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Full text of "Frauenbilder aus Goethe's Jugendzeit : Studien zum Leben des Dichters"

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4 


Goelhe Kibrary 


University of Michigan. 


623 
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German- American 
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University of Michigan. 








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Stauenbilder 


Goethes Jugendzeit. 


S. Dünger. 


Mer ven Dichter will verfichen, 
Muß in, Dichters Sande gehen. 


Stuttgart und Tübingen. 
3. 6. Eotta’fger Berlag 
1852. 


Das Ewig · Weibliche 
Zieht uns hinan 


Bugoruderel der 3. ©. Gotta’fchen Buchhandlung in Stuttgart. 


Der altehrwürbigen 
dentfhen Kaiferfadt, 
der durch Wiffenfchaft, Kunft und Bürgerfinn geabelten 


freien Stadt 


Scankfurt am Main, 
der Mutter und erften Pflegerin 
deutſchen Ddichterfürſten, 
ſeien dieſe Blätter 


ehrerbietigſt geweibt. 


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vın 


und Leidenfchaft, welche den Mann zu weiblichen Seelen hin- 
ziehen; je reicher umb tiefer feine eigene Seele gefchaffen ift, 
um fo vielfältiger und inniger werben fich auch diefe Verhält- 
niffe, wenn das Gluͤck ihm nicht abholb ift, in einem Leben 
geftalten, es in verfchiebenartigftem bunten Barbenfpiele durch» 


ziehen, von ber erften wohlwollend zärtlichen Neigung an buch 


alle Grade wonnigen Gluͤckes bis zur glühendften Sehnfucht 
einheitlichen Ineinanderlebens und zu frommgläubiger DVer- 
ehrung ebelfter Frauenwuͤrde. 

Kaum aber dürfte irgend ein Dichter einer gleich reichen 
Schule im Umgange mit edlen Frauen ſich zu erfreuen gehabt 
haben, als unfer Goethe, ber gerade hierdurch zum Priefter 
ber tiefften Geheimniffe ber Menfchenbruft geweiht wurde. 
In frühefter Jugend rankte ſich feine Seele an herzlich ber 
geifterter Mutter- und treuefter, innig veinfter Echwefterliebe 
empor, bie ihn ahnungsvol ergriffen, ihn freundlich auf feinen 
blühenden Knaben» und Jünglingspfaben begleiteten, die wie 
holde Schuggeifter ihn hegten, wie Tiebliche Engelsblide in 
fein Herz ſtrahlten. Mußte er auch ben Verluſt der Schweſter 
ſehr frühe beklagen, fo verließ fie ihm doch nicht, ehe er feften 
Schrittes das Leben erprobt hatte, und die Liebe der Mutter 
ftand wärmend und belebend bis in fein ſechzigſtes Jahr über 
bes Dichters ruhmgefrängtem Haupte. Und wie ftrahlt Goethe's 
Name im Brillantfeuer feiner Liebesflammen zu Friederike, 
Lotte, Lili, in dem feurig glühen Gefühle für Augufte von 
Stolberg, Marimiliane von la Rode, Frau von Stein, 


x 


Korona Schröter, in ber innigen Verehrung ber geiftvoll heitern 
Herzogin Mutter, ber Kehren, edel würbigen Herzogin Luife, 
in jo vielen anderen zärtlichen Verhältniffen, aus’ denen er 
heilige Dichterglut in fich fog! Aber gerade die Mannigfaltige 
feit diefer Verhältniffe und ben vafchen Wechfel ber Liebe hat 
man allgemein dem Dichter verargt, und ald Beweis, daß 
feine Liebe nicht auf Acht gefundem Grunde ruhe, gegen ihn 
in Anwendung bringen wollen. Der Reiz wahrer Weiblichkeit 
zog unfern Goethe unmiberftehlih an, wie „fein hoher Gang, 
fein’ edle Geftalt, feines Mundes Lächeln, feiner Augen Ge- 
walt und feiner Rebe Zauberfluß” alle Frauen’ mächtig hin 
tiffen._ Aber zu feiner eigenen Erhaltung bedurfte” er einer 
befondern Entfagungs- und Wiederherftellungdfraft, welche 
ihm die gütige Natur verliehen, damit er fich nicht ſelbſt auf- 
teibe, fonbern immer neu gefundet aus ben gewaltigften 
Seelenfämpfen hervorgehe. Preilich muͤſſen wir ihm jene Treue 
völlig abfprechen, welche fich für das ganze Leben einem ein- 
digen weiblichen Wefen in etviger Liebe Hingibt, beffen Verluſt 
fte nicht ertragen Tann, jene Beharrlichfeit, welche fi an 
eine Liebe feft anflammert, und verblutet, wenn der Gegen- 
fand berfelben ihr entriffen wird: aber baraus folgt Feines: , 
wegs, daß feine Liebe weniger innig und wahr gemwefen, viel- 
mehr ergriff fie ihn um fo feuriger, je raſcher fie fich in ihm 
austobte, um ihn bald in neue Teidenfchaftliche Vewicllungen 
zu ftuͤrzen und dem glühen Wetterſturm ben goldenen Regen- 
Bogen ber Dichtung entfteigen zu laſſen. Dafür blieb dem 


Dichter aber auch das höchſte Gluͤck, ber dauernde Befig des 
mit allen Kräften und Sinnen erftrebten Gegenftandes feiner 
Liebe, auf immer verfagt, fo daß er an wahrem Liebesgluͤce 
das einbüßte, was er im wechfelnden Kampfe ber Liebes⸗ 
leidenſchaft als Dichter gewann. Nur hüte man ſich, ihn 
darum in feinen Liebesverhaͤltniſſen einer falten Berechnung 
zu befchuldigen, welche nach bloßer Laune ſolche anfnüpfte 
und abbrach, vielmehr lag hierin eine gewiffe bämonifche Ge- 
walt, welche ihn unwillkürlich umhertrieb und ihn oft gewalt⸗ 
ſam fortſchleuderte, wo ſeine Beſonnenheit ihr Widerſtand 
leiſten wollte: denn ſich ſelbſt zu beherrſchen war ſeit frühen 
teüben Erfahrungen fein beſtaͤndiges Augenmerk, und wie ſehr 
ihm dies fpäter, ſchon gegen Ende der fiebziger Jahre, gelang, 
zeigt die genauere Kenntniß feiner Lebensverhältniſſe. 

Je tiefer die leidenfchaftlichen. Stürme von Goethes 
Herzen in fein ganzes dichteriſches Leben und Schaffen hinein⸗ 
griffen, um fo wichtiger muß es erfcheinen, beſonders bei ber 
vielfachen Entftelung, bie ſich raſch urtheifende Leichtjertigfeit 
und blinder Haß erlaubt haben, fie in ihrer reinen Wirflich- 
keit dargeftellt und gewürdigt zu finden, abgefehen bavon, bag 
die meiften hier in Betracht kommenden Frauen auch felbftändig 
für fi hohen Antheil zu erregen verdienen bürften. Die 
bedeutenden hierher gehörigen Frauen aus- Goethe’ Jugend- 
zeit bie jur Abreife nach Weimar, mit Ausſchluß Lottens, 
deren Bild ih in meinen „Studien zu Goethes Werken“ 
©. 92 ff. zu entwerfen verfucht Habe, mebft- feiner Mutter 


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und Schwefter, welche fo mächtigen Einfluß auf feine Ent- 
widlung gewonnen, bilden den Gegenftand vorliegender Schrift. 
Bon Goethes Mutter wird uns freilich bisher noch vieles 
vorenthalten, wie beſonders ber größte Theil ihres Brief 
wechfeld mit dem Sohne, wovon einzelne Golbtörner ſich bei 
Riemer finden, ein Brief auch als Beilage zu einem Schreiben 
an Zelter erhalten ift, aber die vielfachen, von mehreren 
Seiten her gemachten Veröffentlihungen fegen und in ben 
Stand, ſchon jept ein treues Bild der vortrefflichen Frau 
zu entwerfen, über bie jemand, als er einen Brief ber zwei⸗ 
unbftebgig Jahre alten Matrone gelefen Hatte, ſich der ber 
geifterten Bemerkung nicht enthalten konnte: „So hätte Gott 
alle Menfchen erfchaffen follen!" Zu einer foldhen Darftellung 
lag um fo größere Beranlaffung vor, ald manches außerhalb 
des Zufammenhanges falfch beurteilt werben mußte, und bie 
einzige biöher verjuchte Zufammenftellung über Goethe's Mutter, 
welche vor Jahren in einem Hiftorifchen Tajchenbuch gegeben 
wurde, manche befonder durch neuere Mittheilungen und 
Forſchungen mögliche Erweiterungen, Ausführungen und Be 
richtigungen forderte. 

Die auf den erften Blick auffallend fcheinende Aufeinander- 
folge ber fünf hier gegebenen Auffäge wurde durch befondere, 
im Gange ber Unterfuchung liegende Gruͤnde bebingt; denn 
ber bitte Auffag erforderte die vorgängige Darlegung von 
Gefelfchaftsverhältniffen, welche nur im zweiten ihre eigent⸗ 
liche Stelle fand, und bei bem Bilde von Goethe's Mutter 


mußte manches als befannt vorausgeiegt und nur kurz berührt 
werben, was in ben vorhergehenden Auffägen näher zu ent⸗ " 
wickeln war. Ueber Friederike und Lili habe ich bereits früher 
in ben „Blättern für literariſche Unterhaltung“ (1848 
Nro. 92 ff. 1849 Neo. 237 ff.) ausführlich gehandelt, und 
es hat nicht an Aufforberungen gefehlt, dieſe Aufiäge durch 
befondern Abdruck zugänglicher zu machen; bie hier an erſter 
und vierter Stelle gegebenen Darftellungen bürfen aber als 
ganz neue, weiter geführte und vielfach berichtigte Arbeiten 
gelten. ANfeitige Begründung meiner Angaben ſchien mir bei 
‚allen diefen Auffägen, bie den Charakter von Unterfuhungen 
nicht verläugnen konnten, zur Sicherftellung für die Zukunft 
unumgänglich nöthig, weshalb ich auch nicht umhin fonnte, 
entgegenftehender Behauptungen zu gebenfen und fie ald unbe» 
gründet zuruͤckzuweiſen, womit freilich manchen zu. viel Ehre 
geichehen fein dürfte; nicht leere Krittelei, fondern die Sache 
ſelbſt nöthigte zu folchen Widerſprüchen, deren ich gern über 
hoben geweſen wäre. 

Die mannigfachen neuen Nachrichten über Goethe's Leben, 
die ich hier geben fonnte, verbanfe ich größtentheils ber un- 
ermübeten freundlichen Vermittlung der Hochverehrten Frau 
Marig Belli, geborene Gontard, in Frankfurt, die durch ihr 
verdienſtvolles, mir fo manche Belehrung bietende® Werk 
„Leben in Frankfurt am Main” (1850) nicht allein auf ben 
Dank ihrer Vaterſtadt vollwichtigen Anfpruch hat. Meine 
mandherlei ragen beantwortete biefelbe mit ſtets fich gleich 


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bleibender Bereitroilligfeit,, auf ihre eigene bedeutende Kenntniß, 
wie auf die beften noch lebenden Quellen geftügt, welche fie 
für mich zu befragen die Güte Hatte. Möge biefer öffentliche 
Ausdrud meined Dankes ben Antheil bezeichnen, welchen die 
hochverehrte Frau an ber glüdlichen Vollendung der vorlie- 
genden Unterſuchungen hat, bie ich ohne ihre bereite Hülfe 
nicht in biefer Weife hätte geben Fönnen. Der Kreis ber- 
jenigen, welchen über Goethe's Frankfurter. Verhäftniffe theild 
aus eigener Anfchauung, theils aus den Erzählungen wohl 
eingeweihter Berfonen genaueres bewußt ift, wirb immer Heiner 
— im laufenden Jahr entrig ber Tod I. Fr. H. Schloffer 
und ‚Fräulein Etod, die Ältefte Tochter einer der Frau Rath 
Goethe innigft befreundeten Familie —; e8 war bie höchfte 
Zeit, baß Die noch vorhandenen Weberlieferungen ſchriftlich 
feſtgeſtellt wurden. Auch Herrn Oberſchulrath und Archiv— 
direltor Dr. Friedemann in Idſtein, Herrn Profeſſor Dr. A. 
Nicolovius in Bonn, dem Lebensbeſchreiber ſeines wuͤrdigen 
Vaters, feines Großvaters I. G. Schloſſer und bes edlen, 
glaubensſtarken Fr. L. Stolberg, Herrn Hofrath Oberbiblio, 
thefar Dr. Preller in Weimar, Herrn Detan Sehringer 
in Emmendingen, Herrn von Stramberg in Koblenz, dem 
geſchichtskundigen Verfaſſer des „Rheinifchen Antiquarius“, 
und Herrn Dr. Weismann in Frankfurt, der ſich den Freunden 
Goethe's und der mitteldeutſchen Dichtung ruͤhmlichſt bekannt 
gemacht hat, bin ich zu anerkennendem Dank verpflichtet. 
Möge auch dieſer Verſuch, den ich gern zu einer 





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glüdlichern Zeit den Freunden und Kennern bes Dichters vor- 
gelegt hätte, manche Wolfen, in welche man fein Bild gehuͤllt 
hat, auf immer zerſtreuen, und ald Beitrag zur richtigern 
Würdigung und Erfenntniß bes großen Meiſters gelten bürfen, 
ber wohl" von ſich fagen konnte: 





Nicht fo vieles Federleſen! 

Laßt mich immer nur herein; 
Denn id; bin ein Menfch geweſen, 
Und das heißt ein Kämpfer fein. 


Schärfe deine kräft'gen Blide! 
Hier durchſchaue dieſe Bruft! 
Sieh der Lebenswunden Tücke! 
Sieh der Liebeswunden Luſt! - 


"Köln, am Vorabend von Goethes Geburtstag 1851. 


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442 Note Zeile 3 Iefe man fi ausfpregen. 
„492 Seile 3 Iefe man diefen 
„473 Zeile 2 v. u. ſtreiche man zu 
528 Seile 17 lefe man Der Tod 
583 Zelle 15 „ „ mar, (flatt ward,) 
547 Zeile 6 . u Angriffe (hatt Angelffen) 


145 Note ledte Zeile 


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2 

brächte, und noch fagen Tönnte Molle. S(dhönkopf) over Käth- 
hen S(chönkopf), wie fih’s nun weilen würde! Eh mın, ba 
wär’ ich auch Doktor, und zwar ein franzöfifcher Doktor. Und 
am Ende wäre doch Fr. Dr. C. und Fr. Dr. ©. ein herzlich Hei- 
ner Unterſchied.“ Er ſcherzt darauf über die tolle Liebe feines 
Freundes Horn zu Conſtantia Breitfopf, welche für biefen eine 
gar nicht zu hoffende Partie fei, woran fi die humoriſtiſche, auf 
feine eigene Liebe wieber zurücklaufende Bemerkung anſchließt: „Es 
fönnte wohl no gar am Ende eine Ehe geben, und das wär' 
ein Speftafel, aber ich wüßte doch noch eine Ehe, die ihm noch 
ein größerer Speltafel wäre. Und doch ift fie nicht unmöglich, 
nur unwahrſcheinlich.“ Er rühmt dann feine elterliche Wohnung, 
in welche er eine Frau einführen müffe, die fih mit ihm dieſer 
ſchönen Räume freue, wie er einft von Käthchen gehofft habe. 
„Nun, Käthchen, es ficht doch aus, als wenn Sie mich nicht möch- 
ten, freien Sie mir eine von Ihren Freundinnen, bie Ihnen am 
ähnlichften ift: denn was foll das Herumfahren! in zwei Jahren 
bin id} wieder ba. Und hernach! Ich habe ein Haus, ich habe 
Geld. Herz, mas begehrft ou? Eine Frau!" Die Nachricht von Käth⸗ 
chens am 7. März 1770 vollzogener Bermählung, welche Goethe 
nicht vor Oftern (15. Aprit) erwartet Hatte, muß biefen tief bewegt, 
ımb nicht weniger als die unangenehme Stellung zu feinem ſtrengen 
und ftarren Vater die Abreife nach Straßburg beſchleunigt haben, 
die vor Ende März erfolgte. Schon am 2. April kam er in 
Straßburg an, wie Freund Horn, ber ihn bis Mainz begleitet 
hatte, an Käthchen melvet, mit ber Bemerkung: „Er wird Ihnen 
wohl bald einmal ſchreiben,“ was freilich nicht geſchehn zu fein 
ſcheint. 

In Straßburg überließ ſich ber junge Dichter, der eben den 
erſten Liebesſchmerz ganz überwunden hatte, einem heitern, frohen 
Leben im Kreiſe lebensluſtiger Freunde, die ſich mit ihm am 
ſchönen, genußreichen Elſaß erfreuten, und in vollſter Jugendkraft 
frei umherſchwärmten. Auch zogen ihn die ſchönen Elſaſſerinnen 
freundlichſt an, ohne aber ein leidenſchaftliches Gefühl in ihm 


3 
aufzuregen, wogegen ihn ver Nachklang feiner erſten, unglüdtichen 
Liebe fügte. Die wunderliche Leidenſchaft der reizenden Tanz 
meifterstodhter, bie fid durch einen ſchreclichen Verwünſchungskuß 
an allen ihren glücklicheren Nachfolgerinnen in ber Liebe des von 
ver Natur herrlich begabten jungen Mannes zu rächen gedachte, 
mußte ihn noch mehr von jedem irgend leivenfchaftlichen Verhältniß 
zurüdhalten. „Ich habe niemals fo lebhaft erfahren,“ fchreibt er 
- in Bezug auf das’ erfte in Straßburg verlebte Halbjahr an eine 
Freundin, „was das ſey, vergnägt, ohne daß das Herz einigen 
Antheil hat, als jego, als Hier in Straßburg. ine ausgebreitete 
Bekanntſchaft unter angenehmen Leuten, eine aufgewedte, muntere 
Gefelichaft jagt mir einen Tag nad) dem andern vorüber, läßt 
mir wenig Zeit zu denken, und gar feine Ruhe zu empfinben, und 
wenn man nichts empfindet, denkt man gewiß nicht an feine 
Freunde. Genug, mein jetziges Leben ift volltommen wie eine 
Schlittenfahrt, prächtig und klingelnd, aber eben fo wenig für's 
Herz, als es für Augen und Ohren viel ift.“ 

Aber gerade als Goethe jene Worte fhrieb, hatten ſich bergits 
die erften Fäden eines Verhältniſſes angefponnen, welches ben 
jungen Dichter der reinen Liebe Freuden und Schmerzen in ge- 
fleigertem Maße durchempfinden ließ. Die eben angeführte Stelle 
iſt einem in Gpethe's Entwurf erhaltenen Briefe vom 14. Oftober 1770 
entnommen, welcher bie Ueberſchrift führt: „Un Mamfell F.“ Auf 
vemfelben Blatte befindet ſich ein anderer, aus Saarbrüd vom 
27. Juni (1771) datirter Brief ohne Meberfchrift, welcher nad 
Adolph Schöll's nicht unwahrſcheinlicher Vermuthung an dieſelbe 
Freundin gerichtet if.‘ Otto Jahn hat als die Freundin, an 
welche beibe Briefe gefchrieben feien, Oeſer's Tochter Friederike 
bezeichnen zu dürfen geglaubt, ? eine Annahme, welde uns aus 
vielen Gründen durchaus unhaltbar däucht; ja ‚gerade jene beiden 
Hauptgründe, welche Jahn für dieſelbe vorbringt, feinen uns 
entſchieden dagegen zu ſprechen. Im zweiten jener Briefe heißt es 

* SCHÖN Briefe und NAnffäge von Goethe S. 40 f. 55 f. 

2 Zahn Gsetje's Briefe an Reipgiger Freunde S. 166 f. 


4 
nämlich: „In diefer Einfamfeit finde ich nichts Reizenders, als 
an Sie zu denken, an Sie, das heißt zugleich an alle, die Sie 
lieben, die mich lieben, und auch foger an Käthchen, von ber ich 
doch weiß, daß fie ſich nicht. verläugnen wirb, daß fle gegen 
meine Briefe ſehn wird, was fle gegen mid war, und bag 
fie — genug, wer fie auch nur als Silhouette gefehen Kat, 
ver kennt fie" Jahn will dieſe Aeußerung auf das Leipziger 
Käthhen, auf die vor ſieben Monaten vermählte Anna Katha- 
rina Schönkopf, beziehen. Aber wie hätte Goethe auf folde 
Weiſe von biefer reden, wie hätte. er fie der Unempfindlichkeit be- 
ſchuldigen fönnen, da er nur ſich allein die Schuld bes geſtörten 
Verhältniffes zuſchreiben mußte, wie er e8 auch in den an dieſe 
gerichteten Briefen wirklich thut! Auch zeigt der ganze Zufammen- 
hang, daß eine folge Erwähnung ber Leipziger Geliebten hier fo 
unpaſſend, als möglich, wäre. Eben fo ireig ift es, wenn Jahn 
bei den Worten: „Sagen Sie meinem Fränzchen, daß ich noch 
immer ihr bin. Ich habe fie. viel geliebt, und ich ärgerte mic 
oft, daß fie mich fo wenig genirte; man will gebumben fein, wenn 
man liebt,“ an bie in einem Briefe an Käthchen (©. 75) genannte 
Franzisla denkt. Aber das dort gemeinte Mädchen wird an jener 
Stelle nur mit beftimmt heroorgehobener Beziehung auf die Auf- 
führung der „Minna von Barnhelm“ Franziska genannt, ohne daß 
diefer Name. ald Spitzname bargeftellt würbe. Und Goethe follte 
faft drei Jahre fpäter dieſes Mädchen noch mit dem Namen Bränz 
Gen, nicht, wie jevenfall® zu erwarten ftände, Franziska, ohne 
weitere Andeutung bezeichnet haben? Dazu kommt, daß ſich für 
Franzchen hier eine fa entſchieden zärtliche Neigung ausſpricht, wie 
fie in der Leipziger Zeit neben Käthchen kaum aufgefommen fein 
dürfte. Wären jene beiven Briefe uach Leipzig gerichtet, fo wilrbe 
weber eine Beziehung auf Leipzig, deſſen Vorzüge Goethe in ven Brie⸗ 
fen aus Frankfurt jo lebhaft ausſpricht, noch eine kurze Hindeutung 
auf den Wechfel feines Wohnortes fehlen können. Auch muß Jahn 
eine engere Verbindung zwiſchen Brieberife Defer und dem Schön- 
Topfifchen Kreife annehmen, wozu wir durch nichts berechtigt find. 








5 


Dagegen erklären ſich die Briefe ganz einfach, wenn wir fie mit 
Schoöll an eine Frankfurter Freundin gerichtet denken, bie wir frei- . 
ich nicht gang ungmeifelheft ficher, aber doch mit höchſer Wehr 
ſcheinlichkeit nachweiſen können. Bei Fränzchen dürfte man an Fran⸗ 
ziska Jakobea Crespel, geboren am 11. Auguſt 1752, fpätere 
Frau Jacquet, denken, und unter Käthchen deren Schweiter Maria 
Katharina verſtehn, die neun Tage älter als Goethe war, und im 
Jahre 1801 unvermählt ftarb, wenn man nicht Tieber Katharina 
Gerod hier vermuthen will. Schöll's Einfall, das in dem einen 
Briefe erwähnte Fränzchen fei gerade das angerevete Mädchen. jelbft, 
bünkt uns höchſt unwahrfcheinlich, wie wir denn in dem als Namens- 
anfang bezeichneten F nur eine Abkürzung des Zunamens, nicht . 
bes Bornamens ertennen Tönnen. ‚Im Sommer 1767 war Fräu⸗ 
fein Katharina Fabricins in Frankfurt gemefen und mit Goethes 
Schweſter währen der Abweſenheit des Bruders befannt geworben. 
Eine jüngere Schwefter verfelben hatte Goethe im Jahre 1769 zu 
Frankfurt kennen lernen (Jahn Briefe an Leipziger Freunde ©. 279), 
und an biefe, die auch durch feine Schwefter mit der Familie Cres⸗ 
pel befannt geworden fein dürfte, ſcheint der Brief. gerichtet. 

Im jenem nad) Frankfurt gefchriebenen Briefe finden wir nun 
eine beftimmte Erwähnung des erften Beſuches Goethe's in Sejen- 
beim; denn es heißt dort nad jener früher angeführten Stelle: 
„Sie follten wohl nicht vathen, wie mir jego jo unverhofft der 
Einfall kommt, Ihnen zu ſchreiben, und weil die Urſache fo gar 
artig ift, muß ich's Ihnen fagen. Ich habe einige Tage auf dem 
Lande bei gar angenehmen Leuten zugebracht. Die Gejellicaft 
der liebensmwürbigen Töchter vom Haufe, die ſchöne Gegend und 
der freumblichfte Himmel wedten in meinem Herzen jede ſchlafende 
Empfindung, jede Erinnerung an alles, was ich liebe, daß ich 
kaum angelangt bin, als ich ſchon Hier fige, und an Sie ſchreibe.“ 
Die bier bezeichnete Familie ift die des Pfarrers Johann Dakob 
Brion zu Sefenheim, einem eine Stunde von Druſenheim, ein 
wenig links von ber von da nad) Rauterburg führenden Landſtraße, 
gelegenen Dorfe. . Seine tüchtig verflänbige, in ihrem häuslichen 


6 





Kreiſe heiter wirkende Gattin Maria Magdalena, geborene Schöll, ' 
aus Straßburg, hatte ihm vier Töchter, von denen eine frühe ger 
florben war, und eimen Sohn gebracht. Die ältefte ver noch 
lebenden Töchter Marin Salome war, wenn auch wohlgebaut, 
nicht fo ſchön und von. fo leichter, unendlicher Anmuth befeelt, als ihre 
jüngere, fünfzehn Jahre alte Schwefter Friederike, mit ihren heiteren 
blauen Augen und dem „artigen Stumpfnäschen, das frei in bie 
Luft ſchaute, als könne es in der Welt feine Sorgen geben‘. Die 
jüngfte Schwefter Sophie war damals noch ein Kind von ſechs 
bis ſieben Jahren, und ber einzige Bruder nur wenige Jahre älter. 
Hier, im alten, einem Neubau entgegenharrenden Pfarchaufe, ? 
das äußerlich fi von einem gewöhnlichen Bauernhaufe nicht unter- 
ſcheiden ließ, follte unferm Dichter in der jugendlich veizenben 
=  Frieberike‘ ein glänzender Stern aufgehn, ber alle ſchlafenden Ge- 
fühle innigftev Liebe und holdeſter Sehnfucht in feinem Herzen 
'entzinvete, fo daß er nicht umhin Tonnte, fein neues Glück, das 
ahnungsvoll, wie ein reicher Himmel unenblicher Seligfeiten vor 


Ihr Bender, Iufigamtmann in Harsfich, einem Städtchen des da- 
maligen Fürfteutpums Saarbrüd , Später Regierungsrath in Saarbrück 
hatte die Ältefte Tochter des Leibarztes der Gemahlin des Heffeudarmftäbtis 
ſchen Erbpringen, nachherigen Laudgrafen Ludwig IX., Hofrath Wepland in 
Bucheweiler, der Hauptfiadt der zn Heffendarmfladt gehörenden Grafſchaft 
Hanau⸗Lichtenburg, geheirätet. Aus diefer Ehe eutfproß der am 8. Mai 1786 
geborene als Buchhändler, Echriftfteller und Diplomat befannte Oberre- 
gierungsrath Marimilien Samfon Frledrich Schöll. Diefen ledtern mieint 
Niebuhr, wenn er (Briefw, I, 466) von Rom aus fgreibt: „Won dem 
Led.R. Sch, der Odb. (ven Staatsfangler Hardenberg) begleitet, habe ih 
erfahren, daß der Pfarrer zu Seſenheim fein Oheim war und vier Töchter 
Hatte. Die unglüdliche, allgemein verehrte Brieverife fei vor wenigen Jah- 
ven geftorben. Auch der Bruder, ein refpeftabler Pfarrer, fei tobt. Frie⸗ 
derife habe die Entfiehung von Goethe's Leben noch erlebt; ob fie es ge- 
leſen, wife er nicht.“ 

- ? Die Umriffe der Pfarrwohnung gibt Näfe zu feinem Auffage „Wall: 
fahrt nach Sefenheim“ ©. 38, eine genanere Abbildung Augnſt Stöber im 
Titelbilde ju der Schrift: „Der Dichter Renz und Brieberife von Seſenheim · 
(mit der Erklärung &. VEN). 


7 

ihm lag, feiner entfernten Freundin zu verfinben. Ganz auf bie 
ſelbe Weife fehen wir unſern Dichter fpäter, als ihn die flammende 
Liebe zu Lili ergriffen hatte, feine Gefühle in ven. Bufen feiner 
nie gejehenen Augufte Stolberg ausftrömen, wie fein Werther, 
als et vor einem ſchweren Wetter ſich in die Stube einer geringen 
Banernherberge geflüchtet, wo Schnee und Schloffen wider fein 
. Venfterchen wütheten, Lotten fein Verhältniß zu Fräulein von ®... 
. eröffnet.‘ So bedurfte er ſtets einer zärtlich fühlenden Seele, wel- 
- cher er das neuerblühenve Glüc feiner Liebeswonne anvertrauen 
Tonnte, unb fo mußte die Erinnerung an eine ſolche fi in dieſem 
Augenblid unwillkürlich feiner bemächtigen, ohne daß es anderer 
Berührungspunfte bebürfte. Schäfer, der mit Jahn annimmt, 
Goethe habe ven Brief an Friederile Defer geſchrieben (Goethe's 
Leben I. 109 ff.), meint, der Name ver Geliebten und bie länb- 
Tiche Heiterfeit hätten den jungen Dichter an jene Freundin wohl 
erinnert. Aber wie hätte biefer e8 wagen können, jener Taltver- 
fändigen Freundin, die ihm mit Spott und einer Art Superio- 
vität entgegentrat, weshalb er bald jeden brieflihen Verkehr mit 
ihr aufgegeben zu haben ſcheint, das füßefte Gefühl feines Herzens 
anzuvertrauen! Bezeichnend ift in biefer Beziehung der Schluß 
des Briefes: „Und daraus können Sie fehen, inwiefern man feiner 
Freunde vergefien kann, wenn's einem wohl: geht. Es ift nur das 
ſchwärmende, zu bevauernde Glück, das uns unferer felbft ver- 
geſſen macht, das audy das Andenken an Geliebte verbunfelt; aber 
wenn man fid ganz fühlt, und ftill ift, und bie reinen Freuden 
der Liebe und Freundſchaft genießt, dann ift durch eine befondere 
Sympathie jede unterbrodhene Freundſchaft, jeve halbverfchiedene 
Zürtlichfeit wieder auf einmal febenbig. Und Sie, meine liebe Freun⸗ 
bin, bie ich unter vielen vorzüglich fo nennen Yan, nehmen Sie 
dieſen Brief als ein neues Zeugniß, daß ich Sie nie vergefjen werde.“ 
Der Brief ift an einem Sonntage gefährieben, am 14. Okto— 

ber, wahrſcheinlich noch am Abend nach ver Rückkehr; denn wenn 


! Bgl. meine „Studien zu Goethes Werfen" ©. 142. 


8 


Goethes Reifegefährte, wie wir gleich hören werben, fo fehr auf. 
die Rüdlehr drang, weil er feine Borlefungen nicht verſäumen 
wollte, fo müffen wir wohl benfen, daß er am Anfange ver Woche 
in Straßburg zurüdjein, und deshalb bie Rüdreife nicht über den 
Sonntag hinaus verſchieben wollte. Mehrere Tage können zwi⸗ 
ſchen dem Briefe und der Rückkehr von Sefenheim unmöglich ane 
genommen werben, umb weshalb Goethe's Freund auf bie Rückkehr 
am Ende ber Woche, noch vor dem Sonntag, gebrungen haben 
ſollte, Täßt ſich ſchwer abfehn. Als Goethe nach ver Rüdkehr fich 
einfam auf feinem Zimmer fühlte, da überfam ihn mit Allgewalt 
die Erinnerung an bie geliebte Freundin in Frankfurt, welcher 
ex fogleich fein von umgeahnter Wonne erfülltes Herz erfchliegen 
mußte. 

ALS er am andern. Tage in das gewohnte Straßburger Leben 
zurücktrat, erſchien biefes ihm tobt und leer, fo daß er ſich in 
Gedanken zu der neuen Geliebten feines Herzens zurüdflüchten 
mußte, am welche er noch an dem Abende veffelben Tages folgen- 
den von Scholl mitgetheilten Brief richtete. 


„Liebe nene Freundin! 
„Striaßburg), am 15. Oktober (1770). 

„Ich zweifle nicht Sie fo zu nennen; denn wenn ich mid, 
anders nur ein Hein wenig auf die Augen verftche, fo fand mein 
Aug’ im erften Blick die Hoffnung zu diefer Freundſchaft in Ihrem, 
und für unfere Herzen wollt’ id, ſchwören; Sie, zärtlich und gut, 
wie idf Sie kenne, follten Sie mir, da ich Sie fo lieh habe, nicht 
wieder ein bißchen günftig fein? 

Liebe, liebe Freundin! 

Ob id) Ihnen was zu fagen habe, ift, wohl feine Frage; ob 
ich aber juft weiß, warum ich eben jego ſchreiben will, und was 
ich ſchreiben möchte, das ift ein anderes. So viel merf’ ih an 
einer gewiſſen innerlihen Unruhe, daß ich gerne bei Ihnen fein 
möchte; und in dem Galle ift ein Stüdden Papier fo ein wahrer 
Troft, fo ein geflügeltes Pferd für mic, hier, mitten in bem 








9 


Tärmenden Straßburg, als es Ihnen in Ihrer Ruhe nur fein 
Tann, wenn Sie bie Entfernung von Ihren Freunden vecht leb⸗ 
haft fühlen. 

Die Umſtände unferer Rückreiſe Können Sie ſich ofngefähe 
vworftellen, wenn Sie mir beim Abſchiede anſehn Tonnten, wie 
leid e8 mir that, und wenn Sie beobadjteten, wie fehr Weyland 
nach Haufe eilte, fo gern er auch unter anberen Umftänben bei 
Ihnen geblieben wäre. Seine Gedanken gingen vorwärts, meine 
zurüch, und fo ift natürlich, daß der Discs weber meitläufig, 
noch interefjant werben konnte. 

” Zu Ende der Wanzenan machten wir Spekulation, ven Weg 
abzuürgen, und vefirten uns glüdlich zwiſchen den Moräften. 
Die Nacht brach herein, und es fehlte nichts, als daß ber Regen, 
der einige Zeit nachher ziemlich freigebig erfchien, ſich um etwas 
übereilt hätte, fo würden wir alle Urſache gefunden haben, von 
der Liebe und Treue unferer Prinzeffinnen vollfommen überzeugt 
zu fein. ! . 

Unterbeffen war mir die Rolle, bie ih aus Furcht, fie zu 
verlieren, beftändig in ber Hand trug, ein rechter Talisman, ber 
mir bie Vefchwerlichfeiten ver Reife alle hinwegzauberte. Und 
noch? — O, ich mag nichts fagen; entweber Sie können's rathen, 
ober Sie glauben's nicht. 

Endlich Tangten wir an, umb der erſte Gebane, den wir 
hatten, ver auch ſchon auf dem Weg unſere Freude geweſen, 

endigte ſich in ein Projelt, Sie balde wiederzuſehn. 

Es iſt ein gar zu herziges Ding um die Hoffnung wieder⸗ 
zufehn. Und wir andern mit benen verwöhnten Herzchen, wenn 

! Opne Zweifel Aufplelung auf ein vielleicht von Goethe in Sefen- 
heim erzägltes Märchen, wie Zauberpringeflinnen ihre In höͤchſter Ger 
fahr ſchwebenden Ritter auf wunderbare Weife gerettet. Die beiden Freunde 
liefen Gefahr, wenn ber Regen früher einfiel, in den Moräften, zwifchen 
die fie fih verirrt hatten, umgufommen. Des in der fefenheimer Laube 
ergäplten Märchen von der neuen Melufine gedenft Goethe (B. 21, 286 f. 
22, 1 f.) gleich Heim erften Beſuche. 





10 


uns ein bißchen was leid thut, gleich find wir mit ber Arzenei da, 
und fagen: „Liebes Herzen, fei ruhig! du wirft nicht lange von 
ihnen entfernt bleiben, von denen Leuten, die bu liebft! Sei ruhig, 
liebes Herzen!“ Und dann geben wir ihm inzwiſchen ein Schat- 
tenbild, daß es body was Kat, und bann ift e8 geſchickt und ſtill, 
wie ein Meines Sind, dem die Mama eine Puppe ftatt des Apfels 
gibt, wovon e8 nicht eſſen follte. 

Genug, wir find nicht hier, umd fehen Sie, daß Sie Unrecht 
hatten! Sie wollten nicht glauben, daß mir der Stabtlärm auf 
Ihre fügen Lanbfreuben mißfallen wilrde. Gewiß, Mamfell, Straf- 
burg ift mie noch nie fo leer vorgelommen, als jetzo. Zwar hoff? 
ich, es fol befier werben, wenn bie Zeit das Anbenfen unferer 
nieblichen und muthwilligen Luftbarleiten ein wenig ausgelöfcht haben 
wirb, wenn ich nicht mehr fo febhaft fühlen werde, wie gut, wie 
angenehm meine Freundin ift. Doch follte ich das vergeffen Können 
oder wollen? Nein, ich will lieber das wenige Herzwehe behalten, 
und oft an Sie fehreiben. 

Und nun noch vielen Dank, noch viele aufrichtige Empfehlungen 
Ihren theuern Eltern; Ihrer Lieben Schwefter Hundert — ' was ich 
Ihnen gern wiebergäbe.“ ‚ J 

Dieſer Brief, in welchem die herzigſte Liebe, bald heftiger her- 
vorbrechend, bald zur Ruhe fi mäßigend, pufftrt, bietet uns vie 
gleichfam urkunblihen Züge des erften ſeſenheimer Beſuches, ven 
ung der Dichter jelhft am Schluffe des zehnten Buches von „Wahr- 
heit und Dichtung" fo wunderherrlich befchrieben hat; doch ergeben 
ſich aus unſerm Briefe einige Abweichungen von jener Erzählung. . 
Nach letzterer macht Goethe nebft feinem Freunde Weyland, ber 
ihn bei ber verwandten Familie Brion einführt, vie Reife zu Pferve, 
während, nad) der Rückreiſe, wie fie im Briefe befchrieben wird, 
zu urtheilen, bie Reifenven zu Fuße gegangen zu fein fcjeinen, 
"und wahrfcheinlich kam Goethe nicht von Straßburg, fondern von 

1 Das Wort Küffe vermeidet der verlichte junge Dichter, und er- 
fest es ſchalthaft durch eine Umfehreibung, in weicher fid die Luſt, die 
Geliebte einmal recht Füfen und Herzen zu dürfen, fehnfüchtig ausfpricht. 





11 
Buchsweiler, wo er ven Freund befncht, nach Sefenhein. Demnach 
würde aud) Goethe, als er in aller Eile nach Drufenheim zurück- 
" wollte, zu Fuße gegangen fein, um fid im bortigen Gaft- und 
Voſthofe (vgl. Näle ©. 27) ein Pferd nad) Straßburg zu leihen: 
Der Beſuch in Sefenheim beſchränkte ſich nach Goethes Erzählung 
auf zwei Tage, fo daß fie ven Abenb bes zweiten Tages Sefen- 
heim verließen, um bie Nacht in Drufenheim zuzubringen, und 
am folgenden Tage zeitig in Straßburg zu fein. Dagegen ſpricht 
der Brief vom 14. Dftober von einigen Tagen, morunter wir 
wenigftens brei zu verftehn haben, umb . bie Reiſenden müſſen 
am frühen Nadmittag von Sefenheim abgegangen fein, da fie 
fon vor dem Einbruche des Dunkels, welches in dieſer Yahres- 
zeit ſehr früh erfolgt, in ver Wanzenau fi befanden. Ein Ueber- 
nachten in Drufenheim ift ſchon an ſich unwahrſcheinlich, da dieſes 
nur eine Stunde von Sefenheim entfernt liegt. Die Rolle, welche 
Goethe nad) dem Briefe in der Hand trug, und bie ihm durch bie 
lebendige Erinnerung an Sefenheim, ala ein vechter Talisman, alle 
Beſchwerlichleiten der Reife verſcheuchte, war wohl der Entwurf 
‚ zum Grunbriffe des neuen Pfarchaufes, melden er mit nad) Straß- 
burg nahm, um bort den Grumbriß felbft mit mehr Bequemlichkeit 
anszuführen. Freilich verfegt Goethe die Anfertigung dieſes Ent- 
wurfs in bie Zeit des zweiten Beſuches, aber ein Irrthum biefer 
Art ift, bei der fpäten Abfafjung von „Wahrheit und Dichtung“ 
und den fonftigen Verſchiebungen ver Zeitfolge, nicht auffallend; 
auch bürfte es am ſich für wahrfcheinlich gelten, daß unſer junger 
Dichter ſchon beim erften, mehrtägigen Befuche fih dem alten 
Pfarrer, ber ihn gleich nach ber erften Begrüßung vom Neubau 
bes Pfarchaufes unterhalten hatte (B. 21, 268), dadurch freund- 
lich zu erweiſen ſuchte, daß er auf das Lieblingsthema deſſelben 
einging und ſeine Wünſche durch Entwerfung eines Grundriſſes zu 
fördern ſuchte. Schwerlich dürfte an eine Rolle zu denken ſein, 
die Friederile zur Beſtellung nach Straßburg mitgegeben. 
Einige Ungenauigkeiten in Betreff der Oertlichkeiten beim erſten 
Beſuch Hat Näke (S. 11 f. 20 ff.) bemerkt. Der Fußſteig, ben 





12 
Goethe mit dem Kuchen wanderte, muß über vie Wiefe und buch 
den Wald gehn, bie-auf den Wege nad; Seſenheim liegen, und 
von denen der erftere ein Stüd vor dem Dorfe aufhört, aber 
früßer bis an's Dorf gereicht haben muß. Goethe erwähnt aber in 
feiner Darftellung Yeines Waldes, ſondern nur anmuthiger Wiefen, 
durch welche ein Bach gelaufen, ber ‚zwei Fußpfade ziemlich aus- 
einander gehalten, obgleich von letzterm gar feine Spur zu finden 
iſt. Das Wãlbdchen, in welchem ſich Friederikens Ruheplatz be⸗ 
fand, ſetzt Goethe hinter ven Garten ver Pfarrerswohnung, wäh- 
rend es in ber Wirklichkeit auf der entgegengefegten Seite ber 
Strafe gelegen haben muß. Jetzt ift e8 ausgehauen, wie die Laube, 
in welcher Goethe das Märchen von ber neuen Melufine erzählte, 
eine Jasminlaube, ver Hausthüre gegenüber, gerade am Eingang 
des Gartens, verſchwunden, und an ihre Stelle ein Weinlauben- 
gang getreten ift, während ver Jasmin in eine Hede gleich hinter 
dem Haufe verpflanzt wurde. Das alte, nad Brion's Tod her- 

‚geftellte Pfarchaus ift vor nicht gar langer Zeit abgerifien und 
an feiner Stelle ein größeres, flattliches Gebäude aufgerichtet 
worben. . 

Wenige Tage nad dem Briefe an Friederile, gegen ben 
20. Oktober, begann Herder's Augenoperation, bei welder nicht 
weniger, als bei dem folgenden, leider unglücklichen Berlauf der 
Heilung Goethe dem werthen Manne, ber ihn freilich herbe und 
ſchonungslos behanbelte, manchen freundlichen Dienft erweifen durfte. 
Indeſſen Tonnte die Krankenftube Herder's und- die Geſellſchaft ver 
Breunde Goethes Liebesjehnfucht nicht zurüdhalten; das Wieber- 
fehen, das ‚er ſich und ber Freundin verfprochen hatte, vermochte 
er unmöglich fi lange zu verfagen, und er fand ſich zu einem 
wieberholten Beſuche um, jo eher veranlaft, als er den Grundriß 
zum Neubau dem alten Pfarrer zu überbringen hatte. Bei biefem 
zweiten Beſuche, den wir, obgleich jede beftimmte Anbentung fehlt, 

in den November fegen dürfen, fejloffen ſich bie liebenden Herzen 
noch traulicher auf, und verfchlangen ſich noch feelenhafter inein- 
ander. Die Verbindung zwiſchen Sefenheim und Straßburg wurbe 





" 13” 


bald immer lebhafter, und der glüdliche Liebestraum durch Sen- 
dungen von Büchern, Briefen und Meinen Geſchenlen ahnungsvoll 
fortgefponnen. Ein beredtes Zeugniß der damaligen Stimmung 
des Dichters würde uns ein leider in Goethe's Nachlaß verfchloffe- 
ner Brief des Dichters an feinen Freund Dr. Horn in Frankfurt, 
vom Dezember 1770, bieten, von welden Ecdermann berichtet: 
„Es zeigten fi ſchon Spuren vom Werther. Das Verhältniß 
zu Sefenheim ift angefnüpft, und ver glüdliche Jüngling ſcheint 
ſich in dem Taumel der füßeften Empfindungen zu wiegen, und 
feine Tage halb träumerifch hinzuſchlendern. Die Handſchrift war 
ruhig, rein und zierlich.“ ' 

Die Ankündigung eines britten Beſuches, etwa gegen Weih- 
nachten, enthalten bie aus Friederikens Nachlaß mitgetheilten Berfe: ? 


Ich komme bald, ihr gofbnen Kinder; 
Bergebens fperret uns ber Winter 
In unfre warmen Stuben ein. 


Bir wollen uns zum Feuer fegen 
Und taufenbfältig uns ergegen, 
Uns lieben, wie bie Engelein. 


Bir wollen Heine Kränze winden, 
Wir wollen Heine Sträußchen Binden, 
Wir vollen wie bie Kinber fein. * 


Edermann IT, 196 f. Wir bemerfen Hierzu aus guter Duelle, daf 
die Briefe Goethes an Horn fih im Befige von Goethe's Jugendfreund, 
dem Kaftenfchreiber Rieſe, befanden, der vor feinem Tore (am 2i. Seh 
tember 1827) fie dem Geheimerath Willemer mit der ausprädlichen Be— 
dingung übergab, fie an den Dichter zuräcgelangen zu laſſen, was biefer 
mit herzlichen Danf anerkannte. 

2 Zuerft im Mufenalmanach von Ghamiffo und Schwab 1838, dann 
im Morgenblatt 1840 Nro. 216, jept and in den Werfen (B. 6, 84). 

* Im Morgenblatt und in den Werfen ſteht: „Wir wollen. Fleine 
Kinder fein.“ Uebrigens deutet bie Ichte Strophe auf das Spiel des Straufe 
windens. 





14 


Auf der NRüdreife von biefem dritten Beſuche ſcheint Goethe 


einen- von ber Familie Brion ihm gegebenen Auftrag ausgeführt 
zu baben, woranf bie gleichfalls aus Friederikens Nachlaß erhal- 


tenen Verſe hindeuten: 


Jetzt fügt der Ritter an dem Ort, 
Den ihr ihm manntet, Tieben Kinder. 
Sein Pferd gipg ziemlich langſam fort, 
Un feine Seele nicht geſchwinder. 


Da fi? ich mun vergmügt bei Tiſch, 
Und enbige mein Abenteuer 

Mit einem Paar gefottner Gier 
Und einem Stüd gebadnen Fig. 


Die Nacht war wahrlich ziemlich büfter, 
"Mein Falle ſtolperte wie blind; J 

und doch fand ich den Weg fo gut, als ihm ber Kilfter 
Des Sonntags früh zur Kirche find't. 


In „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt Goethe nach dem erſten 


Beſuche zu Sefenheim zumädft besjenigen, zu welchem ihn bie 
Aufforderung des ältern Profeflor Dr. Ehrmann an feine Zuhörer, 
in bey bevorftehenben furzen Ferien das ſchöne Land zu Fuß und 
zu Pferde zu durchwandern, veranlagt habe. Aber das Klinikum, 
in welchem Ehrmann diefe Aufforderung gethan, dürfte Goethe 
nicht vor dem dritten Semefter befucht haben, wie er erft im zweiten 
Chemie und Anatomie hörte, ? und bie Reife, welche er jener Auf- 
forberung gemäß antrat, war bie nad) Saarbrüd, in ven Iohanni- 
ferien 1771. Auch hätte ja Ehrmann unmöglich während eines 
Winterſemeſters feinen Zuhörern eine ſolche Zumuthung machen 
können, und von einem eigentlichen Semeſterſchluß ſcheint nicht die 
Rede zu fein. Wollte man aber aud ben Schluß des Winter 
ſemeſters verftehn, fo könnte doch dieſer Beſuch unmöglich als ver 


' In den Werken Reht: „Mein Falber«. 
2 Bl. B. A, 181. 197. 


15 


weite gelten, va wir einen zweiten Beſuch während des Winters 
bereit. nachgeiviefen haben, un. ber glühende Liebhaber feine Sehn- 
ſucht nad) der Geliebten ‚nicht fimf Monate lang unbefriebigt laſſen 
fonnte. Was Goethe von biefem zweiten Beſuch erzählt, feheint 
von fpäteren Beſuchen hergenommen zu fein, wenn wir auch nicht 
in Abreve ftellen, es vielmehr äußerſt wahrſcheinlich finden, daß 
der verliebte Dichter im Februar und März die Geliebte in Sefen- 
heim aufgefucht. Auch- feheint die Befchreibung in „Wahrheit und 
Dichtung” (8. 22, 5—12) auf eine fo frühe Jahreszeit gar nicht 
zu paſſen.“ 

Dagegen finden wir den folgenben Beſuch (B. 22, 12— 24) 
in den Briefen Goethe's an ben Aktuar Johann Daniel Salzmann, 
dieſen damals faft fünfzigjährigen? freundlichen Leiter und Berather 
eines friſchen, frohmuthigen Kreiſes aufgewedter Jünglinge, voll» 
kommen beftätigt, * nur daß er eine längere, ununterbrochene Zeit 
einnahm, als man nad; Goethe's Darftellung anzunehmen geneigt 
wäre. Der erfte der Briefe, ven Goethe noch vor Pfingften an 
Salzmann fhicte, ift vier Wochen nach feiner Abreife von Straß- 
burg gefchrieben, * und erft einige Zeit nach Pfingften lehrte er 
von Sefenheim zurüd, In „Wahrheit und Dichtung“ gibt Goethe 
als Beranlaffung zu biefem Beſnche eine Einladung Friederilens 
zu einem Feſte an, wozu auch überrheiniſche Freunde kommen 
würden; fie habe ihr zugleich gebeten, ſich auf längere Zeit einzu- 
richten, weßhalb er einen tüchtigen Manteljat auf die Diligence 
gepadt habe. Da Pfingften im Jahre 1771 auf den 19. Mai 
fiel, fo Haben wir die Ankunft in Sefenheim jedenfalls vor ben 


! Eben fo wenig Finnen wir Viehoff's Annahme (1, 342) billigen, 
es fei hier an einen Beſuch Iwiſchen dem erſten (bis zum 14. Oktober) 
und Weihnachten zu denfen; denn auch biefe Jahreszeit widerſpricht Goethes 
Erzäpfung. 

2 Goethe bejeichnet ihn B. 21. 178 irrig als einen Sechzigjährigen. 

® Mitgeteilt von Morig Engelharbt im: Morgenblatt 1838 Nro. 25 ff. 

* Demnach durfte Vieheff (Goethes Leben 1346) diefen. Aufenthalt 
nicht anf die Pfingftferien befchränfen. 


16 


21. April zu fegen, etwa auf den 13. April, vierzehn Tage nad 
Dftern. Daß er erſt damals ben Grundriß zum Neubau bes 
Pfarrhauſes dem alten Brion gebracht, wie es in Goethe's Er⸗ 
zählung (8. 22, 15 f.) dargeftellt wird, ift im jever Beziehung 
unwahrſcheinlich, da der verliebte Dichter jeve Gelegenheit ergreifen 
mußte, ſich die Zuneigung des Alten zu erwerben, wie wir benn 
bereit8 oben durch eine beſtimmte Spur zu der Annahme geleitet 
wurben, der Entwurf zu dem Grundriß fei ſchon beim erften Ber 
ſuch gemacht worden; dagegen ift es wohl möglih, daß damals 
wie Goethe erzählt, einer ver Gäfte durch feine mit harten Blei- 
ſtiftſtrichen gezogenen Verbeſſerungsvorſchläge ven faubern Grundriß 
verbarb, zum höchſten Verdruſſe des guten Alten, ver kein höheres 
Vergnügen Yannte, als ſich von feinem Neubau, beſonders ange 
ſichts eines fo reinlich ausgeführten Plans, zu unterhalten. 

Seine damalige Ankunft bezeichnet Goethe Kurz mit den Wor- 
ten: „In wenig Stunden befand ich mich im ihrer (“Friederilens) 
Nähe. Ich traf eine große und Iuftige Geſellſchaft.“ Hier ver- 
miffen wir zunächſt die Erwähnung von Freund Weyland, welcher 
ihn in das idylliſche Pfarrershaus eingeführt hatte, und ber auch 
bei biefem beveutenben Feſte, als ein gern gejehener Verwandter 
des Haufes, nicht fehlen Tonnte, wenn er auch freilich, als fleißiger 
Student, nicht, wie Goethe, mehrere Wochen ſich aufhielt, fon- 
bern gelegentlich feine Beſuche wieberholte, wie denn Goethe felbft 
im Berlaufe der Erzählung (8. 22, 17) eines ſolchen Beſuches 
Weyland's gedenkt. Ein fo bebeutenbes Feft, wie dasjenige, wel- 
ches die Familie Brion allen ihren näheren Bekannten gab, Tonnte 
laum anber® als an einem Sorintage gefeiert werben, und Goethe 
wird nicht verfäumt haben, bei dem weitern Wege, ben er zuräd- 
zulegen hatte, ſchon am Vorabend. einzutreffen. Hiernach dürfen 
wit wohl dasjenige, was in „Wahrheit und Dichtung“ (B. 21, 6 f.) 
von bem zweiten, wie wir oben fahen, nicht recht umterzubringen- 
den Beſuch erzählt wird, auf biefen übertragen. „Früh bei Zeiten 
tief mid; Friederile zum Spazierengehen; Mutter und Schwefter . 
waren befchäftigt, alles zum Empfange mehrerer Gäfte vorzubereiten. 





17 
Ich genoß an der Seite des lichen Mädchens der herrlichen Eonn- 
tagsfrühe auf dem Lande, wie fie uns ber unfhägbare Hebel ver- 
gegenwärtigt hat.“ Sie ſchilderte mir bie erwartete Gefellfchaft, 
und bat mic), ihr beizuftehn, daß alle Bergnügungen, wo möglich, 
gemeinfam und in einer gewiſſen Ordnung möchten genoffen wer⸗ 
den. — Wir entwarfen demnach unfern Plan, mas vor und nach 
Tiſche geſchehu folte, machten einander wecjfelfeitig mit neuen ge- 
felligen Spielen befannt, waren einig und vergnügt, als uns bie 
Glocke nad) der Kirche rief, wo ich denn an ihrer Seite eine etwas 
teodene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.“ Auch die weitere 
Erzählung: „AL wir nad Haufe kamen, ſchwirrten die von meh- 
veren Seiten angelommenen Gäfte ſchon Iuftig durcheinander, bis 
Friederile fie fammelte, und zu einem Spaziergang nad jenem 
ſchönen Pfage (in dem jenfeits ver Straße gelegenen Wäldchen. 
Bel. B. 21, 280, oben ©. 12) lud und führte. Dort fand man 
"eine reichliche Colletion, und wollte mit gefelligen Spielen bie 
Stunde des Mittagefiens erwarten,“ dürfen wir hierauf beziehen, 
indem wir bamit die Angabe, welche Goethe felbft von unferm 
Beſuche macht (8. 22, 13), verbinden, bie Geſellſchaft, welche 
aus jungen, ziemlich lärmenden Freunden beftanden, bie ein alter 
Herr durch feine BVorfchläge von noch wunderlicherm Zeug zu 
überbieten getrachtet, habe ſchon beim Frühſtück den Wein nicht 
geſpart. An diefem Morgen oder am Nachmittag erfolgte auch 
ohne Zweifel die Aufftellung der Gedächtnißtafel in jenem Wälo- 
hen, welche Friederikens jüngere Schwefter Sophie aljo befchrieb: ? 
„Eines Tags haben fie (im Nachtigallwäldel, wie fie jenes Wälb- 
hen nannte) eine vom Schreiner beftellte Tafel mit den Namen 
vieler Freunde (vermuthlich aller Gäfte und ver Familie Brion) 


' Zu einer Angeige von Hebels alemanniſchen Gedichten (vom Jahre 
1805) hebt Goethe das hier vorſchwebende Gedicht „Sountagsfrühe" als 
Meifterftüt hervor (8. 32, 135 ff.). ” 

2 Nach der Angabe in dem Muffege von Br. Laun im „Morgen 
blatt“ 1840. 

Dünger, drauendilder. - 2 





18 


aufgehangert. Zu unterft ſchrieb Goethe feinen Namen unter fol- 
gende Berfe (vgl. B. 6, 63): 


Dem Himmel wach’ entgegen 
Der Baum, ber Erbe Stolz! 
Ihr Wetter, Stiiem’ und Regen, 
Verſchont das beige Holz! 

Und fol ein Name verderben, 
So nehmt die obern in Acht! 
Es mag ber Dichter erben, 
Der biejen Reim gemacht I" 


Die Tafel wurde wahrſcheinlich an der flärfften der wier Buchen 
des von Goethe bechriebenen Plages in jenem Wälbchen befeftigt. 
Nach Goethe befand ſich hier bei feinem erſten Beſuche an einem 
der ſtärkſten Bäume ein längliches Brett mit der Aufſchrift „Brie- 
derikens Ruhe", was, da Sophie Brion hiervon nichts bekannt war, 
zu ben bewußten ober unbewußten Ausſchmückungen Goethe's ge- 
hören muß, vielleicht auf einer bloßen Verwechslung mit jener 
Tafel beruht. J 

Die innigſte Neigung, welche Goethe für das reizende Mäd— 
hen gefühlt, mußte an dieſem Morgen, wo ihre ſchöne Seele ſich 
in allem Glanze reinfter Kindlichkeit und anmuthigfter Weiblichkeit 
vor ihm entfaltete, zur vollften Liebesknoſpe heranblühen und mit 
unmwiperftehlichfter Gewalt ihn fefleln. Die heitere Weife, in iwel- 
her fie die erwarteten Gäfte ſchilderte, die gutmütbhige Sorge, mit 
welder fie biefen eine wahre Freude zu bereiten teachtete, das 
natürlich Herzliche Bekenntniß ihres Tiebebebürftigen Herzens, tie 
Freundlichkeit, mit welcher die grüßenden Bauern fie vor allen 
auszeichneten, * die Anmuth ihres ganzen Weſens, die nie reizender 
hervortrat, als in ber fchönen freien Natur, alles riß ven lieben- 
ten Süngling zu einer unendlichen Wonne hin, zum höchſten Ge- 
fühl Herzlichen Glückes. 


B. 22, 9. Man vergleiche Hierzu B. 18, 129, wo Julie fi ihrer 
Wohlthaͤtigkeit wegen einer gleichen Freundlichkeit zu erfreuen hat. 


19 

Nach dem Mittageffen, bei welchem mande ver Gäfte, ‚vor 
allen ver alte Amtmann (von Lichtenau?), des Guten zu viel 
gethan, fuchte man den Schatten auf, und vergnügte ſich mit ge- 
ſellſchaftlichen Spielen, beſonders Pfänberfpielen, wo es bei ber 
fung der Pfänder bald in’ Uebertriebene ging, da die verwegene 
Luft feine Grenzen Fannte. Auch Goethe und Friederile betheiligten 
fich vecht lebhaft an dieſen Scherzen, welche fie durch bie wigigften 
und nediſchſten Einfälle zum heiterſten Freudentaumel zu fleigern 
mußten. Und gerade bei biefer freieften und glüdlichften Laune, 
in wie reizenbem Bilde mufte das liebende Paar ſich gegenfeitig 
erfheinen, wie mußten bier bie legten Schranken fallen und bie 
Knoſpe der Liebe als reichſtrahlende Blume ihren buftreichen Kelch 
erfhliegen! "Wie glücklich fühlte ſich daher unfer von Liebesleiven- 
ſchaft berauſchter Dichter, als er beim Pfänderſpiele den erften 
herzlichen Kuß als Siegel feiner glühenven Liebe auf Friederikens 
blühende Lippen brüden, und biefes Wonnegefühls ſich durch mehr- 
malige Wieberholung verfihern konnte! Auf biefe glüdlichen Stun- 
den, auf jenen Augenblid, wo das vollfte Bewußtfein ungertrenn- 
licher Seelenvereinigung dem glüdlichen Paare aufging, beziehen 
ſich die aus Friederilens Nachlaß erhaltenen Berfe (B. 6, 63): 


Setzt fühlt ber Engel, was id fühle; 
Ihr Herz gewann ich mir beim Spiele, 
Und fie it nun won Herzen mein, 

* Du gabft wir, Schichal, biefe Freude; 
Nun laſſ' auch! morgen fein, wie heute, 
Und Ich .mich ihrer wilcbig fein I 


Goethe erzählt ung (B. 22, 7), er habe fi, ſeitdem jene 
leidenſchaftliche Tanzmeifterstochter feine Lippen verwünſcht und Un- 
glüd über Unglüd für immer und, immer auf biejenige herabge- 
rufen, die nad ihr zum erftenmal biefelben küſſen werbe, aus 
abergläubifcher Furcht in Acht: genommen, irgend ein Mädchen zu 


* In den Werten Reht: Rap mic. . 





füffen, und ſich immer durchzuwinden gewuft, wo beim Bfänber- 
fpiele das Küffen als Löfung geforbert worben; erſt an biefem 
Nachmittage habe er alle abergläubifchen, hypochondriſchen Grillen 
fahren Iaffen und die zärtlich Geliebte recht herzlich gefüßt. Aber 
wir glauben mit Schäfer diefe fireng gehaltene Nefignation für 
eine bloße Ausfhmüdung des reizenden Liebesverhäftnifjes halten 
zu müffen, da Goethe ſich bei der nahen Verbindung mit ven lieb- 
lichen Pfarrerstöchtern unmöglich, und wäre e8 auch nur beim 
Pfänderfpielen und Abſchiednehmen gewejen, aller Küffe enthalten 
konnte, mit denen damals noch ein viel Iebhafterer Taufchhanvel 
getrieben wurde, als in unferen Tagen.? Dagegen glauben wir 
nicht, daß der Bund ber, Liebenden ſchon längſt mit Hand und 
Kippe geſchloſſen gewefen, vielmehr lebten beide im ftillen Glüde 
ihrer Liebe ahnungsvoll nebeneinander, bis der leidenſchaftliche Kuß 
ber Liebe am biefem Nachmittage, eindrücklicher als alle Worte, bie 
innigfte Seelengemeinfchaft befiegelte, 

i Gegen Abend eilte man zum Tanze, welchem unfer verliebtes 
Baar ſich mit folder Leidenſchaft hingab, daß man ihm endlich 
von allen Seiten zureden mußte, nicht weiter fortzurafen. Hierfür 
entſchädigten fie fih aber durch einen einfamen Spaziergang Hand 
in Hand, und als fie zu jenem ftillen Plate gekommen, wo fie 
am Tage die Tafel aufgehängt hatten, durch bie herzlichfte Um- 
armung und die treulichſte Verfiherung, daß fie fi) von Grund 
aus liebten. In biefer wonnigen Unterhaltung wurden fie durch die 
Ankunft älterer Perfonen unterbrochen, denen fie zum Abendeſſen 
folgten. Bis tief in die Nacht wurde getanzt, getrunfen und gejubelt. 

Wenn der Höhepunkt der Liebe nur kurze Zeit anzudauern 
pflegt, fo mar nad) dieſem Tage das höchſte Liebesglück des reizen- 
den Paares auf einmal gefhwunden. Was beide bisher nur ge- 
ahnt, hatten fie im’ tieffter Wonne durchempfunden, fo daß ber 
wirkliche gegenfeitige Beſitz kaum dieſe Wonne zu fteigern vermochte. 

Goethe's Leben I, 113. 

? Bl. meine „Studien zu Goethes Werfen“ ©. 96 f. 


21 
Friederike und, der glühende Dichterfüngling hatten ſich, ohne zu 
benfen und zu wollen, dem füßeften Gefühle hingegeben; die Eltern 
mochten wohl bie Möglichkeit einer folhen Verbindung ſich gedacht, 
und bie Verwandten und Freunde berfelben fie als eine fi von 
ſelbſt verftehende Sache betrachtet haben. Als aber Goethe nach 
durchſchwärmtem Tage nun endlich der Ruhe genießen wollte, da 
begann das leichtfertig gefchloffene Verhältniß ihn in wilden Fieber⸗ 
phantaflen zu beunruhigen. „Ich hatte kaum einige Stunden fehr 
tief gefhlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut 
mic anfwedte. Im folhen Stunden und Lagen ift e8, wo bie 
Sorge, ‚vie Rene den mehrlos hingeſtredten Menfchen zu über- 
fallen pflegen." War die Verwünfgung Lucindens, ber reizenden 
Tanzmeifterstochter, lange Zeit aus feiner Erinnerung geſchwunden, 
fo ſtellte ſich dieſe jegt feinen aufgeregten Einnen mit fürdhterlich- 
fter Gewalt var; er fah Friederilen durch Lucinden bebroßt, ge- 
wiſſem Berberben verfallen, eine Borftellung, bie um fo ergreifen- 
dere Wirklichkeit vor feiner Seele gewinnen mußte, als ihm bie 
Schwierigfeiten, welche einer Verbindung mit Friederile von Seiten 
der Seinigen und feines ganzen ihm vorgezeichneten Lebensganges 
entgegenftanven, wie Nachtgefpenfter, vorſchwebten. 

Auf das jubelnde Feft mußte, wie gewöhnlich, eine Abfpan- 
nung und ein gemwiffes Mißbehagen folgen, welches ben jungen 
Dichter um fo quälenver ergreifen follte, als jene Nachtbilver, 
wenn fie aud vor dem Tageslichte ſchwanden, doch trübe Gebanfen 
in ihm aufgeregt hatten, bie ihm nicht ganz verlaffen wollten. Die 
Geſellſchaft trennte ſich am folgenden Tage, nicht ohne bie freund» 
liche Pfarrersfamitie zu balvigem Beſuche herzlih und dringend 
eingelaben zu haben. Unfer Dichter dagegeu blieb in Seſenheim 
zurück; benn wenn Goethe auch dieſen Beſuch als einen furzen 
darftellen will (®. 22, 16), und nad) ihm noch eine Anzahl wie- 
derholter Befuche anführt (®. 22, 17 ff.), fa zeigen dagegen bie 
Briefe an den Aktuar Salzmann, wie ſchon oben bemerkt wurde, 
daß diefer Beſuch Länger, als vier Woden, und zwar ohne Unter- 
brechung, bauerte. In dieſe Zeit gehört ohne Zweifel, was Goethe 

2° 








. . 

(8. 22, 20) berichtet: ' „Man ließ uns unbeobadhtet, wie es über- 
haupt dort und damals Sitte war, und es hing von uns ab, in 
Heinerer ober größerer Gefelljchaft die Gegend zu durchſtreifen, 
und die Freunde der Nachbarſchaft zu beſuchen. Dieffeits und jen- 
ſeits des Rheins, in Hagenau, Fort-Louis, Philippsburg, ver 
Ortenau fand ich die Perfonen zerftreut, die ich in Sefenheim ver- 
einigt gefehen, jeben bei ſich als freundlichen Wirth, gaftfrei und 
fo gern Küche und Keller, als Gärten und Weinberge, ja vie 
ganze Gegend auffäliegend. Die Rheininfeln waren venn auch 
öfters ein Ziel unferer Waſſerfahrten.“ Daneben fehlte es nicht 
an Gäſten in Seſenheim felbft, wie ohne Zweifel Freund MWey- 
land mehrfach herüberkam, ver einmal die Schalfheit beging, Gol- 
ſmith's Landpfarrer von Walefield, in welchem bie Bamilie 
ihr eigenes Ebenbild erblicken mußte, dorthin mitzubringen. Viel⸗ 
leicht führte er ven jungen Bauverftändigen mit ſich, der an bem, 
Grundriſſe des Neubaues zum Pfarchaufe das Beſte gethan Hatte, 
und mit welchem unfer Dichter dem Alten zu Liebe bie einfarbige 
Chaife bunt zu verzieren übernahm, welcher Verſuch leider un— 
glüdlich endete. 

Während er fo an ver Geite des geliebten Mädchens, freilich 
nicht ohne trübe Gedanken an die Zufunft, das Glück der ſchönen 
Natur genoß, welches er noch fpäter fo reizend zu ſchildern wußte 
(2. 22, 21), vertiefte er fi immer mehr in das Studium Offian’s 
and Homer's, wahrſcheinlich auch Shafefpeare's. Cine Ueber- 
fegung der „Gefänge von Selma“ aus Oſſian ſchrieb er für Frie- 
derife niever, aus deren Nachlaß fie Auguft Stöber a. a. O. 
©. 96 ff. herausgegeben hat, Später hat Goethe diefe Ueberfegung 
mit wenigen Veränderungen in den Werther aufgenommen, mo 
Werther feiner Lotte diefe „lagen Selma's,“ die er ihr gebracht, 
jelöft vorlefen muß, und es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß auch 
diefer letztere Zug aus dem fejenheimer Leben genommen ift. 

* Undegreiflich ift es, wie Viehoff (, 359 f.) dies nach her ſaarbrücker 
Reife feben Tonnte, alfo in den Juli, zu welcher Zeit die Famille Brion 
nach Straßburg kam. 


23 





Aber auch die dichteriſche Schöpfungskraft fand fich in dieſem 


Natur» und Liebesleben aufgeregt. 


Hlerher gehört folgenbes aus 


Friederikens Nachlaß erhaltene, freilih die Spuren unglalicher 
Verſtimmung deutlich verrathende Gedicht: 


Erwache, Friederile, 
Vertreib' die Nacht, 


Die einer deiner Blide 


Zum Tage macht. 


Der Bügel fanft Gefllfter 


Ruft Tiebevoll, 


Daß mein geliebt Gefwifter ' 


Erwachen foll. 


Mt dir bein Wort nicht Heilig 


Und meine Ruh’? 


Erwache l Unverzeißlich! 
Noch ſchlummerſt du? 
Horch! Philomelens Kummer _ 


Schweigt heute ſtill, 


Weil dich ber böſe Schlummer 


Nicht meiden will: 


Es zittert Morgenſchimmer 


Mit blödem Licht 


Erröthend durch dein Zimmer, 


Unb weit dich nicht, 
Am Bufen deiner Schwefler, 
Der fr dich ſchlagt, 


Entfchläfft du immer fefter, 


Je mehr es tagt. 


' Befhwiter fol hier nicht, wie Viehoff will, Friederiken nebſt 
ihrer Schweſter Sophie bejeihnen, an welche hier noch gar nicht gebadht 
wird, fondern der zästliche Liebhaber ſtellt fi in ein brüderliches Berhälte 


niß zur Geliebten. 


24 


3a) ſeh bich ſchlummern, Schöne! 
Bom Auge rinnt 

Mir eine füße Thräne, 

Und macht mich blind. 

Wer Tann es füßllos ſehen? 

Wer wird nicht heiß? 

Und wär’ er von ben Zehen 
Zum Kopf von Eis. 


\ 
Vielleicht erſcheint bir räumend, 
O Glüd! mein Bild, 
Das, Halb voll Schlaf und träumenb, 
Die Muſen ſchilt. 
Erröten und erblaffen ' 
‚ Sieh fein Geſicht! 
Der Schlaf hat ihn verlaffen, 
Doch wacht .er nicht. 


Die Nachtigall im Schlafe 

Haft du verfäumt. 

Drum höre num zur Strafe, 
Was ich gereimt. B 
Schwer Tag auf meinem Bufen 
Des Reimes Joch; 

Die ſchönſte meiner Mufen, 

Du ſchliefſt ja nod. 


Das Gedicht ift die Frucht eines Iangmeiligen Morgens, an wel- 
chem bie Geliebte, vermuthlich nad einem am vorigen Tage ge- 
machten ermübenden Ausflug, troß ihres Verſprechens, mit dem 
Dichter am früheften Morgen einen Spaziergang zu machen, ‚Lange 
ſchlief und vergebens auf ſich marten ließ. 


Er errötßet vor Scham und erblaßt vor Merger, daß ihm Fein Ger 
dicht gelingen wi, wie fehr auch der Gedanke an die fhlafense Geliebte 
ihn begeiftern follte. Die dritte Perfom im folgenden erklärt fi ans ber 
Beriehung auf mein Bild. 


3 


Eine befonders angenehme Unterhaltung fand „Goethe darin, 
befannten Melodien für Friederike neue Lieder unterzulegen. „Sie 
hätten,“ berichtet er felbft (®. 22, 22), „ein artiges Bandchen ge⸗ 
geben; wenige davon find übrig geblieben; man wird fie leicht aus 
meinen übrigen hergusfinden.“ Bu biefen Liedern, bie offenbar, 
da Friederile jelbft fie fingen follte, nicht ausdrüdlich an fie ge- 
richtet fein Tonnten, ' rechnen wir „Der neue Amadis“, „Stiebt 
der Fuchs", „Blinde Kuh“, „Der Abſchied“, „Willlommen und 
Abſchied“, und das erft aus Friederilens Nachlaß befannt ge- 
worbene, bie Ueberſchrift: „Als ih in Saarbrüden war“ füh- 
rende Lieb: : 


Wo bift du it, mein unvergeßlich Mädchen ? 
Wo fingft du it? 
Vo lacht bie Flur, wo triumphirt das Städtchen, 


Das dich befigt? 

Seit. bu entfernt, will feine Sonne ſcheinen, 
Unb es vereint “ 

Der Dimmel ſich, bie zartlich nachzuweinen, 
Mit deinem Freund. 

All unſre Luſt iſt fort mit dir gezogen; 

Still überall 

M Stadt und Feld; dir nad) iſt fie geflogen, 
Die Nachtigall, 

O komm’ zurüd! Schon rufen Hirt und Heerden 
Dich bang herbei. 

Komm’ bald herbei; ſonſt wird es Winter werben 
Im Monat Mai. 


Von anderer Art iſt das eigentlich an Lili gerichtete, von biefer 
felbft gefungene Lied „Warum zieht du mich unwiberftehlich“ (8. 1, 57 f. 
22, 298 f. 407), welches aber die Ueberfihrift an Belinden führt. In 
dem Gedichte „der Abſchied“· wird, obgleich es zur Zeit der Liebe zu Brie: 
verife gedichtet it, ein Brängehen angerebet, in „Gtirbt der Buchs“ Heißt 
die Geliebte Dorilis, in „Blinde Kuh" Therefe. 


% 

Die Neberfägjft diefes Gebichtes hat zu ber dem Inhalt ſchnur⸗ 
firads widerſprechenden Anficht verleitet, Goethe habe es bei feiner 
Anmefenkeit in Sanrbrüd gedichtet, wo ihn die Sehnſucht nad 
ver Geliebten überfallen. Aber man fieht auf ven erften - Bid, 
daß bier nicht der Geliebte, fondern die geliehte Freundin den ge- 
wohnten Ort verlafien, weshalb man zu der Annahtne gevrängt 
wird, Friederile habe die Ueberfchrift hinzugefügt, und unter ich 
fei nicht der Dichter, fondern Frieberike felbft zu verſtehn. Num 
aber können wir eine Reife Friederikens nach Saarbrüd im Monat 
Mai, auf den das Gedicht Hindentet, während Goethe's Belannt- 
ſchaft, alfo im Jahre 1771 (denn der Mai 1770 liegt vor dem Be— 
ginn der Belanntfchaft) unmöglich annehmen, de, wie bie Briefe 
Goethe's an Sahmann zeigen, Brieverife den ganzen Mai über, 
wo Goethe ſich in Sefenheim befand, nicht abweſend war. Frie— 
berife.veiste erft im Jahre 1772 in Begleitung der Mutter nach 
Saarbrüd, aber am 3. Juni, nicht im Mai, und der Annahme, 
das Gedicht fei von Lenz, der ſich damals nahe bei Seſenheim 
aufhielt, wiberfpricht der ganze Charakter bes tiefgefühlten, mit 
hinreißender Natitrlichleit und glüdfichfter Leichtigkeit hinſtrömenden 
Liedes. Goethe Iegte dieſes Lie, welches die Sehnſucht des zurüd- 
gebliebenen Liebhabers nad) der im die ferne gezogenen Geliebten 
ausfpricht, einer befannten Melodie unter, oder ſchrieb es ohne” 
weiteres als Darftelung einer bichterifchen Situation. Friederike 
aber glaubte fpäter, das Gedicht ſey perſönlich an fie gerichtet, 
und da fie fi feiner längern Abweſenheit als ihres Aufenthalts 
in Saarbrüd erinnerte, fo bezog fie e8 auf biefe, ohne daß ihr 
eingefallen wäre, daß biefe Reiſe erft neun Monate nad) ver 
Trennung von Goethe fiel; und fo gab fie ihm die unglüdliche 
Ueberſchrift, welche zu einer fo wiberfinnigen . Auffafjung ver- 

Teitet Kat. - 
Iſt aber auch diefes Gedicht nicht perſönlich an Friederike ge- 
‚ richtet, fo zeigt e8 doch, wie ber tiefjchmerzliche „Abſchied“, welche 
Gefühle damals unfern Dichter bewegten. Dagegen ſcheint e8 uns 
auf einem argen Irrthum zu beruhen, wenn bie „chrvnologiſche 


— TU on 


27 
Ueberfiht von Goethe's Schriften“ das zuerft im Jahre 1800 ge- 
drudte Gedicht: „An bie Erwählte“ in die Jahre 1770 oder 1771 
verfegt, woran freilich Viehoff fo wenig Anftoß nahm, daß er es 
ohne weiteres perfönlic an Friederike gerichtet glaubte. Der ganze 
Ton und die hohe Vollendung des Gedichtes, das in ber erfien 
Ausgabe von Goethe’ wermifchten Gedichten (1789) noch fehlt, 
deuten auf bie neunziger Jahre hin. Man erinnere ſich der Lieder 
„Nähe des Geliebten", „Bir lieblich iſrs ein Wort zu brechen“, 
„Raftlofe Liebe“, „An Mignon“, die alle in dieſe Zeit fallen, und 
des reichen Lieverfchages, welchen Goethes und Wieland’s Tajchen- 
buch auf das Jahr 1804 fpenbete. 

Je länger der Aufenthalt. unferes Dichters zu Seſenheim 
banerte, um fo brüdenber unb ängſtlicher mußte das Verhältniß 
für ihn und die Geliebte werben, ba er feine balbige Abreiſe nach 
ver Heimat ſich und dem heißgeliebten Mädchen nicht verbergen 
tonnte. Wie ſchmerzlich mußte ihn jegt ber Gedanle erfaffen, daß 

. er buch eine unbefonnen genährte Leidenſchaft Anforderungen er- 
regt hatte, die er nicht zu erfüllen vermochte, daß er durch bie 
uothwendige Trennung die reine Ruhe des geliebteften Weſens zer- 
ftören, das zu heiterftem Lebensgenuffe geichaffene liebe Herz zer- 
reißen werbe! Und wie tief fühlte er ſich felbft verwundet, wenn 
er den Berluft biefes Finplih reinen, offenen, frommgläubigen 
Weſens, welches fein ganzes Leben an fich gezogen hatte, ſich vor- 
ftellen mußte! War denn aber, fo wird man Bier fragen, fir 
den Dichter keine Möglichkeit gegeben, ſich den Beftg ver Geliebten, 
die jo wohl begründete Anſprüche an ihn Hatte, zu erringen? Nur 
in einem Falle: wenn er es gewagt hätte, fid zur Selbſtändig ⸗ 
feit zu ermannen, fih von dem Bater und ben Seinigen auf 
immer zu trennen, und fi dem Glüde feines Genius ganz anzu⸗ 
vertrauen. Der eben fo karge, als auf feinen Sohn ebrfüchtige 
Bater, welcher dieſem bereits feinen ganzen künftigen Lebensplan 
vorbeftimmt hatte, ver ihm ſchon als eine Zierde feiner Baterftabt 
in ben höchſten Würden, mit ben anfehnlichften Familien durch 
eine reiche Heirat verbunden, zugleich als Schriftfteller rühmlich 


2 

ausgezeichnet vor ſich ſchaute, wie hätte ver firenge, ſtarre Mann, 
von welchem ber Sohn noch ganz abhängig war, in eine Berbin- 
dung mit der Tochter eines namenlofen, armen Landpfarrers ein- 
willigen Tönnen? Und melden Genuß hätte Goethe dem reizenden 
Lanpmäbchen zu bieten vermocht, das nur in ber freien Natur, 
wo „die Anmuth ihres Betragens mit‘ der beblümten Erde und 
die unverwäftliche Heiterkeit ihres Antliges mit vem- blauen 
Himmel zu wetteifern fchien“, das nur dann feine Beſtimmung 
ganz zu erfüllen ſchien, wenn e8 über Rain und Matten leichten 
Fußes hineilte (B. 22, 9 f.)! wie hätte er dieſem unter dem ftreng 
pedantiſchen Bater, von welchem ſchon feine Schwefter fo viel zu ” 
leiden hatte, und welder einer aufgebrungenen Schwiegertochter ö 
die Bereitelung feiner Plane nie vergeffen haben würbe, in ber 
alten, düſtern Kaiſerſtadt irgend ein Glück verſprechen können! 
So blieb ihm alſo nichts übrig, wollte er den Beſitz der Geliebten 
durchſetzen, als ſich auf ſich ſelbſt zu ſtellen, nicht bloß dem Vater, 
ſondern auch ver geliebten Mutter und Schweſter, deren unglüd- 
licher Zuſtand dadurch in's Unerträgliche gefleigert worden fein 
würde, zu entſagen, und ſich dem ſchwankenden Glüd anzuvertrauen, 
dem er doch das Schickſal ver Geliebten nicht Preis geben durfte. 
Zu einer ſolchen muthig feden That war aber niemand weniger 
geſchaffen, als unfer Dichter, deſſen weiches Herz den Kampf mit 
den äuferen Berhältniffen des Lebens nicht zu ertragen vermochte, 
der vor jeder rauhen Berührung des Lebens zurückbebte, der nur 
zu demjenigen Muth faſſen konnte, deſſen Erreichung er mit Gi» 
cherheit erwarten durfte. Und fo Hatte das Schickſal auch freund- 
lich dafür Sorge getragen," daß die äußern Bedingungen des Le- 
bens ihm nicht hindernd entgegentraten, um ihn befto größere innere 
Leiden durchempfinden und ihn zur harmoniſchſten Geiftespucchbilbung . 
unter tauſenderlei Mühen und Anftrengungen gelangen zu laſſen. 
Und waren nicht gerabe bie vielfachen Liebesleiden eine ſchmerzliche 
Schule zu feiner Entwidlung als Dichter und Menſch? Freilich 
würde ein kaltrathender Freund unſerm Dichter noch einen andern 
Ausweg haben zeigen können; er hätte ihn auffordern können, den 


29 


vom Bater vorgefchriebenen Plan feiner Ausbilvung ruhig zu bes 
folgen, Bis er zu einer Selbftänbigfeit gelangt wäre, melde ihm 
die Heimführung ver Geliebten auch wider den Willen des Vaters 
möglich gemacht Hätte. Eine ſolche Handlungsweiſe aber wiver- 
ſtrebte feiner offenen, redlichen Natur; audy- konnte der von tief- 
ſtem Bilvungstrieb ergriffene Jüngling den Gedanken an ein ſtreng 
praktiſches, dem Erwerb zum Unterhalt einer Familie gewidmetes 
Leben nicht ertragen, es ſchien eine ſolche Beſchränkung feinem 
Geiſte, der ſich zur höchſten Ausbildung gezogen fühlte, eine reine 
Unmöglicfeit, und wohl mochte ihn das Gefühl beſchleichen, daß 
das einfache, im ſtillen Natur⸗ und Liebesleben ſich glücklich fühlende 
Landmãdchen ihm zu ber höhern Geiftesbilvung, bie er anftreben 
mußte, nicht folgen könne, daß ihre Lebenswege ſich nothwendig von 
einander trennten. So mar es denn feine freie Selöftbeftimmung, 
keine Talte Trenlofigkeit, fondern eine innere Nöthigung, welche 
ihm bie Trennung von ber Geliebten eingab. Das Glüd, welches 
ex auf immer verlieren follte, ftand fo hold und Iodend vor feinen 
Bliden, aber er fühlte, daß er vemfelben entfagen mußte, follte 
er nicht ſich und die Geliebte elend machen. Zu dem zerreißenven 
Seelenfchmerz über den Verluſt gefellte ſich die bittere Reue, daß 
ex Teichtfertig, im Rauſche der Leidenſchaft, in der Geliebten eine 
Hoffnung erregt, fie ein Glück in feinem Beſitze hatte ahnen laffen, 
welches wie ein befeligender Traum verſchwand, und ihr liebebe⸗ 
dürftige® Herz mit unendlichem Schmerze zerriß. Diefen Vorwurf 
leichtfertiger Nährung einer Liebesleidenſchaft, die beiden Theilen 
bei der nothwenbigen Trennung. unfäglicien Schmerz bereifete, fün- . 
nen wir dem Dichter nicht erfparen, wie benn Goethe jelbft früher 
und fpäter in biefer Hinficht ſeine Schuld rückhaltslos eingeftand.. 
„Eine ſolche jugendliche, aufs Gerathewohl gehegte Neigung ;“ 
bemerkt er ſehr treffend (B. 22, 61), „ift ber nächtlich ge— 
worfenen Bombe zu vergleichen, die in einer fanften, glän- 
zenden Linie auffteigt, fi unter die Sterne miſcht, ja einen 
Augenbli unter ihnen zu verweilen ſcheint, alsdann aber abwärts, 
zwar wieder biefelbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zulegt 


30 


da, wo fie ihren Lauf geenbet, Verderben hinbringt. — Allein 
wie ſoll eine ſchmeichelnde Leidenſchaft uns vorausſehn laſſen, wo- 
hin ſie uns führen kann? Deun auch ſelbſt alsdann, wenn wir 
ſchon ganz verſtändig auf ſie Verzicht gethan, können wir ſie noch 
nicht loslaſſen, wir ergötzen uns an ber lieblichen Gewohnheit, und 
follte es auch auf eine andere Weife fein.“ " 

So Ionnte denn auch Goethe, wie Har es ihm auch geworben, 
daß er ſich von ber Geliebten trennen müfje — und an beftimmten 
Aeußerungen, daß an feine dauernde Berbinvung zu denken fei, 
wird e8 nicht gefehlt haben — doch nicht von der Seite des gelich- 

x ten Weſens ſcheiden. Der unglüdliche Kampf zwiſchen Wollen 
und Müffen erfcütterte fein ganzes Wefen; von taufend Qualen 
geängftet, ſchwankte er hin und her, verbitterte ſich und feiner Um- 
gebung das Leben. Es müfjen dies höchſt forgenvolle und lang- 
weilige Tage geweſen jeyn, in welchen ver Dichter, um fih von 
der Bebrängniß zu retten, e8 fogar nicht verfchmähte, wie Friede⸗ 
rilens jüngere Schwefter berichtet,. das Korbflechten bei dem lahmen 
Phifipp zu lernen. Wer weiß nicht, welche Beruhigung eine ſolche 
mechanische Beſchäftigung über den aufgeregten Geift zu bringen 
pflegt! Werten wir ja ten von halbem Wahnfinn ergrifienen Lenz 
fpäter das Schufterhandwerk erlernen jehn! Nur mit Mühe gelang 
es dem treu beforgten Altuar Salzmann ven einige Zeit auch 
körperlich leidenden Dichter endlich nad Straßburg zurüdzugichen. 

„Ich komme“ fehreibt Goethe nad; einer Abweſeuheit von vier 
Wochen, noch vor Pfingften, an Salzmann, „ober nicht, oder — 
das alles werb’ ich befier wiſſen, wenn's vorbei ift, als jetzt. Es 
regnet draußen und brinnen, und bie garftigen Winde von Abend 
raſcheln in ben Rebblättern vor'm Fenſter, und meine animula 
vagula ' ift, wie's Wetterhähndhen brüben auf dem Kirchthurm, dreh' 
dich! dreh’ dich! das geht den ganzen Tag fo, obſchon das büch 

! Anfpielung auf die Verfe, welde Kaiſer Gadrian vor feinem Tode 
gemacht haben foll (Spartian. Hadr. 28): 

Animula vagula, blandula, 
Hospes comesque corporis, 


31 


dich! fired’ dich! eine Zeit ber aus der Mode gelommen ift.' 
Punctum. Meines Wifiens ift das das erfte auf diefer Seite. — 
Es ift ſchwer, gute Perioden, und Punkte zu feiner Zeit zu ma- 
Gen. Die Mädchen machen weder Komma, noch Punktum, und 
es ift fein Wunder, wenn ic Mädchennatur annehme. Doch 
ler’ ich ſchön Griechiſch: denn daß Sie's willen, ich habe in ver 
Zeit, daß ich hier bin, meine griechiſche Weisheit jo vermehrt, 
das ich faft den Homer ohne Ueberfegung Iefe.? — Und dann bin 
ich vier Wochen älter; Sie wiffen, daß das viel bei mir gefagt ift, 
nicht weil ich viel, fondern weil ich vieles thue. — Behit’ mir 
Gott meine lieben Eltern! Behüt’ mir Gott meine liebe Schwefter! 
Behüt mir Gott meinen lieben Herrn Actuarius! Und alle fromme 
Herzen! Amen.“ Man fieht, wie die Seele des Dichters auf das vä- 
terliche Hans gerichtet war, welches ihm die Unmöglichkeit einer Ber- 
bindung mit Friederike vernehmlich zuzurufen ſchien. Die Unruhe 
und Angft feines Herzens nahm immer bevenflicher zu, wie ſich aus 
einem folgenden Briefe an Salzmann, dieſen Tröſter ver Betrüb- 
ten und Helfer ver Schwachen, ergibt. „Nun wär’ es wohl bald 
* Beit, daß ich käme,“ beginnt er; „id will ‚auch, und will auch; 
aber mas will das Wollen gegen die Geſichter um mic herum? ® 


Quae nunc abibis in loca, 
Pallidula, rigida, nudula, 
Nec, ut soles, dabis iocos. 


O ſchweifendes, ſchmeichelndes Seelchen mein, 
Du meines Körpers Gaſt, Genoß, 

An welchen Ort wirft du nun gehn, 

O Seelchen, blaß und ſtarr und bloß? 

Wirſt nimmer ſchetzen, wie zuvor! 

! Vielleicht Aufplelung auf ein Kinderfbiel. Das ewige dreh’ dich 
fol auf die Unruhe feiner Seele hindeuten, das Bud dich, fired dich! 
auf fille Berupigung und Duldnug des Unvermeiblichen. 

? Bgl.. meine „Studien zu Goethes Werken“ ©. 135 Note 2. 

3 Man barf nicht etwa an grämliche Gefihter benfen, ſondern bie 
gutmätpige Sreunblichteit aller läßt ihm nicht zum Entſchluß kommen, dieſe 
lieben Menſchen durch feine Abreife zu beträhen. 


32 


Der Zuftend. meines Herzens ift fonderbar, und meine Gefunbheit 
ſchwankt, wie gewöhnlich, durch die Welt, vie fo ſchön ift, ale 
ich fie lange nicht gefehen habe. — Die angenehmfte Gegend, Leute, 
bie mich lieben, ein Zicfel von Freuden! „Sinb nicht bie Träume 
beiner Jugend alle erfüllt?“ frag’ ich mich manchmal, wenn ſich 
mein Aug’ in biefem Horizont von Glüdjeligkeiten herummeibet. 
„Sind das nicht die Feengärten, nad) denen du dich fehnteft ?“ — 
Sie ſind's, fie ſind's! Ich fühl’ es, Tieber Freund, daß man um fein 
Haar glüdlicher ift, wenn man erlangt, was man wünfchte. Die 
Zugabe, die Zugabe, die und das Schickſal zu jeder Glüdfeligteit 
brein wiegt! Lieber Freund, es gehört viel Muth dazu, in ber 
Welt nicht mißmuthig zu werben.“ Die Zugabe, die er meint, 
iſt die Einſicht, daß ihm der Beſitz Friederilens nicht zu Tpeil 
werben könne, deren Glüd er durch feine Liebe‘ zerftört Habe, 
daß er nicht beftimmt fei, das wahre Glüd der Liebe in ruhigen 
Befige zu genießen,‘ wie fid) dies in dem darauf folgenden: Gleich 
niß ausſpricht: „Als Knab' pflanzte ic ein Kirſchbäumchen im 
Spielen; es wuchs, und ich hatte die Freude, es blühen zu ſehn. 
Ein Maifroſt verderbte die Freude mit ver Bluthe, und ich mußte 
ein Jahr warten, da wurden fie ſchön und reif; aber die Vögel 
hatten ven größten Theil gefrefien, eh' ich eine Kirſche verſucht 
hatte. Ein ander Jahr waren's die Raupen, dann ein genäſchiger 
Nachbar, dann das Mehlthau; und do, wenn ich Meifter über 
einen Garten werbe, pflanz’ ich doch wieder Kirſchbäumchen; trotz 
allen Unglüdsfällen gibt's noch fo viel Obft, daß man fatt wird.“ 
Es ift ganz unverantwortlich, wie Biehoff (I, 340) hierin das Ge- 
ſtändniß des Dichters erfennen wollte, daß er ſchwerlich in ber 


! Viehoff will darunter bas tiefe Gefühl verflchn, daß es ein Treu- 
bruch an ſich felbft wäre, wenn er folgen Werhältnilen tren bliebe, wenn 
ex feine Seele fo frühe und für immer in blefe Inplifip beſchtänkte Ephäre 
einfränfte — ein Hier ganz frembartiger Gebanfe. Aehnlich faßt Schäfer 
die Zugabe als die Erfenntnlß, daß diefe Liebe nicht der Rebensinpalt für 
feinen Hochftrebeuben Genius fein Fönne, und er fih beapalh eines Treue 
bruches ſchuldig machen mäffe. 





33 





Liebe -ein volles Genügen ber Seele finden werbe; beutet Goethe 
‚ja vielmehr offenbar an, daß das Schidfal ihm nicht deu vollen 
Befig eines geliebten Weſens zu Theil laſſen werde, und er dech 

"noch immer bie Hoffnung, bes dauernden Genuffes der Liebe ſich 
zu erfreuen, nicht aufgeben könne. Man vergleiche hierzu die fpä- 
tere Aeußerung Goethe's über Friederike (B. 22, 88): „Sie war 
mir (nad) der Rüdlehr in das elterliche Haus) ganz gegenwärtig; 
ſtets empfand ih, daß fie mir fehfte, und was das Schlimmfie 
war, ich konnte mir mein eigenes Unglüd nicht verzeihen. Gret- 
en hatte man mix genommen, Annette hatte mich verlaffen, hier 
war ich zum erftenmal ſchuldig; ich hatte das ſchönſte Herz in ſei⸗ 
nem Tiefften verwundet.“ Am Schluſſe des Briefes gefteht Goethe 
feinem Freunde Salzmann, daß er bei dem überlangen Beſuche 
in GSefenheim ſich „feftgefrefien“ habe, und er bittet ihn deshalb, 
der Weberbringerin einen Louisdor mitzugeben. 

Der folgende kurz nach Pfingften (Pfingſtſonntag fiel in bie- 
ſem Jahre auf ven 19. Mai), in ber britten Maiwoche, ger 
ſchriebene Brief an Salzmann gibt uns einen noch Marern Ein- 
blick in das Verhältniß. „Unferm Herrn Gott zu Ehren '," beginnt 
er, „geh’ ich diesmal nicht aus der Stelle, und weil id Sie fo 
lang nicht fehn werde, ven ich, es ift gut, wenn bu fchreibft, wie 
div’ geht. Nun geht's freilich fo ziemlich. gut; der Huften hat 
fi durch Eur und Bewegung ziemlich gelöft, ımb ich hoffe, er 
fol bald ziehen. Um mid; herum iſts aber nicht ſehr Hell; bie 
Meine (Friederile)? fährt fort traurig frank zu fein, und das gibt 


* &u-fheint, daß der Brief am Onatembertage, dem Mittwoch nach 
Pfingften, dem 22. Mal, geſchrieben ift, an welchem Goethe, wie er ſcher— 
vend fagt, Gott zu Ehren, eigentlich weil er noch am Huſten Hit, zu 
Haufe bleiben will, Bei den Katholiten find die Duatember befanntlich 
Faftage. Er wänfcht gleich drauf, Salzmann möge ihm auf den Freitag 
(reiben. 

3 Die Kleine fol hier bie jüngere Schweſter Sejeichnen; In anderm 
Sinne nannte Goethe fpäter feine Brau die Kleine, die wirflih von 
Kleiner Geftalt war. 

Dünger, Srauenbilver. 2 3 


34 





dem Ganzen ein ſchiefes Anfehen. Nicht gerechnet conseia mens, 
und leider nicht recti ', der mit mir herumgeht. Doch iſt's immer 
Land." Es ſchwebt der Gegenfag mit dem auf dem Meere Umber- 
getriebenen, wie Aeneas, vor. Goethe freut ſich, daß er ſich we⸗ . 
nigftens an dem Orte feines Verlangens befindet, wie ſchief es 
auch fonft ftehn mag. „AG, wenn alles wäre, wies fein follte, 
fo wären Sie auch da.“ Friederike mochte, wie der Dichter felbft, 
vielleicht in Folge einer Erfältung, körperlich leidend fein; dazu 
tam aber ohne Zweifel eine ſtarke geiftige Verſtimmung, da das 
in einent Augenblid leivenfchaftlihen Liebesrauſches geträumte Glück 
als ein unerreihbares verſchwunden war. ' Goethe bittet in demſelben 
Briefe Salzmann, ihm „eine Schachtel mit gutem Zuderbäderive- 
fen“ zu überfenden,; womit er zu „füßeren Mäulern Beranlaffung 
zu geben wünſche, als er feit einiger Zeit zu fehn gewohnt gewefen“. 
Er berichtet weiter: „Getanzt hab’ ich und bie Xeltefte (Maria Sa- 
lome) Pfingſtmontags von 2 Uhr nah Tiſch bis 12 Uhr in der 
Nacht an einem fort, außer einigen Intermezzo's von Effen und 
Trinken. Der Herr Amtſchulz von Reſchwog hatte feinen Saal 
bergegeben; wir hatten brave Schnurranten (Dorfmuſikanten) er- 
wiſcht; da gingis, wie Wetter! Ich vergaß bes Wiebers, und feit 
der Zeit iſts auch beſſer. — Sie hätten's wenigftens nur fehn 
follen. Das ganze Mid, in das Tanzen verfunfen! — Und doch wenn 
ich fagen Könnte: „Ich bin glüdlih!" — fo wäre das befier, als 
das alles. — „Wer darf fagen: Ich bin ver Unglüdjeligfte?" fagt 
Engar.? Das ift auch ein Troft, mein lieber Mann. Der Kopf 
fteht mir, wie eine Wetterfahne, wenn ein Gewitter beraufzieht, 
und bie Winbftöße veränderlich find.“ Im ber darauf folgenden 
Nacht, nachdem die Botenfran das Zuderzeug am Abende gebracht 
Hatte, ſchrieb Goethe folgenbes „Mittwoch Nachts“ batirte Billet: 


* Dem Dichter ſchweben die Worte des Mencas bei Birgil (Aen. I, 
603. 4) vor: 
Si quid 
Usquam iustitia est, et mens sibi conseia recti. 


? In Shafefpeare's „Lea“ am Anfange des vierten Aktes. 





35 





„Ein paar Worte ift doch immer mehr, als nichts. Hier fig’ id) 
zwiſchen Thür und Angel, Dein Huften fährt fort; ich bin zwar 
fonft wohl, aber man lebt nur halb, wenn man nicht Athem holen 
fann. Und dod mag ic nicht in die Stadt (wohin ihn Salzınann 
immer beingenber zurädtief). Die Bewegung und freie Luft hilft 

. wenigftens, was zu helfen ift, nicht gerechnet — (man ergänzt 
Teicht: „bie Nähe ber Geliebten“). Die Welt ift fo ſchön! fo ſchön! 
Wer's genießen fönnte! Ich bin manchmal ärgerlich darüber, und 
manchmal halte ih mir erbauliche Erbauungsftunden über das 
Heute ,. über biefe Lehre, die unferer Glüdfeligfeit fo unentbehrlich 
iſt, und die mancher Profeffor der Ethik nicht faßt, und feiner. 
gut vorträgt. Wien! Adien! Ich wollte nur ein Wort fehreiben, 
Innen fürs Zuderbings zu banfen, und Ihnen’ fagen, daß id 
Sie Tiebe.“ 

Es ift dies der legte der uns erhaltenen Briefe, welche Goethe: 
von Seſenheim aus an Salzmann ſchrieb. Der wieberholten Auf- 
forberung bes letztern fonnte er endlich nicht länger widerftehn, 
beſonders da ber Huften bald ganz wid), und fo wird er höchſt 
wahrſcheinlich noch vor Ende Mai, vielleicht am darauf folgenden 
Montag, dem 27. Mai, nad; Strafburg zurüdgefehrt fein, wo 
feine Studien, befonders bie Leiftungen bei der Fakultät, feine Ge- 
genwert erforberten. Bier fand er Gerber nicht mehr, der im 
April Straßburg verlaffen hatte, wogegen die Verbindung mit dem 
Liefländer Reinhold Lenz, der kurz vorher angekommen war !, immer 


* Auf feiner Durchreife durch Berlin hatte Lenz Ramler und Nicolai 
befucht. Eine hierauf bezügliche Anefoote theilte Reichardt im „Archiv der 
Zeit" 1796 ©. 269 mit, die aber Nicolai in einem Briefe an F. LM. 
Deyer, der einige Zeit Redakteur jener Zeitfhrift war, alfo berihtigt: 
„Lenz hatte keinen ſchlechten, Raubigten fhmargen RoE an, fondern war 
in Reiſetleldern ganz ordentlich gekleidet. Aber er war fo geremonids, jo 
ãußerſt ängftlich, fagte anf Befragen, er fomme von Königsberg, gehe 
nach Straßburg, nud fei der belles letıres befliffen, und fügte ſtammelud 
Hinzu, er habe wohl eine Bitte. an mich, ohne fih näher zu erklären, 
was es fei. Da nun aber bei diefer Unterrebung ein Freund gu mir fan, 
fland er anf, nnd alles Bittens unerachtet, daß er fein Anliegen fagen 





36 B 
inniger ward, Der Briefwechfel mit Seſenheim bauerte.ununter- 
brochen · fort, und es fehlte nicht am Kleinen Geſchenken, die, mit 
paffenden Begleitworten verjehen, hinüberwanderten. - Da bamald 
gemalte Bänver Mobe geworben waren, fo fanbte ver Dichter ein’ 
paar ſelbſt gemalte Roſabãnder an Friederike mit den belannten 
Verſen: “ 1 


Keine Blumen, Heine Blätter 
Streuen mir mit leichter Hand‘ 
Gute, junge Frühlingegätter 

Tandelnd auf ein Tuftig Band. 


Zephyr, nimm's auf beine Flügel, 
Schling's um meiner Liebe Kleid! 
Und fo tritt fie vor ben Spiegel 

. Min ihrer Munterteit. 


Sieht mit Rofen fih umgeben, 
Sie, wie eine Rofe, jung. 
Einen Ruß !, geliebtes Leben, 
Unb ich bin belohnt genung. 


‚möchte, bat,er um Erlaubniß, den andern Tag wiederzufommen, wenn ich 
allein wäre. — Das Anliegen war dann aber nicht ein Band Gebichte, fonz 
dern eine Meberfegung von Popens essay on critieism in deutfchen Alexan⸗ 
drinern. Hlerüber verfangte er mein Urtheil; von Drud. war noch gar 
nicht die Rebe. Um von ihm loszufommen, rieth ich ihm enblich, gllenfalle 
meinem Freunde Ramfer die Ucberfegung zu zeigen; und ſiehe ba! ber 
hatte ihn au, um von ihm Tosgufommen, zu mir geſchickt⸗ Nicolai 
fügt „Hingus „Freilich, daß der Mann, der mir eine Aleranbrinifce Webers 
fegung des essay. on criticism. jo Angflih hatte empfehlen wollen, ein 
Halbes Jahr“ (2) nachher ein großes Genie heißen follte, das über alle Re: 
gen ſich erhöbe, nahm mich Wunder. Diejenigen, deren Neigung zum 
Verfifliren dem fo naiven, afd niäfen Lenz einbilbete, es läge in ihm ein 
hoher Sinn für alles; was groß wäre, hatten an feiner nachherigen unz 
glüdlicen Periode mehr Anteil, ale Ar vielleicht glaubten!“ Val. Zur 
Erinnerung an 8% W. Meyer II, 12f. 

! Später milderte der Dichter das Wort Küß zu Blick, wie er im 
vorhergehenden Verſe felbft ftatt fie, V. 6 Liehften fehrieb. 


37 
Bühle, mas dies Herz empfindet, 
Reiche frei mir beine Hand, 
Und bas Band, das uns verbinbet, 
Sei kein ſchwaches Rofenbanb ! 


Die tief und wahr fühlende Rahel fagte von ven legten Ber- 
fen (U, 352 f.), fie hätten Friederilens Herz vergiften müſſen. 
„Ich fühlte diefer Worte ewiges Umklammern um ihr Herz; ich 
fühlte, daß bie fich nicht lebendig wieder losreißen, und wie bes 
Mãdchens Herz felbft, Mappte meins krampfhaft zufammen, wurbe 
ganz Mein in den Nippen; dabei dacht’ ih an ſo lchen Plan, an 
fol Opfer des Schidfals; und laut ſchrie ich, ich mußte, das 
Herz wäre mir fonft tobt geblieben. Und zum erftenmal war 
Goethe feindlich für mid) da. Sole Worte muß man nit 
ſchreiben, er nicht. Er kannte ihre Süße, ihre Bedeutung; hatte 
felöft. ſchon geblutet. Gewalt anthun ift nicht fo arg.“ Gläd- 
licherweife können wir dieſem tief treffenden Vorwurf feine Spitze 
durch die einfache Bemerkung abbrechen, daß das Gedicht zur Zeit, 
wo die Trennung bereits entfchieven ausgefprochen war, gejchrieben 

iſt. Auf den Beſitz Friederikens, des liebreigenben, geliebten We— 
ſens, Hatte Goethe Verzicht leiſten müſſen, aber eine innige 
Freundſchaftsverbindung für das Leben war es, die er noch immer 
hoffen zu dürfen glaubte, wie ſich dies in den letzten vier Verſen 
ausfprict. Friederile möge fühlen, wünſcht er, was fein Herz 
empfinde, währen er ihr das felbftgemalte Band fhidt, das ſich 
um ihr Kleid ſchlingen fol — feine tiefe Liebesglut, mit ven Schmerz, 
ihr entfagen zu müffen; fie fol ihm frei, ohne Anfpruch an feinen 
Befig, zu einem Freundſchaftsbunde ihre Hand reichen, ber fie 
feiter und dauernder umfchlingen merhe, als ein ſchwaches rofenfar- 
biges Band, wie er es heute ver Geliebten fenbet. 

Je tiefer er den herben Verluſt fühlte, um fo feuriger fcheint 
er ſich jegt an feine Freunde angefehloffen zu Haben, und wahr- 
ſcheinlich wußte gerade damals Lenz fi dem glühenben Dichter 
jüngling mit allen Enthuſiasmus jugenblicher Freundſchaft zu 





\ 38 


' 


nahen, und einen Play in feinem Herzen zu gewinnen. Daß er 
fih in Straßburg nach der Rückkehr von Sefenheim am Körper, 
mehr noch an der Seele trank gefühlt habe, nimmt Schäfer (I, 117) 
ohne Beweis an. Der Huften, welcher ihn in Sefenhein befallen, 
dürfte noch vor der Abreife ganz geſchwunden ſeyn, und ben 
Schmerz über ben Verluft Friederikens hatte er in Seſenheim felbft 
austoben laffen, werm er aud noch in feinem Herzen nachzitterte 
und mandmal, beſonders kurz vor feiner Abreife vu Heimat, 
aufflammen mochte. 

In den bald darauf folgenden Iohanniferien machte der Dich- 
ter einen größern Ausflug. Die Bermuthung, daß Salzmann 
und bie Übrigen Freunde zu biefer Reiſe deshalb getrieben Hätten, 
um bie von einem erneuten Aufenthalt in Sefenheim zu befürchtende 
Verſchlimmerung des Uebels abzuwenden over einen Anſtoß zu 
freier Befinnung und fräftiger Selbftermannung zu geben, ſcheint 
un auf einer ganz ſchiefen Beurtheilung des Verhältniſſes zu beruhen. 
Bereits in Sefenheim hatte der Dichter dem Gedanken an eine Ver— 
bindung mit Srieberife entjagt, und ein wieberholter längerer Aufent⸗ 
halt in ver freundlichen Pfarrerswohnung mußte ihm jegt zu angſt⸗ 


und qualvoll ſcheinen, als daß er. dazu freiwillig gegriffen Haben " 


follte, Auch reichen die.jugenbfiche Reifeluft des Dichters und bie 
innere Unruhe, bie ihn umbertrieb, vollfommen hin, ven Entſchluß 


zu dieſer Reife zu erflären. Als Reifegenofien nennt Goethe 


Weyland, ver ihn bei der verwandten Familie Brion eingeführt 
hatte, und ver ihm alfo auch jest noch nicht feine Freundſchaft 
entzogen hatte, und Engelbach (B. 21, 247 f.), während im weis 
tern Berlaufe der Erzählung (B. 21, 257. 260) nur von einem 
Freunde-bie Rebe iſt. Ein am 10. September 1770 an Engel- 
bach gefchriebener Brief! feheint darauf zu deuten, daß dieſer, ber, 
wie Weyland, aus dem untern Elſaß war, feine Studien ſchon 
damals vollendet Hatte, und nicht wieder nach Straßburg zurüd- 
tehrte. Hierfür fpricht nicht allein der Schluß des Briefes, 


* Nach dem Entwurf oder einer Abfchrift bei Schoͤll ©. 47 mitgetheilt. 


39 


welcher Teine Hoffnung auf baldige Rücklehr äußert: „Der ganze 
Tiſch (bei den Jungfern Lauth in Straßburg, in ver Krämergaſſe 
Nro. 13) grüßt Sie. — Leben Sie glücklich! Erinnern Sie ſich 
meiner! erinnern Sie auch meine Freunde ', daß ich noch bin, und 
euch alle lieb Habe“, fondern auch die am Anfange erwähnte 
Nüdjendung von Engelbach's Manufcripten, bie ihm artige Dienfte 
geleiſtet. Engelbach Hatte bie ſämmtlichen Eramina üherftanden 
und war wohl als Licentiat nad; Haufe zurlidgefehrt; Goethe Hatte 
auch jegt ein Examen Hinter ſich, wozu er ſich wohl ver Auszüge 
Engelbachs bebient Hatte, worauf ſich denn die Anfangsworte be- 
ziehen: „Jeder hat feine Reihe in ver Welt, wie im Schönerari- 
tätenfaften. — Nun hab' ich meine Rolle in der Capitelftube auch 
ausgeſpielt.“ Wäre Engelbach im Winterfemefter nach, Straßburg 
zurüdgefehrt, fo würde Goethe wohl die Manufcripte bis zu 
deſſen Rüdkunft zurüdbehalten haben. Wenn nach allem dieſem 
die Erwähnung Engelbach's bei biefer Reife auf’ Irrtum zu ber 
ruhen ſcheint, fo dürfte Goethe hier eine Neife, melde er in Be- 
gleitung dieſes Freundes im Sommer 1770 machte, mit ber loth⸗ 
ringer Reife im Sommer 1771 verwechfelt haben, Dagegen war 
Weyland ohne Zweifel des Dichters Reiſegenoſſe, der auch, wie 
es ®. 21, 249 heißt, in Buchsweiler, feiner Vaterſtadt, ihnen 
(duch eine Kriefliche Anmeldung) eine gute Aufnahme bereitet 
hatte. Lenz; mar durch feine Hofmeifterftelle, die ihn mit ben 
Offizieren in vielfade, fehr zeitraubenbe Berührung brachte, 
zu ſehr an Straßburg gefeſſelt, als daß er fi an ver Reiſe 
hätte betheiligen können. Wber vielleicht begleitete Lerfe, dem 
Goethe im „Götz“ ein ſchönes Denkmal gefegt, die Reiſenden 
wenigſtens bis Buchsweiler, wo auch er zu Haufe war; im leg . 
teen Falle würde and; der Widerſpruch, daß Goethe zuerft von 


! Ohne Zweifel hatte Goethe auf feinen vielfachen Ausflügen and 
Engelbad's DVaterfladt befugt, aus der er anfer Engelbad auch andere 
Studitende kennen gelernt hatte. Vielleicht darf man auf Goethe's Kenntniß 
der Dortigen Berpältniffe auch bie Worte begichen: „Wie Cie Ießen, ver- 
muth ich· 


40 


zwei, bann nur von einem eifegefährten ſpricht, feine Erklä- 
tung finden. . 5 

Am 22. Juni, einem Sonnabend, ritt Goethe mit Wepland 
auf der Straße nad Zabern, von wo fie am folgenden Morgen 
nach Pfalzburg gelangten, wo man ſchon früh um nem Uhr — 
es war ein Sonntag — im Wirthshauſe nach Herzensluft tanzte. 
Goethe bemerkt hierbei: „Da fi die Einwohner durch die große 
Teuerung, ja durch bie drohende Humgersnoth, in ihrem Bergnü- 
gen nicht irre machen ließen, fo ward auch unfer jugenblicher Froh- 
finn keineswegs getrübt, als uns ver Bäder einiges Brod auf bie 
Reife verfagte, und uns in den Gafthof verwies, wo wir es allen- 
falls an Ort und Stelle verzehren dürften.“ In den Jahren 
1770— 1772 herrſchte große Theuerung. ' Wenige Stunben 
darauf gelangten fie nach Buchsweiler, ver Vaterſtadt Weyland's, 
wo fie eines heitern Sonntagnachmittags und- Abends ſich erfreuten. 
Am früheften Morgen des Johannitages (24. Juni) brachen fie 
von Buchsweiler auf, und gelangten nad einem anftrengenven 
Nitte über Petite Pierre (Lügelftein), Sarremmion (Saarwerben 
und Bodenheim), Saaralde und Saargemünd am fpäten Abenb 
nach Saarbrüd, welche Heine Refivenz ihnen wie ein lichter Punkt 
in einem fo felfig walbigen Lande erſchien. Von Hier aus, wo 
der Präſident von Günderode fie hrei Tage bewirthete?, richtete 


Val. Maria Belli „Leben in Frankfurt am Main“ VII, 3°. 6*. 

2 & ergäßft Goethe in Wahrheit und Dichtung“. Aber es muß fehr 
auffallen, daß Weyfand mit Goethe nicht bei feinem Schwager, Brleberifene 
DOpelm, einfehrte. Denn daß der Juſtizamtmann Schöll Fuize Zeit nach 
der Geburt feines Sohnes (1706) als Megierungerath nad Saarhräd be- 
rufen worden, in welder Eigenſchaft er die Einwohner des Meinen Landes 
in ber Hungerperiode von 1770 bis 1772 durch kluge Vorfihtsmaßregeln 
vor dem brüdendften Mangel fligte, mäffen wir dem ſehr genau unter- 
richteteten Rebensbefgreißer Sqchöl's in den „Zeitgenofen" IL, 2, 5 
glauben. Sollte Hier vielleicht die freundliche Aufnahme von Geiten jenes - 
Bräfldenten, dem fie durch den Regierungsrath Schöll empfohlen waren, “ 
mit ber Bewirtung verwehfelt fein, die le bel Meplanı's Schwefer und 





4 





Goethe am folgenden Tage, wo ihn der Regen zu Haufe Bielt, 
an dieſelbe Freundin, welcher er gleich nad dem erſten Beſuche in 
Sefenheim fein Herz eröffnet hatte, ‚einen gleichfalls von Schöll 
mitgetheilten Brief, welcher mit ben. feinen bamaligen Geelenzu- 
fand bezeichnenden Worten beginnt ': „Wenn das alles aufgefchrie- 
ben wäre, liebe Freundin, was ich an Sie gedacht habe, da ich 
dieſen ſchönen Weg hierher machte, und alle Abwechslungen 
eines herrlichen Sommertags in der füßeften. Ruhe genoß, Sie 
würden mandherlei zu lefen haben, und manchmal empfinden, und 
oft lachen. Heute vegnet’s, und in meiner Einfamkeit finde ich 
nichts Reizenvers, als an Sie zu denken, an Sie, das heißt zu- 
gleih an alle, die Sie lieben, die mid, lieben, umb auchefogar 
an Kathchen, von ber ich body weiß, baß fie ſich nicht verläugnen 
wird, baß fie gegen meine Briefe fein wird, was fie gegen mic) 
war, und daß fie — genug, wer fie auch nur als Silhouette ge- 
fehen Hat, der fennt fi.“ Ge weiter fi) Goethe von Straßburg 
entfernte und Frankfurt, wohin er nad zwei Monaten zurüdtehren 
follte, näher rüdte, um fo berzlicher mußte ihn die Erinnerung 
an alle Geliebten, die er dort zurüdgelaffen hatte, ergreifen; vor . 
allem aber mußte er jet ber geliebten Freundin gebenfen, der er ' 
nad dem erſten Sefenheimer Befuch fein Herz eröffnet hatte. Wie 
anders hatten ſich während biefer acht Monate die Verhältniſſe ge- 
ftaltet! Des Dichters damals fo ahnungsvoll bewegtes Herz hatte 


Schwager genoffen? An .eine zeitige Abwefenheit der Familie SABU von 
Saarbrü möchte kaum zu deufen fein. J 

Der Brief trägt das Datum vom 27. Juni, aber es iſt aller Wahre 
ſcheialichtelt nach ſtatt 27 ‘u lefen 25, wie bei hapläffiger Schrift die 
Züge der Zahlen 5 und 7 beim Leſen Teicht verwechfelt werben Können. . 
Das Datum der Ankunft in Bucheweiler ſeht durch die Augabe feſt, daß 
fie an einem Eonntag angefommen; am andern Tage brachen fie in aller 
Srüge auf, und der Weg bis Saarbrüd Fanu fowohl nach der Erzahlung 
in „Wahrheit und Dichtung“, wobei »pne Bweifel ein Reifetagebugp vor- 
lag, wie e& Goethe von früh an zu führen pflegte, als nach dem. Briefe 
felbß und den Entfernungen der Drte nur einen fangen Sommertag in " 
Anfprud genommen haben. 





42 
nad) den reinſten Genüſſen feliger Liebe dem Beſitze der Geliebten 
mit gebrodjenem Herzen entfagen miffen; das ibylifche Seſenheim 
lag jetzt weit Hinter ihm, aber bie Erinnerung trieb feinen Geiſt 
immer wieder borthin zurlick. Und wollte er nicht bald in Saar- 
brüd vor ben Oheim ber Geliebten treten, bei dem er als ein 
Fremd ‚ver Familie eingeführt werben follte! In einem folden 
Augenblide, wo wir ber hingeſchwundenen Freuden wonniger Liebe 
gevenfen, erheben ſich bie Bilder aller glüdlichen Verhältniſſe, 
deren wir uns zu erfreuen hatten, beſonders berjenigen, won denen 
wir eine erfreuliche Fortfegung Hoffen dürfen. Und fo werben 
unfern Dichter damals die Erinnerungen an feine letzte Frankfurter 
Zeit freundlich umſchwärmt und ſehnſüchtig aufgeregt haben, in 
einer zum Theil kindlich naiven, an das für fid) Unbeveutende und 
Kleinliche ſich wunderlich anflammernden und e8 zu einer unver 
hältnigmäßigen Wichtigfeit erhebenven Weife, die, wie Goethe wohl 


‚ fühlte, die Sreunbin leicht zum Lachen bringen konnte. 


„Geftern waren wir ven ganzen Tag geritten,“ fährt ver Brief 
fort, „bie Nacht kam herbei, und wir famen ‚eben aufs Lothring- 
ſche Gebiet, ta die Saar im lieblichen Thale unten vorbeifließt. 
Wie ich fo rechter Hand ber die graue Tiefe Hinausfah, und ber 
Fluß in der Dämmerung. fo graulich und ſtill floß, und linker 
Hand die ſchwere Finſterniß des Buchenwaldes vom Berg über 
mid) berabhing, wie um bie dunkeln Felſen durch's Gebüſch vie 
leuchtenden Vögelchen ftill und geheimnißvoll zogen‘: da wurd's in 
meinem Herzen fo ftill, wie in der Gegend, umb bie ganze Be— 
ſchwerlichkeit des Tags war vergeffen, wie ein Traum, man braucht 
Anftrengung, um ihn im Gedächtniß aufzuſuchen.“ Hier war es, 
wo feine Seele eine Ruhe und einen Frieden genoß, wie fie ihm 
lange fremb gewefen, ba bie Liebe ihn mit ihrer flammenden Glut 


* Auch in „Waprfeit und Dichtung“ (B. 21, 257) gebenft Goethe ber 
„leuchtenden Wolken Jopamniswürmer“, die an den Ufern der Saar zwiſchen 
Bels und Buſch um fie geſchwebt. Goethe nahm auch diefes aus feinem 
Reifetagebuch; "der Entwurf des Briefe befand fi in den Händen ber 
Braun von Stein. Val. Goethes Briefe an biefe T, 102 Note. 





43 


getroffen und geängftige hatte, weshalb er unmittelbar darauf fort- 
führt: „Weldh Gluͤc iſrs, ein Leichtes, ein freies Herz zu haben! 
Muth; treibt und an Befhwerlicfeit, an Gefahren, aber große 
Freuden werben nur mit größer Mühe erworben.“ Dem Dichter 
ſchwebt Hier vor allem bie Liebe vor, deren alle: Kraft raubende 
füße Qualen er diefe Zeit über erlitten hat. „Und bas ift viel- 
feicht das meifte, was ich gegen bie Liebe habe. Man fagt, fie 
made muthig: nimmermehr! fobald unſer Herz weich ift, iſt es 
ſchwach. Wenn es fo ganz warn an feine Bruſt ſchlägt, und bie 
Kehle wie zugefhnürt it, und man Thränen aus den Augen zu 
drücken ſucht, und in einer unbegreiflihen Wonne da figt, wenn 
fie fliegen, o da find mir fo ſchwach, daß uns Blumenketten 
feſſeln, ‚nicht weil fie durch irgend eine Bauberkraft ſtark find, 
fondern weil wir zittern, fie zu zerreißen.“ . Freilich, fährt er fort, 
werbe wohl ber Liebhaber muthig, wenn er in Gefahr komme, fein 
Mädchen zu verlieren, aber biefen Muth gebe nicht die Liebe ein, 
ſondern der Neid, welcher die Geliebte feinen andern überlaffen 
wolle. „Wenn ich Liebe fage, fo verfteh’ ich bie wiegende Em- 
pfintung, in ber unſer Herz fhwimmt, immer auf einem led 
fih hin und her bewegt, ‚wenn irgend ein Weiz es aus. ber ge- 
wöhnlichen Bahn der Gleichgultigteit gerüdt hat. Wir find, wie 
Kinder auf dem Schaufelpferbe, immer in Bewegung, immer in 
Arbeit, und nimmer vom Filed. Das iſt Das wahrfte Bild eines 
Liebhabers. Wie traurig wird bie Liebe, wenn man fo genirt ift! 
Und doch können Verliebte nicht eben, ohne ſich zu geniren.“ 
Nachdem er fo.die Unfreiheit des Liebhabers, der ftets ängſtlich 
und gequält ift, lebhaft gefchilvert, ſchließt er den Brief mit ſchalk⸗ 
haftem Humor, durch welchen er ven Ernſt des vorhergehenben Be- 
tenntniffes ‚zu mildern ſucht. „Sagen Sie meinem Fränzchen 
(wahrjcheinlich die jüngere Fräulein Crespel, nad) oben ©. 4), 


! Der Einn der Worte Kann Fein anderer fein, als biefer, daß große 
Gefahren den Muth gewaltig aufregen, der das Schwierigfte leicht durch- 
dnfegen vermag, wogegen die Erlangung. großer Freuven uns befchwerlich 
wird, und felten gelingt, weil der alles bewälfigende Muth nicht angeregt if. 





4 


daß ich noch immer ihr bin. Ich habe fie viel lieb, und ich är- 
gerte mich oft, daß fie mich fo wenig genirte; man will gebunden 
fegn, wenn man liebt.“ So wenig wir mit Schöll annehmen 
tönnen, Fränzchen fey felbft die Freundin, an welde der Brief 
gerichtet ift, fo -wenig glauben: wir in dem am Schluß gewählten 
Gleichnißbeiſpiel einen zwiſchen dem Dichter und Fränzchen wirt- 
lich ftattgefundenen Vorfall erkennen zu dürfen. „Ich kenne einen 
guten Freund,“ fehreibt er, „deſſen Mädchen oft die Gefälligkeit 
hatte, bei Tiſch des Liehften Füße zum Schemel ver ihrigen zu 


machen. ' Es geſchah einen Abend, daß er aufſtehn wollte, ch’ . 


es ihe gelegen war; fie vrüdte ihren Fuß auf den feinigen, um 
ihn durch biefe.Schmeichelei feſtzuhalten; unglüdlicherweife lam fie 
mit dem Abfag auf feine Zehen: er ſtand viel Schmerzen aus, 
und doch Tante er den Werth einer Gunftbezeugung zu fehr, um 
feinen Fuß zurüdzuziehen.“ So gibt er alfo humoriftifch zu ver- 
ftehn, daß, wie fehr er auch am der qualvollen Unfreiheit. ver 
Liebe gelitten habe, ex doch wünſche, daß die geliebte Freundin, 

die er bald wieberfehn wird, feine Dienfte etwas mehr als bisher 
in Anfprucd nehmen, ihn etwas mehr beſchränken möge. Sein 
Berhältniß zu Friederike, welcher er entjagt hat, konnte bie Freundin 
wohl zwifchen ven Zeilen leſen, wie fie auch die Hervorhebung bes 
Glüdes eines leichten und freien Herzens. als einen ſich felbft vor- 
gefpiegelten Troft feiner liebelranken, ſchmerzlich entfagenben Seele 
empfinden mußte. 

Den breitägigen Aufenthalt zu Saarbrüd und die mannig- 
fachen Bekanntſchaften, bie er bafelbft zu machen Gelegenheit fand, 
benugte der Dichter, auf welchen die Zerftreuung fo fehr wohl⸗ 
thätig wirkte, zu vielfeitiger Belehrung. Am 28. Juni warb bie 
Nüdreife angetreten, und zunächft außer mehreren Maſchinenwerken 
eine Alaunhütte, die Dutweiler Steintohlengrube und bie Friedrichs⸗ 
thaler- Glashütte befucht, worauf bie Reifenden am jpäten Abend 

1 Mg. das in Leipzig entjtandene Gedicht „Wahrer Genuß“ (8. 1, 
34 ff), wo er ſich glüdtich fchägt, wenn bie Geliebte bei wir feine Fůße 
zum Schemel ihrer Füße macht. 


in Neufich, einem am Berge binaufgebauten Orte, einkehrten. 
Aber unfer Dichter konnte andy hier, ungeachtet aller Mannigfal- 
figfeit und aller bunten Abwechölung eines vielbewegten Tages, 
noch feine Raft finden; eine innere Unruhe, die fein Herz an bie- 
fem Abende gewaltfam ergriffen hatte, trieb ihn zu dem auf der 
Höhe gelegenen Jagdſchloß, während ver Freund nad ven An— 
firengungen der Reife fid einem glüdlichen Schlafe überließ. Hier 
faß er in tiefſter Einfamfeit, das unendliche Sterngemwölbe über " 
ſich, weit über Berg und Wälder hinſchauend, vor den. hohen 
Glasthüren auf den um bie ganze Zerraffe hergehenden Stufen 
lange Zeit in fich verfunfen, bis ihn der Ton von ein paar Walb- 
börnern, welche aus ber ferne lieblich herüberſchallten, ans feinen 
räumerif—hen Gedanken aufwedte, und wie mit geheimer Zauber 
traft das friſche, holde Bild Frieberifens, das afmungsvoll in fei- 
nem Herzen gerubt hatte, in Iehhaftefter Erinnerung aufwedte. 
Sofort war der Entſchluß gefaßt, am früßeften Morgen aufzu- 
brechen und vie Rüdreife vafcher zurückzülegen, um jo bald, als 
möglid; ſich ber Gegenwart ber Geliebten wieber erfreuen zu 
dirfen. So ritten fie denn über Biweibrüden, Bitſch, Nieverbrunn 
und Reichshofen bis zu den Hügeln bei Nievermobern, wo bie 
Freunde ſich trennten. Im Nieverbrunn mar es, mo unferm 
Dichter die Idee zu feinem herrlichen Gedichte: „Der Wanderer“ 
aufgegangen feyn möchte: denn feine eigene Befchreibung in „Wahr- 
heit und Dichtung": „Hier in biefen von ven Römern ſchon ange 
legten -Bävern umfpülte mid; der Geift bes Altertfums, deſſen 
ehrwärbige Trümmer in Reſten von Basrelief8 und Inſchriften, 
Sänlenknäufen und Schäften mir aus Banerhöfen, zwiſchen wirth⸗ 
ſchaftlichem Wuft und Geräthe, gar wunderſam entgegenleuchteten,“ 
ſtimmt auf das genauefte zu jenem Gebichte, und ber tief elegiſche 
Hauch, der über demſelben ſchwebt, beſonders aud der Schluß 
findet in der ſehnſuchtsvollen Stimmung, die ihn zu der Geliebten 
trieb, deren Befig ihm doch verfagt feyn follte, feine natürlichfte 
Erklärung. ! . . 

* Das Gevicht erfhlen zuerſt im Göttinger Muſenalmanach auf das 


46 

Noch an demſelben Abend gelangte Goethe, während Weyland 
nad Bucheweiler zurüdtehrte, über Hagenau nach Seſenheim. Auf 
dieſen Beſuch in Seſenheim (Sonnabend den 29. Juni) glauben 
wir dasjenige beziehen zu bürfen, was Goethe won dem zweiten 
Beſuche berichtet, der, wie wir oben ©. 15 fahen, durchaus ver- 
ſchoben und aus zerſtückten Erinnerungen zufammengefegt ift (B. 22, 
5 f): „So ſtark ich auch ritt, überfiel mich doch die Nacht. Der 
Weg war nicht zu verfehlen, und der Mond“beleuchtete mein lei⸗ 
venfchaftliches Unternehmen. Die Nacht war windig und ſchauer⸗ 
lich (2); ich fprengte zu, um nicht bis morgen früh auf ihren Aublick 
warten zu müſſen. Es war fon fpät, als. ih in Seſenheim 
mein Pferb einftellte. Der Wirth, anf meine Trage, ob wohl in 
der Pfarre noch Licht-fey, verfiherte mich, die Frauenzimmer feien 
eben erft nach Haufe gegangen; er glaube gehört zu haben, daß 
fie noch einen Fremden erwarteten. Das war mir nicht recht; 
venn ich hätte gewänfcht, ver einzige zu fein. Ich eilte nad, um 
wenigftens fo fpät nody als ver erfte zu erſcheinen. Ich fand bie 
beiden Schweftern vor ver Thür figend; fie ſchienen nicht ehr ver- 
wundert; aber ich war es, als Friederile Olivien (mie Goethe Die 
ältere Schwefter, Marin Salome, nah Golbfinith's „Lanppfarrer“ 
nennt) in's Ohr fagte, fo jedoch, daß ich's hörte: Hab’ ich's 
nicht gefagt? Da ift er! Sie führten mich in’s Zimmer, und 
ich fand eine Meine Kollation aufgeftellt. Die Mutter begrüßte 
mich als einen alten Belannten; wie mic aber die Aeltere bei Licht 
beſah, brach fie in ein lautes: Gelächter aus: denn fie konnte wenig 
am fich halten.” ' Friederile hatte aus einer beſondern Ahnung 
Iahr 4774. Die „Gpronologie der Entflejung Goethe’fcher Schriften ſeht 
es in das Jahr 1772. Goethe felbft täufchte fih, "wenn er im Jahre 1821 
fagte (8. 31, 154 f.), er habe im „Wanderer ein Gefühl ausgebrochen, 
ohne den finnlichen Eindrud deſſelben vorher erfahren zu haben, und 
wenn er ihn noch fpäter (/Briefwechſel mit Zelter VI, 224) als eine An- 
tieipation ber itallänifchen Reife bezeichnete. 

! Die Veranlaffung zu Ihrem Gelächter, welche Goethe angibt, dab 
es iht luftig vorgefommen, ihn dießmal fo ausgepugt zu fehn, emtbehrt 
aller innern Wahrſcheinlichkeit, und FAN gang, wenn wir zwiſchen die ſem 





47 - 


vorausgefagt, daß Goethe kommen wärbe; ein fympathetiiches Ge- 
fühl Hatte der Geliebten die Anfımft Goethes verkündet, wie biefer 
ſich in tiefer, einfamer Nacht geheimnißvoll zu ihr Hingezogen gefühlt 
hatte. Wir dürfen hierbei am bie fpätere Aenferung Goethe's 
gegen Edermann (II, 201) erinnern: „Unter Liebenden ift biefe 
magnetiſche Kraft beſonders ſtark, und wirkt foger in bie Ferne 
Ich babe in meinen Yünglingsjahren Fälle genug erlebt, mo auf 
einfamen "Spaziergängen ein mächtiges Berlangen nad) einem ge- 
Tiebten Mäbchen mid, überflel, und ich fo lange an fie dachte, bis 
fie mir wirklich entgegenfam. Es wurbe mir in meinem Stubchen 
unruhig, fagte fie; ih konnte mir nicht helfen, ich mußte hierher.“ 
Eines wunderlich weiſſagenden Geſichtes beim letzten Ritte zur Ge- 
liebten gedenken wir weiter unten. 

Auf dieſen von Friederile geahnten Beſuch will Viehoff das 
Gedicht „Willlomm und Abſchied“ beziehen, welches in ver erſten 
Faffung alfo lautet: ” 


Mir ſchlug das Herz: geſchwind zu Pferde, 
Und fort, wilb, wie ein Helb, zur Schlacht! 
Der Abend wiegte ſchon bie Erbe, 

Und an ben Bergen hing bie Nacht. 

Schon fund im Nebellfeid bie Eiche, 

Ein aufgetbiirmter Rieſe, da, 

Bo Finfterniß ans bem Geftrände 

Mit hundert ſchwarzen Augen fah. 


Der Mond von feinem Wollenhügel 
Schien kläglich aus dem Duft hervor; 
Die Winde ſchwangen leiſe Flügel, 
Umfauften ſchauerlich mein Ohr; 


und dem erſten Beſuche mehrere andere annehmen müſſen. Die ältere 
Schweſter, welche lange angehalten, plapte plöglich mit ihrem Lachen here 
vor, als fie nun beim hellen Kerzenfheine, um fich ganz zu überzeugen, 
dem Angefommenen in's Geficht fah. 

So, nicht Willtommen, ſteht in ver erſten Ausgabe der Gedichte. 


- 48 
Die Nacht ſchuf taufend Ungeheuer, 
Doch tauſendfacher war mein Muth; 
. Mein Geift war ein verzehrend Feuer, 
Mein ganzes Herz zerfloß in Glut. 


Ich ſah dich, und die milde Freude 
Bloß aus dem füßen Blick auf mich; 
Ganz war mein’ Herz an beiner Seite, 
Unb jeber Athemzug für bich. 

Ein rofenfarbes Frühlingsmwetter 

2ag auf bem lieblichen Geficht, 

Und Zürtlichfeit für mich — ihr Götter!" 
Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht. 

Der Abſchied, wie bebrängt, wie trübe! 
Aus deinen Blicken ſprach dein Herz; 

Im beinen Küffen, welche Liebe! 

O welche Wonne, welcher Schmerz! 

Du gingft, ich Mund und fah zur Erben, 
Und fah die nach mit nafjem Blick: 
‚Und doch welch Glück geliebt zu werben, 
Und Tieben, Götter, welch ein Glück! 


Aber Viehoff überficht, daß er das Gedicht auf biefe Weile in 
eine Zeit fegt, wo Goethe nach feiner eigenen Annahme (I, 343) 
ſich noch aller Küffe Friederikens aus abergläubifcher Furcht ent- 
halten hatte, fo daß er bie Liebe, die Wonne und ven Schmerz, 
die in biefen lagen, noch nicht gefühlt Hatte, wonach bie legte 
Strophe gegen die Wirklichkeit verftoßen würde. Dazu kommt, 
daß nad) Goethe's eigener Erzählung (B. 22, 11) Friederike un- 
fern Dichter damals in froher Zuverficht ihres Glüdes entließ, fo 
daß der Abſchied keineswegs „bebrängt und triib" war. Auch auf 
teinen fonftigen Beſuch Goethes in Sefenheim ſcheint das Gebicht 
recht zu paffen, weshalb wir zu ber ſchon oben ©. 25 gemachten 
Annahme greifen müffen, e8 fei zwar zur Beit des Sefenheimer 
Berhältniffes gefchrieben, aber nicht perſönlich am Friederile ge- 
richtet, 





49 


Der Beſuch auf der Ruckreiſe von Saarbrüd fcheint ein ſehr 
kurzer geweſen, und Goethe ſchon am folgenden Abend, Sonntag 
den 30. Iuni, ober am Morgen des 1. Zuli nach Straßburg zu⸗ 
rüdgefehrt zu ſeyn. War auch die Trennung von ber Geliebten 
längft entſchieden, fo konnte der junge Dichter fi dod unmöglich 
den Genuß verfügen, fie in ihrer idylliſchen Umgebung wieberzu- 
fehn und ſich ihres unenblichen Liebreizes zu erfreuen. Zu gleicher 
Zeit vernahm er, daß die Mutter mit ihren beiden älteren Töch- 
tern ihren Berwanbten in ber Gtabt auf vielfades wiederholtes 
Dringen einen kurzen Beſuch zugefagt hatte, was unferm Dichter, 
wenn er auch wohlerfannte, daß die Stabt für das geliebte Mäd— 
hen nicht die vortheilhaftefte Stelle fei, doch darum fehr erfreulich 
feyn mußte, weil ihm hierdurch die Wonne ihrer Gegenwart auf 
unverhoffte Weife längere Zeit gewährt wurde. So fehen wir 
denn bald darauf, wohl nod in ver erften Hälfte Iuli, Mutter 
und beide Töchter in Straßburg im Kreife ver Verwandten, bei 
denen auch Goethe wohl ſchon früher freien Zutritt hatte. Auf 
das Zureben berfelben wurde der anfangs nur auf wenige Tage 
beftimmte Aufenthalt auf furze Zeit verlängert, zur größten Dual 
der äftern Schwefter, welche fi in biefen Umgebungen und dem 
gebundenern ftäbtif—hen Leben unbehaglih fühlte, wogegen Brieve- 
rile ſich auch hier, wenn gleich es ein ihrem natürlichen Weſen 
weniger zufagendes Element war, frei und ungezwungen bewegte, 
wie fie aud den Geliebten anf vie ihrem Verhältnifie angemeffenfte 
Weiſe zu behandeln wußte, indem fie ihm feinen andern. Vorzug 

einräumte, als daß fie an ihn eher al an einen andern ihre 
Wünfche richtete, und ihn dadurch als ihren Diener anerkannte. 
In „Wahrheit und Dichtung“ . erzählt uns Goethe ſelbſt (®. 22, 
27 f.), er habe, da die ältere Schwefter ſich in die Stabt nicht 
zu finden gewußt, fo daß bei längerm Verweilen ein leidenſchaft⸗ 
licher Ausbruch ihres gequälten und geängfteten Herzens zu fürchten 
geweſen, felbft bie Abreiſe zu befchleunigen geſucht, und es fei 
ihm wie ein Stein vom Herzen gefallen, als er fie abfahren ge- 
fehen. Hiermit fteht aber in entſchiedenem Widerſpruch ein aus 


Dünger, Erauenbilder. 3 4 


50 
Friederilens Nachlaß erhaltenes Gedicht, welches uns einen rich⸗ 
tigern Bli in die Zeit jenes Aufenthaltes der Geliebten zu Straß- 
burg thun Täßt, als die fpätere Erzählung, welche ver Dichter, 
„ba ihm fein Gedächtniß A den Dienſt verſagte, auf ſeine Weiſe 
ausſchmückte. 


Ach, biſt du fort? Aus welchen güldnen Träumen 

Erwach id) jegt zu meiner Dual! 

Kein Bitten hielt dich auf; du wollteſt doch nicht fäumen, ® 
Du flogft davon zum zweiterrmal! 


Zum zweitenmal ſah ich dich Abjchied nehmen , 

J Dein göttlich Aug’ in Thränen ſtehn 
Sie beine Freundinnen — des Junglings ſtummes Grämen 
Blieb unbemerkt, warb nicht geſehn. 


O warum wanbteft du bie holden Blide 

Beim Abſchied immer von ihm ab? 

O warum ließeft bu ihm nichts, ihm nichts zurlide, 
Als die Verzweiflung und da8 Grab? - 


Wie ift die Mimterfeit von-ihm gewichen! 

Die Sonne fepeint ihm ſchwarz, ber Boden leer; 

Die Bäume bluͤhn ihm ſchwarz, die Blätter find verblichen, 
Und alles weltet um ihn ber. " 


4 Biehoff meint, dieſes Gedicht klinge, wie der forzirte Richesaushend 
eines ber alltäglichfien Verfemacher, und man wärbe bie Aechtheit deſſelben 
begweifeln bürfen, ſchiene dieſe nicht fo gut verbürgt. Schaefer verwirft es, 
da es weder mit Goethes Erzäplung in Einklang zu bringen fei, noch 
feiner Form nad) ale Goethes Werk gelten Könne. Aber in lepterer Ber 
siehung dürfte das frühere Lied „Erwache, Friederike,“ nicht viel beffer 
fein, und der Widerſpruch erklärt ſich leicht durch unſere oben gemachte 
Annahme, abgeſehen davon, daß es nicht wohl angeht, ein aus fo ſicherer 
Duelle ſtammendes Gedicht gerabegu zu verwerfen. 

2 Im „Morgenblatt" fieht ©. 3 dich ſtatt doc, V. 48 Thal Ratt 
Bogengang. Der dritte Vers hat mit Ausnahme der fechsten und fiebenten 
Strophe ſiebtehalb Buß, der erſte glelch viel nur Strophe 5, 6 und 8, 
fon einen Fuß weniger, der zweite viermal, wie ber entſprechende vierte 
Bers, vier Füße, dagegen fünf in Strophe 4—7. . 


\ 


51 


Er fäuft in Gegenden, wo er mit bir gegangen, 

Im krummen Bogengang, im Wald, am Bach, 

Und findet dich nicht mehr, unb weinet voll Verlangen 
Und voll Verzweiflung dort bir nach. 


Dann in die Stabt zurüd — doch bie erweckt ihn. Grauen, 
Er findet dich nicht mehr, Volllommenheit! ” — 
Ein anbrer mag mad} jenen Puppen ſchauen, ’ 
Ihm find die Närrinnen verleiht. 


O laß dich Doch, o laß dich doch erflehen, 
Und ſchreib ihm einmal nur, ob bu ihn liebſt! 
Ach, ober laß ihm mie dich wieberfehen,, 

Wenn bu ihm biefen Troft micht gibſt! 


Wie? nie dich mwieberfehn ? — Entſetzlicher Gebanfe, 
Ström' alle deine Dual auf mich! 
Ich filhl, ich fühl' ihm ganz, es ift zu viel, ich wante, 
Ich ſterbe, Graufame, für dich! 
Der Liebhaber mag in den letzten Tagen, beſonders ba ihn die 
Vorbereitungen zur baldigen Promotion brängten, mehrfach ver- 
ftimmt geweſen ‚fein, und feine Laune auch Friederilen haben fühlen 
laſſen, wie er es in Leipzig bei feinem Käthchen gethan. Wenn 
num Friederile, die ſchon einmal, nachdem fie bereits Abſchied ge- 
nommen, buch die Verwandten zu längerm Bleiben beftimmt wor- 
den war, beim Abſchied ihn weniger als die Freumbinnen berück- 
fihtigte ', fo mußte dies in feiner Bruſt die grimmfte Dual auf- 
regen, ba er ihre burd; die Verhältniſſe bebingte Zurüchaltung 
4 für Gleichgültigkeit hielt. Im erſten Schmerze hierüber, den er 
vergebens zu bemeiſtern ſuchte, warf er die vorliegenden Zeilen 
hin, die in Briefform an das geliebte Mädchen gelangten, in 
deſſen Begleitung er manchen Ausflug in die nähere Umgebung 
Straßburg's gemacht hatte. 
1.3 Habe ſchon fräher auf bie ganz Ahnlide Gtelle in Werthers 


Brief vom 8. Juli aufmerffam gemacht. Bgl. meine „Stadien zu Gvete's 
Werken" ©. 129 Note 2, auch ©. 128 Note 2. ” 


52 


Deh Schmerz der Trennung ſcheint bald barauf das tolle 
Treiben, zu welchem Lenz bie Freunde verleitete, wie auch mannig- 
fache Ausflüge, deren wir B. 22, 59 f. gebacht finden, und bie 

_Borbereitungen zur Promotion verfcheucht zu haben. Letztere fanb 
am 6. Auguft, einem Dienftage, ftatt, wobei, wenn ber fonft fo 
unzuverläfiige Böttiger hier Glauben verbient, Lerſe ven fchärfften 
Opponenten machte, was an fid nicht unwahrſcheinlich ift, da ein 
ſolcher bieverer Charakter an einem leeren Schaufampfe, wie bie 
Promotionen ihn gemeinhin bieten, am wenigften Freude finden 
Tonute, fonbern die Sache ernftlich betreiben mußte. Daß Goethe 
damals nur den Grad eines Fizentiaten erhielt, durfte man mit 
Recht aus einem von Frankfurt aus an Salzmann gerichteten Ant- 
wortfcpreiben fließen, in welchem «8 heißt: „Lieber Mann! Der 
Pedell hat ſchon Antiyort: Nein! Der Brief kam etwas zur unge: 
fegenen Zeit, und aud das Beremoniel weggerechnet, ift mir's 
vergangen, Doktor zu ſeyn. Ich hab’ fo fatt am Lizentiaten, fo 
fatt an aller Ptaxis, daß ih nur höchſtens bes Scheins wegen 
meine Schulvigfeit thue, und in Deutſchland haben beide gradus 
gleichen Werth. — Ich danke Ihnen für Ihre Vorſorge; wollten 

Sie das mit einem Höflihfeitsfäfthien dem Heren Profeffor an- 
deuten, würden Sie eine Nachpoft bringen, fo viel als eine Ge- 

legenheitsviſite“ Schaefer hat aber feltfam genug dieſen Brief ver- 
dächtigt, weil der Hergang ber Promotionsförmlichteit jo einfach 
fei und diefer Brief nach Goethes Rückkehr in die Vaterſtadt ohne 
Sinn fein wilrde. Aber zum Ueberfluffe ergibt ſich die Richtig 
keit jenes Briefps und daß Goethe zuerft wirklich nur Lizentiat ge- 
worden, aus ber Ueberfchrift der in Hirzel's „Fragmenten aus 
einer Goethe» Bibliothek“ ©. 4 ff. abgevrudten Theſen; diefe lautet 
nämlih: Positiones juris quas — pro licentia summos in 
utroque jure honores rite 'consequendi — publice defendet 
Jvannes Wolfgang Goethe. Wenn Goeihe auch auf bie erfte 
Anfrage Salzmann's, die wohl im Dftober erfolgte, die Exlan- 
gung. der Doftorwürbe ablehnte, jo werben ihn doch bie Vorftel- 
kungen Salzmann's und feines Waters bald darauf zur Wenterung 





’ 


53 - 


feines Entſchluſſes vermocht haben. Daß Goethe wirklich Doktor 
geworben, ift unzweifelhaft, da ex ſich ſelbſt fo unterfchräibt' und 
die Eltern ihm diefen Titel beilegen, er auch in amtlichen Akten- 
ftüden Doktor heift. - 
Nachdem er noch einige Zeit auf vielfachen Ausflügen in bie 
ſchöne Umgebung manche heitere Tage mit feinen Freunden verlebt 
Hatte, fühlte er ſich endlich gedrungen, von frieberife perſönlich 
Abſchied zu nehmen. „Es waren peinlihe Tage,“ eizählt er im 
„Wahrheit und Dichtung“ (B. 22, 63), „deren Erinnerung mir 
nicht geblieben ift. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, 
fanden ihr die Thränen in den Augen, und mir war fehr übel 
zu Muthe.“ Dem Vorabend jenes Befuches ſcheint uns folgender 
auf einem Ouartblatt von blauem Konzeptpapier gefchriebene Brief 
an Salzmann anzugehören: „Die Augen fallen mir zu; es iſt erft 
neun. Die liebe Orbnung! Geftern Nachts geſchwärmt, heute 
früh von Projekten aus dem Bett gepeitſcht. O! es fieht in meinem 
Kopfe ans, wie in meiner Stube; ich kann nicht einmal ein Etüd- 
hen Papier finden, als biefes blaue. . Doch alles Papier ift gut, 
Ihnen zu fagen, daß ich Sie liebe, und dieſes boppelt; Sie 
wiffen, wozu es beflimmt mar. — Leben Sie vergnügt, bis ich 
Sie wieverfehe! In meiner Ceele iſt's nicht ganz heiter; ih bin 
zu ſehr wachend, als daß ich nicht fühlen follte, daß ich nach 
Schatten greife. Und doch — morgen um fieben Uhr ift das 
Pferd gefattelt, und dann Adieu!“ Man ninmt allgemein an, 
“ver Brief fei von Sefenheim aus gefchrieben; aber wohin ging 
dann bie Reiſe, von welcher hier Rede ift? Nah Straßburg un= 
möglih, da er ja von Salzmann Abſchied nimmt, und er, wäre 
ev borthin geritten, vor dem Briefe angefommen ſeyn würde. Bie- 
hoff greift deshalb zu ber wunberlichen Annahme, das Pferd ſey 
zu ber Reife nach Saarbrüd gefattelt geweſen, die fi ummittel- 
bar an den Pfingftaufenthalt zu Sefenheim angefchlofien, was 
nicht allein mit der Erzählung in „Wahrheit und Dichtung“ ine 
! Dgl. die Anzeigen Goethes vom Jahre 1774 in ber Schrift 
„Leben in Srankfurt am Mein" von Frau Maria Belli VI, 56. 59. 


54 


Widerſpruch fteht, fondern auch jenen Aufenthalt zu Sefenheim in 
einer Weife verlängern würde, bie aller Wahrſcheinlichkeit zuwider 1 
ift; denn mehr als vier Wochen vor Pfingften war Goethe nach . | 
f ‚Sefenheim gelommen, zwifchen Pfingften aber unb dem 22. Iuni, 
dem Anfang jener Reife, liegen fünf Wochen. Auch zeigt ver 
ganze Brief, beſonders das Adieu am Schluffe, und bie Worte 
bis id Sie wiederfehe, daß Goethe von-Straßburg, dem 
Wohnorte Salzmann’s, verreiste. Iſt aber ver Brief von Straf- 
burg aus gefchrieben, jo fält ſchon hiermit die Anmahme, das 
blaue Konzeptpapier, auf welchem er fteht, fe der Umfchlag von 
den Zuderwaaren, die Salzmann unferm Dichter nach Sefenheim 
für die Mädchen geſchickt hatte, da er dieſes Papier body nicht nad) 
Straßburg mitgenommen haben wird. Goethe übergab ben Mäd— 
hen ohne Zweifel die ganze Schachtel mit den Zuderiwanren und _ 
dem Papier, in weldes fie gepadt waren, Auch hätten bei jener “ 
Annahme die Worte: Und diefes (ift) Doppelt (gut, Ihnen zu 
fagen, wie id Sie liebe); Sie wiffen, wozu es beftimmt 
war, keinen Stun, ba das Zuderpapier ohne Zweifel feine. Be- 
ſtimmung erfüllte. Tragen wir aber, wozu benn jenes blaue Pa- 
pier urſprunglich beftimmt geweſen, fo drängt fi die Bermuthung 
auf, daß es als Kouvert dienen follte, wie Goethe fih auch fpäter 
blauer Kouverte bebiente, und zwar als Kouvert zu einem Briefe 
an Friederike; daß er dieſes urſprünglich an die Geliebte beſtimmte 
Blatt an Satzmann fandte, mußte diefem doppelt fagen, daß er 
ihn liebe. Hieran ſchließt fih num bie fernere, ſich von felbft er- 
gebende Vermuthung, Goethe habe von der Geliebten ſchriftlich Ab- 
ſchied nehmen wollen, ben Brief ſchon fertig gehabt und eben im 
Begriffe geftanden, ihn zu. kouvertiren, als Salzmann bei ihm 
einſprach, und ihm beftimmte, ſich perſönlich von der Geliebten zu 
verabſchieden. Mit diefem Gevanfen mag er ſich mehrere Tage 
getragen haben — und dieſer Gedanke, fo wie die Art der Rück- 
reife und des Abſchiedes von Straßburg, vielleicht auch feine Be— 
trachtungen über den Straßburger Münfter, bie ihn kurz vor feiner 
Abreiſe befhäftigten (B. 22, 62 f.), mögen bie Projefte gemefen 


55 . 





fein, die ihm ans bem Bett gepeitſcht; dann aber ergriff es ihn 
auf einmal mitten im tollen Schwärmen, und er fonnte dem 
Triebe nicht wiberftchn, am andern Morgen zur Geliebten zu 
eilen. * Der Abſchied war ein iramiger, ba die Geliebten 
mur zu ſehr empfanden, welden Himmel veinfter Seligkeit fie 
am einander verloren. Goethe mußte ſich als ſchuldig erfennen, 
daß er biefes ſchöne Herz, das zum heiterften Lebensgenuſſe be- 
ftimmt ſchien, fo ſchmerzlich zerriffen, indem er Unforberungen 
und. Triebe erwedt und genährt hatte, die bei ihm feine Be— 
friedigung finden konnten. Aber fein Vorwurf traf ihn von 
Seiten Friederikens, welche felbft in der unbeſonnen gehegten Lei- 
denſchaft das höchſte Glück der Liebe gefunden, deren Verluſt fie 
freilich ſo bitter empfinden ſollte: ſie wollte und konnte den Mann 
ihres Herzens nicht halten, dem es an Muth fehlte, mit der Welt 
zu brechen, und ſich ein eigenes, freies Dafeyn zu ſchaffen, der 
ven heben Zufammenftoß mit dem äußern Leben mied, weil er 
ſich zu vollſter geiftigen Ausbildung, zu dichteriſcher Durchempfin- 
dung und Reinigung aller leivenfchaftlichen Gefühle getrieben fühlte, 
der ſich nach einem höhern Sterne fehnte, nach welchem Herz und 
Auge in glühender Liebe hinſchauten. Als er, von Seſenheim 
zurüdtehrend, ven Pfad nad) Drufenheim ritt, fühlte er fi) von - 
einem fonderbaren zweiten Geficht überraſcht, das den Schmerz 
des Scheivens einigermaßen milderte. „IH ſah nämlich," erzählt 
er B. 22, 63, „nicht mit den Augen des Leibes, fonbern bes 
Geiftes, mich mir felbft wieder entgegenkommen, . und zwar in 
einem Kleide, wie ich es nie getragen; es mar hechtgrau mit etwas 
Gold. Sobald id mic aus biefem Traum auffdüttelte, war bie 
Geſtalt ganz hinweg. Sonderbar ift e8 jedoch, daß ich nad acht 
Jahren (auf ver Schweizerreife) in dem Kleide, das mir geträumt 
hatte, und das id) nicht aus Wahl, ſondern aus Zufall gerade trug, ? 

! Wir haben fhon früher die Aehnlichleit mit Werther bemerkt. 
Man vergleiche deſſen Brief vom 16. Juni. 

? In Srankfurt, wo die Reiſenden zuerft nicht mehr incognito auf- 
treten fonnten, hatten wahrſcheinlich Goethe und bes Herzog fih einen neuen 


: 56 


mich auf demſelben Wege fand, um Friederiken noch einmal 
zu beſuchen.“ Wenn Goethe in dem Briefe an Frau von 
Stein, in welchem er dieſen Beſuch in Seſenheim beſchreibt, nicht 
des ſonderbaren Eintreffens jenes zweiten Geſichts Erwähnung thut, 
fo mag dies ſich aus der Fülle reichſtrömenden Stoffes erklären, 
die er kaum zu bewältigen wußte: denn wie viel hatte er in jenem 
Briefe der Freundin zu erzählen! 

Nur noch wenige Tage nach der Rüdkehe von. Sejenheim 
ſcheint Goethe in Straßburg verweilt zu haben, von wo er an 
einem trüben, rauhen Tage folgendes "in Friederikens Nachlaſſe 
aufgefunbene Gedicht an die Geliebte fandte, in welchem ſich ber 
ganze tiefe Schmerz der- Trennung ſcharf ausprägt: 


Ein grauer, trüber Morgen 
Bededt mein liebes Feld; 
Im Nebel tief verborgen 
Liegt um mich ber bie Welt. 
O lieblice Friedrrife, 
Duüurft' ich nach dir zurück! 
Im einem beiner Blicke 
Liegt Sonnenſchein und Glüd. 


Der Baum, in beffen Rinde 
Dein Nam’ bei deinem fteht, * 


Anzug nach der bamaligen Mode machen laffen. Gtuttgart, wo Böttiger 
alle Echne ider Tag und Nacht an ben Hofkleibern für den Herzog und feine 
Begleitung arbeiten läßt (Literarifhe Zuſtände I, 55), berährten bie Rei- 
fenben erft nach Goethes Beſuch in Seſenheim, als fie aus der Schweiz 
surädgefehet waren. Im Herbft 1775 ſchaffte Goethe ſich einen in Lyon ges 
Rickten grauen Rod_mit blauer Borbäre an (Brief an Augufte Stolberg 
dom-21. September), wonach man fließen khante, daß er bie grane Farbe 
geliebt habe, aber wahrſcheinlich war diefe damals Modefarbe. 

* Offenbar iR bier an einen Banm in ber Nähe von Straßburg 
(nicht zu Seſenheim) zu denken, deſſen nächte Umgebung bei ben beiden 
erſten Strophen vorſchwebt. Zu Leipzig hatte er den Namen feines gelichten 
Kätäihens (Wenncyene) oberhalb des feinigen in einen Lindenbaum einger 
fönitten (8. 21, 77 f}; 








57 


Wird bleich vom rauhen Winde, 
Der jede Luft verweht. 
Der Wieſen grlner Schimmer 
Bird trüb, wie mein Geficht; 
Sie fehn die Sonne: nimmer , 
Und id) Friedriten nicht. 
Bald geh’ ich in bie Reben, 
Und Herbfte Trauben ein; , 
Umber ift alles Leben, 
Es ſprudelt neuer Wein. ! 
Doc; in ber äben Laube, 
Achi dent' ich, wär fie hier! 
Ich gäb’ ihr dieſe Traube, 
Unb fie — was gäb' fie mir? 2 


ge näher die Abreiſe Goethe's rüdte, um fo mehr brängte ſich 
Lenz au unfern Dichter an, ven er in feinem Liebesſchmerz zu 
teößen ſuchte. In dieſem Sinne fchrieb er folgende Berfe: 
Freundin ans der Wolke. 
Wo, du Reuter, 
Meinft du hin? 


4 Der Dichter gedenkt ‚hier der gu Frankfuri mit größtem Jubel ger 
feierten Weinlefe, wie er fie ſelbſt 8. 20, 187 f. (man vergleiche die Ber 
ſchrelbung in „Hermann und Dorothea“ B. 5, 31}- barfellt, und feine 
Mutter in einem Briefe au die Herzogin Amalia vom Jahre 1785 (Weir 
mars Album ©. 148). Val. Goethe's Briefwehfel mit einem Kinde 
11, 258. Goethes Vater befaß vor bem Priebberger Those einen fehr gut 
erhaltenen Weinberg. 

? Man vergleiche den Schluß des erſten Briefes an Friederike: „Ihrer 
lieben Schwefter viel hundert — was ich. Ihnen gern wiebergäbe.“ 

® Sieerfihienen in 3. G. Jacobls „Iria“ IV, 72 mit der Unterſchrift ®., 
welche die meiften Gedichte Goethe's In diefer Zeitfihrift Haben. Aber in 
dem hinter ber Juhaltsanzeige des vierten Bandes ber „Iriß“ gegebenen Drud. 
fehlerverzeichniffe wird B. ale Drudfehler für 2. angegeben. Der Jerthum 
entftand wohl daher, daß Goethe dieſes und andere Gedichte von Lenz an 
Jacobi mitgeteilt hatte, Die Freundin aus der Wolke Fan offenbar nur 
Brieberite fein. 


58 





Kannft bu wähnen, 
Ber ich bin? 

Leif umfafl’ ich 
Die) als Crift, 
Den bein Trauern 
Bon ſich weit. 

Sei zufrieden, ° . 
Goethe mein! 
Wiſſe, jebt erft 
Bin ich dein — 
Dein auf ewig, 
Hier und dort, 
Alfo wein' mich 
Nicht mehr fort! 


Bor feinem Abgange von Strafburg ſchenkte Goethe Lenz ein 
Exemplar von Shafefpeare's Othello, mit ver Widmung: „Seinem 
und Shakeſpeare's wurdigen Freunde Lenz Goethe“, worunter Lenz 
bie Worte fegte: „Ewig, ewig bleibt mein Herze dein, mein lieber 
Goethe!" ' Im vierten Bande der „Iris“ findet fih ©. 147 fol 
gendes Heine Gedicht, welches Lenz nicht bei Goethe's Abſchied, 
wie Stöber ſagt, fondern nad} deſſen Rückehr zur Vaterſtadt ſchrieb, 
und an Goethe überfanbte : 


Dentmal der Freundfchaft. 


Auf eine Gegend bel St—g (Straßburg). 2 


Ihr ſtummen Bäume, meine Zeugen, 

"Ag! Mm’ er ohngefähr 

‚Hier, wo wir faßen, wieder her, \ 

Konnt (Könnt) ihr von meinen Thränen ſchweigen ? 


! Vgl. Stöber „Der Dieter Ley" ©. V. 
Vielleicht am Contade, einem Spayiergang bei Straßbutg. Bol. das 
Gedicht von Lenz: „In einem Gärtchen am Gontader bei Stöber ©. 89 f. 


59 


2.'an G. 


Gegen den 25. Auguft, nicht erft im September, wie Schae- 
fer fagt, ſcheint Goethe Straßburg verlaffen zu haben, fo daß er 
vielleicht gerade an feinem Geburtstage, auf welden er gern eine 
beveutende Handlung verlegte”, in feiner Vaterſtadt zurückkehrte, 
wo er bereit am 31. Auguft als Advokat vereibigt wurde. Die 
letztere Angabe entnehmen wir bem Brankfurter „Raths- und Stabt- 
Kalender“, in welchem Goethe immerfort, bis ihm das Frankfurter 
Bürgerrecht genommen warb, unter den Advocati Ordinarii Ju- 
rati aufgeführt wird. 

Bon dem tiefen Kummer, welder Friederilen dem Tode nahe 
brachte, follte Goethe bald darauf durch ihre Antwort auf feinen 
Testen fchriftlichen Abſchied (vielleicht das Gedicht: „Ein grauer, 
trüber Morgen”) auf herzzerreißende Weiſe unterrichtet werben. 
„Es war dieſelbe Hand, derſelbe Sinn, daſſelbe Gefühl, bie ſich 
zu mir, bie fih an mir herangebilvet hatten. Ich fühlte num erſt 
beit Berluft, den fie erlitt, und fah feine Möglichkeit, ihn zu er- 
jegen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; 
ftets empfand ich, daß ich ihr fehlte, umb was das Schlimmfte 
war, ich konnte mir mein eigenes Unglüd nicht verzeihen. — Ich 
hatte das ſchönſte Herz in feinem Tiefften verwundet, und fo war 
die Epoche einer büftern Neue, bei dem Mangel einer gewohnten 
erquicklichen Liebe, höchſt peinlih, ja unerträglich.“ An einen 
fortgefetsten Briefwechfel, der für beide Theile nur ſchmerzlich und 
zwedllos gewefen fein würde, ® war unter biefen Umſtänden nicht 
zu denken, dagegen bewahrte der Dichter das Bild ver Geliebten 


* Bon ber Hagen war unglüdlich genug, bei 2. an die Weplarer Lotte 
zu denfen. 

3 Un feinem Geburtstage hatte er vor. vier Jahren Leiptig verlaffen, 
un wahrfpeinlic war «8 derſelbe Tag, an welchem er ein Jahr foäter 
von Weplar flüchtete. 

® In einem Briefe an Salzmann, etwa vom Anfang November, bittet 
er diefen, am ®rieberife einige Kupfer zu fhiden mit. ober. ohne ein 
Zettelchen, wie Sie wollen“, 


60 


in treu anhänglichem Herzen, und er unterließ nicht, im „Götz“, 
von weldem er ſchon am 28. November Salzmann Nachricht gibt, . 


in ber Darftellung des treulofen Weislingen eine poetiſche Buße 
zu üben. Die Dramatifivung ber Lebensbefchreibung des alten 
Götz war es allein, bie ihm noch eine wahre Freude zu fchaffen 
vermochte, da ihn weder feine beginnende Praris, an welcher ber 
Vater mehr Antheil nahm, als er felbft, noch das frankfurter Le— 
ben ernftlich anzuziehen vermochte, Erſt mit- bem Anfange des fol- 
genden Jahres ſcheint der Ueberdruß am Leben ihn verlaflen zu 
haben, und als er darauf um Oftern. 1772 nad; Wetzlar ging, 
zitterte ber Schmerz um bie früh verlorene „Geliebte nur noch in 
ieiſen Schwingungen nad), bis bald darauf eine neue, ganz uner- 
wartete Leidenſchaft ſich feines Liebebebürftigen Herzens bemädhtigte. 

Während Goethe auf biefe Art eine neue Entwidlung feiner 
Seele exleiven follte, hatte ‚ver wunderliche Renz, ver fi in vie 
Geheimniffe unferes Dichters eingebrängt hatte, in Sejenheim ven 
jeltfamften Roman- in tollfter Intriguantenweife anzufpinnen be- 
gonnen. Im Frühjahr 1772 war Lenz mit dem jüngern, feiner 
Leitung anvertrauten Herrn von Kleiſt nad) der in der Nähe von 
Sefenheim auf einer Nheininfel gelegenen, 1689 erbauten, jet 
zerftörten Feſtung Fort⸗Louis gezogen, an welchem Orte er die 
Belanntſchaft des alten Brion machte, deſſen Einladung er bald 
darauf folgte, wo er denn von ber patriardhalifhen Familie auf 
das freundlichfte aufgenommen wurde. Aber fein unwiderſtehlicher 
Hang ‚zur Intrigue regte gleich in ihm den Gevanfen auf, das 
"Andenken an Goethe aus Friederikens Bruft zu verdrängen und 
die Liebe zu ihr, gleichfam um jenen zu überbieten, zu halbem 
Wahnfinn zu fteigern. Man erinnere fi) deſſen, was Goethe von 
feiner Intriguenfucht bemerft (B. 27, 470), und wie er um das 
‚Herz ber Geliebten feinem ältern abweſenden BZögling zu erhalten, 
ſich ſelbſt im’ diefe verliebt ftellte oder wirklich verliebte (B. 22, 
187 f.). Er hatte ſich in Sefenheim glei als Freund Gocthe's 
und Salzmann's eingeführt, und ber liebesfranfen Friederile, in- 


dem er diefe von Goethe unterhielt und ihrem Herzen ſchmeichelte, 


61 

von feiner eigenen Liebe vorgefproden, mas biefe freundlichſt ab- 
zulehnen ſuchte, wenn fie ſich auch in mande wunerliche Laune 
des geiftreihen, aber excentriſchen Menfchen fügte, um nicht zu 
einem leidenſchaftlichen Ausbruche feiner Tollheit Veranlaſſung zu 
geben. Zu verwundern iſt es hierbei keineswegs, daß der ei 
bildiſche, feinen wqhngeſchaffenen Traumbildern verfallene Lenz 
ſich der wirklichen Liebe Friederilens verſichert hielt, während dieſe 
in ihrem ſtillen Schmerze ſein Liebesgebaren leiſe ablehnte und 
feine phantaſtiſch geſchürte Leidenſchaft verftänbig zu beſchwichtigen 
ſuchte. 

Erhalten iſt uns ber Brief von Lenz, in welchem er ſeinem 
Freunde Salzmann auf · die ſeltſamſte Weiſe von feinem Verhält⸗ 
niſſe zu Friederile Mittheilung macht; man fühlt aus demſelben 
deutlich heraus, welche Wichtigkeit Lenz auf feine Liebe zu Frie— 
derike und deren Gegenliebe legt, wie er ben guten Aktuar mit ber 
Nachricht, daß es ihm gelungen, das Her; des an Goethe hängen- 
den, ihm unzertrennlich verbundenen, vom Schmerze der Tremmung 
bis zum Tod erkrankten Mädchens zu gewinnen, in Staunen bringen 
will, wie die ganze Liebe zu biefer nur eine Grille war, die er 
ſich in den Kopf gefegt hatte. * Der aus ForbFouis am 3. Zuni 
1772, bem Mittwoch vor Pfingften, gefchriebene Brief beginnt mit 
ver Bemerkung, daß er mit Salzmann, ven er feinen theuerften 
Freund nennt, die Sprache des Herzens, nicht des Zeremoniels 
reden wolle; kurz werde daher fein Brief fein. Diefes letztere 


Viehoff meint (IT, 443), wer die Briefe von Lenz leſe, Ynne ih 
ſchwer des Gedankens an, die Wahrheit von Brieberifens Gegenlicbe ent- 
ſchlagen; die Selbſttäuſchung von Lenz müßte ſonſt grenzenlos und dem 
Bahnfinne nahe gewefen fein, wovon die Briefe fonft Feine Spur zeigten. 
Aber der Ton derfelben verräth bMtlich, daß der ercentrifche Menfch fich 
im phantaſtiſchen Einbildungen wiegte, und wer mit -Marem Blide biefe 
Briefe vurchbringt, wird gerechtes Bedenken tragen, Friederikens reiner, 
natürlicher Seele, die den unendlichen Unterſchied zwifchen Goethe's wahrer 
Riehesglut und diefer gemachten Schwärmerei herauefühlen mußte, einen 
folgen vled anzubeften. Stöber, der die Entſcheidung dem Lefer überläßt, 
gefteht, daß Lenz auf Goethe's Liebe neidiſch gewefen. 


54 


Widerſpruch ſteht, ſondern auch jenen Aufenthalt zu Sefenheim in 
einer Weife verlängern würde, die aller Wahrſcheinlichteit zuwider 
ift; denn mehr als vier Wochen vor Pfingften war Goethe nach 
Sefenheim gefommen, zwiſchen Pfingften aber und dem 22. Iumi, 
dem Anfang jener Reife, liegen fünf Wochen. Auch zeigt ber 
ganze Brief, beſonders das Adieu am Schluffe, und die Worte 
bis ih Sie wiederfehe, daß Goethe von-Strafburg, dem 
Wohnorte Salzmann's, verreiste. Iſt aber der Brief von Straß- 
burg aus geſchrieben, fo fällt ſchon hiermit die Annahme, das 
blane Konzeptpapier, auf welchem er fteht, ſey der Umfchlag von 
den Zuderwaaren, bie Salzmann unferm Dichter nad) Sefenheim 
für bie Mädchen geſchickt hatte, da er dieſes Papier doch nicht nach 
Straßburg mitgenommen haben wird. Goethe übergab den Mäd— 
Gen ohne Zweifel die ganze Schachtel mit den Zuderwaaren und 
dem Papier, in welches fie gepadt waren, Auch hätten bei jener 
Annahme die Worte: Und diefes (ift) Doppelt (gut, Ihnen zu 
fagen, wie id Sie liebe); Sie wiffen, wozu es beftimmt 
war, keinen Stun, ba das Zuderpapier ohne Zweifel feine. Be- 
ſtimmung erfüllte. ragen wir aber, wozu benn_jenes blaue Pa- 
pier urfprünglich beftimmt geweſen, fo brängt ſich die Vermuthung 
auf, daß es als Kouvert dienen ſollte, wie Goethe ſich auch ſpäter 
blauer Kouverte bediente, und zwar als Kouvert zu einem Briefe 
am Friederile; daß er dieſes urſprunglich an bie Geliebte beſtimmte 
Blatt an Satzmann fanbte, mußte biefem doppelt fagen, daß er 
ihn liebe. Hieran ſchließt fi nun die fernere, ſich von felbft er- 
gebende Vermuthung, Goethe habe von ver Geliebten ſchriftlich Ab- 
ſchied nehmen wollen, den Brief ſchon fertig gehabt und eben im 
Begriffe geftanden, ihn zu. kouvertiven, als Salzmann bei ihm 
einſprach, und ihn beftimmte, ſich perſönlich von der Geliebten zu 
verabſchieden. Mit dieſem Gedanken mag er ſich mehrere Tage 
getragen haben — und dieſer Gedanke, fo wie die Art der Rüd- 
reife und des Abſchiedes von Straßburg, vielleicht audy feine Be- 
teaptumgen über den Straßburger Münfter, die ihn kurz vor feiner 
Abreiſe befcjäftigten (B. 22, 62 f.), mögen die Projefte geweſen 


. 


55 





fein, die ihn ans dem Bett gepeiticht; dann aber ergriff es ibm 
auf einmal mitten im tollen Schwärmen, umb er konnte dem 
Triebe nicht wiberftehn, am andern Morgen zur Geliebten zu 
eilen. Der Abſchied war ein iramiger, ba die Geliebten 
nur zu ſehr empfanven, welden Himmel veinfter Geligfeit fie 
an einander verloren. Goethe mußte ſich als ſchuldig erfennen, 
daß er biefes ſchöne Herz, das zum heiterften Lebensgenuffe be- 
ſtimmt ſchien, fo ſchmerzlich zerriffen, indem er Anforderungen 
und. Triebe erwedt und genährt hatte, die bei ihm feine Be— 
feiebigung finden konnten. Aber fein Borwinf traf ihn von 
Seiten Friederiklens, welche felbft in der umbefonnen gehegten Lei- 
denſchaft das höchſte Glück ver Liebe gefunden, deren Verluſt fie 
freilich fo bitter- empfinven follte: fie wollte und Fonnte den Mann 
ihres Herzens nicht halten, dem es an Muth fehlte, mit der Welt 
zu bredien, und ſich ein eigenes, freies Dafeyn zu ſchaffen, ber 
den herben Zufammenftog mit dem äußern Leben mied, weil er 
ſich zu vollſter geiftigen Ausbildung, zu dichteriſcher Durchempfin- 
dung und Reinigung aller leidenſchaftlichen Gefühle getrieben fühlte, 
der ſich nach einem höhern Sterne fehnte, nach welchem Herz und 
Auge in glühender Liebe hinſchauten. Als er, von Seſenheim 
zurückkehrend, den Pfad nad; Drufenheim ritt, fühlte er fih von - 
einem fonderbaren zweiten Geſicht überrafht, das ven Schmerz 
des Scheidens einigermaßen milderte. „Ich fah nämlich," erzählt 
er B. 22, 63, „nicht mit den Augen des Leibes, fonbern des 
Geiftes, mich mir felbft wieder entgegenkommen, und zwar in 
einem leide, wie ich es nie getragen; es war hechtgrau mit etwas 
Gold. Sobald ih mid aus diefem Traum auffdüttelte, war bie 
Geſtalt ganz hinweg. Sonderbar ift es jedoch, daß id nad acht 
Jahren (auf ver Schweizerreife) in dem Kleide, das mir geträumt 
hatte, und das id) nicht aus Wahl, ſondern aus Zufall gerade trug, ? 
Wir Haben ſchon früher die Aehnlichteit mit Werther bemerkt. 

Dan vergleiche deffen Brief vom 16. Juni. 


2 Iu Sranffurt, wo’ die Meifenden zuerſt nit mehr ineognito auf- 
treten Tonnten, hatten wahrfcheinlich Goethe und ber Herzog fich einen’ neuen 


. 56 


mich auf bemfelben Wege fand, um Friederiken noch einmal 
zu beſuchen.“ Wenn Goethe: in. dem Briefe an Frau von 
Stein, in welchem er biefen Beſuch in Seſenheim beſchreibt, nicht 
des ſonderbaren Eintreffens jenes zweiten Geſichts Erwähnung thut, 
fo mag dies fi aus der Fülle reichſtrömenden Stoffes erklären, 
die er kaum zu bewältigen wußte: denn wie viel hatte er in jenem 
Briefe der Freundin zu erzählen! 

Nur noch wenige Tage nad ber Rücdkehr von. Seſenheim 
ſcheint Goethe in Straßburg vermweilt zu haben, von mo er an 
einem trüben, rauhen Tage folgendes "in Friederikens Nachlaſſe 
aufgefunbene Gedicht an bie Geliebte ſandte, in welchem ſich der 
ganze tiefe Schmerz der · Trennung ſcharf ausprägt: 


Ein grauer, rüber Morgen 

. Bededt mein liebes Felb ; 
Im Nebel tief verborgen 
Liegt um mic, ber bie Welt. 
O Kebliche Friedrete, 

Durft ich nach bir zurück! 

Im einem beiner Blide 
Legt Sonnenſchein und Gläd. 


Der Baum, in befien Rinde " 
Mein Nam’ bei beinem fteht, ' 


Anyug nad) der damaligen: Mode machen laffen. Stuttgart, wo Bättiger 
alle Echne idet Tag und Nacht an den Hoffleidern für den Hetzog und feine 
Begleitung arbeiten läßt (Riterarifche Zufände I, 55), beräßeten die Rei- 
fenden erft nach Goethes Beſuch In Seſenheim, ale fle aus ber Schweiz 
qurhdgefeßet waren. Im Gerbft 4775 fihaffte Goethe ſich einen In Lyon ger 
Rictten grauen Rochmit blauer Borbüre an (Brief an Auguſte Stolberg 
vom-24. September), wonach man fließen Mnnte, daß er bie grane Barbe 
geliebt Habe, aber wahrfepeinlich war dieſe Bamals Mobefarbe. 

* Offenbar if hier an einen Baum in ber Nähe von Straßburg 
(nicht zu Seſenhelm) zu venten, deffen nächſte Umgebung bei: ben beiden 
erften Strophen vorſchwebt. Zu Leipzig hatte er den Namen feines geliebten 
Kätepens (Wenmene) oberhelb des feinigen in einen” Lindendaum einger 
fOnitten (8. 21, 77 f: 





Wird bleich vom rauhen Winde, 
Der jede Luft verweht. 

Der Wieſen grüner Schimmer 
Bird trüb, wie mein Gefiht; 
Sie fehn bie Sonne: nimmer , 
Und ich Friederilen nicht. 

Bald geh? ich in bie Reben, 
Und heroſte Trauben ein; , 
Umher iſt alles Leben, 
Es fprubelt neuer Wein. ! 
Doch in ber Üben Laube, 

Ach! dent’ ich, wär fie hier! 
Ich gäb' ihr dieſe Traube, 

Und fie — was gäb' fie mir? ? 


Je näher die Abreife Goethe's rädte, um fo mehr brängte ſich 
Lenz au unfern Dichter an, den er in feinem Liebesjchmerz zu 
teößen fuchte. Im dieſem Sinne ſchrieb er folgende Berfe: ® 
Freundin aus der Wolke. 
Bo, bu Reuter, 
Meinft bu Hin? 


4 Der Dichter gebenkt hier der zu Frankfuri mit größtem Jubel ge— 
feierten Weinlefe, wie er fle ſelbſt ®. 20, 187 f. (man vergleiche die Ber 
ſchrelbung in „Hermann und Dorothea* B. 5, 31} varftellt, und feine 
Mutter in einem Briefe an die Herzogin Amalla vom Jahre 1785 (Wei- 
mars Album ©. 118). Bol. Goethes Briefwechſel mit einem Kinde 
U, 258. Goethes Water befaß vor dem Briebberger Thore einen fehr gut 
erhaltenen Weinberg. 

2 Man vergleiche den Schluß des erfien Briefes an Brieberife: „Ihrer 
fieben Schwefter viel Hundert — was ich Ihnen gern wiebergäbe.“ 

% Gie erfiplenen in 3. G. Jacob’ „Iris“ IV, 72 mit der Unterſchrift P. 
welche die meiften Gedichte Goethe's in diefer Zeitſchrift haben. Aber in 
dem hinter ber Iupaltsangeige des vierten Bandes ber „Jris“ gegebenen Drud - 
feblervergeichniffe wird P. als Drudfehler für 2. angegeben. Der Irrthum 
entftand -wohl daher, daß Goethe diefes und andere Gedichte von Renz an 
Jacobi mitgeteilt hatte. Die Freundin aus der Wolke kann offenbar nur 
Srieberife fein. 


58 
Kannft bu wähnen, R 
Ber id) bin? \ | 
geil umfaſſ ih ' 
Die) als Geift, 
Den bein Trauern 
Bon fi weift. 


Sei zufeieben, 
Goethe mein! 
Biffe, jet erſt 
Bin ich bein — 
Dein auf ewig, 
Hier und dort. 
Alſo wein’ mich " | 
Nicht mehr fort! 


Bor feinem Abgange von Straßburg ſchenkte Goethe Lenz ein 
Eremplar von Shakeſpeare's Othello, mit der Widmung: „Seinem 
und Shafefpeare's würdigen Freunde Lenz Goethe“, worunter Lenz 
bie Worte fegte: „Ewig, ewig bleibt mein Herze dein, mein Lieber 
Goethe!” * Im vierten Bande der „Iris“ findet fih ©. 147 fol- 

gendes Heine Gebicht, welches Lenz nicht bei Goethe's Abſchied, 
wie Stöber fagt, ſondern nad} deſſen Rüdkehr zur Vaterſtadt ſchrieb, 
und an Goethe überfanbte: 


Dentmal der Freundſchaft. 


Auf eine Gegend Bil St—g (Straßburg). 2 


Ihr ftummen Bäume, meine Zeugen, 

A! Kim’ ex ohngefähe 

‚Hier, wo wir faßen, twieber ber, * 

Könnt (Könnt) ihr von meinen Thränen ſchweigen ? 


! Vgl, Stöber „Der Dichter Lenz" ©. V. 
? Bielleit am Gontade, einem Spaziergang bei Straßburg. Vol. das 
Gedicht von Lenz: „In einem Gärtchen am Gontader bei Stöber ©, 89 f. 





59 


2.'an G. 


Gegen den 25. Auguft, nicht erft im September, wie Schae- 
fer fagt, feheint Goethe Straßburg verlaffen zu haben, fo daß er 
vielleicht gerade an feinem Geburtstage, auf welchen er gern eine 
bebeutende Hanblung verlegte?, in feiner Baterftabt zurückkehrte, 
wo er bereit# am 31. Auguft als Aovofat vereidigt wurde. Die 
lebtere Angabe entnehmen wir dem Frankfurter „Rathe- und Stabt- 
Kalender“, in welchem Goethe immerfort, bis ihm das Franffurter 
Bürgerrecht genommen warb, unter den Advocati Ordinarii Ju- 
rati aufgeführt wird. 

Bon dem tiefen Kummer, welcher Friederilen dem Tode nahe 
brachte, follte Goethe bald darauf durch ihre Antwort auf feinen 
Tegten fchriftlichen Abſchied (vielleicht das Gedicht: „Ein grauer, 
trüber Morgen“) auf herzzerreißende Weiſe unterrichtet werben. 
„Es war biefelbe Hand, derfelbe Sinn, daſſelbe Gefühl, bie ſich 
zu mie, bie fi) an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erft 
dei Verluft, den fie erlitt, und ſah feine Möglichkeit, ihn zu er- 
ſetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegentwärtig; 
ftets empfand ich, daß ich ihr fehlte, und mas das Schlimmfte 
war, ich fonnte mir mein eigenes Unglüd nicht verzeihen. — Ich 
hatte das ſchönſte Herz in feinem Tiefften verwundet, und fo war 
die Epoche einer düſtern Neue, bei dem Mangel einer gemohnten 
erquicklichen Liebe, höchſt peinlich, ja unerträglid." An einen 
fortgefetsten Briefwechſel, der für beide Theile nur ſchmerzlich und 
zwecklos gewefen fein würde, ® war unter biefen Umſtänden nicht 
zu denken, dagegen bemahrte der Dichter das Bild ver Geliebten 


- "Bon ber Hagen war unglüdlich genug, bei L. an die Weplarer Lotte 
gu benfen. 

2 An feinem Geburtstage Hatte er vor vier Jahren Leiptig verlaffen, 
und wasefgeinlih war ea derſeite Tag, an welchem er ein Jaht ſpäter 
von Wehlar flüchtete. 

* In einem Briefe an Salzmann, etwa vom Anfang November, bittet 
er diefen, an ®rieberife einige Kupfer zu ſchicken „mit oder ohne ein 
Zettelchen, wie Sie wollen“, 


60 

in treu anhänglichem Herzen, und er unterließ nicht, im „Götz“, 
von welchem er fon am 28. November Salzmann Nachricht gibt, . 
in der Darftellung des treuloſen Weislingen eine poetiſche Buße 
zu üben, Die Dramatiftvung der Lebensbefchreibung des alten 
Gög war e8 allein, die ihm nod eine wahre Freube zu Schaffen 
vermochte, da ihm weder feine beginnende Praxis, an welcher ver 
Vater mehr Antheil nahm, als er ſelbſt, noch das frankfurter Les 
ben ernfllich anzuziehen vermochte. Exft mit- dem Anfange des fol- 
genden Jahres ſcheint ver Ueberdruß am Leben ihn verlafien zu 
baden, und als er darauf um Oftern. 1772 nad; Wetzlar ging, 
ditterte der Schmerz um bie früh verlorene Geliebte nur noch in 
leiſen Schwingungen nad, bis bald darauf eine neue, ganz uner- 
wartete Leidenſchaft ſich feines liebebebürftigen Herzens bemächtigte. 

Während Goethe auf diefe Art eine neue Entwicklung feiner 
Seele erleiden follte, hatte ‚ver wunderliche Lenz, der fih in vie 
Geheimniſſe unferes Dichters .eingebrängt hatte, in Sejenheim den 
feltfamften Roman- in tollſter Intriguantenweife anzufpinnen be- 
gonnen. Im Frühjahr 1772 war Lenz mit dem jüngern, feiner 
Leitung anvertrauten Herrn von Kleift nach der in der Nähe von 
Sefenheim auf einer Nheininfel gelegenen, 1689 erbauten, jeßt 
zerſtörten Feſtung Bort-Louis gezogen, an weldem Orte er die 
Belanntfchaft des alten Brion machte, befjen Einladung er bald 
darauf folgte, wo er denn von ber patriarchaliſchen Familie auf 
das freundlichfte aufgenommen wurde. Aber fein unwiderſtehlicher 
Hang ‚zur Imtrigue vegte gleich in ihm den Gedanken auf, das 
Andenken an Goethe aus Friederikens Bruft zu verdrängen und 
die Liebe zu ihre, gleichſam um jenen zu überbieten, zu halbem 
Wahnfinn zu fteigern. Dan erinnere fid) deffen, was Goethe von 
feiner Intriguenſucht bemerft (B. 27, 470), und wie er um das 
Herz ber Geliebten feinem ältern abwejenven Zögling zu erhalten, 
ſich ſelbſt in dieſe verliebt ſtellte oder wirklich verliebte (B. 22, 
187 f.). Er hatte ſich in Sefenheim gleich als Freund Goethe's 
„und Salzmann’8 eingeführt, und ber liebeskranken Friederike, in- 
dem er dieſe von Goethe unterhielt und ihrem Herzen ſchmeichelte, 


6 


von feiner eigenen Liebe vorgefprochen, was biefe freundlichſt ab- 
zulehnen fuchte, wenn fie ſich auch in mande wunderliche Laune 
des geiftreihen, aber excentrifchen Menfchen fügte, um nicht zu 
einem leidenſchaftlichen Ausbruche feiner Tollheit Veranlaffung zu 
geben. Zu verwundern ift es hierbei keineswegs, daß ber ein- 
bildiſche, feinen wohngefchaffenen Traumbilvern verfallene Lenz 
ſich der wirklichen Liebe Friederilens verfihert hielt, während biefe 
in ihrem ftillen Schmerze fein Liebesgebaren leiſe ablehnte und 
feine phantaſtiſch geſchürte Leidenſchaft verftänbig zu beſchwichtigen 
fe. 

Erhalten ift ums ber Brief von Lenz, in welchem er feinem 
Freunde Salzmann auf-vie feltjamfte Weife von feinem Berhält- 
niſſe zu Friederike Mittheilung macht; man fühlt aus vemfelben 
deutlich heraus, welche Wichtigkeit Lenz auf feine Liebe zu Frie— 
berife und beren Gegenliebe legt, wie er ben guten Aktuar mit ber 
Nachricht, daß es ihm gelungen, das Herz des an Goethe hängen- 
den, ihm unzertrennlich verbundenen, vom Schmerze der Trennung 
bis zum Tod erkranlten Mäbchens zu gewinnen, in Staunen bringen 
will, wie die ganze Liebe zu diefer nur eine Grille war, bie er 
ſich in den Kopf gefegt Hatte. * Der aus FortLonis am 3. Juni 
1772, dem Mittwoch) vor Pfingften, geſchriebene Brief beginnt mit 
der Bemerkung, daß er mit Salzmann, ven er feinen theuerſten 
Freund nennt, die Sprache des Herzens, nicht des Beremoniels 
even wolle; kurz werde daher fein Brief fein. Diefes letztere 


Viehoff meint (IT, 443), wer die Briefe von Lent leſe, kdune ſich 
ſchwer des Gebanfens an, die Wahrheit von Brieverifens Gegenliebe ent- 
ſchlagen; die Selbſttäuſchung von Lenz müßte fonf grenzenlos und dem 
Bahnfinne nahe gewefen fein, wovon bie Briefe fonft feine Spur zeigten. 
Aber der Ton berfelben verräth bAtlih, daß der excentriſche Menſch fich 
tn phantaftifchen Einbildungen wiegte, und wer mit klarem Blide diefe 
Briefe burchbringt, wird gerechtes Bedenken tragen, Friederikens teiner, 
natürlicher Seele, bie den unendlichen Unterſchled zwiſchen Goethes wahrer 
Liebesglut und biefer gemachten Echwärmerel herausfühlen mußte, einen 
ſolchen Fleck anzuheften. Stöber, der die Entſcheidung dem Leſer überläßt, 
gefteßt, daß Lenz auf Goethes Liebe neidiſch gemefen. 


62 


Verſprechen hält er aber fo wenig, als feine folgenden Bemerkun- 


gen, er haſſe die Briefe, der plauberhafte Wit fei nie ver Doll- 
metſcher feines Herzens gewefen, auf Wahrheit beruhen. Er be- 
ginnt fein Geftändnig mit der Erzählung: „Ich. bin wieber in 
Fort⸗ Louis, nah einigen Heinen Diverfionen, die meine Heine 
Eriftenz bier auf dem Lande herum gemacht bat", bricht aber, wo 
ex von feiner Liebe fprechen fol, bei ven Worten: „Ob ich mein 
Herz auch fpazieren geführt —“ mit erzwungener Berfchämtheit ab, 
um glei darauf mit einem plöglichen Sprunge wieder auf feine 
Liebe zurückzukehren. „Ich habe die guten Mädchen von Ihnen 
gegräßt” ‚ fährt er fort, als ſcheue er ſich fogar, biefelben näher 
zu Sepeiciuen; „fe faffen Ihnen ihre ganze Oodadtung mb Er- 
gebenheit verfihern. Es war ein Mädchen, das ſich vorzüglich 
freute, daß ich fo glücklich wäre, Ihre Freundſchaft zu haben.“ 
Hier bricht er wieder ab, inbem er mündlich, bei feinem Beſuche 
in ber Frohnleichnamswoche, mehr mitzutheilen verſpricht. Er wird 
darauf, wie er fehreibt, durch Beſuche non Offizieren geftört, deren 
Belanntſchaft er file ſehr läftig erfiärt, obgleich and) in Straßburg 
fein Umgang beſonders aus ſolchen beftanven hatte. „Ich Liebe bie 
Einſamleit jegt mehr, als jemals — und wenn ih Sie nicht in 
Straßburg zu finden hoffte, fo würde ich mein Schichſal haffen, 
das mid, ſchon wieder zwingt, in eine lärmende Stadt zurüd« 
aufehren.“ 

Auf die wunderlichſte Weiſe, als gälte es ihm nur, bie Auf- 
merkſamkeit Salzmann's immer von nenem zu fpannen, führt er 
unmittelbar darauf fort: „Was werben Sie von mir benfen, mein 
theuerfter Fremd? Was für Muthmaßungen? — Aber bedenken 

- Cie, daß biefes die Jahre ver Leidenſchaften und Thorheiten find. 
Ich ſchiffe unter taufend Klippen «- auf dem Negropont, wo man 
mir mit Horaz zurufen follte: Iuterfusa nitentes vites aequora 


Cyeladas (carın. I, 14, 19. 20.). Wenn ih auf einer biefer Infeln , 


fcheitere — wäre e8 ein fo großes Wunder? Und follte mein 
Salzmann fo fireng fein, mic; auf benfelben, als einen zweiten 
Robinfon Crufoe, ohne Hülfe zu laſſen? Ich will e8 Ihnen 





63 


geftehn (vemm was ſollte ich Ihnen nicht geftehn?), ich fürdte mid) 
vor Ihrem Anblide. Sie werden mir bis auf den Grund meines 
Herzens ſehn — und id; werbe wie ein armer Sunder vor Ihnen 
fiehn, und ſeufzen, anftatt mich zu teätferligen.“ Hier Tann er es 
nicht unterlaffen, an Goethe zu erinnern, den einft bie Liebe zu 
Frieberife ganz verfchlungen, wo ihm aber Saljmann treu rathend 
zur Seite geftanben habe, während er ſelbſt ſich damals über ſolche 
wilde Leidenſchaft erhaben gefühlt. „Was ift der Menſch? Ich 
erinnere mich noch wohl, daß ich zu gewiſſen Zeiten ſtolz einen 
gewiſſen ©. tabelte, und mid) mit meiner fittfamen Weife innerlich 
bräftete, wie ein welſcher Hahn, als Ste mir etwas von feinen 
Thorheiten erzählten. Der Himmel und mein. Gewiflen firafen 
mich jegt baflir.“ 

Die abgeſchmockteſte Gegiertheit, womit er feinem Schichſal einen 
wunderbaren Auſtrich geben und das Vertrauen, welches er durch 
Mittheilung feines Geheinmiſſes an Salzmann dieſem ſchenle, als 
höchftes Pfand feiner Liebe darſtellen will, tritt in dem nun fol- 
genben neuen Anlauf hervor: „Rum hab’ ich Ihnen ſchon zu viel 
geſagt, als daß ich Ihnen nicht noch mehr fagen follte. Doc, 
nein! ich will es bis auf unſere Zuſammenkunft verfparen. Ich 
befürchte, bie Buchſtaben möchten erröthen, und das Papier an- 
fangen zu veven. * Verbergen Sie bod je dieſen Brief vor ber 
ganzen Welt, vor ſich felber und vor mir! Ich münfchte, daß ich 
Ihnen von allem Nachricht geben könnte, ohne daß ich nöthig 
hätte, zu veben. Ich bin boshaft auf mich felber, ich bin me- 
lancholiſch über mein Schiefal — ich wünſchte von ganzem Herzen 
zu ſterben.“ J 

Jetzt erſt koinmt er mit feinem Geheimmiß heraus, daß er 
Friederilens Liebe wie im Fluge gewonnen habe. „Den Sonntag 
(ven 31. Mai) waren wir? in Gef. °; den Montag frühe ging 


* Wohl eine Anfpielung auf die Gage vom Barbler des Midas und 
dem redenden Sqhilfrohr. 
2 Wohl Renz mit feinem Zöglinge Seren v von Klein 
Auch barin, daß er den Namen Sefenheim nicht ausfchreibt, foll 


en, 


64 
ich wieder hin, ‚und machte in Geſellſchaft des guten Landprieſters 
und feiner Tochter eine Reife nad; Lichtenau. Wir kamen ven 
Abend um zehn Uhr nad S. zurück; dieſen und den folgenven 
Tag blieb ich dort.“ Auch hier bleibt ihm das Geheimnif wieder 
in ber Kehle ſtecken; denn er fährt ohne weiteres fort: „Nun haben 
Sie genug. Es ift mir, als ob ich auf einer bezauberten Infel 
gewefen wäre; ich wär bort ein anderer Menſch, als ich hier bin; 
alles, was ich gered't und gethan, hab’ ich im Traume gethan." 
In der weitern Erzählung aber verräth er, was er eben nicht aus- 
ſprechen zu Können feheinen wollte. „Heute veifet Mad. Brion mit 
ihren beiden. (älteren) Töchtern nach Saarbrüden zu ihrem Bruder 
(dem Regierungsrath Schöll) auf vierzehn Tage, und wird viel- 
leicht ein Mädchen da Iaffen, das ich wünſchte nie gefehen 
zu haben. Sie. bat mir aber bei allen Mächten der L— ge 
ſchworen, nicht da zu bleiben.“ Vielleicht Ing bei ver Reife nach 
Saarbrüd gerade die Abficht mit zu Grunde, Friederilen von ben 
läftigen Bewerbungen bes exeentrifchen Menſchen zu befreien; das 
Verſprechen Friederilens aber, bie ſich des vorigjährigen längern 
Befuches Goethes um .Pfingften erinnern mußte, beruht entweder 
auf veiner Selbſttäuſchung ober.auf einer jehr ftarfen Uebertreibung 
des in feine Grille vernarrten Liebhabers, wenn es nicht gar eine 
bewußte Unmahrheit fein ſollte. Hieran ſchließt ſich dann eine 


"Mage über fein Unglüd und die Bitte um Geheimhaltung und 


Bewahrung ber Freundſchaft an, bie er jegt weniger, als jemals, 
entbehren könne. „Ich bin unglücklich, befter, befter Freund! und 
doch bin id} auch der glüdlichfte unter allen Menſchen. An dem- 
ſelben Tage vielleicht, da fie von Saarbrüden zuriitömmt, muß 
ich vielleicht mit Heren von Kleiſt nach Strafiburg reifen. ' Alfo 


fig) die angezwungene Verſchämtheit des Liebhabers verraffen, mie bald 
darguf das Wort Liebe nur mit dem Anfangebuchflaben bezeichnet wird. 

Daß er in ber Fropnleichnamswoche, die in jenem Jahre ben 15. 
dis 21. Juni fiel, nach Straßburg Fomme, hat er oben bemerft; dauerte 
die Reife nach Saarbräd vierzehn Tage, fo Fam Ürieberife am 17. 
guräd. 


65 


einen Monat getrennt, ' vieleicht mehr, vielleicht auf immer! — 
Und doch Haben wir uns geſchworen, uns nie zu trennen. Ber- 
brennen Sie biefen Brief! — es reut mich, daß ich bies einent 
treulofen Papier anvertrauen muß. ? Entziehen Sie mir Ihre 
Freundſchaft wicht! Es wäre graufem, mir fie jet zu entziehen, 
da ich mir felbft am wenigften genug bin, da ich mich ſelbſt nicht 
leiven Tann, de ich mich umbringen möchte, wenn das nichts 
Böfes wäre. ° Ich bin nicht Schuld an allen dieſen Begebenheiten: 


ich. bin fein BVerführer, aber auch fein Verführter; ich habe mid), 


leidend verhalten; der Himmel ift Schuld daran; der mag fie auch 
zum Ende bringen, Ich werfe mich in Ihre Arme als Ihr mer 
lancholiſcher Lenz.” Noch am Rande des Briefes befhwört Lenz 
den guten Aftuar, ihn nicht zu verrathen. „Um’s Himmels, um 
meines Mäbdchens und um meinetwillen laſſen Sie doch alles dies 
ein Geheimniß bleiben! Bon mir erfährt e8 niemand, als mein 
zweites Ich.“ Faſt ſcheint es, daß Pen; feinen bringendern Wunſch 
gehabt, als Salzmann möge fein Geheimniß raſch ar den Mann 
bringen, und befonbers einzelnen von ber Tiſchgeſellſchaft bei den 
Jungfern Lauth, die er kurz vorher, ebenfalls am Rande des 
Briefes, grüßen läßt, natürlich unter dem Siegel der Verſchwie- 
genheit, daſſelbe verrathen. 

Wie Salzmann dieſe wunderliche Enthüllung bes "einer tollen 
Phantaftereim wegen befannten Hofmeifter® aufnahm, deſſen 


4 Der Aufenthalt in Straßburg follte etwa vierzehn Tage dauern. 

2 Breilich mußte es ihm lieb ſeyn, diefen wunderlichen Brief mit 
feinen unwahren, jedenfalls übertriebenen Behauptungen aus dem Wege 
geſchafft zu wiffen; er felbſt wollte ihn nicht vernichten, ehe er bei Salze 
mann mit feiner Liebe tenommirt hatte. Wie Goethe von Seſenheim aus 
Biefem fein Riebenfeih vertsant Hatte, fo wollte «6 and Lenz, natlrlih 
nicht ohne das Verhältnig noch zu fleigern. 

® Man begreift nicht, wie eine viergehntägige Abweſenheit der Ges 
llebten, die ihm ewige Treue gefchworen, und bie er wohl Hoffen durfte, 
bald wieberzufehn, einen halbweg verfländigen Menſchen zum Selbſtmorde 
verfeiten Hönnte. Aber die vorgefpiegelte Melandjofie und bie ganze rafende 
Liebe iſt nur eitel Gaukelſpiel, eine Komödie, die er zum beften gibt. 

Dünger, Brauenkilder. 5 


66 


Talent er wohl zu jhägen wußte, ergibt ſich aus einem zweiten, eine 
Woche fpäter, den 10. Juni, ebenfalls von Fort-Louis aus gejchrie- 
benen Briefe von Lenz. Er lachte ihn über feine Liebestollheit ! 
aus, und ermahnte ihn, vernünftiger zu fein, wobei er zugleich 
bemerkte, ex könne nicht begreifen, wie Friederike fo bald bie Liebe 
zu Goethe, die ihre ganze Seele ergriffen, habe vergefien und ſich 
ihm in die Arme werfen Tönnen. Lenz aber erklärt feinem Freunde, 
den er als feinen guten Sokrates bezeichnet, in Folge feines Spot⸗ 
te8 habe die Wunde nur heftiger zu bluten angefangen, und er 
fürchte, es ſei zu fpät, an eine Heilung zu denken. „Es ift mir 
wie Pogmalion * gegangen. Ich hatte mir zu einer gewiſſen Ab- 
ſicht in meiner Phantafie ein Mädchen geſchaffen — ich fah mich 
um, und bie gütige Natur hatte mir mein Seal lebendig an bie 
Seite geftellt. Es ging uns beiben, wie Cäſar'n: Veni, vidi, 
vici. Durch unmerkliche Grade wuchs unfere Vertraulichkeit * — 
und jegt ift fie beſchworen und unauflöslich. Aber fie ift fort, 
wir find getrennt: und eben da ich dieſen Verluſt anı heftigften 
fühle, kommen Briefe aus Straßburg, und — vergeben Sie mir 
meinen tollen Brief! Mein Verftand hat ſich noch nicht wieber ein- 
gefunden. Wollte der Himmel, ich hätte nicht nöthig, ihn mit 
Better Orlando im Monde fuchen zu laffen.“ ? Zu feiner Zer- 
ſtreuung, erzählt er, fei er bie Pfingfttage über bei einem reichen 
und ſehr gutmüthigen Amtsſchulz in Lichtenau zu Gaſt gewefen, wo 
‚er ſich am feinem Kummer durch ausſchweifende Luftigfeit gerächt 
habe; dieſer fehre aber jegt nur deſto heftiger zuräd, wie bie Dun- 
kelheit der Nacht hinter einem Blig. Zu feiner Kur werde er fi 
nad Straßburg zu Salzmann begeben, ber feiner nicht zu ſchonen 
brauche, aber feine Freundin Friederike umangetaftet laſſen müffe. 
- * Dan vergleiche das Gedicht „Pygmalion“ von Lenz bei Gtöber ©. 87, 
das bie Situation Pygmaligu’s anders auffaßt. Hier ſchwebt Rouffeaws 
„Bygmalion* vor. 

2 Hienach follte man glauben, die Bekauntſchaft Habe ſchon längere 
Zeit gebauert, wogegen es nach dem erſten Briefe kaum zu beweifeln ſieht, 
daß fie erft wenige Tage vorher, den 31. Mai, begonnen. 

U Nach Arioſt XXXIV, 67. 83. 


67 





„Den Tag nad) ' meinem legten Briefe an Sie ging ich zu ihr: 
wir haben ben Abend allein in ver Laube zugebracht; die befchei- 
dene, engliſch gütige Schwefter (Maria Salome) unterbrad) uns 
nur felten, und das allezeit mit einer fo liebenswürdigen Schall- 
heit. — Unfer Geſpräch waren Sie — ja Sie, und bie freunb- 
ſchaftlichen Mädchen haben faft geweint vor Verlangen, Sie kennen 
zu lernen. — Und Sie wollten mit gewaffneter Hand auf fie [08 
gehn, wie Hereules auf feine Ungeheuer. — Nein, Sie müffen 
fie kennen lernen, und ihre Blicke allein werben Sie entwaffnen. 
Ich habe meiner Friederile gefagt, ich künnte für Sie nichts Ge— 
heimes haben. Sie zitterte, Sie würben zu wenig Freundſchaft 
für eine Unbefannte haben. Machen Sie biefe Furcht nicht wahr, 
mein guter Sokrates!" Man merkt Hier deutlich die Abſicht durch, 
Salzmann ganz für Srieberife einzunehmen, wobei Lenz mit oder 
ohne Abficht überfieht, dag Salzmann nicht ſowohl in Friederile, 
als in feine Behauptung, daß fie ſterblich in ihm verliebt fei, 
Mißtrauen gefegt hatte. Zum Beweiſe, wie gut er mit dem 
alten Brion ſtehe, erzählt er zum Schluſſe: „Geftern ift ver 
Herr Landpriefter bei mir zu Gaſt geweſen. Es ift ein Fielbing’- 
ſcher Charakter: jeder andere würde in feiner Geſellſchaft Lange 
weile gefunden haben, ich habe aber mich recht fehr darin amüſirt; 
benn ein Auge, womit id ihn anfah, war poetifch, das andere 
verliebt. — Ex läßt jein Leben für mich, und ic für feine Toch- 
ter.” Wer aber Kann glauben, daß ber gute Alte, dem bie Liebe 
Goethe'8 fo viel Kummer gemacht hatte, einem neuen, raſchen, 
viel egcenteifchern Liebhaber fo leicht das Glüd feiner Friederike 
ganz preis gegeben hätte! Man erfennt hier Teicht den alles über- 
treibenben, bei jever leifen Anregung wilb auffprubelnden Phantaften. 

* Statt nach muß es vor heißen; denn am Tage, wo er den Brief 
ſchrieb, war Srieberife, wie Lenz im rien Briefe mittheilt, von Gefen- 
heim abgereist, da an eine unerwartete Verfchiebung ber fefigefepten Reife 
nicht zu denken iſt. Lenz vervollftändigt alfo hier feine frühere Erzählung 
über den Vorabend der Abreife nach feiner phauiaftiſchen Weife. Ober 
folften wir hier unfern Lenz auf einer offenbaren Unwahrheit ertappen, 
da beide Briefe wicht miteinander ftimmen? 


68 


Gegen den 15. Juni begab ſich Lenz mit feinem Zöglinge 
auf zehn bis zwölf Tage nach Straßburg, wo Salzmann ihm ven 
Kopf zurecht gefeßt zu haben ſcheint. An dieſen ſchreibt er bald 
nad) feiner Rüdkehr, am 28. Juni, er fei noch zu ſehr von ver 
Neife ermübet, als daß er ihm viel Vernänftiges fehreiben könnte, 
da er bisher noch feinen Augenblick zu fich felbft Hätte fagen können: 
Nun ruhe ih! Bon eigenen und fremben, vernünftigen und 
leidenſchaftlichen, philoſophiſchen und poetifhen Sorgen und Ger 
fogäften * werbe er zertheilt; fein Schlaf felber ſei jo kurz und 
unruhig, daß er faft fagen möchte, er wache bes Nachts mit ſchla⸗ 
fenden Augen, wie er bed Tages mit wachendem Auge jchlafe. 
Im Sefenheim ift ex wieder gewefen, aber er wagt nicht — und 
daran that er gewiß am beften, va er fi fo nicht aufs Erfinden 
. zu legen brauchte — das bort Erlebte barzuftellen. „Iſt es Träg- 
heit ober Gewiflensangft, die mir bie Hand zu Blei macht, wenn 
ich Ihnen die Meinen Szenen abſchildern will, in denen id umb 
eine andere Perfon die einzigen Alteurs find? So viel verſichere 
ih Ihnen, daß Ihre weifen Lehren bei mir gefruchtet haben, und , 
daß meine Leibenſchaft dieſesmal fid fo ziemlich vernünftig aufs “ 
geführt. Doc ift und bleibt e8 noch immer Leivenfchaft — nur 
das nenne ich an ihr vernünftig, wenn fie mich zu Haufe geruhig 
meinen gewöhnlichen centrifchen und excentrifchen Geſchäften nach- | 
hängen läßt, und das thut fie; das tut fie. Die beiven guten 
Landnymphen laſſen Sie mit einem tiefen Knicks grüßen.” Brie- 
derife wirb nach ihrer Rückkehr ſich zurüdhaltender gegen ven ftür- 
mifchen Phantaften, der doch zuweilen fo außerordentlich liebens- 
wilrbig fein Tonne, benommen haben, befonders als fie fah, daß 
er fi, wie Goethe erzählt (®. 27, 471), die. größte Mühe gab, 


+ Im weitern Verlauf bes Bnefes iſt von einem mit jedem Tage ber 
Beitigung ſich nähernden Tranerfplel die Rebe. Pit Salzmann hatte er ein 
Sefpräch über philoſophiſche und zeligiöfe Gegenftände gehalten, wodurch 
feine Betrachtung angeregt wurde, wie er denn ein Blättchen folder Ger 
danken beifegt. Bei den fremden’ Sorgen tft wohl zunäcft an feinen Bög« 
ling Herru von Kleiſt zu denken, der ihm damals vielleicht zu ſcha fen machte. 





6 


feine (Goethes) Briefe zu fehn und zu erhafchen, wie er überhaupt 
feine Eiferfucht auf Goethe fehledht verbergen mochte. 
Salzmann tabelte feinen Alcibiabes, wie Lenz ſich ſelbſt jegt 
mit Anfpielung auf das Verhältniß bes Sofrates zu dieſem nennt, 
daß er wie eim ungezähmtes Roß allen Baum und Zügel abftreife, 
den man ihm überwerfe, welchen Vorwurf Lenz im folgenden Briefe 
als einen ungerechten bezeichnet. „Wenn ich mit Ihnen zufammmen- 
Tomme,“ heißt e8 weiter, ‚werde ich Ihnen viel, fehr viel zu erzählen 
haben, das ich jet nicht mehr ver Feder anvertrauen kann, Auftritte 
zu ſchildern, die weit rührender find, als alles, was ich jemals im 
Stande wäre zu erdichten (freilich ein triftiger Grund, fie nicht zu 
befchreiben!), Auftritte, die, wenn Sie ihnen zugefehen haben 
twärben, Sie felbft noch (meinen Sofrates) zu weinen würben . 
gemacht haben. Noch ift meine Seele krank davon.” Gleich am 
Anfange des Briefes macht er dem Freunde in Worten, bie ven 
fpätern, halb verzweifelten Ton nicht ahnen laſſen, die Mitthei- 
Yung, daß et fi} bald iveiter von Straßburg entfernen · werde. 
„Ich umarme Sie mit hüpfendem Herzen und heiterer Stirne, um 
Ihnen eine Art von Lebewohl zu fagen, bas in ber That nicht viel 
zu bebeuten hat: Einige Stunden näher oder ferner machen für 
den Liebhaber erfchredlich viel, für den Freund aber nichts.” Erſt 
gegen Ende bes Briefes erfahren wir, wohin er gehn werde. 
„Ich werde noch vor meiner Abreife einmal aus Fort -Louis an 
Sie ſchreiben, und alsdann aus Landau ſogleich nad meiner An- " 
kunft. Mein Stubiren fteht jetzt ſtille. Der Sturm ber Leiven- 
ſchaft (mühet?) zu Heftig: Ich winfehe mich ſchon fort von hier; 
alsdann, hoffe id), wird er fich wieder kümmerlich legen. In 
Landau will ih, fo viel e8 mein zur andern Natur geworbenes 
Lieblingsſtudium (vie ſchöne Literatur) erlaubt, das Jus eifrig fort- 
fegen.“ Zu letzterm hatte ihn wohl Salzmann ganz heſonders ex- 
mahnt, in der Hoffnung, ven zerſtreuten, durch Leidenſchaft ver- 
worrenen Menſchen zur Beſinnung zu bringen. „Beute komme ic) 
von Lichtenau,“ ſchreibt er, „aus einer fehr vergnügten Gefelfchaft, 


in welder ich vielleicht allein die Larve war. . Ich will meinen 
;* 


70 


Brief an Sie zum Ende bringen; ich erwarte heute Abend noch einen 
Gnadenftoß." Man fühlt, daß hier nur von Friederile die Rede 
fein kann, die, feinem ftürmifchen Liebesprängen immer mehr aus- 
wich, und von ber er an biefem Abend eine entjchievene Erklärung 
zu erzwingen gedachte. Der Brief ift wohl von Seſenheim aus 
geſchrieben, von wo er, wie ſchon früher einmal, nad Lindenau ge- 
gangen, wenn er nicht etwa dort mit ber Familie Brion zufanmen- 
getroffen war. „O laſſen Sie mich,“ fährt er fort, „mein ke 
ſchwertes Herz an Ihrem Buſen entlaven! Es ift mir Wolluft zu 
venfen, daß Sie nicht ungerührt bei meinem Leiden find, obſchon 
es Ihnen noch unbelannt ift: denn Trennung ift nicht bie einzige 
Urſache meines Schmerzens.“ Aus demfelben Zimmer, dem Frem⸗ 
denzimmer zu Seſenheim, dem letzten obern Zimmer rechts von 
der Gartenſeite, hatte Goethe vor dreizehn Monaten feine leiden⸗ 
ſchaftlich bewegten Briefe an Salzmann gerichtet. B 

Von jegt an feheint Lenz, wenn es auch am einzelnen Aus - 
brüchen feines phanteftifchen Weſens nicht gefehlt haben mag, ſich 
mehr zurückgehalten zu haben, weil er einen völligen Bruch fürchtete. 
Aus dem Juli haben wir nur einen einzigen Brief an Salzmann, 
was, wenn anders fein Brief verloren gegangen ift, auf eine ge- 
wiffe Beruhigung hindeutet. Der nädhftfolgende Brief, mit dem 
jeltfamen Datum „Fort-Louis, den 5. oder 6. Auguft oder 10. 1772", 
welches auf bie völligfte Ungewißheit hindeutet, ift geſchrieben, als er 
eben aus ber Geſellſchaft „oreier Tieben Mädchen und einer ſchönen, 
ſchönen Fran“ gekommen, und enthält gar feine Beziehung auf 
fein Liebesverhäktniß, ſondern bloß Nachrichten, die ſich auf feine 
litterarifchen Arbeiten und feine Stubien beziehen. ' Dagegen 

Er ſchict Salzmann die Schrift des Hobbes de cive, die er nicht 
zu Ende Habe bringen Finnen, zurüd, wogegen er Pufendorfs historia 
iuris- over ein anderes juriftifches Buch wünfht, da er doch einmal Jurik 
werden müfle. Er benachrichtigt ihn, daß er einen vortrefflihen Fund von 
alten Liedern gemacht (vgl. Schöll „Briefe und Auffäge von Goethe: 
©. 123 ), und fpricht von feiner legten Ueberfehung aus dem Plautus, 
die ſchwerlich in der Geſellſchaft gelefen werden bürfte. Bon dieſer Ge— 
ſellſchaft, der „Pflanzſchule · Straßburg's, wünfcht er nähere Nachricht. Es 








” 71 


erzählt er im folgenden, zum Abſchied von Fort- Louis gefchriebenen 
Briefe: „Ich habe in Sefenheim geprebigt; follten Sie das glau- 
ben? Den Sonnabend (den 29. Auguft?) Nachmittags kareſſirt; 
nad} Fort ⸗ Louis gegangen; das Thor zu gefunden; zurüdgegangen ; 
den Pfarrer am Nachteffen unruhig gefunden, daß er fo viel zu 
thun habe; mich angeboten; bis vier Uhr in ver Laube geſeſſen; 
mid) von meinen Fatiguen erholt; eingeſchlafen; den Morgen eine 
Bibel und eine Konkordanz zur Hand genommen, und um neun Uhr 
vor einer zahlreichen Gemeine, vor vier arfigen Mädchen, einem 
Baron und einem Pfarrer geprebigt. — Mein Tert war das 
Gleichniß vom Pharifäer und Zöllner, und mein Thema bie fchäb- 
lichen Folgen des Hochmuths. Die ganze Prebigt war ein Impromptü, 
das: gut genug ausfiel." Am Abende, wo er biefes mit großer 
Selöftgefälligeit ſchrieb, hatte er verfproden, um fünf Uhr in 
Sefenheim zu ſeym. „Ich gehe jest nach Gefenheim hinaus," 
ſchreibt er, „um ben legten Tag recht vergnügt bort zuzubringen. 
Recht vergnügt! — Nicht wahr, Sie lädeln über meine ſtolze 
Platoniſche Sprache, mittlerweile mein Herz mit dem Ritter Amadis 
ober: was weiß ich, wie der Liebhaber ber Banife hieß ? von nichts 
als Flammen, Dolchen, Pfeilen und Wunden veffamirt. Was 
foll ich fagen? Ich fhäme mich meiner Empfindungen nicht, wenn 
fie gleich nicht allezeit mit feftem Schritt hinter der Vernunft her» 
gehen. D! und Salzmann bevauert mih!" Man fieht bier, wie 
fehr Friederike ihm alle Hoffnung benommen hatte, wie ex aber 
noch immer am Dunfttreife der Gelichten ſich erfrente, welche ihn 


mar biefes ohne Zweifel die von Goethe ‘gar nicht erwähnte „Geſell. 
ſchaft der fhönen Wiſſenſchaften“, in welde Jung Stilling aufgenommen 
wurde, wo er, wie biefer felbft fagt, “die fehönften Bücher und den dama- 
figen Zuftand der dentſchen Litteratur kennen Ternte. Sollte dies der litte ⸗ 
rariſche Zirkel fegn, den, wie Goethe B. 22, 490 fagt, Lenz vor lhin 
geheim zu. halten ſuchte? Drei Jahre fpäter, am 2. November 1775, 
gründete Salymann eine Geſellſchaft „zur Ausbildung ber deutſchen Sprache“, 
deren aͤußerſt eifriger Secretär Lenz war. 

! Balacin, Rönig von Aracan, in der „Aſiatiſchen Baniſe · von Hin 
rich Anfelm von Zigler (* 1690), neu aufgelegt. 1784. 


72 


nicht durch ein unfreumbfiches Betragen zur leidenſchaftlichen Ver⸗ 
zweiflung bringen wollte, ihn vielmehr gern um ſich duldete, fo 
lange er in feinen Schranken blieb. In demfelben Briefe melvet 
er an Salzmann, daß er bie von ihm geliehenen beiden erſten 
Theile von Fielding's „Tom ones“ an Srieberife geliehen und 
ige fein Wort darauf gegeben habe, Salzmann werde es verzeihen, 
wenn fie.biefelben noch einige Zeit behalte, ja er werde andy die 
beiben folgenden Theile mit Vergnügen leihen. 

Die aus Landen an Salzmann geſchriebenen Briefe zeigen 
eine gewiſſe Beruhigung; er philofophirt mit feinem Freunde über 
Gott und Welt und die wahre Glüdfeligfeit,‘ und auch bichterifche 
Arbeiten beſchäftigen ihn, wogegen von ſeinen juriffifchen Stubien 
nichts verlautet: In einem, wie es ſcheint, Ende September ge- 
ſchriebenen Briefe vertraut er dem Freunde: „ES ift wahr, meine 
Seele hat bei aller anſcheinenden Luftigfeit jegt mehr, al jemals, eine 
tragische Stimmung. Die Lage meiner äußern Umftände trägt 
wohl das meifte dazu bei, aber — fie foll fie, fie mag. fie nun 
höher ober tiefer flimmen, doch nie verftisimen. Cine. fanfte Me— 
lancholei verträgt fih ſehr wohl mit unferer Glüdfeligfeit, und 
ich hoffe — nein, ich bin gewiß, daß fie ſich noch einft in reine 
und dauerhafte Frezide auflöfen_wirb, wie ein dunkler Sommer 
morgen in einen wolfenlofen Mittag. Auch fehlen mir jegt äftere 
Sonnenblide nicht, nur kann freilich ein Herz, dem bie füßen Er- 
gögungen ter Freundſchaft und — ver Liebe — fogar einer ver- 
nünftigen Gefelfchaft genommen find, bisweilen einen Seufzer 
nicht unterbrüden. An den Brüften der Natur hange ich jetzt 
mit verboppelter "Inbrunft; fie mag ihre Stirne mit Sonnen- 
ftrahlen oder kalten Nebeln umbinven, ihr mütterliches Autlitz 
lägelt mir immer, und oft werb’ id} verfucht, mit bem alten 
Yunins Brutus mich auf ven Boden binzuwerfen, und ihr mit 
einem ſtunnnen Kuß für ihre Freundlichkeit zu danken. In ver 

! Unter den auf Goethes Antrieb gu Fraukfurt 1776 erſchienenen 


„moral=philofophifhen Abhandlungen" Ealjmann’s befindet fih auch eine, 
die über die Glückfeligkeit Handelt. 





73 


That, ich finde in der Flur um Landau täglich neue Schön- 
beiten, und. ber fältefte Nordwind kann mich nicht von ihr zuräd- 
ſchrecken.“ Zu gleicher Zeit geftcht er, daß er bei feinen Betrach⸗ 
tungen noch oft in's Schwärmen gerathe, wovor er feinen Geift 
in Acht nehmen müffe. „Meine Leltüre,“ ſchrieb er kurz vorher, 
„ſchränkt fi jegt auf drei Bücher ein: eine große Nürnberger 
Bibel mit der Auslegung, bie ich überſchlage, ein bider Plautus 
mit Anmerkuigen, die mir die Galle etwas aus dem Magen füh- 
ven, und mein getreueſter Homer.“ Im Oftober meldet er Salz 
mann, er fei jegt Chrift geworben, und endlich, nachdem er lange 
an allem gezweifelt habe, zu einer Ueberzeugung gelommen, wie 
fie ihm nöthig gewefen, zu einer philoſophiſchen, nicht bloß 
moralifhen, worauf er ihm feine jegt gewonnene Anficht von 
der Erlöſung mittheilt. „Sehen Sie bier den Ertrakt meiner 
Religion, das Fazit einer aufmerkfamen Leſung der Evangeliften, 
deren göttliche oder menſchliche Begeifterung ich unausgemacht laſſe, 
und fie bloß als aufeichtige Erzähler anfehe. — Ich bin alfo jetzt 
ein guter evangeliſcher Chriſt, obgleich; ich fein orthodorxer bin. 
Kann ich in meiner: Ueberzeugung weiter kommen, fo will ich dem 
Gott dafür daulen, ber es weiß, daß biefes das Lieblingsftubium 
meiner Seele ift und ewig bleiben wird. Doc Hoffe ich niemals 
Prediger zu werben, Die Urſachen — da müßt! ich Ihnen Bogen 
voll ſchreiben. Ich fühle mich nicht dazu. Dies ift aber Fein 
dunkles, finnliches — fondern das Gefühl meines ganzen Wefens, 
das mir fo gut als Ueberzeugung gilt." Salzmann macht ihm 
aber feine ganze Erlöfungstheorie zu Schanden, indem er ihn in 
vielen Punkten, wie er ſelbſt gefteht, gründlich wiberlegt, während 
er in Bezug auf andere ſich nech nicht überführt hält. „Mein Haupt- 
ſiſtem bleibt dennoch unverrückt,“ fehreibt er, „und. das ift freilich 
einfach genug, aber darum flir meine Seele zuträglicher, weil fie 
Pein empfindet, wenn fie ſich lange bei Wahrheiten aufhalten 
\ fol. Und das ift dies: „EB geht mir gut in der Welt, und wird 
mir in Ewigfeit gut gehn, fo lang ich ſelbſt gut bin: deun ich 
habe dort oben einen ſehr guten Vater, der alles, was er gemacht 


74 


bat, ſehr gut gemacht hat — und wenn ſich dies letztere mir nicht 
allezeit fo darſtellt, fo liegt die Schuld an meinem dummen Ber- 
flande. Eine gewiſſe Offenfarung beflätigt dies mein Gefühl — 
tant mieux! fie fagt mir, das anfcheinend und wirklich Böſe in 
der Welt fange jet ſchon an und folle dereinſt ganz aufgehoben 
werben, und’ das hab’ ich dem Sohne Gottes zu danken, ob mm 
feiner Lehre allein oder auch wirklich feinem Verdienſte (wenn an⸗ 
ders, um von Gott nicht menſchlich zu reden, bei Gott ein Ber- 
dienſt ftattfinden kann; deun bei ihm ift alles Gnade), tant mieux! 
fage id; das ift eine ſchöne, froße Botſchaft (Evangelium); ich 
glaube fie herzlich gern, und freue mich darüber, und bies ven’ 
ich, ift der Glaube, der mic, felig machen fol, und ſchon bier 
glüdfelig oder felig macht; denn dieſe beiden Wörter, ven? ic, 
find aud eine.” Bon biefer Welt aber denkt er nicht fo verächt⸗ 
lich, wie Salzmann; fie fei gut, mit allen ihren eingefchloffenen 
Uebeln ; das Reich Gottes ſei nicht bloß in jenem Leben zu hoffen. 
„Wenn’s Glüd gut ift, bin ich noch immer ein heimlicher Anhänger 
vom taufenbjährigen Reiche; "wenigftens glaub’ ich gewiß, daß ber 
Zuftand unferer Welt nicht immer berfelbe bleiben wird. Und 
chriſtlich = phuflfches Mebel muß immer mehr drin abnehmen, 
wenn das moralifhe darin abnimmt; und das wollt’ id} - beinahe 
beweifen, wenn anbers eine Seele, die immer entrechats- macht, 
wie eine Närrin, im ihrem Leben jemals etwas wird. beweifen 
innen.“ i 

Bald darauf, Ende Oktober over im folgenden Monat, " macht 
ex feinem Freunde eine wunderlich mufteridfe Mittheilung. „Meine 
Seele hat ſich hier zu einem Entſchluſſe ausgemwidelt, dem -alle 
Ihre Vorftellungen — dem die Borftellungen ber ganzen Welt viel- 


! Bei Stöber find die Briefe irrig geordnet. Brief 10 und 11 ge⸗ 
Hören nach Brief 43; denn, Brief 10 begiept ſich deutlich genug auf Brief 12, 
als „ven allererfien Brief über bie Grlöfung", um anderer Hindeutungen 
nicht zu erwäßnen, und es fehlen bei Brief 40- und 41 die Anreden, bie 
Lenz erſt in Brief 12 wegzulaſſen beginnt, wo er auedrücklich bemerft: 
„Doch ich will von jeht an immer opne Titel an Sie fehreiben.“ 


75 


licht feine andere alte werben geben können, wenn ich anbers ihn 
einem Menfchen auf ver Welt mittheile, ehe er ausgeführt ifl. — 
Mein guter Sokrates, entziehen Sie mir um beifeutwillen Ihre 
Freundſchaft nicht! Bedenken Sie, daß die Welt ein Ganzes ift, 
in welches allerlei Individua paflen, die der Schöpfer jeves mit 
verfchievenen Kräften und Neigungen ausgerüftet hat, die ihre Be- 
fimmung in ſich felbft erforſchen und hernach dieſelbe erfüllen 
müffen, fie feie, welche fie wolle. Das Ganze gibt doch hernach 
die ſchönſte Harmonie, bie zu denken ift, und macht, daß ber 
Wertmeifter mit guäbigen Augen darauf hinabſieht, uud gut 
findet, was er geſchaffen hat! . Nicht wahr, ich rede myſtiſch; 
Ihnen fehlten die Prämiffen, um meine Folgeſätze zu verfichn. Sie 
werben fie verftehn ; nur Gebulv!" Welchen wunberlichen Blan, wenn 
wir nicht irren, mit Bezug auf ven Beſitz Friederikens, ſich Lenz 
damals ausgefonnen, möchte ſchwer zu errathen fein; doch dürfte bie 
Kurz vorhergehende Bemerkung: „Unfere Seele ift nicht zum Stillfigen, 
fonbern zum Gehen, Arbeiten, Handeln geſchaffen“, darauf hindeuten, 
daß er .in ein tätiges Leben überzugehn gedachte. Im folgenden 
Briefe brüdt er ſeine Freude varüber aus, daß Friederile aus Straf 
burg, wo fie fih alfo wieber einige Zeit bei ihren. Verwandten 
aufgehalten Haben muß, an ihn gefehrieben habe. Der Brief ſcheint 
aber wenig anderes enthalten zu haben, als bie Nachricht, daß fie 
die Freude gehabt, Salzmann am Fenſter zu fehn, und daß fie 
durch feinen Anblick ermuthigt worden fei, nad) ben beiden anderen 
Theilen von Fielding’ Roman ! zu fchiden, weshalb fie die Bitte 
binzufügte, Lenz möge ihre Dreiftigfeit bei feinem Freunde ent- 
ſchuldigen. „Iſt das nicht ein gutes Mädchen? —“ fährt er fort, 
nachdem er bies Salzmann erzählt hat. „Und doch muß ich meinen 
Entjhluß vor Ihnen verbergen. — Was ift das für ein Zufam- 
menhang? Ein trauriger! — Ich bin dazu beftimmt, mir ſelbſt 
das Leben traurig zu maden — — aber ich weiß, daß, fo 

* Im Briefe von Renz nach dem Abdrude bei Gtöber ©. 73 iſt nur 


von „dem andern“ Thelle die Rede. "Die erſte deutſche Meberfehuug des 
„Tom Jones“ erfchten in vier Theilen. 


76 





ſehr ih mir jegt die Finger am Dorne zerrige, daß ich doch ein- 
mal eine Rofe brechen werde. — Zu allem dieſem werde ich Ihnen 
die Schlüffel in Straßburg geben.” Man fühlt, daß er noch 
immer nicht ‚die Hoffnung aufgegeben hat, Friederike werde ihm, 
wenn feine äußern Berhäftniffe ſich befier geftaltet haben würden, 
ihre Hand geben: aber biefe hatte, wenn fie auch dem phantafti- 
ſchen Schwärmer mit dem allerliebften Köpfchen, niedlichen, etwas 
abgeftumpften Zügen, blauen Augen und blonden Haaren! nicht 
abgeneigt war, doch ihre Liebe zu Goethe treu bewahrt, und 
dachte an nichts weniger, als am eine Verbindung mit einem fol- 
hen ercentrifhen, immer umruhig umgetriebenen, jedes feften fitt- 
lichen Haltes entbehrenden Manne, 
Bald darauf muß Lenz nad Straßburg gurücgelehet fein, 
wo er mit fehr. geringen Unterbrechungen bis zum März 1776 
blieb. Doch fehlen uns über dieſe Zeit alle zufammenhängenven 
Nachrichten. Wahrfcheinlich wird er von Zeit zu Zeit nach Sefen- 
heim gegangen fein, und dort freundliche Aufnahme gefunden 
haben, ohne ‘aber irgend Hoffnung auf Friederilens Hand zu erhal- 
ten, vielmehr mußte ex fich überzeugen, daß biefe in treuer Liebe 
Goethe'8 Andenken bewahrte. Diefer war auch nach der Rücklehr 
von Straßburg mit Lenz und Salzmann in Verbinvufg geblieben. 
Letzterm hatte er den „Götz“ in ber erften Benrbeitung zugefandt, 
und biefen bereit8 am 3. Februar 1772 mit Salzmann's Bemer- 
Hungen nicht ohne Beifallsbezeugungen zurüderhalten. Ohne Zmeifel 
theilte er ihm auch feine porher erſchienenen Schriften, den Bogen 
„von beutfcher Baukunſt“ (Ende 1772),? den „Brief des Baftors 

Bgl. Goethe B. 22, 57. \ 

2 Gegen Anfang November 1774 fchreibt er an Salgmann! „Dem 
Herrn Silbermaun (wohl dem B. 22, 62 f. erwähnten Schaffner am 
Münfter), wenn Sie ihn fehen, viel Grüße von meinetwegen! Bitten Sie 
ihn um eine Kopie des Münfterfundaments. Und fein Cie fo gut unter 
der Hand zu fragen, ob und wie man zu einer Kopie des großen Riſſes 
Tommen Konnte.“ Am 28. November trägt er Galgmann auf, Gilbermann 
wegen bes gefandten Münjterfundamentes zu danlen; mit den Riſſen will 
er es anſtehn laſſen. 





B 77 


zu * * *," umb bie „zwo bibliſchen Fragen“ (1773) mit. Da er 
von „Götz“ ein Exemplar zu viel an Salzmann gefchiet Hatte, 
ſchrieb er diefem: „Wenn Sie das Eremplar „Berlichingen“ noch 
haben, fo ſchicken Sie's nad Sefenheim unter Aufſchrift: „An 
Mamfell Brion", ohne Vornamen. Die arme Friederile wird. 
einigermaßen ſich getröftet finden, wenn ber Untrene vergiftet wird. 
Sollte das Exemplar fort fein, fo beforgen Sie wohl ein neues.“ 

Gleich nad) dem Erſcheinen des „Götz“ ſchickte Lenz an Goethe, 
der ihm ohne Zweifel auch ein Exemplar überfanbt hatte, einen 
weitläufigen, auf geringes Conceptpapier, beflen er fid gewöhnlich 
bebiente, gefchriebenen Aufſatz, unter dem Titel: „Ueber unfere 
Ehe“! „Das Hauptabjehen biefer weitläufigen Schrift,” erzählt 
Goethe (®. 22, 189), „war mein Talent und das feinige neben- 
einander zu. ftellen; bald fehien er ſich mir zu ſubordiniren, bald 
fih mir glei} zu fegen; das alles aber geſchah mit fo humorifti- 
ſchen und zierlihen Wendungen, daß ich bie Anfiht, die er mir 
dadurch geben wollte, um fo lieber aufnahm, als ich feine Gaben 
wirklich ſehr Hoch ſchätzte, und immer nur darauf drang, daß er aus 
dem formlofen Schtweifen ſich zufammenziehen, und bie Bilbungsgabe, 
die ihm angeboren war, mit kunſtgemäßer Faſſung benutzen möchte. 
Ich ermwieberte fein Vertrauen freundlihft, und weil er in feinen 
Blättern auf bie innigfte Verbindung drang, fo theilte ich ihm von 
nun an alles mit, ſowohl das ſchon Genrbeitete, als was ich vor- 
hatte; er fenbete mir dagegen nach und nad) feine Manuſtripte.“ 
Goethe ſcheint hier anzubeuten, daß jene allerengfte Verbindung 
erft nad) dem Erſcheinen des „Götz“ eingetreten fei; indeſſen mag 
ihm hier das Verhältnig nicht mehr ganz deutlich vorgeſchwebt 
Haben, ba nad) allem anzunefimen ift, das zu Straßburg in ver 
- legten Zeit ganz eng gefnüpfte Bündniß habe feine Unterbrechung 
erlitten. ? Goethe nahm zunächft den größten Anteil an Lenzens 


* Zur Erklärung des wunderlichen Titels erinnern wir an bie Aeuße - 
ung @oetfes in dem Briefe an Gngeldag: „Der A am ith / mir werten 
uns nächftens Fopnlicen Iaffen."  (GAll ©. 47). 

3 &egen die Mitte des Jahres 1773 freibt Goethe an Galmann: 


78 


„Luftfpielen nach dem Plautus fürs deutſche Theater“, über die 
er fi in einem Briefe an Salzmann vom 6. März 1773 aus- 
ſpricht, und in die er felbft manche Striche gethan zu haben ſcheint. 
Im Berlagsfatalog von Wengand in Leipzig werden fie immer 
unter dem Titel „von Goethe und Lenz“ angeführt. Er beforgte 
hierfür, wie für feine andern Sachen dem Freunde einen Verleger, ' 
wie auch Salzmann für feine „moralphilofophif—hen Abhandlungen“. 
Bol. den Brief vom 5. Dezember 1774. Schon am 3. Novem-, 
ber 1773 ſendet Goethe an Betti Jacobi bie erften Bogen jener 
Luftjpiele, und bald darauf melbet er: „Mit ver fahrenden (Poft) 
kriegen Sie ein Allerlei, darin die folgenden Bogen zum Bäter- 
hen (dem erften jener Luftpiele), davon fie zum Troſte Jung's 
(Jung Stilling's) chriſtgläubiger Seele ‚jagen können, daß ich's 
nicht gemacht habe. Ich hab's nicht gemacht, Mamachen, aber 
ein Junge, den ich liebe, wie meine Seele, und der 


ein trefflicher Junge iſt. Aber warum richtet man nach 
Werken!" Sie erſchienen im folgenden Jahre, wie auch eine an- 
dere wunderliche Schrift yon Lenz, die man zum Theil Goethe | 


ſelbſt zufchrieb, unter dem Titel: „Anmerkungen über's Theater 
nebft artgehängtem überfegten Stüd Shakeſpear's“ (Love’s labour’s | 
lost), worin er in ſchärfſter Weife ſich gegen Ariftoteles und das | 
franzöſiſche Drama erflärt, dagegen Shafefpenre als einen Heiligen | 
verehrt, ber ein Theater für das ganze menſchliche Geſchlecht auf- 
geſchlagen habe. Die Sprache ift wild und überfprubelnd, und 
„Sie Haben lange nichts von mir felbft, wohl aber gewiß von Lenz und 
einigen Fremden allerlei von mir gehört. — Lenz fol mir’ doch ſchreiben. 
Ich Habe was für ihn aufm Kerzen." Die „Luſtſpiele nach dem Plautus“ 
Hatten ohne Zweifel zu vielfachen Briefen Beranlaffung gegeben. Der in 
awei Briefen Goethe’ an Galgmann mit feinem Spignamen bezeichnete 
O-ferul {ft wohl nicht Lenz; auch an Jung und Lerfe kann nicht gedacht 
werben. Iſt vielleicht Weyland gemeint? Die Worte: „Der arme O-ferul 
jammert mich; es war eine treue Seele,“ deuten vieleicht auf den Tod 
von Wepland's Vater, Mir wiffen, daß 1775 beide Eltern tobt waren. Die " 
Beziehung. des Namens (0 ferula?) wagen wir nicht zu errathen. 
* In Steafburg hatte die Zenfur den Druck unterfagt. Bol. Merd’s 
Briefe IT, 49. 





79 


wird durch das Streben nad Seltfamfeit, beſonders bie alberne 
Manier, die angefangenen Säge unvollendet.zu” laſſen, höchſt ge— 
ſchmacklos. Leſſing ſprach darüber feinen Aerger aus. In vemfelben 
Jahre erfchienen die beiden Komödien „ber Hofmeifter" und „der neue 
Menoza“, die man von manchen Seiten Goethe‘ zufchreiben wollte. 
Auf Veranlaflung der Briefe, welche Wieland über feine 
Alceſte“ in das Ianuar- und Märzheft 1773 des „Merkur” hatte 
einrücken laſſen, hatte Goethe die Farze „Götter, Helden und 
Wieland" geſchrieben. Er felbft berichtet uns (B. 22, 248), er 
babe dieſe Farze, die er in einer Sitzung niedergefehrieben, in 
der Handſchrift an Lenz geſchickt, welcher gleichfalls davon entzüct 
geſchienen, und behauptet, es müffe auf der Stelle gebrudt werben. 
„Nach einigem Hinundwieberfchreiben geftand ich e8 zu, und er gab 
es in Straßburg eilig unter die Preſſe. Erſt lange nachher erfuhr ich, 
daß dies einer von Lenzens erften Schritten gewefen, wodurch er mir 
zu ſchaden, und mich beim Publikum in übeln Ruf zu fegen die Abficht 
hatte.“ Daß er hierüber (die Farze erſchien in ben erften Monaten 
des Jahres 1774), jo wie über Lenzens Abficht, ihn in der öffent- 
lichen Meinung und fonft zu Grunde zu richten, fpäter duch Frie- 
verife aufgeklärt worben fei, erzählt ev B. 27, 471. Aber hiermit 
ſcheint Lenz ein Unrecht zu geſchehn, da ja dieſer feblft ih auf das 
ihärffte gegen Wieland ausſprach, ohne zu fürchten, fi dadurch 
um den Kredit zu bringen, vielmehr die junge Litteratur gefamm- - 
ter Hand gegen Wieland die Pfeile ihres Spottes und- Haffes 
wandte. Auch nahm ja Goethe im allgemeinen gar wenig Rüd- 
fiht auf das Publitum, wie feine humoriſtiſchen Sachen bemeifen, 
die er damals felbft ober durch andere, wie das „neueröffnete 
moraliſch politifche Puppenfpiel” durch Klinger, * herausgab. ‚Und 
er felbft nimmt in- einem Briefe, in weldem er das Erſcheinen 
jenes „Schand- und Frevelftids" an Johanna Fahlmer melvet,? 


BVol. Wagner zn der zweiten Sammlung der Briefe an Merk 
©. 244. Klinger ſelbſt fol zwei feiner Stücke an einen Freund geſchenkt 
haben. Vgl. daſelbſt ©. 287. 

‚ ? Briefmechfel jwiſchen Goethe und Jacobi ©. 14. 


80 


die ganze Schuld auf fi. Ueberhaupt feheint Lenz bamals nichts 

ferner gelegen zu Hiben, als Goethe zu ftürgen, vielmehr dachte er \ 
mit biefem und durch ihn fih zu den höchſten Würden bes deut⸗ 
ſchen Parnaffes aufzuſchwingen, wie ſich dies in den munberlichen, 
kurz nad) „Werther“ entftandenen dramatiſchen Szenen ausfpricht, 
denen er ben Titel: Pandaemonium Germanicum gab. „Wer- 
ther“ hatte ihn mit dem feurigften Enthuſiasmus erfüllt, und ihn 
zu ben Briefen „über Werther’ Moralität" veranlagt, deren Drud 
Goethe wünfchte. ' 

Als Goethe auf der Rüdreife aus der Schweiz, wohin ihn 

bie Liebe zu Lili getrieben Hatte, gegen ben 20. Suli 1775 nad) 
“ Straßburg kam, freute er fi, feinen Penz wiederzufinden. Mit 
. ihm beftieg er den Münfterthurm (8. 31, 24), und überzeugte 
fih mit ihm immer mehr, daß „Schöpfungskraft im Künſtler fei, 
aufſchwellendes Gefühl ver Verhältniſſe, Maße und des Gehörigen, 
“ und daß nur durch biefe ein felbftändig Werk, wie anbere Ge 
ſchöpfe durch ihre individuelle Keimkraft hervorgetrieben werben“. 
Damals ſchrieb er in feine Schreibtafel vie fehr bezeichnenden 
Worte: „Wie viel Nebel find von meinen Augen gefallen, und 
doch bift du nicht aus meinem Herzen gewiden, alles belebende 
Liebe, die du mit der Wahrheit wohnft, ob fie gleich jagen, bu 
feift lichtſcheu und entflichend im Nebel" Daß er damals, mo 
bie Liebe zu Lift ihn leidenſchaftlich umtrieb, feine Friederike nicht 
wieber befuchen Konnte, erklärt fi ſeht natürlich, ohne daß wir 
zu ber Annahme zu greifen nöthig hätten, Lenz Habe ihn durch 
falſche Vorfpiegelungen davon abgehalten. 

Aus dem leidenſchaftlichen Schmerze über Lili's Verluſt rettete 
ſich Goethe durch die Ueberſiedlung nach Weimar, wo er ſich bald 
mit aller Wärme vertraulichſter Neigung zu der edlen Frau von 
Stein hingezogen fühlte, in welcher er feine Nathgeberin, Beic- 
tigerin und Befänftigerin verehrte. Der aufgehende Stern feines 
Glüdes 308 bald viele aus allen Gegenden Deutſchlands nad) dem 

' Bol. Studien zu Goethe's Werken S. 199 f. Er trug fie fpäter in 
der „Gefellſchaft zur Ausbildung der deutfehen Sprache” vor. 





8 


Meinen, mit reicher Bildung ausgeftatteten Weimarer ‘Hofe, wo 
ein junger geift- und gemithreicher, mit frohem, keckem Muthe in’s 
friſche Leben greifenter Fürft zu den ſchönſten, beglüdenpften Hoff- 
nungen berechtigte. Unter biefen mit Ausſicht auf glücklichen Er- 
folg nad) Weimar firömenden Gäften befanden ſich auch Goethe's 
Freunde, Lenz und Klinger, die hier’ beide das gehoffte Eldorado 
nicht finden follten, der eine, weil er für biefe Kreiſe zu fireng und 
ſtarr war, der andere, meil er fih in einem tollen, zweck- und 
haltlofen Treiben gefiel. Lenz erſchien bereits im März 1776, 
wo er ſich gleich am erften Abend durch eine närrifhe Tollheit 
einführte, indem er ungelaben auf einem Bal paré bei Hofe im 
Domino erfhien; denn dieſe Erzählung ift beglaubigte, als bie 
+ Darftellung Böttiger’s, Lenz fei zerfumpt nad Welmar gekommen, 
und babe gleih an Goethe geſchrieben: „Der lahme Kranich ift 
angelommen, und fucht, wo er feinen Fuß hinſetze,“! obgleich die 
Bergleihung mit dem Kranich ächt Lenziſch ift, wie dieſer z. B. 
einmal an Salzmann ſchreibt: „Auf einem Fuß, wie ein reiſe— 
fertiger Kranich, ſteh' ich jetzt.“ Goethe fand in ber erſten Zeit 
an dem tollen Phantaſten Gefallen, für deſſen Unterhalt ver Her— 
308 forgte. „Wir machen hier des Teufels Zeug,“ ſchreibt er an 
Mer, „doch ich weniger, als ver Burſche, der nun ein herrlich 
Drama auf ünfern Leib ſchneidet.““ Am 5. April fragt er bei 
Frau von Stein an: „Liebfte Frau, darf ich heut’ früh mit Len- 
zen kommen? — Sie werden das kleine wunberliche Ding (Lenz 
war Mein von Geftalt) fehn, und ihm gut werben." Einer Eſelei 
Lenzens, bie geftern Nacht ein Lachfieber gegeben, erwähnt Goethe 
in einem Briefe vom 25. April, und am 10. Mai bemerft Wie- 
land, „Lenz made alle Tage regelmäßig feinen dummen Streich, 
unb wunbere ſich darüber Hinterbrein, .wie eine Gans, wenn fie 
ein Ei gelegt“. Am 14. Mai will Goethe mit. Wieland Frau 


* Salt Über Goethe ©. 426 ff. Bottiger's literarifche Zuſtände I, 18 f. 
2 Was hier gemeint fei, läßt fih nicht wohl errathen. Eine poetifche 
Beſchreibung des herzoglichen Gartens, in welgem Goethe wohnte, hatte 
Renz nach Frankfurt an die Frau Rath gefandt (Riemer 11,:27). 
Dünger Brauenkilter 1006 


82 _ 

von Stein abholen, wobei er bemerkt, daß fie etwas won Penz 
vorzulefen Haben.‘ Zwei Wochen fpäter meldet Wieland an Merd: 
„Lenz liefert alle göttliche Tage regulierement feinen dummen Streich, 
fragt, wo er hinkömmt, es fei auf dem Felde ober in der Stabt, 
fo bald er eine halbe Stunde da geweſen, im Vertrauen: „Habt 
ihr Feder, Dinte und Papier?” und ſchmiert, wie ſich's gebührt,“ 
wobei Wieland ſich migmuthig äußert, daß er Hinter ben’ neuen 
Günftlingen des Glüdes zurcftehn müſſe. Unterdeſſen hatte es 
ſich entſchieden, daß Goethe in Weimar bleiben werde, und ber 
Herzog ernannte ihn am 11. Juni zum geheimen Legationsrath 
mit Sig und Stimme im geheimen Confeil. 

Die Beſchreibung, melde Klinger, der damals in Giefen war, 
durch Goethes Mutter von bem Weimarer Glüd erhielt, lockte 
auch dieſen an, ber am 24. Juni zu Weimar anlangte. „Am 
Montag kam ich hier an,“ fehreibt Klinger an einen Sugenbfreund, 
„lag an Goethe's Hals, und er umfaßte mid; mit inniger, mit 
aller Liebe: „Närrifcher Junge!“ und Friegte Küffe von ihm: „Toller 
Junge!” und immer mehr Liebe; denn er mußte fein Mort von 
meinem Kommen, fo kannſt bu denken, wie ich ihn überraſchte. 
O was von Goethe zu fagen ift! ich wollte eher Sonne und Meer 
verſchlingen! Geftern brachte ich ben ganzen Tag mit: Wielanden 
zu. Er ift der größte Menſch, ben ich nach Goethe’gefehen habe, 
den du nie imaginiren Fannft, als von Angeſicht zu. Ungeficht. 
Größe, Liebe, Güte, Beſcheidenheit — fteinige ven Kerl, ver ihn 
werfenut, wenn er ihn gefehen, an.feiner Bruft gelegen hat, feinen 
Geift umfaßte und ihn begriff. Hier find die Götter! Hier ift der Sitz 
des Großen! Lenz wohnt unter mir, und ift in ewwiger Dämmerung.“ 
Aber nur zu bald trübte fih das Verhältniß, ba Klinger ſich über 
manches mißftimmt zeigte, und durch fein herbes, ſcharfes Wefen, 
das fid. in feinem Leben, wie in feinem Dichten und feiner ganzen 
Erſcheinung ausſprach, nad) manchen Seiten Anftoß erregte; . er war 
ber gerade Gegenfag bes zwecllos ſchwankenden, Feiner innerlichen 


' Vielleicht das Gedicht „Wetrarch“ bei Tieck IT, 77 ff. 


83 

Faffung fähigen Lenz, da er überall entſchieden vor- und durchdringen 
wollte. So meldet denn Goethe ſchon am 24. guli von Amenau 
aus, wohin er ſich mit dem Herzog auf mehrere Wochen des 
Bergwerks wegen begeben hatte: „Klinger kann nicht mit mic wan- 
ven, er drückt mi. Ich hab's ihm gefagt, darüber er aufer 
ſich war, und's nicht verftund, und ich's nicht erflären Tonnte und 
mochte.“ 

Unterbefien war Lenz, ber enblid ſich mäßigen Iernte, nad) 
dem zwei. Stunden von Weimar angenehm gelegenen Städtchen 
Berka gegangen, wo er ſich wohl gefiel, fo daß Goethe fchreiben 
Konnte: „Lenz warb endlich gar lieb und gut in unferm Wefen, 
ſitzt jet in Wäldern und Bergen allein, fo glüclich, als er fein 
Tann.“ Hier feierte er vor allen Wieland in einem wunderlichen 

im „Merkur“ und in ber „Iris“ dbgebrudten Gedicht, in welchem 
“er biefen bittet, fein Lehrer zu werben „in jener Kunft, ver Tu- 
gend Panier mitten im Meer der Welt zu pflanzen”. 

Komm’, ſchließe dich mit Goethen an, . 
Melpomenens Liebling, mich zu bilden, 

Und macht aus einem Waregiſchen Milben , 

Der keinen Vorzug Tennt, als daß er euch fühlen kann, 
Einen eurer nicht unwerthen Man. 


Am 9. September melvete Wieland an Merk: „Bon unferw 
Lenz wird Ihnen Goethe bald was fchiden, das Ihnen Spaf 
machen wird.‘ Man fann ven Yungen nicht. lieb genug haben. 
So eine ſeltſame Kompofttion von Genie und Kindheit! So ein 
Maulwurfsgefühl und fo ein neblichter Blick! Und ver ganze Menſch 
ſo harmlos, fo befangen, fo liebevoll! Er lebt noch immer in 
feiner Camera obsenra zu Berka, und macht nur alle brei oder 
vier Wochen eine kurze Erſcheinung bei und. Wir lieben ihn alle 
wie unfer eigen Kind, und fo lang er felbft gern bleibt, foll ihn 
nichts von uns ſcheiden.“ 

Gegen Ende Auguft war Lenz, „das Heine Ungeheuer", bei 


! Vielleicht das ſchon erwähnte Gedicht „Betrarch“. 


84 


Frau von Stein auf ihrem Gute Kochberg geweſen, und dieſe 
äußerte bald darauf an Goethe den Wunſch, ihn auf längere Zeit 
zum Unterricht im Englifchen bei fi zu haben. „Ich fehid’ Ihnen 
Lenzen,“ ſchreibt Goethe am 10. September an Frau von Stem; 
„endlich hab’ ich's über mich gewonnen. O Sie haben eine Art 
zu peinigen, wie das Schidfal; .man kann ſich nicht. darüber be- 
Magen, fo meh es thut. Er fol Sie fehen, und bie zerftärte 
Seele foll in Ihrer Gegenwart bie Balfamtropfen einfchlürfen, 
um bie id; alles beneide. Er foll mit Ihnen fein! — Er war 
ganz betroffen, ta ich ihm fein Glück anfündigte, in Kochberg mit 
"Ihnen fein, mit Ihnen gehn, Sie lehren, fir Sie- zeichnen; Sie 
werben für ihn zeichnen, für ihn fein. Und ih — zwar von mir 
ift die Rede nicht, und warum follte von mir die Rede fein! — 
Er war ganz im Traum, da ich's ihm fagte, bittet nur, Geduld 
mit ihm zu haben, Eittet nur, ih in feinem Wefen zu laſſen. 
Und id) fagt’ ihm, daß er es, eh’ er gebeten, habe." Er ſchickt 
einen Shafefpeare mit, ‚hofft Goldſmiths „Landprieſter“ nadhzu- 
ſchicken, und wünſcht, daß fie bie ſchöneu Herbfttage recht genieße. 
„Von mir,* fügt er in empfindlicher Gereiztheit Hinzu, „hören Sie 
nun nichts weiter. Ich verbitte mir auch alle Nachricht von Ihnen 
ober Lenz, Wenn was zu beftellen ift, mag er's an Philipp 
(Goethe'8 Diener) ſchreiben.“ Aber erft zwei Tage fpäter meldete 
AM) Lenz zur Abreiſe, wo er denn beruhigter,. und- faft abbittend, 
ſchreibt: „Lenz will num fort, umd ich hatte Bedenken, Ihnen die vor- 
hergehende Seite zu ſchicken. Ach, Sie mögen fehn, wie mir's im 
Herzen manchmal ausfieht, wie ich auch ungerecht gegen Sie mer- 
den kann.“ Am 16. September wünfcht er: „Lohn's Gott, was 
Sie für Lenzen thun,“ und melbet, daß ver Herzng wohl Einfie- 
del mit zu, ihr nehmen werbe, da er nicht kommen dürfe. -In 
einem Briefe an Lavater von vemfelben Tage heißt e8: „Lenz ift 
unter uns, wie ein franfes Find, und Klinger wie ein Splitter 


% Frau von Stein Hatte dem Dichter angedeutet, daß fie feinen Bes 
ſuch in Kochberg nicht wunſche, Hatte dagegen Lenz verlangt. 





85 


im Fleiſch; er ſchwürt und wird ſich herausſchwüren leider.” ' „Ich 
bin in Kochberg,“ ſchreibt Lenz am 23. Oktober 1776, einem Mitt- 
woch, an Salzmann, „bei der liebenswürdigſten und geiftreichften 
Dame, bie ih kenne, mit ber- ich feit vier, fünf Wochen ben 
engliſchen Shafefpenre leſe. Künftige Woche geht's leider wieber 
nad Weimar. Der Herzog hat neulich hier einen fonberbaren 
Zufall gehabt: er fiel von einem Floß im Schloßgraben in's Waf- 
fer; ich hatte das Glüd, ihn ohne Schaven herauszuziehen. Her- 
der ift mit ihm hier gewefen (am 2. Oftober kam er in Weimar 
an); und find't allgemeinen Beifall. Wer follte ihm aud ben 
ſtreitig machen können? Er und Wieland find, wie ber letzte es 
von jebem fein muß, Freunde, und weten es noch immer mehr 
werben, Goethe hab’ ich nun lange nicht gefehen; er ift fo 
von Gejchäften abforbirt in Weimar, daß er ben Herzog nicht 
einmal hat herbegleiten fünnen." Die wahre Urſache, weshalb 
Goethe Kochberg vermeiden mußte, war alſo auch Lenz damals 
ein Geheimniß. Am 10. November war dieſer in Weimar bei 
Goethe, aber ſchon am 26. beging er einen dummen Streich, eine 
+ „Efelei“, die feine Entfernung von Weimar zur Folge hatte. Auf 
feine ſchriftliche Bitte vom 30. ward ihm nur ein Tag Frift ftill- 
ſchweigend bewilligt.” Wie tief Goethe durch dieſen Vorfall an- 
gegriffen worben, zeigt fein Brief an Frau von Stein: „Lenz hat 
mir weggehenb noch biefen Brief an Herzogin Luiſe offen zugeſchickt; 
übergeben Sie ihn, Liebe Frau! Die ganze Sache reift jo an 
meinem Innerſten, daß id} erft babran wiever fpüre, daß es tüchtig 
ift, und was aushalten kann.“ Der Streich muß ſehr arg gemwefen 
fein, da man manche Tollheiten dem wunderlichen Phantaften 





* Gang ähnlich fagt er in einem Briefe an Merk von bemfelben 
Tage: „Renz it unter uns, wie ein Franfes Kind; wir wiegen und tänzeln 
ihn, und geben und laffen ihm von Spielwerf, was er will. Er hat 
Sublimiora gefertigt, Meine Schnigel, die du auch haben follft, Klinger 
iſt uns ein Splitter {m Fleiſch; feine haste Heterogeneität ſchwüret mit 
uns, er wird ſich herausfhwären.“ 

2 Bgl. Riemer IT, 36. 


86 


nachzuſehn gewohnt war. Nach Böttiger, einer freilich im allge- 
meinen fehr unlautern Duelle, war e8 eine Klatſcherei, die er 
zwiſchen der Herzogin Amalia und Frau von Stein angerichtet; 
-man möchte faft vermuthen, daß es das Verhältniß letzterer zu 
Goethe betroffen. Zwei Monate nach dem Abzuge von Lenz fehreibt 
Wieland über biefen an Merk, er fei ein heterollites Geſchöpf, 
gut und fromm wie ein Kind, aber zugleich voller Affenſtreiche; 
daher er oft ein ſchlimmerer Kerl feine, als er fei und zu fein 
Bermögen haben. „Er hat viel Imagination und keinen Verſtand, 
viel pruritum und wenig wahre Zeugungskraft, möchte immer was 
beginnen und wirken, und weiß nicht, was? und richtet, wie bie 
Kinder, manchmal Unheil an ohne Bosheit, bloß weil er nichts 
anders zu thun weiß. Uebrigens bitte ich Sie doch, weil es ım- 
möglich ift, daß Sie, ohne felbft hier gewefen zu fein, und lange 
hier gewefen zu fein, in unferen Sachen Mar -fehen, aud von 
Lenzen lieber milde, als ſtrenge zu urtheilen.“ 

Klinger hatte ſich ſchon früher entfernt; er lebte zunächſt als 
Theaterdichter der Seiler’fchen Geſellſchaft in Leipzig, wo er bis zum 
Jahre 1778 blieb, trat aber beim ausbrechenden baieriſchen Erb⸗ 
folgekriege in öfterreichifche Dienfte, wo er durch Vermittlung eines 
Herzogs von Würtemberg Pientenant wurde Nach Beendigung 
des Krieges, im Frühjahr 1779, verließ Klinger die öſterreichiſchen 
Dienfte wieder, und begab fi nad Emmendingen zu Schlofjer, 
wo er mit Pfeffel befannt wurde, ber, wie wenig er auch durch 
den Umgang mit biefem Genie fid) erbaut fühlte, doch Schloffer's 

* wegen ihm durch Franklin's Vermittlung eine Kriegsſtelle in ame 
rilaniſchen Dienften zu verfchaffen ſuchte.“ Aber die Sache zer- 
ſchlug ſich. „Klinger ift num bei mir," ſchreibt Schloffer, der ſich 
noch nicht Tange von Lenz befreit fühlte, am 14. Oftober an Merd. 
„Ich wollt’ feinetwegen mehr, als eines Menſchen wegen, daß es 


* Bgl. Gagenbach „I. Sarafin und feine Freunde“ (adgebrudt ans 
dem vierten Bande der Baſeler „Beiträge für vaterländiſche Gefchicter) 
©. 68 ff. Die betreffenden Briefe find aus dem Jahre 1779. Hagenbach 
gibt irrig das Jahr 1778 au. Bol. auch Mers Briefe 11, 80. III, 149. 


87 





wieber Krieg gäbe. Die Zeit wird ihm oft verwünſcht lang, und 
ihm wär's gut, wenn ſtrenge Suborbination ihm amäftren Hilfe.“ 
Im April 1780 verwendete fi) Schloffer bei Sarafin in Bafel 
für Klinger, ver, durch Empfehlungen unterftügt, nad Rußland zu 
gehn bereit war, und er bittet, ihm bis zur Mbreife ein Stübchen 
in feiner Sommermohnung in Pratteln! bei Baſel einräumen zu 
laffen, damit er fein Gelb nicht im Wirthshauſe verzehren müſſe, 
auch ihm Gelb zur Reife vorzuſtreden, welde Wünfhe Sarafin , 
theilnehmend erfüllte. Im Rußland gelang e8 ihm durch feinen 
entſchieden firengen Charakter, allmählich zu ven höchſten Würben 
zu fleigen, wie er fih auch als Dichter einen ehrenvollen Platz in - 
unferer Litteratur, beſonders durch feine tüchtige, wenn auch frei- 
lich ſtarre Gefinnung und feine ſcharfe Auffafjung, errungen hat. 
Lenz ſcheint ſich zuerſt nach dem Elſaß gewandt zu haben. 
Im obern Elſaß verweilte er mehrere Monate beim Pfarrer Luce, 
wie Gtöber ©. 38 berichtet, ber biefen Beſuch offenbar in *eine 
falſche Zeit fegt, nach dem Aufenthalte bei Oberlin. Im Ia- 
amar 1777 befuchte er Pfeffel zu Kolmar, wie aus einem Briefe 
des. letztern an Sarafin (Hagenbah S. 87) hervorgeht. „Lenz 
war acht Tage bei uns," fohreibt diefer, „ein liebenswürdiger 
Funge, der hundertmal mehr ift, als er ſcheint. Ich habe was 
von ihm, wozu er mir bie Erlaubniß ertheilt hat, es unferer 
Seraphine (Sarafin’s Gattin) mitzutheilen, ein Gedichtchen, das 
ex bier geboren hat und das fo eben recht für ihr Herz if." Auch ” 
befuchte er Goethes Schwager? und Schwefter in Emmendingen, 


! ‚Hier entfland ber unter Klinger's Namen gehende „Blimplampfaste“ 
(4780 erfjienen); denn auf einem weißen Blatte des in Garafin's Nachlaß 
befindlichen Gremplars ſteht ansbrüdlich, es fei dort in ländlicher Duße 
durch Sarafin, Klinger, Bfefel und Lavater zufammengetragen worden. 
Dal. Hagenbad) ©. 103, der nicht bezweifeln durfte, daß das Bud) in den 
‚Handel gefommen. Ueber Sarafin vgl. auch Merk's Briefe III, 268 f. 

2 Bol. Hagenbach ©. 78 f. 

* Schloffers Bekanntfchaft ſcheint Renz in Straßburg gemacht zu Haben, 
wo biefer Salzmann und Johann von Tüͤrcheim zu befuchen pflegte. Vgl. 
Nieolovius „I. ©. Schlofers. Lehen und literariſches Wirken" &. 75. 








88 


wo er nicht die günftigfte Schilderung von Goethe gemacht, deſſen 
Schweſter aber mit zärtlichfter Verehrung erhoben zu Haben ſcheint. 
Darauf machte er die Bekanntſchaft des Rathsherrn Sarafin und 
feiner Gattin in Bafel, wandte fi) weiter nad Zürich, wohin 
ihn Lavater z0g, und machte von dort am 3. Juni eine Reife in 
die „wilden Alpengebirge“, in bie er ſich zu vertiefen gebadite. ' 
Bei feiner Rückkehr in Zürich erſchütterte ihn bie Nachricht von 
dem am 8. Juni unerwartet erfolgten Tode von Goethe's Schwe- 
fter. „Sie war für diefe Welt zu reif," fchrieb er an Frau Sa- 
raſin; „alles drückte auf. fie, diefe Heilige, reine Seele mußte ſich 
Luft machen.“ Im Yuli wollte er in Begleitung eines Baron 
von Hohenthal eine Reife nach Italien antreten, aber er gelangte 
mit diefem nur bis zum Fuß des Simplon, wo er fih von ihm | 
trennte, wie er am 9. Auguft von Bern aus fehreibt. Bald 
darauf befindet er fich wieder in Zürid, von wo er einen’ Beſuch 
\ bei don Salis in Marſchlins machte. „Lenz Ienzelt noch bei mir," 
ſchreibt Lavater im Auguft an Sarafin (Hagenbach ©. 41). Am 
28. September richtete Lenz an Frau Saraſin, noch von Zürich 
aus, ein tief ergreifendes Gebicht über den Tod von Goethes 
Schwefter,? worin er die Freundin bittet, bei ihm die Stelle der 
Hingefchievenen zu vertreten, die in-allen Lebensbedrängniſſen fein 
Schuggeift gewefen fei. Von ver Verflärten heißt e8 hier: 
Nach Stöber S. 8 hätte Lenz die „Geſellſchaft zur Ausbildung deutſcher 
Sprache · mit Schloſſer in Verbindung gebracht. In der Komödie: „Der | 
neus Menoga oder Geſchichte des eumbanifchen Prinzen Tandi“ (1774) hatte 
Lenz Schloſſer unter der Perfon des Tandi dargeftellt, worauf dieſer in 
feinem Sendſchreiben: „Pring Tanbi an den Berfafler des neuen Me— 
noza· (Nieofovius ©. 39 ff) erwieberte, wo er unter anderm bemerkt, Lenz 
habe den Stempel des Dichtergenies, womit er ſich begnügen folle. 

' Hierüber wie über das folgende vgl. Hagenbach ©. 87 ff. In den 
Schweizergebirgen fehrieb Lenz den Traum; „Die Erfhaffung der Welt“ 
(bei Tied III, 276 f.). 

2 Das Gedicht ſteht bei Nicolovins ©. 66 f., wird von Tied I. 
©. XCV nur erwähnt. Die „an Henriette überfhriebenen Verſe (bei 
Tied II, 251 ff.) bezieht Nicolovius ©. 63 ff. irrthümlich auf den Top 
von Goethes Schwerter. B 





8» 


Auch ich, auch ich im feligften Momente 
Schlug eine zärtlihe Tangente 

Zur großen Harmonie im Herzen an 
Mit ihrem Bruder, ihrem Dann. 


Bald darauf ging er auf kurze Zeit nad; Emmendingen, wo 
er am 10. Oftober das Gedicht auf Schloſſer's jüngftes Tüchter- 
hen ſchrieb, deſſen Geburt der Mutter den Tod gebracht hatte. ' 
Er ſcheint fi dann wieder nach Zürich begeben zu haben. Auf 
einen Anfall von Wahnſinn deutet ein von Pfeffel am 24. No- 
vernber an Sarafin geſchriebener Brief, in welchem es heißt: „Sen 
zens Unfall weiß ich feit Freitag von Mecheln. Gott wolle, vem 
armen Menſchen beiftehn. Ich geftehe bir, daß tiefe Begebenheit 
weder mic) noch meinen Lerſe ſonderlich überraſchte. — Ich hoffe . 
aber doch, ber gute Lenz werde wieder zurecht Tommen, und 
dann follte man ihm nach Haufe jagen, oder ihm einen bleibenden 
Boften ausmachen. Singularitäten, Bruder, oder Paradorien 
machen immer phyſtiſch oder moraliſch unglüdlicd.” "Im Dezember 
ſchreibt Lavater an Sarafin: „Lenzen müffen wir num Ruhe ſchaffen; 
es ift das einzige Mittel, ihn zu retten, ihm alle Schulden abzu- 
nehmen und ihn zu Heiden.“ In demſelben Monat finden wir 
Lenz in Wintertfur, wo er wahrfcheinlich dei Kaufmann verweilte. 
Noch am 12. Dezember nimmt er ſich Lavater's gegen eine wider 
viefen erfchienene Schrift am, indem er bemerkt: „Die Herren mit 
ihrer fingerlangen Vernunft wollen es dem lieben Gott durchaus 
nicht zugeftehn, daß er über Bitten und Verſtehen thun könne.“ 
„Wir führen alle," fchreibt er von feinen Aufenthalte in Winter: 
thur, „ein ſehr ruhiges und ſtillfröhliches Leben in Hoffnung.“ 

Aber von hier trieb e8 ihn nach dem Elſaß zurüd, und zwar 
wahrſcheinlich nach Sefenheim, wo er mißgünftig von Goethe ge- 
ſprochen zu Haben und vergebens Friederikens Liebe zu erlangen 
beſtrebt gewefen zu fein feheint. Wenn Friederike im Jahre 1779 
unferm Dichter erzählte,. Lenz babe es bis zu ben lächerlichſten 


f Bon Nicolovins ©. 87 f. mitgeteilt. 





90 
Demonſtrationen des Selbſtmordes getrieben, da man ihn denn 
für halbtoll Habe erklären und ihn nach der Stadt ſchaffen können, 
(8. 27,471), fo ſcheint dies nur auf dieſe ſpätere Zeit, das 
Jahr 1777, bezogen werben zu bürfen, ja man könnte auch glau—⸗ 
ben, erft damals habe er Goethe's Briefe zu fehn und zu erha- 
ſchen gefucht, obgleich er dies fehr gut auch früher gethan haben , 
könnte. Aber nicht von Seſenheim aus, wie man nad} jener 
Aeußerung Goethe's vermuthen follte, wurde Lenz nad; Straßburg 
gebracht, fondern er wandte ſich zunächft in halber Verzweiflung 
zu dem Pfarrer Oberlin zu Waldbach im Steinthale, ' wo er am 
20. Januar 1778 mit langen Haaren und hängenden Loden erfchien, 
‚und fi als einen Freund bes mit Oberlin vertrauten Chriftoph 
Kaufmann barftellte.? Hier brach fein Wahnfinn mit wieberholten 
Selbftmorbsverfuchen mehrfach hervor. Im einer Nacht rannte er 
buch den Hof und rief mit Inuter, etwas hohler Stimme ben 
Namen Friederike, worauf er fi, wie ſchon früher mehrmals, 
in den Brunnenteog ftürzte. Er erzählte Oberlin auch von feiner 
unglüdlichen Liebe. Am 6. Februar redete er dieſen mit ausnch- 
menber Freundlichkeit an: „Liebfter Herr Pfarrer, das Frauen- 
immer, von dem ich Ihnen fagte, ift geftorben, ja geftorden — 
o ber. Engel!“ Auf vie Frage, woher er dies wife, antwortete 
er: „Hieroglyphen! — Hieroglyphen!" und mit gen, Himmel geho- 
benen Augen: „Sa — geftorben! — Hieruglgphen!" Darauf 
ſchrieb er zwei Briefe, die er Oberlin mit der Bitte übergab, 
einige Zeilen darunter zu ſetzen. „Ich hatte mit einer Predigt zu 
tun," erzählt dieſer, „und. ſteckte bie Briefe indeſſen in meine 
Taſche. In dem einen an eine anelige Dame in Weimar)? 


* Ueber biefen wahrhaft apoftolifhen Mann vgl. den Brief Pfeffels 
vom 6. Februar 4778 (nicht 4788) bei Hagenbach ©. TI f. 

> Man vgl. hierzu und zum folgenden die Erzählung Oberlin’s bei 
Stöber ©. 11 ff. 

* Ohne Zweifel Bran von Stein. Wahrſcheinlich ſchwebte Lenz bie 
Verzweiflung Abbadonna's beim Aublick der Schöpfung vor, in Klopſtoche 
„Meſſias“ 11, 780 ff. J 


fchien er ſich mit Abbadonna zu- vergleichen; er redete von Abſchied. 
Der Brief war mir unverftänblich; auch hatte ich nur einen. Yugen- 
blick Zeit, ihm zu überfehen, eh’ ich ihn von mir gab (?). Im 
dem andern, an bie Mutter feiner Geliebten, fagt er, er könne 
ihr diesmal: nicht mehr fagen, als daß ihre Friederile nun ein 
Engel fei, und fie würde Satisfaftion befommen.“ Uber in ber 
darauf folgenden Nacht machte er wieberholte Selbftmorbverfuche, 
fo daß Oberlin fi endlich genöthigt fah, ihn am Morgen des 
7. Febrnar, von drei Wächter begleitet, auf feinem. Wägelchen 
nach Straßburg ſchaffen zu laſſen. 

Wir laſſen dieſer ſummariſchen Darſtellung von Oberlin fol- 
gende Darſtellung von Pfeffel in einem Briefe an Saraſin folgen. 
„Er (Lenz) war, wie ihr wißt, beim redlichen Pfarrer Oberlin im 
Steinthal, ven Kaufmann nicht einmal von vorneher zu verſtehn 
gegeben, daß es mit dem Kopfe des armen Menſchen nicht vecht 
flund. Indem dieſer wadere Geiftliche bei, uns war,’ befuchte 
Lenz, der fi durch zwo Predigten und burd. feinen liebreichen 
Umgang alle Herzen gewonnen hatte, ein tobfranfes Kind zu Belle- 
foffe,. eine Halbe Stunde vom Pfarrvorfe Waldersbach (Waldbach). 
Ungeachtet, feine Hoffnung zun Auflommen war, weiſſagte doch 
Lenz in einer Art von Begeifterung, das Kind würve nicht fterben. 
Des andern Tags ging. er, vom Schulmeifter Scheiveder von 
Waldersbach begleitet, wieder nad) Bellefoffe. Unterweges gerieth 
ex in eine heftige Gemüthäbewegung, verdoppelte feine Schritte, 
umd fam wenige Augenblide nad dem Hinſchiede des Kindes bei 
der Mutter an. Er meinte Iaut, hieß aber gleich darauf alles 
hinausgehn. Er warb unbemerkt beobachtet. Er that ein lautes, 
brünftiges Gebet, warf fi auf ven Leichnam, und verſuchte es 
eine ganze Stunde lang, ihn von den Tobten aufzuwecken. Neue 
Gebete unterbrachen vie Verſuche, und als er endlich ihre Eitelkeit 
einfah, ging er zur Mutter. „Es ift geſchehen,“ ſprach er, „es 
iſt umfonft!" Hierauf beſchuldigte er die Mutter fehr bitter, ihr 
Unglaube fei Schuld an der Fruchtlofigkeit des Unternehmens, 
ging zurüd und fagte zum Schulmeifter, der ihn begleitete, er, 


—mm — — ü——— LRLRLRRäRä 


92 


Lenz, babe das Kind vergiftet. Der Schulmeiſter fuchte ihn zu- 
recht zu weiſen, und brachte ihn zur einfamen Frau Oberlin zu- 
rud. Er ſchien wieder befänftigt, ſtürzte ſich aber ein Stockwerk 
hoch zum Fenſter herunter, ohne ſich anders als ein wenig am 

— Arme zu beſchädigen. Des andern Tages ging er zum Stabhalter 
zu Bellefoſſe, gab ſich als den Mörder des Kindes an, und bat 
ihm, er möchte ihm binden. Der Schulmeiſter aber, ben bie zit- 
ternde Frau Oberlin ihm nachgeſchickt, machte ihn los, und brachte 
ihn nach Haufe. Diefen Abend Fam’ der gute Pfarrer an. Lenz 
bat ihn um Erlaubniß, auf fein Zimmer zu gehn. Hier ſchrieb 
ex einige Briefe an Freunde, bie mir der Schulmeifter, der mir 
vor einer Stunde alles felbft erzählte, nicht zu nennen | 
wußte. Man fand auch Feine Adreffen darauf. Ich vermuthete ! 
aber, daß ihr und wir darunter waren. Er nahm darin Abſchied 
von biefen Freunden, und nad einer halben Stumbe hörte ber 
Pfarrer einen gewaltfamen Fall vor dem Fenfter. Er lief hinaus, 
und fand Lenzen unbefhäbigt, der ſich zum ziweitenmale herunter» 
geftärzt hatte.‘ Nun warb er von vier Mann bewacht, weil drei 
nicht hinveichten, ihn in feiner Raſerei zu halten, melde ſich ver- 
doppelte fo oft er eine weibliche Stimme hörte. — Des folgenden 
Tags bat er wegen bes Vergangenen mit taufenb Thränen um Ver— 
gebung, und wurbe mit ber größten Mühe berevet, fih vom Schul- 
meifter und noch zween flarfen Männern nad Straßburg bringen 
zu laſſen.“ Hier wurde er an Prof. Röderer empfohlen, ver 
ihn zum Pfarrer Stuber, Oberlin's Vorgänger in Steinthal, 
brachte. Lenz warf ſich vor biefem nieder, und bat ihn flehentlich, 
mit ihm zu beten, maß dieſer aud) that, bis er vor Schmerz und 
Erſchöpfung nicht mehr konnte. Lenz entfernte fi, in Thränen 
gebabet. Röderer fcheint ihm nach Emmendingen zu Schloffer 





4 Pfeffel erzäplt weiter unten, Renz habe die Mutter bes verflorbenen 
Kindes, ehe er zum Stabhalter gegangen, wegen des ihr verwiejenen Un- f 
glaubens Hläglich um Vergebung gebeten, und er Habe fih, was man seit 
fpäter erfahren, che er zum erflenmal zum Senfter heransgefprungen, ins - 
Baffer geftärzt. Oberlin’s Angaben find Hier glaubwürbiger. 





93 


gebracht zu haben.‘ Am 25. Februar erhielt Pfeffel einen Brief 
von Schloffer, worin biefer die Hoffnung ausſprach, ihn bald zu 
befuchen. Lenz fehrieb darunter, er habe eine große Reife vor, 
und müſſe zuvor noch viel mit ihm fprechen. „Es ift uns allen," 
Schreibt Pfeffel, der dies fogleih an Oberlin meldet, „bang auf 
feine Ankunft; doch Hoffen wir, Schlofjer werde ihn begleiten.“ 
Am 2. März berichtet Schloffer: „Lenz ift bei mir, und drückt 
mich erſtaunlich. Ich Habe gefunden, daß feine Kranlheit eine 
wahre Hypochondrie iſt. Ich habe ihm Heut’ eine Propoſition ge- 
than, wodurch ich ihn gewiß kuriren würde; aber er ift wie ein 
Kind, keines Entſchluſſes fähig, ungläubig gegen Gott und Men- 
hen. Zweimal hat er mir große Angft eingejagt, fonft ift er 
zwiſchen der Zeit ruhig.“ Indeſſen bra bald darauf fein Wahn- 
fim mit folder Heftigfeit aus, daß man ihn in Setten legen 
mußte. „Mit Lenzen iſt's num fo,“ ſchreibt Schloffer im April 
an Sarafin, „daß ih ihm nicht mehr behalten kann. Er ſchien 
auf dem Wege ver Befferung, aber mit dem neuen Licht kam aber- 
mal feine Krankheit. Er wollte fi) wieder zum Fenſter hinaus- 
ftürzen, und da das von meinem Kutſcher, der chen dazu fam, 
verhindert wurde, fo fing er an, fo gut als zu raſen. Er ſtieß ſich 
ven Kopf wider die Wand, und nöthigte mich daher, ihn wierer 
zu binden und zu fohließen, und num ſchon wieder feit zehn Tagen 
Tag und Nacht zwei Wächter bei ihm zu haben. Auch in dem 
Zuſtande ſchreit und heult er‘, wie ein Vieh, zerbeift die Kiffen, 
und zerkratzt ſich, wo er nur. beifommen Tann. Der Arzt, ven 
id faft dreimal alle Woche zwei Stund weit holen 
laſſen muß, gibt feine Hoffnung. Der Puls, fagt er, gehe 


ESdchloſſer ſcheint die Nachricht von Lengens irrem Zuſtand an Merd 
gemeldet zu haben, wodurch fie’ nad Weimar zu Wieland gelangte, der 
am 45. Februar an Merk ſchreibt: „Lens jammert mid; erkundigt euch 
doch, wie für ihn geforgt Äft, ob man ihm was helfen Fann. Ich wag «& 
nicht, Goethen etwgs davon zu fagen, wenn ihr e8 nicht etwan für beffer 
findet, daß ers wifle." Wieland fürdtete, Goethe werde durch bie Nachricht 
au tief erſchuttert werben . 





94 


mitsen im Parorysmus ganz ruhig, und alfo mäffe bie Krankheit 
in ven Nerven liegen. Seit geftern liegt er zwar wieder ftill, 
aber er ſpricht mit niemand, ißt auch nichts, als was man ihm 
von Bouillon eingieft, und trinkt eben fo." Da feine eigene Ge- 
ſundheit, fo wie fein ganzes Hausweſen und beſonders die Sorge 
für feine Kinder es ihm unmöglich machen, ven Unglüdlichen 
länger bei ſich zu behalten, will er ihn ‚nach Frankfurt in's Toll- 
haus fhiden, wo er gegen eine billige Penfion von 150 bis 200 
Gulden eine eigene Stube, erträglihe Koft und Wartung haben 
werde. Für bie Meifefoften, bittet Schloffer, da er ſchon mehr 
als zehn Louisd'or für Lenz ausgegeben habe, möge Sarafin eine 
Kollekte von vier bis ſechs Louisd'or veranftalten. „Für feine Pen- 
fion wollen wir nachher eine Subfkeiption veranftalten, wozu ich 
gern nad; meinen Umftänben beitragen will. Auch Straßburg, 
Frankfurt und Weimar werben etwas daran tragen. An - 
feinen Vater und feinen Bruder hab’ ich ſchon gefehrieben, aber 
ihn die fünfhundert Stunden weit zu transportiven ift unmöglich.“ 
Doc der Zuftand des unglüdlichen Dichters befferte fich wider 
Erwarten, wie Pfeffel, ‚ver im Juni einen Beſuch bei Schloffer 
machte, bald darauf, am 13. Juni, an Sarafin melvet. „Gleich 
beim Abſteigen,“ ſchreibt er, „ging ic) zum armen Lenz, ben ich 
dem Anfehen nach bei gutem Verſtand, aber fehr ſchüchtern und 
zeremonienreich fand. Er fannte mich gleich, umarmte mich herz 
lich, und bezeugte Freude, mich zu fehn, fragte nad Schinznach 
und unferen bortigen Freunden. Zu Lavater's Gruß fagte er fein 
Wort. AS ich ihm von euch ſprach, wer feine Theilnehmung 
eben fo groß, als bei unferm Eintritt in fein Zimmer. Cr fragte 
mid) nad) euerm Wohlbefinden, und bat mich, euch taufendmal zu 
grüßen. — Seine SKranfheit äußerte ſich durch eine beſtändige 
“ Schreibſucht; er hat uns aber feine Papiere nicht gemiefen, unge- 
achtet ich zweimal Begierbe darnach äußerte. Schloſſer fagte mir 
hierauf, ich follte nicht darauf bringen. Er ift übrigens nicht mehr 
gebunden, geht im Zimmer umher, und hat guten Appetit, Hagt 
aber über Schwäche in den Beinen.“ Montags frühe befuchte ich 





95 


ihn wieder. Auch jetzt ding Schloffer mit, gegen den er eine tiefe 
Chrerbietung äußerte. Als ih das arme Geſchöpf Hüfte, fühlte 
ih an feinen Wangen, daß er Fieber hatte. Sein Wärter fagte 
uns auch, er habe in der Nacht mit ihm ringen müſſen, weil er 
nicht leiden wollte, daß man, zur Beförderung feines Schlafes, 
ihm fein Schreibgeug wegnehme. Er war nicht, fo heiter und 
lange nicht fo geſprächſam, wie geftern, zeigte-fid aber gegen wich 
nicht verändert, wiederholte mir feine Grüße an euch und an bie 
Meinigen, und ſchien beim Abſchied fehr beivegt. — Wer Lenzen 
zuvor nicht Fannte, Tann ihm nicht halb fo Trank finden, als feine 
Freunde ihn finden mußten.“ “ 

Als der-Unglüdliche ſich etwas beruhigt hatte, that Schloffer 
ihn zum Schuhmader Süß in feiner Nähe, bei welchem er auch 
das Handwerk Iernen follte, um zu einer zerftreuenven körperlichen 
Thätigfeit zu gelangen, wogegen ihm das Schreiben verboten wurde. ' 
Das Baden im Rheine war ihm als Kur verorbnet, ber er ſich 
oft und gerne unterzog. Zu feinem Lehrheren fühlte er bald eine 
finbliche Neigung; eine befondere Liebe aber faßte er zu beifen 
Sohne Konrad, feinen Mitgefelen, ſo daß er, als viefer bald 
darauf auf bie Wanderſchaft gehn follte, fi mit der Bitte an 
Sarafin in Baſel wandte, ihm dort einen Meifter zu verſchaffen. 


* Hierauf deuten bie damals bei einer Furzen Bahrt auf dem’ heine 
entflandenen Verſo: 


Wie freundlich trägt du mich auf deinem grünen Rüden, 
Uralter Rhein, 

Wie ſucheſt du mein Aug’ empfindlich zu erquicken 
Durch Ufer voller Wein? 

Und hab’ ich doch, die taufend Luftgeftalten 

Tief im Gedaͤchtniß zu behalten, 

Nun weder Dinte, noch Papier, 

Nur diefes Herz, das dich empfindet hier! 

Es fiheinet faßt, du liebeſt, Allzugroder, 

Nicht mehr der Maler Prunk, der Dichter Klang, 
Es ſcheint, du wit, mie Schloſſer, 

Nur ſtummen Danf. 





% 
„Er ſoll jegt das erftemal auf die Wanberfchaft,“ ſchreibt er, ' 
„und ich bin jegt bei feinen Eltern ein Vierteljahr lang wie das 
Kind im Haufe geweſen. Er iſt mein Schlafkamerad, und ‚wir 
figen den ganzen Tag zufammen. Thum Sie es doch, befter Herr 
Sarafli, lieber Herr Saraffi! e8 wird Sie nicht gereuen.. Em- 
menbingen, einige Lage vor Johanni 1778. Ich könnte mich ge- 
wiß nicht wieber fo an einen andern gewöhnen; denn er ift mir 
wie ein Bruder.” Sein durch die Trennung von biefem Kame— 
raden verurſachter Schmerz warb dadurch noch vermehrt, daß dieſer 
in Baſel keine Arbeit bekommen konnte, und deshalb in Arlesheim, 
einem katholiſchen Orte, anderthalb Stunden von Baſel, eintreten 
mußte, weshalb er feine Bitte an Saraſin dringend wiederholt. 
„Ich gehe alle Morgen mit meineni lieben Herrn Süß fpazieren,* 
beißt e8 in dieſem zweiten Briefe, „und befomme auch alle Tage 
den Herrn Hofrath (Schloffer) zu ſehn. Nun fehlt mic nichts, 
als daß es alles fo bleibt, und Gott meine Wunſche erhört, und 
Sie meine Bitte erfüllen, daß der arme Konrad wieder zu feinen 
Glaubensgenofjen kommt." Im einem folgenden Dankfagungs- 
reiben an Sarafin, der feinem Wunſch willfahrt hatte, melvet 
ex, daß er jetzt auf einige Zeit nad) Wiswyll reifen werde, wo er 
ſich mit der Jagd und Feldarbeit viel Bewegung werde machen 
tönnem „Ich bin fo voller Freude über fo viel glückliche Sachen, 
die nad) meines Herzens Wunſch ausgeſchlagen find, daß ich für 
Freude nichts Rechtes zu fagen weiß, als Sie zu bitten, daß Sie 
doch fo gütig find, und Ihr Verſprechen erfüllen, dem ehrlichen 
Konrad Arbeit für Sie zu geben, weil es mir nicht genug iſt, 
wenn er bei Ihrem Meifter Schuhmacher ift, und er nicht auch für 
Sie arbeitet.“ Gleich darauf bittet er denſelben, dem Konrad zu 
fagen, er folle aud feinen Zuſtand bie Zeit her vor Augen 
haben, daß es ihm nicht auch fo ergehe, wie ihm, wenn er nicht 
folge. Beim Ueberfenven des erften Briefes an Sarafin, am 


* Diefen ind die folgenden Briefe geben fhon Tief und Stöber, am 
genaueften Hagenbach ©. 98 ff., der die Urſchrift benupt hat. 





97 


21. Juni, meldet Schloffer diefem: „Es ift wahr, Lenz ift un- 
gleich beſſer, feitbem er anfängt, mit was Körperliche ſich zu 
beichäftigen, und deßwegen wollt’ ich ſelbſt, daß ber Junge ba- 
blieb; aber bie Wanderzeit ift da, und Sie können nicht helfen. 
Ich will fehn, ob ichs fan. Ich traf den Patienten zwar ge⸗ 
fünder, aber ganz kindiſch an, weiß auch nicht, ob's beſſer wird; 
urtheilen Sie aus biefem Brief!“ 

Die Entfernung von feinem Mitgefellen ſcheint fo nieder⸗ 
ſchlagend auf Lenz gewirkt zu haben, daß Schloſſer ſich genöthigt 
ſah, ihn bei einem Chirurgen zur Heilung unterzubringen. „Der 
Herzog von Weimar bezahlt die Koſt,“ ſchreibt Schlofjer im 

. Februar ves folgenden Jahres. „Aber fein Vater. ift ein einge- 
fleiſchter Schurfe, der mir gar nicht mehr antivortet, ſeitdem ich ihm 
fagte, daß feine Schulbigfeit erfordere, Sorge für feinen Sohn zu 
tragen.” Indeß nahm die Familie bald darauf ſich des Unglück- 
lichen an, den im Sommer deffelben Jahres fein älterer Bruder 
Karl Heinrich Gottlieb zu den Seinigen zurüdführte. In einem 
Briefe dieſes Bruders, an Salzmann aus Erfurt am 3. Juli 
1779 gerichtet, heißt e8: „Ich habe meinen Bruder aus Hertingen 
(an ven Grenzen der Schweiz. und nur brei Stunden von Baſel) 
abholen müffen. Von jener Szene, da ich ihn nad) eilf Jahren 
wieder gefehen, da er ſtumm feine Freude Bliden ließ — laſſen 
Sie mid) nichts fagen, weil fie nur gefühlt werben kann. Ich 
fand ihn bis auf’ eine unglaubliche Schüchternheit völlig wieber- 
Hergeftellt, und auch dieſe verliert fi ich von Zeit zu Zeit. Straß- 
burg mußte ich mit ihm vermeiden, fo leid e8 mir aud that. Die 
Reife ſcheint ihm fehr zuträglic zu fein, umd ich Hoffe, daß vater— 
ländiſche Luft und gefchwifterlihe Pflege das Letzte zu feiner völli- 
gen Genefung beitragen werden. Er läßt ſich Ihnen beftens em- 
piehlen, und hofft nächſtens ſelbſt zu ſchreiben. Unfere Reife geht 
gegenwärtig fo ſchnell, als möglich, nad übel zu, um von bort 
aus noch zeitig in See gehn zu können.“ Leider follte ver Wunſch 
des liebenden Bruders nicht in Erfüllung. gehn; ver Stern feines 
Geiftes war auf immer erlofhen, und hatte nur ein Teichtes 

Dünger, Brauenbilder. 5 7 








Flimmern zurüdgelaffen, das auf bas einft-flammenve Licht traurig 
hindeutete. 

Am 14. Oktober deſſelben Jahres überraſchte Schloſſer feinen 
Freund Merck mit der Nachricht, Lenz ſey Profeſſor der Taktik, 
der Politik und der ſchönen Wiſſenſchaften geworden, worüber 
Frau von la Rode und die Herzogin Amalia zu Weimar ihr 
Staunen ausſprachen. Letztere meinte, bie Univerfität, bie ihn 
zum Profeſſor gemacht habe, mie toll und Lenz geſcheid geworden 
fein. "Die Nachricht rührte wohl von Lenz felbft ber, ver ſich mit 
leeren Hoffnungen trug. Lavater hatte biefen ganz aufgegeben; denn 
er fchreibt an Sarafin im Sabre 1780: 

Glaub’ "wer ein Narr (Lump) ift, bleibt ein Narr (Lunip) 

Zu Wagen, Pferd und Fuße. 

Drum, Bruder, glaub’ an feinen Narren (Aumpen) 

Und feines Narren, (Lumpen) Buße. ' 

Fiat applicatio auf Freund ©... 3 

An Wieland wanpte ſich Lenz im Jahre 1781 von Riga aus. 

„Aus feinen an mich gefchriebenen Zettelchen,“ ſchreibt dieſer am 
2. März dieſes Jahres, „ift zu ſehn, daß er zwar mieber ſich 
ſelbſt wiedergefunden hat, aber freilich ven Verſtand, ven er nie hatte, 
nicht wiederfinden konnte. Doc bünft er mic in feiner Art 


t Hagenbah ©. 41. Nach Gelzer („die neuere deutfihe National: 
literatur IL, 88) lauten, die Worte Lavater's affo: „Was ich über Surfen 
und Rumpeneiner gewiffen Urt, folhe nämlich, bie noch einen ſtarken guſat 
von Ehrlichkeit und Frömmigkeit haben, zu veimen pflege, das möcht ich 
auch von gewifſen gefpoenten Narren, bie noch ein Omantum von Men- 
föenverfand und Genialität Haben, verkanden wiffen: 

„Glaub', wer ein Lump if, bleibt ein Lamp, 

Zu Wagen, Pferd und Sufe; 

Drum, Bender, glaub an keinen Lump 

Und feines Lumpen Buße.“ 
Wenig verändert ſtehen biefe Verſe Lavaler's in Goethe's Werken B. 3, 100 
(suerfk 1837 gedruckt). Goethe Hatte ſie wohl aus der Erinnerung an Lavater 
aufgefeprichen. Wieland hatte „Bruder Lenz“ ſchon 4777 in feinem „Win- 
termahrchen · (B. 11, 65) gar nicht vorthellhaft eingeführt. 





90 


geſcheider, als je, peut-ätre tant pis, peut-öire tant mieux. Er 
möchte gern feine opera omnia vermehrt und verbeſſert à son 
propre profit herausgeben, weiß aber nicht, wie er's anfangen 
ſoll. Ich kann ihm aber vielleicht einen Weg vorſchlagen.“ Auch 
an Goethe ſcheint er ſich gewandt zu haben. Seine Antwort auf 
Lenzens Brief ſchidte diefer am 28. März zur Einfiht an Frau 
von Stein, bie ihm ebenfalls ſchreiben wollte, indem er bemerkte: 
„Du wirft daraus fehn, was umb wie du ihm zu ſchreiben haſt.“ 
Schöll meint, die Antwort: werde auf feinen Fall ſehr freundlich 
gemwefen fein. Aber Goethe's Unwille über Lenz, von bem Frie⸗ 
derife ihm im Herbfte 1779 erzählt hatte, war durch has Unglüd 
de8 einftigen Freundes bezwungen; er wirb ihm ſehr vorſichtig ge- 
ſchrieben haben, um feine zu große Hoffnungen in ihm zu erregen. 
Lenz fol fi) nad Petersburg, von ba nad Moskau ger 
wandt haben, wo ber geftranbete Dichter fein unglüdjiches Leben 
aushauchte, während fein charafterfefter Genoſſe Klinger in dem⸗ 
felben Rußland von Stufe zu Stufe flieg und deſſen litterariſcher 
Ruf, nachdem er dem „Sturm und Drang“ entjagt. hatte, einer 
feften Begründung entgegenging. „Ex ſtarb von. wenigen betranert und 
vom keinem vermißt,“ meldete das Imtelligenzblatt ber allgemeinen 
Titteratinzeitung kurz nach feinem am 24. Mai 1792 erfolgten 
Tobe. „Bon allen verfannt, gegen Mangel und Dürftigfeit käm⸗ 
pfend, entfernt von allem, was ihm theuer war, verlor er doch 
nie das Gefühl feines Werthes; fein Stolz wurbe durch unzählige 
Demüthigungen noch mehr gereist, und artete enblic im jenen 
Troß aus, der gewöhnlich der Geführte ver edlen Armuth ift. 
Er lebte von Almoſen, aber nicht von jevem nahm er Wohlthaten 
an, unb wurbe beleidigt, wenn man ihm ungeforbert Gelb over 
Unterftügung anbot, da doch feine Geſtalt und fein ganzes Aeußere 
bie dringendſte Aufforbermig zur Wohlthätigfeit waren. Er wurde 
auf Koften eines großmäthigen ruffiſchen Edelmanmes, im deſſen 
Haufe er auch lange Zeit Iebte, begraben.“ Einer feiner Mos- 
Tauer Freunde war der Geiſtliche Kaufmann, an welchen er bas 
Gedicht: „Was iſt Satire?" richtete. Die von Dr. Stumpf in 


100 


Oerſtiol in Liefland- vorbereitete Rebensbefchreibung von Lenz, deren 
Tied gedenlt, ſcheint nie erſchienen zu fein, was um fo mehr zu 
bedauern, als biefem bie genaueſten Angaben ber Familie und ' 
eine Sammlung Briefe von: ihm und an ihn zu Gebote ftanden.- 
Unter den von Tief mitgetheilten Gedichten von Penz, zu benen 
Stöber noch vier, Nicolovins jwei andere binzufügte, fehlt folgendes 

. im erften Hefte von Ewald's „Urania“ mitgetheilte Gedicht, welches 
bie ganze ungeftüme Unruhe feines Geiftes lebhaft ausprägt. ' 


An den Geifl. 


| 
, O Geift, Geift, der Hu in mir lebeſt, | 
Woher lamſt du, daß bu fo eilft? | 
O vergeug noch, himmliſcher Geift! | 
Deine Hülle vermag's nicht — . x | 
All ihre Bande zittern. . 
Komm' nicht weiter empor! | 


NAuch vermiffen wir bei Tieck die in Schillers „Horen“ 1797 Stüd 4 
und 5 erſchlenene, aber, wie es ſcheint, abgebrochene Erzählung: „Der 
. Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden, von bem verftorbenen Dichter 
Lenz“. Am 1. Februar 1797 fandte Goethe an Sqhiller, „einige Renziana“, 
unter benen biefer „fehr tolles Zeng“ fand, doch nafım er diefe Erzählung 
auf ihres biographiſchen und pſychologiſchen Intereffes willen. Dgl. den 
Briefwechſel zwifchen Schiller und Goethe. Nr. 287. 268. 304. 305. „Die 
Liebe auf dem Lande“ und „Tantalus” ſtehen in Schillers , Muſenalmanach · 
auf 1798. Daß „das leidende Weib“, weldes Tief unter ven Schriften 
von Xenz Herausgegeben, vor Klinger ift, hat Gervinus IV, 584 mit Recht 
aus dem Nachfpiel „die frohe Brau (von H. 2. Wagner?) gefhloffen. 
Schon Schubart „veutfche Chronik auf das Jahr 1775" ©. 614 u. a. nen— 
men Klinger als Verfaſſer. Ob der von Tieck aufgenommene Muffap „Über 
Herders Ältefle Urkunde des Menſchengeſchlechts von Lenz fei, kdunte man 
besweifeln, da er Im Maͤrzhefte 1776 des „Merkur“, wo er juerſt erſchien, 
die Unterſchrift Hat: „B. Freitags den 17. November 1775. 6." Wäre er 
aßer wirklich von Lenz, und G. verdrudt flatt 8, (welhen Ort foll aber 
D. begeichnen?), fo hätte Lenz ſich gleich, als er von Goethe's Ankunft in | 
Weimar erfahren Hatte, durch biefen Auffag Wieland zu mäßern gefucht. 
Das von Blum 1845 Herausgegebene Beftfpiel, „der verwundete Bräutigam“ 
ſchrieb Lenz in feinem fechjehnten Jahre. 





101 ' 
Sei nur getroft! Bald. bift du frei, 
Bald wirb bir’ gelungen fein, Grauſamer, - 
Bald haft bu bein feinern, nordiſch, 
Treues Haus über dem Kopf bir zertrimmert. 
Ad! da ftehft du wie Simfon, und wirfft, 
Wirfſt — ſtrebſt — wirfft’s übern Haufen! — 
Weh uns allen! Schone noch, ſchone! 
“ Diefer treuen Hütte Trümmer 

Möchten dich fonft unter ſich begraben. 
Sieh noch Hält fie mit ſchmeichelnden Banden 
Dich zurüd, verſpricht bir reine, 5 
Tauſend reine Himmelsfreuden . - ' 
Zur Belohnung für beine Müh'. 
Schone noch, Graufamer, Undankbarer! 
Kehre zurüc! Hefte ihre Gelente 

Wieder mit zarter Selbflieb’ zufgmmen! 
Denn Got ſelber baute fie bir, 
Kein und gebrechlich, wie fie da ifl. ' 
Denn fie ausgebauert, dann breche fiel 
Erſt wenn ber Baum gefaftet, geblüht, 
Früchte mehrjäßrig getragen, verborret, 
Gehe fein Keim in's ewige Leben! 
Aber jetzt, heil'ge, himmlifche Flamme, 
Jetzt — Exbarmen | — verzehr' ihm noch nicht! 

Zwei Monate, nachdem ver unglũdliche Lenz, der feine phan- 
taſtiſchen Grillen ımd- das bunte Intriguenſpiel feiner Einbildungs⸗ 
kraft in's wirkliche Leben einzuführen thöricht verſucht hatte, ver— 
fört und geſtrandet, Deutſchlaud verlaſſen, ſollte Goethe das 
Mäpchen feiner ſchwärmeriſchen Liebe im idylliſchen Pfarrershauſe 
zu Seſenheim wiederfinden. War die Liebe zu ſeinem drei Jahre 
ältern Käthchen in Leipzig mehr eine knabenhafte Grille geweſen, 
wie denn fein ganzes Leben in Leipzig mehr bie Entwicklung der 
ihm durch bie Erziehung bes Baters aufgebrungenen Altklugheit 


* Dan erinnere fih, daß Ken Hein von Opkalt war, woher bie 
ſcherzhaften Benamfungen in den Briefen Goethe's an Bra von Gteih. 


102 


war, bie er erſt überminben und hinter fich Ieffen muthte, che ber 
Genins feine volle Flugelkraft entfalten konnte, fo hatte fid in 
ber Liebe zu Friederike zum erftenmal das reiche Füngfingsherz zu * 
herrlichfter Blüthe erſchloſſen, es hatte zum erftenmal in und mit 
Friederile ber Liebe glühenben Wonnetrant genoſſen, aber bie Liebe, 
welde das Mark ihres Lebens durchdrang, follte auch für beide 
ein Kelch bittern Leides werden. Wie heftig aud die Glut ver 
Leidenſchaft fein Herz buschwühlte, fo vermochte er doch nicht einer 
innern warnenden Stimme zu wiberftehn, welde ihm das ſchwere 
Werk‘ der Entfagung auflegte, weil dieſe Liebe ihn in einen Kon- 
flift mit der Welt gebracht haben würde, in welchem er erlegen wäre, 
weil fein höchſter Entwicklung zuftrebenber Geiſt eines freiern 
Kreifes bedurfte, in welchem ihn bie gewöhnlichen Sorgen bes 
Lebens weniger berührten, bagegen reiche Bildung ihm von allen 
Seiten zuftrömte, und ein höheres geſellſchaftliches Leben ihn trug 
und förderte. Dagegen entbehrte Lenz jeves innern Haltes, jeder 
zu entſchiedenem Zwecke ſich zufammenfaffenven Kraft, jedes ernften 
Strebens; er ergriff das Leben nur als ein Spiel, in weldem er 
nad ben wechſelnden Launen bie verfchievenartigften Szenen in 
bunter Folge zu bloßer Sinnenergötzung burdführen wollte, ohne 
daß ein edler, durchgreifender Gedauke ihn geleitet hätte, wenn er 
auch auf Augenblide edler Gefühle und Eutſchlüſſe fähig war. 
Goethe hatte mittlerweile bei allen, zum Theil wilden Aus- 
brüchen jugendlich ungeſtümer Luft fi mit den mannigfaltigften 
Geſchäften bekannt gemacht und ſich zum Theil an ihnen abgerieben; 
ex hatte das Erkältende und Erdrückende des Hoflebend tief em- 
pfunden, aber zugleich aus ber hier ihn umgebenben höhern Bil- 
bung, aus dem Umgange reich begabter, geiftreicher Männer, aus 
der, Freundſchaft des edlen Herzogs Karl Auguft, den er auf 
allen feinen Wegen glücklich geleitet hatte, aus der Achtung und 
Neigung der hochgebildeten Herzogin Mutter und ver edlen, reinen 
Herzogin Luife die ftörfendfte Nahrung für Geift und Herz gefo- 
gen, während ihm in Frau von Stein ein heiterer, Leitender und 
beruhigender, erhebender und ſtärlender, fein ganzes Leben nad) 





-103 


fich hinziehender Genius erfchienen war. Mit dem Herzog hatte ex 
im Auguft 1779 ven Plan. einer Reiſe berevet, die durch neue 
Anfauungen und ein frifdes Leben fie erfreuen und zu ernſterm 
Wirken und Schaffen ftärken, gleichſam ben Uebergang aus ber 
zurüdgelegten, noch halb verworrenen Braufeperiobe der Jugend zu 
ber befonnenen Mannegeit bilven follte. Als Goethe feiner Mutter 
ihre Ankunft meldete, äußerte er: „Ich habe alles, was ein Menſch 
verfangen kann, ein Leben, in bem ich mid, täglich übe und täglich 
wachje, und komme diesmal gefund, ohne Leidenſchaft, ohne Ber- 
worrenheit, ohne dumpfes Treiben, ſondern wie ein won Gott Ger 
Hiebter, ber die Hälfte feines Lebens hingebracht bat, und aus 
vergangenen ‚Leiden manches Gute für die Zukunft hofft, und and 
für kunftiges Leiden bie Bruſt ‚bewährt hat. Wenn ich euch ver- 
gmügt finde, werde ich mit Luft zurücklehren an bie Arbeit und die 
Mühe des Tages, bie mid erwartet.“ Die Reiſe ſelbſt gedieh zu 
heiterſter Freude und reinfter Beruhigung. „Wir ftreichen,“ ſchreibt 
Goethe am 24. September, während fie Speier gegenüber auf bie 
Bähre warten, „wie ein ftiller Bach, immer weiter gelaſſen in bie 
Welt hin, haben heute den ſchönſten Tag und bisher das er- 
wünfdte Glück. Auf dieſem Wege refapitulice ich mein ganz 
vorig Leben, fehe alle alte Belannte wieber; Gott weiß, was ſich 
am Eüde zuſammen fummiren. wird.“ In biefer heiter ruhigen 
Stimmung konnte er denn aud nicht unterlaffen, am folgenden 
Tage von Selz aus feine geliebte Friederile zu beſuchen, bern 
Bamilie mittlerweile: durch den Tod bes Oheims Schöll und ber 
tern Weyland’s empfindliche Schläge erlitten hatte. „Den 25. 
Wenns," erzählt ‚er, „ritt ich etwas feitwärts mach Sefenheim, 
indem bie anbern ihre. Reife gerab’ fortfegten, ' und fand daſelbſt 

SZtrig {demnach die Angabe von Brieberifene jüngerer Schwefter, 
er fei auf einem Leiterwagen von Drufenheim gelommen, wie auch ihre 
Erzaͤhlung, - Goethe habe noch fortwährend in Briefwechfel mit Seſenheim 
geftanden, und einmal geſchtieben, er müfje nach dem Wunſche des Her- 
4098 einem Bräulein, das er and) genannt, feine Hand reichen, fein Herz 


aber werde Immer Friederifen gehören, auf einer leicht ertätigen Geist: 
änfgung der guten Alten beruht, 


404: 


eine Familie, wie ich fie vor acht Yahren verlaſſen Hatte, beifam- 
men, und wurde gar. freumblich und gut aufgenommen. Da ih 
jest fo rein und ſtill bin, wie. die Luft, fo ift mir ber Athem 
guter und ftiller Menſchen fehr willlommen. Die zweite Tochter 
vom Haufe hatte mich ehemals geliebt, ſchöner, als ich's ver- 
diente, umb mehr, als andere, an bie ich viel Leivenfhaft und 
Treue verwendet habe; ih mußte fie im einem Augenblid ver- 
laſſen, wo es ihr faft das Leben Toftete; fie ging leife drüber weg, 
mir zu fagen, was ihr von einer Kronfheit jener Zeit noch über- 
bliebe, betrug fich allerkiebft, mit fo viel herzlicher Freundſchaft 
vom erften Augenblick, da ich. ihr unerwartet auf ber Schwelle 
in's Geſicht trat, und wir mit ben Nafen aneinanderſtießen, daß 
mir's ganz wohl wurde. Nachſagen muß ich ihr, daß fie auch 
nicht durch die leiſeſte Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner 
Seele zu weden unternahm. Sie führte mich in jede Laube, und 
da mußt’ ich figen, und fo war's gut. Wir hatten den fchönften 
Bollmond; ich erfimbigte mich nach allem. Ein Nachbar, ver uns 
fonft hatte künſteln Helfen, wurde herbeigerufen, und bezeugt, daß 
er no vor acht Tagen nach mir gefragt hatte; der Barbier mußte 
auch Tommen; ich fand alte Lieber, bie ich 'geftiftet hatte, eine 
Kutſche, die ich gemalt hatte; wir erinherten uns am manche 
Streiche jener guten Zeit, und ich fanb mein Anvenken fo lebhaft 
unter ihnen, als ob id; kaum ein Halb Jahr weg wäre. Die 
Alten waren trenherzig; man fand, id) war jünger geiorben. ! 
Ich blieb die Nacht, und ſchied den andern Morgen bei Sonnen- 
aufgang, von freundlichen Geſichtern verabſchiedet, daß ih nun 
aud wieder mit Zufrievenheit an das Eden ver Welt hindenken, 
und in Friede mit ven Geifterh dieſer Ausgeföhnten in mir leben 
kann.“ 

Es war das letztemal, daß bie beiden Liebenden ſich fahen. 
Goethe hatte in feinem Ruhme und feinem Glanze die einſt Heiß- 

Briederikens jüngere Schweſter erzählte, Goethe Habe zur Zeit feiner 
Belauntfepaft mit Friederike blaß ausgefehen, aber jchone, lebhafte Augen 
gehabt. 


105 


geliebte in ihrem Familienkreife ohne alle flörende Begleitung wie⸗ 
dergeſehen und fich über ihr CSchidfal beruhigt. Die Erzählung 
von Friederilens jüngerer Schwefter, noch ſpüt habe Goethe von 
Weimar aus durch -einen’ Schloffergefellen jener einen Gruß ge- 
fandt, ift am ſich ſehr wahrſcheinlich, da er es liebte, ſich mit rei- 
fenben Handwerkern zu unterhalten. 

Nach dem Tode der Eltern foll nad) einer Nachricht (vgl. 
den angeführten Aufjag im „Morgenblatt“) Friederile mit ihrer 
jingern Schwefter Sophie — bie ältere war an einen Pfarrer 
Marz in Dieburg im Badiſchen, im Oberamt Offenburg, ver- 
heiratet — eine Zeit lang im Steinthal einen Meinen Handel mit 
Steingut getrieben, auch mit Kinderunterricht ſich befcäftigt haben, 
bis die Gemahlin de8 Herrn von. Dieterich von Reichshofen im 
Elſaß (vgl. B. 21, 259 f.) ſich ihrer ungehomnen, die ihnen 
einige Zimmer eingeräumt und fie häufig zur Tafel gezogen haben 
fol, welche Hülfe ihnen aber entgangen, als die Gräfin in Folge 
der Hinrichtung ihres Gemahls in Wahnfinn gefallen. : Diefer Er- 
zaͤhlung - fteht der viel wahrſcheinlichere Bericht „vom Nedar“ im 
der Beilage zu Nro: 23 der „Augsburger allgemeinen Zeitung“ 
vom Jahre 1842 entgegen, deſſen Verfaſſer feine Angaben, wenn 
es nöthig werben ober von Intereſſe ſcheinen follte, mit urkund⸗ 
lichen Beweifen zu erhärten verſpricht. Hiernach hätte Friederike 
nad) dem Tode ihrer Eltern ihre Heimat verlaffen und in Paris 
bei einer Freundin, die an ven bänifchen Gefanbten Roſenſtiel 
verheiratet war, Schu und Yufenthalt: bis zu Robespierre's 
Blutherrſchaft gefunden, und’ fie foll in ven höheren Geſellſchaften 
zu Berfailles und Paris eine freundliche Erſcheinung gemefen fein. 
Hier muß zunächſt berichtigt werben, daß Rofenftiel wicht däniſcher 
Geſandter, ſondern franzöſiſcher Geſandtſchaftsſekretär, aber auch 
erſt ſpäter, war. Heinrich Karl Roſenſtiel, zu Mietersheim im 
untern Elſaß am 28. Oktober 1751 geboren, beſuchte mit feinem 
jüngern Bruder das Gymnaftum zu Buchsweiler, wo er die Be- 
tanntfchaft der mit dem Seſenheimer Pfarrershauſe verwandten 
Familie Weyland machte, mit ver ihn fpäter auch ein verwandt- 


106 


ſchaftliches Vand vereinen follte; denn Luiſe Weyland ward feine 
Gemohlin, und dieſe Freundin und Verwandte Friederilens war 
es, bei der lehtere freundlichſte Aufnahme faud, jä wir bücfen 
annehmen, daß biefe, wit welcher fie wohl in brieflicher BVerbin- 
dung ftand, fie nach dem Tode der Eltern zu, fih einlud. Rofen- 
ftiel erhielt 1776 in Paris die Stelle eines Seorstaire interpröte, 
warb aber bald darauf, als Pfeffel, der Bruder des ‚Dichters, 
austrat, zum Jurisconsulte du Roi erhoben. Beim Ausbruch 
der. Revolution ging er mit bem Könige von Verſailles nach Paris, 
wo er in aller Zurüdgezogenheit Iebte, bis ihn das Direktorium 
1795 als Consul pour la Baltique nad; Elbing fanbte..' 
Friederile fcheint Paris im Jahre 1794 vor Robespierre's 
Sturz verkaffen zu. haben,” vielleicht auf den Wunſch ihrer 
Schweſter in Dießburg, nad} deren Tode fie bie forgfältigfte Er- 
ziehung der von biefer hinterlaſſenen einzigen Tochter übernahm. 
Mit ifrem Schwager zog fie ſpäter nad; Meißenheim, im Ober- 
amt Lahr, und fie erlebte, wie ihre Schweſter Sophie erzählte, 4 
noch die Freude der Berheisatung ihres Böglings, fühlte ſich aber 
mad) der Hochzeit fo ſchwach, daß fie ihre Schweter Sophie bat, 
bei ihr zu bleiben: ſechs Wochen ſpäter verſchied fe, im November’ 
1813; fie war abgelebt, ohme zu altern. Der Berichterſtatter 
„vom Nedar“ erzählt: „Bier (im Meißenheim) lebte fie bis zu ihrem 
Ende, allgemein geliebt, und als eine bereite Helferin und Wohl⸗ 
thäterin verehrt. Weber Goethe ſprach fie nur mit Verehrung; 
auf bittere Anfpielungen über ihr Verhältniß zu ih, äußerte fie 
mit weiblicher Beſcheidung, er fei zu groß,. feine Laufbahn zu hoch 
geweſen, als daß er fie habe heimführen können. Der in Meißen- 
heim noch lebende Pfarrer Fiſcher, ihr Neffe (?), ber auch Briefe 
von ihr in Händen hat, Hat fie 1813 zu Grabe begleitet.“ Hier 
mad; und beſonders nad) der Angabe beffelben Berichterflatters, 
* Wir entnehmen biefe Nachrichten dem „Nefrolog der Deutfchen“ 
(1825) I, 289 ff, wo ſich eine freilich gefchmadlofe und ſchwäülſtige, 
aber ans den beten Duellen geſchöpfte Lebensbefchreibung Rufenfies (von 
Karl Mäufter) befindet, 





107 


Friederile fei im dem ibr verſchwägerten Fiſcher ſchen Haufe gefter- 
ben, ſollte man vermuthen, ihr Schwager Marr ſei damals bereits 
geſterben geweſen, und die Vermählung von deſſen Tochter mit 
dem Pfarrer diſcher nicht erſt ſeche Wochen vor Friederilens Tod, 
wie Sophie erzählte, gefeiert worden. Genauern Aufſchluß hier⸗ 
über zu erhalten habe ich mich vergeblich bemüht. 

Das Erſcheinen deö zweiten Bandes von „Wahrheit und Did 
tung“, am beffen Schluß die Anknüpfung bes Berhältniffes zu 
Friederike fo anmuthig erzäßlt wirb, erlebte Friederile noch,“ wo- 
gegen der britte Theil, welcher bie weitere Entwidiung usb den 
Abſchluß enthält, erft nad) ihrem Tode erſchien, obgleich derſelbe, 
und beſonders das hierher gehörige eilfte Buch, vor demſelben völlig 
ausgearbeitet war.? Salzmann, ber ſich gefreut hatte, als er 
im Anfange des Jahrhunderts von’ einem feiner Frankfurter Anver- 
wanbten vernommen, baß Goethe feiner mit freumblichfter Erinne- 
rung gebadht habe,“ flarb im Auguft 1812, im neunzigften Jahre, 
mehrere Monate vor dem Erſcheinen bes feinen Einfluß auf den 





! Die Vermuthung von Vichoff (HIT. 242). das fiebente der „venebiger 
Epigrammer: 


Eine Siebe hatt’ ich, fie war mie Heber, ala alles! 
Aber ich Hab’ fe nicht mehr! Schpweig’ und ertrag den Verluſt! 


. Mich anf Friedrike begiehe, können wir nur ale höcht unglüdlic verwerfen. 
Es geht wohl anf Fran von Stein, welder ex damals feit einiger Zeit 
entfremdet worden wer. 

3 @pethe ſcheint von den weiteren Gchidfalen Frieberikens nichts er - 
fahren uud fie, ald er „Wahrheit und Dichtung“ ſchrieb, für tobt gehalten 
39 haben, obgleich er den jüngfen Bruder Weylaud's, der eine Buche 
weilerin zur Frau hatte, den fpätern Präſidenten des Randfchaftsfollegiums 
Vhitipp Chriſtian Weyland, in-nähfter Nähe hatte. Diefer, der Bereits 
im Jahre 1790 als Sekretär in die Dienfe des Herzoge Karl Auguſt ges 
treten war, hatte feinen Fürſten mit Goethe nach Schlefien, nach ber 
Gpampagne (B. 25, 101) und der Belagerung von Mainz begleitet. Er 
ſtarb erſt am 8. Iunt.1843. Goethes Ingenbfreund Weyland war wohl 
ſchon frühe geſtorben. 

Val. das Morgenblatt vom Jahre 1812 Nr. 262. 


” 108 \ 
Dichter und den ganzen Kreis feiner Studiengenoſſen fo rein an- 
erlennend ſchildernden zweiten Theiles von „Wahrheit und Dichtung”. ' 

Friederike fol mehrfache Heiratsanträge mit: der "Bemerkung 
. abgelehnt haben: „Wer von Goethe geliebt worben ift, kann feinen 
anbern Tieben.”.. &o blieb fie ber erſten reinen Jugendliebe ihr 
ganzes Leben treg, und fegte ihr im ihrem Herzen das fchönfte 
Denkmal, welches lauter, als alle Stimmen ver Welt bezeugt, daß 
fie den Dichter nicht für einen Kalt treuloſen Verräther ihrer hei- 
ligſten Gefühle Hielt, ſondern feine durch die Verhältniffe gebotene 
Entfagung mit. tief. gebrochenem Herzen anerfannte. Dafür ſtrahlt 
fie aber auch im Leben umferes Dichter in unvergänglichftem 


Glanze, und ie Name wird unter ben würdigſten Dulverinnen ' 


ver Liebe durch alle Zeiten von eblen Seelen gefeiert werben. 
Das einfache Landmädchen Hatte mit dem Blicke der Liebe tief in 
das Herz des eben die Schwingen feines Geiftes entfaltenven Dich- 
ters geſchaut; fie hatte feine flammenve Liebesglut im- tiefften 
Herzen empfunden, fie hatte ven feine Bruſt durchwühlenden, 
frampfhaft alle Lebensfafern ergreifenden Entſagungsſchmerz mit- 
gefühlt, fie hatte ven von ber heifigften, geläutertften Liebe. ihr 


verliehenen Muth, es fi) zu geftehn, daß fie diefen raſtlos fire 


benden, zu höchſter, freiefter Bildung getriebenen‘, mit allen Reizen 
der‘ Liebe ausgeftatteten Süngling, ber unbefonnen genug gewefen, 
die Gewalt ver Leidenſchaft in ihr zu nähren, nicht an ſich feſſeln 
tönne und dürfe, ob auch ihr Herz darüber breche. Und fo ent- 
ließ fie ihn, den fie zum Dichter der Liebe gemeiht hatte, von 
ihrer Seite, aber in ihrem Herzen Iebte fein Bild fort und fort 
in ewigem Jugentglanze, und bie Kraft ber Liebe, melde fie zu 
ſchmerzlicher Entfagung geftärft hatte, gab ihr neuen Lebensmuth 
und ein ruhig mildes, freundlich theilnehmendes, liebevoll ſich hin· 
gebendes, heiter verklärtes Daſein. 


Wenn Näfe hörte (S. 41), fie Habe ſpäterhin eine ſeht gute und 


anſehnliche Partie mit einem Herrn von Dürkheim (sic) gemacht, To fag 


hier eine Verwechslung mit Liu zu Grunde, 





Bur Sriederikelitteratur. 


Es war im. Herbfte 1822, als einer unferer feinfinnigften 
und liebenswärbigften Haffifchen Philologen, ver gemüthliche Pro- 
feſſor Auguft Ferdinand Näfe, von Straßburg nad; Seſenheim mit 
einem raſchen Mannheimer Zweifpänner fuhr, um „Goethes Ju- 
gendleben in Seſenheim -nachzuleben“ und „das gewöhnliche ober 
ungewöhnliche Schickſal zu erforſchen, in dem bie glüdlichen An- 
Tagen eines frühgeprüften zärtlichen Herzens, die einen Meinen Kreis 
geräufchlo® zu beglücken beftimmt ſchienen, -entweber ſich ausbildeten 
oder vorzeitig untergingen“. Die mit allen Reizen jugendlicher 
Liebe ansgeftattete Darftellung des Verhältniffes zu Friederike in 
„Wahrheit und Dichtung“ hatte ven gelehrten Herausgeber ver 
Unterfuchungen über ben altgriechiſchen Dichter Chörilus ſchon Längft 
zu dem Wunſche veranlafit, über bie weitern Lebensverhältniſſe ver 
Sejenheimer Pfarrerstochter genauere Kunde einzuziehen; und wo 
hätte er dieſe fiherer und zuverläfiger zu erhalten hoffen bürfen, 
als an dem idylliſchen Schauplatze jener „Liebe ſelbſt? Blieb auch 
zu Druſenheim feine Erkundigung nad) dem von Goethe genanuten 
Wirthefohne George völlig erfolglos, fo ſchien er dagegen bei dem 
damaligen Pfarrer zu Sefenheim, Friedrich Schweppenhäufer, ganz 
an ben reiten Mann gekommen zu fein. Diefer, bei den ctwa 
ein Vierteljahr vorher (aber Schweppenhäuſer's Gedächtniß pflegte 
ihm längere Zeiträume in fürzere zu verwandeln) ein Litterat, ben 
Näke dem Namen nach wieder zu erkennen meinte, in ähnlicher 
Abficht geweſen, machte ihn nicht bloß mit den Oertlichkeiten und 





110 


ven feit Goethe's Zeit vorgefallenen Veränderungen befannt, wie 
ex venn-buch viele Verſuche entvedt Hatte, wo das von Goethe 
erwähnte, ſpäter ausgehauene Wäldchen geftanden haben miſſe, 
fonbern Näte vernahm auch, daß Goethes George noch lebe, 
George Mein Heike und Forftinfpector in Druſenheim fei, daß 
Friederilens jüngere Schwefter Sophie vor anderthalb Jahren, um 
ihren Geburtsort noch einmal zu fehn, mit Verwandten im Pfarr- 
hauſe geweſen und gegeffen, und bei Erwähnung von Goethes Er- 
zählung geäußert habe, das fei wohl auch nicht alles fo richtig — 
ja fogar eine nähere Nachricht über die Urſache der Trennung ber 
Geliebten... Goethe, erzählte Schweppenhäufer, wärbe ganz gewiß 
Wort gehalten haben, wenn nicht ein Unfall dazwiſchen gelommen 
wäre. Nachdem er treu von Straßburg weggegangen, ſei Frie- 
derile mit dem bamaligen latholiſchen Pfarrer, Namens Reinbolb, 
einem gewanbten und einnehmenben Manne (ver katholiſche Pfarrer 
wohnte wahrſcheinlich ſchon damals, wie zu Schweppenhäufer's 
Beit, neben dem proteftantifchen), zu Falle gelonmien. Als nun 
Goethe uach acht Jahren wiebergefommen (biefer zweite Beſuch 
war Schweppenhaͤuſer ans „Wahrheit und Dichtung“ befaunt), in 
der Abficht, fein Wort zu Iöfen, ba habe er dieſen Stand ber 
Dinge erfahren, und fid natürlich zurüdgezogen. Näle war zwar 
überzeugt, daß Goethe ſchon beim Weggang von Straßburg ber 
Liebe zu Friederike -aus freiem Eutſchluſſe entfagt habe, und bei 
feinem Beſuche im Sabre 1779 nur gelommen fei, um bie Ju- 
genbgefiebte wiebergufehn, nicht um ihr feine Hand anzubieten, 
aber am der fo beflimmt gegebenen Erzählung von Friederilens 
Verführung zweifelte er nicht. - Schweppenhäufer erzählte num weiter, 
nachdem er feine Unwiſſenheit, was aus Friederilens Kinde ge- 
worden ſei, geſtanden hatte, ! Reinbold fei in ber Revolutionszeit 


— Nate erwähnt gelegentlich S. 44 eines. ihm früher zu Ohren ge— 
tommenen laͤcherlichen Geruchtes, Goethe Habe nicht nur Friederiken, fon- 
dern auch einen Sohn, ben fie von ihm gehabt, verlaſſen, und der lehtere 
fei fpäter zu Straßburg Paftetenbäder geworden — ein würbiges Gegen- 
fü zu ber fahelhaften, von uns in den „Studien zu Goethe's Werken“ 





111 

autgewandert, ſputer zurückgekehrt und vor drei Jahren in ber 
Nähe geſtorben, wo er eine kleine Stelle gehabt. Nach des Ba- 
ters Tode feien die Schweſtern in traurige Umſtände gefonmen ; 
fie Hätten in Steinthal, ſechs Stunden oberhalb Straßburg, einen. 
Heinen Haudel angefangen, als biefer aber bald zergangen, von 
ihren Berwanbten und bei ihnen herum gelebt. Der Bruder, bei 
dem es auch wohl Inapp hergegangen, ſei in der Nähe als Geift- 
licher vor zwei Jahren geftorben, bie äftere (?) Schwefter Sophie 
lebe noch, und verweile abwechſelnd bei ihren Verwandten zu Nie 
derbrunn amd Reichehofen. Als Nate ven Wirth zu Sefenheim 
nach den Töchtern Brion's fragte — den Namen hatte er von 
Scmwerpenhäufer erfahren —, fiel dieſem zunächſt das Hinken ber 
ältern Schwefter auf dem einen Fuße ein. Aber der Wirth hatte 
dieſe wohl exft beim letzten Beſuche gefehen. Daß Goethe dieſes 
Hinkens nicht gedenke, fiel Näle auf, der freilich nicht wiſſen 
tonmte, baf Sophie nicht die ältere, fonbern bie jüngere Schwefter 
Friederilens war, zur Zeit von Goethes Belanntfdaft noch ein 
ſechs · over fiebenjähriges Kind, 

Als Näle nad) feiner Rüdkunft feine „Wallfahrt nach Sefen- 
heim" uieberfchieb, ba erwmadhte fein philofogifäes Gewiſen, baf 
er es nicht allein unterlafien, von Sefenheim ven Meinen Weg 
nach Drufenheim zurädzumaden, am ben dort mod lebenden 
George Klein zu fprechen, ſondern es foger verfämmnt habe, 
Sämweppenhäufer nach der Quelle feiner Erzählung zu fragen, mie 
auch noch eimige Fragen mehr am ihn zu richten. „Zwar fage ich 
mir,“ fließt er feinen Aufſat, „er Habe fie allem Bermuthen 
nad) von feinem -Bruber (feinem zweiten Amtsvorgaͤnger, bem 
Nachfolger Brion's), umd auf jeven Fall aus der beften Quelle. 
Aber ſchon ift der Entſchlußz gefaßt, an Scioeppenfäufern zu 
reiben, und ihm nicht allein, wie ich mir gleich vorgenommen 
hatte, nochmals aufs befte zu banken, ſondern aud ihm um bies 
©. 103 Note 4 erwähnten ähnlichen Sage. So pflegen Heinlicher Neid und 


boshafte Kiatfperei den Namen großer Männer mit ihren niebertächtigen 
Erfinbungen zu umfpinuen! 


112 


und das, und namentlid mit aller’ Beſcheidenheit zu fragen, woher 
er feine Nachrichten habe.” Durch Vermittlung eines Freundes 
gelangte der Anffag Näle's an Goethe, der über biefe durch bie 
Erzählung in „Wahrheit und Dichtung" angeregte Theilnahme leb⸗ 
haft erfreut war,“ und bie Sendung mit einem freundlichen Blatte 
erwieberte, das unter dem Titel: „Wieberholte Spiegelungen“ in 
die nachgelaffenen Werke übergegangen ift (jet B. 27, 472 f.). 
Goethe, ver fi bamala viel mit den entoptiſchen Farben befchäf- 
tigte, bedient ſich eines bavon, hergenommenen Bildes, um ben 
Eindruck, den Näles Erzählung anf ihn gemacht hatte, zu ver- 
ſinnlichen. Das Bild Friederikens, wie es ſich in biefer Darftel- 
lung. zeige, fpiegle ſich ungendjtet alles irdiſchen Dazwiſchentretens 
in ber Seele bes alten Liebhabers nochmals ab, und ernenere 
demfelben auf Tiebliche Weife eine holde, werthe, belebende Gegen- 
wart, wobei es barauf hindeutet, daß wiederholte fittliche Spiege- 
lungen das Vergangene nicht allein. Tebendig erhalten, fonbern zu 
einem höheen Leben emporfteigen. Daß Goethe hierbei die vorgeb- 
liche fpätere Verführung der Geliebten nicht berührt, darf bei ihm 
um fo weniger auffallen, 'ald er nur den Gefammteinbrud, ben 
die Wiebervergegenwärtigung jener ſchönen Liebestage, worauf auch 
Näle ten Hauptnachdruck legt, auf ihn gemacht hat, ſchildern will, 
und er hoffen vurfte, daß biefer über jene Frage durch weitere 
Nachforſchungen, die. er in nächſte Ausficht ftellt, bald Gewißheit 
erlangen werbe. Uber bei Näke, in deſſen Natur ein gewiſſes 
ruhiges Sichgehnlaſſen lag, welches meiſt auf ſehr anmuthige Weiſe 
hervortrat, ſcheint die Anerkennung Goethe's einen ganz entgegen- 
geſetzten Einfluß gehabt zu haben, ſo daß er die Sache, die ihn 
fo lebhaft intereſſirt hatte, als eine abgemachte liegen ließ, zufrie- 
ven, daß Goethe Friederifens Ungläd nicht verſchuldet Habe. . 
Mehr als eilf Jahre waren feit jener Anerkennung von Goethe’ 
Seite verflofien, als Näke's Amtsgenoffe, Profefjor Delbrüd zu 


Bal. Nicolovins in den Preußifgen Oftſeeblättern 1832 Nr. 121. 
©. 647. 





Bonn, von jener „Wallfahrt nach Seſenheim“ Kunde erhielt, und 
uin Mittheilung des Auffages bat, welchen ihm denn ber Verfaffer 
mit folgender ung vorliegenden freundlichen Zufchrift überſandte: 


nVerehrtefter Herr Amtsgenoſſe! 

Sie erhalten hier den verſprochenen Aufſatz über Sefenheim, 
mit ber angelegentlichen Bitte, vor dem Lefen und beim Lefen 
ſich gegenwärtig. erhalten zu wollen, wie berfelbe urſprünglich nur 
für mic, zur Erinnerung, dann etwa noch fir einen Bruder und 
nächften Freund, geſchrieben worden. Hier theilte ich mid nur 
zweien vorlefend mit, deren einer, mit Goethe wohl befannt (Pro- 
feffor 8. D. von Mündomw?), es auf fi nahm, das Manufkeipt 
— eben das hier vorliegende — an Goethe zu ſchicken. Goethen 
hat e8 damals, wie ich durch briefliche Mittheilung von anderen 
erfuhr, höchlich interefjirt, ja bewegt und er fenbete das Manu- 
ſtript mit einem ſchönen Blatte, vom 31. Januar .23 datirt, für 
mic, zuräd. Seitdem bin id; etwas weniger farg mit der Mit- 
theilung, ſchon um bie ſchöne Belohnung von Goethes Hand, 
damals nur in meinem Befig, ganz neuerbings unter dem Titel: 
„Wiederholte Spiegelungen“ im 49. Bande ver Werke abgebrudt, 
vorzeigen zu können. Diefe Bevorwortung, um bie mir felbft Täftige 
Breite der Darftellung und die beftänbige Beziehung des "Auf- 
fages auf meine geringe Perfon nicht ſowohl zu entfchulbigen, 
als zu erklären, 

Was den wefentlichen Inhalt betrifft, fo halte ich mid im 
voraus Ihrer Theilnahme verſichert, und zwar einer vecht warmen, 
wie ſie nur ſolche haben können, welche mit Goethe vertraut find. 
Ein fehr verftänbiger Mann, der mid die Erzählung vorlefen hörte, 
wollte fi) des Todes verwundern, erft über mich, daß ich -alle 
Nacweifungen Goethe's fo gläubig angenommen und verfolgt, und 
dann barüber, daß alle biefe Angaben fid wirklich als wahr er- 
wieſen, daß e8 z. B. wirklich einen Wirthsfohn George in Dru- 
fenheim gegeben. So feltfam ift der Titel: „Wahrheit und Did 
tung“ mißverftanben worben. 

Dünger, Srauenbilver. 8 


— 


> 114 


Sie brauchen Übrigens mit diefer Lektüre nicht zu eilen, und 
tönnen das Manuftript fo lange behalten, als Ihnen gefällig ift. | 
Verehrungsvoll und aufrichtigft ergeben‘ 
Nöte. ° 
Bonn, ben 27. Februar 1834." . 


Auch Delbrüchs fehr bezeichnende Antwort liegt vor uns, und 
wir glauben mit der Mittheilung verfelben unſeren Lefern einen 
Dienft zu erzeigen. 


„Berehrtefter Herr Amtsgenoſſe! 

Ic) darf nicht Länger fäumen, Ihnen bie gütigft mir mitger 
tbeilten Blätter zurückzuſenden, fo fehr fie aud durch Inhalt und 
Form zu wieberholter Lefung reizen. Die Einflehtung fo mander 
Meiner , viel bebeutenber Nebenumftände gibt Ihrer Erzählung 
etwas für mic höchſt Anziehendes. Was biefe enthält von Frie— 
verifens unglüdlihem Schidfal, hat mic überraſcht, und fo be | 
trübt, daß id) wünſchen möchte, es nicht erfahren zu haben; denn 
ich beforge faft, mich bei ver dichteriſchen Friederile der Erinne- 
rung an die wirfliche, fo mitleidswürdige nicht immer ermehren zu 
önnen. Bon ben beiden Meinungen, welche Sie aufftellen über 
Goethe's Verhältniß zu dem Mädchen bei feiner Abreiſe von Straß— 
burg, möchte ich mich für bie erfte erflären, nach melder ſchon 
damals feine Liebe zu ihr erfaltet war, ihre Liebe zu ihm noch 
glühete. Daß er bei feiner acht Jahre darauf erfolgten Rücklehr 
bie Abſicht gehabt, ihr feine Hand anzubieten, ift mir nicht glaub- 
lich: denn in wie viele Liebeshändel hatte er ſich während biefer 
‚Zeit verftrict, welche das Elſaſſiſche Landmädchen verdunfeln muß- 
ten, in deſſen Schilverung aus den Jahren 12 und 14 (13) die 
Dichtung ein fehr bebeutenbes Uebergewicht über bie Wahrheit da- 
von getragen zu haben ſcheint. Diefes fchließe ich aus dem erften 
Hauptfage der „wiederholten Spiegelungen“.“ Was alſo Olivia 

' „Ein jugendlich feliges Wahnleben fpiegelt ſich unbewupt einbrüdlich 
in dem Züngling ab.“ Gegen Edermann äußerte Goethe (IT, 188), in 


115 


(Sophie) bei Echweppenhäufer gefagt hat, es fei in der Erzählung 
nicht alles richtig, mag nicht ohne Grund fein, nur in einem-an- 
dern Sinne, als Sie biefen Worten unterlegen. Auf die Gefahr, 
die Gewiſſensunruhe zu vermehren, welche Ihnen bie durch Geor- 
ges Nichtbeſuch begangene Unterlaffungsfünde verurfacht, möchte 
ich mir erlauben, beſcheidentlich zu fragen, wie es kömmt, daß 
Sie fih gar nit nad Weyland erkundigt: haben, ver in ber 
Sefenheimer Gefchichte eine fo bedeutende Rolle fpielt. Ex ſelbſt 
war vermuthlic ſchon im Jahre 1812 tobt: denn fonft hätte Goethe 
im Leben ihn nicht namentlich aufgeführt; ' aber vielleicht hat er 
Nachkommen hinterlaffen, von welchen manches zu erfragen fein 
möchte. Die erwähnten Abfpiegelungen, welche mir bei ber erften 
Lefung natürlich ganz räthſelhaft waren, find mir num verftändlich. 
Diefes erhöhet meine Erkenntlichkeit für die gütige Mittheilung. 
In dem Einbrude, welchen Ihre Blätter auf Goethe gemacht "haben, 
liegt, wie mir fcheint, für Ste ein ſtarker Antrieb, weder biefe 
Erzählung, noch was Sie fonft über ihn und feine Werke venten, 
für ſich zu behalten, fonvern zu Nutz und Frommen ver Kunft zu 
veröffentlichen, da Sie gewiß ihn von Geiten auffaffen, welde 
jedem andern verborgen bleiben. 

Mit inniger Verehrung und Ergebenheit . 
Delbrüd. 


Bei nochmaliger Durchſicht Tann ich eine Regung des Neides 
nicht unterdrücken, über bie Nettigfeit Ihrer Handſchrift, melde‘ 
die Nettigfeit Ihrer Darftellung fo treffend verſinnlicht.“ 

Näke Tieß im Jahre 1835 durch einen feiner frühern Zu- 
hörer, Herrn Kr., weitere Erfundigungen einziehen, woraus ſich 


der Geſchichte von Gefenheim fei Fein Strich enthalten, der nicht erlebt, 
aber fein Strich fo, wie er erlebt worden. 

! Aber lebten nicht auch Jung Stilling, Jacobi, Salgmann, Sries 
derife ſelbſt u. a. zut Zeit, als er ihrer in „Wahrpeit und Dichtung" ges 
dachte, um nicht an George Mein gu erinnern! Vergle iche Äbrigens oben 
©. 11 Note. ” 





116 


die Falſchheit des von Schweppenhäufer verbreiteten Gerüchtes von 
Friederilens Schande ergab, und bie treueſte, engelreine Anhäng- 
lichkeit Friederilens an ihren Jugendgeliebten. Herr Kr. fand 
Friederilens jüngere Schweſter noch in Niederbrunn am Leben, 
und vernahm von ihr nicht nur die anziehendſten Nachrichten über 
Friederile und ihr Verhältniß zu Goethe, ſondern erlangte auch 
die Mittheilung eines ganzen Bändchens Gedichte, theils von Frie⸗ 
derilens, theils von Goethe's Hand geſchrieben. Eine Anzahl von 
etwa breißig Briefen Goethe's an die Geliebte wollte Sophie, weil 
biefe fie geärgert hätten, verbrannt haben. Diefe Mittheilung .er- 
regte Näle's herzlichfte Freude. Im Jahre 1838 theifte Stöber 
in Chamiſſo's und Schwab’s „Mufenalmanad" mehrere von Sophie 
Brion abſchriftlich erhaltene Gedichte Goethe's an Frieberife mit, 
und das „Morgenblatt" brachte in demfelben Jahre die von Moriz 
Engelharbt veröffentlichten Briefe Goethes an Salzmann, welde 
über. das Fiebesverhältniß die anziehendſten Auffchlüffe geben, wie 
Stöber bereits im Jahre 1831 bie Briefe von Lenz an Salzmann 
Nro. 250 ff.) ſtellenweiſe hatte abdrucken laſſen. Am 12. Sep- 
tember deſſelben Jahres follte Näke in Folge einer unkgilbaren 
Krankheit ver Wiffenfchaft und einem zahlreichen Kreife verehrender 
Freunde und Schüler Teiver zu frühe entriffen werben. ' Delbrüch, 
der am ber Stelle des Verewigten die Abfaffung des Vorwortes 
zu dem Verzeichniß der Vorlefungen der Univerfität Bonn für das 
Sommerhalbjahr 1839 übernommen hatte, worin er das Anben- 
Yen Nüfe’s feierte, ver fo oft als Vorredner durch Feinheit, Scharf- 
finn und Gelehrfamteit, fo wie eine von wenigen erreichte Neinheit 
und Anmuth der Sprache und reichen Wechſel des ftets gefchict 
abgerumbeten Stoffes geglänzt hatte, Delbrüd gedachte bei diefer 
Gelegenheit jenes bis dahin nur wenigen befannt geworbenen Auf- 
fages über Seſenheim, der durch eine günftige Fügung in die 


* Wie vermeifen auf die herrliche Robrede A. 2. von Sqlegels in 
deſſen Opuscula Latina und auf ben Lebensabriß vor Näke's Opuscula 
von Belder. 


117 
Hände des trefflichen, beſonders um Goethe hochverdieuten Barn⸗ 
hagen von Enfe gelangte, und gleich am Anfange bes Yahres 
1840 vem-Drud überliefert ward. ber bald darauf vernahm man 
durch einen Berichterftatter in ben „Blättern für literariſche Unter- 
haltung" (1840 Nro. 128 ©. 115), daß in Nätes Nachlaß fich 
ein Auffag befinde, der, auf genane Angaben geftügt, bie Ehre 
der armen Friederile vollftändig berftelle, bie, weit entfernt, füch 
einer anbern leichten Neigung zum Spiel hinzugeben, mie eine ger 
haſſige Klatſcherei ausgeftreut hatte, vielmehr die hohe Geftalt des 
‚Yinglings Goethe umvergeflich in ihrer Seele getragen und um 
feinetwillen and; ehreuvolle Werbungen anberer Liebhaber mehr- 
mal zurädgeiviefen habe. Hieran ſchloß ſich ein Aufſatz in ber 
„Augsburger allgemeinen. Zeitung“ 1840 Nro. 182 f.: „Goethe 
und Friederile“, in welchem ausgeführt wird, daß bie von Goethe 
geſchilderte Friederile ihm unmöglich unten geworben fein könne, 
wenn der Dichter anders jene Natur» und Lebenskraft beſeſſen, 
mit benen er weit mächtiger, als mit feinen Schriften, aller Herzen 
ſich bemeifterte. Im „Morgenblatt* 1840 Nro. 213 ff. theilte 
Br. Laun (Fr. Aug. Schuß) die von Näke's Zuhörer erfunbeten 
Nachrichten mit, die ihm von Nätes Familie zur Veröffentlichung . 
mitgetheilt worden waren. 

Aber in vie Reihe biefer banfenswerthen Aufklärungen trat 
mit dem Jahre 1841 eine auf die offenbarfte Täuſchung berechnete 
Schrift unter dem Titel; „Goethes Friederile. Bon Freimund 
Pfeiffer“, durch welche ſich viele bis Beute zu irre führen ließen, 
wie z. B. der Berfaffer des Artikels „zur Goethelitteratur" in ber 
„Augsburger allgemeinen Zeitung‘ 1841 Nro. 211 Beilage, ver 
gleich darauf ebendaſelbſt Nro. 221 Beilage auf feinen Irrthum auf- 

- merffan gemacht wurde. Den vollftänbigen Beweis, daß hier 
eine bloße Miftififation vorliege, habe ich bereits in Herrig® und 
Viehoff's „Archiv für das Studium ver neuern Spraden und Li- 
teraturen“ II, 403 ff. erbracht. Der Verfaſſer ſcheint anfangs 
nur eine auf bie erhaltenen Gedichte, Briefe und Berichte geftügte 
Darftellung des Sefenheimer Liebesverhãltniſſes theils in bramatifcher 

s* 





118 
‘ B 
Form, theils in Briefen bezwedt zu Haben, ba er aber hier- 
bei anf viele Schwierigkeiten und manche erhebliche Lüden ſtieß, 
den Gevanfen gefaßt zu haben, das Fehlende durch reine Exfin- 
dungen auszufüllen, die er für aus fonft unbelannten Quellen ge- 
zogene Thatfachen auögeben wolle, wozu e8 freilich einer geößern 
Kenntniß der betreffenden Literatur und einer. geiftvollern und be— 
weglichern Einbildungskraft bedurft hätte, als ihm gerabe zu Ge- 
bote ftanben. 
©. 9—14 führt und ver Berfaffer die Straßburger Gefellen 
Goethe's in Iebhaftem Dialoge mit Benugung ber aus Goethe ge- 
nommenen Einzelzüge vor, leiver aber ftehen die wenigen Binzuge- 
dichteten Kleinigkeiten mit ber Wirklichkeit in offenbarem Wider⸗ 
ſpruch. ©. 12 ſpricht Renz zu Goethe: „Tauf' den Marculfus 
in beinem herrlichen „Fauft“ um, thu' mir die einzige Liebe, nenn’ 
ben Bücerwurm und Pedanten Wagner." Aber von dem „herr- 
lichen Fauſt“ war damals noch feine Zeile gebichtet, und ven Na- 
men von Fauft's Famulus nahm Goethe nicht won feinem Straß- 
burger Freunde, dem nichts weniger als pebantifchen H. L. MWag- 
ner, ſondern behielt ihn aus der Fauſtſage und dem Puppenfpiele 
. bei. ©; 14 kündigt Goethe der Geſellſchaft, in welcher Lenz eine 
Hauptrolle fpielt, die Ankunft von Herder an. Aber Herber war 
längft mit Goethe. befannt (ſchon feit dem September oder Okto— 
ber 1770); ehe Lenz (im.Unfange des Jahres 1771) nad Straß- 
burg kam. ©. 17—22 beehrt uns Pfeiffer mit ſehr matten Briefen 
Friederikens an eine Verwandte Lucia in Steafburg, venen das 
Gemachte und Erzwungene Har aus ven Augen ſchaut. Der erfte 
Beſuch Goethes in Sefenheim wird nad; ber irrigen Angabe in 
„Wahrheit und Dichtung“ auf zwei Tage beſchränkt, während er 
in Wirklichkeit Tänger dauerte. Vgl. ©. 4 ff. Wenn Pfeiffer - 
Friederile ©. 20 erzählt: „Der Liebe, hübfche Goethe hat mir 
zwei herrliche Bücher von Straßburg zu ſchicken verſprochen“, jo 
wirb dies durch ben erften Brief Goethes an Friederike durch- 
aus wiverlegt, ja es fieht jelbft mit „Wahrheit und Dichtung“ in 
Widerſpruch, wo Goethe erft fpäter Bücher an Friederike zu ſchicken 


119 


verfpricht (B. 22, 11). Friederilens Vorahnung von Goethes 
Ankunft erklärt Pfeiffer auf eine höchſt platte und nüchterne Weiſe; 
denn er zwingt feine Friederile zu dem Geſtändniß (S. 20): „Frei⸗ 
lid) konnt' ich das (prophezeien); denn durch George erhielt ich 
geftern Abend einen Brief mit drei neuen Büchern von Straßburg.“ 
Nach „Wahrheit und Dichtung" (®. 22, 5) wurde biefer Beſuch 
fo ganz ans beim Stegreife unternommen, baß er · voraus nicht ge- 
meldet werben konute; und wie hätte fi Goethe wundern können, 
daß Friederile ihn fo fiher auf den Abend. erwärtet hatte, wenn 
ex ihr feinen Beſuch vorher angezeigt hätte! Wir fahen uns oben 
gendthigt, jenen Befuch auf eine andere Zeit zu verlegen, wobei 
aber der eben bemerkte Widerſpruch völlig beftehn bleibt. ©. 21 
leſen wir: „In die Linde am Brunnen hat er umfer beiver Namen 
eingeſchnitten“, wobei offenbar die Worte aus Goethe's Gedicht an 
Friederile vorfchweben : 

Der Baum, in deſſen Rinde 

Mein Nam’ bei beinem ſteht; 


aber dieſe Worte beziehen ſich auf einen Baum im der Nähe vom 
Straßburg, nicht in Sefenheim. Vgl. ©. 56 Note! 

©. 26—28 haben wir Auszüge aus Straßburger Briefen, 
welche mit den trügeriſchen Worten eingeleitet werben: „Einige 
Briefe aus ven Straßburger Tagen liegen und vor, und mögen 
dazu dienen, das Bild bes Werbenden zu vervollſtändigen.“ Der 
Betrug ift gar zu einfältig; denn dieſe Auszüge find ganz aus ber 
jevermann zugänglichen" Scheift von H. Döring „Goethe in Frank⸗ 
furt am.Main* (1839) ©. 65 ff. genommen, und Pfeiffer ſcheint 
die im „Morgenblatt” vollftänbig „mitgetheilten Briefe Goethe's 
on Salzmann, aus benen Döring gefhöpft hat, gar nicht gefannt 
zu haben, va er fonft viel Bebeutenberes daraus zu feinem Zwecke 


Wir amüffen es auch als eine arge Verläumbung bezeichnen, wenn 
©. 108 f. behauptet wird, Merd fel es geweſen, der, freilich aus Liebe zu 
Goethe, deſſen Verbindung mit Trieberife gelöst Habe. Goethe Hatte Tängft 
entfagt, ehe er Merd Fennen Ternte. 


120 


Hätte benägen müſſen. Aber das CExgöglichfte iſt, daß ber. Be 
träger hier ſelbſt einem Betrug zum Opfer geworben: denn Döring 
hat. vier ber Briefe an Salzmann, aus benen er Auszüge gibt, 
aufs Gerathewohl mit einem beftimmten Datum verfehen, ob- 
gleich die Briefe felbft undatirt find, und daß das fingirte Datum 
ſo unglüdlih, ais möglich, gewählt fei, lehrt der erfte Blick 
Diefe Briefe nämlih, welde nad) Döring's Erfindung am 16. 
April, 14. Juni, 24. Yuli und 4. Oftober 1770 gerieben fein 
follen, beziehen ſich auf das ſchon weit vorgerädte und für ben 
Dichter hoͤchſt ängftlich gewordene Verhältniß zu Friederile, deſſen 
erſte Anknüpfung erſt gegen Mitte Dftober 1770 fällt. Der erſte 
dieſer Briefe iſt kurz vor Pfingſten 1771 geſchrieben, als Goethe 
bereits vier Wochen in Seſenheim war; denn wenn wir bei Döring, 
und unglücklicherweiſe auch bei Pfeiffer, leſen: „Und dann bin ich 
eine Woche älter“, wo Goethe ſchrieb vier Wochen, fo ift dies 
nicht etwa ein bloßer Drudfehler, ſondern ein abfihtliches Falſum, 
da bie vier Wochen nicht wohl in Döring’ Kram zu paffen ſchienen. 
Zwiſchen ven beiden erften Briefen können unmöglich an zwei Mo— 
nate verfloffen jein, wie hier angenommen wird; aud) ſcheint der 
zweite Brief nur ein paar Tage nad} dem hier erwähnten Pfingft- 
montag (biefe Beitbeftimmung hat Döring weggelaffen) geſchrieben 
zu fein, ber im Jahre 1770, das freilich nur Döring hereinbringt, 
auf ven 4. Juni fiel. Trotz diefer groben Berftöße hat ſich nicht 
nur Pfeiffer, fondern auch Schöll („Briefe und Aufſätze“ ©. 115) 
durch dieſe falſchen Datirungen täuſchen laſſen, während Döring 
ſelbſt in ver zweiten Bearbeitung von Goethe's Leben S. 154 ff. 
das falſche Jahr 1770 beibehält, wie auch die eine Woche, 
aber die Beſtimmung des Tages wegläßt. Daß auch bei ben fol- 
genden Briefen Döring faljche Patirungen auf die unglüdfichfte 
Weiſe erfonnen hat, läßt fid) auf das beftimmtefte nachweifen, wie 
& von mir a. a. D. ©. 404 ff. gefchehen ift. 

Doch kehren wir zu Pfeiffer's Trugbücjlein zurück, fo ift die 
Behauptung (S. 34), Goethe habe ven Sefenheimern eine eigen- 
bhänbige Ueberfegung des ganzen Oſſian gegeben, "auf tie von 


121 


Stöber mitgetheilte Ueberfegung ber „Gefänge von Selma“ zu ber 
ſchränken, weni aud; Friederilens Schwefter Sophie von einer 
Ueberfegung des ganzen Offian fpricht, die fie nebft anderm einem 
Pfarrer Spohr zum Abſchreiben geliehen, aber nicht wieber erhal- 
ten habe. Kleine Irrthümer diefer Art kommen in Sophiens Ber 
richt mehrfad vor, und find eben fo leicht zu Arktären, als fie 
nicht vermögen, ihre Angaben überhaupt zu verbäctigen. Den 
Haupttumpf aber fpielt Pfeiffer zum Schluß mit feinem vorgeb- 
lichen „Sefenheimer Liederbuch“ auf, zu weldem er bie danlens⸗ 
werthen Mittheilungen Laun's mißbraucht. hat. Hören wir bie 
falbungsvollen Worte, mit denen er dieſes wunderbare Geſchenl 
dem Leſer barreicht. „Nimm nun Friederilens Liederbuch! O daß 
„ich ansprechen Könnte, melden Eindruck die vergelbten Papiere auf 
mich machten! Das find die Lieder und Gebichte, wie fie friſch 
aus Goetheſcher Feder für das muntere Rielchen aufs Papier 
floffen, und fie mit all den taufend Ahnungen erfter Liebe um- 
webten.“ Friederikens Schwefter, erzählt er, habe ihm „das Lie 
derbuch mit manden Beiträgen aus Goethe'8 Hand“ gegeben, und 
ex fügt hinzu: „Des Dichters Hand ift bald nachläfſig und zitterig (?), 
bald zierlich, feft und rein. Das Gedicht „Erwache“ führt bie 
Jahreszahl 1770.” Auch Hier Kat Pfeiffer Laun's Bericht nur 
umfchrieben, der von einem „Bändchen Gedichte“ fpricht, „theils 
von Prieberifend Hand gefchrieben, theils von bes Dichters bald 
ſehr zierlicher, bald nachläſſiger (aber gewiß nicht zitteriger!) Hand“. 
In’ „Wahrheit und Dichtung“ Heißt es (8. 22, 22): „Ich legte 
für Friederiken manche Lieder befannten Melodien unter. Gie 
hätten ein artiges Bändchen gegeben; wenige davon find übrig ge- 
blieben; man wird fie leicht aus meinen übrigen herausfinden.“ 
Bon einem eigentlichen Lieberbuche, aus Gevichten Goethe's allein 
beftehenb, ift gar nicht die Rede. Der Dichter legte nur befann- 
ten, von frieberife gefungenen und gefpielten ‚Melodien neue 
Terte unter; baneben ſchrieb er mehrere an Friederile perſönlich 
gerichtete ober doch Fiebesverhältniffe varftellende Gedichte. Frie⸗ 
derile fcheint diefe denn in einem Bändchen zum Andenken an ven 


‘122 


Geliebten vereinigt zu haben. Goethe fpricht nicht von einem wirk- 
lichen Bänbehen, fordern fagt mur, daß bie Lieber ein artiges 
Bändchen gegeben hätten, umd noch im Sabre 1779 fchreibt er 
an Frau von Stein nicht, daß er das Sefenheimer Liederbuch bei 
Friederile gefunden, ſondern nennt einfah Lieber, bie er ge 
fiftet. ’ 

Pfeiffer's unglückjeliges „Sefenheimer. Liederbuch“ befteht ans 
neunzehn Stüden, von-benen vier (Nro. 10. 11. 15. 16) bekannte 
Volkslieder find (bei Erfah II, 70. IV, 66. 175. 378), ſechs 
Gro. 3. 5. 6. 7. 13. 17) aus Laun's Mittheilungen ftammen, 
dem fie aus Friederilens Nachlaß zugefommten, vier (Nro. 8, 12. 
14. 18) aus der „Iris“ genommen find, mit ben bort erhaltenen 
älteren Lesarten, eines (Nro. 19) in Goethe's Gevichten und eines. 
(ro. 4) in der ättern Bearbeitung des „Gög" ſich findet. Hier- 
nach bfeiben nur nod drei Stüde nachzuweiſen (Nro. 1. 2. 9), 
wenn man fie nicht etwa als Pfeiffer's Eigenthum anzuſprechen 

het. Ein ſeltſames Mißgeſchick, weldes den Hier gefpielten Be— 
teng. ſchlagend beweift, ift Heren Pfeiffer bei Nro. 18 begegnet. 
Pfeiffer. hat meislich neben die Unterſchrift G. ein Fragezeichen ge- 
ſetzt, während Bons von der Aechtheit deſſelben voll überzeugt ift, 
da „jede Zeile das Zauberfiegel Goethe’fcher Dichtweiſe an fich trage". 
Und dennoch gehört das Gedicht I. G. Jacobi, dem Herausgeber 
der „Iriß“, aus welcher es genommen ift (vgl. IV, 250 f.), und 
zwar hat e8, wie bie meiften Gedichte deſſelben im ber „rise“, 
feine Unterfchrift, während die von Goethe meift mit P. unterzeich- 
net find. In der von I. ©. Schloffer im Jahre 1784 heraus- 
gegebenen Sammlung: „Auserlefene Lieder von J. ©. Jacobi“, 
welche der Herausgeber in der Zufchrift an Pfeffel mit den Wor- 
ten einleitet: „Ich ſchenke Dir, mein alter, würbiger Freund, hier 
eine Sammlung einiger theils zerſtreui, theils gar nicht gedruckter 
Lieber, bie id) von dem Verfaſſer zu dieſem Zweck mir ausgebeten 
habe", fteht unfer Gedicht S. 55, fpäter in Jacobi Werken II, 
61. Goethe Tonnte dieſes erft im Jahre 1775 erfchienene und 
ohne Zweifel nicht lange vorher entftandene Gedicht im Jahre 1771, 








wo er bie beiden Jacobis perſönlich noch gar nicht kannte, un- 
möglich in Friederikens Liederbuch aufnehmen. * 

" Der Berfaffer jener offenbaren Myftififation ift der am 26. De- 
zember 1841 in feinem zweiunddreißigſten Lebensjahre verftorbene 
Dberlehrer Dr. Wiljelm Biktor Chriftoph Pfeiffer zu Olvenburg, 
welcher fi den Schriftftellemamen Freimund beigelegt hatte: 
Auch er zählte Näke zu feinen Lehrern, und zwar zu feinen ge- 
liebteſten, follte aber leider in Bezug auf Goethe's Friederike in 
einer dem reinen und eblen Sinne feines Lehrers fo ganz enige- 
gengefegten Weife feine Thätigfeit bewähren. Wenn Pfeiffer ſelbſt 
im Gefpräche mit feinen Freunden eine Fälfchung, wie wir fie 
nachgewieſen, weit von ſich abwies, wie im „Nekrolog der Deut⸗ 
fen“ XIX, 1227 erzählt wird, mit beſonderer Hervorhebung, 
daß eine folhe Unredlichkeit mit feinem perfönlihen Charakter 
nicht wohl zu vereinbaren fei, fo gehört bies zu ben ‚vielfachen 
Widerfprüden, melden wir in der Gefchichte des menfchlichen 
Geiftes fo oft begegnen. Wie hätte er auch, fo lange er nicht 
dazu genöthigt war, einen fo unfein gefponnenen Betrug, ber fei- 
ner fehriftftellerifchen Ehre gewaltigen Abbruch thun mußte, geftehn 
follen! Bald nad den Erſcheinen der Friederilkeſchrift ſah fi 
Pfeiffer durch den kurzen’ Briefwechſel zwifchen Klopftod und Goethe ? 


NAuch das von Goethe’ felbft fpäter in feine Werke aufgenommene 
Gericht: „Im Sommer" (B: 1, 64), gehört Jacobi an. Es fleht in ber 
„Zeis VII, 560,ohne Namensunterfcheift, und als lieb eines Rieberfanges 
in Schlofer's Sammlung ©. 46, dann in Jacobi's Werfen IIT, 108. Goethe 
aber wollte, es, als er darauf aufmerkfam gemacht wurde, nicht fahren 
laſſen, obgleich ihm das tiefe Gefühl und ver glüdliche Fluß feiner gleich 
geitigen Gebichte abgeht. Jacobi dichtete es als Gegenftüc zu dem Gedichte 
Herbſtgefühl (8. 1, 67), das im der „Iris IV, 249, unter ber Ueber 
ſchrift: „Im Herbſt 1775", erſchienen war 

2 Pfeiffer möchte auch die fen Briefwechfel gern für unbekannt ausgeben, 
obgleich derfelbe nicht nur in einem Gingelabbrude zu Leipzig 1833 er- 
ſchien, fondern auch in den Nachträgen ju Klopftods Werken, ja ſchon 
viel früher im „allgemeinen literarifchen Anzeiger“ 1799 ©. 477 f., freilich 
ohne Aueſchreibung der Namen, befannt gemacht worben war. 


124 


zur Herausgabe einer Schrift „Ooethe und Klopſtod“ veranlafit, 
in welder er beide Männer in ihrer außerorbentlichen Wichtigkeit 
für bie deutſche Litteratur und in ihrem antipobifchen Verhältniß 
zueinander barzuftellen gedachte. Bei dieſer „Gelegenheit wandte er 
ſich, als feine Schrift faft 6i8 zum Abſenden fertig war, an Del 
#rüd, von dem er gelefen ‚hatte, daß er in den neunziger Jahren in 
Hamburg in ein mäheres Berhältniß zu Klopſtock getreten fei, mit 
der Bitte, ihm, wenn es möglich fein follte, nähere Mittheilung 
über das Verhältniß, in welchem Klopftod zu Goethe geſtanden, 
mitzutheilen. Delbrüd ging wirklich auf dieſe Bitte ein, und bie 
Mittheilungen, welche Pfeiffer in jener Schrift als von einem noch 
lebenden Belannten Klopftod’8 herſtammend bezeichnet, erhielt- er 
von Delbrüd, der, wahrſcheinlich durch die burſchiloſe Weife, in 
welcher Pfeiffer dem ernft würdevollen Greife feinen Dank für biefe 
koftbaren Mittheilungen ausſprach, empfindlich verlegt, fih fo 
wenig trog dringender Bitten beftimmen ließ, die Erlaubniß zur 
Veröffentlichung feines Briefes und zur Nennung feines Namens 
zu geben, daß er vielmehr bat, ihm. feinen Brief gelegentlich zu- 
rüdzufenden, damit er nicht früher ober fpäter in unrechte Hände 
falle. Jedenfalls ift es von Wichtigkeit, Delbrüd als Vertreter 
jener Mittheilungen zu Tennen (wir erinnern ung, baß er das, 
was er dort über die Aufnahme von Fr. Aug. Wolf's „Prolego- 
menen" berichtet, auch in feinen Vorlefungen zu erwähnen pflegte), 
doch können wir nicht verſchweigen, daß, wenn Klopſtock anfangs zu 
ben Gegnern der „Brolegomenen" nad) Delbrüd's Bericht gehörte, 
nach einem Briefe Wilhelm von Humboldt's an Wolf vom 20. Sep- 
tember 1796 (Barnhagen’s vermiſchte Schriften II, 149) er bald 
darauf durchaus der Anficht Wolf’s war, bie er noch durch eigene 
Einfälle erweiterte, 

Konnte Pfeiffer's Trug nur dazu dienen, bie über Friederile 
entftanbene Verwirrung zu vermehren, fo muß dagegen bie im 
Jahre 1842 erſchienene Schrift Stöber's: „Der Dichter Lenz und 
Friederike von Seſenheim“, als eine fehr erfreuliche Bereicherung 
gelten, wenn auch eine fleißigere Durdarbeitung wünfdenswerth 


125 


gewefen wäre. Mit der in bemfelben Jahre in ver „Augsburger 
allgemeinen Zeitung“ gegebenen Aufflärung über Friederilens legte 
Schickſale fanben vie authentifchen Nachrichten Aber biefe ihren Ab- 
ſchluß. Eine Darftelung des ganzen Berhäftnifies habe ich zuerft in 
den „Blättern für literarifche Unterhaltung“ 1848 Nro. 92—96 
. verfucht. - - . 





1. 


Kornelia Friederike Chriſtiane Goethe, Goethes 
Schwefter. ' 


Wenn das ruhm⸗ und glanzumftrahlte Bild des großen Soh- 
nes ber alten NRaiferftabt, den ein günſtiges Schidfal in feine 
ſchützenden und pflegenven Arme nahm, um aus ihm, freilich nicht 
ohne die tiefften und ſchwerſten Entwicklungsleiden, den größten 
Dichter eines in innerfter Seele und finniger Gemüthlichfeit leben⸗ 
ven Volles zu ſchaffen, manche ein fo großes Glück, wie es wenigen 
in dieſer Beftändigfeit unb in biefem reinen, alle ſcheinbaren Mif- 
töne zum ſchönſten Ganzen verbindenden Einflange zu Theil ge 
worden, mit neibifhem Blicke anftannen läßt, fo muß die Leidens- 
geftalt feiner edlen, tieffühlenden, veinliebenden Schwefter, bie zu 
einem frühen Grabe nad) einem freub= und genufleeren Dafein 
hinſchwankte, unfer wehmüthigftes Mitgefühl in Anſpruch nehmen. 
Sehen wir den Bruder von allen Gaben des Glüdes überhäuft, 
ja ſelbſt das ſcheinbar Wivermärtige und Hemmende als Förderniß 
zu feiner Entwicklung dienen, ober wenigftens bald überwunden 


! Der Auffag im „Morgenblatt“ 1846 Nro. 308— 313" („Kornelie 
Goethe in Emmendingen") gründet ſich faſt lediglich auf „Wahrpeit und " 
Dichtung“. Die Darftellung in der „Galerie berühmter und merfmürbiger 
Sranffurter“ von E. Heyden ©. 81 ff. iſt hieraus zum größten Theile wört- 
lich genommen. 








127 


und für ihn ohne nachtheilige Wirkung, fo ſchlägt dagegen ber 
Schwefter alles, was fonft beglüdend wirken könnte, zum Leiden 
aus, und alles Drüdende wird es für fie in gefteigertem Grabe; 
felbft der lebende und geliebte Bruber, deſſen Glüd fie mit allen 
Kräften ihrer Seele erfehnt, macht ihr. vielfahe Sorge und Dual, 
und verbittert ihr Leben noch mehr, als es bie pedantiſche Strenge 
und Herbe ihres Vaters that, unter welcher fie auch die noch 
jugendliche, heiterm Genuffe zugewandte Mutter leiden fah. In 
‚ feinen mannigfachen Liebesleiden und ſonſtigen Bedrängniſſen war 
fie es, die dem Bruder mit Troſt und Rath zur Seite ſtand, und 
feine ſchwanlenden Schritte lenkte; ihre Liebe folgte ihm überall , 
hin, und fand erft dann eine gewiſſe Beruhigung, als fie ihn in 
‚Weimar in innigftem Berftändniffe mit einer edlen Frau wußte, 
die, wie fie, ihm Tröfterin, Beruhigerin und Beratherin werben — 
folte, wenn fie e8 auch ſchmerzlich empfinden mochte,. daß fie ſelbſt 
diefe von der Natur ihr angetviefene Stelle bei dem weit entfernten 
Bruder nicht mehr einnehmen klonnte. Und fo ſank fie vor der 
Zeit dahin, wie eine viel verfprechenbe, innerlich reich entfaltete 
Blume, die rauhe Wetter zerftörten, ehe fie ihr volles, ahmungs- 
volles Auge zur lebenswarmen Sonne aufſchlagen konnte. . 
Kornelia Friederile Chriſtiane Goethe warb am 7. Dezember ' 


* Diefen Tag gibt fie ſelbſt, wie and der Bruder, ale Geburtstag 
an. Bol. Jahn „Goethe's Briefe an Leipziger Freunde“. ©. 277. Briefe an 
rau von Stein I, 484. Getauft wurde fie am folgenden Tage (vgl. Maria 
Belli „Leben in Sranffurt am Main“ III, 123), wie ihr Bruder am 29. Auguft 
(vafelöft 106). Hiergegen Tann die Angabe des Enmendinger Kirchenbuches 
Wgl. das „Morgenblatt" a. a. D. ©. 1251), wonad fie am 8. Juni 1777 
geftorben und 26 Jahre, 8 Monat alt geworben, nichts beweiſen, da ber achte 
Monat, obgleich noch nicht vollendet, als gang genommen wird; wie 5.8. im 
Sranffurter Intelligenpblatt (Marie Bei VIE, 16) das Alter von Onetpe's 
Vater, der am 31. Juli 4710 geboren war und am 27. Mai 4782 be- 
graben warb, auf 71 Jahre, 10 Monate beſtimmt wir. Wäre 3. ©. Erhlofe 
fer, wie Nicofovins angibt, am 7. Dezember 4739 geboren, fo würten 
beide Gatten denfelben Geburtstag haben; aber nach dem Sranffurter Kir— 
chenbuch fiel dieſer auf den 9. Dezember, womit auch die Angabe im 





x 128 
1750, fünfzehn Monate nad) ihrem Bruder, geboren. Bon ihren 
vier nachgeborenen Geſchwiſtern überlebten nur zwei das ziveite Le- 
bensjahr, Hermann Jakob, geboren den 26. November 1752, ge 
florben,den 11. Januar 1759, und Johanna Marie, geboren den 
28. März 1756, geftorben den 9. Auguft 1759; die beiden übrigen 
ftarben in noch zartem Alter, Katharina Elifabeth (geboren ven 
8. September 1754) am 19. Januar 1756, Georg Adolph (ge⸗ 
boren den 14. Yuni 1760) am 16. Februar 1761, fo daß alfo 
mit dem Jahre 1759 — benn Georg Adolph kann kaum in Be 
tracht kommen — die beiden Gefchwifter fi allein fanden. Goethe 
erwähnt in „Wahrheit und Dichtung” (B. 20, 39) mehrerer Ge 
ſchwiſter, von denen ein Bruder (Hermann Jakob) um brei Jahre 
jünger, als er, von den Mafern und Windblattern viel gelitten; " 
er fei von zarter Natur, ſtill und eigenfinnig gewefen, habe kaum 
die Kinderjahre überlebt und kein eigentliches Verhältniß zu ihm 
gehabt. Auch eines fehr fhönen und angenehmen Mädchens (Io- 
hanna Marie) erinnerte er fih, das aber auch bald verſchwunden 
fei. Bettine erzählt uns nach dem Berichte der Mutter Goethe’, 

. Wolfgang habe beim Tore feines Bruders Jakob Feine Thränen 
vergofien, vielmehr über die lagen der Eltern und Geſchwiſter 
ärgerlich geſchienen, als aber die Mutter ihn fpäter gefragt, ob 
er feinen Bruder nicht lieb gehabt, eine Menge mit Leftionen und 
Geſchichten beſchriebene Papiere unter feinem Bette hervorgeholt, 
die er ben Bruder habe lehren wollen — ein Zug, ber für den neun- 
jährigen, dazu frühreifen Knaben faft zu kindiſch klingt. Aus ber- 
felben Duelle fließt die Erzählung, Goethe habe zu Kornelien, da 
fie nod in der Wiege gelegen, die zärtlichfte Zuneigung gehegt, 
er habe ihr alles zugetvagen, habe fie allein nähren und pflegen 
wollen, und fei eiferflichtig gewefen, wenn man fie aus der Wiege 
genommen, in welcher er fte beherrfchte. 

Die erften Jahre brachte Kornelia mit ihrem Bruder viel bei 
Frankfurter Intelligenzblatt (bei Maria Belli VII, 117) ftimmt, wonach 


er bei feinem am 17. Oftober 1799 erfolgten Tode 59 Jahre, 10 Monate 
und 7 Tage alt war. As Avofat vereidigt wurde er am 17. Mai 1762. 


129 


der Großmutter zu, bei welcher die Familie eigentlich im Haufe“ " 
wohnte, und bie auch. gleich im Anfange ven Haushalt führte. 
Später lebte fie in einem großen Zimmer hinten hinaus, unmit- 
telbar. an der Hausflur, und fah es gern, wenn die Sinber ihre. 
Spiele bis an ihren Seffel, ja, wenn fie krank war, bis an. ihr” 
Bett hin ausbehnten, Sie jeigte ſich dein geliebten Enfelpaare 
fonft, freunblid und wohlwollend, und Goethe erinnerte ſich der— 
felben als einer ſchönen, hagern, immier reinlich geffeiveten Frau. 
Es bat ſich die Sage erhalten, daß die Großmutter Kornelia, ge- 
borene Walter, deren zweiter Gatte, Friedrich Georg Goethe, am 
13. Februar 1730 geftorben war — von ihr erhielt Goethe's 
Schweſter ifren Namen — auf dem Sterbebette ihrer Schioieger- 
tochter, der Fran Räthin, da fie die übermäßige Sparſamkeit ihres 
Sohnes Tannte, die Summe von zweihundert Dukaten als Noth- 
pfenning übergeben habe; biefe aber legte das Geld ſogleich in die 
Hände ihres Mannes, dem die Erfüllung feines Verſprechens, ihr 
die Zinfen davon, und wenn fie es wünſche, das Kapital ſelbſt 
anszuzahlen, nie eingefallen fein fol. Den Kindern. aber machte 
fie zu Weihnachten 1753 ein höchſt willlommenes Geſchenk mit 
einem Puppenfpiel, deſſen Direltion bald ganz in die Hände bes 
Knaben überging. Gleich darauf erkrankte die Großmutter ernſtlich, 
fo daß die Kinder, die nun im Geräms vor dem Haufe ihr Spiel- 
werk treiben mußten, von ihr entfernt gehalten wurden; fie ftarb 
bereits ami-26. März 1754. Unmittelbar. hierauf folgte der Um- 
bau des Haufes, bei deſſen neuer Grunbfteinlegung der fünfjährige 
Knabe, ala Maurer gefleivet, den Stein unter- manchen Feierlich- 
keiten einmauerte, wie wir dies in einem Exereitium vom Januar 
1757 erwähnt finden.‘ Der Vater hatte ſich in den Kopf geſetzt, 
wãhrend des Umbaues nicht aus dem Haufe zu weichen; doch ale 
zulegt das Dach theilweife abgetragen wurde und ber Regen bie 
zu den Betten ber Kinder allem übergefpannten Wachstuch und allen 
abgenommenen Tapeten zum Trotz gelangte, fah er fi doch ge- 
nötbigt, die Kinder auf eine Zeit lang wohlmollenden Freunden zu 
! Wgl: Weismann aus Goethes Rnabengeit ©. 20. 
Dünger, Brauenbilter. 5 s 9 


130 





überloffen, und fie in eine öffentlihe Schule zu fhiden. 
Wir geftehen, daß uns biefe Erzählung Goethe's nicht ganz der 
Wahrheit gemäß ſcheint, ba bie kurze Zeit, welche zur Herftellung des 
zum Theil abgebrocenen Daches nöthig war, keineswegs zu einem 
folgen, den Grundſätzen des eigenfinnig auf feinen Anſichten ver- 
harrenden alten Goethe zuwiderlaufenden Eutſchlufſe veranlaſſen 
konnte. Da ver Dichter von Privatſtunden, die er'mit anderen Kin⸗ 
bern getheilt Habe, mehrfach fpricht (B. 20, 34. 75. 78), fo iſt es 
wahrfcheinlich, daß während biefer Zeit bie Zahl jener Privatitım- 
ben außerhalb des Haufes vermehrt wurde, wie die Kinber deun 
während des Dachbaues auf furze Zeit bei Verwandten gewohnt 
haben werben. Für Sornelia Hatte der Bau wohl mer die Folge, 
daß ſie auf einige Zeit einer etwas größern Freiheit genoß, welche 
fie die bald zurücktehrende ſtrenge Zurückgezogenheit um fo härter 
empfinden ef. 

Denn kaum war ver Hausban vollendet, als der Vater, veffen 
‚Natur zu pevantifcher Pehrhaftigfeit neigte, den unterbrochenen Un- 
terricht mit um fo größerm Eifer zum großen Qual der Kinder 
fortfegte, bie bie Annehmlichfeit eines freiern Lebens gekoſtet hatten, 
und des ewigen Einprefiens angelernter, dem kindlichen Alter wenig 
behagender Kenntniffe, beſonders in ber Lehrweiſe des firengen 
Baters, herzlich milde murben. Disfer, ver e8 nicht Iaffen konnte, 
ſelbſt feine Fran zum fleißigen Schreiben, Klavierſpielen und Sin- 
gen anzuhalten, wobei fie au vom Italiäniſchen fi einige Kenut⸗ 
niß erwerben mußte, lehrte die Tochter ſehr frühzeitig die italiäni⸗ 
ſche Sprache in vemfelben Zimmer, in weldem Wolfgang feinen 
lateiniſchen Cellarius auswendig lernen mußte. Meben angeftreng- 
ten Lehrſtunden wurden die Kinder aber auch frühe mit allerlei 
fonftigen Arbeiten befchäftigt und oft geplagt, wie ihnen das Biei- 
hen alter Kupferftiche und die Wartung ber Seivenwärmer manche 
Unannehwlichleit bereitete (B. 20, 143 ff. 36, 11). De firenger 
aber ber Vater ſich in feinen Forderungen zeigte, um fo enger 
ſchloſſen ſich Bruder und Schweſter aneinander, in deren Bunde 
bie Mutter nicht allein bei der Einſchmuggelung ber Klopſtockiſchen 


131 


„Meffinde*, bie im Goethe ſchen Hauſe zu jener vom Dichter wun⸗ 
dervoll beſchriebenen tragikomiſchen Barbierſzene (B. 20, 94 f.) 
Beranlaffung gab, die Dritte war.. Da ber Vater, ber fid nicht 
gern eine umdtbige Ausgabe erlaubte, fein Freund von ländlichen 
Ausflügen und fonftigen Bergmügungen war (®. 20, 181),' fo 
war e3 ben Kindern um fo erfreulicher, wenn er fie mit ſich in 
feinen. Baumgarten ober feinen ſehr gut-unterhaltenen Weinberg 
vor bem Friedberger Thore führte, ober fie bei den Großeltern 
Teytor ober anderen Berwanbten, beſonders bei Tante Melber, 
bei welcher fie manche frohe Stunde, genofien, einmal verweilen 
durften. Bu ihren erfreulichſten Feſten gehörten die zweimal im 
Jahr eintretenden Geleitötage und Pfeifergerichte; beſonders bei 
den letzteren waren fie jehr betheiligt, da biefe, am melden fie den 
Großvater nicht ohne Stotz im Glanze feiner Schultkeifwürbe 
erblidten, ifmen einen Becher ober ein Stäbchen, ein paar Hand» 
ſchuhe oper einen alten Räderalbus einzutragen pflegten. Die 
Meßbuden und vielfachen Meßſehenswürdigkeiten erregten gleichfalls 
großen Autheil; auch fehlte‘ es nicht an felgen und frbhüchen 
Umzügen in ver fonft trüben und büftern Stadt. Noch im Jahre 
. 1828 erinnerte ſich unfer Dichter mit Vergnügen jener „vorpolizei- 
lichen“ Epoche, wo fie als Kinder ben vermummten Dreikönigen, 
den Faſtnachtsſängern und den im Frühling Schwalben Verkündenden 
mit wohlwollenber ’ Behaglichkeit Pfenninge, Butterſemmeln und 
gemalte Eier zu reihen das Vergnügen hatten, und er bebauert, daß 
von allem biefem mar noch der Erntekranz übrig zu fein ſcheine, 
ber aber eine lirchliche Form angenommen. ' Bon Feften außerhalb 
ver Stabt, an denen er von ven früheften Kinderzeiten an ſich er- 
feent habe, nenut uns Goethe das Hirtenfeft auf ben Gemeinmei- 
ven unterwärts am rechten Mainufer, und das Pfingfifeft ver 
Waiſenkinder auf dem größern und ſchkuern Gemeinbeplag auf ber 
Bal. ©. 33, 318. Das Etamiſchen der Polizei in das heiter Spiel 

der Kinder-und Suchen. bedauert unfer Dichter auch fen mehrfach, wie 
er denk feine Freude daran hatte, derartige Vergnügen deu Kindern zu 
bereiten. Qgl. Matthiffons „Erinnerungen“ III, 191 f. Tonque's Leben 120. 


132 





andern Seite ver Stabt. ' Aber dieſe feltenen Genüffe konnten ven 
Kindern für ben firengen Ernſt unb-bie teodene Nüchternheit des 
Baters, der nur in Feier geriet) und in feiner Art liebenswürdig 
wurde, wenn er auf feine Reifen zu ſprechen fan, fo wie für ein 
ſtets angeftrengtes todtes Anfernen und pedantiſches Einſchulen 
feinen Erſatz geben, hätte nicht bie heitere, freilich ſelbſt gedrückte 
Mutter durch ihre Märchen und Geſchichten die geliebten Kleinen 
für manches Bittere zu entſchädigen gewußt. 

Hatte ihnen früher: ver Hausbau eine größere Freiheit verfchafft, 
fo follte mit. vem Anfange des Jahres 1759 die Einrückung der 
Frauzoſen fie noch mehr von der firengen Auffiht und Ueberbe- 
ſchäftigung befreien. Die vielfachen militäriſchen Schaufpiele zogen 
die ſchauluſtigen Sinne an, und die ungewohnte Beiegugg in dem 
jetzt Tag und Nacht unverſchloſſenen Haufe, in welchem man ven 
Königslientenant de Thorane einguartiert hatte, wie bie mancherlei 
Ledereien, bie von befien Nachtiſche den Kindern zu Gute kamen, 
fohienen diefen fehr behaglich. Aber leiver war ber Vater wegen 
der verhaßten Einguartierung ber Fremden in fein eben nengebautes 
Haus höchſt verſtimmt und düſter, woburd die Mutter ſehr litt, 
an die Kornelia, weil‘ fie"weniger, als ber Bruder, nach aufen 

ſich umthun konnte, ſich enger anſchloß. Der Haß des Vaters 
gegen bie ihm fo überläftigen Franzoſen kam Bald zu einem gefähr- 
lichen Ausbruche, doch wurden bie Kinder glücklicherweiſe vom dro⸗ 
henben Uebel nichts‘ gewahr, als bis es ſchon vorübergezogen war. 
Wie lange die Einguartierung des’ Oyafen gevauert, wiſſen wir 
nicht. Goethe fpricht von „einigen Jahren” (B. 20, 134), was 
aber nicht fo genau zu nehmen fein bürfte. Schon im Februar 1762 
wohnte der Königslieutenant nicht mehr auf dem Hirfchgraben, fon- 
dern proche la Comedie,? und wahrſcheinlich ward Goethe's 
Vater ſchon im Jahre 1761, wenn nicht zu Ende des vorher⸗ 


Bel. B. 9, 25 f. Maria Belli II, 47, 1Y, 122. 

2 Bet. Maria Beili V, 4. Des Köonigelieutenants gefhieht auch 
IV, 185. 4168 Erwähnung. Das franzöfifhe Theater war im Janghof 
av, 149). 





133 


gehenden, von biefer Laſt erlöft, mußte aber, um von meiterer 
Einguartierung befreit zu bleiben, ſich gefallen laſſen, Miethsleute 
ine Hans zu nehmen; und fo bezog denn der ihm befreundete 
Kanzleidirektor Heinrich Philipp Morig den obern Sted. 

Der alte Goethe, alfo wieder zur gewohnten Ruhe gelangt, 
beeilte ſich jetzt, das während ber letzten Jahre von feiner Seite Ber- 
fäumte um fo eifriger nachzuholen, und fo mußte denn die Toch⸗ 
ter angefizengter, als je, bem Italiäniſchen, Franzöſiſchen und Eng- 
liſchen, dem Zeichnen, Singen und Klavierfpielen Zeit und Thä- 
tigkeit zuwenden. Als ſprachliche und rhetoriſche Uebungen ließ 
der Vater auch die Aufführungen bramatifcher Stüde im Haufe des 
geiftreihen und freumblichen Schöffen von Olenſchlager gelten, wie 
denn Kornelia in Schlegel’ „Ranut“ und in Racine's „Britannifus“ 
die Elfriede und Agrippine barftellte.* Natürlich fehlte es auch 
nicht an Unterweifuug in der Religion, aber leider warb ver Re— 
ligiondunterricht von einem guten, alten, ſchwachen Geiftlihen ge- 
geben, ber feit vielen Fahren Beichtvater des Haufes gewefen und ber 
fi damit begnügte, wenn man ben Katechismus, eine Paraphrafe 
deffelben, die Heilsorduung an ben Fingern herzuzählen und die fräf- 
tigen beweifenben biblifhen Sprüche als Belege anzuführen wußte. 
2.21, 94. 20, 46. Bei der innern Verſtimmung über ven firengen 
Pedantismus des Iehrhaften Vaters, der allen Bergnügungen aufer- 
Halb des Haufes abhold war, mußte diefer geift-, gemüth- und feelen- 
loſe Vortrag der chriſtlichen Lehre auf Korneliens Gemüth einen quä- 
lenden und beengenden Eindruck machen, und fie fonnte um fo 
weniger in ven religiöfen Verheißungen irgend einen Troft finden, 
als ihr Marer, reiner Berftand einer myſtiſchen, ſchwärmeriſch- 
frommen Auffaffung des Chriſtenthums wiberftrebte, wozu ſelbſt 
ihre fonft heitere Mutter in ihrer Bevränguiß hinneigte. Dazu 
mußte fle ſchon früh erkennen, daß ihr der Reiz körperlicher Schöne 
beit abgehe, da die Züge ihres Geſichtes, die uns der Bruder jo 

B. 20, 189. Diefe Vorfellungen werden ©. 20, 129 offenbar zu 
früp gefegt; beſonders bürfte die Aufführung bes framzöſi ſchen Stückes nicht 
vor das Jahr 1762 fallen. 


134 . 


treu beſchrieben hat (®. 21, 16), wie wir jept aus bem Portrait 
erfehen, das Goethe auf ben breiten Rand eines Korrekturbogens 
des „Götz“ im Jahre 1773 mit Bleiſtift flüchtig entworfen, ' ab- 
ftoßend wirkten. Wir dürfen e8 uns nicht verfagen, Hier feine 
Schilderung der Schweſter (8. 21, 15 ff.) wörtlich einzuräden. 
„Ste war geoß, wohl und zart gebaut, und hatte etwas Natürlich- 
würbiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit 
verſchmolz. Die Züge ihres Geſichts, weder beveutenb, noch ſchön, 
ſprachen von einem Wefen, das weder mit ſich einig war, noch 
werben konnte. Ihre Augen waren nicht bie ſchönſten, bie ich 
jemals fah, aber die tiefften, hinter denen man am meiften erwartete, 
und wenn fie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen 
Glanz hatten ohne Gleichen; und doch war biefer Ausbrud eigent- 
lich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen fommt und zugleich 
etwas Sehnfüchtiges und Verlangendes mit ſich führt; diefer Aus- 
drud kam aus ber Seele, er war voll und reich, er ſchien nur geben 


! Bl. Zahn „Briefe an Leipziger Freunde · &. 272. Das Portrait 
findet fich dafelbſt vor &. 235. Es Rammt aus dem Nachlaffe von Friederike 
Defer; daß aber Goethe, wie S. 50 behauptet wird, ihr die Zeiche 
mung zugefepiät, möchte gu beqweifeln fein, da von Goethes Briefwerhfel 
mit. ihr mach dem Jaher 1769 feine Spur nachtuweiſen if, Was die Ver- 
Bindung mit Defer felbft zwiſchen den Jahren 1768 und 1776 betrifft, fo 
ejäßlt uns Goethe, daß er von Mannpeim aus einen Brief an biefen 
über ven Laokoon gefehrieben, der aber nur feinen guten Willen mit einer 
allgemeinen Aufnunterung erwiedert Habe (9. 22, 66), und wir finden 
ihn im Bebruar- 1775, vielleicht auf Aulaß von Lavaters „Yhyfiognomifgen 
Bragmenten“, mit ihm in BVerbinding. Dagegen durfte Jahn S. 107 
mit 8. 24, 183 zum Bewelfe anführen, daß Goethe auch in Straßburg 
mit Defer in Verbindung geflanden, und das Gedicht „Bellerts Monument 
von Defer“ gehört Feineswegs dem Straßburger Aufenthalt, wie Jahn ber 
hauptet, ſondern wie in der Quartausgabe angegeben wird, dem Jahre 
1774 an, in welchem auch Kreuchauffs Beſchreibung von Gellerts Monu - 
ment erſchlen. Man vergleiche auch die „nene Bibliotek der fhönen Wiſſen- 
ſchaften und der freien Künfer B. 16 Stüd 1 (1774) ©. 133 f. Im den 
„Srankfurter gelehrten Anzeigen“ vom 2. Juni 1772 findet fich eine viel» 
leicht von Goethe Jerrührende Anzeige dee 1771 erſchienenen „Gpißel an 
Heren Defer“. 





135 


zu wollen, wicht bes Empfangene zu bebärfen Was ihr Geficht 
aber ganz eigentlich entftellte, fo daß fie manchmal wirklich häßlich 
ausfehn. konnte, war bie Mode jener Beit, welche nicht allein bie 
Stirn entblößte (welche bazu, wie Goethe anderwärts fagt, felten 
vein von Ausfchlag war), ' fonbern auch alles that, um fie, ſchein-⸗ 
bar ober wirklich, zufällig ober vorſätzlich, zu vergrößern. Da 
ſie zum die weiblichſte, reingewölbteſte Stirn Hatte und dabei ein 
Paar ſtarke, ſchwarze Augenbraunen und vorliegende Augen, fo 
entftand aus biefen -Berhäftniffen ein Kontraft, ber einen jeden 
Fremden für den erſten Augenblid, wo nicht abftieß, doch wenig. 
ſtens nicht anzog. Sie empfand es früh, und dies Gefühl warb 
immer peinlicher, je mehr fie in bie Jahre trat, mo beide Ger 
ſchlechter eine unſchuldige Freude empfinden, ſich wechſelſeitig an- 
genehm zu werden. Niemand kann ſeine eigene Geſtalt zuwider 
ſein; der Hüßlichſte wie der Schönſte hat das Recht, ſich ſeiner 
Gegenwart zu freuen, und da das Wohlwollen verſchönt und ſich 
jedermann mit Wohlwollen im Spiegel beſicht, ſo kann man be 
haupten, daß jever ſich auch mit Wohlgefallen erbliden müffe, felbft 
wenn er fi) bagegen fträuben wollte. Meine Schweſter hatte jedoch 
eine fo entſchiedene Anlage zum Berftand, daß fie hier unmög- 
lich blind und albern fein Tonnte; fie wußte vielmehr vieleicht 
deutlicher, als billig, daß fle hinter ihren Gefpielinnen an äußerer 
Schönheit ſehr weit zurückſtehe, ohue zu ihrem Troſte zu fühlen, 


* Zur Bergleicpung fegen wir bie gange fpätere Schilberung der Schweſter 
©. 22, 349 f. (vgl. Cdermann IT, 331) Hierher. „in fhöner Körperbau 
begünftigte fie; nicht fo die Gefichtsgäge, welche, obgleich Güte, Verſand, 
Theilnahme deutlich genug äusdrüdend, doch einer gewiffen Regeimäpigfeit 
und Anmuth ermangelten. Dazu Fam noch, daß eine hohe, farf gewölbte 
Stim durch die leidige Mode, die Haare aus dem Gehficht zu reichen und 
iu gwängen,.einen gewiffen unangenehmen Eindruck machtt, wenn fie gleich 
für die fittfichen und- geifigen Cigenfihaften das beſte Zeugniß gab. — 
Reine man Siegu noch das Unheil, daß ihre Haut felten sein war, ein 
Uebel, das fi) durch ein bämonifches Migereit fhon von Jugend auf 
gewöhnlich an Seftagen einzufinden pflegte, an Tagen von Komerten, 
Bien und fonfigen Ginladungen.” 


136 


daß fie ihnen an inneren Vorzügen unendlich überlegen ſei.“ &o 
alfo von allen Seiten ſich unglüdlih und bevrängt fühlend, ſchloß 
he.am der Bruft ihres Bruders ben innigften Seelenbund, Iebte 
und date nur in und mit ihm, nahm an ihm, allen feinen 
Freuden und Leiben, allem feinem Wiffen und Wollen ven gefühl- 
teften Antheil. - 

Der im Ausficht ftehende und endlich wirklich abgeſchloſſene 
Friede verſetzte den Vater in eine heitere Stimmmg, deren Wir⸗ 
tung ſich auf die ganze Familie erſtrecken und fie von feiner launen⸗ 
haften Strenge einigermafen befreien ſollte. Die Mutter erhielt 
zum Friedensfeſte eine goldene, mit Diamanten befegte Dofe, und 
auch bie Kinder Dürften ſich diesmal feiner Freigebigkeit zu erfreuen 
gehabt haben; aber bei alle dem blieb ber Zuſtand ver Schwefter, 
die nicht jo häufig, wie der Bruder, das Haus verlaffen und ſich 
heiterer Ausflüge erfrenen durfte, ein ſehr gebrüdter. Die im 
Anfange des folgenden Jahres (1764) Frankfurt in ungemeine 
Aufregung fetsenden Wahl- und Krönungsfeierlichleiten boten auch 
Kornelien mandyes ergögliche Schaufpiel, aber nur zu bald ſollte 
das Schickſal, welches ihr feinen ungetrübten Genuß vergönnen 
machte, ſich Hierfür an ihr rächen: denn am Morgen nad) dem 
Krönungstage, am 4. April, wurde das ganze Haus durch bie 
Mittheilung exſchreckt, daß Wolfgang durch ſchlechte Geſellſchaft, 
in welche er gerathen, fich in die ſchlimmſten und gefährlichſten 
Handel verwidelt habe. Der Vater war vor Wuth ganz außer ſich, 
und nur mit Mühe gelang es den Bitten der Mutter, der Schwe- 
ſter und ber Freunde, ven an feiner ‚Ehre tiefgefränften Mann 
zurückzuhalten, und bie Sache dutch den von bem Kriminalgericht 
abgefanbten, der Familie befreundeten Rath Schneider unterfuchen 
zu laffen. Die. Schwefter, welche nad) dem’ Verhöre zum Bruber 
tam, um ihm. Troſt zu bringen, erſchrak, als fie diefen auf dem 
Boden liegen fanb, ven er mit feinen Thränen benetzt hatte, und 
fie verſuchte alles Mögliche, um ihn aufzurichten; aber ihre Trö- 
ftungen waren vergeblich, da feine Einbildungskraft ihm das fehred- 
lichſte Weh vorfpiegelte, welches fein, wie er felbft, unſchuldiges 








137 


geliebtes Greichen erleiven werde. Schon am zweiten Tage konnten 
Mutter und Schwefter, bie mittlerweile ihre Befuche mehrfach wie- 
verholt hatten, ihm im Namen des Baters völlige Verzeihung an- 
bieten, die er dankbar annahm, ohne aber fonft ſich irgend einem 
Troft zugänglich zu zeigen. Vergebens verfuchte man ihn aus dem 
Haufe und zur Theilnahme an ven weiteren ‚öffentlichen Feſtlich- 
teiten zu bewegen; ber Schmerz über Gretchen's und feiner übrigen 
Freunde Schidfal, das er ſich mit den grellften Farben ausmalte, 
durchwühlte immer tiefer feine-ganze Seele, bis endlich die Natur 
ihr Recht behauptete, und eine Törperliche Krankheit mit ziemlicher 
Heftigkeit eintrat. Nur allmählich begann er wieder zu genefen 
und fi in fein Schiefal zu finden, doch hielt man- e8 für-gera- 
then, um ihn vor einem Rückfalle zu bewahren, ihm einen jungen 
Mann, der nach der. Rüdfehr von der Univerſität eine Hofmeifter- 
ſtelle beffeivet hatte, zum Aufſeher und Begleiter zu geben. Dieſer, 
der durch rüchhaltsloſe Mittheilung ver hofmeifterlichen Weife, in 
welcher Gretchen ſich über ihn geäußert hatte, ihn zu ruhiger Be- 
fonnenheit zurüdführte, wußte ihn bald zu wiſſenſchaftlicher Thä- 
tigfeit zu bewegen, und durch mannigfache Ausflüge in bie nähere 
und entferntere Umgebung die verlorene Heiterkeit, ‘wo nicht ganz 
berzuftellen, doch von neuem anzuregen. Immer aber war e8 bie 
Schwefter, welche ven Bruder, wohin er fi auch wandte, mas 
ihn auch erfreuen ober quälen mochte, mit fefteften Banven an 
ſich ſchloß, ihn beruhigte und ſtärkte, wie fie felbft den ſchönſten 
Troft an feinem fo rein und voll für fie ſchlagenden Herzen em- 
pfand. 

In ben Sommer 1765, vor ben Abgang nach Leipzig, verbegt 
Goethe B. 21, 19 ff. mannigfache Sand- und Wafferfahrten, vie er 
und feine Schwefter in munterer Geſellſchaft gemacht, und an welchen 
unter anderen ein junger Engläuber Theil genommen, welcher fich die 
Neigung feiner Schwefter gewonnen habe. Aber ſowohl die Ein- 
miſchung jenes Englänbers, wie die Zeitbeftimmung beruht auf Irr⸗ 
tum. Was zunäcft das Berhältni zu jenem jungen Engländer aus 
der Pfeil ſchen Penſion betrifft, fo werben wir weiter unten aus 





138 





Rorneliens Tagebuch nachweiſen, daß biefes in ben Herbft 1768 fülk, 
wie benm amd) bie engliſchen Stellen in Goethe's Leipziger Briefen | 
keineswegs eine, ſolche Yertigfeit in der Sprache. zeigten, wie fie 
ein vorhergegangener längerer Umgang wit einem geborenen Eng- 
länder, wie er B. 21, 18 angenommen wird, nothwenbig gewäh- 
vom mußte. Vgl. B. 21,160. Die beiden Geſchwiſter hatten bie 
Anfangsgrände ver englifhen Sprache von einem Lehrmeifter in 
vier Wöchen erlernt und fi) durch weitere Uebung, nicht ohne 
gelegentliche Hülfe jenes Lehrmeifters, geförbert (B. 20, 146); in 
feinem Briefwechſel mit J. ©. Schloffer hatte Goethe die Uebung 
in biefer Sprache fortgefegt. Noch beftimmter und ficherer läßt 
ſich die Verlegung jener Luftfahrten in ven Sommer 1765 als 
irrig erweifen. Goethe erzählt nämlich (B. 21, 19 ff.) von einem 
Freunde, der einft in einer ſolchen Geſellſchaft, nachdem er humo- 
riſtiſch das Unglück der, Ungepaarten gefchilvert, einen luſtigen 
Vorſchlag gemacht, dieſem Uebelſtande abzubelfen. „Ich habe,“ 
alfo fuhr er fort, „ſchon für die Ausführung geſorgt, wenn ich 
Beifall finden ſollte. Hier ift ein Beutel, in dem vie Namen. ver 
Herren befindlich find; ziehen Sie nun, meine Schönen, und laffen 
Sie ſich's ‚gefallen, denjenigen auf acht Tage als Diener zu ber 
günftigen, den Ihnen das Roos zuweiſt! Dies gilt nur innerhalb 
unferes Kreiſes; ſobald er aufgehoben ift, find auch dieſe Verbin ⸗ 
dungen aufgehoben, und wer Sie nach Hauſe führen ſoll, mag 
das de entſcheiden“ Hören wir nun weiter vor Goethe, daß 
biefer Freund feine Rede mit Ton und Gebärben eines Rapuziners 
vorgetragen, was für ihn um fo leichter gemejen, da er als Katholit . | 
genugfame Gelegenheit gefunben, bie Redekunſt biefer- Väter zu | 
ſtudiren, fo wie daß er, obgleich jung an Jahren, eine Glatze gehabt, 
fo iſt es ungweifelhaft,. daß hier num Math Erespel gemeint fein 
taun, der aber, wie wir aus feinen eigenhänbigen, in Abſchrift 
uns vorliegenden Notizen erfehen, ‘ um biefe Zeit gar nicht in | 
Frankfurt ammefend war, da er gleich mach ber Krömmg im 
4 Das Original befindet ſich Im Befige der Braun Bergrath Buderus 
in Sranffurt, einer Tochter von Math Crebpel. 


139 
dahre 1764 nach Paris ging, von wo er erft im Auguſt des fol- 
genden Dahres zurlidtehrte. ° 
Kath Bernhard Erespel, geboren am 27. März 1747, war 
der Sohn des im Jahre 1705 zu Douai in Flandern geborenen 
-Huwelenhänbfers Peter Paul Ludwig Alerander Erespel und feiner 
Gattin Katharina Eliſabeth, einer geborenen Rohr, veren eheliche 
Berbindung am 16.-Rovember 1746 erfolgte. Da Erespel, der 
in früher Jugend nad Frankfurt gefommen wer (dennoch lernte 
er nie dentſch fprechen), im beftänbigem Verkehr mit hohen Herren 
ſtand, fo erzeigte ihm der Fürft von Thuru und Taris die Gnade, 
feinen Sohn fon in der Wiege zum Rath zu ernennen. Im 
Iahre 1758 feierte Rath; Ereöpel in Heidelberg feine erſte Kom⸗ 
munion; vermeilte bie Jahre 1759 und 1760 bis zum Sommer 
in Bruchſal, ging im Auguft 1760 nach Bont a Monffon, wo er 
wahrſcheinlich, wie auch an en anderen Orten, das Jeſuitenkollegium 
befuchte, blieb dann vom November 1761 bis zum Auguft 1762 
in Frankfurt, begab ſich daranf nad Meg, von mo er im Immi 
1763 nach Frankfurt zurlidfam. Als ver alte Crespel in Beglei- 
tung feines Sohnes bei Gelegenheit der Krönung dem Kaifer 
Franz J. eine Hutagraffe, 300,000 Gulven an Werth, überbrachte, 
ſprach er: Votre Majest6; voilà père et fils qui ont P’honneur 
de Vous presenter Yagraffe, worauf ber Saifer, bei welchem 
ſich fein Sohn Yofeph II. befand, erwieberte: Mais c'est, comme 
nows, mon cher Crespel, nous aussi sommes pere et fils. 
Des Aufenthaltes in Paris während ver Jahre 1764 und 1765 ift 
bereits Erwähnung geſchehen. In Frankfurt hörte er bei einem 
dortigen Yuriften die Suftitutionen, worauf er bie Univerfität 
Würzburg hefuchte. Im Auguft 1768 kehrte er nach Frankfurt 
zurüd, ging darauf im November nad Wegler, im April 1769 
nad) Göttingen, von wo er im Mai 1770 nad Haufe zurüdtem; 
im Jahre 1771 ſchwor er als Acceſſiſt. Im Folge eines unglüdfichen 
Zufalles waren ihm auf derMitte des Kopfes keine Haare gewachſen. 
Müffen wir nun jene von Goethe erwähnten Luſtfahrten dem 
Sommer 1765 abſprechen, fo mochten doch die Geſchwiſter im 





140 


Umgange mit anberen befreundeten Bamilien manche angenehme 
Stunden genießen. Hierher rechnen wir zunächft bie Familie Eres- 
pel ſelbſt, Fräulein Maria Katharina und Franziska Jakobea 
Crespel, von benen. bie erftere einige Tage älter, als Goethe, bie 
andere faft zwanzig Donate jünger, als Kornelia, war. Vgl. oben 
©. 4. Die Mutter farb am 23. Oktober 1770, ber Vater am 
X. Mär; 1794, nachdem er ſich im Jahre 1776 fein Geſchäft 
aufzugeben entfchloffen Hatte.‘ Neben dieſer Familie ift zunächft 
zu nennen die des für fehr reich geltenden Kaufınamns Jakob 
Friedrich Gerod, der ein ſchönes Haus auf dem Markte bewohnte. 
Hier kommen zumächft die drei ältern Töchter Charlotte, Antoinette 
Luife und Katharina? in Betracht, vie eine fehr forgfältige Er- 
ziehung befaßen und in großer Heiterfeit das Leben genoffen. Goethe 
ſoll die Töchter Gerod's im zweiten Gefange von „Hermann und 
Dorothea" in den Töchtern des Nachbars im "grünen Haufe 
(8. 5, 21 f.) geſchildert haben; dagegen ift die Behauptung, bei 
Mignon habe dem Dichter Antoinette Gerock vorgeſchwebt, ganz un- ! 
begründet. °_ Auch mit den Familien des Kanzleidirektors Moritz, ! 


"gl. Maria Belli a. a. D. VI, 91 VII, 5t. 

2 Wenn im Briefwehfel Goethes mit Jacobi S. 14 Gerold’s 
ſtatt Gerod’s gebrudt ſteht, fo iſt dies ein bloßer Leſefehler bes Heraus- 
gebers, der aud S. 9 in der. Note bie falſche Nainensform hat. Die rich- 
tige Form Gerod gibt Goethe ©, 22, 346. Auch in mehreren Briefen 
und fonft findet fie fi, wie in Wagners Sammlung von Merd's Briefe 
wechſel IT, 99. IIE, 447. Leider habe ich mich früher verleiten Iaffen, dem 
Herausgeber von Jacobi's Briefwechfel zu folgen, wie D. Jahn (S. 245), 
Bichoff, Schaefer m. a. Den Irrthum bemerkte Maria Belli IV, 132. Die 
Bamilie Gerold kam erft in diefem Jahrhundert nad) Srankfurt, und ſtand 
mit Goethe und feinen Eltern in gar Feiner Verbindung. 

® Schloffer verwendet fich in einem Briefe an Sarafin für den alten 
Gerd. Dgl. Gagenbach a. a. O. ©. 78. Die Vermögensverhältnife der 
Bamilte geftalteten fi fpäter fehr ungünftig. Der alte Gerod farb am 
7. Oltober 1796. Sein einziger Sohn ging früh nad England und kehrte 
nur auf kurze Zeit nach Frantfurt zurüc, Katharina Gero heiratete ben 
Bandfabrifanten Dresler in Siegen; bie zwei jüngften Schweſtern, Anna 
und Ehriftiane, farben in Frankfurt unvermäßft. 


141 





der wohl nach Beenbigung des Krieges, wo feine Einguartierung 
mehr zu fürchten ftanb, nicht mehr bei Goethe wohnte,‘ und deſſen 
Bruders, des Legationsrathes Morig ftand das Goethe ſche Haus 
in Berbinbung. Bei letzterm Iernten bie -beiven Geſchwiſter bie 
Tochter. eines reihen Wormfer Kaufmannes, Charitas Meirner, 
kennen, welche drei Jahre in der Familie Morig zu ihrer weitern 
Ausbildung verweilte. Daß Goethe zu diefem durch Geift und 
Schönheit ausgezeichneten Mädchen „eine gewiſſe zärtliche Neigung 
fühlte, zeigen zwei von Leipzig aus an feinen Freund Trapp’ in 
Worms? gejchriebene Briefe, vom 2. Juni und 6. Oftober 1766, 
aber von einem eigentlicyen Fiebesverhältniffe und einem Berlaffen 
ber Geliebten von Seiten de jungen unbeftänbigen Dichters zu 
even? fehlt jede Berechtigung. Zu Korneliens befonveren Freum⸗ 
binnen gehörten Liſette Runkel, deren Bruder Stabtflallmeifter - 
mar, und Maria Baflompierre, die Tochter eines ber reichften 
Reformirten. In · Goethes. Haufe weilte als Mundel ein junger 
Mann von vielen Hähigfeiten, der aber durch Anftrengung und 
Düntel blöpfinnig geworben war; er. lebte ruhig mit der Familie, 
war fehr ftill und in ſich gelehrt, und werm man ihn auf feine ge- 
wohnte Weiſe verfahren ließ, zufrieden und gefällig; er beichäftigte 
fi, da er ſich eine flüchtige Ieferliche Hand erworben, am liebſten 
mit Schreiben, und fah es daher gern, wenn man ihm etwas 
abzufchreiben gab, over ihm biftirte, woburd er ſich in feine 
alademiſchen Jahre zurüdverfegt fühlte.“ Ex ſoll Elauer geheißen 
und eine innige Liebe zu Kornelia gefaßt ‚haben, bie er aber ſich 
ſelbſt kaum zu geftehn wagte. Zu Goethes innigften Freunden in 
Frankfurt gehörten Johann Jakob Rieſe, drei Jahre älter, als 
Goethe, und ver humoriſtiſche Iohann Adam Horn, von denen 
der erftere auf die Univerfitit Marburg ging, der andere aber 


Bal. B. 21, 150. 

2 Es iſt derſelbe, an ben bie beiden Briefe ans Straßburg bei Schöll 
S. 31 ff. gerichtet find. 

Viehoff I, 289 f. 

gl. B. 20, 169. 171. 


142 


um Oftern 1766 nad, Leipzig kam. In ven Leipziger Briefen am 
Rieſe wirb- unter ben Freunden ein gewiſſer Sehr genannt und 
gegrüßt. Aus benfelben Briefen erfehen wir auch, daß das Leben 
Goethes in ber legten Zeit in Frankfurt wicht ganz reiglos geweſen 
fein Tönne; denn noch im April 1766 klagt er über allen Mangel 
des gefelfchaftfichen Sehens in Seipzig, und feufst nash feinen Sreun- 
ben und feinen Mäpcen. 

‚Die Abreiſe des Bruders nach Leigig war für Kornelia höchſt 
ſchmerzlich; denn nicht allein follte fie jegt auf lauge Zeit ven 
gewohnten Umgang deſſelben entbehten, ver ihr bisher zum Troſt 
und zur Freude gereicht hatte, ſoudern bie unglädliche Lehrhaftig- 
keit des. Vaters un fein fireuger, ſtarrer Ernſt wendete ſich jeht, 
wo ber Sohn in ber ferne war, auf fie allein, und ſchnitt ihr 
faft alle Mittel ab, fih nach außen umzuthun und zu erholen. 
Das Frauzöoſiſche, Italiäniſche und Engliſche mußten fleißig getrie - 
ben, daneben auf das Clavierſpiel und wohl auch auf das Zeich 
nen ein großer Theil bes Tages verwandt werben. Den Veſuch 
von Konzerten ſcheint ver Bater geftattet, fonft aber ihren Umgang 
ſehr befchränft zu haben, was Kornelia um fo tiefer empfinden 
mußte, je mehr fie in größeren Gefellfchaften ihrer Alterögenoffinnen 
ſich an ihrer eigentlichen Stelle fand. Hierdurch entftand in ihrer 
Seele eine gewaltige Härte gegen ben Bater, dem fie es nicht ver- 
zeihen konnte, daß er fie jo pedantiſch quäle und ihr jo mande 
unſchuldige Freude verhinberte ober vergällte, und won beffen guten 
und trefflichen Eigenfchaften fie Teine anerkennen wollte. Zwar 
that fie alles, was ver Bater befahl und anorbnete, aber auf vie 
unlieblichſte Weife von der Welt, ganz in hergebrachter Weiſe, 
aber auch nichts drüber und nichs brumter; aus Liebe ober Gefäl- 
ligkeit bequemte fie fih zu gar nichts.‘ Auch zu ber Mutter, bie 
in ihren Bedrängniſſen Troft in religiöfen Betrachtungen fand, 
bildete ſich fein rechtes Verhältniß, da ihr großer Verſtand 
ſich mit der myſtiſchen Richtung, welcher die Mutter ſich 


"Bl. 8. 21, 150. 





148 

näherte, ' nicht vertragen kounte. Ehe der Bruder Frankfurt verließ, hatte 
“er der Schweſter anvertraut, daß er, ſobald er nach Leipzig komme, 
das vom Bater ihm aufgenöthigte juriſtiſche Studium darau geben 
und fi ven Sprachen, ven Alterthümern, ver Geſchichte und- ben 
ſchönen Wifjenfchaften widmen wolle. Die Schweſter, welde ven 
ſtarren Sinn des Vaters zu wohl kannte, erſchrak über‘ ein folches 
Waguiß/ unb berubigte ſich kanm, als er ihe verſprach, fie fpäter 
nachzuholen, bamit fie ſich des glänzenden Zuſtandes, ben er fid 
bald zu erringen gebachte, mit ihm erfreuen möge.” ° Zum großen 
Glüde Für vie Ruhe bes elterlichen Haufes ließ fih der junge 
Stubent durch die Vorftellungen des Hofrath ‚Böhme und feiner 
liebenstwürbigen Gattin von biefem Entfchluffe abbringen, wenn er 
aud) nichts weniger als ein fleiiger Befucher feiner Fachvorleſungen 
wurde. Leider follte Kornelia auch bes Glückes eines offenen, ihren 
gegenfeitigen Zuftand lebhaft ſchildernden, wahrhaft tröſtenden Brief- 
wechſels mit dem Bruder entbehren: bemm ber Vater leitete ihren 
Briefwechſel mit dieſem, und ließ ihm durch ihre Feder feine guten 
Lehren zulommen, und die Briefe, melde ber junge alademiſche 
Dürger an bie Schwefter ſchrieb, kamen im feine Hände, ® wodurch 
natürlich alle wahre Bertranlichkeit ans dem Briefwerhfel ſchwinden 
mußte, fo daß die Geſchwiſter fh ihre Zuftänbe nicht lebendig 
mittheilen, ſondern höchſtens anbenten konnten. Daher war e8 
nicht zu verwundern, daß Goethe's Briefe am die Schweſter häufig 
troden und bibaktifch nüchtern wurden, wie er deun beſonders das, 
was Gellert in feiner Borlefung gelehrt und angerathen hatte, fo- 
gleich wiever- gegen Kornelia wendete und biefer als eigene Weis- 
heit mittheilte. * . 

Je ferner fie auf dieſe Weife dom Bruder gehalten wurde, 
dem fie ihre Zuftände nicht mit aller Offenheit, wie fie wünſchte, 


+ Bol. B. 21, 152 f. Lappenberg „Reliquien der Fräulein von Klete 
tenberg” ©. 258. ö ‘ 

2 Bl. 8. 21, 3. 

® Vgl B. 24, 150. 160. 

Val. ©. 21, 165. 


144 , 


erſchließen Konnte, um fo erfreulicher mußte es für ihr liebebedürf- 
tiges Herz fein, daß ihr ein günffiges Gefchid im Sommer 1767 
in Fräulein Katharina Fabricius eine Freundin zufandte, an bie 
fle ſich balb innig anfchliegen Konnte. Katharina Fabricius war 
eine Tochter des fürftlich Leiningiſchen Raths und Syndikus Fa— 
bricins in Worms, welche die Sommermonate dieſes Jahres nad) 
Frankfurt zum Beſuche fam.' Gleich nachdem bie neue Freundin 
Frankfurt verlaffen Hatte, entſpann fich ein in franzöfifcher Sprache ge⸗ 
führter Briefwechjel zwischen den Freundinnen. -Bom 1. Oftober 1767 
bis zur Rücklehr des Bruders finden ſich ſechs Briefe Korneliens, 
deren legter vom 28. Juli datirt ifl.? Im erften Briefe fpricht 
fie ihre Betrübniß barüber aus, daß fie die Freundin, die in dieſen 
Briefen bald aimable, bald agreable, bald solide amie heißt, habe 
fortreifen laſſen müfjen, ohne daß fie ihr Herz ganz vor. ihr habe 
Öffnen Können, ohne ihr von einer traurigen Zeit Kunde zu geben, 
in welcher fie von Unruhe und Kummer gequält, von thörichten 
Wunſchen gepeinigt gemefen, auf welche fie endlich verzichtet und 
dadurch Ruhe gewonnen habe. Jene thörichten Wunſche, wie fie 
Kornelia bezeichnet, können nur auf das Berlangen gedeutet wer- 
den, wirflichen-Eindrud auf ein fühlendes Jümglingsherz zu machen, 
mit welchem fie- einen heiligen Bund für's Leben fliegen könnte: 
denn ihre Seele war ſehr liebebedürftig, und jegt, wo fie vom 
Bruder getrennt war, umb ihre ſchöne Weiblichkeit ſich immier mehr 
zu entwideln. begann, in gefteigertem Grabe, - 

„Unter ven Freumbinnen Korneliens tritt in dieſen Briefen be- 
ſonders Lifette Runkel hervor, von welcher fie anfangs als von 


Nach Jahn ©. 236 wäre fie bei einer Goufine gewefen, aber bie 
jungen Mädchen pflegten damals Ihre Freundinnen als Goufinen, wie 
deren Bräber ald Goufin’s zu bezeichnen. 

? Jahn S. 237. Wir müſſen es höchli bedauern, daß Jahn bie - 
Briefe und das Tagebuch Korneliene, «die fih jeht im Befige des Herrn 
Dr. Hermann Härtel in Leiptig befinden, nicht volfkändig und in Ihrem 
ganzen Zufammenhang hat abbruden laffen, woburd bie: Benugung fehr 
erſchwert wird. Aber vielleicht war Jahn ſelbſt durch die Beflimmung bes 
iedigen Befigers gebunden. . 


145 


einer ſohr lieben Freundin umb einem verftänbigen Mäbchen mit 
warmer Zärtlichkeit ſpricht; allein bald zeigt fie ſich ungehalten 
über ihre große Eitelfeit, ihre Putzſucht und Kofetterie, welche ihren 
beſchränlten Verhältniſſen eben fo wenig. angemefien fei, als ihre 
große Anmaßung. Die hat bei ihr einen ehrlichen, gutmüthigen, 
aber ungefchidten Menfchen, einen Herrn ©., kennen lernen, ven 
fie, obgleich ex fid als treuer, unermüdlicher ‚Liebhaber zeigt, mit 
äußerfter Kälte behandelt. Zu den Vergnügungen gehört im Som- 
. mer das Brunnentrinken in ber Allee, wobei der befannte Juriſt 
Dr. Johaun Balthafar Kölbele, deſſen große Füße Goethe einmal 
ſcherzhaft erwähnt, ein Schöunbvierzigjähriger, eine Anzahl von 
Damen und Herren um ſich verfammelt, denen er Vorlefungen 
über Moralphilofophie hält, und bei ben Damen fpielt er zu all- 
gemeiner Ergögung den Galanten. Auch haben fie ein Konzert 
von zehn. Snftrumenten zuſammengebracht, und nicht felten wirb 
dem. galanten Doktor zu Liebe gefungen. Auch fonftige Spazier- 
gänge werben in gewählter Geſellſchaft unternommen, mitunter 
Gärten befucht bei einem Herrn Glögel und ihrem Oheim jenfeits 
des Mains; einmal befteigt Kornelia zu ihrer höchften Befriebigung 
wit einer Geſellſchaft den Pfarrthurm, wogegen fie bedauert, an 
einer Partie ihrer Freundinnen nad dem Forſthauſe nicht Theil 
nehmen zu können. Zu Nachmittagsbeſuchen, die. Abends um acht 
Uhr regelmäßig endeten, ließ man fich gegenfeitig anmelden. Im 
Winter wurben abwechſelnd in den verſchiedenen Familien große 
Dienftagsgefelihaften gegeben; Freitags verfammelten bie im 
Saale des Heron Buſch (im Gafthofe „zum römiſchen Kaifer“) 
- gehaltenen Konzerte die vornehme Welt. Kornelia nahm an biefen 
Vergnügungen gern Theil‘, wenn fie auch zuweilen babei Lang- 
weile empfinben mußte. Einer höchft Iangweiligen Geſellſchaft diefer 
Art bei einer genauen Belannten von Katharina Fabricius gevenkt 
fie einmal, mit der Bemerkung, daß eine falſche Erziehung viele 
Mäpchen. fo albern und abgefchmadt made, daß fie wie die Bild⸗ 
1,3 liebe bie Veränderung, die Unruhe, das Geräuſch der großen 
Welt und rauſchende Unterhaltungen“; ſchreibt fie feibf. 
Dünger, drauenbilder. 7 10 


146 

fäulen da fäßen umb kein Wort als Ja und Nein zu ſprechen wag ⸗ 
ten. Die wigige Leonore de Sauffure, fpäter Gattin des Kauf 
manns Schmerber, hat fie einmal aus einer unerträglichen Lang- 
weile biefer Urt gerettet. Kornelia war eine Bewunderin von 
Richardſon's „Grandifon." Auch die lettres du Marquis de 
Roselle von Beaumont (1764) las fie mit großem Bergnügen, 
und bittet ihre Freundin, fie mit Aufmerkfanteit durchzugehn, 
da bier das Lafter unter dem Scheine der Tugend dargeftellt werde, 
was zu großem Vortheil gereiche. „Der Marquis, ver feine Welt- 
erfahrung hat,“ führt fie.fort, „Fällt in die Nege dieſer falſchen 
Tugend, und verwidelt fi darin auf folde Art, daß es Mühe 
koſtet, ihm herauszuziehen. Daß alle jungen Leute daran doch ein 
Beifpiel nehmen möchten, . die, wie diefer, ein offenes und aufs 
richtiges Herz haben, und den Trug nicht ahnen, welchen dieſe 
Art von Frauen mit ihnen fpielt. Dies ift ein Hauptgrund, wes ⸗ 
halb unfere Jugend fo verborben ift, da ein Laſter das andere 
erzeugt. Leſen Sie mehrmals den Brief, in welchem Madame de 
Terval von der Erziehung ihrer Kinder ſpricht. Wenn nur alle 
Mütter die Lehren derſelben befolgen wollten, fiher würde man 
feine fo unerträglichen jungen Mädchen mehr fehn, wie Sie und 
ih ihrer kennen.“ Kornelia liebte natürliche Heiterkeit und ein 
offenes, freies Wefen, in welchem fi ber innerfte Sinn bes 
Herzens ausfpricht; alles gezwuingene Wejen, alle frivole Leichtfer⸗ 
tigfeit, "alles eitele, herz und gemüthlofe Gebaren war ihr zumiber; 
fie fhägte nur bie reine Natur einer edlen, aus innerftem Keime 
fi entwidelnden und offenbarenden Menfchenfeele, wie fie eine 
ſolche in ihrem Bruber freudig anerfannte und innigft liebte. 

Die längft erjehnte Rückkehr veffelben am 1. September ge- 
veichte beſonders der Schwefter, die ſich fo lange einfam -gefühlt 
hatte, zu größter Freude, wenn fie aud) das üble Ausſehen des 
nod immer leidenden, eben von einer ſchweren Krankheit herge- 
ftellten Bruders erfchredte. Hatte fie ja den Geliebten ihres Her- 
zens wieber, und burfte nad; ben Ausfagen ber Aerzte, welche 
den Sig ber Krankheit nicht in der Lunge, fonbern in den zu biefer 


147 


» führenden Theilen fanden, eine baldige völlige Herftellung hoffen. 
Die fo lange voneinander getrennten Herzen, denen ſogar eine 
freie, ganz ungeſcheute brieffiche Mittheilung verfagt gewefen, Tonn- 
ten ſich jegt wieder ganz einanber erſchließen, ihre geheimften 
Wanſche und Exlebniffe, ihr ganzes Sinnen und Sein in lebhaf- 
teftem Wechſeltauſche offenbaren, wozu der Bruber bei feiner. von 
der Krankheit ihm gebliebenen Reizbarkeit ſich leidenſchaftlicher, als 
je, aufgeregt fühlte. Kornelia beflagte fi mit bitterer Schärfe 
über bie rüdfichtslofe Strenge und pedantiſche Starcheit des Va⸗ 
ters, unter welcher fie fo viel gelitten habe, während die Mutter 
die herbe Weife,.welche die Schwefter dem Water gegenüber zeigte, 
der Trotz mit Troß erwiederte und nur um jo unleivlicher wurde, 
je mehr er auf Wiberftand gerieth, mit tiefbefümmerter Seele ihrem 
Wolfgaug Magte, Diefer aber geſtand ver Schweſter feine Liebes- 
noth, den Schmerz, fein geliebtes Käthchen auf immer verloren zu 
haben, wobei er die Feinheit und bie Anmuth ber reigenden Leip⸗ 
zigerinnen gegen bie, falſche Geziertheit und ven efefn Stolz feiner 
weniger gewanbten Landsmänninnen ſcharf hervorhob. Kornelia 
eröffnete ihm dagegen das Verhältniß zu ihrer neuen Freundin 
Katharina Fabricius, zeigte ihm deren Briefe, deren Beantwortung 
fie ihm überließ, während fie felbft am 16. Oftober ein gleichfalls 
franzöſiſch gefchriebenes Tagebuch für die entfernte Bertraute ihres 
Herzens begann, weldes felbft für ben Bruder ein Geheimmniß 
bleiben ſollte. Letzteres würde faft unbegreiflich fein, wäre bie 
Beranlafjung dazu nicht eine Liebesneigung, die fie dem Bruder 
nicht geftehn mochte, weil fie biefelbe für eine thörichte, ganz unbe- 
fonnene hielt, da fie es für unmöglich hielt, ihre Liebe durch Ge- 
genliebe belohnt zu fehn. 

Goethe ſcheint bald nad) feiner Rückkunft die Bekanntſchaft 
eines in ber Pfeil ſchen Penfion wohnenden Engländer gemacht zu 
haben, der im nächſten Monate nad England zurückkehren follte. 
Kornelia aber faßte, nachdem fie. ihn mehrmals in ihrem Haufe 
geiehen, eine Teivenfchaftliche Neigung zu ihm, welche fie ſich kaum 
felbft zu geftehn wagte. Im diefer Vebrängniß begann fie ihr 


148 


Tagebuch an bie Freundin, „Es ift lange her", ſchreibt fie, „daß ich - 
einen geheimen Briefwechſel mit Ihnen beginnen wollte, um Ihnen 
alles, was fi hier ereignet, mitzutheilen; allein, die Wahrheit 
zu geftehn, fthämte ich mich, Sie mit Kleinigkeiten zu beläftigen, 
welche die Mühe des Lefens nicht verlohnen. Endlich habe ich 
dieſes Bedenken überwunden, als ich die Geſchichte von Sir Karl 
Grandiſon gelefen; ich würde alles bafür geben, wenn ich dazu 
gelangen könnte, in einigen Jahren auch nur im geringften bie 
ausgezeichnete Miß Byron nachzuahmen.“ Nachzuahmen? Ich 
Thorin, bie ich Bin! wie ſollte ich das vermögen? Ach wiirde mid, 
ſchon glücklich ſchätzen, beſäße ich nur den zwanzigften Theil von 
Geift und Schönheit dieſer bewunberungsiwilrbigen Dame; benn 
ich würde alsdam ein liebenswürdiges Mädchen fein; das ift der 
Wunſch, der mir Tag und Nacht am Herzen liegt. Ich wäre zu 
ſchelten, verlangte ich eine große Schönheit zu fein; ‘bloß eine ge- 
wiffe Yeinheit in ven Zügen, eine gleiche Geſichtsfarbe, und dann 
jene zarte Anmuth, die beim erſten Anblid einnimmt, das ift 
alles. Indeſſen ift dies nicht der Fall und pird e8 nie fein, wenn 
ih es auch thun und wünſchen könnte; beshalb wird es beffer 
fein, den Geift auszubilden, und zu lernen, wenigftens von biefer 
Seite erträglich zu fein.” Wenn fie auch ihre Liebesneigung zu 
dem jungen Engländer der Freundin noch nicht anvertraut hat, jo 
liegt bei dem · Wunſche nach Schönheit doch das ſchmerzliche Ge- 
fuhl zu Grunde, daß fie nie hoffen dürfe, weil ihr jede Schön- 
beit abgehe, deſſen Gegenliebe fi zu gewirmen. Sie fegt nun 
von neuem an, um zu ihrem Geſtändniß zu gelangen. „Weld 
ein ansgezeichneter Mann ift biefer Sir Karl Grandifon! Schabe, 
daß e8 feine Männer ber Art mehr gibt! Könnte ich glauben, bag 


Gdoethe beklagt fih nach feiner Rüdfunft, daß die Brankfurter Mäd- 
gen vom Schönen, Naiven, Komiſchen gar nichts halten, dagegen „alle 
Merrwunder, Orandifon, Eugenie, der Galerrenfklave, und wie 
die phantaſtiſche Jamilie Heißt", in gropem Anfehen fiehen. gl. Jahn 
©. 125. 141.149. Dean vergleiche auch das in Leipiig gefchriebene Gedicht 
unſchuld· ©. 1, 44. ’ 





149 


es noch einen gäbe, ber ihm gliche, fo muß er von biefer Nation 
fein. Ich bin außerorbentlich für jene Leute eingenommen; fie find 
fo Tiebenswilrdig und zugleih fo. ernft, ba man won ihnen be- 
zaubert werben. muß.” So ift Kornelim von Granbifon auf die 
Engländer und ihre große Liebenswitrbigleit gelommen, und ſchon 
am bemfelben Tage, am Nachmittage, geht fie zu ihrer ganz be 
ſondern Liebesneigung über. „Ich komme biefen Augenblid vom 
Tiſche“, ſchreibt fie, „und babe mich weggeftohlen, um mid ein 
wenig mit Ihnen zu unterhalten. Erwarten Sie nicht etwas mit 
Vorbedacht Ausgearbeitetes in diefen Briefen; das Herz ift es, was 
zu Ihnen fpricht, und nicht der Geift. Ich wollte‘ Ihnen gern 
etwas fagen, meine there Katharina, und doch getraue ich mich 
nicht. — Aber nein! „Sie werben mir vergeben; find wir denn 
nicht alle zufammen Schwachheiten unterworfen? Es befindet ſich 
hier ein junger Engländer, ben ich ſehr bewundere; fürdten Sie 
nichts, mein Kind! es ift nichts von Liebe, es ift reine Achtung, 
welche ic} feiner ſchönen Eigenſchaften wegen für ihn hege. Es 
iſt nit jener Mylord, von dem Fräulein Meirner (vgl. ©. 141) 
Ihnen ohne Zweifel geſprochen haben wird; diefer ift ein uner— 
träg — fil fil er ift auch Engländer, ' und liebe ich nicht Die 
ganze Nation bloß meines liebenswürdigen Harry wegen! Wenn 
Sie ihm nur ſehn Könnten, eine Phuftognomie, fo offen und fanft, 
obgleich mit einem geiftreihen und Iebhaften Zuge. Sein Be- 
tragen ift fo höflich und fo gebilvet, er befigt eine wunderbare 
Gabe von Geift, kurz er iſt der reigenbfte junge Mann, ven id) 
je gefehen habe. ? Und, und — adj," meine Theme! er reist in 


! Im Original heißt es: C'est um import... st st! il est aussi 
Anglois. Das Wort importun wagt fie nicht auszuſchteiben, weil fie 
feinem von der geliebten Nation ein foldes Belwort geben möchte. Der 
hier gemeinte Mylord wird wohl ein anderer Engländer aus der Pfellſchen 
Benflon gewefen fein, der fih am bie Gunſt Korneliens bemühte, aber 
als ein eiteler, leerer Menſch, nur ihr Mißfallen erregte. 

2 Goethes Befhreibung (B. 21, 19), wonach das Geſicht bes von 
KRornelta geliebten jungen Engländer Hein und eng beifammen und durch 
Blattern eutſtellt war, paßt hierzu nicht, und doch Funen wir unmöglich 





150 





vierzehn Tagen ab. ' Ich bin darüber fo betrübt, obgleich ber 
Schmerz nit dem ähnlich ift, wenn man liebt. Ich hätte ge- 
wünſcht, mit ihm in derſelben Stabt zu wohnen, um ihn ſprechen, 
ihn täglich fehn zu Können; ich würde nie einen andern Gebanfen 
gehabt haben — ver Himmel weiß es! —, und es ift — aber 
ich werbe deſſen beraubt fein, ich werbe ihm micht wieberfehn.“ 
Doch hat fie ven Plan gefaßt, ſich ein Portrait des Geliebten zu 
verfchaffen. Ste will am nächſten Sonttag, am 23. Dftober eine 
muſilaliſche Geſellſchaft bei ſich verſammeln. Harry, ber die Baß⸗ 
geige vortrefflich ſpielt, ſoll unter den Gelabenen ſein; während er 


beide für verſchieden Halten. Das Gedaͤchtniß ſcheint hier unfern Dichter 
verlaffen, und {hm wohl das Bild eines andern Engläubers untergefcpoben 
gu haben, deren er fo viele in Sranffurt und Weimar kennen zu Iernen Ge— 
Tegenheit hatte. Einer fo innigen Liebe war Kornelie nur einmal fähig, 
und bei Goethe ſchwebt das ganze Verhältniß in der Luft, da man nicht 
ficht, weßhalb es fih Küste, 

. * Zahn hat fi) durch die irrige Zeitbefimmung in „Währheit und 
Dichtung“ zu der Annahme verleiten laſſen (S. 256). Goethe‘ habe den 
jungen Engländer ſchon vor feinem Abgange nach Leipzig kennen leruen, 
deffen Neigung zu Kornelia fei aber ext fpäter entflanden, und Goethe 
Habe das Derhäftniß zwiſchen beiden ſchon ausgebildet gefunden, ala er 
surädgefommen. Aber gibt man einmal zu, daß Goethe hier bie Zeitfolge 
nicht genau befolgt habe, fo hindert nichts, die ganze Bekanntſchaft mit 
dem jungen Engländer in eine fpätere Zeit zu fegen, wofür auch noch ein 
anderer, oben S. 138 angegebener Umſtand fpricht. Kornelia Tann den jungen 
Dann noch nicht häufig gefehen haben; das Verhältniß zu ihm if ein 
ſolches, wie es ſich bei dem erſten Bekauntwerden bildet; von einem aus- 
gebildeten Verpättniß, wie € Jahn nennt, zeigt ſich Feine Spur, ja es if 
offenbar zwiſchen beiden jungen Reuten noch gu Feinem Geftänbniß gefoms 
men; Harry ſcheint die Liebe Korneliens gar nicht zu ahnen. Die Schweſter 
wird ihre Neigung zu Harry ihrem Bruder erft nach deffen Entfernung 
zu geftehn gewagt Haben; dieſer aber flellte in „Wabrfeit und Dichtung“ 
das Berhältniß als wirklich von beiden Seiten geftandene Liebe bar, fo 
daß Kornelia und der Engländer in der Geſellſchaft ſchon als ein Paar 
gegolten, indem ihm wahrſcheinlich der wahre Sachverhalt nicht mehr gegen- 
wärtig war; denn an eine bemußte Ausſchmückung möchte ich hierbei nicht 
denfen, wenn auch bie Einmiſchung bes Paares in bie. luſtige Geſellſchaft 
vieleicht einer abfichtlichen Fänfierifchen Wendung zugufgreiben ft. 





151 


ſpielt, foll ein junger Maler ihrer Belanntfjaft (G. M. Kraus?), 
der aus Paris gelommen, und bie Fertigleit hat, raſch und verftoh- 
len Portrait’8 zu entwerfen, ihn zeichnen. Diefer Gedanke beſchäftigt 
fie die ganze Woche. Am 21. Oktober, eineni Freitag, ſchreibt 
fie: „Je näher ber erſehnte Tag heranrädt, um fo mehr klopft 
mir das Herz. Und ich werbe ihn alfo fehn! ich werde ihn fpre- 
hen! aber wozu dient mir das? — Ha, große Thörin! wirft bu 
nicht für immer befigen — wenigftens fein Bild! Unb mas ver— 
langſt du mehr? Ad, meine Theure, ich bin voll Freude; ‚Sie 
follen eine Kopie davon haben; gewiß Sie werben mir nicht Un- 
echt geben, daß ich ihm Liebe! — Was habe ich gefagt! foll ich 
dieſes Wort ausſtreichen? Nein, ih will es ftehn laffen, um 
Ihnen meine ganze Schwachheit zu zeigen. Verdammen Sie mich! — 
Heute höre ich nichts als Freude; ich tanze durch das ganze Haus, 
obgleich mic zuweilen ein Gedanke einfällt, der mich mahnt, mid, 
zu mäßigen, ba mehrere Hinberniffe eintreten können. ber. ich 
höre nicht darauf, indem ich mir. ſogleich zurufe: Es muß!" Ein 
Traum in ber darauf folgenden Nacht fagt ihr, fie werbe ihren 
Harry nicht wieverfehn. Und wirklich bringt der Bediente, den fie 
am 22. Oftober ausgeſchickt hat, die Damen einzuladen, bie trau- 
rige Antwort, daß dieſe nicht Fommen können. „Ich Unglidliche!“ 
ſchreibt fie; „alles ift zu Ende. Mein Stolz ift nun recht ‚bes 
ſtraft. — Es muß fo fein z- ih mar wohl berechtigt, alſo zu 
fprehen! — Haben Sie Mitleid mit mir! — Ich bin in einem 
Buftande, der Mitgefühl erregen muß! — es ift mir unmöglich 
fortzufahren!- — verzeihen Sie mir alle viefe Thorheiten!“ Drei 
Tage baranf entſchuldigt fle ſich wegen bes ſehr verworrenen 
Schluffes ihres Tagebuchbriefes; fie habe nicht gewußt, was fie 
fage; eine ſtarke Gemüthsbewegung habe ſich ihrer ganzen, Seele 
bemãchtigt; fie wunbere fih oft über ſich felbft, daß fie fo ſtarke 
Gemüthsberwegungen habe, daß fie fogleich zum Aeußerften komme; 
aber es daure nicht lange, und das fei ein großes Glück, weil fie 


‚fonft unmöglich leben könne. „Für jegt“ fügt fie Hinzu, „bin ich 


ziemlich ruhig, in der Hoffnung, daß in fünf Tagen wieder ein 


152 


Sonntag fein wird. Aher ſchweigen wit davon, and Furcht, daß, 
wenn es und bamit noch einmal fehlgehn follte, man Beranlaffung 
haben wir, ſich über unſern Plan luſtig zu machen. Sie würden 
es ſicher thun, nicht wahr? meine Theme, und ich würbe es 
verbienen... Wenn er in biefer Bode abreist — doch laflen wir 
eimer fo erſchütternden Borftellung Teinen Raum; ſchon ver Ge⸗ 
danlke allein erregt meinen Unmillen.“ . 
Am folgenden Tage ging. der Bruder, zwei liefländiſche 
Freunde, die er zu Leipzig hatte kennen lernen, umd bie eben 
anf eimer großen Meife begriffen waren, freundlich zu bes " 
grüßen, bie. Brüder Johann Georg und Heinrich Wilhelm von 
Dlverogge; fie Hatten wahrſcheinlich zu Goethe's Leipziger Tifch- 
gefelichaft gehört, an welcher nad der Bemerkung B. 21, 65 
einige Liefländer Theil nahmen. Auf Korneliens Bitten mußte 
der Bruder ihr eine Beſchreibung feiner beiden Freunde geben. 
„Dex ältere Herr von Olderogge, ungefähr ſechsundzwanzig Jahre 
alt, {ft groß, von gutem Wuchſe,“ erzählte der Bruder, „aber 
fein Gefiht ift von wenig ſchmeichelhaften Zügen; er bat biel 
Geift, fpricht wenig, aber alles, was er fagt, zeigt bie Größe 
feiner Seele und feinen’ hohen Verſtand; er ift in Geſellſchaft ſehr 
angenehm, treibt. die Höflichleit bis zur äußerſten Spige, indem 
ex mit Herablaffung Perfonen von geringerm Verdienſt dulvet, kurz 
ex befigt alle Eigenſchaften, weldje zu einem liebenswürbigen Ka- 
valier erforderlich find. Sein Bruder, etwa zwanzig Jahre alt, 
Hat keinen fo hohen Wuchs, wie der ältere, aber feine Gefichts- 
züge find. von einer veigenden Schönheit, wie ihr fie zu fehn liebt, : 
ihr andern Mädchen; er ift lebhafter, als ber ältere Bruder, ‚ 
ſpricht oft, obgleich zumeilen ungehörig, er hat einen liebenswür⸗ ! 
digen Charakter, mit viel Feuer verbunden, welches ihm fehr mohl 
fleht, auch ein wenig Unbefonnenheit, aber dies macht nichts. Es 
genügt dir zu wiffen, daß fie die ausgejeichnetften Kavaliere unferer 
ganzen Akademie waren.” Diefe Beſchreibung, beſonders die des 
jungern Bruders, hatte Kornelien neugierig gemacht, bie aber, als 
fie vernahm, daß die beiden. Kavaliere am anbern Tage einen 





Beſuch in ihrem Haufe machen würden, in eine ſonderbare Berlegen- 
heit geriet. „Och, bin neugierig, fle zu ſehn“, ſchreibt fie, „aber 
ich ſchäme mich, vor ihnen mich zu zeigen. Dies ift eime meiner 
Schwachheiten, die ich Ihnen geftehn muß. Sie kennen meine 
Gedanken hierüber, umb merben mir verzeihen, wenn ich bei bem 
Gevanfen erröthe, Perfonen von ſolchen Vorzügen eine fo er- 
niebrigende und fo wenig ſehenswürdige Geftalt zu zeigen. Es ift 
ein unfchuldiges Verlangen, gefallen zu wollen; ich wünfche nichts. 
Ah, meine Thenre, wenn Sie die Thränen fehen — nein, nein, 
ich vergieße Feine, es iſt nur — es iſt nichts.“ Den ganzen fols 
genden Tag über, an welchem ver Beſuch ver Herrn von Ole 
rogge erwartet wird, befindet fie fi in gewaltigfter Aufregung. 
„Tanfenb quälenve Gedanken“, fehreibt fie Morgens um zehn Uhr, 
„taufenb Halb gebilvete und verworfene Wunſche! Ich wollte — 
aber nein, ich wollte nichts. — Ich bemeive faft die Ruhe, bie 
Sie genießen, meine Theure, da Sie mit fi ſelbſt zufrieden find, 
wozu Sie Urfache haben, ftatt daß ih — ich fann nicht weiter 
fortfahren.“ Am Nahmittage will fie ausgehn, da es ihr un⸗ 
möglich ift, die jungen Fremden zu fehn. „Zwanzigmal bin ich 
die Treppe hinabgeftiegen, und eben fo oft bin ich in mein Zimmer 
zurückgekehrt, ſchreibt fie Nachmittags um zwei Uhr. „Mein Bru- 
der Hat mich gefragt, ob ich Heute ausgehe, und ic habe ihm Ja 
geantwortet; ich kann alfo nicht mehr zurück.“ Sie wagt es endlich 
anszugehn, aber auf dem Wege wird fle von-einem Unmwohlfein 
. befallen, und kehrt zurüd. Um fünf Uhr: ift fie wieder zu Haufe, 
und fie geht, fi) auszukleiden. „Sie find ba, meine‘ Theure“, 
verkündet fie ver entfernten Freundin, „und, denken Sie! gerade 
ift einer meiner Couſin's da, der einige Zeit am Hofe war; er 
ift auch bei ven Herren. Wenn e8 ihm in ven Kopf käme, mic 
za ſehn!“ Von einem wirklichen’ Better kann hier nicht die Rede 
fein, va Goethe's Bater feine Geſchwiſter hatte, und von ben Ge 
ſchwiſtern der Frau Rath ihre Schwefter Johanna Maria fi erft 
am 11. November 1751 vermähfte, die Übrigen noch fpäter, fo 
daß ber. ältefte Vetter Korneliens — und bier ift von mehreren 


154 





die Rede — bamals nicht älter, als fechzehn Jahre fein konnte. 
Es muß demnach nad} dem oben ©, 144 Röte 1 bereits erwähnten 
Sprachgebrauche der Sohn einer befreundeten Familie verftanben 
werben. Der Bruder kam baranf, um Kornelien ven Wunſch ihres 
Eonfins, fie zu fehn, mitzutheilen; er habe fie bereits bei ven 
‚Herren von Dlverogge ſehr gelobt. Sie entſchuldigte fid mit ihrem Un- 
wohlfein, wobei fie fo todtenblaß ausfah, daß der Bruder in Schreden 
gerieth. Der Couſin holte fie barauf mit Gewalt Halb beſinnungslos 
in den Saal; wo fie, um ben Bliden ver Fremden nicht ausgeſetzt 
zu fein, ſich nach den erften Begräßungen möglichft fern vom Lichte 
feste. Nach einigen höflichen Redensarten begann ber Coufin: 
„Meine theure Coufine, ich habe Ihnen noch nicht die Freude mit- 
getheilt, die ich empfunden habe, als ich bei meiner Rückehr einen 
fo liebenswärbigen Couſin hier antraf; man hat. Urſache, Ihnen 
zu einem ſolchen Bruder Glüd zu wimſchen, ver fo fehr. geliebt 
zu werben verbient.“ Kornelia ermieberte: „Ich bin entzüdt, mein 
Herr, daß Sie gegenwärtig überzeugt find, wie fehr ich berechtigt 
gewefen, über die Abweſenheit dieſes geliebten Bruders betrübt zu 
fein; biefe drei Jahre find mir fehr lang geworben; ich wünfchte 
jeden Augenblid feine Rückehr.“ Goethe wandte ſich zu- Kornelia 
mit den ſcherzenden Worten: „Deine Schwefter, meine Schwefter! 
und jegt, wo ish hier bin, verlangt niemand mich zu fehn; es ift 
gerade, als ob ich nicht hier wäre." „Reine Vorwürfe, mein Bru- 
der!" entgegnete die Schwefter. „Sie wiſſen felbft, daß dies nicht 
meine Schub if; Sie nd immer befeäftigt, und ich wage nic, 
Sie fo oft zu unterbrechen, als ich wollte.“ Der Eoufin aber er» 
griff wieder das Wort, umd bat Kornelien, bie ſchon im. vergan⸗ 
genen Winter fih in ber Muſik fo ſehr ausgezeichnet habe, fie 
möge ihre neuerbings gemachten Sortfchritte hören laſſen, wodurch 
die anweſenden Herren ſich entzädt fühlen würden. Diefe, welde 
unterbefjen ihre Geiftesgegenwart wieder gewonnen hatte, ging zum 
Klavier; die Herren ftellten ſich um fie herum, und ber jüngere 
von Olverogge warf während des Spiels mehrmals feine Blide 
auf fie, worüber fie, da fie es merkte, erröthete. Als ver Eonfin 


15 


nach Beendigung des Mufifftüdes fie zu ihrem Stuhl zurüdführte, 
und am fie bie Frage ftellte, was er noch thun folle, um fie fih 
zu verbinden, bat fie ihn, feinen Pla wieder einzunehmen, worauf 
jener in die Worte ausbrach: „Ich fehe, worauf e8 ausgeht! Sie 
wollen, daß ich mich entferne. Sie find es, mein Herr — er 
wandte ſich babei gegen den jüngern Herrn von Olverogge —, ben 
fie erwählt hat, immer in ihrer Nähe zu fein.“ Der junge Mann, 
welcher Kornelien zu beleibigen fürdtete, gerieth in große Ber- 
legenheit, die ſich auf feinem Geſichte malte; Kornelia aber Tonnte 
ſich das Vergnügen nicht verfagen, ihm in's Geſicht zu fchauen; 
fie glaubte in ihm ihren liebenswürdigen Harry zu fehn, und ihre 
Gedanken verwirrten fi. Der Bruder aber brachte das Geſpräch 
auf Leipzig, auf bie angenehme Zeit, bie er bort verlebt, und zu- 
gleich beflagte er ſich über Frankfurt, über bie dort herrſchende Ge- 
ihmadlofigkeit, und er unterfing ſich, bie Frankfurter Damen für 
unerträglich zu erflären. „Welch ein Unterſchied“ rief er aus, 
„swifchen ven Sächſiſchen und ven hieſigen Mädchen!“ Kornelia 
aber ſchnitt ihm das Wort ab, und wandte fi an ihren liebens- 
würdigen Nachbar mit der Bemerkung: „Mein Herr, bies find 
die Borwürfe, die ich alle Tage hören muß.“ „Sagen Sie mir“, 
fuhr fie fort, „ob es wirklich der Fall ift, daß bie Sächſiſchen 
Damen alle übrigen unferer Nation fo fehr übertreffen!“ „Ich 
verfichere Sie,t erwieverte hierauf Herr von. Olverogge, „baß ich 
in ber kurzen Zeit, welche ich hier bin, mehr volllommene Schön- 
heiten gefehen habe, als in Sachſen; mas aber Ihren Heren Bru- 
ber fo fehr für jene einnimmt, ift, ich wage es zur fagen, eine ge⸗ 
wife Anmuth, ein gemifler bezaubernber Zug." „Ganz recht!" fiel 
der Bruder ein; „biefe Anmuth und biefer Zug find es, die ihnen 
Sier fehlen. Id} gebe zu, da fie ſchöner find; aber mas hilft 
mir biefe Schönheit, wenn fle nicht mit einer unendlichen Anmuth 
verbumben ift, bie mehr bezaubert, als die Schönheit felbft!“ ' 
1 Bl. ©. 145 f. 148 Note. Goethes Werke B: 6, 59. Horn ſchreibt 


von Franffurt aus: „Die Mäbgen! o die find hier ganz unerträglich! fehr 
Rofz and ohne allen Denfepenverfland. IH möchte rafend werden, wenn 


156 
Beim Abſchied bezeigte der jüngere Herr von Olderogge fich äußerft 
Höflich ‚gegen Kornelia, er kußte ihre Hand und drückte fie mehrere- 
mal, als ob er fle nicht wiebergeben wollte. „Was hatte er nöthig, 
fich fo zu betragen ?* ſchreibt fie der Freundin. „Ich beneide die 
ſchönen Damen, die er hier gefehen hat. Iſt es denn nicht eine un 
endliche Wonne, einer ſolchen Manne zu gefallen? — Aber wozu 
fage ich das? Sie fehen, daß der Schlaf mid, im Verwirrung 
bringt.“ Am folgenden Tage ift ver Bruder ben ganzen Tag in 
ver Begleitung ber beiden Fremden, um weldes Gläd ihn Kor 
nelia beneivet. „Die Herren von Olderogge“, ſchreibt fie Tags 
darauf, “ „werben biefen Nachmittag kommen. Ich freue mid, 
darauf; wenigftens 'werbe ich noch einmal biefes Tiebliche Geficht 
ſehn, weiches fo viele Aehnlichkeit hat — fti-ftl“ Aber kaum 
hat fie diefe an ihren geftebten Harry erinmernden Worte geſchrie⸗ 
ben, als der Bruber fie mit der unangenehmen Nachricht über- 
raſcht, daß feine Freunde noch dieſen Morgen abreifen, und er 
eben hingeht, um Abſchied von ihnen zu nehmen. „Wenn Ste 
meine Qual fähen“, Magt fie, „ſie überfteigt meine Kraft. Jedes 
Vergnügen, das ich mir verfpeedhe, verfagt mir. Welchem Schickſal 
bin ich noch aufgefpart! — Mein Bruder ift in dieſem Augenblick 
gegangen, ihnen Lebewohl zu fagen. — Ha, welcher Gedanke ſchwebt 
vor meinem Geifte! ? — Nein, nein! — Lebewohl!“ Bald varauf 
empfängt fie die Nachricht, daß auch ihr Harry, den fie am nächſten 
Sonntag, den 30. Oftober, bei ſich zu fehn gehofft hatte, abgereist 
ſei. „Sie werben ſicher Schmerzensausrüfe von .mir erwarten“, 
ſchreibt fle der Freundin, „wenn id Ihnen fage, daß mein liebens⸗ 


ich an Leipzig denfe. Nicht eine if fähig, einen discours zu führen, als 
etwa vom Wetter oder von einer neumodiſchen Haube.“ 

Dtrrig ‚bezeichnet Jahn ©. 266 biefen Tag als einen Mittwoch: der 
Befuch der beiden Brüder füllt auf Mittwoch den 26. Dftober, wouach 
diefer Brief am Freitag geſchrieben fein muß. 

? Einen Augenblid denkt fie daran, den Bruder zu begleiten, aber 
fie faßt Rh Bald. Das fließende Lebewohl! gift nicht der Freundin, 
fondern dem jungen Sremben, dem fie es in Gedanken zuruft. 


157 


würbiger Engländer abgereist ift, daß er abgereist ift, ohne mir das 
legte Lebewohl jagen zu können, daß ich fein Portrait nicht habe, 
kurz daß alle meine Maßnahmen fehlgeſchlagen find. Aber, meine 
Theure, ich werbe mich betragen, wie es mir geziemt, obgleich 
dies Sie nach demjenigen, was ich Ihnen ſchon geſchrieben habe, 
in Erſtaunen fegen wird. — Mein Herz ift unempfinblic für 
alles. — Keine Thräne, Fein einziger Seufzer! — Unb welde 
Urfache hätte ich auch dazu? Keine, denl ich. — Und doch, meine 
theure Freundin, gäbe e8 wohl je einen unſchuldigern Wunſch, als 
den, fein Bild immer zu fehn? Ich Hatte Immer ein außerorbentliches 
Vergnügen, ihn anzubliden, und jegt bin id) beffen beraubt. — 
Aber das macht nichts. Sie fehen meine völlige Gleichgültigfeit. — 
Mein Seelenzuftond nähert fi der Unempfindlichkeit.“ 

Es ift dies das einzige leidenſchaftliche Verhältniß Korneliens, 
von welchem wir Kunde haben, und wir find nach ihrem ganzen 
Charakter wohl berechtigt, es wirklich für das einzige zu halten, 
Kornelia wußte, werm irgend ein Frauenherz, das Glück wahrer, 
inniger Liebe zu fühlen, und in ihm sie höchfte Befriedigung zu 
erlennen, doch fie war zugleich überzeugt, daß eine ſolche Liebe 
nothwendig Törperliche Schönheit vorausſetze, durch welche, verbun« 
den mit einer edlen, fveien, heitern Seele, fie hervorgerufen werbe. 
"Aber der Schmerz über bie pebantifche Strenge und vie gemüth- 
Iofe Härte des Vaters hatte frühe in ihr den Gebanfen erregt, 
daß ihr Fein Glüd auf Erden blühen werde, und fo ftellte fie 
ihren Mangel an Schönheit mit bitterfter Schärfe zu grillenhafter 
Selbſtqual fi immer lebhaft vor, der es ihr unmöglich mache, 
je Gegenliebe zu gewinnen. Freilich mochte es auch für fie Au- 
genblide geben,- wo fi das Glüd zärtlicher Liebe fo lebhaft ihrer 
Seele bemächtigte, daß fie in dem Gedanken daran fich befeligt 
fühlte, und jenes trübe Gefpenft ihrer Seele wor der Liebe holdem 
Bilde zurüdhwich, beſonders bei Lefung jener fentimentalen Romane, 
die damals zu Frankfurt an ber Tagesordnung waren, aber ihr 
ſcharfer, unerbittlicher Verſtand Tieß ſie bald wieder das ganze, 
große Ungluck bitter erkennen, daß für fie das Glüd der Liebe 


158 


nicht beftimmt fei, va fie auf Gegenliebe nicht hoffen dürfe. Das 
Tagebuch Korneliens bietet uns in biefer Beziehung bie unzwei- 
veutigften Beweiſe, deren wir mehrere bereits oben im Verlauf 
der Erzählung angeführt ‚haben. Hier fei e8 uns ‚geftattet noch 
einige bezeichnenbe Stellen diefer Art hinzuzufügen. Einmal fohreibt 
fie der Freundin, bie ihre Mlagen- über. ihr abſtoßendes Aeußeres 
nicht gelten laſſen wollte: „Ich bitte Sie, machen Sie mid, nicht 
mehr durch Ihre Lobfprüche.erröthen, die ich in Feiner Weife ver- 
diene! Wenn Sie es nicht wären, meine Theure,. fo würde ich 
ein wenig aufgebradt fein über das, was Sie von meinem 
Aeußern fagen, da ich. es dann für eine Satire halten könnte; 
aber ich weiß, daß es bie Güte Ihres Herzens ift, welche Sie 
beftimmt, mich alfo zu betrachten. Doch mein Spiegel täufcht 
mich nicht, wenn er mir fagt, daß ich zuſehends häßlich werde. 
Es ift fein verftelltes Weſen, mein theures Kind, idy ſpreche von 
Herzensgrund, und ich fage Ihnen au, daß ich zumeilen von 
Schmerz durchdrungen bin, und daß ich alles.in der Welt dafür 
geben möchte, ſchön zu fein.“ „Was werben Sie davon fagen, 
meine There, fragt fie die Freundin, „daß ich für immer ber 
Liebe entfagt habe?“ „Lachen Sie nicht“, fährt fie fort, „ich ſpreche 
im Ernft! diefe Leidenſchaft bat mir zu viel Leiden bereitet, als 
daß ich ihr nicht von ganzem Herzen Lebewohl fagen ſollte. Es 
gab eine Zeit, wo ich, erfüllt von romanhaften Foeen, glaubte, 
eine Verbindung könne nicht volltommen glücklich fein ohne gegen 
feitige Liebe; aber ich bin von dieſen Thorheiten zurüdgelommen.“ 
Man fühlt die Bitterkeit durch, mit welcher fie die Fonventionellen 
Ehen, die ihr Herz verwerfen mußte, als gewöhnliche, dem herr- 
ſchenden Sinne ganz unanſtößige Erſcheinungen betrachtet. Mit 
herbem Schmerze ſpricht ſie ſich in einer ſpätern Stelle über ihre 
Anſichten von der Ehe und ihre völlige Hoffnungsloſigkeit aus. 
„Welch eine gefährliche Gabe ift die Schönheit!" ruft fie aus. 
„Ih bin froh, daß ich fie nicht befige, wenigſtens halte’ ich es 
nicht fir ein Unglüd." „Es ift dies eine Art von Troft”, fährt 
fie fort, indem fie unerwartet.ven Webergang ‚zum ganz entgegen 


159 


gefegten Geftänbnig macht; „und doch, wenn ich ihn gegen das 
Süd, ſchön zu fein, halte, fo verliert er feinen ganzen Werth. 
Sie haben ſchon gehört, daß ich aus einem reizenden Aeußern ſehr 
viel mache, aber vielleicht willen Sie noch nicht, daß ich dies für 
anumgänglid; nöthig zum Lebensglüdechalte, und deshalb glaube, 
daß ich nie glüdtich fein were. Ich will Ihnen erklären, was ich 
über diefen Punkt denle. Es iſt offenbar, daß ich nicht immer 
Mädchen bleiben werde; auch wäre es fehr lächerlich, einen ſolchen 
Plan zu machen. Obgleich ich ſchon längft bie romanhaften Ge- 
danfen von ber Ehe aufgegeben habe, fo ift doch eine hohe Idee 
“von ber ehelichen Liebe in mir nicht ausgelöfcht, won biefer Liebe, 
welche nach meinem Urteil allein eine Berbindung glücklich machen 
lann. Wie Könnte ich auf ein ſolches Glüd Anfpruch machen, va 
ich feinen Reiz befige, welcher Bärtlichfeit einzuflögen vermöchte! 
Sollte ich einen Mann heiraten, beu ich nicht liebe? Diefer Ge- 
„ banfe macht mich ſchaudern, und doch wird es bie einzige Wahl 
fein, welche mir übrig bleibt: denn wo wäre ein Mann zu finden, 
der an mich bächte! Glauben Sie nicht, meine Theure, daß dies 
Berftellung fei; Sie kennen die Falten meines Herzens; ich ver- 
hehle Ihnen nichts, und wozu follte ich es thım?“ Wenn Goethe 
bemerkt (®. 22, 344), in dem Weſen feiner Schwefter habe nicht 
die mindefte Sinnlichkeit gelegen, fo müſſen wir bies eben fo in 
Abrede ftellen, als die weitere Behauptung, daß biefe nur ge- 
wünſcht habe, das Leben in geſchwiſterlicher Harmonie mit ihm zu- 
zubringen. Alle Glut der Leidenfchaft lag in ihrem Herzen, aber 
fie wagte nicht, fi) berfelben ganz hinzugeben, weil fie die ſchmerz⸗ 
liche Ueberzeugung hegte, daß nur finnlihe Schönheit, bie ihr ab- 
ging, wahre Liebe hervorrufen Tönne; fie überwand ihre Sinnlich- 
keit, meil fig verzweifelte, irgend Gegenliebe zu finben, und doch 
brach das finnliche Verlangen oft fo ſtark hervor, wie wir es in 
dem Berhältnig zu Harry und ber Begegnung mit bem jungern 
Heren von Olverogge finden. Die Ahnung, daß fittliche Vorzüge 
den Mangel finnlicher Schönheit erfegen können, war ihr nie ge= 
tommen, und fie felöft war, Danf ber unterbrüdenven Erziehung 


ee 


160 


des Baters! nie zu dem Bewußtſein ihrer geiftigen Vorzüge ge- 
langt, wenn biefe ihr auch eine gewiſſe Herrfchaft über ihre gleich- 
alterige Umgebung, befonber8 über junge Frauenzimmer, ver⸗ 
ſchafften. Jinmer mehr verfant ihre Seele in. die traurige Bor- 
ſtellung, daß für fie kein Glü der Liebe zu hoffen, daß ihr gane 
368 Leben verfümmert ſei. So ſchreibt fie venn an ihrem Ge 
burtstage: „Beute bin ich achtzehn Jahre alt geworben. Diefe 
Zeit iſt mir wie ein Traum hingeſchwunden, und die Zufunft wird 
eben fo dahingehn, nur mit dem Unterſchied, daß ich noch mehr - 
Leiden erfahren werde, als ich bisher empfunben. Ich ahne fie.“ 

Beim Anfange des Winters traten gleich bie gewohnten Ge 
ſellſchaften und Konzerte wieder ein, doch wurden dieſe Genüffe 
Kornelien bald auf die traurigſte Weiſe geſtört, als der Bruder, 
ver während ber Zeit immer gelitten hatte ', an ihrem Geburts- 
tage, ben 7. Dezember, von einer ftarfen Kolik befallen wurde, 
fo daß er zwei Tage lang die heftigften Schmerzen litt; vergebens 
fuchte man ihm Linderung zu verſchaffen; die Schwefter konnte es 
nicht anshalten, ihn in einem, fo ſchrecklichen Zuftand zu ſehn, 
ohne daß fie ihm zu Helfen vermochte. Die Heilung erfolgte, da 
fein anderes Mittel Helfen wollte, durch ein Eruftallifivtes trodenes, 
in Waffer aufgelöstes Salz, welches der Arzt von Fräulein von 
Klettenberg, I. Fr. Meb, auf geheimnißvolle Weife bereitet hatte. ? 
Trog der am britten Tage eingetretenen Beſſerung konnte ſich ber 
Krane doch feine Biertelftunde aufrecht halter; er erholte ſich in- 
deſſen bald wieder, wenn er auch drei Wochen das Zimmer hüten 


4 Bel. den Brief an Br. Defer 8. 6, 57. [ 

2 ©pethe bemerkt (B. 21, 154 f.), fein Arzt und Wundarjt Hätten 
zu den abgefonderten Frommen gehört, und er deutet an, daß erflerer mit 
Fräulein von Klettenberg in Verbindung geftanden. Der Hansarzt war 
Hofrat Joh. Phil. Burggrave, ver im Juni 1775 im faft vollendeten fünf: 
unbfiebenzigften Jahre farb, aber dieſer gehörte Feineswegs zu den Frommen. 
Daß der obengenannte Arzt Meg, geboren am 4. September 1724, gemeint 
fel, ſteht jeht feft. Ogl. „Blätter für literariſche Unterhaltung“ 1850, 1088. 
Maria Belli VII, 17 f. Die Mutter ward damals durch einen bibliſchen 
Syruch getröftet. Vgl. Goethes Briefe an Frau von Stein I, 197. 





161 


mußte... Sein Zuſtand hatte allgemeine Teilnahme erregt; überall, \ 
wo Kornelia in Geſellſchaft erſchien, drängten ſich Freunde und 
Freundinnen um fie, ſich nach feinem Beftnven zu erkundigen. Kor- 
nelia erzählt der Freundin, wie am vierten Tage nad; jenem An- 
falle, am 11. Dezember, einem Sonntage, der Reflvent für Baben- 
Durlach, Here von Schmidt, der ihrem Vater als wirklichen Tai- 
ſerlichen Rathe einen Beſuch machen wollte, fie in ihrem Zimmer, 
das jegt auch als Beſuchzimmer diente, bei ver Toilette überrafcht 
habe. Im äuferfter Berlegenheit entfernte fie ſich auf ſehr unge- 
fchicte Weiſe; fie war vor Schreden todtenblaß geworben. „Im 
Borbeigehen muß ich Ihnen fagen“, ſchreibt fie ver Freundin, „daß 
nichts mir beffer fteht, als wenn ich in Folge einer Aufregung 
erröthe über erblaffe." Am darauf folgenben Freitag ſieht fie 
den Reſidenten im Konzert, und findet ihn fo liebenswürdig, daß, 
wenn ſie den Liebesgott malen ſellte, ſie ihn zum Modell wählen 
wilde, Sie hört, wie er fi) mit dem Marquis St. Severe leb⸗ 
haft über die ſchöne Lifette von Stodum unterhält, welches Mäd— 
den auf beide großen Einbrug gemacht hat. „Glüdliches Mäd— 
den!“ denkt fie. Der Reſident unterhält ſich nachher auch mit ihr, 
worüber fie fih denn glüdlih und zufrieden fühlt. Webrigens 
gereichte e8 Goethe's Familie, die gar nicht in einem Zuftanbe 
war, fi, vielweniger ihn zu töften, zu großem Trofte, daß 
biefer trotz aller Beſchwerden ber Kranfheit heiter und munter war. * 

Anfangs Januar gab Legationsrath Morig eine große Ge- 
ſellſchaft zur eier feiner Wieverherftellung, aber bald darauf, um 
die Mitte des Monats, erlitt er einen neuen Anfall, ber ihn wieder 
nöthigte, mehrere Wochen das Zimmer zu hüten, ? „OD Mamfell“, 

U Bol. Goethes Briefe an Leiptiget Freunde S. 77. 

2 In Wahrheit und Dichtung" (B. 2t, 156 f.) wird nur eines 
Anfalles dieſer Art gedacht, dagegen die Heilung der in Leipzig nad) der 
Kranfpeit entſtandenen Gefhwult am Halfe (B. 21, 142) in die erſte 
Zeit nach der Rüdfepr verlegt, was uns nicht richtig feheint. Goethe war 
wieder hergeſtellt, aber noch Tranfhaft gereizt und blaß ausfehend zuräds 
gefehrt; erft Im November ſcheint er wieder zu Fränfeln begonnen zu haben, 
da die Briefe vom Eeptember und Dftober der Krankheit nicht erwähnen. 

Dünger, drauenbilder. 1 


162 


fchreibt er am 13. Februar an Fr. Oefer, „8 war eine imper⸗ 
tinente Kompoſition von Laune meiner Natur, die mich vier 
(?) Wochen an den Bettfuß und vier Wochen an ben Seſſel an- 
ſchraubte, daß ich eben fo gerne die Zeit über hätte in einen ge- 
‚ fpaltenen Baum wollen eingezaubert fein. Und doch find fie heruni, 
und id) habe das Kapitel von Genligfamfeit, Geduld, und was 
übrigens für Materien. ins Buch des Schickſſals gehören, wohl 
und gründlich ftubirt, bin auch tabei etwas Hüger geworden. — 
Trug ber Krankheit, die war, truß ber Krankheit, die nod da ift, 
bin ‚ich fo vergnügt, fo munter, oft fo luſtig, daß ich Ihnen nicht 
nachgäbe, und wenn Sie mid; in dem Augenblicke jegt beſuchten, 
da ich mich in einem Geffel, vie Füße, wie in eine Mumie ver- 
bunden, vor einen Tiſch gelagert habe, um an Sie zu ſchreiben.“ 
Zehn Tage früher hatte die Schwefter ſtatt des Bruders an ihre 
Freundin fchreiben müfjen, weil die Krankheit biefen hinverte. 

Kornelia hatte unterbeffen an ihren Frankfurter Belauntſchaften, 
von benen die brei Schweftern Gero! und bie jüngere Schwefter 
ver Katharina Fabricius ihr am nächften geftanben zu haben fcjei- 
nen, wenig Erfreuliches erlebt. Liſette Runkel, der wir oben 
erwähnten, fuhr einmal in glänzendem Pute mit dem reichen Be— 
ſitzer des Gafthofes „zum König von England”, Heren B. (Brei- 
tenbach), nad Darmftatt, und erregte bort bei Hofe großes Auf» 
fehen. Bon dort fehrte fie, da ber am 17. Dktober erfolgte Tod 
des Landgrafen die Hoffefte unterbrach, bald nach Frankfurt zurüd. 
KRornelia und Liſette befuchten ſich trog der durch das öffentliche 
Benehmen ver legten eingetretenen Entfrembung, wie früher, und 
Lifette zeigte mitunter wahre Anhänglichkeit, Bei einem biefer Be- 
ſuche, wo Lifette im Put einer Prinzeffin bei Kornelia erſchien, 
theilte fie diefer mit, daß Breitenbad ihr zwar feine Hand ange 
toten habe, biefe Heirat aber nicht zu Stande kommen werbe, fie 
vielmehr mit einen! jungen und reichen Amfterdamer Kaufmann 

* Kornelia lobt ihre hübſchen und muntern Gonfinen, Charlotte, Au— 
toinette und Katharina Geroch, als eine angenehme Geſellſchaft. Jahn 
&. 245. Bel. oben S. 140 Note 2. 


163 
Namens Dorval, der fih in Frankfurt in fie verliebt Habe, bereits 
verlobt fei. Auch that Fifette zu dieſer Zeit eine Erbſchaft. Kor- 
nelia hat über diefes Glücd der Freundin die größte Freude, und 
nimmt an ihrer Liebe ben Iebhafteften Antheil. Diefe theilt ihr 
denn die Briefe Dorval's mit, welche fie fo aufmerkſam Liest, daß 
fie diefelten zum Theil aus dem Gedächtniß wieber aufſchreiben 
tönnte; fie bewundert das Feuer und die Ausdauer. bes zärtlichen 
Liebhabers, wenn fie and die ganze Haltung etwas übertrieben 
und romanhaft findet. Aber bald erregt Lifettens Eitelfeit und 
Gefallſucht Kornelia's Unmwillen, die in treuer, reiner‘ Liebe das 
böchfte Giuck fieht. Während DorvaPs Abweſenheit läßt fie ſich von 
einem Schwarm von Anbetern den Hof machen. ‘ Breitenbach gibt 
in feinem Gafthofe einen glänzenden Ball, deſſen Königin Liſette 
fein wird; Kornelia und ihre Coufine Katharina Gerod, die beibe 
verhindert find, auf demfelben zu erfcheinen, wollen wenigftens bie 
Schweſter ber letztern (bie ältefte, Charlotte, oder bie zweite Schwe- 
ſter, Antoinette?) fo aufpugen, daß fie bie Diamanten jener aus- 
ſtechen könne.‘ „Cie und Mamfell Meiner”, ſchreibt Kornelia an 
Katharina Fabricius, „find die einzigen Freundinnen, benen id 
mid) anvertrauen ann. Ich glaubte eine ewige Freundin an Liſette 
zu haben, aber ihre Zeit hat nur kurz gebauert; bie allgemeine 
Bewunderung hat fie verführt. Stolz auf ihre Eroberungen, ver- 
achtet fie die ganze Welt, und obgleich Dorval einzig von ihr ge- 
liebt wird, gefällt ihr ber Weihraud; fo vieler Herzen über allen 
Ausprud; fie rühmt fi) überall und triumphiert heimlich, Sie 


! An einer andern Stelle hofft fie, als Simonette Bethmann mit 
Herrn Mepler verlobt iſt, das werde wohl einen Ball geben. Jahn ©. 244. . 
Die Braut hieß eigentlich Eliſabeth Bethmann, und war das einzige Kind 
- eines ſeht reichen Mannes in Bordeaux. Als ganz junges Mädchen war 
. fie nach dem Tode ihrer Diutter nach Sranffurt zu einer unverheirateten 
Tante, Ghriftiane Barbara Mepler, gekommen. Der Bater gab die Heirat 
nur ‚unter der Bedingung zu, dab Medler den Namen „Mepler-Bethmann“ 
annehme. Die Hrirat verzögerte ſich, uud fand erft am 11.März 1770 zu 
"  Borbeaur Rat, 


164 


durch ihre Reize Beruntergefegt zu haben. ' Urtheilen Sie ſelbſt, 
meine There, ob fie mit ſolchen Gefühlen eine treue Freundin 
fein Tann! Es gab eine Zeit, wo fie, menig mit ver Welt ber 
tannt, fi in meiner Freundſchaft gluclich fühlte, aber dieſe Zeit 
ift nicht mehr, und ich erfenme hieran, daß dies ber Lauf ber 
Belt iſt. 

Wir haben bereit oben ©. 145 bemerkt, daß Kornelia im 
Runlel'ſchen Haufe einen gutmüthigen, ‘aber ungefchidten jungen 
Mann G. hatte kennen lernen, den fie feit etwa einem Jahre mit 
großer Verachtung behandelt Hatte, weil fie erfahren, daß er ſich 
auf eine wenig, anftänbige Art über fie geäußert haben ſollte. 
Diefer fah ſich aber enblich veranlagt, nad} der Urſache der fon- 
verbaren Behandlungsart zu fragen, wo er benn erfuhr, was man 
ihm Schuld gab; er erflärte dies für eine neidiſche Verläumdung 
ver „boshaften Schlange, ber Rſt.“, die aus Eiferfucht oder Haß 
ihm dieſe Nachrede gemacht habe. In einer erbetenen Zufammen- 
kunft mit Komelia wußte er biefe von feiner Unſchuld völlig zu 
überzengen. „Ich nahm ihn wieder zu Gnaden an“, fehreibt fie; 
„und fiehe! der Friede ift gemacht. — Hahaha! Das-ift zu kurz, 
werben Sie mir fagen; ich hätte eine genaue Befchreibung erwartet. 
BVerzeihen Sie mir! ic) vermag es. nicht, aus Furcht / vor Lachen 
zu erftiden. Meine Thenre, wenn Sie in einem Mintel verſtedt 
geweſen wären, Ste würden fich nicht erhalten haben. — Stellen 
Sie fi umfere Lage vor, bie tolle Figur, welche wir machten, 
als wir zufammentamen!" Mar fieht, Kornelia verlacht den Men- 
fen, deſſen Unſchuld fie anerkennt, als einen Einfaltspinfel, ver 
es wagt, um ihre Neigung ſich zu bewerben; das Gefühl ihrer 
geiftigen Webermacht über den albernen Tropf tritt bezeichnend 
hervor. Unermüblich verfolgt er num Kornelien, hängt fih in Ge 
ſellſchaften und Konzerten an fie, ohne irgend ein Zeichen ihrer 

* De Vous abaisser par ses charmes. Die Reize der übrigen ver« 
Iteren dutch den Vergleich mit ihrer Schönheit. Das Vous muß wohl im 
allgemeinen Einne genommen werden, wie die zweite Perſon Häufig Reht; 
wenigfiens iſt die Beziehung anf Katharina Sabrieius ſeht umwahrfgeinlic. 


165 
Gunft zu.erhalten; kann fie ihm nicht vermeiden, fo fertigt fie 
ihn kurz ab; ver närriſche Menſch ift ihr zum Efel, ferne Albern- 
beit und Ungeſchicktheit bringt fie zum Lachen. Endlich erhaſcht 
er bie Gelegenheit, Kornelien mit ihrer Coufine Katharina Gerod 
ans dem Konzert im Wagen nad Haufe zu begleiten. As er’ 
mit ihr allein ift, legt ex feine Hand auf die ihrige, und fpricht: 
„Theure Miß, ' diefer Schritt wird Ihnen vielleicht frei ſcheinen; 
aber ich habe Lange Zeit mich - bemüht, Sie ohne Zengen zu 
ſprechen; bie Gelegenheit ift günftig, und Sie werben mir Fieje ° 
Vreiheit verzeihen.“ Diefer Anfang ſchien Kornglien gu lächerlich, 
um nicht herauszuplagen ; er aber merkte es nicht, fonbern fuhr 
in feinem Vortrage fort. Er habe den Einbrud, welchen Kornelia 
auf ihn gentacht habe, unvorſichtig Liſette Runkel und ihrer Mutter 
verrathen, welche dadurch eiferflichtig gewerben, und in Verbindung 
mit der Rſt. ihm bei ihr zu ſchaden gefucht hätten, und es noch 
ſuchten. Er fei beſtimmt, unglücklich zu fein, und werbe 8 immer 
fein, wenn fie ihm nicht ihre Neigung zuwende. „Sagen Cie 
mir, Miß, werden Sie mich unaufhörlich haſſen? Sprechen Sie 
nur ein Wort, und ich werde der Glücklichſte der Sterblichen 
fein.“ Kornelia erwiererte: „Wenn dies Sie beruhigt, mein Herr, 
fo will ich «8 ausſprechen. Ich verfichere Sie meiner Achtung 
und meiner Freundſchaft. Mögen Sie glüdlich fein! dies ift es, 
was id von ganzem Herzen wünſche.“ Während Kornelia dies 
ter Freundin erzählt, kann fie fich des Lachens nicht enthalten; 
deun bie durch die Höflichkeit gebotene Berfiherung ihrer Achtung 
und Freundfchaft für ben leeren und albernen Menſchen kommt ihr 
doch ja zu lächerlich vor. Indeſſen hat die Mittheilung von ©. fie 
aufnıerffani gemacht, und fie entvedt nun bald, daß Liſette und 
ihre Mutter jede Zuſammenkunft diefes Menſchen mit ihr zu ver- 
hinderu ſuchen, ja daß fie falſche Beftellungen in ihrem Namen 
erfinden, um · das Verhältniß zu flören, freilich unter dem Vor— 
wande, ihr dadurch -einen Gefallen zu erzeigen. Kornelia aber, 
. * Eine damals, wie ed. feint, durch bie Leſung englifcher Romane 
üblich geworbene Aurede junger Srauenginmer. 
4u* 


166 


ver biefe Falſchheit und Betrügerei von Herzen zuwider tft, "ver- 
anlaft. num ſelbſt eine Zuſammenkunft mit ihm im Runkel'ſcheu 
Haufe. . „Als ich bei Lifette eintrat“, erzählt fie, „fand ich bort 
ihre Mutter und eine Dame ihrer Belanntfchaft. Nach dem Kaffee 
-fpielten wir Quadrille.“ Um ſechs Uhr läßt fih Herr ©. an- 
melden, und teitt in bemfelben Augenbli herein. Er grüßt uns 
zuſammen, hernach ftellt er ſich mir gegenüber und fieht mich 
während einer ganzen Biertelftunde an. Er wagt nicht ſich mir 
zu nahen, aber Madame Runkel bittet ihn in einem ſpottenden 
Ton, und er ſetzt ſich zwiſchen ums beide Mädchen. Ich ſpreche 
zu/ ihm mit vieler Höflichkeit; Liſette betrachtet mich mit eiferfüd- 
tiger Miene, und die Mutter, bie ſich beleidigt fühlt, will ſich 
rächen, indem fie mich aufzieht wegen meiner Zerſtreuung und ber 
Unaufmerkfamfeit auf das Spiel; ich aber ftelle mich, als verftände 
ich nicht, was ſie fagen wolle.“ Auf dem Rückwege, auf melden 
©. zum ‚großen Verdruſſe von Mutter und Tochter Kornelien be- 
gleitet, erzählt ex ihr won „hölliſchen Erfindungen, fie zu trennen, 
von offenbaren Lügen", fo’ daß fie geftchn muß, daß fie ihm 
während vier Jahren aus Leichtgläubigfeit Unrecht gethan habe; im 
Gefühle ihrer Schuld läßt fie fi‘ zu der Aeußerung hinreigen: 
„Nur einen Fehler hat er begangen, daß er mith zu fehr ſchätzte. 
Bin ich nicht das tabelnswerthefte Mädchen? Schelten Sie mic, 
meine Theure! denn ich habe es verbient." Als ©. fie bis zu 
ihrem Haufe begleitet hat, bleibt ihm noch vieles, ja bie Haupt- 
ſache zu fagen übrig; aber bie Thüre öffnet fih, und fie tritt 
herein, das Herz von taufend verſchiedenen Gedanken zerriſſen. 
„Beklagen Sie mich nicht!" ſchreibt fie der Freundin; „ich ver- 
diene es.“ Aber hiermit hat fie auch das Unrecht gebüßt, welches 
fie dem einfältigen Menſchen gethan, ven ihr Herz und Verſtand 


* Ein dem Lombte Apnliches, damals beliebtes Kartenfpiel, bei wel- 
chem befonders Schweigen beobachtet werden muß. Cine Beſchreibung defr 
felben gibt das dielionnaire encyclopedique. gl. auch Hieronymi 
Schlosseri poemata p. 27. Briefe von Goethe und deiien Mutter an 
Er. von Etein ©. 93, 


167 

tief unter ſich fühlen. Vor feiner Abreife Yonmt SKornelia noch 
einmal mit ihm zuſammen. „Meine Theure“, ſchreibt fie darliber 
am bie Freundin, „wenn Sie biefe Unterrevung angehört hätten, 
Sie würden in Laden ausgebrochen fein; ich fir meinen Theil 
war fo ernfthaft, als es bie. Gelegenheit (er wollte. ſich von ihr 
verabſchieden) verlangte.” Man erkennt hier überall das tiefe Ge- 
FÜHL für Recht und den Sinn für äußern Anſtand, zugleich aber 
das hohe Selbſtgeffthl einem fo ummwürbigen Bewerber gegenüber, 
woneben freilich die weibliche Eitelfeit hervortritt, bie ſich zu rächen 
ſucht. Mit Lifette Runkel kommt e8 denn bald zu einem förmlichen 
Bruce für immer: „Wenn ic) Zeit hätte”, ſchreibt Kornelia, „fe 
würde ich Ihnen die ganze Geſchichte mittheilen, aber fie ift zu 
lang; e8 genügt Ihnen zu wiflen, daß Mutter und Tochter mid) 
ver Verläumbung und ber Falſchheit beſchuldigt Haben, und daß 
ich dieſe Ausbrüde viel zu miebrig gefunden habe, um mich zu 
einer Rechtfertigung herabzulaſſen. Diefe Sache hat in mir eine 
Revolution von einigen Tagen veranlaßt, aber jegt ift fie worüber, 
und ich Habe meine Ruhe, wiever gewonnen." Auch das Verhältniß 
Liſettens zu Dorval ſcheint ſich zerfäjlagen zu Haken; denn fie ſtarb 
unverbeiratet, zwiſchen 1799 und 1801. 

Wenn Kornella die feurige Neigung Dorval's und yayıgen bie 
leichtfertige Slatterhaftigfeit Liſettens mit einem eigenen ſympathetiſchen 
Zuge empfinbet, fo tritt uns daſſelbe Gefühl noch bezeichnenver 
in einem andern Falle hervor. : Maria B. (Baffempierre), Tochter 
eines ber reichften Reformirten, eine vertraute Freundin Kornelia's, 
hat ſich mit einem jungen, ſchönen, geiftreihen Manne, Hertu 
St. Albain, verlobt, der ſich gegen.Rornelia ungemein höflich une 
artig bezeigte. „Geftern Abend (wohl an einem Dienftagakent, 
wo bei Maria Baſſompierre Geſellſchaft war),“ erzählt Kornelia, 
brachte et mich in feinem Wagen nad Haufe. Lange Zeit beob⸗ 
achtete er Stillſchweigen; dann fragte er, als wenn er aus eineht 
Traume erwachte, mid auf einmal mit Eifer: „Zheure Mi, 
wann werbe ich Sie wieberfehn ?" — „Ei!“ eriwieberte ich lachend ;,, 
„was fünmert e8 Sie, mic; zu ſehn ?“ — „Meine Tiebliche vn, 


168 


Sie willen nicht ... Sie glauben nicht... was fol ich fagen? 
Aber nein, ih will nicht jagen. — Miß, kommen Sie morgen 
auf den Ball?" — „Nein, ich werbe nicht hingehn; man hat es 
mir in NRüdfigt meiner Gefunbheit verboten. Miß Maria wird 
hinkommen, und dies genügt Ihnen. Glüdlicher St. Albain, Sie 
werben bald. mit biefem bewundernswerthen Mädchen verbunden 
fein! Was verlangen Sie mehr ?« — „Ih? — Nichts als — Ihre 
Freundſchaft. — Verſprechen Cie mir dieſe ?“ 2 „Ia, St. Albain! 
und bier meine Hand zum Pfante! So lange als Ihre reigende . 
Gattin mic mit ihrer Freundſchaft beehren wird, haben Sie ein 
Recht auf die meinige. Ich merbe-Cie immer achten; wir werben 
aufammen in Freundſchaft Ieben, wir. werben uns oft ſehn.“ — 
„Oft, Miß? HM diefes ganz wahr? Bewahren fie dieſen Gedanken! 
Aber..." — „Ei, ja! Über mas denn noch?“ Da hielt. der 
Wagen fill; er nahm meine Hand, und fprad: „Sie werben alfo 
nicht auf den Ball kommen?" — „Nein, fage id Ihnen; aber 
"nädften Dienftag zu Miß Philippine (zur wöchentlichen Abendge- 
ſellſchaft)“ — „Alſo leben Sie wohl bis dahin! Ich werde Sie 
dort ficher fehn. Vergeſſen Sie nicht Ihr Verfprechen!" — „Rein, 
nein, St. Albain! Ich werde es nicht vergefien.“ Sie fügt bie 
Bemerkung hinzu: „Was wollte er hiermit fagen, meine Theure? 
Id Thörin, die ih bin! Er glanbte ſich verpflichtet, mir einige 
Komplimente zu machen; das ift alles. Ich kann Ihnen nicht 
fagen, wie fehr ich ihm ſchätze, und wie fehr er gefchägt zu werben 
verdient.” Der Gebanfe, daß diefer liebenswürdige Mann wirk- 
liche Neigung zu ihr gefaßt habe, liegt ihr fern, ba er ja der Ber- 
Tobte ihrer Freundin ift, und fie, bei ihrem Mangel an Schönheit, 
es für unmöglich hält, Piebe zu erregen... Aber Et. Albain erhitzt 
fih auf jenem’ Balle, wird Trank umd ftirbt in wenigen Tagen; 
an bemfelben Dienftage, wo er Kornelien wiederzuſehn verſprochen 
hatte, fand fein Begräbniß ftatt. Diefe ift außer ſich vor Schmerz 
über den Tod bes Fiebenswürbigen Mannes; fie ſtellt ſich bie 
lagen der” Braut und ber Eltern deſſelben mit- Tebhafteften 
darben vor. Nur allmählich beruhigt fle fi, und yeht nur mit 





169 


Widerwillen in das nächfte Freitagskonzert. Die Muſik gewinnt ihr 
feine Teilnahme ab; fle venft nur an St. Albain und ven, Jam- - 
mer feiner troſtloſen Brant; fie fürchtet, daß man von dieſem 
traurigen Balle mit ihr reden und ihr Herz nod mehr zerreißen 
werbe; fie felbft hat fi das Wort gegeben, von ihm nicht mehr 
zu fpredien, wenn aud bie Erinnerung an ihn fie. nicht verläßt, 
Wie erſtaunt fie aber, als Maria in gewählter Trauerfleivung in 
den Saal tritt, fih in ihre Nähe fegt, und ihr bie frivolften 
Aeußerungen zu hören gibt, daß ſie gar feine Trauer empfunden 
‚habe, vielmehr Heiterer fei, als jemals, und nur die dunkle Klei⸗ 
dung verwünfde, bie fie in Folge des Todesfalles tragen milſſe! 
Kaum vermag fle ihre Entrüſtung zu verbergen, heimlich aber 
preist fie den Hingeſchiedenen glüdlih, daß er biefe feiner fo un⸗ 
würbige Frau. nicht befommen habe, deren Freundin fie nicht länger 
fein fan. 

Mit dem einteetenden Fruhſahre 1769 begann das Leben auch 
für Kornelia, deren Bruder jegt wieberhergeftellt war, fid zu er- 
heitern; ‚aber leider fehlen ım8 hierliber genauere Nachrichten. Das 
Tagebuch wird von jegt an nicht mehr mit dem frühern Eifer ge- 
führt, und in ven letzten Monaten, Juni, Juli und Auguft, find 
mie. wenige Blätter an einigen Tagen beſchrieben. Aus den Briefen 
nad ‚Leipzig erfehen wir, daß Goethe fi im ganzen wieber wohl 
fühlte, wenn auch nicht immer, wie er wünſchte; dagegen. quäft 
ihn noch ſtets die Erinnerung an den Berluft von Käthchens 
Liebe, ben auch ber Troſt der liebenden Schweter nicht zu Kindern 
vermag. Um Dftern kommt fein Tauniger, freilich damals auch 
von Liebe geqnälter Freund Horn von Leipzig zurüd, welder bie 
geſellſchaftlichen Kreife Goethes und fAhter Schwefter mit feinem 
Wige belebt haben wird. Vielleicht war auch Rieſe zurückgekehrt, 
wogegen Crespel in Göttingen flubirte. Ein Ausflug nah Worms, 
wo er Charitas Meier und feinen Freund Trapp wieberfand, 
Katharina Fabricius, mit der er im Briefwechſel getreten war, 
perfönlich kennen lernte, auch mit einer Familie von Kampf ver- 
lehrte, wird in den Sommer. ober in dem Herbſt des Jahres 


1710 

gefallen fein. Wie innig ſich auch die Schwefter an ihn anſchloß 
und Herz in Herz Überging, wie wohlmollend auch der Kreis ber 
Freunde und Freundinuen war, in welchem er. fi) mancher hei⸗ 
tern Stunde zu erfreuen hatte, * fo war unb blieb. er doch ver- 
fimmt und konnte zu feinem rechten Behagen gelangen, ja oft 
mußte e8 der Schwefter ſcheinen, daß bie eigentliche Jugendkraft 
ihres einft fo hoffnungövollen Bruders vor der Zeit gebrochen ſei; 
er. fühlte fi von Frankfurt fortgetrieben, um in einer fremden 
Welt ganz zu geſunden und ein neues, frifches Lehen ‘zu beginnen. 
„Daß ich ruhig lebe,” ſchreibt er am 23. Januar 1770 an Käth- 
en, „das ift alles, was id, Ihnen von mir fagen kann, und 
friſch und gefund und- fleißig; denn ich Habe kein Mädchen im 
Kopf. Horn und ich ſind noch immer gute Freunde, aber wie es 
in der Welt geht, er hat ſeine Gedanken und ſeine Gänge, und 
ich habe meine Gedanken und meine Gänge, und ba vergeht eine 
Woche, und wir fehen uns faum einmal. Aber alles wohl be- 
trachtet, Fraukfurt bin ich nun endlich fatt, und zu Ende des Mär- 
zens geh’ ich von Bier weg.“ Bu biefem Ueberbruffe an Frankfurt 
und dem ungebulbigen Triebe in die Ferne hin fam zulegt noch 
ein Mißverhältniß zum Bater, der in feinem gewohnten Gange 
und feinen bergebrachten Anfichten durch nichts geftört fein wollte. 
Manche freie Aeußerung des Sohnes mag ihn verlegt und zu uns 
erfreulihen Szenen Beranlaffung gegeben haben, von denen in 
„Wahrheit und Dichtung“ (B. 21, 173,f.) nur eine angeführt 
wird. 

Hatte die Gegenwart des Bruders auch manche Beſorgniſſe 
und unerfreulihe Auftritte veranlagt, bei welchen die Schwefter 
ſehr litt, fo fühlte dieſe ſich doch durch die Abreife Wolfgang’s 
nach Straßburg gegen Oſtern 1770 recht unglücklich; denn ſie fand 


* An-feinen Freund Gottlob Breisfopf ſchreibt er im Auguſt 1769 
(Hirzel „Fragmente aus einer Goethe» Bibliotpe® S. 3): „Ih habe ein 
Halb Dugend englifche Mädchen, tie ih oft fehe, und bin in Feine ver— 
liebt; es find angenehme Kreaturen, und machen mir das Lehen ungemein 
angenehm. Mer fein Leipzig gefehen hätte, der Fönnte hier vecht wohl fein.“ 


171 
fich jebt, wo fie des Umganges des "Bruders wieder entbehren 
ſollte, viel einfamer, als je, wenn-fie jenen aud; mit ben beften 
Hoffnungen in das ſchöne Elſaß entlafien Hatte. Bei bem vielbe- 
wegten Leben in einem zerſtreuenden Kreiſe frohmuthiger Genofſen 
mochte auch der Briefwechſel mit der Schwefter nicht ſehr lebhaft 
erben, ber ja jchon deshalb nicht ganz frei fein konnte, weil ber 
Vater Einfiht davon erhielt; wenigftens famen ihm Wolfgang's 
Briefe zu Handen, und was die Schwefter ſchreiben mochte, waren 
meiftentheils nur bie gewöhnlichen Klagen Aber ihre unerfrenliche 
Lage. Gleich in ben erften Monaten feines Straßburger Aufent- 
haltes hatte er bucch einen von Verfailles aus an Freund Horn 
gerichteten myſtiftzirenden Brief jeine Frankfurter Freunde in große 
Angft gefett, da dieſe, befonders weil längere Zeit über feine 
Briefe von ihm anlangten, in Furcht geriethen, ex möge ein Opfer 
des bei ben Feftlihleiten- in Paris geſchehenen großen Unglüdes 
geworben fein. Zwar fagt Goethe, die Eltern hätten hiervon nicht 
cher- etwas erfahren, bis ein fpäterer Brief feine. Rückehr nad) 
Straßburg von einer Heinen, eitwa vierzehntägigen Reife gemelvet 
habe; * aber wollen wir dieſes auch nicht in Zweifel ziehen, fo 
tönnte doch jene unglüdliche Vermuthung eines dem Bruder zuge 
ſtoßenen Unfalls zur Schwefter gebrungen fein.. Als fpäter bie 
Liebe zu Friederile Goethe's ganze Seele verfchlang, wird der Ver— 
lehr mit der Schwefter nod mehr gelitten haben, wenn fie ihm 
auch nicht aus dem Sinne fam, fonbern er gerade bei ber Frage, 
ob er nicht dem Vater zum Trotze bie Verbindung mit ‚der 


! Zene Reife moͤchten wir bezweifeln; deun der myfüfisirende Brief 
muß gegen Mitte Mai, anderthalb Monate nach feiner Nufnuft, ger 
ſchrieben fein. Daß aber in dleſer Zeit Goethe zu einer viergehntägigen 
Reife ſich veranlaßt gefehen, obgleich die Johanniferien nahe bevarftanben, 
iſt HöchR unwahrſcheinlich, wogegen es feicht ertlärlich It, daß Soethe 
auch ohne eine ſolche Mbpaltung, befonders wenn er Fury vorher au die 
Seinigen gefihrieben Hatte, in ein paar Wochen nichts von fich. hören lief. 
Auffallend if «8 auch, daß Goethe zuerft fagt, er habe „die Geinigen“ In 
Angſt und Noth verfegt, fpäfer aber nur vom den „nächiten Freuuden“ mit 
Anschluß ter Eltern ſpricht. 





172 


Geliebten durchſetzen folle, mehr als je am das elterliche Haus 
erinnert wurbe, woher er denn aud einen in größter Bewe⸗ 
gung von Sefenheim aus an ben Altuar Salzmann gefchriebenen 
Brief mit dem frommen Wunſche ſchließtt: „Behin' mir Gott 
meine lieben Eltern! Behüt' mir Gott meine liebe Schweſter! 
Behüt' mic Gott meinen lieben Aktuarius und alle frommen Herzen! 
Amen.“ 

Um fo inniger aber wurde das Verhältniß zur Schweſter 
wieber, als der herrlich entwidelte, von tiefftem Liebesfchmerze 
durchdrungene Züngfing gegen Ende Auguft 1771 nad Frankfurt 
zurückkehrte, wo freilich die Mutter gleid; in den erften Tagen 
ihres Sohnes ungebührliche Einladung eines harfefpielenven Knaben 
dem Bater möglichft zu verbergen ſuchen mußte. Den tiefen Lie 
besſchmerz, den ein bald einlaufendes Antwortfcreiben Friederikens 
noch heftiger entflammte, goß er in den Buſen der Schwefter aut, 
die mit vollfter, fröhlichfter Hoffnung an ihrem Wolfgang hing, 
deſſen Entſchluß, Srieberifen zu verlaffen, fie nur billigen konnte, 
da fie die Unmöglichkeit einer Verbindung bei der eigenfinnigen 
Strenge des Vaters erfannte, wenn fie auch bie blutige Zerreißung 
des edelſten Bundes in aller, ihrer graufenhaften Dual mitempfand. 

Auch in feine poetifchen Plane und Beftrebungen, in feine Studien 
. Homer’s, Offian’s und ver Vollspoeſie weihte er die Schwefter 
ohne Zweifel ein, wie er tenn felbft erzählt, daß er ihr aus dem 
Stegreife ſolche Homerifche Stellen, an denen fie zunächſt Antheil 
nehmen Tonnte, überfegt habe (B. 22, 127). „Die Clarke'ſche 
wörtliche Weberfegung las ich deutſch, fo gut es gehn wollte, her» 
unter; ein Vortrag verwandelte ſich gewöhnlich in metrifche Wen- 

- dungen und Enbungen, und bie Pebhaftigfeit, womit id) die Bilder 
gefaßt halte, die Gewalt, womit ich fie ausſprach, hoben alle 
Hinderniffe einer verſchränkten Wortftellung; tem, mas ich geift- 
reich hingab, folgte fie mit dent Geiſte.“ Auch feine Uebertragun- 
gen Oſſian's (vgl. S. 120 f.) und die auf Herder's Antrieb ges 
fammelten Bolfsliever, theifte er der Schweſter mit. „Ich habe. 
noch aus Elſaß zwölf Lieder mitgebracht," ſchreibt er fpäter an 


173 


Herder, ' „die ih auf meinen Reifereien aus denen Kehlen ber äl- 
teften Mütterchens aufgehafct habe. Ein Glück! denn ihre Enfel 
fingen alle: „Ich liebte nur Ismenen.“ Sie waren Ihhen beftimmt, fo 
daß ich meinen beften Gefellen Feine Abſchrift auf's bringenbfte Bitten 
erlaubt habe. — Ich Habe fie bisher als einen Schatz an meinem 
Herzen getragen; alle Mädchen, die Gnade wor meinen Augen 
finden wollen, müfjen fie lernen und fingen. Meine Schwefter 
foll Ihnen die Melodien, die wir Haben. (find NB. bie alten 
Melodien, wie fie Gott erfchaffen m), fie ſoll fie Ihnen ab⸗ 
reiben." 

Die erfte Dramatiftrung der Lebensbefchreibung des Gög von 
Berlichingen fällt, wie die Briefe an Salzmann zeigen (vgl. oben 
©. 60), in das Ende des Jahres 1770, wonach denn auch in biefe 
Zeit dasjenige verfegt werben muß, was Goethe in „Wahrbeit und 
Dichtung" (8. 22, 149 f.) erft nach ver Rückkehr von Weplar 
erzählt.” „Das Leben des biedern Götz von Berlichingen, von 
ihm ſelbſt geſchrieben, trieb mid, in die hiſtoriſche Behandlungéart 
(des Drama’), und meine Einbildungskraft vehnte ſich dergeſtalt 
aus, daß auch meine bramatifche Form alle Thentergrenzen über- 
ſchritt, und fi den Iebenbigen Creigniffen mehr und mehr zu 
nähern ſuchte. Ich hatte mich davon, fo wie ich vorwärts ging, 
mit meiner Schwefter umftändlih unterhalten, die an folden 
Dingen "mit Geift und Gemüth Theil nahm, und id; erneuerte 
diefe Unterhaltung fo oft, ohne nur irgend zum Werke zu ſchreiten, 


Bei SHÖU „Briefe-und Aufſäte · S. 190. Vgl. S. 70 Note. 

2 Biehoff hätte auch hier bie durch bie Briefe an Saltmann gewonnene 
Keuntniß in der Darſtellung benugen, und nicht bloß in einer Note (II, 76) 
den Widerfpruch hervorheben follen. Die Worte: „Berlichingen — habe ich 
erhalten,“ Können nur von dem gangen Stüde, unmöglich von einem Thelle 
verſtanden werben. Auch verfpricht ja Goethe am 28. November, er werde 
das Drama an Salzmann fhiden, wenn es fertig fein werde. Ob 
die Vollendung fih noch bis in den Januar 1774 hinein verzog, iſt nicht 
beſtimmt zu fagen. Nach „Wahrheit und Dichtung“ arbeitete er am „Bög“ 
etma feße Boden; er Hatte aber fon einen Thell vollendet, als er am 
28. November an Salgmann ſchrieb. 


174 


daß fie zuletzt ungebulbig und wohlwellend dringend bat, mid; nur 
nicht immer mit Worten in bie Luft zu ergehn, ſondern endlich ! 
einmal das, was mir fo gegenwärtig wäre, auf das Papier ‚feft- | 
zubringen. Durch biefen Antrieb beftinimt, fing ich eines Morgens 
zu ſchreiben an, ohne daß ich einen Entwurf oder Plan vorher 
aufgefetzt hätte. Ich ſchrieb die erften Szenen, und Abends wur- 
den fie Komelien vorgelefen. Sie ſchenlkte ihnen vielen Beifall, 
jebod nur bebingt, indem fie zweifelte, daß ich fo fortfahren 
würde, ja fie äußerte einen entſchiedenen Unglauben an meine Be- 
barrlichfeit. Diefes reizte mid) nur um fo mehr; id; fuhr ben 
nächſten Tag fort, und fo ben britten; bie Hoffnung. wuchs hei 
ben täglichen Mittheilungen; aud mir warb alles von Schritt: zu 
Schritt Iebendiger, indem mir ohnehin der Stoff durchaus eigen. | 
geworben; und fo hielt ih mic ununterbrochen an's Werk, das 
ich geradeswegs verfolgte, ohne weder rildwärts, noch vechts>nodh 
links zu fehn, und in etwa ſechs Wochen Hatte ich das Vergnügen, | 
das Manuffript geheftet zu erbliden." Es ift nicht unmwahrjchein- | 
lich, daß Kornelia aud deshalb ven Bruder zum Ausführung bes 
Drama’s trieb, weil fie hoffte, daß dieſe Dichtung vie befte Ab- 
feitung fir jene felbftquälerifhe Unruhe fein werde, die ihn im ver 
erften Zeit nad} feiner Rückkunft, beſonders nachdem er Friederikens 
tiefſchmerzliche Antwort erhalten, wie einen ſchuldbewußten Sunder 
verfolgte; that er ja wirklich eine poetiſche Buße, indem er bie 
Treuloſigkeit Weislingen’s barftellte, und die mit allen Reizen ge 
ſchmückte, aber von gewaltigfter finnlichen Gier zu allen Verbrechen 
geftachelte Adelheid von Waldorf, die in der erfien Bearbeitung 
viel bebeutender-und überwiegender herwortrat, als fpäter, ergriff 
ihn fo mächtig, daß er barüber fein eigenes Leiden vergeffen 
Ternte. * 


* Goethe Hatte wohl Necht zu behanpten (B. 22, 151), er habe ſich, 
indem er Abelheid liebenswürbig zu fhiltern trachtete, felbft in fie verlicht, 
wogegen Viehoff (IT, 81) fih micht Hätte beigehn laſſen follen, ven Gin: 
wand zu erheben, man fehe nicht, weshalb er fie denn zu einem fo räufes 
vollen, unweiblich ehrfüchtigen Wefen gemacht habe. Der Dichter fpricht 





175 


Goethe. felbft erzählt ung (B. 22, 88 f.), wie bie Epoche 
düſterer Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquidfichen Liebe, 
ihm höchſt peinlich, ja unerträglich gewefen. „Aber ver Menſch 
will leben; daher nahm ich aufrichtigen Theil an anderen; ich 
fuchte ihre Verlegenheiten zu entwirren, umb mas fi trennen 
wollte, zu verbinden, damit es ihnen nicht ergehn möchte, wie mir. 
Man pflegte mich daher den Bertrauten zu nennen, auch megen 
meines Umherſchweifens in ver Gegend den Wanderer. Diefer 
Beruhigung für mein Gemüth, bie mir unter freiem Himmel, in 
Thälern, auf Höhen, in Gefilven und Wäldern, zu Theil ward, 
Tamm bie Lage von Frankfurt fehr zu ftatten, das zwiſchen Darm- 
ftabt und Homburg mitten inne lag, zwei angenehmen Orten, bie 
durch Verwandtſchaft beider Höfe in gutem Verhältniß ftanben. 
Ich gewöhnte mich, auf der Straße zu leben, und wie ein Bote 
zwiſchen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wan⸗ 
dern. Oft ging ich allein over in Gefellihaft durch meine Bater- 
ſtadt, als wenn fie mich nichts anginge, fpeiste in einem ber 
großen Gafthöfe in der Fahrgaſſe (den Gafthöfen „zum König von 
England“ und „zum goldenen Löwen“), und zug nach Tiſche meines 
Wegs weiter fort, Mehr als jemals war ich gegen offene Welt 
und freie Natur gerichtet. Unterwegs fang ich mir ſeltſame Hym- 
nen und Dithhramben, wovon noch eine unter dem Titel: Wan- 
derers Sturmlied übrig if. Ich fang diefen Halbunſinn lei 
denſchaftlich vor mid hin, ba mich ein ſchrecliches Wetter unter- 
wegs traf, dem ich entgegengehn mußte.“ Diefes fonberbare Feben 
Tan unmöglich lange gebauert haben, ba e8 dem georbneten Gange 
‚des Goethe'ſchen Haufes zu ſehr widerſprach, auch der Dichter 
ſelbſt aus ſolcher leidenſchaftlichen Aufregung ſich bald wieder in 
ſich ſelbſt finden mußte, beſonders jegt, wo eine an allen feinen 


ja, nur von der Darftelung ihrer" unendlichen Anmuth und Ciebenswürbig- 
feit, die Weielingen und Sidingen, Fram und dem Bigeunerfnaben den 
Kopf verrät; erft bei der Darftellung. derſelben verliebte er fich in fie, 
ohne deshalb die einmal erfonnene, zum Abſchlufſe votgmenbige vabel des 
Stückes abändern gu Finnen und zu wollen. 


N ___ 


176 
— Herzensangelegenheiten ernften Antheil nehmende Schweſter, welcher 
dieſer Zuſtand große Noth machen mußte, ihn zu beruhigen eifrig 
beſtrebt war; über ben Anfang November dürfte derſelbe ſchwer⸗ 
lich hinausgereicht haben. 

Unter den Frankfurter Freunden des Dichters nahmen Horn, 
der bereits am 4. Mai 1770 als Advolat vereidigt worden, Ge- 
richtſchreiberadjunkt, Rieſe, Kaſtenſchreiberadjunkt,“ und Erespel, 
Poſtacceſſtſt, die erſte Stelle ein. Im ein näheres Verhältniß trat 
ex um biefe Zeit auch zu den Gebrüdern Schloffer, von benen er 
den jüngern, Johann Georg, ber faft zehn Jahre älter war, als 
er felbft, bereits in Leipzig kennen gelernt hatte, und er mar mit 
biefem von dort aus in brieflicher Verbindung geblieben. Seit 
dem Sommer 1769 war berfelbe wieber in Fraukfurt, wo er, wie 
fein Bruder Hieronymus Peter, als Sachwalter auftrat. Sie, 
wie fein Oheim, Johann Joſt Tertor, der feit dem Tode bes 
Großvaters (6. Februar 1771) in den Rath gelommen war, über- 
gaben ihm Meinere Sachen, denen er gewachſen war; doch Fonnte | 
er feine Praxis um fo mehr, wie er an Salzmann ſchreibt, in 
Nebenftunden beftreiten, als der Vater mit größtem Eifer ſich der— 
felben annahm, und felbft die Hauptſache beforgte. Wichtiger aber 
war es für unſern Dichter, daß er durch bie Gebrüder Schloffer 
auch mit Merk und dem ganzen fehr gebilbeten Darmftäbter Kreife 
befannt wurde, in welche Belanntfhaft auch die Schwefter bald 
hineingezogen warb (B. 22, 128). Geheimerath von Hefle, deſſen 
Gattin und Schwägerin, Herber’s Braut, Profeflor Peterfen und 
Rektor Wend bildeten neben Merk bie ausgezeichnetften Cheil- 
nehmer dieſes Kreifes.? Der klatſchſüchtige Böttiger weiß zu er- 
zählen, wie Goethe in Darmftabt auf der fleinernen Treppe feines 


Wenn Goethe B. 22, 68 die Sache fo darftellt, als ob er erſt jeht 
mit Riefe vertraut geworben fei, fo beruht dieß auf Serthum, Ban vgl. 
die von Jahn herausgegebenen Leipziger Briefe Goethes an Riefe. 

3 Schon im Herb 1774 vermeilte Merd Im Goethe ſchen Haufe, von 
wo er feiner Gattin fhrieb: Mile (Goethe) est une jolie personne et 
toute la famille de ires bonnes gens (Wagner II, 23). 





477 


Freundes Merd den Mäpchen Aubienz gegeben habe, wie er 
denn aud den Dichter von ben artigften Frankfurter Frauen zur 
Stadt hinaus begleiten läßt. Im Frankfurt hatte Goethes Schwefter 
einen Kreis. gebilbeter Frauenzimmer, ven fie durch Geift und reine 
Gemüthlichteit beherrſchte, um ſich gefammelt,. denen der Bruber 
ſich aufs befte zu verbinden wußte, weun er mit feinen norbifchen 
und inbifehen Märden, die er fo koſtlich v erzählen” verftand, 
hervorrückte.“ 

Bald ſollte Schloſſer, der von, jetzt an viel mit Goethe ver⸗ 
kehrte, mit dieſem auch in litterariſche Verbindung treten, und 
war durch bie „Frankfurter gelehrten Anzeigen, welche Schloſſer 
auf Veranlaſſung von Merck und mit dieſem in dem Jahre 1772 
übernahm, indem er ſich hierzu mit Herder, Wenck, Höpfner, Pe— 
terſen und anderen tüchtigen Mitarbeitern in Verbindung ſetzte. 

Noch am 3. Februar ſchreibt Goethe an Salgmann: „Mit der 
gelehrten Anzeige habe ich feinen Zufammenhang, als daß ich ven 
Direktor (Deinet)? kenne und hochſchätze, und baf ein- Mitintereffent 
(Schloffer) mein befonderer Freund if.“ ® Aber ſchon Im Februar 
geben die Frankfurter Anzeigen drei Rezenſienen, welche Goethe 
fpäter in feine Werke aufnahm, umb zwar hatten wenigftens zwei 
davon ſchon am Anfange des Jahres vollendet vorgelegen.‘ Wahr- 
ſcheinlich hatten die Mitarbeiter fi das Wort gegeben, fich nicht 
zu verrathen. Im das. Frühjahr, etwa in den März, fällt 
ver von Goethe ſo köſtlich befchriebene erſte Beſuch Höpfner’s 


B. 22, 128. Bol. daſelbſt ©. 108 f. J 

3 Der fürftlich Waldedifche Hofrath Deinet kaufte die Zeitung vom 
Jahre 1772 an. Bol. yon Schwarzkopf „Über bie Srankfurtifchen Zeitun- 
gen" ©. 27 f. B 

® Weiter heißt es: „Halten Sie ſie ja; feine in Deutſchland -wird 
ihr in Aufrichtigkeit, eigenen Empfindungen und- Gedanken vortreten. Die . 
Geſellſchaft if auſehulich und vermehrt fih täglich." Man vgl. bazu bie 
lobenden Urthelle von Boie in einem Briefe an Biere (bei Wagner I, 45) 
und von Ehlöger in einem Briefe an Joh. Müller vom 8. März 1772, 
Wagner zu der erfiin Sammlung von Merk's Briefen S. XU. f. 32. 37. 

Bol. meine „Studien zu Goetfers Werken" S. 93 Note. 

Dünger, Brauenbilber. \ 12 


178 


in Gießen, ben er irrig in bie Zeit feines Wetzlarer Anfent- " 
haltes jet. * ö .. 

Als Goethe ſich um Oftern 1772 nach Welar begab, fühlte 
die Schwefter, bie er bisher in alle Geheimniffe feiner Seele ein- 
geweiht, der er alles, was er dachte und dichtete, mitgetheilt, der 

. ex alle Briefe,.die er erhielt, und feine Antworten darauf gezeigt 
hatte, fi) um fo mehr vereinfamt, als bald ein neues, in kurzem 
leidenſchaftliches Verhältniß alle Sinne und Thätigfeiten des Dich- 
terjünglings verſchlang, ein Verhältniß, das er felbft der Schwefter 
anzuvertrauen fich ſcheute, weil er ihre ftrenge Beurtheilung und 
ihre dringenden- Abmahnungen fürdjtete. Im biefer Zeit war es, 
wo einer ber würdigſten und ebefften Männer, ver jüngere Schloffer, 
der durch bie Verbindung mit dein Bruder freien Zutritt in das 
Goethe ſche Haus erhalten hatte, fih um Kornelia's Hand bewarb. 
Diefe, welde wohl empfand, daß fle auf ein lan eres Zuſammen⸗ 
leben mit dem Bruder, wie fie es jo herzlich wünfchte, kaum Hoffen 
dürfe, ohne ihn aber. im elterlichen Haufe ſich jehr einfam und 
verlaffen fühlen mußte, wo der ſtarre Ernſt des Vaters keine” 
wahre Heiterfeit gebeihen lief, ja ihren „feften, midht Leicht be⸗ 
zwinglichen Charakter“ zu mandem Widerſtande nöthigte, entſchloß 
ſich gern, dem höchſt achtbaren, mit den reinſten Abſichten und 
herzlicher Neigung ihr zugethanen Manne zu folgen, der einer 
baldigen Anſtellung in Karlsruhe entgegenſah. Freilich war es 
nicht die heilige Glut der Liebe, welche fie für Schloſſer empfand, 
fondern nur wahre Hochachtung, die fie mit vollſtem Zutrauen 
dieſem entgegenführte; aber auf das Glück ver Liebe Hatte fie 
längft Verzicht geleiftet, da fie die traurige. Neberzeugung gewonnen 
hatte, daß diefe, welche zunächſt durch ſinnliche Reize angeregt 
werben miüffe, für fie etwas Unerreichbares ſei. „Soll ich einen 
Mann heiraten,“ hatte fie vor mehreren Jahren an Katharina | 
Fabricius gefchrieben, „den ich nicht fiebe? Und doch wird dies die 
einzige Wahl fein, die mir übrig bleibt; denn wo follte ich einen 


" Bgl.- 8. 22, 120 ff. ©. Wagner zu den Merdifihen Briefen IIT, 186. 


179 





liebenswürdigen Mann finden, ber Reigumg zu mir fühlte?“ Schloffer 
hatte ihre vortrefflichen Eigenfchaften, ihren hohen, durchdringenden 
Zerftaud und ihr tiefes- Genrüth fehägen gelernt, und ihr, ‘ohne 
Anſpruch auf glühende,. leidenſchaftliche Liebe zu machen, feine 
Hand geboten; fie ſollte ihm eine treue Lebensgefährtin, die liebende 
Mutter feiner Kinder fein: zu beivem fühlte fie ſich geſchickt, und 

ſie beredete fi, in dieſer Verbindung ein ftilles, beſcheidenes Glüd 
zu finden, da ihre einſame Stellung im Baterhanfe ihr immer un—⸗ 
erträglicher geworden. 

Wenn Goethe als Hauptgrund, weshalb Schlofier feine bat- 
dige Nüdtche von Weplar‘gewünfcht, und ihm das Verſprechen 
verfelben abgenommen babe, das Verlaugen nad einem freiern 
Unmgange mit der Schwefter anführt, der durch feine Anweſenheit 
leichter vermittelt werden könne (B. 22, 129), fo ſcheint ung dies 
wenig wahrſcheinlich; ja in dem Augenblide, wo Goethe ihn mit 
Merk in Gießen und Wetzlar anweſend fein läßt, befand er ſich 
in Brankfurt ' und wir haben guten Grund, zu. glauben, daß 
Schloſſer unfern Dichter gar nicht in Wetzlar befucht habe. War 

das Berhältnifg zur Schweſter bereits ein näheres geworben; fo ift 

gar, nicht. abzufehn, wie ein freierer Umgang mit «einem fo ernft- 
würbigen, allgemein geachteten Manne irgend hätte Anſtand finden 
tönnen· Merd war im Auguft, ehe er nad; Gießen ging, in 
Frankfurt, mo mean ihn, wie er ſchreibt, fogleih in ein Haus 
führte, wo er Goethe's Schwefter finden follte. „Aber ich fand 
dort mehr, als ich gehofft Hatte, den Anblick zweier reizenden 
Mädchen, nad) dem Deal unferes Goethe gebilvet, ganz Herz, 
voll von Naivetät, und bie eine von beiden ber Sit der Grazien.“ 
Sind hier tie Fräulein Crespel ober die beiven ältern Fräulein 
Gerot, Charlotte und Antoinette, zu verftehn? „Vielleicht,“ Heißt 
es in bemfelben. Briefe, „werbe id; am Montag (ven 24.) Goethe 
und feine Schwefter mit mir nad Darmſtadt bringen.“ , Bald 
darauf mefbet er der Battin: Goethe ift noch in Wetzlar; er wird 
"Nach dem Briefe Merd's vom 18. (nit 28.) Auguſt hatte biefer 
Sqchloſſer in Frauffurt gefehen, war aber allein nach Gießen gefahren. 


180 ° _ 

in Koblenz zu uns floßen;* unterbefien werde ich feine Schweſter 
morgen früh mitbringen. Wir reifen um fieben-Uhr, und rechnen, 
daß wir um bie Stunde des Mittagefiens anfommen werben. Ich 
muß Fräulein Fahlmer im Namen der Madame de Ia Rode bes 
fugen, und eine, Anzahl junger Mädchen von Goethe's Belannt- 
ſchaft.“ Johanna Fahlmer, angeheiratete Tante ber Jacobis,“ 
tar von. Düffelborf nach Frankfurt gezogen, wo fie befonders mit 
der Familie Gerod befreundet war. Goethe rühmt (B. 22, 214) 
die große Bartheit ihres Gemüthes. und die ungemeine Bilbung 
ihres Geiftes, wodurch fie ein Zeugniß von dem Werth des Ia- 
cobiſchen Nreifes - gegeben, in welchem fie herangewachſen war. 
Am Schluffe feines Briefes meldet Merd: „Eine Neuigfeit, welche 
du noch nicht weißt, iſt, daß Herr Schloffer ſich ſehr eifrig um 
Fräulein Goethe bewirbt, und günftige Aufnahme gefunden hat.“ 

Als Goethe im Herbft 1772 von Weglar zurüchgelehrt war, 
mußte bie Schweſier von. neuem das Amt einer Tröſterin und 
Beruhigerin an bem wieder einmal geſtrandeten Bruder übernehmen; 
wär es ja das brittemal, daß er, im innerften Herzen verwundet, 
nach Haufe zurückgekehrt war. Schloffer ſcheint um’ die Mitte des 
Jahres 1773 nach Karlsruhe gegangen zu fein, wo er eine feſte 
Anftellung zu erhalten hoffte. Goethe bemerkt (B. 22, 345 f.), 
feine Schweſter habe an einem Iangwierigen Brautſtande gelitten, 
was ganz ierig ift; Schloffer habe fi, nad feiner Redlichkeit, 
nicht eher mit ihr verlobt, als bis er feiner, Auftelung gewiß, ja, 
wenn man es fo nehmen wollte, ſchon angeftellt geweſen; die 
eigentliche Beftimmung aber habe fi auf undenkliche Weife ver- 
zogert.“ Dagegen berichtet Nicolovins (S. 33): „Durch Gönner, 


* Der Vater Johann Konrad Jacobi heiratete eine Tochter bes Bati- 
Fiers Chriſtoph Sahlmer In Düffeldorf. beffen Tochter zweiter Che, Johanna 
Sahfmer, eine Iugendgefpielin 3. ©. Jacobi’ war, von welchem fie viel- 
leicht aud) den Namen Adelaide erhielt, unter welchem fie bei It. Jacobi 
erfiheint. Val. Jacobis, auderleſener Vriefwechfel · I, 142. 461. Ihre Er⸗ 
zieherin und fpätere Gefellſchafterin war ein Fräulein Bogner. Vgl. dar 
felbſt 1, 148. 


mehr aber noch durch feine „Kenmtniffe und entſchiedenen Geiftes- 
fübigfeiten empfohlen, begab ſich Schloffer nach Karlsruhe, wo er 
alsbald bei ber bortigen markgräffihen Regierung in Thätigfeit 
'gefegt warb.“ Im Herbſte kam Schloffer als marfgräflich-Baben- 
ſcher Hof» und Regierungsrath, wie er in ber Copulationsanzeige 
heißt, ' nad Frankfurt, um die Bermählung zu vollziehen und 
feine Frau mit ſich nad; Karlsruhe zu führen. Vielleicht erfolgte 
erſt jett die Verlobung. ? Am 1. November 1773 warb der Bund 
der Ehe gefchloffen, * und am 14. verließen bie Neuvermählten” 
Frankfurt. Welchen tiefen, faft eiferfüchtigen Schmerz Goethe 
bei ber Trennung von ber Schwefter empfand, zeigen nicht bloß 
die wenigen Worte, melde er nach ber Vermählung und bann 
nad. ber Abreife an Frau Betti Jacobi richtete, fonbern vor allen 
eine bisher unbeachtete Stelle in einem Briefe an biefelbe vom 
31. Dezember. Nachdem er bort bemerkt hat, Mazimiliane la Roche 
werbe nächftens bie Anzahl braver Geſchöpfe vermehren, bie nichts 
weniger als geiftig ſeien, wie Betti freilich vermuthen müffe, fährt 


4 Bei Maria Belt VI, 48. 

3 Daß die Behauptung Goethes in „Wahrheit und Dichtung“, am 
Hodjeitstage feiner Schwerer fei. ein Brief von Weygand in Leippig ans 
gefommen, worin diefer Buchhändler fih ihm als Verleger angeboten, und 
er dieſem damals den eben fauber geheftet vorliegenden „Werther“ gefhidt 
habe, unmöglich richtig fel, Habe ich In meinen „Studlen zu Goethe's Werfen“ 
©. 115 Note gezeigt. Vielleicht verwechſelte Gorthe den Verlobnugt- 
tag mit dem Vermählnugetage, und das Manuffript, weiches er an Bey: 
gand fhidte, wären dann die „Luffpiele nah dem Plantus von Lenz 
gewefen, die in Weygand's Katalogen, wie oben bemerkt, unter den Namen 
von Goethe und Lenz gehen Das erfte Werk Goethes, das bei Weygaud 
erfihlen, war „Glavigo“. Daß Goethe Kenz den Verleger beforgt, fagt er 
felbR, und ſchon am 3. November hatte Goethe Aushängebogen der „Euf- - 
fpiele nach Vlautus · in Händen. Die hier gewagte Vermuthuug möchte 
wahrtſcheinlicher fein, als die a. a. D. ©. 117 gemagte. 

® nr deler det Bermäplung ließ Cclofferg Bruder Hleronymus 
Veter ein Gedicht, unter dem Titel: „Bon der verlichten Ehwärmerei“, 
drnden. . 

* Bol. Briefwechfel zwiſchen Goethe und Jacobt ©. 12, 


- 182 


er fort: „Denn unter und, weis fo. eine gar mißliche Sache auf 

der Erde mit Bekanntſchaften, Freund» und Liebſchaften iff, daß, 
meint man oft, man hab's an allen vier Zipfeln, pumps reißt ber 
Teufel ein Loch mitten brein, und alles verſchutt'. Wie mir’ noch 
neuerdings gangen ift, das ‚mich fehr verbroffen hat. Und alfo 
auf mein Wort zu kommen, bin ih weit gefchäftiger, zu ſuchen, 
wo was Liebs, Freundlichs und Cuts ſteckt, als bisher, und 
guten Humor, weil id; allerfei Unvermuthetes finde 2c., daß ich 
einigemal auf dem Sprunge geftanden habe, mic zu verlieben. 
Davor doch Gott feiel" Er will künftig auf eime Höhere, geiftige . 
Liebe verzichten, da ihn eine neulich gemachte Erfahrung wieder 
erinnert hat, wie leicht einer- ſolchen, mit ganzer Seele gehegten 
Liebe das Schickſal plöglic einen Streich fpiele. Goethes ganze 
Seele hat an der Schwefter ‚gehangen, welcher er ſich ‚völlig ver- " 
ſichert hielt; da kommt eine Laune des Schidjals, die ihn die 
Schwefter auf immer entführt und den einzigen Seelenbund durch 
die weite Entfernung und die Anhänglichkeit, welde fie dem Gatten 
zubringt, traurig zerreißt. Goethe will un jet, nachdem er den 
Schmerz überftanben, keinen ſolchen geiftigen Bund mehr ſchließen, 
fondern fih nur. des. behaglichen Zufammenlebens mit heiter finn- 
lichen Naturen erfreuen, an fie fich anſchließen und mit ihnen bie 
Süßigfeit des Dafeins genießen, ja er hat bereits mehr als ein- 

mal auf den Punfte geftanden, einem heiter gefelligen, dem reinen 
Lebensgenuffe offen zugewandten Mädchen feine ganze Neigung zu- 
zuwenden. Daß ein’ anderes Erlebniß, als die Trennung von der 
Schwefter in ven Worten: „Wie mir’ noch neuerdings gangen ift, 
das mich ſehr verbroffen hat“, angebeutet fei, ift ſehr unwahrſchein⸗ 
lich, da es gleichzeitig mit der Trennung von der Schwefter erfolgt 
fein müßte, und wir von einem fo bebeutfamen Ereigniß ander- 
wärts wenigftend eine leife Spur finden müßten. 

Daß Schloffer noch zur Zeit feiner Vermählung glaubte, er 
werde in Karlsruhe bleiben, ergibt ſich aus dem Briefe von Fräu- 
lein von Klettenberg an das junge Paar vom 2. November 1773, ! 

! Bgl. Lappenberg a. a. D. ©. 154. 


183 





welder mit den Worten ſchließt: „Wann üunfere Tieben Neuver- 
wählten in ihrem holden Karlsruh bisweilen an ven Bockenheimer 
Wal denken, fo erinnern fie ſich doch auch an bie in dieſer Ger 
gend wohnenbe und ihnen und ihrem Haufe genau verbundene und 
ganz ergebenfte Freundin Sufauna Katharina von Klettenberg.“ ' 
Aber leider warb die Hoffnung auf Karlsruhe getäufcht, indem 
Schloſſer als Oberbeamter der Markgrafſchaft Hochberg nad) dem 
freilich in einem herrlichen, fruchtbaren Lande reizend gelegenen, 
aber doch einfamen und höchſt beſchränkten Emmendingen verfegt 
wurde. Das mußte für Kornelia ein erſchütterndet Schlag fein, 
und fie immer mehr in der büftern Anſchauung beftätigen,. daß 
ein unholdes Schidfal fie zu ihrem Opfer fi erwählt habe. Zwar 
durfte fie in Emmendingen ſich der Geſellſchaft einer heitern Freun⸗ 
din, Charlotte Gerod, erfreuen, an deren Stelle fpäter die zweite 
Schwefter, Antoinette Luife, trat; aber wie hätte fie, die in 
weiteren Kreiſen ihrer Altersgenoſſinnen ſich zu bewegen und fie 
durch Maren Verſtand und feines Gefühl zu beherrſchen wußte, fie, 
welche das Bedürfniß einer heitern, geiftreichen Unterhaltung tief 
empfand und in dem geliebten Bruder das einzige Herz gefunden 
hatte, das fie ganz verftand, wie hätte fie, aus ben bisherigen, 
wenn auch nicht glänzenden, doch anſehnlichen Berhältniffen eines 
wohlhabenden Frankfurter Haufes, in welches befonbers durch vie 
Belanntfchaften des Bruders’ ein vegeres Leben gekommen, in bas 
flille Amthaus?, aus einer großen, bewegten Etabt in den einfamen 
Landort verfegt, von allen Bekannten und ihrem einzig geliebten 
Bruder getrennt, jedes heitern Lebens, jedes geiftreichen Zufanı- 
menfeins mit gebilveten rauen beraubt, an der Seite eines ern⸗ 
ften, würdigen, von Herzen geneigten, aber etwas trodenen unt 


' Etwa in der Mitte des Iahres 1773 hatte Goethe an Salmaun 
gefehrichen: „Deine Schweer Heiratet nach Karlarup.“ 

2 Die Behauptung, Cihloffer Habe in dem heutigen Amthans, der 
Bo, dem Mirsefanfe. zur Krone“ gegenüber, gewohnt, beruht’ auf Irr- 
tum. Das damalige Amtpaus, beffei ober Theil Echloffer bewohnte, 
war dad @ebänbe ver jehigen Etud’fcpen Bierhrauerri. 


184 


eintönigen, bie Behlrfnife detz weiblichen Herzens weniger eapfin- 
denden, dazu mit der Entfernung von Karlsruhe felbft unzufrieder 
“nen Mannes, ſich glücklich finden Können? Hierzu kam der geillen- 
hafte, feit vielen Jahren gehegte und zu -eigener Dual gepflegte 
Gebanfe, daß das wahre Glüd ber Liebe ihr verfagt, das Schieffal 
ihr feinblich gefinnt fei, was fie jegt um fo tiefer empfinden mußte, 
als fie wider Erwarten aus ber bewegten Reſidenz nad; dem ſtillen 
Emmendingen hatte wandern müffen, und bie Amtögefchäfte nebſt 
fortftigen Arbeiten ihren Gatten den größten Theil des Tages von 
ihr getvennt hielten. Endlich war fie auch feit ihrer Entfernung 
von Frankfurt körperlich fehr leivend. So Konnte denn ihr. Leben 
in Enmendingen bei aller Achtung, bie fie dem tüchtigen und eblen 
Schloſſer zollen mußte, in ber erften Zeit fein frohes und glüd- 
liches fein; fie trauerte um ein verlorenes Glüd — benn als ein 
glucklicher Zuftand mußte ihr jet ihre geſellſchaftliche Stellung zu 
Frankfurt erfcheinen — und um ben unerfegbaren Mangel glühen- 
der Seelenliebe, welder fie in ſchwermilthiger Sehnſucht eitigegen- 
ſchmachtete. Nur das Glüd des geliebten Bruders war es, weiches 
ihr noch innigen Antheil erregte und wahre Herzensfreude bereitete. 
Der ſtürmiſche Beifall, mit weldem fein „Götz“ allerwärts auf 
genommen wurde, war ihr ein wahres Labſal. Aber leider mußte 
fie auch an feinem bedauerlichen Leivenszuftande Theil nehmen, in 
welchen ihn das Verhäftniß zu der fich inumer unglädlicher fühlen- 
den Mariniliane Brentano verfeßte, * deren Unglüd fie gewiffer- 
maßen mit bem ihrigen vergleichen konnte, wenn fie ſich aud) wohl 
nicht gleich jener zu biefer Verbindung, wie Goethe anbeutet,? 


Bel. B. 22, 168 f Goethes Mutter ſchreibt au die Herzogin 
Amalia im Jahre 1779, Brau von la Roche, fange es recht darauf an, 
ihre Töchter unglädlich zu machen. Vgl. Dorow „Reminifcengen“ ©. 132 ff. 
©. auch meine‘ „Studien zu Goethe's Werfen ©. 112 ff. 

2 @gl. ©. 22, 344 f. Wenn dafelbf von verſchiedenen bedeutenden 
Anttägen unbebeutender Männer; folder, die fie verabfipeute, die Rebe 
iR, fo erinuern wir an die oben ©. 164 ff. erwähnten Bewerbungen eines 
gewiflen G. Aehnlich mag es. fi mit fonfigen Bewerbunger verhalten 
haben, wenn anders die Angabe gegränbet iſt. 


185 





bereben ließ. Vergebens hoffte Kornelia, den Bruber im Laufe des 
Dahres 1774 bei ſich zu fehn; denn bie feliher beftimmte Reife in 
tie Schweiz unterhlieb; ' dagegen freute fie ſich der nach der Boll» 
endung des „Werther“. neu aufbühenben friſchen Heiterkeit des 
Geliebten, wie fie an feinem „Werther":felbft den gefühlteften An- 
theil nahm, und ber Beifall, welcher dem Dichter in einer bis 
dahin in Deutſchland unerhörten Weife von allen Seiten entgegen- 
ſcholl und feinen Namen mit ewigem Ruhm befränzte, ihrem Herzen 
zu jubelnder Freude gereichte. Dagegen kennten ihr die ernftern 
wiffenfchaftlihen, moraliſchen und politiſchen Beſtrebungen ihres 
Gatten feine Tyeilnahme abgewinnen, body ſuchte fie biefem ihre 
füllen Schmerzen möglichft zu verbergen, fo daß er ſich Bald ganz 
behaglich in feinem neuen Wirkungskreiſe fühlte. „In der That,“ 
ſchreibt diefer am 8. Januar 1774 an feinen Bruder, „ift auch 
fein Augenblick mic noch langweilig worden, unb wird auch feiner 
da ich im meiner Heinen Familie alles finde, was ich wünfche. 
Benn bu je heirateft, mein Bruder, fo geb’ bir Gott eine Frau, 
die deiner Liebe fo werth ift, als meine, bie mid) täglich mehr an 
fich feſſelt, und nie mit einem Augenwink die Gewalt mißbraucht, 
die ihr mein Herz übergibt." Auch ließ ihn Kornelia bald das 
Glüd der Baterfreude genießen. „Meine Schwefter ift ſchwauger, 
und grüßt euch, wie auch ihe Mann,“ ſchreibt Goethe ſchon am 
8. Juni 1774 an Schönborn (B. 27, 476). Doch erft am 28. Of- 
tober Nachts um zehn Uhr befcyenkte fe ihren Gatten mit einer 
Tochter, die zwei Tage ſpäter auf ben Namen Maria Anna Luiſe 
getauft warb. ? Stellvertreterin für die abweſenden Taufzeugen war 
Antoinette Luiſe Gerod. ® 

Ende Februar 1775 bittet Goethe Knebel, ex möge ſich 
in Karlsruhe nad der Stimmung des Markgrafen und des 


Bsl. Merk's Brief an feine Gattin vom. 14. debruar 1774. 

‚2 Eie vermäßlte ſich im Jahre 1795 mit Nicolovins. Bol. A. Nico- 
lovins „Denffsrift auf ©. H. 2. Nicolovius" S. 58 f. 198 ff. 222 f: 

> Andere. Erwähnungen von Charlotte und Antoinette Gerod fol das 
Kircpenbuch nicht ‚enthalten. - 





186. _ 

Vröfidenten. Hahn gegen Schloffer erkundigen, was et ein paar 
Monate fpäter ſelbſt tun konnte, auf ver Schweizerreife, auf welcher 
er Rornelien. befuchte, die aud) diesmal wieder bie wilbe Liebes- 
glut, die ihn glühenber, als jemals ergriffen hatte, beruhigen 
ſollte.! Die Verwandten von beiden. Seiten waren eifrig beſtrebt, 
die Verbindung der ſchon Verlobten zu hintertreiben. Goethe hatte 
fih an die Stolberge angefchloffen, welche nad) der Schweiz reis 
ten, wo ber jüngere berfelben die Wunde zu Heilen hoffte, welche 
ihm die durch bie Pflicht gebotene Trennung von einer ſchönen 
Englänberin geſchlagen "hatte, bie er umter dem Namen Selinde 
feierte.? Im der Ungemwißheit, was er beginnen folle, wollte er 
fi bei ter Schwefter und bei Lavater Troft. und Rath holen. 
Kornelia, welcher Lil’ Erziehung und das ganze Verhältniß ihres 
Haufes fehr wohl befannt war, drang mit ernften, für ben Lie 
benten um fo fhmerzliheren Gründen. auf ihn ein, um ihn zur 
Loſung eines Verhältnifjes zu bewegen, welches fir beide Theile 
nur ein unglüdliches fein fönne. Wirwerben hierauf in ben zweit⸗ 
folgenden Aufſatze näher zurückkommen. Es war das letztemal, 
daß Goethe die geliebte Schweſter ſah, welche ihm die leicht zu 
entdeckenden Urſachen, weshalb fie ſich nicht glüchlich finde, mit 
eindringlicher Gewalt barlegte. Er. ſchied von ihr, ohne ihe in 
Betreff Lil's eine beftimmte Verſprechung geben und ihr ſelbſt 
irgend einen lindernden ober Hoffnung fpendenben Tuft gewähren 
zu Können. 

Die wirklich erfolgte Trennung von Lilt, wie ſchmerzhaft fe 
auch fein mußte, und der gaftliche Aufenthalt des Bruders am 


"In brieflicher Verbindung war Gorthe mit der Schweſter immer—- 
fort geblieben, wie er dieſer zum Beifpiel am 7. März, in der erfien Zeit 
feiner Liebe gu Lili, geſchrieben Hatte. Val. den dritten Brief an Augufte 
von tolberg. 

2 Bgl. Gethe's fiebeuten. Brief an Auguſte Stolberg. " 

Geethe fpricht ©. 22, 388 auch von „wahrhaft ſchmerzlich mäde 
tigen" Briefen der Schweſter, durch welche fie die Trennung von Lili ger 
boten; indeffen bürften biefer feit feiner Rüdfchr von der Reife (gegen ben 
25. Juli) bis zur Löſung des Verhältniſſes nicht gerade viele erfolgt fein. 


+187 





Weimarer Hofe erfüllten Kornelien, die bald darauf von ihrem 
körperlichen Leiden befreit wurde, mit freubigfter Hoffnung. Aber 
in Weimar geriet) Goethe, der ſogleich feine eben gebrudte Stella 
der Schweſter zuſandte,“ bald wieder in bie fehmerzlichfte Herzend- 
fpannung; fein Zuftand war fo ganz wundervoll aufgeregt, daß 
er ihn niemand vertrauen konnte. Der edlen Frau von Stein 
hatte er fein ganzes Herz, beſonders feine noch immer nadjklingen- 
ven Liebesleiden offenbart, biefe.aber, welche feine gemaltfam be= 
wegte Seele zu beruhigen, feine blutenden Wunden zu heilen fuchte, 
war ſelbſt feinem Herzen. gefährlich geworben; eine leidenſchaftliche 
Sehnſucht zu ihe war erwacht, die er nur mit größter Anftrengung 
zu belämpfen und in die heiligen Schranken ver Sittlichleit zu " 
bannen mußte. So ſchreibt er denn, bei völligem Unvermögen, 
über feine jegige Lage irgend jemand Rechenſchaft zu geben, nach 
kangem Schweigen am 11. Februar 1776 am feine innigft geliebte 
Freundin Augufte Stolberg, der er-alle ‚feine geheimften Gefühle 
für Lili in ihrem leidenſchaftlich bewegten Wechfel, anvertraut hatte: 
„Könnteft du mein Schweigen” verftehn! Liebftes Guſtchen! — Ich 
ann, ich kann nichts ſagen!“ Die bringenden Briefe.der Schwe- 
fter, ‚bie ihre Einfamleit beffagte und genauere Kunde von feinen 
Weimarer Berkältnifien verlangte, von denen das Gerücht vielleicht 
ſchon damals ſonderbare Geſchichten herumtragen mochte, feinen 
ihm in dem Briefe an Frau von Stein vom 23. Februar den 
Wunſch anszupreffen: „O Hätte meine. Schwefter einen Bruder 
irgend, wie ich an bir.eine Schwefter Habe!" Am. 10. April 
wendet er ſich wieder an Guſtchen, die mittlerweile eine heftige 


! In dem Briefe an Mer vom 22. Iannar 1776 (bei Wagner feht 
irrig, wie Riemer (BI. 24) bemerkt, -4778) ſchreibt er: „Lieber. Bruder, 
freue dich der Beilage, file aber gleich 'mit dem Brief auf rritender 
Bo an meine Schweſter.“ Die Beilage kann nur feine „Stella“ fein, bie 
er and am Angufte Etolberg ſandte. Der Frau von Stein meldet er bie 
Aufunft der gedruckten „Stella“ erf am 29. Januar, weil er ſouſt au ſeht 
aufgeregt war. Schon am Anfange des Jahres hatte er einen Brief an bie 
Schwefter geſchtieben, welchen sr erft Fran von Stein mittpeilt (ShöN 1, 4). 


188 


Krankheit überftanden Hatte. „Mein Herz, mein Kopf,“ fchreibt 
&, wid weiß nicht, wo ich anfangen ſoll, fo taufeubfach find 
meine Berhältniffe, und neu und wechfelnd, aber gut. — Guft- 
Gen! nur eine Zeile von beiner- Hand, nur ein Wort, daß du 
auch mir wieber lebſt!“ Nach dein Empfange ihrer Antwort am 
16. Mai verfpricht er: „Ia, Guſtchen, morgen fang! ich bir 
“ein Journal an! — Das ift alles, was ich thun kann — denn ' 
der bir nit ſchrieb bisher, iſt immer verfelbe.“ Das Tage 
buch werd auch wirklich am 17. begonnen, und bis zum 24. geführt. 
Hier ſchreibt er nım am 20., nachdem er ber Freumbin ſchon gute 
Nacht gewunſcht hat: „Eine große Bitte hab’ ich! — Meine Schwe- 
fter, der ich fo Tange gef wiegen habe, als bir, plagt mich wieder 
heute um Nachrichten ober fo was von mir. Schich ihr diefen 
Brief, umd fihreib’ ie! — O daß ihr verbunden wärt! Daß in 
ihrer Einſamleit ein Lichtſtrahl von dir auf fie Ienchtete, und wieder 
von ihr ein Troſtwort zur Stunbe der Noth herüber zu dir fäme! Lernt 
euch Teen! Seid einander, was ich euch nicht fein Tann! Was 
echte Weiber find, ſollten feine Männer lieben; wir ſind's nicht 
werth. Gute Nat! — halb. Eilfe.“ Ehe er am 24: das Tage- 
buch abfenvete, fügte er am Schluffe die Areffe feiner Schwefter 
hinzu. Angufte fandte eine Abſchrift des Tagebuchs wirklich an 
Kornelia, worauf diefe aber erft am 10. Dezember folgende Ant- 
wort ertheilte: 

„Ganz unverzeiblidh iſts, Heftes Guftden, daß ich Ihnen noch 
nie * geantwortet habe; ich will mich auch gar nicht entſchuldigen; 
denn was follte, was Könnte ich fagen! — Ihre häusliche Glück- 
feligkeit ahne ich, und wünſchte als Schwefter unter Ihnen aufgenom- 
men zu fein; das ift aber einer von ven Wunſchen, der nie erfüllt 
werben twirb; benm umfere gegenfeitige Entfernung ift fo groß, daß 
ich nicht einmal hoffen darf, Sie jemals in biefem Leben zu fehn. 


* Soll wohl heißen nicht. Ober follte wirklich Augufe durch die Aufe 
forderung]bes Bruders bewogen worden fein, ihr mehrmals gu ſchreiben, fle 
Durch perslicge Siebe, die fie ihr entgegenbrachte, zu trößen? Wir möchten 
dies faum glauben. 


, 189 

— Bir find hier ganz allein; auf 30, 40 Meilen! ift fein Menſch 
zu finden. — Meines Manns Geſchäfte erlauben ih nur ſehr 
wenige Beit bei mir zuzubringen, und ba fahleiche ich denn ziemlich 
langſam durch bie Welt, mit einem Körper, der nirgends hin als 
in's Grab taugt. — Der Winter ift mir immer unangenehm und 
beſchwerlich; hier macht die ſchöne Natur unfere einzige Freude 
aus, und wenn bie fchläft, ſchläft alles. — Leben Sie wohl, beftes 
Gufthen! Ic umarme Sie im Geift, fann Ihnen aber nichts 
mehr fagen, weil ich zu entfernt von Ihnen bin.“ 

An vemfelben Tage, an welchem Goethe an Guſtchen bie Bitte 
gekußert hatte, fie möge ver Schweſter feinen Brief mittheilen, 
ſchreibt er an Frau von Stein:? „Hier einen Brief. von meiner 
Schweſter. Sie fühlen, wie er mir das Herz zerreißt. Ich hab’ 
ſchon ein paar‘ von ihr unterſchlagen, um Sie nicht zu quälen. ® 
Ich bitte Sie flehentlich, nehmen Sie ſich ihrer an, fehreiben -Sie 
ihre einmal; peinigen Sie mid, daß ich ihr was fdidel" Die 
Antwort Kornelia's auf die-Bufchrift der verehrten Frau ift ung 
erhalten (Schöll gibt fie unter Goethe's Briefen vom Juni), und 
zeigt eine größere Vertraulichkeit, als der eben angeführte an 
Augufte Stolberg, an die and die Antwort viel fpäter erfolgte. 


Es muß hier — der Brief if nur in einer Bleiftiftkopie erhalten — 
offenbar 3, 4 Meilen heißen, wie auch Schaefer vermutget. Mit dem 
nahen Kolmar, wo Pfeffel und Lerſe wirkten, ftand das Echlofferfche Haus in 
vielfacher Verbindung. „Ich lernte bei Lerfe und durch ihn zuerſt Goethes 
Echweſter, die erfte Schloffer, Fennen,“ ſchreibt Heinfe an Jacobi (Werte 
8.9, 85 f), „das lieblichfte Wefen, durchaus Gefühl und Seele, voll 
reinen. Mlanges. Ah, fo etwas Fann nicht wieder erfept werden, wenn es 
einmal durch ben Tod entriffen IR! — Ihre Briefe waren mic, wie Lerfen 
ſelbſt. wirklich heilige Reliquien.“ Vgl. auch den unten ©. 198 mitgetheilten 
‚Brief Pfeffela an Sarafin gleich nach Kornelia's Tod. 

2 Saqhil fegt den undatirten Brief gwifchen zwei Briefe vom 19. uud 
21. Mai. Den bier erwähnten Brief der Schweſter erhielt Goethe nach 
feiner eigenen Angabe am 30. Mai. \ 

® Grau von Gtein wäre es fihmerzlich berührt haben, die Klagen 
Kornelia's über das Schweigen des Bruders einer ſolchen Schweſter gegenäber 
zu Iefen; jegt aber muß er ben Brief ber Freundin mitthellen. 


„Wie foll ich Ihnen danken, befte, evelfte Fran, daß Sie ſich in 
der ımenbfigen Entfernung meiner annehnen, und mic fuchen 
meine Einfamfeit zu erleichtern! O wenn id) nur hoffen biirfte, 
Cie ein Einzigesmal in biefem Peben zu ſehn, jo wollte ich, nie 
ſchreiben, und fo alles bis auf dem Augenblick verfparen: denn 
was kann ich fagen, das einen einzigen Blick, winen einzigen 
Hänbebrir® werth wäre! Umfonft ſuch' ich ſchon Tang eine 
Seele, wie bie Ihrige, und werde fie hier herum nie finden. 
— Es iſt das das einzige Gut, mas mir jet noch fehlt; 
fonft beſitz' ich alles, was‘ auf der Welt glüclich machen “Tann. 
Und wem meinen Sie, meine ebeiftt Freundin, dem id; biefen 
jegigen Wohlftand zu banken habe? — Niemand anders, als 
unſerm Zimmermann, ber mie in meiner. Gefunpheit- alles Glück 
des Lebens wiedergeſchenkt hat!! — Noch vor kurzer Zeit war ich 
ganz traurig und melancholiſch; das beinah dreijährige Lei- 
den des Körpers hatte, meine. Seelenkräfte erfchöpft, ih ſah 
alles unter. einer traurigen Geftalt an, machte mir taufend när- 
riſche ängftlihe Grillen, meine Einbildungskraft befchäftigte fich 
immer mit den fehredfichften Iheen, fo daß fein Tag ohne Her- 
zensangft und bridenden Kummer verging. Nun aber ſieht's, 
Gott jei Dank! ganz anders aus, id) finde überall Freude, wo 
ich font Schmerzen fand, und weil ich ganz glücklich bin, befürchte 
id) nichts von der Zukunft. O meine Befte, wenn der Zuſtand 
dauert, fo ift der Himmel auf ver Welt. — Alles -Bergnügen, 
das bier in ven herrlichen Gegenben bie ſchöne Natur gibt, kann 
id) jet mit vollem Herzen genießen; meine Kräfte haben fo wım- 
terbar zugenommen, daß ich gehn und fogar reiten fan. Ich ent- 
tede dadurch alle Tage neue Schäße, bie ich bisher entbehren 
mußte, weil bie ſchönſten Wege zu gefährlich zum Fahren find. 
Meines Bruders Garten hätt’ ich wohl mögen blühen fehn; nad) 
* Zimmermann ſcheint in Emmendingen auf ber Hinreiſe nach ber 
Schweiz oder, was mwahrfheinlicher iR, auf der Rüdrelfe (am 5. DM. 1775 
war er fehon wieder in Hannover) eingefproden u Haben. 


19 


ter Beichreibung von Lenz" muß er ganz vortrefffih fein; im ber 
Laube unter euch, ihr Lieben, figen, welche Seligkeit!“ 

Die Nachricht von Frau von Stein, daß fie im Sommer ves 
näcjften Jahres nad der Schweiz reifen und auf dieſem Wege 
aud Emmendingen befuchen werde, erregte Kornelia's höchſte 
Freude, bie fie gleich nach dem Empfange derſelben, am 20. Of- 
tober, ausſprach 

Ich Tann Ihnen nicht beſchreiben, beſte Frau, was die 
Nachricht, daß Sie kümftigen Sommer hierher kommen werden, für 
eine ſonderbare Wirkung auf mich gethan hat. Ich hielt bis jetzt 
für ganz unmöglich, Sie jemals in dieſer Welt zu ſehn; denn die 
entfernteſte Hoffnung war unwahrſcheinlich geweſen, und nun ſagen 
Sie mir auf einmal: Ich komme! — Schon zwanzigmal habe ich 
heute Ihren lieben Brief geleſen, um ‘gewiß verſichert zu fein, 
baß ich mic, nicht betrüge — und doch, ſobald er mir aus ven 
Augen ift, fang’ id) wieder an zu zweifeln. Ihre Silhouette (die 
Frau von Stein ihr ohne Zweifel nach der Sitte der Zeit zuge» 
ſchickt hatte) wird jegt mit weit mehr Anfmerkfamfeit ſtudirt, wie 
font. — Aber um Gottes willen, wie fann Zimmermann eine 
Gleichheit zwiſchen uns beiden finben!? 

Es iſt mir dieſen Sommer eine Fatalität begegnet, die ich 
gar nicht vergeſſen kann. Ich war ganz geſund, und juſt bei Lä— 
vater's und des jungen Zimmermann's Antımft? überfällt mich ein 
entſetzlicher Parorysmus von Gliederſchmerzen, am dem ic, aber 


' Lenz muß von Straßburg aus, ehe er nach Weimar ging, Emmen« 
Dingen befucht haben. Das Gedicht auf‘ den herzoglichen Garten, welchen 
Goethe benupte, erwähnt aud die Mutter im Briefe an Klinger vom 
%. Mai 1776. Bel. ©. 81 Note 2. 

ꝰ Srau von Etein ftand mit Zimmermann, den fie im Sommer 177% 
in Pyrmont Fennen gelernt hatte, in brieflicher Verbindung. Vgl. Briefe 
von Goethe und defien Mutter an Briebric von Stein &. 178. Goethes 
Briefe an Frau von Etein 1. 8. 46. 

> Schloffer Hatte im Brühjehre Lavater beſucht. Ueber Zimmermann's 
Sohn vgl. Tiffet „Leben des Ritters ‚von Bimmiermans S. 177 ff. ver 
deutſchen Urberfegung. 








192 | 

ſelbſt Schuld war, weil ich mich erfältet, ermüdet und ber feud- 
ten Luft ausgefett ‚hatte. Gleich den andern Tag darauf durch 
ein einziges Bad lam ich völlig wieder zurecht, und ſeitdem fpüre 
ich nicht das mindefte davon. Urtheilen Sie ſelbſt, ob mir das 
nicht höchſt empfindlich fein mußte, daß mic; der junge Menſch in 
dem kritiſchen Augenblid ſah — und mur-in dem Augenblid. 
Fur Ihre Mufit, meine Liebfte, Tann ih Ihnen nicht genug dan- 
ten, ob ich ſchon nur ben Heinften Schatten davon auszuführen 
im Stande bin. Das Rezitativ vom „Orpheus (von Glud) muß 
eine erftaunende Wirkung thun. Ich glaub’, ich käm' von Sinnen, 
wenn id) einmal wieber fo etwas hörte. Hier find wir abgeſchnu ⸗ 
ten von allem, was gut und ſchoͤn in ber Welt iſt.“ 

Goethe äußert in November an Frau von Stein (Schöl I, 70): 
„Was ich auch meiner Scywefter gönne, das ift niein, in mehr als 
einem Sinme mein.“ Imbeffen ift nicht ficher zu beftimmen, in 
welcher Beziehung hier der Schwefter Erwähnung geſchieht. Wahr- 
ſcheinlich will Goethe vergleichsweiſe anbeuten, das, was Frau von 
Stein ihm ſchenke, bleibe doch ihe Eigenthum. 

Leider ſollte der Winter, wie wir aus dem oben mitgetheilten 
Briefe an Auguſte Stolberg ſehen, Kornelia's Geſundheit wieder 
ſehr angreifen." Im folgenden Jahre (1777) kam Lenz auf einige 
Zeit nach Emmendingen, der von Goethe nicht das Beſte erzählt 
haben dürfte. Vgl. oben S. 87 f. Kornelia, welche gegen Mitte 
des Jahres ihre, zweite Entbindung erwartete, ſcheint ſich da- 
mals in ziemlich behaglichem Zuſtande befunden zu haben, wenn 
fie auch kränkelte und ihre Abgeſchiedenheit noch nicht -ganz ver- 
ſchmerzen konnte. Schloſſer, der um Oftern, die im Jahre 1777 
anf den 13. April fiel, Kurze Zeit bei Merk zugebraht, wo er 


Am 30. Januar 1770 hatte Echloffer fi bei Sarafin in Bafel, ven 
er im Ftühjahr 1776 kennen gelgrnt Hatte, nach einem ſoliden Weinhänbler 
erfunbigt, ba ber Arzt feiner Frau gerathen habe, nad dem Nachteſſen 
einen Löffel Alikanthe oder Malaga zu nehmen. Saraſin wartete ſogleich 
aus feinem eigenen. Keller auf, wofür Schioſſer am 5. Februar freundlich 
dankte. Vgl. Hagenbach a. a. D. ©. 77. 


193 


mit dem dort noch weilenden Claudius zufammengetroffen war, ' 
fühlte ſich heiterer, als je, ja zu Scherz und Laune aufgelegt, 
mas and Kornelien zu befonverm Trofte gereichen mußte. „Och 
i hab· euch ſchon zwei⸗, dreimal fragen wollen, lieber Merck,“ ſchreibt 
er am 3. Mai „ob ber Wein? angekommen ift, und wie er be— 
hagt; aber feitvem ich euch gefehen habe, bin ich — und dem Him- 
mel fei’s herzlich gedankt! — auf ein neues Etedenpferb gefommen, 
veflen Erhaltung mir fo- lieb ift, als die Erhaltung meines Braunen 
und meiner Rappen. Ich ftede in ber Mathefis, und wenn ich 
nod einige Wochen herum habe, fo werde ich alle meine freien 
Stunden bloß alfein mit ihr zubringen. Ihr wißt nun, wie 
wenig man Briefe fehreibt, wenn man:fo was bat. Zudem hab’ 
ich einen Vogel acquirirt, ber fingt, wie ein. Kaftrat; den fütter' 
und tränf ih, und ftel? ihn wor’8 Fenſter, und ſeh' ihm Viertel- 
finden lang herumbüpfen. Neben dem Vogel fteht ein gelbes 
Nellenſtöckchen, das ich felbft voriges Jaht aus Samen gezogen 
babe, und’ das mich Herzlich freut. Dann Hab’ ich auch eine 
Drechſelbank, und ob ich gleich ſchon brei Jahre (alfo faft feit 
feiner Ankunft in Emmendingen) drechſele, fo hab’ ich doc, meil 
ich nicht mehr, als vier ober fünf Lektionen nehmen wollte, erſt 
feit drei Wochen das Geheinmiß gefunden, mir felbft darauf fort- 
zuhelfen. Nun drechſele ich ſchon Tocadillebecher, Blichſen, Schreib- 
zeuge und dergleichen; auf künftigen Winter ſchaff' ich mir auch 
eine Hobelbank an. Rechnet dazu mein Amt und meinen Braunen, 
und denkt euch nun, daß mir bie Zeit nicht mehr lang genug iſt.“ 
Dean ficht, welche Mittel ſelbſt Schloffer in Emmendingen an- 
wenden mußte, fid die Langeweile zu vertreiben, da von fonftiger 
Unterhaltung aufer berjenigen, welche bie ſchöne Natur bot, nichts 
zu finden war. „Ich hoffe auch“ fährt Schloffer fort, „daß der Teufel 
mid, ſobald nicht mehr müßig antreffen, und zur Autorſchaft ver- 
leiten fol.“ Sollte in dieſem Entſchluß, der Scheiftftellerei zu 
BVol. den Brief von Glaubins an Derd vom 13. Mai 1777 (1.9). 


% Woahrſcheinlich, nad einer weiter nuten vorfommenden Beziehung, 
Affenthafer. . 


Dünger, Brauenbilver. ’ 13 


194 





entfagen, etwa ber Einfluß Kornelia's zu erfennen fein? Bon 
feiner zweiten Frau ſchreibt Wieland an Merck (Wagner I, 147), 
‚fie habe ſich feft in den Kopf gefegt, ihn von dem Teibigen Autor⸗ 
wefen ganz zurückzubringen. Goethes Vater Hägte in’ einem Briefe 
an Schönborn vom 24. Yuli 1776, daß Schloffer mit Drud- 
fchriften nicht fertig‘ werben könne. Nur*die an den Buchhändler 


Wengand in Leipzig für einige zwanzig Louisdor's verkaufte Schrift , 


Vorſchlag und Verſuch einer Verbefferung des deutſchen bürger- 
lichen Rechts ohne Abſchaffung des römifhen Geſetzbuches“ will 
er noch zu Enbe führen, wozu er nur noch einiger Wochen bevarf. 
Er würbe das Ding auch in's Teuer werfen, hätte er es nicht 
faft feit einem halben Jahre verfauff, ehe er noch den Stall fo 
vol Stedenpferve gehabt, und müßte er nicht Wort halten. „Und 
dann möcht ich auch nicht gerne das Heine Kapitälchen verlieren, 
das wieber neues Wutter fir meinen Vogel, eine Mathefis, 
meine Drechſelbank und meine Blumenſtöde gibt. Denn bis nun 
Yonrite ich wegen einiger vorgegefiener Revenlen fie nur fparfam 
aus der Hanshaltung füttern, aber im finftigen Winter trete ih 
wieder in meine Revenlien ein, und dann Tann ich fie, ohne bes 
Publikums Beutel zu mißbranchen, felbft wohl mäften.“ Ein Erem- 
plar feiner neuen Schrift möchte er au an ben Darmftäbtifchen 
Staatsminifter Mofer fiden. „Denn fo wenig id auf den Bur- 
ſchen Halte,“ ſchreibt er, „fo möcht ich ihn doch nicht gerne ganz 
wegwerfen, meil ich ſchon lange das Projekt in mir habe, wenn 
ich einmal nicht mehr zu dienen brauche, mir bei euch ein Häus- 
hen und ein Gärtchen zu Taufen, und dann bloß mit euch und 
meinen Stedenpferben zu Ieben.? Wir wollten dann ein gemein- 
ſchaftliches ſuchen, und öftere Wanderungen anftellen und uns über 

* Auch Merk achtete ihn nicht (vgl. Waguers vritte Sammlung 
©. 205 ff), wie ihn der Herzog Carl Anguft fein Lebenlang nicht leiden 
Fonnte (Wagner I, 257). Daß Goethe ihn als Philo in den „Vefenutniffen 
einer fhönen Serle“ dargeftellt, hat Lappenberg a. a. D. 205 ff. erwieſen. 

2 Drei Jahre früher, als Schloffer aus dem Badeuſchen Staatsbienfte 
trat, hatte Merk in Solge trüber Melandolie feinem Reben ein gewalt⸗ 
fümes Ende gemacht. 


195 

die Welt ein wenig luſtig machen; denn ſeitdem ich mir ven Wahl- 
ſpruch in's Herz geſchrieben: Never to be hot on a cold subject, 
bin ich um zwei Drittel toleranter und tolerabler worben. Ich 
dãchte, mein Weib follte unter euch auch ganz gut leben, und viel- 
Teicht ziehen wir fie in unfere Pößchen hinein; das wiirde dann einen 
Kreis geben, dergleichen feiner mehr in Europa wär’. Alle vierzehn 
Tage wollten wir fo eine Media notte machen, mie neulich bei 
Claudius, und ich denke, ein Kerl, ver von nichts bepenbirt, und 
den nichts mehr ärgern Tann, müßte des Henkers fein, wenn er 
unter ehrlichen Leuten nicht auch luſtig und glüclich fein follte. 
Dann wollen wir und lauter Affenthaler Rothen kommen Iafien, 
und vom Größten bis zum Kleinſten alles neben uns gelten Iaffen. 
— — — Eure Silhouette von Claudius hat uns viele Freude 
gemacht. Sie hängt neben vem Fräulein von Rathſamhauſen, 
vem ſchönſten Weibergefiht, das ich feit langem gefehen habe; 
dann kommt meine Gran, und ihr, lieber Merk, fchließt ven an- 
dern Flügel, — Wie wärs, ihr kommt den Sommer einmal zu 
uns? Wir wollten zufammen nad Kolmar und Strafburg, was 
euch gewiß gefallen fol.” Er beflagt ſich weiter darüber, daß 
Goethe ihm neufich durch feinen aus dem elterlichen Haufe mitge- 
brachten vertrauten Vebienten (Philipp Seibel) habe fehreiben laſſen, 
ohne nur ein „Grüß dich Gott!" Hinzuzufegen, obgleich auch bie 
Mutter ſich häufig mit Seidels Briefen begnügen mußte, ohne 
daran Anftoß zu nehmen. ' „Das Ding hat mic, anfangs entſetzlich 
geärgert und im Ernft geſchmerzt. Nun fühl ich's nicht mehr! Er 
war innig von mir geliebt, er hat mid) aber vorbereitet, erftaun- 
ſich gleichgültig gegen ihn zu fein." — Natürlich mußte dieſe 

Gol. K. ©. Jacob in Raumers — hiſtoriſchem Taſchenbuch· auf das 
Zahr 1844. ©. 434 f. An Auguſte Stolberg ſchreibt er am 16. Mai 1776. 
fie folle von Philipp ihre Brüder ſich erzählen Jaffen. Jacobi läft in einem 
Briefe an Goethe au Seibel grüßen. (Briefwechfel S. 78.) „Vereihen 
Sie,“ ſchreibt Goethe einmal im Jahre 1809 an feine Nichte, Luiſe Nico» 
Tovins, „daß ich durch eine fremde Hand fehreibe. Es If einmal eine ein- 
gewurgelte Mnart, dab meine Hand zum Sqhrelben fanl und anentfeloffen 
geworden, und meine Freunde haben mic durch ihre Nachſicht verwöhnt.“ 


196 


Entfremdung zwiſchen Bruder und Gatten Kornelien ſchmerzlich fein. 
Der Brief ſchließt mit den Worten: „Ich, umarme euch herzlich, 
grüß' eure lieben feinen. Noch ift meine Frau ihrer Laft nicht 
108; zwifchen bier und Pfingften (die 1777 auf ven 25. Mai fiel) 
boff’ ich aber. Ein Bub wär' mir herzlich Tieb; ich wollt” wunder⸗ 
liches Zeug mit ihm maden, -um bod im Alter einen Freund zu 
haben.“ " ö 

Einige Wochen jpäter, nachdem bie oben bezeichnete Schrift 
über bie Berbefjerung des deutſchen bürgerlichen Rechts beendet war, 
ſchreibt Schloffer wieder am feinen Herzensfreund Merd.' „Ich 
habe mic) fo in die Mathematik verliebt, lieber Merk,“ beginnt 
er, „daß ich felten mehr Briefe fehreiben mag.? Jede Nebenftunde 

“ fig’ ich über den Zirkeln und Linien, und id) finde täglich mehr, 

daß fein Studium für den Berftand:beffer ift, ob's gleich viel- ' 
leicht, wenn's früh angefangen wird, das Herz aud in Linien 
und Zirkel ſchließt. Mic dünkt, nach deiner Philofophie mußt 
du das eben auch für fein groß Unglüd-Halten, und Stolberg 
mag mit feiner Fülle des Herzens fo viel fagen, als er will, fo 
Komm’ ich doch täglich mehr auf bie Idee — ich rede nach meinen 
Erfahrungen, Begriffen und Hoffnungen -—, daß, wenn's hier 
ein Ende mit ung hätte, das Herz eim ſchreclliches Geſchenk für den 
Menſchen war (wär'?). — Fülle des Herzens ift nur für einen 

* Wagner, dem Nicofovins S. 28 folgt, Hat diefen unbatirten Brief 
in das Jaht 1773 gefeht. Das dieſes aber durchaus irrig fe, "zeigt nicht 
allein die beftimmte Beziehung auf den Brief vom 9. Mai 1777, fondern 
ergibt ſich auch aus anderen Audentungen. So kounte z. B. Schloffer im 
Jahre 1773 unmöglid Stolberg's erwähnen, den er damals nad nicht per= 
-fönlich fennen gelernt hatte, was er} im Epätjahre 1775 geſchah; eben fo 
wenig hatte derfelbe ſich damals fehriftfteherifh befannt gemacht. Wenn 
Schlofier fragt: „Wann kommen die Köpfe nnd ber Offian?“, fo ſcheint 
Merd ihm diefe bei feiner Auweſenheit in Darmftadt verſprochen gu haben. 
Merk lich im Jahre 1777 deu Oſſian bei Fleiſcher in Fraukfurt druden. 

? Dan vgl. hiermit die Etelle im Briefe vom 3. Mai: „Ich fede in 
zer Matheſis, und wenn ich noch einige Wochen herum habe, fo werde 
ih alle meine freien Stunden bloß allein mit ihr gubringen. Ihr wißt nun, 
wie wenig man Briefe ſchreibt, wenn man jo was hat“ 


197 


Zuſtand, wie ich mir mein Elyflum benfe, immer im Genuß leben⸗ 
diger Harmonie; bis dahin, o könnt' ich bis dahin mein Herz ganz 
ſchweigen machen! Da ich bir neulich fchrieb, hofft! ich noch, daß 
is Könnte; nun Hoff’ ich nicht. mehr, will's nicht mehr verſuchen, 
aus Furcht, es ganz zu erſchlaffen, daß es nie mehr geftimmt 
werben könnte. Ich hab’ — bu. weißt'g — immer ein eben in 
der Zukunft geglaubt und gehofft. Ich hoff's und glaub’s nun 
mehr, als je, brauch's nım mehr, als je!" Glaubte er, fährt er 
fort, mit diefer Welt fei alles aus, fo würde er ſich ſchon längſt 
eine Kugel vor den Kopf gefchoffen haben; jegt aber komme ihm 
berjenige, ter fi} umbringe, wie ein Junge vor, ber aus der 
Schule hinanslaufe, und im andern Leben wieber von neuem be- 
ginnen müfle; überhaupt fange er an, fi eine Seelenwanderung 
zu denken, bie ihm lieb. ſei.“ „Mich dünft, wer ſtirbt, ehe 
er zur Liebe und zur Reinheit ausgefüllt ift, oder ehe er alle 
Freuden und Leiden der Welt getragen hat, muß wieber män- 
dern. — Das letzte aller Leiden ift, hoff’ ich, das größte — ge 
trennte Liebe, und dann bat meine Wanderung ein Ende“ Es 
ift, als ob eine trübe Ahnung feines baldigen Unglüdes ihn hier 
befchlichen hätte. Dagegen tritt am Ende bes Briefes wieder eine 
boffnungsvolle, Beitere Stimmung hervor. Er fragt Merd, den er 
ſchon im Briefe vom 3. Mai auf den Eommer zu ſich eingelaven 
hatte, wann er komme, worauf er fortfährt: „Ich habe vor, mein 
Heines Schlafſtübchen nad; und nad) tapezieren und mit Kupfern 
und Gipslöpfen beleben zu laſſen; denn Freude ſuch' ih, und ich 
finde wenig mehr; aber alles, was bie Stürme beſchwören, und 
meine Leere füllen kann, ift mir willlommen. Es ift noch was 
zwiſchen Freude, Leiden und Gleichgültigkeit; ich weiß nicht, wie 
ichs nennen foll, aber was es ift, weiß ich; das möchte ich gern 
erreichen; e8 ift fo etwas vom Kinderleben. Leb' wohl! das gönu' 
ich dir auch.“ 

"1784 erſchien Schloffer's erſtes uud im folgenden Jahte mit Beichung 
auf einige von ‚Herder gegen ihn gerichtete Dialoge fein zweites Geſpräch 
über bie Erelenwanderung“. 





198 


Aber der herbſte Schlag follte Schloffer kurze Zeit darauf 
genz unertvartet treffen. Seine geliebte Gattin, bie ſich allmäh- 
lich in die ungewohnte Einfamkeit ſchicken gelernt hatte, ftarb am 
8. Juni deſſelben Jahres (1777) Morgens um eilf Uhr im Wo— 
chenbette, nachdem fie ihm am 10. Mai eine zweite Tochter, Eli- 
fabeth Katharina Julie, welche zum Theil ver Großmutter ihre 
Namen verbankte, geſchenkt Hatte. Das Kind war erft acht Tage 
mad} der Geburt-getauft worden. Pfeffel meldet die Trauerfunde 
am 11. Iuni an Sarafin. „Die edle, gute Schlofferin,“ ſchreibt 
er, „ift num ganz ein Engel; geftern wurben ihre. vergänglichen 
Reſte dem Mutterfchoße der Erde übergeben. Weinen Sie eine 
Thräne auf den frühen Hügel, und denken Sie dabei an Haller's 
großen Gedanken: Kein Grab kann Geifter veden! Eine 
Trennung zweier Herzen, wie Schloſſer's und feiner Gattin, ift 
der furchtbarfte Schlag, den die Sichel des Todes verfegen Tann. 
Sie haben fie nur wenig gefannt, die rechtſchaffene Fran; Lerfe 
und id, beſonders Lerſe kannte fie näher, und in helleren Augen- 
bliden, als da fie kränklich bei Ihnen vorüberfhlih. Ich las mit 
meiner erften Klafje Young’s „Nachtgedanken“, als bie Nachricht 
einlief, und ein Donner Gottes fuhr in unfern Heinen Kreis, wo- 
von bie meiften Eleven vom vorigen Fahre her fie kannten.“ Auf 
Saraſin's Troftbrief erwiederte Schloſſer: „Mein lieber Freund! 
Ich dank’ euch), daß ihr mic bie Hand gereicht habt, da meine Wunde 
noch ganz frifh war. Es ift was Edles an dem Gefühl, daß 
brave Leute Theil an unferm Unglüd nehmen, das Gott neben 
das Leiden gelegt; wer ertrüg's fonft! Ich Tann und will nicht 
jagen, was id) verloren habe, aber daß ich nun ganz allein bis 
zu Grab wandern muß, das ift vor alles, was ich jagen kann. 
Ich mag mic nicht aus bein Befig meines. Schmerzens fegen; 
fonft ging ich mic zu zerſtreuen. Ich muß mic erſt gemöhnen 
an das Alleinfein. Gott laß Sie und Ihre Fran nie fühlen, 
was das iſt!“ Dieſe Zeugniffe zeigen beutlich genug," daß das 

' Nieolooius ©. 61 gibt irrig den 7. Juni an; das Begräbniß fand 
am 40. Juni ſtatt. 


199 


Verhalmiß zwiſchen beiden Gatten ein ſehr herzliches geweſen, 
wenn es auch nicht auf leidenſchaftlicher Liebe beruhte. „Die arme 
Schloſſerin,“ heißt es in einem Briefe von Merd aus dem Herbſte 
1777, „iſt feit drei Monaten in ver Emigfeit, und ihr Maun 
untröftlich. Sie ift im Kindbett geftorben, und hinterläßt zwei 

. Töchter. ‘Die eine. Gerod- (Antoinette, die fi fpäter bort mit 
einem Heren Ruff verheiratet und eine Kleinkinderſchule errichtet 
haben ſoll) führt die. Wirthſchaft. Sie haben gut zufanmen ge- 
lebt, obgleich ſie's nur getragen hat. Für ihm weiß ich feinen 
Rath, als bie Zeit, bie fo alles abthut.“ Lenz (ogl. oben ©. 88), 
den bie Todesnachricht tief ergriff, beſchrieb die Macht, melde 
Kornelia auf ihn geübt, in folgenden Berfen: 





Die hob mid) bas Gefühl auf Engelſchwingen 
Zu eblern Neigungen empor! 

Wie warnt’ es mich bei allzufeinen Schlingen, 
Daß ich nie meinen Werth verlor! 

Mein Schuggeift ft bafin, bie Gottheit, bie mich führte 
Am Rande jeglicher Gefahr, 

Unb wenn mein Herz erflorben war, 

Die Gottheit, die es wieder rührte, 

Ihr zart Gefühl, das jeden Mißlaut fplrte, 

Fitt auch fein Wort, auch keinen Blich 

Der nicht der Wahrheit Stempel führte. 

Ach, diefe Streng’ allein erhält das reinfte Glück, 
Und ohne fie find freundſchaftliche Triebe, 

If ſelbſt der höchſte Rauſch ber Liebe 

Nar Mummerei, die ung entehrt, 

Nicht ihres ſchönen Namens werth. 


Goethe wurbe durch bie unvorhergeſehene Todesnachricht, tie 
er am 16. Juni erhielt, gewaltig erſchüttert. „Um Achte,“ meldet 
er an biefem Tage an Frau von Stein, „war id in meinem Gar- 
ten, fand alles gut und wohl, und ging mit mir felbft, mitunter 
lefend, auf und ab. Um Neune ‘kriegt’ ich Briefe, daß meine 
Schwefter, tobt ſei. — Ich kann nun weiter nichts fagen.“ Ju 





200 j 


feinem Tagebuch ift der 16. Juni mit den bebeutfomen Worten 
bezeichnet: „Vrief des Todes von meiner Schweſter. Dunkler, zer -⸗· i 
riffener Tag“, und die brei folgenben Tage mit „Leiden und Träu- 
men“. Wohl mochte es ihn fehmerzlich berühren, daß er in der 
legten Zeit bie Schwefter vernachläffigt habe, umb ber Gevante 
ihn nieerbrüden, wie wenig Glüd ihr das Leben gebracht, wel- 
ches ihm felbft fo freundlich huldige; auch birfte er damals ven 
Entſchluß gefaßt haben, ihr Andenken zu feiern, wovon ihn aber 
die bewegten Berhältnifie und die ganz eigene Schwierigkeit ver 
Aufgabe abbrachten. Faſt vierzig Jahre fpäter (181Y,) äußert er 
in „Wahrheit umd Dichtung“. (B. 21, 15) in Bezug auf vie 
Schweſter: „Da ich diefes geliebte, unbegreifliche Weſen nur zu 
bald verlor, fühlte ich genugfamen Anlaß, mir ihren Werth zu 
vergegenwärtigen, und fo entftand bei mir der Begriff eines Dich 
terifchen Ganzen, in mweldem es möglich gewejen wäre, ihre In- 
dividualität darzuſtellen; allein e8 ließ ſich dazu Feine andere Form 
venfen, als die der Richardſon' ſchen Romane. Nur durch das ge- { 
naueſte Detail, durch unendliche Einzelnheiten,- die lebendig Alle 
den Charakter des Ganzen tragen, und indem fie aus einer wun- 
derſamen Ziefe hervorfpringen, eine Ahnung von dieſer Tiefe ge- 
ben, nur auf eine ſolche Weife hätte &8 -einigermaßen gelingen 
tönnen, eine Vorftellung viefer merkwürdigen Perfönlichleit mitzu- 
theilen: denn die Duelle kann nur gedacht werten, in fofern fie fließt. 
Aber von dieſem ſchönen und frommen Borfag z0g mid, wie von 
fo vielen anveren, der Tumult der Welt zurück, und nun bleibt mir 
nichtg übrig, als den Schatten jenes feligen Geiftes nur, wie durch 
Hilfe eines magiſchen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen.“ 


Nicht Träume, wie Biehoff (IT, 355. 360.) und Schaefer (1, 255) 
tefen. Auch iR unter jenem Träumen nicht mit Viehoff der Gedanke und 
Borfag zu verſtehn, ver Schweſter eine ihrer würbige Darflelung gu 
widmen, vielmehr verfegte der Dichter fih träumeriich iu die fehönen mit 
jener verfebten Tage zurück und erging fih in wunderbaren Gebaufen über 
das Zenfelts. Erft in den folgenden Tagen fonnte ihm der Eutſchluß kom- 
men, ihr Andenken zu feiern. 


2a 


In ſeinem tiefen. Schmerze durfte Goethe jetzt bei Frau 
von Stein auf ihrem Gute Kochberg Troſt ſuchen, wohin er 
-im vorigen Jahre um dieſe Zeit. nicht hatte kommen dürfen. 
Zwölf Tage nad) dem Empfang ver Todesnachricht ſchreibt er an 
die Mutter: „Ich Tann Ihnen nichts fagen, als daß mir der Tob 
der Schweſter sur befio fehmerzlicher ift, da er mich in fo glikl- 
lichen Zeiten überrafcht, da das Glüd fid gegen mich immer gleich 
begeigt. Ich kann nur menfchlic fühlen, und Laffe mich ver Na- 
"tur, bie ums heftigen Schmerz nur kurze Zeit, Trauer lange em- 
pfinden läßt. Leben Sie glüdlih, forgen Sie für des Baters 
Geſundheit; wir find nur einmal fo beifammen.“ Wir finden ihn 
bald darauf im herzoglichen Schlofle Dornburg, wohin er ſich im 
Jahre 1828 nad) dem Tode des Großherzogs auf einige Zeit zu- 
rüdzog; dann macht er mehrere Beſuche auf Kochberg hei den Kin- 
dern der Frau von Stein. Am 17. Juli wendet er ſich wieder 
einmal an feine Auguſte Stolberg, bie ihm ans ihrer Ruhe in. 
die Unruhe tes Lebens einen neuen Laut herübergegeben hat. ' 


„Alles geben bie Götter, bie unendlichen , 
Ihren Lieblingen ganz, ' 

Alle Freuden, bie unendlichen, 

Ale Schmerzen, die unendlichen, ganz. 


So fang ich neulich, als ich tief in einer herrlichen Mond⸗ 
nacht aus dem Flufſe flieg, der vor meinem Garten durch bie 
Wieſen fließt; und das bewahrheitet ſich täglich an mir. Ich muß 
das Glüd fir meine Liebfte erkennen; bafür ſchiert fie mid; auch 
wieber, wie ein geliebtes Weib. Den Tod meiner Schweſter wirft 
du wiffen. Mir geht in allem alles erwünſcht, und Ielbe allein 


A. von Binger (in der Anmerkung zu dem Briefe) gibt irrig bei 
16. Juli als den Tag der Todesnachricht an. Auch die Vermuthung, daß 
die vier Verſe am 46. Juli (Iuni) eutftanden feien, iR haltlos, bei der 
Aunapme des Juli unmöglich vicptig, wie die Worte: „Co fang ih neu 
Lig" geigen. her iR wohl an die dem 16. Juni vorangegenen Tage, 
vom 12. an, zu benfen, 


202 


nm andere.“ Wie erfhütternd mußte das Unglüd ber Schwefter, 
bie gerade geftorben war, als ein behaglicheres, zufriebeneres Reben 
für fie möglich zu werten ſchien, als Schloſſer's Ernſt vor ihrer 
heitern Milde ſich aufzufliren ſchien, wie erſchütternd mußte ihr 
Unglüd im Gegenfage zu feinem unendlichen Glücke ſich vor feine 
Seele drängen! Der nädfte Geburtstag ber Schweſter fand ihn 
auf der Harzreife in Mlausthal, von wo uns ein Tageblatt‘ in 
den Briefen an Frau von Stein erhalten ift, welches zeigt, wie er 
> am biefem Tage der hingegangenen Sornelia und feiner Jugend in 
fehnfüdtiger Wehmuth gedachte. „Seltfame Empfindung, aus. ber 
Reichsſtadt, die in und mit ihren Privilegien vermodert, hier her⸗ 
auf zu kommen, wo vom unterirdiſchen Segen die Bergftäbte fröh- 
lich nachwachſen. — Geburtstag meiner abgeſchiedenen Schwefter.“ 
. As Schloffer im folgenden Jahre (1778) die gemüthliche, 
veich gebilbete, edle Johanna Fahlmer heimführte — die Bermäh- 
Tung erfolgte am 24. September —, bat der Oheim bes Dichters, 
Schöff Dr. Tertor, diefen um ein Hochzeitsgedicht. Die Mutter 4 
aber ſchrieb darüber an Seidel, am 7. September 1778: „Da 
ich nicht glaube, daß euer Herr dazu Zeit und Laune hat, fo 
tragt entweder es einem.anbern dortigen Poeten auf ober macht 
ihr euch dran! — Wenn aber alles nicht anginge, jo meldet es 
bei Zeiten, damit bie hiefigen Poeten ihren Begafus befteigen kön⸗ 
nen.“! Und freilich hatte die Mutter das wunderſame Gefühl des 
Sohnes richtig vorempfunden, der früher, als er bie erfte Nach- 
richt von dem neuen Bunde vernommen, ihr geantwortet hatte: 
„Sagen kann ich über die ſeltſame Nachricht Ihres Briefes gar 
nichts. Mein Herz und Sinm- ift zeither ſo gewohnt, daß bas 
Schickſal Ball mit ihm fpielt, daß es für's Neue, es fei Glüd 
ober Uinglüd, faft gar Fein Gefühl mehr hat. Mir iſts, als wenn 
in ber Gerbftzeit ein Baum gepflanzt würde. Gott gebe feinen 
Segen dazu, daß wir einft barımter figen, Schatten und Früchte 


Bal. Jacob a. a. O. 
2 Im November 1777. Bgl. Riemer IT, 31. 


23 


haben mögen! Mit meiner Schwefter ift mir fo. eine ſtarle 
Wurzel, vie mic an ver Erde hielt, abgehauen worden, daß bie 
Hefte von oben, die davon Nahrung haben, auch abfterben mäffen. 
Will ſich in der lieben Fahlmer wieber eine neue Wurzel» Theil- 
nehmung und Befeftigung erzeugen, fo will ich and; mit euch den 
“Göttern banken. Ich bin zu gewohnt, won bem um mich jego zu 
fagen: Das ift meine Mutzer und meine Geſchwiſter! 
(Matthäns XU, 49.)' Bas end) betrifft, fo fegnet Gott! denn 
ihr werbet aufs neue erbaut in ber Nähe, umb der Riß ausge: 
beſſert.“ An Johanna Fahlmer felbft, die ihm ihre mit Schloffer 
einzugehenbe Verbindung gemelvet, hatte er folgendes, fein tiefes 
und feines Gefühl ehrendes Schreiben im November 1777 gerich- 
tet:? „Gott fegne dich, und laſſe Dich Iang leben auf Erden, wenn 
dir's wohl geht! Mir iſt's munberli auf. deinen Brief: mich 
frent's, und ich kann's noch nicht zurecht legen. Ich bin ſehr ver- 
änbert; das fühl’ ich am meiften, wenn eine fonft befannte Stimme 
zu mir fpridt, ich eine fonft bekannte Hand ſehe. Daß du meine 
Schwefter fein kannſt, macht mir einen unverfchmerzlichen Berlaft 
wieder nen; alſo verzeihe meine Thränen bei deinem Glück! Das 
Schicfal habe feine Mutterhand über dir, und halte di fo warm, 
wie's mich Hält, und gebe, daß id; mit dir Freude genieße, die 
es meiner armen Erſten verfagt hat! Lebe wohl! grüße Schlofjer 
und fag’ was Leidliches rigen (Iacobi)! Ich bin gar ſtumm!“ 
Auf der Reife nach der Schweiz kam Goethe mit dem Herzog 
am Abend des 27. September in Emmendingen an, von wo er 
am folgenden Tag an Fran von Stein ſchreibt: „Gier bin ich nuu 
noch am Grabe meiner Schwefter; ihr Haushalt ift mir wie eine 





4 Gr muß fich an hie ihm gegenwärtigen Weimarer Berhäitniffe Halten, 
die. ihn ganz in Auſpruch nehmen, während die Eitern einen ſolchen Zus 
mache ober vielmehr eine folde Herftellung der in der Verwandtſchaft ein» 
getreteuen Rüde mit mehr Antheil betrachten könuen. 

2 Vgl. Goethe's Briefwechfel mit Jacobi S. 24, wo aber der Brief 
irrig ala nad) der Vermäͤhlung gefcrieben bejeihnet wird. Schöll zn den 
Briefen an Fran von Stein I, 247 Hat den Irrthum wiederholt. 


20 - 


Tafel, worauf eine geliebte Geftalt fland, die nım weggelöfcht.ift. 
Die an ihre Stelle getretene Fahlmer, mein Schwager, einige 
Freundinnen (Antoinette und Katharina Gerod?) find mir fo nah, 
wie ſonſt. Ihre Kinder find ſchön, munter und gefund.” An 
Merk melvet er fpäter von Bern aus: „In Emmendingen alles 
recht gut; hinter Freiburg in die Hölle, einen guten Tag mit 
Schloffer’s und den Mädels.” Eben jo zufrieden äußert ſich Schloffer 
an Merk: „Daß der Herzog von Weimar, Goethe und Wedel 
bei uns waren, werdet ihr von ber gülen Frau Aja ‘ gehört babe. 
Ich habe mich Goethe's wieder vecht gefreut. Des Herzogs auch 
um beiver willen. Aud Wedel’. Das ift ein reiner, geraber 
Mam, ver uns ſehr lieb worden ift. Der Herzog verdient Goethen 
zu haben und Herzog_ zu fein.“ Es war ein eigenes Spiel bes 
Kornelien fo unholden Schidſals, daß der Bruder von Frieberifen 
und Lili, bie er im beften Behagen fand, zum Grabe ver Schwe- 
"fer wallfahrten mußte, bie Tröfterin und Beratherin in feinen 
Xiebesleiven geweſen war; eine fromme Schuld war eg, bie er ber 
trauteften Freundin und Gefpielin feiner Jugend zu zahlen hatte, 
ehe das Leben ihn nad) neuen Richtungen hinzog. Auf Kornelia's 
Grabe fehen wir ihn das Weiheopfer feiner entſchwundeuen Jugend 
bringen; ex hatte eben das dreißigſte Lebensjahr vollendet. 

Im weitern Berlaufe feines Lebens vermied es der Dichter 
aus frommer Schen, ven’ Namen Kornelia's zu erwähnen, der in 
feinem Herzen fo jehnfüchtige Erimerungen wedte. Aber bei ven 
Weiheftanzen zu feinem „Fauſt“ ſchwebte ihm aud ber geliebten 
Schweſter Bild vor ber. Seele, und als er im Yahre 1809 mit 
den Vorarbeiten zu feiner Lebensbeſchreibung begann, mußte feine 
Erinnerung ſich biefer wieber beſonders zuwenden. Die fchöne 
Schilderung Kornelia's im fechsten Bude von „Wahrheit und 
Dichtung“ gehört dem Jahre 1811 ober dem folgenden an. Als 
aber Goethe in feinen letzten Lebensjahren ver Vollendung von 
„Wahrheit und Dichtung" · entgegenarbeitete, da gab er, ohne ſich 


Ederyname für Goethes Mutter. 


205 


der frühern Schilderung zu erinnern, eine nehe Ausführung über 
feine Schwefter, welche aus einer weniger lebendigen Erinnerung 
hervorgegangen ift, als die frühere (B. 22, 343 ff.). Nach dem 
Tode ihrer, Tochter Luiſe ſchrieb er (am 20. Oktober 1811) an 
deren Gatten Nicolovins: ' „Wenn fie bei fo viel liebenswirbigen 
und edlen Eigenſchaften mit der Welt nicht einig werben konnte, 
fo erinnert fie mid an ihre Mutter (Kornelia), deren tiefe und 
zarte Natur, deren Über ihr Geſchlecht erhabener Geift fie nicht 
vor einen gewiffen Unmuth mit ihrer jedesmaligen Umgebung 
ſchützen konnte. Olgleich in der Ietten Zeit fern von ihr und nur 
durch einen feltenen Briefwechſel mit ihr verbunden, fühlte ich 
doch diefen ihren ver Welt kaum angehörigen Zuftend fehr lebhaft, 
umb ich ſchöpfte daraus bei ihrem Scheiden zunächſt einige Be- 
ruhigung.“ Die jüngere Tochter Julie war bereits im Jahre 1793 
geftorben. „Eigentlich follte ih Schloſſer'n (in Karlsruhe) befuchen“, 
äußert Goethe aus dem Lager bei Marienborn am .7. Juli 1793 
an Jacobi; ’ „ich fürchte mich aber davor. Seine eine Tochter ift 
tödtlich Frank, und es wäre mir entjeglih, meine Schwefter zum 
zweitenmal ftechen zu ſehn. Meine Mutter hat mir Briefe von 
tem Kinde gezeigt, bie höchſt rührend find.” Zwölf Tage fpäter 
ſchrieb er: „Mit Schloffer'n werd’ ich in Heibelberg zuſammenkom ⸗ 
men, id) weiß noch nicht, wann? Die arme Julie ift indeß ab- 
getreten.“ Und mad) ter Zufammenkunft mit feinem Schwager 
bemerkt er am 11. Auguft: „Mit Schloffer'n brachte ich in Heibel» 
berg einige glüdfiche Tage zu; e8 freut mic ſehr, und ift ein 


! Bl. Nicolovins €. 202 f. Cr hatte fie nur als ein» und fpäter 
ala zweijägriges Kind gefehen, nicht, wie Goethe felö behauptet, niemals. * 

2 Der Austin abtreten FR einer ber Euphenilemen, welche Goethe 
zur Begeichuung des Abſche ide ns von der Erbe fpäter liebte. Der Gedaute 
an den Tod war feiner Natur, welche überall eine faßbare Sortentwidlung 
verangte, ſtets zuwider, wenn er fih auch nicht vor dem, was „hinter 
dem Dorhanger liege, gerade fürdtete. So beheichnete er Fury vor feinem 
eigenen Hinſchelden deu Tod des auf der Reife verfiorbenen Sehnes ale 
Außenbleiben. Bel. unten €. 408. 


geoßer Gewinuft für mid, daß wir uns einmal wieder einander, 
genähert haben“, wonach unmöglich ein ſolches Mißbehagen zwifchen 
beiden Freunden hervorgetreten fein fan, wie e8 Goethe in der 
„Belagerung von Mainz" (B. 25, 266 f.) mit offenbar zu ſcharfer 
Bezeichnung ihrer ſich entgegenftehenden Anſichten darſtellt. Es war 
das letztemal, daß beide ſich ſahen. Echlofier ftarb ſechs Jahre 
fpäter in feiner Vaterſtadt, wohin er, einem höchſt ehrenvollen 
Rufe folgend, ein Jahr früher aus feiner Eutinifchen Ruhe zuräd- 
gelehrt war. B . 

Auf dem Emmenbinger Kirchhofe, an welchem der fener- 
ſprühende, dampfaufwirbelnde Eifenbahnzug gang nahe, nur duch 
wenige Schritte einer Gartenanlage getrennt, vorbeieilt, Liegt bie 
arme Kornelia einſam und ollein; aud ihr Gatte hat fie verlaffen, 
um in heimiſchem Boben zu ruhen. Die Schloffer’iche Familien- 
geuft ift vor mehr als dreißig Jahren bei der Vergrößerung des 
Kirchhofes umgegraben worden; feine Spur beutet mehr auf die 
Stelle, welche die theuren Reſte wahrt. Auch Schloſſer's Ruhe- 
ort bezeichnet fein Denkmal, da die Eeinigen glaubten, dem Sinue 
reiner Demuth, welcher den Verewigten befeelte, vurd eine ſolche 
Bezeichnung zuwider zu handeln. Goethe's Gebeine dagegen ruhen 
hochgeehrt in der Weimarer Fürftengruft auf dem neuen Kirchhofe, 
nahe. bei Schiller's, Karl Auguſt's und feiner trefflihen Gemahlin 
irbifchen Ueberreſten, zu ewiger Erinnerung. Aber mag auch das 
unholde Schickſal, welches Kornelien noch im Grabe verfolgte, 
ihren Ruheort der Kunde ver Menſchen entzogen haben, in dem 
reichduftenden Kranze, welcher die Schläfe des deutſchen Dichter- 
fürften umwindet, prangt auch der Schwefter Lilienblüthe in unver- 
gänglihem Glanze, und ihr Name wird mit wehmüthiger Ver— 
ehrung fo lange gefeiert werben, als deutſche Dichtung Herzen 
rühren und erfreuen wirb: benn fie war e8, bie als des geliebten 
Bruders freundlicher Schußgeift in den gefährlicften Entwicklungen 
feines gequälten Herzens um ihn waltete, die ihn in den ärgften 
Bebrängniffen emporhob, mit unausſprechlich füßer Labung den 
faft Verſchmachtenden erquidte, deren Liebe friſchen Lebensodem in 


207 

feine Seele goß. Und die Liebe zu ihr ift in’feinem Herzen nie 
erlofchen, wenn er auch, ftetS dem Gegenwärtigen mit aller Leb⸗ 
haftigfeit feines vollen Dafeins Hingegeben, felten feinen Blick 
zu der früh Vollendeten zurüchwenben mochte, beren Bil, gleich 
dem mildblickenden Abendſtern, fein. ganzes Jugendleben mit allen 
feinen Freuden und Leiden, feinen Strebungen und rrmgen 
ahnungsvoll in feiner Eeele aufregte. 


u. 


Anna, Sibplla Münch. 


Wenn wir hier einen bisher in der Goethelikteratur nicht er- 
ſchollenen Namen in das Leben. unferes Dichters einführen, fo 
glauben wir damit nur eime Pflicht zu erfüllen, welche bie Nach- 
welt dem Andenken eines eblen, reizenden Mädchens ſchuldet, das, 
wenn auch nur auf kurze Zeit, die zärtliche Neigung unferes Dich- 
ters feflelte, und auch nod in feinen fpäteften Lebensjahren als 
„die Mäßige, Liebe, BVerftändige, Schöne, Tüchtige, fi immer 
Gleiche, Neigungsvolle und Leivenfhaftslofe" feinem Geifte vor- 
ſchwebte.“ Mit ihrem Namen bat Goethe fie nicht bezeichnet, 
auch nicht einmal ,mit ihrem Vornamen, wie Aennchen, Friederilen, 
Lotten und Pili, mag er nun beffelben ſich nicht „mehr erinnert 
ober ein anderer Grund, etwa baf feine Leipziger Geliebte, ſchon 
als Aennchen bezeichnet ift, ihn dazu. beftimmt haben. Jedenfalls 
verbient auch fie eine namentliche Erwähnung im Kreife derjenigen 
Frauen, denen Goethe's Herz zugeneigt war. 

Der Sommer des Jahres 1773 war ber erfte, welchen Goethe 
jeit dem Jahre 1769 in Frankfurt verfebte. Die Schwefter, be 
reits an Schloſſer verlobt, hatte einen Kreis von gebildeten Frauen- 

" Zimmern um ſſich verfammelt, an dem Goethe's freunde ſich 


Boal. B. 22, 318. 


209 


gern betheiligten, um wie im Winter am allen Dinstagen zu 
größeren Abeudgeſellſchaften, fo im Sommer zu freundlichen Luft- 
fahrten und Tänblichen Vergnügungen ſich zu verbinden, denen ber 
Bater jetst auch nicht mehr, wie früher, entgegen fein konnte. Zu 
diefem reife gehörten Goethe's Freunde Horn, Riefe, Exespel, 
Crespel's Schweſtern und die Gerochs, beren ſchon im vorigen 
Aufſatze Erwähnung geſchehen. Auch Johauna Fahlmer, die von 
Duſſeldorf nach Fraukfurt herübergezogen war (vgl. S. 180 Note), 
wird ſich, als genaue Belannte des Geroch ſſchen Hauſes au dieſen 
Geſellſchaften betheiligt haben. Im Jahre 1773 müſſen auch Fr. 
H. Dacobi's Gattin Helena Eliſabeth (Betti) und deſſen ältere 
Halbſchweſter Charlotte Katharina, die eben aus einer Erziehungs⸗ 
anſtalt zurüd war, in Frankfurt gemejen und unferm Dichter be- , 
kannt geworben fein, von denen legtere auch an jenen gefelligen 
Bergnägungen muntern Antheil nahm. Goethe erzählt in „Wahr- 
heit und Dichtung", bei Gelegenheit des erften Beſuches bei Jacobi 
im Juli 1774, wie ihm, zuerft durch Johanna Fahlmer eine Ahnung 
von dem Werthe des Jacobi'ſchen Kreiſes aufgegangen (B. 22. 
214 f.). „Die Treuberzigkeit der jüngeren Iacobijhen Schweſter 
(ver ältern Halbſchweſter), die große Heiterkeit ver Gattin von 
Fritz Dacobi leiteten unfern Geift und Sinn immer mehr und 
mehr nad) jenen Gegenven. Die letztgedachte war geeignet, mich 
völlig einzunehmen: ohne eine Spur von Eentimentalität, richtig 
fühlend, fi munter ausbrüdend, eine herrliche Niederländerin, 
die, ohne Ausdruck von Sinnlichkeit, duch ihr tüchtiges Wefen an 
Rubens ſche Frauen erinnerte. Genannte Damen hatten bei län—⸗ 
germ und fürzerm Aufenthalt in Frankfurt mit meiner Schwefter 
die engfte Verbindung gefnüpft, und das ernfte, ſtarre, gewiſſer⸗ 
maßen liebloſe (?) Weſen Korneliens aufgefchloffen und- erheitert.“ 
Aus dem kurzen, in Folge jener Belanntfchaft eingeleiteten Briej- 
wechfel zwiſchen Goethe und Betti Jacobi ergibt fi), daß letztere 
einige Monate vor ihrer Nieberkunft (im Oftober 1773) mit Char- 
lotte auf kurze Zeit in Frankfurt war, doch ihrer nahen Nieder⸗ 
kunft wegen an jenen Geſellſchaften ſich nicht —— Fr. Jacobi 


ODander, allen 


210 
ſchreibt am 30. Auguft 1773 an Fran von In Rode, er babe 
ſich entfchlofien, feiner. Betti, Adelaiden (Johanna Fahlmer) 
und Charlotten bis Koblenz entgegenzureiſen, und ein paar Tage 
vor dieſen bei jener Freundin einzutreffen, und am 30. Septem⸗ 
ber damit Wieland Jacobi für deſſen ihm zugeſchicktes kleines 
Tagebuch über feinen Aufenthalt bei Frau von Ia Roche, wonach 
die Abreife von Frankfurt in den September fällt. ' Johanna 
Fahlmer Heißt in dem Briefwechfel Tante ober Täntchen.“ 
„So kurz ich Sie auch gefehen habe,“ bemerkt Goethe im erflen 
dieſer Briefe, „ift mir's doch ein fo ganz lieber Eindruck Ihrer 
Gegenwart,- und daß Sie mid; noch ein bißchen mögen.“ Nach 


! Die Bemerfung Goethe's in einem Briefe an Betti vom 3. Noyember 


» 4773, Eharlotte und Johanna Fablmer würden ihr von ihnen und ihrer 


Wirthſchaft erzählt Haben, die bunter und monstoner fei, als eine Chinoiſe, 
{önnte zu der Meinung verleiten, Seide feien länger, als Betti in Sranffurt 
gurüdgeblieben. Aber zur Erklärung des Worte genügt vollfemmen der Um- 
Rand, daß Betti gepindert war, an den heiteren Luſtfahrten Theil zu nehmen. 

? Cie it auch gemeint im Briefe der Miftter Goethes an Erespel 
vom 5. Sannar 1777 (Wagner ſchreibt HIT, 447. 375 irrig Gorspel), 
wo es heißt: „Ente Grüße an die Mar (Brentano), Tante, Gerod's 
Habe wohl ausgerichtet. Gie haben euch alle fammt und fonders lich und 
werth, nud wünfcheten, daß ihr wieder ba wäret.“ Aehnlich änfert dies 
jelbe in’ einem frähern Briefe an Grespel (vom 4. Februar 1777) bei 
Daria Belli „Meine Reife nach Eonftantinopel® S. 323, befonders Juugfer 
Faplmen, Mar Brentano und bie Geroche liefen ihn grüßen. 

3 Der Herausgeber hat die Beranlaffung tiefes Briefe oder vielmehr 
dleſcs -Bilfets wicht verſtanden, wenn er S. VII meint, der erfte voran 
gegangene Brief Goethes fehle. Vielmeht ſchrieb Goethe dieſes Billet 
furg vor der Abreife Vett’s von Frautfurt, von der er bereits Abſchied 
genommen hatte. Diefer hatte er beim Abſchiede uoch verſprochen, das 
von ihr verlangte Märchen zu ſchicen; ba er biefes aber nicht finden Fonnte, 
fandte er ſtatt deffen Wanderers Sturmiled. Auch die Worte: „Beben 
Siens ver In Moche nnd leben Sie recht Herzlich wohl!“ erklären fh fo, 
da Betti auf ihrer Rüdreife bei Bran von fa Rode einſprechen follte. 
Gegen die Annahme von Deyds (Br.”H. Jacobi im Verhältniß zu feinen 
Zeitgenoffen, befonders zu Goethe ©. 33), der Brief fei nach Thalehren- 
reittein gefiprieben, forlit der game Charakter des Billete, das nicht 
als ordentlicher Brief gelten Fann. 





211 
der Verheiratung der Schweſter · und Vetti's Niederkunft ſchreibt 
dieſer: „ME dem lieben Bilbchen wohl? und wit heißrs?* 
Im der Antwort, welche Betti der Tante in die Feder diltirt, be⸗ 
klagt fie ſich ſcherzhaft, daß ‚die Gerod’s ihr noch nicht Gluck ge⸗ 
wunſcht, weshalb dieſes Schreiben auch nur „dem böſen Menſchen 
mit dem guten Herzen gelte, welcher brave neue Bekanntſchaften 
nicht fo ehrenrührig behandle und aufer Acht laſſe“, worunter na⸗ 
tirlich niemand als Goethe gemeint ift. „Die. Mädchen thun nicht 
wohl“, fährt fie fort; „wenn ich wieder nach Fraukfurt komme, 
fo bin ich ſchlank, raſch, munter, und kann hübſch ohne Hrn. Dok⸗ 
tor’ (Goethes) Arm gehn; dann merben fie mich gerne haben, 
umd ih fage: Ich will num aud nit; laßt mid bei lieb 
Großmama (Frau Clermont, die zur Meßzeit mit ihrem Gat- 
“ ten, Johann Adam Clermont, in Frankfurt war) ſitzen!“ Weiter 
ſchreibt fie, fie habe am OHochʒeitstage der Schweſter dieſer einen recht 
ſchönen Segen beim lieben Gott ausgemacht. „Sagen Sie das 
Ihrer lieben Schweſter, und daß ich noch immer mißvergnügt bin, 
daß fie zu Darmſtadt tanzen mußte, während. ich zu Frankfurt 
herumſchliche.“ — Und was habe id, für mein Schleichen? An— 
ſtatt eines holden Mädchens einen großen, ftarken Zungen.“ Anı 
legten Tage des Jahres verfichert Goethe ſcherzhaft, daß er einige- 
mal auf dem Sprunge geftanden habe, ſich zu verlieben, und ex 
klagt, daß von den drei, vier Paaren, bie er ſeit dreiviertel Jah- 
ven verheiratet habe, ihm noch niemand gute Hoffnung melveu 
wolle, ‘und in demſelben Briefe bemerkt er, er habe deshalb Lotten 
nicht To im Detail Zug fir Zug portraitiren können, wie ber 
Maler, der fie gezeichnet Hatte, weil er in'd Ganze fo verliebt 


"Wenn es darauf heit: „Meine Wette ſodaun, Uebe Iran, meine 
Wette!“ fo deuteten diefe Worte wohl auf Goethes ſcherzthafte Voraus- 
fagung eines Knaben bin, während Bettl fich ein Mädchen gewünſcht Hatte. 

2 Wahrfcjeintich bei einem befondern Feſte, welches die Darmfähter 
Fremde ihr bereitet hatten. Won dem heitern Darmiädter Lehen im 
Binter 1773 redet Mer im Briefe an feine Gattin bei Wagner II, 85. 
On. danse ü tout moment, ſchreibt er. 


x 


22 


fei, und Gott gewollt habe, daß ein Liebhaber ein ſchlechter Beob⸗ 
miter jei. Eine gewiſſe Neigung' zu Charlotte ſcheinen die Briefe 
9 verrathen; er läßt dieſe wiederholt gegen und fragt bei Jo— 
hanna Fahlmer an, ob es wahr fei, daß fie biefe bei ihrer Rück- 
Ice (um Oſtern) nach Frankfurt wieder mitbringe. „Ich mag 
ige wohl mandmal eimas- vorplaubern", ſchreibt er; „Sie wiffen 
ja, wies geht, wenn ich in's prophetiſche Raboticen komme.“ ' 
Aus den angeführten Stellen und der ganzen Haltung biefes kurzen 
Brie wechſels erfieht man recht deutlich, ein wie heiterer umb, freier, 
faft muthwilliger Ton in dieſem reife herrſchend war. 

Es ift nicht ganz unwahrſcheinlich, daß auch Sophie von la 
Rode umd deren Tochter Marimiliane Euphrofyne (um die ſich 
I ©. Jacobi bemüht hatte) ſich im Sommer-1773 einige Zeit 
in Frankfurt aufgehalten, und daß während ihrer dortigen An- 
wefenheit die Verbindung ber .legtern mit Brentano- eingeleitet wor- 
ven, worauf-man bie Aenferung Goethe's in einem Briefe an 
Bette Jacoli aus dem Februar 1774 deuten Tann: „Ich fühle, 
daß id) ihe (ber Frau von la Rode) weit mehr bin, fie mir weit 
mehr ift, als wor zwei Jahren (im Herbft 1772 hatte ex fie näher 
kennen lernen), ja als vor'm halben Jahr.“ ? Hiernach wir- 
den auch diejenigen Perfonen, welche zur Verheiratung Brentane’s 


* Diefen umbatisten Brief Hat der Herausgeber zwiſchen zwei Briefe 
vom November nnd Dezember 1773 gefeht, während er im Bebruar oder 
Märg 1778 geſchrieben feheint. Goethe zeigt nämlich der Freundin an, " 
daß ſeine Barge gegen Wieland vor kurzem gebrudt worden, wovon er fie 
uerſt benachrichtigen will. Die Barze fepeint aber im Februar oder März 
4774 erfienen zu fein; denn Reffing fragt unter dem 20. April 1774 
feinen Bender, ob er fie gelefen habe. Wieland zeigte fie tm Juuiheft 
des „Merkur“ an. Wagner irrt, wenn er unter ben von Höpfner Nicolai 
angebotenen Puppenfpielen Gorthe's im Briefe vom 26. Juli 1774 us 
die darze auf Wielaud verſteht (IE, 101). 

2 Der Brief, der nad dem Herausgeber „etwa im Febtuar 1774% 
gefchrieben fein fol, gehört ſicher der erken Woche diefes Monats an; 
denn. bie dritthalb Wochen, die fie, wie Goethe ſchreibt, bisher herume 
gefhmwärmt haben, find vom 45. Januar an zu reinen, an welchem Tage 
die Nenvermäplten nach Branffurt Famen. 


213 
beigetragen hatten, ſchon im Jahre 1773 mit Goethe in Berbin- 
bung getreten ſein, unter benen in „Wahrheit und Dichtung 
(8. 22, 169) beſonders Dumeir, Frau Gerviere (bei Goethe 
ſteht Servieres) und bie fehr reiche, init’ Brentano verwandte 
Tatholifcde Familie des Kaufmanns Franz Maria Echweizer her- 
vorgehoben werben, der eine geborene Allefina -(fo ift der Name 
au ſchreiben) zur rau hatte, in beffen prächtigem, auf ber Zeil 
fiegendem Haufe, ' dem jegigen Ruſſiſchen Hofe, ein, höchſt heiterer 
Ton beſonders unter den Frauenzimmern herrſchte. „Der Dechant 
von St. Leonhard Dumeig faßte Vertrauen, je Freundſchaft zu 
mir. „Er war ber erfte katholiſche Geiftfiche, mit bem ich in nähere 
. Berührung trat, und ber, meil er ein fehr hellſehender Mann 
war, mir über den Glauben, die Gebräude, die äußern und 
innern Verhälmiffe der älteften Kirche ſchöne und hinreichende Auf- 
ſchlliſſe gab.“ Damian Friedrich Dumeir? mar Dechant am Tat- 
ſerlichen Kollegialftifte zu St. Leonhardi, wo er aud wohnte 
(feit 1778 Kapitular am Taiferlichen Wahl- und Krönungsſtift St. 
Bartholomäi), auch fürſtlich Stabloiſcher Geheimerath, ein auf- 
gellärter Mann und ein ſehr liebenswürdiger Gefellichafter, doch 
lebte er fehr eingezogen, auf einen Heinen Kreis’ befchränft; täglich 
befuchte er Frau Serviere, durch die er bei Brentano eingeführt 
ward. Im feinen legten Lebensjahren erblinvete er, und ftarh bei 





"Del. © 23, 38. 26, 19. 35. Marta Bei X, 12 * 

2 So ſchrieb er ſelbſt feinen Namen, und fo ſchreibt auch Goethe im 
Briefwechfel mit Jacobi S. 18 und ſelbſt in der erſten Ausgabe von 
„Wahrheit uud Dichtung“, wo man jegt Dumeig lie, Dumeig, ſpäter 
Dumeiz geben die Srauffurter Staatskalender. Dumeiz läßt Wagner in 
der Sammlung Merdifcer Briefe I, 30. III, 22 f. 86 druden. In Wie- 
lands „ausgewählten Briefen“ HIT, 51 nennt Wieland den Dechant du 
Derz. in drautfurt feinen Sreund, wo offenbar du Meiz zu leſen iſt. Auch 
der von Bettine in einem Briefe vom Auguft 1808 (Briefwerhfel mit einem 
Kinde I, 310 f.) genannte Probſt D’umde iſt wohl biefelbe Verſon; denn 


Dumeir war fpäter Probſt in Erfurt. Er fol 1810 geflorben fein;. doch 


dürfte man nach dieſem Briefe genötigt fein, feinen Tod zwei Jahre früher 
gu fehen, wäre Bettine überhaupt zuverläffiger. 
14* 


- ji 


214 


Verwandten in Mainz. Goethe hatte ihn durch Mer ſchon im 
Sabre 1771 Iennen Iernen, wo er auch zuerft mit Fran von Ia 
Rode zufammentam. * frau Serviere bezeichnet Goethe als eine 
wohlgebifvete, obgleich nicht junge Frau, deren Geftalt ifm noch 
genau erinnerlid) fei, ohne Zweifel dieſelbe, die im Briefe Goethe's 
an Betti Yacobi aus dem Anfange Februar gemeint iſt.“ Frau 
Maria Johanna Serviere, geborene Togny=Delfance aus Fran 
furt, war eine fehr geiftreiche, angenehme, ‘aber ernfte rau, zur 
Zeit, wo Goethe fie fennen lernte, zwei- ober breiunbvierzig Jahre 
alt. Ihr Gatte ſtammte aus Lünel bei Montpellier, wo er in 
einem Schloffe eine bedeutende Parfümeriefabrik befaß; nur zu ben 
beiden · Meſſen fam er jährlich auf einige Wochen nach Frankfurt, 
wo feine Frau allein das ganze Geſchäft führte, Eben Hatte ex 
feine Gattin und feine Töchter — ihre Ehe war mit drei Töch- 
tern.und zwei Söhnen gefegnet — mit nad) Lünel genommen, um 
ihnen feine Anlagen zu zeigen, als bie franzöſiſche Revolution aus- 
brach; er mußte die Zerſtörung feiner Fabrik und feines ganzen 
dortigen Beſitzthums anfehn, und rettete kaum fi und feiner 
Familie das Leben. Dies Unglück überlebte er nicht lange; feine 
Frau, führte noch einige Zeit das Gefchäft, welches fie dann ihrem 
Schwiegerfohn Denant übertrug. Sie ftarb am 8. Dezember 1805, 
vierundſiebzig Jahre und acht Monate alt. 

Auch der damals zweiunddreißigiährige Seibenfabrifant und 
Komponift Johann Andre in Offenbach nebft Gattin gehörte zu 
"dem mit Goethe befreundeten Kreife. Er hatte damals ein -Sing- 
fpiel „ber Töpfer“ komponirt, weldes am 29. Oktober 1773 zum 
Beſten wohlthätiger Stiftungen aufgeführt warb (Maria Belli VI, 38). 
„Der Töpfer ift hier mit großem Beifall aufgeführt worden,“ 
fchreißt Goethe am 3. November 1773 an Betti Iacobi. „Daß 
aber je feine Freude vein fei, will ver Verlag feiner Partitur 
nicht ans der Stelle.“ Eine günftige Anzeige. beffelben brachten bie 








Bsl. Wagners Sammlung von Mer's Briefen III, 22. 
2 ‚Zum Sie noch den lieben Dumeir dazu und eine Breundin, fo 
Haben Sie unfer ganzes Klümpchen.“ 


215 
„Frankfurter gelehrten Anzeigen" am 2. November. In dem 
Briefe an Betti vom Anfang Februar heißt es: „Danke für ben 
Untheil an Andres. Schickſal. Er ift giftig, läßt mir aber nichts 
merfen, ſcheintss, traut er mir nicht und meint, ich hätte Ihnen 
gar nichts gefhidt. Genug, wir haben das Unfrige gethan. — 
Am meiften ſchiert's ihn, daß man feine Produktion unter bie 
Nachahmungen geſetzt hat. (Bgl. Goethe B. 22, 301) Tirelireli! 
was iſtss um einen Autor.“ Wahrſcheinlich gehörte auch Jakob 
Ludwig Paſſavant ſchon damals zu Goethes Freunden, und nahm 
an den geſellſchaftlichen Vergnügungen dieſes Kreiſes Theil. Im 
Zuli 1774 machte Goethe ein Hochzeitsgedicht auf deſſen Bruder 
Ialob; im Iuli 1775 durchreiste er mit ihm bie kleinern Kantone 
in der Schweiz, und er war ber einzige von feinen freunden, 
der im Oktober 1775 von feiner nod nicht erfolgten Abreife 
wußte. Vgl. Goethe's Briefe an Lavater ©. 16. 

« Enplich gehört in den Kreis der Familien, welche ſich zu fro- 
hem Zufammertleben mit Goethe’ näheren Freunden geeint hatten, 
auch bie des für reich geltenden Kaufmanns Philipp Anfelm Münch, 
geboren im März 1711, ber ein großes und "angenehmes Haus 
machte. Ex wohnte in der Döngesgaffe; das Hans ift jet neu 
gebaut und Neu Nr. 20, Alt Lit. H. Nr. 169 bezeichnet, Eigen- 
thum bes Herrn Zimmermann. Er hatte einen Sohn und brei 
Töchter, von denen bie ältefte Anna Sibylla Münch, geboren am 
3. Juli 4758, in ein näheres Verhältniß zu unferm Dichter treten 
follte. Goethe befchreibt fie (B. 22, 262) als ein ſehr gutes Wer 
fen, von der Art, bie man ſich als Fran gerne benfen mag. 
„Ihre Geftalt,“ fährt er. fort, „war ſchön und regelmäßig, ihr 
Geſicht angenehm, und in ihrem Betragen waltete eine Ruhe, bie 
von der Gefundheit ihres Körpers umb ihres Geiftes zeugte. Sie 
war ſich zu allen Tagen und Stunden völlig gleich. Ihre häns- 
liche Thätigfeit wurde höchlich gerühmt. Ohne daß fie geiprädig 
gewefen wäre, Tonnte man an ihren Yeußerungen einen geraben 
Berftand und eine natürliche Bildung erfennen.“ Bmeifeln Könnte 
man, ob fie bereits im Zahre 1773 zu der Geſellſchaft gehört Habe. 





216 

Die Gefellſchaft verſammelte ſich wöchentlich an einem beftimm- 
ten Tage, wahrſcheinlich am Treitage', an bemfelben Tage, an 
welchem im Winter die Konzerte. ftattfanden, zu Ausflügen und 
Suftfahrten; beſonders beliebt waren Wafferfahrten, wie Goethe 
eine ſolche auch im „Wilhelm Meifter" B, 16, 136 fj. beſchreibt, 
vielleicht in befonberer Erinnerung jener frohen Geſellſchaft; ſelbſt 
das dort dargeftellte Komödienſpiel dürfte wirklich in ähnlicher Art 
ausgeführt worben fein, und man fünnte in dem Landgeiftlichen - 
ein Bild von Dumeiz fehn. Man vergleiche auch die Beſchreibung 
der Wafferfahrt in ven „Wahlverwandtſchaften“ B. 15, 248 ff. 
Bei einem Ansfluge diefer Art, als die Geſellſchaft, nad einer 
ſehr glänzenden Wafferfahrt und einem anmuthigen Spaziergang, 
zwifchen ſchattigen Hügeln gelagert, im Graſe over auf bemoosten 
Telfen und Baunnvurzeln figend — fo beſchreibt Goethe ben 

—, froh und heiter ein ländliches Mahl verzehrte, gebot ver 
humoriftifche Rath Erespel (vgl. S. 138 f.) mit ſchallhafter Würde, 
man möge fid in einen großen Halbfreis nieverfegen; vor welchen 
er dann hintrat, und in launigem Tone nicht ohne Nachahmung 
ver ſcheltenden Kapuzinerpredigten eine wohlausgeführte Rede hielt, 
in welcher er, nachdem er mit emphatifcher Klage auf ven Uebel» 
ftand hingewieſen, daß im ihrer Geſellſchaft biejenigen,. welche 
bie Geliebten in ihrer Mitte hätten, ſich an biefe anſchlöſſen, wo— 
durch die andern, denen ein foldes Glüd nicht beſchieden wäre, 
fi immer und ewig ungepaart fähen, mit dem Vorſchlage einer 
Paarungslotterie hervortrat. Die Namen der Herren follten in 
einen Beutel gethan werben, und die Damen ſich ihr Loos ziehen, 
wen fie in ver Verſammlung bis zur nächſten Loofung als ihren 
beglinftigten Diener anzuerkennen ſich verpflichtet hielten; diejenigen 
Herren aber, deren Namen im Beutel zuridblieben und benen 
demuach Feine Dame zu Theil würde, follten die Sorge für Geift, 
Seele und Leib übernehmen, beſonders für bie Seele, weil bie 





4 Den Breitag nennt Goethe B. 22, 264 ausbrüdlih als Tag, an 
welchem im Jahre 1774 die Geſellſchaften ſenjenen Au in Weimar 
gab Goethe Sreitagsgefelfihaften. 


beiden andern fi ſchon eher felbft zu helfen wähten. Die*humo- 
»riftifche Art, in welcher ver Reber, ber ſich nuf feine durch gro- 
fies Nachdenken ſich früh zugezogene Glatze berief!, dieſen feltfamen, 
durch feine Neuheit überrafchenden Vorſchlag verbrachte, verſetzle 
die Geſellſchaft in fo gute Laune, daß man um fo lieber darauf 
einging, als das Ganze nur ein Verfuc fein follte, und man, 
fans derſelbe ſich als ungehörig .erwiefe, ſchon bei der nächſten 
Berfammkung davon abgehn könne. Zum Glüde blieben diejenigen, 
welche die Trennung weniger heiter aufgenommen haben würden, 
diesmal zufammen. Crespel gab bie einzelnen Zufallspaare unter 
gewiflen feierlichen Zeremonien zufammen; und man trank auf ihre 
Gefunbheit. Die umgepnarten Herren forgten für die möglichfte 
Grheiterung der Geſellſchaft; neue artige Spiele wurden in Gang " 
gebracht, in einiger Ferne eine umerwartete Abendkoſt bereitet, und 
bei ber Rüdfahet, dem hellen Mondſchein zum Trotz, die Yacht 
beleuchtet. Als dieſe enblich an's Land flieg, rief Crespel das aus 
der Meffe- ihm ’geläufige: Ite, missa est, wodurch die Trennung 
der durch s 2008 zufammengelommenen Paare ausgefprodhen werden 
ſollie. Jeder führte die Dame, welche ihn erloost hatte, aus dem . 
‚Schiffe heraus, wo er fie ihren eigentlichen Herrn übergab und 
dagegen bie feinige, wenn er eine foldhe befoß, wieder eintaufchte. 
Der erfte Verſuch war fo glücklich ausgefallen, daß biefes 
Lotteriefpiel bei ber. nächſten Berfommlung fir ben ganzen Som- 
mer feſtgeſetzt wurde, wo es denn ſehr viel zur Heiterfeit ber 
Geſellſchaft beitrug. Crespel aber verfehlte nicht, aud bei den 
folgenden Zufammenkünften als Fapuzinermäfiger Redner die Ge- 
ſellſchaft zu ergögen. So ermieberte er, als man ihm ven Bor- 
wurf machte, er habe bei feiner früheren Rebe das Beſte verfelben, 


4 Goethe läßt (U. 21, 22) deu Redner auch fagen: „Ih bin ber 
Aelteſte unter, ihnen, das mir Gott verzeihe!“ Zubeflen darf man biefe 
Aeußerung der aus dem Gebächtniß natürlich mit großer Freiheit wieder 
gegebenen Rede um fo mehr. begwelfeln, als der Mebner ja bie Glade 
nit von feinem Alter herleitet. Grespel war damals fechsundzwapzig 
Hape alt. . . 


218 
ven Sdluß, für ſich behalten, das Beſte einer Rebe fei bie Ueber ⸗ 
vebung, und wer nicht zu überreden gebenfe — denn mit ber 
Ueberzeugumg ſei e8 eine mißliche Sache —, müffe gar nicht reven, 
und de man ſich damit nicht zufrieden geben wollte, führte er 
auf fragenhafte Weife, mit unpaffenven Bibelſprüchen, nicht zue 
treffenden Gleichniffen und nichts erläuternben Anfpielungen ven 
Sat aus, dag man, wolle man in der Welt zu etwas kommen, 
feine Leidenſchaften, Neigungen, Wünfche, Vorfäge, Plane verbergen, 
befonbers aber in ber Liebe des tiefften Geheimnifjes ſich befleißt- 
gen möüffe, Wie mit biefer Schilverung Goethe's feine weitere Be- 
merfung zu vereinigen ſei: „Diefer Gedanke ſchlang ſich durch das 
Ganze duch, ohne daß eigentlich ein’ Wort davon wäre ausgefpro- 
hen worden“, wäüßten wir nicht zu fagen. Der Redner, ver einen 
Sag ausführt, muß biefen doch beftimint, Hinftellen, und gerade 
darin fcheint der Hauptſpaß des Redners beftanven zir haben, daß 
er ſich der ſtreng bemeifenben logiſchen Form bebienfe, aber fo, 
daß feine Beweiſe fänmtlich auf Trugſchlüſſen oder närriſchen 
Bolgerungen beruhten. „Wil man ſich einen Begriff von biefem 
feltfamen Menſchen machen,“ fagt Goethe,“ „fo bedenke man, daß 
er, mit viel Anlage geboren, feine Talente und befonders feinen 
Scharfſinn in Seſuiterſchulen ausgebilvet, und eine große Welt- 
und Menſchenkenntniß, aber nur von der fchlinmen Seite zufam- 
mengewonmen hatte. Er war etwa zweinnbzwanzig Jahre alt, und 
hätte mic gern zum Profelyten ſeiner Menſchenverachtung ge— 
macht; aber es wollte nicht bei mir greifen; denn ich hatte noch 
immer große Luft, gut zu fein, und andere gut zu finden: Indeſ⸗ 
fen bin ich durch ihn auf vieles aufmerffam geworben.“ Die Alters- 
beftimmung von zweiunbzwanzig Jahren trifft nicht zu, was aber 
wenig zu verwunbern ift, va Goethe fich leicht um ein paar Jahre 
vergreifen Konnte. Grespel war im Sommer 1765, in welde 
Zeit Goethe dies ireig verlegt, achtzehn, im Sommer 1773, in 
welchen es wirklich fällt, ſechsundzwanzig Jahre alt. Auch was 
über, Crespel's Menſchenverachtung gejagt wird, hürfte nicht ge- 
gründet fein, wenn biefer aud) eine befonbere Neigung beſeſſen 


« 


‚haben mag, das Sciefe an den Dingen hervorzuheben und zu 
beladen; ein kalter Menſchenverachter hätte ſich unmöglic bie 
Theilnahme von Goethe, feiner Mutter und dem ganzen heitern 
Kreife erwerben Tönnen, welche wir beftens bezeugt finden; auch 
wärbe ein folder ſich nicht einer fo fröhlichen, harmloſen Gefell- 
ſchaft angefhloffen und fid bei ihr in ber am wenigften ernſtlich 
gedachten Rolle eines Abraham a Sancta Elara gefallen haben. 

Neben dem humoriſtiſchen Renner Crespel machte Freund 
Horn, gewöhnlich feiner Kleinheit wegen Hörnden genannt, die 
luſtige Perſon,“ ber, während er fich felbft preiszugeben ſchien, 
um fo mehr berechtigt ſchien, anderen eines zu verfegen. Ein 
ſtehender Wig war die Beziehung anf feine krummen Beine, doch 
bilvete er ſich viel auf feine biden Waben ein.? Da er ein 
fehr guter Tänzer war, und als folder viel geſucht wurde, ber 
hauptete er, es fei eine Eigenheit der frauenzimmer, daß fie 
immer krumme Beine auf dem Plan jehn wollten. Seine Heiter- 
teit war unverwüſtlich, feine Laune und Wig zur Belebung und 
Ergögung der Geſellſchaft unerſchöpflich, wo es benn freilich nicht 
immer ohne Berbruß abging, ba er mandmal bie Grenze über- 
ſchritt. Huch durch launige Gebichte ſuchte er den, heitern Kreis zu 
erfreuen, wie er denn einmal einen bei einer großen Schlittenfahrt 


! An Kãthchen Sqhönkopf ſchteibt Horn (S. 85): „Id ſpielte, ohue 
Ruhm zu melden, (im Schönkopfiſchen Haufe) immer die luſtige Berfon.“ 
Dean bejeichnete ihn auch mit dem Spignamen der Begauer. Bol. Jahn 
©. 100. ” 

2 Horn ſchreibt an Kathchen Schönkopf (bei Jahn ©. 26): „Auf der 
Reife wäre ich bald unglädlich gewefen: denn meine krummen Beine, wie 
die Mamfelt fpricht, Hatten fih fo mit den Andräiſchen (Andre’fchen) 
verwickelt, daß man fie, mm uns gu trennen, beinahe hätte zerbrechen 
mäflen.“ Hiernach würde der Wip auf feine krummen Beine von Käthchen 
Schöulopf ausgegangen “fein; Horn nahm ihn nut auf, und fpielte gern 
darauf an. Goethe ©. 21, 26 läßt dieſen Wis von Horn ſelbſt ausgehn. 
An Kathchen Schönfopf ſchreibt Goethe (bei Jahn S. 82): „Unglädliher 
Horn! Er hat fih Immer fo viel auf feine Waden eingebildet; jegt wer« 
den’ fie ihm zum Unglüd gereichen.“ Vielleicht weil er immerfort zum 
Zangen genötigt warb, 


Darnso, Google 


Darnso, Google 


den Sdiluß, für fich Behalten, das Befte einer Rebe fei bie eber- 
vebung, und wer nicht zu überreden gebenfe — denn mit ber 
Ueberzeugumg fei e8 eine mißliche Sache —, müffe gar nicht reven, 
und da man fid; bamit nicht zufrieden geben wollte, führte er 
auf fragenhafte Weife, mit unpaſſenden Bibelfprüchen, nicht zu« 
treffenden Gleichniſſen und nichts erläuternden Anfpielungen ben 
Satz aus, daß man, wolle man in der Welt zu etwas kommen, 
feine Leidenſchaften, Neigungen, Wünſche, Vorſätze, Plane verbergen, 
befonvers aber in ver Liebe des tiefften Geheimnifjes ſich befleißi- 
gen müffe, Wie mit dieſer Schilverung Goethe's feine meitere Be- 
merfung gu vereinigen ſei: „Diefer Gedanke ſchlang ſich durch das 
Ganze durch, ohne daß eigentlich ein’ Wort Davon wäre ausgejpro- 
hen worden”, wüßten wir nicht zu fagen. Der Redner, der einen 
Sag ausführt, muß biefen doch beſtimmt binftellen, und gerabe 
darin feheint der Hauptfpaß des Redners beftänden zir haben, daß 
er ſich der ſtreng beweiſenden logiſchen Form bebienfe, aber fo, 
daß feine ‚Beweife ſämmtlich auf Trugſchlüſſen oder närriſchen 
Bolgerungen beruhten. „Will man ſich einen Begriff von biefem 
feltfomen Menſchen machen,“ fagt Goethe, „fo bedenke man, daß 
ex, mit viel Anlage geboren, feine Talente und, befonders feinen 
Scharfſiun in Jeſuiterſchulen ausgebildet, und eine große Welt- 
und Menſchenlenutniß, aber nur von ber ſchlimmen Seite zufam- 
mengewonmen hatte. Er ivar etwa zweiundzwanzig Jahre alt, und 
hätte mich gern zum Profelyten ſeiner Menfchenveradhtung ge- 
macht; aber e8 wollte nicht bei mir greifen; denn ich hatte noch 
immer große Luft, gut zu fein, und andere gut zu finden: Indeſ⸗ 
fen bin ich durch ihn auf vieles anfmerffam geworben.” Die Alters- 
beftimmung von zweiunbzwanzig Jahren trifft nicht zu, was aber 
wenig zu verwundern ift, da Goethe fich leicht um ein paar Jahre 
vergreifen Tonnte. Crespel war im Sommer 1765, im welche 
Zeit Goethe dies irrig verlegt, achtzehn, im Sommer 1773, in 
welchen es wirklich fällt, ſechsundzwanzig Yahre alt. Auch was 
über, Ereöpel’s Menſchenverachtung gefagt wird, bürfte nicht ge- 
gründet fein, wenn biefer aud eine befonbere Neigung beſeſſen 


219 

haben mag, das Schiefe an ven Dingen hervorzuheben imb zu 
beladen; ein Talter Menſchenverachter hätte ſich unmöglich bie 
Theilnahme von Goethe, feiner Mutter und dem ganzen Beitern 
Kreife erwerben können, welche wir beftens bezeugt finden; auch 
wärbe ein folder ſich nicht einer fo fröhlichen, harmloſen Gefell- 
ſchaft angeſchloſſen und ſich bei ihe in ber am wenigften ernſtlich 
gedachten Rolle eines Abraham a Sancta Clara gefallen haben. 

Neben dem bumnoriftifchen- Reber Crespel machte Freund 
Horn, gewöhnlich feiner Kleinheit wegen Hörnden genannt, die 
luſtige Perfon,' ber, während er ſich ſelbſt preißzugeben fchien, 
um fo mehr bereditigt ſchien, anderen eines zu verfegen. Gin 
ſtehender Wit war die Beziehung auf feine krummen Beine, doch 
bilvete er fi viel auf feine viden Waden ein? Da er em 
fehr guter Tänzer war, und als folder viel gefudht wurbe, be⸗ 
hanptete er, es fei eine Eigenheit ber . rauenzimmer, daß fie 
immer krumme Beine auf dem Plan fehn wollten. Seine Heiter- 
keit war unverwüſtlich, feine Laune und Wig zur Belebung und 
Ergögung der Gefellfcjaft unerſchöpflich, wo es denn freilich nicht 
immer ohne Verdruß abging, da er mandmal bie Grenze über- 
ſchritt. Anch durch launige Gedichte fuchte er den, heitern Kreis zu 
® erfreuen, wie er denn einmal einen bei einer großen Schlittenfahrt 


! An Käthchen Schönfopf ſchteibt Horn (S. 85): „Ich fbielte, ohue 
Ruhm zu melden, (im Schönkopfiſchen Haufe) immer die Iuftige Perfon.“ 
Dan bezeichnete ihn and mit dem Spipnamen der Beganer. Vgl. Jahn 
©. 100. ” 

2 Horn ſchreibt an Käthehen Schönkopf (dei Jahn ©. 26): „Auf der 
Reife wäre ich bald unglädlich gewefen: denn meine krummen Beine, wir 
die Mamfelt fpricht, Hatten fich fo mit den Anpräifchen (Andreä’fchen) 
verwidelt, daß man fie, um uns gu trennen, beinahe hätte zerbrechen 
müffen.“ Hiernach würde der Wit auf feine Frummen Beine von Käthihen 
Schöukopf ausgegangen fein; Horn nahm ihn nur auf, und fplelte gern 
darauf an. Goethe ©. 21, 26 läßt dieſen Wig von Horn ſelbſt ausgehn. 
An Kathchen Schönfopf ſchreibt Goethe (bei Jahn ©. 82): „Unglüdticher 
Horn! Er Hat ſich immer fo viel auf feine Waben eingebilbet; jept wer« 
ven’ fie ihm zum Unglüd gereichen.“ Vielleicht weil er Immerfort zum 
Tanzen genäthigt ward, 


vorgelommenen lãcherlichen Zufall in der Art der Zachariä'ſchen und " 


Löwen'ſchen komiſchen Helvengebichte darſtellte. Daß andy Goethe 
ſelbſt e8 nicht an launigen, oft muthwilligen Scherzen und Nede- 
reien fehlen ließ, dürfen wir wohl annehmen, um fo cher, als 


ex in ſolchen Ausbrüchen nedifcher Luft ein Gegenmittel gegen 


neue leidenfſchaftliche Verwicllungen ſehn mochte, die er möglichft 
zu meiden ſuchte. 

Nachdem ihm nun auf dieſe Weiſe Sommer und Hast unter 
manchen wöchentlichen Ausflügen vorübergegangen, veranlaßte bie 

Vermãhlung der Schwefter, welche am 1. November vollzogen 
wurde, mandje Feſtlichkeiten, vie ihm aber bei ber, bevorſtehenden 
Trennung von der heißgeliebten Kornelia nicht heiter zu ftimmen 
vermochten. Daher konnte er am 9. November! auf ben fröhlichen 
Brief von Betti Jacobi, in der Laune, in welcher er war, nicht 
viel erwiebern. „Wenn id mit Ihnen nicht von Herzen reden 
Kann, lieber ftillel" ſchreibt er. Und noch zwei Tage nad) der 
Abreiſe der Schwefter, am 16. November, Tann er biefe nur in 
zwei Zeilen melden und einen Gruß hinzufügen. Die Winterge- 
ſellſchaften, vermuthlich, wie früher, ar den Dinstagen, werben 
inbeffen ihren Fortgang gehabt haben, ohne daß Goethe dadurch 
feiner Berftimmung entriffen worben wäre, wenn auch in einzelnen 
Augenbliden fein liegender Humor durchgebrochen fein wird. Erſt 
am Ende des Yahres fühlte er fi durch die Nachricht von ber 
balbigen Bermählung von Marimiliane la Roche mit dem Frank⸗ 
furter Kaufmanne Brentano von neuem gehoben. „Auf's neue 
Jahr,“ ſchreibt er am Betti Jacobi, „haben ſich die Ausſichten 
für mich recht raritätenfaftenmäßig aufgeputzt.“ Mar la Rode 


t Daß Brief 4 der Briefe zwiſchen Goethe und Betti Jacobi vom 9. 
und nicht vom 7. November batirt werden müffe, ba derjenige, woranf 
Goethe hier antwortet, zu Düffelvorf am 6. November gefchrieben iſt, hat 
Deyds a. a. D. ©. 35 bemerft. 

2 Der Vergleich mit dem Sqhonenraritätenkaſten iR dem Dichter fehr 
gebräuchlich. Bol. B. 7, 109, den Brief an Engelbach bei Söll S. 17 
und ben erſten Brief an Betti Jacobi, auch Lenz bei Stöber ©. 86. 





221 


heiratet Hierher, Ihr Künftiger- jcheint ein Mann zu fein, mit 
dem zu leben if. Und alfo heiſal wieder die Anzahl der braven 
Geſchöpfe vermehrt, die nichts weniger als geiftig find, wie Sie 
freilich vermuthen müſſen.“ Jetzt, fährt er fort, ſuche er nur — 
mit ſolchen heiter geſelligen, natürlich angenehmen Weſen das 
Leben zu genießen, und er habe wirklich ſchon in Gefahr geſtanden, 
ſich zu verlieben. Vgl. oben S. 181 f. 

Die Ankunft Brentauo's mit ver Neuvermählten und ihrer 
Mutter zu Frankfurt am 15. Januar gab zu manden Feſtlich- 
keiten Beranlaffung, ‚an venen fi) Goethe gern betheiligte. Diefer 
ſchreibt am Anfang Februar: „Diefe drittehalb Wochen her ift ge- 

werben, und nun find wir zufrieden unb glüdlidh, als 

man's fein kann. Wir fag' ich; denn feit dem fünfzehnten Jän- 
ner ift feine Brauche meiner Eriftenz einfam, Und bag Schichal, 
mit dem ich mich herumgebiffen habe jo oft, wird jegt höflich ber 
tüclt, das fchöne, weife Schidfal; denn gewiß, das ift-vie 
erſte Gabe, feit es mir meine Schwefter nahm, die das Anfehen 
eines Aequivalents hat; „ Dig Mar iſt uoch immer bet Engel, ver 
mit den ſimpelſten und wertheften Eigenſchaften alle Herzen an 
ſich zieht, und das Gefühl, das ich für fie Habe, worin ihr Maun 
eine Urſache zur Elferſucht finden wird, macht nun das Glüc 
meines Lebens.“ Man fieht, wie bedeutend fid das Gefühl für 
Marimiliane Brentano in kurzer „Zeit gefteigert hat. 

Am Schluffe jenes Briefe heißt es: „Eine mächtige Kälte 

zieht durch's Fenſter bis hierher an mein Herz, zu tauſendfacher Er⸗ 
. gögung. Ein großer Wiefenplan draußen ift überſchwemmt und 
gefroren. Geftern trug’ noch nicht, heut wird gewagt. Bor 
zehn Tagen ohngefähr waren unfere Damen hinausgefahren, unfern 
pantomimifchen Tanz mitanzufehn. Da haben wir uns präftirt! 
Gleich drauf thaut' es, und jetzt wieder Froſt. Halleluja! Amen!“ 
Offenbar deutet er auf dieſelbe Geſchichte hin, welche Bettine 
im Briefwechſel mit einem Kinde il, 261 aus dem Munde der 
Mutter alfo erzählt: „An einem hellen Wintermorgen, an dem 
deine Mutter Gäfte hatte, machteſt du ihr den Vorfehlag, mit deu 


222 


Fremden an den Main zu jahren. „Mutter, Sie hat mic ja noch 
nicht Schlitiſchuh fahreh geſehen, und das Wetter iſt heut fo ſchön !“ 
Ich zog meinen karmoiſinrothen Pelz an (fo läßt Bettine die Mutter 
ſprechen), der einen langen Schlepp hatte, und vorn herunter mit gol- 
denen Spangen zugemacht war, und fo fahren wir tenn hinaus, Da 
ſchleift mein Sohn herum,’ wie ein Pfeil, zwiſchen den anderen 
durch; die Luft hatte ihm die Baden roth gemacht, und der Puder 
war aus feinen braunen Haaren geflogen. Wie er nun den far- 
moifineothen Pelz fieht, kommt er herbei. an die Kutſche, und lacht 
mic, ganz freundlich an. „Nun, was willſi bu?“ fag’ ich. — „Ei, 
Mutter, fie hat ja doch nicht kalt im Wagen; geb’ Sie mir Ihren 
Sammetrock!“ — „Dir wirft ihn doch nicht gar anziehen wollen?" 
— „Freilich will ich ihn anziehen!" — Ich zieh’ Halt meinen prächtig 
warmen Nod aus, er zieht ihn an, ſchlägt die Schleppe über ven 
Arm, und da führt er Hin ‚wie ein Götterfohn auf vem Eife. 
Bettine, wenn du ihn geſehen hätteft! So was Schönes gibt's nicht 
mehr! Ih llatſchte in die Hände vor Luft. ‚Mein Lebtag eh’ ich 
ned}, wie er den einen Brudenbogen hinaus und den anderu wieder 
herein lief, und wie da der Wind ihm den Schlepp lang hintennach 
trug. Damals war deine Muttet (Marimiliane Brentano) wit 
auf dem Eife; ter wollt er gefallen!” In den wefentlichften Punkten 
kommt hiermit die ohne Zweifel daraus geflofene, wenn auch durch 
eigene Erinnerung näher beftimmte Darftelung Goethe's ſelbſt am 
Anfange des vierten Theiles von „Wahrheit und Dichtung“ übereln, 
wo er dieſe Geſchichte unter den Beifpielen eines gelegentlichen 
Handelns ohne Bedenken anführt, wie es der offene, frohgemuthe 
Jungling fi wohl erlaubt habe, ohne fie chrönologiſch näher zu 
beftimmen. „Ein ſehr harter Winter,“ erzählt er, „hatte den Danı 
völlig mit Eis bebedt, und in einen feften Boben verwandelt. Der 
lebhafteſte nothwenbige und fuftig-gefellige Verkehr regte fih auf 
dem Fluſſe. Grenzenlofe Schlittſchuhbahnen, glattgefrorene meite 
Flachen winmelten von bewegter Berfammlung. Ich fehlte nicht 
vom frühen Morgen an, und war alfo, wie fpäterhin meine Mutter, 
dem Schaufpiele zuzufehn, angefahren fam, als leichtgekleidet, 





223 
wirklich durchgefroren. Cie faß im Wagen, in ihrem rothen 
Sammetpelge, ver, anf der Bruſt mit ſtarlen goldenen Schnüren 
und Ouaften zufammengehalten, ganz ftattlich ausjah. „Gehen 
Sie mir, liebe Mutter, Ihren Pelz!“ rief ih aus dem Stegreife, 
ohne mich weiter befonnen zu haben; „nich friert grimmig.“ Auch 
fie bedachte nichts weiter; im Augenblide hatte ich den Pelz au, der 
purpurfarb, bis an die Waren reichend, mit Zobel verbrämt, mit 

Gold gefhmädt, zu der braunen Pelzmüge, tie ich trug, gar nicht 
übel Heivete. Co fuhr ich forglos auf und. ab; auch war das 
Gevränge jo groß, daß man bie feltene Erfcheinung nicht einmal 
ſonderlich bemerfte, obſchon einigermaßen: denn man rechnete mir 
fie fpäter unter meinen Anemalien im Ernſt uud Ccherze "wohl 
einmal wieber vor.” Bettinens, von Goethe befolgter Bericht ' 
weicht darin. von der Wahrheit ab, daß, wie obige Aeußerung in 
Goethe's Brief beweist, er nicht auf dem Main, ber in biefem 
Winter gar nicht zufror, fondern auf einem großen überfcpwemnten 
und zugefrorenen Wieſenplan Schlittſchuh lief, und mit feinen 
Freunden in künftlichen Wendungen uud einer damit verbundenen 
halbpantomimiſchen Darftellung auf der glatten Fläche hinglitt. 
Nach feiner eigenen Aenferung hatte Goethe das Schlittſchuhlaufen 
erſt fpät gelernt; er verſetzt dies ſelbſt in ben Winter 177%, 
(8. 22, 90 ff.): indeſſen ift auf eine folde Zeitbeftimmung gar 
nicht viel zu geben, und es wäre wohl möglich, daß der junge 
Dichter erft im Winter 177%, diefer Kunft, und zwar mit leiven- 
ſchaftlichem Eifer, ſich gewidmet, wonach die Einladung der Mutter 
ſich beſſer motiviren winde. Den Anfang in ver Kunſt mag er 





* Eine ungenanere Darftellung gibt Falf „Goethe as perſönliche m 
Umgange dargefiellt · S. 5 nach ver Erzählung einer nahen Freundin von 
Goethe‘ Mutier. „Einf beim Schlittſchuhlaufen, wo fie (Gocthe's Mutter) 
im Schlitten neben einer Freundin faß und diefen munteren Spielen der Ius 
gend zufah, nahm ihr Wolfgang die Koutuſche ab, hängte fie fih um und 
ſchetyte lange auf dem Gife hin und her, ehe er fie der Mutter wieder: 
brachte, die ihm laͤchelud verficperte, daß die Rontufche recht wohl zu feinem 
Gefichte geftanden hätte.“ 


224 





auf jenem Heinen im Winter gebildeten "Teiche. vor der Stadt ver⸗ 
ſucht Haben, auf dem wir ihn im. November 1774 finden. 
Kaum waren die Feftlifeiten im Brentano’chen Haufe vor: 
über uud Sophie la Roche abgereist, als Mazimiliane fid) im dunkeln 
Handlungshauſe! unglüdlich zw finden begann, wodurch Goethe, 
‚ver Zeuge ihrer ſich täglich fteigernden Unzufriedenheit war, und 
unfonft. die Freundin zu tröften verfuchte, ſelbſt ſehr verſtimmt 
warb, fo daß er in dem Gebanfen, melde Wonne ihm felbft eine 
Verbindung mit der, unglüdlichen jungen Fran gebracht haben würde, 
und in der Ueberzeugung, ihm fei feine wahre Befrievigung feines 
Herzens beftimmt, von einem gewaltigen Lebensüberdruſſe befallen 
wurde, vom dem er fich aber durch die raſch hingeworfene Dichtung 
des „Werther“ (im Februar und März 1774) befreite.“ Mit dem 
beginnenden Frühlinge fühlte er ſich wohlgemuther und heiterer ge- 
ſtimmt, als je: eine grenzenlofe Dichtungs- und Schaffungskraft 
war in-ihm erwacht, bie ihm nicht felten zu eigener Qual gereichte. 
Die Farze gegen Wieland und ver Prolog auf Bahrdt erſchienen; 
auch ‚bildeten ſich „Pater Breyy“ und der Prolog zum „Buppenfpiel". 
. Die ſchöne Jahreszeit verſammelte bald wieder bie fröhliche 
Geſellſchaft, deren abgegangene Mitgliever durch andere erſetzt 
werden mochten, zu fröhlichen Land» und Waflerfahrten. Bielleicht 
trat damals‘ Goethes Straßburger Freund, Heinrich Leopold 
Wagner, zur Geſellſchaft; wenigftens war er ohne Zweifel ſchon im 
Anfange des Jahres 1775 in Frankfurt, obgleich er erft am 
21. September 1776 als Advolat vereidigt ward.’ Auch Klinger’ 
Belanntſchaft Könnte Goethe ſchon damals gemacht haben. Rath 
Erespel Hatte fi aber einen neuen Geſellſchaftsſcherz erſonnen; 
es follte nämlich jegt alle acht Tage nicht mehr, wie früher, um 


liebende Paare, fondern um wirkliche Gatten gelonst werben; 


! Im Jahre 1777 ſcheint Brentano in feine fpätere Wohnung in der 
großen Sandgaſſe zum goldenen Kopfe gezogen zu fein. . Vgl. Merds 
Briefe 1. 371, III, 147. Maria Bell 11,64. 2 
7.2 ®gl, meine „Studien zn Goethes Werten" €. 113 fi 

Vol. ebenbafelöft ©. 196 f. 


225 


wie man fid) gegen Geliebte betrage; fei allen jegt.befannt genug, 
wie ſich aber Gatte und Gattin in ber Gefellichaft zu benehmen 
hätten, das fei ihnen noch unbefannt, und müffe nun vor allen 
Dingen gelernt werben.‘ Die von ihm angegebenen Regeln waren 
im allgemeinen bie befannten, daß man thun müſſe, als ob man 
einander gar nicht angehöre, woher man nicht nebeneinander figen, 
nicht viel miteinander ſprechen, nöd weniger ſich Liebkoſungen 
erlauben dürfe, dagegen habe man nicht allein alles zu vermeiden, 
was wechfelfeitig Verdacht und Unannehmlichkeit erregen könne, 
ſondern müfje vielmehr darauf bedacht fein, ſich feine Gattin auf 
eine ungezwungene Weife zu verbinden. Die Iuftige Gefellichaft 
ging auch hierauf gern ein, und begann die Maringenlotterie mit 
beftem Humor, ver beſonders durch einige barode Paarungen 
belebt wurde. Wunderbar genug wurde unferm Dichter gleich 
von Anfang an zweimal hintereinander die heitere fechzehnjährige 
Tochter des Kaufmanns Münch, Anne Sibylle, zu Theil, der 
er um fo leichter, feiner Eheftandspflicht gemäß, mit Freundlichkeit 
und Achtung begegnen konnte, al8 er es ſchon vorher aus allge 
meinem Gefühl und natürlichem Wohlwollen zu thun gewohnt war. 
Als aber nun gar zum brittenmale das Loos ſich für dieſe Ver— 
bindung entſchied, da erklärte Erespel, fie könnten jegt, da ber 
Himmel fo. offenbar geſprochen habe, nicht mehr voneinander ge- 
trennt werben. Das durch das Gefeß porgeſchriebene freundlich 


Nach Goethe's Darftellung würden zwiſchen der Looſung der Ges 
tiebten (4765) und diefer neuen Mariagenfotterie (1774) neun Fahre in der 
Mitte liegen, was an fi, abgeſehen von fonftigen Gründen (vgl. ©. 138), 
unmöglicp der Ball fein Fann; denn binnen nenn Jahren mußte fich eine 
folche Geſellſchaft durchaus ändern, und es iR eben fo unwahrſcheinlich, 
daß das für ein Jahr beliebte Schergfpiel mehrere Jahre fih erhalten Haben . 
follte, als Grespel fi auf eine vor neun Jahren gemachte Erfahrung 
mürbe berufen Haben. Hiernach beruht auch die Bemerfung auf Irrthum. 
welche Goethe bei dem Jahre 4774 macht: „Auch jener wunberliche Redner 
— war nach manderlei Schidſalen gefpeider und verkehrter zu uns zu⸗ 
rüdgefehrt.“ Ueber Grespel’s Etudien vgl. oben ©. 139. Die Beziehung auf 
die zunehmenden Jahre (B. 22, 261) muß demnach aud wegfallen. 

Dünger, Brauenbilder. 1} 15 " 


226 


zutraufiche Betragen befeftigte wirklich ein näheres Verhältniß des 
durch das Loos zufammengefommenen Paares, und da nad ber 
Vorſchrift die Gepaarten ſich mit dem traulichen Du anreden muß» 
ten, fo wurbe unfer Baar diefe Wochen über befjelben fo gewohnt, 
daß fie auch, wo fle fonft zufammenkamen, ſich deſſelben unwill- 
kurlich bebienten. Das Mädchen warb dem Dichter immer werther, 
da ihre heitere Natürlichkeit und ihr offenes Wefen ihn freundlich 
anſprachen, und er befreunete fid immer mehr mit dem Gedanken, 
fie wirklich als Gattin heimzuführen. 
Bei dem großen Aufjehen, welches vie am 16. Februar erfolgte, 
das Recht leidenſchaftlich unterbrüdenve Werurtheilung von Beau— 
marchais in ganz Europa erregte, achtete es Goethe für angemeſſen, 
eines Tages deſſen viertes, die Reiſe nach Spanien und ſeine Ver— 
widlungen mit Don Joſef Clavijo y Flarardo beſchreibendes 
Memoire in der Geſellſchaft vorzuleſen. Es fand vielen Beifall, 
und warb nad) den verfdjiebenften Seiten hin durchgeſprochen, bis 
endlich Goethe's Hälfte fi an ihren mehrmals angeloosten Gatten 
mit den Worten wandte: „Wäre ich beine Gebieterin und nicht 
bloß deine Frau, fo würde ich dir auftragen, dieſes Memoire zu 
einem Schaufpiele zu bearbeiten, wozu e8 mir ganz geeignet ſcheint.“ 
Worauf diefer, dem fchon beim erften Leſen der Gegenftand dra— 
matiſch, ja theatraliſch vorgekommen, fofort mit heiterer Neigung 
“ erwieberte: „Damit du, meine Piebe, fiehft, daß Gebieterin und 
Frau auch in einer Perſon vereinigt fein können, fo verſpreche 
ich bir, heute über acht Tage das gewünſchte Stüd vor unferer 
Geſellſchaft vorzulefen.“ Man war über die Kühnheit eines folhen 
Verſprechens fehr verwundert; doch Hatte Goethe bereits, als er 
an diefem Abend fehr fpät nach Haufe fam, das Stüd ziemlich 
ausgedacht. Als er nämlich feine angelooste Gattin nad Haufe 
führte, war er wider Gewohnheit ftill, worüber biefe ihre Ver- 
wunderung nicht verbergen konnte, und fragte, was. ihm fei. Er 
aber erwieberte, er finne das Stüd aus, uud fei ſchon mitten 
drinn; er wünſche nur, ihr zu zeigen, daß er ihr germ etwas zu 
Liebe thue. Sie drüdte ihm darauf zur Erkenntlichteit Die Haub; 


227 





als er diefe aber eifrig üßte, meinte fie, er müffe nicht aus, ber 
Rolle fallen, da Zärtlichkeit nah der Meinung ver Leute fich nicht 
für Ehegatten ſchicke. „Laß fie meinen!“ vief Goethe dagegen; 
„wie wollen es auf unfere Weife halten.“ Nachdem er das geliebte 
Mädchen bis zur Thüre ihres Hauſes geleitet hatte, entfernte er 
fi) mit einem zärtlichen Abſchiede; die innere Aufregung trieb ihn 
noch einige Zeit umher, ehe er mit dem faft vollftänbigen Plane im 
Kopfe und zärtlichfter Neigung im“Herzen nach Haufe zurückkehrte. 

Diefer Abend, an welchem der von jugendlicher Schaffungs- 
kraft und hinreißendem Gefühle glühende Dichter den Plan zum 
„Clavigo“ entwarf, muß in ven Mai fallen; denn fen am 1. Juni 
1774 melvet ex feinem Freunde Schönborn in Algier (B. 27, 
475): „Dann hab’ id, ein Trauerfpiel gearbeitet, „Clavigo“, mo- 
derne Anefoote, bramatifirt, mit möglihfter Simplizität und Her- 
zenswahrheit; mein Held, ein unbeftimmter, halb groß halb Heiner 
Menſch, ver Pendant zum Weislingen im „Götz“, vielmehr Weis- 
lingen ſelbſt in ber ganzen Runbheit einer Hauptperfon; auch fin- 
den ſich bier Szenen, die id) im „Götz“, um das Hauptintereſſe 
nicht zu ſchwächen, nur anbenten konnte.“ Der legte Freitag im 
Mai — und am einem Freitage warb ber eben vollenbete, acht 
Tage früher verſprochene „Clavigo“ vorgelefen — fiel im Jahre 
1774 auf ven 27., glei nach Pfingften; da aber kaum anzuneh- 
men, daß Goethe troß der einfallenken Pfingfitage ven „Clavigo“ 
in acht Tagen verſprochen haben werde, fo dürfte derſelbe am 20. 
zum erftenmal vorgelefen worden, am "13. der Freundin zugefagt 
worden fein, und wenn, wie es nad) der Erzählung feheint, Dies 
Verſprechen nicht vor der dritten Zuſammenkuuft geſchah, jo wür- 
den jene Ausflüge der fröhlichen Geſellſchaft in ber zweiten Häffte 
des April begonnen haben. Goethe wußte wohl, daß er feiner 
Geſellſchaft nur durch einen tragifchen Ausgang: der Geſchichte ge- 
nügen und fie durch Clavigo's veuigen Tod allein mit dieſem 
ſchwankenden Charakter ausjöhnen könne, der, bei aller Gutmüthig- 
feit und Liebe, durch das Streben nah Ruhm und Macht zur 
Treulofigkeit gegen bie Geliebte verleitet wird; aber auch biefes 


228 
Streben würde nicht im Stande fein, ihn zum Berrathe feiner 
Liebe hinzureißen, wenn. nicht ein Mar verfländiger Freund ihm 
zur Seite ftände, ber nir von der einen Leidenſchaft durchglüht 
ift, feinen Clavigo zu den höchſten Ehrenftufen und Würden ge- 
langen zu fehn, ber aber für feinen Mangel an ver fehönften 
menſchlichen Tugend, an reiner Frauenliebe, dadurch auf das em- 
pfindlichſte geftraft wirb, daß er feine Hoffnung auf Clavigo ein 
ſchmähliches Ende nehmen ſieht. Daher mußte der Dichter, wie 
fehr er ſich auch fonft an Beaumarchais hält, aus welchem er 
fogar die dramatiſch wirkfamen Darftellungen wörtlich herüberge- 
nommen hat, dem GStüde einen eigenen Schluß geben, jo daß 
der bichterifche Clabigo ſich viele Jahre lang auf ber deutſchen 
Bühne umbrachte,' während ber wirkliche Goethe’ Stüd noch zwei- 
unbreißig Jahre überlebte, wie auch Marie Luife Caron de Beau- 
marchais nicht aus Gram über den Verräther ihrer Liebe ſtarb, 
fondern fi) in Paris, wohin fie mit dem Bruder zurücklehrte, 
verheiratete. Clavigo ward feines Amtes entſetzt umd floh, um ſich 
der Verhaftung zu entziehen, zu den Kapuzinern, aber bald durfte 
er ſich wieder hervorwagen, und ſchon im Jahre 1773 — bie 
Geſchichte mit Beaumarchais fpielt 1764 — fehen wir ihn mit ber 
Herausgabe desMercnrio historico y politico de Madrid beauftragt. 
. Goethe wußte mit der Vorlefung des auch durch die Neuheit 
des Stoffes anziehenden Stüdes in ver traulichen Geſellſchaft die 
befte Wirkung hervorzubringen, befonders aber mußte Anna Si- 
bylla Münch, die ihn zur Ausarbeitung veranlaft Hatte, eines 
ſolchen Erfolges ſich freuen; es war, mie Goethe jelbft bemerkt, 
als ob fein Verhäftniß zu ihr, wie durch eine geiftige Nachlonmen- 
ſchaft, fih durch diefe Dichtung enger zufammenzöge und befeftigte. 
Bei dem großen Ruhme, welchen ber jugendliche, auch durch manche 
fonftige Erzentritäten Auffehen erregende Dichter ſich in raſchem 
"Fuge erworben hatte, konnte die Kımbe von feinem neuen Drama 
und ber artigen Veranlafjung deſſelben auch in den weiteren Kreifen 


* Zu Hamburg wurde 1789 auf Auftehen des ſpaniſchen Geſandten 
die Aufführung des Glavigo unterfagt. gl. Meyers „Sehräber“ II, 47. 


9 

Frankfurt's nicht lange verborgen bleiben, und vor allem mußte 
das Berhäfmiß ven. beiverfeitigen Eltern zu Ohren lommen, welche 
mit einer baher zu hoffenden Verbindung nicht unzufrieden waren, 
wenn fie auch zumächſt die Sache ihren Gang gehn ließen und 
der Entwidlung biefer zärtlichen Neigung nicht vorgreifen mochten. 

Kurze Zeit nad} der Beendigung des „Clavigo“, in ver Nacht 
vom 28. Mai, einem Sonnabend, auf ven 29., brach im ber 
engen Iudengaſſe Feuer aus, ' das bald auf ſchreckliche Weife 
überhand nahm, fo daß man endlich, um bem um fic) greifenven 
Elemente ein Ziel zu fegen, mehrere Häufer niederreißen mußte. 
„Ich ſchleppte aud meinen Tropfert Waſſers zu,“ ſchreibt Goethe 
an Schönborn, „und die wunderbarften, innigften, mannigfaltigften 
Empfindungen haben mir meine Mühe auf ver Stelle belohnt. 
Ich habe bei diefer Gelegenheit‘ das gemeine Volk wieder näher 
kennen gelernt, und bin aber- und abermal vergewiſſert worben, daß 
das body die beſten Menſchen find.“ Im „Wahrheit und Dichtung“ 
(®. 22, 283) findet ſich ausführlich erzählt, wie er, in Schuhen 
und feidenen Strümpfen, wie man damals zu gehn gemohnt war, 
die thätigfte Theilnahme am Löfchen genommen, indem fein Zureden 
bewirkte, daß man bis zum Orte des "Feuers eine Gaffe bildete, 
in welcher er bie Feuereimer raſch zu ihrem Biele befördern half, ohne 
Ruckſicht auf feine bald durchnetzten Kleider. Da viele, die von Neu: - 
gierde zum Brande getrieben wurden, ihn bei dieſem feuchten Ge— 
ſchäfte ſahen, fo murbe biefe für einen Frankfurter von guter 
Familie auffallende Vetheiligung am Löfchen bald zum allgemeinen 
Stadtgeſpräche. Auch in Weimar jehen wir umfern Dichter ftets 
bereit, bei den häufigen Branbımglüden thätige Hilfe zu Leiften. 


* In der Judengaſſe brach häufig Bener aus. Nach dem Brande vom 
Jahre 1711 ward fie etwas erweitert. Es war verboten, mit Licht ohne 
Saterne bie Läden und Gewölbe, die fih in der Stadt und in der Inden 
gaffe befanden, zu betreten. Bot. Maria Belli VIT, 109 f. VII, 121. 

2 Bl. die äpnliche Aeußerung in ben Briefen an Frau von Stein I, 131. 

Val. Goethes Bericht an Augufte von Stolberg vom 24. Mai 1776. 
Riemer II, 27. 89 f. 123 f. 








Auch auf feine Gefchäfte als Advokat mußte Goethe neben 
feinen bichterifchen Arbeiten und den Anfprüchen, melde das ge- 
ſellſchaftliche Leben an ihm machte, einen Theil feiner Zeit‘ ver- 
wenden. So finden wir ihn um biefe Zeit als Bevollmächtigten 
der Erben der Borftabt- und Buddeiſchen Handlung, in welcher 
Eigenfhaft er am 10. Juni und darauf am 18. Oftober 1774 
alle Schuloner derſelben aufforbert, in vierzehn Tagen Zahlung zu 
leiſten, mit Androhung, „gegen die Säumigen ernfthaftere Maaf- 
vegeln zu ergreifen“. ‘ Indeſſen ‚fiel die Hauptarbeit bei dieſen Ge- 
ſchäften dem Vater und einem gewandten Schreiber zu. Erſterer, 
dem fein Charakter als kaiferliher Rath das öffentliche Auftreten 
als Aovokat nicht erlaubte, hatte ſchon früher feine eigenen Nechts- 
händel, fo wie bie feiner nähern Vertrauten in der Weiſe betrie- 
-ben, daß bie von ihm ausgefertigten Schriften von einem orbinirten 
Advofaten gegen eine billige Vergitung unterzeichnet wurden. Als 
aber der Sohn zu praftigiren begann, war ihm dieß eine willlom- 
mene Gelegenheit, feinen Geſchäftokreis zu erweitern. Goethe be: 
richtet, bei der Befchreibung des Verhältniſſes zu Lili (B. 22, 304), 
er habe die früheften Morgenftunden der Dichtung geweiht, ber 
wachſende Tag aber habe ven weltlichen Geſchäften gehört, was 
freilich nicht im firengen Sinne genommen werben darf, da ber 
"junge, von Schaffungsvrang und Lebensluſt glühende Dichter oft 
ganze Tage den Geſchäften fremd blieb. Der Vater, fährt er 
fort, der gründlich und tüchtig, aber vor langſamer Konzeption 
und Ausführung geweſen, habe die Akten als geheimer Referendar 
fubirt,? und wenn fie zufammengetreten,-ihm bie Sache vorgelegt, 
worauf er felbft die Ausfertigung mit folder Leichtigkeit vollbracht 
habe, daß es vem Vater zur höchſten Freude gebiehen. Natürlich 
waren dem Dichter des „Götz“ diejenigen Sachen am liebften, in 
welchen er fid) als Nebner ergehn fonnte, befonbers wenn es galt, 
! Bol. Maria Belli VI, 56. 59.. 
? Abweichend hiervon berichtet Goethe B. 22, 143 von ber Zeit nad 
der Nüdkfehr von MWeplar (Gerbt 1772), ex felbft habe bie Alten gelefen, 
mit denen ſich dann auch ber Bater befannt gemacht Habe. 


bie neuen een. des überall ſich verbreitenden Humanismus zur 
Geltüng zu bringen. „Gefängniffe wurben gebeſſert,“ ſchreibt 
Goethe ſelbſt, „Verbrechen entſchuldigt, Strafen gelindert, die Le- 
gitimatienen erleichtert, Scheivungen und Mißheiraten beförbert, 
und- einer umferer vorzüglichen Sachwalter ermarb ſich den höch⸗ 
Men Ruhm, als er einem Scharfrichterfohne den Eingang in 
das Kollegium der Aerzte zu erfechten mußte. ' Vergebene wiber- 
ſetzten fi) Gilden und Körperfchaften; ein Damm nah bem 
anbern ward durchbrochen. Die Dulbfamfeit ver Religionsparteien 
gegeneinanber warb nicht bloß gelehrt, fondern ausgeht, und 
mit einem noch größern Einfluffe warb bie bürgerliche Verfaſſung 
bedroht, als man Dulbfamfeit gegen die Juden mit Berftand, 
Scharfſinn und Kraft der gutmütbigen Zeit anzuempfehlen bemüht 
war. ? Diefe neuen Gegenftände rechtlicher Behandlung, welche 
außerhalb des Gefeges und des Herfommens lagen, und nur an 
billige Beurtheilung, an gemüthliche Theilnahme Anſpruch machten, 
forderten zugleich einen natürlichen. und. Iebhaftern Styl. Hier 
war uns, den Jüngſten, ein heiteres Feld eröffnet, in welchem wir 
ung mit Luft herumtummelten, und ich erinnere mid) noch gar wohl, 
daß ein Reichshofrathsagent mir in einem ſolchen Balle-ein fehr 


' Der im Januar 1799 gu Frankfurt verflorbene Arzt Johaun Michael 
Hoffmann war der Sohn des Sqarftichters In Marburg. Cr ſtudirte in 
feiner Vaterftadt, dann zu Göttingen und Straßburg, und promovirte an 
legterm Orte Im Jahre 1766. Als er aber in demfelben Jahre iu Branffurt 
als Arzt auftseten wollte, wurbe ihm diefes feiner Abtunft wegen vers 
weigert. Um 3. Junl jedoch wurde ihm die Etlaubniß unter der Bedingung 
gewährt, daß er eine Bürgerstochter oder Bürgerewittwe heirate. Die 
Stabtphpflei Iegten hiergegen Berufung beim Reichthofgericht In Wien ein, 
wo aber die Sache 1768 zu Hoffmanns Gunften entfehleten und die Kläger 
abgewiefen wurden. Maria Belli VII, 412 f. Er verheiratete fih am 
2. März 1772 mit Juſtina Katharina Bogel. 

2 Ueber Goethes Abneigung gegen die Juden und die Furcht vor 
ihret alles verfplingenden Gewalt vgl. B. 49, 96 f. 118. 20, 178 f. Brief 
an Zelter Nr. 179. Briefe au ran von Stein II, 258. Briefwechſel 
mit einem Kinde I, 215 f. Riemer I, 427—429, deffen weitere Ausführung 
auqh auf den folgenden Seiten Goethe gewiß nicht gebilligt haben würde. 


232 5 

artiges Belobungsſchreiben zufendete. Die franzöſiſchen Plaidoyer’s 
dienten uns zu Muftern und zur Anregung." Dagegen machte ihn 
fein fpäterer Schwager Schloffer in einem ähnlichen Falle, wo er 
feine energifch abgefaßte Streitfehrift feiner damit: gar wohl zufrie- 
denen Partei vorgelefen, tadelnd darauf aufmerkſam, daß es beim 
Rechtsſtreite hauptſächlich auf eine gründliche Behandlung ber 
Rechtsfrage, nicht auf redneriſchen Styl anfomme. 

Eine befonvere Erleichterung im gefhäftlichen Betriebe fanden 
Bater und Sohn an einem trefflichen Kopiften, auf ben fie ſich zu- 
gleich wegen aller Kanzleifärmlichkeiten verlafjen fonnten (B. 22, 143). 
„Diefer hielt von’ feiner Seite," berichtet Goethe (B. 22, 305), 
„unfer ſich immer mehr ausdehnendes Gefchäft, das ſich ſowohl 
auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei Aufträge, Beſtellun- 
gen und Speditionen bezog. Auf dem Rathhauſe wußte er alle 
Wege und Schliche; in den beiden burgemeiſterlichen Aubienzen! war 
er auf feine Weife gelitten, und da er manden neuen Rathöheren, 
worunter einige gar bald zu Schöffen herangeftiegen waren, vou 
feinem erften Eintritt in's Amt her in feinem noch unfichern Benehmen 
wohl kannte, fo hatte er ſich ein gewiſſes Vertrauen erworben, das 
man wohl eine Art von Einfluß nennen konnte. Das alles wußte 
er zum Nugen feiner Gönner” zu verwenden, und ba ihn feine 
Geſundheit näthigte, feine Thätigkeit mit Maß zu üben, fo fand 
man ihn immer bereit, jeven Auftrag, jeve Beftellung forgfältig 
auszurichten.“ Nach einer aus fehr guter Quelle uns zugefom- 
menen Andeutung wäre. biefer Schreiber niemand auders geweſen, 
als jener Pfeil, von dem Goethe erzählt, fein Vater habe ihn er- 
zogen, und er fei bei ihm Bebienter, Kammerbiener, Sekretär, genug 
nad und nad) alles in allem geweſen, habe darauf, nachdem ex 
ſich verheiratet, eine Penfion errichtet,. die nad) und nad} ſich zu 
einer einen Schulanftalt erweitert habe (B. 20, 142). Gene 
Venfion, in welder viele junge Engländer Ind Franzofen ſich 
bilveten (vgl. B. 21, 18), würde an fid) biefer Annahme nicht 

! Die ältere und jüngere burgemeiſterliche Mubienz beftanden jede 
ans einem Burgemeifler oder Rathoherren, zwei Schöffen und einem Aftnar. 


entgegenftehn, ba bie jungen Leute nur bei ihm wohnten, und et 
ihnen fir die meiften Unterrichtögegenftänbe eigene Pehrmeifter hielt, 
aber das, was Goethe weiter von ber Perſönlichkeit jenes Schrei- 
bers berichtet, von dem er bebauert, daß er ihn nicht als Trieb- 
rad in ben Medanismus irgend einer Novelle eingefügt habe, 
fteht hiermit im entfchiebenften Widerſpruch. „Ein allzuleichtfertiges 
alademiſches Leben, erzählt er, habe den Gang feiner Studien 
unterbroden; eine Zeit lang habe er ſich mit fiechem Körper in 
Durftigkeit hingeſchleppt, und er fei erft fpäter durch feine ſchöne 
Handſchrift und Rechnungsfertigkeit in beſſere Umſtände gefommen ; 

“von einigen Advokaten unterhalten, fei er nach und nad) mit den 
Förmlichkeiten des Rechtsganges genau befannt geworben, und 
habe ſich durch feine Nechtlichkeit und Pünktlichkeit viele Gönner 
verſchafft; er fei ftark in den Bierzigen gefdefen. „Seine Gegen- 
wart war nicht unangenehm, von Körper ſchlank und regelmäßiger 
Gefichtsbilbung, fein- Betragen nicht zudringlich, aber doch mit 
einem Ausbrud von Sicherheit und Ueberzeugung, was zu thun 
fei, auch wohl heiter und gewandt bei wegguräumenben Hinder- 
niffen.” 

Eine befondere Erwähnung verbient noch die zum Theil leiven- 
ſchaftliche Beſchäftigung mit dem Malen von Portrait’ und fon- 
ftigen Zeichnungen. In einem Briefe, an Goethe vom 6. Novem- 
ber 1773 gebenft Betti Jacobi einer Landſchaft des letztern, bie 
vor.ihrem Bette hängt, und fpricht ihre Hoffnung aus, bald auch 
die Portrait’8 von Goethe's Mutter, Katharina Gerod und ſonſti— 
gen Frankfurter Bekannten von Goethes Hand zu erhalten. „Wie 
ſchön ich zeither gezeichnet habe,“ ſchreibt Goethe darauf am 31. De- 

. zember, „mag ich nicht fagen, weil ich noch in anfehnlichem Reſte 
ſtehe.“ Um biefe Zeit, in das Jahr 1773 oder 1774, dürften das 
Portrait Crespel's von Goethes Hand, jetzt im Befige der Frau 
Bergrath Buderus, und bie Abbildung Rieſe's in ſchwarzer Kreide 
fallen, die Rieſe's noch lebender Neffe aufbewahrt, ferner bie 
Zeihnung von Fräulein von Klettenberg nebft ihrer Umgebung 
(8. 22, 227), fo wie auch der gemalte Ofenſchirm mit dem Kopfe 


234 


Birgils, nebſt Emblemen, einer Rohrpfeife, einem Schwerte, ver 
Sonne, Lorbeerkranz, Blumen, Gewinden und Kränzen, welde er 
feinem Freunde Hieronymus Peter Schloffer zum Geſchenle machte, 
Diefer ſprach feinen Dank in folgenden Berfen aus, die ſich in 
feinen Poemata (1775) unter Nro. 79 finden, 


Adcessit nostris rebus noua, Goete, supellex, 
” Cedit Virgilio Muleiber, arte tua. 
Ille ferox, forlisque, et matre superbior ipsa, 
(Terribilis coniux sit licet illa louis) 
Adsuetus flammis ardenti et ludere ferro, 
Et victor Phoebi, et Dardanidum, et Veneris; 
Cyclopum dominus, dominus Trinacridos Aetnae 
Cedit, quis*possit credere? Virgilio; 
Qui sua virginea redimitus tempora lauru, 
Dat legem flammae, ei corpara nostra tegit. 
lamque ego, fornacis nimio securus ab aestu, 
Cum Musis horas partior et Themide, 
Quae, quoniam virtus opera ad maiora vocauit, 
Subducta Aonidum dicitur una choro. 

Ah, neseis, quam nunc vatis mihi leclio grata est, 
Quum sit praesto oculis ipse poeta meis; 
Dumque lego, variis picta aptem emblemata rebus, 
Atque suis tribuam singula quaeque libris: 
Haec est, Formosum Corydon, quae fistula lusit, 

Et, Dic Damoeta, et Tityre (u patulae; 

Hic est magnanimi Aeneae Vulcanius ensis, 
Turne, recognoscas, tu, Rutulique- tui; 
laetas segeles sol aureus ille est; 
inc flores, palmaque nobilior. 
Omnia pulera licet, multum pulcerrimus ipse, 
Ostendit medius tam iuuenile caput. 
O ego tuta suis dare labris suauia possem, 
Blandaque turgidulis oscula ferre genis, 
Nee color haereret nostro, male fidus, in ore: 
Virginis ut pictae. fucus ab ore fugit. 

















Sed non haec labiis, facies veneranda, profanis 
Tangatur, vitta sanctior est Cereris. 

Pascuntur sensus omnes dum mente Maronis: 
Pascuntur vultu, lumina sola, süo. 


Die Erwiederung Goethe's, welde in ven Werken B. 6, 70 f. 
mit der falſchen Jahreszahl 1776 fteht, lautet alſo: 


Du, bem bie Mufen von ben Aftenflöcen 

Die Rojenhänbe willig fireiten, 

Der zweener Herren Diener ift, 

Die ärger Feinde find, als Memmonas und Chrift, 
Den Weg zum Richter felbft mit Blumen bir beftreuft, 
Dem Winter Lieblichfeit und. Dichterfreude leihſt: 
Kein Wunder, daß auch beine Gunft 

Zu meinem Bortheil diesmal ſchwärmet, 

"Das flache Denkmal unfrer Kunft 

Mit freundlicher Empfindung" wärmet. 

Laß es an beiner Seite ftehn, 

Schen’-ipm , auch unverbient, bie Ehre; 

Unb mödteft du am bem Berfuche fehn, 

Bas id) gern dir und gern ben Mufen wäre. ? 


Im einem von Nothnagei ihn eingeräumten Kabinette hatte ſich 
ver Dichter einige Zeit mit Oelmalerei beſchäftigt, pub ein paar Still- 
leben nad) der Wirklichkeit richt ohne Glück dargeftellt, aber ſich 
bald in größete, feine Fähigleiten weit überſteigende Unternehumngen 
vertwidelt, in denen er fteden bleiben mußte. Sonft gaben bie 
Frankfurter Sammlungen von Gemälven und Kupferftichen ihm 
vielfache Gelegenheit, feinen Kunftfinn zu üben, und es gelang 
ihm, fi von den bie Meſſe beziehenden Italiänern einige ſchöne 
Gipsabgüffe antiker Köpfe zu erwerben, unter anderen bie Köpfe 


* Aus Schloffers Poemata abgebrudt erſchlen das Geblht in dem 
Almanach der deutſchen Mufen auf das Jahr 1776” ©. 179. 

2 Inden Werken ſteht VB. 4 ärgre, 8. 5 beſtreueſt, V. 6 leihen 
und im fepten Berfe gern dir und deinen Mufen. 


236 


des Laokoon, feiner Söhne und der Töchter der -Niobe', wie er 
auch aus ber Verlaſſenſchaft eines Kunftfreundes Nachbildungen 
der bedeutendſten Werle des Alterthums im Meinen ankaufte, ? 

. Eine höchft beveutende Wirkung. übten auf unfern Dichter die 
Ende Iuni erfolgende Zufammenkunft mit Lavater und das innige 
Freundſchaftsbündnitʒ, welches er in Düſſeldorf in der Mitte 
Iuli mit Frig Jacobi ſchloß, wodurch fein Geift zu einer leben⸗ 
digen Durchdringung und tiefern Faſſung feines ganzen Weſens 
getrieben wurde. Auf ber Lahnfahrt, am 18. Juli, ſchrieb Goethe, 
wenn wir feiner Darftellung ganz trauen dürfen, ® beim Anblide 
der Burgruine Lahneck die ſchöne Ballade „Geiftesgruß" (8. 1, 
76 f.) in das Stammbuc bes Lavater begleitenben Zeichners Lips, 
in welcher fid) das Herüberragen der Vergangenheit in die Gegen- 
wart auf ſchaurige Weile ausſpricht. Die Geſchlechter der Bor- 
fahren, die nur in Trümmern zu ums reden, haben, wie bie von 
friſchem Blute belebte Gegenwart, einft das Leben genofjen und 
durchgelämpft; dieſes Tede Leben fpricht der auf dem alten Thurme 
erſcheinende Geift, eines Helden, ber einft als Stammwater diefe 
Burg bewohnte, als das ewige Menfchenloos aus, und er wünſcht 
den auf dem Fluſſe Schiffenven eine glüdliche Fahrt. Schon hier 
erfennen tir ben eigentlichen Charakter der meift fnapp und mar- 
firt den Gegenftand anbeutenden, bie größten Schauer und bie 
eigenften, tiefften. Gefühle’ der Bu ausprägenden Goetheſchen 

“ Ballade. 

! „Ueber Ihren Laofoonstopf (wohl eine Abgeichnung des Gipsguffes) 
Habe ih mic) nicht gefreut, weil Sie es nicht Haben wollten,“ ſchreibt 
Betti Jacobi am 6. November 1773 an Goethe, „Leider brachte ich nichts 
von ſchönen Gipsfiguren, von Frankfurt mit; Sie und bie Tante (Iohanna 
Bahlmer) mögen fie mir nun um Oſtern herfihiden. « 

2 Bol. B. 22, 142 f. ‚ 

Simrock (das maleriſche und romantifhe Rheinland S. 282) feht - 
hierin gar feinen Zweifel. Indeflen fiheint es uns, als ob eher eine der 
bei Ems gelegenen zerftörten Burgen, an denen „Goethe ‚bei feinen Aus- 
flügen von Ems aus vorüberfuhr, etwa Balduinfteln, zu dem Gedichte bie 
Veranlaffung gegeben. 


J 


2337 


Zu Ems fol ver Maler Georg Johann Meldior Kraus over 
(wie Goethe u. a. früher immer fehrieben) Krauſe, der verſchiedene 
Gegenven ber Lahn in Wafferfarbe aufgenommen hatte, mit Goethe 
zuſammengetroffen fein. ' Diefer, der Sohn des Wirthes zur weißen 
Schlange in Frankfurt, ? geboren am 26. Yuli 1733,° mar 
Schüler von I. H. Tiſchbein in Kaffel, ging 1761 nach Paris, 
wo er fi der damals herrſchenden Weife von Greuze und Boucher 
anſchloß. 1767 kehrte er zurück, und. warb im folgenden Jahre 
Mitglied ‚der Alademie der ſchönen Künfte zu Wien. Nach ver 
Rückkehr von Leipzig, im Oftober 1768, würde Goethe nad un- 
ferer oben ©. 151 geäuferten Vermuthung ihn in Branffurt kennen 
gelernt haben, wo ihn im folgenden Jahre auch Fiorillo antraf. 
Längere Zeit verbrachte er nach Goethe (8.22, 395) auf der Burg 
Stein bei Naffau, wo bie ältefte Tochter, Johanna Luife, geboren 
ben 28. Februar 1752, feine Schilerin war. Diefe evle, herrliche 
Seele, die Schwefter des großen Staatsminifters von Stein, mußte 
ſich, da fie frühere Bewerber ausgefclegen” hatte, mit dem Grafen 
von Werthern zu Neunheiligen in Thüringen, kurſächſiſchem Ge: 
fanbten in Spanien, ehelid; verbinven. * Die Vermählung erfolgte 
am 12. Juli 1773, worauf die Neuvermählten eine. Reife durch 
Frankreich und Spanier machten. Da Kraus auf ihre Einladung 
ihnen im Jahre 1774 nach Neunbeifigen folgte, wir ihn aber im 
Juli vefjelben Jahres in Ems treffen, fo ift es nicht unwahr⸗ 
ſcheinlich, daß die Gräfin Werthern um diefe Beit, eben zueüdge- 
kehrt, bei ihrer Mutter verweilte, und Kraus fie dort wieder traf. 
Goethe beſuchte aus Ems auch Frau von Stein, wo er, wie er 


Bal. Nagler's Künftler«Lerifon VII. 164. 

2 @gl. Siorillo „Gefhihte der zeichnenden Künſte in Deutfchlaud“ 
HIT. 395 Note. 

3 ueber ihn vergleiche man die paar Blätter von feinem Breunde 
Bertuch: „Georg Melchior Kraus. Ein paar Worte zu deffen Portraite. 
Abgedrudt aus dem Journal des Luxus und der Moden Jannar 1807.“ 
SYäll „Weimars Merkwirbigkeiten" ©. 92 f. 

«Berg „das Reben des Minifiers Freiherr von Gtein“ I, 8. Bel. 
daſelbſt ©. 111. 192 f. 








fagt, große Geſellſchaft, unter anderen auch Frau von Ia Roche 
traf (B. 22, 211). Möglich wäre es, daß auch er hier die Gräfin 
Werthern fand, obgleich er nichts davon erwähnt, und daß biefe 
von dem talentvollen Dichter, deſſen „Werther wenige Monate 
fpäter die Welt in Erſtaunen fegte, am Weimarer Hofe erzählte. ' 

Bom Rheine aus fanbte der Dichter: das „dem Pafjanant- 
Schüblerifhen Brautpaare“ zum 25. Yuli im Namen ver Brüder 
des Bräutigams gewidmete Gedicht (B. 6, 13 f.), und zwar mit 
folgender an benjenigen, welcher das Gebicht von Goethe verlangt 
hatte, gerichteten Nachſchrift: „Spat, doch nicht zu fpat, Hoff ich. 
Grüßen Sie Paffavant! Und meinem Bater doch auch einige Exem- 
plare dieſes Carmens.“ Es kam aber "wirklich zu ſpät, und ber 
Bruder des Bräutigams, ber fpätere Prediger Jalob Ludwig Pafja- 
vant, überreichte e8 biefem erſt bei feiner golvenen Hochzeit. An 
Goethe's Jubiläum (1825) wurbe es biefem mitgetheilt, ? und be- 
findet ſich jet nebft der angegeberien Nachfchrift in den Händen 
des Sohnes jenes Jaldb Paſſavant, zu deſſen Hochzeitfeier es ge- 
dichtet ward. Zum Berftänbniffe des Gebichtes bemerken wir, daß 
die Braut, Fräulein Magdalena Schübler, eine Tochter vom Hof- 
rath Schübler in Zweibruclen war, beren Schweſter Eliſabeth 
Henriette einige Zeit vorher fi mit dem Frankfurter Kaufmann 
Peter Friedrich dOrville vermählt hatte. Der Brüder des Bräu- 
tigams waren außer dem Prebiger Jakob Fubiwig * drei, Philipp, 
Iohanm David und Chriftian. 

Als Goethe am 13. Auguft‘ von ver Rheimreife nach Frankfurt 


* Bekanntlich hat Goethe fpäter von ihr das Wild gu feiner Gräfin 
in_„Wilgelm Meifer's Lehrjahren“ Hergenommen. Vgl. meine Studien zu 
Goethes Werken‘ ©. 262 f. 

2 Dgl. die Schrift: „Goethe's goldner Jubeltag“ ©. 43. 

® Diefer, deſſen Goethe B. 22, 353 ff. 409 ala eines feiner Freunde 
Grmwäßnung thut, ward deutſch reformirter Pfarrer zuerſt zu Hannöverifch 
Minden, dann zu Detmold, gulegt in feiner Vaterſtadt. gl. oben S. 215. 

Gleich nach der Müdfehr, in der Nacht vom 43. Auguft, einem 
Eonnabend, ſchreibt Goethe an Jacobi. Cr Hatte fih in Ems wieder mit 
Baſedow zufammengefunben, deffen Grille zu Riebe er in der vorigen Nacht 





239 


zurüdgefehrt war, fühlte er fi von ber Beiligften Flamme 
der Freundſchaft und dem gewaltigften Schaffens- und Wirkens- 
range wunberfam burchglüht. Neben biefer gährenden Aufregung 
konnte das zärtliche Verhältniß zu dem lieben, veigenden Mädchen,” 
dem er von Herzen gemogen war, "feinen Fortgang gewinnen: war 
es doch Feine höhere, geiftige Liebe, die ihn zu dieſem zog, ſondern 
das bloße finnliche Gefallen an dieſer rein ſich entfaltenden, glüsf- 
lic) gebildeten Natur, mit welcher ſich auf's Leben zu verbinden 
ihın nicht unerfreulich ſchien. Gehörte fle ja auch zu den „braven, 
herzlich lieben Gefchöpfen, die nichts weniger als geiftig find“, wie 
es in ben Briefen an Betti Jacobi ©. 15 f. 19 Heißt. An den 
heiteren Luſtfahrten wird Goethe auch nad) feiner Rückkehr wieber 
ven gewohnten Antheil genommen haben, und fein Humor, bei aller 
fonftigen geiftigen Aufregung, oft zum glängenpften Durchbruche ge- 
Tonımen fein, auch gegen fein liebes Mädchen ſich verbindlich, wie 
zuvor, gezeigt haben, und wir bilrfen wohl vermuthen, daß er 
nicht verfehlt haben wird, ihr ein Eremplar feines zunädft auf 
ihre Anregung entftandenen „‚Clavige“ zu verehren. Je mehr das 
väterliche Haus durch die von allen Seiten zuſtrömenden fremden 
beunruhigt wurbe, welche bie Bekanntſchaft des jungen, in kurzer 
Zeit fo-ungemein berühmt geworbenen Dichters zu machen fuchten, 
und je mehr zu fürchten fand, daß der Sohn zu einem fehweifen- 
den, aller feften Beftimmung entbehrenben Leben verleitet werden 
wärbe, um fo eifriger fuchten Goethe's Eltern dag angefponnene 
Verhaltniß zu Anna Sibylla Münch, welcher die Mutter ſchon 
früher geneigt geweſen, fortzuführen und zu einem erwünfchten Ab- 
ſchluß zu bringen, ‚wenn man and dem Sohne nod vor der 
Heirat eine Reife nad; Italien gönnen wollte, auf bie ber Vater 


Auf dem Poftwagen gefahren war. Die „Dillenburgiſchen Intelligenz Nach: 
richten“ vom 20. Auguft. 1774 nennen unter ben In ber vorigen Woche wie« 
der abgereisten Rurgäften Baſedow und Goethe. Nach denfelben „Intelligenze 
Nachrichten“ vom 27. Auguft würde Goethe nicht vor dem 14. abgereist 
fein, was auf einem leicht erflärlichen Verfehen beruht, wenn nicht etwa 
Goethe den Brief an Jacobi falſch datirt hat. 


. 


240 


ftets fein Augenmerk gerichtet hielt, da er die Anfchauung dieſes 


natur» und funftgefegneten Landes zur Vollendung der Ausbildung 
für durchaus nöthig hielt. Häufig wurde das Geſpräch barauf 


"Hingelenft, daf der Bamilienkreis feit der Verheiratung ver Schwefter 


doch zu enge geworden, und daß eine Schwiegertochter die Einfam- 
keit des weiten Haufes zur Freude der Eltern plüdfich beleben 
werbe. „Wenn ich heirate,” hatte er ſchon am 23. Jannar 1770 
am Käthchen Schönkopf gefchrieben, „ſo theilen wir das Haus, ich 
und meine Eltern, und ich kriege zehn Zimmer, alle ſchön und 
wohl möblirt im Frankfurter Gufto.“ Eines Tages ergab es ſich 
wie von ungefähr, daß Goethe'8 Eltern jenem von ihnen begünftigten 
Srauenzimmer auf einem Spaziergange begegneten, fie in ben Garten 
(wahrfcheinlich in den Weinberg vor dem Friedberger Thor, nad) 
B. 20, 187) einluden, und ſich längere Zeit mit ihr unterhielten. Beim 
Abenbtifche wurde hierüber gefcherzt, und mit einem gewiſſen Behagen 
bemerkt, daß fie dem Vater wohl gefallen habe, da fle die Haupt» 
eigenfchaften beſitze, welche viefer, als ein Kenner, von einem Frauen- 
zimmer forbere. Auch fehlte es nicht an mancherlei Anzeichen, daß 
man an bie Einrichtung eines zweiten Haushaltes denke, da im 
erften Stode mandes eingerichtet, die Leinwand gemuftert, an 
einigen bisher vernadhläffigter Hausrath gedacht wurbe, ja einmal 
überrafchte unfer Dichter die Mutter, als fie in einer Bodenkammer 
die alten Wiegen betrachtete. Freilich follte vie Heirat erft nah 
der itafiänifchen Reife erfolgen, aber bie vorforgliche Mutter war 
ſchon jetzt auf den neu einzurichtenden Hausftand bedacht. Solchen 
Vorbereitungen und Anmahnungen zur baldigen ehelichen Berbin- 
dung und zunächft zur Verlobung gegenüber verhielt ſich ver Dichter 
ganz leivenb, indem er, im freubigen Gefühl feiner Unabhängigkeit, 
feinen Schritt thun wollte, die in Ausficht fiehende Verbindung zu 


beſchleunigen. Zu ver nad) bem Plane des Vaters ver Verheivatung 


vorhergehenden italiänifchen Reife fühlte ex fich jegt am menigften ge- 
neigt, wo ihn fo manche Verbindungen an Deutſchland feſſelten, wo 
neuerdings ber begeifterte Freundſchaftsbund mit Fritz Jacobi ihn zu 
einem lebendigen Zufammentoirten mit dieſem aufgeregt hatte. 


241 


Was Goethe's dichteriſche Schöpfungen in ben beiden erſten 
Monaten nach der Rückehr von Jacobi betrifft, fo verſpricht er 
ſchon am 14. Auguft in einem Briefe an dieſen neugewonnenen 
Freund, „Drama’s, Lieder, allerlei" ſchicken zu wollen, und eine 
Woche fpäter: „Du ‚Triegft bald Meine Sachen von mir, wie id) fie 
finde; e8 Liegt allerlei hier und da“; er hofft, auf gute Tage wieber 
ein Stüd- zu machen, obgleich viele am „Clavigo“ irre wurden. 
Im diefe Zeit fallen die erften Szenen bes „Kauft“, „Satyros“, 
wohl auch „Prometheus" und die Anfänge des „ewigen Juden.““ 

"Anfangs Oftober erhielt Goethe Klopſtod's Beſuch. „Ih 
hatte ſchon mehrere Briefe mit ihm gemechjelt,“ ? erzählt Goethe 
8.22, 252, „ald er mir anzeigte, daß er nach Karlsruhe zu gehn 
und daſelbſt zu wohnen eingeladen fei; er werde zur beftinmten 
Zeit in Friedberg eintreffen, und wünfche, daß ich ihn daſelbſt ab- 
hole. Ich verfehlte nicht, zur rechten Stunde mich einjufinden ; 
allein er war auf feinem Wege zufällig aufgehalten worben, und 


! Dgl. meine Schriften über „Bauft“ (I. 76) und „Prometheus“ 
(5. 24 f.). Die Anfänge des „Mahomet“ können nicht, wie Goethe angibt, 
in das Jahr 1774 gehören, da das Gedicht „Mahomet's Gefang,“ weldes 
dazu gehörte, bereits im „Göttinger Muſenalmanach auf das Jahr 1774,” 
alfo im Jahre 1773, erfihien. Dies. Hat richtig Schaefer (Goethes Reben 
1, 177) bemerkt, während Viehoff (IT, 38)-fih zu der durch nichts berech- 
tigten Annahme verleiten läßt, der Symnus „Mahomet’s Gefang“ fei zuerft 
ohne Ruͤckſicht auf dramatiſchen Gebrauch gedichtet gewefen, ehe Goethe 
auf ben Gedanken gefommen, ein Drama „Mahomet“ zu ſchreiben. Im 
Muſenalmanach wird der Hpmuus als ein Wechfelgefang zwiſchen Ali und 
Satima (Mahomers Toter und As Gattin) bezeichnet, und es if ein. 
bloßes Verfehen, womit Viehoff feine wunderliche Annahme zu ftägen fich 
nicht ſcheut, wenn Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ (8. 22, 226) ihn 
von Alt allein fingen läßt. Uebrigens bildete ber „Hymnus ohne Zweifel 
deu Aufang des vierten Altes. 

2 An den mit Klopftod befreundeten Schönborn,.der iu Frautfurt die 
Bekanntſchaft Goethe's und feiner Eltern gemacht hatte, meldete Goethe 
am 4. Juni 1774: „Ih habe Klopſtocen geſchrieben, und, ihm zugleich 
was gefihict; brauchen wir Mittler, um uns zu Tommunigiren?« Goethe 
wird ihm lyriſche Gedichte gefandt Haken; auch fein Schrittſchuhlaufen wird 
nicht unerwähnt geblieben fein. " . 

Dünger, drauenbilder. 10 16 





nachdem ich einige (?) Tage vergebens gewartet Hatte, lehrte ich 
nad Haufe zur, wo er denn erft nach einiger Zeit eintraf, fein 
Außeubleiben entſchuldigte, und meine Bereitwilligfeit, ihm entge- 
genzufommen, ſehr wohl aufnahm.“ 5 

Der Markgraf von Baden hatte durch den Kirchenrath Pro⸗ 
feſſor Johann Lorenz Bödmann, einen geborenen Lübeder (geb. 
8. Mai 1741), Klopſtod zu fich einladen laſſen, und als ver Dichter 
ſich dazu bereit exrflärt, ihm durch folgenbes vom 3. Auguft 1774 
datirte Handſchreiben erfreut: ' 

„Mein lieber Herr Klopftod! 

Der Kirchenrath Böckmann bringt mir die angenehme Nach-⸗ 
richt, daß Sie dem Rufe, welcher Ihnen durch denſelben zuge- 
gangen ift, zu folgen gebenfen. Ich freue mid, Sie perfönlich 
tennen zu lernen, und den Dichter der Religion und des Vater- 
landes in meinem Lande zu haben. Sie begehren einen uneinge- 
ſchränkten Aufenthalt, und werben denſelben bei mir jeverzeit haben; 
die Freiheit ift das edelſte Recht des Menſchen, und von ben 
Wiſſenſchaften ganz urgertrennlich. 

Ich wünſche Sie bald perſönlich verſichern zu können, wie ſehr 
ich Ihre Verdienſte ſchätze, und mit wie vieler Achtung ich ſei 

Ihr wohlaffektionirter 
Karl Friedrich, Markgraf zu Baden.“ 


Klopftod gedachte auf der Reiſe nach Baden die hoffnungs · 
vollen jungen Talente der Dichtkunſt näher an ſich zu ſchließen, 
und ſo wollte er beſonders dem in enger Verbindung mit ihm 
ſtehenden Göttinger Dichterbunde feine Weihe geben.“ Der Berab- 
redung gemäß — denn Klopſtock liebte es, ſich von einer Station 
zue andern begleiten zu laſſen — holten Hahn und Miller ihn in 
einer Miethkutſche von Eimbed ab, wo er bei feinem alten Freunde 


* Bir geben das Schreiben nach Elpubarts „beutfher Chronik“ 1775. 
©. 

2 Hauptquelle zum folgenden find bie Briefe von Voß und Erueſtine 
Boie vom 17. November 1774. 


343 
Superintenbent Kaiſer abgeftiegen war. Da es aber ungeachtet 
aller Borficht befannt geworben war, daß Klopſtock nad) Göttingen 
Tommen werbe, fo fehrieb er an Voß, er möge-mit Hölty und dem 
Bruder des Herausgebers bes „Göttinger Muſenalmanach's“, H. 
Chr. Boie, der ſelbſt auf einer Reife nach Holland begriffen war, 
in dem eine halbe Meile vor Göttingen liegenden Orte Byvenden 
mit ihm zufammentreffen; dort wolle er mit ihnen ven Tag über 
zubringen, um gleich am andern Morgen von Göttingen abjureifen. 
So kam denn der Sänger bes „Meflins* am Abend des 24. Sap- 
.tember in Begleitung ber fünf Bündner in Göttingen an, wo er 
auf Boies Stube übernachtet. Aber fein Borfag, am anbem 
Morgen, einem Sonntage, .abzureifen, ward dadurch vereitelt, daß, 
weil’ man das ſchöne Wetter zum Einfahren des Heu's benugte, 
weder Poft- noch Miethpferde zu haben waren; doch befuchte er in 
Göttingen niemand, und wies alle ab, tie ſich melden ließen. Am 
26. September früh fuhr Klopftod mit Hahn und den beiven Miller 
nach Kaſſel, wõ Leifewig fie erwartete. Aber auch hier verfäumte 
er einen Pofttag, wonach ſich die Verzcherung feiner Ankunft in 
“ Friedberg erflärt, 

Goethe berichtet, daS Betragen des Dichters, ven er als Mein 
von Berfon, aber gut gebaut bejchreibt, ſei ernft und abgemefien 
gewefen, ohne fteif zu fein, feine Unterhaltung beftimmt unt an- 
genehm; im ganzen habe feine Gegenwart etwas von ber eines 
Diplomaten gehabt, da er ſich als Mann von Werth und als 
Stellvertreter höherer Weſen, der Religion, der Sittlichkeit und 
Freiheit, betrachtet habe. Auch darin. habe er eine Eigenheit ver 
Weltleute angenommen, daß er nicht leicht über Gegenftände ge- 
vebet, über die man gerade ein Gefpräd, erwartet oder gewünſcht; 
von Vitterarifchen und poetifchen Dingen habe man ihn felten ſprechen 
hören. Indeſſen wird er doch, da er damals ganz vom Göttinger. 
Dichterbunde voll war, gegen Goethe, den er auch bafür zu ge - 
winnen hoffte, nicht mit derartigen Gefprächen zurüdgehalten haben. 
Damals, wenn nicht erft auf der Rücreiſe im April 1775, ſcheint 
Goethe ihm die Anfänge feines „Bauft“ worgelefen und ſich feinen 





Beifall erworben zu ‚haben; ' denn daß dies in Karlsruhe gefchehen, 
wie in „Wahrheit und Dichtung” (B. 22, 342 f.) erzählt 
wird, ift entſchieden irrig, da Goethe, als er auf der Schweizer: 
reife nach Karlsruhe Fam, biefen bort nicht mehr antraf, wie wir " 
im folgenden Auffag zu erweifen gedenken. Da Klopſtoch an dem 
Dichter des „Götz“ und deſſen Freunden in Folge feiner Eisoden 
(Werte 8. 3, 181 ff. 189 ff.) eifrige Schlittſchuhlaufer fand, fo 
unterhielt er ſich mit ihnen weitläufig über biefe edle Kunft, bie 
es gründlich durchdacht hatte. Zunächſt mußten fie ſich belehren 
laſſen, daß man nicht von Schlittſchuhen, fondern von Schritt⸗ 
ſchuhen reden müfje, von hohen, hohlgeſchliffenen Schrittſchuhen 
wollte er nichts wiſſen, ſondern empfahl die niedrigen, breiten, 
flachgeſchliffenen Friesländiſchen, von denen ſich unſer Dichter denn 
auch bald ein-Paar zu verſchaffen ſuchte. Wie wir bisher gefunden, 
daß Klopftod fi ein Stüd auf ven Weg begleiten ließ, fo dürfte 
aud Goethe mit ihm bis Mannheim gegangen fein, wo ihn Böd- 
mann abholte, wenn biefer nicht etwa bis Frankfurt entgegenfam.? 
In Darmftabt führte Goethe den Eänger des „Meſſias“, von 


' Später nahm er an dem „auf“ entfehlebenes Aergerniß, welches 
er in feinem querfl in der „Minerva“ vom Jahre 1816 erſchtenenen uu- 
glüdticgen Cpigramme „der alte und nene Bauf“ ausfprad: 


Was man erzäflt von Doftor Faufl, 

IR weiter nichts als Zug der Möncherei; 

Die Ditung, die vor uns in wilden Dramen branst, 

Wie Windsbrant braust, 

Bon Doktor Fauf, 

IM, bei dein Alten! lediglich - 

Kraftmänniglich, ö 

Verwünfept Geſchrei 

Der traurigen Genieerei. 

Ob's Alte oder Neue beffer ſei, 

Zu fhlichten wär Bockmelkerei. 

? Aus einem Briefe Goethe's an Boͤdmann vom 14. November dieſes 

Jahres fehen wir, daß diefer einmal im Grespel’fchen Haufe gewefen, viel- 
leicht ais er zur Abholung Klopſtocks nach Brauffurt Fam. 





“245 
beffen Oden bie dortige treffliche Landgräfin ſchon vor Klopſtock 
ſelbſt eine Sammlung für einen engern Kreis hatte drucken laſſen,“ 
bei feinem Freunde Merk ein. Diefer ſchreibt am 6. Mai 1775 
am Nicolai: „Rlopftod war vergangenen Herbft bei uns, unb hat 
fich in meinem Garten an meinen großen Trauben geweivet. Ich 
muß Ihnen aufeichtig geftehn, daß ich ihn nie, nad) meiner Bor- 
ftellungsart, für einen wahren poetifchen Kopf gehalten habe, fo mie 
es viele gibt, Die es ungleich mehr find, wie er: Aus-feinem Um- 
gang erhellt ein Marer, heller Menſchenverſtand, mit ſehr viel 
Weltkunde und Weltkälte. Noch nie hab’ ich einen Menfchen fo 
ſchön deutſch und abgemeffen reden hören. ein Gerz ſcheint ruhig, 
in fid) ſelbſt geehrt, feines Werths bewußt. Dabei ift er per 
Intervallen offen, und feheint im ganzen Verſtande bes Worte 
ein ehrlicher Mann." Das bekannte Gedicht „an Schwager Kro- 
nos" (B. 2, 53 f.) fol, nad) der Angabe in der Quartausgabe, 
deu 10. Dftober 1774 in der Poſtchaiſe entſtanden fein; vielleicht 
befand fi) damals der Dichter in ver Bergſtraße auf der Rückkehr 
von ber Begleitung Klopſtocks. Diefes Gedicht, welches an einzelne 
Hauptpunkte der Fahrt anknüpft, zeigt bie merkwürdigſte Ver- 
f&lingung des Bildes mit feiner wirffichen Beziehung; denn unter 
dem Poſtillon dent Goethe fi die ihn durch's Leben raſch hin- 
führende Zeit, die er in frohem Genuſſe und regem, unaufhalt- 
famen Streben durchſtürmen will. ? 

Im Spätherbft - machte Goethe aud bie Belanntichaft bes 
würdigen Karl Ulyſſes von Salis-Marſchlins. „Von Salis,? ver 
in Marſchlins bie große Penflonsanftalt errichtete, ging ebenfalls 
bei uns vorüber,“ berichtet Goethe (®. 22, 260), „ein ernfter, 
verftänbiger Mann, ver über die genialiſch tolle Lebensart unferer 


! Dgl. Merk's Briefe 1/2 f. 
?-,Der Schwager Chronos,“ fehreibt Karl Auguft an Gerber (Herder⸗ 


albam ©. 25), („Coethe brauchte ihn einmal als Poſtillon) iſt doch im , 


Grunde ein guter Fuhrmann, der feine Paffagiere zu beurtheilen weiß.“ 
® Musenln Im Namenregifter zu Goethe verwechfelt ihn mit dem 
befannten Dichter Johann Gandenz von Salis 


246 





Heinen Geſellſchaft gar wunderliche Anmerkimgen im fillen wire 
gemacht haben.“ Diefer, geboren am 25. Auguſt 1728, hatte im 
Jahre 1770 nit Profefjor Planta deſſen Seminarium zu Halven- 
ftein übernommen. Da baffelbe wegen Mangel an Raum nad 
Marſchlins verlegt werben und eine neue Einrichtung im Sinne 
ber Zeit erfahren follte, fo reiste Salis zu Baſedow nad, Deſſau, 

der ihm zur Leitung ber umzuwandelnden Schulanftalt ven Profefior 
Dr. Bahrdt in Gießen empfahl. Bahrdt übernahm Haftig die .an- 
gebotene Stelle, da er ſich dadurch fehr mißlichen Verhältniſſen 
entrüct fah. Salis aber erfunbigte ſich in Frankfurt bei dem Be- 
figer der Frankfurter gelehrten Anzeigen · Deinet nach Bahrdt ges 
nauer, und durch Deinet.fcheint Salis mit dem Goethe ſchen Kreiſe 
in Verbindung gefommen zu fein. ' Bahrdt begab ſich vorab auf 
einige Zeit nad; Deffau, und ging erft im folgenden Mai nach 
Marſchlins. 

Gegen Mitte Oktober erfchienen „Werther's Leiden“, melde 
Jacobi ſchon am 19. Dftober ganz in Ruhe genofjen hatte. Diefer 
wunderbar in bie Zeit eingreifenbe, wäl aus bem innerften Weſen 
berfelben gefchöpfte Roman follte bald die Augen von ganz Deutjch- 
land auf den Dichter des „Götz“, der durch den „Clavigo“ und 
tie übrigen Heinern Werke feinen Ruhm nicht fonderlich vermehrt 
hatte, von neuem hinwenden, ihm die Theilnahme aller empfinb- 
famen Herzen erwerben und feinen Namen mit glänzendſtem Ruhme 
ſchmücken, ihn freilich daneben auch liebloſen Vorwürfen und Ber- 
dammungen, tie unverftändigen Angriffen bloßftellen. Bemerfens- 
werth ift es, daß „Werther's Leiden“, wie alle früher herausgege- 
benen Werke unferes Dichters mit einziger Ausnahme des. „Clavigo“ 
ohne Goethes Namen erſchienen, und er foger vom Buchhändler 
ausdrücklich die Verſchweigung feines Namens gefordert hatte, doch 
hielt dieſer fo wenig fein Verſprechen, daß er im Meßtataloge fie 
mit Goethe's Namen bezeichnete. Der Dichter felbft war um dieſe 
Zeit, wie er an Merk jchreist (Wagner I. Nr. 17), mit Portrait’ 
im großen und mit Meinen Liebesliedern befchäftigt, die wohl 

Bol. Bahrdrs eigene Lebensbeſchreibuug IT, 268. 277. 





fehnfüchtiger Art waren, und das verlovene Gfüd ver Liebe fangen, 
vielleicht zum Theil auch humoriſtiſch ſchloſſen. Wie jede zärtliche 
Neigung, wenn ihr nicht neue Wärme zuſtrömt, allmählich erkaltet, 
fo war auch Goethe's Berhältnig zu Anna Sibylla Münch, ftatt 
ſich zu fleigern, allmählich zu einem bloß verbindlichen, vertraulichen 
geworben, wie es zwifchen Verwandten und Ingenbbefannten ftatte 
zufinben pflegt. Die Eltern Hatten durch ihre ſcharf ausgeſprochene 
Begünftigung deſſelben ihm Eintrag gethan,. aber auch ohne dies 
hätte es bei ber durch ben Bund mit Jacobi von neuem gewaltig 
angefachten Glut und dem fchranfenlofen Schaffungs- und Frei: 
heitöbrange des Dichters feinen Beſtand haben können. Cine wirk- 
liche Leidenſchaft, wie Goethe fie zu dem reizenden, aber feine ver- 
wandten Töne in feinem Herzen .anfchlagenden Mädchen nicht faſſen 
konnte, mußte ih ergreifen, wenn feine Seele ſich ver Liebe cr- 
. Öffnen und zu einem Bunde für's Leben ſich getrieben fühlen folte. 
Gleich nad; jenem eben erwähnten Briefe an Merck, in welchem 
Goethe bebauert, daß er nichts zu ſchiclen habe, an einem Dinstag- 
morgen halb fieben Uhr, höchft wahrſcheinlich in der zweiten Hälfte 
Oktober, am 18. ober 25. Oltober, ſchreibt Goethe an venfelben: 
„Bier etwas gegen das Ueberſchidte. (Das Gericht „Prometheus“ 
lag dem Briefe‘ bei.) Ich hab’ feit drei Tagen an einer Zeichnung 
in dem mir möglichften Fleiße gearbeitet, und bin noch nicht, fertig. ' 
Es ift gut, daß man einmal alles thue, was man thun fann, um 
die Ehre zu haben, ſich näher kennen zu lernen. Grüße Grau 
und Kinder! Schi’ mir die Studien zuräd und mas Neues dazu! 
Adien! Orbne, Ierne an den Romanen, ? und gehe fo eben nad) 


* In dem frühern Briefe an Merk heißt es: „Wär ich nicht auch 
fleißig gewefen, ich wäre auf deine Zeichnungen neibifc geworben. Recht 
fehr gut find fle, und Ihr Sinn erfchließt ſich mannigfaltig, fehr geehrteſter 
Heer!“ In „Wahrheit. und Dichtung“ (8. 23, 142) bemerkt Goethe, er 
Habe die fiebevole Aufmerkſamkeit und den gelaffenen Fleiß durch den auch 
fon der Anfänger etwas leiſte, nicht immer rein und wirkſam erhalten 
Können. . 

2 Es find wohl deutſche Volfelieder, nicht englif—he Romanzen gee 
meint. Vgl. oben ©. 70 Note 1. 173 Note 1. 


248. 


Dffenbach , wenn mas dran Tiegt. Dinstag Morgens halb fieben.“ 
Die Belanntfhaft von Andre in Offenbach hatte Goethe ſchon 
früher gemacht, wie wir oben S. 214 fahen. Die Beſchäftigung 
mit der Kurft führte den Dichter bald daranf zu einigen auf dieſe 
bezüglichen Liedern, von denen er zwei am 4. und 5. Dezember 
an Merck fanbte. ' 

Trotz der mannigfaltigen Beſchäftigungen fehlte es doch nicht 
an Zerfivenungen und BVergnügungen, zu denen befonders das 
Schrittſchuhlaufen gehörte. „Martini-Abend (10..Rovember) hatten 
mir das erfte Eis," ſchreibt Goethe an Klopſtocks Freund, ven 
Kirchenrath Böckmann, dem er die Anfertigung. von einem Paar 
Schrittſchuhen nach Klopſtod's Anweifung übertragen hatte, „und 
vom Sonntag (den 13. November) guf den Montag Nachts fror 
es fo ſtark, daß ein Heiner Teich, ver ſehr flach vor ver Statt 
liegi, ° trug. Das entvedteh zweie (Crespel und Rieſe )) Morgens, 
verfünbigten mir's, da / ich ſogleich Mittags hinauszog, Befig davon 
nahm, den Schnee weglehren, die hindernden Schilfe abſtoßen ließ, 
durch ungebahnte Wege durchſetzte, da mir denn bie andern mit 
Schaufel und Beſen folgten, und ich ſelbſt nicht wenig Hand an- 
legte. Und fo’ hatten. wir in wenig Stunden den Teich umkreiſet 
und durchkreuzt. Und wie weh that's uns, als wir ihn bei. un- 
freundlicher Nacht verlaffen mußten! Der Mond wollte nicht herauf, 
nicht Hinter den Schneewolfen hervor.” * An demſelben Abend 
befand ſich Goethe im Crespel ſchen Haufe mit Niefe, Maria 

1 Qgl. Wagner I, 55+ 

2 Hofrath, wie ihn Wagner III, 409 nennt, war er damals noch nicht. 

Wahrſcheinlich die im Winter überſchwemmte Wiefe am fogenannten 
Kettenhof vor dem Vodenpeimer Thor. gl. oben ©. 224. 

“Nu ein Gefep: wir verfaffen nicht eh’ den Strom, 
Bis der Mond am Himmel ſinkt. (Klopftod.) 
Goethe B. 22, 9: „Einen herrlichen Sonnentag fo auf dem Eife zu ver⸗ 
bringen, genügte uns nicht; wir fepten unfere Bewegung bis fpät in die 
Nat fort.“ Del. B. 18, 258 f. wo Blavio und Hilarie fih von dem 
glatten Boden nicht ablöfen Fönnen. Ueber KlopftoF's Eisoden vgl. Menge 
„Srinnerungen an ®r. 2. Etolberg" ©. 6 ff. Goethe an Knebel Nro, 319. 


219 


Katharina und Johann Bernhard Erespel, wo er in das Stammbuch 
Peter Reynier's vom Jahre 1680 folgenbe Verſe ſchrieb (B. 6, 65 f.): 


Wer etwas hierin will machen laſſen, 
Den Bitte, Unzucht drauf zu laffen: 
Er wieberige mich wieder um fo viel; 
In Ehren — fand ihm bienen will.“ ' 
Ein teures Bildfein fiehft bu hier; 
Boll Pergament und weiß Papier, 
Das wohl fon an bie hundert Jahr' 
Zum Stammbuch eingeweihet war. 
Präbeftination ift ein Wunberbing. 

Wie es dem lieben Büchlein ging, - 


-_ So ging es auch, wie's jeber ſchaut, 


Dem König von Garba? feiner Braut. ” 


Die beiden Ieptern Verſe ſtehen nur in der Onartanegabe, find in 
allen übrigen ausgefallen. V. 3 if wohl zu fefen: Erwiederige nicht 
(wi) wieder ihm (im) fo viel d. 5. ich: ermiebere ihm dagegen nicht 
das Geringfte, wie erwiederigen oberbeutfch flatt erwiedern ſteht; 
tm vierten Verfe freie man Stand, fo daß Stand dienen Apulid, 
wie Stand halten gefagt wird. Reynler fehte diefe Verſe gleichſam 
als Motto in fein Stammbuch, welches Fräulein Grespel in dem wahr« 
ſcheinlich vor kutzem von ihrem Vater gefanften Haufe fand. 

Es muß Garbo gelefen werden; denn Goethe deutet Hier auf die 
Geſchichte Hin, welche bei Boccaccio IL, 7 erzählt wirt. Der Sultan von 
Babpfon Beminedab Hat feine wunderfchöne Tochter Aatiel dem arabiſchen 
König von Garbo zum Weibe verſprochen. Das Schi; anf welchem er 
fie dem Bräutigam mit vielen Schäten zufendet, geht zu Grunde. Watiel 
erfebt viele Schifale und muß die Luſt vieler Liebhaber befriedigen, von 
denen einer’ ben andern töbtet oder auf eine andere Weiſe um bie ſchöne 
Beute bringt, bis fle endlich durch einen glücklichen. Zufall zu ihrem Vater 
qurüdtehet, den ‚fie durch ein geſchict ausgefonnenes Märchen über bie 
Art, wie fie ihre Keuſchheit erhalten, zu täufen weiß. Und fo wird 
Aatiel, nachdem fe duich fo viele Hände gegangen, vom König von 
Garbo mit höͤchſter Freude aufgenommen. Ed essa. che con otio huo- 
mini forse diecimilia volte giaciuta era, fo ſchließt die Novelle, a lato 
a lu si coried per-pulcella, e fecegliele credere, che cosl fosse: © 
Reina con lul lielamente pol plü tempo visse; e percio si disse: 
Bocca baciata non perde venturä, anzi rinnuova, come la luna. Die 








" Davon id die Hifteriam 
Hier nicht erzähl” aus Sit’ und Scham, 
Wie ſolches auf dem vor/gen Blatt 
Herr Rehnier '8 fh ausgebeten hat. 
Möcht' ex wohl worgefehen haben, 
Was drüber fümen für feine Knaben. 
G'nug, er das Buch für gutes Gelb 
Für feine Freunde weiß; beftelft. 
Drei, vier Bfätter, bie find befchrieben, 
Die andern find auch weiß geblieben,“ 
Hat fie das Geſchick mir zugebadht. 
Nach Erbſchaftsmoder und langer Nacht, 
Zog es enbli der Jungfrauen Flor? 
Aus Schutt’ und Staub und Graus hervor, - 
Und gab es mir, und fepenft’ es mic, 
As wohlbekannt wegen viel Gefchmier, * 
Daß id) Papier und Pergament 
Erfülle? mit Werten meiner Händ’; 
Dazu bei Schnee und Winternacht 


Worte wie's jeder'fhant feinen auf eine am Rande ſtigirte, wohl 
nicht zu anftändige Zeichnung hinzudeuten, wie ber König von Garbo mit 
feiner Brant zu Bette geht. Die Mahanng des feligen Repnier Hatte ven 
Widerſpruchegeiſt des humoriſtiſchen jungen Dichters geweckt. der nicht unter» 
laffen founte, an’ eine ſolche höchſt unanftändige Geſchichte zu erinnern, 
an deren Schluffe Borcaceio’s zuhörende Damen auffeufsen. Forso n’eran 
di quelle, fügt dieſer hinzu, che non meno per vaghezza di cos} spesse 
nozze, che per pielk di colel sospiravano. Daß ®oethe ſchon damals 
mit Vorcacelo befannt war, zeigt diefe bisher noch nicht nachgewieſene 
Geſchichte. Wir werden weiter unten, in dem Auffage über Lili, ſehn, daß 
Goethe im Jahre 1776 eine andere Erzählung Boccaceio’s zu feinem Ge— 
Dichte „der Falke" benugen wollte. Ueber unfere Erzählung, die aud La 
fontaine in feiner Flaneée du roi de Garbe behandelte, vgl. Bal. Schmidt 
„Beiträge zus Gefchichte der romantiſchen Poefle* ©. 11. Du Meril 
Histoire de la po6sie Scandinave. S. 346. 

! Die Dnartansgabe liest Reyniers, 

? Hiervon erhielt Fräulein Grespel den Beinamen Zungternffer, 
welchen fie im befreundeten Kreife befäubig führte, 

3 Dan erinnere ſich, daß eben „Werthers Leiden“ erfchlenen waren. 


21 





Der Anfang alfobald gemacht, 

Da wir wohl hinter'm Ofen jagen, 
Borsborfer Aepfel weiblich fraßen. 
Zugegen war bie Jungfrau fieb, 

Bon Poſt und Kirch’ zwei große Dieb’, ' 
Dadurch Weihung nicht gering 

Ihre rechte Wilrbigfeit empfig, 

Da es nad) Ehrift eintauſend Jahr' 
Siebenhundert und vierundfiebzig war, 
Zwei Tage nach Martini Tag, 
Abends mit dem achten Glodcenſchlag. 
Frankfurt am Main, des Wihes Flor, 
Nicht weit vom Eſchenheimer Thor; 
Findeft das Haus nad dem ABE, 
Hundert fiebenundfunfzig Lit. D. ? 
Und Hiermit mach’ ich ben Beichluß; 
Hab freilich alles nicht beſchrieben, 
Genug, was wir zuſammen trieben, 
War nit actus continuus, 


Am felgenden Abend fügte er folgende Nacfchrift hinzu: 


Den Abend brauf, nach Schrittſchuhfahrt, 
Mit Jungfräulein von ebler Art, 


* Erenpel und Rieſe. Das Kaſtenamt und die Kirchenbuchführung 
waren damals vereinigt, aber wahrſcheinlich muß Ratt Kirqh gelefen wer. 
den Kaf, da Biefe unter feinen Breunden den Namen Kaftendieb 
führte. Auffallend iſt es, daß bier nicht Horn erwähnt wird, der mit zu 
dieſem engen Breundesfreife gehörte. Rieſe beſaß ein doppeltes Schachbrett, 
an welchem Goethe, Grespel, Horn und er felbft zufammen zu fpielen pilegten. 

2 In des alten Grespel Anzeige von der Aufgabe feines Geſchäfts (bei 
Maria Belli VI, 91) vom 26. März 1776 wird das Hans in ber Efchene 
heimer Gaſſe Lit. D. Nro. 157 als feine Wohuung bezeichnet. Am 4. Juli 
41794 verkauften die Erben des im März deſſelben Says verftorbenen 
Grespel biefes Haus an den Ghirurgus Ernft Unger, vom welchem ea no 
jest das Unzer'ſche Haus genannt wird, mit dem Beinamen zum 
goldenen Huhn; es iR das dritte Hans vom Thore ab uub liegt neben 
dem nengebauten Mihlene ſchen Haufe, wo ber Reicheverwefer Erzherzog 
Iohann während feiner Anmefenheit in Brankfurt wohnte. 


252 


Staatsfirichentort, gemeinem Bier, 
Den Abend zugebracht allhier 
Und Aeugelein und Lichter. Glanz, 
„Ram, Sitha, Hannemann und fein Schwanz. ' 


AS er an biefem Abend um zehn Uhr nach Haufe Fam, fehrieb 
er .‚gleih an Bödmann: „Ich komme vom Eis, erſt durch eine 
Geſellſchaft und durch ein Abendeſſen. am Tifh, wo Sie ud _ 
faßen. Ich bin fehe müde, ic; habe Bahn gemacht, gefehrt mit 
den Meinigen, neue Freta entvedt ꝛc. Ich mar aufm Eis ıc., 
den 14. November 1774." Den andern Tag fiel Thaumetter ein, 
doch fragt er Böcnann an dieſem Tage, ob er die Schrittichuhe 
habe machen laſſen, indem er bemerft, er habe niemand finden 
Tönnen, dem er die Verfertigung anvertraut hätte. 

Wenn der junge, in raſchem Siegeslauf auf ber Bahn des 
Ruhmes dahinfliegende Dichter ſchon bisher durch die vielfachen ehren- 
vollen Beſuche von bedeutenden Dichtern und Gelehrten ? die allge- 

’ gemeinfte Aufmerkfamfeit der Frankfurter auf ſich gezogen hatte, bie 
ſich nicht genug wundern konnten, wie biefer ein ſolches heiter Luftiges, 
faft flubentenmäßiges Leben arglos fortfegte, fo mußte ge neugierige 


* Durch) die ihm aus Dapper' befanut geworbenen indiſchen Märchen 
wußte Goethe die Geſellſchaft immer anzuziehen und zu erheitern. „Der 
Altar des Ram,“ erzaͤhlt er (8. 22, 109), „gelang mir vorzüglich im Nach ⸗ 
erzäpfen, und ungeachtet ber großen Mannigfaltigfeit der Perſonen biefes 
Märcgens blieb doch der Affe Hannemaun der Liebling meines Bublifume.“ 
Rama gewinnt mit Hülfe des in Affengeſtalt erfpeinenden Windgottes 
Hanuman die ſchöne Sita von Ravanı. Wenn Goethe fügt, er habe die 
indiſchen Fabeln zuerſt aus Dapper’s Reifen kennen gelernt, fo ift 
hier jenes Holländer „Vefchreibung“ (nicht Meifebefchreibung) von Perfien 
und dem Lande des Großmoguls gemeint, von welher im Jahre 1883 eine 
deutſche Ueberfegung von I. Chr. Beer zu Nürnberg erfchien. 

2 @inige Monate fpäter, am 13. Bebrnar 1775, fehreibt er an Augufte 
Stolberg: „Noch eins, was mic glüdlih macht, find die vielen edlen 
Menſchen, die von allerlei Enden meines Vaterlands, zwar freilich unter 
viel unbebeutenden, unerträglicgen, in meine Gegend, zu mir Fommen, 
manchmal vorübergehen, manchmal verweilen. DManeweiß erft, daß man 
it, wenn man fih in anderen wieberfindet.« 





253 
Antheil, den fie an ihm nahmen, und fein Unfehen um fo höher 
fteigen, als .gat fürftliche Perfonen feine Bekanntſchaft zu machen 
fuchten. Anfangs Dezember trat der Erbherzog von Sachſen ⸗ 
Weimar mit feinem jüngern Bruder die Reife nach Karlsruhe an, 
wo er bie Bekanntſchaft ver Prinzeffin Luiſe von Heflen- Darmftabt 
machen follte, welche die Herzogin Amalia ihm zur Braut beftimmt 
hatte.‘ Gegen ven 10. Dezember kamen fie in Frankfurt an, wo 
Knebel, der Exzieher des Prinzen Konftantin, am Abend des 11. 
dem Dichter einen Beſuch machte, und als biefer den Wunſch 
äußerte, über die Berhältniffe in Weimar, von denen er fo viel 
Gutes vernommen, nähern Aufſchluß zu erhalten, gar freundlich 
erwieberte, es fei- nichts ‚leichter, als dieſes, da der Erbherzog, 
der eben mit feinem Bruder in Frankfurt fei, ihn zu ſprechen und 
kennen zu. lernen wünſche. Wahrſcheinlich hatte Herzogin Amalia 
den Erbherzog auf ven jungen talentvollen Dichter hingewieſen, ob- 
gleich diefer ihren geliebten Wieland heftig angegriffen hatte. Nach 
einer aus guter Duelle flammenven Nachricht? hätte Herzogin 
Amalia unfern Dichter im Herbft 1772 in Bad Ems kennen Iernen, 
wo feine Schönheit und fein geiftreiches Wefen ihre Aufmerffamteit 
anf ſich gezogen. Wenn aber eine damals erfolgte Einladung der 
Herzogin nad Weimar als Beranlaffung zur wirklichen Hinreiſe 
angegeben wird, fo können wir bies unmöglich gelten laſſen, da 
einmal bie mehrmalige Zuſammenkunft Goethe's mit Karl Auguft 
im Dezember 1774, im Juni, September und Oftober 1775 feft- 
ſteht, und an eine ſolche Einladung eines litterarifh noch gar 
nicht belannt  geworbenen‘ jungen Mannes — denn im Herbſt 
1772 waren nur die vom Breitfopf in Mufif gefegten Lieber 
erſchienen — kaum zu benfen iſt. Eher wide man eine folche 
* Eon om 24. Dejember fepreibt die Herzogin Amalia an Graf Görg: 
„Sie werben bie Grende begreifen, bie ich über den Eutſchluß meines Eopnes, 
die Herzogin’ Luiſe zur Fran zu nehmen, empfinde.” Qgl. Bär „Hits: 
riſche und politiſche Denfwürbigfeiten“ 1,10. Kuebels „literariſcher Nache 
laß and Briefwehfelr 1 S. XXIV. . 
? Bei Maria Belli TIL, 106 *, deren Angabe durch einen nahen Ver- 
wandten Gpethe's ald eine in der Bamilie gehende Eage beflätigt wird. 


254 

im Jahre 1774, wo Goethe mit Pavater und Baſedow in Ems 
war, anzunehmen geneigt fein, da er damals bereits durch 
den „Gög“ und die Farze auf Wieland allgemeines Aufſehen 
erregt hatte; aber- die Herzogin Amalia verließ in den Jahren 
. 1772 —1775, nad) dem Zeugniffe der Hoffourierbücer, wie mir 
Herr Hofrath Preller mittheilt, Weimar nur zu Meinen Ausflügen, 
wie nach Gotha und Erfurt, war ſicher nicht in Ems, fo daß 
die in Goethe's Familie gehende Sage auf einer Verwechslung, 
etwa mit ber Gräfin von Werthern (vgl. S. 238), beruhen muß. 
Knebel ftellte den Dichter dem Erbherzog und dem Prinzen Kon 
flantin noch an demſelben Abende vor; dieſe aber unterhielten ſich 
mit ihm nicht allein auf das freunblichfte, fondern zogen ihn andy 
zur Tafel, und nahmen ihm das Verſprechen ab, ihnen nach Mainz 
zu folgen. Knebel blieb am folgenden Tage, dem 12. Dezember, 
bei Goethe in Frankfurt zurück, mit dem er am 13. nad Mainz 
fuhr, von wo er an vemfelben Tage an feine Schwefter Henriette 
ſchrieb: „Ich blieb geftern allein in Frankfurt, um ven beften aller 
Menſchen (Goethe) zu genießen. Heute‘ bin ich mit ihm hierher 
gefahren, wo wir umfere Prinzen wieber angetroffen haben, und 
viefen Abend werben wir in bie Komödie gehn.” Zwei Tage ver- 
lebte er in Mainz mit den beiden Prinzen, dem Grafen Görg, 
Knebel und dem übrigen Gefolge im Gafthofe „zu ten drei Kronen“. 
In, wiefern Goethe's Darftellung des Mainzer Aufenthaltes in 
„Wahrheit und Dichtung" (B. 22, 247 ff.) ber. Wahrheit gemäß 
fei, läßt ſich nicht genau beſtimmen, jedenfalls ſcheint er demſelben 
eine zu lange Dauer ·beizulegen. Als Goethe mit dieſem Theile ſeiner 
Lebensbeſchreibung beſchäftigt war, ſchrieb er an Knebel (am 
27. März 1813): „Eins wollte ich dich recht ſchön erſuchen, um 
eine detaillirte Nachricht von unſerm erſten Zuſammentreffen, und 
was damals in Weimar (Frankfurt?) und Mainz vorgefallen. 
Ueber diefe fo wie einige andere Epochen Hat ver Fluß Lethe fo 
ziemlich feine Gewalt ausgeübt. Ich bin eben an der Stelle, und 
möchte nicht gern ftoden bleiben." Jedenfalls wurde damals eine 
Verföhnung mit Wieland eingeleitet. Einen förmlichen Brief, wie 


255, 


in „Wahrheit und Dichtung“ erzählt wird, durfte Goethe ſchwerlich 
an Wieland gerichtet, ſondern wohl nur einige Worte zu einem Briefe 
Knebel's an Wieland hinzugefügt haben,“ wie er es bei einem ähn- 
lichen Briefe an Knebel's Schweſter that. So war denn das Ver⸗ 
hãltniß zu dem Weimarer Hofe auf das freundlichſte eingeleitet. 

As aber Goethe, noch voll von ber zutranlichen Güte ber 
Weimarer Prinzen, nad) Haufe zurüdtehrte, wurde er von der Nach- 
richt, daß Fräulein von Klettenberg während feiner Abweſenheit 
verfdjieden fei, ſchmerzlich getroffen. Diefe treue, frommglänbige 
Freundin, welche mit feliger Ruhe alle Verwicklungen und Ber- 
irrungen ber in natürlicher Reinheit ſich entfaltenden ſchwunghaften 
Junglingsſeele beobachtet Hatte, war am 9. Dezember gefährlich 
erkrankt. und vier Tage darauf ber Erbe entrückt worden. Wohl 
hätte er gewünſcht, ihr vor allem feine weitern Ausfichten mit 
reinem Vertrauen vorlegen und ſich ihres einſichtigen Rathes erfreuen 
zu Können, aber er ſollte eben zeitig genug kommen, um bie geliebte, 
viel erfahrene, mit Heiterkeit ihrem Gotte zugewanbte Freundin zur 
Grabftätte zu geleiten; fie, deren klar alle menfchlichen Verhältniſſe 
durchſchauenden Geift er in fo manchen Lebenslagen erprobt hatte, 
war jegt bahingegangen, ohne ihn für die Folge feiner Tage ge- 
fegnet zu haben, und doch fühlte er ahnungsvoll, daß er auf einem 
bebeutenben Entwidfungspimkte feines Lebens angelangt: war; wies 

Echon am 28. Degember. hatte er, wie er an Kuebel ſchreibt, anf 
feinen „Gruß eine freundliche Antwort Wieland's. 

? Wenn Guhraneo als Datum bet beiden erfien Briefe des Knebel ſchen 
Vriefwechſels den 43. und 28. Sebruar 1774 angibt und damit gegen bie 
zicptige Chronologie, welche den erflen Veſuch Knebels in ben Dezember 
fest, zu Felde sieht, fo iſt dies ein unverzeihliches Verfehen, freilich nicht 
größer, als wenn er cinen Brief vom 28. Oftober (1780) vom 13. Bebruar 
(1779) datirt, Vgl. Goethe's Briefe an Ftau von Stein 1, 364 mit Brief 
44 des Goethe · Rnebelfchen Bricfwechfels. 

® Man vergleiche. den Bericht des Pfarrers Claus bei Lappenberg 
€. 279, der nicht in der Stammtäfel deu 16. Degember als Todestag anz 
geben durfte, Auch die Beſtimmung (Maria Belli X, 132), daß fie fünf 
Ho Jahre, eilf Monate und breinndgwangig (Holle) Tage alt geworten, 
fimmt, da fie am 49. Dezember 1723 geboren ward. 


256 





ihn ja jegt alles nad) Weimar hin, wo aud; feinem Genius eine 
freie Bahn fid) eröffnen‘ konnte, wie dort Wieland bereits eine 
ruhige, heitere und chrenvolle Stätte gefunden hatte. Aber ehe er 
dorthin gelangte, follte noch einmal die glühendſte Leivenfchaft der 
Liebe fein Herz ergreifen, her gewaltigfte Sturm ver Gefühle fein 
Innerſtes von Grund aus erſchüttern, damit er nad fo manden 
Leiden, bie ihn zum Dichter ver Liebe geweiht, in Weimar in ver 
Freundfchaft des evelften Fürſten ſich felbft mieberfinde umd in 
einem beſchränkten, aber ſicher zu überſchauenden Belle heramwadıfe 
und gebeihe. 

‚Das Verhältniß zu Anna Sibylla Mind war allmählich in 
ſich erlofchen. Ueber ihr meiteres Leben haben wir nur: wenige 
Nachrichten. Nach dem Tobe ihres Vaters, am 8. November 1788, 
übernahm ber Bruder das Geſchäft, in weldem bie Erbſchaft ver 
drei Schweftern blieb; er heiratete ein Fräulein von Badhaufen 
aus Heilbronn, und kaufte ſich ein Gut in Liederbach in ver Nähe 
von Frankfurt; aber das Geſchäft ging unglücklich und verſchlang 
fein eigenes, wie feiner Schweftern Bermögen. Am 18. Juli 1799 
ward Anne Sibylla Munch, die- unter. diefen traurigen Verhält- 
niffen fehr litt, als Konventualin in das. Lutherifche Katharinen- 
Hofter zu Frankfurt aufgenomifen, wo fie am 6. November 1825 
ſtarb. Auch eine ihrer Schweflern ftarb umverheiratet, bie anbere 
fol fi) mit einem Prediger Schmibt in Leipzig vermählt haben. 

Zum Schluß fei es vergönnt,-nohmals auf den Iuftigen Kath 
Crespel zurüdzufemmen, dem wir zum erftenmal den gebührenben 
Plag unter Goethe's Jugendfreunden angewiefen haben. Cr blieb 
nod) ein Jahr länger, als Goethe, in Frankfurt, wo er im ge- 
wohnten Kreiſe fehr beliebt war, beſonders auch bei Goethe's 
Mutter, an. deren Samstagsgejellihaften er Theil nahm. ' Im 
November 1776 ging. Erespel als Archivarius nach Regens- 
burg, wo er ſich aber, da ihm ein vortheilhaftes Aeußeres und 

«Ihrer „Samstagemädel® erwähnt Goethes Mutter and in dem 


Briefe an bie Herzogin Amalia vom 11. April 1779 (Dorow's „Remini- 
feengen" S. 132). 


257 


weltmännifche Gewandtheit abgingen, fehr unbehagli fühlte. Im 
einem Briefe vom 5. Januar 1777 von Goethes Mutter an Ereöpel ' 
ſchreibt diefe, nachdem fie ihm für die geſchwinde Beftellung eines 
Briefes gedankt, und ihm zugleid einen neuen Auftrag gegeben 
hat: „Ich weiß, ihr nehmt die viele Mühe, fo euch das Ding 
macht, nicht übel; ihr. folt aud dafür am runden Tiſche figen, 
umb über euer Haupt foll ein ganzes Füllhorn vom Guten ausge⸗ 
fehüttet werben. Geſtern (der 4. Januar war ein Samstag) wäre 
es für euch ein Hauptfpaß gemefen. Jammerſchade, daß ihr in 
Regensburg figt! Acht junge Mädels waren bei mir, zwei De- 
moifellen Elermont, die Minden Start (Tochter ihrer Schwefter 
"Anna Maria) u. ſ. w. Wir fpielten Stirbt ver Fuchs, fo gilt fein 
Balg, ? ımb da gab's end Pfänder, daß es eine Luft war. Auch 
wurden Märden erzählt, Räthſel aufgegeben, es war mit einem 
Wort ein groß Gaudium. Eure Grüße an bie Mar (Brentano), 
Tante (Johanna Fahlmer), Gerod’s habe wohl ausgerichtet; fie 
haben euch fammt umb fonbers lieb und werth, und wünſcheten, 
daß ihr wieder ba wäret. Nur für einen gemiffen Peter ift eure 
Abweſenheit ein groß Labfal; es iſt überhaupt ein wunderlicher 
Heiliger. ° Bis die arme Mar in's neue Haus kommt, wird's 
vermüthlich noch manchen Tanz abfegen.“ Einen weitern Brief 
der Frau Rath an Erespel, in welchem Ießterer von neuem wegen 
des Betreffenden Gefchäfts * beauftragt wird, am 1. Februar 1777 

* Bei Wagner II, 147. 

2 Vgl. Goethes Gedicht, das ven Namen von dieſem Spiel fügrt 
G. 4, 11 f). Daffelbe erſchien erft 1789, fol aber zur Straßburger Zeit 
gebichtet fein. J 

3 Wohl der Gatte von Mar Brentano, Peter Anton Brentano, den 
Grespel mit feinem Spotte verfolgt zu haben feheint. Er war Feineswegs 
ein Mann, „mit dem ſich leben ließ", wie Goethe gehofft hatte. 

Es Handelt fih um eine Schuld von achtzehn Gulden, hie Greäpel 
einziehen ober fich eine gute Anweifung, In Branffurt zahlbar, geben faffen 
fol. „Ih und Herr Rath,“ fehreibt Goethe's Mutter, „bedauern nur bie 
viele Mühe, die euch das Ding verurfacht.” In dem vorigen Briefe heißt 
es: „Einen mädtigen, großen Lobſtrich foll ich euch im Namen des Papa's 
(Rath Goethe) ſchreiben. — Nun hat der Vater noch eine Bitte.“ 

Dünger, Frauenbilber. 17 


258 
geſchrieben, hat Frau Maria Belli im Anhange zu ihrer Schrift 
„Meine Reife nach Ronftantinopel® S. 322 ff. abbruden Inffen. 
„Lieber Sohn!“ ſchreibt Goethe's Mutter. „Auf der einen Geite 
hat mir Ihr Vrief große Freude und Wonne gemadit; denn alles, 
was von Ihnen, mein Befter, kommt, vergnügt mich. Aber um 
Gottes willen, fagen Sie nur, was das für ein trauriger Ton ift, 
der Ihrem Brief das Anfehen vom Propheten Jeremia in feinen 
Rlaglievern gibt. Auf das Regensburg habe ich nun Zeit meines 
Lebens einen unverföhnlihen Haß; das muß ein garftiger Ort fein, 
wo man unfgen fieben, braven Erespel fränfen und feinen treff— 
lichen Charakter verfenmen Tann. Cine Stange Gold von vierzig 
Pfund ohne allen Stempel ift doch wahrlich beffer, als ein Viertel: - 
dukätchen, welches noch fo ſchön geprägt und von Juden und Chriften 
für gäng und gäbe gehalten wird. Verdienſte bleiben Verbienfte, 
und werben von allen rechtſchaffenen Leuten gefühlt und hochgeſchätzt; 
um ber andern feinen Buben * ihren Beifall ober Tadel braucht 
ſich ein ehrlicher Kerl nicht zu befümmern. Denkt, durch mas alles 
euer Bruder, ber Doltor (Goethe ſelbſt), fi hat durchſchlagen 
möffen, was für Gewäſch, Geträtih, Lügen u. f. w., bloß weil 
die Leute nicht begreifen konnten, wie man, ohne von Abel zu fein, 
Verftand haben könnte. Faſſet alſo eure Seele in Geduld, mtchet, 
daß ihr eure Gefchäfte bald in Orbnung bringt, alsdann flieget 
zu uns! Mit aller freundſchaftlichen Wärme follt ihr empfangen 
werben; brauf verlaßt euch! Wir Fennen euren innern Werth, und 
was ihr wiegt, und wir nicht allein, fondern andere gute Menſchen 
wiſſen's aud); unter denen grüßt euch beſonders Jungfer Fahlmern, 
die Fran Reſidentin? und bie Gerocks. Alle Samstag reden wir 
vom Bruber Erespel und bevauern, daß ihr ung nicht lachen hefft.. 
Wir haben jegt ein Stedenpferb, weldes ung ein groß Gaudium 


* Im „O5g* erzaͤhlt Georg (8. 9, 58): „Und bie feinen Buben bee 
guten mich von vorn und hinten.“ Regensburg war damals noch Sit 
des Reichztages. 

? Marimiliene Brentano; denn Frau von Ia Rode hatte Brentano zu 
ber Würde eines kurtrieriſchen Rathes und Reſidenten verholfen. Mer I, 448. 


"39 


macht: das ift die neue beutfche Opera von Herrn Brofeffor Kein 
in Mannheim, Günther von Schwarzburg '; fie ift von ber löblichen 
Samstagegeſellſchaft mit Noten, Anmerkungen, ja fogar mit Hand 
zeichnungen verbeffert und vermehrt worden. Ferner hat ung Bhi- 
fipp? ein Berzeichniß von ven Weimarer Karnevalsluſtbarkeiten zu⸗ 
geſchidt.“ Einen Brief von Frau Ia Rode an Erespel vom 
18. April 1777 theilt ebenfalls von Maria Belli (a. a. O. 
©. 331) wit, doch ift derſelbe ohne beſondere Bedeutung. Er ber 
ginnt mit den Worten: Crespell que faitez vous? vivez vous 
encore? Cette feuille doit vous prouver, que la mama existe 
— qu’elle n’a pas cesse de vous estimer — quoiqwelle a 
cesse de vous &erire. Der Schluß lautet: Etes vous heureux, 
mon fils? aimez vous le s6jour de Ratisbonne? ditez- moi 
cela et assurez vous de Pestime et de Tamiti6 de tout ce 
qui s’appelle de-la Roche. 

Im Mai 1777 kehrte Crespel von Regensburg nad) Frank⸗ 
furt zurüd, wo er ſich im bekannten Kreiſe bald wieder behaglich 
fühlte. Im Jahre 1779 ſah er ohne Zweifel feinen Freund Goethe 
in Begleitung des Herzogs in Frankfurt wieder. Am 27. März 
1787 vermählte er fi mit Fräulein Maria Henriette Schmiebel 
(geboren am 7. Dezember 1753). Goethes Mutter hob feinen 
älteften Sohn aus ver Taufe. Die Ehe war eine überaus glüd- 
liche. AS Gatte und Vater verdiente Crespel alles Lob, wenn er 
and, als höchſt vrigineller Mann, manche Eigenheiten hatte, wie er 
denn feine Meiver und Schuhe felbft verfertigte. Nach dem Tode 
feines Vaters verkaufte er fein Haus in Frankfurt (am 1. Juli 1794) 
und zog, um bem Wunfche feiner kränkelnden Frau zu willfahren, 
nad Laubach, wo ein Oheim derfelben wohnte, und Graf Solms 
ihm für eine geringe Entſchädigung ein großes Grunbftüd überließ, 
weil er ihn bei ſich zu feffeln wünſchte. Das Haus, welches er 
daranf baute, zeichnet ſich freilich von außen durch feine bizarre 
Bauart unvortheilhaft aus, ift aber im Innern fehr wohnlich und 

4 Bl, Merk I, 100. II, 94. . 

2 Bol. oben S. 195 Note. 





30 ° 
bequem. Crespel flarb am 24. November 1813; er erlebte alfo 
noch das Erſcheinen des zweiten Theiles von „Wahrheit und Dich- 
tung", in welchem er ohne Nennung feines Namens eingeführt 
wird, bagegen erſchien der britte Theil mit ber Erzählung der 
Mariagenlotterie erft nad) feinem Tode. 

Einen ſehr ſchlimmen Dienft hat dem Andenlen Erespel’s ber wun⸗ 
berliche Clemens Brentano erwiefen, der einft unferm phautaſtiſchen 
Ernft Theodor Amadeus Hoffmann ein fo bizarres Bild von Crespel 
entwarf, daß biefer fi veranlaßt fah, mande Züge veffelben zu 
einer zuerſt in Fouqus's „Frauenalmanach“ für das Jahe 1818 ' 
mitgetheilten Erzählung zu verwenben, welcher er ben Namen „Rath 
Erespel“ vorzufegen und fo einen ehrenwerthen Mann einer leines · 
wegs erfreulichen Unfterblichkeit zu überantworten wagte. Der 
eigentlichen Erzählung fehlt jede hiſtoriſche Grundlage; nur daß 
es bei dem Hausbau etwas wunderlich zugegangen, aber nicht in 
der Weife, wie e8 Hoffmann barftellt, fo nie das etwas ungelenle 
äußere Weſen Erespel’s, vie Selbftanfertigung feiner Kleider, bie 
Liebe zur Muſik — er fpielte vortrefflich die Viola d’amour — 
unb vieleicht einige anbere Meine Züge find in der Wirklichkeit be- 
gründet. Das Erfcheinen diefer Erzählung mußte Crespel's das 


! Die Exlaͤhlung erſcheint dort ©. 225 ff. in einem Postscriptum 
eines an ben Herausgeber gerichteten Briefes, und es geht ihr folgende, 
jegt weggefallene Schilderung von Rath Grespel vorher, die ohne Zweifel 
ſtart übertrieben iR: „Ein nicht zu großer, aber fehr Hagerer Mann in 
einem grauen Kleide, fo zugeſchnitten, wie ihn jeht unfere Zünglinge 
tragen, und bie Tracht beutfch nennen, jedoch mit vielen Schnären befet. 
Dazu war der Mann nach der Militärmode der fiebzehnhuͤndertſechiger, 
flebziger Jahre frifiet, nämlich ein Coeurtoupée, einer aufgemorfenen 
Schanze nicht undpnlich, piftofenhalfterfärmige Locen und ein langer, im⸗ 
vofanter Zopf mit angehefteter Kokarde. Sein Gefiht war fehr bleich, 
aber auf deu fpigen, hervorſtehenden Badenknochen ein rother glec; unter 
Überhängenden Yugenbraunen blipten ein paar große, grane Augen hervor; die 
Nafe war gebogen, ſcharf gezelchnet, der Mund heraufgegogen zum Ironie, 
schen Lächeln, das Kinn lang und hervorragend.“ Sein Wohnort wird dort 
mit E. nicht mit H — beheichnet, der junge in Antonie verlichte Roms 
poniſt vurh ..®... . 


261 

Andenken ihres zärtlich geliebten Vaters in frommer Erinnerung 
ehrende Kinder tief verlegen; fie wollten deshalb Clemens Brentano 
zur Rede ftellen, der durch feine bizarre Schilderung bie erfte Ver- 
anlaffung zu dieſer auch von Hoffmanns Seite nicht zu entſchul⸗ 
digenden novelliftifchen Verunglimpfung gegeben hatte, aber feine 
Familie behauptete, feinen Aufenthaltsort nicht zu wiſſen. Auch 
über ihm Hat fich feit dem Jahre 1842 die Gruft geöffnet; möge 
es feinem zweiten Hoffmann in ven Sinn kommen, fein wunderlich 
tolles, die herrlichften Geiftesgaben verſchwenderiſch mißbrauchendes, 
in Wiverfprüchen und ſeltſamſten Sprüngen fid) erſchöpfendes Leben 
auf ähnliche Weife darzuftellen! Crespel's Name aber möge fürber 
unter Goethe'8 beften und anregendſten Jugendfreunden mit Aner- 
kennung genannt werben, bie wir ihm um fo mehr ſchülden, als 
der große Dichter, ber bei feinem ſtets vorwärtöbrängenben, bie 
Gegenwart ganz ausfülenden, und kaum einen Rüdbfid auf bie 
Vergangenheit geftattenden Streben und Wirken fo manche frühere 
Fäden ‚ganz fallen laſſen mußte, feiner nicht ganz nach Gebühr 
und nur mit Verſchweigung feines Namens gedacht hat. 


IV. 


Anne Elifabeth Schönemann (Sili) und Angufte fuife 
von Stolberg. 


Wenn je einen Dichter die Leidenſchaft ber Liebe von frühefter 
Jugend bis zum fpäteften Greifenalter mit flammenber Gut, ent- 
zündete und alle ihre unendlichen Freuden und Schmerzen mächtig 
durchempfinden ließ, fo war es Goethe. Aber die Natur hatte biefem 
fo glüdlich gebilveten Geifte mit der Weichheit eines tief empfinben- 
den Herzens bie Kraft bulvender Entfagung verliehen, durch welche 
ex aus allen leidenſchaftlichen Verhältuiffen, wenn auch unter er- 
ſchutternden Leiden, reiner und geläuterter hervorging, And endlich) 

‚in bem freilich die längfte Zeit über der kirchlichen Weihe entbeh- 
enden ehelihen Bunde allen Anfechtungen zum Trotz treu und 
ſtandhaft blieb. Uebergehen wir die erfte Neigung des heranwach- 
fenden Knaben, über welcher zum Theil noch ein ſchwer aufzu- 
hellendes Dunkel ruht, fo verliebte ſich ver etwas altkluge Leipziger 
Student in feinem fiebzehnten ober achtzehnten Jahre in bie brei 
Jahre ältere Tochter des Wirthes Ehriftian Gottlob Schöntopf, 
der eine geiftvolle un Iebenbige Franffurterin, eine geborene Hau, 
zur Frau hatte, und ein Meines Weinhaus im Brühl befaß. Aber 
Goethe verlor bald die herzliche Neigung ber Geliebten — ſie hieß 
Anna Ratharina, und warb gemöhnlih Käthchen genannt! — 

* In „Wahrheit und Dichtung· nennt er fie Aennche n. Das Gebigt 
Gluck und Traum“ (8. 1, 38), in ben „neuen Liedern“ bei Breitfopf „an 

D 


durch bie mannigfachen eigenfinnigen Quäfereien, die er ihr bereitete, 
beſonders durch feine tollen’ Eiferfüchteleien, fo daß er ſich einen 
andern vorgezogen fehn mußte, wenn auch ein vertrauliches Ver⸗ 
hältniß zu ihr und ber Familie noch fortbeſtand. Der Schmerz 
über biefen Verluft, den er ſich ſelbſt zufchreiben nußte, erhielt 
feinen dichteriſchen Ausbrud in dem Meinen Schäferfpiele: „die Laune 
des Berliebten“. '* Hatte dieſe erfte Liebe noch etwas Knabenhaftes, 
fo wurde er ſich dagegen in der Sefenheimer Pfarrerstochter aller 
Reize einer in reinfter Unſchuld. und Natürlichkeit prangenden, mit 
innigfter Hingebung dem Geliebten zugewandten Seele voll bewußt. 
Wie ihm in Frieverife das reizende Landmädchen entgegentrat, fo 
fand er zu Weblar in der höher gebilveten, aber in beſchränktem 
Kreiſe fid) bewegenden Amtmannstochter das Bild glädlichfter Häus- 
lichleit, welche in ihrer felbftbewußten, auf reinftem Wohlwollen 
und fhönfter Gemüthlicleit beruhenden Thätigkeit auf alle ven 
mohlthätigften Eindrud übte. Doch mit blutendem Herzen mußte 
er dem immer heängftigenderen Berhältniß zu feiner geliebten Lotte 
„entfagen, da er fie als Berlobte eines .andern, tüchtigen und achtungs« 
wertben Mannes fand. Gleich nad) der Trennung von Lotte follte 
in Thalehrenbreitſtein die ältefte Tochter ber Fran von la Roche, 
Marimiliane Euphröfgne, ihm ben Lieblichften Anklang feiner ſchmerz ⸗ 
lich bewegten Gefühle bieten, doch wagte er nicht ein engeres Ber- 
häftniß, mit ihr anzulnäpfen, ba er bereits fo viele Bittere Exfah- 
rungen, in ber Liebe gemacht hatte, und fid nicht von nenem ums 
befonnen einer Leidenſchaft hingeben wollte, bie ihn ohne Zweifel 
ergriffen haben wilrde, hätte ein längeres Zufammenfein ihn mit 
dem fo liebenswürdigen Mäbchen verbunden gehalten. Als biefe 
mein Mädchen" äberfihrieben, führt im „Almanach ber deutſchen Mufen“ 
auf das Jahr 1776, wo es in der urfpränglicen Borm erfcheint, bie 
Ueberfgprift: „An Annetten⸗. 5 . 
‘As er fie als Frau Dr. Kanne im März 1776 in Leipgig wieder 
gefehen hatte, fehrieb er an Brau von Stein: „Alles iſt (in Leipzig), wies 
war, nur ich bin anders; nur das if geblieben, was bie seinften Ver- 
haltniſſe zu mir hatte damals — mais — ce n’est pas Julie.“ Gin paar 
Tage fpäter Iefen wir 3 habe mein erſtes Maͤdchen wiebergefehen.” 


264 





darauf nad) Frankfurt heiratete and er dort in täglichen Zufam- 
menleben bie jebes Glückes wilrbige jugendliche Freundin, melder 
der neue, ihr durch falfche Rüdfigten aufgebrungene Zuftand un- 
behaglich war, ‚bitter leiden, ſich ſelbſtẽ vom Befige eines ſolchen 
herrlichen, zu feinem vollen Herzen ſprechenden Weſens ausgeſchloſſen 
ſah, da überfiel ihn eine unſägliche Verzweiflung · am Leben, ber 
er ſich durch die dichteriſche Abſpiegelung in „Werthers Leiden“ ent⸗ 
ledigte. Wie aber darauf der Zufall ein zärtliches Verhältniß zu 
begünſtigen ſchien, das jedoch bald erloſch, weil es nur aus reinem 
Wohlwollen floß und der glühenden Kraft ſehnender Leidenſchaft 
ermangelte, haben wir im vorigen Aufſatze darzuſtellen verſucht. 
Wenn Goethe's Mutter Lili die erſte Heißgeliebte ihres Sohnes 
nannte, * fo dürfen wir dies in dem Sinne vollkommen billigen, 
daß die Glut der Leidenſchaft ihn diesmal ganz verſchlang, weil er 
in Lili das feinem Geiſte ebenbürtige Mädchen gefunden zu haben 
glaubte, welches die nothwendige Erfüllung ſeines Weſens bilde, 
von deſſen Beſitz ſein ganzes Lebensglück abhängig ſei, wogegen er 
in Friederike nur das heitere, natürliche, reizende Mädchen geliebt 
hatte, das ſeine Gefühle verſtand und zu erwiedern wußte, und 
das Verhältniß erſt dann ihn zu leidenſchaftlichem Schmerze trieb, 
als er ‚erfannte, wie unglücklich er fie durch feine Liebe gemacht 
hatte, da er im jugenblichem Rauſche Anforderungen in ihrem 
‚Herzen erregt hatte, die er nicht zu befriedigen vermochte. :Ia man 
darf wohl fagen, daß Goethe im höchſten Sinne des Wortes nur 
“ einmal geliebt Habe, indem- er in Lili allein bie vom Schidfal ihm 
beftimmte Seele, von der alle Ahnungen feines Herzens ihm 
feit früher Jugend verfündet, zu haben fehienen, das einzige ganz 
gleichſtimmige Wefen gefunden zu Haben glaubte, an deſſen Erlangung 
fein .Dafein geknüpft fei. 
Je höher der Ruhm des Dichter durch bie nicht allen von 
der Jugend mit leidenſchaftlicher Haft verfälungenen’ „Leiden des 
jungen Werther's“ geftiegen war, um fo mehr bemühten ſich bie 


Bol. Goethes Briefwechſel mit einem Rinde I, 188 (130). 
« 


265 


angefehenften Familien Frankfurts, ihm in ihre Kreife zu ziehen, 
was ihnen aber felten gelang, da er meift Einladungen in vor- 
nehme" Geſellſchaften, welche ihu, heim Mangel wahrhaft geift- 
reicher ober gemüthlicher Unterhaltung, arg langweilten, von ſich 
ablehnte, Ex. jelbft erzählt: „Der Quafifremde, angekündigt als 
Bär, wegen oftmaligen unfreunblichen Abweiſens, dann wieder als 
Hurone Voltaire's, Cumberland's Weftindier, ' als Naturlind bei 
fo vielen Talenten, erregte die Neugierde, und fo beichäftigte man 
ich in verſchiedenen Häufern mit ſchicklichen Negotiationen, ihn zu 
ſehn.“ An einem ver legten Abende des Jahres 1774 erfuchte 
ihn ein Freund (man könnte an Georg Meermann oder Philipp 
Niloleus Schmidt denken, bie ſich in biefen Kreifen bemegten und 
mit Goethe befannt waren, ober an ven Muſiker Kayſer?), er möge 
ihn zu einem Konzerte in dem höchſt angejehenen reformirten 
Haufe der Wittwe Schönemann begleiten. Johann Wolfgang 
Schönemann, geboren am 17. Mai 1717 hatte ſich im März 1749 
mit dee Tochter des Kaufmanus Johann Nos dOrville, Sufanna 
Eliſabeth, geboren im Jahre 1722, vermählt. Aus biefer Ehe 
entfprofien ſechs Söhne und zwei Töchter, ? von denen Anna Eli- 
fabeth, Goethes -Lili, am 23.. Juni 1758 geboren warb, ? bie 
anbere das britte Jahr nicht überlebte. Schünemann hatte ein fehr 
bedeutendes Banfgefhäft in dem ſchönen, auf dem großen Korn- 


! Zum Bären vgl, „Eilts Park (B. 2, 71 ff) an Fran von Stein I, 173. 
Der Hurone iſt ans Voltaire UIngenu. Gumberfand’s Luftfpiel „der Wer 
inbier® wurbe zu ſtiner Zeit — es erſchien im Jahre 1769 — mit großem 
Beifall aufgenommen. Das Stud wurde auf dem herzoglichen Privat: 
theater zu Weimar im Jahre 4778 aufgeführt, wo Goethe den Beleour 
machte. Val. Sqholl zu den Briefen an Frau von Stein I, 182 f. 

2 Bon Kitts fehe Brüdern farben zwei in jungen Jahren; einer, 
Heintich, ward drei Monate nad) dem Tode des Waters geboren; bie 
übrigen waren alle älter, als Lili. 

® Der 23. Iunt wird als iht Tauftag angegeben (Maria Belli IV,, 130). 
Nach Goethe war fie an dieſem Tage geboren (B. 22, 306. 308), wonach 
fie am Tage ihrer Geburt getauft wurde, mas bei Bomefuen, wenn es 
anders möglich, allgemeine Sitte war. 





286 





markt neben ber deutſch⸗ reformirten Kirche gelegenen Edhauſe, jept 
Eigenthum des Kaufmanns Peter Bonn, befien Großvater e8 von 
Lie Mutter kaufte. Aus einem anf einen Heinen Play ſchauen- 
den Feuſter des Hinterhaufes fol Lili durch Zeichenſprache ſich 
oft mit Goethe verabredet haben. Schönemann ſtarb ſchon im Jahre 
1763, doch ſetzte die Wittwe, deren Vater erſt im September 1770 
im einundachtzigſten Jahre ſtarb, das Banlgeſchäft fort, und machte 
nach wie vor ein glänzendes Haus. Bei ihr verſammelte ſich, was 
damals in Frankfurt als Ausnahme galt, jeden Abend eine ger 
wählte Geſellſchaft, und wer einmal eingeführt war, galt ſtets 
willtommen. Den Hauptanziehungspunft bildete die ſchöne, liebens · 
wilrbige und. geiftveiche Tochter, bie durch eine ausgezeichnete Erzie⸗ 
hung ihre Talente auf die veichlichfte Weile entfaltet hatte, da fie 
nicht nur im Zeichnen, Singen und Klavierfpielen wohl bewanbert 
war, ſondern auch artige.Gebichte machte und ſich mit zierlicher 
Gewandtheit in jeder Beziehung bewegte. Eben war Goethe mit 
feinem’ Freunde in das geräumige Wohnzimmer zu ebener Erde 
getreten, als die ſechzehn Jahre alte Lili‘ ſich am ben in ber 
Mitte ftehenden Flügel fegte, und eine Sonate mit bedeutender 
Fertigkeit und Anmuth fpielte. Der junge Dichter ftellte ſich an 
das untere Ende des Flügels, um die Geftalt und das Wefen ber 
Spielerin nahe genug benterfen zu könuen: fie hatte etwas Kinb- 
artiges in ihrem Betragen; alle Bewegungen, zu denen fie durch 
das Spiel genöthigt wurde, waren ungezwungen unb leicht. Nach 
Beendigung der: Sonate trat fie ihm gegenüber an das Ende des 
Flügels, und fie begrüßten fi}, da bereit# ein Quartett begonnen 
hatte, nur ſtillſchweigend; beim Schluffe des Quartetts aber trat 
er ihr näher, ımb ſprach feine ‚herzliche freude aus, daß gleich Die 


In demfelben Alter fanden Friederike, Lotte und Anna Sibylla 
Münd, als der Digter in ein näheres Verhältniß gu ihnen trat. Auch 
DMarimiliane von la Roche lernte er in biefem Alter fennen. Merfwürdig, 
vaß die Melgung des Knaben und des noch unentwidelten Fänglings älteren 
Mädchen galt; man denke an Gretchen, die Schwefter von Derones — denn 
fo hieß der Schauſpielerknabe wirklich — uud Käthchen in Leipzig. 


2367 


erſte Belauntſchaft ihm durch ihr ſchönes muſikaliſches Talent erfreut 
habe. Lili wußte hierauf einige artige Worte zu erwiedern, und 
ex glaubte eine Anziehungskraft eigenſter Art zu empfinden, wäh- 
rend fie in ihrer einmal gegeneinander eingenommenen Stellung 
ſich gegenfeitig anblidten. Da die Geſellſchaft an biefem Abend be» 
fündig hin und her wogte, fo blieb jede andere Art der Annäherung 
unmoglich, bod gab die Mutter beim Abſchied ven Wuuſch zu er- 
kennen, den Dichter bald in ihrem Haufe wieder begrüßen zu Können, 
was bie Tochter von ihrer Seite mit einiger Freundlichkeit wie- 
derholte. 

Er verfehlte nicht, feinen Beſuch in freien Tagesftunden ' zu 
wiederholen, wo ſich denn ein heiter verftändiges Geſpräch ergab, 
das noch Fein leidenſchaftliches Verhältniß ahnen ließ, wenn auch 
die Stunden, bie er theils in Gegenwart der Mutter, theils mit 
Lili allein zubrachte, zu feinen angenehmften Genüffen gehörten, 
da ihre natürliche Offenheit und ihre geiftreiche Anſchauung, ver- 
bumben mit dem unenblichen Reize ihres ganzen Weſens, ihn wie 
ein verwanbtes Sein anſprachen. Es währte nicht lange, daß fie 
ihm in ruhig pertraulicher ·Stunde die Gefchichte ihrer Jugend er- 
zählte, die Zuftände, unter welden fie im Genuſſe aller gefelligen 
Bortheile und Weltvergnügen aufgewachſen war und ſich entmidelt 
hatte, wobei fie ihre Brüder, Verwandten und nächſten Belannten 
auf geiftreich heitere Weife ſchilderte; nur ihre Mutter Tieß fie in 
ehrmärbigem Dunkel ruhen. Auch ihrer ſelbſt fehonte fie hierbei 
nicht, und läugnete unter anderen Meinen Schwächen gar nicht, 
daß fie eine gewiſſe Anziehungsgabe, mit der zugleich die Eigen- 
ſchaft, die Ungezogenen wieber fahren zu laſſen, verbunden fei, an 
ſich bemerkt zu haben glaube, ja fie gab im Laufe des Gefpräches 
zu, daß fie dieſe Gabe auch am ihm verfucht Hape, jedoch dadurch 
beftraft worden fei, daß fie ſich auch von ihm angezogen fühle. 
Alle diefe Belenntniffe gingen ans einer fo reinen, kindlich offenen, 

! Goethe erzaͤhlt, dies fei nach ſchicklichen Panfen geſchehen: inde ſſen 
iR kaum zu zweifeln, daß die Paufen nur kurz waren und bald fein Tag 
opne Beſuch Hinging; denn das Verhältniß entwidelte ſich fehr raſch. 


268 

ſich ganz hingebenden Seele hervor, daß er fi dadurch, wie von 
feinem eigenen, auf heiterm Grunde hervortretenben Bilde gefeflelt 
fühlte. Hatte ihn in Friederike das einfache Landmädchen mit allen 
Reizen holden Naturlebens angezogen, hatte ihn Lottens . ftille, 
auf Befonnenheit und Güte beruhende Häuslichkeit ganz eingenom- 
men, fo erſchien ihm in Lili das im Mittelpunkt ver Bildung und 
des Prunflebens erzogene Weltmädchen, deſſen geniale Leichtjertig- 
keit auf wahrer Herzlichteit und tiefer Gemüthlichteit beruhte, das 
im Kreiſe bewundernder Lobpreifer und Verehrer jene ungezwungene 
Gewandtheit und jene fpielende Leichtigkeit fi erworben Hatte, durch 
welche fie alle Welt zu bezaubern mußte. Unfer Dichter fühlte ſich 
durch das herzige, frei natürliche, geiftreichem Scherze, ja zum 
Theil Übermüthiger Laune geneigte Weſen unwiderſtehlich gefeffelt 
— war dies ja das Abbild feines eigenen Selbft —, dagegen be⸗ 
rührte ihn die leichtfertige Weltgewandtheit, mit ber fie allen zu ö 
gefallen, über die Herzen aller zu gebieten fuchte, höchſt unbehaglich 
— und doch entſprach auch diefer Zug volllommen feiner eigenen, 
mit Allgewalt alle Herzen für fi) gewinnenden und in freieftem 
Lebensgenuffe fidy-gefallenden Natır —; fie und ihr Herz wünſchte 
ex allein zu befigen, e8 auch nicht dem Scheine nad) mit anderen 
zu theilen, ihm follte es ſich in trautenı Wechjelgefpräche ganz er- 

* öffnen, an ihm hängen, nur in ihm und durch ihn leben. Um fo 
ſchmerzlicher mußten für ihn die Tage fein — und biefer waren 
gerade an dem mit dem Beginne ber eigentlichen Winterluftbarkeiten 
zufammentreffenden Anfange feiner Bekauntſchaft gar viele —, wo 
er fie nur in glänzenden geſellſchaftlichen Kreifen fehn ſollte, wo 
fie mit ihrer unendlichen Liebenswürbigkeit und Anziehungskraft 
alle bezauberte, ohne daß ex fich ihrer herzlich vertrauten Neigung 
erfreuen burfte. Wie ſehr ihn auch inneres Mißbehagen beſtimmte, 
ſich vom höhern Geſellſchaftsleben zurückzuziehen, ſo ſah er ſich 
jetzt doch durch das Verhältniß zu Lili in dieſe Kreiſe und ihre 
rauſchenden Feſtlichkeiten hineingezogen: denn er fühlte wohl, daß 
er auch dies Lili zu Liebe dulden müſſe, die ganz mit ſeinem Herzen 
verwachſen war, wie er dies tiefempfunden in dem die vollſten 


269 


Herzenstöne anfchlagenden, „ai Belinden“ . überfchriebenen Liede 
(8. 1, 57 f., aus dem März 1775) ' ausfpridht, welches ber Ge- 
liebten mitgetheift und von dem gemeinſchaftlichen Freunde Andre 
in Mufit gefegt wurde. 


‚Warum 2 ziehft du mich umtiberfteich 
AG! in jene Pracht? . 
Bar ich guter Junge nicht fo felig 

Im ber üben Nacht? 


Heimlich in mein Zimmerchen verfchloffen, 

Lag im Mondenſchein, 
Ganz von ſeinem Schauerlicht umfloſſen, 

Und ich dämmert' ein. 

Träumte da von vollen goldnen Stunden 
Ungemifchter Luft, 

Ahnungsvoll hatt’ ich bein Bilb empfunden ® 

Tief in meiner Bruſt. 


Bin ichs noch, ben du bei fo viel Eictern 
u An dem Spieltifch hätt, ” 

Oft fo unerträglichen Geſichtern 

Gegenüber ftelft? 


* Das Lied fandte Goethe zur Aufnahme in die „Iris am 21. März 
1775 au Jacobi. Vgl. Goethe's Brief an Jacobi von biefem Tage. Am 
15. April war es bereits erſchienen. Dgl. den Brief von diefem Tage an 
Augufte Stolberg. 

2 In „Wahrheit und Dichtung“ B. 22, 407 ſteht bei Anführung des 
Anfanges irrthümlich „Ad wie zieht“. 

So ſteht im erfien Abdrucke, in ber „Iris“ (Märgheft 1775) 11, 240. 
Wenn Wagner die jedige Lesart: "Satte ganz bein liebes Bild empfunden“, 
bereits in einer am Merck überſchickten Abfchrift gefunden Haben will 
(1, 69°), fo muß dies auf Jrrthum beruhen. Im Jahre 1789 lieh 
Goethe druden: „Hatte ſchon dein liebes Bild empfunden“. Im erſten 
Drude des vierten Theile von „Wahrheit und Dichtung“, wo das Gedicht 
in der fpätern Geftalt eiefigt wird, fand irrig „das liche Kind“ Ratt 
„bein liebes Bild“. 


270 
Reigenber it mir des Früßlings Blüte 
Nun, nicht auf ber Flur; 
Bo du, Engel, Sit, ift Sieh und Güte, 
Bo du Sit, Natur. 


Daffelbe Gefühl fpricht ſich in dem gleichzeitigen Gebichte: 
„Neue Liebe neues Leben“ (B. 1, 56 f., zuerft in der „Iris“ II, 
242 f.) in einer etwas heiterern Weife aus. 


‚Herz, mein Herz, was ſoll das geben, 
Was bebränget dich fo ſehr? 

Welch ein fremdes, neues Leben! 

Ich ertenne dich nicht mehr. 

Weg ift alles, was bu fiebteft, 

Weg, worum bu dich betrübteft, 

Weg bein Fleiß und beine Ruh’; 

AH! wie kamſt du mir dazu? 


Feffelt dich die Iugenbbläthe, 
Diefe liebliche Geſtalt, 

Dieſer Blick voll Treu' und Gilte, 
Mit unendlicher Gewalt? 

Will ich raſch mich ihr entziehen, 
Mid, ermannen, ihr entfliehen, 
Fuhret mich im Augenblict 

AH! mein Weg zu ihr zurüd. 


Und an biefem Bauberfäbhen, 
Das fich nicht zerreißen laßt, 
Hält das liebe, loſe Mädchen 
Mic) fo wiber Willen feit; 
Muß in ihrem Zauberkeeife 
Leben mm auf ihre Weife, 
Die Verwandlung, adj! wie groß! 
Liebe, Liebe! laß mid) Iosl! 
"Im vorfepten Verſe fhrieh Goethe fon im Jahre 1789 Bere 


äudrung, wie im ſecheten Verſe ber erflen Strophe warum, im achten 
nur dazu? ° 


271 
Um bie Zeit biefer gewaltſam auflodernden Liebesglut fällt 
auch ber Anfang von Goethes Briefen au feine nie mit Augen 
gejehene Freundin Augufte Luiſe von Stolberg.‘ Durch den Göt- 
finger Dichterbund und deſſen Patron Klopftod war Goethe auch 
mit den Grafen Stolberg, die. bereits im Herbft 1773 Göttingen 
verlaffen und nad Kopenhagen "gegangen waren, in Verbindung 
- gelommen. Diefe hatten befonbers, über „Werther's Leiden" dem 
Dieter ihren enthuſiaſtiſchen Beifall zu erkennen gegeben. Auch 
die Schwefter Augufte hatte, ohne ſich zu nennen, ihm ihre Gefühle 
ausgeſprochen, worauf er „ber thenern Ungenannten“ gleich nach 
dem Empfange ihres Briefes, gegen den 18. Ianuar,? in erften 
Gefühlsfturme zu ermwiebern begann. „Meine Theure — ic) will 
Ihnen Teinen Namen geben; denn was find die Namen Freundin, 
Schweſter, Geliebte, Braut, Gattin, ober ein Wort, das 
-einen Compler von all denen Namen begriffe, gegen das unmittel- 
bare Gefühl, zu dem — id; farm nicht weiter fehreiben; Ihr Brief 
hat mid, in einer wunberlichen Stunde gepadt. Adieu, gleich den 
erften Augenblick!“ Es ift eine charakteriſtiſche, beſonders in dieſem 
Briefwechſel hervortretende Eigenheit Goethe's, daß er auch den 
vertrauteſten Seelen gegenüber ſeine ihn im Innern durchwühlenden 
Gefühle nicht auszuſprechen vermag, da eine heilige Scheu ihn 
zurldhäft, feine geheimften, ihm ſchmerzlich ergreifenden Regungen 
Sriedrich Stolberg richtete im Jahre 1773 an biefe feine damals 
amanzigjährige Schweſter von Göttingen aus folgende Verfe (B. 1, 3%): 
Befte, du klagſt nicht, doc entfchleicht 
Mancher fehnende Senfger deinem Bufen, 
Trlbt dein blaues, ſchmachtendes Ang’ ein Schleier 
Schweigender Wehmuth. 
Dir, die fo zärtlich meine Seele liebet, 
Dir, adj, zürne night! ſchwieg id} feit dem bangen 
Anfiedsfuffe! Sage mir, deſtes Mäbchen, 
Sage, wie Fonnt’ ich? 
* Fünf Tage früher Hatte er an Knebel, den er um Rückſendung 
feiner ihm anvertrauten kleinen Gebichte gebeten, die Aeußerung gethan, 
er habe einige fehr gute produktive Tage gehabt. 


gu verrathen. Das, was ihn damals fo gewaltig aufregte, war 
gerade bie ihn ganz verfchlingende und ſchon beängftigende Liebe zu 
Lili, die er oft nur zu feiner Oual in glänzenden Geſellſchaften 
ſehn follte, wo fie ihre Anziehungskraft gegen alle übte. Gleich 
darauf, vielleicht nach einem bei Lili abgeftatteten Beſuche, lehrt 
ex zu feinem Briefe zutück. „Ich komme doch wieder,“ fährt er fort. 
„Ich fühle, Sie können ihn tragen, biefen zerſtückten, ſtammelnden 
Ausdruck, wenn das Bild des Unendfihen in uns wühlt. Und 
was ift das als Liebe! ' — Mußte er Menden machen nah 
feinem Bilh, ein Geſchlecht, das ihm ähnlich fei,? was müflen 
wir fühlen, wenn wir Brüder finden, unfer Gleichniß, uns felbft 
verdoppelt!" Endlich am 26. Januar will er den Brief fortfchiden; 
ex legt, nach ber Sifhouettenliebhaberei der Zeit, feine Silhouette 
bei, indem er zugleich um bie ber Unbelannten bittet, „aber nicht 
in's Meine; ben großen, von ber Natur genommenen (nicht durch 
den Storchſchnabel verfleinerten) Riß bitt' ih.“ Doc auch dies- 
mal blieb der mit dem „herzlichſten Adieü“ ſchließende und bereits 
datirte Brief Fiegen. Bor ber wirflichen Abfendung fügt ‘er. hinzu: 
„Der Brief ift wieder liegen blieben. D haben Sie Gebuld mit 
mir! Schreiben fie mir, und in meinen beften Stunden will id 
an Sie denken. Sie fragen, ob ich glüdfih bin. Ja, meine 
Befte, ich bin’s, und wenn ich's nicht Bin, fo wohnt wenigftens 
all das tiefe Gefühl von Freud’ und Leid in mir. Nichts außer 
mir ſtört, ſchiert, hindert mich, aber ich bin wie ein Meines Kind, 
weiß Gott! Noch einmal Adieu!“ Was ihn eigentlich beglüdt 
unb quält, .verräth er der Freundin nicht. 

Um diefe Zeit befand ſich auch Friedrich Jacobi, mit welchem 
Goethe im vorigen Juli den innigften Seelenbund geſchloſſen hatte, 


* Im der Liebe will ber Menſch fi nicht einfeitig in ſich befcpränten, 
fonbern fich ſelbſt außer ſich erfaffen; es treibt ihn, fid im Unendlichen mieder 
au finden, nach-biefem ziehen ihn feine geheimften Ahnungen und Wünſche hin. 

? Kurz vorher ließ Goethe feinen Prometheus fagen (8. 7, 241): 


3% Habe fie geformt nach meinem Bilde, 
Ein Geſchlecht, das mir gleich fel. 


273 
zu Frankfurt, wo er auf ber Reife nad) Karlsruhe vier Wochen, 
bis in ven Februar, vermeilte. Wenn biefer, nebft dem ihm 
befreundeten Kreife feine Zeit und Theilnahme auch vielfach in 
Anſpruch nahm,' fo war es doch beſonders die Liebe zu Lili, 
welche fein Herz bebrängte umb ihn völlig hinriß, was er. freilich 
dem Freunde, dem fein. fhaffender und wirkender Geift ſich ver- 
wandt fühlte, verheimlicht zu haben ſcheint, wogegen er ber ent- 
fernten Freimbin immer näher trat, und feine Gefühle, wie er es 
in’ ähnlichen Fällen immer zu thun pflegte (vgl. oben ©. 7), 
ihr anvertraute, gleichſam an ihrem Buſen Erleichterung feines 
gepreßten Herzens ſuchte. Diefer fehreibt er. am 13, Februar, 
einem Montage, wohl am frühen Morgen nach einem rauſchenden 
Feſtballe: „Wenn Sie fi, meine Liebe, einen Goethe vorftellen 
tönnen, ber im galonixten Rod, fonft von Kopf zu Fuße auch in 
leidlich Tonfiftenter Galanterie, umleuchtet-vom unbedeutenden Pracht 
glanze der Wandleuchter und Kronenleuchter, mitten unter allerlei 
Leuten von ein paar fhönen Augen am Spieltifhe gehalten wirb,? 
der’ in abwechſelnder Berftrenung aus ber Geſellſchaft in’s Konzert 
und. von ba auf ben Ball getrieben wird, und mit allem Intereffe 
des Leichtſinns einer niedlichen Blondine ven Hof macht, fo haben 
Sie den gegenwärtigen Faſtnachtsgoethe, der Ihnen neulich einige 
tumpfe, tiefe Gefühle vorftolperte, der nicht an Sie ſchreiben mag, 
der Sie auch manchmal vergißt, weil er fi in Ihrer Gegenwart 
ganz unausſtehlich fühlt." Man erkennt, wie biefes Leben ihm 
herzlich zuwider ift, und wie auch feine Leidenſchaft zu Lili, der zu 
Liebe er in das raufchende Leben ſich gewagt hat, auf einen Augen- 
blick abgekühlt ſcheint. Wie wenig er in ſolchen Vergnügungen ſich 
behaglich finde, ſchildert er der ihm ſchon ihrem Namen und Stande 


NAn Wieland fepreibt Jacobi von Mannheim ans am 44. Bebruar 1775, 


er habe eben vier Wochen mit Goethe, fo zu fagen, täte-h-tdte zugebracht. 

" 2 Man vergleiche das Lieb „an Belinden“. Das Kartenfpiel, welches 
Goethe nur als ein nothwendiges gefellſchaftliches Webel bulbete, ohne ihm 
Geſchmac abgewinnen zu Munen, muß ihm in der damaligen Zeit gar 
verhaßt gewefen fein. 

Dünger, Brauenbilder. v 18 


nad) befannt geworbenen Freundin, bie er nod immer als „theure 
Unbelannte“ anrepet, in folgenden. Worten: „Aber mın gibt 's nody 
einen (Goethe), den im grauen Biberfrad mit dem braunfeidenen 
Halstuch und Stiefeln, der in der ftreihenden, Februarluft ſchon 
den Frühling ahnet, dem nun bald feine liebe, weite Welt wieder 
geöffnet wird, der, immer in ſich lebend, ftrebend und arbeitend, 
bald die unſchuldigen Gefühle der Jugend in Heinen Gedichten, 
das fräftige Gewürze des Lebens in mandjerlei Drama’s, die Ge-- 
ftalten feiner Freunde und feiner Gegenven und feines geliebten 
Hausraths mit Kreide auf grauem Papier nach feiner Maaße aus- 
zudrüclen fucht, weber rechts noch links fragt, was von dem gehalten 
werbe, was er machte, weil er arbeitenb immer gleich eine Stufe 
höher fteigt, weil er nad) feinem Ideale fpringen, ſondern feine 
Gefühle fid zu Fähigkeiten, kämpfend und fpielend, entwideln laffen 
will. Das ift ver, dem Sie nicht aus dem Ginne fommen, ber 
-auf einmal am. frühen Morgen einen Beruf fühlt, Ihnen zu 
fchreiben, deſſen größte Glüdfeligkeit iſt, mit ben beften Menſchen 
feiner Zeit zu leben.“ In legterer Beziehung fpricht er feine Freude 
über die Beſuche vieler edlen Menſchen aus, die von allen Gegen- 
ven her zu ihm kommen. Da bas Verhältuiß zu -Lili augenblicklich 
fid) etwas erfäktet zu haben ſchien, fo ſchloß er fi um fo inniger, 
an bie ferne, nie gejehene Freundin an. „Ob mir übrigens ver- 
rathen worden, wer And wo Gie find“, fo fließt er ben Brief, 
"thut nichts zur Sache; wenn id) an Sie denke, fühl' ich nichts als 
Gleichheit, Liebe, Nähe! Und fo bleiben Sie mir, wie ich gewiß 
auch durch alles Schweben und Schwirren durch unveränderlich bleibe. 
Recht wohl —! Diefe Kußhand —! Leben Sie recht wohl!" Aber es 
dauerte nicht lange, fo ſchlug die Liebesflamme zu Lili wieber hoch auf. 

In die legte Hälfte des Februar ſcheint die Vollendung ber 
ältern Bearbeitung von „Erwin und Elmire“ zu fallen, von melden 
— es erſchien zuerft im zweiten Bande der „Gris“' — Goethe 

* Am 27. Januar fehreibt Jacobi an Wieland, diefes Stüd — denn 
Bein anderes iſt das borf genannte „Drama mit Arien" — werbe in ben 
dritten Theil (da8 dritte Stüd des gweiten Bandes) der „Iris“ kommen, 

. . 


275 


ſchon am 21. März Aborüde in Händen hatte. Er hatte das 
Stüd, aus welchem die glähendfte, tiefempfundenfte Liebe fpricht, 
der Geliebten mit folgenden voranſtehenden Verſen zugeeignet: 

Den Heinen Strauß, den ich bir Binde, 

Pftückt” ich aus dieſem Herzen hier. 

Nimm’ ihn gefällig auf, Belinbel, 

° Der Heine Strauß, er ift von mir. 

„Erin und Elmire“ erſcheint gleichſam als Gegenftüd zu „ver 
Laune des Berliebten“: wie in dem Iegtgenannten Schäferfpiel der 
Liebhaber die Geliebte durch leere Eiferfüchteleien quält, womit ber 
Dichter auf fein Verhältniß zu Käthchen hindeutet, fo hat in „Er- 
win und Elmire“ die Geliebte den Liebhaber durch ihre feheinbare 
Kälte fat zur Verzweiflung gebracht, daß er auf und davon ge- 
gangen ift, worin fi wohl eine gewiſſe Mahnung an Lili aus— 
ſprechen follte, bie zur großen Qual des Geliebten alle anzuziehen 
fucht. Noch eine andere dramatiſche Dichtung, in meldher vie 
glähenofte Liebe ihren Ausdruck gefunden ‘hat, ſcheint in biefer Zeit 
begonnen worben zu fein, „Stella.“ Diefe meint Goethe ohne 
Zweifel, wenn er am 7. März an Augufte ſchreibt: „Bald ſchich 
ich Ihnen eins (ein Drama) geſchrieben. Könnt’ ich gegen Ihnen 
über figen, und es felbft in ihr Herz wirlen! — Liebe, nur daß 
es Ihnen nicht aus‘ Händen kommt! Ich mag das nicht drucken 
laſſen.“ Bereits am 21. März ſchreibt Goethe an Jacobi: „Daß Du 
meine „Stella“ jo lieb haft, thut mir fehr wohl; mein Herz und Sinn 
ift jet fo ganz wo anders hingewandt, daß mein eigen Fleiſch und 
Blut mir faft gleichgültig if. — Ich erwarte „Stella“ (eine Ab- 
ſchrift des Stückes, von dem er Yacobi Ende Februar manches hatte 
ſehn laſſen), und dann friegft gleich das andere Exemplar." 

Nach der Mitte Februar kam aud Jung Stilling nad Frank- 
furt, der, in Goethes Haufe freundlich aufgenommen, durch feine 
verzweifelnden lagen über den unglädlichen Ausgang der Staar- 
operation an dem Oberhofmeiſter von Leröner ihm und feinen 
Eltern, die ihn vergebens aufzurichten fuchten, große Noth machte. 
Schon in den „Frankfurter gelehrten Anzeigen“ vom 12. November 


276 

1773 wird auf die glücklichen Operationen des Dr. Yung hinge- 
wiefen, dem von ber ziemlichen Anzahl von Blinden, die ev bis 
dahin operirt habe, noch fein einziger verunglüdt fei. Am 7. Ja-⸗ 
nuar 1775 aber ließ der Hausarzt des Heren von Lersner, Pro- 
feffor Dr. J. M. Hoffmann, folgende Anzeige in's „Frankfurter 
Journal“ rüden: „Herr Dr. Jung von Elberfeld Hat ſich endlich 
nad vielem Erſuchen entſchloſſen, einen hiefigen Herrn am grauen 
Staare zu operiren, auf befjen Koften er zu Ende des Februar 
hier anfommen wird. Da berfelbe Heren Prof. Sorber aus Mar: 
burg und fo vielen anderen unter Gottes Beiftand ihr Gefiht auf 
die befte Art wiebergegeben hat, fo macht Endesunterzeichneter bes 
kannt, daß Patienten, die ſich dieſer erwünfchten Gelegenheit zu 
ihrem Beſten bebienen wollen, ihre Adreſſe und befchriebene Augen- 
krankheit an ihn franco ſchicken können, von dem fie alsdann bie 
gehörige Antwort bekommen ſollen, damit niemand vergebliche Reife: 
koſten anwende. Dieſer menſchenfreundliche und geſchickte Herr Dr. 
Jung, ber ſonſt nie fo weit verreist, wird aber von vielen Pa— 
tienten fehnlichft zurüderwartet; daher er nad) dem 11. März nie 
manb mehr zu operiven vornehmen Tann.” ' Goethe berichtet, Jung 
babe ihm gleich nach der Operation geftanden, daß er des Erfolgs 
wegen, ba er die Linſe mit einiger Gewalt habe ablöjen müffen, 
in Sorge fei, wogegen Jung felbft erzählt, alles fei nach Wunſch 
gelungen, und er ſei nie zufriebener geweſen, erſt nachher fei bie 
Sache bedenklich geworben und endlich ganz mißlungen. Die ſchreck- 
liche Angſt und Qual, welche der unglückliche Ausgang ihm bes 
reitet, ſchildern beide übereinſtimmend. 

Auch Jacobi traf auf feiner Rückreiſe von Karlsruhe Ende 
Februar in Frankfurt ein, wo er die Faſtnacht (Faſtnachtſonntag 


Gierdurch wird Stilling’s Ausfage (Jung Stilling's häuslichen Leben 
©. 42), er fel in der erfen Woche des Januar (dev erfte Januar fiel im 
Sabre 1775 auf einen Sonntag) von Elberfeld nad) Frankfurt abgereist, 
genügend widerlegt. Nach Goethe (8.22, 287) meldete er fi im Anfange 
des Jahres an. Jung Stilling ſchwebt auch am Ende des erſten Theils der 
Wahlverwandtſchaften. (8. 15, 147) vor. 





277 


fiel in biefem Jahre auf den 26. Februar)“ zubradite, welche 
Goethe in raufchenden Vergnügungen an Lili's Seite verlebte. „Den 
28. Februar haben wir getanzt,“ ſchreibt biefer an Augufte Stol- 
berg, „die Faftnacht beſchloſſen. — Ich war mit von den erften 
im Saale, ging auf und ab, dachte an Sie — und dann — 
viel Freud’ und Lieb’ umgab mid. Morgens, da id, nach Haufe 
kam, wollt’ ich Ihnen fehreiben, ließ e8 aber und rebete viel mit 
Ihnen.“ So ſchreibt · Goethe Auguften am 6. März Nachts bei 
feinem Freunde Andre in Offenbach, wohin er vielleicht Sonntag 
den 5. megen ber mufifalifchen Kompofition der Lieder in „Erwin 
und Elmire“ gegangen war. Bon neuem ſcheint eine Spannung 
zwiſchen dem liebenden Paare eingetreten zu fein, weshalb er in 
der genannten Nacht wieder feine Zuflucht zu der Freundin nahm, 
bie er jegt zum.erftenmal mit ihren Vornamen anrevete. „Warum 
fol ich Ihnen nicht ſchreiben,“ beginnt er, „warum wieder bie 
Beer liegen laſſen, nad) ber id) bisher fo oft reichte! Wie immer, 
immer hab’ ih an Sie gedacht. Und jego! Auf dem Land bei fehr 
lieben Menfchen — in Erwärtung — liebe Augufte — Gott weiß, 
ich bin ein armer Junge.“ Er erwartete in dem eben zur Stabt 
ſich Bildenden Offenbach die Ankunft Lil’, bie bei Onkel dOr⸗ 
ville, einem lebhaften jüngern, fehon längft verheirateten Manne 
von -liebenswürbigen Eigenheiten weilte, wo anftoßende Gärten 
und bis an den Main reichende Terraffen ben ſchönſten und freie- 
ften Blid im die Gegend gewährten. Ihm gegenüber wohnte ber 
Fabrilkherr Nikolaus Bernharb,? ein älterer Mann, ber eine 


! Nach dem Briefe au Frau von la Roche wird er am 24. ober 
25. Februar angefommen fein; er wollte bis zum 2. März verweilen. Da- 
mals erhielt wohl Goethe Nicola’ Schrift auf den „Werther“ und dichtete 
bie Arie in „Erwin“: „in Schaufpiel für Götter“. Vgl. meine Studien 
zu Goethes Werken ©. 195. Merd's Briefe II, 123. 

2 Bon viefem heißt noch der Montag in der dritten Meßwoche ber 
Nidelhestag, weil diefer wohlwollende Mann feinen Arbeitern diefen Tag 
zum Beſuche der Meſſe freigab, worin ihm bie übrigen Babrifen in Offen- 
bach folgten, woher aud die Berrunug dieſes Tages als Offenbader 
Meßtag ſtammt. 


278 


Schweſter der Frau Schönemann geheiratet hatte, und ein ſchönes 
Haus mit weitläufigen Fabrikgebäuden beſaß; Goethe nennt ihn 
mit feinem Familientitel Onfel Bernard. 

. "Was fol ich Ihnen jagen,” fährt Goethe fort, nachdem er 
des Beichluffes der Faſtnacht gedacht hat, „da ich Ihnen meinen 
gegemoärtigen Zuſtand nicht ganz fagen kann, da Sie mid nicht 
kennen! Liebe! Liebe! bleiben Sie mir hold! — Ich wollt’, ich 
Kant’ auf Ihrer Hand ruhen, in Ihrem: Aug’ raſten. Großer 
Gott, was ift das Herz des Menſchen! — Gute Nacht! Ich dachte, 
mir ſollls unterm Schreiben beffer werden. — Umfonft! mein 
Kopf ift Überfpannt. Adel" Am folgenden Morgen treibt e8 ihn 
früh aus dem Bette, um feiner Schwefter Kornelia fein gepreßtes 
Herz zu öffnen, worauf er noch an die Freundin ein Wort richtet, 
der er fie ihre Silhouette dankt. „Wie ift mein und meines Bru- 
ders Lavater phufiognomifcher Glaube wieder beftätigt! Diefe rein 
finnende Stirn, diefe füße Beftigkeit der Nafe, biefe liebe Lippe, 
dieſes gewiſſe Kinn, ber Abel des Ganzen! Danke, meine Liebe, 
danke.” Am Abend fehreibt er: „Heut war. ber Tag wunderbar, 
habe gezeichnet — eine Szene (im „Fauſt ?“) geſchrieben. O wenn 
ich jetzt nicht Drama's fehriebe, ich ging’ zu Grunde.” Er will 
ihr nächſtens ein Drama in der Handſchrift ſchicken, das er nicht 
vruden laſſen wil. „Deun ich will, wenn Gott will, künftig meine 
und Kinder in ein Ecelchen begraben ober etablicen, ohne es bem 
Publiko auf die Nafe zu hängen." So läßt A. von Binzer bruden; 
die zu dem Worte meine beabfichtigte durch Mr. 3 angebeutete 
Note, fo wie aud Note 5 find ausgefallen. Wahrſcheinlich wollte 
Binzer bemerfen, daß Goethe bei dem Worte meine, durch irgend 
eine Störung veranlaft, abgebrochen habe; denn das folgende 
ſcheint am folgenden Morgen gefchrieben. Nachdem er ſich näm- 
lich über das „Audgraben und Seziven“ feines armen „Werther,“ 
fo wie über die abgefchmadten „Freuden Werther's“ von Nicolai bitter 
beklagt hat, fährt er fort: „Nun denn, Sie nehmen mir aud) das 
nicht Übel. — Nimmt mir's doch nichts an meinem innern Ganzen, 
rührt und rüdt's mich doch micht in meinen Arbeiten, die immer 


279 


nur die aufbewahrten Freuden und Leiven meines Lebens find; 
denn ob ich gleich finde, daß es viel raifonnabler fei, Hühnerblut 
zu wergiegen (wie es bei Nicolai geihah), als fein eigenes — bie 
Kinder tollen über mir; e8 ift mir beffer, ich geh’ hinauf, als zu 
tief in Text zu gerathen.“ Nachdem er in fein Zimmer zurückge⸗ 
kehrt ift, fährt er ſogleich fort: „Ich hab’ das ältefte Mädchen 
laſſen anderthalb Seiten int „Parabiesgärtlein" herabbuchſtabiren; 
mir ift ganz wohl, und fo gefegnete Mahlzeit! Abe! — Warum 
Tag’ ich dir nicht alles! — Beſte! — Geduld, Geduld hab’ mit 
mir!“ Mod an demſelben Nachmittag ober Abend oder am fol⸗ 
genden Tage ſcheint Lili nach Offenbach gekommen zu fein, wo 
er fid) wieder an ihrem Weſen ganz erfreuen konnte, ba er fie 
nicht in dem ihm beläftigenden und beängftigenben Schwarm zu- 
dringlicher Liebhaber und Berehrer fah, die fle an ſich heranzog, 
fonbern in vertraulichem Zufammenfein mit ihr ihre ganze Liebens- 
würbigfeit und himmlifche Güte vein genießen konnte. 

Am .10. März finden wir den Dichter wieber in Frankfurt, 
wo er, auf feiner Bergere liegend, auf dem Knie an Augufte 
ſchreibt: „Liebe, der Brief fol heute fort, und nur fag’ ich Ihnen _ 
noch, daß mein Kopf ziemlich heiter, mein Herz leidlich frei ift. 
— Bas fag’ ih! — O Befte, wie wollen wir Ausbrüde finden 
für das,’ was wir fühlen! Befte, wie Können wir einander was 
von unferm Buftande melden, ba der von Stund’ zu Stund' wech- 
felt! Ich Hoffe auf einen Brief von Ihnen, und die Hoffnung läßt 
nicht zu Schanben werben.” Hierauf folgt eine Reihe von Ge 
danlenſtrichen, welche die Unmöglichkeit, feinen Zuftand auszu- 
ſprechen, anbeuten follen. Er zeichnet darauf feine ganze Stube, 
wie fie vor ihm fteht, um bie Zeichnung der Freundin zu über» 
fenden. Der Brief fließt mit den Worten: „Halten Sie einen 
armen Jungen am Herzen! Geb’ Ihnen der gute Bater im Him- 
mel viel muthige, frohe Stunden, mie id ‚deren oft hab’, und 
dann Taf die Dämmerung kommen, tbränenvoll und felig! — Amen.“ 
ge feltener ſolche Beziehungen auf den Himmel bei Goethe find, 
um fo beveutfamer erſcheinen fie. Wir erinnern nur an bie Stelle 











280 





aus einem Briefe an Salzmann, oben ©. 31. Fragen mir aber 
nad) dem. Grunde jener gewaftfamen Aufregung, fo bürfte biefer 
nur in ben Hinberniffen zu fuchen fein,. die fih, wie Goethe wohl 
fah, feiner Vermählung mit Lili entgegenfeßten. Seinem Bater 
fagte bie Verbindung mit einer andern Religionsgebräuche übenben, ' 
an ein glänzendes Geſellſchaftsleben gewohnten Bamilie wenig zu, 
und er fühlte fi; ſehr mißſtimmt, daß ber Sohn ſtatt der früher 
in Ausficht ſtehenden, zu ben Verhältniffen feines, wenn auch ftatt- 
lichen, doch auf äußern Glanz und. ein bewegte, vornehmes Leben 
wenig berechnenden Haufes ganz paſſenden Schmwiegertochter eine 
Staatsdame ihm zuführen follte, deren Anforderungen hoch 
hinaus gingen. Dazu fam, daß das Schönemannifche Haus, bei all 
feinem Glanze, keineswegs als ein feſtſtehendes, gefichertes ‚galt, 
fonbern beſonders auch feines Aufwandes wegen gerechten Bedenken 
Raum gab. Frau Schönemann dagegen wünfchte die Verbindung 
ihrer Tochter mit einem durch Glanz und Reichthum ausgezeichneten 
Haufe, wodurch ihr Bankgeſchäft gehoben würde, wofür fie in dem 
Dichterruhme des aus einer wohlhabenden, aber fchlicht, bürgerlichen 
Familie ſtammenden jungen Goethe - feinen Erfat fand. Auch 
die Brüder Liliſs fcheinen die Verbindung nicht gern gefehen zu 
haben.“ So mußte denn das von beiven Familien wenig beglin- 
fligte Verhäftniß fir die Geliebten fehr peinlich fein, bie nur mit 
der Hoffnung einer fpätern Ausgleichung ſich tröften konnten. 


* „Die fogenannten Reformirten,“ bemerft Goethe B. 22, 329, „bil- 
beten, wie auch an anderen Orten die Refugies, eine ausgezeichnete Klaffe." 
Dafelbft erwähnt er ihrer Kirche in Bodenhelm. Erſt im Dezember 1787 
erhielt die fogenannte franzöſiſch reformirte Gemeinde die Erlaubniß, ihren 
Sottesdienft in Brankfurt zu halten. Dgl. Maria Beni I, 85 ** 

- 2 ©pethe fpricht gleich am Anfang (®. 22, 297) von Luftpartien, bie 
zur Unluft ausgelaufen, wo ‚oft ein retardirender Bruder, mit welchem er 
nachfahren follte, durch übermäßige Verzögerung, indem er erſt feine Ger 
ſchafte mit der größten Gelaffenheit oder vielleicht gar Schadenfreude volle 
endet, bie wohldurchdachte Verabredung verborben habe. An ſolche Luft» 
partien möchten wir wenigftens im Aufang gar nicht deufen, da bie 
Geliebten ja in Offenbach fih am leichteſten zufammenfanden. 


Den aufgefpannten Zuftand fprechen die wenigen am 19. März, 
einem Sonntag, Nachts um eilf Uhr, geſchriebenen Worte aus: 
„Mir iſt's wieder eine Zeit ber vor Wohl und Weh’, daß ich nicht 
weiß, ob ih auf ver Welt bin, und da ift mir's doch, als wär 
ih im Himmel." Bier Tage fpäter erhält er am Nachmittag die 
Antwort Auguftens, worin fie ihm von ihren Zufällen und hefti- 
gen Fieberanfällen berichtet; doch mußte er fofort zu einem ver- 
drießlichen Gefchäfte, wo er, unter allerlei Leuten ſich bewegenb, .an 
die entfernte Freundin dachte, und ihr ein Zettelhen mit Bleiſtift 
ſchrieb. Abends um halb fieben fegt er ſich nieber, um ſich brief 
lich mit der Geliebten zu unterhalten. „Danke, danke flic bie 
Schilverung bein und deines Lebens," fehreibt er. „Wie wahr, wie 
voraus von mir- gefühlt! — O Mn’ ich auch! — —. Behalt’ 
mid) Tieb!“ Hier ſcheint eine Unterbrehung ftattgefunden zu haben. 
AUS er zum Briefe noch an demſelben Abend zurüdtehrt, bittet er 
fie um die Silhouetten aller ihrer Lieben, beſonders von Ehlers, 
bei dem fie ihn entſchuldigen möge, daß er ihm nicht fehreibe. „Ich 
habe wahrlich nimmer nicht(8) zu jagen; nur ihr Mädchen kriegt mich 
doch wieder dran.” „Jetzt gute Nacht,“ ſchließt er, „und weg mit 
dem Fieber! — Doch wenn du leideſt, ſchreib' mir! — ich will 
alles theilen. D dann laß mic andy nicht ſtecken, eble Seele, zur 
Zeit der Trübfal, die kommen könnte, wo ich dich flöhe und alle 
Lieben! Verfolge mich, ich bitte dich, verfolge mid; mit beinen 
Briefen dann und rette mich von mir felbft!" Die Ahnung, daß 

er Lili verlieren und ihren Verluſt nicht werde überftehn können, 
durchzittert ihn. 

Auf feinen, am 7. März geſchriebenen Brief an bie Schweſter 
wird er um biefe Zeit wohl ſchon Autwort erhalten haben, in 
welcher fie ihm das Unpaffende des Berhältniffes barftellte. A. von 
Binzer hat im einer Anmerkung die Behauptung Kornelia's, baß 
ein an fo glänzende Weltverhältniffe .gewöhntes Mädchen ſich un- 
möglich in das Goethe'ſche Haus fehiden könne, als eine unbe: 
gründete barzuftellen gefucht. Die Haushaltung im väterlichen 
Haufe fei doch gewiß nicht ärmlich geivefen; ber Vater, obgleich 


282 


ſelbſt prattifcher Juriſt (P), Habe doch Enthuſiasmus und Schönheits⸗ 
ſinn genug gehabt, um ſeinen Sohn, mit Hintanſetzung ſeiner 
Brotſtudien · — bie Geſchäfte beſorgte großentheils ver Vater, der 
eine Rathsſtelle fir den Sohn im Auge hatte —, fortwährend 
zur Dichtung zu ermuthigen; ‚bie Mutter’ fei als Frau Rath aus 
Bettinens Briefen als eine treffliche Frau befannt; auch habe Kor- 
nelia wohl nicht gewußt, was ein liebendes junges Mädchen ihrem 
Geliebten opfern Tönne. Aber Kornelia war ſich nur zu wohl be 
wußt, was fie unter ber Lehrhaftigfeit ihres Vaters gelitten, ber 
in ber Schwiegertochter, wie e8 Goethe treffend anbeutet (B. 22, 266), 
einen neuen Lehrling zu finden hoffte; fie kannte den ſtrengen Ernſt 
und bie flarre Negelmäßigfeit :ihre® Vaters, der, wenn er auch 
an feinem Tiſche mehr Geſellſchaft als früher zu fehn fih gewohnt 
hatte, doch in ein vornehmes Gefellichaftsleben ſich unmöglich 
ſchicken mochte, wie auch die Mutter Goethe's ſich nie in den vor 
nehmen Ton fügen konnte. Eine freundſchaftliche Verbindung zwi⸗ 
ſchen beiden Familien ſchien rein unmöglich, wie denn eine ſolche 
auch nach der Verlobung nicht ftattfand.” Dazu kam die den Bruder 
fo fehr quälende Gefallſucht Lili's, welche Kornelin freilich gar zu 
firenge beurtheilt haben dürfte. 

Der Brief an Augufte warb .erft am 25. März abgefandt. 
Vier Tage vorher ſchrieb unfer Dichter an Jacobi, fein Herz und 
Sinn fei jegt wo anders hingewandt, als nad feinen Dichtungen. 
„Sagen kann ich div nichts — denn was läßt fih fagen! Will 
auch nicht an inorgen und Übermorgen benfen; drum Ave! — Bleib’ 
bei mir, lieber Frig! — Mir ift, als wenn id auf Schrittſchuhen 
zum erftenmale allein liefe und bummelte auf dem Pfabe bes 
Lebens, und follte fhon um die Wette laufen, und das, wohin 
all meine Seele ftrebt." Die Hinberniffe, welche fih von allen 
Seiten der Verbindung mit Lili entgegenſtellten, machten ihn höchſt 
unglucklich, wozu nod die Dual kommen mochte, daß Lili es nicht 
laſſen konnte, bei allen zu glänzen. unb allen freundlich zu thun. 
Die Freunde des Dichters, Merk, . Erespel, Horn, Rieſe, 
und die Goethe näher befreundeten Familien ſcheinen eine ſolche 





Verbindung, durch bie er ihnen entfrembet werben könnte, auch nicht 
begünftigt zu haben. Dazu kam die Qual, welche er feines „Werther“ 
wegen auszuftehn hatte, und bie üble Stellung, in welche ihn fein 
Freund H. 2. Wagner durch die Schrift „Prometheus, Deufalion 
und feine Rezenfenten“ gejegt hatte, die man ihm zuſchrieb, woher 
er am 9. April jenen öffentlich als den Berfaſſer dieſer ohne fein 
Biffen und Willen erſchienenen Farze erflärte. * Auch eine Geld» 
verlegenheit in Folge von wiederholten, größeren Ausgaben fcheint 
ihn gebrüdt zu haben. ? 

Aus- der Zeit vom 25. März 5i8 zum 14. April fehlen uns 
alle brieflichen Mittheilungen Goethe's, was wir um fo mehr ber 
dauern müſſen, aber auch um fo leichter erfärlich finden, als ge 
rade in biefen Zeitraum Goethe's Verlobung mit Lili fällt, bie 
freilich nach des Dichters eigener, die Zeitverhältniffe arg verſchie- 
bender Darftellung nach dem 23. Juni erfolgt fein würde. Noch 
vor biefe, Ende März, fült Klopſtocks Beſuch auf feiner Rückreiſe 
von · Karlsruhe, auf welder er am 8. April nach Göttingen fam.* 
„Klopftod fand mic in fonberbarer Bewegung,“ ſchreibt Goethe 
am 14. April an Knebel. „Ich habe von dem Theuren nur ge= 
ſchlürft.“ Im einem Briefe Boie's vom 10, April an Merd heißt 
&: „Rlopftoden haben Sie aljo bei feiner zweiten Durchreiſe nicht 
gefehen? Er kam mir hier fehr unvermuthet, und blieb nur eine 
Naht Hier." Auch diesmal ſah Klopſtock feinen ber Göttinger 


* Bel. meine „Studien zu Getpes Werfen“ ©. 196 f. 211 ff.“ 

2 Hierauf ſcheint der Anfang des Briefes an Jacobi vom 21. März 
au deuten: „Dante die für alles, Erwin, Geld se.“, obgleih man aud an 
das Honorar für die Beiträge zur „Iris denfen Aunte. Man vergleiche 
den Brief vom 2. Oftober 1782. Zehn Karolin lieh ihm Dierd, bei dem 
es fon im Anguft angefragt hatte (Wagner I, 69), vor der Anfunft des 
Geringe Karl Auguſt im Oftoser (Wagner I, 54). Dan wird. hierdurch an 
deu außergemößnlichen Aufwand erinnert, ben derdinand in. ben „Untere 
Haltungen veutfeher Ausgewanderten“ der Geliebten wegen macht (B. 19, 
288 f. 292 f.). . J 

® Bol. Briefe von J. H. Bop I, 264. .Schubert's , deutſche Chronit · 
vom 11. Mai 1775. 


284 
Gelehrten, nicht einmal Heyne. Boie begleitete ihn nad) Eimbed, 
zum Superintenbenen Kaifer, ‘wo Klopſtock ſich einen in jenen harm⸗ 
loſen Zeiten ſehr beliebten Spaß erlaubte, indem er feinen Göt- 
finger Freund, ben Kaifer noch nie gefehen Hatte, für den Dichter 
- bes „Werther“ ausgab. „Selbft durch Eimbeck, wo man-gar nicht 
liest,“ ſchreibt Boie, „lief die Nachricht, ba Goethe ha fei, wie 
ein Lauffeuer. Die Entwicklung macht uns hernach allen viel Spaß." 

Die Verlobung erfolgte wohl in den Oftertagen (Oftern fiel 
1775 ben 16. April) ober kurz nachher auf ungeahnt raſche Weile. 
Fräulein Delf, welche mit einer ältern Schwefter in. Heidelberg 
ein Geſchäft hatte, war, wie gewöhnlich, zur Oftermefle, die im 
Jahre 1775 mit dem 2. April begann, zu Einfäufen nach Frank- 
furt gefommen. Goethe, ber fie im Schönemanniſchen Haufe kennen 
lernte, führte. fie bei ſeinem Vater ein, dem fie wohl gefiel. Diefe + 
num war es, welche die Vermittlung zwiſchen beiden Familien über- 
nahm. „Sie kannte fehr wohl unfere Wünſche, unfere Hoffnungen,“ 
erzählt Goethe; „ihre Luft zu wirken: ſah barin einen Auftrag; 
kurz, fie unterhandelte.mit den Eltern. Wie fie e8 begonnen, wie 
fie die Schwierigfeiten, die ſich ihr entgegenftellen mochten, be- 
feitigt, genug, fle tritt eines Abends zu uns und bringt bie Ein- 
willigung. „Gebt euch die Händel“ — rief fie mit ihrem pathetiſch 
gebieterifchen Wefen. Ich ftanb gegen Lili iiber und reichte meine 
Hand dar; fie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch lang · 
fam hinein. Nach einem tiefen Athemholen fielen wir einander 
lebhaft bewegt in bie Arme.” Um biefe Zeit wirb ihm Lili jenes 
golvene Herzen umgehängt haben, weldes ben Dichter fpäter 
au einem ſchönen Liebe veranlafite. Bon einer Wechslung der Ringe 
findet fi) feine Spur, doc; fehlte es auch von Seiten des Dichters 
wohl nicht an mancher Heinen Liebesgabe. 

Mit dieſem Augenblicke trat in Goethes Seele eine gewiſſe 
Sinnesänderung hervor. War die Geliebte ihm bis dahin ſchön, 
anmuthig, anziehend vorgekommen, fo erſchien fie ihm nun ale 

wiürdig und bedeutend; ben Werth ihres Charakters, ihre Sicher- 
heit in fig) ſelbſt, ihre Zuverläffigfeit in allem erfannte er jetzt ganz, 





2385 





und er freute ſich dieſer Vorzüge als eines Kapitals, von deni 
er zeitlebens die Zinſen mitzugenießen hatte. Wie tief er das Glüd 
feines Bräutigamftandes empfunden, ven er noch in den „Wanber- 
jahren“ (8. 18, 239) als ven. anmuthigſten bezeichnet, der uns 
in bem gefitteten reife des Lebens vergönnt fei, ergibt ſich aus 
feiner Schilverung befjelben in ben „Belenntniffen einer ſchönen 
Seele" (8. 17, 111 f.). „Die Liebe zwifchen beiden Perſonen,“ 
heißt e8 dorf uilter anderm, „nimmt dadurch nicht ab, aber fie 
wirb vernünftiger; unzählige Heine Thorheiten, alle Soletterien und 
Saunen fallen gleich wveg.” 
Am 14. April ſchreibt Geethe an Ruchel, „Richen Sie mid " 

noch und denken Sie an mid? Ih! — falle aus einer Ber- 


worrenheit in’ bie anbere, unb ftede wirklich mit meinem armen 


Herzen wieder unvermuthet in allem Antheil des Menfchen- 
geſchicke, aus dem ich mich erft kaum gerettet Hatte. — Ich 
habe Allerlei gethan und body wenig. Hab’ ein Schaufpiel („Elau- " 
dine von Villa Bella“) ' bald fertig (am 4. Juni ſandte er es 
von Emmendingen aus an Knebel), treibe bie- bürgerlichen Ge- 


 füäfte > fo heimlich Teife, als trieb’ ich Schleichhanbel, Bin fonft 


! Die Bermuthung von Schaefer (Soethe's Leben I, 197), Goethe 
Habe dieſes „Schaufpiel mit Gefang", welches mit der Beier von Claudinens 
Geburtstag beginnt, dazu beftimmt, Lili an ihrem Geburtstage zu erfrenen, 
ſcheint uns wenig für fich zu haben. Eben fo wenig glauben wir, daß in 
dem Liedchen Grngantino’s: „Liebliches Kind, Fannft du mir fagen u. f. w.“ 
(®. 34, 277), eine Andeutung von Goethes Mifftimmung liege, da es 
vielmehr eine verſtedte „Liebeserklärung Crugantino's enthält. Den Kern 
des Gtüdes bildet die glühende, von Glandine verheimlichte Liebesneigung, 
die endlich durch die Furcht um des Geliebten Leben zum Durchbruch kommt, 
und jegt, wo es ben Geliebten gift, Feine Angf und Schen Fennt. Clau- 
dine if ein Bild glühenbfter Liebe, bie ſich durch Fein Hinderniß, Feine 
Müdficht von dem in Gefahr ſchwebenden Geliebten zuruͤckhalten läßt, 

2 Die juriſtiſche Praxis. Sieben Jahre ſpäter ſchreibt er an Knebel 
(, 39): „Wie ich mir in meinem väterlichen ‚Haufe nicht einfallen ließ, 
bie Erfpeinungen ber Geißler und die jurififche Pkaxin zu verbinden, eben 
fo getrennt laſſ ich jest den Geheimderath und mein anderes Selbſt, ohne 
das ein Geheimberath fehr gut beftehn Tann.“ 


286 


immer ber, ben Sie fennen.“ Den folgenden Tag, ben 15. April, 
Fällt der fünfte Brief Goethes an Augufte, deren Bräber ifm ihre 
baldige Ankunft gemelvet hatten. „Hier, Beſte, ein Liedchen von 
mir,“ ſchreibt er ber ‚Freundin „darauf ich hab’ eine Melodie 
von Gretry umdichten laſſen.“ Ach Gott, Ihre Brüder kommen, 
unfere Brüder zu mir! — Liebe Schweſter, das liebe Ding, das 
fie Gott heißen, oder wie's heißt, forgt body fehr für mi. Ich 
bin in wunderbarer Spannung, und es wirb mir jo wohl thun, 
fie zu haben. — Ich halte mich oft in Gedanken an Sie. Wenn 
id) wieder munter werde, follen Sie auch Ihr Theil davon haben. 
" Laffen Sie nur meine Briefe ſich nicht fatal werben, wie ich mix 
ſelbſt bin, da ich ſchreibe. Ich meine, alle Falten des Geſichts 
drückten fi drin ab.” Und eilf Tage fpäter — fo lange blieb 
ber Brief liegen — fügt er hinzu: „Wie erwart’ ich unſere Brü⸗ 
der! welch ein lieber Brief von euch dreien! Hier bie (verfpro- 
qheuen) Schattenriffe! Sie find nicht alle gleich gut, doch alle mit . 
» fühlender Hand geſchnitien. Diesmal fein Wort weiter! Behalten 
Sie mid am Herzen!“ Seiner Verlobung erwähnt er mit feiner 
Sylbe, doch erkennt man leicht die eingetretene Beruhigung ber 
aufgeregten Leidenſchaft. 

Am 19. April vollendete Goethe die Durchſicht des erften 
Bandes von Lavater's „phyſiognomiſchen Fragmenten“, zu weldem 
ex als Schluß das „Ried eines phyſiognomiſchen Zeichners“ dichtete, 
jetzt Kunſtlers Abendlied⸗ überſchrieben.“ An den Buchhändler 


Bielleicht das Gedicht „Rettung“ (SB. 4, 17), das im Maiheft der 
„Iris“ erfoplen. Das Lieb „an Belinden“ Tann wohl beshalk nicht gemeint 
fein, weil dies im Hefte der „Iris“ Rand, auf weiches er fie hinweist. 

2 Das Datum des Briefes an Reich Nro. 10 (Hahn „Goethes Briefe 
an Leipziger Breunder ©. 224. Briefe von Goethe an Lavater ©. 178) 
vom 28. Mal 1775 if ohne Zweifel kalſch gelefen, wie nicht felten bie 
Veransgeber von Briefen den Mal und März in ben -Datirungen ver- 
wechſelt haben. Schon die Vergleichnng der Briefe an Mei unter fih 
ud mit dem erſten Bande der „phpfiognomifcgen Sragmenter, von welchem 
Goethe bereits am 14. Mai die Eremplare erwartete, beweist unwider- 
ſprechlich daß der beireffenbe Brief am 28. März geſchrieben fein muß. 


287 


Neih, dem er an jenem Tage ven Schluß ver Lavater ſchen Hand» 
ſchrift fandte, ſchreibt er, ein Umſtaud nöthige ihn zu verreifen. 
Wohin er damals, wie es ſcheint, auf mehrere Tage (am 26. April 
war er wieber zurück) gegangen fei,. ift nicht zu errathen. 

Die durch Fräulein Delf eroberte Zuftimmung der Eltern 
warb fillichweigend, ohne weitere Förmlichleit, anerkannt, aber 
ein Yamilienzufammenhang wollte ſich demungeachtet nicht bilven, 
vielmehr warb von beiden. Seiten immer Iebhafter empfunden, wie 
wenig ihre Häufer zufammenpaßten, woher bald neue Mißftim- 
mung und Trennungsverfuche eintraten. Oheim d'Orville, welcher 
ver Verbindung nicht entgegen war, und bei mehrtägigem Aufent- 
halt der Geliebten zu Offenbach ſich ihnen ſehr gewogen gezeigt 


. hatte, Ind auf einen der legten Tage des April over auf Anfang 


Mai Lili zu fi) ein, wo er, wie es ſcheint, die Berlobung feftlich 
zu feiern gedachte, etwa auf den 30. April, einen Sonntag, ober 
ben 1. Mai. Aber am Vorabend lie Lili durch - ihren älteſten 
Bruder Georg, der, da er ſich nicht verfiellen konnte, ungebärbig 
bei ihm eintrat, ihrem Verlobten fagen, daß es ihr völlig un⸗ 
möglidy fei, am Mittage, wie fie gehofft Hatte, zu erſcheinen; erft 
gegen Abend denke fie ihte Ankunft erwirken zu können; fie bitte 
ihm aber fo herzlich bringend, als fie fünne, etwas zu erfinden, 
wodurch das Unangenehme biefer Nachricht, die er nach Offenbach 
melden möge, bei den Freunden gemilvert, ja verſöhnt werde. Wie 
der Dichter diefe theilmeife Bereitelung des Feſtes durch das am 
Morgen hinausgefanbte Gelegenheitögebicht: „Sie kommt nicht!” 
zu allgemeiner Exheiterung zu benugen wußte, findet man auf an- 
siehenbe Weiſe in „Wahrheit und Dichtung“ (8. 22, 307 f.) erzählt. * 

Goethe verlegt das Wert auf Lillis Gebnrkstag, den 23. Juni, und 
erwähnt feintr Berlobungefeler. Aber am genannten Tage war'er ſchon 
in der Schweiz, fo daß dieſe Angabe auf einem Irrthum berufen muß, 
der ſich um fo leichter erflärt, als ihm von jenem Gelegenheitsgebichte 
weder Abſchrift noch Konzept geblieben war, fo daß er auch ben Titel aus 
dem Gedachtniß herſtellen mußte. Ein anderes Bert als eine heitere Ver⸗ 
Tobungsfeier (Lili’s Namenstag fällt in den November) dürfte kaum zu 
vermuthen ſtehn. 





288 

Lili erſchien erſt gegen Abend, wo fie zu ihrer Ueberrafchung 
von ganz heiteren, ja Iuftigen Gefichtern bewillkommt wurde. 
Daß ihr Ausbleiben am Mittag durch vielfaches Neben über ihr 
Berhältnig veranlaßt worben, war leicht zu erfennen; vermuthlich 
zeigten fich beſonders bie Altern Brüder der Verbindung .abgeneigt. 
Indeſſen möchte bie erfte Hälfte des Mai bie Verlobten noch mehr- 
fach in Offenbach zufammengeführt haben: ' - 

Bor der Mitte Mai feinen bie beiden Stolberge mit ihrem 
Freunde, Heinrich Chriftion Kurt von Haugwitz, unfeligen An- 
denfens, ? ber von Paris kam, in Srankfurt eingetroffen zu fein. 
Am 29. April befanden ſich die gräflichen Brüder noch in Wands- 
bet; in ben erften Maitagen dürften fie ven Hamburg abgereist 
fein. ® Goethe empfing bie durch Briefe ihm lieb und werth ge- 
worbenen Freunde mit leivenfchaftlihem Yubel. Die ausgelaffene 
Luft der Grafen, bie. bei Goethe meift zu Tiſch waren, wurde 
von Goethe's Mutter, die Damals den Namen Frau Aja erhielt, 
anf die glücklichſte Weife getheilt, und in ben Schranken heitern 
Tollens gehalten. Weld ein übermüthiger Ton bei ihnen herrſchte, 
zeigt Goethe’ Brief am bie beiden Grafen aus. dem Oktober: 
„Dant’ euch Ungeheuern für eure Briefe, und fo das Meermeib 
(Spigname fir / Haugwitz) nicht fehreibt, fo haut’s, wenn es gus 
dem Babe fteigt, mit Neffeln. Ich hab’ euch drei dramatiſirt: Graf 
Chriſtian Truchfeß, Graf Friedrich Leopold und Junker Kurt, wo 
ihr auf dem großen Krönungsſaal zu Frankfurt in naturalibus 
hingeftellt ſeid.“ Mit. den Grafen ging Goethe auch nach Offen- 
bach, wo er fie bei feinen Freuuden einführte und fie mit einem 
lieben Mädchen feiner Bekanntſchaft zufammenführte, welches er 


! Herder ſchreibt im Mai an Haitann (Hamann's Werte V. 141): 
„Goethe get mit Heitatsgedanfen.“ 

2 Vgl. Vehſe Geſchichte des Preudiſchen Hofs und Adels und der 
Brenfifhen Diplomatie“ V, 263 ff. 

4 Bol. Briefe von J. 8. Voß I, 192, 266. Boies Briefe an Merd 
vom 10. April 1775 (I, 65). 


239 


ſelbſt ein feltfames Geſchöpf nennt." Auch bei Lili ſtellte er 
fie ohne Bweifel vor, doch fuchten "die Familie Schönemann und 
ihre Freunde biefe während der Unmefenheit der Stolberge, mit 
benen Goethe auch weitere Ausflüge machte, dem Dichter auf jede 
Weiſe zu entfremben, wie auch von Goethe's Familie und Freun⸗ 
den ähnliche Mittel in Anwendung gebracht Wurden. Goethe. ging 
mit den Stolbergen und Stlingen, bis Mainz und vielleiht weiter 
vheinabwärts; benn am 7. Anguft 1791 ſchreibt Friedrich Stol⸗ 
berg (®. 6; 35 f.): „An einem ſchönen Abend Liegen wir und 
(von Mainz) an die Ingelheimer Au rudern. Ich beſuchte biefe- 
Inſel aus Dankbarkeit für einige angenehme Stunden, bie id vor 
ſechzehn Jahren in meines Bruders, Goethe's, Haugwigens und. 
Klinger's Geſellſchaft dort zubrachte.“ Goethe ſcheint Klinger erft in 
diefem oder im vorigen Jahre, wo er ben von Schrüber ausge- 
fetten Preis durch feine „Zwillinge“ gewann, kennen gelernt zu 
haben. ? Nady einem Briefe von Jacobi fand dieſer ihn im Januar 
oder Februar 1775 bei Goethe.’ Um. diefe Zeit kam auch Bahrdt 
auf feiner Reife in die Schweiz nach Frankfurt; ob er Bei dieſer 
Gelegenheit unfern Dichter gefehen, uud vielleicht der B. 22, 180 
erwähnte Beſuch (ber. dort genannte „Prolog“ erſchien 1774) erft 
damals ftattgefunden, läßt ſich nicht entſcheiden.“ 


* Vgl. Ovetpe's achten Brief an Augufte und meine „Stubien zu Goethes 
Werten" ©. 98 ff. und Vil der Borrebe. 

2 Klinger, getauft den 18. Februar 1752, war der Sohn eines Konz 
ſtablers; er verlor feinen 'Water> als er noch nicht gang acht Jahre alt 
war. Der Lehrer Johann Kaspar Zind war es, ber feine unentgelbliche 
Aufnahme auf das Gymnaſium bewirkte. Dgl. Maria Belli IV, 18. 171. 

® Jacobi ſchreibt am 29. Juni 1803 an Kllnger:- „Es find nun bald 
dreißig Jahre, daß wir bei Goethe zum erfienmal uns fahen.“ 

A Das Frankfurter Journal bringt Montag den 22. Mai folgende An- 
zeige: „In abgewichener Woche ift ber berühmte Dr. Bahrdt hier durchs 
gereist. Ex geht mit einigen Unterfehrern nach Marſchlins in Graubündten, 
allwo das dafige Philanthropinum biefen feinen Direktor mit fehnfuchte- 
vollem Verlangen erwartet." Vgl. oben ©. 246. Eine Selbfivertheidigung 
Baprdts gegen Verunglimpfungen bringt daſſelbe Blatt unter dem 14. Auguft. 

Dünger, Brauenbiler. 18 19 


290 0 

Um dieſe Zeit, ober etwas früher, etwa zur Mefzeit, und 
wohl nicht erft im Herbfte, feheint der Maler Kraus von feiner 
Thuringer Reife nach Frankfurt zurüdgefehrt zu fein, wo er fih 
nur Furze Zeit aufgehalten haben möchte. Er war auf jener Reife 
auch längere Zeit in Weimar geweſen, von deſſen geſelligem, 
litterariſchem und Künſtlerleben er dem jungen Dichter ein gar 
freundliches Bild entwarf. Beim Durdblättern und Durchſchauen 
feiner reichlichen Portefeuille's fanden ſich mande landſchaftliche 
und perfönfiche Darſtellungen, welche bie dortigen Verhältniſſe 
näher vor Augen ſtellten.“ Auch mochte Kraus ihm vom Wunſche 


vieler bebeutenden Frauen und Männer Weimar's berichten, ben - 


Dieter des „Werther“ bald in Weimar zu fehn; vieleicht hatte 
die Herzogin Mutter felbft einen ſolchen Wunſch geäußert. Bald 


darauf fcheint er nad; Dresden gegangen zu fein, wo er fih mit _ 


Profeſſor Zingg zu einer Reiſe in's Erzgebirge verband. Im 
Herbft defielben Jahres, gleich nad; dem Negierungsantritte des 
Herzogs Karl Auguft von Weimar, warb er herzoglicher Rath. 

Ein anderer von Goethe'8 Jugendbekannten, Philipp Chriftoph 
Kayſer, der Sohn eines Organiften, geboren zu Frankfurt am 10. März 
1755, hatte ſich bereits früher, wohl im Anfange des Jahres, wahr- 
ſcheinlich auf unferes Dichters Empfehlung an Lavater, als Mufit- 
lehrer nach Zürich begeben.” Schon frühe hatte dieſer ein 
eigenthümliches mufifalifches Talent entwickelt und ſich befonders 
als Klavierfpieler ausgezeichnet, wie aud buch finuige Auffaflung 
mufifalifher Schöpfungen. „Kayſer in Zürich,“ ſchreibt Goethe 
zehn Jahre fpäter an nebel, ? „hat mid, von Tugend auf intereffirt; 
fein ftilles, zurückhaltendes Weſen hat mich gehindert, ihn früher 
in die Welt zu bringen, das, wie id nunmehr jehe, ſehr glüdfich 

Bal. B. 22, 394. 897 f. " 

? Sulzer, Berberim „Tonfünftler-Rerifon“ u.a. nennen ihn B. 2. Kayfer, 
und verfegen ihn nach Winterthur. Bei Goethe heißt er Chriſtoph Kayfer. 
Unfere Angaben find authentiſch. Sein Portrait ficht in Lavater's „phyſiogno— 
miſchen Fragmenten“ III. 202. Tafel LX. Vgl. IL 400. Silhouette 4. 

®1,.72. B. 24,149 nennt er ihn einen wadern frühern Sreund, 
der zu gleicher Zeit mit Klinger'n und „uns anderen“ herangefommen war. 





291 





war.“ Vielleicht war Goethe durch Klinger, einen Freund Kahſer's, 
mit diefem befannt geworben.‘ Mit befonberer Vorliebe und inniger 
Theilnahme nahm er fidh auch fpäter bes Jugendfreundes an, ben er 
auf jede Weife zu förbern gebachte. Kayſer trat bereits im Laufe 
des Jahres 1775 mit einer Sammlung von „Lievern mit Melodien“ 
hervor. Im Auguft 1776 ſchreibt Goethe an Ravater: ? „Ave! grüß’ 
Rayfer'n, dank ihm für die Muſik!“ Auch im September läßt er 
ihn durch Lavater grüßen (©. 21). Das Septemberheft von Wie- 
land's „Merk“ brachte in demfelben Jahre ohne Kayſer's Namen 
vefien „Empfindungen eines Sängers in der Kunſt vor Ritter Gfud’s 
Bildniſſe“ (mit dem Motto: „Ale Kunft ver Natur aufgeopfert”), . 
eine offenbare Nachahmung von Goethe's „dritter Wallfahrt nad) 
Erwin's Grabe" (8.31, 22 ff.) Daß die in demſelben Hefte mit 
Kayſer umterzeichneten brei Gerichte unferm Kayfer angehören, ift 
nicht zu bezweifeln, und baffelbe ift von dem K. unterzeichneten Ge- 
dichte „an Elifen“ im Januarhefte diefes Jahres zu vermuthen. Auch 
gab ex 1776 bie „flüchtigen Auffäge” von Lenz heraus. Im April 1777 
fohreibt Goethe an den Buchhändler Reich in Leipzig, dem er brei 
Monate vorher bemerkt Hatte, ex möge wegen Lenz verfahren, "als 
ob er (Goethe) gar nicht exiftire, er babe an ver ganzen Sache 
der Herausgabe feiner neuen Stüde feinen Antheil, nehme auch 
feinen daran: „Dann hab’ ich ſchon feit geraumer Zeit ein paar 
Dugend Lieder mit Melodien. von Kayfer'n in Zürich da liegen, 
ich weiß, daß es nicht die angenehufte Waare ift; drum Hab’ ich 
bisher nichts davon gefagt. Ex 'erinnert mich aber wieber dran, 
und fo wollt? id) fragen, ob Gie fie brauchen ober mir fonft 
einen Verleger finden könnten. Sie find, wo id) fie gezeigt habe, 
mit viel Vergnügen gefpielt und gefungen worben. Wenn Klinger 
in Leipzig ift (vergl, oben S. 86), und Sie hätten die Güte, ihm 
ein Wort davon zu fagen, könnte ſich der aud wohl nach jemanven 


* Daß Kayfer, feiner mufifalifcpgen Kenutuiſſe wegen im Schönes 
mannifpen Haufe befanut, Goethe dort eingeführt, warb oben vermuthet. 
Dan Hönnte daher Goethe's befondere Theilnahme für ibm herleiten. " 

2 Goethe's Briefe an Lavater ©. 159. Das Datum fehlt dert. 


293 


umthun, der fieübernähme.” ' Die Scimmlung erfhien unter dem 
itel: „Gefänge mit Begleitung des Claviers,“ Leipzig und MWinter- 
thur 1777." Jahn's Vermuthung, daß’ bie vier den Heite vorge- 
fegten Verſe von Goethe feien, können wir- nicht billigen, da-toir 
Kayſer ſelbſt als Dichter fennen. Unter ven neunzehn Liedern ber 
angeführten Sammlung finden fi Goethe's Lied „an Befinden“ und 
vier Stüde aus „Erwin und Elmire“, vier Lieder von Klinger, drei 
von. Miller, zwei von Wagner, vier ohne Namen des Dichters und 
eines von Kayſer ſelbſt. Bier Lieder Kayſer's erwähnten wir oben. 
Die ‚frühere Sammlung Kayſer's enthält fünfundzwanzig Lieber, 
ſämmtlich namenlos, doch Teine& von Goethe. Am 14. Auguft 
deſſelben Jahres fchreibt Goethe an Lavater: „Sag’ Kayſer, daß id 
ihm das Verlangte ſchiclen werde”, und auf der Schweizerreife läßt - 
er von Saufanne aus auch Kayſer durch Lavater herzlich grüßen. 
Bei feiner Anweſenheit in Zürich wird er mit biefem vergnügte 
Stunden verlebt haben, dem er am 29. Dezember von Frankfurt aus 
fein Singfpiel „Iery und Bätely“ in erfter und am 30. Januar 1780 
in, zweiter Abſchrift zur Kompofition überfandte, zugleich wit feinen 
Andentungen über die mufifalifche Kompofition folder Singfpiele. ? 
Er bittet im März und Juli Lavater (S. 76. 91), ihm Kayſer's Kom- 
pofition (von „Jery und Bätely“?) zu überfenden, und erffärt ſich 
bereit (S. 97), auf zwölf Exemplare zu fubfkeibicen. , Im folgenven 
Winter kam Kayfer nach Weimar, wo er ſich bald durch fein mufifa- 
liſches Talent fehr beliebt machte. ° Goethe jhreibt am 19. Februar: 
Kayſer läßt ſich gut an; ich Hoffe, fein Leben hier foll ihn gefhmei- 
diger machen. Er hat Gelegenheit, in feiner Kunft manches zu fehn 
und zu hören.“ Aehnlich äußert er ſich am 18. März mit dem Zu- 
fage: „Ich habe Abfichten mit ihm; davon mehr, wenn fie reifer find.“ 
Goethe’ Plan war, ihn bei feinem begeifterungsvoll verehrten Meifter 
Glud einzuführen, wozu er alle Vorbereitungen traf; der Herzog felbft 
ſchrieb an Gluck, und da die Autwort günftig lautete, ging er Ende Mai 





"Bol. Jahn „Briefe au Leipziger Freunde” ©. 229. 
2 Gorthe's Briefe find erhalten. Val. Riemer II, 411. 
BVal. Goethes Briefe an Srau von Stein II, 23 Note 2. 78. 





293 





über Münden nach Wien. ' Am 10, September wurde er von 
Weimar aus mit einer reichlihen Geldanweiſung zu einer Reife 
nad) Stalien verfehn, von wilder er inhaltsreihe Berichte an 
Goethe fanbte, der baraus erfah, daß er ben Geift her komiſchen 
Oper wohl gefaßt habe. ? Bon biefer Reife kehrte er wohl ſchon 
im folgenden Sabre nad) Zürich zurück. Bor derfelben hatte er 
feine „Weihnachtkantate“ herausgegeben; zwei Sonaten für Klavier 
mit Begleitung von einer Bioline und zwei Hörnern ließ er im 
Sabre 1784 erſcheinen. In demſelben Jahre bichtele Goethe für 
- ihn das Singfpiel „Scherz, Lift und Rache“,“ welches er ihm zur 
Kompofition überfanbte, woran ſich lange briefliche Unterhandfungen 
Tnüpften, deren Bekanntmachung, wie Riemer (Il, 195) bemerkt, 
nicht allein Goethe's muſikaliſche Einfihten in Evidenz fegen, fon- 
dern aud zur Geſchichte der deutſchen Oper und deren unſchuldigen 
Anfängen nicht unwichtige Notizen geben würde. Gegen Ende bes 
Jahres war bie Kompofttion ber beiden erften Afte in Goethe's 
Händen und fand allgemeinen Beifall, beſonders auch bei Herber . 
und Wieland. * Am 18. November bittet Goethe feinen Freund 
Knebel, der Münden befuchen wollte: „Schreibe mir doch auch 
vom Mündjener Theater ausführlich, beſonders von ber Operette. 
Erkundige did) nad) dem Entreprenenr ober ber Direltion, und ob 
es Leute find, die etwas anwenden Finnen. Ich möchte gar gerne 
meine letzte Operette, bie Kayſer recht "brav komponirt, irgendwo 
unterbringen, um bem jungen Küuftler ein Stüd Gelb zu ver- 
ſchaffen, und ihn in der beutfche Welt bekannt zu machen.“ Da 


Bol. Riemer IT, 127. Wieland ſchreibt am 44. Juli 1781 an Merd 
(U, 301), Kayfer, der das Gerücht von Goethe's üblem Gefundheitszuftaude 
verbreitet Hatte, er habe Gefbenfter im Kopf, und meine vielleicht, um 
wohl zu fein, müffe jeber fo wohl genährt ausfehn, wie er felbft. 

2 Briefwehfel zwiſchen Goethe und Knebel I, 72. 

3 Bol. Goethe's Briefe an Iran von Etein HIT, 83. 

* Bf. Riemer a. a. D. ‘Briefe an rau von Stein III, 167. ı. 
190. 298. Mucbels Nachlaß T, 149. Beiefwechfel zwifcgen Goethe un 
Knebel 1, 70. 


294 


Knebel jchrieb, es fei für das Stüd in Münden nichts zu thun, 
meinte Goethe, das ſchade im Grunde nichts; man könne ein an- 
deres machen. - „Was fagft bu aber dazu?“ fragt er am 30. Der 
zember. „Wenn das Stüd fertig wäre, wollte ich ihm (Kayfer) nach 
"Münden jhiden; er follte dort vor Kennern und Liebhabern nur 
in Konzerten einzelne Arien. ohne Prätenfion probuziren, ba er 
felbft ein teefflicher Klavierſpieler it, fid hören laſſen, ohne den 
Birtuofen zu machen, ohne ſich bezahlen zu laſſen, follte ſich em⸗ 
pfehlen, den Gefchmack des Publici ftubiren, mir feine Gedanken 
ſchreiben, und ic könnte ihm alsdann, wenn ich befonbers durch 
beine Bemerfungen, was dort gefällt, was von Ernft und Scherz 
am meiften Effeft macht, genugfem unterrichtet wäre, ein Stück 
madjen, das gewiß wirken follte. Ueberbenfe es und laß es mit 
Endzweck deines dortigen Bleibens fein! Ich fommunizire die meinen 
Plan, leſe dir das Stüd, und du mußt in die Seele des Münchener 
Publitums votiren, Ein ähnliches habe ich auf Wien mit ihm 
vor; er Tann und wirb ſich pouſſiren. Du thuft mir einen mefent- 
lichen Dienft, wenn du ihm aud Freunde vworbereiteft, und dich 
um bie Verhältniffe des Virtuoſenweſens erfundigft, damit er in 
ein befannt Land komme. Setze gelegentlich Punkte auf, bie ihm 
zur Inſtrultion dienen fönnen, damit alles- leichter und geſchwinder 
gehe. Welches iſt die befte Jahreszeit? Wie viel brauchte er wohl, 
um ein Vierteljahr zu exifticen? Dies iſt's, was mir jego fehr am 
Herzen Liegt; Hilf mir e8 ausführen!“ Indeſſen Fam viefer Plan 
nicht zur Ausführung. - Kayſer vollendete ſpäter die Operette, Die 
aber aus Gründen, bie Goethe felbft (B. 24, 152 f. 27, 7 f.) 
entwidelt, nie auf der Bühne erſchien. Auch zu „Egmont“ ſchrieb 
ex ihm eine Ouverture. Als Goethe in Rom dieſes Stüd neu be- 
arbeitet hatte, ließ er feinen Freund dorthin zu fi) einladen; 
„ba ev denn auch nicht jäumend mit dem Kourier durch Stalin 
hindurchflog, fehr bald bei ung eintraf,“ berichtet Goethe (B. 24, 
150) „unb in ben Kunſtierkreis, der fein Hauptquartier im Corfo, 
Rondanini gegenüber, aufgeſchlagen hatte, ſich freundlich aufgenommen " 
ſah.“ Welche Freude und Belehrung Kayfer’s Gegenwart unferm 





295 


Dichter bereitete, hat er in ber „italiänifchen Reife“ ausgefprochen. ' 
„Ih erwarte ihn in einigen Tagen,“ fchrieb er am 27. Dftober 
"1787, „mit ber num vollendeten Partitur unſerer Scapinereien 
(bee Operette „Scherz, Lift und Race“). Du kannſt benfen, 
was das für ein Feft fein wird! Gogleid, wird Hand an eine neue 
-Dper gelegt, und „Claudine“ mit „Erwin in feiner Gegenwart, 
mit feinem Beirath, verbeffert.” „Es ift ein trefflich guter Mann,“ 
hören wir mehr als eine Woche nach feiner Ankunft (B. 24, 146), 
„und paßt zu uns, die wir wirffid ein Naturleben führen, wie es 
mar irgend auf bem Erdboden möglich ift.“ Bei ver neuen Bear- 
beitung der ältern Operetten ging biefer dem Dichter zur Hand, 
die neue Operette aber rüdte, da Kayſer fi) in das Studium der 
ältern italiäniſchen Muſik vertiefte, eben fo wenig vorwärts, als 
bie weitere Muſik zum „Egmont“. Auf dem Rüchwege ſcheint Kayſer 
anfern Dichter wenigſtens bis Chur begleitet zu haben,? da Goethe 
biesmal nicht über Zürich ging. Goethe fand bald darauf in Joh. 
Fried. Reichardt einen äußerft geiftreichen Komponiften, und entfagte 
nad) nochmaligen vergeblichem Berfuche der Dichtung neuer Opern- 
texte. Kayſer aber ſcheint ſich ganz theoretiſchen Spekulationen 
Hingegeben zu haben. „Er fol das Klavier in.einem großen Ge 
ſchmack fpielen,“ berichtet Gerber, „und fi ein eigenes muflfa- 
liſches Syſtem entworfen haben, womit er aber zurüchhält. In 
feinen Sompofitionen fol man die Glud’ihe Manier, welche er 
als Mufter nachzuahmen ſucht, nicht verfennen.” 1792, wohl bei 
Goethe's Abweſenheit von Weimar, lam Kayfer nad) Leipzig, wie 
wir aus Klinger's auf der Frankfurter Bibliothek aufbewahrtem 
Empfehlungsbriefe Kayfer’s an einen Leipziger Freund erfehen. Am 
4. Mai 1814 ſchreibt Goethe an Zelter: „Mit Gelegenheit fende ich 
eine Partitur, die jenen Chriftoph Kayſer zum Berfafler hat, von 
dem du einige Dinge kennſt, befonbers eine „Weihnachtöfantate". Er 
war mit mir in Italien, und lebt nod ein abftrufes Leben 
in Zürid, und ich wunſchte bein Urtheil über feine Art und 

1 Bol. 8. 24, 153. 199. 250 f. 238 f. 

2 Bol. Bo. 24. 268. 281. 





"296 

Weife recht ausführlich zu hören. Was ich. fenden werde, ift bie 
Dupertüre und der erfte Akt von „Scherz, Lift und Rache“, das 
er ganz fomponirt hat. Ich gebenfe fein jet, ba ich meine ita- 
liäniſche Reife bearbeite, und möchte gern auch über feine Kunft 
im Maren fein, wie ich es bin über feine Stubien und jeinen 
Charakter." Zelter aber erwiederte, es fei ihm von dieſem Kayfer 
nichts befannt, und wünſchte deshalb, auch feine „Weihnachts- 
Kantate“ zu fehn. Sein Urtheil wird Goethe "zu dem „Berichte“ 
im „zweiten Aufenthalt in Rom" B. 24, 151 f. G. 27, 8), 
benutzt haben. Mag ſich nun aud) Goethe in ber Beurtheilung 
des muſikaliſchen Talentes von Kayfer getäuſcht haben, jedenfalls 
ift fein Verhältniß zu dieſem ein ehrenvolles Zeugniß, mit welchem 
warmen Eifer er fich talentvoller Freunde annahm, fie zu heben 
und wirkſamſt zu förbern fuchte. Kayfer ftarb zu Zürich am 24. De- 
zember 1823, und erlebte nicht mehr Goethe's Erwähnung, ber in 
„Wahrheit und Dichtung“ feiner nicht gebacht hatte. 

Doch Tehren wir von diefer Abjhweifung zum Jahre 1775 
zurück. Lili mag den Dichter aus Anlaß feiner häufigen Entfernung, 
wo feine Gegner leichter Raum gewinnen fonnten, etwas falt 
empfangen und feine Eigenliebe gereizt haben, fo daß er beſchloß, 
ohne von ihr förmlichen Abſchied zu nehmen, die Stolberge nebſt 
Haugwitz bis Zürich zu.begleiten. „Mit einiger Anbeutung, aber 
ohne Abſchied, trennt’ ich mich von Lili,“ heißt e8 in „Wahrheit 
‚und Dichtung“ (®. 22, 339); „fe war mir fo in's Herz gewach⸗ 
fen, daß ich mich gar nicht von ihr zu entfernen glaubte.” Aber 
das Berhältnig war damals geloderter, als er hier zuzugeben 
ſcheint, wenn er auch, wie er etwa fünf Monate nad) dem An- 
tritte dieſer Reife fagt, noch hoffte, „ihre beiberfeitigen Schichſale 
zu vereinen“. ' Auch die in „Wahrheit und Dichtung“ felbft voran- 
gehende Bemerkung, es fei auf-einen Verſuch angelommen, ob er 
Lili entbehren könue, eine gewiſſe peinlihe Unruhe habe ihn zu 
allem beftimmten Geſchäfte unfähig gemacht, ftimmt wenig zu ber 
vorher angeführten Stelle. 

Bol. SH „Briefe und Auffäge von Goethe &. 139. 





Die Reife begann wahrſcheinlich im Iegten Drittel des Po- _ 
nats Mai, da Goethe, wie wir aus einem Briefe an Knebel fehen, 
ſchon am 5. Yuni von Emmendingen uach Schaffhaufen wollte. ' 
In Darmftabt, wo bie Reiſenden fi ber trefflihen Landgräfin 
vorftellen ließen, bradyte Goethe die meifte Zeit bei feinem Freunde 
Merk zu, ber, wenn wir dem Berichte in, „Wahrheit und Dich⸗ 
tung” trauen bürfen, ihn vor biefer Gefellihaft warnte. „Er 
kannte mich nach feiner Art durchaus,“ heißt es hier (B. 22, 3397.) ; 
die unüberwinbliche naive Gutmüthigfeit meines Wefens war ihm 
ſchmerzlich; das ewige Geltenlaffen, das Leben und Lebenlaffen 
war ihm ein Greuel. „Daß du mit biefen Burfchen ziehft," vief 
er aus, „ift ein bummer Streih!” und’ er fehilverte fie fobann 

* treffend, aber nicht ganz richtig; durchaus fehlte ein Wohlmellen. — 
„Dein Beftreben," fagte er, „beine unablenkbare Richtung ift, dem 
Wirklichen eine poetifche Geftalt zu geben; die andern ſuchen das 
ſogenannte Poetifhe, das Imaginative zu verwirklichen, und bag 
gibt nichts als dummes Zeug." Hiermit ftimmt es freilich ſehr 
wenig, wenn Boie’ in Beantwortung eines Briefes von Merck am 
24. Juni an biefen ſchreibt: „Ich freue mich fehr, daß Sie die 
Stolberge kennen und lieben gelernt haben.“ Merck mochte bie 
Berbindung Goethes mit den Stolbergen mißbilligen, weil jener 
über die Zeit jugendlicher Ueberfpannung, in welcher dieſe ſich 
geftelen, ſchon Hinaus war, und er ber Üeberzeugung lebte, daß 
ihnen wahrhaft bichterifche Anlage ganz abgehe, wie er ja felbft 


Biehoff IT, 226 f. findet ſich in arger Verwirrung. Daß ber Brief 
von Merk (bei Wagner I, 124 ff), in weldem es heißt: „Goethe 
ſchwaärmt in der Schweiz herum; in einigen Tagen kommt Zimmermann,“ 
irrig vom 3. Juni flatt vom 3. Juli datirt iſt, ergibt ſich fowohl aus der 
Beſiehung anf den Tod von Merk's zweitem Sohne, der am 17. Juui 
farb, als aus der Erwähnung Zimmermann’s, der nach dem „Branffurter 
Journal · am 8. Jull in Frantfurt ankam, wie aud aus dem folgenden, 
richtig vom 7, Juli batirten Briefe. Vgl. auch Boie's Brief an Merd 
vom 24. Juni. Schubart meldet am 13. Juli 1775, einem Donnerftag, 
feinem Bruder (bei Strauß I, 321): „Goethe iſt mit den zween bichteris 
fihen Grafen Stolberg bei Ravater'n, der es mir vorige Woche ſelbſt fehrieh.” 


298 


Mopftod nicht für einen wahren poetiſchen Kopf hielt. Ob er 
gerade damals in jene ben Gegenfag von Goethe’ ganz objeftiver 
Poeſie zu den. fubjektiven Ergüffen der enthufissmirten Brüder 
teeffend ausſprechenden Worte ausgebrochen, ift ohne beſondere 
Bedeutung. Jedenfalls hat Goethe die Yeußerungen Merck's über 
bie Stolberge viel zu ſchroff dargeftellt, wie er es auch in Bezug 
auf deſſen Auffaffung von Lavater gethan. Welches unangenehme 
Auffehen die gräflichen Brüder durch ihr Baden in einem Weiher 
bei Darmftabt erregt, befchreibt Goethe gleich darauf, doch bürfte 
die bloße Herleitung jener Babeluft aus der damaligen Sucht, ſich 
in den Naturzuftand zu verfegen, nicht allein erklärt werben, wie 
U. von Binzer richtig bemerkt, vielmehr mag die Sitte des Badens 
in freiem Waſſer ſchon damals in ihrer Heimat viel allgemeiner, 
als im innern Deutſchlaud geweſen fein. 

In Mannheim follte Goethe einen neuen Beweis von ber ju- 
gendlich außgelaffenen Schwärmerei der Grafen erleben. Friedrich 
Stolberg hatte ſchon auf dem Wege vorthin mit Heftigfeit feinen 
Neifegefährten . gegenüber barauf beftanben, ver Schönheit und 
Liebenswürdigleit feiner Geliebten dürfe ſich nicht® in dev Welt gleich: 
ftellen, wie auch nichts feiner Leidenſchaft für fie und feinen Schmer- 
zen, das herzliche Liebesverhältniß zu ihr aufgeben zu müffen 
(vgl. oben S. 186), gleihlommen könne. As er in Mannheim 
mit den Freunden auf feiner Schönen Gefundheit getrunken hatte, 
warf er fein Glas hinter ji wider die Wand, worin ihm bie 

„Übrigen folgen mußten, da aus ſolchen geheiligten Bechern fein 
Trunlk mehr erlaubt fei. Einer gleichen tollen Scene hatte Goethe 
ſchon in Dresden einmal beigewohnt, “ und er hat nicht verfehlt, 
eine ſolche ſchwärmeriſche Tollyeit auch feinem „Wilhelm Meifter“ 
(®. 16, 145) einzuverleiben. Auch zu Weimar follen die Stol- 
berge Ende des Jahres in gleicher Weile getollt haben. 

In Karlsruhe wurden fie am Hofe freuudlich / aufgenommen ; 
beſonders erfreulich aber war für Goethe der gemüthliche Empfang, 
welcher ihm hier von dem Erbherzoge Karl Auguft von Sachſen- 

1 Bl. B. 21, 191 fi 


29 

Weimar und deſſen liebenswürbiger Braut Luiſe von Heffen- 
Darmftabt zu Theil warb, die dem jungen Dichter beide wieberholt 
verficherten, wie fehr angenehm es- ihnen fein würde, ihn in 
Weimar zu ſehn. Schon im Dezember bes vorigen Jahres war 
die Verlobung -zu Karlsruhe gefeiert worden, worauf ſich die beie 
ben jungen Prinzen in Begleitung Knebel’ und des Grafen Görtz 
nad) Paris-begeben hatten. ' Auf ihrer Rückreiſe hatten fie Karla- 
ruhe wieber berührt, wo Goethe füh ihres Wiederſehens freute. 
Un Johanni (24. Juni) waren fle wieder in Weimar. ? Wenn 
aber Goethe auch noch Klopftod in Karlsruhe angetroffen haben 
will, fo beruht dies auf entjchievenem Irrthum, ba dieſer ſchon am 
3. April (S. 283) in Göttingen eintraf, von wo er am 4. weiter 
reiste. Jacobi ſchreibt am 26. April an Fran von la Roche: „Klop⸗ 
ftod iſt fon lange von Karlsruhe weg, aber nicht Verdruſſes 
wegen, fonbern weil einer feiner Brüder, ver zehn Jahre in Madrid 
gewefen war, ihn unvermuthet überfiel und ihn überrebete, einen 
Monat früher, als er fonft wärbe gethan haben, mit ihm nach 
Hamburg. zu reifen.” ° Nach Knebel * wäre Klopſtock darüber un- 
gehalten geweſen, daß, bei der vorzlglihen Auszeichnung feiner 
Perfon von Seiten des Markgrafen und ber Prinzefjin Luije, die 
Hofetifette es doch nicht zugelaffen habe, ihn anders als einen 
bloßen Legationsrath zu behandeln; aber dies darf eben fo wenig 
für fiher gelten, als, wenn er meiter berichtet, Klopſtock fei nur 
wenige Tage geblieben (war er doch ſchon im Oftober 1774 nad 
Karlsruhe gefommen); ex habe ſich mürrifh und Übelgelaunt ge- 
zeigt, fei fogar, ohne Abſchied zu nehmen, von Karlsruhe abgereist. 

"Am 44. März ſchrieb Knebel von Paris aus einen Brief an feine 
Schwefter Henriette. Knebels Nadlap II, 187 f. Man vergleiche auch 
Wieland’s Briefe bafelbft IT, 209 f. 

2 Dal. Görk a. a. O. I, 11. Br. von Müller „Die Beier des 9. Sep- 
tember 4825 in der Loge Amalia zu Weimar ©. 13. 

® Am 24. Bebrwar, auf der Müdreife von Karloruhe, hatte Jacobi 
an biefelbe gefehrieben: „Vermuthlich fehen Sie ihn (Klopſtoch im Mai- 
auf dem Wege nach Düffeldorf. - 

Bol. Kuchelis Nachlaß I. XXV. 


Auch ift es ganz ireig, wenn behauptet wird, Slopftod fei felt- 
famer Weife zu ber Zeit in Karlsruhe angelommen, als Knebel 
fi dort befand, da dieſer vielmehr ven Dichter im Dezember 1774 
in Karlsruhe traf,‘ der aber bei Knebels zweiter Anweſenheit zu 
Karlsruhe bereits abgereist war. Es ift nicht zu vermunbern, daß 
Klopſtocks Beſuch in Karlsruhe und feine Abreiſe, die man ſich 
fo bald nicht erwartet hatte, zu manchen abentenerlichen Gerüchten 
Anlaß gaben. 

Bon Karlsruhe ging e8 nad Strafiburg, obgleidy Goethe die 
Reife fo darſtellt, als ob er ſchon von hier aus einen Seitenweg 
eingefhlagen habe, um zu feiner Schweſter in Emmendingen zu 
gelangen. In Straßburg erhielt Graf Friedrich die letzte Nach- 
richt von ber ſchönen Engländerin, mit welder Umftände und 
Rüdfichten eine Verbindung unterfagten. „Fritz ift jegt im. Wolfen- 
babe,“ ſchreibt Goethe nach feiner Müdkehr an Augufte (am 
25. Iuli), „und ver gute Geift, ver um uns alle ſchwebt, wir 
ihm gelinden Balfam in die Seele gießen. Ich litt mit ihm, und 
durft’ nicht dergleichen thun.“ Ich bitte Sie — menigftens. laſſen 
Sie mic, jetzt nicht8 davon jagen! — Uud wer kann davon fagen! 
— Id war dabei, wie bie letzte Nachricht kam. Es war in 
Straßburg." 

Sagte e8 Goethe nicht ausdrücklich, daß er allein feine Schweſter 
beſucht habe, fo würde man es für unzweifelhaft halten, daß bie 
Stolberge ihn zu dieſer begleitet. Zwar ſchreibt Stolberg am 
15. Auguſt 1791 (8. 6, 47), er habe Schloſſer vor ſechzehn 
Jahren auf ſehr kurze Zeit in Emmendingen gefehen, aber biefer 
Beſuch erfolgte unfteeitig auf der Rückreiſe. Goethe wird ſich wahr- 
ſcheinlich in Kolmar von den Stolbergen getrennt haben, melde 
über Bafel nad) Zürid) gegangen zu fein feheinen, während er feldft 


! Auebel bittet feine Schweſter am 13. Dezember 1774, ihren Brief 
an ihn unter der Mreffe: „Mn Heren Herrn Legationsrath Kiopftod in 
Aarlsruh“, einzufepließen. 

2 Ihn zog es von dem Gipfel bes Gotthard zur Geliebten zurück 
wäßrend Stolberg in den ſchweizer Gebirgen, Ruhe und Troſt ſuchen durfte. 


301 


ven Weg über Freiburg durch das Höllenthal nad) Schaffhaujen, ” 
und von da nach Züri einſchlug. Die Schwefter, welde ihn in 
Emmendingen mit großer Freude empfing, fuchte ihn, wie früher 
durch Briefe, fo jet durch ihre herzliche perfönliche Zuſprache von 
der Nothivendigleit, daß er das Verhältniß mit Lili auflöfe, zu 
überzeugen. Es ſei hart, meinte fie, ein ſolches Frauenzimmer 
aus einem lebhaft bewegten geſellſchaftlichen Kreife in das einfache, . 
flille, auf glänzende Geſellſchaften nicht eingerichtete Bürgerhaus 
ihrer. vem vornehmen Tone ganz abgeneigten Eltern zu ziehe, wo⸗ 
bei fie das ſtrenge, trodene Weſen ihres lehrhaften Vaters, unter 
welchem. fie ſelbſt jo viel gelitten, nicht unermähnt laſſen konnte, 
der einer wider feinen Willen in's Haus gebrachten Schwiegertochter 
das Leben verbittern werde. Freilich mußte er ber Schwefter, 
welche mit rührendfter Theilnahme an ihm hing, hierin ganz Recht 
geben, aber er konnte und mochte ihr nichts verfprechen, ba er bie 
Hoffnung nicht aufgeben wollte, die Geliebte bald außerhalb ver 
Baterftabt in ein ihren Wunſchen und Neigungen entſprechendes 
Berhältniß zu führen, wie wenig er ſich auch zur Zeit noch ge- 
finmt fühlte, in eine praktiſche Laufbahn einzutreten, um zu einer 
feften, geſicherten Stellung zu gelangen. Und was bie Schweſter 
fonft anführen mochte, daß ein, bei allen trefflihen Eigenfchaften, 
doch verzogenes und gefallfüchtiges, au äußern Glanz gewöhntes 
Mãdchen zu dem einfach natürlichen Wefen des Bruders nicht paffe, 
daß Lili die Sucht, zu glänzen und allen zu gefallen, ver Liebe zu 
ihm nicht opfern könne, verſchwand vor der Leidenſchaft gährender 
Liebe und ber Ueberzeugung, daß tie ſchönſte natürliche Gemüth- 
lihfeit und bie febhaftefte, ſchwungvollſte Empfindung ben uner- 
ſchütterlichen Grund ihres Weſens bilveten, daß ihre ganze Natur 
mit der feinigen in ihren Grunbzügen übereinftimme, fie die einzige, 
vom Schidfal ihm beftimmte und zugebilvete Geliebte fei, melde 
ihn auf feinem Lebensgange wahrhaft beglüden fönne. Wenn Goethe 
in „Wahrheit und Dichtung”, obgleich er gefteht, Kornelia habe 
ihn überzeugt, dennoch behauptet, ihre Schilverung Lili's fei nur 
eine umſtändliche wohlgefinnte Ausführung deſſen geweſen, was 


302 


ein Obrenbläfer von Freund, bem man nad) und nach nichts Gutes 
zugetraut habe, mit wenigen charakteriftiihen Zügen ihr einzufläftern 
bemüht gewefen fei, fo fcheint ung biefes faum glaublich; hatte er 
ſelbſt ja, wie er fagt, theils in Briefen, theils in leibenſchaftlich 
geihwägiger Bertraulichleit, ihr alles haarklein vorgetragen, was 
volltommen genügte, fie zur ernfteften Mahnung zu beftimmen, 
dieſem Berhältniß zu entfagen. Freilich mögen nicht allein bie 
Eltern, fonbern auch Freunde des Dichters der Schwefter die Be 
denklichteiten dieſer Verbindung bargeftellt haben, aber gewiß nicht 
in verläumberifcher Weife, wenn auch vielleicht in etwas ſtark auf- 
getragenen Farben, wie man dies etwa von dem humoriſtiſchen 
Crespel over von dem ſcharfſchneidenden Merck erwarten könnte. 
Ob vielleicht wirklich wegen des Verhaltniſſes zu Lili zwiſchen Crespel 
und dem Dichter eine Spannung eingetreten, wagen wir nicht zu 
entfcheiden; jedenfalls follte man meinen, er müſſe unter dem 
„Ohrenbläfer von Freund, dem man nad) und nad) nichts Gutes 
zutraute,“ eine beftimmte Perfon fich gedacht haben. Uebrigens 
war Kornelia damals auch körperlich leivend, wodurch fie in einen 
gereigtern Zuſtand verfegt fein mochte; fonft bürfte fie fih in 
ihr hausliches Verhältniß, beſonders bei ber ſchönen Anhrespeit, 
welche dieſe herrliche Gegend wundervoll ſchmückt, damals beſſer 
gefügt haben, als es Goethe anzubenten ſcheint. 

An 4. Juni ſandte Goethe von Emmendingen ans feine 
„Claudine“ an Knebel, der fie wahrſcheinlich verlangt hatte, mit 
der Bitte, fie mit dem Poftwagen an feine Schwefter zuriidzufen- 
ben; bem Herzoge möge er: fie in freien Stunden vorlefen, aber 
ja nichts abſchreiben.“ „Danke für Ihr Brieflein! Iſt mir herz⸗ 
lich lieb, daß Sie nicht abwenbig von mir werben. Ihro Durch. 


* In vorigen Dezember Hatte er Knebel gebeten: „Geben Sie meine 
Sachen nur nicht ans Händen! Es wäre nichts dran gelegen, wenn nicht 
gewiffe Leute was draus machten.“ Er fürdtete die Klatfchereien und 
Hafıgereien, die ihm das Leben verbitterten, weshalb er „feine Kinder 
tinftig in ein Edelchen begraben“ wollte, „opne fie dem Publifo auf die 
Nafe zu Hängen,“ wie er am 7. März an Augufte- Stolberg ſchrieb. 





a 3037 


alles herzlich von mir!. Addio! Morgen gehe ih nah Schaff- 
haufen, wenn's Glück gut if." Zwiſchen Emmendingen und Züri 
erinnerte er ſich fpäter nur noch bes Rheinfalls bei Schaffhaufen. 
In Zurich aber eilte er fogleih, nachdem er vor dem Thore bed 
Gaſthauſes „zum Schwert“ einen Blid auf den herrlichen See ge- 
worfen, zu Savater, der ihn mit aller Herzlichfeit aufnahm. Die 
nädjfte Unterhaltung galt der Phyſiognomit, wovon der erfte Band 
gebrudt vorlag, und dem Berhältniß zu Lili, woräber Lavater ihn 
beruhigt haben wird, indem er ihn von einer leidenſchaftlichen Lö— 
fung oder Verfolgung deſſelben abzuhalten ſuchte. Dem bringen- 
ven Anfuchen feines Frankfurter Freundes, Paſſavant, mit ihm 
gleich in der zweiten Woche die Heinern Kantone zu befuchen, Tonnte 
er nicht wiberftehn, wogegen er bie Begleitung eines Herrn von 
Lindau, eines jungen Hannoveraners, der in dem Sihlthal zurlid- 
gezogen lebte, und ber ihm wahrfcheinli einen andern Reifeplan 
vorgelegt hatte, etwas unfreundlich ablehnte. ' Die Stolberge 
fcheinen ſich längere Zeit in Straßburg und Bafel aufgehalten zu 
haben, und erft kurz vor biefem Ausfluge Goethe's oder gar erft 
nachher in. Zürich angefommen zu fein; beun bei gleichzeitiger An« 
kunft zu Züri) wäre die Trennung ihrer Reifefahrten von denen 
ihres Freundes unerflärlih, wogegen es fehr natürlich ift, daß fie, 
wenn fie fpäter anfamen, erſt Lavater ganz geniefen wollten und 
mit ihm zuerſt Heinere Wege machten, wie nad Maria-Einſiedeln. 

Am 15. Juni? fuhr Geethe mit Baflavant auf dem Züricher 


! Bl. ©. 22, 368. Ueber Lindau's Wohnung in einem Wachhauſe 
Knebel's Nachlaß I. 113. Goethe erfreute fih am Anfange des folgenden 
Jahres feines Beſuches in Weimar, aber bald darauf, im Anfange des 
Jahres 1777 flarb er. Bor feinem Tode fepte er Goethe zum Vormunde 
eines Hirtenknaben ein, der ihm das Reben gerettet hatte, weshalb er ſich 
feiner angenommen. Vgl. Goethes Briefe an Lavater ©. 3 ff. (S. 32, 1 if 
Lindan’s Peter'n flatt Rinnäus Peter’n gu lefen). 74. 120 f. Schöll 
Briefe und Auffäge ©. 180. Briefe an Bram von Etein I, 6. 110. 

2 Goethe berichtet (®. 22, 358) nach feinem Tagebuche, daß fie am 
48. Juli von Einfiedeln aufgebrochen feien, wonach fie am 23. Juli den 
Gotthard verlaffen haben würden, was aber unmöglich if, da wir ihn am 


304 


See bis Richtersweil. Damals bichtete er das ſchöne Lied „auf 

. bem See" (B. 1, 63), in welchem ſich ber frifche, freubige Muth 
ausſpricht, der fi im Genuffe der fchönen Natur durch nichts, 
auch nicht durch die Erinnerung an bie entfernte Geliebte, flören 
laſſen wi. ! 


Und frifce Nahrung, neues Blut 
Saug' ich aus freier Welt. 

Wie if Natur fo hold und gut, 
Die mid am Bufen hält! 

Die Welle wieget unfern Kahn 
Im Rubertaft hinauf, 

Und Berge, wollig, himmelan, - 
Begegnen unferm Lauf. 


Aug’, mein Aug’, was finfft du nieder? 
Goldne Träume, kommt ihr wieder? 
Weg, du Traum, fo golb bu Bift! 

‚Hier and) Lieb’ und Leben ift. 


Auf der Welle blinken 
Tauſend ſchwebende Sterne; 
Weiche Nebel trinken 

Rings die thürmende Ferne; 
Morgenwind umflügelt 

Die beſchattete Bucht, 

Unb im See befpiegelt 

Sich die veifende Frucht. 


25. Juli wieder in Srauffurt finden, iehoff (MH, 226. 240) weiß ſich 
wicht gu Helfen, Daß ſtatt Iuli Juni zu Iefen ſei, ergibt fih aus dem 
darauf folgenden Datum „den. 18. Sonntags“ (B. 22, 360); denn im 
Jahre 1775 war nicht der 18. Juli, wohl aber der 18. Juni ein Sonntag.” 
Vielleicht verwandelte Goethe felbft den Juni feines Tagebuchs beshalb in 
ven Juli, weil er vorher irrig.berichtet hatte, er habe den 23. Juni noch 
in Offenbach gefeiert. Oder if der Juli durch eine Schlimmbefferung der 
‚Herausgeber in den Text gefommen? 


! Vgl Lehmann „über Goethes Ri übungen ‚und Lirblinge- 
ausdrüde" ©. 12 fı 
— 


305 
In Rihtersweil wurden fie don dem trefflichen Arzt Dr. 

Hoge, ' ansben Lavater fie empfohlen hatte, freundlich bewirthet, 
und auf das anmutbigfte und nüglichfte über die weitern Reife 
ftationen unterhalten.” An demfelben Tage gelangten fie auf 
rauhem Wege nad Maria-Einfieveln. ? Ehe fie in das rauhe 
Thal Son. Schindeleggi hinabftiegen, wanbten fie fi um, und ge— 
nofien bie entzücdende Ausficht Über den Züriher See, von dem 
fie auf einige Tage Abfchied nehmen follten. Auch bei dieſem herr⸗ 
lichen Anblide ergriff den Dichter die Erinnerung an bie ferne 
Geliebte, in welcher er feines Lebens höchſte Luſt gefunden, von 
der man ihn jet zu trennen fuchte, und er ſchrieb in ein Gebenf- 
heftchen bie Berfe: 

Wenn ich, liebe Lili, dich nicht Tiebte, . 

Welche Wonne gäb' mir biefer. Bid? 


! Bimmermann fagt von biefem Dr. Hoge (über‘ die Einfamfeit IV, 81): 
„Grhäben und fanft, wie die Mater, bie ihn umgibt, iſt feine Seele; fein 
Haus iſt ein Tempel der Gefnndheit, der, Freundſchaft und jeder milden 
Tugend.“ Del. Gegner über Lavater ©. 239. Lavater's phyſiognomiſche 
Fragmente IT, 215. Goethe begeichnet ihn in einem Briefe an Knebel 
dl, 20) als einen gar guten Mann, der ihm befonders ‚wohl gethan 
Haben müffe. Bol. Knebel's Nachlaß T. 113. 

? Baffavant hatte ſelbſt diefe Reife fehon gemacht. Im Jahr 1797 
ſchlug Goethe mit feinem Freunde H. Meyer zum Theil denfesen Weg 
ein. Val. 8. 26, 142 fi. 

Es muß auf Irrthum berufen, wenn in den „geitgenoffen* (VL, 2,84) 


* ‚erzählt wird, die Etolberge hätten mit Lavater und Goethe bie erfte, ihnen 


unvergepliche Reife nah Maria-Einſiedeln und um den Züricher Eee ges 
macht. Br. Etofberg thut einer foldpen in feinen fpäteren-Meifebriefen Feine 
Grwäpnung, obgleich fonftige Erinnerungen an die frühere Echmeherreife 
nicht fehlen. Wie konnte Schaefer (Boethe’s Leben I, 384) die Frage aufe 
werfen: „Gat Goethe vielleicht einen mit den Etolbergen gemachten Aus- 
flug mit anderen Reifen ins Gebirge verbunden, da er ſich doch während 
eines mehrmonatlichen (2!) Aufenthafts in der Schweiz wohl nicht mit einer 
furzen Gebirgsreife von zwei Wochen begnügte?“ Goethe wird nicht zweimal 
Marla-Einfieveln beſucht haben, und bei der vorliegenden Befchreibung, 
die anf genauen Tagebuhbemerfungen beruht, geſchieht der Stolberge 
feine Erwähnung. 
Dünger, Brauenbilver. 20 


304 


See bis Richteröweil: Damals dichtete er das ſchöne Lieb „auf 

. bein See" (8. 1, 63), in welchem ſich ver friſche, freubige Muth 
ausſpricht, der fid im Genuffe der ſchönen Natur durch nichts, 
aud nicht durch die Erinnerung an bie entfernte Geliebte, ſtören 
Toffen will. ' 


Unb frifche Nahrung, neues Blut 

Saug' ich aus freier Welt, 
Wie ift Natur fo hold und gut, 

Die mi am Bufen hält! 

Die Welle wieget unfern Kahn 

Im Rubertaft hinauf, 

Und Berge, wollig, bimmelan, - 

Begegnen unferm Lauf. 


Aug’, mein Aug’, was finfft du nieder? 
Goidne Trhume, Tommt ifr wieber? 
Weg, du Traum, fo gold bu Bift! 

Hier auch Lieb’ und Leben it. 


Auf der Welle blinken 

Taufend ſchwebende Sterne; 

Weiche Nebel trinken 

Rings bie thürmende Ferne; 

Morgenwind umflügelt 

Die beſchattete Bucht, 

Und im See befpiegelt 

Sich die veifende Frucht. 
25. Juli wieder in Branffurt finden. Viehoff (HM, 226. 240) weiß ſich 
nicht zu helfen. Daß ſtatt Juli Juni zu leſen ſei, ergibt ſich aus dem 
darauf folgenden Datum „den 18. Gonntags“ (B. 22, 360); denn im 


Jahre 1775 war nicht der 18. Juli, wohl aber der 18. Juni ein Sonntag. - 


Vielleicpt verwandelte Goethe felbft den Juni feines Tagebache deshalb in 
den Juli, weil er vorher irrig berichtet Hatte, er habe den 29. Juni noch 
in Offenbach gefeiert. Oder ift der Juli durch eine Eeplimmbefferung der 
GHerausgeber in den Test gekommen? 

Bol. Lehmann „Über Goethes Lieblingewendungen uud Lieblinge: 
auedrůde · €. 12 fı 


In Richtersweil wurden fie don dem trefflihen Arzt Dr. 
Hoge, * anıben Lavater fie empfohlen hatte, freundlich bewirthet, 
- und auf das anmmthigfte und nüglichfte über bie weitern Reiſe— 
flationen unterhalten.” An bemfelben Tage gelangten fie auf 
rauhen Wege nah Maria-Einfleveln.° Ehe fie in das rauhe 
Thal Von. Schindeleggi hinabftiegen, wandten fie fi) um, und ge— 
nofien die entzüdende Ausficht über ven Züricher See, von bem 
fie auf einige Tage Abfchied nehmen follten. Auch bei biefem herr⸗ 
lichen Anblide ergriff den Dichter die Erinnerung an die ferne 
Geliebte, in welcher er feines Lebens höchſte Luft gefunden, von 
der man ihn jegt zu trennen fuchte, und er fhrieb in ein Gedenk⸗ 
heftchen die Berfe: . 
Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte, 
Welche Wonne gäb’ mir dieſer Bid? 


* Bimmermann fagt von dieſem Dr. Hoje (über die Einfamfeit IV, 81): 
„Erhäben und fanft, wie die Natur, bie ihn umgibt, if.feine Seele; fein 
Haus iR ein Tempel der Gefundheit, ber, Freundſchaft und jeder milden 
Tugend.“ Bol. Hegner über Lavater S. 239. Lavaters phpfiognomifche 
Fragmente IT, 215. Goethe bezeichnet ihn in einem Briefe an Knebel 
dl, 20) als einen gar guten Mann, ber ihm befonders wohl gethan 
Haben müffe. Bol. Knebels Nachlaß I. 115. 

? Baffavant Hatte felbft diefe Meife fchon gemacht. Im Jahr 1797 
ſchlug Goethe mit feinem Freunde H. Meyer zum Theil denfelen Bes 
ein. Val. B. 26, 142 ff. 

3 Es muß auf Iretpum berufen, wenn in den „Beitgenoffen" (v1, 2,89) 
erzaͤhlt wird, die Etolberge hätten mit Lavater und Goethe bie erſte, ihnen 
unvergepliche Reife nach Maria-Einfiebeln und um den Züricher Eee ge- 
macht. Br. Stolberg thut einer ſolchen in feinen fpäteren-Reifebriefen Feine 
Grwäßnung, obaleich fonfige rinnerungen an die frühere Schweizerreiſe 
nicht fehlen. Wie konnte Echarfer (Boethe's Leben I, 384) die Brage aufs 
werfen: „Bat Goethe vielleicht einen mit den Stolbergen gemachten And 
flug mit anderen Reifen ins Gebirge verbunden, da er ſich doch während 
eines mehtmonatlichen (?!) Aufenthalte In der Schweiz wohl nicht mit einer 
furgen Gebitgereife von zwei Wochen begnügte?* Goethe wirb nicht zweimal 
Marla-Einfieveln beſucht haben, und hei der vorliegenden Beſchreibung, 
die auf genanen Tagebuchbemerkungen beruht, gef hieht der Stolberge 
feine Erwähnung, 

Dünger, Frauenbilder. 20 


306 


Und doch, werm ich, Sli, dich nicht Tiebte, 
Bär’, was wär’ mein Gfid? 


Unter ven alterthümlichen Koſtbarkeiten des Kloſters Daria- 
Einfieveln, die fie am audern Morgen befahen, zog unfern Dichter 
eine Heine Zadenfrone mit eingefugten farbigen Steinen pon ge: 
ſchmackvoller Zeichnung und unermüdeter Ausführung fo ſonderlich 
an, baß er fid) die Erlaubniß, fie herauszunehmen, erbitten mußte. 
Als er fie aber in die Höhe hob, da war es ihm, als müßte. er 
fie feiner Lili auf die hellglänzenden Locken fegen, fie vor den 
Spiegel führen, und ihre Freude Über ſich feloft und das Glüd, 
das fie verbreite, gewahrt werben. 

Am 16. Juni übernachteten fie in Schwyz, wo fie nad den 
überftandenen Mühen des Tages im jugendlichen Vollgefühle ihrer 
Kraft lachten uud jauchzten bis um Mitternacht. Den Rigi be- 
ftiegen fie am folgenden Tage von Lowerz aus, und übernachteten 
bei der Mutter Gottes im Schnee (jegt Maria zum Schnee), 
von wo fie am 18. zur höchſten Spige des Berges, dem Rigikulm, 
vordrangen. Am 19. Juni ging es nad Altvorf, am 20. über 
Amſtäg nah Wafen, am 21. nad) Andermatt und am folgenden 
Tage zum Gipfel des Gotthard. Die legten kurzen Tagereifen 
deuten auf vielfaches Ausruhen, Beſchauen und Zeichnen ver Ge- - 
genden hin. Bergebens fuchte Paffavant am andern Morgen ben 
Dichter zur Weiterreife nad Mailand zu beftimmen; das Andenken 
an bie Geliebte, bie. gerade an biefem Tage ihren Geburtstag 
feierte, zog ihn von ber lockenden Ausſicht in das ſchöne Land“ 
zurück. Die Lombarbei und Stalin Lagen als ein ganz Fremdes 
vor ihm, wie oft ihn auch die Erzählungen feines Vaters dorthin 
verfegt hatten, Deutſchland dagegen erſchien ihm als ein Befanntes, 
Liebwerthes, reich an freundlichen Ausſichten. - Ein goldenes Herzchen, 
das ihm Lili in ben fhönften Stunden ihrer Liebe umgelnüpft hatte, 


* Den Iepten Vers änderte — 1789 alſo — und fo ſteht er jegt 
unter den Gedichten (B. 1, 63) — 


Find’ „ bier und fänd ich dort mein oner 


‚307 
hing noch an bemfelben Bande kieherwärmt an feinem Halfe; er 
faßte es an und Füßte es. -Damald war es, ald er das tiefem- 
pfundene Lieb bichtete (B. 1, 77): 


Angebenten du verflungner Freude, 

Das id) immer noch am Halfe trage, 

Haltſt du Tänger, als das Seelenband uns beide? 
Berlängerft bu ber Liebe kurze Tage? 


Flieh ih, Lili, vor dir! Muß noch an deinem Bande 
Durch fremde Lande, 

Durch ferne Täler und Wälder ! wallen! 

Ach, il’s Herz konnte fo bald nicht 

Bon meinem Herzen fallen! 


\ Bie ein Vogel, ber ben Faden Bricht . 
Unb zum Walbe kehrt, 
Er ſchleppt, bes Gefängniffes Schmach, 
. Rod) ein Stüdchen des Fadens nach; 
Er ift ber alte freigeborne Vogel nicht, 
Er hat ſchon jemanb angehört. ? 


Die Reife erſcheint ihm wie eine Flucht vor der Geliebten, 
von ber er ſich trennen zu Können glaubte; das Seelenband, das 


* Man würde Hier Berge und Wälder erwarten, mie früher in 
den „Wanderjähren" I, 2 (B. 18, 25) flatt Berge und THäfer (vgl. 
daſelbſt ©. 22) Rand, wollte ber Dichter Hier nicht die Aunehmlichteit der 
Reife Hervorheben, weshalb er ber beſchwerlichen Berge nicht gebenft. 

? Man vergleiche hierzu die Verſe / welche Goethe am 21. Dftober 1765 
au Relpgig ſchrieb 

So wie ein Vogel, der auf einem Aſt 

Im ſchönſten Wald ih, Sreipelt athmend, wiegt, 

Der ungefidet die fanfte Luft genicht, 

Mit feinen Fittichen von Baum zn Baum, 

Bon Buſch zu Buſch ſich fingend hinzuſchwingen. 
Aehnlich iR das Bild vom Hunde, der fich von ber Kette geriſſen, aber 
noch einen Theil der Kette nachſchleyppt, bei Perfins V, 159 f. Man ver- 
gleiche auch das franpöfifche trainer sa chaine. - 


308 


fie beide umſchlungen, glaubte er gebrochen zu haben, als er es 
über ſich brachte, fie auf längere Zeit ohne Abſchied zu verlaflen: 
allein bier, in ber weiten Ferne, wo es ſich zeigen follte, ob er es 
wagen Fönne, ihr ganz zu entfagen, Deutfchland, das feine Liebe 
hegte, zu verlaffen, und froh und frei im das neue, ſchöne Rand 
binabzufteigen, bier muß er tief empfinden, daß es ihn zur Ge— 
liebten hinzieht, bie in feinem’ Herzen-nod immer lebt und von 
der Spite bed Gotthard ihn nach der Heimat zurückwinkt. Seiner 
Lili glaubte er entflohen zu fein, fi) von ihr in bie Freiheit ge— 
vettet zu haben, aber e8 war nur eine Täuſchung: noch trägt er 
das golvene Herzchen an ihrem Bande, er hat es nicht vermocht, 
fi) von biefem Herzhen zu trennen, diefes Band von feinem Halfe 
zu löſen, ja er fühlt, daß er nicht frei iſt, daß er ihr noch ange 
bört. Schaefer hat den eigentlichen Kern des Gebichtes nicht erfaßt, 
wenn er (Goethes Leben I, 203) meint, unfer Gebicht könne 
unmöglich) aitf der Schweizerreife, wo er noch hoffnungsvoll ge- 
wefen, alle feiner Liebe ſich entgegenftellenben Hindernifje zu überwin⸗ 
den, gebichtet fein, fonbern müſſe fpäter fallen, in die Zeit, wo 
er, in Thüringens „Thälern und Wäldern“ ftreifend, durch das 
goldene Herz an bie längſt geftorbene Liebe erinnert worben. Zitterte 
auch damals noch der Schmerz über die verlorene Geliebte in feinen 
Herzen nach, fo kounte er doch unmöglich nach ber entſchiedenen 
Trennung die Reife nach Weimar als eine Flucht vor Lili dar 
fielen, und daß er zuweilen von Weimar aus einige Tage in 
Thüringen herumſtrich, hätte er kaum als „ein Wallen durch fremde 
Lande, buch ferne Thäler und Wälder” bezeichnen können. Galt 
feiner Lili auch noch damals, wie er einmal in einem aufgeregten 
Augenblick in Erinnerung feiner vor einem Jahre begonnenen Be 
kanntſchaft mit biefer jagt, fein Schmerz und fein Sang, fo hatte 
er doch Längft alle Feſſeln, die ihn an fie fetteten, gebrochen, und 
es mußte nicht ſowohl das Gefühl, noch immer -an ihr zu hängen, 
als der Schmerz des Verluſtes ſich in feiner Seele regen. Auch 
war fein Schmerz ſchon gleich im Anfange des Jahres 1776 verklun 
gen, um welde Zeit aber von ſolchen Streifereien durch Thüringen 





noch nicht die Rede fein kann. Am wenigſten paßt das Gebicht 
in bie Weihnachtötage 1775, wohin Schaefer (1, 224) e8 verlegen 
möchte. AS er jenes Lied bichtete, gab er feine Lili noch nicht 
ganz verloren, er hatte nur verſucht, ob er fic von ihr zu trennen 
vermöge. 

Die Rüdreife vom Gotthard war weniger heiter, als ber Hin- 
weg, da Paſſavant Über die Vereitelung ber gehofften Wanderung 
nah Italien verftimmt, unfer Dichter aber auf feinen ſtummen 
Wegen, wie er felbft fagt, um deſto anhaltenber beſchäftigt war, 
das Ungeheure, das ſich in feinem Geifte zufammenzog, wenigſtens 
in feinen faßlichen charakteriſtiſchen Einzelheiten feftzuhalten; denn 
wie feltfam verſchlungen waren bie Schidfale feines Herzens bie 
letzten Jahre über gewefen! "Der Gevanfe an bie ferne Geliebte 
beherrſchte alle feine Gefühle, und ließ ihn das tiefe Unglüd einer 
ewigen Trennung von biefer immer fehmerzlicher empfinden; body 
ermannte er ſich bald wieder zu froher Hoffnung, daß ihm das 
Leben, wenn er nur ben Muth nicht ſinken laſſe, fondern kräftig 
fortftrebe, noch wahres Glück bringen werde. Dieſes Gefühl 
ſprechen die ſchon in die erfte Ausgabe aufgenommenen, „Hoffnung“ 
Überjchriebenen Verſe (B. 1, 82) aus, welche nad) der ansbräd- 
lichen Angabe ber Ouartausgabe, wo fie unter ben epigrammati- 
ſchen Gedichten ftehen, in den Juni 1775 fallen: 


Schaf, das Tagwert meiner Hände, 
Hohes Glüd, daß ichss vollenbel 
Laß, o laß mich nicht ermatten! 
Nein, e8 find nicht leere Träume; 
Jet mur Stangen, ! biefe Bäume 
Beben einft noch Frucht und Schatten. 


* Bol. Goethes Brief an Frau von Stein vom 8. November 1777: 
„SHernach fand ich, daß das Schicſal, da es mich hierher verpflangte, voll- 
fommen gemacht hat, wie man's ben Linden tut; man ſchneidet Ihnen 
den Gipfel weg und alle fhöne Mefte, daß fie neuen Trieb Friegen; font 
erben fle von oben herein. Freilich ſtehen fle bie erflen Jahre wie 
Stangen da“ 5 

n* 


302 


ein Ofrenbläfer von Freund, dem man nad) und nad) nichts Gutes 
zugetraut habe, mit wenigen cyarakteriftiichen Zügen ihr einzufläftern 
bemüht geweſen fei, fo fcheint ung biejes faum glaublich; hatte er 
feloft ja, wie er fagt, theils in Briefen, theils in leidenſchaftlich 
geſchwätziger Vertraulichteit, ihr alles haarklein vorgetragen, was 
volltommen genügte, fie zur ernfteften Mahnung zu beftimmen, 
diefem Berhältniß zu entfagen. Freilich mögen nicht allein bie 
Eitern, fondern auch Freunde des Dichters der Schweſter die Be— 
denllichkeiten dieſer Verbindung bargeftellt haben, aber gewiß nicht 
in verfäumberifcher Weife, wenn auch vieleicht in etwas ſtark auf- 
getragenen Farben, wie man dies etwa von dem humoriftifchen 
Crespel oder von dem ſcharffchneidenden Merd erwarten könnte. 
Ob vielleicht wirklich wegen bes Berhältnifjes zu Lili zwifchen Crespel 
und dem Dichter eine Spannung eingetreten, wagen wir nicht zu 
entſcheiden; jebenfalls folte man meinen, er müſſe unter dem 
„Ohrenbläfer von Freund, dem man nad) und nach nichts Gutes 
zutraute," eine beftimmte Perſon fi gedacht haben. Uebrigens 
war Kornelia damals auch körperlich leivend, wodurch fie in einen 
gereiztern Zuftanb verfegt fein mochte; fonft bürfte fie fih in 
ihr hänsliches Verhältniß, beſonders bei der ſchönen Jahreszeit, 
welche dieſe herrliche Gegend wundervoll ſchmückt, damals beſſer 
gefügt haben, als es Goethe anzudeuten ſcheint. 

Am 4. Juni ſandte Goethe von Emmendingen aus feine 
„Claudine“ an Knebel, ber fie wahrfcheinlic verlangt hatte, mit 
ber Bitte, fie mit dem Poſtwagen an feine Schwefter zurüdzufen- 
ben; dem Herzoge möge er: fie in freien Stunden vorlefen, aber 
je nichts abſchreiben.“ „Dante für Ihr Brieflein! I mir. herz⸗ 
lich lieb, daß Sie nicht abwenbig von mir werben. Ihro Durchl. 


* Im vorigen Dezember hatte er Knebel gebeten: „Beben Sie meine 
Sachen nur nicht aus Händen! Es wäre nichts dran gelegen, wenn nicht 
gewiffe Leute was draus machten.“ Er fürdtete bie Klatſcherelen und 
Gafchereien, die ihm das Leben verbitterten, weshalb er „feine Kinder 
Anftig in ein Edelden begraben“ wollte, „ohne fie dem Publifo auf die 
Nafe zu Hängen,“ wie er am 7. März an Auguſte Stolberg ſchrieb. 





. _ 3% 


alles herzlich von mir! Addio! Morgen gehe ih nah Schaff⸗ 
haufen, wenn's Gfäd gut if.“ Zwiſchen Emmendingen und Züri . 
erinnerte er ſich fpäter nur noch des Rheinfalls bei Schaffhaufen. 
In Zürich aber eilte er fogleich, nachdem er vor dem Thore bes 
Safthaufes „zum Schwert“ einen Blid auf den herrlichen See ge- 
morfen, zu Lavater, ber ihn mit aller Herzlichleit aufnahm. Die 
nädfte Unterhaltung galt der Phyſiognomik, wovon ber erfte Band 
gebrudt vorlag, und dem Berhältniß zu Lili, woräber Lavater ihn 
beruhigt haben wirb, indem er ihn von einer- leibenfchaftlichen Lü- 
fung oder‘ Verfolgung deſſelben abzuhalten ſuchte. Dem bringen- 
den Anfuchen feines Frankfurter Freundes, Paffavant, mit ihm 
gleich in der zweiten Woche die Meinern Kafıtone zu beſuchen, konnte 
er nicht miberftehn, mogegen er die Begleitung eines Herrn von 
Lindau, eine® jungen Hannoveraners, der in dem Sihlthal zurlid- 
gezogen lebte, und der ihm wahrfcheinlid einen andern Reifeplan 
vorgelegt hatte, etwas unfreundlich ablehnte. ' Die Stolberge 
fcheinen ſich längere Zeit in Straßburg und Bafel aufgehalten zu 
haben, und erft kurz vor biefem Ausfluge Goethe's oder gar erft 
naher in. Zürich angelommen zu fein; benn bei gleichzeitiger An- 
kunft zu Züri wäre die‘ Trennung ihrer Reifefahrten von denen 
ihres Freundes unerklärlich, wogegen es fehr natürlich ift, daß fie, 
wenn fie fpäter anfamen, erft Lavater ganz genießen wollten und 
mit ihm zuerft Meinere Wege machten, wie nad) Maria-Einfiebeln. 
Am 15. Iuni? fuhr Geethe mit Baffavant auf dem Züricher 


Bsl. ©. 22, 368. Ueber Lindau's Wohnung in einem Wachhauſe 
Knebel's Nachlaß T. 113. Goethe erfreute fih am Anfange des folgenden 
Jahres feines Beſuches in Weimar, aber bald darauf, im Anfange des 
Jahres 1777 farb er. Bor feinem Tode fepte er Goethe zum Vormunde 
eines ‚Hirtenfnaben ein, ber ihm das Reben gerettet Hatte, weshalb er fih 
feiner angenommen. Vgl. Goethes Briefe an Lavater S. 31 f. GS. 32, 1 if 
Lindan’e Veter'n flat Linndäus Peter’m zu lefen). 74. 120 f. Schöu 
Briefe und Auffäge S. 180. Briefe an Bran von Etein I, 6. 110. 

2 Gpethe berichtet (B. 22, 358) nach feinem Tagebuche, daß fie am 
48. Juli von Ginfiedeln aufgebrochen feien, wonach fie am 23. Juli den 
Gotthard verlaffen haben wärden, wat aber unmöglich iR, da wir ihn am 


304 \ 
See bis Richtersweil. Damals bichtete ex das ſchöne Ried „auf 
. bem See“ (B. 1, 63), in weldem fid ver frifche, freubige Muth 
ausſpricht, der ‚fi im Genuffe ver ſchönen Natur durch nichts, 
auch nicht durch die Erinnerung an bie entfernte Geliebte, ftören 
laſſen will. ' 


Und frifhe Nahrung, neues Blut 

Saug’ ich aus freier Welt. 
Wie iſt Natur fo hold und gut, 

Die mid am Bufen Hält! 

Die Welle wieget unfern Kahn 

Im Rubertaft hinauf, 

Und Berge, wollig, bimmelan, - 

Begegnen unferm Lauf, 


Aug’, mein Aug’, was finfft bu nieder? 
Golbne Träume, kommt ihr wieber? 
Weg, du Traum, fo gold bu biſt! 
Hier auch Lieb’ und Leben ift. 


Auf der Welle blinken 
Zaufend ſchwebende Sterne; 
Weiche Nebel trinken 

Kings bie thürmende Ferne; 
Morgenwind umflügelt 

Die befgjattete Bucht, 

Und im See befpiegelt 

Sic) die zeifende Frucht. 


25. Juli wieder in Sranffurt finden. Viehoff (U, 226. 240) weiß ſich 
nicht zu helfen. Daß Ratt Juli Juni zu lefen ſei, ergibt fih aus dem 
daranf folgenden Datum ‚den. 18. Sonntage“ (B. 22, 360); denn im 
Zahre 1775 war nicht der 18. Zuli, wohl aber der 18. Juni ein Sonntag. - 
Vielleicht verwandelte Goethe felbft den Juni feines Tagebuchs deshalb in 
den Juli, weil er vorher irrig berichtet Hatte, er habe den 29. Juni noch 
in Offenbach gefeiert. Oder ik der Juli durch eine Schlimmbefferung der 
Herausgeber in den Text gekommen? 

! Vgl Lehmann „über Goethes Liehlingewendungen und Riehlings- 
ausdrüder €. 12 fı 


305 


In Richtersweil wurden fie von dem trefflihen Arzt Dr. 
Hoge, ' an den Lavater fie empfohlen hatte, freundlich bewirthet, 
und auf das anmuthigfte und nüglichfte über bie meitern Reife: 
ftationen unterhalten. ? An bemfelben Tage gelangten fie auf 
rauhem Wege nah Maria-Einfieveln. ? Ehe fie in das rauhe 
Thal Son. Schindeleggi hinabftiegen, wandten fie fih um, und ges 
noffen die entzüdende Ausſicht Über den Züricher See, von bem 
fie auf einige Tage Abſchied nehmen follten. Auch bei diefem herr- 
lichen Anblide ergriff deu Dichter die Erinnerung an bie ferne 
Geliebte, in welcher er feines Lebens höchfte Luft gefunden, von 
der man ihn jegt zu trennen fuchte, und er ſchrieb in ein Gedenk - 
heftchen bie Berfe: 


Wenn ich, liebe Lili, dich nicht Tiebte, . 
Welche Wonne gäb' mir biefer. Bid? 


* Bimmermann fagt von biefem Dr. Hoze (über bie Ginfamfeit IV, 81): 
„Erhäben und fanft, wie die Mater, bie ihn umgibt, if feine Gerle; fein 
Haus if ein Terhpel der Gefundheit, der, Freundſchaft und jeder miiden 
Tugend.“ Bol. Heguer über Lavater ©. 239. Lavater's phyfiognomiſche 
Fragmente II, 215. Goethe bezeichnet ihn in einem Briefe an Knebel 
(1, 20) als einen gar guten Mann, der ihm beſonders wohl getan 
Haben müffe. Bol. Knebel’s Nachlaß I. 115. 

? Baffavant hatte felbft diefe Reife ſchon gemacht. Im Jahr 1797 
ſchlug Goethe mit feinem dreunde H. Meyer zum Theil venfelben Meg 
ein. Val. 8. 26, 142 fi. 

Es muß auf Irrthum beruhen, wenn in den „geitgenoflen® (VI, 2,84) 
erzaͤhlt wird, bie Etolberge hätten mit Lavater und Goethe die erfte, ihnen 
unvergepliche Reife nach Maria-Einfiedeln und um den Zürier See ges 
macht. Br. Stolberg thut einer folgen in feinen fpäteren-Reifebriefen Feine 
Grwäpnung, obgleich fonfige Erinnerungen an die frühere Echweizerreife 
nicht fehlen. Wie konnte Echarfer (Goethe's Leben 1. 384) die Trage aufs 
werfen: „Hat Goethe vieleicht einen mit den Etolbergen gemachten And 
flug mit anderen Reifen ins Oebirge verbunden, da er ſich doch während 
eines mehrmonatlichen (?!) Aufenthalts in der Schweit wohl nicht mit einer 
furgeu Gebirgerelfe von zwei Wochen begnägte?* Goethe wird nicht zweimal 
Marla-Einfiedeln beſucht Haben, und bei der vorliegenden Beſchreibung, 
die auf genanen Tagebucpbemerfungen beruht, geſchleht der Gtolberge 
feine Erwähnung. 

Dünger, Brauenbilder. 20 


306 


Und doch, wenn ih, Mi, dich nicht liete, 
Bir’, was wir’ mein Oli? * 

Unter den alterthümlichen Koftbarkeiten des Kloſters Maria⸗ 
Einſiedeln, die ſie am audern Morgen beſahen, zog unſern Dichter 
eine Meine Zackenkrone mit eingefugten farbigen Steinen pon ge⸗ 
fhmadwoller Zeichnung und unermüdeter Ausführung fo ſonderlich 
an, daß er ſich bie Erlaubniß, fie herauszunehmen, erbitten mußte. 
Als er fie aber in die Höhe hob, da war es ihm, als müßte er 
fie feiner Lili auf bie hellglänzenden Loden fegen, fie ver den 
Spiegel führen, und ihre Freude über fich felbft und vas Glüd, 
das fie verbreite, gewahr werben. 

Am 16. Juni übernachteten fie in Schwyz, mo fie nad den 
überftandenen Mühen des Tages im jugendlichen Bollgefühle ihrer 
Kraft achten uud jaudzten bis um Mitternacht. Den Rigi be- 
fliegen fie am folgenden Tage von Lomwerz aus, und übernachteten 
bei der Mutter Gottes im Schnee (jet Maria zum Schnee), 
von wo fie am 18. zur höchſten Spige des Berges, dem Rigikulm, 
vorbrangen. Am 19. Juni ging e8 nad Altdorf, am 20. über 
Amftäg nah Wafen, am 21. nad; Andermatt und am folgenden 
Tage zum Gipfel des Gotthard. Die legten kurzen Zagereifen 
deuten auf vielfaches Ansruhen, Beihanen und Zeichnen der Ge- - 
genden hin. Vergebens fuchte Paſſavant am andern Morgen den 
Dichter zur Weiterreife nah Mailand zu beftimmen; das Audenken 
an die Geliebte, die gerade an dieſem Tage ihren Geburtstag 
feierte, zog ihn von der lockenden Ausſicht in das ſchöne Land 
zurlick. Die Lombardei und Stalien lagen al ein ganz Fremdes 
vor ihm, wie oft ihn auch die Erzählungen feines Vaters dorthin 
verjegt hatten, Deutſchland dagegen erfchien ihm als ein Befanntes, 
Liebwerthes, reich an freunlichen Ausſichten. - Ein goldenes Herzchen, 
das ihm Lili in den ſchönſten Stunden ihrer Liebe umgefnüpft hatte, 


! Den ledten Vers änbörte oeme 1789 alſo — und fo Reht er jedt 
anter den Gedichten (B. 1, 63) — 


Fänd’ ich hier und av ich dort mein Old? 


‚307 


hing noch an demfelben Bande Hieberwärmt an feinem Halfe; er 
faßte e8 an und Füßte es. -Damals war es, als er das tiefem- 
pfundene Lied dichtete (B. 1, 77): 


Angebenten du verflungner Freude, 

Das ich immer noch am Halfe trage, 

Haltſt du Tänger, als das Seelenband uns beide? 
Verlangerſt du ber Liebe kurze Tage? 


Füieh' ih, Lili, vor die! Muß noch an deinem Bande 
Durch fremde Lande, 
Durch ferne Thäler und Wälder ' wallen! 
Ad, Lili's Herz konnte fo bald nicht 
Bon meinem Herzen fallen! 
\ Wie ein Vogel, ber ben Faben bricht - 
Und zum Walde kehrt, 
Er fchleppt, des Gefängniffes Schmach, 
Noch ein Stldchen des Fadens nach; 
Er iſt der alte freigeborne Vogel nicht, 
Et hat ſchon jemand angehört. ? 


Die Reiſe erſcheint ihm wie eine Flucht vor der Geliebten, 
von der er ſich trennen zu können glaubte; das Seelenband, das 


NMan wärde hier Berge und Wälder erwarten, wie früher in 
den „Wanderjahren“ I, 2 (B. 18, 25) flatt Berge und Täler (vgl. 
dafelbft ©. 22) Rand, wollte der Dichter Hier nicht die Munehmlichfeit der 
Reife hervorheben, weshalb er der beſchwerlichen Berge nicht gebeuft. 

3 Man vergleiche hierzu bie Werfez welde Goethe am 21. Oktober 1765 
zu Leiwſig fehrieb : 


So wie ein Vogel, der auf einem AR 

Im fhönften Wald ſich, Breipeit athmend, wiegt, 

Der unge ſtort die fanfte Luft genieht, 

Dit feinen dittichen von Baum zn Baum, 

Von Buſch zu Buſch fich fingend hinzuſchwingen. 
Mehnlich if} das Bild vom Hunde, ber fich vom ber Kette geriffen, aber 
noch einen Theil der Kette nachfchleppt, bei Verſins V, 159 f. Man ver: 
gleiche auch Das frampdfifcfe trainer sa chaine. - 


308 


fie beide umfchlungen, glaubte er gebrochen zu haben, als er es 


über ſich brachte, fie auf Längere Zeit ohne Abſchied zu verlaffen: 


allein hier, in ber weiten ferne, mo es ſich zeigen follte, ob er es 
wagen könne, ihr ganz zu entfagen, Deutſchland,“ das feine Liebe 
begte, zu verlaffen, und froh und frei in das neue, ſchöne Land 
binabzufteigen, hier muß er tief empfinden, daß es ihn zur Ge- 
liebten Hinzieht, bie in feinem’ Herzen noch inımer lebt und von 
ver Spige des Gottharb ihn nad) der Heimat zurichwinkt. Seiner 
Lili glaubte er entflohen zu fein, fi von ihr in bie Freiheit ge- 
rettet zu haben, aber e8 war nur eine Täuſchung: noch trägt er 
das goldene Herzen an ihrem Bande, er hat es nicht vermocht, 
fich von biefem Herzchen zu trennen, dieſes Band von feinem Halfe 


zu löſen, ja er fühlt, daß er nicht frei ift, daß er ihr noch ange, 


hört. Schaefer hat den eigentlichen Kern des Gedichtes nicht erfaßt, 
wenn er (Goethe's Leben I, 203) meint, unfer Gebicht Tönne 
unmöglich auf der Schweizerreife, mo er noch hoffnungsvoll ge- 
wefen, alle feiner Liebe ſich entgegenftelenben Hinderniffe zu überwin⸗ 
den, gebichtet fein, fonbern müſſe fpäter fallen, in die Zeit, wo 
ex, in Thüringens „Thälern und Wäldern" ftreifend, durch das 
goldene Herz an die Längft geftorbene Liebe erinnert worben. Zitterte 
auch damals nod) der Schmerz über die verlorene Geliebte in feinem 
Herzen nad, fo kounte er doch unmöglich nach ber entſchiedenen 
Trennung bie Reife nach Weimar als eine Flucht vor Lili bar- 
ftellen, und daß er zuweilen von Weimar aus einige Tage in 
Thüringen herumſtrich, hätte er kaum als „ein Wallen durch fremde 
Rande, durch ferne Thäler und Wälder" bezeitinen können. Galt 
feiner Lili auch noch damals, wie er einmal in einem aufgeregten 
Augendlid in Erinnerung feiner vor einem Jahre begonnenen Be- 
kanntſchaft mit diefer fagt, fein Schmerz und fein Sang, fo hatte 
ex doch längft alle Feſſeln, die ihn an fie Fetteten, gebrochen, und 
es mußte nicht ſowohl das Gefühl, noch immer an ihr zu hängen, 
als der Schmerz des Berluftes fi in feiner Seele regen. Auch 
war fein Scherz ſchon gleich im Anfange des Jahres 1776 verklun⸗ 
gen, um welche Zeit aber von folden Streifereien durch Thüringen 


noch nicht die Rede fein fann. Am wenigften paßt das Gebicht 
in bie Weihnachtstage 1775, wehin Schaefer (I, 224) es verlegen 
möchte. Als er jenes Lied dichtete, gab er feine Kili noch nicht 
ganz verloren, er hatte nur verſucht, ob er ſich von ihr zur trennen 
vermöge. 

Die Ruckreiſe vom Gottharb war weniger heiter, als der Hin- 
weg, da Paflavant über die Vereitelung der gehofften Wanderung 
nad) Italien verftimmt, unfer Dichter aber auf feinen ſtummen 
Wegen, wie er ſelbſt fagt, um befto auhaltender befchäftigt war, 
das Ungeheure, das ſich in feinem Geifte zufammenzog, wenigftens 
in feinen faßlichen charakteriftifchen Einzelheiten feftzuhalten; benn 
wie feltfam verfchlungen waren bie Schidfale feines Herzens bie 
legten Jahre über gewefen! "Der Gedanke an die ferne Geliebte 
beherrſchte alle feine Gefühle, und ließ ihn das tiefe Unglüd einer 
eigen Trennung von biefer immer fehmerzlicher empfinden; doch 
ermanmte er fi bald wieder zu froher Hoffnung, daß ihm das 
Leben, wenn er nur den Muth nicht finfen laffe, fondern kräftig 
fortſtrebe, noch wahres Glüd bringen werde. Diefes Gefühl 
ſprechen bie ſchon in bie erfte Ausgabe aufgenommenen, „Hoffnung“ 
überfchriebenen Verſe (®. 1, 82) aus, welche nach ber ausbräd- 
lichen Angabe der Ouartausgabe, wo fie unter ben epigrammati- 
ſchen Gedichten flehen, in den Juni 1775 fallen: - 


Schaf, das Tagwert meiner Hände, 
Hohes Glück, daß ich's vollendel 
Laß, o laß mich nicht ermatten! 
Nein, es find nicht leere Träume; 
Jet nur Stangen, ' biefe Bäume 
Geben einft noch Frucht und Schatten. 


1 Bol. Goethes Brief an Braun von Stein vom 8. November 4777: 
. Oernach fand ich, daß das Schiefal, da es mich hierher verpflante, voll 
fommen gemacht hat, wie maus den Linden thut; man ſchneidet Ihnen 
den Gipfel weg und alle ſchöne Aeſte, daß fie neuen Trieb kriegen; fonft 
erben fie von oben herein. Freilich ſtehen fle die erſten Jahre wie 
Stangen da“ J 
ꝛo · 


310 


* Auch biefe Verſe wird Goethe in fein Gedenkheftchen damals 
‚eingefhrieben haben, wahrfcheinlih beim Anblide - einer neuen 
. Baumanlage auf einem Wiefengeunbe. ' - Bon ber Rückreiſe erzählt 
Goethe nur, daß fie die Gottharbſtraße hinab Bis nach Flüelen 
gegangen, von dort bis Kußnacht auf dem BVierwalbftätter See 
gefahren, dann über den Zuger Eee und Zug zum Ziricher See 
(wahrfcheinlich bei Horgen) gekommen. Die Rückkunft wird am 
27. oder 28. Juni erfolgt fein. 

Rurz vor oder gleich nach der Abreiſe Goethe's in die kleinern 
Kantone waren bie Stolberge nad; Zürich gefommen, wo fie ald- 
bald zu Lavater ſich in ein gutes Verhältniß zu ſetzen fuchten, 
welcher die vielverfprechenden gräflihen Jünglinge freundlich aufe 
nahm. : Sie bezogen bei Zürich in der Nähe der Sihl eine länd- 
liche Wohnung bei dem reblichen Jochen Berly, ven fechzehn Jahre 
fpäter : Frievrih Stolberg mit Gattin und Sohn freundlich be 
grüßte.? Es fehlte nicht an den vielfachften Ausflügen in der Nähe 
des herrlichen Sees, woran ſich auch Lavater gern betheiligte, in 
deflen Geſellſchaft fie Maria-Einfieveln beſuchten.“ Voß berichtet 
nad einem Briefe ber Stolberge:“ „In Ziric baden fie ſich 
einmal. Lavater, ber fie beſuchen will, fegt ſich an's Ufer (der 
Sihl?) hin, und fpricht fo mit ihnen im Waſſer. Die Bauern, 
bie das Baden bei Tage nicht ausſtehn können, eilen ſchaar⸗ 
weife herzu; wie fie aber einen Priefter am Ufer fehen, brauchen 
fie doch feine Gewalt, fondern murmeln untereinander, bie nadten 
Männer im Waſſer müßten wohl Wiebertäufer fein, bie ber Prieſter 
befehren wolle; man fehe auch recht, was der Satan für eine 

* Ganz grundlos iſt die wohl durch die in der vorigen Mote erwähnte 
Vriefftelle veranlaßte Behauptung Schaefer's (1. 261), Goethe fönne diefe 
Verſe unmöglich 1775 geſchrieben haben, fie gehörten etwa in das Jahr 
1777. Die beiden legten Berfe find offenbar ſymboliſch zu faſſen, wobei 
man an Goetpe's „Ampntas“ (B. 1, 281 f. 26, 128) erinnert wirb. 

2 Bel. Stolberg's Werte B. 6, 116 f. Lavater's „ausgewählte Echrife 
ten" B. 5, 268 f. \ 

Bol. oben ©. 305 Note 3. 

* Briefe von 3. H. Boß I, 290. 


311 


Gewalt über fie -ausübe; denn jedesmal, ba er .anfange zu beten, 
müßten fie mit vem Kopfe unter’8 Waffer tauchen. Im Bodenſee 
hat man fie gar feftnehmen wollen.“ Goethe erzählt uns, wie fle 
. einft als fie in der Sihl in dem. büftern Thal hinter dem Albis 
ſich gebabet, von Steinwürfen verfolgt werben feien; er ſelbſt will 
mit ihnen im Züricher See gebabet haben. Auch fpäter. machte 
die jugendliche Ausgelaſſenheit der Stolberge während bes Auf- 
enthaltes in der Schweiz Lavater Unannehmlichkeit, wie fi aus ber 
Aeußerung Fr. Stolberg’ vom 14. September 1775 (Hegner 
©. 55) ergibt: „Mit der Aufrichtigfeit, welche meinem Charakter 
eigen ift, will ich deinen Brief beantworten. Da ich fehe, daß 
unfere unanftändigen Scherze, unfer Muthwillen im Pfef- 
fersbade Gelegenheit zu übler Nachrede gegeben, jo will- ich bir 
frei bekennen, was wir thaten!” 

Bir find im bieherigei, was bie Stolberge betrifft, ganz von 
Goethes Erzählung abgewichen, indem wir biefe erft furz vor ober "" 
nad Goethes Abreife nach den Meineren Kantonen in Züri an- 
fommen und Goethe bort nad ber Rüdkunft mit ihnen zuwfanmen- 
treffen laſſen, wogegen fie nah Goethe's Bericht, während .er bie 
erften Tage bei Lavater zugebracht, fih in der Gegend unıgethan 
hätten-und auf mancherlei Wegen ausgezogen, bei feiner Rückkehr 
aber. fchon weg geweſen wären, da ihr Aufenthalt wegen des durch das 
Baden im Freien entftandenen Sandals auf unerwartete Weife ver- 
fürzt worben ſei. Hiergegen fpricht aber nit allein der Unftand, 
daß fie, wie wir fonfther wiſſen, erſt einige Wochen in Zürich ver- 
meilten, ehe fie die Reife in bie. einzelnen Kantone ber Schweiz an- 
traten,' fondern auch Goethe, wie er anı 25. Juli an Augufte jchreibt, 
in Züri Abſchied ‚von ihnen genommen, was. ihm ſchwer fiel. 

"Goethe freute ſich, feine Reifegefährten in Zürich wieberzu- 
finden, mit denen nebft Lavater er mande fhöne Stunde genoffen 

1 Bol. Stolberg's Werke B. 6, 73.116. Zeitgenofien VI, 2, 84: „Sie 
bewohnten darauf einige Wochen in der Nähe der Stadt (Zürich) ein reiendes 
Landhäuechen, unt unternahmen von da ihre Gtreifgüge in das Gebirge.“ Erik 
von Bern aus begannen fie ihre größere Reife bunh die ganze Schweim. 


312 
haben wirb,. da ein gleich glühender Sinn für die Schönheiten der 
‚ Natur -und freiheitern Genuß in ihnen lebte, und Lavater's friſche 
Gemüthlichfeit und Herzlichkeit fid) ihnen ganz öffnete. Unferm 
Dichter fcheint Lavater neuen. Muth und febendiges Vertrauen auf _ 
die Zufunft in die Seele geflößt, und die Hoffnung einer Berbin- 
Wing mit Lili wach gehalten zu haben. Bodmer mag Goethe zugleich 
mit den Stolbergen beſucht haben, wie er anbeutet, doch jegt er 
dieſen Beſuch vor die Reife in bie Meinern Kantone, “ 
Bon der Rücureiſe nad Frankfurt weiß Goethe. nur noch, bag 
er in Darmftadt bei Merck eingeſprochen, dem er feinen Triumph, 
daß er bie baldige Trennung von der fröhlichen Geſellſchaft vor- 
ausgefagt, habe gönnen müfjen. Aber von einer Tängern Beglei⸗ 
tung ber Stolberge war keine Rebe geweſen, und Goethe mar von 
den Freunden wit herzlichfter Anerkennung und liebewarmem Herzen 
geſchieden, ſo daß auch diefer einzige Zug ver Nüdreife, den ber 
” Dichter in „Wahrheit und Dichtung“ mitzutheilen wußte, als un- 
geſchichtlich gelten muß‘, wie denn Goethe überhaupt Mercks fcharfes 
Weſen an manden Stellen übertrieben und ihm befonvers fchroffe 
Urtheile wider Willen untergefhoben hat, ba das Bild bes treff- 
lien, mit innigfter Liebe an ihm hängenden Freundes fi ihm 
etwas verfchoben hatte. ' 

Goethe ſcheint, und zwar in Begleitung von Ringer, ber feines 
Landemannes Kayſer wegen nach Zürich gekommen war,? ben Mildweg 
über Konftanz, Lindau, Ulm und Stuttgart genommen zu. haben; 
denn Schubart ſchreibt am 17. Ruvember 1775 (bei Strauß I, 328), 
nad) dem er des Beſuches der Stolberge gedacht hat: „Goethe 
war auch hier — ein Genie groß und ſchrecklich, wies Riefenge- 
birg; Klinger-war bei ihm — unfer Shafefpeare. Die Kerls haben 
mic) alle liebgewonnen.“ Wenn es nun auch freilich fonberbar 
fcheint, daß Schubert weder in feiner „bentichen Chronik“, noch in 

! Bel. oben ©. 298. J 

2 Vgl. die Lebensbeſchreibung Klinger's hinter dem zwölften Bande 
feiner Werfe (1842) ©. 267. ° Goethe hat in feiner Erzählung des Aufent - 
haftes in Zürich weder Kayfer's, noch Klinger's gedacht. 


313 


feinem „Leben“, wo er doch bie ſpätern Beſuche der Gtolberge 
erwähnt, !-biefer perſönlichen Belanntſchaft mit Goethe und Klinger 
gebentt, fo bereditigt un biefer. Umfland doch keineswegs, zu ber 
ſtarken Annahme zu greifen, Schübart Habe ſich dieſes Beſuches 
von Goethe gegen den Bruder nur aus Citelfeit gerühmt, ohne . 
einen ſolchen wirklich empfangen zu haben. Als Goethe vier Jahre 
fpäter mit. dem Herzog nad) Stuttgart am, foll er fi für den 
unglicklichen Schubart, der damals ſchon im britten Jahre auf dem 
Asberg gefangen faß, bei dem tyranniſchen Fürften verwandt haben. ? 
Schubarrs Gattin ſchreibt am 16. Dezember 1779 au Miller (bei _ 
Strauß I, 441): „Daß der große Mann Goethe nebft feinem gnä- 
digen Fürften hier ift, werden Sie ſchon wiſſen; ich ward ganz ent- 
züdt bei deſſen Ankunft. Gott! badjte ich, vielleicht if auch dieſer 
ein göttliches Werkzeug, uns Freunde zu erwerben. Ich entſchloß 
mich- fo balb, als möglich, ihm meine Aufwertung zu machen. Diefes 
wirb aber ſchwerlich fein können. Herr Elſäffer hatte gleich ven 
zweiten Tag das Gluck; er brachte auch meinen Wunſch hervor; 
Goethe verſprach, mich aufzufuchen und zu ſprechen, aber- bisher 
vergebens. Nun würde ich freilich feinen Augenblid verkieren, ihm 
nachzulaufen, um mid) tiefes Glüdes würdig zu machen, aber 
vdenfen Sie, eine ſchwarze Seele hat Gelegenheit gefunden, unſern 
Fürſten wider hen großen Mann einzunehmen, daß er fogar einigen 


* Deutfhe Epronif vom 16. November 1775. Leben II, 108, wo der 
Beſache von Gulger, Baprdt, den Stolbergen und dem Komponiften Kayfer 
gedacht wird. In der „veutfchen Chronik“ vom 25. September heißt es: „Gew 
Klinger, der fi in feinem „Dtto" und „leidenden Weibe“ als ein vor- 
trefflicher Kopf gegelgt hat, arbeitet an einem Schauſpiele, „Pprräus” ber 
#itelt, voll großer, heroifcher Gefinnungen. Auch wird näͤchnens von ihm 
„Donna Biofar, ein Schaufpiel für lebende, herauskommen. Der Ader- 
mäunifchen Geſellſchaft in Hamburg hat er Färzlid) ein Lufifplel(?), „die 
Zwillinge benamst, Überlafen.“ Das Ieptgenannte Trauerfpiel erſchien 
bereits 4774. Dal oben &. 289. Schubart ſcheint ſich hier auf- Mit- 
thellungen Klingere ſelbſt zu betiehen. Früher, im Briefe vom 13. Juli 
(bei Strauß 1, 821), hatte er dem „Otto“ für ein Stůc Goethes gehalten. 

2 Nach Ecpubart’s Brief vom 2. Januar 1787 (bei Strauß IT, 268). 


314 
von feinen Gelehrten verbot, wit ihm umzugehn. Ich darf nicht 
mehr fagen; das übrige können Sie ſelbſt denken. Goethe würde 
darüber lachen, wenn er es erfahren follte, aber mir möchte nein 
Herz zerfpringen. Laut fpricht mein Herz mit ihm, und doch darf 
id} es bei denen Umftänben nicht wagen, ihn zu ſuchen, wann es nicht 
von ungefähr gefhehn kann; denn · ich müßte forgen, mehr böfe 
als gut zu machen.“ Strauß bemerkt hierzu: „Vielleicht warf der 
Herzog feine Ungnade auf Goethe, weil ihm das ſtandeswidrige 
Berhältnig von Karl Auguft zu ihm anftößig war; ober ahnte er 
überhaupt in jevem großen Geiſt einen Feind und Bernichter des 
Treibens, in welhem er und feines Gleichen ihr Gläd und ihre 
Größe ſuchen 7“ Indeſſen ſcheint Schubart's Gattin hierüber übel 
berichtet worben zu fein; wenigſtens ſchreibt Goethe am 20. Dezember 
von Karlsruhe ats an Frau von Stein: „In Stuttgart haben 
wir den Feierlicjleiten des Jahrstags der Militärafavemie beige- 
‚wohnt; ' der Herzog war Äußerft galant gegen ben unferigen, und 
ohne das Inkognito zu brechen, hat er ihm bie möglichſte Aufmert- 
famfeit bewieſen. Uns andere hat er auch fehr artig behandelt.“ 
Freilich mag diefe artige Behandlung nur äußers Form, und ber. 
die ganze Welt aufregende unabelige Dichter als vertrauter Freund 
und Leiter des Herzogs, ben er zu einer fo abenteuerlichen Fahrt 
verlodt hatte, ihm ein großer Anftoß gewefen fein. 
Von Stuttgart ging Goethe nicht den geraben Weg nad 
* Karlsruhe, fondern wandte ſich durch den Schwarzwald wieder nad) 
Straßburg, wo er mit Lenz und. Salzmann mehrere vergnägte 
Tage zugebracht haben wird, während fein Aufenthalt auf der Hin- 
reife nur ein fehr kurzer war. Bei der Vefleigung des Münfters 
ſchrieb Goethe bie „Dritte Wallfahrt nach Erwin’s Grabe, im 
Yuli 1775“. (8. 31, 22 ff.), welche Jacobi, ſchon in einem Briefe 
von 12. Anguft mit Vegeifterung begrüßte. „Wieder an beinem 
Grabe und dem Dental des ewigen Lebens in bir, über beinem 


! Damals war es, ala Schiller zuerſt den Dichter des „Werther“ mit 
Angen fah. 


315 


Grabe, heiliger Erwin,“ beginnt er, „fühle ich, Gott fei Dank! 
daß ich bin, wie ah war, noch immer fo fräftig gerührt von dem 
Großen, und o Wonne! noch einziger, ausſchließender gerührt von 
vem Wahren, als ehemals, da ich oft aus kindlicher Ergebenheit 
das zu ehren mid) beftrebte,-wofile ich nicht fühlte, - und, mid 
ſelbſt betrügenb, den „Traft- und wahrheitsleeren Gegenftand mit 
liebevoller Ahnung Übertündte! Wie viel Nebel find von meinen 
Augen gefallen, und doch bift du nicht aus meinem Herzen ge— 
wichen, alles befebende Liebe, die tu mit der Wahrheit wohnft, 
ob fie gleich fagen, du feift lichtſcheu und entfliehend im Nebel.“ 
Er wendet fi) darauf zum-Münfter ſelbſt. „Du bift eins und 
lebendig, gezeugt und entfaltet, nicht zuſammengetragen und geflidt. 
Vor bir, wie vor dem ſchaumſtürmenden Sturze bed gemaltigen 
Rheins, wie vor ber glänzenden Krone ber ewigen Schneegebirge, 
wie vor dem Anblid des heiter ausgebreiteten Sees unb deiner 
Wolkenfelfen und wüften Thäler, grauer Gotthard, wie vor jedem 
großen Gedanken der Schöpfung, wird in ber Seele reg, was 
auch Schöpfungskraft. in ihr iſt.“ Dieſe Stelle zeigt deutlich, daß 
die „Wallfahrt“ nach der Rücklehr aus. ver Schweiz fält. Auf 
ver erften Station, die er beim Befteigen des Miünfters macht, 
geben!t er feiner Freunde, „Ich will ſchreiben; denn mir iſt's wohl, 
und fo oft id. da ſchrieb, iſt's auch anderen wohl worden, die's 
fafen, wenn ihnen das Blut rein durch die Adern floß und die 
Augen ihnen hell maren.. Mög’ e8 euch wohl fein, meine Freunde, 
wie mir in ber Luft, die mir über alle Dächer der verzerrten Stabt 
morgenblih auf biefem Umgange entgegenweht.“ Als er weiter 
Hinaufgeftiegen, muß er feiner Heimat und, der geliebten Lili ſich 
erinnern, bie er in Frankfurt ohne Abſchied verlaffen. „Höher. in 
die Luft, hinabſchauend, ſchon überſchauend die herrliche Ebene, 
vaterlandwärts, liebwärts, und doch - voll: bleibenden Geflihls 
des gegenwärtigen Augenblicks.“ Ex gedenkt hierbei ſeines vor drei 
Jahren herausgegebenen Bogens „von deutſcher Baukunft“ (B. 31, 
3 ff.). „Wunderlich war's, von einem Gebäude geheimnißvoll reden, 
Thatſachen in Räthſel hüllen und von Maßverhältniſſen poetiſch 


316 

lallen! Und doch geht's mir jet nicht beſſer. So fei es denn 
mein Schidjal, wie e8 bein Schickſal iſt, himmelafftrebender Thurm, 
und deins, weitverbreitete Welt Gottes, angegafft und Täppchenmweife 
in ven Gehirnden der Weljchen aller Bölfer auftapezirt zu werben.“ 
Bei der britten Station wünſcht er ſchöpfuugsvolle Künftler, gefühlvolle 
Kenner um ſich zu haben, deren er auf feinen Heinen Wanderungen 
fo viele gefunden, „Wenn euch dies Blatt erreichen wird, laßt es 
euch Stärkung fein gegen das flache unermüdete Anfpilen unbe- 
deutender Mittelmäßigkeit, und folltet ihr an. biefen Plag kommen, 
gevenkt mein in Liebe! Tauſend Menfchen ift die Welt ein Rari« 
tätenlaften; die Bilder gaufeln vorüber und verſchwinden, bie Ein- 
drücke bleiben flach und einzeln in ber Gecle:! drum laſſen fle ſich 
fo leicht durch fremdes Urtheil leiten; fie find willig, die Eindrücke 
anders ordnen, verſchieben, und ihren Werth auf und ab beſtimmen 
zu laſſen.“ Auf dieſer Station, welche wir und wohl auf der-Blatt- 
form des Münfters zu denken haben, wo Goethe während feiner 
Studienzeit häufig mit feinen Freunden zuſammenkam (®. 21, 247), 
ging die Empfindung dur die Ankunft von Lenz in Geſpräche 
über, unter welden fie die übrigen. Stationen vollendeten; ‚daß 
ohne wahre Schöpfungskcaft im Künſtler durch aufſchwellendes Ge- 
fühl der BVerhältniffe, ver Mafe und des Gehörigen ein ächtes 
Kunftwert unmöglich fei, dies war ber Punkt, über welchen fie 
fi beim Weiterſchreiten immer Marer zu werben fuchten.. Ueber 
Frieverife wird Goethe von Lenz nicht zum beften unterrichtet wor- 
ven fein, doch war feine Liebe durch Lili in eine zu große Aufre- 

gung gefett, als daß jene ihn jetzt beſonders angezogen hätte. 
Sehr beveutfam war es für Goethe, daß er in Straßburg 
aud mit bemr geoßbritannifchen Peibarzt Johann Georg Zimmer 
mann aus Hannover, einem Freunde Lavater's, zufammentraf, 
der ſich unter ben deutſchen Schriftftelern. durch feine Schriften 
„von ber Erfahrung in der Arzneikunſt“ (1764), „vom National» 
ſtolze“ (1768) und „ven der Einfamteit“ (1773) ſchon damals einen 


' gl. oben ©. 220 Note 2. 





317 


Namen erworben hatte. . Unter hundert Silhouetten zeigte Zanmer- 
mann ihm aud die ber edlen Frau von Stein aus Weimar, unter 
welcher Goethe damals die bezeichnenden Worte fehrieb: „Es wäre 
‚ ein herrliches Schaufpiel zu fehn, wie die Welt fi in dieſer Seele 
fpiegelt. Sie fieht die Welt, wie: fie ift, und body durch's Medium 
ber Liebe. So ift auch Sanftheit der allgemeine Eindruck.“ Zim⸗ 
mermann's Erzählung von ihr raubte dem jungen Dichter drei 
Tage lang den Schlaf.“ So ſollte ſchon damals, als er noch 
hoffen durfte, das Verhältniß zu Lili wiederhergeſtellt zu ſehn, das 
Bild der herrlichen Frau, deren tiefes Gemuth und. reine Weib- 
fichfeit bald einen eben fo entſchiedenen, als mohlthätigen Einfluß 
auf ihn zu Üben beftimmt war, ahnungsvoll fein Herz ergreifen. 
Gegen den 20. Juli wird Goethe nach Frankfurt zurücgelehrt 
fein, wo er ſich an Auguſte, die er von’ jet an, wie bie 
Brüder zu thun pflegten, „Guſtchen“, „lieb Guftchen” nennt, am 
25. Juli wendet. „Ich will Ihnen ſchreiben, Guftchen, liebe 
Schweſter, ob id} gleich, wäre ich jegt bei Ihnen, ſchwerlich reden 
wide. Ich muß anfangen.“ Allein ftatt wirklich mit der Dar: 
ſtellung feines Zuftandes zu beginnen, bricht er in Die Worte aus, 
welche die tiefe. Sehmfucht nach ihrer perſönlichen Gegenwart ber 
ſtimmt genug andeuten: „Wie weit if’ nun von mir zu Ihnen! 
Gut denn, wir werben uns doch fehn.” Nachdem er darauf feinen 


Bol. Himmermann’s Brief an rau von Stein vom 22. Oftober 
1775 in den „Briefen von Goethe und deſſen Dintter au Wriedrich von 
Stein“ S. 179 f., wo irrig 1774. fatt 1775 ſteht. Die falfge Datirung 
Hat Viehoff IL. 207. 261 zu den feltfamften Iretpümern und den wunder 
licgjten Annahmen verleitet, durch die fih auch Schöll zu den Briefen an 
Frau von Stein I &. XV. f. bat fänfgen laſſen. Die Reife, melde 
Bimmermanm nach der Echiweiz machte, um feine Tochter bei Tiſſot abzu- 
holen, FAN in das Jahr 1775., Vgl. Zimmermann’s Schrift Über Sriebrich 
den Großen ©. 265. Tiſſot's Leben Zimmermanu's S. 171,(ber beute 
ſchen Ueberfeguug). Hegner ©. 53. Am 3. Juli Fam Zimmermagu in 
Sranffurt an, von wo er am folgenden Tage weiter reiste. Am 7. Juli 
ſchrieb Merk von Darmfadt aus au Meolat: „Auch haben wir Zimmer, 
mann auf einige Tage hier, ber auf vier (2) Monate in die Schweiz geht." 


318 

Abſchied von den Brüdern berührt hat, ſchließt er: „Gute Nacht, 
Schweſter, Engel! Einen Herzlichen Gruß der Gräfin Bernftorff 
(Auguftens. älterer Schwefter)!" Sechs Tage fpäter ſchreibt er: 
„Wenn mir's fo vecht weh ift, kehr' ‚ich mich nad; Norden, wo. fie 
dahinten ift, zweihundert Meil von wir, meine geliebte Schwefter. 
Geftern Abend, Engel, hatt’ ich viel Sehnen, zu Ihren Füßen zu 
liegen, Ihre Hände zu halten, und fehlief brüber ein, und heute 
früh iſt (8) wieder frifch mit dem Morgen. Beſte, theilnehmenve 
Seele, immer den Himmel im Herzen und nur unglüdlich durch 
die Deinigen! — ber wie du auch geliebt wirft! — Ich muß 
noch viel herumgetrieben werben, und baım einen Augenblick am 
Ihrem Herzen! — Das if immer fo mein Traum, meine Ans- 
ficht durch viel Leiden. — Ich habe mich fo oft am weiblichen 
Herzen betrogen! — O Guſtchen, wenn ih nur einen Blick in 
Ihr Aug’ thun könnte! — Ich will ſchweigen. — Hören Sie nicht 
auf, and für mich zu fein! Abel“ 

Man hatte während Goethe's Abweſenheit Lili zu Überzeugen 
geſucht, daß fie das Verhältnig löſen müffe, was um fo leichter 
geſchehn könne, als Goethe ſelbſt durch feine willküͤrliche, Kaum 


angedentete Entfernung ſich deutlich genug erklärt habe; dieſe aber 


hatte durch ſich durch alle vorgeſtellten Hindetniſſe nicht von dem 
Geliebten abbringen laſſen, vielmehr offen erklärt, was Goethe 
fpäter zu feiner nicht geringen Genugthuung erfuhr, fie würde aus 
Neigung zu ihm alle beſtehenden Verhältniſſe aufgeben und mit ihm 
nad Amerika wandern, wenn das legtere nicht ein im Sinne 
fpäterer Zeit gemachter Zufag ift; denn wir können die Richtigkeit 
der Bemerkung, daß Amerika bamals (während des Freiheits- 
tampfes) noch mehr, als fpäter, das Eldorado aller Bedrängten 
geweſen, nicht zugeben. Daß die Verlobten ſich fahen, Tonnte man 
nicht wohl hindern; doch ſcheint Lili, welche durch Goethes raſche 
unb lange Entfernung verlegt worben war, ihn am Anfange nicht 
mit* ber alten Herzlichleit empfangen zu haben. Dies nebft ben 
Trennungsverſuchen von beiden Seiten," wobei Kornelia's ſtrenge 
Mahming, die ſie ſchriftlich wiederholte, ven bebeutendften Eindruck 


319 


üßte, ſcheint den Dichter in jenen ängſtlich bewegten Zaftand 
verſetzt zu Haben,‘ in welchem er fih um fo inniger an Augufte 
anſchloß, Troſt, Hülfe, Heil und Segen von ihr erwartete, die 
als ein reines, erhabenes Bild feiner Seele vorſchwebte. Bom 
9. Juli am war aud Herder auf einige Tage mit Mer in 
Frankfurt, ? veffen Anweſenheit feinem gequätten Herzen wenig zum 
Troſt gereicht Haben wird, wenn jener auch damals weniger biffig war. 
Am Anfange des folgenden Monats ſcheint das Verhältniß 
ſich wieder leidlich hergeſtellt und allmählich; feine ganze frühere 
Herzlichkeit wiedergewonnen zu haben, obgleich die Ausſicht auf 
eine wirfliche Verbindung bei ben. entgegenftehehben Beftrebungen 
immer zmeifelhafter wurde. Am 3. Auguſt fchreibt Goethe bei 
dOrville zu Offenbad in Lil’ Zimmer, mit welcher er ausreiten 
will: „Guſtchen! Gufthen: Ein Wort, daß mir das Herz frei 
werde, nur einen: Hänbebrud! Ich Tann Ihnen nichts fagen. 
Hier! — Wie foll ih Ihnen nennen das Hier! Bor dem frohein- 
gelegten bunten Schreibzeug — da fellten feine Briefchen ausge 
ſchrieben werben, und biefe Thränen, biefer Drang! Welche Ber- 
ſtimmung! O daß ich alles fagen könnte! Hier in bem Zimmer 
des Mädchens, das mich unglücklich macht, ohne ihre Schul, mit . 
der Seele cines Engels} deſſen heitere Tage ich trübe, ich!“ 
Wahrſcheinlich hatte Augufte nad) den Aeußerungen Goethes biefen 
aufgefordert, dem Berhältniffe zu einem Mädchen, das ihn fo un 
glucklich mache, zu entfagen, wogegen biefer hier ‚die Geliebte in 
Schutz nimmt, welche feine Schuld an feinem Unglück trage, viel- 
mehr durch ihn unglücklich werde: bie mit aller Gewalt wieder- 
erwachte Liebe überficht alle Meinen Beranlaffungen, welche Lili 
ihm „zur. Eiferfucht gegeben; nur ſich alfein und bie fich ihnen 


Goethe fagt ©. 22, 388: „In ihrer (BIO) Gegenwart traten alle 
Hoffnungen, alle Wünfche wieder hervor, und. neue Unfigerheiten bewegten 


- ich in mir,“ gewiß richtiger, als wenn es bald darauf (©. 408) Heißt: 


* „98 ich wieder vor fie (Ri) ſelbſt Hintrat, fiel mies hart aufs Her, 
daß fie für mich verforen“fet. Ich entfchloß mich daher abermals zur Flucht.“ 
2 Bol. Mercks Briefe III, 127 f. 5 


320 uns 


+ entgegenftellenben Verhältniſſe will’er fir ſchuldig erfennen. „Ich 
nehme vor einer Viertelſtunde Ihren Brief aus der Tafche,“ fährt 
er fort, „ich leſ ihm! — Vom 2. Hunit! Und Cie bitten, " 
bitten um Antwort, - um ein Wort aus meinem Herzen. 
Und heut’ ber 3. Auguft! Guſtchen, und ich babe noch nicht ge- 
ſchrieben! — Ich habe gefchrieben, der Brief liegt im ber Stubt 
angefangen. ? O mein Herz! — Soll ich's denn anzapfen? auch 
dir, * Guſtchen, von dem hefetrüben Wein ſchenlen? — Und wie 
fann ich von rigen reden, von bir, ba id) in feinem Unglüd 
gar oft das meine beweint habe!* Laß Guftchen! Ihm ift wohler, 
wie mir. — Bergebens, daß ich drei Monate in freier. Luft her- 
umfuhr, taufend neue Gegenftände in alle Sinnen zog.“ Engel, 
und ich fige wieder in Offenbach, fo vereinfacht, wie ein Kind, fo 
beſchränkt, als ein Papagei auf der Stange, Guſtchen! — und 
Sie fo weit! Ich habe mich fo oft nach Norden gewandt. Nachts, 
auf der Terrafie am Main, ich ſeh' hinäber und ben am bi! 
So weit! So weit! — Und dann du und Fritz und ih! und 
alles wirrt ſich in einen Schlangentnoten! Und ich finde nicht 
Luft zu fehreiben. — Aber jet will ich nicht aufhören, bis jemand 
an die Thüre kommt und mid) wegruft. Und doch, Engel, manchmal, 
wenn bie Noth in meinem Herzen bie größt' ift, ruf’ ich aus, ruf’ 
ich die zu: „Getroft! Getroft! Ausgeduldet, und es wird werben!“ 
Du wirft Freude an deinen Brüdern erleben, und wir an uns 
ſelbſt. Diefe Leidenſchaft iſts, bie uns aufblafen wird zum Brand; 
in biefer Not werben wir um uns greifen, und brav fein, unb 

* Der Brief Hatte ihn in Branffurt nicht mehr getroffen, und war 
wahrſcheinlich liegen geblieben, nicht etwa nach Zürid) nachgefipitt worden. 

Es iſt der fechete Brief, vom 25. und 31.-Iuli, gemeint. 

© Hier tritt wieder (vgl. ©. 318) das herzliche Du hervor, welches 
foäter mit dem vornehm Hältern Sie weihfelt, aber in den -Iehten 
Briefen ſte hend wird. 

* Auch ihn noͤthigten befonbere Verhältniffe der Gelichten zu eutfagen. 
Bgl. oden S. 298. , 

® Der Ende Mai begonnenen Schweigerreife waren andere Ansfläge 
vorergegangen. Vgl. &. 289. 


321 ' 


Handeln, und gut fein, und getrieben werben bahin, mo Ruheſinn 
nicht reicht. — Leibe nicht für uns! — Duld' uns! — Gib ung eine 
Thräne, einen Händebrud, einen Augenblid an deinen Knieen! 
Wilde mit deiner lieben Hand biefe Stirn abl. Und ein Kraft- 
wort, und wir find auf unferen Füßen!“ Man ficht, mie tief er 
fühlt, welche veinigende Gewalt vie glühende Kraft ber Liebe auf 
ihn üben, wie biefe fein ganzes Weſen von allen Schladen läutern 
werbe. „Hundertmal wechſelt's mit mir ven Tag!” fährt er fort. 
„O wie war. mir fo wohl mit beinen Brüdern. Ich ſchien ge- 
faffen; mir war's weh für rigen, der elender war, als ih, unb 
mein Leiden warb leiblicher. Jetzt wieder allein! — In ihnen 
hatte ich Sie, beſtes Guſtchen; denn ihr feib eins im Liebe und 
Weſen. Guſtchen war bei uns, und wir bei ihr.“ Jetzt habe er 
nur ihre Briefe, Magt er, bie ihn in ber Tajche brennen, ba fie 
ihn an ihre Abweſenheit, an feine .Einfamfeit erinnern,. doch ihn 
‚oft wie ihre Gegenwart ſelbſt erfaſſen, wenn er fie in glücklichen 
Augenbliden auffchlägt. „Aber manchmal — oft find mir felbft " 
die Züge ber liebſten Freundfchaft todte Buchſtaben, wenn mein 
Herz blind ift und taub. — Engel, e8 ift ein ſchrecklicher Zuftand, 
die Sinnlofigleit. In der Nacht tappen ift Himmel gegen Blind- 
beit" Ex fühlt ſich jest fo wohl bei dem Gedanken, daß er dieſe 
feine Berworreinheit der geliebten Freundin, dem „golvenen Kinde“, 
mittheilen Tann, daß dieſes Blatt in ihre Hände gelangen wird, 
und er fühlt, da ihm ihre Freundſchaft gewiß ift, daß er nicht” 
-ganz unglüdlich fein könne. Ueber feinen gegemwärtigen Zuſtand 
will er ihr noch einiges mittheilen, woher er mit dem Bekenntniß 
beginnt, weldes feine völlige Hoffnungs- und Rathlofigfeit in 
Bezug auf Lii’s Beſitz ausſpricht: „Lang halt’ ich's hier’ nicht aus; 
ich muß wieder fort!" Uber bei der Frage: Wohin? verfällt er in 
tiefe Gedanken, in welchen fein Geift auf dem ganzen bemohnten 
Erdboden herumfliegt, um einen Ruheort zu finden; er macht daher 
der Freundin, welche die einzige ift, bei welcher er Ruhe finden 
tönnte, was er aber hier nicht ausſprechen mag, nur eine Reihe 
Gevantenftriche. As er ſich aber ‚wieder gefaßt hat, beflagt er 
Dünger, Frauenbilder. u Pr 


‘ 322 
fein unſeliges Schidſal, das ihm feinen Mittelzuſtand erlauben- 
wolle, „entweber auf einem Punkt, faſſend, feſtllammernd, ober 
ſchweifen gegen alle vier Winde.“ Wie glücklich ſcheinen ihm da- 
gegen jegt diejenigen zu fein, welche unbekümmert und forglos ihr 
Tagewerk vollenden; fie kemmen ihm wie verflärte Spaziergänger, 
wie Spaziergänger in höhern Sinne vor, in fofern- fie weder an 
einem Punkte boden und floden, nod wild unıberftärmen, fonbern 
in aller Behaglichkeit ihrer Alltagspflicht genügen. Indem er aber 
zur Schilderung feines jetzigen Zuſtandes zurückkehren will, beſchreibt 
er zunãchſt die Ausficht, bie er von dem Zimmer aug genießt; vor 
ſich fieht er den. Main, gerade drüben Bergen, links unten bad 
graue Frankfurt mit dem ungefchieften, ber Spige ermangeluden 
Doms ober Pfarrtfurme', das für ihn fo Teer. fei, wie mit Beſen 
gelehrt, Links artige Dörfchen, zunächſt unter ſich den Gartenmit 
der, 6i8 zum Main hinunter gehenden Terraſſe. Aber aud- die 
nächfte Umgebung beſchreibt er, wie er früher einmal eine Zeich- 
“nung feines Zimmers der Freundin überſandt hat. „Und auf dem 
Tiſch hier ein Schnupftuch, ein Panier, ein Halstuch drüber; dort 
hängen bes lieben Mädchens Stiefel. NB. heut’ reiten wir aus. 
Hier Tiegt ein Kleid, eine Uhr hängt da, viel Schachteln und 
Pappenvedel zu Hauben und Hüten.“ Hier wird er buch Lili's 
Ankunft unterbrochen, deren Stimme das Gefühl leivenſchaftlichſten 
Entzüdens in ihm erregt, welches ber Herausgeber bes Briefwech-⸗ 
Feld noch in dem nach den Worten: „Ich hör ihre Stimme", fol- 
genden Gedankenſtrich angeveutet zu ſehn glaubt. Lili, verwune 
dert, ihn hier zu finden, wohin er ſich zurüdgezogen hatte, um 
feinen „Gefühlen in einem Briefe an Augufte freien Lauf zu laſſen, 
fragt ihn, woran er ſchreibe, und fie geftattet ihn: zu bleiben, ba fie 
ſich drinnen anziehen will. „Gut Guftchen, ich hab’ Ihnen befchrie- 
ben, wie's um mid, herum ausſieht, um bie Geifter durch den finn- 
lichen Blick zu vertreiben.“ Der ganze Brief, an deſſen Schluß 
er bie Freundin bittet, um Gottes willen “feine Briefe niemand 


"Bol. K. 3. Weber „Dentfplaud® IV, 472 f. oben ©. 145. 








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fehn zu laffen, bildet eine fortlaufende Erklärung zu ber Unter- 
ſchrift, in welcher er ſich ohne weiteres „den Unruhigen“ nennt. 
Die innere Glut ver Leidenſchaft brennt um fo Heftiger, je mehr 
ihn die fehmerzliche Ueberzeugung ergriffen hat, daß bie feiner Ber- 
bindung mit Lili entgegenftehenden Hinderniſſe dieſelbe für ihn un- 
möglich machen werben, eine-Ueberzeugung, bie er ſich zwar nicht 
ganz geftehn mag; die ihn aber angft- und qualvoll umbertreibt 
und ihn fein unfeliges Mißgeſchick, das ihm keine Ruhe vergönne, 
bitter beflagen läßt, ‚wobei er aber die reinigende Kraft ber Liebe 
in rührender Weife anerkennt. 

Zwiſchen dieſem und dem nächſten Briefe an Angufte Liegt 
ein Zeitraum von faft anderthalb Monat. Der Zuftand beruhigte 
fih allmählich, indem Goethe fih des Glüdes ver Liebe freute 
und ber ihm bebrängenden Gebanfen wegen der Zukunft in feligen 


* Genufje der frifchen Gegenwart vergaß, woher er weniger Veran⸗ 


laſſung fand, fid) der entfernten Freundin mitzuteilen. Die erften 
drei Wochen des Auguft ſcheint er bie meifte Zeit in Offenbach 
zugebracht zu haben und nur felten nach Branffurt gefommten zu 
fein. Gegen den 10. Auguft kam wieder Yung Stilling nad, 
Branffurt, um Herrn von Leröner, beffen mißlungener Operation 
wir oben ©. 275 f. gebadhten, zu beſuchen; feine Abreife fcheint 
gegen Ende Auguft zu fallen. ' 

An Jacobi fandte Goethe um biefe Zeit feine „dritte Wall- 
fahrt“ und eines ber in der Schweiz entftanbenen Lieder, und er⸗ 
freute ſich der Herzlichen Anerfennung und Liebe, welche biefer in 
feinem Briefe vom 12. Auguft ihm ausſprach. Bedeutſam find 

* Im „Srauffurter Iournal“ vom 44. Anguft Iefen wir: „Der durch 
ſeine Augenfuren berühmte Dr. Jung aus Elberfeld if zum großen Trok 
vieler Angenpatienten wieber alfhier angefommen.* In Goethes Briefe au 
Merk ans dem’ Auguft heißt es: „Jung if-nach Elberfeld zurüd, und läßt 
dich ‚grüßen. — Was macht die Wöchnerin?“ Am 29. Juli (Wagner's Samın- 
fung 11,,98, verglicen: mit MIT, 128) ward Merk's Tochter Branzisfa 
Gharlotte geboren. Demnach muß Jung’s eigene Augabe (Hänsliches Leben " 
&. 56) irrig fein, wonach biefer Aufenthait in Brankfhrt acht Wochen 
gebanert haben ſoll. 


324 


für. ung zwei Aeußerungen, die durch Goethe's Brief veraulaßt 
ſcheinen: „ber, was iſks doch, daß wir uns fo ſelig fühlen, 
wenn Wohlthun unmittelbar von uns ausgeht, es ſei aus Geſtalt 
oder Geiſt — und fo elend, wen — ac das Beſte aus dem 
Himmel, Schönheit, Liebe Über md. kommt, wie auf eine Heer⸗ 
frage verſchleuderte Saat, die vermehet und zertreten werben muß! 
— Dis Zufammenziehen des Innerften, das peinlihe Krämmen, 
un don allen Seiten ab ein wenig Aſche über" die Glut im Mittel 
zu ſchütteln! — du kennſt es.“ . 

Auch Lavater follte in biefer beruhigtern Stimmung mit einem 
Briefe Goethe'8 erfreut werben, der freilich zunächſt ein Antwort 
ſchreiben zu fein ſcheint. „Ich fige in Offenbach, wo freilich Lili 
iſt,“ ſchreibt er am 13. Auguft, einem Sonntag. Ich hab’ fie 
von bir gegrüßt. Ich ſchicke dir eheſtens ihre Silhouette, weib- 
lich. Mad. ihre etwas in Verſen, das fie im- Guten ftärte und 
erhafte! Du kanuſt Guts thun, und du willfl.*. Am andern 
Tage fährt: er fort: „Geftern waren wir ausgeritten, Lili, d'Or— 
ville und ih. Du hätteft den Engel im Reitkleide zu Pferde fehr 
ſollen! Im Oberrad wartete die übrige Geſellſchaft auf uns, und 
ein Gewitter trieb die alte Firftin von Walde mit ihren Töchtern, 
der Herzogin von Kurland und der Fürftin von U. (Ufingen) ', in 
unfer Haus und Saal. Da fie mic erkannten, wurde gleich viel 
nad dir gefragt, und die alte Fürftin bat mit folder Wahrheit 
und Wärme von bir gerebt, daß mir's wohl wurbe. Sie fagte, 
wenn ihm heute nicht die Ohren Mingeln, fo Halte ich nicht viel 
auf feine Ahnungskraft; an uns liegt die Schuld nicht. Sie läßt 
dich herzlich grüßen. Lili grüßt did) auch! — Und mir wird 

. Gott gnädig fein. Bruder, ich bin eine Zeit her wieder fromm, 
habe meine Luft an bem Herrn, und fing’ ihm Palmen, von 
denen Du eheftens eine Schwingung erhalten ſollſt.“ Adel“ 


! Die jüngere Tochter der verwittweten Sürftin Ehriftiane von Walded, 
Luiſe, geboren am 29. Januar 1751, war ſeit wenigen Monaten (am 
3. April) an der Fürſten Friedrich Auguft von Naffau -Ufingen vermähft. 

3 Unmöglich Tann Goethe hierunter, wie Schaefer (1, 206) meint, 





Drei Tage fpäter ſchreibt er an die Karſchin, welche ihn 
brieflich freundlich begrüßt hatte: ' „Ich treib’ mich auf dem Land 
berum, liebe Frau, um das Leid und Freud', mas eben Gott 
jungen Herzen zu ihrem Theil gegeben hat, in freier Luft zu ge- 
nießen. Neulich lief ih einmal in die Stadt, und Griesbach⸗ 
reichte mir Ihren Brief.“ - Ex dankt der Dichterin, die Gleim zur 
deutſchen Sappho“ geweiht hatte, daß fle ihre Feder fo an ihn 
babe laufen (affen, und wünfcht, aud ihre Tochter, von der bie 
Karſchin ihn zugleich gegrüßt haben wird, möge ihm nur ſchreiben, 
wie und wann es ihr eimlomme; denn fein Spiegel fei das für 
die Gitelfeit, was ein Brief der von wunderbaren Verhältniſſen 
gebrängten Seele werde, wenn fie gleiche Stimmung barin horche 
und, mbe bes ewigen Solo, mit Freuden pauſtre und dem freund- 
lichen Mitfpieler neue Wonne ablauſche. Sie felbft möge ihm, 
bittet er, nur manchmal was aus dem Stegreife ſchicken; denn ihm 
fei alles ieh und werth, was. treu und ſtark aus dem Herzen 
komme, möge es übrigen@®nie ein Igel oder ein Amor ausfehn. 
„Gefchrieben hab’ ich allerfei, gewifjermaßen wenig und im Grunde 
nichts. Wir fchöpfen den Schaum ven dem großen Strome ber 
Menſchheit mit unferen Kielen, und Bilden uns ein, wenigſtens 
ſchwimmende Infeln gefangen zu haben.” Man flieht, wie tiefes, 


die Ueberſetung des „Hohenliedes“ verflanben haben, bie In den September 
sm fallen ſcheint, da @oethe fie erſt in einem Briefe vom Oktober an 
Merk erwähnt, noch nicht in dem Ende Auguß fallenden Briefe. Auch 
it von wirklich ſchon vorhandenen Liedern nicht die Rebe, fondern er hofft, 
daß ihn feine beruhigte Stimmung zu heiteren ®efängen veranlaffen werde. 
Zum fpräcmwörtfichen Auedruck dem Herren Bfalmen fingen vgl. Briefe 
an Frau von Stein I, 415. . 

! Bol... Helmine von Ehe „Aurifeln“ I, 27 f. 

? Zohan Jatob Grietbach, vier und ein Halb Jahr Alter ale Goethe, 
Sopn des Lutheriſchen Pfarrers Konrad Kaspar Griesbach zu Frankfurt, 
war ſchon zwei Jahre Profeffor der Theologie zw Halle gewefen. Ceine 
mit der Beau Math fehr befreundete Mutter war Anfangs April dlefes 
Jahres geftorben; um dieſelbe Zeit, am #6. April, hatte er fih, nad- 
dem es einen Ruf an bie Jenaer Univerfität erhalten, zu Halle vermäßft. 


326 
warmes Gefühl ihm alles, die Form nichts ift, wie ihm das Ber, 
dienſt des Dichters als Künftler wenig gilt, wie er nur bie Wie- 
derſpiegelung reiner Menfchheit anerkennt. „Bon meiner Reife in 
die Schweiz", fährt er fort, „bat bie ganze Zirkulation meiner 
Heinen Inbivibualität viel gewonnen. Vielleicht peitjcht mich bald 
die unſichtbare Geißel der Eumẽniden wieder aus meinem Bater- 
lande, wahrſcheinlich nicht nordwärts, ob ich gleich Loth und feine 
"Hauögenofjen in euerm Sodom (Berlin) einmal grüßen möchte. 
Die Aufgabe von der Männer Schlappfimm unter gewiflen Unt- 
ftänden kann und darf ich heut’ nicht erörtern. Die Urſache 
liegen in dem Schreibtiſch hier, dem Kaffeetiih dort und ber 
Figur im Neglige, die mir den- Rüden kehrt und ihr Frühſtück 
ſchlürft.“ Diefer Brief ift ohne Zweifel in Lil’s Zimmer und in 
deren Gegenwart vor dem „ftroheingelegten bunten Schreibzeug“ 
gl. oben ©. 319) geſchrieben. ' 

Während dieſer Zeit war es, baf bie Geliebten si Andre 
häufig bis zu Mitternacht zuſammenbluͤben und feinem Spiele zu⸗ 
horchten. Er hatte damals Goethe's „Erwin und Elmire“ kom- 
ponirt, auch Bürger's „Lenore“, und an ſonſtigem Vorrathe fehlte 
es nicht; Lili ſelbſt ließ ſich nicht ſelten auf dem Piano vernehmen.“ 
Zu ber Geſellſchaft gehörte dOrville's Familie, Bernhard und der 
reformirte Prediger Johann Ludwig Ewald, deſſen Braut, bie 
Techter des Kaufmanns Jakob Friedrich du Fay aus Frankfurt, 
häufig herüberfam. Ein in dieſe Zeit falleudes Abenteuer müfjen 
wir mit Goethe's eigenen Worten beſchreiben (B. 22, 313 f.). 
„Wir waren beim Harften Sternhimmel bis fpät in der freien Ge- 
gend umberfpaziert, und nachdem ich fle (Rili) und bie Geſellſchaft 
von Thüre zu Thüre nad Haufe begleitet, und von ihr zuletzt 
Abſchied ‘genommen hatte, fühlte ich mir fo wenig. Schlaf, daß 
ih eine friſche Spaziermanderung "anzutreten nicht ſäumte. Ich 

* Goethe fept dieſes vor die Schweizerreife, aber in feiner Darftellung 
ft die Zeitfolge völlig verſchoben, wie er denn fon am 23. Juni Ewald’s 


‘Gattin erwähnt (8. 22, 310), obgleich die Bermäplung erft im Speaker 
sfolgte, 





v 327 
ging die Landſtraße nad Frankfurt zu, mid) meinen Gedanlen und 
Hoffnungen zu überlaſſen: ich feste mich auf eine Bauk, in ber 
reinften Nachtſtille, unter dem blendenden Sternhimmel mir ſelbſt 
und ihr anzugehören. — Ich war barauf weiter nad) ber Stabt zuge- 
gangen, und an ben Möberberg ' gelangt, wo ich die Stufen, welche 
nad} den Weingärten hinauffähren, an ihrem lalkweißen Scheine er- 
tannte. Ich flieg hinauf, ſetzte mich nieder und fchlief. ein. Als 
id) wieder aufwachte, hatte Die Dämmerung ſich ſchon verbreitet; 
ich fah mich gegen dem hohen Wall über, welcher in früheren Zeiten 
ale Schutzwehr wiber bie hüben ftehenden Berge aufgerichtet war. 

Sachſenhauſen Iag vor mir, leichte Nebel .deuteten ven Weg bes. 
Fluſſes an; es war friſch, mir willkommen. Da verharer ich, bis 
die Sonne, nach und nad; hinter mir aufgehend, das Gegenüber 
erleuchtete. Es war die Gegend, we ich bie Geliebte wiederſehn 
ſollte, und id: kehrte langſam in das Paradies zurüd, das fie, 
die noch Schlafende, umgab.“ Auch dieſes verfegt Goethe vor bie 
Scyweizerreife, aber zu gleicher Zeit nad; dem 23. Juni, was 
wir für eben fo irrig halten, als wenn bies ſich in einer Zeit 
ereignet haben fol, wo er wegen vermannigfaltigter Geſchäfte mur 
die Abende bei ihr in Offenbach zubringen konnte. An feinen Ger 
ſchäften fcheint er damals nicht viel mehr Antheil genommen zu 
haben, als während feiner Reife. 

* Hatte fi) während biefes Aufenthaltes im ländlichen Offen- 
bach Goethe Seele im herzlich frohen Genuſſe von Lili's Gegen- 
wart beruhigt, fo fühlte er ſich dagegen wieder in ſchmerzlichſter 
Verzweiflung, als nad) ber Rücktehr zur Stadt alle Hinberniffe, 
welche der gewünſchten Verbindung ſich in den Weg ftellten, ſich 
ihm um fo lebhafter aufbrängen mußten. Leider follte fih auch 
diesmal an ihm wieder beftätigen, was er im Jahre 1771 von 


Goethe verwechſelt hier den Möderberg mit dem Mühlberg; denn 
der Möderberg llegt auf bee rechten Mainfeite, ihm gegenüber der Mühle 
berg und Oberrad. Hiernach iR auch die Angabe in meinem Sanftfoms 
mentat I, 197 zu berichtigen: ll 


Saarbrück aus geſchrieben hatte, daß die Liebe nicht muthig, fou- 
dern ſchwach mache; ftatt diefen Hinderniſſen keck in's Auge zu 
hauen und ihnen zum Trog den feurigften Wunſch feines Herzens 
in Erfüllung zu bringen, verzweifelte er an der Möglichkeit, fie 
zu befiegen. Sein Herz war zu weich, es fehlte ihm Die Thatkraft, 
die er fi nur fpät unter mannigfachen Kämpfen in einem gewiffen 
Grabe gewinnen konnte; fo ſtark er fi in ber Entfagung fühlte, 
fo wenig war er im Stande, äußeren Hinberniffen zu trogen, wie 
wir dies ſchon bei feinem Verhältniffe zu Friederile bemerkten. So 
finden wir e8 deun ganz feinem Charakter gemäß, wenu er bei 
“Gelegenheit der Aeußerung Lils, fie fönne ihm zu Liebe alle ihre 
Verhältniſſe aufgeben und mit ihm nad) Amerifa gehn, die Be- 
merkung macht (B. 22, 388): „Mein ſchönes väterliches Haus, 
nur wenig hundert Schritte von dem ihrigen, war body immer ein 
feivlicherer, zu gewinnender Zuftand, als die über dad Meer ent- 
fernte ungewiffe Umgebung"; dagegen ſcheint es uns völlig unge 
gründet, wenn ev vorher (©. 22, 314) behauptet, er habe aus 
Liebe zu Kili ſeinen Geſchäftskreis zu erweitern und zu beherrſchen 
getrachtet, und ba feine Ausſichten ſich verbeflerten, fie für bebeu- 
. tender gehalten, als fie wirklich gewefen, und beshalb auf baldige 
Gatſcheidung gebrungen. 
Seine Hoffnungslofigkeit ſpricht ſich ſcharf genug in dem gegen 
Ende Auguſt geſchriebenen Brief an Merck aus, wo er, nachdem 
er Jung Stilling's Abreiſe gemeldet und ſich nach Merchs und feiner 
Gattin Befinden erkundigt hat, dieſem ſchreibt: „Ich bin wieder 
garſtig geſtrandet, und. möchte mir taufend Ohrfeigen geben, daß 
ich nicht zum Teufel ging, da ich flott war. ' Ich paſſe wieder 
auf neue Gelegenheit abzubräden: nur möcht id) wiſſen, ob du 
mir im Fall mit einigem Geld beiftehn wollteft, nur zum erften 
Stoß. Alenfalls magft du meinem Vater beim Hinftigen Kon- 
greß klärlich beweifen, daß er mich aufs Frühjahr nad Italien 


Es iR an die Zeit der Schweizerreiſe zu denken, wo ber Bater ger 
wůnſcht hatte, ex folle nach Stalien gehn. Del. 8. 22, 339.387 f. 








ſchicken mäfle.“ Aber dies ſcheint ihm ſchon zu lang, weshalb er 
fofort hinzufügt: „Das-Heißt, "zu Ende dieſes Jahres muß ich fort. 
Dar’ e8 kaum bis bahn, auf dieſem Baſſin herumzugondofiren 
und anf die Sröfch- und Spinnenjagb, mit „großer Feierlichkeit 
auszuziehen.“' Es ift höchſt bezeichnend, wie Goethe in biefem 
Briefe von bem fühnen Entſchluſſe, wider ben Willen des Vaters 
fih von Frankfurt wegzubegeben, weshalb er bei Merd um Gelo 
anfragt, ſogleich abgeht, und fo. raſch zu bem weniger gewagten 
überfpringt, durch Mercks Vermittlung des Baterd Einwilligung 
zu erhalten, was er felbft von biefem zu erbitten wicht wagen 
mochte. Um biefelbe Zeit äußert er gegen Lavater:? „Ich bin 
ſehr aufgefpannt,. faft zu. fagen über; doch wollt’ ich, du 
wöreft mit mir; denn be ift wohl fein in meiner Nachbarſchaft. 
Schreibe doch du auf, was du wollteſt, was ich für dich fähe, 
wenn ich nad; Italien ging'.“ 

Am 2. oder 3. September beſuchte Goethe den eben in Franf- 
furt anweſenden Profeffor Sulzer, veffen berhnte „allgemeine 
Theorie ber ſchönen Künfte” er in ven „Frankfurter gelehrten An- 
zeigen“ beurtheilt hatte. Sulzer berichtet in- feinen „Tagebuch 


! Goethe pflegt feine Gleichuiſſe aus feiner nächften Umgebung, bes 
ſonders von feiner jevesmaligen Befhäftigung, oder von Furz vorherge- 
gangenen Aufhanungen, Herzunehmen. So ſchreibt er am 24. Mat 1776, 
nachdem er am Tage vorher bei einem Brande, wo bie Hülfe zu fpät fam, 
qugegen gewefen, ‚a Sran von Grein: „Die Gegenwart (ver Gelichten) 
im Augenblick des Bebürfniffes entſcheidet alles, lindert alles, Fräftiget 
alles. Der Abwefende fommt mit feiner Eprige. wenn das Beuer nieder 
iR. In einem Briefe -an Jacobi vom 21. März 1775 nimmt er das 
Gleichniß vom Schlittſchuhlaufen her, woran er ſich wohl noch vor kurzem 
erfreut hatte. Anderes gibt Riemer I, 51*. 67. So erflärt fih auch an 
Anferer Stelle uud im Briefe an Augufte vom 19. September der Vergleich 
daher, daß er zu Offeubach das- Fahren auf dem Waſſer lernte. Zu der 
Frofhjagb val. 8. 6, 61: \ 

2 Hirzel gibt diefe Worte hinter den oben mitgetheilten Nachrichten 
vom 43. und 14.-Nuguf, und zwar zu einem Briefe mit biefen verbun- 
den, feht aber merfwärbiger Welfe darunter das Datum „im Zuli 1775. 
Es iſt dies nicht das eimigemal, daß Hirzels Datirung eutſchieden falich iR. 


330 . 
- -—— 2 
einer von Berlin nad den mittäglichen Ländern von Europa in 
den Jahren 1775 und 1776 getharien Reife und Rüdkeife" S. 17 
unter dem bezeichneten Datum: „Ich hatte doch in Frankfurt das 
Vergnügen, des bereit8 in feinen jungen Jahren durch verſchiedene 
Schriften in Deutſchland berühmt gewordenen Dr. Goethens Be- 
ſuch zu genießen. Diefee junge Gelehrte iſt ein wahres Driginal- \ 
genie von ungebunbener Freiheit im Denlen, fowohl über politifche 
als gelehrte Angelegenheiten... Er befigt, bei wirklich ſcharfer Beur⸗ 
theilungskraft, eine feurige Einbildungskraft und fehr lebhafte Em- 
‚pfinbfamteit. Aber feine Urtheile über Menſchen, Sitten, Politik 
und Geſchmach find noch nicht durch hinlängliche Erfahrung unter- 
ftügt. Im Umgange fand ich ihn angenehm und liebenswürdig.“ 
Goethe felbft weist B. 22, 260, mo er dieſes Beſuches zu- 
gleich mit den vorigjährigen des Herrn von Salis (vgl. oben 
©. 245) an etwas zu früher Stelle gebenft, auf diefe Aeußerung 
Sulzer's hin, behauptet aber irrig, baß daraus hervorgehe, Sulzer 
babe über bie geniale tolle Lebensweiſe ber Heinen um ihn ver- 
ſammelten Geſellſchaft gar wunderliche Anmerkungen im ftillen 
gemacht. 
Hatte bisher die Verzweiflung, zum Beſitze Lili's zu gelangen, 
den jungen Dichter gewaltig gequält, jo follte berfelbe noch eine 
ärgere Probe zu beftehn haben, als vor dem Anfange ber Franl⸗ 
furter Meſſe in der erſten Hälfte des September ' ver Schwarm 
von Gefellfchaftsfreunden des Schönemannifchen Haufes nah Frank⸗ 
furt kam, von benen feiner einen gewiffen Antheil an ber liebens- 
. würbigen Tochter aufgeben mollte, die zwar ben Geliebten auch 
bei biefen Zubrange nicht verſäumte, vielmehr immer mit wenigem 
das Zartefte äußerte, was ihrer gegenfeitigen Lage gemäß war, 


! Die Frautfurter Meſſe begann im Jahre 1775 eigentlich erſt ven 
10. September, doch wurden bie größern Gefchäfte meifteutheils ſchon vor 
dem Beginne der Mefle gemacht, woher die bedeutendſten Kaufleute ſich 
früher einftellten. Nach Biehofs die Zeitfolge völlig verwirsender Dar- 
ſtellung müßte die Meſſe erſt gegen Ende September begonnen haben. 
Dan vergleiche B. II, 247. 





331 


aber durch ihre and; anderen zugewandte Freundlichkeit feine un- 
glüdliche Eiferfucht erregte, in welcher er ihr feinen Unmillen oft 
auf unfreumbliche Weife zu erkennen gab. Die alten Herren mit 
ihren Onkelsmanieren, bie ihre Hände nicht im Zaume zu halten 
mußten, und beim Streiheln und Tätſcheln oft fogar einen Kuß 
verlangten, welchem Lili ihre Wange nicht verfagte, waren ihm 
ganz unausſtehlich. Lili follte nur für ihn da fein, follte nicht 
auch anderen gefallen, follte nicht ihre Anziehungskraft auf alle 
üben wollen; er überfah, daß dieſes freundliche, liebevolle Weſen 
in feiner Heitern Unbefangenheit an feine Zurüdkaltung benfen ” 
konnte, baß allgemeines Gefallen ein Zug ihrer tief gemüthlichen, 
herzlich offenen, lebensluſtigen Natur wer. Ein humoriſtiſcher 
Ausfluß feiner übeln Laune ift das damals entftandene Gedicht 
„gie Park“ (8. 2, 70 ff.), welches Goethe mit einigen Wende 
rungen ſchon in bie erfte Ausgabe feiner Werke aufnahm. ' Der 
Dichter ftellt hier die Unbeter der Geliebten als eine Menagerie 
dar, wie fon Frau Claudine Alerandrine Guerin de Tencin den 
Kreis der Berehrer, die fie um fich verfammelten, wohl mit An- 
ſpielung auf die Ställe der Circe, ses betes genannt hatte, und 
ſchildert ſich felbft als einen Bären „ungefkft und ungegogen", den 
Lili „aus des Waldes Nacht unter ihren Beſchluß hereinbetrogen 
und mit ben andern zahm gemacht”. ? 

Doch hat fie auch ein Flaſchchen Balſamfeuers, 

Dem keiner Erde Honig gleicht, 

Wovon fie wohl eimmal, von Lieb’ und Treu’ erweicht, 

Um bie verlechgten Lippen ihres Ungeheuers 

! Der bereits oben ermänte Prebiger Ewald liebte es noch in ſpä⸗ 
teren Jahren, als Varnhagen von Enfe ihn in Karleruhe kennen lernte 
(1816—1819), das Gedicht in den alten Resarten und nachahmend in ber 
Weiſe, wie Goethe es felbſt zut Zeit ihrer Bekauntſchaft zu leſen pflegte, 
hoͤchſt anmuthig und merkwürdig vorzutragen, wie Varnhagen von Enſe 
ewãhlt. 
2 Goethe berichtet B. 22, 285, er fel wegen oftmaligen unfreund⸗ 

lichen Abweifene oft als Bär, oft als Hurone oder Weſtindier (vgl. &. 265 
Note 1) in Gefellfhaften angekündigt worden. 


332 


Ein Tröpfcen mit ber Fingerfpige reicht, 
Und wieder flieht und mich wir überläßt, 
Und id) arm, loegebunden, feft 

Gebannt bin, immer nach ihr ziehe, 

Sie ſuche, ſchaudre, wieber fliehe. — 

So läßt fie den zerflörten. Armen gehn, 
IR feiner Luft, ift feinen Schmerzen ſtill; 

Ha! manchmal läßt ſie mir die Thür halb offen ftehn, 
Seitbict mich fpottenb an, ob ich nicht fliehen will. 
Und ih! — Götter, if’s in euern Händen, 

Diefes dunipfe Zauberwerf zu enben, 

Wie dan’ id}, wenn ihr mic Freiheit ſchafft! 
Doch fenbet ir mir feine Hülfe nieder — 

Nicht ganz umfonft red’ ih fo meine Glieder; 
Ich fulhl's! ich ſchwör's! noch Hab’ ich Kraft! 

Mit diefem humoriſtiſchen Gedichte, deſſen eben mitgetheilter 
Schluß offenbar auch nicht ernfthaft zu nehmen ift, fondern nur 
die augenblidliche vergebliche Muthanftrengung bezeichnen fol, ſcheint 
der Dichter bie Geliebte einmal wegen eines unfreunblichen Be- 
tragens gegen fie, weldas ihm bie ſtachelnde Eiferfucht eingegeben, 
begütigt zu haben. 

Rührend fpricht ſich das Gefühl gequälter Liebe in ven im 
Septemberheft der „Iris“ unter dem. Titel: „Im Herbft 1775" 
erfhienenen, fpäter „Herbfigefühl“ überfchriebenen Verſen (B. 1, 
67) aus: 

Fetter grüne, du Laub, 

Das Rebengeländer 

Hier mein Fenfter herauf! 
Gebrängter quillet, 
Zwillingobeere, unb reifet 
Schneller und glãnzet voller. 
Euch brütet der Mutter Sonne 
Scheideblick; euch umfäufelt 
Des holden Himmels 
Früchtende Fülle ; 








333 


Euch tuhlet des Monde - 
Freundlicher Zauberhauch, 
Und euch bethauen, ach! 
Aus dieſen Augen, 

Der ewig belebenben Liebe 
Vollſchwellende Tpränen. ' 


Die prangende, üppige Fülle der beranreifenden Trauben ergreift 


ihn, dem ber höchſte Genuß des Lebens in glüdlicher, des volften ” 


Beflges der Ermählten ſich freuender Liebe verfagt ift, mit tieffter, 
zu Thränen rührender Wehmuth; der Herbft fol ihm vie Früchte 
feiner Liebe nicht zeitigen. Das Gedicht ſcheint Ende Auguſt ober 
in den erſten Tagen des September zu Offenbach entftanden zu 
fein, wohl faum zu Frankfurt, obgleich man fid denken könnte, 
daß an der Hinterfeite des väterlichen Hauſes Weinftöde bis zun 
fogenannten Gartenzimmer (8. 20, 8 f.) hinauf gezogen worben 
wären. . 

Um biefe Zeit war aud Fräulein Delf wieder in Frankfurt, 
welche den Ausgang ber’ durd) ihre Übereilte Vermittlung zur Ber- 
lobung gebiehenen Verbindung wohl vorausfah, und nicht verfehlte, 
ven Dichter zu ſich nach Heidelberg einzulaten, welche Einladung 
dieſer aber freundlich ablehnte, da es ihn nach anderen Punkten 
hinzog. 

Am 10. September betheiligten ſich Goethe und Lili bei der 
Bermählung des in ihren Kreiſe gern geſehenen Predigers Ewald 
in Offenbach, ? zu doeren Feier der Dichter das ſpäter, mit nicht 


' Schon in der erfien Ausgabe der Werke ſchrieb Goethe V. 2 am 
Nebengeländer, V. 4 quellet, ®. 5 Zwillingsbeeren, ®. 6 
glängend, mas wohl faum den Vorzug verdient, V. 10. fruchtende, 

B. 14 Mondes, "Unter den Zwilltngsbeeren fin wohl tothe und 
weiße Trauben zu verſtehn, die nebeneinander am „aufe heraufgejogen 
wurden; auch diefe Verfchlingung fpricht den Dichter fpmbolif an. 

2 Mn diefem Tage ward nach dem Offeubadher Kirhenburhe Johann 
Ludwig Ewald, pochfärklih Ifenburg- Birkeinifcher zweiter reformizter 
Beebiger in Offenbach, mit Rahel Gertrud du Bay ans Branffurt nac- 


334 





unbebeutenden Veränderungen, berühmt geworbene „Qunbeslieb" 
(8. 1, 95 f.) dichtete,“ das von vier Perfonen, mohl Andre 
(oder dOrville?) und deffen Frau, Lifi und Goethe gefungen ward. 


Den Künft'gen Tag unb Stunden, 

Nicht heut' dem Tag allein, 

Soll dieſes Lieb verbunden J 
Bon uns geſungen ſein. 

Euch bracht’ ein Gott zuſammen, 

Der uns zufammenbradtt'. 

Bon ſchnellen ew'gen Flammen 

Seid giüclich durchgefacht ! 


Ihr ſeid nun eins, ihr beide, 
Und wir mit euch find eine. 
Auf, trinkt der Dauer Freude ? 
Ein Glas des achten Weins!- 
Auf, in der- oben Stunde 
Stoßt an, und. füffet treu 


einer befondern Erlaubniß getrant, nachdem auf hohe Erlaubnip die drei 
Proffamationen an bemfelben Tage, dem 5. September, Bintereinander 
erfolgt waren. Im Branffurt geſchah die Proffamatian am 27. Augufl. 
Bel. Maria Belli VI, 85. 

! In der urfpränglichen Geſtalt erſchien es zuerſt im Jahre 1776 im 
Sebruarhefte des „Merkur“ (XII, 123 fı). Goethes Angabe, das Gedicht 
fei zu Ewald's Geburtstag gefchrieben (B. 22, 306), hat Viehoff (Rom 

„mentar F, 297) mit Recht begweifelt, und feine Yermuthung, es fei zum 
Hochzeitotag beſtimmt gewefen, hat Barnhagen von Enſe durch Ewald's 
Eriahlung betätigt; wäre ihm der Hochpeitstag Ewald's befannt gewefen, 
fo würbe er es nicht, wozu freilich Goethe's die Zeitfolge verlepende Er— 
sähfung verleitet, vor die ſchweijer Reife gefeht haben. Döring Hat in 
der Schrift „Goethe in Brankfurt” S. 55 dem Gedichte irrig die Jahrs- 
zahl 4774 vorgefegt. 4775 gibt richtig die Quartausgabe. 

3 Soll wohl Dauerfreude heißen. Nicht felten finden wir in 
Goethe's älteren Briefen nad) der Gitte der Zeit die Theile einer Zuſam⸗ 
menſedung ohne weiteres als zwei. Wörter gefihrieben. Ganz fo fchreibt 
Soetpe's Mutter einmal in einem Briefe au Schönborn Himmel rende 
Matt Himmelofteude. i 


335 


Bei biefem neuen Bunde ! 
Die alten wieber neu! 

Nicht lang in unferm Kreife, 

Biſt nicht mehr nen darin, 

Kennſt ſchon bie freie Weiſe 
Und unfern.treuen Sinn.“ 

So bleib’ zu allen Zeiten 

‚Herz Herzen zugekeßrt; 

Durch feine Kleinigkeiten 

Werd’ unſer Bund geftört! 


Une fat ein Gott gefegent ? 
Ringsum mit freiem Bid, 
Und wie umher bie Gegenb 
So friſch ſei unſer Gläd! 
Durch Grillen nicht gebränget, 
Verknickt ſich keine Luſt; 
Durch Zieren nicht geenget, 
Schlägt freier. unfre Bruſt. 
Mit jedem Schritt wir weiter 
Die raſche Lebensbahn, 

Und heiter, immer heiter 
Steigt unfer Blid hinan; 
Unb ‚bfeiben lange, Tange, 
Fort ewig fo gefelt. 

Ad, daf von einer Wange 
Hier eine Tpräne fällt! 

Doch ihr follt nichts verlieren, 
Die ihr verbunden bleibt, 
Wenn einen einft von wieren 


Das Schicdjal von euch treibt: 


* Anrede an bie Nensermäßlte, welche im Offenbacher Kreife erft feit 
turzem befaunt war. , 

2 Diefe mundartliche Jorm fordert offenbar der Neim.. In allen Ab⸗ 
drüdten fieht gefegnet.r 





Ifrs doch, als ob er bliebe! 
Euch ferne ſucht ſein Blick; 
Erinnerung ber Liebe . 
IM, wie die Liebe, Glüch! 

Als Ewald mit der Geliebten fi verband, mußte es dem 
Dichter, der feinen Freund, nicht weniger den innigft verbundenen 
Komponiften Andre, fo ganz glüclich fühlte, ſchwer auf's Herz 
fallen, daß ihm felbft dieſes Glück verwehrt fei, weshalb er nicht 
unterlafjen konnte, in biefem Liebe anzubeuten, daß e8 ihn bald 
von Binnen treiben werde, da feinen Bund mit Lili das Shidfal 
verwehre, daß er aber auch noch in der Ferne dieſes edlen Freundes- 
kreiſes ſich immerfort erinnern und in dieſer Erinnerung fein Glück 
finden werbe. Mit Lili felbft ftand er nicht zum beften, da er fie 
durch feine Eiferfucht verlegt hatte; freilich wäre biefe bereit ge- 
wefen, ‚allen Hinderniffen zum Troy fi mit ihm zu verkinden, 
aber feine Eiferfucht war ihr umerträglih, und fie erfannte, wie 
er vor allen Schwierigkeiten, die fid ihrem Bunde entgegenftellten, 
mit ängſtlicher Schen zurücwich, zu Teinem kräftigen Entſchluſſe ſich 
ermannen konnte, weil ihm der Muth fehlte, den Kampf mit den 

äußeren Berhältniffen zu beſtehn, wegegen feine Seele ſich ven 
ſchrecllichſten Seelenkämpfen gewachſen fühlte und immer reiner 
ans ihnen hervortrat. j 

Am fpäten Abend des Hochzeitstages trieb e8 ihn aus dem 
fröhlichen" Kreife der Gäfte unter den vollen Sternenhimmel, wo 
ex die füßeften Thränen ber Liebe weinte; denn Lili's glänzende 
Liebenswürdigkeit war ihm nie mit dieſer Allgewalt entgegengetreten. 
„Heut vor acht Tagen war Lili hier,“ ſchreibt er am 17. Sep- 
tember an Augufte. „Und in biefer Stunde (zehn Uhr Abends) 
war ich in der graufamft=feierlichft=füßeften ' Lage meines ganzen 

Es iſt diefelbe in fpäteren Jahren bei unferm Dichter befonders 
Hervortretende Verbindung, wie wenn er fonft fügt, „ein luſtig-bequem⸗ 
gefälligee Ehiff" (8. 18, 283), pantomimiſch-mimiſch. lakoniſche Abfur- 
ditäten“ (8. 24, 142) u. a. Vgl. meinen Sauftfommentar IT, 408. Ja er 
wagt fogar „Thebatfchejunges Volk“, „Krperlichsritterliche Webungen“, „diplo- 
"matifchsmilitärifche Bekannter, „ein Weimariſch-lithographiſches Heft“ u. a. 


337 

Lebens, möcht ich fagen. O Guſtchen, warum kann ich nichts 
davon fagen! warum! Wie ich durch die glühenbften Thränen ber 
Liebe Mond und Welt ſchaute, und’ mich alles ſeelenvoll umgab! 
Und in ber Ferne die Waldhorn (sic) ' und der Hochzeitsgäſte 
laufe Freuden! Guſtchen, auch feit dem Wetter bin ih — nicht 
ruhig, aber ſtill — was bei mir ſtill heißt, und fürchte mm 
twieber ein Gewitter, das fi immer in den harmlofeften Tagen 
zuſammienzieht.“ 

Am 14. Septeutber erhielt Goethe einen Brief von Auguſte, 
der ihre Verwunderung über fein Schweigen ausſprach. Diefe rieth 
dem Dichter, er möge dod fein ungleiches Verhältuiß zu Lili, 
über welches fie durch die Brüder näher unterrichtet war, da ihre 
Charaktere, beide in ihrer Art fo trefflih, nicht zufammenpaften, 
lieber gauz aufgeben, worauf er denn fofort nach der Leſung des 
Briefes, kurz vor Tiſch, erwiedert: „Was Sie von Lili fagen, ift 
ganz wahr. Unglüdlicher Weife macht der Abftand von mir? das 
Band nur fefter, das mich an fie zaubert. Ich fann, ich darf 
Ihnen nicht alles fagen! Es geht mir zu nah’, id) mag feine Er— 
innerungen. Engel! Ihr Brief. hat mir wieder in die Ohren ge- 
ungen, wie die Trompte (sic) dem eingefchlafenen Krieger. Wollte 
Gott, Ihre Augen würden mir Ubald's Schild, ® und ließen mich 
tief mein unwürbige® Efend erfennen, und — Ya, Guftden, wir 


Man erinnere fh, wie apnungsvoll ihn in der Zeit feiner Liebe 
zu Friederike der aus der Ferne erfchallende Ton von ein paar Waldhörnern 
in der einfam ſtillen Nacht vor dem hochgelegenen Jagdſchloſſe zu Neukirch 
umfing, „ber anf einmal wie ein Balfambuft die ruhige Atmofphäre be 
lebte“ (8. 21. 257 f.). 

2 Es if nur an den Abſtand ihrer Eharaftere zu denken; er Fennt die 
Neigung UNS, alle anzuiehen, allen gefallen zu wollen, aber er wünſcht 
gerade, daß fie dieſe Neigung ihm zu Liebe überwinbe, und hängt deshalb 
an ihr um fo inuiger. “ 

? Eine Anfpielung auf Ubaldo's diamantenen Schild, in welchen 
Rinaldo das Bild feiner ſchmachvollen. Weichlichteit erblidt (Laflo XIV, 
77. XVE, 29 f.), finden wir au in einem Briefe an Schiller (Nro. 907. 
vgl. Riemer I, 39*) und B. 22, 201. 

Dünger, Erauenbilder. 15 22 


338 

wollen das lafjen. — Ueber des Menſchen Herz läßt fih nichts 
fagen, als mit dem Feuerblick des Moments.“ „Heut! bin ich ruhig,“ 
hatte er vorher geäußert; „ba liegt zwar meift eine Schlang’ im 
Graſe.“ Hören Sie, ich hab’ immer eine Ahnung, Sie werden 
mid) retten, aus tiefer Noth; kann's auch fein weiblich Geſchöpf, 
als. Sie.- Dante zuerft für Ihre lebendige Beichreibung alles, was 
Sie umgibt; hätt’ ich nur jegt noch einen Schattenriß von Ihrer 
ganzen Figur! Könnt’ ich kommen! Neulich reist? ih zu Ihnen! 
Durchzog in tranriger Geftalt Deutſchland, fah mich weder rechts 
noch links um, nad) Kopenhagen, und fam und trat in Ihr Zimmer, 
und flel mit Thränen zu Ihren Füßen, und rief: „Guſtchen, bift 
du's?“ Es war eine felige Stunde, da mir das lebendig im Kopf 
und Herzen war." Man fieht, wie gewaltig das feuer der Liebe 
zu Auguſte, ber idealiſch gedachten Freundin, im ihm augefacht 
war, fo daß biefe ihn leife abwehren mußte. Wie jpäter Frau 
von Stein aus einer Tröfterin und Berubigerin-zur Heißgeliebten 
des Dichters wurde, jo daß diefe allen Einfluß, ven. fie auf ihn 
übte, anwenden mußte, um ihn in feine Schranfen zurüdzubannen, 
fo wäre Augufte, die ihn im feinem. Schmerz tröftete und aufrecht 
hielt, ganz an Lili's Stelle getreten, hätte das Schickſal ihn, ftatt 
nad Weimar, nach Kopenhagen in ihre Nähe geführt. Aber hier 
ftanden ihm freilich noch ſchlimmere Hinderniffe entgegen,. als bei 
Lili, da er an eine Verbindung mit einer Reichsgräfin nicht benfen 
fonnte; biefer Abſtand aber ſcheint gerade den Briefen an Augufte, 
die trotz deſſelben fich fo herziunig mit dem Dichter unterhielt, eine 
fo feurige Glut verliehen ‚zu haben. Am Nachmittage ſchreibt 
Goethe: „Dein gut Wort wirkte in mir; ba ſprach's auf einmal in 
mir: „Sollt's nicht Übermäßiger Stolz fein zu verlangen, daß dich 
ganz das Mädchen erfeunte und fo erfennend liehte? Erkenn' ich 
fie vielleicht auch nit? Und da fie anders ift, wie id, ift fie 
nicht vielleicht beſſer? Guſtchen! — Laß mein Schweigen dir jagen, 
was feine Worte fagen können!“ Hierin ift eine Andentung kaum 

Nach dem fprichwörtlih gewordenen Virgiliſchen Halbvers: Later 
anguis in herba (Buc. 11T, 93) 


339 

zu verfennen, daß Augufte ihn beffer verftehe, ganz zu feinem Sein 
und Wefen ftimme. Das, was er an Lili jet vermift, die ſich 
völlig hingebende, dem Geliebten zu Gefallen alle ihre Neigungen 
opfernde leidenſchaftliche Glut, überträgt er auf das Ideal, weiches 
er in Auguſte ſich vorftellt, gleichſam Lili zum Trotz. Am Abend 
Tann er nicht zur Ruhe gehn, ehe er der Freundin gute Nacht 
gewünſcht und fein Herz don neuem eröffnet hat. „Gute Nacht, 
Guſtchen! Heut’ einen guten Nachmittag gehabt, ber felten ift — mit 
Großen, das noch feltener ift. Ich Tonnte zwei Yürftinnen in 
einem Zimmer lieb und werth haben. ' Gute Nat! Will bir 
fo ein Tagbuch ſchreiben; ift das Befte. Thu’ mir's auch fo! ich hafle 
bie Briefe und die Erörterungen und die Meinungen. Gute Naht! 
So! — Ich fehe zurück, ſchon dreimal! Iſt's doch, als wenn ich 
verliebt in did wäre! und ben Hut immer nähme und wieber mie- 
verlegte. Wie wollt’ id, du Fönnteft nur acht Tage mein Herz an 
beinem, meinen Blick in deinem fühlen! Bei Gott! was hier vor- 
geht, ift unausſprechlich fein und ſchnell und nur dir vernehmbar.“ 
Jetzt erft Tann er ſich entſchließen, für heute mit einem legten 
„Gute Nacht!" aufzuhören. Man fühlt, wie e8 in feinem Herzen 

gährt und ftärmt, wie er vergebens nach Beruhigung ſchmachtet. 
Auf merkwurdige Weiſe ſehen wir von jegt an Neigung und 
Abneigung gegen Lili, die ihm nicht ganz allein angehören, nicht 
ihre Sucht, alle anzuziehen, ihm zu Liebe. aufgeben will, im 
ſchwankender Brandung ſich auf und ab treiben. Am Morgen 
nad) einer guten Nacht befhäftigt ihn ver Gedanke an, den am 
nädjften Dienstag, dem 19. September, ftattfindenden Maskenball, 
anf dem er nicht fehlen will. Dies theilt er fofert Auguften mit. 
Gleich nach Tiſch ſchreibt er: „Ich komme geſchwind gelaufen, bir 
zu fagen, was mir brüben in ber anbern Stube? durch den Kopf 


* Vielleicht die Fürftinnen von Waldeck und Ufingen, die er. in dem 
Briefe an Ravater vom 14. Augnft (oben S. 324) erwähnte. 

2 Gs iſt nicht das Speifegimmer gemeint, das fi unten befand, fondern 
wohl das Gartenzimmer im jweiten Etod. “ 


340 

fuhr: es hat mid) doch fein weiblich Geſchöpf fo Lieb, wie Guſtcheu.“ 
So wenbet ſich fein Herz, während er Lili zu Liebe fid) mit der Vor— 
bereitung zum Valle beichäftigt, doch von biefer, der er grollt, 
zur entfernten, ihm als reines Ideal vorſchwebeuden Freundin. 
„Und meine Masle wird eine altdeutſche Tracht,“ fährt er fort, 
„ſchwarz und gelb, Pumphoſe, Wämslein, Mantel und Feberftug- 
hut. Ad, wie danf’ ich Gott, daß er mir biefe Puppe anf die 
paar Tage gegeben hat, wenn's jo lang währt!“ Aber ſchon unı 
halb vier hat er, vielleicht von einem von Lili’ Brüvern, erfahren, 
daß bie Geliebte nicht auf den Ball komme. Wahrſcheinlich hielt 
fie ſich mit Abſicht zurück oder wurde von ber Mutter und ben 
Brüdern zurüdgehalten, un nicht öffentlich mit dem Verlobten zu 
ericheinen, da bie Löſung des BVerhältniffes immer entſchiedener 
ward. „In Brunnen gefallen, wie ich's ahnete,“ ſchreibt er. 
„Meine Maste wird nicht gemacht. Lili kommt nicht auf den Ball. 
Aber dürft’ ich, Könnt’ ich alles fagen! — Ich that's, fie zu ehren, 
weil id) deflarirt für fie bin, und eines Mädchens Herz ' — Alfo 
Guftchen! — Ich that's auch halb aus Trug, weil wir nicht fon: 
derlich ftehen die acht Tage her. Und nun! — Sieh, Guſtchen! 
fo kann's allein werben, wenn id) dir fo von Moment zu Moment 
ſchreibe.“ Eine Stunde fpäter, wo der Schmerz über feine ge- 
täuſchte Hoffnung ihn gewaltiger ergriffen hat, fügt er hinzu: „Ich 
wollt, ich köunt' mich die darftellen, wie id Bin; du follteft 
doch dein Wunder fehn. Gott! fo in dem ewigen Wechfel immer 
eben berfelbe.” 

Gleich am nächſten Morgen fühlt er fi wieder zu Augufte 
gezogen, die ihm als einzige Rettung in dem Sturme feiner Leiden⸗ 
ſchaft, ja als bie einzige erſcheint, melde ihn ganz glücklich machen 
tann, „Heut' Nacht nedten mich halb fatale Träume," beginnt er. 
„Heut früh beim Erwachen Hangen fie nad. Doc wie id bie 
Sonne fah, fprang ich mit beiven Füßen aus dem Bette, lief in 


Er will offenbar fagen, ein Mädchen verlange, daß man es äußerlich 
ehte, indem man fich als feinen gefälligen Diener beweife. 





341 
der Stube auf und ab, bat mein Herz ſo freundlich, freundlich, 
und mir warb’ leicht, und eine Zuſicherung warb mir, daß ich 
gerettet werben, daß noch was aus mir werben folle. Gutes 
Muths denn, Guftchen! Wir wollen einander nicht aufs ewige 
Leben vertröften! Hier noch müfjen wir glücklich fein, bier noch 
muß ich Guſtchen fehn, das einzige Mädchen, deren Herz ganz in 
meinem Bufen ſchlägt.“ Die Fortſetzung des Tagebuchs erfolgt 
Nachmittags nach Halb vier Uhr, wo er ſchreibt: „Offen und. gut 
der Morgen. Ich that mas, Lili eine Heine Freude zu machen. 
Hatte Fremde. Trieb mic) nad) Tiſche ſpaſſend närriſch unter Be- 
kannten und Unbefannten herum. Gehe jegt nah Offenbach, um 
Lili Heute Abend nicht in der Komödie, morgen nicht im Konzert 
zu fehn. Ich ſtecke das Blatt ein, und fchreibe drauß fort.“ Es 
ſchmerzte ihn, die Geliebte, welche das, was er ihr zur Freude 
gethan (vieleicht ift ein Gedicht mit einer Heinen Zeichnung zu ver- 
ſtehn) nicht beſonders freundlich aufgenommen haben‘ mochte, im 
Schwarm ihrer Berehrer zu fehn. Bon Offenbad aus wendet er 
fi) Abends fieben Uhr wieder an bie Freundin, der er melvet, 
daß er im einem Kreiſe von Menſchen ſich befinde, die ihm recht 
Tieb haben, oft mit ihm leiden; e8 ift die Familie André gemeint, 
bei der .er in Offenbady wohnte, und ber er mit den leidenſchaft⸗ 
lien Ueberftürzen feiner Gefühle oft läftig fallen mochte. Ex 
figt wieder an bemfelben Schreibtiſchchen, an dem er vor ber 
Schweizerreiſe geſchrieben; es ift der Brief vom 6. März gemeint. 
„Lieb Guftehen! — da ift ein junges Paar in der Stube, das erft 
feit acht Tagen verheiratet ift!* fährt er fort. „Eine junge Fan 
biegt auf dem Bette, bie der angenehuften Hoffnung eines lieben 
Kindes entgegenfchmerzet. Ade für heute! Es ift Nacht, und ber 
Main blinft noch aus den dunkeln Ufern.“ Das ſchmerzliche Ge- 
fühl, daß ihm das gehoffte eheliche Glück noch fern liege,. durch» 


zudt ihn. Das junge Ehepaar ift Prediger Ewald mit Fran, " 


welche Frau Andre befuchen, bie keineswegs in demfelben Zimmer 
liegt, in welchem fi Goethe befindet, wie A. von Binzer annimmt. 
Der folgende Tag, ber 17. September, ein Sonntag, verging 


‚342 
ihm zu Offenbach „leidlih ‚und ſtumpf“. Beim Aufſtehen war 
es ihm gut, und er machte eine Szene an „Yauft“. Darauf „ver 
gängelte” er ein paar Stunden, „verliebelte“ ein paar mit einem 
Mädchen, einen ſeltſamen Geſchöpf, welches auch die Stolberge in 
Offenbach geſehen hatten (vgl. oben S. 289), aß dann in Gefell- 
ſchaft von einem Dugend „guter Jungens, fo gerad, wie fie Gott 
erſchaffen hat“ (die vermutlich aus Frankfurt an dem ſchönen 
Sonntag herübergekommen waren), fuhr hernach auf dem Waller 
auf und nieder, ba er die Grille hatte, ſelbſt fahren zu Lernen, 
fpielte darauf ein paar Stunden Pharao und verträumte ein 
paar mit „guten Menfchen", wohl mit Ewald, nebft veffen Gattin 
und Andre. „Und nun fig’ id, dir gute Nacht zu ſagen. Mir 
war’8 in all dem, wie einer Ratte, die Gift gefreffen hat; fie 
Jäuft in alle Löcher, ſchlürft alle Feuchtigkeit, verfhlingt alles 
Eßbare, das ihr in Weg> kommt, und ihr Junerſtes glüht von 
unauslðſchlich verderblichen Feuer.“! Treffender konnte dev Dichter 
das ängftliche Hafchen nach Bergnügungen kauin bezeichnen, womit 
er die Qualen feiner leidenſchaftlichen Liebe zu betäuben, feine ihn 
beftiirmenden Gefühle zu täuſchen vergeblidy beſtrebt war. Die 
Eiferfucht und der Groll gegen Lili, die es nicht aufgeben wollte, 
alle anzuziehen, war von Tage zu Tage geftiegen; er gedachte ber 
Geliebten zu trogen, dieſe aber wollte ſich feinen herrſchſüchtigen, 
ihr ein unſchuldiges Vergnügen mißgönnenden Saunen nicht fügen, 
und fo wurbe das geliebte, ganz für einander gejchaffene Baar un 
fo weiter voneinander entfernt, je mehr Verwandte und Freunde 
viefe Stimmung zu ihrem Zwecke zu benugen-wußten, In Auguſte 
aber glaubte er in ber Verblendung feiner Eiferſucht einen vollen 
Erſatz für den großen Verluft zu finden, den er doch nicht ganz 
verfchmerzen konnte. So fließt er denn feine Herzensergießufigen 


* Da das Bild fehr farf an das Nattenlied im „Fauft* erinnert, fo 
iſt es micht unwahtſcheinlich, daß die Siene, die er Morgens an dieſem 
Drama fihrieb, die in Auerbads Keller gewefen, fo daß er alfo biefe 
Infige Sene im fehneivendften Gegenfage zu dem alfe feine Nerven durch - 
gittermben Riebgsfchmerz gebichtet hätte. 


343 
am biefe, nachdem er des gerade vor acht Tagen -gefeierten Hoch- 
zeitabenb® (vgl. oben ©. 336) ‚Erwähnung gethan hat, mit ben 
Worten: „Gute Naht, Engel! Cinzigftes, einzigftes Mädchen! 
—-und id fenne ihrer viele — — — — 

Am andern Morgen, Montag den 18. September, will er 
zuerſt wieber auf dem Main fahren. „Dein Schiffen fteht bereit,“ 
ſchreibt er; „ih werd's gleich hinunterlenken. Ein herrlicher Mor- 
gen! der Nebel ift gefallen, alles friſch uud Kerrlih umher! — 
Und ich wieder in die Stadt, wieder an's Sieb der Danaiden! 
Abe!" Mit dem durchlöcherten Faſſe der Danaiden vergleicht er 
die Stadt, meil bie viefen jegigen Zerftreuungen und Bergnügungen 
nicht in ber Seele haften, ſondern wirkungslos, ohne wahre Freude 

zu gewähren, vorlibergehen. Als er daranf vom Fahren auf dem 
Waſſer zuräctommt, fehreibt er weiter: „Ich hab’ einen offenen, 
friſchen Morgen! O Guſtchen! Wird mein Herz endlich einmal in 
exgreifenbem wahren Genuß und Leiden die Seligfeit, die Menfchen 
gegdnnt warb, empfinden, und nicht immer auf ben Wogen ber 
Einbildungskraft und überfpannten Sinnlicfeit Himmel auf und 
Höllen. ab getrieben werben! Beſte, ich bitte Dich, fehreib’ mir and 
fo ein Tagbuch! Das ift das einzige, was bie ewige Ferne ber 
zwingt. — — — — — — “Der ſchwankende Zuftand feiner 
Seele wird ihm immer ſchmerzlicher, er fehnt ſich nach Beruhigung, 
die ein Bild von Auguftens feligem Frieden ihm verleihen würde, 
da ihre wirkliche Gegenwart ihm verfagt iſt. Er kehrt darauf nad 
Frankfurt zurück, von wo er noch in fpäter Nacht, .um halb 
zwölf, eben nach Haufe zurädgefehrt, ber entfernten Freundin 
betennt: „Hab' getrieben und geſchwärmt bis jegt. Morgen geht's 
noch ärger. D Liebftel Mas ift das Leben des Menfchen! Und 
doch wieber bie vielen Guten, die fi zu mir fammeln! — das 
viele Liebe, das mich umgibt! — — — Lili heut nach Tiſch 
gefehen — in ber Komödie gejehen! Hab’ fein Wort mit ihr zu 
even gehabt — auch nichts gerent! — Wär’ ich ba los! O Guft- 
en! — und doch zittr' ich vor dem Augenblid, da fie mir gleich- 
gültig, ich hoffnungslos werben könnte. — Aber ich bleib’ meinem 


Herzen treu und laſſ' e8 gehn. — Es wirb!"' So fühlt er ſich 
von Lili noch keineswegs frei; er ift nur verflimmt gegen fie, wes- 
halb er fein Wort mit ihr ſpricht; er will. ihr trogen. Wie dies 
enben werbe, fieht er noch nicht; er überläßt den Erfolg dem 
Scidfale, thut dem Herzen feinen Willen, anftatt durch einen 
Kihnen Entſchluß fi von einem ängftigenden Verhältniß zu be— 
freien ober ber Geliebten mehr Recht wiberfahren zu laſſen, feine 
gierig Teidenfchaftliche Eiferfucht zum Schweigen zu ‚bringen. 

Am folgenden Tage, dem 19. September, an weldem ber 
ſchon vor einiger Zeit erwähnte Maskenball ftattfinben ſoll, fährt 
Goethe in feinen Belenntniffen gleich Morgens um fieben Uhr 
fort: „Hu Schwarm! Guftchen! ich laſſe mic treiben und halte 
nur das Ruder, daß ich nicht ſtrande.“ Doc bin ich geſtran- 
vet; ich fann von dem Mädchen nicht ab. — Heut’ früh’ regt 
fih’8 wieber zu ihrem Vortheil in meinem Herzen. — Eine große, 
ſchwere Lektion! ® — Ich geh’ doch auf den Ball, einem füßen 
Geſchöpfe zu Lieb, aber nur im leichten Domino, wenn ich noch 
einen Friege, . Lili geht nicht." Jetzt erft iſt er mit ſich einig ge- 
worden, baf er am Abend auf den Ball gehe; nicht die Liebe allein 
zu jenem füßen Geſchöpfe — man könnte an. Antoinette Gerock 
ober an die jüngere Fräulein Crespel oder gar an Anna Sibylle 
Mind) denken, fo daß er im Vegriffe ſtände, ſich biefer wieder 
zuzuwenden —, nicht biefe allein treibt ihn zum Entfchluffe, fon: 
dern auch, und vielleicht noch mehr, ‚ein gewiſſer dem Liebeögefühl " 
für Lili entgegentretender Trotz, daß er, obgleich er weiß, daß er 
diefe nicht finden wir, fi auf dem Valle heiter und guter Dinge 
zeigt. Man vente an ven Schluß von „Lil’s Part“. „Geht das 
immer fo fort,“ ſchreibt er Nachmittags um Halb vier, im tiefen - 


. 
Der am Schluß ſtehende Gedanfeufrid fol das Ende der biesmaligen 
Mittgeifung, wie nicht felten, bejeichnen, feineswege das Abbrechen des 
Gedankens. Zu es wird iſt aus dem vorhergehenden gehn zu ergängeır. 
2 Bol. oben &. 329 Note 1. 
Er meint fein ganzes Verhältniß zu Lili, das für ihn eine harte 
Probe fei. 





345 


Gefühle feiner Unbefrieigung; „wiſchen Heinen Gefchäften durch 
immer Müßiggang geirieben, nad Domino's und Lappenwaare. 
Hab’ ich doch mandperlei noch zu jagen. Adieu! Ich bin ein Armer, 
Berivrter, Berlorener. — —“ Aber bald follte er überwunden 
haben; das Elend feiner age, das ihm jegt fo lebhaft vor bie 
Seele trat, machte ihn ſtark, feiner Leidenſchaft zu entfagen. Ex 
geht Abends in's Theater, woraus er um acht Uhr zurüdtommt, um 
ſich zum Balle anzuziehen; doch wendet er fi) vorher noch an feine 
Augufte. „DO Guſtchen, wenn ic das Blatt zurückſehe! weld ein 
Leben!“ beginnt er, „Soll ich fortfaßren oder mit diefem auf ewig 
endigen? Und doch, Liebfte, wenn ich wieder fo fühle, daß in all 
dem Nichts ſich doch wieder fo viele Häute von meinem Herzen 
töfen, fo die konvulſiben Spannungen meiner Heinen, närriſchen 
Kompofition nachlaſſen, mein Blick heiterer über Welt, mein Um- 
gang mit den Menfchen ficherer, fefter, weiter wird, und doch mein 
Innerſtes immer ewig allein der heiligen Liebe gewidmet bleibt, 
die nad und nad) das Fremde durch den Geift der Reinheit, der 
fie ſelbſt ift, ausftößt, und fo endlich lauter werben wird, wie 
gelponnen Gold — ba laſſ' ich's denn fo gehn — betrüge mich 
vielleicht ſelbſt. — Und danke Gott. Gute Nacht!“ Addio! — 
Amen. 1775.” Hier ift ber entfchiedene Wendepunkt für Goethes 
Leidenſchaft zu Lili’ eingetreten; er fieht, wie dieſe Leidenſchaft für 
ihn nur eine Läuterung geweſen, und er fühlt fi beruhigt, daß 
er den Muth hat, ihr zu entfagen. Die faft anbächtige Stimmung, ' 
mit welcher Goethe kurz vor dem Balle Auguften gute Nacht 
wünfcht, bat bei einer fo durchaus wahren, unverzerrten Natur 
etwas Erſchütterudes, da fie vernehmltcher, als alles auf ven eben 
beftandenen Seelentampf hindeutet, auf das endliche Aufathmen aus 
tiefer Noth, auf bie wiebererrungene freiheit, für welche fein 
Herz dem Himmel inmigften Danf weiß. ' 

Bis ſechs Uhr früh bleibt er auf den Valle, obgleich er ſich 
nur am zwei Menuetten betheiligt; er hat ſich ven größten Theil 

* Dan bemerfe das ſchließende Amen (vgl. oben €. 279 f.), dus Addio 
und das gleich vorhergehende: Und danfe Bott. 


346 

der Zeit mit einem „fügen Mädchen“ unterhalten, welches, da es 
am Huften litt, am Tanze feinen Antheil nehmen konnte; ihm zu 
Liebe ging er, wie er am. Morgen ſchrieb, auf den Ball. Am 
Abend, des 20. September vor halb acht äußerte er gegen Augufte,' 
nachdem er dieſes gemeldet hat: „Wenn ich dir mein gegenwärtig 
Verhältniß zu mehr recht lieben und edlen weiblichen Seelen fagen 
önntet wenn id; dir lebhaft! — Nein, wenn ich's könnte, ich 
dürft's nicht; du hielteſtss nicht aus. Ich auch nicht, wenn alles 
auf einmal ftürmte, und wenn Natur nicht in ihrer täglichen Ein- 
richtung uns einige Körner Bergefienheit fehluden ließ.“ Jetzt, wo 
er Lili ganz aufgegeben hatte, zogen ihn auch wieder andere Mäd- 
hen feiner Bekanntſchaft lebhaft an, zu beiten ſich ein zärtliches 
Berhältniß zum Theil ſchon früher gebilvet hatte, aber fein leiden⸗ 
ſchaftliches. Vgl. oben ©. 182. „Hab' gefhlafen bis eins,“ fährt er 
fort, „gegeflen, etwas beforgt, mich angezogen, ben Prinzen von 
Meiningen mic bargeftellt, um's Thor gangen, in bie Komödie, 
Lili fieben Worte gejagt, und num bier. Addio!“ Wenn er in 
der Zeit der innern Gährung, wo er Lili grollte, fein Wort mit 
ihr geſprochen, fo konnte er jegt, wo er ſich von ihr frei fühlte, 
ſich auch wieder offen mit ihr unterhalten. Um bie damalige Zeit 
waren in Frankfurt viele fürftlichen Perfonen anweſend. Im „Frank⸗ 
furter Journal“ vom 22. September lefen wir: „Unter den vielen 
durchlauchtigen Herrfchaften, welche ſich allyier aufhalten, befinden 
ſich der regierende Herzog von Sachſen -Weimar (er hatte die Re 
gierung am 3. September angetreten), bie verwittwete Markgräfin 
von Baireuth, die verwittwete Herzogin von 
nebft Dero durchlauchtigen Prinzen ꝛc.“ 

In Folge jenes Beſuches ſcheint denn Goethe am folgenden 
Tage, dem 21. September, von dem Meiningifchen Hofe zur Tafel” 


Er beginnt mit der Bemerfung: „Wieder angefangen Mittwoch 
den 20, ob zum Zerreißen oder wie!- Genug, ich fange an.“ Die ewige 
Zerftreuung, in welcher er Iebt, {ft ihm fo zuwider, daß er nicht weiß, 
ob er es uͤber ſich bringen wird, bie Vefchreibung berfelben der sehen, 
ihm fo liebevollen Freundin zu fenden. 


347 


eingelaben werben zu fein; ba er ſich aber einer ſolchen Gnade von 
diefer Seite her nicht verfah, und damals aud der Herzog von 
Sachſen · Weimar ſich zu Fraukfurt befand, fo ftand er im Wahne, 
von biefem eingelaben-zu fein. Am Morgen biefes Tages ſchreibt 
er an Auguſte: „Ich habe mir in Kopf gefegt, mich heut’ wohl 
anzuziehen. Ich erwarte einen neuen Rod vom Schneider, ben 
ich mir hab’ in Lyon ftiden laſſen, gran mit blauer Borbikre, mit 
mehr Ungeduld, als bie Bekanntſchaft eines Mannes von Geift, 
der. fih auf eben die Stunde bei mir melden ließ.“ Schon ijt 
was mißglüdt Mein Perückenmacher hat eine Stunde an mir 
friſirt, und wie er fort war, riß ich's ein, und ſchickte nach einem 
andern, .auf ven ich auch warte.“ Wohlangezogen ‚ging er, wie er 
in „Wahrheit und Dichtung“ (B. 22, 404: f.) erzählt, in ben 
Gaſthof „zum Römiſchen Kaiſer“, wo beide herzoglihen Höfe 
wohnten, und da er bie Zimmer ber weimariſchen Herrichaften 
leer fand, fo verfügte er ſich zu den Meiningifchen Prinzen, wohin 
fi, wie er hörte, der Herzog von Weimar. nebſt Gefolge begeben 
hatte. -Hier wohl aufgenommen, erwartete er den Ausgang, indem 
er der Meinung war, es fei dies ein Beſuch vor Tafel, oder man 
fpeife diesmal zufammen. Als die Weimarifche Gefellfchaft ſich end- 
lich in Bewegung fegte, ſchloß er ſich dieſer an, aber zu ſeiner 
Verwunderung bemerkte er, daß dieſe nicht etwa in ihre Gemächer 
ging, ſondern gugde bie Treppe hinunter in ihre Wagen, und ihn 
allein ſtehn ließ." Die Eltern waren höchſt erflaunt, ihn, ba fie 
eben beim Nachtiſch waren, eintreten zu fehn, und ber Vater 
ſchüttelte ungläubig den Kopf, aber am Nachmittage löste ſich das 
Räthſel auf, da der Meiningiſche Oberhofmeifter, Freiherr von 
Dürkheim, dem Dichter begegnete, und ihn mit anmuthig ſcherz⸗ 
haften Vorwürfen zur Rede ftellte, daß er nicht zur Tafel geblieben. ? 


' An Zimmermann, den Goethe ſchon in Straßburg Fennen gelernt 
Hatte, laun Hier nicht gebacht werden. 

Goethe fept diefes in die Zeit, als der Herzog von Weimar, mit 
feiner Gemaplin von Karlaruhe Tommend, in Brankfurt verweilte; aber 
"damals blieb er nur bis zum folgenden Tage (am 12. Dftober fam er an 


Auch am 22. September war Goethe bei den Weimariſchen 
und Meiningiſchen Herrfhaften, wo denn der Herzog von Weimar 
ihn freundlich einlud, mit ihm nad Weimar zu gehn.‘ „Es hat 
tolle Zeug geſetzt“, ſchreibt Goethe am 23. September an Augufte, 
nachdem er feit dem Morgen des 21. ganz geſchwiegen hatte. „Sch 
hab’ nicht zum Schreiben kommen können. Geftern lauter Altefjen. 
Heute hab’ ich einen Huſten.“ 

Gegen ven 22. September jdyeint Zimmermann, von Goethe 
in Straßburg eingeladen, auf der Rückreiſe bei ihm zu wohnen, ? 
in dem väterligen Haufe eingetroffen zu ‘fein, wo er nebft feiner 
ans Lauſanne zurüdgebrachten Tochter einige Tage verweilte. Nach 
dem Abgange Zinmermann’s, etwa den 25. ober 26. September, ® 
ſchreibt Goethe an Lavater:* „Zimmermann ift fort, und ich bin 
bis zehn Uhr im Bette liegen blieben, um einen Katarrh auszu- 
brüten, mehr aber um die Empfindung häuslicher Iunigfeit wieder 
in mir. zu beleben, tie das gottlofe Gefchwärme der Tage her ganz 


und reiste am 43. ab), und es iſt fehr nuwahrſcheinlich, daß noch damals 
die Meiningiſchen Prinzen fih zu Branffurt befanden. Auch iR rs nicht 
richtig, wenn er fagt, er fei nicht eindildiſch genug gewefen, zu glauben, 
man wolle and von Meiningiſcher Seite auf ihn Rüdficgt nehmen. Hatte 
er dieſen ſich ja felbit vorgeftellt, vielleicht anf den Autrieb des Herrn 
von Dürfpeim. 

1 „Ich erwarte den Herzog von Weimar,“ ſchrieb er am 8, Oftober, 
sler Tage vor der Mdtehr deffelben, am Augufe, per von Rarlerabe 
mit feiner herrlichen nenen Gemahlin Luiſen von Barmfadt fommt. Ich 
geh" mit ihm nach Weimar.“ Aehnlich äußerte er fih im Brief an Merk 
bei Wagner IT. 54. Goethe übergeht in „Wahrheit und Dieptung" die Au- 
weſenheit des ‚Herzogs in Kranffurt auf der Hinreife nach Karlsruhe ganz 
und gar, und verlegt das hierher Gehörige in die Zeit der Rückreiſe 
von bort. " 

2 Auf der Hinreife war er nach dem „Branffurter Journal im Gaft- 
Hofe „zum Römiſchen Kaifer“ ahgefliegen. . 

3 Anfangs Dftober fehreibt Goethe an Merk: „Zimmermann grüßt 
dich; er iſt Nachts durch Darmſtadt Fommen.“ 

* Hirzel fegt den Brief gegen jede Möglichteit in den, Juni 1775, 
wo Zimmermann die Reife nach der Schweij noch nicht angetreten hatte. 
Aber Biehoff (IN, 207. 226) Hat ſich dadurch tänfehen -laffen. 


349 

zerflittert hatte. Bater und Mutter find vor's Bett gefommen; ' 
es ward vertraulich diskurirt; ich hab’ meinen Thee getrunken, und 
fo if’8 beſſer. — Es gibt der Zerſtreuungen die Menge. Der 
Herzog von Weimar ift hier, wird nun bald Luiſen davontragen. 
— Ih bin feit vierzehn Lagen ganz im Schauen der großen 
Belt!" Zimmermann felbft melvet am 22. Oktober (vgl. oben 
©. 317, Rote 1) an Frau von Stein: Je suis revenu le 
5. Octobre avec ına fille de Lausanne a Hannovre. — Vai été 
log6 a Francfort chez Mr. Goethe, un des genies les plus 
extraordinaires et les plus puissants, qui ayent jamais paru 
dans le monde. Und am 29. Dezember, als Goethe in Weimar 
bereits das allgemeinfte Aufiehen gemacht hatte, rühmt er das 
Goethe'fhe Haus, ou on nous a fait une reception charmante, 
et oü j'ai passe d’aussi heureux jours, que j’ai jamais passe 
en ma vie. Bon ber Gewalt von Goethe's Perſönlichkeit heißt 
es: Precede (?) aussi brillante et aussi gensralement reconnue 
que la sienne, portant d’ailleurs à la premidre vue la foudre 
dans ses yeux, il a du toucher tous les cours par sa bon- 
hommie infiniment aimable et par I'honnetete, qui va de 
pair avec son genie sublime et transcendant. Ah, si vous 
aviez vu, que le grande homme est vis à vis de son pere 
et de sa möre le plus honnäte et le plus aimable des fils, 
vous auriez eu bien de la peine, um ihn nidt duch das Me- 
dium ber Liebe zu fehn“ (vgl. oben ©. 317). 

Goethe fhildert Zimmermann bei Gelegenheit dieſes Beſuches, 
den er am Ende bes britten Bandes von „Wahrheit und Didy- 
tung“, ber Zeitfolge nad, ein Jahr zu früh, bringt, als einen 
großen und ſtark gebauten, von Natur heftigen und gerade vor 
ſich hin lebenden Mann, der aber fein Aeußeres und fein Be— 
teagen fo völlig in feiner Gewalt gehabt habe, baf er im Um— 
gange als ein gewanbter, weltmänniſcher Arzt erfchienen fei, und 

! Diefe waren erfreut, daß er das Verhältniß zu EN abgebrochen 
hatte, und zeigten fi deshalb jegt viel zutraulicher, ale in ber vorher- 
gehenden Zeit. 








350 





feinem innerlich ungebändigten Charakter nur in Schriften und im 
vertrauteften Umgang einen ungeregelten Lauf gelafjen habe. Seine 
Unterhaltung fei mannigfaltig und höchſt unterrichtend geweſen, 
und wenn man ihm nadhgefehen, daß er ſich, feine Perfönlichkeit 
und feine Berbienfte fehr lebhaft vorempfunden, fei fein wünfcheng- 
wertherer Umgang zu finden geweſen. Gegen ihn habe Zimmer- 
mann fi) durchaus offen und mittheilend erwiefen. Goethe ſcheint 
Hier die Selbftgefälligfeit Zimmermann’, bie freilich fpäter ſcharf her⸗ 
vortrat, zu ſtark zu betonen. Der fonft nicht gerade zu weiß; blidenbe 
Mer ſchreibt, nachdem er feine perſönliche Bekanntſchaft gemacht 
bat, an Höpfner (bei Wagner II, 127): „Zimmermann gewinnt 
außerordentlich durch perſönliche Bekanntſchaft. Alle feine Schriften 
find, wie befannt, eitel exercitia, allein wenn man ihn ſieht, fo 
iP8 ein ganzer Mann von ungemeiner Punktuatien, mit Wärme, 
Menſchenliebe und „dabei feltener Weltfeinheit und Efeganz gepaart.“ 
ZTiffot, der im Jahre 1775 Zimmermann fünf Wochen in feiner Nähe 
befaß, ſchildert ihn alfo:' „Ich ſah den genialen Mann, ber ſchnell einen 
Gegenftand in allen feinen Beziehungen zu faffen wußte, und deſſen 
Einbildungskraft ihn in den ſchönſten Bildern darſtellen konnte. 
Sein Geſpräch war lehrreich, geift- und gefhmadvoll, geknüpft au 
eine Menge anziehender Thatſachen; feine Phyſiognomie war immer 
belebt und ausdrucksvoll; er ſprach von allem mit einer großen 
Beftimmtheit." Weiter unten (©. 271 f.) heißt es: „Seine Seele 
war rein, fein Herz vortrefflih; niemand konnte feinen Pflichten 
mehr anhängen; er war ein guter Sohn, ein guter Ehemann, ein 
guter Vater; die Freundſchaft war in ihm bie feurigfte Empfin- 
dung, und wenn er in befümmerten Augenblicken das unbebeu- 
tenbfte Unrecht gegen feine Freunde hatte, fo machte er e8 mit ber 
größtmöglichften Herzlichkeit und Lieblichkeit wieder gut. Dankbar- 
feit war einer feiner außgezeichnetften Züge; bis an's Ende vergaß 
er nicht den Heinften Dienft, den man ihm vor vielen Jahren 


" geben des Ritters von Zimmermann S. 472 f. der deutſchen Ueber 
ſebung 


351 


erwiefen hatte. Die Empfinblichleit feiner Nerven war ihm oft nady- 
teilig, vielleicht brachte fie einige Heine Ungleichheiten in fein Be- 
nehmen, welche ihm ein unrichtiges Urtheil von denen, die ihn 
nar. wenig fahen, zuzog. — Diefer nämliche Zuftand feiner Nerven 
machte ihn fo ganz außerordentlich ſtark empfindlich gegen die Heinen 
Bitterkeiten, mit welchen das Leben angefüllt ift —; ich habe ihn 
davon einigemal in einem Grabe affizirt gefehen, daß man ihn 
verfennen lonnte.“ Auffallend iſt es, daß Goethe, welcher feines von 
Medel nur halb geheilten Leibſchadens gedenkt, die unglückliche 
Ueberreizung feiner Nerven unerwähnt läßt. 

Goethe beſchuldigt ihn in „Wahrheit nnd Dichtung“ beſonders 
einer harten und tyranniſchen Behandlung gegen feine Kinder. ! 
Wir müffen die ganze Stelle hier ausheben. „Eine Tochter, die 
mit ihm reiste, war, als er fid) in der Nachbarſchaft umſah, bei 
un geblieben. Sie konnte etwa fechzehn Jahr alt fein. Schlank 
und wohlgewachſen trat fie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmäßiges 
Geſicht wäre angenehm- gewefen, wenn ſich ein Zug von Theil- 
nahme darin aufgethan hätte; aber fte fah immer fo ruhig aus, 
wie ein Bild; fie äußerte ſich felten, in Gegenwart. ihres Vaters 
nie, - Raum aber war fie einige Zage mit meiner Mutter allein, 


und hatte bie heitere, liebevolle Gegenwart biefer theilnehmenven. 


' „Diefer tabelnsiolirbigen Eigenheit eines fo verbienftvollen Mannes 
würde ich faum erwähnen,“ fügt Goethe hinzu, „wenn biefelße nicht fhon 
öffentlich wäre zus Sprache gefommen, und zwar ala man nach feinem Tode 
der unfeligen Hypochondrie gedachte, womit er fih und andere iu feinen 
legten Stunden gequält; denn auch jene „Härte gegen feine Kinder war 

Gdypochondrie.“ — Goethe fheint hier auf die Schriften von Wichmanır 
3. ©. immermann’s Krankeitsgefdjichte" und von Marcard „Beitrag zur 
Biographie des feligen Hofrathes und Ritters von Bimmermann« (ogl. „all- 
meine &iteraturgeitung“ von.1796 Nro. 122 und 285), wie auf den Auf⸗ 
fab von Balbinger „3. ©. Zimmermann, wie er gefund und Franf war“, 
in deffen „neuem Magazin für Aerzte”, Band 18 Stack 2 hinzubenten, bie 
ich nicht vergleichen Tann. Die gewöhnlichen Lebensbefepreibungen bis zu 
Bring (im viergehnten Bande der „Beltgenoffen« herab) erwähnen davon 
nichts, da: fie faft nur, meift wörtlich, Tiffot ausfereiben. 


352 


Fran in ſich aufgenommen, als fie fid ihr mit aufgefchloffenem - 
Herzen zu Füßen warf, und unter taufend Thränen bat, fie da 
zu behalten. Mit dem leidenſchaftlichſten Ausdruck erklärte fie, 
als Magd, als Sklavin wolle fie zeitlebens im Haufe bleiben, 
nur um nicht zu ihrem Vater zurüchzulehren, von deſſen Härte und 
ZTyrannei man fid) keinen Begriff machen Tonne. Ihr Bruder fei 
über dieſe Behandlung wahnfinnig geworben; fie habe es mit Noth 
fo lange getengen, weil- fie geglaubt, es fei in jeder Familie nicht 
anders; ba fie aber num eine- fo liebevolle, heitere, zwangloſe Be- 
handlung erfahren, fo werbe ihr Zuſtand zu einer wahren Hölle. 
Meine. Mutter war ehr bewegt, als fie mir biefen leidenſchaft- 
lichen Erguß hinterbrachte; ja fie ging in ihrem Mitleiven fo weit, 
daß fie nicht undeutlich zu verftehn gab, fie würde es wohl zu—⸗ 
frieven fein, das Kind im Haufe zu behalten, wenn ich mid eut- 
ſchließen könute, fie zu heiraten. „Wenn es eine Waife wäre,“ 
verjegt’ ich, „jo ließe ſich darüber denken und unterhanbeln; ‚aber 
Gott bemahre mid; vor einem Schwiegervater, ber ein folder 
Bater iſt!“ Meine Mutter gab ſich noch viel Mühe mit dem 
guten Finde, aber es warb dadurch nur immer unglüdlicher. Dan 
fand zulegt noch einen Ausweg, fie in eine Penflon zu thun. Sie 
hat übrigens ihr Alter nicht hoch gebracht.“ 

Diefe ganze Darftellung bebarf der allerweſentlichſten Berich- 
tigungen. Zimmermann’: Tochter war keiueswegs bis dahin im 
Haufe des Vaters verblieben, vielmehr hatte diefer fie im Jahre 
1773, nad) dem Tobe ihrer Mutter und Großmutter, nad Lau— 
fanne zu Tiffot gefanbt, bei welchem fie zwei Jahre unter den Augen 
würbiger Frauenzimmer verfebte. Der Bater holte fie im Herbft 
1775 nad) Haufe zurüd, brachte fie nicht, wie Goethe fagt, in 
eine Benfion. Sie war damals nicht fechzehn, ſondern achtzehn 
Jahre alt. Einige Wochen nad) ihrer Entfernung aus der Schweiz 
erſchoß ſich dort ihr erfter und einziger Geliebter. Bon einer harten 
Behandlung der Tochter von Seiten bes Vaters weiß Tiffot nichts, 
und unmöglich Tonnte fie, nachdem fie zwei Jahre von Haufe weg- 
geweien, Goethe's Mutter befennen, fie habe geglaubt, in jever 





Familie herrſche die tyranuiſche Behaudlungsart. Goethe nahm 
an ihr ein näheres Intereſſe, wie ſich aus dem Brief an Lavater 
ergibt, wo es heißt: „Seine (Zimmermann’s) Tochter ift fo in ſich 
nicht verriegelt, nur zurüdgetreten ift fie, und hat die Thüre lei’ 
angelehnt; es würde fie ein leife lispelnder Liebhaber eher, ale 
ein pochender Vater öffnen.“ An Frau von Stein, zu ˖welcher 
Goethe von Zimmermann's Tochter nicht ohne Theilnahme ge- 
ſprochen, ſchreibt Zimmermann: Mr. Goethe fait trop d'honneur 
à ma fille, qui n’est point developpee encore, qui a été 
timide et craintive dans sa maison. — Ce cher enfant est 
sans doute d’une grande consolation pour moi, et jene vois 
que trop, qu'il sera aussi naturel que raisonnable, qu’elle soit 
mon dernier amour. „Er nahm feine Tochter mit zurück,“ er- 
zählt Tiſſot) ©. 176F.), „die alle Volllommenheiten in ſich vereinigte, 
unbegrenzte Zärtlihfeit einem Bater einzuflößen, deſſen Lebens ⸗ 
glüd fie geweſen fein würbe, hätte nicht einige Zeit nad; ihrer Ab- 
reife von Lauſaune ein heftiger Kummer ihre Geſundheit jo zer- 
rüttet, daß die Folgen nicht zu heben waren.“ Sie ſtarb im 
Sommer 1781. Zimmermann felbft hat ihr im britten Theil des 
Wertes „über die Einfamfeit“ ein ſchönes Denkmal gefegt. „Ein- 
ſamleit war ihre Welt," fchreibt er, „und Eingezogenheit ihre 
Freude. — Sie unterwarf ſich mit heiliger Gelaffenheit jeder Fü- 
gung Gottes, und hatte die größte Leivensfähigkeit bei tiefer ange- 
borener Schwäche. Sanft und gütig, Tiebreih und bod immer 
ftille, gepreßt, furchtſam und zurüdhaltend, und felten anders als 
durch eine Art von kindlichem Enthuſiasmus mittheilſam, war die 
weibliche Seele, won der. ih hier fprede, und die miv durch ihr 
ſtilles Leiden unter der größten Marter gezeigt hat, welche Kraft 
die Seele, oft bei der größten Schwäche des Körpers, in ber Ein- 
famfeit erwirbt. Alles Gute machte ihr Eindrud; aber fie war 
läſſig in. allen ihren Aeußerungen und in allem ihrem Thun, bei 
wenigen guten Freundinnen ausgenenmten, wo Furcht fie nicht 
mieberhielt. Sie hatte einen aus Naturfräften mir unerflärbaren 
Helvenmuth zum Dulden und Leiden, auch, fo cft fie wollte, einen 
Dünger, Frauenbilder. 23 


354 
über die Welt weggehobenen Sinn, und zu meinem größten Exr- 
faunen eine felbftändige Erhabenheit und ein Wegſehen über allen 
Flitter, den die Menfchen ſchätzen und fürdten. Göttlich freudig 
ſah ich fie immer, wenn fie von heiligen Abendmahl fam. Sie 
traute Gott ganz, ſich felbft durch eigenen Antrieb in nicht; und 
doch alles, was ich wollte, daß fie thue, das that fie. Sie war 
ein äuferft folgfames Kind, das mid, unausſprechlich liebte, und 
es mic nie fagte. Ich hätte mein Leben für fie bingegeben, und 
fie das ihrige fir mich. Es war meinem Herzen ‘wohl, wenn ich 
ihr eine Freude machen konnte. Das Höchfte, was fie zu meiner 
Freude wagte, war, daß fie mir etwa eine Roſe brachte, aus ihrer 
Hand ein Schag. Ganz unvermuthet und ſchrecklich anhaltend 
befiel fie ein ungewöhnlich großer Blutfturz aus ihren Lungen, von 
deſſen töbtlihem Ausgang ich bei ihrer Leibesbeſchaffenheit in der 
erften Stunde gewiß war. Zwölfmal in dieſen Tagen ftürzte ich 
nieder von einem rampfhaften und wüthenden Schmerz, ver mich 
zu töbten ſchien. Das wußte fie nicht. Sie mußte auch nicht, daß 
ich ihren Zuftand für fo gefährlich hieft; aber fie fühlte vie Gefahr, 
und fagte es mir nie. Sie lächelte, wenn ich fam; ſie lächelte, 
wenn ich ging. Die ganze Krankheit hindurch, unter tief vermidelten, 
entfeglihen Leiden, klagte fie niemals. - Auf alle meine Fragen 
gab fie mir eine furze, fanfte, liebreiche Antwort; aber fie erzählte 
nichts. Ihr Körper fiel in Trümmern unter Blicken der füheften 
Milde und der imnigften Fiebe. Sie, adj! fie, mein Kind, meine 
einzige Tochter, ftarb vor meinem zitternben Antlig in ihrem fünf 
unbzwanzigften Jahre, im neunten Monat ihrer Krankheit. Im 
ihrem Leichnam fand fih, außer den gewöhnlichen Todesurfachen 
ter Schwindſucht in beiden Lungen, die Reber ungewöhnlich groß, 
der Magen ungewöhnlich Mein und in einen ganz ungemöhnlich 
Heinen Klump zufammengepreft, und das Gekröſe vol Berhär- 
tungen. Alſo Uebel genug, um die Seele zu binden, zu hemmen 
und zu preffen! Zufälle verftopfter Eingeweide hatten fih ven ihrer 
exften Jugend an bei ihr geäußert. Eine beinahe gänzliche Un- 
fähigkeit zum Efien behielt fie bis an ihren Tod, feitdem fie zärtlich, 


35 - 

Tiebreich und ohne ben allergeringften Schein einer Abnei- 
gung an meiner Hand vor einigen Jahren bie Schweiz verließ, und 
einige Wochen nachher ihre erfte und letzte Liebe, ein ſchöner, blühen- 
der, fanfter, edler Jüügling ſich dort eine Kugel durch ben Kopf ſchoß. 
Aus ihren heiterften Tagen, die fie feitdem in Hannover hatte, 
wo man ihr fehr viel Liebe erzeigte, fanden ſich in ihren Papieren 
die feurigften von ihrer Hand gefchriebenen Gebete zu Gott, daß 
fie fterben könne, daß fie- bald fterbe, bald hingenommen werde zu 
ihrer heiligen Mutter! Es fanden fi in eben biefen Zeiten ger 
ſchriebene erhabene und äuferft-rührende Briefe, vol Sehnfucht 
nad) einer ſchnellen, täglich gewünſchten Vereinigung an biefe ge- 
liebte Todte. Meines Kindes, meiner geliebten Tochter Tegte, mit 
namenlofer Agonie ausgeſprochene Worte waren: Himmelsfreude 
heute!“ Pi 

Diefe Tiebevolle Schilverung der Tochter, welche wir abſichtlich 
in ihrem ganzen Umfange mitgetheilt haben, läßt ven Gedanken 
am eine harte, Tieblofe Behandlung ober vielmehr Mißhandlung 
von Seiten des Baters nicht auffommen. Abgefehen von ihrer 
körperlichen Mißſtimmung litt ihre ſtill fehnfüchtige Seele gewaltig 
unter ben Leiden ihres Vaters zuerft in Brugg (ober Brud), dann 
in Hannover, welche bei biefem freilich felten eine für bie Kinder 
erfreuliche Stimmung auffomnten ließen. „Die Gefunbheit feiner 
Gattin,“ ſchreibt Tiffot (S. 141), „die immer von ber feinigen 
abhing, kam (in Hannover) in eine ſchnelle Zerrüttung; bie Ge— 
fundheit feiner Kinder, die niemals ſtark gewefen war, wurde nicht 
fefter; er fehrieb mir oft von Hannover, wie von Brugg: Retten 
Sie meine Frau oder vielmehr retten Sie in ihr mid 
ſelbſt! Retten Sie meine Kinder," die mir lieber, als 
das Leben find!" Wie wäre hiermit eine tyrannifche Behand- 
Tung der Kinder irgend vereinbar zu denken! Dagegen erkennt man 
fehr leicht, wie durch dieſe beftändigen Leiden ber Familie die Seele 
de tief gemüthlichen Kindes ſich ſcheu in ſich zurüdziehen und ſich 
nad) außen verſchließen mußte. Dazu kam denn im Juni 1770 
der Tod der heißgeliebten Mutter, bie ſie fünf Monate lang die 


356 

ſchrecllichſten Todesqualen leiden ſah, das in Folge dieſes erſchüt⸗ 
ternden Sterbefalls ſich täglic, fteigernbe Körperleiden des Vaters, 
welches ihu zu einer ſchmerzlichen, nicht ganz glüdfich ausfallenden 
Operation nöthigte, dann ber Tod der mit mütterlicher Liebe fie 
pflegenden Großmutter, die Entfernung aus bem gewohnten Kreife 
und enblid die Trennung wom Geliebten, deren tiefſchmerzliche 
Wirkung fie dem Vater nicht geftehn wollte. Daß diefe leidende 
Seele ſich der. herzlich liebevollen Mutter Goethes erſchloß, ift 
gewiß nicht zu verwunbern, aber ihre Klagen werben ſich nicht über 
die Mißhandlung des Baterd — eine folche würde fie feinem renden 
anvertraut haben —, ſondern über das fie und ihre Familie ver- 
folgende Mißgeſchick ergoffeu haben, da fie die Heiterfeit des Goethe’- 
ſchen Kreifes fo lebhaft empfand. Goethe nahın herzlichen Antheil 
an dem leidenden Finde, aber eine Zumuthung, fih aus Groß⸗ 
muth mit ihr zu vermählen, mußte er, wenn fie ihm anders von 
der Mutter nahe gelegt wurde, entfchieben ablehnen, da er wohl 
zärtliche Gefühle für fie hegen, aber unmöglich eine Verbindung 
für das Leben mit einem Mäpdhen ſchließen konnte, das er Feiner 
heitern Lebensanficht fähig fah. Auch lag der Gedanke an eine 
. Heirat jegt, wo der Schmerz um Lili's Berluft in feiner Seele 

noch fo neu war, ihm weiter ab, als je. > 
Auch die Behauptung, welche Goethe ihr in den Mund legt, 
ihr Bruder fei Über die tyrannifche Behandlung des Vaters wahn- 
finnig geworden, müffen wir al8 eine ganz irrige bezeichnen. Tiſſot, 
der von biefen Berhäftniffen genau unterrichtet war, erzählt 
(©. 177 ff.) das unglüdlihe Schidjal des Bruders folgendermaßen. 
„Diefer war von feiner frühen Kindheit an einer Art von Ausfchlag 
unterworfen, ber beſonders am. Gefiht, am Kopf, hinter den Ohren 
zum Vorſchein fam. War er ba, fo mar das Kind gefund, fehr 
luſtig und geiftvoll; ſobald er aber verſchwand, fo wurde es hin- 
fällig, fein Geiſt. ward unterdrückt, und es fiel in eine Art von 
melancholiſcher Apathie, die in dem Alter felten iſt. Diefe Ab- 
wechslung von Gefunbheit und Krankheit bauerte, bis Herr von 
Zimmermann am Ende des Jahrs 1772 ihn nach Göttingen jehicte. 





, 357 
Er hatte num bie Freude, zu hören, daß ſich feine Geſundheit ganz 
verändert habe, daß er wieber heiter fei, und baß ſich bei ihm große . 
Geiftesträfte entwidelten. Bon Göttingen ging er nach Straßburg, ' 
wo er, angefeuert durch einen fyreund, ber, wie er, viel Genie, viel 
Eifer und viel Begierde ſich auszuzeichnen hatte, aber einer beſſern 
Gefunbheit genoß, fi den Stubien mehr überließ, als feine von jeher 
ſchwachen Nerven ertragen konnten, die nun auch noch Bedauern, Göt- 
tingen verlaflen zu haben, affizirte; er fiel in bie tieffte Schwermuth, 
und ſchrieb feinem guten Vater bringenbere Bitten, ihm eine Reife 
nad) Frankreich, England und Holland zu erlafen, als ein anderer 
würbe angemenbet haben, um einen Vater dazu zu beivegen. Bald 
darauf, im Dezember 1777, verlor er ganz feinen Verſtand. Zimmer- 
mann ſchrieb mir: „Diefes Unglüd verfolgt mid wie eine Furie, und 
verläßt mic, feinen Angenblid; es hat mid in eine anhaltende 
und tiefe Schwermnth verjegt, und meine Nervenleiven find wü- 
thender, als je.“ - Er fihicte ihm zum Dr. Hoze (vgl. ©. 305 
Note 1), deſſen Kur den glüdlichften Erfolg hatte, und deſſen Rath, 
die Bäder. zu Pfeffers zu gebrauchen, fehr mohlthätig war. Im 
April 1779 war er wieder fehr gefund, und bereitete ſich zu feinen 
Reifen vor, um fid nachher in Brugg uieberzufaffen; aber bie 
Krankheit kam plöglich wieder, und wid, feinen Mitteln mehr. 
Seit zwanzig Jahren ift er in. einer wahren Geiſtesſchwäche, zum 
Gläd ohne alles Leiden und ohne allen Schmerz, mit einem ge- 
funden Anfehen und bei einem trefflichen Mann, zu dem ihn Hoze 
gethan hat, und bei dem es ihm an nichts fehlt.“ Die Schweſter konnte 
demnach unmöglich ſchon im Jahre 1775, wie es Goethe darſtellt, 
ven Wahnſinn des Bruders, der erſt' im Jahre 1777 eintrat, alfo 
zu einer Zeit, wo er Jahre lang vom väterlichen Haufe entfernt 
geweſen, der tyrannifchen Behaudlung bes Vaters zuſchreiben. 
Goethe, dem die ſpätere Zeit Zimmermann's näher lag, wo er 
+ Hier befand er ſich wohl, als Zimmermann daſelbſt im Juli 1775 _ 
mit. Goethe gufammentraf, und vieleicht lernte lehterer ihn damals per- 
föntich keunen 
. 2» 


258 


feinen früher erworbenen Ruf durch arge Verdächtigungen und un⸗ 
erquickliche Zäntereien einbüßte, hat fi hier offenbare Verwechs⸗ 
fungen zu Schulven fommen laffen; fein Gevächtnig hat ihn hier 
mehrfach getäuſcht, und fo dürfen wir aud die Angabe, Zimmer- 
mann habe, während er in ber Umgebung Frankfurts fi umgethan, 
die Tochter in Goethe's Haufe zurüdgelaffen, mit Mißtranen. auf- 
uehmen, wenn wir aud etwa einen kurzen Beſuch Homburg's 
währenb biefer Zeit nicht gerabezu in Abrebe ftellen möchten. 
Noah dem Abgange Zimmermann's und bed Herzegs von 
. Sacfen-Weimar wandte ſich Goethe, ‘ver fih nun, wenn auch 
frei, doch ſehr einfam fühlte, und ben Schmerz um ben Verluſt 
ber Geliebten noch nicht ganz verwinden konnte, in Erwartung der 
Rudtuuft des Herzogs, wieder der Dichtung mit entfchiebener Neie 
gung zu. Hatte er in ber legten Zeit mandes an „Kauft“ ge» 
ſchrieben, wovon nicht alles fpäter Aufnahme gefunden haben mag, 
fo ließ ex dieſen, ba er ihn ſchmerzlich an bie Tage feiner Liebe 
erinnerte, zunächft liegen. In dieſe Zeit mag bie eberteagung 
des „Hobenliedes“ fallen, welche, auf beinah zehn Duartfeiten ger 
ſchrieben, noch erhalten ift. ' Biel Iebhafter aber, als biefe feu- 
vigen Liebesliever bed orientaliſchen Dichters ergeiff ihm bie Ge⸗ 
ſchichte Egmout's, zu deren Dramatifirung er um ſo leidenſchaft - 
licher griff, als es bier die Liebe eines edlen Bürgermäbchens zu 
ſchildern ‘galt, welches, dem Geliebten mit aller Glut der Seele 
anhängend, nichts anders als ihn wiſſen und fennen will, alles 
außer ihm verachtet und feines Blickes werth hält, gleichſam ‚ein 
Gegenftäd zu der vornehmen Lili, welche es nicht aufgeben wollte, 
ihre Anziehungskraft anf alle zu üben. Um biefe Zeit ſchreibt er’ 
an Merd:? „Ich erwarte den Herzog und Luiſen, und gehe mit 
ihnen nad Weimar. Da wird's doch wieder allerlei Guts und 
Ganzes und Halbes.'geben, das und Gott gejegne! Leb' inbefjen 


Bol. Scholl „Briefe und Auffäpe von Goethe · S. 155 f. 
2 Wagner II, 54 f., wo der Brief vom Oftober 1775 batirt iſt, aber 
irrig nach einem Briefe vom 24. Oftober feht. 


359 
wohl, Alter, und behelf' dic im Leben! Kannſt du mir zehn Ka- 
rolin fhiden, fo thu's mit den nächſten Kärchern. Ich bebarf ihrer 
uf. mw. Ich hab’ das „Hohelied Salomon’s“ überfegt, welches 
ift die herrliche Sammlung Liebesliever, die Gott erſchaffen hat. 
— Reit? doch noch einmal herliber, ehe ich gehe! Ic Bin leidlich 
Hab' an „Fauſt“ viel gefchrieben.“‘ „Mir ift, wie mir's fein 
Kann," äußert Goethe in einem um biefelbe Zeit geſchriebenen Briefe 
an bie .Stolberge, und fährt nad) der oben S. 288 mitgetheilten 
derb humoriſtiſchen Stelle fort: „Wenn ich nad; Weimar kann,⸗ 
thu' ich’ wohl. Gewiß aber euch zu Liebe nicht. Und feinem 
Menſchen zu Liebe; denn ich hab’ einen Pi auf die ganze Welt. 
Ich gönm’ euch eure Reife; die ift eurer wert! "Und darf ſich Fein 
Hund ihrer räßmen, und werdet begafft werben darob, wie ſich's 
ziemt. Zimmermann hat euch weiblich gepriefen. Da find umenb- 
liche Briefe an's Meerweib (von Haugwitz). So lebt wohl, lieben 
Brüder! Was ich treibe, if... 2... . werth, geſchweige einen 
Federſtrich. Guſichen ift ein Engel. Hol's der Teufel, daß fie 
Reichsgräfin ift! — — Uebrigens bin ih mit der vollfommenften 
— Schreibt hierher, wenn ihr nad) Weimar Fonmt." Der kecke 
Humor Täßt die ımerquidliche Xeere, die er jet empfindet, deutlich 
genug durchſcheinen. Wie fehr winfchte er, daß er es wagen bikfte, 
in Augufte das zu finden, was er in Lili verloren hat! An jene 
entfernte Freundin, für welche er zulegt am 23. September ein 
paar Worte niedergefchrieben, wendet er ſich jegt wieder, am 8. 
Dftober, einem Sonntag. „Bisher eine große Pauſe,“ ſchreibt er, 


! Merk ſcheint im September nicht in Branffurt gewefen zu fein, 
und Goethe Hatte ihm wohl feit dem Auguſt (Wagner I, 69) nicht mehr 
geſchrieben. U 

2 Der Herzog hatte ihn bereits eingeladen, mit ihm zu gehn. Das 
wenn id kann deutet nicht anf äußere Hinbernöffe, fondern auf feine 
Stimmung, die ihn vieleicht davon abhalten Anne; er will den Freunden 
noch nicht befimmt verſprechen, daß fie ihn auf ber Mädteife dort finden 
werden. 

® Die im Original ausgeriffenen Worte lauteten wohl nicht der 
Rede, nicht, wie. A. von Binzer vermuthet, Feinen Schuß Rulver, 


360 


‚ih in wunperbaren Kälten und Wärmen. Bald noch eine größere 
Baufe. Ich erwarte den Herzog von Weimar, ber don Karlsruhe 
mit feiner herelihen neuen Gemahlin, Luifen- von Darmftabt, 


kommt. Ich geh’ mit ihm nach Weimar. Deine Brüver kommen 


audy hin, und von da ſchreib' ich gewiß, liebſte Schweſter. Mein 
Herz iſt Übel dran. Es ift andy Herbfiwetter drin, nicht warm, 
nicht faft. Wann Fommft du nad) Hamburg?" Der Dichter, wel- 
Ger auf Augufte noch immer feine Hoffnung gejegt hatte, gedachte 
fie, wo möglich, in Hamburg zu fehn, wohin er wirklich gegen 
Ende des Jahres mit ben Stolbergen gegangen wäre, hätte ihn 
nicht der Herzog davon zurückgehalten. 

Am 3. Oktober ward bie Bermählung feierlihft vollzogen. 
Am 12. am der Herzog mit feiner Gemahlin von Karlsruhe nach 
Frankfurt, von wo er ſchon am folgenden Tage wieber abreiöte. 
Goethe ſollte, der Verabredung gemäß in Begleitung feines in 
Karlsruhe zucädgebliebenen Kavaliers, des Rammerjunfers von 
Kalb, ? der mit einem von Straßburg kommenden Landauer Wagen 
an einem beftimmten Tage in Frankfurt eintieffen werde, die Reife 
nad) Weimar machen, welche ihm ber heitere und gnäbige Abſchied, 
womit das herzogliche Paar ihn beglikkte, und das freundliche Be- 
tragen ber ganzen Begleitung höchſt wünfchenswerth erſcheinen lichen. 
Schon hatte er gepadt und von allen Belannten, auch von Lili, 
ber gegenüber er ſich jegt wieber freier fühlte, Abfchied genommen; 
aber weder der Wagen, noch eine Nachricht davon wollte in Weimar 
eintreffen. Um nicht fpäter noch einmal Abſchied nehmen zu mäffen 
und um läftigen Beſuchen zu entgehn, hielt er fih, als wäre er 
wirklich abgereißt, ftille zu Haufe, wo er, ba ihm jebe andere Be- 
Thäftigung abging, ſich fleißig am „Egmont“ hielt. Nachdem auf. 
dieſe Weife einige Tage in unangenehm getäuſchter Erwartung ver- 
ſtrichen waren, > wurde ihm die Einferferung zu dauſe To unleidlich, 


Boal. Briefe von J 5. Boß I, 202. - . 

Briefwechſel pwiſchen Goelhe und Kuebel I, 9. Böttiger ‚&tererfge 
Zußäuder 1, 52. . 

® Goethe fpricht vom acht Tagen und mehr; darauf verlaufen wieder 





361 


daß er micht unterlafien konnte, Abends, in einen großen Mantel 
gehält, an ben Häufern feiner Freunde und. Belannten vorbeizu- 
ſchleichen. So trat er denn auch eines Abends an das Fenſter 
Urs, bie im Erdgeſchoſſe ihres auf dem Kornmarkt neben. ber 
deutſch rveformirten Kirche gelegenen Haufes ihr Zimmer hatte. 
Die grünen Rouleaux waren niebergelaffen; die Lichter ftanden, 
‚wie er wohl erfennen konnte, am gewöhnlichen Plage; nicht lange 
dauerte e8, als er die Geliebte fein in ben erſten Monaten bes 
zum Enbe neigenden Jahres an fie-gerichtete® Lied „an Belinben“ 
zum Klavier fingen hörte; er lauſchte, das Ohr an dns auswärts 
gebogene, Gitter feft angelehnt, und fie ſchien ihm das Lieb aus- 
drudsvoller zu fingen, als jemals. Darauf erhob fie fih und 
ging, wie er an bem auf bie Ronleaug fallenden Schatten bemerken 
konnte, im Zimmer auf und nieder; nur der feſte Borfag, ihr 
ungeachtet aller Siebenswilcbigfeit und Herzlichkeit wirklich ‚gu ent- 
fagen, und bie Borftellung, welch feltfames Aufjeyen fein uner- 
wartete Wiebererfcheinen in ber Stabt machen werbe, Tonnten ihn 
zurüuͤchalten, ſich ihr zu. erkennen zu geben. Daß er aber auch 
viefe legte Zeit über noch in einem andern Haufe, mo ein reigenbes 
Mäpden ihn anzog, abenbliche Beſuche machte, werben wir weiter 
unten fehen. Noch einige Tage verfrichen auf biefe Weife ohne 
alle Nachricht, fo daß ber junge Dichter, den auch fein „Egmont“ 
nicht mehr zu feffeln vermochte, felbft zu zweifeln begam, ob 
man ihn mit jener Einladung und ber Bertröftung auf ven zurüdge- 
laſſenen Kavalier nicht, wie ber Water Tängft behauptet hatte, 


einige Tage, und endlich fommt man überein, wenn an einem gewiſſen 
Tage weder Wagen, noch Nachricht eingetroffen, folle der Dichter mach 
Ztalien reifen. Die Anfunft bes Wagens war wöhl auf ein paar Tage 
mac} der Abreife des.Hergogs beftimmt, etwa anf den 18. oder 49.; nähmen 
wir dann für jene acht Tage nnd mehr, eiwa zehn Tage, fo kämen wir 
auf den 28. und 28., uud würden, da bie Abreiſe ben 90. wirklich erfolgte, 
für die einigen Tage und für die vom Mater noch gugegebenen wenigen 
Wartetage gar feinen Raum haben. Goethe ſchrieb noch von Frankfurt aus 
an Knebel, ehe er ſich zur Reife nach Italien entfehloffen hatte, wegen ber an 
ihn etwa gu Weimar eingelaufenen Briefe und Padete. 


32 


zum Beften halte. Letzterer wußte. bie verzweifelte Stimmung des 
Sohnes wohl zu benutzen, ihn zu einer Reiſe nach Dem hesperiſchen 
Lande zu beftunmen, fo daß er fi entſchloß, falls Eude ver 
Woche mweber Wagen, noch Nachricht, eingetroffen ‚fein follte, am 
nãchſten Montag nad dem Süden aufzubreden; bie Reife follte 
über Heibelberg gehn, weil aud der Weimarifche Kavalier dieſen 
Weg kommen mußte R 

Da alle feine Hoffnungen auf'ganz unerwartete Weife getäuſcht 
wurben, fo trat er am frühen Morgen des 30. Oftober, fiebzehn 
Tage nad) dem Abgange des Herzogs von Weimar, nachbem er 
nod am Abend vorher feinen eben aus der Schweiz zurüdgefehrten 
Freund Pafjavant auf einem Plage der Stadt, wohin er ihn auf 
geheimnißvolle Weife eingelaven, geſprochen hatte, mit ſchwerem 
Herzen die Reife nady Italien an. Zu Eberſtadt, eine Stunde 
hinter Darmftabt, ließ Goethe zuerft feinen Erinnerungen und Ge- 
fühlen freien Lauf. Das glüdlich erhaltene Bruchſtück des Reife 
tagebuch8 * begann er dort mit folgenden Worten: „Bittet, daß 
eure Flucht nicht geſchehe im Winter, nod am Sabbath! ? 
kieß mir mein Vater zur Abſchiedswarnung auf die Zukunft noch 
aus dem Bette fagen. — Diesmal, rief ich aus, ift nun ohne 
mein Bitten Montag Morgens Sechſe, und was das übrige betrifft, 
fo fragt das liebe unſichtbare Ding, ® das mich leitet und ſchult, 


nicht, ob und warn ich mag. Ich padte fir Norden, und ziehe 


nah Süden; id fagte zu, und komme nicht, ich fagte ab und 
komme, * Friſch alfo! die Thorſchließer Mimpern vom Burgemeiſter 


Bei SCHÖN „Goethe's Briefe und Aufſäte ©. 158 ff. 

2 Der Spruch IR aus Matthäus 24, 20 befannt. 

® Con oben fanden wir in einem Briefe vom 15. April an Angufte 
den fromm umfchreibenden, aber eutſchleden die Kenntniß von dem Wefen 
der Gottheit verneinenben Ausbrud: „Das liebe Ding, das fie Bott heißen.“ 
Dan wird anwillkürlich an die vemfelben Jahre angehörige zweite Garten« 
ſtene im „Fauß* erinnert. Val. meinen Faufttommentar 1, 312. 

Nach Heidelberg: Hatte ihn Fräulein Deif eingeladen, wie der Herzog 
nad Weimar, 5 


33 


weg, und ehe es tagt und mein Nachbar Schuhflider feine Wert- 
ftätte und Laden öffnet, fort! Adien, Mutter!“ Der Weg führte, 
ihn am Kornmarkt vorbei, wo Lili noch in füßem Schlafe ruhte, 
der er jegt, nachdem er fi von Vater und Mutter verabſchiedet 
at, fehnfüchtig gedenkt. „Am Kornmarkt machte der Spänglers- 
junge ' raffelnd feinen Laden zurechte, begrüßte die Nachbarsmagd 
in dem bämmerigen Regen. Es war fo was Ahnungsvolles auf 
den Hinftigen Tag in dem Gruß. Ah! dacht id, wer do — 
Nein! fagt’ ih; es war aud eine Zeit — Wer Gedächtniß hat, 
follte niemand beneiden! — -- Lili, Adieu! Lili, zum zmeitenmal! 
Das erftemal ſchied ich, noch hoffnungsvoll, unfere Schiekfale zu 
verbinden! Es hat fich entſchieden — wir müſſen einzeln unfere Rollen 
außfpielen: Mir ift in dem Augenblid weder bange für dich, noch 
fir mid), fo verworren e8 ausfieht! — Adieu!“ Darauf nimmt er 
von einem holden Maͤdchen Abſchied, das in der legten Zeit ihn 
befonber8 angezogen hatte. „Und du! — wie fol ich Dich nennen, 
dich, die ich wie eine Frühlingsblume am Herzen trage! Holde 
Blume folft du heißen! — Wie nehm’ ich Abſchied von bir? — 
Getroft! denn noch ift es Zeit! Noch die höchſte Zeit! — Einige 
Tage fpäter — und ſchon — D lebe wohl! — Bin ich denn nur in 
der Welt, mic in ewiger unſchuldiger Schuld zu winden!“ Die 
darauf folgenben fünf Gebantenftrihe deuten in einer uns ſchon 
aus den Briefen an Augufte befannten Weiſe auf das tiefſchmerz ⸗ 
liche Gefühl hin, welches ihn hierbei ergreift. Offenbar fürchtet 
der Dichter, in dem Herzen des jungen Mädchens, dem er eine 
zärtliche Neigung zugewandt hat, Anforberungen und Wünfche zu 
erregen, bie er nicht befriedigen Tönne, da fein Herz burd ben 
Berluſt Lili's zu ſehr verwundet worben, als daß er an eine anbere 
Betbindung hätte denken Können, und er fih in Frankfurt nicht 
fange feffefn Taffen konnte, ſondern ſich ungeſtüm in bie Ferne 
getrieben fühlte. Nur noch einige Tage, fo fürchtet er, und das 
Mädchen wilde in leidenſchaftlicher Glut an ihm hängen; fo daß 

! Spängler iſt an ‚manchen oberbeutfchen Orten der Name für den 
Klempner. "Bol. Adelung unter dem Worte Klempener. 





bie Trennung von ihm nicht ohne blutige Schmerzen erfolgen Lönnte: 
eine ſolche Schuld will er-nicht wieder auf.fih laden. Die Worte: - 
„Noch einige Tage“ würden ganz ſinnlos fein, wenn Goethe, wie 
man nad „Wahrheit und Dichtung“ annehmen müßte, ſich mehr 
als zehn Tage vor allem Umgange abgeichlofien hätte, fo baß er 
diefe Zeit Über gar nicht mit jenem Mädchen zuſammengekommen 
wäre; denn melde Gefahr wäre für das Mädchen vorhanden ge- 
wefen, wenn er fi aud Monate lang in der Stadt verftedt ge- 
halten hätte, ohne es zu fehn! Jedenfalls muß er fie noch in ben 
letzten Tagen gefehen haben; es war wohl die einzige ſehr befreun⸗ 
dete Familie, zu welcher er am Abende, in feinen Mantel gehüllt, 
fi) hinwagte, und gerade diefe Heimlichleit ſcheint die zärtliche 
Neigung gefteigert zu haben. Wer gebenft hierbei nicht der nächt⸗ 
lichen Beſuche Egmont's bei Klärchen, welche bei manchen Verſchie- 
denheiten, doch auch ſehr große Äehnlichkeiten hiermit bieten! Fragt 
man aber, welche Familie hier gemeint ſein könne, ſo bieten ſich 
— an bie Familie Paſſavant iſt ſchon deshalb nicht zu denken, 
weil diefe feine Töchter hatte — faft nur die Crespel's und Ge- 
rocks dar. Sollte etwa bie dritte Tochter Gerod’s, Käthchen, ober - 
die vierte, Ana, gemeint fein! Der Weg durch die Schnur- und 
Fahrgaſſe führte den Dichter nicht weit vom Markte vorüber, wo 
Gero wohnte. Seiner Frankfurter Freunde gevenft Goethe bei 
diefem Abſchiede nicht, da Lili und die holde Blume fein ganzes 
Herz in Anſpruch nahmen. Dagegen erinnert ihn die alte Burg 
bei Eberftabt an feinen Freund Merd in Darmfladt. „Und, Mer, 
wenn du wüßteft, daß ich hier ber alten Burg nahe fige, und dich 
vorbeifahre, ber fo oft das Ziel meiner Wanderung war! Die 
geliebte Wüfte, Riedeſel's Garten, ven Tamenwald und das Erer- 
zierhaus!. — Nein, Bruder, du ſollſt an meinen Berworrenheiten 
nicht Theil nehmen, die durch Theilnehmung noch verworrener 
werben." Er fchliegt darauf ab mit ben Worten: „Hier läge bean 
der. Grundſtein / meines Tagbuchs! Und das weitere fteht bei dem 
lieben Ding, das den Plan zu meiner Reiſe gemacht hat.“ Als 
er ſich darauf einſchenkt, ſcheint ihm die zufällige Ueberfüllung des 





365 


Glaſes ominds, da er in ihr eine Vorbentung ber reichen Fülle 
der feiner wartenden Reifebegebniffe ſieht. Oder follte er darin 
das fünftige Ueberſtrömen feines Herzens hauen? Seine „Projekte, 
Blane und Ausfichten" befchäftigen ihn dann weiter. 

Bon Weinheim aus ſchreibt er amt Abende befjelben Tages um 
fieben Uhr in faft übermüthiger Laune, der man, wie Schöll be⸗ 
merkt, etwas von bem Weinfegen der Gegend anzumerken glaubt, wo- 
bei aber wohl zu bemerfen, daß überhaupt gerade iu folchen gepreßteu 
Zuftänben der Humor des Dichter ſich gern über unangenehme 
Gedanken Hinwegfegte. „Was nun aber eigentlich der politifche, 
moralifche, * epifche oder dramatiſche Zweck von diefem allen? — 
Der eigentliche Zwed, meine Herren (hier belieben alle vom Mi- 
nifter, der im Namen feines Herrn Regimenter auf gut Glück mit- 
marſchiren läßt, bis zum. Brief und Zeitungsträger, ihre Namen 
einzuzeihnen. NB. Bon dem Rangftveit der Brief? und Zeitunge- 
träger nächſtens!), ift, daß fie gar feinen Bwed bat. — So -viel 
iſtss (if) gewiß, treffliches Wetter iſt's, Stern und Halbmond 
leuchten, und der Nachmittag war trefflih. Die. Riefengebeine 
unferer Erzväter aufm Gebirg, ? Weinreben. zu ihren Füßen hügelab 
gereiht, die Nußallee und das Thal den Rhein hin voll feimender 
friſcher Winterfant, das Laub noch ziemlih voll, und ta einen 
Bid untergehender Sonne drein! — — Wir fuhren un eine Ede! 
— „Ein maleriſcher Bl!“ wollt ich rufen. Da faßt ich mid) 
zufanmen, und ſprach: „Sieh, ein Eden, wo die Natur ‘in ges 
drungener Einfalt und mit Lieb’ und Fülle fih um ben Hals wirft!“ 
Ich hätte noch viel zu fagen, möchte ih mir den Kopf noch wär- 
mer machen.“ Beim Eintritt hatte der Wirth fi entſchuldigt, daß 
der Weg dem Gafte durch bie Butten und Zuber eingeengt fei, 


Val. Goethes Briefe an Fran von Stein Il, 126 f.“ „Ih habe 
einen .xechten Arm voll moralifcher und politifper Geheimniffe dir mitzu- 
bringen. — Daß ich von dem Aufwand nebenher eiwas in meine politifch- ° 
moralifch-tramatifche Taſche Rede.“ 

? Die Voltoſage erllärt manche Selebilbungen für verfleinerte Riefen 
oder für befonberer Brevel wegen verfleinerte Menſchen. 


366 
da dieſes Jahr eine reichliche Weinleſe geliefert, worauf diefer ihn 
mit der Bemerkung berubigte, es fei ſehr felten, daß einen ber 
Segen Gottes inkommodire, obgleich er ähnliches ſchon früher ge» 
fehen hatte. „Heut? Abend bin ich kommunikativ,“ ſchließt er; „mer 
ift, als redet' ich mit Leuten, ba ich das ſchreibe. — Will ich doch 
allen Saunen ben- Lauf laſſen.“ 

In Heidelberg ward er von Fräulein Delf, die ihn nod im 
September zu ſich eingeladen hatte, fehr freundlich aufgenommen. 
Diefe, welche ſchon damals den Ausgang der Sache vorausgeſehen 
hatte, lobte den beiderfeitigen Entſchluß der Trennung, da man 
fih in das Unvernteibliche ergeben, das Unmögliche fi aus dem 
Sinne ſchlagen und ſich nad) einem neuen Lebensinterefje umſehn 
müffe. Und ſchon hatte fie einen Plan gebilvet, ihn nad) feiner 
Rüdkunft aus Italien in ihrer Nähe angeftellt zu fehn; er aber 
hatte noch nicht alle Hoffnung, nad; Weimar zu gelangen, aufge 
geben, und deshalb gleich bei feiner Ankunft auf ver Poſt ein 
Billet abgegeben, welches man einem auf bie angegebene Weiſe 
durchreiſenden Kavalier einhändigen follte. Nicht ohne Abſicht führte 
Fräulein Delf den Dichter des „Werther“ in dem Haufe des Ober- 
forftmeifters von Buchwitz! ein, wo er ſich wohl gefiel, da die Eltern 
anftändig behagliche Perfonen waren, und die Töchter, von’ denen 
eine Friederiken ähnelte, ihn anzogen. Die fröhliche Zeit ber 
Weinlefe bei ſchönem Wetter regte bie Elſaſſiſchen Gefühle wieder 
in ihm auf; er erwies ſich in der Gefellfchaft höchſt gefällig und 
unterhaltend, und fuchte, bei der heiterften Stimmung, bie überall 
berrfchte, die alten, immer neuen Jugendſpiele hervor. Die noch 
nicht ganz erloſchene Liebe zu Lili gab feinem ganzen Weſen eine 
eigenthümliche Wärme und Liebenswürbigleit. So warb er benn 


Goethe nennt den Oberforftmeifter (8.22, HOF) won B....“, 
aber damals und noch viele Jahre fpäter war Karl Freiherr von Buchwig, 
feit 4764 kurpfältiſcher Kammerherr, Obriftforfimeifter, fo wie Sorftmeifter 
gu Heidelberg, Ladenbutg und Lindenfels. Im Jahre 4797 führte Sränleln 
Delf bei feinem Befuche in Heidelberg ihn zu Frau von Gatheart und deren 
Tochter (B. 26, 51). War erflere etwa eine Tochter des Oberforfimeifters? 


auch in dieſem Kreife bald einheimiſch, ohne zu betenfen, daß er 
nad ein paar Tagen von dort wegreifen müſſe. Aber Fräulein 
Delf glaubte in dem zärtlichen Betragen Goethe’ gegen die eine 
Toter eine auffeimende Neigung nicht verfennen zu dürfen, und 
gab wohl zu verftehn, daß eine Verbindung mit einer fo ange 
fehenen Familie für feinen von ihr, beabſichtigten Eintritt in kur⸗ 
pfälziſche Dienfte von großer Wichtigkeit fein werde. - Allein alle 
ihre Plane wurden durch eine von Frankfurt kommende Staffette 
des Kammerjunfers von Kalb vereitelt, die ihn über bie Urſache 
feines Berzugs genügend aufflärte, und ihn auf das bringendfte 
bat, fofort nach Frankfurt zurüczufehren, da er nicht wagen dürfe, 
ohne ihn nach Weimar zu kommen. Vergebens ſuchte ihn Fräulein 
Def, die ihn noch bis nad Mitternacht, kurze Zeit vor Ankunft 
jener Staffette, mit einem Gemälde feiner von ihr ihm beftimmten 
Zufunft unterhalten hatte, ihn zu bereben, der Einladung feine 
Folge zu leiften; alle ihre Bemühungen fceiterten an der Erinne- 
rung ber freundlichen, zutraulichen Güte des herzoglichen Paares, 
und an einem innern unwiderſtehlichen Gefühle, weldes ihn im 
Weimarifgen Kreife allein jene Beruhigung ahnen ließ, melder 
fein zerriffenes Herz fo fehr beburfte. Sie wollte und konnte fih 
nicht von der Möglichkeit Überzeugen, taß ihr fo ſchön eingefäbelter 
Plan gleich im Beginne vereitelt: werben folte, und ſelbſt noch, 
als der vor der Thüre haltende Poftillon das Zeichen feiner Unge⸗ 
duld ertönen ließ, verfuchte fie noch, ihm mit ihren ſchön aufge 
ſtutzten Beweggründen für ihre Abſichten zu gewinnen, ſo daß er 
ſich endlich mit aller Gewalt fortreißen mußte, indem er ihr 
leidenſchaftlich die Worte Egmont’s zurief, welche biefer, im 
Gefühle feiner vollen Kraft ‚und der gehofften macht- und glanz- 
vollen Zukunft, feinem ängftlich warnenden Geheimfchreiber zuruft 
G. 9, 177). 

So eilte er denn nad) Frankfurt zurüd, von wo er, nachdem 
er die Seinigen nochmal begrüßt hatte, am 7. November in Weimar 
ankam. Hier fehloß fi Goethe bald mit herzlicher Liebe an den 
acht Jahre jüngern Herzog an, ber.ihm gleid) mit bem zutraulichen 


368 
Du entgegenfam; ihm durfte das vom bfutigen Trennungéſchmerze 
noch erzitternde Dichterherz ‚alle feine tiefften Geheinmiſſe erfchlie- 
Gen" Am 22. November ſchreibt er an Auguſte, auf bemfelben 
Blatte, auf dem er am 20. September, zu Frankfurt begonnen 
hatte: „Ic erwarte beine Brüder. O Guftden, was ift die Zeit 
alles mit mir vorgangen! Schen faft (?) vierzehn Tage bier, im 
Treiben und Weben des Hofs. Adieu! Bald mehr! Vereint mit 
unferen Brüdern! Dies Blättel ſollſt indeß haben.“ Noch immer 
hatte er auf die geliebte Schweſter feiner brüderlichen Stolberge 
die wärmfte Hoffnung gefeßt. Fünf Tage fpäter kamen die Stolberge 
wirklich in Weimar an, io. fie beſonders aud) von unferm Dichter 
mit berzlichfter Liebe aufgenommen wurden. „Hier wird's und recht 
wohl," ſchreibt ver ältere Bruder von Weintar aus an die Schwefter. 
„Wir leben mit lauter guten Leuten, mit unferm Wolf (Goethe) 
und ben biefigen Fürftlichfeiten, die jehr gut find, gehen auf die 
Jagd, reiten und fahren aus, und gehen auf bie Masferade.“ 
Goethe vertraute ihnen das Unglüd feiner Liebe, woran fie warmen 
Antheil nahmen. Den Borfag, fie bis Hamburg zu begleiten, gab 
er auf ben bringenben Wunſch bes Herzogs auf, ber fid) von 
ihm nicht trennen mochte. 

Aus Wieland’8 Zimmer ſchreibt Goethe am 22. Dezember au 
Lavater: ' „Ich bin hier wie unter den Meinigen, und der Herzog 
wird mix täglich werther, und wir täglich einander verbunbener. — 

* Morgen geb’ ich über Jena nad) Walde, wilde Gegenden und 
einfahe Menſchen aufzufugen. Addio! Mit geht alles nach Her- 
zenswunſch.“ Sonnabends trennte ſich Goethe vom Herzog, der nach 
Gotha ging, und machte fih mit von Kalb, von Einfievel und 
Bertudy auf den Weg nad) dem Dorfe Waldeck im Amte Bürgel, 
wo ber madere, im herzoglihen Schloffe wohnende Förſter Sle— 
vogt, bei dem fie ein paar Tage zu verweilen gebuchten, zwei an— 
mutbige Töchter beſaß. Bertuch und der Maler Kraus, der am 
zweitfolgenden Tage nachkam, bewarben fid) un die Neigung der 

' Der an einem Freitage geſchriebene Brief if irrig vom 21. Dezember 
datirt. Im Jahre 1775 fiel der 21. Degember auf einen Donnerflag. 


369 





beiden Mãdchen.“ Bon bier aus fehrieb Goethe Abenbs halb 
neun ? an den Herzog, während feine Genoffen nach aufgehobenem 


' Eon in Branffurt hatte Kraus mehrere auf die Gegend von Würgel 
begägliche Zeichnungen Goethe fehn Taffen, auf welchen zwei Frauenzimmer 
in Begleitung zweier jungen Mäuner dargeſtellt waren. An dem einen 
jungen Manne ſollte man Bertuch erfennen, ber "anf die Altefte Tochter 
ernfte Abfichten Hatte, und Kraus nahm es mit Abel, wenn man den 
qweiten jungen Mann auf ihn felbR bezog. Qgl. B. 22. 397. Im einem 
am 24, Dezember Morgens um 14 Uhr von Walde aus gefchriebenen Briefe 
(bei Dorow im ber Schrift „Krieg, Literatur und Iheater“) bemerft 
Goethe: „Gleich Hinter dem Hausgarten fährt ein wilder Pfab nach einem 
Selfen, worauf” ein altes Schloß der Grafen von Gleichen Rand, mitten 
im Sichtenthal. Bertuch hat mit feinem Mägblein Rafen und Mooshänfe 
und Hütthen und Plägchen angelegt, die ſehr romantiſth find; bie Felſen 
hinab find wilde Blide, und ein offener, freundlicher über bie Felſentiefen 
mad Bürgel hin.“ Hiermit vergleiche man, was H. Döring in der ins 
Haltreichen Efige Über Bertud’s Leben in ben „Beitgenoffen“ XI, 3, 85 
mitteilt: „Seit feiner alademiſchen Laufbahn hatte er (Vertuch) mehr 
mals "feinen früher erwäßnten (akademiſchen) Sreund Slevogt in Waldet 
beſucht, deſſen Schweſter er liebte. (Er beiratete fie im Jahre 4776.) 
Offenbar verlebte er dort ſehr glückliche Stunden. Wenigftens fand ein 
Freund Bertud’s, den nad einer langen Reihe von Jahren eine Reife in 
die Gegend von Walde führte, in ber Nähe der bortigen Förſterwohnung 
noch puren eines ſchönen Ganges von Walded nach dem alten Kloſter 
Thalbũrgel (Lpalbürgel hieß auch das unterhalb der Stadt Bürgel liegende 
Bfarrborf, in deſſen Schloß der Ei des Amigs war) und Meberrefte von 
Fünftficgen Eigen, an Orten errichtet, von denen man bie ſchönſte Ausflcht 
Hatte. Nach dem Zeugniß eines alten Mannes hatte Bertud jene Sibe 
und ‚Gänge für feine Geliebte und nachherige Gattin errichtet.“ Nicht gan 
genau wird demnach in „Wahrheit und Digptung“ gefagt, Slevogt — ben 
Namen verſchweigt Goethe — habe, vielleicht mehr feinen Töchtern, als 
fich ſelbſt zu Liebe, tauhgeſtaltete Felepartien, Gebäfh und Waltfireden 
durch Bräden, Geländer und ſanfte Pfade geſellig wandelbar gemacht. 
Des dorſters Elevogt und Waldes gebeuft auch Karl Auguft in Briefen 
an Kuebel (Kuebel's Nachlaß 1, 150 f.) Im zweiten dieſer Briefe Hätte 
SCHÖN (Briefe an Fran von Stein II1,:259) die gang richtigen Worte: 
„Werfäume doch nicht, fie (bie Zeit des Rehblattens) den Lord in Walde 
genießen zu laſſen“, nicht durch eine Schlimmbefferung entftellen follen. 

2 Der Brief erſchien mit der Nachſchrift vom folgenden Tage im 

Dünger, Erauenbilder. 16 24 


370 


Tische noch rauchten und fhwagten: -„Hier liegen wir recht in den 
Fichten drin, bei natürlich guten Menſchen.“ Nachdem er bereits 
gute Nacht gewünſcht hat, fügt er noch Hinzu: „Noch ein Wort, 
ehe ich fchlafen gehe! Wie ich fo in der Nacht gegen das Fichten- 
gebirge ritt, kam das Gefühl der Vergangenheit, meines Schidjals 
und meiner Liebe über mich, und fang fo bei mir felber: 


Hofde Lili, warft fo lang 

All mein’ Luft und all mein Sang; . 
Biſt ah! nun all mein Schmerz, unb doch 
AU mein Sang bift du nod. 


Nun aber und abermal gute Naht!" Dod nochmal muß er auf 
feine Lili in ſchmerzlich füßer Erinnerung zurüdfemmen, moher er 
noch folgende Berfe binzufügt: 

Gehab' dich wohl bei den hundert einen, 

Die dich umglanzen, 

Und all den Geſichtern, 

Die dic umſchwanzen, 

“Und umfrebengen! - 

Findſt doch nur wahre Freud’ und Ruh' 

Bei Seelen g'rad und treu, wie hu. 
Es war jegt gerade ein Jahr, feit er feine Lili kennen und lieben 
gelernt hatte. Auch jetst noch liebte er das herzliche, gemüthliche 
Weſen mit feinen unausſprechlichen Reizen, bie ihn zu feurigfter 
Glut der Leidenſchaft entflammt hatten, aber ihre, wenn aud) un- 
ſchuldige Glanz⸗ und Gefallfucht war feiner durchaus ernften, wah- 
ren und offenen Natur zu fehr zuwider gewefen, wie ſich dies in ven 
legten, auf das Lied „an Belinden“ hindeutenben Berfen ausfpricht. 

In Frau von Stein fand Goethe bald die innigfte Vertraute 

und glüdfichfte Lenlerin feines Herzens, in deren Bufen er alle 


„Morgenbfatt* 1846 Nro. 123, wo das ledterer untergefegte Datum bes 
44. Dezember offenbar irrig und in das des 24. zu verändern iſt. Die Worte 
am Schluſſe: „Der Pflicht vergeffen wir diſche nie“, find ans Wieland's 
„Wintermärden,” das im Jannar 1778 erfhien (8. 41, 15). 





371 


feine Geheimniffe vertrawensvoll ausgießen fonnte, deren unendliche 
Anmuth und Herzlikeit ihn fo wunderbar überwältigend ergriff, 
daß die Erinnerung an feine. verlorene Liebe allmählich, verklang. 
Wie gewaltig die Gefühle waren, welche ihn zu biefer feiner 
„Beichtigerin“ hinzogen, beweiſen auch bie Briefe an Auguſte. 
„Könnteft Du mein Schweigen verftehn! Liebftes Guſtchen! — Ich 
tann, id) Tann nichts fagen“, fchreibt er diefer am 11. Februar 
auf. ein Heines, mit zierlicher Einfaffung verfehenes Blättchen. 
Das, was er ihr nicht zu fagen vermochte, war gerabe das Ver: 
hältniß zu dieſer wunderbar auf ihn wirkenden Frau. 

Außer dem Herzoge und Frau von Stein vertraute Goethe 
auch Wieland jeine Liebe, der ihn gleich von Anfang mit ſchwär— 
merifcher Bewunderung aufnahm, fo daß er ihn für das größte, 
befte, herrlichſte menſchliche Weſen erklärte, das Gott geſchaffen 
habe. Im Anfange des Februar äußert Goethe an Frau von 
Stein: „Heut hab' ich wieder Wieland viel meiner letzten Jahrs- 
geſchicht' erzählt, und wenn ihr mic) warm haltet, fo ſchreib' ich's 
wohl für euch ganz allein. Denn es iſt mehr ale Beichte, wenn 
man auch das befennt, worüber man nicht Abſolution bedarf. 
Adieu, Engel! ich werde eben nie Müger, und muß Gott danken 
dafür. Adieu! und mid, verbrießt'8 dod) auch, daß ich dich ‚fo lieb 
babe, und juft dic." Hatte er früher, während ber Zeit feiner 
Leidenſchaft zu Lili, e8 nicht Über fich gewinnen Können, feiner ver- 
trauteften Freundin, der Gräfin Augufte, fein Verhältniß zu biefer 
genau zu ſchildern, fo trug er dagegen jegt fein Bedenken, feinem 
Freunde Wieland die Geſchichte feiner Liebe ausführlich zu erzählen, . 
da fie für ihn vorüber war, fein Herz fie für immer überwunden 
hatte.” Mit aller Leidenſchaft glühender Liebe fühlt er ſich jegt zu, 

Am folgenden Tage ſchrieb er am Hange des Citersberges „Wan 
derer Nachtlieb · (B. 1, 78), wo er feinen Ueberdruß an allem Treiben 
der Welt und das Verlangen nach füßem Frieden fehufächtig ausfbricht. 
Bol. Goethes Briefe än Fran von Stetu I, 10. 

3 Mit welchen tollen Gerlchten über Goethes Verhältniß zu Lili man 
fh damals trug, möge folgende Stelle ans einem ungedructten Briefe 
5. 9. von Bretfhneider's an Nicolai (fingen am 3. Febtuar 1776) 


372 


Fran von Stein gezogen, bie ſich aber genöthigt ficht, ihn in feine 
Schranken zurüdzumeifen, wie fi bie in bem Gebichte vom 
14. April ausſpricht. Zu derſelben Zeit trifft ihn die Nachricht 
auf erfchätternde Weife, daß fein Guſtchen dem Tode nahe gewefen. 
„Dein Herz, mein Kopf" — fchreibt er dieſer; „ich weiß nicht, 
wo id} anfangen foll; fo tauſendfach find meine Berhältnifie, und 
neu, und wechſelud, aber gut. — Guftden, nur eine Zeile von 
deiner Hand, nur ein Wort, daß du aud mir wieber lebſt.“ 
Die freundliche Antwort Yuguftens veranlaft ihn, ihr ein Tage- 
buch zu fohreiben, was er wirklich vom 17. bis zum 24. Mai 
durchführt, doch bittet er fie, dieſes auch feiner Schwefter Kornelia 
mitzutheilen, die ihn mit ihren Briefen bedränge. (Bgl. oben 
©. 188.) Hier heißt es denn unter dem 18. Mai: „Ih aß mit 
dem’ Herzog. Nach Tiſch ging ich zur Frau von Stein, einem 
Engel von einem Weibe — frag’ die Brüber! —, der ich fo oft 
die Beruhigung meines Herzens, und mande ber reinften Glikd- 
Teligfeiten zu verdanken habe, der id) noch nichts von bir erzäßft 
habe, das mir viel Gewalt geloftet hat; heut’ aber will ich's thun, 
will ich taufend Sachen von Guftchen ſagen.“ Einige Stunden 
fpäter ſchreibt er: „Zwölf Uhr in meinem Garten. Da Iaff id 


beweifen, deren Mitteilung ich der freundlichen Güte des Herrn W. von 
Maltzahn verdanke. „Goethe iR noch in Weimar. @in Umſtand, ven ich 
noch nicht gewußt habe, und ber ihm bewogen Haben foll, eine Zeit lang 
fi zu entfernen, iſt diefer. Es if in Frankfurt eine reiche Banguiers: 
wittwe Schönemannin, veformirter Religiof, die eine artige Tochter hat, 
mit welcher fih Goethe ſchon lauge Zeit führt. Er hielt eudlich förmlich 
"mm fie an; bie Mutter bat ſich Bedentzeit aus, ließ mach einigen Wochen 
- Goethen zum Effen einladen, und deklarirte in einer großen Geſellſchaft 
"Goethes Anſuchen mit der Antwort, daß fich die Heirat wegen der Bers 
ſchiedenheit der Religion nicht wohl ſchide. ine Grobheit, die Goethe 
freitich ſeht Übel nehmen mußte, weil fie ihm dieſe wohl hätte allein fagen 
tönnen; die rau fagt aber, fie hätte, ver Sache auf elumal ein Ende 
au machen, fein beſſeres Mittel gewußt, und fi bei einer Zufam- 
menkunft tEte-h-töte vor feinem Disputiren gefürdtet.- Ans 
folgen Duellen wurde Nicolai Über Goethe berichtet! Dgl. Merk's Briefe 
1, 77. 80. III, 4134 f. 461. 


373 


mir von den Vögeln mas vorfingen, und zeichne Rafenbänte, die 
ich will anlegen laffen, damit Ruhe über meine Seele komme, und 
ich wieder von vorne mög’ anfangen zu tragen und zu leiden. 
Guſtcheu, Könnt’ ich dir von meiner Lage fagen! bie erwünſchteſte 
„file mich, die glücküichſte, und dann wieder —!" ,Geſtern, Done 
nerötag den 28.," äußert er ſechs Tage darauf, „ift mir auch 
wieber wunderbares Wefen um ben Kopf gezogen. — Was wird's 
werben? : Ich. hab’ eben noch viel auszuftehn; das iſt's, was ich 
in allen Drangfalen meiner Jugend fühlte; aber ‚geftählt bin ich 
auch, und will ausdauern bis an's Ende.” 

Während dieſer Zeit hatte das Verhältniß zu Frau von Stein 
mande Schwankungen erlitten. Ein Wort des Unmuths, welches 
der edlen Fran zu gelten ſchien, hatte dieſe verlegt, fo daß fie 
ihn meidet. Nach einer wieder erfolgten Annäherung zieht er ſich 
durch feine leivenfchaftliche Glut, die er nicht zu mildern meiß, die 
ernftliche Mahnung zu, fi) von ihr fern zu halten. „Du haft 
Recht, mid zum Heiligen zu machen,“ ſchreibt er am Abend des 
1: Mei, „das heißt von deinem Herzen zu entfernen. Di, fo 
heilig du biſt, Yaiım ich nicht zur Heiligen machen, und Hab’ nichts 
als mic immer zu quälen, daß ich mich nicht quälen will." Nach 
einer Turzen Entfernung, und dem gegebenen Verſprechen, ſich zu 
mäßigen, darf er ſich der Freundin wieber nahen. „Ich hab' unter 
dem Drud neuen Muth zu leben und eine meue Art von Hoff- 
nung gefriegt,“ bemerkt ex am 17. Mai, „obſchon das arme Herz 

‚ viel drunter leidet.“ Aher neues Ungeftim ber ungezügelten Lei» 
denſchaft, deren Aufflammen die edle Frau in ihrer Nähe nicht 
duldet, zieht ihm einen firengen Verweis und das Gebot zu, fie 
zu meiben, ba er fi nicht mäßigen könne. „Alfo auch das Ber- 
hältniß, das veinfte, ſchönſte, wahrfte, das ich außer meiner 
Schwefter je zu einem Weibe gehabt, aud das geſtört!“ klagt er 
an bemfelben Tage, an welchem er das Tagebuch an Augufte ab- 
ſchloß. „IH war drauf (auf das Verbot, ihr zu nahen) vor« 
bereitet; ich litt nur unendlich filr das Vergangene und das Zu- 
fünftige, und für das arme Kind, das binausging, das ich zu ſolchen 


374 


Leiven in dem Augenblick geweiht hatte. ' Ich will Sie nicht fehn; 
Ihre Gegenwart würde mid) traurig machen. Wenn ich mit Ihnen 
nicht leben fol, fo Hilft mir Ihre Liebe fo wenig, als bie Liebe 
meiner Abweſenden, an der ich fo reich bin. Die Gegenwart 
im Augenblick des Bedürfnifſes entſcheidet alles, lindert alles, 
kräftiget alles. Der Abweſende kommt mit feiner Spritze, wenn 
das Feuer nieder if, ? — — Und das alles um ber Welt willen! 
Die Welt, die mir nichts fein kann, will auch nicht, dag du mir 
etwas fein follft. — Sie willen nicht, was Sie thun. Die Hand 
des Einfamverfchloffenen, der die Stimme der Liebe nicht hört, 
drückt Hart, wo fie aufliegt. Adieu Beſte!“ Gran von Stein 
wußte den nady- ihrer Gegenwart fehnfüchtig Verlangenden durch 
ihre Theilnahme und die Hindeutung, wie fehr er fie leiden mache, 
zu begütigen,. doch beftand fie auf dem Verbote, zu ihr zu fommen. 
Nach einer kurzen Abweſenheit -von Weimar ſchreibt Goethe am 
1. Juni: „Ich bin mieber da; wäre fo gern gefommen, als ich 
lebe — aber es fol nicht fein! — Meine Abweſen heit wird 
die Welt einigermaßen, konſolirt haben.” Bor: feiner furzen Reife 
nad Allſtedt ſcheint er die Freundin am 7. Juni befucht zu haben. 
„Sie find lieb,“ fchreibt er, „daß Sie mir alles gejagt haben! — 
Man ſoll fid) ales fagen, wenn man ſich liebt. Liebſier Engel, 
und ich habe wieder drei Worte in der. Hand, Sie über alles zu 
beruhigen, aber aud) nur Worte. von, mir zu Ihnen! — Ich komme 
heut’ noch! Adieu!“ Am 18. Juni hofft er, bie Freundin mit 
ihrer Schwefter, Frau von Imboff, in feinem Garten zu fehn, 


Wahrſcheinlich veranfafte die Kühnheit, die fih Goethe erlaubt Hatte, 
die Entfernung eines im Zimmer anwefenden Sohnes der Frau von Stein, in 
deffen Gegenwart fie dem Dichter feine Zudringlichkeit nicht verweifen wollte. 
Sal 1 ©. XXIX betrachtet als Veranlaffung des Arengen Gebotes das 
Mitnehmen ihres Armbanbes am 20. Mai, weshalb er ſich am folgenden Tage 
entſchuldigt, aber es iſt mehr als wahrfcheinlic, daß ein fpäterer Vorfall, 
wahrſcheinlich am 23. Mai, dem Verbote zu Grunde Sag. Cie hatte ihm 
bei diefer Veranlaffung bemerkt, daß ihr nahes Verhältniß, feine häufigen 
Befuche und fein fletes Audräugen an fie, der Welt Aergerniß gebe. 

2, Bgl. oben &..329 Notet. 


doch fügt er, ba er Regen fürchtet, in ber Nachſchrift Hinzu, ex werde 

“in dieſem Falle vielleicht auf die Nacht zu ihr laufen. Bei einem dieſer 
Befuche hatte fie ihm mit umenblidyer Liebe und Milde das unan- 
genehme Verhältniß klar gemacht, in welches fie feine Zudringlich-⸗ 
keit fege. “Die nahe Babereife, welche die geliebte Frau auf fo 
lange Zeit entfernt halten fell, bebräugt ihn gewaltig, wie er dies 
in dem Briefe vom 22. Juni ausfpricht: „Liebſte Frau, ich darf 
nicht daran venfen, daß Sie Dienstag (den 25.) weggehen, daß 
Sie auf ein halb Jahr hinaus von mir ab find. Denn was Hilft 
alles! die Gegenwart iſt's allein, die wirft, tröftet und erbaut! — 
Wenn fie aud) manchmal plagt — und. das Plagen ift der Son- 
nenregen ber Liebe. Ich hab’ Sie viel lieber ſeit neulich; viel 
theurer unb viel werther ift mir deine Gutheit zu mir; aber frei- 
lich auch Marer und tiefer ein Verhältniß, über das man fo gern 
wegſchlipft, über das man fid) fo gerne verblendet.“ Kurz vor ber 
Abreife ſchreibt er: „Ich habe feine Idee von dem, was das heißt, 
daß Sie gehen,“ und er Magt, daß fie ihm jegt nicht einmal das 
geben wolle, was fie für ihn gefchrieben; doch ließ fie ihm eine 
Tuſchzeichnung zum Andenken zurück. \ 

In dem Tagebuch, welches Goethe für die Abweſende führt, 
frricht ſich die tiefe Sehnfucht nad) der geliebten, verehrten Frau 
aus. Sehr bezeichnend find die Berfe, welche er am 29. Juni in 
der Mittagsftunde dichtete, als er an der Ilm für fie zeichnet. 


‚Hier bildend nad) der reinen, ftillen 
Natur, ift, ach! mein Herz ber alten’ Schmerzen voll. 
Leb ich doch ſtets um berentwillen , 
Um derentwillen ich nicht leben ſoll 


Am 9. Juli ſchreidt er: „Geſtern Nachts lieg’ ich im Bett, ſchlafe 
ſchon halb, Philipp (Seibel, fein Diener) bringt mir einen Brief, 
dumpffinnig leſ' ih. — daß Lili eine Braut iſt!! kehre mi um 
und ſchlafe fort. — — Wie ih das Schidjal anbete, daß es fo 
mit mir verfährt! So alles zur rechten Zeit!" Im feiner ba 
+ maligen Stimmung, wo die Liebe zu Lili ganz verflungen war und 


376 


ein veineres, höheres Verhaͤltniß ihn fefielte, konnte es ihm nur 
erfreulich fein, das liebenswurdige Mädchen glüdlih zu willen. 
Der Bräutigam war- der Straßburger Banguier Bernhard Frie⸗ 
drich von Türdheim, geboren im Yahre 1752, den Lili vielleicht 
bei feinem Beſuche ver Frankfurter Meſſe kennen gelernt hatte. 
Wilhelm von Humbolbt erzaͤhlt in den „Briefen an eine Freundin“ 
(U, 257), ein Belannter von Lili und ihrem fpätern Gatten, 
habe wiffen wollen, von Türdheim habe dieſe ſchon während ihrer - 
Bekanntſchaft mit Goethe kennen gelernt, und fange an ber Er- 
füllung feiner Wünfche gezweifelt; indeſſen wird biefer Angabe von 
anderer, höchſt glaubwilrbiger Seite her widerſprochen, womit es 
auch ſtimmt, daß Goethe ihn nicht gefannt zu haben ſcheint.“ Den 
16. Juli vertraut er ber entfernten Freundin: „Deine Schweſter 
ſah ich nicht; es ift ein liebes Gefchöpf, wie ich eins fir mich 
haben möchte, und dann nichts weiter" geliebt! Ich bin des ser 
theilens überbrüffig.“ 

Am 2. Auguft überrafchte Frau von Stein ben ſehnſüchtigen 
Dichter mit der Nachricht von ihrer Rückehr auf das Schloß Kody- 
berg, unb bald darauf mit einem Beſuche zu Ilmenau, wohin er 
mit dem Herzog gegangen war. Gleich nad) dieſem Befuche ſchreibt 
Goethe (am 8. Auguft): „Deine Gegenwart hat auf mein Herz 
eine wunderbare Wirkung gehabt; ich lann nicht jagen, wie mir 
iſt! Mir ift wohl, und doc fo träumig! — Ihr Zettelchen hab 
ich Friegt, hab’ mich viel gefreut! — ich ſchwör' bir, id} weiß nicht, 
wie mir ift. Wenn ich fo dene, daß fle mit in meiner Höhle 
war, baß ich ihre Hand hielt, indeß fie ſich bückte und ein Zeichen 
in den Staub fhrieb!!! Es ift wie in ber Geifterwelt; ift mir 
auch wie in ber Geifterwelt. Cin Gefühl ohne Gefühl Liehfter 
Engel! Ich hab’ an meinem „Halten“? gefchrieben; meine Giovauna 


Val. Goethe's Briefe an Frau von Stein I, 246. 

? Den Gegenſtand biefes aud Im Briefe vom 12. Auguſt erwähnten 
Drama’s glanbe ich in Voecaceio's neunter Novelle des fünften Tages ent⸗ 
dedt zu Haben, wobel ber Dichter freilich manche Aenderungen ſich erfanbt 
Haben würde. Die Geliebte heißt bei Boccaeeio Gtovanne. Lafontaine hat - 





377 





wirb. viel von Lili haben; du 'erlaubft mir aber doch, daß 
. ich einige Tropfen deines Weſens brein gieße, nur fo viel es 
braucht, um zu tingiven. - Dein Verhältniß zu mir ift fo heilig, 
fonberbar, daß ich erft recht bei dieſer Gelegenheit fühlte, es Tann 
nicht mit Worten ausgebrüdt werben, Menfchen Tönnen's nicht 
ſehn. Bielleicht macht mir’ einige Augenblide wohl, meine ver- 
klungenen Leiden wieder als Drama zu verkehren." Aber Frau 
von Stein finbef es wieber nöthig, ſich zurädzubalten. 

An feinem Geburtstage, am 28. Auguft, kann der Schwer- 
gebrüdte es nicht unterlaffen, nach vierteljährtgem Stillſchweigen 
wieber einmal an Angufte zu ſchreiben, wobei er fein fehnflchtiges 
Berlangen in ben Worten ausſpricht: „Lieber Engel, warum 
möüffen wir fo fern voneinander fein!" Zwei Tage darauf, gleich 
vor feiner Reife nad Ilmenau, vertraut er ihr feine Mipftim- 
mung, daß ihr Bruder Friedrich nicht Wort halte, fondern ihn 
und ben Herzog vergebend auf ihn arten lafſe.“ „Won Fritz 
hab’ ich noch feinen Brief,“ fchreikt er. „Der Herzog glaubt noch, 
er komme, und man fragt nad ihm, und ich kann nichts fagen. ? 
Lieb Guftchen, mir ift lieber für rigen, daß er in ein wirkendes 
Leben kommt, als daß er fich bier in Kammerherrlichkeit abgetrieben 
hätte. Uber, Guftchen! — er ninmt im Frühjahr den Antrag bes 
Herzogs an, wird öffentlich erklärt, in allen unferen Etat’s fteht 
fein Name, er bittet fi) nod aus, ben Sommer bei feinen Ge— 
ſchwiſtern zu fein, man läßt ihm älles, und num fommt er nicht. 


die Geſchichte in der Erzählung: Le Faucon, -Rope de Bega in dem Drama: 
EI Halcon de Federigo behandelt. Vgl. Val. Schmidt „Beiträge zur Ger 
ſchichte der romantiſchen Poefier S. 60 f. von Schad „Geſchichte der 
dramatiſchen Literatur In Spanien“ II, 337. Dunlop „Befhihte der Proſa- 
dichtungen, Äberfegt von Liebreht“ ©. 489. 

Am 20. Mai, nachdem Klopfod feinen philifterhaften Briefmechfel 
mit Goethe mit den Worten geendigt: „Stolberg foll nicht fommen, ‚wenn 
er mich hört, oder vielmehr wenn er fi ſelbſt Hört,“ "hatte Goethe an 
Augufte gefhrieben: „Brig wird gute Tage mit uns haben, fo wenig ich 
ihm ein Paradies verfpreche.> 

2 Auf Goethes Empfehlung hatte der Herzog ihn zum Kammerherrnernannt. 


\ 378 


Ich weiß and, daß Dinge ein Geheinmiß bleiben müffen. — 
Aber — Guſtchen! ich habe noch was auf dem Herzen, das ih , 
nicht fagen kann. — — — — ' Und die, die man fo behanbelt, 
ift Karl Auguſt, Herzog zu Sachſen, und dein Goethe, Guftchen! 
Laß mid, das jet begraben! wir wollen dran wegſtreichen.“ Es 
iſt nicht zu verwundern, daß diefe Behandlung von Seiten bes 
Bruders das Verhaltuiß Goethe's zu Auguſte etwas erfältete. 
Dies, fo wie die ſich immer beruhigenber und freunbfiher ge- 
ftaltende Verbindung mit Frau von Stein und Zerftrenungen und 
Geſchäfte der verfchiedenften Art machen e8 wohl erflärlih, daß 
wir aus ben beiven folgenden Jahren nur zwei Heine Briefe an 
Auguſte befigen. Yu dem erften biefer Briefe, vom 17. Juli 1777, 
meldet er ihr den Tod feiner Schwefter; ber zweite, vom 27. März 
1778, brachte ihr ein paar feiner von Karl Sigismund von Seden- 
dorff fomponivten Lieder, deren er mehrere nächſtens zu fchiden 
verſprach. Seckendorff gab diefe fpäter in feinen drei Sammlungen 
„Bolts- und andere Lieder“ (1779 — 1782) heraus. 

Am 25. Auguft 1778 wurde zu Straßburg. Lil’8 Vermählung 
vollzogen, zu welcher Goethe's und von Türdheim’s Freund, der 
Anvofat H. 2. Wagner, in eimer in H. U. D. Reichard's „Ole 
Potrida“ I, 1 ff. (1778) -mitgetheiften poetifchen Epiftel Glüd 
wünſchte. Als Goethe im Herbft 1779 mit. dem Herzog auf der 
Schweizerreiſe begriffen war, beſuchte er an bemfelben Tage, an 
welchem er frieberifen heiter und wohlgemuth in Seſenheim ver- 
faffen hatte, auch feine einft heißgeliebte Lili zu Straßburg; es 
war ber 26. September. „Ich ging zu Lili,“ berichtet er an Frau 
von Stein, „und fand den ſchönen Grasaffen? mit einer Puppe 

! Das, war er nicht fagen kaun, iſt wohl, daß Klopfiod durch feine 
falſche Schilderung der Weimarer Verhältniſſe, die er nur aus verläumde - 
riſchem Getraͤfſch fannte, den Bruder zurüchält, fein Verſprechen zu halten, 
was doch jedem Ghrenmann heilig fein möfe. Bl. Nicolovius „Br. 2. 
Graf zu Stolberg" ©. 9. 

2 Grasaffe if eine in den Briefen an Grau von Stein Häufig vor» 
fommende Bezeichnung geliebter Kinder. gl. daſelbſt I, 27. 30. 45. Lili 
erfepien ihm noch immer „Finbhaft“,, wie früher. 


379 


- von fieben Wochen fpielen, und ihre Mutter bei ihr. Auch ba 
wurde ich mit Verwunderung umd Freude empfangen. Erkundigte 
mic) nad allem, und fah in alle Eden. Da ich denn zu meinem 
Exgögen fand, daß bie gute Kreatur recht glücklich verheiratet ift. 
Ihr Mann, aus allem, was ich höre, ſcheint brav, vernünftig 
und beſchäftigt zu fein; er ift wohlhabend, ein, ſchönes Haus, ait- 
ſehnliche Familie, einen ftattlichen bürgerlichen Rang ꝛc., alles, 
was fie brauchte x. Er war abwefend. Ich blieb zu Tiſche. Ging” 
nad Tiſch mit dem Herzog auf den Münfter. - Abends fahen wir 
eine Stunde L’Infante di Zamora mit ganz trefflicher Muſik von 
Paiſiello. Dann aß ic wieder bei Lili, und ging in ſchönem Mond- 
dein weg. - Die ſchöne Empfindung, die mich begleitet, Tann ich 
nicht fagen. So proſaiſch, als ich nun mit biefen Menſchen bin, 
fo ift dod in dem Gefühl von durchgehendem reinem Wohlwollen, 
und. wie ic biefen Weg ber gleichſam einen Nofenkcanz der 
treuften, bewährteften, unauslöſchlichſten Freundſchaft abgebetet 
habe, eine recht ätherlihe Wolluft. Ungetrüßt von einer be» 
ſchränkten Leidenſchaft, treten. nun in meine Seele die Verhältniſſe 
zu den Menſchen, bie bleibend find; meine entfernten Freunde und 
ihr Schidfal Tiegen nun vor mir, wie ein Sand, in deſſen Gegen 
den man von einent hohen ‚Berge ober im, Vogelflug ſieht.“ So 
war denn das Verhältniß zu Lili mit dieſem Beſuche völlig abge- 
ſchloſſen, da er fie ſelbſt in glücklichen Berhäftniffen gefunden, wie 
fie ihrem Weſen ganz angemefjen waren. Die Leidenſchaft zu ihr 
war: längft befiegt. 

* Kurz nah der Vermählung Fil’s war über das Haus ihrer 
Mutter das ſchon längere Zeit gefürdhtete Ungläd eingebrochen — es 
hatte jeine Zahlungen einftellen müſſen. Die Mutter zog zu ihrer 
Tochter nah Straßburg. Sie ftarb zu Frankfurt, wo fie am 
20. November 1782 begraben wurde.” Auch einer von Lili's ſechs 
Brüdern Fam, nachdem er ſich mit einer Tochter des, Frankfurter 
Banquierd Daniel Andreas Gontarb vermählt hatte, nad; Straßburg, 


BVal. Maria Belli VI, 20. 


380 - 


um fi mit feinem Schwager zu verbinden. Lili beſchenkte ihren - 


Gatten mit einer Tochter, Eliſabeth, und vier Söhnen, Friedrich, 
Karl, Wilyelm, Heimid. 

Auch Goethes Verhältnig zu Augufte erloſch allmählich, da 
er in Frau von Stein die glüdlidffte Beſchwichtigerin feiner. noch 
oft auftobenden Seele gefunden hatte, und bald ganz anbere &e- 
biete, als jene jugendliche Sentinientalität, in welder er ſich mit 
dem Stolbergiſchen Kreife berührt hatte,. feine volle Thätigkeit in 
Anſpruch nahmen. Die beiden einzigen Briefe, welche Goethe noch 
nad) dem Jahre 1778 an Augufte richtete, find durch bie Schwä- 
gerin ber Frau von-Stein, Sophie von. Scharbt, geborene von 
Bernftorff, eine Verwandte Auguftens, veranlaft. „Für Ihr An- 
denfen, liebes Guſichen,“ ſchreibt er am 3. Juni 1780, „van ich 
Ihnen recht herzlich. Die Meine gute Schardt wil ein Zettelchen 
von mir; fie ift in meinem Garten mit mehr Gefellichaft an einem 
ſchönen, ſchwülen Abend. Large hab' ich mir worgefegt, Ihnen 
etwas zu ſchiclken und zu fagen; es ift aber fein ftodigerer Menſch 
in der Welt, als ih, wenn ich einmal in's Stoden gerathe. 
Grüßen Sie die Brüver! Schreiben Sie mir wieder einmal von 

fi, und knüpfen Sie, wenn Sie mögen, den alten Faden wieder 
an! es iſt ja dies fonft ein weiblich Geſchäft.“ Wirklich ſcheint fie ihn 
mit einem herzlichen Briefe erfreut zu haben, den er aber unbeant» 
wortet ließ; ein fpäterer Brief, Anfangs 1782, worin fie ihm die 
Bermählung ihres Bruders mit der amnuthevollen Agnes von Wig- 
leben in Eutin (die Vermählung erfolgte im Mai) meldete, be- 
ſchämte ihn, fo daß er feine Nachläſſigleit verwünſchte. „Zu An- 
fang des Jahres," meldet er am 4. März 1782, „redete ich mit 
der Heinen Scharbt ab, Ihnen ein Portefeuille zu malen und es 
zum Geburtstag zu ſchicken.“ Es ftand lange geftidt in meiner 
Stube, und ich konnte nicht dazu Fommen, daß endlich ber fünf- 
zehnte verftiih. Wäre es fertig geworben, fo hätten Cie es ben 
Am Nenjahrstage 1782 wollte er in aller Frühe zu Brau von Stein 
fommen, um das Portefeuifle für Auguſte zu malen. Dgl. die Briefe an 
diefe vom 30. Dezember 1781, vom 24. Bebruar und 9.. März 1782. 





381 





Tag drauf, als Ihr Brief ankam, erhalten. Nun hat es Frau 
von Stein gemalt, ift aber auch nicht glücklich gewejen; ver Atlaß 
flog, er war zu bünne; es ift eben fein Glück und Segen dabei. 
Behalten Sie mic lieb, grüßen Sie die Brüder! Alles Glüd 
dem neuen Paare! Ich bin wohl und noch immer in meinem 
Thale. * „Genjefen-Sie des Lebens!" Im Jahre 1783 reichte fie, 
nad) dem Tode ihrer ältern Schwefter, Henriette Luife (am 
4. Auguft 1782), ihrem Schwager Andreas Peter von Bernftorff 
ihre Hand, ber brei Jahre vorher feine Entlaffung aus dem bäni- 
ſchen Miniſterium genommen hatte. So follte das eble, von 
veinfter Gemüthlichkeit und fehönfter Herzensgüte befeelte Mädchen 
in ihrem dreißigſten Lebensjahre bie Gattin eines ber wlrbigften, 
redlichſten, einſichtsvollſten, frommgläubigften Staatsmänner wer- 
ben, befien fegenreiches Wirken ihrem Herzen zur innigften Freude 
gereichen mußte. Bereits im Jahre 1784 ward er auf ehrenvolle 


Weiſe in's Minifterium zurücdberufen, wo er im ben ſchwierigſten 


Berhältniffen bis zu feinem am 21. Juni 1767 erfolgten, allge- 
mein betranerten Tobe in ädıt vaterländiſchem und freifinnigem Geiſte 
wirfte. Bon einer Verbindung mit Goethe ift während biefer Zeit feine 
Spur vorhanden, body ift es nicht unmwahrfchefhlich, daß Augufte dem 
Dichter die erſte Nachricht von ihrer Bermählung gegeben haben werde. 

Ende Mai 1784 fahen bie beiden Brüder in Begleitung ihrer 
liebenswürbigen jungen -Gattinnen ihren: Freund Goethe, der ſich 
damals viel mit naturwiſſenſchaftlichen Dingen befchäftigte, zu Wei- 
mar wieber.? Diefer. fagt am 3. Juni 1784 in einem Briefe an 
Frau von Stein: „Die Stolberg’8 haben uns noch einen fröhlichen, 
vergnügten Tag gemacht: es ift gar hübſch, daß -ich vor ber Ab- 
reife. noch einmal in jenen Seen ver. Jugend durch die Erinmerung 
gebabet worben.” Die Beranlaffung zum legtern Bilde ergibt 
ſich aus der jugendlichen Badeluſt der Grafen. Vgl. oben ©. 298. 


! Bgl. den Brief vom 17. Mai’1778: „Hab' ein liebes Bärschen ‚vorm 
Thbore an ber Sim fhönen Wieſen In einem Thale.“ 

2" Goethe thut dieſes Beſuches in feinen „Annalen“ mit Feinem Worte 
Erwähnung. B 





382 





At Tage fpäter ſchidt er berfelben Freundin das Gedicht „der 
Traum“ von Friedrich‘ Stolberg, wobei er äußert: „Ein recht 
hinnuliſch Familienſtük. Man muß fie fennen, fie zufammen ge 
fehen haben, um es recht zu genießen.“ „Wir haben," ſchreibt 
Friedrich Stolberg.am 21. Iuni, „ven lieben Harz, Gleim, Goethe, 
Ebert, Ierufalem, Herder, Wieland und das Eragebirge gefehen. 
Gleim, Herder und das Erzgebirge find neue, aber ſehr geliebte 
Freunde, die andern aber find mir alle beim Wiererfehen noch viel 
theurer geworben, als fie fon waren.“ An Merd berichtet er 
am 26. Mai 1786: „Ich habe vor zwei Jahren Gdethe und 
Herder wieder ' in Weimar, vorigen Winter Klinger in Beterd- 
burg und Haugmwig in Berlin gejehen — fehr verſchiedene Eri- 
ftenzen, welche doch ein Band ver Freundſchaft vereinigt." Welchen 
Eindruck die liebenswärbige Gattin Stolberg's auf ihn gemacht, 
ſchildert Goethe in dem fpäter in bie „Annalen“ eingefchobenen 
Auffage „Voß und Stolberg" (1820) mit folgenden Worten: „Ich 
habe mich ſelbſt in ihren blühenden, ſchönſten Jahren an ihrer 
anmuthigſten Gegenwart erfreut, und ein Weſen an ihr gefannt, 
vor dem alſobald alles Mißwillige, Mißktingende fih auflöſen, 
verſchwinden mußte. * Sie wirkte nicht aus ſittlichem, verſtändigem, 
genialem, fonbern aus frei=heiterm, perſönlich- harmoniſchem Ue- 
bergewicht.“ So mußte benn die bamalige Zufammenkunft mit 
Goethe um fo freundlich zutraulicher werden, als die unterbefien 
erſchienene Ueberfegung ber „Ilias“ uud bie Sammlung ber Gedichte 
der beiden Bräber, wie auch die didaktiſch fatirifchen „Samben“, 
keinen Mißklang in die alte Freundſchaft gebracht “hatten. Cine 
enthuſiaſtiſche Verehrerin ber beiden gräflichen Dichter war Fräu⸗ 
lein von Göchaufen, Hofdame ber Herzogin Amalia, welcher 
Goethe und ber. Herzog bie zwei Kentauren vorflellenbe Biguette 
ihrer Gedichtſammlung, in ein Goldräͤhmchen erfaßt,“ an einer Fette 
als Orben verehrt hatten, ? 

1 Das wieder iR in Bezug auf Herder imig, wie ſchon die vorher 


angeführte Briefftelle (Nicolovius S. 13 f.) zeigt. 
Vol. Merd's Briefe 1, 211. 11, 288 f. 


383 

Im Jahre 1792. fam Chriftion von Stofberg nach Weimar, 
wo er and; bei Goethe vorſprach, der dieſes Beſuches in feinen 
„Annafen“ nicht gedenlt. Wir entnehmen diefe Angabe einem un- 
gebrudten Briefe von Eophie Stolberg, der Gattin von Friedrich. 
„Sie wiffen vielleicht ‚“ ſchreibt diefe ', „daß mein Schwager und Luiſe 
(veffen Gattin) in Weimar gemefen find. Kleuler's Nachrichten 
find eitel Geſchwätz. Nie kommen Herder's Kinder zu Goethe: 
Herder felbft kommt, nicht hin, und fein Umgang wirb burd) die 
fatalen Bande, welche diefen feſſeln (bie Berbinbung mit Chriſtiaue 
Zulpius), fehe gehemmt und geftört. Stolberg ſah, wie er bei 
ihm war, fein golbgelodtes Knäblein! Bon Ihr war nicht bie 
Rebe." Friedrich Stolberg berührte auf ver Reife nad Italien 
fo wenig Weimar, al® auf der Rückreiſe; auf ver Iegtern ging er 
über Dresden, Königebräd und Braunſchweig. 

Es waren biejes bie legten perjönlichen Berührungen Goethes 
mit den gräflichen Brüdern. Ihre Richtungen trennten fi immer 
entichievener von ber unferes Dichters, und traten mit dieſer in 
feindlichſten Gegenfag. Hatte ſchon der heftige Angriff Stolbergs 
auf Schillers „Götter Griechenlands” (1788), ven Wieland für 
platt und ſelbſt eines Dorfpfarrers im Rande. Habeln unwürdig 
erffärte, bie tiefe Kluft zwiſchen feinen chriſtlichen Anſichten und 
der dem reinen Kunſtleben der Alten zugewandten Begeiſterung 
unſeres Dichters klar offen gelegt, ſo mußten bie feiner. Ueber⸗ 
fegung anserleſener Gejprädje des Plato beigefügten Anmerkungen, 
in welchen er gegen bie neuere Philofophie und ven Unglauben 
der Zeit ſcharf ankämpfte, ‚und mande Aeußerungen in feiner 
Neifebejgreibung über bie innere-Nichtigfeit ver alten Kunft auf 
Goethe verlegend wirken, ber durch die von Schiller mitgetheilte 
Nachricht, Stolberg habe, wie Schloffer, den „Wilhelm Meifter“ 
mit Ausnahme der „Belenntniffe einer ſchönen Seele" verbrannt, 
erbittert warb, Der glühende Ausbruch erfolgte endlich in ven 
„Xenien“ (1796), welche den unerfreufihen äußern Abſchluß des 
"Berhäftrüffes zu Ravater und ben fromm gewordenen, aber für die 


Nach gütiger Mitteilung von Profeffor A. Ricolovins. 


384 
Kunft verlorenen Stolbergen bilden. Wie. fehr hierunter auch die 
edle, von tiefem Glauben immer Iebenbiger burchglühte ‚Schwefter 
leiden mußte, welcher zudem das Verhältniß zu Chriſtiane Vulpius 
ein Greuel war, bedarf keiner Ausführung. 

Während fo das Verhältniß zu ben holſteiniſchen Freuden 
einen ımerfreulichen Ansgang nahm, hatten Lilis bis dahin immer 
glanzende Verhältniſſe durch bie Folgen ber franzöſiſchen Revoln- 
tion einen gewaltigen Stoß erlitten. Gegen Ende des Jahres 
1792 warb ber Schwager Pil’s, Johann von Tirdheim, geboren 

im Jahre 1746, an bie Stelle des wegen angeblichen Hochver- 
rathes im Gefängniß ſchmachtenden würdigen Dietrich zum Maire 
von Straßburg ernannt, welche Stelle derſelbe nur auf bringende 
Borftellungen bes bamaligen zweiten Gemeinbeprofurators, Fr. Schöll, 
anzunehmen ſich entſchloß.“ ber in dem fi ‚nun entſpinnen⸗ 
den Kampfe zwiſchen der durchaus rechtlich geſiunten Munizipalität 
und der von Paris geſandten jakobiniſchen Departementsregierung 
mußte bie erſtere bald unterliegen; von Tätdheim und bie meiften 
übrigen Mitglieder derſelben zogen fich in's Privatleben zurüch, 
wurben aber bald baranf aus ben rheiniſchen und ben benachbarten 
Departements. verbannt. Der Beginn der Schreckensherrſchaft ließ 
in Straßburg den berüchtigten ehemaligen Bonner Profeſſor Eulo- 
gius Schneider feine blutigen Orgien feiern. Als öffentlicher An- 
kläger zog er mit einer wanbernden Guillotine durch das Land. 
For November 1793 „hatte er feine Abſicht auf die bebeutenbfien 
unb reichſten Straßburger gerichtet. Johann von Türdheim, ber 
ſich in einem lothringiſchen Dorfe aufhielt, wurde mer durch einen 
Zufall gerettet. Lil's Gatte floh mit feinen Söhnen Karl und 
Wilhelm und feiner Tochter Elifabeth, und begab ſich nach Frauk- 
furt. Auch Lili ſtand in großer Gefahr, und rettete ſich nur da⸗ 
buch, daß fie Straßburg in ber Verkleidung einer Bäuerin verließ, 
ihren älteften Sohn, Friedrich, an ber Hand, ihren jüngften, 

' Hiergu und zum folgenden vergleiche man die von kundiger Hand. 


gemachten Dittheilungen in der Rebensbefchreibung EhöWs in den „Zeit- 
genoffen“ VII, 2, 12 ff. 








.385 


Heinrich, auf dem Arme. So gelangte fie, größtenteils zu Fuße, 
nad) Brauffurt, wo fie bei der Wittwe von Daniel Andreas Gon- 
tarb, der Schwiegermutter ihres Bruders, in deren Garten an ber 
Windmühle, wohnte. Nachdem die Ruhe wieber gefichert ſchien, 
fehrte die Familie nach Straßburg zuräd, 
Im Beige der Frau Maria Belli befindet fi folgender 
vom April 1797 batirte Brief von Lili aus Straßburg an ihren 
> Bruder Johann Friedrich Schönemann in Frankfurt. „Die Ger 
legenheit, welde mir Herr Morig. anbietet, ift zu ſchön, als 
daß ich (fie) nicht mit Vergnügen benuge, um wieber einmal mit bir, 
mein Befter, fo recht nad) Herzensluft mich unterhalten zu fönnen. 
Du weißt e8 ſchon vermuthlich, daß bie ſo lange gefürchteten 
Succeffionsgefchäfte geendigt, daß mein lieber Mann in Beſitz bes 
Haufes ift, und daß auf biefe Art manches geebnet, die Ger 
ſchwiſter zufrieden, und, wie mid. däucht, alles ohne Bitterkeit 
geendigt ift. 7. ' blieb feinem Charakter, wie immer, treu; ge- 
falliges Nachgeben und zuvorfommenbe Liebe gibt oft den unange- 
nehmften Geſchäften einen minder unangenehmen Anftrih, und . 
vereinigt auf biefe Art die verfchievenften Meinungen auf einen 
Punkt in. Sp. ? zeigte ſich äußerſt gutmüthig, aber ſchwach, I. ? 
ſehr ſchön und uneigennägig, und immer nur das wählen, was 
amberen nicht anftand. B.,* die durch wiederholte Ungläde fo ſehr 
erbittert, daß fie mißtrauiſch und lieblos geworben, zog ſich mande 
unangenehme Stunde zu, und verurſachte den auderen noch mehr; 
doch nun iſt allẽs vorüber, und, wie mich däucht, alles zufrieden mit 
ſeinem Loos. T. fängt an, ſeine Geſchäfte wieder mehr auszudehnen, 
aber demuugeachtet müſſen wir die ſtreugſte Oekonomie beibehalten, 


Silis Gatte. 

2 Epielmann, Profeſſor der Arzueiwiſſenſchaft, Hatte ein Bräneln 
vom Tuͤrcheim geheiratet. 

3 Jopann von Türpeim „Lite Schwager. 

* Die andere Schweſter von Kills Gatten war in erfer Ehe an einen 
Offnier de Balthaſar, in. zweiter ebenfalls an einen Offizier, Namens be 
Bayer, verheiratet, 

Dünger, Brauenbilder. 1 25 


386 
um das Gleichgewicht der Ausgaben und Einnahmen beizuberechnen: 
denn bie Abgaben find ſchrecklich, das Patent und Stempelpapier 
ſehr Foftfpielig, und wenn man überdies mit frembem Geld handelt, 
nichts von feinen Schulonern bekömmt, und ſechs Kinder ' zu er- 
ziehen hat, fo muß man mehr als gewöhnlich gewinnen, um etwas 
zurüdfegen zu Tonnen; und baran foll der Hausvater doch auch den⸗ 
ten, wenn er für das Kinftige Schidjal feiner Kinder beforgt fein will. 
And erlaube ich mir nicht bie geringfte Depenfe, habe nur zwei 
Mägpe, und mache, was nur immer möglich, felbft; aud habe 
id) den Kindern feine verſchwenderiſchen Ausgaben vorzumerfen, 
allein Kollegie und Lehrmeifter find fehr theuer, und jo ſchwillt 
„bie Ausgabe allmählich doch an. Wir nahmen diefen Winter gar 
feinen Antheil an öffentlichen Luftbarfeiten, weil politiſche und 
üfonomifche Berhältniffe und davon abhielten; aber nie waren bie 
Aufforberungen und Gelegenheiten zu Vergnügen vervielfäftigter, 
als diefen Winter. Prachtliebe nimmt mit jedem Tag zu, und wird 
fo allgemein, daß ber Fremde ftaunt und ſchweigt. Auch verſichern 
viejenigen, welche Paris vor Zeiten gelaunt und jegt wieber ‚ge- 
ſehen haben, daß «8 nie.brillanter und an Zerftreuung reicher ge- 
weſen; man ſpricht — man athmet nur Vergnügen; Genuß und 
Freude find nur die einzigen Vebikfniffe, wie Gewinnfudt und 
niebrige Intrigue die einzigen Triebfevern, bie zum erftern führen, 
find! Die Abwechslung von Grauſamkeit und Schwelgerei ift auf- 
fallend, und eben jo beſchämend für die Pienfchen, ale der Ge- 
danke an fein almähliches Sinten. — — Gott erbarme ſich un- 
ferer, und helfe ben armen Menſchen! — So wie id höre, ge- 
nießt du das Vergnügen, Madame Deucyer bei bir zu fehn; ich 
freue mich für dich und beine liebe Frau, und wünfde, daß es 
dir möge gegönnt fein, biefe Freude noch lange in Ruhe zu ge 
nießen. Gebenket unferer in Augenbliden ber ruhigen Freundſchaft, 
und empfiehl mid} diefer verehrungsmwärbigen Freundin! Es ſcheint 


* Anper ihren fünf Kindern die verwaiste: Tochter eines Herrn Ken 
ninger, der fih Lili angenommen hatte, 





- 387 


mir gar zu lange zu fein, daß ich nichts von dir und ben Deir 
nigen vernommen, unb body ift mir jedes Wort von dir wichtig, 
jede Wieverholung von Freundſchaft glüdbringend. Ich hoffe dem- 
nad), du wirft mich bald ‚wieder mit einigen Zeilen erfreuen, und 
mir etwas von eurer Lage, Vergnügen, Hoffnungen und Erwar- 
tungen fagen. — Meine Kinder, die ſich deiner immer mit erfennt- 
licher Liebe erinnern, wollen, baf ich fie deiner und beiner lieben 
Frau Freundſchaft empfehle; die meinige bedarf keiner Wieverho- 
Tung; fie ift und bleibt euch auf ewig verſichert. — Der lieben 
‘guten Mimi! die zärtlicften Küffe von eurer unveränberlichen 
Elife. — Sollten fi) meine zwei Uhren in Golvetui bei euch be- 
finden, jo würbeft du mich verbinden, fie mir gelegentlich zu über⸗ 
ſchicken.“  Diefer Brief zeigt. und das Tiebevollfte, anhänglichfte 
Gefühl, wie wir daraus auf der andern Geite erfehen, wie Lili, 
trog ihrer vornehmen und glänzenden Erziehung, ſich einzuſchränken 
und in bie Verhältniſſe zu fügen mußte. - Dafür war aber auch 
ihr und ihrem Gatten das Glüd äußerft gewogen, inbem fie bald 
zu großem Wohlftand und Anfehen gelangten. 

Nach dem ſchmachvollen und unglücklichen Tage bei Jena er- 
Tunbigte ſich zu Weimar ein Hufarenoffizier fehr geheimnißvoll nad 
Goethe; e8 war ein Sohn von Lili, wahrſcheinlich Wilhelm. Bettine? 
erzählt: „Am andern Tag (im Jahre 1805) führte ich ihr (der 
Gunderode) einen jungen frangöfifchen Huſarenoffizier zu, mit hoher 
Bärennrüge ; e8 war ber Wilhelm von Türdheim, ver ſchönſte aller 
Zünglinge, das wahre Kind -voll Anmuth und Scherz; er war 
unvermuthet (in Frankfurt) angelommen. Ich fagte: Da hab’ ich 
dir einen Liebhaber gebradt; ber foll dir das Leben 
wieder lieb maden.” Bon feiner Rückkunft im Jahre 1806 
vgl. daſelbſt 135 ff. Goethe. ging an feiner Seite zu Fuße nad) 
dem Markte zu, vermuthlich auf's Schloß. ? Lili felbft fah Goethe 

! Sie war Echönemanı's einziges Kind, und heiratete fpäter den 
Buchhändler Zügel. 

? Goetpe's Briefwechfel mit einem Kinde I, 100 (92). 

® Bol. Riemer 1, 363. 


388 
feit dem Jahre 1779 wohl sie wieder; ihren Bruder Johann 
Friedrich foll er bei feiner Anmwefenheit zu Frankfurt im Jahre 
1814 nicht beſonders herzlich empfangen haben, obgleich Goethe's 
Freundlichkeit während ſeines damaligen Aufenthaltes ſehr gerühmt 
wird. ! Freilich fol Johann Friedrich Schönemann ein feingebil- 
deter, Tiebensmwilrbiger Mann gemefen fein, aber ob die Art, wie 
er Goethe an die Zeit feiner Liebe erinnerte, beſonders geeignet 
war, ihn zu veranlaffen, fi mit ihm in Erinnerungen an jene 
„Zeit zu ergießen, muß fehr bezweifelt werben; dazu war ihm der 
Bruber feiner Geliebten, der mit übertriebenen Erwartungen zu 
ihm gekommen, ihn vielleicht auch nicht in befter Stimmung ge 
troffen haben mag, gar zu fremb, ja er war ihm zur Zeit feiner 
Liebe abgeneigt geweſen. ebenfalls aber wird Goethe durch ihn 
die Nachricht, daß feine Geliebte mod} lebe und ſich in glänzenden 
Berhättniffen befinde, mit Antheil vernommen haben. Im Sep- 
tember des folgenden Jahres kam Goethe zur Beſchauung des 
Münfters auf ſehr kurze Zeit nach Straßburg. Ob er damals 
bie Geliebte gefehen, läßt ſich nicht ſicher entſcheiden; aus feinen 
Stillſchweigen ift gerade nichts zu ſchließen, da wir feinen, Beſuch 
von Straßburg felbft nur aus einer gelegentlichen Angabe erfehen.? 


* Exhloffer’s zweite Gattin fepreibt im November 1814 in einem un 
gebrudten Briefe: „Won Goethe höre ih nur Lobes, wie fo gar liebens- 
märbig er ſich unter feinen Frankfurtern erwiefen hat." Maria Belli 
berichtet HIN, 107%: „Am 18. Oftober 1814 war Goethe hier in Fraukfurt 
und wohnte der erflen Beier jenes Volkefeſtes bei. Um bie Erleuchtung zu 
sehn, fuhr er am Abend in vem-Wagen tes Barons von Hügel, dama« 
ligen Vicegonverueurs, herum. Er Hatte alle Orden von feinen Kleidern 
trennen laſſen, weil er unr Bürger fein wollte. Er fand damals fehr 
frühe auf, ging in der Stadt herum, und befuchte feine alten Freunde ju 
deren nicht geringem Erſtauuen ſchon Morgens um fieben Uhr.“ Im folgen 
ten Fahre befuchte Goethe in Frankfurt Feinen Menfeben. Qgl. Rahel 11, 332. 
2 Jur dem Auffag über den- Straßburger Münfter (1816) Heißt es 
(®. 31, 362 f): „Im September des vorigen Jahres hatten wir Geiegen- 
heit, den großen Vortheil diefer weifen orfehrung (am Münfter): im 
vollſten Maap zu bewundern. Es war nach ben unaufhörlichen beiſpiel- 
loſen Regengüffen des Sommers, ja ſelbſt nad) den Regengäffen des porlgen 


66 389 





Eben in biefe Zeit, in bie zweite Hälfte des September 1815, 
fällt ein großer Theil der Suleifaliever. Wahrfcheinlich vermied 
ex es, die Geliebte damals zu fehn, weil er das Bild ihrer holb- 
veizenden Jugend — gerade vierzig Jahre waren feit ihrem Liebes· 
feüplinge vergangen — in ungetrübter Erinnerung halten wollte. 
- Am 6. Mai 1817 entſchlief Lili auf dem der Familie zugehörenden 
Gute Kraut-Ergersheim bei Straßburg, von wo der Gatte am fol- 
genden. Tage dieſen ſchmerzlichen Verluſt, feinem Schwager Schöne- 
mann in folgendem Briefe anzeigte: „Die Schwefter ſchläft. Schlaf 
und Tod find Brüder. Der ewige Vater, der diefen ſchönen Geift 
in einer Stunde der Gnade mir zugefellte, und fo viel Segen auf 
mich durch fie fallen ließ, hat die holde Lili abgerufen. Geftern 
Abend entichlief fie fanft, in meinen, ber !i Brund und Fritz 
Degenfeld's Armen.? Das Band, ſo mid) feit bald vierzig Jahren 
fo innigſt mit ihr vereinte, ift nicht getrennt, und ich wandle 
hinfllr einfam hier mitten unter ben Schöpfungen ihrer Länblichen 

Freuden, mit dem Bewußtfein, daß bis in ber legten Stunde ihre 
Hand noch fegnend mic) als Freund ihres Herzens bezeichnete. 
Deiner lieben Tochter und Gemahl, deiner Gattin und älteren 
Freunden, Megler,? Meier, Jean Noe Defay und Brevilkier, 
fei das Andenken ber Lili heilig. Ich umarme dic." Der Gatte 
Tages auch nicht eine Spur von Feuchtigkeit auf allen den offenen Stiegen, 
Gewölben, Gängen und Bühnen zu entveden.“ In den „Annalen,“ erwähnt 
er in Bezug auf Baufunf nur des Beſuches bes Kölner Domes (B. 27, 307). 
Dap er auf ber Reife Karlruge berührt, vernehmen wir bloß gelegentlich 
G. 27, 309). 

Nicht 4815, wie A. von Binger zum neunten Briej an Augufte 
angibt. B 

2 Kills Tochter was an einen franzöſiſchen Civilbeamten Namens 
Brund verheiratet; fie war der Mutter in jeder Beziehung ähnlich. Das 
von Äfe"gegeichnete Bild der- Mutter befigt Here Buchhändler Jügel in 
Sranffurt, der davon zur Goethefeler eine Anzahl Abbrüde für feine Freunde 
machen ließ. Site jüngfter Sohn, Heinrich, heiratete eine Gräfin -von 
Degenfelb-Ecpomberg, deren Bruder Hier gemeint ſcheint. 

® Wohl Johann Wilhelm Metzler aus Straßburg, der 1793 In den 
Rath Fam. 


- 390 

ſtarb erſt am 10. Juli 1831. Bon ihren fünf Kindern if jest 
nur noch ber dritte Sohn, Karl, der fi dem Banfgefchäft wib- 
mete, am Leben; ber dritte, Wilhelm, ein ganz vortrefflicher Menſch 
ſtarb als Adjutant des General Rapp, mit welchem er alle Feld⸗ 
züge gemacht, ber jüngfte verfchieb, fechzig Jahre alt, als Obrift- 
lieutenant ber Kürafliere aufer Dienft zu Cannes am 28. Fe— 
bruar 1849. 

Im Jahre 1819 lernte Goethe in Karlsbad den Neffen ver 
Stolberge, den preußiſchen Minifter Graf Bernftorff kennen, ben 
er, wie er fagt, auch wegen Inniger, treuer Berhältniffe zu werthen 
Freunden längft gefchägt hatte. ' Gegen Ende des Jahres erfolgte 
der wüthende Angriff, von Bof gegen feinen alten Freund Friedrich 
Stolberg, wegen feines wor faft zwanzig Jahren erfolgten Ueber- 
tritts zur latholiſchen Kirche. Stolberg glaubte eine kurze Abfer- 
tigung jener Berunglimpfungen der Wahrheit und feinen Kindern 
ſchuldig zu fein, und follte e8 auch fein Leben often; aber da er 
täglich nur wenig an berjelben ſchreiben konnte und wollte, auch 
bald darauf ganz unfähig zum Schreiben ward, Klieb fie unvell- 
endet. Stolberg ftarb bereit® am 5. Dezember befjelben Jahres, 
ohne daß fein Tod bie Erbitterung von Voß gemilvert hätte, ber 
als Kämpe gegen vermeintliche Umtriebe in feiner herben Weile in 
die Schranken treten zu müffen-geglaubt hatte. Welchen Einbrud 
Stolberg's Uebertritt auf Goethe gemacht, ſpricht er in einfach 
Haren Worten in ben „Annalen“ B.27, 103 aus:? „Ic verlor 
dabei nichts; denn mein näheres Verhältniß zur ihm hatte ſich ſchon 
länger in allgemeines Wohlwollen aufgelöst. Ich fühlte früh für 
ihn als einen wadern, Tiebenswürbigen, lebenden Mann wahrhafte 
Neigung; aber bald hatte ich zu bemerken, daß er ſich nie auf ſich 
ſelbſt ftügen werde, und ſodann erfchien er mir als einer, der außer 
dem Bereich meines Beftrebens Heil und Beruhigung ſuche. Auch 
überrafchte mic) dieſes Ereigniß keineswegẽ; ich hielt ihn längft für 

ı 8.77, 351. . 

? Die Stelle gehärt eigentlich unter das Jahr 1800, nicht unter has 
folgende, wo fie jedt ſteht. 


39 





tatholiih, und er war es ja ber Gefinnung, dem Gange, ber 
Umgebung nad, und fo onnt’ ih mit Ruhe dem Tumulte zufehn, 
ver aus einer jpäten Manifeftation geheimer Mißverhältniſſe zu- 
legt entfpringen. mußte.“ Judeſſen fcheint auch ihi die von Gtol- 
berg eingefchlagene Richtung, bei der herzlichen Neigung, die er ihm 
gewidmet hatte, tiefer und ſchmerzlicher berührt zu habe, als er 
bier anbeutet, wie ſich aus der von A. von Binzer zu Br. 19 initge⸗ 
theilten Erzählung ergibt. „Mair fragte ihn einft in Jena, ala 
die Kirchengeſchichte Stolberg's fehr gepriefen ward, uud Damen 
fie lafen, was er davon halte. Goethe verfiel fofort aus einer 
beitern Laune in eine fehr ernfte, wurde zurüdhaltend in feinen 
Aeußerungen, und ſprach nur mit wenigen Worten die Auſicht aus, 
man müſſe fi von folgen Büchern nicht führen laſſen; man 
urtheile danach über menſchliche und göttliche Dinge_ und am mehr» 
ften über eigene Zuftände befangen; ihn ängftige Dergleichen. Er 
wurde dann, obwohl er im Kreiſe ſchöner Frauen war und lange 
weilte, immer ftummer, und faß wohl zwei Stunden, nur einzelne 
halbdeutliche Laute ſprechend, faft unbeweglich auf feinem Stuhle, 
wobei die Augen häufig vellten.“ ’ 

Boß hatte ſchon in feinen Gedichten feinen erſchütternden 
Schmerz über den Uebertritt Stolberg’s zur katholiſchen, von ihm 
als vüfter, abergläubiſch und unfrei verfegerten Kirche ausgefprodhen, 
und fo mußte Goethe bereit im Jahre 1804 in ver Beurteilung 
der Voſſiſchen Gedichte auch der betreffenden Stellen Erwähnung 
thun, was freilich nur in feharf proteftantifchen oder vielmehr frei- 
finnig unkirchlichem Sinne geſchehn konute. Nachdem er des tiefen 
warmen Gefühls des Dichters für Freundſchaft gedacht hat, fährt 
er fort (B. 32, 122 f.): „Wie muß es daher den-liebenswürdig 
Berwöhnten ſchmerzen, wenn nicht ber Tod, fondern abweichende 
Meinung, Rüdfpritt-in jenes alte, von unferen Vätern mit Kraft 
befämpfte ſeelenbedrüdende Wefen ihm einen der geliebteften Freunde 
auf ewig zu entreigen droht! Hier keunt er fein Maß des Unmuthe, 
der Schmerz ift grenzenlos, den er bei fo trauriger Zerſtüdelung 
feiner ſchönen Umgebungen empfindet. Ja, und er würde fi aus 


392 
‚ Kummer und Gram nicht zu retten willen, verlieh’ ihm die Muſe 
nicht auch zu dieſem Falle die unſchätzbare Gabe, jedes bebrängende 
Gefühl am Bufen eines theilnehmenden Freundes harmoniſch gewaltig 
auszuſtürmen.“ Als aber Boß mit feiner heftigen Anklage gegen 
den alten Freund nach fo vielen Jahren hervorbrach, da konnte er 
nicht umhin, nicht allein in ein paar Reimen das Unheiinliche dieſes 
von Boß herbeigezerrten Streites, auszufpredhen, die erſt nad} feinem 
Tode in Drud erſchieuen (®. 6, 165), fondern auch in einem 
kurzen, gleichfalls erft zu fpäterer Bekanntmachung beftiminten Auf- 
fage (nachgelaſſene Werke 8.20, 288 ff.) auf den Urgrund der 
fpäten feindlichen Trennung hinzuweiſen. Gfei anfänglich habe 
bei ihnen eine Verſchiedenheit zu Grunde gelegen, über die fie ſich 
im erften Drange einer fi ſchwärmexiſch hingebenden Jugend ge- 
täufcht; eine gewiſſe jugendliche Liberale Gutmüthigkeit bei obwal- 
tender äfthetifcher Tendenz habe fie verfammelt, ohne fie zu ver- 
einigen, da ja ein bifihen Meinen und Dichten gegen angeborene 
Eigenheiten, Lebenswege und Zuſtände nichts fagen wolle. Unglück- 
licher Weife habe fie auch ſpäter das Leben wieder in nahe örtliche 
Verbindung und Lebensbeziehung gefegt, wo fie denn, im Innern 
uneins, ſich an elaftihen Banden hin und wieder gezerrt. "Daß 
eine. ſolche Duälerei, ohne zu feindlichen Ausbruch zu kommen, 
fo lange gedauert, habe allein die liebenswürdig vermittelnde Ein 
wirfung ber Gräfin. Agnes zu bemirfen vermodt. „Die Göttliche 
eilt zu ihrem Urjprung zurück; Stolberg fucht nach einer verlorenen 
Stüge, und die Rebe jchlingt ſich zuletzt um’s Kreuz. Voß da- 
gegen läßt fi von den Unmuth übermeiftern, den er ſchon fo 
lange in feiner Seele gehegt hatte, und offenbart uns ein beiver- 
ſeitiges Ungeſchick als ein Unrecht jener Seite. Stolberg nıit etwas 
mehr Kraft, Voß mit weniger Tenacität hätten die Sache nicht fo 
weit fommen lafjen. Wäre aud eine Vereinigung nicht möglich 
gewejen, eine Trennung wilrde doch leidlicher und Läßlicher geworben 
fein. Beide waren auf alle Weife zu bebauern; fie wollten ‚den 
früheren Freundſchaftseindruck nicht fahren laſſen, nicht bedenkend, 
daß Freunde, die am Scheidewege ſich noch die Hand reichen, 





393 

ſchon voneinander meilenweit entfernt find. Nehmen bie Ge— 
finnungen einmal ‚eine entgegengejegte Richtung, wie fol man ſich 
vertraulich das Eigenfte befennen! Gar wunderlich verargt daher 
Voß Stolbergen eine Berpeimlihung deſſen, was nicht auszufprechen 
war, und das, endlich ausgeſprochen, obgleich vorhergefehen, die ver- 
ftänigften, gejegteften Männer zur Verzweiflung brachte.“ Ge, 
ſchließt Goethe, wärben immer religiöfe, politifche oder litterarlſche 
Differenzen, wenn fie auch lange im Trüben nebeneinander. ge- 
ſchlichen, unvermuthet entdeckt, in ſchreienden Konflift gerathen. 

Die Über Friedrich Stolberg, dem fein älterer Bruber am 
18. Januar 1821 in's Ienfeits folgte, entſtandenen Streitigfeiten, 
feinen dem Dichter feine eigene Jugendzeit und beſonders bie 
Tage, welche er mit ihnen genoffen, fo lebhaft in's Gedächtniß 
gerufen zu haben, daß er Baburch zur Fortfegung feiner eigenen, 
kurz vor ber Belanntjchaft mit ihnen abbrechenden Lebensbejchrei- 
bung fid) getrieben fühlte. Die „Annalen“ berichten unter dem 
Jahre 1821 (B. 27, 384 f.): „Sonderbar genug ergriff mich im 
Borübergehen der Trieb, am vierten Bande von „Wahrheit und Did: 
tung“ zu arbeiten; ein Drittheil davon warb gefchrieben, welches 
freilich einladen ſollte, das Übrige nachzubringen, Beſonders ward 
ein angenehntes Abenteuer von Lili's Geburtstag (?) mit Neigung 
hervorgehoben, anderes bemerkt und ausgezeichnet. Doch ſah ich 
mid, bald von einer foldhen Arbeit, die nur durch liebevolle Ber- 
traulichtkeit gelingen Tann, durch anderweitige Beſchäftigung zerftreut 
und abgelenft.“ j 

Eine wahrhaft rührende Ueberrafhung wurde, unferm Dichter 
im folgenden Jahre durch einen vom 15. Oftober 1822 batirten 
Brief feiner einft fo glühend gelichten Augufte bereitet, die damals 
ion feit fünfundzwanzig Jahren Wittwe des Grafen Vernftorff 
war. Der Tod ihrer beiden geliebten Brüder hatte fie tief er- 
fchüttert, aber fie lebte der jeligen Hoffnung, fie bald im Reiche 
des himmliſchen Vater verklärt wiederzufinden. Leider konnte eine 
ſolche Hoffnung fie über das jenfeitige Leben des berühmten Dich— 
terd, bem neben den beiden Brüdern ihre heißeſte Geelenliebe 


394 


gegolten hatte, nicht beruhigen; denn fie hielt in kindlich frommem, 
tief wurzelndem Glauben an ver Ueberzeugung fgft, daß nur dem⸗ 
jenigen im andern Leben die himmliſche Seligfeit zu Theil werben , 
tönne, ber Chrifti Reich auf Erben in feinem Herzen grände und 
durch fein Beifpiel ausbreite, ber fi einem wahrhaft frommen, 
chriſtgläubigen Leben hingebe, ſich ber fündigen Leichtfertigleit der 
Welt und jevem unheiligen Triebe entziehe, und biefe Ueberzeugung 
machte fie um alle ihr Naheftehenven beforgt, mit denen fie ſich 
einft ber eibigen Seligkeit zu erfreuen hoffte, weshalb fie biefe, 
wenn fie von dem ihr einzig zur Seligkeit zu führen ſcheinenden 
Wege abirrten, zu bemfelben zurüdzurufen und zu frommgläubigem 
Leben zu belehren ängftlich beftvebt war. Sie hatte vor kurzem bie von 
ihr heilig gehaltenen Briefe Goethe's an fie wieder einmal gelefen, 
und diefe, welche herzlichfte Liebe gleich einem feurigen Gotteshauche 
belebt, Hatten in ihr das jehnfüctigfte Verlangen erregt, biefe 
Blüthe ihrer Jugend möge Früchte für die Ewigfeit tragen; befon- 
ders aber hatte fie bie Bitte im vierten Briefe, zur Zeit der Trübſal 
ihn mit ihren Briefen zu verfolgen, ihn von fi) felbft zu retten, 
tief ergriffen, und fe magte fie e8 denn jet, dem einft heiß ge- 
liebten Greife ihren Wunſch, daß er für feine ewige Seligfeit be 
forgt fein möge, mit aller glühenden Kraft der Liebe, in welcher 
er die- Stimme ihres herzlich von ihm geliebten Bruders Friedrich 
erfennen möge, bringenb an’8 Herz zu legen. 

„Würden Sie, wenn id) mich nicht nennte, die Züge ber’ 
Borzeit,, die Stimme, die Ihnen fonft willlommen wer, wieber- 
erfennen?" beginnt fie. „Nun ja, id bins — Auguſte — die 
Schweſter der fo geliebten, fo heiß beweinten, fo vermißten Brüder 
Stolberg. Köunten doch biefe aus. ver Wohnung ihrer Seligkeit, 
von dort, wo fie den ſchauen, an ben fie hier glaubten — 
könnten doch biefe, mit mir vereint, Sie bitten: „Lieber, lieber 
Goethe, ſuchen Sie ben, ver ſich fo gerne finden läßt! Glauben 
Sie auch an ben, an ben wir unfer Lebelang glaubten!“ Die 
felig Schauenden würden hinzufügen: „Den wir nun ſchauen!“ — 
Und ich fage: „Der das Lehen meines Lebens ift, das Licht im 


395 





meinen trüben Tagen, und uns allen breien Weg, Wahrheit und 
Leben, unfer Herr und unfer Gott war.“ Und nun — id rede 
auch im Namen der verflärten Brüder, die fo oft den Wunſch mit 
mir außfprachen —: „Lieber, lieber Goethe, Freund unferer Zugend, 
geniegen auch Sie das Glüd, was ſchon im irdiſchen Leben uns 
zu .Theil warb, Glaube, Liebe, Hoffnung!“ — Und bie Bollen- 
veten fegen hinzu: „Gewißheit und ewiger, feliger Frieden harrt 
dann aud) deiner hier.“ — Ich lebe zwar nur noch in Hoffnung 
veffen, was zufünftig ift, aber_in feliger Hoffnung, bie mir fo 
zur Gewißheit geworben ift, daß ich Mühe habe, die unenb- 
liche Sehnſucht danach zw ftillen" Ihr dringender Wunſch, 
den fie oft laut merbeit laſſen wollte, ift der, daß ber gelichte 
Jugendfreund ablaſſen möge von allem, was bie Welt Kleines, 
Eitles, Irdiſches und nicht Gutes habe, und feinen Blick und 
fein „Herz dem Ewigen zuwende. „Ihnen ward. viel gegeben, viel 
anvertrant! Wie hat c8 mich oft gejchmerzt, wenn ich in Ihren 
Schriften fand, woburd Sie fo leicht anderen Schaden zufügen, 
— D maden Sie das gut, weil es noch Zeit iftl Bitten Sie 
um höhern Beiftend, und er wird Ihnen, fo wahr Gott ift, 
werben. — Ich dachte oft, ich könnte nicht ruhig fterben, menu 
ich nicht jo mein Herz gegen ben Freund meiner Jugend ausge 
fchüttet hätte — und, ich denke, ich fchlafe ruhiger darum ein, wenn 
mein Stündlein ſchlägt.“ Schon „Wilhelm Meiſter's Lehrjahre* 
hatten die Frommen gewaltig verlegt, beſonders auch den Kreis 
der Stolberge, fo daß man nicht nöthig hat,’ bei dem Schaben, 
ben Goethe nırgerichtet, an bie für unfittlich außgefchrieenen „Wahl- 
verwandtſchaften“ zu denken. Die im Jahre 1821 erſchienenen 
„Wanberjahre*, melde beſonders wegen ber Aeußerungen über 
Religion der frommen Dame ſehr anftößig geweſen fein würden, 
durften ihr nicht zu Geficht gefommen fein; eben fo. wenig war 
ie wohl befannt geworben, daß damals der Pfarrer Puſtkuchen 
gegen Goethe's unmoraliſche und unchriſtliche Anſchauuugen in 
feinen faljchen Wanderjahren“, mit deren Titel der Moraliſt einen 
frommen Betrug gefpielt hatte, bereit8 Sturm gelaufen war. 





396 


Ste unterläßt nicht, dem Freunde ihre eigene Glaubensſeligkeit 
als Sporn zu gläubiger Belehrung zu ſchildern. „Die Jahre nicht 
uur, fonbern viel früher haben unfägliche Leiden mein Haar jchnee- 
weiß. gebleiht — aber nie wanfte in mir das fefte Berträuen zu 
Gott und die Liebe zu meinem Erlöfer. — Bei allem, was mid, 
traf, tönte es tief und ſtark in meinem Innern: „Der Herr hat 
alles wohl gemacht!" — Der Gott meiner Jugend ift. aud) ber 
Gott meines Alters. — Als wir uns fſchrieben, war ich mir das 
glüclichſte Geihöpf auf Erden. Wie reich war ih! Früh durch 
die beften Eltern — geliebt von den beſten Geſchwiſtern, — ſpäter 
das geliebte Weib des Mannes meines Herzens — Mutter der 
beſten Kinder. — Aber welche Trübſale wurden mir zu Theil! — 
Der einzige von mir geborene Knabe, ein Kind von vier Jahren, 
der die Wonne ber Eltern und der Stolz der Mutter — id) fage 
nicht, daß ich ihn verlor — mas für ihn Gewinn war, ſah mein 
Mutterherz nie für Verluft an — er gewann den Himmel, und 
nur mir warb ter unfäglihe Schmerz zu Theil, und fo konnte ich 
felbft im heißen Schmerz Gott danken. Unb fpäter — verlor ich 
den anmgebeteten Gatten! — O dies war mir ein ganz neuer, 
eigens (?), mit nichts zu vergleichender Schmerz. — Mir blieben 
noch die Geſchwiſter. Ach die herrlichen, die unausſprechlich geliebten 
Brüder! Ein Sturm riß den jüngern hin, und zerſtörte die vorher 
noch jugendvolle Lebenskraft des ältern. — Durch dieſen doppelten, 
ſo ſchnell aufeinander folgenden Verluſt fühlte ich mich wie auf's 
neue verwaiſet. — Aber dennoch pries ich Gott. — Ich finde fie 
ja alle wieder — Eltern, Geſchwiſter, Freunde, Kinder und den 
geliebten Gatten. — So gerne nähme ich auch die Hoffnung mit 
mir hinüber, Sie, lieber Goethe, auch einſt da kennen zu lernen!“ 
Sie bittet ihn, er möge ihr, die er einft als Freundin und Schwe⸗ 
fter begrüßt habe, ihren dringenden Herzenswunſch nicht abfchlagen; 
fie will eifrig beten, daß der Herr ihn mit feiner Gnade erleuchte. 
Doch auch von feinen zeitlichen Berhätniffen möchte fie etwas 
wiffen, und fie theilt ihm von ihrer Geite mit, daß fie meiften® 
ſtill auf dem Lande lebe mit einer breizehnjährigen Enfelin, die 


397 





ihre Liebe und Freude fei. „Ich reihe Ihnen freundſchaftlich meine 
Hand,“ ſchließt fie. „Ihr Andenken ift nie in mir erlofhen, und 
meine Theilnahme für Sie immer lebendig geblieben, meine Wünfche 
für Ihr wahres Heil aud. — Manches betrübte mich oft — Ich 
will, fo lange ich lebe, noch recht für Sie beten. — Möchten Sie 
fi) doch darin noch recht mit mir vereinigen! — Mein Erlöfer ift 
ja auch der Ihrige; es iſt ja.in feinem andern Heil und Seligkeit 
zu finden. Ob Sie wohl noch an mid; dachten? Bitte, ſchreiben 
Sie ein paar Worte!“ " 
Noch ehe fie den Brief abfendet, am 23. Dftober, erinnert 
fie ihn am eine Aeußerung im achtzehnten Briefe: „Schreiben Sie 
- mir wieber einmal von fi, und kuüpfen Sie, wenn Sie mögen, 
ven alten Faden wieber an! es ift ja dies fonft ein weiblich Ge- 
ſchäft,“ indem fie bemerkt, da fei er wieder angefponnen, und ben 
Wunſch hiyzufügt, er möge ſich nun bis in bie Ewigkeit hinein 
fpinnen. " 

» Goethe wußte diefe aus herzlicfter Neigung entiprungene 
ängftliche Beforgniß für fein Seelenheil wohl zu wirbigen, wie fehr 
ex ſich fonft gegen frömmelnde Zudringlichkeit mit Spott und berber 
Abfertigung zu wahren wußte, wie in ben befannten zur Ermie- 
derung beftimmten Berjen „an Frau K. (Krübener?) in C. (Karls- 
ruhe?)“ 8.6, 169. Aehnliches findet man in der Quartausgabe 
im erften Bande am Schluffe der Abtheilung „Religion und Kirche“ 
gefammelt. Bald nad dem Empfange des Briefes erwiederte er: 
„Bon der früheften, im Herzen wohlgefannten, mit Augen nie ger 
ſehenen theuern Freundin endlich wieber einmal Schriftzüge des trau⸗ 
lichſten Andenkens zu erhalten, war mir höchſt erfreulich rührend; und 
doch zaubere ih, umentjchlofen, was zu erwiedern fein möchte." 
Konnte er ja unmöglich Auguſtens Beſchuldigung, daß er ſchädlich 
gewirkt, fein Talent mißbraucht hate, als gegründet anerkennen, 
“aber eben fo wenig wollte er fie verlegen. Deshalb deutet ev an, 
daß aud) ihm ein Ewiges immer vorfchwebe, und er ſich das Zeug- 
niß geben dürfe, mit Bewußtſein dem Höchſten nachgeftrebt zu 
haben. „Pange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehaßte, 





- 398 
gleichgültige Menſchen, Königreihe, Hauptſtädte, ja Wälder und 
Bäume, bie wir jugendlich gefäet und gepflanzt. Wir überleben 
uns felbft, und erfennen durchaus noch dankbar, wenn uns auch 
nur einige Gaben des Leibes und Geiftes übrig bleiben. Alles 
dieſes Vorübergehende laſſen wir uns gefallen; bleibt uns nur das 
Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, fo leiden wir nicht an ber 
vergänglichen Zeit. Redlich Habe ich es mein Lebelang mit ‚mir 
und anderen gemeint, und bei allem irdiſchen Treiben immer aufs 
Höchſte hingeblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch gethan. 
Wirken wir alfo immerfort, fo lang es Tag für uns if; für 
andere wird auch eine Sonne feinen, fle werben ſich an ihr her- 
vorthun und uns indeffen ein helleres Licht erleuchten.” In Betreff 
des Jenſeits fpricht er feine wollfte Beruhigung aus, da er thätig- 
ften und redlichſten Strebens ſich bewußt fei, und zugleich ben 
Wunſch jenfeitiger Bereinigung. „Und fo bleiben toit, wegen ber 
Zukunft unbefümmert! Im unferes Baters Reiche find’ viel Pro- 
vinzen, und ba er uns hier zu Lande ein fo fröhliches Anfieveln 

’ bereitete, jo wird brüben gewiß auch für beide geforgt fein. Biel- 
leicht gelingt alsdann, was uns bis jego abging, uns angeſichtlich 
Tennen zu lernen, und un® befto gründlicher zu lieben." 

Goethe erfannte wohl, wie wenig biefe leife ablehnende freund- 
liche Erklärung ber frommen Dame genügen werbe, welche über- 
zeugt war, daß er, wenn er nicht zum.gläubigen Chriftentfume 
zurückkehre, der ewigen Seligkeit verluftig gehn werde; deshalb 

x Konnte er ſich lange nicht entſchließen, biefe Antivert der Freundin 
zu überfenden. Als er aber im Februar des folgenden Jahres von 
‚einer gefährlichen, ihn dem Tode nahe führenden Krankheit befallen 
und von biefer glüdlich hergeftellt worden, ' aljo dem Tode in’s 
Auge gefhaut hatte, wo fonft häufig haftlofe Freigeifterei ihr Ende 
erreicht, da wollte er nicht Tänger anftehn, feiner geliebten Augufte 
mit biefer, wenn auch unbefriedigenden Antwort ein Zeichen feiner 
freundfiggften Erinnerung zufemmen zu laſſen, weshalb er folgende 

* Bol. Gorthe's Briefwechfel mit Zelten I, 292 f. Jahn „Goethes 
Briefe an Leipziger Freunden S. 957 * 


39 
Nachſchrift am 17. April 1823 hinzufügte: „Worftehendes war bald 
nad) der Ankunft Ihres lieben Briefes gefhrieben; allein ich wagte 
nicht, es wegzufchiden; denn mit einer ähnlichen Aeußerung hatte 
ich ſchon früher Ihren edlen, wadern Bruder wider Wiffen und 
Willen verlegt. ' Nun aber, da ich von einer töbtlichen Krankheit 
in's Reben wieder zurüdfehre, ſoll das Blatt dennoch zu Ihnen, 
unmittelbar zu melven, daß der Allwaltende mir noch gönnt, das 
Schöne Licht feiner Sonne zu ſchauen. Möge der Tag Ihnen gleih- 
falls freundlich erſcheinen, und Sie meiner im Guten und Lieben 
gedenken, wie ich nicht aufhöre, mich jener Zeiten zu erinnern, wo 
das noch vereint wirkte, mas nachher ſich trennte. Möge fih in 
den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zufammenfinben!“ 

Im Jahre 1824 theilte Goethe Edermann feine Fortfegung 
von „Wahrheit und Dichtung“ mit, ein auf Quartblättern ge 
ſchriebenes Heft, Faum won der Stärke eines Fingers, worin bloß 
einiges ausgeführt, das meifte nur in Andeutungen enthalten war. 
Aus den Bemerkungen, welche Edermann damals machte, erſchen 
wir, daß ber erfte Verſuch der Trennung von Lili und bie Reife 
mit den Stolbergen damals noch nicht ausgeführt, dagegen die 
Darftellung des Fortganges des Verhältniſſes bis zur Auflöfung, 
das jeige zwanzigfte Bud) nit Ausſchluß der Einleitung, faft voll- 
endet war.? Im folgenden Jahre wurde, wie die „Chronologie 
der Entftehung Goethe'ſcher Schriften“; befagt, einiges an „Wahrheit 
und Dichtung" geſchrieben, doch bie Arbeit bald ganz bei Seite 
gelegt, da die neue Redaktion der „Wanberjahre” und die neue 
Ausgabe feiner Werke ben Dichter ſehr in Anfpruch nahmen. Nur 
vorübergehenb wurbe bie Vollendung von „Wahrheit und Dichtung“ 
im Jahre 1829 bedacht.“ Im folgenden Fahre erſchienen endlich 


! Bei welcher Gelegenheit: bie geſchehen fei, if nugewiß. Hatte 
vielleicht Stolberg im Jahre 1806 unferm Dichter den erſten Band feines 
Werkes „die Meliglon Jeſu Chriſti“ zugeſchlat, und dieſer fih bamals 
anf eine ſolche Weiſe gegen ihn geäußert? DBgl. oben S. 391. 

2 @dermann’s Gefpräche I, 160 fi. 

Ebendaſelbſt II, 87. 





400 


die vor acht Jahren begonnenen „Annalen,“ in welchen Goethe ſich 
über den Streit zwiſchen Voß und Stolberg alſo vernehmen ließ 
(8. 32, 178 f. der Ausgabe letzter Hand): ' „Näher berühtte mich 
die zwiſchen Voß und Stolberg ausbrechende Mißhelligkeit, nicht 
ſewohl der Ausbruch felhft, als die Einfiht in ein vieljähriges 
Mißverhältnig, das Mügere Menſchen früher ausgeſprochen und 
aufgehoben hätten. ber wer entfchlieft ſich leicht zu einer ſolchen 
Operation? Sind doch Ortsverhältniffe, Familienbezüge, Herfömm- 
lichleiten und Gewohnheiten ſchon abftumpfend genug; fie machen 
in Geſchäften, im Eh- und Hausftande, in gefelligen Verbindungen 
das Unerträgliche ertragbar. Auch hätte das. Unvereinbare von 
Voſſens und Stolberg's Natur, fih früher ausgeſprochen und ent- 
ſchieden, hätte nicht Agnes als Engel das. irbifhe Unweſen ber 
fänftigt und als Graziofo ? eine furchtbar drohende Tragödie mit 
anmuthiger Ironie durch die erften Afte zu mildern geſucht. Kaum 
war fie abgetreten, fo that ſich das Unverföhnlicye hervor, und 
wir haben "daraus zu lernen, daß wir zwar nicht übereilt, doch 
baldmöglichſt aus Berhältniffen treten follen, die einen Mißklang 
in unfer Leben bringen, ober bag wir uns ein- für allemal ent 
ſchließen müflen, venfelben zu dulden und aus anderm Betracht 
mit Weisheit zu übertragen. Eins ift freilich fo ſchwer, als das 
andere; inbefjen ſchicke ſich jeder, fo gut er Fan, in das, was ihm 
begegnet in Gefolg won Ereigniffen oder von Entfehluß P' 

Am Anfange defjelden Jahres befand ſich eine Entelin Lili's, 


! Die Stelle ift jegt ausgefallen, da bie Herausgeber hier den oben 
erwähnten Auffap „Voß und Stolberg" eingefpoben, den fie durch das 
nach deu Worten: „Näher berührte mich die zwifen Voß und Stolberg 
ausbreche nde Mißhelligkeit · eingefügte: welches zu mancherlei Betrachtung 

. Anlaß gab“, einfeiten. 

2 Bol. ©. 32, 286. Wenn es jept in den „Annalen“ (B. 27, 375) 
nach dem frühern Auffage heißt: „Durchaus fpielt fie die Rolle des Engel 
Graziofo in ſolchem Grade lieblich, ſichet und wirffam, daß mir bie Frage 
blieb, ob es nicht einen Galderon, ben Meiſter biefes Baches, in Berwunderung 
gefept hätten, fo if hier offenbar Eugel-Gragiofo als Zufammenfegung 
au fefen. 


401 
die Tochter ihres mit der Gräfin Cäcilie von Waldorf vermäßlten - 
Sohnes Karl, zum Befuche hei einer Tante zu Weimar, welche 
Goethe, den der Tod der Großherzogin Mutter um biefe Zeit tief 
befümmerte, nur einmal gefehen zu ‚haben ſcheint.“ Als -Soret 
am 5. März gegen Gvethe fein Bebauern über bie Abreife biefer 
durch eine fo erhabene Gefinnung und einen fo reifen Geift aus- 
gezeichneten jungen Dame äußerte, bemerkte biefer, wie, fehr es 
ihm leid thue, fie nicht öfters gefehen zu haben, wie er anfänglich 
immer verſchoben habe, fie einzuladen, um ſich ungeftört mit ihr 
zu unterhalten. und die geliebten Züge ihrer Verwandten in ihr 
wieber aufzuſuchen. „Der vierte Band von „Wahrheit und Dich- 
tung,“ wo Gie die jugendliche Glücks- und Leidensgeſchichte meiner 
Xiebe zu Lili erzählt finden werden, ift feit einiger Zeit vollendet“ (?), 
fuhr er fort. „Ich hätte ihm längft früher geſchrieben und heraus- 
gegeben, wenn mich nicht gewiffe zarte Rückſichten gehindert hätten, 
und zwar nicht Rüchſichten gegen mich felber, fondern gegen bie 
damals noch lebende Geliebte. Ich wäre ſtolz gewefen, es ber 
ganzen Welt zu ſagen, mie fehr ich fie geliebt, und ich glaube, fie 
wäre "nicht erröthet, zu geftehr, daß meine. Neigung erwiebert 
wurde. Aber hatte ich das Recht, es öffentlich zu fagen, ohne 
ihre Zuſtimmung? Ich hatte immer die Abſicht, fie darum zu 
bitten, doch zögerte ich damit hin, bis es denn endlich nicht mehr 
nöthig war.“ Auf diefe Bemerkungen, wenn fie anders wirklich in 
dieſer Weife erfolgten, ift gar Fein Werth zu Iegen. Der Zuftim- 
mung von Lili bedurfte er eben fo wenig, als von Frieberife Brion, 
die auch zur Zeit noch lebte, da er beide ja nur mit ihren Bor- 
namen einführte. "Und weshalb Hätte er gezögert, die Erlaubnif 
von Lit zu erhalten, wenn es ihn früher zur Vollendung von 
"Wahrheit. und Dichtung“ getrieben hätte? Ganz andere Arbeiten 
hielten’ ihn hiervon zurüd. Auch wird durch jene Angabe gar nicht 
erflärt, weshalb Goethe nicht gleich nach, dem Tode Lil’s, im 
Jahre 1817, zum Werke gejchritten, noch weshalb er das 1821 
begonnene damals nicht vollendet habe. 
"Bol. Soret in Edermanu's Gefprägen: TIL, 297 ff. 
Dünger, Brauenbilder. 26 





402 
Soret’8 Beichreibung des Tiebenswürdigen jungen Mädchens 
hatte in Goethe alle feine alten Erinnerungen erwedt, jo daß er 
mit leidenſchaftlicher Bewegung fortfuhr: „Ich fehe die reizenbe 

Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir, und es ift mir, als fühlte 

id) wieder den Hauch ihrer beglüdenven Nähe. Sie war in ber 

That die erfte, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ic 

fagen, daß fie bie legte gewefen; denn alle Meinen Neigungen, bie 

mid in ber Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener 

erften verglichen, nur leicht und oberflächlich. Ich bin meinem 

eigentlichen Glüde nie fo nahe gewefen, als in ver Zeit jener Liebe 

zu Lili. Die Hinberniffe, die uns auseinander hielten, waren im’ 

Grunde nicht unlberfteiglid — und doch ging fie mir verloren! 

Meine Neigung zu ihr hatte etwas fo Delifates und etwas jo 

Eigenthümliches, daß es jegt in Darftellung jener ſchmerzlich-glück-⸗ 

lichen Epoche auf meinen Stil Einfluß gehabt hat. ' — In meinen 

Verhältniß zu Lili war das Dämoniſche beſonders wirlſam; e8 gab 

meinem ganzen Leben eine andere Richtung, und ich fage nicht zu 

viel, wenn id) behaupte, daß meine Herkunft nach Weiner und 
mein jetziges Hierſein davon eine unmittelbare Folge war." Es 
läßt ſich nicht verfennen, daß Goethe in biefem bewegten Erguſſe 
feines Gefühls feine fpätern Berhältniffe, beſonders feine wunder- 
volle, fo außerordentlich einflußreiche Beziehung zu Frau von Stein, 
einfeitig berabfegt: allein ift jeve glühenbe Liebe immer einfeitig 
beſchränkt, wie follte e8 eine lebhaft erwachte Erinnerung an eine 
folche weniger fein? 

ö Die erſchütternde Nachricht vom Tode feines Sohnes trieb 
ihn von neuem zu „Wahrheit und Dichtung" zurüd, ba biefe 
Yugenderinnerungen in jenem gewaltigen Schmerze feine füßefte 
Unterhaltung bildeten. Kurz nad) der Herftellung von. ven Folgen 


Aehnlich äußerte Goethe gegen Barupagen von Eufe (Denfwürdig- 
feiten IT, 322), bie Tiefe und Zartheit feines Gefühle für Lili Habe noch 
auf die Schreibart und ben Ton feiner Erzaͤhlung gewirkt, und do habe 
er den leidenſchaftlichen Gehalt diefes Verhältniſſes Feinkswegs ganz and- 
geſprochen. 


403 
des heftigen Blutſturzes, der ifn am 26. November 1830 dem Tode 
nahe brachte, am 10. Dezember ſchreibt er feinem alten, gleich ſchwer 
geprüften Freunde Zelter: „Das Außenbleiben ' meines Sohnes 
drückte mich auf mehr als eine Weife fehr heftig und widerwärtig. 
Der vierte Band meines Lebens Ing über zehn Jahre (7) in Sche- 
maten unb theilweifer Ausführung ruhig aufbewahrt, ohne daß ic, 
gewagt hätte, bie Arbeit wieder vorzunehmen. Nun griff ich fie 
mit Gewalt an, und es gelang fo weit, daß der Band, wie er 
liegt, gebrudt werben Könnte, wenn ic nicht Hoffnung hätte, den 
Inhalt noch reicher und bedeutender, die Behandlung aber noch 
vollendeter barzuftellen. So weit nun bracht' ich's in vierzehn 
Tagen, und es möchte wohl fein Zweifel fein, daß ber unterbrüdte 
Schmerz und eine fo gewaltfame Geiftesanftrengung jene Explofion, 
wozu ſich der Körper disponirt finden mochte, bürfte verurfacht haben.“ 
Nach der Genefung war fein ganzes Streben auf ben enblichen 
Abſchluß von „Fauſt“ ımd „Wahrheit und Dichtung“ gerichtet; es” 
war, als ob er von ber Erde nicht ſcheiden könnte, che er 
die glühenpfte Leivenfchaft feiner Jugend in einem vollendeten 
Bilde der Nachwelt hinterlaſſen. Schon am 27. Februar fanbte 
Goethe Edermann die Handferift zu, um zu prüfen, was bavan 
noch zu thun fein möchte, Diefer fand das ziveite, vierte und 
fünfte Buch bis auf einige Kleinigfeiten ganz vollendet, wogegen 
im dritten noch manches zu thun war, und ihm ſchien, daß ber 
Schluß des erften Buches, welches die artigen Unefooten vom 
euer in der Judengaſſe und vom Shlittfhuhlaufen im Sammet- 
pelz enthielt, früher beſſer ihre Stelle fänden. Diefen Rath be— 
felgte Goethe auch, ohne aber dieſe Anefooten ganz paſſend einz, 
fügen, vielmehr bfieb hier etwas Bruchſtückartiges. Auch darin, 
„daß das Verhältnig mit Lili ſchon im erften Buche eingeleitet, die 





* Euppemififcher Austrud für den Tod, der ihm den Sohn in der 
Tremde geranbt hatte. Vgl. den Brief an Zeiter vom 19. Bebrnar 1831 
oben ©. 205 Note 4. Er war zu Rom in der Nacht vom 25. auf den 
26. Oftober an einem Nervenfhlage verſchieden. Del. Nieolovins in den 
„Offee-Blättern" 1832 Nro. 121 Beilage. 





404 


Bemerkungen über „Hanswurſts Hochzeit“ in das dritte Buch gerückt 
würden, folgte Goethe Etermann; die Theilung des vierten Buches 
in zwei Bücher, fo wie die Aufnahme.ber Damals noch zu biftirenden 
Aeuferungen über den. äußern politifchen Zuftand von 1775, ſo 
wie über den inneen. von Deutſchland, die Bildung des Adels und 
ähnliches in das zweite Buch wurden erft fpäter befchloffen. * Goethe 
fand. e8 fehr beneidenswerth, daß es ihm in feinem hohen Alter 
vergönnt fei, die Geſchichte feiner Jugend zu ſchreiben, und zwar 
eine Epode, bie in mandjer Beziehung eine große Bedeutuug habe. 
Freilich fehlt e8 in biefer Darftellung, wie wir gezeigt haben, nicht 


an manchen Verſchiebungen und Verwechslungen, aber bieje ver ‘- 


mögen nit, der Wahrheit des Gefammtbilves beveutenben Eintrag 
zu thun. Riemer erzählt als Beifpiel, wie Goethe das, was er 
ſich einmal aus ber Seele geſprochen, nicht wieder. mit gleichem 
Antheil ’erfafen mochte (II, 598): „Wie zart, innig und warın 
er auch menige Monate (?) vor ‚feinem. Scheiden das Verhältniß 
zu Lili ſchildert, fo reicht es doch im einzelnen nicht an bie jugend: 
liche Fülle und Glut, womit er e8 mir in weit früherer Zeit auf 
einer Reife barzuftellen und ſich ſowohl als mic um einen Be 
von drei Stunden anmuthigft zu. täuſchen wußte.“ 

Im folgenden Jahre verfchied Goethe zu Weimar, an dem⸗ 
felhen Zuge, an weldem vor fieben Jahren das herzogliche Theater 
abgebrannt und vor.breizehn Jahren fein langverbundener Freund 
Staatsminifter von Voigt ihm vorangegangen war. Drei Jahre 
fräter ging Augufte zum ewigen Frieden ein; fie flarb zu Kiel am 
30. Juni: 1835, nachdem fie noch die Herausgabe des Schluſſes 
von „Wahrheit und Dichtung” (1833) erlebt hatte; daß berfelbe 
ihr. befannt geworben, möchte wohl zu bezweifeln fein, wenn aud) 
diefe edle Dame noch in hohen Alter ſich gern vorlefen ließ. So 
hatten Goethe, Lili und Augufte einzeln ihre Rollen ausgefpielt, 
alle in witrbigfter und ehrenvollfter Weife, wenn auch ihre Bahnen 


GSol. Gdermann.11, 809 ff. und dazu I, 139 ff. 
2 German IT, 330. 


405 

weit auseinander lagen, ja ben entgegengefeßteften Zielpunkten ſich 
zuwandten. Aber während Lili und Augufte bie Zwecke ihres Ein- 
zeldaſeins in reiner Vollendung erreichten und Bei den Ihrigen ſich 
ein fegendreiche® Andenken zurädließen, follte Goethe, zu meitver- 
breiteter Wirffamkeit vom Schidjal auserkoren, bem beutfchen Volke 
der höchſte Vertreter reinſter Menfchlicfeit und wahrfter Natur 
werben, eine leuchtende Sonne, welche ihre belebenden Strahlen 
über Mit- und Nachwelt zu verbreiten und den Ruhm deutſchen 
Namens den Völkern der Erbe zu offenbaren beftimmt war. Daß 
aber eine ſolche Erſcheinung möglich warb, dazu bedurfte e8 eines 
feltenen Zufammentreffens gfüdliher Umftände, durch melde eine 
fo eigenthümliche Entwicklung ſich bilden konnte, an welche man 
den gewöhnlichen Maßſtab menſchlichen Daſeins nicht anlegen darf; 
vielmehr herrſcht in ſeinem ganzen Leben jene wundervoll wirkende 
Macht, die er ſelbſt mit dem Namen des Dämouiſchen zu bezeichnen 
pflegte. Zu jenen die von der Natur ihm beſtimmte Durchbildung 
fördernden Umſtänden aber gehört in ganz beſonderer Weiſe das 
Berhäftniß des Dichters zu Lili und Auguſte, die, wie fie in ihren 
befonderen Kreifen vollften Segen um ſich verbreiteten, fo vom 
reichen Himmel des Goethef—hen Lebens als lieblich holde Sterne 
auf alle Zeiten herabſchauen und bie Blicke der bewundernden Nach- 
welt zu ſich emporziehen werben; denn ein günftiges Schickſal wollte, 
daß es dem Dichter vergönnt war, bie glühende Leivenfchaft zu 
Lili in belebten Zügen zu verewigen, und es erhielt und zugleich 
in feinen Jugenbbriefen an Auguſte das treuefte Abbild jener un 
rubig ſtürmenden freub- und leidvollen Zeit. 





V. 


Ratharina Eliſabeth Goethe, geborene Tertor, Goethe's 
Sutter. | 


Goethe ſelbſt hatte noch in feinem legten Lebensjahre eine 
Berherrlihung feiner Mutter im Sinne, ‚eine -Ariftein berfelben, 
wie er fid) mit Beziehung auf die Ueberfchriften einzelner Rhapſodien 
der „Nias“ ausdrückte,“ "aber die Ausführung einer ſolchen hätte 
ein erneutes Zurückgehen auf feine erften Jugendjahre und die Ber- 
gegenwärtigung eines langen, reichen Lebensganges erforvert, deſſen 
größter Theil ihm nur durch briefliche Mittheilungen der . Mutter 
ober durch unzureichende Berichte anderer befannt war; dazu hielten 
ihn, damals die naturwiſſenſchaftlichen Studien mächtig gefefleft, 
und bie zu einer derartigen, vom rechten Geifte durchglühten Dar- 
ſtellung nöthige Stimmung wollte ſich nicht finden. Am glüdlichften 
wilrde ihm eine ſolche Verherrlihung gleich nad bem Abſcheiden 


* Eine fleißige Sufammenftellung aus den bamals zugänglichen Duellen 
Hat der treffliche Karl Georg Jacob in Raumer's hiſtoriſchem Taſchenbuch 
auf das Jaht 1845 gegeben, die aber feinen Anfprud) auf genauere Untere 
ſuchung macht. Ednard Heyden Hat in feiner „Galerie berühmter und 
merkwürbiger Sranffurter" S. 7 ff. dieſe Arbeit zum größten Theil in 
örtlicher Mebertragung fh zugeeignet. Gin Auffag über Goethe's und 
Schillers Mutter von Löſch im „Album des literariſchen Vereins in Nürnberg“ 
für 1847 verdient eben fo wenig Erwähnung, als der in beinfelben „Album“, 
auch einzeln, erfchienene von Dierz Über Friederike und Lotte, Val. Blätter 
für literariſche Unterhaltung 1850, 228. " 

? Riemer IT, 720. 


. 407 

der Trefflichen gelungen fein, aber, abgefehen von ‚pen damals für 
Weimar fo bewegten Zeiten, fehlte ihm unglädlicher Weife bie 
äußere Veranlaſſung und Form, wie: fie ſich bei der Herzogin 
Mutter und bei Wieland, denen er fg herrliche Ruhmesdenkmäler 
gegrünbet, ganz ungefucht darboten; auch berührte ihn ver Verluſt 
gar zu nah und tief, als daß ber Schmerz ihm damals ein Wort 
der Erinnerung möglich gemacht hätte. Dagegen bildete fi in 
Folge des Topes der Mutter allmählich der Gevanfe bei ihm aus, 
feine eigenen Belenntniſſe zu fchreiben, ' bie ihm aber bei ihrer bie 
mannigfachften Bezüge auf feine Bildung und Entwidlung zufam- 
menfaflenden Darftellung fein vollſtändiges Lebensbild ver Mutter 
geftatteten. Ein ſolches Hätte uns von allen-Lebenden wohl nur 
Bettine von Arnim in fprechender Vollendung zu liefern vermocht; 
aber leiver hat dieſe mit ihrer unmwiberftehlichen dichteriſchen Flut 
alle Ufer der Kunſt überſchwenimende und die wirklichen Geftalten 
in ihrem phantaftifhen Strudel fortreißende Frau es vorgezogen, 
aus der Frau Rath einen poetifchen Typus zu bilben, mit weldem 
ihre loſe umberfliegende Einbilvungskraft nad freiefter Laune, ja 
mit übermüthiger Kecheit umſpringt. Wenn ſchon in „Goethes 
Briefwechfel mit einem Kinde“ das Verhältniß zu ber Frau Rath 
mit allerlei dichteriſchen Blumen und Blüthen aufgepugt ift, und 
die Erzählungen derſelben einen doppelten dichteriſchen Anſtrich, 
einmal von der lebhaften, für den Sohn begeiſterten Frau Rath 
ſelbſt, dann aber von der Wiederſpiegelung in Bettinens Geiſt er- 
halten haben, ſo fühlen wir uns in dem Buche, welches dem König 
gehören fol, worin die Frau Rath (S. 386) von Julius Müller, 
Dahlmann, Ranke und anderen zu ihrer Zeit noch gar nicht be— 
fannten Männern ſpricht, dem Boden ver Wirklichfeit völlig entrüdt. 

Katharina Elifabeth Tertor war die ältefte Tochter bes- da- 
maligen Rathes Dr. Johann Wolfgang Textor und feiner Gattin 


* Der Dichter, von. Riemer ermuntert, feine Konfeffionen zu ſchreiben, 
ſprach den Gedanken, fein Leben darzuſtellen, zuerſt zu Karlebab Furg vor 
dem Zobe ber Mutter, an feinem ſechrigſten Gebnstötage, am 28. Anguft 
1808 aus. Dgl. Riemer I, 611. 


A0B 





Anna Margaretha Lindheimer, einer Tochter des Dr. Kornelins 
Lindheimer, Prokurators des Kammergerichts zu Wetzlar, getauft 
den 19. Februar 1731. Bor ihr, in den Jahren 1728 und 1729, 
hatte die Mutter, welche am 31. Juli 1711 geboren war — der 
Bater war flebzehn Jahre älter — zwei Söhne zur Welt gebracht, 
melde ihre Geburt nur wenige Tage überlebten. Auch ein nad 
ihr geborener Bruder und eine Schwefter ftarben im erften Lebens- 
jahre, dagegen blieben ihr drei Schweftern, Johanna Maria, Anna 
Maria und Anna Chriftina (geboren in den Jahren 1734, 1738 
und 1743), und ein Bruder, Johann Joſt (geboren 1739). Kar 
tharina Eliſabeth war ein Mädchen von weichem und warmen 
Herzen, von lebhaftem und heiterm Sinne, von gläukigem und 
reinem Gemüthe, von kernhaftem, ächt gefundem Weſen, welche Eigen- 
ſchaften fie ſämmtlich auf ihren Sohn vererbte: denn auch in feiner 
Bruft lebte jener glänbige Sinn, der einer höhern Weltordnung 
vertraut, welche die Gefchide der Menfchen und Völker lenke, wie 
fi) dies beſonders in feinen glühenden Jugendbriefen, aber auch 
fpäter zu Zeiten noch immer, oft auf höchſt rührende Weiſe, aus- 
ſpricht, * wenn er auch freilich mit diefen Gefühlen nicht vor der 
Welt prunfte, und feine Anfauungen von ben gewöhnlichen, fo: 
genannten rechtgläubigen Vorftellungen ſich vielfach unterſchieden. 
Der Vater, geboren am 12. Dezember 1693, war der Sohn 
des im Jahre 1716 verftorbenen kurpfälziſchen Hofgerichtsrathes 


! Wir gebenfen hier nur der Aenferung in einem Briefe an Brau 
von Stein vom Jahre 1779 (1. 138 f.): „Was foll ich, vom Herrn fügen 
mit dederſpulen, was für ein Lied von ihm fingen? (Gpethe gebraucht häufig 
den bibliſchen Ausrud: dem Herrn Pfalmen fingen in der Bebeu- 
tung den Herru (oben. Bol. dafelbft 1, 145, oben S. 324 Note‘ 2). 
— Es if mir ſchon nicht möglich mit der Lippe zu fagen, was mir wider 
fahren iſt: wie fol ichs mit dem fpigen Ding hervorbringen? Mit mir 
verfährt Gott wie mit feinen alten Heiligen, und ich weiß nit, woher 
mir’s kommt. Wenn id zum Befefigungsjeichen bitte, daß möge das Bell 
troden fein und bie Tenne naß (Ridter 7, 36 f.), fo is fo,. und nme 
gefehrt auch, und mehr als alles die Übermütterliche eeitung m 
weinen Wänfchen,“ 


409 


und Advolaten Lic. Chriſtoph Heinrich, deſſen einziger,. faft zehn 
Jahre jüngerer Bruder, der Obrift und Stadtkommandant Johann 
Nitolans Tertor, ſich im Jahre 1737 mit ber Wittwe des geive- 
fenen Kapitainlieutenants Matthias Chriftoph von Bardhaufen, ' 
einer geborenen von Mettenberg, vermählte. Der Großvater, ebeu- 
falls Johann Wolfgang genannt, gebören- zu Neuenftein in ber 
Grafſchaft Hohenlohe, war 1690 von Heibelberg, wo er Bicehof⸗ 
richter und Präfes. Bifarius beim‘ kurfürſtlichen Hof» und Ehe 
gericht war, als Konfulent und erfter Syndilus nad Frankfurt 
berufen worden, und bafelbft am 27. Dezemiber 1701 geftorben.? 

Das efterliche Haus von Goethes Mutter lag auf ver Fried- 
berger Gaffe, und ſchien ehemals eine Burg gewejen zu fein. „Wenn 
man herankam,“ alfo erzählt Goethe (B. 20, 40 f.), „Jah man 
nichts, ald ein großes Thor mit Zinnen,. welches zu beiden Seiten 
an zwei Nachbarhäufer flieg. Trat man hinein, fo gelangte man 
durch einen [malen Gang endlich in einen ziemlich breiten Hof, 
unigeben von ungleichen Gebäuben, welde nunmehr alle zu einer 
Bohnung vereinigt, waren." ° Hinter den Gebluben erſtreckte ſich 


"Nicht Backhauſen, wie bei Lappenberg ©. 165 fleht. 

2 Der Bater diefes nach Branffurt berufenen Johann Wolfgang, der 
Oohenlohe ſche Rath uud Kanzleibireftor Wolfgang Textor zu Neueuftein, 
Hatte den von feinem Vater Georg Weber zu Weidersheim, einem Stäbchen 
im Jarttreiſe bei Mergentpeim, ererbten eprlichen dentſchen Namen nach 
der gefchrten Unfitte der Zeit ins Sateinife übertragen, nm ihn bücher. 
und Fatpeberfähig’ zn machen. . 

® Hiernad möchte man glauben, das Hans habe feine auf die Straße 
gebeuden denſter gehabt, doch fol Goethe's Mutter durch ein ſolches „den 
abreifenden Kalfer Karl VII. gefehen haben. Der Bruder der Fran Rath, 
der Schoͤff Dr. Tertor, verfanfte das Haus im Jahre 1783. Als Goethe 
im Auguſt 1797 nach Frankfurt Fam, trat ihm der Raum feines großväter- 
lichen Haufes, Hofes und Gartens als ein fpmbolifdy beveutfamer entgegen. 

„Aus dem befpränkteflen patriarchaliſchen Zuſtaude, in meldem ein alter 
Echultheiß von Sraukfurt Iebte,“ ſchreibt er an Schiller, „wurde er 
durd flug unteruehmende Menſchen zum nühlichtten Waaren- und Martt- 
plat verändert. Die Anftalt ging durch fonderbare Zufälle bei dem Bom— 
barbement zu Grunde, uud if jedt, größtentgeils als Echutthanfen, noch 





410 





in anfehnlicher Länge und Breite ein fehr gut unterhaltener Garten, 
in welchem ber Vater eigenhändig bie fernere Obft- und Blumen- 
zucht beforgte, weshalb er befonder8 bie abendlichen Stunden in 
dieſem frieblichen Raume zu verweilen pflegte. Die Gänge waren 
meift mit Rebgeländer eingefaßt, ein Theil des Gartens ven Küchen- 
gewächſen, der andere den Blumen gewidmet, welche vom Frühjahr 
bis zum Herbſt in reichfter Abwechslung die Beete und Nabatten 
ſchmückten. An der langen, gegen Mittag gerichteten Mauer ber 
fanden fi) an Spalieren mohlgezogene Pfirfihbäume, wogegen an 
der anbern Seite eine unabjehbere Reihe von Yohannis- und 
Stachelbeerſträuchen bie kindiſche Genäfchigkeit anreizte, wie ein 
alter, hoher, weitverbreiteter Maulbeerbaun ven Kindern bedeutend 
und erfreuend erſchien.“ Der Bater, ber 1734. Schöff, 1738 und 
1743 älterer Burgemeifter wurde, war ein fehlichter, ruhiger, 
höchſt befonnener Mann, ber feine Geſchäfte mit ſtreng georbnetem 
Fleiße betrieb; feine ganze Umgebung war- altertpümlid; und ohne 
Spur irgend einer Veränderung. War. er ſchon hierdurch den 
Kindern ein Gegenfland der. Ehrfurcht, vor welchem fie ſich in einer 
gewiffen ſcheuen Entfernung hielten, fo warb er e8 noch mehr buch 
feine Weiffagungsgabe, an bie vor allen Goethe's Mutter den 
fefteften Glauben Hatte. „Dein Großvater,“ erzählt Bettine 
(U, 264 f.), „war ein Träumender und Traumbenter; es ward ihm 
vieles über feine Familie durch Träume offenbar. Einmal fagte 
ex einen großen Brand, dann bie unerwartete Anktınft des Kaiſers 
voraus; ? biefes war zwar nicht beachtet worden, body hatte es ſich 


immer das Doppelte beffen werth, was vor elf (?) Jahren vom ben gegen- 
wärtigen Befigern an die" Meinigen bezahlt worben. Im fofgrn fih nun 
denken läßt, daß das Ganze wieder von einem neuen Unternehmer gekauft 
und hergeftellt werke, fo fehen Sie leicht, daß es in mehr als einem 
Sinne als Symbol vieler taufend andern Fälle in biefer gewerbreichen 
Stabt, befonbers vor meiner Anfepanen, da ſtehn muß.“ Jeht befindet ſich 
sur glängendften Befätigung biefer ſymboliſchen Bedeutſamkeit des Geburts- 
hanfes von Goethes Mutter das Hotel Drerel auf diefem Rlade. 

1 Bel. B. 25, 130. 

? Bei einem Brande in ber Nacht vom 27. auf den 28. Degember 1741 





in ber Stabt verbreitet, und erregte allgemeines Staunen, ba es 
eintraf.“ Zwei anbere Beifpiele biefer feiner Weiſſagungsgabe, 
welche Bettine (I, 265 f.) erwähnt, erzählt Goethe ausführlicher, 
als dieſe (B. 20, 42 f.), worauf er hinzufügt: „Völlig proſaiſch, 
einfach und ohne Spur von Phantaftifchen ober Wunberfamem 
waren auch bie übrigen ber uns befannt gewordenen Träume. 
Ferner erinnere ich mich, daß ich als Knabe unter feinen Büchern 
und Schreiblalendern geftört, und unter anderen auf Gärtnerei be⸗ 
zuglichen Anmerkungen aufgezeichnet gefunden: Heute Nacht kam 
N. N. zu mir und fagte ..... . Name und- Offenbarung waren . 
in Chiffern gerieben. Oder es ftand auf gleiche Weife: Heute 
Nacht fah ih... Das Übrige war wieder in Chiffern bis 
auf bie Verbindungs- und, andere Worte, aus benen fid nichts 
abnehmen ließ. Bemerkenswerth bleibt e8 hierbei, daß Perfonen, 
welche fonft feine Spur von Ahnungsvermögen zeigten, in feiner 
Sphäre fr den Augenblick die Fähigkeit erlangten, baß fie von 
geiviffen gleichzeitigen, obwohl in der Entfernung vorgehenben Krank- 
heits⸗ und Tobesereigniffen durch finnliche Wahrzeichen eine Vor— 
empfindung hatten.“ Goethe deutet hierbei wohl auf die von Bet- 
tine erzählte Geſchichte hin, welche hier einen Plag finden möge, 
da- durch fie der Glaube von Goethe's Mutter an Vorbedeutungen 
und Ähnliche unerflärliche Erſcheinungen bedeutend gefteigert wurbe, 
fo daß fie zu fagen pflegte, wenn man es auch nicht glaube, fo 
folle man es doch nicht läugnen ober verachten, ba das Herz durch 
dergleichen tief gerlihrt werde." 

B „Deine Großmutter," erzählt Bettine (II, 267 b „lam einſt 
nach Mitternacht in die Schlafſtube der Töchter, und blieb da bis 
am Morgen, weil ihr etwas begegnet war, was ſie vor Angſt 
ſich nicht zu ſagen getraute. Am andern Morgen erzählte ſie, daß 


verunglädten acht Perſonen. Bgl. Maria Belli II, 12* Kaiſer Karl VII. 
mußte am 8. Juni 1743 Münden wieder verlaſſen, von wo er fich zuerft 
mach Augsburg, dann nach Franffurt wandte, wo er ganz unvermuthet am. 
3. Juni in aller Frühe eintraf. i 

* Man vergleiche hiergi meine „Studien zu Goethes Werken ©. 21 f. 


- — 


etwas im Zimmer geraſchelt habe wie Papier; in der Meinung, 
das Fenſter ſei offen, und der Wind jage die Papiere von des 
Vaters Schreibpult im auſtoßenden Studierzimmer umher, fei fie 
aufgeſtanden, aber bie Fenſter ſeien geſchloſſen geweſen. Da fie 
wieder im Bett lag, rauſchte es immer näher und näher heran mit 
ängſtlichem Zuſammenknittern ven Papier; endlich feufzte es tief 
‚auf, und noch einmal dicht am ihrem Angefiht, daß es fie falt 
anwehte; barauf ift fie vor Angft zu den Kindern gelaufen. Kurz 
hiernach ließ fi ein Fremder melden; da biefer nun auf bie Haus- 
frau zuging und ein ganz zerfnitterte8 Papier ihr darreichte, wan- 
delte fie eine Ohnmadt an. Ein Fremd von ihr, der in jener 
Nacht feinen herannahenben Tod geſpürt, hatte nach Papier ver- 


langt, um ber Freundin in einer wichtigen Angelegenheit zu ſchreiben; 


aber mod} ehe er fertig war, hatte er, vom Todeslampf ergriffen, 
das Papier gepadt, zerfnittert und damit auf ber Bettdecke hin 
unb. ber gefahren, enlich- zweimal tief aufgefeufzt, unb dann war 
ex verſchieden. Obſchon nun das, was auf dem Papiere gefchrieben 
war, nichts Entſcheidendes befagte, fo konnte ſich die Freundin 
doch vorftellen, was feine legte Bitte gewefen. Dein edler Groß: 
vater nahm ſich einer Heinen Waife jenes Freundes, bie feine 
rechtlichen Anfprüche an fein Erbe hatte, an, ward ihr Bormund, 
legte eine Summe aus eigenen Mitteln für fie an, bie deine Groß- 
mutter mit manchem Heinen Erſparniß mehrte.“ Dürfen wir diefer 
Erzählung in allen Punkten Glauben ſchenlen, fo würben wir 
jenen Freund wohl in Wetzlar, dem Geburtsorte von Goethes 
Großmutter, zu fuchen ‚haben. 

Auf Feines der Kinder und Enkel des Großvaters habe ſich 
jene Weiffagungsgabe fortgeerbt, bemerkt Goethe (B. 20, 44); 
vielmehr feien fie meiftentheils rüſtige Perfonen geweſen, lebensfroh 
und nur aufs Wirkliche geftellt. Dagegen berichtet Bettine (II, 
266): „Diefe Traumgabe ſchien auf die eine Schweſter fortgeerbt 
zu Gaben; denn glei) nad) deines Grofvaterd Tod (1771), da 
man in Berlegenheit war, das Teftament zu finden, träumte ihr, 
es ſei zwiſchen zwei Bretten im Pult des Vaters zu finden, bie 


durch ein geheimes Schloß verbunden waren. Man unterfuchte 
den Pult, und fand alles richtig. Deine Mutter aber hatte das 
Talent nit.“ Die hier gemeinte eine Schwefter dürfte wohl Anna 
Maria geweſen fein, die feit 1756 an ben Prebiger Starck ver- 
heiratet, und ſtillern, ruhigern Sinnes war. * Auch Goethe felbft 
ſchien die Ahnungegabe vom Großvater in gewiſſer Weife ererbt 
zu haben, wie fi dieſe nicht allein.in dem doppelten Geſicht, 
welches er bei Sefenheim fah (vergl. oben ©. 55 f.), fonbern vor 
allem in dem Vorahnen bebeutenber Entſcheidungsmomente fund gab. 

Bon Goethes Großmutter Anna Margaretha Lindheimer, 
welche den Großvater zwölf Jahre überlebte, wiffen wir außer dem 
chen gelegentlich Angeführten nichts mitzutheilen. Ihr Bildniß in 
den „Oebenkblättern an Goethe" (1846) zeigt eine auffallende Achn- 
lichkeit mit dem Enkel, daſſelbe große, bedeutende Auge, venfelben 
ſtrengen Herrſcherblick, diejelbe hohe, mächtige Stirne, wogegen 
das bes Großvaters, mit, etwas abwärts gebogener Nafe und enger 
gefhligten Augen, gar nicht aff den Dichter des „Werther“ und 
„Fauſt“ erinnert. Auch über die Bildung und die Erziehung, welche 
Goethe's Mutter im elterlichen Haufe genoß, fehlen uns alle Nach- 
richten. Ohne Zweifel war dieſelbe eine ächt bürgerliche, ſtreng 
teligiöfe, und in wifenfchaftlicer Hinficht eine Äuferft befchränfte, 
deren große Lüden die Frau Rath erſt nad) ihrer Berheiratung 
einigermaßen ausfüllte. 

Kurz vor der Vollendung ihres eilften Lebensjahres follte 
Goethe's Mutter das Schaufpiel der Krönung des Kurfürften von 
Baiern, Karl Abreht, zum Römiſchen Kaifer Karl VII. (am 
12. Februar 1742) erleben, einer ver glängenbften, die je in 

Dexutſchland gefeiert worben; fie ſah im Paufe ihres. langen und 
veichen Lebens noch vier folgende Kaijertrönungen bis zur legten, 
und zwar alle fünf von dem Meinen Zimmer aus, welches ſich im 


"Bel. B. 20, 45 f. Der jüngften Schwehter, Anua Ghriftina, die 
erft im Jahre 4819, mach mehr als meunjährigem Wittwenftande, (ihr 


Gatte war der Obriſt und Stabtfommanbant Georg Heinrich Kornelins - 


Equler) Mar, thut Goethe fonderbar’genug nirgendiwo Grwähnnng. 


414 





Römer neben ber Uhr befindet.“ Sie ward, fo bald fie Karl 
Albrecht gefehen, zu einer enthufiaftifchen Verehrerin des ſchönen 
und guten, aber unglücklichen Kaifers, wie denn alles Große und 
Maͤchtige von ihr mit höchfter Liebe und Vegeifterung aufgenommen 
ward. Zwei Tage nad) ber mit-allem .Ölanze ausgeftatteten Krö- 
nung fiel die kurfürſtliche Reſidenzſtadt München in die Hände der 
für Maria Therefia ſich erhebenven Ungarn, welche fie freilich am 
29. April räumten, aber am 6. Mai wiebereroberten, weshalb 
ver Raifer in Frankfurt bleiben und dorthin ftatt nad; dem gleich- 
falls in den Händen ber Gegner befindlichen Regensburg die Reiche 
fände am 27. April zufammenberufen mußte. Am 8. Oftober 
ward Münden wiebergewonnen, und nur ein Heiner Bezirk an 
der Inn und die Oberpfalz befanden ſich noch in ben Händen ber 
Teinde, aber der Kaifer wagte noch immer nicht, ſich in feine 
Erblande zurüdzubegeben. Zu derſelben Zeit litt er bedeutend an 
Geldmangel, da bie Reichsſtände ihn fehr unzureichend unterftügten, 
und die für den Noveniber und def Januar verſprochene Hälfe zu 
ſpät kam. Der Vater von Goethes Mutter, der im Jahre 1748, 
als Älterer Bırgemeifter, jeden Abend beim Kaiſer bie Parole in 
Empfang nehmen mußte, hatte fi ‚bald die Liebe deſſelben in 
hohem. Grabe erworben, beſonders auch dadurch, daß er bei ber 
bringenben Gelonoth auf gefcidte Weile für die Beſchaffung ber , 
unentkehrlichen Bebürfniffe forgte. Das Anerbieten des Kaiſers, 
ihn in ben Adelſtand zu erheben, fol ex mit freundlichfter Aner- 
kennung abgelchnt haben. Würde ihm dieſe Erhebung zu Theil, 
bemerkte er dem NKaifer, jo würde fein Bürgerlicher fih um eine 
feiner vier Töchter bewerben, eben fo wenig ein Adeliger, da er 
feine großen Reichthümer mitgeben könne, den neuen Abel ſuchen, 
fo daß feine Töchter unterforgt bleiben würden; feinem Sohne 
werbe Gott auch ohne den Adel forthelfen.? Im März erlebte ver 
Kaifer den Schmerz, zwei Prinzeffinnen, die Pringeffin Thereſia 


Bal. Diaria Bei IX, 97° . 
? Nach der Mittheilnng von Maria Belli V, 180* 


45 


Emanuela Maria und feine zweite Tochter Thereſia Benedilta Maria, 
durch den Tod zu verlieren, von benen bie erftere am 27., 
die andere am 29. März an ven Blattern flarb. Zu ber- 
ſelben Zeit näherte ſich die fogenannte pragmatifche Armee ben 
Main, wodurch der Kaifer beivogen wurde, Frankfurt zu verlaffen 
unb nad) feinen Erblanden zurüdzufehren, welches er am 10. April 
1743 den Reichsſtänden mittheilen ließ. Die Abreife von Frank- 
furt erfolgte am Mittwoch nad) Oftern, am 17. April. ! 

Hören wir nun, auf welche Weiſe Bettine die Frau Rath 
ſelbſt ihre enthufiaftiihe Neigung zu Karl VII. beſchreiben läßt. 
n&h ich (1808) in's Rheingau reiste," fchreibt fie II, 271 ff., 
„tam ich zu Goethe's Mutter, um Abſchied zu nehmen. Sie fagte, 
indem ſich ein Pofthorn auf der Strafe hören ließ, daß ihr diefer 
Ton immer noch das Herz durchſchneide, wie in ihrem fieben- 
zehnten Jahre. ? Damals war Karl VII, mit dem Zunamen der 
Unglüdliche, in Frankfurt; alles war voll Vegeifterung über 
feine große Schönheit. Ant Charfreitag fah fie ihn im langen 
ſchwarzen Mantel zu Fuß mit vielen Herren und fehmarzgefleipeten 
Pagen die Kirchen beſuchen.“ Himmel, was hatte der Mann für 
Augen! wie melancholiſch blidte er unter den geſenkten Yugen- 
wimpern hervor! — Ich verließ ihn nicht, folgte ihm in alle 
Kirchen. Ueberall kniete er auf der legten Bank, unter ven Bettlern, 


Nach der „Hiforifhen Sammlung von Staats-Schriften zur Ere 
länterung der neneften Welt und teutfchen Reiche-Gefihichten, unter Kaiſer 
Katlu dem VIL., (1747) ®. III. 8, in welchem Werke ſich bie genaneften 
Angaben finden. 

2 Reiter unten (II. 278) heißt es, fie fei faum fechzehn Jahre alt 
gewefen. In ver Wirklichfeit war fie damals nur zwölf Jahre und zwei 
Donate, bei der Kaiferfrönnug erſt eilf Jahre alt. So unguerläffig fine 
die chronologiſchen Angaben bei Bettine. 

3 Gharfreitag fiel im Jahre 1742 auf den 23. Mär. An das Jahr 
4743 darf nicht gedacht werden, ba in biefem Gharfreitag am 12. April 
war, fünf Tage vor der Abreiſe des Kaiſers; denn nach der Erzählung 
der Fran Math muß zwiſchen dieſem Gharfreitag und der Abreiſe eine viel 
längere Zeit verfloffen fein. 





416 - 


und legte fein Haupt eine Weile in die Hände; wenn er wie 
der empor fah, war mir's allemal wie ein Donnerſchlag in der 
Bruft. Da ich nad Haufe Fam, fand ich mich nicht mehr in bie 
alte Lebensweiſe; es war, ald ob Bett, Stuhl und Tiſch nicht 
mehr an bem gewohnten Ort ſtänden. Es mar Nacht geworben, 
man’ brachte Licht herein. Ich ging an's Fenfter, und ſah hinaus 
auf die dunkeln Straßen, und wie ih in ver Stube von dem 
Kaiſer ſprechen hörte, zitterte ich, wie Espenlaub. Am Abend in 
meiner Kammer legte ich mich vor meinem. Bett auf die Knie, und 
bielt meinen Kopf im den Hänben, mie er, und es wear nicht 
anders, wie wenn ein großes Thor in meiner Bruft geöffnet wäre. 
Meine Schweſter!, bie ihn enthuſiaſtiſch pries, fuchte jede Ge— 
legenheit, ihm zu fehn; ich ging mit, ohne daß einer ahnete, wie 
tief es mir zu Herzen gehe. Einmal, da der Kaifer vorüberfuhr, 
fprang fie auf einen Pralftein am Wege, und rief ihm .ein lautes 
Bivat zu; er fah heraus und winfte freundlich mit dem Schuupfr 
tuch: fie prahlte ſich fehr, daß der Kaifer ihr fo freundlich gewinkt 
habe;'? ich war aber heimlich überzeugt, daß der Gruß mir gegolten 
habe; denn im Vorüberfahren fah er nod einmal rüdwärts nach 
mir. Ja beinah jeden Tag, wo id; Gelegenheit hatte, ihn zu 
fehn, ereignete fich etwas, was ich mir als ein Zeichen feiner. Gunft 
auslegen Konnte, und am Abend in. meiner Schlaffammer fniete 
ich allemal vor meinem Bett, und bielt den Kopf in meinen Hän- 
den, wie ich von ihm am Charfreitag in ber Kirche gefehen hatte, 
und bann überlegte ih, was mir alle mit ihm begegnet war. 
Und fo baute ſich ein geheimes Liebeseinverftändniß. in meinem 
Herzen auf, von dem mir unmöglich war zu glauben, daß er 
nichts davon ahne; id; glaubte gewiß, er habe meine Wohnung 


! Ihre ältefte Schweſter war bamals nem Jahre alt: Nach der Erzählung 
Bettinens flpeint «8, daß bie Schweſter für älter, als: Goethes Mutter 
aelten fol — eime ber vielen Verwechelungen mb Ungenauigkeiten biefer 
Ergäpfungen. 

2 Dies erwähnt auch Goethe B. 20, 45- mebft anderm von. Bettine 
Uebergangenen. 





417 
erforſcht, da er jegt öfter durch unfere Gaſſe! fuhr, wie fonft, 
und allemal herauffah nad} den Fenftern, und mid) grüßte. O 
wie war ich den vollen Tag fo felig, wo er mir am Morgen einen 
Gruß gefpendet hatte! Da kann ich wohl fagen, daß, ich weinte 
vor Luſt. Wie er einmal offene Tafel hielt, drängte ich mid, 
durch die Wachen, und kam in den Saal ftatt auf bie Galerie. 
Es wurde in die Trompeten geftoßen; bei dem britten Stoß er- 
ſchien er-in ‚einem rothen Sammetmantel, den ihm zwei Kammer 
herren abnahmen; er ging Iangfam mit etwas gebeugtem Haupt. 
Ich war ihm ganz nah, und dachte an nichts, daß ich auf den 
unrechten Pla wäre; feine Gefunbheit wurde von allen anwe- 
fenden großen Herren getrunfen, und bie Trompeten fehmetterten 
brein; da jauchzte ich laut mit; der Kaifer fah mid an, er nahm 
den Becher, um Befcheid zu thun, und nidte mir. Ja da kam 
mir's vor, als hätte er den Becher mir bringen "wollen, und id) 
muß noch heute daran glauben; es würbe mir zu viel Toften, wenn 
ich dieſen Gedanfen, dem id} fo viel Gfüdsthränen geweihi habe, auf⸗ 
geben müßte. Warum ſollte er auch nicht? ex mußte ja wohl vie 
große Begeiſterung in meinen Augen leſen. Damals im Saal, 
bei dem Geſchmetter der Pauken und Trompeten, die den Trunk, 
womit er ben Furſten Beſcheid that, begleiteten, warb ich ganz 
elend und Betäubt; fo ſehr nahm id; mir biefe eingebilvete Ehre 
zu Herzen. Meine Schwefter hatte Mühe, mich hinauszubringen 
am bie frifche Luft; fie ſchmälte mit mir, daß fie wegen meiner 
des Vergnügens verluftig war, ben Kaiſer ſpeiſen zu jehn; fie 
wollte auch, nachdem ih am Röhrbrunnen Wafler getrunfen, ver- 
fuchen wieder hineinzufonmen. Aber eine geheime "Stimme fagte 
mir, daß ih an dem, was mir heute beſchert geworben, mir folle 
genügen laſſen, und ging nicht wieder mit; ich ſuchte meine einfame 
Schlafkammer auf und feste mich auf den Stuhl am Bett, und 


! Die Friedberger Gaffe, feitwärts von der Zeil, führt nach tem 
Friedberger Thore. 
2 Man vergleiche hierzu die Erzählung im „Egmont“, wie Klärchen 
den vom Bolfe verehrten Helden fennen lernte (B. 8, 157 ff.). 
Dünger, rauenbilter. 1 27 








418 
weinte dem Kaiſer ſchmerzlich ſüße Thränen ver heißeften Liebe, 
Am andern Tag reiste er ab. Ich lag frühmorgens um vier Uhr 
in meinem Bett, der Tag fing eben an zu grauen; es war am 
17, April.‘ Da hörte ich fünf Poſthörner blafen; das war er: 
id) fprang aus dem Bett; vor übergroßer Eile fiel ich in die Mitte 
der Stube, und that mir weh; id) achtete es nicht, und fprang 
an's Fenfter; in dem Augenblid fuhr der Kaifer vorbei; er fah 
ſchon nad; meinem Fenfter, noch eh’ ich es aufgeriffen hatte; er 
warf mir Kußhände zu, und winfte mir mit dem Schnupftuch, 
bis er die Gaſſe hinaus war.? Bon ber Zeit an hab’ id} fein Poft- 
horn blafen hören, ohne dieſes Abſchieds zu gebenfen. — Bei dem 
Tall, ven id) damals vor Übergroßer Eile that, hatte ich mir das 
Knie verwundet: an einem großen Brettnagel, der etwas hoch 
aus ben Dielen bervorftand, hatte ich mir eine tiefe Wunde über 
dem rechten Knie geſchlagen; ber ſcharfgeſchlagene Kopf des Nagels 
bildete die Narbe als einen fehr feinen, regelmäßigen Stern.“ 
Nicht Tange Tonnte ſich der unglückliche Kaiſer feiner Reſidenz⸗ 
ſtadt erfreuen. Die Oeſtreicher fielen bald in Baiern ein, und 
nöthigten ihn, am 8. Juni 1743 von Münden nach Augsburg zu 
gehn. Bon den Sranzofen, verlaffen, beſchloß er, für feine Truppen 
die Neutralität zu ergreifen; et ſelbſt wandte ſich nach Frankfurt, 
wo er am 28, Juni zu allgemeiner Verwunderung eintraf. Am 
22. Mai 1744 warb zu Frankfurt die von diefer Stadt benannte 
fegenannte Union zwiſchen dem Kaifer, dem Könige von Preußen, 
dent Kurfürften won dev Pfalz und dem Könige von Schweden, 
als Landgrafen von Heffen-Kaffel, geſchloſſen. Eine mittelbare 
Bei ber vielfachen fonftigen. Verfchiebung der Zeitfolge If es be— 
merfenswerth> daß biefer Tag ſich fo lebhaft der Seele des jungen Mäd— 
chens eingebrüdft Hatte, daß fie denfelben fo beftimmt und richtig auf Monat 
uud Tag anzugeben wußte. 
2 Meun hier bie lebhaft erregte Einbiloungstraft ber Frau Rath nicht 


„ Äber bie Grengen der Mirklichfeit dinausſchweift, fo würden wir annehmen 


müflen, daß der Kaiſer in Erfahrung gebracht, jenes bei ber offenen Tafel 
ihm euthuſtaſtiſch sujubelnde Mädchen fei die Tochter des von ihm fo fehr 
gefthäpten Vurgemeifters Tertor. 


419 

Solge dieſes Bünbniffes mar bie Wiebereroberung eines Theiles 
von Oberbaiern und ber Hauptſtadt Münden, in welche ber Kaiſer 
am 23. Oftober 1744 wieber einzog. Aber bald wendete ſich das 
Glüd gegen ihn, fo daß ber Kaifer, ber mit Recht fagen burfte, 
das Unglüd werbe ihm nicht eher verlaſſen, als bis er felbft jenes 
verlaffe, feine Hauptftabt von neuem zu verlaffen gezwungen worden 
wäre, hätte ihn nicht ein raſcher Tod am 20. Januar allen irdiſchen 
Wechſelfällen entrüdt. 

Auffallend ift es, wie die Frau Rath nach Bettinens Bericht 
jenes zweiten mehr als fünfzehnmonatlichen Aufenthaltes des Kaiſers 
zu Frankfurt ſich gar nicht erinnert, fonbern ben Tod beffelsen 
kurz nad) feiner erften Abreife von Frankfurt erfolgen läßt. Sie 
erzählt nämlich (U, 276 f.), daß fie jene Narbe über dem rechten 
Knie währen der vier Wochen, in benen bald darauf ber Tob 
des Kaiſers mit allen Gloden jeden Nachmittag eine ganze Stunde 
eingeläutet worden, * oft angefehen habe. „Ach, was hab’ ich ba 
für fchmerzliche Stunden gehabt, wenn ber Dom anfing zu läuten 
mit der großen Glode! Es lamen erft fo einzelne mächtige 
Schläge, als wanke er. troftlo8 hin und her. Nach und nad) Hang 
das Geläut ver Heinern Gloden und ber fernern Kirchen mit; es 
war, als ob alle über den Trauerfall feufzten und weinten, und 
die Luft war fo ſchauerlich. Es war gleich bei Sonnenunter- 
gang, da hörte es wieder auf zu läuten, eine Glocke nad) ver an- 
dern ſchwieg, bis der Dom, fo wie er angefangen hatte zu Hagen, 
auch die allerlegten Töne in bie Nachtdämmerung feufzte. Damals 
war bie Narbe über meinem Snie noch ganz friſch (?!); ich betrachtete 
fie jeven Tag, und erinnerte mid) dabei an alles." 

Im diefer erften enthuſiaſtiſchen Neigung des anwachſenden 
Mädcheus ſpricht fich die ganze Iebhafte Vegeifterung für alles Große 
und Hohe aus, welche einen hervorſtechenden Charakterzug der Frau 
Rath bildet; war es ja biefelbe Begeifterung, mit welder fie 

I Das Einläuten geſchah wohl damals, wie im Jahre 1790, Mor- 
gens von eilf bis zwölf und Nachmittags von fünf bis ſechs Upr. Man ver- 
gleiche Briefe von Goethe und deffen Mutter an Friedrich von Stein &. 108. 





420 
Napoleon’s gigantifche Größe und den Dichtergenius ihres eigenen 
Sohnes anerfannte: Das unglückliche Ende des geliebten Kaiſers 
mußte einen tiefen "Ernft über ihre fonft fo heiter geftimmte Seele 
verbreiten, einen Schmerz, deſſen Wellen noch lange in ihr nad- 
gezittert haben werben; war es ja ber erfte gewaltige Verluſt, den 
ihr Herz erlitt. 

Am 13. September deffelben Jahres, an deſſen Anfang der - 
gute, aber unglüdliche Kaifer feine Augen gefchloffen hatte, warb 
Franz I. zum Römiſchen Kaifer erwählt. Am 23. wurde er von 
den Abgeoroneten der Stadt, unter denen ſich auch der Vater der 
Frau Rath befand, unter benfelben Feierlichkeiten, wie fein Bor- 
gänger, auf der Bornheimer Heide empfangen. Hatte bei ben 
Einzuge und der Krönung Karl’s VII. die Schönheit und das aus 
ven holdſtrahlenden Augen blickende Wohlwollen des neuen Kaifers 
diefem alle Herzen zugewandt, fo gewann die Feierlichkeit jet durch 
die rührende Liebe des faiferlichen Paares einen eigenthümlichen 

” Reiz. Im ber. Stabt hatte fi bereit das Gericht verbreitet, der 
Raifer habe feine Gemahlin, welche, obgleich in gefegneten Umſtänden, 
der Krönung beimohnen wollte, am 21. September auf der Main: 
fahrt bei dem Dorfe Urphar mit feiner Gegenwart überrafcht. 

‘ Sie waren darauf, hoch erfreut über ihr Wieberfehen,. zufammen 
bis Aſchaffenburg gefahren, wo fie zwei Tage verweilten.' Die 
folgende Nacht brachten fie in Philippsruh bei Hanau zu, von wo 

der Kaifer fi am folgenden. Morgen. nad; Fechenheim und von da 

zur Bornheimer Heide begab. Marin Thereſia aber fuhr zum 
Bocenheimer Thor herein, und bezog ben Gafthof „zum Römiſchen 
Kaiſer“, von beffen Balton fie den Einzug ftehend anfah; als ihr 
Gemahl Fam, ließ fie es an Händeklatſchen, Vivatruf und Winfen 

nicht fehlen, worüber das ſtets gutmüthige Volk in begeifterten 

Jubel ausbrach. Den 4. Oftober fand die Krönung. fatt, bei 


* Man vergleiche Hierzu und zum folgenten Maria Belli III, 36 ff. 
Nach dem Mitgetheilten iR die Darftellung von Goethe ®. 20, 233 zu 
berichtigen. 


421 


welder ver Bater der Frau Rath mebft neuit anderen Abgeorb- 
“ neten den Thronhimmel beim Ritte zur Krönung über dem Kaiſer 
teng. ' Nach der Krönung begab ſich Maria Therefin, welche dieſer 
auf einer im Dom eigens errichteten Eftrabe beigewohnt hatte, nach 
dem Haufe Limpurg,? von wo fie aus einem Fenfter der Ankunft 
des aus ber Kirche zurldfehrenben Zuges entgegenfah. Als num 
ihr Gemahl, erzählt Goethe (8.20, 241), in der feltfamen mittel-. 
‚alterlichen Verkleidung herangekommen und ſich ihr gleichſam als 
ein Gefpenft Karl's des Großen bargeftellt, Babe er wie zum Scherz 
beide Hände erhoben und ihr ven Reichsapfel, den Zepter und die 
wunberfamen Handſchuhe hingewiefen, worüber Maria Therefia in 
ein unendliches Lachen ausgebrochen, was allen Zuſchauern, als 
Beweis des guten und natürlichen Verhältniſſes des kaiſerlichen Ehe- 
paares, zur größten Freude und Erbauung gereicht. Als aber bie 
Raiferin zur Begrüßung ihres Gemahls das Schmupftuch geſchwungen, 
und ihm ein lautes Vivat zugerufen, fei der Jubel des Volles aufs 
höchſte geftiegen. Dagegen übergeht Goethe, daß. der Kaifer,. ale 
er anf den Alten des Römers getreten, die Gattin mit einem 
freundlichen Kopfniden begrüßte, was einen erneuerten, wo möglich, 
noch gefteigerten Enthuſiasmus hervorrief. Am 15. Oftober wurde 
der Namenstag der Kaiferin durch eine glänzende Beleuchtung der 
Stadt gefeiert, welche das faiferlihe Paar am folgenden Morgen 
verließ. Die Kaiferin verehrte den Schöffen Tertor eine gewichtige 
golvene Fette mit ihrem Bildniß. . 

Wie anziehend diefe an Glanz der Krönung Karls VII. nach- 
ftehende Feier au in mancher Betracht fir das fünfzehnjährige 
Mädchen fein mochte, beſonders wegen des ſchönen Einvernehmens 
zwiſchen beiden Gatten, fo fühlte fie fi doch keineswegs zu dem 
Kaiferlichen Paare mit folcher verehrenden Begeifterung hingezogen, 
wie zu dem noch immer betrauerten, durch Schöuheit und Kiebens- 


Bal. 8. 20, 51. Maria Belli II, 57 f. 

2 @gl. B. 20, 178. 22, 328. Goethe nennt irrig (B. 20, 241) das 
Hans Brauenftein, welches links von Römer liegt, wie das‘ Hans Limpurg 
sur Rechten beifelben. 








422 

mürbigfeit ausgezeichneten Kaifer Karl VIL., um welchen fein ihn 
ſtets verfolgendes Unglüd einen eigenthümlichen Strahlenglauz ge⸗ 
woben hatte. Freilich wird diefer ganzen Srönung von Franz I. 
in den uns vorliegenden Mittheilungen über bie Frau Rath nir- 
gendwo erwähnt, abet wir bilrfen dieſe Lücke mohl nach dem allge- 
meinen Bilde ausfüllen, welches wir und von dem Charakter dieſer 
gemüthlichen Frau zu machen berechtigt find. 

Ein fir die ganze Familie, befonders auch für Goethes. - 
Mutter fehr folgereiche® Ereignig war die Wahl des Schöffen 
Tertor zur höchſten Würde des Freiftaates Frankfurt am 10. Auguft 
1747. Tags vorher war ber Stabt- und Gerichtsſchultheiß Jo—⸗ 
hann Chriftoph von Ochfenftein mit Tod abgegangen, an deſſen 
Stelle gleich am folgenden Morgen Tertor trat. „AL der Schult- 

heiß geftorben war,“ erzählt Bettine (IT, 265 f.), „wurde noch in 
fpäter Nacht durch den Rathsdiener auf den andern Morgen eine 

- außerorbentliche Rathöverfanmlung angezeigt. Das Licht in feiner 
Laterne war abgebrannt. Da vief der Großvater aus feinem Bette: 
„Gebt ihm ein neues Licht! denn der Mann hat ja doch die Mühe 
bloß für ini.“ ' Kein Menſch hatte diefe Worte beachtet, er felbft 
äußerte am andern Morgen nichts, und ſchien es vergeffen zu 


! Zur Verleihung geben wir hier die Erzählung Goethe's (B. 20, 43), 
welche einen neuen Zug bietet, dagegen alles auf feine Mutter Begügliche 
wegläßt, weil es hier nicht an der Gtelle war. „Etwas Apnlies begege 
nete, als der Schultheiß mit Tode abging. Man zandert in ſolchem Balle 
nicht fange mit Befegung diefer Stelle, weil man immer zu fürchten hat, 
der Kaifer werde fein altes Recht, einen Schultheißen zu beſtellen, irgend 
einmal wieder hervorrufen. Diesmal warb nm Mitternacht eine anferorbeut- 
liche Sibung auf den andern Morgen durch den Gerichtebolen angefagt. Weil 
diefem num das Richt in ber Laterne verlöf—hen wollte, fo erbat er ſich ein 
Stümpfgen, um feinen Weg weiter fortfegen zu Fönnen, „Gebt ihm ein 
ganzes!" fagte der Großvater zu den Frauen; „er hat ja doch die Mühe 
um meinetwillen.“ Diefer Aeuderung entfprad auch ber Erfolg: er wurde 
wirktih Schultheiß, wobei der Umftaud noch beſonders merfwärbig war, 
daß, obgleich fein Repräfentant bei der Kugelung an ber dritten und lehten 
Stelle zu ziehen hatte, die zwei filbernen Kugeln zuerft herausfamen, und 
alfo die goldene für ihn auf dem Grunde des Bentels liegen blieb.“ 


423 
haben. Seine ältefte Tochter, beine Mutter, hatte ſich's gemerkt, 
und hatte einen feften Glauben dran. Wie nun ber Vater in’s 
Rathhaus gegangen war, ftedte fie ſich, nad} ihrer eigenen Ausfage, 
in einen ummenfchlihen Staat, und frifirte ſich bis an ven Him- 
mel. In diefer Pracht fegte fie fh mit einem Buch in ber 
Hand im Lehnfefiel an’s Fenſter. Mutter und Schweftern ' glaubten, 
die Schwefter Prinzeß — fo wurde fie wegen ihrem Abſcheu vor 
häuslicher Arbeit und Liebe zur Kleiverpracht und Lefen genannt — 
— fei närrifch; fie aber verficherte ihnen, fie würhen bald hinter 
die Bettvorhänge friechen, wenn die Rathsherren kommen wirben, 
ihnen wegen bein Vater, ber heute zum Syndikus (?) erwählt 
werde, zu gratuliren. Da nun die Schweftern fie noch wegen ihrer 
Leichtgläubigfeit verlachten, fah fte vom hohen Sig am Fenſter 
den Vater im ſtattlichen Gefolge vieler Rathsherren baherfommen. 
Verſteckt euch!“ rief fie. „Dort kommt er, und alle Rathsherren 
mit!" Keine wollt’ es glauben, bis eine nad) der andern ben un- 
frifieten Kopf zum Fenſter hinausſtreckte, und die feierliche Pro- 
zeſſion daher ſchreiten fah. Liefen alle davon und ließen die Prinzeß 
allein im Zimmer, im fie zu empfangen.“ Diefe nicht gerade 
. wunberbare Geſchichte deutet eher auf ben Glauben bes jungen 
Mädchens an bie Weiffagungsgabe des Viterz, als daß fie file 
dieſe ſelbſt beweiſend wäre. 

Wahrſcheinlich hatte ſich ſchon um Dice Zeit ber Taiferliche 
wirkliche Rath Johann Kaspar Goethe um bie Hand der flebzehn- 
jährigen ätteften Tochter des Schöffen Tertor beworben, ba eine folche 
Bewerbung gleich nach der Erhebung zur Schuftheißenwürde gar zu 
auffallend gewejen fein würde. Johann Kaspar Goethe war ber 
Sohn des aus Artern in Thüringen ſtammenden Schneibergefellen 
Friedrich Georg Goethe, welder Sohn eines Hufſchmiedes war, 
und am 18. April 1687 die Tochter des Schneidermeifters Lutz 


t Wir müfen daran erinnern, daß von Ihren drei Schweſtern die eine 
im viergehnten, bie andere im eilften, bie jüngfte erſt im vierten "Jahre 
Rand, fo daß hier nur die heitere Sohanna Maria in Betracht Fommen 
Tann. Auffallend ift die Nichterwähuung der Mutter der Frau Rath. 





424 


zu Frankfurt heiratete. Nach dem 1700 exfolgten Tode der Gattin 
verband fi der gemanbte Schneidermeifter im Jahre 1705 mit 
der wohlhabenden Wittme des Befigers. des Gafthaufes „zum Weir 
denhofe“, Kornelia Schellhorn. Aus diefer Ehe gingen zwei Söhne 
hervor, der bereits im Jahre 1733 verftorbene Johann Michael 
und unfer Ende Zuli 1710 geborener Johanu Kaspar Goethe. 
Letzterer hatte, nachdem er das vortreffliche Koburger Gymnafium 
abgemadht, ſich in Leipzig der Rechtswiſſenſchaft beflifjen, und darauf 
zu Gießen promovirt. Nach Beendigung feiner Stubien.war er 
über Wien nach Italien gereist, von wo er durch Frankreich und 
Holland nach Frankfurt zurädgefehrt war. ' Mit Italien war es 
ihm, wie fo vielen nüchternen Köpfen und ungeſchickten Reifenben 
ergangen, daß er, während er ſich dort befand, und gleich nach 
der Rückehr die Reife nicht der Mühe mwerth hielt, aber fpäter 
wirkten die bert gewonnenen Anſchauungen fo überaus mächtig in 
ihin, daß jede Erinnerung daran ihn in eine ungewöhnliche Wärme 
und Heiterfeit verfeßte.. So ſchreibt er aus Venedig: „Was ich 
feoh bin, wieber in Venedig zu fein, ift unglaublich, weilen mid) 
der Weg nad) Rom und Napoli zwar viel Geld, aber noch zehnmal 
mehr Verdruß gefoftet. Und ich wundere mich, da es doch allen 
Keifenden gleich wie mir ergangen und noch ergehet, daß man 
denen Staliänern ihre alten Mauern, worauf fie fid- fo viel ein» 
bilven, nicht läſſet, und vaflc Frankreich, England, Holland und 
Niederſachſen beſuchet. — Niemand darf glauben, als ob die Anti- 
quitäten alleine die fremden fo häufig nah Italien lockten; es 
fommt die Bildhauer, Malerkunft und Mufit, anigo aber die 

* gl. B. 20, 34. 84. Zwei Briefe von diefer Reife an einen Sekretär 
in Oräg, wo Goethes Vater fih längere Zeit aufhielt, gibt Wagner in 
der Sammlung der Merciſchen Briefe IL, 1 f. III, 1 f. Val. Edermanu's 
Geſpraͤche IL, 328 f. Der erfle jener Briefe if auf der Hinreife, ans 
Palmada, den 20. Januar 1740, der andere auf der Rüdreife, in Venedig, 
gefprieben. Dan vergleiche auch die rüprenden Erinnerungen Goethe's au 
feinen Bater währen» feiner italiänifchen Reiſe B. 23, 76. 228. Daß 
der alte Goethe auch in Weplar einige Zeit geweſen, wohin er auch deu 
Sohn ſchickte, beweifen die Merd’fpen Briefe LU, 170, 


425 


. 


hochgeſtiegene moſaiſche Arbeit, die prächtigen Kirchen, wortrefflichen 
Kabinette noch dazu, weil alles in folder Vollklommenheit alkhier 
angetroffen wird, bag man an anberen Orten nichts dergleichen 
mehr finden möchte, es müßte denn nur in einzeln Stüden beftehn. 
Doch auch dieſes alles beſteht in einer bloßen Liebhaberei, und 
trägt weder zur Glüdfeligleit des menſchlichen Lebens, noch zu einem 
reellen Endzwed, der ſchon unter dem erften mitbegriffen, "etwas 
bej. — Genan geſagt ift es, daß man in ganz Europa für fein 
Geld nicht unbequemer und verdrießlicher veifet, als in bejagtem 
Halien.. Man bringt. nichts mehr mit nad) Haufe als einen Kopf 
voller Kuriofitäten, für welde man insgeſammt, wenn man fie in 
feiner Baterftabt auf ven Markt tragen follte, nicht zwei baare Heller 
befäme.“ Aber in fpäterer Zeit war bie Erinnerung an Italien, 
befonder8 an Neapel, ihm fo lieb und werth, daß, wenn er 
davon feinen Kinbern erzählte, fein fonftiger Ernſt und feine Tröden- 
heit ſich jeberzeit aufzulöfen und zu beleben fchienen, und ex be 
hauptete, daß man, wenn man aus Italien Tomme, fih an nichts 
mehr ergögen könne. Nach feiner Rückkehr hatte Goethe's Bater 
fih um eines ber fubalteruen Aemter beworben, doch verlangte er, 
daß man es ihm ohne Ballotage übertrage, wogegen er es ohne 
alle Emolumente übernehmen wolle. Da man ihm aber eine ſolche 
wider Gefeg und Herfommen verftoßende Auszeichnung, bie er per» 
ſönlich wohl zu verdienen glanbte, ' nicht gewähren wollte, ver- 
ſchwur er, jemals irgend eine Stelle anzunehmen, und um, dies 
ſich felhft unmöglich zu machen, ließ er fi von Karl VII. ven 
Titel eines wirflichen kaiſerlichen Rathes beifegen, welchen ber Kaiſer 
auch dem Schuftheißen und ben älteften Schöffen zu ertheilen pflegte. 
Wenn aber Goethe ‚hinzufügt (B. 20, 85), derſelbe Beweggrund 
habe ihn auch dazu geführt, um die ältefte Tochter des Schult- 
heißen zu werben, woburd er aud von Diefer Seite von bem“ 
Rathe ausgefchloffen worben, fo bemerfen wir, daß er benfelben 
Zweck erreichte, . wenn ber Schwiegervater nur Schöffe war, wie 

! Später warb eine folde 3. ©. Schloffer zu Tpeil, der nach dem 
Tode feines Brube® als Syndikus berufen wurde. 








426 , \ 


wir oben annahmen, baß es zur Zeit ber Bewerbung wirklich ber 
Fall · geweſen.“ Auch wäre es höchſt ſonderbar, wenn biefer Zweck, 
den er ſchon durch den kaiſerlichen Titel vollſtändiger erreicht hatte, 
ihn bei der Wahl feiner. Lebensgefährtin beſtimmt hätte, vielmehr 
ſcheint es, daß er durch dieſe Berbindung mit einer angefehenen Fa⸗ 
milie feiner eigenen. Abhunft einen gewiflen Glanz habe zulegen 
wollen, und bie reizende fiebzehnjährige Tochter. des edlen Schöffen 
Tertor mag ihm durch ihre natürlichen Reize in bie e Augen ge 
ſtochen haben. r 

Diefe aber, bisher nur an höchſte Verehrung und unbebingte 
Folgſamleit gegen ihren Bater gewöhnt, in ſtiller Beſchränkung 
auferzogen und im frommen -Glauben einer glüdlichen Weltbeftim- 
mung von oben, nahm bie Bewerbung bes fiebenunbbreigigjährigen 
höchſt adjtbaren, in glüdfichen Verhältniſſen ftehenden, auch äußer- 
lich nicht vernachläſſigten, wenn gleich trockenen und nüchternen 
Mannes, freundlich auf, der für ſie an die Stelle des gleichfalls 
ernſten, in ſeinen Geſchäften pedantiſch ſtrengen Vaters treten 
ſollte. Daß fie feine eigentliche Neigung zu ihm gehegt, gefteht 
fie ſelbſt (bei Bettine H, 279). Ihre Neigungen waren von höhe- 
rer Art, da nur das wahrhaft Große ihr Herz entzünden und zu 
lebhafteſter Begeiſterung hinreißen konnte. So war es deun nicht 
ſowohl ſinnliches ober geiſtiges Gefallen, welches fie dem ſtatt- 
lichen Freier zuführte, als ſein achtbarer Charalter und der Wunſch 
des Vaters. 

Unſer Johann Kaspar Goethe, der nicht umſonſt ſo viele 
Kenntniſſe durch beharrlichen Fleiß ſich erworben haben wollte, 
wandte feine Lehrhaftigfeit zunaͤchſt ſeiner jungen, ihres äußern 
Reizes und Einblichen Weſens wegen geliebten Gattin zu, welche 
er, da ihre Ausbildung nicht befonders weit gediehen war, zum 
fleißigen Schreiben, wie zum Klavierſpielen und Singen anhielt, 
und ihr in Bezug auf legtereg einige Kenntniß im ber italiänifchen 

B. 25, 129 f.: „Mein Oheim Schöff Tertor war geftorben, defſen 
nahe Verwandtſchaft mich von der ehtenhaft mirffamen Stelle eines Franke 
furter Ratheherrn bei feinen Lebzeiten ausfchloß." WgP B. 22, 261. 





\ 427 
Sprache beibrachte (B. 20, 11). Da er dem gamzen Tag ohne 
Geſchäfte war, fo mag biefe Lehrhaftigfeit der jungen Frau nicht 
felten läſtig gefallen jein, und aud bie Erzählungen von feinen 
rReiſen, die fie im ganzen, wie im einzelnen oft genug aushalten 
mußte, verloren bei ber nüchternen Weife, die fi, auch hier nicht 
ganz verläugnen konnte, Bald ihre Anziehungskraft. Näher dürfte 
fie fi an ihre Schwiegermutter angeſchloſſen haben, bei welcher 
der Sohn im Haufe wohnte, und bie im Anfange den Haushalt 

führte; fie ſcheint gutmütfiger und theilnehmenver Natur gewefen 
zu fein. 

Aber ein glänzender Stern ging der Frau Rath in biefen 
wenig reizenben Berhältniffen auf, als fie am 28. Auguft 1749 
ihren Erftgeborenen ber Welt ſchenkte. „Sie war damals achtzehn 
Jahr alt,“ * erzählt Bettine (IT, 41), undein Fahr verheiratet? 
‚Hier bemerkte fie (Goethes Mutter), du milrbeft wohl ewig jung 
bleiben, und bein’ Herz würde nie veralten,. da bu bie Jugend ber 
Mutter mit in den Kauf habeſt. Drei Tage bebachteft du dich, 
eh’ du an's Weltlicht kamſt, und machteft der Mutter ſchwere 
Stunden. Aus Zorn, dafs dich die Noth ans dem eingeborenen. 
Wohnort trieb und durch die Mißhandlung der Amme kamſt du 
ganz ſchwarz und ohne Lebenszeichen. Sie legten dich in einen 
fogenannten Fleifharben,? und bäheten dir Die Herzgrube mit Wein, 
ganz an beinem Leben verzweifelnd. Deine Großmutter ftand hinter 
dem Bett. Als du zuerfi die Augen aufſchlugſt, rief fie hervor: 
Räthin, er lebt! Da erwachte mein mltterlihes Herz, und 
lebte ſeitdem in fortwährender Begeiſterung bis zu biefer Stunbe! 
ſagte fie mir in ihrem fünfunbfiebzigften Jahre.“ Hatte fie im 
Vertrauen, baß ber Himmel die Verbindung mit dem ernften, 


Irrig iſt es, wenn Beltine vorher (IT, 237) fagt, fie Habe ihren 
Wolfgang im fiebgehnten Jahre geboren. Auch Balt „Goethe aus näherm 
perfönlihem Umgange dargeftellt“ ©. 4 irtt. 

2 Die Vermaͤhlung ward am 20. Yuguft 4248 volljogen. 
® Brovinzialiomus für Fleiſchnarden, dieiſchmulde. Marto ber 
zeichnet im Althochdeutſchen ein Gefäß. 


428 
achtbaren Manne wolle, diefem ohne Zögern ihre Hand gereicht, 
fo lebte fie jegt, nachdem ihr Erftgeborener der Welt erhalten 
worden, ber froheften 'Weberzeugung, daß biefer der Welt zum 
Segen, daß er zu hohen Dingen beftimmt fei, und biefe Weber- 
zeugung wuchs und gebieh in ihr immer mehr, je weiter und reicher 
fie den Knaben fi) entwideln fah. Bettine fährt fort: „Dein 
Großvater, ber der Stabt- ein herrlicher Bilrger und damals Syn- 
dilus (?) war, wendete ftetd Zufall und Unfall zum Wohl der 
Stabt an, und fo wurde auch deine ſchwere Geburt die Veran⸗ 
laſſung, daßz man einen Geburtöhelfer für die Armen einſetzte 
(gl. B. 20, 5). Schon in der Wiege war er ben Men- 
ſchen eine Wohlthat, fagte die Mutter. Sie legte dich an 
ihre Bruft, allein du warſt nicht zum Saugen zu bringen; ba 
wurde bir eine Anıme gegeben. An biefer hat er mit rechtem Ap- 
petit und Behagen getrunken, Da es fid nun fand, fagte.fie, daß 
id) feine Milch hatte, fo merkten wir bald, daß er geſcheider ge⸗ 
weſen war, wie wir alle, ba er nicht an mir trinfen wollte.“ 
Der Großvater pflanzte in feinem Garten vor dem Bodenheimer 
Thore jum Gebächtnig an die Geburt feines erften Enkels einen 
Birnbaum, wie Bettine andermärts (IT, 254) erzählt. Während 
der erften Zeit ſcheiut die ſchwache Gefunbheit des reizbaren Kua- 
ben bei Eltern zuweilen große Beſorgniß erregt zu haben, obgleich 
bie Mutter. im innerften Herzen nie daran gezweifelt haben wird, 
daß er zum Heil ver Welt fröhlich geveihen werde. Auch hierüber 
berichtet Bettine (II, 247 f.) uns einiges. „Bon feiner Kindheit. 
Wie er fon mit neun Wochen ängftlihe Träume gehabt, wie 
Großmutter und Großvater und Mutter und Bater und die Amme 
um feine Wiege geftanden und laufchten; welche heftige Bewegungen 
ſich in feinen Mienen zeigten; und wenn er erwachte, in ein fehr 
betrübtes Weinen verfallen, oft auch ſehr heftig geſchrieen hat, Jo 
daß ihm ber Athen entging, und bie Eitern für fein Leben ber 
forgt waren. Sie ſchafften eine Klingel an: wenn fie merkten, 
daß er im Schlaf unruhig ward, klingelten und raffelten fie heftig, 
damit er bei dem Aufwachen glei) den Traum vergeffen möge. 


. 


429 
Einmal "hatte der Bater ihn auf dem Arm und ließ ihn in den 
Mond fehn. Da fiel er plöglih, wie von etwas erſchüttert, zu: 
rück, und gerieth fo außer fi), daß ihm ber Bater Luft einblaſen 
+ mußte, damit ev nicht erſticke.“ Je ſchwächer aber feine Gefunbheit 
anfangs war, um fo zärtlicher wachte über ihn bie Liebe der 
Mutter, die auch, da fie feine Reizbarkeit und feine leidenſchaft-⸗ 
liche Lebhaftigfeit erfannte, nicht mit Gewaltſamkeit biefen entgegen: 
trat, fondern fie zu beſchwichtigen ſuchte, unbeforgt, daß ihre 
Nachſicht ihm verberblich werden Fünne; dazu ruhte ihr Vertrauen 
zu feinem einftigen ruhmvollen Wirken auf einem. zu feften Grunde, 
ein Vertrauen, welches fie ihm felbft mittheilte oder vielmehr in 
ihm beftärkte. Wo ber Vater durch Drohungen abſchrecken wollte, 
füchte fie ihren Zwed durch Belohnungen zu erreichen. Bol. 
2. 20, 10. 

Am 7. Dezember 1750 gedar die Frau Rath ihre Tochter 
Kornelia, weldyer fie freilich ihre mütterliche Liebe nicht entzog, 
aber ihr Herz konnte für fie nicht jene begeifterte Liebe empfinden, 
die fie"an ihren Wolfgang mit inmigftem Seelenbande rüpfte. 
Noch weniger war dieſes bei den vier nachgeborenen, alle früh ver- 
florbenen Kindern (vgl. oben ©. 128) der Fall, wenn auch unter 
dieſen ein ſehr ſchönes Mädchen ihr beſonderes Gefallen eine Zeit 
fang ‘erregen mochte. Sehr erfreulich war ihr die eiferſüchtige 
Liebe Wolfgang's zu feiner Meinen Schweſter Kornelia. „Wenn 
man fie aus. der Wiege nahm,“ erzählte fie (I, 249), „da war 
fein Zorn nicht zu bändigen,“ wobei fie die bebeutfame Bemerkung 
hinzufügt: „Er war überhaupt viel mehr zum. Zürnen, wie zum 
Beinen zu bringen.” ' Auch ber Beweis feines Schönheitögefühles, 
ven Wolfgang ſchon in feinem vierten Jahre auf. eine wunberliche 


* Glemens Brentano. wolkte wiſſen, die Frau Math habe. ein fonder- ; 
icpes Dittel angewandt, den leidenſchaftlichen Zorn des Knaben zu Fühlen, 
da fie ihm beim Ausbruche deifelben in kaltes Waffer zu fegen gewohnt 
gewefen. Daß Goethe fpäter, wenn er in Eifer.gerleth, auf die Zähne 
zu beißen und zu uhen pflegte, erwähnt die Gran Rath, in einem weiter 
unten (S. 445 Note 1) auzuführenden Briefe. 


430 
Weiſe ablegte, war für bie Mutter fehr wohlthuend. „Er fpielte 
nicht gern mit Meinen Kindern, fie mußten denn ſehr ſchön fein,“ 
erzähft dieſe (II, 248 f.). „Im einer Geſellſchaft fing er plöglich 
an zu weinen, und fchrie: „Das ſchwarze Kind fol hinaus! das . 
kann ich nicht leiden.“ Er hörte auch nicht auf mit Weinen, bis 
ex nady Haus fam, wo ihn die Mutter befragte über die Unart; 
ex konnte ſich nicht tröften Über des Kindes Häßlichkeit.“ Auch 
fehlte es beim jungen Wolfgang nicht an einzelnen Eulenfpiege- 
leien, welche die Mutter mit heiterm Sinne aufnahm. Einen 
” Streich biefer Art, ven. Goethe felbft (B. 20, 6 f.) ansführlicher 
erzählt, berichtet und Bettine (II, 249) etwas abweichen mit fol- 
genden Worten: „Die Küche im Haus ging auf die Strafe. An 
"einem Sonntagmorgen, da alles in der Kirche war, gerieth ber 
Heine Wolfgang hinein, und warf alles Geſchirr nacheinander zum 
Fenſter hinaus, weil ihn das Rappeln freute, und die Nachbarn, 
die es ergößte, ihn dazu aufmunterten. Die Mutter, bie aus 
der Kirche kam, war fehr erftaunt, bie Schüffeln alle herausfliegen 
zu fehn. Da war er eben fertig, und lachte fo herzlich mit den 
Leuten auf ver Straße, und die Mutter lachte mit.” 

Da die Großmutter, weldfe bis bahin dem Haushalte vor⸗ 
geftanben hatte, ein paar Jahre barauf erkrankte, jah die Frau 
Rath fih genöthigt, diefen ſelbſt zu übernehmen, wobei fie aber 
leider, beſonders da die Ausgaben notwendig ſich fteigerten, mit 
der Inappen Genauigkeit ihres Eheherrn in Wiberftreit gerieth, 
worin er ſich weniger als fonft von ihr beftimmen lieg. Der 
am 26. März 1754 erfolgte Tod der Großmutter war für bie 
Frau Rath, welche diefer guten, für fie beforgten Frau manches 
vertrauen durfte, ein großer Verluft. Daß dieſe ihr vor dem Tobe 
eine Summe Geld geſchenkt habe, weil jie die übermäßige Ge— 

> nauigfeit ihres Sohnes in Bezug auf häusliche Bedürfniſſe kannte, 
warb ſchon oben ©. 129 erwähnt. 

Gleich nad dem Tode der Großmutter begann der längft 
vorbereitete Umbau ber alten, winfelhaften, eigentlich aus zwei 
durchbrochenen Käufern beftehenden Wohnung, bei beren neuer 


431 


Grundfteinlegung ber junge Wolfgang, als Heiner Maurer gekleidet, 
die Kelle in der Rechten, ben Stein unter vielen Feierlichkeiten mit 
eigener Hand einmanerte, ! zur größten Freude ber Mutter, die 
aber, als nun der Umbau felbft begann, ihren Liebling mit ärgfter 
Herzensangft auf den Ballen und Gerlften herumklettern fah. ? 
Der Bater fand ſich endlich genöthigt, die ‚Kinder auf kurze Zeit 
zu Verwandten, wahrſcheinlich zu den Großeltern ober- zu ber 
heiten, feit dem 11. November 1751 an ben Materialhändler 
Melber verheirateten Tante Johanna Maria, zu thun, wo fie der 
firengen Lehrhaftigfeit des Vaters einigermaßen entrückt waren, 
gegen welche die Mutter fie nur wenig zu ſchützen vermochte, wo- 
gegen es fie fehr erfreute, wenn fie die Einbildungskraft derſelben 
durch ihre hübſchen Märchen anregen und ergögen konnte. 

„Die Mutter glaubte auch fi) einen Anteil an feiner Dar- 
ſtellungsgabe zufchreiben zu dürfen," ® berichtet Bettine (MH, 251 f.), 
deren Einbildungskraft hier etwas ſtark aufgepugt haben möchte. 
„Denn einmal, fagte fie, konnte ich nicht ermüden zu erzählen, 
fo wie er nicht ermäbete zuzuhören. Luft, euer, Waffer und 
Erde ftellte ih ihm unter fhönen Prinzefjinnen vor, und alles, 
was in ber ganzen Natur vorging, bem ergab fid) eine Beveutung, 
an bie ich bald ſelbſt fefter glaubte, als meine Zuhörer. Und da 
wir und erft zwifchen den Geſtirnen Straßen dachten, und bag 
wir. einft Sterne bewohnen wilrben, und welchen großen Geiftern 
wir da oben begegnen würden, da war fein Meiſch ſo eifrig auf 
die Stunde des Erzählens mit ben Kindern, wie id, ja id war 
im höchſten Grab begierig, unfere Heinen eingebilbeten Erzählungen 
weiter zu führen und eine Einfadung, die mid) um einen ſolchen 
Abend brachte, war mir immer verdrießlich. Da faß ich, und da 
verſchlang er mid; bald mit feinen großen ſchwarzen Augen, * und 


Bol. Weismann „aus Goethes Knabenjeit · ©. 29 f. 
Vol. Bettine II, 279 f. 
® Dies erfennt Goethe ſelbſt an, wenn er (8.3, 146) fügt, er habe 
„vom Mütterchen die Frohnatur und Luft zu fabulivene, 
* Goethe pflegte beim Wewundern oder befondern Woplgefallen große 


432 
wenn des Schidſal irgend eines Lieblings nicht vedht nad, feinent 
Sinn ging, da fah ich, wie die Zornaber ‚an ber Stirn ſchwoll, 
und wie er die Thränen verbiß. Mandmal geiff er ein und ſagte, 
noch eh’ id, meine Wendung genommen hatte: „Nicht wahr, Mutter, 
die Prinzeſſin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er 
aud den Rieſen todtſchlägt?“ Wenn ih nun Halt machte und 
die Kataftrophe auf den nächften Abend verfchob, fo konnte ich 
ſicher fein, daß er bis dahin alles zurecht gerüdt hatte, und fo 
ward mir denn meine Einbildungskraft, wo fie nicht mehr zureichte, 
häufig durch die feine erjegt. Wenn ich denn am nächſten Abend 
die Schidfalsfäden nach feiner Angabe weiter Ienfte und. fagte: 
„Du haſt's gerathen! fo iſts gefommen!“ da war er Feuer uud 
Flamme, und man Tonnte fein Herzen unter ber Halskrauſe 
ſchlagen ſehn. Der Großmutter, die im Hinterhaufe wohnte und 
deren Liebling er war, vertraute er nun allemal feine Anfichten, 
wie es mit der Erzählung wohl ned; werde, und von biefer erfuhr 
ich, wie ich feinen Wünſchen gemäß weiter im Tert kommen ſolle. 
Und fo ivar ein geheimes biplomatifches Treiben zwifchen uns, das 
feiner an ben anbern verrieth. So hatte ich die Satisfaltion, zum 
Genuß und Erftaunen der Zuhörenden meine Märchen vorzutragen, 
und ber Wolfgang, ohne je ſich als den Urheber aller merhwürz 
digen Ereigniſſe zu befennen, fah mit glühenden Augen ber Er⸗ 
füllung feiner fühn angelegten Pläne entgegen, und begrüßte das Aus- 
malen berfelben mit enthuſiaſtiſchem Beifall. Diefe ſchönen Abenbe, 


Augen zu machen.’ „Ih bin num nad) meiner Art ganz Rille,“ ſchreibt er 
am 27. ebrnar 1787 ans Neapel, „und made nur, wenn's gar zu toll 
wird, große, große Augen.“ Bol. Wagners Sammlung der Merdiſchen 
Briefe I. 304. J “ 

BVgl. die Kindere und Hansmärden der Gebrüder Grimm Nro. 20: 
Bettinens Briefwechfel I, 3 (23). Daß fein Großvater ein Schneiders 
gefelle war, wußte der junge Wolfgang nit, und der alte verſchweigt es 
8. 20, 79, wo die Erwähnung baven fehr nahe lag. 

2 Mir mäffen aber darauf aufmerffam machen, daß die Großmutter 
bereits in Goethes fünften Jahre Rarb, und die Kinder in der fepten Zeit 
nicht mehr zu ihr gelaffen wurden. 


433 

durch bie ſich der Ruhm meiner Erzählungskunſt bald verbreitete, 
fo daß endlich Alt und Jung daran Theil nahm, find mic 
‚eine fehr erquickliche Erinnerung.” Wie viel oder wie wenig man 
aud von biefer Erzählung als bloße Ausſchmückung ausfcheiden 
mag, fo wird doch das große Talent, mit welchem Wolfgeng ſchon 
als Knabe und fpäter ald Jüngling durch ferne Märchen’ zu be 
zaubern wußte, eine mächtige Anregung durch die Mutter er- 
fahren haben. 2 \ 

Mit diefer Erzählungskunſt der Frau Rath ſteht eine andere 
Geſchichte in Verbindung, welde und Bettine (IT, 255 f.) über- 
liefert. „Es war ein’ ſchöner Frühling, fonnig und, warm; ber 
junge hochſtämmige Birnbaum (den der Großvater bei Wolfgang's 
Geburt gepflanzt), war über und über bevedt mit Blüthen. Nun 
war's, glaub’ id, am Geburtstag der Mutter,” da fchafften die 
Kinder den grünen Seffel, auf dem fie Abends, wenn fie erzählte, 
zu figen pflegte, und ber darum ber Märenfeffel genannt 
wurde, in aller Stille in den Garten, pugten ihn auf mit Bän- 
dern und Blumen, und nadbem Gäfte und Verwandte ſich ver- 
fammelt hatten, trat der Wolfgang, als Schäfer gekleidet, mit 
einer Hirtentafhe, aus der eine Rolle mit golvenen Buchſtaben 
herabhing, mit einem gelmen Kranz auf dem Kopf, unter ben 
Birnbaum, und hielt eine Anrede an ven Seſſel al8 ven Sig der 
ſchönen Märchen. Es war eine große Freude, den ſchönen be- 
kränzten Knaben unter ben blühenden Zweigen zu fehn, wie er 
im Feuer der Rede, welche er mit großer -Zuverficht Hielt, auf 
brauste. Der zweite Theil dieſes ſchönen Feſtes beſtand in Seifen- 
blaſen, die im Sonnenfchein von Kindern, welde ben Märcen- 
ſtuhl umfreisten, in bie heitere Luft gehaucht, vom Zephyr aufs 
genommen und ſchwebend hin und her gemeht wurden: fo oft eine 
Blaſe auf den gefeierten Stuhl ſank, ſchrie alles: Ein Märden! 
ein Märden! wenn die Blafe, von der fraufen Wolle des Tuchs 
eine Weile gehalten, endlich platte, ſchrieen ſie wieder: Das 
Märchen plagt! Die Nachbarsleute in den angrenzenden Gärten 
gudten über Mauer und Berzäunung, und „nahmen den lebhaftefteit 

Dünger, drauenbilder. 28 


431 





Antheil an diefem großen Jubel, fo daß dies Heine Feft am Abend 
in der ganzen Stabt befannt war. Die Stabt hat’8 vergeffen, die 
Mutter hat's behalten, und es ſich ſpäter oft als Weiffagung deiner 
Zufünft (?) ausgelegt." Wir haben fehr ſtarken Verdacht, daß 
dieſe tolle Komödle nur eine Seifenblafe Bettinens fei. Der Ge— 
burtstag der Frau Rath kann auf biefe Weife unmöglich gefeiert 
worben fein, ba biefer nicht in den Frühling, fondern in ben 
Februar fiel. Wollten wir nun aud ein fröhliches Maifeſt 
uns benfen, zu welchem dieſe Poſſen von Seiten eines Yamilien- 
freundes erfunden worden feien, fo fcheint es doch, um anderes 
zu Übergehn, fonderbar, daß das Felt iin Garten bes Große 
vater8 gehalten wurbe, da ber Rath Goethe felbft einen Garten 
vor bem Äriebberger Thore und‘ einen wohl erhaltenen Weinberg 
beſaß. .. 

Wurde Goethe's Einbildungskraft auf diefe Weiſe durch bie 
Märcyenerzählungen der Mutter beventenb angeregt, fo war auf 
der andern Seite vie Beſchäftigung mit dem Puppenſpiel, dem 
fetten Geſchenk der Großmutter, deſſen Ueberbleibſel jest anf ber 
Frankfurter Stadtbibliothel aufbewahrt werben, nicht minder für= 
dernd, und für die Mutter ein Gegenftand großer Freude, da fi 
auch bier das dichteriſche Talent ihres Wolfgang. nicht verläugnete. 
Auch an manden anderen Gegenftänden feiner nähern und fernern 

" Umgebung fah fie feine Einbildungskraft ſich entzünden. 

Der Hausbau war endlich vollendet, aber bamit begann 
eine Reihe für die Kinder gerade nicht: angenehmer Beſchäfti- 
gungen, bei Aufftellung der Bibliothel und mander Kunftwerke, 
fo wie beim Bleichen ver geſchwärzten, und vergilbten Kupferſtiche; 
baneben wurden bie vernachläſſigten Stubien vom Bater jegt um 

fo eifriger betrieben, was ben. Kindern wie ber Mutter manche 
trübe Stunde gemacht haben mag. Auch fehlte es nicht an den 
"mannigfachften Kinberfrankheiten, an benen fie ben jungen Wolf- 
gang leiden fehn mußte. Vgl. B. 20, 39. 

Einen fürchterlich erfütternden Eindrud machte im folgenden 
Jahre in ber ganzen gebilveten Welt die Nachricht von dem 


435 . 


am 1. November 1755 erfolgten Erdbeben von Liffabon. * „Alle 
Zeitungen waren bavon erfüllt, alle Menſchen argumentirten in 
mwunberlicher Verwirrung,” erzählt Bettine (II, 253 f.); „kurz, e8 war 
ein Weltereigniß, das bis in die entfernteften Gegenden alle Herzen 
erſchütterte. Der Heine Wolfgaug, ver damals im flebenten Jahre 
war, hatte feine Ruhe mehr; das braufende Meer, das in einem 
Nu alle Schiffe nieverjchludte und dann hinaufftieg am Ufer, um 
den ungeheuren Königlichen Palaſt zu verſchlingen, die hohen Thürme, 
die zuvörberft unter dem Schutt ber Heinen Häufer begraben wur- 
den, bie Slammen, die überall aus den Ruinen herans, endlich 
zuſammenſchlagen und ein greßes Feuermeer verbreiten, während 
eine Schaar von Zeufeln aus der Erbe hervorſteigt, um allen ” 
böfen Unfug an ven Unglücklichen auszuüben, die von vielen tau- 
fend zu Grunde Gegangenen noch übrig waren, machten ihm einen 
ungehenren Eindruck. Jeden Abend (?) enthielt die Zeitung neue 
Mär, beftimmtere Erzählungen; in ven Kirchen hielt man Buß- 
prebigten, der Papft fehrieb ein allgemeines Faften aus, in ven 
Yatholifchen Kirchen waren Requien für die vom Erdbeben Ber- 
ſchlungenen. Betrachtungen aller Art wurden in Gegenwart der 
Kinder vielfeitig beſprochen, bie Bibel wurbe aufgefchlagen, Gründe 
für und wider behaupte. Dies alles befchäftigte den Wolfgang 
tiefer, als einer ahnen Tonnte, und er machte am Ende eine 
Auslegung davon, bie alle an Weisheit übertraf (?). Rachdem er mit 
dem Großvater aus einer Predigt Fam, in welcher bie Weisheit 
des Schöpfers gleichfam gegen die betroffene Menſchheit vertheidigt 
wurde, und ber Bater ihn fragte, wie er bie Predigt verftanden 
habe, fagte er: Am Ende mag alles noch viel einfacher fein, als 
ber Prebiger meint. Gott wird wohl wiffen, daß ber unfterbfichen 
Seele durch böfes Schidfal Fein Schaden gefchehn Tann.“ Das 
weiche Herz ber Frau Rath muß durch dieſes fürchterliche Ereigniß 


Bol. B. 20, 29 ff. Zimmermann ſtellte die gewaltige Erſcheinung 
in einem ohne fein Wiffen erſchlenenen, ſpäter aber von ihm ſelbſt heraus- 
gegebenen Gedicht dar. 


436 
am tiefften ergriffen werden fein, und man könnte wohl ver» 
muthen, daß fie feit diefer Zeit fih dem frommen Kreife der in 
einem alten Haufe am Bockenheimer Walle wohnenden Fräulein von 
Klettenberg genähert Habe, wozu beſonders Frau Griesbach, von Bü— 
low, von Mofer und Legationsraty Morig, fpäter auch Pfarrer 
Claus, gehörten; * indeſſen möchte dies wohl erft jpäter, während 
ver Leipziger Studienjahre des Sohnes over kurz vorher, ges 
ſchehen fein. Ueber die Herzensweichheit der Frau Rath gibt und 
Talk ? ein unverdachtiges Zeugniß, wenn er berichtet: „Goethe's 
Mutter hatte die Gewohnheit, ſobald fie eine Magd oder einen 
Bedienten miethete, unter anderm folgende Bedingungen zu ftellen: 
” „Ihr follt mir nichts wiebererzählen, was irgend Schredhaftes, 
Verdrießliches oder Beunruhigendes, fei e8 nun in meinem Haufe 
ober in ber Stadt oder in der Nachbarſchaft, vorfällt: ich mag 
eine fir allemal nichts davon willen. Geht's mich nah an, fo er- 
fahre ich's noch immer zeitig genug: geht's mich gar nicht an, ber 
tümmert's mic überhaupt nicht. Sogar wenn e8 in ber Straße 
brennte, wo ic wohne, fo will ich's aud da nicht früher wiffen, 
als ich's eben wiſſen muß.“ So geſchah es denn auch, daß, als 
Goethe im Winter 1805 zu Weimar Iebensgefährlih frank mar, 
niemand in Frankfurt von allen venen, die bei der Mutter aus- 
und eingingen, bavon zu ſprechen wagte, Exft lange nachher, und 
als es fi mit ihm völlig zur Beſſerung anließ, fam fie felbft im 
Geſpräch darauf, und fagte zu ipren Freundinnen: „Sch hab’ halt alles 
wohl gewußt, habt ihr gleich nichts davon gefagt und fagen wollen, 
wie es mit den Wolfgang fo ſchlecht geftanden hat. Jetzt aber, 
mögt*ihr ſprechen, jeßt geht es beffer. Gott und feine gute Natur 
haben ihm geholfen. Jetzt kann wieder von dem Wolfgaug bie 
Rede fein, ohne daß es mir, wenn fein Name genennt wird, einen 
Stich in's Herz gibt." „Wäre Goethe,“ fegte diefelbe Freundin, bie 
mir dieſes erzählte, hinzu, damals geftorben, auch aladann würde - 


Bgl. oben S. 142 f. Lappenberg ©. 236. 
? Goethe aus näherm perſönlichen Umgange dargeſtellt ©. 2 f. 


" 437 


dieſes Todesfalles im Hauſe ſeiner Mutter ſchwerlich von uns Er— 
wãhnung geſchehen ſein; wenigſtens nur mit ſehr großer Vorſicht 
‚ober von ihr ſelbſt dazu aufgefordert, würden wir dies gewagt haben, 
weil, wie ic ſchon bemerkt, es durchaus eine Eigenthümlichkeit 
ihrer Natur oder Grundſatz, wo nicht beides, war, allen heftigen 
Eindrüden und Erſchütterungen ihres Gemüthes, wo fie nur immer 
fonnte, auszuweichen.“ Diefen Zug hatte der Sohn von ihr geerbt. 
„Bor acht Tagen,“ fchreibt Frau von Stein am 15. Januar 1806 
an ihren Sohn, „war eben feine (Goethe's) Schwägerin, nämlich 
die jüngere Schwefter feiner Demoifelle (Chriftiane Vulpius), ge 
fforben, und zwar, wie wir eben da waren, aber alle Todesfälle 
in und außer feinem Haufe läßt er ſich verheimlichen, bis er fo 
doch dahinter kommt. Doch foll er fie beweint haben.“ Nicht allein 
durfte ihm niemand den Tod feines theuren Schiller melden, bis 
er danach fragte, ſondern aud den Tod des dem Großherzog 
ſehr befreundeten Könige Mar I von Baiern, den Goethe per- 
ſönlich kennen gelernt hatte (®. 25, 223. 233), wagte .niemand, 
wie ich von, kundiger Seite erfahren habe, ihm mitzutheilen. So— 
gar das Wort Tod mie er abſichtlich und erſetzte es durch 
andeutende Redensarten. Vgl. ©. 403 Note 1. Auch feine Scheu 

vor allem Umſturz in ber bürgerlichen Welt wie in der Natur 

hängt mit biefer Weichheit feines Herzens zufammen. 

Da ber Vater, der bald bie großen Anfagen feines Sohnes 
erfannt hatte, den Knaben immerfort von feinen fünftigen glän- 
zenben Ausfihten unterhielt, und die Mutter mit vollfter Begei- 
ſterung an ihm hing, ſo war es natürlich, daß die in ſeiner Seele 
liegende Ueberzeugung, er ſei zu etwas Großem beſtimmt, zur 
höchſten Freude der Eltern in ihm immer mehr befeſtigt wurde, 
wie folgende, von Bettine (IT, 249 f.) in das fiebente Jahr Goethe's 
verfegte Erzählung, wenn fie anders zuverläflig ift, beweist. „Oft 
fah er nad) den Sternen, von benen man ihm fagte, daß fie bei 
feiner Geburt eingeftanden haben. Hier mußte bie Einbildungskraft 
ber Mutter oft, das Unmögliche thun, um feinen Forſchungen Ge- 
nüge zu leiften. Und fo hatte er bald heraus, daß Yuppiter und 


438 


Venus die Regenten und Beidlger feiner Gefhide fein würden. ' 
Kein Spiehwerk Tonnte ihn nun mehr feffeln, als das Zahlbrett 
feines Vaters, auf dem er mit Zahlpfenningen bie Stellung ber 
Geftirne nachmachte, wie er fie. gefehen hatte. Er flellte dieſes 
Zahlbrett om fein Bett, und glaubte ſich dadurch dem Einfluß feiner 
günftigen Sterne näher gerüdt. Er fagte auch oft zur Mutter 
forgenvoll: „Die Sterne werben mid; doch nicht vergefien, und - 
werben ‚halten, was fie bei meiner Geburt verfproden haben.“ Da 
fagte die Mutter: „Warum wilft du denn mit Gewalt den Bei- 
ſtand der Sterne, da wir andern doch ohne fie fertig werben 
möüffen.“ Da fagte er ganz ftolj: „Mit dem, was anderen 
Leuten genügt, fann ich nicht fertig werben.“? Dieſelbe 
Zuverſicht feiner künftigen Größe ſpricht fid in einer andern, fpäter 
gehörenden Erzählung Bettinens aus: „Einmal,“ ſchreibt, dieſe 
(U, 257 f.), „ſtand jemand am Senfter bei deiner Mutter, da bu 
eben über bie Straße herfanıft mit mehreren anderen Knaben. Sie 
bemerkten, daß vu fehr gravitätiſch einherſchrittſt, und hielten bie 
vor, baß du dich mit deinem Geradehalten ſehr ſonderbar von den- 
anderen Knaben auszeichneteſt. Mit dieſem mache ich den 
Anfang, ſagteſt du, und ſpäter werd' ich mich noch mit 
allerlei auszeichnen.“ Die Mutter nahm derartige Aeußerungen 
ſcharf hervortretenden Selbftvertranens mit höchfter Luft auf, ohne 
zu bebenfen, zu welder gefährlichen Selbftüberhebung eine ſolche 
zuverſichtliche Erwartung einftiger Größe führen könne; aber dieſes 
Selbftvertrauen war bei Wolfgang glüdlicher Weiſe kein ange- 
bünfeftes, ſondern beruhte auf gutem Grunde, auf dem aus 


In „Wahrheit und Dichtung“ (8. 20, 5) fagt Goethe, die guten 
Afpelten feiner Geburt hätten ihm die Aftrologem in der Bolgezeit 
ſeht Hoch anzurechnen gewußt. Bol. auch SHU „Briefe und Auffäger ©. 69. 

2 Wir bürfen hierbei an die Bemerkung der geiftreichen Rahel erinnern, 
daß Goethe fo groß fei, wenn er von ben Sternen, wie Homer, wenn er 
vom Meer rede. 

® Goethe ſelbſt ergäßlt, (B. 20, 74 f.), er fel oft freundlich, oft 
auch fpöttifch über eine gewiſſe Würde gegen andere berufen worden. 





439 


voller Kraft und wahrhaft geiftiger Vorahnung fliegenden Selbft- 
gefühle. 

Wie glüdlich fih nun auch die Mutter im Befige ihres zu 
hohen Dingen beftimmten, im Wiflen und Lernen frühreifen und 
auch koörperlich ſich herrlich entwickelnden Wolfgang fand, ſo machten 
doch vielſache Kinderfrankheiten, von denen feine ihren Liebling und 
feine Geſchwiſter verfhonte, ihr manche Sorge und Noth. Auch 
hatte fie den Tod eines.ihre Namen führenden Tochterchens, ge⸗ 
ſtorben den 19. Januar 1756, zu betrauern. 

Nachdem ein fehredliches Hagelwetter i im Sommer 1756 eine 
große Berwüftung im neuen Haufe zum argen Schreden ber Kinder 
und zum höchſten Unmuthe des Vaters angerichtet hatte, begann 
in demſelben Jahre, gerade an Goethe's achtem Geburtstage, ber 
fiebenjährige Krieg, welcher fir bie Familie zunächft die unan- 
genehme Folge hatte, daß der Rath Goethe, ver für Friedrich den 
Großen Partei ergriff, wie er, da er an ben unglüdlihen Schid- 
fale Karl's VIL, der ihn zum Rathe ernannt hatte, gemüthlichen 
Antheil genonmen, den Deftreichern nicht beſonders zugethan war, 
mit dem ganz auf kaiſerlicher Seite ſtehenden Schwiegervater zer⸗ 
fiel, ſo daß er zuletzt ſeine dortigen Beſuche einſtellte. Goethe be— 
richtet (B. 20, 51), and) einige Schwiegerſöhne und Töchter Tertor’s 
feien auf öſtreichiſcher Seite gewefen, die Tante Johanna Maria 
Melber aber habe mit großem Jubel immer die Siege ver Preußen 
verfünbet; ber Mutter erwähnt ex Hierbei nicht, die body wohl bei 
dem Antheil, den fie an Karl VII. genommen, und bei der großen 
Berehrung, welche fie jedem glanzvoll auffteigenden Talente leiden- 
ſchaftlich zuwandte, mit dem Gatten und ihrem Wolfgang dem an 
Preußens Himmel aufgegangenen, freilich blutige Bahnen wandeln- 
den Geftirne bewundernd_folgen mußte. Unter den Schwiegerſbhnen 
tönnen bier mr Melber, der demnach in biefem Punkte von feiner 
Gattin ſich gefchieven Haben würde, und der am 2. November 1756 
mit Anna Maria Terter vermählte Prediger M. Stard verftanden 
werben; von den Töchtern würde, da wir auch Goethe's Mutter 
ausnehmen müffen, nılt Anna Maria Stard und die jüngfte, am 





440 


24. Oftober 1743 geborene Tochter, Anna Chriftine, übrig bleiben. 
Der von Goethe nicht erwähnte Sohn, Johann Joſt Tertor, ftand 
unzweifelhaft auch auf der Seite des Kaiſers. 
Während der erften Sriegsjahre wurbe der vom Bater feft- 
geſetzte Unterrichtsplan, wie ſehr auch bie wechſelnden Schickſale des 
Krieges die Gemüther aufregen mochten, ſtreng fortgeführt, da der 
alte Goethe von ſeinen einmal gefaßten Abſichten, wenn die Mutter 
auch durch geſchickte Wendungen zuweilen einen Heinen geräuſch- 
j loſen Sieg über feine Hartnädigfeit davon tragen mochte, ſchwer 
| abzubringen war. So hatte er denn auch, in feinem Haffe gegen 
| alle veimlofen Gebichte Klopſtock's alle Welt bezauberndem „Meſſias“ 
| den Eingang in fein Haus verwehrt, allein Rath Scheider wußte 
der Frau Rath und den Kindern biefen verbotenen Genuß: bald 
zu verfchaffen, ber leider durch eine tragifomifche Geſchichte dem " 
darüber nicht wenig erzürnten Vater verrathen ward. ' Die Winter- 
abende, an welden Wolfgang in Gegenwart des ſtets lehrhaften 
Vaters aus einem für Kinder meift nicht gerade anziehenden Buche 
vorlefen mußte, waren hefonders langweilig, wenn die Mutter . 
nicht wieber einmal, was dod nur an wenigen Abenden gejchehn 
durfte, mit ihrem Märchen hervorrückte oder ein neuer Sieg bes 
Preußenkönigs eine Teidenfehnftlihe Bewegung hervorrief. Nach 
Bettine (II, 280) würde in den erften Jahren bes fiebenjährigen 
Krieges eine Neifebefhreibung bie Abendlektüre des Winter ge- 
bildet haben, ? wobei der-Bater auf den an den Wänden herum- 


1 Dgl. B. 20, 94 f. Bei Bettine findet fih feine Spur von dieſer 
Geſchichte. Freilich Hat fie uns die Möglichkeit offen gelaffen, daß dieſes 
und anderes auf den Blättern mit Motigen geſtanden habe, die fie Goethe 
sugefandt haben will (II, 246 f. 280 f.). 
| ? „Hatten wir in langen Winterabenden,“ erzähft Goethe B. 20, 173, 
„im Samilienfreife ein Buch angefangen vorzulefen, fo müßten wir e8 auch 
durchbringen, wenn wir gleich fämmtlich dabei verzweifelten, und er (ber 
Vater) mitunter ſelbſt der erſte war, ber zu gähnen anfing. Ich erinnere 
mich hoch eines folhen Winters, wo wir Bower's „Geſchichte der Päpfter | 
fo durchzuarbeiten hatten. Cs war ein fürdterficher Zuftand, indem wenig \ 


441 

hängenden Landkarten und Plänen großer, Städte bie jedesmal be» 
ſprochenen Punkte aufſuchte und mit dem finger darauf hinwies. 

Sorgenvolle Jahre begannen für die Frau Rath mit dem 
Anfange des Yahres 1759, wo bie Franzofen ‘einrüdten. Die 
Einquartierung brüdte die ſeit vielen Jahren an eine ſolche Laft 
nicht gewohnten Bürger gewaltig, befonbers aber fühlte ſich Goethe's 
Bater tief verlegt, daß er einem Obriſtlieutenant ber ihm, als 
eifrigem Anhänger Friedrich's, verhaßten Franzoſen feine prächtigen, 
neu "eingerichteten Bimmer überlaffen mußte. Deshalb war er 
immerfort verftimmt, fo daß er felbft den Unterricht der Kinder 
nicht mit dem frühen Eifer fortfegen Tonnte. ' Der lang ver 
haltene Haß kam endlich am Tage der Schlacht bei Bergen, am 
13. April 1759, dem Charfreitage, zum Ausbruch, deſſen ſchlimme 
Folgen nur mit Mühe abzuwenden waren, wobei bie Bermittelung 
der Mutter, die ſich freilich mur des Dollmetſchers bedienen konnte, 
wohl wirffamer war, als Goethes Erzählung (8. 20, 119 ff.) 
andeutet. Und einer folchen Vermittelung bevurfte e8 auch in’ ber 
Folge, obgleich der Vater durch biefen Verfall, ber .ein für ihu 
und die Familie fehr unangenehmes Ende hätte nehmen können, 
vorfihtiger geworben fein wird. Unter den unglücklichen Kriege - 
ereigniffen möüffen die Schlacht von Kunersborf (am 12. Auguft 
1759) und die Gefangennehmung des preußifchen Korps bei Maren 
(am 20. November 1759) im Goetheichn Haufe große Nieder- 
geſchlagenheit hervorgerufen haben. In der erftern ward Ewald 
Chriftian von Mleift, der gepriefene Dichter des „Frühlings“, nad) 
tapferftem Kampfe, töbtlih verwundet. Sein Tod, welcher ver 
deutſchen Dichtung mehr Anteil und Anfehen erwarb, als fein 
Leben ſelbſt und feine Gebichte vermochten, erregte in Deutſchland 


oder nichts, was in jenen kirchlichen Verhältniffen vorfommt, Kinder und 
junge Leute anziehen faun.“ 

“ ! Im Anfange diefes Jahres erhielt der junge Goethe Privatftunden 
von dem fpäter in der Sranffurter Sofalpofle gezeichneten Proreftor Erhers 
bins, der damals Lehrer ber britten Opmmaflalklaffe war. Dgl. Weismann 
©. 72. Maria Belli IV, 199. 





tiefftes Mitgefühl, Uz weihte ihm ein ſchönes Grablied und Nicolai 
ſetzte ihm ein würbiges Ehrendeukmal. Auch Goethe, der ſonderbar 
genug in „Wahrheit und Dichtung“ des Heldentodes des berühmten 
Dichters gar nicht erwähnt, wird durch benfelben tief betroffen 
worben fein. In bemfelben Jahre verloren die Eltern zwei ihrer 
Kinder durch den Tod; denn ber achtjährige Hermann Jakob ftarb 
am 11. Januar und bie breijährige Johanna Maria, ein fehr 
ſchönes Mädchen, am 9. Auguft. 

Die franzöfiiche Einquartierung und der hierdurch, fo wie durch 
das Ungläd Friedrich's erregte Unmuth des Vaters verfchafften dem 
jungen Wolfgang größere Freiheit, als er bisher genoffen, und 
die Mutter wußte durch ihre Vermittlung biefe Freiheit auf eine 
Beife auszudehnen, welde zu den gefährlichften Folgen hätte führen 
Tönnen, wenn nicht ein gutes Glück und ein natürlich gefunder 
Sinn den Sohn. vor allen verberblichen Berirrungen bewahrt hätte, 
obgleich wohl nicht zu läugnen ift, daß er hierdurch eine Einſicht 
in mande Verhältniſſe erhielt, welche dem frühreifen Knaben trau» 
tige Begriffe von der Berfommenheit ber Welt geben mußte. Die 
Mutter ftand immerfort als eine freundliche Bermittlerin, eine 
wahre Frau Aja, zwiſchen dem ernften Vater, ber, wie fein Lande» 
mann ber Maler Kraus, zu fagen pflegte, als ein gerabliniger 
Frankfurter Reichsblirger, mit abgemeſſenen Schritten feinen Gang 
und fein Leben zu orbnen gewohnt war, ' und bem leidenſchaftlich 
bewegten, nach Freiheit und Genuß brängenden Knaben; und wenn 
fie in der Freiheit, welche fie ihrem Wolfgang zu erwirken ſuchte, 
zu weit ging, fo verzeihen wir dies gern ber mütterlichen Liebe 
und dem tiefgläubigen Vertrauen einer höhern Leitung,? wie wenig 
wir auch eine ſolche überfreie Erziehungsweiſe, die freilich in dem 
firengen Ernſte des Baters ein Gegengewicht fand, an ſich verthei- 
digen können. „Ich und mein Wolfgang,“ pflegte fie fpäter ſcherzend 


Bgal. Balf a. a. O. ©. A. 
2 In dieſem Sinne läßt auch Bettine die Frau Rath in der Schrift: 
„Dies Buch gehört dem König" ©. 92 f. autzuſprechen. 


443 


zu äußern, ! „haben uns halt immer zuſammen gehalten, das macht, 
weil wir beide jung unb nit fo gar weit, als der Wolfgang und 
fein Bater, auseinander gewejen find.” Die Mutter war es, bie 
dem wiberftrebenden Vater bie Erlaubniß für den Knaben abnöthigte, 
die vom Großvater erhaltene Freilarte zum täglichen Beſuche des 
franzöfifchen Theaters zu benugen, was fein fpätes Nachhauſe- 
kommen veranlaßte, und ihn zu manchen Belanntſchaften führte, 
die für ſeine ſittliche Bildung nichts weniger als vortheilhaft waren, 
wozu auch freilich ſein ſonſtiges aufſichtsloſes Wandern durch die 
Stadt beitrug. 

Der Schluß des Jahres 1760 oder der Anfang des folgenden 
befreite ben Vater von der ihm fo überläftigen Einguartierung, - 
woher er denn aud von jeßt am dem Unterrichte des Sohnes 
wieder feine ganze Theilnahme zuwenden Tonnte, doch ohne vaß 
bie während ber Zeit gewonnene größere Freiheit deſſelben bei 
feinen Wanderungen weſentlichen Eintrag erlitten hätte. Je näher 
die Hoffnung auf endlichen Frieden rückte, deſto aufgeräumter und 
heiterer zeigte fi der Vater, welcher den Frühling des Jahres 
1763 um fo frenbiger begrüßte, als er den endlichen Abſchluß des 
längft gehofften Friedens brachte. Die ſteigende Freundlichkeit des 
alten Goethe mußte aud ben’ Kindern und ber Mutter zu Gute 
kommen, bie fih um fo ungefcheuter ven Genüffen hingeben konnten, 
welche die wechfelnden Jahreszeiten ven Franffurtern boten. Frei⸗ 
lich an größere Landpartien war nicht zu denen, ba ber. Vater 
jeden Aufwand, ver feinen erkennbaren, unmittelbar nüglichen 
Zied hatte, ſich verfagte, aber der Garten und der Weinberg vor 
ver Stabt gewährten mande Erholung, und in ber ſchönen Um- 
gebung konnte man fich vieler genußreichen Spaziergänge erfreuen. 
Bettine erzählt uns (IT, 258): „Einmal zur Herbftlefe, wo deun 
in Frankfurt am Abend in allen Gärten Feuerwerle abbrennen 
und von allen Seiten Racketen auffteigen, ? bemerkte man in ben . 
entfernteften Feldern, wo fid die Feſtlichkeit nicht hin erftsedt hatte, 

Bal. Ball a. a. O. © 5. 

ꝰ Bel. oben ©. 57 Note 1. 


444 


viele Irrlichter, die hin und her hüpften, bald auseinander, bald 
wieber eng zufammen; endlich fingen fie gar an, figurirte Tänze 
aufzuführen. Wenn man nun näher drauf los Fam, verlofd ein 
Irrlicht nad) dem andern; mande thaten noch große Säge und 
verſchwanden, andere blieben mitten in ber Luft und verloſchen 
dann plöglich, andere fegten fih auf Heden und Bänme, weg 
waren fie. Die Leute fanden nichts, gingen wieder zurück. Gleich 
fing der Tanz von vorne. an; ein Lichtlein nach dem andern ftellte 
fi) wieder ein, und tanzte um bie halbe Stabt herum. Was " 
war's? Goethe, ber mit vielen Kameraden, die ſich Lichter auf 
die Hüte geſtedt hatten, da draußen herumtanzte.”, Diefer Scherz 
"gefiel der Fran Rath fo gar wohl, daß fie.nod in ſpäteſten Jahren 
fich deſſelben mit ganz befonderer Freude erinnerte. Eine ſolche 
Nederei war ganz in Goethe's humoriftiichem Sinne, 'von dem 
Riemer (I, 67 f.) erzählt, wie er, Nachts in der Im badend, 
allerlei Nedereien mit den Vorübergehenden getrieben und einmal 
bei einem nach Oberweimar in tiefer Nacht zurückkehrenden Bauern 
die lebendige Borftellung einer Ilmnixe erregt habe. 

In diefe Zeit müßte auch die Neigung Goethe's zum Offen- 
bacher Gretchen fallen, wenn biefelbe nicht auf Täuſchung berubte. 
„In feiner Kleidung,“ läßt Bettine (II, 259.f.) die Frau Rath 
von ihrem Wolfgang erzählen, „war er num ganz entſetzlich eigen. 
Ich mußte ihm täglich drei Toiletten beforgen; auf einen Stuhl 
bing id} einen Ueberrod, lange Beinkleider, orbinäre Wefte, ftellte 
ein Paar Stiefel dazu, auf den zweiten einen rad, ſeidene 
Strümpfe, die er ſchon angehabt hatte, Schuhe u. f. iw., auf den 
britten kam alles vom Feinſten nebft Degen und Haarbeutel; ' das 


Goethe erzählt ſelbſt (S. 20, 112), er uud feines Gleichen feien 
an Sonn: und Feſttagen den Hut unterm Arme, mit einem Heinen Degen 
erſchienen, deſſen Bügel mit einer großen feidenen Bandſchleife verfehen 
gewefen. Cine genaere Beſchreibung feines ſoun- und feftäglihen Ans 
duges gibt er In dem Märchen „der neue Paris« (8. 20. 57), wo nur 
Heines Haarbeutels Grwähnung gefieht. Bol. „Dies Vuch gehört dem 
König" ©. 102. 


445 


erſte zog er im Haufe an, das zweite, wenn er zu täglichen Be- 
Yannten ging, das britte zum Galle. Kam id nun am andern 
Tag hinein, da hatte id Ordnung zu fliften; da ſtanden bie Stie- 
feln auf den feinen Manſchetten und Halskrauſen, die Schuhe 
fanden gegen Often und Weiten, ein Stüd Iag ba, das andere 
bort; da fehüttelte ich den Staub aus ben Kleidern, legte friſche 
Wäſche hin, brachte alles wieder in's Geleis. Wie ich nun fo eine 
Weſte nehme und fie am offenen Fenſter recht herahaft in die Luft 
ſchwinge, fahren mir plöglic eine Menge Heiner Steine in's Ge 
ſicht. Darüber fing ich an zu fluchen; ' er kam hinzu; ich zanfe 
ihn aus, die Steine hätten mir ja ein Aug’ aus dem Kopf fchlagen 
können. „Nun es hat Ihr ja fein Aug’ ausgeſchlagen. Wo find 
denn die Steine? Ich muß fie wieder haben; helf Sie mir, fie 
wieber ſuchen!“ fagte er. Nun muß er fie wohl von feinem Schatz 


belommen haben; denn er befünumerte ſich ger nur um bie Steine; 


es waren orbinäre Kiefelfteinchen und Sand; daß ex den nicht mehr 
zuſammenleſen konnte, war ihm ärgerlich. Alles, was noch ba 
war, widelte ex forgfältig in ein Papier, und trug'8 fort. Den 
Tag vorher war er in Offenbach gewefen; da war ein Wirthshaus 
mauc Roſe“; die Tochter hieß das ſchöne Gretchen; er hatte fie 
fehr gern; das war bie erfte, von der ich weiß, daß er fie lieb hatte.“ 
Bettine bemerkt: „Diefe Geſchichte habe ich nun ganz ungemein 
lieb. Deine Mutter hat fie mir wohl zwanzigmal erzählt. Mand;- 
mal feste fie hinzu, daß die Sonne in's Fenſter geſchienen habe, 
daß du roth geworben feift, daß du die aufgefammelten Steinchen 
feft au's Herz gehalten und damit fortmarſchirt, ohne aud nur 
eine Entſchuldigung gemacht zu haben, daß fie ihr in's Geficht ge- 
flogen. Sieht du, was die alles gemerft hat! Denn jo Hein die 
Begebenheit ſchien, war es ihr doch eine Duelle von freudiger Be: 
trachtung über beine Rafchheit, funfelnde Augen, pochend Herz, 


! Auch diefes hatte Goethe vom der Mutter ererbt, bie felbft an die 
Serzogin Amalia (Dorow's „Reminifeenzen" ©. 138) ſchreibt, ihr Sohn 
werde bei einer gewifſen Gelegenheit ‚nach feiner font löblichen Gewohn- 
heit mit den Zähnen knirſchen und gaug gottlos finden“. Vgl. ©. 429. Note 1. 


446 


rothe Wangen u. |. w. — es ergößte fie ja noch in ihrer fpäten 
Zeit." An einer andern Stelle (IT, 281) ſchreibt Bettine: „Die 
Liebesgeſchichten aus Offenbach mit einem gewiſſen Gretchen, die 
nächtlihen Spaziergänge, und was bergleihen mehr, hat beine 
Mutter nie im Zufanmenhang. erzählt, und Gott weiß, ich hab’ 
mich auch geſcheut, danach zu fragen.“ Alle Erfundigungen nad) 
dem Offenbadjer Gretchen find ohne Erfolg geblieben, ja mach einer 
uns zugelommenen Nachricht follen die Wirthsleute „zur Roſe“ in 
Offenbach kinderlos gewefen fein. Wie e8 ſich aber auch mit dem 
Offenbacher Gretchen verhalten mag, das wohl im beften Falle anf 
einer Verwechslung beruht, jedenfalls iſt e8 ganz verfehlt, wenn 
man biefes fiir biefelbe Perſon mit dem in „Wahrheit und Did- 
tung“ erwähnten ältern Gretchen hält, welches den jungen Dichter 
vor der Theilnahme an den Möftififationen von einigen leicht 
finnigen und gemifjenlofen Burſchen warnte, in deren Geſellſchaft 
ex gerathen war. Eine in Franffurt allgemein . verbreitete Sage 
will, daß biefes Gretchen Kellnerin im Bierhaufe „zum Puppen- 
ſchänkelchen“ in ber Weißadlergaffe geweſen, wonach, wenn Goethe 
fie dort kennen gelernt haben foll, ber Dichter ſich in „Wahrheit 
und Dichtung“ eine bedeutende Umgeftaltung biefes Verhältniſſes 
erlaubt haben muß. 

Im März und April 1764 follte Goethes Mutter Zeugin 
der dritten Kaiſerwahl und Krönung fein. . Aber leider wurde gleich 
am Morgen nad) dem Krönungstage, am 4. April, bie ganze 
Familie durch die Mittheilung erfchredt, daß Wolfgang fi mit 
Menfchen verbunden habe, melde ſich aus Prellereien aller Art 
ein Geſchäft gemacht. Freilich erwies ſich ſehr bald, daß Wolf- 
gang an allen dieſen verbrecheriſchen Handlungen unſchuldig ſei, 
aber die bei dieſer Gelegenheit gemachten Enthüllungen griffen feine 
Seele aufs ſchmerzlichſte an, und die Entdedung, daß Gretchen, 
ver ſich fein ganzer Sinn, wie eine Blume ber ihr frifches Leben 
zuſtrahlenden Sonne, zugewandt hatte, ihn nur als Kind betrachtet 
habe, zerriß fein blutendes Herz, das eine ſolche ſchmachvolle Ent- 
täufcpung nicht ertragen konnte. Sehr langſam genas er, und 


447 


wagte fih nur mit ſcheuen Schritten in das gefellige Leben zurüd. 
Die Mutter hatte alle feine tiefften Schmerzen Iebhaft mitempfun⸗ 
ten, aber fie Iebte ver frohen Hoffnung, daß auch trotz biefer 
augenblidlihen Trübung ihr begeiftertes Vertrauen auf ven Liebling 
ihrer Seele nicht zu Schanden werden könne. Im Sommer fühlte 
er ſich fo weit hergeftellt, daß er von neuem mit froher Hoffnung 
dem Leben entgegenfehn und ſich zum Abgange mach Leipzig ver- 
bereiten konnte. Auch fehlte es ihm nicht an manden freundlichen 
Berbinbungen. 

Drei fehr traurige Jahre follte die Frau Rath während ber 
Leipziger. Studienzeit ihres Sohnes verleben. Sah fie ſich ja von 
ihrem Lieblinge, deſſen Anblid ihr zur höchſten Wonne gereichte, 
gänzlich getrennt. Dazu lam, daß bie Tochter, durch bie ftrenge 
Lehrhaftigfeit und bie Verweigerung manches frohen Genuffes ver- 
letzt, in eine fehr gereizte Stimmung gegen ben Water gerieth. 
Im diefem traurigen Zuftande wird fi die Frau Rath immer 
enger an Fräulein von Klettenberg umd ihren frommgläubigen Kreis 
angeſchloſſen haben, was fie um fo leidyter konnte, als ihr Glaube 
am bie höhere göttliche Weltlenkung ein ganz unerſchütterlicher war. 
Es genüge, bier nur baran zu erinnern, daß ihr bie Bibel nad 
Art frommer Seelen als Schapfäftlein oder Stechbüchlein galt, 
das fie Morgens durch einen Nadelſtich zu befragen pflegte.‘ Die 
edle fromme Freundin wird das Vertrauen der Frau Rath auf 
vie höhere, alles glücklich zum Ziel leitende Weltordnung wirkſani 


Bol. ©. 20, 117. Riemer H, 528. „6 ih eben um bie Zeit,” 
ſchreibt Goethe am 9. Dezember 4777 an Fran von Stein, „wenig Tage auf 
ab, dab ich vor neun Jahren Frank zum Tode war. (Bgl. oben ©. 160.) 
Deine Mutter ſchlug damals in der äußerſten Noth ihres Herzens ihre 
Bibel anf, und fand, wie fie mir nachher erzählt Hat: Man wird mie 
derum Weinberge pflanzen an ben Bergen Samariä, pflan- 
gen wird man und bazu pfeifen. Sie fand für den Augenblid Troft 
und in ber dolge manche rende an dem Spruche.“ Gelbft ein Herder 
Märkte ſich durch ſolche zufällig aufgeſchlagene Sprüche der Bibel oder 
eines andern Lieblingsfpriftfiellere. gl. Grinnerungen aus Herber's 2er 
ben IN, 492. “ 








gehoben und unerſchütterlich gefräftigt haben. ' Leider follte ihr 
die Wonne, den geliebten Sohn nach breijäßriger Entbehrung end- 
lich wieberfehn und an's mütterliche Herz drüden zu Können, durch 
‘den kraukhaften Zuftend, in welchem er zurldtehrte, verbittert 
werben, body hatte fie bald die Freude, ihn in ein engeres Ver- 
hältniß zu ihrer frommen Freundin treten zu fehn, welches für 
ihn fehr mohlthätig zu werben verſprach. Freilich litt fie fehr viel 
bei wieberholten heftigen Krankheitsanfällen ihres Wolfgang, we 
fie einmal fogar zu einem Geheimmittel des alchymiſtiſchen Arztes 
der Srämlein von Klettenberg ihre Zuflucht nehmen mußte, ? aber 
bald ftellte fi die gefunde Natur wieder ganz ber, fo daß er 
frifcher und lebhafter, als je, um Oftern 1770 nah Straßburg 
gehn Tonnte, 

Wolfgang’s anberthalbjähriger Aufenthalt zu Straßburg war 
freilich für die Mutter wieder eine Zeit der Entbehrung, die ihr 
durch den Tod ihres am 6. Februar 1771 im achtundfiebzigften 
Lebensjahre verftorbenen, lange vorher leidenden Vaters verbittert 
ward. „Der Tod unferes lieben Vaters,“ ſchrieb Goethe damals 
an bie Großmutter, ® „ſchon fo lange täglich gefürchtet, hat mich 
doch umbereitet überraſcht. Ich Habe diefen Verluſt mit einem 
vollen Herzen empfunden; und was ift die Welt um uns herum, 
wenn wir verlieren, was wir lieben? — Und doch hat ber liebe 
Gott, indem er für ihn forgte, aud für Sie, für uns geforgt. 
Er hat uns nicht den muntern, freundlichen, glücklichen Greis ent- 
riffen, ber mit ber Leichtigfeit eines Jünglings die Gefchäfte des 
Alters verrichtete, feinem Bolfe vorftund, die Freude feiner Familie 

! Was Bettine in der Echriff: „Dies Buch gehört dem König“ 
©. 43 ff. die Fräu Rath von ihren frommen Verbindungen und ihrer Lob 
fagung davon fagen läßt, ſcheint reine Dichtung zu fein. Daflelbe gilt 
von der weitern Erzählung über ihre häuslichen Befchäftigungen am Sonn- 
tage ©. 70 ff, wenn auch einzelnes darin aus ber Wirklichkeit genommen 
fein mag. Mit viel geöferm Recht dürfte man auf die Frau Rath mauche 
Züge von. Wilpelm Meifter's Mutter (B. 16, 4 ff. 14 f.) begiehen. 

2 Bl. S. 160 Note 2. 

3 Bei EhöN, „Briefe und Auffäge €. 60 f. Vgl. B. 25, 130. 


49 . 
war: er hat uns einen Mann genommen, befjen Leben wir ſchon 
einige Jahre an einem feivenen Faden hängen fahen, deſſen fenriger 
Geift hie unterbrüdenbe Laſt eines Franken Körpers mit ſchwerer 


Aeugſtlichleit fühlen mußte, wie ſich ein Gefangener aus bem . 


Kerter hinauswünſcht. Er ift mın frei, und unfere Thränen wün- 
ſchen Ihnen Glüd, und unfere Traurigfeit verfammelt uns um Sie, 
liebe Mama, uns mit Ihnen zu tröften, lauter Herzen voll Liebe!" 

Körperlih und geiftig gefund, aber freilich im Herzen von ber 
Liebe blutiger Trennung tief verwundet, Tehrte Goethe Ende Auguft 
nad) feiner Baterftabt zurück, wo er ſogleich mit ben Gebrüderu 


Schloffer und dem Darmftäbter Kreife in Verbindung trat, wie- 


wir penn ſchen im Herbfte 1771 den Dichter mit Merd einen Aus- 
flug bis Homburg machen und Ietern im Goethe ſchen Haufe über- 
nachten ſehen. Je suis logé chez Goethe, fchreibt Merd an feine 
Gattin, quoiqu'il y eüt de la place chez Dumeiz (vgl. ©. 213). 
Mile. est une jolie personne, et toute la famille de très 
bonnes gens. Bon Goethe heißt es vafelbft: C'est un komme, 
comme j’en ai rencontr6 fort peu pour men coeur. Freilich 
fehlte es im Anfange, wo ber Schmerz um feine verlorene Liebe 
nen war, nicht am erzentrifchen Aeußerungen befielben, doch be- 
rubigte er fi bald und milverte ſich zu freunblichfter Theil- 
nahme an fremdem Liebesgeſchick; babei verfenkte er ſich in bie 
Dichtung des „Götz“, wo Goethes Mutter in dem Bilde der vor- 
ſorglichen, liebevollen Hausfrau ſich felbft zu ihrer Freude wieber- 
erfannte, Wie hoch aber fieg ihre Wonne, als der Name ihres 
Sohnes, der mittlerweile bei einem faft halbjährigen Aufenthalte 
zu Weglar von einer neuen Liebeswunbe getroffen worden war, 
durch die Befanntmachung biefes Drama's, wie fie es einſt in fehn- 
flüchtig ahnender Liebe vorempfunben hatte, in ganz Deutſchland 
gefeiert und das Stüd in Berlin, wie die Frankfurter Zeitun⸗ 
gen zu melden nicht verfehlten, * mit höchſtem Beifall mehrfach 

Bgl. das „Brankfurter Journal“ vom 25. April und 9. Mai 1774. 
(Teichmann) Goethe in Berlin S. 14 ff. Schon vorhen hatte Sqhtöder 
das Stüd zu Hamburg, zus Aufführung. gebracht. 

Dünger, Brauenbifter. 29 


. 450 
hintereinander aufgeführt wurde! Auch ber Vater warb hierdurch 
heiter geflimmt, wenn er auch bie Beitverfhwenbung des Sohnes 
zu mancherlei Vergnügen nicht billigen mochte und diefem nicht felten 
dadurch, daß er bie bazu nüthigen Mittel nicht bot, welde auch 
vie hierin beſchränkt gehaltene Frau Rath nicht nad) Wunſch ge- 
währen fonnte, in Berlegenheit gefegt haben wird (vgl. ©. 283 
Note 2). Goethe feldft erwähnt bei Gelegenheit des mit Merd über- 
nommenen Selbftverlages, daß feine Kaffe, als Hausfohn, nicht 
in reichlichen Umſtäuden gewefen (8.22, 153), wobei. e8 aufs 
fallend ift, daß der Vater, der doch den Namen feines Sohnes 
gern gebrudt ober wenigften® feine Werke der Welt verkündet ſah, 
nicht die Koften herſchoß, und an einer andern Stelle (B. 22, 260) 
bemerkt er, er fei durch Borgen von begüterten und wohlmol- 
Ienden Freunden, was er bort freilich ben zubringligen Anfor- 
berungen wirklich Dürftiger, wie auch unverſchämter Abenteurer, 
denen er felbft Geld habe leihen ober ſchenken müſſen, zuſchreiben 
will, mit biefen in das unangenehmfte Verhältniß gerathen. Falk 
berichtet nach ber Erzählung einer Dame, welche ver Frau Rath 
ſehr nahe geftanden (©. 5 f.), die Mutter habe manches mit bem 
Mantel der Liebe bevedt, mas der Vater ſchwerlich fo frei hätte 
hingehn laſſen; fie habe in demſelben Grabe, wie der etwas mür- 
rifche Vater die Augen offen behalten, „fie gelegentlich zugebrüdt. 
„unge Autormanuffeipte wurden in angebliche Akten und mande 
Heine Einladung zu einem unſchuldigen Gartenpideni mit jungen 
Leuten feines Schlages, wenn ber Vater danach fragte, in irgend 
ein Hanbbillet von diefem ober jenem Klienten verwandelt. ' Wie 


* ran HendelsChüg, welde in den neunziger Jahren mit der Frau 
Nat in mähere Verbindung Fam, erzäplte (ngl. 8. K. I. Schut „Goethe's 
Philofophie" VII. 4), Goethes Mutter habe ſich der erften, „schon früh 
in feiner Kindheit gemachten" poetifchen Verſuche ihres Sohnes anger 
nommen und fie vor ber Vernichtung gerettet, die fie in den Händen des 
Vaters unvermeiplic getroffen Haben würbe. Es bedarf feines Wortes, wie 
wenig auf diefe Ergäplung gu geben iſt, welche nur eine ſchlechte Umge- 
Raltung deffen, zu fein fheint, was Salt mitteilt. 





451 





fehr der Vater auch mit dem ſich hebenden Ruhme ſeines Sohnes 
zufrieden war, fo wünſchte er doch, daß dieſer die Hauptzeit ſeinen 
Geſchäften zuwende, um ſich nicht allein auch hierin einen guten Ruf 
zu erwerben, fonbern aud zu einem anſehnlichen Einfommen zu 
gelangen; das unordentliche Treiben der Geſchäfte, die von feinent 
Sohne der Dichtung und Kunft, wie dem Foftfpieligen Herum- 
treiben mit jungen Leuten fo fehr nachgefegt wurden, mußte einen: 
fo orbnungäftrengen und fparfamen Manne höchſt verdrießlich fein, 
um fo mehr, als er ven Sohne zu Liebe den Haushalt erweitert 
hatte, und ſich mande Gäfte in feinem Haufe, gefallen laſſen 
Anfangs November 1773 führte Schloffer Goethe's Schwefter 
beim, wodurch der Yamilienfreis verengt und um fo mehr ber 
Gedanke an eine baldige Verheiratung des Sohnes angeregt wurde, 
als die Eltern darin das einfachſte Mittel zu finden glaubten, dieſen 
an ein orbnungsmäßiges, ftreng geregelte® Lehen zu gewöhnen. 
Im Anfange bes folgenven Jahres gewann auch die Fran Rath 
eine neue Freundin in der an Brentano. verheirateten älteſten 
Tochter der Frau von Ia Rode, mit deren weit ausgebehntem 
Geſellſchafts- und Wamilienkreife fie in nähere Verbindung trat. 
Aber ihr Sohn verfank in der erften Zeit der erneuerten Be- 
kanntſchaft mit der jungen Frau in eine. tiefe‘ Schwermuth, von 
welcher er fi nur durch die Flammenglut der Dichtung befreien 
Tonnte; einfam und abgefhloffen, kaum feinen beften Freunden zu» 
gänglich, fehrieb .er in vier Wochen „Werther’s Leiden“. Die Frau 
Rath aber Tonnte fi) bald darauf der in vollfter Friſche und 
Lebenbigfeit wieder aufblühenben feohmuthigen Heiterfeit des Sohnes 
une fo herzlicher erfreuen, als der Zufall ein zärtliches Berhäftnig 
zu ber jungen und liebenswürdigen Anna Sibylla Münch gebilvet 
batte, welches bie Eltern, in der Hoffnung, der Sohn merbe 
durch biefes liebreigende Mädchen gefefjelt und dem bisherigen umher» 
ſchwärmenden Leben entzogen werden, angelegentlichft begünftigten. 
Dabei fühlten biefe ſich durch manche ausgezeichnete Beſuche, bie 
ihrem Sohne zu Theil wurden, fehr geſchmeichelt. So war im 


452 





Herbfte 1773 der nad) Algier gehende Konſulatsſekreiär Gottlob 
Friedrich Ernſt Schönborn, der Freund Klopftod’s, Gerſtenberg's 
und ber Stolberge, welcher durch feine ſchwungvollen Freiheits- 
oben bie Zeit entzückte und in jugendlicher Vegeifterung für Recht, 
Freiheit und Humanität [hwärmte, ' im Goethe ſchen Haufe freundlich 
aufgenommen worben,. wo er die Eltern und befonbers die Mutter 
für fi) gewonnen hatte. „Sie müfjen doch auch ein Wörtchen von 
mir hören,“ fehreibt biefe an ben noch in Algier weilenden Freund 
am 24. Juli 1776, „doch auch erfahren, daß ich noch lebe, oft, 
sft an Ihnen denke, immer gern wiflen möchte, was -unfer Freund 
Schönborn in Algier betriebe u. d.m. Sie erinnern: fid) doch, 
daß Beinahe brei Jahr verfloffen find, da mir fo vergnügt bei- 
fommen waren und Weintranben aßen. Ich dächte, Sie wären 
lang genug ih ber Barbarei geweſen, hätten lang. genug ver- 
ſchleierte Menfchen gejehen. Mein Rath, den Ihnen mein freuud- 
ſchaftliches Herz gibt, ift alfo der: kommen fie bald wieder zu ung!, 
Es war für mich jederzeit eine Wolluft, große Men- 
ſchen um und bei mir zu haben, aber in meiner jegigen Lage, 
da meine beiden Kinder, weit, weit von mir entfernt ſind, iſt's 
Himmelfreude. Folgen Sie mir, und fommen, je ehenver, je 
beffer! e8 fol Ihnen wohlthun. Was wollen wir einander er= 
zählen! Bor Langerweile dürfen wir uns nicht fürdten; ich befige 
einen Schaf von Anekdoten, Geſchichten u.f.w., daß 
ih mid anheifhig made, acht Tage in einem fort zu 
plaudern.. Und wenn Sie nun gar anfangen werden — — von 
Seen und Meeren, Städten und Dörfern, Menſchen und Mißgeburten, 
Elephanten und Schlangen — das ſoll ein Gaubium werben!“ 
VBgl. die Schrift. „Schönborn und feine Zeitgenoffen“ (1836). Kuebels 
Nachlaß 11, 148. Auffallend iſt e6, daß Goethe diefes bedeutenden Mannes 
in „Wahrheit und Dichtung“ mit Feinem Worte erwähnt. Schönborn ward 
von Algier zur daniſchen Geſandtſchaft in London verfept, wo er beinahe 
dreißig Jahre lebte. eine Iepten Jahre brachte er in Emfendorf bei Graf 
Reventlow und in Hamburg bei Br. Perthes zu. Den gleich anzuführenden 


Brief machte zuerſt Nicolovins in der Sammlung „über Goethe" ©. 435 ff. 
bekannt. 


453 . 

Ende Juni 1774 beehrte der allgemein verehrte, an manden 
Orten wie ein Heiliger aufgenommene Lavater Goethe's Haus mit 
einem Beſuche, wobei fi auch ein freundliches Verhältniß zur Frau 
Rath bildete, die auch fpäter mit ihm in Briefwechfel blieb. Diefem 
folgte bald der plumpere, aber faft nicht weniger, wie Lavater, ald 
Reformator der Erziehung, angeftaunte Baſedow. Die in Begleitung 
beider gemachte Rheinreife Goethe's führte zu dem innigften Seelen- 
bunde mit Friedrich Jacobi, welcher in gleicher Weife die dichteriſche 
Glutkraft von Goethe's Herzen ſteigerte, wie er bas von den Eltern 
begünftigte Berhältnißg zu Anna Sibylle Münd) erfaften ließ. Wie 
bitter dieſes der vorforglichen Frau Rath fein mochte, ihre Hoffe 
nung auf eine eheliche Verbindung des vom Drange des Genius 
getriebenen Sohnes mit einer fo Lieben Schwiegertochter getäuſcht 
zu fehn, fo fühlte fie ſich Dagegen vom höchſten Wonnegefühl durch- 
drungen, als der allbewunberte, von ihr verehrungsvoll geliebte 
Dichter des „Meſſias“ ihrem Sohne die Mittheilung machte, daß 
er auf feiner Reife nach Karlsruhe in Frankfurt bei ihm wohnen 
werde, und ihn erſuchte, ihn an einem beſtimmten Tage in Fried⸗ 
berg abzuholen. Mußte freilich auch Wolfgang unverrichteter Sache 
von Friedberg zurüdkehren, fo traf doch bald darauf Mlopftod wirf- 
lich im Goethe ſchen Haufe ein, deſſen gebietendes Haupt zwar dem 
reimlofen Dichter von Herzen nicht gewogen war, aber doch an ber 
Ehre, die ihm durch den Beſuch eines fo berühmten Gaftes, der 
auch auf ber Müdkeife wieder einſprach, zu Theil wurbe, ſich be- 
haglich freute. Auch der edle Karl Ülyſſes von Salis-Marſchlins, 
ein höchſt gebilveter und ernfter Mann, fuchte den Dichter des 
„Götz“ in biefem Herbfte auf. Wie hoch aber mußte die Freude 
das mitterliche Herz ſchwellen, als ihr Wolfgang durch feinen noch 
in demfelben Oftober erſcheinenden „Werther® zum höchſten Gipfel des 
Ruhmes emporgehoben wurde, und im Dezember der Erbherzog von 
Sachſen⸗Weimar, der feine Befanntjchaftgewänfcht hatte, ihn freundlich 
aufnahm! Doch follte biefe Freude bald eine empfindliche Störung 
erfahren, da zu berfelben Zeit, wo der Sohn ven Weimariſchen 
Frinzen einen Beſuch in Mainz abftattete, ihre fromme Freundin 

Pr 


454 
von Klettenberg der himmliſchen Heimath zueilte, deren Freuden 
fie fo lange ſehnfüchtig vorempfunden hatte. Die Frau Rath nebſt 
Frau Pfarrer Griesbach, Frau Rath Moritz und Fran von Mala- 
‚part ſoll od; bei ihren legten Augenblicken zugegen geweſen ſein.“ 
Im der felig Verſchiedenen verlor Goethe's Mutter eine milde Be— 
ubigerin und eine heitere Beftärkerin ihres Glaubens, die innigfte 
Bertraute, welcher fie ihr. Herz erſchließen und von ihrer tief» 
ſchauenden Seele durchleuchten laſſen durfte. „An ihr und meiner 
Mutter,“ jagt Goethe (B.22, 246), „hatte ich zwei vortreffliche 
Begleiterinnen; id) nannte fie nur immer Rath und That: denn 
wenn jene einen heitern, ja feligen Blid über bie irdiſchen Dinge warf, 
fo entwirete ſich vor ihr gar leicht, was und anbere Erdenkinder 
verwirrte, und fie wußte den rechten Weg gewöhnlich anzudeuten, 
eben meil fie in's Labyrinth von oben herabfah und nicht felbft 
darin befangen war; hatte man ſich aber entſchieden, fo konnte 
man ſich auf die Bereitwilligfeit und auf die Thatkraft meiner Mutter 
vetlaſſen. Wie jener das Schauen, fo fam dieſer der Glaube zu 
Hulfe, und weil fie in allen Fällen ihre Heiterkeit behielt, fehlte 
& ihr auch niemals an Hülfsmitteln, das Vorgeſetzte ober Ge 
, wänfghte zu beiverfftelligen." Als Fräulein von Klettenberg ftarb, 
waren Die Tage bes Leidens für die Frau Math vorüber: hatte 
ſich ja bereits die Hoffnung, daß ihr Sohn zu Großem beftimmt 
fei, auf das glänzenfte bethätigt, und wenn aud das folgenbe 
Jahr, wo die Liebe zu Lili den jungen Dichter auf ſturmbewegten 
Bogen umherſchleuderte, fie hoch oft der pereiwigten Freundin Troft 
und Roth ſchmerzlich vermiffen ließ, fo war ihr Glaube und ihre 
Ruhe doch in längerm Zufammenleben mit diefer jo unerſchütterlich 
gefräftigt worden, daß fie mit fliller Heiterkeit der Enttwiclung bes 
Schickſals ihres Sohnes entgegenfah und frohgemuth dem Leben 
fi) zuwandte. Auch eine andere fromme Freundin nahm ihr das 
folgende Jahr in der im April 1775 verſchiedenen Fran Pfarrer 
Griesbach. Sie bedurfte jegt ſolcher Stügen nicht mehr; ihr Sinn 


* Bel. Lappenberg a. a. D. ©. 280. 


455 
haatte -ſich im frohen Genuffe veffen, was ber Sohtt bereits geleiftet 
hatte und was er ihr für die Zukunft noch zu werben verſprach, 
in aller Herrlichleit einer natürlich geſunden, frohheitern, liebevoll 
die Welt umfaſſenden, dem zündenden Strahle ver Freiheit und 
"reinen Menfchlicfeit zugewandten Seele erſchloſſen, welcher auch 
die kurze Prüfung, die das nächſte Fahr ihr noch auflegen jollte, 
nichts anhaben konnte. 

Die glühende Liebe zu Lili trieb den Dichter am Anfange 
des dahres 1775 in unruhigem Schwanken hin und her, und 
raubte ihm” jede ruhige Sammlung. Je weniger die beiperfeitigen 
Eitern einer folhen Verbindung geneigt waren, um Be 
fühlte ſich das liebende Paar zueinander gezogen. Mit Verdruß 
ſah ver Vater nicht bloß die Hoffnung auf eine feinen Wünfchen 
zuſagende Schwiegertochter ganz ſchwinden, fondern aud; den Sohn 
jeder ernften Geichäftsthätigfeit entrückt. Aber die beforgte Mutter 
blieb feft und beharrlich auf ihrem Glauben, daß ihr Wolfgang 
auf feinem vom Schickſal ihm gezeichneten Wege zu dem hohen, 
ihm geftedten Ziele gelangen werbe. Bon dieſem Glauben getragen, 
mußte fie auch beim Water eine größere. Freiheit währenh, biefer 
wilpbewegten Entwicklungszeit für den Sohn zu erlangen, als 
diefer ihm einzuräumen geneigt war. Auch war fie e8 wohl, welche 
bei ber Vermittlung von Fräulein Delf die letzte Bedenklichkeit des 
Vaters bob, fo daß biefer der Verlobung nicht mehr entgegen war. 

Am Anfang diefes Jahres hatte Jung Stilling, der am - 
Goethe ſchen Tiſch freundlich aufgenommen worden war, durch feine 
ſelbſtquäleriſchen Magen über feige unglückliche Augenoperation an 
Herrn von Lersner dem Liebeglühenden Dichter, und deſſen Eitern 
viele trübe Stunden gemacht. Erquicklicher war auch für die Eltern 
ver Beſuch von Friedrich Jacobi, der mit begeifterter Seele an 
Goethe hing. Im Mai famen dann auch die Grafen Stolberg 
nad Frankfurt, die häufig bei Goethe zu Tiſche waren und zu 
denen bie Frau Rath bald in ein ſehr heitere® Verhältniß trat, 
fo daß ſich die ganze Fülle ihres natürlich Teen Humors im luſtig· 
ſten Zuſammenleben ergoß. 


456 


„Dan hatte nur einigemale zuſammen getafelt,“ erzählt Goethe 
(8.22, 337), „als ſchon nach ein und ber andern genoſſenen 
dlaſche Wein der poetiſche Tprannenhaß‘ zum Vorſchein kam, und 
man nad) dem Bfute folder Wütheriche lechzend ſich erwies. Mein 
Baer ſchüttelte  lähelnd den Kopf; meine Mutter hatte in ihrem " 
Leben kaum von Tyrannen gehört, doch erinnerte fie ſich in Gott- 
fried's Chronik? dergleichen Unmenſchen, in Kupfer abgebilvet, ge- 
ſehen zu haben, den König Kambufes, ber in Gegenwart bes 
Vaters das Herz des Söhnchens mit dem Pfeil getroffen zu haben 
triumphirt, wie ihr foldes noch im Gedächtniß geblieben war. 
Diefe u ähnliche, aber immer heftiger werdende Aeußerungen 
in's Heitere zu wenden, verfügte fie fih in ihren Keller, .wo ihr 
von ben älteften Weinen wohl unterhaltene große Fäffer verwahrt 
lagen. Nicht geringere befanden ſich vafelbft, als die Jahrgänge 
1706, 19, 26, 48,’ von ihr felbft gewartet und gepflegt, ſelten 
und nur bei feierlich beveutenden Gelegenheiten angefprodyen. In⸗ 
dem fie num in gefchliffener Flaſche ven hochfarbigen Wein hinfegte, 
vief fie: „Hier ift das wahre Tyrannenblut! Daran ergögt euch, 
aber afle Mordgedanken laßt mir aus dein Haufe!” „Ja wohl 
Tyrannenblut!“ vief ich aus; „feinen größern Tyrannen gibt es, 
als den, beffen Herzblut man euch vorfegt. Labt euch daran, aber 
mäßig! denn ihr müßt befürchten, daß er euch durch Wohlgeſchmack 
und Geift unterjoche.“ Es dürfte wohl feinem Zweifel Raum 
bleiben, daß bei dieſer Gelegenheit die Frau Rath ven Namen 


! Diefer poetiſche Tyranuenhaß, der als eine unſchädliche Krankpeit 
in der. ſchwärmeriſchen Zeit lag, ſprach fih in den damaligen Freiheits— 
gebichten oft auf die Läcperlichfte Weife aus. Man vergleiche une Friedrich 
Leopold Gtolberg’s „Breißeitsgefang aus dem zwanzigfen Saprhundert“ 
(Werke 1, 87 ff), der gerade in's Jahr 1775 fällt. 

? Die damals, mit den Meriau'ſchen Kupfern verfehen, als hiſtoriſches 
Bilderbuch auch bei der Jugend belicht war. Vgl. ©. 20, 36. 178. 21, 128. 

® Am 4. Auguſt 1788 (bei Dorom „Reminifeenzen" S. 160 f.) ſchreibt 
fie: „Vorige Woche habe ih meinen Keller wieder in Ordnung gebracht. 
— Ds fielen.mie bei den alten Herren von 1706, 1719 allerfti Gedanken 
ein.“ Vgl. auch Welsmanı „aus Goethe's Ruabenzeit" €. 33. 


457 





„Grau Aja“ aus dem Goethe,' feinen Freunden umd ber Mutter 
ſelbſt wöhlbelannten Vollsbuche von den Haimonskindern erhalten 
babe; denn wem follte hierbei nicht die Szene einfallen, wo bie 
Mütter der Haimonsfinder, die Schweſter Karl's des Großen, 
Grau Aja,? ihre Söhne als unbelannte Pilgrimme bewirthet! 
Dort heißt e8:? „Da afen fie und tranken fie und machten ſich 
luſtig; zulegt ging fie (Grau Aa) in den Keller, und holte vom 
beften Wein, goß eine filberne Schafe voll, und gab fie dem Rei« 
nold, und fagte zu ihm, er follte trinken. Wie er nun getrumten 
hatte, fagte er zu der Frauen: „Ach, liebe Frau, wer des Weins 
noch mehr hätte! Diefer Trank ift fo gut, daß ich bergleichen noch 
nicht auf der ganzen Reife getrunken Habe.” Die Frau ſprach zu 
Reinold: „Freund, fo euch der Wein ſchmeckt, fo trinfet frei! ich 
will euch genug geben.” Da trank Reinold fo lange, bis er ganz 
trunken war, worüber ſich bie Frau fehr verwunderte, daß Reinold 
des Weins fo viel getrimfen hatte; denn fie meinte, es hätten 
wohl zehn Männer daran genug gehabt.” ALS bie Grau Rath mit 
ver Flaſche ihres‘ beften, -cben aus dem Seller geholten Weines 
erſchien, ba wird einem der übermüthig launigen Gäfte dieſe 
Szene des Volksbuches fo lebendig vor die Seele getreten’ fein, 
daß er die luſtige Wirthin in einem humoriſtiſchen Einfalle als 
Frau Aja begrüßen mußte, welcher Beiname dann zu manden 
anderen Scherzreven Beranlaffung gegeben, und vielleicht bie Grafen, 


' Wie erinnern nur daran, daß bei der romantiſchen Rittertafel zu 
BWeplar die Haimonsfinder als ein Fanonifches Bud galten, aus welchem 
bei Zeremonien gerwiffe Abſchuitte gelefen wurden. Goethe felbft Hatte die 
Veritopen daraus zuerſt in Ordnung gebracht, und wußte fie mit großer 
Emphaſe vorzutragen. Vgl. ®. 22, 104. 34, 307. u 

? Da die ganze Familie der Haimonsfinder deutſche Namen führt, fo 
ift aud wohl der Name der Frau Aja aus dem Deutfchen herzuleiten. Die 
provenzalifche Fotm ift aya, was auf das althochdeutſche eiga, Befigerin, ” 
binbeutet; wenigfiens fieht biefer Herleitung In Tautlichet Hinfiht nichte 
entgegen. Eigo erſcheint auch ald Cigenname. Diefe Bemerkung verdanke 
ich der freundlichen Güte des Herrn Profeffor Diez. 

* Nach Eimrod's Ansgabe der deutſchen Volkebücher IR. 66 f. 


458 
von beren ausgelaſſener Laune zu jener Zeit e8 an fonftigen Beweiſen 
nicht fehlt, zur Nachahmung bes tapfern Reinold gereizt haben wird. 
Die Frau Rath aber, die auf den heitern Scherz mit. befonberer 
Luft einging, mochte ſich diefen Beinamen, mit weldem fie fpäter 
ſich ſelbſt Häufig bezeichnet, um fo lieber gefallen laſſen, als Frau 
Aa im Vollsbuche als freundliche Vermittlerin zwifchen ihren 
Söhnen und Kaifer Karl auftritt, wie fie ſelbſt häufig ein ſolches 
Mittleramt zwiſchen dem ernften, ftrengen Bater und dem lebens⸗ 
frohen jungen Dichter Übernehmen mußte. Auch die Bezeichnung ° 
des Weines ald Tyrannenblut behielt fie von dieſer Zeit an 
bei.” So freibt fie einmal im Jahre 1788: '. „Das Otterngezüchte 
fol aus meinem Haus verbannt fein; fein Tropfen Tyrannenblut 
fol über ihre Zunge kommen.“ Goethe: felft erinnerte fi, als 
er „Wahrheit und Dichtung“ fehrieb, dieſes Urfprungs des Namens 
nicht mehr, und nahm zu einer falſchen Deutung feine Zuflucht. 
Er bemerkt nämlich, unmittelbar vor ber eben angeführten Stelle: 
„Zu meiner Mutter machte ſich ein eigenes Berhältnig. Sie wußte 
in ihrer tüchtigen, geraben Art fi, gleich‘ in's Mittelalter zurüdzu- 
fegen, um als Aja bei irgend einer lombardiſchen oder bizantini- 
ſchen Prinzeſſin angeftellt zu werben. Nicht anders als Frau Aa 
ward fie genannt,.und fie ‚gefiel ſich in vem Scherze, und ging fo 
eher in bie Phantaftereien der Jugend mit ein, als fie ſchon in 
Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erbliden glaubte.“ 
Er nahm alfo Aja als weibliche Form zu dem italiänifchen ajo, 
Hofmeifter (franzöſiſch ‚aide, altfranzöfiih ale, provenzaliſch 
ahfa); aber wäre auch aja in diefer Bedeutung nachweisbar, fo 
würde doch die Bezeichnung Hofmeifterin für Goethe's heitere, 
von feifchefter Laune fprudelnde Mutter möglichft unpaſſend fein. 
Da zwiſchen Goethe und Lili aus Veranlaffung einzelner Aue: 
flüge, welche den Dichter längere Zeit von ber Geliebten entfernt 
gehalten, eine Heine Spannung eingetreten war, welche beide Fa— 
-milien zu ihrem Trennungszwede wohl zu benugen mußten, jo 


Bei Dorow a. a. O. S. 185 f. Val. dafelbft ©. 140. 148. 


459 
ließ ſich dieſer, gleihfam zur Probe, ob er das feinem Herzen fo 
nahe ftehende Mädchen entbehren könne, leicht bereven, ohne fürm- 
- lichen Abſchied zu nehmen, mit den Stofbergen nad) ver Schweiz 
zu reifen, Aber vom Gotthard trieb es ben Geliebten unmiber- 
ſtehlich zurück, und doch follte er nach faft zwei ganzen freud- und 
teiverfülten Monaten, bie er in ihrer Nähe zubrachte, endlich zu 
dem ſchweren Entſchluſſe, ihr zu entfagen, gebracht werben. Faſt 
um biefelbe Zeit begrüßte Goethes Mutter in ihrem Haufe ben 
berühmten Arzt Zimmermann und feine Tochter als werthe Gäfte; 
letztere ſchloß ihr ganzes ſchmerzkrankes Herz der gemüthlich theil- 
nehmenben, durch ihre heitere Gutmüthigfeit dem fonft fo ſchweig-⸗ 
famen Mädchen feine tiefften, geheimften Gefühle entloden- 
ven Frau Rath vertrauensvoll auf. Die an den Sohn ergan- 
gene freunbliche Einladung des eben zur Regierung gefommenen 
Herzogs von Sachfen-Weimar und feiner jungen liebenswirbigen 
Gemahlin, ihnen nad Weimar zu folgen, erfreute ihr mütterliches 
Herz, weldies des Vaters bedenkliche Zweifel zu beſchwichtigen 
wußte; aber freilich warb es für fie, wie für ben geliebten Sohn 
eine höchſt peinliche Zeit, als der Kammerjunfer von Kalb, welcher 
mit einem neuen Wagen an einem beftimmten Tage zu Frankfurt 
eintreffen follte, um ihren Wolfgang nad Weimar zu bringen, 
fange Zeit vergeblich auf ſich warten ließ, fo daß der Sohn jeldft 
zu zweifeln begann, und ber Vater ihn drängte, da er num doch 
nad; Weimar, nicht fommen werde, kurz und gut nad Stalien zu 
reifen. ber um fo freubenvoller ſchlug auch ihr Herz, als alle 
bangen Zweifel beſchämt wurden, und ber Sohn, der ſchon bis 
Heidelberg gegangen’ war, in ber ehrenvollen ‚Begleitung von 
Kalb's nach Weimar fuhr, wo er ſich einige Zeit als Gaft auf- 
halten follte. 

Aber der Herzog ſchloß ſich bald mit fo inmiger Herzlichkeit 
an Goethe an, baß er ſich von biefem nicht zu trennen vermochte. 
Die Mutter ward von biefen erfreulihen Verhältniſſen theils durch 
unmittelbare Nachrichten vom Sohne, theild durch deſſen Briefe au 
Mer unterrichtet; denn die Briefe von Goethe's aus Frankfurt 


EEE 


460 
mitgebrachtem vertinutem Diener Philipp Seidel ſcheinen nicht wor 
1777 zu beginnen. An Mer ſchreibt Goethe am 5. Januar 1776: 
- „Ich treib's hier freilich tol genug, und ben? oft au did, will 
dir auch num beine Bücher ſchicken, und bitte dich, Vater und Mutter 
ein biffel zu laben. Habe dich auch herzlich lieb. Wirſt hoffentlich 
bald vernehmen, daß ich auch auf dem Theatro mundi was zu 
tragiren weiß, und mic in allen tragikomiſchen Farzen leidlich bes 
trage. Addiol Ich hab’ meiner Mutter ein Geſchäft un dich aufs 
getragen. ' Ich höre, ihr ſeid leiblih zu Stande. Berlaß dich, 
daß ich bir nicht fehle!" Bald darauf fanbte er ber Mutter feine 
„Stella“ zu, welche dieſe mit begeifterter Liebe aufgenonmen haben 
wird. Wie fehr aber mußten beide Eltern durch ben Brief erfreut 
werben, welden der Rammerjunfer von Kalb, der ven Sohn nach 
Weimar gebracht hatte, auf Veranlaſſung des Herzogs bereit am 
16. Mai? an fie richtete. „Die wechſelſeitige Neigung des Herzogs 
gegen Ihren vortrefflihen Sohn," ſchreibt er, „das unumfchränfte 
Vertrauen, fo er in ihn fegt, macht es beiden unmöglich, fih von 
einander zu trennen. Nie wlrbe er darauf verfallen fein, meinem 
Goethe eine andere Stelle, einen andern Charafter, als ben von 
feinem Freunde anzutragen. Der Herzog weiß es zw ‚gut, daß 
alle andern unter feinem Werthe find, wein nicht bie hergebrachten 
Formen ſolches nöthig machten. Mit Beibehaltung feiner gänzlichen 
Vreiheit, der Freiheit, Urlaub zu nehmen, bie Dienfte ganz zu 
verfaffen, wenn er will, wird unfer junger, edler Fürft, in ver 
Borausfegung, daß Sie unfähig find, Ihre Einwilligung dazu zu 
verfagen, Ihren Söhn unter den Titel eines geheimen Legations- 
raths mit einem Gehalt von 1200 Thaler in fein Minifteriune 
ziehen. Gern unternähm' ich, Ihnen die Verhältuiſſe Ihres Schnee 


* Wohl wegen Zurädzahlung der von Derd gelichenen Gelder. Am 
8. März fhreibt er an Merk: „Lieber Bruder, hat 'dn das Geld, fo gib 
der Mutter einen Schein.“ Epäter fand er mit Merk wegen gelieferten 
Weines in Rechnung. Vgl. Merk's Briefwechſel I, 94. 97. 

3 Niemer’s (IT, 25 f.) Datirung vom 16. März muß irrig fein. Die 
‚Grnennung zum geheimen Regationsrath erfolgte am 41. Junt. 


.nn.- 


461 
zu bezeichnen, wenn ich mich dazu vermögenb fühlte, Denken Sie 
ſich ihn als den vertrauteften Freund unferes lieben Herzogs, ohne 
welchen ex feinen Tag erifliren kann, von allen braven Jungen 
bis zur Schwärmerei geliebt, alles, was wider und war, vernichtet, 
und Sie werben ſich nod immer zu wenig benfen.“ Cine ſolche 
zuvorkommende Höflichkeit gegen die Eltern mußte auch den Bater 
geneigt machen, wie fehr er auch jedem Hofbienfte gram war, und 
fo war denn natürlich an eine Weigerung nicht zu benfen. Die 
hierüber fehr erfreute Mutter theilte ihre Luft bald dem noch 
in Gießen ſtudirenden, ſtets freundlich begrüßten Klinger mit. 
„Der Doctor ift vergnügt und wohl in feinem Weimar,“ berichtet 
fie, „hat gleich vor der Stadt einen herrlichen Garten, welcher dem 
Herzog gehört, Bezogen. Lenz (alſo auch mit dieſem ſtand die Frau 
Rath. in Verbindung) hat denfelbigen poetifch beſchrieben, und mir 
zum Durchlefen zugefchidt. Der Poet figt auch dort, als wenn er 
angenagelt wäre. Weimar muß fürs Wievergehen ein gefährlicher 
Ort fein; alles bleibt dort. Nun, wenn's dem Völklein wohl ift, 
fo gefegne's ihnen Gott!" Mit behaglichem Baterftolze ſchreibt ber 
alte Rath am 24. Juli 1776 an ven Konful Schönborn von feinen 
Sohne, diefem „ſiagularen Menſchen“: „Der Herzog von Weimar 
lernte ihn ſchon vor zwei Sahren auf ber vortheilhaften Seite 
kennen, unb nachdem er von Durlach, wo er ſich mit der Darm- 
ſtädtiſchen Pringeffin Luife vermählt hat, wieder zurück nach Srant- 
furt kam, wurde er won biefem jungen herzoglichen Paar in aller 
Form nady Weimar eingeladen, wohin er dann auch gefolget. Er 
hielt fi) den vergangenen Winter bafelbft als Gaft auf, und’ 
unterhielt die dortigen Herrſchaften mit Vorlefung feiner noch unge 
druckten Werkchens, führte das Schlittſchuhfahren“ und andern 
guten Geſchmack ein, wodurch er ſich Diefelben ſowohl als auch 
in ber Nachbarſchaft viele Hohe und Bornehme zu Freunden machte. 


* rau von Ta Roche ſchreibt an Dierk (I, 91): „Gar fehr möchte 
ich jedt die Weimariſche Gefellfcpaft beim Tpaumetter fehn; das Schritt- 
fehuplaufen (wovon Wieland gemeldet hatte) hat mich nicht fo neu— 
gierig gemacht.“ 


462 
Je mehr nun aber ber Herzog den Doktor kennen lernte, befto 
weniger fonnte Ex ihn entbehren, und prüfte feine Gaben hinläng« 
lich, die Er fo beſchaffen fand, daß Er ihn. endlich zu feinem 
geheimen Legationsrath mit Sig und Stimme im geheimen Conſeil 
und 1200 Thaler Beſoldung ernannte. Da fist nun der Poet, 
und fügt fi in fein neues Fach beftmöglichft. Wir wollen ihm 
darin. figen laſſen, jedoch auch zugleich wegen deſſen igigen Amts- 
geſchäften in diefer Korrefpondenz ablöfen und vertreten.” Es ift 
anziehend zu fehn, auf welche Weile die Lage des Sohnes fid in 
dieſem Kopfe fpiegelt! An vemfelben Tage melvet die Frau Rath 
dem alten Straßburger Freunde Salzmantı, an welchen der Sohn 
zulegt am 5. Dezember 1774 gefchrieben hatte, mit mütterlich 
begeifterter Freude: ' „Wir hörten geftern ſehr diel Schönes und 
Gutes von unferm Sohne. Ich bin überzeugt, Sie freuen ſich 
unferer Freuden, Sie, ein fo alter Freund und Bekannter vom 
Doktor, nehmen allen Antheil an feinem Glüd, können als Men- 
ſchenfreund fühlen, wenn der Pjalmift jagt: „Wohl dem, der Freude 
an fginen Kindern erlebt!" wie wohl das den Eltern thun muß. 
Gott vegiere ihn ferner und laffe ihn in den Weimarifchen Landen 
viel Gutes ftiften! Ich bin überzeugt, Sie fagen mit und Amen.“ 
Das heitere Wefen am Weimarer Hofe mußte der zum Scherze und 
zur Quftigfeit geneigten Frau Aja beſonders zufagen, und bie vielen 
übertriebenen Gerichte, welche den guten Klopftod fchon am 8. März 
1776 zu einem philifterhaften Briefe verleiteten, fonnten ihren 
Glauben nicht anfechten. Sie felbft Hatte in Frankfurt einen Kreis 
junger Mädchen um ſich verfammelt, bie ſich jeden Sonnabend» 
nachmittag bei ihr einfanden, wobei auch ber humoriſtiſche Rath 
Grespel, der zu ihrem Bedauern ſchon im November 1776 nad) 
Regensburg ging, gern gejehen ward. Daneben wird fie‘ vieleicht 
ſchon damals ihren Freunden und Verwandten alljährig ein- großes 
Feſt gegeben haben. Die Nachrichten, welche fie unmittelbar durch 
ihren. Sohn, fo wie durd Merk, ihren liebften Freund, von 


" Morgenblatt 1838 Nro. 38. 


463 


Weimar aus erhielt, erfeeuten fie fehr, wie aud; bie mancherlei 
Gebichte, die ihr von dort zufamen. So hatte Goethe an Merd 
fogenannte Matinee’s, launig-fatirifhe Gedichte, ' geichit, und Wie- 
land theilte ihm am 17. Oktober die am 3. Auguft 1770 zu Ilmenau 
gedichteten, das Verhältniß zum Herzog rein ausſprechenden Berfe? mit: 
j Den Schickſal. 

Was weiß ih, was mir bier gefällt, 

Im diefer engen, Heinen Melt 

Mit Teifem‘ Zauberband mich Häft! 

Mein Karl und ich vergefjen hier, 

Wie ſeltſam uns ein tiefes Schichal Teitet, 

Und ach! ich fühl's, im ftillen werden wir 

Zu neuen Szenen vorbereitet. 

Du haft uns lieb, bu gabft uns das Gefühl, 

Daß ohne dich wir nur vergebens finnen,- 

Durch Ungebuld und glaubenleer Gewilhl 

Boreilig dir niemals was abgewinnen, 

Du Haft für ung das rechte Maß getroffen, 

Im veine Dumpfpeit uns gehüllt, 

Daß wir, von Lebenskraft erfüllt, 

Im holder Gegentvart der lieben Zukunft hoffen. 


Wie herzlich mußten diefe Berfe ver Mutter wohlthun, die hierin 
ihr eigen Gefühl fo wundervoll ausgeſprochen erfannte! Audy-Ließ 
Goethe die Eltern feinem Freunde Merk, ver viel zu ihnen her- 
überfam, beftens empfohlen fein, wie er an biefen am 16. Sep- 
tember ſchreibt: „Verlaß meine Alten nicht!" Die Mutter läßt 
er in einem Briefe an benfelben am 24. Juni grüßen, 

Die Frau Rath trat um diefe Zeit auch mit dem vertrauten 


* Bol. Riemer IT, 22 f.** Den Namen hatten fie wohl davon er- 
Halten, daß fie’ bei. Morgengefellfepafien vorgelefen "wurden, bei denen 
Goethe fie aufgebracht hatte. 

2 Bsl. Riemer II, 34 f. Wieland begleitet das Gedicht mit den 
Worten: „Hier etwas von ihm, das Ihnen wohlthun wird. Es kann als 
eine Erfläcung auf alles, was Dame Bama aus ihren beiden Trompeten 
von jhm in bie Welt Hineinträtfeht, angefehen werden.“ 





464 


Diener ihres Sohnes, dem aus Weimar mitgebrachten treuen 
Philipp Seidel, in Verbindung. „Es liegen uns aus dieſer Zeit 
(1777. und 1778),“ berichtet K. ©. Jacob (a. a. O. ©. 434), 
„mehrere Briefe der Frau Rath an Philipp Seivel — vor, aus 
denen wir biefe Lebendigkeit und Theilnahme der räftigen Frau 
auf das befte erfehen. Mit biefem, ber fo geſchickt ift und ihr 
alle acht Tage fchreibt, bejpricht fie zuvörderſt wirthſchaftliche An- 
gelegenheiten; fie will auf der Frankfurter Meffe Hemden, Schnupf- 
tücher, Kappen einkaufen, fie ſchickt einen künſtlichen Bratenwender, 
fie verbreitet ſich weitläufig über Frankfurter Wurft, bie nur in 
Frankfurt fo gut gemacht werben fünne, und ift erbötig, fie ber 
Herzogin. Amalia wöchentlich zu ſchicken. Aber auch andere Dinge 
werben bem ehrlichen Seidel zur Mittheilung an feinen Heren und 
andere Weimaraner aufgetragen.“ Zu Weihnachten fdhicte bie Frau 
Rath ihrem Sohne in jevem Jahre eine Sendung Frankfurter 
Marzipan nad Weimar, am dem auch feinen Freunden, fpäter 
beſonders Friedrich von Stein und feinem Sohne Auguft, ihr Theil 
beftimmt war, ! wie fie ihm ftetS zu feinem Geburts- und Na- 
menstage, am letzten Oktober, Glüd wünfchte.* Auch mancherlei 
Aufträge des Sohnes und anderer Weimaraner beforgte Frau Aa. 

Am Anfange „des Jahres 1777 feheint Goethe fehr in ſich 
zurädgezogen geweſen zu fein, woher er auch gegen bie Mutter 
ſchweigſam gewefen fein mag. Vielleicht war es um dieſe Zeit, 
daß die Fran Rath ihren treuen Philipp Seibel bat, ihren Sohn, 
wenn er bei guter Laune fei, zu erinnern, daß er ihr Zeichnungen? 
und andere feiner Arbeiten zukommen laſſe. Auch feine Schulden " 
bei Merk, die durch mannigfadhe Lieferungen vermehrt worden 
waren, feinen ihn gebrüdt zu haben. * Mannigfache Aufführungen 

1 Bel. Goethe's Briefe an Frau von Stein I, 384. II, 190. Briefe 
von Goethe und deffen Mutter an Brig von Stein ©. 87. 

? Briefe an Bau von Etein I. 55. 124. 363. IL, 97. 110. 258. 

* „Beinen ift außer m Pflangen jedt fein (Gnethe's) Lieblingsgefchäft,“ 
ſchreibt Wieland am 4. April au Merd. DgL Riemer II, 42. 

* Am 9. Dezember 4776 fandte er 44 Lonisd’or nebſt einigem Silber⸗ 
gelb, am folgenden 5. Iannar zwanzig Karolin an Merd. (Wagner I, 98). 


465 


und Feſtlichleiten nahmen ven Dichter in den erſten Monaten in An- 
ſpruch. Am 7. März ſchreibt die Frau Rath an Seibel: „Der Brief, 
wo ihr die Aufführung des Schanfpiels ohne Namen fo ſchön befchrie- 
ben habt, Hat uns ein groß Gaudium gemacht. Fahret immer.fort, 
ung von Weimar aus gute neue Märe zu überjchreiben, beſonders 
was es bei Herzog Ferdinand's (von Braunſchweig) Dortfein fir 
Speltakel gegeben hat.” Bei dem Schaufpiel if wohl an „Lila“ 
zu denken, weldes „Schaufpiel mit Gefang“ auf den Geburtstag 
ver Herzogin Luiſe aufgeführt ward.‘ Auch von ben Weimarer 
Rarnevalstuftbarkeiten theilte Seibel ihr ein Verzeichniß mit. ? 

Eine tief erſchütternde Wirkung follte die ganz unerwartete 
Nachricht von dem Tode ber geliebten Tochter Kornelia in ber 
erften Hälfte Juni auf die Gran Rath üben, doch ftellte ſich ihre 
gefunde Natur von biefem gewaltigen Schlage bald wieder her, 
wogegen ber Bater, ben biefer Todesfall ernft und bringend au 
feine Verweigerung fo mancher von der Tochter gewünſchten un- 
ſchuldigen Freuden erinnern mochte, feit biefer Zeit ftil und ſchwer⸗ 
müthig geworben fein fol. „Ich kann Ihnen nichts ſagen,“ aut- 
wortet Goethe der Mutter auf dieſe Trauerpoft, „als daß mir ver 
Tod ber Schwefter nur befto ſchmerzlicher iſt, da er mich in fo 
glüdlichen Zeiten überraſcht, da das Glüd ſich gegen mich immer 
gleich bezeigt. — Leben Sie glüdlih! Sorgen Sie für des Vaters 
Gefundheit! wir find nur einmal fo beifammen.“ ® 


Aber der Kaufmann Böling von Frautfurt, der die Ieptere Gendung au 
Dierk übermacpt, wänfcht, daß „auf biefe Tropfen bald ein Plapregen 
folgen möge” (Wagner IT, 87). 

! Bl. die Olla Potrida 1778 I, 205 ff. Nach Riemer II, 40 wäre 
vie „Broferpina® an dieſem Tage gegeben worden, wogegen man Scharfer 
„Goethes Leben“ I, 385 vergleiche. © 

? Bl. den Brief der. Brau Math bei Maria Bei „Deine Reife 
nad Konftantinopel“ ©. 323 vom 4. Februar (Märy?). 

® Bol. ©. 18, 106: „Mau weiß nicht, wie fange man noch; beifam- 
men bleibt.“ In den „Zenien" (Nro. 153) fagt Goethe: 


Das Lehen jerrinnet, 
Und «6 verfammelt uus nur einmal, wie heute, die. Zeit. 
Dünger, Brauenbifter. * 30 








466 





Kurze Zeit darauf, vielleicht gerabe durch jene Trauer ver- 
anlaft, trat Wieland mit Fran Aja in brieflide Verbindung, bei 
‘der er fich im Auguſt beflagt, daß Goethe, der eben von Weimar 
abweſend war, ihm Tein Lebenszeichen gebe, aber Hinzufügt: „Biel- 
leicht macht er's Ihnen auch nicht beſſer — aber darum liebt er 
uns bod nicht weniger. Cr iſt und bfeibt halt body mit allen 
feinen Eigenheiten einer ver beften, edelſten und herrlichſten Men- 
ſchen auf Gottes Erdboden.“! Er wird ihr feit biefer Zeit regel- 
mäßig feinen „Merkur“ zugeſchickt haben, und Bertuch verfäumte 
"nicht, feine Ueberſetzung des „Don Duigote“ ‚beizufügen. Die au 
gebliebenen Stüde des „Merkur" und die fehlenden Bände des 
„Don Duigote” ließ die Frau Rath durch ihren treuen Philipp 
Seltel fi) erbitten. Aud) von Herder’ Schwager, erhielt Frau 
Aa duch Mercd's Bermittelung fehr erfreuliche Nachrichten über 
Weimar, wo jener fid) neun Monate aufgehalten hatte.? Mer 
felbft ging gegen ven 18. September über Frankfurt, wo er bei 
Goethes Eltern einſprach, nad) Eiſenach. Hier verweilte er von 
21. bis zum Morgen des 28. September, mo er fi denn zu 
feiner Freude überzeugen konnte, wie vortrefflich es um Goethe 
und den Herzog ſtehe. Wieland's Verkehr mit Frau Aja warb 
bald ein fehr inniger und herzlicher, wie e8 hei ber angeborenen 
Outmüthigfeit beider nicht anders zu erwarten ftand. Ihr verkündet 
ex mit behaglicher Freude, daß feine Frau ihn wieder mit einem 
hübfchen Jungen beſchenkt habe, und er fendet ihr fein Gebicht 
„an Olympien“ (auf den Geburtstag der Herzogin Mutter), ? um 
es auch an Merck mitzutheilen. +" 

Als Wieland mit dem Kammermuſikus Kranz im Dezember 

! Bol. Riemer II, 44. 

2 Dal. Wagner IT, 98 f. 

® Im Novemberheft des „Merkur“ gebrudt. Später richtete Wieland 
noch mehrere andere Gedichte unter bemfelben Namen an die edle Fürſtin. 
Vgl. Wieland’ Werke’ V. 12, 127 ff. 342. Auch Herder befang die Her= 
zogin Mutter unter diefem Namen (B. 4, 11). Bol. Schöll zu den Briefen 
an Fran von Stein II, 119. 

BVal. Wagner II, 114. 117. 





467 





1777 nad; Mannheim ging, um ber Aufführung feines Singfpiels 
„Roſemunde“ beizuwohnen, weilte er mit Merk, den er zu dieſer 
Zuſammenkunft eingelaberi hatte, brei ober vier herrliche Tage in 
Goethe'ß elterlichem Haufe, wo fein fehnlichfter Wunſch, Frau Aja 
von Angeficht zu Angeſicht zu ſehn, in Erfüllung gehn follte. ' Da- 
mals fcheint Wieland dem Goethe' ſchen Haufe ben von Loretto her- 
genommenen Namen casa santa beigelegt zu haben.” Den anzie- 
henbften Blid in jene ſchönen Tage geſtattet und ein von Kranz 
nad) ver Rüdkehr, am 16. Februar 1778, an Frau Aja gerichteter 
Brief. ? „Liebe Frau Räthin!“ ſchreibt dieſer. „Erlauben Sie 
immer einmal, daß ih an Ihnen ſchreiben darf. Es geſchiehet 
nicht aus Prahlerei, nicht daß ich jagen wollte: „Hört, ihr Leute! 
ich fehreibe an die Frau Rath Goethe!" Nein, gewiß nicht, fon- 
dern bloß um mir Luft zu machen; denn nod will in Weimar 
mir weber Luft, noch Menſchen behagen. Ganz natürlich! denn 
erſtlich war ich fo glüclih, mit Wieland ganze ſechs Wochen zu 
exiftiren, und bann die Tage bei Ihnen’ zugebracht zu haben, nenne 
ich ohne Anftand die glücklichſten meines ganzen Lebens. Wie mir 
an Ihrem runden Tifche * zu Muthe ‘war, Tann id unmöglich 
beſchreiben .... .. Nächſt den lieben Eltern Goethes Wieland 
und Merck — melde Reinheit der Seelen! O wie lieh ift mir 
feitvem die Menfchheit worden! Noch nie habe ich mid, meines 
Dafeins fo fehr gefreut. Ich war fo felig, daß ich ganz vergaß, 
wo und was id) war. Sie müſſen e8 auch oft an mic wahrge- 
nommen haben — wie könnte Ihnen fo etwas entgangen fein! — 
Ih faß da und lachte oft Bis zur Unanftänbigfeit, jo wie mich 
denn auch hinwiederum viele Geſpräche ſehr ernfthaft, nachdenkend 


Bal. Wagner II, 413 f. 417 f. 120. 

2,3% glaube,“ ſchreibt Wieland an Merk (bei Wagner I, 122), 
„nah ven Herrlichen vier Tagen, die wir gnfammen in ber wahren casa’santa 
geiht jaben, bramf's nun zuifgen uns Teiner weitern Worterfilrungen.” 

® Bel Wagner III, 155 f. 

© Diefen berüßmten yranben if" ermäßnt auch Frau Aa iu sem 
Briefe an Erespel (Wagner IL, 447, oben &.:257). 


468 
and beinah zum Weinen gebracht haben. Meine Seele war in 
einer ganz wunderbaren Berfaffung! Mir war mandhmal, ale 
wenn ich ben ganzen Himmel aufgeſchloſſen und alle feine unenb- 
lichen Herrlicleiten vor mir liegen fähe; ich fah einen Abſtand 
von Ihnen allefammt gegen bie übrigen Menſchen. Meine Seele 
feufzte, nicht nachlommen zu Lönnen. Der Herr Rath war immer 
ftille, doch, wie ich glaube, innerlich vergnügt, nur daß es nicht 
zum Ausbruche am, fagte aber doch einigemal: „OD, das ift gut! O, 
das ift gar gut!" Sie faßen mir gegenüber als die Großmächtigfte. 
So viel Sie aud) in dem Geſpräch intereffirt fein mochten, fo ent- 
ſchlüpfte Ihnen doch nichts, was außerdem im Zimmer vorging. 
Unter währenden Reben einen tiefen Bid auf ben Herrn Rath, 
und immer wieder fortgeſprochen. Ihre Servante mochte ein paar» 
. mal im Auftragen was verfehen haben, ſchuups! — Triegte bie 
einen Hieb, und immer wieder fortgefprodhen. Ich faß dann immer 
wieber ba, und fog nur ein. Der Kriegsrath Merd iſt body ein 
göttliher Mann! alles, was er jagt, ift fo rein wie Gold..... 
Unfer Abſchied war mir fo empfindlich, als merkwürdig. Der Herr 
Rath gab uns feinen Segen mit wärınfter und wahrer Liebe. An 
Ihnen bemerkte ih mit ganz etwas Unbefanntes: Sie gaben mir 
auf eine herzliche Art die Hand, und drückten bie meinige freund» 
ſchaftlich. Ihre natikcliche Munter- und Lebhaftigkeit verließ Sie 
nicht; Sie lächelten, und doch rollten Thränen über Ihre Wangen. 
Bon Merk habe ich mic losgewunden; er umfaßte mid), drückte 
nic an feine Bruft und küßte mich herzlich; dies fuhr mir durch 
le Adern. Empfehlen Sie mid) doch dem lieben Herrn Rath aufs 
befte. Ein Orden ober Gnadenzeichen kann nicht jo hoch, als die 
Gevädtnigmünge, welche er mir geſchenlt, von mir verehrt werben. 
O casa, o casa santal“. Als Merk im folgenden November 
wieber in casa santa verweilte, refapitulirte er alles, was ihm vor 
einen Jahre mit Wieland in dieſer Stube begegnet war. : „Geftern 
waren wieder alle die Mädchen, die euretwegen vor'm Jahr fo 
häufig ſich hier im Haufe einfanden, beifammen,“ ſchreibt er an 
Wieland am 21. (22.2) November 1778, „und Madame Brentano 


469 

fpielte wieder den Gidel (gigue, ein luſtiger Tanz) auf dem 
Klavier. Dabei gedachten wir Abends bei dem herrlichen Wein 
deiner, fluchten wieder auf Sacobi'n und feines Gleichen, und mir 
floffen die Thränen herab, daß nun fo alles vorging, baf nun 
ein ganzes Jahr fei, daß wir uns nicht gefehen, unb daß es uns 
wieber ein halbes Jahr werben wirbe, ehe fo was dergleichen ge ⸗ 
ſchehn könne.“ 

Auch im folgenden Jahre erhielt Frau Aja fehr erfreuliche 
Nachrichten über ihren Sohn, ber dem Herzoge immer lieber und 
näher ward. Von dem verfchievenen Aufführungen und fonftigen 
Beſchaftigungen werben Wieland und Philipp Seibel berichtet haben. 
Kranz ſchreibt in dem oben angeführten Briefe: „Von dem neuen 
Stüde („ver Triumph der Empfindſambkeit“), welches Ihr lieber 
Doktor und unfer geheimer Legationsrath Goethe am 30. Januar 
und hernach am 10. Februar bier aufgeführt, wilrde ich Ihnen 
viel ſchreiben, wenn nicht der glückliche Ph(ilipp) Ihr Korrefpon- 
dent wäre. Dod eins muß ich wegen ver großen Aehnlichkett 
zwiſchen Ihnen und ihm doch melden. — D wenn Sie ihn nur 
da hätten fehn follen! Augen, Gebärben, Ton, Geftitulation, 
alles in allem, fage ich Ihnen. Ich war gar nicht mehr im Or- 
hefter, ganz in ber Atmofphäre von casa santa. Philipp figurirt 
in dieſem Stüde als einer von ben Künftlern, als ber Directeur 
de la nature.? — Neues wüßte ih Ihnen nichts zu fehreiben, als 
daß ber geheime Legationsrath dann und wann mit ben Herrſchaften 
Abends Schlittſchuhe läuft, und zwar en masque. Die Herzoginnen, 
gnäbige Frauen und Fräuleins laſſen fi) im Schlitten ſchieben.“ 
Der Teich, welcher nicht Mein ift, wird rund um mit Zadeln, 

4 Gleich nach feiner Rüdkehr hatte Wieland ihr einen Dankfagungs- 
brief geſandt, worauf er die Antwort am 45. Februar erhielt. Mal. 
Bagner I, 124. 

2 Bel. ©. 7, 289. 2, 127. 

® Man erinnere fih der obigen Aenferung des Vaters in dem Briefe 
an Schönborn (©. 461.) Die Herogin kuiſe war ſelbſt elne gewanbte und 
anmuthige Schlittfehugläuferin. Vgl. Goethe's Briefe an Bran von Stein 
1, 73. II, 427. 


4710 J 


Lampen und Pechpfannen erleuchtet. Das Schauſpiel wird auf der 

einen Seite von. Hoboiften- und Janitſcharenmuſik, auf der andern 

mit Feuerrädern, Radeten, Kanonen und Dörfern vervielfäktigt. 
Es dauert oft zwei bis brei Stunden.“ . 

Bald darauf erhielt die Mutter eine Abfchrift vom „Triumph 
der Empfinbfamkeit“, wie aus Goethe's Brief an Merk vom 
18. März 1778 hervorgeht: „Beiliegend kriegſt bu von ber 
Mutter ' meine neuefte Tollheit, daraus du fehn wirft, daß der 
Teufel der Parodie mich noch reitet. Den® bir nun bazu alle 
Akteur's bis zur Karrilatur phyſiognomiſch. Bon den Kleidern ſieh 
ein Echantillon bei der Mutter auf einer Zeichnung von Kraus." 
Daß Frau Aja aud das Meine Stüd „die Geſchwiſter“ erhalten 
haben werbe, barf man aus ber weiter folgenden Frage an Merd 
ſchließen, ob er diefe gefehen. 

Wie Merk fehr häufig im Goethe ſchen Haufe einſprach, fo 
finden wir Frau Aja im Mai 1778 bei ihrem Freunde in Darm- 
ſtadt. „Freund Bölling ſchreibt mir,“ berichtet Wieland am 1. Juni 
an Merk, „daß er neulich mit Fran Aja und noch ein paar guten 
Weibern bei euch gemefen, und daß ihr choraliter auf meine Ge— 
ſundheit getrunfen, und das mit foldem Nachdruck, daß es gleich 
von Stund an beffer mit mir geworben, Hätt’ ich auch babei fein 
Können, fo follte mir's wohl noch beſſer befommen haben.“ 

Im Juni machte die Herzogin Mutter mit von Einſiedel, dem 
Maler Kraus und ihrer Hofdame, dem Iuftigen Fräulein von 
Göchhauſen,“ welche den Scherzuamen Thusnelda führte, eine 
Reife an ven Rhein, auf welcher Merd fie begleitete. Frau Aa 
hatte bei biefer Gelegenheit das Gluͤck, die verehrte Fürſtin bei 
ſich zu fehn, welche fi durch den heitern Humor und bie reine 


* Der Brief an Merk ging durch ihre Hand, und ber Sohn hatte 
fie gebeten, das Stüd dem Briefe beizulegen. 

3 Vgl. Knebels Nachlaß I. XXVI, wo nur bie ihr nachgerühmte Schön- 
Heit gar fehe zu berichtigen IR. Briefwechfel zwiſchen Goethe und Knebel I, 98. 

® Bl. Riemer IE, 68. Wagner I, 1239-31. 434 f. 140. 143 f. Briefe 
an Srau von Stein I, 178. 


" 471 





Natürlichkeit von Goethe's Mutter in hohem Grade angezogen 
fühlte, fo daß ſich bald darauf ein freundlicher Briefwechſel zwiſchen 
beiden rauen bildete, an welchem fd auch Bräulein von Göd- 
haufen lebhaft betheiligte. „Bon Goethes Mutter weiß ich nichts 
zu jagen," ſchreibt von Einftevel am 30. Yuni-aus Düſſeldorf an 
Knebel.‘ „Sie ift über alle Beſchreibung erhaben, und du kennſt 
fie ſelbſt.“ Drei Wochen nad) der Rüdfehr der Herzogin Mutter, 
am 22. Auguſt, gab Goethe diefer, die ihm ein paar Raphael's 
mitgebracht hatte, ein herrliches Feſt, welches bie Furſtin felbft 
am 29. Auguft mit freubigfter Anerkennung der lieben Frau Rath 
mittheilt. * „Die Ietsterfloffene Woche,“ ſchreibt fie, „hat dev Herr 
Doktor Wolf mir ein Souper im Stern (einem Theile des Parks, 
welchen bie Ilm foheivet) gegeben, wo bie neuen Anlagen gemacht 
find, welche gar lieblich und herrlich find. Nach dem Abendeſſen 
war eine Heine Illumination ganz in dem Rembrandtichen Ge- 
{mad veranftaltet, wo nichts als Licht und Schatten wirkte. 
Wieland, Einfieel, die Stein und Thusnelda genoffen «8 mit. 
Es war ein vergnügter, guter Abend für und Für mein Theil 
hätte wohl gewünſcht, daß Frau Aja mit da gewefen wäre; es 
wäre gewiß nad} ihrem Geſchmack geweſen.“ Leider theift Riemer 
nicht ben ganzen Brief mit, body erfehen wir aus der genauen 
Beihreibung Wieland’8 an Merck,“ daß bei biefer Gelegenheit 
eine Flaſche Sohannisberger vom Jahre 1760 auf ber Frau Aa, 
Mercks und des Kaufmann Bölling Gefunbheit, dem man ben 
Scyerznamen des Kornhändlers gegeben zu haben ſcheint, ge» 
trunten wurde. . 

. Am 24. September erfolgte Schloſſer's Bermählung mit Jo— 
hanna Fahlmer, welde in dem mütterlichen Herzen höchſt ſchmerz-⸗ 
liche Erinnerungen an bie früh heimgegangene Tochter erweden 
mußte, wenn fie e8 auch für wünſchenswerth hielt, daß ben ver« 
waisten Kindern eine neue liebevolle Mutter zugeführt wurde. 


! Bol. Kucbel's Nachlaf I, 232. 


2 Bol. Riemer II, 70. 
® Bei Wagner IT, 159. 


J 





472 ' 





„Will ſich in der lieben Fahlmer wieder eine neue Wurzel-Theilnch- 
mung und Befeftigung erzeugen,“ hatte Goethe ſchon im vorigen 
Jahre auf die erfte Nachricht hiervon der Mutter gefchrieben, ' 
„fo will ich aud won meiner Seite mit euch den Göttern danken. 
. Ich bin zu gewohnt, von dem um mid, jego zu fagen: Das ift 
meine Mutter und meine Gefchwifter ꝛc.“ Was euch betrifft, fo 
fegnet Gott! denn ihr werbet aufs neue erbaut in ber Nähe und 
der Riß ausgebeſſert.“ Die Unmöglichfeit des Sohnes, ein Glüd- 
wunſchgedicht auf die Vermählung zu liefern, wie ber Oheim ges. 
wünfcht hätte, erfannte fie volltommen au. Bgl. oben ©. 202. 

Der Briefwechſel der Herzogin Amalia und ihrer Thusnelda mit 
der Frau Aja nahm einen für beide Theile erwünſchten Fortgang. Bon 
der im Oftober * zu Etteröburg gegebenen Darftellung von Melidre& 
Medecin malgr& lui, überfegt von Einfievel, und von Goethe ſchen 
„Jahrmarktsfeſt zu Plurfversweilern“, wobei der Dichter ſich befon- 
ders ausgezeichnet hatte, berichtet bie Herzogin fogleich an Frau 
Aa, indem fie fi auf die ausführliche Schilderung beruft, welche 
Thusnelda ihr machen. werde. ° „Unfer Freund Wolf," fehreibt 
fie, „hat die Freundſchaft für mich gehabt, alles ſelber zu orbnen. 
Der „Iahrmarkt von Plundersweilern“ ift herrlich gegangen. Ihr 
Sohn ſchickt Ihnen die Abſchrift, wie es bier gefpielt worden ift. 

* Bel. Riemer IL, St. 

ꝰ Anfpielung auf das Wort Chriſti bei Matthäus 12, 49 f. In äh» 
lichem Einne hatte er ſchon am 8. Januar 1777 an Ravater geſchrieben: 
„In meinem jepigen Leben weichen alfe entfernten Sreunde in Nebel,“ 
womit man die Worte an Frau von Gtein vergleiche (T, 34): „Wenn ib " 
mit Ihnen nicht leben ſoll, Hilft mir Ihre Liebe fo wenig, als die Liebe 
meiner Abwefenden, an ber ich fo reich bin.” Die Mutter wußte ſolche 
Aeuerungen wohl zu würdigen. 

3 „Dein Iepter Brief,“ fehreibt Wieland am 9. Dezember an Merd, 
„mit dem, was bu mir von beinem Grfühl an der Tafelrunde in casa 
santa (vgl. oben S. 467) und Über die Briefe unferer Herzogin Amalia 
an Fran Aja ſchreibſt, hat mein ganzes Herz bewegt.“ 

* Riemer nennt IE. 72 den 24. Oftober, wogegen er im Briefe der 


Göchhanfen felbft den 20. Dftober druden läßt. 
® Bei Riemer II, 72 f. ” 


473 

Das Gemälde vom Bänkelfänger hat Wolf, Kraus und ich ger. 
malt. Die Mufll von den Liedern laſſ' ich auf das Klavier Jegen, 
und fobald fie fertig find, folen Sie fie auch haben.“ Thusnel- 
dens Humor verließ fie bei ber verheißenen Schilderung nicht. ' 
5 Zum Nachſpiel,“ meldet fie „erfchien nun das gepriefene „Jahr- 
marktsfeft". Der Doktor fagte, er hätl's Ihnen ſchon geſchickt. 
Das Bänfelfängergemälve, weil es von Kennern und Nichtlennern 
für ein rares und treffliches Stüd Arbeit gehalten wird, und Sie 
als eine Kunftfennerin und Liebhaberin vergleichen Dinge berühmt 
find; wird Ihnen in einer Kopie, in's Meine gebracht, nebſt ber 
Romanze auch zugefchieft werben. Dr. Wolf fpielte alle ‚feine Rol- 
Ten über alle Maßen trefflih und gut, hatte auch Sorge getragen, 
fi mãchtiglich, beſonders als Marktſchreier, herauszuputzen. O 
hätten Sie unſere Wünfche nur auf ein paar Stunden zu und 
zaubern Können!" 

Während der Anwefenheit der Herzogin zu Frankfurt war 
davon die Rede gewefen, daß Merk mit Frau Aja im Winter 
nad Weimar fommen folle, wogegen ſich aber Goethe erklärte, 
der am 5. Auguft an, Merd ſchreibt: „Wenn bu mit der Mutter 
auf Künftig Frühjahr kommen kannſt, fo richt's ein! fie jagen vom 
Winter; das ift nichts.“ ? Als diefer nun in November drei ſchöne 
Tage in casa santa verweilte, wurbe bie Sache von neuem be> 
ſprochen, und der Herr Rath erklärte ſich bereit, feine Scau ziehen 
zu laffen, wenn ber Herzog ihm den Kammermuſikus Kranz zu— 
ſchiden wolle, daß biefer ifm auf der Bratſche vorfpiele. „Näch— 
tens,“ meldet Merd an Wieland, ? „ergeht von mir im Namen 
der Frau Aja und-Konforten eine Supplif an den Herzog in Form, 
den Muſikus Kranz feiner Pflichten auf vier Wochen zu entlaffen, 
im Falle man unferer begehre;“ indeſſen mag dies doch mehr ein 
Scherz gemwefen zu fein, ba ber Geſundheitszuſtand des Gatten 
eine folhe Entfernung der Frau Aja nicht geftattet zu haben 

U Bgl. Riemer II, 73 f. Wagner I, 148. 

3 Bel. auch Merk's Briefe I, 149. 

® Bei Waguer IT, 182. . 





474 


ſcheint. Dieſe ſchreibt bald nach Mercks Abreiſe auf die Rüchſeite 
des angeführten Merdifchen Briefe, amı 24. Rovember, an Wie- 
fand: „Lieber Sohn! Merk war brei Tage bei und. Da er 
fort ift, ſuche ih im Zimmer nad und räume anf, wie das bei 
Boeten ein fehr nöthiges Werk ift, wie ihr aus vorhergehenden 
Briefe zu Genüge erſehn Könnt. Denn ber arme Brief hätte ge» 
wiß gelegen, und wäre niemals an Ort und Stelle gefommen, 
hätte Frau Aja weniger Einfiht in das Poetenweſen. Aber bie 
ift, Gott fei Dank! nod nicht aus der Uebung, obgleich Herr 
Wolfgang Goethe ſchon drei Fahre ihr Haus nicht mehr erfreut, 
ſondern fein Licht in Weimar leuchten läßt." Zu gleicher Zeit bittet 
fie Wieland, er möge den inliegenden Brief auſ's Kefte beforgen, 
vielleicht einen Brief an bie Herzogin Mutter, von welder Wieland 
'am 25. Januar 1779 ſchreibt, fie ſpreche, wenn fie einen Brief 
von Merd oder „Mutter Aja“ bekommen habe, nicht anders ba- 
von, „als ob ihr ein groß Glück wiberfahren wäre, recht wie das 
Weib im Evangelio, die ihre Nachbarinnen anruft, fi mit ihr 
zu freuen, daß fie ihren Groſchen funden habe.“ Leiber ift unfere 
Kenntniß des höchft anziehenden Briefwechſels zwiſchen beiden ge- 
nialen Frauen nur höchſt lüdenhaft, da das Goethe'ſche Archiv 
dieſe und fo viele andere koſtbare Refte einer fhönen Bergangen- 
beit uns noch immer vorenthält. Am 9, Dezember ließ Wieland 
Fran Aja und Merd als Pathen feines neugeborenen Sohnes in's 
Kirchenbuch eintragen. ' 

"Am Sonntag nach Oſtern 1779 fchreibt Grau Aja an die 
Herzogin Mutter,? welche ihr von der Aufführung der „Iphigenie“, 
bie am Oſterdinstage ftattfinden werde, gemelbet hatte: „Durch- 


! Bol, den Merdiſchen Briefwechſel I. 451. Ach Mnebel warb von 
Wieland eingeladen, „Mitvater* des Kleinen zu fein, der von ihm ben 
Namen Karl führen follte. Vgl, Knebels Nachlaß IL, 213. Wielaud's ausger 
wählte Briefe II, 292. Im April 1776 Hatten Gleim nnd Goethe bri 
Wieland als Gevatter geflanden; das Kiud hatte die Namen Charlotte 
Wilgelmine erhalten. Val. a. a. ©. III, 202. 

3 Der Brief findet ſich in Dorow's „Reminifeengen" ©. 132 f- 


475 


lauchtigſte Fürftin! Nach dem Appetit meiner Samstagsmadel 
(bie geräbe geftern wieder bei ihr verfammelt geweſen) müffen 
die Meinen Bisquittiker (welche fie vermuthlich zur Herbſtmeſſe ge- 
ſchickt Hatte) längſt alle fein. — Ich nehme mir hier die große 
Freiheit, Em. Durchlaucht noch eine Heine Provifion zu überfenden. 
Nehmen Sie, befte Firfin, meine Freiheit ja nicht ungnädig! Bei 
uns if?8 Mefjel!! Weitmäulichte Laffen, Feilſchen und gaffen, 
Goffen und kaufen, Beftienhaufen, Kinder und Fragen, Affen 
und Ragen u. ſ. m.” — Doch mit Reſpelt gerebt, Frau Aa! 
Madame Ia Roche ift auch da!!! Theuerfte Fürftin! Könnte Doktor - 
Wolf ven Tochtermann fehn, dem die Verfafferin der „Sternheim“ 
ihre zweite Tochter aufhängen will, fo würde er nach feiner fonft 
löblichen Gewohnheit mit ven Zähnen knirſchen und ganz gottlos 
fluchen. Geftern ftellte fie mic das Ungehene vor. — Großer 
Gott!!! wenn mid, ber zur Königin ber Exben, Amerika nitein- 
geſchloſſen, machen wollte, jo — ja fo — gäbe ih ihm einen 
Korb. Er ficht aus — wie der Teufel in der fiebenten Bitte in 
. Luthers Meinem Katechismus — ift fo dumm, wie ein Heupferd, 
und zu allem feinem Unglüd ift er Hofrath.? Wenn ih von 
all: dem Zeug mas begreife, fo will ich zur Auſter werben. Eine 
Frau wie die la Rode, von einem gewiß nicht gemeinen Berftand, 
von ziemlichen Glüdsgütern, von Anfehen, Rang u. f. w., bie es 


! Wir haben oben ©. 257. 468 f. gefehen, daß au Frau Brentano 
und Grespel, der fängft wieder von Negenaburg zurüd war, au biefer Ge— 
ſellſchaft Antheil nahmen. 

? Die Stelle iſt aus dem im vorigen Oftober zu Weimar aufgeführten 
„Saprmarftöfet“ (B. 7, 421) genommen. i 

3 Wieland ſchreibt am 5. Mal: „Iu Sranffurt, hoffen wir, werben 
du genaue Kundſchaft von der Heiratsfahe ber armen Loulou (Luife) la 
Roche einziehen; die Herzogin nimmt großen Autheil an der Sache, und 
ift Herzlich böfe auf die Frauenzimmerbriefftellerin. Der Kerl, dem. fie bie 
holde Loulon zu freffen gibt, ſoll ein-Meerkalb im Gufto des Phoca fein, 
dem die ſchöne Angelifa im Arioſt (VEIT, 58 ff. X, 9. 101 |) aus 
gefeht wird." Man fieht, wie bie Neqhricht d der guten Frau Aja auf die 
Herzogin gewirkt Hatte. 





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” 476 


recht drauf anfängt, ihre Tochter unglüclich zu machen?‘ — und 
doch Sternheime und Frauenzimmerbriefe? ſchreibt — mit einem 
Wort, mein Kopf iſt wie in einer Mühle.“ Verzeihen Ihre 
Durchlaucht, daß ich Ihnen fo was vorerzähle; ih habe aber das 
Abenteuer * vor Augen — und bie Thränen der guten Luife Tann 


ich nicht ausftehn. — Der: dritte Feiertag (6. April) ift doch glück- 


lich vorbeigegangen; ich Hoffe auch etwas bavon zu vernehmen. 
Die Fräulein Thusnelda hat eine gar ſchöne Gabe, folde Hefti- 
vitäten. zu befchreiben, und ich glaube, fie wird ihren Ruhm bes 
haupten, und Frau Aja was davon zufonmen laſſen; denn das 
„Sahrmarktsfeft" hat fie ganz herrlich befehrieben. — Thut fies, 
fo Haben Em. Durchlaucht die Gnade, ihr von den Bisquittgen 
auch ihren Antheil zu ‘überreichen. Der Bater empfiehlt fih zu 
ferneren hohen Gnaben, und Frau Aja, der es nie fo wohl ift, 
als wenn fie an die vortrefflichfte, größte, liebenswärbigfte, befte 
Furſtin denkt, küßt im Anbetung und Demuth die Hand ihrer 
theuerften Fürftin und bleibt bis in's Grab u. f. w.“ Im einer 
Vachſchrift fügt fie Hinzu: „Das Unthier heißt Möhr, und ift 
wirklicher Hofrath des Kurfürften von Trier.“ 


! Ihre Ältere, an Brentano vermählte Tochter fühlte fi höchſt un⸗ 
glüdtih, was ber Frau Aa nur zu wohl befannt war. 

2 Neben bie „Gefchichte des Bräuleins von Gternhelm,“ vgl. Goethes 
Beurtheilung ©. 32, 39 f. Die „freundfpaftlicen Srauenzimmerbriefe“ 
erfehlenen 1775 und 1776 in Jacobi's „Iris“ ®. II—VII, boch anvollſtän- 
dig; fuäter gab Frau von In Roche fle als größeres Werk unter dem 
Titel „Rofaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St ** in vier 
Bänden (1779-1791) heraus. Irrig hat man behauptet, Frau von Ia 
Roche habe hier unter der Madame ©. Goethes Mutter geſchildert, wenn 
aud eine gewifle Aehnlichteit, die aber faßt nur im der beiden eigenen 
Munterfeit beſteht, nicht verfannt werben mag. Man vergleiche in der 
„eis“ TIT. 60 ff. VII, 483 fi. 

® Der Auedrud erinnert an ben Schüler im „Fauft“, dem es von ber 
Weisheit des Mephiftopheles fo dumm wird, „als ging’ ihm ein Muͤhlrad 
im Kopf herum“. . . 

* Bezeichnung eines wunderlichen Menſchen. Vgl. meinen dauſtkom⸗ 
mentar II, 410. 





477 


Gleich am folgenden Tage, am 12. April, noch vor ber Ankunft 
des Briefes der Frau Ye, ſchreibt Fräulein von Göchhauſen an 
diefe:® „Daß ber Herr Doftor feiner Schuldigkeit gemäß feine 
treffliche „Iphigenie“ wird überſchidtt haben, over noch zufcidt, 
Hoffe ich gewiß. Ich will mich alles Geſchwätzes darüber enthalten, 
und nur fo viel fagen, baß er feinen Oreſt meifterhaft gefpielt 
Habe. Sein Kleid, fo wie bes Pylades feines, war griechiſch, 
und id} hab’ ihn in meinem Leben nie fo ſchön gefehen. ? Meber- 
Haupt wurbe das ganze Stüd fo gut gefpielt, daß König und Kö- 
nigin hätten fagen mögen: „Liebes Löwchen, brille noch einmal!“ * 


! Riemer IT, 84. Es iſt unmöglich, daß diefer und ber folgende Brief 
der Herzogin Mutter in das folgende Jahr gehöre, wie Schöll zu den 
Briefen an Brau von Stein I, 221. 295. vermuthet; denn Im Jahre 1780 
war der 6. April Teineswwegs der dritte Belertag, und an biefem ward nach 
dem Briefe der Herzogin Deutter die „Iphigenie“ aufgeführt. Könnte nur 
noch der geringfle Smweifel obwalten, fo würde er durch den Brief von 
Soetje's Mutter, den Schbll überfieht, völlig gehoben werden; denn auch 
diefer ift vom Jahre 1779 datirt. Qgl. auch Wieland’ Brief bel Wagner 
1,166. Auqh fand ja eine weitere Aufführung der Iphigenie nach Riemer 
(IT. 86), woran Sqhll ſelbſt (1. 231 Note 1) nicht zweifelt, am 12. Juli 
4779, am Tage vor Merk's Abreiſe, Ratt. Vichoffs Vermuthung (IE, 415°), 
die Aufführung fei erſt am 22. Jull erfolgt, gehört zu feinen vielen une 
glüdlichen. Merk ‘reiste mit von Einfiedel am 43. Iuli von Ettersburg 
ab, fah auf dem Rückwege Heyne und Lichtenberg in Göttingen (Merd’s 
Briefe III, 163) und Sophie von la Roche (Merk's Briefe II, 164). Gegen 
den 22. war er in Darmfladt zurüd. Vgl. Merk's. Briefe I, 167. 173. 
TE. 164. III. 168. Die ganze Reife hatte acht Wochen gedauert, nicht 
der Befuch in Ettersburg allein. 

2 Wir erinnern hierbei an Hufeland’s Aeuferung in der Nachſchrift 
zu Vogels Bericht Über Goethre lehte Krankpeit: „Nie werde ih den 
Sindrud vergeffen, den er (Goethe) als Dreftes im griechiſchen Koſtüme in 
der Dasftellung feiner „Sphigenie* machte: man glaubte. einen Apoll zu 
fehn.” Hiermit ſtimmt Pencers Bemerkung (Meimars Album S. 58) 
wenig überein, wo es heißt, man habe Goethes Spiel anfangs. zu unge- 
Rüm nnd die Bewegung doc) etwas ſteif finden wollen, wobei gerade fein 
Spiel in der „Iphigenie* beifpielsweife angeführt wird. 

® Eine damals beliebte Anfpielung anf Shafefprare's „Sommernachte- 


418 


„Heute wird's wieder aufgeführt.“ Die Herzogin felbft erwiebert: 
„Der britte Feiertag ift glädlich worbeigegangen, wovon Thusnelda 
- Ihnen Beſchreibung gemacht hat. Kurz barauf ift es mwisberholt 
worben, und mit bem nämlichen Beifall. Ich denke, daß er Ihnen 
das ganze Stüd ſchiden wirb, und ba werben Sie felbft erfehen, 
wie ſchön umb vortrefflich es ift, und wie ſehr feiner würdig.“ 
Der allgemeine Beifall, den die herrliche Dichtung hervorrief, 
mußte Frau Aja mit ſeligſter Freude erfüllen, wenn fie auch noch 
nicht das bewunderte Werk ſelbſt leſen und an ben hohen, un— 

geahnten Schönheiten Geiſt und Herz laben durfte. 
> Bon Üttersburg aus, welches bie Herzogin Mutter wieder 
bezogen hatte, ſchreibt Fräulein von Göchhauſen an Frau Aja den 
21. Mai:! „Wir find nun wieder feit acht Tagen mit Sad und 
Pad in unferm lieben Ettersburg. Es ift doch, das weiß Gott! ein 
ſchönes Leben fo in Wald, Berg und Thal! Uufere befte Her- 
zogin ift hier auch wohl und vergnügt. Gott erhalte fie dabei! fie 
verdient's fo fehr. Geftern hat uns ber Herr geheime Legationsrath 
ein Schäferfpiel, „die Raunen (sic) des Verliebten“, hier aufgeführt, 
das er fagt, in feinem achtzehnten Jahr gemacht zu haben, und 
nur wenig Veränderung dazu gethan. Es beftand nur aus vier Per- 
fonen, welche ber Doftor, Einfievel, das Fräulein von Wöllwarth 
(vgl. Merd I, 148. Riemer II, 55) und Mabemoifelle (Rorona) 
Schröter vorftellten. Es ift von einem Aft, mit einigen Arien, 
welche der Kammerherr von Sedenborff komponirt hat. Es wurbe 
vecht-fehr gut gefpielt, und mir waren ben ganzen Tag fröhlich 
und guter Dinge. Jetzt leben wir in beftändiger Erwartung un- 
feres Mer." Im ähnlicher Weife äußert fi Wieland in einem 
an bemfelben Tage an Goethe's Mutter gerichteten Briefe.” „Liebes 
Mütterchen,“ fehreibt er, „wir find hier bei Ihrer und unferer 


traum“ (V,.1). Bol. Goethes Brief an Mer vom 5. Jannar 1776 (bei 
Bagner I, 84), an’ Knebel I, 14. Wieland’s ausgewählte Briefe IT. 313 
und in ben Merciſchen Briefen IL, 412. J 

Bei Riemer II, 85 f. B 

? In Riemer's „Briefen von und an Goethe ©. 271 f. 


479 





Herzogin, ber einzigen und ewigen Königin umferer freien Herzen, 
auf ver hohen Ettersburg, 
Und leben ba ferne vom Exbengetiimmel 

u Das felige Leben der Götter im Himmel x. 
außer baß es verbammt garftig, unfreundlich Wetter if. Eja! 
wäre doch Mutter Aja auch bei uns! Auf Merden harren wir, 
wie auf ben Regen ein dürr Land. Sela! — Abe, Tiebe Mutter, 
mit einem großen Kompliment an ven guten lieben Papa! Bes 
halten Sie in gutem Andenken Ihren Sohn Wieland.” Am 30. Mai 
kam Merd in Erfurt an, wohin ihm Goethe entgegengeritten war; 
am 31. warb er von ber herzoglichen Familie freundlich empfangen, 
und er blieb in Weimar heiter und vergnügt bis zum 13. Juni. 
Die guten Nachrichten, welche Merd, der in Begleitung won Ein- 
ſiedel's Frau Aja auf der Rückkehr beſuchte,“ ans eigener An- 
ſchauung von Weimar mitbrachte, werben diefer fehr mohlgethan 
haben, deren Freude zur höchſten Seligkeit ftieg, als ihr Sohn in 
einem Briefe vom 9. Auguft melvete, daß ber Herzog mit ihm 
auf einer im September zu beginnenden Schweizerreife im elter- 
lichen Haufe fein Abfteigequartier nehmen werbe.? „Ich habe alles, 
was ein Menſch verlangen Tann," durfte Goethe Damals ber Mutter 
reiben, „ein Leben, in dem ich mich täglich übe und täglich 
wachſe, und komme biesmal geſund, ohne Leivenfchaft, ohne Ber- 
worrenheit, ohne dumpfes Treiben, fondern wie ein von Gott 
Geliebter, der die Hälfte feines Lebens hingebracht hat, und aus 
vergangenen Leiden manches Gute für die Zukunft hofft, und auch 
für fünftiges Leiden bie Bruſt bemährt hat. Wenn ich euch ver- 
gnügt finde, werde ich mit Luft zurückkehren an bie Arbeit und bie 
Mühe des Tages, die mich erwartet.“ Wohl felten ift einer gleich 

! Die Herzogin Mutter ſchreibt am 2. Augnf an Merk: „Einſiedel 
fagt, er Hätte Mutter Aja fehr-verändert gefunden, Coll digſe gute Bran 
and) immer (eiden?" Die Ieptern Worte follen wohl auf die Leiden und 
Beſchwerden hindeuten, welche der Zuftand des Gatten der Frau Aja machte, 


deren Gefunkfeit und-gute Saune indeflen gang angebracen fi) erhielten. 
2 Riemer II, 98. 95 f. 





480 


liebevollen Mutter ein gleiches Glüd befchert worden, als biefer 
Brief der Frau Aja bereiten mußte. Ihr. Glaube an ihren Wolf- 
gang und fein Schidfal war nicht zu Schanben geworben; er, ber 
in vermorrener Leidenschaft die Baterftabt verlaffen, hatte ſich in 
Weimar, wo ihn die Liebe und Verehrung der Beften und Evelften 
beglückte, männlich durchgekämpft, er war zu wahrer Seelenruhe 
herangereift, ohne ben lecken Muth ‘und bie friſche Glut der Iu- 
gend eingebüßt zu haben. Freundlich durfte der eben dreißig Jahre 
alte Dichter fein Geſchick ſegnen, das ihn diefe Bahn geführt, 
und vol friſchen Muthes und lebendiger Thatkraft Tonnte er der 
hoffnuugsvollen Zufunft in's Antlig ſchauen. 

An einem ſchönen Septemberabend lam Goethe mit dem Her⸗ 
zoge, ber ihn wenige Tage vor ber Abreiſe mit einer bedeutenden 
Gehaltözulage zum Geheimrathe ernannt hatte, im elterlichen 
Haufe an, von wo er am 20. September an Frau von Stein‘ 
fopreibt: „Nur einen guten Morgen vorm Angeſicht? der väter- 
lichen Sonne. Schreiben kaun ich nicht. Wir find am ſchönſten 
Abend hier angelangt, und mit viel freundlichen Gefihtern em=- 
pfangen worden. Meine alten Freunde und Bekannte haben fich 
fehr gefreut. Den Abend unferer Ankunft wurden wir von einen 
Veuerzeihen empfangen, das wir uns zum allerbeften beuteten. 
Meinen Bater hab’ ich verändert angetroffen; er ift ſtiller und fein 
Gevächtnig nimmt ab: meine Mutter ift noch im ihrer alten 
Kraft und Liebe." An allen Orten war großes Staunen über die 
der Welt fo feltfan ſcheinende Reife ‚des Herzogs und feine Ein- 
kehr in Goethe's elterlichen Haufe. „Mögen fte fo glücklich reifen, 
fo wie fie e8 ganz vernünftig und natürlich angeſtellt haben,“ 
ſchreibt Frau von Ta Rode an Merk (Wagner I, 187). „Das 


! Segen diefe hatte er ſchon am 10. September geäußert: „Nach 
Branffurt gegen wir; ich weiß, Sie freuen fi) mit in ber Freude meinen 
Alten.“ 

2 Vor'm Angeficht, wie im „Egmont“ ®. 9, 233, wie auch daſelbſt 
©. 225 nach der erſten Ausgabe herzuftellen iſt. Auch im „Odg“ B. 9, 133 
it wohl vor (Ratt von) dem Angefidt zu fefen. 


481 


Wundern aller der Leute von Adel, Kaufftand und Wirthen ift 
gewiß fehr groß; denn mir find nun wirklich auf dem Fleck, wo das 
Einfachſte uns mehr Staunen macht, als die verworrenfte Kaprize. — 
rau Aja gönne ich von ganzer Seele bie innige Zufriebenheit, die 
biefer Beſuch ihr geben mußte. Mutterfreuden find wohl unter den 
füßeften der Erbe, und ich möchte wohl fagen, daß vielleicht 
feine Mutter lebt, die biefe Freuden fo fehr verdient, 
als’ Fran Goethe. Sie waren aud) glücklich, vertrauter Freund 
und Zufchauer zu fein.“ Diefes Urtheil ift für beide Theile um 
fo ehrenvoller, als diefe Frauen fo fehr verfchiedener Natur waren, 
daß man, wie Nicolovius einmal fagte, eine für bie Satire ber 
"andern halten könnte.“ Goethes Mutter konnte ſich nicht ent- 
halten, die Gefühle ihrer Freude, ber verehrten Herzogin Amalia 
dankbarlichſt auszufprechen. „Bon ber Frau Aja," meldet Fräulein 
von Göhhaufen am 22. Oktober an Merd, „find, ben Aufenthalt 
in Frankfurt betreffend, lange Briefe eingelaufen, die alle von fehr 
tofenfarbenem Humor zeugten, den ihr. ver Himmel Iange erhalten 
wolle! Des Alten feine Geftalt, die Sie mit ein paar Zügen fo 
meifterhaft barftellten, hat mich hoch gefreut. Es mag ihn freilich 
mãchtiglich ergögt haben, daß ber Geheimerath, fein Sohn, ven 
Herzog in Frankfurt fehn ließ.“ Wie großes Zutrauen die Her- 
zogin auf Goethe's Mutter geſetzt hatte, zeigt unter anderm ber 
Brief an Merd vom 4. November 1779, dem fie einen ſatiriſchen, 
mit Heinen Veränderungen und Holzſchnitten verfehenen Abdruck 
von Facobi’8 „Woldemar” zufandte, mit ver -Bitte, ihn vor der 
Hand noch ganz allein, für ſich zu behalten, höchſtens der Frau 
Aja mitzutheifen. In bemfelben Briefe heißt es: „Die Nachrichten, 
die ih von ben Reifenben befomme, machen mir öfter8-ben Kopf 
ſchwindelig. Es thut weh, von nichts als den herrlichen Sachen zu 
hören, und fi) ihnen nicht anders als durch ein trübes Fernglas 
nähern zu können. Doch gönn’ ich's ihnen von Herzen, und mach's, 
wie bie Frau Aja, ſchüttele mich ein paarmal, fege mich an's 
Klavier ober zeichne; da werben bie Ideen wieder couleur de rose.“ 
A. Nicolovius „Denkfhrift auf ©. H. L. Nicolovins S. 121. 
Dünger, Frauenbilder. a 3 





482 


In den legten Tagen des Jahres kehrten bie beiden Reiſenden 
nad Frankfurt zurück, wo Goethe fich körperlich nicht zum beften 
befand. * Am 13. Januar famen fie wieder in Weimar an, wo- 
bie halbe Stadt an der Influenza litt, die au den Herzog und 
Goethe ergriff. Erſterer ſchreibt am 31. Januar an Merd: „Der 
Frau Aja Wein hat mir treffliche Dienfte geleiftet, und hätte ich 
nicht noch etwas Phlogifton davon in mir gehabt, wahrlich ver 
entſetzliche Schnupfen hätte mich übermannt. Aber wegen der Frau 
Aja vente ich fo: hierbei ſchicke ich daB, was ich wünſchte, daß Die 
Frau Aja gebrauchen wollte. Es muß von ihr uicht anders als 
folgendermaßen angenommen werben. 1) ift es fein Präfent. Sie 
hat mir viel Gefallen gethan, da ich ihrer fehr.nöthig hatte, um 
nicht Fir mein Geld fehledht im „rothen Haus“ > zu wohnen. Ihr 
macht jegt das Nichtvafein des Geldes große Unannehmlichkeiten, 
und ein Gefallen ift bes andern wert. 2) erfährt der Eöniglich- 
Taiferliche. Herr "Rath nichts davon, fondern dem wirb mein ver- 
fleinerter Kopf zum Aufftellen übermacht. 3) erfährt Goethe nichts 
davon, weder heute, noch je.” Mer ſcheint biefen Wunſch des 
Herzogs, der bie Enappe Genauigkeit des Herrn Rath kannte, durch 
feine Vermittelung durchgefegt zu haben; ver Herzog aber ließ es 
auch in feinen folgenden an Mer gerichteten Briefen- nit an 
Grüßen an Frau Aja fehlen, welcher er gern felbft ſchreiben möchte. 

Wieland, der fi im vorigen Auguft darüber beffagt hatte, 
daß Goethes Mutter ihn ganz vergeffen zu haben ſcheine (Wagner 
1, 174), ſchreibt im Mei in feinem fliegenden Enthuſiasmus: „Ich 

hab' inzwifhen von Frau Aja einen großen Brief erhalten, der 
mich auf etliche Tage guter Laune gemacht hat. Es geht in ver 
Welt nichts über die Weiber von diefer Art, um ſich von Poeten 
und Propheten gefangen nehmen zu laſſen. rau Aja ift die 


* Vgl. den Brief an Merk I, 227. . 

2 Beim Gaſtwirth Die, im jegigen Poſtgebände. Bel. Briefe von 
Goethe und deſſen Mutter an Briebrid von Stein. ©. 111. Der Herzog 
war früher im „Mömifchen Kaifer“ abgeftiegen, felne Mutter dagegen 1778 
im „rothen Haufe” (Merd I, 308). 


483 
Königin aller Weiber, die Herz und Sinnen des Verftänbniffes haben; 
und bem Himmel fei Dank, daß es auch hier einige gibt, bie werth 
find, unter ihrer Fahne zu dienen!“ Wie groß wird ber Jubel 
biefer gewefen fein, als fie ihres Sohnes von übermüthigem Witze 
fprubelnde „Vögel“ erhielt, die auf dem Ettersburger Theater alle 
Anweſenden höchlich entzücten! * 

Im September wird wahrfcheinlich Knebel auf feiner Rückreiſe 
bei ber Frau Rath eingeſprochen haben.” Auch die Herzogin 
Amalia kam im Herbfte wieder nad) Frankfurt, wo fie Goethe's 
Mutter wievergefehen haben wird; leider hatte fie ihren Merck nicht 
zu Haufe gefunden. ? Eine ſchwere Sranfheit befiel kurz darauf 
den alten Goethe, wie bie befümmerte Mutter gegen den 20. Ol- 
tober dem Sohne melvete. * 

Um die Mitte des folgenden Jahres (1781) hatte fih an 
mandyen Orten das Gerücht von Goethes geſchwächter Gefunbheit 
verbreitet, worüber Wieland ſchon am 11. Yuli feinen Freund 
Merk zu beruhigen ſuchte. Auch die Mutter hatte dieſes Geſchwätz 
in Sorge und Unruhe verfegt, wovon er felbft fie in einem herr- 
lichen Briefe vom 11. Auguft befreite. ° „Ich bitte Sie, um 
meinetwillen unbeforgt zu fein,“ fehreibt er, „und ſich durch nichts 
iere machen zu laſſen. Meine Geſundheit iſt weit beffer, als ich 
fie im vorigen Jahre vermuthen und hoffen Tonnte, und, ba fie 
hinreicht, um dasjenige, was mir auffiegt, wenigftens größtentheils 
zu thun, fo habe ich allerdings Urſache, damit zufrieven zu fein.“ 
Seine Sage habe ungeachtet großer Beſchwerniſſe für ihm aud) 
ſehr viel Erwünſchtes, was von Merk und anderen überſehen 
werbe, die nur das berüdfichtigten, was er aufopfere, nicht das, 





* Dan vergleiche die Briefe ber Herzogin Mutter und Wieland's bei 
Wagner I, 256. 259. „Du find fie („die Vögel") in Srankfurt,“ fhreibt 
Goeihe am 43. Auguſt an Knebel, „wo du nun doch durd mußt.“ 

2 Ende September war Mnebel wieder in Meimar. Vgl. Knebele 
Nachlaß I, 125. 

® Bol. bie Merdiſchen Briefe I, 263. 274 f. 277. Wagner I, XXIV irrt. 

“Bol. Coethe's Brief an Frau von Stein vom 25. Oftober 4780. 

5 Bei Riemer II, 130 f. 


484 





was er getwinne. „Sie erinnern ſich ber legten Zeiten, bie ich 
bei Ihnen, ehe ich hierher ging, zubrachte; unter folden fortwäh- 
renden Umftänben wilrde ich gewiß zu Grunde gegangen fein. Das 
Unverhältniß bes engen und langſam beivegten bürgerlichen Kreifes 
zu ber Weite unb Geſchwindigkeit meines Wefens hätte mid, raſend 
gemacht. Bei der Iebhaften Einbildung und Ahnung menſchlicher 
Dinge wäre id; doch immer unbefannt mit der Welt und in einer 
ewigen Kindheit geblieben, melde meift durch Eigendünkel und alle 
verwandte Fehler ſich umd anderen unerträglich, wird. Wie viel 
glüdlicder war es, mic, in ein Verhältniß gefegt zu fehn, dem ich 
von Feiner Seite gewachſen war, wo id burh mande Fehler 
des Unbegriffs und der Uebereilung mi und andere 
kennen zu lernen Gelegenheit genug hatte, wo ih, mir felbft und 
dem Schickſal überlaffen, durch fo viele Prüfungen ging, bie fo 
vielen hundert Menſchen nicht nöthig fein mögen, beren ich aber 
zu meiner Ausbildung äußerft bebürftig war. Und noch: jet, 
wie Könnte ich mir, nad) meiner Art zu fein, einen glüdlichern 
Zuftand wünſchen, als einen, ber für mid, etwas Unendliches hat! 
Denn wenn ſich auch in mir täglich nene Fähigkeiten entiwidelten, 
meine Begriffe fi immer aushellten, meine Kraft ſich vermehrte, 
meine Unterſcheidung ſich berihtigte und mein Muth Iebhafter 
würde, fo fänbe ich doch täglich Gelegenheit, alle diefe Eigenſchaſten 
bald im großen, bald im Meinen anzuwenden.“ Er fei fo weit 
entfernt von der hypochondriſchen Unruhe fo vieler Menfchen, be» 
merkt er, daß nur bie wichtigften Betrachtungen ober ganz fonber- 
bare, unerwartete Fälle ihn beftimmen könnten, feinen Boften zu 
verlaffen. „Und unverantwortlich wäre e8 auch gegen mich felbft, 
wenn ich zu einer Zeit, da bie gepflanzten Bäume zu wachfen an— 
fangen, und da man hoffen Tann, bei der Ernte das Unkraut von 
dem Waizen zu fondern, aus irgenb einer Unbehaglichkeit bavon- “ 
ginge, und mic) ſelbſt um Schatten, Früchte und Ernte bringen 
wollte." Da man vermuthlic auch geäußert ‚Hatte, es fehle ihn 
die nöthige Freiheit, fo gefteht er der Mutter: „Indeß glauben 
Sie mir, daß ein großer Theil des guten Muths, womit ich trage 





\ 485 


und wirke, aus dem Gedanlen quillt, daß alle diefe Aufopfe- 
rungen freiwillig find, und daß id nur bürfte Poflpferbe 
anfpannen Iaffen, * um das Nothbürftige und Angenehme des Lebens 
mit einer umbebingten Ruhe bei Ihnen wieterzufinden: denn ohne 
diefe Ausſicht, und wenn id) mich in Stunden bed Verdruſſes als 
Leibeigenen und Tagelöhner ‚um der Beblrfniffe willen anfehn 
müßte, würbe mir manches viel faurer werben." Frau Aja mußte 
ſich nicht allein durch die Berfiherung tes Sohnes, daß er ſich wohl 
befinde, fonbern auch durch bie offene, freie und große Weiſe erfreut 
fühlen, wie ex ſich über feine ganze Stellung ihr gegenüber ausſprach. 
Das am Anfange des Jahres biktirte „Geſpräch über bie 
deutſche Literatur”, melches gegen die befannte, zugleich mit Dohm's 
Ueberfegung erſchienene Schrift bes großen Preußenkönigs: De la 
litt6rature Allemande gerichtet war, theilte Goethe der Mutter 
in der Handſchrift mit; er hatte bie Abſicht, noch ein zweites Ge- 
ſpräch Hinzuzufügen, unterließ dies aber fpäter, meil er bie rechte 
Zeit der Luft hatte vorübergehn laffen.? Auf wieberholtes Zu- * 
even „ber Herzogin Mutter entſchloß Goethe fi im November 
dieſes Jahres, ſich ein Haus in ber Stabt zu miethen, was jene 
fofort als einen über ihn errungenen Sieg mit höchfter Freude ver 
Mutter mittheilt, wobei fie die Bemerkung nicht unterläßt, fie habe 
ihm verfprochen, ba er fein artig fei, ihm auch einige Möbel in 
die neue Wohnung machen zu laſſen.“ „Diefen Winter bleib’ ich 
noch bier haufen in meinem Nefte,“ fehreibt er am 14. November 
1781 (Wagner U, 259) an Merd; „künftig hab’ ich aud ein 
Quartier in der Stadt, das hübſch liegt und geräumig ift. Ich 
richte mich ein im biefer Welt, ohne ein Haar breit von dem Weſen 
nadhzugeben, was mid) innerlich erhält und glücklich macht,“ Um 


Bgal. oben ©. 460 ven Brief des Kammerjunfers von Kalb. 

2 Dal. Wagner 1. 308. II, 258. (Der Icptere Brief wird ireig vom 
Jahre 1782 datirt; er gehört in das Jahr 1784, wie nach manden Er— 
wähnungen unverfennbar iR.) Briefe an Sran von Stein II, 21.23. 39. 
Riemer I, 433 f. 

3 Vgl. Riemer II, 150. 157 ff. Briefe an rau von Stein IT, 113. 


486 


Weihnachten dichtete er „ons Neuefte von Plundersmeilern“ zu einem 
ber Herzogin Mutter verehrten, die neuefte deutſche Litteratur ſcherz⸗ 
haft darftelenben Gemälde. Frau Aja wird auch diefes bald mit- 
telbar ober unmittelbar von ihrem Sohne erhalten und ſich daran 
herzlich erfreut Haben. * Daß Goethe mit ver Mutter in fortmäh- 
render freunblichfter Verbindung blieb, beweist die Aeußerung vom 
Februar 1782 an Frau von Stein (IT, 156): „Mit einem guten 
Morgen fchid’ ich meiner Beſten einen Brief von meiner Mutter, 
um ſich an dem Leben drinne zu ergötzen.“ 

Drei Monate fpäter hatte Frau Aja ihm den Tod bes Vaters 
zu melben, ver bie Ießtere Zeit über ſehr abgenommen hatte.?2 Nah . 
einer ans guter Quelle ung zugefommenen Nachricht foll der alte, 
bei feinem Tode faft zweiunbfiehzigjährige Dann im ber leiten Zeit 
ganz geiſtesabweſend gewefen. fein, und ſich öfter die Kleider durch- 
geſchnitten haben; doch wurde dieſer Umftand von der Familie fireng 
verheimlicht. „Goethens Vater ift ja num abgeftrihen, und bie 
Mutter Tann nun endlich Luft ſchöpfen,“ fehreibt der Herzog, der 
felbft vor drei Jahren in Goethes Haufe einige Tage verweilt 

* Eine Anfpielung auf jenes Scherzgedicht finden wir in einem Briefe 
ber Frau Rath an die Herzogin Mutter vom 1. März 1783. Bräufein 
von Goͤchhauſen fehreibt am 11. Februar 1782 an Merk: „Noch etwas ift 
diefen Winter, zu Stande gefommen, wovon ih aber nichts ſchreibe, weil 
iche vielleicht bald ſelbſt ſchiden kann, und wahre Effenz für Dero Magen 
fein wird. Daß hier „das Neueſte von Plundersweilern“ gemeint fel, bes 
merft Riemer (II. 144) richtig, ohne den verſprochenen Beweis zu liefern, 
daß biefes Gedicht Weihnachten 1781, nicht, wie in Goethes Werken ſteht, 
4780, eutſtauden fei, welche leptere Angabe Viehoff und Schaefer befolgen. 
Auf das zu jenem, Gedichte gehörende Gemälde beziehen fih der Brief der 
Herzogin Amalia an Kuebel vom 15. Iannar 1782 und Goethes Brief 
au Frau von Stein vom 20. Dezember 1784. Das Gemälde befindet fih 
in Goethes Sammlungen. gl. Zeitung für die elegante Welt 1823 
Nr. Al ©. 341. Chr. Schucardt „Ovetpe's Kunſtſammlungen“ I, 336, wo 
wohl bie Bezeichnung: „Der Jahrmarkt zu Pinndersweilern" irrig iR. ' 

7 Er flarb den 24, oder 25. Mat, nicht, wie allgemein angegeben 
wird, den 27.; am leptern Tage warb er begraben (Maria Bell" VII, 16). 
Im Kirchenbuche ſteht, wie nicht felten (Sappenberg ©. 279), nur der 
Tag der Beerdigung. 


hatte, am 30. Mai! an Merd, „Die böfen Zungen geben Ihnen 
Schuld, daß Sie wohl gar bei dieſem Unglüd im Stande wären 
zu behaupten, daß biefer Abmarſch mohl ver einzige geſcheide 
Streich wäre, ben ber Alte je gemacht hätte.” Außer ber knap- 

" "pen Genauigfeit mag bie Krankheit und Abnahme der Geiftesfräfte 
bes Gatten der Mutter viele trübe Stunden gemacht haben, doch 
wird fie ihm herzlich betranert haben, wenn auch der Schmerz nicht 
ſehr nachhaltig wirken Yonnte, Die Todesnachricht traf den Dichter 
gerabe während der Unruhe bes Umzugs in vie Stabt; ? wenige 
Tage darauf empfing er das Diplom feiner vom Herzog betriebenen 
Erhebung in ven Abelftand, ? und im Juni wurde er vom Herzog 
mit neuen, zeitraubenden Geſchäften beauftragt, vie befonbers- in 
der erften Zeit feine Anmefenheit in Weimar nöthig machten, * fo 
daß er unmöglich, die Mutter zu tröften, nad) Frankfurt gehn 
Konnte. Die damals zwiſchen Mutter und Sohn gewechſelten Briefe 
find uns Bisher Leider unzugänglich. Auch der Herzogin Mutter 
meldete Frau Aja ohne Zweifel den Todesfall, worauf es nicht 
an einer freundlich teilnehmenden Erwiederung gefehlt Haben wirb. 
Das im Sommer im Park zu Tiefurt an der Im aufgeführte er- 
gotzliche Wald- uud Waffervrama, „bie-Fifherin“, wird bie Frau 
Aja eben fo ergötzt haben, wie das herrliche, ſchon im März voll- 
endete Gebicht „auf Mieding's Tod“ fie zu innigfter Ruhrung -hin- 
reißen mußte. 

Im Herbfte wurde fie durch einen Beſuch des Schloſſer'ſchen 
Ehepaares erfreut, das in Begleitung ihrer "beiden damals zuerft 
geſehenen Enkelinnen auf einer Aheinreife Frankfurt berührte. Bei 

Bei Wagner II, 209 iſt der Brief irrig vom 30. März datirt. 

? Am 2. Juni ſchrieb er zuerft feiner liebſten Sreuindin, der Frau von 
Stein, aus feiner nenen Wohnung. Val. Briefe an Frau von Gtein 
11, 199. 209; an Kuebel I, 88. 

® Bol. Briefe an rau von. Stein IL, 114. 210. 

Vogsel „Goethe in amtlichem Verpältnig" S. 4 f., wo, wie fon . 
Viehoff IT, 500 bemerkt, Juni ſtatt Januar zu lefen if. Wagner 
1,335 f. II. 190 f. Kuebel's Nachlaß I, 139 f. Briefe an Fran von Stein 
11, 211; au Knebel I, 34 f. \ 


488 


ihrer Nüdreife gedachten fie einer Schuld, in welcher Goethe noch 

bei feinem ſich tief verlegt fühlenden Freunde Jacobi ftehe. Der t 
Dichter Übertrug die Beſorgung der Sache feiner Mutter. ' „Bon 
meiner Mutter hab’ ich (bei meiner Rückkehr) einen Brief gefunden,“ 
ſchreibt er am 2. Oftober an Frau von Stein, „der, vortrefflich " 
if. So lang ih eud beide habe, fann mir's an nichts 
fehlen.” Bon Frau Aja ift ung ein am 22. Oftober an die 
Herzogin Mutter, die ſich nad) ihrem Befinden erkundigt hatte, ge- 
vichteter Brief erhalten.” „Was dem müden Wanderer,“ beginnt j 
fie, „ein Ruheplätzchen, dem Durftigen eine Mare Duelle, und I 
alles, was fih num noch dahin zählen läßt, was die armen Sterb- 

lichen ftärft und erlabt, war das gnäbige Andenken unferer beften 

Fürftin! Du biſt alfo noch nicht in Vergeffenheit gerathen, bie . 
thenerfte Fürſtin denft noch an did, fragt nach deinem Befinden! 

— Tauſendfacher Dank fei Ihro Durdlaucht dafiir gebracht!" 

Sie bemerkt, fie made fo wenig, als möglih, und das wenige 

noch oben darauf von Herzen ſchlecht, wie es nicht anders möglich \ 
ſei. „Wenn die Quellen abgeleitet ober verftopft find, wird ber 

tieffte Brunnen leer; ich grabe zwar ale nad) friſchen, aber ent- 

weder geben fie gar fein Wafler, ober find ganz trübe, und beibes 

ift dann freilich fehr ſchlimm. Die noble Allegorie Fönnte ih nun 

bis in's unendliche fortführen, Tönnte fagen, dag um nicht (vor) 

Durft zu fterben, ih jest mineralifch Waſſer tränfe, welches fonft 

eigentlich nur für Kranke gehört u. ſ. w. Gemiß, viele ſchöne 

Sachen ließen ſich hier noch anbringen — aber ber Wit, ver Wig! 

den Habe id) immer für Zugluft gehalten; er Tühlt.wohl, aber man 

befommt einen fteifen Hals bavon. Alſo ohne alle den Schnid-- 

ſchnack! Ale Freuden, die ich jegt genießen will, muß id) bei Frem⸗ 

den, muß ich außer meinem Haus ſuchen: denn da iſt's ſo ſtill 

umb öbe, wie auf dem Kirchhof. Sonft war's freilid ganz um- 

gefehrt; doch da’ in der Natur nichts an feiner Stelle bleibt, fondern 

fih in ewigem Kreislauf herumbreht, wie Fonnte ich mich da zur 

Briefwechſel zwifchen Goethe und Jacobi S. 59 f. 
2 Beimar’s Abum ©, 115 f., 





489 


Ausnahme machen? — Nein, fo abfurd denft Frau Aa nicht. 
Wer wird fi) grämen, daß nicht immer Vollmond ift; und daß 
die Sonne jetzt nicht fo warm macht, wie im Julius? — Nur 
das Gegentwärtige gut gebraucht und gar nicht dran gebacht, daß 
es anders fein Könnte! So kommt man am beften durch die Welt 
— und das Durchkommen ift doch (alles wohl überlegt) die Haupte 
ſache.“ Die Herzogin, heißt e8 weiter, werde hieraus erfehn, bag 
Frau Aja nody immer Fran Aa fei, ihren guten Humor beibe- 
halten habe, umb alles thue, um bei guter Laune zu bleiben, wobei 
ihr die Tabor'ſche Schauſpielergeſellſchaft gute Dienfte leiften werde, 
bie. fie zu Frankfurt den ’ganzen Winter über haben würben. ' Die 
Freude ber heiter Iebhaften Frau darüber ift um fo größer, als 
fie die Ausſicht hat, auch Bald ein Stüd ihres Sohues won ben 
Brettern herab zu bewundern; gerabe bie dramatiſchen Arbeiten 
ihres Wolfgang machen das Theater ihr ganz beſonders anziehend. 
„Da wird gegeigt! ba wird trompetet!“ ſchreibt fie. „Da, den 
Teufel möchte ich ſehn, ver Kourage Hätte, einen mit ſchwarzem 
Blute zu infommobiren! — Ein einziger Sir John Yalftaff- treibt 
ihn zu Paaren. — Das war ein Gaudium mit dem biden Kerl! 
— Ehriften und Juden, alles lachte fi) die Galle vom Herzen. 
Diefe Woche fehen wir. auch „Clavigo“. Da geht ganz Frankfurt 
 Hinein; alle Logen find ſchon beſtellt. Das ift für fo eine Reichs- 
ftabt allemal ein gar großer Spaß!" Welde eine Freude mag bei 
"Da A Koften der Stadt erbaute Theater wurde am 2, September 
4782 vom kurkölniſchen Hofſchauſpieldireltor ©. Br. W. Großmann mit dem 
Schauſpiel von Joh. Epriftian Bock: „Hanno, Fürſt in Norden,“ eröffnet 
(Maria Belli VII, 9), doch ſcheint Großmann uur während der Meßzeit 
gefpielt zu haben. Erſt im folgenden Jahre übernahm er die Direktion 
der Theater zu Main und Frankfurt. Auch eine italiänifche Oper befand 
ſich in den erften Monaten des Jahres 1783 zu Branffurt (Maria Belli VII, 
33. 25 f.). In den vorhergehenden Jahren hatten die Großmannifhe, die 
Marchand'ſche (Goethe B. 22, 301. 32, 249 f.), die Seiler ſche (B. 35, 339), 
die Hartmanniſche und andere Gefelfepaften, beſonders zur Meß- und Karnes 
valszeit, in Srauffurt gefpielt, Bel. Marie Bell VI, 92. 140. 193. 135 f. 
138. 148 f. 164. 





490 


dieſer Aufführung das von Liebe und Begeiſterung glühende Mutter- 
berz empfunden haben! 

. Bei dem innigen Antheile, welchen Frau Aja an ven Freuden 
und Leiden des herzoglichen Haufes nahm, mußte die Nachricht von 
ver längft erfehnten, am, 2. Februar glücklich erfolgten Geburt eines 
Erbpringen ' ihre Seele mit jubelnder Freude erfreuen. „Rum, 
lieber Sohn!" ſchreibt fie am 21. Februar 1783 ihrem Wolf- 
gang, ? „ihre werbet doch auch an der großen Freude Theil genom- 
men haben, bie jegt ganz Weimar belebt. Ich für mein Theil war 
wie närrifh:. denn überlegt nur, kein Wort von ber Schwanger 
ſchaft zu wiffen, und auf einmal eine fo fröhliche Botſchaft! Das 
lann ich ſchwören, lange, lange war mir nicht fo felig wohl. - Aber, 
lieber Freund, warum fait ihr mir denn bie „Iphigenie“ nicht? 
Bor länger als vier Wochen bat ich eu drum.® Auch nicht ein- 
-mal eine Zeile Antwort! Ich will nicht hoffen, daß ihr Frank ſeid, 
eben fo wenig, baß ihr mich vergeffen habt. Laßt bald mas von 
euch hören! Das wird herzlich; freuen diejenige, bie ift und bleibt 
eure wahre Freundin, 8. E. Goethe." Wieland und Herder dich- 
teten Kantaten auf das fir deri ganzen Weimarifchen Staat fo frohe, 
als folgenreiche Ereigniß, wogegen Goethe, eben weil er bie Wich- 
tigkeit deſſelben tief fühlte, es nur zu einem Heinen Liede (B. 6, 15) 
bringen konnte. „Wir haben uns in feine große und Toftfpielige 
Veierlichfeiten ausgelaſſen,“ ſchreibt er an Merd am 17. Februar, 

Er war nicht, wie man behauptet hat, das erſte Kid der herzog⸗ 
lichen Che; dieſes war die Prinzefin Luiſe Angufte Amalia, geboren am 
3. vebrnar 4779, geftorben am 24. März 1784. Eine zweite Prinzeffin 
farb gleich mach der Geburt am 40. September 1781. Bol. Wagner 
1, 418. Goethes Briefe an Iran von Stein III, 29 f. an Knebel I, 50. 
SCHÖN „Weimars Mertwürdigfeiten" ©. 43. 

2 Bei Wagner 1, 377. 

Nach diefer war damals ein allgemeines Verlangen. Gegen Weib: 
nachten 1781 wollte er eine Abfchrift für den General Koch an Ravater ſchiden 
(Goethes Briefe an Lavater Nro. 37). An Jacobi fendet er fie am 17. No— 
vember 1782, und erhielt ſie gegen den Auguſt 1783 zurüd. Daffelbe Eremplar 
fol einen Monat darauf Seidel nach Gvethe'ö Aenferung im Briefe an Jacobi 
vom 30. Dezember 1783 der Mutter überfhict Haben. 


491 
nachdem er bie Hoffnung ausgeſprochen hat, daß fie bie guten 
Einflüffe dieſes erwünfchten Knaben immer mehr fpiren möchten. 
„Doch ift alles rege, befonders rühren ſich alle poetiſche Adern und 
Quellen, groß und Mein, lauter und unrein, wie bu dich einmal, 
wenn bu bie Mutter befuchft, durch den Augenſchein überzeugen 
tannſt.“ Letztere fpricht in ihrem Briefe vom 1. März der Her- 
zogin Amalia ihre höchſte Freude über bie Geburt des Erbprinzen 
aus. Sie würde es, Außert fie, ihrem Sohn und Wieland nicht 
verzeihen, wenn fie bei dieſer Gelegenheit ihren Pegaſus nicht weiblich 
tummelten; freilich Tomme es ihr vor, als menn ihr Sohn ſich 
etwas mit ben Mufen bronllirt habe, doch alte Liebe roſte nicht, 
und fo würden fie auf feine Ruf ſchon bald wieber bei der Hand 
fein. „Ich befinde mich, Gott fei Dank! gefunb, vergnügt und 
fröhlichen Herzens, fuche mic mein bißchen Leben noch fo angenehm 
zu machen, als möglich. Doch liebe ich feine Freude, die mit 
Unruhe, Wirrwarr und Unbequemlichleit verfnäpft ift: denn bie 
Ruhe liebte id) von jeher — und meinem Leichnam thue id; gar 
gerne bie gebührende Ehre. Morgens bejorge ich meine Heine Haus» 
haltung und übrigen Geſchäfte; auch werden da Briefe gefchrieben. 
Eine fo lächerliche Korreſpondenz hat nicht leicht jemand außer mir. 
Alle Monate räume ich mein Schreibpult auf, aber ohne Lachen 
kann ich das niemals tun. Es fieht darin aus, wie im Himmel: 
alle Rangorbnung aufgehoben, Hohe und Geringe, Fromme und 
Zöllner und Simder — alles auf einem Haufen; der Brief vom 
feommen Lavater liegt ganz ohne Groll beim Schaufpieler Große 
mann. ? Nadmittags haben meine Freunde das Recht, mic zu 
befuchen, aber um vier Uhr muß alles wieder fort. Dann Heide 
ich mid) an — fahre entweber in's Schaufpiel oder mache Beſuche, 
komme um neum Uhr wieber nach Haufe. Das ift es num fo un- 
gefähr, was ich treibe. Doch das Befte hätte ich bald vergeſſen! 
Id wohne in der langen Gaffen, die man für Lefer 


' BWeimar's Album ©. 116 f. _ 
2 Die Gefeliſchaft veffelben hatte ſchon zur Oſtermeſſe 1780 zu Sranf- 
furt geſpielt. Bel. auch S. 489 Note 1. 





erbauen laffen.“ ‘ Unter ben befreundeten Familien bürften bie 
Familign Erespel, Brentano und Stod wohl zu den vertrauteften 
gehört haben. Bei der letztern — Yalob Stod kam im Jahre 1791 
in ben Rath; feine Gattin war eine geborene Morig — fpeiste 
die Frau Rath nah dem Tode ihres Gatten jeven Sonntag zu 
Mittag, und verkehrte in ihrem Haufe, wo Künſtler und Gelehrte 
gern gefehen wurden, auch fonft ſehr viel. Hätere Freude und 
Munterfeit liebte fie bis in ihre Ießten Tage. Doch hatte fie bie 
Gewohnheit bei fröhlichen Feſten die Fenſterladen zu fließen, weil 
zur Schau getragene Freude leicht Neid errege. ? 

Am 6. November machte Goethe mit dem zehnjährigen Sohne 
der Frau von Stein eine Reife auf den Harz, welche er auf ben 
Wunſch des Knaben bis Kaſſel ausvehnen mußte. „Wenn es Brigen 
(vdem ihn begleitenden Knaben) nad) ginge,“ fehreibt er am 2. Of- 
tober an Frau von Stein, „fo müßte ih nad) Frankfurt; er plagt 
mid, und thut alles, mich zu bereven. Wenn ich ihm fage, 
feine Mutter fei allein, fo verſichert er mir, bie meine, würbe ein 
großes Vergnügen haben, uns zu fehn u. ſ. w.“ Schon, früher 
Teint die Neife nad; Frankfurt zur Sprache gefommen zu - fein, 
die aber, weil er nicht zu lange von Haufe und ver ihn fo un- 
wiberftehlich anziehenden Frau von Stein entfernt bleiben wollte, 
aufgegeben worden zu fein ſcheint. „Sch treibe ihn fort, fo viel 
ich kann,“ hatte der Herzog am 18. Auguft an Merk geſchrieben. 
„Seine Gefunpheit ift jegt beffer, als fie dieſen Winter war.“ 

"Auf einen Brief der Herzogin Mutter antwortet Frau Aja 
am 5. Oftober:? „Daß mein Sohn dem durchlauchtigſten Herzog 
von Braunſchweig wohl gefallen, that mir gar fanft an- meinem 
mötterfichen Herzen. * — Beinahe geht's mir, wie dem alten Ritter, 





* Diefe Anfpielung auf „das Neueſte in Pinnbersweilern" (vgl. oben 
©. 486 Note 1) fol fie als fleifige Leferin bezeichnen. ° 

? Bl. Maria Belli IM, 92 f.* 

3 Weimars Album ©. 119 f. 

“Am 14. September Hatte Goethe in Halberſtadt einen Tag in der 
Nähe des Herzogs von Brauuſchweig zugebracht, der dorthin mit feiner 


493 


den Geron, der Adelige, in einer Höhle antraf, und ber mitunter 
bloß davon lebte, weil ihm die Geifter fo viel gute Nachrichten 
von feinem Entel Heftor überbrachten. ' — Was habe ich nur biefe 
Meſſe wieder für Lebensbalfam gekriegt!” Nun Gott fei einig dafür 
gepriefen.“ Im vemfelben Briefe Heißt es: „Da Ihro Durchlaucht 
die Gnade Haben, mich zu fragen, was id made, mie ich mic 
befinbe, fo geht’ bei mir immer ven alten Gang fort, gefund, 
vergnügt, luſtig und fröhlich, zumal bei dem herrlichen Herbft und 
vortrefflichen Wetter. Den 3. war das große Bacchusfeft. Es war 
eine Luft, ein Gejauchze! — Trauben, wie in Kanaan! die Hüll 
und die FÜ’! Im meinem Meinen Weinberg weit über ein Stid. 
Aber da gab's auch unendliche Schweinebraten!!!" Doc} gegen Ende 
des Jahres wurde bie Mutter wieder durch ein Gerede von ber 
ſchlechten Gefunbheit des Sohnes, feiner Gebrüdtheit an Leib und 
Seele, in Sorge gejegt, welches diesmal Betti Jacobi, die wahr- 
ſcheinlich durch Herber’s Gattin davon vernommen hatte, verbreitet 
und ımmittelbar ver Frau Aja mitgetheilt zu Haben ſcheint, wie 
das frühere Geklatſch durch Goethes Freund, den Komponijten 
Kayfer, aufgelommen mar. ı In Goethe's beruhigender Antwort 
an bie Mutter vom Dezember heißt e8:° „Beau, Betti hat übrigens 
gegen alle Lebensart gehandelt, gegen alles mütterliche Gefühl, daß 


Schwefter, der Herzogin Mutter, und feiner. Familie gefommeiL war. Bol. 
Goethes Briefe an: Fran von Stein II. 397 f. _ 

! Anfpielung auf die im Iannar und Februar 1777 im „Merkur er- 
fgienene Erpäplung Wieland’s „Beron der Übeliger (Werke 8. 14, 111 f), 
nach dem frangöfifcpen Gyron le courlois. Bgl. Wagners Sammlung 
1. 408. 11, 86. Indeſſen trifft die Anſpielung nicht zu; denn bei Wieland 
findet der Nitter in der Höhle Geron, den Aeltern, ber von demjenigen lebt, 
was von Zeit zu Zeit die Geifter von feinem Enkel melden, der den Namen 
„Geron, der Adelige,“ führt. Ein Freund des ältern Geron, Heftor, der 
Branne, vettete dem jüngern Geron als Knaben das Leben. Vol. Wie- 
land ©. 11, 18 f. 

2 Dan denfe nur je nicht an Bücher, welche bie Gerbftmeffe gebracht, 
fondern an hoͤchſt anerfennende Urteile Über den Sohn und Nachrichten 
von den Frankfurt zur Meßgeit hefuchenden Fremden. 

® Riemer II, 178 f. 


494 





fle Ihnen mit einer ſolchen Klatſcherei nur einen Augenblick ver- 
verben konnte, als die Nachricht von mir iſt. Sie haben mich 
nie mit dickem Kopfe uud Bauche gelannt, und daß man von ernſt ⸗ 
haften Sachen ernfthaft wird, ift auch natürlich, befondets wenn 
man von Natur nachdenklich iſt und das Gute und Rechte in ber 
Belt will. Laſſen Sie uns hübſch dieſes Jahr daher als Gefchent 
annehnen, wie wie überhaupt unfer ganzes Leben anzufehn haben, 
und jedes Jahr, das zurüdgelegt wird, mit Dank erkennen. Ich 
bin nad) meiner Konftitution wohl, kann meinen Sachen vorftehn, 
den Umgang guter Freunde genießen, und "behalte noch Zeit und 
Kräfte fir ein und andere Lieblingsbefchäftigung. Ich wüßte nicht, 
mir einen beſſern Plag zu denken ‚oder zu erfinnen, ha ich einmal 
die Welt Fenne, und mir es nicht verborgen ift, wie es ‚hinter ben 
‚Bergen ausfieht. Sie, von Ihrer Seite, vergnügen Sie fih an 
meinem Dafein jegt, und wenn ich auch vor- Ihnen aus der Welt 
. gehn follte, ich Habe Ihnen nicht zus Schande gelebt, hinterlaffe 
gute Freunde und einen guten. Namen, und fo Tann e8 Ihnen ver 
befte Troft fein, daß ich nicht ganz Rerbe.' Indeſſen leben Sie 
ruhig! Vielleicht gibt und das Schichſal noch ein anmuthiges Alter 
zufammen, das wir denn auch mit Dank ausleben wollen.“ Die 
ruhige Würbe, mit welder der Dichter jenes ſchwatzhafte Gerede 
zurückwies, mußte ver Mutter zur berzlichften "Freude gereichen, 
welche im Laufe des Jahres fih an. ven drei erften Büchern bes 
„Wilhelnt Meifter“ in der erften Bearbeitung erfreut hatte. Goethe 
hatte diefe, in ein Kiftchen gepadt, bereits im Mai an Knebel in 
Nürnberg mit der Bitte gefanbe, fie, nachdem er fie- gelefen, an 
feine Mutter nad) Frankfurt zu Beforgen, die ſehnlich darauf warte. 
Im Dezember erhielt Knebel das vierte Bud, das er, in Pappe 
gebunden, gleichfalls an die Mutter gelangen laſſen möge,? ver Goethe 
auch die Yortfegung, fo weit fie ihm bis zur Reife nach Italien 

gelaug, nicht vorenthalten haben wird. 
Der“ junge, feit feinem neunten Jahre in Goethes Haus 

! Non omnis moriar. Hor. carm. III, 30. 6. 
? Briefmechfel zwifchen Goethe und Kuebel 1, 43. 45 f. 48 f. 


495 


aufgenommene Friedrich von Stein, welcher ſchon auf der Reife nach 
Göttingen Tebhaft gewünſcht hatte, die Mutter feines väterlichen 
Freundes in Frankfurt zu fehn, konnte e8 nad) der Rücklehr nicht 
unterlaffen, fi) mit biefer, nad) allem, was er von ihr gehört 
hatte, herzlich verehrten Frau in fchriftliche Verbindung zu ‚jegen. ' 
Frau Aja war über diefen neuen DVrieffteller ſehr erfreut, und 
fuchte ihn zu ihrem Zwecke beftens zu benutzen, da fie auf Nach— 
richten von ihrem Sohne fehr begierig war. „Es geht Ihnen alfo 
recht gut bei meinem Sohne,“ fehreibt fie am 9. Januar 1784. 
„D das Tann ich mir gar wohl vorftellen! Goethe war von jeher 
ein. Freund von braven jungen Leuten, und es vergnügt mid un- 
gemein, daß Sie fein Umgang glücklich macht. Aber je lieber Sie 
ihm haben, und alfo gewiß ihn nicht gern entbehren, je zuverläſſiger 
werben Sie mir glauben, wenn ich Ihnen fage, daß die Abmefen- 
beit von ihm mir oft trübe Stunden macht." Sie bittet ihn des⸗ 
halb, ihr ein Kurzes Tagebuch vom äußern Leben ihres Sohnes zu 
ſchreiben und monatlich zuzufhiden, wodurch fie gleichſam mitten 
unter ihnen leben merbe. Wenn ihr Sohn, was ja wohl einmal 
geſchehn könne, nach Frankfurt komme, fo müſſe ‘er den jungen 
Freund mit fi) bringen, wo es denn an Vergnügen nicht fehlen 
folle. In einem Briefe vom 12. Februar dankt Frau Aja ihrem 
neuen Freunde für ven ſchönen Anfang des Tagebuches, und bittet 
ihn, fleißig fortzufahren. „Die Entfernung von meinem Sohne 
wird mir dadurch unendlich leichter,“ fehreibt fie, „weil id) jm Geiſte 
alles da8_mitgeniefe, was in Weimar gethan und gemacht wird.“ 
Bei ihrer großen Vorliebe für das Theater Tann fie nur mit Ber 
dauern berichten, daß fie in Frankfurt im Winter nur alle Dinstage 
Theater haben, da die Schaufpieler (der Großmannifchen Geſellſchaft) 
in Mainz fein, und Schnee und Eis die Wege überaus ſchlimm 
made. Sehr erfrent zeigt fie fih über die Beſchreibung ber Reife 
nah Ilmenau, wo am 24. Februar der neue Ddohannisſchacht 
Die bis zu Stein's Studienjahren in Jena dauernden Briefe von 


Soethe's Mutter an ihn finden fih in der Sammlung „Briefe von Goethe 
nd deffen Mutter an Briebrich Freiherrn von Stein“ ©. 75 ff. “ 


496 


Hfnet wurde; · auch bie gedruckten Neben, unter denen bie Eröff⸗ 
nungsrede ihres Sohnes, hatte ihr fleißiger Briefſteller mitgeſchickt. 
„Die kleinſte Begebenheit, die Ste mir berichten,“ äufeet fie, „Hat 
mehr Reiz für mid, als alles, was fonft in ver weiten Welt 
paffiren mag." Die Ueberſchwemmung Ende Bebruar hatte ven 
größten Theil der Stabt Frankfurt in die ſchredlichſte Noth gefegt; 
nur drei von ben vierzehn Quartieren der Stadt waren verſchout 
geblieben. „Mein Keller,” verkündet fie dem jungen Freunde, „iſt 
jetzt wieber in der fchönften Orbnung, und es ift, Gott fei' Dank! 
nicht das allergeringfte verunglüdt, und zum Zeichen, daß mein 
Oberoniſcher Wein  nod} wohlbehaften ift, werben eheftens ſechs 
Krüge bei meinem Sohn anlanden.“ Sie bittet ihn, feine Mutter, 
ihren Sohn und „Gevatter” Wieland beftens zu grüßen. Im einem 
Briefe vom 30. März fpricht fie den Wunſch aus, ihr lieber Brief 
ſteller möchte ihren Sohn nad) Eiſenach begleiten, damit fie er- 
fahren Yönne, wie es bort hergehe.. „Vor einigen Tagen,“ ſchreibt 
fie, „ift ein Heiner Luftballon von zwei Schuh in vie Höhe ge- 
fliegen; e8 war ſpaßhaft anzufehn!” Sie fonnte das Auffteigen von 
ihrem Haufe aus fehn; denn der Ballon wurde auf ihrer Straße 
im „weißen Hirfch“ gefüllt. * Am Oftertage, am 11. April, wo 
fie ihrem jungen Freunde ein Meines Meßgeſchenk überfenbet,  er- 
-zählt fie, daß übermergen Schillers „KRabale und Liebe" aufgeführt 
werbe, worauf alles verlange. Den Vorfchlag, einmal nad; Weimar 
zu fommen, muß fie dankbar ablehnen. „Das Reifen war” nie 


Goethe's Rede wurde im „deutſchen Mufenm“ 4785, I, 2 ff. abe 
gedruckt, auch in dem Bogen: „Erſte Nachricht von dem Fortgaug des neuen 
Bergbaues zu Ilmenau“ (Weimar 4785), ber von Goethe und Voigt unter- 
zeichnet iſt, und wovon ein Abdruck in Schlözer's „Staatsangeigen“ B. 8, 116 ff. 
(gl. 8. 4, 425 fi.) fi findet. : 

2 Bl. Maria Bell VII, 43° 

% Eiperzhafte Beriehung auf Wieland’s „Oberon“ IT, “ f. 54 

* Man vergleiche die Anzeige bei Maria Belli (VII. 44), wonach 
das Auffieigen am 17. März Rattfinden folle, oder falls Regen oder Sturm- 
wind es Hindere, am nächften ſchönen Tage. Ueber die in Weimar fchon im 
Jahre 1783 angeftellten Verſuche vgl. Briefe-an Knebel I, 50. 


497 


meine Sache,“ ſchreibt fie am 2. Iuli, „und jego iſts beinahe 
ganz unmöglih. — Die Vorfehung hat mir fon mande umver- 
hoffte Freude gemacht, und ich habe das Zutrauen, daß vergleichen 
noch mehr auf mich warten — und Sie und meinen Sohn bei 
mir zu fehn, gehört ſicher unter bie größten. Und ich weiß gewiß, 
dieſe Hoffnung wird nicht zu Schanden.“ Die unparteitfche, die Fehler 
keineswegs verſchweigende Selbſtſchilderung ihres jungen Freundes 
gefällt ihr ungemein. „Bravo, lieber Sohn!" ruft fie ihm zu. 
„Das iſt der einzige Weg, evel, groß und ber Menfchheit nitglich 
zu werben. Ein Menſch, ver feine Fehler nicht weiß oder nicht 
wiffen will, wird in ber Folge unausſtehlich, eitel, voll von Prä- 
tenflonen, intolerant — niemand mag ihn leiden — und wenn er 
das größte‘ Genie wäre. Ich weiß bavon auffallende Erempel. 
Aber das Gute, das wir haben, müſſen wir auch wiſſen; das iſt 
eben fo nöthig, eben fo näglic. Ein Menſch, der nicht weiß, was 
ex gilt, ber nicht feine Kraft kennt, folglich keinen Glauben an ſich 
bat, ift ein Tropf, ber feinen feften Schritt und Tritt hat, ſondern 
ewig im Gängelbanbe geht, und in saeculum (?) saeculorum Kind 
bleibt." Seinem Verlangen nad} einer Beſchreibung ihrer Perfon 
entſpricht fie ſehr gern, da fie darin einen großen Beweis ver Liebe - 
und Freundſchaft fieht.? „Bon Perſon,“ beginnt fie, „bin id) ziemlich 
geoß und ziemlich Torpulent, habe braune Augen und Haar — 
und getraute mic, bie Mutter von Prinz Hamlet nicht übel vor⸗ 
zuftellen. Biele Perfonen, wozu aud die Fürftin von Deſſau ge- 
hört, behaupten, e8 wäre gar nicht zu verfennen, daß Goethe mein 
Sohn wäre. Ich kann das nun eben nicht finden — doch muß 
etwas daran fein, weil es ſchon fo oft ift behauptet worden. Ord⸗ 
nung und Ruhe find Hauptzüge meines Charakters. Daher thu' 
ich alles gleich frifch von ver Hand meg, das Unangenehmfte immer 
zuerſt, und verſchlucke den Teufel (nach dem weifen Rath des Ge- 
vatters Wieland '), ohne ihn erft Tange zu beguden; Liegt denn 


' Im „Sommermärchen“, das im Jahre 1777 erſchien. Bol. Wielanda 
Werke 8. 11, 78. 
Dünger, Brauenbilter. 32 





498 


alles wieber in den alten Falten — ift alles Unebene wieber gleich, 
daun Biete id) dem Trotz, ber mid) in gutem Humor übertreffen 
wollte.” Bgl. oben S. 481 die Aeuferung ber Herzogin Mutter. 
Goethe ſelbſt blieb mit der Mutter immerfort in freundlichſter Ver⸗ 
bindung. Am ‚19. Januar bittet ex Frau von Stein um ben Brief 
an feine Mutter, indem er taufend Danf für dasjenige ausfpricht, 
was bie Freundin an ihm gethan. Es kann zweifelhaft ſcheinen, 
ob. bier ein Brief Goethe's felbft oder der Frau von Stein an 
Goethes Mutter gemeint fei. Letztere hatte unfern Dichter jo ganz 
am fich gefeffelt, daß er im Juni, bei feiner Antvefenheit in Eiſenach, 
nicht ven Gedanken wagen inochte, einen Abſtecher nad) Fraukfurt 
zu machen, wohin er in einunddreißig Stunben gelangen konnte. 
„So haft du meine Natur an dich gezogen,“ ſchreibt er an Frau 
von Stein, „daß mir für meine übrigen Herzenspflichten feine 
Nerve übrig bleibt." Beſonders fuchte der junge Stein ihn zu 
einer Reife nad) Frankfurt zu beftimmen. Am 28. Juni erhjelt " 
Goethe einen Brief von der Mutter, ven er gleih an Frau von 
Stein fanbte, vor der er fein Geheimniß hatte. Als die Freundin ihm 
zu lange ausblieb, klagte er gegen biefe, er habe um ihrentwillen 
Mutter und Vaterland zurädgefegt, und ſei zu ihr zurldigeeift. * 
Im Frühjahre war auch ber eben von Berlin kommende, ba- 
mals einunbbreißigjährige geniale Schaufpieler Karl Wilhelm Unzel- 
mann in Frankfurt aufgetreten, ? und hatte bie Frau Rath, die 
ihn vielleicht im Stockſchen Haufe perfönlich lennen Iernte, wenn er 
fie nicht vielmehr als Mutter des berühmten Dichters auffuchte, 
zu jener enthufiaftiichen Bewunderung hingerifien, mit welder fie 
jedes wahrhaffe Genie feierte. Das Berhältniß zu Unzelmann warb 
bald ein fehr inmiges, da dieſer mit feinem großen Talente die 


* Briefe an rau von Stein, III, 53. 58. 66. 114. 

2? Im Srühjahre 1784 verließ er Berlin, wo er in den Jahren 4775 
bis 1784 und dann wieber fell dem Mai 1783 gefpielt Hatte. Qgl. den 
Netrolog ber Deutfchen“ (1832) X, 326. Bon einer vierjährigen Auweſenheit 
in Branffurt fpricht Goethes Mutter in Dorow's „Reminifeenzen“ ©. 140. 
443. 153, und in den erfien Monaten des Jahres 1788 verlieh er Srankfurt. 


499 
argloſeſte Gemüthkichleit verband und fein reicher Humor den Umgang 
mit ihm fehr anziehend machte; doch handelte er aus angeborener 
Gutmüthigkeit in feinen äußeren Verhältnifien leicjtfertig, un feine 
Leivenfhaft für das Thenter werleitete ihn zu neidiſcher Eiferſucht 
auf- feine Mitſchauſpieler, die er alle übertreffen und ven höchſten 
Kranz für ſich erringen wollte. 

Im Yuni kam auch der befannte Ueberſetzer Hofrath Bode 
zu Goethe's Mutter, ver ihr einen Brief der Herzogin Amalia 
überbrachte, worauf biefe am 13. Juni erwiederte.“ Nachdem fie 
ihre Freude darüber ausgeſprochen, daß ihr Andenfen noch grürre 
und blühe bei einer Yürflin, beren Gmabe und Wohlwollen ihr 
über alles in ver Welt gehe, berichtet fie, daß fie noch immer ge- 
fund, vergrügt und guten Humors fei, was freilich in ihrer Lage 
feine fo große Kumft fei. „Aber doch,“ fährt fie fort, „mit allevem 
Tiegt e8 mehr an ber innern -Zufriebenheit mit Gott, mit mir und 
mit den übrigen Menſchen, als geradezu an den äußeren Berhätt- 
niffen. Ich kenne fo viele Meuſchen, die gar nicht glüclich find, 
die das arme Bißchen won Leben ſich fo blutſauer machen, und an 
allem diefem Unmuth und unmufterhaften Wefen ift das Schidfal, 
nicht im geringften Schuld. In ver Ungenligfamteit, ba ftedt ber 
ganze Fehler. — Seit einiger Zeit bin id) die Vertraute von ver- 
ſchiedenen Menſchen geworben, vie ſich alle für unglädlich halten, 
und ift doch Fein wahres Wort bran. Da thut mir venn das 
Krönten und Martern für bie armen Seelen leid." Sollte hier 
au an Unzelmann zu denlen fein? „Auch ich, theuerſte Bürftin,“ 
fährt fle fort, nachdem fie des diesmal erfehredlich Iangen Winters 
gedacht Hat, „geniefie, "fo viel immer möglich, die Herrlichleit ver 
ſchönen Natur, und das vortreffliche Bild unferer Fürftin begleitet 
mid) zu allen Freuden des Lebens. Nur noch einmal wünſchte ich 
das Glüd zu genießen, das mir fo theure Original zu fehn! Iſt 
denn bazu gar fein Anſchein, gar feine Möglichkeit? Auch Sohn 
Wolf kommt nit! Und da kommen bod von Often und Weiten, 


' Welmar's Album ©. 128 f. 


500 


Süven und Norben Figuren, die wegbleiben dürften.“ Sie erfün- 
digt fi nach Fräulein von Göchhauſen, die ihr früher oft ge- 
ſchrieben hatte, jegt aber etwas bintenfchen zu fein heine. 

Anfangs Oktober kam Friedrich Jacobi, ver kurz vorher feine 
Gattin verloren hatte, -ganz voll von Goethe, den er in Weimar 
befucht hatte, in Frankfurt an, ' wo er nicht verfehlt haben wird, 
ver Frau Rath einen freundlich heitern Beſuch abzuftatten, wahr- 
ſcheinlich mit feinem Bruder und feiner Schwefter Lotte. 

Im November hatte Goethes Mutter die Freude, ven nad 
Darmftabt reifenden Herzog von Sachen - Weimar ? in ihrem Haufe 
mit einem Frühftüd zu bewirten, von dem fie, wie von Jacobi 
u. a., über die Gefunbheit, das Leben und Wirken ihres Sohnes, 
ver fih damals beſonders mit naturwiflenfchaftlihen und ofteolo- 
giſchen Forſchungen befchäftigte, Erfreuliches vernommen haben 
wird. „Ich bin glüdlicher, als die Frau von Ned (vonder Recke),“ 
fchreibt fie an den jungen von Stein. „Die Dame muß reifen, 
um bie gelehiten Männer Deutſchlands zu fehn; bei mich kommen 
fie alle in's Haus; das war ungleich bequemer. ? Ja, ja, mem’ 


« Gott gönnt, gibt er's im Schlaf." Der Herzog wünfchte, Goethe 


möge auch nad) Frankfurt kommen, um mit ihm bie Rückreiſe zu 
machen, doch hielten dieſen die Nähe der Frau von Stein und bie 
Abneigung vor dem Herumziehen an ven Höfen in Weimar zuräd. * 

Zum heiligen Chrift fenbet Frau Aja ihrem fleißigen Brief-⸗ 
ſteller Bonbon's nebft einem Beutel. „Die Nachricht von dem Wohl⸗ 
befinden meines Sohnes, und was er treibt und macht,“ melvet 
fie diefem am 24. Januar 1785, „vergnügt mich immer, wie Sie 
leicht denken können, gar ehr, und tut: meinem Herzen gar wohl. 


Dacobl's anserlefener Briefwechſei I, 373. Briefwechſel zwiſchen 
Goethe und Jacobl ©. 76 f. Briefe an Frau von Stein III, 404 ff. 

2 Bat. Kuebels Nachlaß II, 442. Wagner IL, 243. 245 f. 

® Sau von der Rede war in biefer Zeit in Weimar zu Beſuch. Val. 
Kuebel’s Nachlaß I, 292. 294. Briefwechſel mit Goethe I, 58. 

* Bl. Briefe an drau von Stein IL, 123. @oethe's fortwährenden 
Briefwechſel mit der Mutter begeugen bie Stellen bei Maguer, II, 249. 245. 














501 


— Bir haben hier alle Montag Ball, und vorige Woche war ein 
ger prächtiger; neunhundert Menſchen waren da; alle Prinzen und 
Prinzeffinnen auf zehn Meilen in bie Runde beehrten ihn mit ihrer 
Gegenwart. Schaufpiel Haben wir jegt nicht, hoffen aber die Faften 
es zu befommen;- der Taiferliche Gefanbte hat ſich's vom hiefigen 
Rathe zur Freundſchaftsprobe ausgebeten.“ 

’ Um jene Zeit kam auch Unzelmann mit ver Großmannifchen 
Geſellſchaft wieder nach Frankfurt. Aber am 16. April brach in dem 
Scaufpielhaufe Feuer aus, wodurch Großmanır alles verlor, fo daß 
er nur fein und feiner ſechs Kinder Leben rettete. „In ſolchen 
Fällen, da ehre mir aber Gott die Frankfurter!" ſchreibt Goethes 
Mutter ihrem jungen Freunde. „Sogleih wurden brei Kollelten 
eröffnet, eine vom Abel, eine von ben Kaufleuten, eine von ben 
Freimaurern, die hübſches Geld zuſammenbrachten. Auch friegten 
feine Kinder fo viel Geräthe, Kleider u. ſ. w., daß es eine Luſt 
war. Da das Ungläd das Theater verſchont hatte, fo wurde gleich 
drei Tage nachher. wieder gefpielt, und zwar „ber deutſche Haus- 
vater“ (vom von Gemmingen), worin ber Direltor Großmann ben 
Maler ganz vortrefflich fpielt. Ehe es anging, hob ſich der Bor- 
Hang in bie Höh', und er ekfchien in feinem halbverbranuten Frack, 
verbundenen Kopf und Hänben, woran er fehr beſchädigt war, 
und hielt eine Rebe, die ich Ihnen bier fchide; feine ſechs Kinber 
ſtunden in armfeligem Anzug um ihn herum, und meinten alle, fo 
daß man hätte won Holz und Stein fein müffen, wenn man nicht 
mitgeweint ‚Hätte. Auch blieb Fein Auge troden, und um ihm Muth 
zu machen, und ihn zu überzeugen, „daß das Publikum ihm feine 
Unvorfichtigteit verziehen habe, wurde ihm Bravo gerufen und Bei- 
jall zugeklatſcht.“ Großmann verließ darauf Frankfurt und übernahm 
die Direltion zu Hannover, Unzelmann aber wandte ſich nach Kaffel, 
wohin er am 12. Mai abging, nicht ohme die Hoffnung balbiger 
Wieverkehr.  Goethe's Mutter ſandte ihm dorthin eine Dofe, auf 
welcher ein einen Felſen erllimmender Dann bargeftelt war, und 


' Diefes Datum gibt Goethes Mutter a. a. D. ©. 144. 
2° 


502 


fie verfehlte nicht, in einem beigefügten Briefe auf bie ſymboliſche 
Bedeutung biefer Darftellung hinzumeifen. * 

In’ dem Briefe vom 16. Mei 1785, ven Goethes Mutter 
nad) Ablauf der Oftermeffe, wo das Wetter kalt und fehr um» 
freundlich war, an Fritz von Stein richtete, erwähnt fie einer 
ſtarken Erkältung, an welcher fie einige Zeit gelitten, und bie fie 
ihrem Sohne umftänblich erzählt habe. Bei ver folgenden Herbft- 
meſſe wurde fie durch einen Beſuch ihres jungen Freundes erfreut, ? 
an welchen Goethe am 5. September fhreibt. „Es freut mich fehr, daß 
du wohl (in Frankfurt) angelommen und (von ver Mutter) wohl aufe 
nommen worben bift. Gebenfe fleißig ver Lehren des alten Polo— 
nins (im „Hamlet“), und es wird ferner gut gehn. — Grüße 
meine Mutter und erzähle ihr. vecht viel. Da fie nicht fo ernfthaft 
ift, wie ich, fo wirft du dich beffer bei ihr befinden. Das gute 
Obſt laß dir ſchmeden, und grüße alles fleißig von mir!" Bon dem 
launig heiteren Zuſammenleben ber alten Frau Rath mit dem zwölfe 
jährigen Knaben gibt und der nach ver Rückkehr, am 20. Oftober, 

J an dieſen gerichtete Brief, ein anſchauliches Bild. „Mein lieber 
Cherubim "? ſchreibt fie. „Alles erinnert mid an ihn: die Bin’, 
vie ihm früh morgens fo gut ſchmedten, während ich meinen Thee 
trank; wie wir uns hernach ſo ſchön aufteckeln ließen, er von Sachs 
und ich von Zeitz, und wie's hernach, wenn die Pudergötter mit 
uns fertig waren, an ein Putzen und Schniegeln ging, und dann 
das vis-A-vis bei Tiſche, und wie ih meinen Cherubim um zwei 
Uhr, freilich manchmal etwas unmanierlic, in die Meffe jagte, und 


BVol. ebendaſelbſt ©. 148. 159. 

2 Bol. Gvethe's Briefe an Gran von Stein III, 176. Brief au Jacobi 
vom 11. September. 

Der Scherzname ift vom Pagen Chernbim aus dem „Bigaro* entnom= 
men. Als Goethes Mutter ihrem Brig Stein am 18. Dezember ein Liedchen 
aus Mozarts „Figaro“ überfhikt, höchit wahrſcheinlich hasjenige, weldes 
Figaro dem Bagen fingt, fragt fie ihm: „Erinnert er ſich noch, wie wir's zu⸗ 
ſammen fangen, und dabei fo fröhlich und guter Dinge waren?“ Bgl. Goethes 
Briefe an Frau von Stein III, 143. Im Briefe der Mutter an Frit von Stein 
©. 91 ift wohl meinen lieben Vagen (fatt Pathen) zu leſen. 





. 503 


wie wir uns im Schaufpiel wieder zufammenfanden; und das Nady- 
Hausführen; und dann das Duodrama in Hausehren, wo bie bide 
Katharine die Erleuchtung machte und bie Greineld und bie Marie 
das Aubitorium vorftellten — das war wohl immer ein Hauptfpaßt" 
Im demſelben Briefe Heißt es dann weiter: „Hier ſchicle ih Ihnen 
auch eine getreue und wahrhafte, von Sternen und Orbensbändern 
unterzeichnete ausführliche Beſchreibung bes zuerft zerplatzten, her⸗ 
nach aber zur Freude der ganzen Chriftenheit in die Luft geflogenen 
Luftballons nebft allem Klingklang und Singſang, kurzweilig zu 
lefen und anbächtig zu. befchauen. ' Uebrigens befinde mich wohl, 
und werbe heute ven Grafen Eifer (im bekannten Stüde von Bants?) 
enthaupten fehn. Auch war geftern ver transparente Saul bei der 
Hand, und erfreute jedermänniglich. — Aber du Fieber Gott, was 
fieht man auch nicht alles in dem nobeln Frankfurt! Der Himmel 
erhalte uns dabei! Amen.“ Goethe ſelbſt berichtete nad} der am 
3. Oftober erfolgten Rucklehr feines jungen Lieblings an deſſen 
Mutter, diefer habe in Frankfurt erft recht Freiheit kennen Iernen, 
und feine Mutter Habe ihn bie Philofophie des luſtigen Lebens erft 
noch recht ausführlich kennen gelehrt. ° 

Die Herbftmeffe brachte auch wieder Freund Unzelmann, dies⸗ 
mol mit der Tabor’fchen Gefellihaft, nah Frankfurt, mo er am. 
6. September anfam, und von der Frau Rath mit einem freubigen 
Iſt er da! begrüßt wurde.‘ Das frühere innige Verhältniß ward 


Blanchard hatte die Luftfahrt auf ben 27. September beſtimmt. 
Schon faßen Blandard nebſt dem Erbprinz von Darmſtadt und einem 
Dffigier Schweijer, die mit anffteigen wollten , in der Gondel, als durch 
eine Windbüchfe in ‚den Ballon gefpoflen wurde. Am 3. Oktober führte 
er die dahrt auf der Bornheimer Heide glüdlih aus; in der Nähe von 
Weilburg Fam er zur Erde. Bol, Maria Belli VIL, 45 f.** oben ©. 496. 

2 Bol. Leffing's „Hambnrgifche Dramaturgie” Nro. 54 f. 

Bal. Goethes Briefe an Frau von Stein III, 192 f. Am 22. Sep- 
tember ſchreibt Goethe an biefelbe Fteundin: „Hier Briefe von und über 
Brigen (leptere ohne Smeifel don Frau Aa), die dich hoffentlich, wie 
mich, frenen werden.“ . ' 

Bol. Goethes Mutter bel Dorow S. 160. 





54, 


fortgefegt und noch mehr befeftigt; doch ging ber geniale Freund 
mit den übrigen Schaufpielern wohl im Dftober wieder weg.' In 
dieſe Zeit, um die Mitte November, fällt ein Brief an Unze 
mann von einer fih mit Hans unterzeichnenden Dame.° „Du 
wirft heut einen Brief von ber Goethe bekommen haben,“ 
ſchreibt biefe. „Sie mar geftern bei mir; ich erinnerte, fie folle 
dich doch micht wieber fo lang auf einen Brief warten laſſen. „Ich 
Tann aber nicht helfen,“ fagte fie; „ſchreib' ih ihm, fo bekommt 
er einen Wiſch.“ Ich fragte um die Urſach'; denn du mußt wiflen, 
mein Beſter, daß es mir immer nabe geht, wenn dir etwas Un- 
angenehmes wiberfährt. Sie erzählte mir dann, mas bie Urſach' 
war, daß fie dich (beim Abſchied) fo kalt empfing, die Urſach 
des Wiſchen, den fle bie geben wollte. Da ich nun weiß, daß fle 
ſtark in verblümten Redens- und Schreibarten ift, und bu viel- 
leicht felbft nicht weißt, was bu, armer Karl, begangen haft, fo 
höre! Die Bücher, bie du gefauft haft, und ver Konto, den (Bud- 
hãndler) Fleiſcher geſchidt. hat, brachte fie fo außer Faſſung; fie 
fagte, was bu mit ben vielen Bädern machen wollteft, da bu 
doch von einem Ort zum andern veifen müßteft, un was fie noch 
alle einzubinden Koften würben u. ſ. w. Wenn bu nun kannſt, 
mein Lieber, fo fuch’ ihr folches auszureden — bu wirft ſchon ihre 
ſchwache Seite miffen — und ſchreib' ihr von Sparfamfeit, und 
mas bir, mein Sieber, noch fonft beine Feder biktirt. — Bis 


* Daf während ber Mventzeit Fein Schanfpiel fei, fagt die Frau 
Rath in dem Briefe an Trip Stein vom 10. Degember. 

2 Bei Dorow ©. 189 ff., deſſen Behauptung, der Brief fei vom 
Sabre 4788, grunbfalfc if; denn aus einer Aeußerung befelben ergibt 
Rp, daß er in einem Jahre geſchrieben fein muß, in welchem der Eliſabeth- 
tag, der 19. November, auf einen Sonnabend fiel. 

® Dorow bemerkt, nach einer in der Bamilie erhaltenen Tradition Habe 
Ungelmann mit einer jungen, ſchönen Johanna, der Tochter einer mit 
dem Goethe ſchen Haufe befreundeten Bamilie, in einem Liebesverhältniß 
geſtanden. Daß nicht etwa Unzelmann’s Gattin Friederike unter dem Scherz- 
namen Hans den Brief gefhrieben, zeigt ſchon die von ben wirklichen 
Briefen berfelben (bei Dorow ©. 204 f.) abweichende Rechtſchreibung. 


55 


Sambtag iſt Eüſabeth. Vergiß ja wicht, ihr Glac zu wünfehen! 
denn du weißt, fie ſieht beauf.“ 

An Fran von Stein, welche für die freundliche Aufnahme 
ihres Sohnes herzlich gebanft hatte, ſchreibt Goethe's Mutter am 
14. November: „Es hat mich fehr erfreut, daß Dero Herr Sohn 
mit feinem Anfenthalte bei mir fo zufrieden war. Ich habe we- 
migftens alles gethan, um ihm meine Vaterſtadt angenehm zu 
machen, und bin froh, daß es mir geglädt iR. Zwar habe ich 
die Gnade von Gott, daß nod Feine Meuſchenſeele mif- 
vergnägt von mir weggegangen ift, weß Standes, Alters 


und Geſchlechts fie auch geweſen if. Ich babe die Menſchen 


fehr lieb — und das fühlt Alt und Yung —, gebe ohne Prö- 
tenfion- durch die Welt — und dies behagt allen Erven- Söhnen 
und Tätern —, bemoraliſtre niemand, juche immer die gute 
Seite auszufpähen, überlaffe die ſchlimme dem, der die Menſchen 
ſchuf, und ver es am beften verfteht, bie ſcharfen Ecen abzu- 
föleifen. Und bei diefer Methode befinde ich mich wohl, glucuüch 
und vergnügt.* * Auf eine freundliche Bufchrift ihres lieben Che- 
rubim eriwiebert fie amı 10. Dezember mit herzlihem Dante, in- 
dein fie folgende Beſchreibung ihrer jegigen Lebensorbnung hinzu ⸗ 


fügt. „Wir haben viefen Winter brei öffentliche Konzerte; ich gehe 


aber in leins, wenigftens bin ich nicht abonnirt: das große, welches 
Freitags gehalten wirb, iſt mir zu fteif, das montägige zu ſchlecht, 
in bem mittwöchigen habe ich Pangeweile, und bie Kann ich in 
meiner Stube gemächlicher haben. Die vier Adventswochen haben 
wir fein Schaufpiel; nach dem neuen Jahr belommen wir eine 
Geſellſchaft von Straßburg; ver Direltor heißt Koberwein. Uebri-. 
gens bin ich noch immer guten Humors, umb das ift doch die 
Hauptſache. Im meiner Meinen Wirthſchaft geht's noch immer jo, 
wie Sie e8 gejehen haben; nur weil e8 der Sonne beliebt, länger 
im Bette zu bleiben, fo beliebt es mix auch; vor halb nem Uhr 

' Bon ter genanen Verbindung mit Frau von Stein zeugt auch die 


Zufendung von Spigen und Juwelen, welche iht zum Berfauf angeboten 
worben waren. Bgl. Goethes Briefe au Frau von Stein II, 242. 


506 


Tome ich nicht aus den Federn, könnte auch ‚gar nicht einfehn, 
warum ich mich firapagen follte, Die Ruhe, die Ruhe ift meine 
Seligfeit, und da mir fie Gott ſchenkt, fo genieße id fie mit 
Dankſagung. Alle Sonntage effe ih bei Frau Stocht; Abends 
Kommen Frau Hollweg-Bethmanm, ihre Mutter, Demoifelle Mori 
(Schwefter der Frau Stod), Herr Graf; da fpielen wir Quabrille, ? 
Lombre u. ſ. w., und ba jubeln wir mas Rechts. Die andern 
Tage beſchert der liebe Gott auch etwas. Und fo marſchirt man 
eben durch die Welt, genießt die Heinen Freuden, und prätenbirt 
feine großen.“ Zu Weihnachten ſchickt fie dem jungen Freunde, 
dem fie, ba jest alles ſehr ſtill zugeht, gar nichts Amuſantes 
ſchreiben Tann, ein Heines Andenlen, nebft zwei Lieblingsliedern 
und. dem Terte eines Liedchens ans dem „Figaro“ (vgl. oben 
. ©. 502 Note 3), das fie jo fröhlich zuſammen gefungen, wobei fie 
bemerkt: „Fröhlichkeit ift die Mutter aller Tugenden —" jagt Götz 
von Berlichingen (B. 9, 11, mo aber Freudigkeit ſteht), „und 
ex hat Recht. Weil man zufrieden und froh ift, jo wünfcht-man 
alle Menfchen vergnügt und heiter zu ſehn, und trägt alles in 
feinem Wirkungskreis dazu bei." 

Auch ihre lieben Entelinnen in Emmendingen wurden beim 
heiligen Chrift nicht vergefien. Für das ſchöne Chriſtgeſchenk zu 
Weihnachten 1785 hatten ſich die Meinen herzlich bedankt, und bie 
ältere, bie’ eilf Jahre alte Luiſe, hatte ihr einen Strickbeutel zu 
machen verfprochen. „Auf ‚ven Strickbeutet freue ich mich mas 
Rechts,“ erwiedert fie darauf am 13. Januar 1786; ? ,den nehme 
id dann in alle Geſellſchaften mit, und erzähle von ber Geſchick- 
lichfeit und dem Fleiß meiner Luife! Ihr müßt den Bruder Eduard 
Schloſſer's Sohn aus zweiter Ehe). jett hübjch laufen lernen, da— 
mit, wenn das Frühjahr fommt, er mit euch im Garten herum- 


Der Herausgeber läßt irrig Red- drnden. 

? Bgl. oben S. 166 Note 2. 

Dorow hat in ben „Reminifeenzen“ S. 191 ff. die von A. Nicolovius in 
deu „preußifshen Offers Blättern" (1832 Neo. 85) mitgeteilten Briefe der 
Fran Rath an ihre Enfeliunen wieber abbruden laffen. 


57 


fpringen Tann. Das wirb ein Spaß werben! Wem ich bei euch 
wäre, lernte ich eudy allerlei Spiele, als: Vögel verlaufen, Tud- 
viebes, Potz ſchimper potz ſchemper, und noch viele andere. Aber 
bie G** (Gerocks7) müßten das alles ja auch kennen. Es iſt 
für Kinder gar luſtig, und ihr wißt ja, daß bie Großmutter gern 
luſtig ift und gerne luſtig macht.“ 

Zur Oftermeffe 1786 — denn nach dem angeführten Briefe 
der Frau Rath follte Koberwein nah Neujahr fpielen — kam 
Umelmann mit ber Tabor ſchen Geſellſchaft wieder von Mainz nach 
Frankfurt. Die Mefzeit war diesmal für Goethes Mutter eine 
ſehr fröhlich bewegte. „Freunde und Bekannte nahmen mir meine 


Zeit weg," führieb fie am 25. Mai am ihren Cherubim, ver fih .. 


darüber beffagt hatte, daß fie zwei feiner Vriefe nicht beantwortet. 
„Herr Kriegerath Merd war tagtäglich bei mir. Der berühmte 
Dichter Bürger,‘ (Kapellmeifter), Reichardt aus Berlin und anbere 
weniger bebeutende Erbenföhne waren bei mir. An Schreiben war 
da gar nicht zu denken, und das, mas ich jetzt thue, thu' ich gegen 
das Gebot meines Arztes, ber beim Trinfen der Molfen, welches 
jetzt mein Fall ift, alles Schreiben verboten hat. — Der 8. Mai 
war (fo)wohl für mid, als für Goethe's Freunde ein fröhlicher 
Tag; „Gö von Berlichingen“ wurde aufgeführt. Hier fchide ich 
Ihnen den Zettel; Sie werben fich vielleicht der Leute noch erin- 
nem, bie Sie bei Ihrem Hierfein auf dem Thenter gefehen häben. 
Der Auftritt des Bruder Martin — Götz vor ‘ven Rathsherren 
von Heilbronn — die Kugelgießerei — bie Bataille mit der Reiche» 
armee — bie Sterbefzene von Weislingen und von Götz, thaten 
große Wirkung. Die Frage: „Wo feib ihr her, hochgelahrter 
Herr?“ und die Antwort: „Vom Frankfurt am Main“, erregten 
einen ſolchen Jubel, ein Applaubiren, das gar luſtig anzuhören 
war, unb wie ber Fürft — denn Biſchöfe dürfen bier und in 
Mainz nicht aufs Theater — in ber dummen Behaglichjeit da 
* Berfönlich lerute Bürger den Dichter des „@ög“ erſt im April 1780 
kennen, doch Hatte Goethe fee Ueberfegung ber Ilias freuudlich unter- 
Rügt, und der Herzog ihn 1781 mit einem Befude beehtt. 





508 


ſaß, und fagte: „Bog, da müflen ja die zehn Gebote auch darin 
ſtehen,“ da hätte der größte Murrlopf lachen miffen. Summa 
Summarum, id hatte ein herzliches Gaudium an dem ganzen 
Speltalel.“ In der Nachſchrift heißt es: „Dinstags den 30. Mai 
wird auf Begehren des Erbprinzen von Darmſtadt Götz von Ber⸗ 
lichingen“ wieder aufgeführt. Potz, Fritzchen, das wird ein Spaß 
fein!“ Die „Ephemeriden der Litteratur und des Theaters“ be- 
richten (II, 381) über jene erfte Vorftellung: „Das Stüd wurde 
na den Mannheimer Veränderungen und Abkürzungen gegeben. 
Es gefiel wegen feines eigenen, allgemein erfannten Werts, weil 
& zu Frankfurt, dem Geburtsort des großen Goethe, und unter 
den Augen feiner vortrefflihen Mutter gegeben wurde, von ber 
einer unferer beliebten Dichter und Philoſophen (Wieland?) nad) 
“einer mit ihr gehabten Unterredung fagte: „Nun begreif ich, 
wie Goethe der Mann geworben if.“ 

Am 3. September ftahl ſich Goethe von Karlsbad meg, um 
die Reife nad) dem Jahre lang erfehnten Italien anzutreten; ſelbſt 
feine beften Freunde, mit Ausnahme des Herzogs, mußten nichts 
von biefem Entſchluſſe, und waren lange zweifelhaft, wohin er ſich 
gewandt habe,‘ und fo empfing gudy bie Mutter erſt von anderer 
Seite die Nachricht von feiner Reiſe. „Wiffen Sie denn noch im- 
mer nicht, wo mein Sohn ift?“ ſchreibt fie am 17. Dezember an 
ihren jungen Freund, dem fie ein Chriſtgeſchenk zuſendet. „Das 
iſt ein irrender Ritter! Nun, er wird ſchon einmal erfcheinen, und 
von feinen Helbenthaten Rechenſchaft ablegen. Wer weiß, wie 
viele Riefen und Drachen er bekämpft, wie viele gefangene Brin- 
zeflinnen ex befreit hat! Wollen uns im voraus auf bie Erzählung 
ber Abenteuer freuen, unb in Geduld bie Entwicklung abwarten.“ 
Doch bald erlangte fie darüber die erfreulichfte Gewißheit, als Frau 
von Stein ihr nach Goethe's Auftrag Auszüge aus feinen von Rom 
aus geſchriebenen Briefen mittheilte.” „Wie vielen Dank,“ ſchreibt 

Bgl. Schoͤll zu den Briefen an rau von Etein III. 289 ff. 

2 Man vergleiche die Aeußerung ber Herzogin Amalia vom 25. Bebruar 
1787 an Merk: „Ich will bei der Braun Aa ein gutes Wort einlegen, 


50 5 


fie am 9. Januar 1787 an Frau non Stein, „bin ich Ihnen nicht 
für die Mitteilung der mir fo ſehr intereifanten Briefe ſchuldig! 
Ich freue mich, daß die Sehnſucht, Rom zu fehn, meinem Sohne 
geglückt ift; e8 war von Jugend auf fein Tagesgebante, Nachts 
fein Traum. Die Seligkeit, die er bei Beſchauung der Meifter- 
werke ver Vorwelt empfinden und genießen muß, kann ih mir 
lebendig vorftellen, und freue mich feiner Freunden.“ Bor dem 
Ende des Jahres ward fie, wie fie in demſelben Briefe bemerkt, 
noch durch einen Beſuch bes Herzogs von Sachjen-Weimar amd 
Knebels freudig überrafcht. 

Auch im folgenden Jahre wurde Goethes Mutter durch bie 
Mittheilung der höchſt anziehenden Briefe erfreut, melde ihr Sohn 
aus Italien nah Weimar an Fran von Stein, Herder u. a. 
richtete; ihre einzige Unruhe war die Ungewißheit, ob er im Jahre 
1787 zurüdfomme oder nicht, „Sie find alfo nicht der Meimmg, 

"daß mein Sohft noch eine längere Zeit außbleiben wird ?“ Ichreibt 
fie am 9. März an Fritz von Stein. „Ich für meine Perfon 
gönne ihm gern, die Freude und Seligkeit, in ber er jet lebt, bis 
auf den legten Tropfen zu genießen, und in dieſer glüdlichen 
Konftellation wird er wohl Italien nie wieverfehn. Ich votire 
alfo aufs längere Dortbleiben, vorausgefegt, daß es mit Bewilli- 
gung des Herzog8 geſchieht.“ Und in einem Briefe vom 1. Iumi 
heißt es: „Veſonders möchte ich gar gern wiflen, wie es mit feiner 
Rüdkunft in feine Heimat ausſieht. Es ift nicht Neugierde: ich 
babe eben biefen Sommer verſchiedene nöthige Reparaturen in 
meinem Hanfe vorzunehmen. Käme er alſobald, jo müßte natikr- 
lich alles aufgefchoben werden. — Denn ftellen Sie fih vor, wie 
ärgerlich es mir fein würde, da ich meinen Sohn fo lange nicht 
gefehen habe, wenn ich ihn in einem folhen Wirrwarr bei mir 
haben und ihn nur halb genießen könnte!“ Die in demſelben Jahre 
erſcheinenden vier erften Bände von Goethes Werfen mußten ber 
dap fie Ihnen die Ertralte ans ihres Sohnes Briefen, die er von. Rom 
ans ſchreibt, Eommuniziet.“ 

"Bol, Kuebels Rachlaß I, 155 f. Briefwechſel mit Goethe I, 78. 





510 


Mutter zur höchften Freude gereichen, bie ſich bisher mit Himburg’s 
Nachdruck hatte begnügen milffen.' - 

Die Kinder Schloſſer's, der im Herbfte 1787 nah Karlsruhe 
verſetzt wurde, menigftens bie aus zweiter Ehe, ſcheinen die Groß- 
mutter in biefem ober im folgenden Jahre beſucht zu haben; denn 
in dem Briefe vom 23. Februar 1789, in welchem dieſe auf heitere 
Beife für bie ihr überſchickten Geburtstagsgeſchenke vankt, Heißt es: 
„Die dide Katharine fragt alle Tage, ob Eduard und Jettchen 
(Henriette) ‚balo wiederkämen; fie möchte gar zu gern mif ifmen 
die Wachtparade aufziehen fehn, und bie Elifabeth? möchte gern 
wieder gebrannte Mehliuppen machen. Kommt dach ja bald 
wieder 14 i 

Am 3. Februar 1788 fihrieb Goethe von Rom aus an feine 
Mutter, der er um Oftern mitzutheilen verſprach, ob fie ihn dieſes 
Jahr zu fehn befommen, ob er bei feiner Rückkunft über Frant- 
furt kommen werde ober nicht. „Daß er gegen feine freunde Yalt * 
geworben ift,“ bemerkt fie gegen Fritz von Stein, „glaube ich nicht. 
Aber ftellen Sie fih an feinen Plag! In eine ganz neue Welt 
verfegt, in eine Welt, wo er von Kindheit am mit ganzem Herzen 
und ganzer Seele bran hing — und ben Genuß, ben er num ba- 
von bat. Ein Hungriger, ver lange gefaftet hat, wird an einer 
gut befegten Tafel, bis fein Hunger geftilt ift, weber an Bater 
noch Mutter, weder an Freund noch Geliebte denken, und niemand 
wird’ ihm verargen Finnen.“ Mie trefflich mußte ſich die Mutter 
in alle Lagen ihres Sohnes zu verfegen und fie mit ruhiger Ein- 
ſicht zu würdigen! Von einer Klage ver Vernachläſſigung fein Wort! 

Die am Abend des 18. Juni erfolgte glüdlihe Rückunft 


U Bol, Goethes Briefe an Frau von Stein I, 225. 

3 @lifabeth Koh, die Iange Jahre, Bis zum Tode der Frau Rath, 
bei diefer im Dienft Rand und ihre Pflichten mit treuer Ergehenheit ver- 
ſah. Cie heiratete am 6. Bebruar 1809 ben Snftrumentenfehleifer- Johann 
BWolfermann, und farb am 7. April 1846 in ihrem fiebenundachtzigſten 
Sapre. Bei der Entpüflung des Goethedenkmals war Ihr ein Ehrenplag 
augewiefen. ie nannte den großen Dichter Immer nicht anders als „unfer 
junger Herr". Vgl. Maria Belli IX, 106 · 





ihres Sohnes nad) Weimar ! gereichte ihr zur höchſten Freude. 
„Gott erhalte ihn auch dort geſund,“ wünſcht fie; „Das andere wird 
ſich alles geben.“ 

“ Aber während biefer Zeit hatte ver Frau Rath. bie treue An- 
hänglichleit an ven genialen Schaufpieler Unzelmann, der fi mit 
Großmann's Stieftochter, Friederile Flittner,“ verbunden hatte, 

" vielen Kummer und große, Sorge verurſacht. Wir verfuden es, 
aus bem nicht ganz deutlich ſprechenden Briefen das Verhältmiß zu 
entwidehn. Nod am 13. Februar, wenige Tage vor ihrem Ge- 
burtstage, fohreibt fie an Ungelmann, ber ſich bei ver Tabor'ſchen 
Gefelfchaft in Mainz befand, einen freundlichen Brief, welder 
feine Spur einer Bedrängniß deſſelben verräth. Sie entſchuldigt 
fih, daß fie ihm nur fo wenige Zeilen fchreibe, mit dem fie um- 
gebenben Wirrwarr. „Sie wiflen, daß alljährig es die Mode bei 
mir ft, alle meine Fremde und Belannten zu regaliven. Diejes 
Feſtin ift heute. Denken Sie ſich alfo die Gefchäftigkeit der Gran Aja, 
vierzig Menfchen mit SpeiP und Trank zu bewirthen! Leben Sie 
wohl! Amen. Es muß fih in Wichs ſetzen Ihre Freundin. Eli- 
fabeth." Aber fon am 16. März hören wir, daß bie Gläubiger 
Ungelmann’s in Fraukfurt gegen ihn aufgeregt worden. Die Frau 
Roth bittet ihn, vorab nicht nach Frankfurt zu kommen, weil fie 
fürdtet, man werbe gerichtlich gegen ihn vorfchreiten, ihn ſetzen 
Ioffen. Sie will Branbbriefe an ihre faumfeligen Schuldner ſchicken, 
wahrſcheinlich um ihm Beiſtand leiften zu können. „Das mir jo 


* Die Rüdreife machte er über Mailand, von wo er am 24. Mai au 
Kuebel fehrieb, den Comerſee, Chlavenna, Chur, und von dort wohl über 
den Bodenſee, Stuttgart und Nürnberg. Zu deu Weimarer Freunden uud 
einer endlichen Beruhigung und fihern Verarbeitung des reichlich gefam- 
meiten Stoffes trieb es ihn zu gewaltig hin, als daß er feine Vaterſtadt 
diesmal Hätte begrüßen Fönnen. 

2 In das Stammbuch diefer fpäter fo berühmten, am 24. Jannar 
1774 geborenen Schauſpielerin fhrieb die Bran Rath ben Spruch: 

Rerne zu Ieben! 
Lebe zu lernen! 
Bol. Maria Belli 111. 93 * 


512 


gütigft mitgetheilte Geheimniß werde id) wie einen koſtbaren anver- 
trauten Schag bewahren; für mich foll es nicht ſowohl Hoffnung 
(denn mit der bin ich entzweit), als eine Art vor Tuſcher fein.“ 
Diefes Geheimnig war wohl fein anderes, als daß er nach Berlin 
gehn und um Oftern 1789 von ba zurüdtehren wolle. Zu dieſem 
Entfchluffe verleitete ihn vor allem die Eiferfucht auf feine Mit- 
ſchauſpieler, beſonders auf Koch, der einen Theil feiner Rollen 
übernahm. In einem fünf Tage fpäter gefchriebenen Brief wieder- 
holt fie die Bitte, er möge ja nicht nach Frankfurt kommen, bis 
feine Sache auf eine over bie andere Weife georbnet fei; zugleich 
räth fie ihm an, einftweilen zur Sicherheit ver Gläubiger feine 
und feiner Frau Toftbare Garverobe beim Intenbanten, Graf 
Spar in Mainz, zurüdzulafien; e8 gebe biefe einfimeilen wenig» 
ftens ein Hilfsmittel ab. „Ihre beiden Freunde, ver Graf und 
ich, gewinnen Zeit zum Beſinnen; benn für ben jegigen Augenblick 
ift mir's unmöglich.“ Aber er wagte ed dennoch, nad) Frankfurt zu 
tommen, wo er umter anderm als Thoringer in dem Stüd „Kaspar 
der Thoringer“ des Grafen Iofeph- Auguft von Törring, auftrat, 
das 1785 erfchien; denn bie beiden Briefe, welche Dorom an das 
Ende des Briefwechſels fegt und von benen ver legte am 28. März 
geſchrieben ift, gehören ohne Zweifel in das Jahr 1788. Die 
Berbürgung der Frau Rath beim Grafen Spaur ſcheint nicht zu 
Stande gelommen zit fein, doch verwenbete fie ihren Kredit für 
76 Lonisb’or, die Unzelmann zur Reife nach Berlin brauchte. Am 
Tage feiner Abreife hatte fie „die vide Iris“, ihre Katharina, mit 
einem prächtigen warmen Kuchen und etwas „Tyrannenblut,“ fo 
wie mit einem Abſchiedsbrief in feine Wohnung geſchickt, die er 
aber bereits verlaffen. Unzelmann hatte e8 verfäumt, wor feiner 
Abreife, wie er verſprochen Hatte, noch einmgl zu dem Mannheimer 
Theaterintendanten Wolfgang Heribert von Dalberg zu gehn, ver 
ſich damals in Frankfurt befunden haben muß, und dem Unzel- 
mann, wir wiſſen nicht beftimmt, in welcher Weiſe? verpflichtet 
war. Dalberg war darüber erzürnt, und brohte, im öffentlichen 
Dorow läßt irrig Luſcher drucken. 


513 


Zeitungen fein Verhalten zu verkünden, wenn er ihm nicht Genug- 
thuung gebe. „ Die Frau Rath gerãth varüber in ſolche Angft, daß fte 
ſogleich (am 22. April). an Ungelmann ſchreibt, er möge biefer 
. billigen Forderung alsbald entſprechen. „Was Ihre hiefigen Freunde 
die Zeit über gelitten haben, das laſſe Ihnen das Schidfal nie in 
ähnlicher: Fall erfahren! Wir erſuchen Ihnen, machen Sie bie 
Sachen dadurch wieder gut, daß Sie thun, mas von dem bemußten 
Ort an Ihnen geforvert wird; fonft find wir für Sie und Sie 
für uns auf immer verloren.“ Ein freumblicher Brief von Unzel- 
mann, der unterbefien in Berlin angelommen war, beruhigt fie 
etwas, fo daß fie in humoriſtiſcher Laune erzählt, wie ihre Ka— 
tharina mit Kuchen und Wein ihn nicht mehr in feiner Wohnung 
gefunden. „Eine mitleivige Oreade rief aus der breiternen Wan 
(venn ẽs gab da feine Felſen): Er iſt auf ewig dir entflohen!' 
Was machte aber Ariane? Das follen Sie gleich hören! So 
wild und ulngebärbig ftellte fie ſich nun eben nicht: die Eumeniben, 
die Furien wurben nicht infommobirt, und bie ganze Hölle erfuhr 
von der, ganzen Gefchichte Fein Wort. Hätte, die arme Narofer 
Ariadne in unferm aufgellärten Zeitalter gelebt, wo alle Freuden 
und Leiden, alles Gefühl von Schmerz und Luft in Syſteme ge- 
zwängt finb, wo bie Leivenfchaften, wenn fie in honnetter Kompagnie 
erſcheinen wollen, fteife Schnürbrüfte anhaben müfjen, wo Lachen 
und Weinen nur bis auf einen gewiſſen Grab fleigen darf — fie 
hätte zuverläfig ihre‘ Sachen anders eingerichtet. Freilich iſt es 
etwas beſchwerlich, immer eine Maske zu tragen, und immer an- 
vers zu fheinen, als man iſt. Doch gottlob! bei Ihnen braude 
ich das nun nicht, Ihnen Tann ich fagen, daß mir Ihr Weggehen 
fehr. leid getan hat, daß mein Steckenpferd total ruinirt ift, daß 
mic beim Eſſen die Zeit unausftehlih lang wird, mit einem 
Bort, daß mein Märchen im Brunnen liegt, und wohl ſchwerlich 
wieder berausgezogen werben wird. Auch fei Ihnen unverholen, 
daß ich öfters Bitterböfe auf Ihnen bin, daß Ihr Ehrgeiz, Ihre 
! Das Melodrama „Ariadne auf Naros* von Brandes, Fomponirt von 
Benda, ſchwebt hierbei vor. Bel. Dorow a. a. O ©. 196 f. 
Dünger, drauenbilder. 2 33 


514 


falſche Chimäre Sie won hier weggetrieben haben, da man jegt 
ganz das Gegentheil von allem ſieht, daß Kod ein guter Mann 
ift, der alle fo liebreich behandelt, ‚der fo wenig Neid hat, daß, wenn 
einer gut fpielt, er ihm um ven Hals fällt, ihn fügt und vor aller 
Welt fagt: „Das war brav!“, ver dem Organ (Scherzname des 
Direltors Tabor) nichts zu Gefallen thut, wenn 's den Schau 
I ſpielern nicht recht iſt.“ Hiermit vergleiche man die Stelle eines 
fpätern Briefes (S. 145): „Koch war bei mir, und mit Thränen 
in den Augen fagte er, wie beftürzt ihn Ihre plötzliche Ub- 
veife gemacht hätte. Sie wären noch zufammen bei Tabor geweſt, 
\ hätten zufammen gejpeist; er hätte Ihnen nad) Haufe begleitet, 
; hätte Ihnen gebeten, wenn Sie von Mainz zurüdlämen, einen 
- Kontrakt auf künftige Oftern zu unterzeichnen; alles wäre fo ſchön 
eingerichtet geweſen; der Tod hätte ihn nicht mehr erſchrecken kön— 
nen, als Ihre plögliche Abreife. — Gott verzeihe es denen 
Berläumdern, bie ihm Dinge von mir in ven Kopf ge 
fest haben, woran feine Silbe wahr iſt! Ic fpiele 
: von feinen Rollen, das ift wahr; aber da fein Rollen- 
. ‚ fad fo mannigfaltig ift, fo wird er überall auf Leute 
ftoßen, da es das nämliche iſt.“ 

Da Unzelmann aber Dalberg nicht um Berzeifung Bitten will, 
ſondern die Abſicht hegt, öffentlich gegen biefen aufzutreten, fo 
wird es ber Frau Rath warm im Kopfe, und fie fhüttet bie ganze 
Schale ihres Unwillens über ihn aus. „So ift e8 denn beſchloſſen,“ 
beginnt fie am 9. Mai, „daß Sie durch Ihren falſchen, ganz am 

. unrechten Ort angebrachten Stolz und Ehrgeiz ſich um bie Liebe Ihrer 

f bewährten Freunde bringen, ſich in's Unglüd ftürzen wollen. Hat 
i Ihnen Ihr hitziges, aufbraufendes, fprubelndes Wehen nod nicht 
Kummer genug gemadt? Wollen Sie nie dem Rath wahrer, er- 

probter Freunde. folgen, Freunden, denen Sie viel Dank ſchuldig 

find? Wollen Sie abermal Ihrem Kopf, ver Ihnen ſchon fo oft 

' ſchlimme Dienfte getan hat, aud in der Mainzer Sache folgen? 
B In Gottes Namen! Thun Sie, was Sie wollen! Aber bringen 
Sie den edlen Grafen (Spaur) mit in’ Spiel — mißbrauden- 








fein großmüthiges Bertranen fo abſcheulich, fo ift dieſes ber letzte 
Brief, den Sie in Ihrem Leben von mir zu fehn friegen; ben 
en Mann, der die größten Wohlthaten fo bald nicht allein ver- 
gißt, ſondern fogar bunbbrüdhig an dem Freund wirb, ber kann 
mein Freund nicht fein.” Nachdem fie weiter bemerft hat, e8 thue 
feiner Ehre nicht ben geringften Abbruch, wenn er Dalberg um 
Berzeihung bitte, fährt fie fort: „In dem Punkt ift alfo Ihre 
Ehre fehr kitzlich: aber Ihre Freunde, die Ihnen aus Tobesängften 
geholfen, die Urfach’ waren, dag Sie als ehrlicher Mann fort- 
reifen konnten (denn da, da ſtund Ihre Ehre auf dem Spiel), 
biefe Freunde zu beleibigen (fie deutet auf ben Grafen Spaur), 
das verträgt ſich mit Ihrer Ehre! Mit einem Mann, der freilid) 
fo fonberbare Grunbfäge hat, läßt ſich nicht gut disputiren. Wie 
wenig aber Ihnen auch meine Freundſchaft werth ift, das fehe 
ih nım aud fo Mar, daß mich die Augen beißen.“ Sie will 
einlenken und ihm Glüd in Berlin wünſchen, Tann aber nicht 
unterlaſſen, mit bitterm Gefühl erlittener Kränfung anzudeuten, 
daß er ſchwerlich dort folhe Freunde finden werde, wie er fie in 
Frankfurt vier Jahre hindurch erprobt habe, und ihn zugleich zu 
erinnern, welche Auftritte biefe mit ihm erlebt. Sie bekiagt ſich, 
daß fie auf zwei Briefe keine Antwort erhalten, und bemerkt, daß 
fie jegt nicht dieſen dritten fehreiben würde, hätte fie nicht vom 
Grafen Spaur ein herzerſchütterndes Brieflein erhalten. Um ihn 
auf andere Gebanfen zu bringeu, vegt fie alte Erinnerungen auf. 
„Den 12. Mai find es drei Jahre, da Sie uns auch verließen, 
und nad) Kaſſel gingen — aber da war die Hoffnung das "große 
Lofungswort. Aber jegt genießen andere die Früchte, die wir fo 
forgfältig gepflegt und geiwartet haben, und das thut gar zu 
weh! Ich Hoffe und glaube nicht, daß Sie in der kurzen Abwefenheit 
alle freundfchaftliche Gefühle werben verloren ‚haben; eime folche 
undankbare Eeele traue id; Ihnen nicht zu. Stellen Sie ſich alfo 
einen Augenblid an Ihrer Freunde Plag! Einen Freund, den man 
liebt und ſchätzt, an dem man alles, alles für jegt und in Zus 
tunft gethan bat, um ihm glädliche und frohe Tage zu machen — 


516 > 
und biefer zerftört um einer Grille wegen Plane, Hoffnung und 
Glüd, verfperrt fi) felhft den Weg, uns jemals wieberzufehn! 
Wer über gewiffe Dinge feinen Verſtand nit verliert, 
der hat feinen zu verlieren.“! 

Ein am 2. Mai gefchriebener Brief Unzelmann’s gibt ihr zwar 
einigen Troſt, da er fie feiner liebevollen Erinnerung -verfidyert, 
aber er enthält zugleich vie für fie äußerſt ſchmerzliche Nachricht, 
daß ihr Fremd, deſſen Rüdkehr fie auf nächſte Oftern erwartet 
hatte, einen Vertrag mit. dem Berliner Hoftheater auf zehn Jahre 
abgeſchloſſen.“ „Mein Schaufpielfhuß ift feinem Ende nahe,“ 
fchreibt fie. „Weber an meinem fonft fo lieben Fenſter im Schau— 
ſpielhaus, weber unter ben Spielenden, noch unter den Stum- 
men fehe ich, was ich fonft fah, und wenn mir einfällt, daß es 
auf immer und ewig fo bleibt, und wenig Wahrjcheinlichleit fürs 
Gegentheil ift, fo padt mich's bei ver Bruft, daß ich denke, ber 
Odem bleibt mic aus, und dann fällt mir immer der Brief: „O 
Eliſabeth, was habe ich getan!“ ? auf's neue ein. Ia mohl hätten 
Sie tod ein Mein bißchen Nüdficht auf Ihre Freundin und auf 
die Zukunft nehmen follen.“ Die Ausfiht, den ausgezeichneten 
Schaufpieler, an welchem fie mit Begeifterung hing, ber ihr Stolz 
und ihre Freude ipar, auf immer zu verlieren,‘ machte fie brei 


* Worte der Gräfin Orſina in Lefing’s „Emilia Galotti" (IV, 7). 
Ein anderes Wort derfelben führt fie in einem fpätern Briefe (©. 152) an. 

266 iR begeichnend, daß fie in dem Briefe, in weldem fie den 
Empfang jenes Schreibens anzeigt, dieſer für ſie fo erſchütternden Nachricht 
ansorädlich gar nicht gedenkt; das Schredliche wagt fie im erſten Augen- 
plick nicht einmal beflimmt auhuſprechen, weil ihr weiches Herz es nicht 
erträgt. Daß jene Nachricht im Briefe Unzelmann’s vom 2. Mai geſtanden, 
geht aus dem folgenden Briefe der Frau Rath (S. 149) hervor, bie mittler- 
weife feinen neuen Brief von Umelmann erhalten. Die zehnjährige Erift 
erhellt aus ©. 160. 

® Hiermit ſcheint Unelmann’s Brief vom 2. Mai begonnen zu haben. 

* In einem frügern Briefe heißt e: „Die Dual, die ih jeht leide, 
ift nmausfpreglich. Da begegnen mir auf allen Eden von dem verwänfgten 
Bolt, und machen jede Rüderinnerung nen, reißen durch ihren Vafilisfen- 
blick jede Wunde auf, ſuchen und ſpähen, ob in meinen Angen Tranrigfeit 


517 


Tage beitlägerig. Erſt am vierten Tage, am Pfingftmontag, ſtand 
fie mit der Hoffnung auf, einen Brief von Unzelmann zu erhalten, 
aber auch dieſe Hoffnung täufchte fie. Während alles fährt und 
läuft, figt fie einfam in ihrer Wohnftube, und weiß ihre Zeit 
nicht beffer anzuwenden, als an ihn zu ſchreiben. Seine in dem 
Briefe vom 2. Mai ausgeſprochene Bitte, ſich nicht zu ängfligen, 
fendern auf die Zukunft zu bauen, enthält für fie eine Unmöglich- 
keit, da fie nur zu deutlich fieht, daß er nach dem zu Berlin ger 
ſchloſſenen Vertrag für fie verloren iſt. Auch ſchwebt fie Tag und 
Nacht in der größten Angft, feinen Namen von von Dalberg oder 
von Mainz aus in ſchimpflicher Weife erwähnt zu finden, meshalb 
fie ihm vorftelt, daß er nur ja in dem Schreiben an die Mainzer 
Theaterlommiſſion nicht den mindeſten Troß zeige, ba in biefem 
Falle das Unglüd unvermeidlich ſei. Eine ſolche Beſchimpfung in 
den Zeitungen wäre das Schredlichfte, was fie fich denken könne, 
beſonders wenn fie ſich das Gerede vorftelle, welches darüber in 
allen Gefelichaften fein wirbe. „Habe ich nicht ſchon genug um 
Ihrentwillen gebulbet, vergeben, getragen, gelitten! Und nun noch 
dieſes Schredliche alles Schredlihen! — O Schidfal, wonit habe 
ich das verdient! Meine Meinung war fo gut, fo bieder! — 
Ich wollte das Glüd eines Menſchen machen — und that gerabe 
das Gegentheil. Hätte ich ihn gelaffen, wie und wer er war — er 
wäre noch bei uns; das bin ich fo feft überzeugt, als von meinem 
eigenen Dafein.“ Diefe Worte können feine andere Beziehung 
haben, als die, daß fie durch bie Gunft, mit welder fie ihn 
hegte und pflegte, ſich feiner in jeber Beziehung annahm, ihn zu 
ihren Liebling erfor, dem fie ihre Begeifterung entgegentrug, ihn 
wahrzunehmen iſt, um vielleicht daran ein Gandinm zu haben. Unb wenn 
ich an die Meſſe denke, auf bie ich mich fonft fo Kndifch freute, wie das 
Großmanl.die St. (Stegmann?), mit Schabenfreude anf mic bliden wird, 
und id mich in dem Bunft fo wenig verftellen kaun, fo weiß ich nicht 
- was ih thun ober laſſen ſoll. Aber eins weiß ich, das Dtterngezüchte fol 
aus meinem Haus verbannt fein, Fein Tropfen Tprannenblut foll Über ihre 
Zungen fommen, feine Hand will ih ihnen zur Ehre oder zut Ermun - 
terung rühren,“ 


518 


übermüthig gemacht habe. Mit Rührung erinnert fie fid ver 
guten Zeit, wo ex fo gern bei ihr verweilte. „Wären Sie hier, fo 
wüßte id) wohl, daß ein Hein Bouteillchen Tyrannenblut würde 
genoſſen werben. Aber die Zeiten: find vorbei! Diefe berühmte 
Wohnſtube hat Ihnen doch manden Gram von der Stirne ge- 
wicht; es war fo ein Afylum, wenn die Winde tobeten und ber 
Donner in den Lüften rollte; es war gar ein fiherer Hafen, wenn 
das Schifflein von den Wellen um und um getrieben wurde.“ Sie 
theilt ihm darauf Nachrichten von der Tabor'ſchen Schaufpieler- 
geſellſchaft mit, die den ganzen Sommer über breimal die Woche 
fpielen werbe, kann aber nicht unterlaffen, den Freund darüber zur 
Rede zu ftellen, ob er ihrer bei der Schließung des zehnjährigen 
Bertrags denn gar nicht gedacht habe, da er ja doch hätte bedenken 
follen, welche Wirkung dieſe ‚lange, ewige Entfernung auf fie 
haben müſſe. 

Nach diefen Briefe finden wir feine weitere. Erwähnungen 
von der Beforgniß, welche das Verhältniß zu von Dalberg und zu 
Mainz der Frau Rath einzeflößt; wahrſcheinlich befolgte Unzelmann 

\ ihren guten Rath, und entging fo ber öffentlichen. Befchimpfung. 
Wir haben hier ein treffendes Beiſpiel von der treuen Sorgfalt, “ 
welche Goethes Mutter in Sachen ihrer Freunde anzumenden 
wußte. In den folgenven Briefen wechjelt der Ausdruck ihrer Ver- 
ſtimmung, daß Unzelmann für fie verloren fei, mit der. Freude 
über den großen Beifall und die gute Einnahme, bie er und feine 
Gattin in Berlin fanden; an Meinen Mißverftänniffen und am 
Schmollen der Liebe fehlt es nicht; auch ſucht die Frau Rath 
Ungelmann von neuen leichtfertigen Planen abzubringen; da e8 ein- 
mal nicht anders ift, will fie ihn in Berlin fefthalten, wo ber 
eigentliche Ort für ihn zu fein ſcheine. „Ich bitte Ihnen daher,” 
ſchreibt fie ſchon am 27. Mai, „um alles, was Sie lieben und 
Ihnen werth ift, ftoßen Sie dieſes Glüd nicht wieder von fi! 
Das Schichſal ift nicht immer fo gut gelaunt, daß, wenn eine 
Thüre ſich ſchließt, es gleich wieder eine aufthut. — Mein Troft 
wird dann doch immer fein, daß ich doch ven Grumbftein gelegt 








. 519 


habe, * worauf mun andere, größere unb geſchicktere Baumeifter 
fortbanen mögen. Diefe Heine Eitelleit werben Sie mir nicht übel 
nehmen; -denn fie macht mich glüdlih." Nachdem fie einiger von 
ihr bezahlten Rechnungen gedacht, erinnert fie an bie von ihr aufs 
gebrachten, im Zuli zu zahlenden 76 Louisd'or. „Viermal haben 
wir Hier die Woche Schauſpiel,“ fährt fie fort; „es ‚geht, wies 
kann. Mir ifl’s jet fo gleich viel, ob fie den „Hansmurft im 
Schlafrock“ oder ven „Don Carlos" fpielen. Aber man muß auch 
nicht unbillig fein: wenn man zwölf Jahr (fie rechnet alſo ihre 
Scaufpielluft vom Jahre 1776 an) ein 'Stedpferb geritten hat, 
fo Tann auch einmal ein anberes feinen Plag einnehmen; in ber . 
Belt bleibt ja nichts ewig an feinem Fleck.“ Die Briefe, „in 
welchen Unzelmann ven Beifall, ven fein Spiel in Berlin finpe, 
mit glänzenden Farben ſchildert, machen fie mißmuthig und ver- 
ſtimmt, da fie fih dadurch an ihre jegige Entbehrung bitter ge- - 
mahnt fühlt, fo daß fie lange gar nicht an ihn fehreiben mag, um 
fein Gluck nicht durch ihre Mißſtimmung zu flören. Da Ungel- 
mann fie darauf vier Wochen auf einen Brief warten läßt, bricht 
fie in Magen aus, daß’ er fie fo frühe Habe ganz vergeffen können. 
nDiefes einzige hat noch gefehlt, das biß(ch)en frohen Sinn, das 
Fünfchen guter Laune zu umterbrüden und völlig“ auszulöfchen.“ 
Ein gleich darauf antommenver Brief beruhigt fie wieder, doch 
bittet fie Unzelmann, er möge fie nie mehr fo unausftehlid lang 
auf Nachrichten warten laffen, da dieſes ja das einzige fei, alle 
ihre ehentaligen Hoffnungen, Erwartungen, Märchen u. ſ. w. fi 
jetzt auf todte Buchſtaben einſchränken müffen. Vom Theater weiß 
ſie ihm wenig zu ſagen, da ſie oft mitten im Stücke fortgeht, doch 
ſchidt ſie ihm, da ſie die Hoffnung nicht aufgeben will, ihn noch 
einmal wieder bei ber Frankfurter Bühne zu ſehn, drei darauf be- 
xigliche gebrudte Blätter, und verfpricht ihm jede Woche ein Blatt 


% Das Grundfteinlegen zu feinem Glude foll fih auf den Beifall und 
die freundliche Aufmunterung begiehen, durch welche fie ihn gehoben; das 
tdnigliche Haus und andere vornehne Perfonen find freilich größere Baus 
meifter, als die Tran Rath.“ Bol. S. 522. ö 





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520 
nachzufchiden. „Die Ehre, die Ihnen der Monarch erzeigt hat,“ 
fährt fie brauf fort, „freut mich fo, daß ich decenhoch fpringen 
möchte. Sie willen, daß ich feine Bolitifa bin, und der Kaifer 
und bie Türken, und die Türfen und ber Kaiſer mich fo viel in- 
terefficen, als ver Mann im Mond; aber jet fefe ich die Zeitung, 
aber nichts als ven Artikel Berlin. — Uebermorgen (an dem Sonn- 
tage, wo fie im Stof’fhen Haufe aß) nehme ich die (Berliner) Zettel 
mit bei Stochs, da wird ſich alles freuen, Mann und Weib, auch 
die Kinbleins (denn die Ride und Käthchen! fragen immer nach 
Ihnen), auch Demoifelle Marianne, Herr Graf, mit einem 
Wort die ganze Paftete.“ Am 1. Auguft überfenbet fle ihm außer 


der neu hergeftellten, von ihr einft geſchenkten Dofe ven fünften: 


Band der Schriften ihres Sohnes, welcher unter anberm ben „Egmpnt“ 
enthält, den fie nicht ohne große Rührung und Bewunderung ge- 
leſen haben wird. Die Nachricht Ungelmann’s, dag „die Ge— 
ſchwiſter“ ihres Sohnes in Berlin gefallen, freut fie fehr. „Es 
ift ein Mein Std," jagt fie, „aber eben deswegen gehört won 
Seiten der Schaufpieler mehr Kunft dazu, jeven Charakter in's 
rechte Licht zu fegen und mit Wärne und Wahrheit darzuftellen, 
als in einem großen Pradtftüd mit Trommeln unb Pfeifen.“ ? 
Sein Brief vom 22. Iuli hat ihren Glauben wieber geftärkt, ihre 
Hoffnung neu belebt. „So weit Ihre Entfernung, jo wenig Bahı- 


Icheinlichfeit bei ver Sache ift, daß ich Ihnen je in meinem. 


' Ratparine Sit, die älteſte Tochter, ftarb am 29. Juli 1851. Aus 
ihrem Munde find manche Nachrichten gefloffen, bie wir bei unſerer Arbeit 
benngen durften. Die jüngere Tochter, Friederike heiratete deu Konzert- 
meiſter Hofmann. Die beiden Sößne gingen früh nach Neapel, wo der 
jüngfte noch Ieben fol. Demoifele Marianne if wohl "die Schweſier der 
Frau Stoch Bel. oben ©. 506. Sonſt Fommen im Briefwechſei mit Unzel- 
mann als Bekannte des Ieptern und der Frau Math noch ber Kaufmann Karl 
Thurneiſen, ein Herr Graf, Eliſabeth Vethmaun, von deren Mann Unzele 
mann ein paar Strümpfe mitnimmt, und zwei bloß mit den Vornamen 
Heinrich und Töfel bezeichnete Freunde vpr. 

? Bei dem „großen Prachtſtäck mit Trommeln und Pfeifen“ if eine 
Beriehung auf „Egmont“ (vgl. B. 9, 242) nicht zu verkennen. 





Leben wiederfehe, fo ift das einzige, woran ich mich noch halte, 
daß das Andenken an Ihre Freundin doch nicht gänzlich verlöſchen 
wird. Und wie man ein Gemälde von Zeit zu Zeit duch Firniß 
erfeifchen muß, daß die Farben nicht ganz verbleichen, fo muß unfer 
Briefwechſel der Firniß fein, daß die Freundſchaft nicht verbleicht 
oder gar erlöfcht.“ Bei der Erwähnung ber erſtaunlichen Hitze des 
Jahres Bricht fie in die Worte aus: „Aber das gibt auch ein 
Wein!!“ und fie Tann nicht unterlaflen, mit Erinnerung an bie 
ſchöne Bergangenheit, ihren Freund, der fih auf zehn Yahre an 
Berlin gebumben hat, darauf humoriſtiſch einzuladen. „Wenn Sie 
1798 wieberfommen, und der Tod vie Höflichkeit hat, mich bis 
dahin da zu laffen, fo follen Sie in meinem Haus aus einem 
ſchön vergolveten Glas meine Gefundheit in biefem Anno domini 
trinken. Auch ſollen Sie auf Ihrem Stuhl mit dem boppelten 

“ Kiffen figen — Summa Summarum es ſoll gehn, wie ehemals, 
und id will, wenn mir bis bahin ver Stimmhammer nicht fällt, 
eben fo laut, als da Sie 1785 den 6. September von Kaſſel famen, 
rufen: Iſt er da! Borige Woche habe ich meinen Keller wieder 
in Ordnung gebracht. Da fielen mir bei ben alten Herren von 
1706. 1719 allerlei Gevanten ein. — Sie werden's leicht errathen 
können, was id alles bachte; denn Sie fennen zur Genüge meine 
ſchwärmeriſche Einbildungskraft.“ Natürlich erinnerten fie dieſe 
„alten Herren“ an bie Zeiten, wo fie mit Unzelmann froh und Luftig 
von biefem „Thrannenblut“ genofien, und fie dachte ſich die Rid- 
kehr fo glüdlicher Tage. Bgl. oben ©. 456. 458. 

Aber in den folgenden Wochen überfällt fie wieder eine arge 
Verſtimmung, fie kann es noch nicht verwinben, dag Unzelmaun 
ohne Hoffnung ber Wiederkehr von ihr getrennt fei, woher fie, 
um nicht durch ihren übeln Humor ben Freund zu ftören, ihn vier 
Wochen lang ohne Antwort läßt. „Sir mich ift alles vorbei, mit 
mir ift(8) aus!“ fchreibt fie am 12. September in trübſter Stim- 
mung. „Daß es Ihnen wohl geht, daß Sie aud zu Ihren 
anderen anerfannten Berbienften noch in fomifchen Opern brilliven, 

= freut mi — denn fo tief bin ich noch nicht gefallen, daß mich 





52 J 





das Glüd meines Freundes nicht vergnügen ſollte —; aber es iſt 
eine bitterfüße Freude. Andere, bie nicht gefät haben, ernten, und 
die den Samen auöftreute, Teivet Hunger; den Baum, ben ich 
pflanzte, von dem eſſen andere die nun reifen Früchte. — Aber 
um's Himmels willen, wozu al das! — Laß gut fein! — Es 
Hat ja fo viel ein Ende genommen, mit bir wird's doch auch nicht 
ewig werben (währen?). — Blanchard (vgl. oben ©. 503 Note 1)' 
ift in Berlin! Vor drei Jahren war er hier! „Muf ich (mich) denn 
alles mahnen!“ jagt Elifabeih im „Carlos.““ — Das war bie 
glüdtichfte Zeit in meinem ganzen Leben; aber bahin ift fie ge- 
flohen, die golone Zeit!? — So eine Menge Fremden, als biefe 
Meſſe hier find, erinnere ich mich nie gefehen zu haben, und wäre 
ich noch, was ich ehemals war, fo würbe mir das viel Spaß machen.“ 
In einem am 13. November begonnenen, am 17. fortgeſchickten 
Briefe ſpricht fie ihre Freude über das Glud Unzelmann's und 
feiner Gemahlin in Berlin aus. „Daß die Frau Gevatterin bei 
der Königin fo in Gnaben fteht, freut mid. Ihro Majeftät 
follen aud eine große Freundin vom deutſchen ‚Theater fein. — 
Hier gab’8 ehemals auch fo eine Frau, die zwar freilich feine Mo- 
narchin, aber doch fonft eine gute Art von Frau war, und bie 
ſich ergögte, wenn die Frau Gevatterin bei ihr am kleinen, Mlim- 
perfleinen Tiſch ſaß, und die Trine (vie „dide Iris“) den Neiß- 

auflauf ober bie Geleepaftete wohl und ſchmachhaft zubereitet hatte.‘ u 
Wie fehr ihe Herz auch wünfchte, "den geliebten Freund wieder ih 
ihrer Nähe zu haben, fo wiberräth fie ihm doch auf das ernft> 

fichfte, vorab an Frankfurt zu denken; er folle ja Feine fichere und 


1, 6. Die Worte lauten aber: „O muß mich's ewig mahnen!“ Auch 
andere Beziehungen auf ben „Carlos finden fih in ben Briefen der 
. Gran Rath. 
? Man erinnert ſich hierbei der Worte im „Taſſo“ (8. 13, 131): 
Die golone Zeit, wohin if fie geflohen? 
Aber „Taffo“ ward erſt im Juli 1789 vollendet. Daß ber Frau Math 
„Taffo“ bei feinem Erſcheiuen ganz neu war, bezeugt fie in einem Briefe 
an Briedri von Stein (Nro. 22). Aber fie hatte ihn vieleicht In der 
erſten Bearbeitung, wenn aud nur theilweiſe, gefehen. 


323 


glänzende Stellung gegen eine ſchwankende und ungünſtigere auf - 
geben. „Geftern hätte ih Ihnen, vorausgefegt, Sie wären noch 
in Mainz geweſen, einen Eifboten gefſchickt, und Sie höflichſt er- 
ſucht, mich heute in meinem Sammer zu befuchen. Ja, es hat 
ſich was zu fchiden! Ale vier, fünf Wochen einen Brief." Trotz 
ihres Unwohlſeins zeigt der Brief eine recht heitere Laune, dagegen 
verfeggte fie ein ſehr freundliches Schreiben Unzelmann's vom 12. De- 
zember in große Verlegenheit, da biefer die Abſicht äußerte, fie in 
ihrer traurigen Einſamleit trog des Winters perſönlich zu befüchen, 
weshalb fie ſich ſogleich hinfegt, ihm in der Angft ihres Herzens 
zu bitten, von biefer Abſicht, die fie dankbar anertennt, um Got- 
teswillen abzulafen. „Das würde für Ihnen und fir mid keine 
guten Folgen haben. Ihnen würde fein Menſch weder in Berlin, 
noch hier glauben, daß Sie bloß die Reife meinetwegen angetreten 
md unternommen hätten, fonbern alle Welt müßte denlen, es 
gefiele Ihnen nicht mehr dort, und Sie wollten fih hier wieder 
antragen; unb wenn Sie wieber fortgingen, fo hiehße es hernach, 
die Direktion hätte Ihnen nicht haben wollen, und ba würden 
Märchen ohne Zahl gefabrizirt. Selbft in Berlin könnte man ber- 
gleichen denlen. So viel Nachtheil hätte fo ein Schritt auf Ihrer 
Seite. Und nun nicht einmal zu gevenfen, was man alles auf 
meine Rechnung erzählen würde. Glauben Sie denn, daß fo ein 
abermaliges Abſchiednehmen Balfam für mich fein bürfte? Nein, 
lieber Freund, fo einen Auftritt mag ich nicht wieder. Wil e8 
das Schiclſal, daß ih Ihnen wieberfehn fol, fo muß es auf die 
alte Art und Weife geſchehn; font danke ich unterthänig dafür.“ 
Beſondere Freude macht e8 ihr, daß er bei der Aufführung des „Don 
Carlos" als König Philipp fi) mit ihrem Mantel geſchmückt hat 
(©. 166. 170). Mit ihrer Geſundheit, bemerkt fie, gehe es 
wieber bergauf, doch habe ihr der Arzt wegen ber „fibirijchen“ 
Kälte das Ausgehen einftmeilen unterfagt. Bald darauf wird fie 
wegen Unzelmann ganz beruhigt worben fein. 

In demfelben Jahre 1788, in weldem Unzelmann der Fran 
Rath fo vrüdenden Kummer und fo beängftigende Sorge bereitete, 


524 


verfegte fie das Schickſal eines andern Freundes, ihres alten, Lieben 
Merk, in nicht geringe Berlegenheit. Die Uebernahme einer grofen 
Rattunfabrif hatte biefen fo eblen, als einfichtigen und praktifch 
gewandten Mann durch ben Wortbrudy eines Fürften in fo großen 
Berluft gefegt, daß er ſich nicht mehr zu rathen und zu helfen 
wußte, und er, da eine ſchmerzvolle, feine Kräfte untergrabenve 
Leberkranlkheit hinzutrat, der "Verzweiflung nahe, fih in einem 
fürchterlichen Zuftand befand, von dem fein am 3. Auguft an 
Goethe geſchriebener Brief ein trauriges Bild gibt. Goethe, ver 
Herzog von Sachjen-Weimar und der Erbprinz von Heffen-Darm- 
ſtadt verfuchten alles Mögliche, ihm wieder aufzuhelfen. Aber noch 
am 18. Oktober fchreibt er an Goethe: „Meine Situation übertrifft 
an Elend alle Beſchreibung. Ohne Schlaf und ohne Muth, phyſiſch 
und moralifh zu Grunde gerichtet, wandere ich ohne Ruhe noch 
unter ben Lebenden herum, jevem zur Laft, und fürdte für meinen 
Berftand. Weil es ver Medikus will, muß ich an bie Luft, und 
da mir das Blut ganz allein nad dem Kopf fteigt, fo hält man 
mich für gefund, meil ich roth ausſehe. Indeſſen find alle ani- 
maliſchen Funktionen geftört, und müſſen es noch lange bleiben, 
weil alle. Tage ber wieberfehrende Verdruß bei Abthuung der 
traurigften Gefchäfte und dem Empfang der ſchrecklichſten Briefe 
das Werk der reftaurirenben Natur zerflört. — Ach, meine arme 
Frau und meine blühenden Kinder, bie id in dem Bifanifchen 
Thurme wie zum Hungeröfterben eingefperrt ſehe! ihr mich ift 
feine Freude mehr auf biefer Welt, und Jammers ohne Ende aus- 
zutrinken ein vollgerüttelt Maß. — Alles veut mich, alles ängftigt 
mid — aber am meiften das Wohlthun und die Güte meiner 
Freunde und das Lächeln meiner unſchuldigen Kinder.“ ' Wie tief 
mußte diefe Folterqual des geliebten, herzlichen Freundes das 
weiche Gemüth ver Frau Rath ergreifen, das von dem Schmerz 
über den Berluft Unzelmann's noch nicht genefen wat! Indeſſen 
erholte Merck fid wieder, fo daß er am 28. März 1789 in einem 


* Vgl. Wagner IL, 274 ff. III, 276 ff. Stahr „Mer“ S. 115. 


525 - 

herrlichen Briefe dem Herzog von Sachſen-Weimar feinen gerühr- 
teten Danf ausfprechen Tonnte. „Seit ungefähr brei Wochen,“ 
heißt es bier, „bin ich wieber umter ven Lebenden, da id; ganzer 
neun Monate begraben war. — Ich habe feit diefer kurzen Zeit 
mehr gethan, als ich fonft im einem halben Jahr tun Eonnte, 
Diefer Genuß meiner ſelbſt, nad) einer jo unglaublichen Unfähig- 
feit, nur das geringfte zu wirken, ift eine Wolluft, bie ich niemand 
beſchreiben kann. — Sie können nicht glauben, was ich vor unge- 
fähr acht Tagen empfand, als ich mich aus ver Schmach ber 
Unterdrückung wieder in dem Zirkel meiner alten Freunde aufge: 
nommen fand, mit Goethe's Mutter, ber la Roche, ihren Kindern, 
und Goethe's alten Freumben vereinigt wieberfah. Dies alles hab’ 
ich nächft Gott Ihnen zu banken. Ich weinte vor Frenden, ale 
ich ten ſchönen Kopf von Goethe, von Neler gefchnitten, in ben 
Händen feiner Mutter fah. Sie erlaubte mir, einige ſchöne Ab- 
drücke davon zu machen.“ Vgl. Wagner II, 274. 

Auch das Verhältniß von Goethes Mutter zu ihren Enfelinnen, 
an benen fie mit voller Liebe hing, Brig von Stein und Unzel- 
mann nahm während des Revolutionsjahres 1789 feinen heiter 
Vortgang. An den jungen von Stein find aus biefer Zeit nur 
"zwei Briefe erhalten. Im erften, vom 2. Januar, bittet fie ihn, 
Wieland, Bertuch und Kraus für ven „Merkur“ und das „Move 
journal" zu banken, und von erfterm.ihr das fehlende Dezemberheft 
des vorigen Jahres zu verfchaffen. Der Main ſei ſchon feit fünf- 
schn Wochen zugefroren, meldet fie, und man erwarte mit Be- 
forgniß fein Aufgehen. „Webrigens geht hier alles feinen Gang 
fort. Montage ift Ball, Freitags Konzert, Dinstags, Donnerstags 
und Sonnabends ift Komödie, aber nicht von unſeren vorigen 
Leuten, fondern Koberwein von Straßburg fpielt bis Anfangs der 
Faſten. Die Truppe ift fehr mittelmäßig, die Ballet's aber find 
ganz artig. Mein größtes Stedenpferb ift jegt Klavierſpielen; das 
macht mich ſehr glücklich.“ Im andern Briefe, vom 30. März, 

! Am 16. November ſchreibt fie an Unzelmann: „Mein Stedenpferd 
wollen Cie wiſſen. Ei, warum nit gar! Es if} ein braves Thler, das 


526 

zeigt fie ben Empfang der Eremplare des achten Bandes von 
Goethe's Werfen für fie und ihre Freunde an, beflagt fi aber 
in ihrer launig berben Weife über bie Ungleichheit des Einbandes 
dieſes Theiles gegen den fünften. „Wie geht's Ihnen denn 7“ 
ſchreibt fie. „Iſt alles, beſonders mein Sohn, noch wohlauf? 
Bei uns geht's leidlich; nur der fatale Nordwind ift Menjchen, 
Bieh und Pflanzen odios. Wenn’s nicht beffer wird, ſo gibt's 
eine hungrige Meſſe, und jo fpät fie fällt, Triegen bie Fremden 
doch feine Spargeln." Im Sommer ſprach Frau von Gtein, 
deren Berhältniß zu Goethe feit der Rückkehr aus Italien an Tiebe- 
voller Innigfeit bedeutend verloren und ſich getrübt hatte, auf 
einer Babereife an ben Rhein, bei Frau Aja ein, welde ihre 
herzlichſte Freude darüber dem Sohne auszuſprechen nicht verfehlte. ' 

Die diesjährigen Briefe an Unzelmann enthalten meiftentheils 
für uns unbedeutende Dinge. Einen noch in Mainz zurüdgebliebenen, 
an Unzelmann geliehenen Schrank und einen Band des „Merkur“ 
wünfcht fie zurüd, und läßt fi dadurch nicht beirren, daß Unzel- 
mann hierüber etwas ungehalten wird. Der zwei ihm geliehenen 
Gewehre (S. 162) geſchieht jegt feine Erwähnung. Einen ihr von 
Unzelmann zum Verkauf zugeſchickten Ring fucht fie zum höchſten 
Preife zu verwerthen. Obgleih die Stellung Unzelmann’s und 
feiner Gattin in Berlin eine glänzende und fehr einträgliche war, 
To hatte diefer doch in einem Augenblid der Verſtimmung ben Ge- 
danfen an eine Rückkehr nad) Mainz gefaßt, wovon ihm bie Frau 
Rath am 9. März ernftlih abräth. „Das müſſen nun wohl frei- 
ih ſeltſame Dinge fein, die Ihnen das Recht geben,. Ihren 
Kontrakt (in Berlin) nicht zu halten. Da ich num in dieſes Ge-\ 
heimniß nicht einpringen kann, fo bin ich auch außer Stand, davon 
zu urtheilen; nur aus alter Freundſchaft bitte und erſuche ich 
Ihnen, thun Sie feinen nnüberlegten Schritt! denn Reue nach ver 
That mußt zu nichts, und ift das peinlichfte von allen Gefühlen. 
bei einem bleibt, und nicht fechzig Meilen (mie Unzelmann) auf und davon 


läuft, das man auch in Kranfpeit und übler Laune haben Tann.“ 
' Bol. Briefe an Frau von Gtein III, 324. 331. 





527 
Hierher wollten Sie tommen? warum? zu was Zwei? Iſt denn 
Ihr Engagement in Mainz ſchon ſo gewiß, daß Sie nur zu kommen 
brauchen ? ¶ Und wern das auch wäre, hat ſich denn die Truppe in 
dem Jahr fo umgeändert? Meines Wiffens find alle Die odiofen Men- 
ſchen die Ihnen von hier wegtrieben, noch da und bleiben auch da. 
Bas in aller Welt kommt Ihnen denn auf einmal an? Da made 
mir einer einen Berd draus! Nun, mm, das war einmal eine 
üble Laune; die wird fi ſchon legen. Nicht wahr, ich habe es 
errathen?" Auch verfäumt fie nicht, als die Geſellſchaft zur Ofter- 
meſſe in Frankfurt fpielt, an Unzelmann die Mittheilung zu machen, 
daß von den neuen Schaufpielern Die meiften gefallen, und beſonders 
die Operette herrlich gehe. „Stegmann ift der Liebling hier und 
in Mainz, und hat fih aufs neue auf zwölf. Jahr anmerben 
laſſen, Kod und Fiala auch jedes auf zwölf Jahr.“ Am 27. Dez 
ſchreibt fie: „Ohne Zweifel wird Ihnen fon bewußt fein, daß 
das Organ (Tabor) mit der Sache gar nichts mehr zu thun bat, 
fondern daß v. D. (von Dalberg) auch bei uns hier für alles 
fteht." Da Unzelmann trotz allen biefen Nachrichten den Gedanken 
an bie Rückkehr nicht aufgeben will, fo ſchreibt fie ifm am 11. Mai 
1790: „Da id aus Erfahrung weiß, daß das fo Ihre Methode, 
Art und Weife ift, die Haut feil zu bieten, ehe Sie ven Bären 
haben, fo halte ih mic aus Freundſchaft verpflichtet, Ihnen 
unfere Lage fo ar und deutlich vor Augen zu legen, damit Sie 
- im Stande find, die Sache reiflich zu überlegen, um ſich nicht 
auf's neue in Schaden, Verdruß und Unluft zu bringen. - Kod) 
bleibt von dem heutigen Dato an noch 11, fage eilf Jahre. Junge 
Rollen fpielt er nicht mehr, fondern hat fie an Porſch und Ziegler 
abgegeben; in Väter (n), Pedanten, Helven, tie gerade nicht jung 
zu fein brauchen, gefällt er, und fteht, welches das Beſie ift, bei 
Herrn won Dalberg in Gnaben, wird alſo wohl ſchwerlich weg- 
kommen. An ein Nationaltheater ift hier nicht zu denken. So 
lange von ber Obrigfeit die Apvents- und Faſtenzeit das Schau- 
fpiel unterfagt, ift fo mas ein frommer Wunſch, der nicht in Er- 
fühung gehn Tann. Das größte Hinderniß (alle bie eben erzählten 





abgerechnet), Ihnen jemals wieder bier zu fehn, ift wohl, daß 
Dalberg immer noch fehr über Ihnen aufgebracht ift; und ich weiß 
von fiherer Hand, daß, Sie möchten wieder kommen über lang 
oder kurz, Ihnen die Strafe noch bevorfteht. Wie ift es alſo 
glaublich, daß er Ihnen wieder herberufen wird! Setzen Sie fid) 
alfo nicht wieder zwiſchen zwei Stühle, und fangen doch einmal 
an zu überlegen, che Sie handeln.“ Auch fpricht fie ihre Ber- 
wunberung wieberholt aus, wie e8 fomme, daß er nun wieder aus 

. Berlin fort wolle, das feine und feiner Frau Briefe ja anfänglid 
als ein Paradies geſchildert, wobei fie ihren Werger über eine 
frühere Aeußerung feiner Gattin, welche vie drei Jahre in Frank⸗ 
furt und Mainz als Leidensjahre bezeichnet hatte (S. 184. vgl. 
©. 175), nicht unterbrüden Jann. 

Am 20. Februar 1790 war ber unglückliche Kaiſer Soja 1. 
geftorben, nachdem er kurz vorher alle während feiner Regierung 
erlafjene.Berorbnungen aufgehoben hatte. „Den Tod des Kaiſers,“ 
ſchreibt Goethes Mutter am 1. März an den jungen von Stein, 
bat unfere Stabt zu einem Iebenbigen Grabe gemacht. Das 
Fänten aller Gloden, weldjes vier Wochen täglich zweimal, näm- 
lich Morgens von 11 bis 12 und Abends von 5 bis 6 Uhr 
geihieht, Hat einen fo Iugubren Ton, dag man weinen muß, man 
mag wollen oder nicht. ' Der ganze Magiſtrat in tiefer Trauer, 
die Garnifon ſchwarz, mit Flor alles umwickelt, wie Faiferliche 
Werbung, die Räthe, Refiventen u. f. w., alles, alles ſchwarz; 
das hat ein überaus trauriges Anfehen. . Künftigen Sonntag ben 
7. März ift bei allen Religionen in allen Kirchen Reichenprebigt; 
unfere Hauptliche wird. ganz ſchwarz behängt; Jung und Alt 
erfheint in tiefer Trauer; Sänger und Sängerinnen find zur 
ZTrauermeffe ? verfchrieben, und biefer einzige Umftand koſtet 2000 
Florin. Sollte die Hinftige Krönung näher rüdgn, fo wiffen Sie 





* Grinnerte fie dieſes Tobtengeläute an ihren guten Kaifer Karl VII? 

Vsl. oben ©. 419. 
. 2 Die am U. März in der Katharinenfirhe gehalten wurde. Bel. 
die Anzeige der Ctadtkanjlei bei Marin Belli VIL, 149 f. b 


529 


Ihr Plätzchen. Auch habe ich dann einen Plan im Kopfe, deſſen jegige 
Mittheilung noch zu früh umd zur Unzeit wäre.“ ' In bemfelben 
Briefe läßt fie ihrem Sohne für den fechsten Band der Werke 
tanken, deſſen Inhalt, „Taſſo“. und „Lila“, ihr ganz neu war, und 
ihm zugleich berichten, daß fein „Römisches Karneval" auf dem 
Hofball zu Mainz mit- aller Pracht aufgeführt worden. „Die 


Trauer um ben Kaiſer,“ melbet fie demſelben am 22. April, „ift" 


vorbei; alles ift in Erwartung der Dinge, bie da kommen follen! 
Wenn's, wie die Sage lautet, Krieg gibt, dann mag Gott wiſſen, 
wann die Krönung ift! Indeſſen werben bie Quartiere ſchon ge- 
macht, und die Auffahrt (zum Wahltage) ift im Juli.” Ich will 
dies alles in Geduld abwarten. Und ein Kämmerlein foll Ihnen 
bei mir aufbehalten fein; denn den Tumult müſſen Sie doch mit 
anſehn.“ Zu gleicher Zeit möchte fie wiffen, wohin ihr Sohn, 
der im Frühjahr der aus Stalien rüdkehrenden Herzogin Mutter 
nad; Venedig entgegengegangen war, eigentlich gereist fei; einige 
fagten, er.fei in Venedig, andere, in der Schweiz. Die Borbe- 
reitungen und Beranftaltungen zu ven bevorftehenden Feſtlichleiten 


"nahmen bie Aufmerffamfeit der edlen Neicheftäbterin, welche jetzt 
zum viertenmal eine Krönung erleben follte, fehr lebhaft in An- 


ſpruch. „Eine Berechnung, wie viel der Aufenthalt während ber 
Krönung hier koſten möchte, ift beinahe unmöglich zu beftimmen,“ 
ſchreibt fie am 12. Juni; „fo viel ift gewiß, daß eine einzige Stube 
den Tag ein Karolin Loften wird, das Effen den Tag unter einem 
Laubthaler gewiß nicht. Zudem ift auch die Frage, ob ein Kavalier, 
ver unter Feiner Begleitung eines kurfürſtlichen Geſandten ift, Plag 
befommt; denn unfere beften Wirthshäuſer werben im ganzen ver- 
miethet. Dem Die im „rothen Haufe“ ? find ſchon 30,000 Florin 


! Cie hoffte wohl, bei dieſer Gelegenheit ihren Sohn wieber einmal 
Bei ſich zu fehn. 
3 In der Machfihrift des Briefes an Unzelmann vom 41. DMai heißt 
68: „Im Iuli if die erfte Auffahrt zur Wahl; das gibt ein groß Spektakel. 
Mein Haus wird von oben Bis unten vollgepfropft.“ 
»Bsl. oben ©. 482 Note 2. 
Dünger, Brauenbilber. 2 34 








530 

geboten, aber er gibt's noch nicht daflir. Wenn Leopold Kaifer 
werben follte, fo mag Gott wiffen, wo bie Peute alle Plag kriegen 
werben; benn ba kommen Geſandte, die eigentlich nicht zur 
Krönung gehören, als ver ſpaniſche, neapolitaniſche, von Sizilien 
einer u. f. w. Der päpftliche Gefanbte, weil er in ber Stadt 
keinen Raum gefunden, hat ein Gartenhaus für 3000 Karolin 
gemiethet. Bei mir waren bie uartierherren nod nicht. Ich 
traue mir deswegen nicht, vor bie Thür’ zu gehn, und fie, bei 
dem herrlichen Gottesmetter, wie in ver Baftille: denn wenn fie 
mich abwefend fänden, fo nähmen fie vielleicht da8 ganze Haus; 
denn im Nehmen find die Herren verhenkert fir, und find bie 
Zimmer einmal verzeichnet, fo wollte ich's feinem vathen, fie zu 
anderm Gebrauche zu beftimmen." Sie fpricht die Hoffnung aus, 
daß ihr junger Freund nebft ihrem Sohne zur Krönung kommen 
werde, „Eine Stube follen Sie haben, aber freilich müßten Sie 
ſich begnügen, wenn’ aud drei Treppen hoc wäre. Was thäte 
das? Wir wollen doch Luftig fein!" Ihr eben aus Italien zurüc- 
gefehrter Sohn wurde bald darauf zu feinen Herzoge nach Schlefieu 
beſchieden. Sehr wohlthuend mußte für bie begeifterte Frankfurterin 
die höchſt ehrenvolle Weife fein, im melder 9. ©. Hüßgen' in 
feinem in biefem Jahre erfihienenen Werke: „Nachrichten von 
Künftlern und Kunftwerken in Frankfurt" ihres Sohnes gebachte, 
den er als feinen „Buſenfreund im goldenen Alter“ bezeichnet. 

Der Wahltag verzögerte fi wider Erwarten. Erſt am 
30. September warb ber menſchenfreundliche Leopold zum Kaifer 
gewählt, und am 9. Oftober bie Krönung feierlichft vollzogen. 
Sieben Tage darauf verließ der Kaifer Frankfurt. Bei der Frau 
Kath wurden, da ihr Haus im fogenannten hannöveriſchen Viertel 
lag, bie beiven mecklenburgiſchen Prinzeffinnen, bie ſpätere Königin 
Luiſe von Preußen und die fpätere Königin von Hannover,” als 


! Bol. 8. 20, 199. Er war fan vier Jahre älter, als Goethe, mit 
dem er Schreibſtunde Hatte, und verfprach in feiner Jugend fehr wenig 

? Zuerft an den Prinzen Ludwig von Preufen, ach deſſen Tode an 
den Bringen Wilhelm von Solms-Braunfels, endlich an ben Herzog. Exaft 


531 





Richten der Königin von England, einquartiert.: Rahel Hörte 
im @eptember 1822 bie legtere mit ber gefälligften Erinnerung 
von ihrem damaligen Aufenthalt im Goethe ſchen Haufe erzählen. ? 
Die Fran Rath that den prinzlichen Kindern alles zu Gefallen 
und zur Unterhaltung, fpielte und ſchaffte mit ihnen, ließ fie auch 
in ihre.eigenen Zitnmer kommen. Nach Bettinens höchſt unznver- 
läffiger Erzählung wäre auch ber Bruder der Prinzeffinnen damals 
bei der Frau Rath einquartiert geweſen.“ An einem Bebruar- 
ober Mãrzabende des Jahres 1808 fei nämlich ein befternter Mann 
bei der Frau Rath eingetreten, ber gefragt habe, ob er heute mit 
ihr einen Spedfalat mit Eierkuchen eſſen werde. „Daraus ſchloß 
id) denn ganz richtig," erzählt fie, „baß-er ein Prinz von Medlen- 


‚burg fei; denn wer hätte bie ſchöne Geſchichte nicht won beiner _ 


Mutter gehört, wie auf der Kaiferfrönung die jegige Königin von 
Preußen, damals als junges Prinzeffinnenkind, und ihr Bruder * ver 
Frau Rath zufahen, wie fie ein foldes Gericht zu fpeifen im 
Begriff ftand, und daß dies ihren Appetit fo reiste, daß fie es 
beide verzehrten, ohne ein Blatt zu laſſen! Auch diesmal wurde 
die Gefchichte mit vielem Genuß vorgetragen und noch mandhe, 


Auguft von Gumberland (am 29. Mai 1815) verheiratet, deſſen Erhebuug zum 
Hannöver’fipen Throne im Andenten Deutſchlands lebt. Goethe fah bie beiden 
Bringeffiumen zuerft bei det Belagerung von Mainz (B. 25, 226), bie leg 
tere als Herzogin von Cumberland im Augıft 1816 am Rheine (B. 6, 444), 
und and noch fpäter. Vgl. Zelter's Briefwechfel TIL, 94 f. 123. IV. 301. 

' Jacob verlegt dieſe Geſchichte irrig in den Sommer 1792, die Zeit 
der Krönung von Brang IL, wo die Bringeflin Euife bereits im ficbjehnten 
Jahre Rand, und ihre Schweſter Bricderife im fünfgehnten, 

"A Bol. Rahel. Gin Buch des Andenfens für ihre Freunde III, 69; 

® Briefwehfel mit einem Kinde I. 204 (196) f. Es könnte nur der ſpä- 
tere Großherzog Georg driedrich Karl Joſeph gemeint fein, geboren am 12. Ang. 
4779; denn fein Bruber Karl Friedrich Anguft war damals feine fünf Jahre 
alt. Diefer war es, der unſern Dichter mit dem Geſchente feiner zu Branf- 
furt angefauften großen elterlichen Hausuht erfreute, deren befannte Schläge 
ihn am Morgen feines Geburtstages fo wunderbar überrafigend trafen. 

«Hier erwähnt fie der jüngern Schweſter nicht, obgleich fie kurz 
darauf von mehreren Prinzeffinnen fpricht. 


. 532 

andere, 3. B. wie fie ven Prinzeffinnen ven Genuß verfchaffte, 
ſich im Hof am Brumnen recht fatt Waffer zu pumpen, und bie 
Hofmeifterin (Demoifelle Gelieug) durch alle mögliche Argumente 
abhält, die Prinzeſſinnen abzurufen, und enblih, da biefe nicht 
darauf Rüdficht nimmt, Gewalt braucht, und fie (die Hofmeifterin) 
im Zimmer einſchließt. Denn, fagte die Mutter, ich Hätte mir. 
eher den ärgften Verdruß über ven Hals kommen laſſen, als daß 
man fie in den unſchuldigen Bergnügumgen geftört hätte, das ihnen 
nirgendwo gegönnt war, als in meinem Haufe. Auch haben fie 
mir's beim Abſchied gefagt, daß fie nie vergeſſen würden, wie 
glüdlih und vergnügt fie bei mir waren." Der Herzog von 
Medlenburg verehrte der Frau Rath für die fo fehr freundliche 
Aufnahme feiner Kinder eine ſchöne Dpfe mit feiner Brillantchiffre. 
Damals war es aud) wohl, daß der Prinzefſin Luife, melde von 
ihrer Großmutter, der Landgräfin von Heffen-Darmftabt, auf einen 
Beſuch zum Kurfücften von Mainz mitgenommen worben war, von 
der Frau von Condenhoven, die fi dort als Oberhofmeifterin 
fühlte, verwiefen ward, daß fie mit langen Aermeln erfchienen 
war, melde Behandlung ihrer Prinzeſſin die Frau Rath mit 
großem Unwillen vernahm. * 

Am 20. Dezember 1790 ſchreibt bie Frau Rath an ihren 
Fri von Stein, welder während ber Krönung nicht, wie fie ge- 
hofft hatte, nach Frankfurt gefommen war: „Nach dem großen 
Wirrwarr, den wir hier hatten, iſt's jegt wie ausgeftorben. Mix 
ift das ganz recht; da kann ich meine Steckenpferde befto ruhiger 
galoppiren laffen: ich Habe deren vier, wo mir ‚eins fo lieb ift, wie's 
andere, und ich oft nicht weiß, weldes zuerft an bie Reihe fol. 
Einmal iſt's brabanter Spigenflöppeln, das ich noch in meinen 
alten Tagen gelernt, und eine kindiſche Freude darüber habe; dann 

kommt das Klavier,? dann das Leſen, und enblih das lange 


" Dgl. Rahel HL, 70 f. Freilich müßte nach der dortigen Angabe 
die Pringeffin damals ſchon fünfgehn Jahr alt gewefen fein, „während fie 
wirklich erft im fünfgepnten Jahre ftand. 

2 Bel. ©. 525 Note 1. Maria Belli erzäpft (INT, 93°), noch in ihrem 


533 

aufgegebene, aber wieder herrorgeſuchte Schachſpiel. — Ich Habe die 
Gräfin von Henburg bei mir logiren, der das obenbenannte Spiel 
auch große Freude macht; wenn wir beide Abends zu Haufe find, 
welches, gottlob! oft paſſirt, dann fpielen wir, und vergeſſen ver 
ganzen Welt, und amüfiren uns königlich." Die Gräfin von Ifen- 
burg ſcheint Tängere Zeit bei ber Frau Rath gewohnt zu haben, 
wie aus einem Briefe ver legtern vom 1. Mai 1791 an ihre ältefte 
Entelin Luiſe hervorgeht, welcher fie ſchreibt: „Taufend Dank für 
dein ſchönes, geſchmackvolles, und zugleich prächtiges Arbeitstiſchchen! 
So ift feins in Frankfurt! Es wird aber auch deswegen von 
Haus zu Haus zum Beſchauen herumgetragen. Heute (fie aß an 
dieſem Tage, als einem Sonntage, bei Frau Stod) iſt's bei 
Frau St** (Stod), und ich freue mid auf ven Nadmittag, wie 
“meine gefchichte Luife von Alt und Jung in meiner Gegenwart wird 
gelobt und gepriefen werben. Sobald e8 ausgepadt warb, trug 
ih es zu meiner Frau Gräfin, die hei mir wohnt: ich mußte es 
den ganzen Tag oben laſſen, bamit fie es denen Herrſchaften, bie 
fie befuchen kämen, zeigen könnte. Sämmtlich Werliebten fie ſich 
hinein, und jeve hätte gern fo ein ſchön Möbel in ihr Prunkzimmer 
gehabt, und ich wurde um fo eines gefchicten Enfels willen von 
allen beneidet, welches mir denn ſehr wohl that. Nimm alfo 
nochmals meinen beften Dank dafür an! Die andere Woche foll 
eine Schachtel voll Hein Brod und fonftiges Bonbon eure Herzen 
erlaben.“ 

Da man in Frankfurt mit dem Gebanfen umging, bort, wie 
im Mainz geſchehen war, ein Nationaltheater zu begründen, fo 
faßte Unzelmann neue Hoffnung zur Rückkehr. Die Frau Rath, 
am welche er fi in viefer und in anderen Privatangelegenheiten 


ſechsundſechtigſten Jahre Habe fie den Violinſchlüſſel von Bräulein Briebel, 
einer ausgezeichneten Klavierlehrerin, gelernt, um ein Quartett auf bie 
Melodie des Liedes aus „dem unterhrochenen Opferfeft": „Kind, willſt du 
ruhig Thlafen?“ fpielen zu können; ihre Lehrerin Habe ihr dafür einen 
neuen Krenger gefchenkt, den fie zum Scherze lange ale ehrende Belohnung 
au einem Bänbpen getragen habe, 





534 
gewandt hatte, fchrieb ihm am 21. Mai 1791: „Mit unſerm 
Nationelthenter hat es in foweit feine Richtigkeit, daß der Magiftrat 
feine Einwilligung dazu gegeben bat. Nun muß das Kollegium 
der Herren Einundfünfziger noch mit einflimmen, woran wir benn 
auch nicht zweifeln. Das ift aber aud alles, was ich · von der 
Sade weiß. Daß man ſchon an Ihnen gedacht haben follte, ift 
möglich, aber als Direftor — das ift ein bischen unwahrſcheinlich. 
Nehmen Sie fih in At, daß Sie das Gewiſſe nicht verlieren 
und nad) dem Ungemiflen greifen! So lange die Unternehmer nicht 
ſelbſt an Ihnen fehreiben, ift alles andere Geſchwätz Wiſchiwaſchi. 
Zudem Tann ich mic nicht vorftellen, daß Ihr jegiger Aufenthalt 
Ihnen nidt” mehr behagte, wo Sie fo viel Glüd zurücklaſſen 
“ müßten, das Sie hier ſchwerlich finden würden; denn die Zeit hat 
viel, viel verändert; das lönnen Sie mir auf mein Wort glauben!‘ 
Ratten, was Sie thun follen, das kann ich auf feine Weife, da 
ich ja wegen Ihrer dortigen Verhältniſſe ganz unwiſſend bin; und 
eben fo unwiſſend bin id}, was das hiefige neue Theatermejen an- 
belangt. Ich bekümmere mich jet, Gott fei Lob und Dantl!! um 
all des Zeugs nicht mehr; denn niemand weiß befier, als Sie, 
wie ich für meine Mühe, Sorgen und Wohlthaten bin belohnt 
worden. Ein gebranntes Find ſcheut das Feuer. Da haben Sie 
meine jegigen Gefinnungen, und Gelehrten ift gut predigen.“ Der 
Ton ift hier offenbar ein etwas Talt abweiſender. Die Frau 
Rath fah wohl ein, daß es im Grunde nur eine Laune fei, wenn 
Unzelmann ſich von Berlin fortfehnte, und daß er ſich in Frankfurt 
bald unglüdlic, fühlen were, weshalb fie auch die leifefte Aeußerung 
des Wunſches, ihn wieber bei ſich zu fehn, forgfältig vermieb, 
Auch furchtete fie wohl feine Leidenſchaftlichkeit. 

In demfelben Jahre erlebte die Frau Rath den herben Verkuft 
ihres alten, biebern und edlen Freundes Merd, welcher, nachdem 
er in Paris, wohin ihn der Landgraf von Heſſen-Darmſtadt abge 
fandt hatte, auf furze Zeit frifch aufgelebt war, zu Haufe wieder 

Sie deutet an, daß bei ihr und anderen Zreunden Unzelmanu's bie Reis ” 
denfepaft zum Theater in Folge vieler Unaunehmiichfeiten erloſchen fei. 


535 

von korperlichen und geiftigen Leiden gequält, am 27. Juni 1791 
feinem fo thätigen und in den verſchiedenſten Beziehungen fo folge- 
veich anregenden, für den weiten Kreis ſeiner Freunde und Gönner 
höchſt erfreulich wirkfamen Leben durch eine Kugel ein Ende machte. 
Wie tief mußte Goethe's Mutter das unglüdliche Ende des Mannes 
betranern, ber ihrem Wolfgang und ihrem ganzen Haufe fi als 
ein treuer, ſtets mit Rath und Hülfe zur Hanb gehenber Freund 
beiviefen, mit weldem fle die glücklichſten Stunven verlebt hatte! 

Am 14. Juli 1792 wurde nad) dem unerwartet frühen Tode 
Leopolv’ II. deſſen Sohn als Franz IE. zum Kaifer gefrönt. Die 
Krönung hatte and) wieder bie mecklenburgiſchen Prinzeſſinnen nad) 
Frankfurt geführt, die, wenn fie auch diesmal nicht bei der Kran 
Rath wohnten, fie doch mit ihrem freundlichen Beſuch erfreuten. 
Goethe ſelbſt verweilte auf ber Reife nad der Champagne vom 16. 
bis 20. Auguft in Frankfurt. „Meine alten Freunde und meine 
zunehmende Vaterſtadt,“ fehreibt er am 18. Auguft an Yacobi, 
habe ich mit Freuden gefehen.“ In Mainz verlebte er zwei 
muntere Abende mit feinen Freunden Sömmering, Huber, Georg 
Forſter n. a., die nicht unterlaſſen Tonnten, feine Wehnlichfeit mit 
der Mutter in heiterm Betragen und lebhaften Reben mit freubiger 
Anerkennung mehrfach zu betheuern.“ ber über feine Vaterſtadt 
follte bald ein großes Unheil ausbrechen. Am 22. Oftober mußte 
ſich Frankfurt an Cuſtine's Untergeneral Viktor Neuwinger ergeben; 
es wurde eine Kontribution von’ zwei Millionen Gulden ber 
Stadt aufgelegt. Euftine kam felbft am 27., und verlangte bie 
Zahlung der Summe in zwei Tagen. Bier Tage darauf war bie eine 
Million abgetragen und für die Sicherheit der zweiten geforgt. 
Am 2. Dezember rüdten die Heffen und Preußen in die Stabt ein, 
die vorher von ihnen beſchoſſen worben war. 

Als Goethe nad; dem traurigen Rückzuge Ende Oktober 
einige Tage in Trier zur Erholung und Herftellung verweilte, 
traf ihn ein Brief feiner Mutter, in welchem biefe ihm ben am 
19. September erfolgten Tod ihres Bruders, des Schöffen Tertor, . 

! Bel. 8. 25, 4. oben ©, 497, 


536 , 


melbete, und zugleich die ihr zur weitern Beforgung auvertraute 
Anfrage an ihn ftellte, ob er, falls ihm unter den Looſenden die 
goldene Kugel zufallen follte, ‚eine Rathöherenftelle anzunehmen 
geneigt fei. Leider geftatteten ihm bie Umftände nicht, den Rückweg 
über feine Vaterſtadt zu nehmen; erſt nad} feiner Heimkehr vermochte 
ex die nöthige Faſſung zu gewinnen, um auf ein ſolches Anerbieten 
nad; Gebühr zu erwiebern. * Und fo fehrieb er denn am 24. De- 
zember an bie Mutter:? „Die Hoffnung, Sie, geliebte Mutter, 
unb meine werthen Frankfurter Freunde bald wieverzufehn, ift mir 
nunmehr verſchwunden, ta mic bie Umftände nöthigten, von 
Düffeldorf über Paderborn und Kaffel nad Weimar zurüdzufahren. 
Wie viel Sorge Habe ich bisher um Sie gehabt! wie fehr bie 
Lage bebauert, in ber ſich meine Landsleute befinden! Wie ſehr 
habe ich Aber auch das Betragen berfelben unter fo kritiſchen Um- 
Ränden bewundert! Gewiß hätte mir nichts ſchmeichelhafter fein 
tönnen, als die Anfrage, ob ich mid, entſchließen könne, eine 
Rathsherrnſtelle anzunehmen, wenn das Loos mid träfe, die in 
dem Augenblide an mic) gelangt, da e8 vor Europa, ja vor ber 
ganzen Welt eine Ehre ift, als Frankfurter Bürger geboren zu 
fein. Die Freunde meiner Jugend, die ich immer zu ſchätzen fo 
‚viele Urſache habe, konnten mir fein ſchöneres Zeichen ihres fort- 
dauernden Andenkens geben, als indem fie mich in biefer wichtigen 
Epoche werth Halten, an der Verwaltung des gemeinen Weſens 
Theil zu nehmen. Ihr Brief, den ich mitten im Getümmel des 
Kriegs erhielt, heiterte mir traurige Stunden auf, die ich zu durch- 
leben hatte, und ich fonnte nad‘ven Umftänben die Hoffnung faffen, 
in weniger Beit meine geliebte Vaterftabt wiederzufehn. Da war es 
meine Abficht, mündlich für die ausgezeichnete Ehre zn danken, bie man 
mic erwies, zugleich aber bie age, in ber id mic, gegenwärtig 


Goethe ſtellt B. 25, 132 die. Sache irrig fo dar, als ob er ſchon 
von Trier aus erwiedert hätte. Nach der Antwort” Gpethe's müßte er den 
Brief der Mutter vor feiner Müdkfehr nach Trier empfangen; denn er fagt, 
er fi ihm „mitten im Getümmel des Kriegs“ zugefommen. 

? Den Brief teilt Riemer IT, 332 f. mit, 


537 





befinde, umſtäiidlich und dufrichtig vorzulegen.“ Nachdem er bemerkt 
hat, daß er nur mit dem größten Undank feine Stelle zu Weimar 
in einem Augenblick verlaffen könnte, wo der Staat treuer Diener 
am meiften bebürfe, ſchließt der Brief mit ven Worten: „Sobald 
es bie Umftänbe einigermaßen erlauben, werbe ich den Empfindungen 
meines Herzens Genüge tun, und mürblid und umſtändlich das- 
jenige vorlegen, was im biefem Briefe nur oberflächlich geſchehn 
tonnte. Möge alles, mas meinen Landsleuten gegenwärtig Sorge 
macht, weit entfernt bleiben, und uns allen ber wunſchenswerthe 
Friebe wiedererſcheinen! Leben Sie wohl!" 

Der Kronprinz; von Preußen, ber feinen Bater zu dem un⸗ 
glüdlichen Feldzuge nad) der Champagne begleitet hatte, vermeilte 
mit diefem den Winter über zu Frankfürt. An Unzelmann, dem 
die Frau Rath und ihre Freundin, Yrau Stod, für fein niedliches 
Neujahrsandenken ıhren Dank ausſprechen, mit dem Wunſche, daß 
das fünftige Jahr die Glüdfeligfeit, die er jegt genieße, noch ver⸗ 
mehren möge, ſchreibt Goethes Mutter am 22. Januar 1793: 
„Aus ven Zeitungen werben Sie unfere Lage wiſſen. Preußen 
und Heſſen halten bei uns Winterquartiere. Ihro preußiſche 
Majeftät. befinbet ſich in höchſtem Wohlfein. Ich habe bie Freude, 
Höchftviefelben alle Tage im Schaufpiel zu fehn, da meine Loge 
gerade gegen ihm über ift. * Daß bie Mainzer Truppe gauz ausein⸗ 
ander gegangen ift, werben Sie wien. — Unfer Theater hat gerade 
gute Zeiten erlebt, die Krönung, jet vie vielen Prinzen, Generale, - 
Dffiziere und vor allen ven König von Preußen." Gegen Enve 
März kamen and; die beiven medlenburgiſchen Pringeffinnen auf 
der Rüdreife von Hilvebirghaufen nad Darmftabt in Frankfurt 
an, wo fich bald zwifchen Luife und dem Kronpringen, ſo wie zwifchen 
der jüngern Prinzeſſin und dem Prinzen Ludwig von Preußen ein - 
inniges Berhältniß bildete, fo daß bereits am 24. April die Doppel- 
verlobung in Darmftabt vollzogen ward. Die ergögliche Geſchichte 
mit der Dofe, welche der. Herzog von Medlenburg.der Grau Rath 

! Der König ſaß in der Mittelloge erften Nauges. Die Braun Rath 
hatte ihren ogenplag Parterre Nro. 5 rechter Hand. 








338 





geſchenlt hatte, muß in dieſe Zeit fallen. Die Frau Rath Hatte, 
fo Inutet jene Erzählung, welche Rahel (I, 69 f.) uns aus 
dem Munde ver Herzogin von Cumberland mittheilt, ihre Loge 
dicht neben berjenigen, in welder der König von Preußen faß; 
fie Hatte ihren gewöhnlichen. Zogenplag verlaffen, um dem Könige 
recht nah zu fein und von ihm bemerkt zu werben. „Ich nehme 
meine Dofe,“ erzählt vie Frau Rath, „geh’ in's Theater, ftelle 
fie mit drauf drüdender Hand feft auf den Logenrand. Der König 
ſieht nichts. Ich nehme eine Prife, fege die Dofe näher an ven 
König, und fehe ihn an. Er fieht nicht auf die Dofe Hin, er hat 
mehr dergleichen gefehen. Ich nehme fie abermals, fege fie noch 
näher, und fehe wieder ven König an. Endlich bfidt er auf die 
Dofe, und wie er fie gefehen hat, fagt.er ganz gütig: „Ei! Ma- 
dame Goethe, was haben Sie da für eine ſchöne Doſe!“ „Ja, 
Ihro Majeftät,” antworte ich; „bie hab’ ich au von meinen 
Prinzeffinnen von Mecklenburg.“ Dieſe Gedichte, melde die Frau 
Rath mit Wohlgefallen ihren Prinzeflinnen fpäter erzählte, zeigt 
neben der auferorbentlichen Gutmüthigfeit und dem natürlichen 
Humor aud) die Freiheit, mit melcher. fie ſich fürftlihen Perfonen 
gegenüber zu benehmen wußte; hatte fie ja auch dem deutſchen Volke 
einen Fürften im Reiche des Geiftes geboren, fo daß fie fih Fürften 
ebenbürtig glauben durfte. 

Im Mai defjelden Jahres erlebte die Frau Rath die Freude, 
ihren Sohn, der dem Herzog zur Belagerung von Mainz folgte, 
auf ein paar Wochen bei ſich zu ſehn. Nach der Uebergabe von 
Mainz ging diefer nad Mannheim und Heibelberg; am letztern 
Orte ſah er feinen Schwager Schloffer, der unterbefien feine zweite 
Tochter Yulie verloren hatte. Auf ver Rückreiſe, Mitte Anguft, 


verweilte er in Frankfurt länger als eine Woche, doc mußte er, 


als er die „Belagerung von Mainz“ ſchrieb, davon, wie er felbft 
äußert (B. 25, 268), wenig zu fagen. ' Der fchöne bürgerliche 
Beſitz, deſſen ſich die Mutter in Frankfurt erfreute, war biefer bei 
den kriegeriſchen Bedrängniſſen der Zeit zur Laſt gewefen, ohne 

BVal. bie Briefe an Jacobi aus Franffurt vom 14. and 19. Nugufk 


539 


daß fie fich getraute, fich ſelbſt -diefes zu geftehn. Goethe Härte 
fie jegt über ihren Zuftand auf, und ermunterte fie, ſich folder 
Burde zu entlebigen; doch waren bie Zeiten, wie fid bald beftimmter 
auswies, einem ſolchen Unternehmen gar zu ungünſtig. Auch 
Schloſſer fam im Herbfte diefes Jahres mit feiner Familie nad 
Frankfurt, von wo er fih zu einem „Kongreß“ nad; Bempelfort 
zu Jacobi begab, Hier war es, mo Nicolovius der Tochter 
Schloſſer's fein Herz zuwandte. Bei den drohenden Verhältniſſen 
verlaufte die Mutter im Jahre 1794, in welchem ihr Freund, Rath 
Crespel, deſſen freilich feit den achtziger Jahren in den Briefen der 
Frau Rath keine Erwähnung geſchieht, Frankfurt verließ und nad) 
Laubach überfievelte, zuerft den wohl beftellten Weinkeller, die in 
manchen Fächern reiche Bücher» und Gemälvefammlung und anderes, 
was ihr bei einem nöthigen Umzug zur Laft fein würde. Borab 
wollte fie, ungeachtet mehrfacher Aufforderungen des Sohnes, Frank- 
furt nicht verlaffen, da fie für ihre Perfon nichts fürchtete; „fie be— 
flärkte fich,“ erzählt Goethe (Bd. 27, 24), „in khrem altteftament- 
lichen Glauben und durch einige zur rechten Zeit ihr begegnende 
Stellen aus ven Bjalmen und Propheten (vgl. ©. 408 Note 1) in ver 
Neigung zur Baterftabt, mit der fie ganz eigentlid; zufammenge- 
wachſen war, weshalb fie denn auch nicht einmal einen Beſuch 
zu mie unternehmen wollte.“ Doch ſchreibt Goethe am 14. Auguft 
an Brig von Stein: „Am Nheine ift alles in Furcht und Sorgen; 
auch meine Mutter hat eingepadt, und ihre Sachen nad) Langenſalza 
geſchickt.. Wurde es übler, fo Tann fie zu mir." Und an Jacobi 
melvet er am 8. September: „Meine Mutter fteht auch auf dem 
Sprumge; fie hat ſich doch endlich entſchloſſen, was teansportabel 
war, wegzuſchicken. Ich habe indeſſen einige Zimmer zurechte ge- 
macht, um fie allenfalls aufzunehmen.“ Doch hielt fie Stand, 
und wußte auch, auf den Wunſch von Wieland und ihrem Sohne, 
Frau Sophie von la Rode, die zu ihrem Freunde Wieland 
flüchten wollte, zu Offenbach zurückzuhalten, und ihre Sorge 
für den Augenblick zu beſchwichtigen. Schloffer hatte zu derfelben 
Zeit bei ſich den Entſchluß zur Reife gebracht, nach Holftein 


540 
auszuwandern, was bie Mutter zu feinem und feiner Kinder Bor- 
theil fand, und fie äußerte, daß fie, falls es bei ihr in Frankfurt 
unruhig werben follte, zu ihm nach Holftein ziehen wolle, * wozu 
fie gewiß nur bie alleräußerfte Noth gebradt haben wide. 

Im Jahre 1795 kam der Hausverkauf endlich zu Stande, 
wobei die Möbel, welche die Mutter nicht mitnehmen wollte, 
öffentlich verfteigert wurden; fie bezog ein heiteres Quartier auf 
dem Roßmarkt, der Haupwwache ſchräg gegenüber, im fogenannten - 

. „gofßdenen Brunnen“, im zweiten Stode, und biefer Wechſel ge- 
, wãhrte ihr bei den immer mehr ſich trübenven politiihen Aus- 
ſichten eine zerſtreuende Beſchäftigung.“ Die brei erften, 1795 
erſchienenen Bände von „Wilhelm Meifter's Lehrjahren“ gereichten 
Goethe's Mutter zur größten Freude. Eine aus ben. „theologifchen 
Annalen“ abgefchriebene Benrtheilung des fechsten Buches, der 
„Belenntniffe einer ſchönen Seele”, jcidte fie dem Dichter mit 
folgenden Worten: * „Meine Rezenfion ift die, Pfalm 18.3: Auch 
feine Blätter verwelken nicht. Das ift der lieben Klettenberg 
wohl nicht eingefallen, daß nad fo Ianger Zeit ihr Andenken 
grünen, blühen und Segen ben nachkommenden Geſchlechtern bringen 
wärbe.. Du, mein lieber Sohn, warft von der Vorfehung beftimmt . 
zue Erhaltung und Verbreitung biefer unverwelllichen Blätter. > 
Gottes Segen und taufend Dank dafiir! Und da aus biefer Ge— 
ſchichte deutlich erhellt, daß fein gutes Samenkorn verloren geht, 
fondern feine Frucht bringt zu feiner Zeit, fo laßt. uns Gutes 
thun und nicht müde werben; denn bie Ernte wird mit vollen 
Scheuern belohnen.“ Nach Bettine (I, 269 f.) legte fie das Lied 
Mignon’s: „So laßt mich ſcheinen, bis ich werbe" (B. 17, 288 f.), 
gar herrlich aus, indem fie bemerkte, dies allein müſſe ſchon be- 
meifen, welche tiefe Religion in ihrem Sohne liege. Auch das 


Bol. Nieolovins „3. ©. Schloffer's Leben und literariſches Wirken“ ©. 2277. 
2 Bel. 8. 27, 47. 

389. 8. 27, 42. - 
Bl. Jacob ©. 417. 

> Befenntnife der Klettenberg hatten dem Dichter vorgelegen. 


541 





andere Lied Mignon's: „Nur wer die Sehnfucht kennt“ (8. 16, 
288 f.), hatte ihr tiefſtes Herz gerührt. gl. daſelbſt II, 271. 

Im diefe Zeit, und wohl ſchon früher, fällt die Bekanntſchaft 
der Frau Rath mit ver fpäter jo berühmten Schaufpielerin Henbel- 
Schüß, damaligen rau Eunike. „Unfere fpäterhin jo berühmt 
gewordene mimiſche Kinftlerin Henriette Henvel-Schüg,“ erzählt 
ihr fpäterer Gatte, ' „bie auf ber Frankfurter Bühne im Jahre 1789, 
als die eben erft, in einem Alter von achtzehn Jahren, ? verheiratete 
Gattin bes noch (im. Jahre 1826) zu Berlin lebenden Sängers 
Eumike, ihre höhere theatraliſche Laufbahn begann, und ſich damals 
viel in Goethe's elterlihem Haufe befand, hat mir öfters mit der 
ihr fo eigenen lebendigen Auffaffungs- und Darftellungsgabe viefe 
wadere Frau (Goethes Mutter), die fih auf das innigfte für 
das ſchon in feinem eiften Aufblühen fo viel verfünbigenbe Talent 
ver jungen Kunſtlerin intereſſirte, charakterifirt, und verfichert, 
daß fie ihrem fcharftreffenden Urtheil und befonders ihren fteten 
Warnungen, fi vor dem Zuvielthun, wie vor jeder Ziererei in 
ihrem Spiel zu hüten, vornehmlich ven feitpen Gewinn ber ächten 
Naturwahrheit in der Ausitbung ihrer Kunſt zu verdanken gehabt 
habe. Sehr anziehend war es au, von dieſer Künftlerin den 
feltfamen Kontraft ſchildern zu Hören und zu fehn, den das gerab- 
finnige und energifche Wefen der Mutter Goethe's zu der ſüßlichen 
Empfinbfamteit und überfpannten Gentimentalität der befannten 
Dichterin Sophie la Roche bilvete, bie fih zu jener Zeit ebenfalls 
oft im Goethe ſchen Haufe befand, wo denn dieſe fo diametral ent- 
gegengefegte Verſchiedenheit der Charaktere biefer beiden Frauen 
nit felten zu ven Tomifch-interefjanteften Szenen zwiſchen ihnen 
Beranlaffung ward. — Sie trug oft mit wahrer Begeifterung 

8. K. I..Cchüg „Goethes Philoſophie- VIL, 3 f. 

? Eie war geboren am 13. Bebrnar 1772, wurde mit ihrem Gemahl, 
vem Berliner Tenoriften Eunife, 1789 am Mainzer Theater angeftellt, von 
100 fie auch zur Meßgeit nach Sranffurt famen, ging darauf im Jahre 1792 
nach Amſterdam, kehrte aber im Oftober 4794 nad Frankfurt zurück, von 


wo fie 1796 nad) Berlin berufen warb. Val. den Nekrolog der Deutſchen 
xxvu. 211 fr 





542 





diejenigen feiner (von Goethes) Dichtungen, bie fie beſonders liebte, 
im reife der Freunde und Freundinnen ihres Haufes vor; beſonders 
aber fang fie gern mehrere füherzhafte feiner von Reichardt kompo— 
nirten Lieber, ' vornehmlich das Lieb aus dem , Fauſt“: „Es war ein- 
mal ein König“, indem fie am Schluffe jeder Strophe die Zuhörer 
anfforberte, den „Chorus“ zu machen, und am Ende dann gemwöhn- 
lich, die rechte Hand auf die Bruſt legend, mit gerechtem Stolze in 
ihrem herzigen Frankfurter Dialekt, den fie beftändig ſprach, zu 
fagen pflegte: Den hab’ ich geboren!“ 

Am 5. Juni 1795 wurde zu Ansbach, wohin fih Schloſſer 
nach Nieberlegung feines Amtes, da der Norden ber Geſundheit 
feiner Gattin einftweilen nicht förderlich ſchien, im Sommer 1794 
begeben hatte, die Vermählung von Schloſſer's ättefter Tochter mit 
Nicolovius vollzogen, ? der im Februar 1795 vom Herzog von 
Oldenburg und Biſchof von Libel zum Kammierfefretär ernannt 
worden war. Die Großmutter hatte ihrer geliebten Luife in einem 
Briefe vom 21. März 1794 ? zu ihrem Brautftand Glüd gewünfcht. 
„Siehft du nun,“ hatte fie ihr gefchrieben, „wie Gott gute Kinder 
ſchon hier belohnt? Iſt deine Heirat nicht beinah ein Wunderwerk, 
und baß ſich alles fo ſchicken muß, daß deine lieben Eltern und 
Geſchwiſter nun mit dir gehen! Das würde doch nicht fo leicht 
gegangen fein, wäre kein Krieg ins Land gefommen. Merke bir 
das auf bein ganzes Leben! Der-Gott, ber dem Abraham aus 
Steinen Kinder erwedt, kann aud alles, mas wir mit unferen 
blöden Augen für Unglüd anfehn, zu unferm Beſten wenden. 
Nun, liebe Luiſe, du einzige, bie mir von einer theuern und 
ewig geliebten Tochter übrig geblieben ift, Gott fegne dich! Sei 
die treue Gefährtin beines zufünftigen braven Mannes, mache ihm 


' Reicpardt's Kompofitionen der Goethe ſchen Lieder erſchienen im 
Jahre 179. 

? Daß Goethe diefer Verbindung abhold geweſen und bem trefflichen 
Nic olodius ftets fremb geblieben, Hätte der neueſte Blograph Goethes nicht 
nachſchreiben follen. 

3 Bgl. A. Nicolovius „Denkfrift auf ©. H. 2. Nicolovins“ ©. 68. 


s 543 
das Leben fo froh und glücklich, als nur in deinem Vermögen 
fteht, fei eine gute Gattin und deutſche Hausfrau, fo wird beine 
innere Stüge, ven Frieden deiner Seele, nichts ftören können. 
Behalte auch in ber weiten Entfernung ‘deine Großmutter lieb! 
Mein Segen begleitet did), wo du biſt.“ Im Februar bes folgen- 
ven Jahres (1796) ſchrieb Goethe's Muttgr an Nicolovius und ihre 
Entelin in Eutin: ' „Daß meine ehemaligen Freunde und Belannte 
ſich meiner noch in Liebe erinnern, thut meinem Herzen wohl, un 
verfegt mich in bie-fo feligen Tage ber Vorzeit, wo mir in dem Um- 
gang ber edlen und biedern Menfchen fo wohl warb, wo ich fo. 
viel Gutes ſah umb hörte, fo viel Nahrung für Herz und Geift 
genoß: niemals, nein niemals werde ich biefe herrliche Zeit ver⸗ 
geffen. Da ihr, meine lieben Kinder, nun das Glüd habt, unter 
biefen vortrefflihen Menſchen (Fr. 2. Stolberg und Fr. Jacobi) 
zu leben, fo gabenft meiner zuweilen! Nicht ganz aus bem An— 
denken biefer mir ewig unvergehlichen Freunde ausgelöfcht zu fein, 
wird mir in meiner Einfamfeit, auch in ber großen Entfernung, 
Frende und Wonne fein. Mein lieber Sohn Schlofjer nebft Weib 
und Kinder werben im Frühjahr zu mir fommen; bie Ankunft wird 
für mich freudevoll -und Tieblich fein, aber ver Abfchien!! Wem 
ich vente, daß aller Wahrfcheinlichfeit nach es das letztemal fein 
wird, daß Fran Aja dieſes Bergnügen genieft, daß bie große 
Entfernung Korrefpondenz und alles übrige erfchwert, fo habe ich 
nur einen Troft, den id aber mit ben beiden Händen halten 
muß, daß er mir nicht entwifcht, nämlich daß ihr alle zufammen 
alsdann eine ver glücklichſten Familien ausmachen werdet, und daß 
ih in ben ganz fonderbaren Fügungen und Lenfungen euer aller 
Schickſale erfennen, fühlen und mit gerührtem Herzen bekennen 
und fagen muß: Das ift Gottes Finger! — Nun biefer-Gott, 
ber bisher fo viel Gutes unter ums erzeigt hat, ber wird's auch 
in biefem Jahre an feinem Gute mangeln laſſen; er ſegne euch, 
erhalte euch froh und freudig!" Daſſelbe rührende Gottvertrauen, 


Bol. a. a. O. ©. 97 f. 





dieſelbe felig das Herz durchſtrömende Liebe fpricht aus dem Fubel- 
briefe, mit welchem fie bald darauf, am 5. April, bie Geburt ' 
‚ ihres erſten Urenkels begrüßte‘ „Nun banfet alle Gott, mit 
Herzen, Mund und Händen, ber große Dinge thut!“ ſchreibt fie 
ven glüdfichen Eltern. „Sa wohl, an euch, an mir, an uns allen 
bat er ſich aufs neue als den manifeftiet, der freundlich ift und 
deſſen Liebe ewiglich währet. Gelobet fei fein eiwiger Name! Amen! 
Lieben Kinder! Gott fegne euch in eurem neuen Stand! Der 
Bater- und Muttername ift ehrwürdig. O was für Freuden 
warten eurer! Und glückliches Knäblein! Die Erziehung ſolcher 
vörtrefflihen Eltern und Großeltern (Schloffer’s ‚und feiner Gattin) 
zu genießen! Wie forgfältig wirft du, mein Meiner Liebling, nach 
Leib und Scele gepflegt werben! wie frühe wird guter Same in 
dein junges Herz gefäet werben, wie bald alles, was das ſchöne 
Ebenbild Gottes, was du an dir trägft, verunzieren könnte, aus- 
gerottet fein! Dir wirft zunehmen an Alter, Weisheit und Gnade 
bei Gott und bei ven Menſchen. Die Urgroßmutter Tann zu allem 
diefem Guten nichts beitragen; die Entfernung ift zu groß. Sei 
froh, lieber Johann Georg Eduard! Die Urgeoßmutter Tann 
feine Kinder erziehen, ſchickt ſich gar nicht dazu, thut ihnen allen 
Willen, wenn fie lachen und freundlich find, und prügeft fie, wenn 
fie greinen ober ſchiefe Mäuler machen, ohne auf den Grund zu 
gehn, warım fie lachen, warum fie greinen.? Aber Lieb will ich 
dich haben, mid, herzlich deiner freuen, beiner vor Gott oft und 
viel gebenfen, bir meinen urgroßmütterfihen Segen geben. Ya, 
das kann ih, das werbe ic. Nun habe ich dem jungen Weltbürger 
deutlich gejagt, was er von. mir zu erwarten hat.“ . 
* Dafelbft ©. 88. " 
= Bettine läßt (Dies Buch gehört dem König ©. 53) die Frau Rath 
.fagen: „AU das Päbagogenwefen if nichts, der Emil von Rouſſeau bie 
auf Herrn Haberlein, der in unferm Haus Brägeptor war und mand 
paͤdagogiſch Vorleſung gehalten hat, und hat als gemeint, ich follt’ mich 
mit meiner Erziehung danach richten, Aber die unwiderſtehlichen Gründe 
der menſchlichen Natur waren in meiner Seele zu nan, die haben mich 
einen andern Weg einſchlagen lehren.“ 


545 

Im Mai veffelben Jahres verließ Schloffer mit feiner Familie 
Ansbach, und begab ſich über Frankfurt nach Eutin, wo ihn feine 
Kinder und ein Kreis treuer Freunde empfingen. Aber kaum hatte 
ex feine geliebte Baterftabt und feine treuliebende Schwiegermutter 
verlaffen, als über jene ſich ein ſchredliches Unheil entlud. Am 
12. und 13. Juli beſchoſſen die Franzoſen bie Stabt, melde ver 
General Wartensleben den Deftreiern zu. erhalten wünſchte. 
Viele Bewohner Frankfurt's flohen nad Offenbach und Hanau. 
Die Straßen wurden mit nafjem Stroh belegt und Waſſer auf die 
Böden der Häufer gebracht; man verbarg fi in Kellern und Ge- 
wölben. Am härteften wurde die Sudengaffe getroffen, wo hundert⸗ 
undvierzig Häufer nebft dem Dachſtuhl der Synagoge abbrannten. 
Den Schaben fhägte man auf eine Million Gulden. ' „Meine 
Mutter“, jagt Goethe (B. 27, 58 f.), „in ihrem ſchönen neuen 
Quartiere an der Hauptwache, hat, gerade bie Zeil hinaufſchauend, 
ven bebrohten und befchäbigten Theil vor Augen; fie rettet ihre 
Habfeligfeiten in fenerfefte Keller, und flüchtet über die freigelafjene 
Mainbrüde nad) Offenbach. Ihr Brief deshalb verdiente beigelegt 
zu werben.“? Die Franzoſen, die am 16. Yuli in bie Stadt” 
rüdten, forberten eine Kontribution von ſechs Millionen Franken 
in baarem Gelve und zwei in Lieferungen, und ſchleppten, weil 
viefe, troß ber allgemeinen Opferiwilligfeit, nicht in ber beftimmten 
Frift zuſammengebracht wurden, mehrere ber angefehenften Männer 
als Geißeln fort.“ Goethe ſchreibt am 23. Yuli an Schiller: 
„Branffurt hat 174 Häufer verloren, zahlt acht Millionen Livre's 
Gelb, anderthalb Million Tuch und Zeug und eine Menge 
Vivre's; dafür fol Fein Einwohner ohne Urtheil und Recht morti- 
figirt werben. — Bon meiner Mutter habe ich noch feine Nachricht. 
Sie wohnt auf dem großen Plag, wo die Hauptwache fteht, und 

! Bol. Maria Belli VII, 74. 

3 „Für den (am 28. Jull mitgethelften) Brief Ihrer Mutter danfeu 
wir ſchönſtens,“ ſchreibt Schiller an Goethe (Mro. 197). „Aufier dem, wat. 
er Giftoriſches enthält, intereffirte uns die Nalvetät Ihrer eigenen Art 
und Weife.“ 

® Bl, Maria Belli VII, 75 * 79f.* 

Dünger, Erauenkilber, 35 





546 





fieht gerade die Zeil herauf; fie hat alfo den ganzen Halbfreiß der 
Stabt, der bombarbirt ward, vor Augen.“ Erſt am 9. September 
verließen die Franzoſen das arg geprekte Granffınt. 

Am 3. Anguft 1797 Fam Goethe, ber bereits in ben beiden 
vorhergehenden Jahren eine Reife nad) Frankfurt beabſichtigt hatte, ' 
nad} eben hergeftelltem Frieden mit feiner Familie bei ver Mutter 
an, bie er kurz vorher (nad) einem ungebrudten Briefe berfelben 
vom 15. Mai) durch den verbefjerten Tert der Mozartiſchen Oper: 
Cosi fan tutte erfreut hatte. Es war das erftemal, daß er biefer _ 
feine geliebte Chriftiane Vulpius und feinen fieben Jahr alten 
Sohn vorftellen konnte. Daß die Verbindung ihres Sohnes mit " 
ver geliebten Freundin ver kirchlichen Weihe entbehrte, mochte freilich 
bie erfte Zeit über der Fran Rath nicht ohne Anftoß fein, aber fie 
freute ſich, daß er in biefer ihm von manchen konventionellen 
Vörmlicfeiten freimagenden Verbindung fih wahrhaft glüdlich 
fühlte, und wollte und fonnte es ihm nicht verbenfen, daß er eine 
Scheu teug, ſich einer kirchlichen Handlung. zu unterwerfen, bie 
ihm nur eine leere Form ſchien. So hatte fie denn bie Geburt 
des erften, gerade zu. Weihnachten des Revolutionsjahres ihrem 
Wolfgang geſchenkten Knaben, bei dem ver Herzog Karl Auguft 
Bathenftele verfah, ſehr erfreut, und fie war bald mit ihrer 
Schwiegertochter in den herzlichſten Briefwechfel getreten. Auch 
bei ihrer perſönlichen Bekanntſchaft gefiel Chriftiane Vulpius ber 
Fran Rath außerordentlich. ? Goethe blieb in Frankfurt bis zum 
25. Auguft, doch dürfte er die Seinigen ſchon früher zurückgeſendet 
haben. ? Es war das Iegtemal, daß er bie geliebte Mutter ſehn 
foltte, da ihn im den nächſten eilf Jahren fein Weg faft nur zu 
den böhmiſchen Bädern führte. Eine große Freude aber wird er 

Bgl. Brief an Ehiller vom 16. Dftober 1795. Brief an Meyer 
vom 3. April und 4. Auguft 1796. 

? Bl. Riemer I, 358. Unglaublich klingt die Weberfieferung bei 
Dario Belli III, 107*, Ghriftiane Vulpius habe nicht leſen Fönnen. 

® Am 7. Juli ſchreibt er an Meyer: „Ich gehe nach Branffurt mit 
den Meinigen, um fie meiner Mutter vorzuftelen, und nad) einem Heinen 
Aufenthalte fende ich jene zuräd und Fomme.“ 


547 

dieſer durch fein hereliches im Oktober biefes Jahres erfchienenes 
Gedicht „Hermann und Dorothea" bereitet haben, wo fie in ber 
forgfamen und liebevollen Mutter, wie einft im „Götz“, ihr treues 
Ebenbild finden durfte. Die in Folge der Ende 1796 erfchienenen 
„xenien“ bis gegen Oftern 1797 von allen Seiten gegen Schiller 
und ihren Sohn ſich erhebenven maßlofen, oft gemeinen Angriffen 
werben fie wenig berührt haben. ' 

Nach dem am 11. September 1797 erfofgten Tode des Schöffen 
Peter Hieronymus Schloffer erging an ihren Schmwiegerfohn 3. ©. - 
Schloſſer der Auf zu einer erlebigten Syndilatsſtelle, und zwar 
in ganz ungewöhnlich ehrenvoller Weiſe, inbem in Gemäßbeit 
kaiſerlicher Dispenfation von ber bei ſolchen Ernennungen vor- 
Ihriftsmäßigen Kugelung diesmal Umgang genommen werben follte. 
Der Wunſch, der Baterftabt feine Kräfte nach Vermögen zu weihen, 
beftimmte ven edlen Mann zur . Annahme biefer Stelle, und fo 
fehen wir Schloffer denn Eutin mit feiner Gattin und feinen beiden 
jüngeren Kindern am 20. Oktober 1798 verlafjet. Die Frau Rath 
freute ſich diefer Rückkehr ihres Schwiegerfohnes, ven fie bei ihrem 
hohen Alter nicht mehr wieberzufehn gedacht hatte, und pries Gott, 
der ihm eine ſolche Wirkfamkeit in feiner Vaterftabt als Lohn eines 
eblen, dem Beften feiner Mitmenſchen eifrig gewidmeten Lebens 
zuerkannt habe. 

Fünf Monate vorher, im Mai 1798, beſuchte die junge 
Königin von Preußen auch die Rhein- nnd Maingegend; ihr Weg - 
führte fie in Begleitung ihres Töniglichen Gemahles über Kaffel, 
Hanau, Darmftabt und Frankfurt. Damals war es wohl, daß 
die Frau Rath von ver Königin nad Wilhelmsbad bei Hanau 
eingeladen warb, wo fie mit dieſer in den Brunnenfaal hinabging 
und dort neben ihr faß, während aller Art Menſchen ſich einfanden 
und ihre Hulbigungen darbrachten. Frau Goethe fragte in einem 
fort — fo hörte Rahel (III, 71 f.) die Herzogin von Eumberland 

* In einem noch ungedruckten Briefe aus dem Anfange ünferes Jahr: 


Sunberis Beioßt fie Eller und ihren Sehn, daß fie des Begenfenten- 
Hatfehes nicht achten. 








348 

im Jahre 1822 erzählen —, wer die ihr ıumbelannten Berfonen 
jeien. „Wer ift die? Wer ift das?“ Und wie fie wieber nach 
dem Namen einer Dame fragt, die eben gefprodhen hatte, antwortet 
die Königin: „Frau von Coudenhoven.“ „Die Frau von Couden- 
hoven,“ führt Frau Goethe lebhaft auf, „die fo grob mar? (Bl. 
oben ©. 632) Laffen Ihro Majeftät ihr nun gleich befehlen, fie 
fol fi ihre Aermel abſchneiden!“ rief fie in größter Wuth. 

In einem ungeorudten Briefe der Frau Rath vom 2. April 


. 1799 kundigte dieſe ihrem Sohne für den Sommer ben Befu 


der Frau von la Roche bei ihrem ‚alten Freunde Wieland in 
Osmannſtedt an, ben fie vor mehreren Jahren geſchickt abzu- 
wenden gemußt hatte. Eine vollftändige Schilverung dieſes Beſuches 
hat Frau von la Roche ſelbſt in der Schrift: „Schattenriſſe abge» 
ſchiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebed im Jahre 
1799" gegeben.' Am 15. Yuli kam fie ih Osmannſtedt an. 
Bald darauf genoß fie mit Wieland und Goethe einen Tag zu 
Tiefurt bei ver Herzogin Mutter. „Wenige Tage nachher,” fo erzählt 
Frau von Ia Rode, „kam Goethe, freundlich die Mittagfuppe 
mit uns zu theilen. Mir war äußerſt fhägbar, ihn (ver Damals 
das Freigut zu Oberrosla nahe bei Osmannſtedt beſaß. Bl. 
2. 27, 70) und Wieland, wie zwei verbündete Genie's, ohne 
Prunk oder Erwartung mit dem traulichen Du der großen Alten 
ſprechen zu hören, und der Zufall gab heute wieder ver Phantafie 
den eigenen, gewiß nie wieberfommenben Anblid, beide auf dem ſchönen 
heitern Gange vor Wieland's Wohnzimmer zu treffen, al Goethe 
mit lebhaftem Vergnügen von dem fo eben (vielmehr ſchon im 
März 1798. Bol. Briefwechſel mit Schiller Nro. 439. 441. an 
Kuebel Nro. 169) gemachten Aukauf eines ländlichen Ruheſttzes 
ſprach, und gerade vor dem großen harakteriftiichen Bilde des alten 
Grafen von Stadion ftille ſtand, welder fie, wie ih, mit Be— 
wunberung zu betrachten ſchien, und ſich gewiß, al8 edler Deutſcher, 

"Bol. auch Wieland's ausgewählte Briefe IV, 244 f. Goethe ſebt 
B. 27, 20 f. den Befuch ein Jahr zu früh, wie ſich Apntiche Verſchiebungen 
in ven „Aunalen* auch fonft finden. 


549 
über biefe zwei große Deutſche und ihre Liebe zum Landleben gefreut. 
haben würde. Mir kam die Erinnerung zuruck, daß Wieland, 
welcher ten Grafen auf feinem Landhauſe kennen Iernte, ihm fagte, 
alle große Männer hätten gegen ven Abend ihres Lebens einen 
ftillen Aufenthalt in dem Schoße der Natur geſucht. Nach Tifche 
bedauerte Goethe, daß die Gegenden um Weimar fo wenig Exb- 
beeren und Kirſchen trügen. Gern hätt’ ich ihm geantwortet: „Wer 
alle Früchte des Geiſtes vereint, verliert das Recht, über Mangel 
des andern Dbftes zu Magen." — Bald nad) biefem ſchönen Tage 
fpeisten wir bei Goethen, und genojjen wirklich ein Feft der Seelen, . 
wie einft ein Britte ſich ausbrüdte Mir dünkte das Ganze in 
einer Römiſchen Villa veranftaltet zu fein, da man gleich in ven 
Borhaüfe eine Bildſäule (jegt fieht man im Flur ein paar Nifchen 
mit Statuenabgüffen) erblit, und oben vor ver erften Thüre mit 
dem in großen Buchſtaben eingefchriebenen Salvel begrüßt wird, 
und ſich dann mitten zwiſchen Raphael's Stanzen befindet, welche 
da mit aller Würde behandelt wurden; denn die Aufmerkſamkeit 
wird durch keinen andern Gegenftanb zerftreut ober abgezogen. 
Was follte auch ein Kenner anders wünſchen, als biefe herrliche 
Ausbeute einer Reife nah Rom! (Jetzt fteht hier auch die koloſſale 
Junobüſte.) — Bald aber famen wir in ein Zimmer, welches, mit 
der edelſten Simplizität verziert, in ſchöner, doch Fein kaltes Staunen 
erregenber Größe angelegt ift (links vom erftbefchriebenen), wie es 
zu Bewahrung eines Heiligthums ber Kunft gefordert werben kaun; 
denn bier fieht man, wenn ber ein wichtiges Geheimniß anzeigende 
Vorhang zurüdgezogen wird,. die vollfommenfte Kopie des fich -feit 
1900 Jahren in friſcher Farbe erhaltenen Gemälves, das unter 
dem Namen der Aldobrandinifhen Hochzeit befannt if. 
(Die- Kopie iſt eine Aquarelljeihnung H. Meyer's in ver Größe 
des Originals, über 7 Fuß breit, über 3 Fuß hoch, auf Leinwand 
gezogen.) — Ich genoß und bewunderte mit innerm Gefühl von 
Glüd das Ganze dieſes Anblids. — Der Eintritt in das Eßzimmer 
ſchien mir eine Art Zuruf: „Alte Baucis, dein ſcherzender Traum 
— fteht num als Wahrheit vor bir. Du dachteſt, in Weimar ein 
B Fr 


550 

Göttermahl nur vor der Thürſchwelle eines Tempels zu fehn, und 
befommft nun ſelbſt einen Antheil von Ambrofial" Denn vie mit 
Blumen und Früchten aller Art fo reich werzierte Tafel war gar 
nicht nad) dem gewöhnlichen Gefhmad der Gaftmahle, und bie 
Gegenwart ber Berfaflerin der reizenden „Agnes von Lilien" 
(Karoline von Wolzogen), ber Dichterin der Gefänge von Lesbos 
(Amalia von Helmig), Wieland und Goethe, lauter Lieblinge des 
Apoll, kounten dieſe Vermuthung rechtfertigen. Eine aus bem 
Garten zwiſchen ſchönen Gewächſen ertönende Mufif und die Er- 
ſcheinung eines Amorino dienten zum Beweife, daß ich bei einer 
Art von Götterfeft zugegen war.” Wie fehr muß die enthuſiaſtiſche 
Beſchreibung des Empfanges bei Goethe die Frau Rath, melde 
die im Herbfte rücklehrende Fran von Ia Rode bald darauf fah, 
im innerften Herzen erfreut haben! Der betreffende Brief von 
Goethe's Mutter, in welchem fie ihre wärmſte Freude über alles 
ausfpricht, was fie von jener geiftvollen Fran vernommen, findet 
fi) in Goethe's Archiv. Die Kunde von biefem und anberen un- 
gedruckten Briefen fchöpfen wir aus Riemer's Nachlaß. 

Leider mußte die Frau Rath in bemfelben Jahre, gerade an 
Goethe's einundfünfzigftem Geburtstage, die Brandſchatzung ihrer 
geliebten Vaterſtadt durch Baraguay v’Hilliers erleben, und bald 
darauf ſchlug der am 17. Oktober unerwartet erfolgenbe Tod ihres 
Schwiegerfohnes Schloffer ihr eine ber fehmerzlicften Wunden. 
Goethe berichtet ohne Zweifel nach dem noch erhaltenen, aber biß- 
ber ungebrudten Briefe feiner Mutter, am 23. Dftober, an Schiller 
(V, 202): „Bon Frankfurt erhalte ih die Nachricht, daß Schloffer 
geftorben ift. Die Sranzofen und fein Garten find bie nächſten 
Urfachen feines Todes. Er befand ſich in demſelben, als jene ſich 
Sranffurt nährten; er verfpätete fih, umd fand bas nächte Thor 
fon verſchloſſen; er mußte bis zu dem folgenden eilen, das weit 
entfernt ift, kam in eine ſehr warme Stube, wurde von ba aufs 
NRathhaus gerufen, worauf er in ein Fieber verfiel, das tödtlich 
wurde umb ihn in kurzer Zeit hinraffte.“ 

Aus Beranlaffung dieſes Trauerfalles kam Nicolovius in 


51 





Begleitung feiner Bamilie im Frühjahr 1800 nad} Sranffurt, von wo 
er am 24. Mai fchreibt:' „Die Großmutter, deren reicher Lebens- 
quell mir ein wahres Labfal ift, hat uns einen Meinen Yamilien- 
ſchmaus, und geftern, was bei ihr unerhört ift, ein größeres Diner 
gegeben, mo edler Nierfteiner duftete. Ihre Manier, ihr fehr ent- 
ſchiedener Charakter in ber Geſellſchaft, ihre Eonberbarfeit, ihr 
aufbraufender Lebensſtrom, alles reißt hin, und geftattet nicht 
Mufe, no Kälte zum Urtheilen. Wir können ihre Freund— 
lichkeit nicht genug preifen. Ihr Alter ift weder an 
ihrem Geift, nod an ihrem Körper merflih. Möchte 
ihr Lebensfprud: Erfahrung macht Hoffnung, aud) der unfrige 
werben! Wo fie erfcheint, entjpringt Leben und Freude. Sie nimmt 
uns, zu aller Erftaunen, felbft brillant auf, und geftern, als 
unfer Meiner (eben vier Jahre alter) Eduard bei ihr in der Loge 
mar, und mit unerſättlichem Intereſſe das Schaufpiel verſchlang, 
wurde fie fo urgroßmütterlich ftolz, daß fie rechts und links den 
Urenkel auspofaunte, und ich wette, daß jet wenig Menfchen von 
Namen mehr in der Stabt find, die nicht Eduard's Lob aus ihrem 
Munde angehört Haben, und wiffen, wie ber Seine von ihr 
Leidenſchaft für's Theater im Blut habe" An biefem 
Tage waren Frau von la Roche und die Großmutter im Schloffer’ichen 
Haufe gewefen. „Das Haupt umferer großen Familie, die Urgroß- 
mutter Goethe," äußert Nicolovius, „ift das lebendigſte, herzvollſte 
Mitglied verfelben; ihre Originalität macht, daß man manche Eigen- 
thimlichkeit ihres Wefens vergift. Dagegen verlaffen bie la Roche, 
ber Sorgen auf dem Herzen liegen, bie ſchwer zu tragen find, ihre - 
Grazie und ihr ungemein ſchöner Sinn nicht und erhöhen den An- 
theil jeder Art, den man ihr unmöglid verfagen kann.“ Dem 
Blane von Schloſſer's Schwager, Dr. Stark, die Frau Rath, weil 
fie zu viel ausgebe, unter Kuratel zu ftellen, wiverfegte ſich Goethe, 
und auch wohl Nicolovius, anf das entſchiedenſte, indem er bemerkte, 
die Mutter hätte ein Recht, wenn fie wollte, alles auszugeben, da 
fie fo lange und ‘mit ebelfter Duldung unter ſchwerem Drude 
Bei A. Nicolovius a, a. D. ©. 120 f. 








552 


. 
gelebt habe.‘ Leider ſah fie ihre. Vaterſtadt im Laufe des Sommers 
wieder unter franzöſiſchen Einguartierungen und Erpreſſungen ſchwer 
leiden. 

Mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts, am 3. Januar 1801, 
warb Goethe von einer heftigen Krankheit ergriffen, die ihn dem 
Tode nahe brachte; ? erft nad) der Mitte des Monats war alle 
Gefahr vorliber, welche man der Frau Rath nicht ganz verhein- 
lichen Fonnte. Um fo größer wird ihre Freude bei ver Nachricht 
von ber völligen Herftellung des heißgeliebten Sohnes geweſen fein. 
Der Verkehr zwiſchen Sohn und Mutter fette ſich auf die freund» 
lichſte Weife fort, wie aus folgendem Briefe ver legtern vom 
1. Oftober 1802 erhellt, welchen Goethe feinem Freunde Zelter auf 
feinen Wunſch verehrte.? „Meinen beiten Dank“, fehreibt fie, „für 
bie Vereitwilligfeit, Herrn Schöff Wellecher (lies Wallacher) 
feinem Stedenpferb hülfreiche Hand zu leiften. Mir thut's immer 
wohl, wenn du einen Frankfurter Gefälligfeiten erweifen kannſt; 
denn bir bift und lebſt noch mitten unter uns, bift Bürger, trägft 
alles mit, ftehft in Varrentrapp's Kalender,‘ Summa Summarum 


Es wird behauptet, der Fall der Frau Rath, welche den größten 
Zeit ihres Vermögens verzehrt Habe, und der gleichgeitige eines Mechts- 
gelehrten, der das möütterliche Dermögen feiner Kinder durchgebracht, 
Hätten fpäter den Fürſten Primas veranlaßt, das Juſtitut der Beivormünder 
aud für Wittwen einzuführen, weldes aber durch bie Konftitutiond- 
ergäuzungsafte vom Jahre 1816 wieber aufgehoben warb. 

2 Bel. B. 27, 75 f. Briefe von Goethe und teffen Mutter an Briebrich 
von Etein ©. 165 f. Schiller's Briefe au Körner IV, 205. Goethe's 
Briefe an Leipziger Freunde S. 288. Brief an Reichardt vom 5. Februar 
4804 (in Döring’s Sammlung Nro. 459). 

Briefwechſel wiſchen Goethe uud Zelter III, 397 f. Goethe, fagt 
von diefem Briefe (bafelbt ©. 394), es ſpreche ſich darin, wie in jeder 
ihrer Zeilen, der Gparafter einer Bran aus, die, in altteflamentlicher 
Gotteofurht, ein tüchtiges Lehen voll Buverfiht auf den unwanbelbaren 
Volks: und Familiengott zugebracht habe. 

* Der unter dem Titel: „Des Heiligen Römiſchen Reichs freien Wahl- 
und Handels-Ctadt Frankfurt am Main verbefferter Mathe und Gtadts 
Ealender" bei Varrentrapp und Wenner erfchien. 


553 


gehörft noch zu uns, unb beine Kompatrioten rechnen es ſich zur Ehre, 
fo einen großen, berühmten Mann unter ihre Mitbürger zählen zu 
Können.‘ Eduard Schloffer (9. ©. Schloſſer's Sohn) hat mir 
beinen lieben Gruß ausgerichtet; ich hoffe, er wird brav, auch 
Fritz Schloffer; nur für Chriſtian (beive letstgenannte waren Söhne 
des Schöffen Peter Hieronymus Schloffer) ift mir manchmal bange. 
Diefer junge Mann ift fo fehr überfpannt, glaubt mehr zu wiſſen, 
als beinahe alle feine Zeitgenoſſen, hat wunderbare Iveen u. f. w. 
Du giltft viel bei ihm; kannſt du ihm abfpannen, fo thue e8.? 

* Befanntlih wurde ihm fpäter das Vürgerrecht genommen. Der 
Magiſtrat ſchicte ihm nämlich, nachdem er fünfzehn Jahre lang Feine 
Einfommensfteuer von Goethe begehrt Hatte, Im Jahre 1830 eine fünf 
aehujäprige Rechnung zu, woräber der Dichter fo enträftet ward, dab er. 
auf das Bürgerrecht verzichtete. 

2 Alle drei ſtuditten damals in Jena, wo fie Ooethe's Aufmerkſamteit 
erwediten. „Die drei Echloffer und zwei Boffe,“ fehreibt er am 23. No— 
vember 1801 an Jacobi, „machen eine der wunderbarſten jungen Gefelfcpaften, 
die je zu meiner Kenntniß gefommen find. Der jüngfe Sohn des Schöff 
Schloffer (Chrifian) if ein Meiner Enrag6 für die nenefte Philoſophien 
und das mit fo viel Geift, Herz und Sinn, daß id und Schelling unfer 
Wunder daran fehen. Sein älterer Bruder (Brig) iſt eine ruhige, ver 

- Mändige Natur, den, wie ich merfe, der Meine auch nach Jena zu der 
feligmadpenden Lehre gerufen Hat. Der Sohn meines Schwagers feheint feinen 
Bater nicht zu verläugnen; mit fommt vor, daß er einen guten, geraden Sin 
Hat, Luft an der Erfahrung. Nicht wenig ſcheint er betroffen zu fein, daß 
er alles, was man ihm an Ppilofophie eingeflößt, abſchwöͤren foll, wozu ifn 
doch wahrſcheinlich fein kleiner Vetter endlich nöthigen wir." Johann 
Friedrich Heinrich Schloſſer ſtudirte vom Herbſte 1799 bie zum Herbſte 1801 
in Halle, ging darauf nad) Iena und zu Oftern 1803 nach Göttiugen, wo 
er als Dr. juris promovirte. Im Dftober 1803 kehrte er mach feiner 
Vaterſtadt zuräd, wo er als Advokat auftrat. Im Mai 1806 ward er 
Mitglied des Rändigen Vürgerausfchuffes uud in Bolge der menen Juſtiz- 
organifation am Ende beffelben Jahres Rath beim Stadt- und Landgerichte, 
welche Stelle er am Eude bes Jahres 4812 nieberlegte, ‘worauf er zum 
Mitglied ver Oberfhul- und Studieninfpeftion und zum Direktor des be⸗ 
reits 1814 eingehenden Lyceums ernanut wurde. Bei der darauf folgenden 
Regelung der Berfaffwugsangelegenpeiten feiner Vaterſtadt entwidelte er 
eine eben fo Sefonnene, alß Fräftig eingreifende Tpätigfeit, und nahm fich 
befonders ber Rechte der kathollſchen Gemeinde Sranffurt'e mit erfolgreichen 





| 





\ 





Daß ihr mir wieder Geiftesprobufte ſchicken wollt,‘ daran thut ihr 
ein gutes Werk; es ift eine große Unfruchtbarkeit bei uns, und 


-ener Brünnlein, das Waffer die Fülle hat, wird mir Durftigen 


wohl thun. Wegen deines Herfommens auf's fünftige Jahr? habe 
ich Pläne im Kopf, wo immer einer Iuftiger ift, als ber andere; es 
wird ſchon gut werben. Gott erhalte uns alle hübſch geſund, und das 
übrige wirb fi ſchon machen! Grüße meine liebe Tochter (Chriftiane 
Bulpius) und den lieben Auguft (Goethe's Sohn) von eurer alten 
treuen Mutter und Großmutter Goethe." Im einem ‘andern Briefe 
der Frau Rath vom. Jahre 1801 findet ſich die Bemerkung, daß 
man zu Frankfurt ihren Sohn und Nicolovins bei der Zahlung ver 
Konteibution mit herangezogen hate, und in mehreren Briefen von 
den Jahren 1801 bis 1803 wird ber bramatifchen Vorleſungen bei 
Frau von Schwarzkopf in Frankfurt (vgl. B. 26, 22) gedacht, 
wie wir aus ben Andeutungen in Riemer's Nachlaß erfehen. 
Goethe's beabfihtigte Reife nach Frankfurt kam im Jahre 1808 


Eifer an, ber er durch feinen am 21. Dezember 1814 geſchehenen Uebertritt 
angehörte. Auch feine feit dem Jahre 4809 ihm. angetrante, der fran- 
aöfifch reformirten Gemeinde angehörenne Gattin Johanna Sophie du Bay 
— Shloffers Familie war eine altlutheriſche — wandte fich mit ihrem 
Gatten ans inniger Meberzengung ber Fatholifhen Kirche gu. Der ehle, 
für Olaubensfreipeit begeiſterte, allverehrte Mann farb am 22. Januar 
1851, als Lebter des Sqhloſſer ſchen Geſchlechtes. Sein früher verflorbener 
jüngerer Bruder, der Dr. med. Chriſtian Friedrich Schloſſer, trat bereits 
im Herbſte 1811 gu Rom in den Schoß der katholiſchen Kirche zurück Später 
war er einige Zeit Direktor des Gymnafiums und Schullehrerfeminariums 
in Koblen. Im Inli 4848 vermäplte er ſich mit Johanna Helena Gontard. 
Goethe Rand mit Chriſtian Schloffer wegen der Tonlehre auch in brieflicher 
Verbindung, wie bisher ungedrudte Briefe aus dem Jahre 4815 beiwetfen. 
Bettine gedenkt beider Brüder häufig, befonders bes legtern, 

Er denkt wohl an „Baldoppron und Neoterper, „Mahomet und 
„Tanered*, die er alle drei am 28. Movember an Knebel feicte. ı 

2 Diefes Hatte Goethe wohl in Ausfiht gefellt, da er im Jahre 4801 
bei feiner Anwefenheit in Pyrmont und @öttingen, durch dräugende Arbeiten 
und die Gorge um feine Gefunbheit gehindert, bie Baterflabt nicht beſucht 
Hatte. Das Jahr 1802 Hatte er theile auf feinem Gute, theils gu Jena, 
Halle und Lanchfädt zugebraht. 


555 
nicht zu Stande, dagegen hatte bie Frau Rath die Freude, die Königin 
von Preußen wieverzufehn, welde im Sommer diefes Jahres nad) 
Darmftadt fam, von mo fie am 18. Juni ihre Schweſter, bie 
Fürftin Thurn und Taris, in Frankfurt befuchte, und bie Fran 
Rath, wie aus einem ungebrudten Briefe verfelben hervorgeht, mit 
einem golvenen Halsband beſchenkte.“ In dieſen Sommer müßte 
vie Einladung der Frau Rath nach Darmſtadt fallen, von welcher 
Bettine in der Schrift: „Dies Buch gehört dem König“ ©. 10 ff. 
fo viel zu berichten weiß, wie bie Königin fie fo freundlich empfangen 
und in Gegenwart bes ganzen Hofes ihre eigene Goldkette vom 
Halfe gelöst umd ihr umgehängt, und was babei noch weiter ſich 
ereignet und welde Gedanken fie auf dem Rückweg gehabt habe. 
Aber wir find fehr geneigt, diefe ganze Erzählung für bloße 
Dichtung zu Halten, wie leider fo mandes in Bettinens Berichten 
auf alles andere eher, als auf Wahrheit Anfpruch machen fan, 
wie dies ſolche, bie ber Frau Rath nahe geftanven, mehrfach - 
behauptet haben. Nach den Aeußerungen S. 92 und 114 muß 
man glauben, bie Königin habe zur Zeit noch gar feinen Sohn 
ihrem Gatten und dem Lande gefchenkt, während doch ber Kronprinz 
beim erften Beſuche der Königin in Frankfurt bereits im vierten, 
beim zweiten im achten Lebensjahre ftand. 

Im September fah fie zu Frankfurt den alten Markgrafen 
von Baireuth, der ihr eine Einladung zufanbte, wie fie in einem 
ungebrudten Briefe an ihren Sohn vom 24. September melbet, 
und nod vor dem Schluffe dieſes Jahres wird fie durch „bie 
natürliche Tochter“ umd fo manche Lieder Goethe's in ‘dem von ihm 
und ihrem Gevatter Wieland herausgegebenen „Taſchenbuch auf 
das Jahr 1804” Herzlich erfreut worden fein. Dagegen fegte fie 
im Anfange des Jahres 1805 eine höchſt gefährliche Krankheit ihres 
Sohnes in ängſtlichſte Beforgniß.? Aus dem Sommer dieſes Jahres 


Auch der Frau Zelter hing bie Königin im Jahre 1805 einen goldenen 
Halspgmud eigenhändig um. Vgl. Goethes Briefwechſel mit Zelter I. 199. 

? Bel. 8. 27, 163. oben ©. 436, Briefwechfel mit Jacobi ©. 238 f. 
Bernow's Leben ©. 343. Jacobi's anserlefener Briefwechfel IT, 368. 








läßt Bettine die Günberobe eine ergögliche Theatergeſchichte erzählen, 
die wir aber als ein reines Märchen geradezu zu verwerfen ver⸗ 
fucht find. Die Günderode berichtet nämlich in einem Briefe vom 
Sommer 1805, ' fie fei geftern im Theater ii ber Loge ber Familie 
Brentano gewefen, wo man Goethe's „Geſchwiſter“ — doch wohl 
dieſes Heine Stüd nicht allein! — aufgeführt habe. „Es war ſehr 
leer wegen der Hite. — Die Frau Rath ſaß ganz allein auf 
meiner Seite. Sie rief aufs Theater: „Herr Werby,? fpielen 
Sie nur tüchtig! Ich bin da.“ Es machte mich recht verlegen; 
hätte er geantwortet, fo wäre ein Geſpräch draus geworben, in 
dem ich am Ende noch eine Rolle hätte übernehmen müſſen. Im 
Parterre ſaßen Feine fünfzig Menſchen. Werdy ſpielte recht gut, 
und die Rath klatſchte bei jeder Szene, daß es wiederhallte. Werdy 
verbeugte ſich tief gegen ſie. Es war gar wunderlich, das leere 
Haus und die offenen Logenthüren wegen der Hitze, durch die ver 
- Zag hereinſchien; dann fam Zugiwind, und fpielte mit ven lumpigten 
Dekorationen. Da rief die Goethe dem Werby zu: „Ah! das 
Windchen ift herrlich!“ und fächelte ſich; es war doch gerade, ale 
fpiele fie mit, und die zwei auf bem Theater jo gut, als wären 
fie allein in vertraulich häuslichem Gefpräd; dabei mußt’ ich an 
den größten Dichter denken, der nicht verſchmähte, fo prunklos feine 
tiefe Natur auszufprechen. — Sie fpielten auch vecht brav, ja be- 
geiftert, bloß wegen ver Frau Rath; fie weiß einem in einen Reſpekt 
zu fegen. Sie ſchrie aud) am Ende ganz laut, fie bedanke ſich, 
und wolle es ihrem Sohne jehreiben. Darüber fing eine Unter- 
haltung an, mobei das Publitum eben fo aufmerffam war, bie 
ih aber nicht mit anhörte, weil ich abgeholt wurde.“ Diefer ganzen 
Erzählung wird von kundiger Seite wiederſprochen.“ Es ift 

' Bol. die Schrift: „Die Günderode* 1, 260 ff. 

2 81. Aug. Werdy, geboren zu Dresden im Jahre 1770, warb 1798 
bei der Branffurter Bühne angeflellt, und erhielt dort bald Wie Stelle 
eines Regiſſeurs. Er fehrte 1818 nach feiner Vaterſtadt zurück, wo er am 
41. Auguſt 1847 ſtarb. Vettine gevenft feiner auch im „Briefwechfel mit 
einem Kinde* I, 26 (18). 

3 Bol. Maria Belli III, 93°. 


557 





möglich, daß eime derartige Sage zu Frankfurt zur Zeit in Umlauf war, 
da man ber Frau Rath freies Betragen im Theater kannte, worauf 
aber eben fo wenig zu geben, als auf bie vielen Gefchichten, bie 
man zur Zeit des aufgehenben Glanzes des jungen Dichters erfand, 
wo Merk an Nicolai berichtet (bei Wagner IH, 132): „Ein Bud, 
ließ’ ſich von allem dem Thörichten und Böſen ſchreiben, was feine 
(Goethe's) Landsleute jelbft in Frankfurt und drei Meilen von da 
mir felbft ald Geheimniffe anvertraut haben, die, wenn fie wahr 
wären, ihn feines Bürgerrechts verluftig und vogelfrei erklärten, 
wovon aber, gottlob! Fein Jota wahr if." Wie wenig Zutrauen 
die Angaben ber von Geift und Einbildungskraft fprubelnben Bettine 
verbienen, dürfte ſich am hanbgreiflichften aus ber Stelle im „Brief 
wechfel mit einem Rinde“ II, 121 ergeben: „Deine Mutter erzählte 
mir, daß, wie ich neu geboren war, fo habeſt du mich zuerſt 
an’ Licht getragen, und gefagt: Das Kind hat braune Augen! 
und da habe meine Mutter Sorge getragen, du milrbeft mid 
blenden,“ wozu bloß ber Gegenfaß: „Und nun geht ein großer 
Glanz aus von bir Über mich," Veranlaffung gegeben zu Haben 
ſcheint: denn daß jene Erzählung unmöglid wahr fein könne, folgt 
daraus, daß Goethe zur Zeit von Vettinens Geburt (April 1785 
in Weimar verweilte, wie er überhaupt in ben achtziger Jahren 
Frankfurt nicht berührte. 

Im bemfelben Jahrg 1805 war Goethe's Sohn bei ver Frau 
Rath zum Befuche, ' v’eleicht zur Herbftmeffe, zu welcher Goethe vor 
zwanzig Jahren auch Frig Stein hingefandt hatte. Ohne Zweifel 
wird biefer Befuch ihr zu feligften Freude gereicht haben, wie einige 
Jahre früher die Anweſenheit ihres Lieben Urenkels. Gleih am 
Anfange des folgenden Jahres, am 18. Januar, warb Frankfurt 
von 9000 Mann Franzofen befegt und zur Zahlung von vier 
Millionen Franken gezwungen. Am 11. Juli kam Sr. Jacobi mit 


NAls Goethe zu Oſtern 1806 feinen Sohn nach Berlin zum Beſuche 
ſenden will, ſchreibt er an Zelter (I, 218): „Ich hoffe durch meinen 
Knaben; Ihr Wefen, Ihre Umgebung mir näper gebracht zu fehn, wie 
er mir vorm Jahr das Bild meiner Mutter. zurifbrachte.r 





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558 ” 
feinen beiben Schweſtern auf dem Wege nad; Münden in Frant- 
furt an; er war eben in Weimar geweſen, wo er ſich feines 
von ber Krankheit freilich noch angegriffenen Freundes Goethe 


wieder erfreut hatte, und er wird nicht verfehlt Haben, der Frau 


Rath feinen freundlichen Gruß zu bringen. 

Bald darauf follte fi biefer im Umgange der einunbzwanzig- 
jährigen Bettine eine Quelle glüdlichften und heiterften Lebens er- 
fliegen; denn bie Tochter ihrer unglüdlihen Mar Brentano, 
deren frühen Tod (am 19. November 1793) fie herzlich beflagt 
hatte, beſaß alle Eigenfchaften, welche fie zu einer friſches Leben 
anregenben und,erhaltenben Lebensgefährtin ver Frau Rath befähigten, 
eine ſtets geſchäftige, in allen Negenbogenfarben fchillernde, unab» 
läſſig ſprudelnde, in keckem Uebermuthe umherſchweifende Einbildungs- 
kraft, luſtigen, zu Eulenſpiegeleien aller Art geneigten Humor und 
ſchwärmeriſche Liebe für ihren Sohn, deren Entftehung Bettine 
felbft auf eine eben fo unwahrſcheinliche, als wahrer Poefie 
ermangelnde Weife ſchildert.“ Nachdem Bettine den Winter 1805 
auf 1806 bei ihrem Schwager von Savigny zu Marburg zugebracht 
hat, wo das einundzwanzigjährige Mädchen aus ihrem Schlafzimmer 
über bie Feftungemanern und am Wartthurme ‚binaufkletterte,? 
kehrt fie im März (I, 111 (103) f.) nach Frankfurt zurück,“ wo 
fie den tiefen Schmerz erleiden follte, daß ihre liebe Freundin und 
Lehrerin, bie brei Jahre ältere Stiftsdame Karoline von Günderode, 


Tagebuch ©. 133 ff. gl. von Meuſebach in der Halliſchen Riteraturs 
zeitung 1835 IT, 304 f. Wir bemerken hierbei gelegentlich, daß Gere 
von Meuſebach Bettinen durchweg ein paar Jahre jünger macht, als fie 
wirklich war. 

2 Bol. hierzu and „die Gunderode. IT, 68, 122. 153 f. 291. 

® Mit diefer Crzäplung Bettinens ſtimmt nicht wohl die Aeußerung 
der Frau Rath in einem Briefe an Bettine vom 14. März 1807: „Wie 
bift du doc im vorigen Yahr fo vergnügt daher gefprungen kommen? 
Wenn's kreuz und quer ſchneite, da wußt' Ih, das war fo ein recht Wetter 
für dich; Ich braucht‘ nicht fange zu warten, fo warft du da;“ denn nach 
dem gangen Zufammenhange Fönnen hier nit wohl die lehten Monate 
des Jahres 1806 gemeint fein. " 


559 
die fih durch ihre unter dem Namen Tian herausgegebenen „Ges 
dichte und Phantafien“ (1804) bekannt gemacht hatte, verdüſtert 
ſich von ihr abwanbte. Am zweiten Tage nach biefer Trennung 
ſah Bettine, wie fie erzählt, auf dem Wege nach dem Stifte der 
Günberobe? die Wohnung der Frau Rath, die fie, wie fie ſelbſt 
fagt, nicht näher kannte und nie befucht Hatte, was aber bei der 
freundſchaftlichen Berbindung von Goethe's Mutter mit der Familie 
Brentano ſchwer zu glauben ift. Ohne ſich irgend zu bebenten, trat 
fie ein, und fagte zu der alten Dame: „Grau Rath, id; will Ihre 
Bekanntſchaft machen. Mir ift eine Freundin in ber Stiftebame 
Gunderode verloren gegangen, und die follen Sie mir erfegen,“ 
worauf biefe erwiederte: „Wir wollen's verſuchen!“ „Und fo fam 
ich alle Tage,“ berichtet Bettine I, 113 (105) f., „umb fegte mich auf - 
den Schemel,? und ließ mir von ihrem Sohn erzählen, und ſchrieb's 
alles auf, und ſchickte e8 der Glnverove. Wie fie in’s Rheingau 
ging, fenbete fie mir die Papiere zurid. Die Magd, die fle mir 
brachte, fagte, e8 habe der Stiftsdame heftig das Herz geklopft, 
da fie ihr die Papiere gegeben, umd auf ihre Trage, was ſie 
beftellen ſolle, habe fie geantwortet: Nichts.“ Es ift doch feltfam, 
daß Bettine biefe Papiere, welche fie an bie Gunderode geſandt 
und von ihr zurückerhalten haben will, nicht aufbewahrte, wozu 
ſchon das Anbenfen an die Günderode allein fle hätte auffordern 


* Zwei dramatiſche Gtüce gab fie unter bemfelben Namen jum erften 
Bande von Daubs uub Grenzer’s „Gtubien“ (1805). Urber ihren von Bettine 
ungenau erzählten Tod vgl. Kuebels Nachiaß . 214 f. 

2 Das von Gronflett: und von Öpnfpergifche adelige ebangeliſche Stift, 
in welches Karoline Luiſe Brieberife Marimiliane von Günberode am 4. April 

"1797 aufgenommen ward, liegt auf ben Boßmarfte; ganz in der Nähe 
an der Hauptwache, wohnte die Fran Rath. Ueber jenes Gift vergleiche 
man Maria Beli V, 0 f.* 

3 Müften wir der Sqhrift „Dies Buch gehört dem König” ©. 142 
Glauben ſchenken, fo wäre dieſer Ecpemel, welchen Liefe (vgl. oben ©. 510 
Note 2) zur Abweht der Motten ausfopfen mußte (Briefmerhfel mit einem 
Kine I, 25 (17)), derfelbe, auf dem Goethe Hinter bem Dfen gehodt und 
mit feiner Schweſter ben ‚Homer amswenbig gelernt. (2). 


560 





müffen. Als Goethe fpäter Nachrichten über feine Ingenb verlangte, 
die fie aus dem Munde der Mutter vernommen, kann fie biefe 
Bapiere nicht mehr beſeſſen haben, da fie fonft durch bloße Mit- 
theilung berfelden auf die einfachſte und erwünfchtefte Weife der 
Bitte des Dichters entſprochen haben würde. Leider fehlen ung 
über biefe auf fo feltfame Weife geichloffene Verbindung Bettinens mit 
der Frau Rath während des Jahres 1806 alle Nachrichten. Daß 
Bettine bei biefen Erzählungen feine ſtillſchweigende Zuſchauerin 
abgegeben, fonbern durch ihre naiven Fragen Goethes Mutter 
erfreut, anch allerlei Wunderlichkeiten und Poſſen getrieben und mit 
* ihren phantaftifchen Grillen und poetiſchen Leuchtkugeln nicht zurück⸗ 
geblieben fein werbe, kann man ſich wohl vorftellen. Seht bezeichnend 
für Vettinens ganzes Weſen ift die Aeußerung in einem Briefe ver 
Fran Rath vom 7. Oktober (?) 1808 an Bettine ſelbſt, melde ihr 
bie koſtbaren Kunft- und Prachtwerke in Köln und auf der Reiſe da⸗ 
hin glängenb befchrieben hatte. „Die Beſchreibung von deinen Pracht- 
ftüden und Koftbarkeiten” bemerkt fie, „hat mir recht viel Pläftr 
gemacht; wenn's nur aud wahr ift, baß du fie gefehen haft; denn 
in folgen Stüden fann man bir nit wenig genug 
trauen. Du haft mir ja fhon mandmal hier auf deinem Schemel 
die Unmögfichleiten vorerzählt; denn wenn vu, mit Ehren zu melden, 
in's Erfinden geräthft, dann hält dich fein Gebiß und fein Zaum. 
Ei! mich wundert's, daß du noch ein End! finden kannſt, und nicht ı 
in einem GStüd fortſchwätzſt, bloß um felbft zu erfahren, was 
alles noch in deinem Kopfe ſteckt.“ Im Jahre 1810 erinnerte fi) 
Bettine nod in wehmüthiger Sehmfucht, wie fie vor einigen Jahren, 
wenn fie von weiten Spaziergang zum Eſchenheimer Thor in bie 
Stadt gefommen, gleich zur Fran Rath gelaufen. „Ich warf," 
erzählt fie (II, 212 f.), „Blumen und Kräuter, alles, was ich gefam- 
melt hatte, mitten in die Stube, und fegte mic; dicht an fie heran, 
und legte den Kopf ermübet auf ihren Schoß. Sie fagte: „Haft du 
die Blumen fo weit hergebracht, und jet wirfft du fie alle weg! 
Da mußte ihr die Pieschen ein Gefäß bringen, und fie orbnete 
den Strauß felbft; tiber jede einzelne Blume hielt fie ihre 





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561 


Betrachtung, und fagte vieles, mas mir jo mohlthätig war, ale 
ſchmeichle mir eine Liebe Hand. Sie freute fi), daß ich alles mit- 
brachte, Kornähren und Grasfamen und Beeren am Afte, hohe 
Dolden, fhöngeformte Blätter, Käfer, Moofe, Somenbolben, 
bunte Steine; fie nannte e8 eine Mufterfarte der Natur, und 
bemahrte e8 immer mehrere Tage. Manchmal bracht! ich ihr aus- 
erleſene Früchte, und verbot ihr, fie zu effen, meil fie zu fchön, 
waren; fie brach gleich einen ſchön geftreiften Pfirſich auf, und fagte: 
Man muß allem Ding feinen Willen thun; der Pfirſich 
läßt mir nun doch Feine Ruh', bis er verzehrt iſt.“ In 
dem königlichen Buche kommt Bettine (S. 141) gar mit Birnen, 
die fie vor bem Bockenheimer Thor in einem Garten geftohlen, zur - 
Frau Rath, und diefe fordert fie auf, noch mehr zu ſchaffen, da 
die geftohlenen Biruen am beften fehmedten. Wie wenig hiervon zu 
glauben fei, möge der geneigte Lefer ſich ſelbſt Sagen. 

Leider ſollte die Frau Rath noch den Verluft-der reichsſtädti- 
ſchen Freiheit und den Untergang des deutſchen Kaiſerthums erleben. 
Frankfurt und ſein Gebiet wurde durch einen Machtſpruch dem Fürſten 
Primas Karl von Dalberg zuerkannt; “ er ſollte fie mit feinen 
Staaten vereinigen und mit allen Eigenthums- und Souveränetäts- 
rechten befigen. Am 6. Ceptember wurde die Stadt durch ven 
franzöſiſchen Generalfommiffär Lambert dem Fürſten übergeben. 
Nicht weniger tief und ſchwer mußte das Unglüd, welches nad dem 
‚großen deutſchen Straftage bei Jena das Herzogthum Weimar und die 
herzogliche Bamilie traf, die Seele ver Trap Rath nieverfchlagen. 
Die Stadt Weimar felbft war zwei Tage lang der Plünderung 
ausgefetst; viele verloren in biefen unglüdlichen Tagen alles. 
Goethe'8 Freund, ter Maler Kraus (vgl. oben ©. 237. 290), 

! Die Erzählung Bettinens, die Günderose habe elumal mit allen 
Stiftsvamen bei dem Fürften Primas zu Mittag gefpeist (I, 85), erweist 
fi als eine Unmöglichfeit, da die Günderode ſchon im Sommer 1806 in 
das Rheingan giug, ehe Dalberg in Branffurt feinen Sig genommen hatte. 
Wenu nad) der Schrift „Die Gründerode* Bettine und die Stiftedamen fhon 
-im Jahre 1805 beim Primas in Sranffurt gefpeist haben follen (I, 260. 
II, 55), fo muß man bebenfen, daß bei Gott und Bettine alles möglich if. 

Dünger, Frauenbilder. 2 36 


562 





ſtarb bald barauf an ven erlittenen Mißhandlungen. Auch Goethe, 
ver, da fein Haus unter dem Schutze des Marſchalls Augereau 
ftand, nichts verlor, hatte einige Zeit in Lebensgefahr geſchwebt, aus 
welcher ihn Chriftiane Vulpius befreite. ' Aus Dankbarkeit hierfür 
beſchleunigte er die Ausführung des längft vorgehabten Planes fich 
mit diefer treuen Freundin kirchlich trauen zu laſſen, was ber Fran 
Rath nicht weniger, als die muthige Vertheivigung ihres Sohnes 
durch ihre „liebe Tochter“ zur hohen Freude gereicht haben wird, 
Die politiichen Ausfichten hatten ſich trüber, als je geftaltet, da 
Napoleon die Welt zertrümmern zu wollen ſchien; die begeifterte 
Hoffnung der Frau Rath, daß diefer Held das Glüd einer edlen 
Freiheit der Welt begründen werde, mar wie ein jchöner Traum 
vor ber düſtern Wirklichkeit verſchwunden, und dennoch mußte fie 
die Größe des Helven ftaunend bewundern, dem nur die Kraft 
fehlte, ſich felbft zu überwinden, und die ſchwungvolle Idee allge- 
meiner Freiheit. Zu den unglüdlichen, das Gemüth der edlen 
Frau beftürmenden Ereigniffen trat im folgenden April ver Tob 
der mit vollfter Verehrung von ihr geliebten Herzogin Amalia, 
deren Andenken der Sohn in einer herrlichen Darftellung feierte, 
der Mutter zum höchſten Genuffe. 

Den Winter 1806 auf 1807 brachte Bettine bei ihrem Schwager, 
dem Banquier Karl Jordis, ſpäter Hofbanguier des Königs von Weft- 
phalen, in Kaffel zu, von wo fie am 1. März einen Briefwechſel 
mit der Frau Rath eröffnet. Sonderbar iſt es, daß Bettine die 
drei erſten Briefe zwiſchen ihr und der Frau Rath erſt ſpäter, nach 
der Vorrede, als „Anhang“ Hinzugefügt hat; daß aber dieſe Briefe 
fo nicht gefehrieben fein können, fonbern rein erfonnen find, ergibt ſich 
daraus, daß fie hier fhon vom Hofe eines Königs von Weftphalen 
ſpricht — denn ein anderer König kann doch unmöglich gemeint 
fein —, obgleich das Königreich Weftphalen erft am 15. November 
dieſes Jahres errichtet warb. Auch konnte tie Frau Rath unmög- 
lich am 14. März 1807 von ber Freude ſprechen, die fie beim 

! Riemer I, 362 f., wo irrig ber Marſchall Ney genannt wird. Val. 
Briefe von Goethe und deffen Mutter an Friedrich von Stein S. 170 f. 


563 


Anbfid Napoleon’s gehabt (S. X.), ba fie diefen erft am 22. Yuli 
geſehen haben wird, an demſelben Tage, an welchem Bettinens 
Bruter Clemens mit feiner geliebten Augufte Bußmann entfloh.' 
Wir dürfen hiernach bie drei erften Briefe, melde in ver zweiten 
Auflage ohne weiteres den Anfang bes Briefwechjels bilden, zur 
Seite laſſen. Genug, Bettine reist mit ihrem Schwager und ihrer 
Schwefter Lonife (Lulu) in Männerffeivung nad) Berlin, und von 
da nah Weimar. Nah der Rücdlehr ſchreibt ſie am 5. Mai 
von Kaſſel ans an Goethes Mutter. „Eine Schachtel wird ihr mit 
dem Poſtwagen zufommen, befte Frau Mutter, barin fih eine 
Taſſe befindet; es ift das fehnlichfte Verlangen, Sie wieverzufehn, 
was mich treibt, ihr folche unwürbige Zeichen meiner Verehrung 
zu fenden. Thue Sie mir den Gefallen, Ihren Thee früh morgens 
raus zu trinken, und denl' Sie meiner babei! Ein Schelm gibt's 
befier, als er’8 hat. Den Wolfgang hab’ ich endlich geſehen; aber 
ach! was Hilft’? Mein Herz ift geſchwellt, wie das volle Segel 
eines Schiffs, das feft vom Anker gehalten ift am fremden Boben, 
und doch fo gern in's Vaterland zurück möchte.“ Die Mutter 
exiwieberte darauf am 11. Mai, wenn wir Bettinen hier mehr trauen " 
bürfen, als bie Frau Rath felbft für gut Hält: „Was läßſt du bie 
Blügel hängen? Nach einer fo ſchönen Reife ſchreibſt du einen fo 
kurzen Brief, und ſchreibſt nichts von meinem Sohn, als daß vu 
ihm gefehen haft; das hab’ ich auch fhon gewußt, und er hat mir's 
geftern gefchrieben. Was Hab’ id; von deinem geanferten Schiff? 
— Schreib’ doch, was paſſirt it! Denk' doch, daß ich ihm acht 
Jahre? nicht geſehen hab', und ihn vielleicht nie wiederſeh'; wenn 
Bal. Maria Belli VI, 145 *. Napoleon Fam einigemal durch Frank- 
furt oder an Sranffurt vorüber, aber nur bei Nacht, ohne fich zu verweilen, 
wie an diefem Tage geſchah, wo er beim Fürften Primas abſtieg. Bon 
der Galerie eines Saales im Palafte des Sürften Thurn und Taris, welchen 
der důrſt Primas bewohnte, ſah eine gewählte Geſeliſchaft den größten Mann 
der Zeit, wie ex durch diefen Saal den Weg nad) feinen Zimmern nahm. Del. 
„Dies Buch gehört dem König" S. 290. In der Schrift „Die Günderode“ if 
von dem fefllicpen Empfange Napoleon’s im Jahre 1805 bie Rede (I, 58. 63). 
2 Vielmehr fa 10 Jahre, feit dem Auguft 1797. 


564 





du mir nichts von. ihm erzählen willft, wer foll mir dann erzählen? 
Hab’ ich nicht deine ’albernen Gefchichten hundertmal angehört, bie 
ich auswendig weiß! Und nun, wo bu etwas Nenes erfahren haft, 
etwas Einziges, daß du mir die größte Freud' machen Fönnteft, da 
ſchreibſt du nichts. Fehlt bir denn was ? Es ift ja nicht über’s Meer 
bis nad) Weimar. Du haſt ja jetzt ſelbſt erfahren, daß man bort 
fein kann, 5i8 bie Sonne zweimal aufgeht. — Bift du traurig? — 
Liebe, Tiebe Tochter, mein Sohn foll dein Freund fein, dein Bruder, 
der dich gewiß liebt, und du folft mid Mutter heißen in Zukunft 
für alle Täg’, die mein fpätes* Alter noch zählt; es ift ja doch 
der einzige Name, der mein Glüd umfaßt.“ Die letzten 
Worte drängen Bettinen, gm 15. an Goethe zu fehreiben (I, 123 ff.), 
was fie der Mutter fogleih am folgenden Tage meldet, wo fie 
denn eine vollftändige Befchreibung der Reife und ihres Empfanges 
in Weimar binzufügt. Aus dieſer Erzählung, deren fonftige 
- Wahrheit wir dahin geftellt fein laſſen — die Mutter felbft wird, 
wenn fie anders biefen Brief wirklich erhielt, manches Prozent davon 
abgezogen haben —, erfehen wir, daß Bettine, durch ein Billet 
Wieland's eingeführt, am 23. April ihren Abgott zum erftenmal 
ſah.! Goethe überfandte Bettinen durch feine Mutter ein verfiegeltes 
Blättchen, welches die Worte enthielt: „Solder Früchte, reif und 
füß, würde man gern am jevem Tag genießen, den man zu ben 
ſchönſten zu zählen berechtigt fein dürfte. Wolfgang Goethe.“ 

Bettine kam gleich darauf, gegen den 20. Mai, nad, Frank- 
furt zurück, von mo fie, angefenert durch des Dichters gütige Zeilen, 
einen zweiten Brief am 25. Mai am biefen richtet. „Ihre Mutter 
ſchrieb wie von mir, daß ich feinen Anfprud an Antworten made, 
daß ich feine Zeit vauben wolle, die Ewiges hervorbringen kann," 
bemerkt fie. „So ift e8 aber nicht: meine Seele: ſchreit wie ein 
durſtiges Kindchen; alle Zeiten, zukünftige und verfloffene, möchte 
id) in nid) trinken, und mein Gewiſſen würde mir wenig Bedenken 
machen, wenn bie Welt von num an weniger von Ihnen zu erfahren 
! Nach einer andern Aeußerung Bettinens, I, 42 (34), hätte fie ihn 

„im Eingang Mai* zuerft gefepen. 


565 

befäme, und ich mehr.“ ine foldre ungeftüme Zubringlichkeit 
mußte dem Dichter, deffen Zeit auf fo mannigfache Weife in An- 
ſpruch genommen war, und der faum mußte, wie er ben von 
anderen und ſich felbft gemachten Anforderungen genüßfen Tolle, doch 
fehr bedenklich erſcheinen. Im einer Nachſchrift berichtet fie, vie 
Mutter fei heiter und gefund, trinke noch einmal fo viel Wein, 
wie vorm Jahre, gehe bei Wind und Wetter in's Theater, und 
finge ihr im Uebermuth vor: „Bärtliche, getreue Seele, deren Schwur 
kein Schidfal bricht.“ In einem Ertrablatt muß fie zur Strafe 
zwei Fälle erzählen, wie fie die Mutter zum Velten gehalten. Wir 
übergehen ven zweiten dieſer Späße, welchen fie mit einem Straß- 
burger Namens Schneegans gemacht, der von Goethe der Mutter 
viele Grüße bringen follte; den andern erzählt fie in folgender 
Weife: „Ich follte ihr den Gall bringen, und führte unter feinem 
Nomen den Tied zu. Sie warf gleich ihre Kopfbedeckung ab, 
fette ſich, und verlangte, Gall ſolle ihren Schävel unterſuchen, 
ob die großen Eigenſchaften ihres Sohnes nicht durch fie auf ihn 
übergegangen fein möchten. Tieck war in großer Berlegenheit; 
denn ich Tieß ihm Leinen Moment, um der Mutter den Irrthum zu 
benehmen; fie war gleich in heftigem Etreit mit mir, und verlangte, 
ich folle ganz ſtillſchweigen, und tem Gall nicht auf die Sprünge 
helfen. Da kam Gall felbft, und nannte fih. Die Mutter wußte 
nicht, zu welchem fie fi) befehren folle, befonders ba ich ſtark gegen 
ben rechten proteſtirte; jedoch hat er endlich ven Sieg davon getragen, 
inbem er ihr eine fehr ſchöne Abhandlung über die großen Eigen- 
haften ihres Kopfs hielt. Und ich hab’ Berzeihung erhalten, und 
mußte verfprechen, fie nicht wieber zu betrügen.“ Dafür aber wollte 
fie die Fran Rath bald wieder von neuem in die Irre führen. 

Goethe fucht Bettinen mit aller Artigfeit in ihrem Liebesranfche 


"Wir wiffen, daß Gall tm Juni 1806 eine Reihe Vorleſungen über 
feine Schävellehre zu Brauffurt hielt (Maria Belli IX, 51 f.), wo ſich aber 
Tief damals nicht befand. Goethe hörte zu Halle Gal's Vorlefungen, wie er 
8.27, 172 f. ergäßit, Im Jahre 4805. Bol. B. 21, 288. Steffens „Was Ih 
erlebte VI, 49 f. deruow's Leben &.348 f. 1807 war Gall nicht.in Branffurt. 


566 


zu beruhigen. Diefe ſchreibt ihm am 18: Juni: „Geftern ſaß ich 
der Mutter gegenüber auf meinem Schemel; fie fah mid) an, und - 
fagte: „Nun was gibt? warum Jiehft du mich nicht an?" Ich 
wollte, fie ſolle mir erzählen; id} hatte den Kopf in meine Arme 
verſchränkt. Nein, fagte fie, wenn bu mich nicht anfiehft, fo erzähl 
ich nichts.‘ Und da ich meinen Eigenfinn nicht brechen konnte, warb 
fie ganz fi. Ich ging auf und ab durch die drei langen, ſchmalen 
Zimmer, und fo oft id} an ihr vorüberſchritt, ſah fie mich an, als 
wolle fie fagen: „Wie lang’ fol’ dauern ?“ Endlich fagte fie: „Hör'! 
Ich dächte, du gingſt.“ „Wohin?“ fragte ih. „Nah Weimar 
zum Wolfgang, und holteft dir mieber Reſpelt gegen feine Mutter.“ 
„Ah, Mutter, wenn das möglich wär'!“ fagte ih, und fiel ihr um 
den Hals, und füßte fie, und lief im Zimmer auf und ab, „Ei!“ 
fagte fie, „warum ſoll e8 denn nicht möglich fein? Der Weg dahin 
hängt ja aneinander, unb ift Fein Abgrund dazwiſchen. Ich weiß 
nicht, was dich abhält, wenn du eine fo ungeheure Sehnfucht haft. 
Eine Meile vierzigmal zu machen, ift der ganze Spaß; und dann 
kommſt bu wieder, und erzählft mir alles.“ Bon vemfelben Tage 
ift ein Brief Goethe's an Bettine datirt, im welchem er fie mit 
Artigfeit beſchwichtigt, und fie auffordert: „Fahre fort, beine Heimat " 
bei der Mutter zu befeftigen! Es ift ihr zu viel dadurch geworben, 
ala daß fie dich entbehren könnte, und rechne bu auf meine Xiebe 
und meinen Dank!" In einem baranf folgenden unbatirten Briefe 
Bettinens, der in ben Yuli fallen ſoll, ſchreibt biefe: „Vorgeftern 
waren wir im „Egmont“; fie riefen alle: Herrlich! Wir gingen 
- noch nach dem’ Schaufpiel unter den mondbeſchienenen Linden auf 
und ab, wie e8 Frankfurter Sitte ift; da hört’ ich tauſendfachen 
Wieverhal. — Der Meine Dalberg war mit und; er hatte beine 
! In der Srift „Dies Buch gehört dem König“ ©. 497 kommt ein 
ahnliches Schwelgen Bettinens vor. Dort fagt die Fran Nath: „Willſt du 
mich Ärgern mit deinem Schweigen? — — So hats mein Sohn auch ge- 
macht; da Hab’ ich als Wunder gedacht, was ihm fehlt, und hab’ mich 
gefränft, daß er ſchwieg, und dann war's als nur Unart uud weiter nichts! 
Nun du ſchweigſt, fo werd ich auch ſchweigen; baum wollen wir fehn, wie 
wir uns unterhalten.“ 


567 

" Mutter im Schaufpiel gefehen, und verlangte, ich folle ihm zu 
ihre bringen. Sie war eben im Begriff, Nachttoilette zu machen ; 
da fie aber hörte, er komme vom Primas, fo ließ fie ihn ein; 
fie war fon in der weißen Negligeejade, aber fie hatte ihren 
Kopfpug noch auf. Der liebenswürbige, feine Dalberg fagte ihr, 
fein Ontel habe von. oben herüber ihre freubeglänzenden Augen 
gefehen während ber Vorftellung, und er wünſche fie vor feiner 

. Abreife nod zu ſprechen, und möchte fie doch am andern Tag bei 

"ihm zu Mittag effen. Die Mutter war fehr gepußt bei biefem 
Diner, das mit allerlei Fürftlichleiten und fonft merkwürdigen 
Perfonen. befegt war, benen zu Lieb' die Mutter wahrfcheinlich . 
invitirt war; denn alle brängten ſich an fie heran, um fie zu fehn 
und mit ihr zu ſprechen. Sie war fehr heiter und berebtfam, und 
nur von mir fuchte fie ſich zu entfernen. Sie fagte mir nachher, 
fie Habe Angft gehabt, ich möge fie in Verlegenheit bringen; ich 
glaube aber, fie hat mir einen Streich gefpielt: denn der Primas 
fagte mir fehr wunderliche Sachen über di, und daß deine Mutter 
gefagt habe, ich habe einen erhabenen äfthetifhen Sinn.“ Alle 
diefe Briefe find fo gefehrieben, als ob Goethe ſich die Zeit über 
in Weimar befunden hätte. Ja biefer fol am 16. Yuli (I, 153) 
Bettinen nicht undeutlich zu ſich eingeladen haben, und fie will Ende 
Juli, ihren heifgeliebten Freund zum zweitenmal in Weintar befucht 
haben (I, 154. 158 ff. 186); allein zum Unglüd war er bereits 
in ber zweiten Hälfte Mai nad) Karlsbad gegangen (B. 27, 235), 
und er fehrte erft im September zurück, wie fid) aus den Briefen an 
Zelter vom 30. Auguft und 15. September (vgl. den vom 27. Juli) 
ergibt. Bettine aber läßt, als ob Goethe fid gar nicht von Weimar 
entfernt hätte, ihn am 7. Auguſt dorther ſchreiben. 

Gegen Mitte Auguft will fie von Weimar über Kaffel nach 
Frankfurt zurüdgetehrt fein, wo fie vierzehn Tage verweilt. Anı 
21. Auguft ſchreibt fie von legterm Orte aus: „Du fannft bir feinen 
Begriff machen, mit welchem Jubel die Mutter mid aufnahm! 

! Eine Apnliche Unmöglichkeit in ven Briefen vom Jahre 1810 bemerft 
Sqhll zu den Briefen an Frau von Stein III, 421. 


Dar, Google 


569 

war Bettine — fle nöthigt uns hier, ihr nachzurechnen — bamals - 
nicht zwölf ober breizehn, fondern ſchon zweiundzwanzig Jahre alt. 
Gleich übel ift es, daß fie dem Fürften Primas hier noch ganz 
unbefannt ift, während fie nad) den fpäter erfonnenen Briefen an 
Goethe um diefe Zeit ſchon zweimal beim Fürften Primas einge 
laden geweſen war, und biefer fie damals keineswegs für ein Kind 
gehalten. Drei weitere Briefe an bie Frau Rath ſchreibt Bettine aus 
dem Rheingau, wo fie einen von Goethe erhalten haben will, mit ben 
Worten: „Halte meine Mutter warm und behalte mich lieb!" mas 
man freilich in ven Briefen Goethe's an Bettine vergeblich fucht. 

Bon biefen Reifen nach Ajchaffenburg und dem Rheingau ift 
im ben Briefen Bettinens an Goethe nicht die geringfte Spur, ob- 
gleich fie diefe umd ihre veränderte Umgebung unmöglid mit Still- 
ſchweigen hätte übergehn können. Die Briefe aus dem September, 
Oktober und November zeigen uns Bettinen immer in Frankfurt 
bei ver Mutter. „Ich fol bir von der Mutter ſchreiben,“ bemerkt 
fie in eimem biefer Briefe. „Nun, es ift wunderlich zwifchen uns 
beſchaffen; wir find nicht mehr jo gefprächig, wie fonft, aber doch 
vergeht fein Tag, ohne daß ich die Mutter ſehl. Wie ich von ber 
Reife kam (bie fie im Iuli nach Weimar gemacht haben will), ta 
mußte ich die Rolle des Erzählens übernehmen, und obſchon ich 
lieber geſchwiegen hätte, fo war doch ihres Fragens fein Ende, und 
ihret Begierde, mir zuzuhören, auch nidt. Es reizt mic unwider⸗ 
ftehlih, wenn fie mit großen Kinderaugen mich anfieht, in denen 
der genügenbfte Genuß funfelt. So löste ſich meine Zunge, und 
nad und nad; mandes vom Herzen, mas man fonft nicht leicht 
wieber ausfpricht.“ "In einem mehr als vierzehn Tage fpätern 
Briefe beſchreibt fie, auf welche Tiftige Weiſe die Mutter fie zum 
Erzählen von ihrem Sohn bringe, doch können wir dieſe Dichtungen 
zu unferm Zwed ganz an ihrem Orte laffen. 

Bir haben oben gefehen, wie Bettine zu einer Zeit in Weimar 
bei Goethe geivefen fein will, wo biefer fid) gar nicht bort befand; 

Nach der Schrift „Die Bünderove* wäre fie im zehuten oder eifften 
Jahre (alfo ſpäteſtens Im März 1796) ans tem Kloſter gefommen (IT, 285)!! 





Ä 
7 











3570 


eben ſo auffallend ift es aber, daß fie den zweiten wirklichen Befuch 
zu Weimar in ihren Briefen ganz vergeffen Hat. Unglücklicher 
Weiſe fann man aud) diefe Sonverbarkeit nicht durch die Annahme 
einer bloßen Verſchiebung des Datums erflären, da die Briefe, 
welche fie gleich nad) dem Befuche Goethe's von der Wartburg aus 
geſchrieben haben will, durchaus nicht auf die Dahreszeit paffen, 
in welcher der Beſuch wirklich ftattfand. Riemer berichtet nämlich 
aus eigener Erfahrung (I, 35), Bettine fei vom 1. bis 10. November 
in Weimar gewefen, und habe fi) am legten Tage ihrer Anmwefen- 


- beit gegen ihn beklagt, daß Goethe ſich fo wunderlich und fonderbar 


gegen fie zeige, was freilich zu ben folgenden enthufiaftifchen Briefen 
Bettinens wenig flimmt. Es ift hiernach, fo wie nad) dem Wiber- 
fpruche zwifchen ven Briefen an Goethe und an deſſen Mutter und 
amberen Sonberbarkeiten, zu denen beſonders die Briefe ‚gehören, 
aus denen Goethe feine Sonette gereimit und geleimt haben fol, 
fein. Zweifel möglich, daß dieſe Briefe eine fpätere Dichtung find, 
in welche Bettine manche Erinnerungen aus jener Zeit veiflochten 
und beſonders das Bild der Frau Rath fo dargeftellt hat, wie es 
ihr in lebendiger Vergegenwärtigung vorſchwebte, ohne aber im ein- 
zelnen fih um geſchichtliche Wahrheit irgend -zu kümmern. 

Den Winter 1807 auf 1808 brachte Bettine wieder in Frauk⸗ 
furt zu, von wo fie brei Sonettenbriefe, die ihre Erdichtung deutlich 
genug verrathen, an Goethe ſchreibt. Danıı folgt ein Brief vom 
5. März, welcher mit ven Worten beginnt: „Hier in Frankfurt ift 
es naß, kalt, verrucht, abſcheulich; Fein guter Chrift bleibt gerne 
bier. Wenn die Mutter nicht wär’, der Winter wär’ unerträglich, 
fo ganz ohne Hältniß, nur ewig ſchmelzender Schnee.“ * Sie erzählt, 
wie ein Eichhörnchen jegt ihr Nebenbuhler bei der Frau Rath fei, 
woran fi die märdenhafte Erzählung des Beſuches eines medien- 
burger Prinzen (oben S. 531) anfnüpft. Nur ſchade, daß Vettine 
das Eichhörnchen ſchon im vorigen Jahre auf ber Reife nad) 
Aſchaffenburg in einem großen Eichenwald hat laufen laſſen 
(1.20 f.); aber folche Kleinigkeiten werben von Bettinens Einbilvungs- 
fraft überfprudelt, die ſich nicht an, Ort noch Zeit Feilen läßt. 


571 

Am 15. März ſchreibt fie: „Unlängft hatten wir ein kleines Feſt 
im Haufe wegen Savigny's Geburtstag (dev in ben Februar fällt). 
Deine Mutter kam Mittags-um zwölf, und blieb bis Nachts um 
ein Uhr; fie fand fi auch ben andern Tag ganz wehl darauf. 
Bei ver Tafel war große Muſik von Blafe-Inftrumenten; auch 
wurden Berfe zu Savigny's Lob gefungen, wo fie jo tapfer ein- 
ſtimmte, daß man fie durch den ganzen Chor durchhörte. Da wir 
nun aud) deine und ihre Gefundheit tranfen, wobei Trompeten und 
Bauten ſchmetterten, fo warb fie feierlich vergnügt. Nach Tifche 
erzählte fie ver Geſellſchaft ein Märchen; alles hatte ſich in feier- 
licher Stille um fie verfammelt. Im Anfang holte fie weit aus, 
das große Aubitorium mochte ihr doch ein wenig bange maden; 
bald aber tanzten alle rollefähigen Berfonen in der grotesten Weiſe 
aus ihrem Gevähtnigfaften, auf das phantaftifchfte geſchmückt. — 
Nach dem Souper tanzte man, ich faß etwas [hläferig an der Seite 
veiner Mutter; fie hielt mid umhalst, und hatte mich lieb, wie 
den Joſeph; ich hatte dazu auch einen rothen Rod an. Man hat 
einftimmig beſchloſſen, e8 jolle nie ein Yamilienfeft gegeben werben 
ohne die Mutter; fo ſehr hat man ihren guten Einfluß empfunden. 
Ich hab’ mic gewundert, wie ſchnell fie die Herzen gewinnen Tann, 
bloß weil fie mit Kraft genießt und dadurch die ganze Umgebung 
auch zur Freude bewegt.” Gleich darauf macht Bettine noch einige 
Heine Reifen, um ven Winter vor feinem Scheiven noch einmal in 
feiner Pracht zu bewundern, nämlich) nad dem Odenwalde und bie 
Jarthauſen, der Burg bes alten Göß, bei Mödmühl im Nedar- 
feeife, ' doch finden wir fie am 30. März wiever in Frankfurt, wo 
fie an Goethe ſchreibt: „Die Mutter kommt oft zu und; wir machen 
ihre Maskeraven und alle mögliche Ergöglicfeit; fie hat unfere 
ganze Yamilie in ihren Schug genommen, ift frifh und gefund.“ 
Großes Gewicht iſt auf biefe nichts weniger als (8 ſer wahrſcheinlichen 
Erzählungen nicht zu legen. 

* Goethes Sohn beſuchte um Oftern 1809 jene Gegenden (vgl. Ovethe's 


Briefe an Frau von Stein TIL, 406 ff), und tigt fönnte die Erzaͤhlung 
veffelben Vettinen vorgeſchwebt haben. 


572 

Anfangs April kam Goethes achtzehnjähriger Sohn, welcher 
die Univerfität Heivelberg beziehen follte, nach Frankfurt, wo bie 
Großmutter, die ihm jegt zum brittenmale fah, ihn mit herzlichfter 
Liebe einige Tage fefthielt.‘ Bettine meldet an Goethe, fein Sohn 
finde ih in Frankfurt wohl und luſtig. „Er gibt mir alle Abend 
im Theater ein Rendezvous in unferer Loge; früh morgens fpaziert 
er ſchon auf ven Stadtthürmen herum, um bie Gegend feiner vä⸗ 
terlihen Stabt recht zu befehauen. Ein paarmal hab’ ich ihn hin- 
ausgefahren, um ihm bie Gemüßgärtnerei zu zeigen, ba gerade 
jest die erften wunderbarlichen Vorbereitungen dazu gefchehen. — 
Auch an's Stallburgsbrünnchen hab’ ich ihn geführt, auf die Pfingft- 
wiefe (®. 20, 26), auf den Schneivewall; dann hinter die ſchlimme 
Mauer, wo in ber Jugend bein Spielpfag war (B. 20, 59), dann f 
zum Mainzer Thörchen hinaus. Auch in Offenbach war er mit 
mir und ber Mutter, und find gegen Abend bei Mondſchein zu 
Waſſer wieder in die Stadt gefahren. Da hat unterwegs bie 

« Mutter recht losgelezt von all deinen Geſchichten und Luftpartien. 
— Arien! Ich eile, Toilette zu machen, um mit deiner Mutter 
und deinem Sohn zum Primas zu fahren, ber heute ihnen zu 
Ehren ein großes Feſt gibt." Am 7. April fehreibt ‚fie an Goes 
the's Gattin: „Auguſt feheint ſich hier zu gefallen. Das Feſt, 
welches ber Fürft Primas der Großmutter und dem Enfel gab, be- 
weißt recht, wie er ben Sohn ehrt. Ich will inbeffen ter Frau 
Rath nicht vorgreifen, die e8 Ihnen mit den ſchönſten Farben aus- 
malen wird. Auguft ſchwärmt in der ganzen Umgegend umher; über- 
all find Jugendfreunde feines Vaters, die von den Höhen da und 
bort hindeuten unb erzählen, welche glüdliche Stunden fie mit ihm 
an fo fehönen Orten verlebten.“ Bald darauf berichtet fie: „Auguft 
ift weg. Ich fang ihm vor: 
” Sind's nicht dieſe, ſind's doch andre, 
Die da weinen, wenn ich wandre. 
Holder Schatz, geben!’ an mich!? 
Val. 8. 27, 258. 
2 Die Verfe find aus dem mit der Melodie von F. &. Sesca befannten 


573 

Und fo wanderte er zu den Pforten unferes republikaniſchen Haufes (?) 
hinaus. Hab’ ihn aud won Herzen umarmt, zur Erinnerung für 
mid) an dich.“ 

Gegen Mitte Mai ging Bettine wieder in's Rheingau. Am 
20. Mai ſchreibt fie an Goethe, fie fei bereits acht Tage in ber 
lieblichſten Gegend des Rheines; aber die Frau Rath dankt ſchon 
am 12. Mai für die Briefe Bettinens, ohne Zweifel von borther. 
„Sei aber nicht gar zu tell mit meinem Sohn!“ bemerkt fie; „alles 
muß in feiner Ordnung bleiben. . Das braune Zimmer ift neu 
tapezirt mit der Tapete, bie du ausgefucht Haft; bie Farbe mifcht 
ſich befonders fchön mit dem Morgenroth, das über'm Katharinen- 
thurm heraufſteigt, und mir bis in bie, Stube ſcheint. — Um 
deinen Schemel habe Feine Noth! Die Lieſe (vgl. ©. 559 Note 3) 
leivet’8 nicht, daß jemand ſich drauf jet." Am 25. Mai folgt 
eine nee Mahnung zur Vernunft. „Ei, Mädchen, du bift ganz 
to! was bild'ſt du bir ein? Ci, wer if denn bein Gchag, der 
an dich denken fol bei Nacht im Mondſchein? Meinft du, ber 
hätt’ nichts Beſſers zu thun? Ya, profte Mahlzeit!" „Ich fag' 
dir noch einmal," fährt fie fort, „alles in ber Orbnung! und 
ſchreib' ordentliche Briefe, in denen was zu Iefen ift! Dummes 
Zeug nad; Weimar fehreiben! Schreib‘, was euch begegnet, alles 
orbentlid hintereinander — exft, wer da ift, und wie bir jeber gefällt, 
und was jeder anhat, und ob die Sonne ſcheint ober ob's regnet; 
das gehört aud zur Sad. Mein Sohn hat mir's wieder ge- 
ſchrieben, ich fol dir fagen, daß du ihm fehreibft. Schreib’ ihm 
aber ordentlich! tu wirft bir fonft das ganze Spiel verderben. Am 
Freitag (dem 20. Mai) war ich im Konzert; ba wurbe Bioloncell 
geipielt, ta dacht' ich an dich; es Hang fo recht, wie beine braunen 
Augen. Adieu, Mädchen! du fehlft überall deiner Fran Rath.“ 
Es folgen num einige beſchreibende Briefe Bettinens an bie Mutter. 
Goethe aber ſchreibt am 7. Juni an Bettine, gleich vor feiner 
Liede „Soldatenabfeieb“ von Maler Müller (II, 339), das aber auch in 
die Sammlung der Gedichte von K. F. D. Echubart übergegangen if. Im 
legten Verſe heißt es: „Ich denk' an dich“. 








574 


Abreife nad) Karlsbad: „Deine Briefe wandern. mit mir, bie ich 
wie eine buntgemirfte Schnur aufbröfele, um den ſchönen Reich- 
thum, den fie enthalten, zu orbnen. Wahre fort, mit dieſem bieb⸗ 
lichen Irrlichtertanz mein beſchauliches Leben zu ergötzen und be- 
ziehende Abenteuer zu Teufen (?)! — Die gute Mutter hat mir 
ſehr bedauerlich geſchrieben, daß fie dieſen Sonmer_ dich entbehren 
ſoll. Deine reiche Liebe wird auch dahin verſorgend wirken, und 
du wirſt einen in dem andern nicht vergeſſen.“ 

Nach einer ſpätern Aeußerung (II, 215 f.) wäre Bettine zu 
Pfingften, das ift am 5. Juni, nad) Sranffurt gekommen und mit 
der Frau Rath in’s Kirſchenwäldchen gefahren, mas nicht recht 
paſſen will, wenn es aud) freilih am Ende eines, wie es ſcheint, 
Anfangs Juni gefchriebenen Briefes (I, 40) heißt: „Ich werd' näch⸗ 
ſtens Bei ihr angerutfcht kommen;“ denn ber folgende Brief fpricht 
gegen eine ſolche Anweſenheit; auch will Bettine ja bie Frau Rath 
überrafcht haben. „Die Mutter hat mir auch heute geſchrieben,“ 
meldet Bettine am 25. Juni; „fie fagt mir's herzlich, daß fie mir 
wohl will. Bon deinem Sohn erhalte id) zuweilen Nachricht durch 
ambere, ex ſelbſt aber läßt nichts von fich hören. — Dem Primas 
hab’ ich geſchrieben in beinem Auftrag; er iſt in Aſchaffenburg. 
Er bat mich eingelaben, borthin zu kommen; ich werbe auch wahr- 
ſcheinlich mit der ganzen Familie ihn beſuchen; da kann ich ihm 
alles noch einmal mittheilen.” "Am 15. Juli äußert Goethe ven 
Wunſch: „Der Mutter ſchreibe, und laſſe bir von ihr fehreiben! 

“ Liebet euch untereinander! Man gewinnt gar viel, wenn man fid) 
durch Liebe einer des andern bemächtigt.“ Goethes Mutter jhreibt 
am-28. und 29. Juli an Bettine, nad) dem Brande, welcher ge-. 
rade ihr gegenüber ausgebrochen. Am 8. Auguft melvet letztere, 
fie fei nicht immer auf ihrem Gute zu Winkel am Ahein (B. 26, 231) 
gewefen, fonft würde Goethe ſchon Tängft wieder einen Brief 
von ihr erhalten haben; und doch hatte fie am 7. Auguft an ihn” 
geichrieben und den am 6. abgeſchicklen Brief geſchloſſen. „Viele 
Streifereien,“ ſchreibt fie, „haben mich abgehalten, die Reiſe in 
die Wetterau, von welcher ich bir, hier_ein Bruchſtück beilege. 


575 


. (Fehlt) Den Primas Hab’ ich in Aſchaffenburg befucht; er meint 
immer, ich babe vie Kinderſchuhe noch nicht ausgetreten, und begrüßt 
mi, indem er mir bie Wangen fireichelt und mich herzlich, 
tußt.“! Nicht genug mit diefen Reifen will Bettine auch noch acht Tage 
mit Goethes Mutter verlebt haben (I, 326). Daß hierzu aber durch⸗ 
aus Fein Raum zu finden fei, kümmert bie ſchöne träumerifche 
Briefftellerin nicht im geringften. Am 27. JZuli hat fie eine fünf- 
tägige Nheinreife vollenbet? (I, 285). „Fünf Tage bin ich hier,“ 
ſchreibt fie kurz darauf vom Rochusberg (!), „und ſeitdem hat es 
nnaufhörlich geregnet.“ Am 7. Auguft ift fie wieber in Winkel, 
nachdem fie am Tage vorher ihren Brief vom Rochusberg geenbet. 
Wo finden num bie Reife nach der Wetterau und Afchaffenburg 
nebft den acht Tagen in Frankfurt irgend Raum? 

Dod hören wir, was Bettine ung biesmal von Goethes 
Mutter zu erzählen weiß. Nachdem fie ihr Inftiges Abenteuer mit 
dem Fürften Primas beſchrieben hat, fährt fie fort: „Ach! ich möchte 
div lieber andere Dinge fehreiben, aber die Mutter, der ich alles 
erzählen mußte, quälte mich brum; fie meint, fo was made bir 
Freude, und du hielteft etwas drauf, bergleihen genau zu willen. 
Ich holte mir aud) einen lieben Brief von bir bei ihr ab, ber 
mic) bort fhon an vierzehn Tagen ermartete.? — Die Mutter ift 
num immer gar zu vergnügt und luftig, wenn ich von meinen 
Streifereien fomme; * fie hört mit Luft alle Meine Abenteuer an; 
ich mache denn nicht felten aus Klein Groß, und diesmal war ich 

* reichlich damit verſehen, da nicht nur allein Menfchen, fondern 
Ochſen, Efel und Pferde fehr ausgezeichnete Rollen dabei fpielten. 
Du glaubft nicht, wie froh es mich macht, wenn fie recht von 
Herzen lacht. Mein Unftern führte mich gerade nach Frankfurt, 

* Die weitere Erzählung, welche die freiefte Erdichtung verräth, laſſen 
wir auf fi) beruhen. An ihre biplomatifche Miſſion läßt ſich ſchwer glauben. 
Der Bropft Drumee iſt wohl der oben Eeite 243 erwähnte Dumeiz. 

3 Iuider zweiten Ausgabe let: „Fünf Tage waren wir unterwegs.“ 

® Gpethe's Brief vom 45. Juli ſcheint gemeint. 

Giernach würde Vettine während des Sommers mehrmals uach 
Sranffurt gefommen fein. 




















576 


als Frau von Stasl durchtam. Ich hatte fie ſchon in Mainz, 
einen ganzen Abend genoffen. Die Mutter aber war recht froh, 
daß id} ihr Beiſtand Leiftete; denn fie war ſchon Prävenirt worben, 
daß bie Stael ihr einen Brief von bir Bringen. würbe, ' und fie 
wünſchte, daß id) bie Intermezzo's fpielen möge, wenn ihr bei 
diefer großen Kataſtrophe Erholung nöthig fei. Die Mutter hat 
mit num befohlen, bir alles ausführlich zu beſchreiben. Die Entrevue 
war bei, Bethmann- Schaaf in den Zimmern des Moriz Bethmann. 
Die Mutter hatte ſich — ob aus Ironie ober aus Uebermuth? — 
wunderbar gefhmüdt, aber mit deutfcher Laune, nicht mit franzö— 
ſiſchem Geſchmack. Ich muß dir fagen, daß wenn ich bie Mutter 
anfah, mit ihren drei Federn auf dem Kopf,? bie nad) brei ver- 
ſchiedenen Ceiten hinſchwankten, eine rothe, eine weiße und eine 
blaue, die franzöfiichen Nationalfarben, welde aus einem Feld 
von Sonnenblumen emporftiegen, fo klopfte mir das Herz vor Luft 
und Erwartung Sie war mit großer Kunft geſchminkt; ihre 
großen, ſchwarzen Augen fenerten einen Kanonendonner; um ihren 
Hals ſchlang ſich der befannte goldene Schmud der Königin von 
Preußen (vgl. oben S. 555); Spigen von altherfömmlichem Anz 
fehen und großer Pracht, ein wahrer Familienſchatz, verhüllte ihren 
Buſen. Und fo ſtand fie mit weißen Glacéehandſchuhen, in ber 
einen Hand einen künftlichen Fächer, mit dem fie die Luft in Ber 
wegung fette, die andere, welche entblößt war, ganz beringt mit 
bligenben Eteinen, dann und wann aus einer goldenen Tabatiere 
mit einer Miniatüre von dir, mo bu mit hängenden Loden, 

! Am 21. September, acht Tage nach dem Tode von Goethe's Mutter, 
ſoll diefe an Vettiue geſchtieben haben: „Der Moriz Betpmann hat mir 
gefagt, daß die Stael mich beſuchen will; fie war in Weimar. Da wol 
ich, du wär bier; da werd ich mein Srandifc recht zufammennehmen 
mäffen.“ Goethe fah die Stael nur im Anfange des Jahres 1804. Vgl. ©. 27, 
136 ff. 143 ff. Am 12. Mai 1808 ging er nad Karlebad, von wo er erſt 
um bie Hälfte September zurückte htte. Die Stakl aber war in biefem 
Jahre vom 40. bis 49. Juni in Weimar. Goethes Briefe an drau vor 
Stein III, 396. an Kuebel I, 330. 332 f. Qgl. unten ©. 578. 580. 

? Die Frau Rath foll nie Bebern getragen haben. Dgl. Maria Belli 
IL, 93° 


\ am 


gepubert, nachdenklich den Kopf auf die Hand ftügeft (?), eine Priſe 
nehmend. — Endlich kam die Pangerwartete durch eine Reihe von 
erleuchteten Zimmern, begleitet von Benjamin Conftant. — Ih 
bemerkte das Erftaunen der Stasl über den wunderbaren Pug und 
das Anfehen deiner Mutter, bei ber ſich ein mächtiger Stolz ent- 
widekte. Sie breitete mit ber linken Hand ihr Gewand aus, ' mit 
der rechten falutirte fie, mit dem Fächer fpielend, und indem fie 
das Haupt mehrmals fehr herablafiend neigte, fagte fie mit erha- 
bener Stimme, daß man es durch's ganze Zimmer hören konnte: 
Je suis la mere de Goethe. Ah, je suis charmee! fagte die 
Scheiftftellerin, und hier folgte eine feierliche Stile. Dann folgte 
die Präfentation ihres geiftreichen Gefolges, welches eben auch be— 
gierig war, Goethe's Mutter Tennen zu lernen. Die Mutter beant- 
wortete ihre Höflichfeiten mit einem franzöſiſchen Neujahrswunſch, 
, welchen fie mit feierlichen Verbeugungen zwifchen den Zähnen mur- 
melte.? — Bald winkte mich die Mutter herbei; ich mußte ven 
Dollmetfcher zwifchen beiden machen. Da war tenn bie Rede nur 
von bir, von beiner Jugend. Das Portrait auf ver Tabatiere 
wurde betrachtet; es war gemalt in Leipzig, eh’ du fo krank warft, ? 
aber ſchon fehr mager; man erkennt jedoch beine ganze jegige Größe 
in jenen kindlichen Zügen, und beſonders den Autor des „Werther“. 
Die Stael fprad über deine Briefe, ‘ und daß fie gern leſen 
möchte, wie bu an deine Mutter ſchreibſt, und die Mutter ver- 
ſprach e8 ihr auch. — Ich könnte dir ein Buch fchreiben über 


* Maria Belli berichtet III, 92” von ber Frau Rath: „Einen Gruß 
auf der Straße erwieberte fie durch Stehenbleiben, gierlich, wie beim Menuet- 
tangen, bie Möde ergreifend, und einen tiefen Knicks machend.* 

? Die Zumuthung dies der geiftreich phantafirenden Vrieftellerin zu 
glauben, iR doch gar zu Rarf. Die Fran Rath verftand Branzöfifch genug, 
um bei einer ſolchen Gelegenheit das Noöͤthige zu antworten, 

® Bettine meint bie Krankheit, die ihn während der Leipziger Stubien« 
geit befiel; aber ſchwerlich würde ſich der Leipziger Stubent, wie Schiller, 
den Kopf auf die Hand gefügt, haben malen laffen. 

* Bon einem Briefwechſel wiſchen Goethe und Frau von Gtael weiß 
nur Bettine. 

Dünger, Frauenbilder. © 37 





578 





“alles, was ich in den acht Tagen mit ber Mutter verhandelt und 
erlebt habe. Sie Tonnte kaum erwarten, daß id) (am andern Tage) 
kam, um alles mit ihr zu refapituliven. Da gab's Vorwürfe: ich 
war empfinblic,, daß fie auf ihre Bekanntſchaft mit ber Stael einen 
fo großen Werth Iegte. Sie nannte mid) kindiſch, albern und 
eingebilvet, und was zu ſchätzen fei, dem müſſe man die Achtung 
nicht verfagen, und man könne über eine folde Frau nicht wie 
über eine Goffe fpringen und weiter laufen; es fei allemal eine 
ausgezeichnete Ehre vom Schichſal, fih mit einem bedeutenden und 
berühmten Menfchen zu berühren. Ih wußte es fo zu menben, 
daß mir die Mutter,enblich deinen (von der Stael überbrachten) 
Brief zeigte, worin du ihr Glück wilnfcheft, mit dieſem Meteor zu 
jammenzuftoßen, und da polterte denn alle ihre vorgetragene Weis- 
heit aus deinem Brief hervor. Ich erbarmte mich über bi, und 
fagte: „Eitel ift ver Götterjüngling; er führt den Beweis fir feine , 
ewige Jugend.“ Die Mutter verftand feinen Spaß; fie meinte, 
ich nehme mir zu viel heraus, und ich ſoll mir doch nicht einbilven, 
daß du ein anderes Intereſſe an mir habeft, ald man an Kindern 
habe, die noch mit der Puppe fpielen; mit der Stasl könneſt du 
Weltmeisheit machen, mit mir könneſt du nur tändeln.“ Wir 
müſſen geftehn, daß wir an die ganze Beichreibung diefes Zufam- 
mentreffens ver Frau von Stasl mit Goethe's Mutter, und deſſen, 
was damit in Verbindung fteht, Beinen vechten Glauben haben, 
und wir möchten fogar bejweifefn, daß Bettine während der An- 
wefenheit der Frau Stasl, in den erften Tagen bed Anguft, ' 
wirklich in Frankfurt geweſen fei. 

5 In demfelben Briefe, in welchem Bettine vie Vorſtellungsſzene 
der Frau von Stael fchilvert, bittet fie den Dichter, feine Briefe 
an fie nach Schlangenbad adreſſiren zu wollen. „Ich werbe brei 
Wochen (alfo wenigftens bis Ende Auguft) dort bleiben,“ fährt fie 
fort. „Schidft du den Brief an die Mutter, fo wartet fie auf 
eine Gelegenheit; und ich will lieber einen Brief ohne Datum, 
als daß ich am Datum erfennen muß, daß er mir vierzehn Tage 

BVol. das „Morgenbfatt“ vom Jahre 1808 Nro. 186. 


579 
vorenthalten ift. Der Mutter ſchreib' ih alles, was unglaub— 
lich ift; obfchon fie weiß, was fie davon zu halten hat, fo 
hat es doch ihren Beifall, und ferbert mid) auf, ihr immer noch 
mehr dergleichen mitzutheilen; fie nennt dies meiner Phantafie 
Luft machen.“ Es folgen num nod zwä Briefe vom Rheine, 
und dann ein freilich nicht vollftändiges Tagebuch aus Schlangen» 
bab vom 17. bis 30. Auguft. Am legten Tage bemerkt fie. mit 
Bezug auf eine Stelle im Briefe Goethe's vom 21. Auguft: ' 
„Wenn bir die Mutter ſchreibt, fo macht fie ven Bericht allemal 
zu ihrem Vortheil. Die Geſchichte war fo: Ein buntes Rödchen, 
mit Streifen von Blumen durchwirlt, und ein Flormützchen, mit 
filbernen Blümchen geſchmückt, holte fie aus dem großen Tafel- 
frank, und zeigte fie mir als beinen erften Anzug, in dem du 
in bie Kirche und zu den Pathen getragen wurdeſt. Bei dieſer 
Gelegenheit hörte ich die genaue Gefchichte deiner Geburt, die ich 
glei aufſchrieb. Dann fand fd) denn auch der Meine Frankfurter 
Rathsherr mit der Alongeperlide. Sie war fehr erfreut über dieſen 
Fund, und erzählte mir, daß man fie (!) ihnen geſchenkt Habe, wie ihr 
Bater Syndikus geworben war (?!). Die Schnallen an den Schuhen 
find von Gold, wie aud ber Degen, und die Perlenguaften anı 
Halsſchmuck find ächt. Ich hätte ven Heinen Kerl gar zu gern 
gehabt. Sie meinte, er müfle beinen Nachkommen aufbewahrt 
bleiben, und fo kam's, daß wir ein wenig Komöbie mit ihm fpielten. 
Sie erzählte mir babei viel aus ihrer eigenen Jugend, — Bon 
der Mutter hab’ ich die beften Nachrichten.” Die nächſten Donate 


! Dort heißt es: „Es findet fih noch Plat und auch noch Zeit, ber 
guten Mutter Vertpeibigung hier zu übernegmen. Ihr ſollteſt du nicht ver- 
argen, daß fie mein Intereffe an dem Kinbe, was noch mit der Puppe fpielt, 
(gl. oben) Heraushebt: ba du es wirklich noch fo artig Fannfl, daß du felbft 
die Mutter uoch dazu verführt, die ein wahres Ergöten dran hat, mir 
die Gochzeitfeier deiner Puppe mit dem Heinen Fraukfurter Ratheperru 
ſchriftlich anzugeigen, der mir in feiner Alongeperüde, Scpnabelfhuhen 
und Haloeſchmuck von feinen Perlen im kleinen Rlüfchfeffel noch gar wohl 
erinuerlich in. Er war die Angenweide unferer Kinderjahre, uud wir 
durften ihn nur mit geheiligten Händen anfaffen.“ 


flodt der Briefwechſel, den Bettine erft von Landshut aus, wo fie 
bei ihrem Schwager von Savignh verweilte, am 18. Dezenber 
wieber aufnahm. „Da ich dir zum Iegtenmal ſchrieb,“ beginnt fie 
an biefem Tage, „war's Sommer; id war am Rhein, und reiste 
fpäter mit einer heitern Geſellſchaft von Freunden und Verwandten 
zu Wafler bis Köln. ALS ich zurücgefommen war, verbrachte ich 
noch die legten Tage mit beiner Mutter, wo fie freundlicher, leut- 
feliger war, als je. Am Tag vor ihrem Tob mar ich bei ihr, 
füßte ihre Hand, und empfing ihr Lebewohl in beinem Namen." 

Will ſchon diefe Anfangs September gemachte Reife nad) 
Köln nebſt der Rückkehr nach Frankfurt und einem mehrtägigen 
Aufenthalt bei der Frau Rath mit ihrem auf ven 13. September 
fallenden Tovestage nicht recht ftimmen, fo fieht e8 mit der chro— 
nologiſchen Möglichkeit bei dem Briefwechſel zwifchen Vettine und 
Goethe's Mutter gar wunderlich aus; benn hiernach foll die Frau 
Rath noch am 21. September und am 7. Oftober an die im 
Rheingau weilende Bettine gefehrieben haben, alſo eine gute Anzahl 
Tage nad) ihrem Tode; fie foll noch am 21. September die längft 
vorübergegangene Frau von Stasl erwartet- haben, bie währen 
des Monats Auguft bei Goethe geweſen wäre, mit ber Bettine 
Anfangs September zu Mainz zu Nacht gefpeist hätte (I, 55). 
Doc) es verlohnt fih nicht der Mühe, auf dieſe unentwirrbaren 
Wiverfprüche und fo mande Seltfamteiten näher einzugehn. Diefer 
ganze Briefwechſel ift nichts als ein ſchillerndes Kaleivoflor, von 
dem man nichts weniger als geſchichtliche Wahrheit verlangen darf; 
ber Uebermuth der Dichtung wäürfelt ſelbſtgefällig mit Ort und 
Zeit und modelt alles nad) lindiſcher Laune. Wie wenig aber auch 
alles einzelne Zutrauen verdienen mag, ſo dürfen wir doch im all⸗ 
gemeinen das hier entworfene Bild von dem Urmgange Bettinens 
mit der Frau Rath als treue Widerſpiegelung anerlennen. Die 
phantaſtiſche Schwärmerei, verbunden mit heiterm, knabenhaftem 

Daß fie vorm Jahr in Köln geweſen, ſagt fie am 9. September 
4809 (I. 98). Ciner Fahrt von Köln nah Mainz mit der Günberode 
im Jahre 1805 gedenft fie in der Schrift: „Die Günderode“ IT, 246. 


581 

Humor und. der eiferfüchtig fehnfüchtigen Liebe zu ihrem Sohne, zog 
bie Frau Nath mächtig. an, gab ihr eine reich fpielenbe, friſch 
muntere Unterhaltung, und erfreute ihr mütterliches Herz. Ueber 
ben bichterifchen Gehalt des Buches, das, wie von Meuſebach tref⸗ 
fend bemerkt, ſchwer der Unfterblichkeit zu entziehen fein wird, 
haben wir hier nicht zu urtheilen; e8 genügt und, bie geſchichtliche 
Unzuverläffigteit und bie durchweg herrſchende Erbichtung in Bezug 
auf Goethe's Mutter aufgezeigt zu haben, und bürfen wir hoffen, 
daß hiernach niemand fi mehr für berechtigt halten werde, Bet⸗ 
tinens märdenhaftes Buch als Sturmbock gegen unfern Dichter zu 
mißbrauchen, mie e8 Börne in ftolzer Siegesgewißheit verfucht hat. 

Wenn wir bei Bettine die Iran Rath durchweg in heiterm, 
zofenfarbenem Humor finden, jo konnte e8 doch auch unmöglich 
an Augenbliden fehlen, wo diejer, befonvers. in Folge körperlicher 
Beichwerben, ſich auf kurze Zeit trübte: aber bald fiegte wieder 
ihre glüdliche Natur. „Noch in ihrem hohen Alter," erzählt Talk 
(©. 6 f.), „als fie ſich einige Wochen hindurch mit den Beſchwerden 
deſſelben ſchmerzlich geplagt hatte, fagte Goethe's Mutter zu einer 
Freundin, bie fie befuchte, auf ihr Befragen, wie es gehe: Gott- 
ob! num bin ich wieder mit mir zufrieben, und fann mich auf 
einige Wochen hinaus leiden. Zeither bin ich völlig unleidlich ge- 
weſen, und babe mid) wider ben lieben Gott gewehrt, wie ein 
Mein Kind, das nimmer weiß, was an ber Zeit iſt. Geſtern aber 
Tonne’ ich es nicht länger mit mir anfehn; da hab’ ich mich ſelbſt 
recht ausgeſcholteu, und zu mir geſagt: „Ei, ſchäm' dich, alte Rä- 
thin! Haft guter Tage genug gehabt in der Welt und ven Wolf» 
gang dazu, mußt, wenn vie böfen kommen, nun auch fürlieb neh- 
men und fein fo übel Geſicht machen! Was foll das mit dir .vor- 
ftellen, daß du fo ungebulbig und garftig bift, wenn ter liebe Gott 
dir ein Kreuz auflegt? WIN du denn immer auf Roſen gehn, 
und bift über’ Ziel, bift über fiebzig Jahre hinaus!“ Schauen’s, 
fo Hab’ ich zu mir ſelbſt gefagt, und gleich ift ein Nachlaß gefom- 
men und ift beffer geworben, weil ich ſelbſt nicht mehr fo garftig 
war.“ Man vergleiche mit biefer, wohl etwas falfifch gefärbten 

n* . 











582 

Aeußerung die ähnliche Stelle in einem Briefe an bie Herzogin 

Mutter, oben ©. 488 f. 
Goethe's Mutter ftarb in der Nacht auf ben 13. September 
1808 in ſtillem, ruhigem Gottvertrauen und in heiterm Rüdblide 
. anf ein an höchſten Mutterfreuben reiches Leben, Die Angabe 
Bettinens, daß fie in der Nacht geftorben fei, dünkt uns ſchon 
deshalb, weil ihr Begräbniß am 15. September ftattfand, ' mahr- 
ſcheinlicher, als bie andere Beſtimmung, wonach fie um Mittag 
"verfchieden wäre. Marin Belli erzählt nämlich: „Als ihr (ver 
Frau Rath) Iegter Tag nun berangefonmen war, Tieß die Ster- 
benbe fpät Abends ihren Neffen und Arzt, Dr. Melber (geboren 
anı 25. März 1773, feit 1804 Stadthebarzt), den fie fehr liebte, 
noch einmal zu ſich befcheiden, und legte ihm die unumwundene 
Frage vor, wie viel -Stunden ihr noch übrig feien. Auf eine aus- 
weichende Antwort wurde fie faft ärgerlich. „Mach' er mir nichte 
vor, Vetter! Ich weiß doch, daß es aus mit mir iſt. Sag’ ers 
rund heraus! wie lange habe.ich noch zu leben?" Die Erwiebe- 
rung, daß e8 wohl noch bis den kommenden Mittag dauern könne, 
hörte fie mit heiterer Faſſung an. „Nun muß er mir aber auch 
noch verfpredjen, mich nicht eher zu verlaffen, als bis id) tobt bin,“ 
bat fie zulegt. Der Arzt erfüllte ihren Wunſch, und bfieb bei 
ihr, bis fie gegen Mittag zwölf Uhr entſchlunmert war.” Die 
Wahrheit diefer aus guter Quelle fließenden Weberlieferung be- 
weifeln wir nicht, nur müßte man ftatt des Mittages Mitternacht 
fegen, und ven Arzt früh morgens rufen laſſen. Goethe felbft fagt 
uns, ? feine Mutter habe, als fie ihren Tod felbft ankündigte, ihr 
Leichenbegängniß fo pünftlih angeorbnet, daß die Weinforte und 
die Größe der Bregeln, womit die Begleiter erquickt werden follten, 
genau beflimmt gewefen. Yacobi fügt nad) glaubwürbigfter Duelle 
binzu, fie habe ven Mägben geboten, ja nicht zu wenig Rofinen 
in die Kuchen zu thun; das habe fie ihr Lebtag nicht leiden können, 
und fie wärbe fi) noch im Grabe darüber ärgern. Derjelbe 


* Maria Belli IX, 97. 
Briefwechſel mit Zelter IIT, 394 f. 





583 
berichtet aus der nämlichen Duelle, was aber weniger glaubhaft ift, 
fie fei am Morgen ihres Todestages, da man ihr Unwohlſein 
nicht für fo bedenklich gehalten, zu einer Gefellfchaft geladen wor: 
den, worauf fie ganz wohlgemuth habe erwiedern laſſen, bie Frau 
Roth könne nicht kommen; benn fie müffe alleweile ſterben. Nach 
Maria Belli hörte fie auf ihrem Sterbebett die Stimme eines 
Tiſchlers, der ſich für die Anfertigung des Sarges empfehlen 
wollte, worauf fie bemerkte, es thue ihr leid, bag er zu fpät 
Iomme, ba fie alles bereit8 angeordnet habe; doch ließ fie ihm zur 
Entſchãdigung ein Geldgeſchenk reichen. 

„Im September," erzählt Bettine an Goethe Ende 1810 
(Il, 277 ff.), „wurde mir in's Nheingau gefchrieben, die Mutter 
fei nicht wohl. Ich beeilte meine Rückkehr. Mein erfter Gang 
war zu ihr. Der Arzt war gerabe bei ihr; fie ſah fehr ernft aus. 
Als er weg war, reichte fie mir Fächelnd das Nezept hin, und 
fagte: „Da Iefe! Welche Borbeveutung mag das haben? Ein Um- 
ſchlag von Wein, Myrrhen, Del und Lorbeerblättern, um mein 
Kniee zu ſtärken, das mid, feit diefem Sommer anfing zu ſchmer⸗ 
zen, und endlich hat fi Waffer unter ver Narbe gefaminelt. Du 
wirft aber fehn, es wirb nichts helfen mit dieſen faiferlichen Spe— 
galten von Lorbeer, Wein und Del, womit die Kaifer bei ber 
Krönung gefalbt werben (?). Ich feh’ das ſchon komnien, daß das 
Waſſer fi nad) dem Herzen ziehen wird, und da wird es gleich 
aus fein. Sie fagte mir Lebewohl, und fie wolle mir jagen laſſen, 
wenn ich wieberfommen folle. Ein paar Tage darauf ließ fie mich 
rufen; fie lag zu Bett; fie ſagte: „Heute lieg’ ich wieder zu Bett, 
wie damals, als ich kaum fechzehn (?) Jahr alt war (oben ©. 415), 
‚an berfelben Wunde.“ Ich lachte mit ihr hierüber, und fagte ihr 
ſcherzweiſe vieles, was fie rührte uud erfreute. Da fah fie mich 
nod einmal recht feurig an; fie brüdte mir die Hand, und fagte: 
„Du bift fo recht geeignet, umgmid in dieſer Leidenszeit aufrecht 
zu halten; denn ich weiß wohl, daß es mit mir zu Ende geht. 
Sie ſprach nod ein paar Worte von bir, daß ich nie aufhören 
follte, dich zu lieben, und ihrem Enkel (zu Heidelberg) jolle 








N 
j' 





584 


ich zu Weihnachten noch einmal die gewohnten Zuckerwerke in ihrem 
Namen fenden. Zwei Tage drauf, am Abend, wo ein Konzert in 
ihrer. Nähe gegeben wurde, fagte fie: „Nun will ich im Einfchlafen 
an die Mufif denken, die mich bald im Himmel empfangen wird.“ Sie 
Tieß ſich auch noch Haare abſchneiden, und fagte, man folle fie mir 
nad ihrem Tode geben, nebft einem Familienbild von Seekatz, 
worauf fie mit deinem Bater, beiner Schwefter und bir, als Schäfer 
geHleivet, in anmuthiger Gegend abgemalt ift (?). Am andern Morgen 
war fie nicht mehr; fie war nächtlich hinübergeſchlummert.“ Auch 
die Wahrheit aller diefer Einzelnheiten möchten wir nicht verblirgen. 

Wenige Monate nady dem Tode der Mutter, wovon ihm bie 
Kunde bei ver Rückkehr von Karlsbad zufam, ! ſchrieb Goethe an 
feine Nichte, Luiſe Nicolovins:? „Unfere gute Mutter bat uns 
immer noch zu früh verlaffen; doch fünnen wir uns dadurch ber 
ruhigen, baß fie ein Heiteres Alter gelebt, und daß fie fih durch 
den Drang ber Zeiten. jelbftändig durchgehalten hat. Ich danke 
Ihnen und Ihrem lieben Gatten, daß Sie durch Ihr Schreiben 
ein neues Band anknüpfen wollen, indem ſich das alte auflöst.“ 
Später bittet er Bettinen (I, 219): „Von ver Mutter fchreib 
alles auf! es ift mir wichtig. Sie hatte Kopf und Herz zur That, 
wie zum Gefühl.“ Der Präfident Jacobi, Fr. Iacobi’8 Sohn, 
ſchrieb an einen Frankfurter Freund auf die Todeskunde?: „Die 
Nachricht des Todes der. Frau Rath Goethe hat mir fehr lein ge- 
than,-fowohl für ihre Freunde, bie eine wahrhaftige, müthige (?) 


und verftänbige Gefellichaft verlieren, als wie für fie ſelbſt, bie 


nicht das Leben liebte aus Furcht vor dem Tode, ſondern weil fie 
daß. jeltene Talent befaß, jo zu leben, daß fie Freude an ver Welt 
hatte, und bis in ihr hohes. Alter behielt: — Sanft ruhe ihre 
Aſche!“ Bettine fpricht ihre fehnfüchtige Erinnerung an Goethe's 


' Seine Srau ging nach Fraukfurt, um die Erbfchaftsangelegenfeiten 
möglichft „glatt nud nobel · abzumachka. Vgl. Goethe's Brief an Knebel 
vom 25. November. 

? Vgl. A. Nicolovius „Denffchrift auf ©. H. Ludwig Nicolovius“ ©. 172. 

Bol. Maria Belli IT, 94* 


Mutter in einem aus ber tiefen Einfanfeit des böhmijchen Markt- 
fledens Bukowan gefchriebenen Briefe in folgenden Worten aus 
(U, 213 fi): „Hätt ich die Mutter noch, fo wißt id, wo ich 
zu Haufe wär’, ich würte ihren Umgang allen anderen vorziehen; 
fie machte mich fiher im Denken und Handeln; mandmal verbot 
fie mir etwas; wenn ich aber doch als meinen Eigenfinm gefolgt 
war, vertheibigte fie mich gegen alle. — Gerad' im legten Jahr' 
war fie am lebenbigften, und ſprach über alles mit gleichem An- 
tbeil; aus ben einfachften Geſprächen entwidelten ſich die feierlich- 
ften und evelften Wahrheiten, die einem für das ganze Leben ein 
Talisman fein Tonnten. — Ja, hätte id bie Mutter no! Mit 
ihre brauchte man nichts Großes zu erleben, ein Sonnenftrahl, ein 
Schneegeftöber, der Schall eines Pofthorns (vgl. oben ©. 418) 
wedte Gefühle, Erinnerung und Gedanken." Wir fügen hierzu 
nod das ehrende Zeugniß der vor kurzem verftorbenen Fräulein 
Stod, deren Familie mit der Fran Rath innigft befreundet war 
(ogl. oben ©. 492) und deren Bater, Schöff feit dem 8. Juli 
1805, in Folge einer Erkältung ſtarb, die er bei ihrem Begräb- 
niffe ſich zugezogen: ' „Die Fran Rath war eine treue, praktiſche 
Freundin ihrer Freunde, und blieb e8 in allen guten und böfen- 
Tagen; auch war fie hilfreich mit Rath und That, und ohne 
Falſch; man verließ fie nie, ohne etwas von ihr gelernt zu haben. 
Sie befaß vielen Berftand und Lebenserfahrung, kannte fehr ſchnell 
jedem feinen Charakter und behandelte ihn danach, blieb ſich aber 
immer glei; und blieb in jever Geſellſchaft die nämliche Frau 
Rath. Ein junges Mädchen von unferer Bekanntſchaft (die Blu— 
menmalerin Steider) nannte fie Chamäleon, weil diefe, wo die 
dran Nath in verfdievenen Häufern fie antraf, eine ganz ver- 
ſchiedene Art, fid) zu benehmen, Hatte.“ ? 


Bol. daſelbſt TIL. 9”. . 

2 MWilpelm von Humboldt urtheilte in feinen „Briefen an cine Freundin“ 
11, 295 bloß nach Bettinens Briefwechſel über Goethes Mutter: „Diefe 
war, wie «6. feint, nicht gerabe fehr bebeutend von Geiſt und Gharafter; 
aber ihre Lebeubigfeit, ihre Luſt an Denfchen und felb an Werguägungen, 








586 





Sinnliche Lebendigkeit, Weichheit des Herzens, tiefwurzelndes 
Gottvertrauen, reinfte Gemüthlichfeit und wahrfte Menfchlichfeit, 
mit glücklicher Heiterfeit und Klarheit des Geiftes, bilden bie feften 
Grumdlagen, auf benen das ganze Wefen von Goethes Mutter 


- rubte, und die fie fümmtlich auf ihren Sohn vererbte, bei welchem 


jenes Gottvertrauen ſich meift zu feftefter Zuverficht auf den einfach 
großen und ruhig unbeirrbaren Entwidlungsgang der in allem 
Wirken und Schaffen verehrungswürbigen Natur geftaltete. Im 
feohem Glauben, daß der Herr alles zu ihrem Beſten lenken werbe, 
gab fie einem mohlmollenden Manne, den fie achten, aber nicht 
lieben konnte, in faft noch kindlichem Alter ihre Hand, und ale 
der Himmel fie bald darauf mit ihrem Erſtgeborenen beſchenkte, 
der nur mit Mühe dem Leben, das ihn ſchon verlafien zu haben 
ſchien, gewonnen wurde, da durdhzudte fie die begeifterte Ahnung, 
daß dieſer Sohn ihr und der Welt zum Ruhme geveihen werde. 
Und in diefer ahnungsvollen Hoffnung trug fie duldſam alle Be— 
ſchränkungen, welche ihr der ftarre Ernft und die nüchterne Lehr- 
haftigfeit ihres fparfamen Gatten auflegte, fand in ſtiller Häus- 
Üichteit und in ihrem herrlich ſich entwickelnden Wolfgang ihr ganzes 
Glück. Diefen wärmte fie mit ver glühendften Liebe ihres wollen, 
hoffnungsreihen Mutterherzens, biefem mibmete fie fih mit aller 
Neigung, diefen ſchützte fie, fo viel fie vermochte, gegen ben pe- 
bantifchen Ernſt und die zopfmäßige Strenge feines regelrechten, 
geratlinigen Vater, dieſem fuchte fie alle Freiheit eimer reinen, 
natürlichen Entwicklung zu bieten. Mag man freilich mit Recht 
ihre Erziehungsgrunbfäge für nichts weniger als allgemein güftige 
anerfennen, Goethe's Mutter mar von.ber Weberzeugung durch- 
drungen, daß fie feiner Entfaltung feine Feſſeln anlegen bürfe, 
vielmehr ein bebeutfames Gegengewicht gegen bie Einzwängung 
ihres Gatten bilven müſſe. War auch die Jugend ihres geliebten 
Wolfgang nicht ohne mande Not und Sorge, mußte fie ihn aud) 
nad) einer für fie [hmerzlichen, ihr Gemith zeitweife einer myſtiſchen 
befonders eine gewiſſe originelle Stimmung, mögen dod auf den Sohn 
eingewirft haben.“ 


587° 
Richtung zutreibenden Abweſenheit am Körper wie am Herzen mehr- 
fach leiden fehn, fo Tonnte ihr doch nichts bie fefte Zuverficht 
ranben, daß ihr Sohn zu etwas Hohem beftimmt ſei. Und wie 
jubelte ihr mütterliches Herz, als ihre ſchönſten Hoffnungen fi 
verwirklichten, als ver Name ihres Sohnes, von bes Ruhmes 

Fittigen getragen, bie deutſchen Pande burdflog, als ein ebler 
Fürft ihm zu feinem Freunde im fchönften Sinne des Wortes er⸗ 
tor! Freilich mußte fie den herben Schmerz erleben, vie geliebte 
Tochter in fehr frühen Jahren zu verlieren, aber um fo, einziger, 

- umbefchränfter hing ihre Seele dem Sohne an, deſſen hehre Größe, 
wie ein glänzend mächtiger Stern, ihr ganzes Inneres entflammte. 
Hatte ihre friſche Natur früher unter einem gewiffen Drude ge- 
Titten, fo entwidelte ſich biefe jetzt in ihrer veinften, vollften Herr- . 
Kichfeit, ſich felbft und anderen zum höchften Genuſſe. Mochten 
auch einzelne trübe Wolfen zuweilen bie heitere Klarheit trüben, 
ihr Leben war fortan ber glänzendſte Sonnenſchein des Glüdes; 
denn des Sohnes ruhmvolle Größe mar die Sonne, bie ihr Leben 
zauberhaft erleuchtete, und fie burfte fid) jagen, was die Nachwelt 
einftimmig befennen wird, baß bie won ihr ererbten Geiftes- und 
Herzensgaben und bie glühente Mutterliebe, mit welcher fie ihres 
Wolfgang Entidlung erwärmend belebt, dem deutſchen Volke 
feinen großen Dichter gegeben. Wollen und können wir auch micht 
dem Bater jeden vorteilhaften Einfluß auf die Bildung des Sohnes 
beftreiten, da jene zu Grunde liegende Weichheit und die finnliche 
Lebhaftigkeit einer ftarfen Gegenwirkung beburften, bamit fie ihn 
nicht, wie fo viele andere, in unbeftimmter Leerheit und ſchranken— 
Tofer Willfite zergehn ließen, fo bilvet doch Goethe's Mutter einen ver 
vielen Belege zu dem befannten Erfahrungsfage, daß die genialen 
Eigenfchaften meift ein Erbtheil der Mutter find. Goethe felbft 
fagt in ben befannten Scherzverfen, er habe vom Bater die Natur, 
des Lebens ernftes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, bie 
Luft zu fabuliven, ohne hiermit, wie man wohl im Exrnfte gemeint 
hat, irgend eine genauere Scheidung feiner von ben Eltern ange 
erbten Eigenfchaften geben zu wollen; ihm konnte es nicht entgehn, 


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Nachträgliches über Kenz. 
(Zu &. 81 ff.) 


Kurz ehe Lenz nad) Weimar fam, fehrieb er an Merd, mit 
welchem er durch Goethe in Verbindung gekommen war, einen 
wunderlichen Brief, in welchem er viefem meldet, daß er ſich zu 
einer Reife über Hals und Kopf anſchicken müfje, auf der er auch 
ihn zu ſprechen und zu umarmen hoffe! Merk feheint ihm von 
ten Weimarer Verhältniffen Nachricht gegeben und ihn aufgemun- 
tert zu haben, wenn Lenz nicht etwa zu wiel in deſſen Worte hin- 
einlegte. „Daß mir Ihr Brief Vergnügen und welches er mir 
gemacht,” ſchreibt Lenz, „könnte ich Ihnen doch jet nicht fogleich 
fagen, wie id} e8 wünſche. Bei meiner Jugend, Schwachheit und 
Thorheit führt mir der Himmel doch immer weife, reife und große 
Freunde zu, die mich wieder auf bie Beine bringen. Für alle bie 
Nachrichten, die den Grund meines Herzens intereffiren, 


* Der Brief (bei Wagner IT, 51 f.) iſt vom 14. März 1776; denn die 
von Wägner ergänzte Jahrzahl 1775 iſt irrig. Im einem Gedichte vom 
28. Oftober 1775 fpricht er von der Tobesmunbe tief in feiner Bruſt, die 
er den Freunden verberge, uud, um fie nicht zu betrüben, „Ruft Sacher; er 
beflagt den Verluft der Freuden feiner Jugend, feit er nicht mehr in bie 
Tugend, fondern in mehr (In ein Ideal eines Mädchent) verzaubert fei. 
Vom 19. April des vorhergehenden Jahres find tie Verſe: 

Aufopfern dich, du himmliſcher Gewinn, 
Dip, Engel, einer Buhlerin! u. f. w. 
(Bei Tied II, 241.) 























danke tauſendfach.“ Er bittet Merd, wenn er nicht über acht Tage . 
bei ihm fei, ihm bie verfprochenen Handſchriften, auch, wo mög- 
lich, das Kupfer zu ſchicken. Aber bald genug war er, wir miffen 
nicht beftimmt, wodurch, wahrſcheinlich durch Schulden, von Strafe, 
bung weggetrieben, in Darmftabt, und bald darauf in Weimar 
wo er gegen Ende März angefommen fein wird.‘ Damals lernte er 
auch wohl Goethes Mutter in Frankfurt kennen (oben S. 461). 
Merkwürdig find die Geftänpniffe von Lenz, der wohl fühlte, daß 
er ſich Merk gegenüber nicht überheben dürfe, über feine eigenen 
ſchriftſtelleriſchen Verſuche. „Meine Gemälde find alle noch ohne 
Stil, ſehr wild und nachläſſig aufeinander gefledt, haben bisher 
nur durch das Auge meiner Freunde gewonnen. Mir fehlt zum 
Dichter Muße und warme Luft und Glüdfeligleit des Herzens, 
das bei mir tief anf den Kalten Nefjeln meines Schickſals, halb 
in Schlamm verfunfen, liegt, und fi) nur mit Verzweiflung em- 
porarbeiten kann. Alles das muß gut fein, weil es mir in jenem 
geheimen Rath oben jo zugeſprochen ward. Ich murre nicht, habe 
aud nicht Urſach', weil ich alles das mir felber zugezogen. Biel- 
leicht fchreibe ich in dem erften Augenblid wahrer Erholung eine 
Katharina von Siena mit ganzem Herzen, bie ſchon in- meiner 
pia mater fertig, aber noch nicht gefchrieben iſt. Am Schluſſe 
spricht Lenz ſich unwillig über bie ganz ausgeglätteten neuitaliäni— 
ſchen Verſe aus, bie beſonders im „Merkur“ Mode geworben. 
„Sonſt liebe Wieland von Herzen wegen feiner Jugendſünden, und 
bitte mir fein Drama (Klementina von Porretta, vom Jahre 1760?) 
aus. Wohl ihm, wenn er mit Goethen zuſammenſchmilzt!“ 

Im Jahre 1775 hatte Lenz in Nachahmung Herder's ohne 
feinen Namen „Meinungen eines Laien, den Geiftlihen gewidmet,“ 


* Im Briefe von Goethe bei Wagner I, 98 iſt das Datum des 8. März 
irrig; es muß, wie fo häufig, ſtatt März Mai hergeſtellt werden. 

2 Auf dem von Tieck 1. CXXI mitgetheilten Zettel nennt Lenz unter 
feinen Werfen auch eine „Katharina von Giena“. In welcher Weife er 
das Lehen biefer Heiligen dramatiſch varzuftelfen verfuchte, läßt fih Taum 
erraten. Die Handfehrift ſcheint verfommen zu fein. 


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