich 
mit  eincm  Wort  die  Erklirung  gcgebcn:  Jugendcrinne- 

rungcn viclleicht  wiirde  ich  es  auch  so  machcn,  wcnn 

ich  hicr  gclcbt  hatte."  Wciter  sprachen  sic  nicht  mehr 

382 


davon.  —  Ila  legte  sich  nach  dem  Essen  hin,  und  er  setzte 
sich  in  den  Wagen.  An  einem  der  nachsten  Tage  fuhr  er  auf 
dem  Riickweg  den  Ring  entlang;  auch  am  darauffolgenden 
Tag  nahm  er  dicsc  Strecke;  am  dritten  Tag  hielt  er  ein  paar 
Minuten  jencm  Haus  gegemibcr,  aber  Joly  sah  er  nicht. 
Er  steht  dort  vor  dem  Haus.  Diese  Unruhe,  die  ihn  von 
Zeit  zu  Zeit  iiberfallt  —  kommt  die  daher,  weil  ich  sie  heute 
wieder  nicht  gesehen  habe?  weil  ich  glaube,  ich  werde  sie 
auch  heute  nicht  sehen?  nun,  und?  ist  es  nicht  ganz  glcich- 
gultig?  cine  Kinderei,  hier  auf  dem  Ring  herumzufahren. 
Auf  die  schabige,  gelbliche  Mauer  brennt  die  Sonne,  fast 
samtliche  Fenster  gaffen  ihm  mit  heruntergelassenen 
Jalousien  als  graue,  blinde  Flecken  in  die  spihenden  Augen. 
Und  wenn  ich  hinaufginge  zu  ihnen,  fahrt  es  ihm  plotzlich 
durch  den  Kopf,  —  guten  Tag,  Joly,  wie  geht  es  Ihnen?  — 
Blodsinn!  schnauzt  er  sich  selbst  an,  —  was  soil  denn  das? 

will  ich  mir  etwa  einreden,  ich  sei will  ich  mich  hier 

in  etwas  hineinhetzen?  Wir  werden  abreisen,  denkt  er,  und 
mit  trockener,  kaltcr  Riicksichtlosigkeit  denkt  er  weiter: 
nein,  ich  werde  mich  in  nichts  hineinhetzen.  Sie  sieht  Tilly 
ahnlich,  nein,  sie  hat  bloB  auch  rote  Haare,  sie  sieht  ihr  gar 
nicht  ahnlich,  SchluB.  Ich  werde  abreisen.  Seine  Hand 
zittert  am  Schalthebel,  die  Zahnrader  beiBen  knarrend  in- 
einander,  mit  einem  Ruck  fahrt  der  Wagen  ab,  —  dann 
saust  er  blind  iiber  Platze  und  StraBen.  An  einer  Ecke  ruft 
ihm  der  Polizist  zu:  ,,los,  los,  sehen  Sie  denn  nicht,  daB 
die  Lampe  griin  ist!'*  Als  er  ins  Hotel  zuruckkommt,  sitzt 
Kelemen  mit  Ila  in  scinem  Zimmcr.  Kelemen  hatte  sich 
^»ihrend  seiner  Abwesenheit  telefonisch  gcmeldet,  und 
Ila  hatte  ihn  hinaufgebeten.  Kelemen  spricht  gerade  von 
sich,  von  seinem  Euro.  Er  sei  zwar  augenblicklich  auf  Ur- 
laub,  trotzdcm  habe  ihn  scin  Chef  heute  friih  in  ciner 
schwerwiegenden  Angelegenheit  rufen  lassen,  in  einer  sehr 
crnsten  Sachc,  die  er  bereits  vor  Monaten  angeregt  habe 
und  die  heute  so  weit  gcreift  sei,  d<iB  von  der  Vcrwirk- 
lichung  die  Rede  sein  konne.  Leidcr  gebe  es  noch  kleine 

383 


Meinungsverschiedenheiten  mit  der  Direktion  beziiglich  ge- 
wisser  matcrieller  Punkte.  ,,Es  handelt  sich  namlich  darum, 
daB  mein  Plan,  dcssen  Grundgedanke  1st,  daB  der  kontinen- 

talc  Binnenlandtransport na,  aber  die  Einzelheiten 

konnen  Sie  wirklich  nicht  interessicren,  —  kurz:  wenn  sie 
die  Sache  machen,  jedoch  so,  daB  ich  nicht  den  entsprechen- 

den  Nutzen  habe,  dann "  Jawohl,  denkt  Kadar,  sehr 

richtig,  du  muBt  deinen  entsprechenden  Nutzen  haben, 
damit  du  anstandig  fur  deine  Familie  sorgen  kannst  .  .  . 

„ bin  ich  geneigt,  jedwede  Konsequenz  daraus  zu 

ziehen,  das  habe  ich  ihnen  auch  deutlich  genug  vorher 

erklart "  natiirlich,  nur  nicht  weich  werden,  Geld 

kann  man  bloB  mit  energischer  Geste  ,  .  .  „ und  wenns 

sein  muB,  breche  ich  mit  ihnen  und  verklage  sie/'  Plotzlich 
unterbricht  er  Kelemen.  ,,Sag  mal,  Andor,  wieviel  ver- 

dienst  du  eigentlich "  oh,  solch  eine  dumme,  indiskrete, 

taktlose  Frage!  Ila  blickt  mit  peinlich  erstauntem  Gesicht 
in  die  Luft,  Kelemens  Brauen  zucken  nach  oben,  —  dumme, 
taktlose  Frage  .  .  .  ,,Nicht  ein  Fiinftel  von  dem",  antwortet 
Kelemen,  ,,was  ich  brauche,  und  nicht  ein  Zehntel  von  dem, 
was  meine  Arbeit  entlohnen  wiirde",  —  jawohl,  das  ist 
eine  wiirdige  Antwort  auf  die  dumme  Frage,  auf  diese  un- 
passende,  taktlose  Frage,  —  auf  Kelemens  Stirn  iiber  den 
hochgezogenen  Brauen  bleibt  eine  schmale,  scharfe  Falte: 
,,eine  Bagatelle,  lieber  Freund,  eine  Bagatelle.  Sehr  wenig 
verdiene  ich.  Wenn  ich  dir  die  Ziffer  sagte,  wiirdest  du 
verdutzt  sein,  daB  — "  Wenig?  manchmal  sind  auch 
tausend  Pfund  wenig,  und  manchmal  ist  ein  halbes  Pfund 

mehr  als Und  als  Kelemen  nun  weiterspricht,  in 

bittern  Worten,  von  dem  Kampf  des  Talentes  und  der 
Ellenbogen  und  davon,  daB  man  langsam  dahin  gelangt . . . 

fast  wire  es  das  beste,  den  Wanderstab  zu  crgreifen da 

failt  Kidan  Joly  ein,  ihre  leiscn  Wortc  vom  gedriickten  klein- 
biirgcrlichcn  Leben,  von  der  Geldlosigkeit,  von  der  Lange- 
weile;  er  sieht  das  zusammengcstiickeltc  griine  Kleid  vor 
sich,  das  sie  auf  der  Insel  anhatte,  und  er  muB  an  das  im 

384 


Riicken  tief  dekolletierte,  glattc,  schwere  schwarze  Seiden- 
wunder  denken,  das  Ik  sich  jetzt  im  Friihjahr  in  Paris  gc- 
kauft  hatte.  ,Joly?"  sagt  Kelemen  in  diesem  Moment, 
,,danke,  es  gcht  ihr  einigermaBen.  Jetzt  hat  sie  sich  ein  paar 
Tage  mit  einer  Art  Sommerschnupfen  gequalt,  aber  sie  ist 
schon  wieder  in  Ordnung,  heute  mittag  habe  ich  mit  ihr 
gesprochen."  Und  dann,  daB  sie  gewiB  gliicklich  ware, 
wenn  sie  sie  wieder  einmal  an  einem  Programm  beteiligen 
warden,  wenn  sie  nachstens  wieder  zusammen  irgendwo 
hingingen.  ,,Aber  gerne",  sagt  Ha,  ,,sagen  Sie  Joly  un- 
bedingt,  ich  mochte  sie  recht  bald  sehen,  und  ich  wxirde  mich 
sehr  freuen,  wenn  sie  mit  uns  kame."  Dann  sprechen  sie 
von  Ausflugsplanen,  und  es  ergibt  sich,  daB  sie  morgen 
abend,  wenn  das  Wetter  schon  ist,  in  ein  kleines  Restaurant 
drauBen  an  der  LandstraBe  gehen  werden:  Kadar  mochte 
am  liebsten  Kelemen  gleich  mit  dem  Auto  zu  Joly  schicken, 
damit  sie  sich  nichts  anderes  fiir  morgen  vornimmt.  ,Ich 
bin  gewohnlich  zu  Hause  ...  und  tue  nichts  .  .  .  sehr  selten 
gehe  ich  ausc . . .  —  aber  trotzdem,  vielleicht  hat  sie  gerade 
fiir  morgen  .  . .  Nach  dem  Abendessen  mochte  Ila  einen 
kleinen  Spaziergang  machen,  nicht  weit,  bloB  um  ein 
biBchen  Bewegung  zu  haben.  Sie  gehen  zweimal  den  Donau- 
kai  endang,  setzen  sich  auf  die  Bar-Terrasse  und  sehen  sich 
das  abend liche  Gewimmel  an.  Nach  wenigen  Minuten 
spaziert  in  Gesellschaft  einiger  junger  Leute  und  Madchen 
Joly  an  ihnen  voriiber.  Sie  hat  sie  sofort  bemerkt,  und  auf 
lias  griiBende  Handbewegung  kommt  sie  zu  ihnen  an  den 
Tisch.  Sie  tragt  einen  hellblauen  leichten  Rock  und  einen 
weiBen  Pullover,  in  der  Hand  halt  sie  einen  kleinen  blauen 
Hut.  ,,Die  Kinder  sind  zu  mir  raufgekommen,  und  dann  sind 
wir  schneil  hergelaufen  an  den  Korso,  ein  biBchen  Luft 
schnappen."  Sie  wechseln  einige  Worte;  Ila  fordert  sie  auf, 
Platz  zu  nehmen,  —  ,,oh,  sei  bitte  nicht  bose,  aber  in  dem 
kleinen  Fetzen,  den  ich  hier  anhabe,  geht  das  wirklich 
nicht,  und  ich  kann  doch  auch  meine  Gesellschaft  nicht  im 
Stich  lassen,  dabei  wiirde  ich  wirklich  hcrzlich  gerne  mit 

25  KOrinenUi,  Budapest  385 


dir  zusammensein  ..."  —  ,,Na,  gut,  also  dann  morgen 
abend  ..."  —  ,,Ach,  ja,  danke  sehr,  Bandi  war  vorhin  auf 
einen  Sprung  bei  uns  oben  und  hat  mir  gesagt,  daB  du  und 
dein  Mann  so  liebenswiirdig  waret,  mich  fiir  morgen  abend 
zur  Autofahrt  einzukden",  und  dann  verabschieden  sie  sich 
damit,  daB  Joly  mit  ihrem  Bruder  sie  im  Hotel  abholen 
kommen.  ,,WeiBt  du,  sehr  hiibsch  ist  dieses  Madel",  sagt 
Ila  spater,  ,,dabei  ist  es  fiir  Rothaarige  nicht  leicht,  hiibsch 
zu  sein,  aber  sie  hat  wunderbare  Haut  und  so  eigenartige 
Augen  .  .  .  schade,  daB  ihr  Mund  nicht  schoner  ist, 
nicht?"  —  ,Ja,  tatsachlich,  sie  hat  keinen  schonen  Mund."  — 
,,Nicht  eben  haBlich",  fahrt  Ila  fort,  ,,aber  .  .  .  was  Augen, 
was  Mund,  zwanzig  Jahre  ist  sie,  Anti,  zwanzig  Jahre!  . . ." 
Joly  und  ihr  Bruder  saBen  bereits  in  der  Halle,  als  sie 
am  nachsten  Abend  hinuntergingen.  Joly  hatte  das  griine 
Kleid  von  neulich  an,  und  nun  fallt  es  auch  Ila  auf,  daB  das 
Kleid  dieselbe  Farbe  hat  wie  ihre  Augen.  ,,Ja,  das  habe  ich 
auch  schon  bemerkt",  sagt  Joly,  ,,aber  es  ist  wirklich  nur 
ein  Zufall,  das  Kleid  war  mal  weiB,  und  fiir  die  griine  Farbe 
ist  die  chemische  Farberei  verantwortlich",  und  lacht. 
Ihr  Mund  ...  ihr  Mund  ist  nicht  schon,  etwas  zu  groB.  Aber 
ihre  Zahne  sind  schon,  wie  Perlen  leuchten  sie,  mattweiB. 
Kelemen  und  Ila  sitzen  hinten,  Joly  vorn  neben  ihm. 
Langsam  fahren  sie  durch  die  Stadt;  die  abendlichen 
StraBen  sind  voller  Menschen,  Fahrzeuge,  blitzender  und 
schreiender  Lichter.  ,,Ich  habe  die  Stadt  am  Abend  viel 
lieber  als  am  Tage",  sagt  Joly,  ,, abends  ist  allcs  anders, 
irgendwie  groBer  und  . . .  ich  sehe  es  dann  nicht  so,  wie  ich 
es  am  Tage  kenne.  Sagen  Sie,  in  einer  richtigen  GroBstadt, 
in  Paris  zum  Beispiel,  gibt  es  da  viel  mehr  Licht?"  —  ,,Oh, 
viel  mehr,  Paris  ist  iiberhaupt  ganz  anders  als  Budapest." 
Sie  fahren  am  Bahnhof  vorbei;  gerade  ist  ein  Zug  an- 
gekommen,  ein  Schwarm  von  Taxen  und  Privatwagcn 
versperrt  den  Weg.  ,,Wissen  Sie,  ich  bin  furchtbar  gcrn 
auf  Bahnh6fen",  spricht  sie  wieder,  ,,manchmal  gche  ich 
bloB  so,  ganz  ohne  besondern  Grund  auf  den  Perron.  Ich 

386 


liebe  den  Eisenbahngeruch,  und  meistens  werde  ich  so 
aufgeregt  davon,  als  verreiste  ich  wirklich,  und  bei  solchen 
Gelegenheiten  denke  ich  dann,  einmal  werde  ich  auch 
verreisen,  in  alle  moglichen  Gegenden,  weit  weg.  Drollig 
war  das,  voriges  Jahr  bin  ich  mit  meiner  Schwester  nach 
God  gefahren  zu  einer  bekannten  Familie,  wissen  Sie, 
God,  das  liegt  hier  ungefahr  eine  halbe  Stunde  von 
Budapest  entfernt ..."  —  machtige,  schwarze  Heuwagen 
kommen  ihnen  auf  der  Chaussee  entgegen,  —  ,,sie  schimpfte 
und  zankte  mit  mir,  aber  ich  lieB  sie  reden  und  stieg  in  God 
nicht  aus,  sondern  fuhr  weiter  bis  Vac,  das  ist  noch  eine 
halbe  Stunde  ..."  —  manchmal  leuchtet  ihnen  ein  Reflek- 
torenpaar  in  die  Augen  und  verlischt  im  Vorbeifahren 
hoflich  fur  einen  Moment,  —  ,,so  gliicklich  war  ich,  eine 
Dummheit  natiirlich,  aber  solche  kleinen  albernen  Freuden, 
solche  Illusionen  .  .  ."  Dann  wurde  es  leer  auf  der  Chaussee, 
der  starke  Wagen  schien  ausgestreckt  einen  groBen  Sprung 
zu  tun  und  fegte  dann  zischend  die  Kilometer  hinter  sich 
in  den  Abend.  Er  blickt  nach  vorn,  geradeaus  auf  die  Fahr- 
straBe,  ohne  mit  der  Wimper  zu  zucken,  dirigiert  er  mit 
leichter  Hand  das  Steuerrad,  —  diese  StraBe  .  .  .  wir  sausen 
in  den  Abend  hinein  nach  Helena- Village  zu,  ein  Stiind- 
chen  tanzen  .  .  .  An  seiner  rechten  Seite  spurt  er  leichte 
Warme,  und  durch  den  Geruch  von  Ol  und  Benzin  stiehlt 
sich  von  rechts  leise  ein  kuhler,  reiner  Seifenduft  hin- 
durch,  —  seine  Augen  blicken  unverwandt  auf  die  vom 
Reflektorlicht  bleiche  StraBe,  aber  jetzt  fiihlt  er,  daB  das 
Madchen  ihn  ansieht,  von  der  Seite,  wie  sie  zuruckgelehnt 
neben  ihm  sitzt  und  mit  verstohlenen,  zuckenden  Blicken 
sein  Gesicht  anschaut,  und  dann  fiihlt  er,  daB  der  Augen- 
strahl  plotzlich  von  seinem  Kopf  abspringt,  ,,oh,  hundert- 
zehn  Kilometer",  sagt  Joly,  ,,ich  habe  immer  ein  biBchcn 
Angst  im  Auto  ...  ich  finde  es  zwar  wunderbar,  so  zu 
sausen,  aber  so  im  Dunkeln  w5re  es  vielleicht  doch  besser, 
etwas  langsamer  —  — "  Oh,  ja,  sausen,  —  mit  dieser 
plotzlichen  Unruhe  in  der  Brust,  mit  dem  fremden,  kuhlen 

25*  »ft-r 


Geruch  in  der  Nase,  mit  Jolys  ausstrahlender  WSrme  an 
der  rcchten  Seite,  —  sausen  mit  hundertzehn  Kilometer 
Geschwindigkeit,  auf  Helena- Village  2u,  —  oder  anders- 
wohin,  einerlei,  irgendwohin,  im  Strahl  der  ihn  an- 
blit2enden  griinlich-blauen  Augen  und  der  Miilionen 
Sterne  unter  dem  friedlichen  groBen  schwarzen  Himmel . . . 
Das  Restaurant  war  schon  voll ;  mit  Miihe  gelang  es,  direkt 
am  Zaun  noch  einen  Tisch  aufstellen  zu  lassen,  unter  freiem 
Himmel  in  der  Biegung  der  Chaussee.  Die  LandstraBe  zog 
sich  in  schlafriger,  weiBschimmernder  Ruhe  in  die  Nacht; 
vor  dem  helleren  Schwarz  des  Horizonts  standen  mit 
schwarzeren  Schatten  die  Baume  am  Rande  der  StraBe 
starr  da;  wohlwollend  streute  das  Himmelsgewolbe  in 
schwarzer  Freigebigkeit  seinen  Sternenschatz  iiber  die 
Landschaft;  von  der  Wiese  her  klang  heiter  das  nachtliche 
Zirp-Orchester,  eine  tausendrhythmige,  panharmonische 
Begleitung  der  Musiktone,  die  nur  gedampft  bis  zu  ihrem 
Tisch  drangen.  Auf  dem  steinernen  Gang  unter  den 
Lampions  wurde  getanzt,  —  das  war  eigentiimlich,  die 
klagende,  fremdartige,  getragene  Melodic  der  Jazz,  die 
vom  Gang  des  landlichen  Hauschens  nach  der  niichtlichen 
Wiese  klang  iiber  die  Kerzenflammen  hinweg,  die  unter 
Glasglocken  auf  den  Tischen  flackerten.  Hie  und  da  staubte 
blendend  das  gelbe  Licht  auf  der  LandstraBe  auf,  zwei 
gliihende  Augen  sausen  auf  sie  zu  und  rasen  an  ihnen  vorbei; 
xnanchmal  knattert  maschinengewehrartig  der  Auspuff 
eines  davonfahrenden  Autos.  —  Er  betrachtet  Joly.  Sie 
1st  schweigsam,  nur  dann  und  wann  sagt  sie  ein  Wort,  ihre 
weiBe  Hand  bastelt  schlafrig  mit  den  Speisen.  ,,Bist  du 
mude,  Kleine?"  fragt  Ila  sie  einmal,  ,,du  kommst  mir 
mude  oder  schlecht  gelaunt  vor."  —  ,,Nein,  gar  nicht", 
antwortet  sie,  ,,ich  genieBe  nur  den  Abend,  es  ist  so  schon 
und  so  sonderbar  hier."  Ja,  es  war  schon  und  sonderbar 
hier;  in  dem  eigenartigen,  etwas  gekunstelten  Gemisch  von 
stadtischer  Eleganz  und  zuriickgctraumter  Primitivitat  der 
vorbildlichen  Heideschenkc,  von  Aroma  des  franzosischcn 

388 


Sekts  und  nachtlichem,  heuduftendem  Hauch  der  Wiesc, 
von  Jazz,  Autos  und  Kerzenflammen.  Gesichter,  Kleider, 
Stimmen,  Bewegungen :  die  alle  gehoren  in  die  Bar  auf  der 
Insel.  Aber  der  Himmel .  .  .  der  Himmel  ist  keine  Draperie, 
die  Sterne  keine  Gliihbirnen,  der  Horizont  keine  Kulisse  — 
Jolys  Gesicht  leuchtet  bleich  im  Kerzenlicht;  einmal  griff 
er  nach  dem  Brot,  und  seine  Hand  beriihrte  Jolys  Hand, 
Joly  zuckte  zusammen,  das  sah  er  genau,  und  die  weiBe 
Hand  zog  sich  plotzlich  und  knapp  zuriick,  —  da  spiirte  er 
eine  Warme  in  der  Brust  aufsteigen,  und,  als  wolle  er  seinen 
Sruhl  zurechthicken,  begann  er  sich  zu  bewegen  und 
streifte  dabei  absichtlich  mit  der  Hand  an  Jolys  Arm,  und 
sie  zuckte  wieder  zusammen  und  wich  gleichsam  zufallig  ein 
wenig  zuriick.  —  Sie  aBen,  sprachen,  tanzten;  und  als  sie 
sich  bei  den  Klangen  getragener  Tanzmusik  aneinander 
schmiegen,  driickt  er  Joly  fester  an  sich,  —  jetzt  zuckt  sie 
nicht  zusammen?  —  und  noch  fester;  er  fuhlt  sogar  in 
dieser  Umarmung,  wie  des  Madchens  Atem  einen  Augen- 
blick  stockt,  —  und  als  der  Tanz  zu  Ende  ist,  hebt  er  mit 
gewalttatiger  Faust  Jolys  schwere  Hand,  die  sich  auch 
diesmal  entgegenstemmt,  und  kuBt  sie  iiber  dem  Gelenk. 
Ihr  Handgelenk  ist  schmal,  feine  Knochel  und  schlanke 
Beine  hat  sie,  und  ihre  Haut  ist  tadellos  weiB,  ihre  Figur, 
ihre  Schultern  sind  schmal,  und  —  ,zwanzig  Jahre  ist  sie, 
And,  zwanzig  Jahre  1*  .  .  .  mit  seltsamem  kleinem  Stutzen 
hort  er  Has  Worte  in  seinen  Ohren  klingen,  zwanzig  Jahre! 
Sie  gehen  zuriick  zwischen  den  Tischen  hindurch,  einen 
halben  Schrirt  bleibt  er  hinter  Joly  zuriick,  so  beobachtet 
er  sie  im  unsicheren  Licht  der  flackernden  Flammen.  Joly, 
sie  scheint  schlecht  gelaunt  zu  sein.  Ila  indessen  trinkt 
wieder  viel,  ist  heiter  und  laut,  hat  fur  alles  ein  herzliches, 
anerkcnnendes,  liebes  Wort,  —  komisch,  als  ob  sie  jiinger 
ware,  viel  jiinger  als  Joly  .  .  .  vielleicht  macht  das  das 
maskenhafte,  iibertrieben  weiBe  Gesicht  —  —  Sparer 
kotnmt  mit  wildem  Getute  eine  larmende  Gesellschaft  an  in 
einem  als  Rennwagen  dekorierten  altcn  Rappelkasten;  drei 

389 


junge  Leute  mit  lauten  Stimmen  und  zwei  lachende  Mad- 
chen,  die  dcr  Gastwirt  an  einem  in  ihrer  Nahc  freigcwor- 
denen  Tisch  unterbringt.  ,,Oh,  kuB  die  Hand,  meine 
Damen!  Scrvus,  Jungens!"  —  Der  cine  Jiingling,  dessen 
Anzugfarbe  an  gemischtes  Eis  erinnert,  tritt  sofort  zu  ihnen 
an  den  Tisch  —  Simon,  mit  lauten  Worten  und  breiten 
Gesten,  ,,ah,  wirklich  groBartig,  daB  wir  uns  hicr  so  trcfFen, 
wenn  Sie  gestatten,  siedle  ich  nachher  ein  biBchen  iiber  zu 
Ihnen,  ich  komme  mir  da  driiben  sowieso  wie  ein  fiinftes 
Rad  am  Wagen  vor  .  .  .",  und  da  bemerkt  er,  daB  auch  hier 
zwei  Paare  sitzen,  aber  Ila  lacht  schon  dazwischen:  ,,und 
sind  Sie  sicher,  daB  es  Ihnen  hier  besser  ergeht?"  —  ,,An 
Ihrer  Seite  bin  ich  mit  tausend  Freuden  auch  das  fiinfte 
Rad  am  Wagen!"  und  kaum  hatte  er  sein  Abendessen  ver- 
schlungen,  zog  er  auch  schon  um  zu  ihnen.  ,,Also,  die  haben 
mich  da  zufallig  vor  dem  Cafe  Abbazia  erwischt,  und  da 
bin  ich  eben  aufs  Geratewohl  mitgezogen,  kennen  Sie  die? 
Lori  vom  Operettentheater  mit  einem  Textilmenschen  und 
ein  Kollege  von  mir  mit  einer  namenlosen  Maria,  sonst  aber 
eine  recht  frische  Person.  Ich  hab  mich  nur  ungern  mit- 
schleifen  lassen,  obschon  ich  wirklich  nichts  Besseres  zu 
tun  hatte,  aber  ein  Gliick,  daB  ich  Sie  hier  gefunden  habe, 
verehrte  Gesellschaft!"  —  sein  lautes  Geplapper  schwebt 
iiberm  Tisch  wie  ein  hingebannter  Vogel,  seine  Worte  und 
sein  Lachen  hiipfen  sprudelnd  iiber  seine  Lippen,  —  Simon 
ist  in  Stimmung,  Simon  kennt  jeden,  der  hier  ist,  und  weiB 
von  alien  alles:  wer  Schuldcn  hat  und  bei  wem  und  wieviel, 
wer  um  das  Zwangsausgleichverfahren  cinkommen  wird 
und  warm  und  voraussichtlich  mit  welcher  Quote,  mit  wem 
die  einzclnen  hier  sind  und  warum  gerade  in  Gesellschaft 
der  Betreffenden,  welches  von  den  Parchen  cinen  ernsten 
Ehebruch  vorstellt  und  welches  bloB  eincn  kleinen  Sommcr- 
flirt,  welche  Ehescheidungen  und  EhcschlieBungcn  in  Gang 
sind  und  fur  wicviel,  —  er  ist  iiber  alle  ncueren  Stiickchen 
der  fatzkenhaften  Magnatcnjiinglinge  und  der  pseudo- 
aristokratischen  Lackel  informiert,  —  und  er  kennt  den 

390 


Inhalt  der  Taschcn  und  Kopfe,  als  waren  sic  umgcdreht. 
Wcnigstcns  nach  seincm  wirbclndcn  Wortschwall  zu 
urteilen . . .  aber  Ila  amiisiert  sich  anscheinend  glanzend  iibcr 
Simons  Schnurren,  ermuntert  ihn  und  fragt  ihn  aus  ubcr 
den  dort  mit  dem  Monokel  und  dcr  Mopsnase  und  iibcr 
jene,  die  aussieht  wie  ein  zum  Damon  karikiertes  Kinder- 
madchen,  —  dann  hort  Simon  fur  ein  Weilchen  auf  zu 
reden  und  starrt  nachdenklich  in  die  Luft,  ,,eigentlich", 
sagt  er  leise,  ,,ist  diese  ganze  Sache  etwas  widerlich,  etwas 
anriichig.  Wenn  man  mal  diesem  ganzen  Rummel  hier 
hinter  die  Kulissen  guckt .  .  .  na,  aber  man  braucht  ja  nicht 
dahinterzugucken,  ich  bin  gewiB  der  letzte,  der  seine  Nase 
da  reins teckt,  oder  vielmehr,  der  letzte,  der  erzahlen  wird, 
was  er  dort  gesehen  hat.  Jung  sind  wir,  mein  Gott,  Jung! 
Und  die  heutige  Jugend  ?  vielleicht  sogar  der  heutige  Mensch 
im  allgemeinen,  der  Westeuropaer  oder  der  von  jenseits 
des  groBen  Wassers  — "  er  schweigt  fiir  einen  Moment,  — 
,,die  fiir  den  heutigen  Zeitgeist  charakteristischen  In- 
strumente  sind  der  Volant  und  das  Saxophon.  Die  Ideale, 
die  Sehnsiichte  vereinfachen  sich,  die  Mittel  folgen  der  Idee 
und  werden  unmittelbarer.  Die  Epoche  der  Prosperity,  der 
Week-ends  und  der  Girl-friends  tragt  auf  ihrem  Banner 
weder  ein  Kreuz  noch  ein  Schwert,  auch  kein  Buch  und 
keinen  Geldsack,  sondern  den  Volant  und  das  Saxophon. 
Nun  ja,  gewiB  sind  auch  noch  die  iibrigen  Spielzeuge  da,  die 
Retorte,  die  Lanzette,  der  Tank,  —  aber  was  man  sieht, 
das  ist  doch  der  Volant  und  das  Saxophon.  Und  sicherlich 
hat  das  wie  alle  Zeitsymptome  seine  tiefe  soziale,  wirt- 
schafdichc,  philosophische,  physiologische,  psychische  und 
moralische  Bedeutung.  Wir  miissen  rasen,  wir  haben  keine 
Zeit,  langsam  zu  leben  im  Tempo  der  GroBvatcr,  Vater  oder 
auch  nur  der  alteren  Briider,  wir  miissen  rasen,  um  der 
Zeit  und  uns  selbst  nachzukommen,  rasen  mit  dem  Volant 
und  lachcn  mit  dem  Saxophon.  Und  zwischcndurch  ergieBt 
sich  iibcr  die  Welt  der  russkchc  Wcizcn,  das  russische  Ol; 
die  russische  Produktion  vcrfolgt  offenbar  die  gchcimcn 

39' 


Wcgc  dcs  russischcn  Goldes,  —  rasen  miissen  wir,  und 
wenn  die  von  1914  bis  1918  in  Triimmer  geschossene 
Seelc  dieses  Tempo  nicht  aushalt,  dann  raus  mit  ihr,  iibcr- 
fliissiger  Ballast  ist  sic,  macht  die  Hand  am  Volant  unsicher, 
stopft  dir  die  Ohren  zu  vor  den  Klangen  des  Saxophons, 
die  Vcrgessen  und  Ruhc  bringen  und  dein  femes,  fremdes 

Leben  in  dich  hineinglucksen rasen  muBt  du,  und  wenn 

du  fur  einen  Augenblick  haltmachst,  bleibst  du  urn  Jahre 
zuriick  und  kannst  vielleicht  mit  deinem  ganzen  Lcbcn 
diesen  einen  Augenblick  nicht  mehr  cinholen  .  .  .  na,  und 
so  weiter  — "  resigniert  winkt  er  ab,  ,,Blodsinn,  was  ich  da 
rede,  das  gehort  eigentlich  schon  zum  besagten  Halt- 
machen."  —  ,,Oh,  bravo!"  sagt  Ua,  ,,bravo,  Sie  reden  ja 
blendend,  einfach  poetisch,  ein  biBchen  oberflachlich  zwar, 
Sie  entschuldigen  doch,  ein  biBchen  unwahr,  ein  biBchen 
zynisch,  kurz  .  .  .  beinahe  lyrisch,  —  Anti,  bitte,  schcnk 
doch  ein,  —  aber  Sie  haben  recht,  jung  sind  wir  in  dieser 
alten  Welt,  und  das  ist  die  Hauptsache."  Jung!  durchzuckt 
Kadar  das  Wort,  —  zwanzig  Jahre,  Anti,  zwanzig  Jahre  . .  . 
und  ich  bin  zweiunddreiBig  .  .  .  und  sic  sechsunddreiBig.  — 
Die  Glascr  klingen  in  die  lockendc  Musik,  und  als  sic  nun 
dem  Tanzplatz  zuschreiten,  hebt  er  mit  unwillkiirlicher, 
unbewuBtcr  Hartnackigkeit  seine  Hand  nach  Jolys  Arm, 
hangt  sich  in  den  nackten  Arm  ein  und  driickt  ihn  an  seine 
Hiifte,  —  ,,bitte,  lassen  Sie  mich  los",  sagt  Joly,  ,,nicht .  .  . 
Sic  miissen  nicht  — "  ,Was?I  was  muB  ich  nicht?!  was 
willst  du  nicht?!  wogcgcn  wehrst  du  dich?!'  —  er  stolpcrt 
iibcr  ein  Stuhlbein,  ,,sorry",  aber  Jolys  Arm  laBt  er  nicht 
los,  erst  als  sic  auf  dem  steinernen  Gang  cinander  gegen- 
iibcrstchcn,  gibt  er  ihn  fiir  cincn  Augenblick  frei,  bis  sein 
Arm  sich  urn  Jolys  Riicken  legt,  —  und  der  griinlich-blaue 
Strahl  blitzt  ihm  mit  schwachcm,  kleinem  Lacheln,  ein 
wenig  erstaunt,  ein  wcnig  frcmd  .  .  .  frcmd?  —  so  schr,  so 
verbliiffend  bekannt  blitzt  er  ihm  ins  Auge.  Plotzlich  hat 
cr  das  Gefiihl,  daB  jetzt  ctwas  —  daB  cs  jctzt  bcsscr  ware, 
sofort  mit  dieser  Sache  SchluB  zu  machen,  mit  dicscm  Tanz 

39* 


und  .  .  .  mit  dcm  Ganzen,  und  nach  Hause  zu  gehen,  es  war 

sehr  schon,  und  abzureiscn ,,Nicht  wahr,  die  Eng- 

lander  tanzen  alle  gut?"  fragt  Joly,  ,,wissen  Sic,  ich  mag  das 
so  gern,  wcnn  gleich  groBe  Menschcn  mitcinander  tanzen, 
aber  ich  reiche  Ihnen  nur  bis  an  die  Schulter  oder  vielleicht 
ein  biBchen  hoher  ..."  —  Und  wenn  ich  mich  jetzt  nieder- 
beugte  .  .  .  nur  bis  an  die  Schulter  reicht  sie  mir,  —  und  sie 
auf  den  Mund  kliBte  —  ,,Sie  tanzen  auch  sehr  gut,  Sie 
zahlen  ja  auch  schon  eher  als  Englander  als  als  Ungar,  aber 
eigentlich  tanzen  die  Ungarn  auch  gut ..."  Wenn  ich  mich 

jetzt  niederbeugte Auf  der  Heimfahrt  lenkt  Ila  den 

Wagen,  Kelemen  sitzt  neben  ihr,  sie  beide  hinten.  Joly 
lehnt  sich  zuriick;  sie  hat  einen  schwarzen  Mantel  an,  der 
ihren  ganzen  Korper  einhiillt  und  bis  unter  den  Sitz  reicht, 
nur  der  weiBe  Fleck  ihres  Gesichtes  und  das  rote  Haar 
leuchtcn  iiber  dem  schwarzen  Stoff.  Ihre  Hande  im  SchoB 
halten  die  Handschuhe,  reglos  liegen  die  Hande  da,  als 
lebten  sie  gar  nicht.  Ihre  Lider  senken  sich,  sie  halt  die 
Augen  minutenlang  geschlossen.  Sie  sprechen  nicht.  Ila 
fahrt  langsam  und  vorsichtig  auf  dem  unbekannten  Weg. 
Kelemen,  nach  vorn  gebeugt,  sieht  aufmerksam  auf  die  im 
Licht  der  Lampen  weiBschimmernde  Chaussee.  —  Wenn  ich 

jetzt  sagen  wiirde,  Joly,  geben  Sie  mir  Ihre  Hand und 

da  sieht  er  vorn  im  kleinen  Spiegel  Has  strahlende  schwarze 
Augen,  wie  sic,  auf  die  LandstraBe  geheftet,  im  Spiegelglas 
glanzen,  —  oh,  Has  treue,  kluge,  klare,  schwarze  Augen  . . . 
ihre  bcrauschten,  tiefgriindigen  schwarzen  Augen,  in  jener 
ersten  Nacht,  auf  der  ersten  Reise,  auf  dem  Schiff  hinter 

Gibraltar ihre  hungrigen,  gierigen  Lippen  und  ihren 

gliihenden  weiBen  Korper,  wie  sie  dort  im  Dunkel  stand, 

hinter  der  halbgeoffneten  Kabinentur,  als wenn  ich 

jetzt  sagen  wiirde,  ganz  leise,  so  daB  nur  sie  es  hort,  Joly, 

gcben  Sie  mir  Ihre  Hand ,Je,  sehen  Sie,  wie  es  dort 

glanzt",  sagt  Joly  auf  einmal,  ,,haben  Sies  nicht  gcsehen? 
cs  war  gcwiB  ein  Hasc  oder  cine  Katze,  die  Augen  haben 
so  geleuchtet  in  der  Dunkelheit,  ganz  griin  .  .  ."  sic  richtct 

393 


sich  auf  und  bcugt  sich  sum  Fcnstcr,  ,,die  Lampen  dort, 
das  ist  schon  Budapest,  nicht  wahr?"  —  Vor  dcm  Haus  auf 
dem  Ring  bleibt  der  Wagcn  stchcn;  cr  stcigt  aus,  hilft 
Joly  heraus,  Kelcmen  ist  schon  am  Haustor  und  klingelt. 
Ila  bleibt  am  Stcuerrad  sitzen,  durchs  Fenster  ruft  sie  noch 
einmal:  ,,auf  Wiedersehcn,  also  mclde  dich  rccht  bald, 
Joly."  Sie  gebcn  sich  die  Hand.  ,,Gute  Nacht.  Auf  Wicder- 
sehen."  Wenn  ich  jetzt  sagcn  wiirde  —  und  da  fiihlt  er,  da6 
Jolys  Hand  sich  in  seiner  Hand  still  und  nachgiebig,  gleich- 
sam  auffordernd  nach  oben  bewegt;  unbemerkt  hebt  sich 
die  Hand,  und  da  neigt  er  sich  iiber  sie  und  kuBt  sie.  Als 
er  den  Kopf  aufrichtet,  scheint  ihm  der  griinlich-blaue 
Strahl  wieder  ins  Gesicht,  —  neben  dem  Wagen  steht 
Kelemen  und  betrachtet  die  beiden  mit  sonderbar  auf- 
merksamem,  nachdenklichem  Blick. 


Irgcndwie  hatte  er  das  Gefiihl,  Joly  wiirde  sich  auf 
Das  nette  Aufforderung  hin  doch  nicht  gleich  am  nachsten 
oder  iibernachsten  Tag  melden,  —  er  erwartete  es  auch 
nicht.  Aber  als  drei  Tage  ohne  Joly  vergangen  waren  und 
Ila  an  diesem  Abend  ihren  kleinen  rotledcrnen  Kalender 
hervornahm  und  sagte:  ,,es  wird  allmahlich  Zeit,  in  die 
Schweiz  zu  schreiben,  oder  meinst  du,  es  geniigt,  wenn  wir 
telegrafisch  mitteilen,  daB  wir  kommen?"  —  da  war  sofort 
wieder  die  Unruhe  der  vorhergchendcn  Tage  in  ihm,  und 
er  dachte,  ware  er  an  den  letzten  drci  Tagen  iiber  den  Ring 
gefahren,  dann  hatte  er  wahrschcinlich  .  .  .  bestimmt  Joly 
getroffen.  ,,Wir  konnen  ja  schreiben",  gab  cr  Ila  zur 
Antwort  und  schwieg.  ,,Gut",  fuhr  Ila  fort,  ,,also  schrcibcn 
wir  dann  nach  Sankt  Moritz  und  nach  Flims  und,  was 
hartcst  du  noch  damals  im  Winter  gesagt?  nach  Engclberg?" 
Er  antwortetc  nicht  gleich,  zcrstreut  blattcrte  er  in  der  auf 
dem  Schreibtisch  liegenden  cnglischen  Zeitung  und  sagte 
oder  fragtc  cher  ctwas  vcrspitet:  ,,ja?"  —  ,,H6rst  du  denn 
nicht  zu?"  sagt  Ila,  ,,ich  glaubc,  von  Budapest  habca  wir 

394 


jetzt  gcnug,  wir  konntcn  weiterfahren,  nein?"  —  ,,Gut", 
sagt  er  und  legt  die  Zeitung  zusammen,  ,,erst  abcr  .  .  .  oder 
inrwischen  will  ich  mir  jcdenfalls  diese  Sache  da  ansehen, 
Abley  habe  ichs  telefonisch  erwahnt."  —  ,,Du  willst  dich 
damit  befassen?"  fragte  Ha  in  etwas  befremdetem  Ton. 
Plotzlich  und  lebhaft  sagte  er:  ,,nun,  befassen,  —  ich  weiB 
nicht,  ich  glaube  kaum,  aber  ansehen  will  ich  mir  die  Sache 
immerhin,  Abley  meinte  auch  .  .  ."  —  ,,  Abley  kann  doch 
von  dort  aus  nicht  beurteilen",  sagt  Ha,  ,,ob  es  sich  iiber- 
haupt  lohnt,  die  Geschichte  anzusehen,  und  kann  erst  recht 
nichts  dazu  sagen,  ob  es  der  Miihe  wert  ist,  sich  damit  zu 
beschaftigen,  das  kannst  nur  du  beurteilen,  von  bier  aus. 
Wenn  du  glaubst",  sie  nimmt  die  Zeitung  vom  Schreibtisch, 
,,dann  befaB  dich  damit,  mir  ist  die  Sache  nicht  sym- 
pathisch."  —  Er  antwortet  nicht.  Abley  meinte  auch  .  .  . 
kindisch.  Was  hatte  Abley  denn  anders  sagen  sollen?  Sieh  dir 
an,  worum  es  sich  handelt,  ist  es  was  Gescheites,  dann 
machs,  aber  vergiB  nicht,  daB  wir  uns  auf  eine  stand ige 
kontinentale  Verpflichtung  nicht  einlassen,  wenigstens  wir 
hier  in  London.  —  Es  handelte  sich  darum,  daB  sich  vor  zwei 
Tagen  Doktor  Szende  telefonisch  gemeldet  hatte,  sich  mit 
ausgesuchter  Liebenswiirdigkeit  nach  ihrem  Befinden 
erkundigte  und  dann  sagte,  er  mochte  ihn  gern  sprechen, 
wenn  es  ihm  keine  Last  sei;  in  einer  geschaftlichen  An- 
gelcgenheit  mochte  er  ihn  einesteils  um  seine  Meinung  als 
Fachmann  bitten,  andernteils  konnte  er  vieileicht  Lust 
bckommen  zu  einer  Sache,  von  der  er  selbst  der  Meinung 

sei,  daB ,,also,  das  spater  miindlich,  wenn  du  ge- 

stattest.'*  Mit  ein  wenig  gezwungener  Hof  lichkeit  nahm  er 
den  angektindigten  Besuch  zur  Kenntnis.  ,,Welcher  ist 
das?"  fragte  Ila,  als  er  ihr  erzahlte,  einer  von  den  Jungcns 
namens  Szende  wiirde  ihn  aufsuchen.  ,,Das  ist  der  .  .  .  wic 
soil  ich  ihn  dir  glcich  beschreibcn,  also  der  etwas  Dickliche, 
Laute  mit  dcm  schwarzcn  Schnurrbart."  —  ,,Ich  weiB  nicht, 
wclchcr.  Und  was  will  er?"  —  ,,Ich  weiB  nicht,  cincn  Rat 
mochte  cr  habcn  in  einer  gcschiftlichen  Angelcgenhcit."  — 

395 


,,Geschaftlichen  Angelcgcnhcit?  Was  kannst  du  ihm  denn 
fur  Rat  geben?"  —  Dann  crschicn  Szende.  Ila  brachte  cr 
einen  hiibschen  BlumenstrauB  und  bedauerte  sehr,  ihn  ihr 
nicht  personlich  iiberrcichen  zu  konnen;  Ila  war  mit 
Mrs.  Simmons  fortgcgangen.  Sic  setzten  sich  cinandcr 
gegcniibcr,  Szende  steckte  cine  Zigarette  an  und  roch  an 
dem  eingegossenen  Glas  Kognak,  ,,leider  kann  ich  das 
nicht  genieBen,  ich  bin  Abstinenzler",  dann  trug  cr  vor, 
weshalb  er  gekommen  war.  Die  Sachc  war  absolut  durch- 
sichtig:  immerhin  noch  schon,  daB  Szende  es  aufrichtig 
anfing.  Mit  ciner  Attacke.  ,,Sieh  mal,  bitte",  sagte  er, 
,,eigentlich  handelt  es  sich  nicht  so  sehr  um  einen  Rat,  denn 
du  als  Fremder  kannst  dich  ja  nicht  so  in  unsere  speziellc 
Lage  hineindenken,  und  das  wiirde  ich  auch  gar  nicht  von 
dir  verlangen,  von  dir  als  Uninteressiertem.  Es  handelt  sich 
ganz  einfach  um  ein  Geschaft,  das  einen  Fremden  ebenso 
interessieren  kann  wie  einen  Nicht-Fremden,  wenn  es  sich 
als  gut  erweist.  Die  Grundlage  meines  Gedankenganges 
ist  die :  du  bist  ein  Unternehmer,  du  hast  Geld,  ich  wiederum 
wiiBte  einen  Weg,  um  gewisse  Summen  vorziiglich  anzu- 
legen."  ,,Bitte  schon  .  .  .  worum  handelt  es  sich?"  — 
,,Also,  sieh  mal,  lieber  Freund  —  — "  Szende  fing  an  zu 
reden.  Von  einem  Klienten  spricht  er,  den  er  ganz  be- 
sonders,  speziell  seiner  Aufmerksamkeit  empfiehlt;  spricht 
davon,  daB  er  auch  abgesehen  von  diescm  betreffenden 
Klienten  cine  ziemlich  bedeutende  Tatigkeit  im  Immo- 
bilienverkehr  und  in  Bauangelegenheiten  entfalte,  dies  auf 
Grund  seiner  ausgezeichneten  Beziehungen  und  seines 
riesigen  Bekanntenkreises ;  spricht,  lebhaft,  mit  breiten 
Gcstcn,  ziemlich  spitzfindig,  in  scharfen  Farben,  mit 
starken  Unterstreichungen,  gewissermaBen  im  Podium- 
stil,  —  obschon  sich  doch  die  Worte  um  eine  recht  ein- 
fache,  durchsichtige  Sache  haufen.  Szende  manipulicrt  mit 
dcm  Geld  jenes  Klienten,  das  Geld  verleiht  er  gegen 
Wucherzinscn  auf  bcsscre  und  schlechtere  Immobilien, 
und  dem  Schuldncr  schncidet  cr  in  dem  Moment,  da  a 

396 


steckenbleibt,  den  Hals  ab.  Jener  gewisse  Klient  ist  auf 
diese  Weise  Eigentiimer  einer  groBeren  Menge  von 
besseren  und  schlechteren  Immobilien  geworden,  und  jetzt 
wiirde  Szende  es  fur  ein  sehr  gutes  Geschaft  halten,  wenn 
jemand  diese  mehr  oder  weniger  um  einen  Pappenstiel 
erworbenen  Immobilien  zu  teurerem  Preis  kaufte.  Ein 
ungemein  einfaches  Geschaft.  Er  hort  sich  Szendes  weit- 
laufiges  Gerede  um  diese  leere  Sauce  an,  und  es  fallt  ihm 
ein  wenig  schwer,  die  Sache  nicht  zu  belacheln.  Er  denkt 
sich  also,  ich  soil  diese  dreistockige  Mietskaserne  und  die 
ebenerdige  Villa  und  das  Fabrikgelande  und  den  zu 
parzellierenden  Grundstiickskomplex  kaufen?  .  .  .  ,,Als 
Kapitalsanlage  prima",  betont  Szende,  ,,das  weiBt  du 
gewiB  selbst  am  besten,  prima  und  sicher!  Und  was  die 
Schererei  mit  der  Verwaltung  der  Hauser  und  dem 
Parzellieren  betrifft,  iiberhaupt  die  evenruelle  weitere  Ab- 
wicklung,  so  berufe  ich  mich  in  Anbetracht  dessen,  daB  du 
doch  im  Ausland  lebst,  diesbeziiglich  auf  meine  besondere 
Erfahrung  in  Immobilien- Angelegenheiten,  diesbeziiglich 
wiirde  ich  dir  unbedingt,  wenn  du  nichts  dagegen  hast, 
meine  besonderen  Fachkenntnisse,  das  heiBt  meine  Dienste 
anbieten."  —  In  Budapest?  denkt  er,  in  Pest?  In  Port 
Elizabeth,  in  London  —  und  in  Budapest?  warum? 
,,Wenn  du  dich  jedoch  dazu  entschlieBen  wiirdest,  auf 
gewissen  Grundstiicken  bauen  zu  lassen,  so  wiirde  das  in 
seinen  Grenzen  fur  das  ganze  ungarische  Wirtschafts- 
leben  — "In  Budapest?  schwirrt  es  ihm  durch  den  Kopf, 
in  Budapest  bauen  lassen?  warum?  —  aber  plotzlich  reiBt 
das  Lacheln  ab,  seine  Augen  ruhen  einen  Moment  auf 
Szendes  Gesicht,  es  fallt  ihm  etwas  ein  —  ,,Was  dieser 
Stadt  fiir  cine  Entwicklung  bevorsteht,  lieber  Freund,  das 
kannst  gerade  du  konstatieren,  dem  doch  nach  zehn-  oder 
zwolfjahriger  Abwesenheit  die  Entwicklung  des  ver- 
gangenen  und  noch  dazu  so  schwierigen  Dezenniums  in  die 
Augen  stechen  muB."  Er  starrt  in  den  Rauch,  in  die  Luft,  — 
,,hor  mal,  Szende",  sagt  er  nach  kurzem  Schweigen,  ,,so, 

397 


nach  dem  ersten  Bericht  kann  ich  dir  natiirlich  keine  Ant- 
wort  geben,  nicht  cinmal  prinzipiell.  Ich  beabsichtigte  nicht 
mehr  als  ein  paar  Wochen  in  Budapest  zu  verbringen,  und 
viel  Sinn  hat  es  eigentlich  nicht,  daB  ich  mich  hier  in  Buda- 
pest irgendwie  festlege,  aber  — "  und  nun  blickt  er  wieder 
in  die  Luft,  es  blitzt  ihm  durch  den  Kopf,  daB  sie  nun  schon 
die  vierte  Woche  in  Budapest  sind  und  gewiB  bald  weiterreisen 
werden,  und  daB  Joly  seit  dem  Ausflug  vorgestern  abend 
nicht  telefoniert  hat,  —  ,,aber  ich  kann  mir  ja  die  Sache  viel- 
leicht  mal  naher  betrachten,  und  wenn  ich  den  Eindruck 
gewinne,  sie  konnte  mich  interessieren  — "  Szendes  Ge- 
sicht  leuchtet  auf,  mit  schlauem  und  rasch  unterdriicktem 
Lacheln  glanzen  die  kleinen  schwarzen  Augen  mit  groBen 
Pupillen  hinter  dem  Zwicker.  ,,Gut,  lieber  Freund,  wir 
reden  noch  dariiber,  wir  reden  noch  iiber  die  Sache.  Ich 
meinerseits  stehe  dir  voll  und  ganz  zu  jeder  beliebigen  Zeit 
zur  Verfugung!"  Und  sie  bleiben  dabei,  wegen  allesWeiteren 
telefonisch  miteinander  in  Verbindung  zu  treten.  —  Kadar 
ging  hinaus  auf  den  Balkon  und  blickte  auf  das  Vormittags- 
treiben  am  Korso.  Der  Donaukai  ist  noch  leer;  gegeniiber 
auf  einer  Bank  sitzen  rittlings  zwei  kleine  Jungen;  sie 
spielen  Miihle;  eine  dicke,  alte  Amme  schiebt  einen  Kinder- 
wagen,  im  Wagen  schlaft  ein  pausbackiges  Kind.  Eine 
StraBenbahn,  Sonderwagcn,  lauter  kleine  proletaricrhaftc 
Madelchen  sitzen  darin  und  singen  ein  heiteres  Wanderlied. 
Zwei  eilende  Manner  mit  Aktentaschen.  Ein  schlurfender 
alter  Mann,  mit  seinem  Stock  bestochert  er  alles,  was  auf 
dem  Weg  liegt,  Kieselsteine,  Blatter,  Zigarrenstummel, 
und  mit  einer  gereizten  Bewegung  stoBt  er  es  nach  dem 
StraBenrand  hin.  In  einigen  Tagen  reisen  wir  ab.  Wir 
haben  keinen  Grund,  noch  linger  hierzubleiben,  wenn 

nicht Argerlich  winkt  er  ab  mit  ubcrtriebener  Gestc, 

als  wollte  er  sich  auch  dadurch  iiberzeugen,  es  sei  eine 
Dummheit  .  .  .  Wir  reisen  weiter.  In  die  Schweiz,  nach 
Sankt  Moritz  oder  —  einerlci.  Nach  Flims  oder  nach 
Engelberg.  Spatcstens  Mitte  nichstcr  Woche.  Ungeduldig 

398 


geht  er  ins  Zimmer,  sucht  das  Kursbuch,  findet  es  nicht. 
Wo  habe  ich  es  nur  hingelegt?  vielleicht  in  Has  Zimmer  — 
Ja,  wir  reisen  ab.  Ganz  ernstlich,  auf  eine  weite  Reise,  nicht 
so  wie  Joly  nach  God,  eine  halbe  Stunde  von  Budapest. 
Im  Wagen  ist  sie  geblieben,  ist  nicht  ausgestiegen  in  God, 
sondern  welter  gefahren,  —  noch  eine  halbe  Stunde. 
Hysteric.  Das  Kursbuch  kommt  nicht  zum  Vorschein. 
Er  sieht  auf  die  Uhr,  ziindet  eine  Zigarette  an,  kippt  noch 
ein  Glas  Kognak  hinunter  und  nimmt  seinen  Hut.  Zwischen 
zwolf  und  halb  eins  sind  die  Damen  in  der  Konditorei.  Er 
geht  urn  die  kleine  Parkanlage  an  der  Ecke  ans  Donauufer. 
Warm  ist  es.  Wir  konnten  ins  Wellenbad  gehen  oder  auf 
der  Insel  zu  Mittag  essen.  Blodsinn.  In  Budapest  soil  ich 
bauen.  Nein,  wir  fahren  ab.  Eine  nicht  mehr  ganz  junge 
Dame  in  wciBem  Kleid  mit  ergrauendem  Haar  und  klassisch 
schonen  Gesichtsziigen  kommt  ihm  entgegen,  er  dreht  sich 
ein  wenig  nach  ihr  um.  Wunderbare  altliche  Frau,  vielleicht 
ist  sie  noch  gar  nicht  mal  so  alt,  ihr  Gesicht  ist  ganz  faltenlos. 
Warm  ist  es.  Um  diese  Zeit  ist  es  wirklich  am  besten  in  den 
Bergen  oder  an  der  See.  In  der  Konditorei  sitzen  Ila  und 
Frau  Simmons  bereits.  ,,Nun,  was  war?"  fragt  Ila  sofort. 
Wir  werdcn  abreisen,  denkt  er,  und  dann  hort  er  mit  tiefem 
Herzklopfen  seine  Stimme,  wie  sie  mit  kaum  bemerkbar 
fremder  Farbung  sagt:  ,,ich  werds  dir  spater  ausfiihrlicher 
erzahlen,  ich  weiB  noch  nicht,  vielleicht  miiBte  man  sich 
die  Sache  naher  ansehen,  sie  kommt  mir  nach  dem,  was  ich 
eben  gehort  habe,  nicht  uninteressant  vor  .  .  ."  Nach  Tisch 
sprach  er  telefonisch  mit  Abley.  Ubrigens,  —  das  hatten  sie 
so  vereinbart,  —  kam  jede  Woche  von  drtiben  ein  Week- 
end-Telegramm  vom  jungen  Scott,  ein  Bericht  iiber  die 
verflossene  Woche;  und  mit  London  sprach  er  wochentlich 
einmal  telefonisch.  ,,Nichts  Neues",  sagte  er  seinem  Sozius, 
,,wie  geht  es  Mrs.  Hutton,  ist  die  Operation  gelungen? 
gut?  na,  grofiartig,  das  freut  mich.  Heute  habe  ich  ubrigens 
einen  ganz  interessanten  Geschaftsvorschlag  von  einem 
Bekanntcn  bekommen:  was  haltst  du  von  ein  paar  guten 

399 


und  wirklich  billigcn  Immobilien?  cventuell  von  cinem 
Bau?  natiirlich  meinc  ich,  was  ist  deine  prinzipielle  An- 
sicht?"  —  Selbstverstandlich  wuBte  er  im  voraus,  was 
Abley  sagen  wiirde.  ,,Wie  kann  ich  das  von  hier  aus 
beurteilen?  jedenfalls,  Geschaft  ist  Geschaft,  du  kannst 
dich  ja  mal  dafur  interessicren,  und  dann  werden  wir  waiter 
daniber  reden."  Abley  muBte  das  sagen.  Es  gibt  kein 
Geschaft,  das  Scott  nicht  fiir  zuviel,  fiir  uberflussig  und 
gefahrlich  hielte,  aber  es  gibt  andererseits  kein  Geschaft, 
fiir  das  Abley  sich  nicht  interessierte.  ,,Und  wie  lange  bleibt 
ihr  noch  in  Budapest?"  —  ,,Genau  weifi  ich  das  noch  nicht, 
wir  sind  aber  schon  im  Begriff,  in  die  Schweiz  weiter- 
zureisen,  selbstredend  bleibe  ich  gerne  noch  ein  paar  Tage 
hier,  wenn  ich  sehe,  daB  es  sich  lohnt,  sich  mit  dieser 
Angelegenheit  zu  befassen."  —  Joly  meldete  sich  auch  am 
folgenden  Tag  nicht,  und  als  er  auf  Has  wiedcrholtes  Bitten 
hin  eines  Abends  Briefe  an  Schweizer  Kurorte  aufgab, 
wuBte  er  genau,  daB  dicse  Briefe  vergebens  abgingen:  die 
durchsichtige,  keineswegs  ernsthafte,  fast  lacherliche  Idee, 
mit  der  Szende  an  ihn  herangetreten  war,  wird  ihn  eben 
interessieren;  er  wird  sich  mit  ihr  beschaftigen,  wird  sie 
studieren,  —  er  bleibt  noch  in  Budapest.  Ich  werde  sie 
beschwindeln  .  .  .  Szende  auch,  denn  schlieBlich  werde  ich 
die  Sache  ja  doch  nicht  machen.  Ich  werde  sie  beschwin- 
deln   es  ist  bloB  die  Frage,  ob  man  Ila  beschwindeln 

kann,  dachte  er  kalt  und  vollkommen  ruhig.  In  der  letzten 
Zeit,  schon  ungefahr  seit  anderthalb  Jahren,  kummertc  Ila 
sich  nicht  mehr  urn  das  Geschaft,  nur  aus  ihren  Unter- 
halrungen  zu  Hause  wuBte  sie  im  groBen  und  ganzen  iiber 
die  Dinge  Bescheid.  Aber  wenn  sie  mich  nun  fragt,  worum 
cs  sich  handle?  und  wenn  sie  sich  diese  Szendesche  Sache 
auch  naher  ansehen  will?  ganz  bestimmt  wiiBte  sie  genau 
so  gut  wie  er  gleich  im  ersten  Augenblick,  daB  dieser  ganze 
Humbug  sich  urn  ein  Absurdum  dreht.  Ila  kann  man  nichts 
vormachen  .  .  .  und  alles  h£ngt  nur  davon  ab,  ob  sie  der 
Sache  auf  den  Grund  geht  oder  nicht.  Nun  ja,  damit  muB 

400 


man  rechnen:  und  da  wuBte  er  bereits  klar  und  besonnen, 
zurechtgelegt  bis  zum  letzten  begriindenden  Wort,  was  er 
Szende  sagen  wiirde,  um  das  Spiel  ins  Rollen  zu  bringen, 
und  was  er  Ila  sagen  wiirde.  Ein  merkwiirdiges  Pflichtgefuhl 
dieser  Stadt  gegeniiber  hat  sich  in  mir  geregt,  und  wenn  ich 

noch  dazu  ein  gutes  Geschaft  machen  kann Ein-zwei 

Tage  dauerte  dieses  Versteckspielen  noch,  ein-zwei  Tage 
vergingen  dariiber,  bis  er  den  Widerstand  gegen  sich  selbst 
iiberwunden  hatte  und  sich  gestand:  nun  ja,  Jolys  wegen 
bleibe  ich  noch  hier.  Und  nun  gleich  die  nachste  Frage: 
wieso  bleibe  ich  ihretwegen  hier?  was  will  ich  von  ihr?  — 
und  hier  gibt  es  noch  Liigen,  die  aus  seinem  Widerstand 
entspringen,  auf  diese  Frage  kann  man  noch,  wenns  sein 
muB,  antworten:  gar  nichts.  Oder:  sie  tut  mir  leid.  Sie  ist 
ein  liebcs,  sympathisches  Ding  und  hatte  ein  besseres, 
rcicheres  Los  verdient,  wenn  man  ihr  vielleicht  auf  eine 
Weise  helfen  konnte,  daB  sie  nichts  davon  bemerkt, 
eventuell  uber  ihren  Bruder  .  .  .  und  so  macht  er  sich  mit 
sonst  noch  allerlei  selbst  etwas  vor.  Viel  einfacher  ist  es 
aber,  sich  diese  zweite  Frage  gar  nicht  erst  zu  stellen.  — 
Joly  hat  sich  nicht  gemeldet,  aber  jetzt  war  er  nicht  mehr 
unruhig.  Ich  habe  noch  Zeit,  fiihlte  er.  Und  er  begann  die 
Besprechungen  mit  Szende.  —  Der  arme  Szende.  Wenn  ich 
ihn  gleich  beim  ersten  Wort  glatt  unfreundlich  abgewiesen 
hatte,  dann  wiirde  er  mich  sicher  zehnmal,  zwanzigmal 
bestiirmen.  Szende  hat  sich  ganz  gewiB  steif  und  fest  vor- 
genommen,  seinen  Nutzen  durch  mich  zu  haben.  Er 
lachelte,  gemein,  finster,  voll  Genugtuung,  als  er  daran 
dachte.  Fiir  dumm  hat  er  mich  gehalten,  wollte  mich  viber- 
listen,  er  hats  nicht  besser  verdient,  —  einmal  in  der  Schule 
hat  er  mir  fur  meinen  neuen  Radiergummi  fiinf  glanzende 
Schreibfedern  angedreht,  und  dann  stellte  sich  heraus,  daB 
die  Federn  gar  nicht  neu  waren,  bloB  ausgewaschen,  ihre 
Spitzen  waren  schon  schief  und  abgenutzt.  Armer  Szende,  — 
und  die  iibrigen,  —  alle  haben  sies  verdient.  Szende  zogerte 
nicht  mit  dem  Telefonanruf,  und  das  fette,  gespreizte 

26  Ktirmendi,  Budapest  40 1 


Grinsen  in  seinem  Gcsicht,  als  er  ihn  eines  Vormittags  2um 
zweitenmal  aufsuchte,  war  geradezu  abstoBend,  unverhiillt 
und  triumphierend,  und  er  warf  ihn  nur  darum  nicht  glatt 

hinaus einerlei.  Danke  sehr,  Doktor  Szende.  —  lia 

war  schon  auf  dem  Tennisplatz,  als  Szende  kam;  er  blieb 
auch  nicht  lange  mit  ihm  im  Hotel.  Sie  gingen  in  Szendes 
Biiro;  dort  setzten  sie  sich,  Szende  hinter  den  Schreibtisch, 
er  gegeniiber  auf  den  Besuchsstuhl,  und  durch  das  offene 
Fenster  schien  ihm  die  Sonne  in  die  Augen.  Szende  nahm 
ein  gewaltiges  Dossier  aus  der  Schublade.  Plane  waren 
darin,  Terrainaufnahmen,  Fotografien,  Skizzen,  Vert  rage, 
Schatzungen,  Kalkulationen,  ProzeBaktcn,  Exposes,  Par- 
zellierungsplane.  Von  diesem  Papierhaufen  also  ging  die 
Komodie  aus,  —  armer  Szende.  Eigentlich  hatte  Kadar  es 
schon  langst  nicht  mehr  notig,  Zeit  zu  gewinnen;  der  Vor- 
wand  war  bereits  uberfliissig  geworden:  Szende  aber  und  die 
iibrigen  lieBen  sich  nicht  bremsen.  Szende  hatte  im  Laufe 
der  Wochen  eine  Unmenge  von  Planen,  Kalkulationen  und 
Exposes  fur  ihn  ausgearbeitet,  hatte  sich  massenhaft 
Informationen  und  OfFerten  verschafft,  ein  regelrechter 
Don  Quichote  jener  Windmiihlen-Idee  war  er  geworden, 
ob  mit  Biegcn  oder  Brechen,  verdienen  muBte  er  an 
Kidar.  In  baufallige  Vorstadthauser  schleppte  er  ihn, 
,,Arbeiterwohnungen,  lieber  Freund!  die  Arbeiterwohnun- 
gen  stehen  nie  leer,  die  Arbeiter  sind  gute  Mietezahler!"  — 
durch  Komplexe  stillgelegter  Fabriken  schlciftc  er  ihn, 
,,schon  das  allein  ist  ein  Absurdum,  lieber  Freund!  einen 
solchcn  Komplex  zu  dem  Preis!"  —  in  elende  Stadtviertel 
muBtc  er  mitziehen,  ,,vielleicht  hast  du  schon  von  den 
beiden  Briicken  gehort,  lieber  Freund,  die  wir  bauen 
wollcnl  also,  man  hat  mir  verraten,  daB  die  eine  davon 
hicrher  kommt  .  .  .  und  dann  setzen  wir  es  durch,  daB  der 
Autobus  bis  hierher  weitergcleitet  wird!"  —  in  verkiinv 
merten  kleinenStaubnestcrn  derUmgebung  explodierte  seine 
Ekstase:  ,,liebcr  Freund!  dieser  sanftanstcigendeRain!  hier 
muB  man  das  ungarische  Helena- Village  machenl  .  .  ." 

402 


O  ja,  Szende  hat  es  verdient.  Monatelang  klebte  er  an  ihm 
wie  ein  ausgehungerter  Blutegel;  monatelang  mochte  er 
sich  sein  Gehirn  zerqualt  haben,  um  noch  eine  Idee  heraus- 
zupressen,  bei  der  Kadar  vielleicht  endlich  doch  anbeiBen 
wiirde.  So  komplizierte  Sachen  spekulierte  er  aus,  daB  ihre 
Unverwirklichbarkeit  schreiend  auf  der  Hand  lag,  aber  er 
kam  auch  mit  so  durchsichtigen  kleinen  Planchen,  die  fast 
um  Erbarmen  zu  flehen  schienen,  —  und  manchmal  war 
Kadar  sich  nicht  ganz  klar  dariiber,  ob  Szende  ihn  denn 
tatsachlich  fur  dermaBen  dumm  halte,  oder  ob  Szende  so 
dumm  und  verblendet  sei.  Mehrmals,  wenn  eine  neue 
Szende-Idee  anfing,  hatte  er  den  Gedanken,  jetzt  aber  diesen 
rezitierenden,  sich  in  Widerspriichen  verwickelnden, 
schmauchenden  und  schwitzenden  Dicken  einfach  vor  die 
Tiire  zu  setzen,  diesen  Kerl,  dem  jeder  Name,  jeder  EinfluB, 
jede  gerade  oder  krummwegige  Macht  Genosse,  Kumpan, 
untenvorfener  Feind  oder  Abhangiger  war,  —  sparer  dann 
hatte  er  die  ganze  Geschichte  zwar  schon  iiber,  aber  er 
machte  sich  nichts  mehr  daraus,  daB  er  ihn  nicht  mehr  los- 
werden  konnte.  Die  halbe  Stunde,  die  er  mir  stiehlt, 
zahlt  ja  nicht.  Und  oft  ekelte  ihn  das  Spiel  geradezu  an.  Nun 
sind  wir  in  Budapest  geblieben  .  .  .  ich  muB  mit  Ila  reden, 
dachte  er  manchmal.  Oh,  bilde  ich  mir  denn  etwa  ein,  daB 
Ila  nicht  langst  diese  simplen  Geschichten  durchschaut 
hat!  schreckte  ihn  zuweilen  der  Gedanke  auf.  Er  schloB 
die  Augen,  preBte  den  Mund  zusammen.  Die  einfachere 
Losung :  der  Vorwand.  Man  muB  es  vermeiden,  die  Sachen 
zu  klaren.  Solange  es  geht.  Meine  Geschafte  halten  mich 
noch  in  Budapest.  —  Jawohl,  Monate  hindurch,  fast  bis 
zum  letzten  Tag  in  Budapest  dauerte  diese  Komodie,  — 
und  entweder  hatte  Szende  den  Mund  nicht  gehalten  oder 
aber  die  andern  hatten  eine  gute  Spurnase:  allmahlich  kamen 
auch  die  iibrigen.  Gesichter  tauchten  in  der  Hotelhalle  auf, 
die  ihn  erwartungsvoll  anstarrten,  Stimmen  ertonten  im 
Telefon,  deren  crregtes  Beben  nicht  zu  bemerken  unmoglich 
war.  Bckanntere  Gesichter  und  fremdere;  Gesichter  von 

26»  405 


jenem  Tisch  auf  der  Inscl  am  crsten  Abend  und  Gesichter, 
die  er  aus  dem  Dunkel  von  vierzehn  Jahren  wieder  hervor- 
kramen  muBte.  Fast  jede  Woche  trieb  eine  neue  Stimme, 
einen  neuen  Versuch  heran,  —  anfanglich  einen  neuen 
Vorwand,  noch  hierzubleiben,  spater  bereits  nur  noch 
etwas,  vor  dem  man  gelangweilt  ausweichen,  sich  kalt 
verschlieBen  muBte.  Es  kam  Marton,  der  andere  Rechts- 
anwalt,  mit  einem  finstern,  phantastischen  Ma'rchcn  von 
einer  zu  sanierenden  Kleinbank  oder  einer  Aktiengesell- 
schaft:  ,,Lieber  Freund,  eine  Ausbeutungsmoglichkeit 
sondergleichen  gebe  ich  da  in  eine  kapitalkraftige  Hand!*' 
Es  kam  der  vernachlassigte,  schlampige  Lewy,  der  ein  wenig 
wie  ein  Hausierer  aussah,  und  wunschte  ihm,  dem  kapital- 
kraftigen  Unternehmer,  irgendeine  staatliche  Lieferung  zu 
verschaffen,  —  ,,ich  kann  dir  sagen,  die  Sache  kommt  dem 
Anstandigen  so  nahe,  daB  man  keine  Angst  davor  zu  haben 
braucht,  aber  auch  von  einer  Schiebung  ist  sic  nicht  so 
weit  entfernt,  daB  sie  kein  gutes  Geschaft  ware  .  .  ."  Es 
kam  der  elegante  Amman  mit  kuhlen,  korrekten  Worten, 
im  Glanz  von  Staatsbeziehungen  und  internationalen 
Konzeptionen,  ,,ich  weiB  nicht,  lieber  Kadar,  ob  du  Sinn 
fur  Titel  und  Auszeichnungen  hast,  aber  daB  du  Ehren- 
Generalkonsul  dort  unten  wirst,  ist  doch  nicht  zu  umgehcn, 
wenn  sich  die  Sache  machen  liiBt,  selbstverstandlich  nicht 
ohne  materiellen  Nutzen!"  Es  kam  Simon,  ohne  etwas 
Konkretes,  aber  zehnmal  hervorhebend,  daB  er  derjenige 
Mann  sei,  den  man  immer  und  iiberall  und  zu  allem  ge- 
brauchen  konne,  und  nur  ganz  ncbenbei  erwahnend,  daB 
er  gelegentlich  seiner  letztcn  Reise  nach  Siebenbiirgen  zu- 
f&llig  das  Grab  seiner  Eltern  gesehen  habe,  unten  in  Deva ; 
er  miissc  demnachst  wieder  hinfahren,  und  wenn  Kadar 
sich  zufallig  anschlieBen  wiirde  —  Und  es  kam  Suhajda, 
der  sich,  zerlumpt,  stotternd  und  unbeholfen,  nach  den 
hygienischen  Verhaltnissen  dort  unten  crkundigte  und  in 
dcssen  Augen  crbitterter,  halbirrer  Glanz  leuchtete,  als  er 
einige  unzusammcnhangende,  verworrenc  Wortc  verier 

404 


iiber  die  historische,  schicksalhafte,  aber  nie  zu  verzeihende 
Undankbarkeit,  die  die  dem  internationalen  Judentum  von 
neuem  verfallene  vaterlandische  christliche  Gesellschaft 
gerade  ihren  besten  und  aufopferungsvollsten  Mitgliedern 
gegenuber  an  den  Tag  lege.  Und  auf  der  StraBe  erwischte 
ihn  einmal  Rona  und  nahm  ihn  mit  in  den  vornehmen 
Laden  in  der  innern  Stadt,  geradewegs  ins  Biiro  des  Chefs 
und  lieB  ihm  das  prachtvolle  Porzellanservice  zeigen,  das 
er  von  der  zugrundegegangenen  graf  lichen  Familie  zuriick- 
gekauft  hattc;  ,,fiir  einen  Pappenstiel  wiirde  ich  es  hergeben, 
mein  Lieber,  echt  Herend,  und  trotzdem  fur  einen  Pappen- 
stiel .  .  .  aber  wer  kann  heute  in  Budapest  so  etwas  kaufen." 
Und  cs  kamen  andere,  direkt  und  mit  Empfehlungs- 
schreiben,  Bekannte  aus  den  versunkenen  Jahren  und 
Fremde,  die  sich  auf  einen  Freund,  einen  Schwager,  einen 
Vetter  beriefen  oder  auf  eine  friihere  Begegnung,  —  ,,er- 
innern  Sie  sich  nicht  mehr?!  da  und  da,  in  der  Gesellschaft 
von  dem  und  dem  ..."  Und  es  erklangen  die  vorsichtigen, 
lockcnden,  schleierhaften,  phantastischen  Reden;  schwer- 
fallige  Plane  holperten,  federleichte  Ideen  flatterten,  — 
Moglichkeiten,  Phantasien,  von  denen  jede  einzelne  etwas 
Glanzendes,  etwas  nie  dagewesenes  GroBes,  etwas  Ein- 
maliges  und  Unubertreffliches  sein  kann  . .  .  wenn  das  Geld 
dazu  da  ist.  Die  allc  hier  lebten  im  Glauben  an  die  ma- 
gnetische  Kraft  des  Geldes,  die  das  Geld  anzieht,  die  auch 
aus  der  Luft  Geld  zaubert,  die  nach  noch  mehr  Geld 
hungert,  die  liber  sich  selbst  hinauszuwachsen  vermag,  die 
sich  danach  sehnt,  gewaltsam  von  selbst  fruchtbar  zu 
werden  und  sich  zu  vermehren.  Die  alle  hier  hatten  sich 
zumindest  davon  berauschen  lassen,  daB  man  schon  vom 
BewuBtscin  der  Nahe  des  groBen  Geldes  satt  werden 
konne.  Die  alle  brachen  ein  zu  ihm,  wild  geworden  von  dem 
roten  Tuch  einer  Riesengeschaftsmoglichkeit,  das  ihnen  im 
Kopf  schwirrte.  Die  alle  boten  an  und  versprachen  und 
lockten  und  redeten  zu,  spielten  sich  als  Opferwillige, 
Freigcbige,  Wohltatige  auf.  Die  alle  .  .  .  wagten  nur  nicht 

405 


dirckt  zu  bitten,  wollten  nicht  eben  bctteln,  nicht  aus 
Schamgcfuhl,  sondern:  wenn  man  bittet,  dann  kann  man 
vielleicht .  .  .  zehn  Schilling  bckommen,  ich  weiB.  Und  nur 
cine  einzige  hemmungslose  und  aufrichtige  Scele  war 
unter  ihnen,  cine  blonde,  diinnc  Animierdame  aus  dem  Ver- 
gniigungslokal  im  Stadtpark,  —  dort  war  er  an  einem  der 
ersten  Augustabende  in  einer  kleineren  Gesellschaft  der 
Jungens  gewesen,  —  die  mit  engelhafter  Offenheit  und 
unverbliimter  Bewunderung  ihre  groBen,  langwimperigcn 
schwarzen  Augen  zu  ihm  gehoben  hatte:  ,,also,  Sie  sind 
der  schrecklich  reiche  Mann?  Sie  sind  der,  der  die  schreck- 
lich  vielen  Hauser  besitzt?  wirklich,  Bubi,  Sie  konnten  mir 
eins  davon  geben  . . ." —  Ila  fuhlte  sich  offensichtlich  wohl, 
sie  war  guter  Laune,  sehr  bald  drangte  sie  nicht  mehr  zur 
Abreise;  mit  leichter,  iiberlegener,  sorgloser  Sicherheit 
suchte  und  fand  sic  ihre  Zerstreuung  in  Gemeinschaft  mit 
Simmons.  Nur  wenn  von  jenen  Budapester  Geschaften  die 
Rede  war,  wenn  die  phantomhaften  Geschaftsfreunde  sich 
meldeten,  wenn  ihm  ein  plotzlich  herausgegrifTenes  Wort 
der  Erklarung  iibcr  die  Lippcn  kam,  —  ,,ich  glaube,  es  ist 
doch  der  Miihe  wert,  sich  die  Sache  naher  zu  betrachten  .  .  . 
ich  denke,  ich  darf  mich  nicht  davor  verschlieBen,  wenn  ich 
sehe,  daB  .  .  ."  —  auch  dann  sagte  sie  nichts,  nur  ihre 
Augenbrauen  zogen  sich  zusammen,  und  auf  ihrer  Stirn  war 
eine  scharfe,  schmale  Fake.  Wieder  und  immer  wieder 
durchfuhr  ihn  der  Gedanke:  unmoglich,  daB  Ila  nicht  das 

Ganze  durchschauen  sollte und  sie  schweigt.  Vor- 

sichtig,  innerlich  schwer  zitternd,  beobachtete  er  sie,  ob 
sich  nichts  an  ihr  verandert  habe,  ob  zwischen  ihnen  sich 
nicht  etwas  anders  abspiele,  sich  etwas  von  seinem  bis- 
herigen  Platz  verschiebe.  Ganz  bestimmt  weiB  sie  auch  das 
mit  Joly,  dachte  er  einmal,  und  dabei  will  ich,  daB  nichts 
anders  werde  in  ihr  ...  Ila  sprach  nicht.  Und  einmal,  als 
ihm  diese  Schweigsamkeit  in  den  Sinn  kam,  sagte  er  sich 
undankbar  und  zynisch:  gut,  schweigcn  kann  ich  auch. 


406 


Seit  Tagen  schon  setzte  cr  sich  nach  Tisch  nicht  in  den 
Wagen;  wahrend  Ila  schlief,  legte  er  sich  auch  auf  den  Diwan 
in  seinem  Zimmer  und  las  oder  kramte  in  seinen  Schriften. 
Dinge,  die  zu  Hause  vorgingen,  beschaftigten  ihn  selbst- 
redend  trotz  allem,  und  er  hatte  ein  paar  aufgeregte,  nervose 
Tage,  bis  ein  Telegramm  von  Scott  kam :  die  Bloemfonteiner 
Grundstiicke  hat  der  Staat  fur  das  Aviatische  Amt  iiber- 
nommen  und  gleichzeitig  der  Firma  die  Bauarbeiten  des 
neuen  Flugplatzes  iibertragen.  —  Jeden  Morgen  spiel  ten 
sie  mit  Simmons  auf  der  Insel  Tennis.  Die  Tage  vergingen 
hinter  einer  groBen  Erwartung,  schone,  leichte  Sommer- 
tage  der  reichen  Fremden  in  Budapest.  Er  war  ruhig,  er 
vertraute  der  Zeit  und  ihrem  beiderseitigen  Schweigen.  Sie 
wird  in  dem  Moment  meine  Geliebte,  da  ich  es  will,  das 
ging  ihm  einmal  durch  den  Sinn;  und  er  lachte  kurz  auf,  — 
gar  nicht  notig,  dachte  er,  ich  will  sie  ja  nicht.  Sie  ist  nicht 
einmal  schon  und  —  es  handelt  sich  auch  gar  nicht  darum  — 
Und  wenn  Ila  das  mit  Joly  auch  weiB  .  .  .  was  denn  mit 
Joly  ?  was  ist  denn  daran  zu  wissen?  was  ist  denn  diese  kleine 
Joly?  ein  Begriff,  eine  Angelegenheit?  ist  sie  denn  iiberhaupt 
jcmand?  was  wciB  Ila?  daB  ich  gern  mit  ihr  zusammen  bin? 
daB  ich  mich  bei  ihrem  Bruder  nach  ihr  erkundige?  daB  ich 
an  sie  denke?  —  er  erschrak  ein  wenig.  Jetzt,  da  er  es 
innerlich  ausgesprochen  hatte:  ich  denke  an  sie,  jetzt  wurde 
es  ihm  zum  erstenmal  bewuBt,  daB  er  viel  an  sie  dachte, 
daB  sich  Dinge  um  sie  woben,  daB  er  Geschehnisse  im 
Zusammenhang  mit  ihr  lenkte,  daB  seine  Gedanken  sich 
ununterbrochen  mit  ihr  beschaftigten  und  daB  .  .  .  das 
Ganze  keinen  Sinn  hatte  und  es  besser  gewesen  ware,  schon 
Anfang  des  Monats  abzureisen.  —  Eines  Mittags  traf  er 
Joly  wieder  in  der  Stadt.  ,,Guten  Tag,  Joly",  hielt  er  sie 
an,  ,,Sie  haben  ja  lange  nichts  von  sich  horen  lassen,  wie 
geht  es  Ihnen?"  Komisch  eigentlich,  heute  fruh  dachte  ich, 
ich  werde  sie  treffen,  und  jetzt .  .  .  als  freute  ich  mich  nicht 
einmal  sonderlich.  ,,Tatsachlich,  ich  habe  mich  lange 
nicht  gemeldct,  dabei  war  Ihre  Frau  so  lieb,  mich  dazu 

407 


aufzufordern."  —  ,,Haben  Sic  so  viel  zu  tun?**  und  sofort 
fiihltc  er,  wic  dumm  dicse  Frage  war,  und  bemuhte  sich,  sic 
zu  korrigieren :  ,,ich  mcine,  ob  Sic  viel  herumgehen  ?  an  den 
Strand?  ..."  —  ,,Ah,  nein",  antwortet  Joly,  ,,ich  geh  ja 
fast  nirgends  hin."  —  ,,Warum  rufen  Sic  uns  dann  nicht 
an?"  —  ,,Eigentlich  .  .  .  eigentlich  weiB  ich  selbst  nicht." 
Er  sieht  sie  von  der  Seite  an.  ,,Nicht  schon  von  Ihnen", 
sagt  er  etwas  verwirrt,  aber  Joly  nimmt  sofort  das  Wort 
auf:  ,,wohin  gehen  Sie?"  fragt  sie  lebhaft,  ,,wenn  Sie  nichts 
Dringendes  vorhaben,  begleiten  Sie  mich  ein  Stiickchen, 
ich  muB  mir  ein  Band  auf  einen  alten  Hut  kaufen,  und  hier 
in  der  Nahe  ist  ein  Geschaft,  wo  ich  bekannt  bin  und  alles 
billig  bekomme."  Sie  gehen  nebeneinander  her  und  sprechen 
von  Nichtigkeiten.  Was  sie  in  den  vergangenen  Tagen 
gemacht  haben.  DaB  es  warm  sei.  DaB  die  ungarische 
Wasserpolo-Mannschaft  die  Italiener  gehorig  geschlagen 
habe.  Wie  schon  es  neulich  gewcsen  sei  drauften  in  der 
Heideschenke.  Zwischendurch  beobachtct  er  Joly.  Ein 
weiBes  Kleid  hat  sie  an,  cine  kurze  rote  Jacke,  eine  weiBc 
Kappe  und  weiBe,  geflochtene  Schuhe.  Einen  leichten 
Gang  hat  sie,  in  ihrer  Korperhalrung  ist  etwas  Aufrechtes, 
leicht  Steifes.  Selbst  wenn  man  neben  ihr  geht,  spurt  man 
manchmal  den  griinlich-blaucn  Strahl  ihrer  Augen.  Schone, 
schmale  FiiBe  hat  sie,  sie  tritt  diese  sandalenartigen  — 
einen  Augenblick  stocken  seine  Gedanken,  —  Sandalen 
mit  flachen  Absatzen  .  .  .  und  dann  sagt  er:  ,,ich  hatte  .  .  . 
vor  Jahren  kannte  ich  in  Wien  ein  junges  Madchen,  die  war 
genau  wie  Sie,  ich  stand  sehr  gut  mit  ihr."  Joly  lacht  leise, 
kurz  und  scharf  auf.  ,,Und  seitdem  habcn  Sie  genug  .  .  . 
von  den  Roten?"  Er  blickt  sie  an,  —  kann  man  darauf .  .  . 
was  kann  man  darauf  antworten?  was  muB  man  darauf 
jetzt  sofort  antworten,  kurz  und  biindig  mit  cinem  Wort 
einfach  heraussagen  —  —  ,,Oh,  seien  Sie  nicht  bose", 
sagt  Joly  mit  einem  Schimmer  von  ironischer  Reue  in  der 
Stimmc,  ,,ich  wolltc  dicse  rothaarige  Dame  von  fruher 
wirklich  nicht  bcleidigcn."  Er  hat  ein  unsichcrcs,  frcmdes 

408 


Gefuhl  in  der  Brust.  Dies  Madchen  bier  gleicht  Tilly  und 
gleicht  ihr  doch  wieder  nicht,  ihre  Hande  und  ihre  Figur  und 
ihr  FiiBe  sind  anders,  und  trotzdem,  das  Gan2e  .  .  .  im 
ganzen  ist  sie  doch  genau  so,  und  die  Stimme  ist  dieselbe  . . . 
bloB  hatte  Tilly  tausend  Stimmen,  aber  mit  Joly  habe  ich 
ja  noch  kaum  gesprochen,  —  dies  Madchen  hier  .  .  .  gefallt 
sie  mir?  denkt  er  vorsichtig,  abwehrend,  —  und  in  dem 
Augenblick  durchzuckt  ihn  ein  altes  Wort,  eine  von  Tilly s 

tausend  Stimmen Nach  einer  ungeduldig  wiitenden, 

kindischen  Kabbelei  lag  Tilly  reglos  in  die  Luft  starrend 
auf  dem  Diwan,  er  kniete  neben  dem  Diwan,  den  Kopf  auf 
ihrer  Hand,  so  bettelte  er  um  Frieden,  um  Verzeihung,  und 
da  sagte  Tilly  still  in  die  Luft  hinein:  ,,siehst  du.  Du  hast 
mir  gedroht . . .  das  kommt  davon.  Du  kannst  rnich  ja  nicht 
verlassen,  niemals.  Und  wenn  ich  es  einmal  will  und  dich 
wegschicke,  dich  abschiittele,  auch  dann  nicht.  Du  wirst 
nie  von  mir  loskommen,  wir  werden  uns  schon  langst  nicht 
mehr  haben,  und  du  wirst  mich  doch  nicht  uberwinden 
konnen.  Es  werden  Jahre  vergehen,  und  du  wirst  glauben, 
wirst  sagen,  Gott  sei  Dank!  und  auf  einmal  wirst  du  be- 
merken,  daB  ich  noch  immer  .  .  .  daB  ich  zuriickgekommen 
bin.  Dabei  bin  ich  dann  nicht  zuriickgekommen,  sondern 
ich  war  immer  in  dir.  Nur  eine  Zeitlang  hast  du  mich  nicht 

bemerkt.  Du  wirst  nie  von  mir  loskommen "  Oh, 

eine  schreckliche  Stimme  war  das,  von  Tillys  tausend 
lebenden  Stimmen  diejenige,  die  am  blutigsten,  am  be- 
angstigendsten,  am  lebendigsten  lebte.  —  ,,Aber  horen  Sie 
mal,  sind  Sie  wirklich  bose?"  unterbricht  Joly  die  Stille, 
,,das  tut  mir  aber  leid,  ich  wollte  .  .  .  wirklich  nichts  Un- 
angenehmes  sagen,  diese  Dummheit  muBte  ich  bloB  aus- 
sprechen,  weil  Sie  ein  so  eigenrumlicher  Mensch  sind."  — 
,,Eigentiimlich?  .  .  .  ach  wo."  —  ,,Doch,  ja.  So  ein  Stiller. 
Aber  schlecht  ist  das  nicht,  daB  Sie  so  viel  schweigen.  Auch 
neulich  abends  haben  Sie  kaum  gesprochen.  Ich  kanns  nicht 
leiden,  wcnn  einer  immerfbrt  plappert,  wie  zum  Beispiel 
der  fiirchterliche  Simon,  —  dieses  Budapester  Gewasch  ist 

409 


mir  vcrhaBt,  and  Ihnen  merkt  man  so  sehr  an,  daB  Sic  andcrs 

sind,  kcincr  von  dicsen  Budapestcrn,  cin  Fremder,  und  dann 

sind  Sic  auch  alter  als  wir,  als  die  Jungens,  mit  dencn  ich 

immer  zusammen  bin,  und  .  .  .  also,  Sie  sind  eben  andcrs 

und  fremd,  und  das  Komische  ist,  schon  neulich  abends, 

als  Sie  so  viel  geschwicgen  haben,  hatte  ich  das  Gefuhl,  daB 

doch  etwas  ganz  Bekanntes  an  Ihnen  sei,  so,  als  ob  ich  Sie 

schon  sehr  lange  kenne  .  .  .  na,  wissen  Sie,  das  ist  aber  cine 

schone  Geschichte,  ich  mache  Ihnen  ja  hier  regelrecht  den 

Hof !  also,  bitte :  Sie  sind  nicht  mehr  bose,  nicht  wahr,  wegen 

der  — "  —  ,,Nein,  wirklich  nicht",  —  und  mit  einer  ganz 

eckigen,  fremdcn  Bewegung  kommt  er  nahe  an  Joly  heran 

und  ergreift  ihren  Arm  oben  iiber  dcm  Handgelenk,  — 

,,na,  bitte",  sagt  Joly  und  macht  sich  mit  einem  Ruck  los; 

einer  mit  Monokel  und  Panamahut  guckt  sic  vom  Rande 

der  StraBe  neugierig  an,  —  unangenehm  .  .  .  und  Joly,  als 

lase  sie  in  seincn  Ziigen,  sagt:  ,,jetzt  sind  wir  quitt,  gut?"  — 

,,Eine  seltsame  kleine  Person  sind  Sie",  sagt  er  langsam. 

,,So?  finden  Sic?"  —  und  nach  einigen  wortlosen  Schritten 

bleibt  sie  an  einem  Geschaft  stchen,  ,,das  ist  der  Laden, 

kommen  Sie  mit  rein,  oder  wollen  Sie  drauBen  wartcn? 

wenn  Sic  noch  ein  biBchen  Zeit  haben  .  .  .4l  Nach  drci 

Minuten  tritt  sie  wiedcr  aus  der  Ladcntiir,  hat  cine  kleine 

Papicrtiite  am  Finger  baumeln.  Jctzt  ist  ihrc  Stimme  ganz 

anders,  heiter  sprudeln  die  Worte,  ,,wissen  Sie,  daB  ich  ein 

ausgezcichneter  Fremdenfuhrer  ware?  in  dem  Geschaft  da 

driiben   bekommt   man   die   teuersten   und   schlechtesten 

SeidenstorTe,  in  dcm  Lcdergeschaft  dort  gibts  cin  siiBes 

Ncccssaire,  wcnn  es  inzwischcn  nicht  vcrkauft  ist,  sehcn 

Sie,  gerade  cin  solchcs  Auto  konnte  ich  gebrauchen,  wic 

das  da  im  Fenstcr,  wenn  ich  nur  wuBte,  was  fur  cine  Markc 

es  ist  ...  ja,  und  in  diescm  Geschaft  hier  kaufc  ich  immcr 

meine  Grammophonplatten,  immcr!  alle  Jubcljahrc  mal 

cine!  die  haben  aber  wirklich  iibcrall  den  gleichen  Prcis, 

ich  gehc  schrccklich  gcrnc  da  rein,  die  viclc  Musik  durch- 

einander  horen  — "  und  dabci  lacht  sic,  hcrzhaft  und  frfthiich, 

410 


und  da  lacht  er  mit.  ,,Tatsachlich,  Sie  wsiren  cin  vor- 
trefflicher  Fremdcnfiihrer  ..."  —  ,,Ja,  manchmal  bin  ich 
zwar  cin  biBchen  verriickt",  sagt  Joly,  ,,aber  das  macht 
nichts,  gelt?"  —  ,,Nein,  das  macht  gar  nichts",  antwortet 
er  und  sieht  ihr  wicder  von  der  Seite  ins  Gesicht.  Wenn  ich 
jetzt  zu  ihr  sagen  wiirde,  Joly,  ich  mochte,  daB  Sie  alles 

Schonste  und  Beste,  was  auf  der  Welt  ist,  haben Ein 

hiibscher  junger  Mann  im  Leinenanzug  und  ohne  Hut 
kommt  ihnen  entgegen,  Joly  hebt  die  Hand  und  winkt  ihm, 
da  bleibt  er  ein  wenig  stutzend  stehen  und  hebt  hinter  der 
groBen  runden  Brille  seinen  kurzsichtig  blinzelnden  Blick 
auf  sic.  Das  ist  einer  von  dcnen  im  Smoking  neulich  von 
der  Bar  auf  derlnsel.  ,,Servus  Jolychen,  kuB  die  Hand!"  — 
,,Servus  Totochen,  was  heiBt  denn  das,  wo  driickst  du  dich 
dcnn  um  diese  Zeit  rum?"  Und  sie  stellt  die  beiden  einander 
vor:  ,,Herr  Doktor  Otto  Huszar  —  Herr  Antal  Kadar, 
oder  vielmehr:  Mister  Kadar,  aber  seinen  Vornamen  weiB 
ich  nicht  englisch,  Bandis  Freund,  weiBt  du  Toto,  aus  Siid- 
afrika.  Also,  laB  mal  horen,  warum  du  um  diese  Zeit  in  der 
Stadt  rumbummelst."  —  ,,Was  soil  ich  dir  sagen,  Jolychen", 
erwidert  der  junge  Mann,  ,,ich  komme  von  einem  Kon- 
silium."  —  ,,Na,  das  soil  dir  ein  anderer  glauben  .  .  . 
begleitcst  du  uns  ein  Stiickchen?"  Zu  dritt  gehen  sie  weiter, 
Doktor  Otto  Huszar  begibt  sich  hoflich  an  Jolys  andere 
Seite.  Manchmal  bleibt  Kadar  einen  Viertelschritt  hinter 
ihnen  zuriick,  sieht  sie  sich  an  und  hort  ihrem  leichten, 
narrischen  Redeschwall  zu.  Ein  merkwiirdiger  Ton  .  .  . 
Budapester  Ton.  Jolychen,  Totochen,  —  auf  vertraulichem 
FuB  stehen  sie,  anscheinend  Freunde,  Kameraden?  .  .  . 
eine  kleine  dumpfe  Bitternis  steigt  ihm  in  die  Kehle,  und 
scin  Gesicht  ist  fast  unfreundlich,  als  sich  der  Junge  an 
eincr  der  nachsten  StraBenecken  verabschiedet,  ,,adio,  ich 
muB  jetzt  laufen,  ich  hab  wirklich  furchtbar  viel  zu  tun  ..." 
,,Was  ist  dieser  Herr?"  fragt  er  nach  ein  paar  Schritten. 
,,Warum  sind  Sie  denn  so  giftig?"  neckt  Joly,  ,,das  ist  kein 
Herr,  sondern  ein  Junge.  Ansonsten  Arzt,  nicht  gerade  ein 

411 


beriihmter  Arzt,  abcr,  wenn  man  bedenkt,  daB  er  sich  erst 
ganz  kiirzlich  nicdergclassen  hat,  gcht  es  ihm  ziemlich  gut. 
Dermatologc  .  . ."  fiigt  sic  leicht  ehrfurchtsvoll  hinzu.  ,,Ein 
alter  Freund  von  uns,  ein  netter  Junge,  hat  was  im  Kopp- 
chen  .  .  .  also,  wohin  gehen  Sie  jetzt?  ich  fangc  namlich 
an,  nach  Hause  zu  gehen." 

Ila  1st  noch  nicht  im  Hotel,  als  cr  ankommt.  Nebcn  dem 
Telefon  liegt  ein  Zettel:  Ich  bin  mit  Edith  im  Wellenbad, 
zum  Mittagessen  komme  ich  nach  Hause.  Er  geht  im 
Zimmer  auf  und  ab.  Sie  ist  nicht  schon  .  .  .  irgendeincn 
gewohnlichen  Zug  hat  sie  im  Gesicht,  und  ihr  Mund  ist 
nicht  schon.  Es  ist  warm,  er  zieht  sich  ein  Pyjama  an.  Soil 
ich  ihnen  nachgehen?  Ila  hat  den  Wagen  mit.  Ach,  ich 
bleibe  zu  Hause,  wir  konnten  auf  dem  Zimmer  essen.  Was 
ist  heute?  was  ist  heute?  Mittwoch.  Fur  nach  Tisch  habc 
ich  nichts  vor,  abends  sind  wir  bei  dcr  Gesandtschaft  cin- 
geladen.  Na,  schon.  Zunachst  werde  ich  mich  ein  biBchen 
hinlegen  .  .  .  Er  legt  sich  auf  den  Diwan.  Hotelzimmer,  — 
drollig,  man  beschlieBt  plotzlich,  nun  ein  halbcs  Jahr  im 
Hotelzimmer  zu  leben.  Aber  die  Zimmer  hier  sind  sehr 
schon,  Luxuszimmer.  tJberhaupt  .  .  .  man  kann  zufricden 
sein  —  —  Das  Telefon  auf  dem  Schreibtisch  knarrt  gc- 
dampft,  diskret,  —  man  kann  zufrieden  sein  mit  seincm 
Los  .  .  .  Kelcmen.  Interessanter  Zufall.  ,,Wic  gcht  es  dir? 
wie  geht  es  euch?  was  macht  ihr?"  und  an  einem  der 
nachsten  Tage  mochte  er  gern  mit  ihm  sprechen,  —  ,,bitte 
sehr,  wann  es  dir  paBt,  mir  ists  auch  heute  nachmittag 
recht."  Nein,  heute  lieber  nicht,  heute  habc  er  viel  zu  tun, 
aber  wcnn  cr  ihn  morgcn  nach  Tisch,  wenn  Ilachen  sich 
sowicso  schlafen  legt,  abholen  diirfte,  sic  konnten  sich  dann 
irgcndwo  drin  odcr  drauBcn  hinsetzcn  —  also,  sic  ver- 
abredcn,  daB  Kclcmcn  ihn  morgcn  um  vicr  abholen  kommt 
und  sic  sich  dann  irgcndwo  auf  die  Donauterrasse  sctzcn. 
Kclemcn.  Kclcmcn  ist  dcr  diskretcstc  von  alien.  Es  sieht 
fast  so  aus,  als  ob  Kclcmcn  .  .  .  gar  nichts  von  ihm  wollc, 
dabci  will  cr  abcr  bcstimmt  doch  ctwas  von  ihm.  Sclbst- 


41  z 


verstandlich.  Nur  so  hie  und  da  ein  halber  Ton,  hie  und  da 
ein  unvollendeter  Satz:  bloB  ein  gutes  Ohr  gehort  dazu, 
ein  geiibtes  Ohr,  um  es  herauszuhoren.  Natiirlich  will  er 
was,  friiher  oder  spater  wird  er  schon  damit  rausriicken. 
Ohne  Zweifel.  Kelemen  war  der  Geduldigste  und  der  Vor- 
sichtigste,  —  er  wollte  ja  auch  am  meisten  .  .  .  andererseits 

will  ja  auch  ich  von  ihm  am  meisten Na  ja,  also,  als 

er  angehangt  hatte,  legte  er  sich  wieder  auf  den  Diwan; 
jetzt  war  es  nur  natiirlich  und  logisch,  an  Joly  zu  denken. 
Wer  mag  der  junge  Mann  sein,  der  Gelehrte  mit  der  runden 
Brille  und  den  witzigen  Budapester  Redensarten,  das  ist 
kein  Herr,  das  ist  ein  Junge,  ein  Rotzjunge  ...  —  er  lachte. 
Fiinfundzwanzig  Jahre  kann  er  sein,  sagen  wir  sechsund- 
zwanzig.  Ich  werde  dreiunddreiBig,  sieben  Jahre  Unter- 
schied.  Zu  meinen  Gunsten?  Zu  meinem  Nachteil?  .  .  . 
Joly  ist  anscheinend  sehr  intim  mit  ihm,  sie  duzt  ihn,  und 
dieser  Toto  hat  sich  bei  ihr  eingehangt,  mit  einer  ganz 
langsamen,  gewohnten  Bewegung,  und  Joly  hat  sich  nicht 
dagegen  gewehrt,  hat  den  Arm  nicht  von  seiner  Hand 

weggezogen,  wie  sie  es  getan  hat,  als  ich Schon 

dumm  klingt  das,  eine  schone  Dummheit,  als  ob  ich  auf 
diesen  griinen  Jungen  eifersuchtig  ware,  Albernheit. 
Schone  Albernheit,  wiederholt  er  laut  vor  sich  hin,  weil  ihm 
die  Lider  schwer  werden  und  er  nicht  einnicken  will.  Er 
nimmt  ein  Buch  in  die  Hand.  The  42nd  Parallel,  Dos 
Passos.  Ein  griesgramiger  Schrifts teller.  Aufregend  bitter. 
Er  schlagt  das  Buch  auf  und  blattert  darin.  Eigentlich  .  .  . 
muBte  ich  etwas  von  der  ungarischen  Literatur  lesen,  ich 
kenne  nichts  von  der  neueren  ungarischen  Literatur.  Und 
da  sieht  er  plotzlich  einen  groBen  Biicherschrank  vor  sich, 
und  von  den  Farbenflecken  der  Biichergruppen  kommen 
ihm  Namen  in  den  Sinn :  gelb  —  Strindberg,  rot  —  Wede- 
kind,  weiB  —  Schnitzler,  braun  —  Shaw,  blau  —  Altenberg, 
und  eine  niedrige  Reihe  broschierte  Biicher  mit  weiBem 
Riicken:  Wilde,  Jerome,  Chesterton,  Conrad,  Wells, 
Bennet ... — und  auf  einmal  hort  er  eine  frische,  knabenhafte, 

415 


klarc  Stimme:  ich  hab  mir  den  neucn  Werfel  gekauft, 
willst  du  ihn  dir  mitnehmen?  oder  hast  du  den  Kerr  noch 
nicht  ausgelesen?  Galsworthy  soil  an  einem  neuen  groBen 
Roman  arbeiten,  die  Geschichte  einer  Familie  will  er 
schreiben,  meinst  du  nicht,  daB  die  Idee  Buddenbrook- 
EinfluB  ist?  —  und  dann  sieht  er  cine  andere  Bibliothek, 
bis  an  die  Decke  offene  Facher,  zuunterst  das  ganze  Fach 
der  Economist,  dariiber  eine  Reihe  Moderne  Baukunst, 
dann  links  die  deutschen,  in  dcr  Mitte  die  englischen,  rechts 
franzosische  und  sonstige  Fachbiicher,  Architektur,  Kunst, 
Volkswirtschaft,  dann  eingebundene  Zeitschriften :  in  der 
Villa  in  Port  Elizabeth,  im  Hcrrenzimmer.  Die  Biicher  sind 
zum  groBen  Teil  Myers*  NachlaB,  und  kein  einziges  un- 
garisches  Buch  ist  darunter,  und  auch  Belletristik  kaum, 
ganz  wenige  neue  englische  und  amerikanische  Biicher,  — 
keine  Zeit  ...  —  und  ctwas  von  seltsamer,  schmerzlicher 
Sehnsucht  regt  sich  in  ihm,  cine  namen-  und  ziellose 
Sehnsucht,  —  mein  Gott,  alles,  was  ich  nur  will?  alles,  was 
schon  und  gut  und  teuer  ist  ...  alles?  da  es  doch  ganz 
winzige  Dinge  gibt,  die  nicht  gelingen,  die  ich  nicht 

imstande  bin  zu wie  zum  Beispiel  die  ungarischc 

Literatur  .  .  .  oder  etwas und  da  werden  still  die 

Farben  gcdampfter  und  die  Tone  gedampfter Als 

Ila  eintritt,  schreckt  er  aus  eincm  leichten  Halbschlaf  auf. 
Ila  ist  heiter,  wirft  ihre  Badetasche  aus  blauem  Lackleder 
hin,  das  feuchte  Trikot  breitet  sic  im  Badezimmer  aus 
und  erzahlt  vom  Wellenbad;  ,,hcute  war  es  wunderbar, 
im  Gellert  sind  zwei  neuc  englische  Familicn  angekommen, 
ein  Fabrikant  aus  Birmingham  mit  Frau,  Tochtcr  und 
Schwiegersohn  und  ein  Herr  aus  London  mit  seiner  Tochter. 
Das  Wasser  war  so  hcrrlich  frisch,  und  die  Sonnc  schien  so 
heifl,  sieh  mal,  mein  Riicken  ist  wieder  ganz  vcrbrannt." 
Wahrend  Ila  erzahlt,  iibcrlegt  er  sich,  ob  er  etwas  davon 
sagen  solle,  daB  er  Joly  getroffen  hat,  zufallig,  —  und 
plotzlich  kommt  cr  in  Wut,  dariiber  muB  man  nachdenken?! 
was  fur  cine  Albernhcitl  —  und  glcich  unterbricht  er  Ila: 

414 


,,ich  bin  auf  der  StraBe  Joly  Kelemen  begegnet,  sic  hat 
gefragt,  ob  sie  mal  wieder  mit  uns  zusammensein  konne." 
—  ,,Und  was  hast  du  ihr  geantwortet?"  —  ,,DaB  wir  selbst- 
verstandlich  zusammensein  konnen,  sie  solle  dich  an- 
rufen."  —  ,,Gut",  sagt  Ila,  ,,ich  hab  sie  sehr  gern  .  .  . 
wovon  sprach  ich  doch  eben?  ach  ja,  also  etwas  Drolligeres 
als  diese  alte  Dame,  etwas  Komischeres  als  diese  Mrs. 
Charvell,  weiBt  du,  die  Frau  des  Fabrikanten  aus 
Birmingham  ..." 


Joly  wird  sich  wieder  nicht  von  selbst  melden,  dachte 
er,  aber  jetzt  wollte  er  die  Begegnung  mit  ihr  nicht  mehr 
dem  Zufall  iiberlasscn.  Er  lieB  jetzt  die  Aufrichtigkeit 
schon  so  weit  an  sich  herankommen,  daB  er  sich  sagte:  ich 
mochte  mit  ihr  zusammensein,  ich  mochte  sie  sehen.  Und 
dariiber  hinaus  ist  alles  Grubeln,  alles  Rechenschaftgeben 
iiberfliissig.  Joly  zu  sehen,  ist  angenehm,  und  es  ist  an- 
gcnehm,  an  sie  zu  denken,  —  groBe  Worte,  Quali- 
fizierungen,  Herumraten,  Angste,  —  wozu?  Als  er  am 
folgenden  Tag  mit  Kelemen  auf  dem  Korso  saB,  auf  der 
Terrasse  cines  Cafes,  begann  er  das  Gesprach  gleich  damit, 
daB  er  sie  fur  einen  der  nachsten  Abende  einlud,  mit  ihnen 
zusammen  im  Hotel  zu  essen,  ,,nachher  kdnnen  wir  auf 
den  Dachgarten  gehen,  oder  wenn  die  Damen  etwas 
anderes  vorschlagen,  —  das  Programmachen  ist  ja  Sache  der 
Damen."  Kelemen  nahm  natiirlich  erfreut  die  Einladung  an. 
Sie  unterhielten  sich.  Hinter  Kelemens  vorsichtigen,  etwas 
fluchtigcn  Erkundigungen  schien  indessen  cine  Gespannt- 
heit  zu  liegen.  Anscheinend  fiihlten  sie  sich  ja  recht  wohl 
hier,  nicht?  ,,na  also,  ich  wuBte  ja,  daB  man  sich  in 
Budapest  wohlfuhlen  muB,  —  nSmlich  als  Gast,"  und 
wie  knge  sie  ungefahr  noch  blieben?  Das  wisse  er  noch 
nicht  genau,  antwortete  Kadar,  sie  batten  sich  auch 
urspriinglich  nicht  an  einen  Tag  gebunden,  und  jetzt  wiirden 
sie  ihrc  Schweizer  Reise  wohl  ein  wenig  aufschieben 

415 


miissen,  bis  er  diese  gewissc  Angclegenheit  etwas  genauer 
untcrsucht  habe,  —  scharf  sieht  er  Kelemen  an,  —  die  Vor- 
schlage  Szendes.  Kelemen  bcherrscht  sich  gut,  nur  seine 
Finger  zittern,  die  Zigarette  und  das  Streichholz,  als  er  es 
anziindet.  ,,So,  —  also  Szende  ist  mit  einem  Vorschlag 
gekommen  ...  so,  ja.  Wenns  was  Gescheites  ist  — ",  und 
plotzlich  fangt  er  an,  von  sich  zu  sprechen,  nun  schon  ganz 
ruhig,  von  seinen  eigenen  Angelegenheiten,  die,  leider 
Gottes,  nicht  eben  glanzend  stehen.  Vor  allem  .  .  .  ja,  das 
ist  der  richtige  Ausdruck:  sabotiere  man  seine  Idee,  die  er 
neulich  kurz  erwahnt  habe,  man  sage  weder  ja,  noch  lehne 
man  sie  ab,  was  ein  Desobligo  fur  ihn  bedeuten  wiirde  .  .  . 
kurz,  man  wolle  ihn  einfach  aushungern.  Schon,  das  ware 
noch  am  wcnigsten  schlimm  unter  den  gegebenen  Um- 
standen,  —  pro  momento,  sagt  er,  pro  momento  sei  der 
Haken,  daB  er  sich  absolut  nicht  mit  seinem  Abteilungschef 
vertragen  konne.  Der  Abteilungschef  sei  ein  alter  Mann,  sei 
eifersiichtig  auf  ihn,  fiirchte,  durch  ihn  seine  Position  zu 
verlieren,  solange  er  aber  noch  die  Macht  in  Handen  habe, 
sei  er  ihm  gegeniiber,  ihm,  der  er  es  doch  aus  eigenen 
Kraften  zu  dem  gebracht  habe,  was  er  sei,  den  keinerlei 

Protektion  vorgeschoben  habe  oder  schiitze kurz 

und  gut,  der  Vorstand  habe  nicht  miBzuvcrstehende  An- 
spielungen  gemacht,  daB  unter  den  heutigen  Verbal tnissen, 
die  doch  alle  Schranken  umsticBcn,  und  so  weiter  .  .  .  ,,Ich 
wiirde  mich  nicht  wundern",  sagt  er,  ,,wenn  ich  von  heute 
auf  morgen  einen  Kiindigungsbrief  zugestellt  bekame.4* 
Und  daB  heutzutage  die  Frage,  irgendwo  unterzukommen, 
cine  eminentc  Sorge  sei  und  cine  doppeltc  Sorge:  erstens 
die  Frage  einer  Anstellung  iiberhaupt  und  zweitens  die 
Frage  einer  Anstellung,  die  seiner  Begabung,  seinen 
Fahigkeitcn  entsprache.  Das  Stiickchen  Brot,  das  cine 
mittlere  Stellung  sichert,  ist  manchmal  ein  hcmmender, 
schwerer  Klotz,  —  man  kann  das  nicht  so  leicht  aufs  Spiel 
setzen,  besonders  wcnn  man  gewissc  Vcrpflichtungcn  hat, 
Vcrpflichtungcn  der  Familic  gegeniiber.  Davon  spricht 

416 


er  aber  nicht  weiter,  das  Gesprach  kommt  vielmehr  gleich 
auf  Port  Elizabeth,  —  und  auf  einmal  fragt  Kelemen:  ,,sag 
mal  Antal,  wic  sind  deine  Leute?  die  bei  dir  arbeiten?"  — 
,,Oh,  sehr  gut",  antwortet  er,  ,,ausgezeichnete  Fachleute. 
Sie  bewegen  sich  in  genau  bestimmten  Wirkungskreisen, 
letzten  Endes  handelt  es  sich  um  ein  Privatunternehmen, 
wo  alle  Faden  auf  meinem  eigenen  Schreibtisch  zusammen- 
laufen."  —  ,,Gut  und  schon,  ausgezeichnete  Fachleute  .  .  . 
aber  sind  sic  auch  anstandig?"  Er  sieht  ihn  erstaunt  an. 
Zuerst  versteht  er  den  Ausdruck  nicht.  „ Anstandig?  ob 
nicht  einer  Unterschlagungen  macht  oder  in  die  Kasse 
greift?"  —  ,,Nein,  das  meine  ich  gerade  nicht,  wie  soil 
ich  nur  sagcn,  —  zum  Beispiel  der  Einkaufer  des  Materials  — 
zum  Beispiel  Provisionen  ..."  —  ,,Ach  so,  ich  verstehe,  du 
denkst  daran,  ob  diese  Leute  etwa  von  den  Lieferanten  was 
annehmen,  beziehungsweise  irgend  jemanden  bevorzugen, 
der  sie  bestochen  hat."  —  ,,Ja,  naturlich."  —  ,,Ach,  nein, 
erstens  .  .  .  aber  das  wird  ein  wenig  schwer  sein,  dir  be- 
greiflich  zu  machen,  da  du  doch  die  Verhaltnisse  dort 
unten  nicht  geniigend  kennst,  —  erstens  kommt  das 
deshalb  nicht  vor,  weil  entweder  ich  selbst  oder  Scott,  der 
Sohn  meines  einen  Kompagnons,  bestimmen,  was  von 
den  einzelnen  Lieferanten  gekauft  wird.  Zweitens  arbeitet 
driiben  der  Markt  mit  Standardmaterial  und  deklarierten 
Preiscn;  wenn  sich  demnach  jemand  einem  Fremden  da- 
durch  ausliefern  wiirde,  daB  er  Geld  von  ihm  annahme,  so 
konnte  das  nie  auf  Kosten  der  Qualitat  gehen,  es  wiirde  nur 
den  Lieferanten  schadigen,  und  dies  ganz  iiberflussiger- 
weise.  Wieviel  nun  der  Lieferant  bei  den  deklarierten 
Preisen  und  untadeliger  Qualitat  verdient,  das  geht  mich 
wirklich  nichts  mehr  an."  —  ,,Und  wenn  jemand  schlechte 
Ware  oder  Ware  von  anderer  Qualitat  ubernimmt?"  — 
» Ja,  der  betriigt  dann  einfach,  und  da  kann  man  in  vierund- 
zwanzig  Stunden  hinterkommen  und  den  Betrefienden  ein- 
sperren  lassen,  aber  mit  so  etwas  habe  ich  noch  nie  211  tun 
gehabt.  Eine  ganz  andere  Sache  natiirlich  ist  die,  daB  im 

27  KOrmendi,  Budapest  417 


vorigen  Herbst  russische  Agenten  auftauchten,  die  Benzin 
und  Ol  drciBig  Prozent  billiger  anboten,  —  in  einem  solchen 
Fall  1st  es  dann  wieder  natiirlich,  daB  ein  konservativ  ge- 
fiihrtes  Unternehmen,  das  seine  jahrzehntealten  Beziehungen 
und  Lieferanten  hat  .  .  ."  —  ,,Ja,  gewiB,  gewiB",  sagt 
Kelemen,  —  sein  Gesicht  ist  ein  wenig  verstort,  und  es 
scheint  ihm  fast  leid  zu  tun,  diese  Sache  zur  Sprache  ge- 
bracht  zu  haben,  —  ,,ich  dachte  ja  auch  nicht  eben,  daB  deine 
Leute  unzuverlassig  seien."  Dann  flieBt  das  Gesprach  noch 
weiter,  wird  aber  bald  farblos  und  matt.  Es  fallen  unwichtigc 
Worte  von  leeren,  neutralen,  allgemeinen  Dingen,  und  der 
Ton  flattert  erst  dann  wieder  lebhafter  auf,  als  Kelemen 
sagt:  ,,sei  nicht  bose,  ich  mochte  nicht,  daB  du  es  fur  eine 
Indiskretion  haltst,  aber  es  wiirdc  mich  ungeheuer  inter- 
essieren,  wie  du  es  so  weit  gebracht  hast,  hier  von  dcr 
Budapester  Schulbank  aus,  —  du  nimmst  es  mir  doch  nicht 
iibel,  nicht  wahr,  aber  ein  so  phantastisches  Schicksal,  eine 
so  seltene  Karriere  ..."  —  Er  winkt  ab.  ,,Wie  ich  es  so 
weit  gebracht  habe?u  sagt  er,  —  ,,ja,  das  ware  schwer,  so 
einfach  zu  erzahlen."  Eine  peinliche  Banalitiit  drangt  sich 
ihm  auf  die  Zunge.  Ich  habe  viel  gekampft,  sagt  er  fast, 
halt  das  Wort  aber  zuriick,  ,,gewissermaBen  ist  das  auch 
Gliickssache  .  .  .  Sache  eines  giinstigen  Augenblicks  oder 
eines  giinstigen  Zufalls",  sagt  er  nachdenklich,  ,,daB  man 
es  so  weit  — "  So  weit?  dcnkt  er,  wahrend  er  spricht,  wie 
weit?  so  weit,  daB  ich  im  Alter  von  zweiunddreiBig  Jahren 
viel  Geld  habe,  mein  eigcner  Herr,  ein  gliicklicher  Mensch 
bin,  cinen  Namen  habe  und  innerhalb  meiner  Kreise  eine 
Macht  bin  und  .  .  .  nun  hier  mit  einem  uninteressantcn, 
traurigen,  fremden  Hungerleider  sitze,  einem  von  den 
unzahligen  elenden,  ungliicklichcn,  uninteressantcn  Skla- 
venmenschcn,  bloB  deshalb,  wcil  —  —  und  auch  jetzt  denkt 
er  nur:  weil  ich  Joly  schen  mochte.  Doch  hier  bleibt  er 
stecken,  und  mit  fast  unvcrhullter  Hartnackigkeit  laBt  er 
das  Thema  Joly  nicht  los.  Also,  was  Joly  denn  mache?  wie 
sic  lebe?  ob  sic  irgendwelchc  Plane  habe,  so  im  allgemeinen 

418 


furs  Leben?  ob  es  nicht  gut  ware,  wenn  sic  sich  mit  etwas 
beschaftigen  wurde?  ob  sie  keine  Lust  hatte  zu  arbeiten, 
und  wenn  auch  nur,  um  von  irgend  etwas  in  Anspruch 
genommen  zu  sein,  so  wie  die  meisten  heutigen  jungen 
Madchen?  und  so.  Kelemen  antwortet  vorsichtig,  ein  wenig 
zuriickhaltend ;  er  halt  sich  streng  an  die  Fragen  und  ist  jetzt 
wortkarg  fast  bis  zur  Verschlossenheit.  Dieses  bereits  auf- 
fallende  Zuruckziehen  entgeht  Kadar  nicht.  Halunke,  denkt 
er.  Du  hast  wohl  bemerkt,  daB  sie  mich  interessiert.  Und 
nun  haltst  du  hinterm  Berg.  Willst  wohl  Wucher  treiben. 
Zwei  scharfc  Blicke  kreuzen  sich.  Dann  stehen  sie  auf.  Sie 
geben  sich  die  Hand.  Offenbar  denkt  auch  Kelemen,  iiber- 

morgen  abend 

Am  nachsten  Tag  kam  Joly  zu  Ik  ins  Hotel,  bei  dieser 
Gelegenheit  sah  er  sie,  aber  aus  dem  verabredeten  Abend 
wurde  nichts.  —  Joly  hatte  nachmittags  vom  Portier  herauf- 
telefoniert,  ob  sie  kommen  konne.  Fiir  diesen  Nachmittag 
hatten  sie  sich  nichts  vorgenommen,  um  halb  sechs  saBen 
sie  noch  zu  Hause,  erst  spater  wollten  sie  ins  Kiihle  Tal 
fahrcn  in  die  Konditorei.  ,,Dein  Mann  sagte  mir,  du  seist 
so  lieb  gewesen,  nach  mir  zu  fragen,  jetzt  war  ich  gerade 
hier  in  der  Nahe  und  bin  also  auf  einen  Sprung  gekommen." 
Sofort  erwahnt  Kadar  die  Verabredung  fiir  den  nachsten 
Abend,  —  ,,nein,  Bandi  hat  noch  nicht  davon  gesprochen, 
allerdings  habe  ich  ihn  schon  seit  ein  paar  Tagen  nicht 
gesehen  ..."  und  so  nimmt  sie  mit  sichtlicher  Freude  zur 
Kenntnis,  daB  sie  morgen  abend  zusammensein  werden. 
Sie  sitzt  in  einem  niedrigen  Lehnstuhl,  wieder  fallt  ihm  ihre 
eigentiimliche,  gerade  Korperhaltung  auf.  Aber  .  .  .  steif 
ist  sie  deswegen  doch  nicht.  Sie  steckt  sich  cine  Zigarette 
an,  schlagt  die  Beine  iibereinander,  schone,  schlanke,  knge 
Beine  hat  sie,  —  und  wieder  hat  sie  die  Sandalen  an.  Er 
beobachtet  die  beiden  Frauen,  —  als  ware  in  ihren  Stimmen 
cine  merkwurdige  Verwandtschaft,  und  doch  sind  ihre 
Stimmen  ganz  verschieden.  Ila  spricht  leise,  tief  und  flussig, 
in  abgerundeten  Worten  und  tadellos  durchgebildeten 

27*  419 


Satzen;  auch  Joly  spricht  leise,  abcr  ihrc  Srimme  1st 
hoher  und  auch  etwas  klarer,  oder  vielleicht  hdrt  sich 
das  nur  so  an,  well  sie  hoher  1st,  und  ein  biBchen  rhapsodisch 
sind  ihre  Worte,  hie  und  da  stockt  sie  oder  reiBt  etwas  ab, 
den  angefangenen  Satz  beendet  sie  nicht,  schiebt  einen 
andern  Gedanken  dazwischen  und  kehrt  dann  zu  dem  vor- 
hergehenden  zuriick.  Und  sie  spricht  auch  sckneUer,  — 
oder  scheint  das  auch  nur  darum  so,  well  ihre  Stimme  hoher 
klingt?  lias  Worte  sind  beinahe  kuhl  durclidacht  und 
korrekt,  —  oh,  lias  kluge,  klare,  anstandige  Worte  .  .  . 
ihre  Worte  sind  genau  so  wie  ihre  Augen,  —  in  Jolys 
Stimme  schwingt  manchmal  ein  merkwiirdiger  leichtcr 
Zynismus,  eine  Art  ubertriebener  stiller  kleiner  Selbst- 
kritik,  etwas  wie  Geringschatzung  ihrer  sclbst.  —  Er 
lauscht  ihrem  Gesprach  und  wirft  das  eine  oder  anderc 
Wort  dazwischen.  Und  er  beobachtet  Ila,  ob  er  in 
ihrem  Gesicht  keinmal  ein  ungeduldiges,  nervoses  Zucken 
sehe,  —  Joly  spricht  wieder  von  dem,  wovon  schon  einmai 
und  zweimal  und  dreimal  die  Rede  war.  ,,Ja,  Stenographic 
und  Schreibmaschine  habe  ich  gelernt,  aber  leider  niitzt  mir 
das  nicht  viel",  erzahlt  sie.  ,,Ins  Biiro  gehen,  mein  Gott,  die 
paar  Pengo,  die  man  eincm  dafur  bietet,  sagen  wir,  bei 
einem  Rechtsanwalt  .  .  ."  Ober  lias  Ziige  huscht  ein  stilles 
Lacheln,  —  ,,oder  sonstwo,  Anfinger  wie  ich  wcrdcn  leider 
uberall  schlecht  bezahlt."  —  Das  interessicrt  Ila  nicht,  das 
kann  sie  nicht  interessicren,  denkt  er  mit  cinem  peinlichen 
Gefuhl  und  sucht  Jolys  Augen.  Joly  wird  es  merken,  muB 
es  an  meinen  Augen  merken,  daB  —  „.  .  .  erstens  mal,  bis 
es  einem  gelingt,  iiberhaupt  irgendwo  mit  jcmandcm  sprc- 
chen  zu  konnen,  der  einen  nicht  einfach  mit  einem  ,Zur 
Zdt  leider*  oder  ,Wir  woilen  cs  vonncrkcn*  abtut  ,  .  ." 
Das  Telefon  klingelt.  ,,Hallo  —  Servus  Szende.  Ja,  nein, 
du  storst  gar  nicht,  bitte  schon/*  —  ,,Und  wenn  man  dann 
mit  Miih  und  Not  irgendwo  untcrkommt,  dann  ist  gcwohn- 
lich  das  das  Schrecklichc,  daB  man  fur  die  paar  Pengo  .  .  .4< 
,,Nein,  im  Augenblick  habcn  wir  gerade  Bcsuch  .  .  .*'  — 

4ZO 


,,gewohnlich  muB  man  sich  dann  Frechheiten  gefailen 
lassen ..."  —  ,,Leidcr oicht, nachher gehen wir fort . . ."  — 
,,Na,  also,  nicht  gerade  jede  muB  sich  das  gefallen  lassen, 
aber  gewohnlich  versucht  mans  mit  jedcr  ..."  —  ,,Leider 
bin  ich  noch  nicht  dazu  gekommen,  griindlich  reinzu- 
sehen."  —  ,,Einmal  habe  ich  einen  Versuch  gemacht,  bei 
einem  Textilgrossisten,  auf  eine  Annonce  hatte  ich  gc- 
schrieben,  zwei  Wochen  habe  ichs  ausgehalten  ..."  — 
,,Morgen  vormittag  gern,  jederzeit,  meinetwegen  schon 
um  neun  ..."  —  ,,Da  habe  ich  einen  alten  Chef  gehabt,  im 
Anfang  hat  er  sich  sehr  nett  benommen,  Kleine,  Kleine,  hat 
er  immer  gesagt,  er  war  mindestens  funfzig  Jahre  alt ..."  — 
,,Nein,  Szende,  wenn  wir  uberhaupt  hingehen,  dann  gehen 
wir  zunachst  beidc  allein  ..."  —  ,,und  dann  nach  zwei 
Wochen  abends  bei  BiiroschluB  sagte  er  auf  einmal,  er  kame 
mich  um  neun  abholen,  ich  solle  vor  dem  Haustor  auf  ihn 
warten,  er  nahme  rnich  mit  Auto  fahren  ...  da  habe  ich  ihn 
einfach  stehenlassen."  —  ,,Gut,  Szende,  auf  Wiedersehen. 
Servus."  —  Dann  fordert  Ila  Joly  auf,  mit  ihnen  ins  Kiihle 
Tal  zu  fahren.  ,,Nein,  heute  kann  ich  leider  nicht,  meine 
Schwester  will  heute  abend  weggehen,  da  muB  ich  bei 
Mama  und  dem  kleinen  Jungen  bleiben,  —  schade,  wirklich 
schade."  —  ,,Also  dann  morgen  abend,  wie  verabredet .  .  . 
aber  warte  jetzt  wenigstens  noch  ein  biBchen,  ich  zieh  mich 
schnell  um,  dann  gehen  wir  zusammen  weg."  Joly  sitzt 
im  kleinen  Sesscl;  er  betrachtet  sie,  an  die  Balkontiire 
gelehnt.  ,,Miisscn  Sie  unbedingt  heute  abend  zu  Hause 
bleiben?"  fragt  er  plotzlich,  seine  Stimme  ist  ganz  leise, 
er  wundert  sich,  daB  er  nicht  lauter  spricht,  ein  wenig 
argert  ihn  auch  diese  sonderbar  gedampfte,  geheimnisvoll 
tuende  Stimme.  GewiB  ein  Reflex,  daB  Joly  ebenso  leise 
antwortet,  —  sie  haben  doch  nichts  zu  verheimlichen  in  dem, 
was  sie  einander  sagen.  ,,Ja,  leider  muB  ich  heute  zu  Hause 
bleiben  bei  Mutter  und  dem  Kleinen  .  .  ."  Sie  schweigcn. 
Und  dann  hort  er  wieder  seine  eigene  leise,  fremde  Stimme, 
wie  sie  plotzlich  von  der  Tiir  her  klingt:  ,,ich  lade  Sie  auch 

421 


ein,  Auto  zu  fahrcn,  abcr  am  Tagc  und  zu  dritt  mit  meincr 
Frau  zusammen  ..."  —  ,,Das  vcrstehe  ich  nicht",  sagt 
Joly  laut,  ,,was  wollen  Sic  damit  sagen?"  —  ,,Nichts", 
antwortet  er,  tritt  an  den  Schreibtisch,  kramt  darauf  herum, 
stcllt  das  Telefon  ein  biBchen  weiter  auf  die  Seite  und 
bastelt,  um  die  Zeit  auszufiillen  und  seine  Vcrlegenheit  zu 
verbcrgen,  mit  Buchern  und  Papieren.  Einmal  blickt  er 
nach  Joly  hin,  —  aus  ihren  wcitgeoffneten  Augen  brennt 
noch  immer  crstaunt,  fragend  der  grunlich-blaue  Strahl  auf 
seincm  Gesicht. 


Ja,  —  aus  dcm  ,,morgen  abend"  wurde  nichts.  Ila  fuhr 
um  acht  Uhr  friih  auf  die  Inscl  Tennis  spielen,  und  um  halb 
neun  telefonicrte  sic  schon  aufgelost  und  verzweifelt  aus 
eincm  Budacr  Sanatorium:  Mrs.  Simmons  war,  nachdcm 
sic  kaum  den  noch  etwas  feuchten  Tennisplatz  betreten 
hattc,  hingefallen  und  muBte  allem  Anschein  nach  einen 
schweren  Knochcnbruch  in  der  Gegend  des  rcchten 
Knochels  erlitten  haben;  mit  schrccklichen  Schmerzcn  hat 
man  sic  nach  Buda  in  ein  Sanatorium  transportiert,  und  jetzt 
sucht  man  in  der  ganzen  Stadt  nach  dem  beruhmtcn 
Orthopaden,  der  ihnen  im  Sanatorium  cmpfohlen  worden 
ist.  Simmons  ist  in  Belgrad  .  .  .  ,,Anti,  ich  bin  ganz  auBcr 
mir,  setz  dich  doch  bitte  sofort  in  einen  Wagen  und  komm 
her!"  Einc  Minute  darauf  saB  er  in  der  Taxe  und  raste  ins 
Sanatorium.  Ila  war  hochrot,  Frau  Simmons  lag  kreidc- 
bleich  im  Bert.  Nach  cinem  Wcilchen  kam  der  Spezialarzt 
an;  die  leichten,  gut  zuredenden  Wortc  dcs  elegantcn, 
heitern  jungen  Marines  mit  dcm  graumclierten  Haar 
stimmten  sic  auch  wicder  frohlicher.  Und  als  das  Rontgen- 
bild  zeigtc,  daB  ein  opcrativcr  Eingriff  notig  sei,  nahm 
Edith  cs  mit  Ergebung  zur  Kenntnis,  daB  der  schonc 
Doktor  sic  mittags  opericren  wcrdc,  und  sagtc  bloB:  ,,wir 
miisscn  Boy  benachrichtigcn,  aber  bittc,  crschrcckcn  Sic 
ihn  nicht,  cr  darf  auf  keincn  Fall  scincn  Aufenthalt  in  Belgrad 

412 


abbrechen."  —  Mittags  fand  die  Operation  statt,  vcrlief 
gut,  und  im  AnschluB  daran  sprach  Kadar  telefonisch  mit 
Simmons.  Er  wollte  sofort  nach  Hause  kommen,  mit  dcm 
Nachmittags-Flugzeug ;  es  daucrte  mehrere  Minuten,  bis 
Kadar  ihn  mit  Hilfe  des  Oberarztes  bcruhigen  konnte,  — 
er  solle  nur  ganz  ruhig  seine  Angelegenhciten  erledigen, 
Ediths  Zustand  sei  wirldich  vollkommen  befriedigend, 
auBerdem  weiche  Ila  nicht  von  ihrer  Seite.  Und  das  war 
auch  so :  die  ersten  drei  Nachte  schlief  Ila  bei  Frau  Simmons, 
und  auch  nachher  noch  half  sie  tagelang  der  Privat- 
pflegerin,  wohnte  sozusagen  im  Sanatorium.  —  Er  aB 
allein  im  Hotel  zu  Mittag,  ging  dann  auf  sein  Zimmer.  Die 
Verabredung  fur  den  Abend  fiel  ihm  ein.  Ich  muB  ab- 
sagen,  —  mehrere  Viertelstunden  lang  konnte  er  sich  nicht 
dazu  entschlieBen,  das  Abendprogramm  riickgangig  zu 
machen.  Auch  zur  Art  und  Weise  der  Absage  fand  er  schwer 
die  Entscheidung.  Kelemen  eincn  Zettel  schreiben  oder 
Joly  oder  .  .  .  hingehen  und  ihr  bestellen  lassen,  —  schlieB- 
lich  telefonierte  er  ins  Sanatorium.  Ila  sprach  ein  wenig 
ungeduldig  in  den  Apparat.  ,,Aber  selbstverstandlich 
konnen  wir  heute  abend  nicht  ausgehen,  ich  jedenfalls  gehe 
nicht  .  .  .  aber  wenn  du  willst,  dann  geht  doch  ruhig  ohne 
mich."  —  ,,Nein,  das  nicht",  antwortete  er;  dann  teilte  er 
in  zwei  Zeilen  Kelemen  und  Joly  auf  je  einer  Visitenkartc 
mit,  was  geschehen  war;  Joly  bat  er,  die  Absage  zu  ent- 
schuldigen,  und  Kelemen  bestellte  er  fur  morgen  vor- 
mittag  zu  sich;  dann  schickte  cr  einen  Hotelbotcn  mit  den 
Briefen  weg.  Spater  rkf  er  Szende  an,  der  ihn  am  Vormittag 
vergebens  gesucht  haben  muBte;  auch  mit  ihm  verabredete 
cr  cine  Zusammenkunft  fiir  morgen.  Nachher  fuhr  cr 
wieder  ins  Sanatorium,  —  gegen  Abend  hattc  Edith 
Schmerzen  bekommen,  und  Ila  war  nervos  und  aufgcrcgt, — 
dann  ging  er  nach  Hause,  kramtc  cine  Weile  im  Zimmer 
herum,  fand  das  Kursbuch  in  der  obcrstcn  rechten  Schreib- 
tischschublade,  ganz  zuobcrst,  las  ein  paar  von  den  Tele- 
grammcn  aus  Port  Elizabeth  durch,  stellte  sich  auf  den 

4*3 


Balkon  und  sah  hinuntcr  auf  den  Korso.  Gegcn  ncun  ging 
er  in  den  Spciscsaal  und  wiirgte  ohnc  Appctit  cin  paar 
Bissen  hinuntcr;  cine  halbe  Stundc  saB  er  noch  auf  dcr 
Terrasse,  dann  legte  cr  sich  schlafen.  Die  Nacht  war  warm 
und  unruhig.  Er  schlicf  zwar  sofort  cin,  wachte  aber  sehr 
bald  wieder  auf  und  lag  dann  lange  wach.  Zuerst  nahm  er 
das  Kursbuch  zur  Hand,  blattertc  darin  herum,  sah  sich  die 
Annoncen  dcr  Schweizcr  Kurortc  und  der  Mittelmeer- 
Schiflfsreisen  an;  dann  griff  er  nach  dcm  Dos  Passes  und 
vcrsuchtc  zu  lesen.  Die  Buchstabcn  bcgannen  cincn  lustigen 
Tanz  vor  seinen  Augcn,  die  Zeilen  bcwcgtcn  sich  in  Wellen, 
qualende  Schlafrigkeit  iibcrkam  ihn.  Er  stand  auf  und  setztc 
sich  auf  den  Balkon.  Oberhaupt  keine  Luft,  zu  warm  ist  es. 
Man  fuhlte,  wie  cine  langsame,  geradezu  gliihende  Stromung 
aufstieg.  Er  trank  ein  paar  Glas  Kognak,  wurde  noch 
schlafrigcr  und  konnte  doch  nicht  einschlafen.  Ich  hatte 
doch  ausgehen  sollen,  dcnkt  er,  wir  hattcn  ausgehen  konnen. 
Und  als  kindischc,  furchtsame  Selbstrechtfertigung  sagtc  cr 
sich  noch:  Ila  hat  es  doch  auch  vorgeschlagcn  .  .  .  Dann 
vcrgingen  wieder  halbe  Stunden  qualendcn  Herum- 
walzcns  im  Bert,  unterbrochen  von  plotzlichem  Auf- 
springen,  Licht-Anundausmachen,  Auf-den-Balkon-Tretcn 
und  verzagtem  Zuriickkriechen  ins  Bett,  —  bis  er  cndlich 
gegen  drei  Uhr  doch  einschlief. 

Die  Besprechung  mit  Szcnde  crledigtc  er  diesmal  un- 
geduldig  und  kurz.  ,,Dieser  unangcnehme  Zwischenfall 
hat  mich  leider  auch  daran  gchindert,  mir  deine  Notizcn 
endlich  genau  durchzusehcn,  abcr  in  den  nachsten  Tagcn 
werde  ich  hoffentlich  cndlich  dazu  kommen,  und  dann 
konnen  wir  uns  die  Objekte  anschcn  gchcn."  Szcnde 
schnaufte  kurz  und  wiitend,  entfernte  sich  aber  mit  breit 
lachelndem  Gesicht.  Dann  kam  Kelcmcn,  —  und  an  diescm 
Vormittag  bcging  er  an  Kelcmcn  die  —  na,  sagen  wir  cs 
nur  ofFen  hcraus,  —  die  Gcmcinhcit.  Ein  Wort  war  cs  nur, 
bloB  cine  undeutliche  Ermuntcrung,  —  aber  Kelcmcn  saugte 
wic  ein  gicriger,  ausgctrockncter  Schwamm  die  giftige 

424 


Briihe  ein.  Im  Laufc  ihrcs  Gesprachs,  bci  dem  sic  alle  bcide 
deutlich  fortwahrend  etwas  umgingcn  und  beide  vom 
andcrn  das  Wort  zu  erwarten  schicncn  .  .  .  im  Laufe  dieses 
unsteten,  neutralen,  stockenden  Gesprachs  sagte  Kadar 
einmal,  bloB  so  nebenbei  hingeworfen,  dort  unten,  ja,  dort 
unten  sei  die  Welt  derm  doch  anders.  Begabung,  Kraft, 
Wille  —  setzten  sich  dort  letzten  Endes  und  in  irgendeiner 
Form  durch,  und  wenn  einem  noch  obendrein  jemand 

stiitzend  unter  die  Arme  greife und  dann  sprach  er 

von  etwas  anderm,  bemerkte  aber  sofort,  wie  sich  Kelemens 
etwas  miides,  etwas  welkes  Gesicht  belebte,  wie  in  seinen 
Augen  ein  ungestumes,  durchdringendes  Leuchten  auf- 
flammte.  Und  spater  sagte  er  noch,  es  konne  keine  Situation 
geben,  in  der  man  sich  selbst  verlieren  diirfe,  und  wenn 
man  den  Glauben  und  die  feste  Einstellung  habe,  — 
,,nenn  es  fixe  Idee,  wenn  du  willst,  oder  nenn  es  Selbst- 

tauschung",  —  es  wiirde  besscr  kommen er  selbst  sei 

das  beste  Beispiel  dafur;  nur  rmisse  ein  jeder  wissen,  von 
wem  er  etwas  zu  erwarten  habe  und  was,  wem  er  etwas 
bieten  konne  und  was.  —  Ja,  daraufhin  hatte  Kelemen 
sofort  herausriicken  konnen,  hatte  bitten  und  anbieten 
konnen  .  .  .  denn  es  war  ja  nun  fur  keinen  von  ihnen  mehr 
zweifelhaft,  was  er  vom  andern  wollte  und  was  er  dem 
andern  geben  konnte:  aber  Kelemen  scbwieg,  Kelemen 
verfolgte  wieder  cine  Taktik,  Kelemen  ging  diesmal  nicht 
einmal  bis  zu  den  diplomatischen  halben  Worten,  bis  zum 
Durchblickenlassen,  —  Kelemen  sprach  nicht  davon,  daB 
er  das  Gefiihl  habe,  iiber  die  Begabung,  die  Kraft  und  den 
Willen  zu  vcrfiigen,  und  daB  es  sich  lohne,  ihm  helfend 

unter  die  Arme  zu  greifen . . .  demgegeniiber  indessen 

Auch  sagte  cr  nicht:  gut,  ich  weiB,  was  du  willst,  reden 
wir  deutlich  miteinander  —  —  Kelemen  schwieg.  Er 
will,  daB  ich  anfange  zu  sprcchen,  er  will  im  Vortcil 
bleibcn,  dachte  Kddar  ein  wenig  gereizt.  Dann  erblickte 
er  seine  Augen,  das  finstere,  erhitzte,  unverhultbare 
Glanzen  in  seinen  Augen,  —  oh,  du  wirst  schon  den  Mund 

4*5 


auftun.  Ich  kennc  das,  ich  kcnne  dicsc  Taktik,  dieses 
Schweigcn,  diese  Zuriickhaltung.  Wie  sic  so  einander 
gegeniibcr  saBen  und  die  Kognakglascr  im  dicken  Rauch 
hoben :  da  sah  er  sich  selbst  in  dem  kleinen  Salon  in  London, 
im  tiefen  Lehnstuhl,  der  fremden  Frau  im  schwarzen  Kleid 
und  mit  den  schimmernden  schwarzen  Augen  und  dem 
glanzenden  schwarzen  Haar  gegeniiber,  wie  cr  an  der 
Grenze  des  Sichpreisgebens ,  des  kraftlosen  In-sich- 
Zusammensinkens  stutzt  und  mit  ein  paar  fernen,  ncutralen 
Wortcn  den  sich  bereits  regenden  Bettler  in  sein  Inneres 
zuriickdrangt,  den  Bettlcr,  der  um  den  Groschen  zittert, 
aber  sich  nicht  billig  hinwerfen  will  .  .  .  er  will  viel,  und  ich 
will  viel  —  nun  gut.  Die  erste  in  ihrem  Wesen  erftihlte,  in 
ihren  Einzelheiten  kalt  bcrechncte  Gcmeinheit  war  vcr- 
klungen,  —  doch  von  Port  Elizabeth  sprachen  sie  nicht 
mehr,  auch  von  Joly  nur  noch  so  viel,  daB  es  wirklich 
schade  sei  um  den  gestrigen  Abend  und  daB  sie  das  Vcr- 
saumte  hoffentlich  recht  bald  nachholen  wiirden. 

Gegcn  Mittag  ging  cr  ins  Sanatorium ;  zu  Frau  Simmons 
konnte  er  nicht  hinein,  da  sie  schlief ;  so  plaudcrte  er  einigc 
Minuten  mit  Ha  in  der  Halle.  Edith  hatte  am  Abend  Fieber 
gehabt  und  schr  schlecht  geschlafen,  die  Armstc  qualt  sich 
schr,  wenn  nur  Robert  schon  da  ware,  —  er  hatte  in  der 
Friih  telefoniert,  vielleicht  konne  er  bereits  morgen  oder 
iibermorgen  zuriickkommcn,  —  cine  groBe,  dicke,  stramme 
Krankenschwcster  kommt  durch  die  Halle,  in  der  Tiir 
bleibt  sie  einen  Augenblick  stehen,  sieht  die  bcidcn  an  und 
geht  dann  weitcr.  Der  Arzt  sagt,  cs  lagc  kcin  Grund  vor, 
sich  zu  angstigcn,  man  miisse  aber  damit  rechnen,  daB  die 
volligc  Gcnesung  sich  noch  langcre  Zcit  hinziehen  konne. 
Beim  Wcggehen  begcgnct  cr  im  Flur  wicder  der  dicken 
Pflcgerin:  ,,guten  Tag'*,  griiBt  sic  hoflich  und  scheint 
stehenblciben  zu  wollen,  ,,gutcn  Tag",  crwidert  er  den 
GruB  zerstreut  und  geht  weiter.  Langcre  Zeit  kann  es 
dauern,  bis  Edith  wieder  ganz  hcrgcstcllt  ist?  —  Im 
Wellcnbad  iBt  cr  zu  Mittag,  bleibt  bis  sechs  Uhr  drauBcn, 

4*6 


spricht  ein  paar  Worte  mit  Simon,  —  ,,ich  inspiziere", 
sagt  Simon,  ,,ich  muB  mal  nachsehen,  ob  die  Wellen- 
patientcn  alle  wohl  und  munter  sind",  —  er  liegt  in  der 
Sonne.  Dann  fahrt  er  wieder  ins  Sanatorium.  Eine  Minute 
ist  er  drin  bei  Frau  Simmons;  ,,vielleicht  gehe  ich  irgend- 
wohin  zu  Abend  essen",  sagt  er  zu  Ila;  auf  dem  Flur  trifft 
er  wieder  die  dicke  Pflegerin.  Sie  fangt  an  zu  lacheln,  tritt 
auf  ihn  zu  und  halt  ihn  an.  ,,Guten  Abend,  Herr  Kadar. 

Erkennen  Sie  mich  nicht?"  Dieses  Lacheln diese 

groBen  schwarzen  Augen  in  dem  hiibschen  dicken  Gesicht 
mit  den  regelma'Bigen  Ziigen  —  und  cine  diinne  Locke 
kohlschwarzes  Haar  unter  der  weiBen  Haube  .  .  .  ,,o  ja, 
natiirlich,  Schwester  Agota",  sagt  er  in  plotzlicher  Ver- 
legenheit  und  reicht  ihr  zogernd  die  Hand.  ,,Na,  ein  solcher 
Zufall,  daB  Sie  ausgerechnet  hierhin  gekommen  sind  mit 
der  englischen  Dame,  ich  habe  Sie  schon  heute  vormittag 
erkannt,  Herr  Kadar,  du  lieber  Gott,  wie  lange  habe  ich 
Sie  nicht  gesehen!  wie  geht  es  Ihnen  denn?  wie  sind  Sie 
nach  Budapest  gekommen?  nicht  wahr,  Sie  waren  doch 
seither  nicht  in  Budapest?  es  geht  Ihnen  Gott  sei  Dank  gut, 
wie  ich  sehe."  —  Alle  friiheren  Ziige  sind  da  auf  dem 
Gesicht,  nur  breiter  geworden,  dicker  geworden,  mit 
zufricdenem,  ruhigem,  offenem  Strahlen,  und  die  Stimme  . . . 
die  alte  Stimme,  die  ihn  mit  ihrem  stillen,  samtwcichen 
Klang  Nachte  hindurch  gestreichelt  hatte  und  die  er  einst 
vom  Kleinmadchen-Lachen  angefangen  iiber  die  in  der 
Ekstase  aufbrechenden  Schreie  bis  zum  zuriickgehaltenen, 
tranenfeuchten  Schluchzen  dcs  Abschieds  so  genau 
kannte . . .  und  nun  sagt  sie:  ,,die  gnadige  Frau,  die  Ungarin, 
nicht  wahr,  ist  Ihre  Frau  Gemahlin?  was  fur  eine  reizende, 
liebe  Dame!  Gott,  ich  mochte  so  gerne  horcn,  was  sie 
wahrcnd  der  schrecklich  langen  Zeit  alles  gemacht  haben,  — 
aber  Sie  wollen  schon  gehen?  ich  begleite  Sie  hinunter, 
Herr  Kadar  . . ."  Schwester  Agota  wcndet  sich  hoflich  und 
geht  an  seine  linke  Seite,  und  in  den  drei  Minuten,  bis  sie 
unten  angckommen  sind,  stromen  die  Fragcn  und  die 

4*7 


ehrfurchtsvollen  Ausbriichc  der  Verwunderung :  ,,groBer 
Gott!  wirklich,  in  Afrika  lebcn  Sic?  na,  sowas  I  und  cs  geht 
Ihnen  gut,  Gott  sci  Dank,  das  sicht  man  Ihncn  an!  und 
so  lange  sind  Sic  schon  vcrheiratct?  und  gliicklich  sind  Sie 
natiirlich  mit  diescm  goldigcn  Geschopf  ...  sic  stammt 
wohl  gcwiB  aus  Budapest?  nun,  und  ein  kleincr  Stamm- 
haltcr?  nicht?  ncin,  sowas,  wie  schadc  .  .  .  na,  abet  das 
kommt  noch,  hoffentlich."  Und  dann  erzahlt  sic  noch: 
,,uns  gcht  es  Gott  sci  Dank  auch  ganz  gut,  mir  und  mcincm 
Mann,  er  ist  Biirochcf  hier  im  Sanatorium,  schon  vor  mchr 
als  vier  Jahrcn  habe  ich  ihn  geheiratct,  seitdem  ich  hier 
Obcrschwcster  bin,  es  soil  mir  nur  nic  schlechter  gehen, 
toi,  toi,  toi  — "  —  Ein  angenehmes,  heiteres  Gefuhl  durch- 
stromt  ihn,  wie  er  sich  die  Frau  so  ansieht,  dicse  strahlende, 
sorglose  Gesundheit,  diese  sorgsame  Helferin  in  Krankhcit. 
Und  als  er  ihr  im  Tor  die  Hand  rcicht,  driickt  Agota,  Frau 
Jozscf  Komivcs,  sic  mit  starkem,  hartem,  bekanntem 
Druck,  —  in  ihren  Augen  zuckt  ein  Lachcln,  —  und  an 
ihrcm  rundlichen,  weiBen  Hals  offnet  sic  ein  wenig  den 
weiBen  Mantel  und  zicht  ein  diinnes  Goldkettchen  hervor, 
an  dem  ein  kleines  goldenes  Kleeblatt  hangt,  ,,das  habe  ich 
noch,  Herr  Kadar  .  .  .  und  werdc  cs  auch  immer  behaltcn, 
es  hat  mir,  Gott  sci  Dank,  Gliick  gcbracht." 


Die  magnetische  Spannung,  die  ihn  an  jcnem  laucn 
Juliabend  auf  die  StraBe  trieb,  ging  wohl  von  dem  klcinen 
goldenen  Kleeblatt  an  Schwester  Agotas  Hals  aus.  Gliicklich, 
dick,  zufrieden,  dachtc  er  auf  dem  Hcimwcg,  elf  Jahrc  ist 
es  her,  geheiratct  hat  sic,  ist  dick  gcworden,  das  Kettchcn, 
das  Kleeblatt  hat  ihr  Gliick  gcbracht .  .  .  Langsam  fahrt  cr 
durch  den  Tunnel  und  iibcr  die  Briickc;  sicbcn  Uhr  ist  cs, 
als  cr  vor  dem  Hotel  ankommt.  Dcr  Kopf  ist  ihrq  ctwas 

bcnommcn.  Die  crstc  Frau  war  sic,  mit  dcr  cr die 

cr und  jetzt  sieht  cr  dcutlich  das  diinnc  Kettchcn  an 

dem  schlanken  und  dcnnoch  voilcn,  glatten,  weiBen  Hals, 

428 


und  mit  ein  wenig  kindischer,  spahender  Neugierde  ver- 
sucht  er,  welter  zuriickzublicken  .  .  .  und  schon  fuhlt  er 
ihre  weiBe  Hand  mit  den  langen  Fingern,  sieht  ihren 
schlanken,  kraftigen  Korper  und  sieht  ihre  Schulter  und  ihr 
aufgelostes  langes  schwarzes  Haar  und  sieht  die  ganze 
Agota  von  damals,  in  einem  braunen  Kleid  und  einer 
groflen  blauen  Schiirze,  und  dann  sieht  er  sie  im  Dunkeln, 
im  ahnungsvollen  Phosphoreszieren  ihres  weiBen  Leibes,  — 
und  dann  erbebt  die  Gestalt,  wird  undeutlich,  die  Farben 
andern  sich,  die  Formen  zerflieBen,  —  das  aufgeloste 
schwarze  Haar  wird  heller,  er  spurt  etwas  Blondes,  zuerst 
silbrig  blaB,  dann  wieder  dunkler,  tiefer,  bis  zum  bordeau- 
schimrnernden  Dunkelrot,  —  das  Gesicht,  das  er  vor  sich 
sieht,  ist  nicht  fremd,  aber  auch  nicht  bekannt,  als  gehorten 
die  Nase  und  der  Mund  und  die  geschwungenen  Augen- 
brauen,  die  Linie  des  Halses,  die  Rundung  der  Schulter 
und  die  Wolbung  der  Brust  anderswohin:  seltsam,  alles  ist 
anders  und  —  als  hatte  er  diese  geheimnisvolle,  diese 
unpersonliche  Frau  auch  schon  einmal  irgendwo  gesehen  — 
cr  schlieBt  die  Augen,  gewaltsam  verscheucht  er  die  Er- 
innerung  mit  den  hundert  Gesichtern,  hundert  Korpern, 
hundcrt  Geriichen,  —  er  steht  auf  und  verlaBt  die  Hotel- 
halle.  Seinen  Wagcn  la'Bt  er  vor  dcm  Hotel  stehen,  geht  zu 
FuB  auf  die  Andrassy-StraBe  zu,  —  ich  miiBte  in  mein 
Zimmcr  gehen,  ich  miiBte  zu  Abend  essen,  ich  muBte  mich 
schlafcn  legen,  —  und  die  fremde,  magnetische  Kraft 
treibt  ihn  unwiderstehlich  weiter  wie  eine  komplizierte, 
geistreiche,  zu  viclerlei  Funkdonen  geeignete  aber  leblose 
Maschinc,  die  nur  einem  einzigen  auBenstehenden,  fremden 
Befehl  gehorchen  kann.  Seine  Gedanken  stocken;  seine 
Sinne  fassen  Dinge  und  Tone  in  einer  beruhigenden,  an- 
genehmen  und  verantwortungslosen  Verschwommenheit 
auf.  Wolkenlos  bku  ist  der  Himmel,  langsam  rieselt  die 
laue,  abendliche  Dammerung  iiber  die  StraBe.  So  wohlig 
ist  diese  samtweiche,  milde,  warme  Luft.  Er  geht  durch  die 
Andrissy-StraBe.  Menschen,  sommerliche,  abendliche 

429 


Menschen  im  heiteren,  ausruhenden  Wogen  des  miiSigen 
Promcnicrens;  Frauen  und  Madchcn  gehen  spazieren. 
Schone  Madchen,  schone  Menschen.  Er  fiihlt,  wie  leise 
etwas  in  ihm  versinkt,  —  Harte,  Entschlossenheit,  Kampfe, 
Erfolge  .  .  .  Durstige,  neugierige  Jiinglingsaugen  staunen 
unter  seiner  Stirn  in  die  Welt,  hungrige  Augen,  die  ailes 
verschlingen  wollen.  Die  StraBe  wogt,  Stimmen  schlagen 
zu  ibm  hin,  Lachen,  Wortfetzen,  aus  einem  Fcnster 
Radiomusik;  Strahlen  trefTen  ihn  aus  Frauenaugen,  lange, 
herausfordernde  Blicke  und  zufallige,  vorbcihuschende 
Blicke.  Jemand  beriihrt  ihn,  jemanden  hat  er  angestoBen 
in  diesem  nicht  aufzuhaltenden,  leisen  Stromen.  Am 
Himmel  zieht  ein  dicker  Pinsel  dunlde  und  dunklere 
Streifen.  Hie  und  da  beeilt  sich  eine  eifrige  Lampe  iiber  dem 
Schaufenster,  den  Abend  zu  bcschleunigen.  Einige  Minuten 
steht  er  vor  dem  Cafe  am  Oktogon.  Kaffeegeruch,  Brot- 
geruch;  an  der  Ecke  leiert  eine  monotone  Stimme  die  Titel 
der  Abendblatter.  Autos  hupen,  StraBcnbahnen  klingcln, 
aus  dem  Motor  eines  vorbeisausenden  Autobus  weint  die  zu- 
nehmende  Drehungszahl.  Und  auf  einen  Schlag  flammen  die 
roten,  blauen,  lila  und  griinen  Lichtreklamen  auf,  und  frohe 
AbendgruBcjuchzt  der  gclblaufendeelektrische  Streifen.  Nun 
lachcn  auch  die  ganze  StraBe  entlang  die  gclben  Bogen- 
lampen  in  der  Luft.  Langsam  bicgt  er  auf  den  Ring  ein,  — 
langsamc,  langsame  Schrittc;  Menschen,  Mcnschenrcihen, 
Menschenketten,  —  ein  teurcr,  schoncr,  vcrbergcndcr 
Menschcnwald,  —  wciBe  flute,  kleinc  bunte  Kappcn,  leichte 
farbige  Kleidcr,  Beine  in  WeiB  und  in  Fleischfarbc,  lange, 
schlanke  junge  Bcine  und  frischc,  hartc,  kcckc  klcine 
Briiste  in  der  liignerischen  Vcrhiillung  oder  der  offcncn 
Darbictung  burner  loser  Fctzcn  oder  anlicgender  Seidcn, 
Mannergcsichter,  Knabengcsichter  mit  suchenden,  be- 
kannten,  sich  erinnerndcn,  entdcckendcn  Blicken,  —  wicdcr 
steht  er  an  einer  Ecke  vor  eincm  Cafe*,  und  wicdcr  ist  der 
Kaffee-  und  Brotgcruch  da,  —  Mcnschcn,  altc  Manner  und 
Frauen  an  den  Tischen  in  bun  tern,  larmcndcm  Durch- 

430 


einander  und  auf  der  StraBe  in  zufalligem,  zdgerndem, 
miiBigem  Stehenbleiben  und  Wciterschlendern,  und  wieder 
iiberlaBt  er  sich  dem  Menschenstrom,  weit  weg,  von  sich 
selbst  entfernt,  —  etwas  sinkt,  Hauser,  Turme,  Schiffe, 
Gewasser,  Arbeiten,  Metropolen,  Eisenbahnen  sinken,  und 
Pfunds,  viele,  vicle  Pfunds,  und  es  sinkt  das  in  ewigem 
Sonnenschein  posaunende,  tiefe,  blaue  Himmelsgewolbe,  — 
und  in  diesem  unaufhaltsamen,  groBen  Untertauchen  steigt 
langsam  er  selbst  in  die  magische  Budapester  Nacht  auf, 
weiB  und  klar  wie  eine  Triumphstatue,  nackt;  Weinen  und 
Lachen,  Nicderlagen  und  Erfolge  von  funfzehn  Jahren, 
das  Leben,  der  Schlaf  und  der  Tod  von  funfzehn  Jahren 
wogen  unter  seinen  FiiBen,  und  aus  seinem  Kopf  leuchten 
wie  zwei  Reflektoren  zwei  riesige,  brennende  Augen.  Er 
geht  iiber  die  StraBe;  iiber  ihm  die  Sicherheit  des  ewigen 
Himmels,  unter  ihm  der  Zufall  des  verganglichen  Augen- 
blicks,  hinter  ihm  die  vergessene,  iibersatte,  verratene 
Erfiillung,  vor  ihm  ein  schmendich  angenehmes,  fremdartig 
groBes  Heimweh,  —  er  geht  liber  die  StraBe  im  klingenden 
Wirbel  von  Menschcn  und  Dingen,  im  Hcxentanz  von 
Farben  und  Tonen,  Erinnerungen  huschen  auf  Fledermaus- 
fliigeln  durch  sein  Inneres,  Ahnungen  trommeln  in  seinem 
Blute  Alarm.  Und  dann  kommen  Musikklange,  ein  messing- 
klirrender  Marsch  und  die  pathetische  Phrase  einer  klas- 
sischen  Symphonic,  plarrendc  Zigeunerlieder  und  polka- 
hafte,  \vieherndc  Schrammclmusik,  mit  iiberwaltigenden 
Akkorden  heult  ein  Orchestrion  in  den  Abend,  ein  Klavier- 
kastcn  stottert  einen  alten  Schlager,  und  zu  seinen  FiiBen 
kratzt  eine  diinne  Bettlergeige,  —  und  menschliche  Stim- 
men,  Gcsang,  Pfiffe,  Lachen,  Schreie,  Rufe,  gedehnte, 
lange  Pfcifentone,  und  alles  das  wird  von  der  ubermensch- 
lich  verzerrten  Stimme  eines  riesigen  Lautsprechers  xiber- 
deckt,  die  unverstandliche  Worte  dunkel  in  den  Abend 
tutet,  —  er  wird  angerempelt,  ,,pardon",  er  wird  gestoBen, 
,,na,  konnen  Sic  denn  nicht  aufpassen?!"  cr  wird  getriebcn, 
,,hierhcr,  mcine  Hcrrschaften,  bittc,  hierherl"  cr  wird 

431 


gerufen,  ,,schoner  Doktor  mit  dem  Strohhut,  mochtest  du 
nicht  mit  mir  kommen?"  er  wird  geschickt,  ,,was  gafFen 
Sic  denn,  knger  Maulaffe,  haben  Sic  noch  nic  gesehen  — " 
auf  allem  liegt  ein  wohliges  LScheln,  Rufe,  Schimpfworte, 
Bitten,  Drohungen,  alles  lachelt,  lachelt,  —  und  die 
Dunkclhcit  wird  schwarzer,  die  Tone  verklingen  hinter  der 
Biegung  der  fmstern  StraBen;  Gaslampen  zwinkern  auf 
£ngsdiche  und  entschlossenc  Doppelschatten  auf  den 
Banken;  Autos  huschen  durch  die  Finsternis;  Pfiffe; 
Polizisten  zu  Rad  paanveise  auf  dem  StraBendamm ;  Stille, 
Abendduft,  Staubgeruch,  Blumenduft,  Rasengeruch;  — 
alles  lachelt,  lachelt,  —  die  breite  Promenade,  saubere, 
elegante  Menschcn  auf  den  Stiihlen;  Hunderte  von  Gliih- 
lampcn  strahlen  in  einem  uberfiillten  Garten;  Autos, 
beleuchtet,  aus  der  Feme  Musikkliinge  —  und  eine  schmale 
Nebengassc;  dunlde,  groBe,  vornehm  geschlossene  und 
ruhige  Villen  hintcr  vergitterten,  ticfen  Garten,  — 
Stille  ...  und  dann  aus  der  Feme  ein  vcrschwommener 
Ton,  —  er  bleibt  stehen.  Er  stcht  und  lauscht  dem  Ton, 
dann  geht  er  wieder  welter  auf  den  Ton  zu ;  jetzt  ist  er  schon 
deutlicher  .  .  .  der  Ton  eines  Klaviers.  Er  bleibt  stehen  und 
lauscht.  Wieder  macht  cr  ein  paar  Schrittc,  —  klarc,  scharfe 
Klaviertone  perlen  auf  ihn  zu,  —  cr  geht  hiniiber  auf  die 
andere  Seite,  fast  rennt  cr,  —  der  Ton  kommt  von  driiben, 
dann  bleibt  er  vor  einem  Gittcr  stehen,  —  aus  dicser  Villa 
dringt  der  Ton  .  .  .  erstarrt  steht  er  da:  Klavierklangc,  das 
meistcrhafte  Spiel  ciner  virtuoscn  Hand  schallt  aus  dem 
offeaen  erleuchteten  Fcnstcr  def  hinten  im  Garten,  aus  der 

riesiggroBen  Villa die  Chopin- Sonatc,  in  der 

klaren  Pcrlenkettc  der  Tone,  im  hciBen  Strahlcnbrcchcn  der 
Laufe,  in  kristallcnen  Akkorden,  in  unfaBbarcr,  Iet2tcr 
Polyphonic,  in  der  un  verging!  ichcn  Melodic  .  .  .  aus  jcncm 

Stein way-Fliigcl seine  Hand  driickt  die  Klinke  nicdcr, 

das  kiihlc  Eisen  gibt  nicht  nach,  —  zwei  Schrittc,  nun  stcht 
er  dem  Fcnstcr  gcgcniiber,  mit  einem  Sprung  stcht  cr  auf 
dem  Stcinsims  und  klammcrt  sich  an  die  Stangcn  dcs 

432 


Gitters,  und  durch  das  Laub  bricht  sein  gliihender  Blick  ins 

Zimmer  ein im  erleuchteten  Zimmer  vor  dem  riesigen 

Fliigel  die  schmale  Schulter,  die  groBe  rote  Haarkrone,  die 

strahlend  weiBen  Hande oh,  nein.  Im  erleuchteten 

Zimmer  steht  neben  dem  Fenster  ein  merkwiirdiges 
Pianino,  sein  mittlerer  Teil  ist  mit  Glas  gedeckt  .  .  .  Davor 
sitzt  ein  kahlkopfiger,  rundlicher  Herr  im  Hausrock,  seine 
Hande  fiihren  an  zwei  Griffen  an  den  Seiten  eigenartige, 
steife  Bewegungen  aus,  er  neigt  sich,  gleichmaBig  und 
rhythmisch  neigt  er  sich,  die  FiiBe  treten  das  Pedal,  die 
Pedale  des  Pianinos,  —  kein  Steinway:  ein  Pianola,  — 
anstatt  dcr  einmaligen  Klange  der  vollkommenen  Hand  die 
verewigte  Musik  der  vollendeten  Maschine,  Pianola,  —  und 
dem  Pianola  gegeniiber  sitzt  in  einem  Rollstuhl,  mit  bleichem 
Gesicht,  geschlossenen  Augen,  zuriickgelehntem  Kopf  und 
zugedeckten  Beinen,  ein  zehn-  oder  zwolf  jahriger  kleiner 

Junge  

Der  Traum,  der  verschwommene,  verworrene,  wir- 
belnde,  rauschhafte  Traum  schreckte  hier  zum  Wachsein 
auf;  der  Zauber,  der  ihn  aus  sich  selbst  herausgehoben 
hatte,  miindete  hier  in  Wirklichkeit ;  die  Stimmung,  die  ihn 
getrieben  hatte,  wurde  hier  bewuBt.  Sich  ans  Gitter 
klammernd,  stand  er  minutenlang  auf  dem  Steinrand  in  der 
leeren  StraBe,  so  starrte  er  in  das  helle  Fenster.  Dann  sagte 
er  leise  vor  sich  hin:  ich  liebe  sie,  —  vorsichtig  lieB  er  sich 
auf  die  Erde  gleiten,  blieb  noch  einen  Augenblick  stehen 
und  ging  dann.  In  tiefroter,  nammender  Krone  flattern 
die  Tone  ihm  nach.  Eine  kurze  Quergasse  fvihrt  ihn  direkt 
auf  die  breite  StraBe;  an  der  Ecke  ein  Taxenstand.  In  den 
ersten  Wagcn  setzt  er  sich,  lehnt  sich  auf  dem  Sitz  tief  nach 
hinten.  Der  Wagen  fahrt  ab,  sofort  hiillt  ein  kuhles  Liift- 
chcn  seinen  Kopf,  scinen  Korpcr  ein.  Ich  war  berauscht, 
das  Ganze  ist  cine  kindische,  unernsthafte  .  .  .  —  er  sucht 
in  seinem  Kopf  nach  einem  cntwertenden,  verurteilenden 

Wort,  —  oder  aber  .  .  .  cs  fehlt  mir  etwas Jetzt  fallt 

ihm  ein  Wort  cin,  und  plotzlich  iiberlauft  es  ihn  kalt: 

28  KBrmendl.  Budapett  433 


vergiftet  bin  ich.  Und  da  weifi  er  genau  und  gibt  sich  kalt 
Rcchenschaft,  daB  cr  vergiftet  ist,  jawohl,  vergiftet,  das 
Gift  hat  ihn  schon  tief,  unrettbar  durchdrungen,  und  dieses 
Gift  —  ncin,  es  ist  ganz  gleichgiiltig,  wie  man  die  Fiole  oder 
die  Kapsel  oder  den  Sirup  nennt,  in  dem  das  Gift  steckt,  — 
Romantik,  Sentimentalitat,  Erinnerung  an  die  Jugendzeit, 
Sehnsucht  nach  etwas  andcrm,  Zwangsvorstellungen, 
Neurasthenic  oder  einfach  einen  angenehmen  Abend- 
spaziergang  durch  die  Anlagen,  —  ganz  gleichgiiltig,  das 
ist  nur  Packung,  Hulle,  Etikett  ...  —  dieses  Gift  heiBt 
Joly.  Joly?  das  Prinzip?  das  Symbol?  die  Erinnerung?  — 
oh,  nichts,  nein,  —  einfach:  Joly,  die  Frau.  Die  lebende,  die 
richtige  Joly  Kelemen.  Mit  den  roten  Schnecken  auf  den 
Ohren,  der  schneeweiBen,  gcspensterhaften  Haut,  den 
griinlich-blau  strahlenden  Augen,  dem  nicht  sehr  sch6ncn 
Mund,  dem  ausgesprochen  etwas  gewohnlichen  Zug  im 
Gesicht,  mit  dem  schmalen  Korper,  den  schlanken  Bcinen, 
den  Sandalen  an  den  FiiBen,  mit  ihrem  mageren,  klein- 
biirgerlichen,  gelangweilten  Budapester  Madchenleben,  die 
Joly  vom  Ring,  die  den  Kadar  von  der  Pozsonyer  StraBe 
einst  vieUeicht  nicht  mchr  angegangen  ware,  als  daB  er  sich 
still,  scheu,  cin  wenig  feindselig  von  ihr  zuriickgczogen 
h£tte,  und  um  die  jetzt  der  Gidar  aus  Port  Elizabeth  in 
plotzlich  erkanntcr,  schmerzlicher,  an  der  Schwelle  korper- 
licher  Qual  stolpcrnder,  unertraglichcr  .  .  .  verstehst  du, 
Joly?  in  unertraglichcr  Sehnsucht  brennt.  Das  war  gcnau 
so  jetzt,  wic  es  eincn  Augcnblick  gegcbcn  hattc,  da  cr 
wuBtc:  ich  bin  vcrwundct,  cinen  Augenblick,  da  er  wuBte: 
jetzt  bin  ich  Waise.  Schrecklich  .  .  .  viclleicht  unertraglich, 
aber  wenigstcns  bcstimmt;  cin  Augcnblick,  da  die  Un- 

gewiBhcit  aufh6rt.  GroBcr  Gott das  ist  ja  entsetzlich. 

Ich  bin  vcrlicbt  in  sic cntsctzlich.  Und  nun  fiihltc  cr 

die  Sache  auf  einmal  umgekehrt.  Ich  rede  da  wic  jcmand,  der 
stundenlang  durchs  Fcnster  in  den  Regen  starrt  und  dann 
plotzlich  sagt,  sich  mal  einer  an,  es  rcgnct,  —  mit  dem  cr- 
schrcckteo  Verdutztsein,  das  vicl  cher  der  Tatsachc  gilt, 


daB  wir  es  jetzt  erst  bcmerken,  —  nein,  das  ist  auch  nicht 
wahr.  Ich  bin  verliebt  in  sie,  entsetzlich :  das  war  auf- 
richtig,  das  war  ein  Sichwehren  gegen  die  Tatsache  iiber- 
haupt;  ein  Sichwehren  dagegen,  daB  ich,  der  reichc, 
unabhangige,  der  ernste,  ausgewachsene,  ausgeglichene  .  .  . 

ich,  lias  Mann,  in  dieses  kleine  rote  Budapester oh, 

das  war  schlimm,  bitter,  fast  erniedrigend.  Aber  die  Sache 
steht  ganz  einfach  so:  ich  liebe  Joly,  —  und  das  war  unend- 
lich,  leicht  lachelnmachend,  herzerwarmend  gut.  Jetzt  dachte 
er  an  Joly  und  dachte  an  Ila.  Ila  hatte  ihn  nie  gefragt,  nie 
ein  Wort  dariiber  verloren,  was  .  .  .  friiher  gewesen  sei. 
Ihr  Zusammensein,  ihre  Zusammengehorigkeit  begann  bei 
der  Gegenwart  und  endete  bei  der  Gegenwart;  die  Tage 
alterten  gemeinsam  mit  ihnen  der  Zukunft  entgegen,  und 
was  gewesen  war?  ...  Ik  hatte  ihn  aufgenommen,  zu  sich 
emporgehoben,  und  nur  das  war  wichtig,  was  ist,  —  was 
war,  das  interessierte  sie  nicht  oder  das  wollte  sie  nicht 
wissen.  Was  war  denn?  was  bei  jedem  gewesen  ist,  bei  jedem 
jungcn  Mann,  —  Liebschaften,  Frauen,  bessere  und 
schlcchtere,  um  nichts  interessanter  als  Kassa  und  Myers  . . . 
und  genau  so  waren  sie  vergangen.  Was  ist?  ...  fast  fiinf 
Jahre  ist  sie  alter  als  ich  —  Ila  stand  ihm  zur  Seite,  war  fur 
ihn  da,  lebte  fur  ihn  und  wollte  nichts  anderes,  als  daB 
auch  cr  zu  ihr  gehore,  wollte  nur  wissen,  daB  er  fiir  sie  da 
sei.  Als  er  das  erstemal  bei  ihr  eindrang,  damals  nachts  auf 
der  Falconia  in  die  Kabine:  da  hatte  sie  ihn  erwartet.  Zu 
Hause,  in  Port  Elizabeth,  war  sie  wahrend  der  ersten  Zeit 
seine  Geliebte,  kiimmerte  sich  nicht  darum,  daB  alle  Welt 
es  wuBte.  Heiraten  wollte  er  sie  nicht,  erst  spater,  als  er 
gleichrangig,  Ingenieur,  sein  eigener  Herr  war.  Gut,  — 
Ik  wartete.  Das  war  alles.  Manchmal,  wenn  er  sich  von 
ihr  entfernte,  hatte  er  das  Gefuhl,  sie  erwarte  ihn  auch  jetzt. 
Und  nun  .  .  .  nun  werde  ich  sie  wicdcr  bctriigen,  fuhlte  er 
mit  Icichter  Kalte  in  der  Brust,  wiedcr  werde  ich  ihr  untreu 
sein,  ich  bin  ihr  schon  untreu  gewesen,  und  wieder  betriige 
ich  sie,  —  so  wie  im  Anfang  des  zwcitcn  Jahres,  als  sie 

2**  43  j 


noch  nicht  einmal  vcrheiratct  waren,  in  Johannesburg  mit 
der  Tochter  von  Rektor  Bloomhardt;  wie  mit  der  schwe- 
dischen  T&nzerin,  zu  der  er  ein  halbes  Jahr  lang  jeden 
Monat  fur  ein  paar  Tage  nach  Transvaal  fuhr;  wie  mit 
Isabel,  die  vor  zwei  Jahren  ein  paar  Monate  seine  Sekretarin 
war  und  die  Growham  dann  hciratete;  wie  jetzt  im  Winter 
mit  Lady  Astfield,  die  ihm  in  einem  hysterischen  Anfall  in 
die  Arme  sank  und  von  der  er  sich  beim  dritten  Stelldichein 
mitten  in  einem  hysterischen  Anfall  verabschiedete,  bci  dem 
sie  ihm  mit  dem  Revolver  drohte  ...  —  o  Gott,  nie  konnte 
ich  widerstehen,  wenn  ich  cine  Frau  begehrte  .  .  .  konnte 
nicht  verzichten,  mich  abwenden,  konnte  nicht  treu 
bleiben,  immer  habe  ich  die  Frauen  verfolgt,  die  ich  haben 
wollte,  habe  sie  gepcinigt  und  gequalt,  bis  sie  sich  ergaben 
wie  Isabel,  —  und  jetzt  .  .  .  jetzt  wcrdc  ich  auch  nach  ihr 
greifen,  ich  liebe  sie,  sie  erreichen  und  packen  und  wieder 

Ila  betriigen,  wieder  Ila  verraten Er  schrcckt  zu- 

sammen,  steht  vom  Stuhl  auf,  auf  dem  er  scit  langen 
Minutcn  im  finstern  Zimmer  sitzt;  er  dreht  das  Licht  an. 
Nuchternes,  klar  weiBes  Licht  ergieBt  sich,  reine,  reini;>ende 
Helligkeit.  Er  vcrspiirt  schrecklichen  Hunger:  seit  Nach- 
mittag  hatte  er  nichts  gegessen.  Plotzlich  ist  das  Hunger- 
gefuhl  unertraglich,  sofort  geht  er  hinunter  in  den  Speise- 
saal  und  ifit  zu  Abend.  Es  ist  Mitternacht,  —  im  Korpcr 
fuhlt  er  die  Miidigkeit  dcs  langen  Spaziergangs,  ist  abcr 
nicht  schlafrig. 

Er  spaziert  hinaus  ans  Donauufer  und  setzt  sich  dort 
auf  einen  Stuhl.  Die  Luft  ist  schwul.  Er  steht  auf, 
promeniert  weiter,  am  Ende  des  Korsos  gcht  cr  an  den 
Kai  hinunter.  An  der  nahen  SchirTsbriicke  stehen  Bankc 
vor  dem  Wartesaal;  er  setzt  sich.  Plotzlich  fiihlt  cr  den 
Geruch  des  Wasscrs,  seinen  rcinen,  erfrischcnden,  luftigen 
Hauch.  Nicht  so  gcfahrlich,  sagt  er  auf  einmal  laut  und 
blickt  sich  um;  nicmand  ist  in  der  Nine.  Die  Sache  ist  nicht 
so  gefahrlich,  wiederholt  er  vor  sich  hin  und  fiihlt  cine 
grofle  Bcruhigung,  iiberhaupt . . .  es  ist  ja  allcs  in  Ordnung. 

436 


Ein  leichtes,  hiibschcs  kleines  Budapestcr  Ding.  Zwanzig 
Jahre  alt.  Ich  muB  mich  nur  nicht  in  die  Sache  verrcnncn. 
Alles  1st  in  Ordnung.  Ich  werde  mich  nicht  verrcnnen. 


Es  war,  als  sei  Ila  wahrend  dieser  Tage  iiberhaupt  nicht 
in  Budapest.  Fast  ihren  ganzen  Tag  verbrachte  sie  bei 
Frau  Simmons  im  Sanatorium,  und  von  Abreisen  wollte  sic 
vorliiufig  nichts  horen.  Edith  Simmons  war  die  Freundin 
von  Frau  Alexis,  Ik  hatte  sie  in  London  kennengelernt. 
Es  1st  zwar  natiirlich,  daB  in  der  Fremde  auch  die  fliichtigste 
Bekanntschaft  Icicht  zu  unentbehrlicher  Freundschaft  wird, 
dcnnoch  hatte  Kadar  das  Gefiihl,  als  stecke  hinter  lias 
Anhanglichkeit  an  Frau  Simmons  irgendeine  Schutz- 
bedurftigkeit,  eine  Hilflosigkeit.  Unten  in  Afrika  hatte 
Ila  ebensowenig  cine  Freundin  wie  er  einen  Freund,  in  dem 
Sinne  des  Wortes,  der  iiber  Interessengcmeinschaft,  Ge- 
schaftsbcziehung,  Sportkameradschaft,  geselligen  Verkehr 
und  das  Icichte,  anspruchslose,  obcrflachliche  Anfreunden 
der  zu  ihrem  Krcise  Gehorenden  hinausfuhrte.  Seit  Jahren 
lebcn  wir  ncben  ihnen  und  unter  ihnen;  und  hier  leisten 
wenige  Wochen  die  Zusammenschmelzarbeit  von  Jahren, 
hicr  in  der  Fremde,  Fremden  gegeniiber.  Und  es  schien  ihm, 
als  suche  Ila  Schutz  in  dieser  andern  fremden  Frau,  — 
Schutz  ?  gegcn  die  fremde  Umgebung  ?  gegen  die  unbekannte 
Stadt?  —  ja,  er  glaubte  Ila  zu  verstehen:  er  selbst  hatte 
jahrclang  in  Budapest  gelebt,  bei  ihm  meldeten  sich 
unerwartet  altc  Bekannte,  fruhere  Schulkameraden  luden 
ihn  ein,  jcdcs  Haus,  jede  StraBe  konnte  vielleicht  fur  ihn 
etwas  bcdeutcn,  was  ein  anderer  nicht  wuBte,  wenn  man 
ihn  nicht  darauf  aufmerksam  machte,  was  ein  anderer  nicht 
verstand,  wenn  man  es  ihm  nicht  erklarte  .  .  .  und  Ila  war 
noch  nie  in  Budapest  gewesen.  Ila  verbrachte  also  seit 
Simmons  Riickkehr  aus  Belgrad  den  groBten  Teil  ihres 
Tages  bei  Edith  und  blieb  erst  dann  manchmal  vormittags 
mit  ihm  zusammen,  als  Ediths  Zustand  sich  langsam  zu 

437 


bessern  bcgann.  An  diesen  Vormittagen  warcn  sie  meistens 
im  Wcllenbad,  aBen  dort  zu  Mittag,  und  von  dort  aus  ging 
Ila  ins  Sanatorium.  Hie  und  da  bcglcitcte  cr  sic  auf  cinen 
kurzen  Bcsuch  bei  Edith  odcr  holte  sic  am  Abend  ab.  An 
scinen  freien  Nachmittagcn  lag  cr  im  vcrdunkelten,  kiihlen 
Zimmcx  und  dachtc  an  Joly,  oder,  —  an  wcnigcr  hciBcn 
Tagcn  stromertc  er  in  der  Stadt  umher  und  suchtc  Joly,  — 
und  manchmal  traf  er  sic  auch.  —  Ticf  durchfuhr  ihn  oft 
cin  unangcnehmes,  kaltes  Gefiihl,  wenn  ihm  einfiel,  daB 
er  lange  Viertelsrunden  an  Joly  dachte,  daB  er  halbc 
Nachmittagc  spazierte,  mit  weitgeofThcten  Augen  die 
StraBe  nach  Joly  durchforschend.  Im  drciunddreiBigsten 
Jahr  bin  ich  .  .  .  dachte  cr  mit  dieser  kalten  Angst,  ich  bin 
doch  kcin  funfzehnjahriger  Bengel,  —  abcr  in  vcrcinzcltcn 
aufrichtigen  Momenten  konntc  cr  cs  vor  sich  sclbst  nicht 
leugnen,  daB  dicsc  Gcdankcn  an  Joly,  diesc  Jagden  nach 
Joly  fast  so  schon  und  aufregend  warcn,  fast  so  scin  ganzes 
Wcsen  erfullten,  als  ware  er  in  Wirklichkeit  mit  ihr  zu- 
sammen.  Ich  bercitc  mich  darauf  vor  .  .  .  dieses  selfsame 
Wort  fid  ihm  einmal  cin,  und  bei  dcm  Gcdankcn  blicb  cr 
stehen.  Ich  bcrcite  mich  darauf  vor?  habe  ich  dcnn  soviet 
Zeit?  —  ich  habe  sovicl  Zcit,  wic  ich  brauchc,  wic  ich 
haben  will  1  ich  bcrcite  mich  vor  . . .  ich  verrennc  mich  in  die 
Sache,  bcwuBt  vcrrenne  ich  mich,  und  dabci  diirftc  ich 

nicht Das  warcn  hartc  kleinc  Kampfc  an  einsamen 

Nachmittagcn,  in  schlafvcrschcuchcndcn  Nachtcn.  Und 
das  Schlimme  war,  daB  cr  allmahlich  unsichcr  wurdc.  Er 
wuBte  nicht  mchr  bcstirnmt,  was  die  Wahrhcit  war  und 
wann  cr  log.  Das  abcndlichc  nacktc  Au  f  Icuchtcn  dcr  \Vahr- 
heit  kampfte  gcgcn  die  Sclbsttauschung.  Lachcrlich,  sagtc 
er  sich,  sic  gcht  mich  doch  nichts  an.  Klcincs  nichtigcs 
Madcl.  Aber  wenn  cr  sich  das  sagtc,  dann  hatte  schon  scit 
Vicrtelstundcn  das  flammendc  Rot  ihrcr  Haarkronc  ihm 
vor  den  Augcn  gcspukt,  hatte  schon  scit  Vicrtelstundcn  dcr 
kiihlc,  saubcrc  Scifcngcruch  ihm  in  dcr  Nasc  gcstcckt,  hatte 
schon  seit  Vicrtclstundcn  die  Qiopin-Sonatc  ihm  in  den 

438 


Ohren  geklungen.  Ich  verrenne  mich  nicht  in  die  Sachel 
redete  er  sich  sclbst  zu,  und  dann  hortc  cr  sofort  hintcrher 
Jolys  Stimme,  wic  sie  sich  vorgestcrn  verabschiedet  und 
auf  seine  Frage:  ,,wann  sehe  ich  Sie  wieder?"  gesagt 
hatte:  ,,wann  Sie  woilen,  ich  habe  noch  gar  nichts  vor", 
mit  dem  stillen,  unschuldigen  Tonfall,  der  seinem  offenen 
Sich-Anbieten  gegeniiber  nur  vollkommen  unbewuBt  sein 
konnte,  oder  aber  eindeutig  bewuBt;  er  konnte  nur  ent- 
wcder  unschuldig  sein  oder  nur  durcli  und  durch  verdorben. 
Harte  kleine  Kampfe  waren  das,  mit  scharfen  Argumenten 
und  Widerspruchen,  mit  der  absolut  gegensatzlichen 
Beleuchtung  der  Tatsachen;  und  vielleicht  war  dies  das 
Schwerstc  in  dem  Ichliebesie-ichliebesienicht-Spiel,  daB  er 
dariiber  verwirrt  wurde;  er  lieB  sich  von  Augenblicks- 
stimmungen  tragen;  und  er,  aus  dessen  Munde  ein  ein- 
willigendes  oder  verweigerndcs  Wort,  von  dessen  Hand 
cin  einziger  Federzug  oder  die  Geste,  die  ein  Papier  zerreiBt, 
schwcre  Vermogen  und  vielleicht  sogar  Menschenleben 
bedeuten  konnten,  er  schwankte  und  war  sich  selbst  gegen- 
iiber unentschlossen.  —  Joly  verbrachte  einige  Vormittage 
mit  ihnen  zusammen  im  Wcllenbad,  und  manchmal  traf  er 
sie  nachmittags,  zufallig,  —  aber  das  war  so,  daB  er  aus 
ihrem  Gesprach  entnommen  hatte,  Dienstag  um  vier  gehe 
ich  da  und  da  hin,  Samstag  um  funf  habe  ich  dort  und  dort 
zu  tun,  und  dann  ging  er  hin,  um  sie  zu  treffen,  zufallig. 
Einmal  bemerkte  er  Has  langen,  forschenden  Blick  auf  Jolys 
Gesicht,  —  und  da  muBte  er  denken,  Ila  hat  nichts  davon 
gewuBt,  daB  in  dem  halben  Jahr,  als  wir  das  Lagerhaus 
bautcn,  in  Transvaal  iiberhaupt  eine  Schwedin  namens  Inge 
lebte,  —  aber  es  ist  ganz  ausgeschlossen,  daB  ihr  das  jetzt 

nicht  auffalle das  jetzt?  was  denn?  was  kann  denn 

hier  iiberhaupt  auffallen?  was  gibt  es  denn  hier,  wovon  ich 
nicht  will,  daB  es  ihr  auffalle?  I  Das  war  selbstredend  wieder 
eine  Luge,  cine  um  so  groBere  und  tiefere  Luge,  als  er 
spfcter  Ila  nichts  mehr  davon  erwahntc,  wenn  er  Joly  getrof- 
fen  hatte.  —  Joly  fragte  jcdes  Mai:  was  macht  Ila,  wic  gehts 

439 


Ila?  —  bedauerte,  daB  sic  durch  diese  unangcnehmc  Sache 
im  Sanatorium  so  sehr  in  Anspruch  gcnommcn  sei,  —  aber 
sic  schicn  cs  doch  natiirlich  zu  finden,  daB  sic  sich  mehrmals 
so  zufallig  trafen  und  oftcr  zu  zweit  zusammen  warcn  als 
zu  dritt  odcr  zu  vicrt,  und  —  auch  das  fiel  ihm  auf,  —  nie- 
mals  rcklamierte  sie  Ila  gerade  dann  und  gcrade  hicr,  fragtc 
nie,  warum  sie  jetzt  nicht  bci  ihm  sci.  Ihre  Gesprache  auf 
dicscn  Spaziergangen  von  cincr  odcr  anderthalb  Stunden? 
Gcwohnlich  crzahlte  Joly;  cr  sclbst  sprach  selten,  ant- 
wortete  nur  auf  Fragen.  Er  lauschtc  Jolys  Stimmc,  blieb 
cincn  halben  Schritt  hinter  ihr  zuriick  und  bcobachtctc  ihr 
Gesicht,  ihre  Figur,  ihren  Gang,  —  ich  bereite  mich  vor, 
regtc  sich  dcr  Gedankc  in  ihm,  und  manchmal  bcriihrtc  cr 
Jolys  Arm.  Joly  piapperte  von  ihren  geringfugigcn  All- 
tagen.  Das  war  ein  standiges  Thcma,  das  wic  einc  fixe  Idee 
immer  wiederkchrte.  Es  tut  so  wohl,  im  Gellert  die  schonen, 
cleganten  Menschcn  zu  sehen . . .  ,,glauben  Sie,  die  sind  tat- 
sachlich  alle  so  reich,  wic  sie  aussehcn?  wic  die  vornehmc, 
luxuriosc  Umgebung  den  Anschein  hat?'4  Gestern  abend 
war  sie  im  See-Kino  mit  den  Jungens  und  Madcls,  cin 
bidder  Film  lief,  einc  suBiiche  Angelegcnheit,  bioB  ein  ein- 
zigcs  hiibsches  Lied  war  drin,  cin  Slow-Fox,  schade,  daB  cr 
ihr  nicht  einfallt,  aber  dann  war  cin  Film  von  Paris,  der  war 
himmlisch.  Mama  hat  Schmerzcn  im  Knie  und  im  Hand- 
gclcnk,  sic  gcht  schon  scit  Tagcn  ins  Lukacsbad,  gcwohnlich 
bcglcitct  sic  sie  hin,  cs  ware  am  bcstcn,  fur  cincn  Monat  dort- 
hin  zu  ziehcn.  Bandi . . .  Bandi  macht  ihncn  crnstc  Sorgcn, 
cs  sicht  so  aus,  als  wollc  er  seine  Stcllung  aufgcbcn,  furs 
crstc  hat  cr  sich  cklig  mit  scincm  Chef  gczankt  und  auf 
Grund  cincs  arztlichen  Attcstcs  um  Krankcnurlaub  gcbctcn. 
Und  cr  sollc  sich  vorstcllcn,  mit  cincr  Rciscgescllschaft 
ware  sic  bcinahc  nach  dcr  Stcicrmark  gcgangcn,  in  cin 
kleines  Nest  auf  Sommcrfrischc,  zu  bcsondcrs  giinstigcn 
Preiscn,  fast  umsonst,  aber  dann  hat  sich  hcrausgestellt, 
daB  don  Lungcnkrankc  sind,  und  da  rum  hat  die  Familic 
cs  nicht  zugcgcbcn,  was  zwar  nicht  schr  vicl  sagcn  will, 

440 


aber  sic  selbst  hat  auch  nicht  viel  Lust  gehabt,  sich  unter 
den  T.b.cs  aufzuhalten.  Na,  cgal.  ,,Ich  komme  dies  Jahr 
anschcincnd  wirklich  nirgends  hin.  Das  neue  Kleid . . .  also 
nicht  ganz  neu,  sondern  das  ist  so,  noch  voriges  Jahr  im 
Sommcr  habe  ich  von  Bandi  sehr  schones  Material  zu  einem 
Kleid  bekommen,  es  hat  mir  schrecklich  gefallen,  und  da 
hab  ichs  gleich  machen  lassen,  zu  Hause  natiirlich,  von  der 
Hausschnciderin,  sechs  Pengo  bekommt  sie  pro  Tag,  na, 
und  das  Kleid  hat  dann  auch  dementsprechend  ausgesehen, 
fur  sechs  Pengo  hat  sies  mir  derart  verpfuscht,  daB  ich  fast 
gcheult  habe  und  das  Kleid  noch  kein  einziges  Mai  an- 
hatte,  —  jetzt  vor  zwei  Wochen  ungefahr  hab  ichs  dann 
vorgekramt,  und  da  sehe  ich,  es  laBt  sich  schlieBlich  doch 
noch  was  draus  machen,  da  hab  ichs  der  Sch wester  einer 
Freundin  gegeben,  die  einen  kleinen  Modesalon  hat,  bloB 
fiir  Bekannte  arbeitet  sie,  —  hin  und  her  haben  wirs  gedreht 
und  gewendet,  und  jetzt  wird  ein  ganz  hiibsches  einfaches 
Kleidchen  draus,  siiB,  Sie  werden  ja  sehen,  wie  fesch  ich 
darin  bin,  das  Muster  ist  ganz  apart,  hellblau  und  silbergrau. 
Und  dann ...  ja,  sagen  Sie  mal,  wie  ist  das  eigentlich  da 
unten  bci  Ihnen?  Tatsachlich  so  wie  in  Europa?  und  gibt  es 
dort  Negcr?  wissen  Sie,  fiir  Neger  schwarme  ich  direkt,  fiir 
die  Stcp-Tanzer  und  die  Step-Platten  und  auch  fiir  die  trau- 
rigen  rcligiosen  Gesange!  und  wie  sind  die  Menschen,  die 
dort  leben?  tragen  sie  weiBe  Anziige  und  weiBe  Helme?  und 
sind  sic  reich?  und  die  Hauser?  und  wie  ist  die  Stadt?  so 
zum  Bcispicl  wie  Budapest  und  Wien?  oder  wie  Abbazia? 
und  dann . . .  waren  dort  unten  nicht  wegen  des  Krieges 
ailerlci  Geschichten  so  wie  hier?  Borse  und  Inflation  und 
Elcnd  und  so?  und  gibts  Autos  und  Theater  und  Kinos? 
wissen  Sic,  die  Tonfilme  sind  doch  was  Wunderbares,  viel 
besscr  als  die  bloden  und  langweiligen  Theaterstiicke,  nicht 
wahr?  die  guten  Filme  meine  ich  natiirlich . . .  und  die 
Negerinnen?  sind  die  wirklich  so  schon  im  Leben?  stimmt 
das,  daB  sie  die  bcstc  Figur  haben?  ich  hab  bloB  einmal  cine 
in  der  Nahe  gesehen,  auf  der  StraBc,  Josephine  Baker,  sie 

441 


stieg  gerade  aus  dem  Auto  und  ging  ins  Hotel,  ich  kann 
Ihncn  sagcn,  mies  fend  ich  sie,  ihre  Figur  ist  naturlich  hcrr- 
lich ..."  —  Er hort  zu,  tauscnd  und  tauscnd  Schritte  hort  er 
Jolys  Geplapper  zu,  dicsen  Worten,  in  dcncn  die  unbewuBte 
Gereiztheit  dem  driickenden  Kleinbiirgerlebcn,  der  voll- 
gepfropften  Dreizimmerwohnung,  den  billigen,  gclang- 
weilten  Amusements  gegenuber  brodelt;  in  denen  die  halb 
unbewuBte  Sehnsucht  nach  dem  Schoneren,  Bessercn ,  Wcrt- 
volleren  weint.  Und  wenn  sie  von  sich  sclbst  spricht:  hinter 
der  grausamen,  kaltcn  Auf rich  tig  keit,  hinter  der  schon 
nahezu  masochistischen  Selbstgeringschatzung  spannt  sich 
drohend  die  Emporung.  —  Fremd,  gleichsam  sich  selbst 
enthoben,  beobachtete  er  sie  und  sich  in  der  sommerlichen 
StraBe  auf  diescn  durch  Zufall  begonnenen  und  mit  einem 
stillen,  unausgesprochenen  Cbereinkommen  zur  Regel 
gewordenen  Spazicrgingen..  Was  will  ich  von  ihr?  dachte 
er,  und  dann  fiel  ihm  sofort  Ila  cin.  Was  intercssicrt  mich 
ihre  Mutter  mit  den  Schmerzen  im  Knic  und  ihre  Schwestcr, 
die  schon  wieder  in  Umstanden  ist?  und  er  muBte  an  Ila  und 
Edith  denken  und  an  die  Mcnschen  in  Port  Elizabeth.  Was 
geht  mich  das  an,  wic  schrccklich  es  ist,  wcnn  allabendlich 
in  alien  drei  Zimmern  Bctten  gemacht  wcrden?  und  vor 
seinen  Augen  erscheint  die  Port  Elizabether  Villa  mit  ihrer 
machtigen  Terrasse  nach  dem  Mcer.  Was  gehen  mich  ihre 
kleinen  Sorgen  an,  ihre  kleincn  Note  und  ihre  zahlreichen, 
zwangsmaBigcn  Verzichte?  und  cr  sah  die  scchs  gewaltigcn 
glasgedeckten  Hiiro raume  vor  sich,  hortc  das  cmsige  Klap- 
pern  der  Schreibmaschinen,  und  sein  Arm  riihrte  an  die 
Brusttasche,  in  der  selbstbcwuBt  das  dicke  Schcckbuch  dcr 
National  Bank  of  S.A.S.U.  ruhte.  Und  dann  fuhr  er  sich 
selbst  im  Auf blitzen  dcr  Wahrheit  mit  brutaler  Aufrichtig- 
keit  grob  an:  was  liigst  du  da?!  was  spielst  du  Komodie?! 
du  begehrst  sicl  du  willst  sic  habenl  was  verstellst  du  dich?I 
was  leugnest  du?l  —  abcr  glcich  war  auch  cine  andcre 
Stimmc  da,  und  dicsc  Stimme  durchfuhr  ihn  noch  defer: 
wozu  wartest  du  dann?l  warum  schicbst  du  es  auf?!  pack 

442 


sie  doch Einmal  iibcrfielen  ihn  diese  beidea  Stimmen 

des  Nachts;  zitternd  vor  Nervositat  walzte  er  sich  im  Bett; 
hinter  Buch,  Zeitung,  Balkon,  Zigarette,  Kognak,  kalten 
Umschlag  auf  die  Stirn  versuchte  er  sich  vor  ihnen  zu 
fluchtcn,  es  gclang  nicht.  Er  muBte  streiten,  sich  vertei- 
digen,  auch  anklagen  und  schlieBlich  gestehen.  GroBer 
Gott . . .  ich  bin  vergiftet,  verliebt  bin  ich  in  sie,  nicht  so 
wie  in  die  A^otas  und  Inges  und  .  .  .  und  die  iibrigen,  vor 
Ila  und  neben  Ila,  sondern  so  ...  wirklich  und  ganz  und  . . . 
rasend,  so  wie  in  Tilly?  oder  glaube  ich  das  bloB,  weil  sie 

auch  rote  Haare  hat? und  ist  nicht  das  Ganze  nur  Hirn- 

gcspinst  und  Selbsttauschung  ?  Brauche  ich  denn  jemanden 
auBer  Ila?!  Hier  stockte  er.  Verwirrt  fragte  die  eine  Stimme: 
brauchen?  brauchen?  brauchen?  —  und  die  andere  ant- 
wortete  rasch:  nicht  darum  handelt  es  sich,  ob  du  sie 
brauchst  oder  nicht  brauchst,  das  hangt  nicht  von  dir  ab, 
das  laBt  sich  nicht  so  bestimmen  wie  zum  Beispiel,  ob  man 
einen  neuen  Anzug  braucht  oder  nicht!  Ich  laufe  ihr  nach, 
um  sie  zu  sehen,  und  dann  bleibe  ich  stehen,  ich  habe  sie 
geschen,  es  war  angenehm,  danke  .  .  .  oder  wage  ich  nicht 
weiterzugehen?  oder  kann  ich  nicht  weitergehen?!  Undeut- 
lich  fuhlte  er  den  Widcrstand,  der  seinen  Weg  kreuzte  und 
vor  dem  man  Hals  iiber  Kopf  davonlaufen  oder  den  man 
mit  eincm  Schwung  brechen  muBte,  —  aber  zogernd  davor 
stchenblciben,  das  geht  nicht.  Du  licber  Himmel . . .  ich  bin 

verliebt  in  sic und  rot  und  tief  wie  ein  ertapptes  Kind 

schamte  er  sich.  Primanerangelegenheit  .  .  .  dreiunddreiBig 
)ahre  werde  ich  ...  —  Und  dann  in  stillen,  friedlichen, 
kiihlen  Minuten  wiihlten  plotzlich  die  neuen,  die  Budapester 
Klaviertone  in  ihm,  wogte  in  seinem  Innern  der  abendliche 
Spazicrgang,  —  dann  wuBte  er,  daB  das  ganze  Ringen  ver- 
gebens  war:  er  wird  nicht  umkehren,  er  kann  nicht  um- 
kehrcn.  Dabei  gab  es  eine  Woche,  da  es  moglich  gewesen 
ware,  da  er  cs  hatte  tun  miissen,  da  es  vielleicht  .  .  .  auch 

Icichtcr  gewesen  ware das  war  Ende  Juli. 

Bines  Abends  gingen  sie  zu  vieren  essen,  in  das  kleine 

443 


Budapester  Restaurant,  das  in  Mode  war,  sic  beide  und  Joly 
und  ihr  Bruder.  Das  Zusammensein  verlief  schablonen- 
haft;  im  lauen  Bach  nctter,  indifferenter  Worte  floB  dcr 
Abend  dahin,  Kelemen  war  wie  immer  iibertrieben  auf- 
merksam,  Ila  zeigte  cin  wenig  abwesendes  Interesse,  —  wah- 
rend  des  Essens  erwahnte  Joly  einmal,  da8  sie  morgen  nach- 
mittag  in  einem  bestimmten  Geschaft  in  der  innern  Stadt  zu 
tun  habe,  und  das  sollte  heiBen,  daB  sie  sich  in  der  Nahe 
dieses  Geschaftes  mit  ihm  treffen  mochtc.  Das  war  damals 
bereits  cine  eingefuhrte  Geheimsprache.  —  Am  nachsten 
Morgen  ging  er  mit  Ila  Tennis  spielen,  dann  waren  sie 
mittags  im  Strandbad,  nach  Tisch  fuhr  er  Ila  ins  Sanatorium 
und  raste  zuriick  in  die  Stadt.  Joly  erwartete  ihn  vor  dem 
Geschaft.  Langsam  gingen  sie  durch  cine  stille  Gasse. 
,,Schon  gestern  wollte  ich  es  sagcn,  habs  dann  aber  doch 
nicht  gesagt",  wirft  Joly  hin;  — ,,nun?  was  wolltcn  Sic  dcnn 
sagen?"  —  ,,Ich  verreise  am  Samstag."  Er  blcibt  stehcn. 
,,Abcr  nein.  Wohin  denn?  mit  wem?  fur  wie  lange?"  — 
,,Ach,  bloB  fiir  cine  Woche.  Und  eigentlich  wollte  ich  gar 
nicht,  aber  die  Kinder  habcn  mich  so  langc  gcqualt,  daB  ich 
wirklich  schon  nicht  mehr  .  . ."  — ,, Wohin?"  fragt  cr  noch 
einmal  mit  dumpfer  Stimme.  ,,Eine  zicmlich  drolligc  Sachc", 
fahrt  Joly  fort,  ,,wissen  Sie,  das  ist  so,  wir  fahren  zu  acht 
mit  dem  Donaudampfer  nach  Wicn,  auch  unscre  bciden 
Boote  nehmen  wir  mit,  und  dann  kommen  wir  von  Wien 
die  Donau  hinunter  zuriick,  naturlich  schleppen  wir  cine 
ganze  Weekend -Ausriistung  mit,  auch  Zcltc,  wcnn  wir 
schoncs  Wetter  habcn,  wird  das  fein,  schr  anstrcnt^cn 
werden  wir  uns  nicht,  hauptsachlich  wolicn  wir  uns  trciben 
lassen."  —  »So",  sagt  er  nach  einem  Wcilchen,  ,,xu 
acht?"  —  ,,Ja,  zu  acht."  Kleine  Pause.  ,,Viermal  zwci?  . . ." 
Joly  dreht  langsam  den  Kopf  zur  Scitc,  sicht  ihn  an,  — 
klcine  Pause,  —  dann  sagt  sie  mit  cin  wcnig  hartcr  Kaltc  in 
der  Stimme:  ,,ja,  viermal  zwci,  warum  nicht?  finden  Sic 
etwas  dabci?"  —  ,,o  nein,  gar  nichts."  Viermal  zwci. 
Und  hauptsichlich  trciben  lassen  wolicn  sic  sich,  schr 

444 


schon.  —  Kleine  Pause.  ,,Ja",  fangt  Joly  wieder  an,  ,,ich 
hoffe,  es  wird  fein  .  .  .  wenigstens  das  biBchen  Sommer- 
frische  kriege  ich  auf  die  Weise.  Glauben  Sie,  ich  freue 
mich  nicht,  wenigstens  fur  cine  Woche  rauszukommen  aus 
diesem  ganzen  --  na,  aus  dem  Ganzen  hier?  Himmlisch 
wird  es  sein."  —  ,,Und  wer  geht  mit?"  fragt  er.  ,,Sie  kennen 
sie  nicht",  antwortet  sie,  ,,wozu  soil  ich  Ihnen  die  Namen 
aufzahlen?  Lenke  Varga  und  Elly  Stein  und  Gyuri  Breuer 
und  Pista  Szabados  ..."  —  ,,Und  Doktor  Huszar  nicht?"  — 
,,Doch,  natiirlich,  der  auch."  Jetzt  gehen  sie  schweigend 
nebeneinander  her,  lange  dauert  diese  Stille.  Sie  sind  am 
Ende  der  StraBe,  ein  paar  Schritte  weiter  larmt  schon  der 
Ring  an  der  Brucke;  sie  machen  kehrt.  Viermal  zwei  und 
natiirlich  auch  Doktor  Huszar,  denkt  er.  Er  greift  sich  an 
den  Kragen,  nervos,  —  ein  unangenehmes,  leise  mahlendes 
Gefiihl  hat  er  in  der  Brust.  Sie  schweigen.  Dann  fangt  Joly 
wieder  an  zu  reden.  ,,Eine  Woche  .  .  .  das  ist  ja  so  gut  wie 
nichts.  Ja,  und  ich  wollte  vor  allem  fragen,  ob  Sie  Sonntag 
iiber  acht  Tage  noch  hier  sind?  dann  kommen  wir  namlich 
zuriick."  —  ,,Ich  glaube  ja,  ich  weiB  nicht",  sagt  er  zogernd. 
,,Viellcicht  reisen  wir  inzwischen  ab,  vielleicht  bleiben  wir 
noch."  So.  Und  nun  steigt  plotzlich  mit  sonderbarer,  leiser, 
tiefer  Stimme  cine  unerwartete  Frage  aus  Jolys  Mund. 
,,Sagen  Sie  .  .  .  soil  ich  nicht  mitgehen?"  —  Blitzendes  Licht 
rlackert  in  ihm,  —  jetzt  --  jetzt  bietet  sie  sich  an!  darauf 
habe  ich  gewartet!  jetzt  —  die  Hand  nach  ihr  ausstrecken, 
sie  packen  und  mit  mir  nehmen  —  und  dann  antwortet 
er  ein  wenig  linkisch,  ein  wenig  unbeholfen,  mit  stocken- 
dem  Atem:  ,,  darauf  ist  es  wirklich  schwer  --  das  konnen 
Sie  nur  selbst  --  das  miissen  Sie  selbst  wissen,  fuhlen, 
Joly  --  « 


Mitte  der  Woche  kam  cine  Postkarte  aus  Wien:  die 
Fotografie  von  vier  jungen  Madchen  und  vier  jungen 
Leuten,  immer  zwei  und  zwci  nebeneinander,  an  das 

445 


Schiffsgelander  gelehnt.  Wir  haben  uns  vom  Schnellfoto- 
grafen  auf  dem  SchifT  aufnehmen  lassen,  schricb  Joly  mit 
ihrcr  steilen,  diinncn  Handschrift,  und  vom  Wetter  schrieb 
sie,  das  blendend  war,  und  davon,  daB  sic  morgen  die 
Donaufahrt  stromab warts  beginnen  und  daB  sie  hoffe,  es 
gehe  ihnen  gut  und  sie  werde  sie  Anfang  dcr  nachsten 
Woche  noch  in  Budapest  treffen.  Er  sieht  skh  die  Karte  an. 
Vier  frische,  hiibsche  Madels,  vicr  sportgestahlte  junge 
Burschen.  Joly  steht  am  Ende  dcr  Rcihe,  lacht,  guckt  genau 
in  den  Apparat.  Neben  ihr  Doktor  Huszar  mit  der  Brille, 
in  einer  Pose  von  Ungezwungenhcit,  ein  wenig  nach  Joly 
zu  gebeugt,  er  steckt  sich  gerade  einc  Zigarette  an. 
Unsympathischer  Bengel  .  .  .  ist  ja  nicht  wahr.  Er  ist  ja  gar 
nicht  unsympathisch.  Hat  cine  intclligente,  hohe  Stirn,  ein 
gut  geformtes  Gcsicht,  klug  schimmernde  Augen,  daran 
erinnert  er  sich  noch  von  der  Begegnung  nculich.  Pro- 
portionierte,  breitschuhrige  Gestalt,  —  dcr  modcrne 
Sportsmanns-Typ.  Arzt  ist  er.  Neben  Joly  steht  er,  bcugt 
sich  nach  ihr  hin,  —  und  wic  wenig  wichtig  es  ist,  daB  er 
auch  auf  dem  Bild  zufailig  neben  ihr  steht,  das  hebt  er 
dadurch  hervor,  daB  er  sich  gerade  cine  Zigarette  ansteckt, 
als  wollte  er  sagen,  diese  ganze  Fotograficrcrei,  dieses 
In-der-Reihe-Stehen  ist  hochst  unwichtig  .  .  .  dcr  ist 
bestimmt  Jolys  Freund.  Ihr  .  .  .  Kamcradschaftsgatte.  Das 
wciB  Kadar  todsicher,  wie  er  das  Bild  so  bctrachtct,  und 
plotzlich  ubcrkommt  ihn  cine  fahle,  driickende  Traurigkcit. 
Er  gibt  Ik  die  Karte  mit  den  englischen  Zeitungen  und 
eincm  Brief  aus  London  zusammen.  Sclbstvcrstandlich.  Fort- 
wihrend  sind  sie  zusammen,  gchen  ins  Kino,  fahrcn  zum 
Weekend,  sind  unzertrcnnlich . . .  und  kurz  und  hart  lacht  cr 
auf.  Ich  bctrugc  Ila,  und  Joly  betriigt  dicscn  Doktor  Otto 

Huszar jawohl,  sic  bctriigt  ihn.  Mit  mir  betriigt  sic 

ihn.  BloB  ein  Wort,  —  nculich,  als  sie  fragtc,  mit  dcr 
sonderbaren,  tiefcn  Stimme,  die  ich  noch  nic  gchort  hattc: 
sagen  Sie  .  .  .  soil  ich  nicht  mitgchcn?  —  das  war  schon 
cine  Untreuc,  und  als  ich  ihr  dicscn  zogcrndcn  Quatsch 

446 


antwortcte  .  .  .  nein,  beleidigt  war  sie  da  nicht.  Angesehen 
hatte  sie  ihn,  von  der  Seite,  nur  einen  kurzen  Augenblick, 
dann  hatte  sie  ein  Weilchen  geschwiegen  und  schlieBlich 
gesagt:  das  war  so  eine  echte  Antwort  in  Ihrem  StiL  — 
Sie  waren  weitergegangen,  das  Gesprach  floB  langsam  ins 
alte  Gcleise  zuriick;  auf  dem  Apponyi-Platz  verabschiedeten 
sie  sich,  Joly  stieg  in  die  Elektrische,  er  ging  ins  Hotel  und 
dann  lla  im  Sanatorium  abholen.  Am  nachsten  oder  am 
dritten  Tag  rief  Joly  lla  an,  verabschiedete  sich  fur  eine 
Woche  und  sagte,  ,,ich  hoffe,  wenn  ich  zuriickkomme  — " 
lla  tritt  aus  ihrem  Zimmer,  in  der  einen  Hand  die  Bade- 
tasche,  in  der  andern  die  Fotografie.  ,,Naturlich  sind  wir 
noch  hicr",  sagt  sie,  gleichsam  die  Karte  beantwortend ; 
dann  reicht  sie  sie  ihm  hin:  ,,bitte,  leg  sie  weg,  —  wie 
hiibsch  sie  auf  dem  Bild  ist.  Na,  bist  du  ferdg,  And?  konnen 
wir  gehen?" 

Er  tat  die  Fotografie  in  seine  Brieftasche  und  nahm  sie 
nicht  mehr  heraus.  Doktor  Huszar  indessen  verfolgte  ihn 
Nacht  fur  Nacht  in  seinen  Gedanken,  bis  Joly  wieder  in 
Budapest  war.  Wir  miiBten  abreisen,  dachte  er  in  diesen 
Tagen,  wir  konnten  abreisen  .  .  .  und  schon  und  umstand- 
lich  legte  er  sich  zurecht,  wie  und  wohin  sie  abreisen  konn- 
ten. Aber  wie  sollen  wir  denn  abreisen,  wenn,  sagen  wir, 
lla  Ediths  wegen  nicht  will.  Ein  Telegramm  nach  London, 
von  dort  cine  Drahtantwort,  —  ach,  Unsinn,  wir  setzen  uns 
einfach  in  den  Zug  und  fahren  nach  Sankt  Moritz.  Budapest 
und  Joly  und  Doktor  Huszar  und  diese  ganze  wirre  Albern- 

heit  einfach  lassen In  diesen  Tagen  fiihlte  er,  wie 

lastig,  langweilig,  dumm  und  ekelhaft  das  war,  was  mit  ihm 
verging  und  im  Zusammcnhang  damit  auch  mit  dem 
zuruckgestautcn,  sprungbereiten,  zogernden  Kelemen  und 
mit  dem  kcuchenden,  schwitzenden  Szende  und  dem 
gewalttiitigen  Marton  mit  der  Nasalstimme  —  und  mit 
Vavrinec,  den  er  in  dieser  Woche  zum  erstenmal  traf. 
Vavrinec  ging  den  Donaukai  entlang,  dicht  am  Gitter,  und 
sah  am  Hotel  hinauf,  —  er  stand  gerade  am  Fenster, 

447 


bemerkte  die  naherkommende  Gestalt,  das  hinaufblickende 
Gesicht  und  erkannte  ihn  sofort,  —  nach  wenigen  Minuten 
kam  Vavrinec  von  der  andern  Seitc  zuriick  und  sah  wiedcr 
hinauf.  Vavrinec,  dachte  cr  und  wurde  rot,  fiihltc  die  Glut 
in  den  Wangen.  Er  ging  rasch  auf  den  Balkon  hinaus  und 
sah  ihm  nach.  Da  war  Vavrinec  schon  hinter  den  Strauchern 
der  Anlagc  verschwunden.  Vavrinec  . . .  dem  ich  das  Ganze 
2u  verdanken  habe.  Einen  Augenblick  dachte  er  daran, 
hinunterzugehen;  in  zwei  Minuten  kann  ich  unten  sein, 
unmoglich,  daB  ich  ihn  nicht  einhole.  Aber  wenn  er  in  ein 
Haus  gegangen  ist?  oder  in  die  StraBenbahn  gestiegen? 
oder  —  vielleicht  war  es  gar  nicht  Vavrinec?  —  Ila  rief  aus 
dem  Sanatorium  an  und  bat  ihn,  heute  fruher  heriiber- 
zukommen,  Edith  mochte  gern  cine  Stunde  Bridge  spielen. 
Mit  der  Nachmittagspost  kam  ein  langerer  Brief  von  Scott ; 
in  der  Times  war  ein  interessanter  Artikel  iiber  die  Lage 
der  englischen  Bauindustrie.  Kurz  vor  sechs  verlieB  er  das 
Hotel,  und  als  er  aus  der  Tiire  trat,  kam  gegeniiber  gerade 
wieder  Vavrinec.  Natiirlich,  hier  ist  er  auf  und  ab  spaziert, 
hat  auf  mich  gewartet,  darauf  gelauert,  daB  ich  heraus- 
komme  .  .  .  ,,Vavrinec",  sagte  er,  und  sie  blieben  einander 
gegeniiber  stehen.  ,,Ich  hab  dich  schon  vorhin  gesehen, 
auf  der  andern  Seite  am  Korso.  Suchst  du  mich?"  — 
,,O,  Servus,  Kadar",  antwortete  Vavrinec,  hob  zogernd  die 
Hand  und  lieB  sie  dann  wieder  sinken,  —  weder  sein  Gesicht 
noch  seine  Stimme  haben  sich  verandert,  —  ,,nein,  ich  bin 
ganz  zufallig  hier  vorbeigegangen,  seitdem  ich  nachmittags 
keine  Biirostunden  habe,  komme  ich  selten  in  die  Stadt."  — 
,,So,  so**,  sagt  Kddar  langsam,  ,,naturlich.  Du  wohnst  in 
Altbuda,  in  dem  kleinen  Haus  mit  dem  Garten,  das  wohl 
wieder  euer  Eigentum  ist,  seitdem  die  Kommunc  vorbei 
ist."  —  ,,Tatsachlich",  Vavrinec  reifit  die  Augen  auf, 
,,woher  weiBt  du  das?"  —  ,,Woher?"  antwortet  er  gedehnt, 
,,erinnerst  du  dich  nicht?  das  wundert  mich  aber.  Du  selbst 
hast  es  mir  gesagt,  am  vierundzwanzigsten  Juni  neunzehn- 
hundertneunzehn  nachmittags."  Vavrinec'  braunes  Gesicht 

448 


wird  um  einen  Schatten  bleicher.  ,,Wirklich  .  .  .  hast  du 
aber  ein  gutes  Gedachtnis."  —  ,,O  ja,  das  habe  ich." 
Kleine  Pause.  ,,l)brigens  will  ich  gerade  nach  Buda,  meine 
Frau  abholen,  aber  ein  biBchen  Zeit  habe  ich  noch,  komm 
doch  ein  Stiickchen  mit!"  Und  wie  sie  so  nebeneinander 
gehen,  lafit  er  gleich  seine  Stimme  auf  ihn  los:  ,,Nun,  also, 
wie  gehts  dir,  Vavrinec?  wir  haben  uns  ja  so  lange  nicht 
gesehen,  erzahl  was  von  dir,  von  den  vergangenen  Jahren. 
Wie  lebst  du?  was  machst  du?"  Vavrinec  blinzelt  ihn  arg- 
wohnisch  an.  ,,Danke",  sagt  er,  ,,es  geht  mir  einigennaBen", 
—  er  wirft  dazwischen  in  freundlichem,  lachendem  Ton: 
,,so  wie  den  iibrigen  armen  Leuten,  was?"  Hinter  dem 
argwohnischen  Blick  blitzt  ihn  jetzt  ein  erstaunter  Strahl 
aus  Vavrinec'  Stimme  an,  als  er  antwortet.  „ Jawohl . . .  wie 
den  iibrigen  armen  Leuten."  —  ,,Aber  erzahl  doch,  was  ist 
deine  Tatigkeit?"  Vavrinec  fangt  an  zu  sprechen,  seine 
Stimme  wird  lockerer,  und  der  erstaunte  Laut  im  Hinter- 
grund  geht  nun  in  vertrauliches  Klagen  iiber.  ,,Ich  lebe 
eben  ..."  Vavrinec  ist  Betriebsingenieur  in  einer  groBen 
Maschinenfabrik.  Sein  eigentliches  Fach  sind  die  Explo- 
sionsmotore,  in  seiner  jetzigen  Stellung  ist  er  jedoch  Unter- 
inspektor  in  der  Kesselwerkstatt.  Sein  Gehalt?  ,,Lieber 
Freund,  davon  wollen  wir  lieber  nicht  reden,  wenn  ich 
bedenke,  daB  ich  nun  schon  ins  vierunddreiBigste  Lebens- 
jahr  stapfe  .  .  ."  Vavrinec  wohnt  bei  den  Eltern  in  Altbuda. 
Inzwischen  hatte  er  fast  geheiratet,  da  sich  indessen  die 
Ernennung  zu  dem  in  Aussicht  gestellten  Posten  in  der 
staatlichen  Fahrzeug-Reparatur-Anstalt  verspatet  hat,  haben 
sie  die  Hochzeit  aufgeschoben  und  schlicfilich  immer  wieder 
aufgeschoben,  bis  —  ,,na,  also,  so  stehts.  Mit  den  Jungens 
bin  ich  nur  sehr  selten  zusammen.  Manchmal  gehe  ich  an 
einem  Donnerstag  hin  ins  Cafe.  Und  sonst  .  .  .  nun,  man 
lebt  cben  so  still  dahin."  —  Er  spricht,  in  seinem  Gesicht 
ist  etwas  Gespanntes,  und  wenn  er  zwischen  zwei  Satzen 
einen  Augenblick  schweigt,  so  scheint  darin  etwas  wie 
Anlaufnehmen  zu  liegen,  —  aber  dann  spricht  er  doch  nur 

29  KOrmeudi,  Budapest  449 


welter  von  der  Fabrik,  von  der  elenden  Schinderei  in  der 
Werkstatt,  von  dem  Leben  mit  wenig  Geld,  von  dieser 
ganzen  verteufelten  Plackerei  auf  der  Welt,  —  wenn  man 
bloB  irgendwie  loskommen  konnte,  raus  hier,  und  zwar, 
solange  man  noch  die  Kraft  dazu  hat,  noch  nicht  ganz  zu- 

sammengebrochen  1st Aber  als  sie  wieder  vor  dem 

Hotel  angelangt  sind,  bleiben  sie  stehen,  Kadar  hat  den 
FuB  schon  auf  dem  Trittbrett,  da  sagt  Vavrinec,  vom 
Trambulin  kurzen  Schweigens  in  das  unbekannte  Wasser 
des  schweren  Wortes  springend:  ,,weiBt  du,  Kadar  .  .  .  ich 
hatte  dir  gern  noch  etwas  gesagt,  woran  ich  inzwischen 
sehr  oft  denken  muBte,  —  ein  MiBverstandnis,  ein  Schein, 
damals,  als  — "   O  natiirlich  weiB  er,  wovon  Vavrinec  jetzt 
anfangen  will.  Und  da  unterbricht  er  ihn,  mit  ganz  ruhiger 
Stimme  und  Vavrinec  in  die  Augen  sehend,  als  lese  er  in 
ihnen:  ,,warte  mal,  Vavrinec.  Von  mir  haben  wir  ja  noch 
gar  nicht  gesprochen,  paB  mal  auf:  ich  habe  dort  unten, 
weiBt   du,   ein    groBes   Baugeschaft,   ein   weltbekanntes, 
bedeutendes  Unternehmen.   Zweiundzwanzig  Angestellte 
arbeiten  in  meinem  Biiro,  nur  in  der  Zentrale,  und  sechs 
Ingenieure,   und   noch   ein   siebenter,   der    Spezialist   in 
Explosionsmotoren   ist,   denn   ich   habe   vierundzwanzig 
Lastautos  .  .  .  und  .  .  .  ja,  und  Hunderten  von  Menschen 
gebe  ich  in  meinen  Geschaften  Brot.  Vierundzwanzig  Last- 
autos habe  ich  ...  und  ein  groBes  Vermogen,  ich  konnte 
dir  sagen,  ich  besitze  zwei  Millionen  Pfund  oder  drei  oder 
zehn  Millionen,  du  weiBt  ja  sowieso  nicht,  wieviel  das  ist, 
aber  in  Wirklichkeit  habe  ich  nur  cine  Million  Pfund,  etwas 
mehr  .  .  .  bloB  ein  paar  Millionen  Pengo  mehr,  aber  egal, 
du  verstehst  das  ja  doch  nicht.  Es  gibt  zwar  dort  unten  noch 
weit  groBere  Vermogen,  aber  auch  das  zahlt  schon  als 
ernstlicher  Reichtum,  ein  Kapitalist  bin  ich,  ein  GroB- 
kapitalist  .  .  .  ja,  und  was  wollte  ich  noch  gleich  sagen? 
ach  ja,  danke  schon,  Vavrinec,  daB  du  mich  hast  verpriigeln 
und  die  Treppe  hinunterwerfen  und  aus  der  Hochschule 
jagen  lassen . . ,  dcnn  sonst  ware  ich  vielleicht  auch  Bctriebs- 

450 


ingenieur  in  Budapest  geworden",  —  zwischendurch  macht 
er  die  Wagentiire  auf;  schon  sitzt  er  am  Steuer,  —  ,,aber 
nichts  von  Schein,  nichts  von  MiBverstandnis,  denk  nur  ja 
nicht,  daB  ich  dir  bose  sei,  im  Gegenteil,  dankbar  bin  ich 
dir  ..."  —  der  Motor  springt  an,  bleibt  aber  wieder  stehen; 
sofort  setzt  er  ihn  von  neuem  in  Gang,  —  ,,ein  biBchen 
schwer  springt  der  an,  der  Akkumulator  scheint  schon 
schwach  zu  sein,  ein  gemieteter  Wagen,  aber  eigentlich 
ganz  gut,  zu  Hause  habe  ich  einen  Cadillac  .  .  .  na,  leb  wohl, 
Vavrinec",  —  er  winkt  aus  dem  Wagen  und  fahrt  im  Schritt 
ab.  Innerlich  lacht  er.  Ganz  gelb  war  sein  Gesicht,  und 
seine  Augenlider  haben  gezittert.  Vavrinec.  Ich  bin  ihm 
nicht  bose.  Wirklich,  ihm  habe  ich  doch  .  .  .  das  Ganze  zu 
verdanken.  Das  Ganze,  —  auch  Joly. 


Diese  Woche  verging;  natiirlich  reisten  sie  nicht  ab. 
Uberhaupt  war  von  der  Abreise  nicht  mehr  die  Rede,  bis 
Ila  in  der  ersten  Augustwoche  mit  Edith  Simmons  in  die 
Schweiz  fuhr.  —  Wenige  Tage  vor  Has  Abreise  war  die 
Geschichte  mit  Joly  auf  dem  Johannesberg.  Mit  Joly  gab 
es  in  den  letzten  Wochen,  bei  den  letzten  Begegnungen 
Geschichten,  so  kleine  Sachen,  —  geringfugige,  unbedeu- 
tende  Zwischenfalle,  iiber  die  man  indessen  immerhin  nach- 
denken  mufite,  —  na  .  .  .  muBte?  man  konnte  iiber  sie 
nachdenken.  Er  war  unterwegs,  um  Joly  zu  treffen,  da 
stieB  er  auf  der  StraBe  zufallig  auf  Amman,  Amman 
begleitete  ihn  und  wollte  ihn  kaum  wieder  loslassen,  er 
war  also  gezwungen,  einen  Umweg  durch  mehrere  StraBen 
zu  machen,  dann  blieb  er  vor  einem  wildfremden  Haus 
stehen  und  verabschiedete  sich  plotzlich  von  Amman. 
,,Ich  habe  mich  nicht  verspatet",  sagte  Joly,  als  sie  sich 
trafen;  mehr  sprach  sie  zwar  dann  nicht  da  von,  —  aber 
immerhin,  das  war  die  Sache  mit  der  Verspatung.  Einmal 
im  Gesprach  fragte  er  sie,  was  dieser  Doktor  Huszar 

W  451 


eigentlich  fur  eine  Existenz  sei.  ,,Huszar  ist  ein  Kamerad 
von  mir  aus  der  Kindheit,  ein  richtiger,  treuer  Freund", 
sagte  Joly  mit  raschen  Worten,  ,,Sie  brauchen  absolut  nicht 
spottisch  iiber  ihn  zu  reden."  Das  war  die  Sache  mit 
Huszar.  Und  noch  zehn  ahnliche  Sachen  gab  es,  ahnliche 

Geschichten,  winzige  kleine wirklich,  es  ware  schade 

gewesen,  sich  eingehender  mit  ihnen  zu  beschaftigen.  Die 
Sache  mit  dem  BlumenstrauB  war  etwas  komplizierter,  — 
strahlendweiBe  Rosen  hatte  er  Joly  geschickt,  anonym, 
ohne  ein  Wort  dazu  zu  schreiben.  ,,Sie  haben  mir  die 
Blumen  geschickt",  sagte  Joly,  als  sie  sich  das  nachste  Mai 
trafen,  ,,und  ich  mochte  Ihnen  zwei  Dinge  sagen."  — 
,,Bitte."  —  ,,Erstens  schickt  man  Blumen  nicht  anonym, 
hochstens  mal  im  Scherz,  aber  Sie  sind  kein  so  scherzhafter 
Mensch,  und  ich  bin  es  auch  nicht.  Zweitens:  weiB  Ila 
etwas  davon?"  Bei  dieser  Frage  machte  er  groBe  Augen. 
,,WeiB  Ila  davon?"  wiederholte  Joly.  ,,Nein",  antwortete 
er,  ,,aber  Ila  weiB  auch  davon  nichts,  daB  wir  uns  zu  treffen 
pfiegen."  —  ,,Pflegen?  wir  pflegen  uns  nicht  zu  treffen", 
sagte  Joly  und  verzog  den  Mund.  ,,Wir  treffen  uns  manch- 
mal  zufallig.  Zufallig  Blumen  schicken  kann  man  aber 
nicht."  —  ,,Soll  ich  also  keine  mehr  schicken?"  —  „ Ano- 
nym auf  keinen  Fall."  —  ,,Und  sollen  wir  uns  auch  nicht 
mehr  treffen?"  —  Joly  schwicg,  dann  sagte  sie  leise:  ,,sehen 
Sie,  wenn  ich  Sie  ware,  dann  wiirde  ich  jetzt  antworten",  — 
sie  imitiert  ein  wenig  seine  Stimme,  —  ,,darauf  ist  es  mir 

wirklich  sehr  schwer das  miissen  Sie  selbst  fiihlen  .  .  . 

aber  ich  antworte  Ihnen  nur,  ich  mochte  mich  sehr  gern 
manchmal  mit  Ihnen  treffen".  —  Einmal  fiel  ein  sonder- 
bares,  gefahrliches  Wort  zwischen  ihnen  auf  einem  Spazier- 
gang  am  friihen  Abend:  ,, sagen  Sie  bloB",  spricht  Joly 
plotzlich,  ,,ich  wollte  Sie  schon  oft  fragen,  aber  hatte  bis 
jetzt  doch  nicht ..."  —  ,,Nun,  sagen  Sie,  was  haben  Sie 
nicht  gewagt  zu  fragen?"  —  ,,Es  handclt  sich  nicht  um 
Wagen  oder  Nichtwagen",  sagte  Joly.  ,,Ich  mochte  gern 
wissen,  wie  Sie  sich  gefunden  haben,  Sie  und  Ihre  Frau?" 

45* 


Er  antwortet  nicht  gleich,  und  Joly  fahrt  fort:  5,dariiber 
denken  Sic  nach?  dann  werden  Sic  mir  keine  Antwort 
gebcn,  das  weiB  ich  schon,  denn  Manner  antworten  ent- 
weder  gleich  auf  eine  solche  Frage  oder  iiberhaupt  nicht, 
entweder  gehen  sie  dariiber  hinweg,  oder  sie  sagen  nicht 
die  Wahrheit . . ."  —  ,,Sie  haben  mich  ja  unterbrochen",  ant- 
wortet er.  ,,Sie  konnen  doch  nicht  wissen,  ob  ich  iiberhaupt 
antworten  wollte  oder  was  ich  geantwortet  hatte."  — 
,,Sehen  Sie?"  sagt  Joly,  ,,also  Sie  geben  keine  Antwort." 
Einen  Augenblick  schweigen  sie.  ,,Ihre  Frau  ist  Ungarin", 
fangt  sie  dann  wieder  an.  ,,Manchmal  denke  ich  dariiber 
nach,  wo  Sie  wohl  zusammengekommen  sein  mogen.  Wer 

sie  als  Madchen  war.  Was  sie  gemacht  hat,  bis  sie  Sie " 

wieder  schweigt  sie.  ,,Und  warum  interessiert  Sie  das?" 
fragt  er  unsicher.  Joly  sieht  ihn  an.  ,,Sie  wissen  genau,  wer 
ich  bin",  sagt  sie  leise,  ,,und  ich  mochte  wissen,  wer  Ila 
war."  Er  antwortet  nicht,  sie  schweigen,  dann  sagt  Joly, 
,,na  gut",  und  dann  sprechen  sie  von  etwas  anderm.  Das 
waren  winzige  kleine  Stationen  auf  der  steilen  Drahtseil- 
bahn,  —  nachher  konnte  er  weiter  rutschen  und  sausen, 
abwarts.  Ja,  —  also  die  Johannesberg-Sache.  Das  war  ihr 
letzter  Ausflug  zu  viert,  an  einem  warmen,  zauberhaften 
Sonntagabend.  Sie  afien  oben  auf  dem  Berg  zu  Abend,  Ila 
hatte  Durst  auf  Sekt,  und  sie  tranken  ziemlich  viel.  Nach 
Mitternacht  begaben  sie  sich  zu  FuB  auf  den  Heimweg; 
den  Wagen  fuhr  der  Schoffor  des  Gastwirts  im  Schritt 
ungefahr  hundert  Meter  vor  ihnen  her.  Ila  und  Kelemen 
gingen  vorn;  gelbe  Gliihbirnen  in  grofien  Abstanden  ver- 
tieftcn  die  Dunkelheit  auf  dem  Weg.  Plotzlich  blieb  er 
stehen,  in  einem  kleinen  Schwindel,  der  ihn  plotzlich  befal- 
len hatte  unter  dem  lauen  Himmel  und  den  Sternen,  und  im 
Takt  mit  seinem  Stutzen  blieb  auch  Joly  stehen;  da  griff  cr 
mit  verwegener  Hand  nach  inn,  zog  sie  naher  zu  sich  heran, 
aber  Joly  stemmte  ihre  beiden  kleinen  harten  Faustc  gegen 
seine  Brust,  —  ein  unendlicher  kcuchender  Augenblick,  — 
>,Joly,  ich  licbe  Siel"  —  und  ein  kurzes  kaltes  Zischen, 

453 


,,lassen  Sic  mich  los!"  —  »Joly,  ich  liebc  Sie  wahnsinnig 

und "  und  die  fliisterndc  Stimme  vor  seinem  Gesicht, 

in  so  furchterlicher  Nahe:  ,,passen  Sie  auf,  lassen  Sic  mich 
los,  sonst ..."  —  Seine  Arme  wcnden  Kraft  an:  die  beiden 
kleinen  Fauste  klappen  plotzlich  zuriick,  an  seiner  Brust 
fiihlt  er  den  mageren,  sich  gegenstemmenden  kleinen  Kor- 
per,  mit  vertrocknetem  Mund  sucht  er  den  gesenkten  Kopf, 
seine  Lippen  brennen  auf  ihrem  Haar,  ihrer  Stirn,  ihren 
Wangcn,  und  dann  greift  er  mit  derber  Hand  nach  ihrem 
Kinn,  reiBt  ihren  Kopf  gewaltsam  hoch,  und  sein  Mund 
fallt  auf  Jolys  kalte,  starre,  zusammengepreBte  Lippen. 
Nun  la'Bt  ihre  Gegenwehr  nach,  leicht  liegt  der  schmale 
Korper  in  seinem  Arm,  die  beiden  kleinen  Hande  ruhen 
offen,  erschopft  auf  seiner  Brust,  die  Augen  hat  sic  miide, 
zerqualt  halb  geschlossen,  nur  ihr  Mund,  —  ein  blutiger 
Streifen,  —  ihr  Mund  ist  zusammengepreBt  und  kalt.  Da 
laBt  er  sie  los.  Wortlos  gehcn  sic  hinter  den  beiden  fernen 
Schatten  her,  —  nach  einer  langen  Weile  fangt  Joly  an  zu 
sprechen.  ,,Sind  Sie  nun  gliicklich?"  sagt  sie  gleichsam  vor 
sich  hin  mit  mattem,  bitterem,  spottischem,  herausfordern- 
dem  Ton.  ,,Sind  Sie  jetzt  gliicklich?  ja?  au  .  .  .  mir  tun  die 

Handgelenke  weh "  Er  antwortet  nicht;  sie  schweigcn. 

Wieder  beginnt  Joly,  mit  gedampfter  Stimme:  ,,Das  hat 
doch  keinen  Sinn  .  .  .  groBe  Worte  .  .  .  gar  nicht  wahr,  es 
hat  wirklich  keinen  Sinn  — "  Ein  ersticktes,  tiefes  Brummen 
dringt  aus  seinem  Mund,  ,,keinen  Sinn?!  Joly,  ich  liebe 
dich,  und  ich  will  dich  haben,  und . . ."  —  „  Jawohl,  ich  will 
dich  haben",  sagt  Joly  leise  mit  erstaunlicher  Ruhe,  ,,ich 

will  dich  haben,  ich  weiB,  ich  weiB.  Und  dann jetzt 

hab  ich  dich  gehabt,  genug,  danke  schon.  Geld  bieten  Sie 
mir  nicht  an?"  sagt  sie  und  bleibt  stchen  und  blitzt  ihm  mit 
dem  griinlich-blauen  Strahl  in  die  Augen.  Mehr  sprachen 
sie  dann  nicht,  bis  sie  am  Ende  des  Wcges  die  beiden 
andern  und  den  Wagen  crreicht  hatten.  Auf  der  Heimfahrt 
saB  cr  bis  zum  Wcstbahnhof  ncben  dem  frcmden  Schoffor, 
die  andern  drei  hinten.  Als  Joly  und  Kelcmen  vor  dem 

454 


Haus  auf  detn  Ring  ausstiegcn,  sah  er,  daB  Joly  Rander 
unter  den  Augcn  hatte,  und  fiihlte,  daB  ihre  Hand  kalt  war. 
Jetzt  war  aber  alles  zu  Ende,  jetzt  war  er  schon  ganz 
unten  im  Abgrund ;  jetzt  gab  es  nichts  anderes  mehr  als  das 
eine:  ich  liebe  dich,  und  ich  will  dich  haben.  Ila  und  Edith 
fuhren  nach  Montreux,  —  der  Plan  entstand  in  Zeit  von 
halben  Stunden,  und  am  nachsten  Tage  waren  die  Fahr- 
karten  schon  besorgt,  —  Ila  fragte  ihn,  ob  er  mitfiihre,  und 
nahm  zur  Kenntnis,  daB  er  hier  bliebe,  —  ,,diese  Sache  da, 
die  mich  noch  immer  beschaftigt  — kt  Sie  horte  seiner 
Begriindung  nicht  einmal  rccht  zu,  an  ihren  Augen  sah  er: 
sic  wciB,  daB  ich  nicht  mitfahre.  ,,Eigentlich  ist  mir  das 
ganz  recht  so",  sagte  sie,  ,,Edith  ist  ja  noch  nicht  ganz  auf 
dem  Posten,  und  wenn  ich  die  Reise  ihr  zuliebe  mache, 
dann  ist  es  besser,  wenn  ich  nicht  gebunden  bin",  —  in 

diesem  Satz  lag  eine  kleine  Betonung,  die  gleichsam 

er  bemerkte  es  und  kiimmerte  sich  nicht  darum.  Sie  ver- 
abredeten,  wochentlich  einmal  telefonisch  miteinander  zu 
sprechen,  ferner,  daB  Ila  auf  jeden  Fall  mit  Edith  zusammen 
nach  Budapest  zuriickkommen  sollte.  Er  und  Simmons 
brachten  die  Damen  an  die  Bahn,  —  sie  kuBten  sich,  ,,auf 
Wiedersehen,  Kind",  dann  fuhr  er  Simmons  in  die  Burg 
und  raste  zuriick  in  die  Stadt,  —  Joly  ist  um  fiinf  herum  in 
der  Andrassy-StraBe.  Ich  liebe  dich,  und  ich  will  dich 
haben,  —  nun  folgten  elf  Wochen  in  einem  einzigen  Tau- 
mel,  in  einem  einzigen  wirren,  wilden,  sinnlosen  Traum, 
elf  Wochen,  bis  Ik  zuriickkam,  um  dann  von  Budapest 
Abschied  zu  nehmen.  Nur  daran,  daB  Ik  irgendwoher  an- 
rief,  nahm  er  wahr,  daB  wieder  eine  Woche  von  diesen 
Tagen  der  Zeitlosigkeit  vergangen  war.  Das  erste  Mai 
telefonierte  sie  aus  Montreux,  dann  aus  Genf,  dann  aus 
Venedig,  dann  aus  Padua,  dann  aus  Rom.  ,,Ein  Traum  ist 
dicse  Reise",  sagte  Ik,  ,,einfach  gottlich  ...  es  tut  mir  so 
leid,  daB  du  nicht  hier  bist."  Und  Edith  ginge  es  schon 
ganz  gut.  Und  was  es  Neues  ga'be  in  Budapest?  Nichts  von 
Belang.Scham  wurgte  ihn,  als  er  sagte:  nichts  von  Belong. 

455 


Und  Ik  fragte  nicht  welter,  spater  fragte  sic  dann  nicht 
elnmal  mchr,  was  gibt  es  Neues  in  Budapest?  ,,Rom  1st 
unbeschreiblich  schon  .  .  .  wie  schade,  daB  du  nicht  hier 
bist.  Bei  einem  groBen  Turnfest  waren  wir,  Mussolini  habe 
ich  gesehen,  auch  sprechen  gehort,  cine  eigenartige,  auBer- 
gewohnliche  Erscheinung.  Auf  der  Gesandtschaft  sind  wir 
mit  Grand!  bekannt  geworden  und  noch  mit  einer  Menge 
faschistischer  Politiker.  Nachste  Woche  fahren  wir  wahr- 
scheinlich  nach  Sizilien  — "  Eines  Nachts  schreckte  er  auf, 
setzte  sich  auf  im  Bett,  sein  Korper  zitterte  in  eisiger  Angst. 
Entfrcmden  wir  uns  ?  fragte  er  laut  ins  Dunkel,  entfremden 

wir  uns?  Leben  wir  uns  auseinander?  wegen  dieser 

wegcn  dieser nein,  kein  boses  Wort  I  auch  nicht 

einen  einzigen  schlechten  Ton!  Budapest  und  Joly;  an- 
scheinend  muBte  das  sein,  und  beides  ist  vorbei,  Joly  und 
Budapest,  das  Abenteuer  —  die  Versuchung  in  Budapest. 
Aber  kein  Wort,  keinen  Ton  —  Ein  wirrer  Traum  mit 
schlechtem  Nachgeschmack  waren  diese  elf  Wochen,  ein 
Traum,  in  dem  er  sein  ganzes  vergangenes  Leben  durch- 
machte  und  das  Ende  der  Zeiten;  in  dem  er  an  alie  jenc 
aufierste  Gemeinheit  und  Giite  leicht  riihrte,  die  gewesen 
war  und  noch  kommen  konnte;  in  dem  cr  sich  durch- 
diese  schone,  peinigende  Liebe  bis  zum  Alpdruck  hin- 
durchqualte,  —  dann  wachte  er  auf,  das  Herzklopfen 
verging  langsam,  er  rieb  sich  die  Augcn,  seufzte,  und  das 
Ganze  war  vorbei. 

Eine  halbe  Stunde  nach  lias  Abreise  spazierte  er  schon 
mit  Joly  durch  die  StraBen.  ,,Ist  sic  abgefahren?"  fragte 
Joly.  ,,Jawohl."  —  ,,Und  Sic?  warum  sind  Sie  nicht  mit- 
gefahren?"  —  ,,Das  wissen  Sie  doch  sehr  gut",  antwortete 
cr.  ,,Kcin  Grund",  sagtc  Joly  kalt.  —  Kein  Grund.  Jetzt 

packe  ich  sic  und  .  .  .  wiirge  ihr  die  Kehle ,,Ich  liebc 

Sie",  sagte  cr.  ,,Danke",  sagte  Joly,  ,,ich  weiB.  Ich  licbe  Sie, 
ich  will  Sic  habcn,  wcitcr  brauchcn  Sie  nichts  zu  sagen." 
Er  sah  Joly  an  und  muBtc  licheln.  ,,Kleine  Bestic",  sagtc 
cr  nett.  ,,Ich  wciB",  antwortete  Joly,  ,,das  gehort  auch  zu 


dcm  Ichliebedich-Ichwilldichhaben."  —  ,,Warum  sind  Sie 
dann  mit  mir  zusammen?!  warum  kommen  Sie,  wcnn  ich 
Sie  rufe?  was  wollen  Sie  von  mir?!"  brummte  er  sie  an. 
,,Ich  kann  ja  auch  weggehen",  sagte  Joly  und  machte  zwei 
groBe  Schritte  vorwarts,  —  aber  dann  ging  sie  doch  nicht .  — 
Er  hatte  gedacht,  jetzt  wiirde  er  Joly  taglich  sehen.  —  Die 
hungrige  liimmelhafte  Gier  des  alleingekssenen  frei- 
gewordenen  Kindes  packte  ihn,  —  das  Zusammensein, 
das  fortwahrend  wiederholte  Wort  und  die  Tage  werden 

ihren  Widerstand  schon  brechen und  gleich  nachher: 

traf  er  sie  fiinf  oder  sechs  Tage  nicht.  Joly  rief  ihn  nicht  an; 
am  dritten  Tage  schickte  er  ihr  eine  Visitenkarte,  auf  der  er 
sie  um  ihren  Anruf  bat,  —  sie  telefonierte  nicht,  —  am 
funften  Tag,  nach  Tisch,  klingelte  er  auf  der  dritten  Etage 
an  der  Wohnungstur;  ein  schlampiges  Dienstmadchen 
offnete  und  lieB  ihn  nicht  iiber  die  Schwelle:  ,,die  gnadige 
Frau  schlaft",  sagte  sie,  ,,und  das  Fraulein,  die  ist  nicht  zu 
Hause."  VerdrieBlich  stieg  er  die  dunkle  Treppe  hinunter, — 
Joly  rief  auch  am  nachsten  Tag  nicht  an.  Was  kann  ich  tun? 
ihr  noch  einmal  schreiben?  mich  vors  Haus  stellen  und  das 
Tor  nicht  aus  den  Augen  lassen?  Jawohl,  aber  mit  einem 
Revolver  in  der  Hand  .  .  .  denn  er  hatte  sich  ganz  verbissen 
in  die  Sache.  Er  brannte  lichterloh.  Mein  Gott,  wie  schon 

das  war.  Jung  sein und  er  dachte  an  Tilly.  Dann  fuhlte 

er,  das  war  furchterlich,  dieser  Wahnsinn.  Dreiunddreifiig 
Jahre  werde  ich  alt  ...  Ich  kann  mir  das  erlauben!  dachte 
cr  dann  trotzig,  voll  Wut.  Wenn  ich  will,  bin  ich  wieder 
zwanzig!  Ich  werde  sie  bezwingen,  kaufen  werde  ich  sie 

mir Und  Joly  spielte  mit  ihm,  Joly  war  starker  als  er. 

Kein  Wunder:  er  war  ja  schon  ganz  unten  und  hatte  den 
Kontakt  mit  sich  selbst  verloren.  Was  war  das?  v6llige 
Ergebung?  volliges  Ausgeliefertsein?  Und  dann  kam  auch 
das,  daB  er  nicht  mehr  wollte,  sich  nur  noch  sehnte,  nicht 
mehr  forderte,  nur  noch  bettelte.  Wirklich  .  .  .  das  bin  ich? 
Mutig  trete  ich  an  die  Hindernisse  heran  oder  werde  zufallig 
hingetrieben,  und  dann  . . .  bettle  ich  mich  iiber  sie  hinweg? 

457 


Ja,  —  da  war  die  Sachc  ins  Kippen  gekommen,  daB  cr  sich 
sein  ganzcs  Lebcn  lang  von  Mcnschcn  oder  Dingcn  hattc 
trcibcn  lassen,  —  und  der  Strom  hattc  ihn  vor  den  Hindcr- 
nissen  zuriickgeworfen,  oder  mit  dem  Strom  hatte  er  die 
Felsen  umschwommen  und  war  so  weitergetrieben,  — 
dem  Geld  entgcgen.  Und  hier?  jetzt?  —  hier  war  er  allein, 
das  zweischneidige  Schwert  seines  Geldes  in  der  Hand, 
urn  sich  herum  die  tausend  lugnerischen  Fackeln  gieriger 
Huldigung  und  eine  vcrzerrte  Sehnsucht  in  der  Brust,  — 
und  gegeniiber  steht  ihm  eine  Frau  mit  den  unzahligen 
Waffen  ihrcr  Weiblichkeit  in  jenem  kurzen,  kalten  und 
dennoch  nicht  das  letzte  Wort  ahnenlassenden  Nein  auf 
den  schmalen  Lippen  und  sicherlich  mit  einer  zitternden 
Aufregung  im  Herzen,  die  sich  selbst  aufgab,  die  um  den 
groBen  Gewinn  spielte  genau  wie  einst  er  selbst,  —  jawohl, 
einst  war  auch  mein  Einsatz  nicht  weniger  als  mein  Leben, 
—  und  der  Preis?  der  Preis  war  bloB,  daB  ich  es  viellcicht 

ertragen  werde,  wenn  ich  nicht  gewinne Will  sic  viel? 

dachte  er  einmal  mit  gemeinem,  kaltem  Zynismus,  gut,  von 

dem  Vielen,  das  alles  mein  ist,  werde  ich  ihr  viel  geben 

Kelemen  meldete  sich,  —  er  fuhr  ihn  geradezu  an:  ,,wo 
ist  Joly?"  Kelemen  nahm  mit  einem  feinen  Lacheln,  das 
Verstandnis  fuhlen  lieB,  diese  stiirmische,  aller  Vorsichtig- 
keit  bare  Nachfrage  zur  Kenntnis  und  verabredete  die 
Zusammenkunft  fur  morgen  abend  in  einem  Ton,  als  wolltc 
er  sagen :  sei  beruhigt,  ich  verstehe  die  Sache,  ich  werde  dir 
Joly  liefern.  Kuppler,  dachte  er,  das  beste  ware,  offen  mit 
ihm  zu  reden,  ihm  Geld  anzubieten,  —  und  dann  gebot  er 
entsetzt  dem  Gedanken  Einhalt:  bin  ich  krank?  habe  ich 
mein  klares  Urteilsvermogen  vcrloren?  —  Am  nachsten 
Abend  horte  er  mit  demselben  Stutzen  Jolys  kiihle,  ab- 
wesende  Stimme:  ,,ja,  Ihre  Karte  habe  ich  bckommen,  ich 
weiB  auch,  daB  Sie  nach  mir  gefragt  haben  in  der  Wohnung, 
das  Madchen  hat  es  mir  gesagt,  ich  konntc  mir  denken,  daB 
Sie  der  Herr  warcn,  aber  ich  hatte  allerhand  zu  tun  und  war 
auch  zu  nichts  recht  aufgclegt."  Argwohnisch  beobachtete 

458 


er  sie.  Sic  liigt,  dachte  cr,  sic  liigt,  wenn  sie  spricht,  und  sic 

liigt,  wenn  sic  schweigt,  wenn  sie  etwas  verschwcigt 

Spater  trafen  sie  sich  dann  haufig,  und  der  Tag  bestand 
daraus,  daB  er  einige  Stunden  mit  Joly  zusammen  war,  mit 
ihr  durch  die  Stadt  spazierte  oder  durch  die  Gassen  Budas 
oder  iiber  die  friihherbstliche  Insel,  —  dann  blieb  er  wieder 
allein,  das  zuletzt  verklungene  zweifelhafte,  ungewisse  Wort 
im  Kopf,  und  lauerte  gequalt  auf  die  nachste  Begegnung. 
Er  lag  in  seinem  Zimmer,  lungerte  auf  der  StraBc,  unterhielt 
sich  mit  den  noch  immer  schniiffelnden  Hungerleidern  und 
dachte  an  nichts  anderes  als  an  Joly.  GroBer  Gott  .  .  . 
gehorig  vcrgiftet  bin  ich.  GroBer  Gott,  dachte  cr  ein- 
mal  in  banglich  kindischem  Schmollen,  —  warum  bist 
du  weggefahren,  warum  hast  du  mich  hier  allein  ge- 
lassen?  —  Er  kampfte  mit  Phantasmagorien,  bastelte  mit 
Unwirklichkeiten  herum.  Ich  werde  ihr  Geld  geben.  Ich 
bringe  sie  nach  Paris  und  besuche  sie  jedes  Jahr  in  Paris. 
Viel  Geld  gebe  ich  ihr,  damit  sie  mir  treu  bleibt !  Er  lachte 
benebelt.  Blodsinn.  Ich  nehme  sie  mit  nach  Port  Elizabeth. 

Stelle  sie  als  Sekretarin  an Quatsch.  Ich  hole  sie  alle 

beide  riiber,  ihren  Bruder  auch,  dann  sind  sie  eben  aus- 
gewandert,  wen  geht  das  was  an?  Sie  konnen  doch  aus- 
wandcrn,  wenns  ihnen  paBt,  konnen  sich  niederlassen,  wo 
sie  wollen,  niemand  braucht  davon  zu  wissen,  sie  werden 
in  Grahamstown  oder  in  East-London  leben,  niemanden 
gehts  was  an.  Ik  wird  es  nicht  erfahren,  —  und  wenn  sie 

es  erfahrt Jetzt  war  er  schon  so  weit  gesunken,  daB 

sich  das  Problem  nicht  mehr  darum  drehte:  soil  ich  es  tun? 
sondern :  wenn  sie  es  erfahrt .  .  .  und  das  war  das  Schwerste 
in  diesem  anarchischen  Gewoge  zwischen  Betrug  und 
Trcue,  zwischen  der  Realitat  Ila  und  der  Fiktion  Joly. 
Nach  Johannesburg  bringe  ich  sie,  jeden  Monat  fahre  ich 
dann  hin  zu  ihr,  in  Johannesburg  kann  ich  ja  bauen,  von 

Inge  hat  Ila  ja  auch  nichts  erfahren Und  dann  durch- 

zuckte  ihn  einmal  die  Frage:  wie  lange  wird  das  dauern? 
wird  das  ewig  dauern?  —  ewig,  ewig,  duxnmes  Wort,  — 

459 


ich  wcrdc  fur  sic  sorgcn,  und  wcnn  wir  uns  iiber  haben  .  .  . 
Uns  iiber  haben?  —  so  weit  sind  wir  ja  noch  lange  nicht, 
vorlaufig  sind  wir  ja  erst  beim  Nein  und  Nein  und  Nein  — 
Er  war  unten,  ganz  tief  unten.  Kclemen  sagte  er  Dummhei- 
ten,  gemeine  Dummheiten.  Von  Port  Elizabeth  erzahlte  er 
ihm.  Vom  Geld.  Von  den  Moglichkeiten.  Von  seinem 
Wohlwollen,  mit  dem  er  jemandem,  den  er  fur  geeignet 

halt,  so  vorwartshelfen  konne das  alles  gait  Joly. 

Eine  erbarmliche,  bequeme  Botschaft.  Uber  den  Kuppler .  — 
Damals  lungerte  Kelemen  schon  stellungslos  herum,  —  er 
wuBte  nicht  ganz  bestimmt,  ob  er  cntlassen  worden  war 
oder  ob  er  selber  seinen  Schreibtisch  aufgegeben  hatte  im 
Taumel;  Kelemen  sprach  damals  noch,  in  Liigen  verwickelr, 
nicht  kkr  dariiber,  und  fest  stand  nur,  daB  er  keine  Tatigkeit 
hatte.  Er  kam  jetzt  oft  zu  Kadar,  taglich  meldete  er 
sich  telefonisch,  bat  ihn  aber  noch  immer  um  nichts.  Die 
iibrigen?  die  mit  ihren  Geschaften?  zwischendurch  meldete 
sich  dieser  und  jener  mit  kleinen  Versuchen,  mit  Tolpcl- 
haftigkeiten,  die  einem  ein  Lacheln  abzwangen;  sie  kamen, 
sic  blieben  aus,  sie  kehrten  wieder.  Er  horte  ihnen  zu,  mit 
ernstem,  interessiertcm  Gesicht.  Er  stocherte  in  den  An- 
gelegenheiten  herum,  —  ich  weiB  noch  nicht,  ich  will  mal 
sehen,  vielleicht  .  .  .  und  immer  haufigcr  schrecktc  er  zu- 
sammen  iiber  die  haarstraubende  Dummheit  dieser  An- 
gelegenheiten,  iiber  seine  eigene  peinliche,  lacherlichc 
Unernsthaftigkeit,  —  ich  stelle  mich  ja  einfach  als  Idioten 
bin  .  .  .  vor  diesen  Leuten,  mit  denen  ich  mich  iibcrhaupt 
nicht  einlassen  diirfte,  die  ich  durch  den  Hausdiener  raus- 

werfen  lassen  miiBte was  ist  denn?  ich  habe  ja  keine 

Vorwande  mehr  notig,  brauche  keine  Zeit  mehr  zu  gewin- 
nen  .  .  .  was  ist  denn?  rache  ich  mich  an  ihnen  fur  das,  was 
Joly  mit  mir  macht?  was  ist  denn?  bin  ich  ein  Sadist 
geworden?  ich  hetze  sie  hinein,  quale  sic,  machc  ihnen 
Mut,  rege  sie  auf ...  da  ich  doch  weiB,  daB  ich  eines  Tages 

dicsc  ganzc  Geschichte Szende  meldete  sich  noch  in 

erbitterter  Hartnackigkeit,  Mirton  war  schon  ausgcblieben, 


Kelemen  hatte  tiefe  Runzeln  in  der  Stirn,  wenn  hie  und  da 
von  jenen  andern  ein  Wort  fiel.  ,,Ich  mahne  dich  zur  Vor- 
sicht",  entschloB  Kelemen  sich  einmal  zum  Warnruf,  aber 
er  unterbrach  ihn  sofort:  ,,Vorsicht?"  sagte  er  fast  veracht- 
lich,  undankbar,  ,,glaubst  du  etwa,  ich  durchschaue  die 
nicht?  ich  wisse  nicht,  was  sie  wollen?  Ochsen  sind  sie  . . ." 
Ochsen,  allesamt,  auch  Varga,  —  denn  auch  Varga,  der 
reiche,  der  vornehme  Varga,  hatte  sich  gemeldet.  Im  Speise- 
saal  des  Hotels  trafen  sie  sich.  Aus  Varga  war  ein  etwas 
kahlkopfiger,  etwas  dicklicher,  sehr  eleganter,  ansehnlicher 
Herr  geworden,  die  Verkorperung  des  erbansassigen,  wohl- 
verstandenen  und  richtig  gehandhabten  Wohistandes.  Die 
groBe,  runde  Brille  trug  er  noch.  Er  blieb  vor  seinem  Tisch 
stehen,  senkte  den  Kopf  ein  wenig  und  wendete  ihn  nach 
links,  —  ,,oh,  Kadar,  nicht  wahr?  .  .  .  das  ist  aber  ein  sym- 
pathischer  Zufall.  Allerdings,  offen  gesagt,  war  ich  der 
Meinung,  als  ich  kiirzlich  horte,  daB  du  in  Budapest  bist, 
wir  brauchten  diese  Begegnung  nicht  dem  Zufall  zu  iiber- 
lassen,  ich  dachte,  du  wiirdest  mich  besuchen  ...  na,  ich 
will  nicht  rekriminieren,  —  gestattest  du?  nur  fur  einen 
Augenblick,  bis  meine  auslandischen  Gaste  kommen",  und 
er  setzte  sich.  ,,Ich  freue  mich  wirklich  iiber  die  auBer- 
ordentlich  gute  Meinung,  die  unsere  hiesigen  Bekannten 
sowie  unsere  namhaften  Beziehungen  in  London  iiber  dich 
auBern.  Wie  ich  hore,  warest  du  eventuell  auch  geneigt, 
eine  gewisse  Tatigkeit  in  Ungarn  zu  —  den  Kontakt  mit 
dem  ungarischen  Wirtschaftsleben  aufzunehmen,  angeblich. 
In  dieser  Hinsicht  hake  ich  es  nun  vor  alien  Dingen  fur 
meine  Pflicht,  dich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dir  deine 
zukiinftigen  Partner  mit  der  notigen  Vorsicht  und  Strenge 
auszuwahlcn,  das  ist  doch  natiirlich.  Unser  Haus  indessen 
wird  dir  herzlich  gern  zur  Verfiigung  stehen  bei  der  Ab- 
wicklung  der  Finanzangelegenheiten.  Ich  rechne  darauf,  daB 
du  mich  bei  Gelegenheit  in  meinem  Biiro  aufsuchst,  —  ah, 
da  sind  meine  franzosischen  Herren  .  .  .  also  nochmals,  ich 
habe  mich  wirklich  sehr,  ganz  besonders  gefrcut,  dich  nach 

461 


so  langer  Zeit "  Ja,  antwortete  er,  gewiB  werde  cr  ihn 

aufsuchen,  wenn  er  tatsachlich  hier  etwas  machen  sollte,  er 
wisse  ja  sehr  genau,  wie  wichtig  es  sei,  in  alien  Teilen  der 
Welt  gute  Beziehungen  zu  haben.  Wenn  es  iiberhaupt  zu 
einem  AbschluB  der  geplanten  Geschafte  kommen  sollte, 
wiirde  er  wahrscheinlich  auf  Grund  seines  liebenswiirdigen 
Anerbietens  mit  seinem  Haus  in  Verbindung  treten,  wenn 
auch  vielleicht  nur  in  Form  einer  kleineren  Geldeinlage,  — 
wenn  auch  nur  in  Hohe  von  zehn  Shilling,  —  was  zwar 

nicht  gerade  viel  sei,  aber  manchmal doch  den  Anfang 

einer  angenehmen  Verbindung  darstellen  konne  .  .  .  Vargas 
Gesicht  wird  um  einen  kaum  merklichen  Schatten  roter, 
durch  die  Brille  schlagt  ein  kurzer,  diisterer  Blitz,  aber  seine 
Stimme  ist  unverandert  korrekt,  fast  sogar  freundschaftlich 
heiter.  Tatsachlich,  manchmal  entwachsen  die  groBen  Be- 
ziehungen  aus  den  geringfiigigsten  Dingen,  und  wenn  man 
die  zehn  Shilling,  sagen  wir,  als  Grundstein  betrachtet  oder 

als  Symbol,  sagen  wir Kadar  ist  schlecht  gelaunt. 

Nichts  von  Genugtuung  spurt  er  bei  dem  Sichducken  Var- 
gas, bei  der  geschaftsmaBig  vorsichtigen,  ho  f lichen  und 
vielleicht  ein  wenig  verachtlichen  Abwehr  seiner  Provo- 
kation.  Geschmacklos  war  das.  SchlieBlich  .  .  hat  er  es  ja 

damals  mit  den  zehn  Shilling  nicht  schlecht  gemeint 

bloB  er  hatte  eben  mehr  gefordert.  Genau  so  ...  wie  jetzt. 
Von  Kelemen.  Und  von  Joly.  An  der  alles  steckenblicb. 
An  Joly  Kelemen,  die  ganz  einfach  nicht  seine  Geliebte 
werden  wollte.  Er  schnitt  sich  ins  Innere  mit  brennenden 
Fragen  in  brennenden  Nachten.  Liebt  sic  mich  nicht?  liebt 
sie  einen  andern?  will  sic  Geld?  was  will  sic?  sic  kann 

alles  haben,  was  sie  nur  will Er  wurde  grob.  Mit 

schmutzigen  Worten  beschimpfte  cr  sic  im  stilien,  mit 
crniedrigenden  Ausdriicken  setzte  cr  sic  herab,  —  und 
dann  heulte  er  innerlich  schluchzend  in  qualvoller  Sehn- 
sucht  nach  ihr.  Albern  war  er,  taktlos,  lacherlich  war  er. 
Er  sprach  von  seinem  Geld  und  davon,  daB  er  sie  mit- 
nehmen  und  cine  groBe  Dame  aus  ihr  machen  wolle.  ,,Ich 

462 


verstehe  mich  selbst  nicht",  sagte  Joly,  ,,wenn  ein  anderer 
so  zu  mir  sprechen  wiirde,  dann  hatte  ich  ihm  schon  langst 
den  Riicken  gekehrt."  Er  bettelte.  ,,Ich  kann  nicht  ohne 
Sie  leben.  Sehen  Sie  mich  doch  an,  ich  verkomme  ja,  ich 
gehe  dariiber  zugrunde,  wenn  Sie  mir  nicht  angehoren  wol- 

len.  Haben  Sie  denn  keine  Angst,  daB  ich  Sie  und  mich " 

Er  zitterte,  um  ihren  Arm  beriihren  zu  konnen.  Pfui.  Er 
verabscheute  sich  selbst.  ,,Primanerangelegenheit  .  .  .  drei- 
unddreiBig  Jahre  werde  ich."  Joly  lachelte,  ein  wenig 
erstaunt.  ,,So  darf  ein  ernsthafter,  erwachsener  Mann  nicht 
sprechen  .  .  .  nein,  verstehen  Sie,  nein."  Dann  drohte  er. 
,,Ich  reise  sofort  ab  und  komme  nie  mehr ..."  —  ,,Ich  kann 
Sie  nicht  zuriickhalten",  sagte  Joly  ruhig.  ,,Bin  ich  Ihnen 
zuwider?  sagen  Sie,  hassen  Sie  mich?"  fragte  er  sie  hundert- 
mal.  ,,Darauf  gebe  ich  keine  Antwort",  erwiderte  sie.  ,,So? 
danke  schon,  das  geniigt,  nun  weiB  ich  alles."  —  ,,Was 
wissen  Sie?"  —  ,,Da6  ich  Ihnen  zuwider  bin,  daB  Sie  mich 
hassen",  sagt  er,  ,,nicht  wahr,  so  ist  es  doch?!"  —  ,Jch 
gebe  keine  Antwort .  .  ." 


Es  war  Herbst;  Ila  rief  aus  Rom  an,  —  ,,vielleicht  treten 
wir  schon  Mitte  nachster  Woche  die  Riickreise  an,  Anfang 
der  darauffolgenden  Woche  sind  wir  aber  ganz  bestimmt 
wieder  in  Budapest.  Was  gibts  Neues?"  —  das  hatte  sie 
seit  Wochen  nicht  gefragt.  ,,Nichts  .  .  ."  —  ,,Die  geschaft- 
lichen  Angelegenheiten?"  —  ,,Nichts  Besonderes,  ich 
glaube  kaum,  daB  etwas  daraus  wird."  —  ,,So.  Was  machen 
Kelemens?  Joly?"  —  ,,Nichts  Besonderes  .  .  .  hie  und  da 
bin  ich  mit  ihnen  zusammen."  In  den  letzten  Wochen  war 
schon  alles  verworren.  Er  hatte  kein  einziges  sicheres 
Gefiihl  mehr:  von  Minute  zu  Minute,  von  Gcdanken  zu 
Gedanken  wechselten  seine  Affekte.  Wiirgende  Wut  raste 
und  wilder  HaB  flammte  in  ihm,  und  dann  kammte  die 
bettelndc  Demiitigung  alles  glatt.  Er  lachte  sich  selbst  aus. 
Er  bcmitleidete  sich.  Er  war  am  SuBersten  Ende  der  Dinge 

463 


angekommen.  Er  war  ein  Hanswurst.  Das  ist .  .  .  der  Preis 
fur  die  Ruhe  von  funfzehn  Jahren,  fur  das  l)ber-den-Dingen- 
Stehen  von  anderthalb  Jahrzehnten.  An  einem  klaren,  lauen 
Sonntagvormittag  Ende  Oktober  fuhren  sie  auf  den  Gellert- 
berg;  auch  Kelemen  war  dabei.  Kadars  Hand  zitterte  am 
Steuerrad,  an  einer  Kurve  iiberfuhr  er  fast  ein  Arm  in  Arm 
schreitendes  Paar.  Sie  standcn  oben  ans  Eisengitter  gelehnt 
und  blickten  auf  die  Stadt.  Der  Himmel  war  herbstlich  hell- 
blau  im  Sonnenlicht.  Miide,  tiefe  Traurigkeit  ergrifF  ihn. 
,,Wir  fahren  bald  nach  Hause",  sagte  er  plotzlich.  Kelemen 
sieht  ihn  an  und  sieht  Joly  an.  Joly  laBt  zerstreut  das 
groBe  Fernglas  von  den  Augen  sinken.  ,,Was  ist  das  da 
hinten,  das  Gebaude  mit  dem  griinen  Dach",  zeigt  sie  hin- 
unter,  ,,dort  hinten  rechts  .  .  .  ich  kanns  nicht  erkennen." 
Ein  Weilchen  bleiben  sie  noch,  dann  gehen  sie  aufs  Auto 
zu.  Kelemen  geht  vor  und  bleibt  als  erster  neben  dem 
Wagen  stehen.  Joly  ist  ein  paar  Schritte  vor  Kadar.  Braune 
Schuhe  mit  flachen  Absatzen  hat  sie  an,  Sportschuhe.  Als 
sie  den  Wagen  erreicht,  offnet  Kelemen  die  Tiir,  und  es 
sieht  aus,  als  sagte  er  ctwas,  ein  wenig  zu  Joly  gebeugt; 
sein  Mund  bewegt  sich,  aber  die  Stimme  hort  man  nicht. 
,,Was?"  sagt  Joly  laut  und  scharf,  ,,was  hast  du  gesagt?" 
Kelemen  dreht  sich  um,  —  inzwischen  ist  Kadar  auch  am 
Auto  angekommen,  —  ,,ich  hab  gefragt,  wo  du  sitzen 
willst",  sagt  er,  wartet  aber  keine  Antwort  ab  und  setzt  sich 
hinten  auf  den  Hauptsitz.  ,,Es  ist  ziemlich  kiihl",  sagt  Joly, 
,,ich  hatte  einen  Mantel  mitnehmen  sollen."  Kelemen 
schweigt,  nur  als  sie  aussteigen,  sagt  cr  zweimal  laut  und 
eifrig:  ,,auf  Wiedersehen."  —  Am  folgendcn  Tag  ruft  Joly 
an.  Sie  habe  einen  freien  Nachmittag,  ob  cr  mit  ihr  ins 
Kino  gehen  wolle?  ,,Gut",  sagt  er  langsam  in  den  Apparat, 
,,das  konnen  wir  tun.*'  —  ,,Das  konnen  wir  tun?  .  .  .  dann 
nicht,  wenn  wirs  bloB  tun  konnen."  Selbstverstandlich 
gingen  sic  doch.  Im  Kino  fragt  Joly:  ,,nun,  wann  rciscn 
Sic?"  —  ,,Ich  weiB  noch  nicht  gcnau."  —  ,,Und  —  mussen 
Sie?"  —  ,, Miissen?  .  .  .  wir  sind  schlieBlich  schon  langc 

464 


genug  unterwcgs  ..."  —  ,,Und  wenn  ich  nun  Sagert 
wiirde  ..."  —  sie  bricht  ab.  ,,Wenn  Sic  was  sagen  wiirden?" 
fragt  er  gepreBt.  ,,Nichts."  Sie  schweigen;  die  Bilder  laufen 
vor  seinen  Augen,  seinem  Ohr  bieten  sich  Tone  an,  —  er 
sieht  nichts  und  hort  nichts.  Spatcr,  bereits  auf  der  StraBe, 
sagt  Joly,  den  Blick  auf  die  andere  Seite  gewendet,  als 
beobachte  sie  driiben  etwas  Interessantes :  ,,wenn  Sie  noch 
nicht  abreisen  miissen  .  .  .  wenn  Sie  nicht  unbedingt  miis- 
sen  —  — "  Seit  Tagen  versucht  er  schon,  die  Mauer 
zwischen  sich  und  Joly  aufzubauen,  —  und  dann  kommt 
ein  solcher  halber  Satz,  und  im  Kino,  als  er  Jolys  Hand 
beriihrte,  zog  sie  die  Hand  nicht  weg,  lieB  sie  ruhig  in  der 
seinen,  —  und  schon  liegt  die  Mauer  wieder  in  Triimmern, 
und  seine  Nacht  ist  wild  erregt.  Was  ist?  denkt  er  dann 
mit  scharfer  Spannung  im  Kopf,  was  ist?  was  will  sie?  fiihlt 
sie,  daB  ich  mich  wehre?  fiihlt  sie,  daB  ich  mich  von  ihr 
losmachen  will?  —  was  ist?  denkt  er  unsicher,  will  sie 
etwas?  oder  halt  sie  mich  nur  zum  besten?  will  sie  mich 
an  der  Nase  herumfuhren?  war  es  noch  nicht  genug? 

Das  war  an  jenem  Samstag,  nachmittags,  als  Ila  zum 
letzten  Male  aus  Rom  telefonierte.  Wenige  Minuten  nach 
dem  Gesprach  meldete  sich  Kelemen  mit  der  iiblichen 
Frage:  ,,was  gibts  Neues?  wie  gehts?"  —  ,,Danke,  ich  hab 
ein  bifichen  Kopfschmerzen.  Im  ubrigen  habe  ich  soeben 
mit  meincr  Frau  gesprochen,  Anfang  nachster  Woche 
kommt  sie  zuriick,  wahrscheinlich  fahren  wir  also  nun  bald 
ab."  Dann  legt  er  sich  wieder  auf  den  Diwan.  Der  Kopf  tut 
mir  weh.  Lange  habe  ich  keine  Kopfschmerzen  gehabt. 
Kopfschmerzen  sind  mir  verhaBt.  Eine  sinnlose,  erniedri- 

gende  Wciberangelegenhcit heute  habe  ich  nichts  vor, 

ich  bleibe  zu  Hausc.  Ila  kommt  bald.  Zwei  und  cinen  halben 
Monat  habe  ich  sie  nicht  gesehen.  —  Er  liegt,  starrt  in  die 
Luft  und  bemtiht  sich,  an  nichts  zu  denken.  Das  ist  mir 

griindlich  danebcn  gelungen Allmahlich  wird  es 

dunkcl.  Ob  wir  wohl  noch  hierblciben?  Sie  wird  fragen, 
na,  wie  stchts  mit  den  Geschaften?  Einmal  muB  sie  das  doch 

30  Kiirmpndl.  Hii  lapeat  46} 


fragen.  Es  ware  schrecklich,  wenn  sie  nicht  fragte.  Wcnn 
es  sic  nicht  interessierte.  Wenn  sie  wiiBte  ...  —  ich  werde 
ihr  etwas  vorliigen.  WeiB  sie,  daB  ich  sowieso  liigen  wiirde 
und  fragt  sie  darum  nicht?  Ob  wir  wohl  abreisen?  und  wenn 

ich  noch  hierbleiben  miiBte Jetzt  ist  es  schon  ganz 

dunkeL  Heute  habe  ich  nichts  vor.  Ich  werde  friih  schlafen 
gehen.  Vielleicht  gehe  ich  in  ein  Kino.  Ich  langweile  mich, 
ich  muB  etwas  unternehmen.  Die  Tiir  ofFnet  sich,  und  in 
dem  hellen,  umrahmten  Fleck  erkennt  er  gleich  die  ein- 
tretende  Gestalt:  Joly.  ,,Ich  hab  zweimal  geklopft",  sagt 
sie,  ,,aber  Sie  haben  nicht  geantwortet,  ich  dachte  mir,  ich 
guck  doch  mal  rein  .  .  .  machen  Sie  doch  bitte  Licht."  Er 
springt  auf,  knipst  das  Licht  an.  Joly  schlieBt  die  Tiire  und 
tritt  einen  Schritt  naher.  Sie  hat  den  dunkelblauen  Gummi- 
mantel  und  die  dunkelblaue  Kappe  an.  Ihr  Gesicht  ist  ganz 
weiB  im  Schein  der  Lampe.  ,,Ich  setz  mich  ein  biBchen  zu 
Ihnen",  sagt  sie,  ,,gut?  Nach  Tisch  habe  ich  mit  Bandi 
gesprochen,  er  war  einen  Moment  oben  bei  uns.  Ich  hore, 
Ila  kommt  zuriick."  —  ,,Jawohl",  antwortet  er.  Joly 
schweigt;  Stille.  Was  soil  das?  riihrt  sich  zitternd  in  ihm  die 
Frage,  was  will  sie?  warum  ist  sie  gekommen?  was  will  sie? 
warum  muBte  sie  jetzt  kommen?  sie  weiB,  daB  ich  allein 
bin,  was  will  sie?  noch  nie  war  sie  allein  hier.  Ich  will  doch 
abreisen,  —  warum  ist  sie  gekommen?  Joly  blickt  vor  sich 
hin,  dann  hebt  sich  das  weiBe  Gesicht,  und  zogernd,  eigen- 
tiimlich  irrlichternd  gcht  der  griinlich-blaue  Strahl  im  Zim- 
mer  hin  und  her.  Ich  miiBte  sie  fragen,  wie  es  ihr  geht,  was 
es  Neues  gibt,  was  ihre  Mutter  macht,  was  drauBen  fur 
Wetter  ist  ...  irgend  etwas  muB  ich  sie  fragen  —  dicse 
Stille  ist  nicht  zu  —  da  bcbt  kaum  merklich  Jolys  Mund. 
,,Werden  Sie  nun  abreisen?"  fragt  sie  mit  kurzem  Atem. 
,,Ja,  wir  reisen  — "  Joly  schweigt  und  glattet  ihren  Hand- 
schuhauf  demKnie.  ,,Und . . .  wenn  ich  sagen  wiirde:  reisen 
Sic  nicht!  .  .  .?"  — ,,Warum  sollte  ich  noch  blcibcn?"  fragt 
er  duster.  Da  steht  Joly  plotzlich  auf.  LeichenblaB  ist  ihr 
Gesicht  unter  der  roten  Locke,  die  am  Rand  der  Kappe 

466 


heraushangt.  Sic  hebt  den  Kopf  eln  wenig,  sieht  dann  au£ 
die  Erde  und  spricht  mit  ganz  leiser  Stimme.  ,,Ich  bin  noch 
nie  allein  zu  Ihnen  gekommen",  sagt  sie  langsam,  ,,komisch, 
nicht  wahr,  daB  ich  jetzt  hier  bin,  da  ich  doch  weiB,  Sie 
wollen  in  ein  paar  Tagen  wegfahren.  Ich  werde  nicht  Ihre 
Geliebte  .  .  .  einem  andern  hatte  ich  mich  vielleicht  hin- 
gegeben,  Ihnen  niemals.  Und  weifit  du  warum?  weil  ich 
dich  liebe.  Ich  bin  schon,  und  ich  bin  Jung  und  liebe  dich. 
Ich  habe  dich  gequalt . . .  oh,  ich  weiB,  wie  du  mich  liebst, 
wenn  du  es  mir  nie  gesagt  hattest,  wuBte  ich  es  auch.  Aber 
deine  Geliebte  werde  ich  nicht .  .  .  niemals  hast  du  das  eine 
Wort  ausgesprochen,  auf  das  ich  gewartet  habe.  Ich  bin 
keine  gute  Geliebte,  ich  bin  keine  Frau  groBen  Stils,  ich 
will  nicht  dauernd  zittern  vor  Angst  .  .  .  ich  brauche  dein 
Geld  nicht,  und  ich  gehe  nicht  mit  dir.  Aber  du  sollst  hier- 
bleiben,  fur  mich.  LaB  sie  nach  Hause  fahren.  Schreib  ihr  .  .  . 
telefonier  ihr,  sie  solle  nicht  hierher  zuriickkommen  .  .  . 
arme  liebe  alte  I  la.  Sie  tut  mir  leid,  aber  ich  lasse  dich  ihr 
nicht,  trenn  dich  von  ihr  ...  ich  will  nicht  mit  ihr  teilen, 

mit  keiner ich  will  dich  allein  haben.  Gehort  das  viele 

Geld  ihr?  dann  soil  sie  es  behalten,  ich  brauchs  nicht  .  .  . 
ich  wuBte  wahrend  der  ganze  Zeit  nicht,  was  ich  machen 
soil  ...  ich  hab  dich  gequalt,  glaubst  du  etwa,  es  war  mir 
leicht,  zu  sehen,  wie  du  mich  liebst  und  wie  du  leidest  .  .  . 
bloB  das  eine  Wort,  das  wolltest  du  nicht  aussprechen, 
oder  hast  du  es  nicht  gewagt?  ich  dachte,  ich  lasse  dich 
ruhig  abreisen,  du  warst  da  und  bist  eben  wieder  ver- 
schwunden  .  .  .  du  hast  mich  fur  leichtfertig  gehalten  — 
ich  bin  nicht  leichtfertig.  Und  nun  habe  ich  gehort,  daB 
sie  zuruckkommt,  und  da  wuBte  ich  gleich,  was  ich  zu  tun 
habe  .  .  .  und  jetzt  bleibe  ich  hier,  wenn  du  willst,  oder  .  .  . 

komm  du  lieber  mit  mir,  es  ist  besser  so laB  ihr  das 

alles  da  .  .  ."  Sie  schweigt,  denBlick  auf  die  Erde  geheftet, 
steht  sie  rcglos  da.  —  Eisig  kalt  stockt  ihm  der  Atem. 
Stille.  Schauspielerin,  hort  cr  in  seinem  Innern  eine 
kichernde,  verzerrte  Stimme.  Jetzt  weiB  ich  wenigstens, 

w  467 


was  sie  will.  Komodiantin,  kleincs  Biest,  macht  Theater. 
Mein  Geld  will  sie  ...  nicht  viel  oder  mehr,  alles.  Sie 
teilt  mit  keiner.  Sie  wird  nicht  meine  Geliebte.  Ich  lasse 

mich  scheiden  und  heirate  sie Stille.  Und  in  dieser 

aufregenden  Spannung  der  undurchdringlichen  Stille  klingt 
plotzlich  ein  dummes,  triviales  Wort  in  seinen  Kopf :  ent- 
scheidender  Augenblick.  Und  sofort  fiihlt  er  die  Gleich- 
giiltigkeit,  mit  der  er  den  unabanderlichen  Verlauf  seines 
Lebens  immer  betrachtet  hatte,  auch  sich  selbst  gegeniiber 
fremd,  gleichsam  ein  Zuschauer;  die  Gleichgiiltigkeit  iiber 
all  seinem  Wollen,  Hoffen  und  EntschlieBen ;  die  Gleich- 
giiltigkeit,  die  er  nur  zweimal  seinem  aufblitzendcn, 
erkennenden  Willen  unterjochen  konnte:  und  da  sieht  er 
sich  an  der  Demarkationslinie  den  rumanischen  Offizieren 
gegeniiber,  wie  seine  zerfetzte  Seelc  in  dem  kleinen  eng- 
lischen  Offizier  den  Gefahrten  erkennt  und  ihm  zufliegt  in 
dem  Wort:  Kamerad!  —  und  dann  sieht  er  sich  als  den 
Abenteurer  in  London,  in  Mrs.  Myers*  kleinem  Salon,  wie 
er  mit  der  iiberlegenen,  eleganten  Geste  das  almosendar- 
bietende  Wort  der  zweifelnden  Frau  und  der  schon  halb 
betorten  Seele  abwehrt  und  mit  TodesgewiBheit  auch  dies- 
mal  dem  erkannten  Gefahrten  das  Wort  hinwirft,  das  sein 
Zicl  nicht  verfehlen  kann:  wenn  Sie  mich  rufen,  gehe  ich 
mit  Ihnen,  wohin  Sie  wollen,  ans  Ende  der  Welt!  —  Ent- 
scheidender  Augenblick?  Bisher  gab  es  in  seinem  Leben 
zwei  entscheidende  Augenblicke.  Und  jetzt?  entscheidender 
Augenblick?  erkannter  Gefahrte?  nur  Mut,  nur  frei  und 
offen  die  Hand  ausstrecken?  zum  drittenmal?  noch  cinmal? 
vielleicht  zum  letztenmal  in  seinem  Lebcn?  .  .  .  Stille.  In 
Jolys  Gesicht,  in  ihren  erwartungsvollcn  Augen  lost  sich 
plotzlich  die  Spannung;  statt  ihrer  ist  nun  etwas  von  leiser 
groBer  Miidigkeit  da.  ,,Du  weiBt  jctzt  Bescheid",  sagt  sic 
plotzlich,  ,,ich  habe  dir  alles  gesagt  und  .  .  .  gib  mir  jetzt 

keine  Antwort,  jetzt  gehe  ich und  warte  auf  dich  — " 

und  im  nachstcn  Augenblick  ist  er  allein  im  Zimmer. 


468 


Wcnigc  Tage  darauf  warcn  Ila  und  Edith  wieder  in 
Budapest.  Mit  Simmons  2usammen  stand  er  morgens  auf 
dem  Bahnhof ;  Ik  und  Edith  stiegen  frisch,  ausgeschkfen 
und  heiter  aus  dem  Mailander  Schkfwagen.  An  Edith  war 
keine  Spur  des  Knochelbruchs  mehr  zu  entdecken.  Has 
braunglanzendes  Gesicht  schien  runder  geworden,  —  sie 
umarmen  sich,  sie  kiissen  sich.  ,,Du  siehst  bkB  aus, 
Anti",  sagt  Ila,  ,,hast  du  viel  gearbeitet?  oder  viel  gebum- 
melt?"  —  und  dabei  kcht  sie.  O  ja,  blaB  ist  er.  Sechs  Tage. 
Seit  sechs  Tagen  hat  er  Joly  nicht  gesehen.  Joly  hat  sich 
nicht  gemeldet.  Sie  wartete  auf  ihn.  Sie  war  sicher,  er  wiirde 

sie  holen  kommen Schauspielerin.  Kleine  rote 

Komodiantin.  Sie  hat  ihre  Rolle  aufgesagt,  —  gut  hat  sie 
sic  aufgesagt.  Und  der  Wirkung  war  sie  sicher;  sie  hat  sich 
nicht  gemeldet.  Sie  wollte  die  Sache  reifen  kssen.  Ihn  sich 

qualen  kssen.  Bis  er  ihr  zu  FiiBen  sinken  wiirde Ich 

soil  mich  scheiden  kssen  und  sie  heiraten  ...  sie  liebt  mich, 
sie  betet  mich  an,  —  aber  meine  Geliebte  wird  sie  nicht, 
eines  andern  ja,  wie  sie  es  vielleicht  schon  war,  —  kleine 
rote  . . .  teures,  goldiges,  schones,  kleines  rotes  Liebchen  . . . 

mcine  Braut jetzt  gehe  ich  und  warte  auf  dich  — 

jawohl,  du  wartest  auf  mich,  mit  meinem  Geld,  wartest 
auf  den  reichen  Brautigam,  den  du  fur  dich  allein  haben 
willst,  —  ich  ksse  mich  scheiden  und  schicke  sie  weg  .  .  . 
schicke  die  arme  liebe  alte  Ik  mit  ihrem  vielen,  vielen  Geld 

nach  Hause und  heirate  dich,  wir  brauchen  nicht 

cinmal  zu  warten,  bis  sie  zuruckkommt,  wir  telegrafieren 
ihr,  bleib  nur,  du  brauchst  nicht  mehr  nach  Hause  zu  kom- 
men, herziichen  GruB,  Antal  Kadir  und  Braut  .  .  .  nach  so 
mancher  Treulosigkeit  noch  eine,  eine  letzte  .  .  o  kleine 
rote  Joly  .  .  .  Schauspielerin,  —  gkubst  du  vielleicht,  ich 
hore  deine  Stimme  nicht,  ich  kenne  nicht  alle  deine  Gedan- 
ken,  sehe  nicht  dein  ganzes  Leben?  ich  verstehe  nicht  alle 
deine  Bewegungen,  wie  du  deinen  Arm  zuriickgezogen 

hast ja,  nun  weiB  ich  alles,  —  du  teilst  mit  keiner  . . . 

mcin  Geld  teilst  du  mit  keiner?  oder  brauchst  du  nichts? 

460 


alles  sollen  wir  ihr  geben?  sic  soil  sich  das  Ganze  mit- 
nehmen,  —  nur  mich  willst  du?  —  deinetwegen,  kleincs 
rotes  Joly-Liebchen,  soil  ich  sic  vcrlassen  ...  die  arme  liebe 
alte  Ila?  verlassen  soil  ich  sie?  .  .  .  weil  ich  von  euch  Roten 
niemals  loskommen  werde,  von  Tilly  und  dir  .  .  .  du  kleine 

junge  Joly Jung  bist  du,  und  schon  bist  du,  ich 

weiB  .  .  .  auch  sie  weiB  das,  sie  hat  es  sogar  gesagt,  die 

arme  liebe  alte  Ila ich  soil  sie  verlassen?  und  zu  dir 

kommen  mit  all  meinem  Geld?  du  bist  keine  Frau  groBen 
Sdls  . . .  was?  keine  Geliebte  oder  keine  Gattin  groBen  Stils? 
aber  ich  werde  schon  eine  Frau  groBen  Stils  aus  dir  machen, 
was?  Frau  Kadar, die Millionarin  . . .  ein biBchen  Geld  kann 
ich  ihr  ja  geben,  oder  viel?  und  lasse  sie  abziehen  mit  dem 
vielen  kalten  Geld?  lasse  sie  ziehen,  hinunter  in  den  Sonnen- 

schein  .  .  .  und  wir  gehen  anderswohin wir  sind  beide 

vergiftet ...  ich  durch  dich  und  du  durch  mein  Geld 

und  von  nun  an  denke  ich  nicht  mehr  ...  an  nichts  und  an 

niemanden,  nur  an  dich,  kleine  rote  Joly deinetwegen 

verbrenne  ich  alle  Briicken  hinter  mir  .  .  .  nichts  existiert 
mehr,  nichts  hat  je  existiert,  weder  SchulterschuB  noch 
Agota  noch  Wien  noch  Paul  noch  London  noch  Familic 
Csordas  noch  das  Berkeley- Hotel  noch  Helena -Village  noch 

die  arme  liebe  alte  Ila Aber  das  war  nur  eine  einzige 

Nacht;  und  dann  waren  noch  fiinf  Nachte  und  sechs  Tage 
ohne  Joly,  nur  mit  sich  allein,  bis  Ila  ankam :  sechs  Tage  in 
hochster  Siinde  und  ticfster  BuBe,  sechs  triibe,  regnerische 
Herbsttage  und  sechs  endlos  lange  Nachte.  —  ,,Heute  habe 
ich  leider  keine  Zeit",  sagte  er  zu  Kelemen,  als  er  sich  am 
Telefon  meldete.  ,,Ich  danke  dir  sehr  fur  deine  Miihe,  aber 
leider  kann  ich  die  Sadie  doch  nicht  machen,**  —  so  schickte 
er  Szende  weg.  Suhajda  warf  er  ganz  einfach  hinaus.  Amman 
begegnete  er  auf  der  StraBe,  gruBte  und  beschleunigte  seine 
Schritte.  Als  er  Simon  von  weitem  crblickte,  ging  er  auf  die 
andere  Seite.  Einmal  ertapptc  er  sich  darauf,  daB  er  vor  dem 
Haus  in  der  Pozsonyer  StraBe  stand.  Er  sah  hinauf,  blieb  ein 
Weilchen  vor  dem  Haustor  stehen  und  ging  zuriick  ins  Hotel. 

47O 


,,Es  war  herrlich  sch6n",  sagte  Ha,  als  sic  im  Hotel- 
zimmer  angekommcn  waren.  ,,Du  kannst  dir  das  nicht  vor- 
stellen,  spater  erzahle  ich  dir  allcs  ausfuhrlich,  aber  mit  dir 
bin  ich  gar  nicht  zufrieden,  AntL  Du  siehst  so  schlecht  aus. 
Also  .  .  .  was  gibts  Neues?  was  war  in  Budapest  los,  wah- 
rend  ich ..."  —  ,,Nichts",  antwortet  er,  nimmt  eine  Ziga- 
rettc  und  steckt  sie  an,  —  ,,am  Achtundzwanzigsten  mor- 
gens  fahrt  das  Schiff  von  Cherbourg  ab,  zufallig  gerade  die 
Falconia,  am  Vierundzwanzigsten  reisen  wir  mit  dem 
Abendzug  ab."  Er  steht  auf,  nimmt  aus  der  Schreibtisch- 
schublade  zwei  rosa  Umschlage  und  legt  sie  auf  den  runden 
Tisch.  Einen  Augenblick  ist  es  still.  ,,So",  sagt  Ha  langsam 
und  nimmt  die  Fahrkartenhefte  in  die  Hand.  ,,Kaum  bin 
ich  angekommen,  da  fahren  wir  auch  schon  ab.  Ich  habe 
inzwischen  so  vieles  gesehen.  Du  nicht.  Schade.  Also  .  .  . 
genug  von  Budapest."  Kleine  Pause.  ,,Also  .  .  .  die  Sache 
mit  Joly  ist  aus?"  Jetzt  hat  er  plotzlich  ein  trauriges,  ver- 
wirrtcs,  komisches  Kleinkindergesicht.  ,,Ja,  aus  .  .  ."  laBt 
er  halb  unbewuBt  das  Wort  fallen;  wieder  ist  es  einen 
Augenblick  still,  —  dann  sagt  er  ganz  leise,  mit  naivem, 
fliichtendem,  schutzsuchendem  Ton:  ,,du  hast  das  ge- 
wuBt?  .  .  ."  Ila  blickt  nach  oben,  blast  den  Rauch  in  die 
Luft.  ,,Anti ...  so  eine  dumme  Frage.  Ich  wuBte  und  weiB 
immer  alles.  Ich  wollte  es  dir  nur  nie  sagen  .  .  .  aber  jetzt 
sage  ich  es  doch.  Ich  kenne  dich.  Dein  Gesicht,  deine  Augen, 
deine  Stimme,  deine  Gedanken.  Jetzt  fangt  etwas  an  ... 
das  wuBte  ich  immer  ganz  genau.  Und  auch,  was  dann 
geschah,  wuBte  ich  immer.  Anti ...  ich  werde  bald  sieben- 
unddreiBig  Jahre  .  . .  und  wir  .  .  .  lieben  uns.  Darum  wuBte 
ich  immer  alles  von  dir,  darum  muBte  ich  alles  wissen, 
um  . .  .  auf  dich  achtzugeben.  Ich  habe  dich  nie  gefragt,  was 
friiher  in  deinem  Leben  gewesen  ist,  das  ist  unwichtig,  es 
gehort  der  Vergangenheit  an,  nur  das,  was  ist,  muBte  ich 
wissen.  Verstehst  du?  Alles  habe  ich  gewuBt,  das  mit  Frau 
Growham  und  mit  der  Schwedin  in  Transvaal  und  mit 
Jane  Astfield,  Man  lebt  doch  zusammen,  ist  immer 

471 


zusammen  .  .  .  manchmal  habe  ich  dich  allein  gelasscn, 
erinnerst  du  dich?  wcnn  ich  fuhlte,  jetzt  hast  du  von  mir 
fur  cin  Wcilchen  genug.  Auch  jetzt,  als  ich  fortfuhr.  Hatte 
ich  gcfiihlt,  es  konnte  eine  Gefahr  daraus  entstehen,  dann 
hatte  ich  dich  nicht  allein  gelassen,  sondern  ware  bei  dir  ge- 
blieben.  Aber  dicse  kleine  rote  Joly  konnte  keine  Gefahr  be- 
deuten,  keine  Katastrophe,  die  konnte  nur  eine  Versuchung 

sein,  ein  Abenteuer,  —  aber  das  Heim heute  bist  du 

noch  bei  mir  zu  Hause,  heute  ist  es  noch  nicht  gefahrlich  . . . 
viclleicht  spater  cinmal,  in  zehn  Jahren  vielleicht,  wenn  ich 
siebenundvierzig  bin  und  du  kaum  dreiundvierzig,  wenn  wir 
so  langc  kben  .  .  .  aber  vielleicht  wird  es  auch  dann  nicht 
gefahrlich,  vielleicht  nie.  Ich  weiB,  manchmal  muBt  du  ein 
bifichen  von  mir  weggehcn,  aber  ich  wciB  auch,  du  kommst 
zuriick.  Du  konntest  ja  auch  ganz  wcggehen,  du  bist  reich 
und  bist  unabhangig  .  .  .  viclleicht  wirst  du  mich  auch 
einmal  vcrlassen,  dagegen  konnte  ich  nichts  tun.  Aber  du 
gehst  nicht,  heute  noch  nicht,  und  es  kann  sein,  daft  du 
mich  nie  verlassen  wirst  .  .  .  siehst  du,  ich  sage  dir  das  so 
ganz  offen,  ich  habe  keine  Angst,  mich  dir  auszuliefern  .  .  . 
well  du  ja  bei  mir  zu  Hause  bist  .  .  ."  —  Stille.  Nur  sein 
tiefcs,  schweres  Atmen  ist  horbar.  —  ,,Schlecht  siehst  du 
aus,  Ami.  Hast  du  dich  gequalt?  hat  es  sich  gelohnt? 
Ein  zcrbrochener,  abgehackter  Ton  stohnt  aus  seinem 
Munde:  ,,Ila  —  ich  schwor  dir  —  — "  ,,Sag  nichts!" 
unterbricht  sie  ihn,  ,,genug,  wir  wollen  nicht  mehr  dariiber 
reden . . .  genug.  Das  ist  ja  alles  nicht  wichtig.  Und  dann  . . . 
auch  deshalb  wollen  wir  licber  nicht  mehr  dariiber  sprechcn, 
damit  du  nicht  vielleicht  noch  liigst.  Verschweigen  darf 
man,  muB  man  sogar  manchmal,  man  braucht  nicht  alles 
zu  sagen,  aber  liigen  ist  haBlich.  Einmal  hast  du  schon 
angefangcn  zu  liigen  .  .  .  mit  den  gcschaftlichen  Dingen 
hier.  Du  hast  es  ja  sehr  bald  aufgegeben,  hast  darunter 
gelitten  und  dich  gcschamt,  ich  weiB,  und  ich  war  dir  so 
dankbar  dafiir  und  habe  dich  sehr  lieb  gehabt.  Und  jetzt 
wollen  wir  die  Sachc  lassen.  Was  auch  gewesen  sein  mag, 

47* 


es  war  nicht  wichtig,  war  nicht  ernst,  und  jetzt  ist  es  zu 

Ende,  vorbei "  ihre  liebe,  bekannte,  starke  Hand 

ergreift  seine  Hand,  ihre  schone,  reine  Stirn  beriihrt  seine 
Stirn,  ihr  treuer,  schoner  Mund  sucht  scinen  Mund,  —  ncin, 
das  ist  kein  stiller  Feind,  der  nachsichtig  in  resignierter 
Giite  verzeiht  und  innerlich  nie  vergessen  kann  .  .  .  das 
ist  der  Gefahrte,  der  Mensch  an  seiner  Seite,  der  Gefahrte 
seines  Korpers,  der  Gefahrte  seiner  Gedanken,  die  Frau,  die 
stolz  darauf  ist,  auch  Geliebte  zu  sein,  und  sich  nicht 
schamt,  daB  sie  gleichzeitig  Mutter  ist,  der  man  sagen  muB, 
oh,  ich  weiB,  nur  bei  dir  bin  ich  zu  Hause  .  .  .  und  der 
man  auch  sagen  diirfte:  weiBt  du,  daB  etwas  ...  in  mir 
zerbrochen  ist?  ...  sag,  wird  es  wieder  zusammenwachsen? 
hilfst  du  mir?  sag,  wird  es  vergehen?  .  .  . 


Und  dann,  einige  Tage  spater,  kamen  nach  telefonischem 
Ruf  Andor  Kelemen  und  Joly  Kelemen  sie  noch  einmal 
besuchen.  Sie  kamen  nicht  zusammen.  Kelemen  war  blaB, 
ein  wenig  verwirrt  und  wortkarg.  ,,Nimm  es  mir  nicht 
ubel",  hatte  er  am  vorhergehenden  Tag  zum  erstenmal 
offen  gesprochen,  ,,daB  ich  dich  so  einfach  frage  ...  ich 
habe  meine  Stellung  verloren,  und,  aufrichtig  gesagt,  ich 
hatte  mir  eingebildet,  hatte  irgendwie  das  Gefiihl,  im 
Zusammenhang  mit  dir  das  Richtige  zu  finden  —  — 
konnte  ich  nicht  damit  rechnen,  daB  du  mir  behilflich  bist, 
im  Ausland  unterzukommen?  .  .  ."  —  ,,Sei  nicht  bose", 
erwiderte  Kadar  dieses  erste  wahre  Wort  mit  einer  letzten 
Liige,  ,,diese  Frage  kommt  mir  ziemlich  unerwartet,  aber 
um  aufrichtig  zu  sein  und  dich  nicht  in  Hoffnungen  zu 
wiegen:  ich  sehe  da  eigentlich  keine  Moglichkeit .  .  .  worin 
konnte  gerade  ich  dir  ..."  —  Am  nachsten  Tage  blieb 
Kelemen  dann  nur  zehn  Minuten.  ,,Sie  waren  sehr  liebens- 
wiirdig",  sagte  Ila,  ,,wir  werden  gerne  an  Sie  und  an  Buda- 
pest zuruckdenken.  Ganz  bestimmt  haben  wir  noch  nicht 
beschlossen,  an  welchem  Tag  wir  abreisen,  vielleicht  sehen 

473 


wir  uns  bis  dahin  noch  einmal . .  .  sollten  wir  uns  aber  nicht 

mchr  treffen,  also  dann <c  Joly  kam  eine  halbe 

Stunde  spater,  auch  sie  blieb  nicht  lange.  Ik  zog  sich 
zwischendurch  um.  Wenige  Worte.  ,,Ihr  werdet  uns  cine 
liebe  Erinnerung  sein  .  .  ."  Joly  steht  auf  und  zidht  den 
blauen  Regenmantel  wieder  an.  Ihr  Gesicht  ist  krcidebleich. 
Ja,  diese  zu  weiCe,  zu  reine  Haut  untcr  dcm  roten  Haar  .  .  . 
ihr  Mund  ist  nicht  schon.  Auch  Ila  erhebt  sich,  ,,warte 
doch  cincn  Augcnblick,  Joly,  wir  gehen  auch,  ich  will  mich 
nur  noch  zurechtmachen."  Die  beiden  sind  allein,  einen 
Augenblick  stehen  sie  einander  gegeniiber.  Und  dann  ist 
Joly  ihm  auf  einmal  ganz  nahe,  er  fiihlt  ihre  kleine,  hartc 
Brust  dutch  den  diinnen  Mantel,  —  sie  hebt  das  Gesicht: 
,,einen  KuB?"  fliistert  sie  und  sieht  ihm  in  die  Augen,  —  es 
ist  still,  seine  Augen  halten  den  wilden  griinlich-blauen 
Blick  aus,  dann  sagt  er:  ,,nein."  Jolys  Mund  verzieht  sich 
ein  we  nig.  Sie  tritt  zuriick  und  setzt  sich  dann.  Zusammen 
gehen  sie  hinunter  in  die  Halle,  wo  Simmons  sie  erwarten. 
,,Also,  wenn  wir  dich  nicht  mehr  sehen  sollten  — tc  Ila 

umarmt  und  kiiBt  Joly,  ,,leb  wohl,  liebe  kleine  Joly 

ach,  sieh  mal,  es  regnet,  bring  doch  die  Kleine  im  Auto  nach 
Hause,  wir  warten  hier,  bis  du  zuruckkommst  .  .  ."  Lang- 
sam  fahrt  der  Wagen  iiber  die  glitschige,  frischnasse  StraBe. 
,,Sie  haben  mir  keine  Antwort  gegeben",  sagt  Joly  plotz- 
lich,  ,,keine  Antwort  auf  das,  was  ich  Ihnen  neulich  gesagt 
habe.  Ich  habc  auf  Sie  gewartet,  aber  Sie  haben  iiberhaupt 
nichts  von  sich  horen  lassen."  —  ,,Nein",  erwidert  er 
dumpf.  Stille.  ,,Sie  wollen  mich  nicht  haben  .  .  .  als  Gattin", 
beginnt  Joly  wieder.  ,,Nein",  antwortet  er  tonlos.  ,,Auch 
als  Geliebte  nicht  .  .  .  oder  doch?"  —  ,,Nein",  sagt  er 
wieder.  Stille.  Oann  halt  der  Wagen  vor  dem  Haus.  Schon 
seit  Minuten  stehen  sie;  wildes  Herzklopfen  scheint  ihm 
die  Brust  sprengen  zu  wollen  in  schmerzlicher  Glut; 
im  Kopf  gefriert  ihm  fluchtsuchcnd  die  blinde,  starre 
Hartnlckigkeit;  Joly  riihrt  sich  nicht,  sie  schwcigen. 
Pldtzlich  fiihlt  er  ihrc  Hand  auf  seiner  Hand,  ihr  Gesicht 

474 


ist  wieder  ganz  nahc  an  seinem  Gesicht,  ihr  Mund  dicht  an 
seinem  Mund.  ,,Einen  KuB?<c  haucht  sie.  ,,Nein",  sagt  cr 
ruhig.  Da  stcigt  Joly  aus,  auch  er  tritt  aus  dem  Wagen,  und 
sie  stchen  vor  dem  Haustor.  Joly  zieht  den  Handschuh  aus 
und  reicht  ihm  die  Hand  hin,  eisig  kalt  ist  ihre  Hand. 
,,Kiissen  Sie  mir  die  Hand?"  fragt  sie,  und  ihre  schmalen 
Lippen  zucken.  ,,Nein",  antwortet  er  heiser.  Sie  stehen 
einander  gegeniiber.  ,,Sind  Sie  mir  bose?"  fragt  sie,  und  in 
ihren  Augenwinkeln  ist  ein  eigentiimliches,  verschleiertes 
Glanzen.  ,,Nein,"  sagt  er  und  wendet  den  Blick  von  ihr 
ab.  Stille.  ,,Herrgott",  sagt  Joly  ganz  leise,  ,,Herrgott, 
vielleicht  sehe  ich  Sie  zum  letztenmal  im  Leben,  und  Sie 
gehen  jetzt  weg  .  .  .  und  sagen  mir  kein  Wort,  kein  einziges 
Wort ..."  —  ,,Nein."  —  ,,Na  dann  .  .  .  guten  Abend."  — 
,,Guten  Abend." 

Joly  verschwindet  im  Treppenhaus;  er  setzt  sich  wieder 
in  den  Wagen.  Guten  Abend.  Wir  gehen  nach  Hause. 

Cbermorgen  fahren  wir  ab.  Genug,  vorbei nichts  ist 

passiert.  Ein  biBchen  Kraft  .  .  .  und  dann  reden  wir  nicht 
mehr  davon,  von  nichts,  von  ganz  Budapest  nicht.  Heute 
abend  gehen  wir  mit  Simmons  ins  Kino,  und  iibennorgen 

abend bis  dahin  kann  man  schlafen.  Man  braucht  sich 

nicht  umzusehen,  nichts  ist  passiert.  Alles  muB  man  an- 
halten,  dieses  Hammern  im  Kopf  ...  es  ist  gar  nicht  so 
schwcr.  Nur  wollen  muB  man.  BloB  fest  vorzunehmen 
braucht  man  es  sich,  —  dann  wird  das  Rattern  da  innen 
gleich  leiser,  der  Rhythmus  ruhiger  .  .  .  bald  werde  ich 
wieder  groBe,  wohltuende,  vollige  Ruhe  haben.  —  Abends 
waren  sie  im  Kino,  dann  schliefen  sie,  aBen,  plauderten, 
spazierten  zusammen  durch  die  Stadt,  kauften  Kleinig- 
keiten  ein,  einen  Giirtel,  ein  Paar  Handschuhe,  einiges  in  der 
Drogerie,  und  verabschiedeten  sich  von  Simmons;  das 
Auto  fuhr  er  am  letzten  Nachmittag  in  die  Garage  zuriick; 
cr  fuhr  \iber  den  Ring,  und  ein  kleiner  Bengel  sprang  vom 
StraBenrand  fast  vor  den  Wagen,  er  muBte  plotzlich 
brcmsen,  der  Motor  blieb  stehen,  tatsachlich,  der  Anlasser 

475 


funktioniert  schwach,  es  dauerte  cin  Weilchen,  bis  er  den 
Wagen  wieder  in  Gang  bringen  konnte;  zufalligerweise 
gcschah  das  gcrade  jenem  Haus  gcgcniiber,  —  dann  gingen 
sie  vor  Mitternacht  auf  den  Bahnhof,  —  nun  ist  cs  schon 
ganz  sicher,  daB  die  groBe  Ruhe  sehr  bald  kommcn  wird, 
es  wird  schon  stiller 


das  Rattcrn  wird  stiller,  der  Rhythmus  ruhiger,  — 

dann  hort  man  das  leise  scheuernde  Gerausch  der  Bremsen, 
das  diinne  Weinen  der  Schienen,  und  dann  bleiben  die 
Rader  stehen.  Von  auBen  dringen  sofort  einige  gedehnte 
Rufe;  Tone  von  Gesprachen  und  Schritten,  Klirren  von 
Eiscnwerkzeugen ;  fauchend  fahrt  cine  Lokomotive  vorbei ; 
ein  heller  Klingelton  knarrt,  und  wie  cine  Kuhglocke  lautet 
eine  Eisenbahnschelle.  Kadar  schreckt  auf.  Ein  wenig 
schiebt  er  den  Vorhang  hoch,  reibt  den  Schwaden  von  der 
Scheibe  und  sieht  zum  Fenstcr  hinaus.  Das  Gepack  ist 
plombiert  bis  Cherbourg  aufgegeben;  ihre  Passe  hat  der 
Schlarwagenschaffner.  Sparer  hort  manTurenschlagen,  leises 
Sprechen  und  Kramen  auf  dem  Gang.  Es  ist  wieder  still. 
Dann  hort  er  Has  Stimme  aus  dcm  andern  Kupee : 

,,Anti." 

,,Ja,  bitte." 

,,Ich  hore,  du  bewegst  dich.  Wo  sind  wir  cigentlich?" 

,,In  Hegyeshalom." 

,,Ist  das  die  Grenzstation?" 

„>." 

Ein  Weilchen  Stille.  Dann  sagt  Ila  wieder: 

,,Anti " 

,,Was  denn,  Herzchen?" 

,,Ich  habe  noch  gar  nicht  geschlafen 

,,Ich  auch  nicht.  Aber  jetzt  ware  es  wirklich  Zcit " 

,,Na,  ich  wills  versuchen,  wihrend  der  Zug  steht  — " 

476 


Stillc.  Dann  hort  man  Deutsch  sprechen,  pfeifen  und 
wieder  die  ticfe  Glocke  und  die  helle  rasselnde  Klingel.  Der 
Wagen  bewegt  sich.  Langsam  drehen  sich  die  Rader.  Dann 
wird  der  Rhythmus  lebhafter,  das  Rattern  lauter,  —  und 
nun  tont  die  Eisenbahnmusik  wieder  mit  vollem  Orchester 
ratternd,  drohnend,  heulend,  in  freiem  Takt,  mit  kurzem 
Knacken,  langem  Qietschen;  der  Zug  saust  in  wildem 
nachtlichem  Tempo  in  den  Regen,  in  die  Finsternis  hinein, 

von  Budapest  fort auf  Wien  zu,  auf  Cherbourg  zu. 

Auf  die  Falconia  zu.  Afrika  zu.  Nach  Hause.  Dem  Frieden 
entgegen.  Oder  .  .  .  wer  weiB?  Ich  mochte  einschlafen. 


Ftmftcr  TV// 
DIE  NACHT 

Es  war  schon  welt  iiber  Mitternacht;  Kelemen  saB  noch 
immer  im  Bahnhofs restaurant,  starrte  durchs  Fenster  und 
blickte  auf  die  neblige,  nasse  StraBe.  Wohl  seit  einer  halben 
Stunde  rieselte  wieder  langsam  der  ekelhafte  herbstliche 
Regen;  das  Fenster,  neben  dem  sein  Tisch  stand,  wurde 
sofort  beschlagen,  und  iiber  die  mattgewordene  Scheibe 
liefen  lustige,  eilende  Bachlein.  Die  StraBe  sah  er  nur  eben 
in  ihren  Umrissen,  in  stumpfen  Flecken;  mit  den  Finger - 
spitzen  versuchte  er,  die  Schwadenschicht  von  der  Scheibe 
zu  schmieren,  aber  sie  wurde  nur  fur  einen  Augenblick 
klar,  und  auch  dann  sah  er  bloB  ein  verzerrtes  Bild  hinter 
den  Regentropfen.  Uber  dem  Eingang  im  Speisesaal  war 
die  grofie  elektrische  Uhr;  jetzt  sah  er  nach  dem  Zifferblatt, 
beobachtete,  wie  der  groBe  Zeiger  vorruckte,  in  unregel- 
maBigen  Zeitabstanden,  einmal  zwei,  einmal  drei  Minuten 
mit  sich  reiBend.  —  Es  muBte  angefangen  haben  zu  regnen, 
als  der  Zug  abfuhr.  Was  fur  ein  Zufall,  daB  ich  doch  ins 
Hotel  telefoniert  habe,  —  ,,jawohl,  Herr  Cadar  reist  mit 
dem  Schnellzug  um  halb  zwolf  ab,  soeben  haben  wir  das 

groBe  Gepack  expediert", ohne  etwas  zu  sagen,  — 

ohne  ein  Wort  zu  sagen  1  so  1st  er  abgefahren,  als  ob 

nun,  als  ob?  sie  habens  uns  doch  vorgestern  gesagt,  —  wir 

reisen  ab,  und  wenn  wir  uns  nicht  mehr  sehen  sollten 

nun,  wir  haben  uns  nicht  mehr  gesehen,  das  heiBt  ...  sie 
mich  nicht  mehr.  Bereits  cine  Stunde  vor  Abfahrt  des 
Zuges  saB  er  im  Bahnhofsrestaurant,  in  der  Ecke,  aus  der 

479 


man  die  vorfahrenden  Wagen  iiberblicken  konnte.  Nervos 
riickte  er  den  Bierkrug  vor  sich  hin  und  her,  trank  hie  und 
da  einen  Schluck  und  lieB  die  vor  dem  Haupteingang 
haltenden  Autos  nicht  aus  den  weitaufgerissenen  Augen. 
Vorlaufig  kommen  kaum  ein  paar  Wagen.  Langsam  fegt 
der  Zeiger  im  schlafrigen,  nachtlichen  Speisesaal  die 
Minuten  weg.  Nun  fahren  schon  in  kleineren  Abstanden 
Wagen  vor.  Noch  7wanzig  Minuten  bis  zur  Abfahrt,  —  er 
hat  sie  nicht  kommen  sehen.  Sollte  ich  sic  verpaBt  haben? 
vielleicht  sind  sie  schon  langst  drin,  vielleicht  sogar  schon 
eingestiegen.  Brennende  Unruhe  ergreift  ihn.  Sicher  sind 
sie  schon  drin.  Na  und?  dann  sind  sie  eben  drin,  sind  ein- 
gestiegen und  fahren  ab.  Was  will  ich  denn  von  ihnen? 
warum  bin  ich  iiberhaupt  hergekommcn?  Hege  ich  viel- 
leicht die  Hoffnung,  jetzt  wird  sich  auf  einmal  alles  wenden? 
bitte  schon,  lieber  Kelemen,  ich  habe  mir  die  Sache  iiber- 
legt,  komm  mit,  wir  nehmen  dich  mit!?  .  .  .  vielen  Dank, 
lieber  Andor,  innigen  Dank  fur  deine  Bemuhungen  und 
vor  allem  fur  deine  liebenswiirdige  Vermittlung  .  .  .  bei 
deiner  lieben  Schwester  .  .  .  bci  der  schonen  roten  Joly  .  .  . 
und  gestatte  mir,  daB  ich  dir  zum  Zeichen  meines  Dankes 

diesen  Scheck Ein  leichter  Schauer  lief  ihm  durch  den 

Korper,  er  stand  auf  und  winkte  dcm  schlafrigen  Kellner. 
,,Ich  komme  noch  zuriick",  sagte  er  und  zeigte  auf  den  Bier- 
krug, ,,lassen  Sie  das  bitte  stehen  und  seien  Sie  so  freundlich, 
auf  meinen  Mantel  aufzupassen."  Er  trat  hinaus  auf  den  Gang, 
der  nach  der  Vorhalle  fiihrt.  BloB  vereinzclte  Menschen; 
ich  hatte  gar  nicht  gedacht,  da8  abends  so  wenige  Leute 
reisen,  —  oder  gewiB  sind  die  meisten  schon  drin.  Langsam 
und  vorsichtig  geht  er,  seine  Augen  blicken  zitternd  nach 
alien  Seitcn;  vor  der  Tiir  des  Wartesaals  erster  Klasse  bleibt 
er  stehen. ,, Bitte  die  Fahrkarte",  sagt  sofort  der  gclangwcilte 
Kontrolleur;  ,,ich  geh  nicht  rein",  antwortet  cr,  ,,ich  suche 
blofi  jemandcn",  und  iiber  das  miBtrauische  Gesicht  des 
an  der  Tiire  Stehenden  hinweg  schickt  er  einen  kurzen 
Blick  in  den  Wartesaal.  Auf  dem  Sofa  ncben  dem  Ausgang 

480 


sitzt  Frau  Kadar,  neben  ihr  liegt  die  grauc  Reisetasche.  Nach 
VogelstrauBart  wendet  er  sofort  den  Blick  ab  und  kehrt 
mit  langen  Schritten  in  den  Speisesaal  zuriick.  Die  Unruhe 
verfolgt  ihn.  Ungeduldig  klopft  er  ans  Tablett,  bezahlt  das 
Bier,  laBt  sich  in  den  Mantel  helfen  und  geht  auf  den  Aus- 
gang  zu.  Allein  sitzt  sie  da  im  Wartesaal  .  .  .  sollte  Kadar 
noch  nicht  hier  sein?  ausgeschlossen,  in  zehn  Minuten  fahrt 
der  Zug  ab.  Oder  ist  er  vielleicht  schon  auf  dem  Perron?  . . . 
oder  reist  er  gar  nicht?  .  .  .  Aus  der  Tiir  des  Speisesaals 
spaht  er  nach  dem  Bahnsteig,  —  von  hier  aus  sieht  man 
nichts.  Der  Zug  steht  auf  dem  ersten  Geleise,  —  vorsichtig 
geht  er  am  Zug  entlang.  Kurz  ist  der  Zug,  hochstens  sechs 
bis  acht  Wagen,  man  sieht,  wie  nahe  die  Lokomotive  ist. 
Nur  erster  und  zweiter  Klasse  und  lauter  direkte  Wagen. 
Wien,  Innsbruck,  Genf,  Basel,  Hoek  van  Holland,  Paris, 

aufregende  Namen,  Stadtenamen Und  dann,  aus  der 

Entfernung  von  etwa  zwei  Waggons,  sieht  er  Kadar  vor  dem 
Pariser  Schlafwagen.  Seine  Frau  ist  jetzt  auch  schon  neben 
ihm.  Die  Miitze  in  der  Hand,  steht  der  Schaffner  vor  Kadar. 
Gern  mochte  er  horen,  was  sie  sprechen.  Dampf  pfeift,  eine 
Lokomotive  zischt,  Eisenschlage  tonen,  —  er  sieht  nur,  wie 
Kadar  dem  Schaffner  Geld  gibt  und  wie  der  Schaffner  sich 
tief  verneigt.  Dann  schwingt  sich  Frau  Kadar  mit  leichten 
Schritten  auf  die  Waggonstufen,  und  auch  Kadar  steigt  ein. 
Da  tritt  Kelemen  behutsam  vom  Zug  weg  und  stellt  sich 
an  die  Wand.  Der  Gang  des  Schlafwagens  liegt  nach  dem 
Perron  zu  und  ist  beleuchtet.  Er  sieht  den  Schaffner 
vorgehen,  eine  Kupeetiir  offnen  und  dann  daneben  noch 
eine.  Man  kann  in  die  blauen  Samtabteile  hineinsehen.  Die 
Frau  verschwindet  in  dem  einen  Kupee;  Kadar  steht  im 
Gang,  mit  dem  Riicken  nach  dem  Bahnsteig,  er  steckt  sich 
eine  Zigarette  an,  man  sieht  den  Rauch  um  seinen  Kopf.  — 
Hinter  Kelemens  Riicken  wird  eine  Tiir  geoffnet,  —  ,,Ver- 
zeihung",  sagt  der  heraustretende  Bahnbeamte  und  stoBt 
ihn  im  Vorbeigehen  ein  wenig  an,  Der  Beamtc  hat  ein 
Aktenbiindel  unterm  Arm  und  geht  eilenden  Schrittes  auf 

31  Kttrmcndi,  Budapest  481 


den  Zug  zu;  Kadar  dreht  sich  um  and  laBt  das  Fenster 
herunter.  Jetzt  kann  er  die  Frau  sehen,  sie  1st  auch  auf  den 
Gang  gekommen,  cine  Zigarette  im  Mund.  In  Kadars  Hand 
flammt  das  Feuerzeug  auf,  sie  blast  den  Rauch  durch  die 
Fensterspalte.  Plotzlich  ertont  hinter  Kelemens  Riicken  der 

Telegrafenapparat,  tata-ta-ta-tata-ta-tata und  in  das 

Morseklappern  schrillt  die  Telefonklingel.  ,,Ostbahnhof 
Verkehrsinspektion,  bitte?"  sagt  cine  schlafrige  Manner- 
stimme.  Plotzlich,  wie  es  begonnen  hat,  hort  das  Klappern 
wieder  auf.  Als  ich  das  letztemal  mit  Papa  nach  Szeged  fuhr, 
um  die  Leder  zu  ubernehmen,  noch  im  Krieg,  da  klapperte 
genau  so  hinter  meinem  Riicken  auf  dem  Bahnhof  der 

Telegraf ,,Zeitung  bittee  —  Zeitung  —  Biicher  — 

Illustrierteee  —  — "  singt  vor  ihm  ein  nachziigelnder 
Zeitungsverkaufer  und  schiebt  sachte,  schlafrig  und  ge- 
langweilt  seinen  Wagen  vor  sich  her.  Der  Schlafwagen- 
schafFner  steht  wieder  bei  Kadars,  Kadar  sagt  etwas,  nickt 
dann,  und  der  Schaffner  geht  weiter.  Im  nachsten  Augen- 
blick  hort  man  lautes  Turenschlagen  vorne  vom  Zug  her, 
dann  noch  einmal  und  noch  einmal,  —  der  Waggon  hier 
gegeniiber  ist  fast  leer,  —  und  dann  setzt  sich  der  Zug  in 
Bewegung.  Kadar  steht  mit  dem  Riicken  im  hellen  Fenster- 
rahmen,  die  Frau  an  die  Wand  des  Abteils  gelehnt,  an- 
scheinend  sprechen  sie  miteinander.  Der  Zug  rollt  langsam ; 
das  Licht  aus  den  Fenstern  spaziert  in  hellen  Karos  auf  dem 
Asphalt  des  Perrons  neben  dem  Zug  her.  In  leisem  Takt 
fahrt  der  letzte  Waggon  an  Kelemen  vorbei.  Obcn  in  der 
Mitte  cine  rote  Lampe  mit  starkem  Licht.  Der  Bahn- 
bcamtc  mit  den  Akten  unterm  Arm  kommt  wieder;  ,,par- 
don",  sagt  er  und  offnet  die  Tiir  hinter  ihm.  Einen  Augen- 
blick  stromt  ihm  der  warme  Rauchgcruch  ins  Gesicht.  Auf 
dem  Perron  noch  zwei-drei  Menschen,  die  dem  Ausgang 
zustreben.  Kelemen  dreht  sich  um,  geht  aber  nicht  auf  den 
Ausgang  zu,  sondern  in  den  Speisesaal.  Ein  schlafriger 
Portier  sitzt  in  der  Tiir.  ,,Hier  ist  kcin  Durchgang",  sagt  cr. 
,,Na,  Alter  .  .  ."  und  er  driickt  ihm  etwas  Nickelgeld  in  die 

482 


Hand.  Dann  steht  er  im  Bahnhofsrestaurant.  An  acht  oder 
zehn  Tischen  sitzen  noch  Leute;  gewiB  keine  Reisenden, 
bloB  Gaste,  so  spat.  Die  Fenster  nach  der  StraBe  sind  matt, 
naB.  Es  hat  wohl  angefangen  zu  regnen.  In  Hut  und  Mantel 
bleibt  er  unschliissig  in  der  Mitte  des  Saales  stehen.  Es 
regnet,  und  ich  habe  keinen  Schirm  bei  mir.  Langsam  und 
zogernd  geht  er  auf  die  Tiire  zu ;  vor  dem  Ausgang  dreht  er 
sich  plotzlich  um,  geht  an  seinen  friiheren  Tisch,  zieht  den 
Mantel  aus  und  setzt  sich.  Der  Zahlkellner  stellt  sich  mit 
fragendem  Gesicht  vor  ihn.  ,,Ein  Helles",  sagt  er  zu  ihm. 
,,Ein  Helles",  wiederholt  der  Oberkellner  dem  Getranke- 
kellner,  ,,ein  Helles",  sagt  der  Getrankekellner  im  Weiter- 
gehen.  Ein  Helles.  Einige  Minuten  nach  halb  zwolf,  — 
warum  zum  Kuckuck  setze  ich  mich  eigentlich  wieder 
hierhin,  warum  bin  ich  nicht  nach  Hause  gegangen? 

Morgen  friih nein,  morgen  friih  ist  nichts.  Ins  Hiiro 

brauch  ich  ja  nicht  zu  gehen.  Audi  sonst  habe  ich  nichts 
zu  tun.  Die  Sache  ist  erledigt.  Sic  sind  abgereist.  Heute  ist 
der  Vierundzwanzigste  .  .  .  das  heiBt  schon  der  Fiinfund- 
zwanzigste.  Ungefahr  ein  Jahr  ist  es  her,  daB  ich  bei  Doktor 
Barta  im  Wartezimmer  die  illustrierte  Zeitung  in  die  Hand 
nahm,  —  ein  Jahr.  Ein  liebliches  Jahrchen  war  das  .  .  . 
Plotzlich  iiberfallt  ihn  ein  Gahnkrampf;  dumpfes  Sausen 
hat  er  im  Kopf.  Nein,  mit  keinem  Wort  hat  er  gesagt,  daB 
cr  heute  abreist,  schon  heute  abreist.  Wenn  ich  nicht  zu- 
fallig  angerufen  hatte,  —  na,  was  ware  derm  passiert,  wenn 
ich  nicht  angerufen  hatte?  er  ist  eben  abgereist,  SchluB, 
was  geht  mich  das  an,  wir  haben  uns  ja  verabschiedet.  Das 
Bier  macht  miide,  dieses  zweite  Glas  war  vollkommen 
uberfliissig,  —  iiberhaupt,  warum  bin  ich  eigentlich  nicht 
nach  Hause  gegangen?  —  warum  bin  ich  iiberhaupt  her- 
gekommen?  Sic  sind  abgereist,  —  das  weiB  ich  jetzt 
bestimmt,  ich  habs  gesehen,  wie  der  Zug  mit  ihnen  davon- 
fuhr,  —  na.  Ich  hatte  gleich  nach  Hause  gehen  sollen,  Leise 

klopfen  ihm  die  Morsezeichen  im  Ohr,  ta-tata er 

steht  auf,  tritt  ans  Fenster  und  versucht,  durch  die  nasse 

31-  483 


Scheibc  zu  sehen.  Matte  Lichtflecke  von  Elcktrischcn  mit 
Anhangern  hiipfen  ihm  vor  den  Augen.  Zwei  Kupees 
haben  sie  sich  aufmachen  lassen,  —  feine  Sache,  zwei 
Schlafkupecs,  und  iiberhaupt  zu  reisen.  Ich  miiBte  ver- 
reisen,  nach  Wien.  Jawohl,  und  das  Geld?  —  ach,  was, 
Geld,  Geld,  ich  hab  ja  noch  Geld,  fur  einen  Monat  reicht 
das  noch,  in  Budapest  odcr  in  Wien,  —  nein,  wirklich  .  .  . 
die  Kadarsache  hat  mich  nicht  viel  gekostct,  —  er  lacht 
still,  —  hat  gar  nicht  viel  gekostet.  Ich  bin  genau  so  aus- 
gekommen  wie  sonst,  —  zum  Gliick  hab  ich  die  Sache  mit 
dcr  notigen  Einteilung  gehandhabt,  —  bloB  gerade  die 
vierzig  Pengo  habe  ich  noch  fur  mich  selbst  verbraucht, 
die  ich  sonst  Mama  noch  gebe.  Aber  .  .  .  Saris  hatten  nichts 
gegen  diese  Reduktion  einzuwenden,  haben  kein  Wort  ge- 
sagt,  sic  hatten  wohl  auch  nichts  dagegen  gehabt,  wenn  er 
gar  nichts  gegeben  hatte,  schlieBlich,  wenn  man  nichts 
verdient  .  .  .  Du  lieber  Gott,  wenn  Karoly  wiiBte,  daB  sie 
mich  bei  der  Transcont  nicht  weggeschickt  haben,  sondern 

daB  ich  von  selbst  gegangcn  bin,  als  es  so  aussah 

nein,  und  wenn  es  gar  nicht  so  ausgesehen  hatte,  auch  dann 
hatte  ichs  in  dem  Hiiro  nicht  mehr  ausgehalten,  und  friiher 
oder  spater  ware  mir  ja  doch  gekiindigt  worden,  spatestens 
im  September  mit  dem  Kramer  zugleich.  Und  ich  hatte 
noch  den  Vorteil,  daB  sie  mir  ein  halbes  Jahresgehalt  aus- 
gezahlt  haben,  —  also,  das  kommt  auf  eins  heraus,  —  bloB 
keine  Gewissensbisse,  keine  Vorwiirfe,  cine  ganz  klare 
Sache,  —  wirklich  . . .  es  war  ja  iiberhaupt  nicht  unmoglich, 
kann  ich  aufrichtig  sprechen,  Herr  Czilek?  also,  dann  sage 
ich  es  Ihnen  offen,  ich  gehe  ins  Ausland,  sagen  wir,  ich 
wanderc  aus,  darum  kiindigc  ich  freiwillig  .  .  .  Aber  wenn 
Sie  in  der  Lage  waren,  eine  Bitte  zu  unterstiitzen . . .  immer- 
hin,  als  Angestellter,  der  cinen  wichtigcrcn  Wirkungskrcis 
hat,  mochte  ich,  wenn  moglich,  das  Gehalt  von  sechs 

Monaten Sie  hatten  mir  ja  auch  kiindigen  konnen. 

Aber  niemand  braucht  davon  etwas  zu  wissen,  die  Haupt- 
sache  ist,  daB oa,  jetzt  muB  ich  abcr  nach  Hause 

484 


gchen.  Bcstimmt  sind  sic was  weiB  ich,  wo  sic  jetzt 

sind?  was  gcht  es  mich  an?l  er  1st  abgereist,  damit  muB  ich 
mich  abfinden,  er  1st  abgereist,  und  die  Angelegenheit  1st 
erledigt.  Abgeschlossen.  Hingegen  ...  —  er  klopft  mit  dem 
Geldstiick  am  Rand  des  Bierglases,  —  schon  1st  es  nicht 
von  ihm,  daB  er  mir  kein  Wort  gesagt  hat,  warm  er  fahrt,  — 

er  brauchte  doch  nicht  so  auszuriicken Blodsinn,  er 

ist  doch  nicht  ausgeriickt,  wir  haben  uns  ja  ganz  ordentlich 
verabschiedet.  Morgen  oder  iibermorgen,  ich  weiB  noch 

nicht er  hats  ja  nicht  geleugnet,  daB  sie  abreisen 

wollen.  Und  wenn  ich  jetzt  hingegangen  ware  ans  Schlaf- 
wagenfenster  —  Servus,  Kadar,  gute  Reise,  und  seiner  Frau 
ein  paar  Rosen  gekauft  hatte,  —  spitzes,  kleines  Lachen 
klafft  aus  seinem  Mund,  —  jawohl,  ein  paar  schone  Rosen  — 
Er  lacht  den  Kellner  an,  der  ihm  den  Hut  reicht,  der  schlaf- 
rige  Kellner  grinst  gezwungen  zuriick,  —  na,  gehen  wir.  — 
Dann  steht  er  auf  dem  Platz  vor  dem  Bahnhof  im  Regen. 
Springt  auf  eine  Elektrische,  die  nach  der  Rakoczi-StraBe 
fahrt,  und  bleibt  drauBen  stehen.  Die  Uhr  an  der  Ecke  zeigt 
eins;  die  Bahn  ist  leer,  der  Schaffner  reiBt  gahnend  das 
Umsteigebillctt  vom  Block.  Es  ist  kalt  und  regnet  heftig. 
Auch  die  matschige  StraBe  ist  leer;  an  den  Ecken  der 
NebenstraBen  schlurfen  unter  Schinnen  schlampige  Weiber, 
stehen  herum  und  trappeln  weiter.  Um  die  Lichtrcklame 
liber  dem  Vergniigungslokal  zerstaubt  das  Wasser.  Lange 
war  ich  da  nicht  drin,  zuletzt  voriges  Jahr  nach  Weih- 
nachten,  mit  den  Jungcns.  Ich  bin  neugierig,  ob  sie  Don- 
nerstag  im  Cafe  scin  werden.  Wahrscheinlich  wissen  sic 
gar  nicht,  daB  cr  schon  abgereist  ist.  Ich  werde  ihnen  die 
Nachricht  bringen  .  .  .  wie  ich  auch  vor  einem  Jahr  die 
Nachricht  gebracht  habe,  daB  Antal  Kadar  iibcrhaupt 
cxistiert  und  da  und  da  lebt .  . .  Was  fur  ein  Tag  ist  eigent- 
lich  hcute?  nicht  sicher,  daB  ich  Donnerstag  hingehe,  ich 
mag  diesc  Leutc  nicht,  und  wenn  ich  ihnen  sage,  daB  er 
abgereist  ist,  werden  sie  wahrscheinlich  —  Eine  Taxe 
schleudcrt  auf  der  nassen  StraBe  vor  der  Elektrischen  her, 

485 


quietschcnd  bremst  die  Bahn  mit  cincm  Ruck,  der  Fahrcr 
schreit  dcm  Schoffor  cine  Grobhcit  nach.  Er  geht  in  den 
Wagen  und  setzt  sich  auf  den  Rand  der  Bank.  Ekclhaft  ist 
das  Wetter.  Jetzt  beginnt  der  Hcrbst  wirklich,  schon  cine 
Woche  halt  dieses  Matschwetter  an  —  am  Ring  steige  ich 
um,  vielleicht  trinke  ich  noch  einen  Mokka  in  irgendeinem 
Cafe  oder  gche  zu  FuB  bis  zum  Oktogon,  —  wozu  eigent- 
lich?  in  dem  Wetter  spazieren?  Von  weitem  sieht  er,  daB 
vor  dem  Theater  cine  StraBenbahn  steht,  die  ganze  StraBe 
hinauf  ist  sonst  keine  mehr  zu  sehcn,  —  er  lauft  iiber  den 
Damm  und  erreicht  die  eben  abfahrende  Bahn.  Ich  geh 
nach  Hause.  Zwei  ganze  Schlafkupees,  Kleinigkeit.  Na  ja, 
das  ncnnt  man  Stil.  Das  zahlt  nicht.  Mister  Cadar  aus  Siid- 
afrika  kann  sich  das  erlauben.  Morgen  friih  sind  sie  in  Wien, 
dann  in  Paris,  dann  besteigen  sie  irgendwo  das  Schiff,  dann 
kommen  sie  zu  Hause  an,  —  dort  scheint  immer  die  Sonne  wie 
an  der  Riviera,  hat  die  Frau  gesagt.  Und  dann  hat  sie  auch 
noch  gesagt:  komisch,  jetzt  in  Budapest  fallt  es  mir  nie  mehr 
ein,  mit  meinem  Mann  Englisch  zu  sprcchen,  auch  nicht, 
wenn  wir  allein  sind,  dabci  habe  ich  mich  friihcr  schon  ganz 
als  Fremdc  gcfiihlt.  Natiirlich,  das  ist  es  ja.  Als  Fremde 
hat  sie  sich  gefuhlt,  —  sie  ist  ja  auch  cine  Fremde,  alle 
beide  sind  sie  Fremde.  Daher  kommt  es  .  .  .  na,  egal.  Sic 
kommen  wieder  zu  Hause  an.  Wir  sind  zu  Hause,  nichts 
ist  gcwesen.  —  Endlich  kommt  der  Hausmeister  ans  Tor 
geschlurft,  er  brummclt  etwas,  als  er  ihn  hereinlaBt.  Lang- 
sam  geht  er  die  dunklc  Treppc  hinauf,  bei  jedcm  Treppen- 
absatz  probiert  er  mit  unsicher  tastenden  Schritten,  ob  er 
schon  obcn  ist.  Der  Kopf  tut  ihm  wch.  Auf  einmal  fiihlt  er 
einen  dumpfen  Druck  und  ein  Sausen  hinten  im  Kopf;  das 
hat  mir  noch  gefehlt,  dcnkt  er  wiitend,  und  rucksichtslos 
kut  schlieBt  er  die  Tiirc  auf.  Die  Wohnung  ist  dunkel,  die 
Kiichentiir  steht  offcn,  er  spiirt  kalten  Gcruch  von  Speisen 
und  Abwaschwasser.  Pfui.  Vor  Ekel  stoBt  ihm  das  Bier 
auf.  Eilends  tastet  er  sich  nach  seinem  Zimmer.  Gelbes 
Licht  fallt  auf  das  aufgeschlagene  Bctt,  auf  die  sch&bige, 

486 


ausgefranstc  dunkclrotc  Chaisclongucdeckc  und  das  Wachs- 
tuch  auf  dem  Tisch.  Pfui.  Pfui.  Nichts  andcrcs  1st  jetzt  in 
ihm  als  dieses  einzige  Wort,  dieses  einzige  Gefuhl:  pfui. 
Mit  gereizten,  eckigen  Bewegungen  wirft  er  die  Schuhe  ab 
und  schmciBt  seine  Kleider  unordentlich  zerstreut  ins 
Zimmer.  Sein  Nachthemd  ist  feucht,  bei  der  kalten  Be- 
riihrung  schiittelt  es  ihn.  Dann  liegt  er  steif  im  kalten  Bett 
und  starrt  in  die  Finsternis.  Da  zuckt  ihm  auf  einmal  das 
Wort  durch  den  Kopf,  das  seit  gestern  in  ihm  steckt  und 
das  er  seit  jenem  letzten  Handedruck  verheimlicht  und  von 
sich  abwehrt  und  verjagt,  —  das  Wort  mit  kalter,  blutiger 
Aufrichtigkeit,  unabanderlich  wie  ein  letztes  Urteil,  ab- 
geschlossen  wie  eine  Grabsteininschrift,  lautet:  es  ist  nicht 
gelungen.  In  eisig  glanzenden  Buchstaben  tanzt  ihm  der 
Satz  vor  den  Augen:  es  ist  nicht  gelungen.  Sie  sind  ab- 
gereist.  Von  der  StraBe  tont  die  Klingel  einer  spaten 
Elektrischen  herauf:  es  ist  nicht  gelungen.  Im  Schrank 
kracht  es  leise:  es  ist  nicht  gelungen.  Der  kalte  Hauch  des 
Zimmers  schlagt  ihm  ins  Gesicht:  es  ist  nicht  gelungen. 
Im  Dunkeln,  in  seinem  Kopf  brennen  die  Buchstaben:  es 
ist  nicht  gelungen.  Mit  einer  kindischen,  flehenden  Geste 
zieht  er  die  Arme  unter  der  Decke  hervor  und  streckt  sie 
vor  sich  in  die  Luft,  —  der  Kopf  tut  ihm  weh,  und  er  ist 
viel  zu  miide  in  dieser  ihn  plotzlich  befallenden  Erschopfung, 
um  denken  zu  konnen,  um  sich  Rechenschaft  zu  geben,  sich 
zu  wehren.  Sie  sind  abgereist.  Es  ist  nicht  gelungen. 
Irgend  etwas  ...  ist  zu  Ende:  das  kreist  ihm  durch  den 
Korper.  Dann  meldct  sich  in  seinem  Kopf  eine  schwache, 
wimmernde,  miide  Stimme:  ich  muB  von  neuem  be- 
ginnen  . . .  das  Ganze  noch  einmal ...  —  einen  Augenblick 
lauscht  er  entsetzt  nach  dieser  Stimme,  —  dann  schlieBt  er 
wild  gewaltsam  die  Augen,  preBt  den  Mund  zusammen 
und  dreht  sich  mit  einer  abgehackten,  zerbrochenen  Be- 
wegung  leise  stohnend  der  Wand  zu. 

Eine  erbarmliche,  gemcine  Nacht.  Er  kann  nicht  ein- 
schlafen.  Alle  Mobcl  krachcn  und  knistern,  jedes  Gerausch 

487 


hallt  hundertfach  in  seincm  Kopf  wider.  Stromungen  sind 
in  dcr  Luft:  Kalte  und  Glut  pcinigen  seine  Haut;  er  fangt 
untcr  dcr  Decke  an  zu  schwitzcn,  deckt  sich  auf,  da  fegt 
ihm  Frosteln  iiber  den  Korpcr.  Wenn  er  fiir  einen  Moment 
die  Augen  offnet,  kriechen  durch  die  Spalten  der  schicf 
heruntergclassenen  Jalousie  beangstigende,  fremdc,  form- 
lose  Lichter  von  Wand  und  Decke  und  Frau  Hunkas 
groBer  weiBer  Hutschachtcl  auf  dem  Schrank  auf  ihn  zu. 
Wie  bose  Nattern  tasten  sich  die  Lichter  phosphoreszierend 
nach  seinen  Augen  hin;  und  dann,  wie  sich  seine  Lider 
miide  senken,  schwirren  sic  rot  und  gelb  hinter  den  ge- 
schlossenen  Augen.  Zahe  Betaubtheit  stellt  den  unregel- 
maBig  pochcnden  Motor  in  ihm  ab,  urn  dann  seinen  ganzcn 
Korper  im  Halbschlaf  mit  stoBweisen  Zuckungen  zu 
schiitteln.  Er  fiihlt  alles,  und  nichts  ist  ihm  bewuBt;  in 
seiner  Brust  duckt  sich  cine  leise  winselnde,  unbckannte 
Angst.  Die  Gerausche,  Lichter  und  Geriichc  umzingcln  ihn 
und  rasen  cinen  barbarischen,  wiisten  Tanz  um  ihn;  die 
Furcht  vor  dem  Wachscin  bindet  ihn  an  den  Marterpfahl 
betaubtcn  Halbschlafs,  so  erwartct  cr  die  Lanzc  dcs  unab- 
wcndbaren  Erwachens,  die  vergifteten  Pfcile  der  unumgang- 
lichen  Gedanken.  Spater  ziehen  zwischen  Traum  und  Vision 
vibricrendc  Bilder  auf,  —  zuerst  Gcsichter:  Kadars  Ge- 
sicht,  beangstigcnd  iiberdimensioniert,  Jolys  Gcsicht, 
schneewciB  untcr  der  flammendcn  Haarkrone,  und  das 
Gcsicht  der  Mutter,  schmerzvoli,  alt  und  ausgcmergclt. 
Diesc  Gesichtcr  tauchcn  aus  dem  Chaos  auf,  wie  cincn  im 
steckcngcblicbcncn  Film  die  GroBaufnahme  anstarrt,  in 
dcr  tragisch-grotcskcn  Rcglosigkcit  von  ctwas  Abgcrissc- 
nem,  und  plotzlich,  ohnc  Ubcrgang,  wie  die  Lampc  dcs 
Projektionsapparatcs  ausgeht,  so  verschwindcn  sic  in 
schwarzcm  Nichts.  Und  dann  kommcn  andcre  Bilder:  cr 
sicht  Kadars  Auto  leer  vor  dem  Hotel  stchen,  nur  cincn 
Augcnblick.  Frau  Kiddr,  im  langcn  wciBcn  Mantel,  tritt 
herein,  den  Tcnnisschlagcr  in  dcr  Hand.  Die  Terrassc  des 
Cafes  an  der  Donau,  vor  Kddar  stcht  cin  hohcs  Glas, 

488 


gefullt  mit  cinem  hellgelbcn  Eisgctrank.  Joly  und  Kadar, 
wie  sie  im  Dunkeln  vorgehen,  auf  den  Wagen  zu,  auf  dcm 
Weg  drauBen  vor  der  Heideschenke.  Und  nun  kommen 
Tone,  —  nein,  aus  denen  kann  man  nichts  klar  entnehmen. 
Als  sprachen  viele  Menschen  auf  einmal  und  als  dominiere 
iiber  diesem  Gewirr  der  kreischende  Ton  einer  Kreissage.  — 
Ich  schlafe  ja  noch  immer  nicht,  fiihlt  er  zerqualt,  als  das 
Rasseln  eines  schweren  Fuhrwerks  die  Fensterscheiben 
klirren  macht,  und  er  1st  fast  gliicklich,  als  er  das  bekannte 
Klingeln  hort,  —  das  weiB  ich  wenigstens  bestimmt,  das 
1st  die  Klingel  des  Miillkutschers.  Es  muB  schon  spat 
sein  .  .  .  im  Winter  kommt  der  Miillmann  spat.  Endlich 
wurde  es  doch  Morgen,  wieder  ein  Heute,  wieder  fangt  ein 

ncuer  Tag  an ich  habe  zwar  den  alten  noch  nicht  so 

beendet,  wie  es  sein  miiBte.  Wieder  fiihlt  er  den  bittern 
Biergeschmack  im  Mund,  und  einen  Augenblick  spurt  er 
schwitzend  und  zitternd  die  Angst,  der  Magen  wiirde  sich 
ihm  umdrehen.  Er  greift  nach  der  Uhr,  am  Heben  der 
Hand  spurt  er  die  graue,  lahmende  Miidigkeit  seines  blei- 
schweren  Korpers.  Es  ist  noch  dunkel,  und  er  kann  das 
ZifTerblatt  nicht  sehen,  hat  aber  keine  Kraft,  das  Licht  an- 
zuknipsen.  Krampfhaft  preBt  seine  Hand  die  Uhr  und 
sinkt  auf  die  Bettdecke  zuriick,  ein  Weilchcn  hort  er  noch 
das  Ticken,  dann  durchbricht  sein  ringendes  BewuBtsein 
die  diinne  Schranke  dieses  Tickens  und  fallt  in  den  Strom 
schweren,  tauben  und  blinden  Schlafes. 

Als  er  crwacht,  zieht  das  Madchen  gerade  die  Jalousie 
hoch;  quietschend  heben  sich  die  Plattchcn,  und  graues 
Licht  kriecht  ins  Zimmcr.  Mit  Herzklopfen  vom  plotzlichcn 
Aufwachen  sitzt  er  im  Bett,  und  angstlich  blinzclnd  sucht 
cr  sich  selbst  im  Wachscin, 

,,Entschuldigen  Sie  bitte,  gnadiger  Herr,  ich  habc  an- 
gcklopft,  abcr  Sie  haben  keine  Antwort  gegeben",  sagt  das 
Madchen,  ,,und  da  hat  dann  die  gnadige  Frau  gesagt,  geh 
nur  rein,  Julie,  und  week  den  Herrn  auf,  es  ist  ja  gleich 
Mittag,  sieh  mal  nach,  ob  ihm  nicht  vielleicht  was  fehlt,  er 

489 


bleibt  doch  sonst  nic  so  langc  liegcn,  und  wic  das  denn  mit 
dcm  Saubcrmachcn  wcrden  soil",  und  dabei  packt  sic  seine 
Schuhe  und  seinen  Anzug  zusammen. 

,,Schon  gut",  sagt  er  nach  ciner  kleinen  Weile,  ,,Sie 
batten  mich  auch  schon  friiher  wecken  konnen.  Bringen 
Sic  mir  bitte  das  Friihstiick  .  .  ."  Seine  schwitzende  Rechte 
preBt  noch  immer  die  Uhr.  Halb  zwolf.  Genau  ein  halber 

Tag,  scit  der  Zug  abgefabren  ist Hefrgott,  ich  fang 

ja  gut  an.  Die  Uhr  kracht,  mit  leisem  Klirren  springt  das 
Glas  entzwei,  als  seine  Hand  sie  argerlich  auf  das  Tisch- 
chen  neben  dem  Bett  wirft.  Kaputt,  na  schon,  gratuliere. 
Stehengeblieben  ist  sie  auch.  Gratuliere.  Wiirgende  Wut 
befallt  ihn,  er  springt  aus  dem  Bett,  dreht  den  Schliissel  im 
SchloB  um,  schmeiBt  sein  Nachthemd  hin  und  stellt  sich 
nackt  vor  den  Waschtisch.  Kein  warmes  Wasser,  na  schon, 
gratuliere.  Das  Zimmer  ist  kalt,  der  kiihle  Bettgeruch,  der 
Nachtgeruch  will  ihn  ersticken;  das  Wasser  spritzt,  wie  er 
es  in  die  Waschschiissel  gieBt;  klatschend  schmiert  er  sich 
den  Seifenschaum  auf  Hals,  Gesicht,  Ohren,  Brust.  Er  ringt 
mit  dem  beiBenden  Wasser,  der  ordinar  riechenden  Seife, 
dem  ganzen  ekligen,  kalten  Waschen,  ringt  mit  sich  selbst 
in  unverstandlicher  Gereiztheit.  Warum  muBte  ich  auch  die 
Uhr  kaputtmachen?!  Ein  feines  warmes  Badezimmcr  mit 
versenkter  Marmorwanne,  denkt  er,  als  er  mit  dem  unter 
Gansehaut  zitternden  Arm  nach  dem  Handtuch  langt; 
gratuliere.  Feine  Sache,  ich  geh  ins  Arthesische  Bad,  nicht 
ins  Dampfbad,  in  ein  Extrabadezimmer  ...  —  und  da 
zerrinnt  plotzlich  der  Arger.  Feine  Sache,  das  Arthesische 
Bad.  Rot  und  warm  werden  Armc  und  Oberkorper,  wie  er  sie 
mit  dem  rauhen  Handtuch  trockcnreibt,  —  wie  lange  war 
ich  nicht  mehr  im  Arthesischen,  ich  kann  mich  gar  nicht 
mehr  erinncrn,  wann  ich  das  letztemal  da  war.  Er  geht  an 
den  Schrank;  es  klopft,  —  na?  —  ,,ich  bring  das  Friihstuck", 
sagt  das  Madchen  hinter  der  Tiir,  ,,warten",  antwortct  er, 
,,ich  mach  gleich  auf."  Aus  dem  Schrank  nimmt  er  cincn 
schabigcn  brauncn  Schlafrock,  fahrt  hinein  und  offnet  die 

490 


Tur.  Julie  stcllt  das  Tablett  auf  den  Tisch.  —  ,,Kann  ich 
anfangen  sauberzumachen?"  —  ,,Keine  Spur,  sehen  Sie 
derm  nicht,  daB  ich  noch  nackt  bin?!"  —  Das  Madchen 
grinst  und  geht  aus  dem  Zimmer.  Er  fangt  an  zu  friih- 
stiicken.  Der  Kaffee  ist  schon  eingegossen,  er  schneidet 
die  Semmel  durch  und  schmiert  Butter  darauf.  Ich  hab 
Hunger,  denkt  er  beim  ersten  Bissen,  —  die  Butter  ist  ganz 
gut,  natiirlich,  Kunststiick,  im  Winter  frisch  zu  bleiben. 
Ein  Schluck  Kaffee.  Der  Kuckuck  soil  die  Uhr  holen.  Er 
steht  auf,  nimmt  sie  in  die  Hand,  ach  nee,  sie  geht  ja.  Ein 
ganz  ordentliches  Werk,  scheint  ihm  nichts  passiert  zu 
sein,  hat  wohl  einen  kleinen  Schreck  gekriegt.  Das  Glas  ist 
gesprungen,  na,  wenns  weiter  nichts  ist,  solange  es  nicht 
rausfellt,  kann  ich  sie  ruhig  noch  tragen.  Zwolf,  —  viel- 
leicht  geht  sie  ein  paar  Minuten  nach,  sie  war  doch  stehen- 
geblieben,  die  arme  Uhr.  Gut  gelaunt  setzt  er  sich  wieder 
an  das  Friihstiickstablett,  er  freut  sich  iiber  die  Uhr.  Zwolf 
Uhr,  sagen  wir,  viertel  eins  ist  es,  ich  brauch  mich  nicht 
zu  beeilen,  ich  hab  ja  nichts  zu  tun,  zu  Mittag  essen  kann  ich 
bis  drei,  —  im  Speisewagen  wird  jetzt  schon  gegessen. 
Weit  in  Osterreich  miissen  sie  schon  sein.  Als  ich  nach  Wien 
fuhr,  dreiundzwanzig,  habe  ich  auch  im  Zug  gegessen,  um 
zwolf,  —  Mittagessen  bitte,  erste  Serie,  —  na  schon.  Nach 
Tisch  konnte  ich  zu  Sari  raufgehen.  MuB  aber  nicht  sein. 
Plotzlich  wird  er  rot;  sein  Gesicht  gliiht.  Ich  werde  mich 
lieber  cine  Stunde  hinlegen,  miide  genug  bin  ich  ...  aber 
das  war  nicht  wahr:  iibertriebcne,  nervose,  erregte  Frische 
hatte  cr  jetzt  im  ganzen  Korper,  einen  versteckten  Taten- 
drang,  Sehnsucht,  etwas  zu  tun,  die  sich  zunachst  in  raschen, 
breitcn,  iiberbetonten  Bewegungen  auflerte.  Mit  derartiger 
Kraft  schnitt  er  ins  Brotchen,  daB  das  Messcr  durch  den 
sich  ringelnden  Teig  fuhr  und  auf  dcm  Teller  quietschte; 
das  harte  Butterstiickchen  verteiltc  sich  unter  dem  hitzigen 
Druck  der  Mcsserklinge  schmelzend  auf  der  Semmel,  und 
als  er  die  Tasse  hob,  plantschte  cr  einen  guten  Schluck  auf 
das  Wachstuch.  Na,  —  noch  ein  Glas  Wasser.  Dann  tritt 

491 


cr  ans  Fcnstcr  und  fiihlt  auf  cinmal  hcrbe  VcrdricBlichkeit. 
Es  regnet,  dichte  Faden  vcrbindcn  die  schwerhangende 
grauc  Wolkcnmassc  mit  dcr  Erdc.  Die  StraBc  schwimmt,  — 
rosa  Dings,  vcrscnktc  Marmorwannc  ...  —  untcn  an  dcr 
Ecke  bci  dcr  QucrstraBe  vier  bis  fiinf  Elektrische  hintcr- 
einander,  sind  wahrscheinlich  stcckengcbliebcn,  —  Men- 
schcn  mit  raschen  Schritten  unter  Schirmcn,  zwei  hoch- 
aufgcladene  schwcre  Kohlenwagcn  trottcn  hintcrcinandcr 
her,  die  Pferde  dampfcn;  cin  untersetzter,  altlicher  Zeitungs- 
verkaufer  rcnnt  mit  seinem  Packcn,  heiser  krachzend  bietet 
cr  sein  Blatt  fell,  und  driiben  an  der  Ecke  steht  ein  altcs 
Mutterchen,  auch  sic  leiert  den  Titel  einer  Zcitung;  und 
plotzlich  saust  unter  lautem  Tuten  der  Sirenc  ein  Rettungs- 
wagen  vorbci,  Wasscr  und  StraBenschmutz  in  wcitcm  Bogcn 

nach  beiden  Seitcn  spritzend.  Ein  Eisenbahnungl 

vielmehr  irgendcin  Verkehrsunfall,  wahrscheinlich.  Bei 
solchem  Matsch wetter  konncn  ja  die  Elektrischen  kaum 
brcmsen,  sicher  sind  zwei  Wagen  ineinander  gcfahren, 
Oder  zwci  Autos.  Die  Gummircifcn  schlittern  ja  nur  so. 
Als  wir  cinmal  nachts  bei  Rcgcn  vom  Plattensee  kamen,  sind 
wir  auch  fast  im  Chausseegraben  gelandet,  auf  der  Land- 
straBc  1st  es  namlich  noch  schlimmcr  bei  solcher  Nasse. 
Na,  egal.  Ich  gch  jctzt  fort.  Was  soil  ich  hicr  zu  Hausc 
machcn?  die  will  schon  aufraumcn.  Er  betrachtet  das 
Thermometer  am  Fenstcr,  —  sieben  Grad,  machtig  ge- 
fallcn,  sieben  Grad  ist  nicht  viel.  Kalt  ist  es.  Dcr  Winter 
beginnt.  Dann  tritt  er  langsam  vom  Fenster  wcg.  Am 
Kleiderstander  neben  dem  Schrank  hingt  sein  Winter- 
mantel.  Er  sieht  ihn  sich  an.  Der  Rand  des  Samtkragens  ist 
grau  von  Staub,  mit  den  Fingerspitzen  will  er  ihn  abklopfen, 
ach  so,  nicht  mal  staubig,  abgewetzt  ist  er.  In  zicmlich 
schlcchtcm  Zustand  ist  dieser  Oberzieher,  innen  ist  er  noch 

ganz  gut,  abcr  auBen Fiinf  Jahre,  —  fiinf  Jahre  kann 

man  dem  Samtkragen  eines  Wintcriibcrzichcrs  wirklich 
ansehen.  Fiinf  Jahre  gehen  ja  auch  an  Menschen  nicht 
spurlos  vohiber.  An  manchen  doch,  es  gibt  so  entsctzlichc 

492 


cwige  Kindergesichter,  wie  zum  Bcispiel  den  Zatony.  Aber 
Kdd&r  ist  ganz  anders  geworden.  Abgewetzt,  macht  nichts. 
1st  keine  Schande.  Heutzutagc  sind  alle  Leutc  zerlumpt. 
Die  meisten.  Er  nimmt  den  Mantel  vom  Haken,  schliipft 
hinein  und  driickt  sich  den  Hut  auf  den  Kopf.  Mein 
Schirm,  —  ach  ja,  im  Flur  hab  ich  ihn  gelassen.  In  Hut  und 
Mantel  steht  er  im  Zimmer,  blickt  um  sich,  als  suche  er 
noch  etwas.  Uber  der  Chaiselongue  ist  das  Biicherbrett,  — 
was  fur  ein  abscheuliches  Wetter,  eigentlich  sollte  ich  nicht 
ausgehen,  —  er  tritt  an  die  Chaiselongue,  stiitzt  sich  mit 
dem  Knie  dagegen,  und  seine  Hand  langt  nach  den  Biichern 
in  rotem  Einband.  Mehr  Biicher  werde  ich  mir  wohl 
schwerlich  kaufen,  vorlaufig  wenigstens.  Solange  ich  keine 
Stellung  habe,  bin  ich  nicht  gut  fur  die  Raten,  was?  Der 
Agent  wird  zwar  kommen,  dem  bin  ich  noch  immer  gut, 
dem  ist  es  gleichgiiltig,  er  kriegt  ja  seine  Provision.  Aber 
der  Kaufmann,  —  dem  bin  ich  nicht  gut.  Ungarische  und 
auslandische  Romandichter:  von  den  zwolf  Banden  da 
hab  ich  noch  nicht  viele  gelesen,  den  Wassermann  hab  ich 
angefangen,  war  nicht  besonders  interessant ...  so  endlos 
lang  ...  —  und  auf  einmal  hat  er  vier-funf  Bande  in  der 
Hand,  mit  der  Rechten  blattert  er  rasch  darin,  —  Moricz, 
Krudy,  Mann,  Benoit,  —  er  stellt  die  Biicher  wieder  zuriick 
und  nimmt  ein  paar  andere  Bande  herunter,  Kellermann, 
Da  Verona,  hab  ich  auch  noch  nicht  gelesen,  —  er  sieht 
sich  die  Titelblatter  an  und  wirbelt  die  Seiten  zwischen 
zwei  Fingern  weiter,  —  wieder  ein  Packen,  —  knisternd 
eilen  die  Blatter,  —  nicht  drin,  auch  hier  ist  es  nicht  drin, 
wohin  kann  ichs  nur  gelegt  haben?  warm  hab  ichs  denn 
zuletzt  in  der  Hand  gehabt?  Dann  stellt  er  den  letzten  Band 
wieder  an  seinen  Platz,  drcht  sich  um  und  bleibt  unschliissig 
vor  dem  Schrank  stehen,  —  vielleicht  in  einem  Anzug,  aber 
ich  hab  sie  doch  seither  alle  angehabt ...  —  seine  Hand  greift 
in  die  Hosentasche  nach  dem  Schliissclbund,  —  da  kommt 
Julie  mit  Besen,  Miillschippe  und  Staubtuch.  Die  Hand  zieht 
sich  aus  der  Tasche  zuriick;  er  knopft  seinen  Rock  zu. 

493 


,,Julie",  sagt  er,  ,,heizen  Sic  nachhcr  anstandig  ein, 
nach  Tisch  komm  ich  nach  Hause." 

Er  kam  nicht  nach  Hause;  nach  Tisch  ging  er  doch  zu 
Sari.  Der  Schwager  war  natiirlich  schon  weg,  aber  Sari 
traf  er  an;  seitdem  sie  wieder  in  Umstanden  ist,  geht  sie 
bloB  vormittags  fiir  eine  oder  zwei  Stunden  ins  Geschaft, 
Mama  schlief  schon,  wie  gewohnlich.  Joly  sitzt  im  Schaukel- 
stuhl,  die  Beine  nach  hinten  gezogen;  einen  Pitigrilli- 
Roman  liest  sie.  Im  EBzimmer  hangt  schwerer  Kohlgeruch, 
,,ich  hab  heute  auch  Kohl  zu  Mittag  bekommen",  sagt  er, 
als  er  eintritt.  ,,Ich  hab  auch  schon  gesagt,  macht  doch  das 
Fenster  auf,  der  Kohlgestank  ist  nicht  zum  Aushalten",  — 
Joly  blickt  vom  Buch  auf.  Siri  hebt  ruhig  den  Kopf  und 
schniiflfelt.  ,,Na,  so  gefahrlich  ists  nicht,  nachher  beschwert 
ihr  euch  dann,  ich  laB  die  Warme  raus.  Aber  wenn  dus 
nicht  zum  Aushalten  findest,  konntest  du  ja  aufstehen  und 
selbst  aufmachen ..."  —  ,,Gut",  sagt  Joly  und  liest  weiter. 
Er  setzt  sich  an  den  EBzimmertisch ;  nimmt  einen  Zahn- 
stocher  in  die  Hand;  nimmt  Mamas  Brille  in  die  Hand,  die 
mit  ihren  diinnen  Silberrandern  und  den  billigen,  ovalen 
Glasern  bescheiden  neben  der  zerkniillten  Serviette  liegt; 
er  blattert  in  einer  auf  den  Stuhl  geworfenen  Nachmittags- 
zeitung.  Der  Schrecken  von  Diisseldorf  hat  bisher  sechzehn 
Lustmorde  eingestanden,  Kleinigkeit.  Bei  volliger  Teil- 

nahmslosigkeit  verlauft  im  Abgeordnetenhaus na, 

auch  gut.  Die  Arbeitslosigkeit  in  England  nimmt  zu. 
Reichskanzler  Briining  iiber  die  Riistung  in  Frankreich. 

Der  Biirgermeister  auBert  sich Kampf  von  vierzig 

Erben  um  die  Millionenerbschaft.  Freisprechung  in  cinem 

Verleumdungs Rekord-Wahnsinn:  sitzt  die  einund- 

siebzigste  Stunde  in  einem  umgedrehten  Sessel.  Oberfahren 
und  weitergesaust  —  —  Die  Naive  schlug  den  Hilfs- 
regisseur  knock-out.  In  Berlin  Schl&gerei  wegen  des 
Remarque -Films.  Neuerlichc  groBe  Zahlungsunfahigkeit 
in  der  Textilbranche.  Im  ganzen  Land  Nachtfrost  zu  er- 
warten.  Heutige  Borse:  weiteres  Abflauen  in  den  fiihrcnden 

494 


Werten na,  schon.  Er  legt  die  Zeitung  hin;  auf 

das  Rascheln  des  Papiers  blickt  Joly  wieder  vom  Buch 
auf.  Sin  steht  etwas  schwerfallig  auf  und  sammelt  die 
Brotreste  in  einen  kleinen  Korb. 

,,Was  gibts  Neues,  Bandi?"  sagt  sie  dabei. 

,,Nichts",  antwortet  er,  blickt  in  die  Luft  und  zwingt 
gute  Laune  in  seine  Stimme,  ,,hast  du  nicht  gelesen?  der 
Schrecken  von  Diisseldorf  — " 

,,Schon  gut",  sagt  Sari,  ,,ich  frag  doch  nicht  im  SpaB. 
Was  mitdir  ist?  Nichts?" 

,,Nichts  .  .  ."  und  als  ob  bei  diesem  Wort  seine  Stimme 
schartig  wiirde:  ,,denkst  du,  das  geht  heutzutage  so  leicht?" 

,,Also,  mein  Gott .  .  .  und  warst  du  bei  Menczers?" 

,,Nein",  sagt  er  dumpf,  ,,noch  nicht.  Offen  gesagt, 
glaube  ich  nicht,  daft  das  was  fur  mich  ist  — " 

,,Das  ist  ganz  egal",  sagt  Sari  mit  harter  Stimme, 
,,glaub  du  lieber  nichts  vorher,  sondern  geh  hin.  Karoly 
hats  ihm  doch  schon  erwahnt  .  .  .  er  wird  sich  wirklich 
wundern,  daB  du  dir  noch  nicht  die  Miihe  genommen 
hast Und  bei  Generaldirektor  Havas  warst  du?" 

,,Auch  nicht  — " 

Sari  bleibt  neben  dem  Tisch  stehen,  ein  wenig  thea- 
tralisch. 

,,WeiBt  du,  Bandi,  ich  versteh  dich  nicht.  Du  tust 
gerade,  als  waren  es  noch  keine  vier  oder  fiinf  Monate, 
daB  du  arbeitslos  herumlungerst " 

Er  will  sie  unterbrechen,  will  etwas  sagen.  —  Joly  sieht 
vom  Buch  auf,  —  schweigt  aber. 

„ und  nachher  wunderst  du  dich,  wenn  nichts 

gelingt,  und  Karoly  rennt  vergebens  zu  diesem  und  jenem, 
schlieBlich  bist  du  ja  schon  zweiunddreifiig  Jahre  alt  ... 
Jolan",  fahrt  sie,  zu  ihrer  Schwester  gewendet,  streng  fort, 
weil  sie  nun  schon  in  der  Gereiztheit  drin  ist,  ,,du  weiBt 
doch  genau,  daB  Terez  heute  plattet,  und  siehst  ruhig  zu, 
wie  ich  hier  hin  und  her  springe  — " 

,,Na,  und?  .  .  ." 

495 


,,Und?l  Wiirdest  du  nicht  so  gut  sein  und  mir  helfen?! 
wiirdcst  du  nicht  so  gut  sein  und  den  Tisch  abraumen?!" 

,,Wenns  sein  muB  .  .  ."  mit  fauler  Bewegung  legt  sie 
das  Buch  aufs  Fensterbrett,  steht  auf,  reckt  sich,  tritt  an  den 
Tisch  und  nimmt  Mamas  Brille  in  die  Hand.  ,,Sag  mal, 
Bandi,  was  machst  du  heute  nachmittag?" 

,,Ich  weiB  noch  nicht.  Warum?" 

,,M6chtst  du  nicht  mit  mir  ins  Kino  gehen  oder  in  cine 
Konditorei?" 

,,Ins  Kino?  ich  hab  wahrhaftig  kein  biBchen  Lust " 

,,Na,  mir  ists  ja  egal,  ich  hab  das  bloB  so  gesagt  ...  ich 
mochte  namlich  eine  halbe  Stunde  in  Ruhe  mit  dir  reden." 

,,Stor  ich  vielleicht?"  fragt  Sari  zankisch. 

,,Jawohl",  antwortet  das  Madchen  ruhig  und  sieht  ihre 
Schwester  langsamen  Blickes  an.  Da  wirft  Sari  die  kleine 
Tischbiirste  hin  und  verlaBt  gerauschvoll  das  Zimmer. 
Joly  hantiert  schweigend  am  Tisch  herum,  wirft  das  Tisch- 
tuch  und  die  Servietten  auf  das  Biifett  neben  die  Teller  und 
Bestecks.  Dann  setzt  sie  sich  wieder  in  den  Schaukelstuhl. 
In  Jolys  weiBem  Gesicht  sind  um  den  schmalen  Mund 
zwei  harte,  bittere  Ziige ;  ihre  Augen  sind  von  tiefen  Randern 
umschattet.  Joly  ist  zwanzig  und  ein  halbes  Jahr  —  Er  geht 
ans  andere  Fenster  und  wirft  von  der  Seite  cinen  fliichtigen 
Blick  nach  seiner  Schwester.  Wie  schlecht  sie  aussieht.  Joly 
sitzt  im  Schaukelstuhl,  die  Beine  zieht  sie  wieder  hoch. 
Einen  dunkelblauen  Rock  hat  sie  an  und  einen  weiBen 
Pullover;  unter  dem  Rock  sieht  ihr  Knie  hervor  und  vom 
Oberschenkel  noch  ein  weiBer  Streifen,  ziemlich  hoch 
oben.  Wie  sitzt  du  denn,  will  er  sagen  und  schluckt  leise 
das  Wort  hinunter.  Es  ist  still;  drauBen,  —  in  dcr  Rich- 
tung,  nach  der  Sa*ri  verschwunden  ist,  —  schla'gt  Uut  cine 
Tiirc  zu. 

Joly  blickt  auf. 

,,Na",  sagt  sie,  ,,das  iibliche  Nachtischprogramm.  Jetzt 
kommt  das  Weinen.  Du  lieber  Gott,  wic  ich  das  iibcr  habe." 

Plotzlich  sagt  er  ablenkend: 

496 


,,Gut,  —  also,  in  welches  Kino  willst  du  — " 

,,In  gar  keins",  fahrt  Joly  dazwischen,  ,,ich  hab  iiber- 
haupt  keine  Lust,  ins  Kino  zu  gehen,  ich  auch  nicht,  ich 
hab  das  bloB  gesagt,  damit  sie  sich  endlich  verzieht",  mit 
dem  Kopf  winkt  sie  nach  der  Tiire,  ,,was  ich  wollte,  kann 
ich  dir  auch  hier  sagen." 

,,Also,  bitte",  sagt  er  mit  gepreCter  Stimme;  und  in 
diesem  Moment  weiB  er  ganz  genau,  wovon  nun  die  Rede 
sein  wird.  Von  ihm.  Selbstverstandlich.  Das  muBte  ja 
kommen,  dieses  Gesprach,  nach  dem  leisen,  raschen  Satz 
auf  dem  Gellertberg  am  Auto  .  .  .  Und  wenn  Joly  jetzt 
sagt,  daB  — 

Das  Madchen  sieht  ihn  wieder  an,  jetzt  fallt  ihm  gerade 
und  hart  der  griinlich-blaue  Strahl  in  die  Augen. 

,,Sind  sie  abgereist?"  fragt  sie  rasch  und  leise. 

,,Ja." 

,,Hast  du  sie  an  die  Bahn  gebracht?" 

,,Nein  .  .  .  vielmehr  — " 

,,Was  vielmehr?  Ja  oder  nein?" 

,,Gebracht  habe  ich  sie  nicht,  ich  war  bloB  am  Bahnhof, 
bin  aber  nicht  zu  ihnen  hingegangen.<c 

,,So",  sagt  Joly  und  schweigt.  Stille.  Und  diese  kalte 
Stille  ist  wie  ein  schwerer  Vorhang,  der  sie  von  der  Welt 
abschlieBt.  Er  ist  nicht  zu  durchdringen.  Alles  ist  gespannt. 
Diese  Stille  ist  unertraglich. 

,,Das  hast  du  gewollt?"  fragt  er,  weil  er  reden  muB,  um 
von  dem  Schweigen  nicht  zu  ersticken. 

,,Jawohl",  antwortet  sie  und  schweigt  wieder  einen 
Augenblick.  ,,WeiBt  du,  daB  er  hier  war?" 

,,Hier?  warm?" 

,,Ja,  hier.  Gestern  nachmittag.  Ist  aber  nicht  rauf- 
gekommcn.  Ich  saB  den  ganzen  Nachmittag  hier  am 
Fcnster,  wirklich  nicht  um  ihm  aufzulauern,  ich  hatte  bloB 
keine  Lust  auszugehen  und  hab  zum  Fenster  rausgeguckt. 
Da  driibcn  ist  sein  Wagen  stehengeblieben,  driiben  vor 
dem  Haus",  wieder  schweigt  sie.  ^Raufgekommen  ist  er 

32  KOrmondl,  Budapest  497 


nicht,  hat  bloB  cine  Wcilc  gehaltcn  und  ist  dann  weiter- 
gcfahren.  Ich  hab  den  Wagen  erkannt." 

Wicdcr  Stillc.  Der  Schaukclstuhl  setzt  sich  in  Be- 
wegung. 

,,Du,  Bandi.  Ich  mochte  gern antworte  mir  auf- 

richtig,  wcnn  du  kannst  .  .  .  hab  ichs  verdorben?" 

,,Abcr  Joly",  qualt  sich  seine  Stimme,  ,,das  ist  doch 

ich  verstehe  deine  Fragc  nicht,  und  iiberhaupt  ist  es  iiber- 
fliissig,  dariiber  zu  reden  — " 

Joly  steht  plotzlich  auf.  In  ihrem  weiBen  Gesicht  brennen 
auf  den  Wangen  zwei  rote  Flecken. 

,,Bandi  .  .  .  mir  ist  alles  gleich aber  ich  muB  jetzt 

davon  sprechen  . . .  mit  wem  soil  ich  denn  da  von  sprechen  ? ! 

ich  will  ja  auch  nicht abcr  ich  muB,  weil Du, 

Bandi .  .  .  du  weiBt,  was  er  von  mir  wollte " 

Angstvolle,  tiefe  Stille.  Jetzt  klingt  ihre  Stimme  ganz 
leise  und  heiser: 

„ du  weiBt,  was  er  von  mir  wollte,  und  du  hast  zu 

mir  gesagt,  ich  soil  klug  sein " 

,,Ich " 

„ du  hast  gewuBt,  daB  ich  nicht  mehr  unberiihrt 

bin,  und  du  wolltest " 

,,Ich " 

„ du  hast  gewuBt,  daB  er  mir  alles  mogliche  an- 

geboten  hat,  gelogen  und  wahnsinnige  Sachen  geredet,  ich 
soli  mit  ihm  gehen,  oder  wir  beide  sollen  nach  Siidafrika 
auswandern,  du  und  ich " 

Das  Gesicht  unter  dcm  roten  Haar  ist  cin  einziger 
fiammender  Fleck.  Stille.  Dann  plotzlich,  ganz  tief,  zer- 
brockelt  in  heisere  Tone : 

,,Du,  Bandi . . .  es  kann  ja  sein,  daB  du  recht  hattest.  BloB 
weiBt  du  nicht,  daB  ich  cine  von  der  Art  bin,  die  man  leicht 
uberbekommt,  dann  ist  es  auf  einmal  aus,  und  was  ware 

dann  gewesen du  weiBt  nicht,  daB  er  cin  gemeiner, 

kalter ich  hab  das  gefiihlt  und  gewuBt,  und  wenn  die 

Sache  mit  mir  mal  zu  Ende  gewesen  ware " 

498 


Mit  leerem  Korper  und  sdhlotternden  Knien  lehnt  et 
sich  ins  Fenster,  mit  weit  aufgcrissenen  Augen  starrt  er  das 
Madchen  an. 

,,WeiBt  du,  daB  ich  bei  ihm  im  Hotel  war,  allein?" 
Lange,  entsetzliche  Stille.  ,,Ich  glaubc,  da  habe  ichs  ver- 

dorben ich  hab  ihm  gesagt,  niemals  .  .  .  diirfe  er  mich 

anriihren,  bloB  wenn  er  sich  von  der  alten  Kuh  scheiden 
laBt  und  mich  heiratet " 

Ein  fiirchterliches,  sirenenartiges  Heulen  beginnt  jetzt 
in  seinem  Ohr  zu  klingen,  zuerst  ganz  leise,  und  dann  wird 
der  Ton  immer  durchdringender.  Er  kann  kaum  etwas 
anderes  horen. 

,,Du,  Bandi  .  .  .  hab  ichs  verdorben?!  hatte  ich  nicht .  .  . 
gleich  alles  auf  einmal  wollen  durfen?!  hatte  ich  mich  ihm 
hingeben  sollen?  und  dann  entweder  —  oder?  du  hast 
gesagt,  ich  soil  klug  sein  . . .  also,  war  ich  zu  klug  oder  nicht 
klug  genug sag,  bin  ich  schuld,  daB  die  Sache  ver- 
dorben ist,  fur  dich  und  fur  mich?!" 

Auf  einmal  wird  er  kalt  und  hart.  Die  zerfallende 
Seele  fliichtet  sich  in  letzter  Kraftanstrengung  hinter  eine 
Maske. 

,,Ich  begreife  nicht,  Joly,  was  du  da  redest  Bist  du  von 
Sinnen?  hast  du  einen  Knacks  bekommen?  du  weiBt  iiber- 
haupt  nicht,  was  du  redest " 

,,Na,  egal,  ich  habs  verdorben.  Ich  hatte  ja  auch  ganz . . . 
den  Verstand  vcrloren.  Nicht  gelungen.  Ich  werd  schon 

irgendwie  damit  fertig  werden nun  leben  wir  eben 

weiter  wie  bisher wenn  nicht  mit  ihm,  dann  eben 

ohne  ihn  .  .  ,  dann  eben  mit  Tot6  Huszar  und  dann  mit 
einem  andern " 

Mit  einem  Satz  steht  er  vor  ihr,  packt  ihre  Hand  und 
preBt  ihr  wie  wahnsinnig  das  Gelenk:  ,,Du,  Joly!  bist  du 
verriickt  geworden?!  was  redest  du  da  fur  rasendes  Zeug 
zusammen,  vor  mir,  vor  deinem  B ruder " 

Der  Schmerz  des  Druckcs,  diese  korperliche  Spur  der 
Zuriickweisung  erniichtert  das  Madchen  sofort  aus  dem 


32» 


499 


taumclnden,  wirbelnden  Abrcchncn.  Die  rotcn  Flccke  ver- 
schwinden  von  ihren  Wangen,  ihre  Stimme  1st  nicht  mehr 
heiser,  sie  setzt  sich  wieder  in  den  Schaukelstuhl  und  nimmt 
das  Buch  vom  Fensterbrett. 

,,Vor  meinem  Bruder  .  .  .  na,  wie  du  wills t.  Also,  reden 
wir  nicht  mehr  davon." 

Irgend  etwas  wiirgt  ihm  in  der  Kehle;  ich  muB  jetzt 

sofort  hier  weggehen ich  halte  es  hier  nicht  langer 

aus nicht  einen  Augenblick  kann  ich  mehr  hier- 

bleiben Und  da  geht  die  andere  Tiire  auf :  Mamas 

rotgeschlafenes  Gesicht  blickt  ihn  an,  mit  blinzelndcn, 
erwachenden,  kleinen  Augen: 

,,Was  ist,  Bandi,  du  bist  hier?  das  wuBte  ich  ja  gar  nicht. 
Jolan  .  .  .  muB  man  euch  denn  jedesmal  darum  bitten? 
warum  habt  ihr  mich  nicht  schon  langst  geweckt?" 

Jetzt  ist  es  nicht  mehr  moglich,  so  einfach  davonzu- 
laufen,  jetzt  muB  er  noch  drei  Minuten  bleiben.  Ein  unbe- 
stimmter,  stiller  Schmerz  schnurt  ihm  beim  Anblick  der 
alten  Frau  die  Kehle  zu,  ein  gcstaltloses,  fremdes  Bedauern. 
Bine  weiBe  Haarstrahne  hangt  Mama  an  der  rechten  Seite 
ins  Gesicht.  Ihr  kafFeebraunes  Hauskleid  hat  sie  an,  vorn 
am  Rock  ist  ein  groBer  heller  Fleck.  Milch.  Oder  Fett.  Die 
Spitzen  ihrer  schwarzen  Schniirschuhe  sind  ein  wenig  nach 
oben  gebogen.  Jetzt  fiirchtet  er  sich  bereits  nicht  einmal 
mehr  davor,  daB  Fragen  folgen  konnten,  die  den  Fragcnden 
qualen  und  den,  der  ohnehin  nicht  auf  sie  zu  antworten 
weiB.  Was  macht  dein  auslandischer  Freund?  hast  du  dich 
nach  ciner  Stellung  umgesehen?  hast  du  noch  Geld?  — 
das  konnte  sie  fragen,  —  aber  er  zittert  nicht  mehr  vor  die- 
sen  Fragen.  Jetzt  sieht  er  nur  noch  erschiittert  die  hangende 
Haarstrahne,  den  Fleck  am  Kleid  und  die  hochstehenden 
Schuhspitzcn.  Du  hottest  es  auch  besser  gehabt,  Mama. 
Arme  klcinc  altc  Mama,  einziges,  teures  Miitterchen 

,,Ich  muB  eilen,  Mama,  morgen  oder  ubermorgen  komm 
ich  wieder",  er  tritt  zu  ihr  bin  und  kuBt  ihr  die  Hand. 
Dann  blickt  er  nach  Joly  und  sagt  zogernd:  ,,Servus."  Im 

JOO 


Flur  vor  dem  groBen  Schrank  stcht  Sari,  —  als  er  aus  dcr 
Tiire  tritt,  dreht  sie  sich  trotzig  urn,  schlieBt  larmend  die 
Schranktiir  und  geht  wortlos  in  die  Kiichc. 

Dann  steht  er  unten  auf  dem  Ring  im  Regen.  Das 
Wasser  klopft  auf  den  aufgespannten  Schirm,  spritzt  ihm 
auf  die  Schuhe  und  den  Hosenaufschkg.  Zwischen  den 
dichten  Regenfaden  gehen  die  Menschen  einher,  als  hingen 
sie  an  diesen  Faden  vom  Himmel  herunter,  Figuren  eines 
beangstigenden,  unfaBbaren  Marionettenspiels.  Du  lieber 
Gott,  —  jetzt  mit  Toto  Huszdr,  dann  mit  einem  andern, 
bloB  eben  mit  Antal  Kadar  nicht ...  —  und  ob  sie  es  ver- 
dorben  habe?  hat  sie  es  verdorben?  Herrgott,  was  dcnn?! 

verkauft  hatte  ich  sie weil  ich  wuBte,  daB  sie  nicht 

mehr  unberiihrt  ist,  daB  sie  einen  Geliebten  hat,  Geliebte 

gehabt  hat  und  haben  wird jetzt  Toto  Huszar,  dann 

einen  andern  .  .  .  warum  denn  nicht?!  ich  tue,  was  ich  will, 
jawohl,  nimm  das  bitte  zur  Kenntnis,  ich  mache  mit  mir, 
was  ich  will,  und  wenn  du  die  Platze  kriegst  und  noch  so 
viel  hinter  mir  her  spionierst,  und  iiberhaupt,  es  geht  euch 
gar  nichts  an,  wer  hat  dir  aufgetragen,  mir  Moralpauken  zu 
halten?!  ich  mache,  was  ich  will,  und  wenns  euch  nicht 
paBt,  konnt  ihr  mich  ja  rausschmeiBen!  —  was  hab  ich 
denn  von  euch?  um  wessentwillen  soil  ich  auf  mich  acht- 

geben?!  kannst  du  mir  das  etwa  sagen werdet  ihr 

mich  verheiraten?  so,  wie  es  mir  entspricht?  oder  stellst  du 
dir  etwa  vor,  ich  heirate  einen  Karoly  und  stelle  mich  hinter 
die  Theke,  Salami  schneiden?!  nein,  danke,  und  steigt  mir 
nicht  immerfort  nach,  und  es  geht  euch  gar  nichts  an,  was 
ich  mache,  und  wenns  euch  nicht  gefallt,  dann  seht  zu,  wie 
ihr  damit  fertig  werdet,  schlieBlich  leben  wir  ja  nicht  mehr 
im  Mittelalterl  —  Ja,  das  hatte  Joly  klipp  und  klar  gesagt, 
als  er  ihr  einmal  Vorwiirfe  machte,  weil  sie  dauernd  mit 
diesen  jungen  Leuten  herumzoge  . . .  dann  war  es  lange  still 
gewesen,  sic  hatten  kaum  miteinander  gesprochen  und  von 

solchen  Dingen  iiberhaupt  nicht  mehr bis  zu  dem  Tag, 

da  er  ihr  sagte:  sei  klug!  .  .  *  Verkaufen  wollte  ich  sie,  und 

joi 


wenn  ich  nicht  geahnt  hatte,  daB  sie  schon  was  hinter  sich 

hat und  wcnn  ich  bestimmt  geglaubt  hatte,  daB  sie 

noch  unberiihrt  ist,  hattc  ich  sic  dann  nicht  vcrschachern 
wollen?!  —  viclleicht  ware  es  gut  gewesen,  wenns  gelungen 

ware.  Sowohl  fur  sie  wie  fur  mich.  Sei  klug und  nun 

ists  verdorbcn.  Scheiden  lasscn  soil  er  sich  von  der  altcn 

Kuh Joly  ist  erst  zwanzig,  —  die  Kadar  mag  schon 

sieben-  oder  achtunddreiBig  sein,  —  alte  Kuh?  .  .  .  und  laut 
lacht  er  in  den  Rcgen,  und  laut  sagt  er  vor  sich  hin :  alte  Kuh, 
ich  trenne  mich  nicht  von  ihr!  —  Jemand  kommt  ihm  ent- 
gegen,  einc  Art  Bote  mit  einem  in  Wachstuch  gewickelten 
Paket  unterm  Arm,  er  starrt  ihn  an,  —  ,,alte  Kuh",  —  sagt 
er  laut  und  aggressiv  noch  einmal,  —  der  mit  dem  Pakct 
sieht  ihn  mit  etwas  schraggebogenem  Kopf  groB  an  und 
geht  weiter.  Auf  der  andern  Seite  viber  dem  Kino  flammt 
eine  rote  Lichtreklame  auf,  er  bleibt  stehen  und  betrachtet 
die  roten  Lichtstreifen.  Joly  hat  rote  Haare,  und  Antai 
Kadar  war  in  sie  verliebt,  war  wahnsinnig  verliebt  in 
Joly,  —  ist  das  etwa  ein  Wunder?  daB  er  sich  in  sie  verliebt 
hat?  Und  .  .  .  wenn  sie  nicht  meine  Sch wester  ware  — 
hatte  ich  mich  vielleicht  nicht  —  Trockene  Kalte  schneidet 
ihm  wiirgend  in  die  Kehle,  —  ist  das  ein  Wunder?  Und 

Kadar Das  hatte  ich  mir  ja  vorher  ausgcrechnet,  daB 

er  sich  in  Budapest  in  einc  Frau  vergaffen  wiirde,  bloB  eben 
daran  hatte  ich  nicht  gedacht,  daB  es  ausgcrechnet  —  abcr 
so  verliebt  war  er  doch  nicht  in  sie,  daB  er  sich  ihretwegen 
von  seiner  Frau  hatte  scheiden  lasscn  und  sic  geheiratct 
hattc.  Jcder  wollte  etwas  anderes.  Joly  wollte  Frau  Kadar 
wcrden,  Kadar  Jolys  Frcund.  Und  .  .  .  der  cine  wollte  dies 
nicht,  die  andcrc  jenes  nicht.  Und  dann  ist  cs  verdorben  — 
in  diesem  Augenblick  fiihlt  er  zum  erstenmal  klar  und  deut- 
lich  und  mit  der  Macht  der  Offenbarung,  daB  allcs  ein- 
gestiirzt,  allcs  verschuttct  war,  allcs,  was  sich  scit  cinem 
Jahr  vorbereitet  hatte  .  .  .  aber  auch  allcs  das,  was  sich 
hinter  diesem  cincn  Jahr  in  zweiunddreiBig  Jahren  an- 
gesammclt  hattc.  Jctzt  wcifi  er  genau,  dafi  die  Sachc  falsch 

JOZ 


angefafit  worden  war,  —  auch  ausgedacht,  weitergesponnen 
und  aufgcbaut  war  sic  nicht  gut.  Und  untriiglich  weiB  er, 
daB  das  Wort  ,,miBlungen"  hinter  Menschen  und  Dinge, 
Phantasien  und  Wirklichkeiten  einen  Punkt  setzte.  Und 
auch  das  fiihlt  er,  daB  alles,  was  in  zweiunddreiBig  Jahren 
geschchcn  war,  Zufall  und  blindes  Tappen  im  Dunkcln 
war;  mit  kleinen  Einsatzen  und  winzigen  Resultaten, 
Tappen  am  Ufer  eines  unbedeutenden,  kleinen  Grabcns,  — 
wenn  man  fehltritt  und  in  den  Graben  rutscht,  dann  sagt 
man,  hopp,  ich  bin  ausgeglitten,  und  krabbelt  wieder  her- 
aus.  Aber  was  jetzt  geschehen  war,  seit  November,  seit 
einem  Jahr:  das  war  ein  Galopp  in  furchtbarer,  unertrSg- 
licher  Helligkeit  auf  einem  steilen  Bergriicken,  —  und 
wenn  man  da  hinuntersturzt :  aus  dem  Abgrund  kann  man 
nicht  so  einfach  wieder  herauskriechen  und  sagen,  na, 

weiter,  es  ist  nichts  passiert.  MiBlungen grauenvoll 

durchzuckt  ihn  das  Wort,  wahrend  der  blinde  Mechanismus 
der  Gewohnheit  seine  FuBe  hebt  und  ihn  vorwarts  tragt 
iiber  die  StraBe.  Unter  diesem  Wort  ist  unendliche  Leere 
in  ihm,  —  und  die  Leere  wird  bloB  von  wusten  Gedankcn- 
fetzen  durchwiihlt.  Mutter,  ganz  weiB  ist  sie.  Voriges  Mai 
habc  ich  ihr  auch  nur  vierzig  Pengo  gegeben.  Aber  jetzt 

weiB  ich  nicht,  werde  ich  ihr  iiberhaupt  noch  etwas 

Ich  muB  wegen  der  Stellung  zu  Menczers  gehen.  Und  zu 
Generaldirektor  Havas.  Wenn  Karoly  doch  schon  mal 
davon  gesprochen  hat.  Halb  fvinf,  Zeit  zum  Kaffeetrin- 

ken ich  geh  in  ein  Cafe,  die  Nacht  hab  ich  entsetzlich 

schlecht  geschlafen,  und  das  Mittagessen  war  auch  nicht 
gut.  Bei  Sdri  gabs  auch  Kohl,  ist  denn  jetzt  Kohlsaison? 

ich  muB  Kaffee  trinken im  Zug  trinken  die  Leute 

jetzt  auch  Kaffee  im  Speisewagen Er  kippt  seinen 

Regenschirm  ein  wenig  nach  vorn,  ein  eiskalter  Tropfen 
fallt  ihm  in  den  Kragen,  am  ganzen  Korper  erschauert  er. 
Pfui ...  es  ist  auch  moglich,  daB  mir  etwas  fehlt,  vielleicht 
habe  ich  mich  gestern  erkaltet,  vielleicht  habe  ich  sogar 
Fieber.  Vor  einem  Fenster  dcs  Cafes  bleibt  cr  stehen, 

503 


betrachtet  den  braunen  Halbvorhang  und  die  beschlagenc 

Scheibe.  Ich  geh  rein  und  trinke  eine  Tasse 

In  dcrEcke  ist  ein  kleiner  Tisch  frei;  zwischen  zwei 
groBen  Menschengruppen  drangt  er  sich  hindurch.  Nach 
dem  ersten  Schluck  Kaffee  fuhlt  er  sich  von  Glut  iibcr- 
gossen,  wird  rot  und  mochte  am  liebsten  den  Kragen  ab- 
legcn;  der  steife  Kragen  fiihlt  sich  feucht  an,  und  sein 
Druck  wiirgt  ihn.  Gegen  die  Hitze  muB  man  sich  schiitzcn, 
das  Beste  gegen  die  Sonne  ist  der  mit  Kork  gefiitterte 

Tropenhelm das  Beste  gegen  die  Hitze  im  Cafe  jedoch 

ist Sein  Gesicht  verzieht  sich  zu  einer  Grimasse,  er 

greift  an  den  Hals  und  zerrt  an  seinem  Kragen.  Ich  werde 
zu  Menczers  gehen  und  zu  Herrn  Generaldirektor  Havas, 
Karoly  hat  ihnen  die  Sache  schon  erwahnt,  die  sind  bei  der 
Hand,  wirklich  ganz  egal,  was  fur  Arbeit  sie  mir  geben 
konnen,  bis  ich  eine  anstandige  Stelle  finde.  Gut;  wenn  sie 
im  Buro  keine  Verwendung  fiir  mich  haben,  dann  werde 
ich  eben  im  Geschaft  bedienen,  die  Hauptsachc  ist,  daB  ich 
irgendwas  anfange,  irgendwas  in  der  Hand  habe,  irgendwo 
FuB  fasse,  irgendeinen  Ausgangspunkt  habe  —  —  An 
einexn  Tisch  rechts  sitzt  eine  Schar  junger  Burschen,  sie 
disputieren  laut.  Ein  Schwarzhaariger  mit  brennenden 
Augen  fuhrt  das  Wort.  ,,Der  Siirrealismus",  sagt  er,  ,,ist 
die  einzige  Richtung,  die  iiber  den  Rahmen  ciner  Manier, 
einer  einfachen  Formenanschauung  hinauswachst.  Der 
Siirrealismus ..."  —  das  sind  wohl  Litcratcn,  Kindskopfe, 
wir  haben  das  auch  gemacht,  das  heiBt  ich  nicht,  aber 
manchmal  bin  ich  hingegangen  zu  den  Jungens,  die  in  der 
achten  Klasse  die  ,,Gymnasiastenjahre"  herausgaben.  Was 
fur  Blodsinn  die  zusammengeschrieben  haben,  und  wie  sic 
cinandcr  kritisierten,  tolle  Sache,  manchmal  platzte  man  fast 
vor  Lachen.  Zdtonys  Erzihlung  crinncrt  ein  wenig  an 
Jokais  schonstc  —  Halasis  neue  Novelle  ist  gewiB  unter 
Krudys  EinfluB  entstanden  —  —  dieses  Chanson  zeigt 
gewissermaBen  eine  Nachempfindung  dcs  jungen  Hcl- 
tai Weinbergers  Lyrik . . ,  du  licber  Gott,  Weinbergers 

504 


Lyrikl  —  ,,Der  Siirrealismus",  sagt  der  Schwarzhaarige 
rechts,  ,,ist  im  Vcrglcich  zu  dem  kaltcn,  erfundenen 
Formalismus  sonstiger  Ismen  von  demselbcn  fruchtbaren 
Niveau  wie  in  der  Musik  die  auf  die  atonale  Theorie  auf- 
gebaute  neuere  ..."  —  ich  habe  auch  zwanzig  Kronen 
gegeben,  damit  die  erste  Nummer  erscheinen  konnte.  Da- 
mals  habe  ich  zum  erstenmal  meinen  Namen  gedruckt 
gesehen :  mit  giitiger  Beihilfe  der  Freunde  unseres  Blattes  . . . 
A.  Kelemen,  Klasse  VIII  —  zwanzig  Kronen.  —  Spacer 
war  ich  dann  noch  einmal  gedruckt,  als  die  Untersuchung 

in  der  Bankangelegenheit  im  Gang  war moglich,  daB 

ich  auch  hatte  schreiben  konnen,  wenigstens  unter  jemandes 
EinfluB  oder  jemanden  nachempfindend.  Simon  hat  auch 
geschrieben,  Theaterkritiken,  iiber  ein  Kriegsstiick  hat  er 
cine  riihrende  Kritik  geschrieben.  Simon  ist  auch  bei  der 
Feder  geblieben,  ich  verstehe  aber  nicht,  wie  er  davon 
leben  kann,  sicher  sammelt  er  Annoncen,  schreibt  solche 
Theateranzeigen  und  Reklameartikel  .  .  .  sag  mal,  kennt 
man  da  unten  deine  Firma  zur  Geniige?  eine  gescheite, 

richtig  eingestellte  Reklamekampagne Was  fur  ein 

gemeines,  finsteres  kleines  Lachen  die  Antwort  darauf 
war,  —  und  Kadar  sagte  sofort:  bisher  haben  wir  nicht 
sonderlich  viel  Reklame  gemacht,  aber  du  kannst  recht 
haben,  vielleicht  ware  das  nicht  ohne  .  .  .  Beschaftigst  du 
dich  mit  Reklamewesen?  —  das  sagte  er  so,  in  einem  solchen 
Ton,  —  vertraulich  und  unmittelbar,  man  hatte  wirklich 
nicht  gedacht,  daB  das  Ganze  bloB  —  ,,Der  Siirrealismus  ist 
das  Dokument  jener  vitalen  Kraft  — "  nein,  diese  Kinder 
da  wissen  noch  nicht,  konnen  noch  keine  Ahnung  haben, 

was  das  heiBt:  leben,  Geld  verdienen Jetzt  schnauzt 

in  der  Gruppe  links  eine  rauhe,  erregte  Stimme,  einer  haut 
klirrend  auf  den  Tisch,  ein  dicker  Herr  mit  leuchtender 
Glatze  und  Kneifer,  —  ,,der  Fiinfjahresplan,  mcin  Herr, 
der  Fiinfjahresplan?  ein  Hirngespinst  ist  das,  ein  Wahn- 
sinn,  das  konnen  Sie  mir  nicht  einreden,  daB  man  mit 
leercm  Magen  einen  Fiinfjahresplan  machen  kannl  einen 


Fiinfmonatsplan  vielleicht,  nein,  nicht  einmal  einen  Fiinf- 
tagesplanl  nixda  Fiinfjahresplan,  ganz  einfach  Terror,  und 
damit  basta!  Ich  wcttc  mit  Ihnen,  daB  Herr  Sebok  kcincn 

Dunst  davon  hat,  was "  —  ,,Wenn  nun  aber  jemand 

behaupten  will,  dcr  Siirrealismus  und  der  Impressionis- 
mus  — "  —  jetzt  hcbt  ein  diinnes  kleincs,  blondes  Madel 
mit  einer  tollen  Mahne  aufgeregt  den  Arm  und  laBt  ihn 
dann  plotzlich  wieder  fallen,  —  fjUh",  sagt  sie,  ,,meine 
Achselspange  ist  mir  abgerissen,  der  Teufcl  soils  holen!" 
und  mit  der  linken  Hand  greift  sie  in  den  Ausschnitt  der 
blauen  Seidenbluse  und  hanticrt  in  aller  Ruhe  um  ihre 
Brust  herum.  ,,Darf  icb  behilflich  sein?"  sagt  der  Surrealist, 
und  der  ganze  Tiscb  bricbt  in  kindiscbes  Gekicber  aus. 
,,Soll  ich  nicht  hclfen,  Olga?"  setzt  er  den  Witz  fort,  und 
seine  Augen  —  genau  so  guckte  Toni,  mit  demselben 
gierigen,  ausgelieferten  Blick  guckte  er  Joly  an,  als  wir 
das  erstemal  im  Wellenbad  zusammenwaren,  Joly  war 
im  roten  Trikot  und  in  rotcn  Schuhen,  —  und  in  der 
Heideschenke,  an  dem  Abend  am  Tisch  hat  er  sie  auch  so 

angesehen,  und  als  wir »,Der  Fiinfjahresplan  ist  heute 

einc  cbenso  belebende  Idee  fur  die  russischen  Massen  wie 
friiher  — "  —  ,,Und  wer  im  Siirrealismus  nicht  das  findet — " 

—  nein  doch,  er  findet  es  nicht,  du  schwarzcr  Laffe,  du 
Quatschkopf,  ich  finde  es  nicht,  nein,  und  ich  werde  es  nie 
mehr  in  irgend  etwas  finden!  —  nein,  ich  hatte  dicscn 
schrecklichcn  Fehler  nicht  begehen  diirfen,  mich  auf  einen 
einzigen  Gedanken  einzustellcn,  mein  ganzes  Leben  auf 
eine  einzige  Moglichkeit  einzustellen !  —  und  wcnn  ich  die 
Sache  anders  angepackt  hatte?  als  er  sagte,  dort  unten  sei 
Raum  fur  jeden  arbeitsfahigen,  klardenkenden  Menschen  — 

—  wenn  ich  da  nicht  darauf  gewartet  hatte,  daB bin 

ich  denn  ein  klardenkender  Mensch?  bin  ich  denn  arbcits- 

fahig?  bin  ich  nicht  davon  ausgegangen,  daB  Joly und 

hat  sie  cs  verdorben?  sic  fragt,  ob  sie  es  verdorben  habe? 
nein,  ist  ja  nicht  wahr!  sie  geht  mich  gar  nichts  an  I  hatte 
er  mich  mitgenommen  als  Mitarbeitcr  .  .  .  was  weifl  ich, 

506 


als  was,  als  einen,  dem  er  cine  Portion  Arbeit  und  ein  Stiick 

Brot  gibt,  aber  nicht  so,  als  Tausch Plotzlich  erhebt 

cr  sich  in  brenncnder  Aufregung.  Derart  wild  klopft  cr 
ans  Glas,  daB  von  rechts  und  von  links  alle  Augen  nach 
ihm  hinblickcn.  Stehend  wartet  er,  bis  der  Zahlkellner 
kommt.  Beim  Hinausgehen  stoBt  er  an  Stiihle,  rempelt 
Leute  an,  und  erst  auf  der  kalten,  feuchten  StraBe  wird  er 
die  erstickende  Glut  los.  Ich  geh  jetzt  sofort  zum  Arzt,  zum 

Nervenarzt ich  habe  eine  Kur  notig  .  .  .  Herr  Andor 

Kelemen  leidet  an  schwerer  Erschopfung  der  Nerven,  und 
dieser  Zustand  erfordert  eine  langere  Zeit  volliger  Ruhe, 
das  hat  er  geschrieben,  im  April,  Dr.  Otto  Huszar,  Toto 
Huszar,  mit  dem  Joly  heute  .  .  .  und  dann  mit  einem 

andern nein,  nein,  das  halte  ich  nicht  aus!  das  kann 

man  ja  nicht  ertragen,  dieses  dauernde ich  muB 

sofort Vor  dem  Eingang  zur  Untergrundbahn 

steht  ein  zerzaustes  Frauenzimmer,  von  ihrem  Schirm  trop- 
felt  der  Regen.  Entschlossen  geht  er  auf  sie  zu,  bleibt  vor 
ihr  stehen  und  guckt  unter  ihren  Schirm.  Sie  offnet  sofort 
in  dienstbereitem  Lacheln  den  Mund,  —  an  der  linken  Seite 
hat  sie  nebeneinander  zwei  groBe  Goldzahne.  ,,Pardon", 
sagt  er  und  wendet  den  Kopf  ab ;  die  Person  zuckt  miBmutig 
die  Achsel  und  dreht  sich  um.  Schabige,  niedrige  Schnee- 
schuhe  mit  abgewetztem  Pelzrand  hat  sie  an  den  FuBen. 
Er  miBt  sie  von  hinten  und  macht  ebenfalls  kehrt.  Jetzt 
fiihlt  er  wieder  den  kalten,  feuchten  Schauer  viber  dem 
Riicken;  er  gibt  sich  einen  Ruck  und  geht  raschen  Schrittes 
auf  die  andere  Seite  der  StraBe;  in  der  Mitte  auf  dem 
Damm  springt  er  knapp  vor  einem  Auto  hinweg  und  hort 
die  Stimme  des  Polizisten,  der  ihm  etwas  zuruft.  Einen 
Augenblick  steht  er  am  Rinnstein,  —  Restaurant,  Restau- 
rant, Restaurant ...  —  er  geht  auf  die  FuBgangerinsel  auf 
dem  Damm,  bleibt  am  Rande  stehen,  wartet,  bis  ein  Auto- 
bus mit  feuchtem,  schwerem  Keuchen  voriiberfahrt,  dann 
uberquert  er  die  StraBe.  Ich  muB  jetzt  gleich  etwas  —  ich 
fange  jetzt  sofort  etwas  an 

507 


Ubcr  dem  Kcllcreingang  brennt  cine  clektrischc  Birne; 
na,  mal  sehen,  ob  sic  noch  da  sind.  Vorsichtig  gcht  er  die 
schmalcn,  quietschcndcn  Holzstufen  hinuntcr,  offnet  die 
Glastiirc,  sofort  ertont  cin  heller  Klingelton.  Hinter  der 
Tiir  bleibt  er  im  gelbblinzelnden  Licht  stehen,  einem  EB- 
zimmcr-Spiegelschrank  gcgeniiber.  Herrgott,  wie  schlccht 
ich  aussche,  mein  Gesicht  ist  ja  ganz  gelb,  wie  eine  Leiche . . . 
er  schiittelt  sich,  und  das  gelbe  Gesicht  seines  totcn  Vaters 
fallt  ihm  ein,  mit  dcm  leidenden,  halbgeoffneten  Mund,  wie 
er  im  Belt  lag,  als  er  in  jener  Nacht  von  der  Todesnachricht 
zerriittet  in  die  wcinende,  besinnungslose  Wohnung  ge- 
stiirzt  kam.  Er  wendet  den  Kopf  und  blickt  wieder  in  einen 
Spiegel.  Er  schiittelt  sich,  und  in  seincm  Korper  macht  sich 
eine  Bewegung  los,  zuriick,  auf  die  Treppe  zu,  hinaus  auf 
die  StraBe,  —  da  steht  mit  leisem  Schlurfen  eine  fett- 
geschwollene,  zottige  alte  Frau  in  schwarzem  Klcid  und 
PantofFeln  vor  ihm  und  sagt  unsicher: 

..Geftllig?" 

Das  ist  wahrscheinlich  Mutter  Menczer  .  .  .  nna. 

,,Habe  ich  vielleicht  das  Vergniigcn,  Frau  Menczer . . .  ?" 

,Ja.  Geflfflg?" 

Er  verbeugt  sich.  ,,Ich  bin  Andor  Kelemcn,  mein 
Schwager  war  so  freundlich war  so  frei  — " 

,,Ja  so.  Sie  sind  der  junge  Mann.  Ja,  der  Karoly  hat  mit 
meinem  Sohn  davon  gesprochen,  abcr  mein  Sohn  ist 
momentan  nicht  hier,  um  diese  Zeit  ist  er  nie  hier,  Sie  haben 
sich  eine  schlechte  Zeit  ausgesucht." 

Er  schluckt  schwer.  ,,Bitte,  ich  kann  jederzeit  kommcn." 
Er  schluckt  noch  einmal.  ,tjedenfalls  frcut  es  mich,  dafi  ich 
die  Ehre  gehabt  habc  ...  die  gnSdige  Frau " 

,,Ja,  auch  sehr  erfreut.  Wir  habcn  den  Kiroly  sehr  gcrn, 
ihm  zuliebe,  hat  mein  Sohn  gcsagt,  ihm  zulicbc,  Mama, 
wollen  wir  versuchen,  mit  seincm  Schwager  was  zu  machen. 
Aber  das  sage  ich  Ihncn  gleich,  von  einer  festcn  Stellung 
war  nicht  die  Rede,  das  vcrtragt  das  Gcschaft  hcutzutage 
nicht,  sondern  mein  Sohn  hat  dem  Kiroly  gleich  gcsagt, 

508 


wenn  dein  Schwager  ein  tiichtiger  Mensch  1st,  dann  kann 
er  bci  mir  sehr  schone  Geschafte  machen,  wir  werden  ihm 
ein  Prozcnt  mchr  geben  als  den  andern  Agenten ..." 

Die  Kehle  ist  ihm  ausgetrocknet,  im  Spiegel,  iiber  dem 
Kopf  der  Alten,  glanzcn  seine  Augcn  dunkel. 

,,Und  wann  konnte  ich  mit  Herrn  Menczer " 

,,Vielleicht  morgens  um  neun,  halb  neun,  wir  machen 
schon  um  acht  auf,  Sie  konnen  um  acht  schon  kommen." 

,,Vielleicht  morgen?" 

,,Ja,  gut,  morgen."  Sie  reicht  ihm  ihre  fettschwiilstige, 
schmutzige  Hand.  ,,Schonen  GruB  an  den  Karoly ...  ein 
sehr  braver  Mann ..." 

Er  laBt  die  Hand  der  alten  Frau  los;  ein  Gefiihl  hat  er, 
als  miisse  er  jetzt  sofort  das  Holzgelander  der  Treppe  an- 
packen  und  unbemerkt  seine  Hand  daran  abreiben.  Frau 
Menczer  sieht  ihn  mit  nach  links  geneigtem  Kopf  an.  Die 
erste  Stufe  quiescht  unter  seinem  FuB  auf.  Es  fallt  ihm  etwas 
ein;  einen  Augenblick  zogert  er. 

,,Sagen  Sie  bitte  . .  .  die  Mobel  werden  iiber  diese  Treppe 
hinauftransportiert  ?" 

Das  Gesicht  der  Frau  wird  sofort  geschaftlich,  und  ihre 
Stimme  klingt  wie  die  eines  Fachmannes,  der  das  Geheimnis 
einer  Erfindung  erklart: 

,,O  nein!  iiber  diese  Treppe  werden  keine  Mobel 
geschleppt.  Die  Mobel  werden  von  hinten,  vom  Lager  aus 
transportiert,  mit  dem  Lastenaufzug  auf  den  Hof,  von  da 
kommen  sie  am  andern  Tor  auf  den  Wagen,  diese  Treppe 
hier  ist  bloB  Eingang,  die  wiirde  ja  nicht  einmal  einen 
kleineren  Schrank  tragen." 

Es  hort  auf  zu  regnen,  dunstig  gliihen  im  feuchten 
Abend  die  Lichter  iiber  der  StraBe;  kleine  WindstoBe  zer- 
reiBcn  am  Himmcl  die  schweren  Wolkenfetzen.  Die  Neben- 
straBcn  sind  von  einer  geradcn  Lampenreihe  beleuchtet, 
auf  dem  durchnaBtcn  Fahrdamm  glimmt  gclb  die  zweite 
Lampenreihe.  Gelblichc  Perlen,  sicher  hat  er  ihr  auch 
Juwelcn  versprochen mit  der  Hand  schlagt  er  vor 

J°9 


seinem  Gesicht  her,  als  vcrjage  cr  einc  lastige  groBe  Fliege; 

nein,  —  wenn  es  mir  jetzt  nicht  gelingt,  diese  Fliege 

Er  tritt  in  den  Zigarrenladen;  kauft  Zigaretten,  auch 
Streichholzer,  lange  wahlt  er  unter  den  flachen  und  dicken 
Streichholzschachteln.  Dann  sucht  er  sich  noch  zwei  Zigar- 
ren  aus;  cine  magere  Frau  sieht  sauerlich  zu,  wie  er  die 
Zigarren  in  der  Kiste  knistern  laBt.  Dann  laBt  er  sich 
Ansichtskarten  vorlegen,  blattert  in  dem  groBen  schwarzen 
Album.  Ansichten  von  Budapest,  imposante  Sache  das 
Parlament .  .  .  und  wo  mag  das  hier  sein?  ach  ja,  Calvin- 
Platz,  sieht  in  Wirklichkeit  ganz  anders  aus.  Jetzt  kommen 
Blumen  im  Album,  bunte,  siiBliche  StrauBe,  dick  heraus- 
gestanzt  aus  dem  Grund.  Jetzt  ist  er  bei  den  Ulkkarten 
angelangt,  bei  witzigen  Szenen  mit  sogenanntcm  dcrbem 
Humor,  —  du  lieber  Gott,  wer  kauft  so  was?  Gleich  dahinter 
Pikanterien,  dcr  Phantasie  eines  Fris6rlehrlings  ent- 
sprechend,  Damen  in  bunten  Combinaisons  und  sonstigen 
Hullen,  mutwillig  die  nackten  Beine  zeigend.  Dann  ziehen 
romantische  Duetts  an  seinen  Augen  voriiber,  kniende 
Kavaliere,  Frauen  in  leichten  Gewandern,  auf  Kanapees 
hingegossen,  —  unglaublicher  Blodsinn.  Aber  auch  ernstere 
Sachen  sind  da,  dunkelgetonte,  farbige  Reproduktionen 
bekannter  Bilder,  jaja,  etwas  Gottliches  ist  die  Malerei, 
was  fur  Kraft  in  dieser  reitenden,  nackten  Gestalt  steckt . .  . 
—  und  dann  ist  da  oben  ein  Bild,  ,,Der  Daimon"  steht 
darunter  gedruckt,  —  eine  rothaarige  Frau  in  dekolleticrtem 
weiBem  Schleppkleid  mit  erhobenen  Armcn,  vor  ihr  mit 
gcbeugtem  Kopf  und  gesenkten  Schultern  cin  Mann  im 

Smoking plotzlich  schlagt  er  das  Album  zu;  die  dunne 

Vcrkauferin  sieht  ihn  erschreckt  an.  ,,Darf  ich  vielleicht 
etwas  in  Filmstars  zeigen?"  fragt  sic,  ,,ncin,  danke",  sagt 

er,  ,,ich  findc  nicht,  was geben  Sic  mir  bitte  eine 

gewohnliche  Postkarte."  —  ,,Nach  auswirts?"  fragt  die 
Verkauferin  unmotiviert.  ,,Ja . . .  was  hab  ich  zu  zahlen?" 
Die  Frau  bewcgt  leise  den  Mund.  ,,Einszehn  und  scchsund- 
siebzig  und  zchn  und  zchn,  macht  zwei  Pengo  scchs,  danke 


schon .  .  ."  Er  1st  wieder  auf  der  StraBe.  Na,  denkt  er,  das 
waren  gute  zehn  Minuten.  Ich  werde  mir  die  Sache  auf- 
teilen,  so  ...  in  Minuten.  Einen  Schritt  weiter  steht  ein 
Zeitungsverkaufer  an  der  Ecke.  Er  tritt  bin,  liest  die  hun- 
dertfach  bekannten  Dberschriften,  kauft  dann  ein  Abend- 
blatt  und  eine  Sportzeitung.  Blodsinn.  Zum  Fenster  raus- 
geschmissenes  Geld,  lesen  werde  ich  sie  ja  docb  nicht.  Er 
faltet  die  Zeitungen  zusammen  und  steckt  sie  in  die  innere 
Tasche,  von  dem  Packen  schwillt  die  Tasche  dick  an.  Er 
nimmt  ihn  wieder  heraus,  legt  jede  Zeitung  einzeln  zu- 
sammen und  bringt  sie  in  zwei  Taschen  unter.  Zwei 
Minuten.  Er  liest  die  Schilder  iiber  den  Geschaften;  vor 
den  noch  beleuchteten  Schaufenstern  bleibt  er  stehen.  Aber 
das  wird  so  nicht  gut  gehen,  ich  krieg  den  Tag  nicht 

um ins  Kino  konnte  ich  gehen,  mir  eine  Frau  auf- 

gabeln,  —  wenn  ich  einen  Freund  hatte,  einen  einzigen 

Menschen nicht  von  den  Jungens  oder  den  Kol- 

legen .  .  .  jemanden,  mit  dem  man  sprechen  konnte,  dem 

man  erzahlen  konnte oder  um  Rat  bitten,  —  ob  ich 

diese  Stellung  annehmen  soil.  Er  bleibt  stehen,  jetzt  weiB 
er  nicht,  wohin  er  gehen  soil.  Ins  Kino  auf  dem  Ring,  oder 

ich  setz  mich  in  die  Elektrische  und  fahre  hinuntcr  nach 

ach  was,  hier  ist  ja  auch  ein  Kino,  zehn  Schritt,  gleich  hinter 
der  Ecke.  Die  StraBe  ist  hell  vom  elektrischen  Licht,  eilend 
geht  er  auf  den  beleuchteten  Eingang  zu.  Im  uberfxillten 
Foyer  bleibt  er  stehen,  in  wenigen  Minuten  beginnt  die 
Vorstellung,  was  fiir  ein  Film  lauft  hier  eigentlich?  einer- 
lei.  Er  blickt  um  sich,  jemand  gruBt  ihn,  hab  die  Ehre;  er 
sieht  sich  um,  als  suche  er  einen  Bekannten,  mit  dem  er  sich 
verabredet  hat;  jemand  drangt  ihn  vor,  pardon,  bitte,  — 
er  schlangelt  sich  durch  an  die  Garderobe,  mustert  scharf 
eine  groBe  Garderobenfrau  in  schwarzem  Kittel,  sie  er- 
widert  den  Blick,  lachelt,  Garderobe  gefallig?  sagt  sie 
ermuntcrnd;  er  dreht  sich  um  und  drangelt  sich  wieder 
zuruck  an  die  Kasse;  vor  dem  groBen  Spiegel  steht  ein 
Madchen  in  einer  blauen  Kappe  mit  stark  geschminkten 

S" 


Lippen  und  dxinnen  schwarzen  Augenbrauen,  ganz  hub- 
sches  Ding,  sehr  schlank,  was  fur  gute  Briiste  sie  hat, 
wahrscheinlich  wartct  sie  auf  jemanden,  —  sie  zieht  die 
Handschuhe  aus  und  kramt  in  ihrem  Taschchen,  schone 
weiBe  Hande  hat  sie,  mit  langen  Fingern,  mag  Verkauferin 
sein,  vielleicht  hier  im  Warenhaus,  oder  Biiroangestellte, 
und  wenn  schon?!  war  dem  Generaldirektor  seine  Bebi  bei 
der  Transcont  nicht  cine  prachtvolle  Person?  —  Er  bleibt 
in  der  Nahe  des  Madchens  stehen  und  heftet  den  Blick  auf 
sie,  —  wenn  ihr  Erwarteter  kommt,  dann  hab  ich  eben  in 

den  Spiegel  gesehen,  und  wenns  ihm  nicht  paBt,  dann 

Das  Madchen  sieht  ihm  auch  in  die  Augen,  beleckt  ihre 
Lippen,  dann  dreht  sie  ihm  plotzlich  den  Riicken,  und  nun 
begegnen  sich  ihre  Blicke  im  Spiegel.  Er  tritt  ein  wenig 
naher  und  sieht  sie  im  Spiegel  an,  sie  erwidert  den  Blick. 
Na.  Die  scheint  auf  niemanden  zu  warten,  wenn  aber  doch, 
dann  gratulier  ich  dem  Betreffenden.  Eine  Klingel  surrt, 
die  Menschenschlange  vor  der  Kasse  macht  einen  Ruck. 
Jetzt  ist  er  der  blauen  Kappe  ganz  nahe,  —  wirklich  hiibsch 
1st  sie,  hat  gute  Beine  und  tragt  anstandige  Schuhe,  muB 
wohl  ein  besseres  Madel  sein  ...  da  dreht  sie  sich  mit  einer 
raschen  Bewegung  vom  Spiegel  weg,  tritt  vor;  und  im 
Vorbeigehen  streift  sie  seinen  Arm,  ,,pardon",  sagt  er,  — 
der  Kopf  mit  der  blauen  Kappe  nickt  wie  zufallig,  —  sie 
stellt  sich  in  die  Reihe  vor  der  Kasse.  Mit  einem  Schritt 
steht  er  hinter  ihr.  Er  drangt  sich,  bewegt  sich  und  beriihrt 
ihren  Riicken.  ,,Pardon",  sagt  er  ganz  leise.  Der  Kopf  des 
Madchens  regt  sich  nicht.  Jetzt  knickt  er  das  Knie  ein  und 
beriihrt  ihr  Bein,  das  Bein  zieht  sich  sofort  zuriick.  Einen 
Schritt  vorwirts.  Wieder  nahert  er  sich  ihr  mit  dem  Knie,  — 
da  regt  sich  ihr  Bein  nicht.  Na.  Von  der  Wand  her  sieht  er 
ihr  ins  Gesicht,  sie  weicht  dem  Blick  nicht  aus.  ,,Ein  gutes 
Programm  ist  hcute",  sagt  er  leisc.  ,,So?  woher  wissen  Sie 
das?  haben  Sies  schon  gesehen?"  antwortet  sie  leise.  ,,Nein, 
ich  weiB  es  bloB."  —  ,,Dann  ists  ja  gut",  sagt  sie.  Wieder 
einen  Schritt  vorwarts.  Noch  zwei  Pcrsonen  stehen  vor 


512 


ihncn.  Jetzt  schmiegt  er  sich  ganz  dicht  an  sic,  sie  lehnt  sich 
schweigcnd  an  ihn  an.  Dann  beugt  sich  die  blaue  Kappe 
vor  dem  Kassenfenster.  ,,Kann  ich  noch  Balkon-Mitte  zu 
einsfiinfzig  bekommen?"  fragt  sie.  ,,Balkon-Mitte  . . .  zwei 
Pengd,  fiinfte  Reihe,  gut?"  Der  Kopf  des  Madchens  macht 
cine  halbe  Wendung  nach  hinten,  dann  sagt  sie:  ,,gut."  Die 
Kassiererin  steckt  den  Kopf  ein  wenig  vor:  ,,zwei?"  — 
,,Ja",  sagt  er  da  hinter  der  blauen  Kappe,  ,,zwei  nebenein- 
ander",  und  legt  ein  Fiinfpengostuck  auf  die  Glasplatte.  — 
Das  Madchen  hciBt  Maca  und  arbeitet  in  einer  Drogerie, 
ist  vierundzwanzig  Jahre  alt  und  hat  noch  drei  Schwestern, 
zwei  von  ihnen  nahen  in  einem  Salon  in  der  inneren  Stadt, 
die  andere  ist  in  Stellung  bei  einer  vornehmen  Familie, 
Maca  pflegt  wirklich  nicht  im  Kino  Bekanntschaften  zu 
machen,  hat  es  auch  nicht  notig,  zwei  junge  Leute  sind 
ganz  vernarrt  in  sie,  aber  sein  Gesicht  kam  ihr  so  bekannt 
vor  .  .  .  ob  er  nicht  eine  Familie  Benedek  in  der  Damjanich- 
StraBe  kenne,  ob  sie  sich  dort  nicht  schon  begegnet  seien, 
nein?  dann  muB  sie  sich  wohl  geirrt  habcn,  im  iibrigen 
wollte  sie  auch  an  der  Kasse  keinen  Skandal  machen,  des- 
halb  hat  sie  sich  darauf  eingelassen . . .  das  alles  erfuhr  er 
zwischen  dem  Foyer  und  dem  Balkon.  Das  Madchen  roch 
gut,  ein  wenig  stark  war  ihr  Parfum,  ein  wenig  Drogerie- 
Geruch  hatte  sie  an  sich,  einen  guten,  schweren,  kompli- 
zierten  Geruch,  das  war  ja  verstandlich.  Wahrend  des 
Rcklamefilms  und  der  Wochenschau  murmelte  Maca  in 
einem  fort,  —  wie  gerne  sie  ins  Kino  gehe  und  wie  selten 
sie  dazu  komme,  auch  heute  habe  sie  sich  nur  mit  Miih 
und  Not  driicken  konnen,  soviel  gebe  es  im  Geschaft  zu 
tun,  der  Chef  habe  vor  kurzem  den  Gehilfen  abgebaut,  und 
jetzt  musse  sie  bedienen  und  an  der  Kasse  sitzen,  das  sei 
sehr  anstrengend,  aber  sie  wurde  auch  nicht  mehr  da  blei- 
ben,  weil  der  Sohn  des  Chefs  sich  unverschamt  benommen 
habe,  ein  Rotzbengel,  der  erst  voriges  Jahr  das  Abitur 
gemacht  habe,  der  sei  ihr  im  Sotnmer  damit  gekommen, 
sie  solle  mit  ihm  einen  Weekend- Ausflug  machen,  —  mit 

33  KOrmcDdl.  Budapett  5X3 


Ihncn?  allein?  hab  ich  ihn  gefragt,  —  na,  natiirlich,  sagt 
er  da,  alle  Flappers  gehen  allein  mit  ihren  Freunden  2um 
Weekend."  —  ,,Na",  sprach  er  dazwischen,  ,,aufrichtig, 
sind  Sie  nicht  mit  ihm  gegangcn?"  —  ,,Mit  dem  griinen 
Jungen?! . . .  einmal  bin  ich  mitgegangen,  weil  er  ein 
Ruderboot  hat  und  wcil  ich  furchtbar  gcrn  mal  auf  der 
Donau  rudern  wollte,  aber  es  war  wirklich  nichts  zwischen 
uns,  bloB  laBt  er  mir  seitdem  keine  Ruhe,  iiberhaupt  seit 
er  auch  ins  Geschaft  kommt,  und  wenn  der  Alte  uns  bloB 
eincn  Augenblick  allein  laBt,  fangt  er  gleich  an,  Schweine- 
reien  zu  reden,  und  dabei  kann  ich  mich  nicht  einmal 
beschweren,  denn  der  Chef  wiirde  ja  doch  denken,  ich 
wolle  mit  dem  Bengel  anbandeln."  Dann  kam  die  Aus- 
lands-Wochenschau,  nicht  mehr  stumm,  da  muBtc  man  auf- 
passen,  also  horte  sie  auf  zu  reden.  Ein  Bild  hatte  den  Titel : 
Palm  Beach;  amerikanische  Madchen  im  Bad.  Herrlich 
gewachsene  junge  Weiber  sausten  auf  das  sch£umende 
Wasser  zu,  sprangen  auf  einem  riesigen  Gummiwalfisch 
herum  und  quietschten  in  zu  hohen  und  zu  tiefen  Kino- 
toncn.  ,,Die  habens  gut**,  sagte  Maca,  ,,dabei  hab  ich 
gclesen,  daB  das  auch  Ladenmadchen  und  Manikiiren  sind/* 
Nun  begann  der  groBe  Film;  da  ergriff  er  Macas  Hand, 
natiirlich  lieB  sie  es  sich  gefallen  und  erwiderte  den  Druck. 
Dann  taten  auch  ihre  Arme  und  Knie  intim  miteinander,  — 
als  der  Film  zu  Ende  war,  sagte  er:  ,,na,  Maci,  jetzt  gehn  wir 
irgendwo  essen",  —  ,,fein",  willigte  sie  ein,  ,,bloB  nicht  in 
einen  Automaton,  die  sind  mir  verhaBt."  Sie  gingen  in  ein 
Restaurant  auf  dem  Ring,  im  kleineren  Saal  bekamen  sie 
einen  Tisch  an  der  Wand.  Maca  legte  ihre  blaue  Kappe  ab; 
sie  hatte  glattcs,  in  der  Mitte  gescheiteltes,  gl&nzend  schwar- 
zes  Haar,  und  wie  er  ihr  Gesicht  so  betrachtcte,  entdeckte 
er  sofort  eine  leise,  entfernte  Ahnlichkeit  zwischen  ihr  und 
Frau  Kiddr.  Er  wurde  miBgcstimmt,  zerstreut  nahm  er  die 
Spcisekarte  in  die  Hand,  rief  ungeduldig  nach  dem  Kellncr, 
der  erst  auf  den  zweiten  oder  dritten  Ruf  an  den  Tisch  kam. 
Maca  tat  bescheidcn,  sprach  dazwischcn,  sie  wolle  nur 

JX4 


etwas  ganz  Leichtes  essen,  er  beachtete  es  nicht.  Er  bestellte 
kalte  Fischschnitten  mit  Tatarsauce  und  kompaktes  eng- 
lisches  Fleisch.  Das  Madchen  sagte:  ,,ei,  fein  werden  wir 
heute  leben",  und  schnalzte  mit  der  Zunge,  —  da  wurde  er 
noch  miBgestimmter.  Hunger  hat  die,  dachte  er,  natiirlich, 
warum  sollte  sic  keinen  Hunger  haben?  Sie  ist  doch  allein 
ins  Kino  gezogen,  auf  die  Jagd  nach  einem  Partner.  Wahr- 
scheinlich  hatte  sie  es  schon  langst  auf  mich  abgesehen,  als 
ich  sie  erblickte.Unangenehmes,  kiihles  Schweigen  herrschte 
zwischen  ihnen;  Maca  schien  zu  fuhlen,  daB  irgend  etwas 
nicht  ganz  stimmte,  und  fing  rasch  an  zu  sprechen.  Der 
Film,  den  sie  eben  gesehen  hatten,  sei  ziemlich  dumm,  — 
,,der  cine  Tango,  der  war  noch  ganz  gut,  aber  diese  bidden 
Geschichten,  der  Komponist  und  die  Primadonna,  das 
hangt  einem  schon  zum  Halse  raus  ...  ich  habe  Musik 
wirklich  gern,  aber  im  Kino  war  doch  das  das  Wahre, 
wenn  man  sich  aufregen  konnte,  ob  die  Rauber  Tom  Mix 
oder  Harry  Piel  fangen  wiirden  oder  nicht . . .  Wissen  Sies 
noch?"  fragte  sie  dann,  ,,haben  Sies  nicht  im  Ohr  behalten?" 
und  leise  begann  sie,  den  Tango  zu  summen.  Ein  gutes 
Gehor  hat  sie,  dachte  er,  eine  ganz  nette  kleine  Stimme. 
Geschickt  sang  Maca  den  ganzen  Schlager,  ein  wenig  ver- 
halten  und  tief.  Ein  groBer  blonder  junger  Mann  in  grauem 
Anzug,  der  vom  Nebentisch  hinhorchte,  betrachtete  Maca 
interessiert.  ,,Sehr  hiibsch  sings t  du",  sagte  Kelemen  dann, 
,,du  konntest  ruhig  in  jedem  beliebigen  Lokal  als  englische 
Sangerin  auftreten,  du  hast  so  eine  Kinostimme."  —  ,,Nein, 
wirklich!  Sie  finden  das  auch?  das  hat  man  mir  namlich 
schon  ofters  gesagt,  bloB  die  Haare  muBte  ich  mir  blond 

ftrben  lassen,  hat  man  mir  gesagt."  Blond und  da 

sieht  er  die  kleine  blonde  Englanderin  aus  der  Bar  auf  der 
Insel  vor  sich,  damals  am  ersten  Abend  .  . .  Verdutzt  beob- 
achtet  das  Madchen  die  Veranderung  in  seinem  Gesicht,  — 
eincn  Augenblick  sieht  sie  auf  ihren  Teller,  ,,was  sind  Sic 

fur  ein  merkwurdiger  Mensch ...  ich  weiB  nie,  ob 

immer  denke  ich,  jetzt  fangen  Sie  an,  wegen  irgend  etwas 

33*  515 


bose  zu  sein."  Kurz  und  duster  lacht  er  auf,  ,,nein,  nichts, 
Kind",  antwortet  cr,  ,,warum  sollte  ich  denn  bosc  sein? 
Ich  bin  sehr  gut  gelaunt,  um  mein  Gesicht  muBt  du  dich 
nicht  kummern."  Maca  ist  aber  nun  schon  unruhig.  ,,Sagen 
Sic  ...  waren  Sic  im  Krieg?  mein  armer  seligcr  Vater  war 
im  Feld  als  Landstiirmcr,  und  er  hat  immcr  gesagt,  noch 
vor  zwei  Jahren  hat  er  das  gesagt,  mit  dcnen,  die  lange 
drauBen  waren,  sei  das  so,  manchmal  uberkomme  es 
sic ..."  —  ,,Nein,  ich  war  nicht  im  Krieg",  antwortet  er 

abwehrend,  ,,bitte,  du  muBt  nicht  denken,  daB nichts 

muBt  du  denken.  Ich  sage  doch,  ich  bin  gut  gelaunt."  Dann 
bemiiht  er  sich,  jedenfalls  ein  rundes,  lachelndes  Gesicht 
zu  zeigen,  und  lenkt  schnell  das  Gesprach  wieder  auf  Harry 
Piel  und  die  famosen  Filme  von  fruhcr,  in  denen  Bewcgung 
und  Handlung  und  Komplikation  war,  nicht  bloB  diese 
lauen  Liebesfaxen ...  Sie  essen;  Maca  ziert  sich  zuerst, 
,,nur  wenig,  bitte,  —  bloB  einen  Tropfen  Wein,  —  groBer 
Gott,  was  fur  Riesenportionen,  das  kann  man  ja  gar  nicht 
aufessen,  —  ist  der  Senf  nicht  zu  scharf?  nein?  dann  bitte 
ein  biBchen,  aber  bloB  ein  kleines  biBchen",  und  dann 
kommt  sie  unbemerkt  ins  Schlingen.  ,,Nehmen  Sie  das 
Stuck  da  nicht  mehr?  so  wenig  essen  Sie?  Also,  auf  der 
Schiissel  laB  ich  das  nicht . .  .  Die  paar  Kartoffeln,  wenn 
Sie  sie  nicht  mehr  essen,  bin  ich  so  frei."  —  ,,Aber  bitte." 
Und  was  sie  noch  mochte,  Torte  oder  kleines  Geback? 
,,Fein,  also  dann  kleines  Geback,  ich  schwarmc  fiir  Petits 
Fours  mit  Krem.  Sagen  Sie,  ware  es  cine  Schande,  wenn 
ich  auch  so  eine  Dobosch-Schnitte  bestellte,  die  esse  ich 
namiich  schrecklich  gcrn,  und  davon  gibts  keine  kleinen  . . . 
Und  einen  Apfel?  Fein,  ja  bitte,  einen  schonen  gelben  Apfel, 
ich  eB  fiir  mein  Leben  gern  Obst."  —  Er  sclbst  iBt  kaum 
etwas,  die  drauflosfutternde  Partnerin  macht  ihm  keinen 
Apperit.  Einmal,  vielleicht  vor  acht  Jahren,  noch  in  den 
guten  aJten  Bankzeiten,  batten  sie  sich  zu  vicr  Jungens  zum 
SpaB  auf  der  StraBe  zwei  ausgehungerte  Frauenzimmer  auf- 
gelescn,  —  widcrlich  warea  sie,  nicht  so  nett  wie  diese 

,16 


Maca  hicr,  —  die  hatten  sic  mitgcnommcn  in  ein  Wirtshaus 
im  Stadtpark,  im  Sommcr  war  das,  und  sic  gcstopft  wie  die 
Ganse,  die  in  dcr  roten  Bluse  vcrschlang  acht  Paar  Wiirst- 
chcn  und  scchs  Glas  Bier,  nach  dem  Essen  konnte  sie  sich 
im  wahrstcn  Sinne  des  Wortes  nicht  mehr  riihren  und  war 
dem  Ersticken  nahe,  —  was  fur  cine  Hetz  war  das  mit  den 
bciden  sclig  vollgefressenen,  keuchenden,  biertrunkenen 

Fraucnzimmern Ein  peinliches  Gefiihl  stcckt  ihm  in 

dcr  Kchle,  wie  cr  sich  dieses  Madchen  hicr  mit  den  glan- 
zenden  Augen  ansieht,  das  schneeige  Leuchten  ihrer 
schonen  weiBen  Hande  um  Besteck  und  Speisen.  Ober  der 
Lippe  hat  sie  einen  diinnen  Schokoladestreifen.  ,,Wisch 
dir  den  Mund  ab",  sagt  er  fast  grob,  ,,pardon",  antwortet 
sie  unterwiirfig;  nimmt  aus  der  Handtasche  den  kleinen 
Spiegel,  schaut  hinein  und  hebt  die  Serviette  an  den  Mund, 
,,ja,  ach  das  ist  ja  nichts  weiter,  ein  biBchen  Schokolade." 
Ein  wenig  hebt  sie  den  Spiegel.  ,Je,  meinc  Frisur  ist  ja 
ganz  verdorben",  und  mit  dem  kleinen  braunen  Taschen- 
kamm  streicht  sie  an  der  Seite  das  Haar  glatt.  ,,Was?"  sagt 
er  tonlos,  —  ,,verdorben?I"  —  ,,Mein  Gott,  wie  sehen  Sie 
mich  denn  an  .  . ."  und  ernste  Angst  huscht  iiber  ihr  Ge- 
sicht,  —  ,,ich  versteh  wirklich  nicht . . .  weil  mir  unter  der 
Kappe  das  Haar  verrutscht  ist  — "  Feuchte  Kalte  kriecht 
ihm  durch  alle  Glieder.  Nein,  gan2  bestimmt  bin  ich  nicht 
wohl,  ich  muB  nach  Hause  gehen.  —  Er  zahlt;  aus  dcr 
Brieftasche  nimmt  er  einen  Hundertpengoschein.  Maca 
guckt  mit  zusammengezogenen  Augen  das  Geld  an.  Nervos 
und  ungcschickt  schliipft  er  in  den  Mantel,  geht  vor  rwi- 
schen  den  Tischen  hindurch,  bleibt  dann  verwirrt  stehen 
und  wartet,  bis  das  Madchen  ihn  erreicht  hat.  In  der  Tiir 
nimmt  cr  ihrcn  Arm.  Ncin  —  ich  kann  jetzt  nicht  nach 
Hausc  gchcn . . .  allein,  —  ich  kann  nicht . . .  noch  cine 
schlaflose  Nacht  und  dieses  —  Er  preBt  Macas  Arm. 
,,Maci . . .  wohin  gchn  wir  jctzt?"  —  ,,Wohin  wollen  Sic?" 
fragt  das  Madchen  unsichcr,  ,,in  ein  Caft?"  —  Kliffendcs 
Auf  lachcn.  ,,Nein,  in  kein  Caft  . . .  irgcndwohin,  wo  wir 


allein  sind,  Macichen."  Sie  macht  ihren  Arm  los.  ,,Sehen 
Sic  mal,  ich  will  Ihncn  aufrichtig  sagen  .  . .  ich  habc  Angst 
vor  Ihncn  — "  Es  klopft  ihm  in  dcr  Brust.  ,,Vor  mir?  du 
bist  ein  Dummchen!  warum  hast  du  dcnn  Angst  vor  mir? 
ich  bin  kein  schlcchtcr  Mensch  ...  ich  bin  ein  absolut  gutcr 
Mcnsch,  Maca,  vor  mir  brauchst  du  kcinc  Angst  zu  habcn, 
Kind ..."  —  ,,Ich  hab  ja  bloB  Scherz  gemacht",  sagt  sic 
schnell,  ,,ich  hab  iibcrhaupt  vor  niemandcm  Angst.  Also, 
wohin  wollen  Sie  dcnn  gchen?  und  warum  solien  wir  allein 
scin?  .  .  ."  In  seinem  Kopf  schreit  einc  Stimme  auf :  nicht 

allein  sein!  .  .  .  ich  will  nicht  allein  sein Stille,  er  weiB 

nicht,  was  er  Maca  antworten  soil.  Aber  sic  ist  mit  dieser 
Frage  bereits  iiber  die  erste  obligate  Zuriickhaltung  hinwcg, 
sic  weiB,  daB  man  nach  dcm  Kino  und  dem  iippigen  Abend- 
essen  nicht  undankbar  sein  darf.  ,,Zu  uns  konnen  wir  nicht 
gchen",  sagt  sic  leise,  ,,denn  ich  wohne  mit  der  Mutter  und 
den  Schwestern  zusammcn,  aber  ginge  es  nicht  bei  Ihncn? 
odcr  wohnen  Sie  auch  bei  den  Eltern?  ins  Hotel  wiirdc  ich 

wirklich  sehr  ungern  gehen."  Ich  wohne ich  wohne 

mit  niemandem  zusammcn,  bloB  die  Chaiselonguc  mit  der 
bordeauxroten  Deckc  und  der  Tisch  mit  dem  Wachs- 

tuch und  wenn  schon?  ich  hab  sic  ja  schlieBlich  im 

Kino  aufgelesen,  ist  doch  ganz  gleich,  ist  sic  etwa  an  was 
Bessercs  gewohnt?  und  wenn  sic  an  was  Besscres  gewohnt 

ist,  na  dann ,,Wir  gehen  zu  mir",  sagt  er  und  schiebt 

seine  Hand  wieder  unter  ihren  Arm,  ,,ich  wohne  nicht 
weit . .  .  allerdings  ein  biBchen  — "  —  cr  bricht  ab.  ,,Waa?" 
fragt  Maca,  ,,was  ist  ein  biBchen?"  Stille.  ,,Mein  Zimmcr 
ist  nicht  besonders  schon",  fahrt  cr  dann  fort.  ,,Mobliertcs 
Zimmer?"  fragt  sic.  ,Ja."  —  ,,Aha .  .  .  aber  doch  gcwifl 
sturmfrei",  sagt  sic  sachverstandig.  Er  gibt  keinc  Antwort, 
ein  paar  Schrittc  gchcn  sic  Arm  in  Arm.  ,,Extraeingang?" 
fragt  Maca  wciter,  ,,und  habcn  Sie  Badczimmerbcnut- 
zung?"  —  Er  zerrt  sic  ein  wcnig  am  Arm.  ,,Komm,  mcin 
Engcl",  sagt  er,  ,,alles  habc  ich,  aber  wir  wollen  aus- 
schrcitcn,  wic  die  Soldaten,  eins,  zwei,  cs  ist  kalt."  Da 

Jl8 


fallt  ihm  ein,  daB  der  Ofen  in  seinem  Zimmcr  gewiB  schon 
langst  ausgekiihlt  1st,  Julie  wird  nicht  noch  mal  aufgclcgt 
habcn,  es  wird  kalt  sein.  Egal.  Wenn  sic  an  was  Besseres 

gewohnt  ist,  kann  sic  ja  gchen wcnn  ich  sic  weglassc. 

Nach  wcnigcn  Minutcn  stehcn  sic  vor  dem  Haus;  cr  klingclt 
und  laBt  cinen  Pcngo  in  die  Hand  des  Hausmeisters  fallen, 
sic  gchen  die  Treppe  hinauf.  An  dcr  Hand  fuhrt  er  sic  durch 
das  dunkle  Entree  und  den  Flur:  dann  knackt  der  Schal- 
tcr,  —  ,,na",  sagt  das  Madchcn  ermunternd  und  blickt  sich 
um,  ,,ein  ganz  hiibsches  Zimmer . . .  nach  der  StraBe."  Er 
hebt  den  Finger  an  den  Mund,  sofort  fangt  sie  an  zu 
fliistern:  ,,schlaft  jemand  nebenan?"  —  ,,Ja",  antwortet  er, 
,,ein  Zimmer  ist  zwar  noch  dazwischen,  aber  trotzdem, 
lieber  leise  . .  ."  Er  bietet  ihr  Plate  an  und  deutct  nach  dem 
Stuhl  am  Tisch;  dann  tritt  er  an  den  Schrank,  kramt  darin 
und  holt  ein  halbes  Paket  Zwieback  heraus,  —  na,  die  sind 
mindestens  ein  halbes  Jahr  alt,  als  ich  rnir  das  letzte  Mal 
den  Magen  verdorben  hatte,  —  und  einc  Flasche  Kognak. 
Dann  Glaser  aus  der  Waschtischschublade.  ,,Was  zu  trin- 
ken?  fein!"  sagt  Maca,  ,,aber  der  Zwieback  ist  iiberfliissig, 
ich  kann  sowicso  nichts  mehr  essen."  Er  gieBt  zwei  Glaser 
voll,  —  ,,ex",  sagt  Maca,  ,,und  Brudcrschaft,  jetzt  duze  ich 
dich  auch."  Er  setzt  sich  neben  sie,  ihr  Blick  fliegt  durchs 
Zimmer,  in  jeden  Winkel,  pruft  und  taxiert  alles  und  bleibt 
dann  auf  dem  aufgeschlagenen  Bett  haften.  Er  folgt  ihrem 
Blick,  dann  umschlingt  er  ihren  Kopf,  zieht  sie  an  sich  und 
kiiBt  sie.  Maca  schlieBt  die  Augen,  ihre  Lippen  ofmen  sich 
ein  wenig.  Sie  riecht  nach  Kognak  . . .  plotzlich  laBt  er  sie 
los,  steht  auf  und  zieht  den  Rock  aus.  ,,Je",  sagt  Maca  und 
stcht  auch  auf,  ,,was  ist  denn?"  —  ,,Ich  zieh  mich  aus", 
antwortet  er,  ,,na,  Maci ..."  —  ,,W(irden  Sie  nicht  das 
Licht  ausmachcn?"  Er  schaltet  das  gelbe  Licht  aus.  In 
Hemdsarmeln  setzt  er  sich  aufs  Bett,  um  die  Schuhc  aus* 
zuziehen,  —  da  fiihlt  er  einen  Ruck  neben  sich,  seine  Augen 
haben  sich  noch  nicht  an  die  Dunkelheit  gewohnt,  —  er 
greift  hin,  neben  ihm  auf  dem  Bett  sitzt  Maca,  mit  virtuoser 

519 


Routine  von  den  Kleidern  entbloBt,  ,,je",  fliistert  sie,  ,,wie 
kalt  es  1st ...  ich  kricchc  untcr  die  Decke . . .  komm 
schnell ..."  —  Das  Midchen  schlift  lingst  mit  gleich- 
miBigen,  tiefen  Atemziigen;  —  er  kann  nicht  einschlafcn. 
Den  Kopf  auf  dem  Arm,  liegt  er  da  und  beobachtet  Macas 
ruhigen  Schlaf.  Leichte  kleine  Nuttc,  Verkiufcrin  in  der 
Drogerie,  na  . . .  nettes  Ding,  sauber,  unkompliziert,  riecht 
gut.  Bin  Kinobillctt  und  ein  Abendcssen,  —  wciter  nichts. 
Im  Handumdreben  war  sie  nackt.  Noch  immer  hab  ichs 
nicht  wciter  gebracht .  . .  komme  iiber  diese  Einnachts- 
Madcls  nicht  hinaus,  iiber  die  Umarmungen  im  AnschluB 
an  Kino  und  Essen,  iiber  die  Drogerie-M£dchen  aus  dem 
Kino-Foyer  oder  cine  von  der  StraBc . . .  cine  anstindige 

Frau,  cine  Freundin  habc  ich  nicht dabei  braucht  man 

auch  dazu  kein  Geld,  es  muB  ja  nicht  wer  weiB  was  fiir  cine 
Frau  sein,  die  Welt  1st  doch  heute  schon  ganz  anders,  wir 
leben  doch  nicht  mehr  im  Mittelaltcr,  heutzutage  machen 
die  M&dchen,  was  sie  wollen,  auch  die  aus  guter  Familie, 
alle . . .  als  ich  zwanzig  Jahre  alt  war,  war  das  noch  nicht 

so auch  als  ich  fiinfundzwanzig  war,  hatte  ich  kein 

zwanzigjShriges  Madchen  aus  guter  Familie dazu  bin 

ich  zu  friih  . . .  und  zuriick  kann  ich  nicht  mehr,  hochstens 
bis  zu  einer  Maca . . .  nirgends  kann  ich  hin,  aus  diesem 

Zimmer  kann  ich  nicht  raus Mit  wcit  offcnen  Augen 

starrt  er  das  Madchen  an,  ihr  schwarzes  Haar  1st  ein  dunkler 

Fleck  auf  dem  Kissen,  das  Haar  mit  der  ver der 

verdorbencn  Frisur . . .  jctzt  ist  die  Frisur  wirklich  ver- 
dorbcn,  —  du,  Maci,  jctzt  hab  ich  dir  die  Frisur  vcrdorben, 
sei  nicht  bdse  . . .  macht  nichts,  —  mir  ist  auch  was  verdor- 

ben,  mcine  Frisur . . .  etwas du,  Maca!  schl&fst  du? 

schlaf  doch  nicht!   nicht  dazu  hab  ich  dich  mit   her- 

gebracht ich  schwor  dir,  ich  wollte  dich  ja  gar  nicht  — 

—  du  gutriechende  kleine ich  hab  dich  ja  nicht  mit 

raufgebracht,  datnit  du  bciBt . . .  sondern  well  ich  nicht 

allein  sein  will und  du  schlaf st!  Maci  I  ich  mufi  jeman- 

den  bei  mir  haben . . .  damit  nicht  allcs  verdirbt siehst 


510 


du,  sic  schlaft!  Sichst  du,  Joly sic  schlaft,  sic  verdirbt 

cs  mir  auch du  hasts  mir  auch  vcrdorbcn  . . .  Jolychen, 

Hcrrgott,  vcrdorbcn  habcn  wirs Und  in  scincm  Innern 

heult  bnillcnd  cine  Stimmc  auf :  Jolychcn,  was  soil  derm  nun 

aus  uns  werden!  vcrdorbcn  habcn  wirs und  da  bricht 

mit  ticfcm  Schluchzen  ein  gcdchntcs  Stohncn  aus  seiner 

Kehle verdor und  seine  Schultern  zucken;  in 

dem  Augenblick  wacht  Maca  auf,  —  ,,na,  o  du  — "  fliistert 
sic,  —  seine  Schultern  und  scin  ganzer  Korper  werden  in 
wortios  stromendem  Weinkrampf  geschiittelt,  wic  er  da 
auf  dem  Bauch  liegt  und  den  Kopf  auf  den  Arm  fallen 

laBt,  —  mein  ganzes  Leben  ist  verdor ,,Himmel,  Gott, 

du  —  bist  du  hier?"  fliistert  das  Madchen  zahneklappernd, 
tastet  im  Dunkeln  nach  ihm  hin  und  beriihrt  seine  bebendc 
Schulter,  ,,Himmel,  du — wcinst? !  Du  lieber  Himmcl . . .  was 
hast  du  dcnn?"  —  das  laut  schluchzende  Weinen  schiittclt 

seincn  Korper,  —  ,,Herrgott,  du ich  schreie!"  —  und 

in  dcr  fliistcrnden  Stimme  zittert  die  nachtliche  panische 
Angst  vor  einer  unbekannten  Katastrophe,  —  ,,Gott  — 
Licht  — "  in  konvulsivem  Entsetzen  streckt  sic  den  Arm  aus, 
und  der  Instinkt  fiihrt  ihre  Hand  nach  dem  kleinen  Tisch- 
chcn,  nach  der  Stehlampe,  —  und  dann  starrt  sic  im  gedampf- 
ten  Licht  des  blauen  Lampcnschirms  mit  aufgerissencn 

Augen  den  Schluchzcnden  an.  ,,Du  lieber  Himmel 

fehlt  dir  was?  sag  doch,  Liebling  ..."  —  ,,Nichts",  stohnt 
er,  ,,mach  das  Licht  aus  ..."  —  ,,Liebling",  fliistert  sic 
bebcnd,  ,,fehlt  dir  wirklich  nichts  ?  ich  bin  so  crschrockcn . . . 
iiberhaupt  bin  ich  sehr  schreckhaft . . .  du  hast  geweint, 
Lieber ...  ich  habs  gefuhlt!  hast  du  einen  Kummer?  sags 
mir  doch,  hast  du  Kummer?"  Da  bricht  scin  Widerstand 
entewei.  ,,Kummcr  . . ."  stohnt  cr  und  laBt  den  Kopf  wiedcr 
auf  den  Arm  sinkcn,  ,,schrccklichen  .  .  .  Kummer  — " 
,,Anncr,  ich  hab  doch  gleich  gcmcrkt,  daB  ctwas  mit  dir 
nicht  stimmt . . .  schon  im  Restaurant . . .  armer  Liebling, 
sag  mir  doch,  sags  doch  deincr  Maca  — "  —  wicder  tastet 
sic  nach  ihm,  da  erstarrt  ihrc  Hand  auf  seiner  Schulter: 


5>du  — "  zittert  ihrc  Stimme  in  furchtbarem  Vcrdacht, 
,,du  .  . .  bist  krank?  hast  du  nicht  ctwa . . .  oinc  solche 
Krankheit?! .  . ."  Er  schuttclt  den  Kopf,  ,,krank,  ach 
wo  — "  —  Stillc,  cincn  Augenblick,  die  fluchtsuchende 
Stille  der  Besorgnis,  des  Zweifels  und  schlieBlich  des 
zwangsmafiigen,  bequemeren  Sichabfindens,  —  ,,Liebes- 
kummer?"  fragt  sic  dann  in  natiirlichem  Ton,  ,,sag,  Licber, 
wirklich?"  —  ,Ja",  fliistert  er.  ,,Oh,  du  Armcr  . .  .  hat  sie 
dich  bctrogen?  sprich  dich  nur  ruhig  aus,  das  tut  gu^  hat 
sie  dich  verlassen?"  —  ,,Ja",  wimmert  er,  ,,betrogen,  ver- 
lasscn ..."  —  ,,Das  macht  nichts,  Liebling",  lallt  sie,  ,,ich 
bin  ja  da,  du  hast  ja  mich,  kiimmcr  dich  nicht  mehr  um 
sie  ...  war  sie  hiibscher  als  ich?"  und  in  ihrer  fliis tern- 
den  Stimme  ist  cine  kleine  stechende  Nadelspitze.  —  ,,Ja, 
sie  war  hiibscher  ..."  —  Stille.  ,,Aber  sie  hat  dich  verlas- 
sen", sagt  sie  dann,  ,,und  ich  bin  hier  bei  dir  . .  ."  —  ,,Ja  — " 
—  ,,Und .  .  .  war  sie  wirklich  hiibscher?"  —  ,,Sie  war 
anders  ..."  —  ,,Jede  ist  anders",  fliistert  sie  belehrend, 
,,du  Dummchen,  die  Hauptsache  ist,  daB  du  jemanden 
hast . .  .  und  wie  war  sie?"  —  ,,Rot",  stohnt  er,  ,,rot  war 
sie  ..."  —  ,,Rot  war  sie?  o  weh,  das  ist  schlimm,  die 
Roten  sind  falsch  — "  Plotzlich  setzt  er  sich  neben  ihr  auf. 
,,Maci ...  ich  hab  dich  sehr  lieb  . .  .  um  Gottes  willen, 
nicht  wahr,  du  willst  nicht  mehr  schlafen?!"  —  ,,Aber 
Liebling  . . .  es  ist  ja  noch  friih,  und  ich  bin  . . .  ein  biBchen 

miide  bin  ich ..."  —  ,,Maci wir  wollen  das  Licht 

brennen  lassen,  bitte,  schlaf  nicht,  du  kannst  morgen  den 
ganzen  Tag  hier  schlafen  . . .  aber  jetzt  bitte  nicht  schlafen, 
ich  kann  ja  nicht  einschlafen . . .  Macachen,  soil  ich  dir 
erzahlen,  wie  das  war  mit  dcr  Rothaarigcn?"  Sie  reifit  die 
Augen  auf.  ,,Ja,  erzahl"  .  .  .  findct  sie  sich  ab.  Er  sitzt  im 
Bett,  das  Madchen  liegt  neben  ihm,  und  da  fangt  er  heiser 
fliisternd  einc  Geschichtc  an.  Von  einer  rothaarigen  Frau . . . 
einer  Camilla ...  sie  war  keine  Ungarin,  cine  Auslanderin . . . 
auf  dem  Schiff  hatten  sie  sich  kenncngelcrnt,  auf  dem 
Meet,  und  sie  war  nach  Budapest  gckommen,  seinetwegeo, 

5" 


denn  sic  batten  sich  ineinander  vcrlicbt .  .  .  und  ein  ganzcs 
Jahr  lang  war  gar  nichts,  cr  wartete  nur,  daB  sich  cndlich 
etwas  ercigne,  aber  es  war  schr  schwcr,  denn  sic  war  ver- 
heiratet,  und  der  Mann  war  auch  hier ...  —  und  die  heiserc, 
fliistcrndc  Stimmc  erzahlt  und  erzahlt  in  siedendem  Phanta- 
sieren,  bunt  und  rhapsodisch,  in  absurden  Widersprvichen, 
mit  schrecklichen  Situationcn  und  peinlichen  Kompli- 
kationen,  in  schmerzlichen  Dialogen,  in  unmenschlicher 
Selbstqualerei,  —  die  Minuten  zcrflieBen  ins  Gestern 
wahrend  dieses  spatherbstlichen  Morgengrauens,  —  er 
spricht  nur  und  spricht,  in  wiirgendem  Fliistern,  in  sturm- 
artigem  Haufen  von  Worten,  und  dann  hetzt  er  sich  mit 
groBem  Abflauen,  mit  Erinnerungen  und  Liigen  der 
Erlosung  zu  —  ,,betrogen  und  belogen  hat  sie  mich,  und 
dann  ist  sie  gegangen,  hat  mich  sitzenlassen  —  — " 
Schon  seit  Viertelstunden  liegt  Maca  leise  atmend  im  Schlaf ; 
und  da  bcmerkt  er  plotzlich,  daB  sie  schlaft,  —  betrogen! 
keucht  die  blinde  Wut  in  ihm  auf,  —  beschwindelt  hat  die 
mich  auch . . .  hat  mich  im  Stich  gelassen,  ist  eingeschlafen  — 
ich  erwiirge  sie!  ich  erwiirge  sie!  —  und  dann,  wie  er  sie 
anriihrt  und  sie  sich  angstvoll  aufrichtet,  bricht  er  plotzlich 
zusammcn.  Die  Umarmung,  die  durchwachte  Nacht  und 
die  ganze  Miidigkeit  des  krankhaften  Phantasierens  sitzen 
auf  einmal  lahmend  in  seinem  Korper;  mit  brennenden 
Augen  und  hangendem  Kopf  hockt  er  neben  dem  Madchen. 
,,Ja",  stottert  Maca  laut,  ,,die  rot ...  haarige . . .  Camilla" . . . 
,,Pstl"  mahnt  er  sie,  still  zu  sein,  —  ,,Macachen,  es  ist 
gleich  Morgen,  du  muBt  gehen,  wir  wollen  zusammen  ins 
Dampfbad  gehen,  ins  Arthcsische  ..."  —  ,,Fein",  willigt 
Maca  sofort  ganz  wach  ein,  ,,ich  hab  ja  so  schlecht  gc- 
schlafen."  —  Schweigend  ziehen  sie  sich  an,  sehr  bald  sind 
sie  fcrtig.  Dreiviertel  sechs.  In  einer  Vicrtelstunde  steht 
Julie  auf.  Der  Flur,  das  Entree  ist  nachtlich  finster,  an 
seincn  Arm  geklammert  stolpert  Maca  hinter  ihm  her.  Die 
Haustiir  ist  schon  offen,  die  in  Tiichcr  gewickeltc  dickc 
Porticrfrau  fegt  vor  dem  Haus  Wasser  und  Schmutz  weg. 


Es  dammert  kaum.  Und  es  1st  kalt.  Grau  hangen  am 
Himmel  die  dicken  Wolkcn.  Es  wird  gleich  wieder  rcgncn. 
Rasch  gchcn  sic  auf  die  andere  Seite  zum  Taxcnstand  und 
setzen  sich  in  cinen  Wagen.  ,,Zum  Arthesischen  Bad'*, 
sagt  cr.  ,,Jawohl",  antwortet  der  Schoffor  und  zcrrt  an  der 
Kurbel,  der  Motor  fangt  an  zu  rattern.  —  Im  Auto  fallt  ihm 
etwas  ein:  zogernd  nimmt  er  seine  Brieftasche  heraus. 
,,Maca,  ich  mochte  gern  deine  Adresse  wissen  ..."  —  ,,Es 
ist  besser,  wenn  du  mich  im  Geschaft  suchst,  Liebling", 
antwortet  sie  schnell,  ,,dort  ist  auch  Telefon",  und  sie 
nennt  die  Adresse  der  Drogcrie  und  ihre  Tclcfonnummer. 
,,Aber  am  bestcn  ist  es,  wenn  du  reinkommst,  der  Chef 
hat  es  nicht  gernc,  wenn  ich  angerufcn  wcrde."  —  ,,Gut", 
sagt  er.  ,,Und  .  .  .  bitte,  miBversteh  mich  nicht,  Maci, 
aber  ..."  —  und  er  offnet  die  Brieftasche.  ,,Nein",  sagt  das 
Madchen  unsicher,  ,,Geld,  das  nehme  ich  nicht  an  ... 
hochstens  ...  am  Westbahnhof  hab  ich  neulich  cine  ent- 
ziickende  weiBe  Strickjacke  geschcn,  WeiB  steht  mir  groB- 
artig  ...  die  konnte  ich  sehr  billig  bekommen,  wenn  du 
mir  die  kaufen  wiirdest ..."  —  ,,Gut",  sagt  cr,  ,,aber  kauf 
sie  dir  lieber  selbst,  ich  habe  nicht  viel  Zeit  .  .  ."  Er  grcift 
in  die  Brieftasche,  faBt  den  Rand  eines  Funfzigpcngoschcins 
und  zieht  ihn  ein  wenig  heraus.  Des  Madchens  Augen 
haften  auf  seiner  Hand,  sie  erkennt  den  Schein.  ,,Oh",  sagt 
sie,  ,,viel  billiger  .  .  ."  und  ihre  Stimme  bebt  leicht.  ,,Ja?" 
und  er  zieht  einen  Hunderter  heraus  und  gibt  ihn  ihr  in  die 
Hand,  ,,da,  Maci,  stcck  das  ein."  —  ,,Oh  .  .  .  wirklich  .  .  . 
danke  sehr,  du  bist  so  lieb  .  .  ."  —  gewiB,  licb  bin  ich,  ist 
es  nicht  ganz  gleich,  ob  mir  drcihundert  Pengo  iibrig- 
bleiben  oder  zweihundert  .  .  .  und  auf  die  Weise  bin  ich 
wenigstens  lieb  .  .  .  ,,schon  gut,  Kind",  sagt  er  abwehrend, 
,,und  fruhstiicke  dann  im  Bad  .  .  .  hast  du  Kleingeld?  und 

wenn  du  friiher  weggehen  solltcst  als  ich,  also  dann " 

Das  Auto  f&hrt  am  Eingang  vor,  sie  steigen  aus.  Er  geht  an 
die  Kasse,  lost  zwei  Billetts  und  tritt  vor  Maca:  ,,hier,  deine 
Karte,  —  und  wie  gesagt,  solltcst  du  friiher  weggehen,  also 

5*4 


dann  .  .  .  komm  ich  dich  im  Geschaft  bcsuchen,  vielleicht 
noch  hcute  ..."  —  ,,Gott,  wie  fein!  wirklich,  komm 
bestimmt,  ja  .  .  ."  und  streckt  ihm  die  Hand  hin.  Er  hebt 
die  schone,  weiBe  Hand  und  kuBt  sie.  ,,Leb  wohl, 
Macachen." 

Er  ist  allein  im  heiBen  Bassin.  Sitzt  auf  der  Stufe  und 
schlieBt  die  Augen.  Gut  tut  das  .  .  .  aus  Marmor  ist  das 
Bassin.  Eigentlich  wollte  ich  ein  Extrabadezimmer  .  .  . 
egal,  ist  auch  so  gut.  Was  fur  ein  reizendes  Ding  diese 
Maca  ist.  So  ein  nettes  Madel  hab  ich  noch  nie  gehabt. 
Vielleicht  die  kleine  Deutsche,  die  Poldi,  1924,  aus  dem 
Kasino,  —  nein,  die  auch  nicht  —  die  hier  ist  das  beste 
Madel  auf  der  Welt.  Nachher  werde  ich  ein  biBchen 
schlafen,  dann  friihstiicken,  dann  geh  ich  zu  Menczers,  der 
junge  Menczer  ist  schon  um  neun  Uhr  da,  sogar  schon  um 
acht.  Vielleicht  gehe  ich  auch  heute  noch  zu  General- 
direktor  Havas  —  der  Kopf  sinkt  ihm  auf  die  Seite,  er 
rutscht  von  der  Stufe  hinunter  und  taucht  ins  heiBe  Wasser. 
Na  —  also,  hier  kann  man  wirklich  nicht  schlafen,  schlieB- 
lich  ertrinke  ich  noch.  Oder  ich  schlage  mich  an.  Bis  an  den 
Hals  sitzt  er  im  Wasser,  platschert,  betrachtet  seine  rot- 
gcbriihten  Arme.  Er  platschert,  dann  geht  er  unter  die 
Dusche,  kiihlt  sich  vorsichtig  ab,  legt  sich  auf  die  Pritsche, 
wird  eingeseift,  wieder  Dusche,  dann  setzt  er  sich  an  den 
Rand  des  kalten  Bassins.  Sein  Korper  ist  frisch  und  federnd, 
sein  Kopf  klar,  —  wunderbar  wirds  im  kalten  Wasser  sein. 
Im  Bassin  bringt  ein  alter  bartiger  Herr  einem  kleinen 
Jungen  das  Schwimmen  bei.  Er  halt  ihn  hinten  an  den 
Trftgern  seines  Schiirzchens,  so  hilft  er  dem  Kind  uber  dem 
Wasser  bleiben.  ,,Na,  Jancsi,  losl"  kommandiert  er,  ,,erst 
mit  den  Armen  langsam,  dann  mit  den  Beinen  schnell  .  .  . 

na,  ei ns  —  zweil  .  .  .  ei ns " 

Kelemen  gleitet  ins  Wasser,  mit  breitausholenden  Be- 
wegungen  schwimmt  er  zwanzig-funfundzwanzigmal  das 
Bassin  entlang.  Dann  klettert  er  an  der  andern  Seite  heraus, 
schiittelt  prustend  das  Wasser  von  sich  ab;  in  der  Tiir 

5*5 


erwischt  ihn  der  Bademeistcr,  reibt  ihn  ab,  hiillt  ihn  in  ein 
Leintuch,  stcckt  ihm  die  FiiBc  in  Pantoffeln;  cr  legt  sich  auf 
ein  Ruhebett.  Kaltwasserkur,  denkt  er,  ja,  ja,  das  ist  das 
Rechte!  was  einem  auch  immer  fehlt,  die  Kaltwasserkur  — 
und  im  selben  Moment  schlaft  er  ein.  —  Es  ist  elf  Uhr 
durch,  als  er  in  der  Aradi-StraBe  die  krachende  Holztreppe 
hinunter  in  den  Keller  steigt.  Die  Klingel  surrt,  —  und  dann 
steht  die  alte  Frau  vor  ihm. 

,,Es  tut  mir  leid,  daB  ich  nicht  friiher  kommen  konnte, 
aber  eine  wichtige  geschaftliche  Angelegenheit " 

,,Ja,  geschaftliche  Angelegenheit,  das  ist  wichtig  .  .  . 
macht  nichts,  Sie  konnen  meinen  Sohn  noch  sprechen,  er 
ist  noch  hier",  antwortet  die  Frau;  sie  schlurft  nach  hinten 
und  ruft  nach  dem  am  Ende  des  Flurs  befindlichen  Glas- 
kafig:  ,,Samu!  komm  mal  her,  der  Kelemen  ist  da,  dem 
Karoly  sein  Sch wager!" 

Eine  beleibte  Gestalt  in  Hut  und  Winteriiberzieher 
nahert  sich;  hinter  dem  Mann  kommt  jemand,  zu  dem  er 
spricht.  ,,Nein,  lieber  Freund",  sagt  er,  ,,das  ist  kein  Ge- 
schaft  fiir  mich,  mit  der  Sache  befasse  ich  mich  nicht.  Ich 
mag  nur  die  ruhigen,  sicheren,  kleinen  Geschafte,  aber 
das  .  .  .  sagen  Sie  Herrn  Schlesinger,  ich  HeBe  danken,  aber 
fiir  mich  ware  das  kein  Geschaft."  Vor  Kelemen  blcibt  er 
stehcn:  ,,Hab  die  Ehre.  Mein  Name  ist  Menczer." 

,,Andor  Kelemen." 

,,Jawohl,  sehr  erfreut.  Ihr  lieber  Schwager  hat  mir 
gesagt  — " 

Ta  " 
»Ja» 

,,Na,  und  ich  hab  schon  der  Mutter  gesagt,  dem  Kiroly 
zuliebc  — " 

„>•" 

,,Also  .  .  .  ja."  Er  hiistelt.  ,,Sie  wissen  doch,  worum  es 
sich  handelt,  nicbt  wahr?" 

,,Ja.  Um  eine  Stellung  — " 

,,Jawohl,  um  eine  Stellung,  oder  .  .  .  seien  wir  geostu: 
urn  eine  Stellung  als  Agent  — " 

526 


,,Als  Agent." 

,,Ja.  Namlich,  heutzutage  cine  feste  Stellung  .  .  .  ich 
bitt  Sic,  heutzutage  1st  doch  iiberhaupt  Administration  und 
dergleichen  nicht  notig,  sondern  Kaufer  sind  notig.  Speziell 
bei  mir  .  .  .  Also,  bitte  schon,  ich  dcnke  mir,  ich  stelle  Sic 
als  Agenten  an,  Rayon  ganz  Budapest,  wenn  Sie  wollen, 
auch  Umgebung,  und  .  .  .  nun,  wie  ich  der  Mutter  gesagt 
habe,  dem  Karoly  zuliebe  geben  wir  Ihnen  monatlich  auf 
alle  Falle  hundert  Pengo  VorschuB  auf  die  Provision,  und 
zwar  sechs  Monate  lang,  und  wenn  bis  dahin  die  Sache  gut 
geht,  nun,  dann  verrechnen  wir  das  Entnommene  nicht 
auf  die  Provision  und  andern  die  hundert  Pengo  in  festes 
Gehalt  um,  sagen  wir,  als  SpesenzuschuB.  Also  bitte,  so 
habe  ich  mir  die  Sache  gedacht,  Herr  Kelemen." 

,,Bitte  sehr." 

,,Wir  zahlen  im  allgemeinen  sieben  Prozent  vom  Brutto, 
und  ich  hab  schon  zur  Mutter  gesagt,  Ihnen  wiirden  wir, 
sagen  wir,  siebeneinhalb  Prozent  zahlen  .  .  .  sagen  wir  acht. 
Und  was  die  Arbeit  angeht,  also,  was  soil  ich  Ihnen  da 
sagen?  ein  Geschaft  .  .  .  Sie  sind  doch  Geschaftsmann, 
nicht?  Sie  konnen  sich  ja  das  Lager  und  die  Mobelwerkstatt 
nachher  ansehen,  und  dann  gebe  ich  Ihnen  einen  Katalog,  — 
Sic  mussen  Ihre  Bekannten  aufsuchen,  rmissen  die  Augen 
offen  haben,  in  den  Zeitungen  die  Verlobungsanzeigen 
verfolgen,  nicht  die  Heiratsanzeigen,  denn  da  sind  die 
Mobel  schon  besorgt,  also  die  Verlobungsanzeigen  und 
dann  sofort  zu  den  Leuten  hingehen.  Und  einen  groBen 
Vorteil  hat  unser  Geschaft  noch,  namlich  die  Einheits- 
mobel.  Das  ist  cine  billige  Art,  von  denen  auch  einzelne 
Stiicke  erhaltlich  sind,  Anfangern  tut  das  gute  Dienste, 
2um  Beispiel  in  Biiros  braucht  man  immer  ein  paar 
Stiihle,  einen  Tisch  oder  einen  Aktenschrank,  na,  Sie 
werdens  ja  lernen.  Also,  bitte,  iiberlegen  Sie  sich  die 
Sache " 

,,Ich  glaube " 

,  Ja  — ?" 

527 


,,Ich  glaube,  ich  nehme  die  Stcllung  fiir  den  Ersten 
an.  Ich  unterhandle  zwar  noch  wegen  einer  andern 
Sachc,  aber  wenn  ich  Ihnen  nicht  absage,  selbstredend 
rechtzeitig,  so  mochtc  ich  Sic  bitten,  mir  die  Stelle  zu 
reservieren  — " 

,,Ja,  gewiB,  wird  gemacht.  Ich  hoffe,  die  Sache  wird 
klappen." 

,,Bittc  sehr." 

,,Also  dann  .  .  .  spatcstens  am  Ersten  fangen  wir  an,  zu- 
nachst  natiirlich,  sagen  wir,  drei  Monate  Probezeit,  aber 
einem  so  gut  aussehenden  jungen  Mann  wie  Sic,  lieber 
Freund,  —  mit  ein  biBchen  Agilitat " 

Mit  Agilitat,  natiirlich,  und  wenn  man  so  gut  aussieht, 
lieber  Freund  .  .  .  na,  schon.  Jet2t  ware  ich  also  Vertreter 
der  Mobelfirma  Menczer  &  Co.  Hab  die  Ehre,  lieber  Freund. 
Brauchen  Sic  nicht  ein  Schlafzimmer  oder  ein  Speise- 
zirnmer  oder  .  .  .  ein  paar  Stiihle?  Na,  gehn  wir  noch  zu 
Herrn  Generaldirektor  Havas.  Dunnes  gelbliches  Novem- 
bersonnenlicht  flimmert  iiber  der  Andrassy-StraBe.  Lang- 
sam  geht  er  die  StraBe  hinunter  und  kommt  dann  durch 
cine  schmale  Gasse  an  die  breite,  larmende  QuerstraBe  und 
findet  sich  geradc  dem  machtigen  Firmenschild  mit  goldenen 
Buchstaben  gegeniiber:  J.  Jozsef  Havas,  A.-G.  Im  riesigen 
Geschaftslokal  Durcheinander,  Gelaufe,  Geschrei,  Kaufcr, 
Verkaufer,  —  zogernd  bleibt  er  in  der  Tiire  stehen,  nie- 
mand  beachtet  ihn.  Da  gibt  er  sich  einen  Ruck  und  fragt 
cinen  vorubereilendcn  jungen  Mann,  ob  er  den  Herrn 
Generaldirektor  sprechen  konne.  Der  junge  Mann  zeigt 
nach  einer  Tur.  Zaghaft  geht  er  auf  die  Tiir  zu  und  macht 
sie  auf.  Ein  leeres  Hofzimmer,  zwei  Schreibtische  einander 
gegeniiber.  Hinten  noch  cine  Tiir.  Er  geht  bin  und  offnet. 
Ein  lecrer  Schreibtisch,  davor  ein  rundes  Tischchen.  Am 
Tischchen  sitzt  ein  dickbauchiger  Herr  und  iCt  Scbinken 
von  einem  Stuck  Papier. 

,,Entschuldigen  Sie  bitte,  ich  suche  Herrn  General- 
direktor Havas " 


,,Der  bin  ich",  sagt  der  kleine  Dicke  und  blickt  auf*, 
,,womit  kann  ich  dienen?" 

,,Andor  Kelemen.  Mein  Schwager  sagte  mir,  daB  bei 
Ihnen,  Herr  Generaldirektor " 

,Ja.  Ich  weiB  schon.  Nehmen  Sie  bitte  Platz.  Sie  ent- 
schuldigen  wohl,  wenn  ich  inzwischen  weiteresse.  Ich  bin 
namlich  magenleidend  und  muB  alle  zwei  Stunden  etwas 
essen.  Nicht  viel,  bloB  eben  ein  paar  Bissen.  Tja,  also  .  .  . 
wir  wollen  die  Sache  kurz  machen.  Ich  schatze  Ihre  Familie 
schr.  Auch  Ihren  seligen  Vater  habe  ich  gekannt.  Ein 
braver  Mensch  war  er."  Er  springt  auf,  driickt  auf  einen 
Knopf  des  Telefons  auf  dem  Schreibtisch,  wartet  ein 
Weilchen  und  fangt  erregt  an,  den  Knopf  ununterbrochen 
zu  drikken.  ,,Na,  was  ist  denn?  wer  dort?  Fraulein  Hermina? 
warum  melden  Sie  sich  denn  nicht?  groBer  Rummel? 
aber  ich  bitte  Sie,  wenn  das  Telefon  des  Chefs  lautet  .  .  . 
schon  gut.  Fraulein  Hermina,  schicken  Sie  mir  ein  Glas 
frisches  Wasser  rein.  Der  Istvan  ist  nicht  da?  wohin  haben 
Sie  ihn  denn  geschickt?  Sie  wissen  doch,  daB  ich  das  nicht 
leiden  kann,  wenn  er  immer  hin  und  her  geschickt  wird! 
also,  dann  soil  Herr  Somogyi  mir  ein  Glas  Wasser  bringen!" 
Er  setzt  sich  wieder  an  das  Tischchen.  ,,Also  .  .  .  auch  Ihr 
Schwager  ist  mir  als  tuchtiger,  braver  Mann  bekannt.  Wir 
wollens  kurz  machen.  Ich  brauche  einen  Vertreter  fur 
auBerhalb.  Fur  Miskolcz.  Besser  ware  es  naturlich,  wenn 
Sie  schon  in  der  Branche  gearbeitet  hatten,  aber  ich  habe 

zu  Ihrem  Schwager  gesagt,  mit  Riicksicht  auf  ihn 

also  bitte:  Abreise  Sonntagnacht,  Riickkehr  Freitagnacht. 
Fixum  zahle  ich  nicht,  ProvisionsvorschuB  monatlich 
hundert  Pcngo  vorlaufig,  Reisespesen  tragt  die  Firma, 
Tagegeld  acht  Pengo,  Provision  je  nach  der  Warcn- 
kategorie  sechs  bis  zehn  Prozent.  Selbstverstandlich  haben 
Sie  nicht  nur  in  Miskolcz,  sondern  in  der  ganzen  Gegend 
zu  arbeiten,  ich  zeige  Ihnen  nachher  Ihren  Rayon  auf  der 
Karte." 

,,Ja  .  .  .  auBerhalb  —  ich  dachte " 

34  Kormcndi,  Budapect 


,,Bitte,  bitte",  sagt  J.  Jozsef  Havas  verdrieBlich,  ,,das  1st 
was  anderes,  wean  Sie  keine  Lust  haben,  aus  Budapest 
wegzugehen  .  .  .  aber  ich  brauche  einen  Mann  fur  die 
Provinz,  —  und  wenn  Sie  sich  das  Ziel  gesteckt  haben,  ein 
guter  Agent  zu  werden,  dann  miissen  Sie  in  der  Provinz 
anfangen",  er  springt  ans  Telefon,  miBhandelt  den  Knopf 
und  schreit  in  den  Apparat:  ,,Fraulein  Hermina!  wie  lange 
soil  ich  denn  noch  auf  das  verflixte  Glas  Wasser  warten?!" 

Kelemen  erhebt  sich.  Wenn  der  Herr  Generaldirektor 
nichts  dagegen  habe,  wtirde  er  sich  die  Sache  noch  iiber- 
legen.  Jedenfalls  danke  er  fur  sein  Wohlwollen  .  .  .  und 
wenn  er  sich  entschlieBen  konne,  dann  wiirde  er  sich 
spatestens  am  Ersten  melden.  —  Driiben  auf  der  andern 
Seite  der  StraBe  dreht  er  sich  noch  einmal  um.  Ob  er  wohi 
inzwischen  sein  Glas  Wasser  bekommen  hat?  Nun,  das 
ware  also  auch  erledigt.  Jetzt  kann  ich  wahlen.  Wenn  ich 
will,  Mobel,  wenn  ich  will,  Textil.  Nun  kann  ich  doch 
wirklich  nicht  mehr  klagen.  Er  ist  wieder  auf  der  Andrassy- 
StraBe  angekommen  und  geht  langsam  auf  den  Stadtpark 
zu.  Wie  warm  die  Sonne  scheint.  Dabei  ist  es  Herbst,  die 
Baume  sind  schon  ganz  kahl.  Was  gestern  fur  greuliches 
Wetter  war.  Mobelagent  oder  Textilagent.  Ein  Anfanger 
zwar,  aber  agil,  intelligent  und  ein  gut  aussehender  Mann. 
Mein  Rayon  Budapest  und  Umgebung  und  Miskolcz  und 
das  ganze  Land.  Die  ganze  Welt,  auch  Sudafrika.  Ich  werde 
der  ungarischen  Mobelindustrie  zum  Ruhm  verhelfen, 
eventuell  der  Aktiengesellschaft  Havas.  Lieber  Freund. 
Mein  Ziel  ist,  ein  guter  Agent  zu  werden  —  Jedenfalls  ist 
das  mein  nachstliegcndes  Ziel.  Und  mein  ferneres  Ziel,  zum 
Beispiel  .  .  .  was  eigentlich?  ich  weiB  es  wahrhaftig  nicht. 
Ich  habe  kein  ferneres  Ziel.  Genau  iiber  der  Millenniums- 
Saule  leuchtet  der  strahlende  Himmel  in  einem  groBen 
klarcn  blauen  Fleck.  Schones  Wetter  .  .  .  es  ist  Herbst. 
Um  diese  Zeit  ist  die  Seereise  nicht  mehr  angenehm,  da 
gibt  cs  schon  Stiirme.  Ja.  Warum  gehc  ich  eigentlich  jetzt 
in  den  Stadtpark?  habe  ich  im  Stadtpark  etwas  zu  tun? 

530 


habe  ich  dort  ein  naheres  oder  entfernteres  Ziel?  Ich  gehe 
einfach,  was  anderes  habe  ich  doch  nicht  vor,  was  soil  ich 
sonst  machen?  vorlaufig  verkaufe  ich  ja  noch  keine  Speise- 
zimmereinrichtungen  oder  Einheitsmobel  oder  .  .  .  groBer 
Gott,  ich  weiB  ja  gar  nicht,  womit  Herr  Generaldirektor 
Havas  eigentlich  handelt.  Textil.  Ein  weiter  Begriff.  Ich 
hatte  mir  doch  ansehen  konnen,  was  es  dort  zu  kaufen  gibt, 
vielmehr,  was  ich  eventuell  verkaufen  werde.  In  Miskolcz 
und  Umgebung.  Na,  wir  werden  ja  sehen.  Aller  Anfang 
ist  schwer.  Aber  —  warum  sollte  es  mir  nicht  gelingen? 
warum  sollte  ich  nicht  dies  oder  das  oder  jenes  verkaufen 
konnen?  warum  sollte  ich  nicht  schones  Geld  verdienen 
konnen,  ein  Vermogen  sammeln?  Reisender,  —  ein  ernster, 
schwerer  Beruf,  bloB  in  Witzen  heiBt  es  immer:  haben  Se 
Interesse?  In  Amerika  ist  der  Salesman  der  angesehenste 
Mann.  Dort  sollte  man  wagen,  Witze  iiber  ihn  zu  machen, 
iiber  den,  der  die  Auftrage  bringt.  Agent,  amerikanischer 
Typus,  moderner  Typus,  —  lebt  von  dem,  was  er  leistet, 
und  nicht  davon,  daB  er  erhalten  wird.  Der  Geliebte  seiner 
rothaarigen  Sch wester  halt  ihn  aus,  dort  unten  in  Siidafrika, 
Zuhalter.  —  Nein,  das  nicht  1  arbeiten  werden  wirl  im 
SchweiBe  des  Angesichts  hart  arbeiten  um  jeden  Kreuzerl 
Verpflichtungen  habe  ich  nicht,  fur  Mama  konnen  Sa"ris 
sorgen,  bis  ich  wieder  dazu  beitragen  kann,  sie  werden  doch 
einsehen  —  und  wir  werden  halt  hiibsch  bescheiden  leben. 
Von  hundert  Pengo,  wenns  sein  muB,  bis  es  mehr  wird, 
und  es  wird  schon  mehr  werden  1  ich  werde  nicht  bei  den 
Einheitsmobeln  oder  beim  Textil  alt  werden  .  .  .  oder  wenn 
doch,  dann  wird  es  sich  lohnen,  dabei  alt  zu  werden!  ich 
werde  verdienen,  viel  Geld  —  ich  werde  die  Augen  schon 
ofFen  halten,  um  mich  braucht  man  sich  nicht  zu  sorgen! 
VerhaMtnisse,  Vcrhiltnisse,  —  verlassen  Sie  sich  nur  auf 
mich  .  .  .  lieber  Freund.  Mit  dem  wahnsinnigen  Herum- 
wurschteln  ist  cs  jetzt  vorbei,  Kddar,  Siidafrika,  vorbci! 
Jetzt  fingt  das  ernste  Leben  an,  die  ernste  Arbeit,  der  Kampf 
um  Dasein  und  Vermogen,  —  ganz  gute  Filmtitel,  mein 

34*  J3i 


Lieber.  Sehr  einfach :  die  Transcont  hat  mich  abgebaut,  ich 
bin  auch  ein  Opfer  der  Zeiten,  —  und  lasse  mich  nicht 

unterkriegen.  Jetzt  beginnt Er  pfeift  laut;  wie  er  so 

scharf  ausschreitend  iiber  die  StraBe  geht,  schmettert  ^r 
eine  kriegerische,  marschahnliche  Melodic  in  die  Luft. 
Die  Sonne  steht  hoch,  am  Himmel  ziehen  eigenartige, 
walzenformig  geballte  Wolken.  Die  Sonne  scheint,  — 
prachtvoll,  nur  mutig,  die  Sache  wird  gelingen!  die  Haupt- 
sache  ist,  daB  ich  Lust  dazu  habe,  daB  ich  die  ganze  Krank- 
heit  von  mir  abschiitteln  kann,  diesen  gemeinen  phan- 
tastischen  Blodsinn.  Maca  ...  ein  prachtiges  Ding.  Sauber 
und  gepflegt  und  gutriechend.  Und  .  . .  wenn  ich  nicht  mehr 
soviel  Geld  habe,  na,  dann  wird  sie  sich  eben  an  den  Auto- 
maten  gewohnen.  Was  fur  ein  Gliick,  daB  ich  die  gefunden 
habe.  —  Ein  junges  Kinderfraulein  kommt  ihm  entgegen, 
mit  der  linken  Hand  schiebt  sie  einen  Kinderwagen,  an  der 
rechten  hangt  ein  briillender  kleiner  Junge.  ,,Abcr  Tjuri, 
briill  doch  nicht  so,  alles  schaut  dich  ja  an!"  versucht  sie 
den  tobenden  Kleinen  zu  besanftigen.  Er  bleibt  vor  ihnen 
stehen,  hockt  sich  plotzlich  vor  das  Kind:  ,,du-du-du'\ 
sagt  er,  ,,ein  so  groBer  Junge  wird  doch  nicht  auf  der  StraBe 

heulen!  hoppla!  schnell  lachen!  ei ns,  zwei!"  Die 

Bonne  und  der  Kleine  starren  einen  Moment  mit  er- 
schrocken  aufgerissenen  Augen  in  das  komisch  verzerrte 
Gesicht  des  sich  unbefugt  Einmischenclen;  dann  blitzt  aus 
den  tranenfeuchten,  groBen,  blauen  Augen  ein  Lacheln, 
gleich  darauf  lacht  das  Kind,  —  ,,mo  — "  —  ,,M6,  mo,  mo! 
na,  siehst  du!"  Der  Kleine  lacht  ganz  laut;  da  steht  er  auf, 
erwidert  das  dankerfiillte  Lacheln  des  Kinderfrauleins  mit 
einem  leichten  Hutliiften  und  geht  weiter.  Sehr  einfach: 
man  muB  nur  verstehen,  mit  den  Menschen  zu  sprechen, 
mit  jcdem  in  seiner  eigenen  Sprache,  das  ist  die  ganze 
Kunst.  Einem  heulenden  kleinen  Jungen  muB  man  sagen 
mo,  mo,  mo!  —  und  einem  andern  zum  Beispiel:  aber, 
vcrehrter  Herr  Obcringenieur,  ein  moderner  Kultur- 
mensch  kann  schlieBlich  nicht  inmitten  so  altmodischer 


Mobel  leben  .  .  .  das  ist  die  ganze  Kunst.  Von  der  Bajza- 
StraBe  her  rollt  in  ruhiger  Wiirde  ein  offenes  Elektromobil 
von  altem  Typ  auf  die  Andrassy-StraBe.  Ein  rotwangiger 
dicker  Herr  im  Pelz  und  cine  behabige  Dame  mit  hiibschem 
Gesicht  sitzen  darin,  in  steifer  Haltung,  bis  an  die  Taille 
mit  einem  dunkelblauen  Plaid  zugedeckt.  Ich  hatte  gar  nicht 
gedacht,  daB  es  in  Budapest  noch  solche  elektrischen  Wagen 
gibt.  Vornehme  Sache,  bloB  ein  biBchen  veraltet.  Miissen 
wohl  konservative,  reiche  Leute  sein.  Denen  mliBte  man 
ein  groBes  geschlossenes  Auto  verkaufen,  Herr  Kom- 
merzienrat,  das  elektrische  Auto  ist  ...  das  Verkehrsmittel 
des  vorigen  Jahrzehnts  gewesen,  ein  wohlhabender  Kultur- 
mensch  fahrt  heutzutage  —  —  Er  geht  weiter.  An  den 
kahlen  Baumen  hie  und  da  noch  ein  gelbes  Blatt.  Es  wird 
Winter,  irgendwie  werden  wir  auch  iiber  diesen  Winter 
hinwegkommen.  Die  Hauptsache  ist,  daB  ich  Lust  zu  dem 
Geschaft  habe,  Lust  habe  zu  leben  und  mein  .  .  .  Dings, 
mein  Leben  wieder  zu  ordnen.  —  Er  ist  am  Ende  der 
StraBe  angekommcn.  Vor  dem  Grab  des  Unbekannten 
Soldaten  ein  berittener  Polizist  in  Paradeuniform;  vor  dem 
symbolischen  Grabs tein  einige  Betrachtende  mit  ent- 
bloBtem  Haupt.  Ja  .  .  .  wenn  ich  da  durchgekommen  bin, 
wenn  ich  daraus  mein  Leben  gerettet  habe,  dann  werde  ich 

doch  nicht  steckcnbleiben  vor  einer  lumpigen nein, 

ich  bleibe  nicht  stecken!  ermutigt  er  sich  selbst.  Ein  Weil- 
chen  steht  er  an  der  Ecke  und  geht  dann  wieder  zuriick. 
Halb  eins?  los,  in  den  Autobus,  nachher  schlafe  ich  cine 
Stunde  nach  Tisch,  und  dann  geh  ich  rauf  zu  Mama,  ich 
muB  ja  Karoly  sagen,  daB  die  Sache  mit  Menczers  in 
Ordnung  ist  und  daB  ich  auch  bei  Herrn  Generaldirektor 
Havas  war.  Er  steigt  auf  den  gerade  abfahrenden  Autobus. 
Verdammt,  denkt  er,  ich  hatte  doch  lieber  mit  der  Acht 
fahren  sollen,  die  halt  gerade  an  der  Ecke  vor  dem  Restau- 
rant, na,  egal,  —  ,,Teilstrecke  bitte."  WeiBe  Wolken  um- 
schleichen  die  Sonne  und  sammeln  sich  nach  Buda  zu; 
unten  am  Himmel  steht  die  graue  Wolkenhorde  des  Herbstes 

553 


bereits  auf  dcr  Laucr.  Heute  abend  wirds  wicder  rcgncn. 
Wic  viele  Mcnschcn,  Spazierganger,  die  habens  leicht  .  .  . 
ich  rede  ja  Blodsinn.  Warum  haben  die  es  denn  leicht? 
Fur  mich  wars  auch  leicht,  fiinf  Monate  lang  herum- 
zulungern,  —  na  ja,  aber  dieses  Lungern,  —  das  war 

eigentlich  eine  sehr  wichtige  Sache,  ich  muBte  doch 

pst!  still!  Eine  engbriistige,  groBe,  altere  Dame  im  Regen- 
mantel  sitzt  ihm  gegeniiber,  sie  liest  eine  franzosische 
Zeitung.  Plotzlich  taucht  der  Wunsch  in  ihm  auf,  nicht  ins 
Burgerliche  Restaurant  zu  gehen.  Abonniert  bin  ich  ja 
sowieso  nicht  mehr  .  .  .  nein,  ich  geh  nicht  in  die  Butike. 
Ich  geh  an  den  Donaukai.  Und  er  bleibt  im  Wagen  sitzen. 
Der  Schaffner  stellt  sich  vor  ihn  hin,  muB  ein  gutes  Ge- 
dachtnis  fur  Gesichter  haben.  Ach  ja,  mein  Fahrschein  ist 
abgelaufen.  Na,  die  zwei  Haltestellen  konnte  ich  riskieren. 
Er  meldet  sich  nicht,  der  Schaffner  schweigt,  sieht  ihn  nur 
an.  ,,Ich  fahre  weiter",  ruft  er  dann  dem  Schaffner  zu, 
,,geben  Sie  mir  noch  einen  Teilstreckenschein."  Auf  dem 
Vorosmarty-Platz  steigt  er  aus,  geht  um  das  fur  den  Winter 
eingehullte  Denkmal  herum  an  die  Donau.  Ober  der  Burg 
sind  die  Wolken  schon  dunkelbraun,  die  Sonne  scheint 
noch,  ein  paar  Menschen  promenieren  auf  dem  Korso, 
Feine  Sache,  feines  Wetter,  —  am  Ersten  verkaufe  ich 
schon  Einheitsmobel  oder  Textilwaren  in  Miskolcz.  Heute 
esse  ich  im  Ritz,  unten  im  Keller.  Sowieso  nicht  wahr- 

schcinlich,  daB  ich  dazu  sobald  wieder  komme ich 

werde  sehr  sparen  miissen.  Biirgerliches  Restaurant  und 
Automat.  —  Lange  liest  er  die  Speisekarte,  fragt  den  ge- 
duldigen  Kellner  um  Rat  und  bestcllt  umstandlich  ein 
iippiges  Mittagessen.  Maca  fallt  ihm  ein,  und  bcdachtig, 
den  Gcschmack  der  Speiscn  bis  zum  letzten  Bruchteil 
gcnieBend,  iBt  er.  Auch  Torte.  Und  noch  kleincs  Geback. 
Und  Kase.  Und  Obst  und  schwarzen  Kaffee  mit  Schlag- 
sahne.  Nach  Tisch  kauft  er  eine  Schachtel  agyptische 
Zigarcttcn,  steckt  sich  eine  an,  streckt  sich  bequcm  im 
Lehnstuhl  aus  und  blast  den  Rauch  in  die  Luft.  Kein 

534 


Mensch  kann  behaupten,  daB  ich  nicht  gut  lebe.  GroBartig 
lebe  ich.  Und  ich  werde  auch  immer  so  leben.  Ich  pfeife  auf 
die  ganze  Geschichte,  ich  kiimmere  mich  urn  keinen 
Menschen,  ich  hange  von  niemandem  ab  und  gehorc  zu 
niemandem,  ich  pfeife  auf  sie.  Ihr  werdets  schon  sehen!  .  .  . 
Ganz  gleich,  wo  rum  es  sich  handelt,  ganz  gleich,  was  das 
Material  ist.  Die  Hand  ist  das  Wichtigste,  der  Mensch,  der 
das  Material  in  die  Hand  nimmt.  Mit  dem  Stummel  ziindet 
er  eine  neue  Zigarette  an,  zahlt  und  macht  sich  spazierend 
auf  den  Weg.  Na,  jetzt  auf  einen  Sprung  zu  Mama,  —  aber 
vielleicht  konnte  ich  erst  irgendwo  noch  einen  Kaffee 
trinken.  Und  schon  steht  er  im  Cafe,  blickt  sich  um,  als 
suche  er  jemanden,  dann  setzt  er  sich  ans  Fenster.  Die 
Brucke  sieht  er  vor  sich;  energisch  dirigiert  der  Verkehrs- 
polizist  die  Wagen.  Angenehmer  Beruf,  den  ganzen  Tag 
da  zu  stehen,  in  Regen  und  Hitze,  und  zu  winken,  wie  viele 
Stunden  Dienstzeit  mogen  die  am  Tag  haben?  und  schlieB- 
lich  eine  verantwortungsvolle  Arbeit,  lange  hintereinander 
halten  die  Nerven  das  nicht  aus  .  .  .  frei  I  los,  los,  iiber  die 
Brucke,  und  jetzt  quer,  die  Bahn  ist  frei,  los  ...  auf  die 
Karriere  zu,  nach  dem  Geld  hin,  —  Unsinn.  Pfui,  hab  ich 
mir  den  Wanst  vollgeschlagen !  —  ,,Ah,  Herr  Direktor", 
sagt  der  Kellner,  der  an  seinen  Tisch  tritt,  ,,pflegen  Sie  jetzt 
hierherzukommen?  was  darf  ich  bringen,  einen  Kapuziner?" 
Er  sieht  ihm  ins  Gesicht.  ,,Woher  kenne  ich  Sie?"  —  ,,Aus 
dem  Seemann,  wenn  Sie  gestatten,  friiher  pflegten  Sie 
dort  hinzugehen  . . .  und  ich  bin  ungefahr  vor  zwei  Monaten 
hierher  iibersiedelt."  Er  erzahlt  noch  was  von  seiner  fruheren 
Stelle,  wo  ihn  der  Oberkellner  rausgeekelt  habe,  dann  geht 
er.  ,,Hallo,  bitte  .  .  .  keinen  Kapuziner,  sondern  Schwarzen 
und  einen  Kognak",  ruft  er  ihm  nach.  ,,Kognak,  jawohl, 
ungarischen  oder  darfs  franzosischer  sein?"  —  ,,GewiB, 
gewiB,  franzosischer",  sagt  er.  —  Er  trinkt  den  Mokka 

aus,  riecht  am  Kognak  und  schliirft  ihn.  Eh gut. 

Dann  nimmt  er  eine  Nachmittagszeitung  in  die  Hand, 
blattert  darin  und  legt  sie  sofort  wieder  hin.  Er  winkt  dem 

53J 


Kellner.  ,,Bhte,  noch  so  eincn  Kognak."  Das  zweite  Glas 
kratzt  nicht  mehr,  das  dritte  flieBt  ganz  glatt  durch  die 
Kchle,  und  es  wird  ihm  warm,  beim  viertcn  fangen  seine 
Augcn  an  zu  gliihen,  nach  dem  funften  wogen  ihra  Melo- 

dicn  durch  den  Kopf.  Das  sechste Anstandige 

Sachc,  dieser  Kognak.  Anstandige  Sache.  Alles  hochst 
anstandig.  Na,  auf  lafit  uns  brechcn  zu  Sari,  anstandige 
Sache,  anstandige  Leute,  brave  Biirgersleute,  reale  Men- 
schen,  keine  Phantasten,  keine  spleenigen  Narren,  die  Sari 
und  ihr  Mann.  Um  sechs  wird  die  kleine  Maci  abgcholt, 
dann  gehn  wir  ins  Kino  oder  heute  lieber  ins  Theater,  nein, 
lieber  ins  Kabarett,  ja,  gut,  ins  Kabarett.  Und  nachher  essen 
wir  schon  zu  Abend,  anstandige  Sache,  was,  Macichen? 
Und  dann  gehn  wir  nach  Haus,  zu  Herrn  Kelemen  gehn 
wir,  zu  Bandi  bacsi,  schlafen  .  .  .  fein,  was?  Wir  haben  uns 
lieb,  stimmts,  Maca?  vielleicht  werden  wir  sogar  heiraten, 
kaufen  uns  anstandige,  billige  Einheitsmobelchen  bei 
Onkel  Menczer.  Da  schamt  er  sich  plotzlich.  Was  fiir  ein 
Blodsinn!  Hier  den  Betrunkenen  zu  spiclen!  trunkenen 
Quatsch  zu  reden  -  --  Ein  wenig  schwindlig  ist  ihm  zwar, 
aber  sofort  bekommt  er  doch  wieder  einen  klaren,  niich- 

ternen  Kopf.  Esel Die  braunen  Wolken  sind  in- 

zwischen  von  der  Burg  her  bis  in  die  Mitte  des  Himmels 
gezogen,  die  Sonne  scheint  nicht  mehr.  Ein  WindstoB  fegt 
vorbci;  er  schreitet  schneller  aus;  biegt  in  eine  QuerstraBc, 
um  rascher  zu  Sari  zu  gelangen.  Ais  er  vor  dem  Haus  an- 
kommt,  fallen  zuerst  zogernd  ein  paar  dicke,  schwere 
Regentropfen,  und  dann  ist  der  Asphalt  plotzlich  ganz  naB. 
Karoly  ist  schon  ins  Geschaft  gegangen,  Mama  schlaft, 
Sari  sitzt  am  Tisch  mit  der  Zeitung,  Joly  im  Schaukelstuhl, 
die  Beine  nach  hinten  gezogen,  ihr  Buch  liegt  auf  dem 
Fensterbrett. 

,,Guten  Tag,  Kinder",  griiBt  er,  ,,na,  was  gibts  Neues?" 

Die    Schwestcrn    erwidern    seinen    GruB    mit    einem 

kurzen  Murmeln;  Stille.  Er  setzt  sich  neben  Sari,  hiistelt, 

denkt  nach,  wic  cr  anfangen  solle.  Wie  blaB  Sdri  ist,  sicher 

536 


leidet  sie  schr  unter  der  Schwangerschaft.  Oder,  was 
verstch  ich  denn  davon!  ein  Gliick,  daB  ich  keine  Familie 
habc. 

,,Mama  schlaft?"  fragt  cr. 

Sari  nickt. 

,,Wann  stcht  sie  auf ?" 

,,Wcnn  wir  sie  nicht  wecken,  in  einer  halben  Stunde." 

,,Namlich  .  .  ."  er  bricht  ab,  im  Kopf  probiert  er  den 
Ton  erst  aus,  ,,namlich,  die  Sache  ist  in  Ordnung." 

Sari  blickt  auf.  ,,Wclche  Sachc?" 

,,Mit  Menczen.  ' 

,,\Varum  sagst  du  das  denn  nicht  gleich  .  .  .  na,  quetsch 
dich  aus!"  Saris  Gesicht  wird  auf  einmal  rot,  ,,und  hast 
dus  Karoly  schon  gesagt?" 

,,Nein,  ich  will  jetzt  hingehen.  Also  ...  ich  bin  bei 
Menczers  eingetretcn." 

,,Und  wieviel  kriegst  du?" 

,,Wieviel  ich  kriege?  Zunachst  hundert  Pengo  Fixum 
und  was  ich  noch  verdiene,  aber  es  sieht  mir  so  aus,  als 
ob  die  Sache  gehen  wiirde  .  .  ."  kleine  Pause,  ,,heute  hab 
ich  zufallig  mit  jemandem  gesprochen,  der  .  .  ."  er  hiistelt, 
,,der  gerade  jetzt  daran  denkt,  sich  eine  Wohnung  ein- 
zu  rich  ten " 

,,Na,  siehst  du!"  sagt  Sari,  ,,Gott  sci  Dank!  Geh  doch 
bitte  gleich  runter  und  sag  Karoly  Bescheid,  damit  er  sich 
auch  bei  Menczers  bedanken  kann." 

,,Treib  mich  doch  nicht  so  ...  ich  werde  schon  gehen." 
Seine  Stimme  klingt  etwas  gereizt.  ,,Jetzt  warte  ich  erst, 
bis  Mama  aufwacht."  Stille.  ,,Bei  Herrn  Generaldirektor 
Havas  war  ich  auch." 

,,Wirklich  .  .  .  na,  und?" 

,,Menczer  ist  besser.  Herr  Generaldirektor  Havas 
braucht  namlich  einen  Reisenden  fur  die  Provinz,  und  furs 
erste  habe  ich  mich  noch  nicht  geauBert,  aber  als  Reserve 
ist  auch  die  Sache  nicht  schlecht.  Ich  kann  die  Stellung 
antretcn,  wanns  mir  paBi," 

557 


,,Na,  siehst  du,  Bandichen",  sagt  Sari,  schmclzend  vor 
Dank,  ,,was  fur  brave,  anstandige  Leute  das  sind  .  .  .  Man 
muB  bloB  cin  biBchen  hinterher  scin,  muB  bloB  cin  biBchen 
Gliick  haben,  dann  fangen  gleich  zwei  Sachcn  gut  an.  Bei 
den  hcutigen  schlechten  Verhaltnisscn  .  .  .  es  1st  doch  nicht 
zu  verachten,  wenn  man  so  ein  paar  kleine  Beziehungen 
hat  — " 

,,Natiirlich",  antwortet  cr,  ,,Beziehungen  sind  gar  nicht 
zu  verachten." 

Stille.  Er  sitzt  am  Tisch,  trommelt  mit  den  Fingern  und 
starrt  in  die  Luft.  Das  ist  ja  leicht  gegangen.  So  leicht  ist 
es,  den  Menschen  Freude  zu  machen.  Jetzt  ist  Sari  gliicklich 
und  stolz  auf  Karoly  wegen  seiner  Beziehungen  zu  Menczer 
und  Havas.  So  ein  paar  kleine  Beziehungen.  Tja,  Beziehun- 
gen sind  wichtig.  Wenn  man  .  .  .  das  Ziel  hat,  ein  guter 
Agent  zu  werden,  dann  braucht  man  Beziehungen.  Man 
redet  hier  was  und  redet  dort  was,  ist  nicht  an  einen  bidden 
Schreibtisch  gebunden,  sieht  jahrelang  keine  Inkasso-Listcn, 
macht  bloB  Geschafte  und  verdient,  so  viel  man  nur  kann  — 

,,Ich  will  mal  nach  Mama  sehen",  Sari  steht  auf,  schwer- 
fallig  und  leise  stohnend,  ,,ich  mochte  gern,  wenn  du  so 
bald  wie  moglich  Karoly  Bescheid  sagen  wiirdest  .  .  ." 
damit  geht  sic  aus  dem  Zimmer. 

Da  laBt  Joly  aus  dem  Schaukelstuhl  ihre  Stimme  horen: 

,,Na,  hast  du  doch  Lust  gehabt,  ins  Kino  zu  gehen?" 

Er  sieht  sie  an,  versteht  sic  nicht. 

,,Ich  hab  dicb  gestern  abend  im  Kino  gesehen,  mit  einem 
hiibschen  Madel  mit  blauer  Kappe." 

Er  spurt  eine  mcrkwiirdige,  unmotivierte  Gereiztheit. 
,,Jawohl",  antwortet  er  spitz,  ,,na,  und?'* 

,,Nichts  und.  Ich  sag  bloB,  ich  hab  dich  gesehen.  Wer 
war  die?" 

,,Niemand.  Ein  Madel.  Meine  Frcundin",  fiigt  er  plotz- 
lich  binzu. 

,,So." 

Stille. 


,,Und  ich  war  mit  einem  Herrn." 

Stillc.  In  seinem  Kopf  hinten  beginnt  langsam  cm 
Ziehen. 

,,Mit  meinem  Freund." 

Ganz  untcn,  iibcr  dem  Genick,  zieht  sich  sein  Kopf  nach 
beiden  Seiten. 

,,Mit  Doktor  Toto  Huszar." 

Die  Spannung  reiBt  ab;  gepreBt  stoBt  er  hervor,  wie  er 
sich  umdreht  und  vor  seine  Schwester  hintritt: 

,,Du  .  .  .  Jolyl  was  soil  das?  komm  ich  deshalb  her?l" 

Und  da  wird  der  griinlich-blaue  Strahl  auf  einmal 
unsicher  und  verwischt  sich.  Die  beiden  langen,  schlanken 
Bcine  klappen  auf  die  Erde,  die  schmalen  Schultern  fallen 
nach  hinten  an  die  Rohrlehne,  der  Schaukelstuhl  kommt 
quietschend  ins  Pendeln. 

,,Ach  Gott",  sagt  Joly  ganz  leise  und  demiitig,  ,,Ban- 
dichen,  sei  nicht  bose  .  .  .  mir  1st  bloB  so  schrecklich  mies 
zumute " 

Das  keuchende  Briillen  bleibt  ihm  in  der  Kehle  stecken, 
denn  in  diesem  Augenblick  tritt  Mama  ins  Zimmer,  — 
Joly  reiBt  den  Kopf  nach  dem  Fcnster  herum,  Mama  geht 
gleich  auf  ihn  zu : 

,,Andor,  mein  lieber  Junge!  Sari  sagt,  du  bringst  so 
gute  -" 

,,KuB  die  Hand,  Mama  .  ,  .  ja,  cine  gute  Nachricht  — " 

Er  kuBt  der  Mutter  die  Hand;  sie  kiiBt  ihn  auf  die 
Stirn: 

,,Bandi,  du  riechst  ja  nach  Schnaps!  was  hast  du  ge- 
trunken?" 

,,Ah  .  .  .  bloB  einen  Gespritzten",  und  er  bezwingt  die 
ihn  plotzlich  befallende  schlechte  Laune.  ,,Also,  Mamachen, 
die  Sache  bei  Menczers  hat  geklappt,  und  jetzt  vor  alien 
Dingen  — " 

Er  greift  in  die  Brieftasche,  ein  wenig  holzern,  und  legt 
cinen  Hundertpengoschein  auf  den  Tisch.  ,,Anzahlung  auf 
das  Versaumte.  Am  Ersten  bekomme  ich  schon  mein 


539 


Gehalt  —  — -  das  iibrige  spater,  was  ich  dir  im  Sommcr 
schuldig  gcblieben  bin/4 

In  iiberstromendem  Dank  und  mit  schwarmerischer 
Liebe  sieht  sie  ihn  an.  ,,Bandichen  .  .  .  steck  das 
nur  schon  wieder  ein,  du  brauchst  cs  viel  notiger  als 
ich,  —  also,  wciBt  du  was,  mein  Kind,  ich  werde  es  dir 
aufbewahren . .  .'* 

Er  protestiert.  Nein,  auf  keinen  Fall  solle  sie  es  ihm 
aufbewahren,  sie  solle  es  nur  verbrauchen,  gewiB  habe  sie 
auch  Schulden  bei  Sari .  .  .  ,,Danke,  lieber  Junge",  sagt  die 
Mutter,  ,,ja,  ja,  ich  hab  doch  immer  gesagt,  meine 

Kinder "  Da  iiberkommt  ihn  groBe  Unruhe.  Schnell 

verabschiedet  er  sich  und  geht.  Verstohlen,  gleichsam  zu- 
fallig  sieht  er  Joly  an,  —  Joly  hat  den  Kopf  noch  immer 
nach  dem  Fenster  gewendet.  An  der  Kiichentur  klopft  er 
Sari  ein  Adieu  zu.  Einen  unertraglich  bittern  Geschmack 
hat  er  im  Mund.  Ich  muBte  etwas  trinken  .  .  .  wenigstcns 
ein  Glas  Wasser  — 

Erst  als  er  schon  in  seinem  Zimmer  steht,  fallt  ihm  ein, 
daB  er  nicht  bei  seinem  Schwager  war.  Soil  ich  wieder 
runtergehen?  ach,  nein.  Vielleicht  spater,  wenn  ich  sowieso 
runtergehe,  schau  ich  einen  Moment  bei  ihm  rein.  Er  hat 
den  Laden  ja  bis  acht  offen.  Aus  dem  Schrank  nimmt  er  die 
Kognakflasche.  Gestern  abend  haben  wir  ja  kaum  was 
getrunken.  Eine  anstandige  Person  ist  die  Julie,  hat  die 
Glaser  abgewaschen  und  wieder  weggeraumt.  Na,  noch  ein 
Glaschen  Kognak  kann  nichts  schaden.  So  gut  wie  der  nach 
Tisch  ist  er  nicht,  aber  immerhin  .  .  .  auch  nicht  vom 
schlechtesten.  —  Es  klopft,  zweimal,  bescheiden.  Wer 
kann  denn  das  sein?  ,,Hcrein!"  Frau  Hunka.  ,,Guten  Tag, 
Herr  Kelemen."  —  ,,Guten  Tag,  bitte,  nehmen  Sie  Platz." 
,,Nein,  danke,  ich  will  nicht  lange  storen  ..."  Na,  was  will 
denn  die?  es  ist  doch  noch  nicht  der  Erste. 

,Jch  wollte  Sie  bitten,  Herr  Kelemen  .  .  ."  rot  vor 
Vcrlegenhcit  steht  sie  an  die  Tiire  gelehnt,  ,,es  ist  mir  sehr 
peinlich  .  .  .  aber  ich  —  ~ " 

540 


,,Aber  bitte",  sagt  er  verwundert,  ,,ist  etwas  Unan- 
genehmes  passiert?" 

,,Passiert  1st  gerade  nichts  .  .  .  aber  ich  wollte  Ihnen  nur 
sagen  .  .  .  ich  bin  die  Witwe  eines  pensionierten  stadtischen 
Biirgerschuldirektors " 

,,Aber,  das  weiB  ich  doch  — " 

9> und  Herr  Kelemen,  Sie  waren  stets  ein  sehr 

angenehmer  Mieter  .  .  .  aber  der  Hausmeister  hat  mir 
gesagt,  Sie  waren  diese  Nacht  mit  einer  fremden  Dame  — " 

Verdutzt  hebt  er  den  Kopf,  Wut  schaumt  in  ihm  auf,  — 
nur  fur  einen  Augenblick,  —  aber,  bitte,  gnadige  Frau, 
will  er  anfangen,  —  dann  lacht  er  und  sagt  in  heiterem, 
leichtem  Ton: 

,,Sehen  Sie  ma!  .  .  .  Frau  Hunka.  Entweder,  Sie  mischen 
sich  nicht  in  meine  Angelegenheiten,  oder  aber  ...  in  zwei 
Tagen  ist  der  Erste,  und  wenn  Ihnen  was  nicht  paBt,  dann 
konnen  Sie  mir  ja  kiindigen.  Bis  dahin  bringe  ich  in  mein 
Zimmer,  wen  ich  will!"  Er  geht  an  die  Tiire  und  macht 
sie  auf,  Frau  Hunka  wankt  aus  dem  Zimmer. 

Er  pustet.  Alte  Scharteke  .  .  .  aber  sein  Arger  ist  ver- 
schwunden,  und  er  lacht.  Ich  schame  mich,  daB  ich  sie 
hierher  bringen  muB,  in  diese  alte  Bude  .  .  .  und  die  gries- 

gramige  Hexe  da  wagt  noch Er  tritt  ans  Fenster  und 

blickt  hinaus.  Es  regnet.  Abscheulichcs  Herbstwetter.  Wird 
nicht  so  bald  auf  horen,  pfui.  Driiben  auf  dem  Trottoir  geht 
ein  alteres  Paar.  Der  Mann  gibt  der  Frau  den  Schirm;  sie 
treten  vor  eine  Bank,  der  Mann  stellt  einen  FuB  auf  die 
Bank  und  bastelt  am  aufgegangenen  Schniirsenkel  herum, 
untcrdessen  halt  die  Frau  den  Schirm  iiber  ihn.  Ein  nettes 
altes  Ehepaar.  Wenn  wir  heute  abend  ausgehen,  ziehe  ich 
mir  den  Smoking  an.  Er  geht  an  den  Schrank,  sucht  ein 
sauberes  steifes  Hemd.  Alle  drei  sind  in  der  untersten 
Schublade  unter  der  schmutzigcn  Wasche.  Sofort  klingelt 
er.  Gleich  ist  Julie  da. 

,,Julie,  nehmen  Sie  schnell  diese  drei  Hemden  hier  und 
tragen  Sie  sie  in  die  Waschanstalt,  sie  sollen  sie  mir  so  rasch 


wie  moglich  waschcn  und  raufschicken,  und  zwar  mit  ganz 
steifen,  glanzenden  Briisten  und  Manschetten." 

Das  Madchen  geht  mit  den  Hemden  ab.  Dann  zieht  er 
den  Rock  aus,  schliipft  in  den  zerrissenen  Liister-Buro- 
rock,  stochert  in  der  Glut  im  Ofen  und  legt  sich  auf  die 
Chaiselongue.  Eine  Stunde  schlafen.  Gut  ware  das.  Auch 

vorige  Nacht  habe  ich  kaum und  da  fallt  ihm  seine 

nachtliche  Phantasie  von  der  rothaarigen  Frau  ein.  GroBer 

Gott das  sind  doch  vollkommen  wahnsinnige  Sachen, 

diese  entsetzlichen  Aufregungen,  —  auf  dem  Schiff  habe 
ich  Camilla  kennengelernt,  —  eine  ganz  ernstliche  Krank- 
heit,  daB  ich  diese  Dinge  nicht  aus  meinem  Innern  vertilgen 

kann,  nicht  verscheuchen,  nicht  loswerden das  geht 

doch  wirklich  nicht,  daB  ich  mich  selbst  in  dieser  Weise 
verfolge,  anstatt  ganz  einfach,  klug  und  niichtern  zur 
Kenntnis  zu  nehmen:  es  1st  aus,  aus  ist  es,  und  SchluB,  ich 
muB  was  Neues  anfangen,  etwas  anderes,  und  nicht  davor 
hangen  bleiben  und  mich  nicht  aufraffen  konnen,  zu  andern 

ist  doch  nun  einmal  nichts  mehr  daran also,  abrechnen, 

klar,  gescheit  und  einfach.  Was  habe  ich  letzten  Endes  ver- 
loren?  eine  lumpige  Stellung  in  einem  mir  verhaBten  Biiro, 
also,  bitte,  und  wenn  ich  mir  fur  hundert  Pengo  ein 
Lotterielos  kaufe,  vielleicht  gewinne  ich,  vielleicht  auch 
nicht  .  .  .  oder  wenn  ich  einen  Zehnpengoschein  auf  die 
SechsunddreiBig  setze  oder  auf  die  Funfzehn,  ausgerechnet 
auf  die  Funfzehn,  —  vielleicht  kommt  die  Funfzehn  raus, 
vielleicht  auch  nicht  .  .  .  Also,  ich  hab  ausgerechnet  auf 

K4da*r  gesetzt was  denn?  nichts.  Sie  hattcn  mir  ja 

sowieso  gekiindigt  .  .  .  hatten,  hattenl  und  wenn  sie  mir 
doch  nicht  gekiindigt  hattenl  und  wenn  ichs  anders  ge- 
macht  hatte  I  und  wenn  Joly  klug  gewesen  ware  I  und  wenn 
Klddr  geneigt  gewesen  ware,  sich  scheiden  zu  lassenl  — 
nein,  das  halte  ich  nicht  aus,  diese  dauernden  Aufregungen, 

wenn  ich  allein  bin er  springt  auf,  schleppt  sich  mit 

schwankenden  Schritten  und  schwindclndcm  Kopf  cine 
Weile  im  Zimmer  hin  und  her,  —  ich  geh  runter,  ich  geh 

54* 


runter er  taumelt  und  setzt  sich  auf  den  Rand  des 

Bettes;  ein  wenig  beruhigt  er  sich.  Albernheit.  Ich  lasse 
mich  gehen  ...  —  nein,  ich  will  mich  nicht  gehen  lassen! 
ich  bin  allein,  gut,  dann  bin  ich  eben  allein!  ein  erwachsener 

Mensch  mit  gesundem  Verstand r-  Vom  Biicherregal 

ziebt  er  aufs  Geratewohl  ein  rotes  broschiertes  Buch  heraus. 
Das  Gesetz  der  Vier,  Wallace,  groBartig,  noch  nicht  einmal 
aufgeschnitten.  Ein  Glas  Kognak,  eine  Zigarette,  —  er 
legt  sich  wieder  auf  die  Chaiselongue.  Die  alte  Vettel  wird 
mir  sicher  kiindigen,  na,  soil  sie  doch,  um  so  leichter  wirds 

sein,  einen  Strich  zu  machen  unter  das  ganze  bisherige 

also,  Das  Gesetz  der  Vier,  na,  wollen  mal  sehen.  Mit  dem 
Finger  reiBt  er  den  ersten  Bogen  auf.  Der  Mann,  der  aus 
Clapham  kam  .  .  .  das  kommt  mir  bekannt  vor,  na,  mal 
sehen.  Er  liest  den  ersten  Satz,  langsam  und  vorsichtig, 
jedes  Wort  einzeln.  In  der  Mitte  der  Seite  hat  er  die  ersten 
Zeilen  bereits  vergessen,  und  unten  auf  der  Seite  haben  die 
Worte  keinen  Zusammenhang  mehr,  —  ich  kann  nicht 
lesen,  interessiert  mich  nicht  .  .  .  ich  schick  die  Julie  noch 
mai  runter,  vielleicht  gibts  schon  Abendzeitungen  —  — 
die  Entreeklingel  lautet,  eine  Mannerstimme  brummt,  kurz 
darauf  klopft  es  an  seiner  Tiir,  er  ruft  ,,herein"  und  stiitzt 
sich  auf  den  Ellenbogen. 

Der  Besucher  ist  der  kleine  Lewy. 

,,Servus,  Kelemen,  —  na?  was  ist  denn  los?  bist  du 
krank?" 

Was  bedeutet  das?  was  will  der?  um  diese  Zeit? 

,,Du  wunderst  dich  wohl,  daB  ich  komme.  WeiBt  du, 
ich  war  gerade  hier  gcgeniiber  beim  Arzt,  —  stell  dir  vor, 
ich  hab  Magensaurel"  sagt  er  in  tiefgekranktem  Ton,  als 
hattc  ihn  eine  ganz  besondere  Ungerechtigkeit  getrofFen. 
,,Also,  da  ich  so  in  der  Na'he  war,  dachte  ich  mir,  ich  will 
mal  sehn,  was  du  machst.  Bist  du  krank?" 

,,Ich?J"  wundert  cr  sich  etwas  kleinlaut,  ,,keine  Spur, 
wieso?" 

,,Warum  warst  du  denn  gestern  abend  nicht  im  Caft?" 

543 


,Jaaa  .  .  ."  sagt  er  gedehnt,  ,,gestern  abend,  ach  ja, 
natiirlich."  Soil  ich  jetzt  sagen,  ich  habs  vergesscn?  das 
glaubt  er  mir  ja  doch  nicht  .  .  .  ,,Ich  konnte  gestern  nicht, 
ich  hatte  eine  wichtige  Verhandlung,  in  einer  Stellungs- 
angelegenheit,  weiBt  du." 

,,Aha  .  .  .  na,  und  wird  daraus  wenigstens  was  Ver- 
niinftiges?'* 

,,Ich  hoffe,  ja  .  .  ."  und  sofort  springt  er  vom  Thcma  ab, 
,,na,  was  war  denn  los  gestern?" 

Der  kleine  Lewy  zieht  sich  den  Stuhl  bequem  zurecht, 
schlagt  das  Bein  iibers  Knie  und  stiitzt  sich  mit  dem  Ellen- 
bogen  auf  die  Tischkante : 

,,Schade,  daB  du  nicht  da  warst,  es  war  namlich  Plenar- 
Sitzung,  alle  sind  erschienen,  zur  Abschiedssitzung,  wie 
Simon  sagte." 

„  Abschiedssitzung  ?" 

,,Ja,  Kadars  Abschied  haben  wir  gefciert." 

,,Kadar?  .  .  ." 

,,Na  ja,  Kadar  war  natiirlich  nicht  dabei,  angeblich  ist 
er  vor  ein  oder  zwei  Tagen  abgereist,  aber  es  war  von  nichts 
anderm  die  Rede  als  von  ihm.  WeiBt  du,  wie  soil  ich  gleich 
sagen,  wir  haben  die  Kadar-Angelcgenheit  zusammen- 
gefaBt " 

,,Und?" 

,,Und,  also,  wir  sind  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  daB 
unser  beruhmter  Toni  Kadar  noch  genau  derselbe  Laflfe 
ist,  der  er  im  Gymnasium  war.  Genau  derselbe  unent- 
schlossene,  unbeholfene  .  .  .  bloB  daB  er  dazu  noch  gemein 
geworden  ist,  was  andererseits  natiirlich  ist,  das  kommt  so 
mit  dem  plotzlichen  Reichwcrden ** 

Und  der  kleine  Lewy  spricht.  Den  rechten  Ellenbogen 
hat  er  auf  den  Tisch  gestiitzt,  mit  der  linken  Hand  gestiku- 
liert  er,  dann  steht  er  auf,  geht  auf  und  ab  und  setzt  sich 
wieder.  Die  Worte  flieBen  glatt  von  seinen  Lippen,  mit 
farbigen  Unterstreichungcn,  mit  pragnanten  Redewendun- 
gen,  in  der  virtuosen  Vielstimmigkeit  von  Dialogen  und 

544 


Randbemerkungen.  MVollzahlig  waren  sic  gestern  am 
Stammtisch  versammelt.  Selbst  Suhajda  war  da,  der  so 
selten  erscheint,  und  auch  Vavrinec.  Mir  hat  er  gleich  nicht 
gcfallcn,  als  cr  ankam,  sagte  Simon  sofort,  als  von  Kadar 
die  Rede  war.  Ich  bitte  euch,  einer,  von  dem  seit  zehn 
Jahren  kein  Mensch  was  gehort  hat  und  der  dann  plotzlich 
mit  sechzehn  KofFern  angesetzt  kommt,  —  so  eine  Sache 
muB  irgendeinen  Haken  haben.  Na  ja,  Simon  hat  gleich 
auf  dem  Fremdenmeldeamt  in  Erfahrung  gebracht,  daB  die 
Frau  zehn  Jahre  alter  ist  als  er.  Ich  will  ja  nicht  sagen,  ihr 
habt  es  ja  auch  nicht  sehr  bemerkt,  daB  sie  schon  ziemlich 
bei  Jahren  ist,  denn  schlieBlich  die  moderne  Kosmetik  .  .  . 
Schon,  aber  mit  diesen  zehn  Jahren  ist  auch  die  ganze 
Sache  schon  so  ungefahr  erklart.  Unser  Pinguin  ist  ein 
kleiner  Ausgehaltener,  in  Pfunden  naturlich,  in  Bauunter- 
nehmungen,  in  groBem  Stil,  was  immerhin  etwas  ganz 
anderes  ist,  als  etwa  zwanzig  Pengo  von  einer  Frau  anzu- 
nehmen.  Schade  ist  bloB,  sagte  Simon,  daB  man  nicht 
dahinterkommen  konnte,  wer  diese  ungarische  Tante  in 
jungen  Jahren  gewesen  und  wie  sie  zu  den  Moneten  ge- 
kommen  ist,  das  ware  doch  interessant,  —  schade,  sagte 
Simon,  daB  wir  es  in  dem  Punkt  bei  Kombinationen  und 
Hypothesen  bewenden  lassen  miissen.  Aber  fangen  wir 
vielleicht  gar  nicht  hier  an,  sondern  schon  dort,  daB  sich 
auch  herausgestellt  hat,  wie  und  hauptsachlich  warum  er 
ins  Ausland  gegangen  ist.  Das  hat  Vavrinec  erzahlt,  der  es 
seinerzeit  auf  der  Hochschule  gehort  hat.  Unser  Pinguin  ist 
n£mlich  1919  wegen  eines  kommunistischen  Stuckchens 
aus  der  Hochschule  rausgepriigelt  worden  und  dann  aus 
Budapest  verschwunden,  es  ist  sogar  nicht  ausgeschlossen, 
daB  er  inzwischen  gesessen  hat,  dariiber  wuBte  niemand 
Bestimmtes.  Aber  man  weiB,  und  zwar  hat  das  Zatony  von 
Varga  gehort,  daB  er  einundzwanzig  oder  zweiundzwanzig 
in  London  war  und  dort  gebettelt  oder  gehochstapelt  hat. 
Varga  hat  er  sogar  um  eine  groBere  Summe  geprellt, 
woran  cr  sich  jetzt,  als  sie  sich  hier  trafen,  absolut  nicht 

35  Kftrmendi,  Budapest  545 


meht  erinnern  wollte.  Kurz  und  gut,  es  zeigte  sich,  daB  die 
Sache  uns  alien  von  Anfang  an  nicht  recht  gefallen  hatte, 
worauf  ich  jedoch  bemerkte,  seien  wir  nur  objektiv,  im 
Anfang  waren  wir  sehr  wohl  alle  bezaubert  von  ihm,  was 
auch  verstandlich  ist,  pecunia  non  olet,  nicht  wahr,  so  heiBt 
es,  —  worauf  Simon  und  Szende  mich  niederschrien,  sie 
lieBen  sich  nicht  so  leicht  was  vormachen  und  so  weiter, 
sie  hatten  gleich  von  Anfang  an  gewuBt  und  so  weiter.  Na, 
und  dann  kamen  Einzelheiten,  von  denen  ich  keine  Ahnung 
gehabt  hatte,  —  keine  groBen  Sachen  weiter,  —  also,  zum 
Beispiel  Szende.  WeiBt  du,  was  Kddar  mit  dem  gemacht  hat? 
Eines  schonen  Tages  fangt  er  an,  mit  ihm  zu  reden,  er  sei 
doch  Architekt  et  cetera,  Szende  hat  bekanntlich  viel  mit 
Grundsriicken  und  Hausern  zu  tun.  Also,  Kadar  interessiert 
und  erkundigt  sich  so  lange,  bis  Szende  alle  Bedenken 
beiseite  schiebt,  schlieBlich  ist  das  ja  sein  Geschaft,  und  ganz 
zu  verachten  ist  es  auch  von . . .  von  allgemeinem  Standpunkt 
nicht,  heutzutage  hier  in  Budapest  von  auslandischem  Geld 
bauen  zu  lassen,  —  kurz  und  gut,  Kadar  hetzt  Szende  da  in 
cine  Sache  hinein,  und  Szende  macht  ihm  einen  Vorschlag, 
der  Pinguin  zuckt  die  Achsel,  Szende  macht  einen  zweiten 
Vorschlag  und  noch  einen  und  noch  einen,  der  Pinguin 
geht  bloB  ganz  lau  darauf  ein,  sagt  weder  ja  noch  nein, 
Szende  laBt  sich  verriickt  machen,  arbeitet,  schuftet  fur 
ihn  wie  cin  Taglohner,  und  da  reist  der  Pinguin  plotzlich 
ohne  Sang  und  Klang  ab.  Ist  das  etwa  ein  ernstzunehmender 
Geschaftsmann?  . . .  nein,  den  kann  man  als  Geschaftsmann 
nicht  ernst  nehmen.  Das  sieht  sehr  nach  Hochstapdei  aus. 
Und  der  Mdrton.  Die  Sache  ist  noch  besser.  Du  weiBt,  daB 
Mdrton  sich  im  siebenten  Bezirk  eincs  sehr  geschatzten 
Namens  erfreut.  Also,  Mdrton  crzahlt,  er  sei  zu  K£d£r  ge- 
gangen,  sie  hatten  namlich  gerade  beschlossen,  mit  einer 
Bank  im  Bezirk  irgendwas  zu  machen,  im  Interesse  der 
Burgerpartci  und  so  weiter.  Eine  solche  Sache  in  einer 
kapitalkraftigcn  Hand,  hat  Marton  gesagt,  nun,  ihr  wiBt 
ja.  Es  intcressiere  ihn,  antwortct  Kddir,  gewiB,  warum 

546 


nicht?  Man  konne  klcinere  Bauten  finanzieren  oder  der- 
gleichen.  Marton  geht  auf  die  Sache  ein,  macht  sich  da- 
hinter,  verhandclt  hier,  verhandelt  dort,  Kadar  hingegen 
versinkt  in  Schweigen.  Und  was  war  das  Ende  vom  Lied? 
Marton  hat  sich  drei  Monate  lang  mit  der  Angelegenheit 
geplagt,  ist  den  ganzen  Sommer  nicht  verreist,  dabei  hatte 
der  Arzt  ihn  dringend  nach  Reichenhall  geschickt,  und  unser 
Kadar  dreht  der  ganzen  Angelegenheit  eines  schonen  Tages 
glatt  den  Riicken.  Hor  nur  weiter.  Unglaublich,  kann  ich 
dir  sagen,  einfach  unglaublich,  in  was  alles  der  seine  Nase 
reingesteckt  hat.  In  einer  Art  ist  er  uns  gegeniiber  auf- 
getreten,  ais  sei  es  sein  einziges  Ziel  gewesen,  —  na,  schon, 
also  jetzt  Amman.  Der  sagte  bloB,  er  habe  ihm  eine  erst- 
klassige  Exportsache  vermittelt,  wobei  auch  der  Staat 
beteiligt  gewesen  ware,  wiBt  ihr,  sagte  er,  in  einem  Jahr 
hatte  sogar  ich  mir  ein  Haus  bauen  konnen,  so  viel  ware  da 
abgefallen,  ganz  zu  schweigen  vom  moralischen  Verdienst, 
gewcint  hat  er  fast,  sag  ich  dir.  WeiBt  du,  Kelemen,  der 
Pinguin  hat  mit  jedem  einzelnen  angebandelt.  Zu  Simon 
hat  er  gesagt,  er  wiirde  eventuell  in  seine  Geburtsstadt 
fahren,  runter  nach  Siebenbiirgen,  ans  Grab  seiner  Eltern, 
ob  er  nicht  mitfahren  wolle,  er  wiirde  ihn  sehr  gern  mit- 
nehmen,  dann  ware  die  Reise  ihm  wenigstens  nicht  lang- 
weilig.  Hast  du  schon  mal  sowas  gehort?  was  geht  Simon 
das  Grab  von  Kadars  Eltern  an?l  Rona  hat  laut  gelacht, 
Gott  sei  Dank,  hat  er  gesagt,  ich  bin  ihm  wenigstens  bloB 
mit  einem  graflichen  Porzellanservice  auf  den  Leim 
gegangen,  das  er  kaufen  wollte,  aber  ich  hab  gar  nichl 
crnstlich  mit  ihm  verhandelt.  Na,  und  dann  hat  noch  der 
Lcwy  ausgepackt  und,  was  weiB  ich,  wer  noch  alles  .  .  . 
Aber  das  Gemeinste  war  doch,  was  er  mit  dem  armen 
Suhajda  gcmacht  hat.  Zugegeben,  der  Suhajda  ist  kein 
sympathischer  Mensch,  ist  weiBer  Terrorist  gewesen,  von 
mir  aus  konnte  er  ruhig  verrecken,  aber  trotzdem,  — 
Suhajda  hat  ihn  ganz  often  und  ohne  Umwege  gebeten,  er 
moge  ihm  riiber  verhelfen  nach  Sudafrika,  well  er  hier 

35-  547 


verhungcrn  miisse,  —  weiBt  du,  was  er  darauf  gcantwortet 
hat?  wenigstens  nach  Suhajdas  Aussagen,  wcnn  man 
denen  glaubcn  kann,  —  nein,  hat  cr  zu  ihm  gesagt,  erst  jetzt 
vor  cin  paar  Tagen,  nein!  verstehst  du  mich?  ich  nehm  dich 
nicht  mit  und  ich  helf  dir  nicht  und  ich  will  iiberhaupt 
nichts  mehr  von  euch  horen,  verstanden!  —  Nun  frag  ich 
dich,  kannst  du  das  begreifen?  warum  ist  er  denn  monate- 
lang  hiergeblieben,  was  hat  er  sich  mit  uns  angebiedert?! 
Und  wenn  er  dem  Suhajda  ein  paar  Pengo  angeboten  hatte, 
hatte  er  sich  da  sehr  angestrengt?!  Suhajda  sagt  ja  selbst, 
er  schwort,  er  hatte  sie  angenommen,  weil  er  geradezu  Not 
leidet.  Nna.  Und  dann  noch  die  Affare  mit  Kroh,  der  Gipfel- 
punkt  vom  Ganzen,  —  laB  mich  die  noch  schnell  erzahlen, 
also,  alle  bringen  sie  der  Reihe  nach  ihre  Geschichtchen  mit 
Kadar  vor,  bloB  Kroh  schweigt,  spricht  den  ganzen  Abend 
kein  Wort,  wirft  nicht  mal  cine  Bemerkung  dazwischen, 
ich  wuBte  gar  nicht,  was  ich  davon  halten  solite.  Auf  einmal, 
als  schon  alle  referiert  hatten  und  das  einstimmige  Urteil 
gefallt  war,  da  tut  Kroh  seinen  Mund  auf  und  sagt:  na,  jetzt 
will  ich  euch  mal  was  sagen.  Ich  weiB  nicht,  wer  dieser 
Kadar  ist,  warum  er  nach  Budapest  gekommen  ist,  warum  er 
seit  Monaten  hier  sitzt,  ich  habe  bloB  ein  einziges  Mal  mit 
ihm  gesprochen,  hier  im  Cafe  in  eurer  Gesellschaft,  und  ich 
hatte  den  Eindruck,  daB  er  ein  kalter  Mensch  mit  klarem 
Kopf  sein  muB.  Mich  interessiert  nicht,  sagt  Kroh,  wie  groB 
sein  Vermogen  ist  und  woher  es  stammt,  ich  weiB  nur  eins, 
und  zwar,  daB  er  ein  Kapitalist  ist,  der  in  seinen  Geschaften 
aus  Proletarierhanden  und  Proletarierkopfen  die  Millionen 
herauspreBt.  Damit  ist  mein  ganzes  personliches  Interesse 
fur  ihn  erschopft,  und  zwischen  ihm  und  mir  kann  hochstens 
in  allem  ein  polarer  Gegensatz  bestehen,  vielleicht  sogar 
Feindseligkeit,  weiter  nichts.  Von  euch  alien  aber  weiB 
ich,  daB  ihr  an  ihm  einen  Braten  gerochen  und  euch  auf 

ihn  gestiirzt  habt  wi*  die  Rauber ich  kann  dir  sagen, 

da  brachte  keiner  mehr  ein  Wort  hcrvor,  bloB  R6na  sperrt 
den  Mund  auf  und  stammelt:  glaubst  du  nicht,  daB  das  ein 

548 


biBchen  zu  stark  ist?  Kroh  wird  krebsrot,  nimmt  die  Brille 
ab,  blinzelt  uns  kurzsichtig  an  und  sagt,  du  hast  recht, 
Rona,  das  war  zu  stark,  nicht  einmal  Rauber  seid  ihr, 
hochstens  winzige  Hochstapler,  kleine  Halunken  und 
hauptsachlich  traurige  Laffen,  die  sich  eingebildet  haben, 

ihn  in  irgendwas  reinreiBen  zu  konnen,  dabei na, 

und  da  ging  der  Krach  los,  Kroh  konnte  nicht  weiterreden. 
Zum  Gliick  waren  wir  so  viele,  daB  wir  gleich  zu  Anfang 
in  ein  Extrazimmer  gehen  muBten,  und  die  Tur  war 
geschlossen.  Ich  kann  dir  sagen,  ein  Gebriill  war  das,  du 
Hund,  du  Blender,  du  Kanaille  und  so  weiter.  Da  steht 
Kroh  wortlos  auf,  nimmt  seine  Brille  und  verlaBt  das 
Lokal.  Amman  wird  ihn  fordern,  er  iiberlegt  sich  bloB 
noch,  ob  er  iiberhaupt  von  einem  Sozi  Satisfaktion  ver- 
langen  soli  .  .  .  eine  feine  Geschichte  war  das,  mein  Lieber. 
Aber,  weiBt  du,  Andor,  ich  will  dir  was  sagen.  Sieh  mal, 
ich  hab  meinen  kleinen  Laden,  der  geht  eben,  wie  er  geht, 
ich  wills  nicht  verschreien  .  .  .  und,  weiBt  du,  ich  hab  den 
Kadar  keine  dreimal  hier  in  Budapest  getrofFen,  auf  mein 
Wort,  ich  wuBte  nicht  mal,  ob  er  noch  hier  war  oder  nicht, 
mir  kann  also  wirklich  niemand  nachsagen,  daB  ich  ihm 
einen  Ramsch  Mako-Unterwasche  hatte  andrehen  wollen, 
ich  wollte  nichts  von  ihm.  Ich  war  auch  ruhig  gleich  dabei, 
mit  den  iibrigen  zu  schimpfen,  der  Kadar  sei  ein  Hoch- 
stapler, ein  Halunke,  was  kann  das  mir  schon  schaden  oder 
ihm?  und  was  kanns  niitzen?  mich  geht  er  doch  nichts  an. 
Aber  .  ,  .  im  Vertrauen  sage  ich  dir,  der  Kroh  hat  voll- 
kommen  recht  gehabt,  vollkommen  recht.  Kadar  war  hier, 
schon,  dann  war  er  eben  hier,  er  kann  sichs  leisten,  kann 
scin,  wo  er  will,  kann  tun,  was  er  will,  fur  sein  Geld.  Ich 
hab  dir  nun  erzahlt,  was  ich  von  den  Jungens  gehort  habe, 
nicht  mchr  und  nicht  weniger.  Ich  identifiziere  mich  eher 
mit  ihncn,  und  wenn  sie  mir  sagen,  Kadar  habe  sie  rein- 
gelegt,  warum  soil  ich  ihnen  das  nicht  glauben?  Aber  wenn 
ich  mir  die  Sache  iiberlege  .  .  .  unter  uns  gesagt,  sieh  mal, 
was  fur  einen  Sinn  hatte  es  fur  ihn  gehabt,  mit  diesen 

8fl  Kttrmfndt,  Budnpeftt 


Gcschichtcn  anzufangen?  Mir  sicht  die  Sadie  sehr  so  aus, 
als  bitten  sie  sich  an  ihn  rangemacht  .  .  .  denn  schliefilich, 
was  braucht  er  ein  Haus  in  Budapest?  und  eincn  Grund- 
stiickskomplex?  wozu  soil  er  in  Budapest  bauen  lassen? 
was  braucht  cr  cine  Aktiengeschichte  im  sicbenten  Bezirk? 
was  soil  er  mit  einer  staatlichen  Lieferung  hier  anfangen? 
was  wollten  die  denn  eigentlich  von  ihm?  .  .  .  wollten  sie 
ihn  etwa  hier  in  Budapest  festhalten?  wollten  sie  sich  um 
jeden  Preis  an  seine  Tasche  randrangeln?  und  die  andern 
wollten  vielleicht,  daB  er  sie  mit  riibernehme?  alle  wollten 
sie  ihm  etwas  bringen,  um  dann  von  ihm  was  wegschleppen 
zu  konnen?  alle  wollten  sie  unentbehrlich  sein  fiir  ihn,  um 
an  ihm  klebenbleiben  zu  konnen?  bloB,  weil  es  sich  nicht 
um  einen  Mister  Ix  Ypsilion  handelte,  von  dem  man  sich 
vorstellen  kann,  daB  er  genau  so  gut  zu  rechnen  versteht 
wie  sie?  sondern  weil  es  sich  zufallig  um  Mister  Toni  Kdd£r 
handelte,  den  Pinguin  aus  unserer  Klasse?!  von  dem  sie 
von  vornherein  vorausgesetzt  haben,  er  sei  noch  immer 
dcrselbe  Einfaltspinsel  wie  friiher,  oder  der  verpflichtet 
gewesen  ware,  ihnen  —  Schon,  wir  sind  Geschaftsleute 
und  machen  heutzutage  unsere  Geschafte,  wie  wir  konnen 
und  wo  wir  konnen,  —  das  kann  ich  um  so  eher  sagen, 
als  ich  ein  reines  Gewissen  habe  .  .  .  aber  ich  bitte 
dich,  einen  konzentrischen  Angriff  gegen  jemanden  unter- 
nehmen,  ihn  von  hier  bestiirmen  und  von  dort  be- 
stiirmen,  jemanden,  von  dem  sogar  ich  mir  ausrechne, 
daB  es  weder  sein  Ziel  noch  sein  Intercsse  sein  kann, 
ausgetippelt  mit  diesen  Leutchen  in  geschaftliche  Ver- 
bindung  zu  treten,  dcr  doch  bloB  hergekommen  ist  fiir 
eine  Woche  oder  egal  fiir  wie  lange,  um  sich  zu  erholen 
und  zu  amiisieren;  und  das  alles  nur  darum,  weil  er 
friiher  mal  ihr  Mitschiilcr,  ihr  Kamerad  war,  weil  er  aus 
unserer  Mitte  stammt  oder  vielmehr,  weil  cr  unsercr  Mitte 
entwachsen  ist  ...  nein,  Andor,  ich  muB  schon  sagcn, 
aber,  nicht  wahr,  es  bleibt  untcr  uns,  —  Kroh  hat  in  allem 
recht  gehabt!" 

550 


Kelemen  hort  sich  die  lange  Rede  an,  liegt  auf  der 
Chaiselongue,  auf  den  Ellenbogen  gestiitzt,  dem  kleinen 
Lewy  zugewendet.  Sprich  nur.  Du  hast  recht.  Es  tut  wohl, 
das  zu  horen,  es  1st  das  Fegefeuer,  durch  das  ich  hindurch 
muB  .  .  .  ich  habs  verdient,  sprich  nur,  Lewy,  laB  deine 
Worte,  deine  weisen  Urteile  mich  durchzucken,  laB  deine 
Stimme  mich  durchbohren,  ziinde  unter  mir  den  Scheiter- 
haufen  deiner  Meinung  an  ...  das  muB  so  sein,  ich  habs 
verdicnt,  das  brauche  ich,  urn  iiber  die  Sache  hinwegzu- 

kommen sprich  nur!  —  und  der  kleine  Lewy  leiert 

weiter.  DaB  er  seinerseits  sich  in  keinerlei  Aktion  gegen 
Kroh  einlassen  wiirde,  schon,  Kroh  habe  zweifellos  eincn 
Fehler  begangen,  habe  sich  wie  ein  Bauer  benommen,  wie 
ein  Tropf,  aber  ausgeschlossen,  er,  Lewy,  ware  auf  keinen 
Fall  imstande,  sich  zu  irgend  etwas  gegen  ihn  zu  ent- 
schlieBen  ...  —  und  als  Kroh  so  plotzlich  verschwunden 
sei,  da  hatten  sich  die  Gemiiter  langsam  beruhigt,  die 
Jungens  waren  allmahlich  gegangen,  dies  also  sei  die 
genaue  Chronik  der  beriihmten  Abschiedssitzung,  —  ,,es 

kann  dir  leid  tun,  daB  du  nicht  dabei  warst,  ja  und •  ja 

und,  Andor,  weiBt  du,  etwas  mochte  ich  dir  noch  sagen, 
bloB  ein  biBchen  peinlich  ist  die  Sache  .  .  .  es  handelt  sich 
namlich  in  gewissem  Grade  um  dich  —  •" 

,,Na?"  fragt  cr  mit  tonloser  Stimme  und  schrecklichcm 
Klopfen  in  der  Kehle. 

,Ja  .  .  .  aber  du  muBt  mir  versprechen,  daB  die  Sache 
unter  uns  bleibt  und  daB  du  auch  sonst  keinen  Kasus  aus 
der  Geschichte  machst.  Ich  habe  nSmlich  das  Gefiihl,  daB 
es  eigentlich  mcine  Pflicht  ist,  dich  aufmerksam  zu  machen, 
—  schlieBlich  sind  wir  doch  alte  Kameraden  .  .  .k4 

,,Na?"  sagt  er  noch  einmal  gequalt,  und  sein  ganzes 
Innere  bebt. 

,,Also,  warte  mal  ,  .  .  Simon  hat  gesagt,  aber  nicht  vor 
der  ganzen  Versammlung  naturlich,  bloB  R6na  und  Mdrton 
und  Szende  und  ich  waren  dabei,  wir  gingen  zusammen 
nach  Hause  zu  — " 

«•  551 


,,Na?"  spricht  er  zum  dritten  Mai,  aber  der  andere 
braucht  eigcntlich  gar  nicht  mehr  zu  reden,  er  weiB  ohnehin, 
was  er  sagen  wird. 

,,Namlich  Simon  .  .  .  der  1st  ja  ein  Schwatzer,  das  wissen 
wir  ja,  —  Simon  hat  gesagt,  eigentlich  sei  Kadar  darum  so 
lange  hier  geblieben  und  habe  zwischendurch  angeblich 
seine  Frau  nach  Italien  geschickt  — " 

,,Warum?"  stohnt  er  auf  dem  Scheiterhaufen. 

,,Wegen  einer  Frau  .  .  .  das  heifit sieh  mal,  ich 

muB  aufrichtig  mit  dir  reden  .  .  .  du  weiBt,  ich  bin  dir  von 
jeher  gut  gesinnt,  und  in  deinem  eigenen  Interesse  muB  ich 
gcwisse  Dinge  aussprechen " 

Kelemen  richtet  sich  auf  der  Chaiselongue  auf.  Die 
plotzliche  Bewegung  laBt  den  andern  schweigen.  Stille. 

,,Also,  redst  du,  oder  redst  du  nicht?!" 

,,Sofort .  .  .  also  Simon  hat  gesagt,  Kadar  soil  angeblich 
mit  deiner  jiingeren  Schwester  was  gehabt  haben  —  " 

Er  steht  auf. 

,,Was  denn?c< 

,,Na,  ein  Techtel-Mechtel  .  .  .  Kadar  soil  ihr  nachgelau- 
fen  sein,  vielmehr  —  '* 

,,Vielmehr ?" 

,,Vielmehr  .  .  .  also,  sie  sollen  sich  gut  verstanden 
haben  .  .  .  Mein  Gott,  warum  soil  ichs  aussprechen  .  .  . 
dauernd  hat  man  die  beiden  zusammen  gesehen,  und  —  - 
na,  du  verstehst  doch  schon,  nicht?" 

Sein  Gesicht  ist  schneeweiB;  der  andere  springt  mit 
einem  Ruck  auf,  sein  Mund  ist  halb  offen,  als  quale  er  sich, 
ein  herauswollendes  Wort  hinunterzuschlucken;  seine 
Augen  sehen  mit  angstvoller  Glut  in  das  weiBe  Gesicht.  — 
Da  wendet  Kelemen  sich  ab,  tritt  unsicher,  schwankend  vor, 
nimmt  einc  Zigarette  vom  Tisch  und  ziindet  sie  an.  Stille. 
Dann  stellt  er  sich  wieder  vor  den  kleinen  Lewy,  und  seine 
Stimme  ist  ganz  ruhig  und  iiberlegen  kalt: 

,,Klatsch",  sagt  er,  ,,nichts  als  dummer  Klatsch  ...  ich 
pfeif  drauf,  Lewy." 

55* 


,,Klatsch",  wiederholt  der  andcrc  eifrig,  ,,das  hab  ich 
glcich  gesagt,  unverschamter  KJatsch  .  .  .  und  ich  wollts 
dir  nur  darum  sagen " 

,,Danke  schon.  Das  war  .  .  .  deine  Freundespflicht.  Aber 
ich  pfcif  drauf.  Ich  fuhle  rnich  nicht  beleidigt,  auch  fur 
meine  Schwester  nicht.  Schwcinehunde  die.  Zufallig  bin 
ich  mit  ihm  in  Verbindung  getreten.  Also  verdien  ich 
schon,  daB  sie  in  ihrer  Wut  auf  mir  rumtrampeln.  Und 
gestern  konnte  ich  zufallig  nicht  dabei  sein,  also  lassen  sie 
gleich  ihre  Schmahreden  auf  mich  los.  Schweinebande. 
Ich  pfeif  auf  sie  — " 

,,Recht  hast  du!"  hetzt  der  kleine  Lewy,  ,,pfeif  nur  — " 

Stille.  Zweimal  geht  Kelemen  bis  ans  Fenster,  dann 
stellt  er  sich  wieder  vor  den  andern. 

,,Du,  Vili,  ich  will  dir  was  sagen,  aber  bloB  dir.  t)bri- 
gens  .  .  .  mir  ists  ganz  gleich,  kannst  es  ihnen  ruhig  wieder- 
erzahlen,"  Pause,  ,,sag  ihnen  ruhig,  Kadar  sei  unschliissig 
gewesen  und  ware  vielleicht  ganz  gern  auf  die  eine  oder 
andere  Sache  eingegangen,  aber  ich  hab  ihn  gewarnt,  hab 
ihm  gesagt,  er  solle  sich  vorsehen!  Ich  hab  ihm  gesagt, 
daB  sie  ihn  schinden  wollen,  er  solle  auf  der  Hut  sein. 
Solle  sich  auf  nichts  einlassen.  Ich  hab  ihn  aufmerksam 
gemacht " 

,,Wirklich  .  .  .?"  sagt  Lewy  ein  wcnig  skeptisch. 

,,Und  daB  er  einer  Frau  nachgelaufen  ist,  daB  er  ein 
Techtel-Mechtel  gehabt  hat  .  .  .",  als  staue  sich  jetzt  cine 
erstickte  Drohung  hinter  seinen  Lippen  und  in  dem  bittern 
Zug  um  seinen  Mund,  ,,das  ist  doch  seine  Privatangclcgcn- 
heit.  Verstanden?  seine  hochsteigcne  Privatangelegenheit. 
Wir  sind  doch  Erwachsene,  sind  doch  groBjahrig.  Ich  pfeif 
auf  sic !" 

Seine  Stimme  verklingt  dumpf  und  kalt;  der  kleine  Lewy 
weiB  nicht,  was  cr  sagen  soil.  Etwas  von  Besorgnis,  ctwas 
von  Zweifel  steckt  allerdings  in  ihm.  Der  Kreis  ist  nicht 
ganz  geschlossen,  irgendwo  schcint  die  ...  grofic  Ruhc 
luckenhaft  zu  sein.  —  Einen  Augenblick  steht  Kelemen 

553 


da,  dann  drcht  cr  sich  um  und  zieht  den  zerrissencn  Luster- 
rock  aus. 

,,Ziehst  du  dich  an?" 

,,Ja."  Er  schliipft  in  den  blauen  Rock  und  betastct  seine 
Taschen. 

,,Gehstduweg?" 

,,Ja.  Um  sechs  hab  ich  ein  Rendezvous  mit  einer  Frau. 
Privatangclegenheit.  Wir  sind  doch  Erwachsene,  dir  kann 
ichs  schlieBlich  sagen,  du  bist  mein  Frcund " 

Der  klcine  Lewy  reiBt  die  groBen  braunen  Augcn  auf. 

,,Bandi,  sag  mal  .  .  .  du  wirst  mirs  doch  nicht  nach- 
tragen?  .  .  ." 

,,Aber  Unsinn",  antwortet  cr  abwinkcnd,  kuhl.  ,,Was 
sollte  ich  dir  denn  nachtragen?  ausgerechnet  dir?  Ich  nehms 
ja nicht  einmal  dcnen  iibel,  keinem.  Laffcn.  Na,  kommst  du? 
Pardon,  cincn  Moment."  Er  greift  nach  dcr  Kognakflasche. 
,,Darf  ich  dir  auch  cinen  eingieBen?" 

,,Danke",  sagt  dcr  andere,  ,,wcnns  sein  muB,  wolln  mal 
sagen,  dir  zuliebe,  auf  dcin  Wohl.  Ich  mach  mir  nicht  vicl 
aus  Alkohol,  erstcns  hab  ich  Magensaure,  und  dann  iiber- 
haupt,  unscre  Lcut . . .  du  wciBt  ja." 

1m  Haustor  nimmt  der  klcine  Lewy  schleunigst  Abschied 
von  ihm.  Er  cilt  noch  zuriick  ins  Gcschaft,  bei  LadcnschluB 
ist  cr  immer  da.  Ja,  und . . .  Kclcmen  habe  ganz  recht,  wenn 
er  keine  groBe  Affarc  aus  der  Sache  mache,  vollkommen 
rccht  .  .  .  also,  nichts  fur  ungut  .  .  .  und  wir  sehn  uns  ja 
bald  wieder,  spatcstens  am  letzten  Donnerstag  im  Decem- 
ber. GcwiB,  gcwiB.  Also,  dann  bis  dahin . . .  Servus.  Servus. 

Er  sieht  dem  kleinen  Lewy  nach,  wie  er  auf  die  Elek- 
trische  steigt.  Es  regnet;  ein  wenlg  steht  er  noch  um  die 
Haltestelle  herum,  dann  dreht  er  sich  um  und  geht  taub, 
blind,  gedankenlos  den  Ring  hinauf ;  seinen  Regenschirm 
hat  er  am  Arm  hangen,  erst  am  Oktogon  bemerkt  er,  daB 
er  ganz  naB  wird,  und  spannt  den  Schirm  auf.  Das  alles 

gehdrt  mit  dazu,  um  driiber  weg  zu  kommcn es  war 

gut,  sich  das  alles  anhorcn  zu  miisscn.  Das  muBtc  sein. 

554 


Und  irgendwo  tief  innen  hatte  er  ein  ganz  unklares  Gcfiihl; 
das  Gefuhl  war  angenehm  und  schmerzlich  zugleich,  es 
schwindeltc  ihn  fast  davon,  —  es  war  so  etwas  wie  das 
Gcfiihl  des  deja  vu,  —  bloB  daB  dies  Gefuhl  sich  an  einen 
Ton  oder  an  ein  Wort  kniipfte,  eher  an  ein  Echo,  —  als 
halle  ein  Wort  in  seinem  Kopf  wider,  das  Wort:  Leiden. 
Aussprechen  kann  er  es  nicht,  genau  denken  kann  er  es 
auch  nicht,  er  kann  das  Wort  nicht  losmachen,  er  fiihlt  es 
nur.  Gut  .  .  .  daB  der  Lewy  mir  das  alles  erzahlt  hat,  so 
wirds  leichter  sein,  so  komme  ich  leichter  driiber  hinweg,  — 

vielleicht  kommc  ich  driiber  hinweg Er  geht  dicht 

an  der  Wand,  in  wenigen  Minuten  ist  er  vor  Macas  Dro- 
gerie  angekommen.  Heute  gehe  ich  mit  ihr  ins  Theater. 
Eine  arbeitende  Frau  ist  sic,  macht,  was  sie  will.  Kommt 
mit  mir,  schlaft  bei  mir,  liebt  mich.  Wcnn  sie  will.  Und 
wenn  sie  mich  iiber  hat,  verlaBt  sie  mich.  Dann  folgt  ein 

andercr,  eventuell  Doktor  Ott na.  Im  Schaufenster 

steht  ein  Eiffelturm  aus  blauer  Glanzpappe,  dahinter  ein 
stilisiertes  Bild  von  Paris,  kulissenartig,  darunter  zwei- 
drei  Parfumflaschen.  Ganz  hiibsch,  das  Schaufenster.  Sach- 
lich,  diskret,  nicht  iiberladen,  bloB  so  viel,  daB  die  Auf- 
merksamkeit  auf  das  Wesentliche  gelenkt  wird,  auf  das 
Parfum.  Nach  Paris  miiBte  man  gehen.  Dort  kann  man 
noch  was  erreichen,  dort  gibts  keine  Arbeitslosigkeit,  dort 

ist  Raum  fiir odcr  man  miiBte  einfach  zum  Vergnxigen 

nach  Paris  fahrcn.  Eine  Luxusrcisc  machen.  Zwischendurch 
tritt  er  an  die  Tiir.  Ich  werde  nach  Paris  fahren,  mit  Maca . . . 
irgendwie  werden  wir  dort  schon  unser  Auskommen  finden. 
Er  guckt  durch  die  Tiir:  der  Laden  ist  leer,  in  der  Ecke 
zwischen  den  beiden  Theken  sitzt  auf  einem  niedrigen  Stuhl 
ein  dicker  Mann  in  weiBem  Mantel,  das  ist  sicher  der  Qief, 
der  mit  dem  Sohn,  der  voriges  Jahr  das  Abitur  gemacht . . . 
groBc  Sachc,  ich  hab  auch  das  Abitur  gemacht,  Kadar  auch, 
Suhajda  auch.  Nicht  das  machts.  Der  dicke  Mann  dort  drin 
licst  cine  Abendzcitung.  Durch  die  Tiir  kann  man  schrag 
auf  die  Kassc  schcn,  man  sicht  gcradc  ein  Stuck  von  der 

555 


Marmorplatte.  Auf  dcm  grauen  Marmor  liegt  cine  Hand, 
halt  cinen  Bleistift  und  bewegt  sich  in  regelmaBigen  Zeit- 
abstanden,  anscheincnd  kontrolliert  sie  irgendwelche  Rech- 
nungsposten  und  hakt  sie  an.  Natiirlich,  es  ist  ja  gleich 
sechs,  Kaufer  sind  nicht  mehr  da,  jetzt  macht  sie  Kassc. 
Schon  ist  die  Hand,  Macas  Hand,  schon  weiB  und  hat 
lange  Finger.  Moglich,  daB  sie  das  Schaufenster  arrangiert 
hat,  es  ist  ja  sonst  keiner  mehr  im  Geschaft.  Dabei  hat  sie 
dann  im  Schaufenster  gestanden,  vor  die  Scheibe  war  sicher 
ein  groBer  Bogen  braunes  Papier  oder  ein  Vorhang  ge- 
spannt,  damit  das  Publikum  nicht  sehcn  konne,  was  da 
vorbereitet  wurde.  Paris  hat  sie  aufgebaut  und  den  Eififel- 
turm,  und  dann  hat  sie  die  Flacons  daruntergestellt.  Biicken 
muBte  sie  sich  dabei,  gewiB  konnte  man  bis  uber  die  Knie 
ihre  wohlgeformtcn  Beine  sehen,  und  zwischen  Strumpf 
und  Combinadon  einen  Streifen  rosa  Haut,  von  hintcn. 
Vielleicht  hat  der  Sohn  des  Chefs,  der  das  Abitur  hat, 
drauBen  vor  dem  Fenster  gestanden  und  durch  die  Spake 
reingeguckt.  Er  beugt  sich  ganz  client  an  die  Tiir,  ob  er  so 
vielleicht  Maca  erblicken  kann,  aber  cr  sieht  nur  die 
zuckende  Hand  mit  dem  Bleistift,  das  iibrige  ist  vom  Tiir- 
rahmen  verdeckt.  Arbeitende  Frau,  ich  arbcite  auch.  In 
Mobeln,  eventuell  in  Textil.  Hundert  Pengo  Fixum  ...  sie 
verdient  sicher  auch  mindestens  hundertsechzig,  von  zwei- 
hundertsechzig  kann  man  schon  leben,  bescheiden  aller- 
dings  . . .  aber  dann  kommen  ja  meine  Provisionen,  —  jeder 
lebt,  wie  er  kann,  und  macht,  was  er  will.  Wir  zum  Beispicl 

gehen  heutc  ins  Theater  und  dann  zu  mir  nach  Hause 

Seine  Hand  licgt  auf  der  Klinke,  sein  Gesicht  ist  dicht  an 
der  Glasscheibc  in  der  Tiir,  —  da  sieht  der  Dicke  im  weiBen 
Mantel  von  der  Zeitung  auf,  senkt  den  Kopf  ein  wenig  und 
blickt  mit  weitsichtigcn  Augen  iibcr  den  Kneifer  hinweg 
durch  die  Tiir  ihm  gerade  ins  Gesicht.  Er  tritt  ein.  ,,Habe 
die  Ehre",  griiBt  der  Inhabcr  sofort  und  steht  auf,  ,,womit 
kann  ich  dicnen?"  Gegenubcr  in  der  Glasscheibe  des 
Schranks  sieht  er  Maca  in  der  Kassc,  wie  sie  mit  gescnktem 

556 


Kopf  auf  cinem  Bogen  Papier  rechnet.  ,,Guten  Abend", 
sagt  er,  —  da  hebt  sie  sofort  den  Kopf:  ,,guten  Abend  . . ." 
und  steht  auf.  ,,Je,  Sie  sinds,  na,  das  ist  aber  wirklich  nett." 
Sie  geht  auf  ihn  zu  und  gibt  ihm  die  Hand.  Auch  Maca  hat 
einen  weiBen  Mantel  an,  den  langen  grunen  Bleistift  hat  sie 
in  die  kleine  obere  Tasche  gesteckt.  ,,Wollen  Sie  was  kau- 
fcn?"  fragt  sie,  ,,Herr  Hegyi,  der  Herr  ist  ein  alter  Bekann- 
ter  von  uns  .  .  .  bitte,  geben  Sie  ihm  einen  Extrarabatt."  — 
,,GewiB,  gewiB<c,  sagt  Herr  Hcgyi,  ,,bitte,  was  steht  zu 
Diensten?"  Unschliissig  betrachtet  er  die  Theke,  die  Glas- 
schranke,  die  kleinen  Flaschenturme  auf  der  Theke,  die 
vielen  bunten  Flacons,  die  Tiegel,  die  Bonbons,  die  groBen 
Schwamme  im  Korb,  die  Rasierklingen-Plakate,  die  hun- 
derterlei  farbigen  hubschen  Sachelchen,  die  die  Kauflust 
anregen.  In  der  Drogerie  riecht  es  nach  Maca.  Gut .  .  .  Das 
Madchen  bedient  ihn,  Herr  Hegyi  zieht  sich  diskret  in  den 
Nebenraum  zuriick,  laBt  die  Spiegeltiir  jedoch  ein  wenig 
offen.  Pfui,  seh  ich  schlecht  aus,  meine  Augen  sind  ja  ganz 
umrandert.  Rasierklingen  ...  die  kann  ich  jedenfalls  kaufen. 
Eigentlich  miiBte  ich  mir  Rouge  kaufen,  mir  die  Backen 
ein  biBchen  schminken,  sie  sind  ja  ekelhaft  blaB.  Winter- 
farbe,  Winterfarbe.  Biirofarbe.  Auch  Rasierseife  konnte  ich 
gcbrauchen.  Maca  laBt  hinter  dem  Ladentisch  ihre  Hande 
hin  und  her  hiipfen,  sie  raumt  die  Sachen  zurecht. 

,,Also,  Rasierklingen?  da  haben  wir  zum  Beispiel  diese 
hier,  die  ist  prima,  die  in  der  roten  Packung,  wenigstens 
sagt  man  mir  das,  ich  rasier  mich  ja  nicht  .  .  .  wirklich  zu 
nett  von  Ihnen,  daB  Sie  gekommen  sind,  ich  freu  mich 
schrecklich." 

,,Hast  du  vielleicht  nicht  geglaubt,  daB  ich  kommen 
wiirde?k< 

,,Das  schon,  bloB  —  nein,  ich  war  sicher,  daB  Sie 
kommen." 

,,Gehen  wir  heute  abend  irgendwohin?" 

,Ja,  fein,  wohin  sollen  wir  gchen?" 

„ Vielleicht  ins  Theater?" 

557 


,,Fein!  in  welches?  oh,  sags  mir  lieber  nicht,  es  soil  cine 
ttberraschung  scin  .  .  .  schen  Sie  mal  bitte,  da  habcn  wir 
cine  neue  Seife,  ich  hab  mir  auch  ein  Stiick  davon  gekauft, 
sie  ist  wirklich  gut." 

,,Und  dann  gehn  wir  essen  — " 

,,In  ein  kleines  Restaurant,  ja?  man  hat  mir  erzahlt,  in 
der  Joseph-Gasse  soil  es  cine  gemutliche  kleine  Kncipe  —  <c 

,,Und  nachher  gehn  wir  nach  Hause,  zu  mir  --" 

Sie  reiBt  den  Kopf  hoch,  ,,pst!"  hebt  den  Finger  an  den 
Mund  und  nickt  nach  der  kleinen  Tiir  hin.  ,,Aber  heute 
abend  kann  ich  vor  siebcn  nicht  hier  weg,  ich  muB  namlich 
den  Monatsumsatz  fertig  machen,  kommcn  Sie  doch  nach 
sieben  wieder  her,  mich  abholen  .  .  .  sagcn  Sie,  kann  ich  so 
ins  Theater  gehen?"  sie  schlagt  den  weiBen  Mantel  zuriick, 
einen  dunkelblauen  Rock  und  einen  weiBen  Pullover  hat 
sie  darunter  an. 

Er  sieht  auf  ihre  spitzen  kleinen  Briiste.  ,,So?  .  .  ." 

,,Ach  ja,  ich  habs  Ihnen  ja  noch  gar  nicht  gezeigt",  sagt 
sic  leiscr,  ,,sehen  Sie,  das  ist  der  neue  Pullover,  heute  in  der 
Mittagspause  hab  ich  ihn  mir  schnell  gekauft,  und  dann 
muB  ich  Ihnen  noch  etwas  gcstehen,  ich  war  namlich  leicht- 
sinnig,  also  passen  Sie  auf .  .  .  auf  dem  Riickweg  komm  ich 
iiber  den  Oktogon  und  bleib  da  gcradc  an  der  Ecke  stehen 
und  seh  mir  bei  dem  feinen  Schuster  die  Schuhe  an,  wissen 
Sie,  entziickendc  Schuhe  hat  der  .  .  .  na,  jetzt  werden  Sie 
bestimmt  bose,  —  ich  muBtc  reingehen  und  mir  ein  Paar 
graue  Eidcchsenschuhe  kaufcn,  mit  ciner  Spangc,  cinfach 
himmlisch  sind  sie,  aber  Sic  wcrdcn  gcwiB  jetzt  schimpfen, 
daB  ich  soviel  Geld  ausgegeben  habe  .  .  .  stellen  Sie  sich 
vor,  ich  hab  nichts  mehr  davon  iibrig " 

Einen  Moment  fallen  ihm  Mamas  schwarzc  Schniir- 
schuhe  mit  den  hochstehenden  Spitzen  ein.  Aber  schon 
stcht  Maca  vor  ihm  und  zeigt  ihm  ihre  schmalen  kleinen 
FiiBc  in  den  neuen  Schuhen. 

,,Das  sind  sie  ...  hvibsch?  nicht  wahr,  Icichtsinnig 
bin  ich?" 

55« 


,,Gar  nicht",  antwortet  er  zerstreut.  ,,Dazu  hab  ichs  dir 
doch  gegebcn  .  .  .  du  kannst  doch  damit  machcn,  was  du 
willst,  wir  wollen  auch  nicht  mehr  dariiber " 

,,Also,  sagen  Sic  mal  .  .  .  kann  ich  so  gehen?  vielleicht 
nchmen  Sie  keine  besonders  vornehmen  Platze,  sondern 
hintcn  oder  oben ..." 

,,Das  konnte  ich  sowieso  nicht",  sagt  er  plotzlich.  ,,Ich 
hab  gar  kein  Geld  fiir  teure  Platze." 

,,Sie  haben  kein  Geld  .  .  ."  sagt  das  Madchen  mit 
reizendem  Spott,  ,,aber  mir  ists  auf  jeden  Fall  lieber,  wenn 
Sie  ein  biBchen  sparen  .  .  .  na,  jetzt  muB  ich  mich  aber 
beeilcn,  damit  ich  um  sieben  fertig  bin." 

Herr  Hegyi  kommt  hinter  der  Spiegeltiir  hervor,  besieht 
sich  den  kleinen  Haufen  der  ausgewahlten  Sachen,  wirft 
Maca  einen  zufriedenen  Blick  zu  und  legt  einen  Rechenzettel 
vor  sich  hin.  Klingen,  Rasierseife,  Eau  de  Cologne,  kleine 
Schere,  Puder,  kleiner  roter  Gummischwamm,  Drahthaar- 
btirste,  Alaunstein,  —  macht  zusammen  .  .  .  gehen  ab  fiinf 
Prozent  extra,  —  macht  also  netto  siebzehnvierzig,  sagt 
er  frohlich.  Kelemen  zahlt,  griiBt  und  geht.  Langsam  geht 
er  durch  die  Andrassy-StraBe  im  Regen,  das  Paket  hat  er 
sich  an  den  einen  Mantelknopf  gehangt.  Ins  Lustspiel- 
theater  konnten  wir  gehen,  dort  wird  das  neue  Stuck  von 
Molnar  gcgeben,  das  lohnt  sich  bestimmt  anzusehen.  Ich 
werde  sie  heiraten,  sie  geht  gewiB  darauf  ein  ...  ganz 
eincrlei,  was  sie  friiher  war.  Hat  gemacht,  was  sie  wollte, 
ich  auch,  jedcr  Mensch.  Wir  leben  ja  nicht  mehr  im  Mittel- 

altcr.  Sie  kann  gliicklich  sein Quatsch.  Ich  phantasiere 

schon  wieder.  Eine  Zeitlang  laufen  wir  eben  miteinander, 
so  lange  cs  uns  Freudc  macht,  bis  wir  uns  iiber  habcn,  dann 
trcnncn  wir  uns,  leicht  und  anstandig,  leb  wohl,  mein  Kind, 
adio,  es  war  schon,  ich  danke  dir  ...  bloB  keine  Schwicrig- 
keitcn,  keine  Komplikationen.  Heute  mit  ihr,  dann  mit 
einer  andern  .  .  .  nur  leicht  nehmcn  muB  man  die  Dinge, 
nicht  glcich  alles  zu  cincr  groBen  umstandlichcn  Geschichte 
aufblasen.  Ins  Lustspieltheatcr  gehen  wir,  fcin,  —  in  einem 

559 


fort  sagt  sic  fcin,  —  kleincs  dummcs  Nuttchcn,  ja,  cine 
ganz  cinfachc  klcinc  Person  1st  sie,  wahrscheinlich  1st  es  ihr 
noch  nie  in  den  Sinn  gekommen,  auf  irgendeine  phan- 
tastische  Heirat  zu  lauern,  mit  einem  Prinzen,  mit  Prinz 
Andor  Kelemen  .  .  .  dumm  ist  sie,  aber  das  ist  nun  wirklich 
dasjenige,  was  absolut  nebensachlich  ist,  macht  nichts,  wenn 
sie  dumm  ist,  um  so  besser  .  .  .  Sie  haben  kein  Geld?!  ja- 
wohl,  mein  Kind,  ich  habe  kein  Geld.  Dariiber  wollen  wir 
uns  nur  gleich  im  klaren  sein,  Geld  habe  ich  nicht.  Daran 
wollen  wir  uns  hiibsch  gewohnen.  Es  ist  gar  nicht  so  ein- 
fach,  Einheitsmobel  zu  verkaufen,  oder  diesc  Textil-Dinge. 

Da  muB  man  sich  die  Hacken  abrennen,  bis na,  und 

dann,  rechnen  wir  mal,  liebes  Kind.  Da  ist  zunachst  die 
Wohnung,  Miete  mit  Friihstiick,  —  nein,  das  machen  wir 
von  nun  an  ganz  anders.  Wohnung  mit  voller  Verpflegung, 
das  kriegt  man  schon  fur  hundertzwanzig  Pengo,  natiirlich 
keine  hochherrschaftlichen  Raume,  aber  immerhin  .  .  .  also 
hundertzwanzig;  nun  geben  wir  der  Mama  vierzig,  sind 
hundertsechzig,  dann  zahlen  wir  Schulden  ab,  sagcn  wir 
zwanzig,  macht  hundertachtzig,  dann  noch  zwanzig  fur 
dies  und  jenes,  sind  zweihundert  Pengo.  Nna.  Zweihundert. 
Nicht  dreihundertzwanzig.  Wir  miissen  klein  anfangen. 
Fest  sind  davon  bloB  hundert,  und  zu  den  andern  hundert 

muB  ich  verkaufen ja,  na,  es  wird  schon  zusammen- 

kommen.  Die  Hauptsache  ist,  daB  der  groBe  Kuddelmuddel 
aufhort  und  ich  irgcnd  etwas  beginne.  Klein  und  beschei- 
den.  Nur  keine  Phantasierereien  mehr,  nichts  mehr  von 
Siidafrika  .  .  .  Aber  sicher  sind  mir  nur  die  hundert  Pengo 
Fixum.  Ganz  von  untcn  muB  ich  startcn.  BloB  nichts  von 
Perspcktive,  —  ganz  iiberfliissig.  Nichts  von  Programm. 
Nur  hiibsch  bescheidcn  an  der  Wand  cntlang.  Wir  haben 
uns  schon  mal  verbrannt,  mein  Licber.  Wir  haben  nichts 
mehr  zu  riskiercn.  Wir  wisscn  schon,  was  das  hciBt,  allcs 
auf  die  ...  SechsunddreiBig  setzen.  Damit  ist  es  vorbei. 
Nur  das  Papier  und  der  Bleistift  zihlcn.  Nur  das  gilt,  was 
man  kalkuliercn  kann.  Die  hundert  Pengo  .  .  .  nein,  es  tut 

560 


mir  nicht  leid  um  sie,  wegen  der  Eidechsenschuhe  bin  ich 
nicht  bose.  Aber  das  muB  sie  sich  natiirlich  abgewohnen. 
Braucht  gar  nicht  so  unglaubig  zu  sagen:  Sie  haben  kein 
Geld?!  —  ich  hab  wirklich  keins.  Wir  fangen  die  Sache  von 
vorne  an,  hiibsch  im  kleinen  wie  Papa  damals,  als  er  mit 
siebzehn  Jahren  nach  Budapest  kam.  Wir  sind  wieder  erste 
Generation,  mein  Schatz,  die  sich  abrackert  um  den 
Groschen  .  .  .  fiir  die  Kinder.  Kinder  konnen  wir  noch 
bekommen,  ich  bin  zweiunddreiBig  und  du  vierundzwanzig, 
und  gesund  sind  wir  beide.  Wir  haben  keine  solche  Krank- 
heit  —  wir  haben  bloB  Pech  gehabt,  haben  gerade  jetzt 
groBes,  groBes  Pech  gehabt,  —  dafur  kann  aber  niemand, 
dafiir  ist  niemand  verantwortlich,  auch  Joly  nicht,  nur  ich 
allein  —  —  ich  hatte  mich  da  in  einen  Wahnsinn  ver- 
rannt  .  .  .  na,  egal.  Aus.  Die  Lehre:  man  darf  nicht  hoch- 
fliegen,  dann  stiirzt  man  auch  nicht  .  .  .  Vor  dem  Bahnhol 
bleibt  er  einen  Augenblick  stehen.  Hier  sind  sie  angekom- 

men.  Hoho,  —  man  darf  nicht  so  hoch jetzt  sieht  er 

nach  der  Uhr  in  der  Mitte  des  Platzes.  Halb  sieben.  Um 
die  Zeit  hat  bei  der  Transcont  der  Czilek  immer  geschrieen, 
Herr  Kelemen!  was  ist  mit  der  Post!  soil  ich  vielleicht  bis 
Mitternacht  hier  sitzen,  weil  meine  Angestellten  tagsiiber 
schmusen ! !  —  daB  ich  dem  nicht  ein  einziges  Mai  cine  runter- 
gehauen  habe  .  .  .  na,  egal,  jetzt  ist  das  Ganze  griindlich 
verhauen.  Kramer  haben  sie  auch  rausgejagt,  vielleicht  auch 
die  Nusi,  aber  die  Bebi  nicht,  die  bestimmt  nicht.  Er  be- 
schleunigt  seine  Schritte.  Nach  sieben  wartet  sie  vor  dem 
Geschaft.  Rang-Platze  werde  ich  nehmen,  in  der  Mitte, 
und  wenns  keine  mehr  gibt,  dann  eben  an  der  Seite.  — 
Wenige  Minuten  spater  hat  er  zwei  billige  Karten  fur  die 
Abendvorstellung  in  der  Tasche.  Uns  gebuhren  nur  billige 
Platze,  mein  Kind,  und  das  Biirgerliche  Restaurant  oder 
solide  Hauskost.  Nicht  Hotel  Rite.  Wir  besitzen  keine 
Millionen  in  Pfunds  und  was  weiB  ich  wie  viele  Villen  an 
der  Meereskiiste.  Wir  fangen  klein  an,  —  vielleicht  gelingt 
es  .  .  .  natiirlich,  warum  sollte  es  nicht  gelingen?  Klein 

561 


anfangcn?  gewifi.  Und  wenn  wk  dann  auch  klein  aufh6ren? 
Auch  gut.  Es  muB  ja  nicht  jeder  —  es  kann  ja  nicht  jeder 
reich  sein.  Es  mufi  auch  Nichtreiche  und  Arme  und  Bettler 
geben.  MuB?  jawohl,  muB.  Rcichtum.  Nicht  darum  drcht 
sich  die  Welt.  Wir  werden  uns  mit  allerhand  beschaftigcn. 
Geld  macht  ja  nicht  gliicklich.  Vielmehr,  Geld  allein  —  — 
Da  sind  zum  Beispiel  wissenschaftliche  Dinge,  vielmehr 
popularwissenschaftliche  Dinge,  abends  zu  Hause,  die  einen 
interessieren.  Naturwissenschaft.  Literatur.  Der  Reihe  nach 
lesen  wir  die  Dings,  die  rotgebundenen  Bvicher.  Sozialis- 

mus.  Die  Dinge  von  der  andern  Seite Sozialistenfuh- 

rer,  —  jeder  kann  Sozialistenfiihrer  werden,  die  stammen 
sowohl  aus  den  untern  wie  aus  den  obern  Schichten,  dazu 
gehort  bloB  Begabung  und  Uberzeugung.  Hab  ich  die  etwa 
nicht?  Doch.  Wieso  denn  nicht?  Das  war  ja  immer  das 

Schlimme,  daB  ich  mich  nie  interessiert  habe  fur  solche 

Ernste  Dinge  sind  das,  gleich  nach  dem  Gymnasium  hatte 
man  sich  damit  befassen  miisscn.  Wie  Kroh  es  sicher  getan 
hat.  Sich  griindlich  wissenschaftlich  bilden,  ja  —  nicht  bloB 
diejenigen  auslachen,  die  in  Bibliotheken  und  —  —  die 
Sozialisten  iiberhaupt,  Proleten,  geistiges  Proletariat, 
Arbeitsloser,  Vagabund  —  Das  war  das  Schlimme,  daB  ich 
mich  nie  mit  etwas  Ernsterem  beschaftigt  habe,  immer  bloB 
Frauen  und  Geld  und  Phantastereien,  Eselei,  nichts  hat 
man  dann,  keine  Grundlage,  keine  Hoffnung,  nichts, 
und  nachher  nitscht  man  liber  eine  Apfelsinenschale  aus, 
die  man  selbst  hingeworfen  hat,  hopplal  —  na,  bitte,  man 
braucht  doch  nicht  gleich  liegen  zu  bleiben,  es  ist  doch 
nichts  passiert,  ein  biBchen  angeschlagen  haben  wir  uns, 
weiter  nichts,  nur  hiibsch  wieder  aufgestanden,  es  gibt  ja 

so  viele  Dinge  auf  der  Welt Er  bemerkt,  daB  er  in 

der  entgegengesetzten  Richtung  gcht,  nicht  auf  den  West- 
bahnhof  zu.  Ein  biBchen  spazieren?  gut,  in  zehn  Minuten 
bin  ich  ja  mit  der  Elcktrischcn  da,  lieber  soil  sie  ein  biBchen 
auf  mich  warten  als  ich  auf  sie.  Es  regnct,  aber  nicht  so 
gleichm&Big  langwcilig  wie  am  Nachmittag.  Die  kahlen, 

561 


nasscn  Baume  werden  von  gewalttatigen  kleinen  Wind- 
stoBen  geschiittelt;  die  Bogenlampcn  fliichten  rnit  heftigem, 
kurzem  Pendeln  vor  dem  Wind.  ScheuBliches  Wetter  .  .  . 

naturlich,  in  Sudafrika und  jetzt  fiihlt  er  plotzlich 

tiefe,  bleierne  Miidigkeit.  Als  er  vom  Bahnhof  nach  Hause 
gekommen  war,  nach  der  durchwachten  Nacht,  hatte  er 
diesc  unerbittliche,  niederdriickende  Miidigkeit  im  Korper 
und  im  Kopf  gehabt.  Dem  Briickenkopf  gegeniiber  bleibt 
er  an  der  StraBenbahnhaltestelle  stehen.  Weit  hinten  von  der 
Pozsonyer  StraBe  kommt  eine  Bahn.  Langsam  nahert  sie 
sich  und  halt.  Sie  ist  halb  leer.  Die  fahrt  gerade  dorthin  an 
die  Ecke,  vor  die  Drogerie.  Zwei  Manner,  Arbeiter  oder  so 
etwas,  steigen  aus,  —  ,,hast  du  Feuer?"  fragt  der  eine.  Eine 
dicke  alte  Frau  mit  einem  Federhut  auf  dem  Kopf  und  einer 
vollgestopften  Aktentasche  in  der  Hand  steigt  ein.  Was  ist 
die?  Agentin?  Der  Schaffner  auf  der  Plattform  sieht  ihn  an 
und  reifit  dann  am  Klingelriemen.  An  der  Ecke  ist  eine 
Milchhalle;  es  geht  jemand  hinein,  sauerlicher  Milchgeruch 
stromt  ihm  in  die  Nase.  Sudafrika  mit  dem  Klima  der 

nordlichen  Kiistenlander  des  Mittelmeers jetzt  spurt 

er  eine  leise  Betaubung  im  Kopf.  Klein  fangen  wir  wieder 
an,  wenn  das  GroBe  verdorben  ist,  und  so  wirds  vielleicht 

gelingen ich  hatte  doch  in  die  Elektrische  einsteigen 

mussen.  Gleich  sieben  Uhr.  Wozu  soil  sie  denn  lange  auf 
mich  warten,  die  Kleine.  An  der  Briicke  ist  auch  eine  Halte- 
stelle,  von  da  fahre  ich  iiber  den  Ring  bis  zur  Andrassy- 

StraBe  und  geh  das  Stiickchen  zu  FuB und  vor  der 

Briicke  biegt  er  rechts  ab,  in  den  kahlen,  dunklen  kleinen 
Park.  Herrgott,  —  ich  hatte  doch  links  gehen  mussen,  die 

Haltestelle  ist  ja  driiben Als  stecke  er  bis  an  die  Kno- 

chel  im  Schlamm,  so  schwer  sind  seine  Schritte.  Ins  Lust- 
spieltheater  gehen  wir  . .  .  einmal  werde  ich  auch  mit  Mama 
ins  Theater  gehen,  aber  sie  macht  sich  nur  was  aus  Stiicken 
mit  Musik,  aus  Operetten.  Operetten  sind  was  Blodes,  zwei 
Paare  und  happy  end,  ob  du  willst  oder  nicht . . .  Auf  einmal 
hat  cr  das  Gefuhl,  sich  hinsetzen  zu  mussen,  wenn  er  sich 


jetzt  nicht  sofort  hinsetzt,  fallt  cr  um.  Er  fafit  die  Lchne 
einer  Bank  an,  sie  1st  nafi,  auch  auf  der  Bank  steht  das 

Wasser.  Der  Regen  tropfelt.  Es  fangt  ja  erst  um  acht  an 

anscheinend  bin  ich  doch  krank.  Es  ist  dunkel;  von  der 
Briicke  her  leuchtet  verschleiert  die  Lampenreihe.  Ich  muB 

mich  setzen,  ich  kann  keinen  Schritt  weiter  gehen die 

feuchte  Kalte  zieht  ihm  in  einem  Schauer  uber  den  Riicken. 
Ich  geh  in  ein  Cafe,  ein  Glas  Kognak  oder  etwas  —  oder 
hier  unten  am  Kai  ist  gewLB  irgendein  Wartesaal,  das  ist 
naher. 

Er  geht  weiter,  hinunter  auf  den  Kai.  ZweiunddreiBig 
Jahre  .  .  .  lebe  ich  in  Budapest  und  bin  noch  nie  hier 
gegangen  —  —  Er  schleppt  sich,  mit  tausend  Wirr- 
nissen  im  rasend  hammernden  Kopf,  mit  bohrender  Miidig- 
keit  im  heftig  pulsierenden  Korper  und  mit  der  ewigen 
Unruhe  des  Entfliehenwollens.  Er  ist  unten  auf  dem  Kai 
und  geht  an  den  Lagerhausern  vorbci.  Wie  dunkel  es  ist  — 
als  ware  es  schon  Nacht.  Wohlige,  stille  Nacht  nach  den 

zahllosen  entsetzlichen,  lauten,  hellen  Tagen ich  muB 

mich  ausschlafen  bis  zum  Ersten,  wenn  die  Arbeit  be- 
ginnt . . .  ich  darf  abends  nicht  lange  aufbleiben,  mindestens 
zwolf  Stunden  muB  ich  taglich  schlafen,  um  auszuruhen  — 
Sein  aufgespannter  Schirm  stoBt  an  die  Wand  des  Lager- 
hauses,  er  zuckt  zusammen  und  geht  einen  halben  Schritt 
weiter  an  den  Rand.  Man  kann  die  Laternen  der  oberen 
Donaupromenade  sehen,  in  dem  groBen  Haus  ganz  oben 
ist  ein  riesiges  Fenster,  blendend  erleuchtet,  vielleicht  ein 
Atelier,  was  fur  eine  herrliche  Sache,  malen  oder  meiBeln, 
nackte  Frauen,  Maca  ware  ein  gutes  Modell,  sie  hat  eine 
wunderbare  Figur  .  .  .  junges  Madchen,  ein  herrliches  Bild 
konnte  man  von  ihr  malen,  nackt  oder  in  einem  wciBen 

Abendkleid  und  mit  roten Die  Lichter  der  Briicke 

blinzeln  kaum  noch  durch  die  neblige,  feuchte  Luft.  Plotz- 
lich  hort  die  Reihe  der  Bretterwandc  auf,  er  steht  vor  dem 
Abstieg  zur  Schiffsbriicke.  Leer,  um  diese  Zeit  konnte  es 
auch  schon  friercn  .  .  .  im  ganzen  Land  Nachtfroste  zu 

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erwartcn dann  muB  die  Anlegebriickc  raufgezogen 

wcrden.  Er  setzt  sich  auf  die  Bank  vor  dem  Warteraum, 
es  regnet,  sein  Schirm  ist  aufgespannt,  schief  halt  er  ihn 
iiberm  Kopf.  Na  .  .  .  jetzt  aber  weiter,  wozu  bin  ich  eigent- 
lich  noch  hier  —  ich  miiBte  schon  langst  auf  der  Andrassy- 
StraBe  sein,  Maca  steht  gewiB  schon  da  und  wartet,  jetzt 
muB  ich  mich  in  eine  Taxe  setzen,  sonst  kommen  wir  zu 
spat  ins  Theater  . .  .  dabei  darf  ich  doch  nicht  verschwende- 
risch  sein,  ich  bin  doch  nicht  in  der  Lage,  ich  muB  klein 
anfangen,  ganz  von  vorne,  und  vielleicht  gelingt  es  mir, 
du  lieber  Gott,  warum  stehe  ich  denn  nicht  auf,  wozu  sitze 

ich  noch  hier  .  .  .  aber  vielleicht  gelingt  es  mir  nicht 

da  beiBt  sich  eine  seltsame  Kraftlosigkeit  in  seinen  Arm,  — 
er  laBt  den  Schirm  los,  der  Schirm  fallt  mit  weichem  Puflen 
auf  die  Erde,  auf  der  ausgespannten  Seide  rollt  er  ein  Stiick- 
chen,  bleibt  dann  stehen,  mit  dem  Stiel  nach  oben  wie  ein 

schwarzes  verendetes  Tier groBer  Gott groBer 

Gott,  mir  fehlt  was,  ich  muB  nach  Hause,  groBer  Gott,  mir 
wird  gleich  schlecht,  groBer  Gott,  ich  muB  den  Schirm  auf- 
heben,  was  such  ich  denn  hier,  groBer  Gott,  groBer  Gott,  ich 
muB  mit  Maca  ins  Theater  gehen  und  einmal  auch  mit  Mama, 
groBer  Gott,  ich  komm  zu  spat,  was  such  ich  denn  hier,  war- 
um bin  ich  nicht  auf  die  Elektrische  gestiegen,  groBer  Gott, 
kalt  ist  mir,  es  regnet,  ich  brauch  Sonne,  sofort  Sonne,  groBer 
Gott,  ich  komme  noch  mal  in  die  Zeitung,  groBer  Gott,  bei 
Paks  trieb  das  Wasser  eine  unbekannte  Leiche  ans  Ufer, 
nein,  stimmt  nicht,  Andor  Kelemen,  wohnhaft  in  Budapest, 
groBer  Gott,  ich  muB  sofort  hier  weg,  ich  laB  mich  nicht,  ich 

laB  mich  nicht und  in  diesem  Augenblick  wkd  es 

hell  in  ihm,  kiihl  und  klar :  die  klare,  helle  Ruhe  der  hoheren 
Erkenntnis  und  des  restlosen  Verstehens  der  Dinge,  er 

steht  auf  und  geht  an  den  Rand  des  Kais, zwei  Stufen 

der  Steintreppe  steigt  er  hinab,  —  nein.  Ich  habe  nichts 
mehr  zu  tun  ...  ich  kann  es  nicht  machen,  ich  kann  nicht 
wieder  von  vorne  anfangen,  diese  ganze  Sinnlosigkeit  — 
damit  mache  ich  jetzt  ein  Ende,  schon  schnell,  ruhig  und 

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klar wicdcr  stcht  er  zwci  Stufen  tiefcr,  —  cs  ist  ver- 

dorbcn,  ich  bin  gcfalien,  ich  hatte  auch  im  Kriege  fallen 
konnen  ...  ich  hatte  gerne  ...  ich  hatte  gerne  irgend- 
wie  .  .  .  anders  .  .  .  auch  jetzt  noch,  aber  jetzt  geht  es  nicht 
mehr,  Herrgott,  verzeih  mir,  grolle  mir  nicht,  ich  hatte 
gerne  anders  ...  ich  wuBte  nicht,  daB  ich  mich  nicht  dazu 
eigne,  zu  schaffen  oder  fortzusetzen,  ich  wuBte  nicht,  daB 
ich  nur  beenden  kann  .  .  .  nein,  auch  das  nicht,  nur  ver- 
derbv  .1  ...  unsere  Generation  ist  nicht  geeignet  —  kann 

nicht kann  nicht  mehr  anfangen aber  ich  bin 

\virklich  —  nicht  schuld  daran,  ich  habe  es  wirklich  — 
nicht  so  gewolk  .  .  .  Herrgott,  grolle  mir  nicht,  laB  mich 

schon  und  rein  heimgehcn  zu  dir Sein  rechter  FuB 

zuckt  auf,  wie  ihm  auf  der  einen  Stufe  das  Wasser  bis  an 
den  Knochel  kommt,  und  da  setzt  er  sich  plotzlich  auf  die 

Treppe,  —  pfui,  kalt .  .  .  ka Kaltwasserkur  .  .  .  ganz 

gleich,  was  einem  fehlt  —  —  ekelhaft,  Dienstmadchen- 
angelegenheit,  unmannlich,  viel  besser  ware  —  —  Das 
Wasser  ist  dunkel,  unruhig,  bewegt;  kleine  nach  hinten 
blickende  Wellen  wenden  hastig  ihre  zornigen  Schaum- 
kopfe  hin  und  her,  —  bis  an  die  Knie  steht  er  schon  im 
Wasser;  das  eisige  Wasser  macht  ihm  sofort  die  FiiBe  und 

die  Gedanken  erstarren;  son sonderbar,  gar  nicht 

kalt,  bloB  eben  lau und  ich  kann  ja  auch  schwim- 

men auf  seinem  Gesicht  sitzt  cine  kindische,  herbe 

Grimasse,  —  es  ist  dunkel,  nur  ganz  von  wcitem  ziehen 
irgendwelche  modrige  Lichter  an  seinen  Augen  voruber,  — 
aber  innen  ist  es  hell,  weiBgliihende,  groBe  reine  Hellig- 
keit  .  .  .  leeres,  wohliges,  leichtes,  beruhigendcs  Leuch- 

ten und  jetzt  hat  er  plotzlich  genau  dassclbe  Gefiibl 

wie  friiher  einmal  als  kleiner  Junge  vor  Weihnachten,  als 
der  gcschmiickte  Baum  schon  im  EBzimmer  stand,  die 
Geschenke  schon  darunter  lagen  und  die  Tiir  schon  zu- 
gcschlossen  war,  —  und  er  wuBte,  daB  er  eine  Eisenbahn 
bekommt  und  eine  Burg  und  eine  Laterna  magica,  so  wie 
cr  cs  sich  gewunscht  hatte,  —  und  nur  das  wuBte  cr  noch 

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nicht,  wic  die  Eisenbahn  und  die  Burg  und  die  Laterna 
magica  aussehen  wiirden,  ein  sehr  angenehmes,  begliicken- 

des,  hoffnungsfreudiges,  ahnungsvolles  Gefuhl 

und  da  HeB  er  sich  still  ins  Wasser  gleiten. 

Das  Ganze  dauerte  nur  einen  Augenblick.  Er  sank  sofort 
unter,  cine  wirbelnde  Welle  ergriff  ihn  und  trieb  ihn  einige 
Meter  nach  der  Mitte  zu.  Dann  HeB  das  Wasser  ihn  hoch- 
kommen,  sein  Kopf  tauchte  hervor,  und  da  briillte  es  aus 
ihm  mit  todestrunkener  oder  lebensniichterner  Verzweif- 
lung:  ,,Hiiiiilfeeee!l"  Der  Ton  spritzte  ihm  das  Wasser  aus 
Nase  und  Mund;  dann  zogen  ihn  die  nassen  Kleider  wieder 
in  die  Tiefe,  und  fur  einen  Augenblick  tauchte  er  unter. 
Wahnsinniges  Toben  und  Haspeln  mit  Armen  und  Bei- 
nen,  —  noch  einmal  taucht  er  zwischen  den  Wellen  auf, 
fast  bis  an  die  Taille,  an  seinem  Mantelknopf  schimmert 
weiB  das  Drogerie-Paket,  und  sofort  fallt  er  bis  an  den  Hals 
wieder  zuriick,  —  und  die  urewige  Todesangst  der  ver- 
ganglichen  Welt  fegt  iiber  das  Wasser,  im  rochelnden  Schrei 

des  vergehenden  BewuBtseins:  ,,Hiiil — fe" da  ver- 

schlingt  das  Wasser  mit  neidischem,  gierigem  Sprudeln  den 
Ton.  Er  ging  unter. 

Der  letzte  Ton  lauft  fibers  Wasser  hin,  am  Ufer  stoBt  er 
an  die  Lagerhauser  und  stiirzt  in  eine  kleine  Stube,  —  zwei 
Zollbeamte  rauchen  ihre  Pfeife  im  rotlichen  langweiligen 
Licht  der  elektrischen  Lampe. 

,,Da  schreit  jemand",  sagt  der  eine,  und  in  demselben 
Augenblick  sind  sie  auch  schon  beide  am  Ufer.  Jetzt  jagt 
das  Schreien  zum  zweiten  Mai  an  ihnen  vorbei,  und  sofort 
machen  sie  sich  auf,  dem  triigerischen  Echo  nach,  in  der 
entgegengesetzten  Richtung.  Es  ist  dunkel.  Einige  sausende 
Schritte,  dann  bleiben  sie  ratios  stehen. 

,,Siehst  du  was,  J6zsef?" 

,,Nein  . . .  du?" 

Sie  betrachten  das  finstere  Wasser. 

,,Aber  es  hat  jemand  geschrien,  zweimal  sogar." 

,Jawohl." 

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Scharfer,  schneidendcr  Wind  peitscht  an  ihren  Ge- 
sichtern  vorbei. 

,,Aber  ich  hab  hier  keinen  Menschen  herumgehen 
sehen." 

,,Ich  auch  nicht." 

Stille.  Leise  und  sanft  platschert  das  Wasser  an  die 
Ufcrsteinc. 

,,Aber  ganz  bestimmt  hat  zweimal  jemand  geschrien, 
ich  habs  genau  gehort." 

,,Ja,  zweimal,  ganz  deutlich." 

Da  2uckt  der  GroBcre  die  Achsel  und  wendet  sich  vom 
Wasser  ab. 

,,Verdammt.  Wieder  einer.  Jetzt  lebt  er  sowieso  nicht 
mehr." 

,,Nein,  jetzt  lebt  er  gewiB  nicht  mehr." 

Dann  gehen  sie  still  durch  den  schlafrig  tropfelnden 
Regen  zuriick,  der  Wachtstube  zu. 


Brook  TOO  A.  Stydtl  ft  Clo.  Akti«igMtllfoh*tt,  Btrlln  8W61