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TSE OrPT OF
Prof. Moritz Levl
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Französische
Gesellschaftsprobleme
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Uraschiagszeichnung von Prof. E. Orlik
Druck von J. S. Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14
Oscar A. H. Schmitz
Französische
Gesellsehaftsprobleme
Der Mensch kennt nur sich
selbst« sofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich nur
in ihr gewahr wird
Goethe
Berlin 1907
Verlag Dr. Wedekind iSc Co. G. m. b. R
Alle Rechte» insbesondere das
der Uebersetzung, vorbehalten.
Copyright 1907 by Verlag Dr. Wedekind fr Q>.
— O. m. b. H., Berlin. a=B55BSBBB:
• •
Inhaltsverzeichnis.
Mi«
Vorwort 1
Einleitung 5
^ Erstes Intermezzo: Deutsche und Franzosen ... 8
Zweites Intermezzo: Mit Franzosen im Ausland . . 18
L Kapitel: Femieiite.
_ 1. Antiker Geist in Deutschland und Frankreich . . 18
i 2. Kultureinheit und Absolutismus 29
8. Die 0soci6t6 polie** und der Klassizismus .... 98
G 4. Revolution und Doktrin 46
5. Modemer Geist in Frankreich ^
IL Kapitel: Qesellscliaft and MoraL
L Beziehungen zu Geld und Luxus 97
2. Künstlichkeit und Natiur 76
8. Impressionistische Moral 78
4. Gesellschaft und Einzelwesen 82
5. Die Moralität des französischen Theaters .... 89
6. Skepsis und Schein 98
Drittes Intermezzo 101
nL Kapitel: Sprache und StiL
1. Wortarmut und Nflanoenreichtum 102
2. Enge und Klarheit 106
8. Sprachliche Fremdkörper 109
Seite
4. Neuschaffung von Worten 116
6. Sprachkultur 119
6. Poesie und Umgangssprache 124
7. Der Stil: Natflrüchkeit, Kflrze, Klarheit 127
a Verpönte Worte 186
IV. Kapitel: FraaeB wU Liebe.
1. Französische Liebe 189
2. Die i^unregelmftssigen'' Frauen in Deutschland und
Frankreich 148
8. Die legitimen Frauen 154
4. Der bal des quat'z arts 1906 160
6. Dialoge 169
Viertes Intermezzo: Bilder aus der französ. Provinz
L Frtlhling in der Provence 179
2. An der Schwelle Spaniens 189
»
Schlass. Der Deutsche in Paris 198
Der lachenden Kameradin
eines traurigen Sommers
o. s.
Vorwort.
*
(Wissenschaftliche und andere Methode; der Deutsche —
der Franzose; Zitate und Quellen.)
Sicher bin ich nur meines Eindrucks ....
Man wirft mir oft meinen Impressionismus
vor; aber gerade der Impressionismus ist
das ernste und ehrliche, der Rest ist nichts
als geistreiches Spiel.
in der unpersönlichen Kritik liegt
viel mehr Hochmut, denn sie gesteht ihre
Gebrechlichkeit nicht ein.
Jules Lemaltre, Impressions de thöatre.
Es gibt zwei Arten, über Sitten und Erzeugnisse der
Völker zu schreiben, die wissenschaftliche und — die
andere. Der kunstgeschichtlich oder philologisch Ge-
lehrte versieht sich jahrelang mit Kenntnissen und unter-
nimmt in einigen Wochen oder Monaten seine Reisen,
oft nur zur letzten Kontrolle oder um seinen Schilderungen
die heute beliebte Lokalfarbe zu geben. Die »andere*
Art ist diese: fluchtige Vorbereitung; dem Baedeker, Fahr-
plänen, Zeitungsberichten, der Umgangssprache wird mehr
Beachtung geschenkt, als der Geschichte und den Literatur-
denkmalen, dann langer Aufenthalt in dem Land, nicht
1
— 2 —
als Reisender, sondern als Mitfebender, der sein Schick-
sal unter Fremden wie in einer andern Heimat weiter
trägt. Viele Fragen tauchen gegenüber dem neuen Leben
auf. Man geht den Ursachen nach, bald bedächtig, bald
fieberhaft erregt, befragt die Lebenden, die Literatur und
findet sich schliesslich eines Tages neben dem Gelehrten
in der Bibliothek ein: die Wissenschaft, als Kontrolle und
Erweiterung der Einzelerfahrung. Man kehrt heim, prüft
das Neugewonnene am Altbekannten, reinigt sich von zu
grossen Begeisterungen und Verachtungen. Nach Jahren,
in einer anders orientierten Entwicklungsepoche, kehrt
man in das Land zurück, sucht die Orte alter Erfahrungen
wieder auf, inzwischen an neuem Erleben gereift. Die
Fragen werden schärfer geformt. Noch einmal setzt man
sich neben den Gelehrten (oh, die bequemen Fauteuils
in der sommerkühlen Pariser Nationalbibliothek!), um die
Wurzeln des Heute im Gestern zu suchen. Diese Art
ist nicht wissenschaftlich, aber, weiss Gott, sie ist gründ-
lich; sie ist exakt, denn sie schaltet jene trügerische Ob-
jektivität aus, die uns Subjekten nun einmal bloss als
Begriff, nicht als wirkliche Fähigkeit gegeben ist. Den
Weg mit seinen Blumen und Dornen habe ich einge-
schlagen. Mein Buch will nicht wissenschaftlich, nicht
einmal populär-wissenschaftlich sein, obwohl darin Philo-
logisches, Soziales, Politisches, Ethisches und Historisches
vorkommt Ich hoffe dennoch, unnötige Widersprüche
mit gesicherten Erkenntnissen der Forscher vermieden zu
haben; manches intuitiv Gefundene wäre vielleicht durch
noch häufigeres Heranziehen und Vergleichen solcher
Erkenntnisse besser begründet worden; das hätte aber
die Farbe meiner persönlichen Beobachtungen kaum ver-
ändert. So habe ich mich nicht weiter in Wissenschaft-
- 3 —
liches eingelassen, als mich der Durst trieb und mir
neues Erleben Zeit Hess; ein ganz subjektives Verfatiren,
das ich fern bin, zur Nachahmung zu empfehlen. Man
wird gewiss auf Widersprüche stossen, unzureichend
Bewiesenes, zu eilige Verallgemeinerungen finden. Ich
will zufrieden sein, wenn dieser Niederschlag persönlicher
Erfahrungen anregend, als Tonikum der Seelen und der
Geister empfunden wird, um mich der Worte eines
modernen Dichters mit einiger * Freiheit zu bedienen.
Für eine Art der Verallgemeinerung muss ich be-
sonders um Entschuldigung bitten. Ich spreche von
„dem" Franzosen, „dem" Deutschen, nach dem berüch-
tigten Beispiel der Ollendorf'schen Grammatiken. Das
Ungewisse solcher Ausdrücke ist mir bewusst. Ich habe
Franzosen gekannt, die wie deutsche Landpfarrer lebten,
und hoffnungsvolle junge Deutsche, die, eher als mancher
französische Student, mit ihren Anschauungen und Ge-
wohnheiten auf die Boulevards passten. Aber immerhin:
ein Winter mit dichtem Schnee und heissen Kachelöfen
ist eher deutsch als französisch, obwohl auch Paris
nordische Wintertage kennt; schwüle Januamächte sind
etwas ausgesprochen Pariserisches, wenn sich auch zu
uns zwischen Dreikönige und Fastnacht mancher Föhn-
hauch stiehlt. Wir haben uns darum auf den weissen
Winter und den Landpfarrer, die Pariser sich auf schwüle
Regenzeit und den Boulevardmenschen eingerichtet Man
betrachte also meinen Deutschen und meinen Franzosen
cum grano salis. Der aber lege das Buch sogleich aus
der Hand, der auf dem Standpunkt jenes würdigen Ge-
lehrten steht, welcher seinem mir befreundeten Sohn die
goldene Lebensregel auf den Weg mitgab: lasse dich
nicht mit Fragen nach dem Jahr 1500 ein, da werden
— 4 —
die Quellen so zahlreich, dass solides, anständiges Ar--
beiten nicht mehr mOglich ist
Noch ein Wort Ober die Benutzung von Literatur:
fremdsprachliche Anführungen habe ich, wo mOglich, ins
Deutsche Übertragen, nur, wo es der Sprachgeist nicht
zuliess, wurde der französische Ausdruck in seiner Tönung
beibehalten. Oft habe ich, um bauen zu können, als
Fundament wissenschaftliche Tatsachen übernommen,
die lexikalisches Gemeingut sind, oft fremde Gedanken
weitergesponnen oder modifiziert. Es wäre zu umständ-
lich, ja meist unmöglich, hier ganz scharfe Grenzen zu
ziehen. Die Textverweise ermöglichen dem Leser, die
Einzelfälle nach Belieben zu untersuchen. Besondere
Anregung verdanke ich Taine, Remy de Gourmont, dem
enzyklopädischen Geschichtswerk von Lavisse und
Rambaud.
Mehrere Abschnitte dieses Buches sind bereits in
Zeitungen und Zeitschriften erschienen: Frankfurter Zeitung,
wissenschaftliche Beilage der Allgemeinen Zeitung, Blaubucb
etc. etc.
Einleitung«
In diesem Buch wird vorwiegend von den Tugenden
der französischen Kultur die Rede sein und die Frage
unbeachtet bleiben, ob die Franzosen lasterhafter, ent-*
arteter sind als andere Völker und deshalb, wie viele
versichern, baldigem Untergang entgegen gehen. — In
dieser Frage erklärt sich der Verfasser von vorneherein
fUr inkompetent.
Gerade die französischen Tugenden mögen an ge-
wisse Unvollkommenheiten unseres noch jungen Landes
erinnern: Dennoch scheint, ausser in Einzelzügen, eine ver-
gleichende Wertung beider Kulturen unmöglich, weniger um
ihrer verschiedenen Entwicklungstriebe willen, als wegen der
verschiedenen Entwicklungsstufen, auf denen beide Völker
stehen. Darum unterlässt es der Verfasser, sich Frankreich
gegenüber zum Anwalt seines Vaterlandes zu machen, das
die grössten Aussichten hat, falls den Gefahren zeitig be-
gegnet wird, die heute auf geistigem Gebiet durch den
Schulmeister, auf sittlichem und praktischem Gebiet durch
den Schutzmann verkörpert erscheinen.
Auch die Frage nach dem verhältnismässigen Reich-
tum der beiden Kulturen soll nicht gestellt werden. Es
ist möglich, dass die Summe deutscher Kulturwerte
— 6 —
grosser ist, als die französischer — es ist mOglich, es
kann auch anders sein. Aber ich meine, die Summe von
Plänen, Bausteinen, Säulen, Friesen, Bailustraden, Tapeten,
feinen HOlzem gibt noch keinen Bau. Der französische
Bau — gewiss viel beschränkter, aber darum weiser an-
gelegt, als der deutsche — scheint mir nicht übel ge-
lungen. Sein edelstes Gemach ist vielleicht die Sprache,
deren Wortarmut sprichwörtlich ist, deren erstaunlichen
Abtönungen und Wendungen aber sich das Oberreiche
Deutsch verschliesst
Selbst, wenn wir daheim zahllose Dinge vermissten,
die uns in der Fremde gefielen, ja fast Bedürfnis wurden,
mochten wir unsere Nationalität nicht ändern, ebenso
wenig dürfen wir irgend etwas Französisches nachahmen,
ausser dass wir das, was uns not tut, und was unser
Wohlsein ausmacht, ebenso offen und unbeirrt zur Bifite
bringen sollten, als die Franzosen sich zu ihren Neigungen
und Ablehnungen bekennen, ungestört durch Schulmeister
und Schutzmann. Bis wir das können, wird freilich noch
mancher Tropfen Wasser in die Nord- und Ostsee
fliessen. Das ist der wunde Punkt, der uns bisweilen
schmerzt, während wir die französische Kultur in ihrer
ungestörten Entfaltung betrachten.
Wir können heute gefahrios ihren Wert anerkennen.
Es ist ein kindischer Anachronismus geworden, sich die
Mächte hintereinander im Gänsemarsch vorzustellen. Da
jedes Volk sein nationales Leben in ziemlich unbestrittenen
Grenzen führt, ist eine europäische Kulturtyrannis durch
ein Einzelvoik nicht mehr denkbar. Und wer gerne
schlechte Zensuren austeilt, kann in Frankreich hohe Ge-
nugtuungen finden und sich vor übertriebener Bewunderung
schützen: was darf der moderne Deutsche nicht alles an
— 7 —
Frankreichs schwanken Einrichtungen tadeln, an seinen
Rokokositten belächeln, wie viele Sinnlosigkeiten wird er
im praktischen Leben geärgert zum Teufel wUnschen!
Aber seit den Wirkungen des Krieges sind die Fransosen
kaum mehr durch abenteuernden Qrössenwahn gefähriich.
Sie sind sachlicher, ruhiger, ja bescheidener geworden.
Das Gespenst Louis XIV., das sie lange Zeit ihre wirk-
lichen Bedürfnisse vernachlässigen und statt dessen das
Prunkstack einer mehr imaginären „gloire'' blank zu
halten trieb, besucht Frankreich immer seltener. Es
schreckt zurück vor einer politischen Geschäfsführung,
die kaufmännisch mit den Tatsachen rechnet. Ausserhalb
des Rahmens dieser Einleitung läge, zu forschen," wo sich
der erlauchte Schemen zur Zeit mit Vorliebe aufhält.
Erstes Intermezzo.
Deutsche und Franzosen.
Der Genfer Amiel, dessen intime Tagebüclier zu den
grundlegenden Seelendokumenten gehören, kann als ein
Orenztypus zwischen deutschem und französischem Geist
betrachtet werden. Nachdem er, wie er sagt, die besten
Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, hat er
unserer Geistigkeit zeitlebens verständnisvolle Sympathie
bewahrt. Einige Aussprüche von ihm mögen darum diesem
Abschnitt als Motto dienen:
„Die Deutschen kaufen die Holzscheite auf, die
Franzosen bringen die Funken herbei. Verschont mich
mit Muhseligkeiten, zeigt mir Tatsachen und Ideen;
behaltet Eure Kufen, Euren Most, Euren Satz für Euch;
ich will fertigen Wein haben, der im Glase perlt und
meine Lebensgeister anspornt, statt sie zu beschweren.^
„Im Roman besonders zeigt sich die durchschnittliche
Vulgarität der deutschen Gesellschaft (1870) und ihre
Unterlegenheit unter der französischen und englischen
merkt man deutlich Werden die innere seelische
Freiheit, die tiefe Harmonie der Fähigkeiten, die ich so
oft bei den höheren Individualitäten dieses Volkes beob-
achtet habe, nicht an die Oberfläche kommen P*"
— 9 —
Gestattet einem Volk sein ewig sanfter Himmel, kaum
bekleidet, in einer freiwillig Früchte tragenden Natur zu
schwelgen, so bedarf es kaum jener — schliesslich fast
köstlicheren — Ersätze: Kunst, Spiel und Luxus. Während
aber eine allzu unerbittliche Natur nicht einmal an solchen
Trost zu denken erlaubt, macht ihr sparsames Lächeln
fühlen, welche SOssigkeit Leben sein kann; nachdem sich
das ermutigende Lächeln schnell wieder verbirgt, lässt
es Erinnerung, Sehnsucht und Hoffnung zurück, die den
Winter wärmen und die Innenräume erhellen. Da ja der
Frühling unausbleiblich ist, bekommt der Schneemond
einen eigenen häuslichen Reiz, dem man sich gern über-
lässt; da ja die Sonne ganz gewiss wieder erscheinen
wird, rückt man behaglich um die Feuerstatt, hört gern
die Tropfen an die Scheiben schlagen und sieht entzückt
den Sturm das abblühende Geländ zerzausen. Dieser
tröstliche, milde Wechsel zeichnet besonders die beiden
Mittelländer Deutschland und Frankreich aus und be-
gründet die Aehnlichkeit ihrer ursprünglichen Aeussrerungen
in Volkslied und Sitte. Weder eine fieberbrütende
Sommersonne, noch eine spleensäende Wintemacht treibt
die Bewohner dieser Länder zum äussersten. Ihren
Sommer erfrischen grüne Mittelgebirgstäler und wasser-
reiche Ströme, ihre Winter sind von sinnigen und aus-
gelassenen Festen der Jahreswende und des Faschings
durchfunkelt.
Aber die Franzosen haben's leichter als wir. Sie
konnten sich auf ihrem aus nordischer Feuchte in süd-
liche Trockenheit ragenden Boden, in ihrer leichten ge-
mässigten Luft wenigstens ein Teilchen jener Unbesorgt-
heit der Ewigschwelgenden bewahren, ohne darum der
Schwierigkeiten ledig zu sein, die zur Kulturschöpfung
- 10 —
herausfordern. So bekam ihre Kultur, wie keine zweite,
den Charakter der Kunst, des Spiels und des Luxus.
Unser Land ist dem französischen an Fruchtbarkeit
unterlegen und hat auch sonst einen ungünstigeren Platz :
unzuverlässigeres Klima, wenig KOste, natürlich schlecht
verteidigte Grenzen. Es ist der bequemste Treffpunkt,
wenn Nord und Süd, Ost und West sich schlagen wollen.
Das hat uns oft verzweifeln lassen und verführt, das
Kulturproblem nihilistisch zu lösen, d. h. durch Verzicht.
Nach aussen bis an die Zähne gewaffnet oder aber
gleichgiltig gegen unser äusseres Geschick, sollten uns
weltfremde Religions- oder Philosophiesysteme im Innern
trösten, nicht mit der Hoffnung auf die wiederkehrende
Senne, sondern durch die Ueberzeugiing, dass es nicht
der Mühe wert sei, auf die doch meist ausbleibende
zu warten.
Pedanterie, doktrinäre Religiosität, Militarismus, ihr
schulmeisterlichen Rohrstöcke, die der Deutsche über
seinem eigenen Rücken schwingt! Herdenmässige Ver-
eine, als Ersatz edlerer Gruppierungen, studentische Kor-
porationen, die den Nichtmitsichfertigwerdenden die un-
sinnige Gymnastik lehren, vom Masslosen schnell ins
Gezwungene umzuschlagen: wieviel tiefste Verzweiflung
mögt ihr bemänteln helfen!
Aber immer wieder kommt der Frühling zu uns und
bringt eine neue Generation ungebrochener Jugend; schon
mehrmals waren wir der Reife nah, doch jedesmal er-
eilte wieder ein später Frost die Blüte. So kommt es,
dass unsere Kultur umstrittener ist, als die anderer grosser
Völker; das einzige, was sich unbestreitbar von ihr
sagen lässt, ist, dass sie mit beispielloser Zähigkeit allen
Unbilden widersteht und durch grosse Anläufe immer
— 11 —
und immer wieder sich lebhafte Beachtung erzwingt,
wenn sie auch noch hie die Reife erlangte, die durch
Einheitlichkeit und Klarheit Überzeugt. Wir sind das
einzige Kulturvolk, das heute noch im Werden ist (ich
weiss nicht, ob man die verworrenen Bewegungen der
slavischen Völker ein Werden nennen kann). Ein Urteil
über Deutschland, ein Vergleich mit ihm wird erst mög-
lich sein, wenn der seit 150 Jahren entflammte Kampf
zwischen dem genialen und offiziellen Deutschland ent-
schieden ist. Wer wird siegen: der deutsche Techniker,
der deutsche Kaufmann, der deutsche Künstler und
Forscher oder der deutsche Pedant und der Schnauzbart?
Der Franzose ist fertiger und trotz einer gewissen
ewigen Kindlichkeit reifer. Seine Tugenden stehen in
günstigerem Licht. Er lebt und altert vergnügter. Weil
er .oberflächlicher* ist, weil er unsere tieferen Konflikte
nicht kennt? Vielleicht; aber er wird mit sich fertig und
erreicht sogar oft eine kleine Weisheit. Eine Weisheit,
die uns nichts hilft, uns ist sie oft zu eng. Aber für
ihn ist sie gut, und darum ist es eine grosse Weisheit:
er versteht sich und seine Welt.
Der Unterschied der Franzosen und Deutschen be-
ruht seltener auf grundverschiedenen Eigenschaften, als
auf dem verschiedenen Verhältnis, wie ähnliche Eigen-
schaften zu einander stehen. Fehlt dem Volk Mozarts
die Leichtigkeit? Ist es befremdlich, wenn sich die
Landsleute Delacroix's für Beethoven begeistern? Deutsche
und Franzosen sind für einander ein geeignetes Publikum.
Wenn wir auch vorwiegend Biertrinker sind, fehlt
uns nicht die Weinzunge, und in dem klassischen Winzer-
land ist der „bock'' Nationalgetränk geworden. Der
— 12 —
Whisky und das Bier des rebenlosen England dagegen
sind in Deutschland, wie in Frankreich interessante
Spezialität geblieben.
Besonders verschieden werten wir die Form: wir
haben ähnliche Gefühle, aber eine verschiedene Höflichkeit,
ähnliche Ehrbegriffe, aber eine verschiedene Eitelkeit.
Das macht unsere schliesslichen Begriffe oft merklich
verschieden.
Der französische Erziehungsziel: man lernt, GefQhl
und Vernunft reinlich zu scheiden. Das GefQhl wird
nicht grausam verbannt, erhält nur seinen Platz. Auf
diese Diszipliniertheit sind die Franzosen so stolz, als
wir auf unser Erziehungsziel: die allgemeine Bildung.
Die deutsche Erziehung verschafft ein Wissen, die
französische eine Fähigkeit
Der geniale Deutsche ist mehr Dichter, der geniale
Franzose ist wesentlich Künstler. Wo der eine ganz
ohne den andern auftritt, können sich beide Völker nicht
verstehen. Die rein dichterische Jugendpoesie Goethes
bleibt den Franzosen fremd, was sie auch sagen mögen.
Auch Gretchen und Clärchen können ihnen nicht viel
mehr sein, als „des femmes m^diocres^. Dafür bleibt
den Deutschen immer der eminent künstlerische Racine
verschlossen. Geister wie Verlaine und Nietzsche dagegen
überschreiten die Landesgrenzen.
Der Deutsche neigt dazu, den Künstler des Wortes
einen Artisten zu schelten. Der Artist ist die Karrikatur
des Künstlers und verhält sich zu ihm wie der Dichter*
ling zum Dichter. Der vorwiegend künstlerische Autor
— 13 —
braucht aber durchaus kein Jongleur zu sein. Es gibt eine
Art^ die Welt tief kOnstlersch zu empfinden, die darum
nicht gerade dichterisch ist: Thtophil Gautier, die
französische GesellschaftskomOdie. Das ist gewiss nicht
der Gipfel der Genialität, aber es ist nicht schlechter, als
poetisch zu empfinden, ohne Künstler zu sein.
Zweites Intermezzo.
Mit Franzosen im Ausland.
(Tagebuchblätter.)
London, Mai 1898.
Seit ich hier bin, begeistere ich mich ein wenig für
die kohle Präzision und die unliebenswürdige Aufrichtig-'
keit der Engländer. Sie berOhren mich heimatlich, fast
wie eine Steigerung des Heimatlichen, nach langem
Hausen unter geschwätzig liebenswürdigen Romanen.
Gestern Abend kam Charies P. am Charing-cross
an, von Paris, versuche ihn zum Abendessen in mein ge^
wohntes Holborn grillroom zu führen, aber il ne marche
pas; hasst die englische Küche, „qui d^labrerait son
estomac en 24 heures*. Caf6 Royal. Wie auf den
Boulevards: Spiegel, Helle, Lustigkeit an allen Tischen.
Ich fühle mich wie zu Haus. Er erzählt Neuestes von
Montmartre, Hippol)rte hat L. geheiratet. Mme. T. ge-
schieden, empfängt wieder. Ich fühle etwas wie Heim*
weh — nach Mitteleuropa. Wir gehen ins Empire-
theater, Charles spricht englisch wie ein Cockney. Im
- 14 - •
Vergleich zu den Engländern kommt er mir aber wie ein
Landsmann vor.
„Fragen Sie mich nichts Ober die Engländer, sie
bleiben mir ein versiegeltes Buch,'' sagt er, nachdem er
über zwei Jahre hier gelebt hat.
Ich: „Ich verkehre hier schon heute nach vier-
wöchentlichem Aufenthalt in mehr Häusern, als in Paris
nach einem Jahr."
Charles: „Und hat Sie das weiter gebracht?
Können Sie sich einen Begriff machen, wie der Eng-
länder liebt, wie er zu seiner Frau steht, zu seiner Ge-
liebten, zum Problem der Untreue etc.? Seine neuere
Literatur schweigt sich darüber aus, mit grossem Ge-
schick; und im Gespräch lehnt er das Thema ab, als
,rather french'".
Charles lässt durchblicken, dass er einige flüchtige
Liebesabenteuer mit Etigländerinnen gehabt, was seine
Kenntnis, wie's scheint, nicht gefördert hat. Dann spricht
er entzückt von der „fralcheur" und „candeur" der deut-
schen Mädchen; es gäbe bei uns eine Mischung von
Kindlichkeit und Ladylikeness, die er sonst nirgends ge-
sehen. Am liebsten möchte er mir, aus Freude darüber,
im Augenblick die Gunst seiner sämtlichen Lands-
männinnen verschaffen; bewundert Minna von Barnhelm,
aber auch Philine, Kätchen von Heilbronn. Ich muss
ihm versprechen, ihm ein Judithkapitel aus dem „grünen
Heinrich'' mündlich zu übersetzen. Ein zweiter Champagne-
Cobler treibt ihn, mir alte französische Lieder ins Ohr
zu summen, die er herausgeben will. Mir ist, als höre
ich deutsche Lieder. Dann will er absolut im deutschen
Bierhaus soupieren. Wir essen Sauerkraut und Würstchen,
trinken deutsches Bier und schimpfen zusammen auf England.
— 15 —
Rom, April 1899.
Gestern Abend Pranzo bei Ein Senator,
zwei Universitätsprofessoren und junge Leute. Die erwartete
Makkaronibehaglichkeit bei einem Glas Chianti gestört
durch die Anwesenheit zweier französischer Archäologen
mit ihren Frauen, Die Unterhaltung über Kunstfragen
wird sofort „europäisch**. Ich halte zunächst in alter
Liebe zu den Italienern. Aber es dauert nicht lange und
die Konstellation wird umgekehrt. Die zwei Franzosen
modern, sachlich, bewandert, zivilisiert. Meine guten
Italiener unwissend, primitiv, konventionell bewundernd
und dabei offenbar heimlich geärgert. Blicken auf mich,
wie ich wohl denke? Bin vorsichtig; preise Italiens
grosse Zeiten; will meine Freunde nicht im Stich lassen.
Ich liebe sie mehr wie die Franzosen; aber verstehen sie
mich und verstehe ich sie? „Ces bonnes gens vivent au
18. sifecle", sagt einer der Franzosen auf dem Heimweg.
„Pas moyen de s'entendre avec la phrasfelogie meri-
dionale**, sagt der andere.
Sevilla, September 1905.
Die Spanier sollen unter den Südländern den Deut-
schen am ähnlichsten sein durch ihren Ernst, ihre Fähig-
keit, über äussere Kümmernisse durch intensives Innen-
leben hinauszukommen, auch durch ihre Neigung zu
dunkler Verworrenheit im Geistigen. Mag sein. Was
ich bis jetzt kennen gelernt habe, beweist, dass ich mit
keinem Volk so schwer intim werden kann, als mit den
Spaniern. Don Luis, der Wortführer an unserer Mittags-
tafel, überhäuft uns mit Liebenswürdigkeiten, wollte mir
heute früh seine Capa, die ich bewunderte, schenken.
— 16 —
Ich hätte mir einen Todfeind gemacht, sagt unsre eng-
lische Wirtin, wäre ich darauf eingegangen.
Ich versuche, auf den Strassen mit den Leuten des
Volks zu reden und sehe — misstrauische Verlegenheit
Nichts von italienischem Freimut. Ich habe nichts da-
gegen. Die Kerle mit ihren prachtvollen Gesichtern, wie
Holzskulpturen, sind wundervoll, haben recht gegen uns^
gegen alle Zivilisation vielleicht Aber bilden wir uns
nicht ein, sie zu verstehen, weil uns ihre bizarre Gross-
artigkeit entzückt. Es gibt eine mitteleuropäische Soli-
darität, die an den Pyrenäen, dem Kanal und der
Weichsel aufhört. Die Ostsee und die Alpen sind
weniger strenge Grenzen.
Ein junger, nichtssagender Franzose von der Table
d'höte führt mich abends zu seinen Freunden auf der
alameda: darunter die Söhne des Direktors der Tabak-
fabrik. Man spticht von nichts als von Stieren. Alle
haben schon als Liebhaber in der Arena gestanden.
Zeremoniell liebenswürdig gegen mich. Herrschaften mit
steifen sombreros: chulos, banderilleros, picadores, die
ganze Gehilfenschaft von der Arena, kommen an unsern
Tisch. Finstere Liebenswürdigkeit, als könne eine Form-
verietzung tötlich werden; ebenso in den galanten Häusern^
wohin man mich führt. Zuletzt mit dem kleinen Fran-
zosen allein, der mir nun alles zu erklären sucht, den
spanischen Charakter, seine finstere Brutalität, seine
Kunstlosigkeit etc. Der Junge wird fast zum scharfen
Beobachter und Psycholog, weil er mitteleuropäiscli
sieht — wie ich. Er kommt aber leichter mit den
Leuten aus, als ich könnte; lebt zwei Jahre hier, angestellt
im Credit Lyonnais und zieht das dem Leben in Eng*
17
land vor, wo er auch zwei Jahre war. Wenn ich die Wahl
lätte, — auf die Dauer hundertmal lieber in England, so
iteressant es hier ist. Aber wir sind einig darüber:
enn man den Spanier kratzt, so findet man den
irikaner; und dass gerade die reizendsten Spanierinnen
ich meist als halbe Französinnen entpuppen.
Er ist rührend, will mir seine ganze Zeit widmen,
|roh, wieder einmal einen — er findet keinen Ausdruck
getroffen zu haben, fast hätte er .Landsmann^ gesagt.
Madrid, Oktober 1905.
|; An unsrer Table d'höte ein französisches Ehepaar.
jj^ Schnelle Bekanntschaft« Gleich gemeinsame Vadrouille
ß^ durch die Lokale, wo man die halbafrikanischen Tänze
! und Lieder hört. Monsieur L. hier sehr bekannt, lockt
die Künstler an unsem Tisch, bringt sie zum Reden; hat
viel Sinn für ihre Lokalfarbe. Erzählt uns von einem
' anderthalbjährigen Verhältnis mit einer Spanierin: uner-
ziehbar, unintelligent, bloss die dumme Leidenschaft. Er
spricht fliessend spanisch und deutsch. Die Deutschen seien
ihm keine Fremden mehr. Um mit den Spaniern auszu-
kommen, nur List und Gewalt möglich. Er vertritt hier
eine grosse französische Firma.
Aber dieses Schreien und Stampfen auf der Bühne
reisst mich doch mit, wie Sturm und Blitz. Bei uns
braucht man gegen solche Unwetter Blitzableiter.
1 1
.. <
Erstes Kapitel.
Fermente.
(Antiker Geist; Kultureinheit und Absolutismus; die
.social^ poüe'' und der Klassizismus; Revolution und
Doktrin;' modemer Geist.)
I. Antiker Geist in Deutschland und
Frankreich.
Im ägyptischen Saal des Louvre:
Wohin haben sich in den modernen Kulturen die
Instinkte verflüchtigt, die hier gebändigt liegen, auf-
schwellend in unerbittlichen Formen? Diese Götterbilder
thronen über den Leidenschaften, die sie hüten, lauernd,
ob der Mensch das Urf euer nicht missbrauche : diebreite,
unbeirrte Sphinx, die kauernde, jeden Augenblick auf-
springen wollende, löwenköpfige Secket und die niederen
Wächter, vier Paviane, welche die aufgehende Sonne be-
grüssen. Sie entstammen dem Piedestal des Obelisken
von Luxor; ihnen gegenüber erscheinen die leidenschaft-
lichen Satane, die sich zu Füssen gothischer Heiliger
winden wie neckische Schelme. Sind diese Götter selbst
- 19 —
die formgewordene Urkraft oder die feindlichen Bändiger
der Urkraft, von einer Lichtgottheit zur Ueberwindung der
Finsternisse eingesetzt? Sie lasten wie Gebirge auf vul-
kanischem Boden, starr, doch tief durchwühlt. Wie
liebenswürdige Vertraute fast wirken dagegen die assy-
rischen geflügelten Stiere mit Menschenhim und Menschen-
antlitz auf tierischem Rumpf.
In der rue de Rivoli:
Es ist nicht glaubhaft, dass sich die Urverwandtschaft
zwischen Mensch und Element je stärker ausgedrückt
habe, als in Aegypten. Dagegen bedeuten moderne
Lebensformen eine Pygmäenkultur, und wären sie so
vollendet, wie die französischen, zwischen denen ich mich
befinde. —
Und insbesondere deutsche Formen? Wir haben,
obgleich auch wir sie nicht in vollendeten Denkmälern
bezeugen können, die alte Elementarverwandtschaft nie-
mals ganz vergessen. Wir weigern den Namen „gross*"
denen, die sie verloren haben, und wüssten sie noch so
sehr unsere Sinne hinzureissen, unsem Geist zu überreden.
Wir sind dagegen schnell bereit, Grösse anzuerkennen,
wo sich elementares Empfinden verrät, auch zwischen
kindischer Unbeholfenheit und grobem Ungeschmack.
Die Franzosen haben sich dem Gesellschaftlichen und
später auch dem individuell Menschlichen hingegeben,
wir glauben an ein Drittes: das Elementare. Falls eine
deutsche oder germanische Kultur noch möglich wäre, sie
gliche eher der ägyptischen, als einer lateinischen.
Hätten wir unsere Urkraft zu formen verstanden, dann
wären wir vielleicht, wie Aegypten für Hellas, den Franzosen
wirklich das geheimnisvolle Wunderland, das ihre Romantik
2*
— 20 —
bisweilen bei den Nachbarn d'Outre-Rhin vermutete. Aber
wir sind nie über die Sehnsuclit nach dieser Formung
hinausgelcommen, darum überzeugen wir die Fremden
nicht von unserer Berufenheit; und doch hat es einen
tiefen Grund, dass die Deutschen stets eine Neigung für
das vorlateinische, besonders griechische Altertum aus-
gezeichnet hat, während die Franzosen nur durch die römisch
rationalisierte Antike wesentlich beeinflusst wurden.
Des kalten Ideals der heiteren Einfalt und stillen
Grösse fast müde, entdeckten wir in unsren Gefühlsnöten
(Fr. Schlegel, Bachofen, Rohde, Nietzsche) das Dionysische
in der Griechenkultur, das heute unser Seelen- und Geistes-
leben nährt. Uns wurde den Griechen gegenüber zu Mut,
wie einem irrenden Sohn, den ein bewunderter, weiser
Vater mit der Erzählung der eigenen Jugendstürme zu
trösten und zu stärken unternimmt. Das Konventionelle,
das uns bald knechtete, das wir bald verächtlich von uns
warfen, entdeckten wir neu in appollinischer Veredelung,
und unser leidenschaftliches Uebermass erkannte sich
wieder im Gefolge des thyrsosschwingenden Gottes.
Weit entfernt, die neu entdeckte Lehre ganz zu begreifen
und zu verwirklichen, sind wir oft archaistisch übertrieben
und modern lächerlich gewesen; doch Vers und Prosa
sprechen seit einiger Zeit wieder von vergessenen In-
stinkten, verschütteten Begierden; zwischen den Fugen
einer undichten Kultur glimmt ursprünglicheres Geleucht
durch die Ritzen und erhellt lange unbeachtetes köstliches
Geschehen. Und wir beten zu Appoll, dass er uns zur
Enthüllung und Wahrung dieser Wunder verhelfe. Viele
erschauern vor solchen Entdeckungen und Entblössungen,
andere begreifen nicht, was das Schildern und Preisen
dieser ihnen unwesentlichen Dinge denn soll? Sie schlagen
— 21 —
sich vielleicht auch bei diesen Worten an den Kopf und
fragen: Was meint der Verfasser eigentlich?
Ein Franzose*), der 1885 Deutschland bereiste, als
sich diese Regung noch nicht ahnen Hess, trotzdem die
Saat schon lange gelegt war, sagt vom Deutschen: „seine
allzu umfassende Intelligenz, die alles umarmen möchte,
umfasst nichts ganz scharf: daher seine nebelhaften Ent-
würfe, wo bisweilen, wie Sterne am wolkigen Himmel,
seine entzückenden lyrischen Schöpfungen funkeln, seine
Balladen, Volksbücher und Märchen. Auf diesen Gebieten
ist er Meister. Und warum? Weil der alte Pantheist
einen Augenblick aufgetaucht ist unter einem Eindruck
träumerischer Melancholie und sich seine mystische Ein-
bildungskraft auf einen einzigen Punkt beschränkt. Aber
diese Schöpfungen sind notgedrungen kurz. In den grossen
menschlichen Werken erscheint sogleich wieder das ver-
worrene Dickicht des Pedanten. Seine Intelligenz ist
sicher voll von Material, aber sie reiht es nicht mit der
nötigen Gelenkigkeit an einander, sie häuft es auf oder
wirft es im Durcheinander herum.*
Warum dieses deutsche Chaos? Weil der Pedant
gewaltsam bändigen wollte, was er nicht oder nur halb
begriff. Dionysos erträgt nur den harmonischen Zwang
des zitherspielenden Apollo. Diese Bändigung macht
das Wesen der Klassik.
Die meisten Kulturen gleichen Riesenstädten: die
Strassen teils bebaut, teils zerstört, teils verlassen, teils
zerfallen, ehe die Häuser unter Dach kamen; der Ge-
samteindruck verwirrend, hier begeisternd, dort ent-
*) Henri Conti, UAllemagne intime, P. 127.
— 22 -
mutigend, im ganzen nicht von der Notwendigkeit des
geschehenen Aufwands überzeugend. Von den wahr-
scheinlich sehr vollkommenen alten Kulturen, der ägyptischen
und kretischen insbesondere, haben wir kaum mehr als
ein schauenrolles Ahnen. Nur zur griechisch-römischen
Welt stehen wir in bestimmter Geistes- und GefUhls-
beziehung. Wie verschieden die einzelnen Generationen
antike Tugenden, die Heiterkeit und den Ernst verstanden,
eines haben die Alten unbedingt besessen, jene unbewusste
Verfassung der Instinkte, die ihnen die Bifite ihrer wahren
Natur ermöglichte: Kultur.
Deutschland hat sich oft ffir den berufenen Erben
Griechenlands erklärt. Das stimmt dem Buchstaben nach.
Deutschland hat am meisten Helle in die griechische
Ueberlieferung gebracht; aber dieses philologisch genau
untersuchte Hellas ist uns stets ein idealisches Jenseits
geblieben, ein Tempel ffir Erwählte, vor dem der Ein-
tretende zaudert, so wie Platen mit den charakteristisch
deutschen Worten vor dem Markusplatz in Venedig:
„Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?
Diese respektvollen Schauer, die wir so wert halten,
beweisen unsere Fremdheit auf klassischem Boden.
Der Franzose scheut sich nicht, sich auf den Mar-
morstufen des Tempels auszustrecken, mit den Philosophen
geistreiche Worte zu tauschen, den Kurtisanen leichte
Spässe nachzurufen. Er versteht das antike Leben analog
seinem eigenen, und verschönt dieses durch einen Reflex
aus jenem. Wir werfen ihm vor, sein Bild der Antike
sei oft barock. Aber trotz seinem respektlosen Zu-
greifen und Drapieren packt er doch oft die Sache
selbst, während uns ein neu entdecktes Jenseits nur
zu oft das Diesseits verleumden lehrt.
— 23 —
Ich möchte nicht so verstanden werden, als hätten wir
mehr vom antiken Geist, die Franzosen mehr die Form
des antiken Lebens überkommen. Ich kann einen solchen
Unterschied von Wesen und Gestalt, Geist und Form
nicht anerkennen. Keine Wesenheit ist ohne Form, die
Form ist das Wesen eines Dings (essentia). Die
französischen Formen aber sind ein Leben, das dem
hellenischen im Wesen verwandter ist als irgend ein
anderes. Das schliesst nicht aus, dass wesentliche Züge
sich verändert haben oder ganz fehlen, die sich vielleicht
eher bei uns finden liessen.
*
Die Aehnlichkeit zwischen Franzosen und Griechen
zeigt sich in der ungezwungenen Entfaltung einer nicht
zu widerspruchsreichen Natur, durch eine Art Gleichge-
wicht haltender und Kräfte bewahrender Heiterkeit. Wenn
auch die Wissenschaft mit dem Begriff jener stupiden
ewigen Heiterkeit der Griechen aufgeräumt hat, bleibt
doch die eucppooouvT), die serenitas ein tiefer Zug des
antiken Menschen. Renan nennt die „gait£ gauloise
vielleicht die tiefste aller Philosophieen'^. Infolge eines
eingeborenen Formgefühls kommen jene Probleme des
Mühsäligen von Form und Inhalt, Oberflächlichkeit und
Tiefe, Lachen und Ernst, ausserhalb der theoretischen
Betrachtung gar nicht recht auf: die Grazie der Formen
steht auch dem die Sinne schmähenden Plato, dem ent-
haltsamen Pascal ungerufen zur Verfügung.
Es wird einem niemals zugemutet. Gewolltes für
geschaffen zu nehmen, sich mit dem Unvollkommenen,
halb Gewordenen zu begnügen, weil es vielleicht, falls
es geworden wäre, sich höher erhöbe, als alles bisher
Gesehene. Diese Form des Idealismus kennt weder
— 24 —
Frankreich noch Hellas; das ist der speziell unklassische,
protestantische Geist: Rechtfertigung durch den Glauben,
d. h. den guten Willen, nicht durch Werke. Für den
antiken und den französischen Realismus ist das Nicht-
formgewordene nicht.
Die Franzosen haben gleich den Griechen ihre eigene
Stärke verstanden und rücksichtslos, unreflektiert, unbe-
kümmert wie Kinder ausgedrückt. Sie haben sich keine
ausser ihrer Möglichkeit liegenden Ideale geschaffen,
sondern rundweg ihre Wirklichkeit glorifiziert. Nie ist
ihnen das unerreichbare darum, weil sie es nicht erreichen
können, das Wertvolle gewesen. Auch dieser sich selbst
verkleinernde Idealismus fehlt ihnen. Das Wertvolle ist
ihnen stets gerade das, was sie am besten können, was
ihnen darum am meisten Spass macht. Ihre Vollkommen-
heit ist, nur das zu wollen, worin sie vollkommen sind.
„Das ist leicht" wird man sagen. Ja, muss denn etwas
schwer sein, damit es gut ist? Uebrigens gehört viel
Aechtheit, Instinkt und Mässigung dazu, um seine eigenen
Vollkommenheiten rechtzeitig zu erkennen. Darum sind
auch die Franzosen unempfindlich dagegen, wenn man
ihnen Eigenschaften abspricht, auf die andere Völker
stolz sind. Sie überlassen leichten Herzens den Deutschen
die Tiefe, den Engländern die rücksichtslose Kraft.
Das Französische ist ihnen das Liebe, Süsse, Ange-
nehme, ja das Amüsante, und sie sind Franzosen, parbleu.
Französisch ist ihre Tapferkeit, ihre Liebe, ihre Lust, ihre
Kleidung, ihr Betragen: alles natürliche Angelegenheiten
des täglichen Lebens. Das deutsche Ideal beschäftigt
sich nicht mit den AUtäglichkeiten; die mögen ihren
Stiefel weitergehen, nach wie vor, jeder sehe selbst, wie
er fertig werde; das deutsche Ideal ist reflektiert philoso-
— 25 -
phisch. Graf Kessler sagt in einem Aufsatz „Nationalität^
(die Zukunft 7. April 1906), eigentlich könne nur ein ge-
bildeter Mensch — sagen wir ruhig: nur ein akademisch
gebildeter — Deutscher im Fichteschen Sinne sein. Ja,
deutsch sein ist schwer, es kostet Mühe und ächweiss,
es ist eine Aufgabe. Das ist so ungriechisch wie möglich.
Das französische Nationalgefühl ist populärer als das
deutsche, denn es knüpft sich an das heimische Brot, an
das heimische Weib. Nur zu Hause kann man ganz
französisch sein. Darum wird der Fremde am französischen
Herd zum Barbaren. Durch alle französischen Reisebe-
schreibungen fremder Länder tönt Ovids ironische Klage
aus Tomi: barbarus hie ego sum et non intelligor ulli.
Der Deutsche strebt aus der Enge der Heimat und wird
Kosmopolit: ein Vorteil und ein Nachteil. Das englische
Nationalgefühl ist der Stolz auf die grossen Männer und
Einrichtungen, auf britische Macht; das französische
Nationalgefühl erträgt heimische Missstände leichter, es
nährt sich von der sinnlichen Freude an der feinen Luft
der Ile de France, den Weinen von Burgund und der Gas-
cogne, und den ihm unvergleich dünkenden Frauen; diese
Entzückung teilt sich selbst den „Barbaren** mit. Paris
hört sich selbst nicht ungern der grossen Babylon ver-
gleichen, nach deren Schosse Völker und Könige brennen.
Die Verwandtschaft zwischen einer pindarischen Ode
und einem griechischen Gebrauchsgegenstand, einer Vase,
einer Lampe oder einem Spiegel, findet sich wieder
zwischen einem Molifereschen oder Marivauxschen Dialog
und einer Tabakdose oder einem Fächer. Shakespeare
gestaltet grösser als irgend ein Franzose, Goethe blickt
tiefer und weiter, aber sie sind Einzelerscheinungen in-
mitten ungenialer Massen. National aber und das Leben
— 26 —
jedes Einzelnen mit seinem Widerschein vergoldend sind
die griechische Tragödie, wie das französische Lustspiel,
die griechischen Säulenordnungen, wie jene höfischen
Ludwigstile (mögen sie uns gefallen oder nicht.)
Und dann haben die Franzosen*) nach ihrer mas-
kierten Rokokoschäferei das antike Idyll in unsere Zeit
gerettet: Corot, modern idyllisch, ohne gewaltsames Zurück-
schrauben unseres Empfindungsapparates, ohne eine Spur
kindischer oder süsslicher Albernheit. Puvis de Chavannes,
Sommer und Winter, im Pariser Stadthaus: Die Gruppen
und Gestalten mögen in ihrer Typik nicht recht ausgefüllt,
manchmal fast leer erscheinen — man denkt an die grössere
Fülle der Raphaelschen Cartons im Vatikan --, aber in
diesen Landschaften erfährt man, was Arkadien ist, ewig
sein wird.
Es muss weniger das recht zweifelhafte antike Blut
der Franzosen sein, das sie zu solchen Empfindungen fähig
erhält, als eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem blass-
blauen Himmel der Isle de France und dem Attikas. Zur
Enttäuschung der Marseiller, die sich für die französischen
Griechen halten, hörte ich einst einen französischen Dichter
griechischer Abkunft die Aehnlichkeit zwischen der durch-
sichtigen Pariser Luft in frühen Morgenstunden und der
Athenischen feststellen.
Ein anderes antikes Merkmal französischen Daseins
ist die geringe Kluft zwischen den Lebensaltern, die stets
einander nahe sind und für einander Teilnahme haben.
Es fehlt die Respektlosigkeit oder Unterwürfigkeit der
*) Auf das sublimierte Griechentum der Ingres, Prudhon,
Chass^riau, Puvis de Chavannes, macht Meier-Gräfe in seiner Ent-
wicklungsgeschichte der modernen Malerei oft aufmerksam.
— 27 —
Jungen ebensowohl, als der Dünkel und die Beschränkt-
heit der alten Herrn. Mehrere Dezennien Altersunterschied
hindern die Freundschaft nicht. Der Beifall der Jugend
ist dem Greis ebenso schmeichelhaft, als dem Jungen der
der Alten. Alkibiades sagt in seiner Rede an die Athener
(Thukydides VI, 18): „Durch den vereinten Rat der Jugend
und des Alters haben unsere Vorfahren so hohe Macht
erreicht. . . . Seid überzeugt, dass die Jünglinge und
Greise, die einen ohne die andern, nichts vermögen. ""
Das macht in Hellas wie in Frankreich die Politik
zu einer allgemeinen öffentlichen Angelegenheit, die sich
im Gespräch der Gesellschaft, im Gesang, im Witz der
Strassen spiegelt. Sie stösst nicht durch ideologisches
Schwärmen oder armselige Nüchternheit ab. Wie in Eng-
land besteht die Möglichkeit, dass man gleichzeitig Talent
hat und den Beifall der staatserhaltenden Zirkel besitzt.
Die Erfahrungs- und Betätigungsmöglichkeiten einer hohen
sozialen Stellung finden sich leichter zusammen mit einem
selbstherrlichen Verstand und unbeirrtem Empfindungs-
leben. Und diese Synthese allein ermöglicht den voll-
kommenen Mann, den xaXoc xd^a&dc, der weder unter
trivialen Konventionen, noch in selbstgefälligen Konven-
tikeln gedeiht.
Die antike Ueberlieferung wurde auf Frankreich ver-
erbt, nachdem Italien noch eine Zeitlang der Vormund
gewesen war. Die andern Völker haben nur Legate
empfangen. Ihnen wurde römisches Recht und griechisch-
römisches Denken eher aufgezwungen. Ihre noch unge-
zähmten, unbewussten Instinkte krümmten und bäumten
sich unter dem doppelten Einfall sich widersprechender
römischer und christlicher Ideen. Daher das Gequälte
— 28 —
ihrer Halbkulturen. Spaniens Masslosigkeit, Englands
Brutalität und besonders Deutschlands Verworrenheit
wurden vielleicht teilweise erst durch die lateinischen
Zuchtmeister provoziert. Die unter glücklichem Himmel
lebenden, „nach Neuem begierigen'' Gallier wurden sanft
und langsam der antiken Kultur gewonnen, nahmen sogar
noch einen kleinen, schöpferischen Anteil an ihr. Rein
eiihalten haben sie sie freilich nicht. Aber wer möchte
von einem Volk verlangen, dass es statt zu leben, statt
sich durch Entwicklung zu modifizieren, Philologie treibt?
So ist deutsche, spanische, englische Schönheit un-
bestimmter, seltener, aber vielleicht durch endloses Ringen
gestärkter und auseriesener, als die lateinische und die
gallische, die verschwenderisch in allen Gassen blinzt
a. Kultureinheit und Absolutismus.
Paris vaut bien une messe.
Henry IV.
Es war der alte Wahn der politi-
schen Dileitanten, welche nie be-
greifen, dass die verschlungene
Natur unserer Staatengeselischaft
eine reine Tendenzpoliiik kaum
je gestattet, dass die grossen inter-
nationalen Machtfragen nicht unter
die Gesichtspunkte der Parteilehren
fallen.
Treitschke, Frankreichs Staatsleben
und der Bonarpartismus. S. i88.
Wir weigern den Namen der Grösse dem eindeutigen
Egoismus, selbst wenn er zu Zeiten bezaubert: Nero,
Alexander VI.
Wir weigern ihn dem, der, sich klug oder ängstlich
unterordnend, Grosses nur geschehen lässt: Elisabeth von
England, Wilhelm I.
Wir weigern ihn dem, der zwar in einen mächtigen
Strom gerät, ihn aber nicht zu lenken weiss, bald mit-
gerissen wird, bald die Fluten hemmt: Luther.
Wir weigern ihn selbst dem, der kraftvoll und voll-
kommen eine Sache durchführt, deren Bedeutung aber
beschränkt oder fraglich ist: Crom well, Ignaz von
Loyola.
— 30 —
Grösse erkennen wir, wo ein starker Lebenstrieb
(Egoismus) sich instinktiv einer bedeutenden Sache vermählt^
die er, von zielsicherer Klugheit bedient, wirklich zu Ende
zu führen vermag: Caesar, Friedrich der Grosse, Bismarek.
Es besteht ein etymologisches Recht, solche GrOsse
„Idealismus'^ zu nennen, weil das Ich seine Wohlfahrt
an eine umfassendere Sache hingibt, die sich dem ab-
strahierenden Verstand als «Idee"* darstellt Nun ist aber
das Wort „Idealismus'^ von so vielerlei flachen Köpfen
und seichten Seelen für ihre subalternen Zwecke belegt,
dass wir, um Verwirrung zu hindern, es ihnen zu dau-
ernder Nutzniessung überlassen sollten. Wir können uns
gerade so gut des Wortes „Realismus'' bedienen, denn
„Grösse" ist so wirklichkeitsklar gewordener Egoismus,
dass er, weit über die Grenzen kleiner Ichheit hinaus,
Höhen und Tiefen des Daseins fühlt und lust- oder
schmerzvoll darauf durch Handeln reagiert. Dass zweck-
sichere Klugheit solches Handeln bedienen muss, ist ein
Grund mehr, in der Grösse einen hohen Grad von
Realitätssinn zu erblicken.
Dieser Realismus kommt in den Helden der neueren
französischen Geschichte früh vor: Heinrich IV., Richelieu*
Beide nennen Ideologen zuweilen gesinnungslose Kom-
promissler. Allerdings; sie wollten unbedingt in die
Höhe, lavierten klug zwischen den Parteien, verteidigten
vorübergehend Dinge, die sie, hätten sie schon die Macht,
missbilligen würden. Besitzen sie aber die Macht, so
heisst ihr Leib Frankreich, ihr Herz Paris, und weil sie's
so fühlen, können sie nicht für den Arm gegen das Bein,
für die Lunge gegen den Magen Partei ergreifen. So wie
der noch so eng lokalisierte körperliche Schmerz zum Wirk-
lichkeitsbewusstsein zwingt, die ganze Einheit des Lebens*
— 31 —
gefflhls erschattert und durch nichts wegkonstruiert
werden, kann, so machte Heinrich IV. und Richelieu
das oft schmerzvolle Verwachsensein mit ihrer grossen
Sache zu Realpolitikern.
Die bereitwillige Aufgabe des protestantischen Be-
kenntnisses durch Heinrich IV. macht das moderne Frank-
reich möglich. Ohne diesen Gesinnungswechsel hätte
sich der einzig zum Königtum Fähige zu fruchtlosen
Kämpfen verurteilt, seinem Lande die Fortsetzung des
Bürgerkrieges auferlegt, vielleicht ein dem dreissigj ährigen
Krieg ähnliches materielles und geistiges Elend herauf-
beschworen. Manchen gefiele er wohl besser, wenn er
gesagt hätte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders."^
Dass er anders konnte, ist seine Grösse.
Allen zentrifugalen Kräften seiner noch unfertigen
Nation wird durch Heinrichs Uebertritt der Antrieb ge-
nommen. Die Zauberformel ist gesprochen, sodass sieb
aus dem Chaos dauernde Formen krystallisieren können.
Gleich fern von fanatischem Ideologismus und egoisti-
scher Eifersucht, betrachtet er den religiösen Konflikt als
das, was er ist: eine Krankheit, die gewiss nicht unter-
schätzt werden darf, gegen die vor allem die Einheit des
Organismus gefestigt werden muss. Er für seine Person
hatte die Krankheit gut überstanden und konnte nun ein
weiser Pfleger sein. Ohne ihre Wichtigkeit zu verkennen^
sah er, unwillkürlich modern, das Sekundäre der kon-
fessionellen Frage gegenüber der politischen. Die Um-
kehrung dieses Verhältnisses ist alttestamentarisch und
mittelalterlich. So zeigte er sich auch versöhnlich gegen
die Jesuiten, die er lieber als Freunde, denn als Feinde
haben wollte. „Par patience et cheminer droit, je vaincs
les enfants de ce siöcle."
— 32 —
Er befreit Frankreich, auf das schon Philipp IL die
Hand gelegt, von den „fran^ais esgagnolis^s."" Die
Flegeljahre der Nation mit den Primanerzweifeln über
Gott und die Welt sind vorbei, sie kann ihrer glänzenden
Reife entgegengehen. Wie im lutherischen Deutschland
hatte in Frankreich während des Bürgerkrieges der
religiöse Charakter die Machtbegierden der Fürsten mas-
kieren müssen, eine unumgängliche Folge jeder Religions-
spaltung. Die Guisen durften sich eine Zeitlang als
Beschützer des Katholizismus geben, während es ihnen
in Wahrheit auf den Thron von Frankreich ankam»
Solcher „Duperie" macht Heinrich ein Ende. Frankreich
weiss von nun an, worauf es ankommt. Die Ziele werden
klar, man schämt sich nicht mehr, offen Realpolitik zu
treiben, denn man hat ein ruhiges Gewissen.
Früh erwachter Tatsachensinn macht die Franzosen
in Reügionsfragen gemässigt. Schon Franz 1. zeigte sich,
ehe ihn die „placards* der Protestanten reizten und zur
Intoleranz trieben, klug und nüchtern. Die Aeusserungen
der Sorbonne nannte er lachend „theologastrische Ese-
leien'', aber er liebte auch nicht „jene illuminierten Narren,
die heute Bilderstürmer, morgen Märtyrer sind*. Das
Toleranzedikt von Nantes befreit Frankreich als einziges
Land von den fanatischen Gewalttaten, die andere Völker
erdulden. In Deutschland darf seit dem Augsburger
Frieden jeder Fürst seinem Land seine Religion auf-
zwingen. Zweimal wird die Pfalz zum lutherischen
Glauben gezwungen, zweimal muss sie ihn zu gunsten
des Calvinismus aufgeben'^). Stets kommen die heftigsten
Mittel in Anwendung. In England werden die Papisten
*) Lavisse und Rambaud, V.
- 33 —
getötet. In Frankreich begeht hie und da das Volk Ge-
walttätigkeiten, Regierung und Gesetz sind tolerant.
Richelieu sagt, er ziehe einen hugenottischen Franzosen
einem Spanier vor — ein nicht bloss in seiner Zeit
seltener Grad des Wirklichkeitssinnes. Er begnügt sich,
den politischen Protestantismus niederzuwerfen. Nach
der Einnahme von La Rochelle hat er die Tatsachen be-
siegt; grossmütig gegen die Gewissen kann er das Edikt
von Nantes erneuern. Ihm ist genug, den Gegner be-
zwungen zu haben, er verlangt nicht, dass er ihm auch
noch Recht geben soll. So wird die Protestantenfrage
zu dem, was sie ist: eine freilich nicht unwichtige Neben-
sache, wie ein heilsames, reinigendes Fieber, das ein
wenig menagiert werden muss. Auch die späte, sehr
überflüssige und unglückliche Aufhebung des Edikts
durch Ludwig XIV, setzte wenigstens nicht mehr die
ganze Wohlfahrt und Kultur des Landes aufs Spiel. Das
Volk ist freilich mit dieser Toleranz nicht immer einver-
standen; für einen Protestanten ist es vorläufig leichter,
Parlamentsrat oder Marschall von Frankreich, als unan-
gefochten Schneidermeister oder Steuereinnehmer zu
werden. Aber Richelieu weiss stets, wie weit er in
seinen Zumutungen gehen kann Dem Papst gegenüber
gebärdet er sich freier, als die stets wegen ihres Schismas
ängstlichen deutschen Fürsten, und so wird das Schisma
vermieden.
Auch die Franzosen wollten keine «Römlinge'' sein.
Sie besassen längst und befestigten immer mehr die galli-
kanische Kirche. Mit ihren Vorrechten wussten sie, fast
ohne Gewalt, ihr nationales Leben umsichtig und stark
gegen die Gefahren der Katholizität der Kirche zu schützen,
bis auf den heutigen Tag. Die Neigung, im Protestantismus
8
— 34 —
einen Vorstoss fUr die vollkommene Befreiung der Geister
zu erblicken, muss aufgegeben werden. Wenn heute ein
Land diesem Ziel nahesteht, so ist es Frankreich, „die
älteste Tochter der Kirche«.
Ein höherer Ruhm Frankreichs, als der zweifelhafte
seiner Revolution, ist: zuerst das moderne zentripetale
Prinzip in der nationalen Entwicklung erkannt und ver-
wirklicht zu haben. Als das moderne Land par excellence,
erkennt es als seinen natürlichen Feind das alte reaktionäre
Kaisertum, dessen utopistischer Traum einer Weltmonarchie
zum letztenmal mit Karl V. gedroht hatte. Das sahen
die französischen Könige schon vor Richelieu und zögerten
nicht, in den protestantischen Fürsten Deutschlands ihre
natürlichen Bundesgenossen zu sehen, denn es handelte
sich um Politik, nicht um Theologie. Leider starb Richelieu
im Augenblick, als der Kaiser jenen Dominikaner sandte,
der ihm ins Gewissen reden sollte, weil er deutsche und
schottische Ketzer unterstützte. Schade, dass die Mensch-
heit um den Dialog zwischen dem Dominikaner und
dem Kardinal gekommen ist; man sollte ihn noch
erfinden.
Wenn man von einer Dekadenz in Frankreich sprechen
will, so muss man ihren Beginn in dem prahlerischen,
der Provinz ihr Blut entsaugenden, zentralisierenden Ab-
solutismus suchen, zu dessen Ausbau Ludwig XIV. die
Basis des Richelieu'schen Werkes benutzte. Von jetzt
ab bekommt die französische Kultur jene, zwar glänzende,
Einseitigkeit, die sie trotz der Revolution, trotz der Ro-
mantik, trotz dem modernen Geist bis heute oft so be-
— 35 —
grenzt erscheinen lässt in Sitten, Sprache und Kunst.
Ludwig XIV. verhindert die allseitige moderne Ent-
wicklung — wie sie sich rapid in England vollzieht — ,
indem er, statt den realen Bedürfnissen seines modernen
Landes mit moderner Sachlichkeit zu dienen, einem
Phantom imaginärer „Grösse" nachjagt, den reaktionären,
mittelalterlichen Traum einer Universalmonarchie nach
habsburgischem Muster nur mit jüngerer Kraft zu ver-
wirklichen strebt. Immerhin: wenn einmal die materiellen
Grundlagen gelegt, und aus ihnen, ohne Beihilfe ideo-
logischer Blasebälge, das Nationalgefühl gewachsen und
reif geworden ist, erträgt ein Volk ein nicht abzu-
schätzendes Mass von Wahnsinn, Gewalt und Willkür.
Mag nun geschehen, was will: die französische Kultur
ist seit Richelieus formendem Werk nicht mehr in Frage
zu stellen. Was geschieht, ist schlecht: Ludwigs XIV.
resultatlose Raubkriege und die Aufhebung des Edikts
von Nantes, Ludwig XV. Missregierung, die von Pedanten
und Henkern geführte Revolution, das Napol^onische
Abenteuer, die dumme Restauration, das dümmere Juli-
königtum, die Halbheit des zweiten Kaiserreiches, das an-
fängliche Revanchegeschrei der dritten Republik: aber die
französische Kultur wurzelt zu tief, sie trägt weiter Frucht
und treibt neue Blüten.
Seit Ludwig XIV. treten die bekannten unsympathischen
Eigenschaften Frankreichs hervor, über die Europa einig
ist: vor allem diese ein wenig lächerliche „gloire**, die
wahrer Grösse im Grund widerspricht, die selbst Napoleon
gegenüber das Urteil so schwankend macht Seit Richelieu
hat Frankreich eine Reihe sehr bemerkenswerter Männer
der Tat hervorgebracht, aber keinen mehr von einwand-
freier Grösse, keinen Pitt, keinen Bismarck, keinen Cavour.
8*
— 36 —
Fast überall erscheinen persönliche Triebfedern, Eitelkeit
und Egoismus un verhältnismässig stärker, als die
Eingenommenheit für die grosse Sache. Das mag
die Folge des Absolutismus sein, der keine grosse
Sache ausser sich duldet. Ihm dienen ist aber kläglicher
Hofdienst.
Wenn wir oft den Fehler begehen, die ideale
Strebungf nicht den von Kraft bedienten Tatsachen-
sinn zum Masstab der Grösse zu machen, so ver-
wechseln die Franzosen, leicht geblendet, Bedeutung mit
Glanz.
Das Zeitalter Ludwigs XIV. zeigt zwar die bisher
glänzendsten Siege der französischen Waffen, aber Frank-
reichs wahrhaft heroisches Zeitalter sind die Jahrzehnte
Heinrichs IV. und Richelieus, deren Werke Ludwig er-
schüttert. Und sein eigenes Werk? Es ist vollkommen
gescheitert, schneller verblichen als der ephemere Glanz
Napoleons, dessen moderner Emporkömmlingsgeist manches
Gescheite für alle Zukunft geordnet hinterliess und mancher
antiquierten Dummheit für immer die Wiederkehr ab-
sperrte. Aber seit Ludwig XIV. ist der französische
Nationalgeist durch starkes geistiges Leben so geklärt,
so dicht und rein geworden, ja so zäh, dass er nur
jüdischem und griechischem Geist an Bestimmtheit ver-
glichen werden kann. Selbst das Netz der englischen
Kultur, so weit es auch reicht, ist dünner und weit-
maschiger. Dieser Geist wird sein Teil an der Welt-
herrschaft behaupten, auch falls Frankreich einmal zu
einer politischen Bedeutungslosigkeit wie die römische
Provinz Achaia herabsinken sollte.
Dass unter der korrekten Göttlichkeit der Versailler
Zwänge das sinnlich-sensible Frankreich nicht erstickt ist.
— 37 -
fahlte man schon in der R^gence und gar in der 2. Hälfte
des 18. Jahrhunderts, als man, aus den Oberhellen Spiegel-
gallerien fliehend, in zierlichen Kabinetten zusammen-
rückte und einem Dichter applaudierte, der wieder zu
sagen wagt:
„ä ce que nous sentons, que fait ce que nous
sommes."*)
*) Piron, la m^tromanie.
3« Die nsoci^t^ polie^' und der
Klassizismus.^)
Der Rhetor ist nicht der Indivi-
dualist .... er vertritt . . die An-
schauung im Zeitalter Ludwig XIV.
Wenn etwas sehr gross ist, so
nennt er es unendlich, und das Un-
endliche wiederum ist ihm eben nur
sehr gross. Das sehr kleine sieht er
nicht mehr, das ist für ihn einfach
nicht da, der Rhetor versteht, es zu
unterschlagen.
Da er ganz genau weiss, wo er
anzufangen und aufzuhören habe, und
im Besitze des Masses Uebemommenes
nur zu erweitern und zu beschränken
hat, so ist es seine Tugend und Natur,
auf die Gegenwart zu wirken
Nur eines wird dem Rhetor nicht ge-
lingen: die Revolution zu überleben.
Rud. Kassner, Denis Diderot
Wer die ganze Holdheit altfranzOsischer Geselischafts-
Sitten kennen lernen will, der lese die „Princesse de
Clöves'' der Mme de La Fayette, das früheste Buch der
*) Ehe ich von der Einwirkung des modernen Geistes auf
das alte Frankreich spreche, muss ich an die HauptzQge jenes
alten Frankreichs erinnern, wie sie sich in seiner Gesellschaft
und ihren revolutionären Vemichtem zeigen. Ich verweise auf
die definitive Darstellung Taines, der ich in diesem und dem
nächsten Abschnitt vieles entnehme. (Les Origines de la France
contemporaine, I, II, HI, IV. Hachette. Paris 1904.)
- 39 -
Weltliteratur, das im heutigen Sinne als ein Roman gelten
kann. Mitten in dem Glanz eines galaitten und ritter-
liehen, noch nicht überreizten Hoflebens, zwischen den
eifersüchtigen Intriguen zweier Königinnen, der Catherine
de Mädicis und der Maria Stuart, blüht die lieblichste,
wahrhaftigste Liebe zweier vollendeter Mensehen, bald
gehindert, bald gefördert durch die kleinen Vorfälle des
Alltags, die dadurch zur Bedeutung von wesentlichen
Symbolen gelangen. Keine Romantik, keine Rhetorik,
aber viel Psychologie und selbst so etwas wie Stimmung.
Die Enkel dieser Art Menschen finden wir in Choderlos
de Laclos' Meisterroman: Les liaisons dangefeuses reif
zum Untergang durch die Revolution. Aus der blühenden
Lieblichkeit ist eine herbe Liebenswürdigkeit geworden,
aus der Kraft Tollkühnheit, aus der Liebe Verführung,
aus holdem Geplauder und mutwilliger Galanterie ein
berechnendes Schachspiel mit den Gefühlen, das der
frostige „ennui" eingibt.
Die Franzosen haben das Gleichgewicht im 18. Jahr-
hundert verloren, und darum ist ihre klassische Kultur
gestürzt. Das hindert nicht, sie mit Vergnügen zu be-
trachten. Man hat das Funktionelle und Mechanische
solange übersehen, bis es nicht mehr funktionierte und
zusammenfiel. Zwar hat die Gesellschaft des 18. Jahr-
hunderts Politik und soziale Angelegenheiten gern be-
sprochen, aber niemals ernsthaft oder gar fanatisch, sondern
als Gegenstand angenehmer Plauderei. Man gab sich
durchaus der Fiktion hin, als könne eine Tafel ohne Küche,
die Gesellschaft ohne den sozialen Mechanismus bestehen,
so wie es unhöflich ist, die Zwänge seines Körpers um-
ständlich zu erörtern. Jede gesellschaftliche Kultur setzt
aber irgend eine Form von Aufsicht bedürfender Sklaverei
— 40 —
voraus, dufch die, mehr oder weniger verborgen, die
niederen Funktionen erfOllt werden.
Ludwig XVI., der sich ernstlich den Funktionen des
Staates, besonders der Verwaltung und den Finanzen zu-
wenden wollte, wurde vom Hof bourgeois gefunden.*) Nie-
mand kannte die Lage seiner materiellen Verhältnisse, dafQr
hatte man seinen Intendanten. Als der KOnig einen
Adligen vorwurfsvoll fragt: „Ich höre, Sie ruinieren sich?"
erhält er die Antwort: „Ich werde meinen Intendanten
fragen und dann Seiner Majestät Bericht erstatten.*)
Der König soll vor allem „homme du monde" sein, der
Hof ist der erste Salon des Landes. Dieser ,monde'
scheint wirklich die Welt, alles passt sich seinen Formen
an, selbst die Statuen im Park von Versailles. ,Les
dieux memes sont de leur monde."*) Jede etwas zu stark
hervortretende Empfindung macht lächerlich, ist ein
„a parte.'' Ein adliges Leben darf nicht auffallen, muss
sich dem Rahmen einordnen. Das schlimmste ist, eine
„espfece" zu sein. Ein Mann, der seine Frau in den
Armen ihres Liebhabers findet, macht ihr Vorwürfe über
ihre — Unvorsichtigkeit: „Denken Sie doch, Madame,
so gut wie ich hätte Sie wohl auch ein Fremder über-
raschen können."*) Die wahre Sonne dieser Zeit ist
die Kerzenhelle, und ihre höchste Tugend ist die Liebens-
würdigkeit. An moralkritischen Psychologen fehlt es
nicht. .Seit einiger Zeit", sagt Duclos**) „genügt es
nicht mehr, umgänglich (sociable) zu sein, man ist
liebenswürdig (aimable)." Der Liebenswürdige „brennt
darauf, allen Gesellschaften zu gefallen'' und ist stets
*) cf. Taine, Livre 11, chap. i, Livre III, chap. 2.
♦*) Duclos, consid^rations sur les moeurs Vni.
— 41 —
bereit, ^jeden Einzelnen zu opfern; er liebt niemand,
wird von niemand geliebt, gefällt allen und wird oft von
denselben Leuten verachtet und gesucht." „Der liebens-
wardigste Mensch ist oft der Unwürdigste, geliebt zu
werden." Aehnlich spricht Vauvenargues*): Was sehr
viele Frauen einen liebenswürdigen Menschen nennen,
„ist ein Mensch, den Niemand liebt, der selbst nur sich
und sein Vergnügen liebt", „welcher die Dinge niemals
um ihrer selbst willen schätzt und sucht, sondern nur
weil er sie sehr geschätzt glaubt". Er warnt davor,
„jenen kleinen Kreis übermütiger Leute, welche selbst
den Rest der Menschheit für nichts achten", für die Ge-
sellschaft zu halten.
Die Verachtung aller Tatsächlichkeit gibt auch dem
Stil der Sprache sein Gepräge. Im Gegensatz zu Ari-
stoteles, der den konkreten Ausdruck als Notwendigkeit
zur Klarheit erkennt, empfiehlt Buffon in seiner berühmten
Akademierede über den Stil, „die Dinge mit den allge-
meinsten Ausdrücken zu nennen." Er kann sich damit
freilich nicht auf die Meister des vergangenen Jahr-
hunderts berufen. Pascal verlacht die, welche „die
Natur verkleiden" und statt König „der erhabene Herr-
scher*, statt Paris, „die Hauptstadt des Königsreiches"
sagen. Du Belloy dagegen, um auszudrücken, dass es
in Calais während der Belagerung keinen Hund mehr zu
essen gab, sagt in Versen: „Die niedrigste Nahrung, der
Ausschuss des Elends, der dennoch in der letzten Ver-
zweiflung eine grässliche und teure Hilfsquelle ist, die
verehrungswürdige Stütze der Treue wird dem reichlich
*) Vauvenargues, conseils a un jeune homme II.
— 42 —
gespendeten Golde des wohlhabenden Borgers versagt.*)
Button selbst hat nichtsdestoweniger in seiner Natur-
geschichte die anschaulichsten Seiten; seine Grundsätze
wurden auch nicht allgemein befolgt. Immerhin fflhrt
Taine an, verstiess ein Autor gegen den guten Ton, als
er sich in einer Akademierede zu Worten wie „coiffure'
und »voiture'' herabliess. Der Vater dieses Stils, der
einen Orangenhain „ein von wohlriechenden Bäumen er-
fülltes Boskett'' nennt, dürfte F^n^lon sein; wenn wir
diesen Stil auch meist als pseudoklassisch erkannten, so
hat er doch oft unsere klassische Literatur beeinflusst**),
und selbst Goethe ist, trotz seiner starken Bildlichkeit,
sein ganzes Leben lang nie völlig davon frei ge-
worden. Die vielleicht unaristokratische Sachlichkeit des
19. Jahrhunderts will, wieder mit Aristoteles einig, das
gerade Gegenteil. Viktor Hugo sagt: „Ich nannte das
Schwein bei seinem Namen. Warum nicht?" Die far-
bige Plastik eines Theophil Gautier wurde als barbarisch
verschrieen von denen, die das alle Umrisse verwischende
Grau liebten, aller Exaktheit, allem Auf-den-Grund-gehen
feind. Der letzte bedeutende Verfechter jenes unrealisti-
schen Akademismus ist der blinde Ideologe Robespierre,
der glücklich war, wenn er allgemeine Redensarten vor-
tragen durfte. Wie weit ist er von dem modernen Geist
entfernt, der sich bereits in der Enzyklopädie anzeigt,
besonders in dem sachlichen Diderot, dem Voriäufer des
19. Jahrhunderts. Ehe Diderot die Beschreibung der
*) Buffon, discours sur le stile, ed. annot^e par Gg. Nicolas.
S. 36. Paris, Garnier.
*♦) „Der fröhliche Chor, der auf den Aesten sich wiegt."
(SchiUer).
I
i'
— 43 —
mechanischen Gewerbe begann, erzählt d'Alembert ver-
wunderty ^habe er ganze Tage in den Werkstätten zuge-
bracht und selbst Hand angelegt''. Aehnlich den Sophisten,
die der klassische Plato bekämpft, verstand er selbst
I mehrere Gewerbe, wie die Leinwand- und Seideweberei,
die Strumpf- und Samtwirkerei u. a.
Jeder gut angelegte Organismus erreicht eine Periode,
in der seine jugendlich-sinnliche Kraft ungeschwächt neben
den Wahl- und Ordnungsinstinkten des reifen Alters bestehen
kann. Fflr die alte französische Kultur bezeichnen die
Namen Lafontaines und Moli^res diese Epoche, Moliöres,
dessen Seele „rund war wie ein Apfel" (J, Lemaltre).
Rabelais ist ein saftiger, wilder Spross, eine „.Renaissance
ohne Schönheit"*), Voltaire ist der inventarisierende Greis,
den man sich trotz den erhaltenen Bildern im Musäe Car-
navalet gar nicht jung vorstellen kann und mag. Wer
im 18. Jahrhundert Kraft und Farbe hat, Diderot, R^tif
de la Bretonne, Beaumarchais, Choderlos de Laclos,
Chamfort — wir müssen auch den Marquis de Sade mit-
nennen — wendet sich bewusst von jener grau ge-
wordenen Kultur einem neuen, bunt realistischen Zeit-
alter zu; diese Geister sind es, die das 18. Jahrhundert
so farbig machen und für uns fast interessanter als das
siebzehnte.
♦
Die Grösse des „ancien regime" schildert, ein wenig
wider Willen, Montesquieu in seinem „Esprit des lois*
(IV, 2): „Die Triebfeder alles Handelns ist die Ehre, sie
gebietet, den Tugenden eine gewisse .noblesse", den
Sitten eine gewisse „franchise", den Formen eine gewisse
*) Jakob Burkhardt, Kultur der Renaissance II, 155.
— 44 —
Höflichkeit zu verleihen. Die wertvollen Handlungen
werden weniger gut, gerecht oder vernünftig genannt, als
schön, gross und ausserordentlich." Vor allem bemerkt
Montesquieu den Widerspruch zwischen den Verpflich-
tungen der Religion und denen der Gesellschaft, welchen
die Alten nicht kannten (IV, 5). Der antike Jüngling da-
gegen, fügt Voltaire in seinen Anmerkungen hinzu, „sah
sich umgeben von Göttern, welche seine Gaben und
Wünsche unterstützten*. Aber seine .noblesse", seine
„franchise*", vor allem seine Höflichkeit ermöglichen dem
„honnSte homme**, mit der Kirche und ihren, damals
meist durch dieselben Eigenschaften gezierten, Vertretern
lächelnd auszukommen. Wenn die Vernunft des 18. Jahr-
hunderts diese „Hypokrisie" als Argument gegen das
Christentum betrachtete, so dürfen wir in diesem Gleich-
gewichthalten heute wieder lächelnd einen der reizvollsten
Vorzüge jener Kultur erblicken.
Taine, der in der alten Höflichkeit mehr als eine
äussere Manier, sondern vor allem den feinen Respekt
vor fremder Menschlichkeit erkennt, schildert den Menschen,
den die höfische Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts
in Frankreich hervorgebracht hat, in seinen „origines* (II, 1).
Ich versuche eine Uebersetzung: „Sie alle sind vollendete
Menschen der Gesellschaft, mit aller Grazie geschmückt,
die Rasse,, Erziehung, Vermögen, Müsse und Uebung
geben können; in ihrer Art sind sie vollkommen. Keine
Toilette, kein Ausdruck, kein Klang der Stimme, keine
Redewendung, die nicht ein Meisterwerk gesellschaftlicher
Kultur wären, die destillierte Quintessenz des Erlesensten,
was die Kunst der Gesellschaft hervorbringen kann.
Hunderttausend Rosen, sagt man, sind nötig, um eine
Unze jener einzigen Essenz zu machen, deren sich die
— 45 ~
persischen Könige bedienen; so ist dieser Salon ein enges
Fläschchen aus Gold und Krystall; es birgt den Gehalt
einer menschlichen Vegetation. Um es zu füllen, war
zuerst nötig, dass ein grosser Adel, in ein Treibhaus ver-
pflanzt, von jetzt ab unfruchtbar nur noch Blüten trieb;
femer, dass sich in einem königlichen Destillierkolben
sein ganzer geläuterter Saft in einige Tropfen Wohlgeruch
verdichtete. Der Preis ist ungeheuerlich, aber zu diesem
Preis stellt man die ganz feinen Wohlgerüche her."
Die enge Vollkommenheit dieser Klassik ist nicht nur
ein französisches Werk, sie ist auch innerhalb des fran-
zösischen Kulturrahmens bis heute das bestimmteste
Element geblieben. Die im 18. Jahrhundert beginnende
moderne Weltbetrachtung hat, durch die Revolution und
die Romantik vergröbert und verwirrt, auch in Frankreich
noch keine, den Formen des »ancien regime" ähnliche
Festigkeit und Klarheit erlangt.
Ich betone die Worte: die enge Vollkommenheit der
französischen Klassik. Unsere Klassik ist weiter, aber
unvollkommener, vor allem weniger rein: sie ist ein
Drittel romantisch, und in Goethe schon ein Drittel
modern. Sie besitzt den Franzosen gegenüber in Herder
die suchende und umfassendere Sehnsucht nach gewissen
von der französischen Klassik weg konstruierten, nicht in
ihr System passenden Ursprünglichkeiten, in Lessing die
unbeirrtere Kritik der Spätergekommenen, in Goethe zu
guten Stunden den Positivismus des ganz auf die selbst-
erlebten und geprüften Tatsachen Gestellten. Unsere
Klassik ist jugendlicher als die französische, d. h. gerade
ihre Vorzüge sind unklassisch, mehr romantisch und modern.
Die Franzosen dagegen haben keine eigentliche Romantik
gehabt. Was an Victor Hugo romantisch sein soll, ist uner-
46
träglich. Aber dieser triviale Menschheitspathetiker (Note
19. Jahrhundert), dieser apokalyptische Journalist, dieser
„Hansnarr auf Pathmos", kurz dieser; Ochse unter den
Poeten, besitzt eine moderne Anschauungsunmittelbarkeit,
ein sinnliches Gefühl für das Fleisch der Sprache, die ihn
in den von seiner Dummheit unbewachten Augenblicken
zum ersten modernen Dichter machen.
4. Revolution und Doktrin."^)
„Mag das Land untergehen, die Prinzipien bleiben."
(Zeitungsphrase aus der Revolutionszeit).
Es war nichts leichter, als die Schäden des ,»ancien
regime *" nachzuweisen: eine Weide für unschöpferische
Geister, die in Fülle abstrakte Systeme neuer Gesellschafts-
ordnungen ersannen, wähnend, man könne die Ent-
wicklung an einem von ihrem Hirn festgesetzten Punkt
neu beginnen.
Taine zeigt, wessen der doktrinäre Pedant fähig ist,
wenn, wozu er meist nicht kommt, seiner Gewaltsamkeit,
seiner Bekehrungswut, seinem Despotismus freies Spiel
gelassen wird. In jedem Schulmeister schläft ein Henker:
Robespierre.
Taine nennt ihn die trockene Frucht des klassischen
Geistes**). Er ist nicht ohne Kultur, aber er missversteht
diese Kultur wie ein Schulmeister die Antike. Wer
glaubt, dass das Leben „falsch", eine Formel „richtig"
*) Vgl. die Titelanmerkung zu dem vorigen Abschnitt.
•♦) Taine, Origines VH, Livrc IH.
— 47 —
sein kann, muss notgedrungen das „falsche" Leben zer-
stören, ihm die richtige Formel applizieren wollen; anders
raisonierende Köpfe schlägt er ab, wenn er Gelegenheit
hat — die „gute" Sache wilFs. Robespierre rast nicht*)
wie Marat oder Saint-Just. Er gibt sich tadellos, fast
elegant, sein Stil hält sich in den klassischen Allgemein-
heiten des Schulaufsatzes; er sieht nichts wirkliches und
liebt abstrakte Sentenzen. Er hat die platte Rhetoren-
eitelkeit: reden, um jeden Preis reden dürfen! Sonst ist
er dem Leben gegentiber anspruchslos, 'geradezu be-
scheiden und nüchtern. Taine meint*), ohne die Re-
volution wäre Marat ins Tollhaus gekommen, Danton
hätte Freibeuter, Robespierre moralisierender Philanthrop
werden können. Besonders charakteristisch schien mir
immer, dass er als Kind ein Musterschüler war. Wer
hätte nicht als Knabe solche kleinen tugendhaften an-
geberischen Robespierre im Ei gekannt! Ueberall wittert
er Verschwörungen und Intriganten. Leute, die gut
speisen, scheinen ihm von Lastern erfüllt. Robespierre
verkörpert den „Ernst" in seiner ganzen starren Scheuss-
lichkeit. Er versteht keinen Spass und guillotiniert die,
welche seine Phrasen bewitzeln. Er ist neidisch, kann
keinen Grossen neben sich sehen: der durch die Ver-
hältnisse ins Monströse getriebene Schulfuchs.
Hinter ihm steht Jean-Jacques Rousseau, sein Meister,
der Theoretiker der Barbaren, der Systematiker der Nicht-
mitkommenden, der Trost aller, die nichts zu wahren
haben, der in seinen Instinkten vollkommen christia-
nisierte Bekämpfer christlicher Dogmen. Sein Gesell-
schaftsvertrag will einen aus dem Stegreif erfundenen
*) Taine VII, UI.
— 48 —
Automaten an Stelle des langsam in der Geschichte
geformten Menschen stellen (Taine), — im Namen der
Vernunft! Von ihm stammt jene Theorie, dass ,,wir
Wilde doch bessere Menschen^ sind; ein Balsam für
alle der Kultur Unfähigen; freilich auch ein angenehmer
Kitzel für die ganz Kultivierten. Welchen Wert aber hat
die Gesellschaftskritik dessen, den die Gesellschaft ver-
wirrt? ^Die einzige respektable Klasse ist die, welche
arbeitet ** Rousseau kann nämlich arbeiten. Der Mass
des Plebejers spricht aus seinen wohlgebauten Sätzen.
Wieviel schärfer treffen die Pfeile des grossartigen La
Rochefoucauld, des zarten Vauvenargues, des pikanten
Diderot, des bitteren Chamfort Lächerlichkeiten und Leer-
heiten jener zerbröckelnden ^soci^tä polie'S ohne dass
dadurch der Wert eines höheren, verwickeiteren Lebens
selbst in Frage gestellt wird. Wieviel überzeugender ist
Montesquieu, „qui fait couler doucement les pr^jug^s'%
wobei es nicht an Stössen von aussergewöhnlicher Kraft
fehlt. J. J. Rousseaus Ideal der Einfachheit und Natür-
lichkeit ist das tyrannische Ideal kleiner Leute, die, weil
für sie „Raum in der kleinsten Hütte ist'S jeden Palast
zerstören möchten und gerade dadurch ihre verlogene
Unzufriedenheit mit ihrer Hütte und ihren Neid gegenüber
dem Palast beweisen.
Taine sagt angesichts der Aufklärung, die den Natur-
zustand der Menschheit als das Vernünftigste preist: „die
Natur ist nicht vernünftig, der Mensch ist von Natur toll,
der Körper ist von Natur krank. Gesundheit ist „un
bei accident!" Die Vernunft ist eine späte und gebrech-
liche Errungenschaft der Seele.
- 49 -
5« Moderner Qeist in Prankreich«
Nach der Gefangennahme Napoleons III. soll Moltke
auf die Frage, gegen wen der Krieg noch weiter geführt
werde, geantwortet haben : gegen Louis XIV. Die glänzende
Erinnerung an das „ancien regime** war durch ein Jahr-
hundert dilettierender Politik nicht verdunkelt worden und
Hess die Franzosen lange Zeit die politische Welt durch
die Brille der Vergangenheit sehen. Ihre Niederiage hat
sie an die Wirklichkeit gemahnt; die sich festigende Re-
publik scheint, gleich England und Italien, mehr und mehr
in die Bahnen modern sachlicher Geschäftsführung ein-
zulenken und alles vermeiden zu wollen, was an die Ge-
pflogenheiten fauler Firmen erinnert: eine den Konkurrenten
ärgernde patriotische Lärmreklame ebenso sehr, als den
Nachbar erschreckende Abenteurerpolitik. Dennoch lebt
der Geist des ancien regime in Frankreich mehr als sonst-
wo im europäischen Westen; ein Teil des französischen
Lebens ist Rokoko geblieben.
In den klassischen Bau des ancien regime hat be-
kanntlich schon die Kritik des 18. Jahrhunderts tiefe
Breschen gelegt. Bonapartes berühmter Ideologenhass
tat ein Uebriges: Frankreich wird noch einmal das moderne
Land par excellence, nachdem es gerade das zerstört
hatte, wodurch es bisher Europa fascinierte: den aristo-
kratischen Lebensstil. Als wäre die gesunkene Sonne
von Versailles eine verzehrende Wüstensonne gewesen,
atmet das Land auf und sendet eine langgehemmte Blüte
empor. Frankreich hat wieder wirkliche Lyriker — zwischen
der vorklassischen Dichterplejade und Andr^ Ch^nier,
unter der Herrschaft Malherbescher und Boileauscher
Doktrinen ist nicht Einer zu entdecken. Frankreich
- 50 —
tritt das Erbe der unakademischen modernen Malerei
von den Holländern und Engländern an; es schafft
die moderne realistische Prosa und trägt dadurch vor
allen Ländern zum Bewusstwerden und zur Klärung des
ß i modernen Lebens bei, indem sich sein altes moralkritisches
H\ I Genie mehr und mehr durch psychologische Analyse ver-
T(^^ 's ' jungt. Langsam entwölkt sich der Rtlckblick auf das
XM,/AiAvtAl8. Jahrhundert, in welchem man nun mehr als hie welke
<^. ^ Fäulnis, hie nüchterne Vernunftkälte unterscheidet, sondern
^v>* von einem neuen Lebensaspekt verwunderte Augen, in
^ neuen Schauern zitternde Nerven, in neue Probleme ver-
strickte Geister, kurz moderne Sehnsüchte und Ziele erkennt,
die durch die Vulgarisierung der Revolution unkenntlich ge-
worden waren. Das Beste, was sich von diesem neuen
französischen Geist sagen lässt, ist, dass er zwar in französi-
scher Erde wurzelt, von französischen Verhältnissen be-
dingt ist, sich aber bereitwillig mit allen fremden Kulturen
auseinandersetzt, ihre Resultate erwägt, mindestens zu
begreifen sucht, selten ganz abweist. Das macht ihn für
Europa wertvoll, und zwar für Europas wahre Bedürfnisse,
während das knapp auf Versailles und Paris zugeschnittene
Gewand des 17. und 18. Jahrhunderts zwar die Eitelkeit
der Fremden stark anlockte, sie aber zu Hanswürsten
werden Hiess.
Ob der moderne Geist in Europa das Lebensgefühl
intensiver macht, ob seine sehr fühlbaren Verwüstungen
Uebergangserscheinungen sind, welchen endgiltigen Er-
scheinungen sie Platz machen, werden wir um so schneller
erfahren, als wir diesem Geist seinen Ausdruck ermög-
lichen. Es ist gleich bedenklich, ihn aus ideologischer
Voreingenommenheit zu hemmen, als ihn, durch veraltete
Rhetorik entstellt, zum Glaubensartikel zu erheben.
— 51 —
Die Moderne ist international wie das lateinredende
Mittelalter, mit dem Unterschied, dass nicht eine offiziell
voraus bestimmte Doktrin alles nationale Leben verdrängt
oder verschlingt, sondern dass das in festen Grenzen ge-
sicherte nationale Leben stündlich den modernen Geist
modifizieren und sublimieren hilft, soweit es sich in Formen
äussert, die über die Landesgrenzen verständlich sind.
Am schwersten, sollte man glauben, sei dies den an die
Sprache gebundenen Literaturwerken, aber wir sehen die
grössten nationalen Schriftsteller unserer Zeit, z. B. Ibsen
und Tolstoi, das grösste internationale Interesse finden,
obwohl gerade sie in wenig bekannten Sprachen schreiben.
Dem abstrakten Weltbürgertum des 18. Jahrhunderts so
fern wie möglich, gewinnen ihre so ortsbedingten modernen
Probleme doch europäisches Interesse, während unsere
Literatur, ausser in „Werther* und .Faust«, selbst in
ihren unbestrittensten Vertretern wie Gottfried Keller kaum
je das deutsche Problem zu einem Weltproblem gemacht
hat und es der Musik überliess, deutsche Fühlweise über
die Landesgrenzen zu verbreiten. Wenn man daher zwar
von einer nationalen Altmodischkeit sprechen kann, so
kann man nicht eigentlich von einer nationalen Moderne
reden, sondern nur von der Art, wie sich der allgemeine
moderne Geist mit einer nationalen Vergangenheit aus-
einandersetzt.
In Skandinavien und Russland ist das Problem ein-
fach, es gibt zwei Lager: die Alten und die Jungen; der
Moderne steht ausgemachter Stumpfsinn oder ausgemachte
Barbarei gegenüber. Deutschland zerfällt in 60 Millionen
Lager, d. h. in ebensoviele als es Einwohner hat. Hundert-
fünfzig Jahre der verschiedenartigsten Kulturunternehmun-
gen, zahlreiche Teilkulturen, wie z. B. die gelehrte und
4*
— 52 —
die musikalische, die Zerrissenheit der politischen Parteien,
die religiöse Spaltung, alles dies macht das Problem der
modernen Weltanschauung bei uns so kompliziert, wie
nirgends: wir haben Reaktionäre mit modernen Schattie-
rungen und Moderne, die der Landeskirche treu bleiben,
wir sehen Verbindungen zwischen Sozialismus und Christen-
tum, zwischen Wissenschaft und Theologie, Freigeisterei
und Mystik. In Frankreich stösst, wie in Russland und
Skandinavien, der moderne Geist auf einen ganz be-
stimmten Gegner; dieser Gegner ist aber kein Barbar,
sondern er ist kultiviert, und er ist, anders als in Deutsch-
/ I land, einheitlich, übersichtlich. Es ist der klassische
Geist des .ancien regime'', der mit adeliger Gebärde
moderne handanlegende SachUchkeit und die unbeirrte
Bekennung zum Wesentlichen für banausisch erklärt.
Deutsche, Engländer, Belgier, Holländer und Skandinavier
können sich daher nicht genug wundern, wie in diesem
modernen Land soziale und technische Einrichtungen und
die schmückenden Gewerbe zurückgeblieben sind, während
politisch, religiös und moralisch, oft mit Grausamkeit gegen
die eigene Vergangenheit, die letzten Konsequenzen einer
Weltanschauung gezogen werden, die modern ist, weil sie
alle Ideologien verschmäht und weil sie sich still und
sachlich ohne die berüchtigte Gallieremphase durchsetzt.
Besonders wundern sich die Fremden, wie in dieser
Republik der allgemeinen Menschenrechte das äussere
Lehen, so weit es nicht grosser Luxus ist, in sich erbärm-
lich bleibt und wie sich der Einzelne oft mit dem Anblick
der freilich bezaubernden Gebärden seiner glücklicheren Um-
gebung begnügt. Ist nun der altmodische Gegner der Moderne
in Deutschland durch seine vielfachen, liberalen, ihn mas-
kierenden Konzessionen versteckt und gefährlich, so liegt
— 53 —
die Macht des alten französischen Geistes in seiner Kunst,
zu schmeicheln und zu verführen. Die Lebensfreude hat
in Frankreich seit alters eine graziöse und geschmackvolle,
ja künstlerische Tradition, während bei uns noch in den
siebziger und achtziger Jahren auch der Wohlhabende nur
schwer zu verfeinertem Genüsse desäusseren Lebens kommen
konnte, wenn er innerhalb deutscher Formen blieb: er
stiess sich an altmodischen Sitten und Anschauungen.
Darum ist bei uns ein neuer Lebensstil, eine weitere
Moral, eine Veränderung aller Formen so dringend not-
wendig geworden, während sich in Frankreich auch alt-
modisch mit Freiheit und Anmut leben lässt. Wer aber
ein neues Haus errichtet, gibt viel radikaleren Erwägungen
Raum, fasst viel umfassendere Möglichkeiten ins Auge,
als jemand, der nur einen neuen Flügel anbaut.
Darum beschäftigen die modernen Probleme uns viel
mehr, als unsere in weiteren Konventionen glücklichen
Nachbarn.
Bei unserem Neubau hemmt uns nicht ein nationaler
Stil, eher nationale Stillosigkeit. Während wir eine un-
disziplinierte, kampfunlustige Masse in gelegentlichen
Scharmützeln eines lästigen Buschkriegs zu bekämpfen
haben, steht in Frankreich der Moderne ein taktisch
sicherer, bewusster Gegner gegenüber: die sehr weite,
aber sehr feste gesellschaftliche Moral, gegen die zwar
im Prinzip schwerer aufzukommen ist, die sich in zäher
Seelenruhe belagern lässt, aber im Einzelfall kluge Waffen-
stillstände schliesst und zu verstehen gibt, dass man mit
ihr leben kann.
Wenn man heute je hundert Franzosen und hundert
Deutsche auf zwei einsamen Inseln von gleicher Be-
schaffenheit ansiedelte, ich glaube, die heutigen Franzosen
— 54 —
gäben selbst zu, dass die heutigen Deutschen kraft ihrer
ungebrochenen TQchtigIceit in zehn Jahren mehr aus ihrem
Land machen würden. Wären aber auf diesen Inseln
erst fremde Bewohner zu bemeistem oder zu besänftigen,
so würden in derselben Zeit auf der einen ebensoviele
Anhänger der französischen Kultur gewonnen sein, als
auf der andern Deutschenhasser entstanden wären. Die
Franzosen besassen stets die Fähigkeit, ihren Geist so zu
formulieren, dass die andern Völker etwas damit anfangen
konnten. Darum sind sie, stets das moderne Volk, auch
zur überzeugenden Formulierung der heutigen Moderne so
besonders fähig, selbst, falls sich ihre ausdauernde Tüchtig-
keit erschöpft; darum ist ihnen aber auch das Neue nicht
so dringend nötig als den noch unverstandeneren und
ungeformteren Völkern, die es damit eiliger haben.
Sie können sich mit Recht ihrer durchaus nicht ver-
staubten, blanken Kulturerbschaft rühmen; aber sie haben
diese Erbschaft nicht sub beneficio inventarii angetreten,
sie erbten Domänen, deren Unterhalt oft ihren Ertrag
aufzehrt, sie müssen manche Baugelände versteuern, die
ihnen nichts einbringen; aber €in dunkler und zäher
Besitzinstinkt hindert sie, dies unfruchtbare Eigentum ab-
zustossen.
Wenn der moderne Unabhängigkeitstrieb den Einzelnen
aus einer grossen häuslichen Gemeinschaft treibt, in der
er als Sohn, Angestellter oder Dienstbote Teil eines
Ganzen war, wenn er ihn in das moderne Grossstadt-
miethaus drängt, wo er frei als Individuum^ als unbe-
stimmtes Atom einer anonymen Menge, Wand an Wand
mit dieser Menge lebt, so ist das eine sehr moderne Er-
scheinung, aber durchaus kein modernes Ziel. Das Streben
•'
- 55 —
geht weiter, es geht wieder nach der häuslichen Gemein-
schaft, nur mit dem Unterschied, dass sie kleiner ist,
dass man selbst Herr darin sein will, um sein individuelles
Leben möglichst restlos auszugestalten. Diese moderne
Tendenz nach restloser Ausgestaltung des individuellen
Lebens bedarf eigentlich des eigenen Hauses für jeden.
Um unsere Grossstädte legen sich Gürtel von kleinen und
kleinsten Landhäusern, von denen die meisten ein selbst-
ständiges selbstgeregeltes Privatleben umschliessen, das
den Einzelnen entschädigen soll fflr die mechanische
Geistlosigkeit moderner Berufe. Anders in Paris: zwar
ziehen sich wohlhabende Bürger gern in die friedliche
Bannmeile zurück; aber ein überraschend lahmer, schwer-
fälliger Vorortverkehr beweist, dass Beamte, Techniker,
Kaufleute in den grossen Stadtmiethäusern leben. Ich
glaube die Ursache in engem Zusammenhang mit dem
Charakter des Volkes und seiner Einrichtungen zu finden:
Wie der Hellene nach Leuktra und Chaeronea, nach-
dem das Blut alter Gemeinschaften, durch den Boden
bedingter Gruppen, zersetzt war, sucht der moderne
Mensch den Schwerpunkt des Daseins im Privatleben,
für dessen Werte ihn kein Rang, keine Repräsentation
entschädigen kann. Darum wähnt er oft, keiner gesell-
schaftlichen Konventionen zu bedürfen und ist den er-
erbten häufig Feind. Gerade die Besten wandten sich
im späten Hellas vom öffentlichen Leben ab, in dem sie
nicht mehr die persönlichen Befriedigungen finden zu
können glaubten, wie in der alten, unabhängigen Polis.
Nur das Prinzip heimatlicher Selbstverwaltung ver-
mag schöpferischen Naturen das öffentliche Leben reiz-
voll zu machen. Die bureaukrätische Zentralisierung
nimmt der Verwaltungstätigkeit die befriedigende Mög-
— 56 —
lichkeit individueller Betätigung und sucht fOr die geist-
lose Langweiligkeit durch die Prämie eines hohen gesell-
schaftlichen Ranges zu entschädigen. So wird das
öffentliche Leben aus fruchtbarem Wirken eine „Karrifere",
die gerade viele unfruchtbare Geister anzieht. In Deutsch-
land gehen darum oft in unbeirrter Stätigkeit Kaufleute,
Techniker, Gelehrte, Künstler ihrer Arbeit nach, wenig
beschäftigt mit Politik, zu deren öffentlicher Beurteilung
sie sich nur ausnahmsweise qualifiziert glauben. Dafür
sind die, durch die Blicke der Gebildeten nur schlecht
beaufsichtigten, Minister und Diplomaten da, die uns
deshalb in der letzten Zeit unverhofft in so gefährliche
Gewässer steuern konnten. Die Politik, ursprünglich die
einzige nicht banausische Beschäftigung, ist ein zünftiges
Fach „gelernter** Leute geworden, wie das der Schuster,
Brauer oder Fachgelehrten.
Auch in dem ganz zentralisierten Frankreich ist diese
dem Privatleben und der Familie zugekehrte Tendenz heute
fühlbar, aber ihr steht in der Hauptstadt eine stärkere
gegenüber. Die dem Volkscharakter entsprechende, leicht
sich ändernde Politik verheisst viel mehr Individuen ab-
wechselnd die hohe Befriedigung, einmal persönlich und
schöpferisch an der Regierung teilzunehmen und lockt
alle Talente aus der Provinz herbei^ während bei uns
politische Wirksamkeit nichts anderes ist, als die Regierung
sekieren, ohne die Hoffnung, es selbst besser machen zu
dürfen, selbst wenn man das Zeug dazu hat. Da keine
Privilegien bestehen, trägt jeder Student der Rechte, jeder
angehende Journalist ein Ministerportefeuille in der Tasche,
so wie der napoleonische Soldat den Marsch allstab. Dazu
kommt die politische Rolle, welche die Opposition spielt;
Parlament und Presse sind wirklich Mächte, an ihren
— 57 —
regierungsfeindlichen Vertretern haftet kein gesellschaftlicher
Makel. Der bissigste Pamphletist oder Advokat kann
morgen Minister sein. Das lässt keine ideologische
Spekulation aufkommen, die nur in der Tatlosig-
keit gedeiht. Wenn diese Möglichkeiten hauptsächlich
das Strebertum ermutigen, so locken sie doch auch
schöpferische Naturen an, und wir sehen nicht jenes
Dilemma zwischen GesinnungstUchtigkeit und Leistungs-
tfichtigkeit, das in Deutschland bekanntlich so leicht die
Talente in die Opposition treibt, falls sie nicht lieber
— politisch neutral — ihre Kraft dem interessanteren und
fruchtbareren Betrieb einer modernen Bank- oder Industrie-
unternehmung widmen.
Das Privatleben ist daher in Paris immer geringer
geschätzt worden als jn Deutschland, das niemals ein
fruchtbare Naturen verführendes öffentliches Leben besass
und darum frühzeitig die Individualisierung des persön-
lichen Daseins begünstigte. Und wenn auch in Frank-
reich die moderne Wurzellosigkeit der ohne Hoffnung
aus allen Gruppen gelösten Individuen, wenn die unbe-
friedigenden mechanischen oder schablonenhaften Tätig-
keiten ihres Berufs Viele immer resignierter oder fieber-
hafter Entschädigungen im individuellen Familien- und
Liebesleben suchen heissen, so stürzt sich doch ein weit
grösserer Teil der Bevölkerung, wie in Deutschland, in
die Oeffentlichkeit und betrachtet Ehe und oft auch Liebe
als eine konventionelle, dem einen Ziele des Herauf-
kommens dienende Angelegenheit.
Darum ist die französische innere Politik so bewegt,
das öffentliche Leben so reich an wechselnden Gebärden ;
oft kommen bedeutende Köpfe zu Wort. Und so schlecht
meist auch der Geschmack dieser heraufgekommenen
— 58 —
Gerber und Kfifer sein mag, es besteht kein absichtlicher
Gegensatz zwischen der offiziellen und der Gedanken-
welt des Landes.
Das Leben ist an die Hauptstadt gebunden. Keiner
will in den entscheidenden Augenblicken abwesend sein.
Die Strasse und das Cafä vermisst man nicht gern; dazu
kommt vielleicht die Halbwelt, wo man ähnlich, wie einst
am Hofe von Versailles, leicht vergessen wird und nur
durch fortgesetzte persönliche Anwesenheit in Gnade
bleiben kann.
Diese grösseren Aeusserungsmöglichkeiten schützen
gleichzeitig den Franzosen vor gewissen ärgerlichen Ent-
gleisungen. Es fehlen fast ganz jene Wanderprediger,
Kunstmissionare, Naturapostel, Weltverbesserer und Re-
former aller Art, welche die Mittelmässigen verwirren
und renitent machen, dadurch, dass sie irgend eine im
Einzelfall oft richtige moderne Erkenntnis zum Evangelium
pathetisieren und fälschen. Der gute Geschmack empört
sich in Frankreich gegen die Hässlichkeit und sie werden
schnell lächerlich.
Das Leben ist repräsentativer, gesellschaftlicher und
konventioneller geblieben. Während sich unsere feinere
Geselligkeit zu sehr in sich selbst zurückzieht, ästhetisch
wird, entstehen in Frankreich immer wieder grosse Salons,
die sich, wenn auch nicht mehr um Könige oder Prinzen,,
so doch um die Führer politischer, wirtschaftlicher, reli-
giöser, geistiger Gruppen krystallisieren. Alle die Laster
des „ancien regime'' mögen dabei wieder zum Ausdruck
kommen: Protektionswesen , Nepotismus , Frauenein-
mischung und dergleichen. Aber so lange nicht Talent
und Leistung die einzig ausschlaggebenden Gründe zur
Besetzung von wichtigen Aemtern sind, wie es heute
— 59 —
in grossen Privatbetrieben längst Regel ist, so lange
braucht man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen,
was verderbter ist: wenn ein Idiot der Salongunst oder
seiner staatserhaltenden Qesinnungstüchtigkeit eine Stellung
verdankt.
-Und dann hatte ich ein schwarzes
Königreich, das kein Königreich ist: denn
es ist voll von Königen, die wir für
Könige halten und die es verdunkeln
mit ihren Werken und Befehlen. Und
ein dichter Regen benetzt es Tag und
Nacht"
Marcel Scherb, le livre de Monelle.
So wenig objektiv wir zu unserer Zeit stehen, eines
glauben wir zu wissen: sie unterscheidet sich mehr von
allen Epochen zwischen dem Mittelalter und der fran-
zösischen Revolution, als sich diese untereinander unter-
scheiden. Jede Zeit war modern gegenüber einer früheren,
aber heute ist dieser Begriff absoluter, er bedeutet, wenn
nicht eine andere Weltauffassung (davon sind wir weiss
Gott noch fem), so doch eine andere Weltbetrachtung,
den entschiedenen Willen, die letzten Folgen zu ziehen
aus allen den Erfahrungen und Entdeckungen, die seit
der Renaissance die Citadelle mittelalteriicher Ueber-
lieferungen erschüttern, er bedeutet den Entschluss, sich
durch keine Palliative und Kompromisse täuschen zu
lassen.
Seit Napoleon I. ist das zentralisierte Frankreich
noch mehr ein Beamtenstaat wie Deutschland. Das ab-
strakte, unverantwortliche Ungeheuer Staat ist souverän,
die französische Sprache hat, wie Treitschke bemerkt.
/
— 60 —
nicht einmal ein Wort fOr Selbstverwaltung, dagegen haben
die andern Sprachen ihr das Wort „souverän*' entlehnt
Dem Staat dient ein Heer entwurzelter Menschen, die
nirgends heimisch, aberall hin versefebar, an ihre Arbeit
durch kein konkretes Interesse gebunden sind, am wenig-
sten durch Liebe zu der Landschaft, deren Bedarfnissen
ihre Arbeit gerade dient. Taine nennt sie einmal „des
nomades malfaisants' und vergleicht sie den voraber-
gehenden Gästen einer Table d'höte, von denen jeder so
viel verzehrt als er kann. Sie hassen sich gegenseitig,
aufgereizt durch die wechselnden fremden Gesichter,
die sie gezwungen sind, um sich zu ertragen, die dem
eigenen Spiegelbild so fatal ähnlich sind. An einer andern
Tafel sitzen die durch Handel und Industrie Reichen:
kahne Unternehmer, schlaue Händler, träge Erben, ein
formloses Gewimmel in Gewohnheit und Sitte erst halb-
sicherer Typen.
Das unsägliche Elend dieser oft alle Lebenswerte
missverstehenden „Table-d'hötegäste" wohnt in Frank-
reich, dem modernen Land, - spasshaft genug — in
Formen Louis XV. Der Reiche versucht in alten Schlössern
ä la Versailles zu leben, und es versteht sich, dass er die
Kirche statzt.
Auch in Frankreich bargert sich freilich ein gewisser
nordischer und amerikanischer Stil und Komfort ein.
Man fährt auf deutschen Automobilen, spielt Golf, gibt
j five o'clocks zwischen Möbeln modern style, die man
! hasst; aber der wahre französische Stil der grossen Salons,
; Theater und eleganten Restaurants bleibt der Louis-
j quinzestil, sowie nach den dorischen und jonischen Formen
j der korinthische Stil unwandelbar das antike Leben bis
> an sein Ende beherrscht, oft schablonenhaft, albern.
— 61 —
äffisch» aber unwandelbar wie nur das auf tiefen Fun-
damenten Ruhende.
Was haben diese so modernen Table d'hötetypen mit
jener modernen Weltbetrachtung zu tun, die sie unbewusst
notwendig machen ? Wie viele ausser ihren genialsten Ver-
tretern wissen oder ahnen etwas davon? Wie viele bekennen
sich offen dazu? Wie viele schmücken sich noch mit den
Flittem einer durch sie selbst stündlich negierten Zeit?
In Deutschland bestehen die Versuchungen einer
glänzenden Vergangenheit und grossen Oeffentlichkeit
nicht; so können aus den neuen Lebenskonstellationen,
unbeirrter durch formale Ueberlieferungen, neue Formen
werden. Gleichzeitig haben wir, individueller und weniger
gesellschaftlich veranlagt, nicht so sehr das Bedürfnis,
in weithin sichtbaren Formen zu leben, und gerade die
schon ausgesprochen modernen, sachlichen Naturen finden
oft in der bei uns fiberlieferten Einfachheit der Sitten
einen harmonischeren Ausdruck ihrer selbst, als im deko-
rativen ijlanz eines ihnen von Haus aus ungewohnten
Salons; falls sie aber einen Salon brauchen, so besteht
die Neigung, ihn nicht mehr „ancien regime" einzurichten.
Alles dies und eine gewisse angeborene Insichgekehrtheit
dämpft bei uns etwas die allzu rücksichtslose Ausbreitung
der Individuen in den Raum, macht deutsches Strebertum
zu einem harmloseren Bruder des französischen „Arri-
vismus", begünstigt das Ausreifen gewisser Gedanken
im Einzelnen, verzögert aber quietistisch die gesetzliche
und moralische Regelung der praktischen menschlichen
Beziehungen; so konnten wir in den Bestimmungen über
Connubium*) und Commercium**) nicht nur hinter den
*) Siehe die §§ über Ehescheidung im n. b. G.
**) siehe Börsengesetz.
— 62 —
Franzosen zurückbleiben, es ist sogar ein ROckschritt
gegen ein bereits von uns erreichtes Niveau in den letzten
Jahren feststellbar.
Der Unverwüstlichkeit einer glänzenden und zähen,
die Begierden stachelnden gesellschaftlichen Tradition
entspricht in Frankreich eine viel grössere Heftigkeit der
auf stillvollen Lebensgenuss zielenden Instinkte. Eine
Jahrhunderte alte Ueberlieferung hat das Volk erfahren
lassen, was das Leben für den unter die Kerzenhelle
seiner Tafeln Geladenen sein kann. Und da der Genuss
meist künstlerisch verschönt erscheint, regt er zugleich
die . verfeinertsten Instinkte auf. Indem nun Frankreich
das verführerische Gaukelbild eines Grandseigneurlebens
grossen Stils bewahrt, gleichzeitig aber die Schranken
niederreisst, die es früher der Menge verschlossen, wird
eine unerhörte Begehrlichkeit aller gezüchtet. Napoleon IIL
suchte das Volk zu gewinnen, indem er systematisch den
Luxus vulgarisierte, Spiegelcaf^s und purpurgoldne Theater
aus billigem Material in den Faubourgs errichten liess»
Die Bildung neuer Lebenswerte wird verhindert, in-
dem die Trümmer der alten dem allgemeinen Heisshunger
preisgegeben werden. Die modernen Bestrebungen werden
durch reichliche Trinkgelder abgefunden. Aus sozialen
Neugestaltern werden gut gehaltene Lakaien der alten Mode,,
die, falls sie Glück haben, ihre Herren beerben, was be-
quemer ist, als neu zu schaffen: der Emporkömmling
anstatt des modernen Menschen. —
So bietet Frankreich heute das bunteste, fieberhafteste,,
herzzerreissendste und zugleich pathetischste Bild der mo-
dernen, allen Völkern bekannten Lebensunrast. Alle Formen
der Vergangenheit sind trotz ihrer stets neuen Vergoldung
brüchig, alle wirklichen Gruppierungen trotz aller Maske-
— 63 -
raden zerstört. Auch für denMittelmässigen ist ein noch nicht
dagewesenes Mass persönlicher Freiheit möglich. DerSelbst- j >r
ständigkeitstrieb ist grenzenlos. Alle beamtenmässigen
Stellungen mit unbeaufsichtigter Freiheit nach Geschäfts-!
schluss sind überlaufen. Dagegen sind gute Dienstboten
noch schwerer zu erhalten wie bei uns und stellen viel
bedeutendere Ansprüche, obwohl sie sich mit dunkeln
Küchen und Verschlagen zum Schlafen zufrieden geben.
Und dieser Selbständigkeitstrieb ist ganz abstrakt, um
seiner selbstwillen da, ohne eigentliche Betätigungsmög-
lichkeit, ohne Kraft, ohne die Bedienung durch einen
guten Intellekt; oft nur prahlerische Disziplinlosigkeit auf
Grund der allgemeinen Menschenrechte. Man sieht ihn
auf Schritt und Tritt versagen oder sich gegen sich selbst
kehren und Abszesse bilden, die in Form von allerlei
„faits divers' aufbrechen: Mesalliancen, Liebestragödien^
niederträchtige Eheskandale, feige Bankerotte werfen diese
souveränen Individuen grausamer durcheinander, als es
ein legitimer Tyrann könnte. Denker und Betrachter er-
kennen die Trostlosigkeit solchen Daseins, alle Zeitungen^
Romane und Theaterstücke sprechen davon, aber die
Klugen wissen: es geht nicht zurück, man kommt nicht
herum um das Leben, man muss hindurch. Wohin führt
es: in ferne lachende Ebenen oder in den Tod?
Immer und immer wieder vergoldet die alte gallische
Fröhlichkeit dieses Dasein, aber gleichzeitig sucht ein
eisiger „ennui* es mit seinen Leichentüchern zu umhüllen.
Der ,ennui*' ist nicht einfache Langweile, sondern von
Aerger darüber durchtränkte, dass nie was Rechtes ge-
schieht. Wie früher der Weltschmerz, erfüllt er die Seelen
der modernen Dichter, wenigstens der französischen,
Jules Laforgue sagt: «Wenn einem alles zuwider ist^
— 64 —
ausser sich in sich selbst zu verkriechen, an einem Sonn-
tag, und auf das Geräusch der Strasse zu hören, und
wenn man, so in sich selbst verkrochen, nur noch so viel
Leben in sich hat, dass m^n seinen einzigen Gast nicht
ervrxu^i Sieht, nämlich den Tod — das ist der „ennui*. Wirklich,
— an diesen grauen Pariser Nachmittagen mit ihrem faden
Licht kann er zur Besessenheit werden. Er zittert in den
verdriesslichen Frauenstimmen, die scharf aus den Läden
und Buden der Innenstadt dringen, er liegt über den ver-
kniffenen Lippen der Damen, die aus den grossen Geschäften
der rue de la Paix und Rue Royale in die nahen tearooms
eilen, nur schwer weicht er aus den sich langsam ftlllenden
rot und goldnen Theatern und music-halls, und er kauert
wieder im Rinnstein der bläulich sich erhellenden Pariser
Morgenstrassen. In irgend etwas mtissen diese Menschen
gegen den Sinn des Lebens sündigen, sonst könnte nicht
jtuv.4>l das Miasma des eoüui aus allen Ritzen steigen. Es ist
nicht etwa ein Produkt der Grossstadt. Im Gegenteil,
man flieht vielleicht vor ihm in die Grossstadt, denn in
der biederen, sittenreinen Provinz heftet sich das Gespenst
noch zäher in die sauberen, regelmässigen Strassen, um
die aufreizenden öffentlichen Monumente und die un-
tadeligen Bürgerhäuser.
Und dennoch: kaum ertönen in den Pariser Abend-
strassen die zermalmenden Rufe: L'Intransigeant — La
Presse — Paris-Sport, so steigt Festlust in Jedem auf.
^.Ow-r Das Diner ist eine grosse Angelegenheit in Paris. Ob
man in die teuren Restaurants oder in die kleinen volks-
tümlichen Bouillons tritt: der Stil ist derselbe, nur das
Material unterscheidet sich. Zwischen hellen Spiegel-
wänden die diskrete Lustigkeit von Leuten, die sich's
gerne wohl sein lassen, aber daran gewohnt sind und
— 65 —
kein Aufhebens davon machen. Den Mittelpunkt bilden
bunt gekleidete, sieghafte Damen und Dämchen. Es
werden farbige Hors d'oeuvres aufgetragen, dann Fleisch-
und Gemüsegänge, die nach bekannten Persönlichkeiten,
besonders der Diplomatie und der Musik, benannt sind:
Cambacärös, Talleyrand, Meyerbeer, Rossini. Zwei
Desserts, oft in kleinen TOpfchen, Büchsen oder Papillotten
serviert, an Buntheit mit den Hors d'oeuvres wetteifernd.
Zum Schluss der unerlässliche Kaffee, der die Geister des
leichten, prickelnden Weins mit warmen Fluten besänftigt.
Für diese Genüsse zahlt der Eine 22 sous und denkt mit
Musset: qu'importe le flacon, pourvu quMl donne ivresse,
ein anderer lässt sie sich ebensoviel und mehr Franken
kosten.
Ist dieses Leben modern? Als nach der Revolution
die Emigranten zurückkehrten und ihre Besitztümer zer-
stört sahen, waren die berühmten Bankette des 18. Jahr-
hunderts nicht mehr möglich. .Traiteurs*', oft frühere
Küchenchefs in adligen Häusern, begannen Restaurants
zu Offnen, in denen man gegen sofortige Barbezahlung
die alten Tafelfreuden finden konnte. Die Mode griff
um sich und bald entstanden Restaurants für alle Börsen,
im Stile der ersten Vorbilder. Dieser Stil ist der Stil der
Spiegel: Louis XV. Das französische Diner wäre nicht, h
was es ist, in gothischen oder neuenglischen Räumen. 1/
Es gehören Kandelaber und guirlandentragende Putten
dazu. Hier ist kein Platz für das .altdeutsche'' Bierlokal,
den gewölbten Weinkeller; auch automatische Selbstbe-
dienung, alkoholfreie und vegetarische Restaurants, aSrated
breadcompanies u. dgl. können sich nicht einbürgern.
Nur das american bar mit seinem modernen Lakonismus
findet Gunst und verdrängt die alten d^bits.
5
— 66 -
Die Modernität des französischen Geistes verändert
nicht oder nur langsam die traditionellen Einrichtungen
und Formen. Wer von Deutschland nach Paris kommt,
um etwas Neues zu sehen, der wird oft enttäuscht sein;
wer etwas Schönes, nicht selten Bezauberndes, stets
Interessantes sehen will, der kann ruhig noch jedes Jahr
einmal die Vogesen Überschreiten.
Zweites Kapitel.
Gesellschaft und Moral.
Sie stellen die Logik in den Dienst
der Leidenschaft.
(Ausspruch* Cavours über die Franzosen.)
(1. Beziehungen zu Geld und Luxus; 2. Künstlichkeit und
Natur; 3.Impressionistische Moral; 4. Gesellschaft und Einzel-
wesen; 5. DieMoralität des Theaters; 6. Skepsis und Schein.)
I. Beziehungen zu Geld und Luxus.
In der Gesellschaft muss man den Anschein
haben, als lebe man von Ambrosia und kenne
nur edle Beschäftigungen. Die Sorge, das Be-
dtlrfnis, die Leidenschaft existieren nicht. Mit
einem Wort: was man die grosse Welt nennt,
leistet sich im Augenblick die schmeichlerische
Illusion, iii einem ätherischen Zustand zu sein und
das mythologische Leben zu atmen. Darum stösst
jede Heftigkeit an, jeder Schrei der Natur, jedes
wahre Leiden, jede unüberlegte Vertraulicnkeit,
jedes offene Zeichen der Leidenschaft; sie geben
einen Misston in dieser zarten Umgebung und zer-
stören im Augenblick das Werk der Gesamtheit,
den Wolkenpalast, die verblüffende von der
Uebereinstimmung Aller aufgebaute Architektur.
. . . Ein improvisiertes Kunstwerk . . . ein
Fest des Geistes und des Geschmacks. . . . Eine
Form der Poesie « . . verwirrte Erinnerung an
das goldene Zeitalter. .
(Amiel, jonmal intime.) ^»jy 2d^
Wenn sich ein Franzose aus andern, als religiösen
Gründen aus der Gesellschaft zurückzieht so geschieht
6*
— 68 —
es meist unfreiwillig oder vorübergehend, jedenfalls immer
in stetem Hinblick auf sie, z. B. um etwas von ihr ver-
gessen zu lassen oder um sie bei seinem Wiedererscheinen
mit einem >Verk um so mehr zu verblaffen. Welt und
Gesellschaft sind gleichbedeutend: le monde. Wir da-
gegen kennen ein dauerndes weltliches Einsiedlertum,
ausserhalb der Gesellschaft, ohne jegliches Interesse an
ihr, und dennoch irdischen Dingen zugekehrt: der
Forschung, dem Schaffen, oft nur einer Liebhaberei wie
Obst- und Blumenzucht; vielleicht nur im Interesse des
persönlichen Behagens im kleinen häuslichen Kreise oder
einer Marotte oder eines Sports. Die Gesellschaft gibt
uns keine dauernden Befriedigungen.
Ffir den gebildeten Franzosen ist der .monde'' eine
Notwendigkeit. Ist] er darin geboren, so sucht er seine
Stellung zu verteidigen, zu festigen oder zu erhöhen.
Ist er ohne , Geburt* oder ist seine Stellung schwankend,
so genügen ihm nicht Verdienste im kleinen Kreis oder
der Rang, den der Beruf an sich gibt. Alles das sind
nur Stufen, die ihn hinaufführen können. Es gilt durch-
aus nicht für streberhaft, an den Pforten der Gesellschaft
auf Einlass zu warten. Die Mutter, die ihrem Sohn,
selbst durch etwas zweifelhafte Mittel, den Weg bahnt,
besonders zu dem die gesellschaftliche Stellung ent-
scheidenden Ereignis, zu einer , schönen^ Heirat, ist eine
stehende Figur der französischen Literatur: Madame de
Cöran in »Die Welt, in der man sich langweilt", Madame
de Tauzette in A. Dumas' Denise, Madame de Genis in
Becques' Corbeaux; auch Madame Moreau in Flauberts
ftddvLCsAion sentimentale* gehört hierher.
Bei uns geht ein junger Mann allein seinen Weg,
der ihm durch Examina bis in die kleinsten Strecken
— 69 —
vorgeschrieben ist. Eine durch seine Heirat bedingte
gesellschaftliche Stellung, getrennt vom beruflichen Rang,
gibt es in bürgerlichen Kreisen seltener. Die einzelnen
Klassen leben sich noch zu fern, als dass in dem Mass
wie in Frankreich persönliche Einflüsse von der einen in
die andere stattfinden könnten. Journalisten, Abgeordnete
und Grosskauf leute sind ausserhalb ihrer Berufssphären
keine Mächte. Statt jenes gesellschaftlichen Grossbetriebs
der für den Sohn ehrgeizigen Mutter kennen wir die
verschämte Hausindustrie der rührenden und arg ver-
höhnten Ballmama, die der mitgiftlosen Tochter den Gatten
fängt. Solche Bemühungen wären in Frankreich nicht
lohnend. Dem armen Mädchen bieten sich sehr wenig
Möglichkeiten einer standesgemässen Ehe (d. h. mit
Dienstboten). Lieber aber, als die Magd eines Mannes
zu sein, zieht sie vor, falls sie ein bischen hübsch und
klug ist, »seine Herrin" zu werden: .maitresse" ist kein
Schimpfwort im Französischen, sondern ein Ausdruck der
Huldigung.
Die Stellung in der französischen Gesellschaft be-
dingt, abgesehen von gewissen persönlichen Eigenschaften,
denen gegenüber unsere demokratische Zeit von Jahr-
zehnt zu Jahrzehnt anspruchsloser wird, ein gewisser
Wohlstand, für deutsche Begriffe sogar Reichtum. In
der Geldfrage hat man die Tradition des »ancien regime''
trotz dem Napol^onischem Interregnum der Sparsamkeit
gewahrt, d. h. diese Frage darf vom homme du monde
nicht gestellt werden, für ihn ist das Geld keine Frage.
Es muss da sein, wenigstens muss es so scheinen.
„Denn wer war das Idealbild der höheren Stände?" fragt
Treitschke, ,,der Graf Monte Cristo, das Lieblingskind
der Muse des harmlosen Fanfaron Alexandre Dumas
— 70 -
— der vollkommene Mann, der immer eine Million als
kleine Mfinze in der Westentasche ffihrt.''
Die sozial-wirtschaftliche Betätigung der Grossen vor
der Revolution beruhte auf zwei Prinzipien: Almosengeben
und sich lächelnd bestehlen lassen. Der grand seigneur
rechnet nicht mit seinem Lakai: er bezahlt ihn und nennt
ihn vergnügt einen Spitzbuben. Der Ehrgeiz, selbst in-
telligent und haushälterisch zu sein, das Prinzip, sich
nicht übers Ohr hauen zu lassen, ist modern und beruht
auf der Annahme der allgemeinen Gleichheit; auch in dem
Lakaien, Kellner oder Kutscher erblickt man heute einen
Menschen, d, h. Seinesgleichen, den man einer Aus-
einandersetzung würdigt. Der Hofhalt Ludwigs XVI.
kostete jähriich 25 Millionen. Der Morgenkaffee mit
einem Brötchen wurde dem König für jede Hofdame mit
2000 Francs jähriich berechnet, die tägliche Fleischbrühe
seiner zweijährigen Schwester mit 5200 Francs. (Taine).
Die geringste Beanstandung dieser Summen hätte für
äusserst unköniglich gegolten. Napoleon I. berechnete
die Unkosten seines Lebens im Detail wie ein guter
Kaufmann oder Hausvater und lebte mit drei Millionen
ebenso prächtig, als seine königlichen Vorgänger. Aber
Napoleon war kein Franzose und kein grand seigneur.
Um den Mechanismus, der dem grand seigneur sein
Geld verschafft, kümmert sich die Gesellschaft nicht, so
lange der Mechanismus unsichtbar bleibt Wird er sicht-
bar, so entsteht bisweilen der Skandal.
Die heutige französische Gesellschaft empfängt ihre
Mittel nicht mehr von leibeigenen Bauern aus dem Ertrag
der Güter, ihre Einkünfte fliessen aus Handel, Industrie
und Spekulation. Im Club und auf den Schlössern aber
spielt man den grand seigneur und sucht womöglich
— 71 —
für die Tochter einen mit der Partikel versehenen
Schwiegersohn. Man kann sich die Buntscheckigkeit
einer solchen Gesellschaft vorstellen, die aus Empor-
kömmlingen und verkrachten Adligen besteht. Der in
der Mittelmässigkeit und Hässlichkeit geborene »grand
bourgeois''» welcher im Mittag des Lebens die Kultur
und die Eleganz entdeckt, ist eine beliebte Roman- und
KomOdienfigur geworden. Der Mangel eines Überlieferten
aristokratischen Lebensstils macht solche Anomalien bei
uns seltener, vor allem weniger allgemein und auffällig«
Man hat den französischen Kapitalismus besonders
gierig genannt. Der Ausdruck ist falsch. Nirgends
ist das Geld mehr Mittel zum Zweck als in Frankreich.
Dieser Zweck ist nur viel kostspieliger in einem Land,
wo eine gesellschaftliche Tradition sofort zum grossen
Stil des äusseren Lebens verführt. Freilich: dadurch
wird die Jagd nach dem Geld in Frankreich, wie in keinem
andern europäischen Lande, sichtbar, nirgends wird sie
so gern entschuldigt, denn nicht das Geld ist gemeint,
sondern der grosse Stil des Daseins; es gilt weniger,
die alten Schlösser in vielhundertjährigen Parks und das
weisseste Weiberfleisch zwischen köstlichen Spitzen und
Geweben, sondern: aus der Mittelmässigkeit herauszur
kommen, zu nichts „nein* sagen zu müssen.
Die ungesellschaftlicheren Germanen können leichter
in mittlerem Wohlstand an allen ihnen erstrebenswerten
Annehmlichkeiten der Zeit teilnehmen: ein eigenes Haus
besitzen, seine Kinder gut erziehen und ihnen durch ihr
Erbteil die Unabhängigkeit in der Berufswahl lassen, einige
Wochen jährlich See- oder Gebirgsluft in bequemen
Hotels, seine Freunde anständig bewirten können, das
genügt uns allenfalls, die wir weniger , Passionen'' haben.
— 72 —
Darum lohnt es sich, In Deutschland den Komfort auch
kleinen Börsen zugänglich zu machen: hygienische Woh-
nungen, Wasserleitung, elektrisches Licht, Zentralheizung
begegnen viel stärkerer Nachfrage. In Frankreich lebt
man unkomfortabel, ungesund, mittelmässig oder als grand
seigneur. Mit einem kleinen oder mittleren Vermögen ist
wenig anzufangen. Viele ziehen vor, es zu verschleudern
und damit ein paar Jahre wenigstens als grand seigneur
zu leben. Sein Kapital unangetastet lassen, lohnt sich in
Frankreich erst bei einem grossen Kapital, zumal man
sich mit viel geringerer Verzinsung als in Deutschland
begnDgt Unsere Kaufleute und Industriellen warten leicht
mit dem Luxus, bis sie vierzig oder fünfzig Jahre alt sind
und ihn von ihrem Einkommen bezahlen können ; der junge
Akademiker bewahrt sich gern ein kleines Erbteil für eine
italienische Reise oder dgl. Unsere Familiensöhne werden
anfangs fast immer knapp gehalten. Ein Studentenwechsel
von monatlich 500—600 Mk. gilt als sehr hoch, selbst
für Millionärssöhne; denn die grosse Cocotte, soweit sie
existiert, ist bei uns mehr für alte Herren da, der junge
Mann, auch der reiche, hat sein »Mädel', das ihm sicher
mehr Spass macht und ihn viel weniger kostet. Bei
Maxim's aber tollt die Jugend und die Banknoten flattern
wie rosige Vögel aus ihren Taschen.
Solange er rechnen muss, hält sich der Franzose
nicht für reich, so wie der keine kräftige Gesundheit hat,
der seine Verdauung merkt oder irgendwie vorsichtig mit
seinem Körper umgehen muss. Dennoch kann man den
Franzosen keinen Verschwender nennen. Ausserhalb der
Sphäre des Luxus ist er sachlich und kaufmännisch; und
wie viele Provinzialen kommen jährlich nach Paris mit
einer genau bestimmten Summe in der Tasche, um einmal
— 73 -
das grosse Leben zu kosten, ohne zu rechnen und zu
sparen, und dann wieder, nach Verbrauch der Summe,
nüchtern in ihr Berufsleben zurückzukehren, geduldig
Obligation auf Obligation zu legen, bis für die Tochter
die Mitgift beisammen ist.
Diese Sitten sind es, die in Paris das Vergnügen
teuer machen. Man ist umlagert von maskierten Bettlern
aller Art, Individuen, die Kutschenschläge Offnen, Gänge
machen wollen , Gelegenheitsmachern , Ouvreusen und
Placeusen, die unter transscendentalen Vorwänden in'zwar
kleinen, aber sich schnell summierenden Beträgen die
Geste des grand seigneur besteuern. Dazu kommen
Speisekarten ohne Preise, Kellner, die Gerichte, welche
man nicht oder nicht so bestellt hat, in der Erwartung
auftragen, dass man, um kein Aufsehen zu machen, sie
nicht zurückweisen wird, und nicht zum wenigsten jene
Damen, für die das Geld ein Aphrodisiacum ist. Nur die
ganz teuren Plätze in den Theatern sind gut, nur die
erste Klasse ist in den Eisenbahnen dieser Republik erträg-
lich, ausser den Fiakern sind alle Transportmittel so er-
bärmlich, dass man sie keiner Dame anbieten kann. Trotz
allem ist der Pariser Luxus nichts weniger als unsolid.
Geringe Ortskenntnis genügt, um in allem die beste
Qualität zu erhalten; das versöhnt mit vielem. Bei uns
scheint mir dagegen das (vielleicht sehr sittliche) Prinzip
zu bestehen, dem Besucher von teuren Vergnügungslokalen
möglichst nichtswürdige Speisen und Getränke vorzusetzen,
wahrscheinlich, um gleichzeitig mit seinen Sündenkonto
sein Busskonto zu beginnen und dadurch die Reue zu
erleichtern.
Mittlere Hotels, Omnibusse und andere für die „roture*
bestehenden Einrichtungen bleiben darum in Frankreich
- 74 -
von so unfassbarer Trostlosigkeit, weil niemand den An-
spruch erhebt, sich hier zu Hause zu fühlen. Man erträgt
sie mit einer beim deutschen Publikum undenkbaren Ge-
duld; wer sie mit Bewusstheit benutzt, fühlt sich ge-
wissermassen noch in den Warteräumen vor den Sälen
der Helle und des Luxus, in die er bald einzutreten hofft;
das macht ihn resigiliert gegenüber einer unbequemen
Gegenwart; die vielen geschäftsmüden kleinen Leute aber
denken nicht viel darüber nach. Ihre „gait£* hilft ihnen
über Gedräng und schlechte Plätze in der liebenswürdigsten
Weise hinweg. Dazu kommt das in Paris so grosse Heer
der Enttäuschten, in denen bitterere Schmerzen nagen,
als der Aerger über schlechte Transportmittel.
Es ist einleuchtend, dass ein so grossartiges System
des Lebensgenusses nur für eine geringe Minderzahl ge-
eignet ist, deren weithin strahlender Glanz über tiefe Ab-
gründe alltäglicher Verdrossenheit fällt. Wer diese charak-
teristische Pariser Verdrossenheit kennen lernen will, der
frage Omnibuskontroleure um Auskunft, verlange an
Theaterschaltern einen begünstigten Platz oder finde an
einem Hotelzimmer mittleren Preises etwas auszusetzen.
Er wird kurze schnippische Antworten hören, die ihm
gleichsam vorwerfen, dass er nicht Wagen fährt, eine
ganze Loge mietet oder die teuersten Zimmer nimmt.
Der Franzose ist ausserhalb des „monde" und »demi-
monde* erstaunlich genügsam und bescheiden, unter den
Kerzenlüstern wird er schnell zum Kavalier. Man kann
diesem Leben den Stil und die Berechtigung nicht ab-
sprechen, wenn man oft auch auf eine kindliche Ver-
ständnislosigkeit stösst für das, was Deutsche und Eng-
länder das ,» soziale Problem '^ nennen. Und die moralische
Gefahr des Straucheins? Der Franzose verliert selbst im
- 75 -
Rausch nicht leicht den Kopf. Will er sich berauschen,
so wird er sich vorher meist darüber klar und besucht
Orte, die für diese Tätigkeit bestimmt sind, wo er genau
das tut und findet, was er vor hat und braucht: die
Nachtrestaurants, in denen es deshalb doch nicht roh,
sondern bei aller Ausgelassenheit fast manierlich zugeht.
Die ewige deutsche Angst vor moralischer Gefährdung
beruht auf der Erfahrung, dass sich bei uns Viele in der
schönen Unbewusstheit unserer Rasse an den Wirtshaus*
tisch setzen, sich einen Halben nach dem andern gönnen
und, ehe sie sich's versehen, betrunken sind. Sie selbst
scheinen dann am erstauntesten über das neckische
Phänomen.
X Kfinstlichkeit und Natur.
Wo die Kunst nichts „Höheres *' sein soll, (höher als
was eigentlich?) sondern das gesellschaftliche Leben selbst
beherrscht und modifiziert, besteht die Versuchung, dass
eine so angenehm gewordene Gesellschaft sich selbst für
die Welt erklärt, alle Verbindung mit dem noch recht
beträchtlichen Rest der Welt verliert und sich verengt.
Dann entstehen jene pompösen oder graziösen Starrheiten
des Barock und Rokoko: während die Kunst die Gesell-
schaft formt, schreibt die Gesellschaft der Kunst die
Gesetze. Während die Heldenpose in den Salon dringt,
unterwerfen sich Athalie und Britanniens dem guten Ton
von Versailles. Daraus ist jene dem Germanen peinliche
französische Künstlichkeit entstanden.. Dem von Shake-
— 76 —
speare Erschütterten oder Erheiterten scheint die franzö-
sische Tragödie starr und langweilig, und selbst in ihrem
Befreier Victor Hugo entdecken wir schwer die vielge-
rühmte Natürlichkeit Auf Corneille allein bezogen, werden
unsere Einwände oft von ddn Franzosen anerkannt. Schon
Vauvenargues bemerkt in seinem Briefwechsel mit Voltaire
jene .affectation de grandeur*" und nennt sie ,,den Haupt-
fehler unseres Theaters und die gewöhnliche Klippe des
Dichters "". Fügen wir hinzu: des Schauspielers. Ich
habe keinen französischen Schauspieler gekannt, der, be-
rühmt geworden, nicht an jener Klippe gescheitert wäre:
Sarah Bernhardt, Coquelin sind nicht auszunehmen, auch
nicht Rfijane und Yvette Guilbert, die früher Urbilder
gallischer Natürlichkeit waren.
Denn die gibt es auch! Das Land der geblähtesten
Tragödien und eisigsten Umgangsformen (oh, ma ch^re)
hat zugleich die unbefangensten, lustigsten Komödien und
Vaudevilles geschaffen und den Triumf der Natur im
Salon bewirkt: das Geplauder; denn, um gut plaudern
zu können, d. h. weder schwätzen noch konversieren, muss
man so fabelhaft natürlich sein, dass einen Decor, Titel
und Konventionen nicht im geringsten irre machen.
Schwache Naturen werden sofort künstlich, sobald man
sie aus ihrem engen Kreis nimmt, sie beginnen, sich zu
genieren, affektiert zu werden oder aus Widerstand ab-
sichtlich Konventionen zu verletzen und sonstwie sich
unsicher zu gebärden.
Ein besonderer Reiz der französischen Kultur ist die
Art, wie immer wieder die starke Natur durch die Kon-
ventionen durchbricht und diese dadurch selbst oft reizend
macht. Das 18. Jahrhundert, in dem unaufhörlich zarte
und derbe Natürlichkeiten aufgewirbelt werden, ist voll
— 77 -
von solchen Kontrasten, seine galanten Meister der Malerei
und seine Memoirenliteratur sind dessen Zeuge. Neben
den anerkannten Sternen, denen die „gloire* verderblich
wurde, gibt es noch heute eine französische Kunst des
Theaterdialogs und des chansons, die bisweilen verführt,
die Franzosen fUr das kindlichste, unbefangenste, natür-
lichste Volk zu halten. In dem Lande der geschnittenen
Taxushecken ist dem Publikum erlaubt, sich . auf den
Wiesen der öffentlichen Promenaden unbefangen auszu-
breiten, während bei uns solche Anlagen bestenfalls dem
Schutze des hypothetischen Naturfreunds empfohlen, wenn
nicht schmählich von konkreten Schutzleuten bewacht
sind. Wir haben den Zwang im Natürlichen, die Fran-
zosen die Freiheit im Künstlichen.
Das Spiel, Künstliches und Natürliches schillernd
durcheinander zu werfen; eine spontane Empfindung,
während man sie ausdrückt, gleich so zu formen, dass
sie auf die Gallerie wirkt, und dabei doch nie den Sinn
für das Tatsächliche zu verlieren; eine raffinierte Suppe
in rauhem, irdenem Topf auf das Damasttuch zu stellen
und dadurch unter das Kerzenlicht eine sinnliche Erinne-
rung zu verschleppen an den Bärenhunger in der Bauern-
oder Jagdhütte; eine Magd wegen ihrer zierlichen Brüste
wie eine Fürstin anzuziehen; bei alledem das Volk der
klaren Moral und des „bon sens' zu bleiben; nach der
Erfindung des guten Geschmacks mit brennenden Sinnen
den Realismus zu entdecken; in einer blassen, wortarmen
Sprache alles das sagen zu können, was in anderen
Sprachen gemein oder plump klänge: dieses Kunststück
heisst französische Kulur!
— 78 —
3« Impressionistische Moral.
Seit der Revolution ist die Gesellschaft der „unsicht-
baren Kirche*" der Protestanten ähnlich. Die sichtbare
Gemeinde der „honnStes gens' ist zwar zusammenge-
schmolzen; dennoch rechnet noch jedes Individuum mit
einer solchen Gemeinde, an die man so sicher glaubt,
als es unsicher ist, wer dazu gehört und wer nicht
.Die Gebildeten", „die guten Familien", .die Wohl-
erzogenen" wo und wer sind sie?
Diese Worte und viele ähnliche sind Pseudonyme;
an irgend eines ist jedes Werk der Wissenschaft und
Kunst gleichsam postlagernd adressiert; sie verbergen
femer eine Instanz, an die alle moralischen Handlungen,
dem Täter mehr oder weniger unbewusst, appellieren.
Und seltsam: so wenig der Einzelne die Abholer kennt,
seine geistigen und moralischen Sendungen werden ab-
geholt. Nach einiger Zeit wird ihm der Empfang durch
die öffentliche Meinung quittiert. Früher, als die Gesell-
schaft noch sichtbar war, bedurfte sie keiner Pseudonyme.
Man hat sie zwar stets wie eine verwöhnte Frau launisch
und unberechenbar in ihrer Gunst genannt, aber auch
die Unberechenbarkeit der Frau liegt in einem bestimmten
Rahmen. Erziehung, Ueberlieferung, Rang, finanzielle
Lage schaffen Grenzen. Die frühere Gesellschaft bestand,
in ihrem Kern wenigstens, aus, dem Namen und dem
^Charakter nach, bekannten Individuen. Die persönliche
Verbindung mit Herrn X und Frau Y konnte für Erfolg
und Ruf einer Person entscheiden. Die moderne Ge-
sellschaft ist abstrakt. Sie ist schwerer vor den Kopf
zu stossen, weil ihr Kopf nicht leicht zu finden ist (viel-
leicht hat sie gar keinen), aber darum auch viel schwerer
79
zu gewinnen. Eben spürt man noch die Wirkung ihrer
Entscheide und im nächsten Augenblick fragt man sich,
ob einen nicht ein Phantom geneckt hat, denn die
Meinungen sämtlicher Einzelindividuen weichen heute
unter Umständen von der öffentlichen Meinung ab, die
klOger oder dümmer sein kann als die Einzelnen. Nie-
mand erklärt sich gern unbedingt für und wider eine
Sache; wenn es einer tut, und stünde er noch so hoch,
so ist es nicht allgemein bindend. Dennoch gibt es
nach wie vor eine „Meinung der Gesellschaft". Wer
hat sie? Wie ist sie? Es heisst z. B. die moderne
Gesellschaft ächte nicht mehr die uneheliche Mutter, aber
wehe dem Mädchen, das darauf rechnet. In Wahrheit
ist es so: Sie ächtet nicht mehr den, der die uneheliche
Mutter nicht ächtet. Es heisst, sie liebe sehr die heiklen
Probleme der modernen Literatur und Kunst, denen sie
erkennerisch gerecht werde. Wieviel von solcher Er-
kenntnis ist aber in ihren Gesetzen kodifiziert? Worauf
kann man sicher fussen?
Dieser heute allgemein europäischen Verwirrung
gegenüber haben die Franzosen, ihrer alten Ueber-
lieferungen gedenk, eine relative Klarheit bewahrt, als
das Volk, das einst den guten Ton, das savotr vivre,
den neuen klassischen Stil und dergleichen Massstäbe
geschaffen hat. Ihre gesellschaftlichen Ueberlieferungen
sind weit und sehen Ausnahmefälle stets voraus. Darum
brauchten sie von den Modernen nicht völlig verworfen
zu werden. Darum winken sie so leicht den, der die
JugendstOrme glücklich hinter sich hat, in die sanfte
Vernunft und nachsichtige Menschlichkeit zurück, die um
das Kaminfeuer der französischen Familie herrscht.
Wir können uns nicht leicht entschliessen, gesell-
— 80 -
schaftliche und moralische Fragen kurzer Hand kon-
ventionell zu erledigen, mit dem Vorbehalt, die Härten
solcher Konvention durch witzige Skepsis und mensch-
liche Zugeständnisse im Einzelfall zu mildem. Wir sind
individualistische Grübler und verlangen oft wie Ibsens
„Brand'': Alles oder nichts Unsere Moral ist ehrlich
wie ein alter Meister, der glaubt, alles zu malen was da
ist, weil er jedes kleinste Härchen wiedergibt. Die
franzosische Moral ist ehrlich wie der Impressionismus,
der alles malt, was er sieht. Die kleinen Härchen und
seine Perspektive hat ja der alte Meister von seinem
Augenpunkt aus garnicht gesehen, er hat sie durch
nahes Einzelbetrachten und Messungen festgestellt und
glaubt, sie nun wirklich zu sehen. Er hält sich für einen
Wirklichkeitsmaler, ohne zu bedenken, dass sichtbar nur
Färb«- und Lichterscheinungen werden, dass die Schärfe
der Konturen nicht sichtbar ist, sondern nur vom Tast-
sinn verifiziert werden kann. So wie dieser wissen-
schaftliche Irrtum in der Kunst zu einer grossen stilistischen
Synthese führt, so konstruiert jene scheinbare Ehrlichkeit
in der Moral synthetische Moralsysteme von oft altmeister-
licher Grossartigkeit. Anstatt sich an die Tatsachen zu
halten, wie sie sich dem Auge präsentieren, dünken sich
diese Systematiker der Moral besonders ehrlich, wenn
sie die Realität des Zufalls ausschalten und die Tatsachen
unter eine bestimmte Perspektive ordnen. Sie vergessen^
dass die aus dem Zusammenhang genommene und für
sich absolut beurteilte Tatsache nichts reales mehr ist,
sondern eine Konstruktion des Verstandes. Zusammen-
hanglose Tatsachen gibt es so wenig als gegenständliche
Sichtbarkeit ausserhalb der Luft- und Lichtwirkung.
Während aber keine Gefahr ist, dass die jeweilige Seh«-
— 81 —
weise der Maler fQr die Zeitgenossen den praktischen
Wert der gemalten stets irgendwie mess- und wägbaren
Gegenstände beeinflusst, so ist tatsächlich eine Beein-
flussung des praktischen Lebens durch Moralsysteme be-
absichtigt und möglich; sie wollen die durch keine
Masse und Gewichte wägbaren moralischen Handlungen
nach irgend einem „höheren"* Massstab messen oder
wägen. Da solche Massstäbe stets willkürlich schwanken
müssen, vermögen sie nie von ihrer Exaktheit dauernd
zu überzeugen, und ihre Beeinflussung des moralischen
Lebens besteht in der Verwirrung und Beirrung. Sowie
die Maler längst vor Erfindung des Impressionismus die
harte und für das Auge unwahre Linienperspektive durch*die
Luftperspektive milderten und belebten, so haben die franzö-
sischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts schon die
christliche Moral gewissermassen impressionistisch ver-
menschlicht. Eine auszurechnende, absolute Moralperspektive
gibt es nicht; die moderne Moral ist relativ, impressionistisch
wie die Malerei; die einzelnen Handlungen sind den Farb-
flecken vergleichbar, es kommt darauf an, wie sie sich unter
dem Einfluss des jeweiligen Lichtes in die Fläche ordnen.
Keine Handlung ist an sich gut oder schlecht. Ein
schreiendes Rot kann durch die Nachbarschaft einer
violetten Note zum Grundton ungeahnter Harmonien
werden ; der Kompromiss höchste Ehrlichkeit, die Abso-
lutheit wirklichkeitsferne, lebenverrenkende Theorie.
Die französische Literatur ist stets voll gewesen von
moralischen Maximen, ja sie gehören fast zu den Edel«
steinen französischen Schrifttums: ich nenne als Urheber
nur La Rochefoucauld, Vauvenargues, Duclos, Chamfort;
Fundgruben dafür sind die Komödien Molidres, Marivaux'»
Beaumarchais', fast jedes ernst zu nehmende Theaterstück
6
— 82 —
enfhäit solche Gedankenblitze, in keinem Buch von
Anatole France, Jules Lemattre, Maurice Donnay, Henry
Bataille fehlen sie. In Deutschland erkennt man gern
an, dass solche Worte geistreich sind, hält das aber fOr
unwichtig, ja Oberflüssig. Auch nennt man sie manch-
mal: zweideutig und unehriich. Wollte man sie doch
nehmen als das, was sie sind: moralische Beleuchtungs-
effekte. Wer einen Lichtakzent an eine bisher dunkle Stelle
setzt, macht das Leben heller, weiter, reicher. Auch Ge-
fahren will man in der französischen Impressionisten-
moral sehen: aber fOr den, der alles zu ernst nimmt, ist
alles gefährlich, am gefähriichsten sein absoluter Ernst
der Relativität des Gesamtgeschehens gegenüber, gleich-
giltig, ob er sich zum Verkfinder eines verklausulierten
Systems macht oder prinzipiell eine prinzipienlose Indi-
vidualethik vertritt: wir haben in Deutschland im letzten
Jahrzehnt Beispiele geradezu pathetischer LOderlichkeit
gesehen, die sich Amoralität nannte und oft gar schwer
an sich selber trug. „Aber sie war ehrlich und ernst!''
Um so schlimmer, das machte sie doppelt gefahrvoll.
4. Qesellschaf t und
Sehr leicht führt eine gesellschaftlich geregelte Moral
trotz jenen Moralimpressionisten zur Plattheit und Mittel-
mässigkeit und zwar gerade dann, wenn sie weit und
weise ist, keinen ernsten Widerstand weckt und dadurch
auch den wesentlichen Individuen sie ausreifende Kon-
flikte erspart. Indem gleichermassen eine von der Ge-
— 83 —
Seilschaft aufgestellte oder anerkannte Aesthetik dem
Talent von vornherein ein Publikum garantiert, hindert
sie oft den Einzelnen, allzusehr Über dieses Publikum
hinauszuwachsen. Immerhin war unter solchen moralischen
und ästhetischen Umständen in der Welt der Tat-
sachen eine Condä, in der Kunst ein Moliöre möglich.
Dadurch, dass der Autor einem bestimmten Publikum
verständlich bleiben will, wird vieles Eckige abgeschliffen,
Verworrenes geklärt und vor allem der dem Genie von
Natur fehlende Sinn fOr die Lächerlichkeit von der Ge-
sellschaft entwickelt. Ihrer Mässigung und Klarheit
wegen überschreiten daher selbst mittlere französische
Geister leicht die Landesgrenze, während den deutschen
Autoren selten gelingt, die deutschen Probleme Europa
verständlich zu formulieren.
Bei uns ragen Hochgebirge aus Wüsten. Die Grossen
steigen aus bürgerlicher Enge empor, unverstanden, oft
verbittert und zuletzt meist sich verwirrend. Unser Volk
bleibt dabei ungenial, gewinnt nicht den Mut zu sich
selbst, fühlt nicht, worauf es stolz sein könnte, und, da
ihm der Geist seiner Grossen zu dunkel bleibt, lässt es
sich die moralischen und geistigen Vermittelmässigungen
gefallen, die ihm die Presse und das offizielle Deutschland in
der Schule verabreicht und preist. Da dieses offizielle
Deutschland keine auf Kulturüberlieferungen beruhende
Gesellschaft bedeutet, ist auch keine Möglichkeit, dass
sich die genialen Deutschen ihm verständlich machen:
für beide Teile ein Uebel, denn die dunkle Verworren-
heit, die allzu herbe Rauheit unserer Grossen, kurz ihre
formale Unfertigkeit ist verschuldet durch den Mangel
einer kultivierten Gesellschaft, in der sie sich mildern
könnte. Die Existenzmöglichkeit jener offiziellen Schicht
6*
- 84 —
aber bleibt Jedem Deutschland bereisenden Fremden ein
Rätsel in einem Land, dessen Bewohner im einzelnen
verständig und lebenswarm sind, zwar manche Fehler
haben, aber gewiss nicht das Laster verlogener Prüderie
oder feiger Heuchelei.
Der französische Völkerpsychologe Fouille sagt:*)
«Die deutschen Dichter zeigen uns: unten die dumpfe,
dunkle Natur, aus der alles stammt, oben die Individualität,
die sich bildet und durchsetzen will; aber die andere Welt,
die Welt der Gesellschaft, die Menschheit im eigentlichen
Sinne mit ihren weiten Horizonten wurde doch vielmehr
von der französischen Literatur und Dichtung sichtbar
gemacht.'' Und dann: „Der französische Dichter nimmt
eine Leidenschaft als gegeben und fragt sich: was für
ein Mensch wird sie vertreten? Der deutsche Dichter
untersucht, was fOr entgegengesetzte, gleichzeitige oder
sich folgende Leidenschaften sich aus einem individuellen
Charakter entwickeln werden. '^
Für uns ist es keinen Augenblick fraglich, dass die
Dinge, welche sich z. B. Prometheus und Pandora auf
vier Seiten in Goethes jugendlicher Skizze zu sagen haben,
schwerer wiegen, als alle die so vollendet in Szene ge-
setzten Leidenschaften der französischen Tragödie. Ver-
gegenwärtigen wir uns dagegen den gigantischen Ge*
staltenzug Balzacs, so finden wir bei uns nichts, was sich
damit messen kann. Es wäre zu viel, ihn neben Shake-
speare zu stellen, aber der Vergleich mit ihm drängt sich
immer wieder auf. Es ist der Mangel einer Gesellschaft
*) Esquisse psychologique des peuples europ6ens (Ed.
Alcan.) S. 273.
- 85 —
grossen Stils daran schuld, dass sich Wilhelm Meister
verirren muss, dass so tragische Abseitsnaturen wie der
grüne Heinrich entstehen, denen nur die Wahl bleibt,
zwischen Selbstmord (1. Auflage) oder enttäuschtem Ge-
nügen in niederer KleinbUrgeriichkeit.
Ebensowenig wie eine Versicherungsprämie in sich
einen Besitz darstellt, sorgt die Konvention für hervor-
ragende Individuen. Sie will nur gewährleisten, dass
selbst das am schlechtesten ausgestattete Individuum
durch den Besitz bestimmter Formen und eines bestimmten
Wissens unter ein Niveau nicht mehr sinken kann : gleich-
zeitig erspart sie dem reicher veranlagten Einzelnen viel
Zeit, indem sie ihm ihren von den Vätern geprüften Gehalt
mühelos überliefert und ihm gestattet, da weiter zu bauen,
wo sie aufgehört haben. So kann es durch einige Gene-
rationen weiter gehen, bis die Fundamente des gesell-
schaftlichen Baus selbst brüchig werden, zu klein oder
gar fehlerhaft erscheinen. Dann entsteht der Streit zwischen
den in den alten Räumen Gutlogierten und denen, die
erst Wohnung suchen. Von diesen wollen die einen jene
Glücklichen einfach hinauswerfen und sieb an die Stelle
setzen, womit nichts gebessert wäre, die andern wollen
anbauen und das scheint auch oft jenen Gutlogierten das
Vernünftigste für beide Teile. Die Dritten wollen alles
zerstören, um dann alle gleich gut zu logieren. Ein wohl-
gemeinter, aber undurchführbarer Plan. Wo soll man
inzwischen wohnen? Wer wird die Beletage, wer die
Mansarde, wer die Vorder-, wer die Hinterräume beziehen?
und jedes Haus besteht aus so verschiedenen Teilen.
Die französische Revolution hat eine Anzahl Gewalttäter
— 86 —
der ersten Klasse gezeitigt. In Deutschland hat man
ernsthafte Doktrinäre der dritten Gattung häufig gesehen.
Die Wirklichkeit hat bisher immer der zweiten Kategorie
gehört, man baut an, modifiziert die Räume, es entstehen neue
Mansarden und Beletagen neben den alten, die Beletagen
oft weniger prunkreich und die Mansarden vielleicht etwas
wohnlicher, je nachdem.
Der französische soziale Bau zeichnet sich durch eine
Unzahl Balkone aus, auf denen die Qutlogierten sich
zeigen, um dem, was um sie herum geschieht, jeden
Augenblick Beifall zu spenden oder zu versagen. Da-
durch bleiben denen unten Sitte und Stil jener Begünstigten
stets gegenwärtig. Auf den verschiedenen Baikonen bilden
sich Meinungen, und schliesslich wird die Meinung der
Beletage angenommen. Inzwischen bauen die andern
fieberhaft weiter, oft recht unsolid: die altmodische, auf
Kosten schlechter Mansardenlöcher aberreiche Beletage
erscheint wieder, nur drängen sich viel mehr Leute auf
die Balkons hinaus als frOher. Anbauten stürzen ein,
alles taumelt durcheinander, manchmal fällt bei einem
derartigen Krach Einer unversehens aus seiner schwanken-
den Mansarde auf einen benachbarten Balkon, und nun
sieht er die Welt von hier aus (in seiner Phantasie hatte
er sie kaum je anders gesehen) und mfihelos nimmt er
alle Meinungen und Sitten seiner Umgebung an.
Unter so lebhafter gegenseitiger Kontrolle läuft der
Einzelne nicht so leicht in eine dunkle Sackgasse. Er
ist gegen manche Selbstüberschätzung gefeit, denn von
Zeit zu Zeit ein Blick nach den Baikonen orientiert ihn
über Leistung und Urteil anderer. Kritik und Selbstkritik
werden entwickelt. Die Furcht vor der Lächerlichkeit
erzieht seine Formen und zwingt ihn, die etwaigen Konse-
— 87 -
quenzen seiner Meinungen auf das pralctische Leben
auszudenken und ihre gelegentliche Komik zu erkennen.
Aeussert er sich öffentlich, so mu$s er Sprache und Stil
beherrschen. Weltfernes Gestammel und ungezogene
Aggresivität werden in Schranken gehalten. Ein gewisser
Grad von „bon sens*" und gesellschaftlicher Form gilt
als unerlässlich. Mancher «blaue Dunsf" wird ver-
scheucht, der Tatsachensinn gestählt. Unter dem wach-
samen, oft unfreundlichen Auge der Gesellschaft bestrebt
er sich, jede irrefahrende Bizarrerie zu vermeiden, sich
klar und angenehm zu formulieren. Oft genug tut es
dabei freilich der geschickte Fassadenmensch dem tiefer
Veranlagten und Konfliktreicheren bei weitem zuvor,
aber welch eine Vollendung entsteht, wenn der Konflikt-
reiche seine Konflikte zu Ende kämpft und dann jene
krystallreinen, schlackenlosen Werke hervorbringt, die,
vielleicht erst nach seinem Tod, auch die Balkone, und
zwar die von ganz Europa, anerkennen müssen.
Die realistischen Prosaiker Frankreichs im 19. Jahr-
hundert und die impressionistischen Maler schlugen zwar
den gleichzeitigen Beletagebewohnern derb in die breiten
Bürgergesichter; dass sie aber dennoch nicht chaotische
Einsiedlerphantasien schufen, fUr eine geringe Zahl von
verwilderten oder verzärtelten Einsiedlernaturen bestimmt,
liegt an dem „bon sens^ ihrer systematischen Konsequenz.
Diese Werke leugnen nicht die Notwendigkeit eines
Publikums, wodurch sie sich selbst zum Tod verurteilen
würden, sie bekämpfen nur die derzeitige Dummheit
einer vom „ancien rägime^ geblendeten EmporkOmmlings-
kaste, die ihre Instinkte äffisch maskiert. Zur Kunst ge-
hören zwei: der Schaffende und der Empfangende.
Wenn es Prostitution ist, es jedem Empfangenwollenden
— 88 —
recht zu machen, so ist es ToUhäuslerei, etwas zu schaffen,
was seiner Art nach von keinem empfangen werden kann.
Der LiebebedOrftige, der es verschmäht, sich der ersten
besten in die Arme zu werfen und die Rechte nie findet,
wird dennoch niemals behaupten, er brauche zum Lieben
keine Geliebte. Wenn diese modernen KOnstler sagen:
l'art pour Tart, so wollen sie damit nur die Kunst von
allem Ethischen, Historischen, Didaktischen etc. befreien.
Ebenso kann man sagen: Pamour pour Tamour, wenn
man die Liebe von allen geschäftlichen, moralischen und
sonstigen ausser ihr liegenden Absichten trennen will.
Und wäre es auch unabsichtlich, die modernen franzö-
sischen Kanstler und Schriftsteller sind darum durchge-
drungen, weil ihre angebliche Tollheit Methode hat,
weil sie, so neuartig sie waren, nicht willkQrlich sind,
weil sie, mit einem Wort, eine sichere Konvention der
Ueberlieferung und viel Kulturinstinkt besitzen. Sie locken
nicht in die Abgründe individualistischer Phantastik,
sondern auf festen Boden. Nachdem die Ersten der
Balkonbewohner die Festigkeit dieses Bodens einmal
versucht hatten, folgten andere schnell nach. Wenn die
moderne französische Kunst sich auch nicht wie die alte
Kunst an die Gesellschaft, oder an eine Gesellschaft
wendet, so ist sie doch gesellschaftlich empfunden, d. h.
menschenmöglich, lebensfähig; ja sie ist neben der
modernen Technik ein gesellschaftgruppierendes Element
erster Ordnung geworden.
— 89 —
5« Die Moralltät des französischen Theaters.
In Frankreich dürften jährlich nicht mehr bedeutende
Dramen geschrieben werden, als in Deutschland, aber in
Frankreich entstehen jährlich eine Anzahl von Theater-
stocken, die, ohne besonders tief gefühlt und grossge-
staltet zu sein, auch ernsthafte KOpfe einen Abend fesseln
und das Verständnis für die Zeit schärfen können. In
Deutschland ist diese Literaturgattung schwer möglich.
Die herrschende Qesellschaftsmoral ist so eng, dass in
ihrem Rahmen künstlerische Probleme kaum denkbar sind;
die deutschen Probleme zwingen daher den Autor, in
jedem Stüek moralisch mit dem Ei der Leda zu beginnen;
fast jedes moderne deutsche Drama enthält, ungewollt
vielleicht, seine eigene, oft aus furchtbaren Kämpfen ge-
wonnene Individualethik. Es ist fast undenkbar, dass es
dabei ohne einige Zumutungen an den Hörer abginge.
Die besten deutschen Dramen haben (auch im höheren
Sinne) einen unbefriedigenden Schluss, und zwar darum,
weil die problematischen Naturen der Helden sich in
keine moralische oder soziale Einheit oder Allgemeinheit
irgendwie einordnen lassen, persönlich keine Kompromisse
schliessen können, ohne das Problem hinfällig, das ganze
Drama überflüssig zu machen, noch weniger aber den
Tod verdienen.
Ein circulus vitiosus: das Fehlen gesellschaftlicher
Organisation des Landes macht jeden den Durchschnitt
Ueberragenden „problematisch". Die Menge der Proble-
matischen aber hindert wieder die gesellschaftliche Organi-
sation. Mangels einer die Lebensnotwendigkeiten dar-
stellenden Gesellschaft, die der Hörer in ihren Fehlem
und Vorzügen kennt und als Ganzes hinnähme, tritt im
- 90 —
deutschen Drama meist irgend ein höheres, abstraktes
Prinzip, wenn nicht eine verhasste absolute Ethik als
Maschinengott auf. Gerade unsere bedeutendsten Dramen,
die gewaltsame oder flache Abschlösse scheuen, sind er-
habene Ruinen geblieben.
Der französische Mensch und Autor kommt selten
dazu, seine Konflikte so schmerzlich durchkämpfen zu
müssen; er schöpft mttheloser aus seiner allgemeinen
Menschenerfahrung und nähert sich fast stets, wenn auch
oft ganz unaufdringlich, der Tendenz : dadurch weiss man
gleich, woran man ist. In den Spuren des Sophokles
oder Shakespeare wird man heute Abend nicht wandeln^
aber es kann interessant und unterhaltend werden. Man
nimmt die gesellschaftliche Prämisse zunächst einmal als
gegeben. Ist der Autor auch nur ein klarer Kopf, guter
Beobachter und angenehmer Stilist, so kommt leicht eine
respektable, wenn auch nicht übertrieben grossartige
Arbeit heraus. Er ist im Sinne Kassners (Denis Diderot
S. 17) ein Rhetor: „Er verdirbt sich sein Werk nicht mit
sich selbst, '^ »er unterschlägt in der Not sich selbst"".
Es werden keine ungewöhnlichen Zumutungen gestellt»
Koketterie, sozialer Ehrgeiz, Luxusbedürfnis, eheliche ^Un-
treue als nicht sehr pathetische Menschlichkeiten genommen,
ausser, wenn eine dieser Eigenschaften in allen ihren
Konsequenzen dargestellt werden soll. Der Einzelfall
wird dann mit strenger Beachtung der sozialen Möglichkeiten
herausgearbeitet, eine Nebenszene oft im Interesse des
Vergnügens zurechtgerückt. „Seit wann*", sagte schon
Beaumarchais, „hebt nicht die Lustigkeit die Unwahr-
scheinlichkeit auf?* Der französische Dramatiker kon-
struiert selten an der Moral herum. Seine Einzelszenen
sind zwar viel gewagter als die der Deutsehen, aber er
>
— 91 —
sucht stets eine moralisch einwandfreie Lösung des Kon-
flikts. Er stellt den Ehebruch unter Umständen sehr ver-
gnüglich dar, verhindert auch vielleicht, — als sittiiche
Nebenwirkung — dass man Steine auf die Ehebrecherin
wirft, aber wo ist das französische Drama, das den Ehe-
bruch oder die freie Liebe mit Erfolg verherrlichte? Ein
moralischer „Skandal wie in Goethes „Stella'' (1. Be-
arbeitung) und manchem Werk der deutschen Romantik
gibt es in der ganzen französischen Literatur nicht. Alle
Menschlichkeiten werden mit lächelnder Kennerschaft be-
leuchtet, aber man hütet sich, sie gefühlsmässig zu pathe-
tisieren. Ein Hauptmotiv der nicht französischen modernen
Literatur bietet das junge Mädchen, das „es'' nicht mehr
aushalten kann. Das würde auf der französischen Bühne
unfehlbar humoristisch wirken. Wenn man auch die
Sinnlichkeit begreift, ihre Konsequenzen entschuldigt, so
findet man nichts lächerlicher, als wenn die „bagatelle"
allzu ernst genommen wird. Eine Gestalt, die er aner^
kennen soll, muss für den Franzosen vor allem „Haltung*
haben; das fassungslos einem Mann in die Arme sinkende
Mädchen versteht er nicht. Er kennt nicht den primitiven
gesellschaftlichen Zustand, in dem so etwas wirklich echte
Naivität sein kann.
Die für so unmoralisch geltenden Franzosen sind ein
in seiner Moral sehr sicheres und eigenartiges Volk,
ebenso fern von der natürlichen Leidenschaftlichkeit, die
im Süden täglich die sehr viel knapperen Satzungen
durchbricht, als von nordländischer protestanischer Enge,
die hinter undurchführbaren Gesetzen eine alle Lateiner
verblüffende Promiskuität verbirgt. Aber was dieses
starke Moralisieren der französischen Schriftsteller erträg-
lich, ja interessant macht, ist der Mangel jeglicher Fanatik.
— 92 —
Es ist nicht langweilig, selbst einem Brieux zuzuhören,
der die im Grund' verwerfliche Absicht ausspricht, von
der Bühne herab sozialmoralische Wirkungen auszuüben.
Dieses Moralisieren hat die Farbe des Lebens. Es ist,
wie gesagt, impressionistisch. Es greift nie die Grund-
lagen an, wird nie metaphysisch oder ethisch.
Der in seiner Kultur französierte Abenteuerer Casa-
nova hörte nicht einen Augenblick auf, Moralist zu sein.
Wir hingegen haben Geister von kühnster Amoralität
hervorgebracht, ja wir haben die Amoralität überhaupt
entdeckt; aber ihre Vertreter sind darum doch im prak-
tischen Leben tadellose Bürger geblieben.
Probleme wie die Nietzsches und Ibsens, neuerdings
Wedekinds und Altenbergs, werden allerdings nur aus
einem chaotisch gährenden Moralgefühl geboren und
ihre grossartige Ungeheuerlichkeit oder feine Seltsamkeit
muss die Franzosen erstaunen und erregen, für die The-
ater oft nicht viel mehr ist als ein geistreiches Gesellschafts-
spiel, Vorwand oder Fortsetzung feiner moralistisch-
spekulativer Konversation. Auch ihnen beginnt neuer-
dings das Parkett unter den leichtbeschuhten Füssen zu
schwanken. Seine Glätte haben sie nie gescheut. Aber
wie? wenn es aus den Fugen ginge? Auch in Frankreich
mehren sich schon lange, freilich noch nicht allgemein
beachtet, die — sagen wir — indiskreten Literaturwerke.
Von Baudelaire, Laforgue, Andr6 Gide und Charles-Louis-
Philippe z. B. kann man nicht mehr sagen, dass ihre
Seelen „rund wie ein Apfel" sind. Sie scheinen gequält
wie Nordländer und spähen durch die Ritzen der Kultur-
wände in chaotische Lebenshäufungen. Es ist nicht zu
übersehen, dass Gide Protestant ist, Philippe aus niederem
Volke stammt. Beide sind so fern wie möglich von Ver-
— 93 —
sailles. Sie kritisieren nicht gewisse Härten der bestehenden
Moral — darüber liesse sich in Frankrrich immer reden;
sondern sie graben ungeahnte Sachen aus und lassen
vermuten, dass der soziale Bau einen in Vergessenheit
geratenen Unterstock hat, dessen Leben lange Zeit über-
täubt, aber nicht erstickt worden ist Ohne sich irgend^
wie revolutionär oder zerstöreriseh zu zeigen, Offnen sie
leise die Kellertür und man fragt: Was wird nach solchen
Indiskretionen in der Beletage geschehen?
Die Engländer empfinden die Ungläubigkeit als
schlechte Erziehung, als Indiskretion, wie Taine sagt.
Aehnlich wirken oft russische, skandinavische und deutsche
Bekenntnisse auf die französische Gesellschaftsmoral, die
im wesentlichen noch auf Descartes'scher Vernunftgrund-
lage beruht.
6. Skepsis und Schein«
Die Franzosen werfen uns die nihilistische Skepsis
unserer Philosophie vor, die alles in Frage stelle und
dadurch jeden positiven Bau hindere. Sie selbst unter-
werfen sich, aus Ordnungsbedürfnis, schneller einer Satzung,
auch wenn sie unvollkommen ist, und begnügen sich
dann damit, ihre Schwächen lächerlich zu machen. Von
Natur ist der Deutsche der Satzung feindlicher, well er
meint, eine Satzung enge seine Unabhängigkeit ein. Er
vergisst, dass Satzungen dazu da sind, um übertreten
zu werden. Hat er aber eine Satzung angenommen,
dann ist er unerbittiich. So wird der von Haus aus viel
— 94 -
Unabhängigere erst recht zum Sklaven des Gesetzes.
Der Hauptgrund deutscher Polizeiverordnungen z. B. ist
die Annahme: „Wenn jeder das tun wollte.'' Der Franzose
wartet erst ab, ob jeder das tun wird. Er lässt die
Realität ruhig an sich herankommen, der Deutsche baut
leichter auf Hypothesen. Haben wir Erzzweifler uns
einmal fOr eine feste Satzung entschieden, dann wird sie
zum kategorischen Imperativ. Darin verstehen die Deut-
schen keinen Spass. Sie vertragen nicht, dass man mit
ethischen oder metaphysischen Ueberzeugungen seinen
Spott treibe, und zwar darum nicht, weil sie den boden-
losen Abgrund anarchischen Zweifeins fürchten, über den
sich die Ueberzeugungssätze brücken. Wohin würden
solche Zweifel führen? Was wäre dann noch heilig?
Vor allem fragt der Deutsche: Was ist der Zweck des
Lebens? Da er das in seiner Ueberzeugung beantwortet
glaubt, ist ihm seine Ueberzeugung heilig. Wer daran
rütteln will, sündigt gegen das Heilige. Die Frage ist
nur die: kann man den Zweck des Lebens wissen? Wer
dies verneint, wie wäre dem irgend eine Ueberzeugung
heilig? Er lässt jedem die, welche ihm am besten ge-
fällt, aber Scherz muss sich jeder gefallen lassen. Und
wer weiss: dieser Scherz dient vielleicht selbst der Wahr-
heit, indem er gerade die schwachen Seilen der Ueber-
zeugungen trifft. Die Skepsis des Deutschen stellt das
Leben selbst in Frage, der Franzose nimmt die Realität
des Daseins, des sozialen Lebens als das Gegebene.
Er braucht — so paradox es klingt — keine „Ueber-
zeugungen*", keine „Weltanschauung'', denn ihn stützt
eine teils ausgesprochene, teils unausgesprochene Kon-
vention mit ihrer etwas flachen, aber sehr brauchbaren
Lebensweisheit. Erhebt er sich nur ein wenig über den
— 95 —
Durchschnitt, so erkennt er das summarisch Paradoxe
der Konventionen, aber er hält sich daran; sein Zweifel
übt sich an ihren Einzelsätzen, er untergräbt sie nicht.
Die Revolution ist kein Gegenbeweis. Sie war eine
Magenfrage fttr die allzu rücksichtslos von der Krippe
Verdrängten. Gedanklich hat sie nicht einen Satz aus-
gesprochen, der nicht bereits in den Salons des 18. Jahr-
hunderts aus dem klassischen Geist herausdestilliert
worden war. Sie ist nie antisozial gewesen. Ihr Grund-
gedanke ist der konventionelle .contrat social'.
Der Deutsche zweifelt gründlicher. Wird ihm eine
Ueberzeugung fraglich, so sucht er sie zunächst — aus
Angst vor dem Abgrund des Zweifels — zu halten, so
lange er kann d. h. bis er eine andere findet, die ihn
besser trägt. Bisweilen misslingt dieser Sprung und er
fällt in den Abgrund. Andere stehen unentschieden mit
einem Bein auf der einen, mit dem andern Bein auf der
andern Brücke. Unsere Extreme sind der Prinzipienreiter
und der Anarchist. Eine allgemeine menschliche Kon-
vention zwischen den verschiedenen „Messieurs** und
„Mesdames", das, was die Franzosen „entregent" nennen,
kennen wir nicht; wegen des vielen Unvernünftigen,
Unwahren, das eine solche Konvention immer einschliessen
muss, kommen wir nicht dazu, ihren Grund von Vernunft
und Liebenswürdigkeit jeden Augenblick gegenwärtig zu
behalten. Unsere Konventionen gelten nur für bestimmte
Klassen, sie sind daher schroff, finster und kalt, reizen
zum Widerspruch und zur absichtlichen Formlosigkeit:
Corpsstudenten und „Wilde*, Offizierseleganz und Jägeri-
aner. Es ist merkwürdig: während die französische Kon-
vention den Zweck hat, die Menschen einander zu nähern,
dient die deutsche dazu, sie zu trennen. Eine sehr
— 96 —
französische Einrichtung z. B. sind die periodisch wieder-
kehrenden Banlcette, bei denen sich Leute verschiedener
Lebenskreise, aber mit doch einem einzelnen gemeinsamen
Interesse treffen und verstehen, ohne ihre Gegensätze zu
betonen. Bei uns trennen Beruf, Klasse und Ueberzeugung
unerbittlich. Unser gesellschaftlicher Wahlspruch heisst:
„alles oder nichts'', und die Wirkung davon ist: nichts.
Es gibt keine deutsche Gesellschaft, sondern nur einzelne
Kreise, Cenakel und Konventikel gegenüber der Militär-
und Beamtenhierarchie.
*
Deutsche und Franzosen wissen, dass der Schein
verwirrt; aber der Franzose empfindet: diese Verwirrung
ist das Leben .... ndvxa pd. Der Deutsche meint,
diese Verwirrung bedeute höchstens das Leben. Das
wahre „ens'' liege erst dahinter. Viele deutsche Denker
verbringen ihr Leben auf der Suche nach dem wahren
Sein, das weder wird, noch vergeht, sondern ist, hinter
dem Leben. Die deutsche idealistische Philosophie ist,
wenn nicht die sublimste Wahrheit» die erhabenste Don
Quixoterie der Weltgeschichte.
*
Es ist die Frage, wer klarer ist: der, welcher die
Unklarheit auf klare Weise erkennt und sagt: das Leben
ist unklar, oder der, welcher a priori annimmt: es ist
eine Klarheit, ein System darin, und der dieser apri-
oristischen Klarheit zu liebe eine willkOrliche, den Lebens^
tendenzen widerstrebende gewaltsame Ordnung schafft.
Ein Berliner Freund, der mich in Paris besuchte,
hatte bereits von der Bahnhofsdroschke aus den Grund-
charakter des Pariser Lebens erkannt; alles, was er
später eriebte, ordnete sich dem ersten Eindruck unter;
— 97 —
in Paris kreuzen sich nämlich die meisten Strassen dia-
gonal und die einzelnen Seitenstrassen verästeln sich oft
gleich wieder in zwei oder drei Gassen, sodass an einer
Kreuzung häufig sechs bis acht Wege zusammenlaufen. Das
gibt die Empfindung , dass hier das Unübersichtliche,
Geheimnisvolle , Unendliche , Incommensurable schon
zwei oder drei Schritte von einem entfernt beginnt, während
die gewaltsame Rechtwinklichkeit des Berliner Strassen-
netzes das Ungewisse , Unfassbare , Fliessende des
Lebens verneint oder an den Horizont verbannt. Das
ist mehr als eine bloss ästhetische oder gar technische
Frage.
Die Lust der Franzosen an der Erscheinung und der
Trost, den sie ihm jeden Augenblick in seinen geliebten
Strassen, Kaffeehäusern und Promenoirs bereitet, grenzt
oft ans Kindliche. Wenn ich ins Theater gehe, um ein
Stück zu sehen, so ärgert es mich, wenn mir ein Damen-
hut den Blick auf die Bflhne versperrt. Da es bei uns
den Meisten so geht, sind den Damen in deutschen
Theatern die Httte verboten. Wie kommt es, dass der
Franzose sich diesen Missbrauch gefallen lässt? Weil er
ins Theater geht, nicht allein, um das Stück zu sehen,
sondern — um ins Theater zu gehen; und zum Theater
gehören Damenhüte, Parfüms, Bonbons, nackte Schultern,
Freunde in den Logen, kleine Zwischenfälle u. dergL
ebenso gut als das Stück. Er ist kein Spielverderber
und bewahrt seinen Gleichmut; aufs einzelne kommt es
ihm nicht so sehr an. Diese Lebenskunst macht jeden-
falls sehr genussfähig und erspart viel Aerger.
- 98 -
Wir sind stets an unser Ichbewusstsein gebunden.
Setzen wir uns zur Erholung vor ein Kaffeehaus, in einen
öffentlichen Garten, Mrir tragen immer unser Schicksal
mit herum, unsere Pläne oder wenigstens unser Stunden-
programm, und auf der Reise den guten Baedeker. Wir
verlieren uns schwer als Atom an das uns umgebende
Leben und sehnen uns darum um so stärker danach.
Daher unsere reflexive oder lyrische Grundstimmung
gegenober der Welt. Der Franzose ist mehr Beobachter
und Maler. Aber die französische Hingabe schwillt nur
selten zu pantheistischem Rausch; das skeptische Unter-
bewusstsein schlummert leise während der glühendsten
Augenblicke; so wie man sich bei einer Frau einen Nach-
mittag lang vergessen kann und will, auch wenn man
weiss, dass sie eine Gans ist. Das wäre undeutsch. Der
unverbrauchtere Deutsche nimmt noch manche Bovary ernst.
Was schleppt unser Einer alles mit sich herum an
Ueberlegung, Verzagtheit, Bedauern, Hoffen! Alles das
stört die Maschinerie unseres Lebens. Der Franzose ist
viel weniger kompliziert und stets , bereit"; seine Maschine
ist oft klein, aber sie läuft immer wie frisch geölt. Seine
GefOhle und Sehnsüchte sind fast primitiv gegenüber den
unsem. Hat ein französischer junger Mann für die nächste
Zeit zu leben, liebt er nicht gerade eine ihm unerreichbare
Frau, und ist er in Paris, worüber sollte er sich Sorgen
machen?
♦
Das französische Leben ist wimmelnder, bunter,
wärmer, animalischer und zwangsloser als unseres: unter
den Bäumen der Boulevards sitzen säugende Mütter und
Ammen, Männer verrichten öffentlich ihre natürlichen Be-
dürfnisse, in den elegantesten Restaurants sind oft Herrn-
— 99 —
und Damentoiletten nicht getrennt und sie werden harm-
los und verstohlen als Stelldichein ftlr weitere Verab*
redungen benutzt durch die, welche sich von verschiedenen
Tischen aus mit Zeichen verständigt haben. Was für
Physiologika werden auf Strassen, in Eisenbahnen, auf
der Bahne unbefangen verhandelt, gesungen und gespielt!
In Caf6s und Omnibussen hockt man dicht aufeinander,
niemand scheint fremde Ausdünstung und Wärme zu
scheuen. In den vornehmsten Speisehäusem hört man
die Leute schmatzen, und sieht sie aufs Beunruhigendste
das Messer missbrauchen. Trotz weiter Verbreitung einer
raffinierten Nagelpflege sieht man nicht selten aus einem
zartfarbigen Handschuh ungepflegte Hände schlüpfen, oder
schwarze Fingernägel ein zartes Battisttuch zerknüllen.
Die Ausdruckswetse der Männer untereinander und mit
ihren Maitressen, der von Börsianern, Künstlern, Studenten
ziemlich allgemein angenommene Argot, ist zwar weniger
abgeschmackt aber physiologisch viel derber als unsere
stichelnde und kalauernde Umgangssprache. Vielfach
wird dieser Argot von nichts ahnenden Fremden in die
Salons geschleppt, wo er als ärgerlicher Mangel an Er-
ziehung gilt. Das romanische „laisser aller** ist vielleicht
nur darum möglich, weil sich dahinter ein sicheres Takt-
gefühl verbirgt: alles an seinem Platz. Der Franzose
raucht, speist und trinkt Bier in verschiedenen Lokalen.
Im Restaurant findet man daher keinen Tabaksqualm, im
Caf^ oder Bierhaus keinen Speisegeruch. Die Begriffe
von Ordnung sind umgekehrt wie bei uns. Die Ordnung
ist niemals da, weil „Ordnung sein muss**, sondern sie
dient einem schnell sichtbaren Zweck und chikaniert
darum nicht.
*
7*
— 100 —
Bei einer Umfrage über ihre Haupteigenschaften sind
die Franzosen vor einigen Jahren zu dem Resultat ge-
kommen, dass sie vorwiegend Massigkeit, Klarheit und
Ordnung besitzen. Lauter formale Eigenschaften. Wir
würden uns vielleicht GemHtstiefe, Ernst und Zähigkeit
zuschreiben. Den Franzosen mflssen wir in ihrem
Entscheid aber sich selbst recht geben, wenn diese
Eigenschaften nur für das persönliche Leben Geltung be-
anspruchen. Der einzelne Franzose ist massig im Be-
tragen, geordnet im Denken, und lässt nicht so leicht
etwas in seinen Kopf, was die Klarheit stören könnte;
schon die Genauigkeit der Sprache steuert der Vor-
stellungsverwirrung. Dagegen ist er unmässig in seinen
politischen Leidenschaften, wie die französische Eroberer-
politik des 17., die Revolution und das Staatsleben des
19. Jahrhunderts zeigten, unklar in seinen sozialen Gefühlen,
die bei allem prinzipiellen Demokratismus „ancien rägime""
bleiben, ungeordnet in allen Einrichtungen des Verkehrs
und der öffentlichen Wohlfahrt.
Drittes Intermezzo.
Ich wollte in diesem Kapitel Widersprüche weder
feststellen noch versöhnen, sondern zeigen, dass jedes
Ja ein Nein ist. Ich habe gesagt, die Franzosen seien
verschwenderisch, sparsam, künstlich, natürlich, frei, ge-
bunden, alt, kindlich, geordnet und lässig, kurz: ich be-
hauptete nicht viel weniger, als das schwarz weiss ist
und fflhle kein böses Gewissen deshalb. Sophistik?
Vielleicht. Einer Lebenserscheinung ist am Ende nur
durch ein Sophisma beizukommen, eine Lebenserscheinung
ist nicht so oder so, sondern so und so im selben
Äugenblick. Es ist ein wichtiger Einwand gegen unsem
logischen Verstand, dass er uns solche Lebenseinheit in
Gegensätze wie gut-böse, schön-hässlich, richtig- falsch
u. dgl. zerreisst. Das lässt uns, versponnen in unsere
Individualinteressen, die Augenblicke eriebter Welteinheit
so leicht vergessen und die geheimnisvolle Dynamik des
Schicksals kleinlich missdeuten.
Fern davon, „ira et Studium ** zu vermeiden, möchte
ich in jedem Augenblick, jeder Erscheinung gegenüber,
beide Gefühle aufkommen lassen: Abneigung und Vor-
liebe, und mich dadurch dem Lebendigen ein wenig
nähern ; so wie wir das Wesen der Menschen und Dinge
am stärksten erkennen, die wir gleichzeitig am meisten
geliebt und gehasst haben.
Drittes Kapitel.
Sprache und Stil.
Wer zu den Sinnen nicht klar spricht^
redet auch nicht rein zum Gemüt.
Goethe.
So wie ein Mensch nach seinen
Worten, so kann man eine Nation
nach ihrer Sprache beurteilen.
Rivarol, de Puniversalitö de la
iangue fran^aise 1783.
(1. Wortarmut und Nuancenreichtum. 2. Enge und Klar-
heit. 3. Sprachliche Fremdkörper. 4. Sprachkultur.
5. Poesie und Umgangssprache. 6. Der Stil : Natariichkeit^
Kürze, Klarheit. 7. Verpönte Worte.)
I. Wortarmut und Nuancenreichtum.
Man kann die französische Sprache nicht besser
loben, als es Hugo von Hoffmannsthal getan hat*):
„. . . die relative Armut ihres Wortschatzes ist durch
unaufhörliche Uebertragungen aus einem Gebiet ins
andere zu einem unbeschreiblichen Reichtum geworden.
Wir in unserer unendlichen fast mystischen Sprache sind^
*) Die Zeit, Wien, 6. Nov. 1897. Hofmannsthal, französische
Redensarten.
— 103 —
wenn wir uns nicht in eine dunkle Bildlichkeit flQchten
wollen, viel unbeholfener, viel schwerfälliger, viel ärmer,
das zu sagen, was das Leben des Herzens und des all-
täglichen Denkens ausmacht. Das Gewimmel von
Wendungen aber, mit denen das französische das
innere Leben malt, hat in allen Uebertragungen nur
immer mehr Bestimmtheit und Anmut gewonnen. Ein
älterer Gebrauch sticht hie und da durch und erinnert,
dass eigentlich vom Acker, vom Weingarten, vom Web-
stuhl hergenommen ist, was heute zum Ausdruck innerer
Vorgänge dient, die weit weg sind von der schweren
ehrwardigen Ackererde, vom fröhlichen Weingarten, vom
friedfertigen Webstuhl. Es ist eine weltlichere Sprache
als die unsere. Ganz deutlich hört man auch vergangene
weltliche Dinge aus ihr reden, hie und da den Ton des
Königs und seiner Hofherren, hie und da die Stimmen
von Bauern, von Gerichtsleuten, von Frauen, vielen Frauen,
und auch von Kindern.''
Dabei hat die französische Sprache mit der Ent-
wickelung des modernen Seelenlebens gleichen Schritt
gehalten, sie vermag, wie keine andere, das vielspältige
heutige Sein zu spiegeln, sowohl in seinen poesievollen
Schattierungen, als in seinen psychologischen und ge-
sellschaftlichen Nuancen. Daher die Dichtheit der franzö-
sischen Kultur, die nicht unser Vakuum zwischen Bildung
und Unbildung oder unsere Extreme: Verbildung und
Roheit kennt. Ohne zu Fremdwörtern oder wissenschaft-
lichen Fachausdrucken greifen zu müssen, mit allgemein be-
kannten Vokabeln analysiert oder malt der französische
Autor die unerhörtesten Seelenzustände der Ausnahme-
naturen und die Erscheinungen des sozialen Massen-
daseins. Das moderne Leben entzieht sich für ihn nicht
— 104 —
der Poesie: Frankreich hat den modernen Roman nicht
nur erfunden, sondern allein zur Vollkommenheit gebracht;
es hat, seitdem es eine Komödie besitzt, das jeweils
moderne Leben selbst in Versen auf die Bahne zu bringen
vermocht. Dagegen erkennen die Franzosen selbst in
ihrer Sprache eine Neigung zu kalter Trockenheit („ten-
dence ä la s^cheresse'' sagt der Philolog Arsöne Dar-
mesteter), die uns oft vor ihren Uebersetzungen aus
fremden Sprachen frösteln lässt, sobald Zustände ge-
schildert werden, die durch Einfachheit oder Erhabenheit
ausserhalb der modern gesellschaftlichen Menschenbe-
ziehungen liegen: Gottfried Keller wie Hölderlin, Homer
wie Shakespeare versagen im f ranzösichen , während
die antiken Prosaiker, Goethes Romane, Edgar Poe
in französischer Uebersetzung nicht viel einzubüssen
brauchen.
Es ist nicht unwichtig, dass der französischen Sprache
der Ausdruck für den Begriff fehlt, welcher alles Leben
zusammenfasst und aller Poesie zugrunde liegt, sie be-
sitzt kein ursprüngliches Wort für „werden**, (ftifveoftat)
wie wir es z. B. in Goethes: „stirb und werde** ver-
stehen. Dem Kompositum devenir fehlt jeder metaphysische
oder dichterische Bezug. Der an deutscher Philosophie
genährte ' Laforgue versucht allerdings, von „le devenir*
zu reden, aber das französische Wort bleibt blass. La-
rousse erklärt seine Bedeutung als „auf dem Weg sein,
etwas zu sein** (6tre en voie d'Stre quelque chose). Sehr
häufig reduziert sich in dieser Weise der Begriff des
deutschen, griechischen oder englischen Ausdrucks in
französischer Uebersetzung; aber oft ist es auch umge-
kehrt, sobald man nämlich die eigentlich poetische Sphäre
verlässt und die soziale betritt. Ein durch die Fülle
— 105 —
dessen, was es im Nu heraufbeschwört, talistnanartige^
Wort ist z. B. „ancien regime''. Wenn es zunächst die
frühere Staatsform des KOnigstums ausdruckt, so gibt
doch die Uebersetzung „frfihere Herrschaft** auch noch
nicht einen Hauch des französischen Wortes. Regime
ist zugleich jede Art von Regelung des Daseins, der Ver-
waltung von Geschäften, des persönlichen Verhaltens,
ganz besonders der Ernährung; regime bezeichnet ge-
wisse Verträge, gesetzliche Verordnungen, es kann ein
System bedeuten und noch manches andere. So enthält
„ancien regime** die Gesamtheit des früheren Lebens vor
der Revolution. Aber es dient nicht nur als kurzes
praktisches Zeichen für diesen komplizierten, im Deut-
schen ganz abstrakten Begriff; es ist durch so viele Wort-
verbindungen gegangen, mit so vielen Erinnerungen be-
laden, es lässt so viele Assoziationen an die lettres de
cachet, an Spiegelräume mit gepuderten Duchessen, an
Gottlosigkeit und Schäferei anklingen, dass es zu einem
konkreten Ausdruck voll poetischer Bildlichkeit und
Sehnsucht geworden ist, wie Stadt, Dorf, Feld, Wald,
Schatten und Wüste.
Neben der Lust, farblose Worte mit Beziehungen zu
umspinnen, hat der Franzose eine angeborene Abneigung ae/.&rmmM
gegen kräftige^ und farbige Worte. Trotz der Wort- u^i^' ^
renaissance die mit der Romantik begann und während
des Naturalismus und des Symbolismus dauerte, ist die
Neigung zum blassen, aber beziehungsreichen Ausdruck
geblieben. Man findet zwar im Wörterbuch das grauen-
erfüllte Wort „spectre* für Gespenst, aber angewendet
wird fast nur „le revenant"; und merkwürdig: obwohl
die Participialform des harmlosen Wortes „zurück-
kommen'' in sich farblos und nichtig ist, wirkt dieser
— 106 —
Ausdruck so schemenhaft unheimlich, dass E. T. A.
Hoffmann ihn als Fremdwort noch unserem wahrhaftig
eindrucksvollen „Gespenst'' vorzieht.
2. Enge und Klarheit.
Die hochdeutsche Sprache ist durch das Bedürfnis
der verschiedenen Kanzleien entstanden, sich bequem
zu verständigen. Gesprochen wurde sie niemals. Noch
heute bedient sich ihrer nur ein kleiner Kreis besonders
gebildeter, vorwiegend norddeutscher Menschen, die sich
durch Beruf (Schauspieler, Geistliche, Lehrer etc.) oder
Schicksal (auswärtige Beziehungen und Reisen) an sie
gewöhnt haben. Die Sprache der Isle de france dagegen
wurde Landessprache, weil der König sie tatsächlich
sprach. Um dieselbe Zeit, da der deutsche Kaiser das
Wallonische dem Deutschen vorzog, dekretierte der
französische König durch das Edikt von Villers-Cotterets
sein Idiom zur Amtssprache. Wenn auch die Provinzen
anfangs Widerspruch erhoben, sagt bald der Dichter
Ronsard, der doch nebenbei die Dialekte zur Bereicherung
des Wortschatzes empfiehlt: „Weil heute unser Frankreich
nur einem einzigen König gehorcht, sind wir gezwungen»
wenn wir zu Ehren kommen wollen, seine Sprachen zu
sprechen, andernfalls unsere Mähe, wäre sie noch so
ehrenhaft und vollkommen, gering geachtet oder vielleicht
gänzlich verachtet würde."
Schon an der Wiege der modernen französischen
Sprache erhebt sich der bedeutende Konflikt zwischen
— 107 —
den Verfechtern des Wortreichtums und der Reinheit.
Noch Montaigne hatte gesagt: ,,Mag das Gaskognische
herhalten, wenn das Französische nicht ausreicht!'' (que
le gascon y aille, si le fran^ais ne peut.) — Malherbe
fürchtet die Verwirrung, Ronsard die Armut.
Wenn nur Malherbe selbst etwas mehr Dichter ge-
wesen wäre! Er hat die Wurzeln der französischen
Sprache abgeschnitten und ihr die Nahrung aus den
Unterschichten des Volkstums entzogen. Ihm verdankt
sie die gewollte Wortarmut, aber auch zugleich ihre
Disziplin und Klarheit, die das, was für die höchsten
gesellschaftlichen Kreise geschrieben ist, dem ganzen
Volk verständlich macht. Wenn sich auch die französische
Literatur nicht aus dem Volksgeiste nährt, so nährt sie
wenigstens den Volksgeist. Deutsche Bücher dagegen
sind meist zu schwer verdaulich für die Mehrheit. „Man
schreibe nicht für das Volk, noch brauche man alle
Worte, die das Volk gebraucht,** sagt Malherbe, doch
er fügt hinzu: „aber auch keine, die das Volk nicht ver-
stehen könnte**. Vaugelas nimmt diesen Gedanken auf:
„Man schreibt gut, wenn man von allen verstanden und
von den honnStes gens*) gebilligt wird.** Balzac sagt:
„Malherbe lehrte zuerst, dass man rein, mit religiöser
Sorgfalt schreiben müsse, dass „wählen können** das
Geheimnis des guten Gedankenausdruckes ist.** Diese
Vorzüge haben die französische Sprache zur Weltsprache
gemacht, deren Kenntnis noch heute den meisten Kultur-
stoff vermittelt, obwohl die englische über einen viel
grösseren Teil der Erde verbreitet ist.
*) „honnötes gens" ist unübersetzbar, nicht zu verwechseln
mit „gens honnötes'.
— 108 —
Die Enge des Malherbe'schen Systems wurde bereifs
von seinen Zeitgenossen erkannt Sein Gegner, der viel
dichterischere R^gnier, spricht den gefährlichen Gedanken
aus, der noch heute manchen Nichtdichter ermutigt:
,,Man muss die Feder laufen lassen, wohin sie der
Schwung führt. Man darf Apollo nicht mit rauhen Ge-
setzen belästigen." Die rechte Lösung findet der von
dem dummen Boileau gehöhnte Th^ophile de Viau:
„Niemals macht ein guter Kopf eine Sache anders als
ungezwungen," womit ja nicht gelobt wird, was ein
schlechter Kopf ungezwungen tut.
Kant ist selbst fOr den gebildeten Deutschen, soweit
er nicht „Philosoph von Fach" ist, nicht lesbar. Mit
zahllosen Vorbehalten und Einschränkungen, Warnungen,
was man nicht in ihm suchen soll und welche Missver-
ständnisse man ja vermeiden möge, wird er einem vom Pro-
fessor in die Hand gegeben. Mag der feine Stilist
Schopenhauer der geringere Philosoph sein, seine Schrif-
ten wurden und werden in Europa gelesen und „weil sie
französisch sprach, eroberte die Descartes'sche Philosophie
Frankreich*)." Den Discours de la methode kann jede
solid gebildete Frau verstehen. „Das literarische Ideal*
des (17.) Jahrhunderts in seiner zweiten Hälfte war nur
die ausgebreitete Anwendung der kartesianischen Ideen
auf die Werke des Geistes: Universalität der Vernunft,
Identität des Wahren und Schönen, gleich starke Ab-
lehnung der Einbildungskraft und Gelehrsamkeit (wo-
runter ihre mittelalterliche Uebertreibung in Fantastik und
Pedanterie zu verstehen ist), die Neigung zur Einheit in
der Komposition, zur Einfachheit in den Mitteln; das
♦) Lavisse et Rambaud V, 471.
- 109 —
Studium des abstrakten Menschen und des Allgemeintypus
wird der Beobachtung der möglichen und an den Ort
gebundenen Tatsachen vorgezogen."
Solche Theorien erscheinen heute trocken und kalt,
künstlich und gewaltsam, doch sie hinderten nicht einen
Moliere. Auch der modern empfindende, psychologisch
analysierende Verfasser der „liaisons dangereuses" steht
literarisch noch unter ihrer Herrschaft. Ja diejenigen
Kapitel der „Wahlverwandtschaften", die wir als höchste
Formulierung des Genies bewundern, sind nicht ohne
die Zucht dieser Prinzipien zu denken ; freilich erscheinen
sie, oft bereichert durch eine ganz moderne sinnliche
Plastik, als Stilsynthese, die für jdie hohe Prosakunst
schlechthin gelten kann. Wo französische Erzähler be^
sonders gross sind, erinnern sie unwillkürlich an Goethe,
und gerade die besten Prosaschilderungen Goethes lassen
oft an die Franzosen denken. Ich glaube, der reife
Goethe hätte diese Parallele nicht abgelehnt. Den ersten
Teil folgenden französischen Stilrezeptes hat er jedenfalls
stets eingehalten: „Die Einbildungskraft der Beobachtung
unterordnen, infolgedessen mehr klar sein als hinreissend
und blendend; sein Werk einteilen nach einem sauberen,
genauen, folgerichtigen, ja symmetrischen Plan.*'
3. Sprachliche Premdkörpen
Die natürliche Entwickelung der Sprache ist eben-
sowenig wie irgend eine andere Entwickelung vernünftig,
logisch oder rein, sondern ungewollt, unbewusst und darum
organisch. Wie sich tote Wurzeln und Steine mit tief-
— 110 —
grOnem Moos Aberziehen, wie eine wucherische Epheu-
hOlle einem Stamm sein Mark entsaugt, bis sie mit ihm
niederfällt und auf ihm weiter gedeiht, ohne dass man
darunter eine fgestOrzte Eiche vermutet, so spriesst,
wuchert, verschlingt und gebiert die Triebkraft der Sprache
in evdgem Kampf ums Dasein, ohne Ehrfurcht vor den
Einzelwesen der Worte und Stämme, die unaufhörKch
neu erstehen, verwachsen und sterben, nur auf die Er-
haltung des Gesamtlebens bedacht. Die Sprache ist der
ausgemachte Feind aller Etymologie. Sie missversteht
sich naturgemäss selbst, verwechselt ihre eigenen Wurzeln,
pfropft Reiser auf, missdeutet alles Fremde und erfüllt es
mit ihrem eigenen Leben: der Gelehrte spottet Ober
solches Mimicry und mOchte ihm Einhalt gebieten, der
Dichter frohlockt
Die französische Sprache hat wie ein gesunder
Körper die fremden Elemente, mit denen sie in BerOhrung
kam, entweder abgestossen oder organisch zu eigenem
Fleisch werden lassen. Weder hat sie sich in herber
Jungfräulichkeit verschlossen, noch ihren Schoss wahllos
jeder Befruchtung geöffnet. Sie ist stets instinktsicher
gewesen, und das ist fast so viel wie genial, denn Genie
verlangt vor allem: den Instinkt zu sich selbst besitzen,
im rechten Augenblick „ja'' oder „nein'' sagen können.
Auch wir besassen einst dieses Genie, als wir noch in
schönem Widersinn, aber im Geist unserer Sprache
z. B. aus „Mediolanum" oder „Milano" Mailand schufen;
aber in der ersten Hälffe des 16. Jahrhunderts ist das
deutsche Genie erkrankt und — ein wesentlichstes Symp-
tom dafür — unsere sprachbildende Kraft fast versiecht.
Später haben wir unsere Blossen mit fremden Lappen
verhüllt: wir besitzen ein Vokabular unorganischer Fremd-
— 111 ~
Wörter, das umfassender ist als der gesamte Wortschatz
der französischen Klassiker*).
Arstoe Darmesteter (Qrammaire HI, 141) sagt: ,in
Fragen der Sprache ist das Volk souverän ; seine Irrtümer
werden Gesetze, sobald sie einmal angenommen sind.''
Aus Wirre guerre zu machen ist genial, aber Cicero oder
üve o'clock in fremder Aussprache zu Übernehmen, ist
nur gelehrt oder gebildet. Wo solcher Gebrauch besteht,
kann ihn der Einzelne natürlich nicht umgehen, ohne erst
recht fremdartig und lächerlich zu wirken.
Wenn die Franzosen z. B. aus adamantem die Form
aimant (= Magnet) bilden, so entsteht der falsche Schein,
der geheimnisvoll anziehende Magnet sei ein Liebender
(part. pr£s. von aimer), und dieser falsche Schein ist so
reizend wie die wucherische Mistel in den Baumkronen,
denen sie zu entwachsen scheint. Aehnlich entsteht fleurs
blanches aus flueurs blanches. So ist das italienische
camavale nicht, wie es so reizend scheint, der Abschied
vom Fleisch oder von fleischlicher Lust, sondern eine
Umbildung des alten carrus navalis: eine tote philologische
Erinnerung.
Darmesteter (III, 132) weist auf den Unsinn der
Grammatiker hin, die den Bedeutungswandel (Tropus)
als Missbrauch (Katachrese) brandmarken, verkennend,
*) Die instinktive Abneigung der Franzosen gegen das
stets als barbarisch empfundene Fremdwort beweist z. B. die
Tatsache, dass die gebildetsten Damen des Holbach'schen Kreises
(s. Diderots Korrespondenz mit Sophie VoUand) sich nicht an das
ungeheuerliche Wort „Encyclopädie" gewöhnen konnten, sondern
,,Socoplie^ oder ähnlich sagten, ohne dadurch ungebildet zu er-
scheinen oder ihren geistigen Einfluss auf die besten Köpfe der
Zeit zu verlieren.
— 112 —
dass dieser Missbrauch einem Lebensgesetz der Sprache
folgt. Dass der Spiegel = glace im Französischen an
die Eisfläche erinnert, ist ein poetischer Reiz mehr. Man
kann sagen : je widersinniger eine Sprache sich fortbildet
und Fremdes assimiliert, desto lebenskräftiger ist sie noch.
Der deutsche Genius war ungebrochener, als er sich nicht
scheute, aus valise Felleisen zu machen, obwohl das Ding
weder mit Fell, noch mit Eisen was zu tun hat, oder aus
Chance Schanze zu bilden (in der Verbindung: in die
Schanze schlagen). Felleisen und Schanze klingen deutsch,
sind Fleisch von unserem Fleisch, fügen sich mühelos in
unsere Prosa und reimen auf deutsche Silben. Wenn
man das französische Wort boulevard (von Bollwerk) in
der heutigen Bedeutung herübemehmen wollte, es wäre
besser, den Wahnsinn zu begehen, Bullfahrt oder BuU^
wahr zu sagen, als den französischen Klang als Fremd-
körper in unser Fleisch zu pressen. Gegen die Krankheit
der unaufsaugbaren Fremdwörter hilft leider nicht einmal,
die Worte zu übersetzen, denn oft ist die Uebersetzung
noch gewaltsamer als die fremde Form, die vielleicht
durch mannigfache Verbindungen sich immerhin ein wenig
eingewurzelt hat und Tönungen annahm, welche die Ueber-
setzung nicht wiedergeben kann. Wie sind nun einmal
auf das Fremdwort angewiesen, zumal wo es sich um
Nuancen handelt.
Der französische Autor weiss nichts von dem Konflikt
zwischen dem barbarischen, nur dem Gebildeten ver-
ständlichen Fremdwort und der gezwungenen, oft erst
recht nicht verständlichen Uebersetzung.
Die Franzosen haben bekanntlich wenig Talent für
fremde Sprachen, umsomehr haben sie für ihre eigene;
- 113 —
unlogisch, aber ihrem Sprachorganismus gemäss, franzö-
sieren sie: le bock » das Glas Bier, le vasistas (aus
was ist das?) » das kleine Fenster.
Wie mit den Worten verfahren sie mit ganzen
Werken, wenigstens mit den dichterischen. Da ihr Wert
auf der Form beruht, die fremde Form ihnen aber unver-
ständlich ist, geben sie ihnen kurzer Hand eine franzö-
sische. Eine ins Französische abersetzte Dichtung muss
eine französische EHchtung werden, wenn sie gelesen
werden soll. Den uns lockenden Hauch der Fremdheit
schätzt man nicht. Bei dieser Umformung, in einer aus-
gesprochen unpoetischen Sprache, pflegen die ausländischen
Dichtungen ihr Bestes zu verlieren.*) (Ausnahmen zuge-
geben: viele ziehen die französische Prosaübersetzung
von Byrons Don Juan an manchen Stellen den schlechten
Versen des Originals vor.) Befriedigt eine französische
Uebersetzung den fremden Autor oder dessen Volk, so ist
sie gewiss unfranzösisch oder ,»mal äcrite.'' So die
Sabatiersche FaustObersetzung, welche viel mehr von
Goethe enthält, als die alte, freilich von Goethe
selbst gerühmte Uebertragung G^rard de Nervals. Die
Franzosen haben sich Jahrhunderte lang mit der Galland-
schen Barockübersetzung von 1001 Nacht begnügt, die
neue von Mardrus wird zwar von philologischen Kennern
gewürdigt, aber niemals populär werden; noch heute
ziehen viele Leute den fän^lonisierten Homer der Madame
Dacier der wörtlichen Uebersetzung von Leconte de Lisle
vor, die den Franzosen die richtige Orthographie der
*) „Die Grenze des französischen Wesens ist sein unge-
nügendes geistiges Alphabet, das ihm nicht erlaubt, die griechische,
germanische, spanische Seele zu übersetzen, ohne ihre Natur zu
verändern/* Amiel, Journal intime. 23. IV. 1862.
8
- 114 —
griechischen Namen zumutet. Hector, Alexandre, Troie
sind ihnen vertraut, aber Hektör, Alexandros, Trofö (wie
Leconte de Lisle will) scheinen ihnen barbarische, nur
Philologenohren erträgliche K19nge. Der Respekt vor
ihrer eigenen Sprache verbietet ihnen, irgend einer Sprache
Konzessionen zu machen, und wäre es die griechische.
Das aber ist gerade etwas, was sie mit den Griechen
gemein haben, denen alles nicht griechische barbarisch
war. Die sich stets wiederholenden bekannten Ho-
merischen Beiworte (die , schönen* Wohnungen, die
.weichen* Decken, die .wohlgebaute** Stadt), die uns in
der altertümlichen Vossischen Uebersetzung etwas von
der Übersichtlichen Einfachheit der heroischen Welt ahnen
lassen, werden im Französischen zu Banalitäten .*) Das
Französische ist dafür zu modern. Freilich ist ihm auch der
Archaismus erspart geblieben, der bei uns bisweilen mit
alten Klischees zu arbeiten verführt und vergessen lässt,
dass ausserhalb des antiken epischen Zusammenhanges
solche allgemeine Beiworte allerdings nichtssagend sind.
Die französische Sprache, die das ganze französische
Kulturgut dem ganzen Volke vermittelt, ist fast vollkommen
gegen die ausländische Dichtung gesperrt und wird es
wohl stets bleiben.
Wenn auch die französische Sprache infolge ge-
lehrter humanistischer Rückblicke auf das Lateinische
viel von ihrer ursprünglichen Assimilationskraft eingebüsst
hat, so sind doch die lateinischen Formen der Sprache
als einer romanischen nicht so ganz zuwider. Immerhin
♦) Remy de Gourmont, Probleme du style S. 84: „Wenn das
Homer ist, dann schrieb Homer recht schlecht.^
- 115 —
ist es schade, dass mfiretö verdrängt wurde durch ma-
turitä, frSlet6 durch fragilitS, mofltier durch monastöre/)
Oft bestehen (wie im Deutschen Pfalz— Palast, Spital—
Hotel, Pulver— Puder **) zwei Formen verschiedenen Alters
mit gleicher oder verschiedener Bedeutung und Nuance
neben einander: süretS— s6curit6, geindre— gfimir, chose—
cause, loyal— legal, raide— rigide, meuble — mobile, das suffix
„ation", das an Stelle der älteren Form „aison" tritt;
combinaison— combination*)
Viel bedenklicher sind die Sprachgifte des 19. Jahr-
hunderts, die auch in Frankreich gleichzeitig mit der
Auflösung der alten Welt und der Rationalisierung des
Lebens durch Napoleon zu wirken begannen. So wie
an Stelle der natürlichen Provinzen (Isle de france, Picardie,
Dordogne etc.), Departements mit beamtlichen Kenn-
worten treten (Seine et Marne, Hautes und Basses
Pyr6n6es etc.), so wie nicht mehr Strassennamen (rue
de laVerrerie, rue du Pr6-aux-Clercs, rue du pot au fer)
aus dem Leben des Tages zwanglos entstehen, sondern
eine rue du 4 septembre, eine rue Puvis de Chavannes
willkürlich dekretiert werden, ebenso tritt in der neueren
Sprachbildung eine willkürliche Ordnung ein, die dadurch
nicht fruchtbarer wird, dass sie logisch ist. Wie bei
uns wirken technische Ausdrücke der Fachwissenschaft,
die abstrakte Redeweise der Behörden, ein skurril tändeln-
der Internationalismus zersetzend auf die Sprache, die
freilich in ihren guten Schriftstellern und selbst vielen
Journalisten eine geschlossenere Schlachtreihe gegen den
Zeitungsjargon besitzt, als die deutsche Sprache. Engli-
*) dtiert von Arsöne Darmesteter III, 158.
♦*) citiert von Herrn. Paul, Grundprinzipien S. 232.
8*
— 116 —
sehe und deutsche Silben, ja ausländische syntaktische
Bildungen werden täglich der Sprache angeheftet, ohne auf-
gesogen zu werden. (So die anglisierenden Bildungen Paris-
Sport, Paris -Plage, Photo-Magasin, moto-naphta etc.*).
*
Am stärksten ist heute vielleicht noch die sprachbildende
Kraft des italienischen Volks. Chellerina (= Kellnerin),
crauti (= Kraut), puddino oder bodino (= pudding; selbst
blombodino = plumpudding habe ich auf italienischen
Speisekarten gelesen) machen den gebildeten Deutschen
lächeln, der sich bemfiht, den Gesetzen und der Aus-
sprache aller Idiome gerecht zu werden, ausser seinem
eigenen; sein geliebtes Deutsch hat er mit fremden Lauten
derart barbarisiert, dass selbst der sich ihrer bedienen
muss, welcher ihm diese Laute vorwirft.
3. Neuschaffung: von Worten.
Die barbarischen Benennungen der Wissenschaft
sind international. Worte, wie Osphresiologie oder
Splanchnologie verhunzen die französische Sprache nicht
minder als die deutsche. Solchen Wortungeheuern sind
bei weitem willkürliche Schöpfungen wie das Wort Gas
vorzuziehen, das der belgische Alchimist van Helmont
im 17. Jahrhundert mit der alleinigen Hilfe des Alphabets
erfand; im 18. Jahrhundert schon bürgerte es sich in
*) citiert von Remy de Gourmont, esth^tique de la langue
fran9aise, wo die modernen barbarisierenden Tendenzen im
Französischen ausführlich bebandelt sind.
— 117 —
allen europäischen Sprachen ein, als durch die ersten
Versuche mit Luftballons der Begriff des Gases populär
wurde. Vollkommen befriedigen nur die spontanen Wort-
schöpfungen, als deren anonymen Urheber man „das
Volk^ bezeichnet. Eine solche Schöpfung moderner Zeit
zitiert Remy de Qourmont: bateau-fumäe, das sehr schön
den ursprünglichen Eindruck des Dampfschiffes festhält.
Aber man hat vorgezogen, aus Rauchschiff Dampfschiff
zu machen, weil unsere dem sinnlichen abholde Zeit die
Erklärung der Darstellung vorzieht. Gewiss, nicht der
sich dem ausgeschiedenen Wasserdampf vermischende
Kohlenrauch, sondern der Dampf macht das Wesen des
Dampfschiffes — für den Wissenden, für den, der es in
der Werkstatt oder im Laboratorium gelernt hat. Welchen
Wert aber hat diese wissenschaftliche Genauigkeit? Wer
nicht weiss, was ein Dampfschiff ist, erfährt es durch
die Zusammensetzung der zwei Silben noch lange nicht.
Es ist ein Irrtum moderner Wortschöpfer, dass Worte
etwas klären sollen. Das bleibt stets ein untauglicher
Versuch. Jeder lacht heute Ober das „Gesichtsvorsprungs-
reinigungsinstrument" (statt Taschentuch) oder über den
„Gesichtserker", wie, glaube ich, die „fruchtbringende
Gesellschaft'' die Nase bezeichnen wollte und dennoch ist
das moderne Prinzip genau dasselbe. Worte wollen
ursprünglich darstellen d. h. klanglich oder bildlich an
etwas erinnern. In den modernen praktisch und intellek-
tuell beziehungsreichen und vielfach abgeschliffenen
Sprachen sinken die Worte meist zu konventionellen
Zeichen herab, die weder an sich schön noch hässlich,
sondern farblos sind, aber in glücklichen Zusammen-
hängen jederzeit wieder poetisch aufglühen können. Der
Ruin der Sprache sind erklärende Worte, sowie der
— 118 —
Schulmeister der Feind des Kflnstiers, der Pedant der
Feind der organischen Entwickelung ist. Bateau-fumte
ist eine vollkommene Vision, bateau ä vapeur eine un-
vollkommene Erklärung. Hie und da freilich geben auch
Worte, die aus der Zeit lebendiger Sprachschöpfung
stammen, wirkliche Eigenschaften an, aber dann ist es
Zufall, denn diese Eigenschaften sind fast immer neben-
sächlich. Darmesteter, (hist. de la langue fran(aise)
citiert Soldat = sold6, confiture = pröparation, cardinal =
important. Im Deutschen könnte man an „drucken'S
„Würfel", „Schriftsteller" etc. denken.
Wenn man Wissenschaft und Behörden fOr die Er-
stickung des spontanen Sprachgefühls verantwortlich
macht, dann ist der Büttel dieser beiden Mächte der
Journalismus. In Frankreich ist die wissenschaftliche
Bildung noch nicht so allgemein und populär, wie bei
uns, die Behörden und Regierenden erlassen weniger
Verbote und sind nicht so beredt, die Zeitungen stehen
stilistisch auf bedeutend höherer Stufe. Darum ist das
Volk, bes. das Pariser, noch immer nicht arm an spon-
tanen Neubildungen, die nicht nur in die französische, ja
in alle europäischen Umgangssprachen eingedrungen sind.
Ist in der blitzenden Kürze des Wortes „chic" nicht
wirklich ein schillernder Schimmer der farbigen Eleganz
unserer Zeit aufgefangen? Bei uns tritt Kontamination
ein mit dem einheimischen Stamme „Schick'', dem der
Eindringling neuen Glanz verleiht.
Die neueste, von den Behörden verständigerweise
genehmigte Bildung ist: autobus für automobil-omnibus.
Mir scheint dieses Wort im Sinne des Sprachgeistes voll-
~ 119 —
kommen. Der gelehrte Einwand, dass „bus' kein Fahr-
zeug bezeichnet, sondern ein lateinisches Dativsuffix ist,
hat für die Lebenden keine Bedeutung, ebensowenig wie
der lebende Römer sich erinnerte, was für ein Wort vor
Zeiten zum Suffix „bus'^ abgeschwächt worden ist. Auch
in der Sprache wächst neues Leben aus Zerfallstoffen.
4. Sprachkultur.
Die deutsche Kultur ist , Bildung', eigentlich sogar
Umbildung. Wie durch die Taufe wird der Mensch von
ihr in seiner Art anders gemacht. Der alte Barbar wird
ausgezogen, der Gebildete angezogen. Zwischen Ge-
bildeten und Ungebildeten besteht daher eine Kluft: die
Einen verstehen die idealistische Philosophie und klassische
Symphonieen, während den anderen diese Dinge so un-
bekannt bleiben, als ihnen ihre undeutschen Namen fremd
sind. In Frankreich würde schon die einheitliche, aus
den Bedürfnissen natürlich entstandene Sprache genügen,
um einen solchen Abgrund schnell zu überbrücken.*) Es
ist nicht nur ihre uns ein wenig verdächtige Sonorität,
*) Taine (La Fontaine et ses fables) ist der entgegengesetzten
Meinung. Galliertum und lateinische Kuhur schaffen nach ihm
einen unüberbrückbaren Abgrund zv^ischen dem Volk und der
Bildung von Versailles (heute von Paris), während in Deutschland
„eine Dienstmagd Sonntags Schiller liest und versteht^^ (!) Dass
das ganz niedere Volk in Frankreich in den Grenzen der „gau-
loiserie" verbleibt, ist wahr und lässt ihm oft einen ähnlichen
Reiz, wie den unserer Hochgebirgsbauem, an^welche die „Bildung*
noch nicht heranreicht
— 120 -
sondern mehr die bezaubernde Leuchtkraft ihrer Wendungen,
welche den Franzosen fOr die Magie des Wortes so
empfänglich macht. Die Suggestivität der treffenden
Wendungen ermöglicht die Gedanken so zu beflügeln,
dass sie in die verschwiegensten Fernen des Landes
ihren Weg und Überall Widerhall finden. Darum wird
in Frankreich das Bedeutende schnell populär. „Wo sind
die deutschen Volksmassen'', fragte Rahel von Varnhagen,
ydie man so anreden könnte, dass man von ihnen ver-
standen wird?*" Der einseitige Drill des Sozialismus hat
inzwischen wenig geändert.
In Frankreich hat die Sprache stets die Klassengegen-
sätze gemildert. Das Ober Nacht mit Brillanten bedeckte
Dienstmädchen lernt schneller die Ausdrucksweise seiner
ungewohnten Umgebung, als sich die rauhe Haut seiner
Arbeitshände erneut.
Der geistige Mensch ist in Frankreich durch das
Medium der Sprache unter dem Volk nicht so fremd, wie
bei uns. Man kann sich durch ein gutgefundenes Wort
leicht in seiner Menschlichkeit verständlich machen. Ich
habe in Deutschland einige Schwierigkeiten gehabt, Dienst-
boten an die Eigentümlichkeiten meines Lebens zu ge-
gewöhnen, sie sahen darin leicht Chikane und Willkür.
Unmöglich, sie von dem Notwendigen, Berechtigten einer
ihnen unbekannten Ordnung so zu überzeugen, dass sie
sich gerne fügen. In Paris sagte mir meine Bonne : ,0h,
ich kenne das, ich habe bei einem Maler gedient, da
konnte man nie wissen, um wieviel Uhr gegessen oder
aufgestanden wird. Oft war Madame stundenlang bei ihm
im Atelier, pour lui donner des idfies.** Einem deutschen
Dienstmädchen wäre dieser Vorgang nicht begreiflich
zu machen, da die Sprache keine Worte hat, die einfach
— 121 —
genug wären: „inspirieren*' ist ein Fremdwort, „begeistern*
ist Obertrieben, .anregen* ist ein Fachwort der Ateliers.
Oder man versuctie, folgendes Stück Dialog zu Über-
setzen^), das ich in dem caveau des innocents auffing.
Ein junger Mann kommt herein, halb als Arbeiter, halb
bürgerlich gekleidet. Er fragt nach Juliette; sie ist nicht
da. Eine andere kommt ihm in den Weg und sagt: „Je
tächerai d'Stre si aimable, que Juliette, ta präf^r^e.''.
Er: (schaut sie einen Augenblick an) „Mais tu la
surpasses.''
Soll man mehr die Natürlichkeit oder die Kunst
des Ausdrucks bewundern? Im Deutschen wäre das
in einer Komödie für Gebildete verständlich, niemals im
Leben.
Das beste Mittel, einen selbst einfachen Begriff dem
Volk zu sperren, ist, ihn mit einem widerborstigen
Wort zu bezeichnen. So ist „analyser" (bis auf den
lautlich immerhm mit i zusammenfallenden unfranzOsischen
Buchstaben y), ein französisches Wort, es befremdet kein
französisches Ohr, wird daher vom Volk behalten, wieder-
erkannt, ja bisweilen benutzt. Ich wage die paradox
klingende Behauptung, dass die analytische Fähigkeit
des einfachen deutschen Menschen aus dem Grund ge-
hemmt ist, weil für den Begrilf die bewahrende Kapsel:
das Wort fehlt. — Die einfachsten französischen Haus-
hälterinnen disponieren bekanntlich besonders gut über
ihre Zeit und Mittel. Bei den deutschen beklagt man
sich oft, dass sie so schlecht „ihre Zeit einzuteilen ver-
stehen". ,.Seine Zeit einteilen" ist eben etwas viel kom-
*) Vgl. die französischen Dialoge am Schluss des folgenden
Kapitels.
— 122 —
plizierteres als „disponieren''; „disponieren" aber ist ein
Fremdwort, das erst von einer bestimmten Bildungshohe
an begriffen wird. Die guten deutschen Haushälterinnen
sind meist etwas gebildet, aus besserer Familie, wo man
Begriffe und Worte, wie disponieren, arrangieren, kennt,
und darum sind sie seltener.
So werden auch fast alle Worte des höheren geistigen
oder gesellschaftlichen Lebens im Deutschen vom Volk
durch fremden Klang abgeschlossen und damit alle die
metaphorischen Beziehungen, die sich an Ausdrücke
knüpfen, wie: Harmonie, Rhythmus, Takt, Relief. Nur
ein ziemlich gebildeter Deutscher kann verstehen, was
Konvention, guter Ton, savoir faire, interpretieren, poin-
tieren u. dgl. heisst. Andererseits erwecken diese Fremd-
worte in hohem Mass die Eitelkeit des Bildungsprole-
tariats, das zu leicht glaubt, mit dem Besitz des fremden
Wortes, von dem es zudem meist nur eine Tönung kennt,
die Sache zu besitzen.
Die Wissenschaft verdankt einen grossen Teil ihrer
Popularität (nicht zu verwechseln mit Volkstümlichkeit)
ihrer reichen Versorgung mit Fremd Worten. Die Freude
Ober ein neues Wissen, das erlaubt, die Seele Psyche
zu nennen, gleicht nur zu sehr dem Frohlocken des
bourgeois gentilhomme, der mit Entzücken erfuhr, dass
das törichte, was er in einem fort redete, „Prosa" ist.
Am schlimmsten wird es, wenn die verbildeten Volks-
schichten selbst schöpferisch werden und — eine auch
in Frankreich häufige Erscheinung — ihre Handelsprodukte
klangvoll benennen: Parkettol oder gar Apfelin.
Der Deutsche, der plaudern oder Prosa schreiben
will, wird immer den Franzosen beneiden müssen, der
Dichter, der das Leben des Tages in den äusseren Vor-
— 123 —
gangen spiegelt, muss sich an Worte wie Friseur, Portier,
chambre separ^e stossen, deren grammatische Unrichtig-
keit (es mQsste wenigstens heissen: coiffeur, concierge,
cabinet particulier) lange nicht so schlimm ist, als ihr
im deutschen Zusammenhang barbarischer und anspruchs-
voller Klang. Darum ist in Deutschland der Vari^tä-Ge-
sang so widerwärtig, deshalb muss das Cabaret, wo es
künstlerisch wirken will, stets, wie Wedekind mit Glück
versucht, an das altertümliche Volkslied anknüpfen; aber
Wedekind ist fast der Einzige, dem es gelang. Eine
scherzhafte Behandlung des modernen Lebens, zumal in
Versen, verfällt im Deutschen, aus Mangel an ächten
Worten für die verfeinerten Beziehungen, fast stets dem
Commisvoyageur-Geschmack.
Weil in Frankreich Sprache und Kulturentwicklung
gleichen Schritt halten, in steter Wechselwirkung stehen,
bleibt die Kultur jedem zugänglich, zum mindesten sicht-
bar als Etwas, dessen Wert er kennt. »Man merkt Ihnen
ein wenig an der Aussprache den Fremden an", hörte
ich einen französischen Arbeiter zu einem Ausländer sagen,
»aber trotzdem wollte ich, ich könnte französisch wie
Sie; Sie müssen da drüben mit dem Gemüsehändler reden,
das ist ein intelligenter Mann, der kennt die französische
Sprache aus dem Grund, (ä fond)*" Der Gemüsehändler
lacht und sagt: »Aus dem Grund? Aber keine Spur, ich
kann einen Brief schreiben und verstehe die meisten
französischen Worte, aber die feinen Wendungen kenne
ich auch nicht.*
Wann käme jemals einem gebildeten oder unge-
bildeten Deutschen der Zweifel, ob er Deutsch kann?
Und dabei ist die Anzahl der deutschen Schriftsteller,
— 124 —
welche der Sprache mächtig sind, eine sehr geringe.
Und gar deutsche Juristen, Aerzte, Naturforscher, Kauf-
leute! sie beherrschen nur selten die deutsche Sprache,
ohne jemals in ihrem Leben diesen Mangel selbst zu
bemerken.
5. Poesie und Umgangssprache.
Eine poetische Sprache haben die Franzosen nicht;
es gibt daher auch fast keine französische Lyrik in dem
Sinne, den Germanen, Angelsachsen, Italiener, Spanier,
Slaven, Araber, Inder, Chinesen dem Worte geben. Die
wenigen grossen französischen Dichter bltthten vor und
nach den beiden klassischen Jahrhunderten: Villon, Ver-
laine, Volkslied und Chanson. Durch diesen Mangel ist
in die Prosa und die Umgangssprache jener Reichtum an
poetischen Färbungen und Altertümliches mit Modernem
verbindenden Bezügen zerstäubt worden, den Hofmanns-
thal in der oben angeführten Stelle schildert. Der Strom
des Poetischen wurde nicht von der Umgangssprache
abgezweigt. So ist zwar alles das verloren gegangen,
was einer moderneren, rationelleren Zeit nicht mehr ge-
mäss war, aber dem rationellen, modernen Gespräch ist
eine Fülle von ritterlichen Anklängen erhalten worden,
die das Französische stets die Sprache holdester Gesittung
bleiben lassen. Wenn ihr auch ein Shakespearisches
oder Hölderlinsches Pathos versagt ist — es würde
rettungslos in Victor Hugoscher Rhetorik ertrinken — , so
kann die Umgangssprache unversehens in ein echtes
— 125 —
Pathos Obergehen, ohne aufzuhören, Sprache des Alltags
zu sein: deshalb eignet sich das Französische so sehr
für die moderne Wirklichkeitspoesie, deren Wesen
es ist, die eigentlich poetische Sprache zu verschmähen.
(Tristan Corbiöre nennt sich: poöte trop senti pour 6tre
po^tique.) Die moderne deutsche Umgangssprache ist
dagegen so trivial, dass der Dichter sich stets der poe-
tischen Sprache bedienen muss, die bei der Darstellung
moderner Wirklichkeiten nur zu leicht Obertrieben erscheint
und dann gerade den Wirklichkeitsreiz zerstört. Das
Problem Dehmel-George wäre in Frankreich nicht denk-
bar, da man Georgesche Feinohrigkeit, Bildschärfe und
seinen guten Geschmack im Ausdruck mit Dehmelscher
Alltagsungezwungenheit verbinden kann. Manches Ver-
lainesche Gedicht ist dess' Zeuge.
Uns erscheint es zunächst befremdlich, wenn in der
französischen Tragödie altrömische oder orientalische
Prinzessinnen mit «Madame'' angeredet werden, weil wir
Madame — das erst im 17. Jahrhundert bei uns einge-
führt wurde — nur mit den anspruchsvollen Assoziationen
des modernen Salons kennen. Für das französische Ohr
aber ist dame = domina == Herrin, heisst doch selbst
«Unsere liebe Frau* Notre Dame. «Madame, dies hübsche
Wort der mittelalterlichen Liebeshöfe*, sagt Laforgue.
Wenn nun auch vielleicht die feudale oder himmlische
Herrin dadurch ein wenig verkleinert wird, dass sie mit
der modernen Salondame e i n Kleid trägt (wir vermeiden
wohl Gott oder den König, wenn wir sie auch «Herr*
nennen, mit der Umgangsformel „mein Herr« anzureden),
so gewinnt die moderne Dame durch dieses Kleid um
— 126 —
ebensoviel an Pathos und Herrlichkeit, als die Herrin
verliert. Für Corbiire wird sogar „das Ewigweibliche*
ironisch zu i^r^ternel Madame \
Dass sich im Französischen vous nicht in Sie und
Ihr gespalten hat, macht die moderne VerskomOdie so leicht
und bewahrt dem heutigen Leben jene zeremonielle Grazie
der Vergangenheit.
Wenn der Franzose den Gang einer Frau loben will,
so klingt in dem Wort »marcher* die Poesie des Schreitens
mit, und dennoch bleibt der Ausdruck anspruchslos, un-
auffällig, alltäglich. ,Wie sie geht*, wäre lahm. Dem
Wort „gehen *" ist jede Poesie entzogen, es drückt nur
die Funktion aus. Eine höhere Art Gehen bezeichnen
wir durch ^wandeln", „schreiten* etc., wofür dem Fran-
zosen nur das an sich poesie- und farblose „marcher*
zu Gebot steht, das erst durch die Beziehungen seine
Tönung erhält. Sagen wir aber: ,wie sie schreitet*
oder „wie sie wandelt*, so ist der Ausdruck für die
Umgangssprache zu übertrieben; er wirkt lächerlich oder
befremdend auf jeden nicht an Literatur Gewöhnten, und
die Folge ist, dass Menschen von normaler Vernünftigkeit
bei uns solche Betrachtungen über den Gang einer Frau ganz
den Dichtern überlassen, die dafür da sind. Das Alltags-
leben der notorisch unpoetischen Franzosen hat oft mehr
Poesie, als das des ausgemachten Dichtervolkes, das seine
Poesie für den Feiertag in Truhen bewahrt. Alltag und
Poesie wärmen und färben einander in Frankreich; man
kennt nicht den Abgrund zwischen Banalität und Ver-
stiegenheit, bei dessen Auffüllung unsere modernen Lyriker
Schwierigkeiten finden, die Publikum und Kritik kaum ahnen.
— 127 —
6. Der Stil: Natürlichkeit, Kürze, Klarlieit.
Die grössten Schriftsteller von
heute sind keine Franzosen,
aber in Frankreich allein gibt
es eine komplette Literatur.
Le style est la pudeur de la
pensde.
R. de Gourmont.
Die Zahl der Schriftsteller, die
ihre Sprache kennen, vermindert
sich im selben Mass, als die all-
gemeine Bildung sich verbreitet.
Willy.
Das Stilproblem beschäftigt die Franzosen mehr als
die Deutschen. „Das ist schön wie Prosa', ruft einmal
Duclos aus (f 1772). „Die Prosa ist niemals fertig*,
sagte Flaubert, der über seine Prosa fast verrflckt wurde,
da er $ich nie genug tun konnte. Paul-Louis Courrier
karikiert sehr hübsch die heftige Voreingenommenheit fflr
den Stil: «Plutarch hätte die Schlacht von Pharsalus den
Pompejus gewinnen lassen, wenn das nur um ein geringes
seinen Satz runder gemacht hätte.' Aus solchem Streben
ist von allen Völkern allein den Franzosen eine Prosa
gelungen, die sich nach der antiken hören lassen kann.
Schon die Fabliaux und die anmutigen Chroniken
Froissarts (f nach 1400) zeigen alle Vorzüge des fran-
zösischen Stils: Natürlichkeit und Klarheit des Ausdrucks,
exakte Beobachtung, Lebhaftigkeit der Darstellung, die
alle weitschweifige, gelehrte Langweiligkeit vermeidet. Ja
bereits in dem Chanson de Roland findet sich etwas von
jener ausdrucksvollen klaren, bisweilen nüchternen Knapp-
heit des Stils.
Niemals begegnet man bei dem französischen Autor
dem dilettantischen Bedenken gewisser modemer deutscher
— 128 —
Dichter, durch Arbeit die Frische des Einfalls zu verderben. Er
weiss, dass Goldadern fast immer in Schlacken versprengt
sind und oft mühsam herausgehämmert werden müssen.
(Natürlich können gewaltsame Hammerschläge einen Barren
zersplittern.) Schon Boileau stellt den Unterschied auf
zwischen „vers faciles** und ,vers facilement faits«. Wir
sollten uns daran erinnern, dass die natürlichsten, sang-
barsten Verse von Heine gerade die verschmiertesten in
den Manuskripten sind.
Franzosen und Deutsche verlangen vom Stil Natür-
lichkeit, aber der Deutsche meint sie zu erreichen, wenn
er redet, ,wie ihm der Schnabel' gewachsen ist. Der
Franzose weiss, dass nichts schwerer ist, als natürlich zu
sein, dass dazu manchmal die höchste Kunst, immer die
äusserste Strenge gegen den eigenen Schnabel gehört.
Um natürlich zu sein, muss man vor allem „Natur*^
haben, d. h. etwas, was sich gegenüber dem fortwährenden
Einstrom von Fremdem in unsere Seelen immer und immer
wieder behauptet, und zwar von Jahr zu Jahr stärker.
Wie einem der Schnabel gewachsen ist, erfährt man erst^
nachdem man ihn gleich einem Specht an vielen Rinden
gewetzt hat.
Die Ausdrucksweise mittelmässiger Menschen ist oft
gemein und geschmacklos, aber darum nicht natürlich,
im Gegenteil, sie zeichnet sich aus durch eine schäm-
und kritiklose Anwendung fertiger Klischees, aufge-
schnappter Vergleiche, Metaphern etc. Seit Erfindung der
Buchdruckerkunst und besonders seit der Verbreitung der
Zeitung gibt es keine jungfräulichen Ohren mehr. Die
Luft ist geschwängert von Redensarten, die durch die
Literatur gegangen sind, und der gemeine Mann, der zum
Scherz einen Vers macht, begeht, ohne es zu wissen,.
— 129 —
unfehlbar ein Plagiat, vielleicht nicht an einem bestimmten
Dichter, aber an jenem Zeitungsdeutsch der allgemeinen
Bildung und jenem populären Versjargon der Klingklang-
poesie. Da wir in Deutschland keine literarische Stil-
überlieferung haben, findet selbst der Gebildete nur selten
in seinem eigenen Aechtheitsgefühl genug Halt gegen die
ihn in seiner Schutzlosigkeit stündlich suggerierende Be-
hörden- und Zeitungssprache, die auch auf den Höhen
unserer Literatur und Poesie noch lange nicht so verpönt
ist, als sie sein sollte. Wer wollte wagen, sich selbst
von solcher Befleckung ganz rein zu wähnen! NatQrlich
im Ausdruck werden heisst, sich vollkommen von Aus-
drucksklischees befreien, sein Ohr so schärfen, dass es
jedem Wort wieder mit der naiven Kritik dessen gegen-
über steht, der es zum erstenmal hört. Dieser Weg ist
lang und beschwerlich; man gerät leicht auf Umwege,
die den die Banalität Fürchtenden vorübergehend ins
Dickicht anderer, wenn auch geschmackvollerer Künst-
lichkeiten locken mögen. Viele bleiben darin stecken.
An das dem Einzelnen Natürliche denkt Buffon, wenn
er sagt: .Der Stil ist der Mensch selbst*^, während die
Inhalte sich leicht übertragen und nicht so sehr dem
Einzelnen gehören. Der Stil zeigt, wie viel Einer echte
Natur besitzt neben dem, was er an Kenntnissen, Beob-
achtungen und vielleicht an Entdeckungen übermittelt.
„Es genügt", sagt R. de Gourmont, „in allen Rede-
künsten unwissend zu sein, nur die Worte zu gebrauchen,
deren Sinn man genau kennt, d. h. ihren symbolischen
Zusammenhang mit der Wirklichkeit."
Diese Natürlichkeit besitzen viele ganz einfache Frauen,
deren Briefe sublim sind. Durch nichts geht diese Natür-
lichkeit, das instinktive Verstehen der Wortsymbole schneller
9
— 130 —
verloren als durch die Berührung einfacher Naturen mit
dem Geschwätz unseres öffentlichen und Literaturlebens;
deshalb sind besonders die Frauen in ihren literarischen
Aeusserungen (nicht in ihren TagebOchem) meist so trivial,
d. h. sie reden Worte^ deren vielfältige Symbolik sie nicht
ahnen.
.Out schreiben*, sagt Buffon, «heisst gleichzeitig gut
denken, gut empfinden, gut wiedergeben.^ Dazu sind
die einfachsten ungelehrtesten Naturen fähig, wenn sie
nur in ihrem eigenen Gebiet bleiben.
Dieses bischen bescheidene Weisheit hatte die fran-
zösische .Gesellschaft des „ancien rigime^ stets gegen-
wärtig, daher der Reiz ihrer Briefe und Memoiren; selbst
nach den StQrmen der Romantik und der Moderne ist
diese Art Natürlichkeit noch ein Merkmal der guten fran-
zösischen Literatur, die sich ebenso fem hält vom Zeitungs-
kauderwelsch als von verstiegener Pathetik und gelehrter
Gespreiztheit. Der pretiöse Stil ist im Französischen stets
ein Nebenschössling gewesen, auf den sich immer schnell
der frische Reif des gallischen Witzes legte.
Die Franzosen empfehlen aufs angelegentlichste die
Nachahmung: „wer nicht angefangen hat mit Nachahmung,'
sagt Thäophil Gautier, „wird niemals originell sein.*
Durch Reibung mit fremden Naturen entdeckt man die
eigene. Es ist oft geschehen, dass die Nachahmung eines
schlechten Buches ein gutes hervorbrachte: mit ziemlicher
Sicherheit ist anzunehmen, dass „les miserables* von
Victor Hugo durch Eugene Sues sensationellen Roman
„les mystöres de Paris*" angeregt wurden. Shakespeares
•Dramen sind oft Nachbildungen früherer heute vergessener
Werke.
~ 131 —
Nicht immer sind die Franzosen der vom ihren besten
Autoren theoretisch gestellten Anforderung der KQrze
nachgekommen. Die ,prose fleurie*" steclct seit Cicero
den Lateinern im Blut. Schon die streng geordnete, oft
schematische Syntax des Französischen verbietet Taci-
täische Kürze. Der Franzose ist stets bereit, die KQfze
der Klarheit zu opfern und gewisse Weitläufigkeiten durch
Eleganz, Rundung der Sätze und Abwägung der Satzteile
gegen einander angenehm zu machen. Um die unbe-
dingt geforderte Klarheit zu erzielen, hört der Schriftsteller
auf das Urteil Aller. Jenes anspruchsvolle umwölkte Ein-
siedlertum des deutschen Dichters gibt es nicht. Moliire
soll, wie man weiss, seiner Köchin vorgelesen haben, um
zu erproben, ob seine Ausdrucks weise klar sei; Buffon,
Stendhal, Chateaubriand hörten auf jeden Einwand; denn
selbst der dOmmste Einwand kann einem dies zu be-
denken geben: wenn ich so missverstanden werden kann,
drOcke ich mich immer noch unvollkommen aus.
Diderot sagt in seiner philosophischen Unterhaltung
mit der Marschallin von ♦„.*: „Wenn Sie mich nicht
verstunden, so wäre das wohl meine Schuld.'' Dieser
Anschauung verdankt man es, dass von Descartes bis
auf Berthelot die Werke der französischen Wissenschaft
allgemein lesbar sind und auf den Volksgeist wirken können.
Dabei ist den Franzosen nichts ferner als „populärer*"
Stil, sie schreiben ffir die „honn£tes gens*.
Rivarol meint angesichts der Verworrenheit der eng-
lischen Bficher, der Leser fände bei der Lektüre die Mühe,
die sich der Autor nicht genommen hat: nämlich den
Stoff zu richten, zu gruppieren und in klare Sätze zu
fassen.
Wie alle französischen Stilgesetze führt auch die
9*
— 132 —
strenge Forderung der Klarheit zu einer Beschränkung.
Der französischen Dichtung fehlt meist das, was Dante den
Schleier der seltsamen Verse, „il velame degli versi strani*
(Inf. IX, 61) nennt. Spinozas „Omnis definitio est negatio''
gewinnt für die Poesie einen besonderen Sinn. Der grosse
Bilderreichtum des deutschen Ausdrucks, eine bedeutend
freiere und kühnere Verwendung der Metapher gestatten
uns oft, Unsagbares ferne anklingen zu lassen. Was die
französischen Symbolisten in dieser Richtung versuchen,
muss einem deutschen Ohr meist kraftlos, oft kindisch
erscheinen. Gegen die Bilderkühnheit Hölderlins kommt
kein Victor Hugo, gegen die Symbolik C. F. Meyers kein
Chateaubriand auf. Und Beide waren für Frankreich
starke Neuerer. Chateaubriand wagt z. B. einmal — un-
erhört für französische Ohren und Augen — von den
entblössten Knochen und Gräten einer ausgeraubten, zer-
störten Kirche zu sprechen (von R. de Gourmont zitiert).
Infolge einer gewissen Ungenauigkeit, die wir ge-^
statten, machen wir die Metapher leichter und häufiger
anwendbar. Bismarck, einer der besten Stilisten der
deutschen Sprache, sagte einmal, »er wolle das Gift
tropfenweise aus dieser Frage drücken". Der Franzose
würde ein konkretes Zwischenglied verlangen, z. B. „eine
giftige Wunde*, denn, genau genommen, kann man eine
Frage nicht ausdrücken. Diese oft fruchtbare Nachsicht,
die wir uns erlauben, wird aber leicht gefährlich, weil der
Dispens, das konkrete Zwischenglied auszusprechen, leicht
dazu führt, es in der Vorstellung zu vergessen, wodurch
die schiefen Bilder der Zeitungs- und Beamtensprache
entstehen. (Es werden z. B. „die heissen Töne der Leiden-
schaft angeschlagen*, wobei der Autor ebenso wenig die
Flamme der Leidenschaft als die Orgel der Dichtung vor
133 —
Augen hat.) Die schiefe Metapher verrät nach Rivarols
Meinung stets eine gewisse „faussetä d'esprit".
Die französische Klarheit wird besonders gefördert
durch das Verbot, abstrakte Worte zu häufen. Unsere
substantivierten Infinitive, unsere Worte auf -heit, -keit,
-ung, -weise etc. verführen oft zu Verallgemeinerungen,
ehe man das Einzelne gegenständlich gesehen hat.
Wer die Zucht zum klaren Ausdruck durchgemacht
hat und den Wert der präzisen Tönung und Halbtönung
kennt, wird allmählich unfähig, ein halb andeutendes
Gefasel zu verstehen. Er gewöhnt sich daran, in jedem
Wort eine bestimmte und nur diese Funktion zu sehen,
und nun funktioniert da allerlei Ungewolltes durchein-
ander, und das Gewollte funktioniert nicht ganz scharf.
Es ist, als würde man aus einem Raum antelephoniert,
in dem eine Gesellschaft redet. So kann ein einziger
rhjrthmischer oder harmonischer Fehler einem geübten
Musiker eine bekannte Melodie im Augenblick unkennt-
lich machen, während das gröbere Ohr unbeirrt bleibt.
Es gibt eine Verfeinerung, die einen schwer von Begriff
macht. Man will manchmal bösen Willen darin sehen,
wenn die Franzosen gewisse schlecht geschriebene oder
schlecht disponierte fremdländische Werke nicht verstehen,
die zweifellos durch einen tiefen Grund von Wissenschaft
oder Lebensgefühl den Kampf mit ihrer Stilverworrenheit
reichlich lohnen. Aber sie verstehen sie wirklich nicht.
An die genaue Metapher, an den fest umrissenen Aus-
druck gewöhnt, vermuten sie in dem ungenauen Wort
oder zufällig mit anklingenden Doppel- oder Nebensinn
eine Absicht des Autors, und da sie sie nicht deuten
— 134 —
können, werden sie verwirrt Wer an die Durchtrieben-
heiten einer guten Prosa gewöhnt ist, traut den absichts-
losen Bezügen eines mittelmässigen Stils so wenig, wie
ein Frauenkenner an eine allzu unbewusste Unschuld glaubt^
Ich las neulich den Satz: .Die Blattern sind der
Triumph der Medizin'. Zweifellos ist das stilistisch
schlecht, aber der deutsche Durchschnittsleser versteht,
ohne weiteres ergänzend, den Sinn: Die Blattern h ei lung
oder Blattemvertreibung ist der Triumph der Medizin.
Ich hätte mich vor 15 Jahren kaum an dieser Form ge-
stossen. Inzwischen hat mich das Stilproblem intensiv
beschäftigt, und ich bin so schwer von Begriff geworden,
dass ich zunächst nicht wusste, was der Autor meint.
Viele Menschen, die angeblich jede leise Andeutung
verstehen und für besonders fein differenziert gelten, sind
bloss primitiv und genügsam, sie begnügen sich mit dem
Ungefähr.
Manche Deutsche glauben auch an bösen Willen,
wenn die Franzosen bei scheinbar kleinen Fehlem der
Aussprache sie nicht mehr verstehen. Viele sprechen
z. B. das Wort jouissance so aus, als würde es chouisanse
geschrieben. Der Deutsche erkennt das Wort noch leicht
in dieser Aussprache. Der Franzose aber muss bei der
Silbe chou an Kohl denken und wird dadurch weit ab-
geführt von „jouir". Die französische Aussprache ist be-
sonders kompliziert und schärft das Ohr unqfei^'^'^, so-
dass es hinfort keine Nuance mehr ^^ ^^^^
kann. So sind z. B. bome und q^|- nicht
gleichlautend mit Born und MoiflL bfdden
•) Zitiert be? G
S. 590-
- 135 —
französischen Worte wird solange verweilt, dass das n
oder t fast den Wert einer Nebensilbe erhält. Wer das
vernachlässigt, wird etwas weniger leicht verstanden.
Ebenso kompliziert sind die Regeln der Akzentuierung.
Der Akzent liegt im Französischen weder auf der ersten,
noch auf der letzten, noch auf keiner Silbe: drei gleich
falsche, in deutschen Lehrbüchern abwechselnd auf-
tauchende Regeln; der Akzent liegt stets auf einer ganz
bestimmten, aber jeweilig vom musikalischen Empfinden
gewählten Silbe. Wer z. B. statt la malson blanche be-
tonte la maisön blanche, würde ein französisches Ohr
verwirren, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde,
und an eine Orthographie denken lassen, wie meson oder
mezon. Im Deutschen sind die Laute viel schärfer ge-
trennt; ein Fremder, der statt nach dem Hafen, nach
der Hafen fragt, oder gar nach der Haffen, ist noch zur
Wft* ,rfl«.w„^ii/.t, !„ ai„fl^ Oa,r«iL-a«.yjg^ ^jg yjgi ^^^1 Hafen
i gar das p mehr wie
isägliche Vorstellungs-
die Worte l'apport,.
ein noch sehr mannig-
ammenhang verständ-
Ausserdem liebt der
und jedes Ohr ist in
Zweideutigkeit, als es
litzt ist.
rd wie die Wortarmut
ganz zu erwertienden
136
7. Verpönte Worte.
Eine wahrhafte Sünde der französischen Sprache
gegen sich selbst, ein Schaden, der nicht wie die Wort-
und Lautarmut entsprechende Vorteile bedingt, ist die
VerpOnung gewisser Worte, nicht etwa, weil sie krasse
oder unangenehme Inhalte ausdrücken, im Gegenteil :
in der Besprechung solcher Inhalte ist man bedeutend
freier als bei uns. Man nennt in der gesellschaftlichen
Umgangssprache viele natürliche Dinge ruhig beim Namen,
wodurch vermieden wird, dass sich um die Worte jene
schwüle Geheimsphäre von Unanständigkeit bildet. Des-
halb kann man bekanntlich im Französischen so Vieles
sagen, was in anderen Sprachen roh klänge. Worte wie
ventre, derriöre, cul (besonders in vielen Zusammen-
setzungen wie cul-de-jatte, cul-de-lampe, cul-de-sac etc.),
souteneur, putain, la grue werden auf der Bühne der
com^die frangaise ausgesprochen und sind mehr oder
weniger salonfähig. Dagegen sind viele Wörter, die ganz
saubere Begriffe gut bezeichnen, nur darum verpönt, weil
sie nach der Schänke, nach dem Laden oder der Gasse
riechen.*) Wenn man aber die Schänke, den Laden oder
die Gasse darstellen will, können dann die Worte über-
*) La Bruyere (les Caractferes, V) tadelt die ^delicatesse"
mancher Damen, welche die Namen gewisser Strassen und
Plätze nicht auszusprechen wagen, weil sie nicht „assez nobles"
sind, um gekannt zu sein^ So nennen sie zwar den Louvre, die
place royale, aber die Hallen oder das Chatelet vermeiden sie
oder sprechen sie wenigstens falsch aus, um eine adelige Un-
wissenheit zu beweisen. Aehnlich zeigte sich mancher grosse
Herr des ancien regime über die Namen bürgerlicher Personen
oder über gewisse Tatsachen der neueren Geschichte absichtlich
schlecht unterrichtet. So nannte man in Versailles den König
von Preussen beharrlich den Marquis von Brandenburg.
— 137 —
haupt zu sehr danach riechen? Stets haben sich freilich
solche Worte durch ihre penetrante Unverwflstlichkeit
Bahn gebrochen und sind in den Salons nach langem
Antichambrieren empfangen worden (re(us). Seitdem die
Romantik die Tafeln der soci6t6 polie zerbrochen, mit
spielerischer Lust wieder die guten derben Worte des
16. Jahrhunderts hervorgeholt hat, ist man überhaupt
weitherziger geworden. Der Naturalismus hat diesen
Weg fortgesetzt und — nicht immer zur Verschönerung
der Sprache — Bezeichnungen aus allen möglichen
Nebenwelten zusammengetragen.
Worte wie „äpatant'' sind längst Gebrauch geworden.
Das demKOnstlerjargon entstammende ^»chiqu^'', welches das
Talmihafte, Unechte, besonders bei Kunstwerken, aber auch
in weiterem Sinn, z.B. die Falschheit gewisser Frauentränen,
Sentiments und einer gespielten Pathetik bezeichnet, dieses
Wort ,chiqu6" habe ich im Jahre 97 von einem Aus-
länder in einem französischen Salon gebrauchen hören.
Einige gingen darüber hinweg wie über eine Taktlosig-
keit, andere lächelten nachsichtig. Gute Freunde machten
ihn auf dem Heimweg freundlich auf seinen Fehler auf-
merksam. Heute, im Jahre 1906, scheint das Wort fast
zulässig zu sein, wenn auch vielleicht nur gewissermassen
in Anführungszeichen. Das Wort „nom de Dieu"* ist
nach wie vor ein ganz besonders gemeiner, vielleicht der
gemeinste Fluch, obwohl die Worte wörtlich nichts
Schlimmes bedeuten, sondern in derselben Zusammen-
stellung fast in jeder Predigt, in jedem Gebet ausge-
sprochen werden. Dass ein Wort, wie ,s'emb6ter"
statt „s'ennuyer'' für ungezogen gilt, ist vollends eine
Anomalie.
Durch den Naturalismus wurde auch das Eindringen
— 138 —
der Fremdwörter^ besonders englisch-amerikanischen Ur-
sprungs befördert, und darin kann man vielleicht wirk-
lich ein Untergangssymptom der nationalen französischen
Kultur sehen, die früher alles, was sie nicht verarbeitete,
als barbarisch abstiess. Die modernen Franzosen lernen
mit Eifer fremde Sprachen, was gewiss sehr klug und
politisch ist, aber in ihrer Jugendkraft hatten sie es nicht
nötig. ,,Wenn ein Volk die fremden Sprachen erlernt,
werden die fremden Völker seine Sprache nicht mehr
lernen*, grollt Remy de Gourmont mit einem Schatten
von Recht.
Viertes Kapitel.
Frauen und Liebe.
1. Französische Liebe. 2. Die „unregelmässigen* Frauen
in Deutschland und Frankreich. 3. Die legitimen Frauen.
4. Der bal des 4 z'arts. 5. Dialoge.
ySei schön, wenn da kannst,
tugendhaft, wenn du willst;
sei geachtet: das ist nötig.*
Beaumarchais,
(Die Hochzeit des Figaro.)
I. Französische Liebe.
Wer behauptet, die Welt sei überall gleich oder die
Rassenunterschiede in Europa seien so vag, dass man
darüber höchstens fabulieren könne, der ist durch die
Welt gereist wie ein Koffer. Die Einrichtungen und Ge-
setze zweier Länder mögen gleich sein; verschieden ist
in allen Ländern, was in diesen Gesetzen nicht steht,
welche Handlungen neben und trotz ihnen mit Nachsicht
von der herrschenden, nicht ganz eingestandenen Moral
durchgelassen werden. In ganz Europa gilt der unehe«
liehe Liebesverkehr für unerlaubt, in ganz Europa wird
er mit derselben Vorliebe gepflegt, aber die Gründe;
weshalb man ein Auge zudrückt, sind so verschieden
— 140 —
wie möglich. In Italien urteilt man — ausserhalb der
überall ähnlichen grossen Welt — kleinbOrgerlich über
demi-mondäne Frivolität. Dafür hat man ein tiefes Ver-
stehen für die Sünden der Leidenschaft, die selbst, falls
sie kriminell werden, sehr oft straflos bleiben. In Deutsch-
land neigt die Moral zur Nachsicht, wenn erwiesen ist,
dass ein Mädchen sich nicht für Geld, sondern, wie man
s^gt, „aus Liebe"" hingab. Im Volk, ja in manchen
Gegenden bis hoch in den Mittelstand hinauf, ist das
fast erlaubt: «Zwei gehen zusammen*. Italiener und
Franzosen, die in Deutschland reisen, trauen ihren Augen
nicht angesichts dieser Arglosigkeit. Sie begreifen nicht,
dass ein Weib so wenig seine Macht kennt, dass es
sich hingibt, ohne für die möglichen praktischen und
sozialen Folgen eine Entschädigung zu erhalten. Manche
erkennen die gretchenhafte Unschuld solcher Opfer, aber
die meisten denken wie der Marquis Casti-Piani in Wede-
kind's Totentanz: , Dadurch entwürdigen diese Mädchen
und Frauen ihr Geschlecht in der gleichen Weise, wie
ein Schneider sein Gewerbe entwürdigt, der seinen
Kunden die Kleider umsonst liefert.' Später sagt der
selbe: „Leider aber muss die Liebe auch all den un-
zähligen Weibern als Rechtfertigung herhalten, die nur
ihre Sinnlichkeit befriedigen, ohne den geringsten Ent-
gelt dafür zu fordern . . . würdelose Preisgabe/
Viele halten Frankreich für das Dorado der Gefühls-
und Liebesfreiheit. Das ist ein Irrtum. Frankreich, das
die „folie'' anbetet, Jugend und Liebe als Tollheiten be-
singt, ist in Liebessachen streng, nur sind seine Gesetze
und Konventionen ebenso weit als unumstOsslich; sie
sind für komplizierte Fälle vorgese|;ien, gestatten be-
stimmte Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen. Es
— 141 —
gibt eine Art Konvention fflr die ungesetzlichen Lieb-
schaften, welche diese ohnehin prekären Verhältnisse
gegen unsachliche Verwicklungen mit der Neidmoral und
der öffentlichen Meinung schätzt. Der liebenswürdige
SQnder findet einen Kodex vor, der zwar apokryph, aber
darum doch ,,natzlich und gut zu lesen ist.""
In allen Ländern richten die Männer an die Frauen
einen Wunsch, dessen Gewährung der Frau zwar Ver-
gnügen macht, aber noch mehr Unannehmlichkeiten be-
reiten kann. In allen Ländern pflegen die Frauen die
Kinder zu gebären, in allen Ländern sind sie bestrebt,
den Vater durch gesetzliche oder moralische Bande für
die gegenwärtigen oder künftigen Kinder zu interessieren.
In allen Ländern aber unterscheiden sich die zu diesem
Zwecke führenden Mittel, oder wenigstens die Art und
der Eifer ihrer Anwendung. Die Achillesferse der Frau
in diesem Kampfe ist ihre eigene Begierde. Das erste
moralische Prinzip der Frau ist daher noch überall ähn-
lich; sie verbirgt diese zum Angriff geeignete Stelle; sie
darf ihre Sinnlichkeit nicht zeigen, nicht zugeben. Es
muss überhaupt fraglich werden, ob die Frau in dem
Mass Begierden hat, wie der Mann. Die Art, wie nun
die Frau ihre Sinnlichkeit verbirgt, in welchem Grade
sie ihr durch Erziehung und Schicksal selbst verborgen
ist, wieviel davon sie vielleicht doch mit Vorsicht zeigen
kann, sei es zum Vergnügen, sei es in taktischer Ab-
sicht, wie weit sie bewusst oder unbewusst, aufrichtig
oder falsch, berechnend oder impulsiv verfährt, das
wechselt nicht nur nach Individuen, sondern auch nach
landschaftlich und anderswie bedingten Gruppen.
Eine sehr beliebte Hülle der Sinnlichkeit ist noch
immer das sentimentale Pathos. Dieses Mittel wird von
- 142 «
der taktisch sicheren Französin meist verworfen. Es hat
in der Tat zwei grosse Gefahren: Zunächst schOtzt es
nur unvollkommen. Dadurch, dass die Frau ihre eigene
Begierde mit zu schönen Worten verbrämt, macht sie es
dem Manne leicht, sie mit noch schöneren Worten zu
flbemimpeln. Ja ihre oft ehrlich gemeinte Behauptung,
was sie empfinde, sei rein seelisch, nichts sonst, arbeitet
geradezu dem Manne in die Hände, der schliesslich die
Behauptung wagt, das, was er tue, sei auch rein seelisch,
nichts sonst. Der zweite Missstand des sentimentalen
Pathos ist der: Es alteriert die ursprüngliche Aechtheit
des Empfindens und zerstört die schöne Redlichkeit der
Liebe. Nichts tötet aber die Gegenliebe des Mannes
leichter. Seine Sinne werden mürrisch und empfinden
die Sentimentale bestenfalls als überspannt und fade,
wenn nicht als unwahr. Sexuelle Unwahrheit aber grenzt
dicht an Unreinheit, Unkeuschheit, und darum kann es
der von allerlei höheren Gefühlen beseelten und von
allerlei höheren Seelen befühlten Sentimentalen geschehen,
dass ihrem aufgeputzten Herzen die echtere Unschuld
und der keuschere Takt eines wacker in's Bett springen-
den lachenden Grisettchens vorgezogen wird.
Die Italienerin und die gross angelegte germanische
Frau finden einen Halt in sich selbst, wenn sie Leiden-
schaft besitzen. Sinnlichkeit macht wahllos, aber Leiden-
schaft macht wählerisch und streng. Die Südromanin
gibt sich bekanntlich sehr schwer, sie zu verlassen kann
das Leben kosten. Die Franzosen sind hier wie immer
unbewusste Methodiker. Ihre Frauen besitzen eine Eigen-
schaft, welche die Erziehung in ihnen entwickelt, eine
Fähigkeit, die diesen sinnlich-kapriziösen Wesen als
Waffe, als Selbstschutz gegeben ist unter dem gemischten
— 143 —
Publikum, das die Weltmesse der Liebe besucht:
^La franyaise raisonne''. Raisonner ist ein Mittelding
zwischen Rechnen uad Denken. Das gibt der Französin
jenen oft kahlen, etwas befehlshaberischen Ton. Sie
weiss, dass der französische Mann an Harmlosigkeit
nicht glaubt. Zeigt sie sich schwach, so nimmt er das
als bewusste Aufforderung, sich selbst besonders stark
zu zeigen. Sie bleibt daher reserviert, solange sie nicht
die Beweise solcher Stärke selber wünscht. Ist dieser
Augenblick gekommen, so gibt sie im Alkoven alle
Zurflckhaltung auf, hält nicht für nötig, ihre süssesten
Wunsche sentimental zu versäuren: kurz sie besitzt die
Sachlichkeit in der Liebe. Sie meint nicht: jemand von
ganzem Herzen lieb haben sei genug. Sie hat zugleich
das Bedürfnis, ihre Liebe künstlerisch zu formulieren:
sie besitzt den Ehrgeiz, die grosse Geliebte, die ideale
Mattresse zu sein, die der Mann nie mehr vergisst.
Dass unsere Herzen eine andere Art von Liebe er-
sehnen, gibt uns kein Recht, die französische Liebe zu
verdammen« Es steht uns frei, in ihr bisweilen etwas
wie ein virtuoses Spiel zu sehen, die zu grosse Bewusst-
heit der Französin als Enttäuschung unserer zartesten
Wünsche zu empfinden, aber alles das sind keine Ein-
wände gegen die objektive Vollkommenheit der franzö-
sischen Liebe. Für uns verliert Frou-frou an Reiz, wenn
^ie selber sagt, sie sei mit ihrer kleinen Person sehr zu-
frieden, oder Maman Colibri in Batailles hübscher Ko-
mödie, wenn sie fragt, ob sie nicht „gentille^ sei, oder
selbst von ihren kleinen Fingerchen spricht. Wenn in
einer Zeitschrift die berühmtesten Busen von Paris mit
den zugehörigen Köpfen und mit Namennennung abge-
bildet erscheinen, so sind für viele von uns diese Busen
— 144 —
gerade durch ihre Berühmtheit zu Auslageartikeln ge-
worden, die man nicht gerne kauft, die nur als Probe
dienen sollen für das, was im Inneren eines Ladens
sorgfältig aufbewahrt wird. Unsere Liebe ist intimer,
wir wollen nicht, dass sich eine Brust noch brfistet.
Aber das berechtigt uns nicht, diesen uns fremden
Liebesstil zu tadeln, zumal diese Frauen nicht weniger,
als die unsren, von Zeit zu Zeit starke Gefühle
wecken und erwidern. Noch weniger dürfen wir eine
Frau eine Heuchlerin nennen, die ihre Sinnlichkeit durch
intensive Anspannung ihres Wesens im Zaum hält und
im Salon kühl zu lächeln vermag, wenn derjenige ein-
tritt, mit dem sie eine Stunde vorher die glühendsten
Umarmungen getauscht hat. Oft tadeln deutsche Frauen
an der Französin die berechnende Unnatur, aber gerade
die besonders Feinempfindenden unserer Landsmänninnen
bewundem, wieviel die Französin infolge ihrer uner-
schrockenen Natürlichkeit an Worten und Gebärden ris-
kieren darf; und diese feine Natürlichkeit findet man oft
bis in die untersten Klassen. Die Französin hat den
Instinkt der Form, sie ist ihr nicht als etwas Fremdes»
Beengendes auferlegt. Selbst die kleinen Mädchen ahmen
sie mit Geschick nach, freilich auf Kosten der gewiss
reizvolleren Kindlichkeit. In Deutschland ist dieser
natürliche Forminstinkt das Vorrecht, nicht etwa der Ge-
bildeten, da fehlte viel, sondern ganz erwählter seltener, aber
an allen Orten unseres Landes verteilter Kreise; wenn sich
Eigenschaften der Rasse, der Erziehung und äussere Lebens*
umstände besonders glückUch einen, da kann freilich eine
deutsche Schönheit entstehen, die märchenhaft wirkt und
alle französische Formüberlegenheit, wie ich vielfach zu-
gestehen hörte, entwaffnet.
— 145 —
Die deutsche Frau hat eine ausgesprochene Vorliebe
für superiore Männer, die „anders"* sind als die übrigen,
die Französin liebt den „petit jeune homme^, der bequem
ist, ihr nicht in die Karten blickt. Die deutsche Frau
spricht häufig ihre Abneigung gegen schOne Männer aus,
weil sie weiss, dass sie selten superior sind. Die Fran-
zösin liebt schöne Männer; allzuviel Geist haben
schadet bei der Französin, das kann sie selbst. Weil
die Französin als vollkommenes Weltwesen der Deutschen
unbedingt über ist, verlangt sie den unbedeutenden
Mann als Spielzeug, den die Deutsche verachten würde.
Man kann für die Französin garnicht konventionell,
mondän genug sein. Blenden kann man sie nur, wenn
man die konventionelle Männlichkeit in überraschendem
Grade entwickelt. Ausserhalb dieses Rahmens liegende
Bedeutung beunruhigt sie, man soll nicht „anders** sein.
Eine Jahrhunderte alte Galanterie hat den Franzosen
moralisch geklärt und psychologisch geschärft. Sinnen-
feindlichem Puritanismus ebenso fem als sentimentalem
Pathos, nimmt er die Sinnlichkeit als das, was sie ist:
ein gefährliches, aber allerliebstes Spiel, das leicht gro-
tesk und albern wird, falls es nicht in gewissen Grenzen
bleibt Maurice Donnay zeigt in der ^.Affranchie'' eine
Frau auf der Höhe der Gesellschaft, die „es** bisweilen
nicht mehr aushalten kann, dadurch nach allen Seiten
Unheil stiftet und ihre Begierde als eine Art Urtrieb
pathetisiert. Sie „musste** einen bestimmten Mann be-
sitzen, weil eine andere Frau einmal auf ihn geschossen
hatte, sie „musste"" immer und immer wieder auf die
kaum verharschte Schusswunde starren, ihre Sinne klam-
mem sich daran, das wird zu ihrem Schicksal, sie muss,
10
— 146 —
sie muss, es ist stärker als sie — kurz toute la lyre.
Und dann will sie wieder zu ihrem ersten Geliebten
zurück und verlangt allen Ernstes, dass er sie — ver-
steht. Und er versteht sie. Er vergleicht sie mit einer
Kellnerin, die er als Student im Quartier latin gekannt
hat; die verliebte sich in einen seiner Freunde, weil er
aus seiner Zigarette immer nur ein paar ZOge rauchte
und sie dann wegwarf. Das war für dieses Mädchen
das grosse Leben, le „faste", „l'orient", das war ihr
Schicksal; sie .musste"*, es war stärker als sie — toute
la lyre. Das ist sehr amOsant, nicht? Ich glaube, in
Deutschland würde eine gewisse moderne, vermutlich
ephemere Gefühlsrichtung das Verhalten dieser Frau
gross, kurtisanenhaft, ja dionysisch finden.
Ich sah kürzlich in Paris eine Aufführung von Beyer-
lein's „Zapfenstreich''. Das Stück ist zwar nicht charak-
teristisch für die ernste deutsche Literatur der Zeit,
wohl aber für eine gewisse Gefühlsverwirrung, die mir,
in französischer Umgebung, besonders klar wurde. In
diesem Stück unternimmt ein Mädchen, in der Abwesen-
heit ihres Bräutigams, eines tüchtigen Unteroffiziers, mit
einem Leutnant zu schlafen. Schön, ich eigne mich nicht
zum Sittenrichter. Verkehrt aber finde ich, dass der
Autor für das Mädchen, das nicht besser und nicht
schlechter ist als andere Menschen, dadurch Propaganda
macht, dass er sie allen Ernstes sagen lässt, sie habe
plötzlich in dem Herrn Leutnant , alles Grosse und
Schöne" verkörpert gesehen. Der Verfasser hätte hier
Gelegenheit gehabt, die Verwirrung des deutschen Ge-
fühlslebens durch den Militarismus, die er in dem Stück
beweist, auch in einer Mädchenseele zu zeigen.
Wer ernsthaft wünscht, dass die Welt die natüriichen
— 147 —
Geschlechtsvorgänge etwas natürlicher zu sehen lerne, als
es heute geschieht, der muss solche moralische Falsch-
heit, solche sentimentalen Bemäntelungen vermeiden.
Diese sind es, die uns Deutschen trotz unserem ernsten Willen
zur Ehrlichkeit den gewiss unverdienten Ruf der Heuchelei
eingebracht haben. Am selben Abend wie den „Zapfen-
streich'' gab man „Mlle. Fifi'' von Maupassant. In der
Dirne, die den preussischen Offizier, dem sie sich ohne
weiteres hingegeben hätte, darum ersticht, weil er plötz-
lich behauptet, die französischen Frauen gehörten den
Siegern, in diesem aus dem Lupanar geholten Frauen-
zimmer ist Rasse, Leidenschaft und Grösse. Hier ist alles
moralisch richtig. Und der Autor ist ehrlich, während er
uns das glauben macht.
Die Französin bezaubert immer wieder von neuem
als kleines Kunstwerk, und der wäre vielleicht der
Weiseste, der sich entschlösse, sie vorzugsweise mit
Augen und Ohren zu geniessen. Die Deutsche ist rüh-
render und lieblicher, darum wird sie mehr betrogen und
ausgebeutet. Aber sie ist noch lange nicht erschöpft.
Die französische Geliebte ist bjs an ihre Grenzen Über-
sichtlich; man weiss genau, was man von ihr zu er-
warten hat, und das ist gewiss kein Nachteil. Wer aber
ermisst die anonyme Rolle, welche die frischeren arg-
loseren Mädchen Deutschlands in dem Leben derer spielen^
welche unsere Kultur aufbauen?
10»
— 148 —
a. Die ^unregelmässigen'' Frauen in
Deutschland und Prankreich.
In Frankreich decken sich Bildung und Besitz mehr
als bei uns. In Deutschland fällt dem Fremden jene
breite Schicht dOrftig lebender Gebildeter auf, die sich
oft den Luxus einer zarten GefDhlskultur erlauben, ohne
immer die Mittel zu haben, diese verfeinerten GefOhle
vor dem rauhen Andrang des Lebens zu schützen. Das
führt besonders bei den Töchtern zu sehr rührenden,
ausgesprochen deutschen Konflikten. Nüchterne Eltern
pflegen oft zu denken, wie jene wackere Mutter Olympia
in Goethe's »Erwin und Elmire", die zu ihrer Tochter
sagt: „Was sind alle die edelsten Triebe und Empfin-
dungen, da ihr in einer Welt lebt, wo sie nicht befrie-
digt werden können, wo alles dagegen zu arbeiten
scheint! Gibt das nicht Anlage zum tiefstem Missver-
gnügen, Anlass zum ewigen Klagen?^ Diese Mädchen
hatten trotz ihrer Armut in Deutschland bisher die Aus-
sicht zu heiraten, denn es ist eine anerkannte Tatsache,
dass bei uns Bildung und Besitz keine Parallelen sind;
und auf die eigentliche Welterziehung, die nur von früh-
auf durch den Verkehr in der Gesellschaft erworben
wird, legen sehr viele Deutsche keinen besonders grossen
Wert. In dem modernen Deutschland freilich hat sich
manches geändert. Sei es, dass die materielle Entwicke-
lung unseres Landes in den letzten Jahrzehnten Wesen
und Wert des Besitzes mehr erkennen gelehrt hat, sei
es, dass die in langer wartender Einsamkeit notwendig
entstandene sentimentale Romantik dieser Mädchen ihre
Fähigkeit zu der prosaischen Realität einer bürgerlichen
Ehe zweifelhaft macht, die Zahl der unversorgten, aber
— 149 —
gebildeten Mädchen in Deutschland wächst. Diese
Mädchen sind vielleicht verfUhrbar, aber ihre Gefflhls-
kultur erlaubt ihnen nicht, sich zu verkaufen. Aus ihnen
rekrutiert sich zum grössten Teil das Heer der Frauen-
bewegung, die ihnen durch selbständige Berufe die
Freiheit vom Heirats- und Liebesmarkt verschaffen will
und in bescheidenem Masse schon verschafft hat.
Neben diesem sich mehr und mehr organisierenden
Heer gibt es noch eine ungeordnete Miliz unversorgter
deutscher Mädchen des Mittetstandes, die zwar, nicht
eigentlich gebildet, doch auch durch eine ererbte Ge-
fflhlskultur gehindert werden, sich buchstäblich zu ver-
kaufen. Sie werden ebenso schnell verführt als verlassen.
Sie meinten, jemand von ganzem Herzen lieb zu haben,
sei genug, um sich als Weib zu behaupten. Sie fallen
schlafend in den Abgrund.
Die Tragik aller dieser unversorgten deutschen Mäd-
chen liegt in der Unentschiedenheit ihrer Stellung. Die
Ehe ohne Mitgift ist in Deutschland immer noch wahr-
scheinlich genug, so dass es sich lohnt, auch ein besitz-
loses Mädchen dafür zu erziehen. Aber wenn diese
Rechnung der Eltern schon unsicher ist, so macht oft
genug noch das Herz der Tochter einen Strich durch
die Rechnung: „Die deutschen jungen Mädchen^, sagt
ein französischer Reisender erstaunt, „können sich in
einer gewissen Zeit ihres Lebens gamicht vorstellen, dass
sie einen anderen Mann heiraten könnten, als den, welchen
sie wie verrückt anbeten." Jahrelang haben sie vielleicht
auf ihn gewartet. Sie werden 21, 22, 25. Sollen sie
noch länger dem Phantom des ungewissen Bräutigams
den Rest der Jugend opfern? Sind die Ehen der ver-
heirateten Freundinnen und Schwestern wirklich so be-
— 150 —
neidenswert? Täglich wird ihnen der Trunk des Lebens
von freilich unsicheren Händen gereicht. Und doch: ist
diese unsichere Gegenwart nicht noch tausendmal sicherer»
als jene erhoffte Ehezukunft? Oefter mit den eventuell
glänzenderen Liebhabern in koketter Berührung, als mit
dem kleinbürgerlichen Ehekandidaten, werden sie vollends
für eine nüchterne Ehe verdorben. Eines Tages greifen
sie heimlich nach dem angebotenen Trank, werden ent-
zückt oder enttäuscht. Und nun das Charakteristische:
Sie bleiben scheinbar in den Formen des bürgerlichen
Familienlebens, unter dessen Schutz sie mehr oder weniger
geheim ein unregelmässiges Dasein führen. Sie behalten
oft eine Art von seelischer Unschuld, einen unverdorbenen
Glauben an die Liebe, noch nach dem dritten oder vierten
Liebhaber, würden entsetzt sein, wollte man auf sie
Namen, wie Maitresse, Demi-monde anwenden. Jede
empfindet sich als Ausnahme. Sie ist doch nicht so ein
Mädchen. Geht sie zum Theater oder zum Vari6t6, so
will sie um Gotteswillen nicht für ein Theatermädel ge-
halten werden. Eigentlich gehört sie doch nicht hierher.
Wohin aber gehört sie? Manche Glücklichen kommen
nie dazu, zu bereuen: eine süsse Erinnerung, wie sie in
einer ihnen erreichbaren Ehe nie möglich gewesen wäre,
mildert ihnen das ganze Leben; manche werden verbittert
und fühlen, dass sie sich weggeworfen haben. Mit ihrer
bürgeriichen Umgebung verstehen sie sich nicht mehr,
ihre wahren Gefühle und Erlebnisse müssen sie ver-
schweigen, es fehlt ihnen die Kühnheit und Gelegenheit»
offen zu den Vorurteilslosen überzugehen. Und wo sind
denn in Deutschland die Vorurteilslosen? Eine Halb-
weit mit einer Art Standesehre und Tradition der Wer-
tungen und Ansichten, die auch alternde, nicht von ehe-
— 151 —
maligen Liebhabern versorgte Veteraninnen unterbringt
als Gardedamen, Friseusen, Beschliesserinnen in den
Lavabos der Nacht-Restaurants, Ouvreusen in Theatern etc.,
eine so organisierte Gesellschaftsklasse gibt es bei uns
nur in vagen Umrissen, Übrigens würde sie gerade den
Besten unter jenen Mädchen garnicht entsprechen.
Frankreich hat auch in dieser wichtigsten der sozia-
len Angelegenheiten seine vernünftige, konventionelle
Methode angewendet.
Es gibt Mädchen mit Mitgift, entsprechender gesell-
schaftlicher Erziehung und einer summarischen Tugend-
haftigkeit, die so sicher heiraten können, wie bei uns die
Jüdinnen, und diese Gelegenheit der offiziellen Emanzi-
pation aus dem Jungfrauenelend schwerlich durch Leicht-
sinn verscherzen. Und dann gibt es Mädchen ohne Mit-
gift, die mit einer standesgemässen Ehe nicht rechnen
dürfen. Sind sie klug und hübsch, so werden sie sich
nicht zur Dienstmagd eines dürftigen, kleinbürgeriichen
Gatten machen lassen und ebensowenig das bittere Brot
der Gouvernanten und Lehrerinnen essen. Auch die
Versprechungen der Frauenemanzipation haben nicht viel
Verführerisches in dem Land der Halbwelttraditionen, wo
sich die Frauen weniger als Sklavinnen, denn als Herrinnen
des Liebesmarktes fühlen. Die Nachfrage ist so gross,
dass sie die Bedingungen häufig diktieren dürfen. Die-
jenige Frau, die sich aus Mangel an Mitgift verkauft und
einen einigermassen anständigen Preis erzielt, erreicht eine
Art von Schätzung: die Halbwelt hat ihre Standesehre.
Es ist bekannt genug, dass ihre Herrscherinnen den legi-
timen Damen Mode und Geschmack auferlegen.
— 152 —
Wenn auch viele arme Mädchen, die sogenannfen
«.trottins*, so liebenswürdig und kindlich sind, leichten
Herzens anf den „ernsten'' Liebhaber warten zu können,
nicht in ewig wacher Berechnung rechts und links Netze
nach ihm auszuwerfen, sondern ihre Zeit lachend zu ver-
tändeln, so ist das Temperamentssache ; sie träumen alle
dasselbe: in eigenem Wagen durch das bois zu fahren,
ein eigenes Hotel und Diensboten zu haben. Manche
werden auch frühzeitig durch Erfahrung oder Beobach-
tung enttäuscht und ziehen die enge Versorgung einer
mesquinen Ehe der Unsicherheit des horizontalen Hand-
werks vor. Auch das ist Temperamentssache. Es ist
nicht jedermanns Angelegenheit, sich so seiner Persön-
lichkeit, seiner Hoffnungen und Verachtungen zu ent-
kleiden, wie es dieser Beruf verlangt, der — schon die
alles Individuelle verwischende Schminke zeigt es an —
die Frau auf Kosten ihres Herzens und ihrer Sinne zu
einem grossartigen Qattungswesen generalisiert: die Kurti-
sane. Nicht zartes Verstehen, nicht Teilnahme wird ihr
entgegengebracht oder von ihr verlangt. Fräulein Jeanne,
die Tochter des braven Unteroffiziers, Fräulein Renäe,
die Schwester eines ordentlichen Beamten und einer in
der Provinz blühenden Bürgersfrau, sind nicht mehr, sie
haben Leid und Freud abgedankt an Madame Odette
oder Madame Lola, die geschminkt und frisiert abends
in den Folies Bergferes promenieren. Niemand will ihre
Gefühle kennen, ihre äusseren und inneren Misören (auch
das noch !), sie sollen ewig lächelnd, ewig rosig, ausser-
halb der Sorgen des Alltags stehen. Von ihnen wird
nur das grosse Kunstwerk der Kurtisane erwartet, und
dieses vollkommene Aufgehen des Individuellen im Typus
ist es, was diesen Töchtern von kleinen Handwerkern
— 153 —
und armen Bauern ihre zu Zeiten wahrhaft p^ithetische
Grossartigkeit verleiht. Nie werde ich den Augenblick
vergessen, als ich den Kontrast dieser erstickten Indivi-
duellen und glänzend entfalteten Welt der Gattung plötz-
lich zu schauen bekam: Es war irgend ein Verbrechen
begangen worden, in ein Nachtcafä dringt die Polizei
ein und zwingt eine Anzahl dieser halbberauschten, krä-
henden Damen, die etwas bezeugen sollen, ihre Perso-
nalien anzugeben. Aller Aufmerksamkeit wird plötzlich
gleichzeitig auf ihre Kindheit gerichtet. Bis auf das Ge-
burtsjahr werden sie wohl die Wahrheit sagen. Warum
nicht? Und nun bekommt man liebliche Namen kleiner
Dörfer der Picardie oder des Dauphin^ zu hören, die
Familiennamen und Berufe der Väter werden genannt,
armer Schuhmacher, Gastwirte, Forstbeamten. Ich sehe
plötzlich eine Reihe kleiner magerer Provinzmädchen vor
mir, die aus dem väterlichen Laden ein paar gesohlte
Stiefel wegtragen, einem im Felde arbeitenden Bruder
sein Essen hinausbringen oder vielleicht schon ein heim-
liches Stelldichein im Walde mit den Schulbuben haben.
Mit vollendeter Höflichkeit entledigen sich die Schutz-
leute ihrer Aufgabe, wUnschen diesen Damen eine ver-
gnflgte Nacht und gehen. Die kleinen Dorfmädchen
sind verschwunden und das, je nach der Stimmung des
Beobachters, aufreizend oder erfrischend seelenlose Ge-
lärm geht weiter.
— 154 —
3. Die legitimen Frauen.
Das christliche Gewissen beruhigte sich über das
Vorhandensein der Halbwelt gern mit dem Gedanken,
dass durch sie der häusliche Herd vor der Libertinage
geschützt sei. In der Tat ist es die Leichtigkeit, mit der
der französische Mann in der Halbwelt seine Sinne be-
ruhigen kann, die in Frankreich das junge Mädchen der
Gesellschaft seinen Angriffen entrückt. Der Demimonde
reisst dem Manne die Giftzähne aus. Nirgends ist das
junge Mädchen so sicher als in Paris. Freilich, der Be-
griff „junges Mädchen von Familie'^ ist auch nirgends
so scharf umrissen. Fast immer gehOrt, wie gesagt, als
raison d'6tre eine gewisse Mitgift mit sicherer Heirats-
aussicht dazu. Der sehr sozial empfindende Franzose
scheut meist davor zurück, eine klare soziale Position zu
zerstören. Die daraus entstehenden Verwicklungen wären
ungeheuerlich. Auch die junge Studentin oder Malerin
lässt er lieber in Ruhe, ehe sie sich selbst emanzipiert
hat. Die bekannte schwarze Büchermappe aus Wachs-
tuch schützt buchstäblich eine junge Dame in Paris bis
zu einem gewissen Grad davor, angesprochen zu werden,
und wäre sie ärmlich gekleidet. Der Franzose wendet
sich lieber an die Mädchen, die für die Liebe da sind.
Es mag hart klingen, wenn man sagt, dass das die
armen Mädchen sind; und es scheint geradezu empörend,
wenn man als Grund den Umstand nennt, dass dem
Manne nicht zugemutet wird, das arme Mädchen zu
heiraten, wenn er es verführt hat. Die Tatsachen aber
mildem die Härte wesentlich. Diese Zumutung wird
aus drei nicht ganz abzuweisenden Gründen nicht
gestellt Zunächst besass das arme Mädchen niemals
— 155 —
ernste Aussichten zu heiraten; sollte sie sie dadurch er-
worben haben, dass sie verfahrt worden ist? Zweitens
weiss man, dass eine dem Manne aufgezwungene, seine
Entwickelung oder seinen Beruf hemmende Ehe — und
wäre sein eigenes Gewissen der Zwingherr — auch fUr
die Frau ein sehr zweifelhaftes GlOck ist.'*') Und vor
allem das Schicksal der keine gesellschaftliche Position
verlierenden Verführten ist in Frankreich nicht eigentlich
tragisch. Die Leiden der Halbweltexistenz sind kaum
grösser als die der Ehe- und Mutterfrohn in einer gross-
städtischen unbemittelten Ehe, und die Freuden können
viel grösser sein. Auch von sittlicher Aechtung und poli-
zeilicher Schikane wird die wenig leiden, die nur ein
bischen Mässigung, Weisheit und Heiterkeit des Gemüts
besitzt. Und gerade diese Eigenschaften sind unter
jenen Mädchen häufig.
Leute, die ein Vorurteil haben gegen illegitime Gross-
elternschaft, riskieren weniger, ihre Töchter in Paris stu-
dieren zu lassen, als. etwa in München. Die Boheme mit
ihrer behaglichen Lästerung der Konventionen hat schon
manches arme Seelchen verwirrt, das später nach den
*) Es ist vielleicht wirklich bisweilen schlecht, ein Mädchen
zu verführen; es ist immer schlecht, ein Mädchen nur darum zu
heiraten, weil man es verführt hat In England, wo die Halb-
welt noch geächteter ist, als bei uns, ja fast immer mit dem Ver-
brechen verschwistert ist, hat man einen Ausweg gefunden, der
der gesellschaftlichen Stellung des Mannes und des Mädchens
gleichmässig genug tut. Man rettet durch Heirat die Ehre des
Mädchens, lebt aber getrennt von seiner Frau, die niemand kennt.
Die Ehre ist für alle Zeiten gerettet, die Rechte des Herzens auf
'irgend eine künftige Liebe sind für das ganze Leben aufgegeben.
Wir würden wohl etwas mehr Unehre mit etwas mehr Hoffnung
vorziehen.
— 156 —
mOtterlichen KaffeetOpfen zurackweinte. Aber der Denii-
monde ist höchstens für die Börsen junger Leute gefährlich.
Was kflmmert es z. B. eine junge Künstlerin, wenn die
rothaarige Flora von Maxime's durch einen amerikanischen
Sportsman ein Hotel im Quartier de TEurope eingerichtet
bekommt?
Indem man in Frankreich bei der Eheschliessung erst
dann auf die Geffihle Rücksicht nimmt, wenn die mate-
riellen und sozialen Grundlagen gesichert sind, wird das
Entstehen immer neuer gebildeter oder zart empfindender
Mädchen ohne Mitgift verhindert. Das Elend des Alt-
jungfertums und der endlosen Veriobungen mit ihren auf-
reibenden Unregelmässigkeiten ist in Frankreich daher
fast unbekannt. Ob darunter das Gemütsleben leidet,
ist schwer festzustellen. Die immerhin mögliche Kame-
radschaft zweier konventionell verbundener Menschen fällt
jedenfalls stark ins Gewicht gegen die wahrscheinliche
Enttäuschung zweier aus Liebe Verbundener. Die jüdi-
schen Konvenienzehen gelten im allgemeinen für glück-
lich, und Oskar Wilde sagt einmal, ein Mann könne mit
jeder Frau glücklich leben, vorausgesetzt, dass er sie
nicht liebt.
Kurzum, die Ehen aus Liebe haben sich bis jetzt
noch nicht in dem Grad bewährt, dass man diejenigen
zu verurteilen berechtigt wäre, die Ehe und Liebe grund-
sätzlich auseinanderhalten.
Alle bisherigen Betrachtungen gehen mehr vom Stand-
punkt des Mannes aus. Wie aber kommt die Frau bei
diesem strengen System der Einteilung in Welt und Halb-
welt zu dem ihr notwendigen Mass von Liebesglück?
Nun, sie lässt die Härte des Systems bestehen, erhebt
— 157 —
aber insgeheim einen ungeheuren Zoll für ihren Gebrauch.
Eine Eigenschaft der französischen Männer macht ihr das
leicht. Der Deutsche empfindet es mindestens als eine
Ungelegenheity wenn die von ihm geliebte Frau die Gattin
eines anderen ist oder wird. Für den Franzosen dagegen
ist der Ehering der Frau (natürlich nicht seiner eigenen !)
ein wahres Aphrodisiacum. Der Deutsche liebt ein Fräu-
lein oder ein Mädel, der Franzose immer eine »Madame*^.
Mit diesem Titel redet er auch die Kokotte an, solange
er sie nicht duzt. Erst die aus der Jungfräulichkeit
emanzipierte ,,Madame'' ist der Gegenstand französischer
Liebe. Die materielle und soziale Basis ist gesichert.
Jetzt traut man der Frau zu, dass sie ohne Berechnung,
allein dem Herzen und den Sinnen folgt. So wird der
Ehebruch quasi zu einer sozialen Institution, gewisser-
massen das Ventil, welches einem temperamentvollen
Volk erlaubt, die Unnatur der Einehe im Interesse der
Nachkommenschaft bestehen zu lassen. Wie viel Frem-
des spielt, ohne dass sie es selbst weiss, in die schein-
bar selbstlose Liebe hinein bei der Frau von nicht ganz
gefestigter Stellung, wieviel sozialer- Ehrgeiz, Bildungs-
und Vergnügungsbedürfnis, Angst vor Einsamkeit. Sie
ist selbst zu liebebedflrftig, um die wahre Mattresse sein
zu können, die der Franzose wünscht. Erst die Frau,
welche Bildung, Vermögen und Geselligkeit in hohem
Grade geniesst, vermag in einem sozial so bewussten
Land ganz uninteressiert zu lieben, darum schildern die
Dichter immer wieder den Ehebruch der grossen Dame,
die wirkliche Leidenschaft der ausgehaltenen Kurtisane
oder ihre Kaprizen. Sie allein sind sachlich in der Liebe,
wie der Mann, sie lieben um der Liebe willen. Das
junge Mädchen ist wahllos oder interessiert. Dass die
- 158 —
Liebe solcher Frauen oft nur ein luxuriöser Zeitvertreib
ist, oder doch wieder nur die Mittel ftlr anderweitigen
luxuriösen Zeitvertreib verschaffen soll, haben die fran-
zösischen Psychologen am allerwenigsten übersehen.
Die Bemühung, Liebe und Eitelkeit zu versöhnen,
das ist der echt französische Konflikt der „grande amou-
reuse*". Schon das Manon Lescautproblem beruht darauf.
»Manon", sagt Lanson*), »ist ein kleines Mädchen ohne
Moralinstinkt, die nichts versteht, als ihren Chevalier zu
lieben. Nur Eines kann sie nicht für ihn tun: arm sein
und schlecht gekleidet.*
Wir verstehen in der Liebe den Betrug, ja das Ver-
brechen, wenn es ein kühnes Liebesglück begründen
soll, die grausige Unerschrockenheit des Renaissance-
lebens, aber ,monde", „luxe*, ,repr6sentation" sind uns
in der Wage der Handlungsmotive fast Imponderabilien.
Wenn Maurice Donay in seinem letzten Stück „Paraltre"
Christiane tadelt, weil sie, ohne ihn zu lieben, ihren
Gatten ruiniert, um sich bei nächster Gelegenheit einem
vorteilhafteren Mann in die Arme zu stürzen, so zeigt
sich der Unterschied französischer Wertungen von unseren :
wir würden nämlich Christiane garnicht tadeln, wir
würden sie uns als Heldin eines Stückes überhaupt nicht
gefallen lassen.
*
Wenn die Teilung der Frauen in Welt und Halbwelt
grausam ist, so ist sie es in ebenso hohem Mass für den
Mann als für die Frau. Der französische Mann trägt
ehrlich die Kosten, sei es, dass er als Gatte der zwar
besitzenden Frau Name und Stellung gibt, sei es, dass er
*) G. Lanson, Histoire de la literature fran9aise p. 668.
— 159 —
als Liebhaber ihren Luxus bezahlt. In beiden Fällen, als Gatte
wie als Liebhaber, ist er gleichermassen der Lächerlichkeit
ausgesetzt, als Sprungbrett benutzt zu werden, als Ausgangs-
punkt für die Jagden, die Madame in den Gründen der Lust
unternimmt. Man kann der heiteren Philosophie, mit der
er sein Schicksal trägt, nicht die Bewunderung absprechen.
Dass die legitime Gattin bisweilen in Gebärden, finan-
zieller Moral und Oekonomie, wie in Gewohnheiten zur
grossen Prostituierten wird und ihren Mann, der jährlich
armselige 30000 Franken verdient, zum Zuhälter macht
(mit einem offenen, einem zugedrückten Auge), dass
manche weise Halbweltdame dagegen zu einem unab-
hängigen respektablen Douairiöre-Dasein kommt, für ihr
Tochterchen eine englische Miss nebst Pony hält und in
Erziehungsfragen die geschmeichelten Spitzen der Lite-
ratur und des Staates zu Rate zieht, das ist das lustige
Kreuz und Quer, welches sich das bunte Leben erlaubt.
Und es beweist am Ende, dass die Teilung in Welt* und
Halbwelt im Grunde nur schematisch ist. Mondaine und
Demimondaine tun dasselbe: sie suchen zuerst die Po-
sition, ohne die das Leben in Frankreich finster und er-
bärmlich ist. Sie wird erlangt durch den Gatten oder
den , ernsthaften'' Freund, den amant attitr^. Dann kann
man mit einiger Vorsicht auf allen Stufen der unendlichen
Leiter der „folie'' herauf- und hinabklettern. Der amant de
coeur, der gigolo (das bisweilen aus Kaprize zugelassene
Herrchen sans cons^quence), der maquereau (» Zuhälter),
der michö (» Würzen) sind sowohl hinter dem Rücken
eines „mari'' als eines „ami'' möglich.
Eine im Lande der Galanterie unerhörte Liebesver-
drossenheit erfüllt zwar heute die französische Dichtung,
— 160 —
das Theater, den Volksgesang. Der Hass der beiden
Geschlechter verdrängt fast die Liebe aus der Literatur.
Und dennoch: Noch immer blühen in Frtlhlingsnächten
die schweren rot- und weisskerzigen Kastanienkronen in
den Champs-Elysäes, darüber fiiesst ein blaues Gemisch
von Mondlicht und Bogenlampenschein, flutet auf die
Balkone der grossen Restaurants, wo bunte Frauenhüte
nicken. Ringsum schaukeln grüne und rote Gir|ndolen,
Kränze und Guirlanden farbigen Lichts. Auf weichem
Sandboden rollen fast geräuschlos zierliche Wagen, aus
den Büschen huschen Kokotten in weissen, hemdartig
flatternden Abendmänteln, fern in der Hauptallee schnaufen
die Automobile . , . und überall Frühlingsduft und dunkles
Gezweig, das der Mond und die bunten Lampen auf
den Boden zeichnen.
Wird das fahle Gespenst jener Liebesverdrossenbeit
diese Buntheit verdrängen oder wird sie erst recht ge-
deihen, dem Verwundeten einige Stunden Vergessen ver-
sprechend?
4. Der bal des quat'z arts 1906.
Ein Tagebuchblatt.
17. Mai.
R. sagt, man müsse die Leute reichlich mit Ziganen
und Alkohol bewirten, um die schwer erhältlichen Karten
für den Ball zu bekommen. Zu diesem Zweck heute
Rendez-vous Caf6 Delta. Die Herrschaften sind ganz
gesittet. M., in schwarzem Flaus, breitkrämpiger Hut^
— 161 —
aufgezwirbelter schwarzer Schnurrbart^ wie aus der Zeit
Louis XIII. Mme. M., ein feiner Luinischer Madonnen-
Icopf, ein bischen Icränklich, rührend dOrftig gekleidet.
Nach reichlichen Libätionen verspricht man uns die Karten
für morgen in der Piscine. (?)
18. Mai.
Auch H. und S. sollen Karten haben. S. fürchtet
etwas, nicht den rechten Ton mit den Leuten zu finden,
der kleine H. hat Angst, man würde ihn Offentich ent-
kleiden. Ich beruhige sie und nehme sie mit in die
Piscine, ,pour faire voir leurs gueules'', denn es ist
wichtig, dass uns die Leute am Eingang erkennen und
uns als zu ihrem Atelier gehörig bezeichnen kOnnen.
Ohne diesen Schwindel keine Möglichkeit, hineinzukommen.
Die Piscine ist also eine halbzerfallene, ehemalige Bade-
anstalt, in deren ausgetrocknetem Schwimmbassin wir
das Atelier X. beschäftigt finden, seine Loge für den
Ball zu konstruieren. Man empfängt uns mit Gejohl in
dem zerbröckelten Vorraum, dessen Hauptannehmlichkeit
ein Wassereimer über der Eingangstüre bildet, der mit
einer Schnur von einer Ecke aus erschüttert werden kann,
so dass der Eintretende gedoucht wird. Durch einen
unbeschreiblichen Zufall entgehen wir dem Geschick.
M. brüllt mir entgegen: „Toi, je te reconnais bien, tu as
une belle gueule de cur^.*" In der Piscine zeigt man uns
die noch nicht zusammengefügten bemalten Leinwand-
yrände der Loge: auf Purpurgrund ägyptisch stilisierte
witzige Obszönitäten. Wir lassen eine Flasche Dubonnet
kommen und regalieren. Nicht immer leicht, die rechte
Mitte zu halten, weder knauserig, noch als Würzen zu
erscheinen.
11
— 162 —
Dann gehen wir zum Costumier; an der porte
St. Martin trifft R. zufällig einen Freund, der Aegyptolog
ist Er hilft uns bei der Auswahl der Kleidung, wir
drapieren uns ägyptisch. Devise des Balles: L'orient
antique.
19. Mai.
6 Uhr abends. Heute der grosse Tag. Mein Zimmer
ist in einen ägyptischen Bazar verwandelt, eben kommen
H. und R. zum Umkleiden.
20. Mai.
4 Uhr nachmittags. Eben aufgestanden. Mein Kopf
ist voll von purpurnen Erinnerungen. Ich will gleich
das QewQhl meiner Eindrflcke festzuhalten suchen, ehe
sie zerstreut werden.
Zum Abendessen trafen wir das Atelier im Restau-
rant Trianon. Um 7 Uhr Versammlung zum Aperitif:
Gewoge farbiger Gewänder, nackte Frauen unter bunter
durchsichtiger Gaze. Gebrüll. Hin- und Herlaufen vom
Saal zur Toilette, deren Tür unter dem Druck eines
Knäuels krähender, sich schminkender und pudernder,
nähender, zupfender Frauen wiederholt aufplatzt. Rücken
und Ellbogen, halb in farbiges Tuch gehüllt, quellen
tinter betäubendem Lärm in den Saal und werden von
aussen wieder in die enge Toilette gepresst. Weiber-
gekreisch: . . Lucienne as-tu du rouge? . . N'6crase-pas
mes nichons. Gemeinsames Abendessen an langen,
schmalen Tafeln, Cymbeln werden geschlagen. M. bläst
unermüdlich auf einer Torpedopfeife. Lamprecht — so
nennen wir einen 19jährigen Maler, der ein Jahr in
Lamprecht bei Mannheim lebte und ein komisches Deutsch
— 163 —
kauderwälscht — Lamprecht will als Zwischengericht
Lucienne unter den Arm beissen. Ein Fremder am Neben-
tisch schenkt einer gewissen Francine einen Maiglöckchen-
strauss, man brüllt, er mQsse sie küssen, aber er ist
schüchtern, Francine erlöst ihn „de bonne grace"* aus
eigener Initiative von dieser Situation. Wieder platzt die
Toilette. Ein betrunkener Schlangenbändiger in Turban
stemmt sich gegen die Tür. Einer hat ein Kostüm, das
von weitem türkisch aussieht, von nahem gesehen, aus
lauter Küchengerät zusammengesetzt erscheint. Ein
anderer hat auf die Rückseite seines Talars eine mennig-
rote Begattung gemalt. Ein Mensch, der seiner Aehn-
lichkeit mit dem Dramatiker wegen Sardou genannt wird
— ein gelbes bOses Altweibergesicht — verteilt die
Speisen, sekundiert von einer resoluten jungen Wirtin.
Nichts von den schiefmauligen verdrossenen Kellnerinnen-
gesichtem, wie in Münchener Kamevalsnächten. Lamp-
recht küsst die Wirtin.
Wir gehen nach dem m^tro, von der ganzen Mont-
martrebevOlkerung begafft. Lamprecht kneift vorüber-
gehende Mädchen, Vorübergehende kneifen die halb-
nackten Mädchen unseres Zuges. Schutzleute werden
verhöhnt. Im unterirdischen Mätro Höllenlärm, der von
den Wölbungen vervielfacht wird. Der Schlangenbändiger
und Lamprecht stürzen sich an den Schalter. Lamprecht
improvisiert durch das Gitter eine zärtliche Szene mit
der Billetverkäuferin, die, durch den Draht gesichert,
sich's lachend gefallen lässt. In den Waggons lagert
sich alles am Boden, die Passagiere ratlos. Vor dem
Saal Wagram, teils im Caf£, teils auf der Strasse unbe-
schreibliches Gewühl, stundenlang zwischen Menschen
geklemmt (nicht die unangenehmsten übrigens), darunter
11*
— 164 —
die zarte blasse Mine. M. Einer nach dem andern wird
eingelassen. Die sittenstrenge Polizei sorgt aufmerksam
für Ausschluss aller fremden Elemente. Im letzten Mo-
ment noch hat jemand etwas an unseren Gesichtern aus-
zusetzen. Aber dann hinein und nun fragt niemand mehr
nach Nam' und Art.
Der Saal ist in eine buntdurchglOhte Wolke von
Rauch und Staub gehfillt, rings die farbigen Logen der
verschiedenen Ateliers. Alles halbnackt in scheckigen
Fetzen, die Männer scheusslich bemalt und tätowiert,
ein antiker Gott trägt statt eines Feigenblattes die Auf-
schrift: „dames**. Ein anderer ist bedeckt mit Rosetten
aus rotem Seidepapier und Haar. Die Logen schieben
ihre hübschsten Mädchen an die Brüstung, am gelungensten
ein bis an die Saaldecke aufgerissenes Drachenmaul, im
Schlünde hochrotes Licht, zwischen den Kiefern tanzen
erlesen schöne nackte Mädchen, wie auf mittelalterlichen
Höllenbildern. Aehnlich geht's auf der^Bühne zu, wo die
tanzenden Frauen vorläufig noch etwas umgazt sind,
sich aber bald ganz entblössen : fast jungfräulich schlanke
Leiber, ande^re, die vielleicht schon geboren haben, aber
stets einwandfreie Brüste; eine in durchsichtiger schwar-
zer Gaze in edelsten antiken Gebärden, als löse sich der
ganze Leib in Schleier auf, daneben eine breitbeckige
Blonde in exhibitionistischer Bewegung. Im zweiten
Treffen Männer, deren Hände nach den tanzenden Frauen-
leibern haschen. Alle Formen der Liebe scheinen sich
im Tanze zu gestalten. Manche Häute zeigen schon
grüne und braune Flecken, rote Ritzen, besonders die
breite Blonde scheint nach Verwundungen zu dürsten, •
Der Festzug beginnt, das farbigste, erregendste Schau-
spiel, gegen das päpstliche Kirchenpracht, spanischer
— 165 —
Hofglanz und der orientalische Prunk Abdul Hamids in
meiner Erinnerung verblassen. Zuvörderst ein gigan-
tisches Ungeheuer, das aus allem Tierischen zusammen-
gesetzt ist: Flügeln, Flossen, Schuppen, Krallen, Hörnern.
In seinem Schoss wimmelt blonde und braune Nacktheit.
Die Schönste steht hoch oben auf dem Schädel des
Tieres, fast an die Decke stossend, nur die Ohren keusch
mit goldenen Becken besetzt. Es folgt ein finsterer,
goldener Rhamses, zu dessen Fassen sich ein schöner
Frauenkörper windet, in einem Wagen zwischen roten
Laternen ein schlafender Perserkönig, von seinem ent-
blössten Harem befächelt. Ein sechsarmiger Indra wächst
golden zwischen lebendigen Nacken und Brüsten hervor.
Alle Wagen und Karren werden von halbnackten, fast
riesenhaften bärtigen Männern getragen oder geschoben.
Ein gigantisches, schaukelndes Molochhaupt wird sicht-
bar, die Arme des Gottes pressen ein Weib, dessen Füsse
im Feuer stehen; es folgt ein Rosenwagen mit einer
ruhenden Frau, eine grünseiden gegürtete, die dadurch
doppelt nackt erscheint, schaukelt in einem Purpurreif,
wie ein seltener böser Vogel, ein vielleicht vierzehnjähriger
Kinderieib thront auf einer Ente, ein finsterer aufrechter
Mumiensarg umrahmt die stehende, pompös geformte
Lucienne, den Stolz unseres Ateliers, zu ihren Füssen
kauern sphinxartige Mädchen,. Eine indische Fürstin
reitet auf einem Elefanten, von goldenen Skorpionen,
Spinnen und Fabeltieren umgeben. Dazu eine erregende
Musik, die sich aus Wagner'schen Fanfaren, dem Aida-
marsch, Hörnerklang aus dem Freischütz und Sousa-
mätschen mischt. Den schönsten Wagen wird aus allen Logen
zugejauchzt. In trunkener Lust an ihrer eigenen Schönheit
zittern alle diese Körper, als wollten sie die Blicke ein-
— 166 —
saugen, die auf ihnen brennen. Alle Tierrachen dampfen
rotes und grünes Licht, die auf den höchsten Wagen-
dächem aufgestellten Gestalten verblassen schemenhaft
über dem Glutmeer der unteren Regionen. Ein äusser-
stes Pathos der Sinnlichkeit, obwohl fortgesetzt kleine
zweideutige Szenen dazwischen huschen. Einer reisst
einer Gruppe jauchzend die Gaze herab, ein Sänftenträger
beugt überwältigt das Haupt in den Schoss seiner Herrin,
die in der Luft nickenden Palmenwcdel und Pfauenfeder-
fächer senken sich und kitzeln die hingestreckten Leiber.
Das alles bleibt echt, wird nicht einen Augenblick Mas-
kerade oder rohe Hässlichkeit; alles geschieht spontan und
dennoch mit Rücksicht auf den Zuschauer, ein Schauspiel,
das nichts bedeuten soll, sondern jeden Augenblick ist.
Der Zug ist zu Ende, die Karren werden in die Ecken
geschoben und entladen; nackte Hexen springen den
Männern auf die Schultern und jagen so jauchzend durch
den Saal. In allen Logen, auf dem Boden lässt man sich
in Gruppen nieder, um die EsskOrbe, die am Büffet zu
haben sind: Souperpause. Wenn bisher mehr eine all-
gemeine Nerventrunkenheit durch Buntheit und Geschrei
vorgeherrscht hat, beginnt jetzt der Champagner wirksam
zu werden. Die geleerten EsskOrbe fliegen umher.
Stroh, Teller aus Pappe, zerbrochene Gläser, abgenagte
Hühnerknochen, Wurstschalen liegen am Boden und
werden zerstampft. Bald ist niemand mehr nüchtern.
H. und ich, wir suchen uns eine lustige Ecke aus,
leeren schnell zwei Flaschen. Jetzt muss man betrunken
sein. Wir reden und lärmen mit, zitternde Brüste gleiten
uns durch die Hände, wir hören um uns und sprechen
verschiedene Sprachen durcheinander, alle Hemmungen
unserer sonst so würdigen Persönlichkeiten fallen. Ich
— 167 —
gerate an einen deutschen Tische den ein vergnUgter
dicker Falstaff befehligt, die jungen Herren reden von
Kunst. Ich wage einige zweifellos geistreiche Behaup-
tungen, die ich aber leider vergessen habe. Ich bemerke,
dass ich meinen Taumel nach Belieben fluten lassen und
zügeln kann. In unserer Loge finde ich M. und Madame.
Teils weil sie zu zart ist, teils weil sie ihm ehelich ver-
bunden, darf sie nur von der Loge aus zuschauen. Es
amttsiert mich, ihr sehr dezent den Hof zu machen und
mich dann wieder in den Strudel zu stürzen.
>
Ueber dem Glasdach erscheint die bläuliche Frühe.
Die Lichter verlöschen, die bunte Masse badet in erst
gedämpftem, dann grellem Tageslicht. Man stOsst sich
hinaus in die Garderobe. Zwei Stunden lang Geknäuel,
bis man an seine Sachen kommt, die von trübseligen
Schutzleuten aus einem Keller durch enge Luken herauf-
gereicht werden. Die Frauen bleich, wirr, schmutzig,
schlotternd; man wird gedrückt, gekniffen, gekitzelt,
karamboliert mit harten Gesässen, sinkt in weiche Busen
und blickt in blauumränderte Augen. Eine dürre asch-
graue Blondine fällt mit spitzem Schrei über meine Füsse:
Nervenkrise; ein dunkelblau bemalter Italiener stOsst mir
einen Frauenmund ins Auge. Die Dame mit der Nerven-
krise ruft „merde'^. Man hat ihr auf die Finger getreten;
aber ihr Kopf scheint gut auf meinem Schuh zu liegen.
Endlich gelangen wir im Paletot auf die Strasse: der
Are de TEtoile in Morgennebeln. An allen Fenstern
brave Frühaufsteher, die unser Gewühl bestaunen, ein
Gassenkehrer untersucht', behaglich am Boden sitzend,
den bunten Inhalt einer Kiste. In einem Entresol lehnt
sich, der Morgenfrische froh, ein altes Ehepaar aus dem
Fenster: „A poil, ä poil'', ruft man ihnen zu. Eine alte
— 168 —
Dirne mit mehliger Haut kommt aufgestört aus einer
Seitenstrasse, ein Buckliger beginnt einen Scheinkrakehl
mit vorübergehenden Arbeitern , man schickt sich an,
Schutzleute mit Gewalt zu entkleiden. Vor den Kaffee-
häusern nehmen Bureaubeamte ihr erstes FrflhstOck.
Viele gehen noch in die ^cole des beaux-arts, um in den
Fontainen zu baden,
H. und ich ins M^tro. Müde Heimfahrt. Auf der
place d'Anvers trinken Arbeiter aus Kübeln Schokolade,
in die Brot gebrockt ist. Faute de mieux setzen wir uns
dazu und schlürfen das dünne, aber warme Getränk. Der
Morgen ist sehr frisch. Aus dem Schacht des M£tro,
vor dem wir sitzen, taucht plötzlich R/s bunter Kogel
hervor. Er setzte sich zu uns. Mit dem nächsten Zug
erscheint S. in weissem Turban und Ueberzieher. Wir
sind wieder alle zusammen und darüber einig, dass man
als ,,coup d'oeih nichts Grossartigeres als diesen Ball
sehen kann, und dass wir nun endlich wissen, was eine
Orgie ist.
5. Dialoge
aus den Jahren 1897, 1900, 1905—1906.
Im Salon:
Madame: Comment me trouvez-vous ce soir, Mon-
sieur le pofete?
— : Je vous aurais d^jä dit mon enthousiasme,
Madame, si dans mon pays l'äducation ne d^fendait
d'adresser des compliments aux dames.
Madame: Quel dröle de pays. Est-ce que chez
vous on n'applaudit pas non plus les artistes?
— : En effet on a song£ ä supprimer cet usage
comme un abus.
Madame: — •?
— : Avez-vous dfijä vu la nouvelle piöce de Donnay
aux Frangais, Mademoiselle?
Mademoiselle (ca. 21 Jahr alt, in artiger Ent-
rüstung): Mais Monsieur, ce n'est pas une pi&ce pour
les jeunes filles.
— : Comment savez-vous cela?
Mademoiselle: Je Tai lue.
— 170 —
Madame: Alors vous fites äcrivain?
— : Oui, Madame.
Eine Deutsche vom diplomatischen Corps:
II faut donc vous appeler , Monsieur le Docteur''.
Französin: Ce sont des romans que vous äcrivez?
Engländerin: Quelle marque de stylographe (FfiU-
federhalter) recommandez-vous?
In Pensionen:
Studentin: Jamais je ne me marierai.
— : Pourquoi qa?
Studentin: Parceque je n'ai pas de dot.
— : Et si votre mari n'en demandait pas?
Studentin: Tant pis pour lui, jamais je ne consen-
tirais ä la Situation humiliante d'une äpouse sans dot.
— : Ö Tamour?
Studentin: Je dois vous dire que jai un amant
— : Comment, vous, une jeune fille frangaise?
Studentin: Naturellement c'est un ^tranger, puis-
qu'en fait d'amour les Frangais he recherchent que les
cocottes.
— : Et ainsi vous vous trouvez moins humili^e?
Studentin: Au contraire, je suis sa maitresse,
quoique pendant six mois j'aie dfl accepter son secours
mat^riel.
— : Vous me donnez lä ä penser.
Studentin: Dans le mariage la femme pauvre perd
ses derni^res ressources, la libertä de se donner et de se
refuser ä qui lui platt.
— : Vous Stes une femme sup^rieure.
Studentin: Non, je suis Frangaise, je raisonne.
— 171 —
Malerin (19 Jahre): Je n'irai pas au bal des 4z'arts
cette ann^e.
— : Pourqol donc?
Malerin: Je suis trop jeune, on m'a dit, que beau-
coup de dames laissent leurs chemises au vestiaire.
— : Mais ä quel äge voulez-vous y aller?
Malerin: Oh, Fannie prochaine pour sOr.
Journalistin: Oh, je connais la misSre, je sais ce
que c'est que la faim, mais je sais aussi me consoler.
— : Par quels moyens?
Journalistin: Je fais des vers symbolistes, je füme
de Topium et parfois je me prostitue quand Toccasion
se präsente.
— : Et Tamour?
Journalistin (achselzuckend): Peuh.
Hetärengespräche.
Folies-Bergferes:
Sie: Qu'est-ce que tu fais dans la journ^e, mon
petit?
Er: Je travaille.
Sie: Toi? Et que fais-tu?
Er (um etwas zu sagen): Je suis vitrier
Sie: Alors viens avec moi, j'ai justement un petit
carreau ä remplacer.
*
Sie: Je ne suis pas une femme pour tout le monde,
mon ami, hier par exemple, j'ai couchä avec Tambassa-
deur du Portugal.
E r : Mais moi, je ne suis absolument rien.
— 172 —
Sie: Ah, ne dis pas cela, tu ressembles mfime beau-
coup au prince de Montenegro.
♦ ♦
Moulin de la Qalette.
Das sfisse Mädel.
Sie: Oh moi, je voudrais voyager avec quelqu'un
que j'aime bien.
Er: Et oü iriez-vous?
Sie: Aux Indes, naturellement aux Indes.
E r : Et pourquoi pr^cis^ment aux Indes 7
Sie: Parce que la vie n'y est pas ch&re.
Er: Comment 5a?
Sie: On ach6te tout simplement un chameau ou
deux, ce qui est tr6s bon marchä, et on va au d6sert
pour chercher de Tor ensemble.
E r : Mais c'est de la blague?
Sie: Non, j'6tais avec un type qui a f ait 9a.
Das sOsse Mädel (entre deux draps): Ah, que
c'est beau la nature!
In einem Cafä:
Er: Qa vous amuse de voir votre ami jouer aux
cartes toute la soir^e?
Sie: Ah non par exemple, 9a m'embgte, ca me rase.
Er: Alors pourquoi revenez-vous chaque soir?
Sie: II faut bien se distraire.
Sie: Moi, j'aime bien la campagne, surtout les
petits gäteaux aux cerises, qu'on vend ä la foire de
St. Cloud.
— 173 —
Er: Et la nature?
Sie: Mai c'est la nature, Monsieur.
*
Er: Pourquoi mettez-vous du rouge? La plupart
des hommes n'aiment pas cela.
Sie: Et les femmes, qui vous examinent de la
tSte jusqu'aux pieds avec leur mächant petit sourire,
non merci.
Er: Alors, vous avez chaque nuit un autre amant?
Sie (17 Jahre) : Que voulez-vous, c'est de mon äge.
Im Salon einer grossen Kokotte:
Sie: Eh bien, Monsieur, d£cidez-vous, j'ai encore
mes vendredis libres.
Er: Et les jeudis?
Sie: Les jeudis j'ai mon colonel.
E r : Et les samedis?
Sie: Les samedis j'ai mon acad^micien ; il ne me
reste que les vendredis.
Er: Je vois que vous mettez de Tordre dans vos
affaires.
Sie: II faut bien.
E r : Et si un de vos abonnäs se sent un peu amou-
reux en dehors de son jour?
Sie: Ah, je n'aime pas du tout 9a, pourtant on
s'arrange, j'ai le täl^phone dans la maison. Eh bien
d^cidez-vous.
E r : Je regrette, Madame, mais le vendredi est juste-
ment le jour, ou je me purge.
— 174 —
Sie: Alors vous aussi, vous tnettez de l'ordre dans
vos affaires.
Er: II faut bien.
Er: Quel est votre genre, Mademoiselle?
Sie (Variät^-Sängerin): Le genre gommeux.
Er: Ah!
Sie: Cest parce que je suis mince et que je chante
trte mal.
Caveau des Innocents.
S i e (dfirftig gekleidet, ohne Hut, hat eben ein senti-
mentales Lied von Musset schmelzend vorgetragen.)
Er (während des allgemeinen Beifalls): Ah, Made-
moiselle, quelle artiste que vous 6tes — vous m'avez
remuä l'äme.
Sie (während der Beifall andauernd): Ne fais pas
de chiquä, mon petit chien, j'habite pas loin d'ici, c'est
Cent sous.
Er: ?
Sie: Mais attends d'abord que je satisfasse le
public. (Sie wiederholt die letzte Strophe schmelzend.)
* *
Casemierung.
Sie (rosa Haut, gepudert wie ein Mehlwurm): Sur-
tout, ne viens jamais le vendredi. Cest mon jour de
sortie.
Er: Que fais-tu alors?
Sie: Je vais ä la campagne avec ma petite amie.
Er: Ta petite amie? Qu'est ce que c'est que ?a?
— 175 —
Sie: Eh bien, c'est ma petite amie, une modiste
trös gentilie et tr6s sage.
Er: Mais tu l'as säduite, sans doute?
Sie: Non, je vous assure que non. D'abord, je
l'avoue, j'avais des intentions, mais depuis que je l'aime
d'amour, je ne veux pas faire des poüssonneries.
E r : Et qu'est ce que vous faites ensemble?
Sie: Nous rigolons, nous nous roulons sur le gazon
et nous dinons dans de petites auberges de catnpagne.
Cest charmant, eile croit que je suis buffetiöre dans un
grand restaurant. Cest exquis, tu sais, c'est moi qui
regale, puisqu'elle n'a pas le sous, la petite. Et nous
avons absolument les mSmes goüts. Nous ddtestons toutes
les deux les gigots et les rosbifs.
Er: Et que pr6ferez-vous?
Sie: Oh, les petites choses gentilles, de petits
oiseaux, de petits gdteaux et les petits vins gris.
Er: Mais c'est le bonheur parfait, c'est l'idylle.
Sie: En eff et, nous avons trös bon caractöre toutes
les deux.
Bei Maxim's.
Sie: Vous autres Ällemands, vous ne savez pas ce
que c'est qu'un caprice. Vous reflächissez trop. Quand
un fran^ais a un b^guin pour une femme, il la lui faut;
une seule fois peut-^tre, mais enfin il le faut.
Er (Deutscher): En effet, nous ne connaissons pas
cela. Quand une femme commence ä nous plaire, la
moindre bagatelle peut encore nous d^router.
Sie: Quoi par exemple?
E r : L'esprit commergant trop d6velopp6. Probable-
ment 9a n'empgcherait pas un caprice de fran^ais?
— 176 —
Sie: Pas le moins du monde» un compte ä r^ler^
ce sont lä les moindres difficultäs pour un fran^ais em-
ballä. Et pour vous, Monsieur?
E r : Non plus, du moment que nous sommes atta-
chis ä une femme; mais avant, cela nous froisse.
Sie: Mais attachez-vous, Monsieur, attachez-vous,
on ne demande que (a.
Er: D'oü tiens-tu cette cicatrice au menton?
Sie: Une femme a voulu me tuer hier par Jalousie;
regarde ce petit canif, c'est gentil, n'est-ce pas? je Tai
achetö. Si je la rencontre cette nuit ....
Er: Et la police?
Sie: Oh, il n'y a rien ä craindre, puisque c'est
entre femmes.
Er: Comment 5a?
Sie: II n'y a jamais rien avec la police, mSme
quand on se tue, la femme, ^a ne compte pas ä Paris.
Kinder.
Ein Bekannter kauft in einem Caf6 einem umher-
ziehenden Spielwarenhändler zwei Kaninchen ab, die man
laufen lassen kann.
Ich: Cest pour votre gösse?
Er: Ah, non, par exemple, Juliette a douze ans, c'est
une petite demoiselle, un tel cadeau Toffusquerait; c'est
pour ma maitresse, qa l'amuse.
— 177 —
Am Strand.
Ein ca. zwölfjähriges Mädchen zu andern Kindern:
Eh bien, jouons, c'est de notre äge.
* ♦
♦
Die Gouvernante: Pourquoi parles^tu comme un
beb6, tu t'exprimes si bien, quand tu veux.
Ein sechsjähriges Mädchen: Cest pour f air plaisir
a maman.
* *
Auf dem Omnibus.
Alter Herr: Ah, Mademoiselle, que vous Stes gen-
tille. Savez vous, que je suis tout ä fait amoureux de
vous?
Vierzehnjähriges Mädchen: Mais, Monsieur, je
vous en prie, ce n'est pas de cette fagon, qu'on entretient
une gösse comme moi.
*
Resumä.
Mein Freund (Franzose): Alors la majorit^ des
Allemands ne comprend pas qu'on se ruine pour une
demi-mondaine?
Ich: Difficilement.
E r : Pour nous autres Fran^ais rien n'est plus natu-
rel, parce que dans l'amour nous ne classons jamais les
femmes.
Ich: Comment? Vous ne les classez pas? Ne
sommes-nous pas ici au pays du demi-monde, classe ä
part, rigoureusement ätablie?
E r : Ah socialement, c'est autre chose. On se ruine
pour une cocotte, mais on ne l'äpouse pas.
Ich: Sauf les exceptions.
12
— 178 —
Er: Naturellementi il y avait toujours des rois qui
6pousaient des bergöres et des princes, qui faisaient d'une
grue leur legitime.
Ich! Pr^ferez-vous, qu'ils äpousent des princesses,
pour les tromper aprös le mariage avec des grues?
Er: Au point de vue [fran^ais c'est plus propre de
descendre quelque fois dans la nie, que de laisser p6n€-
trer la nie jusqu'ä son foyer.
Viertes Intermezzo.
Bilder aus der französischen Provinz.
I. Frühling in der Provence.
Noch bewegten die Stflrme der Tag- und Nacht-
gleiche die Atmosphäre, als wir Genf verliessen, um durch
Savoyen und das Dauphin^ ins Rhönetal hinabzusteigen.
Unterwegs glänzte uns zur Rechten das blaue Band des
iac du Bourget, den Lamartine besang, links drängten
sich grau in die Landschaft die Villen, das Kasino und
die Bäder von Aix-les Bains, wo sich in einigen Monaten
überfatterte Pariser das Blut entsäuern lassen werden.
Nachmittags betraten wir Chambäry, einst die savoyische
Hauptstadt. Fast feindlich umstarrt die Langeweile fran-
zösischen Provinzlebens, das um ein Qran schlimmer ist
als das deutsche, den Fremden, der ihren tödlichen Fängen
zu entfliehen vermag. Die Städte scheinen so verdriess-
lich, weil sie nicht Paris sind, gleich gekränkten Schönen,
die sich eigensinnig vernachlässigen, da sie doch nicht
so zur Geltung kommen könnten, wie sie in unberech-
tigter Eitelkeit möchten. Doch aus den engen Gassen
von Chambäry fahren Pfade hinauf an den Berglehnen
nach Les Charmettes, dem in ziemlich unverändertem Zu-
12*
— 180 —
stand bewahrten, rfihrend schlichten Landhaus, das der
Schauplatz der Liebe zwischen J. J. Rousseau und Ma-
dame de Warens war. Mehrere Porträts zeigen den
mageren, etwas verwahrlosten jangling und die lächelnde,
kraftvoll-weiche matterliche Geliebte. Von dem Schlaf-
zimmer mit dem grossen altvaterischen Himmelbett —
dessen zerzupfte Steppdecke von Touristen atomweise
nach Grossbritannien verschleppt wird — blickt man hin-
ab auf die Stadt, die von hier aus, in die blauen Berge
gesenkt, von versöhnender Lieblichkeit erscheint.
Abends kamen wir nach Grenoble, der eleganten,
lustigen Hauptstadt des Dauphin^. Hier beginnt der
französische SOden oder vielmehr der Uebergang zu ihm.
Das halbverbitterte Schielen nach Paris nimmt ab im Ver-
gleich mit mittel- und nordfranzOsischen Städten; die
Strassen beginnen ihren eigenen Charakter zu haben.
Grenoble erinnert mich an Frankfurt a. M., das auch bei
verhältnismässig geringer Einwohnerzahl ein lebhafteres
$trassenbild hervorzaubert als manche bedeutend grössere
Stadt. Gleich den Mainländern zwischen dem Norden
und Süden eines Landes eingeschichtet, bewohnt das
Dauphin^ ein lebhaftes, phantasie- und witzbegabtes Volk,
das, wie die Franken, zwischen nordischer Strenge und
südlicher Lässigkeit eine gute Mitte hält.
Dass in allen blühenden Städten Frankreichs die
Architektur den Häusertypus adoptiert, wie er sich unter
der durchgreifenden Modernisierung von Paris unter dem
Baron Hausmann entwickelte, ist ein relativ erfreuliches
Sichbescheiden« Das französische Stadthaus ist einfach
und nur gerade so viel geschmückt, dass der Eindruck
der Nüchternheit vermieden wird. Im übrigen bilden die
Privatgebäude einen neutralen, ruhigen Hintergrund für
181
die Buntheit des Strassenlebens und gruppieren sich un-
auffällig um die Monumentalbauten, ähnlich wie in deti
alten Städten Italiens, ähnlich wie im heutigen London;
wo die Privathäuser gewissermassen auf Architetdur und
Ornamentik verzichten, so wie wir es bei den Rahmen
um unsere Lieblingsbilder gern haben. In Deutschland
gestattet man dagegen jedem Maurermeister und Bau-
spekulanten, in backsteinemer und gipsener Sprache seine
EmporkOmmlingsvorstellung von- Schönheit und Architektur
unter die Leute zu brfiUen und ihnen das Spazierengehen
zu verleiden.
Qrenoble hat, dank dem Eifer des Herrn Combes,
seine Hauptsehenswfirdigkeit, die einige Stunden entfernt
in den Bergen gelegene grande Chartreuse, eingebfisst, die
zuletzt durch Huysmans zu literarischem Ruhme kam.
Heute stehen die Mauern als monument d'ätat verwaist,
und man muss sich begntlgen, um Grenoble die Land-
schaft allein zu geniessen, das bergumtürmte Tal der
Isfere und die fernen Firnen des Mont Blanc.
Es sind andere Menschen, denen in den Bergen,
fem von bewohnten, dumpfen Tälern der Menschen, oder
an spärlich besiedelten Klippen unwirtlichen Meeres das
Leben reicher wird, andere, die berauscht in die Ebenen
steigen, wo die Lüfte wärmer wehen, Lenzdüfte früh-
blühender Gärten aus weissen Pfirsichbäumen, hellroten
Mandelsträuchem fliessen, grünende Felder sich an streng
geordnete Weinberge schliessen bis hinab an den breit
hinflutenden Strom, auf dem platte Flösse und die ge-
wölbten Leiber der Kähne leise treiben unter Brücken-
bogen hindurch, vorbei an summenden, im Lichte blitzen-
den Städten und Flecken. Wer solches liebt, der steige
im Frühling hinab in die Täler der RhOnfe und der Durence:
— 182 —
eine Kette reger Uferstädte und umgrflnter Pannen, die
gen Norden dichte Cypressenwände vor dem Groll des^
Mistral scbOtzen. Immer mehr treten die Berge zurflck^
Ostlich schwindet der Strang der Alpen, der uns von der
Heimat bis hierher nachzutasten schien, westlich ver-
dämmern die weichen Linien der Cevennen, einst von
heissem Kampfruf erfallt. Der Vergleich mit der lom-
bardischen Ebene, mit den Ufern des Po drängt sich auf;
nur dass das Licht hier noch feiner, wie ein glänzendes,
goldenes Oel auf den Dächern liegt, die vom Wind ge-
reinigte, herbere Luft noch durchsichtiger darüber zittert,
oder haben mich nur die Verse Freden Mistrals ge-
blendet :
Grand soul^u de la ProvÄngo,
Gai coumpaire d'ou mistrau,
Tu qu' escoules la Durön^o,
Coume un flot de vin de Crau.
Fai lusi toun blound calöul
Coucho Toumbro emai li fl^u!
Löu, löu, l^u!
Fai te vfeire, beü soulfeu!
Ta flamado nous grasiho
E pamens, vöngue l'estifeu,
Avignoun, Arie e Marsiho
Te regaupon coume un difeu!
Hier der Versuch einer Uebersetzung:
Grosse Sonne der Provence,
Des Gespielen Mistral froh.
Vor Dir trocknet die Durence,
Eine Woge Wein von Crau.
— 183 -
Deine blonde Glut verschwende,
Dass uns Qual und Dunkel ende,
Sende und vollende
Sonne Deine lohen Brände.
Ob die Flamme auch verzehre,
Sommer, rOste Dich zu nah'n,
Avignon, Arles und Beaucaire
Wollen Dich als Gott empfahn!
Besonders wer Orange betritt, mag sich in Italien
wähnen; ein stilles, im Lichte brütendes Städtchen mit
einigen römischen Erinnerungen. Weder der Triumph-
bogen, noch das antike Theater sind ersten Ranges, aber
der Kreuzweg, den dies ROmertor überwölbt, die weiten,
aus bestaubtem Gelände zusammenstrebenden, sich hier
verknotenden Heerstrassen, die Karren und Lastwagen,
die unter der festlichen Kassettendecke und den Trophäen
des Aeduerhäuptlings Sacrovir monoton Tag für Tag
durchfahren, strömen jenen Reiz altrömischen Bodens
aus, der, im Main- und Rheinland beginnend, bis an die
Ränder der Wüste den Wanderer zu Zeiten umwittert.
Die grösseren Städte des Südens, der eigentlichen Pro-
vence, — Avignon und Nimes insbesondere — lassen
einen wesentlichen Unterschied vom italienischen Schwester-
land erkennen. Während dort die Menschen sich die
von der Sonne gereiften Früchte gewissermassen in den
Mund wachsen lassen, tritt hier bewusste Arbeit und be-
sonnene Kultur dem natürlichen Segen fördernd zur Seite.
Wir sind gewohnt, Süden und Verfall als zusammenge-
hörig zu betrachten, das vorwärtsweisende Leben spielt
sich heute unter den grauen Breiten des Nordens ab,
— 184 —
doch das beg^Dckte Frankreich, das von den feuchten
Weideländern und Laubwäldern bis hinab in die immer-
grüne, lichtgesättigte Mittelmeerzone reicht, hat hier ein
Stack Soden bewahrt, das, politisch und vrirtschafttich
dem Norden verknöpft, nicht die Abblätterung der andern
Mittelmeerländer teilt: SOden mit gegenwärtigem Leben,
mit wachsendem Reichtum und einer noch nicht abge-
blOhten Dichterschule. Erstaunlich lebhafte Strassen und
Plätze, nicht ohne Eleganz, Oberraschen den, der seine
Vorstellung von den Städten nach der Höhe der Ein-
wohnerzahl gebildet hatte. Avignon, wo die Ouvire in
die Rhone fliesst, gibt ein bedeutendes Bild reicher Flüss-
landschaft, aber das nahe Villeneuve flQstert mehr als
irgend ein Ort des SOdens vom leisen Bröckeln erstarrter
Vergangenheiten, Villeneuve -lös -Avignon, wo sich in
die schwanke Pracht einstiger Klöster, Kardinalspaläste
und päpstlicher Villen, wie Getier wimmelndes Volk hinter
prächtigen Portiken, unter dunkeln Kirchengewölben ein-
genistet hat. Ein unbeschreiblicher Abend war es, als
hier bei der scheidenden Sonne im Geviert eines ehe-
maligen Karthäuserkreuzganges zerlumpte Kinder ihre Ober-
all ähnlichen Spiele und Reigen auffOhrten ~ nicht anders,
als im Hofe einer Berliner Mietskaserne — , wie in den
einstigen Zellen zwischen geschwärzten Mauern Weiber
die Glut unter den in den Kamin gehakten Kesseln
schOrten, wie andere sich auf Holzpantinen mit Eimern
zu den uralten Ziehbrunnen schleppten, einige, auf um-
geworfenen Säulentrommeln hockend, Säuglinge an die
mageren BrOsfe legten, während Männer in der Ecke
kegelten. Das war ein Bild, nachhaltiger als alles Sehens^
werte am Sternenhimmel Baedekers.
Der alte päpstiiche Patast in Avignon ist heutb dne
185
Kaserne, und das geht nicht gegen seinen Stil. Er gleicht
ohnehin einer grandios-finsteren Zwingburg. Seine rohen,
schmucklosen Backsteinmäuern müssen sich unter eihige
wenige grosszUgige gotische Linien beugen. Die am Nach-^
mittag in den Hallen, Gängen und Höfen teils herum-
stehende, teils auf Feldbetten bratende, teils wirtschaftlich
oder mit der Montur beschäftigte Soldateska gab dem
unheimlichen Bau, in den rote Sonnenstreifen fielen, keine
ungünstige Belebung.
Einen Tag widmeten wir dem Andenken Petrarchs in
der Grotte von Vaucluse, die landschaftlich dem an
Alpenwege Gewöhnten nichts Ueberraschendes bietet.
Wie viele Tränen hat das sentimentale 18. Jahrhundert,
das Petrarca so wenig verstand und so sehr liebte, in
diese Quelle geweint, einem bekannten Memoirenschreiber
nach zu urteilen, „qui allait verser des larmes au tombeau
ou le doux Petrarque s'ensevelit vivant" Ich habe
Petrarca nie sentimental, stets nur künstlerisch verstehen
können. Ich glaube nicht, dass er als Mensch unter
Laura de Sade so unmässig gelitten, sondern dass er sehr
als Künstler in seinem infelice amor geschwelgt hat.
Seine Konflikte sind gewiss wo anders zu suchen, als
bei der greifbaren Laura, die das Decor seines äusseren,
das Symbol seines inneren Lebens war und der liebliche
Vorwand seiner Verse.
Die Arenen von Nimes und Arles sind an sich be-
deutend, wenn auch nicht im Vergleich zu denen Von
Verona und Rom. Auch hier waren, nachdem die Mönu^
mente aufgehört hatten, als Festungen zu dienen, ganze
Etagen von ärmlichen Wohnungen eingebaut, die man
erst im letzten Jahrhundert entfernte, um die Arenen ihr^r*
alten Bestimmung zurückzugeben : den Volksbelustigungen^'
- 186 -
Jeden Sonntag vom 1. April ab finden harmlose, franzö-
sische Stierkämpfe statt FDr den Sommer aber, wenn»
die Sonne noch heisser auf den Steinstufen brennt, werden
berühmte spanische Toreadores erwartet, die wahrhafte
,,mises ä morf" vorführen.
Noch einen Schritt südlicher, wir sind in Arles, denr
Herzen der Provence, wo griechisches, lateinisches und
sarazenisches Blut einen Typus von seltsamen Glanz ge-
schaffen hat. Hier ist noch nichts modernisiert, keine
elektrischen Trams jagen auf pfeilgeraden Boulevards in
den Schoss der Stadt wie in Avignon und Nimes. Graue
unregelmässige Gassen führen zum Markt und zur Rhone,,
die, sich immer verbreiternd, grauwogig ihrer Mündung
zudrängt, wo unter dem niederen Himmel der Camargue
in ungewissem Föhnlicht einst die drei Marieen mit ihrer
schwarzen Dienerin Sara landeten, zu deren Kult all-
jährlich Zigeunerscharen zum Rhönedelta pilgern. Saint
Trophime mit dem stummen Kreuzgang und dem schlei-
chenden Leben auf seinem Platz scheint uns in noch
etitlegenere Welten zu rücken, etwa in die ferne Roman-
tik von Burgos oder Toledo.
Aries ist der Mittelpunkt der provencalischen Dichter-
schule, der F^libres und der Fäibresses. Der greise
Mistral scheint die Säule zu sein, um die sich alles
schart. Er ist es, der die Liebe heimatlicher Schönheit
wach6rhält und alle kleinliche Eifersucht schweigen heisst.
Auf seinem Landgut in Majano unweit Arles lebend, ist
er der Veranstalter ländlicher Feste, so der f6te des vier-
ges, an. denen den mannbaren Mädchen ein Kleid nach
der provencalischen Tracht überreicht wird. Diejenigen^
die bis zu ihrem Hochzeitstag der Sitte treu bleiben,
erhalten von Mistral eine kleine Mitgift Die Kleidung
— 187 —
zeichnet sich wie in einigen Gegenden Italiens durch
stolze Einfachheit aus, als verschmähten die Frauen^
ihrer natürlichen edlen Formen bewusst, reichlichen
Schmuck wie ein fremdes Almosen: schwarzes Mieder
mit weissem Brusttuch, ähnlich dem Fichu Marie-An^
toinette, ein schwarzes, diadematiges Samtband auf
dem Haar, hie und da ein Edelstein auf der Brust.
Man begegnet in Arles noch verhältnismässig vielen
Frauen in dieser Tracht, die der Jugend wie dem Alter
gut ansteht
Unversiegliche Fest- und Heimatsfreude scheint die
Fälibres untereinander zu verbinden: Bankette in den
Trflmmem der Arena, Preisgesänge auf den Plätzen
der Städte, Sängerfahrten in das stammverwandte Kata^
lonien, wo in Barcelona eine ähnliche Dichterschule
blüht. Ein leiser Gegensatz gegen die Vormacht von
Paris und das reale heutige Frankreich ist wohl schon
in Mistrals Gedichten zu sparen, doch ein wahrhafter
Partikularismus — gar mit politischer Note — ist unter
dem faszinierenden Glanz der französischen Geschichte,,
des SonnenkOnigtums, der grossen Revolution, der
Grande Armäe nicht mOglich. Um den giahendeu
Kern des heimatlichen Lebens legt sich in einiger Ferne
der kühlere, aber weiterhin leuchtende Lichtglanz der
Grande Nation, der anzugehören auch diese einst un-
abhängige Provinz stolz ist In einem kleinen sehr in*
teressanten Landesmuseum (museon arlaten) hat Mistral
zusammengetragen, was sich an heimatlichen Erihnerun*
gen, altem Gerät, Bodenfunden aufbringen Hess. Szenen
aus dem proven9alischen Leben, das Mahl am Weihnachts-
abend, eine Wochenstube sind mit echtem Gerät und
Wachsfiguren (die nicht stören) eindrucksvoll dargestellt
Vor allem aber enthält das Museum eine umfangreiche
- 188 —
Iconographisch- bibliographische Sammlung von Doku-
menten fOr die Geschichte des Filibrige bis auf das Di-
plom des Mistral jflngst erteilten Nobelpreises und das
Schreiben des Präsidenten Roosevelt, das kflntlich (1905)
auch durch die deutsche Presse ging.
Das weithin leuchtende Juwel in der Kette proven^a-
lischer Städte ist Marseille, am sonnigen Strand hinge-
lagerty einer blonden Sirene gleich, nach deren üppigen
Lippen die Seefahrer dOrsten. Ein Drängen in den
breiten Strassen, * die an Glanz und Bewegtheit Paris nähe-
rstehen, und als Hintergrund dieses Stadtbildes ein Wald
von Masten und Schornsteinen dicht an der Cannebiöre,
die breit an den Hafenkai mOndet, dessen farbiges Ge-
wimmel an die Häfen des Orients gemahnt: eine köst-
liche Mischung alles dessen, was einzeln schon bezaubert
und berauscht: Sonne, Stadt und Meer. Neapel steht als
Stadt der Gegenwart zurUck, den Hafenstädten des Nordens
ist oft das Meer zu fern und die Sonne fehlt ihnen, Kon-
^tantinopel ist schmutzig, eng und ohne Vegetation. So
])esingt Mistral Marseille:
Affeciounado e galoio Marsiho,
Qu' au grand soul^u travaio, iv&r-estidu,
Tön ä la bouco uno flour de cacio,
E noun plego li ciho
Que davans löu trelus de la Mere de Diöu.
Marseille, du Stadt der Lust, selige Holde,
Zu nie getrabter Sonne aufzuschs^uen.
Im Munde trägst du die Akaziendolde
. Und deine Wimper sollte
Nie sinken, denn vor unsrer lieben Frauen.
— 189 -
2. An der Schwelle Spaniens.
Spanische Stierkämpfe — die Wundergrotte voti
Lourdes — Pyrenäenlandschaften — baskisches Volkstum:
— alles dies lässt den Reisenden zwischen Marseille und
Biarritz oft vergessen, dass er noch diesseits der Berge
ist. Nur französische Lebensannehmlichkeiten, vor allem:
eine exzellente Küche, die man in der gegen materielle
Freuden allzu gleichgiltigen Provence vermisste und in^
der Langue d'oc, Bäarn und in der Gascogne wieder-
findet, gemahnen daran, dass man . noch nicht . in da&
halbafrikanische Iberien vorgedrungen ist. Der Frauen-
typus ist mitteleuropäischer als der der kleinen unschönen,,
von der Sonne verdorrten Provenzalinnen, unter denen
sich allein die Arlesierin als edle Blutmischung heraus-
hebt, mitteleuropäischer, denn er vereint Stärke, Grazie
und Humor ohne die südländische Morbidezza, so dass
sich der Poet nach ihm leicht die zierlich-kräftige Mutter
Heinrichs IV. vorstellen kann: Jeanne d'Albret, die wäh-
rend sie auf dem Schlosse von Pau den künftigen König
gebar, einen lustigen B^ameser Refrain trällerte, damit
das Kind kein Heulmeier oder Sauertopf würde (pleureur
et rechignä). Dieses alte derblustige Frankreich, dessen
Klassiker Rabelais war, von welchem Brantöme so er-
bauliche Sitten überliefert, ebenso grundverschieden von
der finsteren spanischen Grandezza, als von der korrekten
Göttlichkeit des Versailler Hofes, am ähnlichsten vielleicht
dem einstigen Treiben in deutsch-wälschen Ritterburgen
der Südalpen, dieses alte, von der Romantik betrauerte
Frankreich hat in den nördlichen P)rrenäenländem beson-
ders kräftige Blüte getrieben, unter einem Himmel, der
vielleicht d^r gesegnetste in Europa ist. Das heute von
Fremden überfüllte Pau ist im Winter kaum Rom und
— 190 —
der Riviera an Milde unterlegen, dabei verschafft ihm der
Anhauch des unfernen Ozeans einen grUnen Sommer,
•der dem mitteldeutschen gleicht. Bei Narbonne verlässt
die Bahn die vegetationslosen Sandflächen und die fahlen
Teiche, die sich weit um das Rhönedelta lagern* Schon
Carcassonne» die mittelalterliche Veste, die, wie aus einem
alten Kupfer herausgeschnitten, mit ihren jähen Mauern
tmd wulstigen Tilrmen einen Hagel krönt, gewährt Aus^
sichten auf reich bewässerte Wiesentäler mit Ulmen-
wänden, aber Bäche, um die Weiden und Erlen kauern,
ivie sie die fettfeuchten Sommerlandschaften des mittleren
Deutschland zieren. Dahinter ragt, den Alpen ähnelnd,
die Pyrenäenwand, die formlosen Gipfel von dicken Wolken-
schwaden vermummt, während noch gestern vom Peyrou
in Montpellier unsere Augen den klassischen Linien
sanfter Bergleiber nachtasteten, die sich, wie in Attika,
weit in das glitzernde Meer lagern. Je mehr wir Tou-
louse nahen, desto weiter treten die Berge wieder zurOck,
Toulouse, das mir eine tote, farblose Händlerstadt schien,
deren alten Ruhm poetischer, südlicher Daseinslust ich
nicht fasse, deren Kais — wenn sie auch von der an-
mutigen Garonne gebildet werden — sich in modemer,
sachlicher Bedeutungslosigkeit erstrecken, die allein in
St. Sernin, einem geheimnisvollen romanischen Bau, ein,
man möchte sagen, unverdientes Monument von Grösse
besitzt In Lourdes stiessen wir wieder dicht an die
Pyrenäenkette, und wir wähnten fast zwischen Buchloe
und Lindau, nördlich den Algäuer Alpen, zu fahren, nächst
dem grünen Immenstadt und Oberstdorf.
Lourdes.
Lourdes liegt in einer abwechslungsreichen Land-
schaft der Vorpyrenäen, die an die bayrischen Alpen er-
— 191 —
Innern. Schroffe, wildgeformte Bergrücken treten bis dicht
zn die tiefgrUne Flusslandschaft heran. Schwarze Wolken-
fetzen jagen vorüber und lassen grelle Sonnenflächen mit
düsteren Schatten abwechseln. Das Städtchen selbst
gleicht einem modernen Badeort; monumentale Hotel-
bauten bilden die Strassen, an den Promenaden ziehen
sich Reihen von Verkaufsbuden hin, die neben dem be-^
kannten niedrigen Schund von heiligen Artikeln, gipsernen
Madonnen, Rosenkränzen, Blechmünzen etc. die unwahr-
scheinlichsten und verkrüppeltsten Gegenstände aus Ma-
lachit und Onyx doppelt so teuer und 36mal so ge-
schmacklos als in grossen Städten feilbieten. Ein ganz
anderes Bild bietet die heilige Grotte. In der schwarzen
Felsenhöhle ragen kolossale weisse Kerzenbüschel, deren
Flammen blutig in den grauen Nachmittag züngeln. Ueber
dem Eingange sind neben zahlreichen alten Krücken alle
möglichen orthopädischen und chirurgischen Instrumente
modernsten Typs aufgehängt, welche die Geheilten der
Madonna geweiht haben. Vor dem Gitter bilden eine
Kanzel und Bänke eine Kirche im Freien. Scharen von
Betern knien und wandeln hier. Unbeschreiblich wird
der Anblick, wenn die Tausende abends an der Grotte
erscheinen und jeder eine brennende Kerze trägt. Wie
glühende Lava flutet dann die Menge in geordneter Pro-
zession den Fluss entlang, steigt unter unendlich süssen,
klaren Avesängen. an den hohen Rampen zu der steil
über der der Grotte einen Felsen krönenden Kirche em-
por, ergiesst sich unter dem Klange der wie selig ver-
klärten Stimmen in unendlicher Ruhe und Feierlichkeit
durch die Gänge der Promenade und versammelt sich
zuletzt vor den Stufen der Unterkirche, um der zünden-
den- Ansprache eines Priesters zu lauschen. Wie durch
— 192 —
ein Wunder ist diese endlose Menge von einigen wenigen
Geistlichen, die unter sie verteilt sind, in Ordnung und
Ruhe gehalten. Nun werden sie von dem Redner als
die „Kinder des Lichtes'' gepriesen, und die »Kinder
der Finsternis' werden in ihren Hauptsätzen, der Mensch
sei das höchste Wesen, staatliche Gewalt stehe Ober
der Kirche etc. widerlegt, nicht immer ganz logisch und
einwandfrei, aber in einfach-mächtigen, leicht überseh-
baren Satzblöcken und primitive Geister verfahrenden
Antithesen. «Gerade weil die Kinder der Finsternis an
den Dogmen rütteln, gerade ihnen zum Trotz sinken
wir nun in die Knie und rufen mit aller inbrünstigen
Glut, deren unsere Seelen fähig sind: Credo, credo^
credol' Alles dies geschieht im Lande der Jaurös und
Combes; dennoch gibt es Spassvögel, die behaupten, die
Macht des Katholizismus sei gebrochen. Wer sonst ver-
möchte heute fast täglich solche Massen in solcher Einig-
keit und Ruhe zusammenzubringen und unenttäuscht zu
entlassen? Die Hotelpreise beweisen, dass es nicht nur
die niedersten Klassen sind, die nach Lourdes strömen.
Hier ist alles berechnet, was seit ältester Vorzeit die
Menschheit brauchte: die beschweriiche, aber abwechs-
lungsreiche, ein Lebensfest bedeutende Pilgerfahrt zu be-
sonders heiligem Ort, das einfache, dem Gläubigen so
plausible Wunder der Teophanie, das sich täglich in
erstaunlichen Heilungen erneuert, phantastisch (wenn auch
architektonisch kümmeriich) aufgebaute Kirchen, deren
Mauern von Dank- und Votivtafeln besät sind, dazu
die bezaubernde Stimmung einer eindrucksvollen Land-
schaft, die alle Phasen des Leidens, Hoffens, Betens, der
Betrachtung, der Ermattung und der Erlösung mit wechseln-
den Lichtem, gleich einer leichten Musik begleitet und
- 193 -
auch dem eine süsse Erinnerung feiertäglicher Stunden
hinterlässt, der hier nicht gerade Heilung körperlicher
Leiden suchte oder fand. Eine Erinnerung wie an eine
selige Insel bleibt dem gläubigen Pilger für sein ganzes
Leben. Und wer nun gar wirklich Heilung gewann !
Den ganzen Vormittag über sind die Piscinen, in
denen das Wasser der Grotte aufgefangen wird, von
Gläubigen umlagert. Die Gesunden flüstern mit zittern-
den Lippen sich überjagende Gebete, und die Perlen
des Rosenkranzes eilen durch fiebernde Finger; von
solchem Gebetstrom umgeben, harren die Elenden, Blut-
losen, Gichtbrttchigen, Verkrüppelten mit hohlen, in atem-
raubender Erwartung krank glühenden Blicken ; sie sitzen
in ihren Fahrstühlen, bis an sie die Reihe kommt.
Einer nach dem andern wird von den freiwilligen Pfle-
gern herbeigefahren und entkleidet, und nun wird der
blutleere, vor Erregung fiebernde Leib vielleicht zum
erstenmal im Leben in eisiges Wasser getaucht. Ein
furchtbarer Choc! Dann aber durchströmt plötzlich unend-
liche Wärme die Adern dessen, der, dem Bade entstei-
gend, mit rauhen Tüchern abgerieben und wieder in
Kleider und Decken gehüllt wird. Das ist das Wohl-
behagen, von dem alle Kranken berichten. Es wird ihnen
deutlich: die Liebe der Madonna hat sich persönlich für
sie verwandt, und oft genug vermag der seit Jahren Ge-
lähmte die Glieder zu bewegen und zu wandeln. Sofort
bestätigen die Priester das Wunder, die Geheilten werden
durch die Menge hinausgefahren. Alles drängt herbei.
„Etes-vous gu6rie, mademoiselle?** — ,Je marche main-
tenant, je marche maintenant!* rief eine junge Bäuerin
mit altem, entsetzlich entstelltem Gesicht der Menge zu,
und ein nicht mehr weichendes, grinsendes Lächeln legte
13
— 194 —
sich Ober die tierischen, breiten Züge. Die Geheilten
werden in das .Bureau des constatations*" gebracht, wo
Aerzte die vollkommene oder teilweise Heilung begut-
achten. Das Bulletin wird sofort im „Journal de la Grotte""
gedruckt und nimmt mit dem Abendexpress den Weg
durch die katholische Welt.
Pyrenäehland sc haften.
Das plötzliche Wirklichkeitwerden eines aus der
Schule bekannten geographischen Begriffs gibt stets eine
seltsame Empfindung, als sei man nie ganz von seiner
Tatsächlichkeit überzeugt gewesen. Vielleicht sind das
Schwarze Meer oder die Strasse von Bonifazio oder die
Pyrenäen doch nur eine böswillige Erfindung des Geo-
graphielehrers gewesen, und nun steht so etwas plötzlich
vor einem und, was der deutsche Pyrenäenwanderer sieht,
gleicht dem heimatlichen Meer und Gebirg. Es ist stets
von neuem überraschend und für viele anheimelnd, wie
von tausend Metern an aufwärts die Welt sich in ihren ent-
ferntesten Teilen gleicht, ob man nun in den Bergen
Arkadiens, in den Tiroler Alpen oder in den Hochtälern
von Barfeges und Gavami wandert. Nur weniges über-
rascht hier den Alpinisten. Freilich, während den Alpen
nördlich eine rauhe Hochebene vorgelagert ist, deren
Klima die Vegetation wesentlich beeinträchtigt, ragt hier
fettes Gelände mit Nuss- und Kastanienbäumen, mit Ge-
müse- und Blumengärten, mehr wie am Südfuss der
Alpen, doch ausgesprochen nordischer, fast mitteldeutsch,
in feuchtgrünem Schwellen zwischen die Füsse der be-
waldeten Berge. Fährt man von Lourdes über Pierrefitte
und Luz-St. Sauveur mit der Bahn hinauf und wandert
dann weiter durch das Hochtal der Gave de Bastan nach
- 195 —
Bargges, so iässt einen die noch laue Luft und der nicht
zu beschreibende Blumenreichtum der gelben, der violetten
und blauen HUgel, zwischen denen Ober QerOU der Berg^
Strom wirbelt, nicht vermuten, dass man sich schon
1500 Meter hoch befindet, eine Höhe, auf der man in
den Alpen im Hochsommer nicht lange im Schatten sitzen
könnte. Die sOdliche Sonne verschiebt hier alles um eine
Etage. Bis hoch hinauf sind die Berge grOn, wenn auch
nur wenig besiedelt, und erst ihre Kronen zeigen das
wilde Felsengrau, das in den Alpen häufig schon am
Fusse beginnt. Jenseits Baröges fängt die von Kühen,
Schafen, Pferden und Eseln belebte Mattenlandschaft an.
Nach einem heftigen Anstieg befinden wir uns in einem
im Juni schneebedeckten Hochtal, und vor uns ragte die
graue Kuppe des Pic du Midi de Bigorre (2850 Meter),
den wir besteigen wollten. Leider hatten wir nicht mit
dem Schnee gerechnet, der uns die Wege verhüllte und
fast in einen Bergsee gelockt hätte, wäre nicht plötzlich
ein verräterisches Saphirblau unter der grauen Hülle sicht-
bar geworden. Das Unterkunftshaus war noch ge-
schlossen, denn hier sorgt kein Alpenverein für die Be-
dürfnisse des Touristen ausserfialb der Saison, sodass
wir mit durchnässten Schuhen, im Schnee sitzend, unser
Frühstück verzehrten. Einige Schritte hinter dem Haus
tut sich der blaue Blick nach Spanien auf, in ein fernes,
märchenhaftes, wenig erschlossenes Bergland, an dessen
spitzen Gipfeln kleine, zähe Wolkenklümpchen hafteten,
ähnlich den Ledersäckchen, mit denen man beim Ueben
die Spitzen der Floretts umknüpft. Mehr zu sehen war
uns nicht beschieden, wir mussten auf den berühmten
Blick in die Ebene verzichten. Währen der Pic du Midi
bei hartem oder geschmolzenem Schnee keine grösseren
— 196 —
Schwierigkeiten verursacht als ein Voralpenberg, lag die
Sache anders an jenem Junitag, der seit langem zum
erstenmal Sonne brachte, und dazu eine ziemlich heisse.
Der sonst für Pferde gangbare Pfad zum Gipfel war oft
auf lange Strecken unübersehbar unter einem weichen
Schneebrei begraben, in den man bis über die Hüften
versank. Es galt also um den Schnee herumzukommen,
was eine Zeitlang möglich war, bis der Abhang fast senk-
recht aufstieg. Nach langem Zaudern, rechts und links
alle Möglichkeiten prüfend, mussten wir uns 200 bis 300
Meter unterhalb des Gipfels zur Umkehr entschliessen»
zumal aus Spanien plötzlich Nebel herüberkrochen, die
sofort hinter uns den Kegel dicht verhüllten und uns
nachzutasten schienen. Wir gelangten jedoch rechtzeitig
zum Unterkunftshaus zurück und hatten einen angenehmen
Abstieg nach Baröges, wo wir zu unserem Staunen
Staunen erregten. Der Alpinismus zu Fuss, besonders
von Damen ausgeübt, scheint den Franzosen doch noch
viel fremder zu sein als uns.
Am folgenden Tage fuhren wir durch bald grüne,
bald chaotisch wilde Landschaft den Ufern der Gave de
Pau entlang, bisweilen an das obere Isartal, die Riss,
erinnert, zu dem Felsenzirkus von Gavami, in welchem
die Gave, dicht bei ihrer Quelle, in dreizehn Kaskaden
über Eisstufen fünfhundert Meter tief hinabstürzt, über-
türmt von den höchsten Pyrenäengipfeln, die freilich nicht
weit über 3000 Meter hinauskommen. Dieser Zirkus ist
eine von den bekannten Kuriositäten mit zwei Sternchen
im Bädeker; täglich finden sich ganze Eselkavalkaden mit
Fremden ein, die in einem dürftigen Wirtshaus einige
Erbärmlichkeiten mit Goldbarren bezahlen, eine Ansichts-
karte schreiben und mit Superlativen ihre Bewunderung
— 197 —
zollen. Man konstatiert die Einzigartigkeit des Anblickes,
aber ist fern von den Ueberraschungen und Begeiste-
rungen, die nur der Zufall beschert.
Wir stiegen wieder in die Ebene hinab und befinden
uns nun im Baskenland zwischen Gebirg und Ozean in
der spanisch-französischen Ecke des Golfs von Biscaya.
Einfache Ursprünglichkeit spricht hier aus den altmodi-
schen bäuerlichen Giebelhäusern mit Holzbalkons, die an
Schweizer und Tiroler Dörfer erinnern, wo man, wie hier
überall, freundliche Gesichter und grosse Sauberkeit be-
merkt. Schon in B^arn fällt im Gegensatz zum übrigen
Frankreich die Freiheit von dem Vorbild der Pariser
Strassen auf. In das Baskenland drang die napoleonische
Nivellierung offenbar Oberhaupt noch nicht. Mit den
Basken scheint trotz ihrer liebenswürdigen Sang- und
Festfreude nicht zu spassen zu sein. Sie fahlen sich als
das älteste, mit keiner der europäischen Rassen verwandte
Urvplk, und sie sollen gesagt haben, ,qu'ils se f . . . . de
J^sus-Christ'', falls man ihnen zu seine Lehre französisch
predigen wollte. So haben sie ihren baskischen Gottes-
dienst und leben — im Gegensatze zu ihren spanischen
Brüdern — mit ihrem Wirtsvolk in Frieden. Gestern
war ein Fest in Socoa mit Fandangotänzen, bunten
Lampions, einer dürftigen Musik und einem unklaren
Tanzen und Springen im Dunkel auf dem Meersand.
Vorläufig habe ich nur beobachtet, dass die Frauen eher
klein und zierlich, aber doch nicht ohne Falle und Kraft
sind, und dass die meisten Vokabeln auf .oa' endigoi.
Noch viele grössere Feste sollen sich der Beobachtung im
Sommer bieten, den wir in einem der sauberen Giebelhäuser
mit Holzbalken angesichts des Ozeans verbringen werden.
Juni 1905.
S c h 1 u s 8.
Der Deutsche in Paris.
Meyer-Gräfe sagt in seiher Entwickelungsgeschichte
der Malerei, der Dentsche komme meist mit zu wenig:
Gepäck nach Paris und gehe darum oft restlos im Fran-
zösischen auf. Viele, scheint mir, bringen auch zu viel
mit und das hindert ihre Unbefangenheit. Wenn der
Rausch vorfiber ist, in den jeden die ersten bunten
Wochen an der Seine versetzen, folgt stets ein Zustand
langer Verdrossenheit, den man damit zu erklären suchte
alles sei hier doch äusserlich, nichts gründlich, alles auf
Schein berechnet, gewiss oft sehr schön, aber die Wärme
fehle und was dergleichen nichtssagende Worte mehr
sind, mit denen man die einfache Tatsache auszudrücken
sucht, dass man sich nicht zu Hause fühlt.
Iii Italien fällt das Volk vor Einem auf die Kniee,
zieht man einen Hundertlireschein aus der Tasche, so ist
man der Grandseigneur; der Engländer zeigt sich von
vernünftiger Gesprächigkeit gegenüber dem Fremden, in
Spanien fühlt man eine solche Kulturdistanz, dass man
gamicht erst versucht, mit dem Volke Berührung zu
finden. In Paris aber möchte man und — man kommt
nicht mit. Man beklagt sich über das allgemeine Hasten,,
die epidemische Nervosität, das schnelle Sprechen; den
Leuten liegt es gamicht auf, sich dem Fremden verstand-
199
lieh zu machen ; man bezweifelt die gerahmte französische
Höflichkeit. In dieser Enttäuschung wendet man sich
wieder nach Hause, Oberzeugt, das Gute in Paris ge-
kostet, den Rahm abgeschöpft zu haben und an die
geistigen Grenzen des französischen Volkes gelangt zu
sein. Nichts ist falscher. Wer die Verdrossenheit in
bitterem Exil nicht bis auf den Satz durchgeschmeckt
hat, ist nicht hinter den Sinn der französischen Kultur
gekommen. Man kann eine Zeit erleben, da man
die Ursache der Verdrossenheit in sich findet; man wird
bescheiden und dann wieder selbstbewusst, indem man
gerechte Grenzen erkennt: bis hierhin 'gehe ich mit,
von hier ab bin ich nur Zuschauer. Jetzt fUhlt man
sich als Deutscher in Paris weder gedemütigt, noch
setzt man sich schulmeisterlich aufs hohe Ross; man
kommt mit und vermag doch seine Reserven zu wahren.
Es gibt keine andere Stadt, wo es sich so schön ein-
siedlerisch und gewissermassen inkognito leben lässt.
Man beginnt, sich in dieser Fremde zu sammeln, zu
linden, aber nicht, indem man sich der allgemeinen „Ober-
-flächlichkeit^ gegenüber in die eigene, so billige „Tiefe*"
versenkt. Man wird hart und herb, dem heimatlichen
Gefühlsüberschwang entfremdet, der gegenseitigen Lokal-
verhimmelung mit Ausschluss des übrigen Europa über-
drüssig. Man gewinnt zu der angeborenen deutschen
Gründlichkeit, die alles mit Ernst bezweifelt und prüft,
die französische Gründlichkeit hinzu, die auch noch den
Ernst selbst durch Ironie in Frage stellt. Alle blauen
Dünste teilen sich, das Misstrauen wird geschärft gegen
die Worte, gegen alle Urteile und Verurteilungen. Man
bekommt Respekt vor Vielem, was man früher belachte.
Nichts erscheint einem nun kümmerlicher als das Ge-
— 200 —
schrei von dem notwendigen Verfall Frankreiclis. Schon
Treitschke, der fUr die französische Kultur doch nicht
besonders viel Sinn besass, sagt wiederholt, sie sei als
Faktor in der europäischen Gesittung unentbehrlich. Die
Republik steht heute fester als je, und selbst bei einem
nicht wahrscheinlichen wirtschaftlichen und sozialen Rück-
gang des Landes wird Paris in Europa stets die Ehren-
stellung behalten, die Athen als Stadt des Geistes und
Geschmackes im Reiche seiner Eroberer genoss. Ob wir
Deutsche mit unseren ganz anderen GemOts- und Behag-
lichkeitsbedürfnissen uns auf die Dauer in Paris wohl-
fühlen können, ist freilich eine andere Frage. Aber mir
scheint, das ist nicht der Zweck, warum Paris gebaut
wurde. Ja, wir werden vielleicht nie ganz begreifen
können, dass sich in dieser Welt, wo alles „richtig''^
nichts unvorhergesehen ist, überhaupt Menschen wohl
fühlen können, und zwar sehr wertvolle Menschen.
Aber etwas können wir hier lernen: Wir Deutsche
haben bekanntlich früher zu lange unsere Nationalität
vergessen. Wären wir dafür wenigstens gute Europäer
geworden! Dass nationalere Völker es wurden, wir aber
nicht, beweist, dass Nationalität und Europäertum sich
nicht ausschliessen, sondern lässt annehmen, dass dieses
der Stütze jener bedarf. Nur muss der Nationalstolz sich
auf die tatsächlichen Kräfte stützen, nicht ein hahne-
buchener Idealismus sein. Kurz: wie man „man selbst"^
wird, können wir von den Franzosen lernen.
Von Oscar A. H. Schmitz erschienen im Verlag
I Axel Juncker Berlin:
IT
Der Untergang einer Kindheit, Roman 3. Aufl. • M. 3.—
'' Don Juan« Casanova und andere erotische Charaktere,
'^ ein Versuch M. 2.—
^ Haschisch, Erzählungen, 2. Auflage M. 2.—
Der Herr des Lebens. — Die Rächerin . . • . M. 2.—
l Der gläserne Oott, Novellen M. 3.—
Halbmaske (Novellen, Essays, Dramatisches) • M. 3,50
t Der weisse Elefant, ein Akt M. L—
t Orpheus, Gedichte M. 1.50
Verlag Dr. WEDEKIND A Co., O. m. b. H., In BERLIN.
= Die Stimme =
Roman in Blättern
von
Qrete Meisel-Hess.
m Preis geb. Mk. 6.— • d
„Gibt es ein Frauenbuch um ein Problem herum, um ein
ewiges und doch bisher geheimnisvolles Problem? Und so,
dass man doch das Zeithche rauschen hörte darin? Und Ge-
stalten sähe? Gestalten und Gesichte? Fleisch und Geist?
Wo ist es, dieses Frauenbuch? Ein Frauenbuch, empfangen
in einem besonderen Rhythmus? In einem Rhythmus, der
nicht geplant werden kann, der „kommen" muss ? Ein durch-
aus originäres Frauenbuch? Ein Frauenbuch, wie es kein
zweites gibt?! das hineinträfe mitten ins Herz
der Zeit, dass sie, die Zeit, auflachen und aufweinen müsste
darüber, — wo wäre es, solch ein Frauenbuch?"
(Aus dem Roman „Die Stimme".)
Das Buch selbst gibt die Antwort auf diese darin aufge-
worfene Frage. Aus einer Lebensgeschichte, die in „Blättern"
und in Ichform für einen Freund geführt wird, sehen wir die
Gestalten modemer Menschen heraustreten und mit einander
ringen. Und zwischen ihnen, durch sie und über sie wächst
die, die die Blätter führt, ihrem Schicksal zu, in Lachen und
Weinen. Mit ihr — die „Stimme". Und hier ist das ge-
heimnisvolle, ewige Pioblem, um das noch kein Frauen- und
kein Männerbuch geschrieben wurde. „Die Stimme": das ist
das Phänomen der künstlerischen Exstase, das Schaffen selbst,
der geheimnisvolle Vorgang des künstlerischen Werdens.
„Die Frage: woher hat's der Dichter — geht auch nur
aufs Was. Vom Wie erfährt dabei niemand etwas."
Dieser Goethe^sche Spruch, der dem Buch als Motto voran-
gesetzt ist, rührt an das Problem. Dieses Wie neben dem
Was bringt die „Stimme". Das Wie ist das Geheimnis ihres
Tönens und Versiegens und der Mächte, die sie erkling^en oder
ersterben machen. Das Was ist eine Lebensgeschichte, voU
sinnfälliger Schilderung, mit einer Handlung, die einen in
Atem hält, einer Fülle von Gestalten, tragisch und grotesk,
und von Stimmungen, lyrischer, philosophischer und dramati-
scher Natur.
Veflaa Dr. WEDfeKIND A Co., Q. m. b. H.. Ir BERUN.
Das klingende Fliess
Novellen von A. Behnisch-Kappsteln.
Preis geb. Mk. 4.—.
Kölner Tageblatt:
Frau Anna Bebniscb-Kappstein ist eine der feinnervigstenDichterinnen-
Naturea, die sich besonders auf die Analyse der weiblicben Psyche ver-
steht, aber auch die blutlosen, krankhaft verbildeten Aestheten der Gross-
stadt meisterhaft zu schildern weiss. Nachdem sie sich in den Kölner
Blumenspielen zuerst als Lyrikerin hervorgetan und in diesem Jahr den
Novellettenpreis davongetragen, eibt sie uns in den vorliegenden stimmungs-
vollen Novellen neue glänzende ^Proben ihrer Gestaltungskraft, indem sie
uns die feinsten Regungen der Seele enthüllt . • . • Noch ist rühmend
zu erwähnen, dasa auch die Naturschilderungen der vielgereisten Frau
die Meisterin verraten.
Ein Menschenleben
Alltagsbriefe unserer Klassiker.
Herausgegeben, von
Dr. Wilhelm Miessner.
Preis geb. Mk. 4.50. :
Neues Tageblatt Stuttgart:
Ein glücklicher Gedanke erscheint in diesem Buch aufs glücklichste
durchgeführt. Es rückt uns die verschiedenen Stadien des Menschen-
lebens, Geburt, Taufe, Kindheit, Lehrjahre, Brautstand, Ehe, Krankheit,
Tod, die Lebensführung mit ihren mancherlei Unterbrechungen u. s. w.
in das helle Licht des Geistes der Grössten unseres Volkes, und zwar
durch eine Zusammenstellung von Alltagsbriefen unserer Klassiker
Hamann, Wieland, Klopstock, Herder, Lessing, Goethe, Schiller und Jean
Paul. Das Buch, das daraus geworden ist, mutet uns trotz seines relativ
geringen Umfangs (220 Seiten) wie eine weltliche Bibel an und wir«
können uns wohl denken, dass ein oder zwei Briete aus diesem Buch,
am Familientisch vom Hausvater vorgelesen, dem Tag eine Weihe geben,
in ihrer Art so stark und tiel, wie das unmittelbar Religiöse sie zu geben
vermag. Der Verfasser bekennt sich selbst zu einer besonderen Vor-
liebe für Hamann, dea grossen Lehrmeister unserer Klassiker, und er
betont, dass er in seinen Briefen die herrlichsten Weissagungen über
Erziehung und Lebensführung gefunden habe. Wir haben den Eindruck,
als ob die ausgewählten Briefe diese Bevorzugung rechtfertigen und be-
grfissen es daher mit lebhafter Freude, dass uns das Buch auch eine
genauere Bekanntschaft mit dem „Magus des Nordens* vermittelt als
ihrer sonst auch der Gebildete sich rühmen kann.