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Full text of "Französische Gesellschaftsprobleme .."

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Französische 
Gesellschaftsprobleme 



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Uraschiagszeichnung von Prof. E. Orlik 
Druck von J. S. Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14 



Oscar A. H. Schmitz 



Französische 
Gesellsehaftsprobleme 



Der Mensch kennt nur sich 
selbst« sofern er die Welt kennt, 
die er nur in sich und sich nur 
in ihr gewahr wird 

Goethe 




Berlin 1907 
Verlag Dr. Wedekind iSc Co. G. m. b. R 



Alle Rechte» insbesondere das 
der Uebersetzung, vorbehalten. 

Copyright 1907 by Verlag Dr. Wedekind fr Q>. 
— O. m. b. H., Berlin. a=B55BSBBB: 









• • 











Inhaltsverzeichnis. 



Mi« 

Vorwort 1 

Einleitung 5 

^ Erstes Intermezzo: Deutsche und Franzosen ... 8 

Zweites Intermezzo: Mit Franzosen im Ausland . . 18 

L Kapitel: Femieiite. 

_ 1. Antiker Geist in Deutschland und Frankreich . . 18 

i 2. Kultureinheit und Absolutismus 29 

8. Die 0soci6t6 polie** und der Klassizismus .... 98 

G 4. Revolution und Doktrin 46 

5. Modemer Geist in Frankreich ^ 

IL Kapitel: Qesellscliaft and MoraL 

L Beziehungen zu Geld und Luxus 97 

2. Künstlichkeit und Natiur 76 

8. Impressionistische Moral 78 

4. Gesellschaft und Einzelwesen 82 

5. Die Moralität des französischen Theaters .... 89 

6. Skepsis und Schein 98 

Drittes Intermezzo 101 

nL Kapitel: Sprache und StiL 

1. Wortarmut und Nflanoenreichtum 102 

2. Enge und Klarheit 106 

8. Sprachliche Fremdkörper 109 



Seite 

4. Neuschaffung von Worten 116 

6. Sprachkultur 119 

6. Poesie und Umgangssprache 124 

7. Der Stil: Natflrüchkeit, Kflrze, Klarheit 127 

a Verpönte Worte 186 

IV. Kapitel: FraaeB wU Liebe. 

1. Französische Liebe 189 

2. Die i^unregelmftssigen'' Frauen in Deutschland und 

Frankreich 148 

8. Die legitimen Frauen 154 

4. Der bal des quat'z arts 1906 160 

6. Dialoge 169 

Viertes Intermezzo: Bilder aus der französ. Provinz 

L Frtlhling in der Provence 179 

2. An der Schwelle Spaniens 189 

» 

Schlass. Der Deutsche in Paris 198 



Der lachenden Kameradin 
eines traurigen Sommers 



o. s. 



Vorwort. 

* 

(Wissenschaftliche und andere Methode; der Deutsche — 
der Franzose; Zitate und Quellen.) 



Sicher bin ich nur meines Eindrucks .... 
Man wirft mir oft meinen Impressionismus 
vor; aber gerade der Impressionismus ist 
das ernste und ehrliche, der Rest ist nichts 
als geistreiches Spiel. 

in der unpersönlichen Kritik liegt 

viel mehr Hochmut, denn sie gesteht ihre 
Gebrechlichkeit nicht ein. 

Jules Lemaltre, Impressions de thöatre. 

Es gibt zwei Arten, über Sitten und Erzeugnisse der 
Völker zu schreiben, die wissenschaftliche und — die 
andere. Der kunstgeschichtlich oder philologisch Ge- 
lehrte versieht sich jahrelang mit Kenntnissen und unter- 
nimmt in einigen Wochen oder Monaten seine Reisen, 
oft nur zur letzten Kontrolle oder um seinen Schilderungen 
die heute beliebte Lokalfarbe zu geben. Die »andere* 
Art ist diese: fluchtige Vorbereitung; dem Baedeker, Fahr- 
plänen, Zeitungsberichten, der Umgangssprache wird mehr 
Beachtung geschenkt, als der Geschichte und den Literatur- 
denkmalen, dann langer Aufenthalt in dem Land, nicht 

1 



— 2 — 

als Reisender, sondern als Mitfebender, der sein Schick- 
sal unter Fremden wie in einer andern Heimat weiter 
trägt. Viele Fragen tauchen gegenüber dem neuen Leben 
auf. Man geht den Ursachen nach, bald bedächtig, bald 
fieberhaft erregt, befragt die Lebenden, die Literatur und 
findet sich schliesslich eines Tages neben dem Gelehrten 
in der Bibliothek ein: die Wissenschaft, als Kontrolle und 
Erweiterung der Einzelerfahrung. Man kehrt heim, prüft 
das Neugewonnene am Altbekannten, reinigt sich von zu 
grossen Begeisterungen und Verachtungen. Nach Jahren, 
in einer anders orientierten Entwicklungsepoche, kehrt 
man in das Land zurück, sucht die Orte alter Erfahrungen 
wieder auf, inzwischen an neuem Erleben gereift. Die 
Fragen werden schärfer geformt. Noch einmal setzt man 
sich neben den Gelehrten (oh, die bequemen Fauteuils 
in der sommerkühlen Pariser Nationalbibliothek!), um die 
Wurzeln des Heute im Gestern zu suchen. Diese Art 
ist nicht wissenschaftlich, aber, weiss Gott, sie ist gründ- 
lich; sie ist exakt, denn sie schaltet jene trügerische Ob- 
jektivität aus, die uns Subjekten nun einmal bloss als 
Begriff, nicht als wirkliche Fähigkeit gegeben ist. Den 
Weg mit seinen Blumen und Dornen habe ich einge- 
schlagen. Mein Buch will nicht wissenschaftlich, nicht 
einmal populär-wissenschaftlich sein, obwohl darin Philo- 
logisches, Soziales, Politisches, Ethisches und Historisches 
vorkommt Ich hoffe dennoch, unnötige Widersprüche 
mit gesicherten Erkenntnissen der Forscher vermieden zu 
haben; manches intuitiv Gefundene wäre vielleicht durch 
noch häufigeres Heranziehen und Vergleichen solcher 
Erkenntnisse besser begründet worden; das hätte aber 
die Farbe meiner persönlichen Beobachtungen kaum ver- 
ändert. So habe ich mich nicht weiter in Wissenschaft- 



- 3 — 

liches eingelassen, als mich der Durst trieb und mir 
neues Erleben Zeit Hess; ein ganz subjektives Verfatiren, 
das ich fern bin, zur Nachahmung zu empfehlen. Man 
wird gewiss auf Widersprüche stossen, unzureichend 
Bewiesenes, zu eilige Verallgemeinerungen finden. Ich 
will zufrieden sein, wenn dieser Niederschlag persönlicher 
Erfahrungen anregend, als Tonikum der Seelen und der 
Geister empfunden wird, um mich der Worte eines 
modernen Dichters mit einiger * Freiheit zu bedienen. 

Für eine Art der Verallgemeinerung muss ich be- 
sonders um Entschuldigung bitten. Ich spreche von 
„dem" Franzosen, „dem" Deutschen, nach dem berüch- 
tigten Beispiel der Ollendorf'schen Grammatiken. Das 
Ungewisse solcher Ausdrücke ist mir bewusst. Ich habe 
Franzosen gekannt, die wie deutsche Landpfarrer lebten, 
und hoffnungsvolle junge Deutsche, die, eher als mancher 
französische Student, mit ihren Anschauungen und Ge- 
wohnheiten auf die Boulevards passten. Aber immerhin: 
ein Winter mit dichtem Schnee und heissen Kachelöfen 
ist eher deutsch als französisch, obwohl auch Paris 
nordische Wintertage kennt; schwüle Januamächte sind 
etwas ausgesprochen Pariserisches, wenn sich auch zu 
uns zwischen Dreikönige und Fastnacht mancher Föhn- 
hauch stiehlt. Wir haben uns darum auf den weissen 
Winter und den Landpfarrer, die Pariser sich auf schwüle 
Regenzeit und den Boulevardmenschen eingerichtet Man 
betrachte also meinen Deutschen und meinen Franzosen 
cum grano salis. Der aber lege das Buch sogleich aus 
der Hand, der auf dem Standpunkt jenes würdigen Ge- 
lehrten steht, welcher seinem mir befreundeten Sohn die 
goldene Lebensregel auf den Weg mitgab: lasse dich 
nicht mit Fragen nach dem Jahr 1500 ein, da werden 



— 4 — 

die Quellen so zahlreich, dass solides, anständiges Ar-- 
beiten nicht mehr mOglich ist 

Noch ein Wort Ober die Benutzung von Literatur: 
fremdsprachliche Anführungen habe ich, wo mOglich, ins 
Deutsche Übertragen, nur, wo es der Sprachgeist nicht 
zuliess, wurde der französische Ausdruck in seiner Tönung 
beibehalten. Oft habe ich, um bauen zu können, als 
Fundament wissenschaftliche Tatsachen übernommen, 
die lexikalisches Gemeingut sind, oft fremde Gedanken 
weitergesponnen oder modifiziert. Es wäre zu umständ- 
lich, ja meist unmöglich, hier ganz scharfe Grenzen zu 
ziehen. Die Textverweise ermöglichen dem Leser, die 
Einzelfälle nach Belieben zu untersuchen. Besondere 
Anregung verdanke ich Taine, Remy de Gourmont, dem 
enzyklopädischen Geschichtswerk von Lavisse und 
Rambaud. 

Mehrere Abschnitte dieses Buches sind bereits in 
Zeitungen und Zeitschriften erschienen: Frankfurter Zeitung, 
wissenschaftliche Beilage der Allgemeinen Zeitung, Blaubucb 
etc. etc. 



Einleitung« 

In diesem Buch wird vorwiegend von den Tugenden 
der französischen Kultur die Rede sein und die Frage 
unbeachtet bleiben, ob die Franzosen lasterhafter, ent-* 
arteter sind als andere Völker und deshalb, wie viele 
versichern, baldigem Untergang entgegen gehen. — In 
dieser Frage erklärt sich der Verfasser von vorneherein 
fUr inkompetent. 

Gerade die französischen Tugenden mögen an ge- 
wisse Unvollkommenheiten unseres noch jungen Landes 
erinnern: Dennoch scheint, ausser in Einzelzügen, eine ver- 
gleichende Wertung beider Kulturen unmöglich, weniger um 
ihrer verschiedenen Entwicklungstriebe willen, als wegen der 
verschiedenen Entwicklungsstufen, auf denen beide Völker 
stehen. Darum unterlässt es der Verfasser, sich Frankreich 
gegenüber zum Anwalt seines Vaterlandes zu machen, das 
die grössten Aussichten hat, falls den Gefahren zeitig be- 
gegnet wird, die heute auf geistigem Gebiet durch den 
Schulmeister, auf sittlichem und praktischem Gebiet durch 
den Schutzmann verkörpert erscheinen. 

Auch die Frage nach dem verhältnismässigen Reich- 
tum der beiden Kulturen soll nicht gestellt werden. Es 
ist möglich, dass die Summe deutscher Kulturwerte 



— 6 — 

grosser ist, als die französischer — es ist mOglich, es 
kann auch anders sein. Aber ich meine, die Summe von 
Plänen, Bausteinen, Säulen, Friesen, Bailustraden, Tapeten, 
feinen HOlzem gibt noch keinen Bau. Der französische 
Bau — gewiss viel beschränkter, aber darum weiser an- 
gelegt, als der deutsche — scheint mir nicht übel ge- 
lungen. Sein edelstes Gemach ist vielleicht die Sprache, 
deren Wortarmut sprichwörtlich ist, deren erstaunlichen 
Abtönungen und Wendungen aber sich das Oberreiche 
Deutsch verschliesst 

Selbst, wenn wir daheim zahllose Dinge vermissten, 
die uns in der Fremde gefielen, ja fast Bedürfnis wurden, 
mochten wir unsere Nationalität nicht ändern, ebenso 
wenig dürfen wir irgend etwas Französisches nachahmen, 
ausser dass wir das, was uns not tut, und was unser 
Wohlsein ausmacht, ebenso offen und unbeirrt zur Bifite 
bringen sollten, als die Franzosen sich zu ihren Neigungen 
und Ablehnungen bekennen, ungestört durch Schulmeister 
und Schutzmann. Bis wir das können, wird freilich noch 
mancher Tropfen Wasser in die Nord- und Ostsee 
fliessen. Das ist der wunde Punkt, der uns bisweilen 
schmerzt, während wir die französische Kultur in ihrer 
ungestörten Entfaltung betrachten. 

Wir können heute gefahrios ihren Wert anerkennen. 
Es ist ein kindischer Anachronismus geworden, sich die 
Mächte hintereinander im Gänsemarsch vorzustellen. Da 
jedes Volk sein nationales Leben in ziemlich unbestrittenen 
Grenzen führt, ist eine europäische Kulturtyrannis durch 
ein Einzelvoik nicht mehr denkbar. Und wer gerne 
schlechte Zensuren austeilt, kann in Frankreich hohe Ge- 
nugtuungen finden und sich vor übertriebener Bewunderung 
schützen: was darf der moderne Deutsche nicht alles an 



— 7 — 

Frankreichs schwanken Einrichtungen tadeln, an seinen 
Rokokositten belächeln, wie viele Sinnlosigkeiten wird er 
im praktischen Leben geärgert zum Teufel wUnschen! 
Aber seit den Wirkungen des Krieges sind die Fransosen 
kaum mehr durch abenteuernden Qrössenwahn gefähriich. 
Sie sind sachlicher, ruhiger, ja bescheidener geworden. 
Das Gespenst Louis XIV., das sie lange Zeit ihre wirk- 
lichen Bedürfnisse vernachlässigen und statt dessen das 
Prunkstack einer mehr imaginären „gloire'' blank zu 
halten trieb, besucht Frankreich immer seltener. Es 
schreckt zurück vor einer politischen Geschäfsführung, 
die kaufmännisch mit den Tatsachen rechnet. Ausserhalb 
des Rahmens dieser Einleitung läge, zu forschen," wo sich 
der erlauchte Schemen zur Zeit mit Vorliebe aufhält. 



Erstes Intermezzo. 

Deutsche und Franzosen. 



Der Genfer Amiel, dessen intime Tagebüclier zu den 
grundlegenden Seelendokumenten gehören, kann als ein 
Orenztypus zwischen deutschem und französischem Geist 
betrachtet werden. Nachdem er, wie er sagt, die besten 
Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, hat er 
unserer Geistigkeit zeitlebens verständnisvolle Sympathie 
bewahrt. Einige Aussprüche von ihm mögen darum diesem 
Abschnitt als Motto dienen: 

„Die Deutschen kaufen die Holzscheite auf, die 
Franzosen bringen die Funken herbei. Verschont mich 
mit Muhseligkeiten, zeigt mir Tatsachen und Ideen; 
behaltet Eure Kufen, Euren Most, Euren Satz für Euch; 
ich will fertigen Wein haben, der im Glase perlt und 
meine Lebensgeister anspornt, statt sie zu beschweren.^ 

„Im Roman besonders zeigt sich die durchschnittliche 
Vulgarität der deutschen Gesellschaft (1870) und ihre 
Unterlegenheit unter der französischen und englischen 

merkt man deutlich Werden die innere seelische 

Freiheit, die tiefe Harmonie der Fähigkeiten, die ich so 
oft bei den höheren Individualitäten dieses Volkes beob- 
achtet habe, nicht an die Oberfläche kommen P*" 



— 9 — 

Gestattet einem Volk sein ewig sanfter Himmel, kaum 
bekleidet, in einer freiwillig Früchte tragenden Natur zu 
schwelgen, so bedarf es kaum jener — schliesslich fast 
köstlicheren — Ersätze: Kunst, Spiel und Luxus. Während 
aber eine allzu unerbittliche Natur nicht einmal an solchen 
Trost zu denken erlaubt, macht ihr sparsames Lächeln 
fühlen, welche SOssigkeit Leben sein kann; nachdem sich 
das ermutigende Lächeln schnell wieder verbirgt, lässt 
es Erinnerung, Sehnsucht und Hoffnung zurück, die den 
Winter wärmen und die Innenräume erhellen. Da ja der 
Frühling unausbleiblich ist, bekommt der Schneemond 
einen eigenen häuslichen Reiz, dem man sich gern über- 
lässt; da ja die Sonne ganz gewiss wieder erscheinen 
wird, rückt man behaglich um die Feuerstatt, hört gern 
die Tropfen an die Scheiben schlagen und sieht entzückt 
den Sturm das abblühende Geländ zerzausen. Dieser 
tröstliche, milde Wechsel zeichnet besonders die beiden 
Mittelländer Deutschland und Frankreich aus und be- 
gründet die Aehnlichkeit ihrer ursprünglichen Aeussrerungen 
in Volkslied und Sitte. Weder eine fieberbrütende 
Sommersonne, noch eine spleensäende Wintemacht treibt 
die Bewohner dieser Länder zum äussersten. Ihren 
Sommer erfrischen grüne Mittelgebirgstäler und wasser- 
reiche Ströme, ihre Winter sind von sinnigen und aus- 
gelassenen Festen der Jahreswende und des Faschings 
durchfunkelt. 

Aber die Franzosen haben's leichter als wir. Sie 
konnten sich auf ihrem aus nordischer Feuchte in süd- 
liche Trockenheit ragenden Boden, in ihrer leichten ge- 
mässigten Luft wenigstens ein Teilchen jener Unbesorgt- 
heit der Ewigschwelgenden bewahren, ohne darum der 
Schwierigkeiten ledig zu sein, die zur Kulturschöpfung 



- 10 — 

herausfordern. So bekam ihre Kultur, wie keine zweite, 
den Charakter der Kunst, des Spiels und des Luxus. 

Unser Land ist dem französischen an Fruchtbarkeit 
unterlegen und hat auch sonst einen ungünstigeren Platz : 
unzuverlässigeres Klima, wenig KOste, natürlich schlecht 
verteidigte Grenzen. Es ist der bequemste Treffpunkt, 
wenn Nord und Süd, Ost und West sich schlagen wollen. 
Das hat uns oft verzweifeln lassen und verführt, das 
Kulturproblem nihilistisch zu lösen, d. h. durch Verzicht. 
Nach aussen bis an die Zähne gewaffnet oder aber 
gleichgiltig gegen unser äusseres Geschick, sollten uns 
weltfremde Religions- oder Philosophiesysteme im Innern 
trösten, nicht mit der Hoffnung auf die wiederkehrende 
Senne, sondern durch die Ueberzeugiing, dass es nicht 
der Mühe wert sei, auf die doch meist ausbleibende 
zu warten. 

Pedanterie, doktrinäre Religiosität, Militarismus, ihr 
schulmeisterlichen Rohrstöcke, die der Deutsche über 
seinem eigenen Rücken schwingt! Herdenmässige Ver- 
eine, als Ersatz edlerer Gruppierungen, studentische Kor- 
porationen, die den Nichtmitsichfertigwerdenden die un- 
sinnige Gymnastik lehren, vom Masslosen schnell ins 
Gezwungene umzuschlagen: wieviel tiefste Verzweiflung 
mögt ihr bemänteln helfen! 

Aber immer wieder kommt der Frühling zu uns und 
bringt eine neue Generation ungebrochener Jugend; schon 
mehrmals waren wir der Reife nah, doch jedesmal er- 
eilte wieder ein später Frost die Blüte. So kommt es, 
dass unsere Kultur umstrittener ist, als die anderer grosser 
Völker; das einzige, was sich unbestreitbar von ihr 
sagen lässt, ist, dass sie mit beispielloser Zähigkeit allen 
Unbilden widersteht und durch grosse Anläufe immer 



— 11 — 

und immer wieder sich lebhafte Beachtung erzwingt, 
wenn sie auch noch hie die Reife erlangte, die durch 
Einheitlichkeit und Klarheit Überzeugt. Wir sind das 
einzige Kulturvolk, das heute noch im Werden ist (ich 
weiss nicht, ob man die verworrenen Bewegungen der 
slavischen Völker ein Werden nennen kann). Ein Urteil 
über Deutschland, ein Vergleich mit ihm wird erst mög- 
lich sein, wenn der seit 150 Jahren entflammte Kampf 
zwischen dem genialen und offiziellen Deutschland ent- 
schieden ist. Wer wird siegen: der deutsche Techniker, 
der deutsche Kaufmann, der deutsche Künstler und 
Forscher oder der deutsche Pedant und der Schnauzbart? 
Der Franzose ist fertiger und trotz einer gewissen 
ewigen Kindlichkeit reifer. Seine Tugenden stehen in 
günstigerem Licht. Er lebt und altert vergnügter. Weil 
er .oberflächlicher* ist, weil er unsere tieferen Konflikte 
nicht kennt? Vielleicht; aber er wird mit sich fertig und 
erreicht sogar oft eine kleine Weisheit. Eine Weisheit, 
die uns nichts hilft, uns ist sie oft zu eng. Aber für 
ihn ist sie gut, und darum ist es eine grosse Weisheit: 
er versteht sich und seine Welt. 

Der Unterschied der Franzosen und Deutschen be- 
ruht seltener auf grundverschiedenen Eigenschaften, als 
auf dem verschiedenen Verhältnis, wie ähnliche Eigen- 
schaften zu einander stehen. Fehlt dem Volk Mozarts 
die Leichtigkeit? Ist es befremdlich, wenn sich die 
Landsleute Delacroix's für Beethoven begeistern? Deutsche 
und Franzosen sind für einander ein geeignetes Publikum. 

Wenn wir auch vorwiegend Biertrinker sind, fehlt 
uns nicht die Weinzunge, und in dem klassischen Winzer- 
land ist der „bock'' Nationalgetränk geworden. Der 



— 12 — 

Whisky und das Bier des rebenlosen England dagegen 
sind in Deutschland, wie in Frankreich interessante 
Spezialität geblieben. 

Besonders verschieden werten wir die Form: wir 
haben ähnliche Gefühle, aber eine verschiedene Höflichkeit, 
ähnliche Ehrbegriffe, aber eine verschiedene Eitelkeit. 
Das macht unsere schliesslichen Begriffe oft merklich 
verschieden. 

Der französische Erziehungsziel: man lernt, GefQhl 
und Vernunft reinlich zu scheiden. Das GefQhl wird 
nicht grausam verbannt, erhält nur seinen Platz. Auf 
diese Diszipliniertheit sind die Franzosen so stolz, als 
wir auf unser Erziehungsziel: die allgemeine Bildung. 
Die deutsche Erziehung verschafft ein Wissen, die 
französische eine Fähigkeit 

Der geniale Deutsche ist mehr Dichter, der geniale 
Franzose ist wesentlich Künstler. Wo der eine ganz 
ohne den andern auftritt, können sich beide Völker nicht 
verstehen. Die rein dichterische Jugendpoesie Goethes 
bleibt den Franzosen fremd, was sie auch sagen mögen. 
Auch Gretchen und Clärchen können ihnen nicht viel 
mehr sein, als „des femmes m^diocres^. Dafür bleibt 
den Deutschen immer der eminent künstlerische Racine 
verschlossen. Geister wie Verlaine und Nietzsche dagegen 
überschreiten die Landesgrenzen. 

Der Deutsche neigt dazu, den Künstler des Wortes 
einen Artisten zu schelten. Der Artist ist die Karrikatur 
des Künstlers und verhält sich zu ihm wie der Dichter* 
ling zum Dichter. Der vorwiegend künstlerische Autor 



— 13 — 

braucht aber durchaus kein Jongleur zu sein. Es gibt eine 
Art^ die Welt tief kOnstlersch zu empfinden, die darum 
nicht gerade dichterisch ist: Thtophil Gautier, die 
französische GesellschaftskomOdie. Das ist gewiss nicht 
der Gipfel der Genialität, aber es ist nicht schlechter, als 
poetisch zu empfinden, ohne Künstler zu sein. 



Zweites Intermezzo. 

Mit Franzosen im Ausland. 

(Tagebuchblätter.) 

London, Mai 1898. 

Seit ich hier bin, begeistere ich mich ein wenig für 
die kohle Präzision und die unliebenswürdige Aufrichtig-' 
keit der Engländer. Sie berOhren mich heimatlich, fast 
wie eine Steigerung des Heimatlichen, nach langem 
Hausen unter geschwätzig liebenswürdigen Romanen. 






Gestern Abend kam Charies P. am Charing-cross 
an, von Paris, versuche ihn zum Abendessen in mein ge^ 
wohntes Holborn grillroom zu führen, aber il ne marche 
pas; hasst die englische Küche, „qui d^labrerait son 
estomac en 24 heures*. Caf6 Royal. Wie auf den 
Boulevards: Spiegel, Helle, Lustigkeit an allen Tischen. 
Ich fühle mich wie zu Haus. Er erzählt Neuestes von 
Montmartre, Hippol)rte hat L. geheiratet. Mme. T. ge- 
schieden, empfängt wieder. Ich fühle etwas wie Heim* 
weh — nach Mitteleuropa. Wir gehen ins Empire- 
theater, Charles spricht englisch wie ein Cockney. Im 



- 14 - • 

Vergleich zu den Engländern kommt er mir aber wie ein 
Landsmann vor. 

„Fragen Sie mich nichts Ober die Engländer, sie 
bleiben mir ein versiegeltes Buch,'' sagt er, nachdem er 
über zwei Jahre hier gelebt hat. 

Ich: „Ich verkehre hier schon heute nach vier- 
wöchentlichem Aufenthalt in mehr Häusern, als in Paris 
nach einem Jahr." 

Charles: „Und hat Sie das weiter gebracht? 
Können Sie sich einen Begriff machen, wie der Eng- 
länder liebt, wie er zu seiner Frau steht, zu seiner Ge- 
liebten, zum Problem der Untreue etc.? Seine neuere 
Literatur schweigt sich darüber aus, mit grossem Ge- 
schick; und im Gespräch lehnt er das Thema ab, als 
,rather french'". 

Charles lässt durchblicken, dass er einige flüchtige 
Liebesabenteuer mit Etigländerinnen gehabt, was seine 
Kenntnis, wie's scheint, nicht gefördert hat. Dann spricht 
er entzückt von der „fralcheur" und „candeur" der deut- 
schen Mädchen; es gäbe bei uns eine Mischung von 
Kindlichkeit und Ladylikeness, die er sonst nirgends ge- 
sehen. Am liebsten möchte er mir, aus Freude darüber, 
im Augenblick die Gunst seiner sämtlichen Lands- 
männinnen verschaffen; bewundert Minna von Barnhelm, 
aber auch Philine, Kätchen von Heilbronn. Ich muss 
ihm versprechen, ihm ein Judithkapitel aus dem „grünen 
Heinrich'' mündlich zu übersetzen. Ein zweiter Champagne- 
Cobler treibt ihn, mir alte französische Lieder ins Ohr 
zu summen, die er herausgeben will. Mir ist, als höre 
ich deutsche Lieder. Dann will er absolut im deutschen 
Bierhaus soupieren. Wir essen Sauerkraut und Würstchen, 
trinken deutsches Bier und schimpfen zusammen auf England. 



— 15 — 

Rom, April 1899. 

Gestern Abend Pranzo bei Ein Senator, 

zwei Universitätsprofessoren und junge Leute. Die erwartete 
Makkaronibehaglichkeit bei einem Glas Chianti gestört 
durch die Anwesenheit zweier französischer Archäologen 
mit ihren Frauen, Die Unterhaltung über Kunstfragen 
wird sofort „europäisch**. Ich halte zunächst in alter 
Liebe zu den Italienern. Aber es dauert nicht lange und 
die Konstellation wird umgekehrt. Die zwei Franzosen 
modern, sachlich, bewandert, zivilisiert. Meine guten 
Italiener unwissend, primitiv, konventionell bewundernd 
und dabei offenbar heimlich geärgert. Blicken auf mich, 
wie ich wohl denke? Bin vorsichtig; preise Italiens 
grosse Zeiten; will meine Freunde nicht im Stich lassen. 
Ich liebe sie mehr wie die Franzosen; aber verstehen sie 
mich und verstehe ich sie? „Ces bonnes gens vivent au 
18. sifecle", sagt einer der Franzosen auf dem Heimweg. 
„Pas moyen de s'entendre avec la phrasfelogie meri- 
dionale**, sagt der andere. 

Sevilla, September 1905. 

Die Spanier sollen unter den Südländern den Deut- 
schen am ähnlichsten sein durch ihren Ernst, ihre Fähig- 
keit, über äussere Kümmernisse durch intensives Innen- 
leben hinauszukommen, auch durch ihre Neigung zu 
dunkler Verworrenheit im Geistigen. Mag sein. Was 
ich bis jetzt kennen gelernt habe, beweist, dass ich mit 
keinem Volk so schwer intim werden kann, als mit den 
Spaniern. Don Luis, der Wortführer an unserer Mittags- 
tafel, überhäuft uns mit Liebenswürdigkeiten, wollte mir 
heute früh seine Capa, die ich bewunderte, schenken. 



— 16 — 

Ich hätte mir einen Todfeind gemacht, sagt unsre eng- 
lische Wirtin, wäre ich darauf eingegangen. 

Ich versuche, auf den Strassen mit den Leuten des 
Volks zu reden und sehe — misstrauische Verlegenheit 
Nichts von italienischem Freimut. Ich habe nichts da- 
gegen. Die Kerle mit ihren prachtvollen Gesichtern, wie 
Holzskulpturen, sind wundervoll, haben recht gegen uns^ 
gegen alle Zivilisation vielleicht Aber bilden wir uns 
nicht ein, sie zu verstehen, weil uns ihre bizarre Gross- 
artigkeit entzückt. Es gibt eine mitteleuropäische Soli- 
darität, die an den Pyrenäen, dem Kanal und der 
Weichsel aufhört. Die Ostsee und die Alpen sind 
weniger strenge Grenzen. 

Ein junger, nichtssagender Franzose von der Table 
d'höte führt mich abends zu seinen Freunden auf der 
alameda: darunter die Söhne des Direktors der Tabak- 
fabrik. Man spticht von nichts als von Stieren. Alle 
haben schon als Liebhaber in der Arena gestanden. 
Zeremoniell liebenswürdig gegen mich. Herrschaften mit 
steifen sombreros: chulos, banderilleros, picadores, die 
ganze Gehilfenschaft von der Arena, kommen an unsern 
Tisch. Finstere Liebenswürdigkeit, als könne eine Form- 
verietzung tötlich werden; ebenso in den galanten Häusern^ 
wohin man mich führt. Zuletzt mit dem kleinen Fran- 
zosen allein, der mir nun alles zu erklären sucht, den 
spanischen Charakter, seine finstere Brutalität, seine 
Kunstlosigkeit etc. Der Junge wird fast zum scharfen 
Beobachter und Psycholog, weil er mitteleuropäiscli 
sieht — wie ich. Er kommt aber leichter mit den 
Leuten aus, als ich könnte; lebt zwei Jahre hier, angestellt 
im Credit Lyonnais und zieht das dem Leben in Eng* 



17 



land vor, wo er auch zwei Jahre war. Wenn ich die Wahl 
lätte, — auf die Dauer hundertmal lieber in England, so 
iteressant es hier ist. Aber wir sind einig darüber: 
enn man den Spanier kratzt, so findet man den 
irikaner; und dass gerade die reizendsten Spanierinnen 
ich meist als halbe Französinnen entpuppen. 

Er ist rührend, will mir seine ganze Zeit widmen, 

|roh, wieder einmal einen — er findet keinen Ausdruck 

getroffen zu haben, fast hätte er .Landsmann^ gesagt. 

Madrid, Oktober 1905. 

|; An unsrer Table d'höte ein französisches Ehepaar. 
jj^ Schnelle Bekanntschaft« Gleich gemeinsame Vadrouille 
ß^ durch die Lokale, wo man die halbafrikanischen Tänze 
! und Lieder hört. Monsieur L. hier sehr bekannt, lockt 
die Künstler an unsem Tisch, bringt sie zum Reden; hat 
viel Sinn für ihre Lokalfarbe. Erzählt uns von einem 
' anderthalbjährigen Verhältnis mit einer Spanierin: uner- 
ziehbar, unintelligent, bloss die dumme Leidenschaft. Er 
spricht fliessend spanisch und deutsch. Die Deutschen seien 
ihm keine Fremden mehr. Um mit den Spaniern auszu- 
kommen, nur List und Gewalt möglich. Er vertritt hier 
eine grosse französische Firma. 

Aber dieses Schreien und Stampfen auf der Bühne 
reisst mich doch mit, wie Sturm und Blitz. Bei uns 
braucht man gegen solche Unwetter Blitzableiter. 



1 1 



.. < 



Erstes Kapitel. 
Fermente. 

(Antiker Geist; Kultureinheit und Absolutismus; die 
.social^ poüe'' und der Klassizismus; Revolution und 

Doktrin;' modemer Geist.) 



I. Antiker Geist in Deutschland und 

Frankreich. 

Im ägyptischen Saal des Louvre: 

Wohin haben sich in den modernen Kulturen die 
Instinkte verflüchtigt, die hier gebändigt liegen, auf- 
schwellend in unerbittlichen Formen? Diese Götterbilder 
thronen über den Leidenschaften, die sie hüten, lauernd, 
ob der Mensch das Urf euer nicht missbrauche : diebreite, 
unbeirrte Sphinx, die kauernde, jeden Augenblick auf- 
springen wollende, löwenköpfige Secket und die niederen 
Wächter, vier Paviane, welche die aufgehende Sonne be- 
grüssen. Sie entstammen dem Piedestal des Obelisken 
von Luxor; ihnen gegenüber erscheinen die leidenschaft- 
lichen Satane, die sich zu Füssen gothischer Heiliger 
winden wie neckische Schelme. Sind diese Götter selbst 



- 19 — 

die formgewordene Urkraft oder die feindlichen Bändiger 
der Urkraft, von einer Lichtgottheit zur Ueberwindung der 
Finsternisse eingesetzt? Sie lasten wie Gebirge auf vul- 
kanischem Boden, starr, doch tief durchwühlt. Wie 
liebenswürdige Vertraute fast wirken dagegen die assy- 
rischen geflügelten Stiere mit Menschenhim und Menschen- 
antlitz auf tierischem Rumpf. 

In der rue de Rivoli: 

Es ist nicht glaubhaft, dass sich die Urverwandtschaft 
zwischen Mensch und Element je stärker ausgedrückt 
habe, als in Aegypten. Dagegen bedeuten moderne 
Lebensformen eine Pygmäenkultur, und wären sie so 
vollendet, wie die französischen, zwischen denen ich mich 
befinde. — 

Und insbesondere deutsche Formen? Wir haben, 
obgleich auch wir sie nicht in vollendeten Denkmälern 
bezeugen können, die alte Elementarverwandtschaft nie- 
mals ganz vergessen. Wir weigern den Namen „gross*" 
denen, die sie verloren haben, und wüssten sie noch so 
sehr unsere Sinne hinzureissen, unsem Geist zu überreden. 

Wir sind dagegen schnell bereit, Grösse anzuerkennen, 
wo sich elementares Empfinden verrät, auch zwischen 
kindischer Unbeholfenheit und grobem Ungeschmack. 
Die Franzosen haben sich dem Gesellschaftlichen und 
später auch dem individuell Menschlichen hingegeben, 
wir glauben an ein Drittes: das Elementare. Falls eine 
deutsche oder germanische Kultur noch möglich wäre, sie 
gliche eher der ägyptischen, als einer lateinischen. 

Hätten wir unsere Urkraft zu formen verstanden, dann 
wären wir vielleicht, wie Aegypten für Hellas, den Franzosen 
wirklich das geheimnisvolle Wunderland, das ihre Romantik 

2* 



— 20 — 

bisweilen bei den Nachbarn d'Outre-Rhin vermutete. Aber 
wir sind nie über die Sehnsuclit nach dieser Formung 
hinausgelcommen, darum überzeugen wir die Fremden 
nicht von unserer Berufenheit; und doch hat es einen 
tiefen Grund, dass die Deutschen stets eine Neigung für 
das vorlateinische, besonders griechische Altertum aus- 
gezeichnet hat, während die Franzosen nur durch die römisch 
rationalisierte Antike wesentlich beeinflusst wurden. 

Des kalten Ideals der heiteren Einfalt und stillen 
Grösse fast müde, entdeckten wir in unsren Gefühlsnöten 
(Fr. Schlegel, Bachofen, Rohde, Nietzsche) das Dionysische 
in der Griechenkultur, das heute unser Seelen- und Geistes- 
leben nährt. Uns wurde den Griechen gegenüber zu Mut, 
wie einem irrenden Sohn, den ein bewunderter, weiser 
Vater mit der Erzählung der eigenen Jugendstürme zu 
trösten und zu stärken unternimmt. Das Konventionelle, 
das uns bald knechtete, das wir bald verächtlich von uns 
warfen, entdeckten wir neu in appollinischer Veredelung, 
und unser leidenschaftliches Uebermass erkannte sich 
wieder im Gefolge des thyrsosschwingenden Gottes. 
Weit entfernt, die neu entdeckte Lehre ganz zu begreifen 
und zu verwirklichen, sind wir oft archaistisch übertrieben 
und modern lächerlich gewesen; doch Vers und Prosa 
sprechen seit einiger Zeit wieder von vergessenen In- 
stinkten, verschütteten Begierden; zwischen den Fugen 
einer undichten Kultur glimmt ursprünglicheres Geleucht 
durch die Ritzen und erhellt lange unbeachtetes köstliches 
Geschehen. Und wir beten zu Appoll, dass er uns zur 
Enthüllung und Wahrung dieser Wunder verhelfe. Viele 
erschauern vor solchen Entdeckungen und Entblössungen, 
andere begreifen nicht, was das Schildern und Preisen 
dieser ihnen unwesentlichen Dinge denn soll? Sie schlagen 



— 21 — 

sich vielleicht auch bei diesen Worten an den Kopf und 
fragen: Was meint der Verfasser eigentlich? 

Ein Franzose*), der 1885 Deutschland bereiste, als 
sich diese Regung noch nicht ahnen Hess, trotzdem die 
Saat schon lange gelegt war, sagt vom Deutschen: „seine 
allzu umfassende Intelligenz, die alles umarmen möchte, 
umfasst nichts ganz scharf: daher seine nebelhaften Ent- 
würfe, wo bisweilen, wie Sterne am wolkigen Himmel, 
seine entzückenden lyrischen Schöpfungen funkeln, seine 
Balladen, Volksbücher und Märchen. Auf diesen Gebieten 
ist er Meister. Und warum? Weil der alte Pantheist 
einen Augenblick aufgetaucht ist unter einem Eindruck 
träumerischer Melancholie und sich seine mystische Ein- 
bildungskraft auf einen einzigen Punkt beschränkt. Aber 
diese Schöpfungen sind notgedrungen kurz. In den grossen 
menschlichen Werken erscheint sogleich wieder das ver- 
worrene Dickicht des Pedanten. Seine Intelligenz ist 
sicher voll von Material, aber sie reiht es nicht mit der 
nötigen Gelenkigkeit an einander, sie häuft es auf oder 
wirft es im Durcheinander herum.* 

Warum dieses deutsche Chaos? Weil der Pedant 
gewaltsam bändigen wollte, was er nicht oder nur halb 
begriff. Dionysos erträgt nur den harmonischen Zwang 
des zitherspielenden Apollo. Diese Bändigung macht 
das Wesen der Klassik. 

Die meisten Kulturen gleichen Riesenstädten: die 
Strassen teils bebaut, teils zerstört, teils verlassen, teils 
zerfallen, ehe die Häuser unter Dach kamen; der Ge- 
samteindruck verwirrend, hier begeisternd, dort ent- 

*) Henri Conti, UAllemagne intime, P. 127. 



— 22 - 

mutigend, im ganzen nicht von der Notwendigkeit des 
geschehenen Aufwands überzeugend. Von den wahr- 
scheinlich sehr vollkommenen alten Kulturen, der ägyptischen 
und kretischen insbesondere, haben wir kaum mehr als 
ein schauenrolles Ahnen. Nur zur griechisch-römischen 
Welt stehen wir in bestimmter Geistes- und GefUhls- 
beziehung. Wie verschieden die einzelnen Generationen 
antike Tugenden, die Heiterkeit und den Ernst verstanden, 
eines haben die Alten unbedingt besessen, jene unbewusste 
Verfassung der Instinkte, die ihnen die Bifite ihrer wahren 
Natur ermöglichte: Kultur. 

Deutschland hat sich oft ffir den berufenen Erben 
Griechenlands erklärt. Das stimmt dem Buchstaben nach. 
Deutschland hat am meisten Helle in die griechische 
Ueberlieferung gebracht; aber dieses philologisch genau 
untersuchte Hellas ist uns stets ein idealisches Jenseits 
geblieben, ein Tempel ffir Erwählte, vor dem der Ein- 
tretende zaudert, so wie Platen mit den charakteristisch 
deutschen Worten vor dem Markusplatz in Venedig: 

„Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen? 

Diese respektvollen Schauer, die wir so wert halten, 
beweisen unsere Fremdheit auf klassischem Boden. 

Der Franzose scheut sich nicht, sich auf den Mar- 
morstufen des Tempels auszustrecken, mit den Philosophen 
geistreiche Worte zu tauschen, den Kurtisanen leichte 
Spässe nachzurufen. Er versteht das antike Leben analog 
seinem eigenen, und verschönt dieses durch einen Reflex 
aus jenem. Wir werfen ihm vor, sein Bild der Antike 
sei oft barock. Aber trotz seinem respektlosen Zu- 
greifen und Drapieren packt er doch oft die Sache 
selbst, während uns ein neu entdecktes Jenseits nur 
zu oft das Diesseits verleumden lehrt. 



— 23 — 

Ich möchte nicht so verstanden werden, als hätten wir 
mehr vom antiken Geist, die Franzosen mehr die Form 
des antiken Lebens überkommen. Ich kann einen solchen 
Unterschied von Wesen und Gestalt, Geist und Form 
nicht anerkennen. Keine Wesenheit ist ohne Form, die 
Form ist das Wesen eines Dings (essentia). Die 
französischen Formen aber sind ein Leben, das dem 
hellenischen im Wesen verwandter ist als irgend ein 
anderes. Das schliesst nicht aus, dass wesentliche Züge 
sich verändert haben oder ganz fehlen, die sich vielleicht 
eher bei uns finden liessen. 

* 
Die Aehnlichkeit zwischen Franzosen und Griechen 

zeigt sich in der ungezwungenen Entfaltung einer nicht 
zu widerspruchsreichen Natur, durch eine Art Gleichge- 
wicht haltender und Kräfte bewahrender Heiterkeit. Wenn 
auch die Wissenschaft mit dem Begriff jener stupiden 
ewigen Heiterkeit der Griechen aufgeräumt hat, bleibt 
doch die eucppooouvT), die serenitas ein tiefer Zug des 
antiken Menschen. Renan nennt die „gait£ gauloise 
vielleicht die tiefste aller Philosophieen'^. Infolge eines 
eingeborenen Formgefühls kommen jene Probleme des 
Mühsäligen von Form und Inhalt, Oberflächlichkeit und 
Tiefe, Lachen und Ernst, ausserhalb der theoretischen 
Betrachtung gar nicht recht auf: die Grazie der Formen 
steht auch dem die Sinne schmähenden Plato, dem ent- 
haltsamen Pascal ungerufen zur Verfügung. 

Es wird einem niemals zugemutet. Gewolltes für 
geschaffen zu nehmen, sich mit dem Unvollkommenen, 
halb Gewordenen zu begnügen, weil es vielleicht, falls 
es geworden wäre, sich höher erhöbe, als alles bisher 
Gesehene. Diese Form des Idealismus kennt weder 



— 24 — 

Frankreich noch Hellas; das ist der speziell unklassische, 
protestantische Geist: Rechtfertigung durch den Glauben, 
d. h. den guten Willen, nicht durch Werke. Für den 
antiken und den französischen Realismus ist das Nicht- 
formgewordene nicht. 

Die Franzosen haben gleich den Griechen ihre eigene 
Stärke verstanden und rücksichtslos, unreflektiert, unbe- 
kümmert wie Kinder ausgedrückt. Sie haben sich keine 
ausser ihrer Möglichkeit liegenden Ideale geschaffen, 
sondern rundweg ihre Wirklichkeit glorifiziert. Nie ist 
ihnen das unerreichbare darum, weil sie es nicht erreichen 
können, das Wertvolle gewesen. Auch dieser sich selbst 
verkleinernde Idealismus fehlt ihnen. Das Wertvolle ist 
ihnen stets gerade das, was sie am besten können, was 
ihnen darum am meisten Spass macht. Ihre Vollkommen- 
heit ist, nur das zu wollen, worin sie vollkommen sind. 
„Das ist leicht" wird man sagen. Ja, muss denn etwas 
schwer sein, damit es gut ist? Uebrigens gehört viel 
Aechtheit, Instinkt und Mässigung dazu, um seine eigenen 
Vollkommenheiten rechtzeitig zu erkennen. Darum sind 
auch die Franzosen unempfindlich dagegen, wenn man 
ihnen Eigenschaften abspricht, auf die andere Völker 
stolz sind. Sie überlassen leichten Herzens den Deutschen 
die Tiefe, den Engländern die rücksichtslose Kraft. 

Das Französische ist ihnen das Liebe, Süsse, Ange- 
nehme, ja das Amüsante, und sie sind Franzosen, parbleu. 
Französisch ist ihre Tapferkeit, ihre Liebe, ihre Lust, ihre 
Kleidung, ihr Betragen: alles natürliche Angelegenheiten 
des täglichen Lebens. Das deutsche Ideal beschäftigt 
sich nicht mit den AUtäglichkeiten; die mögen ihren 
Stiefel weitergehen, nach wie vor, jeder sehe selbst, wie 
er fertig werde; das deutsche Ideal ist reflektiert philoso- 



— 25 - 

phisch. Graf Kessler sagt in einem Aufsatz „Nationalität^ 
(die Zukunft 7. April 1906), eigentlich könne nur ein ge- 
bildeter Mensch — sagen wir ruhig: nur ein akademisch 
gebildeter — Deutscher im Fichteschen Sinne sein. Ja, 
deutsch sein ist schwer, es kostet Mühe und ächweiss, 
es ist eine Aufgabe. Das ist so ungriechisch wie möglich. 

Das französische Nationalgefühl ist populärer als das 
deutsche, denn es knüpft sich an das heimische Brot, an 
das heimische Weib. Nur zu Hause kann man ganz 
französisch sein. Darum wird der Fremde am französischen 
Herd zum Barbaren. Durch alle französischen Reisebe- 
schreibungen fremder Länder tönt Ovids ironische Klage 
aus Tomi: barbarus hie ego sum et non intelligor ulli. 
Der Deutsche strebt aus der Enge der Heimat und wird 
Kosmopolit: ein Vorteil und ein Nachteil. Das englische 
Nationalgefühl ist der Stolz auf die grossen Männer und 
Einrichtungen, auf britische Macht; das französische 
Nationalgefühl erträgt heimische Missstände leichter, es 
nährt sich von der sinnlichen Freude an der feinen Luft 
der Ile de France, den Weinen von Burgund und der Gas- 
cogne, und den ihm unvergleich dünkenden Frauen; diese 
Entzückung teilt sich selbst den „Barbaren** mit. Paris 
hört sich selbst nicht ungern der grossen Babylon ver- 
gleichen, nach deren Schosse Völker und Könige brennen. 

Die Verwandtschaft zwischen einer pindarischen Ode 
und einem griechischen Gebrauchsgegenstand, einer Vase, 
einer Lampe oder einem Spiegel, findet sich wieder 
zwischen einem Molifereschen oder Marivauxschen Dialog 
und einer Tabakdose oder einem Fächer. Shakespeare 
gestaltet grösser als irgend ein Franzose, Goethe blickt 
tiefer und weiter, aber sie sind Einzelerscheinungen in- 
mitten ungenialer Massen. National aber und das Leben 



— 26 — 

jedes Einzelnen mit seinem Widerschein vergoldend sind 
die griechische Tragödie, wie das französische Lustspiel, 
die griechischen Säulenordnungen, wie jene höfischen 
Ludwigstile (mögen sie uns gefallen oder nicht.) 

Und dann haben die Franzosen*) nach ihrer mas- 
kierten Rokokoschäferei das antike Idyll in unsere Zeit 
gerettet: Corot, modern idyllisch, ohne gewaltsames Zurück- 
schrauben unseres Empfindungsapparates, ohne eine Spur 
kindischer oder süsslicher Albernheit. Puvis de Chavannes, 
Sommer und Winter, im Pariser Stadthaus: Die Gruppen 
und Gestalten mögen in ihrer Typik nicht recht ausgefüllt, 
manchmal fast leer erscheinen — man denkt an die grössere 
Fülle der Raphaelschen Cartons im Vatikan --, aber in 
diesen Landschaften erfährt man, was Arkadien ist, ewig 
sein wird. 

Es muss weniger das recht zweifelhafte antike Blut 
der Franzosen sein, das sie zu solchen Empfindungen fähig 
erhält, als eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem blass- 
blauen Himmel der Isle de France und dem Attikas. Zur 
Enttäuschung der Marseiller, die sich für die französischen 
Griechen halten, hörte ich einst einen französischen Dichter 
griechischer Abkunft die Aehnlichkeit zwischen der durch- 
sichtigen Pariser Luft in frühen Morgenstunden und der 
Athenischen feststellen. 

Ein anderes antikes Merkmal französischen Daseins 
ist die geringe Kluft zwischen den Lebensaltern, die stets 
einander nahe sind und für einander Teilnahme haben. 
Es fehlt die Respektlosigkeit oder Unterwürfigkeit der 

*) Auf das sublimierte Griechentum der Ingres, Prudhon, 
Chass^riau, Puvis de Chavannes, macht Meier-Gräfe in seiner Ent- 
wicklungsgeschichte der modernen Malerei oft aufmerksam. 



— 27 — 

Jungen ebensowohl, als der Dünkel und die Beschränkt- 
heit der alten Herrn. Mehrere Dezennien Altersunterschied 
hindern die Freundschaft nicht. Der Beifall der Jugend 
ist dem Greis ebenso schmeichelhaft, als dem Jungen der 
der Alten. Alkibiades sagt in seiner Rede an die Athener 
(Thukydides VI, 18): „Durch den vereinten Rat der Jugend 
und des Alters haben unsere Vorfahren so hohe Macht 
erreicht. . . . Seid überzeugt, dass die Jünglinge und 
Greise, die einen ohne die andern, nichts vermögen. "" 

Das macht in Hellas wie in Frankreich die Politik 
zu einer allgemeinen öffentlichen Angelegenheit, die sich 
im Gespräch der Gesellschaft, im Gesang, im Witz der 
Strassen spiegelt. Sie stösst nicht durch ideologisches 
Schwärmen oder armselige Nüchternheit ab. Wie in Eng- 
land besteht die Möglichkeit, dass man gleichzeitig Talent 
hat und den Beifall der staatserhaltenden Zirkel besitzt. 
Die Erfahrungs- und Betätigungsmöglichkeiten einer hohen 
sozialen Stellung finden sich leichter zusammen mit einem 
selbstherrlichen Verstand und unbeirrtem Empfindungs- 
leben. Und diese Synthese allein ermöglicht den voll- 
kommenen Mann, den xaXoc xd^a&dc, der weder unter 
trivialen Konventionen, noch in selbstgefälligen Konven- 
tikeln gedeiht. 

Die antike Ueberlieferung wurde auf Frankreich ver- 
erbt, nachdem Italien noch eine Zeitlang der Vormund 
gewesen war. Die andern Völker haben nur Legate 
empfangen. Ihnen wurde römisches Recht und griechisch- 
römisches Denken eher aufgezwungen. Ihre noch unge- 
zähmten, unbewussten Instinkte krümmten und bäumten 
sich unter dem doppelten Einfall sich widersprechender 
römischer und christlicher Ideen. Daher das Gequälte 



— 28 — 

ihrer Halbkulturen. Spaniens Masslosigkeit, Englands 
Brutalität und besonders Deutschlands Verworrenheit 
wurden vielleicht teilweise erst durch die lateinischen 
Zuchtmeister provoziert. Die unter glücklichem Himmel 
lebenden, „nach Neuem begierigen'' Gallier wurden sanft 
und langsam der antiken Kultur gewonnen, nahmen sogar 
noch einen kleinen, schöpferischen Anteil an ihr. Rein 
eiihalten haben sie sie freilich nicht. Aber wer möchte 
von einem Volk verlangen, dass es statt zu leben, statt 
sich durch Entwicklung zu modifizieren, Philologie treibt? 
So ist deutsche, spanische, englische Schönheit un- 
bestimmter, seltener, aber vielleicht durch endloses Ringen 
gestärkter und auseriesener, als die lateinische und die 
gallische, die verschwenderisch in allen Gassen blinzt 



a. Kultureinheit und Absolutismus. 



Paris vaut bien une messe. 

Henry IV. 
Es war der alte Wahn der politi- 
schen Dileitanten, welche nie be- 
greifen, dass die verschlungene 
Natur unserer Staatengeselischaft 
eine reine Tendenzpoliiik kaum 
je gestattet, dass die grossen inter- 
nationalen Machtfragen nicht unter 
die Gesichtspunkte der Parteilehren 
fallen. 
Treitschke, Frankreichs Staatsleben 
und der Bonarpartismus. S. i88. 

Wir weigern den Namen der Grösse dem eindeutigen 
Egoismus, selbst wenn er zu Zeiten bezaubert: Nero, 
Alexander VI. 

Wir weigern ihn dem, der, sich klug oder ängstlich 
unterordnend, Grosses nur geschehen lässt: Elisabeth von 
England, Wilhelm I. 

Wir weigern ihn dem, der zwar in einen mächtigen 
Strom gerät, ihn aber nicht zu lenken weiss, bald mit- 
gerissen wird, bald die Fluten hemmt: Luther. 

Wir weigern ihn selbst dem, der kraftvoll und voll- 
kommen eine Sache durchführt, deren Bedeutung aber 
beschränkt oder fraglich ist: Crom well, Ignaz von 
Loyola. 



— 30 — 

Grösse erkennen wir, wo ein starker Lebenstrieb 
(Egoismus) sich instinktiv einer bedeutenden Sache vermählt^ 
die er, von zielsicherer Klugheit bedient, wirklich zu Ende 
zu führen vermag: Caesar, Friedrich der Grosse, Bismarek. 

Es besteht ein etymologisches Recht, solche GrOsse 
„Idealismus'^ zu nennen, weil das Ich seine Wohlfahrt 
an eine umfassendere Sache hingibt, die sich dem ab- 
strahierenden Verstand als «Idee"* darstellt Nun ist aber 
das Wort „Idealismus'^ von so vielerlei flachen Köpfen 
und seichten Seelen für ihre subalternen Zwecke belegt, 
dass wir, um Verwirrung zu hindern, es ihnen zu dau- 
ernder Nutzniessung überlassen sollten. Wir können uns 
gerade so gut des Wortes „Realismus'' bedienen, denn 
„Grösse" ist so wirklichkeitsklar gewordener Egoismus, 
dass er, weit über die Grenzen kleiner Ichheit hinaus, 
Höhen und Tiefen des Daseins fühlt und lust- oder 
schmerzvoll darauf durch Handeln reagiert. Dass zweck- 
sichere Klugheit solches Handeln bedienen muss, ist ein 
Grund mehr, in der Grösse einen hohen Grad von 
Realitätssinn zu erblicken. 

Dieser Realismus kommt in den Helden der neueren 
französischen Geschichte früh vor: Heinrich IV., Richelieu* 
Beide nennen Ideologen zuweilen gesinnungslose Kom- 
promissler. Allerdings; sie wollten unbedingt in die 
Höhe, lavierten klug zwischen den Parteien, verteidigten 
vorübergehend Dinge, die sie, hätten sie schon die Macht, 
missbilligen würden. Besitzen sie aber die Macht, so 
heisst ihr Leib Frankreich, ihr Herz Paris, und weil sie's 
so fühlen, können sie nicht für den Arm gegen das Bein, 
für die Lunge gegen den Magen Partei ergreifen. So wie 
der noch so eng lokalisierte körperliche Schmerz zum Wirk- 
lichkeitsbewusstsein zwingt, die ganze Einheit des Lebens* 



— 31 — 

gefflhls erschattert und durch nichts wegkonstruiert 
werden, kann, so machte Heinrich IV. und Richelieu 
das oft schmerzvolle Verwachsensein mit ihrer grossen 
Sache zu Realpolitikern. 

Die bereitwillige Aufgabe des protestantischen Be- 
kenntnisses durch Heinrich IV. macht das moderne Frank- 
reich möglich. Ohne diesen Gesinnungswechsel hätte 
sich der einzig zum Königtum Fähige zu fruchtlosen 
Kämpfen verurteilt, seinem Lande die Fortsetzung des 
Bürgerkrieges auferlegt, vielleicht ein dem dreissigj ährigen 
Krieg ähnliches materielles und geistiges Elend herauf- 
beschworen. Manchen gefiele er wohl besser, wenn er 
gesagt hätte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders."^ 
Dass er anders konnte, ist seine Grösse. 

Allen zentrifugalen Kräften seiner noch unfertigen 
Nation wird durch Heinrichs Uebertritt der Antrieb ge- 
nommen. Die Zauberformel ist gesprochen, sodass sieb 
aus dem Chaos dauernde Formen krystallisieren können. 
Gleich fern von fanatischem Ideologismus und egoisti- 
scher Eifersucht, betrachtet er den religiösen Konflikt als 
das, was er ist: eine Krankheit, die gewiss nicht unter- 
schätzt werden darf, gegen die vor allem die Einheit des 
Organismus gefestigt werden muss. Er für seine Person 
hatte die Krankheit gut überstanden und konnte nun ein 
weiser Pfleger sein. Ohne ihre Wichtigkeit zu verkennen^ 
sah er, unwillkürlich modern, das Sekundäre der kon- 
fessionellen Frage gegenüber der politischen. Die Um- 
kehrung dieses Verhältnisses ist alttestamentarisch und 
mittelalterlich. So zeigte er sich auch versöhnlich gegen 
die Jesuiten, die er lieber als Freunde, denn als Feinde 
haben wollte. „Par patience et cheminer droit, je vaincs 
les enfants de ce siöcle." 



— 32 — 

Er befreit Frankreich, auf das schon Philipp IL die 
Hand gelegt, von den „fran^ais esgagnolis^s."" Die 
Flegeljahre der Nation mit den Primanerzweifeln über 
Gott und die Welt sind vorbei, sie kann ihrer glänzenden 
Reife entgegengehen. Wie im lutherischen Deutschland 
hatte in Frankreich während des Bürgerkrieges der 
religiöse Charakter die Machtbegierden der Fürsten mas- 
kieren müssen, eine unumgängliche Folge jeder Religions- 
spaltung. Die Guisen durften sich eine Zeitlang als 
Beschützer des Katholizismus geben, während es ihnen 
in Wahrheit auf den Thron von Frankreich ankam» 
Solcher „Duperie" macht Heinrich ein Ende. Frankreich 
weiss von nun an, worauf es ankommt. Die Ziele werden 
klar, man schämt sich nicht mehr, offen Realpolitik zu 
treiben, denn man hat ein ruhiges Gewissen. 

Früh erwachter Tatsachensinn macht die Franzosen 
in Reügionsfragen gemässigt. Schon Franz 1. zeigte sich, 
ehe ihn die „placards* der Protestanten reizten und zur 
Intoleranz trieben, klug und nüchtern. Die Aeusserungen 
der Sorbonne nannte er lachend „theologastrische Ese- 
leien'', aber er liebte auch nicht „jene illuminierten Narren, 
die heute Bilderstürmer, morgen Märtyrer sind*. Das 
Toleranzedikt von Nantes befreit Frankreich als einziges 
Land von den fanatischen Gewalttaten, die andere Völker 
erdulden. In Deutschland darf seit dem Augsburger 
Frieden jeder Fürst seinem Land seine Religion auf- 
zwingen. Zweimal wird die Pfalz zum lutherischen 
Glauben gezwungen, zweimal muss sie ihn zu gunsten 
des Calvinismus aufgeben'^). Stets kommen die heftigsten 
Mittel in Anwendung. In England werden die Papisten 



*) Lavisse und Rambaud, V. 



- 33 — 

getötet. In Frankreich begeht hie und da das Volk Ge- 
walttätigkeiten, Regierung und Gesetz sind tolerant. 
Richelieu sagt, er ziehe einen hugenottischen Franzosen 
einem Spanier vor — ein nicht bloss in seiner Zeit 
seltener Grad des Wirklichkeitssinnes. Er begnügt sich, 
den politischen Protestantismus niederzuwerfen. Nach 
der Einnahme von La Rochelle hat er die Tatsachen be- 
siegt; grossmütig gegen die Gewissen kann er das Edikt 
von Nantes erneuern. Ihm ist genug, den Gegner be- 
zwungen zu haben, er verlangt nicht, dass er ihm auch 
noch Recht geben soll. So wird die Protestantenfrage 
zu dem, was sie ist: eine freilich nicht unwichtige Neben- 
sache, wie ein heilsames, reinigendes Fieber, das ein 
wenig menagiert werden muss. Auch die späte, sehr 
überflüssige und unglückliche Aufhebung des Edikts 
durch Ludwig XIV, setzte wenigstens nicht mehr die 
ganze Wohlfahrt und Kultur des Landes aufs Spiel. Das 
Volk ist freilich mit dieser Toleranz nicht immer einver- 
standen; für einen Protestanten ist es vorläufig leichter, 
Parlamentsrat oder Marschall von Frankreich, als unan- 
gefochten Schneidermeister oder Steuereinnehmer zu 
werden. Aber Richelieu weiss stets, wie weit er in 
seinen Zumutungen gehen kann Dem Papst gegenüber 
gebärdet er sich freier, als die stets wegen ihres Schismas 
ängstlichen deutschen Fürsten, und so wird das Schisma 
vermieden. 

Auch die Franzosen wollten keine «Römlinge'' sein. 
Sie besassen längst und befestigten immer mehr die galli- 
kanische Kirche. Mit ihren Vorrechten wussten sie, fast 
ohne Gewalt, ihr nationales Leben umsichtig und stark 
gegen die Gefahren der Katholizität der Kirche zu schützen, 
bis auf den heutigen Tag. Die Neigung, im Protestantismus 

8 



— 34 — 

einen Vorstoss fUr die vollkommene Befreiung der Geister 
zu erblicken, muss aufgegeben werden. Wenn heute ein 
Land diesem Ziel nahesteht, so ist es Frankreich, „die 
älteste Tochter der Kirche«. 

Ein höherer Ruhm Frankreichs, als der zweifelhafte 
seiner Revolution, ist: zuerst das moderne zentripetale 
Prinzip in der nationalen Entwicklung erkannt und ver- 
wirklicht zu haben. Als das moderne Land par excellence, 
erkennt es als seinen natürlichen Feind das alte reaktionäre 
Kaisertum, dessen utopistischer Traum einer Weltmonarchie 
zum letztenmal mit Karl V. gedroht hatte. Das sahen 
die französischen Könige schon vor Richelieu und zögerten 
nicht, in den protestantischen Fürsten Deutschlands ihre 
natürlichen Bundesgenossen zu sehen, denn es handelte 
sich um Politik, nicht um Theologie. Leider starb Richelieu 
im Augenblick, als der Kaiser jenen Dominikaner sandte, 
der ihm ins Gewissen reden sollte, weil er deutsche und 
schottische Ketzer unterstützte. Schade, dass die Mensch- 
heit um den Dialog zwischen dem Dominikaner und 
dem Kardinal gekommen ist; man sollte ihn noch 
erfinden. 



Wenn man von einer Dekadenz in Frankreich sprechen 
will, so muss man ihren Beginn in dem prahlerischen, 
der Provinz ihr Blut entsaugenden, zentralisierenden Ab- 
solutismus suchen, zu dessen Ausbau Ludwig XIV. die 
Basis des Richelieu'schen Werkes benutzte. Von jetzt 
ab bekommt die französische Kultur jene, zwar glänzende, 
Einseitigkeit, die sie trotz der Revolution, trotz der Ro- 
mantik, trotz dem modernen Geist bis heute oft so be- 



— 35 — 

grenzt erscheinen lässt in Sitten, Sprache und Kunst. 
Ludwig XIV. verhindert die allseitige moderne Ent- 
wicklung — wie sie sich rapid in England vollzieht — , 
indem er, statt den realen Bedürfnissen seines modernen 
Landes mit moderner Sachlichkeit zu dienen, einem 
Phantom imaginärer „Grösse" nachjagt, den reaktionären, 
mittelalterlichen Traum einer Universalmonarchie nach 
habsburgischem Muster nur mit jüngerer Kraft zu ver- 
wirklichen strebt. Immerhin: wenn einmal die materiellen 
Grundlagen gelegt, und aus ihnen, ohne Beihilfe ideo- 
logischer Blasebälge, das Nationalgefühl gewachsen und 
reif geworden ist, erträgt ein Volk ein nicht abzu- 
schätzendes Mass von Wahnsinn, Gewalt und Willkür. 
Mag nun geschehen, was will: die französische Kultur 
ist seit Richelieus formendem Werk nicht mehr in Frage 
zu stellen. Was geschieht, ist schlecht: Ludwigs XIV. 
resultatlose Raubkriege und die Aufhebung des Edikts 
von Nantes, Ludwig XV. Missregierung, die von Pedanten 
und Henkern geführte Revolution, das Napol^onische 
Abenteuer, die dumme Restauration, das dümmere Juli- 
königtum, die Halbheit des zweiten Kaiserreiches, das an- 
fängliche Revanchegeschrei der dritten Republik: aber die 
französische Kultur wurzelt zu tief, sie trägt weiter Frucht 
und treibt neue Blüten. 

Seit Ludwig XIV. treten die bekannten unsympathischen 
Eigenschaften Frankreichs hervor, über die Europa einig 
ist: vor allem diese ein wenig lächerliche „gloire**, die 
wahrer Grösse im Grund widerspricht, die selbst Napoleon 
gegenüber das Urteil so schwankend macht Seit Richelieu 
hat Frankreich eine Reihe sehr bemerkenswerter Männer 
der Tat hervorgebracht, aber keinen mehr von einwand- 
freier Grösse, keinen Pitt, keinen Bismarck, keinen Cavour. 

8* 



— 36 — 

Fast überall erscheinen persönliche Triebfedern, Eitelkeit 
und Egoismus un verhältnismässig stärker, als die 
Eingenommenheit für die grosse Sache. Das mag 
die Folge des Absolutismus sein, der keine grosse 
Sache ausser sich duldet. Ihm dienen ist aber kläglicher 
Hofdienst. 

Wenn wir oft den Fehler begehen, die ideale 
Strebungf nicht den von Kraft bedienten Tatsachen- 
sinn zum Masstab der Grösse zu machen, so ver- 
wechseln die Franzosen, leicht geblendet, Bedeutung mit 
Glanz. 

Das Zeitalter Ludwigs XIV. zeigt zwar die bisher 
glänzendsten Siege der französischen Waffen, aber Frank- 
reichs wahrhaft heroisches Zeitalter sind die Jahrzehnte 
Heinrichs IV. und Richelieus, deren Werke Ludwig er- 
schüttert. Und sein eigenes Werk? Es ist vollkommen 
gescheitert, schneller verblichen als der ephemere Glanz 
Napoleons, dessen moderner Emporkömmlingsgeist manches 
Gescheite für alle Zukunft geordnet hinterliess und mancher 
antiquierten Dummheit für immer die Wiederkehr ab- 
sperrte. Aber seit Ludwig XIV. ist der französische 
Nationalgeist durch starkes geistiges Leben so geklärt, 
so dicht und rein geworden, ja so zäh, dass er nur 
jüdischem und griechischem Geist an Bestimmtheit ver- 
glichen werden kann. Selbst das Netz der englischen 
Kultur, so weit es auch reicht, ist dünner und weit- 
maschiger. Dieser Geist wird sein Teil an der Welt- 
herrschaft behaupten, auch falls Frankreich einmal zu 
einer politischen Bedeutungslosigkeit wie die römische 
Provinz Achaia herabsinken sollte. 

Dass unter der korrekten Göttlichkeit der Versailler 
Zwänge das sinnlich-sensible Frankreich nicht erstickt ist. 



— 37 - 

fahlte man schon in der R^gence und gar in der 2. Hälfte 
des 18. Jahrhunderts, als man, aus den Oberhellen Spiegel- 
gallerien fliehend, in zierlichen Kabinetten zusammen- 
rückte und einem Dichter applaudierte, der wieder zu 
sagen wagt: 

„ä ce que nous sentons, que fait ce que nous 
sommes."*) 



*) Piron, la m^tromanie. 



3« Die nsoci^t^ polie^' und der 
Klassizismus.^) 

Der Rhetor ist nicht der Indivi- 
dualist .... er vertritt . . die An- 
schauung im Zeitalter Ludwig XIV. 

Wenn etwas sehr gross ist, so 
nennt er es unendlich, und das Un- 
endliche wiederum ist ihm eben nur 
sehr gross. Das sehr kleine sieht er 
nicht mehr, das ist für ihn einfach 
nicht da, der Rhetor versteht, es zu 
unterschlagen. 

Da er ganz genau weiss, wo er 
anzufangen und aufzuhören habe, und 
im Besitze des Masses Uebemommenes 
nur zu erweitern und zu beschränken 
hat, so ist es seine Tugend und Natur, 
auf die Gegenwart zu wirken 

Nur eines wird dem Rhetor nicht ge- 
lingen: die Revolution zu überleben. 
Rud. Kassner, Denis Diderot 

Wer die ganze Holdheit altfranzOsischer Geselischafts- 
Sitten kennen lernen will, der lese die „Princesse de 
Clöves'' der Mme de La Fayette, das früheste Buch der 

*) Ehe ich von der Einwirkung des modernen Geistes auf 
das alte Frankreich spreche, muss ich an die HauptzQge jenes 
alten Frankreichs erinnern, wie sie sich in seiner Gesellschaft 
und ihren revolutionären Vemichtem zeigen. Ich verweise auf 
die definitive Darstellung Taines, der ich in diesem und dem 
nächsten Abschnitt vieles entnehme. (Les Origines de la France 
contemporaine, I, II, HI, IV. Hachette. Paris 1904.) 



- 39 - 

Weltliteratur, das im heutigen Sinne als ein Roman gelten 
kann. Mitten in dem Glanz eines galaitten und ritter- 
liehen, noch nicht überreizten Hoflebens, zwischen den 
eifersüchtigen Intriguen zweier Königinnen, der Catherine 
de Mädicis und der Maria Stuart, blüht die lieblichste, 
wahrhaftigste Liebe zweier vollendeter Mensehen, bald 
gehindert, bald gefördert durch die kleinen Vorfälle des 
Alltags, die dadurch zur Bedeutung von wesentlichen 
Symbolen gelangen. Keine Romantik, keine Rhetorik, 
aber viel Psychologie und selbst so etwas wie Stimmung. 
Die Enkel dieser Art Menschen finden wir in Choderlos 
de Laclos' Meisterroman: Les liaisons dangefeuses reif 
zum Untergang durch die Revolution. Aus der blühenden 
Lieblichkeit ist eine herbe Liebenswürdigkeit geworden, 
aus der Kraft Tollkühnheit, aus der Liebe Verführung, 
aus holdem Geplauder und mutwilliger Galanterie ein 
berechnendes Schachspiel mit den Gefühlen, das der 
frostige „ennui" eingibt. 

Die Franzosen haben das Gleichgewicht im 18. Jahr- 
hundert verloren, und darum ist ihre klassische Kultur 
gestürzt. Das hindert nicht, sie mit Vergnügen zu be- 
trachten. Man hat das Funktionelle und Mechanische 
solange übersehen, bis es nicht mehr funktionierte und 
zusammenfiel. Zwar hat die Gesellschaft des 18. Jahr- 
hunderts Politik und soziale Angelegenheiten gern be- 
sprochen, aber niemals ernsthaft oder gar fanatisch, sondern 
als Gegenstand angenehmer Plauderei. Man gab sich 
durchaus der Fiktion hin, als könne eine Tafel ohne Küche, 
die Gesellschaft ohne den sozialen Mechanismus bestehen, 
so wie es unhöflich ist, die Zwänge seines Körpers um- 
ständlich zu erörtern. Jede gesellschaftliche Kultur setzt 
aber irgend eine Form von Aufsicht bedürfender Sklaverei 



— 40 — 

voraus, dufch die, mehr oder weniger verborgen, die 
niederen Funktionen erfOllt werden. 

Ludwig XVI., der sich ernstlich den Funktionen des 
Staates, besonders der Verwaltung und den Finanzen zu- 
wenden wollte, wurde vom Hof bourgeois gefunden.*) Nie- 
mand kannte die Lage seiner materiellen Verhältnisse, dafQr 
hatte man seinen Intendanten. Als der KOnig einen 
Adligen vorwurfsvoll fragt: „Ich höre, Sie ruinieren sich?" 
erhält er die Antwort: „Ich werde meinen Intendanten 
fragen und dann Seiner Majestät Bericht erstatten.*) 
Der König soll vor allem „homme du monde" sein, der 
Hof ist der erste Salon des Landes. Dieser ,monde' 
scheint wirklich die Welt, alles passt sich seinen Formen 
an, selbst die Statuen im Park von Versailles. ,Les 
dieux memes sont de leur monde."*) Jede etwas zu stark 
hervortretende Empfindung macht lächerlich, ist ein 
„a parte.'' Ein adliges Leben darf nicht auffallen, muss 
sich dem Rahmen einordnen. Das schlimmste ist, eine 
„espfece" zu sein. Ein Mann, der seine Frau in den 
Armen ihres Liebhabers findet, macht ihr Vorwürfe über 
ihre — Unvorsichtigkeit: „Denken Sie doch, Madame, 
so gut wie ich hätte Sie wohl auch ein Fremder über- 
raschen können."*) Die wahre Sonne dieser Zeit ist 
die Kerzenhelle, und ihre höchste Tugend ist die Liebens- 
würdigkeit. An moralkritischen Psychologen fehlt es 
nicht. .Seit einiger Zeit", sagt Duclos**) „genügt es 
nicht mehr, umgänglich (sociable) zu sein, man ist 
liebenswürdig (aimable)." Der Liebenswürdige „brennt 
darauf, allen Gesellschaften zu gefallen'' und ist stets 



*) cf. Taine, Livre 11, chap. i, Livre III, chap. 2. 
♦*) Duclos, consid^rations sur les moeurs Vni. 



— 41 — 

bereit, ^jeden Einzelnen zu opfern; er liebt niemand, 
wird von niemand geliebt, gefällt allen und wird oft von 
denselben Leuten verachtet und gesucht." „Der liebens- 
wardigste Mensch ist oft der Unwürdigste, geliebt zu 
werden." Aehnlich spricht Vauvenargues*): Was sehr 
viele Frauen einen liebenswürdigen Menschen nennen, 
„ist ein Mensch, den Niemand liebt, der selbst nur sich 
und sein Vergnügen liebt", „welcher die Dinge niemals 
um ihrer selbst willen schätzt und sucht, sondern nur 
weil er sie sehr geschätzt glaubt". Er warnt davor, 
„jenen kleinen Kreis übermütiger Leute, welche selbst 
den Rest der Menschheit für nichts achten", für die Ge- 
sellschaft zu halten. 

Die Verachtung aller Tatsächlichkeit gibt auch dem 
Stil der Sprache sein Gepräge. Im Gegensatz zu Ari- 
stoteles, der den konkreten Ausdruck als Notwendigkeit 
zur Klarheit erkennt, empfiehlt Buffon in seiner berühmten 
Akademierede über den Stil, „die Dinge mit den allge- 
meinsten Ausdrücken zu nennen." Er kann sich damit 
freilich nicht auf die Meister des vergangenen Jahr- 
hunderts berufen. Pascal verlacht die, welche „die 
Natur verkleiden" und statt König „der erhabene Herr- 
scher*, statt Paris, „die Hauptstadt des Königsreiches" 
sagen. Du Belloy dagegen, um auszudrücken, dass es 
in Calais während der Belagerung keinen Hund mehr zu 
essen gab, sagt in Versen: „Die niedrigste Nahrung, der 
Ausschuss des Elends, der dennoch in der letzten Ver- 
zweiflung eine grässliche und teure Hilfsquelle ist, die 
verehrungswürdige Stütze der Treue wird dem reichlich 



*) Vauvenargues, conseils a un jeune homme II. 



— 42 — 

gespendeten Golde des wohlhabenden Borgers versagt.*) 
Button selbst hat nichtsdestoweniger in seiner Natur- 
geschichte die anschaulichsten Seiten; seine Grundsätze 
wurden auch nicht allgemein befolgt. Immerhin fflhrt 
Taine an, verstiess ein Autor gegen den guten Ton, als 
er sich in einer Akademierede zu Worten wie „coiffure' 
und »voiture'' herabliess. Der Vater dieses Stils, der 
einen Orangenhain „ein von wohlriechenden Bäumen er- 
fülltes Boskett'' nennt, dürfte F^n^lon sein; wenn wir 
diesen Stil auch meist als pseudoklassisch erkannten, so 
hat er doch oft unsere klassische Literatur beeinflusst**), 
und selbst Goethe ist, trotz seiner starken Bildlichkeit, 
sein ganzes Leben lang nie völlig davon frei ge- 
worden. Die vielleicht unaristokratische Sachlichkeit des 
19. Jahrhunderts will, wieder mit Aristoteles einig, das 
gerade Gegenteil. Viktor Hugo sagt: „Ich nannte das 
Schwein bei seinem Namen. Warum nicht?" Die far- 
bige Plastik eines Theophil Gautier wurde als barbarisch 
verschrieen von denen, die das alle Umrisse verwischende 
Grau liebten, aller Exaktheit, allem Auf-den-Grund-gehen 
feind. Der letzte bedeutende Verfechter jenes unrealisti- 
schen Akademismus ist der blinde Ideologe Robespierre, 
der glücklich war, wenn er allgemeine Redensarten vor- 
tragen durfte. Wie weit ist er von dem modernen Geist 
entfernt, der sich bereits in der Enzyklopädie anzeigt, 
besonders in dem sachlichen Diderot, dem Voriäufer des 
19. Jahrhunderts. Ehe Diderot die Beschreibung der 



*) Buffon, discours sur le stile, ed. annot^e par Gg. Nicolas. 
S. 36. Paris, Garnier. 

*♦) „Der fröhliche Chor, der auf den Aesten sich wiegt." 
(SchiUer). 



I 



i' 



— 43 — 

mechanischen Gewerbe begann, erzählt d'Alembert ver- 
wunderty ^habe er ganze Tage in den Werkstätten zuge- 
bracht und selbst Hand angelegt''. Aehnlich den Sophisten, 
die der klassische Plato bekämpft, verstand er selbst 
I mehrere Gewerbe, wie die Leinwand- und Seideweberei, 

die Strumpf- und Samtwirkerei u. a. 

Jeder gut angelegte Organismus erreicht eine Periode, 
in der seine jugendlich-sinnliche Kraft ungeschwächt neben 
den Wahl- und Ordnungsinstinkten des reifen Alters bestehen 
kann. Fflr die alte französische Kultur bezeichnen die 
Namen Lafontaines und Moli^res diese Epoche, Moliöres, 
dessen Seele „rund war wie ein Apfel" (J, Lemaltre). 
Rabelais ist ein saftiger, wilder Spross, eine „.Renaissance 
ohne Schönheit"*), Voltaire ist der inventarisierende Greis, 
den man sich trotz den erhaltenen Bildern im Musäe Car- 
navalet gar nicht jung vorstellen kann und mag. Wer 
im 18. Jahrhundert Kraft und Farbe hat, Diderot, R^tif 
de la Bretonne, Beaumarchais, Choderlos de Laclos, 
Chamfort — wir müssen auch den Marquis de Sade mit- 
nennen — wendet sich bewusst von jener grau ge- 
wordenen Kultur einem neuen, bunt realistischen Zeit- 
alter zu; diese Geister sind es, die das 18. Jahrhundert 
so farbig machen und für uns fast interessanter als das 
siebzehnte. 

♦ 

Die Grösse des „ancien regime" schildert, ein wenig 
wider Willen, Montesquieu in seinem „Esprit des lois* 
(IV, 2): „Die Triebfeder alles Handelns ist die Ehre, sie 
gebietet, den Tugenden eine gewisse .noblesse", den 
Sitten eine gewisse „franchise", den Formen eine gewisse 

*) Jakob Burkhardt, Kultur der Renaissance II, 155. 



— 44 — 

Höflichkeit zu verleihen. Die wertvollen Handlungen 
werden weniger gut, gerecht oder vernünftig genannt, als 
schön, gross und ausserordentlich." Vor allem bemerkt 
Montesquieu den Widerspruch zwischen den Verpflich- 
tungen der Religion und denen der Gesellschaft, welchen 
die Alten nicht kannten (IV, 5). Der antike Jüngling da- 
gegen, fügt Voltaire in seinen Anmerkungen hinzu, „sah 
sich umgeben von Göttern, welche seine Gaben und 
Wünsche unterstützten*. Aber seine .noblesse", seine 
„franchise*", vor allem seine Höflichkeit ermöglichen dem 
„honnSte homme**, mit der Kirche und ihren, damals 
meist durch dieselben Eigenschaften gezierten, Vertretern 
lächelnd auszukommen. Wenn die Vernunft des 18. Jahr- 
hunderts diese „Hypokrisie" als Argument gegen das 
Christentum betrachtete, so dürfen wir in diesem Gleich- 
gewichthalten heute wieder lächelnd einen der reizvollsten 
Vorzüge jener Kultur erblicken. 

Taine, der in der alten Höflichkeit mehr als eine 
äussere Manier, sondern vor allem den feinen Respekt 
vor fremder Menschlichkeit erkennt, schildert den Menschen, 
den die höfische Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts 
in Frankreich hervorgebracht hat, in seinen „origines* (II, 1). 
Ich versuche eine Uebersetzung: „Sie alle sind vollendete 
Menschen der Gesellschaft, mit aller Grazie geschmückt, 
die Rasse,, Erziehung, Vermögen, Müsse und Uebung 
geben können; in ihrer Art sind sie vollkommen. Keine 
Toilette, kein Ausdruck, kein Klang der Stimme, keine 
Redewendung, die nicht ein Meisterwerk gesellschaftlicher 
Kultur wären, die destillierte Quintessenz des Erlesensten, 
was die Kunst der Gesellschaft hervorbringen kann. 
Hunderttausend Rosen, sagt man, sind nötig, um eine 
Unze jener einzigen Essenz zu machen, deren sich die 



— 45 ~ 

persischen Könige bedienen; so ist dieser Salon ein enges 
Fläschchen aus Gold und Krystall; es birgt den Gehalt 
einer menschlichen Vegetation. Um es zu füllen, war 
zuerst nötig, dass ein grosser Adel, in ein Treibhaus ver- 
pflanzt, von jetzt ab unfruchtbar nur noch Blüten trieb; 
femer, dass sich in einem königlichen Destillierkolben 
sein ganzer geläuterter Saft in einige Tropfen Wohlgeruch 
verdichtete. Der Preis ist ungeheuerlich, aber zu diesem 
Preis stellt man die ganz feinen Wohlgerüche her." 

Die enge Vollkommenheit dieser Klassik ist nicht nur 
ein französisches Werk, sie ist auch innerhalb des fran- 
zösischen Kulturrahmens bis heute das bestimmteste 
Element geblieben. Die im 18. Jahrhundert beginnende 
moderne Weltbetrachtung hat, durch die Revolution und 
die Romantik vergröbert und verwirrt, auch in Frankreich 
noch keine, den Formen des »ancien regime" ähnliche 
Festigkeit und Klarheit erlangt. 

Ich betone die Worte: die enge Vollkommenheit der 
französischen Klassik. Unsere Klassik ist weiter, aber 
unvollkommener, vor allem weniger rein: sie ist ein 
Drittel romantisch, und in Goethe schon ein Drittel 
modern. Sie besitzt den Franzosen gegenüber in Herder 
die suchende und umfassendere Sehnsucht nach gewissen 
von der französischen Klassik weg konstruierten, nicht in 
ihr System passenden Ursprünglichkeiten, in Lessing die 
unbeirrtere Kritik der Spätergekommenen, in Goethe zu 
guten Stunden den Positivismus des ganz auf die selbst- 
erlebten und geprüften Tatsachen Gestellten. Unsere 
Klassik ist jugendlicher als die französische, d. h. gerade 
ihre Vorzüge sind unklassisch, mehr romantisch und modern. 

Die Franzosen dagegen haben keine eigentliche Romantik 
gehabt. Was an Victor Hugo romantisch sein soll, ist uner- 



46 



träglich. Aber dieser triviale Menschheitspathetiker (Note 
19. Jahrhundert), dieser apokalyptische Journalist, dieser 
„Hansnarr auf Pathmos", kurz dieser; Ochse unter den 
Poeten, besitzt eine moderne Anschauungsunmittelbarkeit, 
ein sinnliches Gefühl für das Fleisch der Sprache, die ihn 
in den von seiner Dummheit unbewachten Augenblicken 
zum ersten modernen Dichter machen. 



4. Revolution und Doktrin."^) 

„Mag das Land untergehen, die Prinzipien bleiben." 
(Zeitungsphrase aus der Revolutionszeit). 

Es war nichts leichter, als die Schäden des ,»ancien 
regime *" nachzuweisen: eine Weide für unschöpferische 
Geister, die in Fülle abstrakte Systeme neuer Gesellschafts- 
ordnungen ersannen, wähnend, man könne die Ent- 
wicklung an einem von ihrem Hirn festgesetzten Punkt 
neu beginnen. 

Taine zeigt, wessen der doktrinäre Pedant fähig ist, 
wenn, wozu er meist nicht kommt, seiner Gewaltsamkeit, 
seiner Bekehrungswut, seinem Despotismus freies Spiel 
gelassen wird. In jedem Schulmeister schläft ein Henker: 
Robespierre. 

Taine nennt ihn die trockene Frucht des klassischen 
Geistes**). Er ist nicht ohne Kultur, aber er missversteht 
diese Kultur wie ein Schulmeister die Antike. Wer 
glaubt, dass das Leben „falsch", eine Formel „richtig" 

*) Vgl. die Titelanmerkung zu dem vorigen Abschnitt. 
•♦) Taine, Origines VH, Livrc IH. 



— 47 — 

sein kann, muss notgedrungen das „falsche" Leben zer- 
stören, ihm die richtige Formel applizieren wollen; anders 
raisonierende Köpfe schlägt er ab, wenn er Gelegenheit 
hat — die „gute" Sache wilFs. Robespierre rast nicht*) 
wie Marat oder Saint-Just. Er gibt sich tadellos, fast 
elegant, sein Stil hält sich in den klassischen Allgemein- 
heiten des Schulaufsatzes; er sieht nichts wirkliches und 
liebt abstrakte Sentenzen. Er hat die platte Rhetoren- 
eitelkeit: reden, um jeden Preis reden dürfen! Sonst ist 
er dem Leben gegentiber anspruchslos, 'geradezu be- 
scheiden und nüchtern. Taine meint*), ohne die Re- 
volution wäre Marat ins Tollhaus gekommen, Danton 
hätte Freibeuter, Robespierre moralisierender Philanthrop 
werden können. Besonders charakteristisch schien mir 
immer, dass er als Kind ein Musterschüler war. Wer 
hätte nicht als Knabe solche kleinen tugendhaften an- 
geberischen Robespierre im Ei gekannt! Ueberall wittert 
er Verschwörungen und Intriganten. Leute, die gut 
speisen, scheinen ihm von Lastern erfüllt. Robespierre 
verkörpert den „Ernst" in seiner ganzen starren Scheuss- 
lichkeit. Er versteht keinen Spass und guillotiniert die, 
welche seine Phrasen bewitzeln. Er ist neidisch, kann 
keinen Grossen neben sich sehen: der durch die Ver- 
hältnisse ins Monströse getriebene Schulfuchs. 

Hinter ihm steht Jean-Jacques Rousseau, sein Meister, 
der Theoretiker der Barbaren, der Systematiker der Nicht- 
mitkommenden, der Trost aller, die nichts zu wahren 
haben, der in seinen Instinkten vollkommen christia- 
nisierte Bekämpfer christlicher Dogmen. Sein Gesell- 
schaftsvertrag will einen aus dem Stegreif erfundenen 



*) Taine VII, UI. 



— 48 — 

Automaten an Stelle des langsam in der Geschichte 
geformten Menschen stellen (Taine), — im Namen der 
Vernunft! Von ihm stammt jene Theorie, dass ,,wir 
Wilde doch bessere Menschen^ sind; ein Balsam für 
alle der Kultur Unfähigen; freilich auch ein angenehmer 
Kitzel für die ganz Kultivierten. Welchen Wert aber hat 
die Gesellschaftskritik dessen, den die Gesellschaft ver- 
wirrt? ^Die einzige respektable Klasse ist die, welche 
arbeitet ** Rousseau kann nämlich arbeiten. Der Mass 
des Plebejers spricht aus seinen wohlgebauten Sätzen. 
Wieviel schärfer treffen die Pfeile des grossartigen La 
Rochefoucauld, des zarten Vauvenargues, des pikanten 
Diderot, des bitteren Chamfort Lächerlichkeiten und Leer- 
heiten jener zerbröckelnden ^soci^tä polie'S ohne dass 
dadurch der Wert eines höheren, verwickeiteren Lebens 
selbst in Frage gestellt wird. Wieviel überzeugender ist 
Montesquieu, „qui fait couler doucement les pr^jug^s'% 
wobei es nicht an Stössen von aussergewöhnlicher Kraft 
fehlt. J. J. Rousseaus Ideal der Einfachheit und Natür- 
lichkeit ist das tyrannische Ideal kleiner Leute, die, weil 
für sie „Raum in der kleinsten Hütte ist'S jeden Palast 
zerstören möchten und gerade dadurch ihre verlogene 
Unzufriedenheit mit ihrer Hütte und ihren Neid gegenüber 
dem Palast beweisen. 

Taine sagt angesichts der Aufklärung, die den Natur- 
zustand der Menschheit als das Vernünftigste preist: „die 
Natur ist nicht vernünftig, der Mensch ist von Natur toll, 
der Körper ist von Natur krank. Gesundheit ist „un 
bei accident!" Die Vernunft ist eine späte und gebrech- 
liche Errungenschaft der Seele. 



- 49 - 

5« Moderner Qeist in Prankreich« 

Nach der Gefangennahme Napoleons III. soll Moltke 
auf die Frage, gegen wen der Krieg noch weiter geführt 
werde, geantwortet haben : gegen Louis XIV. Die glänzende 
Erinnerung an das „ancien regime** war durch ein Jahr- 
hundert dilettierender Politik nicht verdunkelt worden und 
Hess die Franzosen lange Zeit die politische Welt durch 
die Brille der Vergangenheit sehen. Ihre Niederiage hat 
sie an die Wirklichkeit gemahnt; die sich festigende Re- 
publik scheint, gleich England und Italien, mehr und mehr 
in die Bahnen modern sachlicher Geschäftsführung ein- 
zulenken und alles vermeiden zu wollen, was an die Ge- 
pflogenheiten fauler Firmen erinnert: eine den Konkurrenten 
ärgernde patriotische Lärmreklame ebenso sehr, als den 
Nachbar erschreckende Abenteurerpolitik. Dennoch lebt 
der Geist des ancien regime in Frankreich mehr als sonst- 
wo im europäischen Westen; ein Teil des französischen 
Lebens ist Rokoko geblieben. 

In den klassischen Bau des ancien regime hat be- 
kanntlich schon die Kritik des 18. Jahrhunderts tiefe 
Breschen gelegt. Bonapartes berühmter Ideologenhass 
tat ein Uebriges: Frankreich wird noch einmal das moderne 
Land par excellence, nachdem es gerade das zerstört 
hatte, wodurch es bisher Europa fascinierte: den aristo- 
kratischen Lebensstil. Als wäre die gesunkene Sonne 
von Versailles eine verzehrende Wüstensonne gewesen, 
atmet das Land auf und sendet eine langgehemmte Blüte 
empor. Frankreich hat wieder wirkliche Lyriker — zwischen 
der vorklassischen Dichterplejade und Andr^ Ch^nier, 
unter der Herrschaft Malherbescher und Boileauscher 
Doktrinen ist nicht Einer zu entdecken. Frankreich 



- 50 — 

tritt das Erbe der unakademischen modernen Malerei 
von den Holländern und Engländern an; es schafft 
die moderne realistische Prosa und trägt dadurch vor 
allen Ländern zum Bewusstwerden und zur Klärung des 
ß i modernen Lebens bei, indem sich sein altes moralkritisches 
H\ I Genie mehr und mehr durch psychologische Analyse ver- 
T(^^ 's ' jungt. Langsam entwölkt sich der Rtlckblick auf das 
XM,/AiAvtAl8. Jahrhundert, in welchem man nun mehr als hie welke 
<^. ^ Fäulnis, hie nüchterne Vernunftkälte unterscheidet, sondern 
^v>* von einem neuen Lebensaspekt verwunderte Augen, in 
^ neuen Schauern zitternde Nerven, in neue Probleme ver- 
strickte Geister, kurz moderne Sehnsüchte und Ziele erkennt, 
die durch die Vulgarisierung der Revolution unkenntlich ge- 
worden waren. Das Beste, was sich von diesem neuen 
französischen Geist sagen lässt, ist, dass er zwar in französi- 
scher Erde wurzelt, von französischen Verhältnissen be- 
dingt ist, sich aber bereitwillig mit allen fremden Kulturen 
auseinandersetzt, ihre Resultate erwägt, mindestens zu 
begreifen sucht, selten ganz abweist. Das macht ihn für 
Europa wertvoll, und zwar für Europas wahre Bedürfnisse, 
während das knapp auf Versailles und Paris zugeschnittene 
Gewand des 17. und 18. Jahrhunderts zwar die Eitelkeit 
der Fremden stark anlockte, sie aber zu Hanswürsten 
werden Hiess. 

Ob der moderne Geist in Europa das Lebensgefühl 
intensiver macht, ob seine sehr fühlbaren Verwüstungen 
Uebergangserscheinungen sind, welchen endgiltigen Er- 
scheinungen sie Platz machen, werden wir um so schneller 
erfahren, als wir diesem Geist seinen Ausdruck ermög- 
lichen. Es ist gleich bedenklich, ihn aus ideologischer 
Voreingenommenheit zu hemmen, als ihn, durch veraltete 
Rhetorik entstellt, zum Glaubensartikel zu erheben. 



— 51 — 

Die Moderne ist international wie das lateinredende 
Mittelalter, mit dem Unterschied, dass nicht eine offiziell 
voraus bestimmte Doktrin alles nationale Leben verdrängt 
oder verschlingt, sondern dass das in festen Grenzen ge- 
sicherte nationale Leben stündlich den modernen Geist 
modifizieren und sublimieren hilft, soweit es sich in Formen 
äussert, die über die Landesgrenzen verständlich sind. 
Am schwersten, sollte man glauben, sei dies den an die 
Sprache gebundenen Literaturwerken, aber wir sehen die 
grössten nationalen Schriftsteller unserer Zeit, z. B. Ibsen 
und Tolstoi, das grösste internationale Interesse finden, 
obwohl gerade sie in wenig bekannten Sprachen schreiben. 
Dem abstrakten Weltbürgertum des 18. Jahrhunderts so 
fern wie möglich, gewinnen ihre so ortsbedingten modernen 
Probleme doch europäisches Interesse, während unsere 
Literatur, ausser in „Werther* und .Faust«, selbst in 
ihren unbestrittensten Vertretern wie Gottfried Keller kaum 
je das deutsche Problem zu einem Weltproblem gemacht 
hat und es der Musik überliess, deutsche Fühlweise über 
die Landesgrenzen zu verbreiten. Wenn man daher zwar 
von einer nationalen Altmodischkeit sprechen kann, so 
kann man nicht eigentlich von einer nationalen Moderne 
reden, sondern nur von der Art, wie sich der allgemeine 
moderne Geist mit einer nationalen Vergangenheit aus- 
einandersetzt. 

In Skandinavien und Russland ist das Problem ein- 
fach, es gibt zwei Lager: die Alten und die Jungen; der 
Moderne steht ausgemachter Stumpfsinn oder ausgemachte 
Barbarei gegenüber. Deutschland zerfällt in 60 Millionen 
Lager, d. h. in ebensoviele als es Einwohner hat. Hundert- 
fünfzig Jahre der verschiedenartigsten Kulturunternehmun- 
gen, zahlreiche Teilkulturen, wie z. B. die gelehrte und 

4* 



— 52 — 

die musikalische, die Zerrissenheit der politischen Parteien, 
die religiöse Spaltung, alles dies macht das Problem der 
modernen Weltanschauung bei uns so kompliziert, wie 
nirgends: wir haben Reaktionäre mit modernen Schattie- 
rungen und Moderne, die der Landeskirche treu bleiben, 
wir sehen Verbindungen zwischen Sozialismus und Christen- 
tum, zwischen Wissenschaft und Theologie, Freigeisterei 
und Mystik. In Frankreich stösst, wie in Russland und 
Skandinavien, der moderne Geist auf einen ganz be- 
stimmten Gegner; dieser Gegner ist aber kein Barbar, 
sondern er ist kultiviert, und er ist, anders als in Deutsch- 
/ I land, einheitlich, übersichtlich. Es ist der klassische 
Geist des .ancien regime'', der mit adeliger Gebärde 
moderne handanlegende SachUchkeit und die unbeirrte 
Bekennung zum Wesentlichen für banausisch erklärt. 
Deutsche, Engländer, Belgier, Holländer und Skandinavier 
können sich daher nicht genug wundern, wie in diesem 
modernen Land soziale und technische Einrichtungen und 
die schmückenden Gewerbe zurückgeblieben sind, während 
politisch, religiös und moralisch, oft mit Grausamkeit gegen 
die eigene Vergangenheit, die letzten Konsequenzen einer 
Weltanschauung gezogen werden, die modern ist, weil sie 
alle Ideologien verschmäht und weil sie sich still und 
sachlich ohne die berüchtigte Gallieremphase durchsetzt. 
Besonders wundern sich die Fremden, wie in dieser 
Republik der allgemeinen Menschenrechte das äussere 
Lehen, so weit es nicht grosser Luxus ist, in sich erbärm- 
lich bleibt und wie sich der Einzelne oft mit dem Anblick 
der freilich bezaubernden Gebärden seiner glücklicheren Um- 
gebung begnügt. Ist nun der altmodische Gegner der Moderne 
in Deutschland durch seine vielfachen, liberalen, ihn mas- 
kierenden Konzessionen versteckt und gefährlich, so liegt 



— 53 — 

die Macht des alten französischen Geistes in seiner Kunst, 
zu schmeicheln und zu verführen. Die Lebensfreude hat 
in Frankreich seit alters eine graziöse und geschmackvolle, 
ja künstlerische Tradition, während bei uns noch in den 
siebziger und achtziger Jahren auch der Wohlhabende nur 
schwer zu verfeinertem Genüsse desäusseren Lebens kommen 
konnte, wenn er innerhalb deutscher Formen blieb: er 
stiess sich an altmodischen Sitten und Anschauungen. 
Darum ist bei uns ein neuer Lebensstil, eine weitere 
Moral, eine Veränderung aller Formen so dringend not- 
wendig geworden, während sich in Frankreich auch alt- 
modisch mit Freiheit und Anmut leben lässt. Wer aber 
ein neues Haus errichtet, gibt viel radikaleren Erwägungen 
Raum, fasst viel umfassendere Möglichkeiten ins Auge, 
als jemand, der nur einen neuen Flügel anbaut. 

Darum beschäftigen die modernen Probleme uns viel 
mehr, als unsere in weiteren Konventionen glücklichen 
Nachbarn. 

Bei unserem Neubau hemmt uns nicht ein nationaler 
Stil, eher nationale Stillosigkeit. Während wir eine un- 
disziplinierte, kampfunlustige Masse in gelegentlichen 
Scharmützeln eines lästigen Buschkriegs zu bekämpfen 
haben, steht in Frankreich der Moderne ein taktisch 
sicherer, bewusster Gegner gegenüber: die sehr weite, 
aber sehr feste gesellschaftliche Moral, gegen die zwar 
im Prinzip schwerer aufzukommen ist, die sich in zäher 
Seelenruhe belagern lässt, aber im Einzelfall kluge Waffen- 
stillstände schliesst und zu verstehen gibt, dass man mit 
ihr leben kann. 

Wenn man heute je hundert Franzosen und hundert 
Deutsche auf zwei einsamen Inseln von gleicher Be- 
schaffenheit ansiedelte, ich glaube, die heutigen Franzosen 



— 54 — 

gäben selbst zu, dass die heutigen Deutschen kraft ihrer 
ungebrochenen TQchtigIceit in zehn Jahren mehr aus ihrem 
Land machen würden. Wären aber auf diesen Inseln 
erst fremde Bewohner zu bemeistem oder zu besänftigen, 
so würden in derselben Zeit auf der einen ebensoviele 
Anhänger der französischen Kultur gewonnen sein, als 
auf der andern Deutschenhasser entstanden wären. Die 
Franzosen besassen stets die Fähigkeit, ihren Geist so zu 
formulieren, dass die andern Völker etwas damit anfangen 
konnten. Darum sind sie, stets das moderne Volk, auch 
zur überzeugenden Formulierung der heutigen Moderne so 
besonders fähig, selbst, falls sich ihre ausdauernde Tüchtig- 
keit erschöpft; darum ist ihnen aber auch das Neue nicht 
so dringend nötig als den noch unverstandeneren und 
ungeformteren Völkern, die es damit eiliger haben. 

Sie können sich mit Recht ihrer durchaus nicht ver- 
staubten, blanken Kulturerbschaft rühmen; aber sie haben 
diese Erbschaft nicht sub beneficio inventarii angetreten, 
sie erbten Domänen, deren Unterhalt oft ihren Ertrag 
aufzehrt, sie müssen manche Baugelände versteuern, die 
ihnen nichts einbringen; aber €in dunkler und zäher 
Besitzinstinkt hindert sie, dies unfruchtbare Eigentum ab- 
zustossen. 

Wenn der moderne Unabhängigkeitstrieb den Einzelnen 
aus einer grossen häuslichen Gemeinschaft treibt, in der 
er als Sohn, Angestellter oder Dienstbote Teil eines 
Ganzen war, wenn er ihn in das moderne Grossstadt- 
miethaus drängt, wo er frei als Individuum^ als unbe- 
stimmtes Atom einer anonymen Menge, Wand an Wand 
mit dieser Menge lebt, so ist das eine sehr moderne Er- 
scheinung, aber durchaus kein modernes Ziel. Das Streben 



•' 



- 55 — 

geht weiter, es geht wieder nach der häuslichen Gemein- 
schaft, nur mit dem Unterschied, dass sie kleiner ist, 
dass man selbst Herr darin sein will, um sein individuelles 
Leben möglichst restlos auszugestalten. Diese moderne 
Tendenz nach restloser Ausgestaltung des individuellen 
Lebens bedarf eigentlich des eigenen Hauses für jeden. 
Um unsere Grossstädte legen sich Gürtel von kleinen und 
kleinsten Landhäusern, von denen die meisten ein selbst- 
ständiges selbstgeregeltes Privatleben umschliessen, das 
den Einzelnen entschädigen soll fflr die mechanische 
Geistlosigkeit moderner Berufe. Anders in Paris: zwar 
ziehen sich wohlhabende Bürger gern in die friedliche 
Bannmeile zurück; aber ein überraschend lahmer, schwer- 
fälliger Vorortverkehr beweist, dass Beamte, Techniker, 
Kaufleute in den grossen Stadtmiethäusern leben. Ich 
glaube die Ursache in engem Zusammenhang mit dem 
Charakter des Volkes und seiner Einrichtungen zu finden: 

Wie der Hellene nach Leuktra und Chaeronea, nach- 
dem das Blut alter Gemeinschaften, durch den Boden 
bedingter Gruppen, zersetzt war, sucht der moderne 
Mensch den Schwerpunkt des Daseins im Privatleben, 
für dessen Werte ihn kein Rang, keine Repräsentation 
entschädigen kann. Darum wähnt er oft, keiner gesell- 
schaftlichen Konventionen zu bedürfen und ist den er- 
erbten häufig Feind. Gerade die Besten wandten sich 
im späten Hellas vom öffentlichen Leben ab, in dem sie 
nicht mehr die persönlichen Befriedigungen finden zu 
können glaubten, wie in der alten, unabhängigen Polis. 

Nur das Prinzip heimatlicher Selbstverwaltung ver- 
mag schöpferischen Naturen das öffentliche Leben reiz- 
voll zu machen. Die bureaukrätische Zentralisierung 
nimmt der Verwaltungstätigkeit die befriedigende Mög- 



— 56 — 

lichkeit individueller Betätigung und sucht fOr die geist- 
lose Langweiligkeit durch die Prämie eines hohen gesell- 
schaftlichen Ranges zu entschädigen. So wird das 
öffentliche Leben aus fruchtbarem Wirken eine „Karrifere", 
die gerade viele unfruchtbare Geister anzieht. In Deutsch- 
land gehen darum oft in unbeirrter Stätigkeit Kaufleute, 
Techniker, Gelehrte, Künstler ihrer Arbeit nach, wenig 
beschäftigt mit Politik, zu deren öffentlicher Beurteilung 
sie sich nur ausnahmsweise qualifiziert glauben. Dafür 
sind die, durch die Blicke der Gebildeten nur schlecht 
beaufsichtigten, Minister und Diplomaten da, die uns 
deshalb in der letzten Zeit unverhofft in so gefährliche 
Gewässer steuern konnten. Die Politik, ursprünglich die 
einzige nicht banausische Beschäftigung, ist ein zünftiges 
Fach „gelernter** Leute geworden, wie das der Schuster, 
Brauer oder Fachgelehrten. 

Auch in dem ganz zentralisierten Frankreich ist diese 
dem Privatleben und der Familie zugekehrte Tendenz heute 
fühlbar, aber ihr steht in der Hauptstadt eine stärkere 
gegenüber. Die dem Volkscharakter entsprechende, leicht 
sich ändernde Politik verheisst viel mehr Individuen ab- 
wechselnd die hohe Befriedigung, einmal persönlich und 
schöpferisch an der Regierung teilzunehmen und lockt 
alle Talente aus der Provinz herbei^ während bei uns 
politische Wirksamkeit nichts anderes ist, als die Regierung 
sekieren, ohne die Hoffnung, es selbst besser machen zu 
dürfen, selbst wenn man das Zeug dazu hat. Da keine 
Privilegien bestehen, trägt jeder Student der Rechte, jeder 
angehende Journalist ein Ministerportefeuille in der Tasche, 
so wie der napoleonische Soldat den Marsch allstab. Dazu 
kommt die politische Rolle, welche die Opposition spielt; 
Parlament und Presse sind wirklich Mächte, an ihren 



— 57 — 

regierungsfeindlichen Vertretern haftet kein gesellschaftlicher 
Makel. Der bissigste Pamphletist oder Advokat kann 
morgen Minister sein. Das lässt keine ideologische 
Spekulation aufkommen, die nur in der Tatlosig- 
keit gedeiht. Wenn diese Möglichkeiten hauptsächlich 
das Strebertum ermutigen, so locken sie doch auch 
schöpferische Naturen an, und wir sehen nicht jenes 
Dilemma zwischen GesinnungstUchtigkeit und Leistungs- 
tfichtigkeit, das in Deutschland bekanntlich so leicht die 
Talente in die Opposition treibt, falls sie nicht lieber 
— politisch neutral — ihre Kraft dem interessanteren und 
fruchtbareren Betrieb einer modernen Bank- oder Industrie- 
unternehmung widmen. 

Das Privatleben ist daher in Paris immer geringer 
geschätzt worden als jn Deutschland, das niemals ein 
fruchtbare Naturen verführendes öffentliches Leben besass 
und darum frühzeitig die Individualisierung des persön- 
lichen Daseins begünstigte. Und wenn auch in Frank- 
reich die moderne Wurzellosigkeit der ohne Hoffnung 
aus allen Gruppen gelösten Individuen, wenn die unbe- 
friedigenden mechanischen oder schablonenhaften Tätig- 
keiten ihres Berufs Viele immer resignierter oder fieber- 
hafter Entschädigungen im individuellen Familien- und 
Liebesleben suchen heissen, so stürzt sich doch ein weit 
grösserer Teil der Bevölkerung, wie in Deutschland, in 
die Oeffentlichkeit und betrachtet Ehe und oft auch Liebe 
als eine konventionelle, dem einen Ziele des Herauf- 
kommens dienende Angelegenheit. 

Darum ist die französische innere Politik so bewegt, 
das öffentliche Leben so reich an wechselnden Gebärden ; 
oft kommen bedeutende Köpfe zu Wort. Und so schlecht 
meist auch der Geschmack dieser heraufgekommenen 



— 58 — 

Gerber und Kfifer sein mag, es besteht kein absichtlicher 
Gegensatz zwischen der offiziellen und der Gedanken- 
welt des Landes. 

Das Leben ist an die Hauptstadt gebunden. Keiner 
will in den entscheidenden Augenblicken abwesend sein. 
Die Strasse und das Cafä vermisst man nicht gern; dazu 
kommt vielleicht die Halbwelt, wo man ähnlich, wie einst 
am Hofe von Versailles, leicht vergessen wird und nur 
durch fortgesetzte persönliche Anwesenheit in Gnade 
bleiben kann. 

Diese grösseren Aeusserungsmöglichkeiten schützen 
gleichzeitig den Franzosen vor gewissen ärgerlichen Ent- 
gleisungen. Es fehlen fast ganz jene Wanderprediger, 
Kunstmissionare, Naturapostel, Weltverbesserer und Re- 
former aller Art, welche die Mittelmässigen verwirren 
und renitent machen, dadurch, dass sie irgend eine im 
Einzelfall oft richtige moderne Erkenntnis zum Evangelium 
pathetisieren und fälschen. Der gute Geschmack empört 
sich in Frankreich gegen die Hässlichkeit und sie werden 
schnell lächerlich. 

Das Leben ist repräsentativer, gesellschaftlicher und 
konventioneller geblieben. Während sich unsere feinere 
Geselligkeit zu sehr in sich selbst zurückzieht, ästhetisch 
wird, entstehen in Frankreich immer wieder grosse Salons, 
die sich, wenn auch nicht mehr um Könige oder Prinzen,, 
so doch um die Führer politischer, wirtschaftlicher, reli- 
giöser, geistiger Gruppen krystallisieren. Alle die Laster 
des „ancien regime'' mögen dabei wieder zum Ausdruck 
kommen: Protektionswesen , Nepotismus , Frauenein- 
mischung und dergleichen. Aber so lange nicht Talent 
und Leistung die einzig ausschlaggebenden Gründe zur 
Besetzung von wichtigen Aemtern sind, wie es heute 



— 59 — 

in grossen Privatbetrieben längst Regel ist, so lange 
braucht man sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, 
was verderbter ist: wenn ein Idiot der Salongunst oder 
seiner staatserhaltenden Qesinnungstüchtigkeit eine Stellung 
verdankt. 



-Und dann hatte ich ein schwarzes 
Königreich, das kein Königreich ist: denn 
es ist voll von Königen, die wir für 
Könige halten und die es verdunkeln 
mit ihren Werken und Befehlen. Und 
ein dichter Regen benetzt es Tag und 
Nacht" 

Marcel Scherb, le livre de Monelle. 

So wenig objektiv wir zu unserer Zeit stehen, eines 
glauben wir zu wissen: sie unterscheidet sich mehr von 
allen Epochen zwischen dem Mittelalter und der fran- 
zösischen Revolution, als sich diese untereinander unter- 
scheiden. Jede Zeit war modern gegenüber einer früheren, 
aber heute ist dieser Begriff absoluter, er bedeutet, wenn 
nicht eine andere Weltauffassung (davon sind wir weiss 
Gott noch fem), so doch eine andere Weltbetrachtung, 
den entschiedenen Willen, die letzten Folgen zu ziehen 
aus allen den Erfahrungen und Entdeckungen, die seit 
der Renaissance die Citadelle mittelalteriicher Ueber- 
lieferungen erschüttern, er bedeutet den Entschluss, sich 
durch keine Palliative und Kompromisse täuschen zu 
lassen. 

Seit Napoleon I. ist das zentralisierte Frankreich 
noch mehr ein Beamtenstaat wie Deutschland. Das ab- 
strakte, unverantwortliche Ungeheuer Staat ist souverän, 
die französische Sprache hat, wie Treitschke bemerkt. 



/ 



— 60 — 

nicht einmal ein Wort fOr Selbstverwaltung, dagegen haben 
die andern Sprachen ihr das Wort „souverän*' entlehnt 
Dem Staat dient ein Heer entwurzelter Menschen, die 
nirgends heimisch, aberall hin versefebar, an ihre Arbeit 
durch kein konkretes Interesse gebunden sind, am wenig- 
sten durch Liebe zu der Landschaft, deren Bedarfnissen 
ihre Arbeit gerade dient. Taine nennt sie einmal „des 
nomades malfaisants' und vergleicht sie den voraber- 
gehenden Gästen einer Table d'höte, von denen jeder so 
viel verzehrt als er kann. Sie hassen sich gegenseitig, 
aufgereizt durch die wechselnden fremden Gesichter, 
die sie gezwungen sind, um sich zu ertragen, die dem 
eigenen Spiegelbild so fatal ähnlich sind. An einer andern 
Tafel sitzen die durch Handel und Industrie Reichen: 
kahne Unternehmer, schlaue Händler, träge Erben, ein 
formloses Gewimmel in Gewohnheit und Sitte erst halb- 
sicherer Typen. 

Das unsägliche Elend dieser oft alle Lebenswerte 
missverstehenden „Table-d'hötegäste" wohnt in Frank- 
reich, dem modernen Land, - spasshaft genug — in 
Formen Louis XV. Der Reiche versucht in alten Schlössern 
ä la Versailles zu leben, und es versteht sich, dass er die 
Kirche statzt. 

Auch in Frankreich bargert sich freilich ein gewisser 
nordischer und amerikanischer Stil und Komfort ein. 
Man fährt auf deutschen Automobilen, spielt Golf, gibt 
j five o'clocks zwischen Möbeln modern style, die man 
! hasst; aber der wahre französische Stil der grossen Salons, 
; Theater und eleganten Restaurants bleibt der Louis- 
j quinzestil, sowie nach den dorischen und jonischen Formen 
j der korinthische Stil unwandelbar das antike Leben bis 
> an sein Ende beherrscht, oft schablonenhaft, albern. 



— 61 — 

äffisch» aber unwandelbar wie nur das auf tiefen Fun- 
damenten Ruhende. 

Was haben diese so modernen Table d'hötetypen mit 
jener modernen Weltbetrachtung zu tun, die sie unbewusst 
notwendig machen ? Wie viele ausser ihren genialsten Ver- 
tretern wissen oder ahnen etwas davon? Wie viele bekennen 
sich offen dazu? Wie viele schmücken sich noch mit den 
Flittem einer durch sie selbst stündlich negierten Zeit? 

In Deutschland bestehen die Versuchungen einer 
glänzenden Vergangenheit und grossen Oeffentlichkeit 
nicht; so können aus den neuen Lebenskonstellationen, 
unbeirrter durch formale Ueberlieferungen, neue Formen 
werden. Gleichzeitig haben wir, individueller und weniger 
gesellschaftlich veranlagt, nicht so sehr das Bedürfnis, 
in weithin sichtbaren Formen zu leben, und gerade die 
schon ausgesprochen modernen, sachlichen Naturen finden 
oft in der bei uns fiberlieferten Einfachheit der Sitten 
einen harmonischeren Ausdruck ihrer selbst, als im deko- 
rativen ijlanz eines ihnen von Haus aus ungewohnten 
Salons; falls sie aber einen Salon brauchen, so besteht 
die Neigung, ihn nicht mehr „ancien regime" einzurichten. 
Alles dies und eine gewisse angeborene Insichgekehrtheit 
dämpft bei uns etwas die allzu rücksichtslose Ausbreitung 
der Individuen in den Raum, macht deutsches Strebertum 
zu einem harmloseren Bruder des französischen „Arri- 
vismus", begünstigt das Ausreifen gewisser Gedanken 
im Einzelnen, verzögert aber quietistisch die gesetzliche 
und moralische Regelung der praktischen menschlichen 
Beziehungen; so konnten wir in den Bestimmungen über 
Connubium*) und Commercium**) nicht nur hinter den 

*) Siehe die §§ über Ehescheidung im n. b. G. 
**) siehe Börsengesetz. 



— 62 — 

Franzosen zurückbleiben, es ist sogar ein ROckschritt 
gegen ein bereits von uns erreichtes Niveau in den letzten 
Jahren feststellbar. 

Der Unverwüstlichkeit einer glänzenden und zähen, 
die Begierden stachelnden gesellschaftlichen Tradition 
entspricht in Frankreich eine viel grössere Heftigkeit der 
auf stillvollen Lebensgenuss zielenden Instinkte. Eine 
Jahrhunderte alte Ueberlieferung hat das Volk erfahren 
lassen, was das Leben für den unter die Kerzenhelle 
seiner Tafeln Geladenen sein kann. Und da der Genuss 
meist künstlerisch verschönt erscheint, regt er zugleich 
die . verfeinertsten Instinkte auf. Indem nun Frankreich 
das verführerische Gaukelbild eines Grandseigneurlebens 
grossen Stils bewahrt, gleichzeitig aber die Schranken 
niederreisst, die es früher der Menge verschlossen, wird 
eine unerhörte Begehrlichkeit aller gezüchtet. Napoleon IIL 
suchte das Volk zu gewinnen, indem er systematisch den 
Luxus vulgarisierte, Spiegelcaf^s und purpurgoldne Theater 
aus billigem Material in den Faubourgs errichten liess» 
Die Bildung neuer Lebenswerte wird verhindert, in- 
dem die Trümmer der alten dem allgemeinen Heisshunger 
preisgegeben werden. Die modernen Bestrebungen werden 
durch reichliche Trinkgelder abgefunden. Aus sozialen 
Neugestaltern werden gut gehaltene Lakaien der alten Mode,, 
die, falls sie Glück haben, ihre Herren beerben, was be- 
quemer ist, als neu zu schaffen: der Emporkömmling 
anstatt des modernen Menschen. — 

So bietet Frankreich heute das bunteste, fieberhafteste,, 
herzzerreissendste und zugleich pathetischste Bild der mo- 
dernen, allen Völkern bekannten Lebensunrast. Alle Formen 
der Vergangenheit sind trotz ihrer stets neuen Vergoldung 
brüchig, alle wirklichen Gruppierungen trotz aller Maske- 



— 63 - 



raden zerstört. Auch für denMittelmässigen ist ein noch nicht 
dagewesenes Mass persönlicher Freiheit möglich. DerSelbst- j >r 
ständigkeitstrieb ist grenzenlos. Alle beamtenmässigen 
Stellungen mit unbeaufsichtigter Freiheit nach Geschäfts-! 
schluss sind überlaufen. Dagegen sind gute Dienstboten 
noch schwerer zu erhalten wie bei uns und stellen viel 
bedeutendere Ansprüche, obwohl sie sich mit dunkeln 
Küchen und Verschlagen zum Schlafen zufrieden geben. 
Und dieser Selbständigkeitstrieb ist ganz abstrakt, um 
seiner selbstwillen da, ohne eigentliche Betätigungsmög- 
lichkeit, ohne Kraft, ohne die Bedienung durch einen 
guten Intellekt; oft nur prahlerische Disziplinlosigkeit auf 
Grund der allgemeinen Menschenrechte. Man sieht ihn 
auf Schritt und Tritt versagen oder sich gegen sich selbst 
kehren und Abszesse bilden, die in Form von allerlei 
„faits divers' aufbrechen: Mesalliancen, Liebestragödien^ 
niederträchtige Eheskandale, feige Bankerotte werfen diese 
souveränen Individuen grausamer durcheinander, als es 
ein legitimer Tyrann könnte. Denker und Betrachter er- 
kennen die Trostlosigkeit solchen Daseins, alle Zeitungen^ 
Romane und Theaterstücke sprechen davon, aber die 
Klugen wissen: es geht nicht zurück, man kommt nicht 
herum um das Leben, man muss hindurch. Wohin führt 
es: in ferne lachende Ebenen oder in den Tod? 

Immer und immer wieder vergoldet die alte gallische 
Fröhlichkeit dieses Dasein, aber gleichzeitig sucht ein 
eisiger „ennui* es mit seinen Leichentüchern zu umhüllen. 
Der ,ennui*' ist nicht einfache Langweile, sondern von 
Aerger darüber durchtränkte, dass nie was Rechtes ge- 
schieht. Wie früher der Weltschmerz, erfüllt er die Seelen 
der modernen Dichter, wenigstens der französischen, 
Jules Laforgue sagt: «Wenn einem alles zuwider ist^ 






— 64 — 

ausser sich in sich selbst zu verkriechen, an einem Sonn- 
tag, und auf das Geräusch der Strasse zu hören, und 
wenn man, so in sich selbst verkrochen, nur noch so viel 
Leben in sich hat, dass m^n seinen einzigen Gast nicht 

ervrxu^i Sieht, nämlich den Tod — das ist der „ennui*. Wirklich, 
— an diesen grauen Pariser Nachmittagen mit ihrem faden 

Licht kann er zur Besessenheit werden. Er zittert in den 
verdriesslichen Frauenstimmen, die scharf aus den Läden 
und Buden der Innenstadt dringen, er liegt über den ver- 
kniffenen Lippen der Damen, die aus den grossen Geschäften 
der rue de la Paix und Rue Royale in die nahen tearooms 
eilen, nur schwer weicht er aus den sich langsam ftlllenden 
rot und goldnen Theatern und music-halls, und er kauert 
wieder im Rinnstein der bläulich sich erhellenden Pariser 
Morgenstrassen. In irgend etwas mtissen diese Menschen 
gegen den Sinn des Lebens sündigen, sonst könnte nicht 

jtuv.4>l das Miasma des eoüui aus allen Ritzen steigen. Es ist 
nicht etwa ein Produkt der Grossstadt. Im Gegenteil, 
man flieht vielleicht vor ihm in die Grossstadt, denn in 
der biederen, sittenreinen Provinz heftet sich das Gespenst 
noch zäher in die sauberen, regelmässigen Strassen, um 
die aufreizenden öffentlichen Monumente und die un- 
tadeligen Bürgerhäuser. 

Und dennoch: kaum ertönen in den Pariser Abend- 
strassen die zermalmenden Rufe: L'Intransigeant — La 
Presse — Paris-Sport, so steigt Festlust in Jedem auf. 

^.Ow-r Das Diner ist eine grosse Angelegenheit in Paris. Ob 
man in die teuren Restaurants oder in die kleinen volks- 
tümlichen Bouillons tritt: der Stil ist derselbe, nur das 
Material unterscheidet sich. Zwischen hellen Spiegel- 
wänden die diskrete Lustigkeit von Leuten, die sich's 
gerne wohl sein lassen, aber daran gewohnt sind und 



— 65 — 

kein Aufhebens davon machen. Den Mittelpunkt bilden 
bunt gekleidete, sieghafte Damen und Dämchen. Es 
werden farbige Hors d'oeuvres aufgetragen, dann Fleisch- 
und Gemüsegänge, die nach bekannten Persönlichkeiten, 
besonders der Diplomatie und der Musik, benannt sind: 
Cambacärös, Talleyrand, Meyerbeer, Rossini. Zwei 
Desserts, oft in kleinen TOpfchen, Büchsen oder Papillotten 
serviert, an Buntheit mit den Hors d'oeuvres wetteifernd. 
Zum Schluss der unerlässliche Kaffee, der die Geister des 
leichten, prickelnden Weins mit warmen Fluten besänftigt. 
Für diese Genüsse zahlt der Eine 22 sous und denkt mit 
Musset: qu'importe le flacon, pourvu quMl donne ivresse, 
ein anderer lässt sie sich ebensoviel und mehr Franken 
kosten. 

Ist dieses Leben modern? Als nach der Revolution 
die Emigranten zurückkehrten und ihre Besitztümer zer- 
stört sahen, waren die berühmten Bankette des 18. Jahr- 
hunderts nicht mehr möglich. .Traiteurs*', oft frühere 
Küchenchefs in adligen Häusern, begannen Restaurants 
zu Offnen, in denen man gegen sofortige Barbezahlung 
die alten Tafelfreuden finden konnte. Die Mode griff 
um sich und bald entstanden Restaurants für alle Börsen, 
im Stile der ersten Vorbilder. Dieser Stil ist der Stil der 
Spiegel: Louis XV. Das französische Diner wäre nicht, h 
was es ist, in gothischen oder neuenglischen Räumen. 1/ 
Es gehören Kandelaber und guirlandentragende Putten 
dazu. Hier ist kein Platz für das .altdeutsche'' Bierlokal, 
den gewölbten Weinkeller; auch automatische Selbstbe- 
dienung, alkoholfreie und vegetarische Restaurants, aSrated 
breadcompanies u. dgl. können sich nicht einbürgern. 
Nur das american bar mit seinem modernen Lakonismus 
findet Gunst und verdrängt die alten d^bits. 

5 



— 66 - 

Die Modernität des französischen Geistes verändert 
nicht oder nur langsam die traditionellen Einrichtungen 
und Formen. Wer von Deutschland nach Paris kommt, 
um etwas Neues zu sehen, der wird oft enttäuscht sein; 
wer etwas Schönes, nicht selten Bezauberndes, stets 
Interessantes sehen will, der kann ruhig noch jedes Jahr 
einmal die Vogesen Überschreiten. 



Zweites Kapitel. 
Gesellschaft und Moral. 



Sie stellen die Logik in den Dienst 
der Leidenschaft. 
(Ausspruch* Cavours über die Franzosen.) 

(1. Beziehungen zu Geld und Luxus; 2. Künstlichkeit und 
Natur; 3.Impressionistische Moral; 4. Gesellschaft und Einzel- 
wesen; 5. DieMoralität des Theaters; 6. Skepsis und Schein.) 

I. Beziehungen zu Geld und Luxus. 

In der Gesellschaft muss man den Anschein 
haben, als lebe man von Ambrosia und kenne 
nur edle Beschäftigungen. Die Sorge, das Be- 
dtlrfnis, die Leidenschaft existieren nicht. Mit 
einem Wort: was man die grosse Welt nennt, 
leistet sich im Augenblick die schmeichlerische 
Illusion, iii einem ätherischen Zustand zu sein und 
das mythologische Leben zu atmen. Darum stösst 
jede Heftigkeit an, jeder Schrei der Natur, jedes 
wahre Leiden, jede unüberlegte Vertraulicnkeit, 
jedes offene Zeichen der Leidenschaft; sie geben 
einen Misston in dieser zarten Umgebung und zer- 
stören im Augenblick das Werk der Gesamtheit, 
den Wolkenpalast, die verblüffende von der 
Uebereinstimmung Aller aufgebaute Architektur. 

. . . Ein improvisiertes Kunstwerk . . . ein 
Fest des Geistes und des Geschmacks. . . . Eine 
Form der Poesie « . . verwirrte Erinnerung an 
das goldene Zeitalter. . 

(Amiel, jonmal intime.) ^»jy 2d^ 

Wenn sich ein Franzose aus andern, als religiösen 
Gründen aus der Gesellschaft zurückzieht so geschieht 

6* 



— 68 — 

es meist unfreiwillig oder vorübergehend, jedenfalls immer 
in stetem Hinblick auf sie, z. B. um etwas von ihr ver- 
gessen zu lassen oder um sie bei seinem Wiedererscheinen 
mit einem >Verk um so mehr zu verblaffen. Welt und 
Gesellschaft sind gleichbedeutend: le monde. Wir da- 
gegen kennen ein dauerndes weltliches Einsiedlertum, 
ausserhalb der Gesellschaft, ohne jegliches Interesse an 
ihr, und dennoch irdischen Dingen zugekehrt: der 
Forschung, dem Schaffen, oft nur einer Liebhaberei wie 
Obst- und Blumenzucht; vielleicht nur im Interesse des 
persönlichen Behagens im kleinen häuslichen Kreise oder 
einer Marotte oder eines Sports. Die Gesellschaft gibt 
uns keine dauernden Befriedigungen. 

Ffir den gebildeten Franzosen ist der .monde'' eine 
Notwendigkeit. Ist] er darin geboren, so sucht er seine 
Stellung zu verteidigen, zu festigen oder zu erhöhen. 
Ist er ohne , Geburt* oder ist seine Stellung schwankend, 
so genügen ihm nicht Verdienste im kleinen Kreis oder 
der Rang, den der Beruf an sich gibt. Alles das sind 
nur Stufen, die ihn hinaufführen können. Es gilt durch- 
aus nicht für streberhaft, an den Pforten der Gesellschaft 
auf Einlass zu warten. Die Mutter, die ihrem Sohn, 
selbst durch etwas zweifelhafte Mittel, den Weg bahnt, 
besonders zu dem die gesellschaftliche Stellung ent- 
scheidenden Ereignis, zu einer , schönen^ Heirat, ist eine 
stehende Figur der französischen Literatur: Madame de 
Cöran in »Die Welt, in der man sich langweilt", Madame 
de Tauzette in A. Dumas' Denise, Madame de Genis in 
Becques' Corbeaux; auch Madame Moreau in Flauberts 
ftddvLCsAion sentimentale* gehört hierher. 

Bei uns geht ein junger Mann allein seinen Weg, 
der ihm durch Examina bis in die kleinsten Strecken 



— 69 — 

vorgeschrieben ist. Eine durch seine Heirat bedingte 
gesellschaftliche Stellung, getrennt vom beruflichen Rang, 
gibt es in bürgerlichen Kreisen seltener. Die einzelnen 
Klassen leben sich noch zu fern, als dass in dem Mass 
wie in Frankreich persönliche Einflüsse von der einen in 
die andere stattfinden könnten. Journalisten, Abgeordnete 
und Grosskauf leute sind ausserhalb ihrer Berufssphären 
keine Mächte. Statt jenes gesellschaftlichen Grossbetriebs 
der für den Sohn ehrgeizigen Mutter kennen wir die 
verschämte Hausindustrie der rührenden und arg ver- 
höhnten Ballmama, die der mitgiftlosen Tochter den Gatten 
fängt. Solche Bemühungen wären in Frankreich nicht 
lohnend. Dem armen Mädchen bieten sich sehr wenig 
Möglichkeiten einer standesgemässen Ehe (d. h. mit 
Dienstboten). Lieber aber, als die Magd eines Mannes 
zu sein, zieht sie vor, falls sie ein bischen hübsch und 
klug ist, »seine Herrin" zu werden: .maitresse" ist kein 
Schimpfwort im Französischen, sondern ein Ausdruck der 
Huldigung. 

Die Stellung in der französischen Gesellschaft be- 
dingt, abgesehen von gewissen persönlichen Eigenschaften, 
denen gegenüber unsere demokratische Zeit von Jahr- 
zehnt zu Jahrzehnt anspruchsloser wird, ein gewisser 
Wohlstand, für deutsche Begriffe sogar Reichtum. In 
der Geldfrage hat man die Tradition des »ancien regime'' 
trotz dem Napol^onischem Interregnum der Sparsamkeit 
gewahrt, d. h. diese Frage darf vom homme du monde 
nicht gestellt werden, für ihn ist das Geld keine Frage. 
Es muss da sein, wenigstens muss es so scheinen. 
„Denn wer war das Idealbild der höheren Stände?" fragt 
Treitschke, ,,der Graf Monte Cristo, das Lieblingskind 
der Muse des harmlosen Fanfaron Alexandre Dumas 



— 70 - 

— der vollkommene Mann, der immer eine Million als 
kleine Mfinze in der Westentasche ffihrt.'' 

Die sozial-wirtschaftliche Betätigung der Grossen vor 
der Revolution beruhte auf zwei Prinzipien: Almosengeben 
und sich lächelnd bestehlen lassen. Der grand seigneur 
rechnet nicht mit seinem Lakai: er bezahlt ihn und nennt 
ihn vergnügt einen Spitzbuben. Der Ehrgeiz, selbst in- 
telligent und haushälterisch zu sein, das Prinzip, sich 
nicht übers Ohr hauen zu lassen, ist modern und beruht 
auf der Annahme der allgemeinen Gleichheit; auch in dem 
Lakaien, Kellner oder Kutscher erblickt man heute einen 
Menschen, d, h. Seinesgleichen, den man einer Aus- 
einandersetzung würdigt. Der Hofhalt Ludwigs XVI. 
kostete jähriich 25 Millionen. Der Morgenkaffee mit 
einem Brötchen wurde dem König für jede Hofdame mit 
2000 Francs jähriich berechnet, die tägliche Fleischbrühe 
seiner zweijährigen Schwester mit 5200 Francs. (Taine). 
Die geringste Beanstandung dieser Summen hätte für 
äusserst unköniglich gegolten. Napoleon I. berechnete 
die Unkosten seines Lebens im Detail wie ein guter 
Kaufmann oder Hausvater und lebte mit drei Millionen 
ebenso prächtig, als seine königlichen Vorgänger. Aber 
Napoleon war kein Franzose und kein grand seigneur. 

Um den Mechanismus, der dem grand seigneur sein 
Geld verschafft, kümmert sich die Gesellschaft nicht, so 
lange der Mechanismus unsichtbar bleibt Wird er sicht- 
bar, so entsteht bisweilen der Skandal. 

Die heutige französische Gesellschaft empfängt ihre 
Mittel nicht mehr von leibeigenen Bauern aus dem Ertrag 
der Güter, ihre Einkünfte fliessen aus Handel, Industrie 
und Spekulation. Im Club und auf den Schlössern aber 
spielt man den grand seigneur und sucht womöglich 



— 71 — 

für die Tochter einen mit der Partikel versehenen 
Schwiegersohn. Man kann sich die Buntscheckigkeit 
einer solchen Gesellschaft vorstellen, die aus Empor- 
kömmlingen und verkrachten Adligen besteht. Der in 
der Mittelmässigkeit und Hässlichkeit geborene »grand 
bourgeois''» welcher im Mittag des Lebens die Kultur 
und die Eleganz entdeckt, ist eine beliebte Roman- und 
KomOdienfigur geworden. Der Mangel eines Überlieferten 
aristokratischen Lebensstils macht solche Anomalien bei 
uns seltener, vor allem weniger allgemein und auffällig« 

Man hat den französischen Kapitalismus besonders 
gierig genannt. Der Ausdruck ist falsch. Nirgends 
ist das Geld mehr Mittel zum Zweck als in Frankreich. 
Dieser Zweck ist nur viel kostspieliger in einem Land, 
wo eine gesellschaftliche Tradition sofort zum grossen 
Stil des äusseren Lebens verführt. Freilich: dadurch 
wird die Jagd nach dem Geld in Frankreich, wie in keinem 
andern europäischen Lande, sichtbar, nirgends wird sie 
so gern entschuldigt, denn nicht das Geld ist gemeint, 
sondern der grosse Stil des Daseins; es gilt weniger, 
die alten Schlösser in vielhundertjährigen Parks und das 
weisseste Weiberfleisch zwischen köstlichen Spitzen und 
Geweben, sondern: aus der Mittelmässigkeit herauszur 
kommen, zu nichts „nein* sagen zu müssen. 

Die ungesellschaftlicheren Germanen können leichter 
in mittlerem Wohlstand an allen ihnen erstrebenswerten 
Annehmlichkeiten der Zeit teilnehmen: ein eigenes Haus 
besitzen, seine Kinder gut erziehen und ihnen durch ihr 
Erbteil die Unabhängigkeit in der Berufswahl lassen, einige 
Wochen jährlich See- oder Gebirgsluft in bequemen 
Hotels, seine Freunde anständig bewirten können, das 
genügt uns allenfalls, die wir weniger , Passionen'' haben. 



— 72 — 

Darum lohnt es sich, In Deutschland den Komfort auch 
kleinen Börsen zugänglich zu machen: hygienische Woh- 
nungen, Wasserleitung, elektrisches Licht, Zentralheizung 
begegnen viel stärkerer Nachfrage. In Frankreich lebt 
man unkomfortabel, ungesund, mittelmässig oder als grand 
seigneur. Mit einem kleinen oder mittleren Vermögen ist 
wenig anzufangen. Viele ziehen vor, es zu verschleudern 
und damit ein paar Jahre wenigstens als grand seigneur 
zu leben. Sein Kapital unangetastet lassen, lohnt sich in 
Frankreich erst bei einem grossen Kapital, zumal man 
sich mit viel geringerer Verzinsung als in Deutschland 
begnDgt Unsere Kaufleute und Industriellen warten leicht 
mit dem Luxus, bis sie vierzig oder fünfzig Jahre alt sind 
und ihn von ihrem Einkommen bezahlen können ; der junge 
Akademiker bewahrt sich gern ein kleines Erbteil für eine 
italienische Reise oder dgl. Unsere Familiensöhne werden 
anfangs fast immer knapp gehalten. Ein Studentenwechsel 
von monatlich 500—600 Mk. gilt als sehr hoch, selbst 
für Millionärssöhne; denn die grosse Cocotte, soweit sie 
existiert, ist bei uns mehr für alte Herren da, der junge 
Mann, auch der reiche, hat sein »Mädel', das ihm sicher 
mehr Spass macht und ihn viel weniger kostet. Bei 
Maxim's aber tollt die Jugend und die Banknoten flattern 
wie rosige Vögel aus ihren Taschen. 

Solange er rechnen muss, hält sich der Franzose 
nicht für reich, so wie der keine kräftige Gesundheit hat, 
der seine Verdauung merkt oder irgendwie vorsichtig mit 
seinem Körper umgehen muss. Dennoch kann man den 
Franzosen keinen Verschwender nennen. Ausserhalb der 
Sphäre des Luxus ist er sachlich und kaufmännisch; und 
wie viele Provinzialen kommen jährlich nach Paris mit 
einer genau bestimmten Summe in der Tasche, um einmal 



— 73 - 

das grosse Leben zu kosten, ohne zu rechnen und zu 
sparen, und dann wieder, nach Verbrauch der Summe, 
nüchtern in ihr Berufsleben zurückzukehren, geduldig 
Obligation auf Obligation zu legen, bis für die Tochter 
die Mitgift beisammen ist. 

Diese Sitten sind es, die in Paris das Vergnügen 
teuer machen. Man ist umlagert von maskierten Bettlern 
aller Art, Individuen, die Kutschenschläge Offnen, Gänge 
machen wollen , Gelegenheitsmachern , Ouvreusen und 
Placeusen, die unter transscendentalen Vorwänden in'zwar 
kleinen, aber sich schnell summierenden Beträgen die 
Geste des grand seigneur besteuern. Dazu kommen 
Speisekarten ohne Preise, Kellner, die Gerichte, welche 
man nicht oder nicht so bestellt hat, in der Erwartung 
auftragen, dass man, um kein Aufsehen zu machen, sie 
nicht zurückweisen wird, und nicht zum wenigsten jene 
Damen, für die das Geld ein Aphrodisiacum ist. Nur die 
ganz teuren Plätze in den Theatern sind gut, nur die 
erste Klasse ist in den Eisenbahnen dieser Republik erträg- 
lich, ausser den Fiakern sind alle Transportmittel so er- 
bärmlich, dass man sie keiner Dame anbieten kann. Trotz 
allem ist der Pariser Luxus nichts weniger als unsolid. 
Geringe Ortskenntnis genügt, um in allem die beste 
Qualität zu erhalten; das versöhnt mit vielem. Bei uns 
scheint mir dagegen das (vielleicht sehr sittliche) Prinzip 
zu bestehen, dem Besucher von teuren Vergnügungslokalen 
möglichst nichtswürdige Speisen und Getränke vorzusetzen, 
wahrscheinlich, um gleichzeitig mit seinen Sündenkonto 
sein Busskonto zu beginnen und dadurch die Reue zu 
erleichtern. 

Mittlere Hotels, Omnibusse und andere für die „roture* 
bestehenden Einrichtungen bleiben darum in Frankreich 



- 74 - 

von so unfassbarer Trostlosigkeit, weil niemand den An- 
spruch erhebt, sich hier zu Hause zu fühlen. Man erträgt 
sie mit einer beim deutschen Publikum undenkbaren Ge- 
duld; wer sie mit Bewusstheit benutzt, fühlt sich ge- 
wissermassen noch in den Warteräumen vor den Sälen 
der Helle und des Luxus, in die er bald einzutreten hofft; 
das macht ihn resigiliert gegenüber einer unbequemen 
Gegenwart; die vielen geschäftsmüden kleinen Leute aber 
denken nicht viel darüber nach. Ihre „gait£* hilft ihnen 
über Gedräng und schlechte Plätze in der liebenswürdigsten 
Weise hinweg. Dazu kommt das in Paris so grosse Heer 
der Enttäuschten, in denen bitterere Schmerzen nagen, 
als der Aerger über schlechte Transportmittel. 

Es ist einleuchtend, dass ein so grossartiges System 
des Lebensgenusses nur für eine geringe Minderzahl ge- 
eignet ist, deren weithin strahlender Glanz über tiefe Ab- 
gründe alltäglicher Verdrossenheit fällt. Wer diese charak- 
teristische Pariser Verdrossenheit kennen lernen will, der 
frage Omnibuskontroleure um Auskunft, verlange an 
Theaterschaltern einen begünstigten Platz oder finde an 
einem Hotelzimmer mittleren Preises etwas auszusetzen. 
Er wird kurze schnippische Antworten hören, die ihm 
gleichsam vorwerfen, dass er nicht Wagen fährt, eine 
ganze Loge mietet oder die teuersten Zimmer nimmt. 

Der Franzose ist ausserhalb des „monde" und »demi- 
monde* erstaunlich genügsam und bescheiden, unter den 
Kerzenlüstern wird er schnell zum Kavalier. Man kann 
diesem Leben den Stil und die Berechtigung nicht ab- 
sprechen, wenn man oft auch auf eine kindliche Ver- 
ständnislosigkeit stösst für das, was Deutsche und Eng- 
länder das ,» soziale Problem '^ nennen. Und die moralische 
Gefahr des Straucheins? Der Franzose verliert selbst im 



- 75 - 

Rausch nicht leicht den Kopf. Will er sich berauschen, 
so wird er sich vorher meist darüber klar und besucht 
Orte, die für diese Tätigkeit bestimmt sind, wo er genau 
das tut und findet, was er vor hat und braucht: die 
Nachtrestaurants, in denen es deshalb doch nicht roh, 
sondern bei aller Ausgelassenheit fast manierlich zugeht. 
Die ewige deutsche Angst vor moralischer Gefährdung 
beruht auf der Erfahrung, dass sich bei uns Viele in der 
schönen Unbewusstheit unserer Rasse an den Wirtshaus* 
tisch setzen, sich einen Halben nach dem andern gönnen 
und, ehe sie sich's versehen, betrunken sind. Sie selbst 
scheinen dann am erstauntesten über das neckische 
Phänomen. 



X Kfinstlichkeit und Natur. 

Wo die Kunst nichts „Höheres *' sein soll, (höher als 
was eigentlich?) sondern das gesellschaftliche Leben selbst 
beherrscht und modifiziert, besteht die Versuchung, dass 
eine so angenehm gewordene Gesellschaft sich selbst für 
die Welt erklärt, alle Verbindung mit dem noch recht 
beträchtlichen Rest der Welt verliert und sich verengt. 
Dann entstehen jene pompösen oder graziösen Starrheiten 
des Barock und Rokoko: während die Kunst die Gesell- 
schaft formt, schreibt die Gesellschaft der Kunst die 
Gesetze. Während die Heldenpose in den Salon dringt, 
unterwerfen sich Athalie und Britanniens dem guten Ton 
von Versailles. Daraus ist jene dem Germanen peinliche 
französische Künstlichkeit entstanden.. Dem von Shake- 



— 76 — 

speare Erschütterten oder Erheiterten scheint die franzö- 
sische Tragödie starr und langweilig, und selbst in ihrem 
Befreier Victor Hugo entdecken wir schwer die vielge- 
rühmte Natürlichkeit Auf Corneille allein bezogen, werden 
unsere Einwände oft von ddn Franzosen anerkannt. Schon 
Vauvenargues bemerkt in seinem Briefwechsel mit Voltaire 
jene .affectation de grandeur*" und nennt sie ,,den Haupt- 
fehler unseres Theaters und die gewöhnliche Klippe des 
Dichters "". Fügen wir hinzu: des Schauspielers. Ich 
habe keinen französischen Schauspieler gekannt, der, be- 
rühmt geworden, nicht an jener Klippe gescheitert wäre: 
Sarah Bernhardt, Coquelin sind nicht auszunehmen, auch 
nicht Rfijane und Yvette Guilbert, die früher Urbilder 
gallischer Natürlichkeit waren. 

Denn die gibt es auch! Das Land der geblähtesten 
Tragödien und eisigsten Umgangsformen (oh, ma ch^re) 
hat zugleich die unbefangensten, lustigsten Komödien und 
Vaudevilles geschaffen und den Triumf der Natur im 
Salon bewirkt: das Geplauder; denn, um gut plaudern 
zu können, d. h. weder schwätzen noch konversieren, muss 
man so fabelhaft natürlich sein, dass einen Decor, Titel 
und Konventionen nicht im geringsten irre machen. 
Schwache Naturen werden sofort künstlich, sobald man 
sie aus ihrem engen Kreis nimmt, sie beginnen, sich zu 
genieren, affektiert zu werden oder aus Widerstand ab- 
sichtlich Konventionen zu verletzen und sonstwie sich 
unsicher zu gebärden. 

Ein besonderer Reiz der französischen Kultur ist die 
Art, wie immer wieder die starke Natur durch die Kon- 
ventionen durchbricht und diese dadurch selbst oft reizend 
macht. Das 18. Jahrhundert, in dem unaufhörlich zarte 
und derbe Natürlichkeiten aufgewirbelt werden, ist voll 



— 77 - 

von solchen Kontrasten, seine galanten Meister der Malerei 
und seine Memoirenliteratur sind dessen Zeuge. Neben 
den anerkannten Sternen, denen die „gloire* verderblich 
wurde, gibt es noch heute eine französische Kunst des 
Theaterdialogs und des chansons, die bisweilen verführt, 
die Franzosen fUr das kindlichste, unbefangenste, natür- 
lichste Volk zu halten. In dem Lande der geschnittenen 
Taxushecken ist dem Publikum erlaubt, sich . auf den 
Wiesen der öffentlichen Promenaden unbefangen auszu- 
breiten, während bei uns solche Anlagen bestenfalls dem 
Schutze des hypothetischen Naturfreunds empfohlen, wenn 
nicht schmählich von konkreten Schutzleuten bewacht 
sind. Wir haben den Zwang im Natürlichen, die Fran- 
zosen die Freiheit im Künstlichen. 

Das Spiel, Künstliches und Natürliches schillernd 
durcheinander zu werfen; eine spontane Empfindung, 
während man sie ausdrückt, gleich so zu formen, dass 
sie auf die Gallerie wirkt, und dabei doch nie den Sinn 
für das Tatsächliche zu verlieren; eine raffinierte Suppe 
in rauhem, irdenem Topf auf das Damasttuch zu stellen 
und dadurch unter das Kerzenlicht eine sinnliche Erinne- 
rung zu verschleppen an den Bärenhunger in der Bauern- 
oder Jagdhütte; eine Magd wegen ihrer zierlichen Brüste 
wie eine Fürstin anzuziehen; bei alledem das Volk der 
klaren Moral und des „bon sens' zu bleiben; nach der 
Erfindung des guten Geschmacks mit brennenden Sinnen 
den Realismus zu entdecken; in einer blassen, wortarmen 
Sprache alles das sagen zu können, was in anderen 
Sprachen gemein oder plump klänge: dieses Kunststück 
heisst französische Kulur! 



— 78 — 

3« Impressionistische Moral. 

Seit der Revolution ist die Gesellschaft der „unsicht- 
baren Kirche*" der Protestanten ähnlich. Die sichtbare 
Gemeinde der „honnStes gens' ist zwar zusammenge- 
schmolzen; dennoch rechnet noch jedes Individuum mit 
einer solchen Gemeinde, an die man so sicher glaubt, 
als es unsicher ist, wer dazu gehört und wer nicht 
.Die Gebildeten", „die guten Familien", .die Wohl- 
erzogenen" wo und wer sind sie? 

Diese Worte und viele ähnliche sind Pseudonyme; 
an irgend eines ist jedes Werk der Wissenschaft und 
Kunst gleichsam postlagernd adressiert; sie verbergen 
femer eine Instanz, an die alle moralischen Handlungen, 
dem Täter mehr oder weniger unbewusst, appellieren. 
Und seltsam: so wenig der Einzelne die Abholer kennt, 
seine geistigen und moralischen Sendungen werden ab- 
geholt. Nach einiger Zeit wird ihm der Empfang durch 
die öffentliche Meinung quittiert. Früher, als die Gesell- 
schaft noch sichtbar war, bedurfte sie keiner Pseudonyme. 
Man hat sie zwar stets wie eine verwöhnte Frau launisch 
und unberechenbar in ihrer Gunst genannt, aber auch 
die Unberechenbarkeit der Frau liegt in einem bestimmten 
Rahmen. Erziehung, Ueberlieferung, Rang, finanzielle 
Lage schaffen Grenzen. Die frühere Gesellschaft bestand, 
in ihrem Kern wenigstens, aus, dem Namen und dem 
^Charakter nach, bekannten Individuen. Die persönliche 
Verbindung mit Herrn X und Frau Y konnte für Erfolg 
und Ruf einer Person entscheiden. Die moderne Ge- 
sellschaft ist abstrakt. Sie ist schwerer vor den Kopf 
zu stossen, weil ihr Kopf nicht leicht zu finden ist (viel- 
leicht hat sie gar keinen), aber darum auch viel schwerer 



79 



zu gewinnen. Eben spürt man noch die Wirkung ihrer 
Entscheide und im nächsten Augenblick fragt man sich, 
ob einen nicht ein Phantom geneckt hat, denn die 
Meinungen sämtlicher Einzelindividuen weichen heute 
unter Umständen von der öffentlichen Meinung ab, die 
klOger oder dümmer sein kann als die Einzelnen. Nie- 
mand erklärt sich gern unbedingt für und wider eine 
Sache; wenn es einer tut, und stünde er noch so hoch, 
so ist es nicht allgemein bindend. Dennoch gibt es 
nach wie vor eine „Meinung der Gesellschaft". Wer 
hat sie? Wie ist sie? Es heisst z. B. die moderne 
Gesellschaft ächte nicht mehr die uneheliche Mutter, aber 
wehe dem Mädchen, das darauf rechnet. In Wahrheit 
ist es so: Sie ächtet nicht mehr den, der die uneheliche 
Mutter nicht ächtet. Es heisst, sie liebe sehr die heiklen 
Probleme der modernen Literatur und Kunst, denen sie 
erkennerisch gerecht werde. Wieviel von solcher Er- 
kenntnis ist aber in ihren Gesetzen kodifiziert? Worauf 
kann man sicher fussen? 

Dieser heute allgemein europäischen Verwirrung 
gegenüber haben die Franzosen, ihrer alten Ueber- 
lieferungen gedenk, eine relative Klarheit bewahrt, als 
das Volk, das einst den guten Ton, das savotr vivre, 
den neuen klassischen Stil und dergleichen Massstäbe 
geschaffen hat. Ihre gesellschaftlichen Ueberlieferungen 
sind weit und sehen Ausnahmefälle stets voraus. Darum 
brauchten sie von den Modernen nicht völlig verworfen 
zu werden. Darum winken sie so leicht den, der die 
JugendstOrme glücklich hinter sich hat, in die sanfte 
Vernunft und nachsichtige Menschlichkeit zurück, die um 
das Kaminfeuer der französischen Familie herrscht. 

Wir können uns nicht leicht entschliessen, gesell- 



— 80 - 

schaftliche und moralische Fragen kurzer Hand kon- 
ventionell zu erledigen, mit dem Vorbehalt, die Härten 
solcher Konvention durch witzige Skepsis und mensch- 
liche Zugeständnisse im Einzelfall zu mildem. Wir sind 
individualistische Grübler und verlangen oft wie Ibsens 
„Brand'': Alles oder nichts Unsere Moral ist ehrlich 
wie ein alter Meister, der glaubt, alles zu malen was da 
ist, weil er jedes kleinste Härchen wiedergibt. Die 
franzosische Moral ist ehrlich wie der Impressionismus, 
der alles malt, was er sieht. Die kleinen Härchen und 
seine Perspektive hat ja der alte Meister von seinem 
Augenpunkt aus garnicht gesehen, er hat sie durch 
nahes Einzelbetrachten und Messungen festgestellt und 
glaubt, sie nun wirklich zu sehen. Er hält sich für einen 
Wirklichkeitsmaler, ohne zu bedenken, dass sichtbar nur 
Färb«- und Lichterscheinungen werden, dass die Schärfe 
der Konturen nicht sichtbar ist, sondern nur vom Tast- 
sinn verifiziert werden kann. So wie dieser wissen- 
schaftliche Irrtum in der Kunst zu einer grossen stilistischen 
Synthese führt, so konstruiert jene scheinbare Ehrlichkeit 
in der Moral synthetische Moralsysteme von oft altmeister- 
licher Grossartigkeit. Anstatt sich an die Tatsachen zu 
halten, wie sie sich dem Auge präsentieren, dünken sich 
diese Systematiker der Moral besonders ehrlich, wenn 
sie die Realität des Zufalls ausschalten und die Tatsachen 
unter eine bestimmte Perspektive ordnen. Sie vergessen^ 
dass die aus dem Zusammenhang genommene und für 
sich absolut beurteilte Tatsache nichts reales mehr ist, 
sondern eine Konstruktion des Verstandes. Zusammen- 
hanglose Tatsachen gibt es so wenig als gegenständliche 
Sichtbarkeit ausserhalb der Luft- und Lichtwirkung. 
Während aber keine Gefahr ist, dass die jeweilige Seh«- 



— 81 — 

weise der Maler fQr die Zeitgenossen den praktischen 
Wert der gemalten stets irgendwie mess- und wägbaren 
Gegenstände beeinflusst, so ist tatsächlich eine Beein- 
flussung des praktischen Lebens durch Moralsysteme be- 
absichtigt und möglich; sie wollen die durch keine 
Masse und Gewichte wägbaren moralischen Handlungen 
nach irgend einem „höheren"* Massstab messen oder 
wägen. Da solche Massstäbe stets willkürlich schwanken 
müssen, vermögen sie nie von ihrer Exaktheit dauernd 
zu überzeugen, und ihre Beeinflussung des moralischen 
Lebens besteht in der Verwirrung und Beirrung. Sowie 
die Maler längst vor Erfindung des Impressionismus die 
harte und für das Auge unwahre Linienperspektive durch*die 
Luftperspektive milderten und belebten, so haben die franzö- 
sischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts schon die 
christliche Moral gewissermassen impressionistisch ver- 
menschlicht. Eine auszurechnende, absolute Moralperspektive 
gibt es nicht; die moderne Moral ist relativ, impressionistisch 
wie die Malerei; die einzelnen Handlungen sind den Farb- 
flecken vergleichbar, es kommt darauf an, wie sie sich unter 
dem Einfluss des jeweiligen Lichtes in die Fläche ordnen. 
Keine Handlung ist an sich gut oder schlecht. Ein 
schreiendes Rot kann durch die Nachbarschaft einer 
violetten Note zum Grundton ungeahnter Harmonien 
werden ; der Kompromiss höchste Ehrlichkeit, die Abso- 
lutheit wirklichkeitsferne, lebenverrenkende Theorie. 

Die französische Literatur ist stets voll gewesen von 
moralischen Maximen, ja sie gehören fast zu den Edel« 
steinen französischen Schrifttums: ich nenne als Urheber 
nur La Rochefoucauld, Vauvenargues, Duclos, Chamfort; 
Fundgruben dafür sind die Komödien Molidres, Marivaux'» 
Beaumarchais', fast jedes ernst zu nehmende Theaterstück 

6 



— 82 — 

enfhäit solche Gedankenblitze, in keinem Buch von 
Anatole France, Jules Lemattre, Maurice Donnay, Henry 
Bataille fehlen sie. In Deutschland erkennt man gern 
an, dass solche Worte geistreich sind, hält das aber fOr 
unwichtig, ja Oberflüssig. Auch nennt man sie manch- 
mal: zweideutig und unehriich. Wollte man sie doch 
nehmen als das, was sie sind: moralische Beleuchtungs- 
effekte. Wer einen Lichtakzent an eine bisher dunkle Stelle 
setzt, macht das Leben heller, weiter, reicher. Auch Ge- 
fahren will man in der französischen Impressionisten- 
moral sehen: aber fOr den, der alles zu ernst nimmt, ist 
alles gefährlich, am gefähriichsten sein absoluter Ernst 
der Relativität des Gesamtgeschehens gegenüber, gleich- 
giltig, ob er sich zum Verkfinder eines verklausulierten 
Systems macht oder prinzipiell eine prinzipienlose Indi- 
vidualethik vertritt: wir haben in Deutschland im letzten 
Jahrzehnt Beispiele geradezu pathetischer LOderlichkeit 
gesehen, die sich Amoralität nannte und oft gar schwer 
an sich selber trug. „Aber sie war ehrlich und ernst!'' 
Um so schlimmer, das machte sie doppelt gefahrvoll. 



4. Qesellschaf t und 

Sehr leicht führt eine gesellschaftlich geregelte Moral 
trotz jenen Moralimpressionisten zur Plattheit und Mittel- 
mässigkeit und zwar gerade dann, wenn sie weit und 
weise ist, keinen ernsten Widerstand weckt und dadurch 
auch den wesentlichen Individuen sie ausreifende Kon- 
flikte erspart. Indem gleichermassen eine von der Ge- 



— 83 — 

Seilschaft aufgestellte oder anerkannte Aesthetik dem 
Talent von vornherein ein Publikum garantiert, hindert 
sie oft den Einzelnen, allzusehr Über dieses Publikum 
hinauszuwachsen. Immerhin war unter solchen moralischen 
und ästhetischen Umständen in der Welt der Tat- 
sachen eine Condä, in der Kunst ein Moliöre möglich. 

Dadurch, dass der Autor einem bestimmten Publikum 
verständlich bleiben will, wird vieles Eckige abgeschliffen, 
Verworrenes geklärt und vor allem der dem Genie von 
Natur fehlende Sinn fOr die Lächerlichkeit von der Ge- 
sellschaft entwickelt. Ihrer Mässigung und Klarheit 
wegen überschreiten daher selbst mittlere französische 
Geister leicht die Landesgrenze, während den deutschen 
Autoren selten gelingt, die deutschen Probleme Europa 
verständlich zu formulieren. 

Bei uns ragen Hochgebirge aus Wüsten. Die Grossen 
steigen aus bürgerlicher Enge empor, unverstanden, oft 
verbittert und zuletzt meist sich verwirrend. Unser Volk 
bleibt dabei ungenial, gewinnt nicht den Mut zu sich 
selbst, fühlt nicht, worauf es stolz sein könnte, und, da 
ihm der Geist seiner Grossen zu dunkel bleibt, lässt es 
sich die moralischen und geistigen Vermittelmässigungen 
gefallen, die ihm die Presse und das offizielle Deutschland in 
der Schule verabreicht und preist. Da dieses offizielle 
Deutschland keine auf Kulturüberlieferungen beruhende 
Gesellschaft bedeutet, ist auch keine Möglichkeit, dass 
sich die genialen Deutschen ihm verständlich machen: 
für beide Teile ein Uebel, denn die dunkle Verworren- 
heit, die allzu herbe Rauheit unserer Grossen, kurz ihre 
formale Unfertigkeit ist verschuldet durch den Mangel 
einer kultivierten Gesellschaft, in der sie sich mildern 
könnte. Die Existenzmöglichkeit jener offiziellen Schicht 

6* 



- 84 — 

aber bleibt Jedem Deutschland bereisenden Fremden ein 
Rätsel in einem Land, dessen Bewohner im einzelnen 
verständig und lebenswarm sind, zwar manche Fehler 
haben, aber gewiss nicht das Laster verlogener Prüderie 
oder feiger Heuchelei. 



Der französische Völkerpsychologe Fouille sagt:*) 
«Die deutschen Dichter zeigen uns: unten die dumpfe, 
dunkle Natur, aus der alles stammt, oben die Individualität, 
die sich bildet und durchsetzen will; aber die andere Welt, 
die Welt der Gesellschaft, die Menschheit im eigentlichen 
Sinne mit ihren weiten Horizonten wurde doch vielmehr 
von der französischen Literatur und Dichtung sichtbar 
gemacht.'' Und dann: „Der französische Dichter nimmt 
eine Leidenschaft als gegeben und fragt sich: was für 
ein Mensch wird sie vertreten? Der deutsche Dichter 
untersucht, was fOr entgegengesetzte, gleichzeitige oder 
sich folgende Leidenschaften sich aus einem individuellen 
Charakter entwickeln werden. '^ 

Für uns ist es keinen Augenblick fraglich, dass die 
Dinge, welche sich z. B. Prometheus und Pandora auf 
vier Seiten in Goethes jugendlicher Skizze zu sagen haben, 
schwerer wiegen, als alle die so vollendet in Szene ge- 
setzten Leidenschaften der französischen Tragödie. Ver- 
gegenwärtigen wir uns dagegen den gigantischen Ge* 
staltenzug Balzacs, so finden wir bei uns nichts, was sich 
damit messen kann. Es wäre zu viel, ihn neben Shake- 
speare zu stellen, aber der Vergleich mit ihm drängt sich 
immer wieder auf. Es ist der Mangel einer Gesellschaft 

*) Esquisse psychologique des peuples europ6ens (Ed. 
Alcan.) S. 273. 



- 85 — 

grossen Stils daran schuld, dass sich Wilhelm Meister 
verirren muss, dass so tragische Abseitsnaturen wie der 
grüne Heinrich entstehen, denen nur die Wahl bleibt, 
zwischen Selbstmord (1. Auflage) oder enttäuschtem Ge- 
nügen in niederer KleinbUrgeriichkeit. 



Ebensowenig wie eine Versicherungsprämie in sich 
einen Besitz darstellt, sorgt die Konvention für hervor- 
ragende Individuen. Sie will nur gewährleisten, dass 
selbst das am schlechtesten ausgestattete Individuum 
durch den Besitz bestimmter Formen und eines bestimmten 
Wissens unter ein Niveau nicht mehr sinken kann : gleich- 
zeitig erspart sie dem reicher veranlagten Einzelnen viel 
Zeit, indem sie ihm ihren von den Vätern geprüften Gehalt 
mühelos überliefert und ihm gestattet, da weiter zu bauen, 
wo sie aufgehört haben. So kann es durch einige Gene- 
rationen weiter gehen, bis die Fundamente des gesell- 
schaftlichen Baus selbst brüchig werden, zu klein oder 
gar fehlerhaft erscheinen. Dann entsteht der Streit zwischen 
den in den alten Räumen Gutlogierten und denen, die 
erst Wohnung suchen. Von diesen wollen die einen jene 
Glücklichen einfach hinauswerfen und sieb an die Stelle 
setzen, womit nichts gebessert wäre, die andern wollen 
anbauen und das scheint auch oft jenen Gutlogierten das 
Vernünftigste für beide Teile. Die Dritten wollen alles 
zerstören, um dann alle gleich gut zu logieren. Ein wohl- 
gemeinter, aber undurchführbarer Plan. Wo soll man 
inzwischen wohnen? Wer wird die Beletage, wer die 
Mansarde, wer die Vorder-, wer die Hinterräume beziehen? 
und jedes Haus besteht aus so verschiedenen Teilen. 
Die französische Revolution hat eine Anzahl Gewalttäter 



— 86 — 

der ersten Klasse gezeitigt. In Deutschland hat man 
ernsthafte Doktrinäre der dritten Gattung häufig gesehen. 
Die Wirklichkeit hat bisher immer der zweiten Kategorie 
gehört, man baut an, modifiziert die Räume, es entstehen neue 
Mansarden und Beletagen neben den alten, die Beletagen 
oft weniger prunkreich und die Mansarden vielleicht etwas 
wohnlicher, je nachdem. 

Der französische soziale Bau zeichnet sich durch eine 
Unzahl Balkone aus, auf denen die Qutlogierten sich 
zeigen, um dem, was um sie herum geschieht, jeden 
Augenblick Beifall zu spenden oder zu versagen. Da- 
durch bleiben denen unten Sitte und Stil jener Begünstigten 
stets gegenwärtig. Auf den verschiedenen Baikonen bilden 
sich Meinungen, und schliesslich wird die Meinung der 
Beletage angenommen. Inzwischen bauen die andern 
fieberhaft weiter, oft recht unsolid: die altmodische, auf 
Kosten schlechter Mansardenlöcher aberreiche Beletage 
erscheint wieder, nur drängen sich viel mehr Leute auf 
die Balkons hinaus als frOher. Anbauten stürzen ein, 
alles taumelt durcheinander, manchmal fällt bei einem 
derartigen Krach Einer unversehens aus seiner schwanken- 
den Mansarde auf einen benachbarten Balkon, und nun 
sieht er die Welt von hier aus (in seiner Phantasie hatte 
er sie kaum je anders gesehen) und mfihelos nimmt er 
alle Meinungen und Sitten seiner Umgebung an. 

Unter so lebhafter gegenseitiger Kontrolle läuft der 
Einzelne nicht so leicht in eine dunkle Sackgasse. Er 
ist gegen manche Selbstüberschätzung gefeit, denn von 
Zeit zu Zeit ein Blick nach den Baikonen orientiert ihn 
über Leistung und Urteil anderer. Kritik und Selbstkritik 
werden entwickelt. Die Furcht vor der Lächerlichkeit 
erzieht seine Formen und zwingt ihn, die etwaigen Konse- 



— 87 - 

quenzen seiner Meinungen auf das pralctische Leben 
auszudenken und ihre gelegentliche Komik zu erkennen. 
Aeussert er sich öffentlich, so mu$s er Sprache und Stil 
beherrschen. Weltfernes Gestammel und ungezogene 
Aggresivität werden in Schranken gehalten. Ein gewisser 
Grad von „bon sens*" und gesellschaftlicher Form gilt 
als unerlässlich. Mancher «blaue Dunsf" wird ver- 
scheucht, der Tatsachensinn gestählt. Unter dem wach- 
samen, oft unfreundlichen Auge der Gesellschaft bestrebt 
er sich, jede irrefahrende Bizarrerie zu vermeiden, sich 
klar und angenehm zu formulieren. Oft genug tut es 
dabei freilich der geschickte Fassadenmensch dem tiefer 
Veranlagten und Konfliktreicheren bei weitem zuvor, 
aber welch eine Vollendung entsteht, wenn der Konflikt- 
reiche seine Konflikte zu Ende kämpft und dann jene 
krystallreinen, schlackenlosen Werke hervorbringt, die, 
vielleicht erst nach seinem Tod, auch die Balkone, und 
zwar die von ganz Europa, anerkennen müssen. 

Die realistischen Prosaiker Frankreichs im 19. Jahr- 
hundert und die impressionistischen Maler schlugen zwar 
den gleichzeitigen Beletagebewohnern derb in die breiten 
Bürgergesichter; dass sie aber dennoch nicht chaotische 
Einsiedlerphantasien schufen, fUr eine geringe Zahl von 
verwilderten oder verzärtelten Einsiedlernaturen bestimmt, 
liegt an dem „bon sens^ ihrer systematischen Konsequenz. 
Diese Werke leugnen nicht die Notwendigkeit eines 
Publikums, wodurch sie sich selbst zum Tod verurteilen 
würden, sie bekämpfen nur die derzeitige Dummheit 
einer vom „ancien rägime^ geblendeten EmporkOmmlings- 
kaste, die ihre Instinkte äffisch maskiert. Zur Kunst ge- 
hören zwei: der Schaffende und der Empfangende. 
Wenn es Prostitution ist, es jedem Empfangenwollenden 



— 88 — 

recht zu machen, so ist es ToUhäuslerei, etwas zu schaffen, 
was seiner Art nach von keinem empfangen werden kann. 
Der LiebebedOrftige, der es verschmäht, sich der ersten 
besten in die Arme zu werfen und die Rechte nie findet, 
wird dennoch niemals behaupten, er brauche zum Lieben 
keine Geliebte. Wenn diese modernen KOnstler sagen: 
l'art pour Tart, so wollen sie damit nur die Kunst von 
allem Ethischen, Historischen, Didaktischen etc. befreien. 
Ebenso kann man sagen: Pamour pour Tamour, wenn 
man die Liebe von allen geschäftlichen, moralischen und 
sonstigen ausser ihr liegenden Absichten trennen will. 
Und wäre es auch unabsichtlich, die modernen franzö- 
sischen Kanstler und Schriftsteller sind darum durchge- 
drungen, weil ihre angebliche Tollheit Methode hat, 
weil sie, so neuartig sie waren, nicht willkQrlich sind, 
weil sie, mit einem Wort, eine sichere Konvention der 
Ueberlieferung und viel Kulturinstinkt besitzen. Sie locken 
nicht in die Abgründe individualistischer Phantastik, 
sondern auf festen Boden. Nachdem die Ersten der 
Balkonbewohner die Festigkeit dieses Bodens einmal 
versucht hatten, folgten andere schnell nach. Wenn die 
moderne französische Kunst sich auch nicht wie die alte 
Kunst an die Gesellschaft, oder an eine Gesellschaft 
wendet, so ist sie doch gesellschaftlich empfunden, d. h. 
menschenmöglich, lebensfähig; ja sie ist neben der 
modernen Technik ein gesellschaftgruppierendes Element 
erster Ordnung geworden. 



— 89 — 

5« Die Moralltät des französischen Theaters. 

In Frankreich dürften jährlich nicht mehr bedeutende 
Dramen geschrieben werden, als in Deutschland, aber in 
Frankreich entstehen jährlich eine Anzahl von Theater- 
stocken, die, ohne besonders tief gefühlt und grossge- 
staltet zu sein, auch ernsthafte KOpfe einen Abend fesseln 
und das Verständnis für die Zeit schärfen können. In 
Deutschland ist diese Literaturgattung schwer möglich. 
Die herrschende Qesellschaftsmoral ist so eng, dass in 
ihrem Rahmen künstlerische Probleme kaum denkbar sind; 
die deutschen Probleme zwingen daher den Autor, in 
jedem Stüek moralisch mit dem Ei der Leda zu beginnen; 
fast jedes moderne deutsche Drama enthält, ungewollt 
vielleicht, seine eigene, oft aus furchtbaren Kämpfen ge- 
wonnene Individualethik. Es ist fast undenkbar, dass es 
dabei ohne einige Zumutungen an den Hörer abginge. 
Die besten deutschen Dramen haben (auch im höheren 
Sinne) einen unbefriedigenden Schluss, und zwar darum, 
weil die problematischen Naturen der Helden sich in 
keine moralische oder soziale Einheit oder Allgemeinheit 
irgendwie einordnen lassen, persönlich keine Kompromisse 
schliessen können, ohne das Problem hinfällig, das ganze 
Drama überflüssig zu machen, noch weniger aber den 
Tod verdienen. 

Ein circulus vitiosus: das Fehlen gesellschaftlicher 
Organisation des Landes macht jeden den Durchschnitt 
Ueberragenden „problematisch". Die Menge der Proble- 
matischen aber hindert wieder die gesellschaftliche Organi- 
sation. Mangels einer die Lebensnotwendigkeiten dar- 
stellenden Gesellschaft, die der Hörer in ihren Fehlem 
und Vorzügen kennt und als Ganzes hinnähme, tritt im 



- 90 — 

deutschen Drama meist irgend ein höheres, abstraktes 
Prinzip, wenn nicht eine verhasste absolute Ethik als 
Maschinengott auf. Gerade unsere bedeutendsten Dramen, 
die gewaltsame oder flache Abschlösse scheuen, sind er- 
habene Ruinen geblieben. 

Der französische Mensch und Autor kommt selten 
dazu, seine Konflikte so schmerzlich durchkämpfen zu 
müssen; er schöpft mttheloser aus seiner allgemeinen 
Menschenerfahrung und nähert sich fast stets, wenn auch 
oft ganz unaufdringlich, der Tendenz : dadurch weiss man 
gleich, woran man ist. In den Spuren des Sophokles 
oder Shakespeare wird man heute Abend nicht wandeln^ 
aber es kann interessant und unterhaltend werden. Man 
nimmt die gesellschaftliche Prämisse zunächst einmal als 
gegeben. Ist der Autor auch nur ein klarer Kopf, guter 
Beobachter und angenehmer Stilist, so kommt leicht eine 
respektable, wenn auch nicht übertrieben grossartige 
Arbeit heraus. Er ist im Sinne Kassners (Denis Diderot 
S. 17) ein Rhetor: „Er verdirbt sich sein Werk nicht mit 
sich selbst, '^ »er unterschlägt in der Not sich selbst"". 
Es werden keine ungewöhnlichen Zumutungen gestellt» 
Koketterie, sozialer Ehrgeiz, Luxusbedürfnis, eheliche ^Un- 
treue als nicht sehr pathetische Menschlichkeiten genommen, 
ausser, wenn eine dieser Eigenschaften in allen ihren 
Konsequenzen dargestellt werden soll. Der Einzelfall 
wird dann mit strenger Beachtung der sozialen Möglichkeiten 
herausgearbeitet, eine Nebenszene oft im Interesse des 
Vergnügens zurechtgerückt. „Seit wann*", sagte schon 
Beaumarchais, „hebt nicht die Lustigkeit die Unwahr- 
scheinlichkeit auf?* Der französische Dramatiker kon- 
struiert selten an der Moral herum. Seine Einzelszenen 
sind zwar viel gewagter als die der Deutsehen, aber er 



> 



— 91 — 

sucht stets eine moralisch einwandfreie Lösung des Kon- 
flikts. Er stellt den Ehebruch unter Umständen sehr ver- 
gnüglich dar, verhindert auch vielleicht, — als sittiiche 
Nebenwirkung — dass man Steine auf die Ehebrecherin 
wirft, aber wo ist das französische Drama, das den Ehe- 
bruch oder die freie Liebe mit Erfolg verherrlichte? Ein 
moralischer „Skandal wie in Goethes „Stella'' (1. Be- 
arbeitung) und manchem Werk der deutschen Romantik 
gibt es in der ganzen französischen Literatur nicht. Alle 
Menschlichkeiten werden mit lächelnder Kennerschaft be- 
leuchtet, aber man hütet sich, sie gefühlsmässig zu pathe- 
tisieren. Ein Hauptmotiv der nicht französischen modernen 
Literatur bietet das junge Mädchen, das „es'' nicht mehr 
aushalten kann. Das würde auf der französischen Bühne 
unfehlbar humoristisch wirken. Wenn man auch die 
Sinnlichkeit begreift, ihre Konsequenzen entschuldigt, so 
findet man nichts lächerlicher, als wenn die „bagatelle" 
allzu ernst genommen wird. Eine Gestalt, die er aner^ 
kennen soll, muss für den Franzosen vor allem „Haltung* 
haben; das fassungslos einem Mann in die Arme sinkende 
Mädchen versteht er nicht. Er kennt nicht den primitiven 
gesellschaftlichen Zustand, in dem so etwas wirklich echte 
Naivität sein kann. 

Die für so unmoralisch geltenden Franzosen sind ein 
in seiner Moral sehr sicheres und eigenartiges Volk, 
ebenso fern von der natürlichen Leidenschaftlichkeit, die 
im Süden täglich die sehr viel knapperen Satzungen 
durchbricht, als von nordländischer protestanischer Enge, 
die hinter undurchführbaren Gesetzen eine alle Lateiner 
verblüffende Promiskuität verbirgt. Aber was dieses 
starke Moralisieren der französischen Schriftsteller erträg- 
lich, ja interessant macht, ist der Mangel jeglicher Fanatik. 



— 92 — 

Es ist nicht langweilig, selbst einem Brieux zuzuhören, 
der die im Grund' verwerfliche Absicht ausspricht, von 
der Bühne herab sozialmoralische Wirkungen auszuüben. 
Dieses Moralisieren hat die Farbe des Lebens. Es ist, 
wie gesagt, impressionistisch. Es greift nie die Grund- 
lagen an, wird nie metaphysisch oder ethisch. 

Der in seiner Kultur französierte Abenteuerer Casa- 
nova hörte nicht einen Augenblick auf, Moralist zu sein. 
Wir hingegen haben Geister von kühnster Amoralität 
hervorgebracht, ja wir haben die Amoralität überhaupt 
entdeckt; aber ihre Vertreter sind darum doch im prak- 
tischen Leben tadellose Bürger geblieben. 

Probleme wie die Nietzsches und Ibsens, neuerdings 
Wedekinds und Altenbergs, werden allerdings nur aus 
einem chaotisch gährenden Moralgefühl geboren und 
ihre grossartige Ungeheuerlichkeit oder feine Seltsamkeit 
muss die Franzosen erstaunen und erregen, für die The- 
ater oft nicht viel mehr ist als ein geistreiches Gesellschafts- 
spiel, Vorwand oder Fortsetzung feiner moralistisch- 
spekulativer Konversation. Auch ihnen beginnt neuer- 
dings das Parkett unter den leichtbeschuhten Füssen zu 
schwanken. Seine Glätte haben sie nie gescheut. Aber 
wie? wenn es aus den Fugen ginge? Auch in Frankreich 
mehren sich schon lange, freilich noch nicht allgemein 
beachtet, die — sagen wir — indiskreten Literaturwerke. 
Von Baudelaire, Laforgue, Andr6 Gide und Charles-Louis- 
Philippe z. B. kann man nicht mehr sagen, dass ihre 
Seelen „rund wie ein Apfel" sind. Sie scheinen gequält 
wie Nordländer und spähen durch die Ritzen der Kultur- 
wände in chaotische Lebenshäufungen. Es ist nicht zu 
übersehen, dass Gide Protestant ist, Philippe aus niederem 
Volke stammt. Beide sind so fern wie möglich von Ver- 



— 93 — 

sailles. Sie kritisieren nicht gewisse Härten der bestehenden 
Moral — darüber liesse sich in Frankrrich immer reden; 
sondern sie graben ungeahnte Sachen aus und lassen 
vermuten, dass der soziale Bau einen in Vergessenheit 
geratenen Unterstock hat, dessen Leben lange Zeit über- 
täubt, aber nicht erstickt worden ist Ohne sich irgend^ 
wie revolutionär oder zerstöreriseh zu zeigen, Offnen sie 
leise die Kellertür und man fragt: Was wird nach solchen 
Indiskretionen in der Beletage geschehen? 

Die Engländer empfinden die Ungläubigkeit als 
schlechte Erziehung, als Indiskretion, wie Taine sagt. 
Aehnlich wirken oft russische, skandinavische und deutsche 
Bekenntnisse auf die französische Gesellschaftsmoral, die 
im wesentlichen noch auf Descartes'scher Vernunftgrund- 
lage beruht. 



6. Skepsis und Schein« 

Die Franzosen werfen uns die nihilistische Skepsis 
unserer Philosophie vor, die alles in Frage stelle und 
dadurch jeden positiven Bau hindere. Sie selbst unter- 
werfen sich, aus Ordnungsbedürfnis, schneller einer Satzung, 
auch wenn sie unvollkommen ist, und begnügen sich 
dann damit, ihre Schwächen lächerlich zu machen. Von 
Natur ist der Deutsche der Satzung feindlicher, well er 
meint, eine Satzung enge seine Unabhängigkeit ein. Er 
vergisst, dass Satzungen dazu da sind, um übertreten 
zu werden. Hat er aber eine Satzung angenommen, 
dann ist er unerbittiich. So wird der von Haus aus viel 



— 94 - 

Unabhängigere erst recht zum Sklaven des Gesetzes. 
Der Hauptgrund deutscher Polizeiverordnungen z. B. ist 
die Annahme: „Wenn jeder das tun wollte.'' Der Franzose 
wartet erst ab, ob jeder das tun wird. Er lässt die 
Realität ruhig an sich herankommen, der Deutsche baut 
leichter auf Hypothesen. Haben wir Erzzweifler uns 
einmal fOr eine feste Satzung entschieden, dann wird sie 
zum kategorischen Imperativ. Darin verstehen die Deut- 
schen keinen Spass. Sie vertragen nicht, dass man mit 
ethischen oder metaphysischen Ueberzeugungen seinen 
Spott treibe, und zwar darum nicht, weil sie den boden- 
losen Abgrund anarchischen Zweifeins fürchten, über den 
sich die Ueberzeugungssätze brücken. Wohin würden 
solche Zweifel führen? Was wäre dann noch heilig? 
Vor allem fragt der Deutsche: Was ist der Zweck des 
Lebens? Da er das in seiner Ueberzeugung beantwortet 
glaubt, ist ihm seine Ueberzeugung heilig. Wer daran 
rütteln will, sündigt gegen das Heilige. Die Frage ist 
nur die: kann man den Zweck des Lebens wissen? Wer 
dies verneint, wie wäre dem irgend eine Ueberzeugung 
heilig? Er lässt jedem die, welche ihm am besten ge- 
fällt, aber Scherz muss sich jeder gefallen lassen. Und 
wer weiss: dieser Scherz dient vielleicht selbst der Wahr- 
heit, indem er gerade die schwachen Seilen der Ueber- 
zeugungen trifft. Die Skepsis des Deutschen stellt das 
Leben selbst in Frage, der Franzose nimmt die Realität 
des Daseins, des sozialen Lebens als das Gegebene. 
Er braucht — so paradox es klingt — keine „Ueber- 
zeugungen*", keine „Weltanschauung'', denn ihn stützt 
eine teils ausgesprochene, teils unausgesprochene Kon- 
vention mit ihrer etwas flachen, aber sehr brauchbaren 
Lebensweisheit. Erhebt er sich nur ein wenig über den 



— 95 — 

Durchschnitt, so erkennt er das summarisch Paradoxe 
der Konventionen, aber er hält sich daran; sein Zweifel 
übt sich an ihren Einzelsätzen, er untergräbt sie nicht. 
Die Revolution ist kein Gegenbeweis. Sie war eine 
Magenfrage fttr die allzu rücksichtslos von der Krippe 
Verdrängten. Gedanklich hat sie nicht einen Satz aus- 
gesprochen, der nicht bereits in den Salons des 18. Jahr- 
hunderts aus dem klassischen Geist herausdestilliert 
worden war. Sie ist nie antisozial gewesen. Ihr Grund- 
gedanke ist der konventionelle .contrat social'. 

Der Deutsche zweifelt gründlicher. Wird ihm eine 
Ueberzeugung fraglich, so sucht er sie zunächst — aus 
Angst vor dem Abgrund des Zweifels — zu halten, so 
lange er kann d. h. bis er eine andere findet, die ihn 
besser trägt. Bisweilen misslingt dieser Sprung und er 
fällt in den Abgrund. Andere stehen unentschieden mit 
einem Bein auf der einen, mit dem andern Bein auf der 
andern Brücke. Unsere Extreme sind der Prinzipienreiter 
und der Anarchist. Eine allgemeine menschliche Kon- 
vention zwischen den verschiedenen „Messieurs** und 
„Mesdames", das, was die Franzosen „entregent" nennen, 
kennen wir nicht; wegen des vielen Unvernünftigen, 
Unwahren, das eine solche Konvention immer einschliessen 
muss, kommen wir nicht dazu, ihren Grund von Vernunft 
und Liebenswürdigkeit jeden Augenblick gegenwärtig zu 
behalten. Unsere Konventionen gelten nur für bestimmte 
Klassen, sie sind daher schroff, finster und kalt, reizen 
zum Widerspruch und zur absichtlichen Formlosigkeit: 
Corpsstudenten und „Wilde*, Offizierseleganz und Jägeri- 
aner. Es ist merkwürdig: während die französische Kon- 
vention den Zweck hat, die Menschen einander zu nähern, 
dient die deutsche dazu, sie zu trennen. Eine sehr 



— 96 — 

französische Einrichtung z. B. sind die periodisch wieder- 
kehrenden Banlcette, bei denen sich Leute verschiedener 
Lebenskreise, aber mit doch einem einzelnen gemeinsamen 
Interesse treffen und verstehen, ohne ihre Gegensätze zu 
betonen. Bei uns trennen Beruf, Klasse und Ueberzeugung 
unerbittlich. Unser gesellschaftlicher Wahlspruch heisst: 
„alles oder nichts'', und die Wirkung davon ist: nichts. 
Es gibt keine deutsche Gesellschaft, sondern nur einzelne 
Kreise, Cenakel und Konventikel gegenüber der Militär- 
und Beamtenhierarchie. 

* 
Deutsche und Franzosen wissen, dass der Schein 

verwirrt; aber der Franzose empfindet: diese Verwirrung 

ist das Leben .... ndvxa pd. Der Deutsche meint, 

diese Verwirrung bedeute höchstens das Leben. Das 

wahre „ens'' liege erst dahinter. Viele deutsche Denker 

verbringen ihr Leben auf der Suche nach dem wahren 

Sein, das weder wird, noch vergeht, sondern ist, hinter 

dem Leben. Die deutsche idealistische Philosophie ist, 

wenn nicht die sublimste Wahrheit» die erhabenste Don 

Quixoterie der Weltgeschichte. 

* 
Es ist die Frage, wer klarer ist: der, welcher die 

Unklarheit auf klare Weise erkennt und sagt: das Leben 
ist unklar, oder der, welcher a priori annimmt: es ist 
eine Klarheit, ein System darin, und der dieser apri- 
oristischen Klarheit zu liebe eine willkOrliche, den Lebens^ 
tendenzen widerstrebende gewaltsame Ordnung schafft. 
Ein Berliner Freund, der mich in Paris besuchte, 
hatte bereits von der Bahnhofsdroschke aus den Grund- 
charakter des Pariser Lebens erkannt; alles, was er 
später eriebte, ordnete sich dem ersten Eindruck unter; 



— 97 — 

in Paris kreuzen sich nämlich die meisten Strassen dia- 
gonal und die einzelnen Seitenstrassen verästeln sich oft 
gleich wieder in zwei oder drei Gassen, sodass an einer 
Kreuzung häufig sechs bis acht Wege zusammenlaufen. Das 
gibt die Empfindung , dass hier das Unübersichtliche, 
Geheimnisvolle , Unendliche , Incommensurable schon 
zwei oder drei Schritte von einem entfernt beginnt, während 
die gewaltsame Rechtwinklichkeit des Berliner Strassen- 
netzes das Ungewisse , Unfassbare , Fliessende des 
Lebens verneint oder an den Horizont verbannt. Das 
ist mehr als eine bloss ästhetische oder gar technische 
Frage. 

Die Lust der Franzosen an der Erscheinung und der 
Trost, den sie ihm jeden Augenblick in seinen geliebten 
Strassen, Kaffeehäusern und Promenoirs bereitet, grenzt 
oft ans Kindliche. Wenn ich ins Theater gehe, um ein 
Stück zu sehen, so ärgert es mich, wenn mir ein Damen- 
hut den Blick auf die Bflhne versperrt. Da es bei uns 
den Meisten so geht, sind den Damen in deutschen 
Theatern die Httte verboten. Wie kommt es, dass der 
Franzose sich diesen Missbrauch gefallen lässt? Weil er 
ins Theater geht, nicht allein, um das Stück zu sehen, 
sondern — um ins Theater zu gehen; und zum Theater 
gehören Damenhüte, Parfüms, Bonbons, nackte Schultern, 
Freunde in den Logen, kleine Zwischenfälle u. dergL 
ebenso gut als das Stück. Er ist kein Spielverderber 
und bewahrt seinen Gleichmut; aufs einzelne kommt es 
ihm nicht so sehr an. Diese Lebenskunst macht jeden- 
falls sehr genussfähig und erspart viel Aerger. 



- 98 - 

Wir sind stets an unser Ichbewusstsein gebunden. 
Setzen wir uns zur Erholung vor ein Kaffeehaus, in einen 
öffentlichen Garten, Mrir tragen immer unser Schicksal 
mit herum, unsere Pläne oder wenigstens unser Stunden- 
programm, und auf der Reise den guten Baedeker. Wir 
verlieren uns schwer als Atom an das uns umgebende 
Leben und sehnen uns darum um so stärker danach. 
Daher unsere reflexive oder lyrische Grundstimmung 
gegenober der Welt. Der Franzose ist mehr Beobachter 
und Maler. Aber die französische Hingabe schwillt nur 
selten zu pantheistischem Rausch; das skeptische Unter- 
bewusstsein schlummert leise während der glühendsten 
Augenblicke; so wie man sich bei einer Frau einen Nach- 
mittag lang vergessen kann und will, auch wenn man 
weiss, dass sie eine Gans ist. Das wäre undeutsch. Der 
unverbrauchtere Deutsche nimmt noch manche Bovary ernst. 

Was schleppt unser Einer alles mit sich herum an 
Ueberlegung, Verzagtheit, Bedauern, Hoffen! Alles das 
stört die Maschinerie unseres Lebens. Der Franzose ist 
viel weniger kompliziert und stets , bereit"; seine Maschine 
ist oft klein, aber sie läuft immer wie frisch geölt. Seine 
GefOhle und Sehnsüchte sind fast primitiv gegenüber den 
unsem. Hat ein französischer junger Mann für die nächste 
Zeit zu leben, liebt er nicht gerade eine ihm unerreichbare 
Frau, und ist er in Paris, worüber sollte er sich Sorgen 
machen? 

♦ 

Das französische Leben ist wimmelnder, bunter, 
wärmer, animalischer und zwangsloser als unseres: unter 
den Bäumen der Boulevards sitzen säugende Mütter und 
Ammen, Männer verrichten öffentlich ihre natürlichen Be- 
dürfnisse, in den elegantesten Restaurants sind oft Herrn- 



— 99 — 

und Damentoiletten nicht getrennt und sie werden harm- 
los und verstohlen als Stelldichein ftlr weitere Verab* 
redungen benutzt durch die, welche sich von verschiedenen 
Tischen aus mit Zeichen verständigt haben. Was für 
Physiologika werden auf Strassen, in Eisenbahnen, auf 
der Bahne unbefangen verhandelt, gesungen und gespielt! 
In Caf6s und Omnibussen hockt man dicht aufeinander, 
niemand scheint fremde Ausdünstung und Wärme zu 
scheuen. In den vornehmsten Speisehäusem hört man 
die Leute schmatzen, und sieht sie aufs Beunruhigendste 
das Messer missbrauchen. Trotz weiter Verbreitung einer 
raffinierten Nagelpflege sieht man nicht selten aus einem 
zartfarbigen Handschuh ungepflegte Hände schlüpfen, oder 
schwarze Fingernägel ein zartes Battisttuch zerknüllen. 
Die Ausdruckswetse der Männer untereinander und mit 
ihren Maitressen, der von Börsianern, Künstlern, Studenten 
ziemlich allgemein angenommene Argot, ist zwar weniger 
abgeschmackt aber physiologisch viel derber als unsere 
stichelnde und kalauernde Umgangssprache. Vielfach 
wird dieser Argot von nichts ahnenden Fremden in die 
Salons geschleppt, wo er als ärgerlicher Mangel an Er- 
ziehung gilt. Das romanische „laisser aller** ist vielleicht 
nur darum möglich, weil sich dahinter ein sicheres Takt- 
gefühl verbirgt: alles an seinem Platz. Der Franzose 
raucht, speist und trinkt Bier in verschiedenen Lokalen. 
Im Restaurant findet man daher keinen Tabaksqualm, im 
Caf^ oder Bierhaus keinen Speisegeruch. Die Begriffe 
von Ordnung sind umgekehrt wie bei uns. Die Ordnung 
ist niemals da, weil „Ordnung sein muss**, sondern sie 
dient einem schnell sichtbaren Zweck und chikaniert 
darum nicht. 

* 

7* 



— 100 — 

Bei einer Umfrage über ihre Haupteigenschaften sind 
die Franzosen vor einigen Jahren zu dem Resultat ge- 
kommen, dass sie vorwiegend Massigkeit, Klarheit und 
Ordnung besitzen. Lauter formale Eigenschaften. Wir 
würden uns vielleicht GemHtstiefe, Ernst und Zähigkeit 
zuschreiben. Den Franzosen mflssen wir in ihrem 
Entscheid aber sich selbst recht geben, wenn diese 
Eigenschaften nur für das persönliche Leben Geltung be- 
anspruchen. Der einzelne Franzose ist massig im Be- 
tragen, geordnet im Denken, und lässt nicht so leicht 
etwas in seinen Kopf, was die Klarheit stören könnte; 
schon die Genauigkeit der Sprache steuert der Vor- 
stellungsverwirrung. Dagegen ist er unmässig in seinen 
politischen Leidenschaften, wie die französische Eroberer- 
politik des 17., die Revolution und das Staatsleben des 
19. Jahrhunderts zeigten, unklar in seinen sozialen Gefühlen, 
die bei allem prinzipiellen Demokratismus „ancien rägime"" 
bleiben, ungeordnet in allen Einrichtungen des Verkehrs 
und der öffentlichen Wohlfahrt. 



Drittes Intermezzo. 



Ich wollte in diesem Kapitel Widersprüche weder 
feststellen noch versöhnen, sondern zeigen, dass jedes 
Ja ein Nein ist. Ich habe gesagt, die Franzosen seien 
verschwenderisch, sparsam, künstlich, natürlich, frei, ge- 
bunden, alt, kindlich, geordnet und lässig, kurz: ich be- 
hauptete nicht viel weniger, als das schwarz weiss ist 
und fflhle kein böses Gewissen deshalb. Sophistik? 
Vielleicht. Einer Lebenserscheinung ist am Ende nur 
durch ein Sophisma beizukommen, eine Lebenserscheinung 
ist nicht so oder so, sondern so und so im selben 
Äugenblick. Es ist ein wichtiger Einwand gegen unsem 
logischen Verstand, dass er uns solche Lebenseinheit in 
Gegensätze wie gut-böse, schön-hässlich, richtig- falsch 
u. dgl. zerreisst. Das lässt uns, versponnen in unsere 
Individualinteressen, die Augenblicke eriebter Welteinheit 
so leicht vergessen und die geheimnisvolle Dynamik des 
Schicksals kleinlich missdeuten. 

Fern davon, „ira et Studium ** zu vermeiden, möchte 
ich in jedem Augenblick, jeder Erscheinung gegenüber, 
beide Gefühle aufkommen lassen: Abneigung und Vor- 
liebe, und mich dadurch dem Lebendigen ein wenig 
nähern ; so wie wir das Wesen der Menschen und Dinge 
am stärksten erkennen, die wir gleichzeitig am meisten 
geliebt und gehasst haben. 



Drittes Kapitel. 
Sprache und Stil. 



Wer zu den Sinnen nicht klar spricht^ 
redet auch nicht rein zum Gemüt. 

Goethe. 
So wie ein Mensch nach seinen 
Worten, so kann man eine Nation 
nach ihrer Sprache beurteilen. 
Rivarol, de Puniversalitö de la 
iangue fran^aise 1783. 

(1. Wortarmut und Nuancenreichtum. 2. Enge und Klar- 
heit. 3. Sprachliche Fremdkörper. 4. Sprachkultur. 
5. Poesie und Umgangssprache. 6. Der Stil : Natariichkeit^ 
Kürze, Klarheit. 7. Verpönte Worte.) 



I. Wortarmut und Nuancenreichtum. 

Man kann die französische Sprache nicht besser 
loben, als es Hugo von Hoffmannsthal getan hat*): 
„. . . die relative Armut ihres Wortschatzes ist durch 
unaufhörliche Uebertragungen aus einem Gebiet ins 
andere zu einem unbeschreiblichen Reichtum geworden. 
Wir in unserer unendlichen fast mystischen Sprache sind^ 

*) Die Zeit, Wien, 6. Nov. 1897. Hofmannsthal, französische 
Redensarten. 



— 103 — 

wenn wir uns nicht in eine dunkle Bildlichkeit flQchten 
wollen, viel unbeholfener, viel schwerfälliger, viel ärmer, 
das zu sagen, was das Leben des Herzens und des all- 
täglichen Denkens ausmacht. Das Gewimmel von 
Wendungen aber, mit denen das französische das 
innere Leben malt, hat in allen Uebertragungen nur 
immer mehr Bestimmtheit und Anmut gewonnen. Ein 
älterer Gebrauch sticht hie und da durch und erinnert, 
dass eigentlich vom Acker, vom Weingarten, vom Web- 
stuhl hergenommen ist, was heute zum Ausdruck innerer 
Vorgänge dient, die weit weg sind von der schweren 
ehrwardigen Ackererde, vom fröhlichen Weingarten, vom 
friedfertigen Webstuhl. Es ist eine weltlichere Sprache 
als die unsere. Ganz deutlich hört man auch vergangene 
weltliche Dinge aus ihr reden, hie und da den Ton des 
Königs und seiner Hofherren, hie und da die Stimmen 
von Bauern, von Gerichtsleuten, von Frauen, vielen Frauen, 
und auch von Kindern.'' 

Dabei hat die französische Sprache mit der Ent- 
wickelung des modernen Seelenlebens gleichen Schritt 
gehalten, sie vermag, wie keine andere, das vielspältige 
heutige Sein zu spiegeln, sowohl in seinen poesievollen 
Schattierungen, als in seinen psychologischen und ge- 
sellschaftlichen Nuancen. Daher die Dichtheit der franzö- 
sischen Kultur, die nicht unser Vakuum zwischen Bildung 
und Unbildung oder unsere Extreme: Verbildung und 
Roheit kennt. Ohne zu Fremdwörtern oder wissenschaft- 
lichen Fachausdrucken greifen zu müssen, mit allgemein be- 
kannten Vokabeln analysiert oder malt der französische 
Autor die unerhörtesten Seelenzustände der Ausnahme- 
naturen und die Erscheinungen des sozialen Massen- 
daseins. Das moderne Leben entzieht sich für ihn nicht 



— 104 — 

der Poesie: Frankreich hat den modernen Roman nicht 
nur erfunden, sondern allein zur Vollkommenheit gebracht; 
es hat, seitdem es eine Komödie besitzt, das jeweils 
moderne Leben selbst in Versen auf die Bahne zu bringen 
vermocht. Dagegen erkennen die Franzosen selbst in 
ihrer Sprache eine Neigung zu kalter Trockenheit („ten- 
dence ä la s^cheresse'' sagt der Philolog Arsöne Dar- 
mesteter), die uns oft vor ihren Uebersetzungen aus 
fremden Sprachen frösteln lässt, sobald Zustände ge- 
schildert werden, die durch Einfachheit oder Erhabenheit 
ausserhalb der modern gesellschaftlichen Menschenbe- 
ziehungen liegen: Gottfried Keller wie Hölderlin, Homer 
wie Shakespeare versagen im f ranzösichen , während 
die antiken Prosaiker, Goethes Romane, Edgar Poe 
in französischer Uebersetzung nicht viel einzubüssen 
brauchen. 

Es ist nicht unwichtig, dass der französischen Sprache 
der Ausdruck für den Begriff fehlt, welcher alles Leben 
zusammenfasst und aller Poesie zugrunde liegt, sie be- 
sitzt kein ursprüngliches Wort für „werden**, (ftifveoftat) 
wie wir es z. B. in Goethes: „stirb und werde** ver- 
stehen. Dem Kompositum devenir fehlt jeder metaphysische 
oder dichterische Bezug. Der an deutscher Philosophie 
genährte ' Laforgue versucht allerdings, von „le devenir* 
zu reden, aber das französische Wort bleibt blass. La- 
rousse erklärt seine Bedeutung als „auf dem Weg sein, 
etwas zu sein** (6tre en voie d'Stre quelque chose). Sehr 
häufig reduziert sich in dieser Weise der Begriff des 
deutschen, griechischen oder englischen Ausdrucks in 
französischer Uebersetzung; aber oft ist es auch umge- 
kehrt, sobald man nämlich die eigentlich poetische Sphäre 
verlässt und die soziale betritt. Ein durch die Fülle 



— 105 — 

dessen, was es im Nu heraufbeschwört, talistnanartige^ 
Wort ist z. B. „ancien regime''. Wenn es zunächst die 
frühere Staatsform des KOnigstums ausdruckt, so gibt 
doch die Uebersetzung „frfihere Herrschaft** auch noch 
nicht einen Hauch des französischen Wortes. Regime 
ist zugleich jede Art von Regelung des Daseins, der Ver- 
waltung von Geschäften, des persönlichen Verhaltens, 
ganz besonders der Ernährung; regime bezeichnet ge- 
wisse Verträge, gesetzliche Verordnungen, es kann ein 
System bedeuten und noch manches andere. So enthält 
„ancien regime** die Gesamtheit des früheren Lebens vor 
der Revolution. Aber es dient nicht nur als kurzes 
praktisches Zeichen für diesen komplizierten, im Deut- 
schen ganz abstrakten Begriff; es ist durch so viele Wort- 
verbindungen gegangen, mit so vielen Erinnerungen be- 
laden, es lässt so viele Assoziationen an die lettres de 
cachet, an Spiegelräume mit gepuderten Duchessen, an 
Gottlosigkeit und Schäferei anklingen, dass es zu einem 
konkreten Ausdruck voll poetischer Bildlichkeit und 
Sehnsucht geworden ist, wie Stadt, Dorf, Feld, Wald, 
Schatten und Wüste. 

Neben der Lust, farblose Worte mit Beziehungen zu 
umspinnen, hat der Franzose eine angeborene Abneigung ae/.&rmmM 
gegen kräftige^ und farbige Worte. Trotz der Wort- u^i^' ^ 
renaissance die mit der Romantik begann und während 
des Naturalismus und des Symbolismus dauerte, ist die 
Neigung zum blassen, aber beziehungsreichen Ausdruck 
geblieben. Man findet zwar im Wörterbuch das grauen- 
erfüllte Wort „spectre* für Gespenst, aber angewendet 
wird fast nur „le revenant"; und merkwürdig: obwohl 
die Participialform des harmlosen Wortes „zurück- 
kommen'' in sich farblos und nichtig ist, wirkt dieser 



— 106 — 

Ausdruck so schemenhaft unheimlich, dass E. T. A. 
Hoffmann ihn als Fremdwort noch unserem wahrhaftig 
eindrucksvollen „Gespenst'' vorzieht. 



2. Enge und Klarheit. 

Die hochdeutsche Sprache ist durch das Bedürfnis 
der verschiedenen Kanzleien entstanden, sich bequem 
zu verständigen. Gesprochen wurde sie niemals. Noch 
heute bedient sich ihrer nur ein kleiner Kreis besonders 
gebildeter, vorwiegend norddeutscher Menschen, die sich 
durch Beruf (Schauspieler, Geistliche, Lehrer etc.) oder 
Schicksal (auswärtige Beziehungen und Reisen) an sie 
gewöhnt haben. Die Sprache der Isle de france dagegen 
wurde Landessprache, weil der König sie tatsächlich 
sprach. Um dieselbe Zeit, da der deutsche Kaiser das 
Wallonische dem Deutschen vorzog, dekretierte der 
französische König durch das Edikt von Villers-Cotterets 
sein Idiom zur Amtssprache. Wenn auch die Provinzen 
anfangs Widerspruch erhoben, sagt bald der Dichter 
Ronsard, der doch nebenbei die Dialekte zur Bereicherung 
des Wortschatzes empfiehlt: „Weil heute unser Frankreich 
nur einem einzigen König gehorcht, sind wir gezwungen» 
wenn wir zu Ehren kommen wollen, seine Sprachen zu 
sprechen, andernfalls unsere Mähe, wäre sie noch so 
ehrenhaft und vollkommen, gering geachtet oder vielleicht 
gänzlich verachtet würde." 

Schon an der Wiege der modernen französischen 
Sprache erhebt sich der bedeutende Konflikt zwischen 



— 107 — 

den Verfechtern des Wortreichtums und der Reinheit. 
Noch Montaigne hatte gesagt: ,,Mag das Gaskognische 
herhalten, wenn das Französische nicht ausreicht!'' (que 
le gascon y aille, si le fran^ais ne peut.) — Malherbe 
fürchtet die Verwirrung, Ronsard die Armut. 

Wenn nur Malherbe selbst etwas mehr Dichter ge- 
wesen wäre! Er hat die Wurzeln der französischen 
Sprache abgeschnitten und ihr die Nahrung aus den 
Unterschichten des Volkstums entzogen. Ihm verdankt 
sie die gewollte Wortarmut, aber auch zugleich ihre 
Disziplin und Klarheit, die das, was für die höchsten 
gesellschaftlichen Kreise geschrieben ist, dem ganzen 
Volk verständlich macht. Wenn sich auch die französische 
Literatur nicht aus dem Volksgeiste nährt, so nährt sie 
wenigstens den Volksgeist. Deutsche Bücher dagegen 
sind meist zu schwer verdaulich für die Mehrheit. „Man 
schreibe nicht für das Volk, noch brauche man alle 
Worte, die das Volk gebraucht,** sagt Malherbe, doch 
er fügt hinzu: „aber auch keine, die das Volk nicht ver- 
stehen könnte**. Vaugelas nimmt diesen Gedanken auf: 
„Man schreibt gut, wenn man von allen verstanden und 
von den honnStes gens*) gebilligt wird.** Balzac sagt: 
„Malherbe lehrte zuerst, dass man rein, mit religiöser 
Sorgfalt schreiben müsse, dass „wählen können** das 
Geheimnis des guten Gedankenausdruckes ist.** Diese 
Vorzüge haben die französische Sprache zur Weltsprache 
gemacht, deren Kenntnis noch heute den meisten Kultur- 
stoff vermittelt, obwohl die englische über einen viel 
grösseren Teil der Erde verbreitet ist. 



*) „honnötes gens" ist unübersetzbar, nicht zu verwechseln 
mit „gens honnötes'. 



— 108 — 

Die Enge des Malherbe'schen Systems wurde bereifs 
von seinen Zeitgenossen erkannt Sein Gegner, der viel 
dichterischere R^gnier, spricht den gefährlichen Gedanken 
aus, der noch heute manchen Nichtdichter ermutigt: 
,,Man muss die Feder laufen lassen, wohin sie der 
Schwung führt. Man darf Apollo nicht mit rauhen Ge- 
setzen belästigen." Die rechte Lösung findet der von 
dem dummen Boileau gehöhnte Th^ophile de Viau: 
„Niemals macht ein guter Kopf eine Sache anders als 
ungezwungen," womit ja nicht gelobt wird, was ein 
schlechter Kopf ungezwungen tut. 

Kant ist selbst fOr den gebildeten Deutschen, soweit 
er nicht „Philosoph von Fach" ist, nicht lesbar. Mit 
zahllosen Vorbehalten und Einschränkungen, Warnungen, 
was man nicht in ihm suchen soll und welche Missver- 
ständnisse man ja vermeiden möge, wird er einem vom Pro- 
fessor in die Hand gegeben. Mag der feine Stilist 
Schopenhauer der geringere Philosoph sein, seine Schrif- 
ten wurden und werden in Europa gelesen und „weil sie 
französisch sprach, eroberte die Descartes'sche Philosophie 
Frankreich*)." Den Discours de la methode kann jede 
solid gebildete Frau verstehen. „Das literarische Ideal* 
des (17.) Jahrhunderts in seiner zweiten Hälfte war nur 
die ausgebreitete Anwendung der kartesianischen Ideen 
auf die Werke des Geistes: Universalität der Vernunft, 
Identität des Wahren und Schönen, gleich starke Ab- 
lehnung der Einbildungskraft und Gelehrsamkeit (wo- 
runter ihre mittelalterliche Uebertreibung in Fantastik und 
Pedanterie zu verstehen ist), die Neigung zur Einheit in 
der Komposition, zur Einfachheit in den Mitteln; das 



♦) Lavisse et Rambaud V, 471. 



- 109 — 

Studium des abstrakten Menschen und des Allgemeintypus 
wird der Beobachtung der möglichen und an den Ort 
gebundenen Tatsachen vorgezogen." 

Solche Theorien erscheinen heute trocken und kalt, 
künstlich und gewaltsam, doch sie hinderten nicht einen 
Moliere. Auch der modern empfindende, psychologisch 
analysierende Verfasser der „liaisons dangereuses" steht 
literarisch noch unter ihrer Herrschaft. Ja diejenigen 
Kapitel der „Wahlverwandtschaften", die wir als höchste 
Formulierung des Genies bewundern, sind nicht ohne 
die Zucht dieser Prinzipien zu denken ; freilich erscheinen 
sie, oft bereichert durch eine ganz moderne sinnliche 
Plastik, als Stilsynthese, die für jdie hohe Prosakunst 
schlechthin gelten kann. Wo französische Erzähler be^ 
sonders gross sind, erinnern sie unwillkürlich an Goethe, 
und gerade die besten Prosaschilderungen Goethes lassen 
oft an die Franzosen denken. Ich glaube, der reife 
Goethe hätte diese Parallele nicht abgelehnt. Den ersten 
Teil folgenden französischen Stilrezeptes hat er jedenfalls 
stets eingehalten: „Die Einbildungskraft der Beobachtung 
unterordnen, infolgedessen mehr klar sein als hinreissend 
und blendend; sein Werk einteilen nach einem sauberen, 
genauen, folgerichtigen, ja symmetrischen Plan.*' 



3. Sprachliche Premdkörpen 

Die natürliche Entwickelung der Sprache ist eben- 
sowenig wie irgend eine andere Entwickelung vernünftig, 
logisch oder rein, sondern ungewollt, unbewusst und darum 
organisch. Wie sich tote Wurzeln und Steine mit tief- 



— 110 — 

grOnem Moos Aberziehen, wie eine wucherische Epheu- 
hOlle einem Stamm sein Mark entsaugt, bis sie mit ihm 
niederfällt und auf ihm weiter gedeiht, ohne dass man 
darunter eine fgestOrzte Eiche vermutet, so spriesst, 
wuchert, verschlingt und gebiert die Triebkraft der Sprache 
in evdgem Kampf ums Dasein, ohne Ehrfurcht vor den 
Einzelwesen der Worte und Stämme, die unaufhörKch 
neu erstehen, verwachsen und sterben, nur auf die Er- 
haltung des Gesamtlebens bedacht. Die Sprache ist der 
ausgemachte Feind aller Etymologie. Sie missversteht 
sich naturgemäss selbst, verwechselt ihre eigenen Wurzeln, 
pfropft Reiser auf, missdeutet alles Fremde und erfüllt es 
mit ihrem eigenen Leben: der Gelehrte spottet Ober 
solches Mimicry und mOchte ihm Einhalt gebieten, der 
Dichter frohlockt 

Die französische Sprache hat wie ein gesunder 
Körper die fremden Elemente, mit denen sie in BerOhrung 
kam, entweder abgestossen oder organisch zu eigenem 
Fleisch werden lassen. Weder hat sie sich in herber 
Jungfräulichkeit verschlossen, noch ihren Schoss wahllos 
jeder Befruchtung geöffnet. Sie ist stets instinktsicher 
gewesen, und das ist fast so viel wie genial, denn Genie 
verlangt vor allem: den Instinkt zu sich selbst besitzen, 
im rechten Augenblick „ja'' oder „nein'' sagen können. 
Auch wir besassen einst dieses Genie, als wir noch in 
schönem Widersinn, aber im Geist unserer Sprache 
z. B. aus „Mediolanum" oder „Milano" Mailand schufen; 
aber in der ersten Hälffe des 16. Jahrhunderts ist das 
deutsche Genie erkrankt und — ein wesentlichstes Symp- 
tom dafür — unsere sprachbildende Kraft fast versiecht. 
Später haben wir unsere Blossen mit fremden Lappen 
verhüllt: wir besitzen ein Vokabular unorganischer Fremd- 



— 111 ~ 

Wörter, das umfassender ist als der gesamte Wortschatz 
der französischen Klassiker*). 

Arstoe Darmesteter (Qrammaire HI, 141) sagt: ,in 
Fragen der Sprache ist das Volk souverän ; seine Irrtümer 
werden Gesetze, sobald sie einmal angenommen sind.'' 
Aus Wirre guerre zu machen ist genial, aber Cicero oder 
üve o'clock in fremder Aussprache zu Übernehmen, ist 
nur gelehrt oder gebildet. Wo solcher Gebrauch besteht, 
kann ihn der Einzelne natürlich nicht umgehen, ohne erst 
recht fremdartig und lächerlich zu wirken. 

Wenn die Franzosen z. B. aus adamantem die Form 
aimant (= Magnet) bilden, so entsteht der falsche Schein, 
der geheimnisvoll anziehende Magnet sei ein Liebender 
(part. pr£s. von aimer), und dieser falsche Schein ist so 
reizend wie die wucherische Mistel in den Baumkronen, 
denen sie zu entwachsen scheint. Aehnlich entsteht fleurs 
blanches aus flueurs blanches. So ist das italienische 
camavale nicht, wie es so reizend scheint, der Abschied 
vom Fleisch oder von fleischlicher Lust, sondern eine 
Umbildung des alten carrus navalis: eine tote philologische 
Erinnerung. 

Darmesteter (III, 132) weist auf den Unsinn der 
Grammatiker hin, die den Bedeutungswandel (Tropus) 
als Missbrauch (Katachrese) brandmarken, verkennend, 



*) Die instinktive Abneigung der Franzosen gegen das 
stets als barbarisch empfundene Fremdwort beweist z. B. die 
Tatsache, dass die gebildetsten Damen des Holbach'schen Kreises 
(s. Diderots Korrespondenz mit Sophie VoUand) sich nicht an das 
ungeheuerliche Wort „Encyclopädie" gewöhnen konnten, sondern 
,,Socoplie^ oder ähnlich sagten, ohne dadurch ungebildet zu er- 
scheinen oder ihren geistigen Einfluss auf die besten Köpfe der 
Zeit zu verlieren. 



— 112 — 

dass dieser Missbrauch einem Lebensgesetz der Sprache 
folgt. Dass der Spiegel = glace im Französischen an 
die Eisfläche erinnert, ist ein poetischer Reiz mehr. Man 
kann sagen : je widersinniger eine Sprache sich fortbildet 
und Fremdes assimiliert, desto lebenskräftiger ist sie noch. 
Der deutsche Genius war ungebrochener, als er sich nicht 
scheute, aus valise Felleisen zu machen, obwohl das Ding 
weder mit Fell, noch mit Eisen was zu tun hat, oder aus 
Chance Schanze zu bilden (in der Verbindung: in die 
Schanze schlagen). Felleisen und Schanze klingen deutsch, 
sind Fleisch von unserem Fleisch, fügen sich mühelos in 
unsere Prosa und reimen auf deutsche Silben. Wenn 
man das französische Wort boulevard (von Bollwerk) in 
der heutigen Bedeutung herübemehmen wollte, es wäre 
besser, den Wahnsinn zu begehen, Bullfahrt oder BuU^ 
wahr zu sagen, als den französischen Klang als Fremd- 
körper in unser Fleisch zu pressen. Gegen die Krankheit 
der unaufsaugbaren Fremdwörter hilft leider nicht einmal, 
die Worte zu übersetzen, denn oft ist die Uebersetzung 
noch gewaltsamer als die fremde Form, die vielleicht 
durch mannigfache Verbindungen sich immerhin ein wenig 
eingewurzelt hat und Tönungen annahm, welche die Ueber- 
setzung nicht wiedergeben kann. Wie sind nun einmal 
auf das Fremdwort angewiesen, zumal wo es sich um 
Nuancen handelt. 

Der französische Autor weiss nichts von dem Konflikt 
zwischen dem barbarischen, nur dem Gebildeten ver- 
ständlichen Fremdwort und der gezwungenen, oft erst 
recht nicht verständlichen Uebersetzung. 

Die Franzosen haben bekanntlich wenig Talent für 
fremde Sprachen, umsomehr haben sie für ihre eigene; 



- 113 — 

unlogisch, aber ihrem Sprachorganismus gemäss, franzö- 
sieren sie: le bock » das Glas Bier, le vasistas (aus 
was ist das?) » das kleine Fenster. 

Wie mit den Worten verfahren sie mit ganzen 
Werken, wenigstens mit den dichterischen. Da ihr Wert 
auf der Form beruht, die fremde Form ihnen aber unver- 
ständlich ist, geben sie ihnen kurzer Hand eine franzö- 
sische. Eine ins Französische abersetzte Dichtung muss 
eine französische EHchtung werden, wenn sie gelesen 
werden soll. Den uns lockenden Hauch der Fremdheit 
schätzt man nicht. Bei dieser Umformung, in einer aus- 
gesprochen unpoetischen Sprache, pflegen die ausländischen 
Dichtungen ihr Bestes zu verlieren.*) (Ausnahmen zuge- 
geben: viele ziehen die französische Prosaübersetzung 
von Byrons Don Juan an manchen Stellen den schlechten 
Versen des Originals vor.) Befriedigt eine französische 
Uebersetzung den fremden Autor oder dessen Volk, so ist 
sie gewiss unfranzösisch oder ,»mal äcrite.'' So die 
Sabatiersche FaustObersetzung, welche viel mehr von 
Goethe enthält, als die alte, freilich von Goethe 
selbst gerühmte Uebertragung G^rard de Nervals. Die 
Franzosen haben sich Jahrhunderte lang mit der Galland- 
schen Barockübersetzung von 1001 Nacht begnügt, die 
neue von Mardrus wird zwar von philologischen Kennern 
gewürdigt, aber niemals populär werden; noch heute 
ziehen viele Leute den fän^lonisierten Homer der Madame 
Dacier der wörtlichen Uebersetzung von Leconte de Lisle 
vor, die den Franzosen die richtige Orthographie der 



*) „Die Grenze des französischen Wesens ist sein unge- 
nügendes geistiges Alphabet, das ihm nicht erlaubt, die griechische, 
germanische, spanische Seele zu übersetzen, ohne ihre Natur zu 
verändern/* Amiel, Journal intime. 23. IV. 1862. 

8 



- 114 — 

griechischen Namen zumutet. Hector, Alexandre, Troie 
sind ihnen vertraut, aber Hektör, Alexandros, Trofö (wie 
Leconte de Lisle will) scheinen ihnen barbarische, nur 
Philologenohren erträgliche K19nge. Der Respekt vor 
ihrer eigenen Sprache verbietet ihnen, irgend einer Sprache 
Konzessionen zu machen, und wäre es die griechische. 
Das aber ist gerade etwas, was sie mit den Griechen 
gemein haben, denen alles nicht griechische barbarisch 
war. Die sich stets wiederholenden bekannten Ho- 
merischen Beiworte (die , schönen* Wohnungen, die 
.weichen* Decken, die .wohlgebaute** Stadt), die uns in 
der altertümlichen Vossischen Uebersetzung etwas von 
der Übersichtlichen Einfachheit der heroischen Welt ahnen 
lassen, werden im Französischen zu Banalitäten .*) Das 
Französische ist dafür zu modern. Freilich ist ihm auch der 
Archaismus erspart geblieben, der bei uns bisweilen mit 
alten Klischees zu arbeiten verführt und vergessen lässt, 
dass ausserhalb des antiken epischen Zusammenhanges 
solche allgemeine Beiworte allerdings nichtssagend sind. 
Die französische Sprache, die das ganze französische 
Kulturgut dem ganzen Volke vermittelt, ist fast vollkommen 
gegen die ausländische Dichtung gesperrt und wird es 
wohl stets bleiben. 

Wenn auch die französische Sprache infolge ge- 
lehrter humanistischer Rückblicke auf das Lateinische 
viel von ihrer ursprünglichen Assimilationskraft eingebüsst 
hat, so sind doch die lateinischen Formen der Sprache 
als einer romanischen nicht so ganz zuwider. Immerhin 



♦) Remy de Gourmont, Probleme du style S. 84: „Wenn das 
Homer ist, dann schrieb Homer recht schlecht.^ 



- 115 — 

ist es schade, dass mfiretö verdrängt wurde durch ma- 
turitä, frSlet6 durch fragilitS, mofltier durch monastöre/) 
Oft bestehen (wie im Deutschen Pfalz— Palast, Spital— 
Hotel, Pulver— Puder **) zwei Formen verschiedenen Alters 
mit gleicher oder verschiedener Bedeutung und Nuance 
neben einander: süretS— s6curit6, geindre— gfimir, chose— 
cause, loyal— legal, raide— rigide, meuble — mobile, das suffix 
„ation", das an Stelle der älteren Form „aison" tritt; 
combinaison— combination*) 

Viel bedenklicher sind die Sprachgifte des 19. Jahr- 
hunderts, die auch in Frankreich gleichzeitig mit der 
Auflösung der alten Welt und der Rationalisierung des 
Lebens durch Napoleon zu wirken begannen. So wie 
an Stelle der natürlichen Provinzen (Isle de france, Picardie, 
Dordogne etc.), Departements mit beamtlichen Kenn- 
worten treten (Seine et Marne, Hautes und Basses 
Pyr6n6es etc.), so wie nicht mehr Strassennamen (rue 
de laVerrerie, rue du Pr6-aux-Clercs, rue du pot au fer) 
aus dem Leben des Tages zwanglos entstehen, sondern 
eine rue du 4 septembre, eine rue Puvis de Chavannes 
willkürlich dekretiert werden, ebenso tritt in der neueren 
Sprachbildung eine willkürliche Ordnung ein, die dadurch 
nicht fruchtbarer wird, dass sie logisch ist. Wie bei 
uns wirken technische Ausdrücke der Fachwissenschaft, 
die abstrakte Redeweise der Behörden, ein skurril tändeln- 
der Internationalismus zersetzend auf die Sprache, die 
freilich in ihren guten Schriftstellern und selbst vielen 
Journalisten eine geschlossenere Schlachtreihe gegen den 
Zeitungsjargon besitzt, als die deutsche Sprache. Engli- 



*) dtiert von Arsöne Darmesteter III, 158. 
♦*) citiert von Herrn. Paul, Grundprinzipien S. 232. 

8* 



— 116 — 

sehe und deutsche Silben, ja ausländische syntaktische 
Bildungen werden täglich der Sprache angeheftet, ohne auf- 
gesogen zu werden. (So die anglisierenden Bildungen Paris- 
Sport, Paris -Plage, Photo-Magasin, moto-naphta etc.*). 

* 
Am stärksten ist heute vielleicht noch die sprachbildende 
Kraft des italienischen Volks. Chellerina (= Kellnerin), 
crauti (= Kraut), puddino oder bodino (= pudding; selbst 
blombodino = plumpudding habe ich auf italienischen 
Speisekarten gelesen) machen den gebildeten Deutschen 
lächeln, der sich bemfiht, den Gesetzen und der Aus- 
sprache aller Idiome gerecht zu werden, ausser seinem 
eigenen; sein geliebtes Deutsch hat er mit fremden Lauten 
derart barbarisiert, dass selbst der sich ihrer bedienen 
muss, welcher ihm diese Laute vorwirft. 



3. Neuschaffung: von Worten. 

Die barbarischen Benennungen der Wissenschaft 
sind international. Worte, wie Osphresiologie oder 
Splanchnologie verhunzen die französische Sprache nicht 
minder als die deutsche. Solchen Wortungeheuern sind 
bei weitem willkürliche Schöpfungen wie das Wort Gas 
vorzuziehen, das der belgische Alchimist van Helmont 
im 17. Jahrhundert mit der alleinigen Hilfe des Alphabets 
erfand; im 18. Jahrhundert schon bürgerte es sich in 



*) citiert von Remy de Gourmont, esth^tique de la langue 
fran9aise, wo die modernen barbarisierenden Tendenzen im 
Französischen ausführlich bebandelt sind. 



— 117 — 

allen europäischen Sprachen ein, als durch die ersten 
Versuche mit Luftballons der Begriff des Gases populär 
wurde. Vollkommen befriedigen nur die spontanen Wort- 
schöpfungen, als deren anonymen Urheber man „das 
Volk^ bezeichnet. Eine solche Schöpfung moderner Zeit 
zitiert Remy de Qourmont: bateau-fumäe, das sehr schön 
den ursprünglichen Eindruck des Dampfschiffes festhält. 
Aber man hat vorgezogen, aus Rauchschiff Dampfschiff 
zu machen, weil unsere dem sinnlichen abholde Zeit die 
Erklärung der Darstellung vorzieht. Gewiss, nicht der 
sich dem ausgeschiedenen Wasserdampf vermischende 
Kohlenrauch, sondern der Dampf macht das Wesen des 
Dampfschiffes — für den Wissenden, für den, der es in 
der Werkstatt oder im Laboratorium gelernt hat. Welchen 
Wert aber hat diese wissenschaftliche Genauigkeit? Wer 
nicht weiss, was ein Dampfschiff ist, erfährt es durch 
die Zusammensetzung der zwei Silben noch lange nicht. 
Es ist ein Irrtum moderner Wortschöpfer, dass Worte 
etwas klären sollen. Das bleibt stets ein untauglicher 
Versuch. Jeder lacht heute Ober das „Gesichtsvorsprungs- 
reinigungsinstrument" (statt Taschentuch) oder über den 
„Gesichtserker", wie, glaube ich, die „fruchtbringende 
Gesellschaft'' die Nase bezeichnen wollte und dennoch ist 
das moderne Prinzip genau dasselbe. Worte wollen 
ursprünglich darstellen d. h. klanglich oder bildlich an 
etwas erinnern. In den modernen praktisch und intellek- 
tuell beziehungsreichen und vielfach abgeschliffenen 
Sprachen sinken die Worte meist zu konventionellen 
Zeichen herab, die weder an sich schön noch hässlich, 
sondern farblos sind, aber in glücklichen Zusammen- 
hängen jederzeit wieder poetisch aufglühen können. Der 
Ruin der Sprache sind erklärende Worte, sowie der 



— 118 — 

Schulmeister der Feind des Kflnstiers, der Pedant der 
Feind der organischen Entwickelung ist. Bateau-fumte 
ist eine vollkommene Vision, bateau ä vapeur eine un- 
vollkommene Erklärung. Hie und da freilich geben auch 
Worte, die aus der Zeit lebendiger Sprachschöpfung 
stammen, wirkliche Eigenschaften an, aber dann ist es 
Zufall, denn diese Eigenschaften sind fast immer neben- 
sächlich. Darmesteter, (hist. de la langue fran(aise) 
citiert Soldat = sold6, confiture = pröparation, cardinal = 
important. Im Deutschen könnte man an „drucken'S 
„Würfel", „Schriftsteller" etc. denken. 

Wenn man Wissenschaft und Behörden fOr die Er- 
stickung des spontanen Sprachgefühls verantwortlich 
macht, dann ist der Büttel dieser beiden Mächte der 
Journalismus. In Frankreich ist die wissenschaftliche 
Bildung noch nicht so allgemein und populär, wie bei 
uns, die Behörden und Regierenden erlassen weniger 
Verbote und sind nicht so beredt, die Zeitungen stehen 
stilistisch auf bedeutend höherer Stufe. Darum ist das 
Volk, bes. das Pariser, noch immer nicht arm an spon- 
tanen Neubildungen, die nicht nur in die französische, ja 
in alle europäischen Umgangssprachen eingedrungen sind. 
Ist in der blitzenden Kürze des Wortes „chic" nicht 
wirklich ein schillernder Schimmer der farbigen Eleganz 
unserer Zeit aufgefangen? Bei uns tritt Kontamination 
ein mit dem einheimischen Stamme „Schick'', dem der 
Eindringling neuen Glanz verleiht. 

Die neueste, von den Behörden verständigerweise 
genehmigte Bildung ist: autobus für automobil-omnibus. 
Mir scheint dieses Wort im Sinne des Sprachgeistes voll- 



~ 119 — 

kommen. Der gelehrte Einwand, dass „bus' kein Fahr- 
zeug bezeichnet, sondern ein lateinisches Dativsuffix ist, 
hat für die Lebenden keine Bedeutung, ebensowenig wie 
der lebende Römer sich erinnerte, was für ein Wort vor 
Zeiten zum Suffix „bus'^ abgeschwächt worden ist. Auch 
in der Sprache wächst neues Leben aus Zerfallstoffen. 



4. Sprachkultur. 

Die deutsche Kultur ist , Bildung', eigentlich sogar 
Umbildung. Wie durch die Taufe wird der Mensch von 
ihr in seiner Art anders gemacht. Der alte Barbar wird 
ausgezogen, der Gebildete angezogen. Zwischen Ge- 
bildeten und Ungebildeten besteht daher eine Kluft: die 
Einen verstehen die idealistische Philosophie und klassische 
Symphonieen, während den anderen diese Dinge so un- 
bekannt bleiben, als ihnen ihre undeutschen Namen fremd 
sind. In Frankreich würde schon die einheitliche, aus 
den Bedürfnissen natürlich entstandene Sprache genügen, 
um einen solchen Abgrund schnell zu überbrücken.*) Es 
ist nicht nur ihre uns ein wenig verdächtige Sonorität, 



*) Taine (La Fontaine et ses fables) ist der entgegengesetzten 
Meinung. Galliertum und lateinische Kuhur schaffen nach ihm 
einen unüberbrückbaren Abgrund zv^ischen dem Volk und der 
Bildung von Versailles (heute von Paris), während in Deutschland 
„eine Dienstmagd Sonntags Schiller liest und versteht^^ (!) Dass 
das ganz niedere Volk in Frankreich in den Grenzen der „gau- 
loiserie" verbleibt, ist wahr und lässt ihm oft einen ähnlichen 
Reiz, wie den unserer Hochgebirgsbauem, an^welche die „Bildung* 
noch nicht heranreicht 



— 120 - 

sondern mehr die bezaubernde Leuchtkraft ihrer Wendungen, 
welche den Franzosen fOr die Magie des Wortes so 
empfänglich macht. Die Suggestivität der treffenden 
Wendungen ermöglicht die Gedanken so zu beflügeln, 
dass sie in die verschwiegensten Fernen des Landes 
ihren Weg und Überall Widerhall finden. Darum wird 
in Frankreich das Bedeutende schnell populär. „Wo sind 
die deutschen Volksmassen'', fragte Rahel von Varnhagen, 
ydie man so anreden könnte, dass man von ihnen ver- 
standen wird?*" Der einseitige Drill des Sozialismus hat 
inzwischen wenig geändert. 

In Frankreich hat die Sprache stets die Klassengegen- 
sätze gemildert. Das Ober Nacht mit Brillanten bedeckte 
Dienstmädchen lernt schneller die Ausdrucksweise seiner 
ungewohnten Umgebung, als sich die rauhe Haut seiner 
Arbeitshände erneut. 

Der geistige Mensch ist in Frankreich durch das 
Medium der Sprache unter dem Volk nicht so fremd, wie 
bei uns. Man kann sich durch ein gutgefundenes Wort 
leicht in seiner Menschlichkeit verständlich machen. Ich 
habe in Deutschland einige Schwierigkeiten gehabt, Dienst- 
boten an die Eigentümlichkeiten meines Lebens zu ge- 
gewöhnen, sie sahen darin leicht Chikane und Willkür. 
Unmöglich, sie von dem Notwendigen, Berechtigten einer 
ihnen unbekannten Ordnung so zu überzeugen, dass sie 
sich gerne fügen. In Paris sagte mir meine Bonne : ,0h, 
ich kenne das, ich habe bei einem Maler gedient, da 
konnte man nie wissen, um wieviel Uhr gegessen oder 
aufgestanden wird. Oft war Madame stundenlang bei ihm 
im Atelier, pour lui donner des idfies.** Einem deutschen 
Dienstmädchen wäre dieser Vorgang nicht begreiflich 
zu machen, da die Sprache keine Worte hat, die einfach 



— 121 — 

genug wären: „inspirieren*' ist ein Fremdwort, „begeistern* 
ist Obertrieben, .anregen* ist ein Fachwort der Ateliers. 

Oder man versuctie, folgendes Stück Dialog zu Über- 
setzen^), das ich in dem caveau des innocents auffing. 
Ein junger Mann kommt herein, halb als Arbeiter, halb 
bürgerlich gekleidet. Er fragt nach Juliette; sie ist nicht 
da. Eine andere kommt ihm in den Weg und sagt: „Je 
tächerai d'Stre si aimable, que Juliette, ta präf^r^e.''. 
Er: (schaut sie einen Augenblick an) „Mais tu la 
surpasses.'' 

Soll man mehr die Natürlichkeit oder die Kunst 
des Ausdrucks bewundern? Im Deutschen wäre das 
in einer Komödie für Gebildete verständlich, niemals im 
Leben. 

Das beste Mittel, einen selbst einfachen Begriff dem 
Volk zu sperren, ist, ihn mit einem widerborstigen 
Wort zu bezeichnen. So ist „analyser" (bis auf den 
lautlich immerhm mit i zusammenfallenden unfranzOsischen 
Buchstaben y), ein französisches Wort, es befremdet kein 
französisches Ohr, wird daher vom Volk behalten, wieder- 
erkannt, ja bisweilen benutzt. Ich wage die paradox 
klingende Behauptung, dass die analytische Fähigkeit 
des einfachen deutschen Menschen aus dem Grund ge- 
hemmt ist, weil für den Begrilf die bewahrende Kapsel: 
das Wort fehlt. — Die einfachsten französischen Haus- 
hälterinnen disponieren bekanntlich besonders gut über 
ihre Zeit und Mittel. Bei den deutschen beklagt man 
sich oft, dass sie so schlecht „ihre Zeit einzuteilen ver- 
stehen". ,.Seine Zeit einteilen" ist eben etwas viel kom- 



*) Vgl. die französischen Dialoge am Schluss des folgenden 
Kapitels. 



— 122 — 

plizierteres als „disponieren''; „disponieren" aber ist ein 
Fremdwort, das erst von einer bestimmten Bildungshohe 
an begriffen wird. Die guten deutschen Haushälterinnen 
sind meist etwas gebildet, aus besserer Familie, wo man 
Begriffe und Worte, wie disponieren, arrangieren, kennt, 
und darum sind sie seltener. 

So werden auch fast alle Worte des höheren geistigen 
oder gesellschaftlichen Lebens im Deutschen vom Volk 
durch fremden Klang abgeschlossen und damit alle die 
metaphorischen Beziehungen, die sich an Ausdrücke 
knüpfen, wie: Harmonie, Rhythmus, Takt, Relief. Nur 
ein ziemlich gebildeter Deutscher kann verstehen, was 
Konvention, guter Ton, savoir faire, interpretieren, poin- 
tieren u. dgl. heisst. Andererseits erwecken diese Fremd- 
worte in hohem Mass die Eitelkeit des Bildungsprole- 
tariats, das zu leicht glaubt, mit dem Besitz des fremden 
Wortes, von dem es zudem meist nur eine Tönung kennt, 
die Sache zu besitzen. 

Die Wissenschaft verdankt einen grossen Teil ihrer 
Popularität (nicht zu verwechseln mit Volkstümlichkeit) 
ihrer reichen Versorgung mit Fremd Worten. Die Freude 
Ober ein neues Wissen, das erlaubt, die Seele Psyche 
zu nennen, gleicht nur zu sehr dem Frohlocken des 
bourgeois gentilhomme, der mit Entzücken erfuhr, dass 
das törichte, was er in einem fort redete, „Prosa" ist. 
Am schlimmsten wird es, wenn die verbildeten Volks- 
schichten selbst schöpferisch werden und — eine auch 
in Frankreich häufige Erscheinung — ihre Handelsprodukte 
klangvoll benennen: Parkettol oder gar Apfelin. 

Der Deutsche, der plaudern oder Prosa schreiben 
will, wird immer den Franzosen beneiden müssen, der 
Dichter, der das Leben des Tages in den äusseren Vor- 



— 123 — 

gangen spiegelt, muss sich an Worte wie Friseur, Portier, 
chambre separ^e stossen, deren grammatische Unrichtig- 
keit (es mQsste wenigstens heissen: coiffeur, concierge, 
cabinet particulier) lange nicht so schlimm ist, als ihr 
im deutschen Zusammenhang barbarischer und anspruchs- 
voller Klang. Darum ist in Deutschland der Vari^tä-Ge- 
sang so widerwärtig, deshalb muss das Cabaret, wo es 
künstlerisch wirken will, stets, wie Wedekind mit Glück 
versucht, an das altertümliche Volkslied anknüpfen; aber 
Wedekind ist fast der Einzige, dem es gelang. Eine 
scherzhafte Behandlung des modernen Lebens, zumal in 
Versen, verfällt im Deutschen, aus Mangel an ächten 
Worten für die verfeinerten Beziehungen, fast stets dem 
Commisvoyageur-Geschmack. 

Weil in Frankreich Sprache und Kulturentwicklung 
gleichen Schritt halten, in steter Wechselwirkung stehen, 
bleibt die Kultur jedem zugänglich, zum mindesten sicht- 
bar als Etwas, dessen Wert er kennt. »Man merkt Ihnen 
ein wenig an der Aussprache den Fremden an", hörte 
ich einen französischen Arbeiter zu einem Ausländer sagen, 
»aber trotzdem wollte ich, ich könnte französisch wie 
Sie; Sie müssen da drüben mit dem Gemüsehändler reden, 
das ist ein intelligenter Mann, der kennt die französische 
Sprache aus dem Grund, (ä fond)*" Der Gemüsehändler 
lacht und sagt: »Aus dem Grund? Aber keine Spur, ich 
kann einen Brief schreiben und verstehe die meisten 
französischen Worte, aber die feinen Wendungen kenne 
ich auch nicht.* 

Wann käme jemals einem gebildeten oder unge- 
bildeten Deutschen der Zweifel, ob er Deutsch kann? 
Und dabei ist die Anzahl der deutschen Schriftsteller, 



— 124 — 

welche der Sprache mächtig sind, eine sehr geringe. 
Und gar deutsche Juristen, Aerzte, Naturforscher, Kauf- 
leute! sie beherrschen nur selten die deutsche Sprache, 
ohne jemals in ihrem Leben diesen Mangel selbst zu 
bemerken. 



5. Poesie und Umgangssprache. 

Eine poetische Sprache haben die Franzosen nicht; 
es gibt daher auch fast keine französische Lyrik in dem 
Sinne, den Germanen, Angelsachsen, Italiener, Spanier, 
Slaven, Araber, Inder, Chinesen dem Worte geben. Die 
wenigen grossen französischen Dichter bltthten vor und 
nach den beiden klassischen Jahrhunderten: Villon, Ver- 
laine, Volkslied und Chanson. Durch diesen Mangel ist 
in die Prosa und die Umgangssprache jener Reichtum an 
poetischen Färbungen und Altertümliches mit Modernem 
verbindenden Bezügen zerstäubt worden, den Hofmanns- 
thal in der oben angeführten Stelle schildert. Der Strom 
des Poetischen wurde nicht von der Umgangssprache 
abgezweigt. So ist zwar alles das verloren gegangen, 
was einer moderneren, rationelleren Zeit nicht mehr ge- 
mäss war, aber dem rationellen, modernen Gespräch ist 
eine Fülle von ritterlichen Anklängen erhalten worden, 
die das Französische stets die Sprache holdester Gesittung 
bleiben lassen. Wenn ihr auch ein Shakespearisches 
oder Hölderlinsches Pathos versagt ist — es würde 
rettungslos in Victor Hugoscher Rhetorik ertrinken — , so 
kann die Umgangssprache unversehens in ein echtes 



— 125 — 

Pathos Obergehen, ohne aufzuhören, Sprache des Alltags 
zu sein: deshalb eignet sich das Französische so sehr 
für die moderne Wirklichkeitspoesie, deren Wesen 
es ist, die eigentlich poetische Sprache zu verschmähen. 
(Tristan Corbiöre nennt sich: poöte trop senti pour 6tre 
po^tique.) Die moderne deutsche Umgangssprache ist 
dagegen so trivial, dass der Dichter sich stets der poe- 
tischen Sprache bedienen muss, die bei der Darstellung 
moderner Wirklichkeiten nur zu leicht Obertrieben erscheint 
und dann gerade den Wirklichkeitsreiz zerstört. Das 
Problem Dehmel-George wäre in Frankreich nicht denk- 
bar, da man Georgesche Feinohrigkeit, Bildschärfe und 
seinen guten Geschmack im Ausdruck mit Dehmelscher 
Alltagsungezwungenheit verbinden kann. Manches Ver- 
lainesche Gedicht ist dess' Zeuge. 



Uns erscheint es zunächst befremdlich, wenn in der 
französischen Tragödie altrömische oder orientalische 
Prinzessinnen mit «Madame'' angeredet werden, weil wir 
Madame — das erst im 17. Jahrhundert bei uns einge- 
führt wurde — nur mit den anspruchsvollen Assoziationen 
des modernen Salons kennen. Für das französische Ohr 
aber ist dame = domina == Herrin, heisst doch selbst 
«Unsere liebe Frau* Notre Dame. «Madame, dies hübsche 
Wort der mittelalterlichen Liebeshöfe*, sagt Laforgue. 
Wenn nun auch vielleicht die feudale oder himmlische 
Herrin dadurch ein wenig verkleinert wird, dass sie mit 
der modernen Salondame e i n Kleid trägt (wir vermeiden 
wohl Gott oder den König, wenn wir sie auch «Herr* 
nennen, mit der Umgangsformel „mein Herr« anzureden), 
so gewinnt die moderne Dame durch dieses Kleid um 



— 126 — 

ebensoviel an Pathos und Herrlichkeit, als die Herrin 
verliert. Für Corbiire wird sogar „das Ewigweibliche* 
ironisch zu i^r^ternel Madame \ 

Dass sich im Französischen vous nicht in Sie und 
Ihr gespalten hat, macht die moderne VerskomOdie so leicht 
und bewahrt dem heutigen Leben jene zeremonielle Grazie 
der Vergangenheit. 

Wenn der Franzose den Gang einer Frau loben will, 
so klingt in dem Wort »marcher* die Poesie des Schreitens 
mit, und dennoch bleibt der Ausdruck anspruchslos, un- 
auffällig, alltäglich. ,Wie sie geht*, wäre lahm. Dem 
Wort „gehen *" ist jede Poesie entzogen, es drückt nur 
die Funktion aus. Eine höhere Art Gehen bezeichnen 
wir durch ^wandeln", „schreiten* etc., wofür dem Fran- 
zosen nur das an sich poesie- und farblose „marcher* 
zu Gebot steht, das erst durch die Beziehungen seine 
Tönung erhält. Sagen wir aber: ,wie sie schreitet* 
oder „wie sie wandelt*, so ist der Ausdruck für die 
Umgangssprache zu übertrieben; er wirkt lächerlich oder 
befremdend auf jeden nicht an Literatur Gewöhnten, und 
die Folge ist, dass Menschen von normaler Vernünftigkeit 
bei uns solche Betrachtungen über den Gang einer Frau ganz 
den Dichtern überlassen, die dafür da sind. Das Alltags- 
leben der notorisch unpoetischen Franzosen hat oft mehr 
Poesie, als das des ausgemachten Dichtervolkes, das seine 
Poesie für den Feiertag in Truhen bewahrt. Alltag und 
Poesie wärmen und färben einander in Frankreich; man 
kennt nicht den Abgrund zwischen Banalität und Ver- 
stiegenheit, bei dessen Auffüllung unsere modernen Lyriker 
Schwierigkeiten finden, die Publikum und Kritik kaum ahnen. 



— 127 — 

6. Der Stil: Natürlichkeit, Kürze, Klarlieit. 

Die grössten Schriftsteller von 
heute sind keine Franzosen, 
aber in Frankreich allein gibt 
es eine komplette Literatur. 

Le style est la pudeur de la 
pensde. 

R. de Gourmont. 
Die Zahl der Schriftsteller, die 
ihre Sprache kennen, vermindert 
sich im selben Mass, als die all- 
gemeine Bildung sich verbreitet. 

Willy. 

Das Stilproblem beschäftigt die Franzosen mehr als 
die Deutschen. „Das ist schön wie Prosa', ruft einmal 
Duclos aus (f 1772). „Die Prosa ist niemals fertig*, 
sagte Flaubert, der über seine Prosa fast verrflckt wurde, 
da er $ich nie genug tun konnte. Paul-Louis Courrier 
karikiert sehr hübsch die heftige Voreingenommenheit fflr 
den Stil: «Plutarch hätte die Schlacht von Pharsalus den 
Pompejus gewinnen lassen, wenn das nur um ein geringes 
seinen Satz runder gemacht hätte.' Aus solchem Streben 
ist von allen Völkern allein den Franzosen eine Prosa 
gelungen, die sich nach der antiken hören lassen kann. 

Schon die Fabliaux und die anmutigen Chroniken 
Froissarts (f nach 1400) zeigen alle Vorzüge des fran- 
zösischen Stils: Natürlichkeit und Klarheit des Ausdrucks, 
exakte Beobachtung, Lebhaftigkeit der Darstellung, die 
alle weitschweifige, gelehrte Langweiligkeit vermeidet. Ja 
bereits in dem Chanson de Roland findet sich etwas von 
jener ausdrucksvollen klaren, bisweilen nüchternen Knapp- 
heit des Stils. 

Niemals begegnet man bei dem französischen Autor 
dem dilettantischen Bedenken gewisser modemer deutscher 



— 128 — 

Dichter, durch Arbeit die Frische des Einfalls zu verderben. Er 
weiss, dass Goldadern fast immer in Schlacken versprengt 
sind und oft mühsam herausgehämmert werden müssen. 
(Natürlich können gewaltsame Hammerschläge einen Barren 
zersplittern.) Schon Boileau stellt den Unterschied auf 
zwischen „vers faciles** und ,vers facilement faits«. Wir 
sollten uns daran erinnern, dass die natürlichsten, sang- 
barsten Verse von Heine gerade die verschmiertesten in 
den Manuskripten sind. 

Franzosen und Deutsche verlangen vom Stil Natür- 
lichkeit, aber der Deutsche meint sie zu erreichen, wenn 
er redet, ,wie ihm der Schnabel' gewachsen ist. Der 
Franzose weiss, dass nichts schwerer ist, als natürlich zu 
sein, dass dazu manchmal die höchste Kunst, immer die 
äusserste Strenge gegen den eigenen Schnabel gehört. 

Um natürlich zu sein, muss man vor allem „Natur*^ 
haben, d. h. etwas, was sich gegenüber dem fortwährenden 
Einstrom von Fremdem in unsere Seelen immer und immer 
wieder behauptet, und zwar von Jahr zu Jahr stärker. 
Wie einem der Schnabel gewachsen ist, erfährt man erst^ 
nachdem man ihn gleich einem Specht an vielen Rinden 
gewetzt hat. 

Die Ausdrucksweise mittelmässiger Menschen ist oft 
gemein und geschmacklos, aber darum nicht natürlich, 
im Gegenteil, sie zeichnet sich aus durch eine schäm- 
und kritiklose Anwendung fertiger Klischees, aufge- 
schnappter Vergleiche, Metaphern etc. Seit Erfindung der 
Buchdruckerkunst und besonders seit der Verbreitung der 
Zeitung gibt es keine jungfräulichen Ohren mehr. Die 
Luft ist geschwängert von Redensarten, die durch die 
Literatur gegangen sind, und der gemeine Mann, der zum 
Scherz einen Vers macht, begeht, ohne es zu wissen,. 



— 129 — 

unfehlbar ein Plagiat, vielleicht nicht an einem bestimmten 
Dichter, aber an jenem Zeitungsdeutsch der allgemeinen 
Bildung und jenem populären Versjargon der Klingklang- 
poesie. Da wir in Deutschland keine literarische Stil- 
überlieferung haben, findet selbst der Gebildete nur selten 
in seinem eigenen Aechtheitsgefühl genug Halt gegen die 
ihn in seiner Schutzlosigkeit stündlich suggerierende Be- 
hörden- und Zeitungssprache, die auch auf den Höhen 
unserer Literatur und Poesie noch lange nicht so verpönt 
ist, als sie sein sollte. Wer wollte wagen, sich selbst 
von solcher Befleckung ganz rein zu wähnen! NatQrlich 
im Ausdruck werden heisst, sich vollkommen von Aus- 
drucksklischees befreien, sein Ohr so schärfen, dass es 
jedem Wort wieder mit der naiven Kritik dessen gegen- 
über steht, der es zum erstenmal hört. Dieser Weg ist 
lang und beschwerlich; man gerät leicht auf Umwege, 
die den die Banalität Fürchtenden vorübergehend ins 
Dickicht anderer, wenn auch geschmackvollerer Künst- 
lichkeiten locken mögen. Viele bleiben darin stecken. 

An das dem Einzelnen Natürliche denkt Buffon, wenn 
er sagt: .Der Stil ist der Mensch selbst*^, während die 
Inhalte sich leicht übertragen und nicht so sehr dem 
Einzelnen gehören. Der Stil zeigt, wie viel Einer echte 
Natur besitzt neben dem, was er an Kenntnissen, Beob- 
achtungen und vielleicht an Entdeckungen übermittelt. 

„Es genügt", sagt R. de Gourmont, „in allen Rede- 
künsten unwissend zu sein, nur die Worte zu gebrauchen, 
deren Sinn man genau kennt, d. h. ihren symbolischen 
Zusammenhang mit der Wirklichkeit." 

Diese Natürlichkeit besitzen viele ganz einfache Frauen, 
deren Briefe sublim sind. Durch nichts geht diese Natür- 
lichkeit, das instinktive Verstehen der Wortsymbole schneller 

9 



— 130 — 

verloren als durch die Berührung einfacher Naturen mit 
dem Geschwätz unseres öffentlichen und Literaturlebens; 
deshalb sind besonders die Frauen in ihren literarischen 
Aeusserungen (nicht in ihren TagebOchem) meist so trivial, 
d. h. sie reden Worte^ deren vielfältige Symbolik sie nicht 
ahnen. 

.Out schreiben*, sagt Buffon, «heisst gleichzeitig gut 
denken, gut empfinden, gut wiedergeben.^ Dazu sind 
die einfachsten ungelehrtesten Naturen fähig, wenn sie 
nur in ihrem eigenen Gebiet bleiben. 

Dieses bischen bescheidene Weisheit hatte die fran- 
zösische .Gesellschaft des „ancien rigime^ stets gegen- 
wärtig, daher der Reiz ihrer Briefe und Memoiren; selbst 
nach den StQrmen der Romantik und der Moderne ist 
diese Art Natürlichkeit noch ein Merkmal der guten fran- 
zösischen Literatur, die sich ebenso fem hält vom Zeitungs- 
kauderwelsch als von verstiegener Pathetik und gelehrter 
Gespreiztheit. Der pretiöse Stil ist im Französischen stets 
ein Nebenschössling gewesen, auf den sich immer schnell 
der frische Reif des gallischen Witzes legte. 

Die Franzosen empfehlen aufs angelegentlichste die 
Nachahmung: „wer nicht angefangen hat mit Nachahmung,' 
sagt Thäophil Gautier, „wird niemals originell sein.* 
Durch Reibung mit fremden Naturen entdeckt man die 
eigene. Es ist oft geschehen, dass die Nachahmung eines 
schlechten Buches ein gutes hervorbrachte: mit ziemlicher 
Sicherheit ist anzunehmen, dass „les miserables* von 
Victor Hugo durch Eugene Sues sensationellen Roman 
„les mystöres de Paris*" angeregt wurden. Shakespeares 
•Dramen sind oft Nachbildungen früherer heute vergessener 
Werke. 



~ 131 — 

Nicht immer sind die Franzosen der vom ihren besten 
Autoren theoretisch gestellten Anforderung der KQrze 
nachgekommen. Die ,prose fleurie*" steclct seit Cicero 
den Lateinern im Blut. Schon die streng geordnete, oft 
schematische Syntax des Französischen verbietet Taci- 
täische Kürze. Der Franzose ist stets bereit, die KQfze 
der Klarheit zu opfern und gewisse Weitläufigkeiten durch 
Eleganz, Rundung der Sätze und Abwägung der Satzteile 
gegen einander angenehm zu machen. Um die unbe- 
dingt geforderte Klarheit zu erzielen, hört der Schriftsteller 
auf das Urteil Aller. Jenes anspruchsvolle umwölkte Ein- 
siedlertum des deutschen Dichters gibt es nicht. Moliire 
soll, wie man weiss, seiner Köchin vorgelesen haben, um 
zu erproben, ob seine Ausdrucks weise klar sei; Buffon, 
Stendhal, Chateaubriand hörten auf jeden Einwand; denn 
selbst der dOmmste Einwand kann einem dies zu be- 
denken geben: wenn ich so missverstanden werden kann, 
drOcke ich mich immer noch unvollkommen aus. 

Diderot sagt in seiner philosophischen Unterhaltung 
mit der Marschallin von ♦„.*: „Wenn Sie mich nicht 
verstunden, so wäre das wohl meine Schuld.'' Dieser 
Anschauung verdankt man es, dass von Descartes bis 
auf Berthelot die Werke der französischen Wissenschaft 
allgemein lesbar sind und auf den Volksgeist wirken können. 
Dabei ist den Franzosen nichts ferner als „populärer*" 
Stil, sie schreiben ffir die „honn£tes gens*. 

Rivarol meint angesichts der Verworrenheit der eng- 
lischen Bficher, der Leser fände bei der Lektüre die Mühe, 
die sich der Autor nicht genommen hat: nämlich den 
Stoff zu richten, zu gruppieren und in klare Sätze zu 
fassen. 

Wie alle französischen Stilgesetze führt auch die 

9* 



— 132 — 

strenge Forderung der Klarheit zu einer Beschränkung. 
Der französischen Dichtung fehlt meist das, was Dante den 
Schleier der seltsamen Verse, „il velame degli versi strani* 
(Inf. IX, 61) nennt. Spinozas „Omnis definitio est negatio'' 
gewinnt für die Poesie einen besonderen Sinn. Der grosse 
Bilderreichtum des deutschen Ausdrucks, eine bedeutend 
freiere und kühnere Verwendung der Metapher gestatten 
uns oft, Unsagbares ferne anklingen zu lassen. Was die 
französischen Symbolisten in dieser Richtung versuchen, 
muss einem deutschen Ohr meist kraftlos, oft kindisch 
erscheinen. Gegen die Bilderkühnheit Hölderlins kommt 
kein Victor Hugo, gegen die Symbolik C. F. Meyers kein 
Chateaubriand auf. Und Beide waren für Frankreich 
starke Neuerer. Chateaubriand wagt z. B. einmal — un- 
erhört für französische Ohren und Augen — von den 
entblössten Knochen und Gräten einer ausgeraubten, zer- 
störten Kirche zu sprechen (von R. de Gourmont zitiert). 
Infolge einer gewissen Ungenauigkeit, die wir ge-^ 
statten, machen wir die Metapher leichter und häufiger 
anwendbar. Bismarck, einer der besten Stilisten der 
deutschen Sprache, sagte einmal, »er wolle das Gift 
tropfenweise aus dieser Frage drücken". Der Franzose 
würde ein konkretes Zwischenglied verlangen, z. B. „eine 
giftige Wunde*, denn, genau genommen, kann man eine 
Frage nicht ausdrücken. Diese oft fruchtbare Nachsicht, 
die wir uns erlauben, wird aber leicht gefährlich, weil der 
Dispens, das konkrete Zwischenglied auszusprechen, leicht 
dazu führt, es in der Vorstellung zu vergessen, wodurch 
die schiefen Bilder der Zeitungs- und Beamtensprache 
entstehen. (Es werden z. B. „die heissen Töne der Leiden- 
schaft angeschlagen*, wobei der Autor ebenso wenig die 
Flamme der Leidenschaft als die Orgel der Dichtung vor 



133 — 

Augen hat.) Die schiefe Metapher verrät nach Rivarols 
Meinung stets eine gewisse „faussetä d'esprit". 

Die französische Klarheit wird besonders gefördert 
durch das Verbot, abstrakte Worte zu häufen. Unsere 
substantivierten Infinitive, unsere Worte auf -heit, -keit, 
-ung, -weise etc. verführen oft zu Verallgemeinerungen, 
ehe man das Einzelne gegenständlich gesehen hat. 



Wer die Zucht zum klaren Ausdruck durchgemacht 
hat und den Wert der präzisen Tönung und Halbtönung 
kennt, wird allmählich unfähig, ein halb andeutendes 
Gefasel zu verstehen. Er gewöhnt sich daran, in jedem 
Wort eine bestimmte und nur diese Funktion zu sehen, 
und nun funktioniert da allerlei Ungewolltes durchein- 
ander, und das Gewollte funktioniert nicht ganz scharf. 
Es ist, als würde man aus einem Raum antelephoniert, 
in dem eine Gesellschaft redet. So kann ein einziger 
rhjrthmischer oder harmonischer Fehler einem geübten 
Musiker eine bekannte Melodie im Augenblick unkennt- 
lich machen, während das gröbere Ohr unbeirrt bleibt. 
Es gibt eine Verfeinerung, die einen schwer von Begriff 
macht. Man will manchmal bösen Willen darin sehen, 
wenn die Franzosen gewisse schlecht geschriebene oder 
schlecht disponierte fremdländische Werke nicht verstehen, 
die zweifellos durch einen tiefen Grund von Wissenschaft 
oder Lebensgefühl den Kampf mit ihrer Stilverworrenheit 
reichlich lohnen. Aber sie verstehen sie wirklich nicht. 
An die genaue Metapher, an den fest umrissenen Aus- 
druck gewöhnt, vermuten sie in dem ungenauen Wort 
oder zufällig mit anklingenden Doppel- oder Nebensinn 
eine Absicht des Autors, und da sie sie nicht deuten 



— 134 — 

können, werden sie verwirrt Wer an die Durchtrieben- 
heiten einer guten Prosa gewöhnt ist, traut den absichts- 
losen Bezügen eines mittelmässigen Stils so wenig, wie 
ein Frauenkenner an eine allzu unbewusste Unschuld glaubt^ 

Ich las neulich den Satz: .Die Blattern sind der 
Triumph der Medizin'. Zweifellos ist das stilistisch 
schlecht, aber der deutsche Durchschnittsleser versteht, 
ohne weiteres ergänzend, den Sinn: Die Blattern h ei lung 
oder Blattemvertreibung ist der Triumph der Medizin. 
Ich hätte mich vor 15 Jahren kaum an dieser Form ge- 
stossen. Inzwischen hat mich das Stilproblem intensiv 
beschäftigt, und ich bin so schwer von Begriff geworden, 
dass ich zunächst nicht wusste, was der Autor meint. 

Viele Menschen, die angeblich jede leise Andeutung 
verstehen und für besonders fein differenziert gelten, sind 
bloss primitiv und genügsam, sie begnügen sich mit dem 
Ungefähr. 

Manche Deutsche glauben auch an bösen Willen, 
wenn die Franzosen bei scheinbar kleinen Fehlem der 
Aussprache sie nicht mehr verstehen. Viele sprechen 
z. B. das Wort jouissance so aus, als würde es chouisanse 
geschrieben. Der Deutsche erkennt das Wort noch leicht 
in dieser Aussprache. Der Franzose aber muss bei der 
Silbe chou an Kohl denken und wird dadurch weit ab- 
geführt von „jouir". Die französische Aussprache ist be- 
sonders kompliziert und schärft das Ohr unqfei^'^'^, so- 
dass es hinfort keine Nuance mehr ^^ ^^^^ 
kann. So sind z. B. bome und q^|- nicht 
gleichlautend mit Born und MoiflL bfdden 

•) Zitiert be? G 
S. 590- 





- 135 — 

französischen Worte wird solange verweilt, dass das n 
oder t fast den Wert einer Nebensilbe erhält. Wer das 
vernachlässigt, wird etwas weniger leicht verstanden. 
Ebenso kompliziert sind die Regeln der Akzentuierung. 
Der Akzent liegt im Französischen weder auf der ersten, 
noch auf der letzten, noch auf keiner Silbe: drei gleich 
falsche, in deutschen Lehrbüchern abwechselnd auf- 
tauchende Regeln; der Akzent liegt stets auf einer ganz 
bestimmten, aber jeweilig vom musikalischen Empfinden 
gewählten Silbe. Wer z. B. statt la malson blanche be- 
tonte la maisön blanche, würde ein französisches Ohr 
verwirren, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, 
und an eine Orthographie denken lassen, wie meson oder 
mezon. Im Deutschen sind die Laute viel schärfer ge- 
trennt; ein Fremder, der statt nach dem Hafen, nach 
der Hafen fragt, oder gar nach der Haffen, ist noch zur 
Wft* ,rfl«.w„^ii/.t, !„ ai„fl^ Oa,r«iL-a«.yjg^ ^jg yjgi ^^^1 Hafen 
i gar das p mehr wie 
isägliche Vorstellungs- 
die Worte l'apport,. 
ein noch sehr mannig- 
ammenhang verständ- 
Ausserdem liebt der 
und jedes Ohr ist in 
Zweideutigkeit, als es 
litzt ist. 

rd wie die Wortarmut 
ganz zu erwertienden 



136 



7. Verpönte Worte. 

Eine wahrhafte Sünde der französischen Sprache 
gegen sich selbst, ein Schaden, der nicht wie die Wort- 
und Lautarmut entsprechende Vorteile bedingt, ist die 
VerpOnung gewisser Worte, nicht etwa, weil sie krasse 
oder unangenehme Inhalte ausdrücken, im Gegenteil : 
in der Besprechung solcher Inhalte ist man bedeutend 
freier als bei uns. Man nennt in der gesellschaftlichen 
Umgangssprache viele natürliche Dinge ruhig beim Namen, 
wodurch vermieden wird, dass sich um die Worte jene 
schwüle Geheimsphäre von Unanständigkeit bildet. Des- 
halb kann man bekanntlich im Französischen so Vieles 
sagen, was in anderen Sprachen roh klänge. Worte wie 
ventre, derriöre, cul (besonders in vielen Zusammen- 
setzungen wie cul-de-jatte, cul-de-lampe, cul-de-sac etc.), 
souteneur, putain, la grue werden auf der Bühne der 
com^die frangaise ausgesprochen und sind mehr oder 
weniger salonfähig. Dagegen sind viele Wörter, die ganz 
saubere Begriffe gut bezeichnen, nur darum verpönt, weil 
sie nach der Schänke, nach dem Laden oder der Gasse 
riechen.*) Wenn man aber die Schänke, den Laden oder 
die Gasse darstellen will, können dann die Worte über- 

*) La Bruyere (les Caractferes, V) tadelt die ^delicatesse" 
mancher Damen, welche die Namen gewisser Strassen und 
Plätze nicht auszusprechen wagen, weil sie nicht „assez nobles" 
sind, um gekannt zu sein^ So nennen sie zwar den Louvre, die 
place royale, aber die Hallen oder das Chatelet vermeiden sie 
oder sprechen sie wenigstens falsch aus, um eine adelige Un- 
wissenheit zu beweisen. Aehnlich zeigte sich mancher grosse 
Herr des ancien regime über die Namen bürgerlicher Personen 
oder über gewisse Tatsachen der neueren Geschichte absichtlich 
schlecht unterrichtet. So nannte man in Versailles den König 
von Preussen beharrlich den Marquis von Brandenburg. 



— 137 — 

haupt zu sehr danach riechen? Stets haben sich freilich 
solche Worte durch ihre penetrante Unverwflstlichkeit 
Bahn gebrochen und sind in den Salons nach langem 
Antichambrieren empfangen worden (re(us). Seitdem die 
Romantik die Tafeln der soci6t6 polie zerbrochen, mit 
spielerischer Lust wieder die guten derben Worte des 
16. Jahrhunderts hervorgeholt hat, ist man überhaupt 
weitherziger geworden. Der Naturalismus hat diesen 
Weg fortgesetzt und — nicht immer zur Verschönerung 
der Sprache — Bezeichnungen aus allen möglichen 
Nebenwelten zusammengetragen. 

Worte wie „äpatant'' sind längst Gebrauch geworden. 
Das demKOnstlerjargon entstammende ^»chiqu^'', welches das 
Talmihafte, Unechte, besonders bei Kunstwerken, aber auch 
in weiterem Sinn, z.B. die Falschheit gewisser Frauentränen, 
Sentiments und einer gespielten Pathetik bezeichnet, dieses 
Wort ,chiqu6" habe ich im Jahre 97 von einem Aus- 
länder in einem französischen Salon gebrauchen hören. 
Einige gingen darüber hinweg wie über eine Taktlosig- 
keit, andere lächelten nachsichtig. Gute Freunde machten 
ihn auf dem Heimweg freundlich auf seinen Fehler auf- 
merksam. Heute, im Jahre 1906, scheint das Wort fast 
zulässig zu sein, wenn auch vielleicht nur gewissermassen 
in Anführungszeichen. Das Wort „nom de Dieu"* ist 
nach wie vor ein ganz besonders gemeiner, vielleicht der 
gemeinste Fluch, obwohl die Worte wörtlich nichts 
Schlimmes bedeuten, sondern in derselben Zusammen- 
stellung fast in jeder Predigt, in jedem Gebet ausge- 
sprochen werden. Dass ein Wort, wie ,s'emb6ter" 
statt „s'ennuyer'' für ungezogen gilt, ist vollends eine 
Anomalie. 

Durch den Naturalismus wurde auch das Eindringen 



— 138 — 

der Fremdwörter^ besonders englisch-amerikanischen Ur- 
sprungs befördert, und darin kann man vielleicht wirk- 
lich ein Untergangssymptom der nationalen französischen 
Kultur sehen, die früher alles, was sie nicht verarbeitete, 
als barbarisch abstiess. Die modernen Franzosen lernen 
mit Eifer fremde Sprachen, was gewiss sehr klug und 
politisch ist, aber in ihrer Jugendkraft hatten sie es nicht 
nötig. ,,Wenn ein Volk die fremden Sprachen erlernt, 
werden die fremden Völker seine Sprache nicht mehr 
lernen*, grollt Remy de Gourmont mit einem Schatten 
von Recht. 



Viertes Kapitel. 
Frauen und Liebe. 

1. Französische Liebe. 2. Die „unregelmässigen* Frauen 

in Deutschland und Frankreich. 3. Die legitimen Frauen. 

4. Der bal des 4 z'arts. 5. Dialoge. 

ySei schön, wenn da kannst, 
tugendhaft, wenn du willst; 
sei geachtet: das ist nötig.* 

Beaumarchais, 
(Die Hochzeit des Figaro.) 



I. Französische Liebe. 

Wer behauptet, die Welt sei überall gleich oder die 
Rassenunterschiede in Europa seien so vag, dass man 
darüber höchstens fabulieren könne, der ist durch die 
Welt gereist wie ein Koffer. Die Einrichtungen und Ge- 
setze zweier Länder mögen gleich sein; verschieden ist 
in allen Ländern, was in diesen Gesetzen nicht steht, 
welche Handlungen neben und trotz ihnen mit Nachsicht 
von der herrschenden, nicht ganz eingestandenen Moral 
durchgelassen werden. In ganz Europa gilt der unehe« 
liehe Liebesverkehr für unerlaubt, in ganz Europa wird 
er mit derselben Vorliebe gepflegt, aber die Gründe; 
weshalb man ein Auge zudrückt, sind so verschieden 



— 140 — 

wie möglich. In Italien urteilt man — ausserhalb der 
überall ähnlichen grossen Welt — kleinbOrgerlich über 
demi-mondäne Frivolität. Dafür hat man ein tiefes Ver- 
stehen für die Sünden der Leidenschaft, die selbst, falls 
sie kriminell werden, sehr oft straflos bleiben. In Deutsch- 
land neigt die Moral zur Nachsicht, wenn erwiesen ist, 
dass ein Mädchen sich nicht für Geld, sondern, wie man 
s^gt, „aus Liebe"" hingab. Im Volk, ja in manchen 
Gegenden bis hoch in den Mittelstand hinauf, ist das 
fast erlaubt: «Zwei gehen zusammen*. Italiener und 
Franzosen, die in Deutschland reisen, trauen ihren Augen 
nicht angesichts dieser Arglosigkeit. Sie begreifen nicht, 
dass ein Weib so wenig seine Macht kennt, dass es 
sich hingibt, ohne für die möglichen praktischen und 
sozialen Folgen eine Entschädigung zu erhalten. Manche 
erkennen die gretchenhafte Unschuld solcher Opfer, aber 
die meisten denken wie der Marquis Casti-Piani in Wede- 
kind's Totentanz: , Dadurch entwürdigen diese Mädchen 
und Frauen ihr Geschlecht in der gleichen Weise, wie 
ein Schneider sein Gewerbe entwürdigt, der seinen 
Kunden die Kleider umsonst liefert.' Später sagt der 
selbe: „Leider aber muss die Liebe auch all den un- 
zähligen Weibern als Rechtfertigung herhalten, die nur 
ihre Sinnlichkeit befriedigen, ohne den geringsten Ent- 
gelt dafür zu fordern . . . würdelose Preisgabe/ 

Viele halten Frankreich für das Dorado der Gefühls- 
und Liebesfreiheit. Das ist ein Irrtum. Frankreich, das 
die „folie'' anbetet, Jugend und Liebe als Tollheiten be- 
singt, ist in Liebessachen streng, nur sind seine Gesetze 
und Konventionen ebenso weit als unumstOsslich; sie 
sind für komplizierte Fälle vorgese|;ien, gestatten be- 
stimmte Ausnahmen unter bestimmten Bedingungen. Es 



— 141 — 

gibt eine Art Konvention fflr die ungesetzlichen Lieb- 
schaften, welche diese ohnehin prekären Verhältnisse 
gegen unsachliche Verwicklungen mit der Neidmoral und 
der öffentlichen Meinung schätzt. Der liebenswürdige 
SQnder findet einen Kodex vor, der zwar apokryph, aber 
darum doch ,,natzlich und gut zu lesen ist."" 

In allen Ländern richten die Männer an die Frauen 
einen Wunsch, dessen Gewährung der Frau zwar Ver- 
gnügen macht, aber noch mehr Unannehmlichkeiten be- 
reiten kann. In allen Ländern pflegen die Frauen die 
Kinder zu gebären, in allen Ländern sind sie bestrebt, 
den Vater durch gesetzliche oder moralische Bande für 
die gegenwärtigen oder künftigen Kinder zu interessieren. 
In allen Ländern aber unterscheiden sich die zu diesem 
Zwecke führenden Mittel, oder wenigstens die Art und 
der Eifer ihrer Anwendung. Die Achillesferse der Frau 
in diesem Kampfe ist ihre eigene Begierde. Das erste 
moralische Prinzip der Frau ist daher noch überall ähn- 
lich; sie verbirgt diese zum Angriff geeignete Stelle; sie 
darf ihre Sinnlichkeit nicht zeigen, nicht zugeben. Es 
muss überhaupt fraglich werden, ob die Frau in dem 
Mass Begierden hat, wie der Mann. Die Art, wie nun 
die Frau ihre Sinnlichkeit verbirgt, in welchem Grade 
sie ihr durch Erziehung und Schicksal selbst verborgen 
ist, wieviel davon sie vielleicht doch mit Vorsicht zeigen 
kann, sei es zum Vergnügen, sei es in taktischer Ab- 
sicht, wie weit sie bewusst oder unbewusst, aufrichtig 
oder falsch, berechnend oder impulsiv verfährt, das 
wechselt nicht nur nach Individuen, sondern auch nach 
landschaftlich und anderswie bedingten Gruppen. 

Eine sehr beliebte Hülle der Sinnlichkeit ist noch 
immer das sentimentale Pathos. Dieses Mittel wird von 



- 142 « 

der taktisch sicheren Französin meist verworfen. Es hat 
in der Tat zwei grosse Gefahren: Zunächst schOtzt es 
nur unvollkommen. Dadurch, dass die Frau ihre eigene 
Begierde mit zu schönen Worten verbrämt, macht sie es 
dem Manne leicht, sie mit noch schöneren Worten zu 
flbemimpeln. Ja ihre oft ehrlich gemeinte Behauptung, 
was sie empfinde, sei rein seelisch, nichts sonst, arbeitet 
geradezu dem Manne in die Hände, der schliesslich die 
Behauptung wagt, das, was er tue, sei auch rein seelisch, 
nichts sonst. Der zweite Missstand des sentimentalen 
Pathos ist der: Es alteriert die ursprüngliche Aechtheit 
des Empfindens und zerstört die schöne Redlichkeit der 
Liebe. Nichts tötet aber die Gegenliebe des Mannes 
leichter. Seine Sinne werden mürrisch und empfinden 
die Sentimentale bestenfalls als überspannt und fade, 
wenn nicht als unwahr. Sexuelle Unwahrheit aber grenzt 
dicht an Unreinheit, Unkeuschheit, und darum kann es 
der von allerlei höheren Gefühlen beseelten und von 
allerlei höheren Seelen befühlten Sentimentalen geschehen, 
dass ihrem aufgeputzten Herzen die echtere Unschuld 
und der keuschere Takt eines wacker in's Bett springen- 
den lachenden Grisettchens vorgezogen wird. 

Die Italienerin und die gross angelegte germanische 
Frau finden einen Halt in sich selbst, wenn sie Leiden- 
schaft besitzen. Sinnlichkeit macht wahllos, aber Leiden- 
schaft macht wählerisch und streng. Die Südromanin 
gibt sich bekanntlich sehr schwer, sie zu verlassen kann 
das Leben kosten. Die Franzosen sind hier wie immer 
unbewusste Methodiker. Ihre Frauen besitzen eine Eigen- 
schaft, welche die Erziehung in ihnen entwickelt, eine 
Fähigkeit, die diesen sinnlich-kapriziösen Wesen als 
Waffe, als Selbstschutz gegeben ist unter dem gemischten 



— 143 — 

Publikum, das die Weltmesse der Liebe besucht: 
^La franyaise raisonne''. Raisonner ist ein Mittelding 
zwischen Rechnen uad Denken. Das gibt der Französin 
jenen oft kahlen, etwas befehlshaberischen Ton. Sie 
weiss, dass der französische Mann an Harmlosigkeit 
nicht glaubt. Zeigt sie sich schwach, so nimmt er das 
als bewusste Aufforderung, sich selbst besonders stark 
zu zeigen. Sie bleibt daher reserviert, solange sie nicht 
die Beweise solcher Stärke selber wünscht. Ist dieser 
Augenblick gekommen, so gibt sie im Alkoven alle 
Zurflckhaltung auf, hält nicht für nötig, ihre süssesten 
Wunsche sentimental zu versäuren: kurz sie besitzt die 
Sachlichkeit in der Liebe. Sie meint nicht: jemand von 
ganzem Herzen lieb haben sei genug. Sie hat zugleich 
das Bedürfnis, ihre Liebe künstlerisch zu formulieren: 
sie besitzt den Ehrgeiz, die grosse Geliebte, die ideale 
Mattresse zu sein, die der Mann nie mehr vergisst. 

Dass unsere Herzen eine andere Art von Liebe er- 
sehnen, gibt uns kein Recht, die französische Liebe zu 
verdammen« Es steht uns frei, in ihr bisweilen etwas 
wie ein virtuoses Spiel zu sehen, die zu grosse Bewusst- 
heit der Französin als Enttäuschung unserer zartesten 
Wünsche zu empfinden, aber alles das sind keine Ein- 
wände gegen die objektive Vollkommenheit der franzö- 
sischen Liebe. Für uns verliert Frou-frou an Reiz, wenn 
^ie selber sagt, sie sei mit ihrer kleinen Person sehr zu- 
frieden, oder Maman Colibri in Batailles hübscher Ko- 
mödie, wenn sie fragt, ob sie nicht „gentille^ sei, oder 
selbst von ihren kleinen Fingerchen spricht. Wenn in 
einer Zeitschrift die berühmtesten Busen von Paris mit 
den zugehörigen Köpfen und mit Namennennung abge- 
bildet erscheinen, so sind für viele von uns diese Busen 



— 144 — 

gerade durch ihre Berühmtheit zu Auslageartikeln ge- 
worden, die man nicht gerne kauft, die nur als Probe 
dienen sollen für das, was im Inneren eines Ladens 
sorgfältig aufbewahrt wird. Unsere Liebe ist intimer, 
wir wollen nicht, dass sich eine Brust noch brfistet. 
Aber das berechtigt uns nicht, diesen uns fremden 
Liebesstil zu tadeln, zumal diese Frauen nicht weniger, 
als die unsren, von Zeit zu Zeit starke Gefühle 
wecken und erwidern. Noch weniger dürfen wir eine 
Frau eine Heuchlerin nennen, die ihre Sinnlichkeit durch 
intensive Anspannung ihres Wesens im Zaum hält und 
im Salon kühl zu lächeln vermag, wenn derjenige ein- 
tritt, mit dem sie eine Stunde vorher die glühendsten 
Umarmungen getauscht hat. Oft tadeln deutsche Frauen 
an der Französin die berechnende Unnatur, aber gerade 
die besonders Feinempfindenden unserer Landsmänninnen 
bewundem, wieviel die Französin infolge ihrer uner- 
schrockenen Natürlichkeit an Worten und Gebärden ris- 
kieren darf; und diese feine Natürlichkeit findet man oft 
bis in die untersten Klassen. Die Französin hat den 
Instinkt der Form, sie ist ihr nicht als etwas Fremdes» 
Beengendes auferlegt. Selbst die kleinen Mädchen ahmen 
sie mit Geschick nach, freilich auf Kosten der gewiss 
reizvolleren Kindlichkeit. In Deutschland ist dieser 
natürliche Forminstinkt das Vorrecht, nicht etwa der Ge- 
bildeten, da fehlte viel, sondern ganz erwählter seltener, aber 
an allen Orten unseres Landes verteilter Kreise; wenn sich 
Eigenschaften der Rasse, der Erziehung und äussere Lebens* 
umstände besonders glückUch einen, da kann freilich eine 
deutsche Schönheit entstehen, die märchenhaft wirkt und 
alle französische Formüberlegenheit, wie ich vielfach zu- 
gestehen hörte, entwaffnet. 



— 145 — 

Die deutsche Frau hat eine ausgesprochene Vorliebe 
für superiore Männer, die „anders"* sind als die übrigen, 
die Französin liebt den „petit jeune homme^, der bequem 
ist, ihr nicht in die Karten blickt. Die deutsche Frau 
spricht häufig ihre Abneigung gegen schOne Männer aus, 
weil sie weiss, dass sie selten superior sind. Die Fran- 
zösin liebt schöne Männer; allzuviel Geist haben 
schadet bei der Französin, das kann sie selbst. Weil 
die Französin als vollkommenes Weltwesen der Deutschen 
unbedingt über ist, verlangt sie den unbedeutenden 
Mann als Spielzeug, den die Deutsche verachten würde. 
Man kann für die Französin garnicht konventionell, 
mondän genug sein. Blenden kann man sie nur, wenn 
man die konventionelle Männlichkeit in überraschendem 
Grade entwickelt. Ausserhalb dieses Rahmens liegende 
Bedeutung beunruhigt sie, man soll nicht „anders** sein. 

Eine Jahrhunderte alte Galanterie hat den Franzosen 
moralisch geklärt und psychologisch geschärft. Sinnen- 
feindlichem Puritanismus ebenso fem als sentimentalem 
Pathos, nimmt er die Sinnlichkeit als das, was sie ist: 
ein gefährliches, aber allerliebstes Spiel, das leicht gro- 
tesk und albern wird, falls es nicht in gewissen Grenzen 
bleibt Maurice Donnay zeigt in der ^.Affranchie'' eine 
Frau auf der Höhe der Gesellschaft, die „es** bisweilen 
nicht mehr aushalten kann, dadurch nach allen Seiten 
Unheil stiftet und ihre Begierde als eine Art Urtrieb 
pathetisiert. Sie „musste** einen bestimmten Mann be- 
sitzen, weil eine andere Frau einmal auf ihn geschossen 
hatte, sie „musste"" immer und immer wieder auf die 
kaum verharschte Schusswunde starren, ihre Sinne klam- 
mem sich daran, das wird zu ihrem Schicksal, sie muss, 

10 



— 146 — 

sie muss, es ist stärker als sie — kurz toute la lyre. 
Und dann will sie wieder zu ihrem ersten Geliebten 
zurück und verlangt allen Ernstes, dass er sie — ver- 
steht. Und er versteht sie. Er vergleicht sie mit einer 
Kellnerin, die er als Student im Quartier latin gekannt 
hat; die verliebte sich in einen seiner Freunde, weil er 
aus seiner Zigarette immer nur ein paar ZOge rauchte 
und sie dann wegwarf. Das war für dieses Mädchen 
das grosse Leben, le „faste", „l'orient", das war ihr 
Schicksal; sie .musste"*, es war stärker als sie — toute 
la lyre. Das ist sehr amOsant, nicht? Ich glaube, in 
Deutschland würde eine gewisse moderne, vermutlich 
ephemere Gefühlsrichtung das Verhalten dieser Frau 
gross, kurtisanenhaft, ja dionysisch finden. 

Ich sah kürzlich in Paris eine Aufführung von Beyer- 
lein's „Zapfenstreich''. Das Stück ist zwar nicht charak- 
teristisch für die ernste deutsche Literatur der Zeit, 
wohl aber für eine gewisse Gefühlsverwirrung, die mir, 
in französischer Umgebung, besonders klar wurde. In 
diesem Stück unternimmt ein Mädchen, in der Abwesen- 
heit ihres Bräutigams, eines tüchtigen Unteroffiziers, mit 
einem Leutnant zu schlafen. Schön, ich eigne mich nicht 
zum Sittenrichter. Verkehrt aber finde ich, dass der 
Autor für das Mädchen, das nicht besser und nicht 
schlechter ist als andere Menschen, dadurch Propaganda 
macht, dass er sie allen Ernstes sagen lässt, sie habe 
plötzlich in dem Herrn Leutnant , alles Grosse und 
Schöne" verkörpert gesehen. Der Verfasser hätte hier 
Gelegenheit gehabt, die Verwirrung des deutschen Ge- 
fühlslebens durch den Militarismus, die er in dem Stück 
beweist, auch in einer Mädchenseele zu zeigen. 

Wer ernsthaft wünscht, dass die Welt die natüriichen 



— 147 — 

Geschlechtsvorgänge etwas natürlicher zu sehen lerne, als 
es heute geschieht, der muss solche moralische Falsch- 
heit, solche sentimentalen Bemäntelungen vermeiden. 
Diese sind es, die uns Deutschen trotz unserem ernsten Willen 
zur Ehrlichkeit den gewiss unverdienten Ruf der Heuchelei 
eingebracht haben. Am selben Abend wie den „Zapfen- 
streich'' gab man „Mlle. Fifi'' von Maupassant. In der 
Dirne, die den preussischen Offizier, dem sie sich ohne 
weiteres hingegeben hätte, darum ersticht, weil er plötz- 
lich behauptet, die französischen Frauen gehörten den 
Siegern, in diesem aus dem Lupanar geholten Frauen- 
zimmer ist Rasse, Leidenschaft und Grösse. Hier ist alles 
moralisch richtig. Und der Autor ist ehrlich, während er 
uns das glauben macht. 

Die Französin bezaubert immer wieder von neuem 
als kleines Kunstwerk, und der wäre vielleicht der 
Weiseste, der sich entschlösse, sie vorzugsweise mit 
Augen und Ohren zu geniessen. Die Deutsche ist rüh- 
render und lieblicher, darum wird sie mehr betrogen und 
ausgebeutet. Aber sie ist noch lange nicht erschöpft. 
Die französische Geliebte ist bjs an ihre Grenzen Über- 
sichtlich; man weiss genau, was man von ihr zu er- 
warten hat, und das ist gewiss kein Nachteil. Wer aber 
ermisst die anonyme Rolle, welche die frischeren arg- 
loseren Mädchen Deutschlands in dem Leben derer spielen^ 
welche unsere Kultur aufbauen? 



10» 



— 148 — 

a. Die ^unregelmässigen'' Frauen in 
Deutschland und Prankreich. 

In Frankreich decken sich Bildung und Besitz mehr 
als bei uns. In Deutschland fällt dem Fremden jene 
breite Schicht dOrftig lebender Gebildeter auf, die sich 
oft den Luxus einer zarten GefDhlskultur erlauben, ohne 
immer die Mittel zu haben, diese verfeinerten GefOhle 
vor dem rauhen Andrang des Lebens zu schützen. Das 
führt besonders bei den Töchtern zu sehr rührenden, 
ausgesprochen deutschen Konflikten. Nüchterne Eltern 
pflegen oft zu denken, wie jene wackere Mutter Olympia 
in Goethe's »Erwin und Elmire", die zu ihrer Tochter 
sagt: „Was sind alle die edelsten Triebe und Empfin- 
dungen, da ihr in einer Welt lebt, wo sie nicht befrie- 
digt werden können, wo alles dagegen zu arbeiten 
scheint! Gibt das nicht Anlage zum tiefstem Missver- 
gnügen, Anlass zum ewigen Klagen?^ Diese Mädchen 
hatten trotz ihrer Armut in Deutschland bisher die Aus- 
sicht zu heiraten, denn es ist eine anerkannte Tatsache, 
dass bei uns Bildung und Besitz keine Parallelen sind; 
und auf die eigentliche Welterziehung, die nur von früh- 
auf durch den Verkehr in der Gesellschaft erworben 
wird, legen sehr viele Deutsche keinen besonders grossen 
Wert. In dem modernen Deutschland freilich hat sich 
manches geändert. Sei es, dass die materielle Entwicke- 
lung unseres Landes in den letzten Jahrzehnten Wesen 
und Wert des Besitzes mehr erkennen gelehrt hat, sei 
es, dass die in langer wartender Einsamkeit notwendig 
entstandene sentimentale Romantik dieser Mädchen ihre 
Fähigkeit zu der prosaischen Realität einer bürgerlichen 
Ehe zweifelhaft macht, die Zahl der unversorgten, aber 



— 149 — 

gebildeten Mädchen in Deutschland wächst. Diese 
Mädchen sind vielleicht verfUhrbar, aber ihre Gefflhls- 
kultur erlaubt ihnen nicht, sich zu verkaufen. Aus ihnen 
rekrutiert sich zum grössten Teil das Heer der Frauen- 
bewegung, die ihnen durch selbständige Berufe die 
Freiheit vom Heirats- und Liebesmarkt verschaffen will 
und in bescheidenem Masse schon verschafft hat. 

Neben diesem sich mehr und mehr organisierenden 
Heer gibt es noch eine ungeordnete Miliz unversorgter 
deutscher Mädchen des Mittetstandes, die zwar, nicht 
eigentlich gebildet, doch auch durch eine ererbte Ge- 
fflhlskultur gehindert werden, sich buchstäblich zu ver- 
kaufen. Sie werden ebenso schnell verführt als verlassen. 
Sie meinten, jemand von ganzem Herzen lieb zu haben, 
sei genug, um sich als Weib zu behaupten. Sie fallen 
schlafend in den Abgrund. 

Die Tragik aller dieser unversorgten deutschen Mäd- 
chen liegt in der Unentschiedenheit ihrer Stellung. Die 
Ehe ohne Mitgift ist in Deutschland immer noch wahr- 
scheinlich genug, so dass es sich lohnt, auch ein besitz- 
loses Mädchen dafür zu erziehen. Aber wenn diese 
Rechnung der Eltern schon unsicher ist, so macht oft 
genug noch das Herz der Tochter einen Strich durch 
die Rechnung: „Die deutschen jungen Mädchen^, sagt 
ein französischer Reisender erstaunt, „können sich in 
einer gewissen Zeit ihres Lebens gamicht vorstellen, dass 
sie einen anderen Mann heiraten könnten, als den, welchen 
sie wie verrückt anbeten." Jahrelang haben sie vielleicht 
auf ihn gewartet. Sie werden 21, 22, 25. Sollen sie 
noch länger dem Phantom des ungewissen Bräutigams 
den Rest der Jugend opfern? Sind die Ehen der ver- 
heirateten Freundinnen und Schwestern wirklich so be- 



— 150 — 

neidenswert? Täglich wird ihnen der Trunk des Lebens 
von freilich unsicheren Händen gereicht. Und doch: ist 
diese unsichere Gegenwart nicht noch tausendmal sicherer» 
als jene erhoffte Ehezukunft? Oefter mit den eventuell 
glänzenderen Liebhabern in koketter Berührung, als mit 
dem kleinbürgerlichen Ehekandidaten, werden sie vollends 
für eine nüchterne Ehe verdorben. Eines Tages greifen 
sie heimlich nach dem angebotenen Trank, werden ent- 
zückt oder enttäuscht. Und nun das Charakteristische: 
Sie bleiben scheinbar in den Formen des bürgerlichen 
Familienlebens, unter dessen Schutz sie mehr oder weniger 
geheim ein unregelmässiges Dasein führen. Sie behalten 
oft eine Art von seelischer Unschuld, einen unverdorbenen 
Glauben an die Liebe, noch nach dem dritten oder vierten 
Liebhaber, würden entsetzt sein, wollte man auf sie 
Namen, wie Maitresse, Demi-monde anwenden. Jede 
empfindet sich als Ausnahme. Sie ist doch nicht so ein 
Mädchen. Geht sie zum Theater oder zum Vari6t6, so 
will sie um Gotteswillen nicht für ein Theatermädel ge- 
halten werden. Eigentlich gehört sie doch nicht hierher. 
Wohin aber gehört sie? Manche Glücklichen kommen 
nie dazu, zu bereuen: eine süsse Erinnerung, wie sie in 
einer ihnen erreichbaren Ehe nie möglich gewesen wäre, 
mildert ihnen das ganze Leben; manche werden verbittert 
und fühlen, dass sie sich weggeworfen haben. Mit ihrer 
bürgeriichen Umgebung verstehen sie sich nicht mehr, 
ihre wahren Gefühle und Erlebnisse müssen sie ver- 
schweigen, es fehlt ihnen die Kühnheit und Gelegenheit» 
offen zu den Vorurteilslosen überzugehen. Und wo sind 
denn in Deutschland die Vorurteilslosen? Eine Halb- 
weit mit einer Art Standesehre und Tradition der Wer- 
tungen und Ansichten, die auch alternde, nicht von ehe- 



— 151 — 

maligen Liebhabern versorgte Veteraninnen unterbringt 
als Gardedamen, Friseusen, Beschliesserinnen in den 
Lavabos der Nacht-Restaurants, Ouvreusen in Theatern etc., 
eine so organisierte Gesellschaftsklasse gibt es bei uns 
nur in vagen Umrissen, Übrigens würde sie gerade den 
Besten unter jenen Mädchen garnicht entsprechen. 



Frankreich hat auch in dieser wichtigsten der sozia- 
len Angelegenheiten seine vernünftige, konventionelle 
Methode angewendet. 

Es gibt Mädchen mit Mitgift, entsprechender gesell- 
schaftlicher Erziehung und einer summarischen Tugend- 
haftigkeit, die so sicher heiraten können, wie bei uns die 
Jüdinnen, und diese Gelegenheit der offiziellen Emanzi- 
pation aus dem Jungfrauenelend schwerlich durch Leicht- 
sinn verscherzen. Und dann gibt es Mädchen ohne Mit- 
gift, die mit einer standesgemässen Ehe nicht rechnen 
dürfen. Sind sie klug und hübsch, so werden sie sich 
nicht zur Dienstmagd eines dürftigen, kleinbürgeriichen 
Gatten machen lassen und ebensowenig das bittere Brot 
der Gouvernanten und Lehrerinnen essen. Auch die 
Versprechungen der Frauenemanzipation haben nicht viel 
Verführerisches in dem Land der Halbwelttraditionen, wo 
sich die Frauen weniger als Sklavinnen, denn als Herrinnen 
des Liebesmarktes fühlen. Die Nachfrage ist so gross, 
dass sie die Bedingungen häufig diktieren dürfen. Die- 
jenige Frau, die sich aus Mangel an Mitgift verkauft und 
einen einigermassen anständigen Preis erzielt, erreicht eine 
Art von Schätzung: die Halbwelt hat ihre Standesehre. 
Es ist bekannt genug, dass ihre Herrscherinnen den legi- 
timen Damen Mode und Geschmack auferlegen. 



— 152 — 

Wenn auch viele arme Mädchen, die sogenannfen 
«.trottins*, so liebenswürdig und kindlich sind, leichten 
Herzens anf den „ernsten'' Liebhaber warten zu können, 
nicht in ewig wacher Berechnung rechts und links Netze 
nach ihm auszuwerfen, sondern ihre Zeit lachend zu ver- 
tändeln, so ist das Temperamentssache ; sie träumen alle 
dasselbe: in eigenem Wagen durch das bois zu fahren, 
ein eigenes Hotel und Diensboten zu haben. Manche 
werden auch frühzeitig durch Erfahrung oder Beobach- 
tung enttäuscht und ziehen die enge Versorgung einer 
mesquinen Ehe der Unsicherheit des horizontalen Hand- 
werks vor. Auch das ist Temperamentssache. Es ist 
nicht jedermanns Angelegenheit, sich so seiner Persön- 
lichkeit, seiner Hoffnungen und Verachtungen zu ent- 
kleiden, wie es dieser Beruf verlangt, der — schon die 
alles Individuelle verwischende Schminke zeigt es an — 
die Frau auf Kosten ihres Herzens und ihrer Sinne zu 
einem grossartigen Qattungswesen generalisiert: die Kurti- 
sane. Nicht zartes Verstehen, nicht Teilnahme wird ihr 
entgegengebracht oder von ihr verlangt. Fräulein Jeanne, 
die Tochter des braven Unteroffiziers, Fräulein Renäe, 
die Schwester eines ordentlichen Beamten und einer in 
der Provinz blühenden Bürgersfrau, sind nicht mehr, sie 
haben Leid und Freud abgedankt an Madame Odette 
oder Madame Lola, die geschminkt und frisiert abends 
in den Folies Bergferes promenieren. Niemand will ihre 
Gefühle kennen, ihre äusseren und inneren Misören (auch 
das noch !), sie sollen ewig lächelnd, ewig rosig, ausser- 
halb der Sorgen des Alltags stehen. Von ihnen wird 
nur das grosse Kunstwerk der Kurtisane erwartet, und 
dieses vollkommene Aufgehen des Individuellen im Typus 
ist es, was diesen Töchtern von kleinen Handwerkern 



— 153 — 

und armen Bauern ihre zu Zeiten wahrhaft p^ithetische 
Grossartigkeit verleiht. Nie werde ich den Augenblick 
vergessen, als ich den Kontrast dieser erstickten Indivi- 
duellen und glänzend entfalteten Welt der Gattung plötz- 
lich zu schauen bekam: Es war irgend ein Verbrechen 
begangen worden, in ein Nachtcafä dringt die Polizei 
ein und zwingt eine Anzahl dieser halbberauschten, krä- 
henden Damen, die etwas bezeugen sollen, ihre Perso- 
nalien anzugeben. Aller Aufmerksamkeit wird plötzlich 
gleichzeitig auf ihre Kindheit gerichtet. Bis auf das Ge- 
burtsjahr werden sie wohl die Wahrheit sagen. Warum 
nicht? Und nun bekommt man liebliche Namen kleiner 
Dörfer der Picardie oder des Dauphin^ zu hören, die 
Familiennamen und Berufe der Väter werden genannt, 
armer Schuhmacher, Gastwirte, Forstbeamten. Ich sehe 
plötzlich eine Reihe kleiner magerer Provinzmädchen vor 
mir, die aus dem väterlichen Laden ein paar gesohlte 
Stiefel wegtragen, einem im Felde arbeitenden Bruder 
sein Essen hinausbringen oder vielleicht schon ein heim- 
liches Stelldichein im Walde mit den Schulbuben haben. 
Mit vollendeter Höflichkeit entledigen sich die Schutz- 
leute ihrer Aufgabe, wUnschen diesen Damen eine ver- 
gnflgte Nacht und gehen. Die kleinen Dorfmädchen 
sind verschwunden und das, je nach der Stimmung des 
Beobachters, aufreizend oder erfrischend seelenlose Ge- 
lärm geht weiter. 



— 154 — 

3. Die legitimen Frauen. 

Das christliche Gewissen beruhigte sich über das 
Vorhandensein der Halbwelt gern mit dem Gedanken, 
dass durch sie der häusliche Herd vor der Libertinage 
geschützt sei. In der Tat ist es die Leichtigkeit, mit der 
der französische Mann in der Halbwelt seine Sinne be- 
ruhigen kann, die in Frankreich das junge Mädchen der 
Gesellschaft seinen Angriffen entrückt. Der Demimonde 
reisst dem Manne die Giftzähne aus. Nirgends ist das 
junge Mädchen so sicher als in Paris. Freilich, der Be- 
griff „junges Mädchen von Familie'^ ist auch nirgends 
so scharf umrissen. Fast immer gehOrt, wie gesagt, als 
raison d'6tre eine gewisse Mitgift mit sicherer Heirats- 
aussicht dazu. Der sehr sozial empfindende Franzose 
scheut meist davor zurück, eine klare soziale Position zu 
zerstören. Die daraus entstehenden Verwicklungen wären 
ungeheuerlich. Auch die junge Studentin oder Malerin 
lässt er lieber in Ruhe, ehe sie sich selbst emanzipiert 
hat. Die bekannte schwarze Büchermappe aus Wachs- 
tuch schützt buchstäblich eine junge Dame in Paris bis 
zu einem gewissen Grad davor, angesprochen zu werden, 
und wäre sie ärmlich gekleidet. Der Franzose wendet 
sich lieber an die Mädchen, die für die Liebe da sind. 
Es mag hart klingen, wenn man sagt, dass das die 
armen Mädchen sind; und es scheint geradezu empörend, 
wenn man als Grund den Umstand nennt, dass dem 
Manne nicht zugemutet wird, das arme Mädchen zu 
heiraten, wenn er es verführt hat. Die Tatsachen aber 
mildem die Härte wesentlich. Diese Zumutung wird 
aus drei nicht ganz abzuweisenden Gründen nicht 
gestellt Zunächst besass das arme Mädchen niemals 



— 155 — 

ernste Aussichten zu heiraten; sollte sie sie dadurch er- 
worben haben, dass sie verfahrt worden ist? Zweitens 
weiss man, dass eine dem Manne aufgezwungene, seine 
Entwickelung oder seinen Beruf hemmende Ehe — und 
wäre sein eigenes Gewissen der Zwingherr — auch fUr 
die Frau ein sehr zweifelhaftes GlOck ist.'*') Und vor 
allem das Schicksal der keine gesellschaftliche Position 
verlierenden Verführten ist in Frankreich nicht eigentlich 
tragisch. Die Leiden der Halbweltexistenz sind kaum 
grösser als die der Ehe- und Mutterfrohn in einer gross- 
städtischen unbemittelten Ehe, und die Freuden können 
viel grösser sein. Auch von sittlicher Aechtung und poli- 
zeilicher Schikane wird die wenig leiden, die nur ein 
bischen Mässigung, Weisheit und Heiterkeit des Gemüts 
besitzt. Und gerade diese Eigenschaften sind unter 
jenen Mädchen häufig. 

Leute, die ein Vorurteil haben gegen illegitime Gross- 
elternschaft, riskieren weniger, ihre Töchter in Paris stu- 
dieren zu lassen, als. etwa in München. Die Boheme mit 
ihrer behaglichen Lästerung der Konventionen hat schon 
manches arme Seelchen verwirrt, das später nach den 



*) Es ist vielleicht wirklich bisweilen schlecht, ein Mädchen 
zu verführen; es ist immer schlecht, ein Mädchen nur darum zu 
heiraten, weil man es verführt hat In England, wo die Halb- 
welt noch geächteter ist, als bei uns, ja fast immer mit dem Ver- 
brechen verschwistert ist, hat man einen Ausweg gefunden, der 
der gesellschaftlichen Stellung des Mannes und des Mädchens 
gleichmässig genug tut. Man rettet durch Heirat die Ehre des 
Mädchens, lebt aber getrennt von seiner Frau, die niemand kennt. 
Die Ehre ist für alle Zeiten gerettet, die Rechte des Herzens auf 
'irgend eine künftige Liebe sind für das ganze Leben aufgegeben. 
Wir würden wohl etwas mehr Unehre mit etwas mehr Hoffnung 
vorziehen. 



— 156 — 

mOtterlichen KaffeetOpfen zurackweinte. Aber der Denii- 
monde ist höchstens für die Börsen junger Leute gefährlich. 
Was kflmmert es z. B. eine junge Künstlerin, wenn die 
rothaarige Flora von Maxime's durch einen amerikanischen 
Sportsman ein Hotel im Quartier de TEurope eingerichtet 
bekommt? 

Indem man in Frankreich bei der Eheschliessung erst 
dann auf die Geffihle Rücksicht nimmt, wenn die mate- 
riellen und sozialen Grundlagen gesichert sind, wird das 
Entstehen immer neuer gebildeter oder zart empfindender 
Mädchen ohne Mitgift verhindert. Das Elend des Alt- 
jungfertums und der endlosen Veriobungen mit ihren auf- 
reibenden Unregelmässigkeiten ist in Frankreich daher 
fast unbekannt. Ob darunter das Gemütsleben leidet, 
ist schwer festzustellen. Die immerhin mögliche Kame- 
radschaft zweier konventionell verbundener Menschen fällt 
jedenfalls stark ins Gewicht gegen die wahrscheinliche 
Enttäuschung zweier aus Liebe Verbundener. Die jüdi- 
schen Konvenienzehen gelten im allgemeinen für glück- 
lich, und Oskar Wilde sagt einmal, ein Mann könne mit 
jeder Frau glücklich leben, vorausgesetzt, dass er sie 
nicht liebt. 

Kurzum, die Ehen aus Liebe haben sich bis jetzt 
noch nicht in dem Grad bewährt, dass man diejenigen 
zu verurteilen berechtigt wäre, die Ehe und Liebe grund- 
sätzlich auseinanderhalten. 

Alle bisherigen Betrachtungen gehen mehr vom Stand- 
punkt des Mannes aus. Wie aber kommt die Frau bei 
diesem strengen System der Einteilung in Welt und Halb- 
welt zu dem ihr notwendigen Mass von Liebesglück? 
Nun, sie lässt die Härte des Systems bestehen, erhebt 



— 157 — 

aber insgeheim einen ungeheuren Zoll für ihren Gebrauch. 
Eine Eigenschaft der französischen Männer macht ihr das 
leicht. Der Deutsche empfindet es mindestens als eine 
Ungelegenheity wenn die von ihm geliebte Frau die Gattin 
eines anderen ist oder wird. Für den Franzosen dagegen 
ist der Ehering der Frau (natürlich nicht seiner eigenen !) 
ein wahres Aphrodisiacum. Der Deutsche liebt ein Fräu- 
lein oder ein Mädel, der Franzose immer eine »Madame*^. 
Mit diesem Titel redet er auch die Kokotte an, solange 
er sie nicht duzt. Erst die aus der Jungfräulichkeit 
emanzipierte ,,Madame'' ist der Gegenstand französischer 
Liebe. Die materielle und soziale Basis ist gesichert. 
Jetzt traut man der Frau zu, dass sie ohne Berechnung, 
allein dem Herzen und den Sinnen folgt. So wird der 
Ehebruch quasi zu einer sozialen Institution, gewisser- 
massen das Ventil, welches einem temperamentvollen 
Volk erlaubt, die Unnatur der Einehe im Interesse der 
Nachkommenschaft bestehen zu lassen. Wie viel Frem- 
des spielt, ohne dass sie es selbst weiss, in die schein- 
bar selbstlose Liebe hinein bei der Frau von nicht ganz 
gefestigter Stellung, wieviel sozialer- Ehrgeiz, Bildungs- 
und Vergnügungsbedürfnis, Angst vor Einsamkeit. Sie 
ist selbst zu liebebedflrftig, um die wahre Mattresse sein 
zu können, die der Franzose wünscht. Erst die Frau, 
welche Bildung, Vermögen und Geselligkeit in hohem 
Grade geniesst, vermag in einem sozial so bewussten 
Land ganz uninteressiert zu lieben, darum schildern die 
Dichter immer wieder den Ehebruch der grossen Dame, 
die wirkliche Leidenschaft der ausgehaltenen Kurtisane 
oder ihre Kaprizen. Sie allein sind sachlich in der Liebe, 
wie der Mann, sie lieben um der Liebe willen. Das 
junge Mädchen ist wahllos oder interessiert. Dass die 



- 158 — 

Liebe solcher Frauen oft nur ein luxuriöser Zeitvertreib 
ist, oder doch wieder nur die Mittel ftlr anderweitigen 
luxuriösen Zeitvertreib verschaffen soll, haben die fran- 
zösischen Psychologen am allerwenigsten übersehen. 

Die Bemühung, Liebe und Eitelkeit zu versöhnen, 
das ist der echt französische Konflikt der „grande amou- 
reuse*". Schon das Manon Lescautproblem beruht darauf. 
»Manon", sagt Lanson*), »ist ein kleines Mädchen ohne 
Moralinstinkt, die nichts versteht, als ihren Chevalier zu 
lieben. Nur Eines kann sie nicht für ihn tun: arm sein 
und schlecht gekleidet.* 

Wir verstehen in der Liebe den Betrug, ja das Ver- 
brechen, wenn es ein kühnes Liebesglück begründen 
soll, die grausige Unerschrockenheit des Renaissance- 
lebens, aber ,monde", „luxe*, ,repr6sentation" sind uns 
in der Wage der Handlungsmotive fast Imponderabilien. 
Wenn Maurice Donay in seinem letzten Stück „Paraltre" 
Christiane tadelt, weil sie, ohne ihn zu lieben, ihren 
Gatten ruiniert, um sich bei nächster Gelegenheit einem 
vorteilhafteren Mann in die Arme zu stürzen, so zeigt 
sich der Unterschied französischer Wertungen von unseren : 
wir würden nämlich Christiane garnicht tadeln, wir 
würden sie uns als Heldin eines Stückes überhaupt nicht 
gefallen lassen. 

* 

Wenn die Teilung der Frauen in Welt und Halbwelt 
grausam ist, so ist sie es in ebenso hohem Mass für den 
Mann als für die Frau. Der französische Mann trägt 
ehrlich die Kosten, sei es, dass er als Gatte der zwar 
besitzenden Frau Name und Stellung gibt, sei es, dass er 



*) G. Lanson, Histoire de la literature fran9aise p. 668. 



— 159 — 

als Liebhaber ihren Luxus bezahlt. In beiden Fällen, als Gatte 
wie als Liebhaber, ist er gleichermassen der Lächerlichkeit 
ausgesetzt, als Sprungbrett benutzt zu werden, als Ausgangs- 
punkt für die Jagden, die Madame in den Gründen der Lust 
unternimmt. Man kann der heiteren Philosophie, mit der 
er sein Schicksal trägt, nicht die Bewunderung absprechen. 
Dass die legitime Gattin bisweilen in Gebärden, finan- 
zieller Moral und Oekonomie, wie in Gewohnheiten zur 
grossen Prostituierten wird und ihren Mann, der jährlich 
armselige 30000 Franken verdient, zum Zuhälter macht 
(mit einem offenen, einem zugedrückten Auge), dass 
manche weise Halbweltdame dagegen zu einem unab- 
hängigen respektablen Douairiöre-Dasein kommt, für ihr 
Tochterchen eine englische Miss nebst Pony hält und in 
Erziehungsfragen die geschmeichelten Spitzen der Lite- 
ratur und des Staates zu Rate zieht, das ist das lustige 
Kreuz und Quer, welches sich das bunte Leben erlaubt. 
Und es beweist am Ende, dass die Teilung in Welt* und 
Halbwelt im Grunde nur schematisch ist. Mondaine und 
Demimondaine tun dasselbe: sie suchen zuerst die Po- 
sition, ohne die das Leben in Frankreich finster und er- 
bärmlich ist. Sie wird erlangt durch den Gatten oder 
den , ernsthaften'' Freund, den amant attitr^. Dann kann 
man mit einiger Vorsicht auf allen Stufen der unendlichen 
Leiter der „folie'' herauf- und hinabklettern. Der amant de 
coeur, der gigolo (das bisweilen aus Kaprize zugelassene 
Herrchen sans cons^quence), der maquereau (» Zuhälter), 
der michö (» Würzen) sind sowohl hinter dem Rücken 
eines „mari'' als eines „ami'' möglich. 

Eine im Lande der Galanterie unerhörte Liebesver- 
drossenheit erfüllt zwar heute die französische Dichtung, 



— 160 — 

das Theater, den Volksgesang. Der Hass der beiden 
Geschlechter verdrängt fast die Liebe aus der Literatur. 
Und dennoch: Noch immer blühen in Frtlhlingsnächten 
die schweren rot- und weisskerzigen Kastanienkronen in 
den Champs-Elysäes, darüber fiiesst ein blaues Gemisch 
von Mondlicht und Bogenlampenschein, flutet auf die 
Balkone der grossen Restaurants, wo bunte Frauenhüte 
nicken. Ringsum schaukeln grüne und rote Gir|ndolen, 
Kränze und Guirlanden farbigen Lichts. Auf weichem 
Sandboden rollen fast geräuschlos zierliche Wagen, aus 
den Büschen huschen Kokotten in weissen, hemdartig 
flatternden Abendmänteln, fern in der Hauptallee schnaufen 
die Automobile . , . und überall Frühlingsduft und dunkles 
Gezweig, das der Mond und die bunten Lampen auf 
den Boden zeichnen. 

Wird das fahle Gespenst jener Liebesverdrossenbeit 
diese Buntheit verdrängen oder wird sie erst recht ge- 
deihen, dem Verwundeten einige Stunden Vergessen ver- 
sprechend? 



4. Der bal des quat'z arts 1906. 

Ein Tagebuchblatt. 

17. Mai. 

R. sagt, man müsse die Leute reichlich mit Ziganen 
und Alkohol bewirten, um die schwer erhältlichen Karten 
für den Ball zu bekommen. Zu diesem Zweck heute 
Rendez-vous Caf6 Delta. Die Herrschaften sind ganz 
gesittet. M., in schwarzem Flaus, breitkrämpiger Hut^ 



— 161 — 

aufgezwirbelter schwarzer Schnurrbart^ wie aus der Zeit 
Louis XIII. Mme. M., ein feiner Luinischer Madonnen- 
Icopf, ein bischen Icränklich, rührend dOrftig gekleidet. 
Nach reichlichen Libätionen verspricht man uns die Karten 
für morgen in der Piscine. (?) 

18. Mai. 

Auch H. und S. sollen Karten haben. S. fürchtet 
etwas, nicht den rechten Ton mit den Leuten zu finden, 
der kleine H. hat Angst, man würde ihn Offentich ent- 
kleiden. Ich beruhige sie und nehme sie mit in die 
Piscine, ,pour faire voir leurs gueules'', denn es ist 
wichtig, dass uns die Leute am Eingang erkennen und 
uns als zu ihrem Atelier gehörig bezeichnen kOnnen. 
Ohne diesen Schwindel keine Möglichkeit, hineinzukommen. 
Die Piscine ist also eine halbzerfallene, ehemalige Bade- 
anstalt, in deren ausgetrocknetem Schwimmbassin wir 
das Atelier X. beschäftigt finden, seine Loge für den 
Ball zu konstruieren. Man empfängt uns mit Gejohl in 
dem zerbröckelten Vorraum, dessen Hauptannehmlichkeit 
ein Wassereimer über der Eingangstüre bildet, der mit 
einer Schnur von einer Ecke aus erschüttert werden kann, 
so dass der Eintretende gedoucht wird. Durch einen 
unbeschreiblichen Zufall entgehen wir dem Geschick. 
M. brüllt mir entgegen: „Toi, je te reconnais bien, tu as 
une belle gueule de cur^.*" In der Piscine zeigt man uns 
die noch nicht zusammengefügten bemalten Leinwand- 
yrände der Loge: auf Purpurgrund ägyptisch stilisierte 
witzige Obszönitäten. Wir lassen eine Flasche Dubonnet 
kommen und regalieren. Nicht immer leicht, die rechte 
Mitte zu halten, weder knauserig, noch als Würzen zu 
erscheinen. 

11 



— 162 — 

Dann gehen wir zum Costumier; an der porte 
St. Martin trifft R. zufällig einen Freund, der Aegyptolog 
ist Er hilft uns bei der Auswahl der Kleidung, wir 
drapieren uns ägyptisch. Devise des Balles: L'orient 
antique. 

19. Mai. 

6 Uhr abends. Heute der grosse Tag. Mein Zimmer 
ist in einen ägyptischen Bazar verwandelt, eben kommen 
H. und R. zum Umkleiden. 

20. Mai. 

4 Uhr nachmittags. Eben aufgestanden. Mein Kopf 
ist voll von purpurnen Erinnerungen. Ich will gleich 
das QewQhl meiner Eindrflcke festzuhalten suchen, ehe 
sie zerstreut werden. 

Zum Abendessen trafen wir das Atelier im Restau- 
rant Trianon. Um 7 Uhr Versammlung zum Aperitif: 
Gewoge farbiger Gewänder, nackte Frauen unter bunter 
durchsichtiger Gaze. Gebrüll. Hin- und Herlaufen vom 
Saal zur Toilette, deren Tür unter dem Druck eines 
Knäuels krähender, sich schminkender und pudernder, 
nähender, zupfender Frauen wiederholt aufplatzt. Rücken 
und Ellbogen, halb in farbiges Tuch gehüllt, quellen 
tinter betäubendem Lärm in den Saal und werden von 
aussen wieder in die enge Toilette gepresst. Weiber- 
gekreisch: . . Lucienne as-tu du rouge? . . N'6crase-pas 
mes nichons. Gemeinsames Abendessen an langen, 
schmalen Tafeln, Cymbeln werden geschlagen. M. bläst 
unermüdlich auf einer Torpedopfeife. Lamprecht — so 
nennen wir einen 19jährigen Maler, der ein Jahr in 
Lamprecht bei Mannheim lebte und ein komisches Deutsch 



— 163 — 

kauderwälscht — Lamprecht will als Zwischengericht 
Lucienne unter den Arm beissen. Ein Fremder am Neben- 
tisch schenkt einer gewissen Francine einen Maiglöckchen- 
strauss, man brüllt, er mQsse sie küssen, aber er ist 
schüchtern, Francine erlöst ihn „de bonne grace"* aus 
eigener Initiative von dieser Situation. Wieder platzt die 
Toilette. Ein betrunkener Schlangenbändiger in Turban 
stemmt sich gegen die Tür. Einer hat ein Kostüm, das 
von weitem türkisch aussieht, von nahem gesehen, aus 
lauter Küchengerät zusammengesetzt erscheint. Ein 
anderer hat auf die Rückseite seines Talars eine mennig- 
rote Begattung gemalt. Ein Mensch, der seiner Aehn- 
lichkeit mit dem Dramatiker wegen Sardou genannt wird 
— ein gelbes bOses Altweibergesicht — verteilt die 
Speisen, sekundiert von einer resoluten jungen Wirtin. 
Nichts von den schiefmauligen verdrossenen Kellnerinnen- 
gesichtem, wie in Münchener Kamevalsnächten. Lamp- 
recht küsst die Wirtin. 

Wir gehen nach dem m^tro, von der ganzen Mont- 
martrebevOlkerung begafft. Lamprecht kneift vorüber- 
gehende Mädchen, Vorübergehende kneifen die halb- 
nackten Mädchen unseres Zuges. Schutzleute werden 
verhöhnt. Im unterirdischen Mätro Höllenlärm, der von 
den Wölbungen vervielfacht wird. Der Schlangenbändiger 
und Lamprecht stürzen sich an den Schalter. Lamprecht 
improvisiert durch das Gitter eine zärtliche Szene mit 
der Billetverkäuferin, die, durch den Draht gesichert, 
sich's lachend gefallen lässt. In den Waggons lagert 
sich alles am Boden, die Passagiere ratlos. Vor dem 
Saal Wagram, teils im Caf£, teils auf der Strasse unbe- 
schreibliches Gewühl, stundenlang zwischen Menschen 
geklemmt (nicht die unangenehmsten übrigens), darunter 

11* 



— 164 — 

die zarte blasse Mine. M. Einer nach dem andern wird 
eingelassen. Die sittenstrenge Polizei sorgt aufmerksam 
für Ausschluss aller fremden Elemente. Im letzten Mo- 
ment noch hat jemand etwas an unseren Gesichtern aus- 
zusetzen. Aber dann hinein und nun fragt niemand mehr 
nach Nam' und Art. 

Der Saal ist in eine buntdurchglOhte Wolke von 
Rauch und Staub gehfillt, rings die farbigen Logen der 
verschiedenen Ateliers. Alles halbnackt in scheckigen 
Fetzen, die Männer scheusslich bemalt und tätowiert, 
ein antiker Gott trägt statt eines Feigenblattes die Auf- 
schrift: „dames**. Ein anderer ist bedeckt mit Rosetten 
aus rotem Seidepapier und Haar. Die Logen schieben 
ihre hübschsten Mädchen an die Brüstung, am gelungensten 
ein bis an die Saaldecke aufgerissenes Drachenmaul, im 
Schlünde hochrotes Licht, zwischen den Kiefern tanzen 
erlesen schöne nackte Mädchen, wie auf mittelalterlichen 
Höllenbildern. Aehnlich geht's auf der^Bühne zu, wo die 
tanzenden Frauen vorläufig noch etwas umgazt sind, 
sich aber bald ganz entblössen : fast jungfräulich schlanke 
Leiber, ande^re, die vielleicht schon geboren haben, aber 
stets einwandfreie Brüste; eine in durchsichtiger schwar- 
zer Gaze in edelsten antiken Gebärden, als löse sich der 
ganze Leib in Schleier auf, daneben eine breitbeckige 
Blonde in exhibitionistischer Bewegung. Im zweiten 
Treffen Männer, deren Hände nach den tanzenden Frauen- 
leibern haschen. Alle Formen der Liebe scheinen sich 
im Tanze zu gestalten. Manche Häute zeigen schon 
grüne und braune Flecken, rote Ritzen, besonders die 
breite Blonde scheint nach Verwundungen zu dürsten, • 

Der Festzug beginnt, das farbigste, erregendste Schau- 
spiel, gegen das päpstliche Kirchenpracht, spanischer 



— 165 — 

Hofglanz und der orientalische Prunk Abdul Hamids in 
meiner Erinnerung verblassen. Zuvörderst ein gigan- 
tisches Ungeheuer, das aus allem Tierischen zusammen- 
gesetzt ist: Flügeln, Flossen, Schuppen, Krallen, Hörnern. 
In seinem Schoss wimmelt blonde und braune Nacktheit. 
Die Schönste steht hoch oben auf dem Schädel des 
Tieres, fast an die Decke stossend, nur die Ohren keusch 
mit goldenen Becken besetzt. Es folgt ein finsterer, 
goldener Rhamses, zu dessen Fassen sich ein schöner 
Frauenkörper windet, in einem Wagen zwischen roten 
Laternen ein schlafender Perserkönig, von seinem ent- 
blössten Harem befächelt. Ein sechsarmiger Indra wächst 
golden zwischen lebendigen Nacken und Brüsten hervor. 
Alle Wagen und Karren werden von halbnackten, fast 
riesenhaften bärtigen Männern getragen oder geschoben. 
Ein gigantisches, schaukelndes Molochhaupt wird sicht- 
bar, die Arme des Gottes pressen ein Weib, dessen Füsse 
im Feuer stehen; es folgt ein Rosenwagen mit einer 
ruhenden Frau, eine grünseiden gegürtete, die dadurch 
doppelt nackt erscheint, schaukelt in einem Purpurreif, 
wie ein seltener böser Vogel, ein vielleicht vierzehnjähriger 
Kinderieib thront auf einer Ente, ein finsterer aufrechter 
Mumiensarg umrahmt die stehende, pompös geformte 
Lucienne, den Stolz unseres Ateliers, zu ihren Füssen 
kauern sphinxartige Mädchen,. Eine indische Fürstin 
reitet auf einem Elefanten, von goldenen Skorpionen, 
Spinnen und Fabeltieren umgeben. Dazu eine erregende 
Musik, die sich aus Wagner'schen Fanfaren, dem Aida- 
marsch, Hörnerklang aus dem Freischütz und Sousa- 
mätschen mischt. Den schönsten Wagen wird aus allen Logen 
zugejauchzt. In trunkener Lust an ihrer eigenen Schönheit 
zittern alle diese Körper, als wollten sie die Blicke ein- 



— 166 — 

saugen, die auf ihnen brennen. Alle Tierrachen dampfen 
rotes und grünes Licht, die auf den höchsten Wagen- 
dächem aufgestellten Gestalten verblassen schemenhaft 
über dem Glutmeer der unteren Regionen. Ein äusser- 
stes Pathos der Sinnlichkeit, obwohl fortgesetzt kleine 
zweideutige Szenen dazwischen huschen. Einer reisst 
einer Gruppe jauchzend die Gaze herab, ein Sänftenträger 
beugt überwältigt das Haupt in den Schoss seiner Herrin, 
die in der Luft nickenden Palmenwcdel und Pfauenfeder- 
fächer senken sich und kitzeln die hingestreckten Leiber. 
Das alles bleibt echt, wird nicht einen Augenblick Mas- 
kerade oder rohe Hässlichkeit; alles geschieht spontan und 
dennoch mit Rücksicht auf den Zuschauer, ein Schauspiel, 
das nichts bedeuten soll, sondern jeden Augenblick ist. 

Der Zug ist zu Ende, die Karren werden in die Ecken 
geschoben und entladen; nackte Hexen springen den 
Männern auf die Schultern und jagen so jauchzend durch 
den Saal. In allen Logen, auf dem Boden lässt man sich 
in Gruppen nieder, um die EsskOrbe, die am Büffet zu 
haben sind: Souperpause. Wenn bisher mehr eine all- 
gemeine Nerventrunkenheit durch Buntheit und Geschrei 
vorgeherrscht hat, beginnt jetzt der Champagner wirksam 
zu werden. Die geleerten EsskOrbe fliegen umher. 
Stroh, Teller aus Pappe, zerbrochene Gläser, abgenagte 
Hühnerknochen, Wurstschalen liegen am Boden und 
werden zerstampft. Bald ist niemand mehr nüchtern. 

H. und ich, wir suchen uns eine lustige Ecke aus, 
leeren schnell zwei Flaschen. Jetzt muss man betrunken 
sein. Wir reden und lärmen mit, zitternde Brüste gleiten 
uns durch die Hände, wir hören um uns und sprechen 
verschiedene Sprachen durcheinander, alle Hemmungen 
unserer sonst so würdigen Persönlichkeiten fallen. Ich 



— 167 — 

gerate an einen deutschen Tische den ein vergnUgter 
dicker Falstaff befehligt, die jungen Herren reden von 
Kunst. Ich wage einige zweifellos geistreiche Behaup- 
tungen, die ich aber leider vergessen habe. Ich bemerke, 
dass ich meinen Taumel nach Belieben fluten lassen und 
zügeln kann. In unserer Loge finde ich M. und Madame. 
Teils weil sie zu zart ist, teils weil sie ihm ehelich ver- 
bunden, darf sie nur von der Loge aus zuschauen. Es 
amttsiert mich, ihr sehr dezent den Hof zu machen und 
mich dann wieder in den Strudel zu stürzen. 

> 

Ueber dem Glasdach erscheint die bläuliche Frühe. 
Die Lichter verlöschen, die bunte Masse badet in erst 
gedämpftem, dann grellem Tageslicht. Man stOsst sich 
hinaus in die Garderobe. Zwei Stunden lang Geknäuel, 
bis man an seine Sachen kommt, die von trübseligen 
Schutzleuten aus einem Keller durch enge Luken herauf- 
gereicht werden. Die Frauen bleich, wirr, schmutzig, 
schlotternd; man wird gedrückt, gekniffen, gekitzelt, 
karamboliert mit harten Gesässen, sinkt in weiche Busen 
und blickt in blauumränderte Augen. Eine dürre asch- 
graue Blondine fällt mit spitzem Schrei über meine Füsse: 
Nervenkrise; ein dunkelblau bemalter Italiener stOsst mir 
einen Frauenmund ins Auge. Die Dame mit der Nerven- 
krise ruft „merde'^. Man hat ihr auf die Finger getreten; 
aber ihr Kopf scheint gut auf meinem Schuh zu liegen. 

Endlich gelangen wir im Paletot auf die Strasse: der 
Are de TEtoile in Morgennebeln. An allen Fenstern 
brave Frühaufsteher, die unser Gewühl bestaunen, ein 
Gassenkehrer untersucht', behaglich am Boden sitzend, 
den bunten Inhalt einer Kiste. In einem Entresol lehnt 
sich, der Morgenfrische froh, ein altes Ehepaar aus dem 
Fenster: „A poil, ä poil'', ruft man ihnen zu. Eine alte 



— 168 — 

Dirne mit mehliger Haut kommt aufgestört aus einer 
Seitenstrasse, ein Buckliger beginnt einen Scheinkrakehl 
mit vorübergehenden Arbeitern , man schickt sich an, 
Schutzleute mit Gewalt zu entkleiden. Vor den Kaffee- 
häusern nehmen Bureaubeamte ihr erstes FrflhstOck. 
Viele gehen noch in die ^cole des beaux-arts, um in den 
Fontainen zu baden, 

H. und ich ins M^tro. Müde Heimfahrt. Auf der 
place d'Anvers trinken Arbeiter aus Kübeln Schokolade, 
in die Brot gebrockt ist. Faute de mieux setzen wir uns 
dazu und schlürfen das dünne, aber warme Getränk. Der 
Morgen ist sehr frisch. Aus dem Schacht des M£tro, 
vor dem wir sitzen, taucht plötzlich R/s bunter Kogel 
hervor. Er setzte sich zu uns. Mit dem nächsten Zug 
erscheint S. in weissem Turban und Ueberzieher. Wir 
sind wieder alle zusammen und darüber einig, dass man 
als ,,coup d'oeih nichts Grossartigeres als diesen Ball 
sehen kann, und dass wir nun endlich wissen, was eine 
Orgie ist. 



5. Dialoge 

aus den Jahren 1897, 1900, 1905—1906. 



Im Salon: 

Madame: Comment me trouvez-vous ce soir, Mon- 
sieur le pofete? 

— : Je vous aurais d^jä dit mon enthousiasme, 
Madame, si dans mon pays l'äducation ne d^fendait 
d'adresser des compliments aux dames. 

Madame: Quel dröle de pays. Est-ce que chez 
vous on n'applaudit pas non plus les artistes? 

— : En effet on a song£ ä supprimer cet usage 
comme un abus. 

Madame: — •? 

— : Avez-vous dfijä vu la nouvelle piöce de Donnay 
aux Frangais, Mademoiselle? 

Mademoiselle (ca. 21 Jahr alt, in artiger Ent- 
rüstung): Mais Monsieur, ce n'est pas une pi&ce pour 
les jeunes filles. 

— : Comment savez-vous cela? 
Mademoiselle: Je Tai lue. 



— 170 — 

Madame: Alors vous fites äcrivain? 

— : Oui, Madame. 

Eine Deutsche vom diplomatischen Corps: 
II faut donc vous appeler , Monsieur le Docteur''. 

Französin: Ce sont des romans que vous äcrivez? 

Engländerin: Quelle marque de stylographe (FfiU- 
federhalter) recommandez-vous? 

In Pensionen: 

Studentin: Jamais je ne me marierai. 

— : Pourquoi qa? 

Studentin: Parceque je n'ai pas de dot. 

— : Et si votre mari n'en demandait pas? 
Studentin: Tant pis pour lui, jamais je ne consen- 

tirais ä la Situation humiliante d'une äpouse sans dot. 

— : Ö Tamour? 

Studentin: Je dois vous dire que jai un amant 

— : Comment, vous, une jeune fille frangaise? 
Studentin: Naturellement c'est un ^tranger, puis- 

qu'en fait d'amour les Frangais he recherchent que les 
cocottes. 

— : Et ainsi vous vous trouvez moins humili^e? 
Studentin: Au contraire, je suis sa maitresse, 

quoique pendant six mois j'aie dfl accepter son secours 
mat^riel. 

— : Vous me donnez lä ä penser. 

Studentin: Dans le mariage la femme pauvre perd 
ses derni^res ressources, la libertä de se donner et de se 
refuser ä qui lui platt. 

— : Vous Stes une femme sup^rieure. 
Studentin: Non, je suis Frangaise, je raisonne. 



— 171 — 

Malerin (19 Jahre): Je n'irai pas au bal des 4z'arts 
cette ann^e. 

— : Pourqol donc? 

Malerin: Je suis trop jeune, on m'a dit, que beau- 
coup de dames laissent leurs chemises au vestiaire. 

— : Mais ä quel äge voulez-vous y aller? 
Malerin: Oh, Fannie prochaine pour sOr. 

Journalistin: Oh, je connais la misSre, je sais ce 
que c'est que la faim, mais je sais aussi me consoler. 

— : Par quels moyens? 

Journalistin: Je fais des vers symbolistes, je füme 
de Topium et parfois je me prostitue quand Toccasion 
se präsente. 

— : Et Tamour? 

Journalistin (achselzuckend): Peuh. 

Hetärengespräche. 

Folies-Bergferes: 

Sie: Qu'est-ce que tu fais dans la journ^e, mon 
petit? 

Er: Je travaille. 

Sie: Toi? Et que fais-tu? 

Er (um etwas zu sagen): Je suis vitrier 

Sie: Alors viens avec moi, j'ai justement un petit 
carreau ä remplacer. 

* 

Sie: Je ne suis pas une femme pour tout le monde, 
mon ami, hier par exemple, j'ai couchä avec Tambassa- 
deur du Portugal. 

E r : Mais moi, je ne suis absolument rien. 



— 172 — 

Sie: Ah, ne dis pas cela, tu ressembles mfime beau- 

coup au prince de Montenegro. 

♦ ♦ 

Moulin de la Qalette. 
Das sfisse Mädel. 

Sie: Oh moi, je voudrais voyager avec quelqu'un 
que j'aime bien. 

Er: Et oü iriez-vous? 

Sie: Aux Indes, naturellement aux Indes. 

E r : Et pourquoi pr^cis^ment aux Indes 7 

Sie: Parce que la vie n'y est pas ch&re. 

Er: Comment 5a? 

Sie: On ach6te tout simplement un chameau ou 
deux, ce qui est tr6s bon marchä, et on va au d6sert 
pour chercher de Tor ensemble. 

E r : Mais c'est de la blague? 

Sie: Non, j'6tais avec un type qui a f ait 9a. 

Das sOsse Mädel (entre deux draps): Ah, que 
c'est beau la nature! 

In einem Cafä: 

Er: Qa vous amuse de voir votre ami jouer aux 
cartes toute la soir^e? 

Sie: Ah non par exemple, 9a m'embgte, ca me rase. 
Er: Alors pourquoi revenez-vous chaque soir? 
Sie: II faut bien se distraire. 

Sie: Moi, j'aime bien la campagne, surtout les 
petits gäteaux aux cerises, qu'on vend ä la foire de 
St. Cloud. 



— 173 — 

Er: Et la nature? 

Sie: Mai c'est la nature, Monsieur. 

* 

Er: Pourquoi mettez-vous du rouge? La plupart 
des hommes n'aiment pas cela. 

Sie: Et les femmes, qui vous examinent de la 
tSte jusqu'aux pieds avec leur mächant petit sourire, 
non merci. 

Er: Alors, vous avez chaque nuit un autre amant? 
Sie (17 Jahre) : Que voulez-vous, c'est de mon äge. 



Im Salon einer grossen Kokotte: 

Sie: Eh bien, Monsieur, d£cidez-vous, j'ai encore 
mes vendredis libres. 

Er: Et les jeudis? 

Sie: Les jeudis j'ai mon colonel. 

E r : Et les samedis? 

Sie: Les samedis j'ai mon acad^micien ; il ne me 
reste que les vendredis. 

Er: Je vois que vous mettez de Tordre dans vos 
affaires. 

Sie: II faut bien. 

E r : Et si un de vos abonnäs se sent un peu amou- 
reux en dehors de son jour? 

Sie: Ah, je n'aime pas du tout 9a, pourtant on 
s'arrange, j'ai le täl^phone dans la maison. Eh bien 
d^cidez-vous. 

E r : Je regrette, Madame, mais le vendredi est juste- 
ment le jour, ou je me purge. 



— 174 — 

Sie: Alors vous aussi, vous tnettez de l'ordre dans 
vos affaires. 

Er: II faut bien. 

Er: Quel est votre genre, Mademoiselle? 
Sie (Variät^-Sängerin): Le genre gommeux. 
Er: Ah! 

Sie: Cest parce que je suis mince et que je chante 
trte mal. 

Caveau des Innocents. 

S i e (dfirftig gekleidet, ohne Hut, hat eben ein senti- 
mentales Lied von Musset schmelzend vorgetragen.) 

Er (während des allgemeinen Beifalls): Ah, Made- 
moiselle, quelle artiste que vous 6tes — vous m'avez 
remuä l'äme. 

Sie (während der Beifall andauernd): Ne fais pas 
de chiquä, mon petit chien, j'habite pas loin d'ici, c'est 
Cent sous. 

Er: ? 

Sie: Mais attends d'abord que je satisfasse le 
public. (Sie wiederholt die letzte Strophe schmelzend.) 

* * 

Casemierung. 

Sie (rosa Haut, gepudert wie ein Mehlwurm): Sur- 
tout, ne viens jamais le vendredi. Cest mon jour de 
sortie. 

Er: Que fais-tu alors? 

Sie: Je vais ä la campagne avec ma petite amie. 

Er: Ta petite amie? Qu'est ce que c'est que ?a? 



— 175 — 

Sie: Eh bien, c'est ma petite amie, une modiste 
trös gentilie et tr6s sage. 

Er: Mais tu l'as säduite, sans doute? 

Sie: Non, je vous assure que non. D'abord, je 
l'avoue, j'avais des intentions, mais depuis que je l'aime 
d'amour, je ne veux pas faire des poüssonneries. 

E r : Et qu'est ce que vous faites ensemble? 

Sie: Nous rigolons, nous nous roulons sur le gazon 
et nous dinons dans de petites auberges de catnpagne. 
Cest charmant, eile croit que je suis buffetiöre dans un 
grand restaurant. Cest exquis, tu sais, c'est moi qui 
regale, puisqu'elle n'a pas le sous, la petite. Et nous 
avons absolument les mSmes goüts. Nous ddtestons toutes 
les deux les gigots et les rosbifs. 

Er: Et que pr6ferez-vous? 

Sie: Oh, les petites choses gentilles, de petits 
oiseaux, de petits gdteaux et les petits vins gris. 

Er: Mais c'est le bonheur parfait, c'est l'idylle. 

Sie: En eff et, nous avons trös bon caractöre toutes 
les deux. 

Bei Maxim's. 

Sie: Vous autres Ällemands, vous ne savez pas ce 
que c'est qu'un caprice. Vous reflächissez trop. Quand 
un fran^ais a un b^guin pour une femme, il la lui faut; 
une seule fois peut-^tre, mais enfin il le faut. 

Er (Deutscher): En effet, nous ne connaissons pas 
cela. Quand une femme commence ä nous plaire, la 
moindre bagatelle peut encore nous d^router. 

Sie: Quoi par exemple? 

E r : L'esprit commergant trop d6velopp6. Probable- 
ment 9a n'empgcherait pas un caprice de fran^ais? 



— 176 — 

Sie: Pas le moins du monde» un compte ä r^ler^ 
ce sont lä les moindres difficultäs pour un fran^ais em- 
ballä. Et pour vous, Monsieur? 

E r : Non plus, du moment que nous sommes atta- 
chis ä une femme; mais avant, cela nous froisse. 

Sie: Mais attachez-vous, Monsieur, attachez-vous, 
on ne demande que (a. 



Er: D'oü tiens-tu cette cicatrice au menton? 

Sie: Une femme a voulu me tuer hier par Jalousie; 
regarde ce petit canif, c'est gentil, n'est-ce pas? je Tai 
achetö. Si je la rencontre cette nuit .... 

Er: Et la police? 

Sie: Oh, il n'y a rien ä craindre, puisque c'est 
entre femmes. 

Er: Comment 5a? 

Sie: II n'y a jamais rien avec la police, mSme 
quand on se tue, la femme, ^a ne compte pas ä Paris. 



Kinder. 

Ein Bekannter kauft in einem Caf6 einem umher- 
ziehenden Spielwarenhändler zwei Kaninchen ab, die man 
laufen lassen kann. 

Ich: Cest pour votre gösse? 

Er: Ah, non, par exemple, Juliette a douze ans, c'est 
une petite demoiselle, un tel cadeau Toffusquerait; c'est 
pour ma maitresse, qa l'amuse. 



— 177 — 

Am Strand. 
Ein ca. zwölfjähriges Mädchen zu andern Kindern: 

Eh bien, jouons, c'est de notre äge. 

* ♦ 

♦ 

Die Gouvernante: Pourquoi parles^tu comme un 
beb6, tu t'exprimes si bien, quand tu veux. 

Ein sechsjähriges Mädchen: Cest pour f air plaisir 
a maman. 

* * 

Auf dem Omnibus. 

Alter Herr: Ah, Mademoiselle, que vous Stes gen- 
tille. Savez vous, que je suis tout ä fait amoureux de 
vous? 

Vierzehnjähriges Mädchen: Mais, Monsieur, je 
vous en prie, ce n'est pas de cette fagon, qu'on entretient 
une gösse comme moi. 

* 
Resumä. 

Mein Freund (Franzose): Alors la majorit^ des 
Allemands ne comprend pas qu'on se ruine pour une 
demi-mondaine? 

Ich: Difficilement. 

E r : Pour nous autres Fran^ais rien n'est plus natu- 
rel, parce que dans l'amour nous ne classons jamais les 
femmes. 

Ich: Comment? Vous ne les classez pas? Ne 
sommes-nous pas ici au pays du demi-monde, classe ä 
part, rigoureusement ätablie? 

E r : Ah socialement, c'est autre chose. On se ruine 
pour une cocotte, mais on ne l'äpouse pas. 

Ich: Sauf les exceptions. 

12 



— 178 — 

Er: Naturellementi il y avait toujours des rois qui 
6pousaient des bergöres et des princes, qui faisaient d'une 
grue leur legitime. 

Ich! Pr^ferez-vous, qu'ils äpousent des princesses, 
pour les tromper aprös le mariage avec des grues? 

Er: Au point de vue [fran^ais c'est plus propre de 
descendre quelque fois dans la nie, que de laisser p6n€- 
trer la nie jusqu'ä son foyer. 



Viertes Intermezzo. 

Bilder aus der französischen Provinz. 



I. Frühling in der Provence. 

Noch bewegten die Stflrme der Tag- und Nacht- 
gleiche die Atmosphäre, als wir Genf verliessen, um durch 
Savoyen und das Dauphin^ ins Rhönetal hinabzusteigen. 
Unterwegs glänzte uns zur Rechten das blaue Band des 
iac du Bourget, den Lamartine besang, links drängten 
sich grau in die Landschaft die Villen, das Kasino und 
die Bäder von Aix-les Bains, wo sich in einigen Monaten 
überfatterte Pariser das Blut entsäuern lassen werden. 
Nachmittags betraten wir Chambäry, einst die savoyische 
Hauptstadt. Fast feindlich umstarrt die Langeweile fran- 
zösischen Provinzlebens, das um ein Qran schlimmer ist 
als das deutsche, den Fremden, der ihren tödlichen Fängen 
zu entfliehen vermag. Die Städte scheinen so verdriess- 
lich, weil sie nicht Paris sind, gleich gekränkten Schönen, 
die sich eigensinnig vernachlässigen, da sie doch nicht 
so zur Geltung kommen könnten, wie sie in unberech- 
tigter Eitelkeit möchten. Doch aus den engen Gassen 
von Chambäry fahren Pfade hinauf an den Berglehnen 
nach Les Charmettes, dem in ziemlich unverändertem Zu- 

12* 



— 180 — 

stand bewahrten, rfihrend schlichten Landhaus, das der 
Schauplatz der Liebe zwischen J. J. Rousseau und Ma- 
dame de Warens war. Mehrere Porträts zeigen den 
mageren, etwas verwahrlosten jangling und die lächelnde, 
kraftvoll-weiche matterliche Geliebte. Von dem Schlaf- 
zimmer mit dem grossen altvaterischen Himmelbett — 
dessen zerzupfte Steppdecke von Touristen atomweise 
nach Grossbritannien verschleppt wird — blickt man hin- 
ab auf die Stadt, die von hier aus, in die blauen Berge 
gesenkt, von versöhnender Lieblichkeit erscheint. 

Abends kamen wir nach Grenoble, der eleganten, 
lustigen Hauptstadt des Dauphin^. Hier beginnt der 
französische SOden oder vielmehr der Uebergang zu ihm. 
Das halbverbitterte Schielen nach Paris nimmt ab im Ver- 
gleich mit mittel- und nordfranzOsischen Städten; die 
Strassen beginnen ihren eigenen Charakter zu haben. 
Grenoble erinnert mich an Frankfurt a. M., das auch bei 
verhältnismässig geringer Einwohnerzahl ein lebhafteres 
$trassenbild hervorzaubert als manche bedeutend grössere 
Stadt. Gleich den Mainländern zwischen dem Norden 
und Süden eines Landes eingeschichtet, bewohnt das 
Dauphin^ ein lebhaftes, phantasie- und witzbegabtes Volk, 
das, wie die Franken, zwischen nordischer Strenge und 
südlicher Lässigkeit eine gute Mitte hält. 

Dass in allen blühenden Städten Frankreichs die 
Architektur den Häusertypus adoptiert, wie er sich unter 
der durchgreifenden Modernisierung von Paris unter dem 
Baron Hausmann entwickelte, ist ein relativ erfreuliches 
Sichbescheiden« Das französische Stadthaus ist einfach 
und nur gerade so viel geschmückt, dass der Eindruck 
der Nüchternheit vermieden wird. Im übrigen bilden die 
Privatgebäude einen neutralen, ruhigen Hintergrund für 



181 



die Buntheit des Strassenlebens und gruppieren sich un- 
auffällig um die Monumentalbauten, ähnlich wie in deti 
alten Städten Italiens, ähnlich wie im heutigen London; 
wo die Privathäuser gewissermassen auf Architetdur und 
Ornamentik verzichten, so wie wir es bei den Rahmen 
um unsere Lieblingsbilder gern haben. In Deutschland 
gestattet man dagegen jedem Maurermeister und Bau- 
spekulanten, in backsteinemer und gipsener Sprache seine 
EmporkOmmlingsvorstellung von- Schönheit und Architektur 
unter die Leute zu brfiUen und ihnen das Spazierengehen 
zu verleiden. 

Qrenoble hat, dank dem Eifer des Herrn Combes, 
seine Hauptsehenswfirdigkeit, die einige Stunden entfernt 
in den Bergen gelegene grande Chartreuse, eingebfisst, die 
zuletzt durch Huysmans zu literarischem Ruhme kam. 
Heute stehen die Mauern als monument d'ätat verwaist, 
und man muss sich begntlgen, um Grenoble die Land- 
schaft allein zu geniessen, das bergumtürmte Tal der 
Isfere und die fernen Firnen des Mont Blanc. 

Es sind andere Menschen, denen in den Bergen, 
fem von bewohnten, dumpfen Tälern der Menschen, oder 
an spärlich besiedelten Klippen unwirtlichen Meeres das 
Leben reicher wird, andere, die berauscht in die Ebenen 
steigen, wo die Lüfte wärmer wehen, Lenzdüfte früh- 
blühender Gärten aus weissen Pfirsichbäumen, hellroten 
Mandelsträuchem fliessen, grünende Felder sich an streng 
geordnete Weinberge schliessen bis hinab an den breit 
hinflutenden Strom, auf dem platte Flösse und die ge- 
wölbten Leiber der Kähne leise treiben unter Brücken- 
bogen hindurch, vorbei an summenden, im Lichte blitzen- 
den Städten und Flecken. Wer solches liebt, der steige 
im Frühling hinab in die Täler der RhOnfe und der Durence: 



— 182 — 

eine Kette reger Uferstädte und umgrflnter Pannen, die 
gen Norden dichte Cypressenwände vor dem Groll des^ 
Mistral scbOtzen. Immer mehr treten die Berge zurflck^ 
Ostlich schwindet der Strang der Alpen, der uns von der 
Heimat bis hierher nachzutasten schien, westlich ver- 
dämmern die weichen Linien der Cevennen, einst von 
heissem Kampfruf erfallt. Der Vergleich mit der lom- 
bardischen Ebene, mit den Ufern des Po drängt sich auf; 
nur dass das Licht hier noch feiner, wie ein glänzendes, 
goldenes Oel auf den Dächern liegt, die vom Wind ge- 
reinigte, herbere Luft noch durchsichtiger darüber zittert, 
oder haben mich nur die Verse Freden Mistrals ge- 
blendet : 

Grand soul^u de la ProvÄngo, 

Gai coumpaire d'ou mistrau, 

Tu qu' escoules la Durön^o, 

Coume un flot de vin de Crau. 

Fai lusi toun blound calöul 
Coucho Toumbro emai li fl^u! 

Löu, löu, l^u! 
Fai te vfeire, beü soulfeu! 

Ta flamado nous grasiho 
E pamens, vöngue l'estifeu, 
Avignoun, Arie e Marsiho 
Te regaupon coume un difeu! 

Hier der Versuch einer Uebersetzung: 

Grosse Sonne der Provence, 
Des Gespielen Mistral froh. 
Vor Dir trocknet die Durence, 
Eine Woge Wein von Crau. 



— 183 - 

Deine blonde Glut verschwende, 
Dass uns Qual und Dunkel ende, 

Sende und vollende 
Sonne Deine lohen Brände. 

Ob die Flamme auch verzehre, 
Sommer, rOste Dich zu nah'n, 
Avignon, Arles und Beaucaire 
Wollen Dich als Gott empfahn! 

Besonders wer Orange betritt, mag sich in Italien 
wähnen; ein stilles, im Lichte brütendes Städtchen mit 
einigen römischen Erinnerungen. Weder der Triumph- 
bogen, noch das antike Theater sind ersten Ranges, aber 
der Kreuzweg, den dies ROmertor überwölbt, die weiten, 
aus bestaubtem Gelände zusammenstrebenden, sich hier 
verknotenden Heerstrassen, die Karren und Lastwagen, 
die unter der festlichen Kassettendecke und den Trophäen 
des Aeduerhäuptlings Sacrovir monoton Tag für Tag 
durchfahren, strömen jenen Reiz altrömischen Bodens 
aus, der, im Main- und Rheinland beginnend, bis an die 
Ränder der Wüste den Wanderer zu Zeiten umwittert. 
Die grösseren Städte des Südens, der eigentlichen Pro- 
vence, — Avignon und Nimes insbesondere — lassen 
einen wesentlichen Unterschied vom italienischen Schwester- 
land erkennen. Während dort die Menschen sich die 
von der Sonne gereiften Früchte gewissermassen in den 
Mund wachsen lassen, tritt hier bewusste Arbeit und be- 
sonnene Kultur dem natürlichen Segen fördernd zur Seite. 
Wir sind gewohnt, Süden und Verfall als zusammenge- 
hörig zu betrachten, das vorwärtsweisende Leben spielt 
sich heute unter den grauen Breiten des Nordens ab, 



— 184 — 

doch das beg^Dckte Frankreich, das von den feuchten 
Weideländern und Laubwäldern bis hinab in die immer- 
grüne, lichtgesättigte Mittelmeerzone reicht, hat hier ein 
Stack Soden bewahrt, das, politisch und vrirtschafttich 
dem Norden verknöpft, nicht die Abblätterung der andern 
Mittelmeerländer teilt: SOden mit gegenwärtigem Leben, 
mit wachsendem Reichtum und einer noch nicht abge- 
blOhten Dichterschule. Erstaunlich lebhafte Strassen und 
Plätze, nicht ohne Eleganz, Oberraschen den, der seine 
Vorstellung von den Städten nach der Höhe der Ein- 
wohnerzahl gebildet hatte. Avignon, wo die Ouvire in 
die Rhone fliesst, gibt ein bedeutendes Bild reicher Flüss- 
landschaft, aber das nahe Villeneuve flQstert mehr als 
irgend ein Ort des SOdens vom leisen Bröckeln erstarrter 
Vergangenheiten, Villeneuve -lös -Avignon, wo sich in 
die schwanke Pracht einstiger Klöster, Kardinalspaläste 
und päpstlicher Villen, wie Getier wimmelndes Volk hinter 
prächtigen Portiken, unter dunkeln Kirchengewölben ein- 
genistet hat. Ein unbeschreiblicher Abend war es, als 
hier bei der scheidenden Sonne im Geviert eines ehe- 
maligen Karthäuserkreuzganges zerlumpte Kinder ihre Ober- 
all ähnlichen Spiele und Reigen auffOhrten ~ nicht anders, 
als im Hofe einer Berliner Mietskaserne — , wie in den 
einstigen Zellen zwischen geschwärzten Mauern Weiber 
die Glut unter den in den Kamin gehakten Kesseln 
schOrten, wie andere sich auf Holzpantinen mit Eimern 
zu den uralten Ziehbrunnen schleppten, einige, auf um- 
geworfenen Säulentrommeln hockend, Säuglinge an die 
mageren BrOsfe legten, während Männer in der Ecke 
kegelten. Das war ein Bild, nachhaltiger als alles Sehens^ 
werte am Sternenhimmel Baedekers. 

Der alte päpstiiche Patast in Avignon ist heutb dne 



185 



Kaserne, und das geht nicht gegen seinen Stil. Er gleicht 
ohnehin einer grandios-finsteren Zwingburg. Seine rohen, 
schmucklosen Backsteinmäuern müssen sich unter eihige 
wenige grosszUgige gotische Linien beugen. Die am Nach-^ 
mittag in den Hallen, Gängen und Höfen teils herum- 
stehende, teils auf Feldbetten bratende, teils wirtschaftlich 
oder mit der Montur beschäftigte Soldateska gab dem 
unheimlichen Bau, in den rote Sonnenstreifen fielen, keine 
ungünstige Belebung. 

Einen Tag widmeten wir dem Andenken Petrarchs in 
der Grotte von Vaucluse, die landschaftlich dem an 
Alpenwege Gewöhnten nichts Ueberraschendes bietet. 
Wie viele Tränen hat das sentimentale 18. Jahrhundert, 
das Petrarca so wenig verstand und so sehr liebte, in 
diese Quelle geweint, einem bekannten Memoirenschreiber 
nach zu urteilen, „qui allait verser des larmes au tombeau 
ou le doux Petrarque s'ensevelit vivant" Ich habe 
Petrarca nie sentimental, stets nur künstlerisch verstehen 
können. Ich glaube nicht, dass er als Mensch unter 
Laura de Sade so unmässig gelitten, sondern dass er sehr 
als Künstler in seinem infelice amor geschwelgt hat. 
Seine Konflikte sind gewiss wo anders zu suchen, als 
bei der greifbaren Laura, die das Decor seines äusseren, 
das Symbol seines inneren Lebens war und der liebliche 
Vorwand seiner Verse. 

Die Arenen von Nimes und Arles sind an sich be- 
deutend, wenn auch nicht im Vergleich zu denen Von 
Verona und Rom. Auch hier waren, nachdem die Mönu^ 
mente aufgehört hatten, als Festungen zu dienen, ganze 
Etagen von ärmlichen Wohnungen eingebaut, die man 
erst im letzten Jahrhundert entfernte, um die Arenen ihr^r* 
alten Bestimmung zurückzugeben : den Volksbelustigungen^' 



- 186 - 

Jeden Sonntag vom 1. April ab finden harmlose, franzö- 
sische Stierkämpfe statt FDr den Sommer aber, wenn» 
die Sonne noch heisser auf den Steinstufen brennt, werden 
berühmte spanische Toreadores erwartet, die wahrhafte 
,,mises ä morf" vorführen. 

Noch einen Schritt südlicher, wir sind in Arles, denr 
Herzen der Provence, wo griechisches, lateinisches und 
sarazenisches Blut einen Typus von seltsamen Glanz ge- 
schaffen hat. Hier ist noch nichts modernisiert, keine 
elektrischen Trams jagen auf pfeilgeraden Boulevards in 
den Schoss der Stadt wie in Avignon und Nimes. Graue 
unregelmässige Gassen führen zum Markt und zur Rhone,, 
die, sich immer verbreiternd, grauwogig ihrer Mündung 
zudrängt, wo unter dem niederen Himmel der Camargue 
in ungewissem Föhnlicht einst die drei Marieen mit ihrer 
schwarzen Dienerin Sara landeten, zu deren Kult all- 
jährlich Zigeunerscharen zum Rhönedelta pilgern. Saint 
Trophime mit dem stummen Kreuzgang und dem schlei- 
chenden Leben auf seinem Platz scheint uns in noch 
etitlegenere Welten zu rücken, etwa in die ferne Roman- 
tik von Burgos oder Toledo. 

Aries ist der Mittelpunkt der provencalischen Dichter- 
schule, der F^libres und der Fäibresses. Der greise 
Mistral scheint die Säule zu sein, um die sich alles 
schart. Er ist es, der die Liebe heimatlicher Schönheit 
wach6rhält und alle kleinliche Eifersucht schweigen heisst. 
Auf seinem Landgut in Majano unweit Arles lebend, ist 
er der Veranstalter ländlicher Feste, so der f6te des vier- 
ges, an. denen den mannbaren Mädchen ein Kleid nach 
der provencalischen Tracht überreicht wird. Diejenigen^ 
die bis zu ihrem Hochzeitstag der Sitte treu bleiben, 
erhalten von Mistral eine kleine Mitgift Die Kleidung 



— 187 — 

zeichnet sich wie in einigen Gegenden Italiens durch 
stolze Einfachheit aus, als verschmähten die Frauen^ 
ihrer natürlichen edlen Formen bewusst, reichlichen 
Schmuck wie ein fremdes Almosen: schwarzes Mieder 
mit weissem Brusttuch, ähnlich dem Fichu Marie-An^ 
toinette, ein schwarzes, diadematiges Samtband auf 
dem Haar, hie und da ein Edelstein auf der Brust. 
Man begegnet in Arles noch verhältnismässig vielen 
Frauen in dieser Tracht, die der Jugend wie dem Alter 
gut ansteht 

Unversiegliche Fest- und Heimatsfreude scheint die 
Fälibres untereinander zu verbinden: Bankette in den 
Trflmmem der Arena, Preisgesänge auf den Plätzen 
der Städte, Sängerfahrten in das stammverwandte Kata^ 
lonien, wo in Barcelona eine ähnliche Dichterschule 
blüht. Ein leiser Gegensatz gegen die Vormacht von 
Paris und das reale heutige Frankreich ist wohl schon 
in Mistrals Gedichten zu sparen, doch ein wahrhafter 
Partikularismus — gar mit politischer Note — ist unter 
dem faszinierenden Glanz der französischen Geschichte,, 
des SonnenkOnigtums, der grossen Revolution, der 
Grande Armäe nicht mOglich. Um den giahendeu 
Kern des heimatlichen Lebens legt sich in einiger Ferne 
der kühlere, aber weiterhin leuchtende Lichtglanz der 
Grande Nation, der anzugehören auch diese einst un- 
abhängige Provinz stolz ist In einem kleinen sehr in* 
teressanten Landesmuseum (museon arlaten) hat Mistral 
zusammengetragen, was sich an heimatlichen Erihnerun* 
gen, altem Gerät, Bodenfunden aufbringen Hess. Szenen 
aus dem proven9alischen Leben, das Mahl am Weihnachts- 
abend, eine Wochenstube sind mit echtem Gerät und 
Wachsfiguren (die nicht stören) eindrucksvoll dargestellt 
Vor allem aber enthält das Museum eine umfangreiche 



- 188 — 

Iconographisch- bibliographische Sammlung von Doku- 
menten fOr die Geschichte des Filibrige bis auf das Di- 
plom des Mistral jflngst erteilten Nobelpreises und das 
Schreiben des Präsidenten Roosevelt, das kflntlich (1905) 
auch durch die deutsche Presse ging. 

Das weithin leuchtende Juwel in der Kette proven^a- 
lischer Städte ist Marseille, am sonnigen Strand hinge- 
lagerty einer blonden Sirene gleich, nach deren üppigen 
Lippen die Seefahrer dOrsten. Ein Drängen in den 
breiten Strassen, * die an Glanz und Bewegtheit Paris nähe- 
rstehen, und als Hintergrund dieses Stadtbildes ein Wald 
von Masten und Schornsteinen dicht an der Cannebiöre, 
die breit an den Hafenkai mOndet, dessen farbiges Ge- 
wimmel an die Häfen des Orients gemahnt: eine köst- 
liche Mischung alles dessen, was einzeln schon bezaubert 
und berauscht: Sonne, Stadt und Meer. Neapel steht als 
Stadt der Gegenwart zurUck, den Hafenstädten des Nordens 
ist oft das Meer zu fern und die Sonne fehlt ihnen, Kon- 
^tantinopel ist schmutzig, eng und ohne Vegetation. So 
])esingt Mistral Marseille: 

Affeciounado e galoio Marsiho, 

Qu' au grand soul^u travaio, iv&r-estidu, 

Tön ä la bouco uno flour de cacio, 
E noun plego li ciho 

Que davans löu trelus de la Mere de Diöu. 

Marseille, du Stadt der Lust, selige Holde, 
Zu nie getrabter Sonne aufzuschs^uen. 
Im Munde trägst du die Akaziendolde 

. Und deine Wimper sollte 
Nie sinken, denn vor unsrer lieben Frauen. 






— 189 - 

2. An der Schwelle Spaniens. 

Spanische Stierkämpfe — die Wundergrotte voti 
Lourdes — Pyrenäenlandschaften — baskisches Volkstum: 
— alles dies lässt den Reisenden zwischen Marseille und 
Biarritz oft vergessen, dass er noch diesseits der Berge 
ist. Nur französische Lebensannehmlichkeiten, vor allem: 
eine exzellente Küche, die man in der gegen materielle 
Freuden allzu gleichgiltigen Provence vermisste und in^ 
der Langue d'oc, Bäarn und in der Gascogne wieder- 
findet, gemahnen daran, dass man . noch nicht . in da& 
halbafrikanische Iberien vorgedrungen ist. Der Frauen- 
typus ist mitteleuropäischer als der der kleinen unschönen,, 
von der Sonne verdorrten Provenzalinnen, unter denen 
sich allein die Arlesierin als edle Blutmischung heraus- 
hebt, mitteleuropäischer, denn er vereint Stärke, Grazie 
und Humor ohne die südländische Morbidezza, so dass 
sich der Poet nach ihm leicht die zierlich-kräftige Mutter 
Heinrichs IV. vorstellen kann: Jeanne d'Albret, die wäh- 
rend sie auf dem Schlosse von Pau den künftigen König 
gebar, einen lustigen B^ameser Refrain trällerte, damit 
das Kind kein Heulmeier oder Sauertopf würde (pleureur 
et rechignä). Dieses alte derblustige Frankreich, dessen 
Klassiker Rabelais war, von welchem Brantöme so er- 
bauliche Sitten überliefert, ebenso grundverschieden von 
der finsteren spanischen Grandezza, als von der korrekten 
Göttlichkeit des Versailler Hofes, am ähnlichsten vielleicht 
dem einstigen Treiben in deutsch-wälschen Ritterburgen 
der Südalpen, dieses alte, von der Romantik betrauerte 
Frankreich hat in den nördlichen P)rrenäenländem beson- 
ders kräftige Blüte getrieben, unter einem Himmel, der 
vielleicht d^r gesegnetste in Europa ist. Das heute von 
Fremden überfüllte Pau ist im Winter kaum Rom und 



— 190 — 

der Riviera an Milde unterlegen, dabei verschafft ihm der 
Anhauch des unfernen Ozeans einen grUnen Sommer, 
•der dem mitteldeutschen gleicht. Bei Narbonne verlässt 
die Bahn die vegetationslosen Sandflächen und die fahlen 
Teiche, die sich weit um das Rhönedelta lagern* Schon 
Carcassonne» die mittelalterliche Veste, die, wie aus einem 
alten Kupfer herausgeschnitten, mit ihren jähen Mauern 
tmd wulstigen Tilrmen einen Hagel krönt, gewährt Aus^ 
sichten auf reich bewässerte Wiesentäler mit Ulmen- 
wänden, aber Bäche, um die Weiden und Erlen kauern, 
ivie sie die fettfeuchten Sommerlandschaften des mittleren 
Deutschland zieren. Dahinter ragt, den Alpen ähnelnd, 
die Pyrenäenwand, die formlosen Gipfel von dicken Wolken- 
schwaden vermummt, während noch gestern vom Peyrou 
in Montpellier unsere Augen den klassischen Linien 
sanfter Bergleiber nachtasteten, die sich, wie in Attika, 
weit in das glitzernde Meer lagern. Je mehr wir Tou- 
louse nahen, desto weiter treten die Berge wieder zurOck, 
Toulouse, das mir eine tote, farblose Händlerstadt schien, 
deren alten Ruhm poetischer, südlicher Daseinslust ich 
nicht fasse, deren Kais — wenn sie auch von der an- 
mutigen Garonne gebildet werden — sich in modemer, 
sachlicher Bedeutungslosigkeit erstrecken, die allein in 
St. Sernin, einem geheimnisvollen romanischen Bau, ein, 
man möchte sagen, unverdientes Monument von Grösse 
besitzt In Lourdes stiessen wir wieder dicht an die 
Pyrenäenkette, und wir wähnten fast zwischen Buchloe 
und Lindau, nördlich den Algäuer Alpen, zu fahren, nächst 
dem grünen Immenstadt und Oberstdorf. 

Lourdes. 
Lourdes liegt in einer abwechslungsreichen Land- 
schaft der Vorpyrenäen, die an die bayrischen Alpen er- 



— 191 — 

Innern. Schroffe, wildgeformte Bergrücken treten bis dicht 
zn die tiefgrUne Flusslandschaft heran. Schwarze Wolken- 
fetzen jagen vorüber und lassen grelle Sonnenflächen mit 
düsteren Schatten abwechseln. Das Städtchen selbst 
gleicht einem modernen Badeort; monumentale Hotel- 
bauten bilden die Strassen, an den Promenaden ziehen 
sich Reihen von Verkaufsbuden hin, die neben dem be-^ 
kannten niedrigen Schund von heiligen Artikeln, gipsernen 
Madonnen, Rosenkränzen, Blechmünzen etc. die unwahr- 
scheinlichsten und verkrüppeltsten Gegenstände aus Ma- 
lachit und Onyx doppelt so teuer und 36mal so ge- 
schmacklos als in grossen Städten feilbieten. Ein ganz 
anderes Bild bietet die heilige Grotte. In der schwarzen 
Felsenhöhle ragen kolossale weisse Kerzenbüschel, deren 
Flammen blutig in den grauen Nachmittag züngeln. Ueber 
dem Eingange sind neben zahlreichen alten Krücken alle 
möglichen orthopädischen und chirurgischen Instrumente 
modernsten Typs aufgehängt, welche die Geheilten der 
Madonna geweiht haben. Vor dem Gitter bilden eine 
Kanzel und Bänke eine Kirche im Freien. Scharen von 
Betern knien und wandeln hier. Unbeschreiblich wird 
der Anblick, wenn die Tausende abends an der Grotte 
erscheinen und jeder eine brennende Kerze trägt. Wie 
glühende Lava flutet dann die Menge in geordneter Pro- 
zession den Fluss entlang, steigt unter unendlich süssen, 
klaren Avesängen. an den hohen Rampen zu der steil 
über der der Grotte einen Felsen krönenden Kirche em- 
por, ergiesst sich unter dem Klange der wie selig ver- 
klärten Stimmen in unendlicher Ruhe und Feierlichkeit 
durch die Gänge der Promenade und versammelt sich 
zuletzt vor den Stufen der Unterkirche, um der zünden- 
den- Ansprache eines Priesters zu lauschen. Wie durch 



— 192 — 

ein Wunder ist diese endlose Menge von einigen wenigen 
Geistlichen, die unter sie verteilt sind, in Ordnung und 
Ruhe gehalten. Nun werden sie von dem Redner als 
die „Kinder des Lichtes'' gepriesen, und die »Kinder 
der Finsternis' werden in ihren Hauptsätzen, der Mensch 
sei das höchste Wesen, staatliche Gewalt stehe Ober 
der Kirche etc. widerlegt, nicht immer ganz logisch und 
einwandfrei, aber in einfach-mächtigen, leicht überseh- 
baren Satzblöcken und primitive Geister verfahrenden 
Antithesen. «Gerade weil die Kinder der Finsternis an 
den Dogmen rütteln, gerade ihnen zum Trotz sinken 
wir nun in die Knie und rufen mit aller inbrünstigen 
Glut, deren unsere Seelen fähig sind: Credo, credo^ 
credol' Alles dies geschieht im Lande der Jaurös und 
Combes; dennoch gibt es Spassvögel, die behaupten, die 
Macht des Katholizismus sei gebrochen. Wer sonst ver- 
möchte heute fast täglich solche Massen in solcher Einig- 
keit und Ruhe zusammenzubringen und unenttäuscht zu 
entlassen? Die Hotelpreise beweisen, dass es nicht nur 
die niedersten Klassen sind, die nach Lourdes strömen. 
Hier ist alles berechnet, was seit ältester Vorzeit die 
Menschheit brauchte: die beschweriiche, aber abwechs- 
lungsreiche, ein Lebensfest bedeutende Pilgerfahrt zu be- 
sonders heiligem Ort, das einfache, dem Gläubigen so 
plausible Wunder der Teophanie, das sich täglich in 
erstaunlichen Heilungen erneuert, phantastisch (wenn auch 
architektonisch kümmeriich) aufgebaute Kirchen, deren 
Mauern von Dank- und Votivtafeln besät sind, dazu 
die bezaubernde Stimmung einer eindrucksvollen Land- 
schaft, die alle Phasen des Leidens, Hoffens, Betens, der 
Betrachtung, der Ermattung und der Erlösung mit wechseln- 
den Lichtem, gleich einer leichten Musik begleitet und 



- 193 - 

auch dem eine süsse Erinnerung feiertäglicher Stunden 
hinterlässt, der hier nicht gerade Heilung körperlicher 
Leiden suchte oder fand. Eine Erinnerung wie an eine 
selige Insel bleibt dem gläubigen Pilger für sein ganzes 
Leben. Und wer nun gar wirklich Heilung gewann ! 

Den ganzen Vormittag über sind die Piscinen, in 
denen das Wasser der Grotte aufgefangen wird, von 
Gläubigen umlagert. Die Gesunden flüstern mit zittern- 
den Lippen sich überjagende Gebete, und die Perlen 
des Rosenkranzes eilen durch fiebernde Finger; von 
solchem Gebetstrom umgeben, harren die Elenden, Blut- 
losen, Gichtbrttchigen, Verkrüppelten mit hohlen, in atem- 
raubender Erwartung krank glühenden Blicken ; sie sitzen 
in ihren Fahrstühlen, bis an sie die Reihe kommt. 
Einer nach dem andern wird von den freiwilligen Pfle- 
gern herbeigefahren und entkleidet, und nun wird der 
blutleere, vor Erregung fiebernde Leib vielleicht zum 
erstenmal im Leben in eisiges Wasser getaucht. Ein 
furchtbarer Choc! Dann aber durchströmt plötzlich unend- 
liche Wärme die Adern dessen, der, dem Bade entstei- 
gend, mit rauhen Tüchern abgerieben und wieder in 
Kleider und Decken gehüllt wird. Das ist das Wohl- 
behagen, von dem alle Kranken berichten. Es wird ihnen 
deutlich: die Liebe der Madonna hat sich persönlich für 
sie verwandt, und oft genug vermag der seit Jahren Ge- 
lähmte die Glieder zu bewegen und zu wandeln. Sofort 
bestätigen die Priester das Wunder, die Geheilten werden 
durch die Menge hinausgefahren. Alles drängt herbei. 
„Etes-vous gu6rie, mademoiselle?** — ,Je marche main- 
tenant, je marche maintenant!* rief eine junge Bäuerin 
mit altem, entsetzlich entstelltem Gesicht der Menge zu, 
und ein nicht mehr weichendes, grinsendes Lächeln legte 

13 



— 194 — 

sich Ober die tierischen, breiten Züge. Die Geheilten 
werden in das .Bureau des constatations*" gebracht, wo 
Aerzte die vollkommene oder teilweise Heilung begut- 
achten. Das Bulletin wird sofort im „Journal de la Grotte"" 
gedruckt und nimmt mit dem Abendexpress den Weg 
durch die katholische Welt. 

Pyrenäehland sc haften. 

Das plötzliche Wirklichkeitwerden eines aus der 
Schule bekannten geographischen Begriffs gibt stets eine 
seltsame Empfindung, als sei man nie ganz von seiner 
Tatsächlichkeit überzeugt gewesen. Vielleicht sind das 
Schwarze Meer oder die Strasse von Bonifazio oder die 
Pyrenäen doch nur eine böswillige Erfindung des Geo- 
graphielehrers gewesen, und nun steht so etwas plötzlich 
vor einem und, was der deutsche Pyrenäenwanderer sieht, 
gleicht dem heimatlichen Meer und Gebirg. Es ist stets 
von neuem überraschend und für viele anheimelnd, wie 
von tausend Metern an aufwärts die Welt sich in ihren ent- 
ferntesten Teilen gleicht, ob man nun in den Bergen 
Arkadiens, in den Tiroler Alpen oder in den Hochtälern 
von Barfeges und Gavami wandert. Nur weniges über- 
rascht hier den Alpinisten. Freilich, während den Alpen 
nördlich eine rauhe Hochebene vorgelagert ist, deren 
Klima die Vegetation wesentlich beeinträchtigt, ragt hier 
fettes Gelände mit Nuss- und Kastanienbäumen, mit Ge- 
müse- und Blumengärten, mehr wie am Südfuss der 
Alpen, doch ausgesprochen nordischer, fast mitteldeutsch, 
in feuchtgrünem Schwellen zwischen die Füsse der be- 
waldeten Berge. Fährt man von Lourdes über Pierrefitte 
und Luz-St. Sauveur mit der Bahn hinauf und wandert 
dann weiter durch das Hochtal der Gave de Bastan nach 



- 195 — 

Bargges, so iässt einen die noch laue Luft und der nicht 
zu beschreibende Blumenreichtum der gelben, der violetten 
und blauen HUgel, zwischen denen Ober QerOU der Berg^ 
Strom wirbelt, nicht vermuten, dass man sich schon 
1500 Meter hoch befindet, eine Höhe, auf der man in 
den Alpen im Hochsommer nicht lange im Schatten sitzen 
könnte. Die sOdliche Sonne verschiebt hier alles um eine 
Etage. Bis hoch hinauf sind die Berge grOn, wenn auch 
nur wenig besiedelt, und erst ihre Kronen zeigen das 
wilde Felsengrau, das in den Alpen häufig schon am 
Fusse beginnt. Jenseits Baröges fängt die von Kühen, 
Schafen, Pferden und Eseln belebte Mattenlandschaft an. 
Nach einem heftigen Anstieg befinden wir uns in einem 
im Juni schneebedeckten Hochtal, und vor uns ragte die 
graue Kuppe des Pic du Midi de Bigorre (2850 Meter), 
den wir besteigen wollten. Leider hatten wir nicht mit 
dem Schnee gerechnet, der uns die Wege verhüllte und 
fast in einen Bergsee gelockt hätte, wäre nicht plötzlich 
ein verräterisches Saphirblau unter der grauen Hülle sicht- 
bar geworden. Das Unterkunftshaus war noch ge- 
schlossen, denn hier sorgt kein Alpenverein für die Be- 
dürfnisse des Touristen ausserfialb der Saison, sodass 
wir mit durchnässten Schuhen, im Schnee sitzend, unser 
Frühstück verzehrten. Einige Schritte hinter dem Haus 
tut sich der blaue Blick nach Spanien auf, in ein fernes, 
märchenhaftes, wenig erschlossenes Bergland, an dessen 
spitzen Gipfeln kleine, zähe Wolkenklümpchen hafteten, 
ähnlich den Ledersäckchen, mit denen man beim Ueben 
die Spitzen der Floretts umknüpft. Mehr zu sehen war 
uns nicht beschieden, wir mussten auf den berühmten 
Blick in die Ebene verzichten. Währen der Pic du Midi 
bei hartem oder geschmolzenem Schnee keine grösseren 



— 196 — 

Schwierigkeiten verursacht als ein Voralpenberg, lag die 
Sache anders an jenem Junitag, der seit langem zum 
erstenmal Sonne brachte, und dazu eine ziemlich heisse. 
Der sonst für Pferde gangbare Pfad zum Gipfel war oft 
auf lange Strecken unübersehbar unter einem weichen 
Schneebrei begraben, in den man bis über die Hüften 
versank. Es galt also um den Schnee herumzukommen, 
was eine Zeitlang möglich war, bis der Abhang fast senk- 
recht aufstieg. Nach langem Zaudern, rechts und links 
alle Möglichkeiten prüfend, mussten wir uns 200 bis 300 
Meter unterhalb des Gipfels zur Umkehr entschliessen» 
zumal aus Spanien plötzlich Nebel herüberkrochen, die 
sofort hinter uns den Kegel dicht verhüllten und uns 
nachzutasten schienen. Wir gelangten jedoch rechtzeitig 
zum Unterkunftshaus zurück und hatten einen angenehmen 
Abstieg nach Baröges, wo wir zu unserem Staunen 
Staunen erregten. Der Alpinismus zu Fuss, besonders 
von Damen ausgeübt, scheint den Franzosen doch noch 
viel fremder zu sein als uns. 

Am folgenden Tage fuhren wir durch bald grüne, 
bald chaotisch wilde Landschaft den Ufern der Gave de 
Pau entlang, bisweilen an das obere Isartal, die Riss, 
erinnert, zu dem Felsenzirkus von Gavami, in welchem 
die Gave, dicht bei ihrer Quelle, in dreizehn Kaskaden 
über Eisstufen fünfhundert Meter tief hinabstürzt, über- 
türmt von den höchsten Pyrenäengipfeln, die freilich nicht 
weit über 3000 Meter hinauskommen. Dieser Zirkus ist 
eine von den bekannten Kuriositäten mit zwei Sternchen 
im Bädeker; täglich finden sich ganze Eselkavalkaden mit 
Fremden ein, die in einem dürftigen Wirtshaus einige 
Erbärmlichkeiten mit Goldbarren bezahlen, eine Ansichts- 
karte schreiben und mit Superlativen ihre Bewunderung 



— 197 — 

zollen. Man konstatiert die Einzigartigkeit des Anblickes, 
aber ist fern von den Ueberraschungen und Begeiste- 
rungen, die nur der Zufall beschert. 

Wir stiegen wieder in die Ebene hinab und befinden 
uns nun im Baskenland zwischen Gebirg und Ozean in 
der spanisch-französischen Ecke des Golfs von Biscaya. 
Einfache Ursprünglichkeit spricht hier aus den altmodi- 
schen bäuerlichen Giebelhäusern mit Holzbalkons, die an 
Schweizer und Tiroler Dörfer erinnern, wo man, wie hier 
überall, freundliche Gesichter und grosse Sauberkeit be- 
merkt. Schon in B^arn fällt im Gegensatz zum übrigen 
Frankreich die Freiheit von dem Vorbild der Pariser 
Strassen auf. In das Baskenland drang die napoleonische 
Nivellierung offenbar Oberhaupt noch nicht. Mit den 
Basken scheint trotz ihrer liebenswürdigen Sang- und 
Festfreude nicht zu spassen zu sein. Sie fahlen sich als 
das älteste, mit keiner der europäischen Rassen verwandte 
Urvplk, und sie sollen gesagt haben, ,qu'ils se f . . . . de 
J^sus-Christ'', falls man ihnen zu seine Lehre französisch 
predigen wollte. So haben sie ihren baskischen Gottes- 
dienst und leben — im Gegensatze zu ihren spanischen 
Brüdern — mit ihrem Wirtsvolk in Frieden. Gestern 
war ein Fest in Socoa mit Fandangotänzen, bunten 
Lampions, einer dürftigen Musik und einem unklaren 
Tanzen und Springen im Dunkel auf dem Meersand. 
Vorläufig habe ich nur beobachtet, dass die Frauen eher 
klein und zierlich, aber doch nicht ohne Falle und Kraft 
sind, und dass die meisten Vokabeln auf .oa' endigoi. 
Noch viele grössere Feste sollen sich der Beobachtung im 
Sommer bieten, den wir in einem der sauberen Giebelhäuser 
mit Holzbalken angesichts des Ozeans verbringen werden. 

Juni 1905. 



S c h 1 u s 8. 



Der Deutsche in Paris. 

Meyer-Gräfe sagt in seiher Entwickelungsgeschichte 
der Malerei, der Dentsche komme meist mit zu wenig: 
Gepäck nach Paris und gehe darum oft restlos im Fran- 
zösischen auf. Viele, scheint mir, bringen auch zu viel 
mit und das hindert ihre Unbefangenheit. Wenn der 
Rausch vorfiber ist, in den jeden die ersten bunten 
Wochen an der Seine versetzen, folgt stets ein Zustand 
langer Verdrossenheit, den man damit zu erklären suchte 
alles sei hier doch äusserlich, nichts gründlich, alles auf 
Schein berechnet, gewiss oft sehr schön, aber die Wärme 
fehle und was dergleichen nichtssagende Worte mehr 
sind, mit denen man die einfache Tatsache auszudrücken 
sucht, dass man sich nicht zu Hause fühlt. 

Iii Italien fällt das Volk vor Einem auf die Kniee, 
zieht man einen Hundertlireschein aus der Tasche, so ist 
man der Grandseigneur; der Engländer zeigt sich von 
vernünftiger Gesprächigkeit gegenüber dem Fremden, in 
Spanien fühlt man eine solche Kulturdistanz, dass man 
gamicht erst versucht, mit dem Volke Berührung zu 
finden. In Paris aber möchte man und — man kommt 
nicht mit. Man beklagt sich über das allgemeine Hasten,, 
die epidemische Nervosität, das schnelle Sprechen; den 
Leuten liegt es gamicht auf, sich dem Fremden verstand- 



199 



lieh zu machen ; man bezweifelt die gerahmte französische 
Höflichkeit. In dieser Enttäuschung wendet man sich 
wieder nach Hause, Oberzeugt, das Gute in Paris ge- 
kostet, den Rahm abgeschöpft zu haben und an die 
geistigen Grenzen des französischen Volkes gelangt zu 
sein. Nichts ist falscher. Wer die Verdrossenheit in 
bitterem Exil nicht bis auf den Satz durchgeschmeckt 
hat, ist nicht hinter den Sinn der französischen Kultur 
gekommen. Man kann eine Zeit erleben, da man 
die Ursache der Verdrossenheit in sich findet; man wird 
bescheiden und dann wieder selbstbewusst, indem man 
gerechte Grenzen erkennt: bis hierhin 'gehe ich mit, 
von hier ab bin ich nur Zuschauer. Jetzt fUhlt man 
sich als Deutscher in Paris weder gedemütigt, noch 
setzt man sich schulmeisterlich aufs hohe Ross; man 
kommt mit und vermag doch seine Reserven zu wahren. 
Es gibt keine andere Stadt, wo es sich so schön ein- 
siedlerisch und gewissermassen inkognito leben lässt. 
Man beginnt, sich in dieser Fremde zu sammeln, zu 
linden, aber nicht, indem man sich der allgemeinen „Ober- 
-flächlichkeit^ gegenüber in die eigene, so billige „Tiefe*" 
versenkt. Man wird hart und herb, dem heimatlichen 
Gefühlsüberschwang entfremdet, der gegenseitigen Lokal- 
verhimmelung mit Ausschluss des übrigen Europa über- 
drüssig. Man gewinnt zu der angeborenen deutschen 
Gründlichkeit, die alles mit Ernst bezweifelt und prüft, 
die französische Gründlichkeit hinzu, die auch noch den 
Ernst selbst durch Ironie in Frage stellt. Alle blauen 
Dünste teilen sich, das Misstrauen wird geschärft gegen 
die Worte, gegen alle Urteile und Verurteilungen. Man 
bekommt Respekt vor Vielem, was man früher belachte. 
Nichts erscheint einem nun kümmerlicher als das Ge- 



— 200 — 

schrei von dem notwendigen Verfall Frankreiclis. Schon 
Treitschke, der fUr die französische Kultur doch nicht 
besonders viel Sinn besass, sagt wiederholt, sie sei als 
Faktor in der europäischen Gesittung unentbehrlich. Die 
Republik steht heute fester als je, und selbst bei einem 
nicht wahrscheinlichen wirtschaftlichen und sozialen Rück- 
gang des Landes wird Paris in Europa stets die Ehren- 
stellung behalten, die Athen als Stadt des Geistes und 
Geschmackes im Reiche seiner Eroberer genoss. Ob wir 
Deutsche mit unseren ganz anderen GemOts- und Behag- 
lichkeitsbedürfnissen uns auf die Dauer in Paris wohl- 
fühlen können, ist freilich eine andere Frage. Aber mir 
scheint, das ist nicht der Zweck, warum Paris gebaut 
wurde. Ja, wir werden vielleicht nie ganz begreifen 
können, dass sich in dieser Welt, wo alles „richtig''^ 
nichts unvorhergesehen ist, überhaupt Menschen wohl 
fühlen können, und zwar sehr wertvolle Menschen. 

Aber etwas können wir hier lernen: Wir Deutsche 
haben bekanntlich früher zu lange unsere Nationalität 
vergessen. Wären wir dafür wenigstens gute Europäer 
geworden! Dass nationalere Völker es wurden, wir aber 
nicht, beweist, dass Nationalität und Europäertum sich 
nicht ausschliessen, sondern lässt annehmen, dass dieses 
der Stütze jener bedarf. Nur muss der Nationalstolz sich 
auf die tatsächlichen Kräfte stützen, nicht ein hahne- 
buchener Idealismus sein. Kurz: wie man „man selbst"^ 
wird, können wir von den Franzosen lernen. 



Von Oscar A. H. Schmitz erschienen im Verlag 
I Axel Juncker Berlin: 



IT 



Der Untergang einer Kindheit, Roman 3. Aufl. • M. 3.— 

'' Don Juan« Casanova und andere erotische Charaktere, 

'^ ein Versuch M. 2.— 

^ Haschisch, Erzählungen, 2. Auflage M. 2.— 

Der Herr des Lebens. — Die Rächerin . . • . M. 2.— 

l Der gläserne Oott, Novellen M. 3.— 

Halbmaske (Novellen, Essays, Dramatisches) • M. 3,50 

t Der weisse Elefant, ein Akt M. L— 

t Orpheus, Gedichte M. 1.50 



Verlag Dr. WEDEKIND A Co., O. m. b. H., In BERLIN. 

= Die Stimme = 



Roman in Blättern 

von 

Qrete Meisel-Hess. 

m Preis geb. Mk. 6.— • d 



„Gibt es ein Frauenbuch um ein Problem herum, um ein 
ewiges und doch bisher geheimnisvolles Problem? Und so, 
dass man doch das Zeithche rauschen hörte darin? Und Ge- 
stalten sähe? Gestalten und Gesichte? Fleisch und Geist? 
Wo ist es, dieses Frauenbuch? Ein Frauenbuch, empfangen 
in einem besonderen Rhythmus? In einem Rhythmus, der 
nicht geplant werden kann, der „kommen" muss ? Ein durch- 
aus originäres Frauenbuch? Ein Frauenbuch, wie es kein 

zweites gibt?! das hineinträfe mitten ins Herz 

der Zeit, dass sie, die Zeit, auflachen und aufweinen müsste 
darüber, — wo wäre es, solch ein Frauenbuch?" 

(Aus dem Roman „Die Stimme".) 

Das Buch selbst gibt die Antwort auf diese darin aufge- 
worfene Frage. Aus einer Lebensgeschichte, die in „Blättern" 
und in Ichform für einen Freund geführt wird, sehen wir die 
Gestalten modemer Menschen heraustreten und mit einander 
ringen. Und zwischen ihnen, durch sie und über sie wächst 
die, die die Blätter führt, ihrem Schicksal zu, in Lachen und 
Weinen. Mit ihr — die „Stimme". Und hier ist das ge- 
heimnisvolle, ewige Pioblem, um das noch kein Frauen- und 
kein Männerbuch geschrieben wurde. „Die Stimme": das ist 
das Phänomen der künstlerischen Exstase, das Schaffen selbst, 
der geheimnisvolle Vorgang des künstlerischen Werdens. 

„Die Frage: woher hat's der Dichter — geht auch nur 
aufs Was. Vom Wie erfährt dabei niemand etwas." 
Dieser Goethe^sche Spruch, der dem Buch als Motto voran- 
gesetzt ist, rührt an das Problem. Dieses Wie neben dem 
Was bringt die „Stimme". Das Wie ist das Geheimnis ihres 
Tönens und Versiegens und der Mächte, die sie erkling^en oder 
ersterben machen. Das Was ist eine Lebensgeschichte, voU 
sinnfälliger Schilderung, mit einer Handlung, die einen in 
Atem hält, einer Fülle von Gestalten, tragisch und grotesk, 
und von Stimmungen, lyrischer, philosophischer und dramati- 
scher Natur. 



Veflaa Dr. WEDfeKIND A Co., Q. m. b. H.. Ir BERUN. 

Das klingende Fliess 

Novellen von A. Behnisch-Kappsteln. 

Preis geb. Mk. 4.—. 

Kölner Tageblatt: 

Frau Anna Bebniscb-Kappstein ist eine der feinnervigstenDichterinnen- 
Naturea, die sich besonders auf die Analyse der weiblicben Psyche ver- 
steht, aber auch die blutlosen, krankhaft verbildeten Aestheten der Gross- 
stadt meisterhaft zu schildern weiss. Nachdem sie sich in den Kölner 
Blumenspielen zuerst als Lyrikerin hervorgetan und in diesem Jahr den 
Novellettenpreis davongetragen, eibt sie uns in den vorliegenden stimmungs- 
vollen Novellen neue glänzende ^Proben ihrer Gestaltungskraft, indem sie 
uns die feinsten Regungen der Seele enthüllt . • . • Noch ist rühmend 
zu erwähnen, dasa auch die Naturschilderungen der vielgereisten Frau 
die Meisterin verraten. 



Ein Menschenleben 

Alltagsbriefe unserer Klassiker. 

Herausgegeben, von 

Dr. Wilhelm Miessner. 

Preis geb. Mk. 4.50. : 



Neues Tageblatt Stuttgart: 

Ein glücklicher Gedanke erscheint in diesem Buch aufs glücklichste 
durchgeführt. Es rückt uns die verschiedenen Stadien des Menschen- 
lebens, Geburt, Taufe, Kindheit, Lehrjahre, Brautstand, Ehe, Krankheit, 
Tod, die Lebensführung mit ihren mancherlei Unterbrechungen u. s. w. 
in das helle Licht des Geistes der Grössten unseres Volkes, und zwar 
durch eine Zusammenstellung von Alltagsbriefen unserer Klassiker 
Hamann, Wieland, Klopstock, Herder, Lessing, Goethe, Schiller und Jean 
Paul. Das Buch, das daraus geworden ist, mutet uns trotz seines relativ 
geringen Umfangs (220 Seiten) wie eine weltliche Bibel an und wir« 
können uns wohl denken, dass ein oder zwei Briete aus diesem Buch, 
am Familientisch vom Hausvater vorgelesen, dem Tag eine Weihe geben, 
in ihrer Art so stark und tiel, wie das unmittelbar Religiöse sie zu geben 
vermag. Der Verfasser bekennt sich selbst zu einer besonderen Vor- 
liebe für Hamann, dea grossen Lehrmeister unserer Klassiker, und er 
betont, dass er in seinen Briefen die herrlichsten Weissagungen über 
Erziehung und Lebensführung gefunden habe. Wir haben den Eindruck, 
als ob die ausgewählten Briefe diese Bevorzugung rechtfertigen und be- 
grfissen es daher mit lebhafter Freude, dass uns das Buch auch eine 
genauere Bekanntschaft mit dem „Magus des Nordens* vermittelt als 
ihrer sonst auch der Gebildete sich rühmen kann.