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Friedrich Engels
Eine Biographie
Von
Gustav Mayer
Erster Band
Berlin
Verlag vonjulius Springer
1920
Friedrich Engels in seiner
Frühzeit
1820 bis 1851
Von
Gustav Mayer
Mit einem Bildnis
Berlin
Verlag von Julius Springer
1920
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.
Printed in German^
Meinem Vater
Vorwort.
Der Weltkrieg, den niemand so frühzeitig vorausgesagt, nie-
mand mit so wahren Farben im voraus hingemalt hatte wie Fried-
rich Engels, hing nur erst als eine Wolke, die sich nicht notwendig
entladen mußte, am Himmel, als der größere Teil des ersten Bandes
der Biographie, den ich hier der Öffentlichkeit übergebe, bereits auf
dem Papiere stand . Darauf hat die Weltkatastrophe , die unserer ganzen
Generation Schicksal wurde, auch in das Schicksal dieses Buches
eingegriffen. Sie hat der Arbeit des Verfassers Unterbrechungen von
Jahren und Monaten aufgezwungen, sie hat ihn genötigt, ganze
Abschnitte aufzulösen und wieder neu zu gestalten, weil die unge-
heure Aktualität, welche die Engelsschen Gedanken mittlerweile
gewonnen hatten, in der ersten, in friedlicheren Zeiten entstande-
nen Niederschrift nicht überall zu ihrem Recht gekommen war.
Sorgfältig vermieden wurde freilich auch jetzt, in die Darstellung
auf eine dem Historiker nicht zukommende Weise Gesichtspunkte
hinein zu interpretieren, die erst einer späteren Zeit angehören.
In der sicheren Hoffnung, daß mein Buch bald nachfolgen
werde, veröffentlichte ich schon 1913 mit einigen einleitenden
Bemerkungen in der Neuen Rundschau Engels wichtige Jugend -
briefe an die Brüder Graeber und 1914 in dem Archiv für Geschichte
der Arbeiterbewegung und des Sozialismus den kleinen Aufsatz:
Ein Pseudonym von Friedrich Engels. Über diese Veröffentlichungen
sagt der nun heimgegangene Franz Mehring in seiner Marx-Bio-
graphie, daß sie den jungen Engels sozusagen neu entdeckt hätten.
Und wirklich möchte die Behauptung nicht übertrieben sein, daß
bis zu den glücklichen Funden, von denen ich dort zuerst Kenntnis
gab, nur ein paar dürre Daten und wenige lose, nicht weiter nach-
prüfbare Vermutungen über den Entwicklungsweg vorlagen, den
Engels genommen hatte, bis er durch seine Beiträge zu den Deutsch-
Französischen Jahrbüchern in die dauernde Verbindung mit Marx
eintrat. Weil selbst solchen Männern, die Jahrzehnte hindurch im
täglichen Verkehr mit dem älteren Engels gestanden hatten, alles
Material fehlte, war der Versuch niemals unternommen worden,
den scheinbar endgültig verschütteten Weg auszugraben, den
VIII Vorwort.
Engels in seiner ,, prähistorischen" Epoche selbständig zurück-
gelegt hatte.
Daß ich es überhaupt versuchen durfte, diese Biographie in
Angriff zu nehmen, verdanke ich an erster Stelle der Familie, aus
der Friedrich Engels hervorgegangen ist und von der ihm wesent-
lichere Züge überkommen sind, als die oberflächliche Kunde, die
man bisher besaß, vermuten ließ. Seitdem ich mit meinem Plan
zum ersten Mal an sie herantrat, habe ich bei Herrn Dr. med. Wal-
ter Engels in Wandsbek und Herrn Kommerzienrat Hermann
Engels in Engelskirchen, den Neffen, sowie bei Herrn Emil Engels
in Engelskirchen, dem Großneffen Friedrich Engels, eine verständ-
nisreiche, nachhaltige und ergiebige Unterstützung gefunden.
Besonderen Dank schulde ich ferner Herrn Eduard Bernstein; er
hat mir aus dem Engels-Nachlaß, dessen einziger überlebender
Verwalter er seit Bebeis Tode ist, wichtige ungedruckte Dokumente
und Briefe zur Benutzung überlassen. Auch ermöglichte er es, dem
Leser einen zweiten abschließenden Band dieser Biographie in Aus-
sicht zu stellen, da er mir die unentbehrliche volle Benutzung des
Engelsschen Nachlasses dafür zugesagt hat. Dem Vorstand, den
die sozialdemokratische Partei vor ihrer Spaltung hatte, verdanke
ich die Erlaubnis zur Benutzung des Marxschen Nachlasses und
anderer handschriftlicher Bestände des Partei-Archivs, der Direk-
tion des Preußischen Staatsarchivs die Personalakten des Ministe-
riums des Inneren und des Berliner Polizeipräsidiums über Engels
und Marx sowie mancherlei andere Archivalien.
Lankwitz, Im Juni 1919.
Gustav Mayer.
Inhalt.
Seite
I. Heimat, Familie, Jugend i
II. Religiöse Kämpfe 19
III. Politische Anfänge 35
IV. Bei den Junghegelianern in Berlin 58
V. Hinwendung zum Kommunisrr.us 104
VI. Politische und soziale Lehrzeit in England 124
VII. Die Arbaiten aus der Zait des ersten englischen Aufenthalts . . 158
VIII. Das Bündnis mit Marx. Die Lage der arbeitenden Klasse in Eng-
land. Kommunismus in der Heimat 182
IX. Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie 234
X. In Belgien und Frankreich. Kommunistenbund und Komm^u-
nistisches Manifest 262
XI. In der deutschen Revolution. Bei der Neuen Rheinischen Zeitung.
In Frankreich und der Schweiz 311
XII. Der Ausgang der deutschen Revolution. Die Hoffnung auf Ungarn
und Frankreich. Im revolutionären Elberfeld. Bei der Reichs-
verfassungskampagne in der Pfalz und in Baden 345
XIII. Reaktion und Prosperität. In London und Manchester. Die
Beiträge zur Revue der Neuen Rheinischen Zeitung. Das Zir-
kular des Kommunistenbundes. Rückkehr ins Kontor 374
Kapitel I.
Heimat, Familie und Jugend.
Leider sind die Zeiten dahin, wo es noch nicht zu den Selten-
heiten gehörte, daß das gleiche Geschlecht durch viele Generationen
mit dem gleichen Boden verwachsen blieb, in dem der einzelne
mit seinem Blut und seinen Instinkten, mit seinem Charakter wie
mit seinen Erinnerungen fest wurzelte. Aber dem Manne, dessen
Entwicklung in diesem Buche darzustellen ist, war solches Glück
noch beschieden. Die Grundlage seines Wesens hatten schon Väter
und Vorväter unter dem Segen der Heimat und des Stammes so
fest ausgeprägt, daß er sie mit selbstverständlicher Sicherheit als
ein nie in Zweifel gezogenes Gut besitzen durfte. Und diese Ge-
sundheit des Willens und diese Wurzelhaftigkeit des Charakters
überdauerten jene Stürme, die schon den Jüngling für immer von
dem Boden fortführten, aus dem seine Familie seit alters ihr leib-
liches und geistiges Brot gewonnen hatte und bis heute zu gewinnen
fortfährt.
Es war natürlich, daß sich der niederfränkische Volkscharakter
auf dem Gebirge und in den Nebentälern des Rheins in größarer
Unvermischtheit erhalten konnte als drunten in der reichen Ebene
des Stromes an der Jahrtausende alten Völkerstraßs, wo der starke
keltische und romanische Einschlag ein begabtes und lebensfrohes
aber auch von Haltlosigkeit nicht freies Mischblut hatte entstehen
lassen. Dar niederbsrgische Stamm, dessen Sohn Friedrich Engels
ist, unterscheidet sich von den eigentlichen Rheinländern durch
eine größere Nüchternheit und Arbeitsamkeit, aber auch durch
einen zuverlässigeren Charakter und durch einen stärkeren Un-
abhängigkeitstrieb. Das Gemüt macht sich bei ihm seltener geltend
als die Reflexion; seelisch nicht schnell aus dem Gleichgewicht
zu bringen, ist er auch im Denken konsequent und empfindet
leicht ein Bedürfnis nach Systematisierung seiner geistigen Inhalte.
Was unsolide und flitterhaft ist, das begegnet bei ihm keinem An-
klang — von den Künsten liebt er höchstens die Musik — , aber
seine Wesensart ist aus einem Guß und genau weiß er, was er will
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I I
2 Heimat, Familie und Jugend.
und Weis er nicht will. Wenn er an Dickköpfigkeit nicht hinter
seinem westfälischen Nachbarn zurücksteht, so hat er doch vor
dem Niedersachsen eine größere Tatbereitschaft, geistige Beweg-
lichkeit und Ungebundenheit voraus, wogegen er wieder von Natur
demokratischer ist und zu einer gewissen Roheit leichter neigte
Eine Bevölkerung von solcher Veranlagung bot den beiden
großen sozialen Mächten, die in Friedrich Engels Jugendzeit sein
heimisches Wuppertal beherrschten, einen Menschenstoff dar, wie
die ihnen innewohnenden Gestaltungstendenzen ihn brauchten.
Durch Lage und Klima begünstigt fand die eben in die kapitalistische
Betriebsweise hinüberwachsende Textilindustrie hier einen zu-
verlässigen, von konservativen Kräften beherrschten Arbeiter-
stamm vor, während die grüblerische aber dabei unphantastische
Geistesart dem Pietismus kalvinistischer Färbung, der in Elberfeld
herrschte, aber auch in Barm.en den Ton angab, und der demokra-
tische Zug im Volkstum der presbyterischen Kirchenorganisation
entgegenkamen. Die neuere Forschung hat in der strengen Prä-
destinationslehre die Brücke aufgefunden, welche diese beiden dem
Anschein nach durch einen Abgrund getrennten Lebenssphären
mit einander in fortlaufender Verbindung hielt. Auch Friedrich
Engels, der diesen Zusammenhang in seiner Jugend erlebte, wollte
späterhin in der Gnadenwahl den religiösen Ausdruck der Tatsache
entdecken, ,,daß in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg cder
Bankerott nicht abhängt von der Tätigkeit oder dem Geschick der
einzelnen, sondern von Umständen, die von ihm unabhängig sind."
Di3 Prädestinationslehre entrückt bekanntlich die Erlösungs-
möglichkeit der Seele dem Einfluß des Glaubens oder des Gott wohl-
gefälligen Wandels des einzelnen; eine dem Menschen schlechthin
unbegreifliche Macht hat im voraus über seine Erwählung oder
ewige Verwerfung verfügt. Trotzdem ist eine fatalistische Hingabe
an den unabänderlichen Ratschluß Gottes streng verboten; ein
jeder soll an seinen Gnadenstand glauben und alle Anfechtungen
des Zweifels zurückweisen. Der sicherste Weg aber, der zu dieser
Selbstgewißheit führt, ist die rastlose, stetige, systematische welt-
liche Bsrufsarbeit. Sie ist das wirksamste asketische Mittel, das
der Kalvinismus kennt, und der Erfolg, den sie einträgt, soll in dem
Gläubigen das Gefühl stärken, daß er zu der Schar der Erwählten
gehöre. Klar zu Tage liegt die ungeheure praktische Wirkung einer
solchen Hineinverlegung der Askese in die Berufstätigkeit, die da-
durch zum ersten Mal eine religiöse Wertung erfährt, und ihr för-
dernder Einfluß auf die Entwicklung des modern-kapitalistischen
Geistes. Wo aber allein die methodische Berufsarbeit zur Gewiß-
heit des Gnadenstands führt, da ist Zeitvergeudung eine der schlimm-
Prädestinationslehre und Kapitalismus. 3
sten Sünden, da werden freie Geselligkeit und Kunstgenuß schon
deshalb verworfen, weil sie der Arbeit, die dem Ruhme Gottes
dient. Stunden entziehen. Tatsächlich petitionierten noch im An-
fang des neunzehnten Jahrhunderts die evangelischen Gemeinden
in Elberfeld-Barmen bei der Regierung des Herzogtums Berg gegen
die Errichtung eines Theaters in Elberfeld mit der Begründung,
daß der National-Fleiß, der National-Wohlstand und eine National-
Schaubühne im Wuppertal nicht nebeneinander bestehen könnten.
Dieweil aber die puritanische Lebensauffassung bloß den Genuß
und nicht den Erwerb des Reichtums verbot, so war in der Praxis all
ihr Augenmerk unablässig auf dessen Mehrung gerichtet, so be-
günstigte gerade diese die ganze Lebensführung durch ringende
und regelnde Frömmigkeit die Ausbildung eines virtuosen kapitali-
stischen Erwerbssinns, der, einmal vorhanden, auch dann nicht
nachließ, wenn sich der starre Prädestinationsglaube, durch den er
groß geworden war, unter dem Einfluß neuer Zeitströmungen
abschwächte.
Ursprünglich hatte ja der Pietismus dem religi sen Erleben
des <■ inzelnen wieder zu seinem Rechte verhelfen, durch eine stärkere
Betonung des christlichen Wandels Glauben und Leben inniger ver-
schmelzen wollen. Als aber der Geist der Aufklärung jugendkräftig
den Kontinent durchbrauste, konnte ihm der Pietismus, den auf
deutschem Boden keine nennenswerte separatistische Kirchen-
bildung stützte, nicht erfolgreich widerstehen. Er erstarkte erst
wieder, nachdem der Jammer der Fremdherrschaft den religiösen
Drang des Volkes zu neuem Leben erweckt hatte und er nun
der siegreichen Restauration dazu dienen sollte, den Mächten der
Vergangenheit ihre ins Wanken geratene Herrschaft noch einmal
zu befestigen. Während also der ältere Pietismus im Karrpf gegen
die Orthodoxie aufgekommen war, ging der jüngere nunmehr mit
dieser ein Bündnis ein, um die Massen des Volks zum positiven
Christentum zurückzuführen. Am leichtesten wurde es in den von
früher her übrig gebliebenen kleinen pietistischen Bezirken des
Wuppertals, Westfalens, Württerrbergs der etwas modernisierten
Orthodoxie die Herrschaft des starren Buchstabenglaubens auf das
persönliche Erlebnis der Bekehrung durch die Bibel wieder auf-
zubauen. Was den neuen Bundesgenossen vorschwebte, war die
allgemeine Wiederunterwerfung des Lebens und Denkens einer
seit lange schon verweltlichten Gesellschaft unter den Geist des
strengsten Christentums. Ließ sich das Reich Gottes für die Ge-
samtheit nicht verwirklichen, so sollte in den kleinen Kreisen der
Erwählten der wahre Geist des Glaubens um so reiner zum Ausdruck
kommen. Man begreift, daß für solche Bestrebungen die Prädestina-
4 Heimat, Familie und Jugend.
tionslehre den günstigsten Boden und die im Wuppertal eingebür-
gerte presbyterische Gemeindeorganisation eine besonders passende
Form darbot. Mochte der deutschen theologischen Wissenschaft,
die sich dem Einfluß der klassischen Literatur und der idealistischen
Philosophie nicht hatte entziehen können, dieser stramme ultra-
konservative Supranaturalismus, der jede Fühlung mit dem Zeit-
geist verabscheute und für den Lessing und Herder nicht gelebt
hatten, als rückständig gelten, hier im Wuppertal behielt er trotz-
dem, von den Einheimischen kaum ernsthaft angefochten, nicht
bloß das Heft in der Hand, sondern er spann, seitdem Friedrich
Wilhelm Krummachers machtvolle Persönlichkeit sein Halt und
Hort geworden war, die eigenen Fäden sogar in die Ferne hinaus.
Bei keinem der anderen Männer, die in bestimmender Weise
der politischen Arbeiterbewegung Deutschlands Inhalt und Rich-
tung gegeben haben, deuten auf den ersten Blick Herkunft und Um-
gebung so wenig auf ihre historische Laufbahn hin wie bei Friedrich
Engels. Zwar entstammte auch J. B. von Schweitzer nicht gleich
Marx und Lassalle einer in Staat und Gesellschaft zurückgesetzten
Bevölkerungsschicht. Aber diesen Sohn einer geadelten reichs-
städtischen Patrizierfamilie, dem ein hegendes Elternhaus nie-
mals beschieden gewesen war, brachten Mittellosigkeit und eigene
Verfehlung frühzeitig um die sozialen Vorteile jener bevorzugten
Klasse, in die er hineingeboren war. Was der Jugend Schweitzers
fehlte: die sorgsame, Verständnis suchende Liebe der Eltern zu ein-
ander und zu ihren Kindern, der gefestigte und noch sich aus-
breitende Wohlstand, der ernste sittliche Geist und die Verinner-
lichung der von den Vorfahren übernommenen religiösen Formen,
alle diese menschlichen und bürgerlichen Güter hatten sich bei
den Engels von Generation zu Generation fortgepflanzt, und man
betrachtet sie hier noch heute als Tugenden, die mit dem Familien-
geist unlöslich verwachsen wären.
Schon um das Ende des sechzehnten Jahrhunderts läßt sich
die Familie im Wuppertal nachweisen, und wenn die Liebe zur
Scholle, wie die Dichter behaupten, auf Treue als Grundgefühl
schließen läßt, so mußte dieser Charakterzug seit Urvätertagen
in ihr heimisch sein. Die frühesten Ahnen, von denen die sorg-
sam gepflegte Engelssche Tradition erzählt, mögen kleine Frei-
bauern gewesen sein, denn eine hörige Landbevölkerung hatte
es ja hier im Bergischen niemals gegeben. Von dem Ertrag ihrer
kleinen Landwirtschaft werden der Familie keine reichlichen Güter
zugewachsen sein, und so wird sie frühzeitig, wie es des Landes
Brauch war, ihre Wiesen für das Bleichen fremder Garne her-
gegeben haben. Von hier war es bei dem Unternehmungssinn,
Anfänge der Familiengeschichte. 5
der den Engels im Blute steckte, nur ein Schritt, daß sie sich
selbst auf den Handel mit Garnen verlegten. Den Wohlstand der
Familie begründete in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr-
hunderts Johann Caspar senior, der Urgroßvater unseres Friedrich
Engels, der gleich seinem Vater Benjamin in der Jugend noch
,,mit der Kiepe auf dem Rücken" gegangen war. Mit einem Kapital
von zirka 25 Talern soll er seinen kleinen Garnhandel begonnen
haben; aber er brachte es mit seinem rastlosen Geschäftsgeist dahin,
daß er eine mit Bleicherei und Bandwirkerei verbundene Spitzen-
fabrik errichten konnte, die bei seinem Tode bereits zu den großen
industriellen Betrieben Barmens gehörte. Zeitlebens bewahrte
sich Johann Caspar ein warmes, im Geiste der Zeit und der Um-
gebung natürlich religiös und patriarchalisch getöntes Verantwort-
lichkeitsgefühl für jene christlichen Mitmenschen, deren Hände
Arbeit ihm den eigenen Besitz mehren half. Noch als 1846 F. Gustav
Kühne ,,das deutsche Manchester** besuchte, waren seine Verdienste
hier so lebendig geblieben, daß der jungdeutsche Reiseschriftsteller
auf sie einen Hymnus anstimmen konnte, der sich freilich im Un-
terton bereits gegen den mißratenen Urenkel, den Kommunisten,
richtete. Vom alten Engels erzählt Kühne, daß er hier zuerst auf
den Gedanken gekommen sei, den herumziehenden, heimat- und
besitzlosen ,, Fabrikpöbel** seßhaft zu machen und ihn nach dem
Maß seines Fleißes und seiner Führung zu Hauseigentümern mit
Land und Gartenstück dadurch heranzubilden, daß er ihm als Er-
sparnis zum Erwerb des Hauses vom Wochenlohn einen Betrag
abzog. Erwägen wir, wie sehr das Trucksystem und alle anderen
Auswüchse der zum Großbetrieb sich wandelnden Manufaktur viel
später noch in Blüte standen, so verkleinern wir das soziale Verdienst
Johann Caspars noch nicht durch die Feststellung, daß er zugleich
den eigenen Vorteil wahrnahm, wenn er sich auf diese Weise einen
sicheren und auf den Arbeitsherrn angewiesenen Arbeiterstamm
heranbildete.
Und was der Alte geschaffen hatte, das wahrten und mehrten
in umsichtiger, fleißiger, nüchterner Arbeit Söhne und Enkel. Jene
Gegend des Bruchs, dieses aus Bauerngehöften zu einer besonderen
Gemeinde zusammengewachsenen Teils Unterbarmens, wo sich,
von Arbeiterhäusern, in denen bis in die Nächte der Webstuhl klap-
perte, umgeben, das Familienwohnhaus der Engels erhob, wurde
noch vor fünfzig Jahren im Volksmunde der Stadt, deren Bevölkerung
sich durch ihren niederdeutschen Charakter von der rheinischen
des verschwisterten Elberfeld deutlich abhob, als Engels Bruch
bezeichnet. Hier herrschten Johann Caspar junior und Friedrich,
unseres Engels Großvater und Vater, mitsamt ihren Brüdern in
6 Heimat, Familie und Jugend.
patriarchalischem Geist über ihre Arbeiter. Johann Caspar II. und
ein kinderloser Bruder, die in friedlichem Einvernehmen die Firma
Caspar Engels und Söhne betrieben, fügten zu der Anfertigung von
Kanten, Langillen usw. noch die von seidenen Bändern und einen
Großhandel in Seide. Dem zweiten Johann Caspar werden von
der Familientradition neben bedeutenden kaufmännischen Fähig-
keiten auch feiner Takt und echte Herzensbildung nachgerühmt,
die ihm bei seinen mannigfachen kirchlichen und bürgerlichen
Ehrenämtern zugute kamen. Das soziale Pflichtgefühl des Vaters
scheint bei ihm in noch verstärktem Maße vorhanden gewesen zu
sein. Wir wissen, daß er schon 1796 für die Kinder seiner Arbeiter
eine Schule errichtete und daß er bei der Dürre des Jahres 1816
in Barmen an der Spitze jenes ,, Kornvereins** stand, der für die
notleidende Bevölkerung billige Lebensmittel beschaffen wollte.
Durch seine Frau, die aus einer ursprünglich holländischen Familie
stammte und als eine feine aber dauernd kränkliche Dame geschil-
dert wird, gelangte in den kräftigen Engelsschen Stamm ein bei ihm
bis dahin nicht bemerkter sensitiver Einschlag, der sich in den Nach-
kommen hie und da in Epilepsie, vorwiegender aber in künstleri-
sches Interesse umsetzte.
Nach des jüngeren Johann Caspar Tode ging die Firma auf
seine drei Söhne über, die sich jedoch weniger gut als die vorher-
gehende Generation vertrugen. Deshalb einigten sich Friedrich
Engels und seine passiver als er veranlagten Brüder dahin, das
Los darüber entscheiden zu lassen, wer von ihnen das Geschäft
fortsetzen solle. Als das Los gegen Friedrich entschied, begründete
dieser, während die alte Firma allmählich einschlief, zuerst 1837
in Manchester und dann 1841 auch in Barmen und Engelskirchen,
gemeinsam mit zwei Brüdern Ermen die an dem letzteren Orte
heute noch bestehende Baumwollspinnerei Ermen & Engels. Die
englische Firma, die heute Ermen & Koby heißt und zu der die
Familie keine Beziehungen mehr hat, ist seither ganz anglisiert.
In einer Zeit starker industrieller Entfaltung und sich drängender
Erfindungen kam es dem älteren Friedrich zugute, daß sein vom
Vater ererbter großzügiger Unternehmungsgeist sich mit einem
spezifisch technischen Geschick, das sich dann auch auf unseren
Friedrich Engels übertragen hat, paarte. Unter erheblichen Schwie-
rigkeiten gelang es ihm, sein deutsches Unternehmen, das er trotzdem
noch fast zwanzig Jahre hindurch nur von den Überschüssen des
englischen durchhalten konnte, mit den überlegenen englischen
Maschinen, die damals von der heimischen Konkurrenz noch nicht
verwandt wurden, in Betrieb zu setzen.
Nicht bloß den tätigen und lebensvollen Geist, den hellen schar-
Großeltern und Eltern. y
fen und kritischen Verstand, sondern auch das liebenswürdige und
fröhliche Naturell, das ihm nachgerühmt wird, vererbte Friedrich
Engels sen. auf seinen gleichnamigen ältesten Sohn, den ihm, dem
Vierundzwanzigjährigen, am 28. November 1820 seine um ein Jahr
jüngere Gattin schenkte. Auch Elise Engels war von regem Geist und
leichtem Auffassungsvermögen. Aber bei ihr gesellte sich dazu noch
eine starke Empfänglichkeit für Humor, die so ausgesprochen blieb,
daß ihr noch als alter Frau beim Lachen die Tränen aus den Augen
liefen. Sie entstammte einer mit Glücksgütern nicht eben gesegne-
ten Familie von Philologen, in der zwar nicht nach dem freieren
Sinn unserer klassischen Dichter und Philosophen, sondern in der
Art jenes pietistischen Christentums, dem sie wie die Familie
Engels in landesüblicher Weise ergeben war, geistige Güter immer-
hin höher geschätzt und liebevoller gepflegt wurden als in den
Barmer Kaufmannshäusern. Ihr Vater, der Rektor van Haar in
Hamm, nach seinen Briefen ein Original, das sich gegen jede Un-
gerechtigkeit mit starkem Temperament aufbäumte, war mit einer
stolzen, klugen und selbstbewußten Westfälin, einer Schwester
des Direktors Snethlage vom Joachimsthalschen Gymnasium in
Berlin verheiratet. In dem Pensionat, da- der Schulmann dort
unterhielt, verweilte Friedrich Engels Mutter während der Zeit
der Bafreiungskriege. Obgleich van Haar ein kirchlich gesinnter
Herr war, der sich mit Vorliebe apokalyptischen Betrachtungen
hingab, so konnte er nicht verhindern, daß seine zwei jüngeren
Töchter den Weg zu freieren religiösen Anschauungen fanden und
in diesem Sinne auf Neffen und Nichten einwirkten, wenn sie, was
häufiger vorgekommen sein soll, die Mutter, die zeitweise kränkelte,
bei ihnen vertraten. Aber die Familientradition bestreitet, worauf
es uns doch allein ankommen könnte, daß diese Tanten auch dem
ältesten Sohne der Schwester näher gestanden hätten.
Dem Großvater van Haar verdankte der junge Friedrich, wie
wir aus einem an diesen gerichteten Gedicht des Dreizehnjährigen
erfahren, die erste Kenntnis der Sagen des klassischen Altertums.
Von Theseus und vom hundertäugigen Argus, vom Minotauros und
vom goldenen Vlies, von Kadmos und von Herkules erzählte er dem
aufhorchenden Knaben, der sich von dem alten Schulmann auch gern
helfen ließ, ,,wenn's mit den Arbeiten gehapert". Dennoch hat die
griechische Sagenwelt Gemüt und Phantasie des Kindes unver-
gleichlich weniger beeinflußt als die deutsche, in der ihm, besonders
in der rheinischen, Gestalten begegneten, mit denen er sich bluts-
verwandt fühlte.
Als Rektor van Haar im Jahre 1835 hoffnungslos erkrankte,
schrieb der Schwiegersohn aus Barmen an seine in Hamm weilende
8 Heimat, Familie und Jugend.
Gattin: ,,Der gute Vater ist in Gottes Hand; wohl ihm und uns, daß
wir ihn so ruhig dem himm.Hschen Vater überlassen können." Das
feste Bauen in Gottes Ratschluß, das sich in solcher Wendung kund-
gibt, entsprach dem streng religiösen Geist, der sowohl bei den
Engels wie bei den Familien, mit denen sie sich zu verschwägern
pflegten, durch die Generationen herrschend blieb.
Der Pietismus hatte im Wuppertal unter dem Einfluß eifer-
voller Prediger, die hier ein höheres Ansehen genossen als irgend-
wo sonst in deutschen Landen, zu Übertreibungen geführt, die
einer Richtung, welche auf eine Verinnerlichung des religiösen
Lebens ausging, nicht anstanden. Besonders die liberale Zeit-
schriftenliteratur wimmelt in Friedrich Engels Jugendzeit förmlich
von Klagen über Ketzerriecherei und Unduldsamkeit gegen Anders-
denkende und Andersgläubige, mochten es Katholiken oder selbst
Lutheraner sein, über das selbstgefällige, unduldsame, heuchlerische
Treiben vieler ,, Feinen", über die Ächtung von Kunst und Wissen-
schaft, über die Splitterrichterei, die hier im ,,Zion des Obskurantis-
mus" gang und gäbe wären. Da mochten manche Übertreibungen
mit unterlaufen, und das Licht, das neben dem Schatten stand,
geflissentlich übersehen werden. Die Tatsache aber bleibt bestehen,
daß die gesunde Frohnatur Friedrichs bereits frühzeitig, anfänglich
unbewußt, später bewußter wie sich zeigen wird, unter einer wei-
teren Umgebung litt, die das Wort Vergnügen zu den heidnischen
Gotteslästerungen zählte, in der die alten deutschen Volkslieder,
an denen die Seele des Knaben hing, keinen Kurs hatten, wo aus
Weberhäusern und Werkstätten immer nur geistliche Lieder auf
die Straße hinausklangen und ein frisches fröhliches Volkstreiben,
wie es ihm bei kurzen Ausflügen an den Rhein entgegengetreten
war, nirgends aufkommen durfte.
Nun umfing ihn zwar auch im Elternhause jene von den Ahnen
übernommene pietistisch gefärbte streng religiöse Lebensauffas-
sung, aber hier verband sich ihr eine so gediegene und nüchterne
kaufmännische Gesinnung, daß übergroße Gefühlsseligkeit oder
gar Selbstbespiegelung neben der durch die Religion gebotenen und
dem Familiengeist gründlich eingeprägten berufsheiligen Betrieb-
samkeit keinen Platz fanden. Gewiß war der Vater Friedrichs ein
dogmatisch orthodox und konservativ gerichteter Mann, der die
höchsten Ehrenstellen in seiner Kirchengemeinde, die ihn zu ihren
Mäzenen rechnen durfte, mit Recht bekleidete und seine Kinder
in dem strengen, buchstabenmäßigen Bibelglauben erziehen ließ,
dem alle Pastoren und Lehrer des Wuppertals ausnahmslos huldigen
mußten. Aber er war in der Welt herumgekommen, hatte mit
kritischem Blick in England, wohin er oft ging, und anderswo Um-
Pietismus und Elternhaus. C^,
schau gehalten und war überdies von zu selbstherrlicher Natur, als
daß er sich von engherzigen Vorurteilen, die er als solche durch-
schaute, abhängig gemacht hätte. Wie wenig die Mucker diesen
begabten Geschäftsmann und Organisator zu den Ihrigen rechnen
konnten, sieht man auch daran, daß er, musikalisch wie fast alle
Mitglieder der Familie, selbst Fagott und Cello spielte, Kammer-
musikabende in seinem Hause duldete, zur weltlichen Literatur
der Zeit in einem leidlich unbefangenen Verhältnis stand und außer-
halb der Heimat sogar das Theater besuchte. Und ebensowenig
wie der Vater war die Mutter Friedrichs noch eigentliche Pietistin.
Wir erfahren von ihr, daß sie dem Sohne, als er zwanzig Jahre war,
zu Weihnachten Goethe schenkte und daß sie, die so gern lachte,
sich im Alter am liebsten an Fritz Reuters köstlichem Humor
erbaute.
Über die eigentlichen Kinderjahre Friedrichs besitzen wir bloß
spärliche Kunde. Er war der älteste von acht Geschwistern, unter
denen ihm, wie er ihr in seinen Briefen bezeugt, die um drei Jahre
jüngere Schwester Marie am nächsten stand. Barmen war damals
erst eine Stadt von einigen zwanzigtausend Einwohnern, der man
noch deutlich ihre Entstehung aus der Vereinigung mehrerer ur-
sprünglich selbständiger Ortschaften anmerkte. Noch wurde das
Stadtbild nicht so von den Fabrikschloten beherrscht, daß nicht
bald ein Stückchen Fluß, bald eine Reihe Gärten dicht an der Straße,
bald eine frische grüne Bleiche heiter aus dem Häuserkomplex
hervortraten. Auch zu dem an holländische Bauten erinnernden
einfachen aber doch patrizierhaft geräumigen Hause der Engels
gehörte ein großer Garten mit herrlichem alten Baumbestand, in
dem die Kinderschar des angesehenen Fabrikanten am liebsten
ihr fröhliches Wesen trieb. Daß Friedrich von früh auf gut und
hilfsbereit war und öfters all seine kleinen Ersparnisse für die
Armen hingab, wird in den Aufzeichnungen von Familienmitglie-
dern hervorgehoben. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr be-
suchte er die Realschule in Barmen, die damals noch Stadtschule
hieß und, wie er selbst hernach erzählt, ganz in den Händen eines
beschränkten, knickerigen Kuratorium.s lag, das meist nur Pietisten
zu Lehrern wählte, von denen einer, wir wir auch wieder von Engels
selbst hören, einem Quartaner auf die Frage, wer Goethe gewesen
sei, die Antwort gegeben haben soll: ein gottloser Mann. Das hin-
derte jedoch nicht, daß Friedrich hier den Grund legte zu den hüb-
schen Kenntnissen in Physik und Chemie, die er später besaß und
daß bei dem tüchtigen Lehrer des Französischen, dem Dr. Philipp
Schiff lein, seine ungewöhnliche Sprachbegabung zum ersten Mal
in gute Zucht kam. Das städtische Gymnasium in Elberfeld, auf
10 Heimat, Familie und Jugend.
das er danach übersiedelte, war Eigentum der dortigen reformierten
Gemeinde; es galt als eines der besten der Monarchie, ob leich den
verständnislosen Scholarchen nachgesagt wurde, daß sie bei der
Besetzung der Lehrerposten einem reformierten Stümper vor einem
tüchtigen Lutheraner oder gar Katholiken den Vorzug gaben. Doch
die neue Schule lag von dem Hause der Engels in Unterbarmen
recht weit entfernt, und die Eltern wollten ihren Friedrich den
weiten Weg nicht zweimal des Tages zurücklegen lassen. Weil
überdies die Erziehung des glänzend begabten aber auch eigen-
willigen Sohnes ihnen Schwierigkeiten zu machen begann, so ent-
schlossen sie sich um so eher, ihn bei einem Lehrer jener Anstalt,
einem Altpreußen, klassischen Philologen und Hebraiker, an dessen
lutherischem Bekenntnis sie keinen Anstoß nahmen, dem Professor
Hantschke, in Pension zu geben. Ein hübsches Schlaglicht auf diese
Schwierigkeiten, die der noch nicht fünfzehnjährige Friedrich seinen
Eltern, die ihn natürlich ganz im herkömmlichen Geist erziehen
wollten, schon damals bereitete, wirft der uns zufällig erhaltene
Brief des Vaters an die in Hamm bei ihrem sterbenden Vater weilende
Mutter vom 27. August 1835: ,, Friedrich hat mittelmäßige Zeug-
nisse in voriger Woche gebracht. Im Äußeren ist er, wie Du weißt,
manierlicher geworden, aber trotz der früheren strengen Züchti-
gungen scheint er selbst aus Furcht vor Strafe keinen unbedingten
Gehorsam zu lernen. So hatte ich heute wieder den Kummer ein
schmieriges Buch aus einer Leihbibliothek, eine Rittergeschichte
aus dem dreizehnten Jahrhundert, in seinem Sekretär zu finden.
Merkwürdig ist seine Sorglosigkeit, mit welcher er solche Bücher
in seinem Schranke läßt. Gott wolle sein Gemüt bewahren, oft wird
mir bange um den übrigens trefflichen Jungen. Gestern erhielt
ich durch Friedrich einen Brief von Dr. Hantschke vom 22. August,
den er wohlweislich so spät erst an die Mägde gab, daß er mir erst
um V29 Uhr abends zukam. Wahrscheinlich hat er ihn also schon
am Sonntage gehabt. Dr. Hantschke schreibt mir, daß ihm das
Anerbieten gemacht werde, zwei Pensionäre ins Haus zu nehmen;
daß er aber dieses ablehnen werde, falls wir vorzögen, Friedrich
länger als Herbst bei ihm zu lassen; daß Friedrich fortwährend der
Aufsicht bedürfe, daß der weite Weg seinen Studien hinderlich
sei pp. Ich habe ihm gleich geantwortet, daß ich ihm sehr danke,
daß er mir bsi dem vorteilhaften Anerbieten dennoch die Wahl lasse
und ich ihn bäte den Friedrich ferner bei sich zu behalten, daß er
mich aber durch Mitteilung seiner desfalsigen Bedingungen ver-
pflichten werde. Du wirst es so mit mir gewiß auch fürs beste hal-
ten. Auf Geld dürfen wir bei dem Wohle des Kindes nicht sehen,
und Friedrich ist so ein eigentümlicher beweglicher Junge, daß
Seelenleben der Kindheit, II
eine abgeschlossene Lebensart, die ihn zu einiger Selbständigkeit
führen muß, für ihn das beste ist. Noch einmal der liebe Gott wolle
den Knaben in Seinen Schutz nehmen, damit sein Gemüt nicht
verderbt werde. Bis jetzt entwickelt er eine beunruhigende Gedan-
ken- und Charakterlosigkeit, bei seinen übrigen erfreulichen Eigen-
schaften."
Ein ahnungsvolles Bangen um die Zukunft des ältesten Sohnes,
dessen große Begabung er sieht, aber dessen Wesensart er bereits
jetzt mit den ungeschriebenen Gesetzen des frommen und wohl-
geordneten Hauses im Widerspruch zu empfinden scheint, spricht
aus diesen besorgten Wendungen des Vaters, die gleichzeitig die
Mutter zu beschwichtigen suchten. Noch mochte es sich, wie bei
den Rittergeschichten, die der in der Schule herrschende pietistische
Geist verpönte, um Kleinigkeiten handeln. Aber wie lange noch?
und tiefe Gegensätze in Lebensauffassung und Weltanschauung
taten sich auf und entfremdeten für immer wenn auch vielleicht
nicht in den Herzen so doch in den Gesinnungen Vater und Sohn.
Vorläufig freilich lag dem Knaben bei aller kindlich unbewußten
Auflehnung gegen erstarrte Formen, deren Daseinsberechtigung
sich ihm nicht erschließen wollte, noch der Gedanke fern, die Be-
friedigung für die Bedürfnisse, die sich in seiner Seele unklar an-
kündigten, außerhalb der Sphäre jener christlichen Ideenwelt zu
suchen, die hier in den Hochburgen des Pietismus jede einzelne
Richtung des Lebens durchdrang und die ihn auf Schritt und Tritt
umgab. Es liegen von ihm Äußerungen darüber vor, daß er schon
als Sekundaner, mit gleichgesinnten Freunden oder allein, in dem
Oppositionsgeist, den bei der Jugend zu weit, reic ender Zwang so
leicht erzeugt, sich abgequält hat, zwischen menschlicher Willkür
und wahrem göttlichem Gebot die Grenze zu finden. Im Familien-
kreise fühlte sich sein tieferes Innenleben vereinsamt und auf sich
selbst zurückgewiesen: einer alten Hausgenossin ist im Gedächtnis
geblieben, daß er einmal am hellichten Tage mit der Laterne des
Diogenes erschienen sei und nach Menschen gesucht habe. Während
des Konfirmandenunterrichts ist der Sechzehnjährige dann durch
eine Zeit tiefster Gläubigkeit hindurchgegangen, hat noch einmal
alle Zweifel, die sich in seiner Seele einnisten wollten, niederge-
kämpft, seine Sünden bereut und um die ,, Gemeinschaft mit Gott"
heiß gerungen. Er wollte nicht länger mehr, wie es seiner frischen
Kindernatur, der Gottes Welt jeden Tag neu erschien, entsprochen
hätte, in den Tag hineinleben; er meinte es ernst und ehrlich mit
der Einkehr, der Abkehr von der Weltlichkeit, in die er, der Pie-
tistensproß, zu Unrecht hineingeraten zu sein glaubte. „Ich habe
mein Liebstes auf der Stelle gern weggegeben", berichtet er wenige
12 Heimat, Familie und Jugend.
Jahre später auf diese Zeit als auf ein längst wieder überwundenes.
Stadium zurückblickend, ,,ich habe meine größten Freuden, meinen
liebsten Umgang für nichts geachtet, ich habe mich in der Welt
blamiert an allen Ecken; ich habe ungeheure Freude darüber ge-
habt." In „heiligem Eifer" erglühte er nun, da der alte Pie-
tistengeist, es war zum letzten Mal, in ihm aufflammte, gegen jede
religiöse Freisinnigkeit, und bei der Einsegnung, die am 12. März
1837 in der Vereinigten evangelischen Gemeinde Unterbarmens
erfolgte, soll er sich ganz außerordentlich ergriffen gezeigt haben.
Auch noch ein halbes Jahr später rühmte in seinem Abgangszeugnis
vom Gymnasium der Pensionsvater, der nun provisorischer Di-
rektor war, neben der Reinheit seines Gemüts und seiner gefälligen
Sitte seinen „religiösen Sinn". Es war ihm damals Ernst, , .heiliger
Ernst" mit dem Wunsche, den „stillen, religiösen Frieden", den
er herbeisehnte, in dem altbewährten Glauben der Heim.at, des
Elternhauses zu finden. Aber ihm wurden Steine geboten, wo sein
innerer Sinn nach Brot verlangte: seit frühester Jugend hatte man
von ihm in der Kirche, im Religionsunterricht und auch zu Hause
stets den ,, direktesten, unbedingtesten Glauben an die Bibel und
an die Übereinstimmung der biblischen Lehre m.it der Kirchen-
lehre, ja mit der Speziallehre jedes Pfarrers" gefordert. Ein so
starrer Buchstabenglaube aber stieß seinen lebendigen und früh
selbständigen Geist ab. Wäre er um diese Zeit, da es ihm um den
Frieden mit dem Glauben noch so bitter ernst war, einem weniger
starren Christentum, einem etwas liberaleren Supranaturalismus
oder gar einem Verkünder Schleiermacherscher Religionsauffassung
begegnet, er wäre — wenigstens nimmt er es selbst an — noch
lange darin „hängen geblieben". Ein gütigeres und wärmeres
Christentum, als es die Krummacher und Genossen damals im
Wuppertal verkündeten, hätte ihn, davon finden wir ihn überzeugt,
nicht so schnell verloren. Der Denkspruch, der dem Primaner bei
der Einsegnung ins Leben mitgegeben worden war, hatte gelautet:
,, Ich vergesse, was dahinter ist und strecke mich zudem, was da
vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod,
welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu"
(Phil. 3, 13. 14). Nun fand dieser Spruch eine andere Erfüllung,
als dem Geistlichen, der ihn auswählte, vorgeschwebt hatte. Die
Befriedigung der Seele, die ihm der Glaube der Heimat nicht länger
bot, erkämpfte Engels sich draußen in der Weite. Er vergaß all-
mählich was , »dahinten lag" und jagte nach einem neuen „vor-
gesteckten" Ziel! Je mehr Kraft und Wissen ihm zuwuchsen, um
so eifriger suchte und fand seine anschlußbedürftige Seele ihren
Halt bei geistigen Strömungen, die jenseits der Offenbarungsreligion
Früheste Berührung mit dem Proletariat. 13
ein Gebäude positiver Werte zu errichten strebten. Aber nur über
heißa Kämpfe führte ihn dieser Weg aus der alten in eine neue
Heimat des Geistes!
Wir gedachten bereits früher kurz der anderen großen so-
zialen Macht, die neben einem streitbaren und autoritären Pietismus
der Heimatstadt Friedrichs ihr Gepräge gab. Mochte auch der
Freiheitskampf gegen die geistigen Gewalten, die ihn persönlich
in der Kindheit eingeschnürt hatten, seine ersten Jünglingsjahre
vorwiegend beherrschen, nachhaltiger und bedeutsamer wirkten
auf ihn in der Folge doch jene Eindrücke, die das Elend der Ar-
beiterbevölkerung in diesem früh industrialisierten und damals in
der Blüte des kapitalistischen Aufschwungs stehenden Tal seiner
Seele einprägte. Täglich führte den Knaben sein Weg an Fabriken
vorüber, wo die Arbeiter in den niedrigen Räumen, die noch keine
Gewerbeinspektoren kontrollierten, ,,mehr Kohlendampf und Staub
einatmeten als Sauerstoff", und wo die Kinder schon von ihrem
sechsten Jahre an als Opfer kapitalistischer Ausbeutung einge-
schlossen waren, an den Häusern der Heimarbeiter, die vom Mor-
gen bis in die Nacht über ihren Webstuhl gebückt sich vom heißen
Ofen das Rückenmark ausdörren ließen, auch an den ,, Karren-
bindern", der lichtscheuen Hefe des Wuppsrtaler Proletariats, die
ohne eigenes Dach, im Fusel verkommend ihr Lager in abgelegenen
Ställen oder auf Misthaufen suchten. Wie viele erblickte er, die
ungesunde Arbeitsbedingungen der Schwindsucht auslieferten, wie
unzählige, die dem Alkohol zum Opfer fielen! Er erfuhr, daß syphi-
litische und Brustkrankheiten ,,in einer Ausdehnung, die kaum
zu glauben ist", verbreitet waren. Und all dies Elend sieht er nicht
als ein Unbeteiligter. Er ist selbst der Sohn eines Fabrikanten und
horcht frühzeitig auf die Gesinnungen, die in den Unterhaltungen
der Arbeitgeber untereinander zum Ausdruck kommen. Lange
Jahre, bevor er selbst Kommunist wird oder auch nur vom Kom-
munismus gehört hat, äußert er schon die Überzeugung, daß der
Betrieb der Fabriken ,,auf eine unsinnige Weise" von den Inhabern
gehandhabt werde, daß die reichen Fabrikanten ein weites Ge-
wissen haben und daß ein Kind mehr oder weniger verkommen zu
lassen keine Pietistenseele in die Hölle bringe, , »besonders wenn
sie zweimal Sonntags in die Kirche geht".
So hatte Engels von Kindesbeinen an ganz anders als Marx
im stillen Trier und als Lassalle inmitten der östlichen ökonomisch
rückständigen Umgebung Breslaus Gelegenheit, das Wesen und
die in dieser Frühzeit des Kapitalismus sich besonders augenfällig
aufdrängenden schweren Schattenseiten der Manufaktur und des
Fabriksystems kennen zu lernen. So wuchs er inmitten einer Welt
14 Heimat, Familie und Jugend.
auf, die ihn besonders prädestinierte, seinem Volke von der revolu-
tionierenden Gewalt des zur vollen Entfaltung drängenden Früh-
kapitalismus zum ersten Male ein erschöpfendes Bild zu entwerfen
und ihm durch den Reichtum und die erschütternde Kraft seiner
Darstellung die Notwendigkeit umfassende sozialer Reformen in
die Ohren zu gellen, mochte der Verfasser selbst auch bereits deren
Heilkraft anzweifeln. —
Jetzt aber kehren wir noch einmal in Engels letzte Schul-
jahre zurück. Wir kennen die Namen einer Reihe von Kame-
raden, mit denen er in den höheren Gymnasialklassen ein ,, Kränz-
chen" unterhielt, wo eigene dichterische und musikalische Produk-
tionen der Mitglieder vorgetragen wurden, und m.it denen er auch
nach dem Austritt aus der Schule so lange im Briefwechsel blieb,
bis ihm der Umgang mit den Brüdern Bauer und dem Kreise der
Freien den Gedankenaustausch mit diesen braven Pastorensöhnen
und künftigen Pastoren erübrigte. Von seinen Lehrern im Gym-
nasium verdankte er am meisten einem Dr. Clausen, der ihn in
Geschichte und Literatur unterrichtete. Dieser bescheinigte ihm
im Abgangszeugnis, daß seine Aufsätze gute, selbständige Gedan-
ken enthielten und daß er für die Lektüre der deutschen Klassiker
ein rühmliches Interesse an den Tag gelegt habe. Aber auch Engels
stellte seinem Lehrer ein gutes Zeugnis aus. Er wäre, schreibt er
in seinem anonymen Erstlingsaufsatz, der einzige, der in Elberfeld
den Sinn für Poesie bei der Jugend zu wecken wisse, diesen Sinn,
,,der sonst elend verkommen müßte unter den Philistern des Wupper-
tals". Engels selbst freilich besaß schon auf der Schule für alle
freien Künste das lebendige Interesse des fröhlichen und um die
Grenzen seines Könnens unbekümmerten Dilettanten. Er kom-
ponierte, er dichtete, er zeichnete. Der rege Sinn für das Komische,
den er von der Mutter ererbt hatte, lebte sich besonders in seinen
Karikaturen aus, die mit erstaunlicher Lebendigkeit die charak-
teristische Seite der Menschen, deren seine Feder sich bemächtigte,
zu treffen vermochten. Die Lehrer wußten um diese seine Fertigkeit,
deren Gegenstand sie selbst öfter gewesen sein mochten, manche
begünstigten sie sogar und übersahen, daß er sich auch während
der Unterrichtsstunden in dieser Kunst betätigte.
Die Familientradition berichtet übereinstimmend, Friedrich
habe ursprünglich Jura studieren und die Beamtenlaufbahn ein-
schlagen wollen. Weshalb er sich aber anders entschied, darüber
bestehen zwei verschiedene Versionen. Nach der einen habe der
Vater sich einem Studium widersetzt und unter Ausnutzung seiner
vollen Autorität den Sohn zum Kaufmannsberuf bestimmt, für den
Abschied von der Schule und Berufswahl. 15;
dieser keine Neigung verspürte ; nach der anderen hätte Friedrich
aus sich heraus auf das juristische Studium verzichtet, weil er mit
den freien Anschauungen, die er damals schon gehegt habe, nicht
preußischer Beamter habe werden wollen. Uns will es scheinen, als
ob diese Überlieferungen Wahres und Falsches vermengen und der
wirkliche Zusammenhang sich etwas weniger einfach darstellt.
Als Friedrich ein Jahr vor dem Abiturientenexamen zu Michaelis
1837 die Schule verließ, begründete Direktor Hantschke, der als
Pensionsvater und als Freund der Familie die Motive genau gekannt
haben wird, diesen Schritt in dem Abgangszeugnis mit dem Hin-
weis, daß sein Zögling ,, statt des früher beabsichtigten Studiums"
das Geschäftsleben ,,als seinen äußeren Lebensberuf zu wählen sich
veranlaßt sehe". Der Nachdruck liegt bei dieser Formulierung
offenbar auf den Wendungen ,, veranlaßt sehe" und ,, äußerer
Lebensberuf". Für seinen inneren und eigentlichen Lebensberuf
hielt nämlich der siebzehnjährige Primaner die Dichtkunst. Manch-
mal bestimmt begabte Jünglinge, die fühlen, daß vieles in ihnen
noch schlummert, was erweckt werden will, gerade der Reichtum
der Kräfte, die in ihrem Inneren nach Betätigung verlangen, dazu,
sich bei der zu früh von ihnen geforderten Wahl des äußeren Be-
rufs, den sie mit dem inneren Beruf, der weit vernehmlicher ertönt,
zunächst in kein Verhältnis setzen können, einem gewissen Fatalis-.
mus zu überlassen. Und die kühle Erwägung über die Gestaltung
des noch so fernen Mannesalters tritt zurück hinter dem unmittel-»
baren stürmischen Verlangen nach freier Entfaltung der einge^.
borenen Kräfte. So ungefähr mochte auch der Fall für Friedrich
Engels liegen. Eine nicht an eine feste Berufsvorbereitung gebun^
dene Lebensgestaltung, etwa die des freien Schriftstellers, die auf
ihn damals gewiß den verlockendsten Zauber ausübte, war durch
die kalvinistische Tradition der Familie ausgeschlossen und würde
ohnedies vor der väterlichen Autorität, gegen die er noch keine
offene Auflehnung wagte, niemals Gnade gefunden haben. Gewiß
hat der junge Feuerkopf, den es vor allem ins Leben hinausverlangte,
hin und her geschwankt, bevor er sich, vom Vater gedrängt, für den
Kaufmannsstand entschied. Aber dieser verurteilte damals den
tüchtigen Mann noch nicht zu jener atemlosen Rastlosigkeit späterer
Tage. Weshalb sollte er, so mochte Friedrich denken, nicht auch
als Kaufmann die Möglichkeit behalten, in seinen Mußestunden
den Pegasus zu tummeln? Platen freilich, dessen Rhetorik, die
einen Lassalle bezauberte, den liederfrohen Engels kalt ließ, während
sein Charakter und seine Gesinnung ihm Achtung abzwangen, hatte
bestritten, daß die Musen sich dem ergeben könnten, der sich ihnen
nicht ganz ergebe, daß es möglich wäre, tagüber bei den Geschäften,
l6 Heimat, Familie und Jugend.
und den Abend auf dem Helikon zu verweilen. Aber konnte ein
robuster Wuppertaler Bauernsproß nicht sich abgewinnen, was
der feinnervige Aristokrat für undurchführbar erklärte? Erlebte
Engels nicht jetzt in seiner unmittelbaren Nähe eine lebendige Wider-
legung der Ansicht Platens? Seit dem Ausgang des Monats Mai
war Ferdinand Freiligrath bei einer Barmer Firma als Kontorist
beschäftigt. Wie ihm dabei wirklich zumute war, erfuhren die
Fernerstehenden nicht; wohl aber sickerte auch zu ihnen durch,
daß er ,, zwischen Journal und Hauptbuch" seine Verse schrieb.
Ein preußischer Bureaukrat galt jedem guten Rheinländer als ein
lederner Ofenhocker. Einem Fabrikanten und Kaufmann dagegen
bot sich die Aussicht, die Welt zu sehen und das Leben in seiner
Fülle zu erschauen. Bald nach seiner Ankunft in Barmen hatte
sich Freiligrath an den später von ihm als aussichtslos erkannten
Versuch gemacht, in die kleinstädtisch eingebildete, nüchtern pro-
saische und pietistische Welt ,, dieses vermaledeiten Nestes" einen
freieren Ton einzubürgern. Und stolz auf den als Dichter berühm-
ten Bsrufsgenossen überboten sich anfangs die jungen Kaufleute
und Familiensöhne, der ,, grüne Adel", wie Freiligrath sie zu nennen
beliebte, darin, ihn zu umschwärmen und nachzuahmen.
Das war gerade die Zeit, als Engels die Schule verließ. Leider
wissen wir fast nichts über das folgende Jahr, während dessen er
noch in der Heimat verweilte, um in dem väterlichen Geschäft
die kaufmännischen Anfangsgründe zu erlernen. Als einem treuen
Sohn des Wuppertals lag ihm die Hebung von Literatur und Dich-
tung auf diesem für die Kunst so wenig ersprießlichen Boden damals
lebhaft am Herzen. Er schwärmte für Freiligrath, doch scheint
er diesen nur erst von weitem verehrt und nachgeahmt zu haben.
Seine Gedichte aus dieser Zeit weisen dessen Einfluß deutlich auf.
An Farbigkeit, Versgewandtheit und Kraft des Rhythmus mochte
der schon berühmte Dichter ihn weit übertreffen, an Tiefe und
Fülle der Gedanken war ihm Engels überlegen. Wie jener im
Mohrenfürsten so schildert auch er anfänglich fremdartige
Gegenden, die sein Auge nie erblickt hatte, und gleich jenem sucht
er poetische Ausbeute in dem Kontrast zwischen dem Glück und
Glanz, dessen Neger und Indianer in der Freiheit genossen, und
dem Elend, das die Berührung mit europäischer Kultur über sie
brachte. Die holprige, damals übrigens irgendwo zum Druck ge-
langte Ballade ,,Die Baduinen'' ist eine bloße Nachahmung des
Leben des Negers und des Mohrenfürsten. Auch in dem in
Terzinen geschriebenen Gedicht Florida wandelt Engels, wenn
man auf die Form und das Kostüm sieht, in der Spur Freiligraths.
Aber in den Gedanken zeigt sich bei ihm bereits die politische Ader,
Dichterische Anfänge. xy
die in dem späteren Revolutionslyriker noch schlummerte. Wieder
erinnert hier Engels an das Unheil, das die Bleichgesichter den
Indianern über den Ozean gebracht haben und wie die Unterdrück-
ten sich dessen bewußt werden und der Geist der Rache in ihnen
erwacht. Sie beschließen, daß der nächste Weiße, der auf der Insel
lande, dem Tode geweiht sei. Das Schicksal trifft einen deutschen
Jüngling, der, als Mitglied der verbotenen Burschenschaft nach
sechs Jahren Gefängnis zur Auswanderung nach Amerika begnadigt,
als einziger einem Schiffbruche entgangen war. Er wird gefangen
und verurteilt:
,,Die Freiheit dacht* ich wieder hier zu finden,
Und Freiheitskämpfer grüßen mich mit Mord,
So muß ich büßen meiner Brüder Sünden!"
Ein Kruzifix, das die Flut heranspült, bringt dem Sterbenden die
letzte Tröstung!
Dieses Gedicht, das noch der Barmer Zeit angehört, bringt die
erste Anspielung auf politische Zeitverhältnisse. Wie Engels in
diese hineinwuchs, wird aber besser erst später im Zusammenhang
dargestellt.
In die Welt der alten deutschen Sagen, die gerade damals in
Simrocks und Marbachs billigen Ausgaben der Volksbücher wieder
recht ins Volk zurückströmten, hatte schon der Schüler sich mit
brennenden Wangen vertieft. Doch zu keiner ihrer Gestallen fühlte
der erwachende Jüngling sich mit ähnlicher Begeisterung hinge-
zogen wie zu Jung-Siegfried, nach dessen Heimatstadt Xanten,
wo ihm mütterliche Verwandte lebten, wir ihn auf seiner ersten
selbständigen größeren Reise andachtsvoll pilgern sehen. Er fühlte
den gleichen , »Tatendurst", den gleichen ,, Trotz gegen das Her-
kommen" in sich, der Siegfried aus der Burg seines Vaters trieb;
,,das ewige Überlegen, die philiströse Furcht vor der frischen Tat"
war auch ihm ,,von ganzer Seele zuwider", er wollte hinaus in
die freie Welt, er wollte ,,die Schranken der Bedächtigkeit umrennen
und ringen um die Krone des Lebens, die Tat". Ein dramatisches
Fragment: Der gehörnte Siegfried ist in seiner ersten Szene
geradezu der Niederschlag der Kämpfe, die sich im Zusammen-
hang mit der Berufswahl im Schöße der Familie Engels abgespielt
haben mögen. Da klagt denn Vater Sieghard, daß der Sohn, statt
im Rat auf die weisen Worte der Greise zu lauschen, lieber im Walde
umherschweife und sich mit Bären herumschlage. Ein Alter nimmt
den Fant in Schutz: Warum solle dem Achtzehnjährigen nicht
der Sinn nach Jagd und Streit stehen ? Der König lasse ihn nur
gewähren und gegen Drachen und Riesen zu Felde ziehen. Das
Leben werde ihn schon in seine Lehre nehmen, sei er älter ge-
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 3
l8 Heimat, Familie xind Jugend.
worden, so werde er die Weisheit schätzen lernen, in die Heimat
zurückkehren und hier sein wahres Glück finden. Wirklich bleibt
dem Vater keine andere Wahl, er muß des Sohnes Wunsch erfüllen.
Da überläßt sich dieser stürmischem Jubel:
„Der wilde Bergstrom gießt sich brausend
Allein durch Waldesschlucht voran,
Die Fichten stürzen vor ihm sausend,
So wühlt er selbst sich eine Bahn,
Und wie der Bergstrom will ich sein,
Die Bahn mir brechend ganz allein."
Noch freilich glaubt der alte Rat, der sich für Jung-Siegfrieds künf-
tige Wiederkehr eingesetzt hatte, den Vater trösten zu kennen:
,,Der Bergstrom auch kommt einst zu Tal,
Dann kracht nicht mehr der Bäume Fall,
Dann fließt er durch die Eb'ne still,
Macht fruchtbar rings die Lande,
Der Wellen Wüten wird ein Spiel,
Endlich verrinnend im Sande."
Wir aber wissen heute, daß Jung-Siegfried recht behalten hat
und nicht des Vaters alter Freund; der ,, wilde Bergstrom" Friedrich
Engels, einmal freigelassen, ergoß sich in Gegenden, die weit ab-
lagen von jenen Gefilden, in denen der sorgende Vater ihn gern
zurückgehalten hätte!
Kapitel II.
Religiöse Kämpfe.
Friedrich Engels zählte zehn Jahre, als die Pariser Julirevolu-
tion auch in Deutschland der liberalen Bewegung einen mächtigen
Anstoß gab und alle nach den Befreiungskriegen unterdrückten
Bestrebungen zur Einigung des Vaterlandes und zur Beseitigung
des mit bleierner Schwere das Geistesleben belastenden Polizeidrucks
mit neuer Hoffnung erfüllte. In seine Schulzeit fiel freilich auch
die erfolgreiche Gegenoffensive der alten Gewalten, die unter Führung
Österreichs und Preußens, deren reaktionäre Regierungen die re-
volutionäre Flut diesmal noch verschont hatte, alle oppositionellen
Parteikundgebungen in Wort und Schrift noch einmal unterdrückte,
die verhaßten Landtage unter Überwachung stellte und die schwarz-
rot-goldenen Farben von neuem verbot.
Es ist nicht bekannt, wie viel oder wie wenig dem Knaben
auf der Barmer Bürgerschule und dem Elberfelder Gymnasium, von
den Bestrebungen der radikalen Elemente der Bewegungspartei
zu Ohren kam, die in jenen Jahren der Frankfurter Zentralbehörde
zum Trotz den von Westen hereinströmenden politischen und ge-
sellschaftlichen Ideen Verbreitung und Einfluß zu erkämpfen such-
ten. Hätte aber selbst der Schüler vom Wiederaufleben der Dema-
gogenverfolgung oder vom Verbot der Schriften Heines und des
jungen Deutschland Kenntnis erhalten, so wären diese Vorgänge
damals gewiß kaum weniger spurlos an ihm vorübergegangen,
wie früher das Hambacher Fest und der Frankfurter Wachensturm.
Die Umgebung, in der er aufwuchs und gegen die er sich noch kein
selbständiges Urteil hatte bilden können, brachte jenen in räum-
licher und geistiger Ferne sich abspielenden Vorgängen schwerlich
eine regere Teilnahme entgegen. Im Familienkreise und im Hause
des Lehrers hörte Friedrich unzweifelhaft mehr als von Politik von
den kirchlichen Dingen sprechen. Am häufigsten dürfte er daheim
über wirtschaftliche Zeitfragen Unterhaltungen beigewohnt haben:
das Zustandekommen der Rheinschiffahrtskonvention, die Errich-
tung des Zollvereins, die Begründung der Dampfschiffahrtsgesell-
20 Religiöse Kämpfe.
Schaft für den Nieder- und Mittelrhein, die Eisenbahnpläne, die zu-
nächst die Verbindung von Elberfeld mit Düsseldorf anstrebten,
dazu die technischen Fortschritte der Industrie selbst beschäftigten
die Fabrikantenklasse des erst seit dem Wiener Kongreß Preußen
zugeschlagenen Großherzogtums Berg damals unvergleichlich stär-
ker als die Bestrebungen nach Preßfreiheit und alle Klagen über das
uneingelöste Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. Selbst
über die politische Zerrissenheit Deutschlands ereiferte man sich
hier solange nicht, wie man die Aussicht behielt, die mit ihr ver-
knüpften wirtschaftlichen Mißstände mit anderen Mitteln zu be-
seitigen. Wie später der Elsässer nach seiner Loslösung aus dem fran-
zösischen Kulturkreis, so blickte der Rheinländer noch mißtrauisch
und voll Hochmut auf das ihm fremde preußische Wesen und die preu-
ßischen Institutionen herab. Besonders rege wachte sein Argwohn
darüber, daß sein köstlichstes Gut, die Öffentlichkeit und Mündlich-
keit des Gerichtsverfahrens, unangetastet blieb ; er wäre selbst vor
einer Revolution nicht zurückgeschreckt, meinten die Zeitgenossen
sarkastisch, wenn man von Berlin aus, wie der verhaßte Rheinische
Justizminister Kamptz es zu wollen schien, den Versuch gewagt
hätte, den Code Napoleon, das Gesetzbuch der durchgebildeten
Geldwirtschaft, das ihm seither ans Herz gewachsen war, durch
ein revidiertes Allgemeines Landrecht zu ersetzen, das, ursprüng-
lich für den agrarischen Osten geschaffen, in dieser in industriel-
lem und kommerziellem Aufschwung befindlichen Provinz in vieler
Hinsicht einen Rückschritt bedeutet haben würde. Ungern sah der
Rheinländer auch, wenn man ihm zu viele ,,Prüß** als Beamte
und Gymnasiallehrer ins Land schickte, oder wenn im Düssel-
dorfer Kunstverein ,,den Ostländern" zu viele Bilder abgekauft
wurden. Noch fühlte er sich, wenigstens drüben am linken Ufer,
mit den katholischen und demokratischen Belgiern verwandter
als mit den zugeschlossenen und steifen Protestanten aus dem
Alt-Preußischen. Nun hätte freilich den Wuppertalern die religiöse
Gemeinschaft den Anschluß nach Osten erleichtern sollen, aber
selbst hier war man noch weit davon entfernt, mit den aus der
preußischen Geschichte heraus fortwirkenden Kräften, mit der
Tradition des Hohenzollernhauses und des mit ihr verwachsenen
Militarismus und Bureaukratismus, Fühlung zu suchen. Ohne
eigenes Zutun preußisch geworden, glaubte die Fabrikantenklasse,
die im engen Bunde mit der Geistlichkeit hier den Ton angab, eine
vaterländische Gesinnung bereits zu bekunden, wenn sie die Kräfte
des Staates für ihre wirtschaftlichen Zwecke in Anspruch nahm,
im übrigen aber, zumal in der geistigen Sphäre, die ihr nur aus-
nahmsweise näher am Herzen lag, sich allen liberalen Regungen,
Die rheinischen Industriellen und der preußische Staat. 21
wie und wo diese sich zeigen mochten, verschloß. So hat sie jene
Bundestagsbeschlüsse, die den modernen Bestrebungen von neuem
den Maulkorb anlegten, mit Gleichmut aufgenommen. Wahrschein-
lich hielt sie diese für notwendig, um die gute bürgerliche Ordnung
vor den dunklen Machenschaften umstürzlerischer Bestrebungen, von
denen sie angeblich bedroht war, zu behüten. Die seit 1830 geil
ins Korn geschossene oppositionelle Literatur war der Mehrzahl
der Wuppertaler Bourgeois kaum anders als vom Hörensagen be-
kannt ; und sie mochten um so eher geneigt sein, diese für das Werk
einer gefährlichen Demagogenclique zu halten, als die beiden ver-
rufenen Juden Börne und Heine an deren Spitze genannt wurden.
Wie gern wüßten wir genauer, zu welcher Zeit und auf welchem
Wege jene schöngeistige Literatur, die damals noch der beredtste
Künder der liberalen Ideen war, trotz aller Hecken und Zäune, mit
denen Familie, Kirche und Stand ihn umzogen, zum jungen Engels
hinübergedrungen sind. Vermutlich waren die ersten, die dem
aufhorchenden langen Jungen sie anpriesen, ältere Gefährten, die,
früher als er von der Schulbank entlassen, den burschenschaftlichen
Bestrebungen gewonnen waren. Es fehlt ja nicht an mannigfachen
Zeugnissen dafür, daß ebenso wie nach den Freiheitskriegen auch
jetzt die Schüler der oberen Gymnasialklassen sich für diese Ideale
mitbegeisterten. Aus Briefen, die Friedrich nicht lange nach seiner
Entfernung aus Barmen an Schwester Marie und an die Freunde
schrieb, erfahren wir, daß auch er mit den verbotenen deutschen
Farben frühzeitig seinen Kultus trieb. ,, Schwarz, Rot und Gold,
das sind die einzigen Farben, die ich leiden mag", gesteht er der
Schwester und holt den Vers eines , »verbotenen Studentenlieds**
an, in dem die alten Farben, friedlicher noch als hernach im Sturm
der Revolution von Freiligrath, symbolisch ausgedeutet werden.
Konnte sich der eben dem Knabenalter entwachsende Jüngling
im frommen Wuppertal, über dessen geistige Enge zu klagen er
nicht müde wird, von den politischen und literarischen Kämpfen
der Zeit auch nur erst eine unvollständige, einseitige Kenntnis ver-
schaffen, so spricht doch alles für die Annahme, daß er mit seinen
Sympathien bereits auf dem Wege in das Lager der Liberalen, der
,, Modernen" war, als ihm im September 1837 die Befreiungsstunde
schlug und er nun ,,von des Vaters Burg herab" in die Ferne hin-
ausziehen durfte. Immer mächtiger hatte sich in ihm daheim das
Verlangen geregt, den Zeitgeist an seinen Quellen zu belauschen
und damit zugleich in das Chaos der eigenen religiösen Nöte Ordnung
zu bringen. Unbehindert durch die Vorurteile der Umgebung wollte
er sich endlich in die zeitgenössische Literatur vertiefen und auch
die Gegner der „Krummacherei", deren Schriften im Wuppertal
22 Religiöse Kämpfe.
kaum anzutreffen waren, kennen lernen. Auch um seiner dich-
terischen Bestrebungen willen, die, wie wir nicht vergessen wollen,
zunächst noch im Mittelpunkte der Hoffnungen für die eigene Zu-
kunft standen, verlangte es ihn stürmisch nach engerer Fühlung
mit den Problemen der Zeit. Jene Kenntnisse freilich, die sich die
zu den Universitäten abgehenden Schulfreunde an der sicheren
Hand akademischer Vorlesungen aneigneten, mußte er in den Muße-
stunden, die das Kontor ihm ließ, auf eigene Faust sich erarbeiten.
Ging es notgedrungen dabei unsystematischer her, so konnte er
dennoch dem unfehlbaren Instinkt seines ,, wurzelhaften" Wesens
zutrauen, daß dieser ihn, schlimmstenfalls auf Umwegen, vor
die richtige Schmiede führen würde. Und hierin sollte er sich nicht
täuschen! Seine ungewöhnliche Spürkraft und Aufnahmefähigkeit
halfen dem unverdrossenen Leser, der er war, auch an der Hand
der Bücher und Zeitschriften sich den Weg zu bahnen. Trotz des
Fehlens aller, zunächst ihm noch versagten, persönlichen geistigen
Anregungen gesellte sich seine nicht für Eigenbrödelei geschaffene,
sondern auf ein Zusammenwirken mit Gefährten hinstrebende
Natur in den nun folgenden Jahren Schritt für Schritt jenen litera-
rischen Parteigruppen bei, die sich als die berufenen Träger neuer
auf die Eroberung der Wirklichkeit hindrängender Ideen betrachten
durften.
Der Vater unseres Friedrich Engels hatte gewissenhaft und
reiflich Umschau gehalten, bevor er — auch dann wohl nur schweren
Herzens — schlüssig wurde, welcher fremden Umgebung er die
kaufmännische Ausbildung und, was den Eltern noch wichtiger
war, die fernere Erziehung von Charakter und Geist des eigenwil-
ligen Sohnes anvertrauen sollte. Die Wahl, die er dann getroffen
hatte, machte seiner väterlichen Fürsorge alle Ehre: schien sie doch
jede denkbare Bürgerschaft dafür zu bieten, daß der Jüngling im
häuslichen wie im geschäftlichen Leben auch in der Ferne noch
von Gesinnungen umfangen blieb, die sich mit der Familientradition
der Engels deckten oder wenigstens innig berührten. Der gleiche
strenge pietistische Geist, der im Wuppertal herrschte, war, wenn
auch durch die Seeluft ein wenig gemildert, in Bremen tonangebend.
,,Die Herzen sind gescheuert mit der Lehre von Johann Calvin",
urteilte damals der Bremenser Eduard Beurmann von seinen Lands-
leuten, und der radikale Friedrich Saß, ein geborener Lübecker,
vergleicht sie gar mit einem unverdaulichen Pudding aus moorigem
Kalvinismus, aus holländischem Mynheerphlegma und Egoismus,
zusammengerührt in hanseatischer Sauce. Auch hier in Bremen
hatten die Pietisten der Errichtung eines ständigen Theaters hef-
tigen Widerstand geleistet, und noch immer füllten neben den
Nach Bremen in die Lehre.
«S
derben Genüssen des Essens und Trinkens, neben Billard und Whist,
neben Segel- und Pferdesport ,, Pastoralien** den größten Teil des
Interesses aus, das in der neu aufstrebenden Hansastadt der Handel
den Großkaufherrn übrig ließ. So stand es wohl auch um den säch-
sischen Konsul Heinrich Leupold, Friedrichs neuen Prinzipal, der
sein bedeutendes Exportgeschäft hauptsächlich von schlesischem
Leinen, aber auch von anderen Waren, besonders nach Amerika
betrieb. Mochte er, der gebürtige Schlesier, sich um die Klüngel-
politik des kleinen Stadtstaats wenig bekümmern, den Kreisen der
Notabein mußte man ihn zurechnen. Ein kirchlich wie politisch
streng konservativ gesinnter Herr bot er dem Geschäftsfreund,
dessen Sohn unter den eigenen Söhnen Altersgenossen vorfand, die
sicherste Gewähr. Da er aber Bauherr der seinem Hause benach-
barten St. Martinikirche war, so lag es nahe, daß Friedrich Engels
bei deren Hauptpastor G. G. Treviranus als Pensionär untergebracht
wurde.
Nach Überwindung rationalistischer Jugendeindrücke hatte
sich Treviranus zwar der orthodoxen Richtung angeschlossen, aber
seiner ganzen Anlage nach war er weniger wissenschaftlicher Theo-
loge als praktischer Seelsorger, der Bibelgesellschaften und Sonntags-
schulen gründete und Vereine für arme Wöchnerinnen, für ent-
lassene Strafgefangene und protestantische Auswanderer ins Leben
rief. Deshalb nannte ihn Wichern, der mit ihm befreundet war,
einen „Glaubensmann der Tat, wie ihn gerade die großen Städte
unserer Tage gebrauchen**.
Im Hause des Pensionsvaters zählte der frische und umgäng-
liche Junge, wie seine humorvollen und gegenständlichen Briefe
an die Schwester bezeugen, bald völlig zur Familie: ob im Hause
ein Schwein geschlachtet wurde oder ob es galt, den ,, wohlassortier-
ten** Weinkeller des Pastors vor einer Weserüberschwemmung
zu bewahren, er mußte dabei sein, die Pastorin und ihre Tochter
häkelten ihm in seinen Lieblingsfarben schwarz-rot-gold Geld-
beutel und Pfeifentroddel, und mit dem ,, Pfaffen** selbst, dessen
große Herzensgüte er rühmt, kam er im täglichen Leben trefflich aus,
obgleich sein lebendiger, stets beschäftigter Geist von den religiösen
Kämpfen der Zeit, wie wir gleich noch deutlicher sehen werden,
zu stark in Besitz genommen war, als daß jene praktische, soziale
Seite, die Wichern und Treviranus am Christentum herauskehrten,
noch einen entscheidenden Einfluß auf ihn hätte ausüben können.
Auch bei der Familie des Konsuls, die im Geschäftshaus wohnte,
war er hier wie draußen auf ihrem Landsitz wohl gelitten. Im Kontor
brauchte er sich nicht zu überarbeiten; waren der alte oder der
junge Chef zur Tür hinaus, wurden stracks Bierflasche und Zigarren-
24 Religiöse Kämpfe.
kiste, wohl auch mal Lenaus Faust oder ein angefangener Brief
aus dem Pult geholt, und nach dem Essen fand sich meist ein Stünd-
chen, um in der obersten Etage eines Speichers in der Hängematte,
die er für diesen Zweck dort angebracht hatte, die Zigarre im Munde
ein Mittagsschläfchen zu halten. Freie Tagesstunden nutzte Fried-
rich reichlich für körperliche Bewegung, die ihm auch späterhin
unentbehrlich blieb; er verachtete eine Jugend, ,,die das kalte Was-
ser scheut wie ein toller Hund" und ,,die sich eine Ehre daraus
macht, vom Militärdienste frei zu kommen"; ihn sehen wir leiden-
schaftlich fechten, an Sonntagen auf weiten Ausflügen zu Pferde
in die Umgegend streifen, und wir erfahren, daß er in einem Zuge
vier Mal die Weser schwimmend durchquert. Des Abends treibt
er öfter Musik, die einzige Kunst, die in der musenfremden Handels-
stadt wirkliche Pflege findet, wir vernehmen, daß er Choräle kom-
poniert und im Gesangverein mitwirkt; aber auch die Union,
den Sammelpunkt der jüngeren Handelsgehilfen, sucht er auf,
um zu kneipen und m.it Altersgenossen zu schwadronieren, eifriger
vielleicht noch, weil die englischen und skandinavischen Zeitungen,
die zu lesen er hier Gelegenheit findet, seinem Wissensdurst und
seiner ungewöhnlichen Sprachbegabung Nahrung liefern. Damals
schon radebrecht der spätere Polyglott in den Briefen an die Schwester
und die Freunde spanisch und portugiesisch, italienisch und hollän-
disch neben französisch und englisch und rühmt sich in dem leicht
bramarbasierenden Ton, den er Marie gegenüber als älterer Bruder
gern anschlägt, in fünfundzwanzig Sprachen parlieren zu können.
Das Gebaren der Menschen an seinem neuen Wohnort sagte ihm
wenig zu : dem lebhaften Rheinländer fällt es bei aller Liebe zur platt-
deutschen Sprache und obwohl er sich dem Reiz des Ortskolorits mit
offenen Sinnen hingibt, schwer, sich mit dem,, gräßlichabgemessenen"
Wesen der Hanseaten zu befreunden. Und nun gar erst die Gesin-
nungen, die in Bremen obenauf waren und an deren Selbstverständ-
lichkeit hier kein Zweifel geduldet wurde! Sie findet er, nachdem
er ein halbes Jahr dort weilte, genau so ,, obskur" und ,, mystisch"
wie in Barmen und Elberfeld, ,,Philisterei, verbunden m.it religiöser
Zelotenwirtschaft" meint er, verhinderten jeden Aufschwung des
Geistes. Kein Wunder also, daß sein oppositionelles Gemüt sich
nach außen Luft zu machen sucht, anfänglich noch kindlich harm-
los, indem er die Lehrlinge und Volontäre anderer Firmen über-
redet, sich mit ihm den Philistern zum Ärger die Schnurrbarte stehen
zu lassen und sich um dieses Rechts willen gesellig zusammen zu
schließen; etwas später richtet er bereits an ein pietistisches Lokal-
blatt in jenem salbungsvollen Ton, der ihm von Kindheit an ge-
läufig sein mußte, unter falschem Nam.en Zuschriften, deren Schein-
Äußeres und inneres Erleben in Bremen. 25;
heiligkeit er, als die Redaktion ihm auf den Leim ging und sie ab-
druckte, in frechen Knittelversen selbst aufdeckt.
Aber jener Friedrich Engels, der sich so äußert und betätigt,,
bedeutet am Ende doch für uns kaum viel mehr als eine Fassade,
hinter deren fest geschlossenen Fenstern der eigentliche Friedrich
Engels, jener, auf den es dem Biographen ankommt, ein strotzend
reiches Innenleben führt. Ohne daß die Umgebung es wahrnimmt,
setzte er sich damals in einer bunten, ausgebreiteten, leidenschaft-
lich betriebenen Lektüre voll heißen Atems mit Mächten der Ver-
gangenheit und der Gegenwart auseinander, baute hohe Luftschlösser,
in denen er sich als den Dichter der neuen Generation erblickte,
reimte und schrieb, begann nach außen hin sich lebhaft literarisch
zu betätigen und legte unter ergreifenden Seelenkämpfen den Grund
zu seiner philosophischen Weltanschauung. Mochte die Luft Bre-
mens auch sonst in vieler Hinsicht, mehr als es Engels erwünscht
sein konnte, an die des Wuppertals erinnern, in einem wesentlichen
Punkte ging es hier doch weit freier zu: die persönliche Unabhängig-
keit des einzelnen war größer als im Preußischen, und eine nach-
sichtigere Zensur gestattete den Buchhändlern, Schriften auszu-
legen und zu vertreiben, die jenseits der schwarz-weißen Grenz-
pfähle aufs strengste verboten waren. Wir erfahren bald, daß Fried-
rich einen ganz netten Schmuggel mit verbotener Geistesfracht
nach der Heimat hin einrichtet, aber auch daß er gern beim Anti-
quar vorspricht und sich von dorther den Genuß köstUcher Schätze
der Vergangenheit erschließt. Jetzt endlich fühlt er sich unbehin-
dert und kann lange Abende und Nächte daran wenden, um gegen
die ,, Konfusion", die er in seinem Kopf immer höher ansteigen
fühlt, nachdrücklich und allmählich erfolgreich anzukämpfen. Da
liest und überdenkt er, was die zeitgenössischen Schriftsteller ihm
zu sagen haben und gern und willig gibt er sich den neuen Eindrücken
hin, die sie ihm vermitteln. Aber auch sein kritischer Sinn war
früh erwacht; der läßt ihn das Gute, das ihn Fördernde selbst dort
herausfinden, wo er im übrigen die Schwäche erkennt, die Un-
gereimtheit durchschaut. Von einem Autor findet er sich weiter
zum nächsten, von den Neuesten zu ihren Vorläufern, seinem Spür-
sinn genügte ja der kleinste Hinweis ; auf diesem Wege entdeckt
er sich jetzt die beiden Erzieher seiner nächsten Jahre. Durch Gutz-
kow wird er auf Börne, dessen Meister, aufmerksam und über David
Friedrich Strauß, dessen Mythenlehre ihm in seinen religiösen
Nöten ein kräftiges Licht aufsteckt, gelangt er in den ihm dauernd
viel bedeutenden Bannkreis Hegels. Börnes Schriften bekehrten ihn,
wie sich noch zeigen wird, endgültig zum politischen Radikalismus,
Hegel weist dem vom sicheren Ufer des Väterglaubens Abgetrie--
26 Religiöse Kämpfe.
benen jenseits des stürmischen Meeres neues festes Land. Und wir
werden sehen, daß er dieses so inbrünstig begrüßte wie dereinst Ko-
lumbus die fernen Linien einer neuen Welt.
Im Brennpunkt der pietistischen Lehre, wie sie Friedrich
Engels auf den Kanzeln seiner Heimatstadt entgegengetreten war,
hatte der Sündenfall Adams gestanden, der ein für alle Mal den
Menschen unfähig gemacht habe, aus eigener Kraft das Gute zu
wollen, geschweige es zu tun. Vermochte aber der Mensch das Gute
aus sich selber nicht einmal zu wollen, so mußte ihm die Befähigung
dazu von Gott willkürlich verliehen worden sein. Das war in der
Tat die Auffassung der strengen Prädestinationslehre, die der stimm-
gewaltige geistliche Despot des Wuppertals verkündete. Die Er-
wählten werden selig ohne eigenes Verdienst, während die große
Schar der anderen auf ewig verdammt bleibt. Auf ewig? Ja, auf
ewig! erwiderte Friedrich Wilhelm Krummacher, ohne auch nur
mit der Wimper zu zucken. Wo wie hier alles religiöse Denken um
die Erbsünde kreiste, da war kein Boden für die neueren Bestre-
bungen, die es nach gegenseitiger Durchdringung des Göttlichen und
des Menschlichen verlangte. Der Pietismus des Wuppertals war
unbeeinflußt geblieben von der Entwicklung der religiösen Be-
wegung im übrigen Deutschland, der rohe Dualismus, an dem er
festhielt, unberührt von dem Geist unserer Dichter und Denker.
Lessings Fehde gegen die Orthodoxie, Kants praktische Vernunft,
Herders Wiedererweckung des geschichtlichen Sinns, Fichtes Ich,
Goethes und Schellings immanente Erfassung der Schöpfung, die
Mystik eines Novalis waren ja am Ende Ausstrahlungen der gleichen,
dem Mittag zustrebenden Sonne, die erkennen ließen, daß in den
geistig führenden Schichten des Volkes neu geartete seelische
Lebensbedürfnisse wach geworden waren. Ihre Versöhnung mit
dem alten Glauben, die wichtigste Aufgabe der wissenschaftlichen
Theologie, erstrebten auf entgegengesetzten Wegen Schleiermacher
und Hegel, Gegen die Herabwürdigung der Religion zu einer bloßen
Lehre erhob Schleiermacher seine klangvolle Stimme, Hegel aber
setzte dem bewegungslosen Subjektivismus, den der Supranaturalis-
mus mit dem Rationalismus teilte, den immanenten Gottesbegriff der
Spekulation entgegen. Mit beiden Richtungen mußte Engels sich aus-
einandersetzen, nachdem er aus der rückständigen Umgrenztheit der
Wuppertaler Zustände herausgetreten war. Damit begann sein
religiöser Freiheitskampf, von dem uns seine aufgefundenen Briefe
an die Brüder Friedrich und Wilhelm Graeber ein so anschauliches
Bild geben.
Als der Achtzehnjährige im Herbst 1838 zum ersten Male in
<lie Fremde zog, kannte er weder die Lehre Schleiermachers noch
Anfänge religiösen Zweifels. 27
die der spekulativen Theologie, mochte er als fleißiger Kirchen-
besucher von dem Läxm, den seit drei Jahren das Leben Jesu von
David Friedrich Strauß in den Kreisen der Orthodoxen hervorrief,
auch in den Kanzelreden Krummachers und seiner Gesinnungs-
genossen ein lautes Echo vernommen haben. Wir wissen schon,
daß seine warme, freiheitsdurstige Seele sich von jenem Christentum,
das sich in seiner Heimat breit machte, frühzeitig abgestoßen fühlte,
aber auch daß sein Versuch, die Religion aus eigener Kraft mit den
Bedürfnissen des Gemüts besser in Einklang zu setzen, scheiterte,
da er nirgends eine Stütze fand. Nun verhärtete sich sein Herz, das
nach liebevoll vertrauender Hingabe dürstete, immer mehr gegen
jenen engen und am Buchstaben klebenden Geist, der selbst in seiner
näheren Umgebung nirgendwo auf einen hörbaren Widerspruch
stieß. Haßte er somit jetzt den ,, verdammten schwindsüchtigen,
ofenhöckrigen Pietismus", so war er aber darum entfernt noch nicht
vom Glauben abgefallen. Selbst hier in Bremen, wo nun die Ideen der
eigenen Zeit mit voller Stimme sein geistiges Ohr erreichten, erwies
sich die christliche Gemütswelt, in der er groß geworden war, an-
fangs noch so mächtig in ihm, daß er sich an sie sogar dann noch
klammerte, als sein Denken jetzt zu einem selbständigeren Leben
erwachte. Noch im April 1839 bezeichnete er sich als einen ehr-
lichen, gegen andere freilich sehr liberalen Supranaturalisten. Wie
lange er das noch bleiben werde, wisse er nicht, doch hoffe er es
zu bleiben, wenn auch bald mehr, bald weniger zum Rationalismus
hinneigend.
Gleich nachdem er sich mit diesen Worten stark gemacht
hatte, fiel ihm das Leben Jesu in die Hände. Und wie bei unzähligen
anderen Zeitgenossen erschütterte dieses auch bei ihm, je länger er
es durchdachte, um so nachhaltiger, den Glauben an die unmittel-
bare wörtliche Inspiration der heiligen Bücher. Strauß Mythen-
lehre gab ihm den Schlüssel zu einer historischen Betrachtung der
biblischen Urkunden in die Hand. Am Ausgang desselben Monats
April, zu dessen Anfang er sich als liberalen Supranaturalisten be-
zeichnet hatte, wiederholt er zwar noch einmal dieses Bekenntnis,
aber diesmal fügt er hinzu, daß er nunmehr ,,das Orthodoxe" ab-
gelegt habe. Er hoffe sich in Übereinstimmung mit der Bibel zu
befinden, auch wenn er nicht mehr glauben könne, daß ein Rationa-
list, der von ganzem Herzen das Gute zu tun suche und der Erb-
sünde aus aller Kraft widerstehe, ewig verdammt sein könne. Und
er fährt fort: „Wenn man achtzehn Jahre alt wird, Strauß, die
Rationalisten und die Kirchenzeitung kennen lernt, so muß man
entweder alles ohne Gedanken lesen, oder anfangen, an seinem
Wuppertaler Glauben zu zweifeln. Ich begreife nicht, wie die
28 Religiöse Kämpfe.
orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offen-
bare Widersprüche in der Bibel finden . . . Christi ipsissima verba,
worauf die Orthodoxen pochen, lauten in jedem Evangelium anders,
vom alten Testament garnicht zu reden. Aber in dem lieben Barmen
wird einem das nicht gesagt, da wird man nach ganz anderen Grund-
sätzen unterrichtet. Und worauf gründet sich die alte Orthodoxie ?
Auf nichts, als auf — den Schlendrian. Wo fordert die Bibel wört-
lichen Glauben an ihre Lehre, an ihre Berichte ? Wo sagt Ein Apostel,
daß alles, was er erzählt, unmittelbare Inspiration ist? Das ist kein
Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam Christi, was
die Orthodoxen sagen, nein, das ist ein Töten des Göttlichen im
Menschen, um es durch den toten Buchstaben zu ersetzen."
Nachdem er einmal die Unmöglichkeit jener wörtlichen
Inspiration, wie sie ihm daheim immer verkündet worden war, er-
kannt hatte, tauchte zunächst die Frage vor ihm auf, wie weit
überhaupt die Inspiration der Bibel gehe. Hat Gott auf den Wort-
laut der Heiligen Bücher einen Einfluß ausgeübt? Weshalb faßte
er dann den Wortlaut der Abendmahlslehre nicht gleich so, daß der
Jahrhunderte währende unselige Streit zwischen Lutherischen und
Reformierten, den seine Allwissenheit mitsamt seinen schlimmen
Wirkungen voraussehen mußte, vermieden wurde ? ,,Ist einmal
Inspiration da, so gelten hier nur zwei Fälle: entweder Gott hat es
absichtlich getan, um den Streit hervorzurufen, was ich Gott nicht
aufbürden mag, oder Gott hat es übersehen, was ditto unstatthaft
ist." Und hier zum ersten Male zieht Engels die weitere Folgerung:
,,Ist ein Widerspruch da, so ist der ganze Bibelglaube zerstört."
Seinem Freunde, dem Sohne eines orthodoxen Wuppertaler Pastors,
gesteht er hier gerade heraus, daß er hinfort nur noch jene Lehre
für göttlich halten könne, die vor der Vernunft aufrecht bliebe.
,,Wer gibt uns das Recht, der Bibel blindlings zu glauben? Nur
die Autorität derer, die es vor uns getan haben." Die Bibel bestehe
aus vielen Stücken vieler Verfasser, von denen viele nicht einmal
selbst Anspruch auf Göttlichkeit machten. Und wir sollten unserer
Vernunft zuwider eine solche annehmen, bloß weil unsere Eltern
es uns sagen ? Die Bibel lehre auch ewige Verdammnis des Ra-
tionalisten. Aber sollte er noch glauben, daß ,, Börne, Spinoza,
Kant", Männer, die ihr Leben lang nach der Vereinigung mit Gott
strebten, ja, daß ein Gutzkow, dem es das höchste Lebensglück wäre,
den Punkt aufzufinden, wo sich das positive Christentum und die
Bildung der Zeit verschwistert darstellten, nach dem Tode ewig,
ewig von Gott entfernt blieben ? ,,Wir sollen keine Fliege peinigen,
die uns Zucker stiehlt, und Gott sollte einen solchen Mann, dessen
Irrtümer ebenso unbewußt sind, zehntausendmal so grausam und
Bruch mit der Orthodoxie.
29
in alle Ewigkeit peinigen ?" Auch die zweideutige Stellung der
Orthodoxie zur modernen Bildung erregt nun sein Mißfallen. Wie
könne sie nur zugleich darauf pochen, daß das Christentum die
Bildung überall hin mitgebracht habe, und dieser plötzlich gebieten
wollen, mitten in ihrem Fortschritt stehen zu bleiben? Wozu treibe
man gar Philosophie, wenn man mit der Bibel glaube, daß Gott
für die Vernunft unerkennbar sei? Die Orthodoxen hätschelten
die Naturwissenschaft, wo diese zufällig einmal zu ähnlichen Er-
gebnissen gelange wie die mosaische Urgeschichte, aber sie ver-
dammten sie, sobald sie dieser widerspräche. Wo bleibe da die
Aufrichtigkeit?
Gerade weil Engels die Religion daheim ausschließlich in ihrem
schwärzesten Gewände entgegengetreten war, mußte eine solche
Flut von Zweifeln mit dem Moment über ihn hereinbrechen, wo
er sich zu dem Bekenntnis gezwungen sah, daß Menschen bei der
Entstehung der heiligen Bücher mitgewirkt hätten. Das Studium
der Schriften von D. F. Strauß hatte ihn davon überzeugt, daß die
in der Bibel vorkommenden Widersprüche die Annahme einer wört-
lichen göttlichen Inspiration ausschlössen. Sobald aber sein klarer
Geist diesen Gedanken zu Ende dachte, befand er sich bereits mitten
im Strudel des theologischen und philosophischen Tageskampfes,
Doch noch einmal erhob nun, wo die Zweifel sich immer zahl-
reicher bei ihm einnisteten, sein ursprüngliches religiöses Empfinden
laut seine Stimme. Wie hätte es auch still verlöschen können, jetzt,
da alles in ihm wetterte und stürmte ? Frühzeitig hatte seinem tie-
feren Gefühl jene Sündenlehre widerstrebt, die allen Andersgläubigen
das Heil verweigerte. Jetzt wollte er eine Erlösungslehre nicht mehr
gelten lassen, nach der eine Handlung, die den Menschen als Un-
recht erscheinen würde, vor Gott zur höchsten Gerechtigkeit wurde.
Ihm lag es fern, bestreiten zu wollen, daß das positive Christentum
,,vom tiefsten Bedürfnis der menschlichen Natur, dem Sehnen nach
Erlösung von der Sünde durch die Gnade Gottes ausging". Aber
durch die Unduldsamkeit und den Zwang, die es auf dem Wege
zu einem so hohen Ziel übte, hatte es ihn endgültig und für immer
zurückgestoßen. Nun hoffte er auf eine ,, radikale Veränderung
im religiösen Bewußtsein der Welt". Zwar fühlte er sich noch von
Unklarheit umgeben, aber das Bewußtsein verließ ihn nicht m.ehr,
daß er sich jetzt auf einem Wege befand, der ihm zwar nach außen
„die größten Unannehmlichkeiten, doch im Innern den Frieden
zurückbringen würde".
Solch' eine Seelenverfassung, die noch immer nach Aussöh-
nung mit dem wahren Gehalt des Christentums verlangte, hätte
ihn besonders empfänglich stimmen können für die Lehre Schleier-
30 Religiöse Kämpfe.
machers, die er im Frühsommer 1839 kennen lernte: „Das ist denn
doch noch ein vernünftiges Christentum", ließ er sich im Juli zu
Friedrich Graeber vernehmen, „das leuchtet doch jedem ein, auch
ohne, daß man es grade annimmt . . . Hätte ich die Lehre früher ge-
kannt, ich wäre nie ein Rationalist geworden, aber wo hört man so
was in unsrem Muckertale ? Ich habe eine rasende Wut auf diese
Wirtschaft". Nun unterstand das Verlangen des Herzens in dem
klaren Geist des vorwärts Stürmenden bereits dem noch heißeren
Drange nach fester Erkenntnis. Gerade dessen Befriedigung aber
versprach ihm die spekulative Theologie. Nur D. F. Strauß und
der linke Flügel der Hegeischen Schule, das sah er bereits, konnten
ihm auf theologischem Gebiete zu sicheren Ergebnissen von der
Art führen, wie er sie sich wünschte. Deshalb wollte er künftig nicht
länger Zugeständnisse an Forderungen machen, die vor der Wissen-
schaft, in deren Entwicklung jetzt die ganze Kirchengeschichte
läge, nicht bestehen könnten. Die Jugendfreunde, die ihn so auf
abschüssiger Bahn in die Nacht des Unglaubens hinabgleiten sahen,
wären ihm gern zu Hilfe gekommen. Aber die wiederholten Ver-
suche, besonders Friedrich Graebers, stießen bei ihm auf überlegenen
Widerstand. Wie sollte Engels jetzt noch davon hören wollen, daß
der Mensch allein durch Gottes Gnade und nicht auch durch die
Kraft der eigenen Vernunft zur Gewißheit gelangen könne ? Das
selige Gefühl, das jeder habe, der sich in innige, herzliche Beziehung
zu Gott setzt, möge er Rationalist sein oder Mystiker, wußte er zu
schätzen. Aber dieses selige Gefühl, das war ihm unerschütterliche
Gewißheit geworden, schöpfte gerade seine tiefste Kraft aus der
Aufhebung jenes starren Dualismus, an den der orthodoxe Supra-
naturalismus sich festkrampfte. Noch einmal findet er im Juli
1839 schöne und starke Worte des Bekenntnisses zu einem Christen-
tum, bei dem auch er Ruhe zu finden vermöchte. Dieses Christen-
tum müßte in dem Bewußtsein wurzeln, daß die Menschheit gött-
lichen Ursprungs ist und daß der einzelne Mensch, da er ein Teil
der Gottheit ist, niemals verloren gehe, sondern nach unzähligen
Kämpfen in dieser wie in jener Welt, vom Sterblichen und Sünd-
lichen entkleidet, in den Schoß der Gottheit zurückkehre. Auch
von sich selbst gesteht Engels, den die Mächte seiner Kindheit nicht
auf einmal losließen, daß er einen tiefliegenden Drang zur Sünde
in sich spüre. Aber er könne als denkender Mensch unmöglich
glauben, daß seine Sünden durch die Verdienste eines Dritten ge-
hoben werden. Die Sündlichkeit des Menschen sei dadurch bedingt,
daß die Idee der Menschheit mit Notwendigkeit nur einer unvoll-
kommenen Realisierung fähig sei. Aber das dürfe den einzelnen
nicht abhalten, danach zu streben, in sich diese Idee möglichst
Hinwendung zur spekulativen Theologie. 31
vollkommen zu realisieren und damit an geistiger Vollendung Gott
möglichst nahe zu kommen. Für strafwürdig, schreibt er, erkenne
auch er sich, und wenn Gott ihn strafen wolle, möge er es tun;
doch unmöglich könne es seinem Glauben oder auch nur seinem
Denken einleuchten, daß der geringste Teil von Geist für ewig von der
Vereinigung mit Gott ausgeschlossen bleiben solle. Wohl wäre es
wahr, daß alles Gnade ist, was Gott tut, aber nicht minder wahr sei»
daß auch in den Taten Gottes die Notwendigkeit walte. Gerade
die Einigung dieser Widersprüche mache einen bedeutenden Teil
von Gottes Wesen aus. Friedrich Graeber hatte es als das größte
Glück des Gläubigen gepriesen, daß er niemals zu zweifeln brauche.
Damit machte er auf den Freund jetzt keinen Eindruck mehr.
Nicht zweifeln zu können, erwiderte ihm dieser, sei nicht Geistes-
freiheit, sondern die größte Geistesknechtschaft; frei sei nur jener,
der jeden Zweifel an seinen Überzeugungen besiegt habe. Dem
Gefühl gesteht der angehende Hegelianer nur die Kraft der Bestäti-
gung, nicht der Begründung zu. Engels will nicht leugnen, da-
mals glücklich gewesen zu sein, als er noch seinen Kinderglauben
hatte ; aber auch jetzt fühle er sich glücklich. Er vermisse weder
die Zuversicht noch die Freudigkeit zum Beten; er kämpfe und
bedürfe deshalb der Stärkung. Die religiöse Überzeugung sei Sache
des Herzens und habe auf das Dogma nur insofern Bezug, als die-^
sem vom Gefühl widersprochen werden könne. Gewiß vermöge
der Geist Gottes dem Gläubigen durch das Gefühl das Zeugnis
von seiner Gottkindschaft zu geben, aber er vermöge ihm nicht
zu bezeugen, daß er diese Kindschaft dem Tode Christi verdanke.
Denn das Gefühl sei nicht fähig zu denken, das Ohr nicht fähig zu
sehen.
Solche Worte lassen neben dem wachsenden Einfluß der auf
Hegel fußenden spekulativen Theologie auch den tiefwirkenden
Eindruck Schleiermachers erkennen, dessen Lehre Engels zu spät er-
reicht hatte. Frühzeitig gewöhnte sich in solchen harten Kämpfen
seine Natur, die Regungen des Gefühlslebens hinter einer dichten
Hecke von Sachlichkeit und verwegenem Humor zu verbergen.
Um so aufmerksamer horchen wir auf, wenn er hier noch ein-
mal, von Schleiermachers großem Herzen im Innersten berührt,
unmittelbar aus dem Gefühl heraus seine Seele erleichtert: ,,Ich
bete täglich", schreibt er, ,,ja fast den ganzen Tag um Wahrheit,,
habe es getan, sobald ich anfing zu zweifeln, und komme doch
nicht zu Eurem Glauben zurück; und doch steht geschrieben:
Bittet, so wird Euch gegeben. Ich forsche nach Wahrheit, wo ich
nur Hoffnung habe, einen Schatten von ihr zu finden, und doch,
kann ich Eure Wahrheit nicht als die ewige anerkennen. Und
32 Religiöse Kämpfe.
doch steht geschrieben: Suchet so werdet Ihr finden. Wer ist unter
Euch, der seinem Kinde, das ihn um Brot bittet, einen Stein bietet?
Wieviel mehr Euer Vater im Himmel? Die Tränen kommen mir
in die Augen, indem ich dies schreibe. Ich bin durch und durch
bewegt, aber ich fühle es, ich werde nicht verloren gehen, ich werde
zu Gott kommen, zu dem sich mein ganzes Herz sehnt, und das
ist auch ein Zeugnis des heiligen Geistes, darauf lebe ich und sterbe
ich, ob auch zehntausend Mal in der Bibel das Gegenteil steht. Und
täusche Dich nicht, Fritz, ob Du so sicher tust, ehe Du Dich ver-
siehst, kommt auch so ein Zweifel, und da hängt die Entscheidung
Deines Herzens oft vom kleinsten Zufall ab. — Aber daß auf den
inneren Frieden der dogmatische Glaube keinen Einfluß hat, weiß
ich aus Erfahrung . . . Du liegst freilich behaglich in Deinem Glau-
ben, wie im warmen Bett und kennst den Kampf nicht, den wir
durchzumachen haben, wenn wir Menschen es entscheiden sollen,
ob Gott Gott ist oder nicht ; Du kennst den Druck solcher Last nicht,
die man mit dem ersten Zweifel fühlt, der Last des alten Glaubens,
wo man sich entscheiden soll, für oder wider, forttragen oder ab-
schütteln; aber ich sage es Dir nochmals. Du bist vor dem Zweifel
so sicher nicht, wie Du wähnst, und verblende Dich nicht gegen
die Zweifelnden . . . Die Religion ist Sache des Herzens, und wer
ein Herz hat, der kann fromm sein; wessen Frömmigkeit aber im
Verstände oder auch in der Vernunft Wurzel hat, der hat gar keinen.
Aus dem Herzen sprießt der Baum der Religion, und überschattet
den ganzen Menschen und saugt seine Nahrung aus der Luft der
Vernunft; seine Früchte aber, die das edelste Herzblut in sich tragen,
das sind die Dogmen; was drüber ist, das ist vom Übel. Das ist
Schleiermachers Lehre und dabei bleibe ich".
So wogte es in der Seele des Jünglings, der um seinen Gottes-
glauben rang. Endgültig hinter ihm lag die starre Orthodoxie, die
-sich nicht scheute, die große Mehrzahl der Menschen den Flammen
der Hölle auszuliefern. Noch hallte seine Seele wider von der ver-
innerlichten Erlösungslehre Schleiermachers, von deren Berufung
an das dem Menschen durch die Erfahrung unmittelbar gegebene
religiöse Gefühl. Aber sein so stark zur Betätigung in weiten Lebens-
kreisen hindrängendes Wesen mußte auf intellektuellem Wege mit
dem religiösen Problem fertig werden. Wie anders konnte er sonst
als Kämpfer für die Ideen der Zeit, zu denen er sich mit Begeisterung
bekannte, auftreten? Ihm war es nicht gegeben, sich bei einer
Rsligionsphilosophie zu beruhigen, nach der nur das Gefühl und
nicht auch die Vernunft die Einheit des Universums erfaßte. So
erwies sich die spekulative Theologie als der stärkere Magnet:
^,Ich bin jetzt begeisterter Straußianer", schreibt er im Oktober 1839
Der neue Gottesbegriff. 33
an Wilhelm Graeber, „kommt mir jetzt nur her, jetzt habe ich Waf-
fen, Schild und Helm, jetzt bin ich sicher; kommt nur her, und ich
will Euch kloppen trotz Eurer Theologia, daß Ihr nicht wissen sollt,
wohin flüchten . . . Wenn Ihr den Strauß widerlegen könnt — eh
bien, dann werde ich wieder Pietist."
Den Briefen dieses Herbstes merkt man an, daß Engels sich
allmählich mit der Abkehr von dem Glauben der Eltern und der
Heimat, die ihn anfänglich überrascht und erschüttert hatte, ab-
zufinden beginnt. Er bezeugt uns im Oktober: ,,die tausend Haken,
mit denen man am Alten hing, lassen los und haken sich wo anders
ein". Und in den Disputationen mit den Freunden geht er jetzt
aus der Verteidigungsstellung, in der sich seine Natur niemals be-
hagte, zum entschiedenen Angriff über. Sie mit ihrer Rechtgläubig-
keit, schreibt er, mögen ihn immerhin ganz und gar verloren geben,
er bleibe doch dabei, das historische Fundament der Orthodoxie
sei unwiederbringlich dahin und das dogmatische werde ihm nach-
sinken. Wollten die Freunde ihn nicht mehr als Christen aner-
kennen, so sei ihm auch dieses nur ridikül: lieber ein guter Heide
als ein schlechter Christ!
Daß Freudigkeit und das Gefühl der Sicherheit ihm wieder-
gekehrt waren, verdankte Engels stärker als Strauß dessen großem
Meister Hegel. ,,Ich bin jetzt durch Strauß auf den strikten Weg
zum Hegeltum gekommen", schreibt er im Dezember 1839, ,, . . ich
muß schon bedeutende Dinge aus diesem kolossalen System in
mich aufnehmen". Daß er Hegels Gottesidee sich angeeignet habe,
daß dessen Geschichtsphilosophie ihm aus der Seele geschrieben
sei, besagt schon ein Brief aus dem November. ,,Die ungeheuren
Gedanken packen mich auf eine furchtbare Weise", gesteht er
über ihre Lektüre. Und er spottet über die Pietisten, die ein System
stürzen wollen, ,,das aus Einem Guße, keiner Klammern bedarf,
um sich zu halten". Wie lange hatte er sich gesehnt, einen großen
Gedanken zu finden, ,,der die Gärung aufklärt und die Glut zur
lichten Flamme anhaucht"! Der Gott Hegels, „des Haus nicht von
Menschenhänden gemacht ist, der die Welt durchhaucht und in
der Wahrheit angebetet sein will", bringt ihm Ersatz für den per-
sönlichen Gott seines Kinderglaubens. Und der Gottessucher, der
er noch war, erfaßte diesen neuen Gottesbegriff mit der ganzen
religiösen Inbrunst einer aufgewühlten jungen Seele. Das erste Mal>
als jener ihm aufging, war es ihm wie eine Offenbarung. Er ge-
steht es uns selbst in einer im Stil der Zeit ein wenig kapriziös ge-
haltenen Beschreibung einer Reise, die er im Frühling 1840 unter-
nahm. Diese führte ihn durch Westfalen zunächst in die Heimat
und von hier nach Holland, anscheinend auch schon zu einem
Mayer, Fritdrich Engeli. Bd. I 3
34 Religiöse Kämpfe.
flüchtigen ersten Aufenthalt nach England, von wo er dann zur
See nach Bremen zurückgekehrt sein mag. Nur aus einem „Land-
schaften" überschriebenen Aufsatz in Gutzkows Telegraph für
Deutschland besitzen wir übrigens Kunde von dieser Reise. Auf
dem Dampfschiff zwischen Rotterdam und London überwältigt
ihn das selige Gefühl, daß seine Seele nun hinausfliege aus den
philiströsen Dämmen, aus der enggeschnürten kalvinistischen
Orthodoxie in das Gebiet des freiwogenden Geistes. Er sieht Hel-
voetsluys verschwinden, die Waalufer rechts und links in den höher
aufjubelnden Wellen versinken, das sandige Gelb des Wassers sich
in Grün verwandeln; und da vergißt er „was dahinter ist", und
mit frohem Herzen stürmt die Seele hinaus in die dunkelgrüne,
durchsichtige Flut! Er schaut in die Wogen, wie sie, vom Kiele
zerteilt, den weißan Schaum weit hinausspritzen, der Blick streift
über die ferne, grüne Fläche, wo die schäumenden Wellenhäupter
in ewiger Unruhe auftauchen, wo die Sonnenstrahlen aus tausend
Spiegeln in das Auge zurückfallen, wo das Grün des Meeres mit dem
spiegelnden Himmelsblau und Sonnengold zu einer wunderbaren
Farbe verschmilzt: ,,Da entschwinden Dir alle kleinlichen Sorgen,
alle Erinnerungen an die Feinde des Lichts und ihre hinterlistigen
Ausfälle und Du gehst auf im stolzen Bewußtsein des freien, un-
endlichen Geistes I Ich habe nur einen Eindruck, dem ich diesen
vergleichen konnte; als sich zum ersten Male die Gottesidee des
letzten Philosophen vor mir auftat, dieser riesenhafteste Gedanke
des neunzehnten Jahrhunderts, da erfaßten mich dieselben seligen
Schauer, da wehte es mich an, wie frische Meerluft, die vom reinsten
Himmel herniederhaucht; die Tiefen der Spekulation lagen vor
mir wie die unergründliche Meerflut, von der das zum Boden strebende
Auge sich nicht abwenden kann; in Gott leben, weben und sind
wir! Das kommt uns auf dem Meere zum Bewußtsein; wir fühlen,,
daß alles um uns und wir selbst von Gott durchhaucht sind; die
ganze Natur ist uns so verwandt, die Wellen winken uns so ver«
traut zu, der Himmel breitet sich so liebeselig um die Erde, und
das Licht der Sonne hat einen so unbeschreiblichen Glanz, daß man
meint, es mit Händen greifen zu können." Der Leser fühlt es: in
der Gottheit lebendiges Kleid, das er Hegel dankt, verweben sich
dem Sprößling der Pietistenfamilie unversehens auch leuchtende
Fäden, die der alte Jacob Böhme, Spinoza, Goethe und Shelley
ihm darreichten.
Kapitel III.
Politische Anfänge.
Es ist ein gemeinsamer Zug, der durch alles geht, was das
geistige Leben Deutschlands in den dreißiger Jahren in eine wach-
sende fiebrige Bewegung versetzte, daß überall, wo Meinungen sich
gegenüberstanden — und es gab bald kein Gebiet mehr, wo dies
nicht der Fall war — für oder wider die Autorität gestritten wurde.
Nun hatte das gewaltige Beispiel der großen französischen Revolu-
tion den konservativen Staatslenkern gezeigt, daß eine Schild-
erhebung gegen die Autorität, mochte sie auf kirchlichem, staat-
lichem oder gesellschaftlichem Boden ihren Ausgangspunkt neh-
men, alle autoritativen Mächte in Mitleidenschaft zu ziehen droht.
Zwar war es der heiligen Allianz unter gewaltigen Opfern gelungen,
die alte Staatenordnung im wesentlichen wieder herzustellen und
auch innerhalb der Staaten den Einfluß der alten Autoritäten noch
einmal zu befestigen. Doch die Mächte der Revolution, nur zeit-
weise unterjocht, nicht endgültig ausgerottet, begannen bald wieder
an den eisernen Ketten zu rütteln mit denen man sie gefesselt
hatte, und die Kraft, mit der es geschah, wurde der Schrecken der
Machthaber. Weil er sich der Mühe bewußt blieb, die es gekostet
hatte, die Hydra zu bändigen und weil er den erzielten Erfolg
nicht ein zweites Mal in Frage zu stellen wagte, erblickte Fürst
Metternich, die Seele der siegreichen Restauration, in der Wiener
Kongreßakte einen Felsstein, den man auf den Eingang zur Hölle
gewälzt hatte. Sie wurde ihm ein Rührmichnichtan, und die Auf-
rechterhaltung des Status quo innerhalb und außerhalb Deutsch-
lands und hier wieder in allen Bereichen des Lebens und Wirkens
die Richtschnur seiner Politik. Der neugeprägten konservativen
Weltanschauung, die aus solcher geschichtlichen Konstellation
ihre stärkste Nahrung sog, galt die unbedingte Verflochtenheit aller
autoritativen Interessen als oberster Glaubenssatz. Keine Solidarität
drängte sich in diesem Zusammenhange unabweisbarer auf als
die von Thron und Altar. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung
auf Erden war ein allmächtiger Herrscher im Himmel nicht min-
3*
36 Politische Anfänge.
der unentbehrlich wie ein durch keine Verfassung beschränkter
Monarch. Damit beide Autoritäten sich wechselseitig stützten,
wurden Formulierungen erfunden, die auf die engste Durchdringung
von Staat und Kirche abzielten. So gelangten die Politiker, Staats-
rechtlehrer und Philosophen der Romantik, unter scharfer Ab-
lehnung des nach ihrem Urteil heidnisch gewordenen rationalistischen
Beamtenstaats der Aufklärung, zu dem folgenreichen Schlagwort
vom christlichen Staat.
Nicht minder jedoch als den herrschenden war den zurück-
gedrängten und niedergehaltenen Elementen im Deutschen Bunde
die Einheitlichkeit der Autorität in allen Bezirken menschlichen
Lebens und Schaffens zum Bewußtsein gekommen. Wenn die
Mächtigen in Kirche, Staat, Gesellschaft, die starre Orthodoxie,
die absolute Monarchie, den Adel eine Interessengemeinschaft um-
schlang, dann mußte sich auch jenen, die auf eine Überbrückung
des schroffen Dualismus zwischen der Autorität und den Beherrsch-
ten hinstrebten, die Solidarität ihrer Interessen aufdrängen. Dem
liberalen Protestanten, dem philosophischen Freidenker, dem deut-
schen Juden, denen an der Gleichberechtigung aller Denkweisen
und Bekenntnisse liegen mußte, dem Industriellen, dem Kaufmann,
dem Arzt, dem Anwalt, die neben den adligen Großgrundbesitzern,
neben Militär und Beamtentum nicht zu ihrem Rechte kamen,
dem demokratischen Doktrinär, der den freien Volksstaat predigte,
den Fanatikern der Gleichheit und Gerechtigkeit, ihnen allen trat
immer deutlicher ins Bewußtsein, daß sie gegen einen gemein-
samen Feind für gemeinsame Ziele stritten. Den breitesten Raum
des öffentlichen Interesses der Nation beanspruchten in dem Jahr-
zehnt nach dem Tode Goethes und Hegels noch die philosophischen
und religiösen Probleme ; zeitweise aber tauchten dahinter auch
schon vereinzelte gesellschaftliche Fragen auf, die eine betrieb-
same Tagesliteratur, der die Politik so gut wie verschlossen blieb,
mit Behagen breittrat. Die Jugend trieb die ablehnende Haltung
der Regierungen gegenüber den liberalen Forderungen in hellen
Haufen dem Radikalismus zu. Auf dem Felde der Theorie und der
Belletristik schmiedete sie sich die Waffen, mit denen sie die Auto-
rität in Staat und Kirche in Zukunft überwältigen zu können hoffte.
Noch auf lange hinaus blieb, zumal in Preußen und Österreich, die
Bildung politischer Parteien ein Ding der Unmöglichkeit. Weil
es aber dieser kampfesfrohen Generation ein Bedürfnis war, sich in
Reih und Glied mit Gleichgesinnten zu wissen, so suchte und fand
sie einen Ersatz in literarischen und philosophischen Cliquen,
denen öfter die gemeinsame Tätigkeit für Zeitschriften der gleichen
Richtung einen gewissen Zusammenhalt gab. Auf solche Weise
Der allgemeine Kampf gegen die Autorität. gy
entstanden und festigten sich auch die mit dem Namen Jungdeutsche
und Junghegelianer bezeichneten Richtungen, die auf norddeut-
schem Boden neben dem aus der Kantischen Schule emporgewach-
senen Liberalismus Ostpreußens und jenem der Rheinprovinz,
der die Ansprüche der industriell entwickeltsten Gebiete der Monar-
chie zum Ausdruck brachte, die wirksamsten geistigen Vorläufer
der bürgerlichen Revolution wurden.
Die Wortführer der Reaktion haben die Gefährlichkeit beider
Richtungen frühzeitig durchschaut. Für das Verbot der Schriften
Heines und des jungen Deutschland hat bekanntlich Wolfgang
Menzel mit Erfolg schon 1835 das Stichwort ausgegeben. Das
,Jung-Hegelsche Unkraut", das mit seiner Religion der Diesseitig-
keit den Atheismus verbreite, hätte Heinrich Leo gern mit Stumpf
und Stiel ausgerottet gesehen. Aber seine Denunziation gegen Strauß,
Rüge, Michelet fand erst Gehör, als nach dem Thronwechsel der
freie Geist der friderizianischen Zeit seinen Einfluß auf Preußens
Kulturpolitik verlor und die zur Macht gelangte Romantik den
selbstherrlichen Menschengeist, der sich in der Hegeischen Philo-
sophie göttliche Ehren erwies, vor dem persönlichen Gott der Ortho-
doxie in den Staub niederzuzwingen versuchte.
Als damals Savigny den jungen Bluntschli vor den ,, Hegelingen
imd Jungdeutschländern" warnen wollte, schrieb er ihm: ,,Mit
Lumpenvolk soll man sich nicht mengen." Auch die Evangelische
Kirchenzeitung Hengstenbergs und die literarischen Geheim-
agenten Metternichs nannten Jungdeutsche und Junghegelianer
in einem Atem und mit dem gleichen Abscheu. Mit diesen Namen
bezeichnet man in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre alle jene,
die in norddeutschen Landen den altberechtigten und altbefestigten
Mächten in Kirche und Staat unbequem wurden, weil sie in der
verschleierten Terminologie der Philosophie oder mit schöngeistiger
Keckheit der Autorität die unbedingte Botmäßigkeit aufkündigten.
Gegen die Heiligkeit des Überlieferten, nur weil es überliefert, des
Bestehenden, bloß weil es die Macht hatte, des Gültigen, bloß weil
es noch nicht gestürzt war, wandten sich in der Tat das junge Deutsch-
land wie die Junghegelianer. Vorausschreitend und doch mehr
plänkelnd, setzte sich das junge Deutschland, zögernder, dafür
ernster, fortwirkender und aus der Tiefe der Grundsätze heraus die
Junghegeische Schule für die Zeitforderungen ein. Dennoch be-
stand zwischen diesen beiden Richtungen, die nun mit- und nach-
einander auf Engels Einfluß gewannen, keine so tiefreichende
Übereinstimmung, wie die gemeinsamen Gegner sich einbildeten.
Mußte der ungezügelte Subjektivismus von Schriftstellern, die eine
Befreiung des einzelnen von allen Bindungen als das Ideal priesen,
38 Politische Anfänge.
das Lob der Stunde sangen und die Sinnenwelt auf Kosten der
geistigen Mächte verherrlichten, nicht vielmehr zurückbeben vor
dem „alles Individuelle verzehrenden Begriff" (Gutzkow) einer
Philosophie, die das Gefühlsleben des Individuums beiseite ließ und
die ,, Eitelkeiten der Ichheit" zertrümmerte ? Die zwischen starker
Anziehung und noch stärkerer Abstoßung schwankenden Gefühle,
die Hegel bei den Mitgliedern des jungen Deutschland auslöste,
spiegeln sich am anschaulichsten in Gustav Kühnes Quarantäne im
Irrenhause. Das magische Licht, in dem der mystische Intellek-
tualismus Hegels, seine Dialektik, sein Gottesbegriff hier erstrahlt,
blendete, als er jetzt davon getroffen wurde, den jungen Engels
um so stärker, als es ihn nicht abschrecken, sondern nur anziehen
konnte, daß der große Denker auf Kosten des Einzelerlebnisses
Freiheit und Notwendigkeit im absoluten Bewußtsein vermählte.
Weil das junge Deutschland nachdrücklicher als die objektive Frei-
heit die subjektive Willkür betonte, verachteten die Junghegelianer
die ,, prinziplose Zerfahrenheit" ihres ,, belletristischen Egoismus".
Und der Herausgeber ihres führenden Organs, Arnold Rüge, trug
sogar kein Bedenken, das junge Deutschland, mochte es im Kampf
gegen die Romantik emporgekommen sein, in seinem berühmten
Manifest gegen die Romantiker wegen seiner ,, Genialitätspointe"
diesen beizurechnen. Wenn aus den Reihen des jungen Deutsch-
land die Befürchtung laut wurde, daß die unentrinnbare Dialektik
der Hegeischen Lehre der Jugend die Kraft des Wollens und Han-
delns rauben möchte, so erwies diese Sorge sich als nicht gerecht-
fertigt; denn gerade der verjüngten Schule Hegels entwuchsen
die revolutionären Geister, denen der Übergang vom Gedanken
zur Tat, mit dem das junge Deutschland bloß getändelt hatte, bit-
terer Ernst und Lebenszweck wurde.
Man könnte das junge Deutschland, dessen einzelne Glieder
bekanntlich weder äußerlich noch innerlich so eng, wie ihre Ver-
folger annahmen, miteinander verknüpft waren, in gewisser Hin-
sicht mit einer anderen Bewegung vergleichen, die ein halbes Jahr-
hundert später die Teilnahme des gebildeten Publikums neuen
Ideen erstreiten wollte. Wie Holz und Schlaf, wie die Hart und die
Hauptmann der Stoff- und Gefühlswelt des modernen Sozialismus
die Literatur eroberten und einer glatt und behäbig gewordenen
Romantik die ethischen Forderungen einer jungen Generation ent-
gegenschleuderten, so erkämpften, auf den Spuren Börnes und Heines
weiterschreitend, Gutzkow, Laube, Wienbarg, Mundt, Kühne und
ihre Mitläufer den liberalen Zeitforderungen das literarische Bürger-
recht. Weil die Selbstgenügsamkeit der Kunst vor den Stürmen
der Zeit ihren Reiz verloren hatte, erhoben sie die Forderung nach
Das junge Deutschland. 39
einer Versöhnung von Kunst und Leben. Als Revolutionäre traten
sie auf gegen die seichte Unterhaltungsliteratur in Vers und Prosa,
die sich unter dem hegenden Schatten der Zensur behaglich streckte,
gegen die Almanache mit ihren süßsn Blumennamen, aber auch
gegen wirkliche Dichter, wenn sie sich in politischem Quietismus
den Problemen der Gegenwart verschlossen. Als sie im Aufstieg
waren, hatte Heine, der sie als seine Patenkinder betrachtete, sie
gefeiert, weil sie ,,zu gleicher Zeit Künstler, Tribunen und Apostel"
sein wollten. Die Gewalten, die Kirche und Staat beherrschten, soll-
ten sie nicht verhindern, die religiösen und sozialen Gegensätze
der eigenen Zeit aus dem Geist der Zeit heraus in ihren Schriften
abzuspiegeln. Aber sie hatten sich nicht genügend Rechenschaft
davon abgelegt, daß ,, jader und alle Angriffe auf die sozialen Fragen",
wie es damals in einem Frankfurter Geheimbericht an Metternich
hieß, „notwendig auch den auf die politischen in sich schließt".
Als sie nach dem Verbot ihrer Schriften erkennen mußten, wie
tüchtig sie sich die Hände verbrannt hatten, von deren emsiger
Arbeit sie gut bürgerlich zu leben hofften, da brauste ihr Ungestüm
rasch ab. Denn keine echte Bekennernatur befand sich unter die-
sen Übergangsmenschen, die selbst darunter litten, daß sie im
,, Zwischenräume auf der Brücke" (Wienbarg) zweier Zeiten schufen.
Als sich der Jüngling aus dem rückständigen Wuppertal jetzt
voll Begeisterung auf die zeitgenössische Literatur stürzte, da er-
schien ihm zunächst freilich das junge Deutschland, das ihm die
Ideen der Zeit funkelnagelneu vermittelte, das seine Hauptschlag-
worte mit geheimnisvoller Mystik umgab und sich mit der frivolen
Weltlichkeit seiner geistreichen, pikanten Schreibart von der süß-
lichen Sprechweise des heimischen Pietismus so wundervoll abhob,
als die ,, Königin der modernen Literatur". Noch stand in seinem
Planen und Denken der ästhetische Gesichtspunkt an vorderster
Stelle, und nur allmählich setzte bei ihm der Prozeß ein, der end-
gültig dem Inhalt vor der Form stärkeres Gewicht verlieh. So träumt
er anfangs, der poetische Verkünder jener neuen Ideen zu werden,
die jetzt seine innere Welt zu revolutionieren beginnen ; erst später
erfaßt ihn übermächtig jener Drang zur Tat, welcher der ganzen
jungen Generation dieser Jahre gemeinsam war. Da stellt er sich
beherzt in Reih und Glied zu den anderen, die sich zutrauten, den
,,Tsig der großen Entscheidung" herbeizuführen.
An dem spielerischen Feuilletonstil der ,, Zustände und feinen
Bezüge", den Laube, Mundt und Kühne kultivierten, fand sein
tieferes Wesen gerade so lange Gefallen, wie ihre geschraubte
„Modernität" für ihn den Reiz der Neuheit hatte. Bereits nach
einem Jahre erklärte er: lieber straff als schlaff 1 und pries auf
40 Politische Anfänge.
Kosten der schwammigen Manier gewisser Moderner den männ-
lichen Knochenbau des Stils eines Ernst Moritz Arndt, dessen
Selbstbiographie ihm den Anstoß zu einem für seinen damaligen
Standpunkt besonders aufschlußreichen Artikel gab. Unter den
Schriftstellern des jungen Deutschland verdankte Engels die stärkste
Anregung Gutzkow, über dessen Philosophie der Geschichte er
eine ausführliche Besprechung veröffentlichte. Ihm bot er für den
Telegraph für Deutschland zu Anfang des Jahres 1839 seinen ersten
schriftstellerischen Versuch, eine Abrechnung mit den geistigen
und sozialen Mächten des Wuppertals; an. Als eine ermunternde
Antwort kam, ließ er in den nächsten beiden Jahren eine ganze
Reihe von Aufsätzen literarischen und kritischen Inhalts, dazu
Reisebeschreibungen und eigene Dichtungen folgen, die alle unter
dem sorgsam gehüteten Pseudonym Friedrich Oswald abgedruckt
wurden. Auf dessen Wahrung legte der junge Autor großen Wert,
weil die Briefe aus dem Wuppertal, mit denen er sich seine litera-
rischen Sporen verdient hatte, in der Heim.at einen Sturm der Ent-
rüstung erregten. Einem Zusammenstoß mit dem Vater wollte er
noch aus dem Wege gehen.
Gutzkows persönliche Bekanntschaft machte Engels weder da-
mals noch später. Dieses Mannes Selbstbewußtsein hatte es, wie man
weiß, ins Schrankenlose gesteigert, daß er jung an Jahren als das
Haupt einer verbreiteten Richtung dastand, welche die Furcht
der Machthaber erregt hatte. Jetzt hielt er sich, wie Engels ihm
späterhin vorwarf, in seiner Eitelkeit für einen welthistorischen
Charakter. Kaum hatte er von Levin Schücking erfahren, daß
Engels auf einer Wanderung durch Westfalen im Frühling 1840
von diesem in Münster gut aufgenom.men, vielleicht sogar mit
Annette von Droste-Hülshoff zusammengeführt worden war, und
schon fiel er in seinem Antwortbrief voll Gehässigkeit über den
,, jungdeutschen Ladendiener" her, der einen ,, Schwall von ses-
quipedalen Worten an das Ephemere" verschwende. ,,Wenn jeder
Anfänger", ereiferte sich Gutzkow nicht eben geschmackvoll, „so
sein erstes kritisches Erbrechen von sich gibt, wer kann das grün
gelbe Zeug in einem honetten Blatt abdrucken ?'* Aber wir fragen,
was in aller Welt denn Gutzkow zwang, die Beiträge eines Un-
bekannten aufzunehmen. Hatte er es getan und fuhr er damit
fort, so mußte er doch wohl spüren, daß sich in diesen Einsendungen
eine noch ungereifte, aber starke Persönlichkeit aussprach. Auch
in seinem ferneren Verhalten zu Engels zeigte Gutzkow sich von
seiner unerfreulichsten Seite. Hätte er sich erinnert, daß Wolfgang
Menzel sich einst seiner Verdienste um ihn übermäßig gerühmt
hatte, um ihn dann um so wirksamer schnödesten Undanks zeihen
Engels xond Gutzkow. ai
zu können, so wäre er jetzt vielleicht Engels gegenüber nicht in
den gleichen Fehler verfallen. Dieser hat damals schwerlich er-
fahren, wie abfällig sich Gutzkow über ihn aussprach. Als er sich
aber bald danach über das junge Deutschland hinaus entwickelte
und sich nun öffentlich mit diesem auseinandersetzte, wobei er
auf die Grenzen von Gutzkows Talent hinweisen mußte, da fühlte
das Sektenhaupt sich tief beleidigt und zieh in einem Brief an den
von Ergeis hart mitgenommenen Literarhistoriker Alexander Jung
den Abtrünnigen des „geistigen Vatermords" an dem Meister, der
ihn ,, Denken und Schreiben" gelehrt habe. Wenn übrigens der
in Engels erwachende Kämpfer nun am Raufen einigen Geschmack
fand und den reichen Überschuß von Laune und Kraft, den er
in sich spürte, auch mal ausnahmsweise an ,, Ephemeres" wandte,
etwa dem Renegaten und Denunzianten Joel Jacoby auf den Leib
rückte oder der Deutschen Adelszeitung Fouques ein ironisches
Requiem anstimmte, so war Gutzkow, der selbst im Glashause
saß, der letzte, der ihn deshalb mit Steinen bewerfen durfte. Wer
anders als er und sein Kreis hatten das gepflegte, mit literarischer
Polemik getränkte Feuilleton bei den Zeitschriften eingebürgert?
Engels liebte am jungen Deutschland die Hochwertung der
Gegenwart, des Lebens und der Tat, die Herausstellung der Rechte
und Ansprüche der jungen Generation gegenüber dem gesättigteren
Lebensstil und der politisch wie sozial größeren Genügsamkeit der
Generation von vor 1830. Aber so stolz er sich zunächst als Jung-
deutscher brüstete, er mußte bald herausfühlen, daß der echte Durst
seiner Seele wie seines Geistes nach anderer Kühlung verlangte.
Stets werden literarische Bewegungen; die einer Reaktion des
Wirklichkeitssinns gegen die Romantik, des unmittelbaren Lebens-
gefühls gegen metaphysische Spekulationen zum Durchbruch ver-
helfen wollen, der gebundenen Rede die ungebundene vorziehen.
Mochte beim jungen Deutschland nur Theodor Mundts beschränk-
tes Talent mit der Prosa einen einseitigen Kultus treiben, zum deut-
schen Liede hatten auch die Dramatiker, Epiker und Kritiker
Gutzkow und Laube kein unmittelbares warmes Verhältnis. Engels
hingegen verehrte und liebte mit der ganzen ursprünglichen Kernig-
keit seines Wesens wie die alten Volksbücher, in denen er lebte und
webte, die deutsche Lyrik ,,vom Ludwigslied bis zu Nikolaus Lenau".
Hatte das junge Deutschland noch keine Lyriker hervorgebracht,
er trug sich im geheimen mit der Hoffnung, diese Lücke künftig
auszufüllen. Zunächst schien^ ihm Karl Beck zuvorgekommen
zu sein, dessen Nächte ihn anfangs so bezauberten, daß er in jugend-
lichem Überschwang den ungarischen Juden, den^- Gutzkow mit
Byron verglich, dem jungen Schiller an die Seite stellte und als den
'42 Politische Anfänge.
künftigen Goethe den Freunden ausposaunte. Aber schon als er
über Beck öffentlich im Telegraph schrieb, befremdete ihn ein
weltschmerzlicher Ton, der dem lebensfrohen Rheinländer, der
auf sich selbst mit Vorliebe das Wort , »wurzelhaft" anwandte,
nichts zu sagen vermochte. Ihm hatte die Vergangenheit keine
dunklen Lasten ins Leben mitgegeben ; was ihm die Väter geschenkt
hatten, durfte er ihnen fröhlich danken, und heiter und frei ent-
falteten sich seine Gaben, zumal ein gütiges Geschick den jungen
Trieben Regen wie Sonnenschein zur gelegenen Stunde bescherte.
In den Briefen, die Friedrich von Bremen aus den früheren
Schulfreunden schreibt, ist von zahlreichen Gedichten, sogar Ge-
dichtheften und Novellen die Rede, die sich nicht erhalten haben.
Auch liebte er zu improvisieren und in den Versen, die ihm dann
schnell aus der Feder strömten, finden sich manche wirklich poe-
tische Wendungen. Ein Brief an die Schwester schildert im August
1840 einen Sonnenuntergang:
,,Die Sonne sinkt, rings dunkel wird das Land,
Und nur im Westen dringt durch Wolkenschleier
Des Abendrotes heiß entflammter Brand.
Es ist ein ernst und ein geheiligt Feuer,
Das auf dem Grabe eines Tages glüht,
Der manches uns gebracht, was lieb und teuer.
Jetzt starb er hin und ihren Mantel zieht
Die dunkle Nacht mit hellen Sternenblicken
Leis über unser irdisches Gebiet."
Dabei machte er sich über Umfang und Tragkraft seiner dichteri-
schen Begabung keine großen Sorgen. Wohl schmerzte es ihn, als
er in des alten Goethe Rat für junge Dichter sich selbst „trefflich
bezeichnet" fand. Doch tröstete es ihn gleich wieder, daß Goethe
ein dilettantisches Talent als angenehme Zugabe gern gelten lassen
wollte. —
,,Was soll ich armer Teufel nun anfangen?" hatte er im April
1839 Friedrich Graeber gefragt. ,,Für meinen eigenen Kopf fort-
ochsen? Hab* keine Lust. Loyal werden? Pfui Teufel I ...Also
ich muß ein junger Deutscher werden, oder vielmehr ich bin es
schon mit Leib und Seele." Und wie erläuterte er dies? „Ich kann
des Nachts nicht schlafen vor lauter Ideen des Jahrhunderts, wenn
ich an der Post stehe und auf das preußische Wappen blicke, packt
mich der Geist der Freiheit, jedesmal wenn ich in ein Journal sehe,
spüre ich nach Fortschritten der Freiheit, in meine Poemata schlei-
chen sie sich, und verspotten die Obskuranten in Mönchskapuze
und im Hermelin. Aber von ihren Floskeln: Weltschmerz, welt-
historisch, Schmerz des Judentums usw. halte ich mich fern, denn
Die Ideen des Jahrhunderts. a9
die sind jetzt schon veraltet. Und das sage ich Dir, Fritz, so Du
einmal Pastor wirst, Du magst so orthodox werden, wie Du willst,
aber wirst Du mir ein Pietist, der aufs junge Deutschland schimpft,
die Evangelische Kirchenzeitung zum Orakel nimmt, wahrlich,
ich sage Dir, Du hast mit mir zu tun."
Der PcLstorensohn aus dem Wuppertal, der eben bei Hengsten-
berg Kolleg hört und dem ob solcher verwegenen Sprache die Haare
zu Berge stehen mochten, wünschte dem Freunde in seiner Ant-
wort einen getreuen Eckart; der solle ihn vor der Umgarnung des
Bösen bewahren, die ihm so sichtlich drohte. Aber damit kam er
schlecht bei ihm an! ,,Männeken, was schreist Du nach dem treuen
Eckart?" antwortete der im Oktober. „Sieh, da ist er ja schon, ein
kleiner Kerl mit scharfem jüdischem Profil, er heißt Börne, laßt
den nur drein schlagen, der chassiert all das Volk der Frau Venus-
Servilia. Dann empfiehlst Du Dich gleichfalls höchst demütig."
Anschlußbedürftig, wie seine gesellige Natur auch in geistigen
Dingen war, hatte Engels, seit das öffentliche Leben sein Interesse
gefangen hielt, selbst sich öfter einen getreuen Eckart gewünscht,
der ihm durch das Labyrinth der Zeit den rechten Weg wiese. Aber
im engeren Kreise des jungen Deutschland fand er niemand, den
er als einen politischen Charakter hätte verehren können. Je
stärker sein Interesse für Politik wurde und je mehr gleichzeitig
seine von Haus aus an Zucht gewöhnte Seele, in einen neuen aus
sich heraus mächtigen und notwendigen Zusammenhang hinein-
verlangend, an der Hegeischen Philosophie Halt und Anschluß
fand, um so fühlbarer wurde ihm, daß dieses für ihn nur ein Durch-
gangsstadium bedeutete. Nicht von einem Tage zum andern, doch
allmählich wird sich bei ihm das Urteil herausgebildet haben, daß
Gutzkow und seine Genossen an der Klippe scheitern mußten, daß
sie selbst ,, keine ganzen Leute" waren. Der aus schweren religiösen
Kämpfen eben bei Hegel Ruhe und Trost Findende empfand, was
ihre ,, ober flächlich schillernde Unphilosophie" ihm nicht hatte
bieten können. Und ihre politische Molluskenhaftigkeit, über
die man sich in den Kreisen der Liberalen längst einig geworden
war, kam ihm vollends zum Bewußtsein, als ihm Börne entgegen-
trat. Der war ein anderer Kerl als jene Halbnaturen, das gestand
Engels sich, der war ein ganzer Mann, ein Kämpfer, der mit seinen
Überzeugungen stand und fiel; diesem Eckart schloß er sich jetzt
-an mit deutscher Vasallentreue.
Auf Börne, auf ihn weit mehr als auf Heine, berief sich zwar
auch das junge Deutschland, wenn man es nach seiner Abstammung
fragte. Hatte sich Heine die Herzen der freiheitsdürstenden und
Gesinnung heischenden Jugend durch das ihm im Blute steckende
^^ Politische Anfänge.
Einspännertum, das ihn über alles Parteiwesen, freilich nicht aus
allem Cliquenwesen hinaushob, seit Jahren entfremdet, so war
dafür Börne, dessen Grab man eben geschaufelt hatte, so recht der
Paladin nach dem Herzen dieser zur Tat hindrängenden Jugend.
Wo gab es in Deutschland noch einen unabhängigen Geist seines
Ranges, der sich mit gleicher Einseitigkeit der Politik verschrieben,
mit gleicher Unerschrockenheit an seinem Standpunkt festgehalten,
mit gleicher Uneigennützigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen die
Machthaber seine große schriftstellerische Begabung restlos in
den Dienst der Zeitideen gestellt hätte ? Er selbst hatte sich nicht
falsch eingeschätzt, als er für sich bloß das Verdienst in Anspruch
nahm, den schlafenden Deutschen die Bettdecke fortgezogen, sie
aus den Federn getrieben zu haben. Aber das junge Deutschland
stellte ihn auf ein höheres Piedestal: Laube erblickte in ihm ,,eine
fortlebende und fortwirkende politische Tat", Gutzkow den ,, Sauer-
teig in dem Bildungsstoff der Restaurationsperiode", Theodor Mundt
den ,, verzweifelten Metaphysiker der modernen Zeitbewegung",
der „am Elend seines eigenen Herzens, welches das Herz Deutsch-
lands war" gestorben ist. Und noch begeisterter feierte ihn die
Schar der liberalen Tendenzdichter, deren Blütezeit eben heran-
nahte. Karl Beck und Rudolf Gottschall besangen ihn in Gedichten
voll hohen Schwungs, Dingelstedt und Herwegh blickten andäch-
tig zu ihm auf. Der Volksmann Robert Blum pries sein , »großes
der Freiheit gewidmetes Leben" und selbst der antisemitische Rüge
nannte ihn einen herrlichen Kerl. Wie sehr Lassalle Börne bewun-
derte, erzählt uns das Jugendtagebuch.
Welches waren die Gedanken und Wünsche, die Engels aus
den Pariser Briefen und der Streitschrift gegen Menzel entgegen-
traten, als diese ihm jetzt in Bremen in die Hände fielen ? Für jene
Generation war es noch neu, daß ein Schriftsteller von Rang sich
auf das politische Gebiet beschränkte und die theologischen und
philosophischen Kämpfe daneben als Zeitverlust ansah. Börne
verlangte, wie man weiß, die Gleichheit und Freiheit aller Staats-
bürger, er forderte, mehr stillschweigend als ausdrücklich, die
Volkssouveränität. Als überzeugter Individualist sieht er den
Staat, der nur um der einzelnen willen da ist, für ein notwendiges
Übel an und warnt vor der Tyrannei der Gesetze, denen er die
Menschenrechte überordnet. Von der Begeisterung für die kon-
stitutionelle Monarchie hatte ihn, wie viele andere, das Bürger-
königtum geheilt und zum Republikaner gemacht. Nun erblickte
er in dem Justemilieu bloß noch eine Mißgeburt mit zwei Rücken,
bestimmt, auf beiden Seiten Prügel zu bekommen, jetzt wollte er
keine andere Alternative mehr gelten lassen als: absolute Monarchie
Börne.
45
oder Republik. Zwischen Liberalismus und Demokratie zog er
keine klare Scheidelinie, sich selbst bezeichnete er als Liberalen
und als Republikaner. Überhaupt war Börne nicht der Mann der
Definitionen und der scharfen begrifflichen Formulierungen ; er
war so wenig ein philosophischer wie ein historischer Kopf. Den
Patriotismus im machtpolitischen Sinne lehnte er ab, die Nationalität
bedeutete ihm nur eine Schranke für die Verbrüderung der Völker.
Dennoch beseelte ihn eine tiefe Liebe zu den Deutschen, für deren
Freiheit und Einheit sein Herz erglühte, seine Feder kämpfte. Seit-
dem er an einer Basserung auf friedlichem Wege verzweifelte, ver-
kündete er, wie einst die Propheten des alten Testaments den Köni-
gen Israels, den deutschen Fürsten das Nahen des Strafgerichts,
das Heraufgrollen der Revolution. Seine Geschichtsauffassung,
ausschließlich aus der Gegenwart abgeleitet und ganz auf sie zu-
geschnitten, beachtete nur die Kämpfe zwischen den Völkern auf
der einen und den Mächten der Autorität auf der anderen Seite.
Der Gedanke an einen sozialen Klassenkampf, den Heine bereits
heraufkommen sah, liegt ihm noch ganz abseits, mochte er auch
gelegentlich die Ansicht äußern, daß es dereinst zum Kriege der
Armen gegen die Reichen kommen werde, weil die Ungleichheit
nicht fortbestehen könne. Was er in den Pariser Briefen über den
Saint-Simonismus schrieb, war unerheblich; die Gütergemeinschaft
verurteilte der begeisterte Liberale als eine Lehre, die die Persön-
lichkeit zerstöre.
Kein anderer Landsmann hätte Engels die politische Ge-
dankenwelt des westeuropäischen Radikalismus wirksamer ver-
mitteln können als dieser erste klassische Wortführer eines deut-
schen Demokratismus. Des Jünglings Briefe und Aufsätze aus
den Jahren zwischen 1839 und 1842 werden nicht müde, dem
„riesigen Kämpfer für Freiheit und Recht" zu huldigen, der in
den trüben Zeiten der dreißiger Jahre die Nation gestärkt und auf-
recht erhalten habe, diesen ,, Johannes Baptista der neuen Zeit",
der einen Streit von noch unabsehbaren Folgen hervorgerufen,
der mit Feuer taufte, der die Spreu unbarmherzig aus der Tenne
fegte, und in dessen Herzen es ,,nie Mitternacht sondern immer
Morgenstunde" scholl. Noch hatte ihm kein Zeitgenosse die Herr-
lichkeit der Tat, die dem Knaben Jung-Siegfried verkörperte, mit
gleich verführerischen Worten gepriesen. Und für die Ermutigung
und Stärkung, die Börne ihm, dem einsam Irrenden brachte, ist
Engels diesem immer dankbar geblieben. Als Schriftsteller stellte
er ihn Lessing zur Seite, und was Hegel für die Weltanschauung,
das bedeutete für die Politik ihm fortan Börne. In einem Atem
nennt er sie als seine Befreier, den ,,Mann der politischen Praxis"
aS Politische Anfänge.
und den „Mann des Gedankens". Ohne die direkte und indirekte
Wirkung Börnes, meinte er 1842, wäre es der aus Hegel hervor-
gehenden freien Richtung weit schwerer geworden, sich zu konsti-
tuieren, Börne und Hegel ständen sich näher, als es schiene. Die
Unmittelbarkeit, die gesunde Anschauung Börnes erwies sich
als die praktische Seite dessen, was Hegel theoretisch wenigstens
in Aussicht stellte. Nur müsse man die verschütteten Gedanken-
wege zwischen ihnen ausgraben. Darum bemüht finden wir Engels
seit 1839. Die „Durchdringung Hegels und Börnes zu vollenden",
die Vermittlung der Wissenschaft und des Lebens, der Philosophie
und der modernen Tendenzen erscheint dem werdenden Jung-
hegelianer fortab als die Aufgabe der Zeit. -—
Engels weilte erst wenige Wochen in Bremen, als das politische
Interesse des deutschen Bürgertums nach den erfolglosen Anläufen
vom Anfang der dreißiger Jahre zum ersten Mal wieder in einige
Bewegung kam. Der Verfassungsbruch des Königs von Hannover
führte dem Liberalismus neue Kräfte zu; in der katholischen Welt
brachte die Gefangensetzung des Kölner Erzbischofs die Gemüter
in Wallung. Der Protest der sieben Göttinger Professoren gegen
die Tat des „alten Hannoverschen Lausebocks", wie der respekt-
lose junge Bremer Kontorist den Weifenkönig titulierte, schlug um
so mächtiger ein, als es im nördlichen Deutschland einer der ersten
Fälle war, wo Männer des Bürgertums in einer über die private
Sphäre weit herausgewachsenen öffentlichen Angelegenheit Charak-
ter bezeigten. Nun besaß Engels von Kindheit an für jede Be-
währung im Kampf warme Bewunderung. Jacob Grimms Ver-
teidigungsschrift, die er sich sofort kaufte, entzückte ihn. Nur
die Weser trennte Bremen vom Schauplatze jener Verfassungs-
kämpfe; die öffentliche Meinung nahm hier besonders entschieden
Stellung gegen Ernst August. Während Friedrich am Jahrestage
der Julirevolution 1839 bei stürmischem Wellengang auf dem
Flusse rudert, gedenkt er dieser „schönsten Äußerung des Volks-
willens seit dem Befreiungskriege" und mahnt die ,, Fürsten und
Könige Deutschlands" an das Schicksal Karls X. Sein Blick streift
,,mit zornigem Mut" zum hannoverschen Ufer, wo ,,das Volk auf-
schaut durchbohrenden Auges und das Schwert kaum ruht in der
Scheide". Da fragt er den wortbrüchigen König: „Ruhst du so
sicher auf goldenem Thron, wie ich in dem schwankenden Boot?"
Die Verse dieses Gedichts sind holprig, aber seine Tendenz verrät
die politische Stimmung, die Engels erfüllte, als der Name Börnes
in seinen Briefen zuerst auftauchte.
Am frühesten werden wohl die Schriften des jungen Deutsch-
land seinem politischen Denken rationalistische Elemente zuge-
Politischer Radikalismus. 47
führt haben. Aber erst seit er Börne entdeckt hat, pocht er mit
nairer Begeisterung auf das Naturrecht eines jeden Menschen, ver-
donnerte er ,, alles was in den jetzigen Verhältnissen diesem wider-
spricht". Nun leert er die ganze Rüstkammer des zeitgenössischen
Liberalismus, um sich mit Waffen für den Kampf auszustatten,
in den er so freudig hineinschreitet. Bald leugnete er, daß sich über-
haupt noch Gründe ins Feuer führen ließen gegen die Teilnahme
des Volks an der Staatsgewalt, gegen die Abschaffung der Zensur ,^
gegen die Beseitigung der Vorrechte des Adels und die Entrechtung
der Juden. Auch was ihn zunächst umgab, sah er in verändertem
Lichte ; er wetterte über die niederträchtige Verfassung der Hansa-^
Stadt, wo das Patriziat selbst die Geldaristokratie noch nicht an die
Staatsleitung heranlassen wolle. Mit noch größerer Leidenschaft
aber kämpfte er ins Große und Weite gegen Servilismus und Aristo-
kratenwirtschaft; und mit Börne ist er der Meinung, daß diese
Übel nur noch mit dem Schwert auszurotten wären. Was immer
sich dem unaufhaltsamen Zuge der neuen Ideen entgegensetze,,
solle fallen: zuvörderst der Bundestag, die absolute Monarchie^
die Monarchie überhaupt. Selbst eine Besprechung der Deutschen
Volksbücher für den Telegraph, die im November 1839 erschien,,
ist von dieser politisch radikalen Tendenz, die mehr als an die
literarischen Jungdeutschen an das politisch-revolutionäre Jung-
deutschland der Mazzinigenossen auf Schweizer Boden anklingt,
ganz durchtränkt: das deutsche Volk, meint er hier, habe lange
genug die Griseldis und die Genoveva vorgestellt, nun möge es auch
einmal den Siegfried und Reinald spielen! Und an den Söhnen
Fortunats preist er die ungebändigte Oppositionslust, die der ab-
soluten, tyrannischen Gewalt Karls des Großen jugendkräftig ent-
gegentritt. Schon tauchen in seiner erregten Phantasie wie in den
Proklamationen der Breidenstein und Rauschenplatt wankende
Throne, zitternde Altäre und brennende Schlösser auf. An einem
Novembertag des Jahres 1839 läßt er in einen mit studentischer
Trinkromantik untermischten Brief an Wilhelm Gracber einen
poetisch-revolutionären Dithyrambus einfließen. „Alles andere
kommt auf den Hund", heißt es darin, „die sentimentalen Lied-
lein verhallen ungehört und das schmetternde Jagdhorn wartet
eines Jägers, der es blase zur Tyrannenjagd, in den Wipfeln aber
rauscht der Sturm von Gott, und die Jugend Deutschlands steht
im Hain, die Schwerter zusammenschlagend und die vollen Becher
schwingend; von den Bergen lohen die brennenden Schlösser, die
Throne wanken, die Altäre zittern, und ruft der Herr in Sturm
und Ungewittern, voran, voran, wer will uns widerstehen." DaS:
sind Töne, die noch ganz an die Romantik der Unbedingten der
^8 Politische Anfänge.
Burschenschaft erinnern, die sich aber leicht ummodulieren ließen,
sobald sie, wie es damals bei Berührung der politischen Flüchtlinge
mit den wandernden Handwerksburschen auf ausländischem Boden
geschah, mit den sozial-revolutionären Gefühlen des Vortrupps
des entstehenden deutschen Proletariats zusammenflössen.
Die Geschichte der letzten Jahrzehnte erblickte Engels nun
mit der gleichen Einseitigkeit wie Börne nur im Lichte seiner demo-
kratischen Überzeugung. Den höchsten Gewinn der Jahre der
nationalen Erhebung sieht er nicht so sehr in dem Sturz der Fremd-
herrschaft, die kurz oder lang von selbst zusammengebrochen wäre,
da sie allein auf den Atlasschultern Napoleons ruhte, wie darin,
daß das deutsche Volk hier zum ersten Male selbständig die
geschichtliche Bühne betrat: ,,Daß wir uns über den Verlust der
nationalen Heiligtümer besannen, daß wir uns bewaffneten, ohne
die allergnädigste Erlaubnis der Fürsten abzuwarten, ja die Macht-
haber zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen
Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auf-
traten, das war der höchste Gewinn jener Jahre und darum mußten
nach dem Kriege Männer, die dies am klarsten gefühlt, am ent-
schiedensten danach gehandelt hatten, den Regierungen gefährlich
erscheinen.** Genau wie Börne machte Engels für die Reaktion im
Innern, die auf den großen nationalen Aufschwung gefolgt war,
die ,, Meineidigkeit** der Fürsten verantwortlich. Der besondere
Haß des jungen Rheinländers gilt aber dem eigenen Landesherrn.
Den alten König bedenkt er in einem Briefe an Fritz Graeber vom
Dezember 1839 mit den gepfeffertsten Schimpfwörtern: ihn hasse
er bis in den Tod ; und müßte er ihn nicht so sehr verachten, so
haßte er ihn noch mehr. ,,0, ich könnte Dir ergötzliche Geschichten
erzählen, wie lieb die Fürsten ihre Untertanen haben. Ich erwarte
bloß von dem Fürsten etwas Gutes, dem die Ohrfeigen seines Volkes
um den Kopf schwirren, und dessen Palastfenster von den Stein-
würfen der Revolution zerschmettert werden.** Deutlich spürt
man in dieser Tirade den Nachhall der frischen Lektüre des letzten
Bandes der Pariser Briefe ! Stolz auf die ihm von Börne eingepflanzte
republikanische, demokratische, revolutionäre Gesinnung blickt
der Jüngling jstzt verächtlich auf die Großen dieser Welt. Er ver-
zichtet ein für alle Mal auf Ehrenbezeugungen von Fürsten: ,,Was
soll all das?** schreibt er etwas später. ,,Ein Orden, eine goldene
Tabatiere, ein Ehrenbecher von einem Könige, das ist heutzutage
eher eine Schande als eine Ehre. Wir bedanken uns alle für der-
gleichen und sind gottlob sicher, denn seit ich meinen letzten Ar-
tikel über E. M. Arndt im Telegraphen drucken ließ, wird es selbst
dem verrückten König von Bayern nicht einfallen, mir eine solche
Dichterische Pläne.
49
Narrenschelle anzuheften, oder den Stempel des Servilismus auf
den Hintern zu drücken." Das ahnungslose Schwesterlein, das sich
in einem vornehmen Pensionat in Mannheim befindet, berichtet
dem Bruder mit dem Stolz des Backfisches, daß es der Großherzogin
von Baden vorgestellt worden wäxe. Aber es kommt jetzt schlecht
damit an: ,,Wenn Dir nächstens wieder so eine Allergnädigste vor-
gestellt wird", erwidert er ihm hochnäsig, ,,so schreibe mir doch,
ob sie hübsch ist, sonst interessieren mich solche Persönlichkeiten
garnicht."
Es wäre sonderbar gewesen, wenn nicht auch Engels poetische
Pläne um diese Zeit den Bann der neuen Ideen verspürt hätten, die
ihn so leidenschaftlich erfüllten. Da alles in einem Kessel brodelte,
wie hätten sich gerade die Dichtungen solchem Einflüsse entziehen
können ? Faust und den ewigen Juden zählte er dem Tiefsten zu,
was die Volkspoesie aller Länder aufzuweisen habe. Unerschöpflich
dünken ihn diese Stoffe; jede Zeit könne sie sich aneignen, ohne
sie in ihrem Wesen umzumodeln. Aber ihm paßte es nun nicht
mehr, daß die Volksbücher diese Gestalten ,,als Kinder eines skla-
vischen Aberglaubens" auffaßten. Sollte es nicht möglich sein,
,, diese beiden Sagen dem deutschen Volke zu retten, sie in ihrer
ursprünglichen Reinheit wieder herzustellen?" Daß er selbst sich
mit solchen Plänen trug, verrät ein Brief an Wilhelm Graeber, den
er in dem gleichen November 1839 schrieb, als im Telegraph sein
Aufsatz über die Volksbücher erschien. Diesem gesteht er, daß ein
großartiger Stoff, gegen den alle seine bisherigen nur Kindereien
gewesen seien, sich in seinem Geiste emporringe. Er wolle die
modernen Ahnungen, die sich schon im Mittelalter zeigten, aber die,
unter den Fundamenten der Kirchen und Verliese vergraben, da-
mals vergebens an die harte Erde um Erlösung pochten, in einer
Märchannovelle zur Anschauung bringen. Faust, der wilde Jäger,
der ewige Jude seien drei Typsn jener geahnten Geistesfreiheit,
und sie ließan sich leicht in Verbindung und in eine Bsziehung zu
Johannes Huß setzen. Ausdrücklich betont er, daß er besonders
auf dieses Werk die Hoffnung für seinen künftigen Dichterruhm
baue. Einige Wochen später, als er bereits Hegel studierte, meldet
er Fritz Graeb2r, daß die lyrische Poesie des modernen Pantheismus,
nach der die Gegner höhnisch gefragt hatten und die ihn bei Shelley
begeisterte, erscheinen werde, sobald erst er und gewisse andere
Leute diesen Pantheismus richtig durchdrungen haben würden.
Aber was immer von solchen Plänen begonnen oder gar zur
Ausführung gekommen sein mag, es ist der Nachwelt verloren.
Aus diesem Grunde schon verdient besondere Aufmerksamkeit
der Gedichtzyklus ,,Ein Abend", der im August 1840 mit dem
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 4
50 Politische Anfänge.
charakteristischen Motto ,,To-morrow comes" aus Shelley, dem
Dichter, dessen Übersetzung er damals ernsthaft plante, im Tele-
graph zum Abdruck kam. Keine andere Poesie, die sich von Engels
erhalten hat, birgt gleich starkes dichterisches Geäder. Wir finden
den Jüngling bei Sonnenuntergang im Pfarrgarten an der Weser,
und Calderons Tragödien liegen vor ihm aufgeschlagen. Das herein-
brechende Abendrot ruft ihm die Sehnsucht wach nach jenem
Morgenrot, von dem seine Seele träumt, nach dem Sonnenauf-
gang der Freiheit, der die ganze Erde in einen lichten Garten ver-
wandeln \Aerde. Da vertieft er sich in dieses Zukunftsbild. Wie
über den Zusammenhang von Religion und Landschaft mochte er,
vielleicht durch Gutzkows Zur Philosophie der Geschichte an-
geregt, schon damals öfter über den Einfluß des Klimas auf die Ver-
schiedenheit von Menschen und Völkern nachgedacht haben. In
seinem messianischen Traum aber verschwindet dieser Unterschied:
mit der Friedenspalme schmückt sich hier auch der Nordländer,
und die Despoten des Südens trifft die Keule aus Eichenholz. Die
Aloe sproßt dann unter allen Himmelsstrichen; stachelvoll, plump
und unansehnlich wie ihre Blätter schaue der Geist des Volkes heute
noch aus; dereinst werde eine lichte Blüte, die Freiheitsflamme,
jedes Hemmnis überwindend ,,laut erkrachend'* aus ihr hervor-
brechen. Die Künder des neuen Morgenrots aber, die Vögel, die
nicht mehr von den längst gesunkenen Warten der Adelsschlösser,
sondern von stolzen Eichen die heraufkommende Sonne grüßen,
werden die Dichter sein.
,,Und ich bin einer auch der freien Sänger.
Die Eiche Börne ist's, an deren Ästen
Ich auf geklommen, wenn im Tal die Dränger
Um Deutschland enger ihre Ketten preßten.
Ja, einer bin ich von den kecken Vögeln,
Die in dem Ächermeer der Freiheit segeln;
Und wäre ich Sperling nur in ihren Zügen —
Ich wäre Sperling lieber unter ihnen
Als Nachtigall, sollt ich im Käfig liegen,
Und mit dem Liede einem Fürsten dienen."
Im Eifer der Ausmalung vermengen sich dem jugendlichen Dichter
die Bilder mehr als statthaft, und die Schiffe, die er auf der Weser
herauf- und herunterziehen sieht, verwandeln sich gar zu plötzlich
in die Rosse, die er auf seinen Sonntagsritten nach Vegesack oder
in die Bremer Schweiz so gern tummeln mochte. Noch schlägt in
dieser Zukunftsphantasie des dereinstigen Verkünders des Klassen-
kampfes die Liebe überall unsichtbare Brücken zwischen den Men-
schen, die sich alle als Glieder einer Geisteskette fühlen; noch preist
Der Gedichtzyklus: „Ein Abend". ej
er hier den Frieden, der dann die ganze Menschheit umfassen werde.
Doch schon erscheint ihm auch erforderhch, daß, wenn erst ,,der
Freiheit Lichtstandarte weht", die Schiffe „nicht Waren mehr,
um Einz'le zu bereichern", sondern Saat tragen, ,,der Menschen-
glück entkeimt". Sicherlich steht dieser Gedanke hier noch zurück
hinter den Träumen von Frieden und Freiheit und einem reineren
Gottesglauben, dennoch bleibt er ein Fingerzeig, daß Engels die
Unvollkommenheit der bestehenden Wirtschaftsordnung empfun-
den haben mußte. Die Ideen des Saint-Simonismus, die das junge
Deutschland ihm herantrug, hatten schon damals bei ihm Wurzeln
geschlagen. Sein Aufsatz über Ernst Moritz Arndt, der im Februar
1841 erschien, lehnt jenen Eigentumsbegriff, der den Fortbestand
der Fideikommisse rechtfertigen sollte, mit dem ausdrücklichen
Hinweis ab, daß er , .unserer Erkenntnis längst nicht mehr ent-
spricht". Bereits streitet er einer Generation das Recht ab, über das
Eigentum aller künftigen Geschlechter unbeschränkt zu verfügen;
die Freiheit des Eigentums würde zerstört werden, wenn alle Nach-
kommen diese Verfügungsfreiheit verlören. Noch waren dies frei-
lich Gedanken ohne viel Folge, die dem jugendlichen Poeten kamen,
wenn er in den nächtlichen Wolkenschleiern ,,vor Sonnenaufgang"
nach der Sonne spähte. Noch versteht er unter der alten Zeit, auf
deren ,, Zusammenkrachen" er hofft, die der Knechtung der Geister;
mit Börne kämpft er als Freigesinnter gegen die Pfaffen, als Demo-
krat gegen Adel und Fürsten, als Republikaner gegen die Monarchie,
ohne schon zu ahnen, daß diese mächtigen Gegensätze sich einmal
in seinem Denken einem anderen, der sich ihm jetzt noch verhüllt,
unterordnen werden! —
Zum ersten Mal seit den Befreiungskriegen hat der an der
orientalischen Frage entzündete europäische Konflikt vom Sommer
und Herbst 1840 uns Deutschen wieder ins Gedächtnis gerufen, daß
die oberste Aufgabe eines Volk« s die Verteidigung des heimischen
Bodens ist. Aber tiefe Gegensätze im Innern, die sich unaufhalt-
sam zuspitzten, weil unbelehrbare Machthaber die aufwärtsstreben-
den Klassen gewaltsam niederzuhalten suchten, ließen es nicht
geschehen, daß die gespaltene Nation sich rückhaltlos um das natio-
nale Banner sammelte. Keine Stimme erhob sich zwar dafür, das
linke Rheinufer den Franzosen auszuliefern. Wollten diese es sich
in einem Kriege holen, so verlangten alle, daß m.an ihnen mit den
Waffen begegnete. Das forderten selbst jene, die in das auf allen
Gassen gesungene Lied Nikolaus Beckers nicht einstimmen mochten,
weil sie, wie der Kreis der Hallischen Jahrbücher, zu dem Engels
sich rechnete, das ,,deutschtümelnde" Pathos von 1813, das nun
4*
52 Politische Anfänge.
neu erwacht war, als dumpf, leer, plump und ungebildet empfan-
den und sorgten, daß bei diesem plötzlich ausgebrochenen natio-
nalen Taumel die freiheitlichen Ideale geopfert werden könnten.
Unheimlich war allen Radikalen der Gedanke, daß jene heilige
Allianz, der man die Karlsbader Beschlüsse verdankte, aus einem
Krieg gegen das Heimatland der Revolution neue Kräfte ziehen
sollte. Und besonders mißfiel ihnen, daß Preußen, wie sie dachten
ohne dringende Not, als Handlanger jenes Moskowitertums auf-
trat, dessen Gefährlichkeit für Deutschlands Zukunft ihnen Gold-
manns viel« beachtetes Pamphlet ,,Die europäische Pentarchie"
erst recht vor Augen gestellt hatte. Sollte man das Blut seiner Söhne
opfern, um nach Rußlands und Englands Gebot den Thron des
Sultans gegen den Khediven zu verteidigen ? Zur Zeit des Feldzuges
nach den Pyramiden hatten unsere Biedermeier gesungen:
,,Laß Bonapart' die Türken schlagen,
Sei er der größte Held und Mann,
Mag er sie aus Ägypten jagen.
Was gehen uns die Türken an ?
Wir trinken auf der Menschheit Wohl."
Die Erfahrungen der seither verstrichenen vierzig Jahre hatten
den deutschen Kleinbürger über die Verflochtenheit der inter-
nationalen Vorgänge nicht aufgeklärt, und so beklatschte auch
jetzt das Publikum im Berliner Königlichen Opernhaus demon-
strativ eine Arie, deren Refrain lautete: ,,Was geht uns der Sultan
an ?** Beckers Rheinlied verdankte seine Popularität nicht allein
der trotzigen Entschlossenheit zur gemeinsamen Verteidigung
vaterländischen Bodens. Es war auch neu, daß die deutsche Einig-
keit, deren leiseste Erwähnung noch vor wenigen Wochen m.it
Festung oder Zuchthaus bedroht war, nun plötzlich überall öffent-
lich besungen werden durfte. ^t
Mochte die Freiheit Deutschlands wirklich von außen bedroht
werden, eine überzeugte Opposition konnte nicht vergessen, daß
auch im Innern die Freiheit noch vergeblich gefordert wurde. Das
Lied Der Rhein, das der junge Pommer Robert Prutz in den
Hallischen Jahrbüchern veröffentlichte, erinnerte das deutsche Volk
daran, daß es auch mit seinen eigenen Fürsten eine Rechnung zu
begleichen habe. Und auch diesem Gedicht verschaffte seine Ten-
denz eine so jubelnde Aufnahme im Publikum, daß der reaktionäre
preußische Polizeiminister von Rochow den König auf die Gefähr-
lichkeit der junghegelschen Partei und ihres führenden Organs
recht eindringlich hinzuweisen sich bemüßigt sah. Dem , »freien
deutschen Geist", den der Dr. Prutz in seinem Liede verherrliche,
entspreche jene von Hegel angeblich erfundene ,, freie deutsche
Engels in der europäischen Krisis von 1840. 53
Wissenschaft", die in der Religion von jedem positiven Glaubens-
inhalt, in der Politik von allen geschichtlichen Überlieferungen
und von jeder organischen und natürlichen Gliederung abstrahiere:
,,Der Patriotismus, der in diesem Liede klingt, und den die Halli-
schen Jahrbücher verkünden, ist ein auflösender, allen Widerstand
unmöglich machender, den Franzosen die Arme entgegenstreckender.
,,Man gebe Freiheit" sagen sie, ,,und wir sind bereit dem Auslande
zu widerstehen" — aber diese Freiheit ist Auflösung und Zügel-
losigkeit, die in den Hallischen Jahrbüchern unter der Maske der
Poesie und Philosophie sehr deutlich hervorsieht."
Doch die aufgetürmten Wogen der nationalen Begeisterung
verliefen sich, bevor die reaktionären Kreise aus der Wiederbe-
lebung des Geistes der Freiheitskriege Nutzen ziehen konnten, und
den liberalen Ideen tat ihre französische Herkunft keinen Eintrag.
Wir aber fragen schon lange mit einiger Spannung, wie sich denn
bei Engels sein junger Radikalismus damals mit seinem vater-
ländischen Gefühl abgefunden haben mag. Da zeigt es sich, daß
jene Gedanken- und Gefühlskomplexe, die ihm bis dahin Geist
und Seele ausschließlich erfüllt hatten, bei diesem frühen Konflikt
zwischen seiner freiheitlichen und seiner nationalen Gesinnung die
Herrschaft behielten, daß aber auch die nationale Gesinnung in
der Brust des jungen Kämpfers mächtig aufschäumte. Von dem
, »schlechten Preußenlied" von Thiersch will er nichts wissen und
dem Rheinlied Nikolaus Beckers, das allgemein als die ,, deutsche
Marseillaise" gepriesen wurde, zog er die französische, obgleich
er deren Text minderwertig fand, vor, weil diese in edler Form die
Menschheit der Nationalität überordnete ; aber er preist doch auch
den ,, großen Dichter" von Heil Dir im Siegerkranz, der die Liebe
des freien Mannes besinge. ,,Sie sollen ihn nicht haben" hält er
deshalb besonders für ungeeignet, die Nationalhymne des deutschen
Volkes zu werden, weil dieses Lied mit seinem negativen Inhalt
ihm dafür zu bescheiden ist. ,, Könnt Ihr mit einem negierenden
Volksliede zufrieden sein ? Kann deutsches Volkstum nur in der
Polemik gegen das Ausland eine Stütze finden? . . . Und, — nach-
dem Burgund und Lothringen uns entrissen, nachdem wir Flandern
französisch, Holland und Belgien unabhängig werden ließen, nach-
dem Frankreich mit dem Elsaß schon bis an den Rhein vorgedrun-
gen und nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der ehemals deutschen
linken Rheinseite noch unser ist, jetzt schämen wir uns nicht, groß
zu tun und zu schreien: das letzte Stück sollt Ihr wenigstens nicht
haben. O, über die Deutschen! Und wenn die Franzosen den Rhein
hätten, so würden wir doch mit dem lächerlichsten Stolze rufen:
Sie sollen sie nicht haben, die freie deutsche Weser und so fort
54 Politische Anfänge.
bis zur Elbe und Oder, bis Deutschland zwischen Franzosen und
Russen geteilt wäre und uns nur zu singen bliebe: Sie sollen ihn
nicht haben, den freien Strom der deutschen Theorie, so lang er
ruhig wallend ins Meer der Unendlichkeit fließt, so lange noch ein
unpraktischer Gedankenfisch auf seinem Grund die Flosse hebt!
Statt daß wir Buß3 tun sollten im Sack und in der Asche für die
Sünden, durch die wir alle jene schönen Länder verloren haben,
für die Unei igkeit und den Verrat an der Idee, für den Provinzial-
Patriotismus, der vom Ganzen um des lokalen Vorteils willen ab-
fällt und für die nationale B2wu3tlosigkeit. Allerdings ist es eine
fixe Idee bei den Franzosen, daß der Rhein ihr Eigentum sei, aber
die einzige des deutschen Volkes würdige Antwort auf diese an-
maßände Forderung ist das Arndtsche: Heraus mit dem Elsaß
und Lothringen!"
Selbst in diesem Vorfrühling eines neuen nationalen Auf-
schwungs hatten sich aus der Mitte des geteilten und gespaltenen
Volkes, das in seiner Mehrzahl froh war, wenn die Nachbarn ihm
seinen friedlichen Pflanzenschlaf ließen, nur ganz wenige Stim-
men erhoben, die den Ruf nach den verlorenen Grenzlanden er-
schallen ließen. Ist es nicht denkwürdig, daß neben dem Major
Moltke, der sie künftig zurückerobern sollte, der spätere Mitbegrün-
der des proletarischen Internationalismus dieser Forderung Worte
verlieh? In seinem mehrerwähnten Aufsatz über Arndt nannte er
„die Wiedereroberung der deutschsprechenden linken Rheinseite
eine nationale Ehrensache, die Germanisierung des abtrünnig ge-
wordenen Holland und Belgiens eine politische Notwendigkeit für
uns". Das war ein kühnes Bekenntnis im Munde des deutschen
revolutionären Demokraten, der genau wußte, daß er sich in den
Reihen der radikalen Opposition allein befand, wenn er hier den
Begriff der politischen Notwendigkeit unter internationalem Ge-
sichtswinkel miteiner Selbstverständlichkeit verwandte, wie es damals
im weiten liberalen Lager gewiß erst wenige getan hätten. Doch
dieser angeborene Sinn für das Reale, der sich so äußerte, war bei
ihm unzertrennlich verschwistert mit dem Bedürfnis, die Tatsachen
der Erfahrung ebenso wie das eigene Leben in seiner Ganzheit ge-
nommen in einen großen selbständigen, aus sich heraus notwendigen
Zusammenhang einzugliedern.
Der gleiche starke Sinn für Notwendigkeit im objektiven Wal-
ten, der ihn in der geistigen wie in der praktischen Welt vor allem
Subjektivismus bewahrte, bewahrte ihn von Anfang an instinktiv
davor, die internationalen Probleme nach dem bequemen Schema
eines doktrinären demokratischen Kosmopolitismus ihrer eigen-
tümlichen Kraft zu berauben. ,, Sollen wir in jenen Ländern",
I
Erste Stellungnahme in der auswärtigen Politik. ^5
fragt er, „die deutsche Nationalität vollends unterdrücken lassen,
während im Osten sich das Slawentum immer mächtiger erhebt ?
Sollen wir die Freundschaft Frankreichs mit der Deutschheit unserer
schönsten Provinzen erkaufen ; sollen wir einen kaum hundert-
jährigen Besitz, der sich nicht einmal das Eroberte assimilieren
konnte, sollen wir die Vorgänge von 1815 für ein Urteil des Welt-
geistes in letzter Instanz halten?" So weit näherte sich Engels
scheinbar einem Standpunkte, der ihn bei oberflächlicher Betrach-
tung als einen Vorläufer alldeutscher Bestrebungen, der er niemals
war, gelten lassen könnte. Wenn das starke nationale Gefühl, das
sein Herz erfüllte, später immer seltener hervorkam, wenn er schließ-
lich bei Überzeugungen anlangte, die ihm geboten, solche Gefühle
als Rudimente einer überlebten Gesinnung aus seiner Brust zu
reißen, wenn sein urwüchsiges Volks- und Stammesgefühl obdach-
los wurde, weil es in seiner Weltanschauung keinen Platz mehr fand,
so fällt dieser Verlust gleich all den anderen an wertvollen Menschen,
die der deutsche Staatsgedanke im Vormärz erlitt, hauptsächlich
jener furchtsam kleinmütigen Reaktion zur Last, die alles Heil
bloß in der Anknüpfung an die Reste der Vergangenheit suchte
und jene fruchtbaren Keime ungenutzt ließ, die eine dem Hegeischen
Staatsgedanken geneigte Jugend für eine großzügige Entwicklung
im freiheitlich-nationalen Sinne dargeboten hätte. Es war das oft
beklagte tragische Motiv unserer inneren Geschichte, daß das Be-
dürfnis nach Einheit und das Verlangen nach Freiheit des Vater-
landes, sobald sie aus der Seele des einzelnen hinaus in die politische
Praxis traten, mit unfehlbarer Gewißheit an jenen Scheideweg ge-
langten, wo der einzelne wählen mußte, welches von beiden Idealen
er höher wertete, die nationale Stärke oder die Freiheit im Inneren.
Dieses Dilemma lagerte sich jetzt vor Engels. Wohl hätte er
das Elsaß gern für Deutschland zurückgefordert; aber konnte
Deutschland der verloren gegangenen Bevölkerung das bieten, was
sie in Verbindung mit der französischen Nation seit der großen Re-
volution besessen hatte, ,,ein freies öffentliches Leben in einem
großsn Staate?" Welche Lösung erblickt er nun für diese Frage?
,,Es kommt ohne Zweifel noch einmal zum Kampfe zwischen uns
und Frankreich und da wirds sich zeigen, wer des linken Rhein-
ufers würdig ist. So lange die Zersplitterung unseres Vaterlandes
besteht, so lange sind wir politisch Null, so lange sind öffentliches
Leben, ausgebildeter Konstitutionalismus, Preßfreiheit, und was
wir noch mehr verlangen, alles fromme Wünsche, deren Ausführung
immer halb bleiben wird." Also Einigung zunächst, danach erst
Freiheit? Nein, ganz so meint es Engels nicht. Ein einiges Deutsch-
land, das sieht er, ist die Vorbedingung einer starken Auslands-
56 Politische Anfänge.
Politik, ohne die auch das Elsaß nicht zurückzugewinnen wäre, aber
erstrebbar und erreichbar erscheint ihm die Einigung ausschließ-
lich auf dem Boden der modernen Zeitgedanken unter Aneignung
der Ergebnisse der französischen Revolution mit einer Verfassung
in der Art der spanischen von 1812. Er spricht dies aus, um den
starken Gegensatz zu betonen, der ihn von jener beschränkten
Deutschtümelei trennte, deren Extrem der Turnvater Jahn dar-
stellte und die das eigene Volk schlechthin als das auserwählte be-
trachtete. Ihr hypertropher Nationalismus steigerte sich bekannt-
lich zu einem bilderstürmenden Grimm gegen alles Ausländische,
zumal gegen alles Französische. Zwar bekämpfte auch Engels
die überflüssigen Fremdwörter, die wahllosen Übersetzungsfabriken,
die ,, verrückten ausländischen Gebräuche und Moden", im Kunst-
gewerbe ,,die Rokokogeburten aus der Zeit des krassesten Ab-
solutismus" und die Möbel im Stil der Renaissance; auch er wollte,
daß die Deutschen aufhörten, ,, die Narren der Fremden zu sein und
zusammenhielten zu einem einigen, unteilbaren starken — und so
Gott will freien deutschen Volk". Aber in die ,, Sackgasse der Deutsch-
tümelei" konnte er sich nicht verirren, weil diese die ,, ewigen Re-
sultate" der französischen Revolution als welschen Lug und Trug
verabscheute und das Heil für die Zukunft allein von der Rückkehr
in das Dickicht des Teutoburger Waldes erwartete. Sie streifte,
wie er ihr vorwarf, alles ab, was nicht auf vierundsechzig Ahnen
rein deutsch und aus volkstümlicher Wurzel entsprossen war. Was
Napoleon gebracht habe: ,, Emanzipation der Israeliten, Geschwo-
renengerichte, gesundes Privatrecht statt des Pandekten wesens"
verdamme sie schon um des Urhebers willen. Ihm war klar, daß
die deutschtümelnde Richtung sich von der bewußten Reaktion
um die Freiheit ihrer Gedanken hatte prellen lassen. Dabei war er
objektiv genug, diese nationalistische Richtung als eine ,, notwendige
Bildungsstufe des deutschen Volksgeistes" anzuerkennen. Als
eine solche galt ihm aber auch der besonders vom süddeutschen
Liberalismus gepredigte Kosmopolitismus, der aus Opposition gegen
die Deutschtümelei die Nationalunterschiede fast ganz zurück-
treten ließ und nur auf die Bildung einer großen, freien, alliierten
Menschheit hinstrebte. Nach seiner Ansicht hatten diese beiden
Richtungen, deren Extreme sich in der Burschenschaft berührten,
durch die Julirevolution ihre Zeugungskraft verloren. Denn ,,die
übergreifende Bedeutung der großen Woche" war eben die Resti- |
tution der französischen Nationalität in ihrer Stellung als Groß-
macht, wodurch die anderen Nationalitäten gezwungen wurden,
sich gleichfalls fester in sich selbst zusammenzuziehen.
Soche Erkenntnis bewog Engels jedoch keineswegs, nun in
^
Weltbürgertum und National gefühl. ^y
der durch die Rivalität der Großmächte erzeugten Krisis von
1840 die orientalische Frage als eine Lebensfrage für Deutschland
zu betrachten. Er glaubte nicht, daßMehemed Ali, weil Frankreich
ihn unterstützte, das deutsche Volkstum gefährdete. Der Argwohn
ließ ihn nicht los, daß der eifrig geschürte nationale Haß gegen
den ,, welschen Erbfeind" zum Hauptergebnis haben werde, ,,den
Russen Gebietszuwachs und den Engländern Handelsmacht genug
zu geben, daß sie uns Deutsche ganz einklemmen und zerdrücken
können".
Acht Jahre später werden dem Auslandredakteur der Neuen
Rheinischen Zeitung politische Ideale anderen Ursprungs den
Maßstab liefern, aber die Sympathien und Antipathien, die ihn
jetzt für die nichtdeutschen Großmächte beseelen, werden sich
nicht mehr ändern. ,,Das stabile Prinzip Englands und das System
Rußlands", so schreibt er schon hier, ,,das sind die Erbfeinde des
europäischen Fortschritts, nicht aber Frankreich und seine Be-
wegung." Wenn Engels es als Deutschlands Aufgabe nach außen
hin bezeichnet, die Zunge an der Wage des europäischen Gleich-
gewichts zu bilden, so will er damit weniger den nationalen Ehr-
geiz, der dessen damals noch nicht bedurfte, zur Genügsamkeit
ermahnen, als ihn auf die entscheidende Rolle hinweisen, die Deutsch-
land zufallen könnte, wenn es sich erst seine Einheit und Freiheit
erkämpft hätte. Ihm selbst, das sahen wir schon, standen die Ziele
der Menschheit höher als die beschränkteren der eigenen Nation,
ihm wie Börne galt nicht der Nationalstaat sondern das Welt-
bürgertum als das Ideal der Zukunft. Noch trägt sein übernationaler
Wertmaßstab den harmlosen Namen des europäischen Fortschritts;,
trotzdem schlummern in ihm bereits die Keime, die, von vorläufig
noch fernen Gedankenkomplexen befruchtet, sich hernach zu dem
Ideal einer in allen Ländern sich gleichzeitig vollziehenden sozialen
Revolution entfalten werden.
Kapital IV.
Bei den Junghegelianern in Berlin.
Die Regierung Friedrich Wilhelms III. hatte bei der Besetzung
•der akademischen Lehrstühle die Schule Hegels bevorzugt, weil
diese dem Staat so hohe Ehren erwies wie keine vor ihr in christlichen
Zeiten. Und da der Meister es verstanden hatte, die Abgründe seiner
Spekulation mit den Emblemen des christlichen Dogmas zu ver-
decken, so schadete es ihr anfangs weng, daß die Orthodoxen an
dem Gottesbegriff Hegels Schönheitsfehler entdeckten. Der preu-
ßische Beamtenstaat war in dieser Hinsicht auch nicht rigoros,
solange an den leitenden Stellen noch Männer standen, die im Geiste
der Aufklärung und Kants groß geworden waren. Vergebens ver-
suchten K. E. Schubarth, Heirrich Leo, Wdfgang Menzel dem
Kultusminister Altenstein begreiflich zu machen, daß der Staat
eine gefährliche Schlange an seinem Busen groß zöge. Einem stär-
keren Echo begegneten diese Warnungsrufe erst, als die Aufnahme,
die Strauß mit dem Leben Jesu fand, aller Welt gezeigt hatte, daß der
Glauben an die unbedingte Göttlichkeit der Bibel dem linken Flügel
der Hegelianer geschwunden war. Seit 1838 machte Rüge aus
den Hallischen Jahrbüchern ein Sammelbecken für alle Bestrebungen,
die in der Theorie wie in der Praxis die Befreiung des Geistes von
dem überspannten Autoritätsbegriff der überpersönlichen Mächte
zum Feldgeschrei erhoben. Damit aber begann ein ,, Freiheitskrieg"
ganz neuer Art, der in der jungen politischen Lyrik ein besonders
kräftiges Echo fand. Die Jahrbücher sollten dem in philosophischer
Zucht groß gewordenen gebildeten deutschen Bürgertum in jener
abstrakten und systematisierenden Form, die dieses vorerst noch
liebte, die von uns schon erwähnte Erkenntnis zu Gemüt führen,
daß der Kampf gegen eine Autorität, die sich hartnäckig auf die
Unteilbarkeit ihrer Gewalt versteifte, in Wissenschaft, Kirche und
Staat von dem gleichen Gedanken, dem gleichen Interesse beherrscht
wurde. So lag die Bedeutung der Junghegeischen Schule für die
Entwicklung des deutschen Geisteslebens vielleicht mehr auf poli-
tischem als auf philosophischem Gebiet. Aus der Zeitphilosophie
Die Politisierung der Hegeischen Lehre. 59
heraus schuf sie dem kampffrohen jungen Geschlecht das theore-
tische Arsenal für seine allgemeine Auflehnung gegen den starren
Dualismus in Staat und Kirche. Zum ersten Mal enthüllte sich ihm
jetzt, daß auch die selbstherrliche Gedankenwelt des Philosophen
nicht unberührt bleibt von dem Wandel der politischen und gesell-
schaftlichen Wirklichkeit. Es zeigte sich, daß unter der Einwirkung
wechselnder Einflüsse verschiedene Generationen aus der Fülle
der Probleme im Geistesleben bald das eine bald das andere heraus-
greifen, an jedem bald diese bald jene Seite bevorzugen. Und
wenn in der Geschichte der Philosophie auch die geniale Persönlich-
keit den Ausschlag gibt, so werden doch selbst hier nicht bloß
Brücken von einem gewaltigen Gipfel zum anderen geschlagen.
„Auch die Philosophen", schrieb Marx 1842 in der Rheinischen
Zeitung, , »wachsen nicht wie die Pilze aus der Erde, sie sind die
Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und
unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren." Den
Junghegelianern, die von Hegel darauf vorbereitet waren, daß
auch Gedankengebäude dem Gesetz der Veränderung unterliegen,
erwies sich jetzt diese Lehre des Meisters, wie En2,el3 bald fest-
stellte, an seiner eigenen Pi ilosophie. Wie ein gewaltiger Dom
dem Blick des Beschauers, der den Platz verändert, wechselnde
Bilder zeigt, so enthüllten sich ihnen an Hegels Philosophie neue
Perspektiven, seitdem sie diese mit verwandelten Augen anblickten.
Die resignierte Stimmung der Restaurationsepoche hatte Hegel nicht
anspornen können, aus der eigenen Philosophie umstürzende Kon-
sequenzen für die Praxis zu ziehen, der Kleinmut einer Zeit, die
aus der ungeheuren Auflösung der Revolutionsepoche mit Mühe
zu stabileren Formen den Weg zurückfard, ihn verleitet, vergäng-
lichen, bloß zeitlich bedingten Gestaltungen einen absoluten Charak-
ter zuzusprechen. Aber die Jugend, der aus dem Erlebnis der Juli-
tage frische Spannkraft zugewachsen war, beseelte ein empfind-
licheres Freiheitsbedürfnis. Ihr wurde der Glaube wieder lebendig,
daß das Sclbstbestimmungsrecht des einzelnen in Religion und
Politik Wirklichkeit werden könne. Daß der historische Hegel ein
so unbezähmbares Vorwärtsverlangen nicht empfunden hatte, hielt
die jungen Hegelianer von dem Versuch nicht ab, die zeitlose ewig
gültige Lehre des Philosophen aus ihren empirischen Schlacken
herauszulösen und zu ihrer wesenhaften Reinheit emporzuläutern.
Um dies Ziel zu erreichen, entledigten sie die Dialektik des Hemm-
schuhs, den Hegels Religions- und Rechtsphilosophie ihrem un-
begrenztem Fortwirken angelegt hatte und zogen eine scharfe Grenze
zwischen Religion und Staat als absoluten Kategorien und als
historischen Erscheinungsformen. Der Absolutheit, die der Meister
6o Bei den Junghegelianern in Berlin.
diesen Sphären zuerkannt hatte, entkleidet und in den niemals
sich stauenden Fluß der Dialektik zurückgeschleudert, entpuppten
sich ihnen Religion und Politik, wenn auch nicht formal so doch
inhaltlich, allmählich immer mehr als Erzeugnisse eines historischen
Prozesses. Und der Spekulation, die Christentum und Staat auf
diese Weise vollständig in ihre Gewalt bekommen zu haben glaubte,
wurde die Vernunft mit ihren zerstörenden und aufbauenden Kräf-
ten zur Herrscherin der Welt. Ihr allein noch wollten die Jung-
hegelianer über Leben und Tod, über Bestehen und Vergehen aller
geschichtlich gewordenen, die Gegenwart beherrschenden und in
die kommende Generation hinübergreifenden Gewalten die Ent-
scheidung einräumen.
Seitdem er Hegels Lehre „von dem frischen Hauche des Lebens
angeweht" sah, zerteilten sich auch für Engels ,,die matten Nebel-
flecke der Spekulation" in ,, leuchtende Ideensterne". Er empfand
Dankbarkeit für den eben verstorbenen Eduard Gars, der die
Geschichtsphilosophie Hegels bis zur Gegenwart fortgeführt hatte
und es begeisterte ihn, daß Rüge und Carl Friedrich Koppen
die Freisinnigkeit der Hegeischen Lehre öffentlich proklamierten.
Schon war ihm zur Gewißheit geworden, daß dem verjüngten Hegel
in den Kämpfen der Zeit der Endsieg verbleiben müsse, und seiner
,, unerschütterlichen Zuversicht auf die Idee, wie sie dem Neu-
Hegelianismus eigen" konnte es nichts anhaben, daß jetzt in Preußen
die in entgegengesetzte Richtung drängenden Kräfte zu Macht
und Ansehen gelangten.
Das Leben Jesu und die Dogmatik D. F. Strauß hatten Engels
vor zwei Jahren aus der Inspirationslehre, in der er sich wie in
einem Gefängnis fühlte, den Weg ins Freie gewiesen. Wir erinnern
uns, in wie zauberhafter Beleuchtung die Gefilde der spekulativen
Dialektik sich ihm auftaten, als er ihrer zum ersten Male gewahr
wurde. Selig war er damals über diese neue Welt des Begriffs mit
ihrem selbständig fortzeugenden Leben, mit ihrer immanenten
Notwendigkeit; erst sie brachte ihm jene Sicherheit zurück, in der
die Glaubenskämpfe ihn erschüttert hatten. Aber die Zeitentwick-
lung, die auf die volle Befreiung des Gedankens von allen historischen
Bindungen hinstrebte und der er sich anvertraut hatte, war bei der
Straußschen Mythenlehre nicht stehen geblieben. Vermochte sich
nämlich das Dogma durch seine eigene Geschichte objektiv in den
philosophischen Gedanken aufzulösen, so trat es auch an diesen
in aller Form die Herrschaft im Reiche des Geistes ab, so entledigte
die Philosophie sich endgültig der Vormundschaft der Theologie,
aus der Hegel sie noch nicht einwandfrei erlöst hatte. Strauß leugnet
bekanntlich noch nicht, daß den Berichten über das Leben Jesu
Junghegelianer und Aufklärung. ßl
ein historischer Kern zugrunde liege; er ließ jene Berichte noch
als Erzeugnisse der im Schoß der ersten Gemeinden unbewußt
wirksamen Phantasie gelten. Als freie und bewußte Schöpfungen
von Schriftstellern betrachtete die Evangelien zuerst Bruno Bauer.
Er verglich die Evangelisten schlechthin mit Homer und Hesiod,
die nach Herodots berühmtem Wort den Griechen ihre Götter
gemacht hatten. War aber das Selbstbewußtsein der Schöpfer der
heiligen Geschichte, so gab dieser Nachweis der „Traditionshypo-
these" den letzten Stoß und vollendete die ,, Verwesung des Buch-
stabens". Seitdem Bauer mit seinen radikalen Folgerungen her-
vorgetreten war, verbreitete sich unter den jüngeren Hegelianern
immer stärker die Anschauung, daß man an der Schwelle einer so
fundamentalen Aufklärungsperiode stände, wie die Geschichte
noch keine hervorgebracht habe. Zwar fühlten sie sich im Besitze
ihrer Dialektik erhaben über den unspekulativen und dualistischen
Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts. Dennoch war es
nichts weniger als Zufall, daß sie mit Voltaire, Diderot und den
Helden des Konvents einen förmlichen Kultus trieben. Die Ber-
liner Freien, diese extravagantesten Junghegelianer, verkannten
jedoch den Stand ihrer eigenen politischen Unschuld, wenn sie
sich als die Erben der Enzyklopädisten aufspielten oder gar in ihren
eignen Reihen nach den deutschen Robespierres und Marats Um-
schau hielten. Anfänglich erstrebten auch die Junghegelianer bloß,
daß die Vernunft den Ansprüchen des gebildeten und besitzenden
Bürgertums Beachtung und Anerkennung sichern sollte. Da sahen
die Hallischen Jahrbücher noch im Protestantismus das Prinzip
der Geistesfreiheit und in Preußen, als dem Staate des Protestantis-
mus, das Prinzip der Entwicklungsfähigkeit und des Fortschrittes
verkörpert, das schlechthin zukunftslose Prinzip hingegen in der
starren Autoritätsforderung des Katholizismus und in dem rigo-
rosen Traditionalismus Österreichs.
Ihren Höhepunkt erreicht diese reformgläubige Stimmung bei
der hundertsten Wiederkehr des Regierungsantritts Friedrichs H.
Köppens Jubelschrift: Friedrich der Große und seine Wider-
sacher genügte es nicht, den großen König als den Heros der
Gedankenfreiheit zu feiern, sie sah in ihm sogar den Verkünder
der Volkssouveränität; und die zeitgemäße Fortentwickelung der
Grundsätze Friedrichs wurde das Programm, das der Verfasser
im Einverständnis mit vielen seiner Gesinnungsgenossen dem neuen
König, der eben jetzt den Thron bestieg, ans Herz legte. Keiner seiner
Freunde stand Koppen näher als der zweiundzwanzigjährige Marx,
dem die Schrift gewidmet wurde. Und auch dieser künftig gefähr-
lichste Feind der Hohenzollernschen Dynastie knüpfte damals an den
62 Bei den Jimghegelianern in Berlin.
Geist Friedrichs und der preußischen Reformära noch Hoffnungen.
Während Engels durch Börne unmittelbar in die Politik hinein-
gerissen wurde und uns so von Anfang an als Republikaner und
Revolutionär entgegentritt, ist Marx mit der Hauptgruppe der
Junghegelianer erst auf dem Umweg über die Philosophie zur
Politik gelangt und hat die Staatsauf fassung Hegels als tiefes
geistiges Erlebnis auf sich wirken lassen. Engels lernte die Staats-
lehre Hegels erst kennen, als diese durch Rüge, Kcppen, Nau-
werck u. a. schon eine Auslegung erhalten hatte, die ihn bei seiner
tief eingefleischten Abneigung gegen Preußen zur Vorsicht mahnen
mußte.
Mit leidenschaftlicher Anteilnahme verfolgte Engels, dem
seine geistige Einsamkeit in Bremen unerträglich wurde, wie die
Parteigegensätze sich immer mehr zuspitzten, seitdem Heinrich
Lecs Denunziation gegen die ,, Hegelingen" den Krieg zwischen
der orthodox-pietistischen Romantik und den Junghegelianern zum
offenen Ausbruch gebracht hatte. Dem Fragment seiner Literatur-
komödie Der gehörnte Siegfried, das im Frühling 1839 an Fried-
rich Graeher abging, war vielleicht noch anzumerken, daß der
Dichter selbst bei allem Abscheu vor dem Pietismus sich noch nicht
unbedingt der Junghegeischen Richtung zurechnete. Leo, ,,der
burschikose Zelot", und Mi helet werfien hier unter Schimpf-
worten einander die Bibel und den Hegel an den Kopf und müssen
sich von Siegfried, der die ,, dürren Professoren" auseinandertreibt,
sagen lassen, daß der eine das Christentum nicht töten, der andere
mit seinem blinden Toben es nicht retten werde. Kurz danach be-
kannte Engels sich schon offen als Junghegelianer. Noch aber
hätte der „moderne Pantheist" bestritten, was er im folgenden
Jahre mutig als der erste eingestand, daß man ihn und alle, die
seine Überzeugung teilten, ebensogut Atheisten nennen könne. Zu-
nächst schmückte sein Gefühl noch den Gottesbegriff Hegels mit
leuchtenden Farben. Sein letzter Brief, der Ende Februar 1841 aus
Bremen an Fritz Cr; eher abging, atmete ganz den Geist der
frohen Erwartung, die sich seit dem Tode des alten Königs der vor-
wärts stürmenden Jugend, die jetzt ihren Tag nahe gekommen
glaubte, bemächtigt hatte. Mit übermütigem Hohn fordert er den
einstigen Schulkameraden heraus, er möge das verruchte Straußen-
nest zerstören und all die halbausgebrüteten Straußeneier mit seinem
Sankt-Georgspieß durchbohren: ,, Reite hinaus in die Wüste des
Pantheismus, tapferer Drachentöter .... und pflanze das Banner
des Kreuzes auf dem Sinai der spekulativen Theologie auf! Laß
Dich erflehen, siehe, die Gläubigen warten schon seit fünf Jahren
auf den, der der Straußschen Schlange den Kopf zertreten soll . . .
Abschied aus Bremen. 6>
die Gefahr wird immer drängender, das Leben Jesu hat bereits^
mehr Auflagen ertebt, als alle Schriften Her gstenbergs und
Tholu ks zusammen und es wird schon Comment, jeden, der
kein Straußianer ist, aus der Literatur herauszuschmeißen. Und
die Hallischen Jahrbücher sind das verbreitetste Journal Deutsch-
lands, so verbreitet, daß Seine preußische Majestät es nicht mehr
ver ieten kann, so gern er es möchte. Das Verbot der Hallischen
Jahrbücher, die ihm alle Tage die größten Grobheiten sagen, würde
ihm auf der Stelle eine Million Preußen, die jetzt noch nicht wissen,,
was sie von ihm denken sollen, zu Feinden machen. Und es ist
für Euch die höchste Zeit, sonst werdet Ihr von uns, trotz der from-
men Gesinnung des Königs von Preußen, zum ewigen Stillschweigen
verwiesen. Überhaupt solltet Ihr Euch ein wenig mehr Courage
anschnallen, damit die Paukerei einmal recht los geht. Aber da
schreibt Ihr so ruhig und gelassen, als ob die orthodox-christlichen
Aktien loo Prozent Agio ständen, als ob der Strom der Philosophie
ruhig und gelassen wie zu Zeiten der Scholastiker zwischen seinen
kirchlichen Dämmen flösse, als ob sich zwischen den Mond derDog-
m.atik und die Sonne der Wahrheit nicht die unverschämte Erde
zu einer grausigen Mondfinsternis eingedrängt hätte. Merkt Ihr
denn nicht, daß der Sturm durch die Wälder fährt und alle abge-
storbenen Bäume umschmeißt, daß statt des ad acta gelegten Teu-
fels der kritisch-spekulative Teufel erstanden ist und einen enormen
Anhang hat? Wir fordern Euch ja alle Tage heraus mit Übermut
und Spott, laßt Euch doch auch einmal du ch die dicke Haut — sie
ist freilich achtzehnhundert Jahre alt und etwas lederhart gewor-
den — stechen, und besteigt das Kampfroß.'*
Nach einem Aufenthalt von zwei und einem halben Jahr
schied Engels zu Ostern 1841 aus Bremen und damit aus einer
Umgebung, in der er Freundlichkeit und Wohlwollen in Fülle,,
aber nicht die geistige Förderung, um die ihm am meisten zu tun
war, gefunden hatte. Von jeder Anregung durch das lebendige
Wort abgeschnitten, hatte ihn hier das Gefühl gepeinigt, daß er
seine Überzeugungen ,,so unausgebildet stehen lassen" mußte.
Er sehnte sich nach einer Möglichkeit, seinen Geist ungestörter
entwickeln zu können. Da sich dies mit einer kaufmännischen
Tätigkeit nicht vereinigen ließ, so hoffte er jetzt wohl, daß der
Vater ihm das Studium doch noch gestatten werde. Auf alle Fälle
gedachte er seiner Militärpflicht, der er sich nicht entziehen wollte,,
obgleich dies damals für reiche Bürgersöhne durch Bestechung
leicht erreichbar war, in einer Universitätsstadt nachzukommen,
wo er in seiner freien Zeit Vorlesungen hören konnte. Obgleich
es sein lebensfrohes Blut gewaltig nach dem Rhein lockte, dessen
'64 ß^i ^^° Junghegelianem in Berlin,
liederreiche Täler ihm Heimatsgefühle wach hielten, so entschied
er sich nach reiflicher Überlegung dennoch für Berlin. Nicht um
die Hauptstadt des preußischen Staates, für den er keine Gefühle
hatte, war ihm dabei zu tun, sondern um die Universitätsstadt, die
wie keine andere im Strome der Gedankenbewegung stand und die
ihm als die Arena gerade jener geistigen Kämpfe erschien, in die
er sich leidenschaftlich verstrickt fühlte. Zuerst begab er sich jetzt
in die Heimat, wo er all die trauten Berührungen wiederfand, an
<ienen seine warme Seele hing. Daß der Gegensatz zwischen dem
eigenen in der langen Abwesenheit kräftig ausgebildeten Stand-
punkt und der frommen Atmosphäre der Familie sich bei ihm stär-
ker und schmerzhafter als früher fühlbar machte, schließen wir
aus einer Stelle in seinem schönen und stimmungsvollen Aufsatz
über Immermanns Lebenserinnerungen, der im April 1841 im Tele-
graphen erschien und den er wohl erst nach seiner Einkehr ins
Elternhaus geschrieben hat.
Den frühen Tod dieses ,, trotz mancher Vorurteile gegen die
Rheinländer" in Düsseldorf heimisch gewordenen Altpreußen em-
pfand Engels als einen harten Schlag für die sich eben frisch re-
gende literarische Jugend des Westens, die sich um Immermanns
starke Persönlichkeit als um ihr Oberhaupt scharen wollte. Auch
er hatte die Erwartung geteilt, daß der ehemalige Romantiker, der
sich in den Epigonen und im Münchhausen so erfolgreich der
Wirklichkeit zugewandt hatte, seine ,, antimodernen" Ideen noch
ganz überwinden werde. Des Verstorbenen Vorliebe ,,für das
Preußsntum" vermag er nicht zu teilen. Er findet es unerklärlich,
wie jener mit seinem religiösen Freisinn konservativ-preußische
Ansichten in der Politik vereinen konnte. Besonders aber miß-
billigte er, da3 der Dichter dort, wo er sich über das Familienwesen
äußerte, auf Kosten der Gegenwart die Vergangenheit zu sehr her-
ausstrich und über die neuere Familie, wie sie sich in dem letzten
Jahrzehnt herausgebildet hatte, nicht unbefangen genug urteilte.
Wenn das altväterliche Behagen und die Zufriedenheit mit dem.
heimischen Herd einem Ungenügen an den Genüssen des Familien-
lebens gewichen war, so sah Engels darin eher einen Gewinn, weil
damit auch die Philisterei der Hausväterlichkeit ihren Glorienschein
verloren hatte. Daß die neuere Familie sich einer gewissen Unbe-
haglichkeit nicht erwehren könne, rühre nur daher, daß an sie An-
sprüche gestellt würden, die sie mit den eigenen Rechten noch nicht
zu vereinigen wüßte. Die Gesellschaft sei eben eine andere geworden,
seit das öffentliche Leben als ein ganz neues Moment hinzugetreten
wäre. Ein Regenerationsprozeß müsse durchgemacht werden, die
-alte Familie hätte ihn nötig.
Die neue Jugend. 65
Die Stimmung des verwandelt ins Elternhaus Heimgekehrten
macht es erklärlich, daß dieser Aufsatz über Immer mann in ein
stürmisches Bekenntnis zu der endlich zum Worte gekommenen
neuen Jugend ausklingt, deren Mission es sein werde, über die
immer höher sich hinaufgipfelnden Gegensätze zu entscheiden.
Eindringlich wirbt er noch um Verständnis bei der alten Generation,
aber nicht mehr ehrfurchtsvoll bittend oder gar bescheiden sich
demütigend, sondern von dem trotzigen Gefühl beseelt, sich auf dem
einzig möglichen Wege zu befinden, der ihn aufwärts führen könne.
,,Die Alten klagen zwar entsetzlich über die Jugend", schreibt er,
,,und es ist wahr, sie ist sehr unfolgsam; laßt sie aber nur ihre
eigenen Wege gehen, sie wird sich schon zurechtfinden, und die
sich verirren, sind selbst schuld daran. Denn wir haben einen Prüf-
stein für die Jugend an der neuen Philosophie ; es gilt, sich durch
sie hindurchzuarbeiten und doch die jugendliche Begeisterung
nicht zu verlieren. Wer sich scheut vor dem dichten Walde, in dem
der Palast der Idee steht, wer sich nicht durchhaut mit dem Schwerte,
und küssend die schlafende Königstochter weckt, der ist ihrer und
ihres Reiches nicht wert, der mag hingehen, Landpastor, Kaufmann,
Assessor oder was er sonst will, werden, ein Weib nehmen, Kinder
zeugen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, aber das Jahrhundert
erkennt ihn nicht als seinen Sohn an." Engels selbst aber war
entschlossen, zu leben und zu sterben als Sohn des eigenen Jahr-
hunderts, das in der Hegeischen Philosophie den Geist als den ,, ewigen
König" auf den Thron gesetzt hatte. Er jubelt, daß aus den dürren
Fruchtkapseln jenes Systems die Samenkörner nun so herrlich
aufgegangen waren. Die Versöhnung von Wissenschaft und Leben
stellt sich ihm als die große Aufgabe seiner Generation dar. Sie zu
lösen erfordert eine jugendliche Begeisterung, ,,die wie der Adler die
trüben Wolken der Spekulation, die dünne, verfeinerte Luft in den
oberen Regionen der Abstraktion nicht scheut, wenn es gilt, der
Wahrheitssonne entgegen zu fliegen". Dem Brausekopf war es
nicht zuwider, daß seine Partei von dem Geist, der eben in Preußen
zur Herrschaft gelangt war, auf Tod und Leben herausgefordert
wurde. Denn Kampf war es, wonach ihn verlangte. ,,Laßt uns
für die Freiheit kämpfen", rief er aus, , »solange wir jung und voll
blühender Kraft sind; wer weiß, ob wir 's noch können, wenn das
Alter uns beschleicht."
Für die ,, Prosa", die in den „Kartoffelsteppen" Ostelbiens
seiner wartete, wollte er sich im voraus durch eine Reise ent-
schädigen, die ihn im Mai 1841 nach der Schweiz und nach Nord-
italien führte, und auf der er auch von einem Liebeskummer, über
den wir nur eine Andeutung besitzen, Genesung suchte und fand.
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 5
66 Bei den Junghegelianern in Berlin.
Wenig nur wissen wir von seinen „Lombardischen Streifzügen".
Denn bloß der erste Abschnitt einer Beschreibung dieser Reise er-
schien im Dezember im Athenaeum, einem Wochenblatt der Ber-
liner Junghegelianer, das das neue Jahr nicht erlebte. Und dieser
Abschnitt führte erst: „Über die Alpen!" Die Reise ging von Basel,
dessen patrizierhafte Behäbigkeit dem jungen Demokraten mißfiel,
über Zürich, das ihn entzückte, obgleich er den dortigen „Zions-
wächtern" nicht vergessen wollte, daß sie die Berufung D. F. Strauß*
hintertrieben hatten, über Chur, wo sein starker Sprachensinn sich
erstmalig dem Romanischen zuwandte, und über die Via Mala,
wo ,,der wilde Bergstrom, Fichten entwurzelnd, Felsblöcke wälzend"
— sein wiederkehrendes Lieblingsbild! — ihm die Seele überwältigte.
Als sich die Alpenwelt immer gewaltiger vor ihm auftürmte, da
träumte ihm von einem Titanenkampf der trotzigen Bergriesen
gegen die alJbezwingende Herrschaft der Menschen. Aber auf ein-
samer Wanderung findet der Jünger Hegels bald wieder den Geist,
der hier in einer unzerstörbaren Straße der Natur seinen Willen
aufgezwungen habe. Vom Splügen zieht er über endlose Schnee-
flächen, eine Einöde ,, prosaischer als die Lüneburger Heide", an
der österreichischen Verzollung, der er seine Varinas glücklich ent-
zieht, vorbei durch das krokosbesäte Lirotal hinab nach Chiavenna,
von wo er ganz bezaubert ,,von einer nie gekannten, lang geträum-
ten Natur" den Comersee erreicht.
Aus dieser frisch und lebendig gehaltenen Reisebeschreibung
haftet dem Gedächtnis ein Satz, der die Abfahrt von Zürich be-
schreibt: ,, Mitten im See taucht ein Eiland auf — Ufnau, das Grab
Ulrich von Huttens. So kämpfen für die Idee, und so ausruhen
von Streit und Mühen, — wem das beschieden wäre! umrauscht
von den grünen Wellen des Sees, die wie fernes Waffengetöse und
Schlachtgeschrei an das Grab des Helden schlagen, bewacht von
den eisgepanzerten, ewig jugendlichen Riesen, den Alpen! Und
dann ein Georg Herwegh, der als Vertreter der deutschen Jugend
zu diesem Grabe wallfahrtet und seine Lieder, den schönsten Aus-
druck der Gesinnung, die die junge Generation begeistert, darauf
niederlegt — das wiegt Statuen und Denkmäler auf!" Jung-Sieg-
fried, Ulrich von Hütten, Georg Herwegh, der mit seinen Ge-
dichten eines Lebendigen eben bei allen Liberalen gewaltige Be-
geisterung zündete ; mit flammendem Schwert, mit zündendem
Wort und trotzendem Lied drängt sich der Zwanzigjährige kampfes-
lüstern in die Reihen jener, die im Denken wie im Leben um die
Freiheit ringen wollten. —
Obgleich es die preußischen Liberalen nicht überraschen konnte,
daß den neuen König sein religiöser Hang und seine kulturelle
Reise in die Schweiz und die Lombardei. 6?
Einstellung zu den entschiedenen Wortführern der Orthodoxie und
einer historisch-romantischen Geschichtsauffassung hinzogen, so
hatten sie dennoch fest erwartet, daß mit seiner Regierung eine
Ära großer Reformen anbrechen würde. Daß Friedrich Wilhelm
in seinem persönlichen Bekenntnis der strengsten Kirchlichkeit
huldigte, sollte ihn, so hatten sie gewähnt, nicht abhalten, den
drängendsten politischen Forderungen des Liberalismus entgegen-
zukommen. Nach seinen ersten Regierungshandlungen mußte es
scheinen, als ob er die öffentliche Meinung sich günstig zu stimmen
wünschte. Wie enttäuschten aber dann die Erklärungen, mit
denen er die besonders stürmisch aus Ostpreußen laut werdenden
Wünsche nach einer Verfassung abfertigte! Was der Oberburg-
graf von Brünneck schon im Oktober 1840 mit Schrecken fest-
stellte, daß der König ganz in die Hände der Pietisten geriete,
wurde im Laufe des Jahres 1841 den weitesten Kreisen offenbar.
Am Ende konnte man sich nicht länger verhehlen, daß dem Monar-
chen die Ziele des Liberalismus auf kulturellem, kirchlichem und
politischem Gebiet gleichmäßig widerstrebten, weil in ihnen der
menschliche Geist sich über die durch göttliche Offenbarung ge-
heiligten überpersönlichen Gewalten erheben wollte.
Die Junghegelianer konnten jetzt nicht umhin, ihr Verhältnis
zum preußischen Staat einer gründlichen Revision zu unterziehen.
Auch sie hatten sich nicht träumen lassen, daß der neue König
den Mut und die Neigung verspüren könnte, dem Zeitgeist, auf
dessen Unwiderstehlichkeit sie pochten, öffentlich die Stirn zu
bieten, daß er es wagen würde, dem streng dualistisch gefaßten
Christentum und der historisch-romantischen Gefühlswelt, die
seine Seele erfüllten, mit den Machtmitteln des Staates Geltung zu
erkämpfen. Jetzt erlebten sie, während Savigny und F. J. Stahl
herbeigeholt wurden, die Vertreibung der Hallischen Jahrbücher
aus Preußen, Hallische Studenten erhielten einen Verweis, weil
sie Strauß' Berufung an ihre Universität beantragt hatten, und was
allem die Krone aufsetzte, Schelling, Hegels großer Gegner, wurde
mit dem ausdrücklichen Auftrag, ihren Einfluß zu brechen, nach
Berlin gezogen. Nun unterlag es keinem Zweifel mehr, daß die in
Preußen bis dahin verhätschelte Hegeische Philosophie hier zu
einer ecclesia pressa werden sollte. Wenn aber der Staat „der Zu-
kunft" und ,,des Fortschritts" dem Beruf, den sie ihm zuerkannt
hatten, untreu wurde, wenn er statt sich zum ,, Staat der Intelligenz"
fortzuentwickeln, zum ,, christlichen Staat", zu einem verkappten
Katholizismus zurückstrebte, sollten sie dann noch länger an der
These festhalten, daß Hegels Staatsgedanken gerade in Preußen
seine Verwirklichung finden werde ?
5*
68 Bei den Junghegelianern in Berlin.
Daß solche Zweifel zuerst nur in abgeschwächter Form an die
Öffentlichkeit drangen, war nicht allein die Schuld der strengen
Zensur. Taktische Erwägungen mahnten ebenfalls zur Vorsicht. Für
Politik war bei der Mehrzahl der Junghegelianer nur ein reflek-
tiertes Interesse vorhanden gewesen, bis der König durch die Zensur-
instruktion von Weihnachten 1841 der Freiheit des geschriebenen
Werts einige Zugeständnisse gemacht hatte. Den Kampf gegen
die positive Religion betrachteten sie dagegen als ihre eigenste
Angelegenheit. Seitdem Feuerbach ihnen das Losungswort ge-
geben hatte, waren sie zum rücksichtslosen Sturmlauf auf das
Christentum gerüstet. Wäre es in einem Augenblick, wo sie so
Kühnes im Schilde führten, klug gewesen, an ihrer Staatsgesinnung
Zweifel aufkommen zu lassen ? Und wenn der neue Kultusminister
Eichhorn als getreuer Diener seines Herrn sich jetzt öffentlich
und feierlich zu der These vom christlichen Staat bekannte, so war
das für sie höchstens ein Grund mehr, vor der Öffentlichkeit an
der entgegengesetzten These festzuhalten, daß Staat und Religion
getrennte Gebiete wären und daß man sehr wohl ein guter Bürger
sein könne, ohne gleichzeitig ein guter Christ zu sein. Noch im
Sommer 1842 versicherten die Berliner Freien, daß sie ,,fürs erste
wenigstens" die Donnerlegion des Staats zu bleiben wünschten.
Mancher aus dieser Schar, in deren Mitte Engels jetzt eintrat,
mochte von Anfang an die Hoffnung auf die freiheitliche Gestaltung
Preußens nur genährt haben, weil er auf den Rückschlag, den er
mit Gewißheit voraussah, spekulierte. Sobald sich jetzt heraus-
stellte, daß die neue Regierung keineswegs an die freiheitlichen
Traditionen der Reformära anzuknüpfen dachte, fanden sich
die Skeptiker mit den wirklich Enttäuschten in dem Gedanken zu-
sammen, daß sie ihren oppositionellen Standpunkt noch nicht ge-
nügend vertieft, den Gegensatz gegen die Autorität noch nicht
grundsätzlich genug gestaltet hätten. Weil sich in der philoso-
phischen Sphäre revolutionäre Gedanken noch am ehesten hervor-
wagen konnten, wurde der Kampf gegen alles ,, Bestehende", den
Bruno Bauer und Karl Marx, die den radikalsten Flügel ver-
traten, bereits für unvermeidlich erachteten, zunächst auf dem
Schlachtfeld der Theorie zur Entscheidung gestellt. Diesem Ge-
schlecht, das sich an der unaufhaltsamen Konsequenz der Dialek-
tik berauschte, dabei aber von einer Klippe zur anderen ins Grenzen-
lose fortgetrieben wurde, versank mit dem Protestantismus, den
es unter Friedrich Wilhelm IV. zum Katholizismus zurückstreben
sah, nicht allein das Christentum sondern auch jeder anders ge-
artete Positivismus. Heute wissen wir, daß Stirners zersetzender
Geist sich damals schon in der Stille jenem skeptischen Anarchismus
Bei der Garde-Fußartillerie. 59
näherte, dem sich alle Ideale als Selbsttäuschungen enthüllten, die
wie Spinneweben zerrissen, sobald man sie auf Herz und Nieren
prüfte. Aber er stand vereinzelt. Denn Bruno Bauer und Marx,
die von Bonn aus die ,,Montagne" proklamierten und Rüge den
Platz an der Spitze der Bewegung streitig machten, fanden es zu-
nächst ausreichend, den Sturz Gottes und der Unsterblichkeit auf
ihr Panier zu schreiben. Verwickelte aber die ,, Theorie", wozu
sie entschlossen war, in den Sturz dieser autoritären Mächte auch
die Monarchie und machte sie ebensowenig vor dem Staatsgedanken
halt, so blieb tatsächlich für keinen Glauben mehr Raum als für
den an die Menschheit, den Ludwig Feuerbach soeben verkündete.
Indem er die überirdischen Ideale als bloße Spiegelungen irdischer
Erscheinungen enthüllte, lieferte er dieser Jugend, die es ohnehin
mächtig verlangte. Denken und Wirklichkeit zu vermählen, bei
ihrer ihr jetzt zum Bewußtsein kommenden Diesseitigkeit einen
starken Ansporn, um ihr Ethos, dem sich die Pforten des Himmels
verschlossen, mit irdischem Stoff zu erfüllen. Das Tatproblem,
das sich dieser Generation von der Erscheinungswelt her schon
aufdrängte, richtete sich nun auch im Bereich der Weltanschauung
vor ihr auf. Dadurch erstwurde sie empfänglich für die sozialistischen
und kommunistischen Gedankenkeime, die vom Westwind seit
längerem schon herübergetragen, üppig aufschießen mußten, so-
bald sich die freiheitlichen Hoffnungen auf Preußen, die durch die
liberale Zensurinstruktion noch einmal belebt worden waren, end-
gültig als trügerisch herausstellten.
Nun vollzog sich dieser stürmische Revolutionierungsprozeß
innerhalb des preußischen philosophischen Radikalismus aber
gerade während des Jahres, das Engels am Glutofen dieser Be-
wegung zubrachte, von ihr erhitzt doch auch eifrig an ihr mitschü-
rend. Er traf im Herbst 1841 in Berlin ein, als jene ungeheuren
Gegensätze mit voller Wucht aufeinander platzen wollten. Eine
Auseinandersetzung bereitete sich vor, wie Deutschland sie vielleicht
seit der Reformation nicht nr.ehr erlebt hatte.
Die Kaserne de^ Garde-Fuß-Artillerie -Regimentes, bei dem er
als Freiwilliger eintrat, lag in nächster Nähe der Universität, der
, .Zitadelle des geistigen Berlin", deren Halle er jetzt mit scheuer
Ehrfurcht betrat. Als fleißiger Hospitant bei berufenen Lehrern
gedachte er die Kenntnisse, die er in den Mußestunden seiner Bremer
Kaufmannszeit erworben hatte, in den Mußestunden, die ihm sein
Dienstjahr lassen würde, zu ordnen, abzurunden, zu vervollständigen.
Leider fließen die Quellen über diesen wichtigen Abschnitt seines
Lebens weniger reichlich als über die veraufgehende Epoche.
Die beiden einzigen Briefe, die sich aus dem Jahr auffinden ließen,
70 Bei den Junghegelianem in Berlin.
sind, an die Schwester gerichtet, in dem humoristisch-schwadronie-
renden Ton gehalten, den Engels gern Menschen gegenüber an-
schlug, denen er wohlwollte, die ihm aber auf die Gebiete, die ihm
selbst zunächst am Herzen lagen, nicht wohl folgen konnten. Darin
plaudert er zwar von mancherlei: er spricht von seiner Uniform,
blau mit schwarzem Kragen, an dem zwei breite gelbe Streifen
sind und mit schwarzen, gelbstreifigen Aufschlägen nebst rot aus-
geschlagenen Schößen. ,,Dazu die roten Achselklappen mit weißen
Rändern, ich sage Dir, das macht einen pompösen Effekt und ich
könnte mich auf der Ausstellung sehen lassen. Neulich habe ich
den Poet Rückert, der hier jetzt ist, schändlich dadurch ver-
biestert gemacht. Ich setzte mich nämlich, als er Vorlesung hielt,
dicht vor ihn, und nun sah der arme Kerl fortwährend auf meine
blanken Knöpfe und kam ganz aus dem Konzept." Wieder rüffelt
er die Schwester, weil sie ihn gefragt hatte, ob er nun auch schon
den neuen König gesehen habe: ,,Was schwatzt Du mir in Deinem
Brief so viel vom alten Fritz Wilm und vom jungen Fritzchen Wilm-
chen? Ihr Frauen sollt Euch nicht in die Politik mischen, davon
versteht Ihr nichts." Er berichtet mit Genugtuung, daß er sich
bisher jedesmal außer einem an dem allmonatlichen vorschrifts-
mäßigen Kirchenbesuche ,,vorbeigefubelt*' habe; er meldet, daß
er Bombardier geworden sei und nun Tressen und Litzen und einen
blauen Kragen mit roter Paspellierung trage; er erzählt unter
Scherzen, daß die zwölfte Kompagnie, bei der er stehe, immer bis
über die Knie im Sande versinke, wenn sie auf dem Grützmacher
exerziere, auch mal, daß eine Berliner Dame, eine Gräfin, den
Thee, den ,,der große Lißt", dessen Karikatur er der Schwester
zeichnet, in einer Tasse stehen ließ, in ihre Eau de Cologne -Flasche
zum ewigen Andenken gegossen habe. Gewiß wird das alles das
Schv/esterlein im großherzoglichen Institut in Mannheim amüsiert
haben, wir aber besäßen von ihm doch lieber eingehende Äußerungen
über die bedeutenden Menschen, die ihm nun endlich entgegen-
traten, nachdem er in Bremen so lange an Primanern und Hand-
lungsgehilfen seine dialektischen Fechtkünste hatte üben müssen.
Zum Glück fehlen uns solche Beschreibungen aus seiner Feder
nicht gänzlich. Die Porträts einiger Professoren, deren Vorlesungen
er besuchte, bewahrt sein Tagebuch eines Hospitanten im Feuille-
ton der Rheinischen Zeitung. Von den Universitätslehrern soll
Michelet, sich für den philosophischen Artilleristen stärker in-
teressiert haben; mit Sympathie schildert er Marheinecke, den
Gönner Bruno Bauers; wir erfahren, daß er Leopold von
Hennigs und Werders Vorlesungen besuchte und daß er im
November Schellings berühmter Antrittsrede beiwohnte. Von
Hospitant an der Universität. 71
seinen Kumpanen am Zech- und Diskutiertische aber malt ein
lebensvolles, wenn auch ins Allegorische versetztes Bild sein großes
cliristliches Heldengedicht vom , »Triumph des Glaubens", das die
,,Historia von dem weiland Licentiaten Bruno Bauer** besingt,
,,wie selbiger vom Teufel verführet, vom reinen Glauben abgefallen,
Oberteufel geworden und endlich kräftiglich entsetzet ist**.
Wir kennen Vv^esen und Richtung jener Kämpfe, deren Mittel-
punkt auf geistigem Gebiete die Hauptstadt war, während in der
Politik Ostpreußen und die Rheinprovinz die Führung hatten.
Längst wissen wir, daß Engels dem immer lauter werdenden Ver-
langen nach der Freiheit des Worts und dem Mitbestimmungsrecht
des Volks leidenschaftlich zustimmte, und es wird uns deshalb nicht
wundern, ihn auch in der Presse dafür eintreten zu sehen. Noch
stärker aber als diese politischen packten ihn in Berlin anfänglich
die auf dem Boden der Weltanschauung emporgewachsenen Gegen-
sätze, die zu vollem Ausbruch kamen, als jetzt Schelling auf des
Königs Geheiß mit dem Angriff auf die radikale Richtung begann
und Eichhorn gegen ihren Führer, den Bonner Privatdozenten Bruno
Bauer, auf Grund seiner umstürzenden Kritik der Evangelien ein
Disziplinarverfahren eröffnete. In diesen beiden großen Schlachten,
denen der ganze Kreis der Junghegelianer eine weltgeschichtliche
Bedeutung beimaß, betätigte Engels sich als einer der verwegen-
sten Rufer im Streit, als einer der hitzigsten Kämpen wider die
Autorität. Sein junges Herz schwoll vor Stolz, daß er dabei
sein durfte, wo so ungeheure Gegensätze ausgetragen wurden, wo
Leben und Tod des Christentums auf dem Spiele zu stehen schien.
Der Philosoph der Romantik unterschätzte offenbar ganz gewaltig
die Hartnäckigheit und die geistige Kraft der junghegelschen Be-
wegung, wenn er in seinen Briefen an Eichhorn und an den
bayerischen Minister von Abel die Hoffnung aussprach, daß es,
um die Gegner zu entwaffnen, keiner, am wenigsten einer fort-
gesetzten Polemik bedürfen, sondern hinreichen werde, wenn er
jener als möglich dartäte, was sie selbst für unmöglich hielte.
Für schlechthin unmöglich hielten nun aber die Hegelianer, daß
die Philosophie der Offenbarung, die der alte Schelling seit Jahr-
zehnten angekündigt hatte, ohne mit ihr hervorzutreten, sich als
ein Zaubermittel ausweisen würde, um die Kluft zu schließen, die
sich seit dem Aufkommen Strauß' und Feuerbachs zwischen
Wissen und Glauben aufgetan hatte. Die Kunde, daß Schelling
in seiner Antrittsvorlesung seine Philosophie der Offenbarung
wirklich enthüllen v/ollte, mußte allen Junghegelianern wie die
Fanfare erklingen, die sie zum Turnier zusammenrief. Ihrer Sieges-
gewißheit stand es außer Zweifel, daß sie die Mittel besaßen, das
72 Bei den Junghegelianern in Berlin.
„unverschämte Revenant", das ihnen schon zu einer mythischen
Persönhchkeit geworden war, in die Unterwelt zurückzubefördern.
Mit atemloser Spannung erlebte der junge Engels die An-
trittsvorlesung Schellings : ,,Wenn Ihr jetzt hier in Berlin irgend
einen Menschen, der auch nur eine Ahnung von der Macht des
Geistes über die Welt hat, nach dem Kampfplatze fragt, auf dem
um die Herrschaft um die öffentliche Meinung Deutschlands in
Politik und Religion, also über Deutschland selbst, gestritten wird,
so wird er Euch antworten, dieser Kampfplatz sei in der Universität,
und zwar das Auditorium Nr. 6, wo Schelling seine Vorlesungen
über die Philosophie der Offenbarung hält." Mit Ungeduld hatte
der Jüngling auf das gewartet, was der ,,tote** Schelling gegen
den ,, lebenden" Hegel vorbringen würde. Für die Leser des Tele-
graph versuchte er danach, dessen ,, Todesurteil über das Hegeische
System" seiner Kurialsprache zu entkleiden. ScheUing behaup-
tete hier bekanntlich, daß Hegel eigentlich gar kein eigenes System
besessen, sondern nur vom Abfall seiner Gedanken kümm.erlich
sein Leben gefristet habe: während er sich mit der positiven Philo-
sophie beschäftigt, habe jener in der negativen geschwelgt und deren
Vervollständigung und Ausarbeitung in seinem Auftrage über-
nommen. Wenn jenem dennoch ein Platz unter den großen Den-
kern zukomme, so verdiene er diesen bloß deshalb, weil er der
einzige blieb, der den Grundgedanken der Identitätsphilosophie
anerkannte, während alle andern sie flach und seicht auffaßten.
Hegels Fehler sei gewesen, daß er die halbe Philosophie zur gan-
zen gemacht habe. Trotz solcher ,, Schmähungen auf den Grab-
stein Hegels" wollte Engels den alten Schelling, in dem er den
Entdecker des Absoluten verehrte, mochte er noch so ent-
schieden von der Freiheit abgefallen sein, als den Vorgänger seines
Meisters anerkennen. Als dessen Nachfolger aber konnte er ihn
nicht gelten lassen. Besonders empörte ihn, daß Schelling gewagt
hatte, die ganze neuere Entwickelung der Philosophie: Hegel,
Gans, Feuerbach, Strauß, Rüge, die Deutschen Jahrbücher
zuerst von sich abhängig zu machen und danach als eine Galerie
unnützer Verirrungen hinzustellen.
Wir merken schon diesem Aufsatz an, wie lebhaft der Ver-
fasser sich versucht fühlte, den verehrten Meister vor der Öffent-
lichkeit gegen den großen Gegner in Schutz zu nehmen. War es
aber nicht ein an Größenwahn grenzendes Unterfangen, wenn der
junge Handlungsbeflissene, der niemals regelrechte philosophische
Studien getrieben hatte, einen Schelling herausforderte ? Seine
unerschöpfliche Arbeitskraft und die ungewöhnliche Beweglich-
keit seines Geistes hatten ihm ermöglicht, eine fortgesetzte und bis
Schellings Antrittsvorlesung. 73
in die entlegensten Gebiete streifende Lektüre in vollem Maße für
seine geistige Entwicklung fruchtbar zu machen. Seine körperliche
Dauerhaftigkeit und seine gediegenen Nerven hatten ihm gestat-
tet, jede unbesetzte Stunde für ernste Studien auszunutzen. In
Hegels Philosophie des Rechts und der Geschichte hatte er sich
mit großer Intensität vertieft, und alle Kontroversen, die dessen
Schule im eigenen Schoß und mit Gegnern auskämpften mußte,
auf das eifrigste verfolgt. Berechtigten ihn aber die Waffen, die er
sich auf solche Weise verschafft hatte, zu einer Herausforderung,
wie er sie jetzt vorhatte ? Von der vorhegelschen Philosophie
wußte er nur wenig. Äußerungen von ihm, die vorliegen, beweisen,
wie unbestimmte Vorstellungen er selbst von Kant hatte; und
wir brauchen uns ja nur zu vergegenwärtigen, wie Marx sich
damals schon in durchwachten Nächten mit den Griechen, mit
Spinoza, mit Leibniz in hartnäckigem erschöpfenden Ringen
auseinandergesetzt hatte, um gewahr zu werden, wie leicht das
philosophische Gepäck wog, das Engels im Tornister führte. Er
hatte kürzlich den Dilettantismus gerügt, mit dem Immermann
sich über die Geschichte der Philosophie verbreitete. War er selbst
auch zu klar und zu gelehrig, als daß er sich leicht in Widersprüche
verwickelte, so durfte er sich doch weder jetzt noch später als eine
philosophische Potenz ansehen, die Systeme souverän in ihre Ele-
mente aufzulösen und ein eigenes System selbständig aufzubauen
berufen war. Doch der Jüngling, der zur Selbstüberschätzung
nicht neigte, schöpfte seinen Mut aus dem Vertrauen, ,,daß das
Schwert der Begeisterung ebensogut ist, wie das Schwert des Genies".
Und wenn etwas von der Keckheit des Hirtenknaben David in ihm
steckte, der den Goliath herausforderte, so war gleich riesengroß
wie bei jenem auch bei ihm der Glaube an den Sieg der guten
Sache, für die er nicht als selbständiger Denker sondern als Kämp-
fer sich einsetzen wollte.
Engels Erstlingsschrift erschien ohne Angabe des Verfassers
im April 1842 bei Robert Binder in Leipzig, einem radikalen
Verleger, mit dem damals auch Stirner in Verbindung stand.
Sie führte den Titel: „Schelling und die Offenbarung. Kritik des
neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie." Keine
der zahlreichen Kundgebungen der junghegelschen Richtung,
gegen den in ihre Hürde einbrechenden Schelling ist zu gleich
radikalen Konsequenzen gelangt. ,, Dieser liebenswürdige junge
Mensch überholt alle die alten Esel in Berlin", urteilte Rüge,
der sie nicht Engels sondern den ihm befreundeten Bakunin
zuschrieb. In den Deutschen Jahrbüchern hat sich schon im Juli
1842 Friedrich Oswald als Verfasser zu erkennen gegeben.
74 Bsi ^ßti Junghegelianern in Berlin.
Und in The New Moral World, dem Organ der Anhänger Owens,
rechnete Engels es sich im folgenden Jahre als Verdienst an, daß
er hier als der erste den Gegnern öffentlich das Recht zuerkannt
habe, die Junghegelianer als Atheisten zu bezeichnen. Weil aber
nur wenige wußten, wer hinter diesem mit Sorgfalt gehüteten
Pseudonym steckte, so ist die Öffentlichkeit weder damals noch
später auf die richtige Spur geleitet worden. Daß die Zensur andere
harmlosere Schelling befehdende Broschüren beanstandete, diese
aber nicht, erklärt sich wohl daraus, daß Engels sich sorgfältig
jeder politischen Anspielung enthielt und sich bei der philosophischen
Polemik strenger Sachlichkeit befleißigte.
Die kleine Schrift, die im Eingang unverkennbar an Bruno
Bauers Posaune des jüngsten Gerichts anklingt, beginnt mit der
Feststellung, daß nun schon einige Monate verflossen seien, ohne
daß es dem aus der kymmerischen Nacht Münchens herbeigeholten
neuen Elias geglückt wäre, die Baalspriester aus dem Tempel zu
vertreiben. Die Hegeische Philosophie lebe, obgleich ihr Odem
Flammen der Gottlosigkeit und Rauch der Verfinsterung sei, nach
wie vor auf dem Katheder, in der Literatur und in der Jugend ; ihr
Einfluß auf die Nation sei in raschem Steigen und sie verfolge ruhig
ihren eigenen inneren Entwicklungsgang. Die Art, wie Schelling
sich über Hegel ausgesprochen, habe die Schüler des letzteren
jeder Rücksicht gegen dessen angeblichen Überwinder enthoben, und
so dürfe man auch ihm nicht verübeln, wenn er in Befolgung eines
demokratischen Prinzips ohne Ansehen der Person vorgehe und
nur die Sache und ihre Geschichte im Auge behalte. Engels er-
kennt an, daß Hegel zu wenig für die Popularisierung seiner Philoso-
phie getan habe. Der Kraft der Idee vertrauend hätte er nur darauf
geachtet, alles Vorstellungsmäßige, Phantastische, Gefühlige ent-
schieden abzuweisen und den reinen Gedanken in seiner Selbst-
schöpfung zu erfassen. Erst bei seinen Schülern habe die Lehre
eine menschlichere und anschaulichere Gestalt angenommen, erst
sie hätten die bedeutungsvollsten Lebensfragen der Wissenschaft
und der Praxis zur Diskussion gestellt und damit Macht über die
Jugend gewonnen. An Hegels Weltanschauung tadelt er mit den
anderen, daß sie dem jugendlich aufbrausenden Konsequenzen-
strom der eigenen Lehre unter dem Druck der Restaurationsepoche
Dämme entgegengestellt habe. Besonders die Religions- und
Rechtsphilosophie würde anders ausgefallen sein, wenn Hegel
sie dem Einfluß der Zeitströmung entzogen und aus dem reinen
Gedanken entwickelt hätte. Die Prinzipien Hegels seien immer
unabhängig und freisinnig gewesen, aber die Folgerungen hätten
hie und da ein illiberales Aussehen angenommen. Der linke Flügel
Schelling und die Offenbarung. 75
der Schule, der sich um Ruges Jahrbücher schare, habe deshalb
bloß die Prinzipien beibehalten und die Folgerungen, wo sie sich
nicht mehr rechtfertigen ließen, verworfen. Doch selbst diese
Pachtung wagte nicht gleich von Anbeginn, alle Konsequenzen
offen auszusprechen. Auch nach dem Erscheinen des Leben Jesu
habe sie noch geglaubt, innerhalb des Christentums zu stehen;
die Fragen nach der Persönlichkeit Gottes und der individuellen
Unsterblichkeit seien noch nicht hinreichend genug geklärt gewesen,
um ein rückhaltloses Urteil zuzulassen. Als sie dann die unaus-
bleiblichen Konsequenzen herannahen sah, sei die Schule anfäng-
lich mit sich zu Rat gegangen, ob die neue Lehre nicht besser ihr
esoterisches Eigentum, für die Nation aber ein Geheimnis bliebe.
Erst Heinrich Leos Angriff öffnete „den Hegelingen** die Augen
völlig über den eigenen Standpunkt und weckte ihnen den stolzen
Mut, die Wahrheit nicht nur bis zu ihren äußersten Folgerungen
zu begleiten sondern sie auch offen und verständlich auszusprechen,
möge daraus folgen was da wolle. Jetzt falle es niemandem unter
ihnen mehr ein, die Richtigkeit der Leoschen Anklagepunkte
zu bestreiten. Feuerbachs Wesen des Christentums, Strauß
Dogmatik und die Deutschen Jahrbücher bewiesen am besten,
welche Früchte jene Denunziation getragen habe. Heute machten
die Junghegelianer keinen Hehl mehr daraus, daß das Christen-
tum in ihren Augen keine Schranke mehr bedeute. Die unerbittliche
Kritik der Vernunft habe sich der Grundprinzipien des Christentums
ebenso bemächtigt wie all' des anderen, was man bisher Religion
genannt habe. Fortan erhebe die absolute Idee den Anspruch, die
Gründerin einer neuen Ära im Bewußtsein der Menschheit zu sein.
Jene große Umwälzung, deren Vorläufer die französischen Philo-
sophen des achtzehnten Jahrhunderts waren, fände im Reiche des
Gedankens erst jetzt ihre Vollendung; die Philosophie des Protestan-
tismus, die mit Descartes begonnen habe, räume einer neuen Zeit
das Feld. Damit werde es die heiligste Pflicht aller, die der Selbst-
entwicklung des Geistes gefolgt wären, so ungeheure Resultate in
das Bewußtsein der Nation zu überführen und zum Lebensprinzip
Deutschlands zu erheben.
Nach dieser vom radikalsten Geist erfüllten Einleitung schildert
Engels, der vom Thronwechsel zu reden ausdrücklich vermeidet,
wie seit dem Tode Altensteins auf der einen Seite der Staat, auf
der anderen die Philosophie ihre Prinzipien immer schroffer zu
betonen angefangen hätten. Seit die Philosophie sich nicht mehr
scheute, „das Notwendige*' auszusprechen, habe auch der christ-
lich-monarchische Staat Preußen seine Konsequenzen bestimmter
geltend gemacht. Um ein Gegengewicht gegen die bis dahin vor-
^6 Bei den Junghegelianern in Berlin.
herrschenden Tendenzen zu schaffen, wurden Männer von ent-
gegengesetzter Richtung berufen, und am Ende erhielt Scfielling
die Mission, in dem Streit den Ausschlag zu bringen und die Hegel-
sche Philosophie auf ihrem eigensten philosophischen Gebiet zu
vernichten. Damit ist der Verfasser bei dem engeren Thema
seiner Broschüre angelangt, das aber für uns ebenso wie für ihn
zurücktritt hinter den Betrachtungen, mit denen er es einleitet
und in die er es ausklingen läßt. Hier, im Kern seiner Darlegungen,
finden wir die mit ,, Lauterkeit und Aufrichtigkeit" wiedergegebenen
Gedanken aus Schellings Vorlesungen und, wenn auch in erweiter-
ter Ausführung, die kritischen Einwendungen, die schon der Artikel
im Telegraph gegen sie erhoben hatte. Schelling bekommt zu
hören, daß er Autoritätsglauben, Gefühlsmystik und gnostische
Phantastereien in die freie Wissenschaft des Denkens einschm.uggele
und damit die Einheit der Philosophie, die Ganzheit aller Welt-
anschauung zu einem unbefriedigenden Dualismus zerreisse.
Weil er den Widerspruch, der die welthistorische Bedeutung des
Christentums ausmache, auch zum Prinzip der Philosophie erhebe,
erweise er sich unfähig, das Universum als Vernünftiges und Gan-
zes zu begreifen. Aber der Deutsche bedanke sich für seine Philo-
sophie, die sich auf einem holprigen Wege durch die endlos lang-
weilige Sahara der Möglichkeit schleppe, ohne zu einem anderen
Ziele zu gelangen als dahin, wo nach ihrem eigenen Geständnis
die Welt für die Vernunft mit Brettern zugenagelt sei.
Die Vernunft nehme bei Schelling zum wirklichen Sein eine
apriorische Stellung ein; sie könne nicht beweisen, daß Etwas
existiere sondern nur, daß, wenn Etwas existiere, es so und so be-
schaffen sein müsse. Sie erhalte bei ihm also eine vorweltliche,
von aller anderen Existenz getrennte Existenz. Nun sei es aber
gerade die Konsequenz der neueren Philosophie, wie Feuerbach
in ganzer Schärfe zum Bewußtsein gebracht habe, daß die Vernunft
schlechterdings nur als Geist, der Geist aber nur in und mit der
Natur existiere und nicht abgesondert von ihr ein apartes Leben
führen könne. Die Existenz der Vernunft beweise zugleich die
Existenz der Natur und daß die Potenz des Seins mit Notwendigkeit
sogleich in den Aktus des Seins übergehen müsse. Solange man
von aller Existenz abstrahiere, könne von Existenz überhaupt nicht
die Rede sein. Knüpfe man aber an etwas Existierendes an, so sei
die Existenz der Folgerungen selbstverständlich.
Als die Basis aller Philosophie gilt dem Hegelianer die Existenz
der Vernunft, die durch ihre eigene Tätigkeit bewiesen werde;
gehe man von ihrer Existenz aus, so folge daraus von selbst die
Existenz aller ihrer Konsequenzen. Schelling freilich scheine die
Schelling und die Offenbaning. yy
Existenz der Vernunft als Voraussetzung aller Philosophie nicht
anerkennen zu wollen und auf eine abstrakte und richtige Immanenz
des Denkens hinzustreben. Das Durcheinander von Abstraktion und
Vorstellung sei sogar das Charakteristische seiner Denkweise.
Die Notwendigkeit der Welt passe nicht in seinen Positivismus.
Von der Sucht besessen, platterdings an das Ende der Philosophie
das Absolute zu rücken, begreife er nicht, daß Hegel dies wirklich
geleistet habe. Besäße er eine Geschichtsphilosophie, so würde
ihm der sich wissende Geist nicht als Postulat sondern als Resultat
erscheinen. Aber auch der sich wissende Geist wäre noch lange
nicht, was Schelling von der Idee behaupte, der Begriff des per-
sönlichen Gottes. Bei Hegel sei die Realität der Idee nichts anderes
als — Natur und Geist und das Absolute bloß die Einheit von Natur
und Geist in der Idee. Schelling fasse das Absolute immer noch
als absolutes Subjekt, das bei ihm allein in der Vorstellung des per-
sönlichen Gottes seine Realität fände. Zum ersten Mal seit den
Scholastikern spreche in ihm ein Heros der Wissenschaft den Ab-
fall von der reihen Vernunft offen aus und erkläre sie für eine Magd
des Glaubens. Die Versöhnung von Glauben und Wissen zu bringen
hatte Schelling versprochen. Wähne er diese zu vollziehen, in-
dem er die naive Forderung erhebe, man möge, um sich vom Zwei-
fel zu kurieren, allen Zweifel von sich werfen ?
Um in Berlin Geschäfte zu machen, hätte Schelling statt des
Schatzes seiner positiven Philosophie eine Widerlegung des Leben Jesu
und des Wesens des Christentums aus München mitbringen müssen.
Seine Konstruktion des persönlichen Gottes und der christlichen
Dreieinigkeit verflache wie gewöhnlich bloß Gedanken Hegels zur
barsten Inhaltslosigkeit, denn er stelle die drei Entwickelungs-
momente als Persönlichkeiten neben einander und bezeichne es
als die wahre Persönlichkeit einer Person, daß sie drei Personen
sei. Die Inkonsequenzen, Willkürlichkeiten, kecken Behauptungen,
Lücken, Sprünge, die Schelling sich bei seiner Konstruktion des
christlichen Dogmas zuschulden kommen lasse, im einzelnen auf-
zuweisen, erscheint Engels ebenso überflüssig wie eine ernst-
hafte Beschäftigung mit der Offenbarungs- und Gotteslehre seines
Gegners. Er hält die Unvereinbarkeit von Philosophie und Christen-
tum bereits für erwiesen und folgert daraus, daß Schelling sich
in einen noch schlimmeren Widerspruch verstrickt habe als Hegel.
Dieser hatte doch eine Philosophie, wenn auch nur scheinbar das
Christentum darin steckte ; was Schelling gebe, sei weder Christen-
tum noch Philosophie, und die Verwirrung von Freiheit und Willkür
stünde bei ihm in der schönsten Blüte. Nur jene Freiheit, so be-
kennt Engels aus dem Geist der Schule und des eigenen Erlebens,
yS Bei den Junghegelianern in Berlin.
sei die wahre, die auch die Notwendigkeit in sich enthalte, die nichts
anderes sei als Wahrheit, Vernünftigkeit, Notwendigkeit. Der Gott
Hegels, aus dem alles Willkürliche entfernt ist, könne nun und
nimmermehr eine einzelne Person sein. Schelling müsse, wenn
er von Gott sprechen wolle, das ,, freie" Denken anwenden, denn
das notwendige Denken der logischen Konsequenz schließe jede
göttliche Person aus. Die nie ruhende Triebkraft des Gedankens
in der Hegeischen Dialektik, die alles von selbst mache, bedürfe
keiner göttlichen Persönlichkeit. Weil Schelling nun in seinem
Alter in den seichten Hafen des Glaubens eingefahren wäre, sei
das einst so stolze Schiff seiner Philosophie hoffnungslos auf den
Sand geraten. Aber einen anderen Hafen gebe es noch; dort läge
eine ganze Flotte stolzer Fregatten bereit in das hohe Meer zu stechen.
Indem Hegel die alte Ära des Bewußtseins vollendete, habe er
einer neuen die Wege geöffnet. Und wenn sein jüngster Nach-
folger ihm vorwürfe, daß er noch so tief im Alten stecke, so möge
Feuerbach bedenken, daß gerade das Bewußtsein über das Alte
schon das Neue sei, daß ein Altes eben dadurch der Geschichte
anheimfalle, daß es vollkommen zum Bewußtsein gebracht werde.
In diesem Sinne sei Hegel allerdings das Neue als Altes und das
Alte als Neues; Feuerbachs Kritik des Christentums aber wäre
eine notwendige Ergänzung zu der durch Hegel begründeten speku-
lativen Religionslehre.
Am Schlüsse der Kampfschrift läßt der Jüngling die Begeiste-
rung für die neue Wahrheit, die sein ganzes Wesen erfüllt, in feurige
poetische Bilder ausströmen. Zum letzten Mal, bevor sich die Ge-
sichtszüge, aus denen wir es ablesen konnten, hinter dem Visier stren-
ger Sachlichkeit verbergen, erhalten wir einen unmittelbaren Einblick
in das Leben seiner Seele. Ein neues Leben sei angebrochen, ruft er
jubelnd aus, ein Morgen weltgeschichtlich wie jener, da aus der
Dämmerung des Orients das lichte, freie hellenische Bewußtsein
sich losrang! Alles habe sich verändert: die Welt, die uns so fremd
war, die Natur, deren verborgene Mächte uns wie Gespenster schreck-
ten, nun seien sie uns verwandt und heimisch geworden. ,,Die Welt,
die uns als ein Gefängnis erschien, zeigt sich nun in ihrer wahren
Gestalt, als ein herrlicher Königspalast, darm wir alle aus- und ein-
gehen. Arme und Reiche, Hohe und Niedere. Die Natur schließt
sich auf vor uns und ruft uns zu: Fliehet doch nicht vor mir, ich
bin ja nicht verworfen, nicht abgefallen von der Wahrheit, kommt
und sehet, es ist euer innerstes, eigenstes Wesen, das auch mir
Lebensfülle und Jugendschönheit gibt! Der Himmel ist zur Erde
herniedergekommen . . . Alle Zerrissenheit, alle Angst, alle Spaltung
ist verschwunden. Die Welt ist wieder ein Ganzes, selbständig
Weihe für die Idee.
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und frei; sie hat die Tore ihres dumpfen Klosters gesprengt, das
Bußhemd abgeworfen .... Sie braucht sich nicht mehr zu recht-
fertigen vor dem Unverstand, der sie nicht erfassen konnte; ihre
Pracht und Herrlichkeit, ihre Fülle, ihre Kraft, ihr Leben ist ihre
Rechtfertigung. Wohl hatte Einer recht, als er vor achtzehnhundert
Jahren ahnte, daß die Welt, der Kosmos, ihn dereinst verdrängen
werde, und seinen Jüngern gebot, der Welt abzusagen. Und das
liebste Kind der Natur, der Mensch, als freier Mann nach den langen
Kämpfen des Jünglingsalters, nach der langen Entfremdung zur
Mutter zurückkehrend, . . . hat auch die Trennung von sich selber,
die Spaltung in der eignen Brust überwunden. Nach undenklich
langem Ringen und Streben ist der lichte Tag des Selbstbewußt-
seins über ihm aufgegangen ... Es ist ihm alles offenbar geworden,
und nichts war stark genug, sich gegen ihn zu verschließen. Jetzt
erst geht ihm das wahre Leben auf! Wohin er früher in dunkler
Ahnung strebte, das erreicht er jetzt mit vollem, freien Willen.
Was außer ihm, in nebelnder Ferne zu liegen schien, findet er in
sich als sein eigen Fleisch und Blut. Das Kleinod aber, das Heilig-
tum, das er so gefunden hat nach langem Suchen, war manchen
Irrweg wertl Diese Krone, dies Heiligtum „ist das Selbstbewußt-
sein der Menschheit, der neue Gral, um dessen Thron sich die Völker
jauchzend versammeln und der alle, die sich ihm hingeben, zu
Königen macht." ,,Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Tempel-
eisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser
Leben fröhlich einsetzen in den letzten, heiligen Krieg, dem das
tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird. Und das ist die Macht
der Idee, daß jeder, der sie erkannt hat, nicht aufhören kann von
ihrer Herrlichkeit zu reden und ihre Allgewalt zu verkündigen,
daß er heiter und guten Muts alles andere wegwirft, wenn sie es
heischt, daß er Leib und Leben, Gut und Blut opfert, wenn nur
sie durchgesetzt wird. Wer sie einmal geschaut hat, wem sie
einmal im stillen nächtlichen Kämmerlein in all ihrem Glänze er-
schienen ist, der kann nicht von ihr lassen, der muß ihr folgen,
wohin sie ihn führt und wäre es in den Tod. . . . Und dieser Glaube
an die Allmacht der Idee, an den Sieg der ewigen Wahrheit, diese
feste Zuversicht, daß sie nimmermehr wanken und weichen kann
und wenn die ganze Welt sich gegen sie empörte, das ist die wahre
Religion eines jeden echten Philosophen, das ist die Basis der wahren
positiven Philosophie, der Philosophie der Weltgeschichte. Diese
ist die höchste Offenbarung, die des Menschen an den Menschen,
in der alle Negation der Kritik positiv ist. Dieses Drängen und Stür-
men der Völker und Heroen, über dem die Idee in ewigem Frieden
schwebt und endlich herniedersteigt mitten in das Getriebe, und
8o Bei den Junghegelianern in Berlin.
seine innerste, lebendigste, selbstbewußte Seele wird, das ist die
Quelle alles Heils und aller Erlösung; das ist das Reich, in dem jeder
von uns an seinem Ort zu wirken und zu handeln hat. Die Idee,
das Selbstbewußtsein der Menschheit ist jener wunderbare Phönix,
der aus dem Kostbarsten, was es auf der Welt gibt, sich den Scheiter-
haufen baut und verjüngt aus den Flammen, die eine alte Zeit ver-
nichten, emporsteigt. So laßt uns denn unser Teuerstes und Lieb-
stes, alles was uns heilig und groß war, ehe wir frei wurden, diesem
Phönix auf den Scheiterhaufen tragen! Laßt uns keine Liebe, keinen
Gewinn, keinen Reichtum für zu hoch halten, als daß wir ihn nicht
der Idee freudig opfern sollten — sie wird es uns alles vergelten
tausendfach! Laßt uns kämpfen und bluten, dem Feinde unverzagt
ins grimmige Auge schauen, und ausharren bis ans Ende! Seht
Ihr unsere Fahnen wehen von den Bergesgipfeln herab? Seht
Ihr die Schwerter unserer Genossen blinken, die Helm.büsche flat-
tern ? Sie kommen, sie kommen aus allen Tälern, von allen Höhen
strömen sie uns zu, mit Gesang und Hörnerschall; der Tag der
großen Entscheidung, der Völkerschlacht, naht heran und der Sieg
muß unser sein!"
Als Rüge bald nach dem Erscheinen Schelling und die
Offenbarung in den Deutschen Jahrbüchern anzeigte, rühmte er
die Lebendigkeit und Klarheit der Broschüre, hob aber auch hervor,
daß ihr Charakter und Standpunkt jugendlich seien, wie die Lust
an bilderreicher Sprache am Anfang und Ende und das frische Feuer
der Begeisterung für die große Entwicklung, in der man sich be-
finde, erkennen ließen. Gewiß, durchaus jugendlich ist die Be-
geisterung, die in diesen übervollen Dithyramben einherflutet, aber
auch von einer seltenen Reinheit, Echtheit und Freudigkeit der
Empfindung legt sie Zeugnis ab. Wer in so wahren Tönen sein
ganzes Wesen der Idee zu Füßen legte, wer mit so hingebendem
Schwung sich zu ihrem Priester, nein, nicht zu ihrem Priester, zu
ihrem Ritter weihte, der verband sich ihrem Dienst für alle Lebens-
zeit, der hatte der Beschränkung auf den engen Kreis der bloßen
privaten Einzelexistenz für immer abgeschworen. Mochte Engels
über die Bedeutung und den Inhalt des Grals, dem er sein Blut ge-
lobte, noch Unklarheit umgeben, was er war und werden konnte,
seine Kraft, sein Denken, sein Handeln gelobte er unverbrüchlich
den Mächten der Zukunft.
Der Grundton dieser Stimmung, die in den ersten Monaten des
Jahres 1842 ihn beherrschte, hatte sich nur noch vertieft, seit er
ihr in den Aufsätzen über Arndt und Immermann zuletzt dich-
terisch beseelten Ausdruck verliehen hatte. Hier wie dort erfüllte
ihn wie ein wonnereicher Rausch das unaussprechliche Glücks-
i
Verflüchtigung des Gottheitsbegriffs. 8i
gefühl, der Jugend einer Zeit anzugehören, die mit weltgeschicht-
lichen Entscheidungen schwanger ging. Noch spürt man ihm die
Seligkeit an, nach schweren und einsamen inneren Kämpfen in
einer gewaltigen Weltanschauung seine Sicherheit und in deren
radikalsten Fortbildnern die Gefährten gefunden zu haben, ohne die
er nun nicht mehr hätte leben wollen. Jetzt, da er sich geborgen
fühlt, läßt er hindurchscheinen, wie tief er gelitten hatte unter der
ihn trostlos dünkenden Zwiespältigkeit zwischen einer der Mensch-
heit entrückten Gottheit und einer entgötterten Erdenwelt. Nun
aber ist alle Zerrissenheit, alle Angst, alle Spaltung geschwunden.
Was auß2r ihm, in nebelnder Ferne zu liegen schien, findet er in
sich als sein eigen Fleisch und Blut. In seinem Befreiungskampf
aus der Gefühls- und Ideenwelt des Pietismus war ihm der Gottes-
gedanke Hegels in so überirdischer Verklärtheit erschienen, daß er
nicht empfunden hatte, wie viel von der Schönheit, die er da er-
blickte, dem eigenen Dichterauge und dem noch nicht erloschenen
religiösen Drang, den die Erziehung ihm tief ins Herz gesenkt
hatte, angehörte. Aber wie im Wesen des Hegeischen Gottesbe-
griffs, so lag es auch in der Entwickelungsrichtung der jungen
Geistesbewegung, der E gtls sich verschrieben hatte, daß das
rationale Element, je stürmischer und schneller sein dialektischer
Lauf wurde, um so mehr das Gewand, das das Gefühl ihm um-
getan hatte, abstreifte. An einem logischen Pantheismus wie dem
Higelschsn mußte die Dialektik, sobald sie ungehemmt ihres
Amtes waltete, alles zermalmen, was dem souverän gewordenen
Selbstbewußtsein den Weg noch versperrte. Mit der Zeit verflüch-
tigte sich auch bei Engels der Gottesbegriff Hegels in den dialek-
tischen Entwickelungsgedanken, den die einseitigen Verstandes-
menschen, in deren Kreis er in Berlin trat, mit kahler Schwung-
losigkeit zum Ausdruck brachten. Ihm selbst freilich blieb die Idee
auch jätzt noch von Gefühlen, die dem religiösen Erleben entstamm-
ten, so erfüllt, daß der Übergang vom Gotteskultus zum Mensch-
heitskultus, den das Schlußwort seiner Broschüre uns greifbar ver-
anschaulicht, ihm nicht wieder ein schmerzhaftes, sondern ein
beseligendes Erlebnis wurde. Weil die Idee ihm in überirdischem
Glanz erscheint, empfindet er es nicht als Verlust, daß sein Gottes-
begriff in ihren Strahlen nun vollends in Flammen aufgeht. Die
Gottheit, die von ihrem Weltenthron herabstieg, nahm er hinfort
in seinen Willen auf. Von der H^rrschaft überirdischer Gewalten
glaubten Brun > Bau« r und Feuer bach, aus dessen Gedanken
Engels erst später die vollen Konsequenzen zog, den Menschen-
geist befreit zu haben. Dankbar empfand der Jüngling, wie aus
der Asche des alten Glaubens der neue Glaube an die Menschheit
Mayer, Friedrich Encels. Bd. I 6
82 Bei den Junghegelianern in Berlin.
erwuchs, der ihm zunächst noch mit dem Glauben an die unbegrenzte
Entwickelungsfähigkeit des Selbstbewußtseins identisch erscheint.
Noch ahnte er nicht, daß ihm, wenn er Feuerbachs Spuren folgte,
der Glaube an die Dialektik des Selbstbewußtseins in den Glauben
an die unabsehbare Entwickelungsfähigkeit der menschlichen Zu-
stände umschlagen würde, und daß sich dem gewaltigen Optimismus,
der einen hervorstechenden Zug seines Wesens ausmachte und für
dessen adäquate Ausschöpfung sein dichterisches Talent nicht hin-
reichte, von hier aus der Weg zeigen werde, der ihn aus der Sphäre
des bloßen Verstandes, die ihn nicht völlig befriedigte, erlösen und
es ihm als Notwendigkeit enthüllen würde, die Vollendung der
Idee in der sozialen Wirklichkeit zu suchen.
Wir wissen nicht genau, wer es war, der Engels in den Kreis
des Berliner philosophischen Radikalismus einführte. Die Literaten,
die sich hier zusammenfanden, bezeichneten sich selbst mit Vor-
liebe als die Freien ; das ist auch der Name, unter dem diese erste
für unsere Geistes- und Parteigeschichte in Betracht kommende
Gruppe großstädtischer Bohemiens eine gewisse Berühmtheit er-
langt hat. Die Artikel im Telegraph, die nicht nur im Wuppertal
beachtet worden waren, reichten hin, um Friedrich Oswald Sitz
und Stimme bei ihnen zu geben. Und bald finden wir ihn völlig
heimisch in dieser Gesellschaft, aus deren Mitte die unaufhaltsam
vorwärts schreitende Zersetzung der Hegeischen Lehre damals
die verschiedenartigsten Gärungsstoffe in Freiheit und Tätigkeit
setzte. Bereits im November gedenkt der älteste Sohn des Ober-
präsidenten Flottwell, der, wohl nicht zur Freude seines Vaters,
in diese Umgebung geraten war, in einem Brief an Johann Jacoby
des jungen Fabrikantensohns aus dem Rheinland, der mit ihm.
Stirner, Eichler und Mayen an einer ästhetisch-politisch-
cerevisischen Kneiperei teilgenommen habe. Nun bildeten aber
trotz ihrer engen räumlichen Verbindung die Freien so wenig
wie das junge Deutschland eine fest gegliederte Vereinigung, die
sich durch Statuten und ein offizielles Programm gegen anders
Denkende abschloß. Die Gerüchte, daß sie sich als Partei konsti-
tuiert hätten, um die Agitation für den Atheismus systematisch
zu betreiben, waren bald von Gegnern, die ihnen schaden, bald
von ihnen selbst, weil sie sich wichtig machen wollten, in Umlauf
gesetzt worden. Eine Revolutionsspielerei, die sie samt und sonders
sofort auf die Hausvogtei gebracht hätte, lag ihnen um so ferner,
als die meisten aus dieser Schar von Literaten, Journalisten, Lehrern,
Studenten, deren theoretischem Radikalismus ein gutes Stück
Sensationslust beigemischt war, sich nicht gerade durch persönlichen
Mut auszeichneten. Weder der friedfertige Gymnasiallehrer Koppen,
Die Freien. 83
„der gänzlich gute Mann", wie er allgemein hieß, noch der
Mädchenschullehrer Caspar Schrridt, der ,, bedächtige Schran-
kenhasser", wie Engels ihn taufte, weder der im Grunde seines
Herzens so gemäßigte Nauwerk, weder der ängstliche Ludwig
Buhl noch die späteren nationalliberalen Redakteure Rutenlerg
und Meyen waren Naturen von revolutionärer Tatkraft. Als echte
Produkte vormärzlicher Dumpfheit blieben sie außer stände, Denken
und Handeln bei sich in Einklang zu setzen ; darum hielten sie um
so unentwegter an dem Grundgedanken der Hegeischen Philo-
sophie fest, der mit seiner Überwertung der Vernunft sie auf billige
Weise der ohnehin nicht starken Versuchung enthob, die Faust,,
die sie bei Stehely in der roten Stube grimmig ballten, wenn kein.
Spion der Regierung am Nebentisch saß, ihrem vernunftberaubten:
Gegner ins Gesicht schlagen zu müssen. Engels gleichaltrig, mit
ihm damals der jüngste, übermütigste und revolutionärste des
Kreises, sein Vertrauter und sein liebster Zechkumpan war Edgar
Bauer. Dessen viel älterer Bruder Bruno urteilte, solange er
noch in Bonn dozierte, recht von oben her über die Seichtbeutelei
der ,, Berliner Bier-Literaten", die ihrerseits ihn, der nur in den
Ferien bei ihnen Gastrollen gab, als ihren Führer verehrten. Erst als
er nach seiner Absetzung aufs Neue in Berlin lebte, trat er zu ihnen
und damit auch zu Edgars Altergenossen Engels in vertrauteren
Umgang. Im Gegensatz zu vielen anderen Besuchern des Kreises
bedeutete den Brüdern Bauer ihr persönliches Wohlergehen wenig,
wo es auf die Sache ankam, für die sie sich einsetzten. Ihr Unglück
war nur, daß sie sich fast niemals lange für die gleiche Sache ein-
zusetzen vermochten. In diesen Fanatikern der Vernunft lebten
schwache Seelen, die in der Unsicherheit ihres Instinkts den poli-
tischen Willen um so geringer einschätzten, als sie selbst wenig
davon besaßen. Ohne weiteres räumten sie ein, gesinnungslos zu sein ;
sie waren es aus Prinzip, denn sie befriedigte es, wenn ihr Geist
das Schlachtfeld abgab, auf dem die Gegensätze der Zeit im dialek-
tischen Kampf ihren Austrag suchten.
Allen diesen Berliner Radikalen war an Macht und Um-
fang des Willens wie des Geistes der junge Doktorand Karl Marx
überlegen, der nur wenige Monate vor dem Eintreffen des kürftigen
Werkgenossen aus ihrer Mitte geschieden war und nun am Rhein,
mit Bruno Bauer noch eng verbündet, für die Rtvolutionierung
des religiösen Bewußtseins seine Kraft einsetzte. Erst die Er-
fahrungen, die er als leitender Geist der Rheinischen Zeitung sam-
melte, entfremdeten ihn endgültig der Gemeinschaft der Freien.
Er blieb hinfort von der überlegenen Wichtigkeit, die der Politik
als Kampfgebiet zukam, überzeugt, während die Berliner in ihr
84 Bßi <^en Junghegelianem in Berlin.
ein des philosophischen Geistes würdiges Betätigungsgebiet nur
so lange erblickten, wie sie über den Widerspruch zwischen ihren
überheblichen Ansprüchen und den realen Machtverhältnissen
sich noch Täuschungen hingeben konnten.
Dam jungen Engels, den es aus seiner geistigen Einsamkeit
heraus verlangte, boten die neuen Gefährten, die vor der Zeitent-
wicklung einen Vorsprung beanspruchten, weil sie das Gras wach-
sen zu hören glaubten und für den Philister allezeit einen Schaber-
nack bereit hielten, die Anregung, die er sich gewünscht hatte,
in Hülle und Fülle. Es gab keinen neuen Gedanken, keine junge
Bewegung irgendwo in den vorgeschritteneren Ländern Europas,
die diesen eifrigen Zeitungs- und Zeitschriftenlesern verborgen
blieb. Und die Schrankenlosigkeit, die burschikose Verwegenheit,
die absichtliche Verspottung aller bürgerlichen Formen, die in
ihrer Luft gediehen, behagten seiner freiheitsdurstigen Seele nach
all der hanseatischen Steifheit und Wohlanständigkeit und als
Gegengewicht gegen den militärischen Drill.
Nun wurde es für diesen Kreis ein Ereignis, das alles, was sonst
in der Welt geschah, in den Schatten drängte, als Bruno Bauer
zuerst im Oktober 1841 provisorisch, dann im März 1842 end-
gültig die Venia legendi entzogen wurde. Dieser für preußische
Gepflogenheiten unerhörte Eingriff in die akademische Lehrfrei-
heit erbrachte jetzt den Junghegelianern den endgültigen Beweis,
daß Preußen sein Schicksal an das des historischen Christentums
schmiedete, daß es sich mit ihm auf Tod und Leben verband, daß
es ein christlicher Staat sein wollte; die Sache Bruno Bauers
wurde ihnen nunmehr schlechthin zum ,, Ereignis des Jahrhunderts".
Wie sehr Engels damals mit Bruno Bauer und den Freien
solidarisch empfand, zeigt sein Christliches Heldengedicht: ,,Die
frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel oder Triumph
des Glaubens", das ohne Angabe eines Verfassers etwa im
April 1842 unter dem Deckverlag von Joh. Fr. Heß, eines Setzers
des Literarischen Comptoirs, dessen Frötel sich als ,, Blitzableiters"
bei besonders zensurgefährlichen Neuerscheinungen bediente, in
Neumünster bei Zürich herauskam. Wie kurz vorher Bruno
Bauer seine Posaune des jüngsten Gerichts, so hüllte Engels
diese im Stil älterer theologischer Dichtungen gehaltene Travestie
des Goetheschen Faust mit durchsichtiger Scheinheiligkeit in das
Gewand eines orthodoxen Pietismus. Heuchlerisch fleht er am
Eingang den Segen aller Größen des frommen Heerlagers Leos,
Hengstenbergs, Sacks, Krummachers und des Wuppertaler
Liederdichters Knapp auf sein Werk hernieder, dessen Ab-
sicht es sei, „den Greuel der Lästerung" mit Stumpf und Stiel aus-
Bruno Bauers Absetzung. 85
zurotten. Gleich dahinter vernehmen wir das Gestöhn der frommen
Seelen, die Gott anflehen, die immer frecher werdende Schar der
Freigeister und Lästerer endlich zu vernichten. Der Herr mahnt
zur Geduld: Noch sei das Maß des Frevels nicht voll, und gerade in
Berlin gäbe es manche, die noch nicht aufgehört hätten, Gott zu
suchen; freilich täten sie es auf besondere Weise. Und wie bei
Goethe auf Faust, so weist hier der Herr auf Bruno Bauer hin:
,,Er glaubt, doch er denkt nach,
Wohl willig ist sein Fleisch,
Doch ach der Geist ist schwach."
Der Herr mahnt zur Geduld, denn er hat die Hoffnung noch nicht
aufgegeben, daß Bauer der ,, Narretei" des Denkens, die seinen
Sinn zersplittert, abschwören und in den Schoß des Glaubens den
Weg zurückfinden werde. Gerade ihm hätte er für den letzten
Entscheidungskampf die Führung der Gläubigen, die Thron und Altar
verteidigen sollten, zugedacht.
Den Teufel, der nun auftritt, will es dünken, daß der Lizentiat
auf eine gar besondere Weise dem Herrn diene. Und unter heiterer
Verdrehung des Vorspiels im Himmel kommt es zur Wette zwischen
Gott und Mephisto. Dieser ist seines Sieges gewiß; er glaubt Bruno
Bauer zu kennen:
„Ihm steckt bei alledem der Hegel noch im Kopf,
Da fass' ich ihn, gib acht, da fass' ich ihn beim Schopf."
Unterdessen ist bei den Verdammten in der Hölle, mit Hegel,
Voltaire, Danton, Edelmann und Napoleon als Führern, eine
Revolution ausgebrochen, weil sie nicht dulden wollen, daß
der Atheismus, den sie alle — Hegel ,,mit ganzer Kraft" — ver-
kündet hatten, auf Erden wieder in Mißkredit komme. Sie werfen
deshalb dem Teufel Tatenlosigkeit vor; aber dieser beruhigt sie:
In Bruno Bauer habe er endlich den Mann gefunden, der dem
Geschlecht der Frommen die Köpfe abschlagen werde. Und weiter
geht die Faustparodie. Um den Lizentiaten zu versuchen, erscheint
Mephisto in der düsteren Studierstube, wo der Verfasser der Evan-
gelienkritik ,,mit heißem Bemühn" über die Echtheit der Bibel
und die Versöhnung von Glauben und Wissen brütet. Weil dieser als
der erste in seiner Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den
Atheisten und Christen den preußischen Staatsphilosophen öffentlich
als Atheisten und Erzjakobiner entlarvt hatte, mahnt Mephisto
ihn hier, dem Beispiel des ,, kühnen Gotteshassers" Hegel zu folgen,
der das Faktum ohne viel Grübeln über Bord geworfen habe und dem
vor der Vernunft die Überlieferung nicht bestehen konnte. Vollends
gewonnenes Spiel hat der Versucher aber erst mit seinem zweiten
Argument: Im Sandrevier des gläubigen Berlin werde Bauer
86 Bßj *^^n Junghegelianern in Berlin.
nimmer den Frohsinn aufbringen, um frank und frei den Unter-
gang des Glaubens zu verkünden. Nach Bonn, an den stolzen,
grünen Rhein wolle er ihn schaffen ; der Saft der Reben werde ihm
dort helfen, auf den Trümmern der zerstörten alten Schranken den
freiesten Gedanken den Altar zu erbauen.
In Bonn stiftet der ,, tolle Bauer", der vom Katheder alles
verkündet, was der Teufel ihm einbläst, alsbald den tollsten Un-
frieden zwischen den Frommen und den Ungläubigen, zwischen
Studenten und Professoren. Sack, das frommste Mitglied der
frommsten aller damaligen Fakultäten, der eifrigste Gegner Bauers,
erhält, ein zweiter Bileam, durch den Mund seiner Eselin den gött-
lichen Auftrag, in diesem Streite den Schiedsrichter zu spielen.
Währenddessen sitzen in Leipzig Arnold Rüge, der Herausgeber,
Otto Wigand, der Verleger, und Robert Prutz, der Dichter
der eben aus Preußen verwiesenen Halleschen Jahrbücher in ge-
drückter Stimmung beisammen, um über das fernere Schicksal der
Zeitschrift einen Beschluß zu fassen. Schon will Rüge sich bescheiden,
künftig nur noch den Musenalmanach herauszugeben, schon will Wi-
gand bloß noch sanftmütige Belletristik verlegen und der Dichter des
,, Rhein" nur noch Liebeslieder girren. Da bringt Mephisto Rat und
Hilfe: Sie sollten das Blatt in Deutsche Jahrbücher umtaufen; dann
werde es auch fernerhin für die Verbreitung der Gottlosigkeit seine
Segens volle Wirksamkeit fortsetzen können. Zwar kommt auch Sack
auf seiner Eselin geritten, um sie zu mahnen, sich vor Gottes Thron
zu demütigen, da der Herr sie sonst Hengstenberg und seinen frommen
Scharen zum Fräße vorwerfen würde. Doch Mephistos Wort findet
Anklang: alle Freien, ,,Germaniens Auswurf" ruft Rüge nun zu den
Waffen auf gegen die weltverdunkelnde Romantik, die das kleine
Wörtchen ,,frei" von der Erde vertilgen wolle ; und zu einem Kongreß
nach Bockenheim — weshalb wohl just nach Bockenheim ? — folgen
seinem Manifest die Freien aus allen Gegenden Deutschlands.
Die frechsten, Atheisten schlimmer als Jakobiner, entsendet
Berlin: den Schulbakel in der Hand, die Brille auf der Nase, kommt
Koppen, den nur Rüge verdorben habe, einher mit dem kleinen
Meyen, ,,der schon seit Mutterleib täglich den Voltaire liest".
,,Doch der am weitsten links mit langen Beinen toset,
Ist Oswald, grau berockt und pfefferfarb behoset.
Auch innen pfefferhaft, Oswald, der Montagnard,
Der wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar.
Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine,
Auf ihr begleitet er stets eine Cavatine;
Stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Refrain:
Formez vos bataillons! Aux armes, citoyens!"
Das christliche Heldengedicht. 87
Neben ihm rast ,,der Blutdurst selbst" Edgar Bauer, ,,von außen
Modemann, von innen sanscülottig". Auch Stirner, der Verächter
von Satzung und Gesetz, ist bei der Schar und übertrumpft die ande-
ren, die nur erst „ä bas les rois" rufen, bereits mit seinem ,,4 bas
aussi les lois". Hinter ihm trippelt sein nächster Freund, der seifen-
scheue und blutscheue Ludwig Buhl einher, in politischen Fragen
der unterrichtetste Kopf des Kreises, aber ,,von innen schmeidig-
zart" und nur ,,von außen Sansculott". Sie alle führt jetzt dem
bedrängten Bauer zur Hilfe Arnold der Wilde, der ,, Atheisten-
zar** Rüge. In Qualm und Höllenschauer gehüllt tost der Verfolgte
ihnen entgegen ; als Fahne schwingt er einen Bogen seiner ,, Schmach-
kritik der Bibel". Aber
,,Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut und gleich, als wollt' er packen
Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehn.
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel faßten."
Dem künftigen Lebensfreund, den er noch nicht persönlich kennt
und den er hier deshalb so abschildert, wie er unter den Freien,
die ihn bewunderten, damals noch fortlebte, folgen ,,patrizier-
mäfl'gen Gangs" der Kölner Georg Jung, der Gerant, und pfeife-
rauchend und keifend der beiden Bauer Schwager Rutenberg,
dieser von der Zensur so überschätzte Redakteur der Rheinischen
Zeitung. Zuletzt naht noch aus Süden mutterseelenallein ,,er selbst
ein ganzes Heer von frechen Atheisten", ,,ein grauses Meteor um-
wallt von Höllendüften", von den Freien m.it brüllendem Jubel
empfangen — Ludwig Feuerbach. Wie es bei ihnen Gewohn-
heit ist, schleppen diese ihn sofort in ihre Kneipe, wo zunächst ein
Toben losgeht, dem der ,, ordnungsfrohe" Koppen vergebens Ein-
halt gebietet. Die lautesten Brüller sind Oswald und Edgar;
längst genügen ihnen nicht mehr die Worte, sie springen auf den
Tisch und verlangen schreiend Taten voll Kraft und Mark. Ein
vwldes Bravo der tollen Schar begleitet ihren Ruf. Nur Rüge, der
inzwischen in Seelenruhe drei Beefsteaks verspeist hat, lacht spöt-
tisch über ihre Forderung, denn seine Ansicht ist, daß noch für
lange Zeit die Worte die Taten ersetzen müßten und daß Geduld
nötig sei, bis sich die Praxis von selbst hinter die Abstraktion stel-
len würde. Aber Oswald und Edgar ,,in ihrem Tatenfeuer" heben
jetzt den tollen Bruno auf einen Stuhl, da brüllt und rast er ; Marx,
,,das Ungetüm", klettert auf Rutenbergs — der Rheinischen
88 Bei den Junghegelianem in Berlin.
Zeitung — Schultern, und sie beide, Bruno Bauer und Marx,
bedrängen von hier aus schreiend Rüge mit der Frage, wie lange
er noch meine, ihren Durst bloß mit Worten stillen zu können.
Er müsse doch einsehen, daß die Frommen sich zum Angriff rüsteten,
und daß ihre Zweieinigkeit mit der Polizei nicht weniger gefährlich
sei als die Dreieinigkeit. Feuerbach, der Einsiedler, schätzt
Beratungen und Vereine gering; ihm dünkt es am würdigsten, wenn
der freie Mann für sich allein handelt. Anders als der Franke
urteilt der Märker Koppen, der Verehrer Friedrichs des Großen.
Er preist die Organisation, die der Unordnung wehre und Blut-
vergießen verhindere. Solche Worte tragen ihm bei Edgar und
Oswald den Namen eines verfluchten Girondisten ein, der sich
zu Unrecht als Atheisten ausgebe. Doch der ,, würdevolle" Stirner
will nicht zulassen, daß man durch Brüllen den Willen eines Men-
schen binde. Er erhebt gegen Oswald und Edgar den Vorwurf,
daß sie, da sie so verführen, noch zu sehr in die Sklaverei eingelebt
seien. Wie der höllische Kongreß bei dem immer lauter werdenden
Streit in völliger Verwirrung auseinanderzugehen droht, erscheint
durch die Luft auf einem aus Exemplaren der Deutschen Jahr-
bücher zusammengeklebten Fluggerät Wigand und ermahnt die
Schar, sich an der Einigkeit und Stille, die im nahen Frankfurt, am
Sitz des Bundestages, herrsche, ein Beispiel zu nehmen. Falls sie
aber glaubte, der Freie könne „nicht bestehen, wo des Bundes Winde
wehen", so mögen sie ihm nach Leipzig folgen, wo er, der Verleger
der deutschen Opposition, die schönsten papierenen Batterien auf-
getürmt habe, die kein Frommer erstürmen könne. Der Vorschlag
findet Anklang, und alle folgen ihm; nur Feuerbach schlägt sich
abseits in die Büsche.
Während dessen hatten die ,, Feinen" und ,, Auserwählten"
ihre Sammlung in Halle vollzogen, am Wohnorte Heinrich Leos,
des grimmigsten Feindes der Hegelingen. Hier halten sie ihre An-
dacht ab. Erst singen sie das erbauliche Lied: ,,0 Herr, wir sind
vor Dir ein Aas, ein Pestgestank, ein Rabenfraß, im Schinderloch
der Sünden." Nach einem hektischen Schuster, der den Weltunter-
gang ankündigt, predigt Leo gegen die Göttin der Vernunft, die
große Hure von Babylon, gegen die Revolution; Bauer vergleicht
er mit Robespierre, Rüge mit Danton, Feuerbach mit Marat und
er mahnt die Frommen, zu beten, zu beten. Im rechten Augen-
blick erscheint wieder auf seiner Eselin Sack, um zu verkünden»
daß Gott ihm befohlen habe, den heiligen Krieg zu predigen gegen
des Teufels List und Trug, der sich hinter Wigands Bücherballen
verschanzt habe. Wollten die Fürsten und die Reichen, in irdischer
Lust befangen, auf ihn nicht hören, so sollten die Armen, die Blin-
Schilderung der Freien und ihrer Gegner. g^
den, die Krüppel ihm und ihrem Hauptmann Leo in die letzte
Schlacht folgen. Der Höllenmeute der Freien, die Bruno Bauer
ungestraft „auf Gottes Pfaden" durch die Luft nach Leipzig führt,,
war Wigand dorthin vorausgeeilt, um sein Haus, den ,, Guten-
berg", in aller Eile in eine Festung umzuwandeln. Seine Bastionen
sind die Ballen verbotener Verlagsartikel, besonders die Werke
Feuerbachs und Bruno Bauers. Die Fahne der Frommen, die
zum Angriff von Halle her heranziehen, ist die Feuersäule, und
für den Sturm führen sie Jacobs Himmelsleiter mit sich. Alle Gegen-
den Deutschlands, wo der Glauben noch blüht, sind in ihrem Heer
vertreten: die Bremer führt Pastor Mallet, dessen Fehde gegen
die liberalen Prediger Engels früher in einem Brief an die Brü-
der Graeber parodiert hatte, die Berliner kommandiert Hengsten-
berg, die Bonner Nilzsch, die Züricher Strauß Gegner Hirzl, die
Wuppertaler natürlich Krummacher. Sack auf seiner Eselin
stürmt mit dem Schlachtruf der Pietisten ,,Hie Schwert des
Herrn und Gideon" als der erste gegen die Schanzen der Gott-
losen an, ihm folgten die anderen. Tapfer verteidigen sich die
Freien: Stirner wirft ganze Ballen von Büchern herab, die auf
die Frommen betäubend wirken, Rüge schleudert ihnen Bände
seiner Jahrbücher ins Gesicht, der tolle Bruno schwingt die Posaune;
,,aus sicherem Ort, wo ihn kein Wurf bedroht" wirft Buhl rück-
lings Broschüren ins Feld ; selbst während er wütend ficht, bleibt
Koppen besorgt, daß er kein Blut vergieße, Edgar streitet mit
Brauerkraft, Oswalds Rock färbt sich rot vom Blute, Marx rast
und reckt die Glieder zum Kampfe. Aber alle Anstrengung bleibt
umsonst, immer näher erklingt das Halleluja der Angreifer. Schon
flohen Buhl und Koppen, Wigand wurde von Hengstenberg der
Bart ausgerissen, und Rüge und Edgar sind in harter Bedrängnis^
Fast allein kämpft Bruno noch rasend fort und wirft mit einem
Bücherballen glücklich Sack zur Erde. Da aber reist Leo als ein
zweiter Simson die Säulen der ganzen Bücherbastion ein, er selbst
stürzt und mit ihm Bruno Bauer ; diesen bindet man, und Sack, der
wieder vom Boden aufgesprungen ist, soll ihn bewachen. Inzwischen
erstürmen die Frommen vollends die Burg der Freien, denen
die Munition ausgegangen ist.
Doch als der Teufel, der hinter den Ballen des ,, Gutenberg"
die Gottlosen angefeuert hatte, jetzt klagend in seinen Höllen-
pfuhl flüchtet, wird ihm dort ein schlimmer Empfang zuteil.
Hegel und seine Gefährten verspotten ihn nämlich, weil er ohne
seinen Schwefeldampf wirken zu lassen, vor einem Amen davon-
gelaufen wäre. Nun gibt es für die in der Hölle keinen Halt mehr;
sie eilen nach Leipzig, um den Freien zu helfen. An ihrer
^O Bei den Junghegelianern in Berlin.
Spitze schreitet Hegel. Immer hatte er sich von seinen Schülern
unverstanden gefühlt; jetzt umarmt er Bruno, den Marat befreit
hat, und gesteht ihm: ,,Ja, du hast mich gefaßt, du bist mein
lieber Sohn." Weil der Teufel, diese ,, mythische Person", sich nicht
Manns genug erwiesen hat, soll Bruno hinfort die Führung im
Kampfe gegen die Frommen übernehmen und Oberteufel werden
Alsbald wendet sich das Blatt, die Pietisten fliehen. Sack auf seiner
Eselin voraus, dem Himmel zu, und die Höllenmeute der Hegelingen
folgt ihnen brüllend nach. Der Teufel aber, erschreckt, weil die
Freien, seine Geschöpfe, ihn als mythische Person beiseite
schieben, hält es nun für klüger, sich mit Gott auszusöhnen und
zu verbünden. Der Herr in seiner Güte verspricht ihm Verzeihung,
wenn er sich im Blute der Lästerer die Hände reinige. Von neuem
eilt Mephisto fort, diesmal um den Frommen zu helfen gegen die
Freien, die den Himmel zu stürmen drohen. Schon ist Bruno
Bauer von Stern zu Stern fortgestürmt, ohne daß die Evangelisten,
die sich ihm in den Weg stellten, ihn zurückhalten konnten. Über
den Wolken schweben auch bereits die der Hölle entsprungenen
Revolutionäre: Hegel versengt mit seinem Feuerbrand die Flügel
der Engel, und Voltaire droht ihnen mit feurig rotem Flegel; die
Kirchenväter verbleut Rüge, aber Bruno Bauer schlägt mit seiner
Posaune nicht nur den Erzengel Michael sondern auch den Teufel
zu Boden. Dem wilden Marx hält das heilige Lämmlein das Kreuz
entgegen, ,,der aber ballt die Faust und droht mit grimmen Schlä-
gen". Nun verläßt auch Maria ihr Heiligtum, sie will die Engel
zum Widerstände gegen den Titanen Bauer anfeuern, dessen sieg-
reiche Schar der Wohnung des Herrn immer näher rückt. Die
Not des Glaubens hat ihren höchsten Gipfel erreicht; da kommt
von Himmelsglanz umgeben gelinde durch die Luft ein einfach
Pergamen geschwebt, vor Bauer fällt es nieder und der erbleicht
darob. Was konnte auf diesem Pergamen stehen ? Das einzige
Wort: ,,Abgesetzt!" Wie die Freien dieses vernehmen, geraten
ihre Scharen ins Wanken, Grausen packt sie und, von den jauch-
zenden Engelchören verfolgt, fliehen sie zur Erde zurück. Die
Bibel ist gerettet, der Glaube hat triumphiert!
So anschaulich wie nur die packendste direkte Beschreibung
es vermocht hätte, führt uns dieses rebellische, von Geist und Laune
sprühende Pamphlet die Berliner Freien mitsamt ihren auswärtigen
Bundesgenossen und Beschützern so vor, wie Engels sie sah und
bewertete, damals als er selbst sich ihnen zurechnete. Auch ihm
gilt noch Bruno Bauer als das unbestrittene Oberhaupt jenes äußer-
sten Flügels der Hegeischen Linken, der über den Standpunkt der
Deutschen Jahrbücher schon hinausstrebte, weil diese die Revolu-
Das Hindrängen zur Tat. 91
tion, die sich im Reich der Theorie vollzogen hatte, noch zu sehr
als esoterischen Besitz der wissenschaftlichen Welt betrachteten.
Arnold Rüge, der vierschrötige Pommer, wird von Engels mit
leichter Ironie portraitiert; er selbst läßt uns keinen Zweifel, daß
er mit seiner Sympathie bei denen weilt, die einen noch entschie-
deneren Standpunkt einnehmen. Vollends als Girondisten schildert
er Koppen und Buhl, deren persönlichen Mut er unter Scherzen
in Zweifel zieht. Jedoch auch Stirner, der in der Theorie an Radikalis-
mus alle überbot, durchschaut er bereits bis auf den Grund und ist
völlig überzeugt, daß dieser vorsichtige, gesetzte Herr, wenn es
einmal Ernst werden sollte, sich nicht exponieren werde. In Feuer-
bach sieht er noch eine einsame, ungesellige Größe, die am besten
aus der Ferne verehrt wird. Der Bergpartei, die den revolutionären
Gedanken je schneller um so lieber in die Tat umsetzen möchte,
rechnet er Bruno und Edgar Bauer, Karl Marx und sich selbst zu.
Von den Männern der Rheinischen Zeitung nennt Engels neben
Marx noch Georg Jung und Rutenberg, aber, das ist beachtenswert,
nicht Moses Heß. Denn dieser, den man mit einigem Recht den
Vater des deutschen Sozialismus genannt hat, war auf anderen
Wegen als die Hegelingen zu der Erkenntnis gelangt, daß es Zeit
sei, die Freiheit aus der Wissenschaft in die Wirklichkeit zu über-
tragen. Keiner hat vor ihm mit gleich deutlichen Worten aus-
gesprochen, daß die idealistische Philosophie, selbst in ihren fort-
geschrittensten Vertretern, hinter dem Leben zurückgeblieben sei
und daß sie allein im Kommunismus ihre notwendige Ergänzung
und ihr logisches Ergebnis finden könne. Das andere Gefühl
war verbreiteter, daß ebenso wie die große Zeit der deutschen Dich-
tung sich ihrem Ende zuneige, auch die Vorherrschaft der Philo-
sophie einer politischen Epoche das Feld zu räumen habe. Das
„Sprödetun der Idee gegen die Wirklichkeit" rügte selbst Carl
Biedermann, als er 1841 im Freihafen die deutsche Philosophie
in ihrer Stellung zum öffentlichen Leben und zur modernen Gesell-
schaft einer Kritik unterzog. Und der Stimmung, daß man sich
an Worten übersättigt habe und der „sachlichen Welt" zustreben
müsse, gab Gervinus in der Widmung des vierten Bandes seiner
Literaturgeschichte an Dahlmann programmatischen Ausdruck.
Wie Engels seit seiner Knabenzeit Jung-Siegfried, so feierte dieser
Shakespeares Heinrich Percy als „das göttliche Abbild des Mannes
von rein handelnder Natur".
Diese Erkenntnis, daß zwischen Worten und Taten noch ein
weiter Abgrund klaffte, konnte sich in der Unfreiheit des Vor-
märz, die beide fast gleichmäßig unterband, leicht verwischen.
Schon das junge Deutschland war, obgleich es zur Tat aufgerufen
92 Bei den Junghegelianem in Berlin.
hatte, bei den Worten stehen geblieben. Engels war diese Schwäche
der von ihm gefeierten Bewegung nicht verborgen geblieben. In
seiner Seele lebte mehr von dem Geist Georg Büchners als von
dem Gutzkows und Laubes. Endgültigen Abschied von dieser
Gruppe nahm er im Juli 1842. In einem Aufsatz der Deutschen
Jahrbücher erhob er in aller Form die Forderung, daß der ästhe-
tische Gesichtspunkt vor dem Kampf der Prinzipien und der poli-
tischen Bewegung zurückzutreten habe. Den Anstoß zu diesem zeit-
gemäßen Verlangen, daß „das bißchen Literatur" künftig nicht
mehr über wertet werden sollte, gaben ihm Vorlesungen des
Herausgebers des Königsberger Literaturblatts Alexander Jung
Über die moderne Literatur der Deutschen. Wie später Lassalle
in Julian Schmidt, so bekämpfte Engels in dem Königsberger
Ästhetiker die „Schlaffheit und Erbärmlichkeit" einer ewig ver-
mittelnden und die Prinzipien abstumpfenden Literaturbewertung,
die den auf Klärung und scharfe Auseinandersetzung hindrängenden
Naturen der beiden Sozialisten in gleichem Maße ein Greuel war.
Wegen seines ewigen Bekomplimentierens der „Modernen" brand-
markt er den sonst nicht verdienstlosen Jung als einen literarischen
Kuppler. „Was geht das die Literatur an", ruft er aus, ,,ob dieser
oder jener ein bißchen Talent hat, hier und da eine Kleinigkeit
leistet, wenn er sonst nichts taugt, wenn seine ganze Richtung,
sein literarischer Charakter, seine Leistungen im Großen nichts
wert sind ? In der Literatur gilt jeder nicht für sich , sondern nur
in seiner Stellung zum Ganzen. Wenn ich mich zu einer solchen
Art hergeben wollte, so müßte ich auch mit Herrn Jung selbst
glimpflicher verfahren, weil vielleicht fünf Seiten in diesem Buch
nicht übel geschrieben sind und einiges Talent verraten." Engels
rechnete Jung, diesen ,, marklosen, sehnsüchtigen Geist", der nur
,,in der Unterwerfung unter fremde Autorität" sich befriedigt fin-
det, jener konservativ-liberalen Richtung zu, die über die ,, greu-
liche Negation" der Junghegelianer klagte, nach dem positiven
Messias schrie und ihn in Schelling gefunden zu haben glaubte.
Solche ,, Amphibien und Achselträger" waren ihm schon unerträg-
lich, weil sie nicht einzugestehen wagten, daß die von ihnen ver-
schriene Negation auch ihre sehr positiven Seiten habe. In seinen
Augen war jeder Fortschritt negativ nur für den, der das Vernünf-
tige, weil es sich bewege und niemals stille stehe, nicht für positiv
ansehen wollte, und dessen kraftloses Epheugemüt eine alte Mauer-
ritze, ein Faktum nötig hatte, um sich daran festzuhalten. Noch
war ihm „der Gedanke in seiner Entwicklung das allein Ewige
und Positive", die ,, Äußerlichkeit des Geschehens" bloß das ,, Nega-
tive, Verschwindende und der Kritik Anheimfallende". So bejahte
Der Rheinländer gegen das Preußentum. 93
er hier die viel umstrittene Frage, ob das Negative zugleich positiv
sein könne, ebenso entschieden wie in den Spalten derselben Zeit-
schrift damals der junge Bakunin. Besser als Jungs kamen bei ihm
Walesrodes Königsberger Vorlesungen über Glossen und Rand-
zeichnungen zu Texten aus unserer Zeit fort, die er im Mai in der
Rheinischen Zeitung anzeigte. Doch mißfiel ihm an diesen, daß
sie sich nicht kräftig genug von dem Hintergrund einer großan
Weltanschauung abhöben, ,,weil sich in einer solchen zuletzt aller
Spott und alle Negation zur vollsten Befriedigung auflöst".
Die Gewißheit, daß der positive Kern in der Überzeugung
der entschiedenen Opposition, der er sich zuzählte, einer unaufhalt-
samen Entfaltung entgegenging, erfüllte Engels mit Siegeszuversicht
auch für den Kampf gegen die feudale Weltanschauung, die in
Prtuß n tbn noch einmal alle Macht an sich reißen wollte.
Dam Einfluß Börnes hingegeben, war Engels, wie wir erkannten,
schon als er Bremen verließ, ein R volutionär, der das Vertrauen
verloren hatte, daß die freiheitliche Umgestaltung Deutschlands
sich auf friedlich2m Wege vollziehen werde. Wo er sich als Deut-
sch3r fühlte, empfand er zeit seines Lebens als der Sohn eines älteren
Kulturgebietes, der mit Mißtrauen und unverhohlenem Wider-
willen auf das Preußentum herabblickte. Schon als Knabe ver-
absche te er die ,, kalte herzlose Bureaukratie**, die den Rhein-
länder sein schriftliches und geheimes Gerichtsverfahren, auf das
er stolz war, nicht ungestört genießen lassen wollte. Wir erinnern
uns des Hasses, mit dem er in seinen Briefen aus Bremen den alten
König bedachte, weil dieser sein dem Volke feierlich gegebenes
Verfassungs versprechen gebrochen und alle in den Tagen der Not
geweckten Hoffnungen so grenzenlos enttäuscht hatte. Diese
Abneigung verstärkte seines rheinischen Landsmanns Venedey
Pamphlet Preußin und das Preußentum., das ihm in Bremen
bald nach dem Erscheinen in die Hände gefallen war. Dasselbe
wollte einen Unterschied zwischen Borussentum und Russentum
nur insofern anerkennen, als das letztere noch die Knute schwang.
Erinnern wir uns, daß der einstige Herausgeber des Geächteten,
dem sein langer Aufenhalt in Frankreich den Blick für die sozialen
Klassengegensätze geschärft hatte, auch die inneren Zustände
Preußens hier unter diesem für Engels noch neuen Gesichtspunkt
betrachtete und von der preußischen Regierung behauptete, daß
sie den reichen Kaufleuten, den Gelehrten und den adligen und
nichtadligen Gutsbesitzern an der Ausbeutung der großen Massen
teilzunehmen gestatte. Aber nicht alles, was Venedeys Schrift der
sozialistischen Gedankenwelt entnahm, hat Engels sich damals
in Bremen als Besitz angeeignet. Sein Brief an Fritz Graeber vom
94 Bei den Junghegelianern in Berlin.
29. Oktober 1839 faßt zusammen, was ihm als der Kern erschien;
,, Begünstigung der Geldaristokratie vor den Armen, Streben nach
fortwährendem Absolutismus und die Mittel dazu: Unterdrückung
der politischen Intelligenz, Verdummung der Volksmehrzahl, glän>
zendes Außenwesen, Renommisterei ohne Grenzen, und der Schein,
als begünstige er die Intelligenz". Das begeisterte Eintreten der
Hallischen Jahrbücher und ihres Kreises für den „Staat der Zu-
kunft" hatte Engels in seiner Abneigung gegen Preußen so wenig
irre gemacht wie in seiner republikanischen Überzeugung. Wir ent-
sinnen uns, wie er an Immermanns altpreußischer und an E. M.
Arndts stramm monarchischer Gesinnung Anstoß nahm.
An dem neuen Kurs in Preußen erbitterte ihn vielleicht am
meisten ,,die Begünstigung aller sogenannten historischen Keime".
Engels lehnte von Anfang an und grundsätzlich alles ab, was in der
Sprache der historischen Rechtsschule redete. Für die ,, sophistischen
Goldflitter'* der organischen Staatsauf fassung und für die Forde-
rungen, die man an sie knüpfte, fehlten ihm Sinn und Verständnis.
Die ,, Phrasen" von historischer Entwicklung, Organismus, Benut-
zung der gegebenen Momente hielt er für nichts als schöne Worte,
die es mit ihrer eigenen Bedeutung nicht ernstlich meinten. Eine
besonders schmähliche Sophisterie sah er darin, daß mit dem Be-
griff des organischen Staats bereits das ganze Ständewesen, also
auch die Vorherrschaft des Adels und alles was daran hing, für ge-
geben erachtet wurde. ,, Nicht die Anhänger der Ständeteilung",
heißt es in dem Aufsatz über Ernst Moritz Arndt, ,,wir, ihre Gegner,
wir wollen organisches Staatsleben. Es handelt sich vorläufig gar
nicht um die Konstruktion aus der Theorie ; aber es handelt sich
um das, womit man uns blenden will, um die Selbstentwickelung der
Nation. Wir allein meinen es ernstlich und aufrichtig mit ihr;
aber jene Herren wissen nicht, daß aller Organismus unorganisch
wird, sobald er stirbt; sie setzen die toten Kadaver der Vergangen-
heit mit ihren galvanischen Drähten in Bewegung und wollen uns
aufbinden, das sei kein Mechanismus, sondern Leben. Sie wollen
die Selbstentwicklung der Nation fördern und schmieden ihr den
Klotz des Absolutismus ans Bein, damit sie rascher voran kommt.
Sie wollen nicht wissen, daß das, was sie Theorie, Ideologie oder
Gott weiß wie nennen, längst in Blut und Saft des Volkes über-
gegangen und zum Teil schon ins Leben getreten ist ; daß damit nicht
wir, sondern sie im Utopien der Theorie herumirren. Denn das, was
vor einem halben Jahrhundert allerdings noch Theorie war, hat
sich seit der Revolution als selbständiges Moment im Staatsorganis-
mus ausgebildet."
Längst bevor er nach Berlin kam, forderte Engels mit den
Gegen die historische Schule. g^
Liberalen „eine große, einige, gleichberechtigte Nation von Staats-
bürgern". Hier hatte ihn in den ersten Monaten seines Aufent-
halts seine Aktion gegen Schelling und für Bruno Bauer in Atem
gehalten. Als aber um die Jahreswende auf 1842 das schon er-
wähnte liberale Zensuredikt, zu dem der König sich nach vielem
Zögern entschlossen hatte, die Handhabe bot, den Kampf für Frei-
heit und Selbstbestimmung aus der esoterischen Sphäre der Theorie
in das Volk hinauszutragen, da war es ganz selbstverständlich,
daß er wie die anderen die Tagespresse für die Verbreitung seiner
Ideen in Anspruch nahm. Was er damals für die Königsberger
Zeitung geschrieben hat, kann nicht erheblich gewesen sein. Aber
er wurde auch Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung, dieses ersten
großen, über die provinziale Beschränktheit weit hinausstrebenden,,
oppositionellen Tageblatts, das in Preußen erscheinen konnte. Man
weiß, wie schnell dessen Herrlichkeit vorüberging, als hier Marx
dem König Dinge zu hören gab, die seine durch die Zensur ver-
zärtelten Nerven noch nicht vertrugen. Die Korrespondenz des
Blattes aus Berlin kam fast ganz in die Hände der Freien, die damit
plötzlich in den Besitz eines großen Organs gelangten, das ihre An-
sichten nachhaltig zu vertreten, ihre Beiträge regelmäßig aufzu-
nehmen geneigt war. Sie alle: Buhl, Stirner, Meyen, Eichler, Edgar
Bauer, Eduard Flottwell, Theodor Mügge bombardierten die Kölner
Redaktion mit ihren Beiträgen.
Die Aufsätze, die Engels für die Rheinische Zeitung beisteuerte,
mögen nicht von überragender Bedeutung sein, aber ihre Fest-
stellung ermöglichte, den Gang seines politischen Denkens in die-
sem besonders schnellebigen und an Wendungen reichen Jahre zu
veranschaulichen. Er war erst eben in Berlin angekommen, als
hier eine viel beachtete politische Demonstration stattgefunden
hatte, deren Folgen über den Kreis der zunächst Beteiligten weit
hinausreichten. Eine Anzahl fortgeschrittener Liberaler hatte
dem badischen Oppositionsführer Karl Theodor Welcker, der sich
auf einer Art von Agitationsreise in Berlin befand, eine Serenade
gebracht, die bekanntlich den Unwillen des an Kundgebungen
selbständiger politischer Gesinnung noch ungewohnten Monarchen
erregte. Bei dem Festessen, das sich an jene Serenade schloß, war
es nun zu einer wohlvorbereiteten demonstrativen Auflehnung der
Junghegelianer gegen die überschwängliche Verehrung gekommen,,
die dem süddeutschen parlamentarischen Liberalismus in Preußen
gezollt wurde. Die Kundgebung gipfelte in einem Trinkspruch
Bruno Bauers auf die Staatsauffassung Hegels, die durch Kühn--
heit, Liberalität und Entschiedenheit die der Süddeutschen weit
überrage. Damit war das Signal gegeben zu einer prinzipiellen
tg6 Bei den Junghegelianem in Berlin.
Auseinandersetzung des Berliner Kreises nicht nur mit der Doktrin
der süddeutschen Konstitutionellen sondern in der Folge auch mit
dem Konstitutionalismus überhaupt. In solchen Zusammenhang
gehören die Ausführungen, die Engels am 12. April 1842 in der
Rheinischen Zeitung über Norddeutschen und Süddeutschen Libe-
ralismus veröffentlichte. Sollte aber die Zensur seinen Beitrag durch-
lassen, so durfte er hier seine letzten Gedanken noch nicht mit der
gleichen Unentwegtheit aussprechen wie bald hernach Edgar Bauer,
als er seine Kritik der badischen und der ostpreußischen liberalen
•Opposition in einem Schweizer Verlag herausbrachte.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Politik stand
in der Frühzeit unseres parteipolitischen Lebens im Mittelpunkte
der Erörterung; den Kantianern wie den Hegelianern war es noch
ein Bedürfnis, das sich späterhin leider verloren hat, ihre politischen
Anschauungen ihrer Weltanschauung ein- und unterzuordnen.
Für Engels galt als der wichtigste Bahnbrecher des norddeutschen
Liberalismus Börne, der die politische Theorie aus der Praxis
herausdestilliert und erkannt habe, daß die Theorie die schönste Blüte
der Praxis sei. Dem süddeutschen Liberalismus will er das Ver-
dienst, eine deutsche Opposition begründet und so eine politische
Opposition in Deutschland erst möglich gemacht zu haben, nicht
abstreiten. Doch er wirft ihm vor, daß es ihm nicht geglückt sei,
sich aus der bloßsn Praxis emporzuarbeiten. Wie Bruno und Edgar
Bauer hält er es für übertrieben, daß man von dem entwickelteren
parlamentarischen Leben bei den Süddeutschen so viel Aufhebens
machte. Statt die weitschichtige, aus französischen, englischen,
deutschen, spanischen Elementen bestehende Praxis zu einem ein-
heitlichen Gedankenbau auszugestalten, sei ihre Theorie nach
1830 eine Halbheit und im Allgemeinen, Vagen, Blauen stecken
geblieben. Um seinen obersten Zweck, die gesetzliche Freiheit, zu
erreichen, habe der süddeutsche Liberalismus Mittel angewandt,
die einander bekämpften und ausschlössen. Bald habe er eine größere
Unabhängigkeit der Einzelstaaten von der Bundesversammlung,
bald neben dieser eine allgemeine Volkskammer erstrebt. Die
Folge dieser Unvollkommenheit sei, daß das Schwergewicht der
Opposition sich neuerdings immer stärker nach dem Norden ver-
schoben habe. Die Überlegenheit der norddeutschen Richtung
beruhe darauf, daß sie ihr Dasein nicht an ein einzelnes Faktum,
wie die Julirevolution, anknüpfe, sondern an die Geschichte der
ganzen Welt, namentlich an die Deutschlands. Ihre Quelle läge
auch nicht in der Fremde, sondern im Herzen des Vaterlandes.
Und da diese Quelle die deutsche Philosophie sei, so besäße der
norddeutsche Liberalismus eine überlegene Konsequenz, eine
Theorie und Praxis. 97
größere Bestimmtheit in seinen Forderungen, ein festeres Ver-
hältnis von Mittel und Zweck. Als ein notwendiges Produkt der
nationalen Bestrebungen sei seine Gesinnung national, während
die des süddeutschen Liberalismus zwischen kosmopolitischen und
nationalen Bestrebungen hin und her schwanke. Der norddeutsche
Liberalismus wolle Deutschland nach innen und außen gleich
würdig gestellt sehen, und so gebe es für ihn nicht das komische
Dilemma, ob man erst liberal und dann deutsch oder erst deutsch
und dann liberal sein solle. Der norddeutsche Liberalismus werde
sein Ziel erreichen, weil er den umgekehrten Weg eingeschlagen
habe, als der süddeutsche, weil er von der Theorie auf die Praxis
fortschreite.
Vor der Unterschätzung der Kollisionsmöglichkeit zwischen
dem liberalen und dem nationalen Ideal, die er hier zum Ausdruck
bringt, hätten Engels seine Erfahrungen aus dem Jahre 1840 be-
wahren können. Was er hier sonst über die konkreten Fragen und über
die Bewertung des Verhältnisses von Theorie und Praxis sagt, ist
nicht sein ausschließliches Eigentum. Wir wissen, wie sehr die
ganze Schule überzeugt war, daß dem Kampf, den sie auf theore-
tischem Boden mit Leidenschaft durchfocht, weltgeschichtliche
Bedeutung zukäme. ,,Die Theorie ist jetzt die stärkste Praxis",
hatte Bruno Bauer im März 1841 an Marx geschrieben, ,,und wir
können noch garnicht voraussagen, in wie großem Sinne sie prak-
tisch werden wird", auch Buhl nannte soeben in seiner Broschüre
über den Beruf der preußischen Presse die Theorie den Johannes,
welcher dem Christus, der neuen Praxis, immer vorangehe. Es ver-
riete wenig geschichtlichen Sinn, wollten wir solche Überschätzung
der politischen Theorie nur mitleidig als törichten Doktrinaris-
mus abtun. In jedem Zeitalter hat sich der Streit der Geister wie
der Leiber der Waffentechnik anpassen müssen, die der Epoche
gemäß war. War damals eine Revolution denkbar, wenn nicht
zuvor die Geister revolutioniert wurden ? Nicht die Überwertung
der Theorie an sich hat später Männer wie Koppen, Bruno Bauer,
Stirner in das Gestrüpp geführt, aus dem sie den Ausweg nicht
mehr fanden, sondern ihr Unvermögen, die dem realen Leben nun
einmal innewohnenden eigentümlichen Kräfte zu begreifen, und
der Irrtum, die Identität des Denkens und Seins, von der sie nicht
loskamen, bedeute, daß das großs Sein der Welt nach der Pfeife
ihres persönlichen Denkens tanzen müsse. Für Engels bestand
die Gefahr, in solche Sackgasse zu geraten, nicht. So stark sein Be-
dürfnis nach Theorie war, so wurzelte er doch zu fest in der Welt
der Sinne, des Erlebens, der Anschauung, als daß er sich in den
Schmollwinkel hätte zurückziehen können, weil ein Frost im März
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 7
C)8 Bsi den Junghegelianern in Berlin.
die Saat seiner Hoffnungen traf. Er und Marx verlachten
jene „sentimentalen Enthusiasten**, die aus lauter Respekt
vor den Ideen ,,jede Berührung ihres Ideals mit der gemeinen
Wirklichkeit" (Marx) verabscheuten. Ihnen beiden bedeutete
die Idee niemals den Stern, den man nicht begehren solle.
Und die Freiheit wohnte bei ihnen nicht nur im ,, Reich der
Träume".
Durch Leopold von Hennings Vorlesung über preußische
Finanzverfassung angeregt, unternahm Engels es, in dem großen
Rheinischen Blatt die brennende Tagesfrage zu erörtern, was Preu-
ßen von den Zeitideen zu erwarten habe und was die Zeitideen
Preußen bieten könnten. Auch hier bekämpfte er die organische
Staatslehre der historischen Schule als ,, hohle Phrasen einer ver-
lebten Richtung". Preußen sei ein Staat, der garnicht schnell genug
fortschreiten könne und der sich für eine rasche Entwicklung auch
besonders eigene, weil er seit den Tagen der Invasion keine mittel-
alterlichen Klötze mehr an seinen Füßen nachschleppe. Wer für-
der in Preußen noch von historischer Entwicklung spräche, könne
nur eine Rückführung in das ancien regime anstreben; er ver-
leugne feige die glorreichsten Jahre der preußischen Geschichte
und übe Verrat am Vaterlande, weil er damit ein neues Jena herauf -
b3schwöre. Gerade weil Preußen kein ,, naturwüchsiger" sondern
ein durch Politik, durch Zwecktätigkeit, durch den Geist entstan-
dener Staat sei, läge sein Heil einzig in der Theorie, in der Wissen-
schaft, in der Entwicklung aus dem Geiste. Richtig benutzt be-
deute dies keine Schwäche, sondern es könne zu einer Haupt-
stärke werden. So hoch der selbstbewußte Geist über der
bewußtlosen Natur stehe, so hoch könnte Preußen, wenn es
nur wollte, sich über die ,, naturwüchsigen" Staaten erheben.
Gerade weil hier noch so große Verschiedenheiten zwischen
den Provinzen obwalteten, sei es eine Forderung der Gerechtig-
keit, daß die preußische Verfassung rein aus dem Gedanken
heraus erwüchse. Nur so könnten die verschiedenen Provinzen
mit einander schnell zu einer höheren Einheit verschmelzen,
während es sonst noch Jahrhunderte dauern müßte, bis eine
wirkliche Einheit zu stände käme. Den meisten übrigen Staaten
sei der Weg, den sie zu nehmen hätten, durch ihren National-
charakter vorgezeichnet; von diesem Zwange bleibe Preußen frei.
Unter Hintansetzung aller Rücksichten könnte es rein den Ein-
gebungen der Vernunft folgen, von den Erfahrungen der Nach-
barn lernen und der Musterstaat werden, der das vollständigeStaats-
bewußtsein des Jahrhunderts in seinen Institutionen zum Ausdruck
brächte.
Die Zukunft Preußens.
99
Auch diese Gedanken waren, wie der erste Blick zeigt, nicht
ursprüngliches Eigentum des Verfassers. Auf die Quelle der ihnen
zugrunde liegenden allgemeinen Ideen braucht nicht hingewiesen
zu werden. Daß Preußen durch die Reformära endgültig mit dem
Mittelalter gebrochen habe, behauptete die ganze liberale Publi-
zistik; daß eine moderne Verfassung das wirksamste Mittel wäre,
um den Provinzialpartikularismus auf eine organische Weise zu
überwinden, hatte in einem Buch über die Bedeutung der Provin-
zialstände in Preußen vor kurzem Ludwig Buhl dargetan. Wir
dürfen überdies Engels nicht beim Wort nehmen, wenn er sich
hier den Anschein geben möchte, an die liberale Mission Preußens
zu glauben. Gerade er war längst überzeugt, daß die persön-
lichen und überpersönlichen Mächte, die das Schicksal des Staates
bestimmten, ihm eine friedliche Demokratisierung versagten. So
zeigte er dies leuchtende Ziel wohl nur, um den Kontrast, der
die preußische Wirklichkeit von dem Ideal trennte, recht
schmerzhaft fühlbar zu machen. Und er befolgte damit die
erprobte revolutionäre Taktik, ein absolutes politisches Ideal als
in der Praxis erreichbar hinzustellen, um dadurch bescheidenere
Reformen zu entwerten und der versöhnenden Wirkung auf die
Massen zu entkleiden.
Keine andere der liberalen Forderungen lag begreiflicherweise
dem Berliner radikalen Schriftstellerkreis mehr am Herzen als die
Freiheit der Presse. Auch Engels hat mit einem umfangreicheren
Aufsatz in der Rheinischen Zeitung sein Scherflein Zur Kritik
der Preußischen Preßgesetze beigesteuert. Er erörterte hier mit
trockener Sachlichkeit die Berechtigung der im Allgemeinen Land-
recht Teil II T. 20 § 51 und in dem Zensuredikt vom 18. Oktober
1819 gebrauchten Verbindung der Begriffe ,, frech" und ,, unehr-
erbietig** als Strafmaßstab für die ,, Verspottung** der Landes-
gesetze. Ihm erscheint es unbillig, daß diese beiden zu einem ein-
zigen Begriffe verschmolzen wurden. ,, Frechheit** setze eine böse
Absicht voraus, ,,Unehrerbietigkeit** höchstens eine Übereilung.
Noch tadelnswerter wäre, daß ,,Unehrerbietigkeit und Verspottung**,
Begriffe, die sogar qualitativ verschieden seien, die gleiche Strafe
treffen solle. Solange das Wort ,,Unehrerbietigkeit** im Gesetz
stehen bleibe, besage es, daß jeder Tadel der Staatsverhältnisse
auf Erregung von Unzufriedenheit ausgehe, also strafbar wäre.
Dies aber würde mit den neueren, freieren Zensurverhältnissen in
Widerspruch stehen. Müßte nicht ein Gesetz bis zu seiner Auf-
hebung unabhängig bleiben von dem Auf und Ab der polizeilichen
Praxis? Unlogisch wäre es auch, die ,, Erregung zum Mißvergnügen
und zur Unzufriedenheit** unter Strafe zu stellen; denn sei dieses
7*
100 Bei <Jeii Junghegelianern in Berlin.
nicht der ausgesprochene Zweck einer jeden Opposition ? Wie könne
man etwas tadeln, wenn nicht in der Absicht, andere von der Un-
vollkommenheit des Getadelten zu überzeugen, also Unzufrieden-
heit bei ihnen zu erwecken ? Durch das Zensurzirkular vom 24. De-
zember 1841 sei das Recht, Unzufriedenheit zu erregen, sank-
tioniert worden ; und der preußischen Nation gereiche es zum Ruhme,
daß in den Monaten, seitdem es erlassen wurde, wirklich vieles
geschehen wäre, um Unzufriedenheit und Mißvergnügen zu er-
wecken. Wenn die preußischen Publizisten dabei mit richtigem
Takt die Person des Königs aus dem Spiele gelassen, so hätten
sie damit nur das konstitutionelle Prinzip von der Unverletzlich-
keit der königlichen Person antizipiert. Selbstverständlich bedeutete
es kein ernsthaftes Bekenntnis zum konstitutionellen Prinzip,
wenn der Verfasser in der von der Zensur damals schon hart
bedrängten Zeitung sich dieses Arguments bediente. Früher
als die anderen Freien, die erst seit kurzem die Unzulänglich-
keit des Justemilieu kritisierten, hatte er sich mit Börne von
diesem losgesagt.
Vor einigen Monaten hatte Marx Bemerkungen über die
neueste preußische Zensurinstruktion niedergeschrieben, die erst
wesentlich später veröffentlicht wurden. Zum ersten Male treffen
wir so die beiden Männer, deren Namen die Geschichte immer zu-
sammen nennen wird, auf dem gleichen Boden. Aber Engels, der
hier nur in einem Zeitungsartikel einen Ausschnitt des Problems
behandeln wollte, wurde durch die delikate Situation dieses Jahres
der beschränkten Preßfreiheit, unmittelbarer noch durch die Zensur,
verhindert, seine letzten Gedanken auszusprechen, während Marx
Abhandlung mit dem vollen Gewicht seiner Ansichten und Über-
zeugungen befrachtet auftritt und eine grundsätzliche Untersuchung
des Gegenstandes in dessen ganzer Breite und Tiefe anstrebt. Für
unsere Biographie ist diese erste mächtige Kundgebung des Marx-
schen Genius insofern bedeutungsvoll, als hier zuerst bei einem
der beiden künftigen Werkgenossen der Gedanke hervortritt, daß
der Staat, indem er Tendenzgesetze schaffe, sich damit der Oppo-
sition wie eine Partei der anderen entgegenstelle, daß Tendenz-
gesetze also nicht Gesetze sondern Privilegien wären. Diese Gegen-
überstellung brauchte nur verallgemeinert, dialektisch in Betrieb
gebracht und auf Zusammenhänge angewandt zu werden, die
man in Frankreich und England längst in gegensätzlicher Form
betrachtete, und der Klassenkampf enthüllte sich als das immanente
Bäwegungsgesetz der Gesellschaft. Die gleiche Kontrastierung von
Gesetz und Privileg findet sich auch in einem etwas später geschrie-
benen aber früher und zwar ebenfalls in der Rheinischen Zeitung
Früheste geistige Begegnung von Marx und Engels. loi
veröffentlichten Marxschen Aufsatz. Wenn dieser die Verselbständi-
gung des Staatsbegriffs forderte, weil er seine Naturgesetze aus
der Vernunft und aus der Erfahrung und nicht aus der Theologie
zu entveickeln habe, so sagte er Engels, der nicht erst auf dem Um-
wege über die Philosophie bei der Politik angelangt war, damit
nichts Neues.
Wie anders Engels über das zeitgenössische Preußen urteilte,
wo er ohne Rücksicht auf die Zensur seine Meinung aus-
sprechen konnte, lehrt uns sein Aufsatz über Friedrich Wilhelm
IV., den er im Spätsommer 1842 für den Deutschen Boten aus der
Schweiz abfaßte. So sollte bekanntlich eine Zeitschrift heißen, auf
deren Zustandekommen der politische Radikalismus damals große
Hoffnungen setzte, und für die Mitarbeiter zu werben Herwegh
jene Rundreise durch Preußen unternahm, die wie ein Triumph-
zug begann, aber kläglich auslief und das Ende der kurzen liberalen
Preßära in Preußen beschleunigte. Als danach der Plan zu dieser
Zeitschrift aus , »gebietenden Gründen" nicht ausgeführt werden
konnte, wurden die für die ersten Hefte eingelaufenen Beiträge
im Sommer 1843 unter dem die Zensur verhöhnenden Titel Ein-
undzwanzig Bogen aus der Schweiz vom Literarischen Comptoir
in Zürich als Sammelband herausgegeben. Mit starken Worten
schilderte Engels hier die Entstehungsgeschichte des Kampfes
zwischen der ,,absolutenFreiheit** und der „absoluten Autorität."
Auch Friedrich Wilhelms IV. rätselreiche Persönlichkeit wird
ihm nur aus diesem Gegensatz heraus verständlich. In diesem
Könige raffe sich das preußische Prinzip, dessen äußerste Konsequenz
er verkörpere, ein letztes Mal auf, bevor es endgültig dem freien
Selbstbewußtsein erliege. Und die gedankenmäßige Entwicklung
des alten Preußen erhalte so ihren Abschluß. Um den christlichen
Staat zu verwirklichen, m.öchte der König den unter seinem Vater
fast heidnisch gewordenen rationalistischen Beamtenstaat mit
christlichen Ideen durchdringen. Aber logisch führe dieser Weg
zur Trennung der Kirche vom Staat und damit nach Hegel über
den protestantischen Staat, dessen summus episcopus der König,
dessen letztes Ziel die Verschmelzung von Staat und Kirche sei,
weit hinaus. Wie der Protestantismus überhaupt so bedeute auch
das Episkopat des Fürsten eine Konzession an die Weltlichkeit,
eine Unterordnung des Geistlichen unter das Weltliche. Wolle
der Staat den Anspruch der Christlichkeit erheben, so müsse er
auch der Kirche ihre Selbständigkeit zurückerstatten. Weil aber
in Preußen die Rückkehr zum Katholizismus unmöglich und
auch die absolute Emanzipation der Kirche unausführbar wäre,
ohne die Grundsäulen des Staates zu untergraben, so bliebe
102 Bfii <Icn Junghegelianern in Berlin.
Friedrich Wilhelm IV. nur jenes Vermittlungssystem übrig,
dessen er sich bei den Kölner Wirren bedient habe, wo er echt
theologisch die vorlauten, unbequemen Prinzipien zurückdrängte
und sich mit einer Lösung abfand, bei welcher der Staat mit
einem blauen Auge davon kam, während die Kurie in nichts
nachgab.
Wie die Kirchenpolitik, zeige auch die innere Politik des Königs
Widersprüche, die nur oberflächlich verdeckt seien. Die besondere
Vorliebe, die er für das Korporationswesen bekunde, bezeichne
am deutlichsten seinen mittelalterlichen Standpunkt. Die Staats-
kräfte des alten Reichs habe einst das Nebeneinanderstehen privi-
legierter, in ihren inneren Angelegenheiten mit einer gewissen Frei-
heit und Selbständigkeit ausgestatteter Verbindungen, die sich aber
im übrigen gegenseitig bekämpften und übervorteilten, bis zur
Auflösung zersplittert. Friedrich Wilhelm hüte sich, den christ-
lichen Staat, zu dessen Wiederherstellung er sich berufen fühle,
bis zu dieser Konsequenz durchzuführen. In Wahrheit erstrebe
er nur den theologischen Schein, nicht die Not, den Druck, die
Unordnung und Selbstvernichtung des christlichen Staats. Da er
nur ein Justemilieu-Mittelalter wünsche, so seien seine Bestrebun-
gen nicht absolut illiberal; er wolle seinem Preußen alle möglichen
Freiheiten lassen, aber eben nur in der Gestalt der Unfreiheit, des
Monopols, des Privilegiums. Die freie Presse betrachte er als das
Monopol des vorzugsweise wissenschaftlichen Standes, die Reprä-
sentation als das Monopol der Stände, nicht der Staatsbürger. So
kenne er keine allgemeinen Rechte, keine Menschenrechte, keine
staatsbürgerlichen Rechte sondern nur Korporationsrechte, Pri-
vilegien. Deren werde er so viele gewähren wie er könne, ohne
seine absolute Gewalt durch positiv-gesetzliche Bestimmungen
zu beschränken. Aber die schnarrende Maschine des kalten preußi-
schen Beamtenstaats wolle von einer glänzenden, vertrauensvollen
Romantik nichts wissen, und der Durchschnitt des Volks stehe auf
einer zu niedrigen Stufe politischer Bildung, um das System des
christlichen Königs durchschauen zu können. Dadurch sehe dieser
sich, im Widerspruch zu seinem offenen und jovialen Charakter,
auf theologische Mittel hingedrängt, mit deren Hilfe er die öffent-
liche Meinung ausforsche, um zu anstößige Maßregeln zu ver-
meiden. Und deshalb bediene er sich in seinen Reden mit Geschick
der Terminologie des Konstitutionalismus, obgleich er diesen gleich-
zeitig mit dem Ehrennamen oberflächlich und ordinär belege. Eine
solche Art, sich den Forderungen der Zeit zu akkommodieren, nenne
Bruno Bauer kurzweg Heuchelei. Werde es Friedrich Wilhelm IV.
jemals gelingen sein System durchzusetzen ? Diese Frage verneint
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. 103
Engels mit Entschiedenheit. Von den beiden Forderungen, auf
die sich die öffentliche Meinung in Preußen immer mehr konzen-
triere, werde das Volk dem König die Preßfreiheit, er möge sich
stellen wie er wolle, abnötigen; habe es aber einmal diese, so müsse
die Verfassung in einem Jahre nachfolgen. Sei Preußen dann im
Besitz einer Repräsentation, so lasse sich garnicht absehen, wel-
chen Gang die Ereignisse nehmen würden, denn die jetzige Lage
dieses Staats habe viel Ähnlichkeit mit der Frankreichs vor der
Revolution.
Kapital V.
Hinwendung zum Kommunismus.
Engels selbst bestätigt, daß ihm der Weg von dem revolutio-
nären Ansturm auf das Prinzip der Autorität zur Revolutionierung
der Wirklichkeit durch Feuerbachs Auflösung des spekulativen
Begriffs gebahnt worden sei. Nun bemerkten wir aber schon, wie
er sich über die ganze Tragweite der neuen Erkenntnis, die Feuer-
bach ihm vermittelte, nur schrittweise klar geworden ist. Und es
währte deshalb auch noch einige Zeit, bis sich ihm als der Kern
der neuen realeren Betrachtungsweise der Kommunismus heraus-
schälte. Wie sich dieser Prozeß im einzelnen bei ihm vollzog,
müssen wir jetzt darzulegen versuchen, obgleich direkte Zeug-
nisse über diese wichtigste Wendung seines Lebens uns nicht zur
Verfügung stehen.
Während Bruno Bauer nur erst dem Ursprung des Christen-
tums nachforschte, warf Feuerbach bekanntlich schon die Frage
nach dessen Wesen auf und gab der philosophisch-revolutionären
Jugend damit das Stichwort zur Absage nicht bloß an das Christen-
tum sondern an die Religion überhaupt. Aus dem Sturz Gottes
und der Unsterblichkeit zog dieser Denker weiter reichende Folge-
rungen als Bruno Bauer und die anderen, die mit ihrem von Hegel
ererbten Intellektualismus sich den Menschen völlig zum. Selbst-
bewußtsein spiritualisiert hatten. Er stellte die Stärke des Willens
und die Fülle des Herzens neben die Kraft des Gedankens. Sein
Wesen des Christentums erklärte Wahrheit, Wirklichkeit, Sinn-
lichkeit für gleichberechtigt und schuf so ein Weltbild, das zu einem
positivistischen Sensualismus hinstrebte. An Hegel vermißte Feuer-
nach die Anschauung; ihm dünkte, daß der Hochgefeierte zu sehr
Inhalt und Form trenne, daß er ein ,, Professor", kein ,, purer, blan-
ker Mensch", wäre, daß er vom Unendlichen statt vom Endlichen
ausgehe. Um diese Einseitigkeit zu überwinden, sei es geraten,
auf den heimatlichen Boden der Erde zurückzutreten, die Vernunft
ihrer Alleinherrschaft zu entkleiden und die Liebe und den Willen
ihr an die Seite zu stellen. Für Feuerbach also hörte der Mensch
Feuerbach und Hegel. 105
auf, nur ein denkendes Wesen zu sein, und die seit Fichte in den
Hintergrund verbannte Tat, die für Engels immer die Krone des
Lebens bedeutet hatte, feierte nun geräuschvoll ihre philosophische
Auferstehung.
Wenn wir auch kein Anzeichen dafür besitzen, daß der
von Hegels Schule für antiquiert erklärte Geist Fichtes auf
Engels stärker gewirkt hatte, so wissen wir dafür, daß er Goethes
Hochwertung der Tat dankbar empfunden hat, mochte ihn auch
der Ausklang des Faust unbefriedigt lassen, weil sein von Ursprung
an soziales Empfinden sich ,, Faust nicht mehr Egoist, sondern
sich aufopfernd für die Menschheit" als Erlösungsmotiv des ewig
sich Bemühenden gewünscht hätte. Der Schluß von Schelling
und die Offenbarung ließ uns schon erkennen, wie ungemein stark
bei ihm die Gefühlssaite anklang, als ihm Feuerbach im Verhältnis
des einzelnen zu seiner Gattung das wahre Leben des Menschen
enthüllte. Versprach ihm nicht dieser Begriff der Gattung, der
ihm gerade nahe trat, als der Pantheismus seine letzte Farbigkeit
für ihn eingebüßt hatte, einen allumfassenden irdischen Zusammen-
hang als vollwertigen Ersatz für den transzendenten, den er end-
gültig verloren geben mußte ? Daß er angesichts alles des Neuen
und Hochwillkommenen, das Feuerbach ihm bot, nicht gleich be-
merkte, wie stark jener das Fundament der Hegeischen Philosophie
unterminiert hatte, wird uns noch verständlicher, wenn wir uns
erinnern, daß jener keine Anstalten machte, mit seiner auflösenden
Kritik in noch weitere Bezirke des Geistes überzugreifen. So
verhüllte die scheinbare Übereinstimmung der Resultate Feuer-
bachs und Bruno Bauers zuerst die Verschiedenheit der Ausgangs-
punkte und der Ziele. Engels jubelte Feuerbach zu, ohne zu ahnen,
daß dieser Hegels Weltherrschaft, die sich über alle Einzelwissen-
schaften im Reiche des Geistes erstreckte, antastete. Was viel
später sein Buch über Ludwig Feuerbach ausspricht, das hat
er schon damals gedacht: ein Bau, der auf so mächtigen Quadern
ruhte, ließ sich nicht einfach beiseite schieben; wer die Form die-
ses Systems vernichten wollte, mußte in sich auch die Kraft spüren,
von seinem Inhalt zu retten, was dauernd wertvoll blieb. Engels
Aufsatz im Telegraph über Schellings Antrittsvorlesung hatte dem
romantischen Positivismus entgegengehalten, daß der Grundsatz
aller modernen Philosophie, das cogito ergo sum, nicht im Sturme
umgerannt werden könne. Auch dem sensualistischen Positivismus
Feuerbachs gestand er die Macht über die Autonomie des Selbst-
bewußtseins nicht zu, solange er auf dem friedlichen Boden
Deutschlands die Idee noch nicht dem Wettbewerb mit den robu-
steren Gewalten des ökonomischen Lebens hilflos ausgeliefert sah.
I06 Hinwendung zum Kommunismus.
Nun war kurz vor dem Wesen des Christentums bei Otto
Wigand, dem Verleger des philosophischen Radikalismus, unter
dem Titel: Die europäische Triarchie ein merkwürdiges Buch
erschienen, das unmittelbarer noch als jenes Werk von der
Philosophie die Brücke zum Tatproblem schlagen v/ollte. Wie
Gervinus die Deutschen von der Literatur zur Politik, so wollte
Moses Heß sie von der Philosophie zur sozialen Praxis bekehren.
Um ein beträchtliches älter als Engels und Marx, aber wie sie Rhein-
länder, jüdischer Abstammung wie Marx, gleich Engels Sohn eines
Industriellen, mit dessen konservativ-religiösen Anschauungen er
nicht harmonierte, kam dieser Mann, der jenen beiden die Welt
des Sozialismus erschließen sollte, doch aus anderer Richtung da-
her als sie und blieb, weil er, von anders gefärbten Wertungen er-
füllt anders gefaßten Zielen zustrebte, auch nicht dauernd ihr
Weggenosse. Von Marx hat man öfter gesagt, daß er die dialek-
tische Kraft des jüdischen Geistes in potenzierter Gestalt verkörpere.
Mit noch größerem Rechte ließe sich von Heß behaupten, daß in
ihm die im jüdischen Gefühlsleben gärenden, Vollendung und Er-
füllung suchenden Kräfte in potenzierter Gestalt lebendig wurden
und mit unermüdlicher, tragisch zu nennender Inbrunst vergebens
um endgültige Formung rangen. Weit weniger fest als Marx und
Engels stand dieser hingebungsvolle Träumer, an dem selbst der per-
sönliche Gegner den milden, wohlwollenden Blick nicht übersah, auf
dem Boden der Wirklichkeit. Der ,,gute Kerl", dessen sanguinische
Harmlosigkeit die Zielscheibe des Spottes für den Sarkasmus der
Gefährten bildete, bewegte sich, was Engels ihm nicht verzieh,
fast immer in Illusionen. Aber durch alle die geistigen Wandlungen,
denen der Beeinflußbare unterlag, begleitete ihn, zeitweise mit
stolzer Offenheit zur Schau getragen, zeitweise versteckter von
ihm eingestanden, der alte messianische Glaube der Ahnen an die
künftige Vollendung des Menschengeschlechts. Und für diesen
Traum, den er nit seinem Herzblut speiste und der nach einander
im Christentum, im Kommunismus, am Ende im Zionismus sich
seine Erfüllung suchte, sog, bewußt und unbewußt, seine Seele
Kraft und Leben aus der Überlieferung des uralten Stammes, dessen
Blut der Kommunistenrabbi, wie er bei den Genossen hieß, in seinen
Adern fließen fühlte. Daß der Drang des Herzens, stärker als der
Trieb nach Erkenntnis, den Grundzug seiner Persönlichkeit aus-
machte, unterschied ihn von Engels und Marx, die in ihm später
nur noch den Wirrkopf sahen und darüber zu gründlich vergaßen,
daß sie seiner ungewöhnlichen Intuition, die weiter reichte als
seine dialektische Veranlagung, Dank schuldeten. Der Verschieden-
heit der Begabungen entsprach die Verschiedenheit der Tempera-
Moses Heß. 107
mente. In einem Streit mit Marx betonte Heß einmal richtig den
Gegensatz zwischen dessen „auflösendem" und seinem eigenen
,, versöhnendem'* Naturell, und gerecht, wie er stets sein wollte,
fügte er hinzu, daß sie beide vielleicht ihre Veranlagung übertrieben.
So großartiger Einblicke in das Reich der Zusammenhänge Heß
fähig war, so blieb es ihm doch versagt, was er stark und lebensvoll
erfaßte in logischem Aufbau auszugestalten, energisch zu ver-
knüpfen, rücksichtslos auszuscheiden, die Wünsche der Seele zu
klarer Erkenntnis gerinnen zu lassen. Gleich die Europäische
Triarchie, die er ohne Angabe seines Namens erscheinen ließ,
zeigte seine Fehler wie seine Vorzüge. Weitere Kreise rechneten
Heß zu den Jung-Hegelianern, deren Schulsprache er redete und deren
trichotomische Formeln er handhabte. Er aber wollte die Natur
nicht wie Hegel dem Geist unterordnen und bekannte sich als
Jünger Spinozas, dessen Parallelisierung der geistigen und körper-
lichen Welt dem eingeborenen monistischen Drang seines Wesens
sichtbar entgegenkam. Das unwiderstehliche Bedürfnis nach Ver-
einheitlichung von Weltbild und Ethik, das ihn erfüllte, stillte ihm
nur der große Philosoph seiner Rasse ; allein bei ihm entdeckte er
auch die Kraft, jene Kluft zu überbrücken, die bei Hegel die Welten
des Denkens und des Handelns von einander zu trennen schien.
Nicht nur sich selbst, nein die Menschheit zu erlösen, war das Ziel,
das von früh auf ihm vorschwebte. Kein schöpferischer Denker,
weit eher ein Schwärmer, der sich in die Kulturen und die großen
Genien der Vergangenheit, besonders wo Wahlverv/andtschaft ihn
hinzog, vertiefte und aus ihrem Ideenschatz herausholte, was sich
der eigenen Gefühlswelt amalgamieren ließ, besaß Heß eine be-
merkenswerte Fähigkeit, das zu einander zu bringen, was im Hin-
blick auf die tiefsten Bedürfnisse der Zeit Verbindungen voll schöpfe-
rischer Perspektive versprach. Jugendliche Irrfahrten in England
und Frankreich hatten ihm für solche Aufgabe noch besonders
den Sinn geschärft. Es war ihm unverlöschlich geblieben, wie in
diesen Ländern das wirtschaftliche Leben so viel großartiger dahin-
flutete und das politische sich weit lebendiger entfalten durfte als
in der Heimat. Da wurde ihm zur Gewißheit, daß die Stunde von
der deutschen Philosophie heischte, der Isolierung und Überwertung
des Gedankens, v/orin sie zu ersticken drohte, ein Ende zu machen.
Sobald er jedoch daran ging, eine Philosophie der Tat zu begründen,
zeigte es sich ihm, daß der Geist Spinozas sich mit dem Saint-Simons
verschwistern müßte. Damit aber bahnte er in dem gleichen Augen-
blick, wo den Junghegelianern das Problem der Gattung durch Feuer-
bach nähergerückt wurde, deren Vortrupp den Weg zu der Gesell-
schaftswissenschaft der Franzosen. Von Engels besitzen wir aus
Io8 Hinwendung zum Kommunismus.
dem November 1843 das ausdrückliche Geständnis, daß Heß der
erste gewesen sei, der ihm und seinem Kreise den Kommunismus als
die notwendige Weiterentwicklung der Junghegeischen Doktrin
plausibel machte. Diese Weiterentwicklung habe es nicht hintan
halten können, daß die bis dahin führenden Persönlichkeiten der
Partei, Bruno Bauer und Rüge, ebenso wenig wie Feuerbach auf
einen so entscheidenden Schritt vorbereitet waren und ihn nicht
mitmachten.
So revolutionär die Wirkung war, die von Feuerbach auf
philosophischem Gebiet ausging, so wenig war doch dieser Einsiedler,
der allen sozialen Gruppen, überhaupt dem ganzen Staats- und
Gesellschaftsleben fern stand, dazu befähigt, das Tatproblem auf
fruchtbringende Weise anzupacken und eine Bewegung von fort-
zeugender Kraft für die Wirklichkeit ins Leben zu rufen. Er ahnte
garnicht einmal, wohin der Wind der Zeit den Samen, der seiner
Lehre entquoll, tragen mußte, wenn man seinen Gattungsbegriff
konkretisierte und mit den sozialen Problemen einer heraufsteigenden
Epoche, die in Deutschland erst die wenigsten wahrnahm.en, in un-
mittelbare Verbindung setzte. Wo Feuerbach versagte, trat Heß in
die Bresche. Er bemängelte an der Junghegeischen Geschichtsphilo-
sophie, daß sie sich garnicht die Aufgabe stellte, aus den beiden
bekannten Größen Vergangenheit und Gegenwart die unbekannte
dritte, die Zukunft, abzuleiten und mit Hilfe der so gewonnenen
neuen Erkenntnis auf ihre Gestaltung Einfluß zu suchen.
Dieser Gedanke Saint-Simons ist hernach ein Hauptpfeiler des
Marx-Engelsschen Systems geworden. Die Wahrscheinlichkeit
spricht dafür, daß er Engels hier zum ersten Male in voller
Schärfe entgegentrat. Das Interesse der deutschen literarischen
Welt für den großen französischen Befruchter der Sozial-
wissenschaft war seit der Mitte der dreißiger Jahre ständig zurück-
gegangen. Wie Engels den von ihm verehrten Börne, doch mit
größerem Recht, stellte Heß Saint-Simon an die Seite Hegels. Und
an der Verschiedenheit seiner beiden Heroen erläuterte er den Lesern
der Triarchie die Verschiedenheit der deutschen und der franzö-
sischen zeitgenössischen Entwicklung. Hegel mit seinem Drang
nach Erkenntnis, meint er hier, begriff die Vergangenheit, Saint-
Simon mit seinem Trieb zum Handeln ahnte die Zukunft. Was
dem zeitgenössischen Deutschen die Welt des Gedankens, das be-
deute dem Franzosen die Welt der Ethik. Wie die deutsche Refor-
mation die Gedankenfreiheit, so habe die französische Revolution
das ethische Prinzip in die Wirklichkeit eingeführt. Die deutsche
und französische Form der Freiheit in Wechselwirkung zu setzen,
womöglich sie zu verschmelzen, sei die wesentlichste Tendenz der
Die Bedeutung der Europäischen Triarchie. 109
Gegenwart. Nun beherbergte aber der auserwählte Erdteil Europa
noch ein drittes Volk, das sich mit dem deutschen und dem franzö-
sischen in die Sorge um die Zukunft der Menschheit zu teilen hatte.
Die deutsche Reformation und die französische Revolution zu-
sammenzufassen und durch Verwirklichung der Gleichheit auf
politisch-sozialem Gebiet die Freiheit ihrer Vollendung entgegen-
zuführen, diese Aufgabe stellte Heß der englischen Revolution,
deren Herannahen er voraussagte. Ihre Mission sei, den Gegen-
satz von Pauperismus und Geldaristokratie zu beseitigen und die
weltgeschichtliche Metamorphose, in der sich das Verhältnis der
herrschenden und der dienenden Klasse zu einander befände, ihrer
Vollendung zuzuführen. Mit diesen Sätzen aber enthüllte Heß als
der erste aus dem Kreis des deutschen philosophischen Radikalis-
mus den allseitigen Kampf gegen die Autorität der historischen
Gewalten als eine den führenden Kulturstaaten gemeinsame Er-
scheinung, und er behauptete, daß dieser weltgeschichtliche Kampf
seinen Abschluß nur in der sozialen Sphäre finden könne. Für
England, wo die Wellen der Chartistenbewegung bereits hoch
gingen, stellte er die politisch-soziale Revolution in sichere Aus-
sicht; noch nicht mit der gleichen Gewißheit behauptete die Triar-
chie, daß die Klassengegensätze auch in Deutschland zu bedroh-
licher Schroffheit emporwachsen müßten. Auf das Industrie-
proletariat als auf eine internationale Erscheinung und auf die mit
dieser Erscheinung auch für Deutschland verknüpften Gefahren
hat mit voller Bestimmtheit zuerst wohl Lorenz Stein hingewiesen.
Einer raschen Verbreitung der fruchtbaren Gedanken, die in
der Europäischen Triarchie verborgen waren, hatte der Verfasser
selbst die erdenkbarsten Hindernisse in den Weg gestellt. Denn er
zwang den Leser, sich diese aus einem Wust geschichtsphilo-
sophischer Phantastereien und mystisch-sentimentaler Ausschwei-
fungen herauszuschälen. Auch Engels dürfte das Buch erst ge-
lesen haben, nachdem ihm in Berlin durch andere Kanäle die neuen
Ideen bereits zugeflossen waren, für die ihn danach Heß durch
die eindrucksvolle Art seiner Beweisführung endgültig eroberte.
Als einer der ersten hatte hier auf die Wichtigkeit der Triarchie
Ludwig Buhl hingewiesen und in seiner Anzeige der Schrift im
Athenaeum im März 1841 ausgesprochen, daß auch er die Be-
strebungen des Chartismus und der Anhänger Owens als die ersten
Tatrüstungen der sich vorbereitenden sozialen Revolution ansähe.
Weil Berlin ebenfalls sein Proletariat habe, dessen völlige ,, Ent-
menschung" nur auf dem Wege der sozialen Reform zu verhindern
wäre, forderte an der gleichen Stelle am 24. Juli ein Anonymus
die Philosophen auf, sich mit der von Franzosen und Engländern
HO Hinwendung zum Kommunismus.
schon weit ausgebildeten Wissenschaft des Sozialismus zu beschäf-
tigen, doch auch sich in die Praxis zu vertiefen und für diese zu
wirken. Ebenfalls im Athenaeum, erhob damals der junge Konstan-
tin Frantz warnend seine Stimme: „Organisiert diese Massen",
rief er aus, ,,oder sie organisieren sich selbst, — aber zum Sturm!"
Hilfe erwartete Frantz allein vom Staat, dieser müsse das Proletariat
gegen Willkür sichern und es zu Bürgern machen. Leider wurde
das Athenaeum fast nur von den paar Freien, die es schrieben,
und von einigen Dutzenden ihrer Bekannten gelesen. So konnten
die vereinzelten Weckrufe an das soziale Gewissen des Staates und
der besitzenden Klassen, die hier laut wurden, kein nachweisbares
Echo erzeugen. Überdies hätten die Freien bei ihrer doktrinären
Verzopfung gewiß jene realen Probleme, die zu einer schrittweisen
sozialen R'form gehörten, viel zu gering bewertet, um aus den
Wolkenschichten des absoluten Ich zu ihnen hernieder zu steigen.
Der selbstzufriedenen Dialektik dieser extremen Intellektualisten
und Individualisten bot die sozialistische Gedankenwelt keine
lockende Ausbeute. Auch Bruno Bauer verfiel nicht auf den Ge-
danken, durch den Begriff der Emanzipation Philosophie und Prole-
tariat mit kühnem Griff zu einem festen Knoten zusammen zu
schlingen. Kaum war ihm und seinem Bruder zum Bewußtsein
geko men, daß da ein Problem auftauchte, das ein Umlernen
größten Stils von ihnen gefordert hätte, so konstatierten sie die un-
überbrückbare Kluft zwischen der Masse, der sie die Vernunft ab-
sprachen, und dem Geist, als dessen Generalpächter sie selbst sich
ansahen. Soweit der Berliner philosophische Radikalismus sich
auf die Anregungen einließ, die vom französischen Sozialismus
herüberkamen, und das tat er auf seine Weise, drehte er sich nur
mehr oder minder im Kreise herum und bewies, daß es ihm un-
möglich war, den eigenen Schatten zu überspringen. Charakteri-
stisch dafür ist Buhls Aufsatz über die Weltstellung der Revolution,
der im Athenaeum am 21. Juli und 7- August 1841 erschien. Buhl
bekannte sich darin zu dem Prinzip der Gleichheit, das die Seele
des französischen Sozialismus ausmache und forderte, daß nach
der Organisation des Staats auch an die Organisation der Gesell-
schaft gegangen werden müsse. Aber aus der bloßen Tatsache des
Verfalls der Saint-Simonistischen Schule schöpfte er, kleingläubig
wie er im Innersten seines Herzens war, die Überzeugung, daß
für die Verwirklichung dieses großen Ideals die Zeit noch nicht
reif sein könne. Man merkt dem versprengten Fortschrittler an,
daß ihm der Gedanke nicht geheuer ist, die Pöbelherrschaft auf
den Thron zu erheben und der rohen Gewalt eine Berechtigung
einzuräumen; lieber möchte er die Aufgabe, die Schranken zwischen
Die Freien und der Sozialismus. Ill
den Klassen niederzureißen, der Bildung vorbehalten. Entschiedener
noch verwarf Eduard Meyen im Nachwort zu einem Abdruck von
Gozlaus Bericht über die Abreise der Fourieristen nach Brasilien
im Athenaeum vom 23. Oktober jede Art von Sozialismus. Ihm
genügte vollauf die Gleichheit der Bildung und der Verfassung,
die des Besitzes, meinte er, habe die Geschichte längst als eine Ab-
straktion verworfen ; die Geschichte wolle die Freiheit, nicht die
Gleichheit, sie bedürfe sogar der Ungleichheit, um in dem Menschen-
geschlecht dieselbe Abstufung und dieselbe Triebkraft der Be-
wegung wie in der Natur zu haben.
Hatte in der deutschen Zeitschriften- und Broschürenliteratur
das Interesse für den Saint-Simonismus sich schon seit einer Reihe
von Jahren erschöpft, so hatten hier dafür die später hervor-
getretenen sozialistischen Bestrebungen des Auslandes Beachtung
gefunden. Eine kritische Darstellung von Fouriers Sozialtheorie
war 1840 aus der Feder A. L. von Rochaus, erschienen, Lamennais'
Briefe eines Gläubigen, an denen sich die wandernden deutschen
Handwerksburschen berauschten, hatte Börne ins Deutsche über-
tragen, auch von den Engländern, besonders von Godwin und Owen,
war in deutschen Zeitschriften die Rede gewesen. Zuletzt hatte
der Putsch der Blanquisten vom 12. Mai 1839 die allgemeine Auf-
merksamkeit auf das Treiben der von kommunistischen Gedanken
erfüllten Geheimbünde gelenkt. Im Freihafen waren 1840 und
1841 von Franz Schmidt über Die neueren Entwürfe zu einer
Regeneration der Gesellschaft und über Die feindlichen Elemente
der Gesellschaft zwei Aufsätze erschienen, die dem jungen
Engels, wenn er sie gelesen hat, was anzunehmen ist, wertvolle
Anregungen bringen konnten. Sie verbreiteten sich über die ver-
schiedenen sozialistischen Systeme und über die praktischen Be-
strebungen der Chartisten und der Blanquisten. Ihre Taktik ist
dem Verfasser ein Anzeichen dafür, daß ein Kampf der besitzlosen
Menge gegen Macht und Besitz sich am Horizont mit Deutlich-
keit abzeichne. Den theoretischen und praktischen Bemühungen
der ,, edlen, für Menschenwohl heiß erglühenden Herzen" der großen
Utopisten Frankreichs und Englands wird hohes Lob gezollt und
die Überlegenheit des Genossenschaftsgedankens über die herrschen-
den Formen der Produktion anerkannt. Weil es aber Schmidt
zweifelhaft blieb, ob das Beispiel der Rappisten oder anderer
kommunistischer Sekten einer Verallgemeinerung fähig wäre,
findet man ihn zu guter Letzt dem ,, herannahenden Sturm" ratlos
gegenüber stehen.
Dieses kaum erwachte Interesse der deutschen Publizisten
für das soziale Problem trat noch einmal in den Hintergrund, als
112 Hinwendung zum Kommunismus.
am Ausgang des Jahres 1841 und besonders in den folgenden Mona-
ten die erweiterte Preßfreiheit der Erörterung rein politischer
Fragen in Preußen endlich eine freiere Bahn zu eröffnen schien.
Auch die Junghegelianer glaubten ja anfänglich, daß sie sich nun
auf dem geraden Weg von der Theorie zur Praxis, von dem Gedan-
ken zur Tat befänden, auch sie versprachen sich goldene Berge
von der Freiheit und Öffentlichkeit des politischen Lebens. Nun
mußte es sich zeigen, ob durch die Adern des empirischen Staats die
Säfte flössen, die den Vernunftstaat aus ihm emportreiben konnten.
So schoß die Begeisterung für den Staat und für die Aufgaben, die
er der Menschheit erfüllen sollte, hoch in die Halme. Selbst Marx
pries den Staat als ,,den großen Organismus, in welchem die recht-
liche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu er-
halten" habe. So hochgemute Hoffnungen mußten erst wieder
zu schänden werden, bevor von neuem Raum werden konnte für
jene Skepsis gegenüber dem Staat, die Moses Heß aus Frankreich
mitgebracht hatte, wo die Enttäuschung über das Bürger königtum
bei den breiten Volksmassen wie bei jenen aufgeklärten Geistei-n,
die sich mit den gesellschaftlichen Problemen ernsthaft beschäftig-
ten, eine entschiedene Abwendung von der Politik erzeugt hatte.
Leider bot der preußische Staat weder in seiner nüchternen
Wirklichkeit noch selbst in der idealisierten Gestalt, wie die Jung-
hegelianer ihn sich erträumt hatten, für so weite und verschwim-
mende Ideale, wie sie Heß vorschwebten, Aussichten, die Hoff-
nungen wecken konnten. Wie wenig selbst entsprachen der Ent-
wicklung zur Einheit, die ihm seine metaphysische Inbrunst
vorgaukelte, die Wünsche des Liberalismus, die die Über-
brückung des schroffen politischen Dualismus in Preußen sich zum
Ziele setzten. Die ,, Vereinzelung des Menschen praktisch aufzu-
heben" ging sehr weit über alles hinaus, was Staat und Kirche, die
Heß deshalb beide als mittelalterliche Formen des sozialen Lebens
verwarf, zu leisten sich anheischig machten. Als nun aber jetzt
der Staat die Hoffnungen aller Freigesinnten enttäuschte und eine
grenzenlose Ernüchterung bei ihnen einkehrte, da schien Heß
der rechte Augenblick gekommen, um seine Gedanken in die Dis-
kussion zu werfen und auch in Deutschland der Überzeugung
Anhänger zu gewinnen, daß nicht der Staat, sondern die Ge-
sellschaft der wahre Kampfplatz sei, auf dem die weltgeschicht-
lichen Entscheidungen fallen. Jetzt hoffte er offene Ohren zu fin-
den für seine Überzeugung, daß in Deutschland ebenso wie in Eng-
land und Frankreich eine Emanzipation, die das ganze Volk um-
fassen solle, nur auf dem Boden der Gesellschaft möglich wäre.
Die Wichtigkeit des gesellschaftlichen Problems neben oder gar
Heine und der Kommunismus. I13
vor dem politischen hatte die englische und die französische Er-
fahrung auch hier schon vernehmlich verkündet. Aber das junge
Deutschland, das so groß im Aufgreifen und so klein im Ausreifen
war, hatte diesen Gesichtspunkt bloß in verschwommenen Phrasen
herausgekehrt und ihn weder wissenschaftlich noch praktisch
fruchtbar gemacht. Immerhin dankte Engels, wie wir uns erinnern
wollen, dem Einfluß des Saint-Simonismus auf diese Kreise, daß
er frühzeitig über die Grenzen des Eigentums und des Erbrechts
nachzudenken begann. Was Klassengegensätze bedeuten, hatte
er als Kind im Wuppertal, wie diese die Verfassung beeinflußten,
am Bremer Notabeinstaat beobachten können, Venedeys Pamphlet
gegen Preußen hatte ihm gezeigt, wie sich in einem Großstaat auf
das Privileg des Besitzes ganz allgemein politische Privilegien grün-
deten. Aber Erfahrungen und Beobachtungen solcher Art mußten,
das lag in seiner Natur, erst in der Not des Kampfes um die Welt-
anschauung in seiner Seele lebendig werden, bevor sie vom Zentrum
seines Denkens aus das Zentrum seines Willens in Bewegung
setzen konnten. Früher und schärfer als das junge Deutschland
hatte mit der Hellsichtigkeit des Genius Heinrich Heine die gesell-
schaftliche Krisis begriffen, ihre weltgeschichtliche Tragweite
erkannt, in kristallklare Sätze ihren Sinn gefaßt. Der Gedanke
von den zwei Nationen der Reichen und der Hungerleider, die sich
innerhalb des gleichen Volkes schroff bekriegten, dem wir schon
1821 in Ratcliff begegnen, tauchte von neuem, um nicht wieder
zu verschwinden, bei ihm auf, als die Julirevolution ihn an den
Mittelpunkt des sozialen Ideenkampfes geführt hatte. Fortan
starrte er gespannten, fast ängstlichen Blickes in den Hexenkessel,
dem die neuen seltsamen Blasen entstiegen, und von den Beobach-
tungen, die er anstellte, floß manches in die Berichte hinein, die
er über die französischen Zustände unter der Julidynastie an die
Allgemeine Zeitung sandte. Die Lesewut des jungen Engels, da-
zu die Bedeutung der Allgemeinen Zeitung und die Berühmtheit
ihres Korrespondenten, machen es wahrscheinlich, daß ihm die
Briefe nicht entgingen, in denen der Dichter, auf den europäischen
Charakter der näherziehenden sozialen Revolution verweisend, seinen
Landsleuten den Kommunismus als den düsteren Helden vorstellte,
der nur noch des Stichworts harre, um eine große, wenn auch nur
vorübergehende Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Einmal
hatte Engels eine neue Lehre abgelehnt, obgleich sie die gewaltigen
Probleme, die ihm zusetzten, in ein verführerisches Licht rückte,
weil sein philosophisches Bewußtsein Einspruch erhob. So wenig
wie damals als Schleiermachers gütige Lehre ihn versuchte, hätte
jetzt das menschheitbeglückende Ideal des Sozialismus dauernd
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 8
XX^ Hinwendung zum Kommunismus.
über ihn Macht gewonnen, wenn die Entwicklung seines Denkens
in eine entgegengesetzte Richtung gewiesen hätte. Jetzt aber
quälte ihn gerade die Frage, wie das vollkommene Gattungsbewußt-
sein Feuerbachs, unter dem er sich so viel vorstellte und das ihn so
mächtig anzog, in die Wirklichkeit übertragen werden könnte.
Da kamen ihm die Schriften der französischen Sozialisten wie
gerufen, und begierig lauschte er Moses Heß, der ihn über-
zeugen wollte, daß der Kommunismus nur die geradlinige Fort-
setzung des Weges sei, auf dem Feuerbach die deutsche Philosophie
aus dem einseitigen Intellektualismus der junghegelschen Doktrin
zu befreien begonnen hatte.
Heß hatte in der Rheinischen Zeitung schon im April eine
Kundgebung französischer ,, rationalistischer" Sozialisten abdrucken
lassen, die sich als Kommunistisches Manifest bezeichnete. Der
Überblick über die Entwicklung des Kommunismus in Frankreich,
den sie enthielt, sollte diesen dem deutschen Publikum als eine be-
deutsame historische Erscheinung vorstellen, die jenseits des
Rheins bei den Gebildeten wie beim Volke bereits zahlreiche An-
hänger gewonnen habe und die man deshalb nicht mehr mit einigen
hochtrabenden Redensarten ins Irrenhaus verweisen dürfe, sondern
studieren und ihrem inneren Gehalt entsprechend würdigen müsse.
Die Deutschen vor der Oberschätzung der politischen Kampfstätte,
die noch den Reiz der Neuheit für sie hatte, zu warnen, lag, wie sich
schon zeigte, Heß am Herzen. Er glaubte, dem Kommunismus
in Deutschland erst wirklich Gehör verschaffen zu können, wenn
er das gebildete Publikum über die ,, Hohlheit des konstitutionellen
Formalismus", an der freilich die führenden Geister unter den Jung-
hegelianern längst nicht mehr zweifelten, aufgeklärt hätte. Er
verschwieg die Gründe auch nicht, aus denen der Kommunismus
dem Konstitutionalismus feindlich gesinnt war, sondern ließ durch-
blicken, daß so wenig wie diese irgend eine andere Regierungsform
die Macht besäße, die vorhandenen sozialen Übel zu heilen und die
tiefgreifenden Gegensätze, die bestünden, aufzuheben.
Hatte Heßsich beim ersten Anpochen noch mit einem verhält-
nismäßig kurzen Hinweis begnügt, so entwickelte er einige Monate
später, am elften September, in einem von dem Berliner Kreis,
dem auch Engels angehörte, stark beachteten Aufsatz der Rhei-
nischen Zeitung seine Gedanken ausführlicher. Hier zeigte er, wie
die beiden französischen Revolutionen keineswegs dem ganzen
Volke, sondern lediglich dem Bürgertum die Macht verschafft
hatten. Der Gegenwart aber legte er die Pflicht auf die Schultern,
das ganze Volk zu emanzipieren und damit in der Geschichte ein
völlig neues Prinzip zur Herrschaft zu bringen. Gewisse Ideen,
Heß über Kommunismus in der Rheinischen Zeitung. ug
meinte er, lägen in der Luft einer geschichtlichen Epoche, und man
könne sich ihrer nicht erwehren. ,,So dachte bis vor kurzem noch
niemand daran, daß in den republikanischen Institutionen unserer
Zeit die Freiheit an dem Elend scheitert, welches noch einem sehr
großen Teil unserer Gesellschaft jede Möglichkeit einer freien Ent-
wicklung der Kräfte abschneidet. Der Pauperismus, die Ver-
armung des Volkes, hat erst in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen gewußt, und er hat den Bestrebungen der Zeit
eine ganz neue und eigentümliche Richtung gegeben. Man fühlt,
daß die freisinnigen Bestrebungen bis jetzt unzureichend waren,
die Mehrzahl der Menschen aus einem Zustande zu ziehen, der
der Sklaverei praktisch gleich kommt; man macht plötzlich die Ent-
deckung, daß es noch im neunzehnten Jahrhundert Heloten gibt.
Seitdem ist es nicht mehr die Feudalaristokratie, auch nicht mehr
der Absolutismus allein, was dem Zeitgeist widerspricht: die ganze
Organisation oder vielmehr Desorganisation unseres sozialen Lebens
erheischt eine Reform. Die Gesetzgebung muß noch auf eine andere
Weise als durch die Polizei, durch Korrektional- und Kriminal-
gerichte mit der armen, unmündigen Volksklasse in Berührung
kommen. Von den süßen Früchten der Zivilisation erhält diese
Klasse wenig, desto mehr von ihren herben zu kosten. Das ist
eine große Ungerechtigkeit und ein ebenso großes Unglück. Alle
freien Staatsverfassungen, von der französischen Republik an bis
herauf zu den Republiken des Altertums, sind an dieser Klippe ge-
scheitert und wenn die nordamerikanische Union ihre freien In-
stitutionen aufrecht erhält, ohne daß die Aufhebung des Gegen-
satzes von Pauperismus und Geldaristokratie im Geiste ihrer so-
zialen Institutionen liegt, so hat sie eben nicht diesem Geiste, son-
dern der Natur ihrer Verhältnisse ihr Glück zu verdanken."
Ein Aufsatz über Zentralisation und Freiheit, der acht Tage
später, also am i8. September 1842, in der Rheinischen Zeitung
erschien, trägt dasselbe Korrespondentenzeichen, dessen Engels
sich bediente. Ist dieser wirklich der Verfasser, wie wir annehmen
möchten, so erhielten wir hiermit einen wertvollen Einblick in seine
Gedankenwerkstätte während der Wochen, in denen er sich end-
gültig für den Kommunismus entschied. Der Hinweis auf die Ge-
schichtsauffassung der Franzosen, die das eigentliche Substrat der
Geschichte in der Gesellschaft erblickten, dürfte ihn schneller und
widerstandsloser überzeugt haben als jene Gesinnungsgenossen,
die Hegels Rechtsphilosophie tiefer erlebt hatten und sich deshalb
schwerer von seiner übersteigerten Wertung der Mission des
Staats freimachten. Dieser Aufsatz bekämpft Hegels Auffassung,
daß der Staat die Realisierung der absoluten Freiheit sei. Möge der
Il6 Hinwendung zum Kommunismixs.
Staat die objektive Freiheit realisieren, die subjektive, die wahre
Freiheit, fände ihre Verwirklichung allein in der Geschichte.
Souveränität käme nur der Geschichte zu, denn diese sei die Tat
der Menschheit, das Leben der Gattung, das absolute Recht. Die
Staatsgewalt erstrecke sich nur auf das, was allgemein gelte, nicht
auf jenes, was bloß die einzelnen angehe. Deshalb könnten die
englischen Arbeiter, die bitter Hunger litten, mit Recht gegen ihre
Verfassung und gegen Sir Robert Peel Klage erheben, nicht aber
gegen die Geschichte, die sie zu ,, Trägern und Vertretern eines
neuen Rechtsprinzips" mache. Daß Engels im Sommer 1842 be-
reits mit Nachdruck auf die sozialen Probleme sein Augenmerk
richtete, zeigt auch ein kleiner Ausfall gegen die am ,, toten abstrak-
ten Recht" klaubenden Widersacher der Geschworenengerichte,
ebenfalls in der Rheinischen Zeitung, der wohl sicher auf ihn zu-
rückgeht. Manche Juristen, heißt es hier, schrien Mord und Brand
und erklärten die Sicherheit von Leben und Eigentum für unter-
graben, wenn einmal die Geschworenen in Frankreich oder Eng-
land einen armen Proletarier freisprächen, der in der Verzweiflung
des Hungers für einen Heller Brot gestohlen habe und den Dieb-
stahl hernach eingestehe.
Ebenso lebhaft wie die neuen sozialistischen Gedanken seinem
Geiste, prägten sich seiner Seele die Bilder aus der Welt der Armut
ein, die ihm bei der Lektüre der englischen und französischen Zeit-
schriften, stärker vielleicht noch in den Romanen Eugene Sues,
George Sands, Dickens und Disraelis um diese Zeit begegneten.
Und diese Eindrücke gewannen bei ihm gleich eine starke sinnliche
Anschaulichkeit, weil sie ihm sofort mit den zeitweise vielleicht zu-
rückgetretenen, aber darum doch unverwischbaren Kindheitser-
innerungen aus dem heimischen Wuppertal verschmolzen, wo
er die entsetzlichen Begleiterscheinungen des modernen Früh-
kapitalismus in erschreckender Sinnfälligkeit vom Straßenbild ab-
gelesen hatte. Wie tief die Szenen, die er da auf seinem Schulweg
oftmals erlebte, das soziale Empfinden des Knaben geweckt und
wach gehalten hatten, beweist hinreichend die von flammender
Entrüstung eingegebene Schilderung seiner Briefe aus dem Wup-
pertal . Wenn sein Großvater van Haar geraten hatte, alle Ma-
schinen zu zerstören und von ihnen bloß kleine Modelle in Kunst-
kabinetten aufzubewahren (vgl. dazu auch Raumer, England im
Jahre 1833 H. Seite 11), so ist die Abneigung gegen die Maschinen
auf den Enkel übergegangen, mochte dieser auch einsehen, daß es
kurzsichtig wäre, die Schöpfungen der Menschen statt der Menschen
selbst zur Verantwortung zu ziehen. Erinnern wir uns wieder der
Anklagen, die sich, Jahre hindurch aufgespeichert, der Brust des
Engels Jugendeindrücke aus dem Wuppertal. uy
Achtzehnjährigen entrangen, der Bitterkeit, mit der er die Aus-
beutung der Kinder, die Überarbeitung der Erwachsenen, alle die
schweren Mißstände, die in der Fabrik wie in der Heimarbeit
jede Lebenslust hinmordeten, geißelte, so begreifen wir sofort, wie
jene seiner Phantasie eingegrabenen düsteren Bilder zu revolu-
tionärer Brunst aufflammten, als ihn, eben wie ihn die kom.muni-
stischen Ideen packten, im August 1842, die Kunde erreichte, daß
in den riesigen Tcxtildistrikten Englands ein entrechtetes Prole-
tariat zur Selbsthilfe geschritten sei und den Generalstreik pro-
klamiert habe. In diesen Tagen, als sich Heß Voraussage, daß
in England die soziale Revolution herannahe, buchstäblich zu er-
füllen schien, mag Engels den Entschluß gefaßt haben, den Um-
stand, daß der Vater an einer Fabrik in Manchester beteiligt war,
als eine Gunst des Schicksals zu betrachten und nach seiner heran-
nahenden Entlassung vom Militär das soziale Erdbebengebiet
Lancashires aufzusuchen. Dem widerspräche ja nicht, daß ein
Polizeibericht aus den fünfziger Jahren wissen will, der Vater habe
den Sohn, um ihn der aufklärerischen Atmosphäre Deutschlands zu
entziehen, unter der Drohung, er werde ihm sonst jeden Zuschuß
verweigern, gedrängt, nach Manchester hinüber zu gehen.
In einem Aufsatz, den er im folgenden Jahre in England für
das Organ der dortigen Sozialisten schrieb, behauptete Engels,
daß die Artikel, in denen Heß in der Rheinischen Zeitung auf den
Kommunismus hinwies, ohne die gewünschte Wirkung geblieben
seien. War aber dieses Urteil gerechtfertigt? Ließ sich von ihnen
zuvörderst etwas anderes erwarten, als daß vereinzelte fortgeschrit-
tene Geister auf die für Deutschland noch so neue Gedankenwelt
aufmerksam gemacht wurden? War es da nicht schon Erfolg
genug, daß es Heß gelingen konnte, Geister wie ihn und Marx von
der Wichtigkeit des Kommunismus zu überzeugen, ihnen die Not-
wendigkeit darzutun, sich eingehender mit ihm zu beschäftigen?
Nun erhielt aber Heß bei seinem Versuch, die neue Heilslehre in
die deutsche Presse und in die Diskussion einzuschmuggeln, plötz-
lich eine Unterstützung, auf die er nicht hatte rechnen können.
Gerade als er eben mit der vollen Hingabe des Apostels den Kom-
munismus zu verkünden begonnen hatte, vollendete nach einem
längeren Studienaufenthalt in Paris der junge Lorenz Stein mit
dem kühleren, aber dafür auf systematische Abrundung bedachten
Erkenntnisdrang des Gelehrten sein Werk über den Sozialismus
und Kommunismus des heutigen Frankreich. Nach allem, was
wir bereits wissen, müßten wir es eine arge Übertreibung nennen,
wollte jemand noch behaupten, daß es erst dieses Buches, das Mitte
September erschien, bedurft habe, um in Deutschland die Auf-
XX8 Hinwendung zum Kommunismus.
merksamkeit eines geistigen Vortrupps auf die Bedeutung des
französischen Sozialismus hinzulenken. Den weiteren Kreisen
der Gebildeten aber brachte erst dieses Kompendium eine für den
ersten Bedarf ausreichende Kenntnis der französischen Bewegung;
ihnen erschloß erst Stein das Verständnis für die Wichtigkeit
der neuen Probleme. Unter den Lesern des Buches gab es sicher-
lich niemanden, dem es so wenig Neues vermittelte, niemanden auch,
der mit der Ablehnung des Kommunismus, zu der Stein gelangte,
weniger einverstanden sein konnte als Moses Heß. Dennoch em-
pfahl selbst er ein Werk, das so zur rechten Stunde kam, um das
Material, dessen Verbreitung er wünschen mußte, vor dem deutschen
Leser auszuschütten; und noch später hat er anerkannt, daß erst
der ,, reaktionäre Stein" die Beschäftigung mit dem Sozialismus
in Deutschland legitim gemacht, daß er sich um dessen Verbreitung
größere Verdienste erworben habe als die Junghegelianer, die sich
vor ihm gescheut hätten, weil er ihr Idol von Vernunftstaat über
den Haufen zu werfen drohte. Nun kam freilich auch Lorenz Stein
von Hegel her. Aber wie Heß so hatten auch ihn Saint-Simons
fruchtbare Anregungen über die praktische Begrenztheit des
Hegeischen Standpunkt soweit aufgeklärt, daß er sich diesem
mit Freiheit gegenüberstellen konnte. Hegel und Saint-Simon ver-
dankte er die Überlegenheit, mit der er die einzelnen Probleme
unter den größten Gesichtspunkten begriff, die scheinwerferische
Einseitigkeit, mit der ihm beim Vergleich verschiedener Kulturen
alles Licht auf die wesentlichsten Stellen zusammenfloß. Stein
kam keinen Augenblick in die Versuchung, als Politiker ein Be-
kenner der Gedankenwelt zu werden, die zu beschreiben er als
Gelehrter sich vorgesetzt hatte. Er stand der preußischen Bureau-
kratie nahe, steuerte auf die akademische Laufbahn los und schrieb,
während er in Paris sein Werk abfaßte, zugleich gegen Bezahlung Be-
richte für den preußischen Polizeiminister. So scharfen Blicks er die
Punkte erkannte, wo die deutsche Philosophie und die französische
Gesellschaftswissenschaft sich berührten und schieden, so wenig ge-
sonnen war er, mit Heß, dessen Gedankengänge übrigens bei ihm stark
anklingen, den Kommunismus als den Erben der deutschen Philo-
sophie auf den Schild zu erheben. Umgekehrt betrachtete er es
als seine ,, heilige Pflicht", den Regierungen und der öffentlichen
Meinung Deutschlands ein Licht aufzustecken über diese der Hei-
mat täglich näher rückende Gefahr, die mit der Zeit auch hier die
Grundlagen des Staats und der Gesellschaft, deren Aufrechterhaltung
er wünschte, ,,mehr wie der mächtigste äußere Feind" bedrohen
könnte. Auch Stein hatte aus der Beschäftigung mit dem Saint-
Simonismus die Überzeugung gewonnen, daß die deutsche Philo-
Das Werk Lorenz Steins. ng
Sophie nur eine Philosophie des Wissens keine Philosophie der Tat,
außer stände sei, der Zukunft Ziele zu weisen. Sie habe den „ge-
waltigsten Widerspruch unserer Zeit" nicht rechtzeitig begreifen
können, weil im Gegensatz zu Frankreich der Glaube an den ab-
soluten sittlichen Charakter des Staates in Deutschland unerschüt-
tert, das Leben der Gesellschaft hier noch zu keiner selbständigen
Entwicklung gekommen wäre. Aber die Ausbreitung des Kom-
munismus in Frankreich und England müsse auch in Deutschland
dahin führen, daß man dem Zustand der Gesellschaft und dem Leben
der Klassen, die sich in ihr immer deutlicher kristallisierten, hin-
fort eine größere Beachtung schenke. Ebenso wie in jenen Ländern
werde künftig auch bei uns nicht der Staat die Gesellschaft, sondern
die Gesellschaft den Staat gestalten. Wie die Rechtsphilosophie
den Deutschen bedeute den Franzosen der Sozialismus den Punkt,
wo aus dem Begreifen des Seins sich das Gesetz des Sollens ent-
wickele. In Frankreich habe die Abstraktion niemals so wie in
Deutschland die Gewalt gehabt, die sinnliche Gewißheit in ihrem
unmittelbaren Festhalten am Äußeren wirklich zu erschüttern.
Während die deutsche Wissenschaft davon ausging, den Geist von
der Materie, den Gedanken vom Eindruck zu befreien, habe die
französische von vornherein als Basis den ganzen Menschen, die
Einheit von Geist und Leben gesetzt. Wir Deutschen begönnen
langsam, unsicher noch, aber doch mit entschiedener Richtung,
einen Willen zu haben, zu wollen, was wir zu leugnen nicht ver-
mögen, ,,und so wird uns aus dem Erkennen des Ganges der Geschichte
das Gesetz unseres eigenen Wollens".
Marx hatte noch in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre an-
erkennende Worte für ein Werk, von dem manche behaupten, daß
es ihm die Pforte zu der Problemwelt aufgetan habe, deren Meister
er hernach wurde. Engels dagegen äußerte sich schon 1843 ab-
fällig über ,,die matte Elendigkeit des Steinschen Buches", das in
seinem Leben keine Epoche gemacht haben kann. Der deutsche
Sprachgebrauch verstand bekanntlich damals unter Sozialismus
die in mehr oder weniger akademischer Form vorgetragenen mehr
oder weniger radikalen Wünsche für eine friedliche Erneuerung
der gesellschaftlichen Zustände, unter Kommunismus die auf
ihren Umsturz gerichteten Bestrebungen, deren Träger die geheimen
Verbindungen der Proletarier waren. Stein formulierte den Unter-
schied dahin, daß der Sozialismus ausschließlich durch die Gewalt
der Wahrheiten, die er aufstelle, eine neue Gesellschaft bilden, der
Kommunismus durch die Gewalt der Masse, ja durch Revolution
und Verbrechen, die bestehende Gesellschaft umstürzen wolle. Der
Sozialismus erschien ihm und seinesgleichen salonfähig, im Kom-
J20 Hinwendung zum Kommunismus.
munismus sahen sie eine Pest, die ausgerottet werden müßte.
Engels hat von Anfang an, soweit deutsche Zustände in Betracht
kamen, nicht unterschieden zwischen Soziahsmus und Kommunis-
mus, sondern zwischen dem philosophischen Kommunismus, dessen
Träger Angehörige der gebildeten Klassen waren, und dem Kom-
munismus der Handwerker, der Proletarier. Der Bahnbrecher des
philosophischen Kommunismus in Deutschland war ihm, wie wir
sahen, Heß; als der Begründer einer kommunistischen Bewegung,
die aus den Tiefen des deutschen Proletariats selbst kam und von der
er bisher nichts geahnt hatte, tauchte jetzt eben vor seinen Augen
Weitling auf. Es war der Spätsommer 1842, als Engels zuerst er-
fuhr, daß jenes neue Evangelium, das er eben als die logische Fort-
entwicklung der junghegelschen Doktrin sich begreiflich zu machen
suchte, bei der Masse selbst, der es das Heil bringen wollte, bereits
zu zünden begonnen hatte. Die Kunde, daß wandernde Handwerks-
gesellen im Auslande den gerüchtumsponnenen geheimen Gesell-
schaften der Kommunisten beigetreten seien, war durch heim-
kehrende Reisende, durch in die Öffentlichkeit hinübersickernde
Polizeiberichte oder durch gelegentliche Zeitungskorrespondenzen
aus Frankreich und der Schweiz seit der letzten Hälfte der dreißiger
Jahre ab und zu dem gebildeten deutschen Publikum zugekommen,
ohne daß seine Aufmerksamkeit bei einer Erscheinung verweilt
hätte, die ihm nur erst eine ferne Kuriosität bedeutete, für deren
Einschätzung ihm im eigenen Lande alle Anhaltspunkte fehlten.
Sogar Heß wußte, als er im Winter von 1842 auf 1843 nach Paris
kam, wie er selbst erzählt, nichts davon, daß es dort kommunistische
Vereine der deutschen Handwerker gab. Frühzeitiger unterrichtet
als das Bürgertum waren die Regierungen, die mit der Wachsam-
keit eines Schutzmanns auch diese Bestrebungen verfolgten, un-
ermüdlich bedacht, ihren in erzwungenem Schlafe ruhenden Unter-
tanen umstürzlerische Ideen, wie immer sie lauten mochten, fern
zu halten. Kaum war dem Polizeiminister von Rochow zu Ohren
gekommen, daß ein durchaus zuverlässiger junger schleswigscher
Gelehrter sich zum Studium des französischen Sozialismus und
Kommunismus in Paris aufhielte, so ließ er ihm nahe legen, ,,auf
das dortige Verbindungswesen der deutschen Handwerker und auf
den Zusammenhang derselben mit den Kommunisten seine Auf-
merksamkeit zu richten". Stein, der dem Wunsche unbedenklich
nachkam, hielt sich nicht so streng an sein Thema, daß er nicht
auch dem Minister lehrreiche Privatissima über den Unterschied
zwischen der deutschen und der französischen Opposition im all-
gemeinen und der deutschen und französischen Handarbeiterklasse
im besonderen zukommen ließ. Bedenklicher war, daß er in seiner
Das Hervortreten des H^mdwerke^kommunismu^. 12 1
Beflissenheit sich zu der Beteuerung verstieg, daß niemand, der in
Deutschland nur entfernt als vernünftig angesehen werden wolle,
begreifen möchte, wie ein Volk, auch das unersättlichste, noch nach
mehr Freiheit verlangen könne, als das französische unter seinem
Bürgerkönigtum habe!
Auch die preußische Diplomatie half der Berliner Regierung
die Verbreitung der kommunistischen Irrlehren unter ihren im Aus-
land weilenden Landeskindern zu überwachen. Nicht weniger
schenkte der König dem ,, unheilvollen Einfluß", den diese Lehren
,,auf die mittellose Klasse der Handwerker und Arbeiter gewinnen"
konnten, seine Aufmerksamkeit, mochte er sich auch sagen, daß
,,für jetzt noch von diesen Umtrieben eine ernste Gefahr nicht zu
besorgen" wäre. Zu einer Zeit, als sich die radikale Presse des In-
landes noch nicht einmal über die Orthographie des Namens Weit-
ling klar geworden war, ließ die preußische Regierung bereits
den gefährlichen Schneidergesellen durch ihre Spitzel aushorchen
und unterbreitete, als im Januar 1841 Die Welt wie sie ist und
wie sie sein soll in den Felleisen heimkehrender rheinischer Hand-
werksburschen aufgefunden wurde, der Zentralbehörde in Frank-
furt sofort die richtige Vermutung, daß diese Broschüre mit dem
Bund der Geächteten in Zusammenhang stehen müsse. Nicht un-
möglich ist, daß Engels den ersten Hinweis auf Weitling seinem
einstmaligen Gönner Gutzkow verdankte, der sich noch immer
darin gefiel, mit neuen literarischen Größen, für die er dann einen
Entdeckerlorbeer beanspruchte, vor dem Publikum zu paradieren.
Ihm war bei einem Aufenthalt in Paris der Hilferuf der deutschen
Jugend und dessen Fortsetzung Die junge Generation von den
Kommunisten in die Hände gespielt worden. Wie ein erlesener
Leckerbissen wirkten die neuen Gedanken auf seinen feinschmecke-
rischen Geist, mochte er auch gestehen, daß er selbst über das Alter
der Illusionen hinaus sei. Ihm hatte einst der früh vollendete Georg
Büchner versichert, daß niemals die Literatur sondern nur der
Hunger die Freiheit verwirklichen werde. Erinnerte sich Gutzkow
des genialen Freundes, als er jetzt in seinen Briefen aus Paris, die
im Spätsommer 1842 herauskamen, auf Weitlings Gedanken ein-
ging und im Augustheft des Telegraph aus der Jungen Generation
dessen Aufsatz über die Regierungsform des kommunistischen
Prinzips abdruckte ? Nun waren in diesem Sommer einige Hefte
der Weitlingschen Zeitschrift zum ersten Mal in dem Kreise der
Berliner Literaten aufgetaucht und hier vorsichtig von einem op-
positionellen Stammtisch zum anderen hinübergereicht worden.
Gewiß hat Engels in sie Einsicht erhalten. Er konnte auch den
Deutschen Boten aus der Schweiz erblickt haben, den Herwegh da-
X22 Hinwendung zum Kommunismus.
mals umgestalten wollte und der in diesem August in einer Kor-
respondenz aus Lausanne die Kommunisten als die „neue euro-
päische Partei" vorstellte, die sich an die „armen Teufel** der ver-
schiedenen Länder wende und die eine Zukunft habe, weil die Not
von jeher die Mutter großer Dinge gewesen wäre. Als im Dezember
des Jahres die Garantien der Harmonie und Freiheit heraus-
kamen, befand Engels sich nicht mehr in Deutschland. Aber er
hat sich das Buch damals trotzdem sofort zu verschaffen gewußt,
und wie hoch er Weitlings Hauptwerk bewertete, zeigte sich darin,
daß er größere Abschnitte daraus ins Englische übersetzen wollte
und den britischen Sozialisten den Verfasser als den Begründer
des deutschen Kommunismus vorgestellt hat.
Als sein Militärjahr ablief, schied Engels aus dem Kreise der
Freien, in deren Mitte er viele übermütige Stunden verlebt, aber
auch fruchtbare Anregungen in Fülle eingesammelt hatte,, und
von Berlin, das er nur als alter Mann noch einmal wiedergesehen
hat. Auf dem Wege nach Barmen machte er in Köln Station, um
der Redaktion der Rheinischen Zeitung, deren Mitarbeiter er war,
einen Besuch abzustatten. Hier begegnete ihm zum erstenmal
Moses Heß. Wird uns auch nicht ausdrücklich überliefert, worüber
ihre Unterhaltung ging, so dürfen wir doch mit Bestimmtheit ver-
muten, daß der Jüngere sich dem Älteren als Adept des neuen Glau-
bens, den jener predigte, vorstellte, und von ihm literarische Winke
und Ratschläge erhielt. Die nächsten Wochen verbrachte Engels,
mit Zurüstungen für die Übersiedlung nach England eifrig be-
schäftigt, im Elternhause. Er verließ es im letzten Drittel des No-
vember 1842, wie der Vater hoffte, um in der Spinnerei von
Ermen & Engels in Manchester seine kaufmännische Ausbildung
abzuschließen, wie er sich ausmalte, um die industrielle Arbeiter-
bewegung, die ihm der Angelpunkt der Zeitgeschichte werden sollte,
in ihrem Brennpunkt zu studieren, womöglich um die soziale Re-
volution, die er am britischen Horizont drohend heraufziehen sah,
tätig mit zu erleben. Wiederum fuhr er nicht an Köln vorüber, ohne
auf der Redaktion des führenden Oppositionsblattes vorzusprechen,
für das er auch von England aus zu schreiben gedachte. Nun war
die Rheinische Zeitung aber wenige Tage zuvor mit ihren Berliner
Korrespondenten, den Freien, und als Bruno Bauer für sie ein-
trat, auch mit diesem hervorragenden Mitarbeiter in einen Kon-
flikt geraten, der bekanntlich den völligen Bruch zwischen den
resolut politisch gewordenen und den in Religion und Philosophie
stecken gebliebenen Radikalen zur Folge hatte, weil die Redaktion,
wie Engels selbst der Sachverhalt in der Erinnerung geblieben ist,
sich weigerte, , »vorwiegend ein Vehikel für theologische Propaganda,
Erste Begegnung mit Heß und Marx. 123
Atheismus usw. statt für politische Diskussion und Aktion" zu
bleiben. Da nun der Besucher bis vor kurzem unter den Freien
gelebt hatte und noch immer in einem vertrauten, uns leider nicht
erhaltenen Briefwechsel mit den Brüdern Bauer, vielleicht auch
mit Stirner stand, die ihn auf ihrer Seite festzuhalten wünschten, so
sahen jetzt die Redakteure, die Rüge und Herwegh gegen alles
Berlinertum soeben noch besonders scharf gemacht hatten, in Engels
einen Parteigänger jener von ihnen in den Bann getanenen Richtung.
Besonders hielt der von Haus aus argwöhnische neue Chefredakteur
den durchreisenden Mitarbeiter, der sich ihm vorstellte, für einen
Abgesandten jener Clique, und so geschah es, daß diese erste Be-
gegnung zwischen Engels und Marx kühl, anscheinend sogar frostig
verlief.
Kapitel VI.
Politische und soziale Lehrjahre in England.
Sobald Engels den Boden Großbritanniens betrat, vertauschte
er die Luft der bloß theoretischen Kämpfe, an denen er in Berlin,
ohne daß sie seinem Tatendrang genug tun konnten, eifrig teilge-
nommen hatte, mit jener gewaltigeren Wirklichkeit, die den großen
politischen und sozialen Kämpfen innewohnte, von denen das in-
dustrialisierte Inselland widerhallte. Neidvolle Bewunderung er-
weckte dem jungen Deutschen schon die Wahrnehmung, wie jeder
einzelne hier seine Zeitung hielt, seine Versammlung besuchte, an
seine Organisation Zahlung leistete, während die Heimat noch ,,in
einem Zustande vorsintflutlicher Apathie", in der sozialen Kind-
heit, verharrte, für die es ,,noch keine Gesellschaft, noch kein Leben,
kein Bewußtsein, keine Tätigkeit" gab. In diese freieren und be-
wegteren politischen Verhältnisse untertauchen zu dürfen, muß
ihm an sich schon als ein großes Glück erschienen sein.
Seitdem das soziale Problem mit in die Zukunft weisender
Gebärde an ihn herangetreten war und er sich entschlossen hatte,
es dort aufzusuchen, wo es die Herrschaft über die Wirklichkeit
schon am sichtbarsten besaß, hatte Engels sich an der Hand der
freilich recht dürftigen deutschen Literatur über das zeitgenössische
England auf die Eindrücke, die seiner dort harrten, vorbereiten
wollen. Unzulänglich dünkte ihm diese Literatur, weil sie ihm im
besten Fall nur einzelne brauchbare Beschreibungen und Ziffern
darbot; die eklektischen Auffassungen, die er hier vorfand, muß-
ten ihm von seinem vorgeschritteneren Standpunkt aus rückständig
erscheinen. Schon bei der Ankunft in England finden wir ihn ja
ganz im Banne jener der Heßschen Triarchie zugrunde liegen-
den Vorstellung von den drei Revolutionen, an die der Fortschritt
der Menschheit geknüpft wäre, der politischen in Frankreich, der
religiösen in Deutschland, der sozialen in England. Eine soziale
Revolution aber, dachte sich Engels, müßte umfassender und ein-
greifender ausfallen als jede andere, weil selbst die entlegensten
Gebiete menschlicher Erkenntnis und menschlicher Lebensver-
Die englische soziale Revolution und die Menschheitsemanzipation. 125
hältnisse zu ihr beitragen und in ihr berührt werden würden.
Als den großsn Gegensatz, den zu entwickeln den Inhalt der Ge-
schichte von Anfang an bilde, betrachtete, wie wir uns erinnern,
die Hegeische Geschichtsphilosophie, der Engels in Bewunderung
anhing, den Gegensatz von Substanz und Subjekt, Natur und Geist,
Notwendigkeit und Freiheit. Diesen Gegensatz hatte für Heß das
achtzehnte Jahrhundert bis zur vollsten Schroffheit gesteigert, und
von der allgemeinen Revolution, die damals begann und deren nahe
bevorstehende Vollendung er England zudachte, erwartete er und
mit ihm Engels die Lösung des Gegensatzes der ganzen bisherigen
Geschichte. Es hatte also seine Bekehrung zum Kommunismus,
die, wie wir wissen, noch in der deutschen Umgebung erfolgt war,
Engels zugleich die Überzeugung gebracht, daß jene soziale Revo-
lution, die England der Menschheit schuldete, die deutsche philo-
sophische und die französische politische Revolution zu universellerer
Einheit auf höherer Stufe zusammenfassen werde. Und als Bekenner
jenes neuen Humanismus, den ihn Feuerbach lehrte, erhoffte er
jetzt die Erfüllung seines Menschheitsideals von dem Gang der
englischen Entwicklung. Damit aber treten die Fäden klar zu tage,
die jene Bestrebungen, denen Engels in Berlin nachgegangen war,
mit den scheinbar ganz anders gearteten verknüpfen, denen er
nun in der neuen Umgebung mit all dem Feuereifer, den wir stets
bei ihm wahrnahmen, nachging. Weil er über den Kanal die feste,
nicht mehr zu erschütternde Überzeugung mitbrachte, daß die
englische soziale Revolution der Verwirklichung seines neuen
Menschheitsideals den Weg ebnen werde, so gab sein klarer offner
Blick sich den neuen Eindrücken von vornherein nicht unvorein-
genommen hin. Vielmehr lag das Ergebnis, zu dem seine Einzelbeob-
achtungen sich verdichten sollten, ihm im voraus fest verankert da.
Von dem Augenblick an, da er das Schiff verließ, suchie er ja eigent-
lich nach garnichts anderem als nach den Sturmzeichen, die das
rasche Herannahen der mit nun begreiflicher Ungeduld von ihm
erwarteten sozialen Revolution ankündigten. Wohl prägte ihm
auch jetzt noch seine letzten Wertungen der alte Freiheits- und
Fortschrittsglaube der deutschen Philosophie, aber den Anstoß zu
jener universellen Revolution, auf die er seine Hoffnung baute, er-
wartete er nicht mehr von der Gedankenarbeit der deutschen Ge-
lehrten sondern von dem Aufbegehren der englischen Proletarier -
massen. Die einseitige Überwertung der abstrakten Vernunft, der
die Mehrzahl der Berliner Junghegelianer noch unentwegt fronte,
lag hinter ihm ; aber das ,,gute Stück philosophischen Hochmuts",
das auch er noch mit sich herumtrug, reichte hin, um ihn von
einem Bündnis mit dem ,, bornierten" Gleichheitskommunismus, das
120 Politische imd soziale Lehrjahre in England.
die Führer der revolutionären deutschen Arbeiter in London ihm an-
trugen, abzuschrecken. Mochten Josef Moll, Heinrich Bauer und
Karl Schapper, diese „drei wirklichen Männer", denen er später
nahetrat, auf ihn, der „eben erst ein Mann werden wollte", als die
, »ersten revolutionären Proletarier", die ihm in den Weg kamen,
einen unverlöschlichen Eindruck machen, so fühlte er doch in-
stinktiv, daß er sich ihnen noch nicht anschließen durfte.
Aber noch weit fremder als der naive natiirrechtliche Stand-
punkt dieser Männer mutete seinen aus Hegelscher Zucht kom-
menden Geist das anspruchsvolle Pochen auf die rohe Empirie
an, das ihm von nun ab bei fast jedem Gespräch mit Eng-
ländern entgegentrat. So geneigt er war, die Dimensionen anzu-
staunen, in denen das politische wie das soziale Leben dieses Volkes
sich abspielte, so bereitwillig er bewunderte, wie bei ihm alle Gegen-
sätze äußere Gestalt annahmen, wie alles Leben und Zusammen-
hang, fester Boden und Tat war, so niederdrückend wurde ihm an-
fangs die Erkenntnis, daß den Engländern die elementarste philo-
sophische Schulung abging ; und am wenigsten wollte ihm in den
Sinn, daß sie dies nicht einmal als eine Lücke empfanden. Wenn er
wahrnahm, bis zu welchem Grade sie an der handgreiflichen Wirk-
lichkeit und äußerlichen Praxis klebten und den bewegenden Ge-
danken außer acht ließen, so hatte er den Eindruck, daß sie die
Basis über der Oberfläche vergaßen und den Wald vor lauter Bäu-
men nicht sahen. Besonders empörte ihn in dieser frühesten Zeit
seines englischen Aufenthalts, wie die verstockten Briten sich nicht
beibringen lassen wollten, „daß die sogenannten materiellen In-
teressen niemals in der Geschichte als selbständige, leitende Zwecke
auftreten können, sondern daß sie stets, unbewußt oder bewußt,
einem Prinzip dienen, das die Fäden des historischen Fortschritts
leitet". Das war ein Grundsatz, an dem ihm in Deutschland noch
niemand Zweifel ausgedrückt hatte.
Den Jünger der deutschen Philosophie verletzte anfänglich
das ihm ganz unverständliche Verharren der Engländer bei der
rohen Empirie. Er begriff es erst, als er in der Folge begann, die
englische Geschichte zu studieren. Doch hatten diese Erfahrungen
seiner ersten Wochen in England das Gute, daß ihn die Gedanken
über das Verhältnis der materiellen, politischen, sozialen und geisti-
gen Kräfte zu einander, das Hauptproblem seiner künftigen Ge-
schichtsauffassung, von nun ab unausgesetzt zu beschäftigen be-
gannen. Sie ließen ihn nicht wieder los, sie setzten ihm zu, mochte
es auch seiner geistigen Organisation nicht ohne weiteres ent-
sprechen, der Fülle der geschichtlichen Vorgänge und Möglich-
keiten zu ungeduldig ihr Gesetz abzufordern. Wir finden ihn zu-
Die rohe Empirie der Engländer. 127
nächst ganz ausgefüllt von dem Bestreben, zu erforschen, wie sich
hier, in dem Land seiner größten revolutionären Hoffnung, jene
mannigfaltigen Kräfte aufeinander einstellten. Solange die dialek-
tische Notwendigkeit des Zusammenhangs sich ihm nicht lückenlos
offenbarte beunruhigte es nämlich seinen alten philosophischen
Adam auf das heftigste, die ideellen Faktoren den materiellen unter-
geordnet, das Prinzip bei der Materie tributpflichtig zu finden. Und
dennoch predigte die sinnliche Gegenwart ihm in seiner neuen Um-
gebung diese brutale Wahrheit, wohin er blicken mochte. Er wurde
in Manchester „mit der Nase darauf gestoßen", so bekannte er selbst
später im Vorwort zu Marx Enthüllungen über den Kölner Kom-
munistenprozeß, ,,daß die ökonomischen Tatsachen, die in der
bisherigen Geschichtsschreibung gar keine oder nur eine verachtete
Rolle spielen, wenigstens in der modernen Welt eine geschichtliche
Macht sind ; daß sie die Grundlage bilden für die Entstehung der
heutigen Klassengegensätze; daß diese Klassengegensätze in den
Ländern, wo sie vermöge der großen Industrie sich voll entwickelt
haben, also namentlich in England, wieder die Grundlage der poli-
tischen Parteibildung, der Parteikämpfe, und damit der gesamten
politischen Geschichte sind." Aber diese Erkenntnis, die sich dem
rückblickenden Engels hier fertig hinstellt, hat sich bei dem so
ganz anders orientierten Jüngling nur allmählich und schmerzhaft
auf Grund der Erfahrungen, die er in dem Inselland sammelte, her-
ausgebildet. Selbst als er sich eingestehen mußte, daß im zeitge-
nössischen England der Kampf der Interessen und nicht der Prin-
zipien die Entwicklung bestimmte, lag es ihm noch fern, diesen
Einzelfall zu einer geschichtsphilosophischen Theorie zu erweitern.
Höchstens zog er nun schon die Folgerung, daß die Interessen zwar
die herannahende Revolution eröffnen, daß sich jedoch hinterher
die Prinzipien aus den Interessen entwickeln würden. Er hatte
schon daran übergenug zu tun, die Fülle der ungeheuren Wirklich-
keit, in deren Mitte er sich so plötzlich wahrnahm, zu durchdringen
und all das Neue dem revolutionären Gesichtspunkte, den er mit-
gebracht hatte und an dem er unbeirrt festhielt, systematisch ein-
und unterzuordnen. Eine fröhliche Diskussion liebte der junge Engels,
er bediente sich ja der Dialektik mit nicht geringerer Leidenschaft
als des Floretts und des Degens, die er in Bremen zu führen ge-
lernt hatte. Dort unter den Primanern und Lehrlingen hatte er
sich als der ,,Promachos" moderner Ideen, später in Berlin als der Vor-
kämpfer des nach Taten verlangenden radikalsten Flügels der Freien
hervorgetan. Nun imponierte ihm die auf langer Tradition be-
ruhende Schulung im Diskutieren, die er bei der englischen Mittel-
klasse vorfand. Aber gleichzeitig erboste ihn die kühle Ablehnung,
128 Politische und soziale Lehrjahre in England.
auf die er bei den nüchtern und ohne dogmatische Voreingenom-
menheit die Dinge betrachtenden Engländern jedesmal stieß, wenn
er mit seinem Steckenpferd, dem Glauben, daß sich über dem Lande
eine unabwendbare Revolution zusammenzöge, hervorkam. Den
, »national englischen Standpunkt der unmittelbaren Praxis" an-
zuerkennen und anzunehmen, weigerte er sich um so entschiedener,
als er dann in diesem für ihn wesentlichsten Punkte sich vielleicht
hätte für geschlagen erklären müssen. So bot er alle Argumente
auf, um die ihm zu seinem Ärger immer wieder und allenthalben
begegnende Ansicht zu widerlegen, daß die englische Verfassung
Elastizität genug besäße, die heftigsten Stößs der Prinzipienkämpfe
zu überdauern und daß sie ohne Gefahr für ihre Grundlagen sich
jeder von den Umständen ihr aufgedrungenen Veränderung unter-
werfen könne.
Aber selbst wenn er den begreiflichen Wunsch hatte, die
politischen wie die sozialen Zustände Englands in möglichst
düsteren Farben zu sehen, durfte ein Kritiker, der aus dem da-
maligen Preußan kam, darum noch nicht, wie Engels es in seiner
ersten Korrespondenz an die Rheinische Zeitung tat, Cobden und
Bright die Klagen nachsprechen, daß England bis über die Ohren
noch im Mittelalter stecke, daß es von der Freiheit bloß die Will-
kür kenne und daß der Feudalismus hier mächtiger sei als auf dem
Kontinent.
Geneigt, die Dinge unter einfachen großen Gesichtspunkten
zu betrachten, dabei ohne das Bedürfnis, die Vielfältigkeit und
scheinbare Ordnungslosigkeit des langsam Gewordenen zu be-
wundern, vielmehr mißtrauisch gegen alles Gerede von historischem
Recht, wollte Engels jetzt in den englischen Gesetzen nur einen
Wust verworrener und einander widersprechender Bestimmungen
und im Unterhause nichts als eine durch Bestechung gewählte,
dem Volke entfremdete, auf die Regierung in den allgemeinen
Fragen einflußlose Korporation erblicken. Mochte sich ihm, als
er nun bald mit dem Studium der englischen Verfassungsgeschichte
begann, auch manches in ein günstigeres Licht rücken, mochte er
dann auch anerkennen, was sich am Ende nicht bestreiten ließ, daß
England seit langem eine Versammlungsfreiheit besaß wie noch
kein anderes Volk Europas, daß die Preßfreiheit, wenn auch kein
Gesetz sie festlegte, nirgends ausgedehnter war, daß, innerhalb ge-
wisser Grenzen wenigstens, auch ein Vereinsrecht bestand, so
spürt man doch heraus, daß er sich solche Zugeständnisse mühe-
voll abrang. Denn die ganze Darstellung der Lage Englands,
die er im Frühling 1844, kurz bevor er nach dem Kontinent zurück-
kehrte, niederschrieb, gipfelte darum doch in dem Nachweis, daß
England ein Klassenstaat. 129
das zeitgenössische England ein niederträchtiger Klassenstaat sei,
dessen ganze Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung aus-
schließlich der Geist der besitzenden Schichten erfülle.
In dem England der vierziger Jahre war die öffentliche Meinung
selbstverständlich längst daran gewöhnt, auch die politischen
Parteien unter dem realistischen Gesichtspunkte sozialer Interessen-
kämpfe zu begreifen. Bereits in dem Jahrzehnt nach dem Ausgang
der Kriegsära hatte es als eine Binsenwahrheit gegolten, daß sich
hinter dem Kampfe der Tories und der Whigs der Interessengegen-
satz zwischen Grundbesitz und mobilem Kapital verbarg. Engels,
der sich zum ersten Male einem voll entwickelten politischen Partei-
wesen gegenüber befand, war an dieses anfänglich mit Vorstellungen
herangetreten, die er aus den bloß erst theologischen und philoso-
phischen Parteikämpfen der Heimat ableitete. Nun mußte er in
alle Einzelheiten hinein die Erfahrung machen, bis zu welchem
Grade in England die sozial - ökonomische Sphäre die politische
beeinflußte; erst das Studium der englischen Vergangenheit ver-
breitete ihm das rechte Licht über solche Zusammenhänge in der
Gegenwart. Als die zunehmende Industrialisierung des Landes
jener bodenbesitzenden Aristokratie, deren Wille bis dahin den
Staat beherrscht hatte, die Unmöglichkeit bewies, die Ansprüche
einer trotz ihrem wachsenden Reichtum im Parlament und bei
der Leitung der Staatsgeschäfte einflußlos gebliebenen Bougeoisie
länger zu überhören, war es bekanntlich den vom Kleinbürgertum
und den Arbeitern vorwärts gedrängten Whigs unter schweren
Kämpfen gelungen, die Reformbill von 1832 durchzusetzen.
Diese hatte den Kaufleuten und Industriellen, die ja der liberalen
Partei ihren Charakter gaben und sie leiteten, die großstädtischen
und die Mehrzahl der industriellen Wahlkreise ausgeliefert; auf
dem platten Lande aber und in den meisten kleineren Städten war
die Macht der Aristokratie ungebrochen geblieben. Die Tories sah
Engels im Anfang etwas zu einseitig wie preußische Junker an.
Er beschreibt sie als eine mittelalterliche, konsequent reaktionäre
Partei, die mit der historischen Rechlsschule in Deutschland frater-
nisiere und die festeste Stütze des christlichen Staates bilde. Diesen
christlichen Staat aber, den er daheim schon auf den Tod bekämpft
hatte, glaubte er in dem damaligen englischen Staat verwirklicht
zu sehen, weil die Staatskirche hier als ein integrierender Bestand-
teil der Verfassung galt und weil noch imm^r bigotte Friedens-
richter Gefängnisstrafen über jene verhängen durften, die es unter-
ließan, die Kirche zu besuchen oder an der Existenz Gottes Zweifel
äußerten. Nun bewirkte freilich die natürliche Gegnerschaft der
Tories gegen die Machtgelüste der liberalen Industriellen, die ihm
Mayer Friedrich Engels Bd. I 9
130 Politische und soziale Lehrjahre in England.
als die Unterdrücker der Fabrikarbeiter besonders verhaßt waren,
daß Engels mit der Zeit in ihnen das geringere Übel zu sehen
sich gewöhnte. Zumal der kleinen Gruppe philanthropischer
TorieSjdie sich um Lord Ashley scharte und der Disraeli zugehörte,
zollte er eine uns durchaus verständliche Anerkennung dafür, daß
sie die rechtlose Arbeiterschaft gegen die Ausbeutung der Fabri-
kanten in Schutz nahm. Hielt er auch die Ziele dieser ,,Rom.an-
tiker" für unausführbar, so lobte er ihre gute Absicht und den Mut,
mit dem sie sich gegen die herrschenden Vorurteile ihrer Klasse
aufzulehnen wagten. Carlyle, ,,den Deutsch-Engländer", der ganz
einsam stünde, rechnete er übrigens nicht zu ihnen.
Obgleich er mit den Whigs, wie wir gleich sehen werden, in einigen
der wichtigsten aktuellen Fragen übereinstimmte, entfremdete Engels
sich ihnen um so mehr, je gründlicher sie sich ihm als die typische
Unternehmerpartei enthüllten. Da kam ihm bald die Erkenntnis,
daß die Fabrikarbeiter, die in ihrer großen Überzahl jenen zu-
nächst noch Gefolgschaft leisteten, möglichst bald zu einer völlig
selbständigen Organisation ihrer politischen Bestrebungen gelan-
gen sollten. Nun genossen aber auch nach der Durchsetzung der
Reformbill die arbeitenden Massen wegen des indirekten Zensus,
an den man das Wahlrecht geknüpft hatte, noch immer keinen
unmittelbaren politischen Einfluß; bloß erst in einigen industri-
ellen Zentren Nord- und Mittelenglands vermochten sie bei den
Wahlen schon ein entscheidendes Gewicht in die Wagschale zu legen.
Wie sollte es da ausbleiben, daß sich in ihren Reihen der Ruf nach
dem allgemeinen Stimmrecht bald mit erneuter Kraft erhob und
eine nachhaltige, nunmehr zu ungeheurer Gewalt anschwellende
Bewegung auslöste ?
Doch bevor wir uns der Chartistenbewegung zuwenden, wollen
wir uns erst noch deutlicher vergegenwärtigen, wie sich Engels
zu den großan Machtkämpfen stellte, die zumal seit dem Ausgang
der dreißiger Jahre sich zwischen der alten agrarischen und den
neuen industriellen Herrenschichten besonders um die Frage der
Zölle, namentlich der Getreidezölle, entwickelt hatten. Gerade
Manchester, die Stadt, wo er jetzt lebte, war ja der Geburtsort der
Anti-Kornzoll-Liga, dieses Agitationszentrums der Freihandels-
bewegung. Das neue Problem des Industriestaats, dessen Prototyp
England war, drängte sich also im Zusammenhang mit allen Pro-
blemen der Handelspolitik dem Ankömmling gebieterisch auf,
und wir finden ihn frühzeitig bemüht, den ,, Widerspruch, der in
dem Begriff des Industriestaates liegt", zu enthüllen. Der industri-
ellen Hegemonie Englands stellte der Fabrikantensohn aus dem
aufstrebenden Barmen ein höchst ungünstiges Horoskop. Um die
Das Problem des Industriestaats.
131
Quellen seines Reichtums zu schützen, trachte der bloße Industrie-
staat danach, die Produkte anderer Länder durch ständig steigende
Prohibitivzölle seinem Gebiet fernzuhalten. Aber weder das Aus-
land noch die Masse der Konsumenten im Inlande ließen sich sol-
ches auf die Dauer gefallen. Schon wären die französische, die
belgische und namentlich die deutsche Industrie bei der Herstellung
von Massenartikeln der englischen auf den Fersen und sie würden
dieser den Todesstoß versetzen, sobald England auf den Hoch-
schutzzoll, der zum Ruin seiner Finanzen führe, verzichten müßte.
Der Markt auf dem europäischen Kontinent sei mit Sicherheit für
England verloren ; diesem blieben freilich noch Amerika und die
Kolonien, doch auch Amerika sei ihm nicht sicher, und die Auf-
nahmekraft der Kolonien reiche nicht aus. Schon aber bedrohe
die deutsche Industrie die englische nicht allein auf ihrem heimischen
Markt; auch auf dem Weltmarkt mache ihre Konkurrenz sich
immer stärker bemerkbar, sie vermöge billig zu produzieren,
während in England der Schutzzoll alle Lebensbedürfnisse, nicht
zuletzt den Arbeitslohn, auf eine unverhältnismäßige Höhe herauf-
geschraubt habe. Aufrechterhaltung oder Beseitigung der Korn-
zölle, das war in England Kampfschrei und Losung, seitdem Richard
Cobden seine ,, ungeheure" Tätigkeit entfaltete und die Liga eine
Massenagitation so großen Stils betrieb, wie Europa bis dahin keine
erlebt hatte. Wir spüren, daß die Mittel, deren diese sich bediente
und die packenden Argumente, die sie für die Freigabe der Ge-
treideeinfuhr ins Treffen führte, auch auf Engels ihren Eindruck
nicht verfehlten. Aber sein Interesse an der Freihandelsbewegung
fand seine Grenze, wo sie den revolutionären Erwartungen, die
seinem Geist unbeirrbar vorschwebten, in den Weg trat. Da er
nicht leugnen konnte, daß die Arbeiterschaft in dieser Frage mit
den Fabrikanten an dem gleichen Strange zog, so hielt er es für
angebracht, die Führer der Whigs auf das große Interesse hin-
zuweisen, das sie daran haben mußten, das Proletariat mit
seiner wuchtigen Macht bei ihren Fahnen festzuhalten. Gewitzigt
durch seine Erfahrungen bei der Reformbill war dieses nicht ohne
weiteres geneigt, das Verlangen nach Erweiterung des Stimmrechts,
das seinem Herzen noch näher lag als der Freihandel, zurückzu-
stellen, um sich vor dessen Wagen spannen zu lassen. Und seine
Führer, namentlich O'Brien, wiederholten ihm unaufhörlich, daß
die ganze Agitation der ,, Börsenjobber und Volksausbeuter'* bloß
darauf hinauslaufe, die Staatsschulden enorm zu steigern und die
Löhne der englischen Textilindustrie auf das Niveau der preußischen
herunterzudrücken. Noch weniger hatten freilich die Arbeiter
einen Anlaß, sich im Dienste der Tories für die Aufrechterhaltung
I02 Politische und soziale Lehrjahre in England.
der Getreidezölle ins Geschirr zu legen. Daß die Korneinfuhr frei
werden müsse, erschien Engels ebenso notwendig, wie daß die herr-
schende konservative Regierung ,,auf friedlichem oder gewaltsamem
Wege" beseitigt werde. Er sagte richtig voraus, daß Sir Robert
Peel trotz des heftigsten Widerstandes eines Teils seiner Partei sich
gezwungen sehen würde, mit der Herabsetzung der Getreidezölle
einen Anfang zu machen. Aber weder von diesem noch auch von
den Liberalen erwartete er andere als ,,Justemilieu-Maßregeln".
Ein entschiedenes Eintreten für völlig freie Korneinfuhr nahm er
außsr bei der kleinen Gruppe der Radikalen, deren namhafteste
Zeitschrift der Examiner war, nur bei den Chartisten wahr, deren
Wut gegen die Brotwucherer er uns ausführlich schildert. Nun
redete Engels sich tatsächlich ein, daß schon bei diesem Streit um
die Getreidezölle die Revolution, die er mit so großer Ungeduld
herbsiwünschte, zum Ausbruch kommen werde, und er hielt es für
ausgeschlossen, daß die Aristokratie, die ihre soziale Herrschaft
bedroht sehen mußte, noch einmal, wie bei der Reformbill, frei-
willig nachgeben könnte ; diesmal, hoffte er, werde sie standhalten,
„bis ihr das Messer an der Kehle sitzt".
Übr gens sah er die führende Stellung der Aristokratie nicht
allein von selten der Industrie her bedroht, sondern auch auf dem
platten Lande selbst durch die Pächter. Diesen hatte die Agitation
der Anti-Kornzoll-Liga beizubringen gesucht, daß ihre Interessen
denen der Landlords, die nur ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele,
keineswegs die der gesamten ackerbautreibenden Bevölkerung
verträten, durchaus entgegengesetzt wären. Engels versprach sich
von der politischen Emanzipation der Pächter, die in Wahrheit
noch in weitem Felde stand, die endgültige Beseitigung der kon-
servativen Majorität im Unterhause, und so rechnete er der Anti-
Kornzoll-Liga als ein Verdienst an, daß sie der Alleinherrschaft
der Tories auf dem Lande ein Ende zu machen bestrebt war. Den-
noch war es mit allen Sympathien für die Liga bei ihm vorbei, so-
bald diese, wie es in Lancashire 1843 geschah, mit der National
Charter Association in Konflikt geriet. Sofort war sie ihm nur noch
die Gründung der reichen Spinner und Weber, die mit der Wurst
nach dem Schinken würfen und durch Abschaffung der Korngesetze
eine gute Handelsperiode herbeizuzaubern hofften. Und wenn er
aufs Land hinaus blickte, so beschäftigte ihn nunmehr weit stärker
als der Gegensatz zwischen den Großgrundbesitzern und den Päch-
tern der neu vor ihm auftauchende Gegensatz zwischen den Pächtern
und der ,, elenden Klasse" der Tagelöhner. Man sollte meinen, daß
Engels die innerpolitische Lage Englands um diese Zeit ähnlich
beurteilte wie zwanzig Jahre später Lassalle die Lage in Preußen:
Der Kampf um die Kornzölle. 133
er sieht eine neue selbständige Arbeiterpartei in die Erscheinung
treten, die sich versucht fühlt, aus dem Gegensatz zwischen den
beiden alten historischen Parte.en Nutzen zu ziehen und die sich
dabei mit wachsendem Mißtrauen von derjenigen abwendet, deren
Reihen sie bis dahin gestärkt hatte, obgleich deren Führer ihre Arbeit-
geber, deren Leitstern das Klasseninteresse jener war. Die Zukunfts-
aussichten der Whigs beurteilte Engels angesichts dieser Konstella-
tion jetzt wesentlich pessimistischer als einige Monate früher:
,,Das Reich des Justemilieus**, schreibt er im Schweizer Republi-
kaner vom 23. Mai 1843 ,, ist vorüber, und die Macht des Landes hat
sich auf die Extreme verteilt." Besonders erbittert hatte das Indu-
strieproletariat damals die ablehnende Haltung der Liberalen gegen-
über dem Gesetzesvorschlag des Ministers des Inneren Sir James
Graham, der die Arbeitszeit der Kinder in den Fabriken beschränken
wollte. Und als eifrigen Besucher jener Versammlungen, in denen
die Chartisten bei diesem Anlaß in Lancashire den Whigs ent-
gegentraten, verdroß es Engels, daß die Polizei hier den liberalen
Fabrikanten, sobald sie als Redner ins Gedränge kamen, ihren
Beistand lieh. Nun war es ihm vollends ausgemacht, daß die Whigs,
in erster Reihe die Partei der Arbeitgeber, seine Sympathien nicht
verdienten.
Verwundern kann es auf den ersten Blick, daß er für die Agi-
tation O'Connells, die seit der Mißernte des Jahres 1842 die Masse
der armen Iren aufs neue heftig entflammte, nicht so große Teil-
nahme aufbrachte wie andere Freiheitsschwärmer auf dem Kon-
tinent. Aber deren nationalistische Tendenz erschien ihm wie
O'Connor und dem Northern Star als Stümperei und Pfuscherei
im Vergleich zu den Zielen der neuen, unzählbaren Partei der
Besitzlosen, die sich unter der Fahne der Volkscharte sammelte.
Er teilte nicht einmal die unbeschränkte Bewunderung für den
großen Agitator, der sich selbst ein Bismarck damals nicht entzog,
und stimmte eher Sebastian Seiler, dem Gesinnungsgenossen Weit-
lings zu, der ihn für einen ,, Komödianten" erklärte. Engels stieß
es ab, daß die revolutionäre Energie und der ungeheure persönliche
Einfluß des ,, schlauen Demagogen" nur für die ,, elenden klein-
lichen Justemilieu-Z wecke", die hinter all dem Lärmen für Repeal
steckten, und nicht für das wirkliche Wohl des Volkes, die Ab-
schaffung des Elends, aufgeboten würden. Was er bewunderte,
das war die revolutionäre Begeisterung der Massen, die so blind-
lings dem Agitator Folge leisteten: „Was für Leute!" rief er aus,
,, Leute, die keinen Pfennig zu verlieren, die zu zwei Dritteln keinen
Rock am Leibe haben, echte Proletarier und Sansculotten und dazu
Irländer, wilde, unbändige fanatische Galen. Wer die Irländer
134 Politische und soziale Lehrjahre in England.
nicht gesehen hat, der kennt sie nicht. Gebt mir 200 000 Irländer,
und ich werfe die ganze britische Monarchie über den Haufen."
Die intimen, über Jahrzehnte sich erstreckenden Beziehungen, die
Engels um diese Zeit mit der jungen irischen Arbeiterin Mary Burns
anknüpfte, gaben seinem Mitgefühl für die irischen Proletarier,
diese Opfer ,, einer fünfhundertjährigen Unterdrückung", eine ganz
eigene Wärme, seinem Interesse für die B2sserung ihres Loses
eine besondere Nachhaltigkeit. Mit welcher Lebendigkeit versetzte
er sich in diese ,, sorglosen, heiteren, kartoffelessenden Natur-
kinder", die „von ihrer Heide durch den Hunger nach England
getrieben", in die Zivilisation hineingerissen werden. Hier, in dem
mechanischen, egoistischen, eisigkalten Getriebe erwachen ihre
Leidenschaften, zur Sparsamkeit nicht angehalten, verjubeln sie
schnell, was sie verdienten, und Hunger und Elend werden ihr un-
vermeidliches Schicksal. Die halbwilde Erziehung, danach die ganz
zivilisierte Umgebung haben sie in einen Widerspruch mit sich
selbst gebracht, in eine Gereiztheit, in eine inwendig stets fort-
glimmende Wut, die sie zu allem fähig machen. O'Connell traute
Engels zu, daß er mit den liberalen Geldsäcken unter einer Decke
stecke, um das Toryministerium Sir Robert Peels zu stürzen; er
sah in ihm keinen überzeugten Demokraten. Am wenigsten aber
konnte er ihm vergeben, daß er seine Iren vor dem „gefährlichen
Sozialismus" gewarnt hatte. —
Weil die Tendenz zur Großindustrie in Deutschland erst reich-
lich zwei Menschenalter später einsetzte, hatte sich bis gegen Ende
der dreißiger Jahre jenen deutschen Schriftstellern, die England
bereisten und beschrieben, nur selten die Erwägung aufgedrängt,
ob denn die technische und soziale Umwälzung, die sie dort drüben
unter so heftigen Wehen sich vollziehen sahen, dem lieben Vater-
land in seinem friedlichen Pflanzenschlaf auf die Dauer erspart
bleiben werde. Man hätte annehmen sollen, daß wenigstens ein
Historiker von einigem Rang, der sich in England gründlich
umschaute, an dieser Fragestellung nicht vorübergegangen wäre.
Aber obgleich Friedrich von Raumer auf seinen Studienfahrten
nach England 1835 und 1841 auch die Fabrikdistrikte besuchte,
äußsrte der geschäftige alte Herr, der zu dem unverdienten Ruf
kam, die gründlichste Auskunft über englische Zustände erteilen
zu können, solche Befürchtungen nirgends. Auf das Dogma vom
Gehen- und Geschehenlassen eingeschworen, raffte er sich nicht
einmal zur Verurteilung des Trucksystems auf, und die grauenvolle
Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft, deren Anblick Friedrich
Engels das Herz umwendete, erschien ihm nur insoweit anstößig,
Die deutsche Literatur über Englands soziale Zustände. jqe
als sie über Gebühr die Zeit einschränkte, die für die geistige Bildung
der Jugend übrig blieb. Mit der selbstgefälligen Kurzsichtigkeit
des verzopften Akademikers pries er die unentwickelten deutschen
Zustände den Engländern als Vorbild an: erzeugten wir auch nicht
so viel Barchent oder Musselin, so erzeugten wir desto mehr Ge-
danken und Gefühle, meinte er, die Poesie des Kinderlebens sei
bei uns noch nicht durch Maschinenklapperei aus der Welt ver-
scheucht. Daß in den durchindustrialisierten Gegenden Deutsch-
lands die Kinder bereits ebenfalls 15 Stunden und darüber schwere
Fabrikarbeit verrichten mußten, ahnte der Geschichtsschreiber der
Hohenstaufen nicht. Um so genauer wußte jedoch Engels über
das Elend der Streichjungen im Wuppertal Bescheid, und so be-
greifen wir, daß er sich über die ,, Jämmerlichkeit" des vielgeprie-
senen Buches entrüstete. Auf seiner zweiten Reise wurde Raumer
die ,, unüberbrückbare" Kluft zwischen arm und reich schon sicht-
barer. Aber er hielt sie doch für ,, überbrückbar" durch eine Besserung
der religiösen Erziehung, der Armengesetze und des Steuerwesens.
Ihn tröstet über das, was er sah, der Gedanke, daß das Elend in
früheren Zeiten nicht geringer, sondern nur von anderer Art ge-
wesen wäre und daß die Manufakturen, die es verursacht hätten,
nun einmal aus dem Gang der Zeitentwicklung nicht auszuschalten
seien.
Was dem Gelehrten entging, hätte den Industriellen und Groß-
kaufleuten sich aufdrängen müssen, die ihr Geschäft regelmäßiger
nach England lührte. Aber wir erfahren nicht, daß einer von ihnen
von der sozialen Gegenwart Englands auf die soziale Zukunft
Deutschlands damals Schlüsse gezogen hätte. Gustav Mevissen,
der in der Rheinischen Zeitung über die Chartistenbewegung be-
richtete, war, ebenso wie Engels, unter seinen Standesgenossen in-
sofern eine weißer Rabe, als er philosophische und politisch-histo-
rische Studien neben seinem Kaufmannsberufe trieb. Mevissen,
der die große Krise des Sommers 1842 in England persönlich mit-
erlebt hatte, unterschätzte zwar nicht den P^ß, der dort zwischen
den besitzenden und den besitzlosen Klassen klaffte. Doch wollte
er an die Gefahr einer Revolution solange nicht glauben, wie die
Mittelklasse sich mit den radikalen Wünschen des Proletariats nicht
solidarisch erklärte. Als Liberaler sah auch er die tiefste Wurzel
des Übels in der schlechten Volkserziehung, in der grenzenlosen
Unwissenheit geradezu die Quelle aller Not. Dabei klagte er, daß
die beiden alten Parteien des Landes nicht einsehen wollten, wie
nur durchgreifendste Reformen einen gewaltsamen Umsturz hint-
anzuhalten vermöchten. An der Chartistenbewegung vermißte
Mevissen besonders, daß sie von keinem großen und klaren Prinzip
136 Politische und soziale Lehrjahre in England.
getragen würde. So wenig er Politik und Wirtschaft ausschließlich
vom Standpunkt der besitzlosen Klassen beurteilte, so entschieden
forderte er die Abstellung der schlimmsten Mißstände als ein Gebot
staatlicher Selbsterhaltung.
Nun aber gilt es, endlich den Chartismus und den englischen
Sozialismus, der mit ihm nichts weniger als identisch war, näher
ins Auge zu fassen, um uns Rechenschaft geben zu können, welche
Wirkungen diese Bewegungen auf die Gedankenentwicklung des
jungen Engels ausgeübt haben. Das Fabrikproletaritat, ein Produkt
der industriellen Revolution und allmählich die köpfereichste Klasse
des Landes geworden, erhob ja seit dem Ende des 18. Jahrhunderts,
ohne daß es dabei zu einer ernsthaften organisatorischen Zusammen-
fassung seiner Kräfte kam, ruckweise aber mit steigendem Nach-
druck demokratische und sozialistische Forderungen. Schon 1819
hatte Manchester eine gewaltige Demonstration für das allgemeine
Wahlrecht erlebt. Seither hatte die Arbeiterbewegung mit wellen-
artigen Höhen und Tiefen, ihren Inhalt und ihre Taktik oftmals
wechselnd, von politischen zu sozialen, von sozialen zu politischen
Forderungen umkehrend, bald auf die Gewalt und bald bloß fried-
licher Agitation vertrauend, ständig und so lange an Bedeutung
gewonnen, bis sie, Furcht erweckend und Gefahren schaffend, die
allgemeine Beachtung auf sich und auf die tieferen Ursachen, die
ihrem Aufkommen zugrunde lagen, gelenkt hatte. Wir sahen schon,
daß diese neue soziale Macht in der Politik anfänglich als eine
Hilfstruppe der auf die Herrschaft zudrängenden Mittelklasse gelten
konnte. Eine Wendung trat ein, als sie bei der Reformbill, die zu
erkämpfen sie geholfen hatte, leer ausging. Die enttäuschten Ar-
beiter liehen von nun ab ihr Ohr williger einer bis dahin einfluß-
losen Minderheit, die in dem Klassenkampf gegen die Besitzenden
die wesentlichste Aufgabe des Proletariats erblickte. Und bei den
durch die Ergebnislosigkeit der politischen Agitation Enttäuschten
wuchs in den dreißiger Jahren die Neigung antiparlamentarischen,
revolutionär -syndikalistischen Lockungen nachzugeben oder auch
den friedlichen sozialistischen Bestrebungen Gehör zu schenken,
deren Verkünder Robert Owen war. Doch so natürlich ein solcher
Rückschlag war, von Dauer konnte er nicht sein. Schon 1837
begann von neuem, diesmal gewaltigen Dimensionen zustrebend, am
Ende aber doch vor Erreichung des Zieles zusammenbrechend, der
Sturm auf das allgemeine gleiche Stimmrecht, das dem Proletariat
die Pforten des Unterhauses sprengen sollte. Ihren revolutionären
Höhepunkt fand die Chartistenbewegung, die diese Bemühungen
zusammenfaßte, in dem, ökonomischen Quellen entflossenen, aber
in seinem Verlauf ganz von politischer Leidenschaft durchtränkten
Die Chartistenbewegung. i^y
großen nordenglischen Generalstreik des Notjahres 1842. Man-
chester war dessen Mittelpunkt gewesen. Als Engels im Dezember
hier eintraf, zitterte in den Arbeitermassen noch die Erregung nach
von Ereignissen, die zwar zu schweren Gewalttaten aber dank der
Weisheit des im Herzen dem Proletariat geneigten Generals Sir
Charles I. Napier nur zu geringfügigem Blutvergießen geführt
hatten.
Das Urteil, das der Ankömmling in seiner ersten Korrespon-
denz an die Rheinische Zeitung über diese Vorgänge fällte, ist be-
zeichnend für die Anschauungen, mit denen er an das Studium der
Chartistenbewegung herantrat. Er stellte zunächst fest, daßein Drittel,
vielleicht die Hälfte des englischen Volkes, zu der von der Industrie
erzeugten Klasse der Nichtbesitzenden, der absolut Armen gehöre,
die sich, ohne je stabilen Besitz erwerben zu können, reißend ver-
mehre. Wenn eine scharfe Handelskrise, wie die eben abklingende,
sie brotlos machte, bliebe ihr nichts übrig, als zu revoltieren. Ob-
wohl durch ihre Masse die mächtigste soziale Schicht des Landes,
wäre sie noch nicht zum Bewußtsein dieser großen Macht gelangt.
Daß sie sich auf dem Wege befände, dieses Bewußtsein zu erlangen,
beweise aber der Aufruhr des letzten Sommers, dessen Charakter
man in Deutschland insofern verkannt habe, als man mit der
Möglichkeit rechnete, daß er schon diesmal zu ernsthaften Ergeb-
nissen führen könnte. Weshalb es noch nicht möglich war, sucht
Engels dem Leser plausibel zu machen. Erstlich beruhte diesmal
der Anstoß auf einem Irrtum: weil einige Fabrikanten den Lohn
herabsetzen wollten, hielten sämtliche Arbeiter der Baumwollen-,
Kohlen- und Eisenindustrie ihre Stellung für gefährdet, was aber
gar nicht der Fall war. Sodann wurde das ganze Unternehmen
ohne Vorbereitung ins Werk gesetzt, ohne Organisation, ohne ein-
heitliche Leitung. Unter ökonomischem Gesichtspunkt überflüssig,
waren diese Streiks schon aussichtslos geworden, als die Chartisten
ihnen nachträglich eine politische Spitze gaben. Nun wollte Engels
das Scheitern des ganzen Unternehmens am liebsten darauf zu-
rückführen, daß dessen Grundidee, der Glaube an die Möglichkeit
einer Revolution auf gesetzlichem Wege, eine praktische Unmög-
lichkeit darstellte. Dieses falsche Idol hätte die Energie der Massen
gelähmt und nach Aufzehrung der Ersparnisse die allgemeine
Rückkehr zur Arbeit bewirkt. Ohne Nutzen seien aber diese Wochen
für die Besitzlosen trotzdem nicht geblieben, denn sie hätten ihnen
zu der Erfahrung verholfen, daß bloß die gewaltsame Umwälzung
der bestehenden unnatürlichen Verhältnisse, der radikale Sturz
der adligen wie der industriellen Aristokratie ihre materielle Lage
zu bessern vermöchte. Selbst wenn die Engländer die ihnen eigen-
X38 Politische lind soziale Lehrjahre in England.
tümliche Scheu vor dem Gesetz zunächst noch von einer gewalt-
samen Revolution zurückhalten sollte, so werde sich doch die Scheu
vor dem Hungertod als stärker erweisen. Weil er eine Revolu-
tion herbeisehnte, zweifelte Engels nicht an ihrem Nahen ; und seine
Hoffnungsseligkeit mußte es stärken, daß auch die Publizistik
der Chartisten vielfach mit dieser Voraussage arbeitete. Es kam
später noch oft vor, daß sein sanguinisches Temperament in
Unterschätzung beharrender sozialer und politischer Kräfte sich
zu falschen revolutionären Prophezeiungen hinreißen ließ.
Das allgemeine Stimmrecht bildete weitaus die Hauptforderung
der Chartisten. Sie wußten, ,,daß vor dem Sturm eines demokra-
tischen Unterhauses das ganze morsche Gerüst, Krone und Lords
und so weiter von selbst zusammenbrechen muß" (Pariser Vor-
wärts, 18. September 1844). V7ie Macaula y, der freilich zu ent-
gegengesetzten Schlüssen kam, war Engels überzeugt, daß keine
konservative und keine liberale Regierung sich jemals durch fried-
liche Agitation eine Reform, die den Staat mit einem Schlage der
großen Masse der Besitzlosen ausliefern müßte, abringen lassen
würde. Deshalb werde der Kampf für das allgemeine Stimmrecht
der sozialen Revolution die Wege bahnen. Und schon bald werde
man es errungen haben: mit der Abschaffung der Korngesetze werde
die Adelsaristokratie vor der Geldaristokratie, mit der Annahme
der Volkscharte die Geldaristokratie vor der arbeitenden Dem.okra-
tie das Feld räumen. Die Krisis nahe, die den ,, christlichen Welt-
zustand vernichten" werde, ihr Zeitpunkt könne, wenn auch nicht
in Jahren und quantitativ, so doch qualitativ mit Bestimmtheit
vorausgesagt werden.
Englands nächste Zukunft gehörte der Demokratie, das war
für Engels ausgemacht, doch nicht mehr der bloß politischen
Demokratie. Daß ihre Kräfte nicht ausreichten, die große Mensch-
heitsaufgabe zu lösen, darauf wiesen in Deutschland die Blätt-
chen der zum Kommunismus bekehrten Handwerksgesellen
schon seit längerer Zeit hin, und ihr geistiges Oberhaupt hatte
in seinen Garantien der Harmonie und Freiheit gerade eben vor
ihrer Überschätzung gewarnt und sie einen untauglichen, ja selbst
gefährlichen Notanker für das erst zu verwirklichende Prinzip der
Gemeinschaft genannt. Es war ja nicht das erste und nicht das
letzte Mal, daß eine leidende Menschheit sich die notwendige Be-
grenztheit aller politischen Aktion eingestand. So erschien jetzt
auch Engels jene Demokratie, die ihren Inhalt bloß im Gegensatz
zu Monarchie und Feudalismus suchte, als überlebt, als wahrhaft
lebensträchtig wollte er allein noch jene andere gelten lassen, die
in der Bourgeoisie und im Besitz ihren Gegensatz spürte. Auch
Die Grenzen der Demokratie.
139
Proudhons Einfluß, der sich hier bei ihm 2U!-i ersten Mal bemerk-
bar macht, wirkte dahin mit, daß er jetzt der bloßan Demokatie
die Kraft absprach, die sozialen Übel zu heilen. Die Politik, erklärte
Engels, sei überhaupt nicht der Boden, auf dem der Kampf der
Armen gegen die Reichen seinen Abschluß finden könne. Über
der demokratischen Gleichheit, dem ,, letzten rein politischen Mittel",
das noch zu versuchen wäre, erhebt sich ihm der Sozialismus als
ein über alles politische Wesen hinausstrebendes Prinzip.
Gerade weil Engels selbst so überzeugt war, daß die Char-
tistenbewegung, mochte sie wollen oder nicht, in die soziale Revo-
lution ausmünden müsse, befremdete es seinen deutschen Idealis-
mus anfänglich, daß der Chartismus in den Reihen der gebildeten
Klassen nur verschwindend wenige Anhänger hatte. Noch er-
klärte sich ihm diese Erscheinung weniger aus dem widerstreben-
den Klasseninstinkt des englischen Bürgertums als daraus, daß
diesem der Glauben an die Macht der Chartistenbewegung fehlte.
Dem praktischen Engländer bedeute, meinte er, die Politik ein
Zahlenverhältnis, ein Handelsgeschäft; deshalb nehme er von der
im stillen furchtbar anwachsenden Macht des Chartismus so lange
keine Notiz, wie die Zahlen, in denen diese sich ausdrücke, für die
Mehrheitsverhältnisse im Parlament Nullen vor der Eins blieben.
Aber solche Superklugheit übersehe, daß es doch auch Dinge gibt,
die über das Zahlenverhältnis hinausreichten.
Hatte sich Engels schon daheim niemals streng an den in
Deutschland üblich gewordenen Sprachgebrauch gehalten, der
zwischen Sozialismus und Kommunismus einen so grundsätzlichen
Unterschied machte wie Lorenz Steins Kompendium, so fühlte
er sich erst recht nicht bewogen, die englischen Arbeiterkreise,
mit denen er jetzt Anknüpfung suchte und fand, mit Unterschei-
dungen zu plagen, die für sie gegenstandslos gewesen wären. Denn
sie kannten ja nur den Chartismus und daneben den englischen
Sozialismus. Vom deutschen Kommunismus hatten sie bis vor
kurzem nichts gehört, aber auch die französische sozialistische
Gedankenwelt, die in dem Fourieristischen Promethean vergebens
um Einfluß warb, hatte in ihrer Mitte keinen Anklang gefunden.
Eine kraftvolle Massenbewegung des Proletariats, bei der nicht
die ungleiche Verteilung des Eigentums zur Sprache käme, hat es
niemals gegeben und wird es niemals geben, solange diese Ungleich-
heit fortbesteht. Doch macht es schon einen gewaltigen Unter-
schied aus, ob die Überwindung des Privateigentums im Mittelpunkt
aller Forderungen der Bewegung steht oder ob nur zeitweise in der
Diskussion Erwägungen hierüber auftauchen, während das von
den Führern am leidenschaftlichsten gepredigte Ziel sich noch auf
1^0 Politische und soziale Lehrjahre in England.
politisch-demokratische Forderungen beschränkt. So aber lag
es noch beim Chartismus. Diese erste große Klassenbewegung des
modernen Industrieproletariats forderte in der berühmten Charte,
die ihr den Namen gab, ausschließlich die Demokratisierung der
Staatsgewalt. Ob sie sich hierfür auf Thomas Paine und William
Cobbett berief oder bis zu Locke und Rousseau zurückging, stets
und ausnahmslos entnahm sie ihre Argumente naturrechtlichen
Quellen. Sind aber auch naturrechtliche Gründe trefflich geeignet,
die Massen mit dem Glauben an die Gerechtigkeit ihrer Ansprüche
zu erfüllen, sie vermögen ihnen nicht die Gewißheit beizubringen,
daß der Sieg ihrer Sache in der Zukunft keinem Zweifel unterliegt.
Wenn Engels an den französischen Enzyklopädisten kritisierte,
daß sie noch keine Übergänge machen konnten, wenn er in der
Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt nur erst den
, .vorletzten Schritt zur Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung der
Menschheit" sehen wollte, so drückte sich darin bloß seine tiefe
Überzeugung aus, daß es der dialektischen Philosophie, zu deren
Fahne er schwor, vorbehalten wäre, der Menschheit auf dem Weg
zu ihrer letzten Selbstbefreiung voranzugehen. Sollte also das re-
volutionäre Proletariat Englands, wie er mit vollster Bestimmtheit
anhaltend hoffte, der Träger jener großartigen Freiheitsverwirk-
lichung werden, so mußte es den Weisungen folgen, die ihm die
Philosophie Hegels und Feuerbachs gab.
Nun bestand ja aber abseits von der großen Klassenbewegung
des Proletariats und in dem entscheidenden Punkt, nämlich dem
des Klassenkampfes, sogar im Widerspruch zu ihr, im damaligen
England auch eine sozialistische Bewegung. Ihr drückte ein ein-
zelner Mann, der zukunftsgläubige Robert Owen, den Stempel seines
Genius auf. An seinen Namen knüpften sich, das hat Engels auch
noch nach Jahrzehnten willig anerkannt, alle wirklichen sozialen
Fortschritte, die damals und selbst noch später in dem Inselreich
zustande kamen. Im Innersten erschüttert durch die Auflösung
aller die Menschen verknüpfenden sozialen Bande und durch den
schrankenlosen Egoismus und Atomismus, den die industrielle
Revolution groß züchtete, hatte er lange nach einem Heilmittel
dagegen gesucht und schließlich geglaubt, daß sich dieses aus der
Krankheit selbst ablesen lassen müsse. Aus der großindustriellen
Betriebsart schöpfte er die Überzeugung, daß es bloß einer plan-
mäßigeren Leitung bedürfe, um auf genossenschaftlicher Grund-
lage die Solidarität der in furchtbarem Maße auseinanderstrebenden
Interessen herzustellen. Auf diese Weise wurde Owen der Apostel
des Genossenschaftswesens, der unermüdlich bestrebt war, aus
dieser auf Egoismus aufgebauten Welt zu einer auf dem entgegen-
Owen und der englische Sozialismus. 141
gesetzten wirtschaftlichen Prinzip beruhenden new moral world
den Weg zu weisen, indem er sozialistische Kolonien ins Leben
rief und so Oasen schuf, wo die sympathetischen Triebe des Menschen
sich frei auswirken und durch moralische und wirtschaftliche Erfolge
beweisen sollten, daß in Zukunft die Solidarität über den Egoismus
triumphieren werde. Das zentrale Problem der gesellschaftlichen
Not sah Owen bekanntlich darin, daß die ungeheure Steigerung
der Produktion nicht eine gleich starke Steigerung der Konsump-
tion ausgelöst hatte, und so leitete er alles Elend der bestehenden
Welt aus dem unzulänglichen Prinzip der Verteilung ab. Der Kampf
der Klassen, den der Chartismus predigte, ^ar in seinen Augen
nicht das Mittel, die Übel zu beseitigen; sein unerschütterlicher
Optimismus ließ ihn bei dem Glauben, daß es mit friedlichen Mitteln
gelingen müsse, jene prästabilierte Harmonie aller Interessen, an
deren Möglichkeit er nicht zweifelte, in die Wirklichkeit zu über-
tragen. Mit seiner Weltanschauung wurzelte Owen noch ganz in
dem Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts. Die Welt war
ihm ein großes Laboratorium, der Mensch eine komplizierte che-
mische Verbindung. Eine völlige Umgestaltung der Welt müsse
auch eine völlige Umgestaltung des Menschen ergeben, eine ver-
nunftgemäß2re Erziehung sein Wesen für ein Leben in der Genos-
senschaft geeigneter machen. Auf die überzeugende und werbende
Kraft seiner Ideen vertraute Owen so fest, daß er grundsätzlich
verschmähte, sich an die politischen und sozialen Leidenschaften
der Massen zu wenden. Ebenso fest wie der junge Engels glaubte
Owen, daß die Geschichte der menschlichen Unvernunft mit raschen
Schritten ihrem Ende zustrebte und der Tag der Wiedergeburt des
Geistes herannahte. Gefühlsmäßig zog sie beide ähnliches zum So-
zialismus hin. Aber über den Weg, dessen die Geschichte zu seiner
Ver v^ irklichung sich bedienen würde, machten sich beide grund-
verschiedene Vorstellungen.
Owen, nicht weniger als fünfzig Jahre älter als Engels, hatte
selbst einer großen Spinnerei vorgestanden und als Betriebsleiter
und Arbeitgeber den Weg zum Sozialismus gefunden. Den gleichen
Beruf und eine ähnliche Mission schien seine Zukunft auch
Engels zuzuweisen. Trotzdem bestand, so groß seine persönliche Ver-
ehrung für Owen damals war und auch später blieb, für ihn nicht
die Versuchung, sich dessen Anhängerschaft anzuschließen. Zu
deutlich empfand er den Gegensatz der Temperamente, der Welt-
anschauungen; auf den naturrechtlichen Idealismus Owens blickte
der Schüler Hegels wie auf einen primitiven, von der deutschen
Philosophie längst überwundenen Standpunkt herab; mehr be-
deuteten ihm noch dessen soziale Experimente, seine praktischen Er-
142 Politische und soziale Lehrjahre in England.
folge. Owens theoretischer Deduktion gestand er zwar ein „um-
fassendes" Bestreben zu, aber er erklärte sie für so dunkel und so
schlecht vorgetragen wie die Lehren eines „deutschen Philosophen".
Am meisten imponierte ihm dieses Engländers mutige Feindschaft
gegen die Kirche und die Theologen, daß er es wagte ,,Ehe, Religion
und Eigentum die einzigen Ursachen alles Unglücks seit Anfang
der Welt" zu nennen. Wegen ihres offenen Kampfes gegen die
verschiedenen Kirchen, überhaupt wegen ihrer Ablehnung der
Religion belobte er die englischen Sozialisten als grundsätzlicher und
praktischer als die französischen, die ihre sozialistischen Grund-
gedanken aus dem Christentum herauslasen und dieses, nachdem
Saint-Simon ihnen darin vorausgegangen war, einer Erneuerung
entgegenführen zu können hofften. Den stets von Tausenden be-
suchten sonntäglichen Veranstaltungen in der von Owens An-
hängern errichteten großartigen Manchester Hall of Science hat
Engels während seines Aufenthalts daselbst oft beigewohnt, und
das neuartige Bild, das sich hier vor ihm auf tat, hat im Anfang
auf ihn einen starken Zauber ausgeübt. Für den jungen Wupper-
taler mußte es wirklich ein neuartiger Eindruck sein, hier allsonn-
täglich mit Witzen gegen die Geistlichen gespickte Reden anzu-
hören, in denen die Christen schlechthin als ,, unsere Feinde" titu-
liert wurden.
Über die geschäftlichen Aufgaben, die der Sohn des Barmer
Chefs damals bei Ermen & Engels in Manchester zu erfüllen hatte,
wissen wir bisher nichts Genaues. Ein Glück ist es, daß wir besser
über die Tätigkeit unterrichtet sind, die er außerhalb des Kontors
entfaltete, und die, wie sie es für ihn war, auch für uns die wich-
tigere ist. Mit dem fest zupackenden Orientierungsbedürfnis, der
Frische und dem sicheren Instinkt, die ihm eigen waren, stürzte
er sich damals in seinen Freistunden in die englische Literatur der
Epoche und des Tages ; allein schon die Zeitungen und Zeitschriften,
die nicht wie im lieben Vaterlande eine ängstliche Zensur verhinderte,
von den öffentlichen Dingen anstandslos zu reden und denen die
hochgehenden Wogen der politischen und sozialen Kämpfe stets
eine Fülle bedeutenden Stoffes zuführten, waren ihm, der zu lesen
verstand, eine stets fließende Quelle der Belehrung, die er mit voller
Bewußtheit und mit sichtlichem Nutzen ausschöpfte. Das Studium
der englischen Vergangenheit, dem er sich, wie wir schon wissen,
eifrig hingab, sollte ihm helfen, noch gründlicher die Gegenwart
des Landes zu begreifen, seine Zukunft noch deutlicher zu erschauen.
Shelley war schon frühzeitig der englische Dichter gewesen, der
durch seinen Haß gegen Christentum und Königtum ihn vorzüg-
lich angezogen hatte. Damals hatte er Queen Mab zu übersetzen
Die Notwendigkeit ökonomischer Studien. 1^,3
begonnen. Auch jetzt reizte ihn aus der schönen Literatur beson-
ders alles, was, durch die Kämpfe der Zeit angeregt, auf diese zu-
rückwirkte, auf sie zurückwirken wollte. Was konnte ihn da
stärker packen als die Schriften Carlyles, die Romane Disraelis,
die Gedichte Elisabeth Brownings und Thomas Hoods ? Vernahm
er hier nicht den Widerhall der gewaltigen sozialen Erschütterung,
die das englische Land durchbebte und ihn, den Fremdling, un-
widerstehlich in ihre Kreise zog? Eine noch beredtere Sprache
führten vielleicht die Eindrücke, die sein tägliches Leben in Man-
chester ihm lieferte und denen er sich mit atemlosem Eifer überließ.
Mochte er aber von der Baumwollbörse oder von den Streif-
zügen durch die elenden Arbeiterquartiere, die er eifrig betrieb,
heimkehren, ihm konnte nicht entgehen, daß alles, was er erfuhr,
beobachtete und sammelte, für ihn selbst wie für die Mitwelt nur
dann die erwünschten Früchte tragen konnte, wenn er sich gleich-
zeitig energisch in der ökonomischen Literatur umsah, die in Eng-
land in Blüte stand und die er auf seinem bisherigen Bildungsweg
vernachlässigt hatte. Auf diese Weise also wurde die Kenntnis der
Volkswirtschaftslehre ihm plötzlich ebenso notwendig, ja fast noch
notwendiger als die der Philosophie, auf die er bisher fast allein
gebaut hatte und von deren Unentbehrlichkeit für ihn er auch
weiterhin überzeugt blieb.
Furchtbare Eindrücke müssen es gewesen sein, die an dem
industriellen Hauptort der damaligen Welt auf die empfängliche
Seele des jungen Engels einstürmten. Das starke soziale Ethos,
das in den Tiefen seiner Natur von Kindheit an seine Wirkung tat,
hat in der Geschichtsauffassung, die er hernach gewann, eine, wie
ihm dann dünkte, so vollkommene wissenschaftliche Auslösung
gefunden, daß er es danach in der Regel für entbehrlich hielt, seinen
Gefühlen in der Öffentlichkeit unmittelbaren Ausdruck zu geben.
Persönlich aufopfernd, uneigennützig und großen Idealen hin-
gegeben, hätte Engels die ganze Menschheit von Gesinnungen und
Trieben erfüllt gewünscht, die ein Zusammenwachsen und Zusam-
menwirken jedweder Bemühungen ermöglicht, ein Zurückdrängen
alles Auseinanderstrebenden, ein Emporzüchten alles Verbindenden
und Gemeinsamen erlaubt hätten. Doch die Welt war nicht so,
und sein unbestechlicher Blick, sein ruheloser Erkenntnisdrang,
seine ehrliche klare Natur wollten die Dinge nicht anders sehen, als
wie sie wirklich waren, mochten auch die eigenen Wünsche von
den Ergebnissen der eigenen Erkenntnis wenig erbaut sein. Aus
den engen, vielfach noch patriarchalisch gemilderten Zuständen
der Heimat plötzlich auf die Straßen Londons versetzt, war er er-
schrocken über ,,die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung
i^^ Politische und soziale Lehrjahre in England.
jedes einzelnen auf seine Privatinteressen", über die „Auflösung
der Menschheit in Monaden", die er überall wahrnahm. Mochte ein
Teil der sozialistischen Literatur, die er zuletzt daheim gelesen hatte,
ihm ähnliches schon verkündet haben, erst hier kam nun mit voller
Wucht die entsetzliche Erkenntnis über ihn, daß die ,, bornierte
Selbstsucht" das Grundprinzip der bestehenden Gesellschaft sei.
Und die Eindrücke der Weltstadt verstärkten die anderen und doch
so ähnlichen, die ihm in den englischen Fabrikstädten entgegen-
traten: ,, Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte
auf der einen und namenloses Elend auf der anderen Seite, überall
sozialer Krieg . . . überall gegenseitige Plünderung unter dem
Schutze des Gesetzes." Nirgends in der damaligen Welt war die
Verdrängung der Handarbeit durch die Maschine bereits so weit
gediehen, hatte die Teilung der Arbeit einen solchen Höhepunkt
erreicht wie in der englischen Baumwollindustrie. Nirgends ließ
sich aber auch die Not des Industrieproletariats schon in gleich vol-
lendeter Klassizität studieren wie hier in Manchester und seinen
Nachbarstädten. Mitgefühl und Erkenntnisdrang wiesen also dem
durch Kindheitserinnerungen wohl vorbereiteten Jüngling die gleiche
Richtung, als er nun an die Aufgabe ging, die soziale und ökono-
mische Lage der neuen Gesellschaftsklasse zu erforschen, an deren
Erlösung sich für ihn bereits die Befreiung der Menschheit knüpfte.
Je mehr sich bei ihm der Entschluß festigte, mit aller Kraft, die er
sein eigen nannte, an diesem Werke mitzuwirken, um so mehr
verdichtete sich ihm der Plan, die Eindrücke und die Kenntnisse,
die er hier erwarb und über die, wie er sich bewußt war, noch kein
anderer philosophisch geschulter Deutscher in solchem Umfang
verfügte, zu einem Buch zu verarbeiten. Das Gebiet, auf dem er
sich hier bewegte, war ja für die deutsche zünftige ökonomische
Wissenschaft noch ziemliches Neuland. Und je mehr sich nun
sein Gesichtsfeld verbreiterte, um so klarer und umfassender wurden
ihm die Begriffe, unter die sich ihm der Stoff gliederte. Nicht bloß
ein lokales, nicht bloß ein zufälliges, sondern ein typisches, zu
Folgerungen und Schlüssen berechtigendes Bild wollte er entwerfen.
Bald konnte er sich rühmen, Manchester genauer als die meisten
Einwohner, genau so gut wie die eigene Vaterstadt zu kennen.
Zum Schauen und zum Horchen von Hause aus begabt, sammelte
und sichtete er so ein weitschichtiges Material; doch währte sein
Aufenthalt in England nicht lange genug, als daß er hier bereits
daran hätte gehen können, es seinen Absichten entsprechend zu-
sammenzufassen und mit der Ausarbeitung zu beginnen.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob Engels während dieser
fünfzehnmonatlichen sozialen Lehrzeit in England sich stärker
Eindrücke in den Fabrikvierteln. 145
von dem dortigen Sozialismus oder vom Chartismus angezogen
gefühlt habe. Ab2r nur die Lückenhaftigkeit des Materials, über
das man bisher verfügt hatte, entschuldigt eine so unpsychologische
Fragestellung. Wir wissen jetzt, daß Engels schon aus Deutschland
die Überzeugung mitbrachte, daß die bloße politische Demo-
kratie das Elend der arbeitenden Klassen nicht aufzuheben ver-
möge, sondern daß erst die Überwindung des Privateigentums die
Emanzipation des Menschen vollenden werde. Er erkannte, daß die
Chartisten die Wirksamkeit der rein politischen Mittel noch über-
schätzten ; aber er vertraute, daß sie dies in kurzer Zeit einsehen und
daß eigene Erfahrung und die Macht der Umstände sie dann unfehl-
bar dem Sozialismus in die Arme treiben würden. Gleichzeitig
war er jedoch ein viel zu überzeugter Revolutionär, als daß die
unbedingt friedliche Taktik der englischen Sozialisten ihm nicht
widerstreben mußte. Mit so regem Interesse er ihre genossen-
schaftlichen Experimente verfolgte, so wenig verbarg er weder
ihnen noch sich selbst, daß diese nicht mehr als Experimente be-
deuteten, denen einiger Wert für die Zukunft aber kein beträcht-
licher für die Gegenwart zukäme. Weil er unverrückbar an
der Überzeugung festhielt, daß das ihm vorschwebende Endziel
zum mindesten in England nur auf gewaltsamem Wege erreichbar
sei, mußte Engels der doppelte Wunsch beseelen, daß der Chartis-
mus sich mit sozialistischem Geist erfülle und der Sozialismus
sich mit chartistischer Energie durchtränke. Die eine Richtung
dünkte ihm in der Theorie, die andere in der Praxis weiter fort-
geschritten. Beide hatten seine Sympathie, doch keiner verschrieb
er sich. Seine Hoffnung war auf ihre Verschmelzung eingestellt.
Mit der gleichen Aufmerksamkeit und der gleichen Lernbegierde
verfolgte er den Northern Star, das Blatt der Chartisten, und The
New Moral World, das Organ der Sozialisten, und auch um die per-
sönliche Bekanntschaft von führenden Männern beider Richtungen
finden wir ihn eifrig bemüht.
Wir wissen, daß er bei den Sozialisten Beziehungen besonders
zu dem Lecturer John Watts in Manchester gewann, dem „Schnei-
der und Doktor der Philosophie", wie er im Heiligen Max be-
titelt wird, der, ganz von Humes Skeptizismus beherrscht, mit Vor-
liebe über die Existenz Gottes philosophierte aber auch national-
ökonomische Fragen gern erörterte und über seine Lieblingsthemata
Broschüren veröffenlichte. Später hat sich ihm dieser John Watts
als ein ziemlicher Spießbürger enthüllt; damals betrachtete er ihn
noch als einen recht bedeutenden Mann und liebte um so mehr
mit ihm zu diskutieren, als dieser es anscheinend verstand, von
anschaulichen Tatsachen auszugehen und auf deren Boden seine
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 10
146 Politische und soziale Lehrjahre in England.
Gedanken grundsätzlich durchzuführen. Der Lecturer wollte sich
von dem philosophischen Milchbart aus Deutschland unter keinen
Umständen davon überzeugen lassen, daß die Existenz Gottes auch
noch auf anderen Wegen beweisbar sein könnte als durch greif-
bare Tatsachen. Seinerseits fühlte sich Engels keineswegs mehr
berufen, den Verteidiger Gottes abzugeben ; um so mehr aber lag
ihm an dem Prinzip der Dialektik, deren Notwendigkeit a priori
der biedere Watts nicht einzusehen vermochte. Seine platte
Praxis beruhigte sich vollkommen bei dem Argument, daß die
Existenz Gottes den nicht mehr interessieren könne, der dem
Glauben entsagt habe und daß diese Existenz überhaupt von dem
Augenblick an völlig gleichgültig werde, wo sie sich nicht durch
Tatsachen manifestiere.
Von den Chartisten suchte Engels damals James Leach auf,
der als Fabrikarbeiter in Manchester lebte und dank seiner Sach-
kenntnis und seines gesunden Menschenverstands unter der Ar-
beiterbevölkerung einen beträchtlichen Anhang hatte. Folgen-
reicher war es, daß er im Sommer 1843 auf der Redaktion des Nor-
thern Star in Leeds mit George Julian Harne y Beziehungen an-
knüpfte, der soeben unter O'Connors Ägide die Leitung dieses ein-
flußreichsten Arbeiterblatts übernommen hatte. Harne y war nur
drei Jahre älter als Engels, hatte aber schon eine bewegte politische
Vergangenheit hinter sich. In den Sturmjahren hatte er der äußer-
sten Linken der Chartisten angehört und sich, wie Engels bei den
Freien, den , »Girondisten** in der Partei widersetzt, Marat zu
seinem Helden erhoben und heroische Taten statt der Worte ver-
langt. Aber der verunglückte Generalstreik des Som.mers 1842
hatte ihm jetzt zu denken gegeben. Keine originale Kraft wie
O'Connor oder Lovett, an Einfluß sie nicht erreichend, an Bered-
samkeit ihnen nicht vergleichbar, war er doch unter den leitenden
Männern der Chartisten derjenige, der am wenigsten insulare
Scheuklappen trug und sich auch mit den politischen und sozialen
Zuständen des Kontinents vertraut gemacht hatte. Deshalb trat
er besonders in den Vordergrund, als nach der Mitte der vier-
ziger Jahre der Gedanke an den Zusammenschluß der Proletarier
aller Länder Boden gewann. Den Eindruck, den der deutsche Fabri-
kantensohn, als er zum ersten Male bei Harney anklopfte, diesem
zurückließ, hatte sich 54 Jahre später, als Engels starb, noch nicht
verwischt: Ein schlanker junger Mensch mit einem Gesicht von
fast knabenhafter Jugendlichkeit sei bei ihm eingetreten, dessen
Englisch trotz deutscher Geburt und Erziehung schon damals merk-
würdig korrekt gewesen wäre. Dieser habe ihm gesagt, daß er regel-
mäßiger Leser des Northern Star sei und sich für die Chartisten-
Anknüpfung mit Sozialisten und Chartisten. 147
bewegung eifrig interessiere. So habe ihre Freundschaft begonnen.
Und der greise Brite fügte hinzu, Engels sei noch mit 72 Jahren
ebenso bescheiden und ebenso geneigt gewesen, sich selbst in den
Hintergrund treten zu lassen wie damals, als er zweiundzwanzig-
jährig auf dem Northern Star vorsprach. Schlank und elastisch
ist Engels ja bis in sein Alter geblieben. Als ihn einige Jahre
später Leßner kennen lernte, fand er ihn eher einem jungen
schneidigen Gardeleutnant als einem Gelehrten gleichend.
Weil sein Verkehr mit Watts und anderen englischen Sozia-
listen Engels erkennen ließ, daß diese Insulaner von den Bestre-
bungen ihrer Gesinnungsgenossen auf dem Festland nicht einmal
die lückenhafteste Vorstellung besaßen, wollte er ihnen in ihrem
eigenen Leibblatt den Stand des kontinentalen Sozialismus dar-
legen. Der Aufsatz, der im November 1843 in The New Moral World
erschien, führte den Titel: Der Fortschritt der sozialen Reform auf
dem Kontinent. Er ist wichtig, weil wir aus ihm erfahren, wie weit
sein Verfasser die verschiedenen Strömungen innerhalb des Sozialis-
mus und Kommunismus damals schon genauer kannte und wie er sie
bewertete. Er bringt uns auch die Gewißheit, daß Engels jene re-
volutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, die zur Verwirklichung
der Gütergemeinschaft führen sollte, nicht bloß für England, wenn-
gleich hier zunächst, sondern mit derselben Notwendigkeit und
Unvermeidlichkeit auch in Frankreich und Deutschland nahen sah.
Gerade der Umstand, daß die Entwicklung in jedem dieser drei
Länder verschiedene Wege ging und dennoch in allen dreien dem
Kommunismus zustrebte, gab ihm die Gewißheit, daß der Geschichte
diese Bahn durch der modernen Zivilisation immanente Trieb-
kräfte gewiesen wurde. Die Unterschiede zwischen den Kom-
munisten der einzelnen Länder, die er nicht leugnete, erklärten
sich ihm daraus, daß die drei Völker die Überzeugung, die Zukunft
der Menschheit gehöre dem Kommunismus, auf verschiedenen Wegen
erlangt hätten, die Engländer durch die Praxis, die Franzosen durch
die Politik, die Deutschen durch die Philosophie. Aber ihre Über-
einstimmung hinsichtlich des Endziels führte ihn zu der Folgerung,
daß die noch vorhandenen Meinungsverschiedenheiten mit der
Zeit verschwinden würden, wie sie schon in der Gegenwart der An-
knüpfung der freundschaftlichsten Beziehungen nicht im Wege
stünden. Und diese Sympathien würden sich ganz von selbst her-
stellen, wenn die Kommunisten eines jeden der drei Länder erst
von den Bestrebungen der Kommunisten in den anderen Ländern
wirkliche Kenntnis besäßen. Danach schildert Engels in Kürze,
auf welchen Wegen sich in Frankreich und Deutschland die Ent-
wicklung zum Kommunismus vollzogen habe. Frankreich, führte
10*
14.8 Politische und soziale Lehrjahre in England.
er aus, sei in der Geschichte der Menschheit die Aufgabe zugefallen,
alle Formen der politischen Entwicklung durchzumachen, bevor
es in den Kommunismus einmünde. Seine große Revolution habe
das Aufkommen der Demokratie in Europa eingeleitet; aber die
politische Demokratie für sich allein sei ein Widerspruch in sich
selbst, sei ,, Heuchelei", sei ,, Theologie" im Sinne Feuerbachs und
Bruno Bauers. Politische Freiheit, selbst politische Gleichheit be-
deuteten in der Wirklichkeit noch nicht viel anderes als Sklaverei.
Jede Art von Regierung enthalte einen Widerspruch, der auf eine
Lösung hindränge und der ent-weder zum unverhüllten Despotismus
oder zu jener wahren Freiheit und Gleichheit führe, die nur der
Kommunismus erfüllen könne. Napoleon und Babeuf verkörperten
die beiden Pole, die in der französischen Revolution diese entgegen-
gesetzten Entwicklungsmöglichkeiten andeuteten. Über die Ver-
schwörung Babeufs konnte sich Engels kurz fassen, da O'Brien
schon 1836 Buonarottis bekannte Geschichte dieses Komplotts
ins Englische übertragen hatte. Babeufs Mißerfolg erklärte sich
ihm zu gleichen Teilen aus der Unreife der Zeitverhältnisse und
aus der Roheit und Oberflächlichkeit des damaligen Kommunis-
mus. Was er hierauf über den Saint-Simonismus auftischt, den er
nur als ,, Sozialpoesie" gelten lassen will, spricht, was uns wichtig
sein muß, nicht sehr dafür, daß er diesen damals schon aus erster
Quelle studiert hätte oder sich ihm gar verpflichtet fühlte. Die my-
stische Gewandung der Saint-Simonschen Schule stieß seinen hellen
Geist ab, und gegen ihr Verteilungsprinzip erhob er unter Berufung
auf Börne noch jetzt die gleichen Einwände, die er einst in den
Pariser Briefen gelesen hatte. Ungleich stärker waren seine Sym-
pathien für Fourier, der wissenschaftlicher und systematischer
denke, und, wenn auch ebenfalls nicht frei von Mystik, schon eine
wirkliche Sozialphilosophie gebe. Die optimistischen Grundgedan-
ken Fouriers hatten es ihm sogar förmlich angetan. Am meisten
entzückte ihn dessen ,, Entdeckung", daß es jedem Menschen ge-
trost überlassen bleiben dürfe, sich diejenige Beschäftigung, die
ihm selbst die liebste sei, zu wählen und daß nichtsdestoweniger
die Bedürfnisse aller ihre ausreichende Befriedigung finden würden.
War dies richtig, so war ja die Überflüssigkeit alles Zwanges nach-
gewiesen. Die Bsweise, die Fourier für die Notwendigkeit eines
freien genossenschaftlichen Zusammenwirkens der Menschen bei-
brachte, brauchten Lesern, die in Owen ihren Meister verehrten,
nicht erst ans Herz gelegt zu werden. Zu rügen fand Engels an
Fourier besonders, daß dieser am Privateigentum festhielt und nach
den heftigsten Deklamationen gegen die Schäden des freien Wett-
bewerbes die Konkurrenz mitsamt ihren schlim.men Begleitern am
Der Fortschritt der sozialen Reform auf dem Kontinent. 149
Ende dennoch zur Hintertür wieder hineinließ. Er tadelte auch,
daß Fourier ebenso wenig wie Saint-Simon (und wie Owen, was
er aber aus Klugheit unerwähnt läßt) seine Forderungen in der
Politik zur Geltung gebracht habe. Die Folge sei gewesen, daß
seine Lehre nur Gegenstand der Diskussion in privaten Zirkeln ge-
blieben, statt Gemeinbesitz der Nation geworden sei. Besonders
verfehlt erschien Engels diese Taktik in einem Land wie Frankreich,
wo ein Ideal wirkliche Bedeutung oder gar den Sieg nur auf dem
Weg über die Politik erlangen könne. Diese französische Eigentüm-
lichkeit hätte die kommunistische Partei Frankreichs begriffen.
Sie habe sich erst gebildet, als die Arbeiter nach der Julirevolu-
tion zu der Erkenntnis gelangten, daß nicht schon die Änderung
der Staat^form sondern erst der Umsturz der sozialen Ordnung ihre
Lage von Grund auf zu bessern vermöchte. Nach kurzen Mitteilun-
gen über die verschiedenen Geheimbünde, die in der zweiten Hälfte
der dreißiger Jahre in rascher Folge sich in der Wirksamkeit ab-
gelöst hätten, charakterisierte Engels eingehender Cabet, an dessen
ikarischem Kommunismus er selbstverständlich die starke Überein-
stimmung mit den Ansichten Owens kräftig betont. Auch hebt er
hervor, wie Cabet alles mögliche ausgeklügelt hätte, um die Frei-
heit des Individuums zu sichern, deren Gefährdung die Gegner
dem Kommunismus vorwürfen. Da ihm besonders viel daran lag,
die englischen Arbeiter in dem Glauben an die Möglichkeit einer
streng legalen Revolution wankend zu machen, so suchte er ihnen
an dem Gang der französischen Geschichte zu erläutern, weshalb
die dortigen Kommunisten republikanisch gesinnt wären, sich zu
Geheimbünden hingezogen fühlten und vor der Anwendung der
Gewalt zur Erreichung ihrer Zwecke nicht zurückschreckten. Eben
hatten ihn selbst Schapper und Moll vergebens zum Eintritt in den
Bund der Gerechten bestimmen wollen, er spricht sich hier grund-
sätzlich gegen geheime Gesellschaften aus, deren gesetzwidriges
Bestehen überflüssiger Weise den Verfolgungen den Mantel der
Gesetzmäßigkeit umhänge. Die revolutionäre Taktik der Franzosen
suchte er seinen Lesern auch durch den Nachweis annehmbar zu
machen, daß die französische Verfassung und Gesetzgebung die
Unterdrückung der Armen durch die Reichen sanktionierten und
daß die Errichtung kommunistischer Kolonien nach englischem
Vorbild dort weder erlaubt noch am Platze wäre. Dem französischen
Nationalcharakter käm.e nämlich wenig auf den Nachweis an,
daß Pläne wie die Owens überhaupt durchführbar seien, ihm
läge wenig daran, daß ihm die Gangbarkeit, um so mehr aber, daß
ihm die Gerechtigkeit eines Weges bewiesen werde. Man müsse
ihm also zeigen, weshalb Freiheit und Gleichheit allein durch den
jto Politische und soziale Lehrjahre in England.
Kommunismus ihre Verwirklichung finden könnten. Engels ver-
hehlt nicht, wie sehr es ihn ärgerte, daß die Franzosen noch immer
gern Kommunismus und Christentum identifizierten. Sollte er
unter Schmerzen von der Religion seines Vaterhauses sich frei ge-
kämpft haben, nur um auf diesem Umwege zu ihr zurückkehren
zu müssen ? Dsr christliche Sozialismus eines Lamennais war so
wenig nach seinem Geschmack wie das ,, Armesünder Christentum"
des deutschen Handwerkerkommunismus. Daß einige Stellen der
Bibel sich im Sinne der neuen Heilslehre auslegen ließen, brauchte
er noch weniger zu leugnen als sein Antipode Heinrich Leo, der
sich damit tröstete, daß ,,ein Glas Wein in eine Jauche gegossen,
sofort aufhört Wein zu sein und Jauche wird". Aber er war der
Ansicht, daß der allgemeine Geist der heiligen Schrift dem Kommu-
nismus ,,wie jeder vernünftigen Maßregel" durchaus entgegen-
gesetzt sei. Von größerer Bedeutung erschien es ihm, daß Pierre
Leroux und George Sand, die ,, mutige Vorkämpferin für die Rechte
ihres Geschlechts", dem Kommunismus Sympathien entgegen-
brachten. Als das bedeutendste und am meisten philosophische
Werk, das es in französischer Sprache zugunsten des Kommunismus
gäbe, preist er Proudhons Qu 'est ce que c'est la Propriete?, ein
Werk, das er später getadelt hat, weil es die bestehenden gesell-
schaftlichen Verhältnisse nicht hinreichend kritisierte, das er aber
J2tzt recht bald den Engländern durch eine Übersetzung zugänglich
gemacht zu sehen wünschte, da kein anderes mit gleicher Kraft
des Geistes und mit gleich echter Wissenschaftlichkeit das Wesen
des Privateigentums aufgedeckt und dessen Widersprüche dadurch
enthüllt habe, daß es dartat, wie Konkurrenz, Unsittlichkeit und
Elend mit Notwendigkeit aus ihm hervorgingen.
Proudhons anarchistische Theorie hat um die Zeit, als der
Klassencharakter des Staats Engels immer offenbarer wurde, auf
diesen einen sichtlichen Einfluß ausgeübt. Dennoch hat er sie in
The New Moral World nur kurz auseinandergesetzt, weil er sie
ausführlicher erst im Zusammenhang mit dem deutschen Kom-
munismus zu behandeln gedachte, wozu er nachher nicht
gekommen ist. Von dem ,, nahen Untergang des Staats", dessen
, .Aushöhlung", dessen ,, Unmenschlichkeit", ist in Engels Auf-
sätzen und Schriften damals bereits häufiger die Rede. Ähnliches
hatte Proudhon und längst vor ihm schon Godwin, der von Engels
einmal erwähnt wird, gepredigt; doch mehr als alle literarischen
Einflüsse bestärkte Engels in dieser Auffassung wohl die ihm so
überraschend gekommene Erkenntnis von der Überlegenheit der
wirtschaftlichen über die politischen Kräfte. Bei ihm die Hoch-
wertung der tragenden weltgeschichtlichen Bedeutung des Staates
Einfluß Proudhons. 151
zu untergraben, war nicht so schwierig, da er sich an dem Staats-
kultus der Hegeischen Rechtsphilosophie niemals so wie die anderen
berauscht hatte. Erwies sich das Eigentum, und davon hatte
Proudhon ihn jetzt überzeugt, wirklich als das mächtigste Element
in der bisherigen Geschichte, als der Keim und der entscheidende
Grund aller Revolutionen, so ordnete sich naturgemäß nicht mehr
die Gesellschaft dem Staat, sondern der Staat der Gesellschaft, die
Politik der Gesellschaftswissenschaft unter, so war nicht der Staat
sondern die Gesellschaft die Sphäre, wo der Mensch ,, wieder zu sich
selbst kommen", wo ,,die freie Selbstvereinigung der Mensch-
heit" Wirklichkeit werden konnte. Nun begreifen wir sofort, wes-
halb bei Engels sich zunächst die Vorstellung festsetzte, daß der
,, christliche Staat" überhaupt die letzte mögliche Erscheinungs-
form des Staates sei und daß mit dessen Fall der Staat, diese ,, Angst
der Menschheit vor sich selber" verschwinden müsse. An seiner
Einschätzung des ,, ganzen Staatsplunders" als einer sozialen
Kategorie, die nicht ,,von Ewigkeit her" da gewesen sei und die
wieder verschwinden müsse, hat Engels von nun ab festgehalten.
Als sich bei ihm der weltanschauliche Konflikt endgültig in den
ökonomischen materialisiert hatte, erwartete er die Überwindung
des ganzen ,, Staates, also auch der Demokratie" von dem Siege der
alle Klassengegensätze aufhebenden proletarisch-kommunistischen
Revolution.
Den Ursprung der kommunistischen Bewegung in Deutschland
verfolgte Engels in seinem Überblick für The New Moral World
bis zu den Bauerkriegen hinauf. Dort erzählte er seinen Eng-
ländern, wie schon Thomas Münzer, auf den der populäre Kommunis-
mus so gern hinwies, sich für seine radikalen sozialen Forderungen
auf das Urchristentum berufen habe und wie Luther sich in poli-
tischer wie sozialer Hinsicht von den Vorurteilen seiner Zeit nicht
frei machen konnte. Ausführlicher schilderte er den Handwerker-
kommunismus, von dem in den englischen Zeitungen seit derVer-
haftung Weitlings in Zürich und dem Bericht Bluntschlis über die
Umtriebe in der Schweiz einige Male die Rede gewesen war. Weitling
preist er, wie wir schon wissen, als den Gründer des deutschen
Kommunismus, und dessen Junger Generation gibt er vor allen
französischen kommunistischen Zeitschriften, selbst vor Cabets
Populaire, den Vorzug. Selbstverständlich geißelt er die Parteilich-
keit des Züricher Polizeiberichts ; aber so wenig wie Moses Heß und
die anderen Gesinnungsgenossen verbirgt er die helle Schaden-
freude darüber, daß der vom deutschen Publikum vorher kaum
beachtete Kommunismus nun dank der Polizei zu einem Gegen-
stand allgemeinster Aufmerksamkeit geworden war. Für seinen
152 Politische und soziale Lehrjahre in England.
noch nicht durch Enttäuschungen zur Vorsicht gemahnten Enthu-
siasmus unterliegt es keinem Zweifel, daß die von Weitling ins
Leben gerufene Bewegung sich bald der ganzen deutschen Arbeiter-
klasse bemächtigt haben werde. Trotzdem setzte er noch größere
Erwartungen für den Sieg des Kommunismus als auf das Pro-
letariat auf die deutschen Intellektuellen, die er groteskerweise
nach sich und seinesgleichen beurteilte. Den Entwicklungsgang
des junghegelschen Denkens vom philosophischen über den politi-
schen zum sozialen Radikalismus seinen Lesern aus dem englischen
Kleinbürger- und Arbeiterstande gründlich verständlich zu machen,
wäre auf einen vergeblichen Versuch hinausgelaufen. So beschränkte
Engels sich auf knappe Andeutungen ; er preist Hegels Philosophie
als das umfassendste System, das es je gegeben habe, und nennt
es ihr besonderes Verdienst, daß es ihr gelungen sei, die vielen Ge-
biete, die sie in ihr Bereich zog, auf ein einziges Grundprinzip
zurückzuführen. Unangreifbar von außen her habe sie ihre Über-
windung nur von innen heraus erleben können. Die Kämpfe des
Jahres 1842 hätten den Junghegelianern zum Bewußtsein gebracht,
daß die konsequente Fortentwickelung der Gedanken des Meisters
zum Atheismus und Republikanismus hinleite. Der Führung
in diesen Kämpfen konnten sie sich bemächtigen, weil sie teils
direkt, teils indirekt die ganze liberale Presse zu ihrer Verfügung
hatten. Aber selbst ohne die Unterdrückung der Rheinischen
Zeitung und der Deutschen Jahrbücher hätte eine Bewegung, die
nur durch die Plötzlichkeit und Nachdrücklichkeit, mit der sie auf-
trat, Publikum und Regierung anfänglich überwältigte, am Ende
scheitern müssen; denn keine starke Partei stand hinter ihr, und
die große Masse der Bevölkerung, die auf einen radikalen Um.-
schwung noch nicht genügend vorbereitet war, blieb teilnahmslos.
Zum Glück traf es sich, daß die Fürsten und Machthaber ihres
Sieges nicht froh werden konnten. Gerade in demselben Augen-
blick, als sie hoffen durften, die republikanische Bewegung end-
gültig niedergeschlagen zu haben, erhob sich nämlich aus der Asche
der politischen Agitation der Kommunismus und wies sich als die
konsequente Fortentwickelung der junghegelschen Philosophie aus.
Eine philosophische Nation, wie es die deutsche sei, werde aber
auf einen Standpunkt niemals verzichten, von dem sich heraus-
gestellt habe, daß er aus ihrer eigenen Philosophie unvermeidlich
hervorgehe.
Auch in der Folgezeit lag es Engels sehr am Herzen, so
oft, so vollständig, so eindrucksvoll, bis alle Zweifel verstummen
müßten, den Tatbestand klarzulegen, daß der Kommunismus
der legitime Erbe der deutschen Philosophie sei. Hier jetzt im
Der Kommunismus als Erbe der deutschen Philosophie. 153
Northern Star sieht er die Aufgabe seiner Partei darin, „den
Nachweis zu erbringen, daß entweder alle philosophischen An-
strengungen des deutschen Volkes von Kant bis Hegel nutzlos,
schlimmer als nutzlos gewesen sind, oder daß sie in Kommunismus
auslaufen müssen ; daß die Deutschen entweder ihre großen Denker
verleugnen oder den Kommunismus annehmen müssen". Wie das
deutsche Volk sich in diesem Dilemma entscheiden werde, ist natür-
lich ihm nicht zweifelhaft. In Übereinstimmung mit Heß, der
sich in Grüns Anecdotis einige Monate später ähnlich ausdrückte,
setzte er seine Hoffnung für die Errichtung einer kommunistischen
Partei in Deutschland noch vornehmlich auf die Gebildeten. Die
Deutschen seien ein uneigennütziges Volk ; und wenn Prinzipien und
Interessen bei ihnen in Konflikt gerieten, so würden sie — den
englischen Arbeitern darf er freilich nicht sagen, daß er meinte
im Gegensatz zu den egoistischen Engländern — in den meisten
Fällen den Prinzipien den Vorzug geben. Die gleiche Liebe zum
abstrakten Prinzip, die gleiche Vernachlässigung der Realität und
des Eigeninteresses, die an der politischen Zersplitterung Deutsch-
lands die Schuld trügen, bürgten hier für den Sieg des philoso-
phischen Kommunismus. So merkwürdig es dem praktischen Sinn
der Engländer erscheinen werde, daß eine die Zerstörung des Privat-
eigentums anstrebende Partei Angehörige der besitzenden Klassen
zu ihren Gründern habe, so sei es dennoch wahr, daß in Deutsch-
land der Kommunismus aus Mitgliedern der akademischen und der
kaufmännischen Kreise seine Bekenner sammle. Moses Heß ver-
trat damals die Anschauung, daß in Deutschland im Gegensatz
zu Frankreich das „physische Leiden" kein wesentliches Element
in der sozialistischen Bewegung bilde. Es wäre ein von der Reak-
tion, namentlich von Stein, geschäftig verbreiteter Irrtum, daß der
Sozialismus nur aus dem Proletariat und bei diesem bloß aus
der Not des Magens hervorgehe. Die kommunistische Agitation
der heimkehrenden Handwerker stoße beim deutschen Proletariat
auf keinerlei Verständnis, und nur ,,eine durch ihre geistigen und
materiellen Mittel einflußreiche Minorität von Gebildeten" sichere
dem Kommunismus hier eine Zukunft. Nun brauchen wir zwar
nicht anzunehmen, daß Engels mit dieser Auffassung des von ihm
damals noch verehrten älteren Gefährten völlig übereinstimmte.
Immerhin ist es höchst merkwürdig, daß auch er, der in England für
den Sieg des Kommunismus bloß auf die revolutionäre Aktion der
Massen vertraute, in Deutschland, wo die Masse politisch und wirt-
schaftlich noch so rückständig war, zunächst stärker auf die theore-
tische Arbeit und die aus dieser entspringende kommunistische
^) ebd. S. 220.
154 Politische und soziale Lehrjahre in England.
Propaganda eines intellektuellen Vortrupps baute. Hieraus erklärt
sich die besondere Genugtuung, mit der er seinen englischen Lesern
berichtete, daß neuerdings in Deutschland alle Vorbereitungen
getroffen würden, um eine aussichtsvolle Agitation für soziale
Reformen zu entfalten, eine Zeitschrift zu gründen und den Umlauf
kommunistischer Literatur sicher zu stellen. Davon und von
vielem anderen, das ihn interessierte, wird Engels nähere Kenntnis
erhalten haben, als er im Sommer 1843 von Manchester aus einen
Abstecher nach Ostende machte. Wir wissen, daß er hier mit
Herwegh, der mit Fröbel und Rüge in nächster Verbindung stand,
zusammengetroffen ist. Auch Gervinus lernte er dort kennen,
aber dessen Bemühen, in dem jungen Revolutionär den Glauben
an die Möglichkeit eines freisinnigen, Deutschland nach innen
und außan fördernden Preußen zu beleben, hat keine Früchte
getragen.
Über den Fortgang jener radikalen Bestrebungen, an denen er
sich in Berlin so eifrig beteiligt hatte, hielt sich Engels selbstredend
auch jetzt fortgesetzt auf dem laufenden. Die Gründe, aus denen
er die Korrespondenz für die Rheinische Zeitung schon mit dem
Ende des Jahres 1842 einstellte, kennen wir nicht mehr. Vielleicht
durfte das bereits dem Tode geweihte Blatt es nicht mehr wagen,
Beiträge von so , »schlechter Tendenz", wie die seinen, der drei-
fachen Zensur, unter der es seufzte, zu unterbreiten. Als aber bald
darnach die Rheinische Zeitung und noch vor ihr die Deutschen
Jahrbücher zu erscheinen aufhören mußten, da fand sich auf
deutschem Boden erst recht kein Blatt mehr, das den Gedanken-
gängen eines Revolutionärs wie Engels die Spalten noch öffnen
konnte. Der Versuch, den preußischen Staat mit friedlichen Mitteln
auf die Bahn der Reformen zu lenken, war gescheitert, der Liberalis-
mus aufs Haupt geschlagen ; noch einmal triumphierte die Reaktion.
Von jenen Elementen aber, die sich zu der radikalen Opposition
des Jahres 1842 zusammengeschlossen hatten, schien das Feld
zunächst allein jener hochmütige Doktrinarismus zu behaupten,
der von Anfang an mit Widerwillen in die niedere Sphäre der Politik
hinabgestiegen war und nun selbstgefällig verkündete, alles sei so
eingetroffen, wie er es vorausgesehen habe. Die anderen, besonders
Rüge und Marx, die leitenden Köpfe der beiden zum Schweigen ge-
brachten Blätter, erachteten es für eitle Mühe, innerhalb der Grenzen
des deutschen Bundesgebiets eine publizistische Neugründung zu
versuchen. Marx zumal war fest entschlossen, sich fortan unter
deutscher Zensur nicht wieder schriftstellerisch zu betätigen. Er
kam also mit Rüge dahin überein, die Bestrebungen der Rheinischen
Zeitung und der Deutschen Jahrbücher verschmelzend, eine mit
Eroberungen des Kommunismus bei der deutschen Intelligenz. 155
offenem Visier kämpfende revolutionäre Zeitschrift auf auslän-
dischem Boden ins Leben zu rufen. Für die geschäftliche Durch-
führung eines solchen Planes stellte sich ihnen Julius Fröbel, der
leitende Kopf des Literarischen Comptoirs in Zürich, der Verleger
der Gedichte eines Lebendigen, der Anekdota und der Einund-
rwanzig Bogen aus der Schweiz, für die Engels 1842 seinen Aufsatz
über Friedrich Wilhelm IV. geschrieben hatte, zur Verfügung.
Nach manchem Schwanken wurde entschieden, die neue Zeit-
schrift in Paris und zwar möglichst unter Mitwirkung der führenden
Geister der französischen Demokratie erscheinen zu lassen. Für die
Zeit aber, welche die Vorbereitung eines so kühnen Unternehmens
erheischte, stellte Fröbel den deutschen Radikalen, damit ihnen
der Mund nicht verschlossen bliebe, den eben in seinen Verlag
übergegangenen Schweizer Republikaner zur Verfügung, der in
Zürich den Kampf gegen die von Bluntschli geleitete Reaktion
aufnehmen sollte. Wir erinnern uns, daß gerade in diesen Monaten
der Kommunismus in Deutschland zum erstenmal die öffentliche
Aufmerksamkeit stark auf sich lenkte. Bruno Bauer bezeugt, daß
er anfangs 1843 ein sehr verbreitetes Stichwort geworden war.
Görres erkannte ihn als die ,, äußerste Spitze der Verneinung" der einen
allgemeinen unsichtbaren Kirche Christi, und Heinrich Leo zeterte
gegen den moralischen Gossengeruch dieses ,, Seifenschaums aus der
Gosse". Leuten solchen Schlages galt schon das Programm, mit dem
Rüge sich von den Lesern der Deutschen Jahrbücher verabschiedet
hatte, als ein , »schwächlicher Schatten des Kommunismus". Weit
gründlicher als Rüge hatte sich aber inzwischen Marx in die neue Lehre
vertieft. Und Fröbel, der, von Moses Heß beeinflußt, das Heil der
nächsten Zukunft von der Verschmelzung des deutschen philoso-
phischen Radikalismus und des französischen Sozialismus erwartete,
sympathisierte in der Schweiz mit den kommunistischen Bestrebun-
gen. Als Gönner Weitlings schreckte er nicht davor zurück, zur
Mitarbeit an seinem Blatt, das Wert darauf legte, durch ,, aus-
gezeichnete politische Schriftsteller" von den Schicksalen der demo-
kratischen Schwesterparteien in England, Frankreich und Deutsch-
land zu erfahren, so entschieden Sozialrevolutionäre Geister wie
den mit Rüge befreundeten Bakunin und Friedrich Engels zuzu-
lassen. Im Juli 1843 hat der Republikaner ein Programm ver-
öffentlicht, wohl das erste sozialistische, das, wenn man von
Weitlings Blättchen absieht, in einer Zeitung deutscher Zunge
sich ans Tageslicht wagte. Wie von Engels, wurde hierin hervor-
gehoben, daß mit der Politik im engeren Sinne des Wortes für die
Befriedigung der schreienden Bedürfnisse eines wahrhaft mensch-
lichen Gesellschaftszustandes noch wenig oder nichts getan sei; es
1^6 Politische und soziale Lehrjahre in England.
beklagte die „niederträchtige Lieblosigkeit unseres öffentlichen
Lebens", das auf den Verhältnissen des Mein und Dein beruhe, und
sagte voraus, daß sich in der Menschenwelt ein Kampf vorbereite,
vor dem alle kleinen politischen Streitigkeiten verschwinden würden
wie das Gekeife einiger zänkischer Weiber vor dem Donner einer
Völkerschlacht. Auch über die Verstocktheit der Besitzenden, die
in England und Frankreich die Gesellschaft in zwei zum blutigen
Kampf bereite feindliche Heerlager teilte, wurde hier geklagt und
eine ,, allgemeine soziale Katastrophe" als unausbleiblich angekün-
digt, sobald das niedergetretene und niedergehaltene Volk auf die
so nahe liegende Entdeckung seiner ungeheuren Mehrzahl geriete
und sich zum Kampfe erhöbe. Die Rettung versprach der Repu-
blikaner sich von der Beseitigung jener „ökonomischen Hinder-
nisse", die der Entwickelung der Demokratie im Wege stünden.
Das war immerhin ein Programm, mit dem Engels sich befreunden
konnte, obgleich es Proudhons ,, Abschaffung des Private igentum.s"
und Weitlings ,, unfreie" Gütergemeinschaft mit der persönlichen
Freiheit und dem moralischen Wert des Menschen unverträglich
fand und den Kommunismus nur als Gegenpol des Egoismus,
das Eigentum aber als ein dem einzelnen von der Gesellschaft an-
vertrautes Lehen aufgefaßt sehen wollte.
Es lag nahe, daß Engels, den Fröbel aus seinem Beitrag für
die Einundzwanzig Bogen und aus seinem Christlichen Helden-
gedicht kennen mußte, der englische Korrespondent des radikalen
Blattes wurde. Er ist es freilich nicht lange geblieben: der erste
seiner übrigens aus London datierten Englischen Briefe erschien
am i6. Mai, der letzte schon am 27. Juni 1843. In Weitlings Kata-
strophe hineingezogen, mußte Fröbel von der Redaktion des Repu-
blikaner zurücktreten, als auch gegen ihn die Klage laut wurde,
mit den Kommunisten in politischer Verbindung gestanden und ihre
praktischen Zwecke gefördert zu haben.
Damit verlor Engels das letzte Blatt deutscher Sprache, dem er
die Fülle der Eindrücke, die er auf seinem Vorposten in Manchester
sammelte, in loser Form, wie der Tag sie brachte, anvertrauen
konnte. Die Auffassung von Englands Vergangenheit und Zukunft,
wie sie sich damals bei ihm bildete, hat er außer in seinen Korre-
spondenzen für die Rheinische Zeitung und den Schweizer Re-
publikaner noch in den Studien zu einem umfassenden geschicht-
lichen Werk über die soziale Geschichte Englands zum Ausdruck
gebracht, mit dem er sich längere Zeit getragen hat, das aber, wie
so viele seiner literarischen Projekte, nicht zum Abschluß gekommen
ist und von dem wir nichts besitzen als die unter dem Titel Die Lage
Englands in dem kurzlebigen Pariser Vorwärts im Spätsommer
Die Beiträge für den Schweizer Republikaner. icy
1844 zum Abdruck gelangten Vorarbeiten. Eine solche Darstellung
hätte damals sicherlich eine wissenschaftliche Lücke ausgefüllt:
in der Vorrede zu seinem Buch über den französischen Sozialismus
und Kommunismus hatte Lorenz Stein ausdrücklich eine Darstel-
lung der volkstümlichen englischen Gesellschaft und ihrer Geschichte
gefordert. An äußerer und innerer Geschlossenheit weit über
diesen flüchtiger hingeworfenen Skizzen standen aber die beiden
Abhandlungen, die neben der Lage der arbeitenden Klasse den
eigentlichen literarischen Ertrag von Engels erstem englischen
Aufenthalt darstellen. Für ihre Veröffentlichung kam ihm sehr
gelegen, daß das Erscheinen der von Marx und Rüge vorbereiteten
Zeitschrift nun unmittelbar bevorstand. Marx selbst wandte sich
an ihn um seine Mitwirkung; jenem war es nicht verborgen geblie-
ben, daß ihre Anschauungen und Überzeugungen seit der Kata-
strophe des politischen Radikalismus in Preußen sich in der gleichen
Richtung fortentwickelt hatten. So kam es, daß die ersten Arbeiten,
die Engels mit seinem wirklichen Namen vor der Öffentlichkeit ver-
trat, die ersten auch, die seine Eigenart voll entfaltet zeigten und
seinen literarischen Ruf bsgründeten, jetzt in den Deutsch-Fran-
zösischen Jahrbüchern erschienen.
Kapitel VII.
Die Arbeiten aus der Zeit des ersten eng-
lischen Aufenthalts.
Am liebsten hätte die preußische Regierung den Deutsch-
Französischen Jahrbüchern, die zum ersten und einzigen Mal Ende
Februar 1844 erschienen, schon vor der Geburt das Lebenslicht
ausgeblasen. Denn rechtzeitig hatten ihre öffentlichen und ge-
heimen Agenten in Paris ihr gemeldet, wie ernste geistige Kräfte
gegen sie und die Grundsätze, auf denen ihr Dasein ruhte, diesmal
zum Kampfe antraten. Übrigens war ihr nicht verborgen geblieben,
daß sich hier neben dem philosophischen und politischen auch der
soziale Umsturz zum Angriff rüstete. Wie wenig der Minister des
Inneren Graf Arnim-Boytzenburg die Gefährlichkeit dieses neuesten
Gegners unterschätzte, zeigte sein Erlaß über „die Unzulässigkeit
der Verbreitung kommunistischer Theorien durch den Druck" vom
Januar 1844, der unter Berufung auf ein Erkenntnis des Ober-
zensurgerichts ,,jene verderbliche Theorie" beschuldigte, ,,die
Heiligkeit des Eigentums, welche die Basis der politischen, sozialen
und sittlichen Ordnung aller Staaten ohne Unterschied der Regie-
rungsform bildet", aufheben zu wollen. Daß Bluntschlis berücht'gte
Kampfschrift gegen den Kommunismus der neuen Heilslehre keinen
Abbruch getan, sondern vielmehr ihr Gläubige in Fülle erworben
hatte, behaupteten damals nicht etwa bloß Engels und Moses Heß.
Auch der Gesandte Heinrich Friedrich von Arnim in Paris, der
das Treiben der dort weilenden Handwerksgesellen von Berufs wegen
scharf überwachte, berichtete es im September 1843 der preußischen
Regierung. Noch hatten zwar jene beiden Strömungen, aus deren
Vereinigung die deutsche Sozialdemokratie emporgewachsen ist,
nicht zu einander gefunden: der sich in realistischer, positivistischer
Richtung ummausernde philosophische Radikalismus und der herz-
hafte, elementare aber noch unbeholfene Kommunismus der wan-
dernden Handwerksgesellen. Aber einander zu suchen hatten sie
bereits begonnen; die Notwendigkeit dieses Bündnisses zwischen
Die Deutsch-Französischen Jahrbücher. 159
dem Vortrupp der revolutionären Intellektuellen und den Spitzen
der zum Klassenbewußtsein erwachenden Proletarier lag in der
Luft. Und Engels hatte sie, wie uns bekannt ist, schon klar erfaßt,
als ihm Marx Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie in den
Deutsch-Französischen Jahrbüchern für diese Notwendigkeit den
streng dialektisch formulierten Beweis erbrachte. Auf einen solchen
konnte der Jünger Hegels nicht verzichten, sollte er sich auf dem Weg,
den er bereits mit Entschiedenheit eingeschlagen hatte, sicher
fühlen. Als ihm jetzt diese Synthese bei Marx fertig entgegentrat,
überwältigte sie ihn, obgleich doch seine eigenen Beiträge für die
Jahrbücher, in denen die Eindrücke seines englischen Lehrjahrs
ihren wertvollsten Niederschlag gefunden haben, uns heute zeigen,
mit wie unentrinnbarer Folgerichtigkeit auch seine Geistesentwick-
lung diesem Ziele zutrieb.
Die Roheit und Demoralisation der englischen Arbeiter, die
zu beschönigen ihm nicht einfiel, hatten Engels, wie wir wissen,
nicht abgehalten, die Rettung des Inselreichs nur noch von diesem
,,auf dem Kontinent unbekannten Teil der Nation" zu erhoffen.
Und ebenso entsinnen wir uns seines Wohlwollens für die Bildungs-
bestrebungen des britischen Sozialismus, dem bekanntlich aus den
Reihen des Kleinbürgertums und der höheren Schichten der Arbeiter-
klasse seine Anhängerschaft zufloß. Unverhohlen verachtete der
Jüngling dagegen die englische Bourgeoisie, die in ihrem verhärteten
Materialismus den Egoismus zum allgemeinen Prinzip erhob und
als das einzige die Menschen zusammenhaltende Band gelten lassen
wollte. Sie schalt er unheilbar durch den Eigennutz verderbt, keines
Fortschritts mehr fähig, völlig verblendet gegen jede Bestrebung,
die nicht bares Geld abwerfe. Was hatten doch daheim die liberalen
Zeitungen von der Freiheit und Unabhängigkeit dieses englischen
Bürgertums hergemacht, und wie wenig entsprach nun die Wirk-
lichkeit jenem geschmeichelten Bilde! Gewiß, lächerlich wäre es
gewesen, wenn er hätte bestreiten wollen, daß die englischen Staats-
bürger in politischen Dingen sich einer Freiheit erfreuten, auf die
ein Untertan des preußischen Königs mit Neid blicken mußte.
Aber legte die Fesseln, die der Staat ihm lockerte, die Gesellschaft
dem Engländer nicht noch viel fester um? Ein so unabhängiger
Geist wie Engels mußte förmlich erschrecken über die geradezu
chinesisch abgeschlossenen Sitten dieses angeblich so freien Bürger-
tums, über die Uniformierung der Geister, die für alle Fragen nur
zwei Antworten zu kennen schienen, eine Whigantwort und eine
Toryantwort, über die widerspruchslose Herrschaft engbrüstiger
Schwunglosigkeit, der gegenüber ein jeder verloren war, der sich
den überkommenen Vorurteilen, zumal den religiösen, nicht so-
l6o Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
gleich fügte. Welchen "Wert, so mußte Engels sich fragen, hatten
denn Verfassung, Parlamentsdebatten, freie Presse, Wahlen und
sogar die stürmischen Volksversammlungen, die ihm so imponierten,
wenn ihnen nicht einmal die Kraft innewohnte, unabhängige Männer
hervorzubringen ? Um die edelste Form der Freiheit, um die geistige,
war es in dem Eldorado des Liberalismus, so dünkte es dem Jüngling,
nicht besser bestellt als in dem heimischen Muckertal. Obgleich
doch kein bevormundender Polizeistaat sie niederhielt, hatte es die
Freiheit der öffentlichen Meinung auch hier zu nichts anderem
gebracht als zur Herrschaft des öffentlichen Vorurteils. Davor sah
er den Engländer kriechen, ihm sich täglich aufopfern und je
liberaler er sein wollte nur um so demütiger. Mit seiner aufrichtigen
und jugendlich leidenschaftlichen Natur, die mit ihren Ansichten
nicht hinter dem Berg zu halten gewohnt war, hatte Engels bei der
englischen Respectability sicherlich unerfreuliche Erfahrungen ge-
macht, die aus seinen allgemeinen Betrachtungen deutlich heraus -
klingen. Wenn er einem gebildeten Engländer zu sagen wagte,
er wäre ein Chartist oder Demokrat, so wurde seine Gesellschaft
geflohen, an seinem gesunden Verstand gezweifelt. Erklärte er gar,
nicht an die Gottheit Christi zu glauben, so fühlte er sich verraten
und verkauft, und „gesteht vollends, daß ihr Atheisten seid und
man tut am anderen Tage, als kenne man euch nicht".
In dieser völlig absprechenden Beurteilung des englischen
Bürgertums, dessen niedriger Materialismus ihm an den Besuchern
der Baumwollbörse in Manchester abschreckend entgegengetreten
sein mochte, bestärkte nun den jungen Deutschen mächtig das
Bild, das gerade eben einer der ersten Schriftsteller Englands von
seinen Landsleuten entworfen hatte. Noch in der Lage der arbei-
tenden Klasse beruft Engels sich bei der Schilderung der eng-
lischen Bourgeoisie ausdrücklich auf Past and Present. In Carlyle
erkannte er den einzigen aus den gebildeten Schichten Englands,
den nicht nur neuerdings und bloß nebenher die ethische Seite des
großen sozialen Problems beunruhigte. Von allen Büchern, die dort
während seines Aufenthalts erschienen, durfte in seinen Augen
allein dieses den Anspruch erheben, daß er sich mit ihm vor dem
ernsthaften deutschen Publikum auseinandersetzte. Und dem
Bedürfnis, über das, was ihm mit Carlyle gemeinsam war und was
ihn von jenem trennte, mit sich ins klare zu kommen, verdanken
wir den schönen Essai: Die Lage Englands Past and Present by
Thomas Carlyle London 1843.
Noch mehr als Engels war der ein Menschenalter ältere Carlyle
in einer vom strengsten Kalvinismus erfüllten Umgebung auf-
gewachsen. Aber über den ernsten Schotten, der als Geschichts-
Kritik des englischen Bürgertums. l6l
Schreiber den Puritanismus so tief erfaßt hat, wurde nicht wie über
das rheinische Weltkind die Sehnsucht Herr, den Schatten jenes
düsteren Väterglaubens mit dem helleren, darum noch nicht wär-
menderen Licht der Weltlichkeit zu vertauschen. In Wesensart
und Anlage mit innigeren Banden an die Religion der Väter ge-
knüpft, empfand Carlyle das Bedürfnis, den tiefsten Gehalt des
neue Verkörperung suchenden Geists des alten Kalvinismus mit
dem seelischen Verlangen einer veränderten Zeit in Einklang zu
setzen. Aber das Medium, auf das er sich bei diesem kühnen Unter-
fangen verließ, war fast allein das eigene starke Innenleben. Deshalb
war ihm auch das Wesentliche an aller Religion die gläubige Ein-
stellung, nicht der Glaube an die Ewigkeit irgendeines Dogmas,
nicht einmal der Glaube an einen persönlichen Gott, sondern
schlechthin der Glaube an das Vorhandensein überpersönlicher
Werte. Jenen Glauben, der unter Cromwell England groß gemacht
hatte, sah er in seinen Tagen dahin schwinden. Materialismus
war die Weltanschauung, Utilitarismus die Ethik der herrschenden
Klasse geworden, und ein schrankenloser Atomismus ertötete
alle lebendigen Formen der Vergangenheit, ein brutaler Mammonis-
mus alles soziale Empfinden. Bedeutete nun aber Mammonismus
etwas anderes als Ideallosigkeit und wäre Ideallosigkeit nicht iden-
tisch mit Atheismus ? Gleich Goethe, dem er so Wesentliches ver-
dankt, gleich Saint-Simon, mit dem ihn so sichtbare Fäden ver-
binden, unterschied Carlyle in der Geschichte gläubige und durch
ihre Gläubigkeit fruchtbare von ungläubigen unfruchtbaren Zeit-
altern. Einreißend, negativ, chaotisch erschien ihm die eigene vom
Geist der französischen Revoludon beherrschte Gegenwart, bis
der deutsche Idealismus, der ihm ,,die Wiederherstellung Gottes"
anzeigte, auch die positive Seite seiner Epoche ihm enthüllt hatte.
Der große Religiöse, der er war, mochte immer gefühlt haben,
daß die seine Umgebung beherrschende atomistisch-mechanistische
Weltanschauung an ,,dem dunklen Punkt des Ich" scheitern müsse.
Aber vom ,, Albdruck des Materialismus" befreite ihn erst Kant,
Goethes Dasein und Werk befestigten in ihm den Glauben an die
Göttlichkeit des Lebendigen, Novalis stärkte sein Vertrauen, daß es
nichts Wirklicheres geben könne als die Seele, Fichte endlich
leitete den Strom des neuen Geists in die geschichtliche und gesell-
schaftliche Welt. Tiefsten Eindruck machte es auf Carlyle, daß
alle diese Deutschen die höchsten Weihen einem tätigen Leben
erteilten. So durfte auch er getrost die erlösende Kraft der
Arbeit aus der Sphäre Calvins in die Goethes mit hinübernehmen
und dies Symbol wie das andere von der Bekehrungsfähigkeit,
auf das er, sonderlich der Einzelseele zugewandt, nicht ver-
Mayer, Friedrich Engeis. Bd. I II
102 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
ziehten wollte, als fruchtbares Saatgut in die Furchen der Zu-
kunft streuen.
Mochte er sich zuweilen als den Arzt der kranken Zeit empfin-
den, so war doch Carlyle nur ihr Bußprediger. ,, Unter Schmerzen und
Feuerflammen" verkündigte er Englands Untergang, sofern es
nicht noch in letzter Stunde den Weg zur Einkehr fände. Die
Sommerinsurrektion von 1842 habe die Lebensfrage Englands auf
eine für jedes ,, denkende Ohr" hörbare Weise gestellt. Das Land
müsse sie beantworten oder untergehen.
Mit dem ,, partikularen Standpunkt" des ,, großen Rhapsoden"
wollte der junge Engels, den so vieles von ihm trennte, sich nicht
solidarisch erklären, aber dessen gewaltige Kritik hat ihn damals
aufs stärkste bewegt, aufs ersprießlichste befruchtet. Viele Stellen
in Fast and Present fand er so wunderbar schön, daß er sie für
seine deutschen Leser übersetzte, am meisten jene, die das Elend
des Proletariats veranschaulichten und die Unhaltbarkeit der
sozialen Schichtung der Gesellschaft zu beweisen trachteten. Car-
lyles Urteil über die Lage Englands sich aneignend und es zusammen-
fassend, blickte er auf eine faulenzende grundbesitzende Aristokratie,
auf ein die Arbeit nicht leitendes sondern nur ausbeutendes, dabei
völlig in Mammons Knechtschaft versunkenes Großbürgertum,
auf ein durch Bestechung gewähltes Parlament, auf eine ver-
schlissene, bröcklige Religion, auf eine totale Auflösung aller
allgemein menschlichen Interessen, auf eine universelle Verzweif-
lung an der Wahrheit und der Menschheit und als Folge aus alle-
dem auf eine vollständige Isolierung des Menschen auf seine rohe
Einzelheit. Und dieser völlig vermorschenden alten sozialen Ord-
nung gegenüberstehend, siebter dem Elend überlassen, unterdrückt
und vereinzelt die rebellische Arbeiterklasse. In der Beurteilung
der englischen Gegenwart stimmte er also mit Carlyle überein;
doch auch hinsichtlich der Zukunft und des einzuschlagenden
Wegs ? Noch gelten lassen will er jenes Behauptung, daß es kein
Universalmittel für die sozialen Übel gebe. Alle Sozialphilosophie,
fügt er von sich aus ergänzend hinzu, bleibe sehr unvollkommen,
,, solange sie noch ein paar Sätze als ihr Endresultat aufstellt".
Da wird gleich der ganze Gegensatz offenbar werden, der den
Politiker von dem Ethiker, den Revolutionär von dem Reformator,
den Dialektiker von dem voluntaristischen Pragmatiker, den Reali-
sten von dem Idealisten, den durch die englische Praxis ausgeweiteten
Deutschen von dem durch den deutschen Idealismus neu gebildeten
Engländer trennt. Sie schied im Denken, Urteilen und Empfinden
eine Kluft, die unüberbrückbarer noch war, als Engels selbst da-
mals annehmen m.ochte. Der bewußte Dialektiker wollte ,, nackte
Engels und Carlyle. iß^
Resultate ohne die Entwicklung, die zu ihnen hinführte", durchaus
nicht gelten lassen. Mochte Carlyle manches Wesentliche noch so
kräftig aussprechen: es blieb für Engels doch wie ein Schwert ohne
Griff, weil es nvu- für sich fixiert war und nicht wieder Prämisse
für eine weitere Entwicklung wurde. So turmhoch sich Carlyle
auch über die krasse Empirie des Durchschnittsengländers erhoben
hatte, der Zauberschlüssel der Identitätsphilosophie war nicht in
seiner Hand ; damit aber fehlte ihm in den Augen seines jungen
Kritikers die Möglichkeit, seinen Kampf wissenschaftlich zu führen.
Weil er nicht zur totalen Versöhnung des Gedankens und def
Empirie gelangte, bliebe er in einem schreienden Widerspruch
stecken, der allein zu lösen wäre, wenn er sich entschlösse, den
deutschen theoretischen Standpunkt bis zu seiner letzten Konse-
quenz hin anzunehmen. Unter dieser letzten Konsequenz ver-
stand aber Engels jetzt den Atheismus, wie ihn Feuerbach in huma-
nistischer Verbrämung verkündigte. In Feuerbachs Bann lebte
und dachte er jetzt so ausschließlich, daß er selbst in der sublimierten
Gestaltung eines Goethe und Novalis den Gottesbegriff Carlyle
nicht mehr durchgehen lassen wollte. Für ihn hatten Feuerbachs
Vorläufige Thesen zu einer Reform der Philosophie und Bruno
Bauers Entdecktes Christentum die Kritik des Pantheismus in so
erschöpfender Weise durchgeführt, daß ihm Carlyles „deutsch-
pantheistischer" Standpunkt nur noch als eine von der Entwick-
lung bereits überholte Vorstufe zu dem Standpunkt der Deutsch-
Französischen Jahrbücher galt.
Wo Carlyle über die Hohlheit des Zeitalters und über die
Fäulnis aller sozialen Institutionen klagte, da stimmte sein Kritiker
ihm aus vollem Herzen zu. Aber wo suchte jener die Quelle dieser
Unsittlichkeit, die alle Lebensverhältnisse verpestete ? Verkannte
er nicht völlig, daß die religiöse Heuchelei der Urtypus aller anderen
Lüge und Heuchelei war und daß er mit größerem Recht als über
die Gottlosigkeit über die Gotterfülltheit des Zeitalters hätte schelten
sollen ? Für die Frage : was ist Gott ? habe erst kürzlich die neueste
deutsche Philosophie die befriedigende Antwort gefunden: Gott ist
der Mensch; der Mensch habe sich nur selbst zu erkennen, alle
Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen
zu beurteilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahr-
haft menschlich einzurichten, so habe er das Rätsel der Zeit gelöst.
Carlyle behauptete, der Mensch, der seine Seele verloren habe,
fange jetzt an, diese zu vermissen. Richtig ausgedrückt würde dieser
Gedanke lauten: Der Mensch hätte in der Religion sein eigenes
Wesen verloren, aber erst seitdem der Fortschritt der Geschichte die
Religion erschüttere, offenbare sich ihm die eigene Leerheit und
II*
164 ^*^ Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
Haltlosigkeit. Sich retten und sein Wesen wieder erobern, könne
er nur, wenn er alle religiösen Vorstellungen gründlich überwinde
und preisgebe, also durch aufrichtige Rückkehr nicht zu Gott,
sondern zu sich selbst. Das seien schon Gedanken Goethes, den
Carlyle als den Propheten einer kommenden neuen Religion ver-
herrliche, und wer offene Augen habe, werde sie in seinen Schriften
entdecken. Die Entwicklung und Begründung dessen, was Goethe
nur unmittelbar, in gewissem Sinne also allerdings ,, prophetisch",
ausgesprochen habe, sei erst der neuesten deutschen Philosophie
gelungen. Wer wie Carlyle beim Pantheismus stehen bleibe, erreiche
nur die letzte Vorstufe zu einer freien menschlichen Anschauungs-
weise. Nicht weniger als der Schotte nahm auch Engels für sich in
Anspruch, die Haltlosigkeit und den geistigen Tod des Zeitalters
zu bekämpfen: ,,Mit allen diesen Dingen," ruft er aus, ,,führen
wir einen Krieg auf Leben und Tod, ebenso wie Carlyle, und haben
weit mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolgs für uns als er, weil wir
wissen, was wir wollen. Wir wollen den Atheismus, wie ihn Carlyle
schildert, aufheben, indem wir dem. Menschen den Gehalt wieder-
geben, den er durcj^ die Religion verloren hat . . . Wir wollen alles,
was sich als übernatürlich und übermenschlich ankündigt, aus dem
Wege schaffen, . . . denn die Prätension des Menschlichen und Natür-
lichen, übermenschlich, übernatürlich sein zu wollen, ist die Wurzel
aller Unwahrheit und Lüge. Deswegen haben wir aber auch der
Religion und den religiösen Vorstellungen ein für allemal den Krieg
erklärt und kümmern uns wenig darum, ob man uns Atheisten
oder sonst irgendwie nennt". Deutlich spürt man noch einmal hier
den Verfasser der Kampfschrift gegen Schelling. Engels verwirft
also Carlyles pantheistische Definition des Atheismus. Aber selbst
wenn diese richtig wäre, behauptet er, würden nicht er selbst und
seine Gesinnungsgenossen sondern ihre christlichen Gegner die
wahren Atheisten sein: ,,Uns fällt es nicht ein, die ,ewigen inneren
Ursachen des Universums' anzugreifen . . . Uns fällt es nicht ein,
,die Welt, den Menschen und sein Leben für eine Lüge' zu er-
klären . . . Uns fällt es nicht ein, die ,Offenbarung der Geschichte*
zu bezweifeln oder zu verachten, die Geschichte ist unser Eins und
Alles, und wird von uns höher gehalten, als irgend von einer andern
früheren philosophischen Richtung, höher selbst als von Hegel,
dem sie am Ende auch nur als Probe auf sein logisches Rechen-
exempel dienen sollte." So reklamierte er mit glühendem Pathos
den Inhalt der Geschichte, aber er wollte in der Geschichte nicht die
Offenbarung Gottes sondern des Menschen und nur des Menschen
sehen. Carlyles Vorstellung von der Geschichte als einem ewigen
Gottesbuch, in dem jeder Mensch Gottes Finger schreibend sehen
Gegen den Pantheismus. 165
könne, findet er ebenso gewaltsam wie dessen Wunsch, aus der
Arbeit, die ebenfalls eine rein menschliche Angelegenheit sei, einen
Kultus zu machen. Ihm widersteht es, fortwährend ein Wort in
den Vordergrund sich drängen zu sehen, das, im besten Fall nur die
Unendlichkeit der Unbestimmtheit ausdrückend, den Schein des
Dualismus aufrecht erhalte und die Nichtigkeitserklärung der Natur
und Menschheit in sich schließe. Weshalb erst die Abstraktion
eines Gottes herbeirufen, um die Herrlichkeit des menschlichen
Wesens zu sehen, um die Entwicklung der Gattung in der Ge-
schichte, ihren unaufhaltsamen Fortschritt, ihren stets sicheren
Sieg über die Unvernunft des einzelnen in voller Größe zu erkennen ?
Sei des Menschen eigenes Wesen nicht weit herrlicher und erhabener
als das imaginäre Wesen eines Gottes, der doch nur das unklare
oder verzerrte Abbild des Menschen ist ? Also argumentierte aus
dem jungen Engels Ludwig Feuerbach.
Auf die Entschiedenheit seiner Stellungnahme gegen Carlyles
Pantheismus hatte es sicherlich Einfluß, daß Engels dessen politische
Anschauungen, von denen er grundsätzlich abwich, in diesem
verwurzelt fand. Wie sehr hatte sich der Zeitgeist gewandelt, seit-
dem Robespierre den Atheismus als aristokratisch brandmarkte
und im Jakobinerklub das Votum erzwang, daß Gott und die Vor-
sehung die Grundlagen aller Politik seien! Engels verwirft den
Pantheismus gerade deshalb, weil dieser noch etwas Höheres aner-
kenne als den Menschen und weil, wer über ihn nicht hinausgelange.
Gefahr laufe, sich auch in der Politik vom Autoritätsglauben nicht
freimachen zu können. Bei Carlyle war die erbarmungslose Kritik
des einstigen Tory an der Gesellschaftsauffassung und den sozial-
politischen Unterlassungssünden der liberalen Partei ihm aus der
Seele gesprochen, aber mit seinem Aristokratismus vermochte er
sich nicht abzufinden. Daß die Entwicklung Englands auf die
Demokratie hinsteuere, bestritt nun auch der Verkünder der Helden-
verehrung nicht, aber er beharrte bei dem Glauben, daß die Neu-
organisierung des Chaos nicht durch die Masse selbst sondern nur
durch die captains of industry und andere geborene Herrscher-
naturen geschehen könne, die befähigt und deshalb berufen wären,
ihre Mitmenschen zu leiten. Und diese Auffassung verriet mehr
Kenntnis des Menschen und der Gesellschaft als die Weitlings,
der in seiner Halbbildung die Qualifikation zum Führertum von der
besten Lösung wissenschaftlicher Preisaufgaben abhängig machen
wollte. Es war eine geniale Erkenntnis Carlyles, daß er die Lösung
des Problems des Führertums in der modernen Demokratie als die
wichtigste Frage bezeichnete, die jem.als der Menschheit vorgelegt
worden wäre. Er blickte dabei tiefer als Engels, der darin nur Be-
l56 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
denklichkeiten sah, an denen er einfach vorüberstürmte. Mühelos
erledigte sich seinem unbekümmerten Optimismus das schwierige
Problem, dessen Bewältigung der Historiker der angestrengten Arbeit
von Jahrhunderten überantworten wollte. Hätte Carlyle, so meinte
er, den Menschen als Menschen in seiner ganzen Unendlichkeit
begriffen, so würde es ihm nicht eingefallen sein, die Menschheit
wieder in zwei Haufen: Schafe und Böcke, Regierende und Regierte,
Aristokraten und Canaille, Herren und Dummköpfe zu trennen,
so würde er die richtige soziale Stellung des Talents nicht im gewalt-
samen Regieren sondern im Anregen und Vorangehen gefunden
haben. Engels beschränkte die Aufgabe des Talents darauf, die
Masse von der Wahrheit seiner Ideen zu überzeugen, in die Wirk-
lichkeit übersetzen würden sich diese ganz von selbst ohne sein
Zutun. Unter dem Aspekt seines kommunistischen Ideals hatte
die politische Demokratie, wie wir wissen, für Engels nur die
Bedeutung einer Durchgangsstation. Carlyle wünschte, daß sie das
Tor einem vervollkommneten Aristokratismus öffne, er aber
wünschte, daß sie dem Reich wirklicher menschlicher Freiheit den
Weg ebne. Von neuem spüren wir hier die Berührung seiner Ge-
dankenwelt durch Proudhons frühe Schriften. Gerade kürzlich hatte
Moses Heß, der eifrige Pionier, der wiederum zur rechten Stunde
antrat, von Feuerbachs Humanismus zu Proudhons Anarchismus
die erste Brücke geschlagen.
So wenig wie mit der politischen Einstellung, konnte Engels
sich mit den praktischen Vorschlägen Carlyles zufrieden geben.
Ihm war es geradezu unfaßbar, wie jemand die Schwächen einer
auf freier Konkurrenz beruhenden Wirtschaftsordnung so scho-
nungslos aufdecken konnte und dennoch nicht zu dem Schluß ge-
langte, daß das Privateigentum die Wurzel alles Übels ist. Von der
Organisation der Arbeit, die Carlyle, von Saint-Simon angeregt,
empfiehlt, verspricht er sich solange nichts, wie nicht eine , »gewisse
Identität der Interessen" und damit der ,, einzig menschliche Zu-
stand" hergestellt wäre. Besonders verwunderte ihn auch, daß der
Engländer nirgends die englischen Sozialisten erwähnte, mit denen
ihm doch die Kritik der kapitalistischen Mißstände und die Ab-
lehnung jedes Klassenkampfes gemeinsam waren. Daß der roman-
tische Positivist unmöglich dem materialistischen Skeptizismus jener
Geschmack abgewinnen konnte, hätte ihn nicht abhalten dürfen,
sich mit der einzigen Partei, die in England eine Zukunft habe,
kritisch auseinanderzusetzen. Engels selbst ging einem Vergleich
beider Bestrebungen natürlich nicht aus dem Wege, aber er ge-
langte dabei zu dem Ergebnis, daß Carlyle so einseitig wäre wie die
Sozialisten. Beide hätten — wie ihr Kritiker sich noch streng
Kritik an Carlyle, 167
Hegelisch ausdrückte — den Widerspruch nur innerhalb des
Widerspruchs überwunden, ,,die Sozialisten innerhalb der Praxis, Car-
lyle innerhalb der Theorie, und auch da nur unmittelbar, während
die Sozialisten über den praktischen Widerspruch entschieden und
durch das Denken hinausgekommen sind." Engels stellte mit Be-
dauern fest, daß die englischen Sozialisten noch Engländer blieben,
wo sie bloß Menschen sein sollten, daß sie von der philosophischen Ent-
wicklung des Kontinents nur den französischen Materiahsmus, nicht
auch die deutsche Philosophie in sich aufgenommen hätten. Doch
wollte es ihm scheinen, als ob sie auf die Beseitigung dieser Lücke in-
sofern direkt hinarbeiteten, als sie die ,, Aufhebung der Nationalunter-
schiede" sich zum Ziel setzten. Weil der Gedanke an einen inter-
nationalen Sozialismus hier bei ihm erst in vager Form hervortritt,
so müssen wir uns um so mehr daran erinnern, daß gerade er
damals bereits eifrig am Werke war, eine Verständigung zwischen
den kommunistischen Bestrebungen der führenden Länder anzu-
bahnen und zu fördern. Und die Ansammlung zahlreicher freiheit-
lich gesinnter politischer Flüchtlinge aus den noch von der Restau-
ration beherrschten kontinentalen Staaten bereitete ja längst auf
englischem Boden die Atmosphäre vor, aus der heraus bald danach
die Vereinigung der Fraternal Democrats sich entwickeln und etwas
später das Kommunistische Manifest emporsteigen konnte.
Noch stärker im Wuchs, noch genialer im Wurf, noch eigen-
artiger in der Gestalt als der Essai über Carlyle waren die Umrisse
zu einer Kritik der Nationalökonomie, die zweite Abhandlung, die
Engels zu den Deutsch-Französischen Jahrbüchern beisteuerte.
Vielleicht weist sie auch noch unmittelbarer als die andere auf das
zentrale Erlebnis dieses englischen Lehrjahres hin. Auf den un-
verfälschten Blick und die einfache ungebrochene Seele des Jüng-
lings hatte es einen geradezu erschütternden Eindruck gemacht,
zu beobachten, wie hier im Mittelpunkt der damaligen Weltindustrie
neue technische Erfindungen eine grenzenlose Steigerung der Pro-
duktion hervorgerufen hatten und die Masse des Volks nichtsdesto-
weniger in Armut verkam, weil ihr die Mittel fehlten, sich die Er-
zeugnisse der eigenen Arbeit zum eigenen Verbrauch anzueignen.
Carlyle hatte darauf das Wort vom Midasfluch geprägt. Und war
es nicht in der Tat ,, wunderbarer als alle Wunder aller Religionen
zusammen, daß eine Nation vor eitel Reichtum und Überfluß ver-
hungern konnte" ? Sobald ihm aber erst diese Paradoxie des Systems
der freien Konkurenz in ihrer vollen Absurdität völlig zum Be-
wußtsein gekommen war, begann Engels, wie das so seine Art
war, sich rastlos umzutun nach Vorläufern wie nach Gefährten,
um bei den einen sich zu belehren, um mit den anderen zu beraten,
l68 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
wie der Lindwurm zu erlegen wäre. Wir bemerkten schon, daß er
sich, als er diese Notwendigkeit erkannte, auf die Schriften der
Nationalökonomen gestürzt hatte. Unsystematisch mag der führer-
lose Autodidakt bei deren Studium vorgegangen sein, wir erfahren
nicht genau, in welcher Reihenfolge er die Autoren kennen lernte,
doch wer weiß, was er sucht, bahnt sich auch soseinen Weg. Als er
an die Niederschrift der Um.risse ging, hatte Engels sich schon durch
eine Reihe der Hauptwerke der klassischen wie der gesellschafts-
kritischen Nationalökonomie Englands und Frankreichs hindurch-
gefunden und sich auch mit der vorhandenen Fachliteratur über
die englische Textilindustrie und ihre Arbeiterbevölkerung vertraut
gemacht. Aus diesen Studien glaubte er nun die Gewißheit erlangt
zu haben, daß das geist- und herzlose Räderwerk der freien Kon-
kurenz, dessen Beseitigung er so sehnlich herbeiwünschte, in den
Lehren Adam Smith und seiner Nachfolger seine Kodifizierung und
Heiligsprechung gefunden hatte. War es da nicht ein eitles Be-
mühen, auf die Aufhebung des Privateigentums, die einzige Maß-
regel, die nach seiner Ansicht jenen Midasfluch, der auf der bürger-
lichen Gesellschaft lastete, lösen konnte, zu hoffen, solange nicht diese
von dem englischen Bourgeois für unumstößlich gehaltene Lehre
von ihrem Thron gestoßen wäre ? Von neuem bezeugt es uns das
Draufgängertum und das noch unerschütterte Selbstvertrauen des
Dreiundzwanzigjährigen, der sich erst seit wenigen Monaten
in der Welt der volkswirtschaftlichen Probleme tummelte, daß er
sich selbständig an die Aufgabe wagte, die herrschende National-
ökonomie nicht bloß ihrer Mängel zu überführen, das hatte seit
Sismondi schon mancher getan, sondern sie vor dem Richterstuhl
der Dialektik, dem einzigen, zu dem er Vertrauen hatte, in aller Form
als ein ,, System des erlaubten Betrugs" zu entlarven.
Wie die politische Revolution war im achtzehnten Jahrhundert
seiner Ansicht nach auch die Revolution der Ökonomie im Gegen-
satz stecken geblieben. Wie jene vernachlässigt hatte, die Voraus-
setzungen des Staats zu prüfen, so hatte diese es unterlassen, nach
der Berechtigung des Privateigentums zu forschen. Zwar hatte es
einen Fortschritt bedeutet, daß die liberale Ökonomie den Kon-
sumenten ihre Gunst zuwandte, nachdem der Merkantilismus,
stets nur auf eine günstige Handelsbilanz bedacht, einseitig den
Produzenten begünstigt hatte. Zwar war es ein Fortschritt, daß man
nun den Handel als ein die Nationen wie die Individuen einigendes
Band betrachtete, nachdem dieser in der Merkantilzeit die Quelle
aller Kriege gewesen war. Aber die gleißende Philanthropie, zu der
die neue Ökonomie sich bekannte, war doch nur Trugwerk: sie war
genötigt ihre eigenen Voraussetzungen zu verraten und zu verleug-
Die Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. 169
nen, Sophistik und Heuchelei zu Hilfe zu nehmen, um die Wider-
sprüche, in die sie sich verwickelte, zu verdecken, um zu den
Schlüssen zu kommen, zu denen sie nicht durch ihre Voraussetzun-
gen, sondern durch den humanen Geist des Jahrhunderts getrieben
wurde. Doch machten sich diese Voraussetzungen bald genug
wieder geltend, und sie erzeugten in der Malthusschen Bevölkerungs-
theorie ein System der Verzweiflung, das alle jene schönen Redens-
arten von Menschenliebe und Weltbürgertum zu Boden schlug,
und in dem Fabriksystem eine moderne Sklaverei, die an Unmensch-
lichkeit und Grausamkeit der alten nichts nachgab. Trotzdem war
das auf Adam Smith Wealth of Nations gegründete System der
Handelsfreiheit ein notwendiger Fortschritt gewesen. „Es war not-
wendig, daß das Merkantilsystem mit seinen Monopolen und Ver-
kehrshemmungen gestürzt wurde, damit die wahren Folgen des
Privateigentums ans Licht treten konnten, es war notwendig, daß
alle diese kleinlichen Lokal- und Nationalrücksichten zurücktraten,
damit der Kampf unserer Zeit ein allgemeiner, menschlicher wer-
den konnte ; es war notwendig, daß die Theorie des Privateigentums
den rein empirischen, bloß objektiv untersuchenden Pfad verließ
und einen wissenschaftlichen Charakter annahm, der sie auch
für die Konsequenzen verantwortlich machte und dadurch die
Sache auf ein allgemein menschliches Gebiet herüberführte." Erst
die Begründung und Ausführung der Handelsfreiheit habe die
Möglichkeit geschaffen, ,,über die Ökonomie des Privateigentums
hinauszugehen". Dafür wäre man nun aber auch berechtigt, ,, diese
Handelsfreiheit in ihrer ganzen theoretischen und praktischen
Nichtigkeit darzustellen".
Weil Ricardo und Mill die dafür nötige Ehrlichkeit nicht auf-
gebracht hätten, nahm Engels für sich die Pflicht in Anspruch,
die Prämissen dieses ganzen Systems, über dessen Widersprüche
er sich klar geworden zu sein glaubte, der strengsten Prüfung zu
unterziehen. Die neuere Ökonomie, meint er, könne noch nicht
einmal das Merkantilsystem richtig beurteilen, weil sie selbst noch
mit dessen Voraussetzungen behaftet sei. Erst wenn man sich
über den Gegensatz dieser beiden Systeme hinweg auf einen Stand-
punkt erhebe, der die gemeinsamen Voraussetzungen beider kriti-
siere, ließe sich zeigen, daß die Verteidiger der Handelsfreiheit
schlimmere Monopolisten seien als selbst die Merkantilisten. Wie
die Theologie entweder zum blinden Glauben zurück-, oder zur
freien Philosophie vorwärtsgehen müsse, so müsse die Handels-
freiheit entweder die Restauration der Monopole, wie sich das neuer-
dings bei Friedrich List ankündige, oder die Aufhebung des Privat-
eigentums produzieren. Auf alle Fälle müsse die Inkonsequenz
lyo Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
und Doppelseitigkeit der liberalen Ökonomie sich notwendig wieder
in ihre Grundbestandteile auflösen. Ihr einziger positiver Fortschritt
war es gewesen, daß sie die Grenze des Privateigentums, wenn auch
nicht bis zur letzten Konsequenz, entwickelt und klar ausgesprochen
habe. In allen strikt ökonomischen Kontroversen, dort also, wo
es auf die Entscheidung über die kürzeste Manier, reich zu werden,
ankam, hatte sie deshalb auch das Recht auf ihrer Seite, wo ihr die
Monopolisten gegenüberstanden. Dagegen hätten die englischen
Sozialisten längst praktisch und theoretisch bewiesen, daß sie auch
in ökonomischen Fragen ökonomisch richtiger zu entscheiden
vermögen.
Bei seinem Wagnis, den durch das System der Handelsfreiheit
in die Nationalökonomie hineingekommenen Widerspruch zu ent-
hüllen und danach die Konsequenzen der beiden Seiten dieses Wider-
spruchs zu ziehen, nimmt Engels, dem es nun obliegt, die Grund-
kategorien dieser Wissenschaft zu prüfen, seinen Ausgangspunkt
vom Handel, den er aus eigener Anschauung und Tätigkeit genug-
sam zu kennen glaubte und über den ihm überdies Fourier kräftige
und von ihm enthusiastisch begrüßte Lichter aufgesteckt hatte.
Jeden Kaufmann, der der Wahrheit die Ehre geben wolle, ruft er
als Zeugen dafür an, daß es mit dem Handel in der Praxis nicht
besser gestellt wäre als in der Theorie, daß dieser nichts anderes
sei als legaler Betrug. Mit einer gewissen unbefangenen katho-
lischen Geradheit habe das Merkantilsystem das unsittliche Wesen
des Handels wenigstens offen zur Schau getragen, während seit
Adam Smith, dem ökonomischen Luther, protestantische Gleisnerei
dessen Sittlichkeit zu beweisen trachte. Diese Heuchler rühmten
sich ,,die Barbarei der Monopole gestürzt, die Zivilisation in ent-
fernte Weltteile getragen, die Völker verbrüdert, und die Kriege
vermindert zu haben". Ja, das alles haben sie getan, aber wie haben
sie es getan ? ,,Ihr habt die kleinen Monopole vernichtet, um das
eine großa Grundmonopol, das Eigentum, desto freier und schranken-
loser wirken zu lassen ; Ihr habt die Enden der Erde zivilisiert, um
neues Terrain für die Entfaltung Eurer niedrigen Habsucht zu ge-
winnen; Ihr habt die Völker verbrüdert, aber zu einer Brüderschaft
von Dieben, und die Kriege vermindert, um im Frieden desto mehr
zu verdienen, um die Feindschaft der einzelnen, den ehrlosen Krieg
der Konkurrenz, auf die höchste Spitze zu treiben! Wo habt ihr
etwas aus reiner Humanität, aus dem Bewußtsein der Nichtigkeit
des Gegensatzes zwischen den allgemeinen und individuellen In-
teressen getan ? Wo seid ihr sittlich gewesen, ohne interessiert zu
sein, ohne unsittliche, egoistische Motive im Hintergrund zu hegen ?'*
So abgeneigt finden wir Engels hier schon, der friedenfördernden
Kritik der liberalen Ökonomie. 17 1
Wirkung des Freihandels Anerkennung zu zollen ; und die Grenzen
zwischen egoistischen und sittlichen Handlungen zieht er fast mit
der gleichen Entschiedenheit wie einige Jahre vor ihm Schopen-
hauer in den Grundproblemen der Ethik.
Nachdem die liberale Ökonomie, so fährt er fort, ihr Bestes ge-
tan habe, um , .durch die Auflösung der Nationalitäten die Feindschaft
zu verallgemeinern, die Menschheit in eine Horde reißender Tiere —
und was sind Konkurrenten anders? — zu verwandeln", nach dieser
Vorarbeit beseitige sie mit der ,, Auflösung der Familie" durch
ihre ,, eigene schöne Erfindung, das Fabriksystem** die letzte Spur
gemeinsamer Interessen und vollende so deren ,, Isolierung**. Aber
ein Prinzip, einmal in Bewegung gesetzt, arbeite sich durch alle
seine Konsequenzen, mögen diese den Ökonomen gefallen oder nicht,
von selbst hindurch. Obwohl die Ökonomen selbst nicht wüßten,
welcher Sache sie dienten, bildeten sie mit allen ihren egoistischen
Räsonnements ein Glied in der Kette des allgemeinen Fortschritts
der Menschheit. Und sie bahnten mit ihrer Auflösung aller Sonder-
interessen nur den Weg für den großen Umschv/ung, dem das Jahr-
hundert entgegengehe, für die Versöhnung der Menschheit mit der
Natur und mit sich selbst. So bekannte sich Engels, deutlicher als
in dem Aufsatz des New Moral World, aber weit zurückbleibend
hinter der prägnanten Formulierung, die Marx für diesen großen
Gedanken fand, zu der evolutionistisch dialektischen Vorstellung,
daß das Weltalter des Kommunismus mit Notwendigkeit aus dem
gegenwärtigen herauswachsen werde!
Als die nächste durch den Handel bedingte Kategorie erscheint
ihm der Wert. Auch bei dieser schwierigen Materie macht er sich
anheischig, mit Hilfe seiner dialektischen Schulung den Dingen,
die eine unzulässige Abstraktion auf den Kopf gestellt habe, wieder
auf die Beine zu helfen und die einzelnen Seiten des Problems, die
gewaltsam auseinandergerissen und jede für das Ganze ausgeschrien
worden seien, wieder in eins zu fügen. Er sucht nachzuweisen, daß
der abstrakte Wert und seine Bestimmung durch die Produktions-
kosten Abstraktionen, nach Feuerbach also Undinge, wären.
Doch schon Bruno Hildebrand hat ihm entgegengehalten, daß er
im Irrtum sei, wenn er die englischen Nationalökonomen, nament-
lich Mac Culloch und Ricardo, einen abstrakten Wert aller Dinge
im Gegensatz zum Tauschwert aufsuchen lasse. Bekanntlich
hatten die Engländer den größeren Nachdruck auf die Produktions-
kosten, der Franzose J. B. Say auf die Brauchbarkeit gelegt. Beider
Wertdefinition findet Engels lahm und schon deshalb unbefriedigend,
weil sie nicht ohne den Begriff der Konkurrenz, den er beim Wert-
begriff eliminiert zu sehen wünschte, auskamen. Die Einseitigkeit
iy2 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
beider Auffassungen glaubte er überwunden zu haben, wenn er
den Wert als das Verhältnis der Produktionskosten zur Brauchbar-
keit definierte. Er sieht geradezu eine Unehrlichkeit darin, daß
die Ökonomen zwischen Wert und Preis nicht einen völlig scharfen
Trennungsstrich zogen. Von der Anwendung des Werts für den
Tausch könne erst die Rede sein, wenn entschieden wäre, ob die
Brauchbarkeit die Produktionskosten aufwiege. Diese Basis sei
die einzig gerechte Basis des Tausches. Aber selbst wenn man von
ihr ausginge, könne der Tausch nur durch Zwang zustande kommen;
wobei sich dann jeder für betrogen halte. Nur durch Aufhebung
des Privateigentums wäre Wandel zu schaffen, dann freilich werde
vom Tausch, wie er jetzt existierte, überhaupt nicht mehr die Rede
sein und die praktische Anwendung des Wertbegriffs sich immer
mehr auf die Entscheidung über die Produktion beschränken.
Die klassische Lehre von den Produktionskosten übernimmt
Engels in der Fassung Ricardos, die Kapital und Arbeit auf eine
identische Wurzel zurückführte. Er unterscheidet nur den natür-
lichen, objektiven Faktor, den Boden, und den menschlich sub-
jektiven, die Arbeit. Diese schließe das Kapital ein, aber auch
noch ein drittes Element. Darin bewies sich Engels als ein echter
Deutscher seiner Zeit, daß er neben dem physischen Element ,,der
bloßen Arbeit" dem geistigen Element ,,der Erfindung des Ge-
dankens" einen eigenen Platz unter den Elementen der Produktion
wie unter den Produktionskosten einräumte. Dem englischen Na-
tional äkonomen, meint er, seien ,,Land, Kapital, Arbeit die Be-
dingungen des Reichtums und weiter braucht er nichts. Die Wissen-
schaft geht ihn nichts an. Ob sie ihm durch Berthollet, Davy,
Liebig, Watt, Cartwright usw. Geschenke gemacht hat, die ihn
und seine Produktion unendlich gehoben haben — was liegt ihm
daran? Dergleichen weiß er nicht zu berechnen; die Fortschritte
der Wissenschaft gehen über seine Zahlen hinaus".
Unter der Herrschaft des Privateigentums, so spinnen sich
diese Gedanken weiter, habe alles, was nicht monopolisiert werden
könne, keinen Preis. Wäre der Boden so leicht zu haben wie die
Luft, so würde kein Mensch Grundzins zahlen. Ricardos Definition
der Grundrente wäre praktisch richtig, ,,wenn man voraussetzt,
daß ein Fall der Nachfrage augenblicklich auf den Grundzins reagiert,
und sogleich eine entsprechende Quantität des schlechtesten bebauten
Landes außer Bearbeitung setzte". Sie sei nicht haltbar, weil dies
nicht der Fall wäre und sie überdies die Kausation des Grundzinses
nicht einschließe. So sei sie ebenso einseitig und unzureichend wie
die des Adam Smith, die Oberst T. Perronet Thompson, das radikale
Parlamentsmitglied, kürzlich neu begründet habe. Wie bei dem
Die Widersprüche des Privateigentums. 173
Wertbegriff Ricardos und Says sei es nötig, zusammenzufassen, um
die richtige ,,aus der Entwicklung der Sache folgende und darum
alle Praxis umfassende Bestimmung zu finden". Deshalb definiert
Engels den Grundzins als das Verhältnis zwischen der Ertrags-
fähigkeit des Bodens, der natürlichen Seite (die wiederum aus der
natürlichen Anlage und der menschlichen Bebauung, der zur Ver-
besserung angewandten Arbeit besteht) — und der menschlichen
Seite, der Konkurrenz. Mögen die Nationalökonomen über diese
,, Definition" ihre Köpfe schütteln, sie würden zu ihrem Schrecken
wahrnehmen, daß diese alles einschließe, was auf die Sache Bezug
habe. Der Grundbesitzer habe dem Kaufmann nichts vorzuwerfen;
er raube, indem er den Boden monopolisiere. Das sei der letzte
Schritt zur Selbstverschacherung gewesen, als man die Erde ver-
schacherte, ,,die unser Eins und Alles, die erste Bedingung unserer
Existenz ist". Erst wenn man das Privateigentum am Grund und
Boden beseitige, reduziere sich der Grundzins auf seine Wahrheit,
und der als Grundzins vom Boden getrennte Wert desselben falle
dann in den Boden selbst zurück.
,, Wohin wir uns also wenden, das Privateigentum führt uns
auf Widersprüche" ; dieser ganz im Geiste Proudhons formulierte
Satz, das Leitmotiv seiner Kritik der Nationalökonomie, bewahr-
heitete sich Engels besonders, als er nun auf das Verhältnis von
Kapital und Arbeit zu sprechen kam. Wohl hatte die liberale
Nationalökonomie — eine Wissenschaft, die ,, unter den jetzigen
Verhältnissen" richtiger Privatökonomie hieße — die Identität
beider Faktoren erkannt; weil aber für sie die öffentlichen Bezie-
hungen nur um des Privateigentums willen da waren, hatte sie sich
dabei beruhigt, das Kapital als ,, aufgespeicherte Arbeit" anzuer-
kennen und jeden Versuch unterlassen, die Entzweiung der Arbeit,
die diese Definition offenbarte, zu überwinden.
Nachdem diese Trennung bewerkstelligt war, teilte sich das
Kapital nochmals in ursprüngliches Kapital und Gewinn und der
Gewinn wieder in Zinsen und eigentlichen Gewinn. In den Zinsen
wäre die Unvernünftigkeit dieser Spaltungen auf die Spitze ge-
trieben. Das unbefangene Volksbewußtsein, das in solchen Dingen
meistens recht habe, habe die Unsittlichkeit des Zinsnehmens,
dieses Empfangens ohne Arbeit, längst durchschaut. Die Trennung
von Kapital und Arbeit finde ihre Vollendung in der Spaltung der
Menschheit in Kapitalisten und Arbeiter, einer Spaltung, die alle
Tage an Schärfe zunehme und die sich, wie sich noch zeigen werde,
immer steigern müsse. Nun sind aber für Engels Boden, Kapital
und Arbeit inkommensurable Größen, und es erscheint ihm deshalb
verfehlt, den Anteil, der jedem der drei Elemente an dem fertigen
1^4 I^ie Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
Ertrag zukomme, herausrechnen zu wollen. Solange das Privat-
eigentum herrsche, sei dies nicht zu vermeiden, da entscheiden
zufällige Maße, da entscheide die Konkurrenz, das raffinierte Recht
des Stärkeren, über den Anteil. Die Arbeit, „die Hauptsache bei der
Produktion, die Quelle des Reichtums", die ,, freie menschliche
Tätigkeit" komme dabei schlecht weg. Wie vorher das Kapital
von der Arbeit getrennt wurde, so wird jetzt die Arbeit zum zweiten-
mal gespalten. Das Produkt der Arbeit tritt ihr als Lohn gegenüber
und wird, da es für den Anteil der Arbeit an der Produktion kein
festes Maß gibt, durch die Konkurrenz bestimmt. Erst mit der
Aufhebung des Privateigentums fällt diese unnatürliche Trennung
fort, die Arbeit ist dann ihr eigener Lohn, und die wahre Bedeutung
des früher veräußerten Arbeitslohns kommt an den Tag: die Be-
deutung der Arbeit für die Bestimmung der Produktionskosten.
So zeigt Engels, daß, solange das Privateigentum besteht,
die Konkurrenz die Hauptkategorie des Ökonomen bleibt. Ihr
,, Medusenantlitz" zu enthüllen, ist für ihn höchste Aufgabe, eifrigstes
Ziel, heiligste Pflicht. Schon hat er nachgewiesen, wie unter der
Herrschaft des Privateigentums die Produktion in zwei entgegen-
gesetzte Seiten, die natürliche und die menschliche, auseinander-
fiel, und wie sich die menschliche Tätigkeit von neuem in zwei
feindliche Hälften, Arbeit und Kapital, auflöste. Nun beweist er
noch, daß das Privateigentum weiterhin ziar Zersplitterung jedes
dieser Elemente führt, weil es jeden auf seine rohe Einzelheit
isoliert und die gleichen Interessen gerade um ihrer Gleichheit
willen verfeindet. In dieser Verfeindung der gleichen Interessen
gerade um ihrer Gleichheit willen vollende sich die Unsittlichkeit
des bisherigen Zustands der Menschheit ; und diese Vollendung ist
die Konkurrenz.
Die liberalen Ökonomen, so fährt Engels fort, hätten nicht
begriffen, einen wie hohlen Gegensatz sie konstruierten, als sie dem
Monopol, dem Schlachtruf der Merkantilisten, die Konkurrenz als
Schlachtruf entgegenstellten. Strebe nicht jeder Konkurrierende
nach dem Monopol, möge er Arbeiter, Kapitalist oder Grundbesitzer
sein? Müsse nicht jede kleinere Gesamtheit von Konkurrenten
wünschen, das Monopol für sich gegen alle anderen zu besitzen?
Die Konkurrenz beruhe auf dem Interesse, das Interesse erzeuge
das Monopol, die Konkurrenz gehe also in das Monopol über. (Wies
eine solche Betrachtung nicht schon in das Zeitalter der Kartelle
und Trusts hinüber ?) Der dialektische ,, Widerspruch" der Kon-
kurrenz enthülle sich darin, daß jeder einzelne das Monopol wün-
schen, die Gesamtheit als solche es aber bekämpfen müsse, daß also
das allgemeine und das individuelle Interesse sich hier diametral
Das Medusenantlitz der Konkurrenz. 175
entgegenstünden. Nun setze aber die Konkurrenz das Monopol
des Eigentums voraus ; deshalb sei es Heuchelei und jämmerliche
Halbheit, daß die Ökonomen, während sie die kleinen Monopole
angriffen, dieses Grundmonopol bestehen lassen wollten.
Auch bei der Konkurrenz findet Engels die beiden Seiten,
Nachfrage und Zufuhr, auseinandergerissen und in den schroffen
Gegensatz verwandelt. Der Zufuhr könne es nie gelingen, die
Nachfrage genau zu decken, weil in dem heutigen ,, bewußtlosen
Zustande der Menschheit" kein Mensch wisse, wie groß diese oder
jene ist. So herrsche eine stete Abwechslung von Irritation und
Erschlaffung, ein ewiges Schwanken, das allen Fortschritt aus-
schlösse. Doch das hindere die liberalen Ökonomen nicht, dieses Ge-
setz wunderschön zu finden. Sie ignorierten, daß es ein reines
Naturgesetz sei und kein Gesetz des Geistes, und sie übersähen,
daß es die Revolution erzeuge. Der Ökonom beweise mit seiner
schönen Theorie, daß nie zuviel produziert werden könne, die Praxis
antworte ihm trotzdem mit den Handelskrisen, die seit achtzig
Jahren so regelmäßig wiederkehrten wie die Kometen und mehr
Elend und Unsittlichkeit im Gefolge hätten als früher die großen
Seuchen. Zwar bestätigten auch diese Handelsrevolutionen das Ge-
setz von Nachfrage und Angebot, aber auf eine sehr andere Weise,
als die Ökonomen es glauben machen wollten. ,,Es ist eben ein
Naturgesetz, das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht.
Wüßten die Produzenten als solche, wie viel die Konsumenten be-
dürften, organisierten sie die Produktion, verteilten sie sie unter
sich, so wäre die Schwankung der Konkurrenz und ihre Neigung zur
Krisis unmöglich." Diese Erwägung führt Engels wieder zu seiner
Grundforderung zurück: ,, Produziert mit Bewußtsein, als Menschen,
nicht als zersplitterte Atome ohne Gatlungsbewußtsein, und ihr
seid über alle diese künstlichen und unhaltbaren Gegensätze hinaus.
Solange ihr aber fortfahrt, auf die jetzige unbewußte, gedankenlose,
der Herrschaft des Zufalls überlassene Art zu produzieren, so lange
bleiben die Handelskrisen; und jede folgende muß universeller, also
schlimmer werden als die vorhergehende, muß eine größere Menge
kleiner Kapitalisten verarmen, und die Anzahl der bloß von der
Arbeit lebenden Klasse in steigendem Verhältnisse vermehren."
Das aber müsse endlich eine soziale Revolution herbeiführen, wie
sie sich die Schulweisheit der Ökonomen nicht träumen lasse.
Vielleicht mußte manwiderseinen Willen Handelsangestelltersein
oder gewesen sein, um mit einem durch Haß aufs äußerste geschärften
Blick alle Auswüchse des Handels so bloßlegen zu können, wie
es Fourier gelungen war, dem Engels, in dieser Hinsicht noch Jahre
hindurch unter dem Einfluß des Franzosen, darin nacheiferte.
176 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
Doch auch auf die engUschen SoziaUsten beruft er sich, wo er hier
noch einmal in krassen Farben schildert, wie das ewige Schwanken
der Preise dem Handel vollends die letzte Spur von Sittlichkeit
entzieht, wie es einen jeden zum Spekulanten macht, der durch
den Verlust anderer sich bereichert und erntet, wo er nicht gesäet
hat, und wie die entsittlichende Wirkung der Konkurrenz in der
Börsenspekulation in Fonds ihren Kulminationspunkt erreicht,
weil hier ,,die Geschichte und in ihr die Menschheit" zum Mittel
herabgesetzt werde, um die Habgier der kalkulierenden oder hasar-
dierenden Spekulanten zu befriedigen. So stehe es um die Kon-
kurrenz gegenwärtig. In einem der Menschheit würdigen Zustande
beschränke sich diese ausschließlich auf das Verhältnis der Kon-
sumptionskraft zur Produktionskraft. Die Aufgabe, die Produk-
tionskraft mit der Masse der Konsumenten in ein Verhältnis zu
setzen, überläßt Engels wie Owen und Fourier der Gemeinde. Auf eine
generelle Regelung durch den Staat hinzudrängen, fällt ihm nicht ein.
Man weiß, daß die bürgerliche Nationalökonomie die Krisen
und das Elend in deren Gefolge aus der Malthusschen Bevölkerungs-
theorie erklären wollte, daß aber gegen diesen Erklärungsversuch
von Godwin und Hall bis Fourier alle jene sich aufgelehnt hatten,
die in dem optimistischen Glauben an die Verbesserungsfähigkeit
der menschlichen Einrichtungen sich nicht damit begnügten, als
naturgesetzlich hinzunehmen, was ihnen lediglich als Folge einer
fehlerhaften Gesellschaftsordnung erschien. Wir konnten nicht
bezweifeln, daß Engels mit seinem aus den Schriften des englischen
Sozialismus neu genährten Vertrauen in die unerschöpfliche und
durch die Fortschritte der Wissenschaft auch fernerhin höchster
Steigerung fähige Produktionskraft der Erde und mit seinem durch
Feuerbach bestärkten Glauben an die hohe Mission, die der Mensch
auf ihr zu erfüllen hätte, diese ,, infame, niederträchtige Doktrin**
auf das leidenschaftlichste ablehnte. Die Malthussche Theorie
erscheint ihm ebenso unsinnig, ja noch unsinniger wie die lebendige
Absurdität, die in dem Widerspruch von Reichtum und Elend zu
derselben Zeit sich enthülle. Sie bedeutet ihm ,,eine scheußliche
Blasphemie gegen Natur und Menschheit** und den würdigen
Schlußstein des liberalen Systems der Handelsfreiheit. Die unermeß-
liche Produktionsfähigkeit brauche ja nur mit Bewußtsein und im
Interesse aller gehandhabt zu werden, und die der Menschheit zu-
fallende Arbeit werde sich bald auf ein Minimum verringern. Mit
der Verschmelzung der jetzt noch isolierten Interessen würde der
Gegensatz zwischen Übervölkerung und Überreichtum verschwin-
den und damit zugleich die , .wahnsinnige Behauptung" sich er-
ledigen, daß die Erde nicht die ausreichende Kraft hätte, die Menschen
Gegen Malthus. lyy
2u ernähren. In dieser Behauptung erblickt der Jünger Bruno
Bauers und Feuerbachs die höchste Spitze der „christlichen Ökono-
mie" ( — ,,und daß unsere Ökonomie wesentlich christlich ist,
hätte ich bei jedem Satz, bei jeder Kategorie beweisen können
und werde es seinerzeit auch tun" — ) ; die Malthussche Theorie
wird ihm so schlechthin zu dem ,, ökonomischen Ausdruck für das
religiöse Dogma von dem Widerspruch des Geistes und der Natur
und der daraus folgenden Verdorbenheit beider". Lange genug
hatte er mit diesem Dualismus in der religiösen Sphäre gerungen,
nicht umsonst an dessen Überwindung durch die Entwicklung von
Strauß bis Feuerbach persönlich regsten Anteil genommen; nun
hoffte er mit seinen Umrissen die Nichtigkeit des gleichen Wider-
spruchs auf ökonomischem Gebiet dargetan und der von der Theorie
zur Verwirklichung fortschreitenden Menschheit damit einen Dienst
erwiesen zu haben. Aber es hat ihm nicht genügt, die Malthussche
Theorie aus ethischen Erwägungen zu verurteilen; er wollte sie
auch ökonomisch widerlegen, um zu zeigen, wie sehr gerade sie
dem Sozialismus die stärksten Argumente für seine Forderungen
lieferte. Diese Lehre habe der Menschheit ihre tiefste Erniedrigung
enthüllt, indem sie ihr ihre Abhängigkeit vom Konkurrenzverhältnis
bewies und ihr zeigte, wie das Privateigentum den Menschen zu
einer Ware mache, deren Erzeugung und Vernichtung ebenso wie
die aller anderen Waren von der Nachfrage abhänge. Und diese
Erniedrigung der Menschheit sei nur zu beseitigen durch die Auf-
hebung des Privateigentums, der Konkurrenz und der entgegen-
gesetzten Interessen. Vorläufig kämpfe noch Kapital gegen Kapital,
Arbeit gegen Arbeit, Grundbesitz gegen Grundbesitz und jedes dieser
Elemente gegen die beiden anderen. In solchem Kampfe siegen
müsse der Scärkere: Grundbesitz und Kapital seien stärker als die
Arbeit, denn um zu leben müsse der Arbeiter arbeiten, während der
Grundbesitzer seine Renten, der Kapitalist seine Zinsen habe.
Die Folge davon wäre, daß der Arbeit nur das Allernotdürftigste,
die nackten Subsistenzmittel, zufielen, während der größte Teil
der Produkte sich zwischen dem Kapital und dem Grundbesitz
verteile. Nicht weniger überlegen sei das stärkere Kapital und der
größsre Grundbesitz dem geringeren Kapital und dem kleineren
Grundbesitz. Sie verschlängen jene nach dem Recht des Stärkeren.
Und in Handels- und Agrikulturkrisen ginge diese Zentralisation
des Basitzes noch viel rascher vor sich. Wir finden Engels hier
schon völlig vertraut mit dem zuerst wohl von Sismondi formu-
lierten Gesetz von der Einschnürung der gesellschaftlichen Pyramide,
das nachher im Kommunistischen Manifest seinen bedeutsamen
Platz erhielt. Er bezeichnet es als ein, wie alle anderen, dem Privat-
May er, Friedrich Engels. Bd. I 12
1^8 Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
eigentum immanentes Gesetz, daß die Mittelklassen immer mehr
verschwinden müßten, bis die Welt nur noch in Millionäre und
Paupers, in große Grundbesitzer und arme Tagelöhner geteilt wäre.
„Alle Gesetze, alle Teilung des Grundbesitzes, alle etwaige Zer-
splitterung des Kapitals hilft nichts — dies Resultat muß kommen
und wird kommen, wenn nicht eine totale Umgestaltung der so-
zialen Verhältnisse, eine Verschmelzung der entgegengesetzten
Interessen, eine Aufhebung des Privateigentums ihm zuvorkommt."
Noch einmal faßt er das Ergebnis seiner Anklage zusammen:
die freie Konkurrenz, die alle unsere Lebensverhältnisse durch-
drungen und die gegenseitige Knechtschaft, in der die Menschen
sich jetzt hielten, vollendet habe, sei dem Untergang geweiht.
Zwar stachele sie unsere alt und morsch werdende soziale Ordnung
„oder vielmehr Unordnung" immer wieder zur Tätigkeit auf, aber
bei jeder neuen Anstrengung verzehre sie auch einen Teil der sin-
kenden Kräfte. Selbst das moralische Gebiet verschone die Kon-
kurrenz nicht. Die Regelmäßigkeit, die in der von Quetelet ge-
pflegten Verbrecherstatistik zutage trat, schien Engels zu beweisen,
daß die Gesellschaft sogar eine Nachfrage nach Verbrechen erzeuge^
und daß dieser durch eine angemessene Zufuhr entsprochen werde.
Zu so tiefer Degradation habe das Privateigentum die Menschen
geführt. Ja selbst der Fortschritt der Wissenschaft richte sich unter
den jetzigen Verhältnissen gegen die Arbeit. Die letzte große Er-
findung der Baumwollspinnerei, die Selfacting Mule, habe in großem
Umfang Handarbeit durch mechanische Kraft ersetzt und damit
den letzten Rest von Kraft vernichtet, mit dem die Arbeit noch
den ungleichen Kampf gegen das Kapital ausgehalten habe. Das
Argument der liberalen Ökonomen, daß im Endresultat die Aus-
breitung der Maschinen dennoch dem Arbeiter zugute komme, sei
nicht stichhaltig, solange die Erzeugung der Arbeitskraft durch die
Konkurrenz reguliert werde und die durch unsere Zivilisation
unendlich gesteigerte Teilung der Arbeit den Arbeiter noch ,,an
dieser bestimmten Maschine für diese bestimmte kleinliche Arbeit"
festbanne. Aber die Wirkungen des Fabriksystems, von dessen
Unsittlichkeit er tief durchdrungen war, gehörten für ihn nicht
mehr in den Rahmen dieser theoretischen Untersuchung. An
anderer Stelle gedachte er ,,die Heuchelei des Ökonomen, die hier
in ihrem vollen Glänze erscheint", schonungslos aufzudecken.
Wir wissen von Engels selbst, daß sein Essai über Carlyles
Past and Present nur eine allgemeine Einleitung zu der bereits er-
wähnten breiteren Darstellung der Lage Englands sein sollte,
die er nach dem schnellen Eingehen der Deutsch-Französischen
Jahrbücher in dem ebenfalls sehr ephemeren Pariser Vorwärts
Die Lage Englands. lyg
Teröffentlicht hat. Aber auch zu seiner Kritik der Nationalökono-
mie stehen diese Aufsätze, die an einem historischen Paradigma
die Richtigkeit der dort gezogenen Schlüsse erhärten sollten, in
einem so engen Zusammenhang, daß sich ihre wichtigsten Ergeb-
nisse, soweit sie nicht schon früher in die Darstellung verwoben
wurden, ihnen passend anschließen. Wir bemerkten schon früher,
wie stark es Engels im Anfang beunruhigte, als sich ihm die Beobach-
tung aufdrängte, daß scheinbar ganz andere Kräfte als auf dem
Kontinent in England das geschichtliche Leben beherrschten,
wie er aber der immanenten Vernunft der Geschichte zu fest ver-
traute, als daß er diese erste empirische Feststellung gleich für die
ganze Wahrheit genommen hätte. Unruhig bohrte er also dialektisch
und forschte er historisch so lange, bis sich ihm dieser Wider-
spruch aufzuhellen begann. Da ergab sich ihm etwa folgendes:
Bisher hätte nur England eine soziale Geschichte besessen. Nur
hier hätten sich die Prinzipien bereits, bevor sie auf die Geschichte
Einfluß erlangen konnten, in Interessen verwandelt. Während auf
dem Kontinent das soziale Element noch unter dem politischen
vergraben bliebe, wäre in England bereits alle Politik vom sozialen
Element beherrscht und erschiene bloß deshalb noch im politischen
Gewände, weil man vorläufig über den Staat noch nicht hinaus-
gekommen sei. Der größte Teil Frankreichs und besonders Deutsch-
lands befände sich noch in einem Zustande sozialer Kindheit, wo es
,,noch keine Gesellschaft, noch kein Leben, kein Bewußtsein, keine
Tätigkeit" gebe. England habe diesen Zustand, bei dem mehr das
politische Movens, der Zwang, als das soziale Movens, das Interesse,
die Menschen zusammenhalte, überwunden seit dem Auftreten des
modernen Industriefeudalismus, der die Spaltung der Gesellschaft
in Besitzer und Nichtbesitzer herausbildete. Damit verwandelte sich
alsbald alle innere Politik in „versteckten Sozialismus". Das sei
nämlich die Form, welche die sozialen Fragen annehmen, um in
allgemeiner nationaler Weise sich geltend machen zu können.
Die soziale Revolution habe das subjektive Interesse, das der aus
den Ruinen des Feudalismus erwachsene christliche Staat zum
allgemeinen Prinzip erhob, endgültig zum Herrscher gemacht. Die
von Rechts wegen der ganzen Menschheit gehörenden neu ge-
schaffenen Kräfte wurden durch das Privateigentum das Monopol
weniger reicher Kapitalisten und damit das Mittel zur Knechtung
der Masse. Die neue Herrschaft mußte sich notwendig zuerst gegen
den Staat wenden und diesen auflösen oder wenigstens, da er ihr
unentbehrlich blieb, aushöhlen. Adam Smith reduzierte die Politik,
die Parteien, die Religion, alles auf ökonomische Kategorien, und
erkannte damit das Eigentum als das Wesen, die Bereicherung als
12*
i8o Die Arbeiten aus der Zeit des ersten englischen Aufenthalts.
den Zweck des Staates an. Nach ihm zog Godwin die Notwendig-
keit des Staates selbst in Zweifel, und Bentham ging so weit, an Stelle
des freien, selbstbewußten und selbstschaffenden Menschen dem
rohen, blinden, in den Gegensätzen befangenen Menschen die Rechte
der Gattung zu geben. Damit aber vollendete sich der alte, christ-
liche, naturwüchsige Weltzustand: der Widerspruch erreichte seine
höchste Spitze, auf der er nicht lange beharren werde. Sei erst
mit der siegreichen Durchführung der Volkscharte die arbeitende
Demokratie zur Herrschaft gelangt, so könne die Krisis, die den
christlichen Weltzustand vernichte, nicht mehr lange ausbleiben;
dann werde der selbstbewußte Mensch sich in voller Freiheit seine
Welt schaffen.
Dem Staat sprach Engels bei der Verwirklichung dieses seines
Zukunftsideals, dem er mit warmer Gläubigkeit anhing, wie noch-
mals mit Nachdruck betont sei, eine Mission nicht zu. An der Hoch-
wertung dieser Institution hat er sich, wohl selbst unter den Jung-
hegelianern in Berlin, niemals aus vollem Herzen beteiligt. Weder
der absolute preußische Staat , der zu seiner Jugend im Rheinland
halb als Fremdherrschaft empfunden wurde, noch der plutokratische
Stadtstaat Bremen, dessen oligarchische Organisation er so scharf
kritisierte, noch endlich jetzt der Klassenstaat, den er in England
vorfand, hatten in ihm Begeisterung wecken können. Und mit
dem Geist der Antike, der vorübergehend den jungen Marx und der
dauernd Lassalle in Hegels Ausprägung an das Staatsideal glauben
hieß, hatte der junge Geschäftsmann, dem nur in Mußestunden die
Wissenschaft offen stand, sich niemals tiefer erfüllt. So glaubte er
jetzt wie Proudhon an die ,,Unvollkommenheit oder vielmehr
Unmenschlichkeit aller Staatsformen". Aber zu dem Schluß, daß
der Staat, die ,, Ursache aller Unmenschlichkeiten", selbst ,, un-
menschlich" sei und verschwinden werde, drängte ihn wohl doch
am stärksten eine aus dem Studium der englischen Vergangenheit
und Gegenwart gewonnene Erkenntnis, die er in Gedanken bereits
verallgemeinerte: in England wären der Staat und alle seine Institu-
tionen Werkzeuge in den Händen der besitzenden Klasse zur Unter-
drückung der besitzlosen geworden. Vielleicht am frühesten und am
deutlichsten hatte sich ihm diese Erfahrung an der Rechtsprechung
enthüllt. D2r Ausgang der zahlreichen Prozesse gegen die an dem
Generalstreik von 1842 beteiligten Chartistenführer hatte ihm
nämlich handgreiflich bewiesen, daß der Arme keineswegs von
seinesgleichen, sondern in allen Fällen von seinen geborenen Feinden
gerichtet wird (,,denn in England sind die Reichen und Armen
in offenem Krieg"). Er hatte begriffen, daß eine unparteiische Jury
ein Unding sei, und er glaubte durchschaut zu haben, daß das Ge-
England ein Klassenstaat. l8i
schworenengericht, wie alles juristische Wesen, keine juristische
sondern eine politische Institution wäre. Nun war er überzeugt,
daß unter der Herrschaft des Besitzes die „ganze Welt der gesetz-
lichen Barbarei" auf den Proletariern laste, während zugunsten
,, respektabler" Verbrecher die Legislatur sich einmische.
Wir sahen schon: die ganze Verfassung, die ganze öffentliche
Meinung Englands erschienen diesem unerbittlichen Kritiker als
ein Gewebe von offener und versteckter Lüge. Einem solchen Zu-
stand konnte Dauer nicht innewohnen. Der Kampf, der ihn be-
seitigen würde, habe begonnen, die nächste Zukunft Englands ge-
hörte der Demokratie, nicht mehr der rein politischen, die gesell-
schaftliche Übel nicht zu heilen vermöge, sondern einer sozialen
Demokratie. Der Kampf der Armen gegen die Reichen könne
nicht auf dem Boden der Demokratie oder der Politik überhaupt
ausgekämpft werden. Ein neues Element, ein über alles politische
Wesen hinausgehendes Prinzip, entwickele sich: ,,das Prinzip des
Sozialismus".
So pflanzte Engels im Jahre 1844 die Fahne der Sozialdemokratie
auf. Er verließ im August England im Besitz einer solchen Fülle
von Einsicht in den Zusammenhang von Staat und Klasse, einer so
reichen Anschauung von den sozialen Wirkungen der industriellen
Revolution, eines so scharfen Verständnisses für die Zukunfts-
perspektiven, die der siegreiche Kapitalismus in seinem Schöße barg,
daß ihm auf dem Kontinent kaum ein anderer, sicherlich niemand
aus dem Kreise seiner engeren Gesinnungsgenossen, an Kenntnis
und Verständnis dieser sich dort erst langsam herausbildenden
Zusammenhänge gleich kam. Nicht zwei Jahre waren es her, daß
er, ,,ein milchbärtiger ausgelassener Junge" in dem zügellosen
Kreise der Freien sein tolles Wesen getrieben hatte. Die ernsteren
Männer, die ihm dort begegnet waren, scheinen recht verwunderte
Gesichter gezogen zu haben, als ihnen jetzt seine genialen Beiträge
in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern unter die Augen kamen.
Der kluge Berliner Arzt Dr. Julius Waldeck schrieb damals seinem
Vetter Johann Jacoby in Königsberg: ,, Engels hat an sich selbst
ein wahres Wunder vollbracht, wenn man die Gereiftheit und Männ-
lichkeit seiner Gedanken und seines Stils gegen sein vorjähriges
Wesen hält." Der einsichtige Beobachter hatte sich nicht ge-
täuscht. So übermütig sein rheinisches Temperament auch weiter-
hin schäumte, der Jüngling war zum Mann geworden. Und als einer,
der seinen Lebensweg fest gewählt hatte und die Aufgabe, der er an-
gehörte, fortan kannte, durfte er dem Größeren entgegentreten,
dem er der unentbehrliche Kampfgenosse und der ihm der Lebens-
gefährte und darüber noch hinaus sein Schicksal wurde.
Kapitel VIII.
Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der
arbeitenden Klasse in England. — Kommu-
nismus in der Heimat.
Engels verließ Manchester an einem der letzten Augusttage des
Jahres 1844, um in die Heimat zurückzukehren. Diesmal nahm
er den Weg übsr Paris. Nach dem langen Verweilen unter dem
„schrecklich bleiernen Himmel" in der rauchigen Luft Lancashires
erfrischte das farbsnfrohe Treiben der Boulevards seinen für jeden
heiteren Genuß so empfänglichen Sinn. Aber zum Erlebnis dieses
zehntägigen Aufenthalts wurden ihm nicht die Zerstreuungen der
frivolen Stadt, so zugänglich er diesen sein mochte, auch nicht die
Bakanntschaft mit Bakunin, Barnays, Ewerbeck, so heitere Stunden
er mit diesen fröhlichen Gesellen verlebte, nicht der erste Besuch
jener Stätten, die Babsufs, Marats, Robespierres Geister ihm
lebendig herauf bsschworen, sondern einzig das Bündnis mit Karl
Marx, das er in diesen Tagen einging. Jetzt erst kam den beiden
Landsleuten, die sich nun so, wie sie wirklich waren, kennen lernten,
zum vollen Bewußtsein, wie wundervoll sie einander ergänzten,
und daß in diesen Jahren, wenn auch durch getrennte Gefilde, ihre
geistige Entwicklung die gleiche Richtung genommen hatte. Mit
staunender Freude nahmen sie wahr, daß sie fortan Hand in Hand
den gleichen Weg würden wandern können, weil sie über das Ziel,
das winkte, wie über die Mittel, es zu erreichen, jeder unabhängig
vom anderen, zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt waren.
Nahe und ferne Aufgaben türmten sich damals vor diesen beiden
Bahnbrechern des deutschen Kommunismus in unabsehbarer Fülle
auf; sie begriffen, daß sie diese höchstens in gemeinsamem Schaf fen
zu bewältigen hoffen konnten, weil dazu eine Verbindung von
Fähigkeiten und Kenntnissen erforderlich war, die jeder von ihnen
für sich nicht besaß. Freilich konnte dies Bündnis, das die hochgemute
Kraftfülle ihrer entfalteten Jünglingsjahre einging, seine Früchte
nur tragen, wenn es als ein dauerndes sich bewährte. Freundschaften
Engels in Paris. X83
schließt man niemals auf Frist, aber nur die wenigsten widerstehen
dem Gesetz der Veränderung, das diese Welt regiert. Nicht das ist
auffällig, daß die beiden die Verbindung zum Lernen und Kämpfen,
die sie eingingen, sich vom ersten Tage ab als eine endgültige vor-
gestellt haben, das Bewundernswerte ist, daß dieses Bündnis zweier
großer Persönlichkeiten über allen Wechsel der Jahre und Jahr-
zehnte stand hielt, das Beispiellose, daß ihr Lebenswerk zu einer
organischen Einheit zusammenwuchs so restlos, so vollkommen,
wie vielleicht nie zuvor das zweier zeugenden Geister!
Ein und ein halbes Jahr älter als Engels war Marx, ebenfalls
ein Kind der Rheinlande, im krummstabbeherrschten Trier als der
Sohn eines aus liberalem Kulturempfinden vom Judentum zum
Protestantismus übergetretenen Anwalts aufgewachsen. Von den
väterlichen wie von den mütterlichen Ahnen her steckte eine sitzende,
über die Bücher gebeugte Lebensweise ihm im Blut. Die Vorfahren,
schriftgelehrte Rabbiner, hatten nach altem Brauch jene Art des
„Lernens" und Forschens betrieben, die dem Verstand eine un-
gemeine Schärfe verleiht und die Kraft der Dialektik öfter bis ins
Virtuosenhafte steigert. Während man in dem Barmer Kaufmanns-
hause, wo Engels aufwuchs, die politischen Dinge vorwiegend von
einem nüchternen Nützlichkeitsstandpunkt aus betrachtete, ver-
nahm Marx von seinem hochgesinnten Vater, in der Rheinprovinz
damals eine Seltenheit, ein warmes Bekenntnis zur fridericianischen
Monarchie. Noch aber schlummerte das politische Interesse in dem
frühreifen Jüngling, dessen ungewöhnliche Gaben sich rasch jedem
enthüllten, der ihm auf seinem Wege begegnete. Und nur ein
unersättlicher Wissensdrang beherrschte mit dämonischer Kraft
diesen Geist, der in tragischen Erschütterungen, von seinem Dämon
gepeitscht, um eine Weltanschauung rang. Konnte ihm diese die
Jurisprudenz gewähren, die er, einem in jeder Hinsicht hoch-
stehenden Mädchen frühzeitig fürs Leben verpflichtet, als Brot-
studium gewählt hatte ? Durch nichts auf der Welt hätte er sich
abhalten lassen, tief in die philosophischen Lehren der großen
Kulturepochen unterzutauchen, um die Perle heraufzuholen, nach
der er mit titanenhaftem Trotz unermüdlich suchte. Erst als es ihm
nicht glückte, aus eigener Kraft die Weltanschauung aufzubauen, die
ihn befriedigen konnte, kapitulierte er vor Hegel. Ähnliche Ge-
fühle, ähnliche geistige Bedürfnisse wie den jungen Engels machten
auch ihn dem weltumspannendsten Denker der Epoche untertänig:
das Bedürfnis, im Wirklichen selbst die Idee zu finden, dem quälen-
den Dualismus der Welt der Werte und der Welt des Geschehens
ein Ende zu machen.
Dem Lebensweg des jungen Marx im einzelnen zu folgen, darf
184 Da3 Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
uns nicht Aufgabe werden: von 1836 bis 1841 hat er dem gleichen
Kreise angehört, in den bald nach seinem Scheiden Engels ein-
getreten war. Wir wissen, daß er hier als der gleichberechtigt
Mitstrebende Bruno Bauers und Köppens schon galt, als er außer
ein paar Gedichten noch keine Zeile hatte drucken lassen. Seine
Gedichte, unbeholfener, schwerfälliger als die Engelsschen, literarisch
wertlos, verdienen Beachtung nur als Schlüssel zu dem instinktiven
Leben eines sonst seine Gefühle mit mächtiger Intelkktualität
gleich zu Gedanken verdichtenden Genius. Das Gleichnis für seinen
jugendlichen Tatendrang hatte Engels in dem von den Bergen
herabbrausenden Wildbach, sein eigenes Ebenbild in dem lichten
Nibelungenhelden gesucht. Marx verwandter ist der Sturm, der rast-
los braust und selbst nicht weiß, ob er zerstört oder schafft, er er-
innert an Faust und Ahasverus, niemals an Jungsiegfried. Engels
kam sich schon fast geborgen vor, als er aus der pietistischen Stick-
luft der Heimat Anschluß an die spekulative Theologie und Philoso-
phie gefunden hatte. Ihn befriedigte es schon, auf den von der
Lokomotive Zeitgeist fortgeschleppten Eisenbahnzug aufgesprungen
zu sein und sich nun eine Strecke mitnehmen zu lassen, er empfand
nicht den Beruf in sich ,,dem Zeitgeist einen Tritt nach dem andern"
zu geben, ,, damit er besser vorankäme". Marx hingegen ringt mit
dem Zeitgeist wie Jakob mit dem Engel Angesicht zu Angesicht.
Langsam geht bei ihm die Arbeit vor sich und unter schweren
Wehen kommt sie zustande, denn sein Denken bohrt tief, weil es
niederreißend und aufbauend, souverän und schöpferisch mit dem
Stoffe schaltet. Engels ist von Natur praktischer und von schnellerem
Orientierungsvermögen, aber ohne gründlichere philosophische
Durchbildung und dialektische Originalität. Mit feinem Instinkt
für das, was in der Luft lebt, findet er aus dem fertigen Stoff die
verwendbaren Elemente heraus und weiß damit neue Zusammen-
hänge herzustellen. Deutlich spiegelt sich ihre verschiedene Art,
die geistigen Probleme zu meistern, in der Verschiedenheit ihres
Stils. Een Sätzen, die Engels schreibt, merken wir an, daß er sie,
ohne lange mit dem Gedanken oder dem Ausdruck gekämpft zu
haben, rasch und hemmungslos aufs Papier geworfen hat: flüssig,
elegant, klar und durchsichtig hingesetzt, vermögen sie, gefällig
und leicht verständlich, vollkommen und restlos auszudrücken»
was der Verfasser in sie hineinzulegen wünschte. Die Sonnen-
strahlen eines gesunden Humors durchleuchten seine Briefe und
durchschmeicheln sogar seine Polemik; in den Schriften der Frühzeit
mangelt es selbst nicht an phantasiebewegten, an poetisch kraft-
vollen Satzgebilden. Bei Marx dagegen verraten die Perioden, wie
schon Koppen richtig bemerkt hat, daß ein ganzes Magazin von
Karl Marx. 185
Gedanken in sie ausströmen will; sie lassen erkennen, daß die un-
geheure Ernte, die er einfahren möchte, noch reicher ist als alle
jene Satzscheunen, die sie bergen wollen. Den unwiderstehlichsten
Reiz verleiht es seiner glänzenden, epigrammatisch zugespitzten
Diktion, daß die scharfen, reliefartig wirkenden, im Gedächtnis
haftenden Satzbilder, in die er seine Gedanken prägt, stets un-
gezwungen, wenn auch nicht unerkämpft dem Dunkel der eigenen
dialektischen Werkstatt entsteigen und, so geii>treich sie wirken,
niemals bloßer schriftstellerischer Aufputz bleiben. Auch die Anti-
thesen, in denen er zu schwelgen liebt, sollen nur die neuen, in
mühevoller Gedankenarbeit heraufgeholten Ergebnisse mit fest
zupackenden Klammern halten, um sie dem Schreiber wie dem
Leser zum dauernden Besitz zu machen. Die glänzenden, öfters
schwerfälligen, nur selten dunklen Perioden, die sich bei ihm ab-
wechseln, dampfen noch förmlich von dem heißen Kampf, der ihrer
Niederschrift vorausgegangen ist.
So verschieden wie der Stil, so verschieden waren die Männer!
D=r Gegensatz zeigt sich gleich in ihrem Familiengefühl: bei Engels
äußerte es sich naturhaft und reflexionslos, während wir es bei
dem jungen Marx noch von der historisch so begreiflichen Über-
zärtlichkeit jener Generation deutscher Juden angehaucht finden.
Überhaupt war Engels in jeder Hinsicht der Unnervösere, der
seelisch Gleichmäßigere, der körperlich und geistig Elastischere,
der Unkompliziertere, Harmonischere, sonniger Veranlagte von
beiden. Wie oft hat er den hemmungsreicheren Freund gescholten,
daß er sich von seiner Stimmung ,, maßregeln" ließe, daß er nie zum
Abschluß käme, daß er sich selbst nie Genüge täte. Unbeugsame
Zähigkeit, seltene Widerstandsfähigkeit und Beharrlichkeit, eine un-
erschöpfliche Arbeitskraft und Arbeitslust waren ihnen beiden eigen.
Und nicht minder entschieden begegneten ihre Naturen sich in der
ungeheuren Sachlichkeit, der grenzenlosen Hingabe, dem mächtigen
Ernst, der rücksichtslosen Ehrlichkeit, der fanatischen Unduldsam-
keit, dem unbezähmbaren Widerwillen gegen unechten Schein und
persönliche Eitelkeit, womit sie die Sache betrieben, zu deren
Dienst sie sich verbunden hatten. Auch in der Ablehnung alles
Irrationalen, in der Feindschaft gegen die Romantik, in der Pietät-
losigkeit gegen das Hrkommen, in der Abneigung gegen Schwär-
merei und das Zurschaustellen gefühlsmäßiger Erlebnisse waren
sie eines Sinnes. Das erkennen wir auch aus ihrem Briefwechsel,
der für den Biographen von nun ab zu einer wichtigen Quelle wird.
Der saloppe, kraftgenialische Ton, auf den ihr schriftlicher Ge-
dankenaustausch dauernd gestim.mt blieb, entsprach am besten
der mit männlicher Härte, mit Rücksichtslosigkeit gegen sich und
x86 Ds^ Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
andere gepaarten seelischen Schamhaftigkeit, die ihnen beiden
eignete.
In einem dieser Briefe beruft sich Engels einmal auf seine
dem Freunde „bekannte Trägheit en fait de theorie", die sich
bei dem inneren Knurren seines besseren Ich beruhige und der
Sache nie auf den Grund gehe. Engels gehörte zu den Menschen,
die über sich Bescheid wußten. So sehr es ihm Bedürfnis war,
die politische, soziale und kulturelle Vielgestaltigkeit des geschicht-
lichen Lebens unter einem großsn bewegenden Gesichtspunkte
im Zusammenhange zu empfinden, so wenig besaß er doch von
Hause aus die Fähigkeit zur systematischen Durchführung und
die Neigung zur Ausgestaltung solcher Gedanken. Daß er bei
Marx diese ungeheure Begabung zur Synthese, die ihm abging,
vorfand, hat ihn diesem tributpflichtig gemacht: er selbst konnte
Bausteine liefern, wohl auch beim Zeichnen des Grundrisses helfen,
niemals aber hätte er das Gebäude aufrichten können, in dem zu
wohnen ihm, dem geistige Obdachlosigkeit immer verhaßt blieb,
stärkstes Bedürfnis war. Wilhelm Liebknecht, der Engels so gut
gekannt hat, rühmt den scharfen Blick seines hellen blauen Auges.
Wir kennen schon seinen angeborenen Jagdhundinstinkt, der rasch
zupackend das Wesentliche erfaßte und nicht losließ, diesen wunder-
bar schnellen und beweglichen Orientierungssinn, der dem halben
Autodidakten als sicherer Kompaß zwischen allen Geistesströmun-
gen der Zeit hindurch den Weg wies und ihn stets gerade in den
Hafen führte, wo eben die Ladung harrte, die sein Gedankenschiff
als Fracht verlangte. Sicher und selbständig wußte er immer und
überall das Brauchbare sich anzueignen, das für ihn Wertlose ab-
zustoßen. Doch dieses Ausscheiden und dieses Aneignen vollzog sich
ursprünglich bei ihm instinktiv, intuitiv; der Zwang zu polemischer
Auseinandersetzung mußte sich erst von außen oder auch von
innen her seiner bemächtigt haben, um ihn zu vollbewußter ver-
standesmäßiger Kritik aufzurütteln. Aber selbst dann wurde die
Kritik ihm nur selten zu dem Steuer, das sein Schiff vorwärts trieb;
die eigentlichen Entscheidungen waren schon in einer unmittel-
bareren, vielleicht unbewußten Sphäre früher gefallen. Galt es jedoch
zu kritisieren, dann stand er seinen Mann wie nur einer und führte
seine Klinge voll Lust und Geschick. Dabei war er aber dann mehr
Polemiker als eigentlicher Kritiker: kämpfen war ihm Leiden-
schaft, von der Rauflust der alten Germanen besaß er sein
reichliches Erbteil. Im Leben konnte er durch die Schärfe
seines Urteils andere verletzen, Duellforderungen ist er in seinen
jungen Jahren nicht aus dem Wege gegangen. Und auch noch
späterhin galt der , .General", der militärische Studien mit Leiden-
Engels und Marx, die Persönlichkeiten. 187
Schaft trieb, den Freunden als der Carnot einer kommenden
deutschen Revolution.
Eigentliche Reflexion lag Engels wenig trotz seiner pietistischen
Erziehung. Mit seinem frischen Draufgängertum, seinem beweg-
lichen, nicht selten zu voreiligen Schlüssen geneigten Geist, seiner
auf Anschauung eingestellten Art des Erlebens, fühlte er sich
wohler bei einer an Geschehenes oder Erlebtes anknüpfenden Art
der Produktion und bei einer halb improvisierten und deshalb
stürmisch auf das Resultat hindrängenden Untersuchungsweise
als bei Studien, die langen Atem, strenge Abstraktion und systema-
tische Durchdringung weitschichtiger wissenschaftlicher Gredanken-
reihen erheischten. Dies gerade, worauf er verzichtete, weil ihm
am Anregen mehr lag als am Ausführen, war Marxens Stärke.
So Großes auch für Engels die Bücher bedeuteten, in Bibliotheken
sich einzunisten und dort die Stützen für die theoretische Sicherung
seiner Gesellschafts- und Geschichtsauffassung mühselig zusammen-
zusuchen, hätte seinem Naturell nicht gelegen; gemäßer war ihm,
nach Menschen Umschau zu halten, von denen er lernte und An-
knüpfungen zu suchen, Verbindungen herbeizuführen, die der
Sache, die ihm heilig war, förderlich werden sollten. Aber wie
seinem schlanken biegsamen Leib der Drang nach Bewegung inne-
wohnte, wie selbst grimmige soziale und politische Gegnerschaft
den leidenschaftlichen Reiter und Jäger, der er war, nicht abhielt,
an den Fuchsjagden der englischen Gentry regelmäßig teilzunehmen,
sowenig scheute er sich, bei Gelegenheit auch „auf das sehr kupierte
Terrain des abstrakten Denkens parforce jagen" zu gehen. Doch
lieber beschränkte er sich auch im Geistigen auf die Übung seiner
praktischen Fähigkeiten, die ihm von den Vorfahren her im Blute
lagen. Und mit gutem Gewissen glaubte er sich auf dieses Feld
seiner eigentlichen Bsgabung beschränken zu dürfen, seitdem ihm
das Schicksal in dem bücherverschlingenden, körperlicher Bewegung
abholden Marx den Gefährten geschenkt hatte, der in vollendetem
Maße jene Gaben besaß, die bei ihm selbst nicht hinreichend aus-
gebildet waren, so gebieterisch sein Werk, sein Plan, seine Aufgabe
sie erforderten.
Die Leichtigkeit, mit der Engels sich jeden Wissensstoff an-
eignen konnte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur seine
bewundernswerte Gabe, jede Stunde zu nützen, seine ungewöhnliche
geistige Geräumigkeit und Elastizität ihm gestattet hatten, aus sich
eine geistig produktive Persönlichkeit zu machen. Doch darf sie uns
auch nicht übersehen lassen, daß ein gewisser Dilettantismus, den
er auf manchem Gebiet, zumal in der Philosophie, niemals ganz
überwunden hat, eine Folge seines unregelmäßigen Bildungswegs
l88 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
war. Aber selbst wenn er Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, sich
philosophischen Studien ausgiebiger hinzugeben, würde seine
eigentliche Begabung sich nicht just im Rfiche des abstrakten
Dankens entfaltet haben. Die Schöpferkraft eines Marx besaß
Engels nicht und niemals hätte er wie jener selbständig die von
einer voraufgegangenen Generation herüberkommenden Erkenntnis-
massen aufzulösen und neu zu binden vermocht. Es lag schon richtige
Selbstbescheidung darin, daß er von früh an das Bedürfnis empfun-
den hatte, einen Piloten an Bord zu nehmen, wenn Geist und Seele
neue Küsten suchten. So sichere Witterung er für die Richtung
hatte, so wenig traute er sich, wenn er allein am Steuer stand.
Wir erinnern uns, wie er nach einem , »getreuen Eckart" Aus-
schau hielt: nach Strauß und nach Börne hatte er sich He gel anver-
traut; wie er endlich Feuerbach fand, fühlte er sich geistig schon
stark genug, um über die Grenzen dieses ungeselligen Denkers
selbständig hinauszudrängen. Dabei stieß er auf Marx, der gerade
dasselbe unternahm; er schließt sich diesem freudig an und be-
gnügt sich hinfort, das zu tun, wozu er ,, gemacht war, nämlich
zweite Violine zu spielen", zufrieden eine gute erste gefunden zu
haben und neben ihr sich zu halten. Ob er niemals für sich Höheres
erstrebt, ob er zuzeiten unter diesem Verhältnis gelitten hat?
Engels selbst hätte eine Frage wie diese unwirsch abgewiesen, er
hat uns auf sie keine Antwort zurückgelassen. Keine Äußerung
von ihm liegt vor, die dafür spräche, daß auf dem Grunde seiner
Seele diese schmerzhafte Stelle brannte, daß dort unten eine tra-
gische Note mitklang. Friedrich Engels Denken kreiste niemals
um die eigene Person, von seinem Ehrgeiz wurde er nicht gequält.
Und wie er achtzehnjährig sich schnell mit der Erkenntnis abgefun-
den hatte, daß er kein Dichter war, so wird er später, als er sich
noch besser kennen gelernt hatte, erst recht nicht vom Apfelbaum
Trauben gefordert, sondern als der Vollblutmensch, der er war,
lieber der reichen Kräfte sich gefreut haben, die er besaß und die er
so erstaunlich rührte. Hüten wir uns also, resignierte Züge in das
Porträt hineinzusetzen, wo das Original uns nichts von solchen
verrät.
Das Ausschlaggebende bei dem Zusammenschluß der neuen
Freunde war natürlich doch, was sie einander in jenem Augenblick
für ihre geistige Entwicklung zu bieten vermochten. Dummheit
und Aberglauben hießen die Titanen, auf die Marx als Jünger des
größten griechischen Aufklärers seine ersten Pfeile abgeschnellt
hatte. Politisch ohnmächtig und einflußlos wie sie waren, nah-
men die deutschen Intellektuellen ihre geistige Welt für die Welt
überhaupt und sahen die wahre Praxis in der Theorie. Dieser
Marx geistige Entwicklung. 189
,, mystischen Identität" war Marx frühzeitig entgegengetreten.
Dinn er verachtete diese Menschen, deren Scheu vor jeder Be-
rührung ihres Ideals mit der Wirkhchkeit bewirkt hatte, daß die
Freiheit den Deutschen eine bloße Sentimentalität geblieben war.
Schon seine Doktorarbeit verkündigte, daß der freigewordene Geist
als Wille aus dem Schattenreich des Amenthes hervortreten, zur
praktischen Energie werden und sich gegen die weltliche ohne ihn
vorhandene Wirklichkeit kehren solle. Trotzdem bedurfte es selbst
bei ihm der allgemeinen Belebung der politischen Atmosphäre, die
nach dem preußischen Thronwechsel eintrat, um ihm den untrenn-
baren Zusammenhang zwischen der Politik und seinen tiefsten
geistigen Bedürfnissen zu enthüllen. Er beteiligte sich wie die
anderen Junghegelianer mit den mächtigen Waffen seines Geistes
an dem Sturmlauf gegen die Übergriffe der Kirche in die Sphäre
des Staats, auch er bekämpfte die herrschende ,, unsittliche, materielle
Ansicht vom Staat", die ,, Gesinnungsgesetze", die das freie Wort
des Schriftstellers knebelten, die Verstocktheit der Privilegien, die
Stagnation des Kastengeists, die unerträglich devote Natur der
Deutschen, die aus lauter Respekt vor den Ideen deren Verwirk-
lichung versäumte. Als leitender Redakteur der Rheinischen Zeitung
begreift er vollends, daß die Philosophie „nicht außer der Welt"
steht, sondern daß ihr als der geistigen Quintessenz der Zeit vor-
nehmlich die Aufgabe zufalle, mit der wirklichen Welt in Berührung
und Wechselwirkung zu treten. Von den politischen Problemen
waren die sozialen bald nicht mehr zu trennen. Bereits vor dem
Erscheinen von Lorenz Steins Buch erscheint ihm das Verlangen
der Proletarier am Reichtum der Bourgeoisie teilzunehmen, als ein
Faktum, das ,,in Manchester, Paris und Lyon auf den Straßen jedem
sichtbar umherlaufe". Und, wie schon vor einem Jahre im Athe-
naeum Konstantin Frantz, beklagte nun auch er, es war der Oktober
1843, daß die arme Klasse in dem Kreis der bewußten Staatsgliede-
rung noch keine angemessene Stelle gefunden habe. Wer könnte
sich vorstellen, daß der Redakteur des großen radikalen Blatts
von Proudhon, von Fourier, von Considerant und Leroux damals
noch gar nichts gewußt haben sollte ? Eingehender aber hatte sich
Marx um die Zeit, als Engels sich schon entschieden dem Kommunis-
mus zuwandte, mit Sozialismus und Kommunismus noch nicht be-
schäftigt. Hätte er den Kampf der Klassen bereits als die treibende
Kraft im geschichtlichen Leben erkannt, als er seine berühmte
Kritik des Holzdicbstahlgesetzes schrieb, so würde er sich nicht dar-
über entrüstet haben, daß die ,, Stände den Staat zu dem Gedanken
des Privatinteresses degradieren" wollten, so würde seinem Kultus
der Staatsidee schon damals eine Erschütterung anzuspüren ge-
IQO Das Bündnis mit Mcirx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Wesen sein. So ist es die volle Wahrheit, wenn Marx zwanzig Jahre
nach ihrem Zusammenschluß dem Freunde bezeugt: ,,Du weißt,
daß alles erstens bei mir spät kommt und zweitens ich immer in
Deinen Fußtapfen nachfolge."
Nach der erneuten Unterdrückung der freien Presse in Preußen
behandelte Marx keinen Augenblick wie die Brüder Bauer, Koppen
und Stirner die Praxis als eine Sphäre, in die herniederzusteigen
philosophische Geister sich hätten hüten sollen, weil in ihr die Ge-
walt und nicht die Vernunft herrsche. Eingedenk des Feuerbach-
schen Worts, theoretisch sei, was nur erst im eigenen Kopf, prak-
tisch aber, was in vielen Köpfen spuke, zog er gerade die entgegen-
gesetzte Folgerung, daß die Theorie zur materiellen Gewalt erst
werde, wenn sie die Massen ergreife, und daß es deshalb der Ver-
ständigung aller denkenden und aller leidenden Menschen bedürfe,
um den neuen Weltzustand, wo der Mensch erst wahrhaft zum
Menschen werde, zu verwirklichen. Nun führte auch ihn die Ent-
täuschung seiner politischen Hoffnungen zu einer Kritik der Politik.
Fortan finden wir ihn bestrebt, das wahre Verhältnis zwischen
Staat und bürgerlicher Gesellschaft aufzudecken, es realistischer zu
erfassen, als Hegel es versucht hatte. Erst dabei enthüllte sich ihm
vollends die Bedeutung der materiellen Welt und die Notwendigkeit
ihrer Revolutionierung für die Erfüllung seines Menschheitsideals.
Er erkennt die Begrenztheit jeder politischen Revolution, den not-
wendig fragmentarischen Charakter der formalen Demokratie;
jetzt erscheint ihm das Prinzip des bisherigen Staats als der Grund
der sozialen Gebrechen. Die überwältigende Bedeutung der so-
zialistischen Gedankenwelt für die Ausgestaltung seiner eigenen
Anschauungen ging ihm auf, als er, um mit Rüge die Deutsch-
Französischen Jahrbücher herauszugeben, im November 1843 nach
Paris übersiedelte. Seitdem das Problem der Masse in seinen Ge-
sichtskreis getreten war, hatte er begonnen, es in der Geschichte
zu erfassen. Keine andere Epoche konnte sich dafür ihm wuchtiger
aufdrängen als die der ersten französischen Revolution. Hin-
gebungsvoll vertiefte er sich in deren Studium.
Nun wurde ihm zur vollen Klarheit, einen wie gewaltigen Teil an
allen Parteikämpfen die Interessengegensätze der sozialen Klassen
beanspruchten. Wie in England war damals auch in Frankreich
die Einsicht bereits verbreitet, daß hinter den politischen Gegen-
sätzen der Vergangenheit in Wahrheit sich Klassengegensätze
verbargen. Marx hat das Verdienst der großen Historiker des
Landes, besonders Thierrys und Guizots, um die Herausarbeitung
dieser Auffassung zu allen Zeiten anerkannt. Reichte Louis Blanc
als Geschichtsschreiber an jene Größeren nicht heran, so ent-
Marx auf dem Wege zum Kommunismus. XOt
hüllte seine Histoire de dix ans, die eben erschien, dafür mit
schonungsloser Offenheit den Gegensatz von Bourgeoisie und
Peuple auch als den eigentlichen Inhalt der zeitgenössischen fran-
zösischen Geschichte. In S9lcher Umgebung mußte Marx jeder
Zweifel daran schwinden, daß in einer rein politischen Revolution,
wie es die große französische in seinen Augen gewesen war, immer
nur ,,eine bestimmte Klasse von ihrer besonderen Situation aus
die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt", mag
immerhin das ganze Volk glauben, im Namen der allgemeinen
Rechte der Gesellschaft zu revolutionieren. Wie für Engels war
auch für ihn Feuerbachs Humanismus die umgekehrte Himmels-
leiter, auf deren Sprossen er vom ,, Jenseits der Wahrheit" zur
,, Wahrheit des Diesseits", von der Kritik des Himmels zur Kritik
der Erde den Weg fand.
Wie hätte dieser größte Jünger Hegels ohne eine weltum-
spannende Zusammenfassung aller geistigen Inhalte bestehen
sollen ? Der Gedanke der Emanzipation beherrschte das Zeit-
alter. Wir sahen schon, wie Engels sich mit ihm herum-
schlug. Diesen erfüllte damals noch in sublimerer Form aber doch
erkennbar, ähnlich wie Godwin, Owen, Fourier, Cabet, die seit
Vico von den Sozialphilosophen des i8. Jahrhunderts oft verkündete
Anschauung, daß die wahren Gesetze eines vernunftgemäßen Zu-
sammenlebens der Menschheit bisher verborgen wären, daß sie
ihr aber nur zum Bewußtsein zu kommen brauchten, um alle „künst-
lichen und unhaltbaren Gegensätze" zu beseitigen und die Ent-
äußerung des menschlichen Wesens, die Feuerbach in der Religion
und die er selbst eben in der Ökonomie aufgedeckt hatte, zu über-
winden, damit alsdann der wahre Mensch in die Erscheinung trete.
Gewiß auch Marx wollte damals .,das wahre menschliche Wesen"
Realität werden sehen, auch er forderte stürmisch, daß man den
Menschen zum wirklichen Menschen, zum Gattungswesen machen
müsse. Aber seine angeborene schöpferische Dialektik verschmähte
es, nur auf ein paar allgemeinen Begriffen wie auf einem farbigen
Regenbogen in die Zukunft hinüberzugleiten. Bauend auf die
Gabe produktiver Kritik, die der Genius ihm in die Wiege gelegt
hatte, durfte er es ablehnen, die Welt dogmatisch zu antizipieren,
weil er sich zutraute, aus der Kritik der alten Welt die neue zu
entwickeln. Noch schien es ihm nicht an der Zeit, eine dogmatische
Fahne aufzupflanzen, nicht einmal die des Kommunismus, in dem
er vorläufig auch nur eine aparte Erscheinung des humanistischen
Prinzips erblickte. Ihm hieß das Gebot der Stunde ausschließlich:
rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, ohne Furcht vor den
eigenen Resultaten, gleichzeitig jedoch auch ohne Furcht vor denv
IQ2 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Konflikt mit den vorhandenen Mächten. Aber diese Kritik wollte
nicht willkürlich ihren Weg nehmen. Gebieterischer vielleicht
noch als Engels beherrschte ihn das Verlangen, den Geschichts-
verlauf in seiner immanenten Vernunft mit bewußter Dialektik zu
erfassen. Wie Engels erstrebte auch er eine Reform des Bewußt-
seins: nur daß er den Weg zu diesem Ziel schärfer abstecken konnte.
Nicht um „einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit
und Zukunft" handelte es sich für ihn, sondern um eine Selbst-
verständigung der Zeit über ihre eigenen Kämpfe und Wünsche.
Er wollte der Zeit nicht sagen: ,,Laß ab von deinen Kämpfen, sie
sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes
zuschreien," sondern er wollte ihr zeigen, warum sie eigentlich
kämpfte. Aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit
wollte er kritisch-dialektisch die ,, wahre" Wirklichkeit als ihr
Sollen und ihren Endzweck entwickeln, das Künftige im Gegen-
wärtigen als werdend aufzeigen und so Wert und Werden, Erkennen
und Handeln mit ehernen Klammern aneinanderschmieden.
Wir erinnern uns, wie das Tatproblem Engels von früh auf be-
schäftigt hatte. Konnte sich aber der revolutionäre Schüler Hegels
in seiner Phantasie eine vollkommenere Lösung dieses Problems
vorstellen, als die von Marx in seinen denkwürdigen Beiträgen zu
den Deutsch-Französischen Jahrbüchern ihm dargebotene ? Wie
muß es Engels geblendet haben, als ihm hier in all ihrer bezwin-
genden Großartigkeit und überraschenden Neuheit die engste Ver-
koppelung des Gedankens und der Tat, die vollständigste Versöhnung
von Theorie und Praxis, die restloseste Überantwortung der Mensch-
heitsemanzipation an den Geschichtsverlauf entgegentrat. Da
bewährte sich an ihm das Wort, daß keine neue Wahrheit den
Menschen siegreich erschüttern könne, deren Keim nicht schon
vorher irgendwie in ihm gelebt hätte. Nannte er nicht lange schon
die Geschichte sein ein und sein alles, erwartete er nicht fest von
ihrem ehernen Ablauf den Sieg der Revolution, die den Menschen
die Versöhnung mit sich selbst und der Natur bringen sollte ? Ihm
freilich galt bereits damals das englische Proletariat als der Stoßtrupp
der Menschheitsrevolution, Marxens Blick und Hoffnung waren noch
konzentrierter auf Deutschland gerichtet, auf die Heimat, die er
verlassen hatte, um von außen her, durch keine Zensur länger
behindert, die versteinerten Verhältnisse des unter dem Niveau
der Geschichte zurückgebliebenen Vaterlandes dadurch zum Tanzen
zu zwingen, daß er ihnen ihre eigene Melodie vorsang. Seine Ana-
lyse der deutschen Zustände in seiner berühmten Abhandlung
Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie kommt bekannt-
lich zu dem Ergebnis, daß für Deutschland eine partielle, eine rein
Marx über Philosophie und Proletariat. 193
politische Revolution, , »welche die Pfeiler des Hauses stehen läßt",
ein utopischer Traum wäre, daß aber eine ,, allgemein menschliche
Emanzipation" hier Aussicht auf Erfolg haben würde. Und Marx
begründet diese These mit blendender Dialektik. Die Theorie werde
in einem Volke immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirk-
lichung seiner Bedürfnisse sei. Eine radikale Revolution müsse
also die Revolution radikaler Bedürfnisse sein. Nun verkörpere
aber keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland
radikale Bedürfnisse. Träger solcher sei allein das in Bildung be-
griffene deutsche Proletariat. Dieses könne sich in der Tat nicht
emanzipieren, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft
und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren.
Somit könne in Deutschland keine Art der Knechtschaft gebrochen
werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründ-
liche Deutschland könne nicht revolutionieren, ohne von Grund
aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen aber sei
die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation
sei die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie
könne nicht verwirklicht werden, ohne die Aufhebung des Pro-
letariats, das Proletariat könne sich nicht aufheben, ohne die Ver-
wirklichung der Philosophie,
Erinnern wir uns, mit welchem Eifer Engels sich um den
Nachweis bemüht hatte, daß der Kommunismus wie die Blüte
aus der Frucht aus der Hegeischen Philosophie hervor wachse,
wie eifrig auch ihn die Frage beschäftigt hatte, weshalb in
Deutschland im Gegensatz zu England die gebildeten Schichten
Träger des Sozialismus wären, wie hartnäckig und erfolgreich
er dem Zusammenhang von Politik und Ökonomie auf der Spur
gewesen war, so begreifen wir ohne weiteres, weshalb diese genialste
Abhandlung des jungen Marx so gewaltig in sein Denken ein-
schlug. Ihrer beider Beiträge zu dem einzigen Heft der Deutsch-
Französischen Jahrbücher beweisen, daß sie die Erfüllung des
Feuerbachschen Menschheitsideals, die Aufhebung des „Kon-
flikts der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz",
wie Marx, die „Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit
sich selbst", wie Engels es ausgedrückt hat, von der Beseitigung
des Proletariats erwarteten. Mochte Engels den materiellen Pro-
duktionsprozeß in die bewußte Kontrolle des Menschen bringen
wollen, weil nur so das Privateigentum, die Wurzel unserer ver-
kehrten sozialen Ordnung, überwunden werden könne, mochte
Marx die „Auflösung der bisherigen Weltordnung" von dem not-
wendigen Zusammenklingen der materiellen Interessen der Masse
und der geistigen der Philosophen erwarten, ihnen beiden war
Mayer Friedrich Engels. Bd. I I3
I Q^ Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
deutlich geworden, daß das große Befreiungswerk, dem ihre Seelen
entgegenschlugen, über die Sphäre des Staates weit hinausgriff.
Nun war freilich seit Hegels Rechtsphilosophie auch der deutschen
Wissenschaft zum Bewußtsein gekommen, daß Staat und Gesell-
schaft einander nicht deckten. Aber die unentwickelten gesell-
schaftlichen Zustände im eigenen Lande hatten verhindert, daß
man mit dieser Erkenntnis viel anfangen konnte, und Hegels über-
triebener Staatskultus hatte dem Glauben an die Omnipotenz des
Staates gleichzeitig eine mächtige Stütze bedeutet. Unter fran-
zösischem und englischem Einfluß war Engels zu der Erkenntnis
gelangt, daß der ökonomischen und sozialen Entwicklung ihre
eigene, dem Staat gegenüber primäre Sphäre zukomme, aber selbst
bei diesem wichtigen prinzipiellen Punkt hatte es seiner ,, Trägheit
en fait de theorie" genügt, eine solche Erkenntnis zu besitzen und
sich mit ihrer Hilfe die ihm so neuen englischen Verhältnisse
zurechtzulegen. Daß die Politik und ihre Geschichte generell aus
den sozialen Verhältnissen zu erklären seien, diese Verallgemeine-
rung, die hernach der Hebel ihrer gemeinsamen Geschichtsauffas-
sung wurde, verdankte er, wie er uns ausdrücklich bezeugt, erst
Marx. Die Zusammenhänge, die dessen kritische Untersuchung
der Menschenrechte der französischen Revolution bloßlegte, ent-
sprachen zwar nur seiner eigenen Auffassung des Verhältnisses
von Staat und Gesellschaft, aber erst durch Marx erhielt diese jenen
Zusammenhang, jene Begründung und Vertiefung, auf die er,
nachdem er sie einmal besaß, niemals mehr hätte verzichten
mögen. Wir entsinnen uns, daß Engels die Demokratie den letzten
politischen Versuch genannt hatte, der noch zu machen sei, bevor
im Sozialismus ein über politisches Prinzip triumphieren werde.
Wie ähnlich, aber doch wie ganz anders durchgebildet trat ihm
dieselbe Auffassung jetzt bei Marx entgegen. Stärker noch als ihm
war es jenem Bedürfnis, zu erkennen, wie die Entwicklung in den
führenden Kulturländern, von dem gleichen immanenten Gesetz
beherrscht, ähnlichen Zielen zustrebte. Marx aber durfte für das,
was er über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft feststellte,
um so mehr allgemeine Gültigkeit beanspruchen, als er erkannt
zu haben glaubte, daß zwischen dem jeweiligen Staat und der
jsweiligen Gesellschaft ein Widerspruch bestand, bei dessen
dialektischer Entfaltung das eigentliche Bewegungsgesetz alles
geschichtlichen Lebens sich offenbarte Zwar war auch er zu der
Überzeugung gelangt, daß selbst im demokratischen Staat nur der
,, durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorbene"
Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist, Souveränität
erhalte, daß überhaupt innerhalb der bestehenden bürgerlichen
Ähnlichkeit des Entwicklungsgangs bei Engels und Marx. igt
Gesellschaft jeder Mensch im anderen Menschen nicht die Ver-
wirklichung, sondern im Gegenteil die Schranke seiner Freiheit
fände. Aber ebensowenig wie Engels konnte eine solche Erkenntnis
Marx bestimmen, sich, gleich der Mehrzahl der französischen und
englischen Sozialisten, von der Politik als von einer unterhalb der
Höhe des Prinzips liegenden Betätigungswelt abzuwenden. Beide
erkannten sie zu scharf, daß der Staat , »innerhalb seiner Form
sub spscie reipublicae alle sozialen Kämpfe, Bedürfnisse, Wahr-
heiten ausdrückte".
Die Ähnlichkeit der Anschauungsweise, zu der Marx das Studium
der französischen politischen und Engels das der englischen ökono-
mischen Revolution geführt hatte, erwies sich auch an der Skepsis,
mit der sie beide die weltgeschichtliche Bedeutung der Emanzi-
pation der bürgerlichen Gesellschaft betrachteten. Nicht weniger
als Engels war Marx darüber im Zweifel, daß diese das bürgerliche
Leben vollends in seine Bestandteile aufgelöst hatte, ohne diese
Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen,
daß jedoch die ,, Emanzipation der Menschen", auf die sie hofften,
erst Wirklichkeit werden könne, nachdem der Mensch seine Kräfte
als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert haben würde.
Die Schuld daran, daß die bürgerliche Gesellschaft alle Gattungs-
bande der Menschen zerrissen und durch den nackten Eigennutz
ersetzt hatte, schoben er und Engels mit Feuerbach der Entäußerung
aller nationalen, natürlichen, sittlichen, theoretischen Verhältnisse
der Menschen durch das Christentum zu. Mußte es Engels nicht
als eine tiefreichende Übereinstimmung empfinden, daß auch
Marx die Beseitigung der Atomisierung der Gesellschaft durch die
Aufhebung des ,, Schachers" als die Aufgabe der Zeit proklamierte ?
Nun erst verstehen wir vollständig, wie dessen Beiträge für die
Deutsch-Französischen Jahrbücher ihm just das boten, wonach ihn im
Augenblick am meisten verlangt hatte und was aus eigener Kraft
zur vollen eigenen Befriedigung zu finden, er sich nicht zugetraut
hätte. Für seine Annahme, daß der Kommunismus die geradlinige
Fortsetzung und die Vollendung der deutschen Philosophie sei,
erhielt er erst hier den vollgültigen Beweis, für den scheinbar
polaren Gegensatz von Geist und Masse eine Lösung, die ihn blen-
dete und gefangen nahm. An der Seite dieses starken Denkers,
der ihm mit tief bohrender Dialektik systematisch einordnen und
beweisen konnte, was er selbst nur in den Umrissen erschaut und
skizzenhaft hingeworfen hatte, kam Engels sich geistig geborgen
vor und fühlte sich dabei so glücklich und so arbeitsfreudig wie
nie zuvor. Aber auch für Marx wurden Engels Beiträge zu den
Deutsch -Französischen Jahrbüchern, weit mehr freilich noch,
13*
196 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
was der lebendige Mensch an Anschauungskraft, an Kenntnissen,
an Erfahrung ihm zutrug, von epochaler Bedeutung. Bis er zur
Rheinischen Zeitung kam, hatte Marx sich ja ausschließlich auf
dem Boden abstrakter Wissenschaft bewegt und der praktischen
Welt ferngestanden. Aber auch danach hatten Zeit und Gelegen-
heit sich nicht geboten, Auge und Ohr sich nicht spontan genug
hergegeben, um jene Fülle der Gesichte zu erwerben, deren Besitz
dem unentbehrlich ist, der dem ökonomischen Faktor in der Ge-
schichte eine primäre Rolle einräumt. Hier nun war es Engels,
der ihm nicht nur wertvolles Material herbeitrug, sondern ihn auch
das Werkzeug erst recht kennen lehrte, dessen er für das Studium
der sozialen und ökonomischen Erscheinungen bedurfte. In die
praktische Welt hineingeboren und mit reichen Gaben für sie be-
schenkt, erhob er sich dennoch über sie, um aus der Höhe des
Gedankens sie zu überblicken und begreifend zusammenzufassen.
Nicht allein durch die Druckerschwärze mit Politik und Volks-
wirtschaft vertraut, durch persönliche Wirksamkeit mit Groß-
industrie, Handel und Kapital, durch eigenste bei anderen Deutschen
damals noch nicht anzutreffende gründliche Beobachtung mit dem
modernen Proletariat, wie es als Klasse leibhaftig existierte, in Be-
rührung gekommen, war er der berufene Gefährte, mit dessen Hilfe
der abstraktere Geist des anderen sich der lebendigen Wirklichkeit
bemächtigen und den kühnen Eisenbau, den aufzurichten ihm
Bestimmung war, mit Wänden und mit Fenstern versehen konnte.
Selbst auf jenem Gebiet, das Marx später wie kein zweiter be-
herrscht und radikal revolutioniert hat, auf dem der National-
ökonomie, war Engels in dieser ersten Zeit ihrer Bekanntschaft
durchaus der gebende. Es mußte auf Marx starken Eindruck machen,
daß er auf dem Boden dieser von der Hegeischen Schule so vernach-
lässigten Wissenschaft, über Proudhon darin noch hinausgehend,
den kühnen Versuch gewagt hatte, alle ökonomischen Katego-
rien als Gestaltungen des Privateigentums zu entlarven und zu-
gleich das notwendige Herannahen einer kommunistischen Gesell-
schaftsordnung damit dialektisch zu begründen. Wäre solches eigent-
lich nicht Marxens Aufgabe gewesen ? Wollte er beweisen, daß
nicht in dem stolzen Reich der Ideen, sondern in dem irdischen
Reich der Materie die Achse des historischen Geschehens lag —
Gedanken, die zur Zeit der Deutsch-Französischen Jahrbücher,
wenn auch noch nicht generell formuliert, schon in ihm arbeiteten
— so erforderte die Welt der ökonomischen Vorgänge und die in
ihr wirkende Gesetzmäßigkeit seine konzentrierte Aufmerksam-
keit. Diese Welt zu studieren, war dem Denker Gebot, der den
Fortschritt der Kultur an die Aufhebung des Proletariats knüpfte.
Engels Bedeutung für Marx. I97
Der mußte nach den Gesetzen forschen, die jenes hervorgebracht
hatten, und nach den Entwicklungstendenzen, von denen dessen
Beseitigung zu erhoffen war. Die Winke, die er dabei von Engels
erhielt, müssen ihm in jenem Stadium seines Denkens von un-
schätzbarem Werte gewesen sein. Ein neues Licht ging ihm auf,
als dieser ihm die ökonomischen Kategorien aus dem Privateigen-
tum ableitete und damit den Widerspruch zwischen der humanen
Phraseologie und der entmenschenden Praxis des Systems der
freien Konkurrenz enthüllte. Auch was Engels ihm über Krisen,
über Akkumulation und Konzentration sagen konnte, muß auf
ihn mit der Stärke einer Offenbarung gewirkt haben. Noch nach
Jahrzehnten hat sich Marx beim Wiederlesen der Umrisse über
diese ,, geniale Skizze" bewundernd geäußert. Noch 1862 hat er
festgestellt, daß Engels gegen die Grundrententheorie Ricardos da-
mals bereits den entscheidenden Einwand erhoben habe, und noch
1868 beim Beginn der Diskussion mit Dühring beruft er sich auf
das von diesem dort über das Verhältnis von Gesellschaftsform und
Wertbildung Gesagte.
Wie hätte es ausbleiben können, daß die neuen Freunde in
ihrem Wunsch, sich über alle Grundfragen zu verständigen, den
Fortgang des deutschen philosophischen Denkens seit der Unter-
drückung der Rugeschen Jahrbücher eindringlich durchnahmen
und dabei auch über den Berliner Kreis, dem sie einstmals sich
zugerechnet hatten, ihre Gedanken austauschten. Wir stellten bei
Marx das Bedürfnis fest, die Gärung der eigenen Gedanken da-
durch vorwärts zu treiben, daß er sich gerade mit solchen Richtungen
rücksichtslos auseinandersetzte, deren Auffassung bis vor kurzem der
eigenen verwandt gewesen war. Mit leiser Übertreibung ließe sich
behaupten: der Marx von heute focht gegen niemanden leidenschaft-
licher als gegen den Marx von gestern. Nicht in dem gleichen Grade
wie für ihn war, wir erinnern uns dessen, für Engels die prinzi-
pielle Auseinandersetzung mit den einst Gleichgesinnten eine geistige
Notwendigkeit. Er eroberte nicht wie Marx das neue Land fechtend
Schritt vor Schritt, so wenig er es verschmähte, zurückgebliebenen
Gefährten dsis in der Sonne blitzende Schwert entgegenzuhalten!
Engels wäre von sich aus jetzt nicht auf den Gedanken gekommen^
in einer umfangreichen Schrift mit den Berliner Junghegelianern
abzurechnen, die, nachdem die politische Praxis sie enttäuscht,
sich nun erst recht in der reinen Theorie verschanzt hatten und
von dort aus papierne Kugeln auf die einstigen Freunde abschössen,
die mutiger als sie den Stier bei den Hörnern packten und den
,,bloß elementarischen Stoff", die Masse, nicht länger ignorieren
wollten.
Iq8 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Wem sich das Selbstbewußtsein als eine bloße Übermalung
des wirklichen individuellen Menschen enthüllte, wer sich darüber
klar zu sein glaubte, daß die Politik und ihre Geschichte aus den
ökonomischen Verhältnissen zu erklären seien, wer vollends in dem
Industrieproletariat den eigentlichen Träger der kommenden
Menschheitsrevolution erblickte, dem mußte notwendig die ganze
dem reinen Geist entstammende Fragestellung und Wertungsweise
der deutschen Philosophie problematisch werden, während sich
ihm zu den naturv/issenschaftlich befruchteten Ideen des franzö-
sischen Positivismus eine Verbindung leichter herstellte. Mußte
nicht Comtes Behauptung, daß nur die wissenschaftliche Erkennt-
nis der Gesellschaft auch für ihre Reorganisation eine sichere Grund-
lage darbiete, bei Marx und Engels lebhaften Widerhall finden?
Wurde nicht überhaupt seit Saint-Simon das französische Denken
von mannigfachen Kanälen durchzogen, die, ähnlich wie sie beide
es anstrebten, die Vergangenheit und Zukunft verbanden ? War
man nicht in Frankreich bereits allgemein dahin gelangt, die gesell-
schaftlichen Kräfte den politischen mit gewichtigen Gründen über-
zuordnen ? In seinem Artikel gegen Rüge, der im Pariser Vorwärts
gerade erschienen war, als Engels dort eintraf, hatte Marx das
Verhältnis von Staat und Gesellschaft noch einmal scharf unter
die Lupe genommen, den Staat für den tätigen, selbstbewußten und
offiziellen Ausdruck der Gesellschaft und den modernen Staat und
die moderne Schacherwelt für so innig aneinandergeschmiedet er-
klärt, wie den antiken Staat und die antike Sklaverei. Er hatte das
deutsche Proletariat den Theoretiker des europäischen Proletariats
genannt und noch einmal behauptet, daß Deutschland nicht in seiner
ohnmächtigen Bourgeoisie, sondern allein in seinem Proletariat
das tätige Element seiner Befreiung finden werde. Wer aber mit
solcher Überzeugtheit wie Marx, dem Engels sich völlig darin an-
schloß, von der sozialen Revolution, zu der das deutsche Volk einen
ebenso klassischen Beruf habe, wie es zur politischen unfähig sei,
das Heil der Menschheit erwartete, der konnte unmöglich noch,
wie die selbstbewußten Nachzügler Hegels, die politischen, litera-
rischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen für Inhalt
und Wesen der Geschichte ansehen, der durfte nicht länger das
,, theoretische und praktische Verhalten des Menschen zur Natur,
die Naturwissenschaft und die Industrie aus der geschichtlichen
Bewegung ausschließen**, der konnte fernerhin nicht statt der ,, grob-
materiellen Produktion auf der Erde" die ,, dunstige Wolken-
bildung am Himmel" für die ,, Geburtsstätte" der Geschichte halten.
So hatte denn die Stunde geschlagen für die Götterdämmerung des
deutschen klassischen Idealismus; Geist und Idee sollten auf dem
Die Götterdämmerung des klassischen Idealismus. 199
Thron der Zeit, den sie so lange ruhmreich innegehabt hatten,
dem Willen, dem Interesse, der Masse den Platz räumen. Doch
immer wo Götter stürzen, stürzen auch Heiligtümer: und der
Schutt begräbt mit dem Vermorschten gleichzeitig unverlierbare
Schätze, die eine spätere Generation wieder ans Licht fördern muß.
Nun war zwar der spekulative Idealismus in der karikierten
Form, wie die Brüder Bauer ihn ausgebildet hatten, in Wahrheit
kein Gegner, der dem neuen ,, realen Humanismus" so gefährlich
werden konnte, wie Marx und Engels in der damals gemeinsam
aufgesetzten Vorrede zu ihrem noch zu schreibenden Buch glauben
machen wollten. Und die Allgemeine Literaturzeitung in Char-
lottenburg, deren Ausführungen den eigentlichen Stein des An-
stoßes bildeten, fristete, von der Öffentlichkeit kaum beachtet,
ein nur recht kümmerliches Dasein. Aber Marx kam es ja in erster
Reihe auf „Selbstverständigung" an, und da ist es begreiflich, daß
er sich in überschäumender Kampflust über diese Freunde von gestern
hermachte, die mit hohepriesterlicher Überhebung nicht nur das
Selbstbewußtsein für kanonisch erklärten, sondern den spekulativen
Idealismus zum extremen Subjektivismus zurückbildeten, indem
sie „die Kritik", hinter der in Wahrheit nur sie selbst und ein paar
bei ihnen zurückgebliebene Genossen standen, in eine transzendente
Macht verwandelten. Dieser Glaube des Bauerschen Kreises an die
absolute Berechtigung und die außerweltliche Existenz des Geistes,
dessen Generalpächter sie selbst waren, wurde die eigentliche Ziel-
scheibe für den vernichtenden Spott der ,, Kritik der kritischen
Kritik". Allein diesen Titel sollte das Pamphlet ursprünglich führen.
Mit dem anderen, zwar von Marx im vertrauten Kreise gebrauchten,
aber von dem Frankfurter Verleger, weil er diesen für schlagender
und epigrammatischer erachtete, dem Buch eigenmächtig vor-
gesetzten Titel Die Heilige Familie war Engels, der ihn erst im
März 1845 in Barmen auf dem gedruckten Exemplar las, unzu-
frieden, weil er von einer so absichtlichen Irreführung unnötige
Häkeleien mit seinem frommen und damals, wie wir noch sehen
werden, ohnehin gegen ihn aufgebrachten Vater befürchtete. Wenig
einverstanden war er auch damit, daß er ohne jede Einschränkung
neben Marx als Verfasser genannt wurde: ,,Ich habe ja fast nichts
davon gemacht, und Deinen Stil kennt doch jeder heraus. Es sieht
ohnehin komisch aus, daß ich vielleicht ein und einen halben Bogen
und Du über zwanzig drin hast." Ferner beanstandete Engels den
übergroßen Umfang der Streitschrift. Die souveräne Verachtung,
mit der sie gegen die Literaturzeitung auftraten, bildete, wie er richtig
herausfühlte, einen argen Gegensatz gegen die zweiund zwanzig
Bogen, die sie ihr dedizierten. Auch fürchtete er nicht ohne Grund,
200 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
daß ,,das meiste von der Kritik der Spekulation und des abstrakten
Wesens überhaupt dem größeren Publikum unverständlich bleiben
und auch nicht allgemein interessieren** werde. Davon abgesehen
freilich fand er das Buch prächtig geschrieben und zum Krank-
lachen : ,,Die Bauers werden kein Wort sagen können." Er wünschte,
daß bei einer Anzeige der Schrift der Grund angegeben werde, wes-
halb er ,,nur wenig und nur das, was ohne tieferes Eingehen auf die
Sache geschrieben werden konnte", beigesteuert habe. Sein ganzer
Anteil beschränke sich ja auf das, was er während seiner kurzen
Anwesenheit in Paris aufs Papier bringen konnte. So erspart Engels
wenigstens bei dieser ersten mit Marx gemeinsam unternommenen
Arbeit dem Biographen die Mühe, herauszufinden, was an der
Heiligen Familie sein geistiges Eigentum ist. In seinen Bei-
trägen setzte er sich besonders mit Edgar Bauer und mit Julius
Faucher auseinander, mit zwei ihm gleichaltrigen Kumpanen
der gemeinsamen nächtlichen Kneip- und Diskutiergelage im
Kreise der Freien. Für eine nachfolgende grundsätzlichere Aus-
einandersetzung einen willkommenen Auftakt lieferten dem ge-
naueren Kenner der sozialen Lage Englands einige Irrtümer und
Ungenauigkeiten, die sich Faucher in der Literaturzeitung hatte
zuschulden kommxen lassen. Daraus, daß die ,, kritische Kritik
als Herr Julius Faucher" nicht wußte, daß die englischen Ar-
beiter seit 1824 das Koalitionsrecht besaßen, und daß die Zentra-
lisation des Besitzes und deren Folgen für die arbeitenden Klassen
ein drüben häufig erörtertes Problem bildeten, ferner daraus, daß
,,sie" trotz ganz hübscher Studien über die Geschichte der englischen
Industrie in bezug auf die historische Reihenfolge, in welcher die
Fortschritte in der Spinnerei sich vollzogen hatten, Schwupper
machte, zieht Engels selbstsicher und kühn verallgemeinernd gleich
hier die Folgerung, daß die kritische Kritik die Geschichte so,
wie sie wirklich passiert ist, gar nicht anerkennen dürfe, weil sie
damit die schlechte Masse in ihrer ganzen massenhaften Massigkeit
anerkennen würde. Die Kritik, die sich frei gegen ihren Gegenstand
verhalte und für ihre Gesetze rückwirkende Kraft beanspruche,
rufe der Geschichte zu: Du sollst dich so und so zugetragen haben!
Ssi es da ein Wunder, daß die in der Literaturzeitung vorgetragene
,, kritische Geschichte" von der sogenannten wirklichen Geschichte
bedeutend abweiche ? Natürlich ärgerte es Engels, daß der künftige
deutsche Bannerträger des Freihandels die britischen Arbeiter
schlankweg als begeisterte Anhänger der League bezeichnete, aber
seine Behauptung, daß sie diese als ihren einzigen Feind ansähen,
schoß noch weiter über das Ziel hinaus. Noch ungerechter war,
wenn er es Faucher als Verbrechen aufmutzen wollte, daß er Lord
Die Heilige Familie. 201
Ashleys Zehnstundenbill für eine schlappe Justemilieu-Maßregel
hielt, während die Fabrikanten, die Chartisten, die Grundbesitzer,
,,kurz die ganze Massenhaftigkeit" Englands bisher diese Maßregel
für den allerdings möglichst gelinden Ausdruck eines durchaus
radikalen Prinzips angesehen hätten, ,,da sie die Axt an die Wurzel
des auswärtigen Handels und damit an die Wurzel des Fabrik-
systems legen, nein, nicht nur daran legen, sondern tief hinein-
hauen würde". Es war ungerecht, weil zum mindesten die Industrie-
arbeiter nach dem Zeugnis V. A. Hubers, der sich im Juli 1844
bei ihnen gründlich umtat, der Bill weit eher Mißtrauen und Spott
als Dankbarkeit und Vertrauen entgegenbrachten, sodann aber auch,
weil er selbst sich von der Annahme der Bill keinen namhaften
Vorteil für das Proletariat versprach. Denn er glaubte ja damals,
daß bis zum Siege der sozialen Revolution jede Arbeiterschutzgesetz-
gebung unwirksam bleiben müsse.
Tiefer noch in den Kern des Themas der Heiligen Familie
dringt Engels dort, wo er ,,die kritische Kritik als die Ruhe des
Erkennens, oder die kritische Kritik als Herr Edgar" ins Gebet
nimmt und gegen jene bequeme Blasiertheit vom Leder zieht,
die nur Gedankenschöpfungen, besonders die eigenen, für ,, Etwas"
ansehe, aber die manuelle Arbeit, sie besonders, zu niedrig bewerte.
Weil alles Wirkliche, alles Lebendige ihr unkritisch und massen-
haft erscheine und ,, nichts" bedeute, übersehe die ,, Kritik" den
Arbeiter, der bloß ,, einzelnes", das heißt sinnliche, handgreifliche,
geist- und kritiklose Gegenstände schaffe. Wenn aber in Wahrheit
der Arbeiter heute nichts schaffe, so rühre das nur daher, daß
seine Arbeit eine einzeln bleibende, auf sein bloßes individuelles
Bedürfnis berechnete sei, daß die einzelnen zusammengehörigen
Zweige der Arbeit in der heutigen Gesellschaftsordnung gehemmt,
ja gegeneinander gestellt seien, daß die Arbeit noch nicht organisiert
wäre. In Wirklichkeit schaffe der Arbeiter alles, ja so sehr alles,
daß er die ganze Kritik auch in seinen geistigen Schöpfungen be-
schäme ; wovon die englischen und französischen Arbeiter Zeugnis
ablegen kennten. Die Tätigkeit der Kritik bestehe aber nach ihrem
eigenen Ausdruck nur darin, ,, Formen aus den Kategorien des
Bestehenden zu bilden" — nämlich aus der bestehenden Hegel-
schen Philosophie und den bestehenden sozialen Bestrebungen.
Sie sei nur die verwelkte und verwitterte Hegeische Philosophie,
die ihren zur widerlichsten Abstraktion ausgedörrten Leib schminke
und aufputze und in ganz Deutschland nach einem Freier umher-
schiele I Sie sei niemals aus dem Käfig der Hegeischen Anschau-
ungsweise herausgekommen und habe den Anstoß, den Feuer bach
dem deutschen Denken brachte, gar nicht verstanden. Freudig er-
202 Oa-S Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
greift Engels die Gelegenheit, um dem großen Förderer, der ihm den
Weg zur Gattung und deren Aufgaben gewiesen hatte, ein Loblied
anzustimmen. „Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götter-
krieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuer-
bach. Wer hat, zwar nicht ,,die Bedeutung des Menschen" —
als ob der Mensch noch eine andere Bedeutung habe, als die, daß
er Mensch ist! — aber doch ,,den Menschen" an die Stelle des alten
Plunders, auch des ,, unendlichen Selbstbewußtseins" gesetzt?
Feuerbach und nur Feuerbach. Er hat noch mehr getan. Er hat
dieselben Katogorien, womit die Kritik jetzt um sich wirft, den
,wirklichen Reichtum der menschlichen Verhältnisse, den un-
geheuren Inhalt der Geschichte, den Kampf der Masse mit dem
Geiste' etc. etc. längst vernichtet." Hatte man aber einmal den
Menschen als das Wesen und die Basis aller menschlichen Fähig-
keiten und Zustände erkannt, so konnte allein noch „die
Kritik" diesen wieder in eine Kategorie verwandeln. In Wahrheit
sei es nicht „die Geschichte", die Kämpfe kämpfe und überhaupt
irgendetwas tue, sondern der Mensch, der wirkliche, lebendige
Mensch kämpfe und tue alles. Es sei nicht etwa „die Geschichte",
die den Menschen zum Mittel brauche, um ihre — als ob sie eine
aparte Person wäre — Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie sei
nichts, als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.
Wenn „die Kritik" den Kampf der Masse mit dem Geist als das
Ziel der ganzen bisherigen Geschichte bestimme und dem Geist
als das Wahre der Materie gegenüberstelle, so bedeute dies nur
einen ekelhaften Rückfall in den von Feuerbach ein für allemal
überwundenen christlich-germanischen Dualismus. Und wenn sie
dabei den Gegensatz von Geist und Masse mit dem Gegensatz
„der Kritik" und „der Masse" identifiziere, so zeige sie damit,
daß sich für sie der ungeheure Reichtum der Geschichte in dem
Verhältnis der Menschheit zu Herrn Bauer erschöpfe. Diesen von
dem Freunde angesponnenen Faden hat Marx hernach aufgenommen
und vollends offenbar gemacht, daß sich hinter solcher Verzerrung
der Hegeischen Geschichtsphilosophie bloß der kurzatmigste Sub-
jektivismus versteckte.
Bevor er die Feder niederlegte, erteilte Engels den Herren
von der Literaturzeitung, denen sie not taten, einige Belehrungen
über die sozialistische und kommunistische Bewegung in Frankreich
und England. Er warnte davor, den verwässerten Fourierismus
der D^mocratie Pacifique, der nur die soziale Lehre eines Teils
der philanthropischen Bourgeoisie sei, mit dem französischen Kom-
munismus zu verwechseln, diesen aber, weil er noch in eine Menge
verschiedener Fraktionen gespalten sei, wie Bruno Bauer wähnte.
Feuerbachs Leistung. 203
für erschöpft zu halten. Sein Tag komme erst und er werde keines-
wegs der kritischen Kritik zum Gefallen in der abstrakten Theorie,
sondern in einer ganz praktischen Praxis endigen, die sich um die
kategorischen Kategorien der Kritik in keiner Weise bekümmern
werde. Die Kritik der Franzosen und Engländer sei überhaupt
keine abstrakte, jenseitige Persönlichkeit außerhalb der Mensch-
heit, sondern die wirkliche menschliche Tätigkeit von Individuen,
die als werktätige Mitglieder der Gesellschaft fühlten, dächten und
handelten. Darum sei ihre Kritik zugleich praktisch, ihr Kommunis-
mus ein Sozialismus, darum sei die lebendige, wirkliche Kritik der
bestehenden Gesellschaft die Erkenntnis der Ursachen des „Ver-
falls".
Klarer, umfassender und wuchtiger noch tritt freilich dieser
letzte Gedanke in der Heiligen Familie dort hervor, wo Marx
die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats entwickelt und ihm
mit prophetischer Geste ankündigt, es werde das Urteil vollziehen,
welches das Privateigentum durch seine Erzeugung über sich selbst
verhängt habe, es könne und müsse selbst sich befreien, danach
aber werde es mit seinem bedingenden Gegensatz, dem Privat-
eigentum, verschwinden, weil es seine eigenen Lebensbedingungen
nicht aufheben könne, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen
der menschlichen Gesellschaft aufzuheben. Zwischen dem Bewußt-
sein der einzelnen Proletarier und dem Sein des Proletariats als
Klasse zieht Marx hier bereits streng die Grenze und spricht so in
nuce den ihm eigentümlich gehörenden Gedanken aus, daß das
Proletariat, um sich zu befreien, zum vollen Bewußtsein über seine
Klassenlage wie über seine Weltmission gekommen sein müsse.
Marx hat ja niemals beansprucht, hätte auch nicht beanspruchen
können, daß er die Lehre vom Klassenkampf »entdeckt' habe.
Wohl aber meinte er, als der erste nachgewiesen zu haben, daß die
Existenz der Klassen bloß an bestimmte Entwicklungskämpfe der
Produktion gebunden sei, daß der Klassenkampf notwendig zur
Diktatur des Proletariats führe, daß aber diese nur den Übergang
zu einer klassenlosen Gesellschaft bedeute.
So straff wie in diesen Sätzen der Heiligen Familie, die man als
eine erste Skizze für die Linienführung des Kommunistischen Ma-
nifests ansprechen mcchte, hatte bisher weder Marx noch Engels den
Grundgedanken, um dessen immer klarere Herausarbeitung wir sie
in den folgenden Jahren bemüht finden, zum Ausdruck gebracht.
Engels fehlte es, wie wir uns schon gestanden, an dem eisernen
Drang nach konzentrierter Bewußtheit, ohne den die potenzierte
Verstandesenergie des Systematikers sich nicht in Bewegung setzt.
Ohne Eile behagte er sich in dem Reichtum des Details, sobald
204 ^^ Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
ihm das darin sich aussprechende Resultat mit ungefährer Klarheit
entgegenschimmerte, ohne daß ihn das Bedürfnis übermannte,
aus der Fülle die Formel herauszugestalten. Wenn, wie man öfters
behaupten wollte, in ihm und in Marx auch vom bildenden Künstler
etwas steckte, so hatte er mehr vom. Maler, jener mehr vom Bild-
hauer in sich.
Daß er Farbe und Kontur gleich meisterhaft beherrschte,
zeigte sein Werk: Die Lage der arbeitenden Klasse in England
nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, das im Sommer
184s in Leipzig bei Otto Wigand erschien. Dieses entstand aus dem
aus England mitgebrachten Material in den Herbst- und Winter-
monaten in Barmen, wohin er sich eigentlich in der Absicht be-
geben hatte, möglichst schnell wieder zu Marx nach Paris zurück-
zukehren. Das Manuskript war gerade in die Druckerei abgegangen,
als er hier das erste Exemplar der Heiligen Familie erhielt. Es
können also die Gedanken, die Marx dort für den Aufbau ihrer
Geschichtsauffassung beisteuerte, nicht mehr eingewirkt haben.
Ihr gemeinsames Vorwort zur Heiligen Familie hatte ange-
kündigt, sie würden jener polemischen Auseinandersetzung die
selbständigen Schriften folgen lassen, worin sie ,, versteht sich,
jeder von uns für sich" ihre positive Ansicht und damät ihr positives
Verhältnis zu den neueren philosophischen und sozialen Doktrinen
darstellen wollten. Wir wissen nicht, ob Engels bei diesem Ver-
sprechen nicht noch an andere Projekte als an Die Lage der ar-
beitenden Klasse gedacht hat. Jedenfalls ist es ihm in diesem
Hauptwerk seiner Jugendzeit gelungen, seine positiven Ansichten
eindrucksvoll mit der Schilderung zu verflechten.
Der Schrift vorgedruckt war eine englisch abgefaßte Widmung
an die Arbeiterklasse Großbritanniens, deren Leiden, Kämpfe,
Hoffnungen und Aussichten er seinen deutschen Landsleuten ge-
treulich habe darstellen wollen. Er beruft sich auf die offiziellen
und nichtoffiziellen Dokumente, die er studiert, mehr noch auf die
Eindrücke, die er persönlich mit Hingebung gesammelt habe, um
ihre Lage und Beschwerden kennen zu lernen und Zeugnis ablegen
zu können von ihren Kämpfen gegen die soziale und politische
Macht ihrer Unterdrücker. Mit Freude und Stolz erfülle es ihn,
daß er in Manchester seine Mußestunden, statt an den mit Portwein
und Champagner besetzten Tafeln der Industriellen, in Gesellschaft
schlichter Arbeiter verbracht, auf das Studium ihrer Lage ver-
wandt habe. Mit Freude, weil es ihn beglückt habe, so die Reali-
täten des Lebens kennen zu lernen, mit Stolz, weil er so den Anlaß
fand, einer unterdrückten und verleumdeten Klasse gerecht zu
werden und das englische Volk vor der wachsenden Verachtung
Die Lage der arbeitenden Klasse in England. 205
zu bewahren, in die es auf dem Kontinent durch die brutal selbst-
süchtige Politik seiner herrschenden Mittelklasse gerate. Auch
diese kennen zu lernen, habe er reichlich Gelegenheit gefunden und
so begreife und billige er, daß das Proletariat von ihr, deren In-
teresse dem seinen diametral entgegengesetzt sei und die nur seine
Arbeit ausbeuten, es selbst aber dem Hungertod überlassen wolle,
keinen Beistand erwarte. Die Mittelklasse habe nicht einmal ein
lesbares Werk über die Lage der großen Mehrheit der freigeborenen
Briten zustande gebracht; einem Fremden überlasse sie es, der
zivilisierten Welt von den unwürdigen Verhältnissen, unter denen
die englische Arbeiterklasse lebe, Kenntnis zu geben. Freilich sei
er für die Arbeiter kein Fremder, denn freudig habe er wahrgenom-
men, daß diese sich von dem vernichtenden Fluch, dem nationalen
Vorurteil und Dünkel, hinter denen sich nur Eigennutz im großen
verstecke, freigehalten hätten: ,,Ich fand, daß Ihr mehr seid als
bloß Engländer, bloß Glieder einer einzigen, vereinzelten Nation, ich
erfand Euch als Menschen, als Glieder der großen allgemeinen
Familie der Menschheit, die wissen, daß ihr Interesse und das der
ganzen menschlichen Rasse zusammenfalle. Und als solche, als
Glieder dieser Familie der einen und unteilbaren Menschheit, als
menschliche Wesen im nachdruckvollsten Sinne des Wortes, als
solche begrüße ich und viele andere auf dem Festland Euren Fort-
schritt in jeder Richtung und wünschen Euch schnellen Erfolg.
Schreitet voran, wie Ihr es bisher getan habt. Viel bleibt zu erdulden,
seid stark und unerschrocken, Euer Sieg ist gewiß, und kein Schritt,
den Ihr auf Eurem Vormarsch tut, wird verloren sein für unsere
gemeinsame Sache, für die Sache der Menschheit."
In einem Vorwort an die deutschen Leser, das dieser Wid-
mung folgt, gesteht Engels, daß die Schrift ursprünglich nur als
Kapitel des von ihm geplanten umfassenderen Werks über die
soziale Geschichte Englands gedacht gewesen sei, daß aber die
Wichtigkeit des Gegenstands ihn genötigt habe, diesen selbständig
zu bearbeiten. Die Lage der arbeitenden Klasse sei der tatsächliche
Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegen-
wart, die unverhüllte Spitze der bestehenden sozialen Misere, ihre
Erkenntnis also eine unumgängliche Notwendigkeit, um den soziali-
stischen Theorien und den Urteilen über ihre Berechtigung einen
festen Boden zu geben und allen Schwärmereien und Phantastereien
pro und contra ein Ende zu machen. Besonders für Deutschland
habe die Darstellung der klassischen Zustände des britischen Prole-
tariats große und aktuelle Bedeutung. Mehr als jeder andere sei
der deutsche Sozialismus und Kommunismus von theoretischen
Voraussetzungen ausgegangen; die deutschen Theoretiker hätten
2o6 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
von der wirklichen Welt noch viel zu wenig gekannt, als daß die
wirklichen Verhältnisse sie unmittelbar zu Reformen dieser „schlech-
ten Wirklichkeit" hätten treiben können. Von den öffentlichen
Vertretern solcher Reformen sei fast kein einziger anders als durch
die Feuerbachsche Auflösung der Hegeischen Spekulation zum
Kommunismus gekommen. Die wirklichen Lebensumstände des
Proletariats wären so wenig gekannt, daß selbst die wohlmeinenden
Vereine zur Hebung der arbeitenden Klassen, in denen neuerdings
die deutsche Bourgeoisie die soziale Frage mißhandele, fortwährend
von den lächerlichsten Meinungen über die Lage der Arbeiter aus-
gingen. Seien auch die proletarischen Zustände Deutschlands noch
nicht zu der Klassizität ausgebildet wie die englischen, so hätten
wir doch im Grunde dieselbe soziale Ordnung, die über kurz oder
lang auf dieselbe Spitze getrieben sein werde, die sie jenseits
der Nordsee bereits erlangt habe — sofern nicht beizeiten die Ein-
sicht der Nation Maßregeln zustande brächte, durch die das ganze
soziale System eine neue Basis erhielte. Dieselben Grundursachen,
die in England das Elend und die Unterdrückung des Proletariats
bewirkt hätten, seien in Deutschland vorhanden und müßten hier
auf die Dauer dieselben Resultate erzeugen. „Einstweilen wird
aber das konstatierte englische Elend uns einen Anlaß bieten, auch
unser deutsches Elend zu konstatieren und einen Maßstab, woran
wir seine Ausdehnung und die Größe der — in den schlesischen
und böhmischen Unruhen zutage gekommenen — Gefahr messen
können, welche von dieser Seite der unmittelbaren Ruhe Deutsch-
lands droht." Ausdrücklich betont Engels zum Schluß, daß er die
Bezeichnungen Arbeiterklasse, besitzlose Klasse und Proletariat
als gleichbedeutend gebrauche, ebenso daß er das Wort Mittel-
klasse dem englischen Sprachgebrauch entsprechend anwende,
wo es wie das französische Bourgeoisie die besitzende Klasse, speziell
die von der sogenannten Aristokratie unterschiedene Klasse be-
deute — die Klasse, die in England und Frankreich direkt, in
Deutschland aber als öffentliche Meinung indirekt im Besitze
der Staatsmacht sei.
Besonderen Nachdruck legte der Verfasser auf die Feststellung,
daß die Engländer noch kein Buch besaßen, das wie das seine alle
Arbeiterkategorien berücksichtigte. Die englischen Schriften, die
er benutzt, zitiert er ausgiebig — die parlamentarischen Enqueten
wie besonders die Monographien, dagegen scheint er die einschlägige
französische Literatur damals noch nicht gekannt zu haben. Er
erwähnt weder Doktor Villermes Tableau de l'Etat physique et moral
des ouvriers noch, was ihm Vorwürfe eingetragen hat, das in man-
cher Hinsicht vortreffliche Werk des früh verstorbenen Eugene Buret,
Engels und Buret. 207
De la misere des classes laborieuses en Angle terre et en France.
Beide Schriften waren 1840 erschienen. Ein Gelehrter von wissen-
schaftlichem Ruf Charles Andler, möchte das Engelssche Buch nur
als ,,une refonte et une mise au point" des Buretschen gelten lassen.
Uns zeigte sich eine Übereinstimmung nur darin, daß sie, wie es
gar nicht anders sein konnte, für die Beschreibung der englischen
Zustände zum Teil auf dem gleichen Quellenmaterial fußen; hin-
sichtlich der Anlage, der Auffassung, des Ausgangs- und Ziel-
punkts ergab sich uns nicht die mindeste Ähnlichkeit. Ein maß-
voller Sozialreformer aus der Schule Sismondis, der im einzelnen
Careys Einfluß erfahren hat, schildert Buret, wie er selbst bekennt,
,,ohne Leidenschaft, wenn auch manchmal traurigen Herzens"
das gleiche Elend, das Engels zu einer flammenden Anklageschrift
gegen die ganze bestehende Weltordnung fortgerissen hat. Des
Franzosen Wertmaßstäbe bleiben im Naturrecht verankert, seine
leitenden Gesichtspunkte von ethischen Erwägungen erfüllt und von
dem Glauben an die Allmacht einer weisen Gesetzgebung be-
herrscht, während der Deutsche die Dinge historischer betrachtet
und die ökonomischen und sozialen Entwicklungstendenzen, über
die sich der andere in optimistischem Vertrauen auf den Gerechtig-
keitssinn und das wohlverstandene Interesse der Gesellschaft hin-
wegsetzt, zur Erklärung von Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft heranzieht. Während Engels die einzige Rettung von der Fort-
bildung der bestehenden Zustände zum Kommunismus erwartet,
setzt Buret seine Hoffnung auf die völlige Mobilisierung des Grund-
besitzes, auf Sozialpolitik und ein konstitutionelles Fabriksystem.
Obgleich schon Lorenz Stein Buret erwähnt hatte, scheint Engels
das Werk, das ihm nichts Entscheidendes mehr bieten konnte, erst
auf der Durchreise in Paris in die Hände gekommen zu sein. Er
hat später selbst hervorgehoben, was daran mit seinen eigenen
Eindrücken übereinstimmte.
Die Einleitung zu Die Lage der arbeitenden Klasse schildert
die epochemachenden technischen Erfindungen und ihre öko-
nomische, politische und soziale Auswirkung. Sie gibt in glänzender,
spannender Darstellung einen tatsachenreichen Überblick über die
Geschichte der englischen Volkswirtschaft imZeitalter der industriellen
Revolution, über eine Geschichte, die ihresgleichen nicht habe in den
Annalen der Menschheit. Sie erkennt in der Entstehung des mo-
dernen Proletariats die bedeutsamste Folgeerscheinung dieses un-
geheuren Umbildungsprozesses und geißelt die Verständnislosigkeit
der Mittelklasse, die nicht einmal merke, daß der Boden, auf dem
sie lebe, ausgehöhlt sei und in naher Frist mit der Sicherheit eines
mathematischen Gesetzes zusam.menstürzen werde. Der größte
2o8 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Raum des Werks entfällt dann dem Titel gemäß auf die Beschrei-
bung der Lage dieses Proletariats in seinen verschiedenen Schichten :
voraus der Industriearbeiter, danach der Arbeiter in den Berg-
werken und im Ackerbau. Besondere Abschnitte sind der irischen
Einwanderung, den großen Städten, der Wirkung der Konkurrenz
auf das Proletariat gewidmet. Unter der Überschrift ,, Arbeiter-
bewegungen" werden der Chartismus und der englische Sozialismus
behandelt; ein Schlußkapitel untersucht das Verhältnis der Mittel-
klasse zum Proletariat und stellt nach der vorausgegangenen aus-
giebigen Schilderung der sozialen Krankheit die uns schon bekannte
Prognose für ihren Verlauf.
Dadurch, daß das ganze reiche deskriptive Material unter
einem einheitlichen Gesichtspunkt gruppiert war, der auf einer
festen, tief wurzelnden Überzeugung beruhte, entstand unter der
Feder des Verfassers ein Bild von erschütternder Wucht, von un-
erhörter Geschlossenheit, von unwiderstehlicher Werbekraft, das
— mochte seine Parteirichtung auch deutlich hindurchschimmern,
darum nicht minder die Züge der Wahrheit trug. Man täte Un-
recht, wollte man Engels vorwerfen, daß er das grenzenlose Elend
des englischen Proletariats in jener Ära des Frühkapitalismus mit
weniger düsteren Farben richtiger gemalt haben würde. Die offi-
ziellen Enqueten und die Schriften zahlreicher Engländer, die nichts
weniger als revolutionäre Kommunisten waren, lehren uns, wie
unmenschliche Zustände damals dort herrschten. Dennoch ist es
ein gewaltiger Unterschied, ob der Verfasser einer solchen Schilde-
rung eine Besserung der Verhältnisse auf friedlichem Wege gar
nicht mehr in Betracht zieht, oder ob er Reformen noch für mög-
lich und rechtzeitig durchführbar hält. So dachten Victor Aim6
Huber, der 1844 die englischen Fabrikdistrikte besuchte, und Bruno
Hildebrand, der sie 1846 in Augenschein nahm. Sie hielten nicht
wie Engels alles, was das Proletariat selbst auf friedlichem Wege
zur Verbesserung seiner Lage tun könne, für bedeutungslos. Sie
sahen nicht wie jener im Proletariat bloß das willenlose Objekt
aller möglichen Kombinationen von Umständen, das, solange die
gegenwärtige Gesellschaftsordnung bestünde, weder die Selbsthilfe
durch die Gewerkschaften, die bloß gegen kleinere, einzeln wirkende
Ursachen etwas zu erreichen vermöchten, noch andere Mittel und
Maßnahmen aus Sklaven zu Herren der Verhältnisse machen
könnten. Sie gaben zu, daß die Engelssche Darstellung ,,im ganzen"
mit dem übereinstimme, was sie selbst nach wiederholter Anschauung
und nach leidlicher Bskanntschaft mit den authentischen Quellen
übsr die Lage des englischen Proletariats in Erfahrung gebracht
hatten, aber sie beanstandeten, daß Engels alles unbedingt ins
Hubers und Hildebrands Kritik. 209
Schwarze und Schwärzeste malte, daß er die schlimmen Züge
möglichst scharf und grell hinstellte, die besseren möglichst ver-
wischte und verzerrte. ,,Die Einzelheiten sind richtig, aber das
Ganze ist falsch", urteilte Hildebrand. Huber beklagte, daß die
Schrift mit Galle, ja mit Blut und Glut zu Mord und Brand aus-
gemalt wäre. Hildebrand bezeichnete eine so einseitige Schilderung
bloß der Nachtseiten der britischen Industrie und Arbeiterwelt als
ebenso unhaltbar, wie eine Statistik der menschlichen Gesundheit,
die sich bloß auf die Beobachtungen in den Hospitälern gründen
wollte. Er nannte Engels den begabtesten und kenntnisreichsten
unter allen deutschen Sozialschriftstellern, er gab zu, daß sein Werk
,, weniger Lärm als eine große Wirkung" hervorgebracht habe,
aber er rügte, daß er ,,die natürliche Heilkraft des englischen Staats-
körpers** übersah und — zusammenfassend — , daß er unhisto-
risch verfahre, wenn er die ganze bisherige Geschichte nur als
den allmählichen Sündenfall des Menschengeschlechts betrachte.
Beiden bürgerlichen Kritikern, dem ethisch-historischen wie dem
sozial-konservativen, mißfiel selbstredend die kommunistische Ge-
sinnung, die das Buch erfüllte, mochte Hildebrand immerhin die
„sittliche Wärme" anerkennen, in die sich die „Leidenschaft und
Wut** der früheren Arbeiten des Autors gewandelt habe. Huber
beunruhigte besonders, daß Engels alles Schlechte an den Nicht-
besitzenden als Posten in die große Rechnung des proletarischen
Hasses gegen Besitz und Besitzende, gegen Staat und Kirche an-
schrieb. Was er im Tiefsten meinte offen und derb heraussagend,
nannte er es eine moralische Feigheit, jede Verbesserung, jeden
Rettungsversuch von vornherein auszuschließen. Die Frage, ob
„diese hassenden Millionen**, die ganz außerhalb der politischen
und sozialen Zivilisation stünden, den bestehenden Verhältnissen
und den durch diese Begünstigten gefährlich werden könnten,
glaubte er, nicht allein für die Gegenwart, sondern gleich auch für
die Zukunft, soweit sich in diese hinausblicken lasse, verneinen zu
dürfen. Dieser hochstehende Konservative wollte sich von dem
revolutionären Autor nicht einreden lassen, daß der ,, Barrikaden-
popanz" in den geordneten europäischen Staaten noch einmal in
Betracht kommen könne. Seinem mehr seelsorgerisch als politisch
eingestellten Blick erklärt sich das tiefe Elend in dem Aussehen der
Fabrikarbeiter Lancashires weniger aus der rein materiellen Ent-
behrung als aus der Unsicherheit der Arbeitsgelegenheit und der sitt-
lichen und religiösen Rückständigkeit. Er ist überzeugt, daß es keines
Umsturzes der Gesellschaftsordnung, nicht einmal umfassender Ver-
waltungsmaßregeln bedürfe, um das Leben dieser Klasse mensch-
lich glücklicher und in christlichem Sinne würdiger zu gestalten.
Mayer, Friedrich Engels, Bd. I I4
210 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Aber Engels hatte schon in seiner Bremer Lehrzeit sich dem
Geist der Inneren Mission entwachsen gefühlt. Und das namen-
lose Elend der Armen, die barbarische Gleichgültigkeit und egoistische
Härte der Besitzenden, die ihn auf den Straßen Londons, in Man-
chester und Birmingham zuerst mit erschütternder Gewalt gepackt,
hatten ihn ein für allemal überzeugt, daß ,, bornierte Selbstsucht"
das Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft sei und daß, solange
sie bestehe, der soziale Krieg nicht aufhören werde. In der Auf-
fassung, daß der Stärkere den Schwächeren überall unter die Füße
trete und ,,daß die wenigen Starken, das heißt die Kapitalisten,
alles an sich reißen, während den vielen Schwachen, den Armen,
kaum das nackte Leben bleibt", begegnete er, der eben die Aus-
arbeitung seiner ,, Anklageakte gegen die englische Bourgeoisie"
begonnen hatte, sich mit Stirners genial paradoxem Werk Der
Einzige und sein Eigentum, dessen Aushängebogen der gemein-
same Verleger ihm übersandte und das ihm als „vollkommener
Ausdruck der bestehenden Tollheit" erschien. Stirners Egoismus
sei, schreibt er am 19. November 1844 an Marx, nur das zum Be-
wußtsein gebrachte Wesen der jetzigen Gesellschaft und des jetzigen
Menschen. Weil er aber so auf die Spitze getrieben, so toll und zu-
gleich so selbstbewußt wäre, könne er sich in seiner Einseitigkeit
nicht einen Augenblick halten, sondern müsse gleich in Kommunis-
mus umschlagen. Um Stirners Einseitigkeit zurückzuweisen, ge-
nüge es ja, ihm zu zeigen, daß seine egoistischen Menschen not-
wendig aus lauter Egoismus Kommunisten werden müßten, daß das
menschliche Herz von vornherein unmittelbar, in seinem Egoismus
uneigennützig und aufopfernd wäre, daß er also doch wieder auf
das hinauskomme, wogegen er ankämpfe. Für die Beurteilung
des damaligen Standpunkts des Verfassers der Lage der arbeiten-
den Klasse bleibt beachtenswert, daß ihm an Stirners Prinzip
eine Seite doch so wahr erschien, daß er Marx vorschlug, sie
in ihre Theorie aufzunehmen. Wahr dünkte ihm, ,,daß wir
erst eine Sache zu unsrer eigenen, egoistischen Sache machen
müssen, ehe wir etwas dafür tun können, daß wir also in
diesem Sinne, auch abgesehen von etwaigen materiellen Hoff-
nungen, auch aus Egoismus Kommunisten sind, aus Egoismus
Menschen sein wollen, nicht bloß Individuen". Der Egoismus
also, den er früher überhaupt verworfen hatte, gilt ihm jetzt
als der unvermeidliche Ausgangspunkt auch aller altruistischen
Handlungen; die Menschenliebe schwebe sonst in der Luft. Aus-
drücklich aber fordert Engels die Ergänzung des Stirnerschen Ver-
standesegoismus durch den Egoismus des Herzens. Stirners Kritik
Feuerbachs billigte er insofern, als auch er jetzt einräumte, daß
Der Einzige und sein Eigentum. 211
der Feuerbachsche Humanismus seine Abstammung von der
Theologie noch nicht verleugnen könne. ,,Wir müssen vom Ich,
vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen", aber nicht
um wie Stirner drin stecken zu bleiben, sondern um ,,uns von da
aus zu ,dem Menschen' zu erheben". ,,Kurz, wir müssen vom
Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsere Gedanken
und namentlich unser ,Mensch* etwas Wahres sein sollen; wir
müssen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich
selbst oder aus der Luft ä la Hegel." Dieses flüchtig in Briefform
skizzierte Programm forderte also gegenüber der damaligen geistigen
Welt Deutschlands eine Revolutionierung der Wissenschaft; wie
Marx sich mit Feuerbach auseinandersetzen würde, wußte Engels
noch nicht, die Heilige Familie war ihm noch nicht zu Gesicht
gekommen, die berühmten Thesen waren noch nicht niedergeschrie-
ben. Stirners , »materialistische Abstraktion" bedeutete ihm nichts
weiter als einen Anstoß, der vorhandene Gedanken in Bewegung
setzte. Wenn sich Engels also gerade jetzt von „den idealistischen
Flausen", die ihm bei Moses Heß, mit dem er sich eben zusammen-
gefunden hatte, so störten, vollends frei machte, so verdankte er
diese Beschleunigung eines Prozesses, für den die Elemente bei ihm
bereits angesammelt vorlagen, vor allem der intensiven Beschäftigung
mit jenen realen Dingen, zu der ihn die Ausarbeitung seines Buches
nötigte. In jenem Brief an Marx gesteht er, daß ihn das ,, theore-
tische Getratsch" alle Tage mehr langweile und jedes Wort, das
man noch über ., den Menschen" verliere, und jede Zeile, die man
gegen die Theologie und Abstraktion wie gegen den krassen Ma-
terialismus schreiben oder lesen müsse, ärgere. ,,Es ist doch etwas
ganz anderes, wenn man sich statt all dieser Luftgebilde — denn
selbst der noch nicht realisierte Mensch bleibt bis zu seiner Reali-
sierung ein solches — mit wirklichen lebendigen Dingen, mit histo-
rischen Entwicklungen und Resultaten beschäftigt. Das ist wenig-
stens das beste, solange wir noch allein auf den Gebrauch der
Schreibfeder angewiesen sind und unsere Gedanken nicht unmittel-
bar mit den Händen oder, wenn es sein muß, mit den Fäusten reali-
sieren können."
Abgestoßen durch die Unbestimmtheit jener allgemeinen Be-
griffe vom Menschen, vom wahren Menschen, vom wirklichen Men-
schen, vom Gattungsmenschen, die wir ihn und Marx in ihren
Beiträgen zu den Deutsch-Französischen Jahrbüchern noch un-
bedenklich hatten verwenden sehen, überdrüssig auch des Miß-
brauchs, den die Mehrzahl der durch Feuerbach zum Sozialismus
gekommenen Schriftsteller mit diesen Abstraktionen trieben, geht
Engels in die Lage der arbeitenden Klasse jenen Redewendungen
X4*
212 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
des Feuer bachschen Humanismus bereits bewußt aus dem Wege.
Und das wurde ihm nicht mehr schwer, seitdem ihn mit Erlöser-
kraft der Gedanke erfaßt hatte, daß aus der Unvollkommenheit der
herrschenden sozialen Ordnung mit innerem Zwang eine neue,
eine bessere Ordnung entstehen werde. Wir wissen längst, welche
überschwänglichen Hoffnungen er an die große englische soziale
Revolution knüpfte, deren rasches Herannahen er mit Sicherheit
erwartete. Sollte sich aber selbst die bestehende Monopolwirtschaft
noch etwas länger behaupten, so bewies ihm die Theorie von der
Zentralisation des Kapitals, an deren Richtigkeit er nicht zweifelte,
daß die an verheerender Wirkung stets zunehmende Kraft der
Handelskrisen sie zum Untergang verurteilte. Das Proletariat
würde durch den fortschreitenden Ruin des kleinen Mittelstands
in geometrischer Proportion zunehmen und bald die ganze Nation,
mit Ausnahme weniger Millionäre, umfassen. Dann trete der Augen-
blick ein, wo es die Leichtigkeit, die herrschende soziale Macht zu
stürzen, erkennen und die Ravolution durchführen werde.
Als der Hebel des Aufstiegs des Proletariats hatte sich Engels
auf britischem Boden der Klassenkampf enthüllt. Wie aber sollte
er diese brutale Tatsache hinnehmen, wie sich mit ihrer geschicht-
lichen Notwendigkeit abfinden, ohne durch die neue Erkenntnis
mit dem humanistischen Grundgedanken jenes klassischen Idealis-
mus, der sein innerstes Gefühl, seine tiefste Wertungsweise nach
wie vor beherrschte, in Widerspruch zu geraten? Er sagte sich,
daß in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung der ungeheuren
Masse der Menschen, den Arbeitern, allein die Alternative bliebe,
sich in ihr Schicksal zu ergeben und das Interesse des Bourgeois
getreulich wahrzunehmen, aber dann vertierten sie, oder für ihre
Menschheit zu kämpfen und sie zu retten, aber das könne allein
im Kampfe gegen die Bourgeoisie geschehen. Nun erst fühlte Engels
sich im Recht, wenn er den Klassenkampf als das einzige Mittel pries,
das die Arbeiter weiterführte und für die englische Gegenwart
dieses Mittel für fruchtbarer hielt, als ,, Philanthropie und allgemeine
Liebe". Stärker als früher störte ihn nun die bürgerliche Herkunft
des englischen Sozialismus, die es diesem unmöglich mache, sich
mit der Arbeiterklasse zu amalgamieren, während die Chartisten
als die wahren Repräsentanten des Proletariats seinem Herzen
jetzt noch näher gerückt sind. Daran aber hält er fest, daß die
Arbeiterklasse die Herrscherin in England erst werden könne, wenn
der Sozialismus proletarisch und das Proletariat sozialistisch ge-
worden wäre. Anzeichen dieser nahenden Verschmelzung glaubte
er wahrzunehmen.
Als Engels drei Jahre vor seinem Tode zu einer zweiten Auflage
Die künftige soziale Revolution. 213
dieses Jugendwerkes das Vorwort schrieb, hat er bei der unphiloso-
phischen Generation von Lesern, die er im Beginn der Wilhelmi-
nischen Epoche vor sich sah, rechtfertigen zu müssen gemeint,
daß dieses überall die Spuren der Abstammung des modernen
Sozialismus von der deutschen klassischen Philosophie verriet
und deshalb noch großes Gewicht auf die Behauptung legte, daß der
Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse
sei, sondern die Befreiung der gesamten Gesellschaft zum Endziel
habe. „In abstraktem Sinne" wollte auch nach einem halben Jahr-
hundert des Kampfes gegen die Bourgeoisie der alte Engels diese
Wahrheit noch gelten lassen, für die Praxis freilich nannte er sie
jetzt ,, meist schlimmer als nutzlos". Solange die besitzenden Klas-
sen nicht nur selbst kein Bedürfnis nach Befreiung verspürten, son-
dern auch der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse sich mit allen
Mitteln widersetzten, werde die Arbeiterklasse genötigt sein, die
soziale Umwälzung allein einzuleiten und durchzuführen. Der
junge Engels jedoch, mit dem wir es zu tun haben, bekannte sich
voll Begeisterung zu dem Glauben, daß der Kommunismus „eine
Sache der Menschheit, nicht bloß der Arbeiter" sei, daß er seinem
Prinzip nach über dem Zwiespalt zwischen Bourgeoisie und Pro-
letariat stehe und daß er diesen Zwiespalt nur in seiner histo-
rischen Bedeutung für die Gegenwart anerkenne, zum eigent-
lichen Ziel aber dessen Aufhebung habe. Am Schluß seines Werks
befaßte Engels sich noch eingehender mit dem Charakter der
künftigen sozialen Revolution, die sein Gesellschaftsideal in Eng-
land zum Siege führen sollte. Würde diese eintreten, bevor der
Chartismus sich mit kommunistischem Geist ganz erfüllen konnte,
so werde der Krieg der Armen gegen die Reichen der blutigste sein,
der je geführt worden wäre. ,, Selbst der Übertritt eines Teils der
Bourgeoisie zum Proletariat, selbst eine allgemeine Besserung
der Bourgeoisie würde nichts helfen. Die allgemeine Sinnesänderung
der Bourgeoisie würde ohnehin nur bis zu einem schlaffen Juste-
milieu gehen können; die entschiedener den Arbeitern sich An-
schließenden würden eine neue Gironde bilden und als solche im
Lauf der gewaltsamen Entwicklung untergehen. Die Vorurteile
einer ganzen Klasse streifen sich nicht ab wie ein alter Rock." In
dem Verhältnis, fährt er fort, in dem das Proletariat kommunistische
und sozialistische Elemente in sich aufnehme, in demselben Ver-
hältnis werde die Revolution an Blutvergießen, Rache und Wut
abnehmen. Weil der Kommunist begreife, daß der einzelne Bour-
geois in den bestehenden Verhältnissen nicht anders handeln könne,
als er handle, würden dann die Schritte gegen die Bourgeoisie an
Roheit und Wildheit verlieren, und mit Hilfe der Ereignisse würde
214 ^^^ Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
die kommunistische Partei imstande sein, das brutale Element der
Revolution auf die Dauer zu überwinden und einem neunten Ther-
midor vorzubeugen. —
Im Elternhaus war Engels offensichtlich mit dem Entschluß
eingetroffen, den Kaufmannsberuf so schnell wie möglich auf-
zugeben, um sich im Bunde mit Marx der wissenschaftlichen Arbeit
und der Agitation im Dienste des Kommunismus unbehinderter
widmen zu können. Einmal in Barmen, sah er, der mit ganzem
Herzen an den Eltern hing, jedoch bald ein, daß er im günstigsten
Falle einiger Monate bedürfen würde, um einen Plan, der den Tradi-
tionen der Familie so ins Gesicht schlug, diesen auf irgendeine Weise
plausibel zu machen. Sein ungeduldiges Verlangen, schnell zu
Marx zurückzukehren, zügelte im Anfang eine Herzensangelegen-
heit. Als diese Engels eine schwer empfundene Absage gebracht
hatte, stürzte er sich kopfüber in die Ausarbeitung des Buches über
die Lage der arbeitenden Klasse. Anhaltendes Zusammenwirken
am gleichen Orte dünkte den neuen Freunden um so erstrebens-
werter, als sie von der Notwendigkeit überzeugt waren, zuerst als
System, dann als Partei einen neuen Kommunismus aus eigenen
Kräften schaffen zu müssen. Denn der Anschluß an eine der bestehen-
den sozialistischen oder kommunistischen Gruppen konnte für sie
nicht in Frage kommen. Gleich die erste Fühlungnahme mit jenen
Elementen, die sich in rheinischen Städten selbst als Kommunisten
bezeichneten, hatte Engels in der Auffassung bestärkt, daß von
dem Ausbau der Theorie auch der Erfolg der Agitation abhängen
werde. ,, Solange nicht die Prinzipien logisch und historisch aus
der bisherigen Anschauungsweise und der bisherigen Geschichte
und als die notwendige Fortsetzung derselben in ein paar Schriften
entwickelt sind, solange ist es doch alles noch halbes Dösen und
bei den meisten blindes Umhertappen." Für besonders dringlich
erachtete er es, die Zweifel an der praktischen Durchführbarkeit
des Kommunismus, die ihm bei seiner Heimkehr alle Naselang
entgegentraten, zu widerlegen. Bedenken solcher Art zum Schwei-
gen zu bringen, mußte ja eine ,, Lumperei" sein. Er wollte sich an-
heischig machen, eine Broschüre, die das erreichte, in drei Teigen
schreiben zu können. Aber erst in einem Vortrag, den er nach
Monaten in Elberfeld hielt, fand er Gelegenheit, öffentlich auf die
erfolgreichen Gründungen kommunistischer Gemeinschaften in
Amerika hinzuweisen. Daß eine populär gehaltene Beschreibung
jener kommunistischen Siedlungsexperimente, die im Dezember
1844 in dem sofort beschlagnahmten ersten Bande des Deutschen
Bürgerbuchs erschien, von ihm herrührt, läßt sich nicht beweisen.
In der Heimat. 215
Der Hungeraufstand der schlesischen Weber und die Auf-
lehnung der böhmischen Kattundrucker hatten seit dem Frühling
dieses Jahres 1844 die Aufmerksamkeit ganz Deutschlands auf die
bis dahin hier arg vernachlässigten sozialen Fragen gelenkt. Auch
die liberale Presse, die so lange den Pauperismus vornehm ignoriert
hatte, hallte nun wider von Schlagworten wie die Organisation
der Arbeit, Reform der Gesellschaft, Schäden der Konkurrenz und
der Monopole. Sogar Marx stellte fest, daß die Zeitungen in Trier,
Aachen, Köln, Wesel, Breslau, ja selbst in Berlin häufig ganz ver-
ständige soziale Artikel brachten. Daß diese in ihrer Kritik Maß
hielten, dafür sorgte ebenso wirksam der Zensor wie das Eigen-
interesse der Verleger. Der Regierung war es nicht einmal un-
angenehm, daß auf solche Weise die Aufmerksamkeit des Publi-
kums von den für sie vorläufig noch brenzlicheren Fragen wie Preß-
freiheit und Repräsentations Verfassung abgelenkt wurde. Die
Kölnische Zeitung, die stets der öffentlichen Meinung lieber folgte,
als sie führte, veranstaltete eine Sammlung für die Hinterbliebenen
der in den Kämpfen mit dem Militär im Eulengebirge gefallenen
aufrührerischen Proletarier; das hinderte sie aber nicht, den Re-
dakteur Püttmann, der mit Engels in Beziehung stand, sogleich zu
entlassen, als dieser im Feuilleton offen den Sozialismus predigte.
Anfang Juni hatte Georg Jung an Marx geschrieben, daß in der
Kölnischen Zeitung sich jetzt mehr Kommunismus fände als weiland
in der Rheinischen: ,,Alle Tage Pauperismus, Sozialismus etc., der
hat da einen Fetzen gepackt, der da — endlich glaubt's der deutsche
Philister, was man ihm so, ohne ihn zu erschrecken, täglich vor-
summt; ja am Ende würde er auch teilen, wenn man ihm ein paar
Jahre alle Tage sagte: es sei notwendig." So war damals unter dem
Eindruck des qualvollen Todeskampfes der Hausindustrie mit der
Maschine, ähnlich wie später in den achtziger und neunziger Jahren
des Jahrhunderts, eine Elite des Bürgertums vorübergehend für einen
gemäßigten Sozialismus empfänglich geworden. Diese Strömung,
die sogar an Friedrich Wilhelm IV. nicht ganz spurlos vorüberging,
fand bekanntlich ihren bezeichnendsten Ausdruck in der Grün-
dung von Vereinen für das Wohl der arbeitenden Klassen. Ihnen
legte die Regierung solange keine Hindernisse in den Weg, wie sie
sicher zu sein meinte, daß die aufkeimenden kommunistischen
Bestrebungen, die sie mit berechtigtem Mißtrauen überwachte,
in deren Mitte keinen Boden fanden. Zur Beruhigung der Stimmung
der Rheinländer, die besonders seit der Unterdrückung der Rhei-
nischen Zeitung der Regierung zu vielen Klagen Anlaß gab, hatte
es nicht eben beigetragen, als ihnen ein neuer Strafgesetzentwurf
angekündigt wurde, der sie mit der Prügelstrafe und anderen ost-
2 16 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
elbischen Kulturgütern beglücken wollte. Als im Januar 1844
der Polizeiminister sich beim Oberpräsidenten erkundigte, ob man
sich für den Fall von Unruhen auf die Zuverlässigkeit des Militärs
verlassen dürfe, hatte Schaper diese Anfrage so aufgefaßt, als ob
Arnim speziell kommunistische Umtriebe befürchte und ihm
geantwortet, daß der kommandierende General die- Besorgnisse
einer kommunistischen Einwirkung auf die Truppen nicht teile,
daß kommunistische Bestrebungen in der Rheinprovinz nirgends
wahrgenommen seien, und daß er auch nicht für wahrscheinlich
halte, daß solche hier einen günstigen Boden finden würden. Dafür
stünde die niedere Volksklasse zu sehr unter dem Einfluß der katho-
lischen Geistlichkeit, deren hierarchische Tendenz zu der Lehre
der Kommunisten einen so entschiedenen Gegensatz bilde, daß man
die katholische Kirche geradezu als ein Schutzmittel gegen dieses
Gift betrachten könne. Überhaupt sei am Rhein nicht das Prole-
tariat, sondern das gebildete Bürgertum der Träger der Unzu-
friedenheit. Und ihm traue er zu, daß es sich auch des Kommu-
nismus zu bedienen bereit wäre, um dadurch eine Aufregung vor-
zubereiten, welche es hernach in seinem entgegengesetzten Interesse
ausbeuten würde. Über die Unempfänglichkeit des rheinischen
Proletariats für den Kommunismus hätte sich der Oberpräsident
vermutlich einige Monate später weniger zuversichtlich ausgespro-
chen. Der Eindruck, den Engels bei seiner Heimkehr erhielt, war, wie
sein erster Brief aus der Heimat an Marx beweist, der, daß es leicht
sein müßte, eine solche Bewegung unter den Arbeitern ins Leben
zu rufen, wenn die herrschende Unfreiheit nicht jede Möglichkeit,
unmittelbar aufs Volk zu wirken, unterbinden würde. Selbst das
ob seiner Rückständigkeit von ihm früher geschmähte Wuppertal
könnte nun, nachdem die Industrie in seiner Abwesenheit „rasende
Fortschritte" gemacht hätte, einen prächtigen Boden für ihre Be-
strebungen abgeben, sobald es gelänge, seine heißblütigen Färber
und Bleicher in Bewegung zu setzen. Die Arbeiter, schreibt er,
seien seit ein paar Jahren auf der letzten Stufe der alten Zivilisation
angekommen, sie protestierten durch eine reißende Zunahme von
Verbrechen, Räubereien und Morden gegen die alte soziale Organi-
sation. Wenn aber die deutschen Proletarier sich nach demselben
Gesetz entwickelten wie die englischen, so würden sie bald einsehen,
„daß diese Manier, als Individuen gewaltsam gegen die soziale
Ordnung zu protestieren, nutzlos ist, und als Menschen in ihrer
allgemeinen Kapazität durch den Kommunismus protestieren.
Wenn man den Kerls nur den Weg zeigen könnte! Aber das ist
unmöglich."
In der Tat scheiterten alle Versuche, an denen Engels es nicht
Die Stimmung in den Rheinlanden. 217
fehlen ließ, um den heimischen Proletariern so nahe zu kommen wie
den englischen, und sie, die politisch noch im Schlafe lagen, zum
sozialen Befreiungskampf aufzurütteln, an der Wachsamkeit der
Behcrden,die selbst die bescheidenste Arbeiterversammlung nicht ge-
duldet hätten, und an dem konservativen Sinn der Handwerksmeister
und Fabrikbesitzer, die nicht nur stillschweigend darüber einig waren,
ihre Leute vor kommunistischer Infektion zu bewahren, sondern
ihnen sogar in der Regel noch den Besuch eines der zahlreichen
Pietistenvereine zur strengen Bedingung machten. So blieb also Engels
und Heß, mit dem wir ihn um diese Zeit eng verbunden finden,
fürs erste keine andere Wahl, als die vorhandene Empfänglichkeit
des gebildeten Bürgertums für neue soziale Ideen, so gut es ging,
ihren Zwecken dienstbar zu machen. Um Vereine zur Hebung
der arbeitenden Klassen zu stiften, konnte man, ohne die Polizei
zu befragen, Zusammenkünfte ansetzen. An den Diskussionen
über die neuen Probleme, die aus solchem Anlaß stattfanden, be-
teiligte sich Engels um so lieber, als sie ihm die sicherste Gelegen-
heit boten, mit Menschen in Verbindung zu treten, die bereits
einem entschiedenen sozialen Radikalismus huldigten. Nach der
Kölner Versammlung, die im November 1844 die Errichtung eines
solchen Ortsvereins beriet, berichtete er Marx, er entdecke all-
mählich einzelne kommunistische Cliquen, die sich ganz im
stillen ,,und ohne unser direktes Zutun" entwickelt hätten, und
sanguinisch, wie er einmal war, ruft er aus: ,,Man mag sich hin-
drehen und hinwenden wohin man will, man stolpert über Kommu-
nisten." Wie ungeheuerlich er aber in den ersten Wochen nach
seiner Heimkehr die Aussichten für ein schnelles Wachstum der
Bewegung überschätzte, beweist sein Aufsatz: Rapider Fortschritt
des Kommunismus in Deutschland, der am 14. Dezember 1844
in The New Moral World erschien. Er verkündet hier den eng-
lischen Sozialisten, daß sich in der kurzen Spanne eines einzigen
Jahres in Deutschland eine starke sozialistische Partei gebildet
hätte. Zwar stütze diese sich nur erst auf die Mittelklasse, aber sie
hoffe schon bald auch in Fühlung mit der Arbeiterklasse zu kommen,
die immer und überall die Stärke und den Körper einer sozialistischen
Partei ausmachen müße. Dann folgen einige recht unbestimmte
Angaben über einen angeblichen Plan, eine sozialistische Kolonie in
der Art von Harmony und Queenwood in Deutschland zu gründen,
Mitteilungen über die sozialistischen Zeitungen, als welche die
Triersche und der Sprecher in Wesel bezeichnet werden, und über
die bedeutendsten Persönlichkeiten der Bewegung, wobei er Marx,
Heß, Karl Grün, Lüning, Püttmann und sich selbst namhaft macht.
An den Schluß setzte er eine englische Übertragung des Heineschen
21 8 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England,
Weberlieds, das der Vorwärts jüngst zum erstenmal veröffentlicht
hatte. Die Bemerkung, daß auch dieser ,, bedeutendste Dichter
Deutschlands" Sozialist sei, zeigt uns, wie völlig er diesem sein
„nichtswürdiges Werk über Börne" inzwischen verziehen hatte.
Einen ,, aparten Spaß" machte es dem jungen Engels, die
kommunistische Literatur in Deutschland einzubürgern. Mochten
sich jetzt die bürgerlichen Blätter, der Modeströmung folgend, mit
den sozialen Problemen befassen, so täuschte er sich doch nicht
darüber, daß der neue Handelsvertrag mit Belgien, der Ausbau
der Eisenbahnen, die Ermäßigung des Briefportos dem Bürgertum
ganz anders am Herzen lagen als der Kampf gegen die Ausbeutung
der kindlichen Arbeitskraft und die Hungerlöhne in der Haus-
industrie. Sollte die kommunistische Bewegung sich ausbreiten,
so mußte sie über selbständige Organe verfügen. Vorübergehend
glaubte Engels ein solches in dem Gemeinnützigen Wochenblatt
des Kölner Gewerbevereins gefunden zu haben, das früher mit der
Rheinischen Zeitung verknüpft gewesen war und das unter d 'Esters
Redaktion im Februar und März 1845 Artikel über die freie Kon-
kurrenz und über Gewerbe vereine brachte, die ganz in seine Kerbe
hieben. Aber selbst wenn es auf diesem Wege geblieben wäre, hätte
ein im wesentlichen technisches Blatt wie dieses nicht ausgereicht,
um ,,den vielen Halbwissenden, die gern wollen, aber nicht allein
fertig werden können, einen gehörigen Anhaltspunkt zu geben".
Dem Deutschen Bürgerbuch und den Rheinischen Jahrbüchern zur
gesellschaftlichen Reform, deren Herausgeber, der „durstige Kin-
dervater" Püttmann, nur als eine Art Strohmann für Heß und Engels
gelten kann, und die ursprünglich als Vierteljahrschriften gedacht
waren, schnitt der Zensor rasch den Lebensfaden durch. Diesem
hatte das Buch des „wahrhaft wissenschaftlich gebildeten" Engels
die Hoffnung geweckt, daß vielleicht die französischen Kommu-
nisten durch die ruhigeren englischen aus den deutschen Blättern
verdrängt werden könnten; nun aber standen ihm die Haare zu
Berge im Angesicht der ,,fast dämonischen Konsequenz", mit der
in den ,, gemeingefährlichen" Jahrbüchern der krasseste Kommunis-
mus auf die deutschen sozialen und politischen Zustände an-
gewandt wurde. Mit dem Bestreben, der entstehenden Partei
einen Ausweg in die Öffentlichkeit zu bahnen, in unmittelbarem
Zusammenhang stand eine Reise, die Engels Mitte November nach
Westfalen in der Absicht unternahm, mit Dr. Otto Lüning in Rheda,
dem Herausgeber der Wochenschrift Das Weserdampfboot und dem
um diesen sich gruppierenden Kreis bürgerlicher Sozialisten Bezie-
hungen herzustellen. In einer übrigens ungedruckt gebliebenen
kleinen Satire hat er zwei Jahre später dem Dampfboot, dessen
Kommunistische Projekte. 210
weiches Gemüt ,, Milchreis mehr als spanischen Pfeffer liebe",
seine Harmlosigkeit zum Vorwurf gemacht. Vorläufig aber zog
er dort, wo es sich um die Erreichung praktischer Ziele handelte,
zwischen dem eigenen revolutionären Standpunkt und dem der an-
deren, welche die soziale Not mit friedlichen Mitteln für überwind-
bar hielten, noch nicht so rigoros den Trennungsstrich. Vollends
Heß pries noch mit vollen Backen die Menschenliebe als die trei-
bende, nur der Freimachung bedürftige, Kraft der Geschichte. Die
beträchtlichen Geldmittel und die eigene Druckerei, über die jene
Gruppe verfügte, stachen Engels ins Auge. Selbst als radikal be-
kannte Verleger entschlossen sich nicht leicht zu dem Opfer, das
mit dem Verlag von Schriften verbunden war, deren ganze Auflage
oft schon in der Druckerei beschlagnahmt oder doch nach dem
Erscheinen verboten und eingezogen wurde. Nur einem Geschäft,
das überzeugten Parteigenossen gehörte, durfte man dieses Risiko
häufiger zumuten. Der Berliner Polizeidirektor Duncker, der im
Oktober 1845 unerkannt in den Kreis hineinschnüffelte, berichtete
seinem Chef, daß Lüning und dessen Gesinungsgenossen, der Par-
ticulier von Baer in Rietberg und Julius Meyer zu Schloß Holle,
außer mit anderen Kommunisten, die namhaft gemacht werden,
,,mit einem Fabrikanten Friedrich Engels in Barmen" in dem
engsten Verkehr stünden. Doch als früherer Oberpräsident in
Coblenz durchschaute der Minister von Bodelschwingh, daß hier
eine Verwechslung von Sohn und Vater vorlag und schrieb an den
Rand des Aktenstücks: „Friedrich Engels in Barmen ist ein durch-
aus zuverlässiger Mann, aber er hat einen Sohn, der ein arger Kom-
munist ist und sich als Literat umhertreibt; es ist möglich, daß er
Friedrich heißt." Die Verhandlungen mit den westfälischen Sozia-
listen, die hernach von Heß fortgesetzt wurden, versprachen anfangs
Erfolg. Verabredet wurde die Gründung einer Vierteljahrschrift,
mit Marx, Engels und Heß als Herausgebern. Auch die Veröffent-
lichung einer Bibliothek von Übersetzungen englischer und fran-
zösischer Sozialisten, zu der Engels, Marx und Heß Einleitungen
schreiben wollten, kam zur Erörterung. Dieses Projekt, an dem
sie lange festhielten, war Engels und Marx ungefähr gleichzeitig
gekommen. Marx scheint dabei mehr an eine Quellensammlung
zur Geschichte des Sozialismus gedacht zu haben, während Engels
größ2ren Nachdruck darauf legte, „von vornherein mit Sachen an-
zufangen, die von praktischer, einschlagender Wirkung auf die
Deutschen" seien und die es ihm und dem Freunde ersparen sollten,
„das noch einmal zu sagen, was andere vor uns gesagt haben".
Ursprünglich gedachte Marx die Franzosen, Engels die Engländer
zu übernehmen. Mit Owen wollte er den Anfang machen, aber
220 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Godwin fortlassen, weil dieser in seinen Resultaten so antisozial wäre.
Später hat er wohl beabsichtigt, zuerst Fourier zu übersetzen, von
dessen Kritik der bestehenden Gesellschaft er sich wegen ihrer
Allseitigkeit eine ganz besondere agitatorische Wirksamkeit ver-
sprach. Aber das Fragment Fouriers über den Handel, das, von
ihm eingeleitet, 1846 im Deutschen Bürgerbuch erschien, blieb
die einzige Übertragung, die zur Ausführung kam.
Besser erging es einem anderen literarischen Projekt, das
Engels damals ersann. Er und Heß wollten das gesteigerte Inter-
esse des Publikums für die sozialen Probleme ausnutzen, um
eine Monatsschrift ins Leben zu rufen, die, ohne durch eine ein-
gestandene kommunistische Tendenz ihre Existenz sofort zu ge-
fährden, über die der Wissenschaft wie dem Publikum noch gleich
unbekannte Lage der arbeitenden Klasse Deutschlands fort-
laufenden Bericht erstatten sollte. Dies war, wie Huber feststellte,
der erste bewußte und konsequent durchgeführte Versuch der Tages -
presse, die destruktive Kritik, welche bisher sich hauptsächlich auf
politischem oder religiösem Gebiet bewegt hatte, auf die Verhält-
nisse des Besitzes zur Besitzlosigkeit, der Arbeitgeber zu den Ar-
beitern anzuwenden: ,,Ein Unternehmen, welches in würdigeren
Händen ein wahres Bedürfnis der Zeit hätte befriedigen und mög-
liche Verbesserungen verbreiten können, während es hier mit
gewissenloser Leidenschaftlichkeit Wahres, Unwahres, Halb-
wahres, Übertriebenes zu kommunistischen Zwecken mitbrauchte."
(Janus I847 S. 727.) Dem Verleger Julius Baedecker in Elberfeld,
einem recht ängstlichen Herrn, stellten Engels und Heß es so dar,
als ob sie die Stiftung eines unpolitischen Volksblatts beabsichtigten,
das bloß Tatsachen bringen, an der materiellen und geistigen He-
bung der unteren Klassen arbeiten und den auf dieses Ziel gerich-
teten neuen Vereinen als Organ dienen wollte. Was sie in Wirklich-
keit im Schilde führten, verriet Heß in einem Brief an Marx vom
17. Januar 1845, der sich den Ausspruch Buhls zu eigen machte:
„Man muß die Tatsachen entstellen.** Die Redaktion übernahm
Heß, der zu diesem Zweck nach Elberfeld übersiedelte. Der Unter-
titel ,, Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur
Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart**,
sollte auf Baedeckers Wunsch der Regierung zeigen, daß der
,, Gesellschaftsspiegel** bloß die Interessen des Proletariats bespre-
chen, nicht dessen Organ werden wollte. Dennoch war diese von der
Gefährlichkeit des Unternehmens von vornherein überzeugt. Sollte
sie dulden, daß ein Blatt in den Arbeiterkreisen selbst Verbreitung
fand, das durch die Erörterung von Notständen die Masse indirekt
zur Selbsthilfe aufreizte ? Jedes neue Heft erregte ihr Mißbehagen ;
Der Gesellschaftsspiegel. 221
gegen Engels Buch ,,als solches" hatte sie nichts unternehmen
können, aber ,,wenn der darin enthaltene Stoff in solche Kanäle
geleitet" wurde, ,,so änderte sich die Sache". Auf ihre Verwarnung
kroch der Verleger zu Kreuze, gab Heß preis, der über die belgische
Grenze entwich, bat den Minister, selbst einen Redakteur zu er-
nennen und war zufrieden, als ihm ein ehemaliger Premier leutnant
als Redakteur empfohlen wurde. Nun hat Engels, der, als diese Vor-
gänge sich abspielten, schon im Ausland weilte, von der sichtbaren
Mitarbeit am Gesellschaftsspiegel vielleicht um seiner am Orte
wohnenden Familie willen sich von Anfang an zurückgehalten. Im
Prospekt glaubt man seine Feder dort zu bemerken, wo jener
, .sogenannte Sozialismus" verspottet wird, der heuchlerisch seine
Teilnahme an den Leiden der Menschheit zur Schau trage, wenn
dieselben einmal zum politischen Skandal geworden seien, der aber,
sobald die Unruhen aufhörten, die armen Leute ruhig wieder ver-
hungern asse. Später druckte der Gesellschaftsspiegel nur Ab-
schnitte aus der Lage der arbeitenden Klasse ab, wobei das Gedicht
vom König Dampf um der Zensur willen einige Milderungen erfuhr.
Sonst aber scheint der Barmer Fabrikantensohn nicht einmal zu
dem gleich im ersten Heft abgedruckten Artikel: Das gesegnete
Wuppertal, der dem von Heß angezogenen Buhischen Motto alle
Ehre machte, Material geliefert zu haben. Und nach seiner Ab-
reise hat er, obgleich Heß ihn um Beiträge drängte, die Hand nur
noch dort im Spiele gehabt, wo es sich um die Abwehr von An-
griffen auf die Heilige Familie und die Lage der arbeitenden Klasse
handelte.
Seit er 1838 zum erstenmal in die Fremde hinausgezogen war,
hatte er niemals wieder wie jetzt Monate hindurch im Elternhause
zugebracht. So kim ihm nun erst mit voller Deutlichkeit zum Be-
wußtsein, wie unüberbrückbar die Kluft geworden war, die seine
Überzeugungen und Wünsche von den traditionellen Gesinnungen
trennte, die in dem alten Hause am Engelsbruch maßgebend
geblieben waren. Es scheint, daß er bis dahin seine publizistische
Tat gkeit für Ideen, die der stockkonservative Vater niemals billigen
konnte, vor diesem noch verborgen gehalten hatte. In ihrem Hinweis
auf das Erscheinen der Deutsch-Französischen Jahrbücher, wo er,
wie wir wissen, mit seinem Namen zuerst hervortrat, nannte die
Barmer Zeitung, die den Wünschen der angesehenen Familie Rech-
nung trug, ihn noch mit seinem alten Pseudonym Friedrich Oswald.
Doch nun wollte er endlich mit dem Vater über die weitere Gestal-
tung seiner Zukunft zu einer Verständigung gelangen, und da durfte
er die Rücksichtnahme auf diesen nicht zu weit treiben. Während
jenes Liebeshandels mit einem der jungen Mädchen, die gleich nach
222 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
seiner Heimkehr die Verlobung seiner Schwester Marie mit dem in
London ansässigen Landsmann Emil Blank in das elterliche Haus
führte, hatte er sich durch Heiratsgedanken, durch das Zureden
des ihm persönlich wie politisch näherstehenden neuen Schwagers
und durch die trübseligen Gesichter der Eltern, die seine Pläne
errieten, bestimmen lassen, noch einmal im Kontor der väterlichen
Fabrik die Arbeit zu versuchen. Doch schon vierzehn Tage reichten
hin, ihm klar zu machen, daß es so nicht ging: ,,Der Schacher ist
zu scheußlich," gestand er Marx in einem Brief vom 20. Januar
1845, „Barmen ist zu scheußlich, die Zeitverschwendung ist zu
scheußlich, und besonders ist es zu scheußlich, nicht nur Bourgeois,
sondern sogar Fabrikant, aktiv gegen das Proletariat auftretender
Bourgeois zu bleiben. Ein paar Tage auf der Fabrik meines Alten
haben mich dazu gebracht, diese Scheußlichkeit, die ich etwas
übersehen hatte, mir wieder vor die Augen zu stellen. Ich hatte
natürlich darauf gerechnet, nur solange im Schacher zu bleiben,
als mir paßte, und dann irgend etwas Polizeiwidriges zu schreiben,
um mich mit guter Manier über die Grenze drücken zu können,
aber selbst bis dahin halte ich 's nicht aus. Wenn ich nicht täglich
die scheußlichsten Geschichten aus der englischen Gesellschaft
hätte in mein Buch registrieren müssen, ich glaube, ich wäre schon
etwas versauert, aber das hat wenigstens meine Wut im Kochen
erhalten. Und man kann wohl als Kommunist der äußeren Lage
nach Bourgeois und Schacher vieh sein, wenn man nicht schreibt,
aber kommunistische Propaganda im großen und zugleich Schacher
und Industrie treiben, das geht nicht. Genug, Ostern gehe ich hier
fort."
Kämpfe mit der Welt, der er entstammt, bleiben keinem durch
inneres Gebot vorwärts getriebenen Geist erspart, wenn das neue
Gesetz, dem er gehorcht, in Widerstreit gerät mit der Tradition,
in der er erzogen wurde. Das „erschlaffende Leben in einer ganz
radikal christlich-preußischen Familie", von dem er befürchtete, es
werde ihn noch dazu bringen, das Philisterium in den Kommu-
nismus hineinzutragen, wurde dem jungen Brausekopf um so un-
erträglicher, je mehr sich in der nächsten Zeit der Konfliktsstoff
zwischen ihm und seinem , »fanatischen und despotischen Alten"
anhäufte. Der Vater mochte nun wohl einsehen, daß er seinen
Lieblingswunsch, den ältesten Sohn als seinen Nachfolger in der
Firma heranziehen zu können, beiseite stellen müsse. Er erklärte
sich bereit, Friedrich für wissenschaftliche Studien im nahen
Bonn die Gelder auszusetzen, doch lehnte er es mit Entschieden-
heit ab, ihn für kommunistische Zwecke irgendeiner Art zu unter-
stützen. Zu seinem Schmerz hatte er in Erfahrung gebracht, daß
Im Elternhaus.
223
der Filius sich nicht scheute, unter seinem Dach kommunistische
Propaganda zu treiben, und daß die Polizei den Besuchern, die Fried-
rich empfing, auf die Spur gekommen war. Der Konflikt kam vollends
zum Ausbruch, als der Sohn dem angesehenen Fabrikanten und
Kirchenältesten jetzt den Schmerz antat, in öffentlicher Versammlung
in Elberfeld als kommunistischer Redner aufzutreten. Engels
klagte Marx am 17. März, daß nun neben dem ,, religiösen Fana-
tismus" und dem Ärger über seine Erklärung ,,den Schacher defini-
tiv dranzugehen", sich in dem Alten ,,noch ein glänzender Bourgeois-
fanatismus" entwickelt habe. Da er ,,in vierzehn Tagen oder so"
weggehe, wolle er keinen Krakeel mehr anfangen und lasse alles
über sich ergehen. Aber ,,wär's nicht um meiner Mutter willen,
die einen schönen menschlichen Fonds und nur meinem Vater
gegenüber gar keine Selbständigkeit hat, und die ich wirklich liebe,
so würde es mir keinen Augenblick einfallen, meinem fanatischen
und despotischen Alten auch nur die elendste Konzession zu
machen".
Einmal geweckt, zeigte sich die Teilnahme an der Not der
besitzlosen Volkskreise im industriellen Wuppertal, wo die sozialen
Schäden in jener industriellen Frühzeit so breit, so offen und un-
bestreitbar zutage lagen, echter und nachhaltiger als in den Han-
delsstädten des Rheintals. Überdies war der Boden für auf ethische
Postulate zurückgehende Erörterungen durch den herrschenden
Pietismus hier besser als dort vorbereitet. Beriefen sich die Fabri-
kanten auf die im Vergleich zu den meisten übrigen Gegenden
Deutschlands hohen Arbeitslöhne, so bekamen sie zu hören, daß
in den beiden Schwesterstädten auch alle Lebensmittel besonders
teuer wären. Bald begnügte man sich nicht mehr, in privaten Ge-
sprächen solche und ähnliche Antworten zu geben. Die Erkenntnis,
daß eine dauernde Besserung nur durch tiefgreifende Reformen
zu erzielen wäre, bemächtigte sich weiterer Kreise. Aber was sollte
eigentlich geschehen ? Darüber gingen die Ansichten weit aus-
einander. Dem Gesichtskreis der Wuppertaler Großbürger am
nächsten lag natürlich die karitative Fürsorge auf christlicher
Grundlage. Doch gleich in den ersten Versammlungen, die hier
wie an anderen Orten einen Verein, um die Sache in die Wege zu
leiten, begründen sollten, ergaben sich zur nicht geringen Belustigung
des jungen Engels stürmische Gegensätze zwischen den Pastoren
und ihrem stattlichen Anhang, welche die Bibel und die christliche
Religion als die einzig zulässige Grundlage für die Hebung der
Volksmassen anerkannt wissen wollten, und den Rationalisten, die
alles spezifisch Christliche aus den Statuten verbannten. Es erfolgte
eine Spaltung und jede Richtung ging gesondert vor. Die durch
224 ^^^ Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
diese Vorgänge in den kleinstädtischen Verhältnissen Elberfeld-
Barmens hervorgerufene Erregung machten sich Engels und Heß
zunutze, um ihre soviel weitergehenden Forderungen einmal einem
größeren Hörerkreis vorzutragen als ihrem engeren Anhang, der
sich hauptsächlich aus Handelsangestellten, Agenten, Literaten,
aber weder aus Arbeitern noch aus Arbeitgebern zusammensetzte.
Für den Abend des 8. Februar verabredeten sie und der Maler Kött-
gen, der zu ihnen hielt, mit einer Anzahl von Beamten und jungen
Kaufleuten, die sich über die Ziele und die Durchführbarkeit des
Kommunismus näher zu unterrichten wünschten, eine private
Zusammenkunft in ein besseres Bierlokal. Dabei fanden sich gleich
diesmal mehr Hörer ein, als sie erwartet hatten, und einige Tage
später, als die Diskussion fortgesetzt werden sollte, führten sie das
Wort vor über hundert Menschen. Ganz Elberfeld und Barmen von
„der Geldaristokratie bis zur 6picerie, nur das Proletariat aus-
geschlossen, war vertreten". So berichtete Engels an Marx. Ob-
gleich auch die Staatsanwälte und das ganze Landgericht es sich
nicht hatten nehmen lassen, zu erscheinen und der Obsrprokurator
sogar mitdiskutierte, wurden der Polizei diese Unterhaltungen un-
behaglich. In Abwesenheit des Landrats wußten die städtischen
Bshörden anfangs um so weniger, was zu tun wäre, als die Redner,
wie Engels erzählt, „schlau genug gewesen waren, ihnen keine Hand-
habe zu bieten". Als jedoch bei einer dritten Zusammenkunft am
22. Februar der Andrang ein ungeheuerlicher wurde, verbot der
Oberbürgermeister dem Besitzer des Lokals dessen weitere Her-
leihung, und ein Reskript der Regierung in Düsseldorf, das Engels,
Heß und Köttgen zugestellt wurde, untersagte, angeblich auf die
Meldung, daß das nächste Mal auch eine Arbeiterdeputation er-
scheinen würde, unter Androhung von Gewaltmaßnahmen end-
gültig die weitere Abhaltung derartiger Zusammenkünfte.
Über den Verlauf dieser vielleicht frühesten sozialistischen
Versammlungen auf deutschem Boden besitzen wir einen inte-
ressanten Bericht des Wuppertaler Lyrikers Adolf Schults, der
dabei zugegen war: Um der Sache einen möglichst harmlosen
Anstrich zu geben, hatte man Harfenmädchen bestellt, und so
konnte das Ganze für eine musikalisch-deklamatorische Abend-
unterhaltung gelten. Zur Eröffnung der Versammlung wurden,
nachdem besagte HeU-fenistinnen präludiert, etliche Gedichte von
Wolfgang Müller und H. Püttmann vorgetragen, deren Stoff dem
sozialen Leben der Gegenwart entnommen war und die ihre Wir-
kung auf die Gemüter der Anwesenden nicht verfehlten. Dann
hätten Heß und Engels (Schults spricht von Friedrich Oswald!)
das Wort zu Vorträgen ergriffen, die aber, da beiden das eigentliche
Kommunistische Agitation. 225
Redetalent mangelte, weit weniger Effekt machten, als die darauf-
folgenden Reden zweier rheinischer Juristen, die sich mit ihnen
verbündet hatten. Von diesen war der eine der für die Gründung
sozialer Vereine sehr tätige Bergenroth aus Köln, der sich damals
unter anderem auch mit dem Plan einer Arbeiter • parkasse trug,
deren Gelder für die Errichtung von korporativen Werkstätten,
sogenannten Industriehallen, flüssig gemacht werden könnten.
Die Fabrikanten, die sich aus Sensationslust zu der zweiten und
dritten Versammlung zahlreich eingefunden hatten, begnügten sich,
mit unartikulierten Lauten und jeweiligem Hohngelächter ihr Miß-
fallen auszudrücken. Die Verteidigung der kapitalistischen Gesell-
schaftsordnung überließen sie dem Direktor ihres Stadttheaters,
dem Lustspieldichter Roderich Benedix. Er war der Opponent,
der Friedrich Engels bei seinem frühesten öffentlichen Auftreten
von der Unmöglichkeit des Kommunismus überzeugen wollte.
Je mehr Gründe der Verfasser der Zärtlichen Verwandten gegen
die Notwendigkeit und Möglichkeit einer wirklichen Reform des
Bestehenden vorbrachte, um so lauteren Applaus spendeten ihm die
,, Besitzenden", um so ostentativer wurde dem wackeren Verteidiger
des Eigentums von den Notabein zugetrunken. Selbstverständ-
lich riefen des Lustspieldichters Einwürfe lebhafte Erwiderungen
der Kommunisten hervor, und die Debatten wurden zuletzt sehr
heftig.
Die Reden, die Engels und Heß an diesen Abenden hielten,
kennen wir aus einem Bericht, den sie selbst für die Rheinischen
Jahrbücher niedergeschrieben haben. Dieweil es ein Protokoll nicht
gab, glaubte Engels sich berechtigt, seine Ausführungen für den
Druck etwas auszuweiten und abzurunden. Und Heß mag es ähnlich
gehalten haben. Auch schien es ihnen angemessen, ihre an drei
Abenden gemachten Ausführungen in der Darstellung zu ver-
schmelzen. Während nun aber Heß hier in seiner verschwommenen
Manier den Kommunismus als das Lebensgesetz der Liebe seinen
Hörern anpries und die Revolution für vermeidbar erklärte, wenn
man der Menschlichkeit zum Siege verhelfe, hatte Engels, der dieses
Publikum besser kannte, es für schicklicher erachtet, durch die
scharfe Gruppierung von Tatsachen sich an den Verstand seiner
Landsleute zu wenden, an ihren praktischen Sinn, an ihren
kaufmännisch geschulten Geist. Mit scharfen, klaren Strichen,
mit ernster Sachlichkeit hatte er ihnen die Unvernunft des Systems
der freien Konkurrenz zu Gemüte geführt, die mit ihrem chaotischen
Gewoge jede Organisation von Produktion und Verteilung aus-
schlösse, den Mittelstand vernichte, die Krisen heraufbeschwöre,
zur Konzentration der Kapitalien dränge und schließlich dahin
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I I5
226 Das Bündnis mit Marx. — Die Liige der arbeitenden Klasse in England.
führe, daß wenige Reiche und viele Arme sich schroff und unver-
mittelt gegenüberständen, bis dann die allgemeine Not eine Reor-
ganisation der Gesellschaft nach vernünftigeren Prinzipien erzwin-
gen werde. Diesem Zustand der Gegenwart, an dessen Unhaltbar-
keit er keinen Zweifel dulden wollte, hatte er jenen anderen, dem er
die Zukunft zusprach, entgegengehalten, den kommunistischen, der
die Interessen der einzelnen nicht mehr trennte sondern vereinigte,
der die Klassenunterschiede aufhob und die Krisen mit ihrer Ver-
geudung von Kapital und Arbeit beseitigte. Den Fabrikanten unter
seinen Zuhörern hatte er vorgerechnet, wie viele Spekulanten, Ex-
porteure, Kommissionäre, Spediteure, die mit der Ware selbst
keine Veränderung vornehmen, von einem Baumwollballen leben
wollten, bevor dieser in die Fabrik käme, und wie ein solcher Unfug
aufhören werde, sobald erst einmal eine Zentralverwaltung die
Statistik gehörig organisiert hätte. Fielen erst die sozialen Abstufun-
gen und Unterschiede weg, so würden auch die Verbrechen gegen das
Eigentum aufhören, Ziviljustiz und Kriminaljustiz überflüssig wer-
den und einfache Schiedsgerichte ausreichen. Polizei und Ver-
waltung fänden nichts mehr zu tun in einer Gesellschaft, wo das
öffentliche Interesse sich von dem jedes einzelnen nicht mehr
unterscheiden würde. Ebensowenig bedürfe man dann noch stehen-
der Heere: innere Unruhen wären nicht mehr zu befürchten,
denn nur aus der Opposition der Interessen entspränge die Furcht
vor der Revolution ; Angriffskriege würde man nicht mehr führen,
da man sich hüten werde, Menschen und Kapital aufs Spiel zu setzen,
um bestenfalls ein paar widerwillige Provinzen zu erlangen ; für
einen Verteidigungskrieg genügten aber Miliz und Volksbewaffnung.
Werde erst jeder einen wirklichen Herd zu verteidigen haben,
so würde er mit einer Begeisterung, einer Ausdauer, einer Tapfer-
keit kämpfen, vor der die maschinenmäßige Geschultheit moderner
Armeen wie Spreu auseinanderfliegen müßte. Auch widerstrebe
der Kommunismus, obgleich es oft behauptet worden sei, keines-
wegs der menschlichen Natur, und ebensowenig sei er eine Theorie,
die bloß der Phantasie entspringe. Ihn in die Wirklichkeit zu über-
führen, gäbe es nun verschiedene Wege. Die Engländer würden
damit beginnen, einzelne Kolonien zu errichten und es jedem
überlassen, ob er diesen beitreten wolle oder nicht, die Franzosen
würden den Kommunismus wohl mit staatlichen Mitteln vor-
bereiten und durchführen. Wie die Deutschen es anfangen würden,
darüber ließe sich bei der Neuheit der sozialen Bewegung hier
zu Lande erst wenig sagen. Engels griff, genau wie Heß es damals
anriet, drei Maßregeln heraus, deren Durchführung notwendig den
praktischen Kommunismus zur Folge haben müßte. Die erste wäre
Versammlungen in Elberfeld. 227
eine allgemeine und gleiche Erziehung sämtlicher Kinder ohne Aus-
nahme auf Staatskosten. Die durchweg gebildete Arbeiterklasse,
die damit entstünde, würde nicht mehr gesonnen sein, in ihrer
heutigen gedrückten Stellung zu verharren ; von ihrer Ruhe und Be-
sonnenheit wäre aber zu erhoffen, daß eine friedliche Umbildung der
Gesellschaft gelingen werde. Die zweite Maßregel wäre eine totale Un-;-
gestaltungdes Armenwesens in der Absicht, sämtliche brotlosen Bürger
in Kolonien unterzubringen, dort mit Agrikultur und Industriearbeit
zu bsschäftigen und ihre Arbeit zum Nutzen der ganzen Kolonie
zu organisieren. Würde auf diese Weise die Arbeitskraft aller
Brotlosen zum Nutzen der Gesellschaft verwendet, wären diese
selbst aus demoralisierten, gedrückten Paupers in sittliche, unab-
hängige, tätige Menschen verwandelt, so hätte man damit eine
durchgreifende Reorganisation der Gesellschaft vorbereitet. Als
dritte Maßregel wäre erforderlich, daß das Geld für die Durch-
führung der beiden anderen durch eine, die ungerechten bisherigen
Steuern ersetzende, allgemeine, progressive Kapitalsteuer aufgebracht
würde. Da das Prinzip der Besteuerung des einzelnen durch den
Staat an sich ein kommunistisches wäre, brauchte der Staat mit
diesem Prinzip nur Ernst zu machen, sich zum allgemeinen Eigen-
tümer zu erklären und als solcher das öffentliche Eigentum zum
öffentlichen Besten zu verwalten.
Von Adolf Schults wissen wir, daß Engels über die Durchführ-
barkeit des Kommunismus erst an dem vierten Abend sprechen
wollte, der gar nicht mehr stattgefunden hat. In den Rheinischen
Jahrbüchern schließt er seine Rede mit der Versicherung, daß es
nicht darauf abgesehen sei, den Kommunismus über Nacht und
gegen den Willen der Nation einzuführen, daß aber die Zukunft
ihm gehöre und daß der Entwicklungsgang aller zivilisierten Na-
tionen auf ihn zuführe. Lesen wir diese Elberfelder Rede heute, so
dürfen wir nicht außer acht lassen, vor welchem Publikum und
unter welchen Umständen sie gehalten wurde. Einmal lag Engels
daran, den vielen Bekannten, die erschienen waren, zu zeigen, daß
das Ideal, für das er sich öffentlich einsetzte, nicht bloß das Hirn-
gespinst eines jugendlichen Träumers sei, sondern daß die Zeit
seiner Verwirklichung zusteuere, und daß es deshalb den Besitzen-
den nicht minder wie den Besitzlosen obliege, sich mit ihm bei-
zeiten vertraut zu machen. Dann aber war er gezwungen, mit
Rücksicht auf die eigene Sicherheit und auf den Fortbestand der
Agitationsmöglichkeit, die sich so unverhofft dargeboten hatte,
Politik und Religion aus dem Spiele zu lassen. Wenn er also von
seiner Hoffnung, auf revolutionärem Wege zum Ziele zu kommen,
hier anfänglich schweigt und sogar, freilich weniger vordringlich
IS*
228 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
als Heß, ein wenig die Friedensschalmei bläst, so wollte er damit,
wie sich gleich zeigen wird, nicht sagen, daß er die Revolution, die
er für England mit so großer Sicherheit voraussagte, in Deutschland
für vermeidlich ansah. Auch darin lag Absicht, daß er zwischen
dem Zukunftsstaat, der ihm vorschwebte, und dem bestehenden
Staat, den er zu einer radikalen Steuerreform aufforderte, keine
prinzipielle Grenze zog. Man hüte sich, die Prognose, die er da-
mals der deutschen Entwicklung stellte, aus dieser ersten Rede ab-
lesen zu wollen, für die der Wolf sich noch in einen Schafspelz
hüllte.
Nun sollte Engels, wie m.an ihm vorhielt, am zweiten Diskus-
sionsabend nicht überzeugend genug begründet haben, weshalb der
Kommunismus ebenso wie für Frankreich und England auch für
Deutschland eine ökonomische Notwendigkeit wäre. Als er in der
dritten Versammlung auf diesen Einwurf antwortete, dürfte er
schon gewußt haben, daß die Tage dieser Zusammenkünfte gezählt
waren, und, fest entschlossen, der Heimat in Kürze den Rücken
zu kehren, konnte er es nun sich leisten, seine wahre Gesinnung
durchschimmern zu lassen. Ganz deutlich wird er freilich, wie wir
uns nicht verhehlen wollen, erst in der Niederschrift für den Druck
geworden sein. Mußte er den Hörern, die er vor sich hatte, wirklich
erst beweisen, daß auch Deutschland sein Proletariat habe, das sich
ständig vermehrte? Schlesien und Böhmen hätten selbst ge-
sprochen, die Armut der Mosel- und Eifelgegend hätte schon die
Rheinische Zeitung geschildert; im Erzgebirge herrschte seit un-
denklichen Zeiten das große Elend, und sähe es in der Senne und
in den westfälischen Leinendistrikten etwa besser aus ? In den eigent-
lichen Industriebezirken vollends sei das Proletariat zu zahlreich,
zu augenscheinlich, als daß man es leugnen werde. Für das platte
Land bestreite man dessen Existenz vielfach. Aber der Großgrund-
besitz könne nicht wirtschaften ohne die proletarischen Land-
arbeiter, und in den Gegenden mit Kleinbesitz erzeuge, hier die
ins Endlose sich fortsetzende Teilung des Bodens, dort das An-
erbenrecht, mit der gleichen Unfehlbarkeit ein Proletariat. Die
unaufhaltsame Konzentration des Kapitals und die ebenso unauf-
haltsame Verarmung des Mittelstandes machten das ständig wach-
sende Proletariat zu einer immer drohenderen Erscheinung. Ein-
mal aber werde dieses eine Stufe der Macht und Einsicht erreichen,
bei der es sich den Druck des ganzen sozialen Gebäudes, der fort-
während auf seinen Schultern laste, nicht mehr gefallen lassen
würde. Dann werde es eine gleichmäßigere Teilung der sozialen
Lasten und Rechte verlangen, und — wenn sich die menschliche
Natur bis dahin nicht ändere — eine soziale Revolution unvermeid-
Notwendigkeit des Kommunismus für Deutschland. 229
bar sein. Auf diese Fragen seien freilich die Nationalökonomen bis-
her nicht eingegangen, sie kümmerten sich nicht um die Vertei-
lung, sondern bloß um die Erzeugung der Güter.
Mit einem etwas abrupten Übergang bahnte Engels sich den
Weg zu den damals nicht zuletzt durch Friedrich Lists geniale
Propaganda brennend gewordenen handelspolitischen Kämpfen,
Schon 1844 hatte er sich entschlossen, List zu kritisieren,
aber darauf verzichtet, als ihm mitgeteilt wurde, daß Marx sich
mit einem ähnlichen Vorhaben trüge. Seither hatte er sich gesagt
und auch erfahren, daß sein Freund sich mehr auf die Voraus-
setzungen als auf die Konsequenzen des großen Agitators einlassen
wollte. Ihm war darum zu tun, die praktischen Folgen eines natio-
nalen Systems der politischen Ökonomie zu entwickeln. Er führte
also, was er darüber in seiner Rede gesagt haben mochte, für die
Veröffentlichung noch weiter aus, denn ihm lag daran, zu zeigen,
daß weder die Vorläufer des Freihandels, noch List, noch die Ver-
teidiger des geltenden ,,Juste-Milieu-Tarifs** in der Lage sein würden,
durch handelspolitische Maßregeln eine kommende deutsche soziale
Revolution hintanzuhalten.
Als prinzipieller Gegner der kapitalistischen Gesellschaft stand
er abseits einer Diskussion, die sich darum drehte, ob der deutschen
Volkswirtschaft, wie sie einmal war, Schutzzölle oder Freihandel
zuträglicher wären. Das brauchte ihn aber nicht abzuhalten,
hier zu bekennen, daß die gesamte deutsche Industrie mit Aus-
nahme weniger Zweige ruiniert wäre, wenn ihr der Zollschutz
genommen würde. Die plötzlich brotlos gewordene Masse der Ar-
beiter würde sich dann auf den Ackerbau und die paar übrig geblie-
benen Industriezweige stürzen, der Pauperismus überall aus dem
Boden wachsen, die Zentralisation des Besitzes durch die Krisis
beschleunigt werden — die soziale Revolution mit Notwendigkeit
heraufziehen. So wäre es besser, dem Rat Lists zu folgen, der die
Wünsche der Kapitalisten in ein anerkanntes System gebracht
habe ? Dann bekäme man zunächst Schutzzölle, hoch genug, den
Fabrikanten den inländischen Markt zu sichern, hierauf würde
man diese, wie List es fordere, soweit heruntersetzen; daß die deutsche
Industrie auf neutralen Märkten konkurrenzfähig werde. Wie aber,
wenn nun die englische Industrie den deutschen Markt gleich
wieder von neuem zu ihrem ,,Trcdelmagazin" machte und die
deutsche Industrie von diesem Augenblick ab alle Schwankungen,
alle Krisen der englischen mitauszuhalten hätte, ohne sich so
schnell erholen zu können wie jene, der die ganze Welt als Markt
offen stünde? Dann werde unsere Industrie, so meint Engels,
alle schlechten Perioden der englischen bis auf die Hefe auszukosten
230 Das Bündnis mit Marx. — Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
haben, während sie an deren Glanzperioden nur bescheidenen Anteil
nehmen könnte. Die Folge aber wäre derselbe gedrückte Zustand,
in dem sich die halbgeschützten Zweige jetzt befänden; Betriebe
würden eingehen, ohne daß neue entstünden, Maschinen würden
veralten, ganze Industriezweige verkommen und endlich verschwin-
den. ,,Dann aber haben wir ein zahlreiches Proletariat, das durch
die Industrie geschaffen wurde und nun keine Lebensmittel, keine
Arbeit hat; und dann wird dies Proletariat mit der Forderung an
die besitzende Klasse treten, beschäftigt und ernährt zu werden."
So wäre es also vielleicht noch das beste, an den Zöllen, wie sie
einmal bestehen, nicht zu rühren ? Auch damit, ruft Engels, werde
man die soziale Revolution nicht verhindern. Der Aufschwung
der deutschen Industrie werde dann zum Stillstand kommen, sobald
sie den heimischen Markt erobert habe ; wenn sie nicht mehr fort-
schreite, könne sie sich auch nicht vervollkommnen. Die englische
Industrie aber, die indes immer weiter vorankomme, werde durch
ihre Fortschritte befähigt sein, so wohlfeil zu produzieren, daß sie
mit unserer zurückgebliebenen Industrie trotz dem Schutzzoll
auf unserem eigenen Markte konkurrieren könne. Unsere endliche
Niederlage sei dann gewiß: ein künstlich erzeugtes Proletariat
werde wiederum an die Besitzenden Forderungen stellen, welche
diese, solange sie exklusiv Besitzende bleiben wollen, nicht erfüllen
können.
Eine letzte, freilich sehr unwahrscheinliche Möglichkeit sah
Engels darin, daß es den Deutschen dank den Schutzzöllen gelänge,
ihre Industrie so zu stärken, daß diese ohne Schutz auf neutralen
Märkten gegen die Engländer konkurrieren könnte. Aber ihm,
der die Engländer kannte, erschien es schon damals unmöglich,
daß eine englische und eine deutsche Industrie friedlich nebenein-
ander bestehen sollten. Jede Industrie müsse neue Märkte erobern,
müsse sich vergrößern und ausbreiten können, wolle sie nicht
zurückbleiben und untergehen. Da aber, seitdem China offen
stünde, neue Märkte nicht mehr erobert, also nur die vorhandenen
noch besser ausgebeutet werden könnten, so dürfe England fortan
noch viel weniger als früher einen Konkurrenten dulden. Es müsse,
das war seine Meinung wie die Louis Blancs und anderer französischer
Sozialisten, um seine eigene Industrie zu schützen, die aller anderen
Länder niederhalten. Die Behauptung des industriellen Monopols
sei für England nicht mehr eine bloße Frage des größeren Gewinns,
sie sei ihm eine Lebensfrage geworden. Es würde sich also ein
Kampf auf Tod und Leben zwischen beiden Industrien erheben.
„Die Engländer würden alle Kräfte aufbieten, um uns aus den bisher
von ihnen versorgten Märkten fernzuhalten; sie müßten es, weil
Englische Rivalität und deutsche Revolution. 23 1
sie hier an dem gefährlichsten Punkt angegriffen werden." Engels
nimmt an, daß es ihnen mit all den Vorteilen einer hundertjährigen
Industrie gelingen werde^ uns zu schlagen. ,,Sie werden unsere
Industrie auf unseren eigenen Markt beschränkt halten und sie
dadurch stationär machen." So befände sich Deutschland wiederum
in der Lage, daß eine verfallende Industrie ein durch sie künstlich
erzeugtes Proletariat nicht ernähren könne: die soziale Revolution
träte ein. Wie jedoch, wenn wider Erwarten die deutsche über
die englische Industrie siegte ? Im glücklichsten Falle, meinte
Engels, würden wir dann die industrielle Laufbahn Englands
wiederholen und am Ende stehen, wo dieses jetzt stehe, am Vor-
abend einer sozialen Revolution. Wahrscheinlicher wäre freilich,
daß Englands Ruin die massenhafte Erhebung seines Proletariats
gegen die besitzenden Klassen noch beschleunigen und daß diese
soziale Revolution sogleich eine europäische werden würde. Dann
werde die Erhebung des durch die forcierte Industrie erzeugten
Proletariats auch in Deutschland die Träume der Fabrikanten von
einem industriellen Monopol ihres Landes zunichte machen. Der
Kampf der Konkurrenz zwischen Nationen sei ein konzentrierter
Kampf, ein Kampf von Massen, den nur der entschiedene Sieg des
einen und die endgültige Niederlage des anderen Teils endigen könne.
Wie immer ein solcher Kampf zwischen Deutschen und Engländern
ausgehen möge, das Ergebnis werde weder für ihre noch für unsere
Industrie von Vorteil sein: die soziale Revolution bleibe unent-
rinnbar. ,,Mit derselben Sicherheit, mit der wir aus gegebenen
mathematischen Grundsätzen einen neuen Satz entwickeln kennen,
mit derselben Sicherheit können wir aus den bestehenden ökono-
mischen Verhältnissen und den Prinzipien der Nationalökonomie
auf eine bevorstehende soziale Revolution schließen."
Aber wie wird diese deutsche soziale Revolution aussehen?
Solch ein Kampf, in dem alle die Triebfedern und Ursachen, die
in den bisherigen historischen Konflikten dunkel und versteckt
zugrunde lagen, unverhohlen und offen zu ihrer Wirkung kämen,
drohe heftiger und blutiger werden zu wollen als alle seine Vor-
gänger. Sein Ergebnis könne ein zweifaches sein: entweder greife
die sich empörende Partei nur die Erscheinung, nicht das Wesen,
nur die Form, nicht die Sache selbst an, oder sie gehe auf die Sache
selbst ein und packe das Übel bei der Wurzel. Im ersteren Fall
werde man das Privateigentum bestehen lassen und nur anders
verteikn, so daß die Ursachen bestehen bleiben, welche die Revo-
lution herbeigeführt haben. Weil aber die große englische und die
große französische Revolution das erreicht haben, was sie sich vor-
gesetzt hatten, glaubt Engels, im Vertrauen auf die geschichtliche
232 Das Bündnis mit Manc. — Die Lage der arbeitenden Klaisse in England.
Erfahrung, annehmen zu dürfen, daß auch der Aufstand der Armut
nicht eher ruhen werde, als bis er die Armut und ihre Ursachen
gänzlich abgeschafft habe. Und weil er eine wirkliche soziale
Reform nur von der Proklamation des kommunistischen Prinzips
erhoffte, zweifelte er nicht, daß die künftige soziale Revolution mit
der Durchführung des Kommunismus enden werde. Am Schluß seiner
Lage der arbeitenden Klasse Englands hatte er vorausgesagt^
daß die kommende englische Revolution um so weniger Greuel
mit sich bringen werde, je mehr die Proletariermassen sich bereits
vor ihrem Ausbruch mit kommunistischem Geiste erfüllt haben
würden. Das gleiche meint er, wenn er in seiner Elberfelder Rede
die ,, friedliche Einführung oder wenigstens Vorbereitung des Kom-
munismus" als das einzige Mittel empfiehlt, ,, wodurch wir einer
gewaltsamen und blutigen Umwälzung der sozialen Zustände vor-
beugen können", als das einzige Mittel, um zu verhindern, daß
brutale Gewalt, Verzweiflung und Rachgier die .,Verm.enschlichung
der Lage der modernen Heloten" übernehmen. Noch einmal prä-
zisierte Engels an dieser Stelle das soziale Ideal, das ihn erfüllte
und das ihn zum Kommunisten gemacht hatte. Er wünschte allen
Menschen eine solche Lebenslage, daß ein jeder seine menschliche
Natur frei entwickeln, mit seinen Nächsten in einem menschlichen
Verhältnis leben könne und vor keiner gewaltsamen Erschütterung
seiner Lebenslage sich zu fürchten brauche. Er war gewillt, sein ganzes
Leben dem Kommunismus zu widmen, weil er sich die Verwirk-
lichung des Menschheitsideals, dem er aus wärmster Seele anhing,
nur von dessen Siege versprach. ,,Das wahrhaft menschliche Leben,
mit allen seinen Bedingungen und Bedürfnissen," so versicherte
er den Ängstlichen unter seinen Hörern, ,, wollen wir so wenig zer-
stören, daß wir es im Gegenteil erst recht herzustellen wünschen."
Was der einzelne aufopfern müsse, wäre kein wahrhaft mensch-
licher Lebensgenuß, sondern nur der durch unsere schlechten Zu-
stände erzeugte Schein eines solchen, es wäre etwas, das wider
die eigene Vernunft und das Herz derer gehe, die sich jetzt noch
dieser scheinbaren Vorzüge erfreuten.
Engels hatte es, wie sich begreifen läßt, wohlgetan, sich über
die Dinge, die ihn so ganz in Beschlag nahmen, vor der Öffentlich-
keit aussprechen zu können. Es sei doch ein ganz anderes Ding,
gestand er Marx am Tage nach der letzten Versammlung, vor den
wirklichen leibhaftigen Menschen zu stehen und ihnen direkt,
sinnlich, unverhohlen zu predigen, als dies verfluchte abstrakte
Schreibertum mit seinem abstrakten Publikum vor den ,, Augen des
Geistes" zu treiben. Wäre Engels jene angeborene Kraft der Rede
verliehen gewesen, die den Redenden selbst so häufig fortreißt
Engels soziales Ideal. 233
und rerführt, so wäre es ihm auch später schwerer geworden, den
Drang nach unmittelbarer politischer Berührung mit diesem Pro-
letariat, für das er lebte, so zu zügeln, wie er, dieser Gabe entbehrend,
bei der allgemeinen Konstellation seiner Lebensgestaltung und als
der ständige Arbeitsgefährte eines Marx es vermocht hat. Daß er
auf ein rasches Echo, auf einen schnell sichtbaren Erfolg verzichten
konnte, erklärte sich aus der vom Biographen immer wieder in den
Vordergrund zu rückenden Wurzelhaftigkeit und Echtheit seines
Wesens, aus der Lauterkeit und Kraft seiner Überzeugung und aus
seiner völligen Gefeitheit gegen die Versuchungen des gefährlichsten
die Männer verführenden Däm.ons, des Ehrgeizes.
Kapitel IX.
Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie»
Weil Engels, von der Polizei bereits aufs Korn genommen,
die Abreise aus dem Elternhause beschleunigt hatte, war unter
den Wuppertaler Philistern das Gerücht aufgekommen, daß der
ihnen so unverständliche junge Mann sich nach Amerika in Sicher-
heit gebracht habe. Engels jedoch war spornstracks nach Brüssel
geeilt, wo sich, auf Verlangen der preußischen Regierung aus
Paris ausgewiesen, Marx seit dem Februar festgesetzt hatte.
Ausschließlich dieser, nicht etwa die geistige Atmosphäre Belgiens,
wo das Geld und die Kirche noch ungestört gebieten konnten,
ohne daß sie einem völlig rechtlosen Proletariat gegenüber Gewalt-
maßregeln anwenden mußten, lockte ihn hierher. Ursprünglich
war es seine feste Absicht gewesen, im Juni noch einmal nach
Barmen zurückzukehren, um der Hochzeit seiner Schwester bei-
zuwohnen. Aber am 31. Mai mußte er ihr zu seinem Bedauern
mitteilen, daß ersieh, wie sie leicht begreifen werde, bei seinen ,, son-
stigen Verhältnissen" nur Unannehmlichkeiten aussetzen würde,
wenn er ohne Paß über die Grenze zu kommen versuchte, — und
daß ihm auch Herr Handy, der Direktor der belgischen Sicherheits-
polizei, davon abgeraten habe, weil sein Auswanderungsschein
^ut sei, pour sortir de la Prusse, mais pas pour y rentrer. ,,So bin
ich genötigt, hier zu bleiben und Daine Hochzeit hier allein und in
Gedanken zu feiern — so leid es mir tut. Was ich Euch vor allem
wünsche, ist, daß die Liebe, die Euch zusammengeführt und die Euer
Verhältnis zu einem so schönen menschlichen und sittlichen ge-
macht hat, wie ich nicht viele kenne. Euch durch Euer ganzes Leben
begleiten möge. Verlaß Dich darauf, von den vielen Glückwünschen,
die man Euch darbringen wird, ist keiner treuer gemeint, keiner
herzlicher und wärmer als der meinige! Du weißt, daß ich Dich
immer am liebsten gehabt habe von allen meinen Geschwistern,
daß ich immer zu Dir am meisten Vertrauen hatte . . . Seid
glücklich!"
Zum ersten Male in seinem Leben fühlte sich Engels hier in
Mit Marx in Brüssel. 235
Brüssel frei von jeder Fessel; keine ungeliebte Berufstätigkeit beengte
ihn mehr, keine Rücksichtnahme auf seine soziale Stellung oder auf
das Urteil der Welt wurde hier von ihm gefordert. Mit ungestümer
Frische hat er diese Freiheit ausgenutzt! Jetzt zuerst lernten er und
Marx bei täglicher Berührung einander in all' ihren menschlichen
Eigenschaften kennen und verstehen. In dem hauptsächlich von
Arbeitern bevölkerten Vorort Saint Josse ten Noode, der noch nicht
wie heute in wenigen Minuten vom Zentrum der Stadt zu erreichen
war, wohnten sie — Marx mit seiner Gattin — Haus bei Haus;
nie wieder ist ihre Arbeitsgemeinschaft eine von den äußeren Um-
ständen so begünstigte, so vollständige gewesen, wie während dieser
Jahre vor der Revolution, in denen sie, untrennbar einander gesellt,
theoretisch und praktisch ihre historische Stellung endgültig be-
gründeten.
Gleich im Sommer 1845 unternahmen beide Freunde eine
gemeinsame Reise nach England ; bei Engels erfolgte sie der Familie
gegenüber unter dem Aushängeschild, daß er seine in Manchester
zurückgelassenen Bücher holen müsse, vielleicht galt sie aber noch
mehr der jungen irischen Arbeiterin Mary Burns, die er in Man-
chester kennen gelernt hatte und die bis zu ihrem Tode seine nicht
angetraute aber ständige Gefährtin wurde. Marx begleitete ihn, um
unter seiner kundigen Führung von England einen ersten Eindruck
zu erhalten und für die ökonomischen Studien^ in die er sich, um sie
nie wieder aufzugeben, kopfüber gestürzt hatte, die auf dem Kon-
tinent schwer baschaffbare ältere englische Literatur einzusehen.
Für beide waren es ergebnisreiche Wochen; noch 1870 erinnerte
Engels den Freund an den Erker in der Bibliothek von Manchester,
durch dessen bunte Scheiben sie immer in schönes Wetter hinaus-
blickten. Aber auch politischen Zwecken diente dieser Aufenthalt;
sorgfältig pflegte Engels die mit dem linken Flügel der Chartisten
früher angeknüpften Beziehungen und nun machte er auch Marx
mit Harne y und dessen näheren Freunden bekannt. Er selbst
wurde von nun ab wieder regelmäßiger Mitarbeiter des Northern
Star. In den Spalten dieses Chartistenblattes bekämpfte er jetzt
im September 1845 die früher in The New Moral World, dem kürz-
lich eingegangenen Organ der Anhänger Owens, von ihm selbst ver-
tretene Ansicht, als ob in Deutschland die Revolution von der
intellektuellen Jugend ausgehen könnte. Wohl gäbe es auch im
deutschen Bürgertum Demokraten und selbst Kommunisten, aber
ihre soziale Stellung als Ausbeuter und Profitmacher, meinte er,
würde ihnen den Kommunismus bald genug austreiben. Einzig
die Arbeiterklasse, die sich seit den Weberunruhen durch Streiks
und Revolten darauf vorbereite, werde die große Revolution durch-
236 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
führen. Und er schließt mit dem trotzigen Geständnis: ,,Wir
rechnen nicht auf die Mittelklassen." Anscheinend veranlaßten
diese Bemerkungen Harney, seinen Korrespondenten zu bitten, den
englischen Arbeitern eine ausführlichere Darstellung der ihnen
so wenig bekannten deutschen Zustände zu geben. Diesem Wunsche
entsprachen zwei Anfang November in The Northern Star abge-
druckte Artikel, die uns auf das anschaulichste die große Wandlung
kennzeichnen, die mit Engels vorgegangen war. Dabei wollen wir
aber nicht vergessen, daß es sich nur um eine flüchtige, für primitive
Leser bestimmte Gelegenheitsarbeit handelte, die keinen Vergleich
duldet mit dem, was Marx um dieselbe Zeit über denselben Stoff
bei tiefer schürfender Untersuchung ans Tageslicht förderte.
Engels gibt den englischen Arbeitern, denen jeder Begriff davon
fehlte, einen Überblick über die deutsche Entwicklung seit dem
Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Fürsten und Adel kommen
bei ihm schlecht weg, dennoch häuft er nicht auf sie allein die Schuld
an dem Verlust vieler schöner Provinzen und der inneren Verwirrung
und Rechtlosigkeit. Würde das Bürgertum sich während des
Niederganges des heiligen römischen Reiches wie in England zwi-
schen 1640 und 1688 und in Frankreich während der Revolution
mit dem gemeinen Volk gegen die Unterdrücker verbündet haben,
so wäre nach dem Sturz der alten Gewalten ein Neuaufbau möglich
gewesen. Aber das Bürgertum habe versagt, und die leibeigenen
Bauern und das arbeitende Volk hätten noch nichts Selbständiges
unternehmen können. Den treuesten Niederschlag der Entrüstung
über diese unwürdigen Zustände entdeckte Engels im Götz und
in den Räubern. Aber das waren Jugenddichtungen Goethes
und Schillers, älter geworden, verzweifelten sie an der Zukunft
ihres Landes. Dann sei die französische Revolution, einem Donner-
schlag vergleichbar, in das deutsche Chaos hineingefahren: war
auch die untere Volksschicht noch zu ununterrichtet und zu unfrei,
um sich zu erregen, so bejubelte das ganze Bürgertum und der bes-
sere Teil des Adels um so lebhafter die Nationalversamm.lung, und
die Dichter besangen das Nachbarvolk, das verstanden hatte, sich
die Freiheit zu erkämpfen. Dies Bild änderte sich, als nach dem
Sturz der Gironde die Volkssouveränität Wirklichkeit werden
sollte ; wofür man sich in der Theorie begeistert hatte, davor schreckte
man in der Praxis zurück. Dann kam die Überschwemmung
Deutschlands durch die französischen Heere, in deren Gefolge aus
dem vorsintflutlichen Urwald der christlich-germanischen Gesell-
schaft die Standesherrschaften, Bistümer und Abteien ausgerodet
wurden. Dies Werk vollendete Napoleon ; er war für Deutschland
die Verkörperung der Revolution, der Verbreiter ihrer Grundsätze,
Die deutsche Geschichte der letzten Jahrzehnte. 237
der Zerstörer des Feudalwesens. Mit seinem Code führte er hier
ein Gesetzbuch ein, das ,,im Prinzip die Gleichheit anerkannte".
Der Haß gegen den Korsen zwang die an ihre Privatinteressen ver-
lorenen Deutschen sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu
befassen. Mochte Napoleon durch die Kontinentalsperre den
Grund zu einer deutschen Industrie gelegt haben, diese Sperre ver-
teuerte dem Kleinbürger seinen Kaffee, seinen Zucker und seinen
Schnupftabak, und das reichte hin, ihn, der für Bonapartes große
Pläne ohnehin keinen Sinn hatte, gegen diesen aufzubringen. Er
verfluchte Napoleon, weil er seine Kinder in den Krieg führte, aber
Englands Aristokratie und Bourgeoisie, die wahren Veranlasser
und eigentlichen Nutznießer aller jener Kriege, für die er damals
wie später dieZeche bezahlen mußte, betrachtete er als seine Freunde.
Es folgte jener ,, Freiheitskrieg", den man mit höchstem Unrecht
die glorreichste Periode der deutschen Geschichte genannt hat,
während man ihn mit größerem Recht als ein verrücktes Unter-
nehmen kennzeichnen könnte, das jedem anständigen und intel-
ligenten Deutschen für alle Zeit die Schamröte in die Wangen treiben
sollte. Begeisterung war da; aber wer waren die Begeisterten?
Zunächst die Bauern, die rückständigste Klasse des Volkes, die an
den Vorurteilen der Feudalzeit klebten und die lieber auf dem
Schlachtfelde starben, als daß sie jenen zu gehorchen aufhören
wollten, die ihre Väter und Großväter als ihre Herren angesehen
hatten. Danach die Studenten und die andere Jugend, die diesen
Krieg als einen Prinzipien- und Religionskrieg ansah. Ferner eine
kleine Zahl der erleuchtetsten Geister, die mit kriegerischen Vor-
stellungen gewisse Gedanken über Freiheit und liberale Reformen
verbanden. Am Ende die Söhne der Händler, Kaufleute und Spe-
kulanten, die für das Recht fochten, auf dem billigsten Markt ein-
zukaufen und Kaffee ohne Zichorie zu trinken, aber solche Wünsche
hinter patriotischen Phrasen verbargen. So wurde cie nationde
Unabhängigkeit erkämpft. Doch die Folge bewies, daß nicht die
Befreiung vom Despotimus das Ziel des Kam.pfes gewesen war,
sonst hätten alle siegreichen Völker nach Napoleons Sturz die Grund-
sätze der Gleichheit verkündet und ihre Segnungen ihnen verliehen
werden müssen. Überall aber trat das Gegenteil ein, nachdem die
Revolution gestürzt war und die alten Mächte den Sieg erfochten
hatten. Deutschland blieb in seiner Zersplitterung, die es nach
außen hin zur Ohnmacht verurteilte, war aber gerade deshalb der
beste Absatzmarkt für die Waren der englischen Bourgeoisie, die
sich nun für die während des Krieges gezahlten Subsidien über-
reichlich entschädigte. Auch der Despotismus bestand weiter.
Denn nur ein Ergebnis der Furcht waren die Reformen in Preußen
238 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
gewesen, als deren bedeutungsvollste die Schaffung eines Volks-
heeres zu gelten habe, das sich einst auch gegen die Regierung
werde verwenden lassen. Österreich und Preußen herrschten
fortan gemeinsam in demselben reaktionären Geist ; die Verfassungen,
die sie den Mittelstaaten aufgezwungen hatten, sollten dort nur die
Regierungen schwächen, ohne dem Bürgertum oder gar dem Volk
einen Anteil an der Macht zu gewähren. Die Anstrengungen des
deutschen Bürgertums blieben bedeutungslos, solange diese sich
auf die südlichen Staaten beschränkten; Wichtigkeit erhielten sie
erst, seitdem in Preußen das Bürgertum aus seiner Lethargie er-
wachte. Hier hatte die Monarchie sorglose Jahre gehabt und alle
dem Volke gegebenen Versprechungen solange uneingelöst lassen
können, bis die Furcht vor Napoleon von der Furcht vor der Revo-
lution abgelöst wurde. Den Chartisten, die gewohnt waren, auf
ihren Festversammlungen der großen Demokraten aller Länder zu
gedenken, riet Engels ab, sich unter den Deutschen den unwissen-
den und bigotten Andreas Hofer auszusuchen, besser täten sie, Thomas
Münzer, den glorreichen Führer aus dem Bauernkriege, und Georg
Forster, den deutschen Thomas Paine, in ihr Herz zu schließen.
Den preußischen Zuständen seit der Julirevolution hatte Engels
einen besonderen Artikel zugedacht, der nicht zustande kam.
Doch wissen wir, daß nach seiner Ansicht die Rückständigkeit
der ökonomischen Entwicklung Preußens um 1830 verhindert
hatte, daß die zu einer ausgebildeten Bourgeoisie passenden politi-
schen Formen Frankreichs anders als in Gestalt abstrakter Ideen,
an und für sich gültiger Prinzipien und frommer Wünsche bei dem
deutschen Bürgertum Eingang fanden. Erst seit 1840 hätte die
zunehmende Konkurrenz des Auslandes die zersplitterten Lokal-
interessen stärker zusammengefaßt und in dem nun national und
liberal gewordenen Bürgertum das Verlangen nach Schutzzöllen und
Verfassung erzeugt.
Schon dieser Aufsatz für das englische Arbeiterblatt verrät,
wie eifrig Engels damals bemüht war, die Abwandlungen der
politischen und sogar der Geistesgeschichte auf wirtschaftliche Ur-
sachen zurückzuführen. Das intensive Studium des gesellschaft-
lichen, staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens Englands
hatte ihm ja den Blick für die Verflochtenheit aller menschlichen
Lebens- und Betätigungssphären zu ungewöhnlicher Hellsichtig-
keit geschärft und das dialektische Bedürfnis, mit dem er an die
Ordnung jener weitschichtigen Beobachtungen herantrat, war ihm,
wie sich zeigte, ein ständiger Anreiz gewesen, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft der Kulturwelt unter Benutzung der neu
erworbenen Gesichtspunkte zu einem einheitlichen Prozeß zusammen-
Der Keim der neuen Weltanschauung. 239'
zufassen. Wir brauchen hier nicht aufzuzeigen, inwieweit ita-
lienische und französische Soziologen, englische Ökonomen, fran-
zösische Historiker und Sozialisten der neuen Geschichtsauffassung,,
mit deren Begründung und Ausgestaltung wir Marx und Engels
seit dem Sommer 1845 atemlos beschäftigt finden, die Richtung
gewiesen haben. Einer Biographie, die sich nicht in Ideengeschichte
auflösen will, fällt bloß die Aufgabe zu, die unmittelbaren Ein-
wirkungen, so wie sie stattgefunden haben, als funktionellen Vor-
gang zur Anschauung zu bringen. Ebenso ■'a enig liegt es in unserem
Fall dem Biographen ob, den Finger auf jede Einseitigkeit zu legen,
in die Engels beim Abstecken und Umgraben des Ackerlandes,
das er hernach so fruchtbar neu bebauen half, verfallen ist. Revo--
lutionen, die diesen Namen verdienen, gehen in der Wissenschaft
genau wie in der Wirklichkeit nicht ohne Gewaltsamkeit ab. Es
gibt eine andere Aufgabe von eigentümlicher Schwierigkeit, der wir
uns nicht entziehen dürfen. Seitdem das Denken und Arbeiten der
beiden Freunde ein vollkommen gemeinschaftliches geworden ist,
haben wir darauf zu achten, daß wir die ursprüngliche Strömung,
der wir von der Quelle aus gefolgt sind, auch weiterhin nach ihrem
Zusammenfluß mit der anderen, noch mächtigeren, fest im Auge
behalten.
Als den ,, genialen Keim der neuen Weltanschauung", die ihm
hinfort oberster Leitstern wurde, betrachtete Engels die etwa um
die Zeit seines Eintreffens in Brüssel von Marx entworfenen Thesen
über Feuerbach, die zum erstenmal dem Feuerbachschen Humanis-
mus, dem bis dahin auch sie beide, ohne dabei in Phrasenhaftig-
keit zu verfallen, gehuldigt hatten, das ideologische Röcklein
auszogen. Gleich enthüllte sich nunmehr der vage Begriff des
abstrakten Menschentums, den Moses Heß, Karl Grün und die
von ihnen beeinflußten paar sozialistischen Konventikel, die es in
Deutschland gab, nicht weiter zu konkretisieren vermocht hatten,
als der ideologische Niederschlag einer bestimmten Gesellschafts-
form: der bürgerlichen Gesellschaft. Dem bloß anschauenden
Materialismus Feuerbachs stellte Marx den praktischen Materialis-
mus gegenüber, dem es nicht mehr genügte, die Welt zu inter-
pretieren, sondern der sie verändern wollte, der bürgerlichen Ge-
sellschaft, die er als den Kern jenes Menschheitskultus entlarvte,
die vergesellschaftete Menschheit.
Bald nach ihrer Rückkehr aus England hatten sich Marx und
Engels an die Ausarbeitung eines Werks gemacht, das in Gestalt
einer Abrechnung mit der Philosophie der Junghegelianer die
allseitige Herausarbeitung ihrer neuen materialistisch-ökonomischen
Geschichtsauffassung bezweckte. Wie schon in der Heiligen
"240 Die Abrechnxmg mit der deutschen Ideologie.
Familie bekämpften sie auch jetzt ihr eigenes „ehemaliges philoso-
phisches Gewissen", wenn sie gegen Bruno Bauer, gegen Stirner,
gegen Feuerbach, gegen die ,, wahren Sozialisten" zu Felde zogen.
Gerade in der Auseinandersetzung mit diesen ihren einstigen Vor-
bildern und Gesinnungsgenossen gedachten sie ihre neue Methode
am besten erproben und deren Überlegenheit über die der anderen,
die ihnen als antiquiert galt, am schlagendsten aufweisen zu können.
,,Die deutsche Ideologie (Kritik der nachhegelschen Philosophie
in deren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und
des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten)",
so lautete die Überschrift eines auf fünfzig Bogen in zwei Oktav-
bänden berechneten Manuskripts, das sie zwischen dem September
1845 und dem August 1846 beinahe vollständig ausarbeiteten.
Merkwürdig waren die äußeren Schicksale dieses Buches. Die
Wachsamkeit der Zensur machte es immer schwieriger, für um-
fangreiche Werke, deren Verbot sich voraussehen ließ, einen wage-
mutigen Verleger zu finden. Der Markt war, so urteilte Engels,
nicht groß genug, um aus dem Artikel verbotene Bücher eine Spe-
zialität zu machen, der Kampf der Buchhändler mit der Polizei
ein Guerillakrieg, der mit Profit nur geführt werden konnte, wenn
sich viele Verleger daran beteiligten. Anfänglich hatten die Ver-
fasser bestimmt erwartet, daß ein dem westfälischen Sozialisten-
kreise nahestehender Verleger in Bielefeld ihr Buch übernehmen
werde. Da sich diese Hoffnung aber als trügerisch erwies, wandten
sie sich an verschiedene Verleger radikaler Schriften in Bern,
Herisau, Konstanz, Darmstadt, Bremen usw. Am Ende war alles
vergeblich. Es nutzte nicht einmal, daß sie sich, ungern genug,
entschlossen, das voluminöse Manuskript zu teilen, um es in kleinen
Bändchen bei verschiedenen Verlegern unterzubringen. Schließlich
mußten sie darauf verzichten, alles, was sie hier geschrieben hatten,
gedruckt zu sehen. Und da Marx mittlerweile sein Buch gegen
Proudhon vollendete, für das ebenfalls der Verleger noch fehlte,
schrieb Engels ihm im März 1847 aus Paris geradezu: „Wenn das
Unterbringen unserer Manuskripte mit dem Unterbringen Deines
Buches kollidiert, so foutiere in Teufels Namen die Manuskripte
in eine Ecke, denn es ist viel wichtiger, daß Dein Buch erscheint."
Sie überließen sie denn wirklich der „nagenden Kritik der Mäuse".
Schon vorher hatte Marx bei dem Freunde angefragt, ob er Gedanken
ihres gemeinschaftlichen Werks in seiner Philosophie de la Misere
vorwegnehmen dürfe, und die Antwort erhalten, es verstehe sich
von selbst, daß er aus der Publikation antizipieren könne, was er
wolle. Beide Freunde grenzten vom Anfang an ihr geistiges Eigentum
nicht gegeneinander ab, nur auf das Ziel kam es ihnen an; dieses
Das Manuskript der Ideologie. 241
aber war für alle Zeit ein gemeinsames geworden. So übel sie es
vermerken konnten, wenn ein Dritter sich ihre Gedanken ohne
Angabe der Herkunft aneignete, so wenig bedacht finden wir sie,
der Nachwelt die Sonderung ihres geistigen Besitzes zu erleichtern.
Für keinen Abschnitt ihres Lebens ist dies wohl schwieriger als für
die Zeit, in der sie ihre Geschichtsauffassung zum erstenmal
systematisch herausarbeiteten. Weitaus der größte Teil des von
den Mäusen übrig gelassenen Manuskripts, von dem obendrein
zweifelhaft bleibt, ob es eine endgültige Reinschrift darstellt, ist
von Engels geschrieben und von Marx nur mit Einschiebungen
und Verbesserungen versehen. Eine Anzahl der Blätter des gegen
Stirner gerichteten sehr umfangreichen Abschnitts, des einzigen,
der bisher teilweise veröffentlicht wurde, zeigt sogar die Handschrift
Moses Heß, der nach manchen Weiterungen sich ebenfalls zu der Er-
kenntnis durchgedrungen hatte, daß die Begründung des Sozialismus
auf geschichtlichen und ökonomischen Voraussetzungen die Forderung
der Stunde war. Doch aus den Handschriften lassen »sich in unserem
Falle auf die Autorschaft Schlüsse nicht ziehen. Da Marx ebenso
unleserlich, wie Engels leserlich schrieb, übernahm dieser in der
Regel gewiß nicht nur die Herstellung der endgültigen Druck-
manuskripte, sondern er führte die Feder schon, wenn sie einen
wahrscheinlich vorher durchgesprochenen Zusammenhang zum
erstenmal aufs Papier brachten. Als der Hemmungslosere, Flinkere,
schneller Fertige der beiden wird er leichtere Abschnitte vermutlich
auch oft allein ausgearbeitet haben. Wir wissen über ihn ja, daß
er größere Aufsätze, ja ganze Broschüren, die er hernach verwarf
oder für die er den Verleger nicht fand und deren Manuskript er nicht
einmal aufhob, in unglaublich kurzer Zeit aufs Papier geworfen
hat. So bleibt uns, wollen wir den Anteil eines jeden der Freunde
an dieser im verwegensten Sinne kollektiven Arbeit feststellen,
nur übrig, uns zu vergegenwärtigen, was wir über ihre Wesens -
eigenschaften und ihren Bildungsgang uns klar gemacht haben.
Engels hat wiederholt bezeugt, daß Marx es war, der für ihre Ge-
schichtsauffassung dieallgemeine Formulierung gefundenundihmfer-
tigvorgelegthabe,alser imFrühjahr 1845 in Brüssel zu ihm stieß. Daß
die ökonomische Produktion und die aus ihr mit Notwendigkeit fol-
gende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche die
Grundlage für die politische und intellektuelle Geschichte dieser
Epoche bilde ; daß demgemäß die ganze Geschichte eine Geschichte
von Klassenkämpfen gewesen sei, daß dieser Kampf aber jetzt eine
Stufe erreicht habe, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse
sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden
Klasse befreien könne, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für
Mayer Friedrich Bagels. Bd. 16
242 ^^i® Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu
befreien — dieser Grundgedanke gehöre ausschließlich Marx.
Engels fügt dann, was sich uns ja voll bestätigt hat, hinzu, daß
auch er sich diesem Gedanken schon mehrere Jahre vor 1845 all-
mählich genähert hätte und daß man aus seinem Buch über die
Lage der arbeitenden Klasse in England ersehen könne, wie weit
er sich selbständig in dieser Richtung voranbewegt habe.
Wenn Engels im Mai 1845 in einer letzten Korrespondenz
an den New Moral World, der bald danach einging, Bruno Bauer
und Stirner ,,die einzigen ernsten Gegner des Kommunismus"
nannte, so wollte er damit sagen, daß jene die einzigen wären,
die diesen in Deutschland vom Boden der Theorie aus zu bekämpfen
versucht hätten. Verlangte es also ihn und Marx, die Waffen, die
sie sich neu geschmiedet hatten, im Gebrauch zu erproben, so mußten
sie sich genügen lassen, die Genossen von gestern damit anzugreifen.
Denn mit Gegnern, die den Kommunismus nur mit Gewaltmitteln
verfolgten oder verfolgt sehen wollten, erübrigte sich eine theore-
tische Auseinandersetzung. Dennoch wird uns die enorme Wichtig-
keit, die sie dieser Auseinandersetzung beimaßen, das Behagen, das
sie ihnen verursachte, das Wissen und die Zeit, die sie verschwen-
deten, der enorme Scharfsinn, den sie aufwandten, die Spitzfindig-
keit, die sie oftmals aufboten, erst recht verständlich, wenn wir
uns vergegenwärtigen, daß sie sich dabei als die Urteilsvollstrecker
einer neuen, anbrechenden Geschichtsepoche vorkamen, die sich
gegenüber den Epigonen der abwelkenden spekulativen Philosophie
als Richter aufspielten. Und über das umständliche und reichlich
barocke Verfahren, das sie gegen Stirner, Bauer und Feuerbach
anzuwenden für nötig befanden, werden wir uns bereitwilliger
hinwegsetzen, wenn wir uns klar machen, daß wir hier in voller
Leibhaftigkeit einen Teil des Prozesses erleben, der das Deutschland
des reinen Gedankens in das Deutschland der revolutionären Aktion
hinüberführte, daß wir hier mit seltener Unmittelbarkeit erschauen
dürfen, wie die Abendröte des philosophischen Zeitalters in die
Morgenröte eines jungen auf reale Kämpfe gestellten Zeitalters
übergeht. ,,Das Problem, aus der Welt der Gedanken in die wirkliche
Welt hinabzusteigen, verwandelt sich in das Problem, aus der
Sprache ins Leben herabzusteigen." So sagen sie selbst in ihrem
ungedruckt gebliebenen Werk. Wenn irgendwer gehören also
Engels und Marx in die Reihe jener repräsentativen Deutschen,
die ihre Landsleute, die mit der Zeit darin freilich zu gelehrige Schü-
ler wurden, erzogen haben, die Dinge dieser Welt mit den Augen
dieser Welt zu betrachten.
Bruno Bauers Antwort in der Wigandschen Vierteljahrsschrift
Das Thema der Ideologie. 243
auf die Angriffe in der Heiligen Familie hatte so wenig Stich-
haltiges vorzubringen gewußt und noch obendrein eine so hohe-
priesterliche Unfehlbarkeit zur Schau getragen, daß ein noch-
maliges ernsthaftes Turnier mit diesem so gründlich in den Staub
gesetzten Ritter sich nicht mehr verlohnte. Bruno Bauer habe
selbst das Todesurteil bestätigt, das Marx und Engels in der
Heiligen Familie über ihn gefällt hätten, heißt es in einer kurzen
aber kräftigen Abfertigung, die Engels ohne Namensunterschrift
im November 1845 an den Gesellschaftsspiegel sandte. Anders stand
es mit Stirner, dessen Hauptwerk bei Abfassung der Heiligen
Familie noch nicht vorgelegen hatte. Sein glänzend geschriebenes
aber heillos paradoxes Buch bot Marx und Engels den dankbarsten
Anknüpfungspunkt, um ihre radikale Umstülpung des Verhältnisses
zwischen den materiellen und den ideelen Vorgängen an allen mög-
lichen Problemen zu veranschaulichen, und das willkommenste
Indizium, um vor der Öffentlichkeit den Beweis zu erbringen, daß
die Berliner Junghegelianer sich in eine hoffnungslose Sackgasse
verrannt hatten. Was Engels, noch bevor er Marx Beiträge zur
Heiligen Familie kannte, unter dem frischen Eindruck der Lektüre
dem Freunde über Der Einzige und sein Eigentum geschrieben
hatte, wurde nun der Auftakt zu ihrer gemeinsamen Abrechnung
mit der deutschen Ideologie, die in Stirners Buch sich selbst über-
gipfelte.
Dieser hatte darin sowohl den letzten Glauben Bruno Bauers,
den an die Hoheit des Geistes, wie den Feuerbachs an den Gattungs-
menschen, wie den der wahren Sozialisten an den wirklichen Men-
schen als Abstraktionen theologischen Ursprungs entlarven und
damit allen Philosophen des Radikalismus, die der übrigen Welt
als die Todfeinde der Religion galten, den in seinen und ihren
Augen empfindlichsten Schimpf antun wollen. Wie nun aber,
wenn man es unternahm, diese blasphemischen Heiligsprechungen
noch zu übertrumpfen, wenn man auch über dem Haupt dieses
rebellischsten aller Bilderstürmer den Heiligenschein nachwies ?
Dann verwandelten sich alsbald mit logischer Konsequenz „Die
letzten Philosophen", gegen die kürzlich Heß, von Marx und Engels
ermutigt, in die Schranken getreten war, auf dem Leipziger Konzil,
zu dem die Verfasser der deutschen Ideologie sie jetzt entboten,
in die letzten Kirchenväter. Der ,, Heilige Bruno" und der ,, Heilige
Max" plädieren hier (nämlich im dritten Band des Jahrgangs 1845
der in Leipzig erscheinenden Wigandschen Vierteljahrsschrift)
„hoffentlich zum letztenmal in Sachen des Allerhöchsten alias
Absoluten". Vor diese beiden Großmeister der heiligen Inquisition
wird der Häretiker Feuerbach zitiert, um sich wegen einer schweren
16*
244 ^^® Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
Anklage des Gnostizismus zu verantworten. „Außer der Verhand-
lung dieser richtigen Anklagen wird noch ein Prozeß der beiden
Heiligen gegen Moses Heß und des heiligen Bruno gegen die Ver-
fasser der ,H8iligen Familie* entschieden. Da diese Inkulpaten
sich indes unter den , Dingen dieser Welt* herumtreiben und deshalb
nicht vor der Santa Casa erscheinen, werden sie in Kontumaz
verurteilt zu ewiger Verbannung aus dem Reiche des Geistes für die
Dauer ihres natürlichen Lebens. Schließlich verführen die beiden
Großmeister wieder absonderliche Intriguen unter- und gegenein-
ander." Nachdem sie alle Opponenten vom Leipziger Konzil ver-
jagt haben, schließen die „beiden großen Kirchenväter" einen
ewigen Bund mit einem Duett, in dem sie wie zwei Mandarinen
einander freundlich mit den Köpfen zuwackeln und heben das Konzil
auf. Wäre diese offenbar von Engels ersonnene Rahmendichtung
straff durchgeführt worden, so würde vielleicht ein lesbares Buch
zustande gekommen sein. Weil die Verfasser es aber mehr noch
zu ihrer Salbstverständigung und zu ihrem eigenen Frommen als
um der Welt willen schrieben, so vernachlässigten sie die Form,
und bei vielem Witz und ungeheurem Geistreichtum im einzelnen
sprengt in dem Manuskript, das uns vorliegt, eine weitschichtige,
mit unendlichem Behagen sich ins Detail verlierende Polemik völlig
den ursprünglich vorgezeichneten Rahmen. So tut man den Ver-
fassern kein Unrecht, wenn man ihr Werk, das vielleicht noch
Umgestaltungen erfahren hätte, wie einen Steinbruch betrachtet,
aus dessen Material sich ihre Geschichtsauffassung, wie sie sich in
dieser frühesten ausführlichen Formulierung darstellt, zum ersten-
mal im Zusammenhang aufbauen läßt.
Der erste Teil der Ideologie gilt also der Auseinander-
setzung mit Bruno Bauer, Stirner und Feuer bach, die aber von
Engels und Marx keineswegs auf die gleiche Stufe gestellt werden.
Der auf Feuerbach bezügliche Abschnitt ist Fragment geblieben —
der Meister wird mit respektvoller Achtung auf seine Grenzen
verwiesen. Dagegen werden Bauer und Slirner mit souveräner
Verachtung behandelt. Lassalle, dessen Bastiat-Schulze nur die Ab-
schlachtungen, in denen Marx und Engels sich in diesen Jahren
gefielen, nachahmt, hätte gesagt, sie werden ,, ausgeweidet".
Von Sankt Bruno, über den nicht mehr viel zu sagen war,
heißt es, er bemühe sich vergeblich, seine sauer gewordene Kritik
vor der Vergeßlichkeit des Publikums sicher zu stellen. Noch
immer tummle er sein althegelsches Schlachtroß und begreife
nicht, daß die Frage vom Verhältnis des Selbstbewußtseins zur Sub-
stanz nur eine Streitfrage innerhalb der Hegeischen Spekulation,
aber ohne Einfluß auf das europäische Gleichgewicht sei. Noch
Der Heilige Bruno. 245
immer gelte diesem Heiligen der abstrakte und verhimmelte Aus-
druck, zu dem eine wirkliche Kollision bei Hegel sich verzerrt,
für die wirkliche Kollision: ,,Die philosophische , Phrase* der wirk-
lichen Frage ist für ihn die wirkliche Frage selbst." Hegels Theorie
von der Präexistenz der schöpferischen Kategorien stecke noch
immer ihm im Blute. Derbsten Spott lassen die Verfasser nieder-
hageln auf ,,die ganze Mythologie der selbständigen Begriffe mit
dem Wolkensammler Zeus, dem Selbstbewußtsein an der Spitze".
Den Intellektualismus der Hegelianer, den sie jetzt lächerlich
machen wollen, deuten sie als Abscheu vor aller Sinnlichkeit:
Sankt Bruno sei geistlich gesinnt und hasse den befleckten Rock
des Fleisches. Neben der philosophischen hatte nun aber diese
Auseinandersetzung mit Bruno Bauer auch ihre politische Seite.
Diesem, der sich nach der Unterdrückung der Deutschen Jahr-
bücher und der Rheinischen Zeitung, wie wir schon wissen, gleich
von der Politik abgewandt und den Liberalismus für erledigt er-
klärt hatte, mußte bewiesen werden, daß umgekehrt der Liberalismus
in Deutschland eine praktische Existenz und die Chance eines Er-
folges erst erhalten habe, seit dem wirklichen, durch ökonomische
Verhältnisse erzeugten Bürgertum die Notwendigkeit, die politische
Macht zu erringen, zum Bewußtsein gekommen sei.
Mit einer Ausführlichkeit, die hinter der des kritisierten Werkes
selbst nicht zurückbleibt, wird Stirners Werk unter die Sonde ge-
nommen. Den Verfassern genügte es auch nicht, den scheinbaren
Bilderstürmer als einen Heiligen zu entlarven, sie ruhen nicht, bis
der sich so radikal gebärdende ,,ignorante Schulmeister" sich ihnen
als der getreue Repräsentant des zeitgenössischen deutschen Klein-
bürgers enthüllt, der danach trachte, Bourgeois zu werden. Auch
Sankt Max ist ein Heiliger, weil er genau wie die anderen, die er
widerlegt zu haben sich einbildet, an der Herrschaft des Gedankens
über die empirische Welt festhält, weil auch er glaubt, daß die
verschiedenen Vorstellungen die verschiedenen Lebensverhältnisse
gemacht, daß die ,, Engrosfabrikanten dieser Vorstellungen, die
Ideologen", die Welt beherrscht haben, weil auch für ihn die speku-
lative Idee die treibende Kraft der Geschichte bleibt. Wer auf diesem
Standpunkt verharre, dem schrumpfe die Geschichte zur bloßen
Geschichte der Philosophie zusammen, dem werde sie zu einer
Geister- und Gespenstergeschichte, während die wirkliche, die em-
pirische Geschichte, die Grundlage dieser Gespenstergeschichte,
von ihm nur exploitiert werde, um die Leiber für diese Ge-
spenster herzugeben. Im Grunde nehme Stirner nicht die Welt
sondern nur seine Fieberphantasie von der Welt als die seinige
und eigne sie sich an. Er nehme die Welt als seine Vorstellung
246 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
von der Welt, und als seine Vorstellung sei die Welt sein vor-
gestelltes Eigentum.
Dem sinnlich-übersinnlichen Verherrlicher des Selbstgenusses
wird „der Zusammenhang jeder Philosophie des Genusses mit
dem ihr vorliegenden wirklichen Genießen" sowohl an historischen
Beispielen wie an seinem eigenen Corpus vile nachgewiesen. Ihm
wird gezeigt, daß seine Auffassung und Bildung nicht nur deutsch
sondern durch und durch berlinisch, daß der gute Bürger, von dem
sein Buch spricht, der Berliner Weißbierphilister sei: ,,Das Berliner
Lokalresultat unseres wackeren Heiligen, daß die ganze Welt in
der Hegeischen Philosophie alle jeworden sei, befähigt ihn nun,
ohne große Unkosten zu einem ,eigenen' Weltreich zu kommen."
Die Hegeische Philosophie habe alles in Gedanken, in das Heilige,
in Spuk, in Geist, in Geister, in Gespenster verwandelt. Diese
überwinde Stirner in seiner Einbildung und stifte auf ihren Leichen
sein „eigenes", „einziges", ,, leibhaftiges" Weltreich, das Welt-
reich des ganzen Kerls. Am deutlichsten komme der kleine von
der Gewerbefreiheit ruinierte und ,, moralisch" empörte Handwerks-
meister bei ihm zum Vorschein, wo er den ,, redlich erarbeiteten
Genuß" für das soziale Ideal der Kommunisten erkläre. Diese so
grobe Verkennung ihres eigenen Ideals bringt die Kritiker vollends
in den Harnisch: Wer außer Stirner und einigen Berliner Schuster-
und Schneidermeistern denke an redlich erarbeiteten Genuß?
Und nun gar den Kommunisten diese Vorstellung in den Mund zu
legen, bei denen die Grundlage dieses ganzen Gegensatzes von Arbeit
und Genuß wegfalle! Weil sie den armen Schullehrer, der niemals
aus Deutschland und seit vielen Jahren nicht mehr aus Berlin
herausgekommen war, so genau kannten, wurde es ihnen leicht,
an der Hand ihrer realistischen Erklärungsweise darzutun, wie die
weltferne Phantasmagorie vom Einzigen und seinem Eigentum sich
in seinem Geist herausbilden konnte: ,,Bei einem Individuum . . .,
dessen Leben einen großen Umkreis mannigfalter Tätigkeiten und
praktischer Beziehungen zur Welt umfaßt, das also ein vielseitiges
Leben führt, hat das Denken denselben Charakter der Universali-
tät, wie jede andere Lebensäußerung dieses Individuums . . . Bei
einem lokalisierten Berliner Schulmeister oder Schriftsteller dagegen,
dessen Tätigkeit sich auf saure Arbeit einerseits beschränkt, dessen
Welt von Moabit bis Köpenick geht und hinter dem Hamburger
Tor mit Brettern zugenagelt ist, dessen Beziehungen zu dieser Welt
durch eine miserable Lebensstellung auf ein Minimum reduziert
werden, bei einem solchen Individuum ist es allerdings nicht zu
vermeiden, wenn es Denkbedürfnis besitzt, daß das Denken ebenso
abstrakt wird, wie dies Individuum und sein Leben selbst, daß es ihm.
Der Heilige Max. 247
dem ganz Widerstandslosen gegenüber, eine fixe Macht wird, eine
Macht, deren Betätigung dem Individuum die Möglichkeit einer
momentanen Rettung aus seiner , schlechten Welt' eines momen-
tanen Genusses bietet." Vielleicht hätte diese Art, eine geistige
Persönlichkeit zu , .erraten", Marx und Engels den Beifall ihres
Antipoden Nietzsche eingebracht! Ihre Kritik Stirners gipfelt also in
dem Nachweis, daß die von ihm gepredigte Empörung nur senti-
mentale Renommage, daß der wahre Egoist der größte Konser-
vative, der Einzige ein ohnmächtiger Philister, sein soziales Ideal
reaktionär sei.
Glimpflicher kommt Feuerbach davon. Während Engels und
Marx in Bauer und Stirner nur noch philosophische Marktschreier
sehen, bei denen zwischen der wirklichen Leistung und ihrer Illu-
sion über diese Leistung ein tragikomischer Kontrast besteht, er-
kennen sie in Feuerbachs Philosophie, selbst dort, wo sie über diese
hinausgehen, ,, entwicklungsfähige Keime". Auch ihm müssen
sie vorwerfen, daß er in letzter Instanz mit der sinnlichen Welt
nicht fertig werde, weil er sie durch die Brille des Philosophen be-
trachte. Er bemerke nicht, daß diese sinnliche Welt kein unmittel-
bar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern
das Produkt von Generationen sei, deren jede auf den Schultern
der vorhergehenden stehe. Weil seine theoretische Auffassung
der sinnlichen Welt sich auf die bloße Anschauung und auf die
bloße Empfindung beschränke, bleibe er bei dem Abstraktum ,,der
Mensch" stehen; er gelange nicht zu dem tätigen Menschen und
anerkenne den wirklichen leibhaftigen Menschen bloß in der Sphäre
der Empfindung. Liebe und Freundschaft seien die einzigen
menschlichen Verhältnisse, die er entdecke, und ihm entgehe
völlig, daß die vielberühmte Einheit des Menschen mit der Natur
seit jeher in der menschlichen Produktionstätigkeit bestanden habe.
Somit falle er gerade dort in den Idealismus zurück, wo sich , dem
kommunistischen Materialisten" die Notwendigkeit und zugleich
die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der
gesellschaftlichen Gliederung zeige. Zu Unrecht verwandle Feuer-
bach auch das Wort Kommunist, das den Anhänger einer bestimmten
revolutionären Partei bezeichne, wieder in eine bloße Kategorie.
Mit seinem Beweis, daß die Menschen einander nötig hätten und
immer gehabt hätten, wolle er nur ein richtiges Bewußtsein über
ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es den wirklichen
Kommunisten darauf ankomme, dies Bestehende umzustürzen.
In Summa Feuerbach gehe so weit wie ein Theoretiker überhaupt
gehen könne, ohne aufzuhören Theoretiker und Philosoph zu sein!
Es war nicht lange her, daß Engels sich noch mit der Hoffnung
248 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
getragen hatte, Feuerbach mitreißen zu können, er hatte von
Barmen aus in dieser Absicht an ihn geschrieben und eine ihn nicht
ganz entmutigende Antwort erhalten. Jetzt aber sagte er sich
bereits, daß zwischen seinem Kommunismus und jenem, zu dem
der Einsiedler von Bruckberg allenfalls sich bekennen konnte,
sicherlich kein Einklang herzustellen wäre. Über das ,,Wie der
Ausführung" würden sie sich niemals verständigen können!
Als jener bald darauf in den Epigonen einen Aufsatz über das
Wesen der Religion veröffentlichte, der ihm m.ißfiel, kam Engels
zu dem Schluß, daß dieser Denker, dem er einen so entscheidenden
Anstoß verdankte, sich erschöpft habe, weil er nicht dahin gelangt
wäre, sich ,,um wirkliche Interessen" zu bekümmern.
Der zweite Band der Ideologie beschäftigt sich mit jenen deut-
schen Sozialisten, die gleich Engels und Marx über Feuerbachs
,, theoretischen" Humanismus hinausstrebten, aber aus dem Ge-
strüpp der Phrase den Weg zur Realität nicht fanden, weil sie
in ihrer Lokalborniertheit die Scheuklappen nicht abstreiften,
nicht über die Grenze blickten, sich nicht die Erfahrungen der
fortgeschritteneren westlichen Länder aneigneten. Mit ihnen wird
hier auf ähnliche Weise abgerechnet, wie kurz vorher in der
Einleitung zu dem Fourierschen Fragment über den Handel, das
Engels im zweiten Band des Deutschen Bürgerbuchs veröffentlicht
hatte.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die ganze Ideologie ebenso
wie durch alle anderen Engelsschen und Marxschen Schriften dieser
Epoche der Ausdruck lebendigen Unwillens über die wirtschaft-
liche, soziale und politische Rückständigkeit Deutschlands, über
die Ohnmacht, die Gedrücktheit, die Krähwinkelei seines Bürger-
tums, über den kleinbürgerlichen Charakter seiner ganzen Ent-
wicklung seit der Reformation. Dies war ein Gefühl, das Engels
und Marx mit allen jenen radikal gesinnten Deutschen teilten,
die in England und Frankreich Staaten von großartigerem Gefügc ,
Gesellschaften von modernerem Gepräge durch eigene Anschau-
ung kennen lernten. Und dafür haben sie mit Börne, mit Heine und
manchem anderen guten Deutschen der Verständnislosigkeit später
geborener Erbpächter eines zu eng gegriffenen Patriotismus als
Vaterlandsverräter gegolten. Dem deutschen Philister wollte es
nicht ein, daß dem Vaterland nicht jene Liebe die heilsamste ist, die
in bornierter Selbstzufriedenheit die heimischen Einrichtungen für
die vortrefflichsten erklärt und keinen Widerspruch dagegen duldet,,
sondern daß auf weite Sicht produktiver vielleicht doch jene andere,
den Regierungen freilich unbequemere ist, die sich in zürnenden,
zuweilen selbst in verächtlichen Worten Luft macht, wenn sie das
Deutschlands Rückständigkeit. 249
Land, das sie so gern an der Spitze aller anderen dem Ideal ent-
gegenwachsen sähe, weit zurückstehen sieht und kein anderes
Mittel es vorwärts zu treiben besitzt, als die bitterste Kritik. Zu dem
Staat der HohenzoUern, wie er aus der im ostelbischen Deutsch-
land herrschenden wirtschaftlichen und sozialen Machtverteilung
erwachsen war, hatte der Rheinländer, der Demokrat, der Kom-
munist Engels in der Tat kein Verhältnis. Trotzdem hat er aber,
an Körper und Seele kerndeutsch, niemals vergessen, daß er aus
deutschem Blut und deutscher Erde, von deutscher Kultur und
deutscher Wissenschaft stammte. Und der höchste Wunsch seines
Lebens ist immer geblieben, daß dieses Land, das er so auf seine
Weise liebte, dem Zukunftsideal, an das er glaubte, womöglich
vor allen anderen Ländern entgegenwüchse. In jener Einleitung
zu seiner Übersetzung des Fourierschen Nachlaßfragments be-
klagte er, daß die Deutschen nun schon anfingen, auch die kom-
munistische Bewegung zu verderben. ,,Wie immer, auch hier
die Letzten und Untätigsten" glaubten sie ihre Schläfrigkeit durch
Verachtung ihrer Vorgänger und durch philosophische Renommage
verdecken zu können. Kaum existiere der Kommunismus in
Deutschland, so werde er von einem ganzen Heere spekulativer
Köpfe akkapariert, die Wunders meinen, was sie getan hätten,
wenn sie Sätze, die in Frankreich und England schon zu Triviali-
täten geworden, in die Sprache der Hegeischen Logik übertrügen,
und diese neue Weisheit als die ,, wahre deutsche Theorie" in die
Welt schickten, um dann recht nach Herzenslust auf die „schlechte
Praxis", auf die ,, Lächeln erregenden" sozialen Systeme der bor-
nierten Engländer und Franzosen Kot werfen zu können. Dieser
allzeit fertigen deutschen Theorie, die ein wenig in die Hegeische
Geschichtsphilosophie hineingerochen und dann vielleicht Feuer-
bach, einige deutsche kommunistische Schriften und Lorenz Steins
Buch durchgeblättert habe, konstruiere sich ohne alle Schwierigkeit
den französischen Sozialismus und Kommunismus zurecht und
glaube, wenn sie ihm eine untergeordnete Stelle anweise, ihn
., überwunden", ihn in die „höhere Entwicklungsstufe" der allzeit
fertigen , .deutschen Theorie" ,, aufgehoben" zu haben. Es falle
ihr natürlich nicht ein, sich einigermaßen mit den aufzuhebenden
Sachen selbst bekannt zu machen, Fourier, Saint Simon, Owen
und die französischen Kommunisten anzusehen — ,,die mageren
Auszüge des Herrn Stein genügen vollkommen, um diesen brillan-
ten Sieg der deutschen Theorie über die lahmen Versuche des Aus-
landes zustande zu bringen". In Wahrheit aber befinde sich, so
führt die Ideologie aus, unter all den pomphaften Redensarten,
die als Grimdprinzipien des wahren, reinen, deutschen, theoretischen
250 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
Sozialismus ausgerufen würden, bis jetzt nicht ein Gedanke, der
auf deutschem Boden gewachsen wäre. Was die Franzosen und
Engländer schon vor zehn, zwanzig, ja vierzig Jahren sehr gut und
sehr klar gesagt hätten, das hätten die Deutschen, die endlich
aufhören sollten, von ihrer Gründlichkeit soviel Wesens zu machen,
seit einem Jahr stückweise kennen gelernt und verhegelt oder im
besten Fall nachträglich noch einmal erfunden. Von dieser Ver-
urteilung in Bausch und Bogen wollte Engels jetzt seine eigenen
früheren Arbeiten nicht ausgenommen wissen. Selbst er hatte ja
der Ideologie des v/ahren Sozialismus seinen Tribut gezollt, mochte
er sich auch von dessen Phrasenhaftigkeit freigehalten haben.
Er befand sich voll im Recht, wenn er jetzt den deutschen Sozialisten
vorhielt, daß sie von den englischen Autoren fast gar nichts, von
den Franzosen nur das Schlechteste und Theoretischste, die Sche-
matisierung der künftigen Gesellschaft, übernommen, die Kritik
der bestehenden Gesellschaft aber, die wirkliche Grundlage, die
Hauptaufgabe aller Beschäftigung mit sozialen Fragen, ruhig bei-
seite geschoben hätten und daß sie in ihrer theoretischen Über-
heblichkeit den einzigen Deutschen, der wirklich etwas getan habe,
Weitling, mit Verachtung oder auch gar nicht zu erwähnen pflegten.
Engels belächelte Fouriers kosmologische Bizarrerien und war,
wie wir wissen, bei aller Bewunderung für ihn weit davon entfernt,
dem genialen Franzosen über seine Kritik der bürgerlichen Gesell-
schaft hinaus zu folgen. Aber, meinte er hier, Fourier hätte sich
die Zukunft erst konstruiert, nachdem er die Vergangenheit und
Gegenwart richtig erkannt habe, der deutsche , »absolute Sozialismus"
dagegen mache sich die vergangene Geschichte nach seinem Be-
lieben zurecht, bevor er dann ebenfalls der Zukunft kommandiere,
welche Richtung sie nehmen solle. Der deutsche Sozialismus,
hatte Engels dort im Deutschen Bürgerbuch ausgerufen, sei etwas
ganz Ärmliches : , »Etwas Menschentum, wie man das Ding neuer-
lich tituliert, etwas Realisierung dieses Menschentums oder viel-
mehr Ungetüms, etwas weniges über das Eigentum aus Proudhon
— dritte oder vierte Hand — , etwas Proletariatsjammer, Organisa-
tion der Arbeit, die Vereinsmisere zur Hebung der niederen Volks-
klassen, nebst einer grenzenlosen Unwissenheit über die politische
Ökonomie und die wirkliche Gesellschaft — das ist die ganze Ge-
schichte". Am unerträglichsten aber erschien dem jugendlichen
Stürmer, daß dieser Sozialismus sich von der Politik zurückhalten
zu dürfen glaubte, daß dieser eklektische Philanthropismus, der sich
Sozialismus nannte, von politischer Betätigung nichts wissen wollte.
Damit verlor er in seinen Augen den letzten Tropfen Blut, die letzte
Spur von Tatkraft, dadurch bewies er eklatant, daß er mit seiner
Der wahre Sozialismus.
251
Langeweile unfähig war, Deutschland zu revolutionieren, das Pro-
letariat in Bewegung zu setzen, die Massen denken und handeln
zu lehren.
Diese temperamentvolle Abfertigung der Kreise der Trier -
sehen Zeitung und des Westfälischen Dampf boots sollte jetzt im
zweiten Band der Ideologie ihre wissenschaftliche Begründung
erhalten. Das , »Philosophie des wahren Sozialismus" überschrie-
bene Manuskript greift sofort wieder das Leitmotiv dieses Werkes
auf, indem es die ,, wahren" Sozialisten verspottet, weil sie die
kommunistische Literatur des Auslandes nicht als den Ausdruck
einer wirklichen Bewegung, sondern als rein theoretische Schriften
ansähen, die ganz wie sie es sich von den deutschen philosophischen
Systemen vorstellten, aus dem reinen Gedanken hervorgegangen
wären. Sie lösten, heißt es hier in Wiederholung dessen, was Engels
im Bürgerbuch ausgeführt hatte, jene kommunistischen und so-
zialistischen Systeme von der wirklichen Bewegung, deren bloßer
Ausdruck sie wären, und brächten sie in einen willkürlichen Zu-
sammenhang mit der Philosophie Hegels und Feuerbachs; sie
trennten das Bewußtsein bestimmter geschichtlich bedingter Lebens-
sphären von diesen Lebenssphären und beurteilten dieses Bewußt-
sein auf Grund des ,, wahren, absoluten, das heißt deutsch-philoso-
phischen Bewußtseins". So zeige es sich immer wieder, daß der
wahre Sozialismus nichts anderes sei als bloß die Übersetzung
der französischen Ideen in die Sprache der deutschen Ideologen,
als die Verballhornung des Kommunismus zu deutscher Ideologie.
Diese deutschen Ideologen glaubten noch immer, daß alle wirklichen
Spaltungen in der Geschichte durch Begriffsspaltungen hervor-
gerufen würden. Und sie suchten die miserable Rolle, welche die
Deutschen in der wirklichen Geschichte gespielt hätten und noch
spielten, dadurch zu verdecken, daß sie die Illusionen, an denen die
Deutschen immer besonders reich gewesen seien, mit der Wirk-
lichkeit auf die gleiche Stufe stellten. Und weil die Deutschen
überall und immer nur das Zusehen und Nachsehen hatten, glaubten
sie sich berufen, über alle Welt zu Gericht zu sitzen, hegten sie den
Wahn, daß die ganze Geschichte ihr letztes Absehen in Deutschland
erreiche. Wohl wäre nationale Borniertheit überall widerlich, aber
sie sei es besonders, wo sie mit dem Anspruch auftrete, über die
Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein
und sich mit dieser Illusion solchen Nationalitäten gegenüber brüste,
die offen eingestünden, daß sie auf wirklichen Interessen be-
ruhten.
Wie alle Sekten der deutschen Ideologie hielten auch die wah-
ren Sozialisten sich für die Hauptpartei der Zeit und vermeinten,
252 ^^^ Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
wenn sie nur das lange Garn ihrer eigenen Phantasie anspönnen,
die Kurbel der Weltgeschichte zu drehen. Sie ahnten gar nicht,
daß die wirklichen radikalen Parteien im Ausland, über die hinaus-
zugehen sie sich einredeten, von ihrer Existenz noch nicht einmal
eine Ahnung hätten. Richtig angesehen sei dieser deutsche Sozialis-
mus nichts weiter als die Verklärung des proletarischen Kommunis-
mus und der ihm mehr oder minder verwandten Parteien und
Sekten Frankreichs und Englands im Himmel des deutschen Geistes
und — des deutschen Gem.ütes. Da es ihm nicht um die wirklichen
Menschen, sondern um den abstrakten Menschen zu tun sei, glaube
er alle revolutionäre Leidenschaft durch allgemeine Menschenliebe
ersetzen zu dürfen. Schon hieraus erhelle, daß er es nicht sowohl
auf das Proletariat abgesehen habe als auf die beiden in Deutsch-
land noch zahlreichsten Menschenklassen, auf die Kleinbürger
mit ihren philanthropischen Illusionen und auf die Ideologen eben
dieses Kleinbürgertums, die Philosophen und ihr Gefolge. Am deut-
lichsten verrate sich der kleinbürgerliche Charakter des wahren
Sozialismus in der metaphysisch -mysteriösen Einkleidung, die er der
überlebten Theorie des Saint-Simonismus vom wahren Eigentum gebe.
Diese durch und durch ideologische Konzeption spreche klar und
bestimmt die Vorstellungen einer Klasse aus, deren fromme Wünsche
und wohltätige Bestrebungen bloß auf die Aufhebung der Eigentums-
losigkeit hinausliefen. Bei den in Deutschland faktisch vorliegenden
Verhältnissen, besonders bei dem Mangel wirklicher praktischer
Parteikämpfe, sei die Bildung einer solchen Zwischensekte, die sich
um die Vermittlung zwischen dem Kommunismus und den herr-
schenden Vorstellungen bemühe, eine Notwendigkeit gewesen.
Aber diese bloße soziale Literaturbewegung, die nicht auf Grund
wirklicher Parteiinteressen entstand, habe ihre' Existenzberechtigung
verloren, seitdem sich eine kommunistische Partei formiert habe.
Wolle sie trotzdem fortbestehen, so werde sie sich hinfort immer
mehr auf Kleinbürger als Publikum und impotente und verlumpte
Literaten als Repräsentanten dieses Publikums beschränkt sehen.
Das war eine selbstbewußte Sprache im Munde zweier junger
Männer, die sich damit als die Führer der deutschen ,, kommu-
nistischen Partei" vorstellten, von deren Gründung uns hier die erste
Kunde wird. Zu ihr rechnen konnten sie eigentlich nur sich selbst,
vielleicht noch eine Handvoll Intellektueller, Arbeiter hatten sie
noch nicht hinter sich. Dennoch behaupteten sie unerschrocken, daß
das Programm, also die Gesamtheit der in eine umrissene Form zu
bringenden Ziele einer Partei, nicht den willkürlichen Gedanken
einzelner Sektenstifter, sondern einzig und allein den realen Lebens-
verhältnissen einer sich zum politischen Kampf zusammenschlie-
Die deutsche kommunistische Partei.
253
ßenden sozialen Klasse entnommen werden dürfe. Das Ergebnis
ihres theoretischen Klärungskampfes verhalf ihnen auch zu einem
überlegenen Verständnis der Bedürfnisse der praktischen Be-
wegung. Sie erkannten, daß die mehr oder weniger utopistischen
Gedanken eines Fourier oder Cabet, die bis dahin die kommu-
nistische Bewegung unter den deutschen Handwerksgesellen be-
herrscht hatten, nur dem noch unentwickelten Bewußtsein eines
erst enstehenden Proletariats entsprachen. Sie begriffen, daß bei
den unentwickelten Klassenverhältnissen Deutschlands die Kommu-
nisten die Grundlagen ihres Systems allein aus den Verhältnissen
jener Klasse ableiten konnten, aus der sie selbst hervorgingen.
Ihnen dünkte es natürlich, daß ,,das einzige existierende deutsche
kommunistische System", das Weitlings, eine Reproduktion der
französischen Ideen innerhalb der durch die kleinen Handwerker-
verhältnisse beschränkten Anschauungen sein mußte. Wollten die
theoretischen Vertreter des Proletariats durch ihre literarische
Tätigkeit etwas ausrichten, so hätten sie sich die Aufgabe zu stellen,
die wirklichen Verhältnisse, so wie sie lagen, zum Ausdruck zu
bringen. Weil aber Marx und Engels annahmen, daß sich auch in
Deutschland der Gegensatz zwischen den ,, wirklichen Privat-
eigentümern" und den eigentumslosen Proletariern täglich ver-
schärfte und auf eine Krisis hindrängte, so hielten sie es für frevelhaft,
daß die wahren Sozialisten diesen Gegensatz mit Phrasen zu ver-
tuschen suchten. Zwar hätten sie die Befürchtung für übertrieben
gehalten, daß die deutsche kommunistische Bewegung durch ein
paar Phrasenmacher verdorben werden könnte. Dennoch erach-
teten sie es für nötig, in einem Lande, wo die philosophischen
Phrasen seit Jahrhunderten eine gewisse Macht hatten und wo die
Abwesenheit der scharfen Klassengegensätze anderer Nationen
ohnehin dem kommunistischen Bewußtsein weniger Schärfe und
Entschiedenheit lieh, um so energischer allen Redensarten entgegen-
zutreten, die das Bewußtsein über den totalen Gegensatz des Kom-
munismus gegen die vorhandene Weltordnung noch mehr abschwä-
chen und verwässern konnten.
Eines sicheren Grundes, darauf zu bauen, bedurften die beiden
aus dem Urwald der deutschen Ideologie herausbegehrenden ,, prak-
tischen Materialisten", eines empirisch greifbaren, festen und nicht
durch Abstraktionen gewonnenen Ausgangspunkts. Nun erschienen
ihnen je länger je mehr als die einzigen Voraussetzungen, von denen
sich nur in der Einbildung abstrahieren ließ, die ,, wirklichen In-
dividuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen,
sowohl die vorgefundenen, wie die durch ihre eigene Aktion er-
zeugten", mit andern Worten die natürlichen Grundlagen und die
254 ^^® Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
Modifikationen, die diese im Lauf der Geschichte durch die Aktion
der Menschen erfuhren. Damit wurde die Produktion von Lebens-
mitteln, durch welche der Mensch sich vom Tier zu unterscheiden
beginnt, für sie die geschichtliche Urtatsache. Bestimmte Indivi-
duen, die auf eine bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen
dann unter dem Druck der Produktionsbedingungen bestimmte Ver-
bindungen miteinander ein. Gesellschaft und Staat entstehen also
beständig aus dem Lebensprozeß der bestimmten Individuen, nicht
der Individuen, wie sie in der eigenen oder fremden Vorstellung
erscheinen, sondern wie sie wirklich sind, das heißt wie sie wirken,
wie sie materiell produzieren. Der Zusammenhang der gesellschaft-
lichen und politischen Gliederung mit der Produktion lasse sich in
jedem einzelnen Fall einspruchslos und ohne Spekulation und Mysti-
fikation aufweisen. Auch die Produktion der Ideen und Vorstellun-
gen sei in den frühen Zeiten unmittelbar in die materielle Tätigkeit
und den materiellen Verkehr der Menschen verflochten. Die Men-
schen seien die Produzenten ihrer Vorstellungen und Ideen, die
wirklichen wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine
bestimmte Entwicklung ihrer Produktionskräfte und des denselben
entsprechenden Verkehrs. Das Sein der Menschen sei ihr wirklicher
Lebensprozeß, und das Bewußtsein könne nie etwas anderes sein als
das bewußte Sein. Daß in jeder Ideologie die Menschen und ihre
Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt
erschienen, sei genau so die Folge ihres historischen Lebens-
prozesses, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut
die unmittelbare Folge ihres physischen. Der Ausgangspunkt der
Ideologen sei, was die Menschen sagten, dachten, sich einbildeten,
sich vorstellten, und erst von dem gesagten, gedachten, eingebildeten,
vorgestellten Menschen gelangten sie zu dem leibhaftigen Menschen.
Sie suchten vom Himmel her die Erde! Aber wäre nicht der um-
gekehrte Weg der richtigere ? Da, wo die Spekulation aufhöre,
beim wirklichen Leben, beginne die wirkliche positive Wissenschaft.
Von den wirklichen tätigen Menschen sollte man ausgehen und
aus ihrem wirklichen Lebensprozeß die Entwicklung der ideologi-
schen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses begreifen, zu denen
auch die Nebelbildungen im Gehirne der Menschen als notwendige
Sublimate ihres materiellen und an materielle Voraussetzungen
geknüpften Lebensprozesses gehörten. Damit verlören dann auch
die Moral, die Religion, die Metaphysik den Schein der Selbständig-
keit imd den Anspruch auf eine aparte Entwicklung und Geschichte,
denn die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr
entwickelnden Menschen änderten mit dieser ihrer Wirklichkeit
auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Sei man sich
Erste Darstellung der neuen Geschichtsauffassung. 255
aber erst einig, daß die wirkliche positive Wissenschaft erst beim
wirklichen Leben beginne, so verliere die Philosophie als Dar-
stellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium, und an ihre Stelle
könnte höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinen Resultate
treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung
der Menschen abstrahieren lasse.
Aber die Geschichte ? Erst wenn sie den tätigen Lebensprozeß
darstelle, höre diese auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein wie
bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete
Aktion eingebildeter Subjekte wie bei den Idealisten. Bisher habe
die Geschichtsschreibung die wirkliche, die materialistische Basis
entweder ganz und gar unberücksichtigt gelassen oder als eine mit
dem Gesamtverlauf außer Zusammenhang stehende Nebensache
betrachtet. Besonders die deutsche Geschichtsschreibung habe
immer eines außer ihr liegenden Maßstabes bedurft, die wirkliche
Lebensproduktion für ungeschichtlich erklärt und für geschichtlich
nur das vom gemeinen Leben getrennte Extra-Überweltliche.
Während die Franzosen und Engländer wenigstens die politische
Illusion, ,,die der Wirklichkeit noch am nächsten steht", als die
treibende Kraft der Geschichte ansahen, während dort wenigstens
Versuche gemacht wurden, Geschichten der bürgerlichen Gesell-
schaft, des Handels und der Industrie zu schreiben, erblickten die
Deutschen das eigentliche Agens in der religiösen Illusion. Darüber
vergaßen sie alle anderen Nationen und alle wirklichen Ereignisse
und hielten schließlich die Leipziger Büchermesse und die gegen-
seitigen Streitigkeiten „der Kritik", des ,, Menschen" und des
,, Einzigen" für das Theatrum Mundi. Am Ende wähnten sie noch
Elsaß und Lothringen zu erobern, wenn sie statt des französischen
Staats die französische Philosophie bestahlen und statt französischer
Provinzen französische Gedanken germanisierten!
Haben sich aber einmal, so geht dieser kühne Ideenlauf fort,
die herrschenden Gedanken von den Verhältnissen, die aus der
gegebenen Stufe der Produktionsweise entspringen, abgetrennt,
und ist dadurch das Resultat zustande gekommen, daß in der Ge-
schichte stets Gedanken herrschen, so wird es eine Leichtigkeit,
aus diesen verschiedenen Gedanken sich den Gedanken, den herr-
schenden Begriff zu abstrahieren und die Geschichte, wie Hegel
es getan habe, als Theodicee darzustellen. Die bisherige Geschichts-
schreibung habe noch zu sehr jeder Epoche das aufs Wort geglaubt,
was diese von sich selbst sagte und sich einbildete, statt die Frage
zu stellen, wie weit dabei Klassenillusionen mitwirkten.
Krampfhaft bemüht, wie sie waren, die Produktion als den
überragenden, ja bestimmenden Faktor des geschichtlichen Lebens
256 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
zu enthüllen und zur Erkenntnis und Anerkennung zu bringen,
beginnen die Verfasser ihre Beweisführung tatsächlich ab ovo.
Die Produktion des materiellen Lebens ist für sie die geschicht-
liche Urtat, denn sie ist unbestreitbar die Voraussetzung für die
Produktion der Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse. Das eigene
Leben, sagen sie, wird in der Arbeit, das fremde in der Zeugung
produziert. Das Bewußtsein aber sei von vornherein ein gesell-
schaftliches Produkt, das erst in der Sprache in die Erscheinung
trete. Bewußtsein und Sprache entstünden erst aus dem Bedürfnis
nach dem Verkehr mit anderen Wesen. Dieses Bedürfnis werde
um so intensiver, je mehr die Zunahme der Bevölkerung die Pro-
duktivität ansporne und die Arbeitsteilung entwickele. Erst diese
fortschreitende Teilung der Arbeit schaffe die Voraussetzungen
für die Entstehung des Privateigentums und der Klassenunter-
schiede. Teilung der Arbeit und Privateigentum drückten Iden-
tisches aus. Erst wo materielle und geistige Arbeit sich sonderten,
könnte das Bewußtsein sich von der bestehenden Praxis emanzi-
pieren und sich einbilden, wirklich etwas vorzustellen ohne etwas
Wirkliches vorzustellen. Erst mit der Teilung der Arbeit, die Pro-
duktion und Konsumption trenne, könnten die drei Momente Pro-
duktionskraft, gesellschaftlicher Zustand und Bewußtsein in Wider-
spruch miteinander geraten. Die Teilung der Arbeit erzeugte den
Widerspruch zwischen dem Interesse der einzelnen Individuen
respektive Familien und dem gemeinschaftlichen Interesse aller
Individuen, die miteinander verkehren, erst sie bedingte die Herr-
schaft einer Klasse über die anderen.
Alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demo-
kratie, Aristokratie und Monarchie, die Kämpfe ums Wahlrecht
und um anderes, seien nur die illusorischen Formen, in denen die
wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen miteinander ge-
führt würden. Jede nach der Herrschaft strebende Klasse müsse
zuerst die politische Macht erobern. Dabei sei sie im Anfang ge-
zwungen, ihr Interesse als das allen Mitgliedern der Gesellschaft
gemeinschaftliche hinzustellen, das heißt ideell ausgedrückt, ihren
Gedanken die Form der Allgemeinheit zu verleihen, sie als die einzig
vernünftigen und allgemeine Gültigkeit verdienenden auszugeben.
Schon weil sie stets einer Klasse gegenüberstehe, gebe sich die
revolutionierende Klasse selbst nicht als Klasse sondern als Ver-
treterin der ganzen Gesellschaft. Auch die Liberalen geständen
nicht, daß ihre Redensarten nur der idealistische Ausdruck der
realen Interessen der Bourgeoisie seien. Die materiell herrschende
Klasse wäre immer zugleich auch die herrschende geistige Macht.
Wer über die Mittel zur materiellen Produktion verfüge, disponiere
Die Trennung von Stadt und Land. 257
zugkich auch über die Mittel zur geistigen Produktion. Die eine
jede Epoche beherrschenden Gedanken seien weiter nichts als der
ideale Ausdruck der in ihr herrschenden materiellen Verhältnisse.
Wo die königliche Macht, die Aristokratie und die Bourgeoisie sich
in die Herrschaft teilten, werde die Teilung der Gewalten als ewiges
Gesetz angesprochen werden. Die Staatsform sei also stets der
praktisch-idealistische Ausdruck der Herrschaft einer bestimmten
Klasse, der Staat die Form, in der die Individuen dieser herrschen-
den Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machten, in der
die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammen-
fasse, er sei die bürgerliche Gesellschaft in Aktion. Je höher der
Kapitalismus sich entwickele und je stärker damit die Einwirkung
des Staates auf die Gestaltung des Eigentums werde, um so mehr
verschwinde der letzte Schein einer Selbständigkeit des Staats
gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Diesem Anschein be-
gegne man nur noch in Ländern, wo sich die Stände noch nicht
vollständig zu Klassen entwickelt hätten, wo es deshalb noch kein
Teil der Bevölkerung zur Herrschaft üb2r die übrigen habe bringen
können. Auf einer solchen Übergangsstufe befinde sich Deutsch-
land, und daraus erklärten sich sowohl das anderwärts nicht vor-
kommende redliche Beamtenbewußtsein, die sämtlichen kursieren-
den Illusionen über den Staat, wie die scheinbare Unabhängigkeit,
die hier die Theoretiker gegenüber den Bürgern hätten.
Als die früheste bedeutende Arbeitsteilung der Geschichte
ergibt sich für Engels und Marx die Trennung von Stadt und Land,
deren unmittelbare Folge die starre Trennung der materiellen und
der geistigen Arbeit sei. Auf die für die Zivilisation schädliche Wir-
kung dieser Entfremdung mochte sie besonders nachdrücklich der
französische Sozialist Pecqueur aufmerksam gemacht haben. En-
gels ließ in der Lage der arbeitenden Klasse in England erken-
nen, daß für ihn eine Landbevölkerung, die in ihrem stillen
Pflanzenleben nichts von der gewaltigen Bewegung, die durch die
übrige Menschheit ging, erfahre, , .arbeitende Maschinen" aber
,,eben keine Menschen" wären. Nun galt es, die politische und so-
ziale Auswirkung jener ihm widerstrebenden unnatürlichen Tren-
nung herauszuarbe.ten, aufzuzeigen, wie sich mit der Stadt zugleich
die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern,
kurz des Gemeindewesens und damit der Politik verknüpfte, wie
diese die Konzentration der Bevölkerung, der Produktionsinstru-
mente, der Genüsse, der Bedürfnisse bewirkte, und wie dagegen
das Land die Isolierung der Menschen, ihre Vereinzelung in jeder
Form darstellte. Zu beweisen galt jetzt, daß die Überwindung
dieser starren Trennung notwendig wäre, weil nur so die mit ihr zu-
Mayer, Friedrich Engeis, Bd. I 17
258 Die Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
sammenfallende Trennung von Kapital und Grundeigentum über-
wunden werden könnte. Um aber diese, die Ursache der ganzen
kapitalistischen Entwicklung, zu beseitigen, bedürfe es der Auf-
hebung des Privateigentums.
Eine noch recht skizzenhafte Übersicht über die allgemeine
Wirtschaftsgeschichte, wie sie sich ihnen unter dem Gesichtspunkt
der Teilung der Arbeit darstellte, sollte den Beweis erbringen, daß
die Aufhebung des Privateigentums erst im Zeitaller der Groß-
industrie durchführbar werde. Als Engels, um sich für sein Büchlein
über Feuerbach zu inspirieren, diese früheste Darlegung ihrer ma-
terialistischen Geschichtsauffassung nach mehr als vierzig Jahren
wieder überlas, fiel ihm auf, wie unvollkommen ihre Kenntnis
der ökonomischen Geschichte damals noch gewesen wäre. Aber
diesen Eindruck bildete er sich wohl hauptsächlich auf Grund
des Manuskripts ihrer unvollendet gebliebenen Kritik Feuerbachs,
und er übersah damals vielleicht die glänzenden Abschnitte, die
in dieser Richtung der Heilige Max enthielt. Jene Skizze freilich
zeigt in der Tat nur in ganz großen Linien, wie die Kreise, die durch
ihre Produktion aufeinander einwirken, sich erweitern, wie die
Arbeitsteilung interlokal, am Ende international wird, wie die
Geschichte der Landschaften und Völker sich zur Weltgeschichte
dehnt. Je mehr nun die Ausbildung der Produktionsweise die
Nationalitäten miteinander verbinde, um so mehr bringe sie diese
und die Individuen für ihre Bedürfnisbefriedigung unter die Knecht-
schaft des Weltmarkts, um so vollständiger lösten alle naturwüch-
sigen Verhältnisse sich in Geldverkehr auf. Um so eher freilich
trete auch in der Entwicklung der Produktivkräfte der Moment ein,
wo Maschinerie und Geld sich nicht mehr als Produktionskräfte
sondern als Dastruktionskräfte erwiesen, wo die allseitige Ab-
hängigkeit, diese erste naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen
Zusammenwirkens der Individuen, sich vollende und mit der Ent-
stehung des Proletariats der Totengräber dieser alten Ordnung
die Weltbühne betrete. Alle Kollisionen der Geschichte hätten
ihren Ursprung in einem solchen Widerspruch zwischen den Pro-
duktivkräften und der Verkehrsform.
Der Sieg der Stadt über das Land, der Großindustrie über die
früheren Betriebsformen erzeuge im allgemeinen überall dieselben
Verhältnisse zwischen den Klassen der Gesellschaft und vernichte
zugleich die Besonderheit der einzelnen Nationalitäten. Während
die Bourgeoisie noch aparte nationale Interessen hätte, erstehe
im Proletariat eine Klasse, die bei allen Nationen dasselbe Interesse
habe, bei der also die Nationalität vernichtet sei, eine Klasse, die
wirklich die ganze alte Welt los geworden sei und ihr feindlich
Beseitigung der Arbeitsteilung. 259
gegenüberstehe. Das Proletarial, eine Klasse, die gegen die herr-
schende Klasse keine besonderen Klasseninteressen mehr durch-
zusetzen habe , werde der Träger jener Revolution sein , die den Klassen
wie der Klassenherrschaft ein Ende mache. Bei allen bisherigen
Revolutionen sei die Art der Tätigkeit unangetastet geblieben und
immer nur eine andere Distribution dieser Tätigkeit erfolgt. Aber
die Revolution des Proletariats verwandele die allseitige Abhängig-
keit, diese erste naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zu-
sammenwirkens der Individuen, in die Kontrolle und bewußte
Beherrschung der wirtschaftlichen Mächte durch den Menschen,
dem diese Mächte bisher als durchaus fremde Mächte imponiert
und ihn beherrscht hatten. Kommunistisch werde diese Revolution
sein, weil die Aufhebung der Arbeitsteilung, welche die persön-
lichen Verhältnisse in sachliche verwandelt habe, nur im Zustande
der Gemeinschaft durchführbar sein werde. Weil das Individuum
erst dann seine Anlagen nach allen Seiten ungehindert auszubilden
vermöge, werde die persönliche Freiheit erst durch die Verwirk-
lichung des Kommunismus ermöglicht. Nur in der kommunistischen
Gesellschaft sei die individuelle und freie Entwicklung der Individuen
keine Phrase. Im Staat und den anderen bisherigen Surrogaten
der Gemeinschaft existierte sie ausschließlich für die in den Ver-
hältnissen der herrschenden Klassen entwickelten Individuen und
auch nur, insofern sie Individuen dieser Klassen waren. In der
wirklichen Gemeinschaft aber erlangten die Individuen in ihrer
Assoziation und durch dieselbe zugleich die Freiheit. Persönliche
Freiheit nannte man bisher das Recht, sich innerhalb gewisser
Bedingungen ungestört der Zufälligkeit erfreuen zu dürfen. Die
Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die
Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit hätten in der
bürgerlichen Gesellschaftsepoche ihre schärfste und universellste
Form erhalten. Künftig trete an die Stelle der Herrschaft der Ver-
hältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft
der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse. Dazu
freilich sei nötig, daß die Arbeitsteilung beseitigt werde und daß das
Privateigentum verschwinde. Wollten die Proletarier auch ihrerseits
persönliche Geltung bekommen, so müßten sie ihre eigene bisherige
Existenzbedingung, die zugleich die Existenzbedingung der ganzen
bisherigen Gesellschaft war, die Lohnarbeit, aufheben. Im direkten
Gegensatz zu der Form, unter der die Individuen sich in der bisherigen
Gesellschaft einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, müßten sie
diesen stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen. Dies aber
könne nur auf revolutionärem Wege geschehen, weil die herrschende
Klasse die Macht nicht freiwillig abtrete und die aufsteigende Klasse
17*
200 Di* Abrechnung mit der deutschen Ideologie.
nur im Verlauf einer Revolution zu einer neuen Begründung der
Gesellschaft befähigt werde.
Der Kommunismus unterscheide sich von allen bisherigen
Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Pro-
duktions- und Verkehrsverhältnisse umwälze und alle naturwüch-
sigen Voraussetzungen, das heißt jene, die nicht einem Gesamtplan
frei vereinigter Individuen subordiniert waren, zum erstenmal
mit Bewußtsein ihrer Naturwüchsigkeit entkleide und der Macht der
vereinigten Individuen unterwerfe. Nun könne aber der moderne
universelle Verkehr nicht anders unter die Individuen subsumiert
werden als dadurch, daß er unter alle subsumiert werde. Die An-
eignung könne nur vollzogen werden durch eine Vereinigung, die
durch den Charakter des Proletariats selbst wieder nur eine univer-
selle sein könne. Erst auf dieser Stufe falle die endlich zur Selbst-
betätigung gewordene Arbeit mit dem materiellen Leben zusammen,
und erst jetzt, nachdem alle Naturwüchsigkeit abgestreift sei, könne
die Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen, die allseitige
Verwirklichung des Individuums vor sich gehen!
Für die Klassenbewegung des Proletariats bedeute es keine
Hemmung, daß die Großindustrie nicht in allen Ländern und
innerhalb der Länder nicht überall gleichmäßig ausgebildet wäre,
denn die zurückgebliebenen Länder unterlägen der Einwirkung
der fortgeschrittenen, die sie durch den Weltverkehr in den inter-
nationalen Konkurrenzkampf hineinreiß?n. Innerhalb der Länder
aber reißa das Industrieproletariat die übrige Masse um so sicherer
mit sich fort, als die von der Großindustrie ausgeschlossenen Arbeiter
durch ihr Aufkommen in eine noch schlechtere Lebenslage ge-
rieten. Unzulässig wäre es jedoch, Proletariat und Pauperismus zu
identifizieren. Denn Pauperismus bezeichne nur die Lage eines
ruinierten, gegen den Druck der Bourgeoisie widerstandslos ge-
wordenen Proletariats, während ein revolutionäres Proletariat, das
seine Lage begriffen habe und an deren Hebung arbeite, eine auf-
wärts und vorwärts strebende Klasse sei, bei deren revolutionärer
Mission das Sichverändern mit dem Verändern der Umstände zu-
sammenfalle.
Noch wußte aber jenes Proletariat, für das Engels und Marx
diese ihm siegverkündende neue Anschauung der Menschheit
und ihrer Geschichte aufbauten, erst sehr wenig von ihren Per-
sonen und nichts von ihrer Lehre. Was war da begreiflicher, als
daß Engels es nun als seine nächste und wichtigste Aufgabe be-
trachtete, bei den auf dem freieren Boden Frankreichs und Belgiens
weilenden, von revolutionärem Geist erfüllten deutschen Proleta-
riern die ihnen von ihren leitenden Genossen eingeimpfte Ab-
Engels und das Proletariat. 261
neigung gegen die Intellektuellen soweit zu überwinden, daß sie
die neue werbekräftige kommunistische Lehre von ihm entgegen-
nahmen und, in die Heimat zurückkehrend, als deren Sendboten auf
das deutsche Proletariat einwirkten, mit dem er selbst vorläufig nicht
in direkte Beziehung treten konnte ? Nicht minder wichtig erschien
es freilich diesem Bahnbrecher des proletarischen Internationalis-
mus, auch die englischen und französischen Arbeiter für die neue
Geschichtsauffassung und die auf diese sich gründende neue Politik
und Taktik zu gewinnen. Aber der Weg zu ihnen, das erkannte er,
ging nur über die Führer ; in England stand er, wie wir wissen,
zu einigen von diesen schon seit Jahren in Beziehungen, jetzt galt
es solche auch in Frankreich zu suchen.
Seitdem sie sich so eine feste theoretische Grundlage für die
von ihnen herbeigesehnte Revolutionierung der Gesellschaft er-
kämpft hatten, betrachteten Engels und Marx als Feind des Kom-
munismus einen jeden, der noch wähnte, das Proletariat auch noch
auf anderen Wegen, als den von ihnen angegebenen, der Erlösung
entgegenführen zu können.
Kapitel X.
In Belgien und Frankreich. — Kommunisten-
bund und Kommunistisches Manifest.
Dem neuen Kommunismus standen zwei Rivalen gegenüber,
die es niederzukämpfen galt, wenn er für den Vortrupp eines klassen-
bewußten deutschen Proletariats richtunggebend werden sollte:
der Handwerkerkommunismus Weitlings und der deutsche philoso-
phische Sozialismus, dessen betriebsamste agitatorische Kraft, Karl
Grün, Marx Studiengenosse gewesen war. Nun hatten zunächst
beide Richtungen noch einen ziemlichen Anhang unter jenen
deutschen Handwerksgesellen, die sich zu ihrer besseren Ausbildung
in Paris aufhielten, das immer einer der Hauptsammelpunkte
aller kommunistischen und sozialistischen Bestrebungen war, und
wo bekanntlich gerade in diesen Jahren des absteigenden Bürger-
königtums die auf eine Verjüngung der Gesellschaft hinzielenden
Bemühungen in den mannigfaltigsten Gestaltungen sich der Öffent-
lichkeit kundgaben.
Mit der neuen Geschichtsphilosophie des Kommunismus, die
Marx und er sich aufgebaut hatten, glaubte Engels, wie wir sahen,
die „deutsche Ideologie" entlarvt, sie für immer erledigt zu haben.
Trotz alledem bekannte er sich nach wie vor zu dem Menschheits-
ideal, das dem deutschen Idealismus in seiner Blütezeit Kraft und
Fülle verliehen hatte. Weshalb verurteilte er denn die bestehende,
weshalb erstrebte er eine bessere Gesellschaftsordnung? Warum
anders als weil jene den Menschen durch die Arbeitsteilung in Ein-
seitigkeit verkrüppeln ließ, während die Beseitigung der Arbeits-
teilung, die Aufhebung des Privateigentums und der freien Kon-
kurrenz, ihm eine allseitige harmonische Entwicklung in Aussicht
stellten ? Den deutschen Sozialismus, dessen theoretische Unzu-
länglichkeit unbestreitbar war, verfolgte er mit Spott und Nicht-
achtung nur deshalb, weil jener in seiner Unkenntnis der Welt
und in seinem billigen Harmoniedusel noch nicht einsehen wollte,
daß dieses Menschheitsideal nur der Klassenkampf, nur die Revolu-
Die Bannbulle gegen Kriege. 263
tjon verwirklichen könnten. Damals, als das sozialistische Ideal
noch unbegriffen in seinem Herzen träumte, hatte auch Engels
gedacht, daß den sympathetischen Trieben in der Menschenbrust
dereinst ein friedlicher Sieg beschieden sein könnte. Inzwischen
hatte er die Verwüstungen des englischen Frühkapitalismus erlebt
und den Kommunismus als den einzigen legitimen Erben der
deutschen klassischen Philosophie erkannt. Wer jetzt noch,
ob mit oder ohne christliche Färbung, allein von der allgemeinen
Menschenliebe die soziale Erneuerung erwartete, der war für ihn
ein rückständiger und, sofern er auf die Massen Einfluß erstrebte
oder gewann, ein gefährlicher Schwärmer. Nannten vollends solche
Irreführer und falschen Apostel ihre ,, Liebesduselei" Kommunis-
mus, so wurde es ihm zur gebieterischen Notwendigkeit, ihren
Bestrebungen scharf entgegenzutreten, v/eil sie geeignet waren, das
Proletariat um seine revolutionäre Energie zu bringen.
Im Anfang des Jahres 1845 war bei Engels noch in Barmen der
ehemalige Studiosus Hermann Kriege, ein Mitarbeiter des West-
fälischen Dampfboots, der sich persönlicher Beziehungen zu Feuer-
bach rühmte, aufgetaucht, und von ihm mit warmen Empfehlungen
an Marx weiter expediert worden. Von Brüssel hatte den Wirrkopf
nach kurzeni Verweilen der Wunsch, die Heilswahrheit der neuen
Lehre auch in der neuen Welt zu verkünden, nach New York ge-
führt, wo er die Mittel reicher Deutschamerikaner in Anspruch
nahm, um ein Blatt zu gründen, das er selbst als eine Fortsetzung
von Babeufs Tribun du Peuple anpries, das aber in Wirklichkeit
nur ein Ableger des wahren Sozialismus war, dessen verwasche-
nen Menschheitskultus er hier mit Predigten über den ,, heiligen
Geist der Gemeinschaft" ins Unerträgliche steigerte. Gleichzeitig
trat er hier für eine Bodenreform ein, die in Engels Augen nur
für ,, bankerotte Krämer und Handwerksmeister oder ruinierte Kot-
sassen", die nach dem Glück schielten, drüben wieder Kleinbürger
und Bauern zu werden, nicht aber für kommunistische Arbeiter
Bedeutung hatte. Schon lange auf dem Sprung, gründlich mit
einer Richtung abzurechnen, die, jeder Einsicht in die ökonomische
Struktur der Gesellschaft bar, den Kommunismus in belletristische
Phrasen aufzulösen drohte, entschlossen sich Marx und Engels
jetzt, den Bruch ihrer Partei mit dem wahren Sozialismus
öffentlich zu vollziehen. Aus wem bestand nun aber eigentlich
damals ihre ,, Partei"? Die Kommunistenausräucherung in der
Schweiz und Guizots scharfes Vorgehen gegen die deutschen radi-
kalen Schriftsteller in Paris hatten in den letzten Jahren Belgien,
wo die persönliche Freiheit auf dem Kontinent noch am meisten
geachtet wurde, zu einem wichtigen Sammelpunkt der deutschen
264 1° Belgien und Frankreich.
Kommunisten gemacht. ICarl Marx, der als der erste hier em-
getroffen war, sah allmählich fast alle die Hauptvertreter dieser
Richtung um sich versammelt: außer Engels und Moses Heß Weit-
ling, der sich in London mit Moll, Schapper und den anderen Häup-
tern der dortigen deutschen Arbeiterbewegung nicht hatte verstän-
digen können, den früheren Aktuar Sebastian Seiler, den ehemaligen
Artillerieleutnant Joseph Weidemeyer, einen Schwager Lünings,
des Herausgebers des Westfälischen Dampfboots, den Schlesier
Wilhelm Wolff, der die preußischen Kasematten gründlich kennen
gelernt und eben im Deutschen Bürgerbuch den Weberaufstand von
1844 mit revolutionärer Glut beschrieben hatte. Auch Freiligrath
fand sich ein; mit Marx und Engels persönlich befreundet, konnte
er doch nicht recht als Parteigenosse angesprochen werden. Rechnet
man ein paar intelligente und strebsame Setzer und einige andere
Arbeiter hinzu, so mochte sich die ganze Gruppe, in deren Mitte
freilich noch schwere Meinungskämpfe auszutragen waren, auf
etwa zwanzig Köpfe belaufen. Niemand hatte der geschichtlichen
Bedeutung Weitlings neidloser und wärmer die ihr gebührende An-
erkennung gezollt als Engels. Dennoch mußten er und Marx
bald nach seinem Auftauchen in Belgien sich eingestehen, daß
einem ersprießlichen Zusammenwirken mit ihm unüberwindliche
Schwierigkeiten im Wege standen. Ohne jede philosophische Kultur
und ohne geschichtlichen Sinn, neuen geistigen Erlebnissen und
wirklicher Belehrung nicht mehr zugänglich, in unpraktische Marot-
ten eingesponnen, dabei voll Mißtrauen gegen die beiden jungen
Intellektuellen, die ihn nicht als das unbestrittene Oberhaupt des
zum Kommunismus hinstrebenden deutschen Proletariats gelten
lassen konnten, erblickte Weitling, der die tieferen Beweggründe
der Vorkämpfe des neuen wissenschaftlichen Kommunismus weder
verstand noch verstehen wollte, in Marx und Engels nur ,,ausge-
feimte Intriganten", die jeden ,, anschwärzen", den sie als Kon-
kurrenten für gefährlich hielten. Umgekehrt wieder erschien er
Engels als der eingebildete „große Mann", der ein Rezept zur Ver-
wirklichung des Himmels auf Erden in der Tasche trug und sich
einredete, daß jeder darauf aus sei, es ihm zu stehlen. Zu dem Bruch,,
der unter solchen Umständen unvermeidlich war, kam es dann,
als Marx und Engels im Mai 1846 den Erlaß eines Zirkulars gegen
das Treiben Krieges in einer Parteikonferenz durchsetzten, bei
der Weitling allein gegen solches Vorgehen Einspruch erhob. Durch
diese Niederlage und durch pekuniäre Not, die ihm bitter zusetzte,,
ganz toll gemacht, hat der geniale Schneider, der nun empfand,
daß seine Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung ziemlich aus-
gespielt war, sich bald darauf zu Kriege nach Amerika verfügt
Bruch mit Weitling. 265
und diesem die Vorgänge, die den Konflikt zum Austrag gebracht
hatten, auf seine Weise geschildert. Kriege erhielt so den wohl
gerechtfertigten Eindruck, daß die gegen ihn erlassene ,, Bannbulle"
unzweifelhaft ,,das Fabrikat von Friedrich Engels" sei. Als er
sich ebenso wie Weitling im Revolutionsjahr noch einmal in die
rad kale Bewegung in Deutschland stürzte, zeigte es sich, daß er
Engels deswegen eine dauernde Privatranküne bewahrt hatte.
Nun bestand aber der Hauptvorwurf, den jenes erste wichtige Rund-
schreiben der jungen Partei gegen den Volkstribun erhob, darin,
daß seine ,, hohle Deklamation" im höchsten Maße demoralisierend
auf die Arbeiter wirken und ,,die kommunistische Partei in Europa
sowohl als in Amerika" kompromittieren müsse. Er protestierte
dagegen, daß Kriege hier eine weltgeschichtliche revolutionäre
Bewegung auf den Gegensatz von Liebe und Haß, von Kommunismus
und Egoismus reduzierte, daß er die christliche Selbstverleugnung
,, unter dem Wirtshausschilde des Kommunismus" von neuem
an den Mann bringen wollte, kurz, daß er den Kommunismus ,, nicht
als Zerstörung, sondern als Erfüllung der bestehenden schlechten
Verhältnisse" und der von diesen erzeugten Illusionen darstellte. Als
Lüning im Juliheft des Westfälischen Dampfboots dies, in der Form
nur gegen seinen einstigen eifrigen Mitarbeiter, in der Sache freilich
auch gegen ihn selbst gerichtete Rundschreiben abdruckte, räumte
er ein, daß sein Blatt damit ein Stückchen Selbstkritik übe. Engels
aber höhnte zu Marx: ,,Wenn wir ihre ganze Lumperei kritisieren,
so erklärt der Edle das für eine Selbstkritik." In der Tat hatte Lü-
ning noch in einer Besprechung von Engels Lage der arbeitenden
Klasse im zweiten Band des Deutschen Bürgerbuchs der Hoffnung
Ausdruck gegeben, daß der Gegensatz von Bourgeoisie und Pro-
letariat in dem höheren Begriff des Menschentums seine befrie--
digende Lösung finden werde. Hatte er seither auch von Schritt
zu Schritt der neuen Klassenkampf theorie der beiden aufsteigenden
Parteigrößen Zugeständnisse gemacht, so mißbilligte er doch die
rücksichtslose, herrische Entschlossenheit, mit der jene dem ge->
samten deutschen Sozialismus ihre revolutionäre Auffassung auf-
zuzwingen trachteten. Und so wie er und so wie Weitling empfand
in diesem Punkte auch Moses Heß. Auch ihn, den Senior des
philosophischen Sozialismus, der an der Ausarbeitung der un-
veröffentlicht gebliebenen Schrift gegen die deutsche Ideologie
selbst tätig Anteil genommen und sich trotz des ursprüngHchen
Widerstrebens seiner auf Liebe und Versöhnung gerichteten Natur
der ökonomischen Geschichtsauffassung genähert hatte, berührte
die Unduldsamkeit schmerzlich, mit der die beiden jüngeren Ge«.
fährten selbstbewußt und selbstsicher jeden Standpunkt, der von.
366 ^^ Belgien und Frankreich.
dem ihrigen abwich, in Grund und Boden kritisierten. Heß hatte
zwar jener Beratung, in der Kriege in die Acht erklärt wurde, nicht
"beigewohnt, aber wohl hinterher durchblicken lassen, daß er gegen
die Schärfe des Vorgehens Bedenken hegte. Eine Entfremdung
zwischen ihm und Marx und Engels, die nun schon in jeder Un-
entschiedenheit eine Gefährdung der Sache sahen, war eingetreten.
Noch am 6. Mai hatte er aus Verviers, wo er und Weitling damals
lebten, Engels durch Marx bestellen lassen, daß er sich „trotz
Bibel und armer Sünder nach den Fleischtöpfen Egyptens, das heißt
nach einer Kneiperei in Brüssel mit Engels und Co. zurücksehne";
nach jener Beratung aber, am i6. Mai, berichtete Weitling Kriege:
,,Heß ist wie ich in die Acht erklärt." Am 29. Mai wiederum schreibt
Heß an Marx: ,,Du hast ein Recht darauf gereizt zu sein, Engels
nicht ; mein Brief war ja gar nicht an ihn gerichtet ; und das ,, Küssen"
überlasse ich seiner Mary . . . Mit dir persönlich möchte ich noch
recht viel verkehren; mit deiner Partei will ich nichts mehr zu tun
haben." Nun konnte freilich schon im September des Jahres Engels
seinem Freunde über ,,ein Wiederanknüpfungsschreiben des Kom-
munistenpapas" und im Januar 1847 vo^^ einem Besuch desselben
berichten. Aber er erzählt selbst, daß er ihn kalt und spöttisch auf-
genommen hätte. Auf eine ehrliche Aussöhnung mit diesem
merkwürdigen Mann, dem er immerhin Wichtiges verdankte,
legte Engels nun keinen Wert mehr. Wir wissen nicht im einzelnen
was zwischen ihnen vorgefallen war. Der Jüngere hatte den Älteren
empfinden lassen, daß er ihn zum alten Eisen warf, und so war es
menschlich, daß sich bei diesem eine kräftige Abneigung gegen
ihn herausbildete. Liebenswürdig und zugänglich, aber auch gerade-
zu, bisweilen sogar derb und rücksichtslos, vermochte Engels gleich
leicht sich Feinde und Freunde zu erwerben. —
Wir wissen schon, wie sehr es seit geraumer Zeit ihn wurmte,
daß die theoretische Seite ,, leider Gottes einstweilen noch" Marx
und seine ,, einzige Force" ausmache. Nun war neuerdings Weit-
lings Stern, seitdem er in England geweilt hatte, ohne durch
die moderne Großindustrie in seinen Gedankengängen neu be-
fruchtet zu werden, in den Kreisen der deutschen Handwerksgesellen
auf ausländischem Boden im Erbleichen. Und damit schien der
rechte Augenblick herangerückt, um mit einem energischen
Vorstoß diese Kreise für die neue Lehre zu erobern. Es war
sogar Eile geboten, weil die Wortführer des wahren Sozialismus,
voran Karl Grün, der nach Marx Fortgang aus Paris Proud-
hons Lehrer für deutsche Philosophie geworden war, sich unter
den ,, Straubingern" neuerdings mausig machten. Ältere Be-
ziehungen als Engels und Marx besaß Moses Heß zu den Pa-
Engels und die Pariser deutschen Arbeiter. 267
riser Gemeinden des Bundes der Gerechten, und auch Grün hatte
vor ihnen den Vorsprung, daß er in Paris lebte und ständig
mit diesen Leuten verkehrte. Weil Marx seit seiner Ausweisung
der Boden Frankreichs verschlossen war, entschied sich Engels
im August 1846 seinen Wohnsitz nach der französischen
Hauptstadt zu verlegen, in der Absicht, die dortigen deutschen
Proletarier für ihren revolutionären Kommunismus zu gewinnen.
Nun entsprachen jedoch diese Schneider, in deren Mitte hier die
Weitlingschen Gedanken noch am lebendigsten waren, und diese
Möbelschreiner und Gerbergesellen, um die Grün sich bemühte,
keineswegs dem Proletariertypus, auf den er für die Verwirklichung
seines Zukunftsideals zählte. Den meisten, die nach Paris gekom-
men waren, um sich an diesem Vorort der Mode und des Kunst-
gewerbes für ihren Baruf konkurrenzfähiger zu machen, saß der
alte Zunftgeist noch tief im Nacken. Mochten sie hier unter sich,
wo sie es ungestraft durften, über soziale und politische Fragen
schwadronieren, sich auch schnell begeistern, wenn Genossen,
die Cabsts Reise nach Icarien oder Weitlings Garantien gelesen
hatten, ihnen ein Schlaraffenland ausmalten, in dem es weder Armut
noch stolze Herren mehr geben würde, den Grund ihres Herzens
erfüllte darum doch der Wunsch, recht bald in der Heimat ehrsamer
Meister zu sein, die Frau Meisterin heimzuführen und eigene Ge-
sellen zu halten. Der Boden, dem ihre Lebensbedürfnisse und ihr
Gesichtskreis entsprachen, war das Handwerk. Engels aber, der
Wuppertaler , der in Lancashire seine Eindrücke erhalten hatte,
unterschätzte die Schwierigkeiten anfänglich, die seiner Agitation
daraus erwuchsen, daß dieses fürs erste noch die durchaus vor-
herrschende gewerbliche Betriebsform in Deutschland war. Weil
das, was er in Paris jetzt den Handwerksgesellen vortrug, im
wesentlichen aus den um vieles entwickelteren Zuständen Eng-
lands abgeleitet war, hatte es geringere Anziehungskraft auf diese
Arbeiterschicht. Denn ihr war der Weg zu wirtschaftlicher Selbst-
ständigkeit und zu einer auskömmlichen selbstgenügsamen Exi-
stenz in der Regel noch nicht verschlossen, und so hatte sie auch
noch nicht jedes Interesse am Fortbestand der herrschenden Ge-
sellschaftsordnung verloren.
Obgleich also diesen von kleinbürgerlichen, nicht aber von
proletarischen Idealen beherrschten Elementen Grüns Phrasen
von Menschheitsbeglückung und allgemeiner Harmonie der Inter-
essen besser einleuchten mußten, versuchte Engels anfangs mit
aller Energie, sich ihrer zu bemächtigen. Einigen Anhalt fand
er bei dem aus Danzig stammenden Arzt Ewerbeck, der in den
Pariser Gemeinden des Bundes der Gerechten seit den letzten
268 In Belgien und Frankreich.
Jahren zu den einflußreichsten Persönlichkeiten gehörte. Ein
leidlich rezeptiver aber unselbständiger Geist, widmete jener sich
mit gutem Willen aber ohne rechte Leidenschaft einer Aufgabe,
an die ihn mehr der Zufall als Eignung oder innerer Beruf
herangeführt haben mochte. Da er sich mit Heß und Grün ver-
feindet hatte, über die Schneiderclique, die auf Weitling schwor,
verärgert war und ohnehin von den Marxschen und Engelsschen
Aufsätzen in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern entschei-
dende Anstöße erhalten hatte, so kam Engels ihm jetzt gelegen.
Mitte September konnte er dem Brüsseler Komitee berichten, daß
er „diesen Kerls", um die Fühlung herzustellen, bereits zweimal,
von den ökonomischen Verhältnissen ausgehend, die deutschen
Verhältnisse seit der französischen Revolution auseinandergesetzt
habe. Eine gewisse Schläfrigkeit sei unter ihnen eingerissen, weil
sie dem Schneiderkommunismus nichts entgegenzusetzen hätten
als „Grünsche menschentümliche Phrase und vergrünten Proudhon".
Dagegen habe Ewerbeck nicht anders anzukämpfen gewußt, als
indem er sie mit spitzfindigen Disquisitionen über den ,, wahren
Wert" gequält und mit den germanischen Urwäldern, mit Hermann
dem Cherusker und den scheußlichsten altdeutschen Etymologien
nach Adelung, die alle falsch seien, gelangweilt hätte. Bald danach
erkannte Engels, daß der eigentliche Führer dieser Leute weniger
Ewerbeck als der Tischler Friedrich Adolf Junge aus Düsseldorf war^
der um die gleiche Zeit auch der preußischen Regierung als einer
der aktivsten Kommunisten in Paris genannt wurde. Diesem ge-
scheiten aber „wackelhaften" und zu projektereichen Kopf, den er
ganz für seine Anschauungen gewann, und der ebenfalls beklagte,
daß die Leute lieber die unsinnigsten Phrasen als ,,zum ökono-
mischen Argument vernutzte Tatsachen" hören wollten, verdankte
er wohl nicht zuletzt, daß er schon nach einem Monat dem Brüsseler
Komitee von einem ersten Erfolg berichten konnte. Der Asso-
ziationsplan, den Proudhon vor kurzem in seinen Contradictions
Economiques entwickelt hatte, in dem aber Marx und er nur eine
aus kleinbürgerlichen Instinkten erwachsene Chimäre sahen,
war von Grün, dem Übersetzer des Werks, den deutschen Arbeitern
in allen Tonarten angepriesen worden. Nun kam Engels spöttisch
mit der Frage auf sie zu, ob sie wirklich mit ihren proletarischen
Ersparnissen Frankreich und die ganze Welt aufzukaufen hofften.
Drei Abende diskutierte man über diesen „Welterlösungsplan",
der den Arbeitern den ,, Stein der Weisen" versprach und „das
Himmelreich" verhieß, in einem Kreise von Schreinern, der zum
Teil aus Resten des Bundes der Gerechten bestand. Anfänglich
hatte Engels die ganze Clique gegen sich, als er ihr von der Not-
Agitation in Paris. 200
wendigkeit einer gewaltsamen Revolution sprach und behauptete,
daß Grün und Proudhon ein antiproletarisches, kleinbürgerliches
Ideal verföchten. Über diesen Widerstand ergrimmt und durch
Angriffe auf den Kommunismus vollends in Wut versetzt, bean-
tragte er, man möge darüber abstimmen, ob man qua Kommu-
nisten zusammengekommen sei oder zu bloßem Diskutieren. Im
ersteren Falle möge man dafür sorgen, daß Angriffe auf den Kom-
munismus unterblieben, im anderen Falle aber, wenn man nur
schwatzen wolle, brauche er nicht wieder zu kommen. Grüns An-
hänger, über solche Sprache entsetzt, erklärten, sie seien „für das
Wohl der Menschheit" beisammen, sie seien Männer des Fortschritts
und nicht einseitige Systemfänger. Bevor sie zum Kommunismus
endgültig Stellung nehmen könnten, müßten sie erst einmal genau
wissen, was dieser eigentlich wolle. Engels gab ihnen darauf ,,eine
höchst simple Definition": ,,Ich definierte also die Absichten der
Kommunisten dahin: i. die Interessen der Proletarier im Gegen-
satz zu den der Bourgeois durchzusetzen; 2. dies durch Aufhebung
des Privateigentums und Ersetzung desselben durch die Güter-
gemeinschaft zu tun; 3. kein anderes Mittel zur Durchführung
dieser Absichten anzuerkennen als die gewaltsame demokratische
Revolution." Am dritten Abend gelang es ihm endlich, die große
Mehrzahl der Anwesenden gegen ein paar ,, treugebliebener Grünia-
ner" auf seinen Standpunkt herüberzuziehen, und nun hoffte er ,, etwas
aus den Kerls zu machen". Noch aber waren Grün und sein Anhang
weit enfernt, dem Eindringling das Feld widerstandslos zu über-
lassen. Außer bei solchen abendlichen Zusammenkünften im
engen Kreis trafen sich in jenen Jahren die deutschen Handwerker
in Paris gern an Sonntagen mit Kind und Kegel in einem Restaurant
an der Bannmeile. Im Januar 1845 hatte Adalbert von Bornstedt,
der ehemalige Gardeoffizier, der damals die radikalen Schrift-
steller und Handwerker in Paris für die preußische Regierung be-
spitzelte, dieser in einer gegen Marx und Heß gerichteten Denun-
ziation eine solche Versammlung in der Avenue de Vincennes ge-
schildert, wo der Königsmord, der Haß gegen die Reichen, die Ab-
schaffung des Privateigentums offen verkündet worden wären.
Als nun jetzt in einer solchen Barriereversammlung ein eifriger
Anhänger Grüns den Kommunismus öffentlich angriff, war Junge
so unvorsichtig, sich zu einer Erwiderung hinreißen zu lassen.
Doch ihm wurde entgegengehalten, daß er nur das Sprachrohr
eines Dritten wäre, der plötzlich wie eine Bombe unter die Leute
gefahren sei. In dieser Herausforderung an die Kommunisten er-
blickte Engels, mit welchem Recht läßt sich nicht feststellen, eine
von Grün inspirierte Denunziation gegen sich. ,,Das einzige, Weis
2^0 In Belgien und Frankreich.
man tun kann," schrieb er dem Komitee, ist, „auf der Barriere die
Leute erklären zu lassen, über Kommunismus diskutierten sie nicht,
weil das die ganze Versammlung bei der Polizei gefährden könne."
Noch ein anderer Umstand bestimmte ihn um diese Zeit, seine
Agitation fürs erste zu unterbrechen. Eine Anzahl deutscher
Handwerker, die als Teilnehmer an revolutionären Krawallen im
Faubourg St. Antoine verhaftet worden waren, hatten bei ihrem
Verhör der Polizei allerlei Geständnisse gemacht. Bald merkte
Engels, daß er von Spitzeln verfolgt wurde, und nicht geneigt,
sich wegen dieser ,, Straubinger", an deren Besserungsfähigkeit er
ohnehin zweifelte, ausweisen zu lassen, erklärte er diesen, er könne
jetzt nicht mehr bei ihnen schulmeistern und sei zufrieden, wenigstens
Grün aus dem Sattel gehoben zu haben. Marx aber gestand er in
einem vertrauten Brief, der Polizei dankbar zu sein, daß sie ihn
aus der Straubingerei gerissen und ihm die Genüsse dieses Lebens
in die Erinnerung gebracht habe. ,,Wenn die verdächtigen Indivi-
duen, die mich seit vierzehn Tagen verfolgen, wirklich Mouchards
sind, wie ich es von einigen sicher weiß, so hat die Präfektur in der
letzten Zeit viel Entreebillets für die bals Montesquieu, Valentino,
Prado usw. ausgegeben. Ich verdanke Herrn Delessert ganz hübsche
Grisettenbekanntschaften und viel Plaisir."
In seinen erst nach Engels Tode erschienenen Lebenserinne-
rungen behauptet Stephan Born, daß Engels damals im Umgang
mit den deutschen Handwerksgesellen in Paris nicht den richtigen
Ton getroffen habe. Er hätte nichts vom Arbeiter an sich gehabt
und es verschmäht, eine Maske anzulegen, die ihm schlecht ge-
standen haben würde. Der junge Typograph, der, wie bekannt ist,
während der Revolution eine führende Rolle in der deutschen Ar-
beiterbewegung spielte, war im Januar 1847 mit Empfehlungen
Berliner Freunde bei Engels erschienen und, im vertrautesten Ver-
kehr, bald sein gelehriger Schüler, sein eifrigster Anhänger ge-
worden. Als sich ihre Wege trennten, verzerrte sich später Born
das Bild des einstigen Freundes so sehr, daß er ihn als ,, reichen
Bourgeoissohn" schildern v;ollte, der sich anmerken ließ, daß an
ihn die Sorge des Lebens nie herantrat. Engels war kein Demagoge.
Seine Ehrlichkeit und der ihm selbstverständliche Stolz des Sohnes
einer alten angesehenen Familie, der sich zu verstellen nicht gelernt
hatte, hielten ihn davon ab, an Bildung und Charakter unter ihm
stehenden Menschen zu schmeicheln. So mag er jene Handwerks-
gesellen, über deren Rückständigkeit er sich ärgerte, deutlicher, als
vielleicht klug gewesen wäre, seine geistige Überlegenheit haben
fühlen lassen. Aber nur jugendliche Unerfahrenheit, nicht bürger-
liche Überheblichkeit verführten ihn dazu.
Stephan Born, Harney, Flocon. 271
Mit den Häuptern der französischen Arbeiterbewegung nähere
Beziehungen anzuknüpfen, war die zweite Aufgabe, die Engels
sich bei seiner Übersiedlung nach Paris gestellt hatte. Wir machten
uns schon klar, daß die junge deutsche kommunistische Parteigruppe
die Aufmerksamkeit des französischen und englischen Proletariats
auf ihre Ideen und Ziele nur lenken konnte, wenn sie zu deren
Führern und leitenden Blättern die vorhandenen Beziehungen
fester knüpfte, oder, wo solche noch fehlten, sie herzustellen suchte.
Im Juli 1846 hatte Engels noch von Belgien aus gemeinsam mit
Marx ,,als Vertreter der Kommunisten in Brüssel" O'Connor zu
seinem Wahlsieg in Nottingham beglückwünscht und bei diesem
Anlaß das Verständnis des berühmten Chartistenführers und des
Northern Star für die gewaltige Bedeutung des Klassenkampfes
anerkannt. (Northern Star 25. Juli 1846.) Nun hatten die beiden
Freunde damals den Plan gefaßt, eine regelmäßige Korrespondenz
zwischen den Führern des Kommunismus in den verschiedenen
europäischen Zentren ins Leben zu rufen und zu diesem Zweck
in Brüssel jenes Komitee eingesetzt, an das wir Engels oben
Berichte schicken sahen. Während Harney und seine Gefährten
ihn bereits kannten und richtig schätzten, hatten die von den
inneren Parteikämpfen ihre Landes voll in Anspruch genommenen
Führer der radikalen Parteien Frankreichs den deutschen Flücht-
lingskreis in Brüssel bis dahin noch keiner ernsthaften Beachtung
gewürdigt. Es war für Engels jetzt keine leichte Aufgabe, diesen
Leuten klar zu machen, daß hinter seinen und seiner Freunde
Bestrebungen Kräfte sich erhoben, mit denen bei einer Neugestal-
tung der Zukunft als ernsthaften Bundesgenossen zu rechnen sein
würde. Wir erfahren von einem erfolglosen Versuch, den er
unternahm, um den alten Cabet, das Oberhaupt des experimentell
utopischen Kommunismus auf dem Kontinent, von dem er freilich
nichts mehr zu lernen hatte, für die Beteiligung an der Korrespon-
denz zu gewinnen. Wenig geneigt finden wir ihn, auf die Ratschläge
der Führer der französischen Radikalen zu hören, mochte er sie
immerhin gegen ,, andere Esel" wie Ewerbeck, Bernays und Kon-
sorten verteidigen. Erst einige Monate später, nachdem er in-
zwischen wieder in Brüssel geweilt hatte, knüpfte er zu dem Kreise
der R^forme, zu Louis Blanc und namentlich zu Flocon, nähere
Beziehungen an. Louis Blanc sprach er ,, trotz allem Wahnsinn"
eine gute Nase zu ; in dessen Revolutionsgeschichte sah er ,,ein
tolles Gemisch richtiger Ahnungen und grenzenloser Verrückt-
heiten", seiner Entwicklungsfähigkeit vertraute er nicht: ,,Ein
Zauber bleit ihn nieder", — „die Ideologie".
Engels fühlte sich, mochten auch seine Erfolge nur mäßige
2,*J2 In Belgien und Frankreich.
bleiben, ungeheuer wohl in dem lebhaft pulsierenden Treiben einer
Stadt, die er als ,,das Herz und Hirn der Welt" und als die ,, Königin
der Städte" verehrte, und an deren Bevölkerung er bewundernd
pries, daß sie die Leidenschaft des Genusses mit der Leidenschaft
der geschichtlichen Aktion in unvergleichlicher Weise zu ver-
einigen verstünde. Als er im Herbst 1848 nach den Verwüstungen
der Junischlacht wieder hierher kam und nun so vieles verändert
fand, erinnerte er sich wehmütig der voraufgegangenen sorgloseren
Zeit, ,,als die große und kleine bürgerliche Jugend noch Geld hatte
zum Genießen und zum Verjubeln und als selbst ein Teil der Arbeiter
noch gut genug gestellt war, um mit an der allgemeinen Heiterkeit
und Sorglosigkeit teilnehmen zu können". Unter den bedeutenden
Menschen, mit denen er jetzt in Bärührung kam, machte ihm niemand
einen stärkeren Eindruck als Heinrich Heine. Wie weit lag die Zeit
hinter ihm, wo sein jugendlicher Enthusiasmus Börne (den das
Rundschreiben gegen Kriege kürzlich als einen katholisierenden
politischen Phantasten abgetan hatte), diesen tyrannischen Ehe-
mann der Freiheit, ihrem launischen Liebhaber Heine als Muster
entgegengestellt hatte! Jetzt empfand er für den Dichter des revo-
lutionären Weberlieds, das seine Übersetzung kürzlich den eng-
lischen Arbeitern zugänglich gemacht hatte, für den Seher, der
die kommende deutsche Revolution, die die großa französische
in den Schatten stellen würde, glorreich voraussagte, für den großen
Spötter, der so silberhell über die verrotteten Zustände im lieben
Vaterland zu lachen wußte, für den Vertrauten seines Freundes
Marx, eine aus Bewunderung für den Genius und aus Mitkid für
den Dulder gemischte Sympathie. ,,Es macht einen höchst fatalen
Eindruck, so einen famosen Kerl so Stück für Stück absterben
zu sehen," klagte er im September 1846 und fand es für den
schlimmen Zustand des Patienten besonders bezeichnend, daß Heine
ganz gegen seine sonstige Art in seinen Urteilen über Menschen
äußerst wohlwollend gewesen wäre.
Für den eben nicht großen Anklang, den er mit seiner Agitation
gefunden hatte, gedachte Engels sich schadlos zu halten, indem er
sich zunächst wieder in den theoretischen Kampf stürzte. Da die
Ideologie noch immer ungedruckt dalag, so reizte es ihn, während
Marx gleichzeitig gegen Proudhon loszog, noch einmal den wahren
Sozialismus vorzunehmen, der in letzter Zeit, von der absteigenden
wirtschaftlichen Konjunktur begünstigt, in der deutschen Publi-
zistik nicht unbeträchtlich an Boden gewonnen hatte. In einem
Brief vom 15. Januar 1847 schreibt er Marx, dem er von seinem
Vorhaben Kenntnis gibt, er werde diese seine speziellen Gegner
,,nach den Sternbildern des Himmels einteilen". Wirklich findet
Bei Heine.
273
sich in seinem Nachlaß ein Manuskript, das diesen Gedanken mit
viel guter Laune durchführt. Püttmann, Kriege, Semmig, Lüning,
Schnake, das Westfälische Dampf boot, der Gesellschaftsspiegel,
die Trierer Zeitung, die ,,eine Milchstraße der Sanftmut, Barmherzig-
keit und Menschenliebe" sei, werden hier auf die respektloseste
Weise lächerlich gemacht, aber auch die Dichter Moritz Hartmann,
Alfred Meißner, Louise Otto, ja sogar Freiligrath und Dronke werden
als Spießbürger entlarvt. Am meisten aber lag ihm daran, mit Karl
Grün abzurechnen, in dem er nicht nur einen Konfusionarius und
einen Philister sondern einen literarischen Industrieritter sehen
wollte. Als ihm die von Bornstedt ins Leben gerufene radikal-
revolutionäre Deutsch-Brüsseler Zeitung, deren er und Marx
trotz ihres berechtigten Mißtrauens gegen den Herausgeber sich für
ihre Zwecke bedienten, jetzt endlich die Möglichkeit zurückgab,
in den deutschen Tageskampf häufiger einzugreifen, veröffentlichte
er hier aus seiner völligen Neubearbeitung des Manuskripts gegen
den deutschen Sozialismus und seine Mitläufer einige Stücke.
An des einst von ihm so überschätzten Karl Becks Liedern vom
Armen Mann möchte er im September 1847 zeigen, daß solche
„philanthropisch-heuchlerische Kleinbürgerlichkeit** mit den posi-
tiven Seiten der bestehenden Gesellschaft völlig einverstanden sei
und nur darüber jammere, daß auch die negative Seite, die Armut,
daneben bestehe. Beck und seinesgleichen besinge die feige klein-
bürgerliche Misere, den ,, armen Mann**, den pauvre honteux, nicht
den stolzen, drohenden, revolutionären Proletarier. Ihr forcierter
Baß schlage beständig in ein komisches Falsett um, und ihre dra-
m-atische Darstellung des gigantischen Ringens eines Enceladus
bringe es nur zu den possierlichen Gliederverrenkungen eines
Hampelmann. Noch vollkommener erbrachte dann Karl Grüns
Buch über Goethe vom menschlichen Standpunkt den schlüssigen
Beweis für Marx und Engels These, daß den Schriftstellern dieses
Schlages ,,der Mensch** mit dem deutschen Kleinbürger identisch
wäre. Mehr als alles, was Engels gegen Grün vorbringt, interes-
siert uns freilich, was er und Marx, der an der ursprünglichen Kon-
zeption, wenn auch in geringerem Maße, beteiligt gewesen war,
gegen Goethe einzuwenden hatten. Goethe, meint Engels, dessen
Stil in den Artikeln, wie sie im November und Dezember 1847 in
dem Brüsseler Blatt erschienen, ganz unverkennbar hervortritt,
habe sich zur Gesellschaft seiner Zeit bald feindselig verhalten,
bald sich ihr gefügt. Auf der italienischen Reise und in der Iphigenie
suche er ihr zu entfliehen, weil sie ihm widerwärtig ist, als Götz,
Prometheus, Faust rebelliere er gegen sie, als Mephisto schütte
er seinen Spott über sie aus. Dann aber feiere er sie wieder und ver-
Mayer, Friedrich Engeis. Bd.I 18
274 ^" Belgien und Frankreich.
leidige sie sogar gegen die andrängende geschichtliche Bewegung.
Fortwährend bekämpften sich in ihm der geniale Dichter, den die
Misere seiner Umgebung anekele, und das Ratsherrnkind, der
Geheimrat. So sei selbst ein Goethe nicht imstande gewesen, die
deutsche Misere zu besiegen; selbst er sei von ihr besiegt worden,
und dieser Sieg der Misere über den größten Deutschen liefere den
besten Beweis dafür, daß sie ,,von innen heraus" gar nicht zu
überwinden sei. Goethes Temperament, seine Kräfte, seine ganze
geistige Richtung wiesen ihn auf das praktische Leben an. Weil
aber das praktische Leben, das er vorfand, miserabel war, befand
er sich fortwährend in dem Dilemma, in einer Lebenssphäre zu
existieren, die er verachten mußte, und doch an diese Sphäre gefesselt
zu sein, da er sich nur in ihr betätigen konnte. Je älter er dann
wurde, desto mehr zog sich der gewaltige Dichter, des Kampfes
müde, hinter den unbedeutenden Minister zurück. Zwar lehnt
Engels es ab, Goethe von einem moralischen und politischen, über-
haupt von einem anderen als vom ästhetischen und historischen
Standpunkt aus zu kritisieren. Er wirft ihm nicht wie Börne vor,
daß er sich nicht für die deutsche Freiheit begeistert habe. Dennoch
schmerzt es ihn, daß der Dichter, den er so hoch verehrt, sich
zeitweise als Philister gebärdete, daß er eine spießbürgerliche Scheu
vor aller großen Geschichtsbewegung nicht los geworden sei und
sogar in der französischen Revolution nur den großen Eisgang
habe sehen wollen, der sein friedfertiges Poetenwinkelchen bedrohen
könnte. Ihm will nicht einleuchten, wie Goethe in derselben Zeit,
als Napoleon den großen deutschen Augiasstall ausschwemmte,
die menus plaisirs eines winzigen deutschen Hofes mit feierlichem
Ernst zu betreiben vermochte. Zum Schluß entschuldigt sich
Engels gewissermaßen bei dem Genius: ,,Wenn wir in den vor-
stehenden Zeilen Goethe nur nach einer Seite hin betrachtet haben,
so ist das lediglich die Schuld des Herrn Grün. Er stellt Goethe nach
seiner kolossalen Seite hin gar nicht dar. Über alle Sachen, in denen
Goethe wirklich groß und genial war, schlüpft er entweder eilig
hinweg, wie über die römischen Elegien des ,Libertins* Goethe,
oder er gießt einen breiten Strom von Trivialitäten über sie aus, der
nur beweist, daß er mit ihnen nichts anzufangen weiß . . . Nicht
das Gebelfer Menzels, nicht die beschränkte Polemik Börnes war
die Rache der Geschichte dafür, daß Goethe sie jedesmal ver-
leugnete, wenn sie ihm Auge in Auge gegenübertrat. Nein, ,so wie
Titania in Feen- und Zauberland, Klaus Zetteln in den Armen
fand', so hat Goethe eines Morgens den Herrn Grün in seinen Armen
gefunden. Die Apologie des Herrn Grün, der warme Dank, den er
Goethen für jedes philiströse Wort stammelt, das ist die bitterste
Engels über Goethe. 275
Rache, die die beleidigte Geschichte über den größten deutschen
Dichter verhängen konnte." —
Nun stellten zwar der wahre Sozialismus und der Hand-
werkerkommunismus Bestrebungen vor, mit denen Engels und
Marx um die Seele des deutschen Proletariats zu ringen gezwungen
waren. Aber die Massen, auf die es am Vorabend der Revolution,
die sich in Deutschland vorbereitete, für sie ankam, standen nicht
hinter solchen Cliquen und Sekten, sondern hinter der an Anhang
lawinenartig in allen deutschen Gauen wachsenden bürgerlichen
Demokratie. Um ihr Verhältnis zu dieser klar zu legen, empfahl
es sich für Engels und Marx, zunächst den gemeinsamen Gegner
scharf ins Auge zu fassen. Wo der Interessengegensatz zwischen
dem besitzenden Bürgertum und der besitzlosen Klasse sich scharf
zuspitzt, versucht die Reaktion häufig, den Proletariern klar zu
machen, daß sie unter der gottgewollten Abhängigkeit bei den Feu-
dalen immer noch besser aufgehoben wären als unter den Fittichen
ihrer natürlichen Feinde, der liberalen Arbeitgeber. Auch in Deutsch-
land wurde seit dem Weberaufstand von 1844 ein großer Teil der
reaktionären Presse nicht müde, der besitzlosen Klasse diese alte
Melodie vorzusingen, mit der sie der unheimlich anschwellenden
freiheitlichen Bewegung in deren Rücken einen Feind großzuziehen
hoffte. Um dieses Spiel zu enthüllen, veröffentlichten Engels und
Marx in der Deutsch-Brüsseler Zeitung vom 12. September 1847
einen Aufsatz, der zwar anonym erschien, auf den als auf eine
gemeinsame Kundgebung sie sich aber in der Folge stets berufen
haben, wo sie die Gefahr witterten, daß die preußische Regierung
oder die Klasse, mit der diese unlöslich verwachsen blieb, als
Versucher an die Sozialdemokratie herantreten wollte. Rundweg
erklärten sie hier: ,,Das Proletariat fragt nicht, ob den Bourgeois
das Volkswohl Nebensache oder Hauptsache sei, ob sie die Prole-
tarier als Kanonenfutter gebrauchen werden oder nicht. Das Pro-
letariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen, sondern was sie
müssen. Es fragt, ob der jetzige politische Zustand, die Herrschaft
der Bürokratie, oder der von den Liberalen erstrebte, die Herrschaft
der Bourgeoisie, ihm mehr Mittel bieten wird, seine eigenen Zwecke
zu erreichen." Ein Blick auf die politische Stellung des Proletariats
In England, Frankreich und Amerika zeige dem deutschen Pro-
ietarial, daß die Herrschaft der Bourgeoisie ihm ganz neue Waffen
zum Kampf gegen diese Bourgeoisie und auch eine ganz andere
Stellung, die Stellung als anerkannte Partei, verschaffen würde.
Wie die feudale Klasse und die von ihr beherrschte Regierung,
hieß es ferner hier, wolle auch die mit diesen verbündete christ-
liche Kirche das Proletariat mit seinen Lockrufen ködern. Aber
18*
2^6 ^^ Belgien und Frankreich.
hätten etwa seine sozialen Prinzipien das Christentum abgehalten, die
antike Sklaverei zu rechtfertigen, die mittelalterliche Leibeigenschaft
zu verherrlichen und nötigen Falls, wenn auch mit etwas jämmer-
licher Miene, die Unterdrückung des modernen Proletariats zu
verteidigen? Predigten die sozialen Prinzipien des Christentums
nicht die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten
Klasse, erklärten sie nicht alle Niederträchtigkeiten der Unter-
drücker gegen die Unterdrückten entweder für eine gerechte Be-
strafung der Erbsünde und sonstiger Sünden oder für Prüfungen,
die der Herr über die Erlösten nach seiner Weisheit verhänge ?
Die sozialen Prinzipien des Christentums, so folgern Engels und
Marx, predigten Selbstverachtung, Erniedrigung, Unterwürfigkeit,
kurz alle Eigenschaften der Kanaille, aber das Proletariat, das
sich nicht als Kanaille behandeln lassen wolle, habe seinen Mut,
sein Selbstgefühl, seinen Stolz, seinen Unabhängigkeitssinn noch
weit nötiger als sein Brot. ,,Die sozialen Lehren des Christentums
sind duckmäuserig und das Proletarial ist revolutionär." Mit der
gleichen trotzigen Entschiedenheit aber wie der Kirche wird hier
dem Königtum bedeutet, daß es eine überflüssige Mühe wäre, wollte
es noch einmal als Versucher an das Volk herantreten. Karls l.
und Ludwigs XVL Spuren sollten es abschrecken. Das wirkliche
Volk, dieser puer robustus sed malitiosus, wie Hobbes es nenne,
würde von Seiner Majestät vor allen Dingen eine Verfassung nebst
allgemeinem Stimmrecht, Vereins- und Versammlungsfreiheit,
Preßfreiheit und anderen unangenehmen Dingen erzwingen. Wenn
es aber das alles hätte, würde es dies dazu benutzen, um so
rasch als möglich die Macht, die Würde und die Poesie des König-
tums für überflüssig zu erklären.
Wie sich die junge kommunistische Parteigruppe zu den alten
autoritären Gewalten stellen mußte, darüber konnte eigentlich ein
Zweifel nicht obwalten. Bedeutungsvoller war es für sie, je näher
die Stunde der großen Abrechnung mit jenen Mächten heranrückte,
sich und der Öffentlichkeit ihr Verhältnis zu der bürgerlichen
Demokratie klar zu legen: einerseits zu begründen, weshalb
diese, so revolutionär sie sich auch gebärdete, die wahren Ziele
des Proletariats niemals werde verwirklichen können, andererseits
aber jeden Zweifel daran zu zerstreuen, daß sie bei der heran-
rückenden Auseinandersetzung diese trotzdem als ihren nächsten
und mächtigsten Verbündeten betrachteten. Den Anstoß, nach
jener Richtung hin Klarheit zu verbreiten, gab Engels ein An-
griff Karl Heinzens. Dieser bürgerliche Republikaner, der sich
erst seit kurzem auf einen revolutionären Boden stellte, auf
seinen gesunden Menschenverstand pochend die ,, Hegeische
Abrechnung mit Heinzen. 277
Gaunersprache" verlachte und nur das Leben als seine Schule
gelten lassen wollte, hatte im Sommer 1846 im Bunde mit
Rüge, der seit seinem Bruche mit Marx der verbissenste Gegner
der jungen komm.unistischen Bewegung und ihrer Führer geworden
war, unter dem Titel Die Opposition einen Sammelband veröffent-
licht, dessen sichtbarster Zweck es war, dem „deutschen Kom-
munismus" das Wasser abzugraben. Während dort Rüge sein
Mütchen an Moses Heß kühlte, der dem „Doktor Graziano" die
Antwort nicht lange schuldig blieb, und für Engels sogar noch ein
paar anerkennende Worte übrig hatte, verdonnerte Heinzen den
ideallosen Materialismus des Kommunismus und die Überheblich-
keit ihrer Führer in Bausch und Bogen. Namentlich nannte er
es einen Unfug, daß jene die politische Sphäre für zu eng er-
klärten, weil sich innerhalb dieser wirkliche soziale Reformen nicht
durchführen ließen.
So ungeistig Heinzens Wesen und die Art seiner Polemik waren, so
verdiente einiges von dem, was er vorbrachte, doch eine ernsthafte Er-
widerung. Mit Recht hatte ihm Lüning in einem von der Zensur unter-
drückten Aufsatz, der für das Novemberheft des Westfälischen Dampf-
boots bestimmt war, bedeuten wollen, daß er Marx und Engels, die er
bis dahin noch nicht namhaft gemacht hatte, durchaus mißverstehe,
wenn er ihnen Verachtung der Politik vorwürfe. Weit entfernt die
wirklichen Zustände zu ignorieren, studierten sie diese auf das eifrigste
und verstünden von der Nationalökonomie mehr als ihr Angreifer,
der seine Unkenntnis auf diesem Gebiet selbst eingestünde. An-
fänglich hätten Engels und Marx die Anrempelungen des alten
Mitarbeiters der Rheinischen Zeitung gern unbeachtet gelassen,
weil sie — wie Marx es ausdrückte — lieber mit Gegnern zu tun
hatten, die ökonomisch und philosophisch gebildet waren, vielleicht
auch, weil Stefan Born ihm bereits eine vom Standpunkt der Partei
aus zureichende Antwort erteilt hatte. Als aber Heinzen, vielleicht
um ihre Antwort zu provozieren, seine Angriffe in die Spalten der
Deutsch -Brüsseler Zeitung, die als ihr Organ gelten konnte, verlegte,
entschloß sich Engels dennoch, ihn abzufertigen und bei dieser
Gelegenheit, wie schon bemerkt wurde, das Verhältnis seiner Partei
zu dem bürgerlichen Radikalismus, als dessen typischer Vertreter
ihm freilich nicht Heinzen sondern Johann Jacoby galt, klarzustellen.
Am 3. und 7. Oktober 1847 erschien in dem Brüsseler Blatt unter
dem Titel Die Kommunisten und Karl Heinzen seine Erwiderung.
Namentlich widerlegte er hier die Behauptung jenes, daß die Fürsten
die Ursache der deutschen Misere seien, daß also die Schuld an
den verrotteten Zuständen nicht in den Verhältnissen, sondern bei
einzelnen Persönlichkeiten zu suchen wäre. Herrn Heinzen, meint
278 In Belgien und Frankreich.
Engels hier, werde es nie gelingen, den Haß des Fronbauern gegen
seinen Gutsherrn, des Arbeiters gegen seinen Arbeitgeber, auf die
gekrönten Machthaber abzuwälzen. „Herr Heinzen arbeitet aber
allerdings im Interesse des Gutsherrn und Kapitalisten, wenn er
für die Exploitation des Volks durch diese beiden Klassen nicht
ihnen, sondern den Fürsten Schuld gibt ; und die Exploitation durch
Gutsherrn und Kapitalisten produziert doch wohl neunzehn Zwan-
zigstel alles deutschen Elends ?" Für einen puren schwarzrotgol-
denen Schwärmer erklärt Engels jeden, der ohne Rücksicht auf die
Bewegung in Frankreich und England und die wirkliche Klassen-
bewegung in Deutschland durch eine sofortige Revolution die deutsche
Republik herstellen zu können wähne. Es müßte der deutschen
Demokratie nur Abbruch tun, wenn sie, wie Heinzen es täte, ohne
allen Sinn und Verstand die Aufforderung zur Revolution in die Welt
hinausbrülle. Die wahre Aufgabe der demokratischen Publizistik
in Deutschland sollte vielmehr sein, die Forderungen ihrer Partei
zu entwickeln und zu begründen, die der Gegner zu widerlegen. Sie
müßte die Notwendigkeit der Demokratie beweisen an der Nichts-
würdigkeit der bestehenden Regierung, die mehr oder weniger
den Adel repräsentiere, an der Unzulänglichkeit des konstitutio-
nellen Systems, das nur die Bourgeoisie ans Ruder bringen würde,
und an der Unfähigkeit des Volks, sich zu helfen, solange es
nicht die politische Gewalt besitze. Die Zeitungen und die Schrift-
steller sollten die Unterdrückung jener Schichten, die in Deutsch-
land das Volk bildeten, der Proletarier, Kleinbauern und Klein-
bürger, durch Bürokratie, Adel und Bourgeoisie auseinander-
setzen und beweisen, daß die Unterdrückung nicht früher auf-
hören werde, als bis jenen Schichten die Herrschaft entwunden
wäre. Sie mögen untersuchen, welche Aussichten für einen nahen
Sieg der Demokratie bestünden, über welche Mittel diese verfüge
und welche Bündnisse für sie zulässig wären, solange sie noch
nicht aus eigener Kraft ihren Willen durchzusetzen vermöchte.
Unter nachdrücklicher Berufung auf die Erfahrungen der Ge-
schichte widerspricht Engels der Behauptung Heinzens, daß das
Heil von den kleinen Bauern kommen könne. Die Proletarier
der Städte, sagt er, seien die Krone aller modernen Demokratie
geworden, und die Kleinbauern und Kleinbürger hingen von ihrer
Initiative ab. Die praktischen Maßnahmen, welche die Kommu-
nisten vorschlügen, ergäben sich mit Notwendigkeit aus dem Lauf
der Entwicklung; was Heinzen vorbrächte, seien nur willkürlich
ausgetüftelte, spießbürgerliche Weltverbesserungsschwärmereien,
müßige Erfindungen dieses unwissendsten Menschen des Jahrhun-
derts, dem eine Stentorstimme, Gesinnung und guter Wille das
Politische und soziale Demokratie. 279
Fehlen des Verstandes und der Klarheit des Denkens nicht er-
setzen könnten. Wäre er nicht ein schlechter demokratischer
Parteischriftsteller, so brauchten die Kommunisten garnicht gegen
ihn aufzutreten. Doch in allen praktischen Parteifragen betrach-
teten auch sie sich als Demokraten; sie wüßten freilich, daß die
Demokratie in den zivilisierten Ländern die Herrschaft des Pro-
letariats zur notwendigen Folge haben werde und daß diese poli-
tische Herrschaft des Proletariats die erste Voraussetzung für alle
kommunistischen Maßregeln sei. Bis der Sieg der Demokratie
erfochten wäre, blieben alle Differenzen zwischen beiden Rich-
tungen theoretischer Natur, und man könne über sie diskutieren,
ohne dadurch die gemeinschaftliche Aktion irgendwie zu stören.
Die Abrechnung mit Heinzens theoretischen Einwändungen
gegen den Kommunismus hatte sich Engels für den Schluß auf-
gespart. Er irre, rief er jenem zu, wenn er den Kommunismus als
eine Doktrin ansehe, die von einem bestimmten theoretischen Prin-
zip als Kern ausgehe und daraus weitere Konsequenzen ziehe.
Der Kommunismus sei keine Doktrin sondern eine Bewegung:
er gehe nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Er habe
nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Ge-
schichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate
in den zivilisierten Ländern zu seiner Voraussetzung. Er sei das
Produkt der Großindustrie und ihrer Wirkungen, der Herstellung des
Weltmarkts, der immer gewaltsameren und allgemeineren Handels-
krisen, der Erzeugung des Proletariats, der Konzentration des Ka-
pitals, des daraus folgenden Klassenkampfes zwischen Proletariat
und Bourgeoisie. ,,Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist,
ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem
Kampfe und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen
der Befreiung des Proletariats.** Das Privateigentum werde zu
bestehen aufhören, nicht etwa, weil irgendwelche Stubenhocker
es wünschten, sondern weil der Zeitpunkt näher komme, wo für
die Industrie, den Ackerbau, den Austausch der gemeinschaftliche
Betrieb eine materielle Notwendigkeit werde. Proudhons letzte ge-
scheiterte Anläufe hätten Heinzen zeigen müssen, daß eine Refor-
mierung des Eigentums unter Beibehaltung der herrschenden Wirt-
schaftsordnung eine Unmöglichkeit sei. Wenn er das alte Gewäsch
wiederhole, daß der Kommunismus die Individualität zerstöre, so
mögeer erst einmal nachweisen, wo an den jetzigen durch die Teilung
der Arbeit wider Willen zu Knechten eines bestimmten Berufs und
der diesem Beruf ensprechenden Sitten, Vorurteile und Borniertheiten
gemachten Individuen noch eine Individualität zu zerstören wäre.
Ein Schimpfgenie wie Heinzen war der letzte, der eine so
28o In Belgien und Frankreich.
gründliche Abfuhr wie diese stillschweigend eingesteckt hätte.
Schon am 21. Oktober erhielt der „Repräsentant der Kommunisten"
eine endlos lange, mit persönlichen Angriffen vom gröbsten Kaliber
reichlich gespickte Erwiderung, aus der wir hier nur zwei Sätze
herausheben wollen, die sich über das Niveau seiner sonst ziemlich
seichten Klopffechterei erheben: „Bewähren Sie Ihren Seherblick,"
ruft er Engels zu, , »fassen Sie die Aufhebung des Eigentums, diese
Ihnen von der Flut der Tatsachen vor die Füße gespülte , Folge*,
dreist beim Schöpfe und zeigen Sie uns die Folge dieser Folge,
zeigen Sie uns, was Ihre Freundin, die Geschichte, aus dieser Folge
machen wird! Sie wollen nicht? Sie sind grausam!" Und zum
anderen heißt es: „Ist der Kommunismus eine Bewegung, eine
Bewegung nach einem Ziele . . , so steht bei seiner Verwirklichung
natürlich die Bewegung still oder sie muß dann in eine neue Bewe-
gung übergehen. 0er Kommunismus ist also am Ende, sobald
er verwirklicht ist." Das waren in der Tat Einwände, welche an
die chiliastische Wurzel der Marx-Engelsschen Geschichtsausdeutung
griffen, die auf den Punkt hinwiesen, wo selbst bei ihnen der Glauben
anfing, weil das Wissen hier mit Notwendigkeit versagen mußte.
Freilich so ohne jedes philosophische Rüstzeug, wie dieser Angreifer,
durfte man nicht sein, wollte man Gegner vom Wüchse eines Marx
und Engels, und war es auch an dem gefährdetsten Punkte ihrer
Position, in die Enge treiben. Bei alledem war es doch Engels lieb,
daß sich Marx erbot, diesen ,, elenden Stümper und Schimpfer"
zum letzten Male und endgültig zuzudecken. Selbst gestand er
nämlich unumwunden, daß er auf die ,, Drecklawine", die Heinzen
auf ihn losgelassen, , »höchstens durch Ohrfeigen" antworten könnte.
Sein viel weiter ausholender Gedankenflug gab Marx das Recht,
nachdem er den Angreifer als den Wiederhersteller der grobianischen
Literatur des sechzehnten Jahrhunderts mit souveräner Überlegenheit
erledigt hatte, sich um ,,die paar dürftigen, knöchernen Wahrheiten",
die auch er in dem ,,Brei" Heinzens herumschwimmen sah, weiter
nicht zu kümmern. Seiner Neigung war es gemäßer, den Streitpunkt
an der Wurzel anzupacken und dem unebenbürtigen Gegner über den
Zusammenhang zwischen Gewalt und Besitz eine so gründliche Lek-
tion zu erteilen, daß selbst dieser verbissene Widersacher, wenn es
ihm nicht an gutem Willen fehlte, einsehen mußte, weshalb der bloße
Kampf für die Freiheit als solche noch nicht ausreichte, aller Gewalt-
herrschaft für immer ein Ende zu machen. —
In dem Patent Friedrich Wilhelms IV. vom 3. Februar 1847,
das den Vereinigten Landtag einberief, begrüßte Engels, den die
Kunde, auf die er so lange geharrt hatte, stürmisch erregte, den Be-
Karikatur Friedrich Wilhelms IV. 281
ginn einer neuen Zeit. In Preußen wiederhole sich, schrieb er am
6. März in The Northern Star, was Frankreich 1789 erlebt hatte.
Geldmangel zwinge die widerstrebende Regierung zur Einberufung
der Generalstände; das aber sei der Anfang der Revolution. Denn
die liberale Mehrheit des Landtages werde die Genehmigung
der Ton ihr verlangten Anleihe abhängig machen von der Be-
willigung ihrer wichtigsten Forderungen. Bis das Bürgertum die
Herrschaft im Staat errungen hätte, müsse das Proletariat dessen
Sache vertreten, als ob es seine eigene wäre. Erst nach dem Sturz
der alten Gewalten würde der Entscheidungskampf zwischen Bour-
geoisie und Proletariat beginnen. Als sich Friedrich Wilhelm IV. in
seiner Thronrede vom 11. April dem konstitutionellen Geist der Zeit
von neuem versagte und seinem christlich -romantischen Ideal nicht
abschwor, sondern im höchsten Pathos gelobte: ,,Ich und mein
Haus, Wir wollen dem Herrn dienen," da packten Engels Grimm,
Hohn und Entrüstung so stark, daß er zum Zeichenstift griff und die
Szene im weißen Saal parodierte. Dafinden wir nun den König, vom
Prinzen von Preußen, von Bodelschwingh, Boyen, Solms-Lych
und anderen Großen der Krone umgeben, wie er mit himmelndem
Blick, die Hand zum Schwüre erhoben, den Herrn dort oben seiner
Devotion versichert, während den anwesenden Landständen sich
die Haare zu Berge sträuben. Durch Marx, dem er sie eingeschickt
hatte, gelangte diese Zeichnung in die Deutsch-Brüsseler Zeitung
vom 6. Mai, die sie einige Tage später für das Werk eines geistvollen
Dilettanten erklärte. Schon im März war Engels daran gegangen,
eine Broschüre über die preußische Verfassungsfrage zu schreiben,
bei der Marx nach Belieben ,, einlegen und weglassen** sollte, die aber
wie manches andere, was er damals plante imd entv/arf, nicht an
die Öffentlichkeit kam. Im Mai meldete Marx ihm, daß die Ver-
haftung des in Brüssel ansässigen deutschen Buchhändlers Vogler
in Aachen einstweilen den Druck unmöglich mache ; ihm selbst
habe das erste Drittel gut gefallen, das übrige bedürfe der Änderung.
Weiter erfahren wir nichts von der kleinen Schrift. Wahrscheinlich
war ihr Hauptzweck, in breiterer Ausführung, als es in The Northern
Star möglich gewesen war, dem. großen Publikum den von ihm zu
wenig beachteten wirtschaftlichen Hintergrund der in schnelleren
Fluß geratenen politischen Vorgänge in Preußen zu veranschau-
lichen. Möglicherweise ist ein im Engelsschen Nachlaß befindliches
Manuskript, das in die Zeit zwischen Einberufung und Zusammen-
tritt des Vereinigten Landtags weist, ein Fragment dieser Bro-
schüre. In einem ersten Teil wird noch einmal der nach der irrigen
Ansicht des Verfassers inzwischen durch und durch reaktionär
gewordene wahre Sozialismus als eine literarische Clique gebrand-
282 In Belgien und Frankreich.
markt, von der die deutschen Kommunisten, die das deutsche Pro-
letariat mit seinen sehr deutlichen, sehr handgreiflichen Bedürf-
nissen repräsentierten, auf das entschiedenste abrücken müsse:
„Unsere Angriffe," heißt es hier, ,,kann der deutsche Status qua
gar nicht 'exploitieren, weil sie sich noch viel mehr gegen ihn als
gegen die Bourgeoisie richten. Wenn die Bourgeoisie sozusagen
unser natürlicher Feind, der Feind ist, dessen Sturz unsere Partei
ziu" Herrschaft bringt, so ist der deutsche Status quo noch viel mehr
unser Feind, weil er uns hindert, der Bourgeoisie auf den Leib zu
rücken. Darum schließen wir uns auch keineswegs aus von der
großän Masse der deutschen Opposition gegen den Status quo.
Wir bilden nur ihre avancierteste Fraktion — eine Fraktion, die zu-
gleich durch ihre unverhohlene arriöre-pensee gegen die Bourgeoi-
sie eine ganz bestimmte Stellung einnimmt. Der Zusammentritt des
Vereinigten Landtages, so hoffte hier Engels, werde die noch sehr
unklar durcheinander wogenden und durch ideologische Spitzfindig-
keiten zersplitterten Parteien in die Notwendigkeit versetzen, prak-
tisch zu werden und sich über die Interessen, die sie vertreten, und
die Taktik, die sie befolgen müssten, aufzuklären. Auch die jüngste
dieser Parteien, die kommunistische, habe die Aufgabe, sich über
ihre Stellung, über ihren Feldzugsplan und ihre Mittel klar zu
werden.
Der Rest des nur unvollständig erhaltenenen Manuskripts
charakterisiert den deutschen Status quo und die bedeutsame Auf-
gabe, die bei der herannahenden Umwälzung der Bourgeoisie zu-
falle. "Während in Frankreich und England die Städte das Land
beherrschten, beherrsche in Deutschland das Land die Städte;
wenn auch nicht mehr so vorwiegend, wie in der Zeit der Be-
freiungskriege, bilde noch immer die Landwirtschaft den entschei-
denden Nahrungszweig der Masse des Volks. Der politische Reprä-
sentant des Ackerbaus sei der adlige Großgrundbesitz; neben ihm
stehe als die vorherrschende gewerbetreibende Klasse das Klein-
bürgertum. Die deutsche Verfassung sei weiter nichts als ein
Kompromiß zwischen diesen beiden Klassen, das darauf hinaus-
laufe, die Verwaltung in den Händen einer dritten Klasse, der
Bürokratie, niederzulegen. Niemals werde das Kleinbürgertum ver-
mögen, den Adel zu stürzen, nicht einmal sich ihm gleichstellen,
höchstens ihn schwächen können. Ihn zu stürzen bedürfe es einer
Klasse mit umfassenderen Interessen, größerem Besitz, entschie-
denerem Mut: der Bourgeoisie. Dar Kleinbürger repräsentiere den
binnenländischen und den Küstenhandel, das Handwerk die auf
der Handarbeit beruhende Manufaktur — Erwerbszweige also,
die sich auf einem beschränkten Gebiet bewegten, geringe Kapita-
Deutschlands soziale Gliederung am Vorabend der Revolution. 283
lien erforderten, diese Kapitalien langsam umschlügen und nur
eine lokale und schläfrige Konkurrenz erzeugten. Dagegen reprä-
sentiere der Großbürger den Welthandel, der ein möglichst großes
Gebiet, möglichst große Kapitalien und raschen Umschlag erfordere
und eine universelle und stürmische Konkurrenz erzeuge. Der
Kleinbürger finde seine Stellung hinreichend gesichert, wenn er
bei indirektem Einfluß auf die Staatsgesetzgebung direkt an der
Provinzialverwaltung beteiligt und Herr seiner lokalen Munizipal-
verwaltung sei. Hingegen könne der Großbürger seine Interessen
nicht sicherstellen, ohne auch die Zentralverwaltung, die auswärtige
Politik, die Gesetzgebung unter seiner direkten Kontrolle zu haben.
Mache die herrschende Klasse ihm Konzessionen, so bleibe der
Kleinbürger konservativ, der Bourgeois hingegen werde so lange
revolutionär sein, bis er selbst die Herrschaft in den Händen habe.
Das deutsche Großbürgertum — Engels sagt stets Bourgeoisie —
verdanke seine Entstehung Napoleon. Erst die Kontinentalsperre
und die durch ihren Druck in Preußen nötig gewordene Gewerbe -
freiheit hätten in Deutschland zu einer Industrie und zu einer Aus-
dehnung des Bergbaus geführt. Die erste offizielle Anerkennung
der Bourgeoisie durch die Regierung bedeutete das preußische
Zollgesetz von 1818, die nächste Konzession sei der Zollverein
gewesen. Gegenwärtig stehe es so, daß die Bourgeoisie sich ent-
weder zur herrschenden Klasse machen oder auf ihre bisherigen
Eroberungen verzichten müsse. Faktisch bereits die leitende Klasse
in Deutschland, hänge sie in ihrer ganzen Existenz davon ab, daß
sie es auch rechtlich werde. Je mehr ihr Einfluß wachse, um so
stärker verschulde sich der Adel, um so sichtbarer zermürbe sich
das Kleinbürgertum. Dieses erscheint Engels schon hier nächst
den Bauern als die miserabelste Klasse, die je in die Geschichte
hineingepfuscht habe. Selbst in ihrer glorreichsten Zeit, im späten
Mittelalter, hätte sie es nur zu einer geduldeten Existenz, nirgends
zur allgemeinen politischen Herrschaft gebracht. Mit der Ent-
stehung und dem Vordringen des Großbürgertums verliere sie
selbst den Schein einer historischen Initiative. Sie spalte sich
und fliehe, bis ihr kein anderer Rettungsweg bleibe, als sich hinter
den langen Linien des Proletariats zu sammeln und dessen Fahnen zu
folgen oder sich auf Gnade und Ungnade dem Großbürgertum zu
ergeben. Soweit sei es freilich in Deu'^schland noch nicht; hier
befinde sich das Kleinbürgertum erst in jener Phase, wo es in einem
Moment der Verzweiflung und Geldklemm.e den heroischen Ent-
schluß fasse, dem Adel die Gefolgschaft zu verweigern und sich
dem Großbürgertum anzuschließen.
Zu den Bauern rechnet Engels die kleinen selbständigen Acker-
284 ^^ Belgien und Frankreich. *
Wirte, Pächter oder Eigentümer mit Ausschluß der Landtagelöhner
und Ackerknechte. Um die Interessen des Ackerbaus gegenüber
der steigenden Macht von Handel und Industrie zu schützen, ord-
neten sie sich dem Adel, um sich vor der Konkurrenz des Adels
und namentlich der bürgerlichen Grundbesitzer zu sichern, der
Bourgeoisie unter. Von der Beschaffenheit ihres Besitzes hänge
es ab, auf welche Seite sie sich dabei endgültig schlügen. Die
großen Bauern des östlichen Deutschland, die selbst eine gewisse
Feudalhoheit über ihre Ackerknechte ausübten, besäßen mit dem
Adel zu viel gemeinsame Interessen, als daß sie sich von ihm los-
sagen würden. Dagegen neigten die kleinen Grundbesitzer des
Westens und die der Patrimonialgerichtsbarkeit und zum Teil
noch den Fronden unterworfenen Kleinbauern des Ostens, die
zum Adel im direkten Gegensatz stünden, auf die Seite der Bour-
geoisie.
Nun war Engels sich völlig bewußt, daß ebensowenig wie
Kleinbürgertum und Bauernschaft das Proletariat bereits fähig
war, die Herrschaft in Deutschland anzutreten. Noch wäre diesem,
meinte er, die Gemeinschaftlichkeit seiner Interessen zu wenig
zum Bewußtsein gekommen, noch hinderte es seine Zersplitterung
in Ackerknechte, Tagelöhner, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter
und Lumpenprolelarier, seine Zerstreuung über eine große dünn-
bevölkerte Landfläche mit wenigen schwachen Zentralpunkten,
sich als Klasse zu konstituieren. Noch beschränkte es sich bloß
erst auf seine nächsten alltäglichen Ziele, auf den Wunsch nach
gutem Lohn für gute Arbeit, Noch identifizierten die Arbeiter ihr
Interesse mit dem ihrer Arbeitgeber und machten so jede einzelne
Fraktion des Proletariats zu einer Hilfsarmee für die sie beschäf-
tigende Klasse. Die deutschen Zustände krankten, zu diesem
Ergebnis gelangt Engels ein Jahr vor Ausbruch der Revolution,
hauptsächlich daran, daß keine einzige Klasse stark genug wäre,
ihren Produktionszweig zum nationalen Produktionszweig par
excellence, sich selbst zur Vertreterin der Interessen der ganzen
Nation auf zuwerfen. Der allgemeinen Ohnmacht und Verächt-
lichkeit des herrschenden Regierungssystems, das sich in der
Bürokratie spiegle und in der Kapitalarmut eine seiner Haupt-
ursachen habe, entspräche nach innen die Zerlumpung des Landes
in achtunddreißig Lokal- und Provinzialstaaten, nach außen die
schmähliche Hilflosigkeit Deutschlands gegen Ausbeutung und
fremde Fußtritte. Besser werden könnte es nur, wenn eine Klasse
stark genug würde, um von ihrem Emporkommen das Empor-
kommen der ganzen Nation abhängig zu machen. Diese Klasse
könne nur die Bourgeoisie sein. Sie sei die einzige, die sich nicht
Die Stunde des Großbürgertiuns. 285
auf abstrakte Prinzipien und historische Deduktionen beschränke,
sondern sehr bestimmte, sehr handgreifliche, sofort ausführbare
Maßregeln durchführen wolle, die einzige auch, die, wenigstens
lokal und provinziell, eine gewisse Organisation besäße und eine
Art von Feldzugsplan habe. Zunächst hätte nur sie Aussicht auf
Erfolg.
Die MoHve, die das deutsche Bürgertum zwingen würden, sich
der Staatsgewalt zu bemächtigen, legte Engels hier in einer Sprache
dar, mit deren Realismus sich Johann Jacoby und Rüge ebenso-
wenig einverstanden erklärt hätten, wie Dahlmann oder wie Ger-
vinus. Ausgehend von seiner alten Ansicht, bei der er beharrt,
daß die deutsche Industrie der englischen Konkurrenz mit Sicher-
heit erliegen müßte, sofern sie nicht höhere Schutzzölle erhielte,
findet er, daß das herrschende Beamtentum, das sich um die freie
Entfaltung und rasche Hebung des Fabrikwesens nicht genügend
kümmere, deren Notwendigkeit bisher nicht erkannt, um ihre Herbei-
führung sich nichi bemüht habe. Zollwesen und innere Verwaltung
aber seien die Gebiete, auf denen das industrielle Großbürgertum
am direktesten auf die Erlangung eines beherrschenden Einflusses
angewiesen sei. Doch auch sonst erforderten Gesetzgebung und
Verwaltung in fast allen deutschen Staaten eine durchgreifende
systematische Revision unter dem Gesichtspunkt der Klasse,
die auf die Umwälzung des bestehenden gesellschaftlichen Zu-
standes nicht länger verzichten könne. Das Großbürgertum in
Preußen benötige für seine Eigentumsprozesse zum mindesten
des Schutzes der Öffentlichkeit, für seine Kriminalprozesse der
Geschworenen, also der steten Kontrolle der Justiz durch eine
Deputation von Bourgeois. Ebensowenig dürfe es, was der Klein-
bürger noch konnte, dem Gutdünken des Adels die Regulierung
der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande anheimstellen; die
vollständige Entwicklung seiner Interessen verlange die möglichst
industrielle Ausbeutung auch des Ackerbaus, die freie Verkauf lich-
keit und Beweglichkeit des Grundbesitzes. Zufrieden geben könne
es sich auch unmöglich mit der preußischen Handelsgesetzgebung,
die bestimme, daß beim Bankrott Wechselschulden vor allen Buch-
schulden aus der Masse abgezahlt werden. Eine solche Regelung
vertrete das Interesse der Bureaukraten und aller Nichtbourgeois
gegen die Bourgeois, denn sie decke alle jene, die, wie der adlige
Gutsbesitzer, nur einmal im Jahre etwas zu verkaufen hätten und
den Ertrag durch einen Wechsel aus dem Handel zurückzögen.
Unter den Handeltreibenden seien wiederum die Bankiers und die
Grossisten besser geschützt als die Fabrikanten, die Wechsel auf
alle Welt erhielten. Endlich müßte das Großbürgertum streben.
a86 In Belgien und Frankreich.
auf die Verteilung der Steuern und auf die auswärtige Politik be-
stimmenden Einfluß zu gewinnen. Die Selbsterhaltung zwinge es,
seine Handelsverbindungen, seine Absatzgelegenheiten, seine Ver-
kehrsmittel täglich auszudehnen. Auch dazu bedürfe es der politi-
schen Herrschaft, der Unterordnung aller anderen Interessen unter
das seine. Den schlagendsten Beweis aber für die Notwendigkeit,
daß es die politische Hegemonie an sich reißen müsse, um sich
von dem Untergang zu retten, liefere ihm die Lage, in die der deut-
sche Geld- und Warenmarkt in der bestehenden schweren Wirt-
schaftskrisis geraten sei.
Während er so die ökonomischen Wurzeln der heraufziehenden
deutschen Revolution bloßzulegen trachtete, ergötzte sich Engels,
dem ja der Schalk stets im Nacken saß, gleichzeitig an allerhand
pikanten Erscheinungen, die wie ein ausgesuchtes Hors d'oeuvre
dem großen Schmaus, der ihm bereits den Gaumen kitzelte, voraus-
gingen. So verfaßte er damals eine Satire, die an dem Verhältnis
des betagten Bayernkönigs zu der schönen Lola Montez die Blößen
des Gottesgnadentums aufdecken wollte. Über das Schicksal dieses
,, Witzes" herrscht Ungewißheit. Es bleibt doch recht zweifelhaft, ob
ein von der Deutsch-Brüsseler Zeitung erwähntes Pamphlet, das
im Herbst des Jahres in Basel in zweiter Auflage erschien und
— frei nach Bettina — den derben Titel: „Lola Montez oder Das
Mensch, gehört dem Könige" führte, mit dieser ephemeren Leistung
Engels identisch ist. Die Gerichtsszene, die das saftige Stücklein
eröffnet, erinnert von ferne an die Rahmendichtung des Leipziger
Konzils, auch das Gegenteil von Prüderie, das den Ton beherrscht,
wäre Engels, der in solchen Dingen kein Blatt vor den Mund zu
nehmen liebte, wohl zuzutrauen, aber das „ernsthafte Nachwort",
das die dritte ,, verbesserte", die einzige uns zugängliche Auflage
der Schnurre begleitet, ist in seinen politischen Forderungen zu
farblos und zu zahm, als daß man es ihm zuschreiben könnte.
Unmittelbar in die Diskussion jener Tage hinein griff ein
vermutlich von Engels verfaßter Artikel der Deutsch-Brüsseler
Zeitung vom 6. Juni, der nachweisen wollte, daß alle Petitionen,
die an den Vereinigten Landtag gelangt seien, ausschließlich die
Herrschaft des Großbürgertums bezweckten. Das Proletariat,
hieß es hier, werde seine Petitionen dereinst nicht auf einige Ries
Papier, sondern auf einige Ballen präparierter Baumwolle schreiben.
Der größte Kampf, den die Weltgeschichte je gesehen habe, der
zwischen den besitzenden und besitzlosen Klassen, könne erst
beginnen, wenn das Großbürgertum sich am Staatsruder fest-
gesetzt und die Überbleibsel des Mittelalters auf den Schindanger
der Geschichte geworfen habe. Diesen Gedanken in allen Formen
Lola Montez. 287
zu variieren, wurden Engels und Marx in jenen Monaten nicht
müde, doch betonten sie gleichzeitig, wie verhängnisvoll es
sei, daß in Deutschland die Bourgeoisie die Zügel erst in dem
Augenblick an sich reißen werde, wo ihr Todfeind, das Proletariat,
bereits seine Schwingen zu regen begannen hätte. Bestimmt von
Engels stammte am 10. Juni der Artikel Schutzzoll- oder Freihandels-
system. Über die in dem Titel angegebene Kontroverse bringt dieser
keine neuen Gedanken bei sondern wiederholt nur die alte Über-
zeugung, daß in der deutschen Bourgeoisie der schutzzöllnerische
den freihändlerischen Flügel besiegen werde, weil die deutsche In-
dustrie ohne Schutz gegen das Ausland sonst in einem Jahrzehnt
zerquetscht und niedergestampft sein würde. Das Patent vom
3. Februar wäre das noch mit vielem Potsdamer Dunst und Nebel
umhüllte Anerkenntnis der Macht des Bürgertums, vor der sich
sehr bald die ganze christlich-germanische Macht- und Spukgestalt
in ihr Nichts auflösen werde. Die Landtagsverhandlungen hätten
gezeigt, daß die preußische Regierung unfähig sei, die materiellen
Interessen zu begreifen, zu schützen und zu fördern. Ob Frei-
handel oder Schutzzoll herrsche, könne dem Proletariat im Grunde
gleichgültig sein, unter beiden erhalte es nur den Lohn, der gerade
für seinen notdürftigsten Unterhalt hinreiche. Wohl aber liege es
auch in seinem Interesse, daß zunächst die Bourgeoisie zur un-
geschmälerten Herrschaft gelange; denn erst nach ihrem Siege
werde es in den Endkampf gegen diese, seinen letzten und schlimm-
sten Feind, eintreten, das Privateigentum stürzen und alle Klassen
und Klassenherrschaft für immer beseitigen.
Mit solchen Gedanken in bemerkenswerter Übereinstimmung
steht ein nach der Schließung des Vereinigten Landtags verfaßter
Aufsatz, der im September 1847 in dem Probeblatt einer in London
gedruckten kommunistischen Zeitschrift erschien, auf deren Be-
deutung noch zurückzukommen sein wird. Jener Artikel trägt
die Überschrift Der preußische Landtag und das Proletariat in
Preußen, wie überhaupt in Deutschland. Hat Engels diesen Auf-
satz geschrieben, so war es der erste, den er in der Muttersprache
für eine Arbeiterzeitung schrieb; dann müßte man sagen, daß
dem Stil die Neuheit der Aufgabe anzumerken ist, und daß, ebenso
wie bei manchen Artikeln für den Northern Star, der Wunsch
nach größter Popularität den Verfasser zum Gebrauch stärkerer
Kraftausdrücke verleitet hat, als Engels sich sonst in für den
Druck bestimmten Äußerungen gestattete. Wahrscheinlicher dünkt
uns aber, daß der Beitrag nach den eingehenden Gesprächen,
die sie mit ihm hatten, von Schapper, Moll oder einem ihrer jün-
geren Genossen verfaßt worden ist. Dieser Aufsatz, der schon
288 ^^ Belgien und Frankreich.
unmittelbar in die Vorgeschichte des Kommunistischen Manifests
hineinführt, klang in einem flammenden Appell zum Zusammen-
schluß aller Arbeiter aus: „Vereinzelt sind und bleiben wir schwache
Sklaven," hieß es darin, „der Not und dem Elend, dem Hochmut
und der Gnade der Vornehmen und Reichen preisgegeben; organi-
siert und vereinigt zerbrechen wir wie dürre Weidenruten die Fesseln,
die das Privateigentum oder eine ,chr istlich -germanische* Regierung
uns angeschmiedet haben." Daß Deutschlands Schicksal sich in
Preußen entscheiden würde, war Engels nicht zweifelhaft. Die
Ansicht, mit der er in die deutsche Revolution eintrat, faßte er
am 23. Januar 1848 zum letztenmal prägnant zusammen: „Die
Frage, wer in Preußen herrschen soll, ob die Allianz zwischen
Adel, Bureaukraten, Pfaffen, mit dem König an ihrer Spitze, oder
die Bourgeoisie, ist jetzt so gestellt, daß sie für die eine oder andere
Seite entschieden werden muß. Auf dem Vereinigten Landtag
war noch ein Vergleich beider Parteien möglich; jetzt ist er es
nicht mehr. Es gilt jetzt einen Kampf auf Tod und Leben zwischen
beiden." —
Von vornherein begriff Engels, daß die Revolutionswelle, die
heranrauschte, nicht allein Deutschland sondern den größten
Teil Europas überschwemmen würde. Und von der gesteigerten
politischen Bewegung, die sich allenthalben kund gab, angefeuert,
durchleuchtete er in dem Brüsseler Blatt, das sich ihm und Marx,
je radikaler die Zeitstimmung wurde, um so bereitwilliger zur Ver-
fügung stellte, die inneren Zustände auch der anderen Staaten,
wo Volksbewegungen teils schon zum Ausbruch gekommen waren,
teils sich ankündigten, an der Hand seiner ökonomisch -realistischen
Betrachtungsweise. Noch zeichnete sich die Bewegung hauptsäch-
lich in solchen Ländern ab, die 1830 zurückgeblieben waren und
nun die anderen einholen sollten, um den Sieg der Bourgeoisie auch
bei sich durchzusetzen. In Italien war die freiheitliche Strömung
bereits so unwiderstehlich geworden, daß der Mann, „der die
versteinerte Ideologie des Mittelalters repräsentiert", der Papst
selbst, es für klug gehalten hatte, sich an die Spitze der liberalen
und nationalen Bestrebungen zu stellen. Ihre Ziele und ihren Inhalt
verglich Engels mit denen der Stein-Hardenbergschen Ära, doch
sah er voraus, daß der Erfolg der Bourgeoisie in Italien weit ent-
schiedener ausfallen werde. „Alle reformbegeisterten Klassen,"
meinte er, „von Fürsten und Adel bis zu den Pfifferari und Lazzaroni
treten einstweilen als Bourgeois auf und der Papst ist vor der Hand
der erste Bourgeois von Italien. Aber alle diese Klassen werden
sich sehr enttäuscht finden, sobald das österreichische Joch einmal
abgeschüttelt sein wird." Denn die Arbeiter von Mailand, Florenz
Der Schweizer Bürgerkrieg. 289
und Neapel würden dann entdecken, daß ihre Arbeit nun erst
recht anfange.
Kaum war im Hochland der erste Schuß gefallen, so fühlte
Engels sich schon getrieben, dem Schweizer Bürgerkrieg in der
Deutsch-Brüsseler Zeitung vom 14. November eine tiefer schürfende
Untersuchung zu widmen. Es reizte ihn offenbar, an einem Bei-
spiel, das sich nicht so ohne weiteres in den Rahmen seiner ökono-
mischen Geschichtsauslegung einspannen ließ, zu beweisen, daß
diese auch in schwierigen Fällen den richtigen Gesichtspunkt zur
Beurteilung liefere. Hier handelte es sich um ein Land, das noch
keine bedeutende Industrie besaß, welche die Bourgeoisie an die
Herrschaft bringen konnte. Die Bewohner der Urkantone ließ unser
Vorkämpfer des modernen Industrieproletariats nur als die Rudi-
mente der alten christlich -germanischen Barbarei gelten, deren
Demokratie mit der Demokratie der zivilisierten Länder nichts
zu tun habe. Seit den Tagen Teils und Winkelrieds, meinte er, halte
die Urschweiz mit wirklich tierischer Hartnäckigkeit an ihrer
Lokalborniertheit und ursprünglichen Barbarei fest. Mit dem ganzen
Starrsinn roher Urgermanen bestehe sie auf der Kantonalsouveräni-
tät, das heiße auf dem Recht, in Ewigkeit nach Belieben dumm,
bigott, brutal, widerhaarig und käuflich zu sein, mögen ihre Nach-
barn darunter leiden oder nicht. Doch die Zeit wäre vorbei, wo
störrische Hirten mit ,, wenig Gehirn aber viel Wade" sich dem An-
drang der geschichtlichen Entwicklung entgegenstemmen könnten.
Sei auch die Invasion der Franzosen, die doch sonst überall etwas
Zivilisation verbreitet hätten, an den granitenen Wänden ihrer Felsen
und ihrer Schädel abgeprallt, so hätte dafür einige zwanzig Jahre später
die Invasion der Londoner Lords und Squires und der zahllosen Seifen-
sieder, Gewürzkrämer, Lichterzieher und Knochenhändler einige
Früchte getragen. Sie erzeugte nämlich bei den ehrlichen Bewoh-
nern der Sennhütten, die früher kaum gewußt hätten, was Geld
wäre, die habgierigste und spitzbübischste Prellerei, die sich trotz-
dem aufs vortrefflichste mit den patriarchalischen Tugenden der
Keuschheit, Züchtigkeit, Biederkeit und Treue vertrug. Nicht
einmal ihre Frömmigkeit litt darunter, denn der Pfaffe absolvierte
sie mit besonderem Vergnügen, wo es sich um Betrügereien gegen
britische Ketzer handelte. Dabei blieben die Enkel Stauf fachers
und Winkelrieds die Landsknechte, die sich mit ihrer käuflichen
Treue für Reaktion und Bigotterie in fremden Ländern totschlagen
ließen. Nun könnten aber im neunzehnten Jahrhundert nicht auf
die Dauer zwei Teile eines und desselben Landes nebeneinander
herleben, ohne sich zu beeinflussen. Mochten auch die radikal
gesinnten Kantone der industriellen modern -demokratischen
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 19
290 ^o Belgien und Frankreich.
Schweiz hinter der Entwicklung der europäischen Zivilisation
zurückgeblieben sein, sie mußten danach streben, die Barbarei
der Viehzucht treibenden Urkantone zu brechen und jene größere
Zentralisation zu erringen, deren das Großbürgertum bedürfe.
Zwei Monate später beschäftigte sich Engels noch einmal mit der
Schweiz, als er sich die Frage vorlegte, weshalb in dem inzwischen
beendeten Sonderbundskrieg die Bauern den großen Städten den
Sieg hatten erkämpfen helfen. Sie seien, so erklärte er sich dies,
ebensogut Besitzer wie die Bourgeois, hätten vor der Hand fast alle
Interessen mit diesen gemeinsam, vermöchten nichts gegen sie,
aber vieles im Bunde mit ihnen zu erreichen. Sie würden auch
noch fernerhin der exploitierte Arm des Bourgeois bleiben, ihm
seine Schlachten schlagen, seine Kattune und Bänder weben, sein
Proletariat rekrutieren. In Zukunft werde sich freilich einmal
der ausgesogene und verarmte Teil der Bauernschaft dem Prole-
tariat, das sich inzwischen stärker entwickelt haben würde, an-
schließen, und der Bourgeoisie, der die Austreibung der Jesuiten
jetzt in erster Reihe zugute komme, den Krieg erklären.
In dem Aufsatz über Die Bewegungen von 1847, der diese Aus-
führungen enthält, befaßte Engels sich nur kurz mit jenen Staaten,
in denen die Bourgeoisie bereits das Ruder führte. Von dem neuen
englischen Unterhaus erwartete er die Vollendung des Siegs der
industriellen Bourgeoisie und die Beseitigung des letzten Scheins
der feudalen Herrschaft. Wie dort, so spiele sich auch in Frankreich
der Kampf immer mehr zwischen einzelnen Fraktionen der Bour-
geoisie ab: in England zwischen Fabrikanten und Rentiers, hier
zwischen den Rentiers und Börsenspekulanten auf der einen und
den Reedern und einem Teil der Fabrikanten, die sich auf den
Reformbanketten mit dem Kleinbürgertum verbrüderten, auf der
anderen Seite. Wie nahe man damals auch in Frankreich dem
Ausbruch der Revolution war, ahnte Engels nicht.
Auch das österreichische Problem schien auf den ersten Blick
seiner neuen Erkenntnismethode, die immer von frischem zu er-
proben er sich angelegen sein ließ, wenig entgegen zu kommen.
In einem Aufsatz: Der Anfang des Endes in Österreich, der am
27. Januar 1848 in der Deutsch -Brüsseler Zeitung erschien, fragte
er, wie es denn käme, daß dieser organisierte Wirrwarr von zehn
Sprachen und Nationen, dies planlose Kompositum der widerspre-
chendsten Sitten und Gesetze nicht schon längst auseinandergefallen
wäre. Worauf beruhe eigentlich die Macht, die Zähigkeit, die Stabi-
lität des Hauses Österreich? Und er findet die Antwort: Die
Zivilisation, welche Industrie und Handel entwickelte, den Einfluß
der Städte hob und den Bürgern politischen Einfluß gab, sei in der
Der Anfang des Endes in Österreich. 201
Geschichte stets der Seeküste und dem Lauf der großen Flüsse
gefolgt, während die Binnenländer, zumal die unwegsamen und
unfruchtbaren Hochgebirge, der Sitz des Feudalismus blieben.
Durch die böhmischen und mährischen Gebirge vor der deutschen,
durch die Alpen vor der italienischen Zivilisation geschützt, bildeten
die süddeutschen und südslawischen Binnenländer überdies das
Flußgebiet des einzigen reaktionären Stroms Europas. Weil sie
nach Südosten fließe, brächte die Donau sie mit noch weit kräftigerer
Barbarei in Verbindung. Als die großen Monarchien sich bildeten,
schlössen sich deshalb, hauptsächlich um der Verteidigung willen,
die Barbaren aller Sprachen und Nationen unter dem Hause Habs-
burg zusammen, und dieses blieb solange unüberwindlich, wie die
Barbarei seiner Untertanen nicht angetastet wurde. Die einzige
Gefahr, die es bedrohte, war das Eindringen der bürgerlichen Zivi-
lisation, das wohl zeitweilig, aber nicht dauernd aufgehalten wer-
den konnte. Gelang es Österreich noch 1823 und 1831 die ita-
lienischen Rebellen mit Kanonenkugeln auseinanderzutreiben, so
mußte es schon 1846 in den galizischen Bauern ein bisher unent-
wickeltes revolutionäres Element in Bewegung setzen und noch
offensichtlicher 1847 in Italien sich revolutionärer Mittel bedienen.
Aber wenn Österreich sich so vorläufig vor Revolutionen sicherte,
so war es doch nicht gleichzeitig vor den Ursachen der Revolutionen
geschützt. Was nützte es ihm, daß es sich gegen die Maschinen
hinter einem konsequenten Prohibitivsystem verschanzte ? Brachte
ihm nicht gerade d'eses die Maschinen ins Land hinein ? Die Folgen
konnten nicht ausbleiben: die Preise der Industrieprodukte fielen
so rasch und so tief, daß zuerst die Manufaktur, allmählich selbst
die alte feudale Hausindustrie zugrunde gingen und die ganze
Bevölkerung der Manufakturdistrikte aus ihrer angestammten
Lebensweise herausgerissen wurde. Weil die Fronbauern alte
Erwerbszweige verloren, aber durch die neue Industrie neue Be-
dürfnisse bekamen, wurde die Ablösung der Frondienste zur For-
derung. Wiederum in den Städten, die sich nun schnell hoben,
erwiesen sich die Zünfte drückend für die Konsumenten, unerträg-
lich für die Industriellen, nutzlos für die Zünftigen selbst. Die
Stellung aller Klassen der Gesellschaft änderte sich total. Die
alten Klassen traten mehr und mehr in den Hintergrund vor den
beiden neuen Klassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat, der Acker-
bau verlor an Gewicht gegenüber der Industrie, das Land gegen-
über den Städten. Auch der Bau von Eisenbahnen war nicht länger
zu vermeiden. Zwar baute die Regierung diese selbst, um dem
wachsenden Großbürgertum nicht noch mehr Macht zu gewähren;
da sie aber das Geld zu deren Bau von den Rothschild und Genossen
19*
202 I" Belgien und Frankreich.
entleihen mußte, geriet sie damit nur aus der Szylla in die Charyb-
dis. Vor den Eisenbahnen sanken die Bergscheiden nieder, welche
die Monarchie bis dahin von der Außenwelt getrennt, die jeder
Provinz ihre besondere Nationalität, eine beschränkte National-
existenz bewahrt hatten. Alpen und Böhmerwald existierten nicht
mehr, die rückwärtslaufende Donau hörte auf, die Pulsader des
Reichs zu sein. Hier schieden sich, dort verschmolzen sich die
Interessen. Die Nationalitäten trennten sich an einer Stelle, um
an einer anderen anzuknüpfen; und aus dem wüsten Agglomerat
einander fremder Provinzen sonderten sich bestim.mte größere
Gruppen mit gemeinsamen Tendenzen und Interessen. Der Dampf
hatte die österreichische Barbarei zu Fetzen zerrissen; damit aber
war dem Hause Habsburg der Boden unter den Füßen entzogen.
Österreichs Zerfall wünschte Engels schon deshalb, weil es die Deut-
schen bei allen freiheitlich gesinnten Völkern in den Ruf gebracht
hatte, überall die Unterdrücker der Nationen und die Söldlinge der Re-
aktion zu sein. Von dieser Schmach, meinte er, würden die Deutschen
sich reinigen, wenn sie selbst den Kaiserstaat zerstörten und damit
die Hindernisse forträumten, die der slawischen und italienischen
Freiheit ebenso wie der eigenen Einheit im Wege stünden. Kühn
sollten sie wagen das Wort auszusprechen, das selbst Napoleon
nicht auszusprechen wagte — das Wort: ,,La dynastie de Habs-
bourg a cesse de regner!" Auch vier Wochen später wiederholte
Engels an der gleichen Stelle, daß Österreichs Sturz ebenso im
deutschen wie im italienischen Volksinteresse läge; die Deutschen
mögen, rief er aus, die Waffen ergreifen, um der ganzen öster-
reichischen Herrlichkeit ein für allemal ein Ende zu machen.
Die starke politische Gärung in Mitteleuropa wurde, wie man
weiß, sehr verschärft durch die heftige Wirtschaftskrisis, durch wieder-
holte Mißernten und die soziale Not, die in beider Gefolge bereits
1847 in verschiedenen Ländern, in Deutschland besonders in Berlin,
Breslau und Stettin, zu Hungerrevolten geführt hatten. Immer
häufiger ließ die herannahende Revolution ihre Sturmfalken auf-
steigen. Da wurde es für die Demokratien aller europäischen Länder
ein drängendes Gebot, sich zu rüsten, damit die Geschehnisse sie
nicht unvorbereitet fänden, sie nicht überrumpelten. Eine Zusammen-
fassung der zerstreuten Heerkörper der entschiedenen Opposition
auf nationaler wie auf internationaler Grundlage, vor kurzem noch
aussichtslos oder wenig versprechend, wurde jetzt eine unmittel-
bare praktische Notwendigkeit, von deren rascher und möglichst
weitgreifender Verwirklichung unter Umständen der Ausgang der
ganzen europäischen Bewegung abhängen konnte. In Frage kam
eine allgemeine internationale Zusammenfassung der Kräfte der
Die internationale Demokratie.
293
Demokratie, wie sie schon Mazzini und dem jungen Europa vor-
geschwebt hatte, unter kommunistischem Gesichtspunkt daneben
aber auch eine solche ihres radikalsten Flügels, der Spitzen des zum
Klassenbewußtsein erwachenden Proletariats. Beide Bewegungen,
die umfassendere wie die engere, waren seit der Mitte der vierziger
Jahre allmählich etwas stärker in Fluß gekommen, und an beiden
hatte sich Engels fast von der ersten Stunde an mit Weitblick und
Hingabe beteiligt. Wollten die demokratischen Führer aus den
kontinentalen Staaten in ihren eigenen Ländern etwas ausrichten,
so mußten sie damals, sofern sie nicht Urfehde schwuren, ihre
Wirksamkeit in das Ausland verlegen. Aber selbst wenn sie nun
von schweizerischem, von französischem oder belgischem Boden aus
auf die Heimat einzuwirken versuchten, mußten sie, wie wir oft-
mals sahen, weil die heimische Regierung bei der fremden mit nie
ruhender Wachsamkeit ihre Ausweisung durchsetzte, von neuem
zum Wanderstab greifen. Nur über den Kanal, in das Land der
ältesten freiheitlichen Tradition, reichte der Arm der kontinentalen
Reaktion nicht. Aber selbst hier häuften sich Hindernisse, die
eine innige Fühlungnahme der Zugewanderten und der Flüchtlinge
mit den ihnen verwandten politischen und sozialen Kreisen des Gast-
landes erschwerten. Die insulare Abgeschlossenheit der Engländer
verharrte damals noch in großer Unkenntnis über die Vorgänge
auf dem Kontinent. Wir entsinnen uns, daß niemand frühzeitiger
als Engels dies erkannt und dagegen anzukämpfen begonnen hat.
Wenn die Chartisten auch schon vorher gelegentlich die Schicksals -
gemeirschaft der Arbeiter und Unterdrückten aller Länder betont und
die freiheitlichen Bestrebungen auf dem Kontinent mit begeisterten
Cheers begrüßt hatten, so wußten doch nicht nur die Massen, son-
dern auch die Führer wenig davon, bis Harne y, stark von Engels
beeinflußt, an die Spitze der Bestrebungen trat, die eine engere
Fühlungnahme zwischen den Chartisten und den Englands Gast-
freundschaft genießenden politischen Flüchtlingen zum Ziele
hatten. Was in den dreißiger Jahren auf dem Festland in Geheim-
bünden sich abgespielt hatte, das kam jetzt hier bei den Banketten,
die nicht so leicht wie öffentliche Versammlungen polizeiliche
Einmischung fürchten mußten, zum Ausdruck: die Gemeinsamkeit
der demokratischen, und was bei den Chartisten davon untrennbar
war, der proletarischen Bestrebungen in Europa wurde in Reden
und Resolutionen der Öffentlichkeit verkündigt. Über ein solches
„Fest der Nationen", das am 22. September 1845 in London den
Jahrestag der Errichtung der französischen Republik beging, und
bei dem neben Harne y Weitling und der Franzose Berrier -Fontaine,
ein Anhänger Cabets, als Redner auftraten, hatte Engels in den
294 ^^ Belgien und Frankreich.
Rheinischen Jahrbüchern enthusiastisch berichtet. Schon am
10. August 1844 waren bei einer ähnlichen Gelegenheit Trinksprüche
auf die Demokratien aller Länder mit Jubel aufgenommen worden,
diesmal aber hatten kommunistische Redner die Menge begeistert.
,,Das Chartistenmeeting war ein kommunistisches Fest", frohlockte
Engels, und voreilig verallgemeinernd behauptete er daraufhin, „daß
die Demokratie heutzutage der Kommunismus ist".
Weil aber diese Behauptung, wie Engels sich wohl bald ein-
gestand, der Wirklichkeit reichlich vorauseilte, verschmähte es
weder er noch seine kleine Partei, bei der von Harne y 1845 ins
Leben gerufenen allgemeinen demokratischen Vereinigung der
Fraternal Democrats die Hand im Spiel zu haben. Dar rührige
öffentliche deutsche Arbeiterbildungsverein in London, der einen
Werbebezirk abgab für den unterirdisch wirkenden Bund der
Gerechten, war bei diesem Zusammenschluß der auf englischem
Boden weilenden Demokraten aus den verschiedensten Ländern
eine der treibenden Kräfte gewesen. An der Spitze des Vereins,
den sie gegründet, und des Bundes, den sie nach dem letzten un-
glücklichen Putschversuch der Societ6 des Saisons, deren Ableger
&r gewesen war, 1839 hierher gerettet hatten, standen noch immer
Karl Schapper, der baumlange Pastorensohn und Forststudent
aus dem Nassauischen, der nun schon lange Jahre als Setzer seinen
Unterhalt gewann, der kleine geweckte fränkische Schuhmacher
Heinrich Bauer und der Uhrmacher Joseph Moll aus Köln, die
schon 1843 Engels in den Bund der Gerechten hatten hineinziehen
wollen. Damals stieß er sich, wie wir schon sagten, noch an der
rohen naturrechtlichen Ideologie, die hier den Ton angab und auf
die er vom Standpunkt seiner immanenten Dialektik aus noch so
vorurteilsvoll herabblickte. Daß Engels aber die Fäden, die ihn
mit diesen erprobten Revolutionären und überzeugten Kommunisten
lose verknüpften, trotz allem, was sie damals schied, nicht hatte
abreißen lassen, lohnte sich ihm, als er sie bei seinem Aufenthalt
in London im Sommer 1845 bereit fand, für England die Vertretung
des kommunistischen Korrespondenzkomitees zu übernehmen, das
er und Marx eben gründen wollten. Wahrscheinlich hatte er,
der frühzeitiger als irgendein anderer Deutscher die Notwendigkeit
erkannte, zwischen den Kommunisten der führenden Kulturländer
eine Verständigung anzubahnen, diese Männer zum erstenmal
mit Harne y und Ernest Jones in Verbindung gebracht. Bis vor
kurzem hatte den deutschen Handwerkern und Arbeitern in Eng-
land einschließlich ihrer Führer als oberster Wegweiser Weitling
gegolten. Wie dieser aber im Sommer 1844 in ihrer eigenen Mitte
auftauchte, entdeckten sie rasch, daß er nicht mehr auf der Höhe
Anknüpfung mit dem Bund der Gerechten. 295
der Aufgabe stand, die sie, aus dem Gefühl heraus, daß sie jetzt
geleistet werden mußte, zunächst ihm zugedacht hatten. Seitdem
sie sich in die englischen Verhältnisse einlebten, waren Moll, Schap-
per und Bauer in ihrem wachen Klassenbewußtsein ganz geblen-
det durch die gigantischen Machtkämpfe des britischen Industrie-
proletariats, denen sie voll Spannung und Bewunderung folgten.
Dabei bemächtigte sich ihrer, wie es nicht anders sein konnte,
mehr und mehr die Erkenntnis, daß die holzschnittmäßige Aus-
deutung der großen ökonomischen und sozialen Zusammenhänge,
die Cabet und die Weitling ihnen boten, so neuen und so umwäl-
zenden Vorgängen gegenüber versagten, und daß mit den praktischen
Vorschlägen des französischen und des deutschen Oberhaupts des
kontinentalen Kommunismus ebenfalls für sie nichts anzufangen
war. Wie andere Kost wurde ihnen geboten, als Engels sie mit
seinem Werk über die Lage der arbeitenden Klasse beschenkte,
das ihnen die durch die Großindustrie bewirkte gewaltige Revolution,
die sie in England vor sich sahen, zum erstenmal in einem großen
weltgeschichtlichen Rahmen zeigte. Die Aufklärungen und Ein-
blicke in neue Zusammenhänge, die dieses Buch ihnen verschaffte,
vermehrten und verstärkten noch die teils gedruckten, teils litho-
graphierten Zirkulare, von denen sich leider nur das Rundschreiben
gegen Kriege erhalten hat, die Engels und Marx von Brüssel aus
ihrem englischen Korrespondenzkomitee zusandten. Bald unterlag
es für Schapper und seine beiden Freunde aus dem Handwerker-
stand keinem Zweifel mehr, daß Engels und Marx aus der Wirt-
schaftsrevolution, die sich in England vollzogen hatte, ungleich
weiter greifende und tiefer schürfende Folgerungen zogen, als die
Garantien der Harmonie und Freiheit und die Reise nach Ikarien.
Sie erkannten, wie Marx im Herrn Vogt sagt, daß es nicht auf
die Durchführung irgendeines utopistischen Systems ankam, son-
dern auf ,,die selbstbewußte Teilnahme" an dem unter ihren Augen
vor sich gehenden Umwälzungsprozeß der Gesellschaft. In den
Rundschreiben, die sie im November 1846 und Februar 1847 ^^'
ließen, spiegelt sich ihre Abkehr von der ,,Systemkrämerei" und
ihr wachsendes Verlangen nach begrifflicher Klärung und ver-
stäiktem organisatorischen Zusammenschluß aller kommunisti-
schen Kräfte. Wie Weitling enttäuschte diese Männer auch Cabet,
als er 1847 in ihrer Mitte erschien und keine Mühe scheute, sie
für seine Pläne zu gewinnen. Nicht auf einer fernen Insel der
Seligen, sondern auf heimischer Scholle verlangte es sie das neue
Jerusalem zu erbauen; nicht darum hatten sie seit 1830 an zahl-
losen revolutionären Umtrieben in Deutschland, Frankreich und
der Schweiz teilgenommen, um am Vorabend eines neuen eure-
296 In Belgien und Frankreich.
päischen Ausbruchs der revolutionären Kräfte dem französischen
Utopisten irgendwo in Amerika sein Luftreich des Traums ver-
wirklichen zu helfen.
Nun hatte schon vor Cabets Besuch, im Januar 1847, der
engere Ausschuß des Bundes der Gerechten eine Entscheidung ge-
troffen, die folgenreich geworden ist. Er hatte beschlossen, daß
Joseph Moll, der unter diesen Männern der bedeutendste Geist
gewesen zu sein scheint, zu Marx nach Brüssel und zu Engels
nach Paris reisen sollte, um in aller Form ihre Mithilfe für die
unaufschiebbar gewordene politische Neuorganisation und theore-
tische Neuorientierung des Bundes in Anspruch zu nehmen. Jenen
drei Freunden und ihren jüngeren Genossen, dem Miniaturmaler
Karl Pfänder und dem Schneider Georg Eccarius, war es nicht
leicht geworden, einen solchen Beschluß der Mehrzahl der Mit-
glieder mundgerecht zu m.achen. Mochten die wissenschaftlichen
Kommunisten mit dem politischen Niveau und der geistigen Auf-
nahmebereitschaft der ,, Straubinger" unzufrieden sein, unver-
gleichlich tiefer wurzelte noch im Handwerkerkommunismus das
Mißtrauen gegen die Studierten. Doch die geschichtliche Stunde
war gekommen, wo die beiden Bewegungen, aus denen die deutsche
Sozialdemokratie zusammengewachsen ist, einander finden sollten.
,,Der Blitz des Gedankens" hatte ,,in den naiven Volksboden" ein-
geschlagen, und dem Vortrupp des Freiheitskampfes der deutschen
Arbeiter ging zum erstenmal, wenn auch noch im Dämmerlicht,
die Wahrheit des Marxschen Wortes auf, daß Deutschland, nein
daß die Welt nur frei werden könne, wenn die Philosophie der Kopf,
das Proletariat das Herz des großen Emanzipationskampfes würde.
Moll erklärte Engels und Marx, daß der Bund sich von der all-
gemeinen Richtigkeit ihrer Auffassungsweise überzeugt habe,
daß er mit der alten konspiratorischen Taktik, an der sie Anstoß
nahmen, brechen wolle und sich auf eine zeitgemäßere Grundlage
zu stellen beabsichtige. Wünschten die beiden Freunde, sich an
dieser Neuorganisation zu beteiligen, was ihnen dringend erforder-
lich erschien, so sahen sie sich genötigt, jetzt Molls Vorschlag an-
zunehmen und in den Bund als Mitglieder einzutreten. Denn nur
so konnten sie dem Kongreß, auf dem dieser seine Entscheidung
treffen wollte und den er vorbereitete, persönlich beiwohnen. Daß
die politische Lage eine Organisation der zum Kommunismus hin-
neigenden deutschen Arbeiter erheischte, und daß eine solche ihren
Sitz im Ausland haben mußte, solange daheim das Vereins- und
Versammlungsrecht noch nicht erstritten war, davon brauchte
man sie nicht zu überzeugen. Eine völlig neue Organisation ins
Leben zu rufen, ist immer unendlich schwer, im Bund der Gerechten
Molls Reise nach Brüssel und Paris. 297
bot sich ihnen die einzige bisher vorhandene an und versprach
freiwillig alles abzustreifen, was sie bisher von ihr ferngehalten
hatte. Sollten Engels und Marx sich da noch besinnen, die Hand
des deutschen Proletariats, die sie lange vergeblich gesucht hatten
und die sich nun zum erstenmal nach ihnen ausstreckte, freudigen
Herzens zu ergreifen ? Sie traten in den Bund ein, Marx wurde es
leicht, aus dem Brüsseler Freundeskreis eine Bundesgemeinde zu
machen, während Engels sich mit den drei Gemeinden, die in Paris
noch vorhanden waren, in Beziehungen setzte. Der Kongreß, der
die Reorganisation vollziehen sollte, wurde für den Juli 1847 nach
London einberufen. Engels mußte jetzt alles daran liegen, als
Delegierter der Pariser Gemeinden dort erscheinen zu können.
Aber seine Stellung in ihrer Mitte war nicht unbestritten, und Stephan
Born, der bei der entscheidenden Abstimmung den Vorsitz führte,
konnte ihm seinen Wunsch nur durch Anwendung des Tricks er-
füllen, daß er nicht jene, die für, sondern nur jene, die gegen seine
Entsendung waren, die Hand erheben ließ.
Da aus Brüssel bloß der von den Arbeitern vergötterte aber
in seinem Wesen zurückhaltende Wilhelm Wolff und nicht auch
Marx zu dem Kongreß reiste, so blieb es Engels vergönnt, für
ihre gemeinsame Sache den ersten großen und wirklich folgen-
reichen Sieg zu erfechten. Noch einmal mußte er dort in langen,
heftigen Debatten das Mißtrauen der schwieligen Faust gegen
die Schreibtischmenschen niederkämpfen, bevor er bei der Um-
bildung des Bundes in eine von allem konspiratorischem Bei-
werk befreite Propagandagesellschaft die Führung übernehmen
durfte. Eine der Bedingungen, von denen er und Marx ihren
Eintritt abhängig gemacht hatten, war gewesen, daß die neuen
Statuten mit allem Autoritätsaberglauben brechen müßten. In dem
Gegensatz zwischen demokratischer und autoritativer Organisations-
form, der sich durch die ganze Geschichte der deutschen Sozial-
demokratie zieht, sind sie immer für die demokratische eingetreten.
In einem Geheimbund, das gaben sie zu, war auf eine diktatorisch
gebietende Zentralstelle nicht gut zu verzichten. Sobald man aber,
wie jetzt geschah, ein so weitreichendes Maß von Öffentlichkeit, wie
die Gesetzgebung der einzelnen Länder zuließ, zur Regel machte,
konnten sie fordern, daß die Gesamtheit der Mitglieder hinfort
ihre Behörden einsetzte und absetzte. Als seine oberste Aufgabe
bezeichnete der Bund der Kommunisten, wie sich der Bund der
Gerechten seit seiner Umschmelzung nannte, genau wie Engels
es gefordert hatte, den Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des
Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen
beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen
298 In Belgien und Frankreich.
Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum. Entsprechend
den neuen Grundsätzen mußten die Statuten wie das Programm,
bevor sie endgültige Form annahmen, den einzelnen Gemeinden
des Bundes zur Begutachtung vorgelegt werden. Das Programm,
das aller künftigen Propaganda als Richtschnur dienen sollte,
hätten Schappsr und sein Kreis gern selbständig abgefaßt. Aber als
sie jetzt an den Versuch gingen, zeigte sich ihnen bald, daß dies
eine Aufgabe war, die stärkere theoretische Kräfte erforderte. So
ließsri sie ihre Genossen wissen, daß sie es für ratsamer hielten,
den Entwurf, den sie verfaßt hätten, den „Freunden auf dem Fest-
land" zur Begutachtung zu unterbreiten; sobald sie deren Ant-
worten empfangen hätten, würden sie die dann noch nötigen Ab-
änderungen und Zusätze vornehmen und ihn danach veröffent-
lichen. Diese Bekanntgebung finden wir in dem einzigen Heft
jener Kommunistischen Zeitschrift, die, von Schapper redigiert, im
September erschien. Wie intensiv Engels die Geister beeinflussen
konnte, wo er empfängliche Zuhörer fand, zeigte sich hier. Auch
aus vielen Sätzen eines Aufrufs an die Proletarier, der dort veröffent-
licht wurde, glaubt man seine Stimme herauszuhören. Die Fraternal
Democrats entlehnten dem Bunde der Gerechten sein altes Motto
,,Alle Menschen sind Brüder" zu einer Zeit, als in seiner Mitte das
Gemeinsamkeitsgefühl der Proletarier immer stärker nach einem
sichtbaren Ausdruck verlangte. Auf der ersten Nummer der Kom-
munistischen Zeitschrift, der ja keine zweite gefolgt ist, begegnet
uns jetzt zum erstenmal das neue Motto „Proletarier aller Länder
vereinigt euch". Weil aber dieses Blatt entstand, unmittelbar nach-
dem Engels zu jenem Kongreß in London geweilt hatte, so möchten
wir annehmen, ohne es unsererseits bisher urkundlich beweisen
zu können, daß diese prägnantere Formulierung von Marx und
ihm geprägt worden ist. Wenn der neue Schlachtruf auch nicht
ausdrücklich den älteren verleugnete, so hatte es doch seine tiefe
geschichtliche Bedeutung, daß der Kommunistenbund, dessen
Organ die Zeitschrift hatte werden sollen, die naturrechtliche Hülle
abstrerfte und das allgemeine Bekenntnis zur Brüderlichkeit durch
den schrillen und trotzigeren proletarischen Sammelruf ersetzen zu
müssen glaubte.
Von London begab sich Engels über Ostende nach Brüssel
und vertrat von der zweiten Augustwoche bis in den Oktober Marx
in der demokratischen Bewegung, die wie in ganz Europa, so auch
in der belgischen Hauptstadt, wenn auch eigentlich nicht unter
den Belgiern selbst, immer stärker in Fluß kam. Das erste homogen-
liberale Ministerium Rogier-Fröre-Orban, das gerade in diesen
Tagen ans Ruder kam, war ein typisches Bourgeoisministerium,
Proletarier aller Länder vereinigt Euch! 299
und der D6bat Social, das Organ der unbeträchtlichen radikalen
Gruppe, mit der Marx und Engels sympathisierten, begrüßte den
Regierungswechsel ganz in ihrem Geiste mit der illusionslosen
Bemerkung: ,,Le seigneur de fer et du coton va remplacer le sei-
gneur terrien! L'ordre des avocats succdde 4 l'ordre des j6suites."
Bei der Errichtung einer kosmopolitisch-demokratischen Gesell-
schaft nach dem Vorbild der Fraternal Democrats verhinderte En-
gels sehr geschickt Bornstedt, den es wurmte, daß seine kommu-
nistisch gesinnten Landsleute ihn, den ,, aristokratischen homme
d'esprit" nur als ihr Werkzeug behandelten, sich Marx Abwesen-
heit zunutze zu machen, um im Verein mit anderen ihren Kreis
auszuschalten. Auf dem Gründungsbankett, dem Belgier, Deutsche,
Franzosen, Schweizer, Polen, Russen beiwohnten, wurde er, ob-
gleich er sich, weil er so schrecklich jung aussähe, anfangs gesträubt
hatte, neben dem Franzosen Imbert zum Vizepräsidenten gewählt
und in das Organisationskomitee aufgenommen. Er toastete in
französischer Sprache auf das Andenken der Revolution von 1792.
In dieser Gesellschaft stand von vornherein das Wohl der arbeitenden
Klassen und ihr internationaler Zusammenschluß im Vordergrund
des Interesses. Noch ausschließlicher beschäftigte sich mit diesen
Problemen aber natürlich der Deutsche Arbeiterbildungsverein,
der ebenfalls unter Engels stärkster Mitwirkung Ende August ge-
gründet worden war und schnell zu hoher Blüte gelangt ist. Bevor
er in der zweiten Oktobsrhälfte nach Paris abreiste, setzte er
durch, daß sein Platz an der Spitze der Demokratischen Gesellschaft
für Marx freigehalten wurde. „Jedenfalls haben wir das gewonnen,"
schrieb er dem Freunde am 30. September, ,,daß Du und nach Dir
ich als Repräsentanten der deutschen Demokraten in Brüssel an-
erkannt sind."
Um in der Agitation wirkliche Erfolge zu erzielen, muß der
einzelne im Namen einer Kollektivität auftreten können. Selbst
der bedeutende Mensch erreicht nicht viel, solange er bloß im
eigenen Namen sprechen kann. Diese Erfahrung hatte Engels
während seiner ersten Pariser Wirkungsperiode machen müssen.
Um wieviel leichter erschlossen sich ihm das zweite Mal die Türen,
die er offen finden wollte 1 Weil der französische Sozialismus in
fast allen seinen Schattierungen noch immer den politischen Kampf
ablehnte, konnte sich Engels die Kampfgenossen für die heran-
nahende Entscheidungsschlacht hier nur in den Reihen jener
mehr oder weniger staatssozialistisch gesinnten Demokraten suchen,
die sich um die Reforme scharten, und die gleich ihm unter der
Führung eines Louis Blanc und Ferdinand Flocon die Eroberung
der politischen Macht durch die Demokratie als die erste Voraus-
300 In Belgien und Frankreich.
Setzung jeder sozialen Umgestaltung ansahen. Bereit, mit jeder
entschieden demokratischen Richtung des Bürgertums Hand in
Hand zu gehen, brauchte Engels die Zusammenarbeit mit dieser
Partei, auf deren Programm die Abschaffung der Lohnarbeit stand,
nicht zu scheuen, obgleich er wissen mußte, wie abgeneigt Ledru-
Rollin, ihr parlamentarischer Führer, dem Kommunismus war,
und so wenig er selbst in der Organisation der Arbeit mit Louis
Blanc eine Zauberformel für die Beseitigung aller Not sah. Regen
Eifer wandte er jetzt an die Aufgabe, zu diesem äußersten linken
Flügel der französischen Demokratie womöglich ebenso feste Be-
ziehungen zu gewinnen, wie er sie seit lange schon zu den Char-
tisten besaß. Durch frühere Erfahrungen gewitzigt erschien er
bei Louis Blanc als offizieller Abgesandter der Londoner, Brüsseler
und rheinischen deutschen Demokraten und als ,, Agent der Charti-
sten" und verschmähte es sogar nicht, sich Johann Jacobys und
der badischen Demokraten als der Verbündeten seiner Gruppe zu
rühmen. Der Chef dieses „fortgeschrittensten Flügels der deutschen
Demokratie sei Marx, und dessen, bekanntlich in französischer
Sprache abgefaßte, Streitschrift gegen Proudhon ihr Programm".
Über die Aufgaben und die Richtung der kommenden Revolution
verständigte Engels sich mit dem „kleinen Sultan" um so besser,
als er sich wohl hütete, ihn fühlen zu lassen, wie sehr er in theore-
tischer Hinsicht auf ihn herunterblickte. Auch bei Flocon, der die
R6forme von Berufs wegen redigierte, trat er zuerst als Vertreter der
Chartisten auf, den Harne y sende, um sich zu erkundigen, weshalb
eigentlich das französische Parteiblatt den Northern Star grund-
sätzlich ignoriere. Die offene Antwort, die er erhielt, daß keiner
der Redakteure Englisch verstünde, griff er auf, um dem wohl-
wollenden Franzosen, der „nicht die blasseste Laus" davon ver-
stand, den von diesem gern angenommenen Vorschlag zu machen,
den Lesern seines Blattes allwöchentlich in einem Artikel die Lage
in England und Deutschland darzulegen. ,, Wenn das so fort geht,"
schrieb Engels hierüber frohen Muts an Marx, ,,so haben wir in
vier Wochen diese ganze Richtung gewonnen," In dem gleichen
Brief regte er Marx an, wenn sie demnächst gemeinsam zu dem
zweiten Kommunistenkongreß nach London reisten, bei denFraternal
Democrats eine französische Rede zu halten, die er in die Reforme
bringen werde: „Die Deutschen müssen absolut etwas tun, um
bei den Franzosen auftreten zu können. Eine einzige Rede wird
mehr helfen als zehn Artikel und hundert Besuche."
Dieser zweite Kongreß des Kommunistenbundes, der bestimmt
war, das Werk des ersten abzuschließen, sollte am 30. November
beginnen. Der von Schapper und Moll verfertigte Entwurf eines
Der Kommunistenbund.
301
,, Glaubensbekenntnisses" hatte in der Zwischenzeit einigen Ge-
meinden zur Begutachtung vorgelegen, in anderen war ohne dessen
genaue Kenntnis über den Inhalt diskutiert worden. Die Pariser
Gemeinde behandelte die Frage auf Grund eines „verbesserten
Glaubensbekenntnisses", das Moses Heß ihr unterbreitete. Dieses
unterzog Engels einer so vernichtenden Kritik, daß am Ende er
beauftragt wurde, ein neues Bekenntnis auszuarbeiten. Seine
Wahl zum Delegierten vollzog sich diesmal ohne Schwierigkeit,
nur noch der Form wegen hatte man ihm einen Arbeiter als Kan-
didaten entgegengestellt. Am 29. November fand in den Räumen
des Londoner Arbeiterbildungsvereins eine von den Brüderlichen
Demokraten veranstaltete Gedenkfeier an den siebzehnten Jahres-
tag des polnischen Aufstands statt, bei der Marx die Rede hielt,
zu der Engels ihn früher ermuntert hatte, und deren Leitmotiv
die Untrennbarkeit des Befreiungskampfes der unterdrückten
Nationen von dem des Proletariats war. Engels behandelte hier
zum erstenmal öffentlich die polnische Frage. , »Erlaubt mir, meine
Freunde," rief er aus,,, hier einmal ausnahmsweise in meiner Eigen-
schaft als Deutscher aufzutreten. Wir deutschen Demokraten
haben nämlich ein besonderes Interesse an der Befreiung Polens.
Es sind deutsche Fürsten gewesen, die aus der Teilung Polens
Vorteil gezogen haben. Es sind deutsche Soldaten, die noch jetzt
Galizien und Polen unterdrücken. Uns Deutschen, uns deutschen
Demokraten vor allem, muß daran liegen, diesen Flecken von unserer
Nation abzuwaschen. Eine Nation kann nicht frei werden und
zugleich fortfahren, andere Nationen zu unterdrücken. Die Be-
freiung Deutschlands kann also nicht zustande kommen, ohne
daß die Befreiung Polens von der Unterdrückung durch Deutsche
zustande kommt. Und darum hat Polen und Deutschland ein
gemeinschaftliches Interesse, und darum können polnische und
deutsche Demokraten gemeinsam arbeiten an der Befreiung beider
Nationen."
Darauf sprach Engels die Hoffnung, die ihn hernach so ge-
trogen hat, aus, daß der erste entscheidende Schlag, der in allen
europäischen Ländern den Sieg der Demokratie zur Folge haben
werde, den Chartisten glücken mög.^^, denen er sich schon bei sei-
nem ersten Aufenthalt in England offen angeschlossen habe. Der
Gleichheit der Interessen der Proletarier in allen Kulturländern
galt sein letztes Wort, überall sollten sie sich verbrüdern zum
Kampf gegen die Bourgeoisie. Mit „hinreißendem Beifall" lohnten
die Chartisten dem Redner, der natürlich Englisch sprach, sein
Bekenntnis, das er ,,mit Haut und Haaren" zu ihnen gehöre. Der
Gedanke, einen allgemeinen demokratischen Kongreß einzuberufen,
302 ^^ Belgien und Frankreich.
der damals in der Luft liegen mußte, war von den Fraternal Demo-
crats am frühesten angeregt, aber von der Demokratischen Gesell-
schaft in Brüssel aufgenommen worden. Als Marx jetzt hier in
deren Namen die Engländer für den Herbst 1848 nach dem
Kontinent einlud, willigten diese ein und erteilten Engels die ihm
willkommene Vollmacht, dem Comit6 de la R6forme in Paris in
ihrem Namen die Einladung zu überbringen. Den gleichen Auftrag
erhielt er am 20. Dezember von der Brüsseler Gesellschaft.
Der Kongreß der Kommunisten erfüllte Marx und Engels
alle Hoffnungen, die sie auf ihn gesetzt hatten. Namentlich fand
auch ein Entwurf zu dem offiziellen Parteimanifest, den sie mit-
brachten, nach heftigen Kämpfen die Billigung der großen Mehr-
heit. Nun wurden sie offiziell damit betraut, es endgültig auszu-
arbeiten. Wie das berühmte Dokument unter ihren Händen zustande
gekommen ist, erfordert eine genauere Untersuchung. Als Engels,
schon auf dem Sprunge, nach London abzureisen, in Paris das
„Glaubensbekenntnis", mit dessen Ausarbeitung die dortige Bundes-
gemeinde ihn beauftragt hatte, aufs Papier warf, stieß er sich,
weil sie ihm zu theologisch vorkam, an der Bezeichnung, die Schap-
per und Moll ihrem Entwurf gegeben hatten. Auch die Katechismus -
form, die für solche auf die Arbeiter berechneten programmatischen
Kundgebungen damals üblich war und deren zuletzt noch Consi-
d6rant und Cabet sich bedient hatten, erschien ihm nicht mehr
am Platze für ein Schriftwerk, in dem, wie es bei seiner und Marx
Gedankenrichtung notwendig wurde, „mehr oder weniger Geschichte
erzählt werden mußte". Deshalb schlug er am 24. November
Marx vor, diese Gestaltung des Aufbaus ganz fallen zu lassen
und „dem Ding" den Namen „Kommunistisches Manifest" zu geben,
der ja seit dem Manifeste des Egaux von 1796 in der französischen
Parteiliteratur ebenfalls Heimatrecht hatte.
Über den eigenen Entwurf, bei dessen Abfassung er der Rück-
sichten auf seine Auftraggeber keineswegs enthoben gewesen war,
schrieb er Marx, wenige Tage bevor er sich mit ihm in Ostende traf,
um gemeinsam nach London zu reisen, er sei „einfach erzählend,
aber miserabel redigiert, in fürchterlicher Eile". Da er in dem
gleichen Brief, der vom 24. November datiert war, den Freund
mahnen zu müssen glaubte: „überlege Dir doch das Glaubensbekennt-
nis etwas," so müssen wir annehmen, daß er so kurz vor dem
Beginn des Kongresses noch keine Kenntnis davon hatte, ob Marx
ebenfalls an einem Entwurf zu einer programmatischen Kundgebung
arbeitete. In späterer Zeit pflegte Engels bekanntlich zu erzählen,
beide hätten sie ursprünglich jeder für sich und unabhängig von
einander einen Entwurf aufgesetzt, danach erst habe die endgül-
Die Gnindsätze des Kommunismus.
303
tige gemeinsame Abfassung stattgefunden. Leider haben sich Marx
Briefe an ihn aus dieser Zeit nicht erhalten. Aus diesen würden
wir wohl erfahren haben, ob Marx ebenfalls einen fertigen Ent-
wurf mitbrachte. Auf Grund des Materials, das bis heute vorliegt,
läßt sich nicht feststellen, in welcher Fassung ihr ,, Glaubensbekennt-
nis" dem Kongreß unterbreitet wurde. Berücksichtigt man alles,
was die Verfasser selbst späterhin darüber ausgesagt haben, und
sucht man für einige kleine Abweichungen zwischen ihren Be-
richten den Sinngemäßesten Ausgleich, so möchte man schließen,
daß sie nach ihrem Zusammentreffen in Ostende den Engelsschen
Entwurf mit allem, was Marx an aufgespeicherten oder auch auf-
gezeichneten Gedanken mitbrachte, zu einem Manifest umarbeite-
ten. Dieses Urmanifest, das mehr oder weniger eine Skizze war,
unterbreiteten sie dann dem Kongreß mit der Absicht, ihm, nach-
dem dieser es gutgeheißen habe, hinterher in sorgfältiger Zusammen-
arbeit die endgültige Form zu geben, in der es in die Welt hinaus-
treten sollte. Diese erhielt es dann in den letzten Wochen des Jahres
in Brüssel, wo Engels, der am 17. Dezember dort eintraf, über die
Feiertage bei Marx seinen Aufenthalt nahm.
In dem Manuskript der „Grundsätze des Kommunismus**,
das Engels in Paris niedergeschrieben hatte und das noch in Kate-
chismusform abgefaßt war, fehlen bei drei von den fünfundzwanzig
Fragen die Antworten. Während bei der Frage: ,, Wodurch unter-
scheidet sich der Proletarier vom Handwerker ?**, der Platz dafür
freigelassen ist, findet sich bei den beiden anderen; ,, Wie wird die
kommunistische Organisation sich zu den bestehenden Nationali-
täten verhalten ?'* und ,,Wie wird sie sich zu den bestehenden Reli-
gionen verhalten ?** an der betreffenden Stelle nur die etwas rätsel-
hafte Notiz „bleibt**. Bei diesem „bleibt** aber ließe sich ebensowohl
an das ,, Glaubensbekenntnis' Schappers und Molls wie an einen
noch älteren eigenen Entwurf, dessen überarbeitete Reinschrift
der uns überkommene wäre, denken. Das Kommunistische Mani-
fest, das veröffentlicht wurde, gehört heute der deutschen politischen,
sozialen, Literatur- und Geistesgeschichte als ein Dokument an,
dessen Tragweite nur an den wirkungsreichsten Flugschriften
Luthers zu messen ist. In seiner endgültigen Form bezeugt jede
Zeile durch die, alle Vorbilder, auf die man hingewiesen hat, im
Schatten lassende wuchtige Gedrungenheit des Inhalts und die
sorgfältige, bis ins einzelnste gehende Gefeiltheit des Stils, daß es
nicht auf einen Hieb eilig niedergeschrieben wurde, sondern daß
die Verfasser, ihrer historischen Mission bewußt, für dies Schrift-
stück, das ihre Gedanken zum erstenmal in die Massen nicht nur
des deutschen, nein des europäischen Proletariats hinaustragen
304 ^° Belgien und Frankreich.
sollte, alles getan haben wollten, bevor sie es aus ihrer Werkstatt
entließen. Der Engelssche Entwurf dagegen ist, wie sich schon
zeigte, eine ganz ohne den Anspruch, daß er etwas Endgültiges dar-
stellen sollte, hingeworfene Skizze, deren Gewand der Verfasser
selbst, während er noch an ihm arbeitete, als unangemessen verwarf,
und auf dessen sofortige Umgestaltung er nur verzichtete, weil
die Umstände ihm die Zeit dazu nicht ließen.
Das Manifest hat auch reichlich den doppelten Umfang der
„Grundsätze des Kommunismus" und wendet sich von vornherein
an einen weiteren und fortgeschritteneren Leserkreis. Engels hatte
mit Bedacht anfänglich geringere Ansprüche gestellt, weil er auf
die deutschen Straubinger in Paris, jene ,, alternden Knoten" und
„angehenden Kleinbürger", denen die ,,Weitlingerei" und „Proudho-
nisterei" noch tief im Blute steckte, Rücksicht nahm und noch
Moses Heß bei ihnen ausstechen wollte. Im Brüsseler Arbeiter-
bildungsverein hatte Marx an Männern wie Stephan Born und Wallau,
den beiden Setzern der Deutsch-Brüsseler Zeitung, an dem Tischler
Junge, dem Stubenmaler Steingens und anderen eine Elite von
deutschen Proletariern vor sich ; er scheint deshalb von vornherein
eine moderner empfindende und geistig höher stehende Arbeiter -
Schicht ins Auge gefaßt zu haben. Sobald er in London und in
Brüssel jener gebundenen Marschroute, die ihn gedrückt hatte,
entledigt war, wird Engels sich mit Marx sofort darin einig gewesen
sein, daß es nicht angängig war, ein kommunistisches Manifest,
das die Pforten der Zukunft sprengen wollte, auf den Gesichts-
kreis einer rückständigen Schicht des Proletariats einzustellen,
sondern daß sie das Recht und sogar die Pflicht hatten, es den An-
sprüchen und den Bedürfnissen des vorausstrebenden Teils der
Klasse, die sie befreien wollten, anzupassen. Während somit die
Grundsätze keine geschichtliche und wirtschaftliche Bildung vor-
aussetzten, ist das Manifest trotz des sichtbaren Strebens nach
großer Klarheit und Verständlichkeit, trotz der Leidenschaft und
Bildhaftigkeit des Ausdrucks doch in einer Sprache geschrieben,
die keinen Augenblick verleugnet, daß seine Verfasser nicht der
Arbeiterklasse entstammen. Gehen die Grundsätze vom leibhaf-
tigen Proletarier, von seiner Not und seinen Hoffnungen aus,
hüten sie sich noch ängstlich, ihn durch Entfaltung von Gelehrsam-
keit kopfscheu zu machen, so entrollt das Manifest ein gewaltiges
Panorama von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und trägt
kein Bedenken, vor dem Leser mit unerhörter Konzentration eine
schier ungeheure Fülle gedanklich geformter Tatsachen auszu-
breiten. Die Grundsätze in ihrer Katechismusgestalt hatten sich
darauf beschränkt, in schlichter Form Rede und Antwort zu stehen,
Das Kommunistische Manifest und die Deutsche Ideologie. 305
das Kommunistische Manifest will lehren, verkünden, anfeuern,
werben und locken.
In seiner endgültigen Gestalt trägt es zum überwiegenden Teil
den Stempel des Marxschen Genius, der hier mit der mächtigen
sprachlichen Prägnanz, die ihm eignete, die Worte wie flüssiges
Erz in die herrische Form seiner Denkart hineinzwingt. Mochte
aber so auch Marx an vorderster Stelle das Gold ausmünzen; den
Schatz selbst, den sie hier in die Zukunft hinausstreuten, hatte
Engels in ebenbürtiger Gemeinschaft mit ihm zusammengetragen.
Im reichsten Maß2 schöpft das Kommunistische Manifest, was
sich nun deutlich herausstellt, seine Gedanken aus dem ungedruckt
gebliebenen Manuskript ihrer Streitschrift gegen die deutsche
Ideologie, wo sie, wie sich uns zeigte, zum erstenmal ihre Deutung
der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kulturmenschheit
in geordneter Darstellung aufs Papier gebracht hatten. Wir finden
jetzt hier kaum eine Gedankenreihe, die sich nicht, mehr oder min-
der ausführlich skizziert, auch dort schon feststellen ließe. Alles
was hier über die Geschichte und die Tendenzen des wirtschaft-
lichen Lebens, über die Entstehung und über die Aufgabe des mo-
dernen Proletariats, über die Funktion des Klassenkampfes, über
das Verhältnis zwischen Ökonomie und Ideologie im allgemeinen,
wie zwischen Ökonomie und Politik im besonderen, alles was über
das dereinstige Einschrumpfen der staatlichen Sphäre, über die
Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit einer kommunistischen Re-
volution gesagt wird, wäre schon dort zu lesen gewesen, wenn das
Werk einen Verleger gefunden hätte. Vielleicht hatte sich seit
1845 der Nachdruck noch verstärkt, den die Verfasser auf die revo-
lutionierenden Funktionen des Kapitalismus legten. Neu treten
hier eigentlich nur die Ergebnisse der Studien hinzu, die Marx
mittlerweile über das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital an-
gestellt hatte, und im Anschluß an die aus dem früher schon von
Engels der Schule Ricardos entlehnten Lohngesetz hier der Schluß
gezogen wird, daß dieses mit Notwendigkeit zur Verelendung
der Massen und damit zum Umsturz des Gesellschaftsordnung
führe.
Von den vier Abschnitten des Kommunistischen Manifests
gibt der erste eine geschichtliche Darstellung des Aufstiegs des
Bürgertums, dem trotz des Siegeszuges, in dem es begriffen war,
ein schlimmes Horoskop gestellt wird, weil im Proletariat bereits
sein Henker vor der Tür stehe. ,, Bourgeois und Proletarier" über-
schrieben, sucht er die Klassenkampf theorie und die Lohntheorie
mit Riesenquadern auf wirtschaftsgeschichtlichem Fundament auf-
zubauen. Der zweite Abschnitt ,, Proletarier und Kommunisten"
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 20
3o6 In Belgien und Frankreich.
befaßt sich mit den aus solchem Einblick in den ökonomischen
Verlauf sich ergebenden gegenwärtigen und künftigen Aufgaben
der proletarischen Bewegung, mit ihrem Verhältnis zum Kommu-
nismus, mit der Widerlegung der beliebtesten Einwände gegendessen
Lehren, endlich mit einer Schilderung der Ziele und Wirkungen
einer künftigen Revolution des Proletariats. Eine allseitige Kritik
der voraufgehenden sozialistischen und kommunistischen Literatur
bildet den Inhalt des dritten Abschnitts, während der letzte die
Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen
Parteien am Vorabend der europäischen Revolution untersucht
und für die wichtigsten Länder ein kurzes Aktionsprogramm auf-
stellt. Die Schrift gipfelt in dem unumwundenen Geständnis,
daß die Zwecke der Kommunisten nur erreicht werden könnten
durch den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschafts-
ordnung. „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommu-
nistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr
zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.
Proletarier aller Länder vereinigt euch."
Läßt man die Verschiedenheit der Form beiseite, so unter-
scheidet sich der Aufbau des Engelsschen Entwurfs wenig von der
endgültigen Fassung des Manifests. Auch er begann mit Definitionen
des Kommunismus und des Proletariats, schilderte dessen Ent-
stehung und seinen Gegensatz zur Bourgeoisie, grenzte es ab von
den Arbeiterkategorien früherer Epochen, entwickelte die Lohn-
theorie und bewies die Notwendigkeit einer neuen Gesellschafts-
ordnung, die nur eine kommunistische sein könne. Die Aussicht
auf eine Verwirklichung des Kommunismus mit friedlichen Mitteln
ward mit Rücksicht auf die Straubinger noch nicht gänzlich von
der Hand gewiesen, wenn auch Entwicklungsgang, Aufgaben,
Wirkungen und Charakter der künftigen Revolution ausführlich
dargelegt werden. Den Einwänden der Gegner des Kommunis-
mus wird nicht so sehr polemisch begegnet wie durch eine Dar-
legung der segensreichen Folgen einer Beseitigung des Privat-
eigentums, Endlich wird auch versucht, die Ziele des Kommu-
nistenbundes von denen anderer sozialer Richtungen und politisch
radikaler Parteien der verschiedenen Länder abzugrenzen. Dieser
Übereinstimmung des Aufbaus entspricht die des Inhalts. Be-
merkenswerte Widersprüche zwischen dem Engelsschen Entwurf
und der endgültigen Fassung bestehen nicht. Beide bemühen sich,
den Nachweis zu erbringen, daß das Zeitalter des Kapitalismus,
der freien Konkurrenz, der Herrschaft des Bürgertums durch
die Gewalt der Produktivkräfte selbst in ein Zeitalter der bewußt
geleiteten Gemeinschaft, des Kommunismus, der Herrschaft des
Das Kommunistische Manifest und der Engelssche Entwurf. 307
Proletariats umschlagen müsse. Mit der gleichen Übersichtigkeit
betrachten beide die in den kontinentalen Staaten West- und Mittel-
europas schon vorhandenen Entwicklungstendenzen zur Großindu-
strie als Faktoren, die bereits in die politische Gestaltung der näch-
sten Zukunft entscheidend eingreifen würden. Beide unterschätzten
gleichmäßig in hohem Maße die Beharrungskraft der älteren Be-
triebsweisen und der nach ihrer Geschichtsauffassung diesen
entsprechenden politischen Machtformen. An diesem Fehler,
der für ihre agitatorischen Zwecke vielleicht kein Fehler war, leiden
in gleichem Maße die Grundsätze wie das Manifest. Kein Gewicht
ist darauf zu legen, daß Engels in seinem Vorentwurf das Ideal
der allseitigen Entwicklung der Fähigkeiten jedes Menschen stär-
ker unterstreicht, während die endgültige Schrift von dem ein-
zelnen und seinen ideellen Bedürfnissen weniger Aufhebens macht
und nur erwähnt, daß nach dem Verschwinden der Klassengegen-
sätze der Lebensprozeß der Arbeiter erweitert und bereichert und
die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Ent-
wicklung aller sein werde. Diese Abweichung erklärt sich genau
so wie die anderen, die dem Manifest gegenüber jener Skizze eine
allgemeinere, anspruchsvollere und umfassendere Form verliehen.
Mit vieler Konsequenz läßt dieses das einzelne Individuum hinter
der Gesellschaft und der Klasse auch dort zurückstehen, wo die
obersten Worte der deutschen klassischen Philosophie, Freiheit
und Persönlichkeit, im kommunistischen Sinne ihre Ausdeutung
erhalten: ,,In der bürgerlichen Gesellschaft,** heißt es hier, „ist
das Kapital selbständig und persönlich, während das tätige Indivi-
duum unselbständig und unpersönlich ist. Und die Aufhebung
dieses Verhältnisses nennt die Bourgeoisie Aufhebung der Persön-
lichkeit und Freiheit.** Mochte übrigens für den Stand des damaligen
deutschen Geisteslebens eine so einseitige Betonung der vom Indi-
viduum unabhängigen Mächte eine gesunde Reaktion bedeuten,
in dieser Veräußerlichung der Begriffe Freiheit und Persönlichkeit
lag auf der anderen Seite doch auch die Gefahr einer Vergröbe-
rung, die, politisch und ökonomisch in hohem Maße verständlich,
dennoch den feinsten Verzweigungen des seelischen Lebens nicht
gerecht werden konnte und Kräfte lahmlegen half, deren Mit-
wirkung ein gesunder Volkskörper nicht entbehren kann, ohne
schließlich einer Katastrophe entgegenzutreiben.
In praktischer Hinsicht radikalisiert das Manifest den Entwurf,
indem es unter den Übergangsmaßregeln, die nach der Erkämpfung
der Demokratie die Verwirklichung des Kommunismus in die Wege
leiten sollten, die Enteignung des Grundeigentums fordert, ohne
noch, wie es dort geschehen war, ausdrücklich zu betonen, daß
20*
3o8 ^^ Belgien und Frankreich.
diese bloß allmählich und zum Teil gegen Entschädigung statt-
finden müßte. Auch wird hier die Abschaffung, dort bloß eine
stärkere Einschränkung des Erbrechts gefordert. Die Organisation
der Arbeit, ein Zugeständnis an Louis Blanc, und die Errichtung
großer gemeinsamer Paläste auf Nationalgütern, die helfen sollten,
den Gegensatz von Stadt und Land zu überbrücken, ein Zuge-
ständnis an die Kreise der Democratie Pacifique, hat das Manifest,
das im übrigen diese Partien dem Engelsschen Entwurf entlehnte,
fallen gelassen. Bei der Kritik der verschiedenen Richtungen des
früheren und des zeitgenössischen Sozialismus erweitert und ver-
tieft das Manifest die mehr skizzenhaften Andeutungen der Grund-
sätze. Der Abschnitt über den wahren Sozialismus schöpft aus
den verschiedenen gedruckten und ungedruckten Engelsschen und
Marxschen Auseinandersetzungen mit dieser Richtung; an dem
Absatz über den feudalen und den „konservativen oder Bour-
geoissozialismus" mit dem scharfen Ausfall gegen Proudhon
erkennen wir den Verfasser der ,, Bannbulle" gegen Kriege ebenso-
sehr wie den des Elends der Philosophie. Es wäre für unsere
Biographie in diesem wie in früheren Fällen wenig gewonnen,
wollten wir mit philologischen Hilfsmitteln zu ermitteln trachten,
welche Bestandteile des Kommunistischen Manifests auf Engels
zurückgehen. Die gesamte vorherige Darstellung hat zeigen wollen,
welches Gut ein jeder der beiden Freunde in ihre geistige Gemein-
schaft hineinbrachte, und wie sie in diesen dem Ausbau ihrer Ge-
schichtsauffassung gewidmeten Jahren in restlos kollektiver Ge-
dankenarbeit ihr Werk durchführten. Bei der großen Zurückhaltung,
mit der Engels stets von seinem Anteil an der Herausarbeitung
ihrer Lehre und damit auch an der Entstehung des Kommunisti-
schen Manifests gesprochen hat, tun wir aber gut, als Ergebnis
unserer Darstellung in der Erinnerung zu behalten, daß er noch
früher als Marx den modernen Kapitalismus begriffen, die Stellung
des Proletariats ihm gegenüber umschrieben, die Synthese zwischen
deutscher Philosophie und englischer Nationalökonomie versucht,
zum Kommunismus sich bekannt und den internationalen Zu-
sammenschluß der Kommunisten gefordert und gefördert hat.
Vollendet wurde das Kommunistische Manifest in den ersten
Tagen des Jahres 1848; in London hergestellt kam es zur Versen-
dung an die Gemeinden wenige Tage vor Ausbruch der Februar-
revolution. Was bedeutete es für die Zeitgeschichte ? Einen irgend-
wie sichtbaren, unmittelbaren Einfluß auf die revolutionäre Ent-
wicklung hat es in den Jahren 1848 und 1849 nicht ausgeübt, konnte
es nicht ausüben. Außerhalb der erst nach Hunderten zählenden
Mitgliederschaft des Kommunistenbundes haben die kleine Schrift,
Bedeutung des Kommunistischen Manifestes. 309
die nicht einmal in den Handel kam, nur ganz wenige beachtet.
Wir Nachlebenden aber erkennen in dem Manifest ein Dokument
von ungeheurer Tragweite. Am Vorabend der europäischen Re-
volution, die bei aller Verschiedenheit der Forderungen, der Träger,
der angewandten Mittel und des Verlaufs in überwiegender Weise
freiheitlichen, nationalen, politischen Zielen galt, werden hier die
Proletarier der zivilisierten Welt zum Kampf für ihre gemein-
samen, von der Nationalität unabhängigen, Interessen wach gerüttelt,
ergeht hier an sie im Namen der ersten internationalen Kampf-
organisation ihrer Klasse der Ruf, das nationale Ideal, das für sie
nichts bedeuten könne, weil der Arbeiter kein Vaterland habe,
dem erhabenen Ideal, das keine Grenzpfähle mehr kenne, der
künftigen Solidarität des Weltproletariats, unterzuordnen. Gleich-
zeitig werden die Proletarier der einzelnen Länder gemahnt, beim
Herannahen einer revolutionären Bewegung ihr politisches Handeln
auf dieses ihnen eigentümliche übernationale Ziel einzustellen.
In dem Augenblick, wo fast überall in Europa die innerpolitischen
und die nationalen Gegensätze auf eine Entscheidung hindrängen,
erhält der Primat des Klassenkampfes, der dem Zeitbewußtsein
nicht zuletzt durch jene Gegensätze noch verdunkelt wurde, hier
seine Weihe, seine soziologische Begründung und seine erste Aus-
deutung für die praktische Nutzanwendung. Wenn das Manifest
noch nicht zugeben wollte, daß die Kommunisten gegenüber anderen
Arbeiterparteien eine besondere Partei darstellten, wenn es nach-
drücklich hervorhob, daß diese keine von den Interessen des ganzen
Proletariats getrennte Interessen verfolgten, so bestimmte Engels
und Marx zu solchem Vorgehen noch mehr als die Rücksicht auf
die Chartisten, die das Signal zum Losbruch der Revolution geben
sollten, die Zahmheit des sozialistischen Denkens in Frankreich
und die Rückständigkeit der sozialen und politischen Entwicklung
Deutschlands. Den Klassenkampf zu schüren, wo immer es an-
ginge besondere politische Arbeiterparteien ins Leben zu rufen,
war die Aufgabe, auf die ihr Blick gerichtet blieb. Daß Arbeiter-
parteien, selbst wo sie es von vornherein nicht waren, mit Not-
wendigkeit kommunistisch werden mußten, war ihnen unzweifel-
haft. Sie forderten für alle Länder die Bildung des Proletariats
zur Klasse, den Sturz der Bourgeoisherrschaft, die Eroberung
der politischen Macht durch das Proletariat. Weil sie aber die
Erfüllung dieser weitreichenden Ziele von der eben heraufziehenden
Revolution nicht sofort erwarten konnten, setzten sich, wie
wir wiederholt sahen, Engels und Marx zunächst mit voller Kraft
für den Sieg der Demokratie ein, der ihren eigentlichen Bestrebun-
gen erst freie Bahn schaffen sollte.
210 In Belgien und Frankreich.
Damals waren sie überzeugt, daß die Herrschaft der Bourgeoisie
höchstens einige Jahre dauern würde. Namentlich Engels fühlte sich
auf der sicheren Warte seiner neuen Geschichtskonstruktion, von der
aus er eines so weiten Ausblicks in das ferne Land der Zukunft genoß,
seiner Sache so gewiß, daß er dem Bürgertum das unausbleibliche
Schicksal seiner nahenden Herrschaftszeit voraussagte. Überall, rief
er ihm zu, stehe hinter ihm das Proletariat, an seinen Bestrebungen,
teilweise auch an seinen Illusionen, teilnehmend, wie in Italien
und der Schweiz, schweigsam und zurückhaltend, aber unter der
Hand seinen Srurz vorbereitend, wie in Frankreich und Deutsch-
land, in offener Rebellion bereits in England und Amerika. ,,Sie
mögen es vorher wissen," schrieb er am 23. Januar in der Deutsch-
Brüsseler Zeitung, ,,daß sie nur in unserem Interesse arbeiten.
Sie können darum doch ihren Kampf gegen die absolute Monarchie,
den Adel und die Pfaffen nicht aufgeben, sie müssen siegen oder
schon jetzt untergehen. Ja, in sehr kurzer Zeit werden sie in
Deutschland sogar unseren Beistand anrufen müssen. Kämpft
also nur mutig fort, ihr gnädigen Herren vom Kapital! Wir haben
euch vor der Hand nötig, wir haben sogar hie und da eure Herr-
schaft nötig. Ihr müßt uns die Reste des Mittelalters und die ab-
solute Monarchie aus dem Wege schaffen, ihr müßt den Patriar-
chalismus vernichten, ihr müßt zentralisieren, ihr müßt alle mehr
oder v/eniger besitzlose Klassen in wirkliche Proletarier, in Re-
kruten für uns, verwandeln, ihr müßt uns durch eure Fabriken
und Handelsverbindungen die Grundlage der materiellen Mittel
liefern, deren das Proletariat zu seiner Befreiung bedarf, zum Lohn
dafür sollt ihr eine kurze Zeit herrschen. Ihr sollt Gesetz« diktieren,
ihr sollt euch sonnen im Glanz der von euch geschaffenen Majestät,
ihr sollt bankettieren im königlichen Saal und die Königstochter
freien, aber vergeßt es nicht! — der Henker steht vor der Tür."
Kapitel XL
In der deutschen Revolution.
Bei der Neuen Rheinischen Zeitung. — In Frankreich
und der Schweiz.
Wenn sich Friedrich Engels in der überschäumenden Kraft
der Jahre zwischen zwanzig und dreißig bisweilen eine größere Un-
mittelbarkeit des Erlebens, als der Kampf mit der Feder ihm zu ge-
währen vermochte, gewünscht hatte, so erfüllte ihm diese Sehn-
sucht in reichstem Maße die deutsche Revolution. An bunten
Abenteuern wie an tiefen, folgereichen Erlebnissen beschenkte diese
ihn mit einem vollgerüttelten Maß. Barrikadenkampf und Bürger-
krieg, sachliche Kollision und tragischer persönlicher Konflikt, Ver-
haftung und Ausweisung, Prozeß und Verfolgung, tiefe Enttäu-
schung nach jubelnder Hoffnung — durch alles hat sie ihn hindurch-
geführt. Über dieses alles aber, das vielleicht einem Schwächeren
die Flügel zum Sinken gebracht hätte, triumphierte die unanfecht-
bare Wurzelhaftigkeit seiner Natur und sein nicht zu erschütterndes
Vertrauen auf die sieghafte Wahrheit seiner Geschichtsauffassung,
die ihm über alle Niederlagen und Enttäuschungen der Stunde hin-
weg den dereinstigen Sieg des Kommunismus mit Sicherheit verhieß I
Als er um Neujahr von Brüssel nach Paris zurückkehrte, um
hier seine Wirksamkeit für die kommunistische Sache wieder aufzu-
nehmen, fand er zwar nach wie vor Flocon zu praktischer Zu-
sammenarbeit geneigt aber doch etwas beunruhigt durch den in
London gefaßten Entschluß, den Kommunismus offen auf die
Fahne zu schreiben. Der Chefredakteur der Reforme befürchtete
nicht ohne Grund, daß bei solchem Vorgehen in dem Kleinbauern-
land Frankreich der revolutionäre Gedanke Schaden leiden könnte.
Als seinem Bemühen, die deutschen Handwerksgesellen in Paris
auf der neuen Grundlage zu organisieren der Erfolg auch jetzt ver-
sagt blieb, vertröstete Engels, über die Unbrauchbarkeit dieser schlaf-
mützigen Lohndrücker von neuem erbost, Marx und sich selbst auf
das nahe Erscheinen des Kommunistischen Manifests. Der Brüs-
seler Zeitvmg kündigte er am 14. Januar für die nächsten Tage
312
In der deutschen Revolution.
einen Aufsatz über die preußischen Finanzen an, dessen Fertig-
stellung sich verzögert haben wird, bis ihn am 29. Januar seine
Ausweisung aus Frankreich, der aber keine politischen Motive zu-
grunde gelegen haben sollen, überraschte und schon am 31. Januar
nach Brüssel zurückführte.
Aber noch ehe ihm sein Gepäck nachfolgen konnte, war der
Thron des Bürgerkönigs gestürzt, Frankreich Republik geworden.
An dem gleichen Tage, an dem in Paris das Reformbankett statt-
finden sollte, beleuchteten in der Demokratischen Gesellschaft in
Brüssel bei der Feier des zweiten Jahrestags des Krakauer Auf-
standes Marx und Engels, ganz ähnlich wie kürzlich in London, an
Polens Beispiel den engen Zusammenhang zwischen den nationalen
und den sozialen Freiheitsforderungen. Schon im Kommunistischen
Manifest hatten sie in Übereinstimmung mit Mieroslawski und Le-
lewel, der in der Demokratischen Gesellschaft neben ihnen wirkte,
Polens Befreiung von seiner Demokratisierung durch eine Agrar-
revolution abhängig machen wollen. Hier stellte Engels in seiner
Rede die gewagte Behauptung auf, daß die Befreiung der Polen
für die Demokraten aller Länder aus einer Frage der bloßen Sym-
pathie zu einer praktischen Frage geworden wäre, seitdem bei der
Erhebung Krakaus der Klassenkampf, die ,, bewegende Ursache
jedes sozialen Fortschritts", in diesem Volke zum erstenm^al zur
Geltung gekommen sei. Und er wiederholte, daß Deutschland wie
Polen nur frei werden könnten, wenn es glücke, Deutschland zu
revolutionieren, die preußische und die österreichische Monarchie
zu Fall zu bringen und Rußland über Dnjestr und Dwina zurück-
zudrängen. Das deutsche Volk, das bisher seinen polnischen Brü-
dern nur freundliche Werte spenden konnte, werde ihnen bald mit
Taten zu Hilfe kommen, und beide Völker würden nach der ersten
siegreichen Schlacht über die Russen, die ihre gemeinsamen Unter-
drücker seien, auf der Walstatt selbst ihr Bündnis besiegeln. Dem
Vertrauen auf diese Sckicksalsgemeinschaft ist Engels, wie sich
zeigen wird, während des ganzen Verlaufs der europäischen Krisis
treu geblieben.
Die Furcht, daß die Pariser Ereignisse in der eigenen, allen
von dorther kommenden Einflüssen stets bereitwillig offenstehenden,
Hauptstadt ihren Widerhall finden könnten, bewogen Leopold L,
dem alles daran lag, seinem Schwiegervater nicht ins Privatleben
folgen zu müssen, zu umfassenden Vorsichtsmaßregeln. Dazu aber
gehörte auch die Abschiebung der in Belgien herumwimmelnden
zahlreichen ausländischen Revolutionäre. Weil unter diesen die
Deutschen sich in der letzten Zeit hervorgetan hatten, verbreitete
sich unter der behäbigen Brüsseler Bourgeoisie, die für ihre Ge-
Die Februarrevolution und die deutschen Arbeiter in Paris. 313
Schäfte fürchtete, ein Deutschenhaß, dem die liberalen Minister
Rechnung trugen, indem sie u. a. auch Marx und Wilhelm Wolff
verhaften und an die Grenze der neuen Republik bringen ließen,
wohin es diese aber ohnedies zog. Engels entging dem gleichen
Lose offenbar nur, weil seinen Paß die belgischen Behörden aus-
gestellt hatten. Gezählt waren nun auch die Tage der Deutsch-
Brüsseler Zeitung, die in ihrer letzten Nummer die Flammen der
Tuillerien und des Palais Royal als die Morgenröte des Proletariats
begrüßte und der frohen Hoffnung Ausdruck gab, daß in einem
Monat Deutschland ebenfalls eine Republik geworden sein möge.
In so rosigem Lichte Engels jetzt die Zukunft erblickte, so wenig
vermutete selbst er die Revolution in der Heimat schon so nahe,
wie sie es wirklich war. ,,Wenn doch der Friedrich Wilhelm IV.
sich starrköpfig hielte," schrieb er noch am 9. März an Marx nach
Paris, ,,dann ist alles gewonnen, und wir haben in ein paar Mo-
naten die deutsche Revolution. Wenn er nur an seinen feudalen
Formen hielte! Aber der Teufel weiß, was dies launige und ver-
rückte Individuum tun wird!"
Die Revolution in Frankreich und die schnell zunehmende
Gärung in Deutschland und Italien bestimmten jetzt den Kom-
munistenbund, sein Aktionszentrum den entscheidenden Schau-
plätzen näherzurücken. Auf die erste Kunde von der Proklamierung
der Republik in Paris übertrug die Londoner Zentralbehörde ihre
Befugnisse dem leitenden Brüsseler Kreise. Da ihm aber die Bewe-
gungsfreiheit inzwischen genommen war, so gab er diese nach
Paris weiter. Als Marx am 4. März nach dem Zentrum der neuen
revolutionären Bewegung abreiste, trug er in der Tasche die Voll-
macht, die Behörde nach seinem Belieben zusammenzusetzen.
Daß er eben erst aus Frankreich ausgewiesen worden war, hätte
Engels keineswegs verhindert, Marx zu begleiten, seitdem ihr Freund
Flocon der provisorischen Regierung angehörte. Aber eine mo-
mentane Geldknappheit hielt ihn in Brüssel zurück. Erst am
25. März hat er sich in Saint-Josse ten Noode polizeilich abgemeldet.
So fand er, da die Londoner noch vor ihm eintrafen, das Zentral-
komitee, in dem man ihm einen Platz offen gehalten hatte, m.it
Marx als Präsidenten und Schapper als Sekretär neu gebildet, bereits
vor. Alsbald schritt der Generalstab der noch so winzigen Partei
an die Ausarbeitung des Feldzugplanes für die Beteiligung der
deutschen Kommunisten an der inzwischen auch in der Heimat
zur Wirklichkeit gewordenen Revolution. Die Forderungen der
kommunistischen Partei in Deutschland, die siebzehn Punkte ent-
hielten, entsprachen dem Geist des Kommunistischen Manifests.
Sie nahmen jedoch Rücksicht auf den zahlenmäßig noch geringen
314
In der deutschen Revolution.
Umfang des industriellen Proletariats in einem Lande, wo der Sieg
der Demokratie in erster Reihe von der revolutionären Tatkraft
und Freudigkeit des Kleinbürgertums und der Bauernschaft abhing,
wo es also darauf ankam, diesen ein Zusammenwirken mit den Ar-
beitern der noch wenig zahlreichen Industriezentren zu ermög-
lichen.
Die soziale Struktur und das durch sie bedingte politische
Kräfteverhältnis beim Ausbruch und im Verlauf einer deutschen
Revolution hatte Engels sich schon früher auf das genaueste ver-
gegenwärtigt. Er sagte sich, daß die Klassenzusammensetzung in
Deutschland komplizierter als in irgend einem anderen Lande
sei, daß der Feudalismus hier noch über eine gewaltige Macht
verfügte, daß das Großbürgertum entfernt nicht so reich und so
konzentriert war wie in Frankreich und England. Er sah, daß die
große Mehrheit der Lohnarbeiter hier nicht von modernen In-
dustriefürsten, sondern noch von kleinen Handwerkern abhing ; aber
auf diesen Stand und auf seine politische Vertretung, die demokra-
tische Partei, setzte er von Anfang an nur bescheidene Hoffnungen.
Doch auch in diesen wurde er noch enttäuscht. ,, Demütig und
kriecherisch unterwürfig unter einer starken feudalen oder monar-
chischen Regierung," schrieb er 1851 von der deutschen demokra-
tischen Partei, ,, wendet sie sich dem Liberalismus zu, wenn die
Bourgeoisie im Aufsteigen begriffen ist; sie wird von heftigen
demokratischen Paroxysmen ergriffen, sobald die Bourgeoisie für
sich die Herrschaft errungen hat, verfällt aber der jämmerlichsten
Verzagtheit, wenn die Klasse unter ihr, das Proletariat, eine selb-
ständige Bewegung wagt." Noch weniger Illusionen machte er sich
über die eigentliche Mehrheit der Bevölkerung des noch vorwiegend
agrarischen Deutschlands, über die kleinen Freibauern, feudalen
Hintersassen und Landarbeiter. Er war sich bewußt, daß sie von
den politischen Streitfragen noch völlig unberührt in die Revolution
eintraten, und daß solche Schichten überhaupt nur in Bewegung
zu setzen waren, wenn sie den einleitenden Anstoß von der kon-
zentrierteren, aufgeklärteren und beweglicheren Bevölkerung der
Städte erhielten.
Der letzte Abschnitt des Kommunistischen Manifests läßt er-
kennen, daß Engels und Marx im Beginn der Revolution ihre größte
Hoffnung auf die revolutionäre Entschiedenheit des Großbürger-
tums setzten. Von ihm erwarteten sie bestimmt, daß es mit den alten
autoritären Gewalten aufzuräumen nicht nach Jahrzehnten einer
neuen Revolution überlassen, sondern daß es gleich jetzt als der
einzige Gegner des Proletariats zurückbleiben würde.
Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen dieses
Die siebzehn Fordenmgen des Kommunistenbundes. 315
zeitweiligen Verbündeten, der aber dennoch sein natürlicher und
letzter Feind blieb, brauchte der Kommunistenbund bei der Auf-
stellung seiner Richtlinien nicht zu schonen. Soweit er für die Ziele, die
er verfocht, Zuzug aus dem Bürgertum erwartete, konnteer ihn sich
allein von den Kleinbürgern und den Bauern versprechen. Gleich die
erste der siebzehn Forderungen, daß Deutschland eine einzige um-
fassende unteilbare Republik werden müsse, setzte ihn ja in den
schärfsten Widerspruch zu der mit den großbürgerlichen Interessen
sich deutlich deckenden konstitutionellen Partei. Aber auch
mit dem meisten anderen, was hier verlangt wurde, konnte diese
Klasse sich unmöglich einverstanden erklären. Würde sie über
die allgemeine Volksbewaffnung, die völlige Trennung von Kirche
und Staat und die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Rechts-
pflege mit sich haben reden lassen, die entschädigungslose Aufhe-
bung aller Feudallasten, die Enteignung der großen Landgüter
hätten einen Präzedenzfall geschaffen, den sie nicht zulassen
durfte, und mit der Verstaatlichung der Transportmittel, der Berg-
werke und Banken hätte sie sich ins eigene Fleisch geschnitten.
Vollends undiskutierbar waren für sie die Gleichsetzung aller Be-
amtengehälter, die Beschränkung des Erbrechts, die Einführung
staatlicher Progressivsteuern, die Verstaatlichung der bäuerlichen
Hypotheken und Pachtzinsen, die Garantierung eines Existenz-
minimums an alle Arbeiter. Es liege im Interesse des deutschen
Proletariats wie des kleinen Bürger- und Bauernstandes, hieß es am
Schluß dieser von Engels mitunterzeichneten Kundgebung, mit
aller Energie an der Durchsetzung von Maßregeln zu arbeiten,
deren Verwirklichung den bisher in Deutschland von einer kleinen
Zahl ausgebeuteten Millionen das Recht und die Macht, die ihnen
als den Hervorbringern alles Reichtums gebührt, verleihen würde.
Engels brannte danach, das Vaterland, über dessen Rückständig-
keit er all die Jahre hindurch soviel gehöhnt und gewettert, nun,
da es sich endlich zum Kampf für die Freiheit erhoben hatte, wieder-
zusehen. Es verlangte ihn, alsbald mit den übrigen Mitgliedern des
Bundes in dem von der Zensur befreiten Deutschland vor aller
Öffentlichkeit für die Ideale seiner Partei in die Schranken zu
treten. Vorerst aber mußte er sich wie die anderen noch in Paris
gedulden, weil sich hier ihnen eine Aufgabe stellte, der sie sich
nicht entziehen wollten. Auch Tausende von den Deutschen, die bis
dahin in Frankreich eine Zuflucht oder ihre Nahrung gefunden hatten,
begehrten danach, in die Heimat zurückzukehren, die einen, weil
die französische Revolution sie brotlos gemacht hatte, die anderen
weil sie an der deutschen Revolution teilnehmen wollten. Froh,
solche die Unruhe vermehrenden Elemente auf gute Art loszuwerden,
31 6 J° ^^^ deutschen Revolution.
begünstigte die provisorische Regierung durch Gewährung von
Marschquartieren und Marschzulagen bis an die Grenzen die
Errichtung deutscher revolutionärer Legionen. Bornstädt, der
einstige Garde offizier, der ebenfalls Brüssel hatte verlassen müssen,
drängte sich an die Spitze und verbündete sich, da er, anrüchig
wie er war, eines populären, die Massen fortreißenden Namens be-
durfte, mit Georg Herwegh. Der gefeierte revolutionäre Dichter,
dessen Liederfrühling so schnell gewelkt war, prahlte damit, daß
seine Ungeduld den gemächlichen Parlamentstrab nicht einhalten
könne ; die Republik, die votieren zu lassen, er sich nicht begnügen
wolle, werde er zu machen suchen. Marx und Engels aber nahmen
die Verantwortung, welche eine solche Situation ihnen auflud,
ernster und wollten dem leichtfertigen Herwegh, dem es am meisten
darauf ankommen mochte, selbst wieder ein Lebendiger zu werden,
nicht gestatten, mit seiner Freischär lerromantik die revolutionäre
Sache zu kompromittieren. Mitten in die damalige Gärung Deutsch-
lands die Revolution von außen her in Gestalt einer Invasion hinein-
tragen, das hieß, wie Engels es später ausgedrückt hat, die Re-
gierungen stärken und die Legionäre wehrlos in die Hände der
Truppen liefern. Um möglichst viele Arbeiter vor solcher Lockung
zu bewahren, erwirkten die Kommunistenführer für die in die
Heimat verlangenden Mitglieder eines deutschen Klubs, den sie
zu diesem Ende stifteten, bei Flocon die gleichen Marschbegünsti-
gungen, die den Freischärlern gewährt werden sollten. Wirklich
beförderten sie so einige hundert Arbeiter nach Deutschland zurück,
darunter die große Mehrzahl der Bundesmitglieder.
Auf diese Weise wurde es Anfang April, bis Engels und Marx end-
lich der Heimat zueilen konnten. Noch in Paris hatten sie von einem
an Heß adressierten Brief Georg Jungs, Marx alten Gefährten aus den
Tagen der Rheinischen Zeitung, Kenntnis erhalten, der mit größter Be-
flissenheit ihnen riet, sich sofort in ihren Heimatstädten Trier und
Barmen um ein Mandat für die Berliner Nationalversammlung zu be-
werben. Obgleich er Marx aufrichtig bewunderte, wünschte Jung,
der sich selbst noch für einen Sozialisten hielt, die beiden Freunde,
deren rabiaten Radikalismus er nicht mit Unrecht fürchtete, von
den Rheinlanden fernzuhalten. Die Märzerrungenschaften hatten
hier wie fast überall in Preußen den demokratisch gesinnten Teil
des Bürgertums nicht minder berauscht wie den konstitutionellen.
Und nun hielt man es für verwegen und gefährlich, den König,
der sich so weitreichende Zugeständnisse abgerungen hatte, mit
immer weitergehenden Forderungen in die Enge zu treiben. Auch
der radikale Kölner Patrizier teilte diese Ansicht. Er war des Glau-
bens, daß Preußen mit einem Schlage ein „Königtum mit chartisti-
Rückkehr nach Deutschland. jiy
scher Grundlage" geworden wäre und als demokratischer Staat
England den Rang abgelaufen habe. Mit einem Erfolg von so
ungeheurer Tragweite wollte er sich vorläufig zufrieden geben.
Verkündeten aber Marx und Engels jetzt in Köln ihr Programm,
erwählten sie gar, wie Jung mit Recht vermutete, diese Stadt zum
Hauptquartier der kommunistischen Propaganda, so drohte hier
die Einheitlichkeit der freiheitlichen Bewegung, für die er fürchtete,
in die Brüche zu gehen.
Wie sich ihm die Situation damals darstellte, hat Engels drei
Jahre später in einer amerikanischen Zeitung geschildert. Das
Großbürgertum, gestand er hier, habe sich von Anfang an in einer
schwierigen Lage befunden. Wäre die preußische Revolution rein
aus sich heraus zu ihrer Reife gelangt und nicht im Schlepptau
jenes französischen Umsturzes, bei dem bereits das Proletariat mit
drohender Gebärde seine sozialen Forderungen auf den Straßen
verkündete, so hätte es, von den Massen weniger gedrängt, wahr-
scheinlich im Bunde mit dem Volke den Feudalismus restlos nieder-
geworfen. Nun hatte die Februarrevolution in Frankreich gerade
jene Regierungsform gestürzt, welche das preußische Großbürger-
tum im eigenen Lande aufzurichten beabsichtigte. Und als dieses
jetzt in Paris an der Spitze der Regierung Männer wahrnahm,
die ihm als gefährliche Gegner von Eigentum., Ordnung, Religion
und Familie erschienen, da kühlte sich seine revolutionäre Glut
schnell ab, und es suchte Rettung vor diesem gefährlicheren Feind
in einem Kompromiß mit der Monarchie. Wir alle begreifen heute, in
welchem Umfang diese Konstellation dem deutschen Bürgertum,
dem großen, aber auch dem kleinen, zum Verhängnis geworden ist.
Auch Engels hatte diese Wirkung der Pariser Februartage, die freilich
erst nach den Junitagen voll in die Erscheinung trat, damals nicht
vorausgesehen. Wenn das Kommunistische Manifest betonte,
daß die deutsche bürgerliche Revolution nur das unmittelbare
Vorspiel einer proletarischen Revolution sein könne, so war das in
der sicheren Erwartung geschrieben, daß es vorher dem Großbürger-
tum restlos gelungen sein würde, die reaktionären Klassen in
Deutschland zu stürzen. Nun aber vernahm Engels den Angstruf der
Klasse, in der er den wichtigsten Träger der ausgebrochenen Re-
volution sah, über den Henker, der vor der Tür lauerte, früher als
ihm erwünscht sein konnte. Noch bevor er den Boden der Heimat
betreten hatte, sagte ihm und Marx jener Brief Jungs, wie es tat-
sächlich um die Stimmung des Bürgertums in den Rheinlanden
bestellt war. Und so erfuhren sie, daß in dem gleichen Preußen,
wo noch eben das Blut der Bürger auf den Barrikaden geflossen
war, das Wort Republik dem rheinischen Bourgeois mit „Raub,
QlS In der deutschen Revolution.
Mord und Einfall der Russen" identisch und das Wort Kommunis-
mus zum wahren Popanz geworden war.
Jung übertrieb keineswegs, wenn er dies schrieb. Als der
Russe Bakunin im April durch Köln reiste, beobachtete er, daß
die Bourgeoisie „verzweifelt die Republik verwerfe", und der ge-
treue Dronke berichtete im Mai aus Frankfurt, daß man fast ge-
steinigt würde, wenn man sich als Kommunisten bekenne. Wer
wie Radowitz oder gar wie Metternich rechts stand, fürchtete schon,
daß selbst eine konstitutionelle Monarchie notwendig zur kom-
munistischen Republik führen müßte. Doch keine Lockungen und
keine Abmahnungen hätten die beiden rheinischen Revolutionäre
in dem Entschluß wankend machen können, ihre Wirksamkeit jetzt
in die Hauptstadt des von der französischen Revolution geformten
und „in jeder Beziehung" damals fortgeschrittensten Teils Deutsch-
lands zu verlegen. Sie lockte nicht die preußische Residenz „mit ihrem
maulfrechen, aber tatfeigen kriechenden Kleinbürgertum" und
ihren „noch total unentwickelten Arbeitern". Auch bestimmte sie
dabei keineswegs so entscheidend, wie Engels später wohl behauptet
hat, die Erwägung, daß nach dem Code Napoleon Pressevergehen
vor die Geschworenen gehörten, von denen bei der damaligen
Volksstimmung niemals eine Verurteilung zu befürchten, während
nach dem preußischen Landrecht der Berufsrichter zuständig war.
Denn dies würde höchstens erklären, weshalb sie verschmähten,
neben der Zeitungshalle eines Gustav Julius, neben Ruges Reform
und Helds Lokomotive um die Gunst der Spreephilister zu werben,
nicht aber, weshalb es sie nicht reizte, in der konstituierenden Ver-
sammlung den Leuchten der bürgerlichen Demokratie, einem
Waldeck und Jacoby, den Rang abzulaufen und gleichzeitig zum
erstenmal von einer europäischen Parlamentstribüne die Stimme
der revolutionären Sozialdemokratie ertönen zu lassen. Hätte die
Natur einen von ihnen mit jener angeborenen Rednergabe begna-
digt, die den mit ihr Beschenkten so oft in ihr Werkzeug verwan-
delt, so wäre er vielleicht der Versuchung erlegen, nach dem Lor-
beer eines preußischen Mirabeau zu trachten. So aber konnten
sie sich ganz nüchtern die Frage vorlegen, von welcher Stelle aus
sich am nachdrücklichsten und erfolgreichsten für die Ausbreitung
ihrer Ideen wirken ließ. In Berlin hätten sie, ohne Fühlung mit
dem durch seine lange politische Rückständigkeit ihnen unsym-
pathischen Geist der Bevölkerung, befürchten müssen, bei den
Massen keinen Boden und, angesichts des überwiegend agrarischen
Charakters der Monarchie, in der Versammlung selbst nicht den
kleinsten Anhang zu finden. In der Rheinprovinz lagen die Dinge
für sie günstiger! Sie durften es verschmerzen, wenn sie die Ban-
Köln oder Berlin?
319
kiers und die Getreidehändler Kölns durch die Agitation, die sie
entfalten wollten, dahin trieben, das Bündnis mit der Reaktion als
das kleinere Übel anzusehen. Mit der Feindschaft dieser Kreise
hatte ihre Partei unter allen Umständen zu rechnen. Um so stärker
hofften sie auf das Kleinbürgertum und die Bauern ihrer heimat-
lichen Provinz, sofern es ihnen gelang, hier, wo sie den Boden so
genau kannten und über zahlreiche Verbindungen und eine wenn
auch nur erst winzige Anhängerschaft verfügten, eine neue Rhei-
nische Zeitung ins Leben zu rufen, die nicht mehr wie die alte nur
durch die Blume reden, sondern unter dem Schutz der endlich er-
rungenen Pressefreiheit mit offenem Visier die Forderungen der
radikalen Demokratie verkünden konnte. Als sie jetzt in Köln
eintrafen, fanden sie Bestrebungen, ein großes demokratisches
Blatt ins Leben zurufen, bereits im Gange. Jungs Brief zeigte uns
schon, wie sehr es den Männern, die dabei an der Spitze standen,
gegen den Strich gehen mußte, ihr vornehmlich auf die lokalen
und provinziellen Verhältnisse berechnetes Projekt durch das Ein-
greifen der vom Ausland heimkehrenden Kommunistenführer in
einen programmatisch erweiterten. Gefahren bergenden Rahmen
hereinziehen zu lassen. Doch kein Sperren und Sträuben half ihnen.
„In vierund zwanzig Stunden" erzählt Engels, „hatten wir, nament-
lich durch Marx das Terrain erobert, das Blatt ward unser".
Wie sie aber nun unverzüglich daran gingen, die für das Unter-
nehmen erforderlichen Mittel in den mit Besitz gesegneten Bürger-
kreisen der Stadt und der Provinz aufzutreiben, da zeigte sich ihnen
alsbald, wie richtig Jung die Gesinnungen der heimischen In-
dustriellen und Großkauf leute geschildert hatte. In der zweiten
Hälfte des April finden wir Engels in Barmen, Marx in Köln in
dieser Richtung bemüht. Mochten sie selbst die mit der Demokratie
sympathisierenden Geldgeber, bei denen sie anklopften, über den
umstürzlerischen Charakter ihrer wahren Bestrebungen im Dun-
keln lassen, so trat ihnen auch ohnedies überall der Wunsch ent-
gegen, bald wieder unter beruhigten Verhältnissen geschäftliche
Abschlüsse machen zu können, und selten nur die Neigung, Bestre-
bungen zu unterstützen, die der Regierung noch weitere Zugeständ-
nisse abpressen wollten. Am schlimmsten erging es ihnen natürlich,
wo man von ihren sozialen Ansichten und Absichten Wind be-
kommen hatte. ,,Die Leute scheuen sich alle wie die Pest vor der
Diskussion der gesellschaftlichen Fragen; das nennen sie Aufwiegelei.
Wenn ein einziges Exemplar unserer 17 Punkte hier verbreitet
würde, so wäre hier alles verloren für uns. Die Stimmung bei den
Bourgeois ist wirklich niederträchtig . . . Der Elberfelder politische
Klub erläßt Adressen an die Italiener, spricht sich für direkte Wahl
320
In der deutschen Revolution.
aus, aber weist jede Debatte sozialer Fragen entschieden ab, ob-
wohl unter vier Augen die Herren gestehen, diese Fragen kämen
jetzt an die Tagesordnung." Selbst die radikalen Bourgeois, heißt
es in dem gleichen Brief, worin Engels dem Freunde über seine
geringen Erfolge in den beiden Wupperstädten berichtete, sähen
in ihnen ihre zukünftigen Hauptfeinde und scheuten sich, eine Waffe
schmieden zu helfen, die sich bald gegen sie selbst kehren würde.
Marx hatte von Engels gefordert, daß er auch seinen streng kon-
servativen Vater um die Übernahme von Zeitungsaktien ersuchen
sollte. Aber für Friedrich Engels senior war schon die Kölnische
Zeitung ein Ausbund von Wühlerei. „Statt tausend Talern," klagte
der Sohn, „schickte er uns lieber tausend Kartätschenkugeln auf
den Hals." Etwas größere Erfolge als Engels in Elberfeld und
Barmen, wo die dominierenden Pietistenfamilien selbst jetzt noch
einem ,,gottesfürchtigen Servilismus" huldigten, hatte inzwischen
in Köln Marx erzielt. Immerhin wurde es der erste Juni, bis, auch
jetzt noch auf unzureichender und unsicherer finanzieller Grund-
lage, die erste Nummer der Neuen Rheinischen Zeitung erscheinen
konnte. In der Zwischenzeit hatte Engels das Kommunistische
Manifest ins Englische übertragen und die Gründung einer Bundes-
gemeinde im Wuppertal eingeleitet. Jetzt siedelte er ebenfalls nach
Köln über, wo das Komitee des Kommunistenbundes seinen Wohn-
sitz aufgeschlagen hatte. Dieser wollte die neue Versammlungs-
und Preßfreiheit ausnutzen, um von der Rheinischen Metropole her
die Gedanken und Gesinnungen des Manifests so weit wie irgend
m.öglich in die Massen des Volkes hineinzutragen. Bewährte Männer
wie Schapper und Moll setzten sich die Aufgabe, das Rheinland
und Westfalen mit einem engmaschigen Netz von Arbeitervereinen
zu umspannen. Sie stellten ihre Hauptkraft der kommunistischen
Agitation unter den rheinischen Arbeitern zur Verfügung, während
Engels und Marx ihre Gedanken in erster Linie auf das Vor-
wärtstreiben der europäischen Revolution richteten. An der noch
so rückständigen deutschen Arbeiterbewegung, von der ein ent-
scheidender Impuls damals nicht zu erwarten war, nahmen sie
persönlich während der ganzen Revolutionszeit keinen tätigen
Anteil, sie bezeugten ihr nicht einmal ein stärkeres Interesse. So
konnte an ihrer Statt ihr Schüler, der dreiundzwanzigjährige Stefan
Born, die Seele der Bestrebungen werden, die auf eine organisa-
torische Zusammenfassung des ganzen deutschen Proletariats hin-
zielten. Born hat sich später nicht ganz ohne Grund darüber be-
schwert, daß Engels ihn damals, ohne ihm ein Zeichen des Mißfallens
kundzugeben, ruhig gewähren ließ, während er viel später seine
rührigen Bemühungen mit kühler Kritik abfertigte. Dennoch über-
Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung. 321
treibt er, wenn er behauptet, jener habe ihm nicht verzeihen
können, daß er die Verbrüderung gründete, ohne vorher bei ihm
Verhaltungsbefehle einzuholen.
In der Redaktionsstube der Neuen Rheinischen Zeitung hatte
sich ein Stab glänzender journalistischer Begabungen zusammen-
gefunden, ,,um das radikalste abes auch geist- und temperament-
vollste publizistische Unternehmen der ersten deutschen Revolution
ans Licht zu rufen". Noch der siebzigjährige Engels erinnerte sich
mit Wohlgefallen der Lust, die ihm die Mitarbeit an der Tages-
presse in jener bewegten Zeit bereitet hat, wo die Wirkung eines
jeden Wortes sich deutlich vor Augen sehen ließ. Und voll Stolz
rühmte der alte Kanonier, daß die Artikel förmlich einschlugen, als
wären sie Granaten, und wie die Sprengladung platzte. Hier wurden
jetzt zum erstenmal in der Geschichte die Vorgänge in und außer-
halb der deutschen Grenzen unter dem Gesichtspunkt der Interessen
des internationalen revolutionären Proletariats einer scharfen Be-
leuchtimg unterworfen. Um Marx, dessen überlegnem Geist alle
Gefährten sich willig unterordneten, als Chefredakteur, sammelten
sich Friedrich Engels, Wilhelm und Ferdinand Wolff, Ernst Dronke,
Georg Weerth. Von Heinrich Bürgers, den man nicht ganz frei-
willig in diesen Stab eingereiht hatte, ging eine Wirkung nicht
aus, eine um so gewaltigere aber von Ferdinand Freiligrath,
der die Leitartikel der Neuen Rheinischen Zeitung in zündende,
aus der ersten in die zweite deutsche Revolution hinüberhallende
Strophen umdichtete. Er trat aber in die Redaktion erst ein, als
Engels im September 1848 ihr zeitweilig den Rücken kehren mußte.
Übrigens wurde die Politik des Blattes keineswegs durch Redak-
tionskonferenzen in einem kollegial demokratischen Geiste ge-
leitet, sie unterstand vielmehr, wie Engels bezeugt, der unbestrit-
tenen Diktatur des JMarxschen Genius. War Marx abwesend, so
sollte Engels ihn vertreten, aber nicht mit der gleichen Selbst-
verständlichkeit wie jenem ordneten sich ihm die Kollegen unter.
Marx widmete seine ständige Arbeit der deutschen Politik. Hier
verfolgte er mit seiner tiefbohrenden Analyse, welche die kühle
Überlegenheit der die parlamentarischen Vorgänge nicht über-
schätzenden Beobachtung mit der Leidenschaft des um das Schicksal
der Revolution besorgten Kämpfers vereinigte, das ganze Auf und
Ab der deutschen und preußischen Verfassungsbewegung und das
Spiel und Gegenspiel der revolutionären und gegenrevolutionären
Kräfte. Engels war durch seine Sprachbegabung und seine gute
Kenntnis ausländischer, zumal westeuropäischer Zustände be-
sonders berufen, vom Standpunkt der jungen Partei aus den Ver-
lauf der Revolution in den andern Ländern zu verfolgen. Die eine
Mayer, Friedrich Engels. Bd.I 21
322
In der deutschen Revolution.
Aufgabe war so wichtig wie die andere. Die enge Verflochtenheit
der inneren und der äußeren Politik der Staaten brauchte für En-
gels und Marx nicht erst entdeckt zu werden, und auch darüber
bestand den beiden Freunden kein Zweifel, daß das Schicksal der
europäischen Revolution sich nicht in den einzelnen Ländern un-
abhängig von den anderen entschied.
Bei diesem eng verbundenen Wirken für eine gemeinsame
Aufgabe, die an jeden Tag Forderungen stellte, die keinen Auf-
schub duldeten, zeigte sich ihnen immer von neuem, in wie seltenem
Maße ihre Naturen sich ergänzten. Selbst von mancherlei Hem-
mungen und Schwankungen der Stimmung geplagt, bewunderte
Marx, wie Engels, „arbeitsfähig zu jeder Stunde des Tages und der
Nacht, voll oder nüchtern, im Schreiben quick und unvergleichlich
rasch in der Auffassung" seine Artikel aufs Papier schleuderte, wie
leicht und sicher er die englischen und französischen, die belgischen
und dänischen, die italienischen, spanischen und österreichischen
Blätter überwachte und mit wie unheimlicher Schnelligkeit er das
herangeholte Material ihren gemeinsamen großen Gesichtspunkten
dienstbar zu machen wußte. Weil aber ihm selbst diese den Tages -
Schriftstellern so nötige Begabung abging, mußte Marx, wenn er,
was öfter vorkam, einen ganzen Tag über einem Artikel gehockt
und sich beim Ziselieren der Sätze nicht hatte genug tun können,
sich von dem Freunde den Vorwurf, der ihn nicht verletzen konnte,
gefallen lassen, daß er zum Journalisten nicht geboren sei. Dafür
erwies er sich freilich als der überlegene politische Stratege. Wo
Engels sich leichter hinreißen ließ, eine Situation so zu bewerten,
wie es seinen eigenen Wünschen am besten entsprach, da bewahrte
Marx die größere Kühle und Sicherheit seines Urteils vor übereilten
Schlüssen. Den ,, Überblick, mit dem er im gegebenen Moment, wo
rasch gehandelt werden mußte, stets das Riditige traf und sofort
auf den entscheidenden Punkt losging" vermißte Engels bei sich
selbst. In ruhigen Zeiten, gestand er später, sei es wohl vorgekom-
men, daß die Ereignisse einmal auch ihm Marx gegenüber recht
gegeben hätten, „aber in revolutionären Momenten war sein Urteil
fast unanfechtbar." In der Hitze des täglichen Kampfes bewährte
sich ihr Bündnis ebenso wie vorher bei dem Aufbau ihrer neuen
Geschichtsauffassung, deren Tragkraft es nun zum erstenmal an
einer großen weltgeschichtlichen Situation zu erproben galt. Ihre
in den Jahren des Exils begründete Werk- und Kampfgemeinschaft
erhielt in der deutschen Revolution die Feuertaufe.
Die Geschlossenheit und Einheitlichkeit, die sich in der Hal-
tung der Neuen Rheinischen Zeitung von ihrer ersten bis zu ihrer
letzten Nummer kund gibt, ihre überzeugte und bewußte Zusam-
Die Haltung der Neuen Rheinischen Zeitung. 323
menfassung der Probleme der inneren und der internationalen
Politik, am meisten aber die intime, keine schematische Arbeits-
teilung gestattende Ideen- und Lebensgemeinschaft der beiden
führenden Redakteure machen es dem Biographen nahezu
unmöglich, den Engelsschen Anteil an der Gesamtleistung der Re-
daktion mit Genauigkeit herauszuschälen. Von einigen wichtigen
Artikeln über die östlichen Probleme bezeugt er uns selbst, daß er sie
geschrieben habe, aber sogar bei diesen ist, ähnlich wie um.gekehrt
bei m.anchen zweifellos von Marx verfaßten, anzunehmen, daß sie
den Gegenstand im voraus gemeinsam durchgesprochen haben.
Müssen wir hier also auch die Auslandspolitik, die Engels als seine
eigentliche Domäne betrachtete, in den Vordergrund rücken, so
können wir uns darum doch der Aufgabe nicht entziehen, die Ge-
samthaltung der Neuen Rheinischen Zeitung mit einigen Strichen
zu umschreiben.
Als im Juni ihre erste Nummer herauskam, hing für das frei-
heitlich gesinnte deutsche Bürgertum der Himmel noch voller
Geigen. Es waren kaum vierzehn Tage verflossen, seitdem die
konstituierenden Parlamente in Frankfurt und in Berlin sich
zum ersten Male versammelt hatten, und die große Masse des Volkes,
politisch ungeschult wie sie war, erhoffte noch die sonnigste Zu-
kunft, versprach sich noch die goldensten Berge von dem Ergebnis
der Beratungen. Den wenigsten erst dämmerte die Erkenntnis, daß
die Gewalt der öffentlichen Meinung die Gewalt der Waffen nicht
ersetzen könnte, und wie zähe die Lebenskraft, wie ungebrochen
das Machtverlangen der nur in vorübergehender Betäubung da-
liegenden alten historischen Gebilde noch war. Als daher jetzt die
Neue Rheinische Zeitung in der vollendeten Unbekümmertheit, die
sie sich zum Grundsatz m.achte, damit begann, das von der liberalen
Presse in die Wolken gehobene junge Parlament in der Paulskirche
mit Geringschätzung und Spott zu behandeln und es ein gelehrtes
Konzil nannte, da kostete diese Offenherzigkeit sie sogleich die
eine Hälfte ihrer mühsam zusammengetrommelten Aktionäre, die
andere Hälfte aber kehrte ihr den Rücken, wie sie, beinahe die
einzige Zeitung Deutschlands, sich unterfing, die Junirevolution des
Pariser Proletariats zu verherrlichen. Um ihr Werk nicht im
Stiche lassen zu müssen, und daran dachten sie keinen Augenblick,
entschlossen sich da die Redakteure, auf ihre Gehälter zu verzichten.
Am Ende hat dann Marx den Rest seines kleinen Vermögens hin-
gegeben, um die Schulden des Blattes zu tilgen.
Getreu ihrem republikanischen und streng unitarischen Pro-
gramm, das sie von der zumeist föderalistisch gesinnten kleinbürger-
lichen Demokratie trennte, mißbilligte die Neue Rheinische Zeitung,
21*
224 ^^ ^^^ deutschen Revolution.
daß das Frankfurter Parlament nicht sofort entschlossen alle Brücken
zur Vergangenheit abgebrochen, die Volkssouveränität verkündet
und für sich das Recht in Anspruch genommen hatte, die faktisch
bestehenden Zustände diesem Prinzip gemäß umzugestalten. Am
stärksten verargte sie ihm, daß es keine Vorkehrungen traf, um
die Errungenschaften der Revolution sicherzustellen. Denn was
nützten die Beratungen über die beste Verfassung, wenn die Re-
gierungen indessen die Bajonette auf die Tagesordnung setzten ? Das
Blatt sah eine Schwäche der revolutionären Sache schon darin, daß
zum erstenmal in der Weltgeschichte die konstituierende Ver-
sammlung einer großen Nation nicht auf dem feuerspeienden
Boden der Hauptstadt tagte, nicht von deren revolutionären Massen
vorwärts getrieben wurde. Dennoch hätte es diesen Nachteil für
überwindbar gehalten, wofern das Parlament, anstatt den Aus-
gangspunkt der revolutionären Bewegung mit ihrem Zielpunkt zu
verwechseln, sich zum Zentralorgan der revolutionären Bestrebungen
gemacht und gegen die Einzelregierungen den Kampf auf Leben
und Tod aufgenommen hätte. Der strategische Leitgedanke bei
Marx und Engels war jetzt, daß es darauf ankäme, den Krater
längere Zeit in Tätigkeit zu erhalten, weil die Hauptziele der bür-
gerlichen Revolution, die staatliche Einigung und die Demokrati-
sierung des Landes, erst recht aber ihre eigenen noch weiter schwei-
fenden Hoffnungen, nur in entscheidenden inneren Kämpfen im
Zusammenhang mit einem Volkskrieg des revolutionären gegen das
reaktionäre Europa der Verwirklichung zuzuführen wären.
Weil sie sich jedoch bewußt blieben, daß der deutsche Klein-
bürger sich aus dem schlaffen und beschränkten Philister, der er
bis zum März gewesen war, nicht mit einem Male in einen Jako-
biner verwandelt haben könnte, betonten sie die Notwendigkeit,
daß ebenso wie die Staaten auch die Staatsbürger erst revolutioniert
werden müßten. Was nützte es, daß sich in Preußen, dessen Auf-
lösung in Deutschland sie forderten, das Volk in blutigen Barri-
kadenkämpfen , .faktisch" die Souveränität errungen hatte? Die
Monarchie war trotzdem nicht gestürzt worden, und als das Groß-
bürgertum vorübergehend ans Ruder gelangte, hatte es aus Furcht
vor den Massen sich mit Adel und Bureaukratie verständigt und,
um die Revolution am Weiterschreiten zu hindern, der Volks-
souveränität die Vereinbarungstheorie entgegengestellt. Schon im
Juni bei Camphausens Rücktritt rechnete die Neue Rheinische
Zeitung mit der Möglichkeit, daß der von diesem ins Land zurück-
gerufene Prinz von Preußen, der Chef der Konterrevolution, das
neue Ministerium bilden und mit seiner im dänischen und pol-
nischen Krieg und in vielen kleinen Konflikten zwischen Militär
Stellungnahme in der inneren Politik. 325
und Volk zu einer brutalen Soldateska ausgebildeten Armee, auf
russische Bajonette gestützt, das Bombardement von Prag in
rheinischen Städten wiederholen könnte. Marx und Engels hofften
freilich, wenn sie es auch noch nicht so unverblümt sagen durften,
daß in solcher Lage das übrige Deutschland gegen die preußische
Regierung aufstehen und selbst ein Teil der preußischen Pro-
vinzen, voran die Rheinlande, sich auf die deutsche Seite stellen
würden. Sogar die Möglichkeit eines preußischen Bauernkrieges
zogen sie in Erwägung für den Fall, daß eine reaktionäre Regierung,
statt die Feudallasten abzuschaffen, sie zu verewigen trachten
würde. Als es sich dann erwies, daß das Großbürgertum zunächst
von der Krone noch nicht wieder abgehalftert werden konnte,
brandmarkte Marx das Ministerium Auerswald -Hansemann sofort
als den Platzhalter der Reaktion. Und aus der Art, wie dieses
,, Ministerium der Tat" die Regelung der gutsherrlich -bäuerlichen
Verhältnisse in Angriff nehmen wollte, zog er die Folgerung, daß
das deutsche Großbürgertum drauf und dran wäre, die Bauern zu
verraten, obgleich es einsehen müßte, daß es ohne ihre Bundes-
genossenschaft dem Adel gegenüber machtlos sein würde. Marx
nannte es eine Unmöglichkeit, die Revolution im Prinzip anzu-
erkennen, in der Praxis aber die Konterrevolution zu vollziehen.
Wolle das Großbürgertum sich wirklich die Herrschaft erkämpfen,
so müsse es das Bündnis mit den breiten Volksmassen wenigstens
so lange aufrecht erhalten und mehr oder minder demokratisch
auftreten, wie es noch mit den Überresten des alten Polizei- und
Feudalstaats, mit dem Krautjunkertum und der Soldaten- und
Beamtenherrschaft, im Kampf stünde. Vor dem endgültigen Siege
über den Feudalismus das Volk beiseite schieben, hieße die Qua-
dratur des Zirkels versuchen.
Das Urteil der Neuen Rheinischen Zeitung über den Verlauf
der Ereignisse in den anderen europäischen Staaten und über die
Fülle wirklicher und möglicher Machtkonflikte, die sich im Zu-
sammenhang mit der Revolution an der ganzen Peripherie Groß-
deutschlands auftaten, entsprach durchaus der Forderung des
Manifests, daß die Kommunisten überall jede revolutionäre Bewe-
gung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zu-
stände unterstützen sollten. Ihre Auslandspolitik unterschied sich
grundsätzlich von der aller anderen Parteien: von jener der Kon-
stitutionellen, weil sie statt nationalpolitisch klassenpolitisch orien-
tiert war, von jener der bürgerlichen Dem.okratie, weil sie mehr
auf die Macht als auf den Zauber ideologischer Schlagworte ver-
traute, von jener der Rechten, mit der sie die Hochwertung des
Machtfaktors gemeinsam hatte, weil sie alle Verhältnisse umgekehrt
326 In der deutschen Revolution.
einschätzte und hoffte, wo jene fürchtete, und fürchtete, wo jene
hoffte. Nun hieße es jedoch die Dinge verkennen, wollten wir an-
gesichts der Art von Auslandspolitik, die in den Spalten der Neuen
Rheinischen Zeitung betrieben wurde, nach allem, was wir schon
wissen, noch der Fragestellung einen Sinn zugestehen, ob diese
sich damals von doktrinären oder von ,, machtpolitischen" Erwä-
gungen leiten ließ. Engels selbst hätte mit vollem Recht niemals
eingeräumt, daß die Urteile und die Taktik, die in meinen Artikeln
hervortraten, eine solche Scheidung zuließen. Wer so fest über-
zeugt blieb, daß der Gang der Entwicklung mit seinem Ideal im
Bunde war, bedurfte keiner „Realpolitik". Denn die Berücksichti-
gung der realen, insbesondere der ökonomischen Faktoren bildete
das Fundament, auf dem sich sein Urteil über die vollendeten, die
sich vollziehenden und sich vorbereitenden geschichtlichen Vor-
gänge aufbaute. In der „eisernen Wirklichkeit" erblickte er auch
die Herrin über alle „moralischen Kategorien". So angesehen war er
Realpolitiker und hat gemeinsam mit Marx weit stärker, als vielen
zünftigen Beurteilern in Deutschland bis vor kurzem noch deutlich
wurde, dahin mitgewirkt, daß der politische Blick unseres Volkes,
gleichviel ob es ihm zum Glück oder zum Unglück ausschlug, sich
aus den Wolken der Erde zuwandte. „Der Ideologe denkt und der
Krämer lenkt" schrieb die Neue Rheinische Zeitung, als die große
Polendebatte in der Paulskirche ihr die Gelegenheit lieferte, um
mit der , .ideologischen Naivität" Ruges abzurechnen, der die Völ-
ker ins Blaue hinein verbrüdern wolle. Ebenso wie Marx, der es
in seiner Londoner Rede in schärfster Fassung ausgesprochen hatte,
war Engels überzeugt, daß die Verbrüderung der Völker so lange eine
Phrase bleiben werde, wie die kapitalistischen Eigentumsverhält-
nisse, unter denen die Völker sich mit Notwendigkeit gegenseitig
ausbeuteten, fortbestünden. Trotzdem blieb es unvermeidlich, daß
die Doktrin, die sie beide aus ihrer starken Berücksichtigung der
ökonomischen Kräfte gewannen, wo es auf die Bewertung der
einzelnen Situationen ankam, ihnen Schlingen legte. Feurig, san-
guinisch, jung, wie sie waren, und noch unbelehrt durch die große
Enttäuschung, der sie entgegengingen, mußten sie damals in
reichem Maße politisches Lehrgeld bezahlen, weil sie das Tempo,
in dem geschichtliche Vorgänge sich vollziehen, noch viel zu schnell
nahmen und Hemmungen, Widerstände und Gegenströmungen zu
niedrig einschätzten.
Die Neue Rheinische Zeitung hoffte anfänglich, daß die deutsche
Revolution das Kraftwerk werden möge, das den revolutionären
Energien in den anderen Ländern den stärksten elektrischen Strom
zuführen sollte. Dafür aber hing sehr viel davon ab, wie die neu
Die Unbeliebtheit der Deutschen im Ausland. 327
entstehende Zentralgewalt sich zu den Freiheitsbestrebungen jener
Fremdvölker stellte, die an die beiden deutschen Großmächte an-
grenzten und zum Teil ihnen Untertan waren. Für Engels war es,
wie wir schon hörten, ausgemacht, daß das um seine innere Freiheit
ringende Deutschland sich den Freiheitswünschen anderer Völker
selbst dort nicht in den Weg stellen durfte, wo diese Befreiung
eine Verkleinerung des den deutschen Staaten angegliederten Ge-
biets zur Folge hatte. Und für gleich unumgänglich hielt er es,
daß das revolutionäre Deutschland endgültig mit den Praktiken
und Methoden der alten Diplomatie brach, die dem deutschen Volk
bei den anderen Völkern den Ruf eingetragen hatten, daß es überall
der Träger und Scherge der Reaktion sei.
Unter diesem Vorwurf hatten die Deutschen, die im Ausland
lebten, besonders zu leiden gehabt; deutsche Republikaner wie
Wirth und Venedey hatten ihn schon in den dreißiger Jahren auf-
genommen, wir begegnen ihm auf dem Hambacher Fest und in den
Spalten des Geächteten. Auch Engels ist überzeugt, daß die
Deutschen seit etwa siebzig Jahren den anderen Völkern gegenüber
eine schwere Schuld auf sich geladen hätten, die sie nur sühnen
könnten, v/enn sie mit ihrer Revolution dem übrigen Europa im
Freiheitskampf voranschritten. Deutsche Söldner hätten für eng-
lisches Gold die Unabhängigkeit der Amerikaner bekämpft, deutsche
Truppen hätten sich ,,wie eine tolle Meute" gegen die französische
Revolution hetzen lassen, in Holland, in der Schweiz, in Ungarn,
in Portugal hätte man die Deutschen als die Scharfrichter der Frei-
heit hassen gelernt. ,,Und die Kongresse nach 1815, Österreichs
Züge nach Neapel, Turin, der Romagna, Ypsilantis Haft, Frank-
reichs Unterdrückungskrieg gegen Spanien von Deutschland er-
zwungen, Don Miguel, Don Carlos von Deutschland unterstützt —
die Reaktion in England mit hannoverschen Truppen bewaffnet,
Belgien durch deutschen Einfluß zerstückelt und thermidorisiert,
im tiefsten Innern von Rußland Deutsche die Hauptstütze des
Einen und der kleinen Autokraten — ganz Europa mit Koburgern
überschwemmt! Mit Hilfe deutscher Soldateska Polen beraubt, zer-
stückelt, Krakau gemeuchelt. Mit Hilfe deutschen Geldes und
Blutes die Lombardei und Venedig geknechtet und ausgesogen,
mittel- und unmittelbar in ganz Italien jede Freiheitsbewegung
durch Bajonett, Galgen, Kerker und Galeeren erstickt." Die Fran-
zosen, behauptet Engels, hätten sich, selbst da, wo sie als Feinde
kamen, Anerkennung und Sympathie zu erhalten gewußt. Die
Deutschen würden nirgends anerkannt, fänden nirgends Sym-
pathien. Sogar wo sie als großherzige Freiheitsapostel aufträten,
stoße man sie mit bitterem Hohn zurück. Er aber findet dies ge-
328 In der deutschen Revolution.
rechtfertigt. Eine Nation, die sich in ihrer ganzen Vergangenheit
zum Werkzeug der Unterdrückung gegen alle anderen Nationen
hätte gebrauchen lassen, eine solche Nation müsse erst beweisen,
daß sie wirklich revolutioniert sei. Nun verriet jedoch die Auslands-
politik, die in Frankfurt oder gar in Berlin und Wien seit der Re-
volution betrieben wurde, der Neuen Rheinischen Zeitung in keiner
Weise, daß man sich fortan von neuen, die Unabhängigkeit der
anderen Nationen grundsätzlich anerkennenden, Gesichtspunkten
leiten lassen wollte. Das revolutionierte Deutschland, so schrieb
Engels im Juni 1848 auf die Kunde, daß Windischgrätz Prag bom-
bardierte, hätte zugleich mit seiner eigenen Freiheit die Freiheit der
von ihm bisher unterdrückten Völker proklamieren müssen. Statt
dessen habe es durch seine Soldateska bloß die alte Unterdrückung
Italiens, Polens und nun auch Böhmens ratifiziert. Aber Restau-
rationskriege seien mit Revolutionen unvereinbar. Deutschland
könne sich selbst nur in dem Maße befreien, wie es die Nachbar-
völker freigebe. Wie der gemeinsame Raub an Polen die Staaten
der heiligen Allianz zusammengekettet und der europäischen Reak-
tion ihre festeste Stütze verliehen habe, so werde von der polni-
schen Revolution die demokratische Gestaltung der internationalen
Verhältnisse ihren Ausgangspunkt nehmen.
Die ,, schäbige Rolle", die Deutschland ,,dank seinem Adel und
seiner Bürgerschaft, dank seiner verkümmerten industriellen Ent-
wicklung" in der Geschichte gespielt habe, wollte Engels auch einige
Monate später, im Februar 1849 nicht beschönigen. Noch immer
möchte er ,,den schmählichen Anteil der Deutschen an den schmäh-
lichen Kriegen gegen die französische Revolution von 1792 bis
1815", an der Unterdrückung Italiens und Polens seinem Volk nicht
verzeihen. Aber wir finden ihn nun doch beeinflußt durch die
Tatsache, daß die slawischen Völker Österreichs sich inzwischen
endgültig der Gegenrevolution verschrieben hatten, daß die Heere
Diebitschs und Paskiewitschs ausschließlich slawische Heere ge-
wesen waren, daß Windischgrätz gegen Prag hauptsächlich slawische
Truppen verwandt hatte und daß die Armeen der Österreicher, die
sich in Italien zur Unterdrückung am besten gebrauchen ließen und
deren Brutalitäten den Deutschen zur Last gelegt wurden, aus Slawen
zusammengesetzt waren. Jetzt verbarg er sich auch nicht länger
mehr, daß selbst in den Jahren 1792 bis 1815 hinter den Deutschen,
die sich gegen die französische Revolution als Söldner und Avant-
garde gebrauchen ließen, Rußland und England gestanden hatten.
Die internationale Politik der Neuen Rheinischen Zeitung,
deren hauptsächlicher Wortführer Engels war, mündete bekannt-
lich in die Forderung nach einem deutschen Volkskrieg gegen Ruß-
Für einen deutschen Volkskrieg gegen Rußland. 329
land. Erst in einem solchen Kriege, der die Nation zur straffsten
Zentralisierung ihrer Kräfte treiben würde, erblickte Engels den
vollständigen, offenen und wirklichen Bruch mit jener schmach-
vollen Vergangenheit, den einzigen möglichen Weg, Deutschlands
Ehre und Interessen gegenüber seinen slawischen Nachbarn, na-
mentlich gegenüber den Polen, zu retten.
Noch andere wichtige Beweggründe halfen Engels über das
Bedenken hinweg, daß er die deutsche Revolution auf eine so
gefahrenreiche Bahn hinzudrängen suchte. Ein Krieg wie der, auf
den er hinzielte, mußte notwendig ein Weltkrieg werden, in dessen
Stürmen die beiden großen deutschen Monarchien, deren Zertrüm-
merung er wünschte, zugrunde gehen konnten. Durfte er diesen
Ausgang für Österreich schon von den zersetzenden nationalen
Kämpfen in seinem Inneren erhoffen, so erwartete er für Preußen
alles von einem Zwiespalt zwischen Dynastie und Volk. Zu ihm
würde es kommen, wenn Friedrich Wilhelm IV. sich mit dem Zaren
Nikolaus gegen die deutsche Nation verbände. Das Vorgehen der
preußischen Generäle in der Provinz Posen hatte ihm bewiesen,
daß auf die Hilfe der Hohenzollern bei einer Erhebung Polens gegen
die Romanows nicht zu zählen war. Aber standen nicht wirklich
Lebensinteressen des preußischen Staats auf dem Spiel, wenn man
von ihm, wie Engels es tat, verlangte, daß Polen „nicht nur die
Gebiete, sondern auch die Mündungen seiner großen Ströme" und
„wenigstens an der Ostsee einen großen Küstenstrich besitzen
müsse ?" Eine Konzession von diesem Umfang, die auf die Lebens-
interessen Deutschlands keinerlei Rücksicht nahm, empfahl
Engels freilich nur so lange, wie er damit rechnete, daß Polens
Befreiung im Gefolge einer Agrarrevolution kommen würde. Als
er sich hernach in dieser Erwartung getäuscht sah, hat er sich keines-
wegs mehr gegen die Gefahr verschlossen, die es für Deutschland
bedeutete, wenn seine ,, ohnehin schon miserabel schwache Grenze
militärisch vollständig" ruiniert und „die ganze Ostseeküste bis
nach Stettin" bloßgelegt würde.
Zunächst dämpfte die Pariser Junischlacht die überschwäng-
lichen Erwartungen, die Engels auf eine kriegerische Entladung
im Osten immer in der Hoffnung gesetzt hatte, daß das französische
dem deutschen Volk gegen den Zarismus zu Hilfe kommen und
„mit ihm den Krieg des Westens gegen den Osten, der Zivilisation
gegen die Barbarei" führen würde. Mit jenem tieferen Kultur-
gefühl, das der Rheinländer vor den Ostelbiern voraus zu haben
beanspruchte, bemerkte Engels besonders deutlich jene zweifel-
haften Eigenschaften, die dem echten ,,Borussen mit dem Russen"
gemeinsam waren. Stärker noch als die „Vereinigung von Be-
330
In der deutschen Revolution.
schränktheit und Unfehlbarkeit", das „unvergleichliche naseweise
Besserwissen" und die apodiktische Grobheit, wodurch in seiner
Jugend die altpreußischen Beamten sogar konservativen Rheinlän-
dern als ein unerwünschter Importartikel erschienen waren, hatte
die Beständigkeit des reaktionären Ostwindes, der ihm jahraus
jahrein von Berlin her ins Gesicht geweht hatte, bewirkt, daß
der preußische Staat ihm stets nur ein Gefühl unbeugsamer Feind-
schaft einflößen konnte. Als die Gervinussche Deutsche Zeitung
am 22. Juni sich damit tröstete, daß Preußen sich im schlimmsten
Fall mit dem momentanen Verlust der Rheinprovinz abfinden
müßte, erwiderte die Neue Rheinische Zeitung dem kleindeutschen
Blatt sofort, daß die Rheinprovinz noch viel weniger ,,vor einem
permanenten Verlust" der preußischen Herrschaft zurückschrecken
würde.
Von Preußens Auflösung als Folge eines Krieges gegen Ruß-
land versprach Engels sich nicht bloß eine Vereinfachung der ver-
zwickten innerdeutschen Fragestellung, sondern darüber hinaus
eine Weitertreibung der Entwicklung in einer Richtung, die seinen
eigentlichen Zielen zuträglich war. Würde sich erst die Alternative
herausstellen: Autokratie oder Republik, so müßte sich zwischen
den Mühlsteinen dieser beiden Extreme der Konstitutionalismus
zerreiben. Der konstitutionelle Großbürger werde die Schuld an
dem Kriege, und zwar mit Recht, der Demokratie zuschieben und
schon aus diesem Grunde sich ihren Gegnern anschließen. Auch
nach der furchtbaren Niederlage des französischen Proletariats
entsagte Engels der Hoffnung nicht, daß es zu einem solchen
Volkskrieg kommen würde ; noch im August und September gab
die Neue Rheinische Zeitung der Überzeugung Ausdruck, daß nur
ein solcher die wirkliche Befreiung und Einigung Deutschlands und
die Herstellung der Demokratie auf den Trümmern der Feudalität
und des kurzen Kerrschaftstraums der Bourgeoisie bewirken könne.
Die Feldzüge in Italien, Böhmen und Posen verurteilte Engels
ganz konsequent als Versuche, Bevölkerungen, die bei Deutschland
nicht verbleiben wollten, mit Gewalt bei diesem festzuhalten. Da-
gegen billigte er, so energisch er mit dem ,, meerumschlungenen
bürgerlichen Schoppenenthusiasmus" jede Gemeinschaft ableugnete,
den Krieg gegen Dänemark, der ihm als der erste Revolutionskrieg
galt, den Deutschland führte. Um aber die Angliederung Schleswigs
an Deutschland verteidigen zu können, stellte er einen Grundsatz
auf, der jeder Willkür die Tür offen ließ. Danach sollte der Besitz um-
strittener Gebiete immer der Nation zufallen, die das Recht der Zivili-
sation gegen die Barbarei, des Fortschritts gegen die Stabilität verträte.
Wie anfechtbar und wie haltlos fast immer solche wohlklingenden
Der konterrevolutionäre Fels im Meere.
331
Kriterien sind, zeigte sich in diesem Fall darin, daß es gleich-
zeitig dazu herhalten sollte, Schleswig den Deutschen, Elsaß und
Lothringen den Franzosen zuzusprechen und diesen obendrein für
früher oder später einen Anspruch auf Belgien einzuräumen. An
dem Fragenkomplex, der durch den Waffenstillstand von Malmö
aufgeregt vvoirde, interessierte Engels am stärksten, daß sich hier
noch einmal ein Weg zu zeigen schien, der zu dem ersehnten Volks-
krieg gegen Rußland noch führen konnte, obgleich die Junischlacht
mittlerweile die französische Initiative, auf die er früher fest gebaut,
in Frage gestellt hatte. Beschloß das Frankfurter Parlament, jenen
Waffenstillstand zu verwerfen, so bedeutete das in seinen Augen
einen Krieg, in dem Deutschland mit den Polen und Italienern den
,,drei Großmächten der Konterrevolution" Preußen, Rußland, Eng-
land, gegenüberstehen würde, einen Krieg, der „das Vaterland in
Gefahr" bringen aber gerade dadurch retten werde, daß er den Sieg
Deutschlands vom Sieg der Demokratie abhängig machte. Daß
Engels in einem TriumphPreußens und Rußlands für die europäische
wie für die deutsche Revolution und damit für die deutsche Einheit
eine Gefährdung gesehen hätte, ist uns schon vertraut. Wie kam
es aber, daß ihm England, das gleiche England, das er noch vor
kurzem für die Wiege der sozialen Revolution angesehen hatte,
jetzt in einem so veränderten Lichte erschien ?
Den ausgreifendsten Hoffnungen zugänglich, hatte er in seinem
stets gleichbleibenden Optimismus anfangs nicht bezweifelt, daß
die Flamme der Pariser Februarrevolution sofort über den ICanal
hinüberschlagen werde, wo er, wie wir uns erinnern, seit langem
den Brennstoff, den sie fressen sollte, in hohen Stapeln aufgeschichtet
sah. Unbeschreiblich war seine Enttäuschung, als der nach London
einberufene Chartistenkonvent sich ohnmächtig erwies und der alte
Wellington am 10. April den Arbeiterführern unwiderleglich demon-
strieren konnte, daß in England noch die simpelsten militärischen
Vorkehrungen genügten, um die riesigsten politischen Kundgebun-
gen des Proletariats, sofern sie der Regierung unbequem waren,
an der Entfaltung zu verhindern. Als danach die revolutionären
Versuche O'Briens in Irland ebenso vollständig scheiterten wie die
O'Connors in London, da mußte er sich schweren Herzens mit dem
Gedanken vertraut machen, daß auf einen Sturz der „freihänd-
lerisch-hochkirchlichen Tyrannei" so bald nicht zu rechnen war,
und daß die europäische Revolution außerhalb Rußlands keinen
mächtigeren Gegner zu fürchten hatte als den „unerschütterten
konterrevolutionären Fels im Meere". Immer wieder von neuem
untersuchte er, unter welchem Zwang England die despotische Rolle
zufiel, die er es in dem Staatensystem der Welt ausfüllen sah. Und
332
In der deutschen Revolution.
dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß dem Lande des Kapital-
monopols sein Interesse an der Verteidigung dieses spezifisch mo-
dernen Monopols und an der Konservierung der bestehenden
Staatenordnung und Klassengesellschaft seinen Platz an der Seite
der gegenrevolutionären Mächte anwies. Unter dem gleichen
Druck, den der einzelne englische Bourgeois auf den einzelnen eng-
lischen Proletarier ausübe, wünsche die englische Bourgeoisie als
Gesamtheit sich die Bourgeoisien Deutschlands, Frankreichs und
Italiens zu erhalten. Und in der Tat würden die Bourgeoisien dieser
Länder unfehlbar zu Proletariern gegenüber der alles absorbierenden
englischen Bourgeoisie herabsinken, wenn sie auf Zollschutz ver-
zichten und England, das davon profitierte, auf die Bahn des Frei-
handels folgen würden. Die deutsche Revolution habe, so meinte
Engels, bei England die Befürchtung geweckt, daß es Deutschlands
Markt, wenn dieses die Einigung erreichte, für seine Ausbeutung
verlieren möchte. Er kannte das englische Bürgertum zu gut, um
etwas anderes als Hohn und Spott zu empfinden über die ,, ideolo-
gische Naivität" Ruges, der, von Völkerbundsgedanken ganz erfüllt,
sein Verlangen nach einem Dreibund zwischen Deutschland, Frank-
reich und England am 22. Juli in der Paulskirche auf die Behaup-
tung stützte, daß diese Nationen eigentlich dasselbe dächten, und
im ganzen auch dasselbe wollten. ,,Weil in Frankreich, England
und Deutschland die Bourgeoisie herrscht, darum sind sie natürliche
Alliierte, so räsonniert der Bürger Rüge. Und wenn die materiellen
Interessen der drei Länder einander schnurstracks entgegenlaufen,
wenn Handelsfreiheit mit Deutschland und Frankreich eine un-
umgängliche Lebensbedingung für die englische, wenn Schutzzölle
gegen England eine unumgängliche Lebensbedingung für die fran-
zösische und deutsche Bourgeoisie sind, wenn diese Tripelallianz
in der Praxis auf die industrielle Unterjochung Frankreichs und
Deutschlands hinausliefe ! !" Der „Portier der deutschen Philosophie"
wie er Rüge jetzt titulierte, sollte begreifen, daß sein philan-
thropisch-kosmopolitisches Projekt — ,, tragische Ironie der Welt-
geschichte!" — an den ,, schäbigen Krämerseelen" scheitern müßte.
Seitdem seine Hoffnung auf das Nahen der proletarischen Revo-
lution in England ihn so bitter enttäuscht hatte, suchte Ergeis sich mit
der Erwartung zu trösten, daß Frankreich, seinen revolutionären
Traditionen getreu, den Platz an der Spitze des roten Reigens von
neuem einnehmen und behaupten werde. Die Neue Rheinische
Zeitung hatte mit Besorgnis verfolgt, wie die provisorische Re-
gierung eine Steuerpolitik trieb, die geeignet war, in einem Bauern-
land, dessen industrielles Proletariat sich erst auf wenige große
Städte und Fabrikzentren beschränkte, einer Konterrevolution die
Die Pariser Junischlacht. »90
Wege zu ebnen. Als aber im Juni die ersten Meldungen über den
Beginn des blutigen Ringens auf den Boulevards eintrafen, überließ
sie sich dennoch der Hoffnung, daß bei dieser großen ,, Entschei-
dungsschlacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat" die Bour-
geoisie ihren Todeskampf kämpfte! Als der nächste Tag noch keine
endgültige Kunde über den Ausgang des Schlachtens brachte, nannte
Engels — er war es vermutlich — in bebender Erregung Ostparis
und Westparis die Symbole für die zwei großen feindlichen Lager,
in die sich hier zum ersten Male die ganze Gesellschaft spalte.
Aber die Hiobsnachrichten häuften sich, und es wurde zur Gewißheit,
daß die Bourgeoisie die Siegerin geblieben war. Da erhob das revo-
lutionäre Blatt über die „Opfer der ersten entscheidenden Feld-
schlacht des Proletariats" eine erschütternde Totenklage. Weil der
Kampf sich innerhalb einer Republik zwischen nominellen Republi-
kanern abgespielt hatte, lag die Gefahr sehr nahe, daß man in
Kommunistenkreisen fortab Kämpfe um die Staatsform für
inhaltlos und illusorisch erklären könnte. Um dies zu hindern, be-
kannte sich in der Neuen Rheinischen Zeitung am 29. Juni der
von Marx geschriebene flammende Artikel, der die Bilanz der blu-
tigen Woche zog, vorbehaltlos zum republikanischen Ideal, un-
bekümmert darum, daß unter der Einwirkung der gleichen Ereig-
nisse die Mehrzahl der freiheitlich gesinnten bürgerlichen Presse,
ängstlich geworden, zu der Anschauung zurückfand, daß bloß der
unverrückbare Stützpunkt, den eine festwurzelnde Monarchie ge-
währte, die Gesellschaft vor der Diktatur eines kommunistischen
Wohlfahrtsausschusses bewahren könne. Engels hat es noch nach
Jahrzehnten voll Stolz gerühmt, daß in jenem Augenblick, als die
Bourgeois und Spießbürger aller Länder die Besiegten mit dem
Wust ihrer Verleumdung erdrückten, die Neue Rheinische Zeitung
die Fahne des zertretenen Proletariats hochgehalten habe! Auf die
erste Kunde, die den Sieg des Proletariats in Frankreich in nächste
Nähe zu rücken schien, hatte er alle Zweifel, die ihn in ruhigeren
Stunden beschlichen hätten, beiseite gedrängt. Wenn einmal im
geschichtlichen Leben ungeheure Ereignisse sich ehernen Entschei-
dungen entgegentürmen, dann schweigt leicht vor dem lauten
Pochen des leidenschaftlich erregten Herzens der zwischen Mög-
lichem und Unmöglichem ruhig abwägende Verstand. In dem
Augenblick, als der Konflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat,
dessen Austrag er nicht so schnell erwartet hatte, in Paris zur
Entscheidung reifte, überließ seine feurige Jugend sich dem über-
wältigenden Rausch der Stunde. Sie nahm die Fata Morgana für
greifbare Wirklichkeit und vertraute darauf, daß eine Revolution,
wenn sie lang genug dauere, alle Gegensätze mit unheimlicher
324 ^" ^®^ deutschen Revolution.
Schnelligkeit der Reife entgegentreibe. Vielleicht, daß doch schon
jetzt in einer einzigen, langen und wechselvollen Revolutions-
periode der große Entscheidungskampf mit dem endgültigen Sieg
des Proletariats seinen Abschluß fände! Es ist möglich, daß die
Erinnerung an diese Junitage, die er in atemlosem Bangen zu-
gebracht hatte, Engels gegenwärtig war, wenn ihn später der Ge-
danke beunruhigte, das Proletariat könnte durch eine günstige
Konstellation einmal zur Macht kommen, bevor alle ökonomischen
und politischen Voraussetzungen verwirklicht wären, die der er-
folgreichen Durchführung seiner eigentümlichen Mission voraus-
zugehen hätten. Daß die Niederlage der Pariser Arbeiter der euro-
päischen Revolutionsbewegung zum Verhängnis werden konnte,
haben Engels und Marx im Sommer 1848 noch nicht in Erwägung
gezogen. Bekanntlich haben sie später das unaufhaltsame Er-
starken der gegenrevolutionären Strömung in Europa, das nun ein-
setzte, ausschließlich auf den Ablauf der schweren Handelskrisis und
die Wiederkehr der industriellen Prosperität zurückführen wollen, die
sie so früh nicht hätten überblicken können. Bis zu Louis Napoleons
Ernennung zum Präsidenten, ja bis über die reaktionären Wahlen
des Mai 1849 hinaus, erwarteten sie noch voll ungebrochener Zu-
versicht die Wiederbelebung der europäischen Revolution von
einem neuen Ausbruch des Pariser Kraters. ■ -
Diese Hoffnung bestimmte hinfort auch die Einschätzung,
welche die revolutionäre Bewegung in Italien bei Engels fand.
Weiterreichende, unmittelbare Wirkungen konnte er sich von ihr
nicht mehr versprechen, seitdem sich bei Custozza die Überlegenheit
der österreichischen Waffen herausgestellt hatte. Aber wenn die
Italiener auch nicht die Macht besaßen, sich aus eigenen Kräften
zu befreien, so warnte er sie dennoch vor einem Bündnis mit der
französischen Bourgeoisie, die ihm als der Eckpfahl der Reaktion
in ganz Europa galt, und riet ihr, die kommende neue Erhebung
des französischen Proletariats abzuwarten. Die demokratisch-
soziale Republik, die diese in Paris einsetzen würde, werde der
Demokratie nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, in
Polen und Ungarn den Weg zum Siege bahnen. | .. ^^
So hoffnungsvoll er blieb, so wenig konnte sich Engels ver-
hehlen, daß die Revolution in den Sommermonaten 1848 nicht den
Gang nahm, den er sich bis vor kurzem versprochen hatte. Weil
das Bürgertum in seiner Unschlüssigkeit und Kopflosigkeit ihr die
Zeit gelassen hatte, erwachte mittlerweile auch in Deutschland, wie
er nicht länger übersehen konnte, die Reaktion aus ihrer zeit-
weiligen Betäubung. Und während die Spaltungen innerhalb des
Bürgertums sich vertieften und die Massen in den Zentren des poli-
Aus der Redaktionsstube auf die Rednertribüne. 335
tischen Lebens immer ungebärdiger wurden, war der König von
Preußen, wie wir heute wissen, bereits bei der Erwägung angelangt,
ob es „nicht am ratsamsten" wäre, „die Roten zu unzeitiger Schild-
erhebung" zu nötigen, bevor „der Bürgerkrieg unter der roten
Fahne" zum Ausbruch käme.
Solchem Verlangen der Reaktion arbeitete die Gärung in die
Hände, die sich im September, als die Lage fast gleichzeitig in Berlin
und Frankfurt schwer krisenhaft wurde, weiter Kreise der Demo-
kratie bemächtigte. In Berlin glaubte die Neue Rheinische Zeitung
mit dem Rücktritt Hansemanns die Stunde des Entscheidungskampfes
zwischen Reaktion und Revolution nahe gerückt. Dem Frank-
furter Parlament rief Engels zu, daß es sich endgültig von der Re-
volution lossagte, wenn es sich dazu erniedrigte, den Waffenstill-
stand mit Dänemark gutzuheißen. Nachdem er schon Mitte August
auf einer Kölner Tagung der dem.okratischen Vereine der Rhein-
provinz seinem Haß gegen Bureaukratie und Stockpreußentum die
Zügel hatte schießen lassen, drängte die Erregung dieser Wochen nun
auch ihn aus der Redaktionsstube auf die Rednertribüne. Ihr Miß-
trauen gegen die starke demokratische Strömung, die sich hier breit
machte, hatte die Regierung frühzeitig veranlaßt, aus den östlichen
Provinzen gewaltige Truppenmassen in die Rheinprovinz zu werfen,
um jeden bewaffneten Aufstand im Keime ersticken zu können.
Weil sie aber die geheimen Wünsche des Königs durchschauten,
wollten Marx und Engels nicht dulden, daß eine erfolglose Erhebung
ihres Anhangs die Geschäfte der Reaktion besorgte. Ein Losschlagen
in Köln, während die Provinz von Bajonetten starrte, hielten sie
mit Recht für hirn- und zwecklos und „unausführbar". Im vollen
Gefühl ihrer Verantwortung warnte die Neue Rheinische Zeitung
die Arbeiter unaufhörlich davor, sich zu irgend einem Putsch-
versuch hinreißen zu lassen. Schon aber hatte sich der Gegensatz
zwischen Volk und Militär so verschärft, daß die Situation gefähr-
lich werden mußte, sobald aufregende politische Ereignisse hinzu-
traten. Bereits dem Ministerium Auerswald -Hansemann trauten
Marx und Engels zu, es könnte sich dazu hergeben, das preußische
Staatsschiff in den ,, gemeinschaftlichen Hafen des Polizeistaats
und der christlich-germanischen Politik" zurückzuführen. Stürzte
es aber, so erschien es vollends unmöglich, die Entscheidung, ob
die Konterrevolution oder die Volkssouveränität in Preußen trium-
phieren sollte, weiter hinauszuschieben. Der Konflikt zwischen der
Nationalversammlung, die zum erstenmal sich als konstituierende
hinstellte, und der Krone sei da, schrieb Marx am 12. Sep-
tember. Alles drehe sich nun darum, ob der König den Mut auf-
bringen werde, die Versammlung aufzulösen. Eine Auflösung wäre
336 I" dsr deutschen Revolution.
der Staatsstreich. Wie man aber auf Staatsstreiche antwortete,
hätten der 29. Juli 1830 und der 24. Februar 1848 gezeigt. Siege die
Nationalversammlung, setze sie das Ministerium der Linken durch,
so sei die Macht der Krone neben der Versammlung gebrochen.
Siege aber die Krone, käme es zu einem Ministerium des Prinzen
von Preußen, so werde man unter dem Schutz der Militärdiktatur,
der Kanonen und der Bajonette die Versammlung auflösen, das
Assoziationsrecht unterdrücken, die Presse knebeln und ein Wahl-
gesetz mit Zensus dekretieren. Die Entscheidung hänge ab von der
Haltung des Volkes, namentlich von der Haltung der demokratischen
Partei.
Auf den gleichen Boden wie dieser Artikel stellte sich am
Tage nach seinem Erscheinen eine große Volksversammlung, die
Heinrich Bürgers auf dem Frankenplatz in Köln leitete. Einstimmig
genehmigte sie eine von Engels vorgeschlagene Adresse an die Ber-
liner Nationalversammlung, die diese mahnte, bei einem Versuch
zu ihrer Auflösung ihre Schuldigkeit zu tun und selbst der Gewalt
der Bajonette nicht zu weichen. Die Nationalversammlung habe
dem Ministerium die Pflicht auferlegt, die gegen die reaktionären
Bestrebungen der Offiziere gerichtete Verfügung zur Beruhigung
des Landes und zur Vermeidung eines Bruches mit der Versamm-
lung ohne weiteres ergehen zu lassen. Statt dessen sei das Mini-
sterium zurückgetreten und der König habe den eben gestürzten
Reichsminister Beckerath mit der Bildung eines neuen Ministeriums
beauftragt, dessen konterrevolutionäre Gesinnung keine Garantie
böte, sondern erwarten ließe, daß es die Auflösung der Versammlung
versuchen werde. Eine vom Volk zur Vereinbarung der Verfassung
zwischen König und Volk gewählte Versammlung könne jedoch
nicht einseitig aufgelöst werden, da ja die Krone sonst nicht neben,
sondern über diesem Parlament stünde. Auf einen Vorschlag Wil-
helm Wolffs, den Engels, Hermann Becker und Dronke unter-
stützten, beschloß man die Errichtung eines Sicherheitsausschusses,
der für die in den bestehenden gesetzlichen Behörden nicht ver-
tretenen Teile der Kölner Bevölkerung eine Vertretung bilden sollte.
Die gleiche von Engels vorgeschlagene Adresse fand auch die Billi-
gung einer anderen, von vielen Tausenden besuchten Volksversamm-
lung, die vier Tage später auf einer Wiese bei Wörringen am Rhein
stattfand, und zu der die Kölner auf großen Rheinkähnen, an deren
Bug statt der üblichen schwarz-rot-goldenen nun die rote Fahne
wehte, den Strom herabgefahren kamen. Die rote Fahne führte
ebenfalls die Düsseldorfer Delegation. Ihr Obmann war der drei-
imdzwanzig jähr ige Lassalle, dem Engels, der wiederum der
Sekretär der von Schapper präsidierten Kundgebung war, dort zum
Unruhen in Köln. 337
ersten Male begegnet sein wird. Auch aus Neuß, aus Crefeld und
anderen Orten der Gegend hatten sich Delegationen eingefunden.
Die Redner, zu denen neben Wilhelm Wolff, Schapper, Lasssalle
auch Engels gehörte, bekannten sich offen zur demokratisch-sozialen
Republik. Außer an das preußische veranlaßte Engels die Versamm-
lung, auch an das deutsche Parlament eine Adresse zu senden, die
für den Fall, daß die Berliner Regierung den Beschlüssen der Na-
tionalversammlung und der Zentralgewalt Widerstand leisten würde,
mit Gut und Blut die Sache Deutschlands gegen Preußen zu ver-
fechten versprach. Während der Abfassung und Annahme dieser
Resolutionen in Worringen war es noch unbekannt gewesen, daß
die Paulskirche den Waffenstillstand von Malmö am Tage vorher
bei der Wiederholung der Abstimmung genehmigt hatte. Kaum
aber war die Kunde, daß infolge jenes Beschlusses in Frankfurt
Unruhen ausgebrochen waren, in Köln ruchbar geworden, so er-
klärte hier eine vom Sicherheitsausschuß, vom demokratischen
und vom Arbeiterverein einberufene neue Versammlung die Mit-
glieder des deutschen Parlaments für Volksverräter und sprach den
Barrikadenkämpfern am Main ihre Sjrmpathien aus. Von nun ab
^^Tirde auch am Rhein mit jedem Tage die Stimmung erregter, und
vergebens riet die Neue Rheinische Zeitung den Arbeitern, ihr
Pulver trocken zu halten, bis in Berlin die Gegenrevolution die
Maske offen abgeworfen hätte. Sie konnte nicht mehr verhindern,
daß es am 25. September zu Unruhen von nicht beträchtlicher Art
kam. Am Morgen dieses Tages waren nämlich die Vorsitzenden
der Arbeitervereine, Schapper, Moll und der Referendar Hermann
Becker, der mit ihnen den Zentralausschuß des Verbandes der demo-
kratischen Vereine des Rheinlandes bildete, verhaftet worden. Ein
Volkshaufen hatte Moll wieder befreit, und dieser trat nun am Nach-
mittag in einer von der Polizei verbotenen, von der Bürgerwehr
überwachten Versammlung auf dem Alten Markt als Redner auf
Auf das falsche Gerücht, daß die „Preußen" — gemeint war natür-
lich das Militär — anrückten, wurde mit dem Bau von Barrikaden
begonnen. Aber keine Truppen tauchten auf. Trotz des unblutigen
Ausgangs verhängte der Kommandant der Festung den Belagerungs-
zustand über Köln. Die Bürgerwehr verfiel der Auflösung, die Ver-
sammlungsfreiheit der Aufhebung und die Neue Rheinische Zeitung
nebst drei anderen demokratischen Blättern dem Verbot für die
Dauer des Ausnahmezustandes.
Weil er nach Ansicht der Behörden das preußische Bürgerrecht
nicht mehr besaß, hatte Marx, der wußte, daß die Regierung nur nach
einer Gelegenheit, ihn ausweisen zu können, spähte, sich von allen
Versammlungen ferngehalten. Die anderen Redakteure der Neuen
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 32
338
In der deutschen Revolution.
Rheinischen Zeitung, die sich dort hervorgetan hatten und nun
ihrer Verhaftung gewärtig sein mußten, verspürten keine Lust, die
Revolutionszeit in einem preußischen Gefängnis zu verbringen.
Nachdem Wilhelm Wolff, der weniger als Engels auf dem Kerbholz
hatte, in die Pfalz abgereist war, hielt auch Engels es für geraten,
sich in Sicherheit zu bringen. Der Vater hatte sein revolutionäres
Hervortreten in diesen Tagen der stürmischen Erregung als einen
harten Schlag empfunden. Als Redakteur des Kölner Rebellenblatts
hatte Friedrich seine Artikel wenigstens nicht zu unterzeichnen
brauchen. Nun aber war sein Name im Wupper- und Rheintal in
aller Munde. Er benutzte den Umstand, daß die Eltern sich eben in
Engelskirchen, wo die väterliche Fabrik lag, aufhielten, um sich
einige Tage in Barmen zu verstecken. Damals scheint er seine ganze
Privatkorrespondenz, die er solange mit kaufmännischer Sorgfalt
aufgehoben hatte, darunter auch die ersten Briefe Marx, ver-
nichtet zu haben, für den Biographen ein nicht gut zu machender
Verlust. Eine Begegnung mit dem Vater, zu der es dann doch noch
gekommen zu sein scheint, hinterließ auf beiden Seiten peinliche
Gefühle ; vergebens hatte dabei die Mutter, die beschwichtigend
zwischen die Männer trat, noch einmal alle Mittel liebevoller Beein-
flussung erschöpft, um Friedrich vor einem Wege zu warnen, der
ihn seiner eng zusammenhaltenden Familie zu entfremden drohte.
Zu der Flucht, die er nun antrat, hatte er sich mit Dronke zu-
sammengetan. In Brüssel, wo ihn noch von zu Hause eine Geld-
sendung erreichen sollte, hielten sie, dem freiheitlichen Brauch des
Landes vertrauend, es für überflüssig, ihren wahren Namen zu ver-
heimlichen. Doch die belgische Polizei erinnerte sich ihres früheren
Aufenthalts, beförderte sie zunächst in das Gefängnis der Petits
Carmes, von dort in einem Zellenwagen nach dem Südbahnhof und
per Schub als Vagabunden über die französische Grenze. Als am
12. Oktober die Neue Rheinische Zeitung wieder erscheinen konnte,
befand Engels sich in Paris. Wie hatte sich aber diese Stadt, die
er so liebte, verändert seit jenen gar nicht fernen Frühlingstagen,
als er sie voll der frohesten Hoffnungen verließ. „Zwischen dem
Paris von damals und von jetzt," schrieb er in ein wohl für das
Feuilleton der Neuen Rheinischen Zeitung bestimmtes Reisetage-
buch, ,,lag der fünfzehnte Mai und fünfundzwanzigste Juni, lag
der furchtbarste Kampf, den die Welt je gesehen, lag ein Meer
von Blut, lagen fünfzehntausend Leichen. Die Granaten Cavaignacs
hatten die unüberwindbare Pariser Heiterkeit in die Luft gesprengt;
die Marseillaise und der Chant du Depart waren verstummt, nur die
Bourgeois summten noch ihr Mourir pour la Patrie zwischen den
Zähnen, die Arbeiter, brotlos und waffenlos, knirschten in verhal-
Engels auf der Flucht. 33p
tenem Groll; in der Schule des Belagerungszustandes war die aus-
gelassene Republik gar bald honett, zahm, artig und gemäßigt ge-
worden. Aber Paris war tot, es war nicht mehr Paris." Wen er
in der französischen Hauptstadt damals gesprochen hat, ist uns
nicht bekannt. Die Neue Rheinische Zeitung brachte aus seiner
Feder am 14. Oktober eine Auseinandersetzung mit einer von
Thiers über das Eigentum veröffentlichten Broschüre, in der er diesem
geistigen Pfeiler der französischen Bourgeoisie, wie Marx ihn im
Antiproudhon genannt hatte, nachweisen wollte, daß die Mobili-
sierung des Grundeigentums, die er bekämpfte, in der sonst von
ihm gepriesenen englischen Volkswirtschaft weit verbreitet sei,
denn die Grundrente wäre ja dort ein mobiles übertragbares Börsen-
papier wie jedes andere.
Eigentlich hätte es nahe gelegen, daß Engels die Klärung seiner
Angelegenheit in Paris abgewartet und inzwischen von dort aus
der Zeitung über den Verlauf der Kämpfe, die der entscheidenden
Präsidentenwahl vorausgingen, Bericht erstattet hätte. Doch ihn
litt es nicht in diesem ,, toten Paris", das sich auf die Auferstehung
des Bonapartismus vorbereitete. Er fühlte stark, er müsse fort,
gleichviel wohin. Er entschied sich zunächst für die Schweiz: „Geld
hatt' ich nicht viel, also zu Fuß. Auf den nächsten Weg kam's
mir auch nicht an; man scheidet nicht gern von Frankreich." So
finden wir Engels, während gleichzeitig in Berlin die Gegenrevolu-
tion zum entscheidenden Streiche ausholt, während Ungarn sich von
Habsburg lossagt und in Wien die Revolution noch einmal in hellen
Flamm.en aufschlägt, auf einer ihn mit Behagen, Gesundheit und
Fröhlichkeit erfüllenden Wanderung durch die schönsten Striche
des westlichen Frankreich. Der liebevoll eingehenden Schilderung
von Land und Leuten in seinem Tagebuch spüren wir an, wie wohl
es ihm tat, nach den Stürmen der letzten Monate, Seele und Geist
frisch zu baden in einer Landschaft, für deren Schönheit und
Reichtum er den offensten Sinn bezeugte. Als er auf einen Trupp
von Arbeitern aus den aufgelösten Nationalwerkstätten stieß, der
einen Damm gegen Überschwemmungen aufrichten sollte, verspürte
er selbst nicht übel Lust, zur Abwechslung auf einige Zeit die Feder
mit der Schaufel zu vertauschen. Aber er hatte keine Papiere, und
da wäre er schön angelaufen! Ihn verwunderte an diesen Leuten,
daß zwei Monate Entfernung von Paris, anstrengende Arbeit und
gute Bezahlung hingereicht hatten, sie der Politik zu entfremden.
So sehr ihn für die bäuerlichen Bewohner der Lande zwischen
Seine und Loire, die er durchwanderte, die gutmütige, gastfreie
und heitere Art, mit der man ihm überall entgegenkam, einnahm,
so wenig erfreute es ihn doch, zu beobachten, in wie hohem Grade
22*
340
In der deutschen Revolution.
entwickelt ihr Eigentumssinn für die von ihren Vätern dem Adel
und den Pfaffen aberoberte Scholle war. Der Bauer als solcher,
meinte er deshalb, bleibe in Frankreich wie in Deutschland „der
Barbar mitten in der Zivilisation" und sein Gesichtskreis auf die
engsten in der modernen Gesellschaft möglichen Grenzen beschränkt.
Die großen Bewegungen der Geschichte gingen an ihm vorüber,
rissen ihn von Zeit zu Zeit mit sich fort, aber ohne daß er eine
Ahnung habe von der Natur der bewegenden Kraft, von ihrer Ent-
stehung, von ihrem Ziel. Weil sich Engels Rechenschaft davon
ablegte, daß die Zukunft der Republik und der Revolution in Frank-
reich, ja in Europa von diesen französischen Bauern abhing, ver-
tiefte er sich jetzt bei täglicher Berührung mit ihnen in die Motive,
die in den Monaten seit dem Sturz des Bürgerkönigtums dieser
Klasse die Wege gewiesen hatten. Die Republik, fand er, hätte
für sie anfangs kaum einen anderen Sinn haben können als Ver-
minderung der Steuern, vielleicht auch hie und da Eroberungskrieg
und Rheingrenze. Sobald aber danach der Krieg zwischen Prole-
tariat und Bourgeoisie losbrach und die Stockung in Handel und
Industrie auf das Land zurückwirkte, dessen Produkte im Preise
fielen und unverkäuflich wurden, als vollends die Junischlacht
bis in die entferntesten Winkel des Landes Schrecken und Angst
verbreitete, da überkam die Bauern eine fanatische Wut gegen das
revolutionäre Paris und die Pariser Arbeiter, die, wie die Bourgeois-
presse täglich wiederholte, alles teilen wollten! Überall bekam En-
gels jetzt zu hören, daß nur die Bauern Frankreich retten könnten.
Produziere das flache Land nicht alles, lebten die Städte nicht von
seinem Korn, kleideten sie sich nicht von seinem Flachs, von seiner
Wolle ? Wer sonst könnte die rechte Ordnung der Dinge wieder-
herstellen? Prüfte der aufmerksame Wanderer, was sie sich bei
diesem Gerede dachten, so ergab sich ihm, daß sie sich darunter
nichts Geringeres vorstellten, als die Erwählung Louis Bonapartes zum
Präsidenten der Republik. Der Enthusiasmus für diesen ,, winzigen,
eitlen, verworrenen Toren" war bei allen Bauern, wie Engels zu
seinem Kummer bemerkte, nicht minder groß als ihr Haß gegen
die Hauptstadt Nach den Eindrücken, die er so sammelte, konnte
es ihm nicht mehr zweifelhaft bleiben, daß der Neffe Napoleons
im Dezember gewählt werden würde. Nun begriff er auch, daß
weniger die verfehlte Steuerpolitik der republikanischen Regierung
als ihre Lebenslage und gesellschaftliche Stellung für den Abfall der
kleinen Grundeigentümer von der Sache der Revolution entschei-
dend waren. Die französische Bauernklasse, das lehrte diese Wan-
derung ihn, stand dem Siege des französischen Proletariats im Wege,
und ein gewaltsamer Austrag des Gegensatzes zwischen beiden
Bei den französischen Bauern. 341
Klassen war dauernd nicht hintanzuhalten, selbst wenn alle Hypo-
thekenschulden niedergeschlagen würden. Nachdem er sich vier-
zehn Tage nur mit diesen Bauern abgegeben hatte, behielt Engels
am Ende von ihrer , .störrischen Dummheit", von ihrem „Raten
ins Blaue über alles, was jenseits des Dorfes liegt**, einen nieder-
schlagenden Eindruck.
Aus dem Loire tal führte sein Weg nach Burgund, wo er
sich an den ,, süßesten Trauben und den hübschesten Mädchen**
erlabte und in Auxerre ,,die rote Republik der burgundischen
Weinlese", deren ,, Blutsäufer" honette Republikaner waren,
feiern half! Als ein Feinschmecker in allem, was Wein und
Weib betrifft, tritt Engels in diesem lyrischen Intermezzo seines
tollen Jahres vor uns auf. Er stimmt einen wahren Hymnus an
auf die Weine des Franzmannes ,,vom Bordeaux bis zum Bur-
gunder, vom Burgunder zum schweren St. Georges, Lünel und
Frontignan des Südens, und von diesem zum sprudelnden Cham-
pagner.** Er preist die Mannigfaltigkeit des Weißen und des Roten,
vom Petit Magon oder Chablis zum Chambertin, zum Chateau
Larose, zum Sauterne, zum Roussilloner, zum Ai Mousseux!
Und indem er alle Sorten gewissenhaft durchkostete, entdeckt er
,,daß jeder dieser Weine einen verschiedenen Rausch macht, daß
man mit wenig Flaschen alle Zwischenstufen von der Musardschen
Quadrille bis zur Marseillaise, von der tollen Lust des Cancans bis
zur wilden Glut des Revolutionsfiebers durchmachen, und sich
schließlich mit einer Flasche Champagner wieder in die heiterste
Karnevalslaune von der Welt versetzen kann!** Und dann die
Frauen! Mochten seine Landsmänninnen es ihm verargen, ihm
lag nicht jene ,,den Franzosen so schreckliche Grobknochigkeit**,
die er mit arger Übertreibung den ,, Stolz der germanischen Rasse**
nennt, er liebte nun einmal nicht das „grasgrün- und feuerrot ge-
würfelte Kleid, das sich um eine gewaltige Taille schlingt**, er fand
mehr Gefallen an den schlank gewachsenen Burgunderinnen von
Saint Brie und Vermanton, bei denen er jetzt Trauben lutschend,
Wein trinkend, lachend und plaudernd im Grase lag. Aber waren
das nicht eben die Tage, in denen Windischgrätz das revolutionäre
Wien erstürmte und Jellachich mit seinen Kroaten in die ver-
wüstete Stadt triumphierend einzog ? Drängt sich uns da nicht die
Frage auf: hätte auch der Mann, mit dem man ihn in jedem Augen-
blick vergleicht, hätte auch Marx wie der Taugenichts Eichendorffs
in von herbstlicher Mittagsonne bestrahlter lieblicher Landschaft so
beschauliche Tage verbringen können, wo er wissen mußte, daß eben
jetzt die eisernen Würfel über die nächste Zukunft der Sache ent-
schieden, der sein Leben gehörte ? An dem Freunde, der in so
342
In der deutschen Revolution.
hohem Maße fähig war, sich lebhaft und heiter dem Augenblick
hinzugeben und darüber Wissen, Zeit und Kräfte zu verschwenden,
hat Marx, dem solche Harmlosigkeit nicht eignete, öfter liebevoll
gerügt, daß er seine reichen Gaben nicht genügend zusammenhalte,
um für die Menschheit zu wirken. Mit nicht geringerer Treue und
Hingabe als Marx, stand Engels allezeit zu der Fahne, die er so
früh voll Leidenschaft ergriffen hatte, und er, in dem so viel Sol-
datisches steckte, hat kurz darauf, als die Gelegenheit sich bot,
nicht gezögert, mit seinem Leben für die Revolution einzutreten.
Aber die tiefe, öfters zu weitgehende Bescheidenheit seines Wesens
ließ bei ihm den Glauben niemals Platz greifen, daß just seine Mit-
wirkung große Wendungen herbeiführen oder verhindern könne.
Mit glänzenden Nerven ausgestattet und beweglich wie nur einer,
vermochte er zuzeiten die Dinge an sich herankommen zu lassen,
und es war vielleicht ein Rudiment alter religiöser Gefühle dabei
im Spiel, wenn der Gedanke von seiner eigenen Unentbehrlichkeit
ihm niemals nahe getreten ist. War er bei einer Bewegung be-
teiligt, in ein Unternehmen verstrickt, so war niemand so voll
Feuer und Flamme wie er, dennoch peitschte ihn nicht der Dämon,
der nirgends Ruhe läßt und der dem bewunderten und geliebten
Freund die Gabe versagte, sich an die Buntheit dieser Welt verlieren
zu können. Über Marx gebot tyrannisch sein Genius, über Engels
waltete die mildere Herrschaft seines vollsaftigen Menschentums.
Es war Ende Oktober geworden, als der Wanderer in Genf
eintraf, von wo er sehr bald nach Lausanne und, als ihm Marx
die Mittel hierfür sandte und dazu riet, nach Bern übersiedelte.
Marx Brief ließ erkennen, daß in der Zwischenzeit Versuche
unternommen worden waren, zwischen den Freunden Zwietracht
zu säen. Sonst hätte er, wo sie beide mit Gefühlsäußerungen so
kargten, nicht nötig gehabt, zu beteuern: ,,Daß ich einen Augen-
blick Dich im Stiche lassen könne, ist reine Phantasie. Du ver-
bleibst stets mein Intimus wie ich der Deine." Jene Bemühungen
kamen von zwei verschiedenen Seiten. Ein Mitglied der Engelsschen
Familie bildete sich ein, den Flüchtling den Wünschen seiner An-
gehörigen wieder zugänglicher machen zu können, wenn er ihm
die Überzeugung beibrachte, daß Marx, den er 'für seinen Ver-
führer hielt, sich von ihm abgewandt habe. Auf der anderen Seite
spannen damals Mitglieder des Kommunistenbundes, voran Ewer-
beck und Heß, mit denen er früher nicht glimpflich umgesprungen
war, eine Intrigue, um ihm Marx abspenstig zu machen. Ewerbeck
hatte sich sogar nicht gescheut, in London, Berlin und der Schweiz
die Bundesmitglieder vor Engels zu warnen. Der Schwager, ein
adliger Bourgeois, gestand in seinem Brief, daß ihm vor der Re-
In der Schweiz.
343
volution die „Gegenwart dämeligsr Königs Verehrer" widerlich ge-
wesen wäre, daß ihm aber nun „der ganze Dreck" wie eine Szene
aus Auerbachs Keller vorkäme, daß bei dem heimischen Bürgertum
ein völliger Stimmungsumschlag Platz gegriffen und daß das Prole-
tariat den „Katzenjammer" habe. Nicht mit Wissen des Vaters,
der den Sohn besser kennen mochte, wollte der Schwager Engels
damit bange machen, daß er bei einer Fortdauer seiner friedlosen
Flüchtlingsexistenz auf eine fernere Unterstützung von zu Hause
nicht zu fest hoffen dürfe. Die Preise seien furchtbar gedrückt, und
die Firma mache an manchem Artikel Schaden. ,,Was hast Du
nun vor," erkundigte sich dieser zärtliche Verwandte. ,, Schrift-
stellern wie bisher oder was sonst ? Soviel ist sicher, gehst Du nicht
bald aus Deiner jetzigen ingrimmerzeugenden Situation heraus, so
bist Du in fünf Jahren Hypochonder."
Kaum hatte Engels sich in der Schweiz von seinen „Strapazen
und Aventüren" erholt, so begann sich seiner eine Ungeduld zu
bemächtigen, die ihn heimwärts rief. Das faule Hocken im Aus-
land, „wo man doch nichts Eigentliches tun kann und ganz außer-
halb der Bewegung steht", wurde ihm so unerträglich, daß er fast,
lieber als länger in der freien Schweiz zu bleiben, freiwillig nach
Köln in den Untersuchungsarrest gegangen wäre. Er bat Marx, ihm
genau zu berichten, wie es um seine Sache stünde: vor zehn-
tausend Jurys wolle er sich stellen, aber ,,im Untersuchungsarrest
kann man nicht rauchen, und da geh' ich nicht hinein". Inzwischen
verbrachte er in Bern seine Tage so gut oder schlecht es ging, aber
ohne sich zu behagen in diesem ,, sanften Arkadien", wo es keine aus-
wärtige Politik und keine sozialen Kollisionen gäbe, sondern nur ein
stilles gemütliches Leben in der „kleinen geschichtslosen Bescheiden-
heit zufriedener Seelen". Er suchte nun wieder Beschäftigung und
Abwechslung, die ihm mehr Befriedigung bot, als wenn er nach
dem nahen Neuenburg hinüberfuhr und dort ungehudelt auf einem
Boden herumspazierte, der de jure noch preußisch war. Um ihn
zu zerstreuen riet Marx ihm, ,, gegen die Föderationsrepublik" und
über die ,, ungarische Sauce" zu schreiben. Er ging in die Sitzungen
des Nationalrats, um vielleicht noch einmal den Zuständen der
Schweiz Gesichtspunkte abzugewinnen, die in seine eigene Kerbe
hieben. Er glaubte, den Eidgenossen die Sicherheit fortziehen zu
können, daß ihr Musterlandli gegen Revolutionen und Klassen-
kämpfe gefeit wäre, als er die Entdeckung machte, daß die
reaktionäre Republik zugrunde gehen müsse, wenn hinfort die
jüngeren Söhne der Bauern nicht mehr in Rom und Neapel
Söldnerdienste finden, sonders zu Hause die Armee des Pauperis-
mus vermehren müßten!
^44 ^^ ^^^ deutschen Revolution.
Den Artikel über Ungarn, den Marx ihm abverlangt hatte,
schrieb Engels ebenfalls noch in Bern. Als dieser aber am 13. Januar
1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung erschien, weilte er bereits
wieder in Köln und hatte seine Tätigkeit in der Redaktion in vollstem
Umfange aufgenommen. Obgleich gegen ihn ein Steckbrief er-
lassen worden war, erhielt er jetzt vom Instruktionsgericht den
Bescheid, daß nichts „gegen ihn vorläge". Trotzdem war es nicht
übergroße Vorsicht gewesen, die im September ihn zur Flucht be-
stimmt hatte ; nur war die Behörde mittlerweile zu der Ansicht ge-
langt, daß das Verfahren gegen ihn und seine Schicksalsgenossen
auf Grund von übertriebenen Folizeiberichten angestrengt wor-
den war.
Kapitel XII.
Der Ausgang der deutschen Revolution.
Die Hoffnung auf Ungarn und Frankreich. — Im revolu-
tionären Elberfeld. — Bei der Reichsverfassungskampagne
in der Pfalz und in Baden.
Auch in Engels Abwesenheit hatte die Neue Rheinische Zeitung
unerschrocken wie kein anderes deutsches Blatt der hereinbrechen-
den Reaktion die Zähne gezeigt. Für die Hoffnungen und Er-
wartungen, mit denen sie in das Jahr 1849 eintrat, hatte am Sil-
vestertage Marx besonders kraftvolle Worte gefunden. Die Nieder -
kartätschung des französischen Proletariats im Juni 1848, meinte
er, habe den Sieg des Ostens über den Westen, der Barbarei über
die Zivilisation zur Folge gehabt. Im Augenblick sei der Zar in
Europa allgegenwärtig. Aber der Erdteil werde wieder frei werden
unter der Losung: Sturz der Bourgeoisie in Frankreich, Triumph
der französischen Arbeiterklasse, Emanzipation der Arbeiterklasse
überhaupt. In engster Gedankenübereinstimmung mit Engels
hatte sich bei Marx die Überzeugung festgesetzt, daß die Um-
wandlung der ,, nationalökonomischen Verhältnisse" auf dem
europäischen Kontinent ein Sturm im Glase Wasser bleiben müsse,
solange die Revolution nicht auch England, den konterrevolu-
tionären Fels im Meer, ergriffen habe. Um aber den Tyrannen
des Weltmarkts, der ganze Nationen in seine Proletarier verwandle,
zu stürzen, bedürfe es eines Weltkrieges. Nur ein solcher könnte
eine Lage schaffen, die der organisierten Arbeiterpartei die erfolg-
reiche Erhebung gegen ihre riesenhaften Unterdrücker ermöglichte.
Dieser ,, Inhaltsanzeige des Jahres 1849" aus der Feder des
Freundes konnte der heimkehrende Engels zustimmen, mochte er
auch selbst, nach dem, was er in Frankreich gesehen hatte, für die
nächste Zukunft größere Hoffnungen als auf den Westen auf ein
Hinübergreifen der glutvollen Erhebung Ungarns in die kaum der
Revolution entrissenen deutschen Gebiete setzen. Er wähnte jetzt,
trotz aller Rückschläge der letzten Monate, daß mit der Verjagung
des Papstes im November 1848 „die neue Rebellion, die ganze
Rebellion", die Freund Freiligrath in seiner Reveille ankündigte,
der letzte und entscheidende Akt der europäischen Revolution,
246 D®"" Ausgang der deutschen Revolution.
begonnen habe. Von Ungarn aus erscholl jetzt das klangvollste
Signal dafür zu ihm herüber: „Zum erstenmal seit 1793 wagt
es eine von der konterrevolutionären Übermacht umzingelte Nation,
der feigen konterrevolutionären Wut die revolutionäre Leiden-
schaft, der terreur blanche die terreur rouge entgegenzustellen.
Zum erstenmal seit langer Zeit finden wir einen wirklich revolu-
tionären Charakter, einen Mann, der den Handschuh des Verzweif-
lungskampfes im Namen seines Volks aufzunehmen wagt, der für
seine Nation Danton und Carnot in einer Person ist." Als hernach
im Londoner Exil ihre Wege auseinandergingen, hat Engels über
Kossuth scharf abgeurteilt. Jetzt bewunderte sein jugendlich
streitbares Herz den revolutionären Organisator, und mochte
Windischgrätz als Sieger in Budapest einziehen, des Vertrauens voll,
daß die europäische Revolution hier ihr eigentliches Feldlager habe,
richtete er die Blicke der Leser des revolutionären Blattes nach
Debreczin, nach Großwardain, in das Hauptquartier Bems, Görgeys
und Klapkas. Kein anderes deutsches Blatt hat damals mit ähn-
licher Gründlichkeit an den dramatischen Ereignissen in Ungarn
teilgenommen. Erst die Verfolgung der wechselreichen Feldzüge
dieses Revolutionskrieges, die ihm täglich oblag, erweckte in Engels
jene starke Anteilnahme für die Problemwelt des Generalstäblers,
die, dem Boden ursprünglicher Begabung entsprossen, sein Leben
hindurch ihm treu blieb und, in emsiger Forschung von ihm lebendig
erhalten, dem , »General", wie er späterhin im Londoner Freundes-
kreise hieß, selbst in anspruchsvollen deutschen Militärblättern
Anerkennung verschafft hat. Als er im Januar 1848 den Anfang
des Endes in Österreich von dem Triumph der Maschinen und der
Eisenbahnen erhoffte, hatte Engels gewünscht, daß Deutsche
das Haus Habsburg stürzen und die Hindernisse im Wege der
slawischen und italienischen Freiheit wegräumen möchten. Da-
mals hatte er das Tempo, in welchem eine beginnende ökonomische
Umwälzung sich politisch auswirkt, überschätzt, hingegen die
Lebenskraft der einzelnen Nationalitäten, aus denen der „organi-
sierte Wirrwarr" der Donaumonarchie bestand, und ihre Gegensätze
viel zu wenig in seine Rechnung eingestellt.
Auf die Befreiung Vene^^iens und der Lombardei durch die Waffen
revolutionärer Deutschösterreicher durfte er nicht mehr hoffen, seit-
dem aus ,, Slawenmörsern" die Brandraketen gegen den Stefansdom
geflogen und der siegreiche Kroat dem Olmüizer Kaiser das über-
wundene Wien zu Füßen gelegt hatte. Die österreichischen Slawen
hatten die Deutschen in die Knechtschaft zurückgezwungen;
sollten diese ihnen dafür die Freiheit bringen? War in solcher ent-
scheidenden Stunde eine Nation noch so rückständig, daß sie dem
Der ungarische Aufstand, ^^y
Freiheitskampf fortgeschrittener Völker in den Rücken fiel, so
verwirkte sie in den Augen eines Engels dadurch für Gegenwart
und Zukunft ihr Schicksal. Und wenn Bakunin im Dezember
in seinem Aufruf an die Slawen unter der Parole der demokratischen
und sozialen Volksrevolution die allgemeine Völkerverbrüderung
verlangt hatte, so erklärte er es nach allem, was vorgefallen war,
für absurd, diese Forderung zu erheben ,,ohne Rücksicht auf die
historische Stellung, auf die gesellschaftliche Entwicklungsstufe
der einzelnen Völker", so proklamierte er, im scharfen Wider-
spruch zu dem Russen, die Allianz der revolutionären gegen die
konterrevolutionären Völker, so verweigerte er die Verbrüderung
solchen Nacionen, gegen die er bloß Rachegefühle hegen konnte. Bei
den österreichischen Slawen zumal zog er scharf die Trennungslinie
zwischen den revolutionären Polen, „denen die Freiheit lieber ist als
das Slawentum", und allen anderen Völkern, zu denen er nun auch
die Tschechen rechnete, und denen er nur noch die Funktion zu-
gestand ,jim revolutionären Weltsturm" unterzugehen. Im Juni
1848 nach dem Bombardement von Prag hatte er noch den ,, tapfe-
ren' Tschechen ihren nahenden Untergang als ein „unglückliches
Verhängnis*' angekündigt, das sie der vierhundertjährigen Unter-
drückung durch die Deutschen, die sie dem Despotismus in die Arme
getrieben habe, verdankten. Jetzt hingegen bestritt er, daß ihnen oder
irgendeinem anderen slawischen Volk des Donaureiches durch
Deutsche oder Magyaren ,, jahrhundertlanges Unrecht" wider-
fahren sei. Die sinnlose Behauptung, zu der sich jetzt sein
Grimm verstieg, daß die tschechische Nation niemals eine Ge-
schichte gehabt habe, konnte er drei Jahre später in seinen Korre-
spondenzen über die Revolution und Konterrevolution in Deutsch-
land nicht mehr aufrecht erhalten. Gründlich widerlegt hat die
Geschichte auch eine andere Theorie, die er in diesem Zusammen-
hang damals aufstellte. Völker, die schon in dem Augenblick, wo
sie die erste Zivilisationsstufe erstiegen, unter fremde Botmäßig-
keit kämen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe
der Zivilisation hineingezwungen würden, behauptete er hier,
hätten keine Lebensfähigkeit und könnten nie zur Selbständigkeit
gelangen. Daß eine so gewagte Hypothese der von ihm selbst mit-
geschaffenen Geschichtsauffassung widersprach, hat später niemand
mit scharfsinnigeren und fruchtbareren Argumenten nachgewiesen
als seine eigenen österreichischen Schüler. Geradezu grotesk war
die Einseitigkeit, mit der wir Engels jetzt unter den Nationalitäten
Österreichs die Lebensfähigkeit einer Gruppe zusprechen und der
anderen aberkennen sehen. Er kann sich nicht genug tun in Aus-
drücken hochmütiger Verachtung für die ,, Völkerabfälle" und
348 ^^^ Ausgang der deutschen Revolution.
„Völkerruinen", die ,,eine so erbärmliche Rolle in der Geschichte
gespielt" hätten, und in dem Spott über die Ideologen, denen ,,die
Beibehaltung einer absurden Nationalität mitten im fremden Land"
wichtiger dünkte als die großen ökonomischen und sozialen Not-
wendigkeiten des geschichtlichen Lebens. Im Juni 1848 hatte
sich noch nicht endgültig überblicken lassen, wie die verschiedenen
österreichischer Nationalitäten zu der einzigen Alternative, die
nicht bloß in die Zukuntt hinaus, sondern auch in die Ver-
gangenheit hinein sein Urteil bestimmte, Stellung nehmen wür-
den. Seither hatten sie sich deutlich in zwei Heerlager geteilt:
,,Auf der einen Seite die Revolution: die Deutschen, Polen und
Magyaren, auf der Seite der Konterrevolution die übrigen, die
sämtlichen Slawen mit Ausnahme der Polen, die Rum.änen und die
siebenbürgischen Sachsen." Bemüht, diese Scheidung nach Na-
tionen, die bei ihm, wie wir sahen, zugleich Tod und Leben für sie
bedeutet, geschichtlich zu erklären, sucht und findet er jetzt bei
den Deutschen, die im Tatensturm der Revolution die Sünden der
Vergangenheit abzubüßen begonnen hätten, und bei den Magyaren,
den Trägern seiner stärksten revolutionären Hoffnungen, auch in
der Vergangenheit ,,seit tausend Jahren" alle geschichtliche Ini-
tiative. Sie allein hätten beim Ansturm der Türken die ganze
europäische Entwicklung vor dem Untergang bewahrt, und den
Dienst, den sie damit auch den ,, zerfallenen, ohnmächtig gewordenen
Nationalitäten" der österreichischen Slawen geleistet, würden diese
,, selbst mit der Vertauschung ihrer Nationalität gegen die deutsche
oder magyarische nicht zu teuer bezahlen".
Von einer unbedingten und grundsätzlichen Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der Nationen, dieses obersten Leitsatzes
der internationalen Politik der bürgerlichen Demokratie, finden wir
Engels, für den auch die ökonomischen ,, Lebensfragen" der Völker
schwer wogen, weit entfernt. Wo es sich ,,um die Existenz, um die
freie Entfaltung aller Ressourcen großer Nationen" handelt, dünkte
es ihm absurd, aus bloßer Sentimentalität auf ,, kleinliche National-
borniertheiten" Rücksicht zu nehmen. Mochte der Haß gegen
den Panslawismus sein kampfbereites Naturell noch besonders
reizen, diese Gegensätze scharf zu formulieren, primär bestimmend
waren für ihn die im Kommunistischen Manifest niedergelegten
Gedanken, die Zugeständnisse an nationalistische Veilletäten
verboten, wenn das revolutionäre Interesse des industriellen Pro-
letariats der europäischen Kulturländer andere Wege wies.
Unter allen Einwänden, die er gegen Bakunin erhob, erschien
ihm wohl keiner durchschlagender als der, daß außer den Polen,
den Russen und ,, höchstens" den Balkanslawen allen übrigen
Revolutionäre und konterrevolutionäre Nationen.
349
Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und
industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit
fehlten, und daß es auch ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse
entspräche, der von der ganzen ökonomisch-technischen Entwick-
lung der Zeit gebotenen Zentralisation nicht in den Weg zu treten.
So wie der Panslawismus in Prag und Agram zuerst verkündet wurde,
bezweckte er die Allianz aller kleinen slawischen Nationen und
Natiönchen Österreichs und der Türkei zum Kampf gegen die
österreichischen Deutschen, die Magyaren und die Türken. Die
Türken waren für Engels eine ,,ganz heruntergekommene Nation**,
die keine Zukunft hatte, und ungern nur hätte er sie in gemein-
samer Kampffront mit Deutschen und Magyaren erblickt. Doch
die antideutsche und antimagyarische Richtung des Panslawismus
reichte hin, um dessen konterrevolutionären Charakter zu ent-
hüllen. Weil jene slawischen Völker, auf deren politischen Zusam-
menschluß die Panslawisten hinstrebten, auf verschiedener Kultur-
stufe standen und ganz entgegengesetzten Interessen gehorchten,
konnte er sich unter der slawischen Einheit nichts anderes vor-
stellen als ».entweder eine reine Schwärmerei oder aber die russische
Knute". Er dachte nur konsequent, wenn er sich dagegen auf-
lehnte, daß man, um aus den ,, zerrissenen Fetzen** des österreichi-
schen Südslawentums eine kräftige und unabhängige Nation zu-
sammenzustümpern, Deutschland und Ungarn den Lebensnerv
durchschneiden wollte, indem man sie vom Adriatischen Meer ab-
sperrte. Wie Triest und Fiurae für die großdeutsche und die unga-
rische beanspruchte er freilich die Ostseeküste von Danzig bis Riga
für die künftige polnische Republik. Nicht moralische Kategorien,
die ,,in historischen und politischen Fragen durchaus nichts be-
weisen**, will er als ausschlaggebend gelten lassen, sondern , »welt-
geschichtliche Tatsachen**. Eben erst hatten die Vereinigten Staaten
den Mexikanern die kürzlich entdeckten reichen Goldminen Nord-
kaliforniens abgenommen. Die , .Gerechtigkeit** litt darunter,
Engels räumte es ein, dennoch billigte er diese Annexion, weil die
„energischen Yankees*' besser als die „faulen Mexikaner** verstehen
würden, die schlummernden Produktivkräfte zu entwickeln und
damit erst den Stillen Ozean der Zivilisation zu erschließen.
In der Krisis von 1840 hatten verfliegende Spuren noch darauf
hingedeutet, daß in seiner Knabenzeit alldeutsche Gefühle, wohl
aus den Kreisen der Burschenschaft her, auch in seine Nähe ge-
kommen waren. Gegen solche „Phantastereien** glaubte er jetzt
die deutsche Demokratie für immer gefeit. Die deutsche Revo-
lution, meinte er, sei erst möglich geworden, nachdem man sich
vollständig von diesen Futilitäten befreit hatte. Wenn ihm aber
350 ^^^ Ausgang der deutschen Revolution.
der Pangermanismus „kindisch und reaktionär" erschien, sollte
er da den Panslawismus günstiger beurteilen? War der Prager
Slawenkongreß etwas anderes als eine Neuauflage des Wartburg-
festes und Bakunins Aufruf nicht bloß eine Übersetzung von „Wir
hatten gebauet ein stattliches Haus" in slawische Prosa ? Engels
ist stets der unversöhnliche Gegner einer Richtung geblieben,
die „ungeschehen zu machen strebte, was eine Geschichte von
tausend Jahren geschaffen hatte", und die Europa, wie er frühzeitig
behauptete, der Alternative zudrängte: Unterjochung durch die
Slawen oder Zertrümmerung Rußlands. Im Revolutionsjahr dünkte
es ihm vollends reaktionär, den Zeiger der „europäischen Bewegung",
der nun einmal nicht von Osten nach Westen, sondern von Westen
nach Osten weise, umstellen zu wollen, nur damit sämtliche
Slawen „ohne Rücksicht auf die materiellsten Notwendigkeiten"
sich zu selbständigen nationalen Staaten zusammenschließen
könnten. Den Slawen des Habsburgischen Reichs gab Engels
zu verstehen, daß ein Zerfall der Monarchie, der im Gefolge der
siegreichen deutschen und ungarischen Revolution käme, ihnen
keine Früchte bringen würde. Denn die Deutschen und die Ma-
gyaren würden ihnen nicht vergessen, daß sie in der Stunde, als
das Schicksal der österreichischen Revolution von der Stellung-
nahme der Tschechen und Südslawen abhing, um ihrer klein-
lichen Nationalhoffnungen willen die Revolution an Petersburg
und Olmütz verraten hatten. Sie würden die konterrevolutionären
Slawen den Terrorismus der revolutionären Nationen fühlen lassen.
Sie würden nicht dulden, daß im Herzen Deutschlands ein konter-
revolutionäres tschechisches Reich sich erhöbe, dessen Aufgabe
nur sein könnte, die Macht der deutschen, polnischen und magya-
rischen Revolution durch dazwischen geschobene russische Vor-
posten an der Elbe, den Karpathen und der Donau zu brechen.
Unterläge die Revolution jetzt in Ungarn, so könnte freilich für
den Augenblick die slawische Konterrevolution mit ihrer ganzen
Barbarei die Monarchie überfluten. Aber beim ersten siegreichen
Aufstand des französischen Proletariats würden die österreichischen
Deutschen und die Magyaren blutige Rache nehmen. Und der Welt-
krieg, der dann ausbräche, würde ,,alle diese kleinen stierköpfigen
Nationen" bis auf ihre Namen beseitigen und nicht nur reaktionäre
Klassen und Dynastien, sondern auch ganze reaktionäre Völker
vom Erdboden vertilgen.
Dabeiwar jedoch Engels in diesen ersten Monaten des Jahres 1849
keineswegs so einseitig östlich orientiert, daß er seine Hoffnung
für das Wiederaufflammen der Revolution, die, wie er meinte,
nur im Weltsturm siegen konnte, ausschließlich auf die ungarische
Die österreichischen Slawen. 351
Karte gesetzt hätte. Die Vorgänge in Italien verfolgte er ebenfalls
für die Zeitung, und seinem aufmerksamen Blick entging auch
dort kein Ereignis, das für eine Wendung, wie er sie herbeiwün-
schen mußte, Aussichten eröffnete. Als im März 1849 Sardinien
den Waffenstillstand vom 9. August kündigte, hoffte er, der Habs-
burgische Staat möchte nicht mehr die Kraft besitzen, um neben
der ungarischen auch die italienische Front zu verteidigen. Weil er
aber bei der „unvermeidlichen Feigheit der Monarchie", die nie
den Mut habe, zu den äußersten revolutionären Mitteln zu greifen,
dem Haus Savoyen mißtraute, bereitete er seine Leser darauf vor,
daß Radetzky noch einmal seinen Einzug in Mailand halten werde,
sofern wiederum wie voriges Jahr eine schwankende Bourgeois-
regierung den Aufstand in Masse lähmte. Diesmal würden dann
aber die Franzosen „über Barrots und Napoleons Leib hinweg"
den Italienern zu Hilfe eilen. Als am 23. März bei Novara das
Kriegsglück von neuem für Österreich entschied, legte die Neue
Rheinische Zeitung diesem Ereignis größere Bedeutung bei als
der „deutschen Kaiserposse", die sie ins Feuilleton verwies. Diese
,, Niederlage der gesamten italienischen Revolution", so hoffte
Engels jetzt, würde zu einem erneuten Losbruch der europäischen
Revolution das Signal geben. Savoyen werde sich Frankreich in
die Arme werfen, Barrot und Bonaparte es zurückweisen. Das
Volk von Paris aber werde begreifen, daß Frankreich die Öster-
reicher in Turin und Genua nicht dulden dürfe. Das Volk von Paris
werde sich erheben und die französische Armee sich ihm an-
schließen. Schon seit Wochen erwartete Engels ja, daß eine neue
französische Revolution der von den Russen bedrohten unga-
rischen zu Hilfe kommen und ganz Europa mit fortreißen werde.
Die ersten Jahrestage der Februar- und Märzrevolution
gaben der Neuen Rheinischen Zeitung einen Anlaß, ihre Wünsche
und Befürchtungen zu präzisieren. Sie überraschte es nicht, daß
Rußland sich eben anschickte, mit bewaffneter Hand die ungarische
und, sofern es nötig würde, auch die deutsche Revolution niederzu-
schlagen. Sie hatte diese Gefahr vorausgesehen und die junge
deutsche Revolution antreiben wollen, ihr zuvorzukommen. Unter-
warf sich Österreich jetzt freiwillig der Oberherrschaft des Zaren,
zahlte es diesen hohen Preis, so rettete es sich, wie die Zeitung
die Dinge beurteilte, doch nur für Monate vor dem Untergange.
Daß die russischen Truppen, die in der Walachei standen, Ende
Januar die österreichische Grenze überschritten und Hermann-
stadt und Kronstadt besetzt hatten, nannte Engels den „nieder-
trächtigsten Bruch des Völkerrechts, der je in der Geschichte
dagewesen". „Ein Jahr nach der europäischen Revolution steht
352 I^sf Ausgang der deutschen Revolution.
die heilige Allianz fix und fertig vor uns wieder da in voller Stand -
rechts-, Banditen- und Polizeigemeinheit . . . und ganz Europa
wagt keinen Finger zu rühren." So schrieb er am 21. Februar.
Und bitter beklagte er, wie früher schon, daß die Revolution in Frank-
reich wie in Deutschland nach ihrem Siege zu milde aufgetreten
wäre und nicht verhindert habe, daß die Konterrevolution im Ein-
verständnis mit der Bourgeoisie dem Volk nun von neuem den Fuß
auf den Nacken setzen konnte. Nun aber hörte er ja die andere,
die stärkere Welle der europäischen Revolution, ihre eigentliche
Hochflut heranrauschen. „Das Jahr 1848," schreibt er in einem
nicht abgedruckten Artikel zum Jahrestag der Berliner Barrikaden-
kämpfe, ,,war das Jahr der Enttäuschung über die revolutionären
Reminiszenzen, Illusionen und sonstigen Phrasen. Das Jahr 1849
ist das Jahr der Enttäuschung über die Allgewalt der Militärdikta-
tur." Statt vor der bloßen Phrase der Republik anbetend nieder-
zusinken oder um erbärmliche Märzerrungenschaften zu feilschen,
werde die neue Revolution, solche Hoffnung hegte er, das Schwert
nicht niederlegen, bis Rache genommen wäre für allen Verrat und
alle Infamien der letzten neun Monate.
Und wirklich konnte es scheinen, als ob die Ereignisse Engels
noch einmal ein Recht zu so weit ausschweifenden Hoffnungen
geben wollten. In den letzten Monaten hatte er immer zwei Hoch-
druckgebiete festgestellt, deren Vereinigung, wenn sie gelang, über
Deutschland stattfinden mußte, das ungarische und das fran-
zösische. Aber wurde nicht diese Vereinigung unvermeidlich,
die Kraft der dann unaufhaltbaren allgemeinen europäischen
Explosion unwiderstehlich, wenn auf dem zentralen Boden Deutsch-
lands aus autochthonen Quellen gespeist jetzt die Revolution von
neuem ausbrach ?
Daß das Verfassungswerk, mit dem es so überschwängliche
Hoffnungen verband, glücken werde, hatte das deutsche Bürger-
tum, das große wie das kleine, bestimmt erwartet. Als dieses Werk
jetzt, kurz vor dem Hafen, wie es schien, an dem Widerstand
der deutschen Großmächte scheiterte, da klammerten sich die
enttäuschten Massen, so wenig sie sich sonst für das Hohenzollern-
sche Kaisertum begeisterten, an die von Österreich, Preußen und
Bayern abgelehnte Reichsverfassung als an das einzige Wahr-
zeichen, unter dem Bürger, Bauern und Arbeiter in allen deutschen
Gauen sich zusammenfinden konnten, um noch in letzter Stunde
aus dem Schiffbruch des Einheitswerks zu retten, was zu retten war.
Für eine Reichsverfassung mit kleindeutscher Lösung und mit
Friedrich Wilhelm IV. als Kaiser hatte die Neue Rheinische Zeitung,
die den Frankfurter ,, Debattierklub" mit ostentativer Nichtachtung
Hoffnungen auf Frjuikfurt und Süddeutschland. oc9
b/^handelte, nur hellen Hohn, Überhaupt hielt sie die , »Gründung
der Bourgeoisherrschaft unter der Form der konstitutionellen
Monarchie" für unmöglich. Absr es entsprach ihrer Taktik, jede
Bewegung zu fördern, welche die Revolution vertiefte, die Gegen-
sätze verschärfte, die Gesinnungen radikalisierte, die Massen in
Erregung setzte. Nun hatten Marx, Schapper, Wilhelm Wolff,
Hermann Becker und Anneke Mitte April ihren Austritt aus dem
Rheinischen Kreisausschuß der demokratischen Vereine voll-
zogen und kurz darauf die provisorische Leitung eines nur die
Arbeitervereine des Rheinlands und Westfalens umspannenden
Bundes übernommen. Mit dieser Absonderung der proletarischen
von der bürgerlichen Demokratie parallel ging eine noch geflissent-
lichere Hervorkehrung des Gegensatzes zwischen der trikoloren
und der roten RepubUk in den Spalten der Neuen Rheinischen
Zeitung. Doch diese in die Zukunft weisenden Gegensätze mußten
noch einmal zurücktreten, als jetzt der gemeinsame Kampf mit
der Reaktion einem gewaltsamen Austrag zudrängte und die Ein-
heitlichkeit der demokratischen Phalanx gebieterisch forderte.
Während sich Marx von der zweiten Aprilhälfte bis über die
erste Maiwoche auf einer Werbereise befand, um die gänzlich
geleerte Kasse der Zeitung neu auffüllen zu können, schrieb Engels
den Leitartikel über die deutsche Politik, die sich eben mit der
Bewegung jenseits der Grenzen so verheißungsvoll zu verflechten
schien. Mit der Auflösung der preußischen zweiten Kammer,
hatte Radowitz, der ihm als die ,, Seele der preußischen Konter-
revolution" galt, wie er glaubte, der sich entwickelnden un-
garisch-polnisch-deutschen Revolution einen großen Dienst ge-
leistet. Weil die Pläne zur Wiederherstellung des alten Regiments
sich immer offener an den Tag wagten, zweifelte er nicht, daß
die neue Revolution nun schnell heraufziehen würde. Und ange-
sichts der Siege der Ungarn, der Auflösung Österreichs, der Wut
des Volks in Preußen ,, gegen die Hohenzollernsch-Manteuffelsche-
Radowitzsche Verräterei" hoffte er, daß Frankfurt und Süddeutsch-
land, wenn sie sich offen für die Reichsverfassung erhöben, in
der ersten Zeit für die neue auf Ungarn gestützte revolutionäre
Erhebung den Mittelpunkt abgeben könnten. Voraussetzung dafür
war freilich, daß man sich in Frankfurt in der Stunde unabwend-
barer Entscheidung nicht scheute, den Bürgerkrieg zu prokla-
mieren, und äußarsten Falls der einen und unteilbaren Republik
vor der Restauration des alten Bundestages den Vorzug gab. So
wenig revolutionäre Energie er den Männern der Paulskirche
zutraute, erwartete Engels doch, daß auch bei ihnen die Sache
eine andere Wendung nehmen würde, wenn erst die ungarischen
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 23
254 ^^^ Ausgang der deutschen Revolution.
Husaren, die polnischen Landers und das Wiener Proletariat ein
Wort mitsprächen.
Das Gerücht, daß russische Truppen demnächst durch die
Provinz Schlesien nach Böhmen marschieren würden, riß ihn am
4. Mai zu einem Wutausbruch hin, der maßloser war, als alles
was das Rheinische Blatt bis dahin gegen die ,, Vorderrussen"
geschrieben hatte: ,,Wir sind nur durch Gewalt Preußen Untertan
geworden und Untertan geblieben. Wir waren nie Preußen. Aber
jetzt, wo wir gegen Ungarn geführt, wo preußisches Gebiet durch
russische Räuberbanden betreten wird, jetzt fühlen wir uns als
Preußen, ja wir fühlen, welche Schmach es ist, den Namen Preußen
zu tragen."
Für alle errechenbaren Möglichkeiten stets gewappnet, hatte
die preußische Heeresleitung, die sich auf die Gefahr eines fran-
zösischen Angriffs berufen konnte, wie wir schon wissen, zeitig
die umfassendsten Vorkehrungen getroffen, um einer Lossagung
und einer allgemeinen Erhebung der Rheinlande mit bewaffneter
Hand begegnen zu können. Soweit nicht die Brennpunkte der revo-
lutionären Gärung wie Köln und Koblenz an sich von starken
Zitadellen und Forts beherrschte Festungen waren, erhielten sie
wie jetzt Aachen und Düsseldorf eine reichliche Verstärkung der
Garnisonen. Durch annähernd den dritten Teil der preußischen
Armee besetzt, in allen Richtungen von Eisenbahnen durchschnit-
ten, mit einer ganzen Dampftransportflotte zur Verfügung der
Militärmacht, konnte in den Rheinlanden eine gewaltsame Er-
hebung nur dann nicht aussichtslos erscheinen, wenn Hoffnung
bestand, die Besatzungen der Festungen auf die revolutionäre
Seite herüberzuziehen oder durch gewaltige von außen eindrin-
gende Ereignisse so zu terrorisieren, daß sie kopflos sich über-
rumpeln ließen. Genau wie im September 1848 warnten die leitenden
Männer der Neuen Rheinischen Zeitung, die sich über den Stand
der Dinge keinen Illusionen hingaben, auch jetzt vor ,,Emeuten".
Sie sagten den Kölner Arbeitern, daß es nicht ihnen beschieden
sei, durch einen entscheidenden Schlag die neue Revolution zu be-
ginnen. Wien, Böhmen, Süddeutschland, Berlin gärten und er-
spähten den geeigneten Augenblick. Sie aber sollten sich hüten,
für die Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer zu holen, vielmehr
in Ruhe die Entscheidung der rheinischen Gemeinderäte abwarten,
die eben der Kölner zu einer außerordentlichen Tagung eingeladen
hatte. Doch die Erregung in der Provinz wuchs von Tag zu Tag
und erreichte den gewaltigsten Grad, als die preußische Regierung
jetzt durch die Einberufung der Landwehr zahlreiche Bürger in
einen , .Konflikt der Pflichten" trieb, aus dem kein Ausweg sich
Zuspitzung der Situation in der Rheinprovinz. ^55
finden ließ. Gegen äußere Feinde zu marschieren, wäre die Land-
wehr bereit gewesen, aber zur Niederschlagung der Bewegung,
die man in ganz Deutschland für die Verteidigung der Reichs-
verfassung erwartete, und die im Königreich Sachsen schon zum
Ausbruch gekommen war, wollte sie sich nicht gebrauchen lassen.
Die Gemeinderäte der Rheinprovinz faßten am 5. Mai in Köln
unter dem Eindruck dieser stürmisch hervortretenden Gesinnung
die geharnischte Resolution, daß die Einberufung der Landwehr
unter solchen Umständen den inneren Frieden in hohem Grade
gefährde und daß der „Bestand Preußens in seiner gegenwärtigen
Zusammensetzung" bedroht wäre, falls diese Verfügung nicht
zurückgenommen würde. Zur gleichen Zeit forderte die Kölner
Versammlung das deutsche Parlament zu schleunigsten kräftigen
Anstrengungen auf, um dem Widerstand des Volkes in den einzelnen
deutschen Staaten und namentlich auch in der Rheinprovinz jene
Einheit und Stärke zu geben, die allein imstande sei, die wohl-
organisierte Gegenrevolution zuschanden zu machen. Daß die
Gemeinderäte aus nahezu dreißig rheinischen Städten eine solche
Sprache führten, weckte bei den Massen des unzufriedenen Klein-
bürgertums den Anschein, daß nötigenfalls auch ,,die Blüte
des vormärzlichen rheinischen Liberalismus", das rheinische
Großbürgertum, aus der sich zuspitzenden Lage revolutionäre
Konsequenzen ziehen würde. Dessen eigentliche Gesinnung kam
aber getreuer als in dieser verwegenen Resolution des Städtetages,
in seinem ständigen Organ, der Kölnischen Zeitung, zum Ausdruck.
Zwar machte auch die Rivalin der Neuen Rheinischen Zeitung in
der Verzweiflung ihres Herzens für alles Blut, das vergossen würde,
die ,, meineidige Konterrevolution" verantwortlich, gleichzeitig je-
doch bat sie die Mitbürger flehentlich, den Boden der Mäßigung
und Gesetzlichkeit nicht zu verlassen. Wie aber sollte die zu den
Fahnen gerufene Landwehr es anstellen, an der Gesetzlichkeit
festzuhalten, wenn sie sich nicht dazu hergeben wollte, deutsches
Blut zu vergießen? Hatte Engels nicht eigentlich recht damit,
wenn er behauptete, daß die Regierung durch die Einberufungen
die Feindseligkeiten schon eröffnet hatte?
Zum hellen Aufruhr gedieh der Widerstand der Landwehr in
den Hauptorten des bergisch-märkischen Industrie bezirks, in Iser-
lohn, in Solingen, in Hagen und in Elberfeld. Wie sorglos hatten
die preußischen Könige noch bis vor kurzem auf die unbedingte
Loyalität des frommen Wuppertals bauen können! Seit dem März
1848 war es freilich auch dort vorbei mit der unbestrittenen Allein-
herrschaft der Plutokratie, die, auf den Pietismus gestützt, zum
Legitimitätsprinzip schwor. Namentlich August von der Heydt,
23*
356 Der Ausgang der deutschen Revolution.
der scharfsichtigste und der einflußreichste unter diesen Geschäfts-
leuten, hatte die Notwendigkeit erkannt, durch rechtzeitige Zu-
geständnisse die Flut einzudämmen, die sich unwiderstehlich selbst
in dies umhegte Gebiet mit seinen noch halb latenten, aber so
ungeheuren sozialen Gegensätzen ergoß. Er war an die Spitze der
konstitutionellen Bewegung getreten und hatte damit erreicht,
daß das Wuppsrtal gemäßigte Männer in die Parlamente wählte,
und daß König Friedrich Wilhelm IV. sich bereits im Sommer in
Eiber feld wieder zeigen durfte. Am Ende vermochte aber auch er
nicht zu verhindern, daß sich hier wie allerorten die Gegensätze
zuspitzten, daß die Massen der Färber, Drucker, Weber in Be-
wegung gerieten und daß die Demokratie, von dem Bankdirektor
Hecker und dem Advokaten Höchster geführt, ständig an Boden
gewann. Dadurch von neuem nach rechts gedrängt, wurde von
der Heydt der wichtigste Sach Verwalter der Gegenrevolution
am Niederrhein und in Westfalen. Als er zum Lohn dafür, daß er
den Staatsstreich gefördert hatte, Handelsminister wurde, gab seine
Entfernung aus Elberfeld hier der Demokratie das Oberwasser;
die Gärung, durch die ausgebreitete Arbeitslosigkeit stark ge-
fördert, wuchs, und die Einberufung der Landwehr gab nur den
letzten Anstoß zum gewaltsamen Ausbruch. Für ein über die
ganze Provinz sich erstreckendes Komplott hatte einer der Haupt-
drahtzieher, der Zeichenlehrer Körner in Elberfeld, am 6. Mai
Engels und seine Kölner Parteifreunde zu gewinnen und ihre
Bedenken zu zerstreuen gesucht. Körners Behauptung, daß
allein Engels ,,von dem bornierten Standpunkt eines doktrinären
Radikalen weg zu bewegen gewesen sei", ist nicht wörtlich zu
nehmen. Ihm wurde es nicht minder schwer als Marx, Wilhelm
Wolff und den anderen, die Reichsverfassung als sein Panier an-
zuerkennen.
Am 9. Mai begann in Elberfeld der Barrikadenbau, das Gefäng-
nis wurde gestürmt, aus Barmen, wo zur Freude des Königs die
Ruhe gewahrt blieb, und aus anderen Orten der Gegend strömten
unruhige Gäste in Fülle herbei, der feige Oberbürgermeister erwies
sich als unfähig, von Düsseldorf kam Militär, es zog wieder ab,
die städtischen Behörden drückten sich zur Seite und ein Sicher-
heitsausschuß, mit den Koryphäen der Demokratie an der Spitze,
übernahm die Regierung der Stadt, während der Oberpräsident
von Eichmann nach Berlin meldete, daß sich in Elberfeld die Armen
gegen die Reichen erhoben hätten. Nun können natürlich an
Plätzen, die nicht von vornherein militärische oder politische Kraft-
zentren sind, revolutionäre Erhebungen, selbst wenn sie siegreich
sind, folgenreich nur werden, wenn sie sich zu behaupten, zu
Engels revolutionärer Feldzugsplan. oe»?
befestigen und auszubreiten vermögen, bis sie selbst ein revolutio-
näres Kraftzentrum geworden sind oder an ein bestehendes anderes
Anschluß gewonnen haben. Wirklich waren gleichzeitig mit der
Kunde, daß die Hauptorte des bergisch-märkischen Industrie-
gebiets im offenen Aufruhr stünden, bei der Neuen Rheinischen
Zeitung die Nachrichten eingelaufen, daß in Dresden der Aufstand
sich hielte, daß in Breslau Barrikadenkämpfe stattgefunden hätten,
daß in der Pfalz die revolutionäre Bewegung sich konsolidierte, daß
eine Militärrevolte in Baden den Großherzog zur Flucht bestimmt
habe, und, zu allem anderen, daß die Ungarn im Begriff stünden,
die Leitha zu überschreiten. Niemals seit dem März 1848 schien
die Aussicht auf einen allgemeinen Sieg der Revolution günstiger
gestanden zu haben. Mußte in solcher Stunde nicht, allen Bedenken,
die auch Engels sich nicht verhehlte, zum Trotz, der Versuch gewagt
werden, nun auch die Rheinprovinz zu insurgieren? Gelang es,
so wurde die Bewegung damit vielleicht unwiderstehlich.
Durch alle diese Nachrichten, am stärksten wohl durch die sich
überstürzenden aus dem heimischen Wuppertal, tief erregt, unter-
breitete Engels in fliegender Hast, bereits auf dem Sprunge, die
Feder fortzuwerfen und zu den Elberfelder Insurgenten zu stoßen,
den Freunden einen revolutionären Feldzugsplan. Um die auf-
gestandenen Bezirke zu stützen, erachtete er es für nötig, schleunigst
dafür zu sorgen, daß das linke Rheinufer das rechte nicht im Stiche
ließ. Dort in den kleineren Städten, in den Fabrikorten und auf dem
Lande müsse etwas unternommen werden, um die Garnisonen in
Schach zu halten. Während m.an in den Festungen und größeren
Garnisonstädten, weil es sinnlos wäre, jeden unnützen Krawall
vermied, möge man alle disponiblen Kräfte in die aufständischen
Bezirke auf dem rechten Rheinufer werfen, die Insurrektion von
hier aus weiter verbreiten und mittelst der Landwehr eine revolu-
tionäre Armee zu organisieren versuchen. Nicht übel ersonnen,
litt dieser Plan, wie alle, die damals in ähnlicher Lage von ent-
schlossenen Revolutionären entworfen wurden, daran, daß der
Verfasser die Bereitschaft und Aufopferungsgeneigtheit der großen
Masse an seinem eigenen leidenschaftlichen Ernst maß. Aber dies
zimperliche Kleinbürgertum und dies vom Solidaritätsgedanken
noch kaum erfaßte Proletariat, Klassen, die von politischen Orga-
nisationsbestrebungen eben zum erstenmal ergriffen wurden,
ließen sich nicht in jagender Hast militärisch organisieren. Die
revolutionäre Energie der unzusammenhängenden Gruppen, die
sich spontan erhoben hatten, verpuffte, da ein allgemeiner Insurrek-
tionsplan, wie er Engels vorgeschwebt hatte, überhaupt nicht
bestand, noch bevor der Aufruhr eine einheitliche Leitung erhalten
358 Der Ausgang der deutschen Revolution.
konnte. Der ganze Aufstand in den Rheinlanden blieb ein par-
tieller und wurde ohne viel Mühe unterdrückt.
Engels war sich nicht im Zweifel gewesen, daß die Erhebung nur
glücken konnte, wenn auch Republikaner und Kommunisten von
ihren besonderen Forderungen kein Aufhebens machten, sondern sich
der großen Reichsverfassungspartei angliederten, die unter demokra-
tisch-kleinbürgerlicher Führung die Fahne der Revolution ergriffen
hatte. Kam es ihm schon schwer an, sein sachliches Ziel zurück-
zustellen, so widersprach es seinem Wesen noch mehr, sein Tempera-
ment mit dem des bedächtigen, noch beim Revolutionieren philiströsen
Kleinbürgertums in Einklang zu setzen. Sollten die rebellischen Land-
wehrleute, deren Zahl sich nach der Aufwallung des ersten Tages
nicht stark vermehrt hatte, der Kern einer rheinischen Revolutions-
armee werden, so wurde es nötig, die Landwehrzeughäuser in die
Gewalt zu bekommen. Links des Rheins in Prüm glückte dies unter
Führung Imandts und Schilys, während Annekes Anschlag auf
Siegburg scheiterte. An dem erfolgreichen Überfall Solinger Arbeiter
auf das Zeughaus in Gräfrath hat Engels nicht, wie hernach die
Klage behauptete, persönlich teilgenommen, aber darum gewußt
wird er haben. Zwei hier erbeutete Kisten mit Munition lieferte
er dem Sicherheitsausschuß in Elberfeld ab, als er sich diesem am
II. Mai zur Verfügung stellte. Er hatte Köln in dem Vertrauen
verlassen, daß das Wuppertal ihn nun für alle Rückständigkeit, die
er diesem so reichlich vorgeworfen hatte, entschädigen wollte. An
Ort und Stelle fand er aber die Zustände anders, als er gedacht hatte.
Nicht, daß er sich eingeredet hätte, das erst so kurze Zeit „aus
der Versumpfung des Schnapses und des Pietismus" herausgerissene
Proletariat, das noch keine Vorstellung von den Bedingungen
seiner Befreiung hatte, würde der Träger der Bewegung sein. Was
ihn enttäuschte, war die weitreichende Unentschlossenheit, die
er antraf, was ihn überraschte, das tiefe Mißtrauen, auf das er
von der ersten Stunde an bei jenen Kleinbürgern stieß, die sich
auf dem Rathaus in den Fauteuils der nach Düsseldorf entflohenen
Großindustriellen breit machten. Die ,, entschiedene Partei", zu
der er sich zählte, die einzige, der es mit der Verteidigung ernst
war, fand er als eine Minderheit vor, die sich in acht nehmen
mußte, um nicht in eine schiefe Stellung zu geraten. Vom Sicher-
heitsausschuß der Militärkommission, die für die Verteidigung der
Stadt sorgen sollte, zugeteilt, war er von dieser mit der Inspektion
der Barrikaden und der Vervollständigung der Befestigungen betraut
worden und sofort daran gegangen, eine Kompagnie Pioniere zu-
sammenzubringen. Am folgenden Tage bevollmächtigte man den
ehemaligen Gardebombardier auch noch, die Kanonen nach seinem
Beim Aufstand in Elberfeld, ^c^
Gutdünken aufzustellen und die dazu nötigen Handwerker zu
requirieren. Auf seinen Rat berief man den ehemaligen preußischen
Artillerieoffizier Otto von Mirbach, der sich als Ingenieur in der
polnischen Revolution ausgezeichnet haben sollte, als Oberbefehls-
haber.
Als ihn der Sicherheitsausschuß bei seiner Meldung über seine
Absichten befragte, hatte Engels erwidert, als Sohn der Gegend
betrachte er es als eine Ehrensache, bei der ersten bewaffneten
Erhebung des bergischen Volks auf seinem Platze zu sein. Auch
wünsche er sich bloß militärisch zu betätigen; es läge auf der Hand,
daß jedes Auftreten gegen die Reichsregierung vermieden werden
müsse. Dennoch hatte die Kunde von dem Eintreffen des berüch-
tigten Sohns des angesehenen Barmer Fabrikanten und der Über-
tragung wichtiger Befugnisse auf einen Redakteur der Neuen Rhei-
nischen Zeitung in weiten Kreisen der Bürgerschaft die Befürch-
tung geweckt, daß das ,, Kommunistenpack" die Führung der Be-
wegung an sich reißan könnte. ,,Die Raichsverfassungsmänner",
hieß es hinterdrein in der Spottschrift eines legitimistischen Wupper-
talers gegen die ,,Allerweltsbarrikadenhelden**, hätten den ,, Faden
gesponnen", aber ,,die roten Teufel waren bei der Hand und wickel-
ten ihn auf ihre Spule". Hätten die dreifarbigen Republikaner
bei der Katzbalgerei im Sicherheitsausschuß nicht die Oberhand
behalten, so wäre es den reichen Leuten übel ergangen, meinte der
anonyme Verfasser. Das Gerücht wurde verbreitet, daß Engels
über Nacht auf einer Reihe von Barrikaden die schwarz-rot -goldenen
Fahnen durch rote ersetzt habe, zu denen teils die roten Fenster -
gardinen aus dem demolierten Haus des Oberbürgermeisters
von Carnap, teils Stränge Türkischrotgarns Verwendung fanden.
Soviel steht fest, daß der Versuch gemacht worden ist, die klein-
bürgerliche Bevölkerung gegen Engels aufzuhetzen und daß die
Männer des Sicherheitsausschusses den ersten Anlaß benutzten,
um sich des , »jungen Phantasten" zu entledigen, der die Dinge
gar so ernsthaft nahm. Während sie besorgt blieben, allem,
was bereits geschehen war, zum Trotz die Brücken nach rück-
wärts nicht vollends abzubrechen, verlangte jener jetzt von
ihnen die Entwaffnung der Bürgerwehr, die sich neutral ver-
halten wollte, die Verteilung ihrer Waffen unter die revolu-
tionären Arbeiter und, was sicherlich das schrecklichste war,
daß man bei den Bürgern eine Zwangssteuer für deren Unter-
halt erhöbe. So unbequem machte der Heißsporn sich jenen
Männern, die nachher beim Herannahen der Gefahr nicht nur das
Hasenpanier ergriffen, sondern sich ihren freiwilligen Rücktritt
von den Industriellen für bares Geld genau so abkaufen ließen
2^0 D®r Ausgang der deutschen Revolution.
wie die schnapslustigen Lumpen Proletarier die achtzig Gewehre,
die Engels aus dem Cronenberger Rathaus genommen hatte.
Höchster erklärte am 14. Mai beim Generalappell dem jungen
Mann, daß seine Anwesenheit die Bourgeoisie in hohem Grade
beunruhige, daß diese jeden Augenblick fürchte, er werde die rote
Republik proklamieren und daß sie seine Entfernung verlange.
Da Engels sich schwer entschloß, seinen Posten zu verlassen,
weigerte er sich abzureisen, wenn der Sicherheitsausschuß ihm die
Aufforderung nicht schriftlich zustellte und Mirbach sie billigte.
Von vielen Seiten gedrängt, erklärte der von Engels empfohlene
Oberbefehlshaber anderen Tags sich dazu bereit. Den unter Waffen
stehenden Arbeitern aber, die der Vorfall erregte, gab Engels,
nach Köln zurückgekehrt, durch die Neue Rheinische Zeitung zu
bedenken, daß die gegenwärtige Bewegung nur ein Vorspiel jener
tausendmal ernsthafteren Bewegung wäre, in der es sich um ihre,
der Arbeiter, eigenste Interessen handeln werde. Wenn erst diese
revolutionäre Bewegung eintrete, würden die bergischen und m.är-
kischen Arbeiter, darauf mögen sie sich verlassen, ihn an seinem
Platze finden, und keine Macht der Erde werde ihn dann bewegen,
von seinem Platz zurückzutreten.
Nun knüpfte sich aber an diese Tage im aufständischen Elber-
feld für Engels noch eine andere Kette von Erlebnissen, über die
wir weniger vollständig unterrichtet sind, obgleich sie tiefer als
der von seiner Erinnerung mit der üblichen Dosis Humor gewürzte
Aufenthalt zwischen den Barrikadenhelden in sein Leben ein-
geschnitten hat. Am Morgen des 13. Mai, des einzigen Sonntags,
den er in Elberfeld verbrachte, scheint den Jüngling der Teufel
geritten zu haben, daß er der Versuchung erlag, mit seiner roten
Schärpe geschm.ückt, nach Barmen hinüberzugehen. Vielleicht
wollte er als Inspektor der Elberfelder Barrikaden wirklich nur an
der Brücke, die Elberfeld von Unterbarmen trennte, nach dem
Rechten sehen. Vielleicht hatte er aber auch die Absicht, die Barmer
Arbeiter, die durch die von den Fabrikanten beherrschte Bürger-
wehr niedergehalten wurden, aufzuwiegeln. Von Alexander Pagen-
stecher, der dem ,, hübschen, geistreichen, verkommenen Men-
schen" begegnete, wissen wir, daß er dort auf der mit Böllern be-
stückten Barrikade an der Haspeler Brücke in seelenvergnügter
Stimmung das Kommando führte, und auf die Bemerkung des
Deputierten, die heranrückenden Truppen könnten die von der
friedlichen Bevölkerung vorher verlassene Stadt in Trümmern legen,
die Antwort gab, dahin werde es nicht kommen, weil die Auf-
ständischen die Mutter und den Bruder des Ministers von der Heydt
als Geiseln in ihren Händen hätten. Um jene Stunde scheint er
Schwerer Konflikt mit dem Vater. 361
nun auch seinem frommen Vater, der sich vielleicht gerade auf dem
Kirchgang befand, in den Weg gelaufen zu sein. Ernst von Eynem
erzählt, daß „der alte würdige Engels" mit seinem auf „den Barri-
kaden stehenden Sohne" eine Begegnung hatte, die bei allen guten
und wohlgesinnten Bürgern höchlichste Entrüstung weckte und
dem jungen Friedrich als eine ,, Untat" angerechnet wurde. Auch
Fam.ilienbriefe aus dem folgenden Jahr, die sich erhalten haben,
lassen erkennen, daß zwischen Vater und Sohn damals ein schweres
Zerwürfnis stattfand, dem die dramatische Zuspitzung nicht ge-
fehlt hat. Die Spuren dessen, was hier vorgefallen ist, und das
Bewußtsein dessen, was sie trennte, sind Friedrich anscheinend
unverwischbar geblieben. Gegen jede „Schulmeisterei" empfind-
lich geworden, hielt er seit jenem Tage ein „kühles Geschäfts -
Verhältnis" zwischen sich und seinem Erzeuger für wünschens-
werter als allen ,, Gefühlshumbug". —
Das Fehlschlagen der Aufstandsversuche in der Rheinprovinz,
die nun unter dem Belagerungszustand erst recht von Bajonetten
starrte, zog auch die Neue Rheinische Zeitung in den Strudel
hinab. Die siegreiche Militärpartei wollte gegenüber der Kölner
Hauptwache nicht länger ein Blatt dulden, das die Bevölkerung
in so aufreizender Sprache zum Abfall von Preußen hetzte. „Die
eine Hälfte der Redakteure," erzählte Engels später, ,,war unter
gerichtlicher Verfolgung, die andere als Nichtpreußen ausweisbar.
Dagegen war nichts zu machen . . . Wir mußten unsere Festung
übergeben, aber wir zogen ab mit Waffen und Bagage, mit klingen-
dem Spiel und der Fahne der letzten roten Nummer." An der
Spitze dieser berühmten Nummer, die am 19. Mai erschien, steht
Freiligraths bekanntes Abschiedswort der Neuen Rheinischen
Zeitung, das „dem Throne zerschmetternden Volke" allzeit Treue,
Haß und Rache aber den „schmutzigen Westkalmücken" schwört.
,,0, gern wohl bestreuten mein Grab mit Salz
Der Preuße zusammt dem Czare —
Doch es schicken die Ungarn, es schickt die Pfalz
Drei Salven mir über die Bahre 1"
Rebellischen Geistes voll war natürlich auch, was Engels in dieser
roten Nummer seinen Landsleuten zurief. Auf die Ereignisse in
Elberfeld zurückblickend, bedauerte er jetzt, daß die bewaffneten
Arbeiter nicht rücksichtsloser ihre Macht zur ,, vollständigen Nieder-
haltung einer schamlos feigen aber noch mehr perfiden Bourgeoisie"
ausgenutzt hätten, die sich gewiß nicht entblöden werde, die von den
Lüttringhauser Bauern gefangenen Freischärler, zu denen Mirbach
gehörte, „an die Hohenzollernschen Mord- und Greuelknechte"
zu überliefern. Welches Glück, daß wenigstens der Südwesten
202 ^^^ Ausgang der deutschen Revolution.
Deutschlands „zu einer Pille geworden" war, „die von den Gott-
begnadeten nicht so leicht verdaut werden wird". Den badischen
und pfälzischen Soldaten, die „den Eidschwur, den sie gekrönten
Gaunern gegenüber zu leisten gezwungen worden", zerbrochen
hätten, weist Engels den ehrenvollsten Platz in der deutschen Ge-
schichte des Jahres 1849 zu. Den Fall Livornos, der erfolgt war,
den Bolognas, der drohte, beklagt er. Allein den ,, Riesenvulkan der
europäischen Gesamtrevolution" sah er ,, nicht bloß im Kochen,
sondern am Vorabend seines Ausbruchs. Seine roten Lavaströme
werden sehr bald die ganze gottbegnadete und raubritterliche Wirt-
schaft auf ewig begraben; das ganze infame, heuchlerische, ver-
faulte, feige und doch übermütige Bourgeoistum aber wird von den
endlich klug und einig werdenden Proletariermassen in den glühen-
den Krater als unbetrauertes Sühneopfer hinabgestürzt werden."
Wie recht Engels getan hatte, das Erscheinen der ,, roten"
Nummer, in der er solches prophezeite, nicht mehr auf preußischem
Boden abzuwarten, bewies der Steckbrief, der ihm am 6. Juni
nachfolgte. Zunächst begab er sich mit Marx und anderen Redak-
teuren des Blattes nach Frankfurt, in der Hoffnung, das deutsche
Parlament werde unter dem gebieterischen Zwang, wählen zu
müssen zwischen den ihre Streitkräfte sammelnden Regierungen
und dem für die Reichsverfassung aufstehenden Volke, sich der
Revolution anschließen. Engels und Marx wollten doch wenigstens
den Versuch machen, aus der trägen, ratlosen Masse der Pauls-
kirche, der ihre Ohnmacht erst jetzt offenkundig wurde, rote
Funken herauszuschlagen. Alles, meinten sie, könnte noch gewon-
nen werden, wenn das Parlament und die Führer der süddeutschen
Bewegung nur jetzt Mut und Entschlossenheit bekundeten. Wir
wissen nicht genau, welche Führer der Linken sie mit ihren kühnen
Vorschlägen bestürmten. Ein einziger Beschluß der National-
versammlung, erklärten sie, würde ausreichen, um die badische
und pfälzische revolutionäre Armee zu ihrem Schutz nach Frank-
furt zu rufen. Engels war noch in späteren Jahren überzeugt,
daß ein solcher Beschluß damals die Situation zu retten vermocht
hätte. Dadurch würde das Parlament mit einem Schlage das Ver-
trauen des Volkes zurückerobert haben. Der Abfall der hessen-
darmstädtischen Truppen, der Anschluß Württembergs und Bayerns
an die neue Revolution wäre dann mit Sicherheit zu erwarten ge-
wesen, die mitteldeutschen Kleinstaaten wurden ebenfalls hinein-
gerissen, Preußen bekam genug bei sich zu tun, und gegenüber
einer so gewaltigen Bewegung in Deutschland hätte Rußland einen
Teil der Truppen, mit denen es hernach die Ungarn bezwang, in
Polen zurückhalten müssen. Sogar Ungarn wäre also in Frankfurt
In Frankfurt und Karlsruhe. 363
zu retten gewesen, und unter dem Eindruck einer siegreich fort-
schreitenden Revolution in Deutschland wäre der revolutionäre
Ausbruch in Paris, auf den Engels und Marx damals noch von
Tag zu Tag warteten, nicht auf die kampflose Niederlage der
, »radikalen Spießbürger" vom 12. Juni 1849 hinausgelaufen.
Doch die beiden Freunde mußten schnell bemerken, daß sie
in der Frankfurter Atmosphäre ihre Worte in den Wind säten.
Nur ganz wenige Abgordnete wie Johann Jacob y gestanden sich
und anderen, daß eine revolutionäre Versammlung, die sich defensiv
verhalte, verloren sei. Der weitaus größte Teil jener Volksvertreter
bestand, wie dieser aufrechte Ostpreußs am 19. Mai einem Königs-
berger Landsmann schrieb, ,,aus Leuten, die — unfähig für irgend-
eine Idee sich zu begeistern oder aufzuopfern — nur allein durch
ein Maß Ehrgefühl auf ihrem Posten zurückgehalten" wurden:
,,Daß sie sich der zur Durchführung der Reichsverfassung ent-
standenen Bewegung bemächtigen und dieselbe leiten — daran ist
gar nicht zu denken." Gerade während Engels in Frankfurt weilte,
griff die Fahnenflucht im Parlament reißend um sich. Heinrich
von Gagern, die ,, fleischgewordene Paulskirche", gestand Jacoby,
als dieser ihn vorwärts treiben wollte, daß er zwar den guten Willen,
aber nicht die Fäkigkeit habe, sich an die Spitze der Bewegung zu
stellen. So verließen Engels und Marx Frankfurt am 20. Mai un-
verrichte teter Sache, als Schild wache ihrer Partei Wilhelm Wolff
zurücklassend, der nun ins Parlament eintrat. Den Mut, alles an
alles zu setzen, den sie hier nicht angetroffen hatten, htfften sie
in der Gegend Deutschlands vorzufinden, wo der Bruch mit den
Regierungen bereits zur vollendeten Tatsache geworden war.
Sie eilten dem Herde des badisch -pfälzischen Aufstandes zu. Aber
bald nach dem Überschreiten der badischen Grenze enthüllte
sich ihnen der Dilettantismus seiner militärischen Führung. In
Mannheim gewannen sie dann den Eindruck, daß der erste
Aufschwung schon vorüber wäre: von allen Seiten schallte hier
ihnen die Klage entgegen, daß es an einer tatkräftigen und fähigen
Leitung mangele. In Karlsruhe angelangt, verdarben sie es sofort
mit dem Landesausschuß, als sie es offen einen kapitalen Fehler
nannten, daß die rebellischen Truppen nicht gleich im Anfang auf
Frankfurt marschiert waren, und rügten, daß nichts Einreichendes
unternommen worden war, um auch das ganze übrige Deutschland
in die Bewegung hineinzureißen. Sie sagten Brentano und seinen
Kollegen ins Gesicht, daß sie die süddeutsche Erhebung bereits für
verloren ansähen, falls nicht etwa entscheidende Schläge in Ungarn
oder eine neue Revolution in Paris ihr noch Hilfe brächten. Carl Blind
und Gögg waren im Landesausschuß die einzigen, die den Kritikern
o^A Der Ausgang der deutschen Revolution.
beipflichteten. Aufs stärkste enttäuscht über alles, was sie erlebt
und beobachtet hatten, beschleunigten Marx und Engels auch hier
ihre Abreise.
D'Ester aus Köln, der ihnen politisch näher stand als jene
badischen Bezirksgrößen, befand sich in einflußreicher Stellung
bei der provisorischen Regierung der Pfalz, die sie in Speyer suchten,
doch erst in Kaiserslautern trafen. Aber obgleich sich die ganze
„Blüte der deutschen Demokratie" wie eine „rote Kamarilla" um
die gemäßigteren Pfälzer Regenten geschart hatte, konnten sie sich
dem Eindruck nicht mehr entziehen, daß die Bewegung des deut-
schen Südwesten, an deren selbständige Kraft sie schon nicht mehr
glaubten, eine ihnen zu wesensfremde Welt verkörperte, als daß
sie an eine offizielle Beteiligung der kleinen kommunistischen
Partei hätten denken dürfen. Dem widersprach jedoch keinesv.egs,
daß die einzelnen Mitglieder, eine Reihe der Elberfelder Land-
sturmmänner und ein Teil der Setzer der Neuen Rheinischen Zei-
tung, sich den revolutionären Scharen, die eben einen Angriff der
preußischen Armee gewärtigen mußten, anschlössen. Nur wenige
Tage duldete es Marx und Engels in solcher Umgebung ; auf der Rück-
reise wurden sie auf hessischem Boden, als der Teilnahme am
Aufstand verdächtig, durch Militär aufgegriffen,^ nach Darmstadt,
von da nach Frankfurt transportiert und erst hier freigelassen.
Am 31. Mai finden wir sie in Bingen. Mittlerweile waren sie sich über
das, was sie nun zunächst vornehmen konnten, schlüssig geworden.
Marx wandte sich mit geheimen Vollmachten des in der Pfalz
weilenden demokratischen Zentralausschusses nach Paris, wo die
Wahlen zur Deputiertenkammer, von denen die Freunde den An-
stoß zum Wiederausbruch der Revolution erhofften, jetzt nahe
bevorstanden.
Engels dagegen eilte nach Kaiserslautern zurück, um von
dem revolutionierten Boden aus den weiteren Verlauf der Dinge
in Deutschland im Interesse der Partei im Auge zu behalten. Ob-
gleich ihm als demokratischem Flüchtling von Ruf bei dem un-
geheuren Mangel an tüchtigen Kräften fortwährend Zivil- und mili-
tärische Stellen in Menge angetragen wurden, vermied er, bei seinen
„avancierten Ansichten", anfänglich, für diese „soi-disant Revolu-
tion" tätig zu werden, die sich ihm mit jedem Tage mehr als ein
immer lokaler und unbedeutender werdender Lokalaufstand mit
kleinbürgerlicher Tendenz offenbarte. Um wenigstens seinen guten
Willen zu bezeugen, ließ er sich dazu herbei, dem Kaiserslautener
Boten, einem Blättchen, das die provisorische Regierung in Massen
verteilen ließ, seine Feder zur Verfügung zu stellen. Die weil er aber
nicht die Absicht hatte, sich dabei zu „genieren", so sagte er sich
Trennung von Marx. oge
voraus, daß gleich der erste Artikel diesen gemütlichen Herrschaften
die Lust benehmen werde, von ihm weitere zu verlangen. Und
wirkUch ist dieser vom 2. Juni datierte Beitrag sein einziger
geblieben; schon den zweiten fand selbst d 'Ester zu ,, aufregend".
Engels verteidigte in dem Boten die pfälzische und badische Re-
volution gegen den von der konterrevolutionären Presse erhobenen
Vorwurf, daß sie Landesverrat treibe. ,,Wenn ganz Deutschland vom
Njemen bis zuden Alpen durch feige Despoten an den russischen Kaiser
verraten und verkauft wird, das ist kein Landesverrat. Aber wenn
die Pfalz sich der Sympathien des französischen und besonders des
elsässer Volkes erfreut, wenn sie den Ausdruck dieser Teilnahme
nicht mit närrischer Selbstzufriedenheit zurückweist, wenn sie
Leute nach Paris schickt, um über die Stimmung Frankreichs,
über die neue Wendung Auskunft zu erhalten, die die Politik der
französischen Republik nehmen wird — ja, das ist Landesverrat,
das ist Hochverrat, das heißt, Deutschland an Frankreich, an den
„Erbfeind", an den Reichsfeind verkaufen." Wenn das Landes-
verrat wäre, fährt er fort, so sei das ganze badische und pfälzische
Volk ein Volk von dritthalb Millionen Landesverrätern. Denn es
habe seine Ravolution wahrlich nicht gemacht, um bei dem heran-
nahenden Entscheidungskampf zwischen dem freien Westen und
dem despotischen Osten sich auf die Seite des Despoten zu stellen.
Weder Bürger noch Soldaten wollten in den Reihen der Kroaten
und Kosaken gegen die Freiheit fechten. Wenn die Despoten von
Olmütz, Berlin und München noch Soldaten fänden, die tief genug
gesunken wären, um mit Baschkiren, Panduren und anderem Raub-
gesindel unter einer Fahne zu kämpfen, so werde man solche Söld-
linge nicht als deutsche Brüder empfangen und sich wenig darum
kümmern, ob ein verräterischer Ex-Reichskriegsminister an ihrer
Spitze steht. ,,In wenig Wochen, in wenig Tagen vielleicht werden
sich die Heeresmassen des republikanischen Westens und die des
geknechteten Ostens gegeneinander heranwälzen, um auf deutschem
Boden den großen Kampf auszufechten. Deutschland wird —
dahin haben die Fürsten und Bourgeois es gebracht — Deutsch-
land wird gar nicht gefragt werden, ob es dies auch erlaubt. Deutsch-
land macht den Krieg nicht, es wird ohne seine Zustimmung und
ohne daß es dies verhindern kann, mit Krieg überzogen. Das ist,
dank den Märzregenten, Märzkammern und nicht minder der
März-Nationalversammlung die ruhmvolle Stellung Deutschlands
beim bevorstehenden europäischen Kriege. Von deutschen In-
teressen, von deutscher Freiheit, deutscher Einheit, deutschem
Wohlstand kann gar nicht die Rede sein, wo es sich um die Freiheit
oder Unterdrückung, das Wohl oder Wehe von ganz Europa handelt.
366 I^er Ausgang der deutschen Revolution.
Hier hören alle Nationalfragen auf, hier gibt es nur eine Frage:
wollt ihr frei sein oder wollt ihr russisch sein?" Wenn Deutsch-
land im vorigen Jahre — wie er und Marx es gefordert hatten — den
Kampf gegen russische Unterdrückung aufgenommen hätte, so
wäre dieser Kampf auf russischem Boden geführt worden; nun
sei Deutschland den beiden streitenden Armeen als willenloses
Terrain preisgegeben, und der europäische Freiheitskrieg werde
zugleich zum deutschen Bürgerkrieg. Dies Schicksal danke
Deutschland der Verräterei seiner Fürsten und der Schlaffheit
seiner Volksvertreter. ,,Wenn etwas Landesverrat ist, so ist
es dies."
Wie aber, wenn der große Entscheidungskampf zwischen dem
freien Westen und dem unfreien Osten, auf dessen Nahen Engels all
sein Denken eingestellt hatte, ausblieb, wenn sich enthüllte, daß in
Frankreich der eigentliche revolutionäre Brennstoff, der sich so
schnell nicht ersetzt, schon in der Junischlacht aufgebraucht
worden war ?
Im Gasthof zum Donnersberg, wo Engels in Kaiserslautern ab-
stieg,gab es für seine hellen Augen, die so scharf hin und her zu blicken
verstanden, während des ersten Junidrittels, das er als Zuschauer
dort verlebte, viel Interessantes zu sehen. ,,Das war eine allgemeine
Sonntagsnachmittagslaune — ein wahrer Picknickhumor — äußerst
liebenswürdig, aber wenig mit dem Bild übereinstimmend, das
ich mir von dem Ernst dieser revolutionären Situation gemacht
hatte." Den gleichen Eindruck, den Carl Schurz von jenen
Tagen in Kaiserslautern zurückbehielt, empfing auch Engels. Sein
ausgeprägter Sinn für Humor konnte sich nun für die schweren
und ernsten Erlebnisse der voraufgegangenen Wochen in reichem
Maße schadlos halten. Die ganze Pfalz, so dünkte es ihm, hatte
sich in eine große Schenke verwandelt, und selbst in den revolu-
tionären Bezirken des Südens, deren behäbiger Wohlstand von
der Revolution nichts erhoffte, auch überdies von den Festungen
Germersheim und Landau in Respekt gehalten wurde, ließen die
behaglichen Bürger und wohlhabenden Bauern sich völlig in die
allgemeine Schoppenstecherei hineinreißen. Von der biederen
Feierlichkeit, „die der spießbürgerliche Charakter der Bewegung
der Mehrzahl ihrer Teilnehmer in Baden aufgedrückt hatte",
war hier nichts zu spüren. In der Pfalz, meint Engels, war der
Mann nur nebenbei ernst. Die ,, Begeisterung" und der ,, Ernst"
dienten hier nur dazu, die allgemeine Lustigkeit zu beschönigen.
,,Daß die Preußen kommen würden, daran glaubten die wenigsten,
daß sie aber, wenn sie kämen, mit der größten Leichtigkeit wieder
hinausgeschlagen würden, das stand allgemein fest."
Im Hauptquartier der pfälzischen Revolution. 367
Eine so harmlose und gemütliche Revolution wie diese pfäl-
zische war auf der Welt nirgends denkbar als in einem süddeutschen,
weintrinkenden Kleinstaat. Mit hilfloser Freundlichkeit ließen die
gutmütigen Regenten es sich gefallen, daß man sich über ihre
,, bequeme Manier des Revolutionierens" und ihre ,, impotenten
kleinen Maßregelchen" lustig machte. Damit aber entwaffneten
sie in der Regel selbst einen so rigorosen Kritiker wie unseren
Engels. Zwar wiederholte er bei jeder Gelegenheit, wieviel, das
nun nicht mehr einzuholen wäre, versäumt worden sei, wohl ver-
wies er sie, ohne mehr als höchstens lässige Zustimmung zu ernten,
auf manches, was jetzt noch geschehen konnte, aber das geschah
beim Schoppen Wein und in aller Freundschaft. Nur einmal als
er so seiner Zunge freien Lauf ließ, mußte er erfahren, daß er den
Bogen überspannt hatte. Das war wenige Tage vor dem Einrücken
der Preußen, als er seinen alten Freund Joseph Moll auf einer von
diesem übernommenen Mission nach Kirchheimbolanden an die
Grenze begleitet hatte. Hier traf er nämlich am Wirtshaustisch
unter den Freischärlern einige begeisterte ,, Männer der Tat", die,
wie er erzählt, gar keine Schwierigkeiten darin sahen, mit wenig
Waffen und viel Begeisterung jede beliebige Armee der Welt zu
schlagen. Als sie es ihm gar zu bunt trieben, trat er ihnen mit
der scharfen Ironie, die die Menschen schon öfter verletzt hatte,
entgegen und spottete hinterdrein noch über die ,, heilige Ent-
rüstung", die er hervorgerufen hatte. Plötzlich sah er sich auf Be-
fehl des hier anwesenden Greiner, des einzigen Mitglieds der provi-
sorischen Regierung, das ihn nicht persönlich kannte, verhaftet.
Nach einem , »komischen" Verhör durch Zitz, den „Parlaments-
polterer", der mit dem ,, mutigen" Bamberger die rheinische Legion
hergeführt hatte, wurde er am nächsten Morgen mit gefesselten
Händen unter der Anklage der Herabwürdigung des pfälzischen
Volkes und der Aufreizung gegen die Regierung nach Kaisers-
lautern überführt. In der drolligsten Verzweiflung über den offen-
sichtlichen Mißgriff ihres noch abwesenden Mitglieds möchten
die Regenten ihn bis zum Eintreffen von Greiners Bericht gegen
Ehrenwort freilassen. Er aber lehnt das ab und geht ungeleitet —
das bedang er sich aus — ins Kantonalgefängnis. Ob solcher Be-
handlung eines Parteigenossen droht D'Ester mit dem Rücktritt.
Auch Tschirner und die anderen, die der entschiedenen Richtung
angehörten, geraten in Aufruhr. Gleichzeitig kommt die Nachricht,
im Rheinischen Korps seien wegen dieser Angelegenheit Unruhen
ausgebrochen. , »Weniger als das hätte hingereicht," meint Engels
schmunzelnd, ,,den provisorischen Regenten, mit denen ich täg-
lich zusammen gewesen war, die Notwendigkeit zu zeigen, mir
958 ^^^ Ausgang der deutschen Revolution.
Satisfaktion zu geben." Nachdem er sich vierundzwanzig Stunden
im Gefängnis „ganz gut amüsiert hatte", ließen diese ihn nun ohne
alle Bedingungen frei, und baten ihn nur, daß er sich auch ferner-
hin bei der Bewegung beteilige. Dann ,, wurden beiderseits die
feierlichen Gesichter abgesetzt und am Donnerstag einige Schoppen
zusammen getrunken".
Störend platzte in so idyllisches Gehabe der Einmarsch der
Preußen hinein. Wie sehr bei Regierung und Generalstab der
Nachrichtendienst im argen lag, hatte Engels schon erfahren, als
er eines Tages den Ahnungslosen die diesen ganz unbekannte
Kunde von der Zusammenziehung von siebenundzwanzig preußi-
schen Bataillonen, neun Batterien und neun Regimentern Kaval-
lerie nebst ihrer genauen Dislozierung zwischen Saarbrücken und
Kreuznach überbrachte. Die wichtige Nachricht hatte er aus einer
vor mehreren Tagen angekommenen Nummer der Kölnischen
Zeitung geschöpft. Als die Preußen nun wirklich von Saarbrücken
her einrückten, war die Überraschung groß. Engels, der darin
bloß noch eine interessante ,, Wendung" sah, konnte, wie er nach-
her Marx gestand, nun doch der Lust nicht widerstehen, den Krieg
mitzumachen und zugleich die Neue Rheinische Zeitung honoris
causa in der badisch -pfälzischen Armee zu vertreten. So schnallte
er sich jetzt „ein Schlachtschwert um und ging zu Willich".
In seinen Augen war August von Willich neben Techow, dem
Chef des pfälzischen Generalstabs, unter den ehemaligen preußischen
Artillerieoffizieren, die sich der Revolution angeschlossen hatten,
der ,, einzige, der etwas taugte". Und mochte Willichs Begabung auch
nur für den Kleinkrieg ausreichen, an der Spitze eines Freiwilligen-
korps von sechs- bis siebenhundert Mann war er am Platze- ,,Im
Gefecht brav, kaltblütig, geschickt und von raschem richtigen
Überblick, außer dem Gefecht aber plus ou moins langweiliger
Ideologe und wahrer Sozialist." So charakterisierte Engels ihn,
gleich nachdem er vom 13. Juni bis zum 12. Juli während des Feld-
zugs in der Pfalz und in Baden sein Adjutant gewesen war, in einem
Brief an Frau Marx. Über sich selbst berichtet er hier der Gattin
des Freundes, den er von den Franzosen verhaftet glaubte, wie er in
vier Gefechten die Erfahrung gemacht habe, ,,daß der vielgerühmte
Mut des Dreinschlagens die allerordinärste Eigenschaft" sei, die man
besitzen könne. Von seiner Kaltblütigkeit und Verachtung jeder
Gefahr war, wie Wilhelm Liebknecht uns erzählt, noch lange die
Rede bei allen, die ihn damals im Feuer gesehen haben. Engels
selbst fand es nicht der Mühe wert, davon zu reden ; denn die bloße
rohe Courage wollte er nicht höher eingeschätzt wissen als den
bloßen guten Willen. Das Kugelpfeifen, meinte er, sei eine ganz
Als Willichs Adjutant. 369
geringfügige Geschichte, er habe während des Feldzugs trotz vieler
Feigheit kein Dutzend Leute gesehen, die sich im Gefecht feige
benahmen, wohl aber, wo jeder einzelne ein Held an Courage war,
erlebt, daß das ganze Bataillon wie ein Mann ausriß.
Willich war die Aufgabe zugefallen, die von der Revolution
nicht bezwungenen Festungen Landau und Germersheim im Schach
zu halten. Seines neuen Adjutanten erster Dienst bestand darin,
daß er sich aussenden ließ, um Munition, an der großer Mangel war,
aus Kaiserslautern zu holen. Dabei geriet er aber in Neustadt
in die Retirade der gesamten pfälzischen Armee, die Kaiserslautern
bereits aufgegeben hatte. Nachdem er sich schnell über alles unter-
richtet hatte, lud er möglichst viele Fässer Pulver, Blei und fertige
Patronen auf einen Leiterwagen, eifrig bedacht, damit zu Willich
zurück zu gelangen. Doch erst nach manchem Umweg und un-
freiwilligem Aufenthalt erreichte er diesen, der inzwischen nicht
stehen geblieben war, traf aber bei ihm von neuem den Vortrab der
pfälzischen Armee und auch die provisorische Regierung, die er
erst verlassen hatte. Daß sie auf dem Rückzug war, meinte er später,
war dieser Armee nicht anzumerken. ,,Die Unordnimg war von
Anfang an bei ihr zu Hause." Noch immer drohten die Bramar-
basse, die in allen Wirtshäusern nach Herzenslust zechten, den
heranrückenden Preußen baldigste Vernichtung an. Dabei würden,
wie der illusionsfreie Beobachter erkannte, bereits damals ein Regi-
ment Kavallerie mit einigen reitenden Geschützen hingereicht
haben, das ganze rheinpfälzische Freiheitsheer in alle vier Winde
zu zersprengen und total aufzulösen. Wenn die preußischen Führer
langsam und methodisch vorgingen, so werde sie dazu hauptsächlich
die Rücksicht auf den Geist ihrer Truppen gezwungen haben.
Jeder Erfolg einer Insurrektion halte nämlich den sofortigen Ab-
fall der Land Wehrregimenter und danach der halben Linie und
namentlich der Artillerie zur Folge gehabt. Während aber das Gros
der Pfälzer weiterzog, um sich über die Knielinger Brücke nach
Baden hinüber zu retten, war das Korps Willich dem von Pirma-
sens her sich nähernden Feinde entgegengerückt, um ihn auf-
zuhalten, aber von diesem zur Umkehr gezwungen worden.
Das war für Engels ein Glück, denn da eine preußische Kolonne
mittlerweile Landau entsetzt hatte, so wären sie bei längerem Ver-
weilen im Weidental umzingelt und dem Sieger ausgeliefert gewesen.
Erst nachdem sie den Rheinübergang der pfälzischen Armee ge-
deckt hatte, zog auch die Willichsche Truppe am 18. Juni hinüber
nach Karlsruhe, wo sie ihre Ausrüstung vervollständigte und ihren
Bestand auffüllte. Unter den hier neu Eintretenden bemerkte
Engels neben mehreren Arbeitern, die den Elberfelder Aufstand
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 24
370 Der Ausgang der deutschen Revolution.
mitgemacht hatten, auch Kinkel, der dann bekanntlich bald darauf
im Murgtal, wo Moll fiel, gefangen genommen wurde. Dem Pro-
fessor Kinkel gesteht Engels zu, daß er sich recht ,,gut gemacht"
habe ; schlechter ist er auf die Studenten zu sprechen, die ihre Fahnen
verließsn, wenn sie nicht durch die Verleihung des Offiziersrangs
zurückgehalten wurden, immer in alle Operationspläne eingeweiht
sein wollten, aber murrten, wenn der Feldzug nicht alle Annehm-
lichkeiten einer Ferienreise bot. Hoch dagegen preist er den Mut
und die Hingebung der Arbeiter, die im Rtvolutionsheer stark ver-
treten waren, obgleich sie wußten, „daß der Kampf diesmal seinen
direkten Folgen nach nicht ihrer eigenen Sache" galt. Die entschie-
densten Kommunisten wären die kouragiertesten Soldaten gewesen,
bei der ,, offiziellen Demokratie" aber seien die kämpfenden Pro-
letarier als pures Kanonenfutter angesehen worden.
Von den militärischen Maßnahmen in Baden erhielt Engels
den Eindruck, daß niemals kriegerische Operationen nachlässiger
und dümmer ausgeführt worden seien als unter dem Kommando
Sigels. ,, Alles wurde in Unordnung gebracht, jede gute Gelegenheit
versäumt, jeder kostbare Moment mit dem Ausspinnen riesen-
hafter aber unausführbarer Projekte vertrödelt." Als schließlich
Mieroslawski den Oberbefehl übernahm, habe die Armee, desorgani-
siert, geschlagen, entmutigt, mangelhaft ausgerüstet einem vier-
mal stärkeren Feinde gegenübergestanden, so daß dem „begabten
Polen" nichts übrig geblieben sei, als zu Waghäusel eine ruhm-
volle aber erfolglose Schlacht zu schlagen, einen geschickten Rück-
zug zu vollziehen, ein letztes hoffnungsloses Gefecht unter den
Mauern von Rastatt anzubieten und abzudanken. Daß die Pfäl-
zische Division der Schlacht bei Waghäusel fern geblieben war,
ist ihrem Befehlshaber, dem unfähigen alten Polen Sznayda, von
Johann Philipp Becker, Borckheim und anderen revolutionären
Mitkämpfern ebenso wie von Engels arg verdacht worden. Jener
klammerte sich offenbar an den ihm gewordenen Auftrag, Karls-
ruhe gegen das bei Germersheim über den Rhein gegangene Hirsch-
feldsche Korps zu decken. Willich, der die Vorhut seines Zentrums
befehligte, faßte den, wie Engels zugibt, ,, passabel verwegenen"
Entschluß, den Feind, über dessen Stärke er sich Nachrichten nicht
verschafft hatte, nächtlicher Weile anzugreifen, seine Reihen zu
durchstoßen, auf Bruchsal zu marschieren und sich womöglich
in diese Festung hineinzuwerfen. Wenn aber Engels, der der
preußischen Kriegführung überall gern am Zeuge flickt, darüber
spottet, daß diese ,, trotz ihrer kolossalen Übermacht" ihre pedan-
tischen Vorpostendienstreglements „bis ins langweiligste Detail"
auch hier durchführte, so ist ihm entgegenzuhalten, daß Johann
Bei den Kämpfen in Baden. oyj
Philipp Becker, mit dessen Beurteilung des Feldzugs er sonst in
allen wesentlichen Punkten übereinstimmt, gerade das Gegenteil,
nämlich den Mangel an der nötigen Vorsicht, Willich und damit
auch ihm zum Vorwurf macht. Wie immer bei der Avantgarde,
wurde Engels plötzlich auf dreißig Schritt Entfernung von einer
preußischen Feldwache angerufen. ,,Ich höre das Werda und
springe vor. Einer meiner Kameraden sagte: der ist verloren, den
sehen wir auch nicht wieder. Aber gerade mein Vorgehen war
meine Rettung." Die Truppe war in ein wirksames feindliches
Rottenfeuer geraten, und um die Verwirrung voll zu machen,
hatten in der Dunkelheit die eigenen Leute sich gegenseitig be-
schossen. Aber die Preußen verfolgten die Fliehenden nicht, und
so konnte es gelingen, die Gruppe neu zu sammeln. Nun wurde
ihr befohlen, sich dem rechten Flügel der Division anzuschließen,
dessen Oberbefehl Willich erhielt, und die in dem vom Feinde be-
reits wieder verlassenen Bruchsal am 22. Juni in aller Eile sich
neu zu formieren die Zeit fand. Für den unglücklichen Ausgang
eines Gefechts, das Anneke, der Befehlshaber des Zentrums, am
folgenden Tage bei Stettfeld zu bestehen hatte, machen J. Ph.
Becker und andere Willich verantwortlich, der, statt wie verabredet
gewesen wäre, Anneke zu stützen, ins Gebirge abgerückt wäre.
Engels dagegen behauptet, daß Willich lediglich dem Befehl, dort
die Flanke zu decken, gefolgt sei, und daß überdies nun er Anneke
bestimmt habe, gleich darauf bei Ubstadt jenes Gefecht anzunehmen,
das, so geringfügig es an sich gewesen sein mag, nach Beckers
und auch nach Schurz Urteil, die preußische Armee so lange auf-
hielt, daß der bei Waghäusel besiegten Hauptmacht Mieroslawskis
der Rückzug auf Rastatt möglich wurde. In ständiger Gefahr,
den Preußen oder den Bayern in die Hände zu fallen, gelang es,
wieder als dem letzten, auch Willich seine durch Desertion stark
zusammengeschm.olzene Truppe nach Rastatt zu führen.
Die Schlacht um die Murglinie, die der Erhebung den Rest gab, hat
Engels wiederum an der Seite Willichs, der hier als Chef von Mersys
Divisionsstab auf dem rechten Flügel stand, überall tätig zur Stelle,
miterlebt. Er führt die Niederlage der demoralisierten und „mit
wenig Ausnahmen erbärmlich geführten" Revolutionsarmee auf
die Verletzung der württembergischen Neutralität durch die Preußen
und die Preisgabe Gernsbachs durch Sigel zurück, der Mieroslawskis
Befehl, diese Schlüsselstellung um jeden Preis zu halten, nicht aus-
geführt habe. Die völlig aufgelöste Armee nochmals zu sammeln,
habe sich als unmöglich erwiesen, weil die Führer der bürgerlichen
wie der Militärverwaltung, die Bewegung fortan ihrem Schicksal
überlassend, ratlos und vernichtet die Flucht ergriffen. Der von
34*
372 D^^ Ausgang der deutschen Revolution.
keinem Feinde gestörte Rückzug der eigenen Gruppe über die in
reichster Blumenpracht prangenden Höhen des Schwarzwaldes
von Bühl über Allerheiligen und den Hundskopf nach Wolfach, ist
Engels als eine wahre Vergnügungstour in der Erinnerung geblieben.
In Wolfach erfuhren sie am 3. Juni zu ihrer Entrüstung, daß die
nach Freiburg verschlagene Regierung, die inzwischen Sigel den
Oberbefehl übertragen hatte, die Hauptstadt des Breisgaus ohne
Kampf aufzugeben gedachte. Um dies womöglich nochj zu ver-
hindern, beschlossen sie, sofort dorthin zu marschieren. Aber
schon in Waldkirch erhielten sie die Nachricht, daß es zu spät
wäre, das Hauptquartier befände sich bereits in Donaueschingen.
Trotzdem wünschten WiUich und Engels, daß der Räst des Heeres,
der noch über eine beträchtliche Artillerie verfügte, dem Feind ein
letztes Gefecht anbieten und ihn so in die Versuchung bringen möge,
schweizer Gebiet zu verletzen. Doch bei dem Kriegsrat in Rieden
am IG. Juli setzte sich Willich allein mit Leidenschaft für die Fort-
führung des nutzlosen Kampfes ein, während Sigel, Johann Philipp
Becker und die anderen den Übertritt auf neutrales Gebiet ent-
schieden. Nunmehr marschierte auch Willichs Truppe der Grenze
zu, biwakierte noch einmal auf deutschem Boden, schoß am Morgen
des 12. Juli die Gewehre ab und betrat ,,die letzte der badisch-
pfälzischen Armee" gleich danach das Gebiet der Eidgenossen-
schaft.
Im vorigen Herbst war Engels in die Schweiz gekommen mit
der sicheren Erwartung, die Heimat bald wieder zu sehen. Damals
stand der endgültige Sieg der Reaktion noch dahin, auch hatte er
weniger auf dem Kerbholz als jetzt, wo er zum zweitenmal als
Flüchtling hier erschien. Weil aber seine Hoffnung auf eine aber-
malige Wendung der Dinge keineswegs erloschen war, konnte
Engels nicht ahnen, auf wie lange Zeit er Deutschland den Rücken
gekehrt hatte, ja, daß er niemals wieder anders als zu flüchtigem
Aufenthalt in der Heimat weilen würde. Derselbe Schwager, der
ihn auf seiner ersten Flucht mit philiströsen Zuschriften bedacht
hatte, sandte ihm auch diesmal statt des Geldes, das er von ihm
verlangt hatte, unerbstene Ratschläge und Vorwürfe. Er schrieb
in einem unangenehmen Gemisch von Hohn, Mitleid und Bevor-
mundung, aus dem der Jubel über die Niederlage der Revolution
aufdringlich genug herausklang: ,,Du kommst mir vor, wie ein
gehetzter Hund, der keine Stelle zum Ausruhen finden kann. Daß
die jetzige Revolution D-ine Ansichten nicht vertritt, brauchst
Du mir nicht zu sagen. Du betrachtest sie als vorbereitend und
wirst halb und halb mit hineingezogen, indem Du sie billigst und
zu befördern suchst. Für die Verwirklichung Deiner Ansichten
Wiederum im Exil.
373
ist sie selbst von unberechenbarem Nachteil gewesen, da sie dem
intelligenten Teil nur zu deutlich gezeigt hat, wie gewaltig roh
und unreif . . . unser gutes Deutschland noch ist und welche
russische Greuel eine soziale Umwälzung in ihrem Gefolge haben
würde . . . Daß Du Dich an Deinen Vater nicht wenden kannst,
ist natürlich, warum aber willst Du Dich nicht an Deine Mutter
wenden?" , .Hättest Du übrigens Familie und Sorge um sie, wie
ich," fuhr der Bourgeois in seiner Pauke zufrieden fort, ,, brächtest
Du eine Änderung in Dein ruheloses Leben und hättest im engen
Kreise der Deinigen mehr von diesem kurzen Leben, als Dir je
ein gemütloser Haufe feiger undankbarer Schreihälse bieten kann."
Der stärkste Trumpf blieb für den Schluß aufgespart: „Es ist als
hättest Du noch jetzt die undankbare Idee, Dich der unverbesser-
lichen Menschheit zum Opfer zu bringen, ein sozialer Christus
zu werden und allen Egoismus auf Erreichung dieses Zieles zu
verwenden. Jetzt bist Du noch unverschlissen und kannst, ohne
Dich Demütigungen auszusetzen, dafür sorgen, daß Du später nicht
allein stehst wie ein verdrießlicher Hypochonder." Wahrscheinlich
hat Engels diesen Brief, den er sich aufgehoben hat, damals säuber-
lich zusammengefaltet und dazu ein Volkslied gepfiffen. Ihm
erschien es nur billig, daß bei ,,den Geburtswehen der neuen ge-
schichtlichen Epoche", die er zu Beginn des Jahres, von derselben
Schweiz aus, in der Neuen Rheinischen Zeitung angekündigt hatte,
auch dem einzelnen, der sich, von Lust zum Schaffen erfüllt, nicht
feige beiseite drückte, sein Anteil an der Qual des großen Werde-
prozesses zufiel. Und er konnte diesen Anteil um so leichteren Her-
zens tragen, als der Glaube unerschütterlich in ihm wurzelte, daß
die Zukunft mit ihm im Bunde war.
Kapitel XIII.
Reaktion und Prosperität.
In London und Manchester. — Die Beiträge zur Revue
der Neuen Rheinischen Zeitung. — Das Zirkular des
Kommunistenbundes. — Rückkehr ins Kontor.
In der Schweiz blieb Engels vom Juli bis in den September
1849. Wir finden ihn in Vevey, wohin man die Willichsche Truppe
zuerst geschickt hatte, in Lausanne, in Genf und auch in Bern.
In Bern begegnete ihm zum letztenmal sein ehemaliger Schüler
Stephan Born, dem er an diesem Tage aufgeregt berichtete, wie
ihn auf einem Ausflug in den Jura ein Schweizer Landjäger, dem
er kein Ausweispapier vorweisen wollte oder konnte, verhaftet und
an den Händen gefesselt in die nächste Stadt gebracht habe. In
Genf kreuzte seinen Weg zum erstenmal sein künftiger Jünger
Wilhelm Liebknecht. Den jüngeren Freischärler verwunderte da-
mals die souveräne Nichtachtung, mit der der ältere, dessen Wesen
ihn trotzdem faszinierte, über den Revolutionsfeldzug, an dem sie
beide teilgenommen hatten, aburteilte. Erst von Vevey aus war es
Engels möglich gewesen, von neuem mit Marx in Verbindung zu
treten, der sich über seinen Verbleib die größten Sorgen gemacht
hatte. Ihm schrieb er, es sei am Ende gut, daß einer von der Neuen
Rheinischen Zeitung an dem Feldzug teilgenommen habe, „weil
alles demokratische Lumpenpack in Baden und der Pfalz war und
nun mit nichtgetanen Heldentaten renommiert"; sonst würde es
wieder geheißen haben, daß ihre Partei zu feige wäre, sich zu
schlagen. ,,Ohne Deine Teilnahme an dem Kriege selbst," erwiderte
Marx, der der gleichen Meinung war, ,, hätten wir mit unseren An-
sichten über diesen Ulk nicht hervortreten können," und er er-
munterte den Freund, eine Geschichte oder ein Pamphlet über die
badisch-pfälzische Revolution zu schreiben. ,,Du kannst dabei
die Stellung der Neuen Rheinischen Zeitung zur demokratischen
Partei überhaupt glänzend herausbeißen." Und Engels scheint
wirklich sofort daran gegangen zu sein, sein Erlebnis aufs Papier
Die Reichsverfassungskampagne. oyc
zu bringen. Ursprünglich wollte er diese Schilderung der deutschen
Reichsverfasssungskarrpagne in der Schweiz als Broschüre ver-
öffentlichen. Als ihm aber Marx Ende August mitteilte, daß er,
von der französischen Regierung ausgewiesen, einen Paß nach der
Schweiz nicht bekäme und nun nach London gehe, wo er positive
Aussicht habe, ein deutsches Journal zu stiften, da ent.schied er
sich, sein Manuskript für dieses aufzusparen.
Keine andere Darstellung der badisch -pfälzischen Revolution,
die, noch unter dem frischen Eindruck, von Teilnehmern veröffent-
licht wurde, erreicht an Lebendigkeit der Schilderung, an Glanz
des Stils, vor allem aber an Schärfe der Beobachtung und Höhe
und Weite des Blicks, diese Schrift, die als ein Meisterstück deut-
scher beschreibender Prosa anzusprechen ist. Als Enge Is an die Nieder-
schrift ging, war das Material, das er für seinen Zweck hätte be-
nutzen können, begreiflicherweise noch so unvollständig und so
verwirrt, daß er es vorzog, sich ausschließlich auf die Erzählung dessen
zu beschränken, was er selbst gesehen und gehört hatte. Auch
schien ihm dies völlig hinzureichen, um, worauf es ihm am meisten
ankam, den Charakter der ganzen Kampagne hervortreten zu lassen.
Wie die Junitage 1848 für den gesellschaftlichen und politischen
Entwicklungsgrad Frankreichs, so bezeichnend dünkte ihn die
revolutionäre Bewegung zur Verteidigung der Reichsverfassung für
den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungsgrad Deutsch-
lands und namentlich seines Südens im Frühling 1849. Ihm lag
daran, aU die Seele dieser Erhebung, als die in ihr durchaus vor-
herrschende Klasse, das Kleinbürgertum aufzuzeigen, den vorzugs-
weise so genannten Bürgerstand. Dieser war es, der, wie er bissig be-
merkte, in zahllosen Vereinen und Zeitungen der Reichsverfassung
ebenso mannhafte wie unschädliche Rütlischwüre geleistet hatte
und, als die Bewegung sich zuspitzte, ihr durch das Rumpfparla-
ment und die Reichsregentschaft die offizielle Leitung lieferte. Den-
noch würde er, hätte es von ihm abgehangen, schwerlich den
Rechtsboden des gesetzlichen, friedlichen und tugendhaften Kampfes
verlassen und, statt der sogenannten Waffen des Geistes, die Mus-
keten und den Pflasterstein ergriffen haben.
Die Geschichte aller politischen Bewegungen seit 1830 in
Deutschland wie in Frankreich und England lehrte Engels, daß
das Kleinbürgertum bloß eine sehr geringe revolutionäre Ak-
tionskraft besaß, und daß diese einen bestimmteren, energischeren
Charakter nur erhielt, wenn andere Klassen die in seinem Interesse
hervorgerufene Bewegung aufnahmen und sich ihrer womöglich
zu bemächtigen suchten. War das städtische Proletariat oder ein
Teil der Bauern dazu geneigt, so schloß sich der fortgeschrittenste
276 Reaktion und Prosperität.
Flügel des Kleinbürgertums ihnen wohl für eine Zeitlang an. Auch
diesmal hätten jene Elemente, das Proletariat der größeren Städte
an der Spitze, den Schwur der kleinbürgerlichen Agitatoren, für
die Reichsverfassung Gut und Blut einzusetzen, ernsthafter ge-
nommen, als es vielleicht gemeint gewesen wäre und so das Klein-
bürgertum bis zum offenen Bruch mit der bestehenden Staatsgewalt
getrieben. Konnten die wahrhaft revolutionären Schichten es nicht
verhindern, daß sie von ihren krämerhaften Bundesgenossen noch
während des Kampfes verraten wurden, so hatten sie wenigstens
die Genugtuung, daß dieser Verrat nach dem Siege der Gegenrevolu-
tion von den Reaktionären selbst gezüchtigt worden ist. Im Beginn
der Bewegung hätte sich freilich auch die entschiedenere Fraktion
des größeren und mittleren Bürgertums der unzufriedenen Klein-
bürgerschaft angeschlossen, weil sie nicht dulden wollte, daß die
bewaffnete Konterrevolution die fast ausschließliche Herrschaft der
Armee, der Bürokratie und des Feudaladels wiederherstellte. Aber
unendlich zaghafter als die englische und die französische trat die
deutsche Bourgeoisie schaudernd vom Kampfplatze zurück, sobald
sich ihr nur die geringste Aussicht auf eine Rückkehr der An-
archie, „das heißt des wirklichen entscheidenden Kampfes" zeigte.
Wir sahen, wie Engels und Marx sich in Karlsruhe vergebens
bemüht hatten, die revolutionären Führer zu bestimmen, die In-
surrektion zu zentralisieren und dem Aufstand einen energischeren
Charakter zu geben. Dazu wäre, wie sie dort vergebens dargelegt
hatten, nötig gewesen, durch sofortige Abschaffung aller Feudallasten
die große ackerbautreibende Mehrzahl der Bevölkerung Südwest-
deutschlands für die Insurrektion zu interessieren. Sobald dies unter-
blieb, hatte nach Engels Ansicht der Aufstand seinen allgemein-
deutschen Charakter verloren, er war ein rein badischer oder badisch-
pfälzischer Lokalaufstand geworden. Brentano erscheint ihm als der
vollkommenste Repräsentant des badischen Kleinbürgertums, er habe
die Maßregeln ergriffen, die diesem die Herrschaft bewahrten, aber
eben dadurch die ganze Insurrektion zugrunde richteten. Weil es in
Süddeutschland fast gar kein Großbürgertum und daher auch nur
ein sehr wenig zahlreiches, sehr zersplittertes, wenig entwickeltes
Proletariat gab, habe in Ermangelung des Gegensatzes zwischen
diesen beiden Klassen eine sozialistische Agitation hier niemals
recht Platz greifen können. Und selbst das rote Band und die rote
Fahne bedeuteten nichts anderes als die bürgerliche Republik, wenn
es hochkam, mit etwas Terrorismus versetzt. Zumal für die Klein-
bürger und Bauern in Baden blieb immer die kleine bürgerlich-
bäuerliche Republik, wie sie in der Schweiz seit 1830 bestand, das
höchste Ideal: „Ein kleines Tätigkeitsfeld für kleine bescheidene
Das Scheitern des Aufstandes und seine Gründe. 377
Leute, der Staat eine etwas vergrößerte Gemeinde, ein ,, Kanton";
eine kleine, stabile, auf Handarbeit gestützte Industrie, die einen
ebenso stabilen und schläfrigen Gesellschaftszustand bedingt; wenig
Reichtum, wenig Armut, lauter Mittelstand und Mittelmäßigkeit,
kein Fürst, keine Zivilliste, keine stehende Armee, fast keine Steuern;
keine aktive Beteiligung an der Geschichte, keine auswärtige Po-
litik, lauter inländischer kleiner Lokall. latsch und kleine Zänkereien
en famille ; keine große Industrie, keine Eisenbahn, kein Welt-
handel, keine sozialen Kollisionen zwischen Millionären und Pro-
letariern, sondern ein stilles, gemütliches Leben in aller Gottselig-
keit und Ehrbarkeit, in der kleinen geschichtslosen Bescheidenheit
zufriedener Seelen" — so beschrieb Engels das „sanfte Arkadien",
für dessen Einführung der badische Kleinbürger und Bauer seit
Jahren schwärmte und nach dessen Bilde er sich die Zukunft
seines engeren und weiteren Vaterlandes ausmalte. Könnte Deutsch-
land sich jemals in diese ,, föderierte Tabak- und Bierrepublik" ver-
wandeln, so werde es, fügte er hinzu, auf eine Stufe der Erniedri-
gung gelangen, von der es selbst in seinen schmachvollsten Zeiten
keine Ahnung gehabt hätte. Bei dem bloß suspensiven Veto des
Kaisers, das das Werk der Paulskirche vorsah, hätten diese süd-
deutschen Kleinbürger hoffen können, die Republik zu gelegener
Zeit auf gesetzlichem Wege eingeführt zu sehen. Sie begeisterten
sich also ursprünglich für die Reichsverfassung, weil sie fürchteten,
daß eine Revolution, und trüge sie auch ihre eigene bürgerlich-
republikanische Fahne, ihr geliebtes stilles Arkadien im Strudel
kolossaler Konflikte und wirklicher Klassenkämpfe wegschwemmen
könnte.
Wie in Baden hätte auch in der Pfalz nach Engels Meinung
die Revolution nur Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn es ihr gelungen
wäre, die Bewegung nach außen zu treiben. Hier bestand von vorn-
herein nicht eine so einheitliche soziale Gliederung wie am rechten
Rheinufer; in den über das ganze Ländchen verteilten Ackerbau-
bezirken hatte die reaktionäre Partei, ebenso wie in einzelnen Städten,
von Anfang an in Speyer, später in Kaiserslautern, Neustadt, Zwei-
brücken, starken Anhang. Eine so konfuse Gestaltung der Parteien
wäre zu beseitigen gewesen durch einen direkten Angriff auf das
in den Hypotheken und im Hypothekenwucher angelegte Privat-
eigentum zugunsten der verschuldeten Bauern. Mit einer so radikalen
Maßregel hätte man sofort die ganze Landbevölkerung am Aufstand
interessiert. Weil sie aber ein viel größeres Terrain und viel ent-
wickeltere gesellschaftliche Zustände in den Städten voraussetzte,
wäre sie nur möglich gewesen bei einer Ausdehnung der Erhebung
nach der Mosel und Eiffel, wo die gleichen Zustände auf dem
378 Reaktion und Prosperität.
Lande existierten und in der industriellen Entwicklung der rheini-
schen Städte ihre Ergänzung fanden.
Über das Scheitern der badisch -pfälzischen Bewegung, das er
klar vorausgesehen hatte, war Engels nicht untröstlich. Der Miß-
erfolg des 13. Juni in Paris und Görgeys Weigerung, auf Wien zu
marschieren, würden, meinte er, die Aussichten auf Erfolg selbst
dann vernichtet haben, wenn es gelungen wäre, die Bewegung nach
Hessen, Württemberg und Franken zu verpflanzen. Man wäre
ehrenvoller gefallen, aber gefallen wäre man. So ging die Reichs-
verfassungskampagne an ihrer eigenen Halbheit und inneren
Misere zugrunde. Seit den Junitagen laute die Frage für den zivili-
sierten Teil des europäischen Kontinents nur noch: Herrschaft des
revolutionären Proletariats oder Herrschaft der Klassen, die vor
dem Februar herrschten. Ein Mittelding sei nicht mehr möglich.
Namentlich in Deutschland habe die Bourgeoisie ihre Unfähigkeit,
zu regieren, erwiesen, seitdem sie ihre Herrschaft dem Volk gegen-
über nur dadurch erhalten konnte, daß sie sie wieder an den Adel
und die Bürokratie abtrat. Mit der Reichs Verfassung versuchte das
Kleinbürgertum, verbündet mit der deutschen Ideologie, eine
unmögliche Ausgleichung, die den Entscheidungskampf aufschieben
sollte. Der Versuch mußte scheitern; denn denjenigen, denen es
ernst war mit der Bewegung, war es nicht ernst mit der Reichs-
verfassung, und denen es ernst mit der Reichsverfassung war, war
es nicht ernst mit der Bewegung. Trotzdem habe die Kampagne,
obgleich sie von vornherein politisch und militärisch verfehlt war,
bedeutende Resultate gehabt. Vor allem habe sie die Situation ver-
einfacht: nachdem sie verloren sei, könne nur die etwas konsti-
tutionalisierte feudal-bürokratische Monarchie siegen oder die wirk-
liche Revolution. Die Revolution aber könne in Deutschland nicht
mehr abgeschlossen werden, ehe die vollständige Herrschaft des
Proletariats errungen wäre. Sodann habe die Erhebung in jenen
deutschen Ländern, wo wie in Baden die Klassengegensätze noch
nicht in scharfer Form vorhanden waren, ihre Entwicklung
beschleunigen helfen. Die Arbeiter und Bauern, die ihre ge-
fallenen und gemordeten Brüder zu rächen hätten, würden dafür
sorgen, daß bei der nächsten Insurrektion sie und nicht die Klein-
bürger das Heft in die Hand bekämen. Und wenn auch keine
aufständische Erfahrung die Klassenentwicklung ersetzen könne,
die nur durch einen langjährigen Betrieb der großen Industrie er-
reicht werde, so sei doch Baden durch den Aufstand und dessen
Folgen in die Reihe der deutschen Provinzen getreten, die bei der
,, bevorstehenden Revolution" eine der wichtigsten Stellen ein-
nehmen würden. Zum Schluß seiner Betrachtungen gedenkt Engels
Wiedervereinigung mit Marx. 270
des tragischen Endes, das infolge des Blutdursts der Konter-
revolution jene Komödie genommen habe. Das deutsche Volk,
versichert er, werde die Fusilladen und die Kasematten von Rastatt
nicht vergessen ; es werde die großen Herren nicht vergessen, die
diese Infamien befohlen hätten, aber auch nicht die Verräter, die
sie durch ihre Feigheit verschuldeten, die Brentanos von Karlsruhe
und von Frankfurt.
Von Paris aus hatte Marx am 17. August dem Freunde eine
Beurteilung der Aussichten der revolutionären Bestrebungen in
Frankreich und sogar in England zukommen lassen, die sich später
als eitel Schaum erwies, die aber in dem Zeitpunkt, als er sie emp-
fing, für Engels einen rechten Herzenstrost bedeutet haben wird.
Trotz seines Optimismus, der ihn auch jetzt nicht verließ, konnten
seine revolutionären Hoffnungen eine Stärkung vertragen in diesen
Augusttagen, als er nach der rheinischen, sächsischen und süddeut-
schen Erhebung nun auch die um so viel gewaltigere ungarische,
auf die gerade er die überschwänglichsten Hoffnungen gesetzt hatte,
zusammenbrechen sah. Heute fragen wir uns, wie Marx sich so in
Illusionen verstricken konnte, daß er selbst noch nach der Kapitu-
lation von Villagos mit der Möglichkeit rechnete, „das elende
Preußen" werde sich in Ungarn einmischen und darüber ein Welt-
krieg sich entzünden. Weil er nun aber gleichzeitig von dem ältesten
Herd der kontinentalen Revolution meldete, der Bonapartismus
habe sich für immer kompromittiert, der Windzug in der öffentlichen
Meinung Frankreichs sei schon wieder antireaktionär und lasse
in Kürze auf eine neue revolutionäre Erhebung hoffen, weil er
berichtete, daß in England Freihändler und Chartisten sich zu-
sammenschlössen, um der auswärtigen Politik eine Spitze gegen
die reaktionären Kontinentalmächte zu geben, so gab auch Engels
sich gern der Hoffnung hin, daß die europäische Revolution, an
deren nahes Verlöschen er keinen Augenblick glaubte, von den
Industriearbeitern des fortgeschrittenen Westens wieder aufgenom-
men und durchgekämpft werden würde. Dachte er einmal so, dann
kostete es ihn kein Opfer, dem Wunsch des Freundes zu willfahren,
als dieser, aus Frankreich von der Regierung Bonapartes, den er
so tief verachtete, verdrängt, ihm gleich darauf seine Über-
siedlung nach England mitteilte und ihn dringend aufforderte,
daß auch er sofort nach London käme. In der Schweiz sei seines
Bleibens ohnehin nicht, denn was wollte er hier unternehmen ?
Wenn er aber nach Deutschland zurückkehrte, würden die Preußen
ihn doppelt erschießen, erstens wegen Badens, zweitens wegen Elber-
felds. Marx hatte angenommen, Engels würde sich von der fran-
zösischen Gesandtschaft in Bern einen Zwangspaß nach London
380 Reaktion und Prosperität.
besorgen. Dieser aber hielt es für sicherer, gewiß auch für ange-
nehmer, den Seeweg zu wählen. Er hat sich in Genua auf einen
Segler eingeschifft und ist fünf Wochen auf dem Wasser gewesen.
Diese ,, große Weltumseglung" nutzte der immer Lernbegierige aus,
um sich einige nautische Kenntnisse anzueignen. Marx Schwie-
gersohn Paul Lafargue hat später bei ihm das Tagebuch gesehen,
in das er damals die Veränderungen im Stand der Sonne, die Wind-
richtungen, die Beschaffenheit des Meeres u. a. aufgezeichnet hat.
Mit Marx wieder vereinigt, widmete sich Engels an dessen
Seite vom Herbst 1849 bis zum Herbst 1850 in London hauptsächlich
der doppelten Aufgabe, die Monatsschrift Neue Rheinische Zei-
tung, politisch -ökonomische Revue, für die jener in Hamburg
einen Kommissionsverlag aufgetrieben hatte, in Gang zu bringen
und am Leben zu erhalten und die durch die Revolution ver-
sprengten Kräfte ihrer Partei im Kommunistenbund neu zu organi-
sieren. Die Redakteure der Neuen Rheinischen Zeitung, die sich
in London wieder zusammenfanden, mußten bereits froh sein, daß
sie wenigstens mit einer Monatsschrift an die Öffentlichkeit treten
konnten. Dennoch drückte gleich der Prospekt, der zum Aktien-
zeichnen einlud, die Hoffnung aus, dies Blatt, das ihre Standarte war,
möge bald als Wochenschrift und, sobald die Verhältnisse eine Rück-
kehr nach Deutschland gestatteten, von neuem als Tageszeitung
wieder erscheinen können. Man weiß, daß es dazu nicht kam.
Selbst als Monatsschrift hat dies letzte selbständige publizistische
Unternehmen von Marx und Engels das Jahr 1850 nicht zu über-
leben vermocht. Immer mehr verebbte ja die revolutionäre Flut,
die Bestellungen kamen spärlich, durch eine Kritik Kinkels, der
von den weitesten demokratischen Kreisen als Märtyrer verehrt
wurde, verscheuchten sie zahlreiche Abonnenten; im November
1850 ist das letzte Doppelheft erschienen. Von den beiden umfang-
reicheren Arbeiten, die Engels neben einer kürzeren und unwich-
tigeren über den englischen Zehnstundentag zu der Revue selb-
ständig beisteuerte, erschien die deutsche Reichs Verfassungskam-
pagne gleichzeitig mit Marx Klassenkämpfen in Frankreich in
den drei ersten Heften, der deutsche Bauernkrieg füllte dann den
größeren Teil des fünften und sechsten, des letzten Heftes.
Noch immer betrachtete Engels alles, was „zwischen Paris
und Debreczin, Berlin und Palermo" in den Jahren 1848 und 1849
sich ereignet hatte, nur als die ersten Tiralleurgefechte eines ver-
wickelten, weiter Zeiträume zu seiner Entscheidung bedürfenden
sozialen Endkampfes, von dem jene Kapazitäten der deutschen
Vulgärdemokratie nichts ahnten, die er im letzten Sommer in der
Schweiz so ausgiebig hatte beobachten können, wie sie in kindischer
Die Revue der Neuen Rheinischen Zeitung. 381
Selbsttäuschung bei manchem Schoppen Wein fort und fort darauf
spekulierten, daß ein neuer Kampf oder besser noch die allgemeine
Ermüdung der Reichsverfassung, diesem ,, vollendeten Ausdruck
der Ermattung und Entscheidungslosigkeit", zum Triumph ver-
helfen würde. Unwiderstehlich war bei ihm jetzt das Verlangen,
mit allen jenen halben und ganzen Revolutionären grundsätzlich
und entscheidend abzurechnen, mit denen er, so lange er selbst in
Deutschland in der Schlachtlinie gestanden hatte, zeitweise hatte
zusammengehen müssen. Gegenüber diesen Geistern, die lediglich
nach ihren Wünschen und ihrem subjektiven Standpunkt an den
vergangenen wie an den kommenden Ereignissen herumrieten,
durften er und Marx die theoretische Überlegenheit, die ihre Ge-
schichtsauffassung ihnen verlieh, unmöglich preisgeben. Längst
glaubten sie, wie wir wissen, hinter das Geheimnis des historischen
Umwälzungsprozesses gekommen und dadurch befähigt und be-
rufen zu sein, den Geschehnissen bereits während ihres Ablaufs
auf den Grund zu blicken oder wenigstens doch die Richtung, die
diese notwendig nehmen mußten, mit Sicherheit zu erkennen. Als
die Freunde, aus dem Strudel der Revolution emporgetaucht, nach
all dem Neuen, das sie in ihr erlebt und erfahren, jetzt daran gingen,
die Selbstverständigung, die sie nun einmal nicht entbehren
konnten, von frischem und gründlicher, als es ihnen zuletzt möglich
gewesen war, aufzunehmen, da wurde ihnen völlig offenkundig, daß
das Schicksal der politischen Wendungen auch während des stür-
mischen Gewoges der Revolutionszeit von der ökonomischen Sphäre
her bestimmt worden war. Sie gaben sich bald darüber Rechen-
schaft, daß die Handelskrisis von 1847 die eigentliche Mutter der
Februar- und Märzrevolution gewesen wäre, und daß es ausschließ-
lich von der Gestaltung des Weltmarktes abhinge, ob in einer
nahen oder ferneren Stunde der Wiederausbruch des großen Kraters
erfolgen würde.
Wie Marx die Klassenkämpfe in Frankreich von 1848 bis
1850, so hatte Engels die Reichsverfassungskampagne benutzt,
um sich die Bedingtheit der politischen Begebenheiten, an denen
er miterlebend teilgenommen hatte, durch in letzter Instanz ökono-
mische Ursachen so klar als möglich zu machen. Aber auch
in die Geschichte des deutschen Bauernkrieges vertiefte Engels
sich hauptsächlich, um seine Augen zu schärfen, damit er durch
die Hülle der politischen Erscheinungsformen des geschichtlichen
Lebens in dessen Herzkammer dränge, wo die ökonomischen Kräfte
pulsierten. Daneben sollte die großartigste revolutionäre Bewegung
der deutschen Vergangenheit ihm natürlich auch helfen, über die
revolutionäre Bewegung der deutschen Gegenwart neues Licht zu
382 Reaktion und Prosperität.
verbreiten. Ihm und den Landsleuten, die ähnlich wie er empfan-
den, sollte es über die Unzulänglichkeit und Armseligkeit der Re-
volution, die sie eben erlebten, hinweghelfen, wenn er die Blicke
auf eine Zeit richtete, wo auch Deutschland Charaktere hervor-
brachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder
an die Seite stellen konnten, und wo deutsche Bauern und Plebejer
mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nach-
kommen oft genug zurückgeschaudert waren. Bei der momentanen
Erschlaffung, die er nach zwei Jahren des Kampfes überall wahr-
nahm, wollte Engels die kräftigen und zähen Gestalten des großen
Bauernkriegs seinen Volksgenossen in die Erinnerung rufen und
an den zahlreichen Übereinstimmungen zwischen der vergangenen
und der, wie er hoffte, noch längst nicht abgeschlossenen Revolution
ihnen den Blick klären, die Gewissen schärfen, die Tatkraft anspor-
nen. „Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall
verraten haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer
niedrigeren Entwicklungsstufe, als Verräter vorfinden." Dies ist
vielleicht die Hauptthese seiner Abhandlung, die nicht den Anspruch
erhob, selbständig erforschtes Material zu liefern, sondern den Stoff,
namentlich über die Bauernauf sfände selbst und über Thomas
Münzer, aus Zimmermanns 1843 abgeschlossenem Geschichtswerk
entlieh.
Indem er eine Parallele zwischen der Schichtung der deutschen
Gesellschaft im Zeitalter der sozialen Revolution des 15. und der
des 19. Jahrhunderts zieht, stellt Engels für damals eine noch
größere Zerklüftung fest als für seine Gegenwart. Fürsten, Adel,
Prälaten, Patrizier, Bürger, Plebejer und Bauern bildeten eine höchst
verworrene Masse mit den verschiedenartigsten, sich nach allen
Richtungen durchkreuzenden Bedürfnissen. Jeder Stand war den
anderen im Wege und lag mit den anderen in einem fortgesetzten,
bald offenen, bald versteckten Kampf. So wenig wie 1848 war
1525 eine Klasse der Gesellschaft weit genug entwickelt, um von
sich aus die gesamten deutschen Zustände neu zu gestalten. Da-
mals wie in der jüngsten Vergangenheit kollidierten die Interessen
der oppositionellen Klassen. Die deutsche Bourgeoisie von 1848,
zu weit entwickelt, um sich den feudal-bürokratischen Absolutis-
mus länger gefallen zu lassen, war doch noch nicht mächtig genug,
die Ansprüche anderer Klassen den ihrigen sofort unterzuordnen.
Dagegen war das Proletariat, wenn auch zu schwach, um auf ein
rasches Überhüpfen der Bourgeoisperiode und auf seine eigene bal-
dige Eroberung der Herrschaft rechnen zu können, doch schon viel
zu entwickelt, um auch nur für einen Moment in der Emanzipation
der Bourgeoisie seine eigene Emanzipation zu sehen. Die Masse
Der Deutsche Bauernkrieg. 383
der Nation, Kleinbürger, Handwerker, Bauern, wurde von ihrem
zunächst noch natürlichen Bundesgenossen, der Bourgeoisie, als
schon zu revolutionär, und stellenweise vom Proletariat, als noch
nicht fortgeschritten genug, im Stich gelassen; unter sich wieder
geteilt, kam auch sie zu nichts und opponierte rechts und links
ihren Mitopponenten. Während in England und Frankreich die
großen Revolutionen einen zentralisierten Staat vorgefunden hat-
ten, war dies in Deutschland nicht der Fall gewesen. Als begeisterter
Unitarier war Engels, wie wir wissen, der geschworene Gegner
jeder Art des Partikularismus, den er mit Vorliebe als Lokalborniert-
heit bezeichnete. Weil die Gespaltenheit des Landes mit der der
Klassen wetteiferte, sie sogar vielleicht noch übertraf, hatten die
beiden Revolutionen Deutschlands, die er vergleicht, sich nicht in
einer großen, kraftvollen Bewegung zusammengefunden. ,,Die
hundert Lokairevolutionen, die daran sich anknüpfenden hundert
ebenso ungehindert durchgeführten Lokalreaktionen, die Aufrecht-
erhaltung der Kleinstaaterei sind Beweise, die wahrlich laut genug
sprechen. Wer nach den beiden deutschen Revolutionen von 1525
und 1848 und ihren Resultaten noch von Föderativrepublik faseln
kann, verdient nirgends anders hin als ins Narrenhaus." Über die
Gründe die eine Zentralisation der absoluten Monarchie wie in
Frankreich und die Verwandlung der feudalständischen Monarchie
in eine bürgerlich-konstitutionelle wie in England in Deutschland
verhindert hatten, war Engels sich dabei durchaus im klaren.
Die Abhängigkeit der religiösen und politischen Ideen von der
ökonomischen Gestaltung wird von ihm überall stark herausgear-
beitet, und die ideologische Auffassung der Reformationsgeschichte
findet in ihm einen ihrer frühesten und scharfsinnigsten Gegner.
,, Diese Ideologen." meint er, ,,sind leichtgläubig genug, alle Illu-
sionen für bare Münze zu nehmen; d'e sich eine Epoche über sich
selbst macht, oder die die Ideologen einer Zeit sich über diese Zeit
machen." Auch die sogenannten Religionskriege des 16. Jahr-
hunderts drehten sich vor allem um sehr positive materielle Klassen-
interessen, sie waren Klassenkämpfe ebensogut wie die späteren
inneren Kollisionen in England und Frankreich. Wenn diese
Klassenkämpfe damals religiöse Erkennungszeichen trugen, wenn
die Interessen, Bedürfnisse und Forderungen der einzelnen Klassen
sich unter einer religiösen Decke verbargen, so erklärte sich dies
aus den Zeitverhältnissen. Gerade die Ausbreitung revolutionärer
religiös-politischer Ideen erfüllte, wie Engels hervorhebt, die wich-
tige Funktion, daß sie zum erstenmal, freilich nur sehr mühsam und
annähernd, die Nation unter großen Parteigesichtspunkten grup-
pierte. In Luther und Thomas Münzer verkörpern sich für ihn die
284 Reaktion und Prosperität.
bürgerliche und die proletarische Opposition gegen die „mittel-
alterliche Barbarei" und die jener entsprechenden sozialen Zustände.
Luther, behauptet er, habe in den Jahren 1517 bis 1525 ganz die-
selben Wandlungen durchgemacht, die jede bürgerhche Partei
durchmache, die, einen Moment an die Spitze der Bewegung ge-
stellt, in dieser Bewegung selbst von der hinter ihr stehenden ple-
bejischen oder proletarischen Partei überflügelt werde. Im ersten
Moment seines Auftretens mußten alle oppositionellen Elemente
vereinigt, mußte die entschiedenste revolutionäre Energie ange-
wandt, mußte die Gesamtmasse der bisherigen Ketzerei gegenüber
der katholischen Rechtgläubigkeit vertreten werden. ,, Gerade so
waren unsere liberalen Bourgeois noch 1847 revolutionär, nannten
sich Sozialisten und Kommunisten und schwärmten für die Emanzi-
pation der Arbeiterklasse." Als aber der Blitz, den Luther ge-
schleudert hatte, einschlug und nun das ganze Volk, besonders das
niedere, in Bewegung geriet, da ließ der Schützling des Kurfürsten
von Sachsen, der angesehene, über Nacht mächtig und berühmt
gewordene und von Schmeichlern umgebene Professor die popu-
lären Elemente der Bewegung fallen und schloß sich der bürger-
lichen, adligen und fürstlichen Suite an. Die Aufrufe zum Ver-
tilgungskrieg gegen Rom verstummten, er predigte die friedliche
Entwicklung und den passiven Widerstand. Die Augsburgische
Konfession war die schließlich erhandelte Verfassung der refor-
mierten Bürgerkirche. Es war ganz derselbe Schacher, der sich
neuerdings in deutschen Nationalversammlungen, Vereinbarungs-
versammlungen Revisionskammern und Erfurter Parlamenten in
politischer Form bis zum Ekel wiederholt hat. Der spießbürgerliche
Charakter der offiziellen Reformation trat damit offen hervor. Das
Volk aber, meint Engels, wußte sehr gut, was es tat, wenn es be-
hauptete, Luther sei Fürstendiener geworden.
Nun hatte jedoch dieser in der Bibel dem feudalisierten Chri-
stentum der Zeit das bescheidene Christentum der ersten Jahr-
hunderte, der zerfallenden feudalen Gesellschaft das Bild einer
Gesellschaft entgegengehalten, die nichts von der weitschichtigen
kunstmäßigen Feudalhierarchie wußte. Und die Bauern hatten
dies Werkzeug gegen Fürsten, Adel, Pfaffen nach allen Seiten hin
benutzt. Wenn der Wittenberger Reformator, durch die Sturmflut
der bäuerlich-plebejischen Revolution erschreckt, die Bibel jetzt
in reaktionärem Geist auslegte und das Fürstentum von Gottes
Gnaden, den passiven Gehorsam, selbst die Leibeigenschaft mit ihr
sanktionieren wollte, so verriet er damit nicht nur die proletarische
Bewegung, sondern auch die bürgerliche an die Fürsten. Für
Luthers Antipoden Thomas Münzer empfand Engels weit stärkere
Luther und Münzer.
385
Sympathien. Wir erinnern uns, daß er schon 1843 in The New
Moral World sein Lob verkündet hatte. Hier sucht er sich jetzt
diese historische Persönlichkeit dadurch verständlich zu machen,
daß er, ohne es ausdrücklich zu vermerken, ihre Bestrebungen mit
denen in Parallele setzt, die er und Marx in ihrer Zeit verfolgten.
,, Unter dem Reich Gottes verstand Münzer,** sagt er, ,, nichts an-
deres, als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunter-
schiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern
gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehe. Sämt-
liche bestehenden Gewalten, wofern sie nicht sich fügen und der
Revolution anschließen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und
alle Güter gemeinsam, und die vollständigste Gleichheit durch-
geführt werden.** Nicht bloß, dort, wo er lebte, den Kommunismus
zu verwirklichen, sondern auch einen internationalen Bund wie den
Kommunistenbund zu schaffen, hätte Münzer bereits vorgeschwebt:
,,Ein Bund sollte gestiftet werden, um dies durchzusetzen, nicht nur
über ganz Deutschland, sondern über die ganze Christenheit;
Fürsten und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschließen;
wo nicht, sollte der Bund sie bei der ersten Gelegenheit mit den
Waffen in der Hand stürzen oder töten." Aber die Klasse, die
Münzer repräsentierte, war damals erst eben im Entstehen be-
griffen und zur Unterjochung und Umbildung der ganzen Gesell-
schaft noch längst nicht fähig. Der gesellschaftliche Umschwung,
der seiner Phantasie vorschwebte, war noch so wenig in den ma-
teriellen Verhältnissen begründet, daß diese sogar erst die Gesell-
schaftsordnung vorbereiteten, die das gerade Gegenteil seiner ge-
träumten Gesellschaftsordnung war. Der Gesellschaftsumsturz, der
den protestantischen bürgerlichen Zeitgenossen so entsetzlich vor-
kam, ging in der Tat nie hinaus über einen schwachen und un-
bewußten Versuch zur übereilten Herstellung der späteren bürger-
lichen Gesellschaft. Die Vorwegnahme des Kommunismus durch
die Phantasie wurde in der Wirklichkeit eine Vorwegnahme der
modernen bürgerlichen Verhältnisse. Dennoch sieht Engels in
dieser Vorwegnahme eine wichtige Tat. Die Plebejer, meint er,
waren damals die einzige Klasse, die ganz außerhalb der offiziell
bestehenden Gesellschaft stand. Sie hatte weder Privilegien noch
Eigentum; sie hatte nicht einmal, wie die Bauern und Kleinbürger,
einen mit drückenden Lasten beschwerten Besitz. Sie war in jeder
Beziehung besitzlos und rechtlos und so zugleich das lebendige
Symptom der Auflösung der feudalen und zunftbürgerlichen wie
der erste Vorläufer der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Aus
dieser Stellung erklärt er sich, warum die plebejische Fraktion schon
damals nicht bei der bloßen Bekämpfung des Feudalismus und der
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 2^
386 Reaktion und Prosperität.
privilegierten Pfahlbürgerei stehen bleiben konnte, warum sie, we-
nigstens in der Phantasie, sogar über die kaum empordämmernde
modern bürgerliche Gesellschaft hinausgreifen und Institutionen,
Anschauungen und Vorstellungen in Frage stellen mußte, welche
allen auf Klassengegensätzen beruhenden Gesellschaftsformen ge-
meinsam sind. Engels läßt durchblicken, daß ebenso wie das Kom-
munistische Manifest über die Ansprüche und Anschauungen des
Durchschnitts der deutschen Straubinger hinausgegangen war, auch
Münzer über die unmittelbaren Vorstellungen und Ansprüche der
Plebejer und Bauern seiner Zeit hinausging und ,,sich aus der
Elite der vorgefundenen revolutionären Elemente erst*eine Partei
bildete, die, soweit sie auf der Höhe seiner Ideen stand und seine
Energie teilte, immer nur eine kleine Minorität der insurgierten
Masse blieb".
Daraus, daß er mit seinen Ideen so weit über seine Zeit hinaus-
griff, erklärt Engels sich den tragischen Ausgang Münzers. Es sei
das Schlimmste, schreibt er, was dem Führer einer extremen Partei
widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die
Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für
die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung
der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. „Was er
tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der
Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben
ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedin-
gungen, der Produktions- und Verkehrs Verhältnisse, auf denen der
jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was
er tun soll, was seine eigene Partei von ihm verlangt, hängt wieder
nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des
Klassenkampfs und seiner Bedingungen; er ist gebunden an seine
bisherigen Doktrinen und Forderungen, die wieder nicht aus dem
momentanen, mehr oder weniger zufälligen Stande der Produktions-
und Verkehrsverhältnisse hervorgehen, sondern aus seiner größeren
oder geringeren Einsicht in die allgemeinen Resultate der gesell-
schaftlichen und politischen Bewegung. Er findet sich so notwen-
digerweise in einem unlösbaren Dilemma: Was er tun kann,
widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien
und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun
soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen,
nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten,
für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist." Dieses poli-
tische Glaubensbekenntnis, das von Münzers Schicksal ausgehend
so stark auf die eigene Zeit zielte, hat Engels später auch in seinem
Verhalten zu dem Auftreten Lasalles und Schweitzers maßgebend
Neuorganisation des Kommunistenbundes. 387
geleitet. „Wer in diese schiefe Stellung gerät," urteilt er kate-
gorisch, ,,ist unrettbar verloren."
Am Ende ist Engels aber doch weit entfernt, der Bewegung,
die er eben erlebte, den gleichen tragischen Ausgang anzukündigen,
den der Bauernkrieg, der an dem klaffenden Gegensatz zwischen
bürgerlicher und bäurisch-plebejischer Opposition scheiterte, ge-
nommen hatte. Die Revolution von 1525, so schließt seine histo-
rische Parallele, war eine deutsche Lokalangelegenheit, die Re-
volution von 1848 ist ein einzelnes Stück aus einem großen euro-
päischen Ereignis. Ihre treibenden Ursachen während ihres ganzen
Verlaufs sind nicht auf den engen Raum eines einzelnen Landes
zusammengedrängt und die Länder, die ihr Schauplatz waren,
gerade am wenigsten bei ihrer Erzeugung beteiligt. „Sie sind mehr
oder weniger bewußt- und willenlose Rohstoffe, die umgemodelt
werden im Verlauf einer Bewegung, an der jetzt die ganze Welt
teilnimmt, einer Bewegung, die uns unter den bestehenden gesell-
schaftlichen Verhältnissen allerdings nur als eine fremde Macht
erscheinen kann, obwohl sie schließlich nur unsere eigene Bewe-
gung ist." —
Eine Neuorganisation des Kommunistenbundes war schon des-
halb nötig geworden, weil das Wiedererstarken der reaktionären Ge-
walten diesen von neuem zwang, seine Tätigkeit in eine unterirdische
zu verwandeln. Da in der Revolution auch die Kommunisten öffent-
lich für ihre Ziele eintreten konnten, hatten die einzelnen Kreise
und Gemeinden ihre Verbindungen mit der Zentralbehörde er-
schlaffen und allmählich einschlafen lassen. Während die klein-
bürgerliche Demokratie sich in Deutschland immer vollkommener
organisierte, büßte die Arbeiterpartei ihren kaum gefundenen Zu-
sammenhalt zuletzt beinahe völlig ein.. Die Mitglieder der Zentral-
behörde, die sich gegen Ende des Jahres 1849 fast alle in London
wieder zusammengefunden hatten, rechneten damals noch ohne
jede Ausnahme mit dem nahen Wiederausbruch der Revolution
und hielten es deshalb für ungeheuer wichtig, daß dieser eine Ar-
beiterpartei vorfände, die selbständig auftreten konnte und sich
nicht mehr vom Bürgertum ins Schlepptau nehmen lassen mußte.
Die Aufgabe, nach Deutschland zu gehen und die Arbeiter-, Bauern-,
Tagelöhner- und Turnvereine, die es dort noch gab, aufzusuchen,
um in ihrer Mitte Gemeinden des Bundes teils wieder ins Leben
zu rufen teils neu zu schaffen, übernahm der geweckte Agitator
Heinrich Bauer. Das Programm aber, das er seiner Wirksamkeit
zugrunde legen und überall verbreiten sollte, hatten Engels und
Marx im März 1850 gemeinsam entworfen. Sie erinnerten hier die
deutschen Proletarier daran, daß die deutsche Bourgeoisie, kaum
25*
388 Reaktion und Prosperität.
in den Besitz der Staatsgewalt gelangt, ihre Macht dazu benutzt
habe, die Arbeiter, ihre Bundesgenossen im Kampfe, sogleich in die
frühere unterdrückte Stellung zurückzuweisen, daß sie sich zu
diesem Zweck mit der durch die Märzbewegung beseitigten feudalen
Partei verbündete und ihr schließlich die Herrschaft wieder ab-
treten mußte. Freilich habe sie sich bei diesem Verzicht Bedingungen
gesichert, die ihr durch die Finanzverlegenheiten der Regierung mit
der Zeit die Herrschaft dennoch in die Hände spielen würden, sofern
es gelänge, die revolutionäre Bewegung schon jetzt in eine so-
genannte friedliche Entwicklung einmünden zu lassen. Doch diesen
friedlichen Gang werde die Entwicklung nicht nehmen. Die
neue Revolution stehe nahe bevor. Die verräterische Rolle, die
1848 das liberale Großbürgertum gegenüber dem Volke gespielt
habe, werde in der kommenden Revolution den demokratischen
Kleinbürgern zufallen, die jetzt in der Opposition dieselbe Stellung
einnähmen wie die liberalen Großbürger vor 1848. Ihre Partei, die
demokratische, sei jedoch den Arbeitern weit gefährlicher, als die
frühere liberale. Nicht nur die große Mehrheit der bürgerlichen
Einwohner der Städte, die kleinen industriellen Kaufleute und die
Handwerksmeister zählten zu ihrem Gefolge, sondern auch die Bauern
und sogar das Landproletariat, so lange es noch nicht in dem selb-
ständigen Proletariat der Städte eine Stütze gefunden habe. Weit
entfernt, im Interesse der besitzlosen Klassen die ganze Gesellschaft
umwälzen zu wollen, erstrebten die demokratischen Kleinbürger
eine Änderung der Zustände lediglich, um die bestehende Gesell-
schaft für sich selbst möglichst erträglich und bequem zu machen.
Dazu bedürften sie einer demokratischen, sei es konstitutionellen
oder republikanischen, Staatsverfassung, die ihnen und ihren Bun-
desgenossen, den Bauern, die Mehrheit gibt, und einer demokrati-
schen Gemeinde Verfassung, die die direkte Kontrolle über das Ge-
meindeeigentum und eine Reihe anderer Funktionen in ihre Hand
legt. Die Arbeiter aber mögen Lohnarbeiter bleiben wie bisher, nur
eine gesichertere Existenz und bessere Löhne sind für sie vorgesehen,
durch mehr oder minder versteckte Almosen sollen sie bestochen
und ihre revolutionäre Kraft soll dadurch gebrochen werden, daß
ihre momentane Lage ihnen erträglicher gemacht wird. Doch ein
solches Programm könne der Partei des Proletariats keineswegs ge-
nügen. Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution
möglichst rasch zum Abschluß bringen wollten, sei es ihr Interesse
und ihre Aufgabe, die Revolution in einen Dauerzustand zu ver-
wandeln, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der
Herrschaft verdrängt, die Staatsgewalt von den Arbeitern erobert
und die Vereinigung der Proletarier nicht bloß in einem Lande,
Das neue Aktionsprogramm. ^89
sondern in den herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit
fortgeschritten wäre, daß wenigstens die entscheidenden produk-
tiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert seien.
Mit einer bloßen Veränderung des Privateigentums dürften sie sich
nicht begnügen, sondern nur mit seiner Vernichtung; nicht auf die
Vertuschung der Klassengegensätze käme es ihnen an, sondern
auf deren Beseitigung, nicht auf die Verbesserung der bestehenden
Gesellschaft, sondern auf die Gründung einer neuen.
Weil die kleinbürgerliche Demokratie in der nächsten Phase
der Revolution für einen Augenblick zweifellos den überwie-
genden Einfluß in Deutschland erhalten werde, habe das Pro-
letariat und insbesondere der Kommunistenbund sich eine drei-
fache Frage vorzulegen. Wie soll er sich ihr gegenüber verhalten,
solange auch die kleinbürgerliche Demokratie noch unterdrückt sei,
wie in dem bevorstehenden Revolutionskampf, der ihr das Über-
gewicht bringen werde, wie endlich nach diesem Kampf, wenn sie
ebenso über die gestürzten Klassen wie über das Proletariat das
Übergewicht haben werde ? Im gegenwärtigen Augenblick selbst
noch unterdrückt, böten die demokratischen Kleinbürger dem
Proletariat die Hand zur Herstellung einer großen Oppositions-
partei, sie möchten die Arbeiter in eine Parteiorganisation ver-
wickeln, in der sich hinter ihren besonderen Interessen allgemeine
sozialdemokratische Phrasen versteckten, und wo von den be-
stimmten Forderungen der Arbeiter um des lieben Friedens willen
nicht die Rede sein dürfe. Ließe das Proletariat sich darauf ein, so
würde es seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung ver-
lieren und wieder zum Anhängsel der bürgerlichen Demokratie
herabsinken. Statt den bürgerlichen Demokraten als beifallklat-
schender Chor zu dienen, sollten die Arbeiter, voran der Kom-
munistenbund, dahin streben, neben den offiziellen Demokraten
eine selbständige geheime und öffentliche Organisation der Ar-
beiterpartei herzustellen und jede Gem.einde zum Mittelpunkt und
Kern von Arbeitervereinen zu machen, in denen die Stellung und
die Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Ein-
flüssen diskutiert würden. Für den Fall eines Kampfes gegen den
gemeinsamen Gegner bedürfe es keiner besonderen Vereinigung.
Dann fielen die Interessen beider Parteien für den Moment zusam-
men, und wie früher würde sich auch in Zukunft eine solche nur für
den Augenblick berechnete Verbindung von selbst herstellen. Wie
bisher würde sich freilich auch bei diesem Kampf die Masse der
Kleinbürger solange wie möglich untätig verhalten, und danach,
sobald der Sieg entschieden sei, ihn für sich in Beschlag nehmen,
die Arbeiter zur Ruhe und Heimkehr an ihre Arbeit auffordern,
290 Reaktion und Prosperität.
sogenannte Exzesse verhüten und das Proletariat von den Früchten
des Sieges ausschließen. Es liege nicht in der Macht der Arbeiter,
den kleinbürgerlichen Demokraten dies zu verwehren, aber es liege
in ihrer Macht, ihnen das Aufkommen gegenüber dem bewaffneten
Proletariat zu erschweren und ihnen solche Bedingungen zu dik-
tieren, daß die Herrschaft der bürgerlichen Demokraten von vorn-
herein den Keim des Untergangs in sich trägt. Vor allen Dingen
müßten die Arbeiter unmittelbar nach dem Kampf soviel nur
irgend möglich der bürgerlichen Abwieglung entgegenwirken und
darauf dringen, daß die unmittelbare revolutionäre Aufregung nicht
sogleich nach dem Siege wieder unterdrückt werde. Sie müßten
dahin wirken, daß neben den Forderungen der bürgerlichen Demo-
kraten ihre eigenen Forderungen bei jeder Gelegenheit aufgestellt
werden. Sie müßten Garantien für die Arbeiter verlangen, sobald
die demokratischen Bürger sich anschickten, die Regierung in die
Hand zu nehmen. Sie müßten sich diese Garantien nötigenfalls
erzwingen und dafür sorgen, daß die neue Regierung sich durch
alle möglichen Konzessionen und Versprechungen kompromittiere.
Sie müßten überhaupt den Siegesrausch und die Begeisterung für
den neuen Zustand in jeder Weise durch eine ruhige und kaltblütige
Auffassung und durch unverhohlenes Mißtrauen gegen die neuen
Machthaber so sehr wie möglich zurückhalten. Sie müßten neben
den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre
Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeinde vorständen,
Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees,
errichten, so daß die bürgerlich-demokratische Regierung sogleich
den Rückhalt an den Arbeitern verliere und sich von vornherein von
Behörden überwacht und bedroht sieht, hinter denen die ganze
Masse der Arbeiter steht.
Um der siegreichen Demokratie, deren Verrat am Proletariat
mit der ersten Stunde des Sieges beginnen werde, energisch und
drohend entgegentreten zu können, müßten die Arbeiter bewaffnet
und organisiert sein. Die Bewaffnung des ganzen Proletariats müßte
sofort durchgesetzt, der Wiederbelebung der alten, gegen die Ar-
beiter gerichteten Bürgerwehr entgegengetreten werden. Wo dies
letztere nicht durchzusetzen sei, müßten die Arbeiter versuchen, sich
selbständig als proletarische Garde mit selbstgewählten Chefs und
eigenem selbstgewähltem Generalstabe zu organisieren und unter
den Befehl nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern
durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte treten. Sobald danach die
neue demokratische Regierung sich einigermaßen befestigt habe,
werde ihr Kampf gegen die Arbeiter sofort beginnen. Um ihr mit
Macht entgegentreten zu können, müßten die Arbeiter in Klubs
Kleinbürgertum und Proletariat. 39 1
selbständig organisiert und zentralisiert sein. Die Zentralbehörde
des Kommunistenbunds beabsichtigte, sich nach dem Sturz der
Reaktion sofort nach Deutschland zu begeben, einen Kongreß ein-
zuberufen und diesem die nötigen Vorlagen wegen der Zentralisation
der Arbeiterklubs unter einer am Hauptsitze der Bewegung nieder-
gesetzten Direktion zu machen. Wie aber solle sich die Arbeiter-
partei bei den Wahlen zu der Nationalvertretung verhalten, die
sofort nach dem Sieg der demokratischen Revolution erfolgen wür-
den? Hauptsächlich müßte sie dafür sorgen, daß neben den bür-
gerlich-demokratischen Kandidaten überall Arbeiterkandidaten, am
besten Bundesmitglieder aufgestellt und gewählt würden. Selbst
dort, wo noch keine Aussicht auf Erfolg bestünde, sollte sie eigene
Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre
Kräfte zu zählen, ihren revolutionären Standpunkt vor die Öffent-
lichkeit zu bringen.
Der erste Punkt, bei dem die Arbeiterpartei mit der bürgerlichen
Demokratie in Streit geraten werde, dürfte die Aufhebung des Feu-
dalismus sein. Dann die Kleinbürger würden das Land der Feu-
dalen den Bauern als freies Eigentum geben, das heißt das Land-
proletariat bestehen lassen und eine kleinbürgerliche Bauernklasse
bilden wollen. Die Arbeiterpartei dagegen müsse verlangen, daß
das konfiszierte Feudaleigentum Staatsgut bleibe und vom länd-
lichen Proletariat auf genossenschaftliche Weise unter Wahrung
aller Vorteile des großen Ackerbaues bewirtschaftet werde. Sodann
würden die Demokraten entweder direkt auf die Föderativrepublik
hinarbeiten oder wenigstens, wenn sich eine unitarische Gestaltung
nicht vermeiden ließe, die Zentralregierung durch möglichste Selb-
ständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Provinzen zu
lähmen suchen. Die Arbeiter aber müßten nicht nur die eine und
unteilbare deutsche Republik, sondern auch in ihr die entschiedenste
Zentralisation der Gewalt in den Händen der Staatsmacht fordern
und sich durch das demokratische Gerede von Freiheit der Gemein-
den und Selbstregierung nicht irre machen lassen. Sie dürften nicht
dulden, daß ein Zustand fortdauere, unter dem die Deutschen sich
um ein und denselben Fortschritt in jeder Stadt, in jeder Provinz,
besonders schlagen müßten. Die Aufgabe einer wirklich revolu-
tionären Partei sei die Durchführung der strengsten Zentralisation.
Wären die Demokraten ans Ruder gekommen, so würden sie
sich genötigt sehen, mehr oder minder sozialistische Maßregeln
vorzuschlagen. Welche Forderungen müßten die Arbeiter ihnen
entgegenstellen, solange sie, im Anfang der Bewegung, noch keine
direkt kommunistischen Verfügungen verlangen könnten ? Sie
müßten die Demokraten dazu zwingen, nach möglichst vielen Seiten
392 Reaktion und Prosperität.
hin in die bisherige Gesellschaftsordnung einzugreifen, ihren regel-
mäßigen Gang zu stören und sich selbst zu kompromittieren sowie
möglichst viele Produktivkräfte, Transportmittel, Fabriken Eisen-
bahnen in den Händen des Staats zu konzentrieren suchen. Sie
müßten die Reformvorschläge der Demokraten auf die Spitze
treiben und sie so in direkte Angriffe auf das Privateigentum ver-
wandeln. Wenn die Kleinbürger vorschlügen, die Eisenbahnen und
die Fabriken anzukaufen, müßten sie fordern, daß diese Eisen-
bahnen und Fabriken als Eigentum von Reaktionären vom Staat
ohne Entschädigung konfisziert würden. Sie müßten alle Steuer-
forderungen der Demokraten in antikapitalistischer und konfiska-
torischer Richtung überbieten, und wenn jene die Regulierung der
Staatsschulden verlangten, auf dem Staatsbankrott bestehen. Wenn
die deutschen Arbeiter auch zur Herrschaft und Durchführung ihrer
Klasseninteressen nicht kommen könnten, ohne eine längere revo-
lutionäre Entwicklung durchzumachen, so hätten sie diesmal doch
die Gewißheit, daß der erste Akt der neuen Revolution mit dem
direkten Siege des französischen Proletariats beginnen und daß
dieser Sieg den ihrigen beschleunigen werde. Das meiste müßten
sie freilich selbst tun, indem sie sich über ihre Klasseninteressen
aufklärten, sich durch die heuchlerischen Phrasen des Kleinbürger-
tums an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats
nicht irre machen ließen und den Schlachtruf erhöben: Die Revo-
lution in Permanenz!
So sehr die nächste Entwicklung der Dinge in Deutschland die
Verfasser dieses ersten ausführlichen Programms für eine Aktion
der noch kaum vorhandenen deutschen Arbeiterpartei enttäuschen
mußte, so wenig war doch dieses Programm in den Wind hinaus-
gesprochen. Denn die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
lehrt uns, daß es bis in die unmittelbarste Gegenwart hinein seine
Aktualität nicht verloren hat.
Als sie dieses Aktionsprogramm nach Deutschland schickten,
erwarteten Engels und Marx den Wiederausbruch der Revolution,
an deren Erlöschen sie noch nicht glauben wollten, nach wie vor
von einer Erhebung des Pariser Proletariats im Gefolge eines euro-
päischen Krieges. Im Februar 1850 waren sie fest überzeugt, daß
im Lauf des Jahres die, wie sie annahmen, aufs neue zusamm.en-
geschlossene heilige Allianz die Stabilisierung der alten Gewalten
mit Waffengewalt durchführen würde. Eine politische Übersicht
am Schluß des zweiten Hefts ihrer Revue, die wohl vorwiegend auf
Engels zurückgeht, hebt nachdrücklich hervor, wie sehr die beiden
Revolutions jähre Rußland in die europäische Politik verwickelt
hätten und daß dieses hierdurch genötigt v/ürde, seine alten Pläne
Das kalifornische Gold.
393
auf Konstantinopel, wenn sie nicht für immer unausführbar werden
sollten, schleunigst durchzuführen. Die Verfaulung des österreichi-
schen Staatskörpers vollziehe sich mit zunehmender Schnelligkeit.
Vergebens versuche die Regierung, durch krampfhafte Zentralisation
sie aufzuhalten. ,,Nur Ein Verzweiflungscoup bleibt noch übrig
und bietet eine geringe Chance der Rettung — ein Krieg nach
außen; dieser Krieg nach außen, zu dem Österreich unaufhaltsam
getrieben wird, muß seine vollständige Auflösung rasch zu Ende
führen." Im Laufe dieses kommenden Krieges werde Rußland in
Deutschland Fuß fassen, die Konterrevolution energisch zu Ende
führen und mit Preußen im Bunde von hier aus den neuen Kreuzzug
gegen das moderne Babel antreten. England werde durch die Um-
stände gezwungen werden, sich Rußland entgegenzustellen. Ob
dem Angriff auf Frankreich Diversionen gegen die Schweiz oder
die Türkei vorausgehen würden, hänge von der Entwicklung der
Dinge in Paris ab. Die dort herrschende Bourgeoisie habe es auf
die Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts abgesehen, aber der
Konflikt, den sie damit heraufbeschwöre, würde den Sieg der Re-
volution beschleunigen. Den schwächlichen Kleinstaaten will En-
gels nach wie vor nicht v/ohl. Der Schweizer Bundesrat, der die
deutschen politischen Flüchtlinge aus Liebedienerei gegen die
reaktionären Regierungen zu einem großen Teil seines Gebiets ver-
wiesen hatte, liefert ihm ,,das frappanteste und hoffentlich das
letzte Beispiel davon, was die angebliche Unabhängigkeit und
Selbständigkeit kleiner Staaten mitten zwischen den modernen
großen zu bedeuten hat".
Während der Kontinent mit Revolution und Konterrevolution
beschäftigt sei, mache England in einem ganz andern Artikel:
in Prosperität. Noch aber glauben Engels und Marx nicht an
deren Dauer: für das Ende des Frühlings, spätestens für den
August, sagen sie die Krisis voraus, welche die moderne eng-
lische Revolution, die ihnen noch immer unausbleiblich erscheint,
einläuten würde. Doch alle diese europäischen Konstellationen
treten für die Verfasser in den Schatten hinter einem Ereignis, das
ihnen wichtiger als die Februarrevolution, folgenreicher als die Ent-
deckung Amerikas erscheint: hinter der Entdeckung der kalifornischen
Goldminen, die siebzehn Monate zuvor erfolgt war. Die bornierte
Eifersucht der handeltreibenden Völker habe bisher alle Vorschläge
zu einer Durchstechung des Isthmus von Panama zum Scheitern
gebracht. Nun aber sei die rührende Langmut endgültig vorüber,
mit der man dreihundertdreißig Jahre lang den Handel nach dem
Stillen Ozean um das Kap Hörn geleitet habe. Das kalifornische
Gold ergieße sich in Strömen über Amerika und die asiatische Küste
394 Reaktion und Prosperität.
des Stillen Ozeans und reiße die widerspenstigsten Barbarenvölker
in den Welthandel, in die Zivilisation. Was im Altertum Thyros,
Karthago und Alexandria, im Mittelalter Genua und Venedig
waren, was bisher London und Liverpool gewesen sind, die Em-
porien des Welthandels, das werden jetzt New York und San Fran-
zisko, San Juan de Nicaragua und Leon und Chagres und Panama.
,,Der Schwerpunkt des Weltverkehrs, im Mittelalter Italien, in der
neueren Zeit England, ist jetzt die südliche Hälfte der nordameri-
kanischen Halbinsel. Die Industrie und der Handel des alten Eu-
ropas müssen sich gewaltig anstrengen, wenn sie nicht in denselben
Verfall geraten wollen, wie die Industrie und der Handel Italiens seit
dem i6. Jahrhundert, wenn nicht England und Frankreich dasselbe
werden soll, was Venedig, Genua und Holland heute sind." Die
einzige Aussicht, daß die europäischen zivilisierten Länder, wenn
der Atlantische Ozean zu der Rolle eines Binnensees wie das Mittel-
mcer herabsinke, nicht in dieselbe industrielle, kommerzielle und
politische Abhängigkeit fallen, in der Italien, Spanien und Portugal
sich schon befänden, liege in einer gesellschaftlichen Revolution.
Sie müßten, solange es noch Zeit sei, die Produktions- und Verkehrs-
weise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden
Bedürfnissen der Produktion selbst umwälzen und dadurch die Er-
zeugung neuer Produktivkräfte möglich machen, welche die Über-
legenheit der europäischen Industrie sichern und so die Nachteile
der geographischen Lage ausgleichen könnten.
Wiederum erwiesen sich auf solche Weise Engels und Marx auf
eine nahe Sicht als minder gute Propheten als auf eine ferne. Die
Beseitigung des allgemeinen Stimmrechts, die am 31. Mai Gesetz
wurde, führte in Frankreich zu keinem revolutionären Ausbruch.
Das durch die Junischlacht gelichtete Pariser Proletariat ließ diese
Entrechtung ebenso ohnmächtig über sich ergehen, wie gleich
darauf die Schmälerung der Preßfreiheit. In England, und darüber
hinaus in der ganzen Welt, kam der wirtschaftliche Aufschwung
keineswegs zu schnellem Stillstand, und auch die kriegerische
Aktion der Mächte der heiligen Allianz gegen den Westen setzte
sich nicht in Bewegung. Im Sommer 1850 war es soweit, daß die
revolutionäre Partei in allen Ländern Europas vom Schauplatz ver-
drängt war und die Sieger sich ohne Rücksicht auf sie um die Früchte
ihres Triumphes streiten konnten. In Deutschland zumal ließ sich
nicht mehr bezweifeln, daß die feudalen Gewalten geräuschvoll und
schamlos ihre Auferstehung feierten und daß, wie Lassalle es im
folgenden Jahre in einem Brief an Marx ausdrückte, das Kapital
sich darein fügte, ,,als hergelaufener Roturier wieder auf den Kut-
schenschlag des großen Grundbesitzes hinten aufzusteigen**. Damit
Neue Enttäuschungen. oqc
war endlich für Engels die Stunde der Besinnung auf den objektiven
Stand der Dinge gekommen. Gegen die Verschwörer ron Profession,
gegen die ,,dissoluten Gewohnheiten" einer im Ausland herum-
bummelnden Emigration, eines Instituts, ,, worin jeder notwendig
ein Narr, ein Esel und ein gemeiner Schurke wird, der sich nicht
ganz von ihr zurückzieht", gegen die Romantiker der Revolution,
die, ohne tieferen Einblick in das Zusammenspielen der die Geschichte
bestimmenden Faktoren, den Umsturz, den sie herbeisehnten, durch
spontane Verschwörungen bewerkstelligen zu können glaubten,
empfand er eine unüberwindliche Abneigung. Die Tradition seines
Geschlechts steckte ihm, so eifersüchtig er auf seine persönliche
Freiheit blieb, zu tief im Blut, als daß ihm nicht die Boheme als
solche widerstanden hätte. Mochte er einmal in Antwerpen, um
die dortigen deutschen Bourgeois vor den Kopf zu stoßen, seine
Freundin Mary in eine Gesellschaft mitgebracht haben, wo
er im voraus wissen konnte, daß die Spießbürger die Nase darüber
rümpfen würden, mochte er es für überflüssig halten, seine Be-
ziehungen zu der irischen Arbeiterin, die nun bald seine dauernde
Hausgenossin wurde, von der Behörde legitimieren zu lassen, im
Grunde anerkannte er die objektiven Gewalten als das, was sie
waren: er respektierte ihre Stärke, wo er sie begriff, tat alles um
sie zu untergraben, wo er es für nötig hielt. Doch Geringschätzung
empfand er für die anspruchsvolle Selbstüberhebung losgelöster In-
dividuen, denen er vorwarf, daß sie selbst nicht wüßten, in wessen
Spiel sie die Figuren wären. Sobald die Erkenntnis ihm feststand,
daß eine wirtschaftliche Krisis in nächster Zeit nicht zu erwarten
sei, zog er daraus für die Gestaltung seines persönlichen Lebens wie
für seine politische Stellungnahme die entschiedensten Konse-
quenzen.
Am Engelsbruch in Barmen beschäftigte man sich begreiflicher-
weise ernsthaft mit der Frage, wie sich das Leben des ältesten Sohnes,
dem die Rückkehr in die Heimat für lange versperrt war, künftig
gestalten sollte. Schwester Marie, von der er sich am ehesten etwas
sagen ließ, schrieb ihm darüber, wohl im Auftrag der Mutter und
mit Wissen des Vaters, daß sein dauerndes Verweilen in London,
wo die meisten Flüchtlinge sich angesammelt hätten, ihnen nicht
gefahrlos erschiene ; sie fänden es für ihn nützlicher, daß er nach
einem Ort übersiedelte, wo die „Liebhaberei", für die er mit großer
Lust und Liebe mehrere Jahre alle seine Kräfte aufgeopfert habe,
weniger Nahrung vorfände und nicht so leicht wieder die Oberhand
gewinnen könnte. Friedrich hatte sich, als er dies Schreiben erhielt,
schon bereit erklärt, zunächst wieder in die kaufmännische Lauf-
bahn zurückzukehren. „Es ist nun der Gedanke bei uns aufgestiegen,"
396 Reaktion und Prosperität.
bemerkte dazu die Schwester, die nicht nur für sich selbst sprach,
,,daß Du wohl für den Augenblick mit Ernst Kaufmann werden
willst, um Dir dadurch Deinen Lebensunterhalt zu sichern, daß
aber, sobald sich nach Deiner Ansicht wieder günstige Chancen
für Eure Partei darbieten, Du den Kaufmann wieder an den Nagel
hängen und wieder für Eure Partei arbeiten wirst; mit einem Wort,
daß Du nicht mit Lust und Liebe Kaufmann wirst und nicht vorhast,
es Dein Lebelang zu bleiben." Es gibt einen Brief von Techow,
der im August 1850 an seine Freunde in der Schweiz über eine
Zusammenkunft mit Marx und Engels berichtet, bei der diese ihm
erklärten, sie würden im November nach Amerika auswandern: es
sei ihnen auch ganz gleichgültig, ob dieses erbärmliche Europa zu-
grunde gehe, was ohne soziale Revolution unausbleiblich sei. Nach
allem, was wir wissen, scheint es nicht, als ob es Engels oder gar
Marx mit einem solchen Plan zu irgend einem Zeitpunkt sehr ernst
gewesen wäre. In Barmen hätte man es damals gern gesehen und hat
sich in dieser Richtung bemüht, daß Friedrich eine kaufmännische
Stellung in Kalkutta übernähme. Lieber als in die Tropen wäre
dieser begreiflicherweise noch nach New York gegangen, wohin
sich damals ebenfalls Fäden anspannen, die aber Anfang Januar
1851 zu seiner großen Genugtuung zerrissen. Am Ende kam es
dann zu der Lösung, die von Anfang an die nächstliegende gewesen
wäre. In der Großspinnerei von Ermen und Engels in Manchester
war neben den Brüdern Gottfried und Peter Ermen die Familie
Engels durch keine persönliche Arbeitskraft vertreten. Der jüngere
Friedrich Engels war in das dortige Geschäft eingearbeitet. Wahr-
scheinlich werden anfänglich Bedenken des Vaters zu überwinden ge-
wesen sein, dessen strengen Gesichtspunkten eine nur dilettantische
Beschäftigung mit Dingen, denen er selbst seine ganze Kraft
widmete, nicht zugesagt hätte. Als ihm aber Friedrich, der sich
im November 1850 freiwillig in Manchester einfand, von dort
fortlaufend ausgezeichnete und gründhche Berichte schickte, da
ging bei ihm schnell eine Wandlung vor. ,,Ich kann mir denken,"
schrieb er am 22. Januar 1851 dem Sohn, ,,daß der Aufenthalt dort
nicht der angenehmste für Dich sein muß, für uns und das Geschäft
wäre er unter den merkwürdigen Verhältnissen jedenfalls der nütz-
lichste." Am 13. Februar setzte er dann das Siegel unter diese
Wünsche. ,, Außer ordentliche Freude machst Du mir übrigens
durch Dein Anerbieten, ferner dort zu bleiben, wo Du ganz an
Deinem Platze bist, und wo niemand mich besser vertreten kann.
Gewiß komme ich, so Gott will, im Juni dorthin."
Wirklich sprachen sich Vater und Sohn, die sich zuletzt an jenem
tragischen Sonntag an der Haspeier Brücke begegnet waren, zum
Wechselnde Zukunftspläne. 39^
erstenmal wieder in Manchester an einem der letzten Junitage. Die
Mutter, die Friedrich zuvor in London, wo sie bei ihrer Tochter Marie
weilte, besucht hatte, sah dieser Zusammenkunft der beiden so über-
zeugten und aufrechten Männer nicht ohne Sorge entgegen. Erfreut
darüber, daß sein Sozius ihren Gatten bei ihm zu wohnen eingeladen
hatte, schrieb sie vertraulich darüber an den Sohn: ,, Ich denke, es
ist vielleicht doch besser, wenn Ihr nicht so immer zusammen seid,
denn man kann dann doch nicht immer von Geschäften sprechen
und es ist besser, daß Ihr nicht auf die Politik kommt, da Ihr so
sehr verschiedene Ansichten darin habt." Zu einer innerlichen Wieder-
annäherung von Vater und Sohn ist es damals nicht gekommen,
wohl aber zu einer Verständigung über Friedrichs äußere Lebens-
gestaltung. ,,Im ganzen kann ich mit dem Resultat meiner Entre-
venue mit dem Alten zufrieden sein," berichtete Engels Anfang
Juli an Marx. ,,Er hat mich auf wenigstens drei Jahre hier nötig,
und Verpflichtungen für die Dauer, nicht einmal auf die drei Jahre,
habe ich keine eingegangen, sind auch weiter nicht verlangt worden ;
weder in Beziehung auf Schriftstellerei, noch auf Hierbleiben im
Falle einer Revolution. An diese scheint er gar nicht zu denken,
so sicher ist das Volk jetzt! Dagegen habe ich mir Repräsentations-
und Tafelgelder gleich im Anfang ausgemacht — zirka 200 Pfund
jährlich, was auch ohne große Schwierigkeiten bewilligt wurde.
Mit einem solchen Salär geht die Sache schon, und wenn es bis
zur nächsten Bilanz ruhig bleibt und das hiesige Geschäft gut geht,
wird er noch ganz anders bluten müssen." Frau Marx, deren jüngstes
Söhnchen eben, wie Marx selbst es auffaßte, ,,ein Opfer der bürger-
lichen Misere" geworden war, unterdrückte in ihrem Dankschreiben
auf die teilnehmenden Worte des Freundes nicht den Ausdruck
ihrer Genugtuung darüber, daß sie Engels nun auf dem Wege
glaubte, ,,ein großer Cottonlord zu werden". Diese hochgesinnte
Frau, die den harten Kampf mit den gemeinsten Lebensnotwendig-
keiten, die das Exil ihr und ihrem Manne auferlegte und für den
sie im Grunde nicht geschaffen war, an erster Stelle auszukämpfen
hatte, wußte, daß Marx niemals einen verständnisreicheren und
opferwilligeren Freund finden konnte, keinen, von dem Unter-
stützung anzunehmen seinen stolzen Sinn weniger kränkte, weil
mit niemandem auf der Welt ihn eine innigere Gemeinschaft des
Denkens und Zielens umschlang. Wenn Engels trotz der Leichtig-
keit, mit der er schuf und schrieb, auf eine ungebundene geistige
Betätigung jetzt freiwillig Verzicht leistete, ,, Nebel und Rauch in
Masse" in Manchester von neuem in Kauf nahm und in das Kontor,
das er nicht liebte, zurückkehrte, so tat er es weit mehr in Ge-
danken an Marx als an sich selbst.
398 Reaktion und Prosperität.
Je gründlicher er die Jahre der schweren wirtschaftlichen
Depression, die auf die kurze wirtschaftliche Blütezeit von 1843
bis 1845 gefolgt waren, zum Gegenstand eingehenden Studiums
machte, um so schärfer und unanfechtbarer trat der Kausalzusam-
menhang zwischen der Kurve, in welcher der Weltmarkt sich ge-
staltete, und der des politischen Auf und Ab der letzten Jahre bis
in alle Einzelheiten ihm entgegen. Die für 1851 von den Englän-
dern vorbereitete Weltausstellung erschien ihm, wie die Übersicht
über die Ereignisse der Monate Mai bis Oktober im letzten Doppel-
heft der Zeitschrift geflissentlich betonte, von ganz anderer Bedeu-
tung ,,als die absolutistischen Kongresse von Bregenz und Warschau,
die unsern kontinentalen demokratischen Spießbürgern so viel
Schweiß auspressen, oder als die europäisch-demokratischen Kon-
gresse, welche die verschiedenen provisorischen Regierungen in
partibus zur Rettung der Welt stets aufs neue projektieren". Diese
Ausstellung erbringt ihm und Marx den schlagenden Beweis von
der konzentrierten Gewalt, womit die moderne Großindustrie überall
die nationalen Schranken niederschlage und die lokalen Besonder-
heiten in der Produktion, in den gesellschaftlichen Verhältnissen,
im Charakter jedes einzelnen Volks mehr und mehr verwische.
Indem die Ausstellung die Gesamtmasse der Produktivkräfte der
modernen Industrie auf einem kleinen Raum zusammengedrängt
zur Schau stelle, während die modernen bürgerlichen Verhältnisse
schon von allen Seiten untergraben seien, bringe sie zugleich
das Material zur Anschauung, das sich inmitten dieser unter-
wühlten Zustände für den Aufbau einer neuen Gesellschaft erzeugt
habe und noch täglich erzeuge. Doch die Bourgeoisie errichte sich
ihr Pantheon in einem Augenblick, wo der Zusammenbruch ihrer
ganzen Herrlichkeit bevorstehe, ein Zusammenbruch, der ihr schla-
gend nachweisen werde, wie die von ihr erschaffenen Mächte ihrer
Zucht entwachsen seien. Wenn der mit 1850 begonnene neue
Zyklus der industriellen Entwicklung denselben Lauf verfolge wie
der von 1843 bis 1847, würde die Krise im Jahre 1852 ausbrechen.
Krisen zeigten sich zuerst auf dem Gebiet der Spekulation, sie
bemächtigten sich erst später der Produktion. Die Bedeutung der
Entdeckung der kalifornischen Goldminen liege nicht allein in der
Vermehrung der Goldproduktion, sondern ebenso sehr in dem An-
sporn, den der mineralische Reichtum Kaliforniens den Kapitalien
der ganzen Welt gegeben habe, sich neue Wege zu suchen. Ihre Ten-
denz, sich auf die überseeische Dampfschiffahrt und auf die Kana-
lisation des amerikanischen Isthmus zu werfen, mache New York,
das die größte Masse des kalifornischen Goldes erhalte, zum Zen-
trum dieser Spekulation und damit auch des nächsten großen Zu-
Vorläufige Resignation. 399
sammenbruchs. Wie viele Gesellschaften dabei aber auch fallieren
würden, die Dampfschiffe, die den atlantischen Verkehr verdoppeln,
die das Stille Meer aufschließen, die Australien, Neu-Seeland,
Signapore, China und Amerika verbinden und die Reise um die
Welt auf die Dauer von vier Monaten reduzieren, werden bleiben.
Obgleich Engels die Möglichkeit sieht, daß die ökonomische Führung
der Kulturwelt künftig einmal auf Amerika übergehen könnte, so
blieb ihm darum zunächst doch England, zumal vom europäischen
Kontinent aus betrachtet, ,,der Demiurg des bürgerlichen Kos-
mos". Auch für die Krisen, die zuerst auf dem Kontinent Revolu-
tionen erzeugten, wäre der Grund stets in England gelegt. Doch
der Grad, in dem diese kontinentalen Revolutionen auf England
zurückwirkten, sei wiederum das Thermometer, an dem es sich
zeige, inwieweit sie wirklich die bürgerlichen Lebensverhältnisse
in Frage stellten oder wie weit sie nur ihre politischen Forma-
tionen träfen.
So wenig er also die Weltkrisis, von der ihm selbstredend sofort
wieder revolutionäre Wirkungen entgegenstrahlten, in weiter Ferne
sah, so fand Engels doch für den Augenblick, wie wir schon wissen,
die allgemeine Prosperität der bürgerlichen Gesellschaft so üppig
entwickelt, daß ihm für eine wirkliche Revolution unter solchen
Umständen alle Voraussetzungen zu fehlen schienen. Denn eine
Revolution, das verkündeten er und Marx hier unumwunden, ob-
gleich sie wußten, daß dieses Geständnis sie in der Londoner Emigra-
tion um den letzten Rest ihrer Anhängerschaft bringen konnte,
wäre nur aussichtsreich, wo die modernen Produktivkräfte und die
bürgerlichen Produktionsformen miteinander in Widerspruch ge-
rieten. ,,Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer
neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." Über die
Rückkehr der Prosperität als die tiefere Ursache des Mißerfolgs
der Revolution von 1848 und 49 verbreitete Engels sich auch öf-
fentlich in einer unter seines Freundes Harne y Vorsitz tagenden
Neujahrsfeier in London, bei der alle Organisationen der fremden
politischen Flüchtlinge vertreten waren. Er und Marx hatten sich
seit ihrer Ankunft der Idee widersetzt, die bunt zusammengewür-
felten Flüchtlingsscharen, die sich in London zusammengefunden
hatten, in einer einheitlichen Organisation zusammenzufassen.
Ihnen stand damals der Sinn mehr nach reinlicher Scheidung als
nach Verwischung der Gegensätze. Der Hochmut, mit dem sie von
der gesicherten Burg ihrer Geschichtsauffassung auf die Scharen
der Ideologen herabblickten, die sich über die wahre Situation auch
jetzt noch täuschten und von dem Glauben nicht abzubringen
waren, daß Revolutionen sich machen ließen, hatte bereits im
400 Reaktion und Prosperität.
September eine Spaltung des Kommunistenbundes herbeigeführt,
dessen Mehrzahl sich unter Willichs und Schappers Führung von
ihnen trennte. Konnten sie sich aber schon mit ihren nächsten
Freunden nicht mehr verständigen, so waren sie erst recht nicht
geneigt, dem Europäischen Zentralkomitee Zugeständnisse zu
machen, das unter Mazzinis, Ledru Rollins, des Polen Darasz und
Arnold Ruges Leitung, wie sie höhnten, ,, durch die Organisation
einer Glaubensarmee und die Stiftung einer Religion" den Sieg der
Revolution herbeizuführen vermeinte. Mit einer so ,, ordinären
Philisteransicht** wird am Schluß des letzten Hefts der Revue der
Neuen Rheinischen Zeitung, mit dem Engels für lange Zeit von der
politischen Bühne abtrat, gründlich abgerechnet. Dem Manifest,
mit dem das Komitee herausgetreten war, werfen Engels und Marx
hier vor, daß es die Existenz der Klassenkämpfe leugne und die
Kämpfe der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen gegen-
einander, deren Verlauf durch seine einzelnen Entwicklungsphasen
gerade die Revolution ausmache, nur für die unglückliche Folge
der Existenz divergierender Systeme, die leicht zu versöhnen wären,
hielten. Für Politiker solchen Schlages bestehe die Revolution bloß
im Sturz der vorhandenen Regierung; sei dies Ziel erreicht, so sei
,,der Sieg** errungen, Bewegung, Entwicklung, Kampf hörten auf,
das Europäische Zentralkomitee herrsche und eröffne das goldene
Zeitalter der europäischen Republik und der in Permanenz erklärten
Nachtmütze. Aber dieser Aufruf zur Gedankenlosigkeit sei ein
direkter Versuch zu Prellerei gerade der unterdrückten Klassen des
Volkes.
In einem Brief, den er am 13. Februar 1851 von Manchester
aus dem Freunde schreibt, bringt Engels mit wundervoller Klarheit
die Gesinnung zum Ausdruck, die ihn an diesem Wendepunkt
seines Lebens erfüllte, als ihn die siegreiche Reaktion, die so viel
länger herrschen sollte, als er damals noch annahm, auf viele
Jahre die Beteiligung an der praktischen Politik verleidete: ,,Wir
haben jetzt endlich wieder einmal — seit langer Zeit zum ersten-
mal — *', gestand er Marx, ,, Gelegenheit, zu zeigen, daß wir keine
Popularität, keinen support von irgend einer Partei irgend welchen
Landes brauchen und daß unsere Position von dergleichen Lum-
pereien total unabhängig ist. Wir sind von jetzt an nur noch für
uns selbst verantwortlich und wenn der Moment kommt, wo die
Herren uns nötig haben, sind wir in der Lage, unsere eigenen Be-
dingungen diktieren zu können. Bis dahin haben wir wenigstens
Ruhe. Freilich auch eine gewisse Einsamkeit — mon dieu, die
habe ich hier in Manchester seit drei Monaten bereits genossen und
mich daran gewöhnt . . . Wir können uns übrigens im Grunde
Rückkehr ins Kontor.
401
nicht einmal sehr beklagen, daß die petits grands hommes uns
scheuen; hab?n wir nicht seit so und so viel Jahren getan, als wären
Krethi und Plethi unsere Partei, wo wir gar keine Partei hatten,
und wo die Leute, die wir als zu unserer Partei gehörig rechneten,
wenigstens offiziell, auch nicht die Anfangsgründe unserer Sachen
verstanden? Wie passen Leute wie wir, die offizielle Stellungen
fliehen wie die Pest, in eine ,Partei* ? Was soll uns, die wir auf
die Popularität spucken, die wir an uns selbst irre werden, wenn wir
populär zu werden anfangen, eine ,Partei* ? Wahrhaftig, es ist
kein Verlust, wenn wir nicht mehr für den ,richtigen adäquaten
Ausdruck' der Bornierten gelten, mit denen uns die letzten Jahre
zusammengeworfen hatten. Eine Revolution ist ein reines Natur-
phänomen, das mehr nach physikalischen Gesetzen geleitet wird,
als nach den Regeln, die in ordinären Zeiten die Entwicklung der
Gesellschaft bestimmen. Oder vielmehr, diese Regeln nehmen in
der Rsvolution einen viel physikalischeren Charakter an, die ma-
terielle Gewalt der Notwendigkeit tritt heftiger hervor. Und sowie
man als der Repräsentant einer Partei auftritt, wird man in diesen
Strudel der unaufhaltsamen Naturnotwendigkeit hineingerissen.
Bloß dadurch, daß man sich independent hält, indem man der
Sache nach revolutionärer ist als die anderen, kann man wenigstens
eine Zeitlang seine Selbständigkeit gegenüber diesem Strudel be-
halten, schließlich wird man freilich auch hineingerissen. Diese
Stellung können und müssen wir bei der nächsten Geschichte ein-
nehmen, nicht nur keine offizielle Staatsstellung, auch solange wie
möglich keine offizielle Parteistellung, keinen Sitz in Komitees usw.,
keine Verantwortlichkeit für Esel, unbarmherzige Kritik für alle,
und dazu jene Heiterkeit, die sämtliche Konspirationen von Schafs-
köpfen uns doch nicht nehmen werden. Und das können wir. Wir
können der Sache nach immer revolutionärer sein als die Phrasen -
macher, weil wir etwas gelernt haben und sie nicht, weil wir wissen,
was wir wollen und sie nicht."
,,Die Soldaten finden sich von selbst, wenn die Verhältnisse
soweit sind," diese Überzeugung, die er zu dem Freunde damals
auch aussprach, hielt Engels aufrecht während der „ägyptischen
Gefangenschaft", in der er von nun ab so viele Jahre im Kontor
wie an der Börse in Manchester frondete, damit Marx seine ge-
waltige unersetzliche Kraft, nicht in Alltagsarbeit verzetteln,
sondern für das große Werk zusammenhalten konnte, von dem
er für ihre gemeinsame Aufgabe so unendlich viel erhoffte.
Als ihm Schwester Marie zu seinem 32. Geburtstag eine kleine
Gabe zugedacht hatte und ihn nach seinen Wünschen anfragte,
erwiderte er ihr mit einer Resignation, der wir selten bei ihm
Mayer, Friedrich Engels. Bd. I 20
402 Reaktion und Prosperität.
begegnen, die aber seine nunmehrige Lage uns begreiflich macht:
„Ma chÄre soeurl Mit Wünschen gebe ich mich seit geraumer Zeit
nicht mehr ab, dabei kommt nichts heraus. Außerdem habe ich
wirklich kein Talent dazu, denn wenn ich mich einmal ausnahms-
weise auf der Schwachheit ertappe, mir etwas zu wünschen, so ist
es jedesmal etwas, was ich doch nicht haben kann, und daher tue
ich besser, mir das Wünschen lieber vollends abzugewöhnen. Wie
Du siehst, verfalle ich auch bei diesem Gegenstand ganz in den
moralischen Ton des Predigers Salomonis und so, the less we say
about it, the better it will be.** Bloß die Lieblingsschwester ver-
nimmt dies eine Mal den leisen melancholischen Anflug, hinter
dem der Humor wie die Sonne durch die Wolken, gleich wieder
hindurchbricht. Kaum hat Engels begriffen, daß er sich möglicher-
weise auf Jahre in Manchester werde einrichten müssen, so läßt
er sich gleich seine Bücher, die noch in Brüssel lagerten, kommen und
beginnt in den Mußestunden, die dieser Virtuose der Zeitausnutzung
immer fand, zu ,, ochsen", wie er es nannte. Die künftige Revolu-
tion sollte den Generalstab der Kommunisten wohl vorbereitet an-
treffen. Angesichts der ,, enormen Wichtigkeit", die er für diesen
Fall der „partie militaire" beimaß, wandte er sich, seiner alten Nei-
gung gern nachgebend, zunächst hauptsächlich kriegswissenschaft-
lichen Studien zu. Schon bevor der ehemalige königlich preußische
Landwehrbombardier sich 1853 die Fachbibliothek eines abgedank-
ten preußischen Artillerieoffiziers ,, anschnallte", hatte er den ge-
treuen Joseph Weydemeyer, der ebenfalls preußischer Artillerie-
offizier gewesen war, um eingehendste Literaturnachweise an-
gegangen: ,,Das Autodidaktenwesen," schrieb er diesem am 19. Juli
1851, ,,ist aber überall Unsinn, und wenn man das Ding nicht
systematisch betreibt, so kommt man zu nichts Ordentlichem."
Fortab blieb England die Warte, von der aus Engels die
Gegenwart in ihrer ganzen Breite überschaute und in die Zukunft
hinauslugte. Seine Wanderjahre lagen hinter ihm. Eine große
Zäsur in seinem inneren und äußeren Leben war eingetreten.
Quellen und Nachweise.
Werke von Engels aus der Frühzeit.
Einen großen Teil der Aufsätze, Gedichte, Schriften und Briefe, deren
in unserer Darstellung Erwähnung geschieht, findet der Leser zum ersten
Mal abgedruckt in der gleichzeitig mit dieser Biographie in dem gleichen
Verlag von mir herausgegebenen Sammlung: Friedrich Engels Schriften
derFrühzeit, Aufsätze, Korrespondenzen, Briefe, Dichtungen aus den Jahren
1838 bis 1844. Über die Grenzen, die diese Zusammenstellung sich zog, unter-
richtet das Vor wort. Nur aus Platzgründen herausgelassen wurde die Broschüre
Schelling und die Offenbarung, Kritik des neuesten Reaktionsversuchs
gegen die frei Philosophie. Ausgeschlossen wurde namentlich alles, was
Mehring in seine bekannte vortreffliche Sammlung: Aus dem literarischen
Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Stuttgart
1902, aufgenommen hatte, also die Heilige Familie, die Beiträge für die
Deutsch-Französischen Jahrbücher, für das Deutsche Bürgerbuch, für die
Rheinischen Jahrbücher, für das Westphälische Dampfboot, für die Deutsche
Brüsseler Zeitung, für die Neue Rheinische Zeitung und die Revue der Neuen
Rheinischen Zeitung. Beiseite ließ ich ferner, was im Laufe der Jahre selb-
ständig oder in deutschen sozialistischen Zeitschriften neu oder zum ersten
Male erschien und den Interessenten dadurch zugänglich gemacht wurde.
Hierher gehören u. a. die Beiträge für The New Moral World vom 4. und
18. November 1843, die in der Neuen Zeit XXVIH. Jahrgang Band I S. 427
bis 431 und in dem Wiener Kampf VIL Jahrgang (1914) S. l62ff. in deut-
scher Übersetzung erschienen (über Engels anderweitige Korrespondenzen
und Notizen für das englische Sozialistenblatt vgl. dort auf S. 162 die An-
merkung des Verfassers der Einleitung N. Rjasanof f), ferner Der deutsche
Bauernkrieg, den Mehring 1908 als erstes Stück seiner Sozialistischen Neu-
drucke im Vorwärtsverlag in Berlin herausbrachte, das Tagebuch Von Paris
nach Bern, das die Neue Zeit im Jahrgang XVH Bd. I veröffentlichte, die
•wichtigen Aufsätze aus der Deutschen Brüsseler Zeitung, die Rjasanoff im
Kampf vom I.Februar und i. Juni 1913 und i. Dezember 1914 neu ab-
druckte. — Aus der Schrift gegen die deutsche Ideologie hat Ed. Bernstein
in den Jahrgängen II bis IV der von ihm herausgegebenen Dokumente des
Sozialismus 1903 und 1904 den weitaus größten Teil des Heiligen Max zum
Abdruck gebracht. Einen kleinen Nachtrag veröffentlichte er 1918 in einer
von Kurt Eisner herausgegebenen Feuilletonkorrespondenz. In den ganzen
Rest des wissenschaftlich bisher unausgebeuteten umfangreichen Manuskripts,
soweit er noch vorhanden ist, hat Herr Eduard Bernstein, dem ich dafür
zu großem Dank verpflichtet bin, mich für den Zweck dieser Biographie
Einsicht nehmen lassen. Ferner war Herr Ed. Bernstein so freundlich, mir
Engels Manuskript über die verschiedenen Schulen des wahren Sozialismus
und einige nicht abgedruckte Artikel, die dieser für die Neue Rheinische 2^itung
26*
404 Quellen und Nachweise,
geschrieben hat, zur Verfügung zu stellen. Das Manuskript des Leipziger
Konzils, von Engels Hand, mit kleinen Einschaltungen von Marx, benutzte
ich auf dem Archiv der Sozialdemokratischen Partei, wo es im Marxnachlaß
aufbewahrt wird. Von Engels Aufsätzen für The New Moral World und
The Northern Star hatte Herr M, Beer, dem ich für diese Freundlichkeit Dank
weiß, noch vor dem Kriege auf der Bibliothek des British Museum mir Ab-
schriften angefertigt. Der Krieg verhinderte mich leider, die Pariser Reforme
auf Engels Beiträge hin persönlich durchzusehen. Nach allem, was Charles
Andler (Le manifeste communiste I. traductian nouvelle avec les articles de
F. Engels dans la R6forme 1847 — 48, Paris 1906) daraus Engels vindiziert,
wird ersichtlich, daß Wesentliches dort nicht zu finden wäre. Vgl. dazu
auch (Mehring), Einiges zur Parteigeschichte, Neue Zeit XX Bd. i S. 545.
Die Länge der Jahre, die unter dem Druck der Zeitverhältnisse die Ab-
fassung des vorliegenden Bandes gewährt hat, ist einer völlig lückenlosen
Quellenzusammenstellung nicht eben förderlich gewesen. Der Verfasser
sieht sich genötigt, den Leser in dieser Hinsicht um einige Nachsicht
zu bitten. Auch hofft er, später in die Lage zu kommen, die vollständige Bi-
bliographie des jungen Engels, die er eigentlich hier schon geben wollte, auf-
zustellen. Für einige Engelssche Schriften, die an dieser Stelle nicht na-
mentlich aufgeführt wurden, finden sich die Nachweise bei den einzelnen
Kapiteln.
Briefe von Engels aus der Frühzeit.
Die Briefe an die Brüder Graeber werden zum ersten Mal
vollständig und mit den sie begleitenden Federzeichnungen Engels ver-
öffentlicht in der oben erwähnten Sammlung: Friedrich Engels, Schriften
der Frühzeit usw. Berlin 1920. Julius Springer. Auszüge aus ihnen
brachte der Verf. bereits 1913 in der Neuen Rundschau zum Abdruck.
Die Briefe an die Schwester Marie, deren im Text Erwähnung ge-
schieht und die vorläufig ungedruckt bleiben sollen, lagen mir im Original
vor. Die Briefe an Marx findet man in dem von A. Bebel und Ed.
Bernstein herausgegebenen Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und
Karl Marx 1844 bis 1883, 4 Bde., Stuttgart 19 13. Dieser Briefwechsel, der
ausgiebig benutzt ist, wurde unter den Nachweisen für die einzelnen Kapitel
nirgends besonders zitiert.
Vorarbeiten.
Eine Engelsbiographie, die diesen Namen auch nur entfernt in An-
spruch nehmen konnte, gab es bisher nicht. Die kleinen Schriften: Karl
Kautsky, Friedrich Engels, sein Leben, sein Wirken, 2. Aufl. Berlin 1908
(größtenteils verfaßt schon 1887!) und Werner Sombart, Friedrich Engels,
Ein Blatt zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus (Separatdruck aus
der Zukunft) Berlin 1895 (35 S.) wollen diesen Anspruch nicht erheben.
Für den Entwicklungsgang des jungen Engels am aufschlußreichsten waren
bisher, was das Tatsächliche betrifft, die Mehringschen Einleitungen in
seiner schon erwähnten Nachlaßausgabe, für das Geistige Rodolfo Mondolf o,
II Materialismo Storico in Federigo Engels, Genova 1912, ein sehr beachtens-
wertes Werk. Weitere Literaturangaben erübrigen sich an dieser Stelle. Von
selbst versteht sich, daß eine Engelsbiographie nur geschrieben werden
konnte unter Kenntnis aller wesentlichen Literatur über die Geschichte des
Sozialismus, namentlich des Marxismus. Einzelne Werke und Schriften hier-
Quellen und Nachweise. ^05
über herauszugreifen, weckte Bedenken. Wie vielen mag der Verfasser ver-
pflichtet sein, ohne sich davon bewiU3te Rechenschaft ablegen zu können!
Und wollte er, der Historiker, hier zuerst die Schriften von Koigen, Max
Adler, Plenge, Struve, Plechanoff nennen, so würde er mit Recht befürchten
müssen, Autoren wie Kautsky, Vorländer, Masaryk und manchen anderen
hierdurch seine Dankbarkeit zu versagen.
Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln.
Kapitel I.
S. 2 ä. Über die theologischen Strömungen der Zeit suchte
ich mich, so gut ich konnte, aus der Zeitschriftenliteratur der ausgehenden
dreißiger und der vierziger Jahre zu unterrichten. Von Darstellungen waren
mir nützlich Ch, Märklin, Darstellung und Kritik des modernen Pietismus,
Stuttgart 1839, L. Hüffel, Der Pietismus geschichtlich und kirchlich be-
leuchtet, Heidelberg 1846, Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theo-
logie, Leipzig 1858, Tröltsch, Theologie und Religionswissenschaft des neun-
zehnten Jahrhunderts im Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1902. Für
das Thema Calvinismus und Kapitalismus: Max Weber, Die pro-
testantische Ethik und der Geist des Kapitalismus im Archiv für Sozial-
wissenschaft Band 20 und 21 und die daran anschließende weitschichtige
Literatur. Der spätere Engels über den Calvinismus vgl. den Aufsatz
über historischen Materialismus in Neue Zeit XI Band i (1893). S. 3 Theater
in Eiber feld. Für die Petition der evangelischen Gemeinde vgl. Zeitschrift
des Bergischen Geschichtsvereins 1894, S. 260. In dem Entwurf eines Auf-
rufs gegen den Bau des neuen Theaters (Monatsschrift des Berg. Geschichts-
vereins 1908, S. 149) heißt es, das Theater habe „nachteilig auf die Sitten, auf
den Charakter, Fleiß und Wohlstand besonders unsrer großen arbeitenden
Volksklassen eingewirkt".
S. 4ff. Die Familiengeschichte. Mündliche und schriftliche Mit-
teilungen von Herrn Stabsarzt Dr. Walter Engels, Wandsbek, Herrn Kom-
merzienrat Hermann Engels und Herrn Emil Engels in Engelskirchen,
von Frau Ottilie Engels in Waltersdorf (Lausitz); Aufzeichnungen von
Frau Kommerzienrat Emil Engels in Düsseldorf. Das Deutsche Ge-
schlechterbuch (Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien) ent-
hält in Band 24, Görlitz 1913, einen von Emii Engels bearbeiteten Stamm-
baum der Familie Engels. — Über Großvater van Haar vergleiche besonders
Aus Familienbriefen der Jahre 1809 bis 18, mitgeteilt von Charlotte Broicher
in Kölnische Zeitung vom 24. bis 28. Juni 19 13.
S. 8undl3ff. Elberfeld-Barmen in Engels Jugendzeit. Zeit-
schrift und Monatsschrift des Bergischen Geschichtsvereins passim. Von
zeitgenössischen Schilderungen waren nützlich: die Korrespondenzen des
Wuppertaler Dichters Adolf Schults an das Stuttgarter Morgenblatt, neu
abgedruckt von Hanns Wegener in der Monatsschrift des Bergischen Ge-
schichtsvereins 1913 unter dem Titel: Elberfeld in den vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts. Ferner: Elberfeld im Jahre 1839 in Zeitung für die ele-
gante Welt 1839 Nr. 6off., F. Gustav Kühne, Das deutsche Manchester,
Europa 1847, 2. und 9. Oktober, E. Beurmann, Deutschland und die Deut-
schen, Altona 1839, Band III, Kap. 32. Für die Industrie im besonderen
Alfons Thun, Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter, Leipzig
1879, für die Arbeiterverhältnisse: H. J. A. Körner, Lebenskämpfe in der
alten und neuen Welt, Leipzig 1865, Bd. I, Kap. 8 und Der Gesellschafts-
4o6 Quellen und Nachweise.
Spiegel, redigiert von M. Heß, Elberfeld 1845 und 46, für die kirchlichen
Zustände namentlich F.W. Krummacher's Selbstbiographie, Berlin 1869.
S. 9£f. Die Kindheit. Das Gedicht an den Großvater van Haar vom
20. Dezember 1833 findet man in dem Sammelband der Schriften des jungen
Engels abgedruckt. Den Brief des Vaters (S. 10), der vom 27. August 1835
datiert ist, den Denkspruch zur Einsegnung und manche andere Einzelheit
verdanke ich Herrn Emil Engels jun. Das Abgangszeugnis vom Gymnasium
lag mir vor. Wenig ergiebig für die Frühzeit sind die sehr zahlreichen Ne-
krologe, welche die Familie gesammelt hat. Einige Einzelheiten bieten die
Nekrologe in der Freien Presse von Elberfeld-Barmen 16. August 1895 und
in der Illustrierten Zeitung vom 17. August 1895. Etwas inhaltsreicher, aber
von Fehlern nicht frei, ist Eleanor Marx-Aveling, Friedrich Engels in
Sozialdemokratische Monatsschrift Wien 30. November 1890.
S. 16. Freiligrath in Barmen. Buchner, Ferdinand Freiligrath,
Lahr 1882, Bd. I, S. 7off., 26sff.; Schleußner, Ferdinand Freiligrath in
Monatsschrift des Bergischen Geschichtsvereins September-Oktober 1903;
wichtiger als dieser Aufsatz ist die dort angegebene Literatur.
Kapitel IL
S. 20L Für die politische und wirtschaftspolitische Denk-
weise der rheinischen Kaufmannswelt in Engels Jugend wurden
neben dem, was er selbst darüber äußert, benutzt Treitschke, Deutsche
Geschichte passim, Joseph Hansen, Mevissen, Bd. I, I96ff., Mathieu
Schwann, Ludolf Camphausen als Wirtschaftspolitiker, Essen i9i5,Schön-
neshofer, Geschichte des Bergischen Landes, 2. Aufl. Elberfeld 1908. Auch
die rheinische Tagespresse jener Jahre wurde mehrfach eingesehen.
S. 22 f. Über Bremen in den dreißiger und vierziger Jahren
orientierten von zeitgenössischen Schilderungen: Alexander Saltwedel
(Pseudonym für Friedrich Saß), Hanseatische Briefe in Der Freihafen, Altona,
Jahrgang 1839, Eduard Beurmann, Deutschland und die Deutschen, Altona
1838, Bd. II, Kap. 23; ferner Drei Apriltage in Bremen in August Lewald's
Europa 1841 und Bremer Skizzen im Feuilleton der Rheinischen Zeitung
8. Dezember 1842 ff.
S. 23 £f. Die kirchlichen Gegensätze in Bremen um diese Zeit
haben eine weitschichtige Broschürenliteratur hervorgebracht. Genannt
seien hier: Einige Worte über die Verfluchungsgeschichte und den Kirchen-
streit in Bremen etc. in Hallische Jahrbücher, herausgegeben von Rüge
und Echtermeyer 14. Mai 1841 ff. und Proculejus, Bewegungen auf dem
religiösen Gebiete zu Bremen, Deutsche Jahrbücher 12. September 1842 f.
Heute orientieren am bequemsten die Bremer Biographien des 19. Jahr-
hunderts, Bremen 19 12. Vgl. hier besonders die Namen Mallet, Paniel, Tre-
viranus. Über Konsul Leupold unterrichteten mich ein Brief seiner
Tochter Frau Sophie Graef-Leupold an Herrn Emil Engels jun. sowie ein
Gespräch mit Leupolds betagtem Sohn, den ich 19 12 in Genua aufsuchte.
Für Pastor Treviranus, seine Familie und sein Haus vgl. außer den
Bremer Biographien noch Tiesmeyer, Georg Gottfried Treviranus, Bremen
1879. Für Wichern und Treviranus vgl. Wichern, Briefe S. 227und01den-
berg, Wichern I S. 434.
S. 26 ff. Für die theologischen Parteiungen der Zeit vgl, die
bei Kap. I angegebene Literatur, die Hallischen und die Deutschen Jahr-
bücher 1838 bis 43 sowie natürlich die Schriften von David Friedrich Strauß .
Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach u. a.
Quellen und Nachweise« 407
Kapitel III.
S. 37 ö. Von den zusammenfassenden Darstellungen über
das sog. junge Deutschland erwies sich am brauchbarsten noch immer
Johannes Proelß, Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistes-
geschichte, Stuttgart 1892. Für einzelnes vgl. H. H. Houben, Gutzkow-
Funde, Leipzig 190 1. Herrn Dr. Houben verdanke ich auch die interessanten
brieflichen Äußerungen Gutzkows (S. 40) über Engels-Oswald. Zeitgenös-
sische Äußerungen und Urteile über das junge Deutschland
wurden reichlich berücksichtigt: so Arnold Ruges in Deutsche Jahrbücher
1839, S. 1055 und 1066, Heines in Die romantische Schule (Abschnitt über
Jean Paul) u. a. Für die Kritik der Junghegeischen Richtung am
jungen Deutschland vgl. E(duard M(eyen) in Hallische Jahrbücher 1839,
S. 621, 624ff., Rüge, ibidem 1055 und 1066. Vgl. ferner Karl Biedermann,
ibidem ögsff. Spätere Urteile Engels über das junge Deutsch-
land: Revolution und Konterrevolution in Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart
1907, S. 15 (Verfasser Engels, nicht Marx) und in dem Brief an Bebel vom
16. Dezember 1879, abgedruckt in Bebel, Aus meinem Leben Bd. III, Stutt-
gart 19 14, S. 83. Über das junge Deutschland in der Schweiz lag mir im
Geheimen Staatsarchiv ein reichliches Aktenmaterial vor. Der Zusammen-
hang dieses jungen Deutschland mit der verwandten literarischen Bewegung
ergibt sich besonders anschaulich aus der noch heute lesenswerten Artikel-
serie Die Geschichte der geheimen deutschen Verbindungen in der Schweiz
in V. A. Hubers Janus 1847 (auch separat gedruckt mit dem Untertitel:
Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Radikalismus und Communis-
mus, Basel 1847).
Savignys Äußerungen gegen die Hegelingen und Jungdeutschländer
(S. 37) in Briefwechsel I. K. Bluntschlis mit Savigny, Niebuhr, Ranke,
J. Grimm und Ferdinand Meyer, herausgegeben von Wilhelm Oechsli, Frauen-
feld 1915, S. 74. Für die Zusammenstellung des jungen Deutschland
und der Junghegelianer im Urteil der Gegner: Jahrbücher der Grillparzer-
Gesellschaft Bd. XXI bis XXIII, enthaltend Literarische Geheimberichte aus
dem Vormärz, herausgegeben von Karl Glossy (auch besonders erschienen)
an verschiedenen Stellen, z. B. Bd. XXIII, S. 27.
Für Heinrich Leos Polemik gegen die Junghegelianer vgl.
in erster Reihe seine Kampfschrift: Die Heg klingen. Aktenstücke und Be-
lege zu der sog. Denunziation der ewigen Wahrheit, Halle 1838 und 2. Aufl.
1839. Gegen ihn u. a. Rüge, Der Pietismus und die Jesuiten in Hallische
Jahrbücher 5. Februar 1839 und an vielen anderen Orten. Für Wolf gang
Menzel und die Junghegelianer: Hallische Jahrbücher 6. August 1839:
Dr. Wolfgang Menzel und Hegel. Die für den Zweck unserer Biographie
beste Darstellung der Junghegelschen Philosophie gewährt: David
Koigen, Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Sozialismus in
Deutschland (Zur Geschichte der Philosophie und Sozialphilosophie des
Junghegelianismus) Bern 190 1. Es ist bedauerlich, daß dieses Erstlingswerk
des begabten Verfassers in einem Auslandsdeutsch abgefaßt ist, das die Be-
nutzung zu einer Qual macht.
S. 40. Die Wirkung der Briefe aus dem Wupperthal, die Engels
im Telegraph veröffentlichte, auf die frommen Kreise in der Heimat bezeugt
ein Brief seines Freundes W. Blank an die Brüder Graeber vom 24. Mai 1839,
der sich im Engelsschen Familienarchiv befindet. Das Pseudonym Fried-
rich Oswald wurde aufgedeckt durch den Aufsatz: Gustav Mayer, Ein
Pseudonym von Friedrich Engels im Archiv für die Geschichte des Sozialis-
^o8 Quellen und Nachweise.
mus und der Arbeiterbewegung, herausgegeben von Karl Grünberg, Bd. 4,
1914. Vgl. auch die einführenden Worte des Verfassers zu seiner Publikation
der Jugendbriefe in der Neuen Rundschau 19 13. Diese Veröffentlichungen
ermöglichten es Max Adler, Friedrich Engels Anfänge in seinem Sammel-
band: Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Sozialismus Stuttgart
19 14, geistesgeschichtlich zu umreißen.
S. 41. Die anfängliche Überschätzung Becks zeigt sich auch bei Rüge,
Hallische Jahrbücher 1839, S. 1337 und bei Gutzkow in seinem Essai:
Vergangenheit und Gegenwart 1830 bis 1838 in dem Jahrbuch der Literatur.
Erster Jahrgang 1839, Hamburg 1839.
S. 43 !f. Für den großen Einfluß Börnes in den ersten Jahren
nach seinem Tode vgl. die Angaben bei Gustav Mayer, Die Anfänge des po-
litischen Radikalismus in PreiJJen etc., Zeitschrift für Politik Bd. VI,
S. 9 Anm., außerdem Theodor Mundt, Heine, Börne und das sog. junge
Deutschland in Der Freihafen, Altona 1840, Heft 4, S. i85ff. und A. S(tahr)
in der Anzeige von Gutzkows Börnebiographie in Hallische Jahrbücher
18. Dezember 1840.
S. 51 ff. Für die orientalische Krisis von 1840 vgl. Treitschke,
Deutsche Geschichte Bd. V und, besonders für die innerpolitische Seite der
Frage, Robert Prutz, Zehn Jahre. Geschichte der neuesten Zeit 1840 bis
1850, Leipzig 1850, Bd. L S. 53. Der Bericht Rochows an Friedrich
V/ilhelm IV. vom 26. Februari84i befindet sich unter den Zensurakten über
die Hallischen und Deutschen Jahrbücher im Geh. Staatsarchiv in Berlin.
Kapitel IV.
S. 58 ff. Für die politische Bedeutung der Junghegeischen
Schule vgl. die eben erwähnte Abhandlung des Verfassers in Zeitschrift für
Politik Bd. VI und die dort in den Anmerkungen gegebenen Nachweise. Das
Verhältnis der Junghegelianer zu Hegel wurde von den Hallischen und ihrer
Fortsetzung, den Deutschen Jahrbüchern in zahlreichen Aufsätzen dargelegt.
Von fachmännischen Darstellungen vgl. J. E. Erdmann, Grundriß der Ge-
schichte der Philosophie und das Schlußkapitel von Kuno Fischer, Hegels
Leben, Werke und Lehre Bd. II, Heidelberg 190 1.
S. 59 und passim besonders S. 83f. Für Marx Anfänge vgl. in erster
Reihe die sorgfältigen Kommentare Mehr ings zu Bd. I seiner Ausgabe des
Literarischen Nachlasses von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand
Lasalle, Stuttgart 1901, Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens,
Leipzig 1918 erschien erst, als das Manuskript dieses Buches nahezu ab-
geschlossen war.
S. 60 ff. Für die Polemik zwischen Pietisten und Junghege-
lianern wurde in erster Reihe die Broschüren- und Zeitschriftenliteratur der
Zeit selbst benutzt: K. E. Schubarth, über die Unvereinbarkeit der Hegel-
schen Staatslehre mit dem obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip des
preußischen Staats, Breslau 1839, Köppens Erwiderung darauf im Tele-
graph 1839 Nr. 56 und 58, Heinrich Leo, Sendschreiben an Görres, 2. Aufl.
mit Vorwort Halle 1838 und Die Hegelingen etc. Halle 1838, die Erwiderungen
auf diese Angriffe in den Hallischen Jahrbüchern, besonders A. Rüge, Die
Denunciation der Hallischen Jahrbücher ibid. 27. und 28. Juli 1838, derselbe,
Leo und die Evangelische Kirchenzeitung gegen die Philosophie ibid. 2, Ok-
tober ff. 1838, derselbe, Der Pietismus und die Jesuiten ibid. 5. Februar
1839 ff., Ludwig Feuerbach, Der wahre Gesichtspunkt, aus welchem der
Quellen und Nachweise. ^09
Leo-Hegelsche Streit beurteilt werden muß etc. ibid. 12. März 1839 und
manches andere.
S. 63. Daß damals Begüterte sich leicht dem Militärdienst entziehen
konnten, betont Engels, Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des
neuen Deutschen Reiches (aus dem Nachlaß von Bernstein herausgegeben),
Neue Zeit XIV i S. 710.
S. 66 ff. Die Stimmung der Liberalen in den ersten Monaten
der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Außer den Darstellungen
bei Prutz und bei Treitschke wurde die Zeitungsliteratur jener Jahre heran-
gezogen. Vgl. ferner: Von Preußens Befreiungs- und Verfassungskampf. Aus
den Papieren des Oberburggrafen Magnus von Brünneck, herausgegeben von
Paul Herre, Berlin 1914. Besondere Einblicke gewährte dem Verf. überdies
die Benutzung des unveröffentlichten Nachlasses Johann Jacob ys.
S. 68. Für das Verhältnis der preußischen Regierung zur
junghegelschen Schule Max Lenz, Geschichte der Berliner Universität
Bd. III und Gustav Mayer: Die Anfänge des politischen Radikalismus im
vormärzlichen Preußen, Zeitschrift für Politik Bd. VI.
S. 69. Engelsals Artillerist. Ungedruckte Briefe an seine Schwester
Marie, ein ungedruckter Brief Eduard Flottwells an Johann Jacoby vom No-
vember 1841. Auf Engels näheres Verhältnis zu Michelet wird hingewiesen in
(Merz) Schelling und die Theologie, Berlin 1845, S. 27.
S. 71 f. Schellings Berufung und die Polemik gegen ihn.
Lenz, Geschichte der Universität Berlin III, S. 479 und IV, S. S73ff.; Aus
Schellings Leben. In Briefen Bd. III, Leipzig 1870, S. 168; Literatur-
angaben bei (Merz) a. a. O. S. 22ff. und bei Kuno Fischer, Schelling,
Bd. II. Den Bäweis, daß Schelling und die Offenbarung von Engels stammt,
bei Gustav Mayer, Ein Pseudonym von Friedrich Engels in Grünbergs Ar-
chiv IV 1914. Heute überholt ist die zu ihrer Zeit dankenswerte Betrach-
tung: , (Schelling und die Offenbarung", Auch ein Beitrag zur Geschichte
der Berliner ,, Freien" von Doubleyou (Pseudonym) in Dokumente des So-
zialismus, herausgegeben von Eduard Bernstein Bd. I 1902, S. 436ff.
S. 82 ff . Für den Kreis der Freien vgl. besonders die Schilde-
rung bei J. H. Mackay, Max Stirner, Sein Leben und sein Werk, 3. Aufl.
(Privatausgabe), Berlin-Charlottenburg I9i4und Gustav Mayer in Zeitschrift
für Politik VI. Daß J. F. Heß ein Ableger des Literarischen Comptoirs war,
ergibt sich aus (Bluntschli), Die Kommunisten in der Schweiz nach den
bei Weitling vorgefundenen Papieren. Wörtlicher Abdruck des Kommissio-
nalberichtes an die H. Regierung des Standes Zürich, Zürich 1843, S. 59. Für
Moses Heß vgl. die Angaben bei Kap. V.
S. 95 f. Der liberale Pressefeldzug von 1842. Prutz, Zehn
Jahre a. a. O., Treitschke, Bd. V, a. a. O., Gustav Mayer in Zeitschrift für
Politik VI. Von Darstellungen Beteiligter: Bruno Bauer, Vollständige Ge-
schichte der Parteikämpfe in Deutschland während der Jahre 1842 bis 1846,
3 Bände, Charbttenbutg 1847 und Edgar Bauer ,,1842' in Literaturzeitung,
herausgegeben von Brun) Bauer Bd. II, Juli 1844 (beide Darstellungen ehr
parteiisch).
Daß Engels der Königsberger Zeitung gelegentliche Beiträge sandte, er-
sehe ich aus seinem mir vom Adressaten freundlich zur Verfügung gestellten
Brief an Dr. Conrad Schmidt vom 26. November 1887. Die Geschichte der
Rheinischen Zeitung: J.Hansen, Mevissen Bd. I, Mehring, Nach-
laß etc. Bd. I, Gustav Mayer in Zeitschrift für Politik VI, E. Gothein in
410 Quellen und Nachweise.
Die Stadt Köln im ersten Jahrhundert unter preußischer Herrschaft 1815
bis 1915, Köln 19 16. S. 97. Die Briefe Bruno Bauers an Marx konnten im
Marx-Nachlaß eingesehen werden.
S. 101. Der Deutsche Bote aus der Schweiz. G. Fleury, Le
Poöte Georges Herwegh, Paris 1911, Einundzwanzig Bogen aus der
Schweiz, herausgegeben von Herwegh Zürich 1843, Vorwort, dazu unge-
druckte Briefe von Fröbel und Folien an Johann Jacoby und den Brief Her-
weghs an Ludwig Feuerbach vom 3. September 1842.
Kapitel V.
S. 104. Für Ludwig Feuerbachs Einfluß auf den deutschen
Sozialismus war uns am wichtigsten Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach
und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 5. Aufl., Stuttgart
1910 (verfaßt 1886). Von anderen Darstellungen vgl. die zeitgenössische von
Moses Heß, Über die sozialistische Bewegung in Deutschland, Neue Anek-
dota, herausgegeben von Karl Grün, Darmstadt 1845 (geschrieben im Mai
1844), von modernen besonders Koigen a.a.O., und Emil Hammacher,
Zur Würdigung des , .wahren" Sozialismus in Grünbergs Archiv Bd. I.
S. 108 ff. Moses Heß. Eine ausführliche Biographie bliebe noch zu
schreiben. Die Allgemeine Deutsche Biographie berücksichtigt Heß ebenso
wenig wie Edgar Bauer und Ludwig Buhl. Als ein erster Versuch recht ver-
dienstvoll ist Theodor Zlocisti, Moses Heß, eine biographische Studie, Berlin
o. J. Für die philosophische Seite das Wichtigste gibt Koigen, daneben Ham-
macher a.a.O., dem Politiker suchen gerecht zu werden Mehring, Ge-
schichte der deutschen Sozialdemokratie, 3. Aufl., Stuttgart 1906 und Georg
Adler, Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in
Deutschland, Breslau 1885. Heß äußere Erscheinung schildert Arnold Rüge
in Zwei Jahre in Paris, Leipzig 1846, Bd. I, S. 31, 39. Einige Angaben, die
verwertet wurden, fanden sich in den Zensurakten des Geh. Staatsarchivs
unter verschiedenen Rubriken. Ein Verzeichnis von Heß Aufsätzen aus
dieser Frühzeit bei Gustav Mayer in Zeitschrift für Politik VI, S. 75 Anm.
S. 109 f. Das Athenaeum. Ein Exemplar der Zeitschrift findet sich
auf der Staatsbibliothek in Berlin. Die Zensurakten auf dem Geh. Staats-
archiv, die benutzt werden konnten, konstatieren die überaus geringe Ver-
breitung des Blattes.
S. 111. Fourier und die deutsche Publizistik. Das Buch
Rochaus erschien unter dem durchsichtigen Pseudonym Churoa, vgl. ferner
Lippert, Charles Fourier in Hallische Jahrbücher 19. September 1839, R.
(Paris), Das Fouriersche Sozialsystem, seine Anhänger und Erklärer, Frei-
hafen 1841, 2. Viertel Jahrsheft.
S. 113. Für Heinrich Heines Ucteil über Sozialismus und Kommu-
nismus bis zum Beginn seiner Freundschaft mit Marx, vgl. besonders die
Briefe vom 20. Juni und 12. Juli 1842 in den Französischen Zuständen.
Die Abweichungen zwischen der Buchausgabe und den Originalkorrespon-
denzen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung dürfen nicht übersehen
werden. Man beachte auch das Feuilleton der Rheinischen Zeitung vom
14. März 1843 über Atta Troll und den Atta Troll selbst.
S. 114. Heß in der Rheinischen Zeitung über Kommunis-
mus. Der Kommunnismus in Frankreich, 19. und 21. April 1842 und Die
politischen Parteien in Deutschland, 11. September 1842.
S. 116. Der alte van Haar hat seine Philippika gegen die Maschinen
nach der Familientradition unter dem Namen seines Schwagers Snethlage
Quellen und Nachweise. 41 j
veröffentlicht. Auf die Broschüre weist hin Friedrich von Raumer, England
in 1835, Bd. II, S. II. Der Artikel der Allgemeinen Deutschen Biographie
über Bernhard Moritz Snethlage erwähnt die Schrift nicht,
S. 119 f. Lorenz Stein, Daß sein Werk kein plötzlich aufsteigender
Meteor gewesen sei, betonten bisher am nachdrücklichsten (Guido Weiß),
Zur Geschichte des Sozialismus in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift
Die Waage 1875 S. 584 sowie F. Mehring in Geschichte der deutschen Sozial-
demokratie, Bd. I, S. 252f, und in Nachlaß etc. Bd, I, S. 186. Äußerungen
von Heß über das Steinsche Werk in dem Aufsatz Die Philosophie der Tat
in den Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, S.313 und in seinem Aufsatz
Über die sozialistische Bewegung in Deutschland in den Neuen Anekdota.
Da Heß in der Philosophie der Tat auf die Kritik der Steinschen Schrift im
letzten Quartal der Rheinischen Zeitung verweist, so ist nicht von der Hand
zu weisen, daß diese, die im Beiblatt vom 16. März 1843 steht, obgleich
einiges dagegen spricht, ihn zum Verfasser hat. Dort steht übrigens eine
Charakteristik der Revolution, die dem jungen Lassalle in der Erinnerung
haften geblieben sein mag: ,,Jede Revolution ist nicht selbstzeugend, son-
dern sie bringt ein bis dahin verborgenes und zurückgehaltenes neues Leben
nur gewaltsam und plötzlich zur Erscheinung" etc. Die Beziehungen zwi-
schen Heß und Lassalle verdienten eine genauere Untersuchung. Steins Be-
richte an den preußischen Minister des Innern befinden sich im Geh, Staats-
archiv größtenteils unter einer besonderen Nummer, zum kleineren Teil
auch in den Akten betr. die revolutionären Vereine unter den wandernden
Handwerksgesellen. Über das Verhältnis von Marx zu Lorenz Stein
gibt es eine ziemliche Literatur: vgl. besonders Bela Földes, Bemerkungen
zu dem Problem Lorenz Stein-Karl Marx in den Jahrbüchern für National-
ökonomie und Statistik Bd, 102 (1914), Peter von Struve, Stein, Marx und
der ,, wahre Sozialismus" (Teil II der Studien und Bemerkungen zur Ent-
■wicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Sozialismus in Neue Zeit XV
Bd. 2, 1897), Emil Hammacher, Das philosophisch-ökonomische System
des Marxismus, Leipzig 1909, S. 62ff., Koigen a. a, O, S, 239 ff,, Friedrich
Muckle, Saint Simon, Jena 1908, S. 327, Johannes Plenge, Marx und
Hegel, Tübingen 19 11, S. 64ff, Wie viele der anderen überschätzt auch
Plenge Steins Einfluß auf Marx deshalb, weil er Moses Heß keine Beachtung
schenkt. Marx selbst äußerte sich über Lorenz Stein in seiner Anzeige von
Karl Grüns Buch: Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien in dem
von Otto Lüning herausgegebenen V/estphälischen Dampfboot 1847. Der
Artikel, der den Untertitel führt: Über die Geschichtsschreibung des wahren
Sozialismus, wurde von P, von Struve in der Neuen Zeit XIV 2 (1896) neu
abgedruckt. Engels über Stein: vgl. Ein Fragment Fouriers über den
Handel in Deutsches Bürgerbuch Darmstadt 1846, S. 53 (neu abgedruckt in
Mehring, Nachlaß etc., Bd. II) und Das Volk, London 6. August 1859. Den
letzten Aufsatz druckte neu Nettlau, Friedrich Engels über Karl Marx
in Sozialistische Monatshefte Januar 1900,
S. 121. Friedrich Wilhelm IV, und der Kommunismus. Die
Kabinettsorder des Königs betreffend die Umtriebe der kommunistischen
Vereine in der Schweiz, datiert Sanssouci 22. September 1843, findet sich
in Faszikel 4 der Acta betreffend die revolutionären Vereine der wandernden
Handwerksgesellen, Akten des Ministeriums des Innern und der Polizei,
Geh, Staatsarchiv, Für Gutzkow und die Kommunisten: Gutzkow,
Briefe aus Paris, 2 Bände, Leipzig 1842, Telegraph Jahrgang 1842, (Bluntschli)
Die Kommimisten in der Schweiz a, a, O, Weitlings Zeitschriften in
A12 Quellen und Nachweise.
Berlin: Rheinische Zeitung 30. September 1842, Die Berliner Familien-
häuser.
S. 122. Bruch des politischen mit dem philosophischen
Radikalismus. Darstellung bei Mehring, Nachlaß etc. I, S. 191 und bei
Gustav Mayer in Zeitschrift für Politik, Bd. VI, vgl. auch Marx an Rüge
30. November 1842 in Dokumente des Sozialismus Bd. I, S. 391 ff. S. 123. Die
erste Begegnung zwischen Marx und Engels schildert ein von
dem verstorbenen Adressaten mir zur Verfügung gestellter Brief Engels an
Mehring aus seiner letzten Lebenszeit. Zum größten Teil ist dieser Brief be-
reits abgedruckt in Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
Bd. I, S. 382. Hier findet sich auch der Hinweis auf den damaligen Brief-
wechsel zwischen Engels und den Brüdern Bauer.
Kapitel VI.
Briefe von Engels aus der Zeit seines ersten englischen Aufent-
halts ließen sich nicht auffinden. Um so wichtiger bleiben seine Berichte
an die Rheinische Zeitung und den Schweizer Republikaner, die
bisher noch niemals benutzt wurden, sowie seine große Abhandlung über
die Lage Englands, die nun alle in der Sammlung der Schriften des jungen
Engels ihren Platz erhielten. Einige Ergänzungen liefert dazu das zweite
Kapitel von Marx und Engels, Die Heilige Familie, das die Überschrift führt:
Die kritische Kritik als Mühleigner oder Die kritiscke Kritik als Herr Jules Fau-
cher, von Engels. Reichlich herangezogen wurden natürlich Engels Abhand-
lungen in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (Mehring, Nachlaß Bd. I)
und sein Buch über Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 2. Aufl.
Stuttgart 1892. Vgl. ferner Engels, Ludwig Feuerbach etc. S. 47 und
Engels, Über historischen Materialismus in Neue Zeit XI l (1893).
S. 125. Heß über England. Rheinische Zeitung 19. April 1842
Feuilleton (Das Rätsel des Jahrhunderts) und Beiblatt der Rheinischen Zei-
tung vom 22. November 1842.
Chartistenbewegung und englischer Sozialismus der vier-
ziger Jahre. Das umfangreichste Quellen material verarbeitete bisher die
gründliche Darstellung von M. Beer, Geschichte des Sozialismus in England,
Stuttgart 1913. Eine wesentlich erweiterte englische Ausgabe, die dem Ver-
fasser noch nicht erhältlich war, ist 1919 erschienen. Eine gute Ergänzung
bietet das Werk Hermann Schlüters, Die Chartistenbewegung, ein Beitrag
zur sozialpolitischen Geschichte Englands, New York 1916. Aus primären
Quellen schöpft auch Th. Rothstein, Verkünder des Klassenkampfes vor
Marx in Neue Zeit XXVI i (1908). Aus der zeitgenössischen Literatur über
den Chartismus sei hier nur erwähnt: Kaufmann, Der Chartismus in Eng-
land, Zeitung für die elegante Welt 1840 Nr, 66 und 67. Für das Verhältnis
der Chartisten zur Freihandelsbewegung vgl. auch den sicher von Engels
herrührenden gegen die Kölnische Zeitung polemisierenden Artikel der
Neuen Rheinischen Zeitung ♦* Köln 31. Juli 1848 (Mehring, Nachlaß III,
S. 119, besonders 122).
S. 129. Die Reformbill von 1832. Für Marx Urteil über die Re-
formbill vgl. seinen Artikel in der Neuen Oderzeitung vom 4. August 1855,
abgedruckt in Gesammelte Schriften von Marx und Engels 1852 — 1862, her»
ausgegeben von N. Rjasanoff, Stuttgart 1917, Bd. II, S. 325f.
S. 130f. Cobden. Das wichtigste Werk bleibt die Biographie von
John Morley, Life of Richard Cobden, 2 Bände, neue Ausgabe London 1902.
Über die Antikornzoll -Liga vgl. am bequemsten den Artikel von E. Leser
Quellen und Nachwelse. ^I^
über die Freihandelsschule im Handwörterbuch der Staatswissenschaften und
die daselbst angegebene Literatur. S. 133. Bismarck und O'Connell.
Erich Marcks Bismarck, Bd. I, Stuttgart 1909, S. 164.
S. 134. Über Mary Burn erhielt ich mündliche Mitteilungen von
Herrn Eduard Bernstein und von Herrn Karl Kautsky in Berlin.
S. 135. Deutsche Reisende über das damalige England.
Friedrich von Raum er, England im Jahre 1835, Leipzig 1836, 2 Bände, und
zweite verbesserte und mit einem Bande vermehrte Auflage, Leipzig 1842.
Mevissen über die Chartisten in dem Artikel Englische Zustände in Rhei-
nische Zeitung 13., 18. und 20. September 1842. Dazu vgl. Hansen, Me-
vissen Bd. I, S. 264 ff.
S. 140 ff. Über Robert Owen: Heinrich Herkner, Owen im Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften 3. Aufl., M. Beer a. a. O., Helene Simon
Robert Owen, Jena 1905. Der Behauptung John Spargos (John Spargo, Karl
Marx, Sein Leben und sein Werk, Leipzig 19 12), daß Engels mit Owen per-
sönlich eng vertraut wurde, ist umso weniger Glauben beizumessen, als das
ganze Werk des amerikanischen Verfassers von tatsächlichen Irrtümern
wimmelt. Über Engels und Carlyle vgl. die Angaben bei Kap. VIL,
S. 145. Über John Watts äußerte sich Engels später noch mehrfach,
so in seinen Briefen an Karl Marx vom 19. September 1846, 17. Dezember 1850,
5. Februar und 21. August 1851. S. 146 f. James Leach nennt er seinen
„guten Freund" in Westphälisches Dampfboot 1846, S. 21, Nachträgliches
über die Lage der arbeitenden Klasse in England. Auch Harne y wird in dem
Briefwechsel mit Marx oft erwähnt. Nicht viel Inhalt hat der Nekrolog auf
Harney von Wilhelm Liebknecht, Ein Vorachtundvierziger in Neue Zeit
XI I (1893). Am besten unterrichtet wohl auch über ihn Beer a. a. O. Der
Nachruf von Harney auf Engels wurde veröffentlicht im Londoner Social
Democrat Vol. I, 1897, S. 7.
S. 148. Fourier und Engels. Engels hat sich auch späterhin oft
über den großen französischen Sozialisten geäußert. Vgl. besonders Ein
Fragment Fouriers über den Handel in Deutsches Bürgerbuch Bd. II, S. 55
(neu abgedruckt bei Mehring, Nachlaß etc. Bd. II, S. 407 ff.),. Die Entwick-
lung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, 3. Aufl. Hottingen-
Zürich 1883, besonders S. I2f., Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft, 5. Aufl. Stuttgart 1904, besonders S. 283 und 3i5f., Ursprung
der Familie etc. 7. Aufl. Stuttgart 1896, S. XXIII, 187 etc.
S. 150. Engels und Proudhon. Für das Verhältnis des jungen
Engels zu Proudhon wichtig ist Marx Hinweis in der Heiligen Familie, Meh-
rings Nachlaßausgabe Bd. I, S. 127. Wie ablehnend sich Engels später gegen
Proudhon verhielt, beweist u. a. ein für die Neue Rheinische Zeitung be-
stimmter Leitartikel von Ende April 1849, der aber nicht zum Abdruck kam.
Ich verdanke seine Kenntnis Herrn Eduard Bernstein, der das Manuskript
besitzt. Dort wird von Proudhon ,,mit gutem Gewissen" behauptet, daß
alles, was Qu'est ce que c'est la Propri6t6? und La philosophie de la misdre
,,an Kritik der bestehenden Verhältnisse" enthalten, ,,sich auf Null reduziert".
Wie Weitling ist auch Proudhon jetzt für Engels nur noch ,,der störrische
hochfahrende Autodidakt", der alle Autoritäten vor ihm mit gleicher Ver-
achtung behandle, alle bisherige Geschichte für Faselei erkläre und ,,sich
selbst sozusagen als einen neuen Messias" hinstelle. Über die Geschichte
des Sozialismus in Frankreich. Neben den älteren Werken von
Stein, Lexis u.a. und den Artikeln Sozialismus von Karl Grünberg im
^14 .Quellen und Nachweise.
Wörterbuch der Volkswirtschaft und von Georg Adler im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften 3. Aufl. vgl. die von Jean Jaurds herausgegebene
Histoire socialiste, Paul Louis, Geschichte des Sozialismus in Frankreich,
deutsch von Hermann Wendel, Stuttgart 1908 und natürlich die ganze Lite-
ratur über die einzelnen bedeutenden Sozialisten.
S. 150. Heinrich Leo über den Kommunismus. Evangelische
Kirchenzeitung 4. und 8. November 1843. Vom katholischen Standpunkt
aus nahmen damals Stellung in den Historisch-politischen Blättern für das
katholische Deutschland 1843 Bd. 2 die Artikel Über die vorherrschenden
Tendenzen der Gegenwart und Der Kommunismus in der Schweiz und dessen
politische und kirchliche Bedeutung.
S. 151. Moses Heß und Buntschli. Daß Heß im Namen der deut-
schen Kommunisten in Paris eine Dankadresse an Buntschli sandte, be-
richtete der Gesandte von Arnim am 26. September 1843 an den Minister
des Auswärtigen von Bülow (Geh. Staatsarchiv, Akten des Ministeriums des
Innern und der Polizei über Die revolutionären Vereine unter den wandern-
den Handwerksgesellen). Auch der Gesandte gibt zu, daß durch Buntschlis
Bericht zum mindesten in Paris „die Zwecke der Kommunisten mehr ge-
fördert als gehemmt worden seien".
S. 151 f. Über Weitling: Mehrings biographische Einleitung zur
Jubiläumsausgabe der Garantien der Harmonie und Freiheit, Berlin 1908,
Kaier, Wilhelm Weitling. Seine Agitation und Lehre im geschichtlichen
Zusammenhang dargestellt. Hottingen und Zürich 1887, Georg Adler,
Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland
a. a. O. Weitere Literaturangaben bei dem Artikel Weitling im Handwörter-
buch der Staatswissenschaften. Mancherlei Aufschlüsse gewährten die be-
reits erwähnten Akten des Geh. Staatsarchivs über die wandernden Hand-
werksgesellen.
S. 154. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher. Vgl. die auf
Grund der Akten des Geh. Staatsarchivs gegebene Darstellung Gustav Mayers
Der Untergang der Deutsch-Französischen Jahrbücher und des Pariser Vor-
wärts in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Ar-
beiterbewegung Band HI 1913. Dazu noch die Einleitungen in Mehrings
Nachlaßbänden I und H. Exemplare des Pariser Vorwärts befinden sich,
beide nicht ganz vollständig aber sich ergänzend, auf der Stadtbibliothek in
Wien und in der Bibliotheque Nationale in Paris. Das erstere stand mir zur
Verfügung. Ein vollständiges Exemplar des Schweizer Republikaner aus der
Zeit von Fröbels Redaktion, das aus dem Nachlaß von Herweghs Schwager
Gustav Siegmund stammt, befindet sich im Besitz des Verfassers. Rüge und
der Kommunismus. Ruges letztes Programm in den Deutschen Jahr-
büchern enthält die Abhandlung: Selbstkritik des Liberalismus, ibid. 2. bis
4. Januar 1843 (vgl. dazu u. a. Bruno Bauer, Vollständige Geschichte usw.
Bd. III, S. 23 ff.). Ein Licht auf Ruges Stellung zu den kommunistischen
Gedanken in der voraufgehenden Zeit wirft seine Anzeige von Ernst Moritz
Arndts Erinnerungen aus dem äußeren Leben in den Hallischen Jahrbüchern
9. Oktober 1841. Für die folgenden Jahre vgl. seinen Anteil an Ein Brief-
wechsel von 1843 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, ferner Rüge,
Zwei Jahre in Paris, Leipzig 1846, Bd. I, seinen Aufsatz Der teutsche Kom-
munismus in Die Opposition, herausgegeben von K. Heinzen, Mann-
heim 1846, Rüge, Briefwechsel und Tagebuchlätter aus den Jahren 1835 bis
1880, herausgegeben von P. Nerrlich, Berlin 1886, Bd. I, endlich auch Moses
Heß, Über die sozialistische Bewegung in Deutschland a.a.O.
Quellen und Nachweise. 415
S. 155. Engels und Herwegh, Die Begegnung in Ostende im
September 1843 wird erwähnt in dem Buche ,,1848", Briefe von und an
Georg Herwegh, herausgegeben von Marcel Herwegh, München 1896, S. 88.
Julius Fröbel und der Schweizer Republikaner. Moses Heß in
Grüns Neue Anekdota S. 216, GeorgAdler, Geschichte etc. S. 47, (Bluntschli)
Die Kommunisten in der Schweiz etc. S. ygii. Über das Programm in Nr. 47
des Schweizer Republikaner vgl, besonders Adler a.a.O., Bruno Bauer
a.a.O. Bd. ni, S. 54ff., Bluntschli a.a.O. S. 54ff. und Fröbels eigene
Äußerungen daselbst S. 63 f. in dem Brief an August Becker.
Kapitel VII.
Die Literatur für dieses Kapitel ist in weitem Ausmaß die gleiche, wie
die für das vorhergehende. Zu S. 158 vgl. Akte betreffend die Maßregeln
gegen die Verbreitung kommunistischer Theorien durch Druckschriften (Mi-
nisterium des Innern und der Polizei) Geh. Staats-Archiv, ferner, ebenfalls
auf den Akten des Staats- Archivs beruhend, den schon erwähnten Aufsatz
Gustav Mayer, Der Untergang der Deutsch-Französischen Jahrbücher und
des Pariser Vorwärts in Grünbergs Archiv III (19 13).
Von Carlyles Werken benutzt wurden die Sozialpolitischen Schriften
fn der dreibändigen Ausgabe Paul Hensels Göttingen 1895 und Helden,
Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte in der alten
Übersetzung von J. Neuberg, Berlin 1853. Aus der Literatur über Carlyle
seien hier nur angeführt Paul Hensel, Thomas Carlyle Stuttgart 1901
(Frommanns Klassiker der Philosophie XI) und G. von Schulze-Gaever-
nitz, Carlyle, seine Welt- und Gesellschaftsanschauung 2. Aufl. Berlin 1897.
S. 180. Für Engels Stellung zum Problem des Staats vgl. neuer-
dings, besonders wegen der instruktiven Aufzählung aller seiner Äußerungen
dazu aus seinen verschiedenen Epochen: Lenin, Staat und Revolution, Ber-
lin-Lichterfelde 1919.
S. 181. Julius Waldecks Brief an Johann Jacoby (unveröffent-
licht) ist vom 9. Mai 1844 datiert.
Kapitel VIIL
S. 188 ff. Engels und Marx. Über ihr geistiges Verhältnis
hat sich Engels selbst sehr häufig geäußert. Erwähnt seien hier: (Engels),
Karl Marx in der von Guido Weiß herausgegebenen Zukunft 1 1. und 18. August
1869, Engels Gedächtnisrede an Marx Grabe, Sozialdemokrat (Zürich) 1883
Nr. 13, der Aufsatz im Londoner Volk vom 6. und 20. August 1859, abge-
druckt in Sozialistische Monatshefte 1900. Dazu kommen das Vorwort zur
dritten Auflage von Marx Achtzehntem Brumaire etc. 1885, die Vorrede
vom 28. Jvmi 1883 zur Neuauflage des Kommunistischen Manifests, Ludwig
Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie 5. Aufl.
Stuttgart 19 10, S, 36 — ^37 Anmerkung, das Vorwort von 1885 zu Marx, Ent-
hüllungen über den Kommunistenprozeß S. 7 und 8. Auch an brieflichen
Äußerungen fehlt es nicht. Genannt seien der Brief an Joh. Philipp Becker
vom 14. Oktober 1884, mitgeteilt von Rjasanoff im Kampf vom September
19 13 (auch Vorwärts 4. September 19 13) und der Brief an Sorge vom 15. März
1883 in Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Ph. Becker, Jos. Dietzgen,
Friedr. Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere, Stuttgart 1906,
S. i86ff. An vielen von diesen Stellen äußert sich Engels auch über Marx ge-
schichtliche Bedeutung. Vgl. hierzu noch besonders den bei Marx Tod an
W.Liebknecht geschriebenen Brief in Wilh. Liebknecht, Karl Marx zum
4l6 Quellen und Nachweise.
Gedächtnis S. iQf. Marxverb eitet sich über sein Verhältnis zu Engels auf S.VI
des Vorworts von Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1859. Dort
spricht er auch über die Beiträge zu den Deutsch-Französischen Jahrbüchern.
Ü er sein eigenes und Marx Verhältnis zu Hegel äußerte Engels
sich am ausführlichsten 1885 im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches
Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Staatswissenschaft. Von Schilde-
rungen der äußeren Erscheinung des jungen Marx seien genannt
die von Karl Schurz, Lebenserinnerungen I, 142 f. und die von Annenkow
in dem (russischen) Boten Europas, abgedruckt in Neue Zeit I (1883) und in
Bakunins Sozialpolitischem Briefwechsel mit Herzen und Ogarjow Stuttgart
1895, S. 400' Über die äußere Erscheinung des jungen Engels Harne ya. a. O.
und Leßner, Vor 1848 und nachdem, Deutsche Worte XVHI (1898). Von
Versuchen zu einer allgemeinen Wertung von Engels Persönlichkeit
seien noch genannt W. Liebknecht, Friedrich Engels im Neue- Welt-Ka-
lender für 1897, Mehring, Friedrich Engels in Neue Zeit XXIH 2 S. 553,
Mehring, Karl Marx. Geschichte seines Lebens Leipzig 1918, P. Lafargue,
Persönliche Erinnerungen an Friedrich Engels, Neue Zeit XXHI 2, S. 551.
S. 204K. Die Lage der arbeitenden Klasse in England. S.204. Zu
der Widmung an die englischen Arbeiter sei bemerkt, daß die erste
englische Übersetzung des Buches erst vierzig Jahre später erschienen ist.
Seine englische Widmung wollte der Verfasser damals apart abziehen lassen
und an die englischen Parteichefs, Literaten und Parlamentsmitglieder
verschicken (Brief an Marx 14, November 1844). Anzunehmen ist, daß dieser
Vorsatz auch ausgeführt wurde. S. 206 ff. Engels und Buret. Engels
starke oder gar vollständige Abhängigkeit von Buret behaupten namentlich
Andler, Le manifeste communiste S. 35 und S. 79 sowie Ramus, Friedrich
Engels als Plagiator in Die Urheberschaft des Kommunistischen Manifests,
herausgegeben von Pierre Ramus, Berlin 1906, Freier-Arbeiter-Verlag.
S. 208 ff. Die deutschen zeitgenössischen Rezensenten der Lage der
arbeitenden Klasse. V.A. Huber in Janus 1845 I^» S. 387, OttoLüningin
Deutsches Bürgerbuch Bd. H, S. 222 und Bruno Hildebrand, National-
ökonomie der Gegenwart und Zukunft, Frankfurt a. M. 1848 passim. H.
nannte Engels hier ,,den begabtesten und kenntnisreichsten unter allen deut-
schen Sozialschriftstellern". S. 215. Über Püttmanns Entlassung vgl. Heß
an Marx Köln 17. Jan. 1845. In diesem Brief findet sich das Zitat aus
Buhl. Auch Jungs Brief an Marx vom 2. Juni 1844 befindet sich im
Marx-Nachlaß. An einer zusammenhängenden Darstellung der sozialen
Krisis von 1844 und der durch sie ausgelösten ersten sozialreforme-
rischen Bewegung im deutschen Bürgertum fehlt es noch. Es wäre auch
•wünschenswert, daß die Bestrebungen der Vereine für das Wohl der arbeiten-
den Klassen eine monographische Behandlung erführen. Briefe Lassalles an
seinen Vater aus dem Frühling 1844, die sich in Lassalles Nachlaß befinden,
dürften zeigen, daß der schlesische Weberaufstand und was mit ihm zu-
sammenhing, auf seine Bekehrung zum Kommunismus starken Einfluß aus-
geübt haben. Die wertvollste Darstellung dieses Aufstandes ist noch heute
die Wilhelm Wolf f s. Das Elend und der Aufruhr in Schlesien. 1845 im ersten
Band des Deutschen Bürgerbuch erschienen, wurde der Aufsatz von Meh-
ring in seiner Ausgabe von Wilhelm Wolffs Gesammelten Schriften Berlin
i909(SozialistischeNeudruckeni) wieder abgedruckt. Benutzt wurden von mir
auch u. a. die Akta betreffend die Unterdrückung des im Juni 1844 unter den
Webern in Schlesien stattgehabten Aufstandes (Min. d. Inn. Rep. 77 Tit. 507
Nr. 6 Bd. L Geh. Staats- Archiv). Vgl. auch Ernst Dronke, Berlin, Frank-
Quellen und Nachweise. ^17
fürt 1846, Bd. I, S. 283. S. 216. Über die kommunistische Agitation in
der Rheinprovinz waren aufschlußreich die Akten betreffend die Über-
wachung der politischen Stimmung in der Rheinprovinz (Geh. Staats-Archiv).
Auch über das Schicksal des Rheinischen Jahrbuchs benutzte ich Zensur-
akten auf dem Geh. Staats-Archiv. Die Beschlagnahme des ersten Bandes
wurde durch Erlaß an alle Oberpräsidenten am 25. September 1845 ange-
ordnet. S. 219. Über den Kreis der Westfälischen Kommunisten: Heß
an Engels und Marx 17. Juli 1846 (Marx-Nachlaß), Dunckers Reisebericht
vom 18. Oktober 1845 Geh. Staats-Archiv. Duncker nennt unter den Per-
sonen, mit denen Lüning und sein Kreis Beziehungen unterhielten, außer
Engels, Heß, Köttgen auch Bürgers, Jung, Bergenroth, Engels Schwager
Blank junior u. a. S. 220. Der Gesellschaftsspiegel. Vgl. Mehring, Nach-
laß etc. n, S. 349ff. und die Zensurakten des Geh. Staats-Archivs. Bodel-
schwingh erhielt Heft I am 27. Mai 1845; den Plan hatte Heß dem Verleger
schon im Januar unterbreitet. Mehring nimmt an, daß der vierte Abschnitt
des einleitenden Kapitels des ersten Hefts, der Die gesellschaftlichen Zustände
der zivilisierten Welt überschrieben ist, ,, offenbar" von Engels herrühre.
Aber dieser Abschnitt beruft sich für die Lage der englischen Industrie-
arbeiter ausschließlich auf Buret, dem „strengste Gewissenhaftigkeit" und
,, stete Angabe der Quellen" nachgerühmt , werden. War das eigne Werk auch
noch nicht abgeschlossen, so hätte Engels doch schwerlich verfehlt, eigene
Beobachtungen heranzuziehen. Auch der Stil läßt nicht Engels als Verfasser
erkennen.
S.223£f. Die kommunistischen Versammlungen in Elberfeld.
Engels selbst in Rheinische Jahrbücher Bd. I, neu abgedruckt bei Mehring,
Nachlaß etc. Bd. II, S. 393, Der Kommunismus in Rheinland-Westfalen Ja-
nus 1847, S. 722ff., Adolf Schults B3richte sind neu abgedruckt bei Hanns
Wegener, Elberfeld in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Monats-
schrift des Bergischen Geschichtsvereins 1913, Jos. Hansen, Mevissen Bd. I,
S. 356, Zlocisti, Moses Heß S. 54ff., S. 225. Für Bergenroths Projekte lagen
zwei ungedruckte Briefe von ihm an Johann Jacoby vom 13. November und
2. Dezember 1844 vor.
S. 229. Engels und List. Vgl. u.a. Engels Aufsatz im Londoner
Volk 6. August 1859 (neu abgedruckt bei M. Nettlau, Friedrich Engels über
Karl Marx in Sozialistische Monatshefte Januar 1900). Inwieweit Engels in
Einzelheiten sich vielleicht doch von List bee nflussen ließ, müsste einmal
besonders untersucht werden.
Kapitel IX.
S. 235. Von dem Gerücht, daß Engels nach Amerika gegangen
sei, nimmt ein undatierter, aber wohl noch aus dem Mai stammender Brief
von Heß an Engels Kenntnis, der noch allerhand Mitteilungen über das
Schicksal des Gesellschaftsspiegels enthält. Engels in Belgien und Bel-
gien in den vierziger Jahren. L. Bartrand, Histoire de la Democra-
tie et du Socialisme en Belgique Bruxelles 1907 passim, Le Debat Social (Bi-
bliotheque Royale Brüssel), Isay, Liberalismus und Arbeiterfrage in Belgien
1830 — 52 München 1915, Michotte, Etudes sur les th6ories 6conomiques
qui domindrent en Belgique de 1830 ä 1886 Louvain 1904, Karl Grün, Die
soziale Bewegung in Frankreich und Belgien Darmstadt 1845. Grüns Fest-
stellung (S. 45), daß die freilich noch einflußlose belgische Demokratie da-
mals antifranzösisch war, wird mir bestätigt durch das im Lassalle-Nachlass
befindliche Original des im Herr Vogt nur fragmentarisch abgedruckten Briefs
Mayer, Friedrich Engels. Bd. 1 37
^l8 Quellen und Nachweise.
Jottrands an Marx vom 19. Mai 1848. Folgende Stelle hat Marx ausgelassen:
,Je ne regarde pas comme entierementinprobable que noussoyonsdelivresde
notre royaute avant que les Frangais fassent leur premier mouve ment de guerre;
dans ce cas nous desirerions fort que les Allemands fussent disposes ä nous
appuyer dans la volonte que nous aurons de resister alors comme rep ublique
a tout Invasion francaise ä supposer que nous en fussions menaces". Jottrand
war bei dem Engels und Marx nahestehenden Debat Social die leitende Per-
sönlichkeit. S. 235 f. Die gemeinsame Reise nach England. Die
Exzerpte, die Marx in Manchester aus den älteren englischen Ökonomen
machte, befinden sich in seinem Nachlaß. Engels Artikel für The New Moral
World und The Northern Star wurden noch vDr dem Kriege für mich auf der
Bibliothek des British Museum kopiert. S. 239 Marx Thesen über Feuer-
bach hat Engels im Anhang zu seinem Buch über Feuerbach abgedruckt.
Die Deutsche Ideologie. S. 249 ff. Vgl. die Angaben auf S. 403.
Das auf die Nachwelt überkommene Manuskript dieses umfangreichen ge-
meinsamen Werkes von Marx und Engels bedürfte einer gründlichen mono-
graphischen Untersuchung. Wahrscheinlich würde diese zu dem Ergebnis
kommen, daß zum mindesten nicht alle Bestandteile des vorhandenen Manu-
skripts jenem druckfertigen Exemplar angehören, dem die vergebliche Rund-
reise zu zahlreichen Verlegern auferlegt war. Viele Blätter tragen dafür zu
sehr die Spuren eines ersten Konzepts, auch finden sich auf ihnen Ausdrücke,
die selbst Marx und Engels niemals für druckfähig angesehen hätten, neue
Zusammenhänge beginnen ohne jeden Übergang, vmd die Paginierung ist
keine durchgehende. Dabei sollte man nicht ignorieren, daß Marx im Vor-
wort von Zur Kritik der politischen Ökonomie Berlin 1859, S. VI von ,,zwei
starken Oktavbänden" spricht, während die uns erhaltenen Papiere Folio- und
Quartblätter sind. Freilich zeigen diese Blätter die Spuren ,,der nagenden
Kritik der Mäuse", von der Marx dort spricht. Der Verfasser erhebt keines-
wegs Anspruch, mit diesen paar Hinweisen die Frage endgültig geklärt
zu haben.
S. 242 ff. Bruno Bauers Erwiderung auf die Heilige Familie steht in
der Wiga.adschen Vierteljah-rsschrift 1845, Bd. III, S. ißSff., Engels erste
Replik findet sich im zweiten Band des Gesellschaftsspiegels unter Nach-
richten und Notizen auf S. 6 als Korrespondenz aus Brüssel vom 20. No-
vember. Die Übereinstimmung dieser Korrespondenz mit dem auf den
Heiligen Bruno bezüglichen Abschnitt des Leipziger Konzils drängt sich auf.
Kapitel X.
S. 264 f. Über den Bruch mit Weitung wie über so vieles Tat-
sächliche, was sich auf die frühe Parteigeschichte bezieht, hat Mehr in g die
erste Klarheit verbreitet. Außer auf seine Einleitungen in Bd. II der Nach-
laßausgabe, auf seine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und jetzt
auf seinen Marx sei verwiesen auf seine treffhche Einleitung zu seiner Ju-
biläumsausgabe von Weitlings Garantien der Harmonie und Freiheit Berlin
1908 (Sozialistische Neudrucke II). Benutzt wurden femer einige im Marx-
Nachlaß vorhandene Briefe und auf dem Geheimen Staats- Archiv die Zensur-
akten über das V/estfälische Dampfboot. S. 267 ff. Engels und Grün.
Im Nachlaß von Moses Heß findet sich ein Brief Grüns an diesen, datiert
Paris I. September 1845, in dem es heißt: ,,Was Sie nun meine ,, Streitig-
keiten" mit den Brüsselern nennen, so weiß ich da von keinen Streitigkeiten.
Ich hatte Engels in Köln durch Sie kennen gelernt, und wie Sie gesehen
haben, lieb gewonnen. Mit Marx und Bürgers stand ich hier meines Wissens
Quellen und Nachweise. 41^
in guter Form, ich tat für Marx namentlich in den Zeitungen und bei seinen
Verlagswerken, was ich konnte. Nun mußte ich hinterher erfahren, daß dieses
gute Vernehmen bloß einseitig gewesen war, daß man sich sehr schroff
und wie Sie sagen ,, tadelnd" über mich ausgesprochen habe. Wäre meine
Korrespondenz in der Triere. Zeitung oder was sonst schuld, so konnte ich
von Marx, zumal als von meinem alten Universitätsfreunde, dessen Tüch-
tigkeit ich stets anerkannte, wohl einen freundlichen Wink erhalten." Un-
veröffentlichte Briefe Grüns an Proudhon erwähnt M. Nettlau in Grün-
bergs Archiv VIII, S. 400. Eine monographische Arbeit über Grüns Stellung
in der deutschen sozialistischen Bewegung gibt es noch nicht, wäre aber
dankbar. Bis dahin vgl. über ihn Koigen a.a.O. und Hammacher, Zur
Würdigung des ,, wahren" Sozialismus in Grünbergs Archiv Bd. I.
S. 272 ff. Das Manuskript über den deutschen Sozialismus
trägt keine Überschrift; es besteht aus 10 Blättern zu 4 Seiten in Großoktav.
Das Manuskript war als eine Fortsetzung des Abschnitts der Ideologie über
den wahren Sozialismus gedacht. Es beginnt deshalb mit dem Satz: ,,Seit
die obigen Schilderungen wahrer Sozialisten geschrieben wurden, sind meh-
rere Monate verflossen". Daß Adalbert von Bornstedt ein ,, politischer
Industrieritter" war, wie ihn zu seiner großen Entrüstung die Elberfclder
Zeitung vom 20. Mai 1847 nannte, ist heute nicht mehr zu bestreiten. Als
Spitzel stand er lange Jahre in den Diensten der Preußischen Regierung. Engels
und Marx benutzten ihn, wußten wohl aber ziemlich genau, woran sie mit
ihm waren. Dies zeigt ein Brief Freiligraths, der mit beiden in Brüssel viel
verkehrte, vom 7. März 1845. Dort heißt es: „Adalbert von Bornstedt, zum
Schein auf preußische Requisition aus Frankreich ausgewiesen, ist im Ernst
hier, um auf uns Flüchtlinge zu vigilieren und nebenbei, um ein Blatt für
Zollvereinsinteressen zu gründen. Ein sonderbarer Bursche." Literarische
Geheimberichte aus dem Vorinärz, herausgegeben von Karl Glossy, Bd. IV,
S. 229 (Jahrbuch der Grillparzergesellschaft 23. Jahrgang). Die Deutsche
Brüsseler Zeitung wurde hauptsächlich nach dem Exemplar von Herrn
Dr. Theodor Mauthner in Wien benutzt, dem für die Herleihung des überaus
seltenen Blattes großer Dank gebührt. Eingesehen wurden auch die Exem-
plare auf der Bibliotheque Royale in Brüssel und auf dem Archiv der Sozial-
demokratischen Partei in Berlin.
S. 277 ff. Heinzen und Engels. Marx i\ntwort an Heinzen ist ab-
gedruckt bei Mehring, Nachlaß etc. II, S. 454. Engels Aufsatz gegen Heinzen
wurde mit Vorbemerkungen von N. Rjasanoff neu gedruckt im Wiener
Kampf vom i. Dezember 19 14. Heinzen machte aus seinen Polemiken die
Broschüre: Die Helden des teutschen Kommunismus. Dem Herrn Karl Marx
gewidmet, Bern 1848. In Der Deutsche Tribun Heft 2, 1847 rühmt
Heinzen sich, seine Angriffe auf den Kommunismus schon im Oktober oder
November 1844 in der Kölnischen Zeitung begonnen zu haben. Schon vor-
her habe er in der Aachener Zeitung die Kommunisten vor einem Bruch
mit dem ,, politischen Radikalismus" gewarnt. Die kommunistische Doktrin,
heißt es hier, entnerve die politische Opposition total. ,,Nur ein untergeord -
netes Subjekt kann Kommunist sein." S. 281 ff. Engels Karikatur
auf Friedrich Wilhelm IV. ist reproduziert in dem demnächst erscheinen-
den Werk Friedrich Engels, Schriften der Frühzeit, herausgegeben von
Gustav Mayer, Berlin 1919, Julius Springer. Von Engels schriftlichen Bei-
trägen für die Deutsche Brüsseler Zeitung hat Rjasanoff neuerdings einige
der wichtigsten im Wiener Kampf abgedruckt, nämlich Die Bewegung von
1847 am 1. Februar 1913 und Der Anfang vom Ende in Österreich am i. Juni
27*
420 Quellen und Nachweise.
19 13. In Mahrings Nachlaßausgabe Bd. II findet man Der Schweizer Bürger-
krieg. Vgl. dazu auch Mehrings Einleitung S. 37Sff.
S. 292 ££. Die Anfänge eines internationalen Zusammen-
schlusses der Proletarier und die Entstehung des Kommunisten-
bundes. Th. Rothstein, Aus der Vorgeschichte der Internationale (Er-
gänzungshefte zur Neuen Zeit Nr. 17) Oktober 1913, Georg Adler, Die
Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland Bres-
lau 1885, Mehring,G2schichtederdeutschenSozialdemokratieBd.I,Mehring,
Der Bund der Kommunisten, Neue Zeit XXIX, Bd. 2, H. Schmidt Ein Beitrag
zur Geschichte des Bundes der Geächteten, Neue Zeit XVI, i. Demokratisches
Taschenbuch für das Deutsche Volk, herausgegeben von Weller, Leipzig,
1849, S. 264 f. überhaupt die Literatur über den Bund der Gerechten und den
Kommunistenbund. Auch die Akten über die Bünde der Geächteten und
der Gerechten auf dem Geheimen Staatsarchiv wurden eingesehen. Engels
äußert sich über den Kommunistenbund hauptsächlich im Züricher Sozial-
demokrat vom 13. März 1887, im Vorwort zu Marx, Enthüllungen über den
Kommunistenprozeß zu Köln und in Brackes Volkskalender für 1878. Diese
Literatur gilt auch z. T. bereits für die Vorgeschichte des Kommunistischen
Manifests. S. 298. Die Kommunistische Zeitschrift kam mir zum
ersten Mal auf dem Geh. Staats-Archiv zu Gesicht; das Ex. findet sich am
Schluß der im übrigen unwichtigen Akten betreffend die Herausgabe der
Deutschen Londoner Zeitung. Die Deutsche Brüsseler Zeitung druckte aus
der Zeitschrift am 19. September den Aufsatz: Die deutschen Auswanderer
nach. Die Anfertigung einer Photographie wurde mir bereitwillig gestattet.
Daß Schapper der eigentliche Redakteur war, haben in London damals noch
lebende Veteranen des Deutschen Arbeitervereins vor Jahren Herrn M. Beer
bestätigt. S. 298 f. Für die internationale demokratische Bewegung
in Brüssel vgl. außer der Deutschen Brüsseler Zeitung und dem Debat Social
besonders Bertrand a. a. O. Die einschlägigen Abschnitte erschienen auch
in der Neuen Zeit XXIII 2. Engels und Marx Londoner Reden sind
jetzt am bequemsten zugänglich in dem Abdruck bei N. Rjasanoff, Marx
und Engels über die Polenfrage in Grünbergs Archiv Bd. VI, S. i7Sff. und
französisch bei Andler, Le Manifeste Communiste (Bibliotheque Socialiste
Nr. 8), Paris 1901 S. 76ff. Vgl. auch Dokumente des Sozialismus, heraus-
gegeben von Ed. Bernstein I, S. 2i8ff. und Mehring, Einiges zur Partei-
geschichte, Neue Zeit XX Bd. I (1902), S. 545.
S. 300. Für Engels Mitarbeit an der Reforme siehe oben S. 404.
Vgl. auch zwei Friedrich Engels zugeschriebene Artikel in der Pariser R6-
forme (1847) in Dokumente des Sozialismus Bd. I, S. 218. S. 301 ff. Für
die Geschichte des Kommunistischen Manifests vgl. Engels,
Grundsätze des Kommunismus. Aus dessen Nachlaß herausgegeben von
Eduard Bernstein Berlin 1914, die Einleitungen der Verfasser zu den ver-
schiedenen Auflagen des Kommunistischen Manifests, Bernstein, Karl
Marx und sein Lebenswerk in der Marxnummer von Der wahre Jakob Stutt-
gart, 17. März 1908, Leßner, Erinnerungen eines Arbeiters an Karl Marx,
Neue Zeit XI i, S. 748. Mit Vorsicht zu benutzen sind: Andler, Le Mani-
feste Communiste. Introduction historique et commentaire Tome II, Paris
1910, besonders aber Die Urheberschaft des Kommunnistischen Manifests,
herausgegeben von Pierre Ramus (Mitarbeiter: Tscher kesoff, Labriola, Ramus)
Berlin 1906 und W, Tscherkesoff , Precurseurs de l'Internationale (Bi-
bliotheque des Temps Nouveaux Nr. i6) Bruxelles 1899. Die dogmenge-
schichtliche Seite der Literatur über das Manifest brauchte hier natürlich
Quellen und Nachweise. ^2i
nicht mehr besonders berücksichtigt zu werden. In NeueZeit X Bd. i, S.581,
Der Sozialismus in Deutschland urteilt Engels über das Manifest: ,,Das
Kommunistische Manifest vom Januar 1848 bezeichnet die Verschmelzung
beider Strömungen, eine Verschmelzung, vollendet und besiegelt im Glut-
ofen der Revolution, wo sie alle, Arbeiter wie Ex-Philosophen, ihren Mann
redlich gestanden haben."
Kapitel XI.
Die wichtigste Quelle für dieses und das folgende Kapitel ist natürlich
die Neue Rheinische Zeitung. S. 312. Engels Ausweisung aus
Frankreich. Stephan Born behauptet in seinen Erinnerungen eines Acht-
undvierzigers, Leipzig 1898, S. 71, es habe sich bei dieser Ausweisung um
Folgendes gehandelt: Engels sei von dem ihm befreundeten deutschen Kunst-
maler Ritter davon unterrichtet worden, daß ein französischer Graf sich von
seiner Maitresse getrennt habe, ohne in irgend einer Weise für sie zu sorgen.
Diesem Grafen habe Engels gedroht, die ganze Sache in die Öffentlichkeit
zu bringen, wenn er seine Menschenpflicht gegen die Verlassene nicht zu
erfüllen gedenke. Der Graf habe hierauf eine Beschwerde an den Minister
gerichtet und dieser habe Engels und Ritter ausgewiesen. Hat sich der
Fall wirklich so verhalten, so ist eine Ähnlichkeit mit Lassalles Vorgehen in
der Hatzfeldtschen Angelegenheit nicht zu verkennen. Leider gelang es mir
unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht, der Angelegenheit auf den Grund
zu gehen. In der Sitzung der Brüsseler Demokratischen Gesellschaft vom
20. Feboiar antwortete Engels auf einen von der französischen Regierung
im Moniteur Parisien veröffentlichten Artikel über seine Ausweisung. Aber
ich vermochte augenblicklich weder des Moniteur Parisien habhaft zu werden,
noch festzustellen, ob die Brüsseler Tagespresse damals über den Fall be-
richtete. Herr Camille Huysmans in Brüssel hatte die Liebenswürdigkeit,
wenn auch ohne Erfolg, das Wochenblatt Debat Social unter diesem Ge-
sichtspunkt durchzusehen. S. 312 f. Für Engels Abreise aus Brüssel
nach Paris vgl. Bertrand a.a.O., für die Wirkung der Pariser Februar-
revolution in Brüssel benutzte ich ebenfalls Bertrand sowie Akten des Ministe-
riums des Auswärtigen. Noch am 9. Februar hatte der Minister d'Hoffschmidt
sich sehr sicher gefühlt. In einem Rundschreiben von diesem Tage an die
belgischen Vertreter im Ausland hatte er Belgien als eines der ganz wenigen
Länder Europas gerühmt, ,,que n'agite ou n^? menace aucune commotion"
und stolz hinzugefügt: es gebe in Belgien weder eine radikale noch eine
republikanische Partei. Die extremen Ideen verkörperten sich nur in einigen
Persönlichkeiten ohne Einfluß, ohne gemeinsames Band, ohne Möglichkeit
zu handeln. Als aber am 26. Februar um ein Uhr früh die Nachricht von der
Pariser Revolution eintraf, bemächtigte sich doch der Minister wie des Kö-
nigs große Erregung. Für die Vorgänge in Brüssel in diesen Tagen vgl.
Engels Vorwort zu Wilhelm Wolff, Die Schlesische Milliarde, neu abgedruckt
in Mehrings Ausgabe von Wolffs gesammelten Schriften. Dazu Stephan Born
a. a. 0. S. 75ff. und 8off. und in der Festnummer des Brüsseler Peuple zu
Marx 25. Todestag Bertrand, Karl Marx ä Bruxelles. Engels hatte sich in
Saint Josse am 25. August 1845 polizeilich angemeldet. Er wohnte dort Rue
de l'Alliance 7, Marx im Nebenhause Nr, 5. Der Wortlaut des Beschlusses
des von London nach Brüssel verlegten Zentralkomitees des Kommunisten-
bundes, dieses nach Paris weiter zu verlegen, findet sich in einer fehlerhaften
französischen Abfassung im Geh. Staats-Archiv bei den Akten über Marx.
S. 313, Die siebzehn Punkte des Kommunistenbundes sind aus
422 Quellen und Nachweise.
der Berliner Zeitungshalle vom 5. April 1848 neuerdings abgedruckt forden
bei Gustav Lüders, Die demokratische Bewegung in Berlin im Oktober 1848
Berlin u. Leipzig 1909 S. 315f. Die deutschen Arbeiter in Paris und
die deutschen Legionen, Engels, Zur Geschichte des Bundes der
Kommunisten, Vorwort zu Marx, Enthüllungen usw. S. I2ff. W. Lieb-
knecht, Marx zum Gedächtnis, Nürnberg 1896, S. 33f. (Emma Herwegh),
Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris. Von einer
Hochverräterin. Neu abgedruckt in dem von Marcel Herwegh mit gewohnter
Liederlichkeit herausgegebenen Sammelsurium: Briefe von und an Georg
Herwegh 1848, München 1896, O. von Corvin-Wiersbitzki, Aus dem Leben
eines Volkskämpfers, Amsterdam 1861, Bd. III Kap. i. Die Äußerungen
Herweghs stehen in einem Brief an Joh. Jacoby (ungedruckt), der nicht da-
tiert ist. ,,Ich kann den Parlamentstrab nicht einhalten", heißt es dort,
„und gehe meinen Sturmschritt weiter, ich mag die Republik nicht votieren
lassen, sondern will sie zu machen suchen, sei's auch im entferntesten Winkel
Deutschlands. Einmal ein fait accompli, so nehmtihr sie doch alle an. Glückt's
nicht und kommt's gar nicht zum Versuch, so geh' ich hin, wo ich herge-
kommen, was ich auch tun würde, wenn's glückte, denn von der deutschen
Freiheit auch in einer Republik hab' ich keine gar großen Begriffe. — Es
geht mir mit der Republik wie mit den Frauen, ich liebe sie aus erster Hand,
d. h. aus der Hand des Volks durch eine Revolution. Geht das nicht, nun so
bin ich vielleicht auch nicht zu skrupulös, sie aus der Eurigen zu empfangen."
Nach Sebastian Seiler, Das Komplott vom 13. Juni 1849 oder der letzte
Sieg der Bourgeoisie in Frankreich, Hamburg 1850, S. 21 hätte Marx die
deutschen Arbeiter aufgefordert, in Paris zu bleiben. S. S17 ff. Die Stim-
mung in Deutschland. Marx (Verf. Engels), Revolution und Konter-
revolution in Deutschland 2. Aufl. Stuttgart 1907, Jungs Brief an Heß im
Marx-Nachlaß, Dronkes Brief an die Zentralbehörde des Kommunistenbundes
aus Coblenz, 5. Mai 1848 datiert (Partei- Archiv), Bakunin an Annenkoff
Köln 17. April 1848 in Michael Bakunins sozialpolitischem Briefwechsel etc.
S. 9; Radowitz über die Gefahr einer kommunistischen Republik Fr. Mei-
necke, Radowitz und die deutsche Revolution S. 69. S. 318 ff . Die Neue
Rheinische Zeitung, Engels, Marx und die Neue Rheinische Zeitung
1848 — 49 im Sozialdemokrat (Zürich) 13. März 1884; über die Zustände auf
der Redaktion vgl. außer Engels ibid. Wilh. Liebknecht, Karl Marx
zum Gedächtnis S. iio. Nach Liebknecht (S. 10) wäre Marx noch im März
in Köln eingetroffen. Über den Wirkungskreis der einzelnen Redakteure
vgl. Engels Vorwort zu W. Wolff, Gesammelte Schriften S. 20. Daß Engels
auch über innerpolitische Fragen schrieb, bezeugt u. a. ein ungedruckter
Brief Lassalles an ihn, der ihn in seiner Angelegenheit auffordert, wieder
einen Artikel zu schreiben. Über die Kölner Arbeiterpresse in den Revolutions-
jahren vgl. A. Erdmann, Die Arbeiterpresse in den Revolutionsjahren
1848 — 49, Rheinische Zeitung 24. Juni 1913; dazu lagen mir noch vor un-
gedruckte Aufzeichnungen des früheren Reichstagsabgeordneten G. Schu-
macher. Eine gute zusammenfassende Darstellung der politischen Haltung
der Neuen Rheinischen Zeitung bei Herrmann Oncken, Lassalle, 2. Aufl.
Stuttgart 1912. Widerspruch weckend ist die Darstellung E. Gothein's in
Die Stadt Cöln im ersten Jahrhundert unter preußischer Herrschaft Bd. I,
Verfassung und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Cöln vom Untergang der
Reichsfreiheit bis zur Errichtung des Reiches. G. hebt das historisch Bedeut-
same an der Stellungnahme des revolutionären Blattes überhaupt nicht her-
vor und unterläßt es völlig, die leitenden Ideen, von denen es ausgeht und
die seiner Politik Einheitlichkeit verleihen, sichtbar zu machen. S. 322 ff.
Quellen und Nachweise. 423
über die Auslandspolitik der Neuen Rheinischen Zeitung ist während
der Kriegszeit neuerdings eine sehr umfangreiche Literatur entstanden, die
aber dem Historiker wenig bringt und auf die hier nicht eingegangen zu werden
braucht. Die „historischen Irrtümer" in Engels und Marx damaliger Auf-
fassung der politischen Geschichte beleuchtet von sozialdemokratischer Seite
F. Mehring in seinem sorgfältigen Kommentar zu den Polenartikeln der
Neuen Rheinischen Zeitung (Nachlaß etc. III, S. 18 ff.). Für die Wandlung
in Engels Urteil über die polnische Frage vgl. jetzt die sorgfältige Zusammen-
stellung in Grünbergs Archiv VI.
S. 832 f. Die Junischlacht. Engels Einleitung zu Marx, Die
Klassenkämpfe in Frankreich. Dazu Marx Darstellung in diesem Werk.
Ferner Marx, Der Achtzehnte ßrumaire des Louis Bonaparte, 2. Aufl. Ham-
burg 1869, S. 8f., 12, 35. Hauptsächlich natürlich auch hier Neue Rhei-
nische Zeitung. S. ö35. Friedrich Wilhelm IV. an General von Pfuel 2. Ok-
tober 1848 bei Stern, Geschichte Europas Bd. VII, S. 790. S. 335. Die
Septemberkrisis. Neue Rheinische Zeitung, Carl Vogt, Mein Prozeß
gegen die Allgemeine Zeitung, Genf 1859, S. 150. Dort Techows bekannter
Brief vom 26. August 1850 über seine Londoner Unterhaltungen mit Marx
und Engels. Ferner die Marx-Akten im Geheimen Staatsarchiv. Daß nach
seiner Flucht im September ein Steckbrief ,, wegen Komplott" gegen ihn er-
lassen wurde, behauptet Engels selbst im Vorwort zu Wilhelm Wolff etc.
S. 2if. Seine Personalakten auf dem Geh. Staats-Archiv, die über das im
folgenden Jahre gegen ihn eingeleitete Verfahren ,, wegen Verbrechen gegen
die Sicherheit des Staats" Aufschlüsse geben, erwähnen davon nichts. Über
Engels Schicksale in Brüssel vgl. den der dortigen Nation vom 7. Oktober
entnommenen Bericht der Neuen Rheinischen Zeitung vom 14. Oktober.
S. 338 ff. Engels in Frankreich. Engels, Von Paris nach Bern, Neue
Zeit XVII, Bd. i. Engels Polemik gegen Thiers in Neue Rheinische Zeitung
vom 14. Oktober. Wie abfällig auch sonst die deutsche Arbeiterpresse über
Thiers urteilte, zeigen die Pariser Korrespondenzen in dem von Stephan Born
redigierten Volk vom 20. und 22. Juli 1848. S. 342 f . Engels in der Schweiz.
Die Briefe des Verwandten an Engels verdanke ich Herrn Eduard Bernstein,
den im Text erwähnten Brief der Mutter, der vom 23. November aus Barmen
datiert ist, sowie zahlreiche andere Familienbriefe Herrn Kommerz'enrat
Herrmann Engels in Engelskirchen. Über die Intrigen gegen Engels von
Seiten der Pariser Mitglieder des Kcmmunistenfcurdes gaben Aufschluß die
Briefe Ewerbecks an Heß, Berlin, i. November und Köln, 14. November 1848
und Schabelitz an Heß, Basel, 25. November 1848 im Heß-Nachlaß auf dem
Archiv der Sozialdemokratischen Partei. Wertvolle Stücke des Heß-Nach-
lasses, die auch für Engels Bedeutung hätten, waren bei Beginn des Krieges
Herrn N. Rjasanoff geliehen, der sie bis zur Drucklegung unserer Biographie
noch nicht zurückgestellt hatte.
Kapitel XIL
Auch für den erstenTeil dieses Kapitels ist eine der wichtigsten Quellen
die Neue Rheinische Zeitung. Daneben wurden auch andere demo-
kratische Zeitungen, wie die von Gustav Julius herausgegebene Berliner
Zeitungshalle, benutzt. Höchst brauchbar, aber für unsern Zweck allein
selbstverständlich nicht ausreichend, istMehrings Zusammenstellung der
wichtigsten Leitartikel des revolutionären Kölner Blattes in Nachlaß etc.
Bd. III. Auf die material- und geistvollen Einleitungen, die diese Auswahl
begleiten, sei besonders hingewiesen. Für die Frage, was Engels in den ver-
A2A Quellen und Nachweise.
schiedenen Phasen der Revolution von dieser erwartete, vgl. die in seinem
Todesjahre geschriebene Einleitung zu Marx, Klassenkämpfe in Frankreich,
S. 346. Engels und die ungarische Revolution. Engels trug
sich noch später mit der Absicht, ein Buch über die ungarische Revolution
zu schreiben. Dazu vgl. Freiligraths Brief an Marx und Engels vom 6. Mai
1850 bei Mehring, Freiligrath und Marx in ihrem Briefwechsel, Ergänzungs-
heft 12 der Neuen Zeit vom 12. April 1912. Daß Engels die Artikel der Neuen
Rheinischen Zeitung über Ungarn verfaßt hat, bestätigt ausdrücklich sein
Brief an Weydemeyer vom 19. Juni 1851, veröffentlicht bei Mehring, Neue
Baiträge zur Biographie von Karl Marx und Friedrich Engels in Neue Zeit
XXV 2. Vgl. auch Erwin Szabö, Die Ungarische Revolution von 1848,
Bemerkungen zu Engels Artikeln über Ungarn in der Neuen Rheinischen
Zeitung, Neue Zeit XXIII i, S. 782ff. Marx nennt Kossuth in Herr Vogt
S. 121 ,,die Aeolsharfe, durch die ein Volksorkan brauste". S. 347. Zu Ba-
kunins Aufruf an die Slawen vgl. u. a. Mehring, Nachlaß etc. III a. a. O.,
Mehring, Karl Marx a. a. O., Eduard Bernstein, Karl Marx und Michael
Bakunin im Archiv für Sozialwissenschaft Bd. XXX(i9io). F. Brupbacher,
Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der internationalen Ar-
beiterassoziation, München o. J.
S. 348 ff. Engels unddie Slawen. Aus der sehr umfangreichen Lite-
ratur sei hervorgehoben Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozial-
demokratie (Marx-Studien Bd. 2), Wien 1907. Vgl. auch Marx (Engels)Revo-
lution und Kontrerevoiution in Deutschland, deutsch von Kautsky, 2. Aufl.,
Stuttgart 1907 (vgl. dazu das Vorwort des Herausgebers S. XXI) und die
Artikel: Deutschland und der Panslawismus in Neue Oder-Zeitung 21. und
24. April 1855. Neu abgedruckt in Gesammelte Schriften von Karl Marx und
Friedrich Engels 1852 — 1862, herausgegeben von N. Rjasanoff Stuttgart 1817,
Bd. II, S. 227 ff. Auch der S. 352 erwähnte, nicht abgedruckte Artikel vom
17. März 1849, für den ich das Herrn Ed. Bernstein gehörende Original be-
nutzen konnte, ergeht sich in slawenfeindlichen Tiraden. Er gibt einen Über-
blick über Österreichs Lage bei Oktroyierung der „Standrechtscharte". Der
Staat befände sich in vollständiger Auflösung und am Vorabend des Banke-
rotts. S. 352 ff. Die Hoffnungen auf die neue Revolution waren, wie
die Benutzung der demokratischen Tagespresse lehrt, weit verbreitet. Für
den Kreis der Neuen Rheinischen Zeitung vgl. besonders Ferd. Freiligrath,
Neuere politische und soziale Gedichte, Köln 1849 passim, für weitere Engels
politisch nahestehende Kreise Joh. Phil. Becker und Chr. Esselen, Ge-
schichte der süddeutschen Mairevolution Genf 1849, S. 7ff. S. 352. Die
Reichsverfassung und die Sozialdemokraten. Vgl. u.a. Lassalle: „Für
uns war die Frankfurter Reichsverfassung schon 1849, als sie erlassen wurde,
nichts anderes als der letzte Beweis für die Impotenz des Föderalismus" (Las-
salles Reden und Schriften, herausgegeben von E. Bernstein Berlin 1893,
Bd. II, S. 652.
S. 353. Für die Dauer von Marx Abwesenheit, während der
Engels die Zeitung leitete. Neue Rheinische Zeitung 20. April, Marx
an Engels 23. April, Mehring in Nachlaß III S. 85f. und Wermuth -Stieber,
Die kommunistischen Verschwörurgen des 19. Jahrhunderts. Im amtlichen
Auftrag zur Benutzung der Polizeibehörden der sämtlichen deutschen Bun-
desstaaten Bd. II 1854, S. sz-
S. 354 £f. Für die revolutionäre Bewegung des Frühlings
1849, die Hoffnungen, die Engels auf sie setzte und seinen Anteil an ihr bis zu
seinem Übertritt in die Schweiz ist die wichtigste Queile Engels, Die deut-
Quellen und Nachweise. a2<
sehe Reichsverfassungskampagne in Neue Rheinische Zeitung, Politisch-
ökonomische Revue, redigiert von Karl Marx, Hamburg 1850 (wieder ab-
gedruckt bei Mehring, Nachlaß etc. III),
S. 855 ff. Engels im revolutionären Elberfeld. Außer Engels
eigener Darstellung wurden hauptsächlich benutzt IH. J. A. Körner, Le-
benskämpfe in der alten und neuen Welt, 2 Bände Leipzig 1865 — 66, Alex-
ander Pagenstecher, Revolutionäre Bewegungen im Rheinlande 1830 bis
1850 (Voigtländers Quellenbücher Bd. 58), Leipzig o. J., Ernst von Eynern,
Friedrich von Eynern. Ein Bergisches Lebensbild in Zeitschrift des Bergischen
Geschichtsvereins Bd. 35, Hanns Wegener, Elberfeld in den vierziger Jahren
des 19. Jahrhunderts, ebendort Jahrgang 1913, Bergengrün, Staatsminister
August von der Heydt, Leipzig 1908, S. looff. Für die Furcht vorder „roten
Republik" vgl. außerdem a. a. O Joh. Philipp Becker und Chr. Esselen S. 42
und das im Text erwähnte Pamphlet: Die große Schlacht be Remlingrade
oder der Sieg der Bergischen Bauern über die Elberfelder AlJerwelts-Barri-
kadenhelden am 17. Mai 1849, zehnte Auflage, erste mit Holzschnitten Ko-
blenz 1849. Erst während der Drucklegung übersandte mir Herr Emil Engels
ein Exemplar der Bekanntmachung des Elberfelder Sicherheitsausschusses
vom 14. Mai, die Engels Abreise zur Folge hatte. Dieser seltene Maueran-
schlag, der übrigens unsere Darstellung bestätigt, hat folgenden Wortlaut:
Bekanntmachung.
Der Sicherheits-Ausschuß hat am heutigen Tage beschlossen:
i) Der Bürger von Mirbach ist mit der Leitung der Militär-Angelegen-
heiten betraut. Überall da, wo es sich um nicht bloß strategische Maß-
regeln handelt, ist derselbe verpflichtet, mit Doktor Höchster, als Kom-
missar des Sicherheitsausschusses Rücksprache zu nehmen.
2) Der Bürger Friedrich Engels von Barmen, zuletzt in Cöln "wohnhaft,
wird unter voller Anerkennung seiner bisherigen, in hiesiger Stadt be-
wiesenen Tätigkeit ersucht, das Weichbild der städtischen Gemeinde
noch heute zu verlassen, da seine Anwesenheit zu Mißverständnissen
über den Charakter der Bewegung Anlaß geben könnte.
3) Der Sicherheits- Ausschuß erklärt: allen Bestrebungen, welche sich
nicht auf die Anerkennung und Durchführung der deutschen Reichs--
Verfassung beschränken, mit größter Entschiedenheit und mit allen
ihm zu Gebote stehenden Mitteln entgegen treten zu wollen. Gleich-
zeitig wird derselbe alles aufbieten, um die Sicherheit der Person und
des Eigentums aufrecht zu erhalten.
4) Nur die schwarz-rot-goldene Fahne ist das Banner, welches der Sicher-
heits-Ausschuß als das Seinige anerkennt.
5) Die gesamte bewaffnete Macht wird aufgefordert, eine verbindliche Er-
klärung dahin abzugeben, daß sie bereit sei, den Sicherheits-Ausschuß
zu dem unter 3 angegebenen Zwecke kräftigst zu unterstützen.
Elberfeld, den 14. Mai 1849.
Der Sicherheits-Ausschuß.
Namens desselben:
gez. Körner. Heintzmann. Schultze. Höchster. D. Peters.
Hecker. Pothmann. Römer. Bohnstedt.
S. 362 f. Untergang der Neuen Rheinischen Zeitung, Engels
a. a. O., Marx Personalakten auf dem Geh. Staatsarchiv. Die Darstellung
bei Gothein, S. 477, ist einseitig, zum mindesten unvollständig. Vgl. dazu
Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie Bd. I, S. I24ff.
S. 868. Aufenthalt in Frankfurt. Engels a.a.O. Über seine
Unterredung mit Gagern berichtet Jacoby in Briefen an seine Freunde Si-
426 Quellen und Nachweise.
mon Meyerowitz vom 19. Mai 1849 und Adolf Stahr vom 22. Mai (Jacobys
Nachlaß). S. 364. Den Aufenthalt in Bingen am 31. Mai bezeugt eine
an diesem Tage von hier aus erlassene Erklärung der ehemaligen Redakteure
der Neuen Rheinischen Zeitung, die jede Gemeinsamkeit mit der von
Herrmann Becker in Köln redigierten Westdeutschen Zeitung, die manchem
als Fortsetzung der Neuen Rheinischen galt, ablehnte. Vgl. dazu Mehring,
Neue Beiträge zur Biographie von Marx und Engels in Neue Zeit XXV 2,
Liebknecht, Friedrich Engels im Neue Welt- Kalender für 1897 und Feld-
mann in März 1901 I.
S. 365 f. Engels in der Pfälzer und Badischen Revolution.
Der Artikel für den Kaiserslauterner Boten wurde ausgegraben von den Do-
kumenten des Sozialismus Bd. V (1905). Über Charakter, anfängliche Aus-
sichten und Zusammenbruch der badisch-pfälzischen Revolution urteilen
sehr ähnlich wie Engels Joh. Philipp Becker und Esselen a. a. O., besonders
in den Kap. 3 und 10. Vgl. auch Carl Schurz, Lebenserinnerungen, Berlin
1906, Bd. I, Kap. 6. S. 368f. Willich. Für Engels Urteil über Willich
vgl. außer der Reichsverfassungskampagne und dem Brief an Frau Marx vom
25. Juli 1849 noch den Brief an Marx vom 23. November 1853, der im Brief-
wechsel fehlt, aber abgedruckt ist bei Karl Marx, Der Ritter vom edelmüti-
gen Bewußtsein (London 28. November 1853) ohne Angabe des Druckortes
(New York). Eine Abschrift dieser sehr seltenen kleinen Schrift verdanke
ich der Liebenswürdigkeit Herrn Ernst Drehns, des Archivars der Sozial-
demokratischen Partei in Berlin. Über Willichs militärische Begabung ur-
teilt ähnlich wie Engels auch Ludwig Bamberger, Erlebnisse in der Pfäl-
zischen Erhebung im Mai und Juni 1849, Frankfurt a. M. 1849, S. 47 — 48.
Für Willichs Denkweise charakteristisch ist seine Schrift: Im Preußischen
Heere. Ein Disziplinarverfahren gegen Premier-Lieutenant von Willich als
Folge der durch den Prozeß Anneke in dieser Brigade herbeigeführten Vor-
gänge. Mit Vor- und Nachwort Mannheim 1848. S. 370 £L Für die Badische
Revolution vgl. noch Marx (richtig Engels), Revolution und Konterrevolu-
tion in Deutschland, deutsch von Kautsky, 2. Aufl. Stuttgart 1907, S. 120 ff.
und Erinnerungen eines deutschen Achtundvierzigers (Sigmund Borckheim),
bearbeitet von R. Ruegg, Neue Zeit VIII (1890) bes. S. 2i4ff. S. 372. Der
Kriegsrat in Rieden. Engels spottete später in dem von Marx abgedruckten
Brief über die ,, Dreihundert Spartaner, die kein Thermopylae finden konnten".
Den Brief des Schwagers verdanke ich Herrn Eduard Bernstein.
Kapitel Xm.
Die Hauptquelle für dieses Kapitel ist die Revue der Neuen Rheinischen
Zeitung. Von Engels Beiträgen hat Mehring in der Nachlaßausgabe Bd. III
außer der Reichsverfassungskampagne urd einem Teil der Revuen und
Bücherbesprechungen, die er mit Marx gemeinsam schrieb, auch Die eng-
lische Zehnstundenbill abgedruckt. Der deutsche Bauernkrieg erschien, wie
schon erwähnt wurde, als erster Teil der ebenfalls von Mehring herausgegebe-
nen Sozialistischen Neudrucke. S. 380. Für Engels Seereise Lafargue,
Persönliche Erinnerungen an Engels, Neue Zeit XXIII a.a.O. S. 387 ff.
Die Ansprache der Zentralbehörde des Kommunistenbundes
vom März 1850 ist abgedruckt auf S. 7Sff von Marx Enthüllungen über den
Kommunistenprozeß zu Köln. Neuer Abdruck mit Einleitung von Friedrich
Engels und Dokumenten, Hottingen-Zünch 1885 (Sozialdemokratische Bi-
bliothek IV). S . 375 f. Für die Verhandlungen über Engels Zukunfts-
gestaltung konnte ich eine mir von der Familie Engels zur Verfügung ge-
stellte Mappe mit Familienbriefen von und an Engels benutzen.
Personenregister
Abel 71.
Altenstein 58, 75.
Andler 207,
Anneke 353, 358, 371.
Arndt, E. M,, 40, 48,
51, 54, 80, 94.
Arnim, H. F. von, 158,
216.
Arnim-Boytzenburg
158, 216.
Ashley 130, 201.
Auerswald 325, 335.
Babeuf 148, 182.
Baedecker, Julius 220.
Baer, von 219.
Bakunin 73, 93, 155,
182, 318, 347, 348,
350.
Barrot 351.
Bauer, Bruno, 14, 61,
68f., 70f., 74, 81, 83,
84, 85, 86, 88, 89, 90,
91, 95. 96, 97» 102,
104, 108, 110, 122,
123, 148, 155, 163,
177, 184, 190, I99f.,
202, 240, 242 ff., 245,
247.
Bauer, Edgar, 14, 83,
87. 91, 95, 96, HO,
123, 190, 199, 200 ff.
Bauer, Heinrich, 126,
294f., 387.
Beck, Karl, 4if., 44,
273.
Becker, Hermann, 336,
337, 353-
Becker, Johann Phi-
lipp, 370, 371, 372.
Becker, Nikolaus, Sif.,
53.
Beckerath 336.
Bern 346.
Benedix 225.
Bentham 180.
Bergenroth 225.
Bernays 182, 271.
Berrier-Fontaine
293-
Bertholet 172.
Beurmann 22.
Biedermann 91.
Binder 73.
Bismarck 133.
Blanc, Louis, I90f.,
230, 271, 299, 300,
308.
Blank, Emil, 222.
Blind, Carl, 363.
Blum, Robert, 44.
Bluntschli 37, 151,
155, 158.
Bodelschwingh 219,
281.
Böhme, Jakob, 34.
Borckheim 370.
Born, Stephan, 270,
277, 297, 304, 320,
374-
Börne, 21, 25, 28, 38
43«., 47, 48, 51, 62,
93, 96, 108, III, 148,
188, 218, 248, 272,
274.
Bornstedt 269, 273,
299, 316.
Boyen 281.
Breidenstein 47.
Brentano363,376,379.
Bright 128.
Browning, Elizabeth
B., 143.
Brünneck 67.
Buonarotti 148.
Büchner, Georg, 92,
121.
Buhl 83, 87, 89, 91, 95,
97, 99, 109, HO, 220,
221.
Buret 207.
Büigers 321, 336.
Burns, Mary, 134, 235,
266, 395.
Byron 41.
Cabet 149, 151, 191,
253, 267, 271, 293,
295, 296, 302.
Calderon 50.
Calvin 22, 160, 161.
Camphausen 324.
Carey 207.
Carlyle, Thomas, 130,
143, 160 ff., 164 ff.,
167, 178.
Carnap, von, 359.
Carnot 187, 348.
Cartwright 172.
Cavaignac 338.
Clausen 14.
Cobbett, V/illiam 140.
Cobden 129, 131.
Comte 198.
Consid^rant 180, 302.
Cromwell 161.
Mac Culloch 171.
Dahlmann 91, 285.
Danton 85, 88, 346.
Darasz 400.
Davy 172.
Delessert 270.
Descartes 75.
Dickens 116.
Diderot 61.
Diebitsch 328.
Dingelstedt 44.
Disraeli 116, 130, 143.
Dronke 273, 318, 321,
336, 338.
*) Außer Friedrich Engels selbst wurde auch Karl Marx, dessen Name
auf den meisten Seiten vorkommt, nicht berücksichtigt.
428
Personenregister.
Droste-Hülshoff 40.
Dühring 197,
Duncker, Polizeidirek-
tor, 219.
Eccarius, Georg, 296.
Eichhorn 68, 71.
Eichler 82, 95.
Eichmann, v., 356.
Engels, Benjamin, 5.
»Engels, Elise, 7f., 9, 10,
214, 223, 338, 373,
395, 397-
Engels, Friedrich sen.,
5ff., 8f., lof,, 14, 22,
40, 117, 122, 199,214,
219, 221, 222f., 320,
338, 343, 359, 361,
373, 395, 396f.
Engels, Johann Caspar
sen., 5.
Engels, Johann Caspar
jun., 5f.
Engels, Marie, 9, 21,
24, 42, 49, 70, 222,
234, 39Sf-, 397, 40 if-
Ermen u. Engels 6,
142, 396.
Ermen, Gottfried, 396.
Ermen, Peter, 396.
Ernst August, König
V. Hannover 46.
d'Ester 228, 364, 365,
367-
Ewerbeck 182, 267f.,
271, 342.
Eynem, Ernstvon,36i.
Faucher, Julius, 20of.,
Feu er bach, Ludwig, 68,
69, 71,72,75,76, 78,
8if.,87f.,9i,io4f,io7,
108, 113, 125, 140,
148, 163, i65ff., 171,
I76f., 188, 190, 191,
193, 195, 20if., 206,
2I0ff., 239f., 242ff.,
247ff., 251, 258, 263.
Fichte 26, 105, 161.
Flocon 271, 299, 300,
311, 313, 316.
Flottwell, Eduard, 82,
95-
Forster, Georg, 238.
Fouque 41.
Fourier iii, 139, I48f .,
170, I75,f. 191, 220,
248, 249, 250, 253.
Frantz, Konstantin,
110, 189.
Freiligrath 16, 21,
264,273,321,345,361.
Frere-Orban 298.
Friedrich II., König v.
Preußen, 61, 62, 88.
Friedrich Wil-
helm III., 20, 48, 58,
66f.
Friedrich Wil-
helm IV., 66f., 68,
70,71, loif., 121,155,
215, 28of., 313, 316,
329,335,336,352.356.
Fröbel, Julius, 84, 154,
i55f.
Gagern, Heinrich von,
363-
Gans, Eduard, 60, 72.
Gervinus 91, 106, 154,
285, 330.
Godwin iii, 150, 176,
180, 191, 220.
Goethe 26, 34, 36, 42,
84, 105, 161, 163!.,
326, 273 f.
Gögg 363.
Görgey 346, 378.
Görres 155.
Gottschall, Rudolf, 44.
Gozlau III.
Graeber, Friedrich, 26,
28, 30ff., 42f, 48, 49,
62, 89, 93.
Graeber, Wilhelm, 26,
33, 47, 49, 89.
Grab am, Sir James 133.
Greiner 367.
Grimm, Jacob, 46.
Grün, Karl, 153, 217,
239, 262, 266f., 268f.,
273f.
Guizot 190, 263.
Gutzkow 25, 28, 34,
38, 4off., 44, 50, 92,
121.
Haar, van, Rektor, 7,
10, 116.
Hall, Charles, 176.
Hansemann 325, 335.
Hantschke 10, 12, 15.
Harney i46f., 235f.,
271, 293, 294, 300,
399.
Hart, Heinrich, 38.
Hart, Julius, 38.
Hartmann, Moritz 273.
Haudy 234.
Hauptmann, Carl, 38.
Hauptmann, Gerhard,
38.
Hecker 356.
Hegel 25, 26, 31, 33,
36, 38, 40, 43, 45f.,
49, 52, 55, 58, 59, 60,
62, 65, 67, 72, 73, 74,
76ff., 81, 83, 85, 90,
95, loi, 104, 105, 107,
108, 115, 118, 125,
140, 141, 151, 152,
153, 159, 164, 180,
183, 188, 190, 192,
193, 194, 201, 202,
206, 211, 244ff., 249,
251, 255, 276.
Heine, Heinrich, 19, 21,
37, 38f., 39, 43, 45,
113, 2i7f., 248, 272.
Heinzen, Karl, 276f.,
278f., 280.
Held 318.
Hengstenberg 37, 43,
63, 84, 86, 89.
Hennig, Leopold von,
70, 98.
Herder 26.
Herwegh, Georg, 44,
66, loi, 121, 123, 154,
316.
Heß, Joh. Friedrich, 84.
Heß, Moses, 91, io6ff.,
112, 114, ii7f., 120,
122, 124, 125, 151,
153, 155, 158, 166,
211, 217, 218, 219,
220f., 224, 225, 228,
239, 241, 243f., 264,
265ff., 269, 277, 301,
304, 316, 342.
Personenregister.
429
H e y d t , August von der,
335f-, 360.
Hildebrand, Bruno,
171, 208f.
Hirzel, Bernhard 89.
Hobbes 276.
Höchster 356, 360.
Hof er, Andreas, 238.
Holz, Arno, 38.
Hood, Thomas, 143.
H üb e r ,V. A. , 20 1, 2o8f .,
220.
Hume 145.
Huß 49.
Hütten 66.
Imandt 358.
Immermann 64f., 73,
80.
Jacoby, Joe!, 41.
Jacoby, Johann, 82,
181, 277, 28s, 300,
318, 363.
Jahn 56.
Jones, Ernest, 294.
Julius, Gustav, 318.
Jung, Alexander, 41,
92, 93-
Jung, Georg, 87, 91,
215, 3i6f., 318,
319-
Junge, Friedrich Adolf,
268, 269, 304.
Kamptz 20.
Kant 26, 28, 58,73,153.
161.
Karl der Große 47.
Karl I., König von Eng-
land, 276.
Karl X., König von
Frankreich, 46.
Kinkel 370, 380.
Klapka 346.
Knopp 84.
Koppen, Carl Friedrich
60, 6if., 83, 86, 87,
88, 89, 91, 97, 184,
190.
Körner 356.
Kossuth 346.
Köttgen 224.
Kriege 263, 264ff.,272,
273, 308.
Krummacher, F. W.,
4, 12,21,26,27,84,89.
Kühne, F. G., 5,38,39.
Lafargue, Paul, 380.
Lamennais iii, 150.
Lassalle 4, 13, 15, 44,
92, 132, 180, 244,336,
337, 386, 394-
Laube38,39, 41,44, 92
Leach 146.
Ledru-Rollin 300,400
Leibniz 73.
Lelewel 312.
Lenau 24, 41.
Leo, Heinrich, 37,58,62,
75,84,88,89,150,155.
Leopold L, König von '
Belgien 312.
Leroux,Pierre,i5o, 189.
Lessing 26, 45-
Leßner 147.
Leupold 23.
Liebig 172.
Liebknecht, Wilhelm,
186, 368, 374.
Lißt, Franz, 70
Li st, Friedrich, 169,229.
Locke 140.
Louis Philipp, König
von Frankreich, 312.
Lovett 146.
Ludwig I. von Bayern
48, 286.
Ludwig XVL, König v.
Frankreich, 276.
Lüning 217, 2i8f., 264,
265, 273, 277.
Luther 151, 383^
Macaulay 138.
Mallet 89.
Malthus 169, l76f.
Manteuffel 353.
Marat 61, 88, 90, 146,
182.
Marheinecke 70.
I Marx sen. 183.
Marx, Jenny, 183, 235,
368, 397.
Mazzini 47, 293, 400.
Mehemed Ali von
Ägypten 57.
Meißner, Alfred, 273.
Menzel, Wolfgang, 37,
40, 44, 58, 274. .
Mersy 371.
Metternich 35, 37,318.
Mevissen I35f.
Meyen, Eduard, 82, 83,
86, 95, III.
Meyer, Julius, 219.
Michelet 37, 62, 70.
Mi 11, John Stuart, 169,
Mieroslawski 312,370,
371-
Mirabeau 318,
Mirbach,Ottovon,359,
360, 361.
Moll, Josef, 126, 149,
264, 287, 294f., 296,
300 f., 302, 320, 337,
367, 370-
Moltke, H. V., 54.
Montez, Lo a 286.
Mügge, 95.
Müller, Wolfgang, 224.
Mundt, Theodor, 38,
39, 41, 44-
Münzer, Thomas, 151,
238, 382, 383f-> 38s,
386.
Napier,SirCharles, 137,
Napoleon L 48, 56, 85,
148, 236ff., 283, 292.
' Napoleon, Louis, 334,
340, 351, 379.
Nauwerck 62, 83.
Nikolaus L, Kaiser von
Rußland, 329, 365.
Novalis 26, 161, 163.
! Nitzsch 89.
j O'Brien 131, 148, 331.
j O'Connell 133,' 134.
O'Connor 133, 146,
271, 331.
Otto, Louise, 273.
Owen 73, 109, III, 136,
I i4off., 148, 149, 176,
191, 219, 235, 249.
{ Pagenstecher, Alex-
I ander 360.
Paine, Th., 140, 238.
Paskiewitsch 328.
430
Personenregister.
Pecqueur 257.
Peel, Robert, 116, 132,
134-
Pfänder 296.
Platen 15.
Proudhon 139, i5of.,
156, 166, 173, 180,
189, 196, 250, 266,
268, 269, 272, 279,
300, 308.
Prutz, Robert, 52, 86.
Püttmann 215, 217,
218, 224, 273.
Quetelet 178.
Radetzky 351.
Radowitz 318, 353.
Raumer, Friedrich v.,
116, I34f.
Rauschenplatt 47.
Ricardo 169, ijiii.,
197, 305.
Robespierre 61, 88,
165, 182.
Rochau III.
Roch ow,G.A.v.,S2, 120.
Rogier, Charles 298.
Rousseau, J. J., 140.
Rückert 70.
Ruge37, 38, 44, 58, 60,
62, 69, 72, 73, 75, 80,
86f., 88ff., 91, 108,
123, I54> 157, 190,
198, 277, 285, 318,
326, 332, 400.
Rutenberg, 83,87,91.
Sack, 84, 86, 88f., 90.
Saint-Simon, 107, 108,
118, 142, i48f., 161,
166, 198, 249.
Sand, George, 116, 150.
Saß, Friedrich, 22.
Savigny 37, 67.
Say, J. B., 171, 173.
Schaper 216.
Schapper, Carl, 126,
149, 264, 287, 294f.,
298, 30of., 302, 313,
320,336,337,353,400.
Schelling26, 67, 7of{.,
73f., 76ff., 80, 92, 95,
105.
Schifflein 9.
Schiller 41, 237.
Schily 358.
Schopenhauer 171.
Schlaf 38.
Schleiermacher 26,
30, 31 f., 113.
Schmidt, Franz, iii.
Schmidt, Kaspar, siehe
Stirner.
Schnake 273.
Schubarth, K. E., 58.
Schücking, Levin, 40.
Schults 224, 227.
Schurz, Carl, 366, 371.
Schweitzer, J. B. von,
4, 386.
Seiler,Sebast.,i33, 264.
Semmig 273.
Shakespeare 91.
Shelley34, 49, 50, 142.
Sigel 371, 372.
Sismondi 177.
Smith, Adam, i68f.,
I70f., 172, 179.
Snethlage 7.
Solms-Lych 281.
Spinoza 28, 34, 73, 107.
Stahl, F. J., 67.
Stein, Lorenz, 109,
Ii7ff., 120, 139, 153,
157, 189, 207, 249.
Steingens 304.
Stirner, 68f., 73, 82f.,
87, 88, 89, 91, 95, 97,
123, 190, 2iof., 240,
24if., 243f., 245ff.
Strauß, David Fried,
rieh, 25, 27, 29, 30,
33, 37, 58, 6off., 63,
66, 67, 71, 72, 75, 89,
177, 188.
Sue 116.
Sznayda 370.
Techow 368, 396.
Thierry 190.
Thiers 339.
Thiersch 53.
Tholuck 63.
Thompson, T. Perro-
net, 172.
Treviranus 23.
Tschirner 367.
Venedey 93^ 113, 327.
Vico 191.
Villerme 206,
Vogler 281.
Voltaire 61, 85, 86, 90.
Waldeck, B.F.L., 318.
Waldeck, Julius, 181.
Walesrode 93.
Wal lau 304.
Watts, John, i4Sf.,
147, 172.
Weerth 321.
Weidemeyer 264, 402.
Weitling i2off., 133,
138, isif., I55f., 165,
250, 253, 262, 264f.,
266 ff., 293, 294, 295.
Welcker 95.
Wellington 331.
Werder, K., 70.
Wichern 23.
Wienbarg 38, 39.
Wigand 86, 88f., 106,
204, 242.
Wilhelm, Prinz von
Preußen 281, 324.
Willich 368, 369, 370,
371, 372, 400.
Windischgrätz 328,
346.
Wirth 327.
Wolff, Ferdinand, 321.
Wolff, Wilhelm, 264,
-~>7, 3^3, 321, 336,
337,338,353,356,363.
Zimmermann 382.
Zitz 367.
Friedrich Engels
Eine Biographie
Von
Gustav Mayer
Ergänzungsband zum ersten Bande
Berlin
Verlag von Julius Springer
1920
Friedrich Engels
Schriften der Frühzeit
Aufsätze, Korrespondenzen, Briefe, Dichtungen
aus den Jahren 1838— 1844 nebst einigen Karikaturen
und einem unbekannten Jugendbildnis
des Verfassers
Gesammelt und herausgegeben
von
Gustav Mayer
Berlin
Verlag von Julius Springer
1920
Alle Rechte, insbesondere das der Über-
setzung in fremde Sprachen, vorbehalten
Copyright 1920 by Julius Springer in
Berlin
Dem Andenken
Ludwig Franks
gefallen in Lothringen
am 3. September
1914
Vorb emerkung.
In diesem Bande findet der Leser Briefe, Aufsätze, Korre-
spondenzen und Dichtungen von Friedrich Engels aus seinem acht-
zehnten bis vierundzwanzigsten Jahre vereinigt. Erst durch ihre
Auffindung wurde es mir mögHch, in dem kürzlich im gleichen
Verlage veröffentlichten ersten Bande seiner Biographie die geistige
Entwicklung des jungen Engels von ihren Anfängen ab nachzu-
zeichnen. Diese Zeugnisse einer von starkem innerem Erleben und
unermüdlichem Vorwärtsstürmen angefüllten Jugend glaube ich der
Öffentlichkeit übergeben zu dürfen, ohne auf wenige einleitende
Blätter noch einmal zusammenzudrängen, was dort in einem ganzen
Bande zur Darstellung gelangte. Dieser Vorbemerkung liegt nur ob,
Rechenschaft abzulegen, wie alle diese mit einer Ausnahme von
der Wissenschaft bisher noch nicht beachteten geistigen Äußerungen
des jungen Engels zusammenkamen, mit welchem Recht ich sie
ihm zuschreibe und unter welchem Gesichtspunkt ich sie aus-
wählte.
Bei einer Durchsicht des der wissenschaftlichen Bearbeitung
noch harrenden Briefwechsels Johann Jacob ys, den die Enkel Guido
Weiss', die ihn erbten, der Königsberger Stadtbibliothek überwiesen
hatten, stieß ich vor einer Reihe von Jahren auch auf einen Brief, in
dem Eduard Flottwell, der demokratisch gesinnte älteste Sohn des
preußischen Staatsmanns, im November 1841 dem Verfasser der'
Vier Fragen von dem Berliner Kreise der ,, Freien", in dem er viele
Anregungen fände, erzählt. Dabei gedenkt er u.a. des ,, bekannten
Oswald aus dem Telegraphen", der, eigentlich ein junger Kaufmann
aus der Rheinprovinz, soeben sein Militärjahr in Berlin abdiene,
um hier Schelling und Werder zu hören. Gleich damals kam mir
die Vermutung, daß dieser Oswald Friedrich Engels sein müsse, auf
den alle jene Angaben paßten. Bei gründlicherer Nachforschung
ergab sich aktenmäßige Gewißheit. Nun hatte freilich schon in
seiner 1885 erschienenen Geschichte der ersten sozialpolitischen
Arbeiterbewegung in Deutschland Georg Adler einer Jubiläumsnum-
mer der Barmer Zeitung zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen die An-
VIII Vorbemerkung.
gäbe entnommen, daß Engels in früher Jugend im Telegraph Briefe
aus dem Wuppertal, später eine gegen Schelling gerichtete Broschüre
veröffentlicht habe und daß auch ein Christliches Heldengedicht in
vier Gesängen, das 1842 erschien, ihm zugeschrieben wurde. So
wenig wie Adler selbst ist jedoch damals oder später irgend einer
seiner zahlreichen sozialdemokratischen Kritiker dieser Spur nach-
gegangen, so leicht es gewesen wäre, die Wahrheit festzustellen, da
Engels selbst noch in voller Schaffenskraft unter den Lebenden
weilte. Wie es mir dann gelang, den sicheren Beweis zu er-
bringen, daß Friedrich Oswald niemand anders als Friedrich Engels
war, habe ich kurz vor Ausbruch des Krieges in dem von Professor
Carl Grünberg in Wien redigierten Archiv für die Geschichte des
Sozialismus und der Arbeiterbewegung darlegt. Da der jugendliche
Autor dieses zu wiederholten Malen dem Leser des vorliegenden
Bandes bestätigen wird, so bedarf es kaum mehr der Erwähnung,
daß seit dem Erscheinen jenes Artikels auch noch neue archivalische
Funde mir diese Tatsache bekräftigt haben. In den Briefen an die
Brüder Wilhelm und Friedrich Graeber bekennt sich Engels klipp
und klar sowohl als Friedrich Oswald wie als der Verfasser jener dem
Pietismus in dem ,,Zion der Obskuranten" scharf ins Gesicht
leuchtenden Briefe aus dem Wuppertal.
Diese Briefe, die im März und April 1839 in dem von Gutzkow
in Hamburg herausgegebenen Telegraph für Deutschland erschienen,
trugen keine Unterschrift. Das Pseudonym, dessen sich Engels, bis
er 1844 in den Deutsch -Französischen Jahrbüchern zuerst mit
seinem wahren Namen hervortrat, so vielfach bedient hat, tauchte
zum ersten Mal im November 1839 in der kleinen Korrespondenz
„Aus Elberfeld** auf, die als eine Ergänzung zu der vor auf gegange-
nen Charakteristik der Literatur des Wuppertals gedacht war.
Daß hier statt Friedrich Oswald die Unterschrift S. Oswald lautete,
war zweifellos nur ein Druckfehler. Schon der im Telegraph un-
mittelbar folgende Aufsatz über die Deutschen Volksbücher ist gleich
den zahlreichen anderen, die nach ihm erschienen, mit Friedrich
Oswald gezeichnet. Desselben Pseudonyms bediente sich Engels
für die umfangreiche Besprechung von Alexander Jungs Vorlesungen
über die moderne Literatur der Deutschen in den Deutschen Jahr-
büchern vom 7. bis 9. Juli 1 842 und in dem hübschen, aber wegen des
Erlöschens des Blattes Fragment gebliebenen Reisebericht: Lom-
bardische Streifzüge im Berliner Athenaeum vom 4. und ii. De-
zember 1841. öfter verkürzte er auch das von ihm angenom-
mene und auf Rücksicht auf seine frommen Eltern sorgfältig ge-
hütete Pseudonym. Die Initialen F. O. finden sich unter dem
Aufsatz Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen in den von
Vorbemerkung. IX
Georg Herwegh herausgegebenen Einundzwanzig Bogen aus der
Schweiz, unter dem Tagebuch eines Hospitanten, das im Feuilleton
der Rheinischen Zeitung vom 14. und 24. Mai 1842 steht, und unter
der Kritik von Walesrodes Glossen und Randzeichnungen zu Texten
aus unserer Zeit, die am 25. Mai dort erschien. Daneben ver-
öffentlichte Engels aber in der Rheinischen Zeitung auch Bei-
träge, die bloß mit einem liegenden, ganz selten mit einem stehen-
den Kreuz und zwei Sternen zur Seite bezeichnet waren. Daß ich
dies Zeichen auffand, verdanke ich Herrn Professor Dr. Joseph
Hansen in Cöln, der unter den Überresten des Archivs dieser Zei-
tung das Manuskript eines Beitrages aufbewahrt, auf das Dagobert
Oppenheim den Namen Engels gesetzt hatte. Dieser Beitrag ist die
Abhandlung Zur Kritik des preußischen Preßgesetzes im Beiblatt der
Nummer vom 14. Juli 1842. Wegen des sehr speziellen Inhalts des
ziemlich umfangreichen Artikels wurde auf seinen Abdruck hier
verzichtet. Nun ist es freilich mit Korrespondentenzeichen eine
eigene Sache. Die Erfahrung lehrt, daß aus irgend welchen Grün-
den, z. B. um eine Autorschaft zu verschleiern, solche Zeichen ge-
wechselt oder auch auf verschiedene Mitarbeiter verteilt werden.
Wir haben deshalb hier nur solche jenes Zeichen führende Bei-
träge aus der Rheinischen Zeitung aufgenommen, bei denen
uns auch aus inneren Gründen Engels Autorschaft als völlig er^
wiesen erschien.
Einen unmittelbaren Hinweis darauf, daß Engels der Verfasser
des Christlichen Heldengedichtes vom Triumph des Glaubens sei,
besitzen wir bis jetzt bloß in jenem Artikel der Barmer Zeitung
vom I. Juli 1884, dessen übrige Angaben sich freilich ausnahmslos
als richtig erwiesen haben. Sonst erwähnt nur noch ein ziemlich gut
unterrichteter, aus der Reaktionszeit der fünfziger Jahre stammen-
der Polizeibericht über Engels, den ich kürzlich bei den Akten des
Berliner Polizeipräsidiums fand, daß er als Einjähriger ,, einige
kleine Broschüren", darunter die gegen Schelling, veröffentlicht
habe. Trotzdem erscheint es mir ganz zweifellos, daß niemand an-
ders als Engels der Verfasser der kecken Dichtung sein kann. Be-
merkenswert ist auch, daß schon vor siebzehn Jahren Eduard
Bernstein der richtigen Spur nahe gewesen und ihr nur deshalb nicht
bis ans Ende gefolgt ist, weil er sich damals von der Annahme nicht
frei machen konnte, daß nicht Engels, sondern einer seiner Freunde,
der wirklich Oswald hieß, die von Rüge Bakunin zugeschriebene
Kampfschrift gegen Schelling verfaßt habe. (Vgl. Dokumente des
Sozialismus, herausgegeben von Eduard Bernstein, Band I, S. 552
und dazu ebendort Double you [Pappenheim], Schelling und die
Offenbarung, auch ein Beitrag zur Geschichte der Berliner „Freien".)
X Vorbemerkung,
Auch der Schweizerische Republikaner hat während der kur-
zen Zeitspanne, die er im Besitz des Literarischen Comptoirs in
Zürich und Winterthur der deutschen radikalen Bewegungspartei
zur Verfügung stand, einige ungezeichnete Korrespondenzen von
Engels veröffentlicht. Dies ergab sich mir, als ich des einzigen in
Deutschland vorhandenen Exemplares des seltenen Halbwochen-
blatts habhaft wurde. Daß die vier Briefe aus London, die hier
am i6. und 23. Mai und am 9. und 27. Juni 1843 erschienen, von
Engels herrühren, lehrte ein Vergleich ihres Inhalts und ihrer Ten-
denz mit den einschlägigen Abschnitten des Buches über die Lage
der arbeitenden Klasse in England. Auch beachte man, wie ähnlich
hier und in Engels bekanntem Essay über Carlyles Past and Present
in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern über das Schicksal be-
richtet und geurteilt wird, das damals David Friedrich Strauß
Leben Jesu in England widerfuhr. Die einzige der Forschung schon
bekannte Arbeit von Engels, die in unserer Sammlung Platz fand,
sind die in der Pariser deutschen Zeitung Vorwärts vom 31. August
bis zum 16. Oktober 1844 erschienenen Aufsätze über Die Lage
Englands. Sie hatte Mehring, als er seine Ausgabe der Gesammelten
Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 bis 1850 zusam-
menstellte, ,,dem künftigen Biographen als Nachlese überlassen".
Da es nur auf der Biblioth^que Nationale in Paris und auf der Wiener
Stadtbibliothek noch annähernd vollständige Exemplare des Vor-
wärts gibt, empfahl sich für unsere Sammlung die Aufnahme
dieser niemals wieder gedruckten Artikelserie, die als eine Vor-
studie gelten muß für die Soziale Geschichte Englands, die Engels
lange Zeit hindurch geplant, aber doch nicht zur Ausführung ge-
bracht hat.
Unsere Zusammenstellung möchte ein unmittelbares und an-
schauliches Bild von dem geistigen Werdegang gewähren, den Engels
genommen hatte, bevor er mit Marx in Verbindung trat. Als ich
1913 in der Neuen Rundschau Auszüge aus den erst hier jetzt
vollständig wiedergegebenen Jugendbriefen Engels an die Brüder
Graeber mitteilte, schrieb ich dazu: ,,Was wußten wir bisher über
die Jugendgeschichte von Friedrich Engels ? Ein paar dürre Daten
besaßen wir, weiter nichts." Dieser Feststellung stimmte auch Max
Adler zu, als ihn meine fragmentarischen Mitteilungen ermutigten,
eine vorläufige Klarlegung von Friedrich Engels Anfängen zu
versuchen. Doch erst die hier vorliegende Sammlung seiner
Jugendschriften wird den vormarxistischen Engels völlig lebendig
machen. Auf eine restlose Vollständigkeit war es bei ihr nicht ab-
gesehen. Da es sich aus räumlichen Gründen empfahl, eine Aus-
wahl zu treffen, so wurden u. a. der Reisebericht im Athenaeum und
Vorbemerkung. XI
verschiedene Beiträge für die Rheinische Zeitung, deren in der Bio-
graphie Erwähnung geschieht, beiseite gelassen, und der für den
heutigen Leser nicht mehr hinreichend interessante Aufsatz über
den Apostaten Joel Jacoby^) im Telegraph vom April 1840 unter-
drückt. Wir gestehen auch, daß wir die Almanache, bei denen
Engels damals einige seiner Gedichte angebracht zu haben scheint,
ebensowenig aufgefunden haben, wie den Bremer Stadtboten, mit
dem er sich jenen Spaß erlaubte, von dem er in seinem Brief an
Wilhelm Graeber vom 27. bis 30. April 1839 berichtet. Ebensowenig
ist es uns geglückt, die ,, gelegentlichen" Korrespondenzen festzu-
stellen, die Engels, wie er in einem noch ungedruckten Brief an
Conrad Schmidt vom 26. September 1887 erzählt, während seiner
Berliner Militärzeit an die Königsberger Hartungsche Zeitung ge-
richtethat. Schwerer als zu solchen Verzichten, bei denenessichdurch-
weg nur um Unwesentliches handeln konnte, verstand ich mich da-
zu, Schelling und die Offenbarung fortzulassen. Aber die eng be-
druckten fünfundfünfzig Seiten Großoktav, die diese Broschüre im
Original füllt, hätten unter den heutigen Verhältnissen Umfang und
Preis einer Publikation, die sich nicht nur einen gelehrten Leserkreis
wünscht, über die zulässigen Grenzen hinausgetrieben. In meiner
biographischen Darstellung hat die Kampfschrift gegen Schelling ein-
gehende Berücksichtigung gefunden. Der Fachmann wird Exem-
plare auf Bibliotheken auftreiben, dem Laien aber mag als Ersatz der
Aufsatz dienen, den Engels unter dem unmittelbaren Eindruck von
Schellings Antrittsvorlesung in Berlin an den Telegraph schickte.
Die Karikatur, die der Eröffnung des Vereinigten Landtags gewidmet
ist, erschien in der Deutsch-Brüsseler Zeitung vom 6. Mai 1847.
Wenn das Blatt bemerkte, sie wäre ihm ,,von einem geistvollen
Dilettanten in der Zeichenkunst** übersandt worden, so stimmte
dies insofern nicht ganz wörtlich, als nicht Engels selbst, sondern
Marx, wie dessen Brief an Engels vom 15. Mai beweist, sie der
Redaktion zugeschickt hatte. Eine Erläuterung der Lithographie
folgte in der Nummer vom 30. Mai: hinter dem Steuer stehe in
einer Art Souffleurkasten der General von Thiele, den König
umgeben Boyen, Bodelschwingh, der Prinz von Preußen, Fürst
Solms-Lych. Den Abgeordneten aber stünden über das, was sie
anhören müßten, die Haare zu Berge.
Es erschien mir gerechtfertigt, dem jungen Engels ohne einen
weiteren einleitenden Kommentar das Wort zu lassen. Alle not-
wendigen Erläuterungen findet der Leser in den hinter den Text
gesetzten Anmerkungen. Mit Rücksicht auf die der fremden, be-
*) Vgl. über Joel Jacoby H. H. Houben, Gutzkow-Funde, 1901, S. 210 ff.
XII Vorbemerkung.
sonders der alten Sprachen nicht kundigen Leser wurde, da Engels
es damals lieble, seine Fingerfertigkeit in fremden Sprachen in
seinen Briefen zu erproben, in der Regel die deutsche Übersetzung
in Anmerkungen beigefügt. Das dem Werk vorgedruckte Porträt
des jungen Engels ist ein Daguerreotyp im Besitz der Familie.
Wenn er diesen Band dem Andenken Ludwig Franks widmet,
der in den ersten, hoffnungsvolleren Tagen des Krieges gefallen ist,
so gedenkt der Herausgeber dabei mit wehmütiger Erinnerung be-
sonders der warmen Teilnahme, die der hingeschiedene Freund
allezeit seinen Studien über die Geschichte der deutschen Arbeiter-
bewegung entgegenbrachte.
Lankwitz-Berlin, im August 1919.
Gustav Mayer.
Inhalt.
Seite
Aus der Lehrzeit in Bremen 1838 — 1841.
Briefe an die Gebrüder Graeber vom September 1838 bis Februar 1839 3
Briefe aus dem Wupperthal 20
Briefe an Friedrich und Wilhelm Graeber vom April 1839 bis Dezem-
ber 1839 39
Die Deutschen Volksbücher 98
Karl Beck 106
Retrograde Zeichen der Zeit iio
Platen iiS
Requiem für die Deutsche Adelszeitung 117
Landschaften 121
Ein Abend 127
St. Helena 131
Brief an Wilhelm Graeber vom 20. November 1840 132
Siegfrieds Heimat 134
ErnstMoritz Arndt 139
Brief an Friedrich Graeber vom 22. Februar 1841 152
Immermanns Memorabilien 155
Aus der Militärzeit in Berlin 1841 — 1842.
Schelling über Hegel 167
Nord- und süddeutscher Liberalismus 174
Rheinische Feste 177
Tagebuch eines Hospitanten 179
Glossen und Randzeichnungen zu Texten aus unserer Zeit 185
Alexander Jung und das Junge Deutschland 187
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 200
Die frechbedräute und doch wunderbar befreite Bibel oder der Triumph
des Glaubens. Das ist: Schreckliche und doch wahrhafte Historia
von dem weiland Licentiaten Bruno Bauer; wie selbiger vom
Teufel verführet, vom reinen Glauben abgefallen, Oberteufel ge-
worden und endlich kräftiglich entsetzet ist. Christliches Helden-
gedicht in vier Gesängen. Neumünster bei Zürich, Truckts und
verlegts Johann Friedrich Heß Anno 1842 209
XIV Inhalt.
Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England 1842 — 44.
Korrespondenzen an die Rheinische Zeitung 243
I. London, 30. November 1842, II, London, 3. Dezember, III. Aus
Lancashire, 19. Dezember, IV. Aus Lancashire, 20. Dezember,
V. Aus Lancashire, 22. Dezember.*
Briefe aus London an den Schweizerischen Republikaner ... 254
I. 16. Mai 1843, II. 23. Mai, III. 9. Juni, IV. 27. Juni.
Die Lage Englands. (Pariser Vorwärts) 266
Erläuterungen und Anmerkungen 304
Aus derLehrzeit
in Bremen
1838—1841
Briefe an die Brüder Graeber
September 1838 bis Februar 1839.
An Friedrich und Wilhelm Graeber.
[i. September 1838]
Den I. September. Herren Gebrüder Graeber aus Barmen, der-
zeit in Elberfeld. Indem ich mich zum Empfange des geehrten
Schreibens Ihres Herrn F. Graeber bekenne, erlaube ich mir, ein paar
Zeilen an Sie zu richten. Hol mich der Donner, das macht sich.
Nun wollen wir gleich mit der bildenden Kunst anfangen. Näm-
lich mein Hausgenosse, namens George (engl, ausgesprochen) Gor-
rissen, der erste Hamburger Geck, der je existiert hat; nehmt das
Mittel [hier stehen zwei Zeichnung.en am Bande von G.'s Kopf]
von den beiden Bildern, die da stehen, setze es auf einen schmalen
Rumpf und lange Beine, gebt den Augen einen recht geflappten
Blick, eine Sprache, präzise wie Kirchner spricht, nur Hamburger
Dialekt, und Ihr habt das kompletste Bild von diesem Flegel, das
es gibt. Ich wollte, ich könnte ihn nur so gut treffen, wie gestern
Abend, wo ich ihn auf eine Tafel malte, und so präzise, daß ihn
alle, sogar die Mägde, erkannten. Sogar ein Maler, der hier im
Hause wohnt und es sah, der sonst nichts gut findet, fand es sehr
gut. — Es ist dieser G. Gorrissen, der geflappteste Kerl, den die
Erde trägt; alle Tage hat er neuen Unsinn vor, er ist unerschöpf-
lich in abgeschmackten und langweiligen Ideen. Der Kerl hat min-
destens schon zwanzig Stunden auf seinem Gewissen, die er mich
gelangweilt hat. —
Ich habe neulich Jakob Grimms Verteidigungsschrift mir ge-
kauft, sie ist ausgezeichnet schön, und eine Kraft darin, wie man
sie selten findet. An einem Buchladen habt ich neulich nicht
weniger als sieben Broschüren über die Kölner Geschichte gelesen
— NB. hier habe ich schon Redensarten und Sachen gelesen, besonders
in der Literatur bin ich in Übung, die man bei uns nie drucken
dürfte, ganz liberale Ideen etc., Raisonnements über den alten
Hannoverschen Lause -Bock, ganz herrlich. —
Hier sind sehr schöne satirische Bilderbogen. — Einen sah ich
schlecht gemalt, aber sehr bezeichnende Gesichter. Ein Schneider
4 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
auf einem Bock wird von dem Meister aufgehalten, und die Schuster
sehen zu. Was noch mehr darauf passiert, ist in der Unterschrift
ausgedrückt:
Altmeister, halten Sie mein Roß nicht auf!^)
Entschuldige, daß ich so schlecht schreibe, ich habe drei Fla-
schen Bier im Leib, hurrah, viel kann ich auch nicht mehr schrei-
ben, denn gleich muß der Brief auf die Post. Es schlägt schon ^ 54
und um 4 Uhr müssen die Briefe da sein. Potz Donnerwetter, merkst
Du, daß ich Bier im Leibe habe. — -)
Ihr werdet die Güte haben, mir gleich wieder was zu schmieren,
meine Adresse weiß der Wurm, dem könnt Ihr's auch geben. Oh je,
was soll ich schreiben? oh je, oh je, oh je, Jammer und Elend!
Der Alte, d. h. der Prinzipal, geht eben heraus und ich bin ganz
konfuse, ich weiß nicht was ich schreibe, mir dröhnen allerlei Töne
ins Ohr. Grüßt den P. Jonghaus und den F. Plümacher, sie sollen
mir schreiben und nächstens werde ich sie auch mit Signaturen
langweilen. Könnt Ihr's lesen, was ich dahin saue ?
Was gibst Du mir für das Pfund Konfusion? ich hab' grade
eine Masse Vorrat. O Je.
Dein ergebener
Euer hochwohlgeboren ergebener
F. Engels.^)
An Friedrich und Wilhelm Graeber.
. . . den 17. September. Die schwarze Tinte zuerst, dann fängt
die rote wieder von vornen an. —
Carissimi!') In vostras epistolas haec vobis sit respondentia.
Ego enim quum longiter latine non scripsi, vobis paucum scribero,
sed in germanico-italianico-latino. Quae quum ita sint, so sollt Ihr
auch kein Wort Latein mehr kriegen, sondern pures, lauteres,
reines, vollkommenes Deutsch. Um nun gleich von einer bedeutend
wichtigen Sache zu reden, will ich Euch erzählen, daß meine spa-
^) Das Folgende ist nicht mehr zu lesen; soweit erkennbar, ist der Inhalt
nicht besonders wichtig.
-) Das gleiche gilt an dieser Stelle.
•^) Dieser Brief ist sehr schlecht erhalten. Einige Teile sind mit ganz
verblichener, streckenweise nicht mehr lesbarer roter Tinte geschrieben.
An den Schluß des Briefes hat Engels mit schwarzer Tinte einen Roland
gezeichnet.
*) Ihr Lieben! Auf Eure Briefe dies die Antwort! Da ich nämlich
lange nicht lateinisch geschrieben habe, so werde ich Euch wenig schreiben,
aber nur auf deutsch-italienisch-lateinisch. Da dies sich so verhält . . .
An Friedlich und Wilhelm Graeber. 5
nische Romanze durchgefallen ist; der Kerl scheint ein Antiroman-
tiker zu sein, so sieht er auch aus ; aber ein Gedicht von mir selbsten,
die Beduinen, welches in Abschrift beifolgt, wurde eingerückt in
ein anderes Blatt; nur veränderte mir der Kerl die letzte Strophe
und richtete dadurch eine heillose Konfusion ein, nämlich er scheint
das: ,,Zu unserm Frack, Pariser Schnitt, Paßt nicht der Wüste
schlichtes Hemd, noch in die Lit'ratur Eur' Lied" weil es barock
erscheint, nicht verstanden zu haben. Der Hauptgedanke ist die
Entgegenstellung der Beduinen, selbst in ihrem jetzigen Zustande,
und des Publikums, welches diesen Leuten ganz fremd ist. Des-
halb darf dieser Gegensatz nicht bloß durch die nackte Beschreibung,
die in den beiden scharf geschiedenen Teilen gegeben ist, ausge-
drückt werden, sondern er erhält am Schluß erst rechtes Leben
durch die Entgegenstellung, und die Schlußfolgerung in der letzten
Strophe. Nebenbei sind noch Einzelheiten darin ausgedrückt:
1. leise Ironie über den Kotzebue und seine Anhänger, mit Ent-
gegenstellung Schillers, als des guten Prinzips für unser Theater;
2. Schmerz über den jetzigen Zustand der Beduinen, mit Entgegen-
stellung ihres früheren Zustandes; diese beiden Nebensachen laufen
parallel in den beiden Hauptgegensätzen. Nun nimm die letzte
Strophe weg, und alles fällt auseinander ; wenn aber der Redakteur
den Schluß weniger auffallend machen will und schließt: »Jetzt
springen sie für Geld herum — nicht der Natur urkräft'ger Drang,
das Aug' erloschen, alle stumm, nur einer singt 'nen Klaggesang",
so ist der Schluß erstens matt, weil er aus früher schon gebrauchten
Floskeln besteht, und zweitens vernichtet er mir den Hauptgedanken,
indem er den Nebengedanken: Klage um den Zustand der Beduinen
und Gegensatz des früheren Zustands, an dessen Stelle setzt. Also
hat er folgendes Unheil gestiftet: i. den Hauptgedanken, 2. den
Zusammenhang des Gedichts ganz und gar vernichtet. Übrigens
kostet das dem Kerl wieder einen Groten (=V2Sgr')» denn er
wird Antwort von mir erhalten in einer Predigt. Ich wollte übri-
gens, ich hätte das Gedicht nicht gemacht, das Ausdrücken des
Gedankens in klarer, anmutiger Form ist mur ganz mißlungen ; die
Floskeln von Str. — sind eben nur Floskeln, Dattelland und Bile-
duldscherid sind ein und dasselbe, also ein Gedanke zweimal mit
denselben Worten, und welcher Mißklang: ,, schallend Lachen zollt!"
und ,,Mund gewandt"! Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn
man seine Verse so gedruckt sieht, sie sind einem fremd geworden,
und man sieht sie mit viel schärferen Augen an, als wenn sie ge-
schrieben sind.
Ich mußte tüchtig lachen, als ich mich so aufs Öffentliche
transferiert sah, aber bald verging mir das Lachen; als ich das Ver-
6 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
ändern merkte, bekam ich die Wut und tobte barbarisch —
Satis autem de hac re locuti sumus!^)
Ein ganz eigentümhches Buch fand ich heute morgen bei
einem Antiquar, einen Auszug der acta Sanctorum, leider nur
für die erste Hälfte des Jahrs, mit Porträts, Lebensbeschreibungen
der Heiligen und Gebeten; aber alles sehr kurz. Es kostete mich
12 Grote, 6 Sgr., und dasselbe gab ich für Wielands Diogenes von
Sinope, oder ^^coxgdrrjg /xacvöi^ievog.''^) —
An meiner Poesie und deren Produktionskraft verzweifle ich
alle Tage mehr, seitdem ich in Goethe die beiden Aufsätze „Für
junge Dichter" gelesen habe, in denen ich mich so trefflich bezeich-
net finde, wie es nur möglich ist, und aus dem es mir klar geworden,
daß durch meine Reimereien nichts für die Kunst getan ist; ich
werde aber nichts destoweniger fortreimen, weil dies eine „an-
genehme Zugabe", wie Goethe sagt, ist, auch wohl ein Gedicht in
ein Journal einrücken lassen, weil andere Kerls, die ebensolche,
auch wohl noch größere Esel sind, als ich bin, es auch tun, und
weil ich dadurch die deutsche Literatur weder heben noch senken
werde; aber wenn ich ein tüchtiges Gedicht lese, dann fährt mir
allemal ein Grimm durch die Seele: daß du das nicht hast machen
können! Satis autem de hac re locuti sumus!
Meine cari amici, man vermißt Euch doch sehr! Wenn ich
dran denke, wie ich oft in Eure Kammer trat, und da saß der Fritz
so behaglich hinterm Ofen mit seiner kurzen Pfeife im Munde, und
der Wilm in seinem langen Schläfer rauschte durch die Kammer
und konnte nichts rauchen als 4-Pfennigs-Zigarren, und riß Witze,
daß das Zimmer bebte, und dann rührte sich der gewaltige Feld-
man gleich dem ^avdog MeveXdog^), und trat herein, und dann
kam der Wurm im langen Rock, mit dem Stock in der Hand, und
es wurde gezecht, dann ist der Teufel los, und jetzt muß man sich
mit Briefen abfinden — es ist infam. Daß Ihr mir aber auch von
Berlin aus tüchtig schreibt, ist constat und naturaliter*) ; die Korre-
spondenz dahin bleibt auch nur einen Tag länger unterwegs als
nach Barmen. Meine Adresse wißt Ihr, sonst ist es auch einerlei,
denn ich habe mit unserm Briefträger schon so genaue Bekannt-
schaft gemacht, daß er mir die Briefe immer aufs Kontor bringt.
Honoris causa könnt Ihr aber doch allenfalls draufschreiben :
St. Martini Kirchhof No. 2. Diese Freundschaft mit dem Brief-
träger rührt daher, daß unsere Namen ähnlich sind, er heißt Engelke.
^) Aber davon haben wir nun genug gesprochen!
2) Der rasende Sokrates.
') Der blonde Menelaos.
*) steht fest und ist natürlich.
An Friedrich und Wilhelm Graeber. y
— Das Briefschreiben wird mir heute etwas schwer; ich habe vor-
gestern einen Brief an Wurm nach Bilk und heute einen an den
Strücker expediert, den ersten von 8, den zweiten von 7 Seiten,
und jetzt wollt Ihr auch Eure Ration haben. — Wenn Ihr diesen
Brief bekommt, ehe Ihr nach Cöln geht, so befolgt folgenden Auf-
trag: kommt Ihr hin, so sucht die Streitzeuggasse, geht in die
Everaertsche Buchdruckerei, Numero 51 und kauft für mich Volks-
bücher; Siegfried, Eulenspiegel, Helena habe ich; am wichtigsten
sind mir Octavian, die Schildbürger (unkomplet in der Leipziger
Ausgabe), Haimonskinder, Dr. Faust, und was von den übrigen
mit Holzschnitten versehen; sind mystische da, so kaufe sie auch,
besonders die Sibyllenweissagungen. Bis zwei, drei Thaler mögt
Ihr immerhin gehen, dann schickt sie mir per Schnellpost, gebt
mir den Betrag an, so will ich Euch einen Wechsel auf meinen
Alten schicken, der es gerne bezahlen wird. Oder noch mehr, Ihr
körmt die Bücher meinem Alten schicken, dem ich die ganze Ge-
schichte auseinander setzen werde, und der meig sie mir zu Weih-
nachten schenken, oder wie er will. — Ein neues Studium für mich
ist Jacob Böhme; es ist eine dunkle, aber eine tiefe Seele. Das
meiste aber muß entsetzlich studiert werden wenn man etwas da-
von kapieren will; er ist reich an poetischen Gedanken, und ein
ganz allegorischer Mensch; seine Sprache ist ganz eigentümlich,
alle Wörter haben eine andre Bedeutung als gewöhnlich; statt
Wesen, Wesenheit sagt er Qual; Gott nennt er einen Ungrund
und Grund, da er keinen Grund noch Anfang seiner Existenz hat,
sondern selbst der Grund seines und alles andern Lebens ist. Bis
jetzt habe ich erst drei Schriften von ihm auftreiben können, fürs
erste freilich genug. — Doch hier will ich mein Gedicht von den
Beduinen hinsetzen.
Die Glocke tönet, und empor
Der seidne Vorhang rauscht alsbald;
Aufmerksam lauschet jedes Ohr
Jedwedem Wort, das dort erschallt.
Doch heut ist's nicht Kotzebue,
Dem sonst Ihr schallend Lachen zollt.
Auch tritt nicht Schiller ernst hervor,
Ausgießend seiner Worte Gold.
Der Wüste Söhne, stolz und frei,
Sie treten still zu Euch heran;
Der edle Stolz — er ist vorbei.
Die Freiheit — sie ist abgetan.
Da springen sie für Geld herum —
Der Knab' so in der Wüste sprang,
8 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
In Jugendlust — doch alle stumm,
Nur einer singt 'nen Klaggesang.
Man wundert sich ob ihrer Kraft;
Ja, wie man sonst dem Kotzebue
Geklatscht, wenn er sein Krämchen pfiff
Also klatscht ihnen jetzt man zu!
Ihr Wüstensöhne, flink und stark!
Ihr zogt wohl sonst im Mittagsstrahl
Hin durch Marokko's sand'ge Mark
Und durch das milde Datteltal!
Ihr streiftet durch die Gärten hin
Des Landes Bileduldscherid,
Zum Raube stand der mut'ge Sinn,
Zum Kampfe ging der Rosse Schritt!
Ihr saßt wohl sonst im Mondenglanz
Am Palmenquell im dürren Land
Und holder Märchen bunten Kranz
Flocht Euch ein schöner Mund gewandt.
Ihr schlummertet im engen Zelt
Im Arm der Liebe, träume voll
Bis Morgenlicht den Himmel hellt'
Und der Kameele Brüllen scholl!
Zieht wieder heim, Ihr Gäste fremd,
Zu unserm Frack, Pariser Schnitt,
Paßt nicht der Wüste schlichtes Hemd,
Noch in die Lit'ratur Eu'r Lied!
den i8ten.^)
Cur me poematibus exanimas tuis^), werdet Ihr ausrufen! Aber
ich quäle Euch jetzt noch viel mehr damit oder vielmehr darum.
Der Guilelmus-*) hat noch ein Heft Verse von mir, wie ich sie hin-
schrieb. Dieses Heft bitte ich mir aus und zwar so: Ihr könnt alles
unbeschriebene Papier davon schneiden und mir sodann bei jedem
Eurer Briefe ein Quartblatt beilegen, das erhöht das Porto nicht.
Zur Not auch noch sonst einen Fetzen ; wenn Ihr es pfiffig verpackt
und Ihr den Brief vor der Absendung gut preßt, etwa eine Nacht
zwischen ein paar Lexika legt, so merken die Kerls nichts. — Das
einliegende Blatt für Blank besorgt Ihr wohl. Ich kriege eine furcht-
bar ausgedehnte Korrespondenz, mit Euch nach Berlin, mit Wurm
nach Bonn, nach Barmen und Elberfeld desgleichen, aber wenn ich
1) Von hier an ist der Brief mit einer roten, heute sehr verblichenen
Tinte quer durch den vorhergehenden Text geschrieben.
3) Warum quälst Du mich mit Deinen Gedichten?
') Wilhelm.
An Friedrich und Wilhelm Graeber. o
das nicht hätte, wie sollte ich die unendliche Zeit totschlagen, die
ich auf dem Comptoir, ohne doch lesen zu dürfen, zubringen muß?
— Vorgestern war ich bei meinem Alten id est principalis'), seine
Frau wird genannt die Altsche (italienisch alce, das Elentier ge-
radeso ausgesprochen) auf dem Lande, wo seine Familie wohnt, und
viel Pläsir gehabt habe. Der Alte ist ein köstlicher Kerl, er schimpft
seine Jungens immer polnisch aus. Ihr Ledschiaken, Ihr Kaschubenl
Auf dem Rückwege habe ich mich bemüht, einem Philister, der mit
da war, einen Begriff von der Schönheit der plattdeutschen Sprache
zu geben, habe aber gesehen, daß dies unmöglich ist. Solch ein
Philister ist doch eine unglückliche Seele, aber dabei doch über-
glücklich in seiner Dummheit, die er für die größte Weisheit hält.
Neulich Abend war ich im Theater, sie gaben den Hamlet, aber
ganz schauderhaft. Doch darum will ich lieber ganz davon schwei-
gen. — Daß Ihr nach Berlin geht, ist ganz gut, an Kunst wird Euch
da wohl so viel geboten, wie sonst auf keiner Universität, aus-
genommen München; dagegen die Poesie der Natur, die fehlt: Sand,
Sand, Sand! Hier ist es weit besser; die Straßen außer der Stadt
sind meistens sehr interessant, und durch die mannigfaltigen Baum-
gruppen sehr anmutig; aber die Berge, ja die Berge, das ist der
Donnerwetter. Ferner fehlt in Berlin die Poesie des Studenten -
lebens, die in Bonn am größten ist, wozu dann das Herumschweifen
in der poetischen Umgegend nicht am wenigsten beiträgt. Nun,
Ihr kommt ja auch noch nach Bonn. Mein lieber Wilhelm, ich
würde Dir rasend gern auf Deinen witzigen Brief ebenso witzig ant-
worten, wenn mir nicht überhaupt aller Witz, und im besonderen
jetzt gerade die Lust fehlt, die man sich nicht geben kann, und ohne
die alles erzwungen ist. Aber ich fühle, es geht mit mir zu Ende,
es ist mir, als ob mir verschwände jeder Gedanke aus meinem
Haupt, als wenn mir das Leben würde geraubt. Der Stamm meines
Geistes ganz entlaubt, denn alle meine Witze sind geschraubt, und
der Kern aus der Schale herausgeklaubt. Und meine Makamen,
die verdienen kaum den Namen, während die Deinen Rückert den
Ruhm nahmen, diese hier, die ich schreibe, die haben die Gicht im
Leibe, sie hinken, sie wanken, sie sinken, ja sie schon sanken in
in den Abgrund der Vergessenheit, nicht stiegen in die Höhe der
Gelesenheit. Oh Jammer, da sitz' ich in der Kammer, und pochte
ich an mein Haupt mit einem Hammer, es flösse doch nur Wasser
heraus, mit großem Gebraus. Doch das hilft nicht einer Laus, der
Geist ist drum doch nicht drin zu Haus. Gestern Abend, als ich zu
Bette ging, stieß ich an meinen Kopf, und es läutete, wie wenn
^) Das ist der Prinzipal.
10 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
man an ein Gefäß mit Wasser stößt, und das Wasser an der andern
Seite ans Gefäß klatscht. Ich mußte lachen, als mir die Wahrheit
so derb unter die Nase gerieben wurde. Ja Wasser, Wasser! In
meiner Stube spukt's überhaupt; gestern Abend hörte ich eine
Totenuhr in der Wand klopfen, in der Gasse neben mir rumoren
Enten, Katzen, Hunde, Dirnen und Menschen. Übrigens verlange
ich von Euch einen ebenso langen, wenn nicht noch längeren Brief,
et id post notas und das nach Noten.
Das ausgezeichnetste Kirchengesangbuch, das es gibt, ist un-
streitig das hiesige ; es enthält alle berühmten Namen deutscher
Poesie: Goethe (das Lied: der Du von dem Himmel bist), Schiller
(drei Worte des Glaubens), Kotzebue und viele andre. Auch Kuh-
pockenlieder, und was des Unsinns mehr ist. Es ist eine Barbarei
ohne gleichen; wer's nicht sieht, glaubt's nicht; dabei ein schauder-
haftes Verderben aller unsrer schönen Lieder, ein Verbrechen, was
sich auch Knapp im Liederschatz hat zu Schulden kommen lassen,
— Bei Gelegenheit, daß wir eine Expedition Schinken nach West-
indien machen, fällt mir folgende höchst interessante Geschichte
ein: Es schickte einmal einer Schinken nach Havanna; der Brief
mit der Berechnung kommt erst später an, und der Empfänger,
der schon gemerkt hat, daß zwölf Stück fehlten, sieht nun in der
Rechnung aufgeführt: Rattenfraß 12 Stück. Diese Ratten
aber waren die jungen Leute auf dem Comptoir, die sich diese
Schinken zu Gemüte geführt hatten ; jetzt ist die Geschichte aus. —
Indem ich mir erlaube, den noch übrigen Raum mit Aufgreifung
und malerischer Darstellung von Äußerlichkeiten (Dr. He) aus-
zufüllen, bekenne ich Euch, daß ich von meiner Reise Euch schwer-
lich werde viel können zugehen lassen, weil ich's dem Strücker
und dem Wurm zu allererst versprochen; ich fürchte schon, daß
ich's denen werde zweimal schreiben müssen, und dreimal die
ganze Saalbaderei, mit vielem Unsinn vermischt, das wäre doch et-
was zu viel. Will Euch aber der Wurm das Heft, das er freilich
schwerlich vor Ende dieses Jahres bekommen wird, schicken, so
ist mir's recht, sonst kann ich Euch nicht helfen, bis Ihr selbst
nach Bonn geht. — ^ ,. .. t^-
Dero ergebenster Diener
Friedrich Engels.
Grüßt den P. Jonghaus, er kann Euch einen Brief beilegen, ich
hätte ihm auch geschrieben, aber der Kerl ist gewiß verrissen. Bal-
dige Antwort. Eure Berliner Adresse!!!!!!!
[Hier folgen zwei Karikaturen: Ein Genie 4 la mode, ein Dumm-
kopf ä la mode.]
An Friedrich Graeber
An Friedrich Graeber. n
[Bremen] 20. i. 39.
Florida.
I.
Der Geist der Erde spricht:
Dreihundert Jahre sind 's, da kam gefahren
Das trotz'ge, weiße Volk von jener Seite
Des Ozeans, da ihre Städte waren.
Die Inseln wurden bald der Starken Beute,
Da hob die Faust ich aus dem Meer empor,
Ob diese auch ihr kecker Fuß beschreite.
Mit Wald war sie bedeckt und Blumenflor,
Und durch die tiefen Tälerfurchen streifte
Mein treu Geschlecht, der braunen Männer Chor.
Der ew'ge Vater mild hernieder träufte
Des Segens Fülle — da die Weißen kamen,
Es naht' ihr Schiff, das irr im Meere schweifte.
Und ihrem Sinn gefiel das Land, sie nahmen
Es weg, wie sie die Inseln sich geeignet.
Für mein Volk brachten sie der Knechtschaft Samen.
Den Furchen Gränze haben sie verleugnet,
Sie maßen mit Quadranten meine Hand,
Sie haben fremde Linien drein gezeichnet.
Bald überschwemmten sie das ganze Land,
Ein Finger ist's, den sie noch nicht bedeckt,
Wer dahin kommt, ist in den Tod gerannt.
Auf diesen Finger hab' ich mir gesteckt
Jetzt einen Ring, den meine Braunen bilden;
Sie haben ihre Speere vorgestreckt,
Und schützen sie mich nicht mit ihren Schilden,
Zerfeilt den Ring der Weißen Übermut,
Dann ziehe ich samt den Weißen und den Wilden
Die Hand herab in die empörte Flut.
II.
Der Seminole spricht:
Nicht Frieden will ich meinen Brüdern künden,
Krieg sei mein erstes Wort, mein letztes Schlacht,
Und wenn sich Eure Blicke dann entzünden.
Wie Waldbrand, vom Orkane angefacht.
12 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Dann sag' ich, daß ihr einst mit Recht mich nanntet
Des Wortes Sonne, der entweicht die Nacht!
Wie Ihr in wilder Jagdlust sonst entbranntet,
Unschuld 'ge Tiere, die Euch flohn zu jagen,
Wie Ihr verfolgend Pfeil auf Pfeil entsandtet.
So meint das Volk der Weißen Euch zu jagen —
Daß sie das Wild, daß Ihr die Jäger seid.
Das lasset ihnen Eure Pfeile sagen.
Auf uns, die Roten, schauen sie mit Neid,
Und daß sich ihr verhaßtes Weiß nicht zeige.
Verhüllen sie sich ganz mit buntem Kleid.
Sie nannten unser Land das blumenreiche,
Weil mannigfache Blumen hier erblühen.
Die sollen alle, blaue, gelbe, bleiche.
Ein rotes Kleid sich alle überziehen
Besprenget von der Weißen rotem Blut,
Und der Flamingo soll nicht roter glühen.
Zu ihren Sklaven waren wir nicht gut.
Drum brachten sie die feigen Schwarzen her,
Sie sollen kennen unsre Kraft und Mut!
Kommt nur, Ihr Weißen, lüstet's Euch so sehr,
Ihr mögt die Huldigung Euch selber holen,
Aus jedem Schilf, von jedem Baume her
Erwartet Euch der Pfeil des Seminolen!
III.
Der Weiße spricht:
Wohlan! so will ich denn zum letzten Male
Dem rauhen Schicksal kühn die Stirne bieten,
Will frei entgegenschaun dem Mörderstahle!
Du bist mir wohl bekannt. Du Schicksalswüten !
Du hast mir stets des Lebens Lust verbittert —
Meint Ihr, daß mir der Liebe Freuden blühten?
Die hat durch Spott mein armes Herz zersplittert,
Die ich geliebt; ich suchte Trost im Streben
Nach Freiheit, und vor unserm Bund gezittert
Hat mancher König, Fürsten sahn mit Beben,
Wie deutsche Jünglinge zusammen standen —
Drauf hab' ich sieben Jahr von meinem Leben
Gebüßet für die Schuld in ehrnen Banden.
Da brachte man mich hin zum schnellen Schiffe,
Frei sollt' ich werden, doch in fernen Landen. —
An Friedrich Graeber. Ij
Die Küste winkt! Da auf dem Felsenriffe
Zerbirst das Schiff, und in die wilde Brandung,
Stürzt alles Volk; daß ich allein ergriffe
Ein Brett, das sich mir bot, zur schweren Landung,
Das war das erste Glück, das mir geschehen,
Die andern ruhen in der Flut Versandung.
Doch kann ich je dem Unheil wohl entgehen ?
Die Wilden stürzen auf mich los, und binden
Mich, den zum Tod, der Rache sie ersehen.
Die Freiheit dacht' ich wieder hier zu finden,
Und Freiheitskämpfer grüßen mich mit Mord,
So muß ich büßen meiner Brüder Sünden!
Doch sieh, was schwimmt heran zum Ufer dort?
Ein Kruzifix! Wie schaun so mild die Züge
Mich an des Heilands! Ach, mir fehlt sein Wort,
Wenn sterbend ich auf heißem Sande liege,
Da kommt er selbst zu mir, der Gnadenreiche!
Ich murre hier, und für mich wird im Kriege
Mit Höllenwut Gott selber eine Leiche!
Da hast Du meinen Beitrag fürs nächste Kränzchen, ich habe
gesehen, daß es wieder bei uns gewesen ist, und es tat mir
sehr leid, daß ich nichts dazu eingeschickt hatte. Jetzt zur Beant-
wortung deines Briefes. — Aha! Warum liest du die Zeitung nicht!
Da hättest Du bald gesehen, was von der Geschichte in der Zeitung
stand und was nicht. Das ist meine Schuld nicht, wenn Du Dich
blamierst. In der Zeitung haben bloß offizielle Berichte des Senats
gestanden, die freilich auch danach gewesen sind. Die Komödie
von Plümacher muß sehr schön sein, ich habe zweimal darum ge-
schrieben und er hat kein Wort davon verlauten lassen. Was den
Jonghaus und seine Liebe anbetrifft, so habe ich mit dem noch ein be-
sonderes Kapitel drüber abzumachen. Ihr Menschen laßt Euch immer
durch ,, Dieses und Jenes" vom Schreiben abhalten, sage einmal,
kannst Du mir nicht alle Tage, von dem an, [?] daß Du meinen Brief
bekommst, eine halbe Stunde schreiben ?, so bist Du in drei Tagen
fertig. Ich muß alle diese Briefe schreiben, fünf Stück, schreibe viel
enger als Ihr, und bin doch in 4 a 5 Tagen fertig. Ja es ist schreck-
lich. Acht Tage sollt Ihr Zeit haben, aber am neunten Tage nach
Empfang meines Briefes müßt Ihr den Eurigen auf die Post geben,
das geht nicht anders ; sollte ich bei Wurm andre Bestimmungen
gemacht haben, so andre ich sie hiermit um, acht Tage Zeit habt
14
Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Ihr, sonst treten die bei Wurm angedrohten Strafen ein; keine Verse
und ebenso langes Wartenlassen.
Briefträger: „Herr Konsul, ein Brief!" Konsul Leupold: „Aha! Gut."
Engels: „Nichts für mich?" Briefträger: „Nein."
Da hast Du einen Holzschnitt a la Volksbücher, der Dir klar dar-
stellt, wie ich auf Euch passe, das heißtauf Eure Briefe. Ich dachte, ich
hätte heute die Briefe noch weggekriegt (Sonntag, den 20. Januar).
Aber es schlägt halb fünf und heute geht die Post schon um fünf,
wieder ein Strich durch die Rechnung Für Peter J. habe ich
noch keinen Brief anfangen können. . . .
Es ist merkwürdig, daß, wenn wir unsre größten Dichter zu-
sammennehmen, immer zwei und zwei sich ergänzen, so Klopstock
und Lessing, so Goethe und Schiller, so Tieck und Uhland. Jetzt
aber steht Rückert ganz allein da, soll mich einmal verlangen, ob
der noch einen bekommt, oder ob er so abstirbt; es hat fast den An-
schein. Als Liebesdichter könnte man ihn mit Heine zusammen-
stellen, aber leider Gottes sind die zwei sonst so heterogen, daß man
sie gar nicht vereinen kann. Klopstock und Wieland sind doch
noch Gegensätze, aber Rückert und Heine haben nicht die min-
deste andere Ähnlichkeit, und stehen beide absolut da. Die Ber-
liner Partei des jungen Deutschlands ist doch eine saubere Compag-
nie! Da wollen sie unsere Zeit umstempeln zu einer Zeit der ,, Zu-
stände und feinen Bezüge", welches so viel bedeutet als: wir schrei-
ben was in die Welt hinaus, und um die Seiten voll zu kriegen,
schildern wir Dinge, die nicht da sind, und das nennen wir Zustände,
oder wir bringen das Hundertste mit dem Tausendsten zusammen
und das geht unter dem Namen der ,, feinen Bezüge". Dieser Theo-
dor Mundt sudelt da was in die Welt hinein von der Demoiselle
An Friedrich Graeber. 15
Taglioni, die „Goethe tanzt*', schmückt sich mit Floskeln aus
Goethe, Heine, der Rahel und der Stieglitz, sagt den köstlichsten
Unsinn über Bettina, aber alles so modern, so modern, daß es
eine Lust sein muß für einen Schnipulanten, oder für eine junge,
eitle, lüsterne Dame, dergleichen zu lesen. Dieser Kühne, Mundt's
Agent in Leipzig, redigiert die Zeitung für die elegante Welt, und
die sieht jetzt aus, wie eine Dame, deren Körperbau für einen Reif-
rock eingerichtet, und die jetzt in ein modernes Kleid gesteckt
wird, daß bei jedem Schritt die holdselige Krümmung der Beine
durch das schmiegsame Kleid sichtbar wird. Es ist köstlich! Und
dieser Heinrich Laube! Der Kerl schmiert in Einem fort, Charak-
tere, die nicht existieren, Reisenovellen, die keine sind, Unsinn
über Unsinn, es ist schrecklich. Wie es mit der deutschen Literatur
werden soll, weiß ich nicht. Drei Talente haben wir: Karl Beck,
Ferdinand Freiligrath und Julius Mosen ; der dritte ist wohl ein Jude
und läßt in seinem Ahasver den ewigen Juden an allen Enden dem
Christentume trotzen ; Gutzkow, der noch mit der Vernünftigste ist,
tadelt ihn deshalb, weil Ahasveros eine gemeineNatur sei, ein wahrer
Schacherjude; Theodor Creizenach, ebenfalls ein juif, packt nun
in der Zeitung für die elegante Welt den Gutzkow auf eine wütende
Weise an, aber Gutzkow steht ihm zu hoch. Dieser Creizenach, ein
gewöhnlicher Tagesschreiber, erhebt Ahasver in alle H'mmel, als
einen getretenen Wurm, und schimpft auf Christus, als einen eigen-
mächtigen, stolzen Herrgott, meint auch, freilich sei im Volksbuch
Ahasver eben nur ein gemeiner Kerl, aber im Löschpapier der Jahr-
marktsbuden sei Faust auch nicht viel mehr als ein gemeiner Hexen-
meister, während doch Goethe die Psychologie mehrerer Jahr-
hunderte in ihn gelegt habe. Letzteres ist klar, Unsinn zu sein
(wenn ich nicht irre, ist das eine ganz lateinische Konstruktion),
aber mich rührt nur das wegen der Volksbücher. Freilich, wenn
Theodor Creizenach darauf schimpft, so müssen sie v/ohl sehr,
sehr schlecht sein, indessen wage ich zu bemerken, daß im Volks-
ahasver mehr Tiefe und Poesie ist, als in dem ganzen Theodor
Creizenach benebst seinen löblichen Konsorten. Ich habe jetzt
einige Xenien in Arbeit, von denen ich Dir, so viel davon fertig,
hersetze.
Die Journale.
I. Telegraph.
Nennst Du Dich selbst Schnellschreiber, wer wird dann Zweifel
noch hegen.
Schnellgeschriebenes sei, was Dir die Blätter erfüllt?
l6 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
2. Morgenblatt.
Liest Du am Morgen mich durch, so hast Du vergessen am Abend,
Ob Du auf leeres Papier oder bedrucktes gesehn.
3. Abendzeitung.
Fehlt Dir am Abend der Schlaf, so nimm dies Blatt in die Hände,
Lieblicher Schlummer erfüllt sicherlich Dich alsobald.
4. Literaturblatt.
Dies ist das krittlichste Blatt in dem ganzen Literaturwald,
Aber wie ist es so dürr! weht es der Wind doch herab!
Andre fallen mir gerade nicht ein, ich muß also wohl aufhören.
Ich muß mich, wie ich eben vermerke, noch bedeutend eilen, wenn
ich Schacher noch morgen die Briefe wegbekommen soll; gleich
haben wir Gesellschaft, dann morgen große Rennerei und Kopie-
rerei, so daß es nicht unzweckmäßig sein wird, sehr schnell zu
schreiben.
Von Duller lese ich jetzt Kaiser und Papst, einen vierbändigen
Roman. Duller hat einen übermäßigen Ruf, seine Witteisbacher —
Romanzen, von denen viele in Hüllstett stehen, — sind entsetzlich
schlecht; er wollte Volkstöne nachahmen und wurde familiär;
sein Loyola ist ein scheußliches Konfusorium aller guten und
schlechten Elemente eines historischen Romans, mit einer schlech-
ten Stilsauce aufgewärmt; sein Leben Grabbes ist entsetzlich ent-
stellt und einseitig; der vorliegende Roman ist schon besser, ein-
zelne Charaktere sind gut, andre wenigstens nicht schlecht ge-
zeichnet, einzelne Situationen sind ziemlich gut aufgefaßt, und die
erfundenen Personen sind interessant. Aber das Maß*) der [sie!] und
des Hervortretens der Nebenpersonen, neue, kühne Ansichten der
Geschichte fehlen ihm, nach dem ersten Bande zu urteilen, gänzlich.
Es ist ihm nichts, den am besten gezeichneten Charakter am Ende
des ersten Bandes zu töten; auch hat er eine große Vorliebe für ab-
sonderliche Todesarten ; so stirbt einer vor Wut, als er eben seinem
Feinde den Dolch in die Brust stoßen will, und dieser Feind steht
am Krater des Aetna, wo er sich eben vergiften will, als eine Spalte
des Berges ihn im Lavastrome begräbt. Dann schließt der Band,
nachdem diese Szene geschildert: Die Wogen des Ozeans schlagen
über dem Scheitel des Sonnenhauptes zusammen. Ein sehr pikanter,
im Grunde aber abgedroschener und alberner Schluß. Der soll auch
meinen Brief schließen. Addio, adieu, a dios, a deos,
Dein Friedrich Engels.
1) Ursprünglich stand „die liebe Breite"; das ist durchgestrichen.
An Friedrich Graeber. I»r
An Friedrich Graeber.
(19. Februar 1839.)
Et^) Tu, Brüte ? Friderice Graeber, hoc est res quam nunquam
de te crediderim! Tu jocas ad cartas ? passionahter ? O Tempores
o inoria! Res dignissima memoria! Unde est tua gloria ? Wo ist
Dein Ruhm, und Dein Christentum? Est itum ad Diabolum! Quis
est, qui te seduxit? Nonne verbum meum fruxit (hat gefruchtet)?
O fiU mi, verte, sonst schlag ich Dich mit Rute und Gerte, cartas
abandona-),facmultabona,etvitamagasintegram,partemrecuperabis
optimam! Vides amorem meum, ut spiritum faulenzendeum egi ad
hnguam latinam et die obstupatus: quinam fecit Angelum ita tollum,
nonsensitatis vollum, plenum et, plus ancora viel: hoc fecit enorme
Kartenspiel! Geh in Dich, Verbrecher, bedenke, was der Zweck
Deines Daseins ist! Räuber, bedenke, wie Du Dich an allem ver-
sündigst, was selig und unselig ist! Karten! Die sind aus des Teufels
Haut geschnitten! O Ihr Schrecklichen! ich gedenke Eurer nur
noch in Tränen oder Zähneknirschen! Ha, mich faßt die Begeiste-
rung! Am neunzehnten Tage des zweiten Monats 1839, am Tage,
da Mittag um 12 Uhr ist, faßte mich der Sturm und trug mich in
die Ferne und da sah ich, wie sie Karten spielten, und da war es
Zeit zu essen. Fortsetzung folgt. Und siehe, es erhob sich von
Morgen ein greuliches Donnerwetter, also, daß die Fenster klirrten,
und die Schlössen herniederschmetterten, sie aber spielten weiter.
Darob erhob sich ein Streit und der König von Morgen zog wider
den Fürsten aus Abend, und die Mitternacht hallte wieder vom Ge-
schrei der Streiter. Und der Fürst des Meeres machte sich auf
wider die Lande im Morgen, und ein Schlagen geschah vor seiner
Stadt, desgleichen die Menschheit nicht gesehen. Sie aber spielten
weiter. Und vom Himmel herab stiegen sieben Geister. Der erste
trug einen langen Rock, und sein Bart reichte ihm auf die Brust.
Den nannten sie Faust. Und der zweite Geist hatte greises Haar
um das kahle Haupt, und er rief: Wehe, wehe, wehe! Den nann-
ten sie Lear. Und der dritte Geist war hohen Leibes und gewaltig
*) Dieses wie das folgende ist natürlich das reinste Küchenlatein im
Stil der Kapuzinerpredigt in Wallensteins Lager: Und Du, Brutus? Friedrich
Graeber, dies ist eine Sache, die ich nie von Dir geglaubt hätte! Du spielst
Karten? Leidenschaftlich? O Zeiten, o Sitten! Eine Sache, die verdient,
daß man sich ihrer erinnert! ... Er ist zum Teufel gegangen! Wer ist
es, der Dich verführt hat? Hat mein Wort nicht gefruchtet?
2) Laß die Karten im Stich, tue viel Gutes und führe ein reines Leben,
dann wirst Du den besten Teil wiedererlangen! Du siehst meine Liebe darin,
wie ich den faulenzenden Geist zum Lateinischen getrieben habe und sage:
wer hat den Engels so toll gemacht, so voll von Unsinn und noch mehr viel,
<ias tat das enorme Kartenspiel!
Mayer, Eogels. Ergänzungsband. 2
l8 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
anzuschauen, des Name war Wallenstein. Und der vierte Geist
war wie die Kinder Enaks, und trug eine Keule, gleichwie die Ce-
dern auf dem Libanon. Den nannten sie Herakles. Und der fünfte
Geist war von Eisen über und über, und sein Name stand geschrie-
ben auf seiner Stirn: Siegfried, und an seiner Hand ging ein ge-
waltiger Streiter, des Schwert leuchtete wie der Blitz, das war der
sechste und hieß Roland. Und der siebente Geist trug einen Turban
auf der Spitze seines Schwertes und schwang eine Fahne ob seinem
Haupte, darauf stand geschrieben: Mio Cid. Und die sieben Geister
pochten an der Türe der Spieler, aber sie hörten nicht darauf. Und
siehe, da kam von Mitternacht eine große Helle, die flog dahin über
das Erdreich, wie ein Adler, und da sie vorbei war, sähe ich die
Spieler nicht mehr. Aber mit schwarzen Zeichen stand geschrieben
auf der Türe: '"''?~id!^) Und ich verstummte.
Wenn mein Brief an Wilhelm noch nicht Beweis genug für
meine Unsinnigkeit ist, so fällt es jetzt hoffentlich keinem von Euch
mehr ein, daran zu zweifeln. Wo nicht, so will ich Euch noch trif-
tiger davon überzeugen. [Hier folgt eine Karikatur mit der Unter-
schrift: Zukunft der fünf Kartenspieler!]
Eben sehe ich im Telegraphen eine Rezension der Gedichte
des Missionars Winkler in Barmen. Sie werden furchtbar herunter-
gemacht; es gibt eine Masse Proben, die eben einen Missionars-
geschmack verraten. Kommt das Blatt nach Barmen, so ist es um
Gutzkows Reputation daselbst, die schon sehr gering ist, getan.
Diese Proben sind schauderhaft, ganz unendlich ekelhafte Bilder —
Pol ist ein Engel dagegen. Herr Jesu, heile du den Blutfluß meiner
Sünden (Anspielung auf die bekannte Geschichte im Evangelium)
und dergl. mehr. Ich verzweifle immer mehr an Barmen, es ist
alles aus in literarischer Beziehung. Was da gedruckt wird, ist,
mit Ausnahme der Predigten, zum wenigsten dummes Zeug; reli-
giöse Sachen sind gewöhnlich Unsinn. Barmen und Elberfeld sind
wahrhaftig nicht mit Unrecht als obskur und mystisch verschrieen;
Bremen steht in demselben Ruf, und hat viel Ähnlichkeit damit; die
Philisterei verbunden mit religiöser Zelotenwirtschaft, wozu in
Bremen noch eine niederträchtige Verfassung kommt, verhindern
jeden Aufschwung des Geistes, und eines der vorzüglichsten Hin-
dernisse ist F. W. Krummacher. — Blank klagt so entsetzlich über
die Elberfelder Prediger, besonders Kohl und Hermann, ich möchte
wissen ob er recht hat ; vor allem wirft er ihnen Dürre vor, nur Krum-
macher sei eine Ausnahme. — Höchst komisch ist, was der Missionar
über die Liebe sagt. Paß mal auf, ich will ein derartiges Ding machen.
1) Berlin.
An Friedrich Graeber.
19
Liebeserklärung eines Pietisten.
Ehrbare Jungfrau! Ich, nach viel und schwerem Ringen,
Gegen die Lust der Welt, die gegen mich tat dringen,
Komm ich mit dem Gesuch, ob sie mich wollte nicht
Nehmen zu ihrem Mann, in Ehrbarkeit und Pflicht.
Zwar liebe ich Sie nicht, das war' zu viel verlanget.
Ich lieb in ihr den Herrn, der —
nein, es geht nicht, man kann so was nicht satirisieren, ohne das
Heiligste mit in diesen Kreis zu ziehen, wo hinter sich dieses Volk
versteckt. Ich möchte einmal solche Ehe sehen, wo der Mann
nicht seine Frau, sondern Christum in seiner Frau liebt, und liegt
da die Frage nicht auf der Hand, ob er auch Christum in seiner
Frau beschläft ? Wo steht denn was in der Bibel von dieser un-
sinnigen Wirtschaft? Im Hohen Liede steht: wie süß bist du, Liebe
in Wollüsten; aber freilich schimpft man jetzt auf alles Verteidigen
der Sinnlichkeit trotz David und Salomo und Gott weiß wem. Über
sowas kann ich mich entsetzlich ärgern. Diese Kerls rühmen sich
noch obendrein, die wahre Lehre zu haben, und verdammen jeden,
der nicht etwa an der Bibel zweifelt, sondern der sie anders aus-
legt wie sie. Es ist eine saubre Wirtschaft. Komme einmal Einem
damit, der oder der Vers sei untergeschoben, die werden Dich schon
fuchsen. Gustav Schwab ist der bravste Kerl von der Welt, sogar
orthodox, aber die Mystiker halten nichts auf ihn, weil er ihnen
nicht immer geistliche Lieder in der Weise: Du sagst, ich bin ein
Christ vorleiert, und in einem Gedicht auf möglichste Ausgleichung
zwischen Rationalisten und Mystikern hindeutet. Mit der religiösen
Poesie ist es fürs Erste am Ende, bis Einer kommt, der ihr neuen
Schwung gibt. Bei Katholiken wie Protestanten geht alles den
alten Schlendian, die Katholiken machen Marienlieder, die Prote-
stanten singen die alte Leier in den prosaischsten Ausdrücken
von der Welt. Diese gräßlichen Abstrakta: Heiligung, Bekehrung,
Rechtfertigung, und weiß Gott was für loci communes und breit-
getretene Floskeln mehr sind. Man sollte aus Ärger über die jetzige
Poesie, also aus Frömmigkeit, des Teufels werden. Ist denn unsre
Zeit so schofel, daß nicht einmal Einer neue Wege für religiöse
Poesie bahnen kann ? Übrigens halte ich dafür, daß die zeitgemäßeste
Art die ist, die ich in Sturm und Florida, über welches ich mir aus-
führlichere Rezension erbitte, bei Strafe des Nichtmehrgedicht-
habensollens, angewandt habe. Daß der Wurm die Briefe zurück-
behalten, ist nicht verzeihlich.
Dein Friedrich Engels.
20 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Briefe aus dem W^uppertal.
I.
Bekanntlich begreift man unter diesem bei den Freunden des
Lichtes sehr verrufenen Namen die beiden Städte Elberfeld und
Barmen, die das Tal in einer Länge von fast drei Stunden einneh-
men. Der schmale Fluß ergießt bald rasch, bald stockend seine
purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garn-
bedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt
nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theo-
logische Federn und wortreiche alte Weiber, gewöhnlich um des
Kaisers Bart; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen,
obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig
und allein von den vielen Türkischrot-Färbereien. Kommt man
von Düsseldorf her, so tritt man bei Sonnborn in das heilige Ge-
biet; die Wupper kriecht trag und verschlammt vorbei und spannt
durch ihre jämmerliche Erscheinung, dem eben verlassenen Rheine
gegenüber, die Erwartungen bedeutend herab. Die Gegend ist ziem-
lich anmutig; die nicht sehr hohen, bald sanft steigenden, bald
schroffen Berge, über und über waldig, treten keck in die grünen
Wiesen hinein, und bei schönem Wetter läßt der blaue, in der Wup-
per sich spiegelnde Himmel ihre rote Farbe ganz verschwinden.
Nach einer Biegung um einen Abhang sieht man die verschrobenen
Türme Elberfelds (die demütigen Häuser verstecken sich hinter
den Gärten) dicht vor sich und in wenigen Minuten ist das Zion
der Obskuranten erreicht. Fast noch außerhalb der Stadt stößt man
auf die katholische Kirche ; sie steht da, als wäre sie verbannt aus
den heiligen Mauern. Sie ist im Byzantinischen Stil nach einem
sehr guten Plan von einem sehr unerfahrenen Baumeister sehr
schlecht ausgeführt; die alte katholische Kirche ist abgebrochen,
um dem linken, noch nicht gebauten Flügel des Rathauses Platz
zu machen; nur der Turm ist stehen geblieben und dient dem all-
gemeinen Wohl auf seine Art, nämlich als Gefängnis. Gleich dar-
auf kömmt man an ein großes Gebäude — auf Säulen ruht sein
Dach, aber seine Säulen sind von ganz merkwürdiger Beschaffen-
heit; ihrer Dicke nach sind sie unten ägyptisch, in der Mitte dorisch
und oben jonisch, und außerdem verachten sie alles überflüssige
Beiwerk, als Piedestal und Kapital, aus sehr triftigen Gründen.
Dieses Gebäude hieß früher das Museum; die Musen aber blieben
weg und eine große Schuldenlast blieb da, so daß vor einiger Zeit
das Gebäude verauktioniert wurde und den Namen Kasino annahm,
der auch, um alle Erinnerungen an den ehemaligen poetischen
Namen zu entfernen, auf das leere Frontispice gesetzt wurde.
Briefe aus dem Wuppertal. 21
Übrigens ist das Gebäude so plump in allen Dimensionen, daß man
es abends für ein Kamel hält. Von nun an begmnen die langweili-
gen, charakterlosen Straßen; das schöne, neue Rathaus, erst halb
vollendet, ist aus Mangel an Raum so verkehrt gesetzt, daß die
Front nach einer engen, häßlichen Gasse geht. Endlich gelangt
man wieder an die Wupper, und eine schöne Brücke zeigt, daß man
nach Barmen kommt, wo wenigstens auf architektonische Schön-
heit mehr gegeben wird. So wie die Brücke passiert ist, nimmt alles
emen freundlichen Charakter an; große, massive Häuser in ge-
schmackvoller, moderner Bauart, vertreten die Stelle jener mittel-
mäßigen Elberfelder Gebäude, die weder altmodisch, noch modern,
weder schön noch karikiert sind; überall entstehen neue, steinerne
Häuser, das Pflaster hört auf, und ein grader chaussierter Weg,
an beiden Seiten bebaut, setzt die Straße fort. Zwischen den Häu-
sern sieht man die grünen Bleichen; die hier noch klare Wupper
und die sich dicht herandrängenden Berge, welche durch leicht ge-
schwungene Umrisse und durch mannichfaltige Abwechselung
von Wäldern, Wiesen und Gärten, aus denen überall rote Dächer
hervorschauen, die Gegend immer anmutiger machen, je weiter
man kommt. Halbweg der Allee sieht man gegen die Front der
etwas zurückliegenden Unterbarmer Kirche ; sie ist döS schönste
Gebäude des Tales, im edelsten Byzantinischen Stil sehr gut aus-
geführt. Bald aber tritt das Pflaster wieder ein, die grauen Schiefer-
häuser drängen sich eines an das andere; doch herrscht hier weit
mehr Abwechslung als in Elberfeld, indem bald eine frische Bleiche,
bald ein modernes Haus, bald ein Stückchen vom Fluß, bald eine
Reihe Gärten dicht an der Straße das ewige Einerlei unterbrechen.
Dadurch bleibt man im Zweifel, ob man Barmen für eine Stad<-
oder für ein bloßes Konglomerat von allerlei Gebäuden halten soll;
auch ist es nur eine Vereinigung vieler Oitschaften, die durch das
Band städtischer Institutionen zusammengehalten werden. Die
bedeutendsten dieser Ortschaften sind: Gemarke, von jeher der
Mittelpunkt reformierter Konfession; Unterbarmen, nach Elber-
feld zu, unweit Wupperfeld, oberhalb Gemarke, und noch weiter
Rittershausen, welches links Wichlingshausen und rechts Heking-
hausen mit dem wunderschönen Rauhental neben sich hat; alle
lutherisch in zwei Kirchen; die Katholiken, zwei bis drei Tausend
höchstens, sind im ganzen Tal zerstreut. Nachdem der Durch-
reisende nun Rittershausen passiert hat, verläßt er am Ende der
Welt das Bergische und tritt durch den Schlagbaum in das alt-
preußische, westfälische Gebiet ein.
Das ist die äußere Erscheinung des Tales, die im allgemeinen,
mit Ausnahme der trübseligen Straßen Elberfelds, einen sehr freund-
22 '■^^^ der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841,
liehen Eindruck macht; daß dieser aber für die Bewohner verloren
gegangen ist, zeigt die Erfahrung. Ein frisches, tüchtiges Volks-
leben, wie es fast überall in Deutschland existiert, ist hier gar nicht
zu spüren; auf den ersten Anblick scheint es freilich anders, denn
man hört jeden Abend die lustigen Gesellen durch die Straßen
ziehen und ihre Lieder singen, aber es sind die gemeinsten Zoten-
lieder, die je über branntweinentflammte Lippen gekommen sind ;
nie hört man eins jener Volkslieder, die sonst in ganz Deutschland
bekannt sind, und auf die wir wohl stolz sein dürfen. Alle Kneipen
sind, besonders Sonnabend und Sonntag, überfüllt und abends um
elf Uhr, wenn sie geschlossen werden, entströmen ihnen die Be-
trunkenen und schlafen ihren Rausch meistens im Chausseegraben
aus. Die gemeinsten unter ihnen sind die sogenannten Karren-
binder, ein gänzlich demoralisiertes Volk, ohne Obdach und sicheren
Erwerb, die mit Tagesanbruch aus ihren Schlupfwinkeln, Heu-
böden, Ställen etc. hervorkriechen, wenn sie nicht auf Düngerhaufen
oder den Treppen der Häuser die Nacht überstanden hatten. Durch
Beschränkung ihrer früher unbestimmten Zahl ist diesem Wesen
von der Obrigkeit jetzt einigermaßen ein Ziel gesetzt worden.
Die Gründe dieses Treibens liegen auf der Hand. Zuvörderst
trägt das Fabrikarbeiten sehr viel dazu bei. Das Arbeiten in den
niedrigen Räumen, wo die Leute mehr Kohlendampf und Staub
einatmen, als Sauerstoff, und das meistens schon von ihrem sechs-
ten Jahre an, ist gerade dazu gemacht, ihnen alle Kraft und Le-
benslust zu rauben. Die Weber, die einzelne Stühle in ihren Häu-
sern haben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt dabei, und
lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark ausdörren. Was
von diesen Leuten dem Mystizismus nicht in die Hände gerät,
verfällt ins Branntweintrinken. Dieser Mystizismus muß in der
frechen und widerwärtigen Gestalt, wie er dort herrscht, notwendig
das entgegengesetzte Extrem hervorrufen, und daher kommt es
hauptsächlich, daß das Volk dort nur aus ,, Feinen" (so heißen die
Mystiker) und liederlichen Gesellen besteht. Schon diese Spaltung
in zwei feindselige Parteien wäre, abgesehen von der Beschaffenheit
derselben, allein im Stande, die Entwicklung alles Volksgeistes zu
zerstören, und was ist da zu hoffen, wo auch das Verschwinden der
einen Partei nichts helfen würde, weil beide gleich schwindsüch-
tig sind? Die wenigen kräftigen Gestalten, die man dort sieht, sind
fast nur Schreiner oder andere Handwerker, die alle aus fremden
Gegenden her sind ; unter den eingeborenen Gerbern sieht man auch
kräftige Leute, aber drei Jahre ihres Lebens reichen hin, sie körper-
lich und geistig zu vernichten; von fünf Menschen sterben drei an
der Schwindsucht und alles das kommt vom Branntweintrinken.
Briefe aus dem Wuppertal. 23
Dies aber hätte wahrscheinlich nicht auf eine so furchtbaie Weise
Oberhand genommen, wenn nicht der Betrieb der Fabriken auf
eine so unsinnige Weise von den Inhabern gehandhabt würde,
und wenn der Mystizismus nicht in der Art bestände, wie er be-
steht, und wie er immer mehr um sich zu greifen droht. Aber es
herrscht ein schreckhches Elend unter den niedern Klassen, be-
sonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brust-
krankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben
ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern
1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf,
bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle
sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er
einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites
Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen,
bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besondere wenn sie alleSonn-
tage zweimal in die Kirche geht. Denn das ist ausgemacht, daß
unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Ar-
beitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern,
unter dem Vorwande, ihnen Gelegenheit zum Trinken zu nehmen, ja
bei Predigerwahlen immer die ersten sind, die ihre Leute bestechen.
In den niedern Ständen herrscht der Mystizismus am meisten
unter den Handwerkern (zu denen ich die Fabrikanten nicht rechne).
Es ist ein trauriger Anblick, wenn man solch einen Menschen, ge-
bückten Ganges, in einem langen, langen Rock, das Haar auf Pie-
tistenart gescheitelt, über die Straßen gehen sieht. Aber wer dies
Geschlecht wahrhaft kennen will, der muß in eine pietistische,
Schmiede- und Schusterwerkstatt eintreten. Da sitzt der Meister,
rechts neben ihm die Bibel, links, wenigstens sehr häufig — der
Branntwein. Von Arbeit ist da nicht viel zu sehen; der Meister
liest fast immer in der Bibel, trinkt mitunter eins, und stimmt zu-
weilen mit dem Chore der Gesellen ein geistlich Lied an; aber die
Hauptsache ist immer das Verdammen des lieben Nächsten. Man
sieht, diese Richtung ist hier dieselbe wie überall. Ihre Bekehrungs-
wut bleibt auch nicht ohne Früchte. Besonders werden viele gott-
lose Säufer etc. bekehrt, meist auf wunderbare Weise. Aber das
hat sich wohl; diese Proselyten sind alle entnervte, geistlose Men-
schen, die zu überzeugen eine Kleinigkeit ist; diese bekehren sich,
lassen sich jede Woche mehrere Male zu Tränen rühren, und treiben
ihr ehemaliges Leben im geheimen fort. Vor mehreren Jahren
kam diese Wirtschaft einmal ans Tageslicht, zum Schrecken aller
Mucker. Es fand sich nämlich ein amerikanischer Spekulant unter
dem Namen Pastor Jürgens ein ; er predigte mehrere Male und hatte
sehr viel Zulauf, v/eil die meisten Leute glaubten, er müsse als
24 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Amerikaner notwendig braun oder gar schwarz sein. Aber wie er-
staunten sie, als er nicht nur ein Weißer war, sondern auch der-
gestalt predigte, daß die ganze Kirche in Tränen zerfloß. Das hatte
übrigens seinen Grund darin, daß er selbst, wenn alle Mittel der
Rührung fehlschlugen, zu wimmern anfing. Nun war eine Stimme
des Staunens unter den Gläubigen, zwar opponierten einige Ver-
nünftige, aber da wurden sie recht als Gottlose verschrieen; bald
hielt Jürgens Konventikel, bekam reiche Geschenke von seinen an-
gesehenen Freunden und lebte herrlich und in Freuden. Seine
Predigten wurden so stark besucht wie keine andern ; seine Kon-
ventikel waren überfüllt, jedes seiner Worte ließ Männer und
Weiber weinen. Jetzt glaubten alle, er sei zum wenigsten ein Pro-
phet und werde das neue Jerusalem bauen, aber auf einmal war
der Spaß vorbei. Es wird plötzlich offenbar, was für Dinge in diesen
Konventikeln getrieben werden; Herr Jürgens wird festgesetzt und
hat ein paar Jahre in Hamm auf dem Inquisitoriat Buße getan
für seine Frömmigkeit. Nachher ist er mit dem Versprechen der
Besserung entlassen und wieder nach Amerika spediert worden.
Auch erfuhr man, daß er seine Künste schon in Amerika angewandt,
deshalb von da weitergeschickt, in Westfalen schon, um nicht aus
der Übung zu kommen, eine Repetition angestellt, wo er aus Gnade
oder vielmehr Schwachheit der Behörden ohne weitere Nachfor-
schungen entlassen und sodann in Elberfeld seinem liederlichen
Leben durch nochmalige Wiederholung die Krone aufgesetzt. Als
nun offenbar wurde, was da war geschehen in den Versammlungen
dieses Edlen, siehe, da erhob sich wider ihn alles Volk, und war
keiner, der etwas von ihm wissen wollte ; sie sind alle von ihm ab-
gefallen, vom Libanon bis an das Salzmeer, das heißt vom Ritters-
hauser Berg bis an das Wehr zu Sonnborn in der Wupper.
Der eigentliche Mittelpunkt alles Pietismus und Mystizismus
ist aber die reformierte Gemeinde in Elberfeld. Von jeher zeichnete
sie sich durch streng calvinistischen Geist aus, der in den letzten Jah-
ren durch die Anstellung der bigottesten Prediger — jetzt wirtschaften
ihrer viere zugleich dort — zur schroffsten Intoleranz geworden
ist, und dem papistischen Sinn wenig nachsteht. Da werden kom-
plette Ketzergerichte in den Versammlungen gehalten ; da wird der
Wandel eines jeden, der diese nicht besucht, rezensiert, da heißt es:
der und der liest Romane, auf dem Titel steht zwar christlicher
Roman, aber der Pastor Krummacher hat gesagt, Romanenbücher
seien gottlose Bücher ; und der und der schiene doch auch vor dem
Herrn zu wandeln, aber er ist vorgestern im Konzert gesehen,
und sie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen vor Schreck
über die greuliche Sünde. Und steht nun erst ein Prediger im Rufe
Briefe aus dem Wuppertal. 25
eines Rationalisten (darunter verstehen sie jeden, der nicht mit
ihrer Ansicht aufs Haar übereinstimmt), so wird der hergenommen,
und sie sehen genau zu, ob sein Rock auch ganz schwarz und seine
Hose recht von orthodoxer Farbe war; und wehe ihm, wo ersieh
in einem etwas ins Blaue fallenden Rock oder mit einer rationa-
listischen Weste betreten läßt! Kommt nun gar einer, der die Prä-
destination nicht glaubt, so heißt's gleich: der ist beinahe so schlim_m
als ein Lutheraner, ein Lutheraner ist nicht viel besser als ein Kal-
tholik, ein Katholik und ein Götzenanbeter aber ist von Natur ver-
dammt. Und was sind das für Leute, die so reden ? Unwissendes Volk,
die kaum wissen, ob die Bibel chinesisch, hebräisch oder griechisch
geschrieben und nach den Worten eines einmal als orthodox aner-
kannten Predigers alles beurteilen, es mag dahin gehören oder nicht.
Dieser Geist ist vorhanden, seit die Reformation hier die Ober-
hand bekam, blieb aber unbeachtet, bis der vor einigen Jahren ver-
storbene Prediger G. D, Krummacher an eben dieser Gemeinde an-
fing, ihn recht zu hegen und zu pflegen, bald war der Mystizismus
in der schönsten Blüte, aber Krummacher starb, ehe die Frucht
reif wurde ; dies ist erst geschehen, seit sein Bruderssohn, Dr. Fried-
rich Wilhelm Krummacher, die Lehre so scharf ausgebildet und
bestimmt hat, daß man nicht weiß, ob man das Ganze für Unsinn
oder für Blasphemie halten soll. Nun, die Frucht ist reif; es wird
sich keiner verstehen, sie zu pflücken, und so wird sie wohl mit der
Zeit elendiglich faul abfallen müssen.
Gottfried Daniel Krummacher, Bruder des durch seine Para-
beln bekannten Dr. F. A. Krummacher in Bremen, starb vor etwa
drei Jahren in Elberfeld nach einer sehr langen Amtstätigkeit. Als
vor mehr als zwanzig Jahren in Barmen ein Prediger die Prä-
destination nicht ganz so scharf wie er von der Kanzel lehrte,
fingen sie, unter dem Verwände, solch eine ungläubige Predigt sei
gar keine, an, in der Kirche zu rauchen, Lärm zu machen, und ihn
am Predigen zu verhindern, so daß die Obrigkeit sich genötigt sah,
einzuschreiten. Da schrieb Krummacher einen entsetzlich groben
Brief an den Barmer Magistrat, wie Gregor VII. an Heinrich IV. ge-
schrieben haben würde, und befahl, die Mucker ungeschoren zu
lassen, da sie nur ihr teures Evangelium verteidigten; auch predigte
er davon. Er wurde aber nur verlacht. Dies bezeichnet seinen Geist,
den er bis an sein Ende bewahrt hat. Übrigens war er von so merk-
würdigen Sitten, daß tausend Anekdoten von ihm zirkulieren, nach
denen man ihn entweder für einen kuriosen Sonderling oder einen
herzlich groben Menschen halten muß.
Dr. Friedrich Wilhelm Krummacher, ein Mann von ungefähr
vierzig Jahren, groß, stark, von imposanter Gestalt, doch nimmt er,
26 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
seitdem er in Elberfeld ist, einen nicht unbedeutenden körperlichen
Umfang an. Sein Haar trägt er auf ganz absonderliche Weise,
worin ihm alle seine Anhänger nachahmen. Wer weiß, vielleicht
wird es noch einmal Mode, die Haare ä la Krummacher zu tragen;
doch würde diese Mode alle frühern, sogar die Puderperücken, an
Abgeschmacktheit übertreffen. —
Als Student war er Mitarbeiter an der turnenden Demagogie,
schrieb Freiheitslieder, trug auf dem Wartburgfeste eine Fahne und
hielt eine Rede, die großen Eindruck gemacht haben soll. Dieser
flotten Jahre gedenkt er noch häufig auf der Kanzel mit den Worten:
als ich noch unter den Hethitern und Kananitern war. Später wurde
er in Barmen von der reformierten Gemeinde zum Pfarrer gewählt,
und seine eigentliche Reputation datiert sich erst von dieser Zeit.
Kaum war er da, so rief er schon durch seine Lehre der strengen
Prädestination eine Spaltung, nicht nur zwischen Lutheranern und
Reformierten, sondern auch untern letztern zwischen strengen und
gelinden Prädestinatianern hervor. Einmal kam ein alter steifer
Lutheraner ein wenig angetrunken aus einer Gesellschaft und mußte
über eine baufällige Brücke gehen. Das mochte ihm in seinem
Zustande doch etwas gefährlich dünken, und so begann er zu re-
flektieren: Gehst du hinüber und es geht gut, so ist's gut, geht es
aber nicht gut, dann fällst du in die Wupper und dann sagen die
Reformierten, es hätte so sein sollen; nun soll es aber nicht so sein.
Er kehrte also um, suchte eine seichte Stelle und an dieser watete
er, bis an den Leib im Wasser, hindurch mit dem seligen Gefühl,
die Reformierten eines Triumphes beraubt zu haben.
Als in Elberfeld eine Stelle vakant wurde, wählte man Krum-
macher dahin, und in Barmen schwand alsbald aller Zwist, wäh-
rend er in Elberfeld noch weit stärker erregt wurde. Schon Krum-
machers Antrittspredigt erzürnte die einen und begeisterte die
andern; der Zwist steigerte sich immer mehr, besonders da bald
jeder Prediger, wenn auch alle dieselben Ansichten hatten, eine
eigene Partei bekam, die sein einziges Auditorium ausmachte.
Später wurde man der Sache überdrüssig, und das ewige Schreien:
ich bin krummacherisch, ich bin kohlisch etc. fiel weg, nicht aus
Liebe zum Frieden, sondern weil die Parteien sich immer bestimm-
ter schieden.
Krummacher ist unleugbar ein Mann von ausgezeichnetem rhe-
torischen, auch poetischem Talent; seine Predigten sind nie lang-
weilig, ihr Zusammenhang ist sicher und natürlich; vorzüglich
stark ist er in dunkelschattigen Schilderungen — seine Schilderung
der Hölle ist stets neu und kühn, wie oft sie auch vorkommt —
und in Antithesen. Dagegen hält er sich wieder sehr häufig ander
Briefe aus dem Wuppertal. 27
biblischen Phraseologie und an den darin gegebenen Bildern, die,
wenn auch ihre Anwendung meistens geistreich ist, zuletzt doch
sich wiederholen müssen; dazwischen trifft man denn wieder ein
höchst prosaisches Bild aus dem gewöhnlichen Leben oder eine
Erzählung aus seinen eigenen Schicksalen und seinen unbedeutend-
sten Erfahrungen. Alles bringt er auf die Kanzel, es mag passen
oder nicht; eine Reise nach Württemberg und der Schweiz hat er
neulich in zwei Predigten seinen andächtigenZuhörern zum besten
gegeben; darin sprach er von seinen siegreichen vier Disputationen
mit Paulus in Heidelberg und Strauß in Tübingen, freilich ganz
anders, als Strauß sich in einem Brief darüber ausdrückt. — Seine
Deklamation ist stellenweise sehr gut und seine gewaltsame, hand-
greifliche Gestikulation oft ganz passend angebracht; zuweilen
aber über alle Begriffe nianiriert und abgeschmackt. Dann rennt
er in allen Richtungen auf der Kanzel umher, beugt sich nach allen
Seiten, schlägt auf den Rand, stampft wie ein Schlachtroß und
schreit dazu, daß die Fenster klirren und die Leute auf der Straße
zusammenfahren. Da beginnen denn die Zuhörer zu schluchzen;
zuerst weinen die jungen Mädchen, die alten Weiber fallen mit
einem herzzerschneidenden Sopran ein, die entnervten Branntwein-
pietisten, denen seine Worte durch Mark und Bein gehen würden,
wenn sie noch Mark in den Knochen hätten, vollenden die Disso-
nanz mit ihren Jammertönen, und dazwischen tönt seine gewaltige
Stimme durch das Heulen hin, mit der er der ganzen Versammlung
unzählige Verdammungsurteile oder diabolische Szenen vormalt.
Und nun gar seine Lehre! Man begreift nicht, wie ein Mensch
dergleichen, was mit der Vernunft und der Bibel im direktesten
Widerspruch steht, glauben kann. Demungeachtet hat Krum-
macher die Doktrin so scharf ausgeprägt und in allen Konsequenzen
verfolgt und festgehalten, daß man nichts verwerfen kann, sobald
die Grundlage zugegeben ist, nämlich die Unfähigkeit des Menschen,
aus eigner Kraft das Gute zu wollen, geschweige zu tun. Daraus
folgt die Notwendigkeit einer Befähigung von außen, und da der
Mensch das Gute nicht einmal wollen kann, so muß ihm Gott diese
Befähigung aufdringen. Aus dem freien Willen Gottes folgt nun
die willkürliche Verleihung derselben, die sich auch, wenigstens
scheinbar, auf die Schrift stützt. — Auf solcher Konsequenz-
macherei beruht die ganze Lehre ; die wenigen Erwählten werden
nolentes, volentes selig, die andern werden also verdammt, auf
^^ig* »»Auf ewig? — Ja, auf ewig!!** (Krummacher). Ferner
steht geschrieben: Niemand kommt zum Vater, denn durch mich;
die Heiden können aber nicht durch Christum zum Vater kommen,
weil sie Christum nicht kennen, also sind sie alle bloß da, um die
28 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Hölle zu füllen. — Unter den Christen sind viele berufen und we-
nige auserwählt; die vielen Berufenen sind aber nur zum Schein
berufen, und Gott hütete sich wohl, sie so stark zu berufen, daß sie
Folge leisteten, alles zur Ehre Gottes, auf daß sie keine Entschul-
digung haben. Dann steht auch geschrieben: Die Weisheit Gottes
ist den Klugen dieser Welt eine Torheit; dies ist für die Mystiker
ein Befehl, ihren Glauben recht unsinnig auszubilden, damit doch
ja dieser Spruch in Erfüllung gehe. Wie das alles mit der Lehre der
Apostel stimmt, die vom vernünftigen Gottesdienst und vernünf-
tiger Milch des Evangeliums sprechen, das ist ein Geheimnis, das
der Vernunft zu hoch ist.
Solche Lehren verderben alle Krummacherschen Predigten;
die einzigen, in denen sie nicht so stark hervortreten, sind die
Stellen, wo er von dem Gegensatz der irdischen Üppigkeit und der
Niedrigkeit Christi oder des Stolzes der weltlichen Fürsten und
Gottes spricht. Da bricht sehr häufig noch ein Strahl von seiner
früheren Demagogie durch, und redete er dann nicht so allgemein,
so würde die Regierung nicht dazu schweigen.
Der ästhetische Wert seiner Predigten wird nur von sehr we-
nigen in Elberfeld gewürdigt; denn wenn man seine drei Kollegen,
die fast alle ein gleich starkes Auditorium haben, gegen ihn hält,
so erscheint er als Eins, die andern als lauter Nullen dahinter, die
nur dazu dienen, seinen Wert zu erhöhen. Die älteste dieser Nullen
heißt Kohl, dessen Name zugleich seine Predigten bezeichnet; die
zweite Herrmann, kein Nachkomme dessen, dem sie jetzt ein Denk-
mal setzen, das die Geschichte und den Tacitus überleben soll; die
dritte Ball — nämlich Krummachers Spielball; alle drei höchst
orthodox und in den Predigten Nachtreter der schlechten Seiten
Krummachers. Lutherische Pfarrer in Elberfeld sind: Sander und
Hülsmann, die früher, als ersterer noch in Wichlinghausen stand
und in den bekannten Streit mit Hülsmann in Dahle, jetzt in Len-
nep, dem Bruder von Sanders jetzigem Kollegen, verwickelt war,
sich wütend in den Haaren lagen. In ihrer jetzigen Stellung be-
nehmen sich beide würdig gegen einander, die Pietisten aber suchen
die Zwietracht wieder hervorzulocken, indem sie Hülsmann immer
allerlei Vergehen gegen Sander vorzuwerfen haben. Der Dritte im
Bunde ist Döring, dessen Zerstreutheit sehr originell ist; er kann
keine drei Sätze im Zusammenhang sprechen, dagegen aus drei
Teilen einer Predigt vier machen, indem er einen wörtlich wieder-
holt, ohne das geringste zu merken. Probatum est. Von seinen
Gedichten wird später die Rede sein.
Unter den Barmer Predigern ist nicht viel Unterschied ; alle
streng orthodox, mit mehr oder weniger pietistischer Beimischung.
Briefe aus dem Wuppertal. 29
Nur Stier in Wichlinghausen ist einigermaßen bemerkenswert.
Jean Paul soll ihn als Knaben gekannt und ausgezeichnete An-
lagen in ihm entdeckt haben. Er war als Pfarrer in Frankleben bei
Halle angestellt, und gab in dieser Zeit mehrere poetische und pro-
saische Schriften heraus, eine Verbesserung des Lutherischen Ka-
techismus, ein Surrogat für denselben, und ein Hilfsbüchlein dazu
für stupide Lehrer, nicht weniger auch ein Werklein über die Ge-
sangbuchnot in der Provinz Sachsen, welches von der Evangelischen
Kirchenzeitung ausnehmend belobt wurde und wenigstens ver-
nünftigere Ansichten über Kirchenlieder enthielt, als man im ge-
segneten Wuppertal vernimmt, wenn auch noch mancher unbe-
gründete Machtspruch darin vorkommt. Seine Gedichte sind höchst
langweilig, auch hat er sich das Verdienst erworben, einige heid-
nische Gedichte Schillers für die Orthodoxen genießbar zu machen,
z. B. aus den Göttern Griechenlands:
Da ihr noch die Welt regiertet
An der Sünde trügerischem Band,
Lange Zeit manch Menschenalter führtet,
Leere Wesen aus dem Fabelland!
Ach, da euer Sünderdienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
3S Venus Amathusia!
Wirklich sehr geistreich, ja wahrhaft mystisch! Seit einem halben
Jahre ist Stier in Wichlinghausen an Sanders Stelle, hat die Barmer
Literatur indes noch nicht bereichert.
Ein Ort bei Eiber feld, Langenberg, gehört seinem ganzen
Wesen nach noch zum Wuppertal. Dieselbe Industrie wie dort,
derselbe pietistische Geist. Dort steht Emil Krummacher,
Bruder des Friedrich Wilhelm; er ist nicht so schroffer Prädestina-
tianer wie dieser, ahmt ihm aber sehr nach, wie diese Stelle seiner
letzten Weihnachtspredigt zeigt: ,,Mit den irdischen Leibern sitzen
wir hier zwar noch auf den hölzernen Bänken, aber unsere Geister
schwingen sich mit Millionen Gläubigen auf den heiligen Berg,
und nachdem sie dort das Jauchzen der himmlischen Heerscharen
vernommen, gehen sie hinab in das arme Bethlehem. Und was
erblicken sie da? Zuerst einen armen Stall, und in dem armen,
armen Stall eine arme Krippe, und in der armen Krippe ein
armes, armes Heu und Stroh, und auf dem armen, armen Heu
und Stroh liegt wie das arme Kind eines Bettlers in armen Win-
deln der reiche Herr der Welt."
Nun wäre wohl noch das Missionshaus zu besprechen, aber
die in diesen Blättern schon früher erwähnten Harfenklänge eines
30 Aus der Lehrzeit in Bremen, 1838— 1841.
Exmissionärs geben genügend Zeugnis davon, was für ein Geist
dort herrscht. Der Inspektor desselben, Dr. Richter, ist übrigens
ein gelehrter Mann, bedeutender Orientalist und Naturforscher,
gibt auch eine ,, erklärte Hausbibel" heraus.
Das ist das Treiben der Pietisten im Wuppertal; man begreift
nicht, daß zu unsrer Zeit dergleichen noch aufkommen kann ; aber
es scheint doch, als könnte auch dieser Fels des alten Obskurantis-
mus dem rauschenden Strome der Zeit nicht mehr widerstehen;
der Sand wird weggespült, der Fels stürzt und tut einen großen Fall.
n.
In einer Gegend, die so von Pietisterei erfüllt ist, versteht es
sich von selbst, daß diese, nach allen Seiten sich ausdehnend, jede
einzelne Richtung des Lebens durchdringt und verdirbt. Ihre Haupt-
gewalt übt sie aus auf das Unterrichtswesen, vor allem auf die
Volksschulen. Der eine Teil von diesen liegt ganz in ihren Händen;
es sind dies die kirchlichen Schulen, deren jede Gemeinde eine hat.
Freier schon, doch auch noch immer unter Aufsicht des kirchlichen
Scholarchats, stehen die übrigen Volksschulen da, auf die die Zivil-
verwaltung einen bedeutenderen Einfluß hat. Und da liegen die
hindernden Einwirkungen des Mystizismus auf der Hand ; denn
während die kirchlichen Schulen noch immer, wie weiland unter
dem hochseligen Kurfürsten Karl Theodor, außer Lesen und Schrei-
ben und Rechnen nur den Katechismus ihren Schülern einprägen,
werden auf den andern doch die Anfangsgründe einiger Wissen-
schaften, auch etwas Französisch gelehrt, und viele der Schüler,
dadurch angeregt, suchen sich, auch wenn sie die Schule schon
verlassen, weiter fortzubilden. Diese Schulen sind in einem starken
Fortschreiten begriffen und haben seit dem Eintritte des preußischen
Gouvernements die kirchlichen, hinter denen sie damals sehr zurück-
standen, weit überholt. Die kirchlichen Schulen werden aber viel
stärker besucht, da sie weit weniger Kosten machen und viele
Eltern ihre Kinder teils aus Anhänglichkeit, teils weil sie in dem
Fortschreiten der Kinder ein Überhandnehmen des weltlichen
Sinnes sehen, immer noch dahin schicken.
Von höheren Lehranstalten ernährt das Wuppertal drei: die
Stadtschule in Barmen, die Realschule in Elberfeld und das G3rm-
nasium daselbst.
Die Barmer Stadtschule, sehr schwach dotiert und deshalb
sehr schlecht mit Lehrern besetzt, tut indes alles, was in ihren
Kräften steht. Sie liegt ganz in den Händen eines beschränkten,
knickerigen Kuratoriums, das meist auch nur Pietisten zu Lehrern
wählt. Der Direktor, der dieser Richtung auch nicht fremd ist,
Briefe aus dem Wuppertal. qi
versieht sein Amt indes nach festen Prinzipien und weiß sehr ge-
schickt jedem Lehrer seine Stelle anzuweisen. Auf ihn folgt Herr
Johann Jakob Ewich, der nach einem guten Lehr buche gut unter-
richten kann und im Geschichtsunterricht eifriger Anhänger des
Nösseltschen Anekdotensystems ist. Er ist Verfasser vieler päda-
gogischer Schriften, deren größte, d.h. dem Umfange nach, den
Titel führt: Human, Wesel bei Bagel, zwei Bände, 40 Bogen, Preis
I Rtlr. Alle sind voll hoher Ideen, frommer Wünsche und unaus-
führbarer Vorschläge. Man sagt, seine pädagogische Praxis solle
hinter der schönen Theorie weit zurückstehen.
Dr. Philipp Schifflein, zweiter Oberlehrer, ist der tüchtigste
Lehrer der Schule. Vielleicht ist keiner in Deutschland so tief in
die grammatische Struktur des modernen Französischen einge-
drungen wie er. Er ging nicht vom Altromanischen aus, sondern
faßte die klassische Sprache des vorigen Jahrhunderts, besonders
Voltaires, auf, und ging von dieser zum Stil der neuesten Autoren
über. Die Resultate dieser Forschungen liegen in seiner ,, Anleitung
zur Erlernung der französischen Sprache, in drei Kursen" vor, von
denen der erste und zweite schon in mehreren Auflagen erschienen
und der dritte jetzt zu Ostern herauskömmt. Dies ist ohne Zweifel
neben der Knebeischen die beste französische Sprachlehre, die wir
besitzen; sie fand gleich beim Auftreten des ersten Kursus unge-
messenen Beifall und erfreut sich schon jetzt einer fast beispiel-
losen Verbreitung durch ganz Deutschland, bis nach Ungarn und
den russischen Ostsee provinzen hin.
Die übrigen Lehrer sind junge Seminaristen, von denen sich
einige tüchtig herangebildet haben, andere aber mit einem Chaos
von allerlei Wissenschaften schwanger gehen. Der beste von diesen
jungen Lehrern war Herr Köscer, Freiligraths Freund, von dem
ein Abriß der Poetik in einem Programme steht, worin er die di-
daktische Poesie ganz ausschloß und die ihr gewöhnlich zugeteilten
Gattungen der Epik und Lyrik unterordnete ; der Aufsatz zeugte
von Einsicht und Klarheit. Er wurde nach Düsseldorf berufen, und
da die Herren vom Kuratorium ihn als Gegner allerlei Pietisterei
kannten, ließen sie ihn sehr gerne ziehen. Den Gegensatz zu ihm
bildet ein anderer Lehrer, der auf die Frage eines Quartaners, wer
Goethe gewesen sei, antwortete: „ein gottloser Mann**.
Die Elberfelder Realschule ist sehr gut fundiert und kann des-
halb tüchtigere Lehrer wählen und einen vollständigeren Kursus
einrichten. Dagegen herrscht auf ihr jene fürchterliche Heft-
schreiberei, die einen Schüler in einem halben Jahre stumpf machen
kann. Nebenbei ist von Direktion wenig zu spüren; der Direktor
ist die Hälfte des Jahres verreist und betätigt seine Anwesenheit
32 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
nur durch übertriebene Strenge. Mit der Realschule ist eine Gewerbe-
schule verbunden, auf der die Schüler ihr halbes Leben verzeich-
nen. Von den Lehrern ist Herr Dr. Kruse bemerkenswert, der sechs
Wochen in England war und ein Werklein über die englische Aus-
sprache schrieb, welches sich durch seine ausgezeichnete Unbrauch-
barkeit bemerklich macht ; die Schüler stehen in einem sehr schlech-
ten Rufe und sind die Veranlassung zu Diesterwegs Klagen über
die Jugend Eiber felds.
Das Gymnasium in Elberfeld ist in sehr bedrängten Verhält-
nissen, aber anerkannt eines der besten im preußischen Staat. Es
ist Eigentum der reformierten Gemeinde, hat von ihrem Mystizismus
wenig zu leiden, weil die Prediger sich nicht darum bekümmern
und die Scholarchen nichts von Gymnasialsachen verstehen; desto
mehr aber von ihrer Knauserei. Diese Herren haben nicht die ge-
ringste Idee von der Vorzüglichkeit der preußischen Gymnasial-
bildung, suchen der Realschule alles, Geld wie Schüler, zuzuwenden
und werfen doch dem Gymnasium vor, daß es durch Schulgeld
seine Auslagen nicht einmal decken könne. Es wird jetzt unter-
handelt, daß die Regierung, der es so sehr darum zu tun ist, das
Gymnasium übernimmt; käme es nicht dazu, so 'müßte es in we-
nigen Jahren aus Mangel an Mitteln suspendiert werden. Die
Lehrerwahlen liegen jetzt auch in den Händen der Scholarchen,
Leute, die zwar einen Posten sehr korrekt ins Hauptbuch über-
tragen können, aber von Griechisch, Latein oder Mathematik keine
Ahnung haben. Das Hauptprinzip ihrer Wahl ist: lieber einen re-
formierten Stümper, als einen tüchtigen Lutheraner oder gar
Katholiken zu wählen. Da aber unter den preußischen Philologen
weit mehr Lutheraner als Reformierte sind, haben sie diesem Prin-
zips fast nie recht folgen können.
Dr. Hantschke, königlicher Professor und provisorischer Di-
rektor, ist aus Luckau in der Lausitz, schreibt ein ciceronianisches
Latein in Versen und Prosa, ist auch Verfasser mehrerer Predigten,
pädagogischer Schriften, und eines hebräischen Übungsbuches. Er
wäre längst fester Direktor geworden, wenn er nicht lutherisch
und das Scholarchat weniger geizig wäre.
Dr. Eichoff, zweiter Oberlehrer, schrieb mit seinem jüngeren
Kollegen, Dr. Beltz, eine Lateinische Grammatik, die aber in der
Allg. Lit.-Ztg. von F. Hase nicht sehr günstig rezensiert wurde.
Seine Hauptforce ist das Griechische.
Dr. Clausen, dritter Oberlehrer, ohne Zweifel der tüchtigste
Mann in der ganzen Schule, in allen Fächern bewandert, in der
Geschichte und Literatur ausgezeichnet. Sein Vortrag ist von sel-
tener Anmut; er ist der einzige, der den Sinn der Poesie in den
Briefe aus dem Wuppertal. oo
Schülern zu wecken weiß, den Sinn, der sonst elendiglich verküm-
mern müßte unter den Philistern des Wuppertales. Als Schrift-
steller ist er meines Wissens nur in einer Programmdissertation:
,,Pindaros der Lyriker" aufgetreten, die ihm einen großen Ruf unter
den Gymnasiallehrern in und außerhalb Preußen gemacht haben
soll. In den Buchhandel ist sie natürlich nicht gekommen.
Diese drei Schulen sind erst seit 1820 eingerichtet worden;
früher bestand nur in Elberfeld und Barmen je eine Rektoratschule
und eine Menge von Privatinstituten, die keine gediegene Bildung
geben konnten. Ihre Nachwirkungen sind noch an den älteren Kauf-
leuten Barmens zu spüren. Von Bildung — keine Idee ; wer Whist
und Billard spielen, etwas politisieren, ein gewandtes Kom-
pliment machen kann, das ist in Barmen und Elberfeld ein gebildeter
Mann. Es ist ein schreckliches Leben, was diese Menschen führen,
und sie sind doch so vergnügt dabei ; den Tag über versenken sie
sich in die Zahlen ihrer Konti und das mit einer Wut, mit einem
Interesse, daß man es kaum glauben möchte; abends zur bestimm-
ten Stunde zieht alles in die Gesellschaften, wo sie Karten spielen,
politisieren und rauchen, um mit dem Schlage Neun nach Hause
zurückzukehren. So geht es alle Tage, ohne Veränderung, und
wehe dem, der ihnen dazwischen kömmt; er kann der ungnädig-
sten Ungnade aller ersten Häuser gewiß sein. — Die jungen Leute
werden brav von ihren Vätern in die Schule genommen; sie lassen
sich auch sehr gut an, ebenso zu werden. Ihre Unterhaltungs-
gegenstände sind ziemlich einförmig; die Barmer sprechen mehr
von Pferden, die Elberfelder von Hunden; wenn's hoch kömmt,
werden auch Schönheiten rezensiert, und es wird von Geschäfts-
sachen geplappert, das ist alles. Alle halbe Jahrhundert sprechen
sie auch von Literatur, unter welchen Namen sie Paul de Kock,
Marryat, Tromlitz, Nestroy und Konsorten verstehen. In der Po-
litik sind sie als sehr gute Preußen, weil sie unter preußischer Herr-
schaft stehen, a priori allem Liberalismus gar sehr zuwider, alles,
so lange es Sr. Majestät gefällt, ihnen den Code Napoleon zu lassen;
denn mit ihm würde aller Patriotismus schwinden. Das junge
Deutschland kennt niemand in seiner literarischen Bedeutung;
es gilt für eine geheime Verbindung, etwa wie die Demagogie,
unter dem Vorsitz der Herren Heine, Gutzkow und Mundt. Einige
der edlen Jünglinge haben wohl etwas von Heine gelesen, vielleicht
die Rsisebilder mit Übergehung der Gedichte darin, oder den De-
nunzianten, aber von den übrigen herrschen nur dunkle Begriffe
aus dem Munde der Pfarrer oder Beamten. Freiligrath ist den
meisten persönlich bekannt und steht im Rufe eines guten Kame-
raden. Als er nach Barmen kam, wurde er von diesem grünen Adel
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 3
34 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
(so nennt er das junge Kaufmannsvolk) mit Besuchen überhäuft;
bald aber hatte er ihren Geist erkannt und zog sich zurück; aber
sie verfolgten ihn, lobten seine Gedichte und seinen Wein und streb-
ten mit aller Gewalt danach, mit einem Brüderschaft zu trinken,
der etwas hatte drucken lassen; denn diesen Menschen ist ein
Dichter nichts, aber ein Schriftsteller alles. Nach und nach brach
Freiligrath allen Umgang mit diesen Menschen ab und verkehrt
jetzt nur mit wenigen, nachdem Köster Barmen verlassen hat.
Seine Prinzipale haben sich in ihrer prekären Stellung immer sehr
anständig und freundlich gegen ihn benommen ; merkwürdigerweise
ist er ein höchst exakter und fleißiger Kontorarbeiter. Über seine
dichterischen Leistungen zu sprechen, wäre sehr überflüssig, nach-
dem Dingelstedt, in dem Jahrbuche der Literatur, und Carriere in
den Berliner Jahrbüchern ihn so genau beurteilt haben. Indes
scheinen mir beide nicht genug beachtet zu haben, wie er bei allem
Schweifen in die Ferne doch so sehr an der Heimat hängt. Darauf
deuten die häufigen Anspielungen auf deutsche Volksmärchen,
z. B. S. 54, die Unkenkönigin, S. 87, Snewitchen u. a., denen S. 157
ein ganzes Gedicht (Im Walde) gewidmet ist, hin, die Nachahmung
Uhlands (der Edelfalk, S. 82, die Schreinergesellen, S. 85, auch das
erste der zwei Feldherrngräber erinnert doch nur zu seinem Vorteil
an ihn), dann die Auswanderer und vor allem sein unübertreff-
licher Prinz Eugen. Auf diese wenigen Momente muß man desto
mehr achten, je mehr Freiligrath in die entgegengesetzte Richtung
sich verliert. Einen tiefen Blick in sein Gemüt eröffnet auch der
ausgewanderte Dichter, besonders die Fragmente, die im Morgen-
blatt abgedruckt sind ; darin fühlt er schon, wie er in der Ferne nicht
heimisch werden kann, wenn er nicht in echt deutscher Dichtkunst
wurzelt.
In der eigentlichen Wuppertaler Literatur nimmt die Journa-
listik die wichtigste Stelle ein. Oben an steht die Elberfelder Zeitung,
redigiert von Dr. Martin Runkel, die sich unter seiner einsichts-
vollen Leitung einen bedeutenden und wohlverdienten Ruf er-
worben hat. Er übernahm die Redaktion, als zwei Zeitungen, die
Allgemeine und Provinzialzeitung, zu einer verschmolzen wurden;
unter nicht sehr günstigen Auspizien entstand das Blatt; die
Barmer Zeitung trat konkurrierend auf, aber Runkel hat es nach
und nach durch Streben nach eigener Korrespondenz und durch
seine leitenden Artikel zu einer der ersten Zeitungen des preußischen
Staates gemacht. Sie fand zwar in Elberfeld, wo die leitenden Ar-
tikel nur von wenigen gelesen werden, wenig, auswärts aber desto
mehr Anerkennung, wozu der Verfall der Preußischen Staatszei-
tung (?) auch das Seinige beigetragen haben mag. Die belletristi-
Briefe aus dem Wuppertal. ^c
sehe Beilage, Intelligenzblatt, erhebt sich nicht über das Gewöhn-
liche. Die Barmer Zeitung, deren Verleger, Redaktoren und Zen-
soren häufig wechselten, steht jetzt unter der Leitung von H. Pütt-
mann, der zuweilen in der Abendzeitung rezensierend auftritt. Er
möchte die Zeitung wohl gern heben, aber durch des Verlegers
wohlbegründete Kargheit sind ihm die Hände gebunden. Das
Feuilleton mit einigen seiner Gedichte, Rezensionen oder Auszügen
aus größeren Schriften angefüllt, tuts auch nicht. Der sie begleitende
,, Wuppertaler Lesekreis" nährt sich fast nur von Lewaids Europa.
Außer diesen erscheint noch der Elberfelder tägl. Anzeiger nebst
Fremdenblatt, ein Kind der Dorfzeitung, unübertrefflich in herz-
brechenden Gedichten und schlechten Witzen, und das Barmer
Wochenblatt, eine alte Nachtmütze, dem die pietistischen Esels-
ohren alle Augenblick unter der belletristischen Löwenhaut hervor-
schauen.
Von der übrigen Literatur ist die Prosa gar nichts wert ; nehme
ich die theologischen oder vielmehr die pietistischen Schriften, einige
Werklein über Barmens und Elberfelds Geschichte, die sehr ober-
flächlich abgefaßt sind, weg, so bleibt nichts übrig. Aber die Poesie
findet reichliche Pflege in dem ,, gesegneten Tale" und eine ziem-
liche Anzahl von Poeten haben dort ihren Wohnsitz aufgeschlagen.
Wilhelm Lange wiesche, Buchhändler zu Barmen und Iserlohn,
schreibt unter dem Namen W. Jemand, sein Hauptwerk ist eine
didaktische Tragödie, der ewige Jude, die freilich nicht an Mosens
Bearbeitung desselben Gegenstandes reicht. Er ist als Verleger der
bedeutendste seiner Wuppertaler Kollegen, was übrigens sehr
leicht ist, da ihrer zwei, Hagel in Elberfeld, Steinhaus in Barmen,
nur echten Pietismus verlegen. Freiligrath wohnt in seinem Hause.
Karl August Döring, Prediger in Elberfeld, ist Verfasser einer
Menge von prosaischen und poetischen Schriften; von ihm gilt
Platens Wort: Sie sind ein wasserreicher Strom, den niemand bis
zu Ende schwimmt.
In seinen Gedichten unterscheidet er zwischen geistlichen
Liedern, Oden und lyrischen Gedichten. Zuweilen hat er schon in
der Mitte des Gedichts den Anfang vergessen und gerät dann in
ganz eigentümliche Regionen; von den Südseeinseln und ihren
Missionären gerät er in die Hölle, und von den Seufzern der zer-
knirschten Seele nach dem Eise des Nordpols.
Lieth, Vorsteher einer Mädchenschule in Elberfeld, Verfasser
von Kindergedichten, die meistens in einer schon veralteten Ma-
nier geschrieben sind und keinen Vergleich mit denen Rückerts,
Gulls und Heys aushalten können; doch finden sich auch einzelne
hübsche Sachen darunter.
3*
36 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Friedrich Ludwig Wülfling, unstreitig der größte Dichter des
Wuppertals, ein Barmer von Geburt, ist ein Mann, in dem die Ge-
nialität garnicht zu verkennen ist. Sieht man einen langen Men-
schen, von etwa fünfundvierzig Jahren, in einen langen, rotbraunen
Rock verhüllt, der halb so alt ist, wie sein Herr, auf den Schultern
ein unbeschreibliches Antlitz, auf der Nase eine vergoldete Brille,
in deren Gläsern sich die strahlenden Blicke der Augen brechen,
das Haupt gekrönt mit einer grünen Mütze, im Munde eine Blume,
in der Hand einen eben vom Rock gedrehten Knopf — das ist der
Horaz Barmens. Tag für Tag ergeht er sich auf dem Hardtberge
und wartet, ob ihm nicht ein neuer Reim oder eine neue Geliebte
aufstoße. Bis in sein dreißigstes Jahr huldigte er Pallas Athenen
als industriöser Mann, dann geriet er Aphroditen in die Hände, die
ihm neun Dulcineen nach einander zuführte ; diese sind seine Musen.
Man spreche nicht von Goethe, der allem eine poetische Seite ab-
gewann, nicht von Petrarca, der jeden Blick, jedes Wort der Ge-
liebten in ein Sonett brachte — an Wülfling reichen sie lange nicht.
Wer zählt die Sandkörner, die der Geliebten Fuß zerknittert? Das
tut der große Wülfling. Wer besingt Minchens (die Clio der neun
Musen) in einer sumpfigen Wiese beschmutzte Strümpfe .'' Nur
Wülfling. — Seine Epigramme sind Meisterwerke der originellsten,
volkstümlichsten Grobheit. Als seine erste Frau starb, schrieb er
eine Todesanzeige, die alle Dienstmädchen zu Tränen rührte und
eine noch weit schönere Elegie ,, Wilhelmine, schönster aller Na-
men!" Sechs Wochen später verlobte er sich schon wieder und jetzt
hat er die dritte Frau. Der geistreiche Mann hat alle Tage andere
Pläne. Als er noch so recht in seiner poetischen Blütezeit stand,
wollte er bald Knopf macher, bald Landmann, bald Papierhändler
werden; zuletzt ist er in den Hafen der Lichtzieherei geraten, um
sein Licht auf irgend eine Weise leuchten zu lassen. Seine Schriften
sind wie der Sand am Meer.
Montanus Eremita, ein Solinger Anonymus, gehört als nach-
barlicher Freund auch hieher. Er ist der poetischste Historiograph
des Bergischen Landes ; seine Verse sind weniger unsinnig als lang-
weilig und prosaisch.
Ebenso Johann Pol, Pastor zu Hanfeld bei Iserlohn, der ein
Bändlein Gedichte schrieb.
Könige kommen von Gott und Millionäre desgleichen,
Aber der Goethe -Poet kommt von den Menschen allein.
Dies zeigt den Geist des ganzen Bandes. Aber er hat auch Witz,
denn er sagt: Die Dichter sind Lichter, die Philosophen sind der
Wahrheit Zofen. Und welche Phantasie liegt in den beiden An-
fangszeilen seiner Ballade: Attila an der Marne:
Briefe aus dem Wuppertal. o>i
Gleich Lawinen ungeheuer, schneidend hart wie Schwert und
[Kiesel,
Wälzt durch Schutt und Städteflammen sich nach Gallien Godegisel.
Auch hat er Psalme gedichtet, oder vielmehr aus Davidschen Frag-
menten komponiert. Sein Hauptwerk ist die Besingung des Streites
zwischen Hülsmann und Sander und zwar auf eine höchst originelle
Weise, in Epigrammen. Da dreht sich alles um den Gedanken, die
Rationalisten wagten —
Zu schmähen und zu lästern den Herrn Herrn.
Weder Voß noch Schlegel haben jemals einen so vollkommenen
Spondeus am Schluß eines Hexameters gehabt. Er versteht die Ein-
teilung seiner Gedichte noch besser als Döring, er teilt sie in „geist-
liche Gesänge und Lieder" und ,, Vermischte Gedichte".
F. W. Krug, Kandidat der Theologie, Verfasser von poetischen
Erstlingen oder prosaischen Reliquien, Übersetzer mehrerer hol-
ländischer und französischer Predigten, schrieb auch eine rührende
Novelle im Geschmack Stillings, worin er unter andern einen neuen
Beweis für die Wahrheit der mosaischen Schöpfungsgeschichte auf-
stellt. Das Buch ist ergötzlich.
Zum Schlüsse muß ich noch eines geistvollen jungen Mannes
erwähnen, der die Idee hat, da Freiligrath Handlungsdiener und
Dichter zugleich sei, müsse er es auch können. Hoffentlich wird
die deutsche Literatur bald durch einige seiner Novellen vermehrt
werden, die von den besten nicht übertroffen werden ; die einzigen
Fehler, die man ihnen vorv.erfen kann, sind Abgedroschenheit der
Handlung, übereilte Anlage und nachlässiger Stil. Sehr gern würde
ich eine im Auszug mitteilen, wenn es die Dezenz nicht verböte;
doch wird sich vielleicht bald ein Buchhändler des großen D. (seinen
ganzen Namen wage ich nicht zu nennen, weil ihn sonst seine ver-
letzte Bescheidenheit zu einem Injurienprozeß gegen mich verleiten
würde) erbarmen und seine Novellen verlegen. Auch will er ein
sehr genauer Freund Freiligraths sein.
Dies sind so ziemlich die literarischen Erscheinungen des welt-
berühmten Tals wozu vielleicht noch einige weinentflammte
Kraftgenies zu zählen wären, die sich dann und wann reimend ver-
suchen, und die ich Herrn Dr. Duller zur Porträtierung für einen
neuen Roman sehr empfehlen kann. Die ganze Gegend liegt von
ihnen mehr von Pietismus und Philisterei überschwemmt, und was
daraus hervorragt, sind keine schönen blumenreichen Eilande, nur
dürre nackte Klippen oder lange Sandbänke, und Freiligrath irrt
dazwischen umher wie ein verschlagener Schiffer.
38 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
III.
Es sind seit einiger Zeit Klagen laut geworden, bittere Klagen
über die trostlose Kraft dei Skepsis ; hier und da schaute man trübe
auf das niedergerissene Gebäude des alten Glaubens, bang harrend,
daß die Wolken zerreißen möchten, die den Himmel der Zukunft
bedecken. Mit einem ähnlichen wehmütigen Gefühle lege ich die
,, Lieder eines heimgegangenen Freundes** aus der Hand; es sind,
Lieder eines Toten, eines echten Wuppertaler Christen, an die
glückliche Zeit erinnernd, wo man selbst noch kindlich glauben
konnte an eine Lehre, deren Widersprüche man sich jetzt an den
Fingern abzählen kann, wo man von heiligem Eifer glühte gegen
religiöse Freisinnigkeit — einem Eifer, über den man jetzt lächelt
oder errötet. — Der Druckort schon zeigt, daß man diese Verse
nicht nach dem gewöhnlichen Maßstabe beurteilen kann, daß hier
keine blendenden Gedanken, kein fesselloser Schwung eines freien
Geistes zu finden sind ; ja, es wäre unbillig, etwas anderes zu ver-
langen, als Produkte des Pietismus. Der einzig richtige Maßstab,
den man an diese Gedichte legen darf, ist durch die frühere Wupper-
taler Literatur gegeben, an der ich meinen Unmut schon hinläng-
lich ausgelassen habe, um nun auch einmal von andrem Gesichts-
punkte eines ihrer Erzeugnisse beurteilen zu dürfen. Und da ist
unverkennbar, daß in diesem Buche ein Fortschritt sich zeigt. Die
Gedichte, — die von einem, wenn auch nicht ungebildeten Laien
herzurühren scheinen — stehen den Gedanken nach zum wenigsten
gleich mit denen der Prediger Döring und Pol, ja zuweilen ist ein
leiser Hauch von Romantik, soviel sich davon an die calvinistische
Lehre anhängen läßt, nicht zu verkennen. Was die Form betrifft,
sind sie aber unstreitig das Beste, was das Wuppertal bis jetzt her-
vorgebracht hat ; neue oderseltene Reime sind oft nicht ohne Geschick-
lichkeit angebracht; ja, bis zum Distichon und zur freien Ode hat
sich der Verfasser erhoben, welche Formen ihm aber zu hoch waren.
Krummachers Einfluß ist unverkennbar ; seine Redensarten und
Bilder sind überall benutzt; wenn der Dichter aber singt:
Pilger :
Arme Schaf lein von Christi Herde,
Ich seh' ja nichts von seiner Zierde
An dir, o Schäflein still.
Schaf lein:
Gedrückt ein Weilchen, dann hoch erhöht
Das Schäflein im Paradiese steht.
Pilger, schweige, und werd' ein Lämmlein,
Die still Gebeugten geh'n zum engen Tor ein.
Drum schweig' und bete und werd* ein Lämmlein,
Briefe an Friedrich Graeber.
39
so ist das keine Nachahmung Krummachers, sondern schon er
selbst! Dagegen finden sich einzelne Stellen dieser Gedichte, die
durch die Wahrheit der Empfindung wirklich rührend sind — ach,
man kann nur nie vergessen, daß diese Empfindung größtenteils
krankhaft ist! Und doch zeigt es sich auch hier, wie stärkend und
tröstend eine wirklich zur Herzenssache gewordene Religion, selbst
in ihren traurigsten Extremen, überall wirkt.
Lieber Leser, verzeihe mir, daß ich dir ein Buch vorführte,
das unendlich wenig Interesse für dich haben kann ; du bist nicht
im Wuppertal geboren, du standest vielleicht nie auf den Bergen
und sahst nie die beiden Städte zu deinen Füßen; aber du hast
auch eine Heimat und kehrst vielleicht mit derselben Liebe wie ich
zu ihren unbedeutenden Erscheinungen zurück, wenn du deinen
Zorn gegen ihre Verkehrtheiten ausgelassen hast.
Briefe an die Brüder Graeber
von April bis Dezember 1839.
An Friedrich Graeber.
den 8. (nisi erro) April 1839.
Teuerster Fritz.
Dieser Brief — ja Du denkst wohl, Du würdest Dich bedeu-
tend daran amüsieren, nein, dieses weniger. Du, der Du mich nicht
nur durch langes Wartenlassen, sondern auch durch die Entwei-
hung der heiligsten Geheimnisse, die je dem menschlichen Genius
verborgen blieben, die Visionen, betrübt, geärgert, erzürnt hast.
Du mußt eine absonderliche Strafe haben, Du sollst gelangweilt
werden, und womit? mit einem Aufsatz, und worüber? über den
vielbesagten Hammel: Literatur der Gegenwart,
Was hatten wir vor 1830? Theodor Hell und Konsorten,
Willibald Alexis, einen alten Goethe und einen alten Tieck, c'est
tout. Da tritt die Julirevolution, seit dem Befreiungskriege die
schönste Äußerung des Volkswillens, wie ein Donnerschlag herein.
Goethe stirbt, Tieck verkommt immer mehr, Hell schläft ein, Wolf-
gang Menzel fährt fort, Schusterkritiken zu schreiben, aber ein
neuer Geist steht auf in der Literatur ; als Dichter vor allen Grün
und Lenau ; Rückert bekommt einen neuen Schwung, Immermann
bekommt Bedeutung, Platen desgleichen, aber das ist nicht genug:
Heine und Börne waren schon vor der Julirevolution abgeschlossene
Charaktere, aber jetzt erst bekommen sie Bedeutung, und auf ihnen
fußt ein neues Geschlecht, das die Literaturen und das Leben aller
40 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Völker sich zu Nutze macht, voran Gutzkow. Gutzkow war 1830
noch Student, arbeitete zuerst für Menzel am Literaturblatt, aber
nicht lange ; ihre Ansichten stimmten nicht, Menzel wurde flegel-
haft, Gutzkow schrieb die berüchtigte Wally (Zweiflerin) und
Menzel verschrie das Buch mit gräßlichem Spektakel, indem er
dem Gutzkow die von der Wally ausgesprochenen Ansichten als
seine eignen vorwarf, und bewirkte wahrhaftig, daß das unschul-
dige Buch verboten wurde. An Gutzkow schloß sich der freilich
unbedeutende Mundt an, der Geldverdienens halber allerlei Unter-
nehmungen anfing, worin er cum suibus noch Aufsätze von Andern
gab. Beurmann kam bald hinzu, ein scharfsinniger Kerl und feiner
Beobachter, ferner Ludolf Wienbarg, F. Gustav Kühne, und Wien-
barg erfand für fünf dieser Schriftsteller (nisi erro, anno 1835) den
Namen: junges Deutschland. Gegenüber stand der Menzel, der
besser zu Hause geblieben wäre, sintemal ihn Gutzkow ebendes-
wegen zu Tode geschlagen hat, dann die Evangelische Kirchen -
Zeitung, die in jeder Allegorie eine Abgötterei und in jeder Äuße-
rung der Sinnlichkeit eine der Erbsünde findet, (heißt der Hengsten-
berg vielleicht so lucus a non lucendo, d. h. ist er ein Wallach,
Kastrat, Eunuch.''). Diese Edlen klagten das junge Deutschland
an, sie wollten die Emanzipation der Frauen und die Restauration
des Fleisches, nebenbei wollten sie ein paar Königreiche stürzen
und Papst und Kaiser in einer Person werden. Von allen diesen
Angriffen war bloß der von Emanzipation der Frauen (im Goethe-
schen Sinne) gegründet, und ließ sich auch nur auf Gutzkow an-
wenden, der ihn später desavouiert (als übermütige Jugendübereilung)
hat. Durch das Zusammenhalten bildeten sich ihre Zwecke schärfer
aus; es waren die ,, Ideen der Zeit", die in ihnen zum Bewußtsein
kamen. Diese Ideen des Jahrhunderts (so sprachen Kühne und
Mundt) sind nicht etwa demagogischer oder antichristlicher Art,
wie sie verschrien werden, sondern sie basieren auf dem Natur-
rechte eines jeden Menschen und erstrecken sich auf alles, was in
den jetzigen Verhältnissen diesem, widerspricht. So gehört zu diesen
Ideen: vor allen die Teilnahme des Volks an der Staatsverwaltung,
also das Konstitutionelle, ferner die Judenemanzipation, Abschaf-
fung alles Religionszwanges, aller Adelsaristokratie etc. Wer kann
was dagegen haben ? Die Evangelische Kirchenzeitung und Menzel
haben es auf dem Gewissen, daß sie die Ehre des jungen Deutsch-
lands so verschrien haben. Schon 1836, 37 war unter diesen, durch
Einheit der Ansicht, nicht aber durch besondere Assoziation ver-
bundenen Schriftstellern, die Idee klar und bestimmt; durch ihre
tüchtigen Schriften verschafften sie sich Anerkennung bei den an-
deren meist jämmerlichen Literaten, und zogen alle jungen Talente
Briefe an Friedrich Graeber.
41
an sich. Ihre Dichter sind Anastasius Grün und Karl Beck; ihre
Kritiker vor allen Gutzkow, Kühne, Laube, und unter den jünge-
ren Ludwig Wihl, Levin Schücking etc.; dazu versuchen sie sich
im Roman, Drama etc. In der neuesten Zeit ist zwar Streit aus-
gebrochen zwischen Gutzkow und Mundt nebst Kühne und Laube ;
sie haben beide Anhänger, Gutzkow die jüngeren, Wihl, Schücking
und andere, Mundt von den jüngeren nur ein paar; Beurmann
hält sich ziemlich neutral, so der junge, sehr talentvolle Dingel-
stedt, neigen aber sehr zu Gutzkow hin. Mundt hat durch den Streit
allen seinen Kredit verloren; der des Kühne ist bedeutend gesun-
ken, weil er so gemein ist, alles, was Gutzkow schreibt, herunter-
zumachen ; Gutzkow dagegen nimmt sich sehr nobel und hält sich
meist nur über die große Liebe zwischen Mundt und Kühne, die
sich gegenseitig loben, auf. Daß Gutzkow ein ganz ausgezeichnet
ehrenwerter Kerl ist, beweist sein letzter Aufsatz im Jahrbuch der
Literatur.
Außer dem jungen Deutschland haben wir nur wenig Aktives.
Die schwäbische Schule war schon seit 1820 nur passiv; die Öster-
reicher — Zedlitz und Grillparzer interessieren wenig, weil sie so
fremdartig dichten (Zedlitz spanisch, Grillparzer antik), unter den
Lyrikern ist Lenau schon hinneigend zum jungen Deutschland trotz
seiner kirchlichen Stoffe, Frankl ein gemütlicher Uhland en mi-
niature, K. E. Ebert ist ganz verböhmt; die Sachsen — Hell,
Heller, Herlosssohn, Morvell, Wachsmann, Tromlitz — ach du mein
Gott da fehlt der Witz; die Mannheimer [?] und Berliner (wozu
Du nicht gehörst) sind niederträchtig, die Rheinländer — Lewald
ist bei weitem der beste der Unterhaltungsschriftsteller; seine
Europa läßt sich lesen, aber die Rezensionen drin sind gräßlich^ —
Hub, Schnetzler und Konsorten nicht viel wert, Freiligrath wendet
sich noch einmal dem jungen Deutschland zu, das sollst Du sehen,
Duller auch, wenn er nicht vorher schon verkommt, und Rückert,
der steht wie der alte Vater da und breitet seine Hände segnend
über alle.
Den 9. April. Das ist dieser rührende Aufsatz, Was soll ich
armer Teufel nun anfangen? Für meinen eignen Kopf fortochsen?
Hab* keine Lust. Loyal werden? Pfui Teufel! Mich an die säch-
sische Mittelmäßigkeit halten — ugittugitt (o Gott o Gott, hie-
siger Ausruf des Ekels). Also ich muß ein junger Deutscher wer-
den, oder vielmehr ich bin es schon mit Leib und Seele. Ich kann
des Nachts nicht schlafen vor lauter Ideen des Jahrhunderts ; wenn
ich an der Post stehe und auf das preußische Wappen sehe, packt
mich der Geist der Freiheit; jedesmal wenn ich in ein Journal sehe,
spüre ich nach Fortschritten der Freiheit; in meine Poemata
42 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
schleichen sie sich und verspotten die Obskuranten in Mönchs -
kapuze und im Hermelin. Aber von ihren Floskeln: Weltschmerz,
welthistorisch, Schmerz des Judentums etc. halte ich mich fern,
denn die sind jetzt schon veraltet. Und das sage ich Dir, Fritz,
so Du einmal Pastor wirst. Du magst so orthodox werden, wie Du
willst, aber wirst Du mir ein Pietist, der aufs junge Deutschland
schimpft, die Evangelische Kirchenzeitung zum Orakel nimmt,
wahrlich, ich sage Dir, Du hasc mit mir zu tun. Du mußt Pastor
werden zu Gemarke und den verdammten, schwindsüchtigen, ofen-
höckerigen Pietismus wegjagen, den der Krummacher zur Blüte
gebracht hat. Da werden sie Dich freilich einen Ketzer schelten,
aber laß mal einen kommen und Dir aus Bibel und Vernunft be-
weisen, daß Du Unrecht hast. Der Blank ist indessen ein verruch-
ter Rationalist, schmeißt das ganze Christentum über den Haufen,
was soll daraus werden ? Na, ein Pietist bin ich nie gewesen, ein
Mystiker eine Zeitlang, aber das sind tempi passati ; jetzt bin ich
ein ehrlicher, gegen Andre sehr liberaler Supernaturalist. Wie lange
ich das bleibe, weiß ich nicht, doch hoffe ich es zu bleiben, wenn
auch bald mehr, bald weniger zuin Rationalismus hinneigend.
Das muß sich alles entscheiden. Adios, Friderice, schreibe rascher
und viel.
Do hest de mi dubbelt.
Friedrich Engels. Friedrich Engels.
An Friedrich Graeber.
(27. 4. bis I. 5. 1839).
Fritz Graeber, ich beschäftige mich jetzt sehr mit Philosophie
und kritischer Theologie. Wenn man 18 Jahr alt wird, Strauß, die
Rationalisten und die Kirchenzeitung kennen lernt, so muß man
entweder alles ohne Gedanken lesen oder anfangen, an seinem
Wuppertaler Glauben zu zweifeln. Ich begreife nicht, wie die ortho-
doxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare
Widersprüche in der Bibel finden. Wie kann man die beiden Ge-
nealogieen Josephs, des Mannes der Maria, die verschiedenen An-
gaben bei der Einsetzung des Abendmahls (dies ist mein Blut, dies
ist das neue Testament in meinem Blut), bei den Besessenen (der
erste erzählt, der Dämon fuhr bloß aus, der zweite, er fuhr in die
Säue), die Angabe, Jesu Mutter sei ausgezogen, ihren Sohn zu
suchen, den sie für wahnsinnig hielt, obwohl sie ihn wunderbar
empfangen etc., mit der Treue, der wörtlichen Treue der Evange-
listen reimen? Und nun die Abweichung beim Unser Vater, in der
Reihenfolge der Wunder, die eigentümlich tiefe Auffassung des
Briefe an Friedrich Graeber. ^3
Johannes, wodurch aber die Form der Erzählung offenbar getrübt
wird, wie da? Christi ipsissima verba, worauf die Orthodoxen
pochen, lauten in jedem Evangelium anders. Vom alten Testament
garnicht zu reden. Aber in dem lieben Barmen wird Einem das
nicht gesagt, da wird man nach ganz andern Grundsätzen unter-
richtet. Und worauf gründet sich die alte Orthodoxie? Auf nichts,
als auf — den Schlendrian. Wo fordert die Bibel wörtlichen Glauben
an ihre Lehre, an ihre Berichte? Wo sagt ein Apostel, daß alles
was er erzählt, unmittelbare Inspiration ist? Das ist kein Gefangen-
nehmen der Vernunft unter den Gehorsam Christi, was die Ortho-
doxen sagen, nein, das ist ein Töten des Göttlichen im Menschen,
um es durch den toten Buchstaben zu ersetzen. Darum bin ich
noch ein ebenso guter Supranaturalist wie vorher, aber das Ortho-
doxe habe ich abgelegt. So kann ich nun und nimmer glauben,
daß ein P^tionalist, der von ganzem Herzen das Gute so viel wie
möglich zu tun sucht, ewig verdammt werden soll. Das wider-
spricht auch der Bibel selbst. Denn es steht geschrieben, daß um
der Erbsünde willen keiner verdammt ist, sondern um seiner eignen
Sünde willen; wenn nun einer der Erbsünde aus aller Kraft wider-
steht und tut, was er kann, so sind doch seine wirklichen Sünden
nur notwendige Folge der Erbsünde, also können ihn die nicht ver-
dammen. —
Den 24. April. Ha, ha, ha! weißt Du, wer den Aufsatz im
Telegraphen gemacht hat? Schreiber dieses ist der Verfasser, aber
ich rate Dir, nichts davon zu sagen, ich käme in höllische Schwu-
litäten. Kohl, Ball und Hermann kenne ich fast nur aus Rezen-
sionen W. Blanks und Strückers, die ich fast wörtlich abgeschrieben
habe ; daß Kohl aber kohlt und Hermann ein schwachmatischer
Pietist ist, weiß ich aus eigner Anhörung. Der D. ist der Kontor-
jüngling Dürholt bei Wittensteins in Unterbarmen. Übrigens tu
ich mir was drauf zu gut, daß ich darin nichts gesagt habe, was
ich nicht beweisen kann. Eins nur ärgert mich: daß ich den Stier
nicht bedeutend genug dargestellt. Er ist als Theologe nicht zu
verachten. Bewunderst Du aber nicht meine Kenntnis der Cha-
raktere, besonders Krummachers, Dörings (was über dessen Pre-
digt gesagt, hat mir P. Jonghaus erzählt), und der Literatur? Die
Bemerkungen über Freiligrath müssen wohl gut sein, sonst hätte sie
Gutzkow gestrichen. Der Stil ist übrigens hundeschlecht. — Der
Aufsatz scheint übrigens Sensation gemacht zu haben — ich ver-
pflichte Euch fünf auf Euer Ehrenwort, niemanden zu sagen, daß
ich der Verfasser bin. Kapiert ? Was das Schimpfen betrifft, so
habe ich das meistens auf Dich und Wilhelm gehäuft, weil ich die
Briefe an Euch grade vor mir liegen hatte, als mich die Lu5;t zu
^ Alis der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1 841.
schimpfen überkam. Besonders soll F. Plümacher nicht erfahren,
daß ich den Aufsatz gemacht habe. Was der Ball übrigens für ein
Kerl ist! Charfreitag soll er predigen, hat keine Lust zu studieren,
und lernt deshalb eine Predigt auswendig, die er im Menschen-
freund findet, und hält sie. Krummacher ist in der Kirche, ihm
kommt die Predigt bekannt vor, und endlich fällt ihm ein, daß er
selbst die Predigt Charfreitag 1832 gehalten hat. Andre Leute,
die die Predigt gelesen haben, erkennen sie auch, Ball wird zur
Rede gestellt und muß bekennen. Signum est, Ballum non tan tum
abhorrere a Krummacho. ut Tu quidem dixisti^). Für die ausführ-
liche Rezension des Faust bin ich Dir sehr verbunden. Die Be-
arbeitung des Stücks ist wohl die elende Raupachsche, dieser Hunds-
fott mischt sich in alles, und verdirbt nicht nur den Schiller, indem
er dessen Bilder und Gedanken in seinen Tragödien abdrischt,
sondern auch den Goethe dadurch, daß er ihn malträtiert. Daß
meine Poemata einen reißenden Absatz haben werden, ist zu be-
zweifeln. . . . Dein Rotgeschriebenes konnte ich nicht lesen,
werde also weder 5 Sgr. noch Zigarren schicken. Du wirst dieses
Mal entweder die Canzone oder ein Stück der begonnenen, aber
unvollendeten Komödie bekommen. Jetzt muß ich gleich in die
Singstunde gehen, adieu.
Den 27. April. Fragmente einer Tragikomödie:
Der gehörnte Siegfried.
I.
Palast des Königs Sieghard.
Rats Versammlung.
Sieghard:
So seid ihr Treuen versammelt wieder,
Als Unseres Reiches starke Glieder
Um Unsern hohen Königsthron.
Ihr alle — doch es fehlt Unser Sohn!
Der streift wohl wieder fern im Wald,
Wird nie verständig, ist schon so alt.
Statt hier in Unsrem Rat zu sitzen,
Wo Wir vom Morgen zum Abend schwitzen,
Statt hier der Greise Wort zu hören,
Soll ihn der Vögel Geschrei belehren;
1) Es ist ein Zeichen dafür, daß Ball den Krummacher nicht so verab-
scheut, wie Du gesagt hast.
Der gehörnte Siegfried. 45
Statt hier der Weisheit nachzujagen,
Will er sich mit den Bären schlagen;
Und spricht er mit Unsrer Majestät,
Verlangt er Krieg nur früh und spät.
Wir hätten ihm längst schon nachgegeben,
Hätt' Uns Gott in seiner Weisheit eben
Nicht solche Erkenntnis zugeteilt,
Daß Unser Verstand sich nicht übereilt.
Wie sollte ganz verderben das Land,
Hätte seinen Willen solch ein Fant!
Ein Rat:
Eure Majestät spricht, wie immerdar
Gar weise und trifft die Sach' aufs Haar.
Jedennoch mit meines Königs Urlaub,
Sag' ich, was ich in meiner Einfalt glaub.
Des Menschen Weis ist mannigfalt.
Der Knab' ist achtzehn Jahr erst alt.
Ihm steht der Sinn nach Jagd und Streit,
Die Weisheit kommt auch mit der Zeit.
Denn Jugendmut rennt frei hinaus,
Die Weisheit bleibet still zu Haus;
Der Jugendmut wird endlich zahm.
Und seine stolze Kraft wird lahm.
Dann kehrt zur Weisheit er zurück,
Und findt daheim bei ihr sein Glück.
Drum laßt den Jungen bald ausreiten.
Mit Drachen und mit Riesen streiten;
Gar rasch ereilt ihn das Alter doch,
Das und das Leben, diese lehren
Ihm beide wohl die Weisheit noch,
Dann wird er gern ihren Worten hören.
Siegfried (tritt ein):
O Wald, muß ich dich lassen
Mit deinen Bäumen frisch ?
In dir ist besser prassen,
Als an des Königs Tisch;
Wo wohnt das Wild mit Freuden,
Als in dem Waldestal?
Das grüne Laubdach neiden
Die goldnen Hall'n zumal.
Ich seh 's, Herr Vater, Ihr wollt schelten,
Daß ich so lang umhergeschweift;
46 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 184 1.
Muß ich es immer denn entgelten,
Wenn mir zu schnell der Eber läuft?
Nicht jagen soll ich, auch nicht streiten,
So gebt ein Roß mir und ein Schwert;
Dann mag ich in die Fremde reiten,
Wie ich's so oft von Euch begehrt!
Sieghard.
Steht dir der Sinn noch stets danach ?
Wann willst du endlich weise werden ?
So lang dein Übermut so jach.
Wirst du dich nimmer klug gebärden.
Und weil das doch das beste Mittel,
Den Willen dir zu geben frei,
So geh, ein derber Riesenknittel
Weckt dich schon aus der Träumerei.
Nimm Schwert und Roß dir, zieh hinaus,
Kehr bald und klüger in Unser Haus.
Siegfried.
Habt ihr's gehört? Ein Schwert, ein Roß!
Was frag' ich da nach Helm und Brünne ?
Was frag' ich nach der Knappen Troß?
Allein mit meinem kühnen Sinne!
Der wilde Bergstrom gießt sich brausend
Allein durch Waldesschlucht voran,
Die Fichten stürzen vor ihm sausend,
So wühlt er selbst sich eine Bahn,
Und wie der Bergstrom will ich sein.
Die Bahn mir brechend ganz allein.
Rat:
Nicht gräm' sich drob Eu'r Majestät,
Wenn der junge Held von hinnen geht;
Der Bergstrom auch kommt einst zu Tal,
Dann kracht nicht mehr der Bäume Fall,
Dann fließt er durch die Eb'ne still,
Macht fruchtbar rings die Lande,
Der Wellen Wüten wird ein Spiel,
Endlich verrinnend im Sande.
Siegfried:
Was soll ich länger weilen
Hier in dem alten Schloß?
Der gehörnte Siegfried. a*i
Da hängt ein Schwert am Pfeiler,
Und draußen wiehert ein Roß;
Komm her von deiner Säule,
Du altes, blankes Schwert,
Daß ich von hinnen eile —
Leb wohl, mein Vater wert! (Ab.)
II.
Schmiede im Wald.
Siegfried tritt ein.
Der Meister tritt ein.
Meister:
Ihr seid hier in der großen Schmiede,
Wo man die schönen Novellen macht,
Die in Almanachen, samt manchem Liede
Entfalten ihre hehre Pracht.
Journale werden hier gehämmert,
Kritik und Poesie vereinend.
Vom Morgen, bis der Abend dämmert,
Seht Ihr die Glut der Esse scheinend.
Doch geht — genießt erst Speis und Wein —
Lehrbursch, führ den Herrn da hinein.
Siegfried mit dem Lehrburschen ab.
Meister:
Wohlan zur Arbeit, ihr Gesellen,
Ich steh' euch wirkend stets zur Seite;
Schlagt auf den Amboß die Novellen,
Daß sie recht gehen in die Breite!
Durchglüht die Lieder in der Essen,
Daß sie das Feu'r recht in sich fressen;
Werft alles dann auf einen Kloß,
Des Publikums Magen ist gar groß.
Und habt ihr nicht des Eisens genug.
Dafür weiß Rat der Meister klug;
Drei Helden von Scott, drei Fraun von Goethen,
Ein Ritter von Fouque, grimm und stählern,
Mehr sind wahrhaftig nicht von Nöten
Zu den Novellen von zwölf Erzählern!
48 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Für Lieder sind Uhlands Poesie'n
Ein ganzes Floskelmagazin.
Drum schwingt den Hammer mit aller Kraft,
Der Beste ist, wer das meiste schafft!
Siegfried (kommt wieder):
Dank Meister, für den guten Wein,
Ich trank zwölf Maß davon hinein.
Meister:
(Verfluchter Kerl!) Mich freut es sehr, daß Euch mein
Rheinwein hat gefallen,
Beliebt's Euch nun, so tretet her.
Ich mach' Euch bekannt mit den Arbeitern allen.
Hier dieser ist der allerbeste,
Macht liederliche und ehrenfeste
Erzählungen, wie ich's verlange.
Läßt sich loben vom großen Wolfgange
Menzel, der in Stuttgart sitzt,
Sein Name ist: Herr von Tromlitz.
Der andre hier ist fast so gut,
Ist auch von adeligem Blut,
Das ist von Wachsmann das große C,
Einen beßren ich hier nirgends seh ;
Kein Almanach kann existieren,
In dem man ihn nicht tut verspüren.
Der wirft Novellen zu Dutzenden
Ins Angesicht dem Publikum dem stutzenden,
Arbeitet im Schweiß seines Angesichts,
Und was am meisten sagen will,
Für Poesie tat er noch nichts.
Für Geschmacksentnervung unendlich viel.
Denn Geschmack, vor dem bin ich sehr bang,
Nur der bringt uns den Untergang.
Da ist ein dritter, Robert Heller,
Sein Stil ist poliert, wie ein zinnener Teller,
Für Silber hält's das Publikum,
Wir lassen es gerne also dumm.
Zwar macht er nicht so viel, wie die beiden
Und hascht auch wohl nach Charakteristik,
Doch hat er jetzt — er kann sie nicht leiden,
Aufs Maul gegeben eins der Mystik.
Ihr wißt die vier Evangelisten,
Waren nur dumme Pietisten,
Der gehörnte Siegfried. 49
Die hat er ein wenig vorgenommen,
Sie entkleidet des Ehrwürdigen und Frommen,
Präpariert zum Teetischgenuß —
Lest seine Schwestern des Lazarus.
Auch weiß er gar anmutig zu kosen,
Mehr findet Ihr in seinen Klatschrosen,
Hier ist die unterhaltende
Gelehrsamkeit: der haarspaltende
Friedrich Nork, der größte Poet,
Der je gelebt, seit die Welt steht.
Der dichtet und lügt die schönsten Sachen,
Beweist Euch aus des Orients Sprachen,
Daß Ihr ein Esel, Elias die Sonne,
Denn der Orient ist aller Sprachen Bronne.
Doch Verstand — den findet bei ihm Ihr nie.
Noch tüchtges Wissen und Etymologie.
Hier ist der wack're Herloßsohn,
Der wohl verdiente einen Thron,
Ein Novellist und Lyriker,
Des Unsinns Panegyriker,
Besonders seinen Kometenstern
Lesen die Dummen gar zu gern.
Jetzt kommen, unter Winklers Leitung,
Die Herren von der Abendzeitung;
Thuringus. Faber, von Großcreutz,
Schon in den Namen welch ein Reiz!
Doch was soll ich sie alle loben?
Das Publikum, welches etwas verschroben.
Hat sie schon längst in den Himmel geschoben,
Bis zu den Sternen sie erhoben.^
Noch einige sind grade abwesend.
Im Walde dürres Brennholz lesend;
Vom Lehrlingsschwarm gar nichts zu sagen,
Die noch zu schwach auf den Amboß schlagen,
Doch, hoff ich, werden alle gut,
Haben sie nur einen Tropfen Novellistenblut.
Siegfried:
Doch sagt mir, Meister, wie Ihr nur heißt?
Meister:
Ich fühl den sächsischen Literaturgeist
Verkörpert in meiner Wenigkeit.
Mayer , Engels. Ergänzungsband. 4
50 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Doch wollt Ihr sehn, was ich vermag,
Seht meiner Arme Sehnigkeit,
Und meinen kräftigen Hammerschlag.
Ich glaub', Ihr hämmertet auch nicht schlecht;
Wollt Ihr beitreten unsern Gesellen?
Siegfried:
Topp, Meister, 's war mir eben recht,
' Dien Euch wie ein andrer Schmiedeknecht.
Meister:
Ich geb Euch zur Lehr bei Theodor Hellen.
Hämmer zur Probe die zwei Novellen.
Siegfried:
Ha, wenn mit meinen Fäusten
Die Eichen ich zerbrach,
Und wenn vor meinem dreisten
Angriff, der Bär erlag,
Könnt ich zur Erde ringen
Den Stier in seiner Brunst,
Wie sollt' ich den Hammer nicht schwingen
Zur edlen Schmiedekunst?
Lehrlingswerk will ich treiben
Nicht einen Augenblick;
Gesell will ich nicht bleiben,
Hier ist mein Meisterstück!
Gebt mir die Eisenstangen,
Ein Hieb — sie sind entzwei!
Zu Staub sie all' zersprangen,
Das Schmieden ist vorbei!
Theodor Hell:
Gemach! gemach, was soll das heißen?
Gleich schlag ich Euch, wie Ihr das Eisen!
Siegfried:
Was hast du noch zu schwatzen ?
Was tust du so entrüstet?
Da liegst du schon am Boden,
Steh auf, wenn's dich gelüstet!
Theodor Hell:
Ach Hülfe, Hülfe!
Der gehörnte Siegfried. 51
Meister:
Junger Gesell,
Was schlagt Ihr mir die andern Knechte ?
Marsch, schert Euch flugs mir von der Stell,
Sonst zieh ich Euch über die Ohren das Fell!
Siegfried:
Du wärst mir dazu wahrlich der Rechte!
(Wirft ihn nieder.)
Meister:
0 weh, o weh! etc.
Siegfried wird in den Wald geschickt, erschlägt
den Drachen und, zurückgekehrt, den Meister, jagt die
Gesellen auseinander und geht weg. —
III.
Im Walde.
Siegfried:
Jetzt hör ich wieder, wie in den Hagen
Zwei Männer auf einander schlagen.
Da kommen sie her — 's ist wahrlich zum Lachen,
Da wird keiner den andern verstummen machen
Dachte, es kämen zwei Riesen mit Kraft,
Die stärksten Fichten ihr Lanzenschaft,
Da kommen zwei dürre Professoren,
Werfen sich Bücher an die Ohren.
(Leo und Michelet kommen.)
Leo:
Komm an, du Hund von Hegeling!
Michelet:
Pietist, bist mir wahrlich zu gering!
Leo:
Da hast du die Bibel an den Kopf!
Michelet:
Und du den Hegel, verhallerter Tropf!
C2 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Leo:
Ich werf dir den Hegel, du Läst'rer, zurück!
Michelet:
Und ich dir die Bibel ins Genick I
Leo:
Was willst du noch? Du bist ja längst tot?
Michelet:
Das bist du, burschikoser Zelot!
Siegfried:
Was ist von eurem Streit der Grund ?
Leo:
Der Hegeling, der lästerliche Mund,
Will die Bibel in Verachtung bringen,
Da muß man wohl auf ihn eindringen!
Michelet:
Das lügt der ungehobelte Flegel,
Er will nicht respektieren den Hegel!
Siegfried:
Aber ihr warft euch ja gegenseitig
Mit den Büchern, um die ihr streitig?
Leo:
S' ist einerlei, er ist kein Christ.
Michelet:
So gut und besser, wie du einer bist.
Er schwatzt von Dingen, die er nicht versteht.
Siegfried:
Was wollt ihr denn ? Eurer Wege geht !
Wer hat den Streit denn angefangen ?
Leo:
Das tat ich, ich rühm es ohne Bangen.
Ich habe für Gott und mit Gott gestritten.
Briefe an Wilhelm Graeber. 53
Siegfried:
Da hast du auf lahmem Pferde geritten.
Der wird das Christentum nicht töten,
Du wirst es nicht retten aus den Nöten,
Laß ihn doch auf seine Art gewähren,
Steht es dir doch frei, was andres zu lehren!
Und laßt nicht unsern Herrgott entgelten
Dein blindes Toben, dein tolles Schelten!
Nun geh du hierhin, du dahin,
Und schlagt euch das Streiten aus dem Sinn!
Leo und Michelet zu verschiedenen Seiten ab.
Siegfried:
Solche Wut hab' ich nie gesehn,
Und sind doch friedliche, gelehrte Männer,
Wie sie so toll auf einander gehn.
Der edlen Wissenschaften Kenner! —
Jetzt aber plagt mich der Hunger wieder,
Ich will drum gehn ins Tal hernieder.
Ob ich wohl find' ein Haus oder Schloß,
Wo ich labe meine Glieder,
Sonst schafft mir Beute wohl mein Geschoß. —
So weit. Die Stücke der Handlung habe ich ausgelassen, bloß
die Einleitung und die Satirika abgeschrieben. Dies ist das letzte,
jetzt sollte der König von Bayern hergenommen werden, aber da
stockts. Die Abrundung und Verwicklung fehlt dem Ding. — Bitte
Wurm, die Gedichte an den Musenalmanach zu besorgen, ich muß
jetzt schließen, die Post geht ab.
Dein Friedr. Engels.
den I. Mai 39.
An Wilhelm Graeber.
[27. bis 30. 4. 39.]
Guglielmo carissimo! TtjV^) oou ^niooXrjv evgtjxa iv roTg xibv
hegcov, xal fjdv juev ^v Ifxol xc avxov g^jua. Tö de öixaoxrjQiov x<bv
^) Die griechischen und hebräischen, aber auch die lateinischen und
die neusprachlichen Brocken, mit denen der Briefschreiber um sich wirft,
enthalten zahlreiche Fehler, die der Herausgeber selbstredend stehen ge-
lassen hat.
54 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
TiEvre orovötcoocov, xal rtjv avtcöv xgioiv ov bvvafxai ycvcooxeiv rj av'&evuxijv
rj xo^iTierevrrjv. — 'Eoxiv yäg ydgig vn iiiov, el öidcojui nouj/nara iv
xalg eig i\udg emaroXaig })
Daß Du St. Hanor-) Florida und Sturm nicht kritisieren willst,
verdient wieder keinen Vers ; die Behauptung debilitatis ingenii ab-
horret ab usata tua veriloquentia.^) Meam quidem mentem ad juve-
nilem germaniam se inclinare, haud nocebit libertati ; haec enim clas-
sis scriptorum non est, ut schola romantica, demagogia, etcet, so-
cietas clausa, sed ideas saeculi nostri, emancipationem judaeorum
servorumque, constitutionalismum generalem aliasque bonas ideas
in succum et sanguinem populi Teutonici intrare volunt tentantque.
Quae quum ideae haud procul sint a directione animi mei, cur me
separare? Non enim est, quod tu dicis: sich einer Richtung über-
geben, sed: sich anschließen; sequitur a continuation in my room,
and, in writing a polyglottic letter, I will take now the English lan-
guage, ma no, il mio bello Italiano, dolce e soave, come il zefiro,
con parole, somiglianti alle flori del piü bei giardino, y el Espaiiol,
lingua como el viento en los ärboles, e o Portuguez, como as olas
da mar em riba de flores e prados, et le Frangais, comme le mur-
mure vite d'un fönt, tres amüsant, en de hollandsche taal, gelijk
den damp uijt eener pijp Tobak, zeer gemoedlijk: aber unser
liebes Deutsch — das ist alles zusammen:
1) Liebster Wilhelm! Deinen Brief habe ich bei denen der anderen
gefunden, und süß war mir seine Rede. Aber den Richterspruch der fünf
Studenten und ihre Entscheidung kann ich nicht als authentisch oder kom-
petent anerkennen. Denn es ist eine Liebenswürdigkeit von mir, wenn ich
Gedichte in meinen Briefen an Euch gebe.
2) Das Wort ist fast unlesbar und unverständlich.
3) . . . der geistigen Schwäche sticht ab von Deiner gewohnten Wahr-
haftigkeit. Daß mein Geist dem jungen Deutschland zuneigt, wird der Frei-
heit nicht schaden; denn diese Schriftstellergruppe ist nicht wie die roman-
tische, demagogische Schule usw. eine geschlossene Gesellschaft, sondern
sie wollen und versuchen, daß die Ideen unseres Jahrhunderts, die Eman-
zipation der Juden und der Sklaven, der allgemeine Konstitutionalismus
und andere gute Ideen in Saft und Blut des deutschen Volkes eindringen.
Da diese Ideen von der Richtung meines Geistes nicht fern sind, warum soll
ich mich von ihnen trennen? Es heißt nämlich nicht, wie Du sagst „sich
einer Richtung übergeben", sondern „sich anschließen". Die Fortsetzung
folgt in meinem Zimmer, und da ich einen polyglotten Brief schreibe,
will ich jetzt die englische Sprache herannehmen, aber nein, mein
schönes Italienisch, rein und lieblich wie der Westwind, mit Worten,
die den Blumen des schönsten Gartens gleichen, und das Spanische,
eine Sprache wie der Wind in den Bäumen und das Portugiesische
wie das Rauschen des Meeres am Gestade von Blumen und Wiesen
und das Französische wie das rasche Murmeln einer sehr lustigen Quelle
und die holländische Sprache, wie der Dampf aus einer Tabakpfeife, sehr
gemütlich.
Briefe an Wilhelm Graeber. 25
Gleich den Wogen, den langen, des Meers, ist die Zunge Homeros,
Äschylos schleudert ins Tal ein Feldstück rasch nach dem andern,
Romas Sprache — so spricht zu dem Heer der gewaltige Cäsar,
Greift in die Fülle der Worte — sie liegen, wie rohes Gesteine,
Scharf und kantig — daraus ersteht cyklopisches Bauwerk,
Aber die jüngere Zunge der Italer, lieblich und milde.
Stellet den Dichter inmitten des holdesten Gartens der Erde,
Draus ein Füllhorn pflückte Petrark, Ariost sich den Kranz wand.
Doch Hispaniens Sprache — o horch, wie im laubigen Wipfel
Herrscht der gewaltige Hauch, und gewalt'ge, erhabene Lieder
Alter Zeit draus rauschen hervor, und die Trauben des Weinstocks,
Der am Stamme hinauf sich wand, sich schaukeln im Laube!
Portugals Zunge — das Rauschen des Meers am Blumengestade,
Wo in dem Schilf aufseufzt Syrinx beim Hauche des Zephyrs;
Und die Zunge der Franken, sie gleitet, ein üppiges Bächlein,
Munter dahin, und rundet der Sandstein, der eigensinn'ge
Bald sich im plätschernden Flusse der nimmer beruhigten Wellen.
Englands Sprache, ein längst verwittertes, rasenbehangnes
Denkmal riesiger Hünen, doch wuchs das Gestrüppe darüber.
Sausend und heulend umweht es der Sturm, und möchte es fällen.
Aber die Sprache Germaniens — sie tönt, wie die donnernde
Brandung
An den gezackten Korallen — die tragen ein liebliches Eiland,
Dorthin schallet das Rauschen der langen Wellen Homeros,
Dort erdonnern die riesigen Blöcke aus Äschylos Händen,
Dort auch siehst du der Feldherrnhand cyklopisches Bauwerk,
Und den duftenden Garten der schönsten und edelsten Blumen,
Mächtiges Rauschen erschallt dort laut aus waldigem Wipfel,
Syrinx tönet im Schilf, und die Bächlein runden den Sandstein,
Dort auch steht manch' Hünengebäu, umsaust von den Winden,
Das ist Germaniens Zunge, die ewige, wunderumrankte.
Diese Hexameter habe ich extempore hingeschrieben. Sie
mögen Dir den Unsinn auf der vorigen Seite, aus dem sie hervor-
gegangen, etwas erträglich machen. Rezensiere sie aber als Ex-
temporale. Dan 29. April. Kontinuierlich Deinen Brief auf kon-
sequente Weise fortsetzend, ist heute wunderschönes Wetter, so
daß Ihr, posito caso aequalitatis temporalis, heute wahrscheinlich
und von rechtswegen alle Kollegia schwänzt. Ich wollt', ich
war bei Euch. — Ich hab Euch wohl schon geschrieben, daß
ich unter dem Namen Theodor Hildebrand am Bremer Stadt-
boten meinen Witz ausließ, nun habe ich ihm mit folgendem
Briefe abgesagt:
rß Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Stadtbote, hörs, doch ärgre nicht dich drüber,
Wie ich zum Besten lange dich gehabt;
Denn merke dirs, man spottet dess, mein Lieber,
Der immer sich erzeigt als übergeschnappt.
Dein blauer Freudenhimmel wird stets trüber,
Nun du ein Vierteljahr herumgetrabt,
Was du zu sagen, Edler, dich beflissen,
Das hast du alles wiederkäuen müssen.
Ich nahm stets aus dir selber meine Themata,
Du hast sie alle selbst mir präparieret.
Aus deinen Reden machte ich Poemata,
Darin ich dich, allein dich persiflieret.
Nimm ihnen nur des Reims, der Metrik Schemata,
So wird dein Ebenbild dir vorgeführet.
Nun fluch, beliebt* dir, von Zorne wild entbrannt,
Auf deinen ganz ergebnen
Theodor Hildebrand.
Du solltest auch anfangen, ein wenig zu Schriftstellern, in
Versen oder Prosa, und alsdann an das Berliner Conversations-
blatt, wenn es noch existiert, oder den Gesellschafter schicken.
Später treibst Du's stärker, machst Novellen, die Du erst in Jour-
nalen, dann allein drucken läßt, bekommst Ruf, wirst als geist-
reicher, witziger Erzähler genannt. Ich sehe Euch noch einmal —
der Heuser großer Komponist, Wurm schreibt tiefsinnige Unter-
suchungen über Goethe und die Zeitentwicklung, Fritz wird ein be-
rühmter Prediger, Jonghaus macht religiöse Poemata, Du schreibst
geistvolle Novellen und kritische Aufsätze, und ich - werde Stadt-
poet von Barmen, Leutnant Simons malträtierten (in Cleve) An-
denkens zu ersetzen. — Als fernere Poesie für Dich ist auch noch
das Lied da auf dem Blatt für den Musenalmanach, welches ich keine
Lust habe, noch einmal abzuschreiben. Vielleicht schreibe ich noch
eins dazu. Heute (30. April) habe ich bei dem kostbaren Wetter von
7 bis halb 9 im Garten gesessen, geraucht und Lusiade gelesen, bis
ich aufs Kontor mußte. Es liest sich nirgends so gut, als im Garten
an einem klaren Frühlingsmorgen, die Pfeife im Munde, die Sonnen-
strahlen auf dem Rücken. Heut Mittag werde ich diese Bestre-
bungen mit dem altdeutschen Tristan und seiner süßen Reflexion
über die Liebe fortsetzen, heut Abend geh ich in den Ratskeller,
wo unser Herr Pastor seinen von dem neuen Bürgermeister pflicht-
schuldigst erhaltenen Rheinv.=ein zum besten gibt. Bei solchem un-
geheuren Wetter habe ich immer eine unendliche Sehnsucht nach
Briefe an Wilhelm Graeber.
57
dem Rhein und seinen Weinbergen; aber was ist da zu machen ?
höchstens ein paar Verse. Ich wollte wohl wetten, daß der W. Blank
Euch geschrieben hat, daß [ich]^) die Aufsätze im Telegraphen ge-
macht hätte, und Ihr darum so drauf geschimpft habt. Die Szene
ist in Barmen, was es ist kannst Du Dir denken. —
Eben kriege ich einen W. Blanks Brief, worin er mir schreibt,
daß der Aufsatz rasenden Rumor in Elberfeld mache ; Dr. Runkel
schimpft in der Elberfelder Zeitung darüber und wirft mir Unwahr-
heiten vor ; ich will ihm eine Andeutung zugehen lassen, daß er
mir doch eine Unwahrheit nachweisen soll, was er nicht kann, da
alles erwiesene Data sind, die ich von Augen- und Ohrenzeugen
habe. Bl. schickte mir das Blatt zu, das ich gleich mit der Bitte,
meinen Namen ferner geheim zu halten, an Gutzkow spedierte.
Krummacher hat neulich in seiner Predigt dargetan, daß die Erde
still steht und die Sonne sich um sie dreht, und das wagt der Kerl
am 21. April 1839 in die Welt zu posaunen, und sagt doch, der
Pietismus führe die Welt nicht zum Mittelalter zurück! Es ist schänd-
lich! Man sollte den Kerl chassieren, oder er wird noch einmal
Papst werden, eh' Du Dich versiehst, wo ihn aber das saffrangelbe
Donnerwetter zermalmen soll. Dios lo sabe, Gott weiß, was noch
aus dem Wuppertale wird. Adios Dein baldige Briefe erwartender
oder wieder keine Poemata sendender
Friedrich Engels.
*) Dies Wort fehlt im Text, ist aber hier offenbar zu ergänzen.
58 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
An Wilhelm Graeber.
(24. Mai 1839.)
My dear William!
Heute — der 24. Mai, und noch keine Zeile von Euch! Ihr
qualifiziert Euch wieder zum Nicht-Gedichte -Empfangen. [Hier folgt
ganz klein der Kopf eines Gassenjungen, der die Zunge heraussteckt.]
Ich begreife Euch nicht. Indes sollst Du Beiträge zur Literatur
der Gegenwart haben.
Gesammelte Werke von Ludwig Börne, i. u. 2. Band.
Dramaturgische Blätter. — Börne, der riesige Kämpfer für Frei-
heit und Recht, zeigt sich hier auf ästhetischem Gebiete. Und auch
hier ist er zu Hause; was er sagt, ist so bestimmt und klar, so aus
richtigem Gefühl für das Schöne hervorgegangen, und so einleuch-
tend bewiesen, daß von Widerspruch gar nicht die Rede sein kann.
Darüber ist ein Meer des üppigsten Witzes ausgegossen, und wie
Felsen tauchen hier und da die festen, scharfen Freiheitsgedanken
auf. Die meisten dieser Kritiken (denn aus diesen besteht das Buch)
sind gleichzeitig mit dem Erscheinen der Stücke geschrieben wor-
den, also zu einer Zeit, wo das Urteil der Kritik darüber noch blind
und schwankend umher tappte; Börne aber sah, und durchdrang
alles bis auf die innersten Fäden der Handlung. Am ausgezeichnet-
sten sind die Kritiken über Schillers Teil — ein Aufsatz, der seit
mehr denn zwanzig Jahren der gewöhnlichen Ansicht unwiderlegt
entgegen steht, eben, weil er unwiderleglich ist. — Immermanns
Cardenio und Hof er, Raupachs Isidor und Olga, Claurens Woll-
markt — woran sich andre Interessen knüpfen — Houwalds Leucht-
turm und Bild, die er so vernichtet, daß nichts, gar nichts bleibt, und
Shakespeares Hamlet. Überall ist es der große Mann, der einen
Streit von noch unabsehbaren Folgen hervorrief, und schon diese
beiden Bände würden Börne einen Platz neben Lessing sichern;
aber er ward ein Lessing auf andrem Gebiete, möge ihm in Karl
Beck der Goethe folgen!
Nächte. Gepanzerte Lieder von Karl Beck.
,,Ein Sultan bin ich, wild und sturmbewegt,
,,Mein Heer — des Lieds gepanzerte Gestalten;
,,Um meine Stirne hat der Gram gelegt
,,Den Turban in geheimnisreichen Falten."
Wenn solche Bilder schon in der zweiten Strophe eines Prologs
vorkommen, wie wird dann erst das Buch selbst sein ? Wenn ein
Jüngling von zwanzig Jahren solche Gedanken hegt, wie wird erst
der reife Mann singen? — Karl Beck ist ein Dichtertalent, wie seit
Briefe an Wilhelm Graeber.
59
Schiller keines aufgestanden ist. Ich finde eine auffallende Ver-
wandtschaft zwischen Schillers Räubern und Becks Nächten, der-
selbe freiheitglühende Geist, dieselbe ungebändigte Phantasie, der-
selbe jugendliche Übermut, dieselben Fehler. Schiller strebte nach
Freiheit in den Räubern, sie waren eine ernste Mahnung an seine
servile Zeit; aber damals konnte sich solch ein Streben noch nicht
bestimmt gestalten ; jetzt haben wir im jungen Deutschland eine
bestimmte, systematische Richtung — Karl Beck tritt auf und ruft
seiner Zeit laut zu, diese Richtung zu erkennen und sich ihr an-
zuschließen. Benedictus, qui venit in nomine Domini! ^)
Der fahrende Poet. Dichtungen von Karl Beck. Der
junge Dichter legt, kaum nach dem ersten, schon ein zweites Werk
vor, das dem ersten an Kraft, Fülle der Gedanken, lyrischem Schwung
und Tiefe nicht im mindesten nachsteht, an gediegener Form und
Klassizität aber unendlich weit darüber hinausreicht. Welch ein
Fortschritt, von der ,, Schöpfung" in den Nächten zu den Sonetten
über Schiller und Goethe im fahrenden Poeten! Gutzkow meint,
die Sonettform sei dem Effekt des Ganzen schädlich, ich aber
möchte behaupten, daß dieses Shakespearesche Sonett grade die
für dies eigentümliche Gedicht passende Mitte zwischen der epischen
Strophe und dem einzelnen Gedicht hält. Es ist ja kein episches
Gedicht, es ist rein lyrisch, an losem epischen Faden gereiht, noch
loser als Byrons Childe Harold. Aber wohl uns Deutschen, daß
Karl Beck geboren wurde.
Blasedow und seine Söhne. Komischer Roman von
Karl Gutzkow, i. Band. Diesem dreibändigen Roman liegt die
Idee eines modernen Don Quichotte zu Grunde, eine zwar schon mehr-
fach benutzte, doch meist schlecht bearbeitete, geschweige erschöpfte
Idee. Der Charakter dieses modernen Don Quichotte (Blasedows,
eines Landpfarrers), wie er Gutzkow anfänglich vorschwebte, war
vortrefflich, in der Ausführung dagegen ist wohl einzelnes verfehlt.
Wenigstens hinter Cervantes Darstellung, die freilich auch das
Werk eines reifen Mannes ist, bleibt dieser Roman des kaum dreißig-
jährigen Gutzkow (der ohnedies schon seit drei Jahren vollendet
sein soll) sehr zurück. Dagegen sind die Nebencharaktere — Tobi-
anus scheint Sancho Pansa zu entsprechen — , die Situationen und die
Sprache ausgezeichnet. —
So weit mit meinen Rezensionen, jetzt werde ich fortfahren,
wenn Du geschrieben hast. — Weißt Du, wann Eure Briefe ange-
kommen sind? Den — fünfzehnten Juni! Und die letzten kamen
*) Gepriesen sei, wer im Namen des Herrn kommt!
6o
Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
am fünfzehnten April an ! Also grade zwei Monate ! Ist das recht ?
Ich dekretiere hierdurch, daß bei Strafe des Nie-wieder-Gedichte-
Erhaltens dem Wurm aller Einfluß auf die Absendung der Briefe
entzogen werden soll. Und wenn in gehöriger Zeit Wurm seinen
Brief noch nicht fertig hat, so laßt sie ohne seinen abgehen! Sind
14 Tage nicht genug, um zwei Quartseiten an mich zu schreiben?
Es ist schändlich. Du schreibst auch wieder kein Datum dabei,
das ist mir auch nicht recht. — Der Aufsatz im Telegraph ist mein
unbestreitbares Eigentum und hat W. Blank über die Maßen ge-
fallen; in Barmen hat er auch bedeutenden Beifall erhalten und ist
außerdem im Nürnberger Athenäum rühmlichst ziiert worden.
Einzelne Übertreibungen mögen drin sein, das Ganze aber gibt ein
richtiges Bild von vernünftigem Standpunkt aus gesehen. Wenn
man es freilich mit dem Vorurteil, es sei ein konfuses Machwerk,
liest, muß es wohl so erscheinen. — Was Du von der Komödie
sagst, ist justum.
Justus judex ultionis,
Donum fac remissionisP)
Die Canzone ist von Euch nicht im mindesten berührt worden,
ist nachzuholen.
Was Leo und Michelet betrifft, so kenne ich die Sache frei-
lich nur aus Leos Hegelingen und mehreren Gegenschriften,
ich habe daraus gelernt: i. daß Leo, der nach seinen eignen
Worten seit elf Jahren aller Philosophie entsagt und deshalb
kein Urteil darüber hat, 2. daß er den Beruf dazu nur in seinem
eignen überschwänglichen und renommistischen Hirn gefunden hat,
')
Gerechter Richter, der straft,
Erweise mir Nachsicht!
Briefe an Wilhelm Graeber. 5l
3. daß er Schlüsse, die durch die eigentümliche Hegeische Dialektik
notwendig aus allgemein angenommenen Prämissen hervorgingen,
angegriffen hat, statt die Dialektik anzugreifen, ohne welches er
diese Folgerungen stehen lassen mußte ; 4. daß er die Gegenschriften
nur mit rohen Exklamationen, ja mit Schimpfreden widerlegt hat;
5. daß er sich für weit über seine Gegner erhaben ansieht, groß
tut und auf der nächsten Seite wieder mit der grenzenlosesten
Demut kokettiert ; 6. daß er nur vier angreift während er dadurch
die ganze Schule angriff, die sich von diesen nicht trennen läßt;
denn mag Gans etc. auch im einzelnen sich von diesen geschieden
haben, sie gehörten doch so innig zusammen, daß Leo am wenig-
sten kapabel war, die Differenzpunkte als wichtig zu beweisen.
7. ist es der Geist der Evangelischen Kirchenzeitung, die Leo
voranging, der in Leos ganzem Libell herrscht; Schluß: Leo hätte
besser das Maul gehalten. Was sind das für ,, bitterste Erfah-
rungen" gewesen, die Leo zum Losbrechen zwangen ? Hat er nicht
schon in seiner Broschüre über Görres sie angefallen, und noch
heftiger als in den Hegelingen? Zu einem wissenschaftlichen
Streit ist jeder berufen, der die Kenntnisse dazu hat (ob Leo sie
hatte ?) , aber wer verdammen will, der nehme sich in acht ; und hat
Leo das getan? Verdammt er mit Michelet nicht auch Marheineke,
dem die Evangelische Kirchenzeitung wie einem, der unter ihre
Polizei und Aufsicht gestellt, auf jedem Schritt nachspürt, ob's
auch orthodox ist ? Bei konsequentem Schließen hätte Leo unend-
lich viele verdammen müssen, dazu hatte er aber keine Courage,
Wer die Hegeische Schule angreifen will, muß selbst ein Hegel sein,
der an ihrer Stelle eine neue Philosophie schafft. Und Leo zum
Trotz dehnt sie sich von Tage zu Tage mehr aus. Und der Angriff
vom Hirschberger Schubart auf die politische Seite der Hegeischen,
kommt er nicht wie ein Amen des Küsters zu dem pfaffenmäßigen
Credo des Halleschen Löwen, welcher freilich das Katzengsechlecht
nicht verleugnet? A propos, Leo ist der einzige akademische Lehrer
in Deutschland, der die Adelsaristokratie eifrig verteidigt! Leo
neruit auch W. Menzel seinen Freund!!!
Dein treuer Freund
Friedrich Engels, junger Deutscher.
Seid Ihr nicht mit Gans' Leiche gewesen? Warum schreibt Ihr
nichts von dem?
02 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
An Friedrich Graeber.
(15. Juni 39.)
Fritz Graeber: meine Herren, hier sehen Sie moderne Charak-
tere und Zustände.
n'iXiv'+Hitrv'
Den 15. Juni. Heute kommen Eure Briefe an.
Ich dekretiere, daß Wurm nie mehr die Briefe
wegschicken soll. Zur Hauptsache. Was Du mir
über Josephs Stammbäume sagst, so habe ich dies
der Hauptsache nach schon gewußt und dagegen
einzuwenden:
1. Wo ist in der Bibel in einem Ge-
schlechtsregister der Schwiegersohn auch
unter ähnlichen Umständen Sohn genannt
worden? Ohne solch ein Beispiel kann ich dies
nur als eine gezwungene, unnatürliche Erklärung
ansehen.
2. Warum sagt Lukas, der für Griechen
griechisch schrieb, für Griechen, die diese jüdische
Sitte nicht kennen konnten, nicht ausdrücklich,
daß dem so sei, wie Du sagst?
3. Was soll überhaupt ein Geschlechtsregister Josephs, das
ganz überflüssig ist, da alle drei synoptischen Evangelien ausdrück-
lich sagen, Joseph sei nicht Jesu Vater? —
Briefe an Friedrich Graeber. 5^
4. Warum nimmt ein Mann wie Lavater nicht seine Zuflucht
zu dieser Erklärung und läßt lieber den Widerspruch stehen ? End-
lich, warum sagt selbst Neander, der doch gelehrter ist, sogar als
Strauß, daß das ein unlösbarer Widerspruch sei, der dem griechi-
schen Bearbeiter des hebräischen Matthaeus zur Last zu legen sei ?
Ferner lasse ich mich mit meinen übrigen Sachen, die Du
„elende Wortklaubereien" nennst, nicht so leicht abweisen. Die
wörtliche Inspiration wird von den Wuppertalern in dem Grade ge-
lehrt, daß Gott sogar in jedes Wort einen besonders tiefen Sinn ge-
legt haben soll, was ich oft genug von der Kanzel gehört habe.
Daß Hengstenberg diese Ansicht nicht hat, glaube ich wohl, denn
aus der Kirchenzeitung geht hervor, daß er gar keine klaren An-
sichten hat, sondern bald hier etwas einem Orthodoxen zugibt, was
er bald darauf einem Rationalisten wieder als Verbrechen vorhält.
Aber wie weit geht denn die Inspiration der Bibel? Doch wahr-
lich nicht so weit, daß der Eine Christum sagen läßt: das ist mein
Blut, und der Andre: das ist das neue Testament in meinem Blut?
Denn warum ist dann Gott, der den Streit zwischen Lutherischen
und Reform.ierten doch vorhersah, diesem unseligen Streit nicht
durch eine so unendlich geringfügige Einwirkung zuvorgekommen?
Ist einmal Inspiration da, so gelten hier nur zwei Fälle: entweder
Gott hat es absichtlich getan, um den Streit hervorzurufen, was
ich Gott nicht aufbürden mag, oder Gott hat es übersehen, was dito
unstatthaft ist. Daß dieser Streit etwas Gutes hervorgerufen habe,
läßt sich auch nicht behaupten, und daß er, nachdem er 300 Jahre
die christliche Kirche zerrissen, in Zukunft noch Gutes wirken solle,
wäre eine Annahme, die ohne allen Grund und aller Wahrschein-
lichkeit zuwider ist. Grade diese Stelle beim Abendmahl ist wich-
tig. Und ist ein Widerspruch da, so ist der ganze Bibelglaube
zerstört.
Ich will Dir nur grade heraussagen, daß ich jetzt dahin ge-
kommen bin, nur die Lehre für göttlich zu halten, die vor der
Vernunft bestehen kann. Wer gibt uns das Recht, der Bibel blind-
lings zu glauben? Nur die Autorität derer, die es vor uns getan
haben. Ja, der Koran ist ein organischeres Produkt als die Bibel,
denn er fordert Glauben an seinen ganzen, fortlaufenden Inhalt,
die Bibel aber besteht aus vielen Stücken vieler Verfasser, von
denen viele nicht einmal selbst Ansprüche auf Göttlichkeit
machen. Und wir sollen sie, unsrer Vernunft zuwider, glauben,
bloß weil unsre Eltern es uns sagen ? Die Bibel lehrt ewige Verdamm-
nis des Rationalisten. Kannst Du Dir denken, daß ein Mann, der
sein Leben lang (Börne, Spinoza, Kant) nach der Vereinigung mit
Gott strebte, ja, daß einer wie Gutzkow, dessen höchstes Lebens-
64 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
ziel ist, den Punkt aufzufinden, wo sich das positive Christentum
und die Bildung unsrer Zeit verschwistert darstellen, daß der nach
seinem Tode ewig, ewig von Gott entfernt sein sollte und körper-
lich und geistig den Zorn Gottes ohne Ende in den grausamsten
Qualen tragen? Wir sollen keine Fliege peinigen, die uns Zucker
stiehlt, und Gott sollte einen solchen Mann, dessen Irrtümer ebenso
unbewußt sind, zehntausend mal so grausam und in alle Ewigkeit
peinigen? Ferner, ein Rationalist, der aufrichtig ist, sündigt der
durch sein Zweifeln ? Nimmermehr, Er müßte ja sein Lebenlang
die schrecklichsten Gewissensbisse haben; das Christentum müßte,
wenn er nach Wahrheit strebt, sich ihm mit unüberwindlicher
Wahrheit aufdrängen. Geschieht das ? Ferner, in welcher zwei-
deutigen Position steht die Orthodoxie zur modernen Bildung?
Man beruft sich darauf, daß das Christentum die Bildung überall
hin mitgebracht habe; jetzt plötzlich gebietet die Orthodoxie, die
Bildung solle mitten in ihrem Fortschritt stehen bleiben. Was
soll z. B. alle Philosophie, wenn wir der Bibel glauben, die die Un-
erkennbarkeit Gottes durch die Vernunft lehrt? Und doch findet
die Orthodoxie ein wenig, nur ja nicht zu viel, Philosophie ganz
zweckmäßig. Wenn die Geologie andere Resultate bringt als die
mosaische Urgeschichte lehrt, wird sie verschrieen (siehe den elenden
Aufsatz der Evangelischen Kirchenzeitung: Die Grenzen der Natur-
betrachtung), bringt sie scheinbar dieselben wie die Bibel, so
beruft man sich darauf. Zum Beispiel sagt ein Geolog, die Erde,
die versteinerten Knochen bewiesen eine große Flut, so beruft
man sich darauf; entdeckt aber ein andrer Spuren eines verschie-
denen Alters dieser Dinge, und beweist, es habe diese Flut ver-
schiedene Zeiten an verschiedenen Orten gehabt, so wird die Geo-
logie verdammt. Ist das aufrichtig? Ferner: da ist Strauß' Leben
Jesu, ein unwiderlegliches Werk, warum schreibt man nicht eine
schlagende Widerlegung? warum verschreit man den wahrhaft
achtbaren Mann? Wie viele sind christlich, wie Neander, gegen
ihn aufgetreten, und der — ist kein Orthodoxer. Ja, es gibt wahr-
haftig Zweifel, schwere Zweifel, die ich nicht widerlegen kann.
Ferner die Erlösungslehre: warum zieht man sich nicht die Moral
draus, wenn sich Einer freiwillig für den Andern stellt, den zu
strafen ? Ihr würdet es alle für Unrecht halten ; was aber vor
Menschen Unrecht ist, das soll vor Gott die höchste Gerechtigkeit
sein? Ferner: Das Christentum sagt: Ich mache euch frei von
der Sünde. Nun strebt dahin auch die übrige, rationalistische Welt;
da tritt das Christentum dazwischen und verbietet ihnen, fort-
zustreben, weil der Weg der Rationalisten noch weiter vom Ziel
abführe. Wenn das Christentum uns einen zeigte, den es in diesem
Briefe an Friedrich Graeber.
65
Leben so frei gemacht hat, daß er nicht mehr sündigte, dann möchte
es einiges Recht haben, so zu sprechen, aber eher wahrlich nicht.
Ferner: Paulus spricht von vernünftiger, lauterer Milch des Evan-
geliums. Ich begreife es nicht. Man sagt mir: Das ist die erleuch-
tete Vernunft. Nun zeige man mir Eine erleuchtete Vernunft,
der das einleuchtet. Bisher ist mir noch keine vorgekommen,
sogar den Engeln ist's „ein hohes Geheimnis". — Ich hoffe, Du
denkst zu gut von mir, dergleichen einer frevlerischen Zweifel-
sucht und Renommisterei zuzuschreiben; ich weiß, ich komme
in die größten Unannehmlichkeiten dadurch, aber was sich mir
überzeugend aufdringt, kann ich, so gern ichs möchte, nicht zu-
rückdrängen. Habe ich durch meine heftige Sprache vielleicht
Deiner Überzeugung wehe getan, so bitte ich Dich von Herzen um
Verzeihung; ich sprach nur, wie ich denke, und wie es sich mir
aufdrängt. Es geht mir wie Gutzkow; wo sich Einer hochmütig
über das positive Christentum hinwegsetzt, da verteidige ich diese
Lehre, die ja vom tiefsten Bedürfnis der menschlichen Natur, dem
Sehnen nach Erlösung von der Sünde durch die Gnade Gottes, aus-
geht; wo es aber darauf ankommt, die Freiheit der Vernunft zu
verteidigen, da protestiere ich gegen allen Zwang. — Ich hoffe,
eine radikale Veränderung im religiösen Bewußtsein der Welt zu
erleben; — wäre ich nur erst selbst im Klaren! Doch das soll
schon kommen, wenn ich nur Zeit habe, mich ruhig und ungestört
zu entwickeln.
Der Mensch ist frei geboren, ist frei!
Dein treuer Freund
Friedrich Engels.
,\n Friedrich Graeber.
12. bis 27. Juli 39.
Fritzo Graebero den I2. Juli. Ihr könntet Euch wohl einmal
herablassen, mir zu schreiben. Es werden bald 5 Wochen, daß ich
Euren letzten Brief bekam. — In meinem vorigen Briefe warf ich
Dir eine Masse skeptischer Klötze hin, ich würde das Ding anders an-
gefaßt haben, wenn ich damals schon die Schleiermachersche Lehre
gekannt hätte. Das ist denn doch noch ein vernünftiges Christentum;
das leuchtet doch jedem ein, auch ohne daß man es grade annimmt,
und man kann den Wert anerkennen, ohne sich an die Sache an-
schließen zu müssen. Was ich von philosophischen Prinzipien in
der Lehre fand, habe ich schon angenommen; über seine Erlösungs-
theorie bin ich noch nicht im Reinen, und werde mich hüten, sie
gleich als Überzeugung anzunehmen, um nicht bald wieder um-
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 5
66 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
satteln zu müssen. Aber studieren werd' ich's, sobald ich Zeit und
Gelegenheit habe. Hätte ich die Lehre früher gekannt, ich wäre
nie Rationalist geworden, aber wo hört man so was in unserm
Muckertale ? Ich habe eine rasende Wut auf diese Wirtschaft, ich
will mit dem Pietismus und dem Buchstabenglauben kämpfen, so-
lang ich kann. Was soll das Zeug ? Was die Wissenschaft, in deren
Entwicklung jetzt die ganze Kirchengeschichte liegt, verwirft, das
soll auch im Leben nicht mehr existieren. Mag der Pietismus früher
ein historisch berechtigtes Element in der Entwicklung der Theo-
logie gewesen sein; er hat sein Recht bekommen, er hat gelebt,
und soll sich nun auch nicht weigern, der spekulativen Theologie
zu weichen. Nur aus dieser läßt sich jetzt etwas Sicheres entwickeln.
Ich begreife nicht, wie man noch versuchen kann, den wörtlichen
Glauben an die Bibel zu halten oder die unmittelbare Einwirkung
Gottes zu verteidigen, da sie sich doch nirgends beweisen läßt.
Den 26. Juli. Da seid Ihr ja. Zur Sache, In Deinem Briefe
ist es ganz merkwürdig, wie Du an der Orthodoxie hältst, und doch
dabei einer rationalisierenden Richtung einzelnes zugibst, wodurch
Du mir Waffen in die Hand gibst. Josephs Stammbaum. Auf
meinen ersten Gegengrund antwortest Du mir: Wer weiß, ob wir
nicht oft genug in den biblischen Geschlechtsregistern Sohn statt
Schwiegersohn und Neffe lasen. Zerstörst Du nicht dadurch die
ganze Glaubwürdigkeit der biblischen Geschlechtsregister ? Wie
das Gesetz hier etwas beweisen soll, begreife ich gar nicht. — Auf
meinen zweiten Gegengrund sagst Du: Lukas habe für Theophilus
geschrieben. Lieber Fritz, was ist das für eine Inspiration, wo
eine solche Rücksicht auf die Kenntnisse dessen stattfindet, an
den das Buch zufällig zuerst geht ? Wenn da nicht auch auf alle
zukünftigen Leser Rücksicht genommen wird, so kann ich keine
Inspiration anerkennen, überhaupt scheinst Du Dir über den Begriff
der Inspiration noch nicht klar zusein. Drittens daß ein Geschlechts-
register des Joseph die Erfüllung der Weissagung darlege, bin ich
nicht capabel zu capieren; im Gegenteil mußte dem Evangelisten
alles daran gelegen sein, Jesum nicht als Josephs Sohn darzustellen,
diese Ansicht zu zerstören, und Joseph garnicht so mit Dar-
stellung seines Geschlechtsregisters zu beehren. — „Zu Scigen,
Jesus war ein Sohn Marias, Maria eine Tochter Eli, wäre ganz
gegen die Sitte gewesen." Lieber Fritz, kann hier die Sitte auch nur
den geringsten Einfluß haben? Siehe genau zu, ob Du dadurch
nicht wieder D, inem Begriffe von Inspiration zu nahe trittst. Ich
kann Deine Erklärung wahrlich nicht anders als so unendlich ge-
zwungen ansehen, daß ich an Deiner Stelle mich lieber entschlösse,
Eines für unecht zu halten. — „Dem Christentum müssen sich un-
Briefe an Friedrich Graeber. 67
auflösliche Zweifel entgegenstellen, und doch kann man zur Ge-
wißheit kommen durch Gottes Gnade." Diesen Einfluß der gött-
lichen Gnade auf den einzelnen bezweifle ich in der Gestalt, wie
Du ihn hast. Wohl kenne ich das selige Gefühl, das jeder hat, der
sich in innige, herzliche Beziehung zu Gott setzt, Rationalist wie
Mystiker; aber werde Dir darüber klar, denke, ohne Dich an bi-
blische Redensarten zu knüpfen, darüber nach, so findest Du, es
ist das Bewußtsein, daß die Menschheit göttlichen Ursprungs ist,
daß Du als Teil dieser Menschheit nicht verloren gehen kannst,
und nach allen unzähligen Kämpfen, in dieser, wie in jener Welt,
vom Sterblichen und Sündlichen entkleidet, in den Schoß der Gott-
heit zurückkehren mußt; das ist meine Überzeugung, und ich bin
ruhig dabei; insofern kann ich Dir auch sagen, daß mir Gottes
Geist Zeugnis gibt, daß ich ein Kind Gottes bin; und wie gesagt,
ich kann nicht glauben, daß Du es in andrer Art sagen könntest.
Freilich, Du bist viel ruhiger dabei, während ich mich noch mit
allerlei Meinungen herumschlagen und meine Überzeugung nicht
so unausge bildet stehen lassen kann; aber darum kann ich den
Unterschied wohl quantitativ, nicht aber qualitativ anerkennen. —
Daß ich ein Sünder bin, daß ich einen tiefliegenden Hang zur
Sünde habe, erkenne ich wohl an, und halte mich durchaus von
aller Werkgerechtigkeit fern. Aber, daß diese Sündlichkeit im
Willen des Menschen liege, erkenne ich nicht an. Wohl gebe ich
zu, daß in der Idee der Menschheit die Möglichkeit zur Sünde zwar
nicht liege, aber in ihrer Realisierung notwendig liegen müsse;
ich bin somit gewiß so bußfertig, wie es nur jemand verlangen kann;
aber, lieber Fritz, daß durch die Verdienste eines Dritten meine
Sünden sollen gehoben wären [sie !], das kann kein denkender Mensch
glauben. Denke ich unabhängig von aller Autorität darüber nach,
so finde ich mit der neueren Theologie, daß die Sündlichkeit des
Menschen in der notwendig unvollkommenen Realisation der Idee
liege; daß darum das Streben eines Jeden sein müsse, die Idee
der Menschheit in sich zu realisieren, d. h. sich Gott gleich zu
machen an geistiger Vollendung. Das ist etwas ganz Subjektives
— wie soll die orthodoxe Erlösungstheorie, die ein Drittes setzt,
etwas Objektives, dieses Subjektive vollbringen? Strafwürdig er-
kenne ich mich, und wenn Gott mich strafen will, so mag er's tun,
aber eine ewige Entfernung, auch nur des geringsten Teils von
Geist von Gott — das ist mir ganz unmöglich zu denken und zu
glauben. Daß es Gnade von Gott ist, daß er uns annimmt, das
ist freilich wahr, es ist ja alles Gnade, was Gott tut, es ist aber
zugleich auch Notwendigkeit, alles was er tut. Die Einigung dieser
Widersprüche macht ja einen bedeutenden Teil des Wesens Gottes
5*
68 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
aus. Was Du da weiter sagst, Gott könne sich nicht verleugnen etc.,
kommt mir vor, als wolltest Du meine Frage umgehen. Kannst
Du glauben, daß ein Mensch, der nach Vereinigung mit Gott strebt,
auf ewig von Gott verstoßen sein soll ? Kannst Du das ? Das kannst
Du nicht, darum gehst Du um den heißen Brei. Ist das nicht eine
sehr niedrige Ansicht, daß Gott für vergangenes Böse noch eine
Strafe — außer der, die in der bösen Tat selbst liegt — geben soll?
Du mußt mit ewiger Strafe auch ewige Sünde setzen; mit ewiger
Sünde ewige Möglichkeit zu glauben, also erlöst zu werden. Die
Lehre von der ewigen Verdammnis ist schrecklich inkonsequent.
Ferner: Das historische Glauben ist Dir doch eine große Haupt-
sache vom Glauben, und der Glaube ohne jenen nicht denkbar;
nun wirst Du mir aber nicht leugnen, daß es Menschen gibt, denen
es ganz unmöglich ist, diesen historischen Glauben zu haben.
Und von denen sollte Gott verlangen, daß sie das Unmögliche
täten? Lieber Fritz, bedenke, daß das Unsinn wäre, und daß Gottes
Vernunft wohl höher ist als unsre, aber doch nicht anders ; denn
dann wäre es keine Vernunft mehr. Die biblischen Dogmen sollen
ja auch mit der Vernunft aufgefaßt werden. — Nicht zweifeln
können, sagst Du, sei Geistesfreiheit? Die größte Geistesknecht-
schaft ist es, frei ist nur der, der jeden Zweifel an seiner Über-
zeugung besiegt hat. Und daß Du mich schlagen sollst, verlange
ich nicht einmal; ich fordre die ganze orthodoxe Theologie auf,
sie soll mich schlagen. Hat die ganze 1800 Jahre alte christliche
Wissenschaft dem Rationalismus keine Gegengründe entgegen-
stellen können, und nur wenige seiner Angriffe repoussiert, ja,
scheut sie den Kampf auf rein wissenschaftlichem Felde und zieht
lieber die Persönlichkeit der Gegner in den Staub — was soll man
dazu sagen? Ja, ist die orthodox-christliche Lehre einer rein wissen-
schaftlichen Behandlung fähig ? Ich sage nein ; was kann mehr ge-
schehen als ein bißchen Rangieren, Erklären und Disputieren?
Ich rate Dir, einmal die „Darstellung und Kritik des modernen
Pietismus von Dr. C. Märklin, Stuttgart 1839" zu lesen; wenn Du
die widerlegst (d. h. nicht das Positive, sondern das Negative darin),
so sollst Du der erste Theologe der Welt sein. — „^ei einfache
Christ kann hierbei auch ganz stehen bleiben, er weiß, daß er ein
Kind Gottes ist, und es ist ihm nicht nötig, daß er auf alle schein-
baren Widersprüche Rede und Antwort stehen könne." Auf die
scheinbaren ,, Widersprüche" kann weder der einfache Christ noch
Hengstenberg Rede und Antwort geben, denn es sind wirkliche
Widersprüche ; aber wahrlich, wer dabei stehen bleibt und auf seinen
Glauben pocht, der hat gar keinen Grund seines Glaubens. Wohl
kann das Gefühl bestätigen, aber begründen doch wahrlich nicht.
Briefe an Friedrich Graeber. 69
das hieße ja, mit den Ohren riechen wollen. Was Hengstenberg
mir so verhaßt macht, ist die wahrhaft schändliche Redaktion der
Kirchenzeitung. Fast alle Mitarbeiter sind anonym, und der Re-
dakteur hat also für sie zu stehen, packt ihn aber einer darauf an,
der darin beleidigt worden, so weiß Herr Hengstenberg von nichts,
nennt den Verfasser nicht, will aber auch keine Rede stehen. So
ist es schon manchem armen Teufel gegangen, der Gott weiß von
welchem dunklen Lumen in der Kirchenzeitung angegriffen worden
und der von Hengstenberg, wenn er ihn drauf faßte, zur Antwort
bekam, er habe den Artikel nicht geschrieben. Die Kirchenzeitung
hat dabei noch immer unter den pietistischen Predigern einen großen
Ruf, weil die die Gegenschrift nicht lesen und so hält sie sich. Die
letzten Nummern habe ich nicht gelesen, sonst würde ich Dir
Exempla anführen können. Als die Zürcher Geschichte mit Strauß
losbrach, kannst Du Dir gar nicht denken, wie greulich die Kirchen-
zeitung Strauß' Charakter verleumdet und verschrieen hat, während
er sich doch — darin haben alle Nachrichten übereingestimmt,
durchaus nobel bei der ganzen Sache benommen hat. Woher
kommt z. B. der große Eifer der Kirchenzeitung, Strauß mit dem
jungen Deutschland unter eine Rubrik zu bringen ? Und bei vielen
gilt das junge Deutschland für rasend schlimm, leider Gottes. —
Wegen der Poesie des Glaubens hast Du mich verkehrt verstanden.
Ich habe nicht um der Poesie willen geglaubt, ich habe geglaubt,
weil ich einsah, so nicht mehr in den Tag hineinleben konnte,
weil mich meine Sünden reuten, weil ich der Gemeinschaft mit
Gott bedurfte. Ich habe mein Liebstes auf der Stelle gern weg-
gegeben, ich habe meine größten Freuden, meinen liebsten Um-
gang für nichts geachtet, ich habe mich vor der Welt blamiert
an allen Ecken; ich habe ungeheure Freude darüber gehabt, daß
ich an Plümacher einen fand, mit dem ich davon reden konnte,
ich habe gern seinen Prädestinationsfanatismus ertragen; Du
weißt selbst, daß es mir Ernst war, heiliger Ernst. Da war ich
glücklich, das weiß ich, ich bin es jetzt ebenso sehr; da hatte ich
Zuversicht, Freudigkeit zum Beten; die hab' ich jetzt auch, ich
hab' sie noch mehr, denn ich kämpfe und bedarf der Stärkung.
Aber von jener ekstatischen Seligkeit, von der ich auf unsern
Kanzeln so oft hörte, habe ich nie was verspürt; meine Religion
war und ist stiller, seliger Friede, und wenn ich den nach meinem
Tode auch habe, so bin ich zufrieden. Daß ihn Gott mir nehmen
sollte, das habe ich keinen Grund zu glauben. Die religiöse Über-
zeugung ist Sache des Herzens, und hat nur insofern Bezug auf
das Dogma, als diesem vom Gefühl widersprochen wird oder nicht.
So mag Dir der Geist Gottes durch Dein Gefühl Zeugnis geben.
yo Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
daß Du ein Kind Gottes bist, das ist sehr leicht möglich, aber daß
Du es bist durch den Tod Christi — das doch gewiß nicht; sonst
wäre das Gefühl fähig zu denken. Deine Ohren fähig zu sehen. —
Ich bete täglich, ja fast den ganzen Tag um Wahrheit, habe es
getan, sobald ich anfing zu zweifeln, und komme doch nicht zu
Eurem Glauben zurück; und doch steht geschrieben: bittet, so
wird Euch gegeben. Ich forsche nach Wahrheit, wo ich nur Hoff-
nung habe, einen Schatten von ihr zu finden; und doch kann ich
Eure Wahrheit nicht als die ewige anerkennen. Und doch steht
geschrieben: suchet, so werdet Ihr finden. Wer ist unter Euch, der
seinem Kinde, das ihn um Brot bittet, einen Stein biete? Wieviel
mehr Euer Vater im Himmel?
Die Tränen kommen mir in die Augen, indem ich dies schreibe,
ich bin durch und durch bewegt, aber ich fühle es, ich werde nicht
verloren gehen, ich werde zu Gott kommen, zu dem sich mein
ganzes Herz sehnt. Und das ist auch ein Zeugnis des heiligen
Geistes, darauf leb' ich und sterb' ich, ob auch zehntausendmal
in der Bibel das Gegenteil steht. Und täusche Dich nicht, Fritz,
ob Du so sicher tust, eh' Du Dich versiehst, kommt auch so ein
Zweifel, und da hängt die Entscheidung Deines Herzens oft vom
kleinsten Zufall ab. — Aber daß auf den inneren Frieden der dog-
matische Glaube keinen Einfluß hat, weiß ich aus Erfahrung. —
den 27. Juli.
Wenn Du tätest, was in der Bibel steht, so dürftest Du gar
nicht mit mir umgehen. Im zweiten Brief Johannes (wenn ich
nicht irre) steht, man solle den Ungläubigen nicht grüßen, nicht
einmal XoiiQi::^) zu ihm sagen. Dergleichen Stellen sind sehr häufig
und haben mich immer geärgert. Ihr tut aber lange nicht alles,
was in der Bibel steht. Übrigens, wenn das orthodoxe evange-
lische Christentum die Religion der Liebe genannt wird, so kommt
mir das vor wie die ungeheuerste Ironie. Nach Eurem Christen-
tum werden neun Zehntel der Menschen ewig unglücklich und ein
Zehntel wird glücklich, Fritz, und das soll die unendliche Liebe
Gottes sein? Bedenke, wie klein Gott erscheinen würde, wenn
das seine Liebe wäre. Das ist denn doch klar, daß, wenn es eine
offenbarte Religion gibt, der Gott derselben zwar größer, aber
nicht anders sein darf, als der, den die Vernunft zeigt. Sonst ist
alle Philosophie nicht nur eitel, sondern sogar sündlich, ohne Phi-
losophie gibt es keine Bildung, ohne Bildung keine Humanität,
ohne Humanität wiederum keine Religion. Aber die Philosophie
so zu schmähen, wagt selbst der fanatische Leo nicht. Und das
*) Freue Dich!
Briefe an Friedrich Graeber. yi
ist wieder so eine von den Inkonsequenzen der Orthodoxen. Mit
Männern wie Schleiermacher und Neander will ich mich schon ver-
ständigen, denn sie sind konsequent und haben ein Herz; beides
suche ich in der Evangelischen Kirchenzeitung und den übrigen
Pietistenblättern vergebens. Besonders vor Schleiermacher hab'
ich ungeheure Achtung. Bist Du konsequent, so mußt Du ihn
freilich verdammen, denn er predigt nicht Christum in Deinem
Sinne, sondern eher im Sinne des jungen Deutschlands, Theodor
Mundts und Karl Gutzkows. Aber er ist ein großer Mann gewesen,
und ich kenne unter den jetzt lebenden nur einen, der gleichen Geist,
gleiche Kraft und gleichen Mut hat, das ist David Friedrich Strauß,
Ich habe mich gefreut, wie Du Dich so rüstig aufgemacht
hast, mich zu widerlegen, aber Eins hat mich geärgert, ich will's
Dir nur grad heraus sagen. Es ist die Verachtung, mit der Du von
dem Streben zur Vereinigung mit Gott, von dem religiösen Leben
der Rationalisten sprichst. Du liegst freilich behaglich in Deinem
Glauben, wie im warmen Bett, und kennst den Kampf nicht, den
wir durchzumachen haben, wenn wir Menschen es entscheiden
sollen, ob Gott Gott ist oder nicht; Du kennst den Druck solcher
Last nicht, die man mit dem ersten Zweifel fühlt, der Last des
alten Glaubens, wo man sich entscheiden soll, für oder wider, fort
tragen oder abschütteln; aber ich sage es Dir nochmals, Du bist
vor dem Zweifel so sicher nicht, wie Du wähnst, und verblende
Dich nicht gegen die Zweifelnden, Du kannst einst selber zu ihnen
gehören, und da wirst Du auch Billigkeit verlangen. Die Religion
ist Sache des Herzens, und wer ein Herz hat, der kann fromm sein;
wessen Frömmigkeit aber im Verstände oder auch in der Vernunft
Wurzel hat. der hat gar keine. Aus dem Herzen sprießt der Baum
der Religion und überschattet den ganzen Menschen und saugt seine
Nahrung aus der Luft der Vernunft ; seine Früchte aber, die das edelste
Herzblut in sich tragen, das sind die Dogm.en ; was drüber ist, das
ist von Übel. Das ist Schleiermachers Lehre, und dabei bleibe ich.
Adieu, lieber Fritz, besinne Dich recht drüber, ob Du mich wirk-
lich in die Hölle schicken willst, und schreib mir bald mein Urteil.
Dein Friedrich Engels.
An Friedrich Graeber.
(Ende Juli oder Anfang August 39.)
Lieber Fritz!
Recepi litteras tuas hodie, et jamque tibi responsurus sum^).
Viel schreiben kann ich Dir nicht — Du bist noch in meiner Schuld
*) Ich empfing heute Deinen Brief, und schon bin ich dabei, Dir zu
antworten.
^2 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1S41.
und ich erwarte einen langen Brief von Dir. Ist Dein Bruder W.
auch frei ? Studiert Wurm jetzt auch mit Euch in Bonn ? Gott segne
dem dicken Peter seine Studia miUtaria. Ein kleines Poem, am
27. Juli gemacht, möge Dich üben im Liberalismus und im Lesen
antiker Metra. Sonst ist nichts dran.
Deutsche Julitage.
1839.
Wie die Wellen sich heben im rauschenden Strom, wie der Sturm
so gewaltig einhergeht!
Mannshoch braust auf die geschlagene Flut, und es sinkt und es
hebt sich der Nachen;
Von dem Rhein her wehet der sausende Wind, der die Wolken ver-
sammelt am Himmel,
Der die Eichen zerbricht und den Staub auftreibt, und die Wogen
zerwühlt in der Tiefe.
Und Eurer gedenk' ich im schwankenden Boot, Ihr Fürsten und
Könige Deutschlands,
Aufs Haupt nahm einst das geduldige Volk den vergoldeten Thron,
da ihr sitzet,
Trug euch im Triumph, durchs heimische Land und verjagte den
kühnen Erobrer
Da wurdet ihr keck und des Übermuts voll da habt euer Wort
ihr gebrochen,
Nun wehet der Sturm aus Frankreich her, und es woget die Menge
des Volkes,
Und es schwanket der Thron, wie das Boot in dem Sturm., und das
Scepter erbebt in der Hand euch.
Vor allem zu dir, Ernst August, wend ich den Blick mit zornigem
Mute,
Du brachst, ein Despot, das Gesetz tollkühn, horch auf, wie die
Stürme erbrausen!
Wie das Volk aufschaut durchbohrenden Augs und das Schwert
kaum ruht in der Scheide,
Sprich, ruhst du so sicher auf goldenem Thron, wie ich in dem
schwankenden Boote ?
Das Faktum mit den hohen Wellen in der Weser ist wahr, auch
daß ich am großen Tage der Julirevolution drauf fuhr.
Grüß Wurm, er soll mir viel schreiben.
Dein Friedrich Engels.
Briefe an Friedrich und Wilhelm Graeber. yo
An Wilhelm Graeber.
Br., 30. Juli 1839.
Mein lieber Guglielmo!
Was hast Du für korrupte Ansichten von mir ? Weder vom
Spielmann noch vom treuen Eckart (oder wie Du schreibst Eck-
kardt) kann hier die Rede sein, sondern bloß von Logik, Vernunft,
Konsequenz, propositio major und minor etc. Ja, Du hast recht,
mit Sanftmut ist hier nichts auszurichten, mit dem Schwert müssen
diese Zwerge — ServiUsmus, Aristokratenwirtschaft, Zensur etc.
— weggejagt werden. Da sollte ich freilich recht poltern und
toben, aber weil Du es bist, will ich sänftiglich mit Dir fahren, da-
mit Du Dich nicht ,, bekreuzest", wenn die ,, wilde Jagd" meiner
regellosen, poetischen Prosa an Dir vor bei jagt. Zuerst protestiere
ich gegen Dein Ansinnen, ich gäbe dem Zeitgeist einen Tritt nach
dem andern auf den Codex, damit er besser vorankäme. Lieber
Mensch, was denkst Du Dir für eine Fratze unter meiner armen,
stumpfneisigen Gestalt! Nein, das laß ich fein bleiben, im Gegen-
teil, wenn der Zeitgeist daherkommt, wie der Sturmwind, und den
Train auf der Eisenbahn fortschleppt, so spring ich rasch in den
Wagen und laß mich ein wenig mitziehen. Ja, so ein Karl Beck
— die tolle Idee, er habe sich ausgedichtet, ist gewiß von dem ver-
kommenen Wichelhaus, über den der Wurm mich gehörig instru-
iert hat. Dieser Gedanke, daß ein zweiundzwanzigjähriger Mensch,
der solche rasenden Gedichte gemacht hat, nun plötzlich aufhören
soll, — nein, solcher Nonsens ist mir noch nicht vorgekommen.
Kannst Du Dir denken, daß Goethe nach dem Götz aufgehört habe,
ein genialer Poet zu sein, oder Schiller nach den Räubern? Außer-
dem soll sich die Geschichte am jungen Deutschland gerächt haben!
Gott bewahre mich, freilich, wenn die Weltgeschichte dem Bundes -
'tage als erbliches Lehn vom lieben Herrgott anvertraut ist, so hat
sie sich an Gutzkow durch dreimonatliche Haft gerächt, wenn sie
aber, wie wir nicht mehr zweifeln, in der öffentlichen Meinung
(d, h. hier der literarischen) liegt, so hat sie sich insofern am jungen
I>eutschland gerächt, daß sie sich hat von ihm mit der Feder in der
Hand erkämpfen lassen und nun das junge Deutschland als Königin
der deutschen modernen Literatur thront. Was Börnes Schicksal
gewesen? Er ist gefallen wie ein Held, 1837 im Februar, und hat
noch in seinen letzten Tagen die Freude gehabt, zu sehen, wie seine
Kinder, Gutzkow, Mundt, Wienbarg, Beurmann sich aufarbeiteten
gleich dem Donnerwetter — freilich lagen die schwarzen Wolken
des Unheils noch über ihren Häuptern, und eine lange, lange Kette
war um Deutschland gezogen, die der Bundestag flickte, wo sie zu
reißen drohte, aber er lacht jetzt auch der Fürsten und weiß viel-
>7A Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841,
leicht auch die Stunde, da ihnen die gestohlne Krone vom Kopf
fällt. Für Heines Glück will ich Dir nicht einstehen, überhaupt
ist der Kerl seit längerer Zeit ein Schweinigel, für Becks auch nicht,
denn er ist verliebt und grämt sich über unser liebes Deutschland;
an letzterem partizipiere ich auch, habe mich sonst noch viel her-
umzuschlagen, doch hat der gute alte Herrgott mir einen vortreff-
lichen Humor geschickt, der mich bedeutend tröstet. Männeken,
bist Du denn glücklich ? — Deine Ansicht von Inspiration halt'
nur ja geheim, sonst wirst Du nie Prediger im Wuppertal. War'
ich nicht in den Extremen der Orthodoxie und des Pietismus auf-
gewachsen, wäre mir nicht in der Kirche, der Kinderlehre und zu
Haus immer der direkteste, unbedingteste Glaube an die Bibel und
an die Übereinstimmung der biblischen Lehre mit der Kirchen-
lehre, ja, mit der Speziallehre jedes Pfarrers vorgesprochen wor-
den, so wäre ich vielleicht noch lange am etwas liberalen Supra-
naturalismus hängen gebliebsn. In der Lehre sind Widersprüche
genug, so viel als biblische Autoren sind, und der Wuppertaler
Glaube hat somit ein Dutzend Individualitäten in sich aufgenommen.
Von wegen dem Stammbaum Josephs schiebt Neander bekanntlich
den des Matthaeus dem griechischen Übersetzer des hebräischen
Originals zu; wenn ich nicht irre, hat Weisse sich in seinem
Leben Jesu ähnlich wie Du gegen Lukas ausgesprochen. Die Er-
klärung des Fritz kommt zuletzt auf solche abnormen Möglich-
keiten, daß sie für keine zu halten sein kann, ngofiaxog^) bin
ich freilich, doch nicht der rationalistischen sondern der liberalen
Partei. Die Gegensätze trennen sich, schroff stehn sich die An-
sichten gegenüber. Vier Liberale (zugleich Rationalisten), ein Ari-
stokrat, der zu uns überging, aus Angst aber, gegen die in seiner
Familie eingeerblichten Grundsätze anzustoßen, gleich wieder zur
Aristokratie lief, ein Aristokrat, der guter Hoffnung ist — wie wir
hoffen, und diverse Schafsköpfe, das ist der Zirkus, in dem gestrit-
ten wird. Ich promachiere als Kenner des Altertums, des Mittel-
alters und des modernen Lebens, als Grobian etc., doch ist dies
Promachieren schon nicht mehr nötig, meine Untergebnen machen
sich gut heraus ; gestern hab ich ihnen die historische Notwendig-
keit in der Geschichte von 1789 bis 1839 beigebracht, und außer-
dem zu meiner Verwunderung erfahren, daß ich den hiesigen Pri-
manern allen um ein ziemliches im Disputieren überlegen sein soll.
Sie haben sich, nachdem ich gleich zwei — vor langer Zeit schon
— aus dem Felde geschlagen — entschlossen und verschworen,
mir den gescheutesten auf den Hals zu schicken, der sollte mich
1) Vorkämpfer.
Briefe an Wilhelm Graeber. yg
schlagen, und war unglücklicherweise damals in den Horaz ver-
liebt, sodaß ich ihn nach der Ait kloppte. Da bekamen sie die
greulichste Angst. Jener Ex-Horazomane steht jetzt sehr gut mit
mir und erzählte es mir gestern Abend. Von der Richtigkeit meiner
Rezensionen würdest Du Dich auf der Stelle überzeugen, wenn Du
die rezensierten Bücher läsest. Karl Beck ist ein ungeheures Talent,
mehr als das, ein Genie. Bilder wie:
„Man hört des Donners Stimme laut verkünden,
Was ins Gewölk die Blitze hingeschrieben"
kommen in ungeheurer Masse vor. Höre, was er von seinem an-
gebeteten Börne sagt. Er redet Schiller an:
Dein Posa war kein schaumgeborner Wahn;
Ist Börne für die Menschheit nicht gefallen?
Er klomm, ein Teil, der Menschheit Höh'n hinan,
Und ließ der Freiheit Hüfthorn laut erschallen.
Dort hat er ruhig seinen Pfeil gespitzt.
Er zielte, schoß, und tief im Apfel sitzt
Der Freiheit Pfeil — tief in der runden Erde.
Und wie er das Elend der Juden schildert, und das Studenten-
leben, es ist kostbar; und nun gar der fahrende Poet! Mensch,
habe doch Begriffe, und lies ihn! Sieh einmal, wenn Du nur den
Aufsatz Börnes über Schillers Teil widerlegst, so sollst Du all das
Honorar haben, was ich für meine Übersetzung des Shelley zu be-
kommen hoffe. Daß Du mir meinen Wuppertaler Aufsatz so her-
untergemacht hast, will ich Dir verzeihen, indem ich ihn neulich
wieder las und über den Stil erstaunte. Ich habe seit der Zeit lange
nfcht so gut wieder geschrieben. Leo und Michelet vergiß nächstes
Mal nicht. Du bist sehr im Irrtum, wie gesagt, wenn Du meinst,
wir jungen Deutschen wollten den Zeitgeist auf den Strumpf v/ehen ;
aber bedenke einmal, wenn dieses Jivevjna^) weht und recht weht,
wären wir nicht Esel, wenn wir die Segel nicht aufspannten ? Daß
Ihr mit Gans' Leiche gegangen seid, soll Euch nicht vergessen
werden. Ich werde es nächstens in die Elegante Zeitung rücken
lassen. Höchst komisch kommt es mir vor, daß Ihr alle hintennach
so schön um Verzeihung bittet über Euer bißchen Poltern ; Ihr könnt
noch gar nicht donnerwettern, und da kommen sie alle an — der
Fritz schickt mich in die Hölle, begleitet mich bis ans Tor und
schiebt mich mit einem tiefen Kompliment hinein, um selbst wieder
in den Himmel fliegen zu können. Du kuckst alles doppelt durcfc
') Wind.
^6 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Deine Spathbrille und siehst meine drei Genossen für Geister aus
Frau Venus Berg an — Manne ken, was schreist Du nach dem
treuen Eckart ? Sieh, da ist er ja schon, ein kleiner Kerl, mit schar-
fem, jüdischem Profil, er heißt Börne, laß den nur dreinschlagen, der
chassiert all das Volk der Frau Venus Servilia. Dann empfiehlst
Du Dich gleichfalls höchst demütig — sieh, oller [?] Peter kommt
auch, lacht mit dem halben Gesicht und knurrt mit dem halben Ge-
sicht, und hält mir erst die knurrende, dann die lachende Seite hin.
Im lieben Barmen fängt jetzt der literarische Sinn sich zu
regen an. Freiligrath hat einen Verein zur Lektüre von Dramen
gestiftet, in dem seit Freiligraths Weggange Strücker und Neuburg
(Kommis bei Langewiesche) die Tigo/uayoi^) liberaler Ideen sind. Da
hat denn Herr Erich die scharfsinnigen Entdeckungen gemacht:
I. daß das junge Deutschlcnd in diesem Verein spuke, 2. daß dieser
Verein in pleno die Briefe aus dem Wuppertale im Telegraphen ab-
gefaßt habe. Auch hat er plötzlich eingesehen, daß Freiligraths
Gedichte das fadeste Zeug von der Welt seien, Freiligrath tief unter
de la Motte Fouqu6 stehe, und innerhalb drei Jahren vergessen sein
werde. Gerade wie jene Behauptung von K. Beck. —
Oh Schiller, Schiller, dem im Geistesschwunge
Das größte Herz im wärmsten Busen schlug,
Du, du warst der Prophet, der ewig junge.
Der kühn voran der Freiheit Fahne trug!
Als alle Welt sich aus dem Kampf gestohlen.
Die kleinen Seelen sich dem Herrn empfohlen,
Warst du verschwenderisch mit deinem Blut;
Dein wärmstes Leben und dein tiefstes Leben
Hast du für eine Welt dahin gegeben —
Sie nahm das Opfer kalt und wohlgemut;
Denn sie begriff nicht deinen tiefen Gram,
Sie hörte nur die Melodie der Sphären,
Wenn an ihr Ohr die Liederwoge kam,
Die du geschwellt mit blutigroten Zähren!
Von wem ist das Ding ? Es ist von Karl Beck, aus dem fahrenden Poe-
ten, mit all seinen gewaltigen Versen und seiner Bilderpracht, aber
auch mit seiner Unklarheit, mit seinen überschwänglichen Hy-
perbeln und Metaphern ; denn daß Schiller unser größter liberaler
Poet ist, ist ausgemacht; er ahnte die neue Zeit, die nach der fran-
zösischen Revolution anbrechen sollte, und Goethe tat das nicht,
selbst nicht nach der Julirevolution; und wenn es ihm zu nah kam,
daß er doch fast: glauben mußte, es käme was Neues, so zog er sich
*) Vorkämpfer.
Briefe an Wilhelm Graeber.
77
in seine Kammer zurück und schloß die Tür zu, um behaglich zu
bleiben. Das schadet Goethe sehr ; aber er war 40 Jahr alt, als die
Revolution ausbrach, und ein gemachter Mann, deshalb kann man
es ihm nicht vorwerfen. Ich will Dir zum Schluß noch was malen.
^Y.
O ^
^^, >V.A4M
Gedichte schick ich in Masse bei, teilt Euch drin.
Dein
Friedrich Engels.
An Wilhelm Graeber.
den 8. Oktober 1839.
O Wilhelm, Wilhelm, Wilhelm! Also endlich vernimmt man
was von Dir? Nun Männeken, nun sollst Du mal was hören: ich
bin jetzt begeisterter Straußianer. Kommt mir jetzt nur her, jetzt
habe ich Waffen, Schild und Helm, jetzt bin ich sicher; kommt
nur her und ich will Euch kloppen trotz Eurer Theologia, daß Ihr
nicht wissen sollt, wohin flüchten. Ja, Guillermo, jacta est alea,
ich bin Straußianer, ich, ein armseliger Poete, verkrieche mich
unter die Fittiche des genialen David Friedrich Strauß. Hör' ein-
mal, was das für ein Kerl ist! Da liegen die vier Evangelien, kraus
und bunt wie das Chaos; die Mystik liegt davor und betet an —
siehe, da tritt David Strauß ein, wie ein junger Gott, trägt das Chaos
heraus ans Tageslicht und — Adios Glauben! es ist so löcherig
wie ein Schwamm. Hier und da sieht er zu viel Mythen, aber nur
in Kleinigkeiten, und sonst ist er durchweg genial. Wenn Ihr den
yg Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Strauß widerlegen könnt — eh bien, dann werd' ich wieder Pietist.
— Ferner würde ich aus Deinem Briefe lernen können, daß Mengs
ein bedeutender Künstler war, wenn ich's unglücklicherweise nicht
längst gewußt hätte. „Die Zauberflöte (Musik von Mozart)" das
ist gradeso. Die Einrichtung mit dem Lesezimmer ist ja vortreff-
lich, und ich mache Dich von neuesten literarischen Erscheinungen
auf König Saul, Trauerspiel von Gutzkow; Skizzenbuch, von dem-
selben; Dichtungen von Th. Creizenach (einem Juden) ; Deutschland
und die Deutschen von Beurmann; die Dramatiker der Jetztzeit,
I. Heft, von L. Wienbarg etc. aufmerksam. Über den Saul bin ich
sehr begierig ein Urteil von Dir zu hören; in Deutschland und die
Deutschen hat Beurm.ann meinen Aufsatz im Telegraphen exzerpiert
wo er vom Wuppertale spricht. — Dagegen warne ich Dich vor
der Geschichte des polnischen Aufstands (1830—31) von Smitt,
Berlin 1839, welche ohne Zweifel auf direkte Order des Königs
von Preußen geschrieben ist. Das Kapitel vom Beginn der Revo-
lution hat ein Motto aus Thucydides etwa dieses Sinnes: wir aber,
die wir uns nichts Böses versehen, wurden plötzlich ohne alle Ur-
sache von ihnen mit Krieg überzogen!!!!!! 0 Unsinn, Du bist
groß! Herrlich dagegen ist die Geschichte dieses glorreichen Auf-
standes vom Grafen Soltyk, die deutsch Stuttgart 1834 herauskam
— ja, bei Euch wird sie verboten sein, wie alles Gute. Eine andere
wichtige Neuigkeit ist, daß ich eine Novelle schreibe, welche Ja-
nuar gedruckt wird, wohl zu merken, wenn sie die Zensur passiert,
welches ein arges Dilemma ist. —
Ob ich Euch Poeme schicken soll oder nicht, weiß ich gar nicht
einmal, doch glaube ich, daß ich Euch den Odysseus Redivivus zu-
letzt geschickt habe, und bitte mir Kritik aus über die letzte Sen-
dung. Hier ist jetzt ein Kandidat von dort, Müller, der als Prediger
mit einem Schiff in die Südsee gehen soll, er wohnt bei uns im Hause
und hat ungeheuer forcierte Ansichten vom Christentum, was
Dir einleuchtend sein wird, wenn ich Dir sage, daß er seine letzte
Zeit unter Goßners Einfluß verlebte. — Exaltiertere Ansichten
von der Kraft des Gebets und der unmittelbaren göttlichen Ein-
wirkung aufs Leben kann man nicht leicht haben. Statt zu sagen,
man könne seine Sinne, Gehör, Gesicht, verschärfen, Seigt er:
wenn der Herr mir ein Amt gibt, so muß er mir auch Kraft dazu
geben; natürlich muß brünstiges Gebet und eignes Arbeiten den-
noch dabei sein, sonst geht's nicht — und so beschränkt er diese
allen Menschen gemeinsame, bekannte Tatsache auf die Gläubigen
allein. Daß eine solche Weltansicht doch gar zu kindlich und kin-
disch ist, müßte mir selbst ein Krummacher zugeben. — Daß Du
bessere Ansichten von meinem telegraphischen Artikel hast, ist
Briefe ein Wilhelm Graeber.
79
mir sehr lieb. Übrigens ist das Ding in der Hitze geschrieben, wo-
durch es zwar einen Stil erhalten hat, wie ich ihn mir für meine
Novelle nur wünschen mag, aber auch an Einseitigkeiten und an
halben Wahrheiten leidet. Krummacher hat Gutzkow — Du
weißt's wohl schon, in Frankfurt am Main kennen gelernt und soll
mirabilia darüber fabeln; — Beweis für die Richtigkeit der Strauß-
schen Mythenansicht. Ich lege mich jetzt auf den modernen Stil,
der ohne Zweifel das Ideal aller Stilistik ist. Muster für ihn sind
Heines Schriften, besonders aber Kühne und Gutzkow. Sein Meister
aber ist Wienbarg. Von früheren Elementen haben besonders günstig
auf ihn eingewirkt: Lessirg, Goethe, Jean Paul und vor allem Börne.
0, der Börne schreibt einen Stil, der über alles geht. ,, Menzel der
Franzosenfresser*' ist stilistisch das erste Werk Deutschlands, und
zugleich das erste, wo es darauf ankommt, einen Autor ganz und
gar zu vernichten ; ist wieder bei Euch verboten, damit ja kein besse-
rer Stil geschrieben werde, als auf den königlichen Bureaus geschieht.
Der moderne Stil vereinigt alle Vorzüge des Stils in sich ; gedrungene
Kürze und Prägnanz, die mit einem Worte den Gegenstand trifft,
abwechselnd mit der epischen, ruhigen Ausmalung; einfache
Sprache, abwechselnd mit schimmernden Bildern und glänzenden
Witzfunken, ein jugendlich kräftiger Ganymed, Rosen ums Haupt
gewunden, und das Geschoß in der Hand, das den Python schlug.
Dabei ist denn der Individualität des Autors der größte Spielraum
gelassen, so daß trotz der Verwandtschaft keiner des andern Nach-
ahmer ist. Heine schreibt blendend. Wienbarg herzlich Wcirm und
strahlend, Gutzkow haarscharf treffend, zuweilen von einem wohl-
tuenden Sonnenblick überflogen. Kühne schreibt gemütlich -aus-
malend — mit etwas zu viel Licht und zu wenig Schatten, Laube
ahmt Heine nach und jetzt auch Goethe, aber auf verkehrte Ma-
nier, indem er den Goetheaner Varnhagen nachahmt, und Mundt
ahmt gleichfalls Varnhagen nach. Marggraf f schreibt noch etwas
sehr allgemein und mit vollen Backen pustend, doch das wird sich
legen, und Becks Prosa ist noch nicht über Studien hinaus. — Ver-
bindet man Jean Pauls Schmuck mit Börnes Präzision, so sind die
Grundzüge des modernen Stils gegeben. Gutzkow hat auf eine
glückliche Weise den brillanten, leichten aber trocknen Stil der
Franzosen in sich aufzunehmen gewußt. Dieser französische Stil
ist wie ein Sommerfaden, der deutsche moderne ist eine Seidenflocke.
(Dies Bild ist leider verunglückt.) Daß ich aber über dem Neuen
das Alte nicht vergesse, zeigt mein Studium der gottvollen Goethe-
schen Lieder. Man muß sie aber musikalisch studieren, am besten
in verschiedenen Kompositionen. Z. B. will ich Dir die Reichardt-
sche Kornposition des Bundesliedes hersetzen:
8o Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 184 1.
^^
f In al - len gu-ten Stun-den, Er-höht von Lieb und Wein,|
l Soll die - ses Lied ver-bun-den Von uns ge-sun-gen sein./
m^t r r r =r=F=.^^^^=;=£=^^
^n I ' ' ' r I — i=^=F— ^— ^— ^^g^=^
t
Uns hält der Gott zu-sam-men, der uns hier-her ge- bracht,
*
Er-neu-ert eu - re Flam-men, er hat sie an -ge- facht.
Die Taktstriche habe ich wieder vergessen, laß sie Dir vom Heuser
machen. Die Melodie ist herrlich und durch die stets im Akkord
sich haltende Einfachheit dem Liede so angemessen wie keine.
Herrlich macht sich das Steigen V. 6 von e bis zur Septime d und
das rasche Fallen V. 8 von h bis zur None a. Über das Miserere
von Leonardo Leo werde ich dem Heuser schreiben. —
Ich werde Euch dieser Tage einen guten Freund, der dort stu-
dieren wird, Adolf Torstrick, herschicken, er ist fidel und liberal und
versteht gut griechisch. Die andern Bremer, die dort hinkommen,
sind nicht viel wert. Torstrick wird Briefe an Euch von mir be-
kommen. Nehmt ihn gut auf, ich will wünschen, daß er Euch ge-
fallen möge. Fritz hat mir noch immer nicht geschrieben, der
vermicul^) wollte von Elberfeld aus schreiben, ist aber unterblieben
aus Faulheit, wofür Du ihn rüffeln willst. Sollte der Heuser ankom-
men, dem ich aus Furcht, ihn nicht mehr zu treffen, nicht nach
Elberfeld schreiben kann, so mach ihm Hoffnung, bald was zu kriegen.
Dein Friedrich Engels.
An Wilhelm Graeber.
den 20, Oktober (1839)
Herrn Wilhelm Graeber. Ich bin ganz sentimental, es ist ein
schwieriger Kasus. Ich bleibe hier, entblößt von aller Fidelität. Mit
Adolf Torstrick, dem Überbringer dieses, geht die letzte Fidelität weg.
Wie ich den 18. Oktober gefeiert, ist in meiner letzten Heuserlichen
Epistel zu lesen. Heute Bierzech, morgen Langweile, übermorgen geht
der Torstrick weg, Donnerstag kommt der in vorerwähnter Epistel er-
wähnte Studio wieder, worauf zwei fidele Tage folgen, und dann — ein
einsamer, greulicher Winter. Die ganze hiesige Welt ist nicht zum
Zechen zu bringen, es sind alles Philister, ich sitze mit meinem
Rest burschikoser Lieder, mit meinem renommistischen studio-
») Wurm.
Briefe an Friedrich und Wilhelm Graeber. 8l
sistischen Anhauch allein in der großen Wüste, ohne Zechgenossen,
ohne Liebe, ohne FideUtät, einzig mit Tabak, Bier und zwei zech-
unfähigen Bekannten. Sohn, da hast du meinen Spieß, kneip'
daraus mein Cerevis, So du kneipest comme il faut, wird dein alter
Vater froh, möcht' ich singen, aber wem soll ich meinen Spieß
geben, und dann kann ich auch die Melodie nicht recht. Eine Hoff-
nung allein hab' ich noch, Euch übers Jahr, wenn ich nach Hause
geh, in Barmen zu treffen, und wenn in Dich und Jonghaus und
Fritz der Pfaffe noch nicht zu sehr gefahren ist, mit Euch dort
herumzukneipen. Den 21. — Heute einen furchtbar langweiligen
Tag gehabt. Auf dem Comptoir halbtot geochst. Dann Singakademie
gehabt, ungeheuren Genuß. Nun muß ich sehen daß ich Euch noch
was schreibe. Verse mit nächster Gelegenheit, ich habe keine Zeit
mehr sie zu kopieren. Nicht einmal was Interessantes zu essen ge-
habt, alles langweilig. Dabei ist es so kalt, daß man es auf dem
Comptoir nicht aushalten kann. Gottlob, morgen haben wir Hoff-
nung, geheizt zu bekommen. Von Deinem Bruder Hermann werde
ich nächstens wohl einen Brief bekommen, er will meiner Theologie
auf den Zahn fühlen und meine Überzeugung massakrieren. Das
kommt vom Skeptizismus. Die tausend Haken, mit denen man am
Alten hing, lassen los und haken sich woanders ein, und dann gibt's
Disputationen. Den Wurm soll der Teufel holen, der Kerl läßt
nichts von sich hören, er encanaiUisiert sich täglich mehr. Ich
vermute, er kommt ans Branntweintrinken. Nun nehmt mir den
Torstrick freundlich auf, laßt ihn Euch von mir erzählen, wenn
Euch das interessiert und setzt ihm gutes Cerevis vor. Fare well.
Dein Friedrich Engels.
An Friedrich Graeber.
[29. Oktober 39]
Mein lieber Fritz — ich bin nicht wie Pastor Stier gesinnt. —
Den 29. Oktober, nach einer flott verlebten Messe und einer mit
schwerer, furchtbarer Korrespondenz, die durch Gelegenheit nach
Berlin ging, sowie nach einem Brief an W. Blank, der lange warten
mußte, bin ich endlich so weit, mich mit Dir in aller Freundschaft
herumbalgen zu können. Deinen Exkurs über die Inspiration hast
Du wohl ziemlich flüchtig hingeschrieben, indem es so wörtlich
nicht zu nehmen ist, wenn Du schreibst: die Apostel predigten das
Evangelium rein, und das hörte nach ihrem Tode auf. Da mußt
Du zu den Aposteln noch den Verfasser der Apostelgeschichte und
des Ebräerbriefs rechnen und beweisen, daß die Evangelien wirk-
lich von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschrieben sind,
Mayer, Engels, Ergänzungsband. 6
82 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
während doch von den drei ersten das Gegenteil feststeht. Ferner
sagst Du: ich glaube nicht, daß wir in der Bibel eine andere Inspi-
ration finden dürfen, als wenn die Apostel und Propheten auf-
traten und dem Volke predigten, Gut, aber gehört nicht wieder
eine Inspiration zur richtigen Aufzeichnung dieser Predigten ? Und
gibst Du in diesem Satz mir zu, daß uninspirierte Stellen in der
Bibel sind, wo willst Du da die Grenze ziehen? Nimm die Bibel
zur Hand und lies — Du wirst keine Zeile missen wollen, als da,
wo wirkliche Widersprüche sind ; aber diese Widersprüche ziehen
eine Masse Konsequenzen nach sich; z.B. der Widerspruch, daß
der Aufenthalt der Kinder Israel in Ägypten nur vier Generationen
gedauert habe, während Paulus im Galaterbrief (nisi erro) 430
Jahre angibt, was sogar mein, mich gern im Dunkeln halten wollen-
der Pastor als Widerspruch anerkennt. Du wirst mir nicht sagen,
Paulus Worte gelten nicht für inspiriert, weil er die Sache ge-
legentlich erwähnt und keine Geschichte schreibt — was gilt mir
eine Offenbarung, in der solch überflüssige und unnütze Dinge
vorkommen. Ist aber der Widerspruch anerkannt, so können beide
gleich Unrecht haben, und die alttestamentarische Geschichte tritt
in ein zweideutiges Licht, wie denn überhaupt die biblische Chrono-
logie — das erkennen alle, nur nicht Pastor Tiele zu Oberneuland
bei Bremen, an — unrettbar verloren für die Inspiration ist. Das
stellt die Geschichte des alten Testaments noch mehr ins Mythen-
hafte, und es wird nicht lange dauern, bis dies auch auf den Kanzeln
allgemein anerkannt ist. — Was den Josuaschen Sonnenstillstand
anbetrifft, so ist der schlagendste Grund, den Ihr gebrauchen könnt,
daß Josua, als er dies sprach, noch nicht inspiriert gewesen sei, und
später, als er inspiriert das Buch geschrieben habe, habe er nur
erzählt. Erlösungstheorie. — >>Der Mensch ist so gefallen, daß
er aus sich nichts Gutes zu tun vermag." Lieber Fritz, laß doch ab
von diesem hyperorthodoxen und nicht einmal biblischen Unsinn.
Wenn Börne, der in Paris selbst knapp lebte, alles Honorar für
seine Schriften armen Deutschen gab, wofür er nicht einmal Dank
empfing, so war das hoffentlich doch etwas Gutes ? Und Börne
war wahrlich kein ,,Wiederge borner". — Ihr habt diesen Satz
gar nicht einmal nötig, wenn Ihr nur die Erbsünde habt. Christus
kennt ihn auch nicht, so wie so vieles aus der Lehre der Apostel.
— Die Lehre von der Sünde habe ich noch am wenigsten überdacht,
das ist mir indes klar, daß die Sünde der Menschheit notwendig ist.
Die Orthodoxie sieht richtig einen Zusammenhang zwischen Sünde
und irdischen Mängeln, Krankheit etc., sie irrt aber darin, daß sie
die Sünde als Ursache dieser Mängel hinstellt, was nur in einzelnen
Fällen stattfindet. Diese beiden, Sünde und Mängel, bedingen sich
Briefe an Friedrich Graeber. ga
gegenseitig, das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Und weil
die Kräfte des Menschen nicht göttlich sind, so ist die Möglichkeit
zur Sünde notwendig; daß sie wirklich eintreten mußte, war durch
die rohe Stufe der ersten Menschen gegeben, und daß sie seitdem
nicht aufhörte, ist wieder ganz psychologisch. Sie kann auch gar
nicht aufhören auf der Erde, weil sie durch alle irdischen Verhält-
nisse bedingt ist, und Gott sonst die Menschen anders hätte schaffen
müssen. Da er sie aber einmal so geschaffen hat, so kann er gar
keine absolute Sündlosigkeit von ihnen verlangen, sondern nur
einen Kampf mit der Sünde ; daß dieser Kampf plötzlich mit dem
Tode aufhören und ein dolce far niente eintreten werde, konnte
nur die vernachlässigte Psychologie früherer Jahrhunderte schlie-
ßen. Ja, diese Prämissen zugegeben, wird die moralische Voll-
kommenheit nur mit der Vollkommenheit aller übrigen geistigen
Kräfte, mit einem Aufgehen in die Weltseele zu erringen sein, und
da bin ich bei der Hegeischen Lehre, die Leo so heftig angriff.
Dieser letzte metaphysische Satz ist übrigens so ein Schluß, von
dem ich selbst noch nicht weiß, was ich davon halten soll. — Ferner
kann nach diesen Prämissen die Geschichte Adams nur Mythe sein,
indem Adam entweder Gott gleich sein mußte, wenn er so sündlos
geschaffen war, oder sündigen mußte, wenn er mit im übrigen
menschlichen Kräften geschaffen war. — Das ist meine Theorie
der Sünde, die indes noch an ungeheurer Roheit und Lückenhaf-
tigkeit leidet; wobei habe ich hier noch einer Erlösung nötig? —
,, Wollte Gott einen Ausweg zwischen strafender Gerechtigkeit und
erlösender Liebe finden, so blieb die Stellvertretung als einziges
Mittel übrig." Nun seht einmal, was für Menschen Ihr seid. Uns
kommt Ihr damit, daß wir in die Tiefen der göttlichen Weisheit
unser kritisches Senkblei herabließen, und hier setzt Ihr sogar der
göttlichen Weisheit Schranken. Ein größeres Dementi hätte sich
Herr Professor Philippi nicht geben können. Und hört denn —
gesetzt auch die Notwendigkeit dieses einzigen Mittels — die Stell-
vertretung auf, eine Ungerechtigkeit zu sein? Ist Gott wirklich
so streng gegen die Menschen, so muß er hier auch streng sein und
darf hier kein Auge zudrücken. Arbeite Dir dieses System nur ein-
mal recht scharf und bestimmt heraus, und die wunden Flecke wer-
den Dir nicht entgehen. — Dann kommt ein ganz pompöser Wider-
spruch gegen die ,, Stellvertretung als einziges Mittel", indem Du
sagst: „ein Mensch kann nicht Mittler sein, selbst wenn er durch
einen Akt der göttlichen Allmacht von aller Sünde be-
freit wäre." Also doch noch ein anderer Weg? Ja, wenn die
Orthodoxie keine besseren Vertreter in Berlin hat als Professor
Philippi, so ist sie wahrhaftig schlimm dran. — Durch die ganze
6»
^4 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Deduktion zieht sich stillschweigend das Prinzip der Rechtmäßig-
keit der Stellvertretung. Das ist ein Mörder, den Ihr für Eure
Zwecke geworben habt, und der Euch hintennach selbst totsticht.
Ihr wollt auch gar nicht recht dran, zu beweisen, daß dies Prinzip
nicht mit der göttlichen Gerechtigkeit streite, und, bekennt es nur
ehrlich, Ihr fühlt selbst, daß Ihr diesen Beweis gegen Euer inner-
stes Gewissen führen müßtet; deswegen huscht Ihr weg über das
Prinzip und nehmt die Tatsache, mit einigen schönen Worten von
erbarmender Liebe etc. verbrämt, stillschweigend für vernünftig
an. — ,,Die Dreieinigkeit ist Bedingung der Erlösung." Das ist
wieder so eine halbrichtige Konsequenz Eures Systems. Freilich,
zwei Hypostasen müßte man schon annehmen, aber die dritte doch
wohl nur weil es so hergebracht ist.
„Um aber zu leiden und zu sterben, mußte Gott Mensch wer-
den, denn abgesehen von der metaphysischen Undenkbar keit, in
Gott als solchen eine Leidensfähigkeit zu setzen, war ja auch die
durch die Gerechtigkeit bedingte ethische Notwendigkeit vorhanden."
— Aber wenn Ihr die Undenkbar keit zugebt, daß Gott leiden könne,
so hat in Christus der Gott auch nicht gelitten, sondern nur der
Mensch, und: ,, ein Mensch könnte nicht Mittler sein". Du bist doch
noch so vernünftig, daß Du nicht, wie so viele, hier die äußerste
Spitze der Konsequenz ergreifst: ,,also muß Gott gelitten haben",
und Dich daran festhältst. Und was es mit der ,, durch die Gerech-
tigkeit bedingten ethischen Notwendigkeit" für eine Bewandtnis
hat, steht auch dahin. Wenn einmal das Prinzip der Stellvertretung
anerkannt werden soll, so ist es auch nicht nötig daß der Leidende
gerade ein Mensch sei ; wenn er nur Gott ist. Gott kann aber nicht
leiden, ergo — sind wir so weit als vorher. I Das ist's eben bei Eurer
Deduktion, bei jedem Schritt weiter muß ich Euch neue Konzessio-
nen machen. Nichts entwickelt sich voll und ganz aus dem Vor-
hergehenden. So muß ich Dir hier wieder zugeben, daß der Mittler
auch Mensch sein mußte, was noch garnicht bewiesen ist; denn gäbe
ich dies nicht zu, so wäre ich ja nicht imstande, mich auf das
Folgende einzulassen. ,,Auf dem Weg der natürlichen Fortpflan-
zung konnte aber die Menschwerdung Gottes nicht vorsieh gehen,
denn wenn sich auch Gott mit einer von einem Elternpaar erzeugten
und durch seine Allmacht entsündigten? Person verbunden hätte,
so hätte er sich doch nur mit dieser Person und nicht mit der mensch-
lichen Natur verbunden, und nahm im Leibe der Jungfrau Maria
nur die "menschliche Natur an, in seiner Gottheit lag die personbil-
dende Kraft." — Sieh einmal, das ist reine Sophisterei, und Euch
durch die Angriffe auf die Notwendigkeit der übernatürlichen Er-
zeugung abgenötigt. Um die Sache in ein anderes Licht zu stellen.
Briefe an Friedrich Graeber.
85
schiebt der Herr Professor ein drittes: die Persönlichkeit dazwischen.
Das hat nichts damit zu tun. Im Gegenteil, die Verbindung mit der
menschlichen Natur ist um so inniger, je mehr die Persönlichkeit
menschlich ist und der sie belebende Geist göttlich. Ein zweites
Mißverständnis liegt hierbei im Hintergrunde versteckt, Ihr ver-
wechselt den Leib und die Person; das geht noch klarer hervor
aus den Worten: ,,auf der andern Seite konnte Gott sich nicht so
ganz abrupt wie den ersten Adam in die Menschheit hineinschaffen,
dann hätte er in keiner Verbindung mit der Substanz unserer ge-
fallenen Natur gestanden. Also um die Substanz, um das Hand-
greifliche, Leibliche handelt es sich ? Das Beste aber ist, daß die
schönsten Gründe für die übernatürUche Erzeugung, das Dogma
von der Unpersönlichkeit der menschlichen Natur in Christo, nur
eine gnostische Konsequenz der übernatürlichen Erzeugung ist.
(Gnostisch natürlich nicht in Beziehung auf die Sekte, sondern die
yr'öjois^) überhaupt.) Wenn in Christus der Gott nicht leiden konnte,
so konnte der personlose Mensch noch viel weniger leiden, und das
kommt denn bei dem Tiefsinn heraus. ,,So erscheint Christus ohne
einzelne menschliche Markierung." Das ist eine Behauptung in
den Tag hinein ; die Evangelisten haben alle vier ein bestimmtes
Charakterbild von Jesu, das in seinen meisten Zügen bei allen über-
einstimmt. So dürfen wir behaupten, daß der Charakter des Apostels
Johannes dem Christi am nächsten gestanden habe; nun aber, wenn
Christus keine menschliche Markierung hatte, ist darin eingeschlos-
sen, daß Johannes der vorzügUchste gewesen sei ; und das möchte be-
denklich zu behaupten sein.
' So weit die Entgegnung Deiner Deduktion. Sie ist mir nicht
sehr gut gelungen, ich hatte keine Kollegienhefte, sondern nur
Facturabücher und Conti. Bitte deshalb hier und daige Unklar-
heit zu entschuldigen. — Dein Bruder hat sich noch nicht mit einem
Briefe vernehmen lassen. — Du reste, wenn Ihr die Ehrlichkeit
meines Zweifels anerkennt, wie wollt Ihr solch ein Phänomen er-
klären? Eure orthodoxe Psychologie muß mich notwendig unter
die ärgsten Verstockten rangieren, besonders da ich jetzt ganz und
gar verloren bin. Ich habe nämlich zu der Fahne des David Fried-
rich Strauß geschworen, und bin ein Mythiker erster Klasse; ich
sage Dir, der Strauß ist ein herrlicher Kerl, und ein Genie und
Scharfsinn hat er wie keiner. Der hat Euren Ansichten den Grund
genommen, das historische Fundament ist unwiederbringlich ver-
loren, und das dogmatische wird ihm nachsinken. Strauß ist gar
nicht zu widerlegen, darum sind die Pietisten so wütend auf ihn;
Hengstenberg plagt sich in der Kirchenzeitung ungeheuer ab,
*) Gnosis.
86 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 184 1.
falsche Konsequenzen aus seinen Worten zu ziehen und hämische
Ausfälle gegen seinen Charakter daran zu knüpfen. Das ist's, was
ich an Hengstenberg und Konsorten hasse. Was geht sie die Per-
sönlichkeit Straußens an; aber da plagen sie sich, seinen Charakter
herabzusetzen, damit man sich scheuen möge, sich ihm anzu-
schließen. Dar beste Beweis, daß sie ihn nicht widerlegen können.
Doch jetzt hab* ich genug theologisiert und will mal anders-
wohin meinen Blick richten. Wie großartig die Entdeckungen sind,
die der Deutsche Bund aus der Demagogie und sämtlichen soge-
nannten Verschwörungen machte, geht daraus hervor, daß es auf
85 Saiten gedruckt werden kann. Ich habe das Buch noch nicht
gesehen, doch las ich Auszüge in Zeitungen, die mir zeigen, wie
kostbare Lügen unsre verfluchte Behörde dem deutschen Volke
auftischt. Mit der unverschämtesten Frechheit behauptet der Deut-
sche Bund, die politischen Verbrecher seien von ihren ,, rechtmäßigen
Richtern" verurteilt worden, da doch jeder weiß, wie überall, be-
sonders da, wo öffentliche Gerichtsbarkeit existiert, Kommissionen
angeordnet wurden — und was da geschehen, bei Nacht und Nebel,
das weiß kein Mensch; denn die Angeklagten mußten schwören,
nichts über das Verhör auszusagen. Das ist das Recht, was in
Deutschland existiert — und wir haben über nichts, gar nichts zu
klagen! — Es erschien vor etwa sechs Wochen ein vortreffliches
Buch: Preußen und Preußentum, von J. Venedey, Mannheim 1839,
worin die preußische Gesetzgebung, die Staatsverwaltung, Steuer-
verteilung etc. einer strengen Prüfung unterworfen werden, und die
Resultate leuchten ein: Begünstigung der Geldaristokratie vor den
Armen, Streben nach fortwährendem Absolutismus, und die Mittel
dazu: Unterdrückung der politischen Intelligenz, Verdummung der
Volksmehrzahl, Benutzung der Religion; glänzendes Außenwesen,
Renommisterei ohne Grenzen, und der Schein, als begünstige man die
Intelligenz. Der Deutsche Bund hat gleich Sorge getragen, das Buch
zu verbieten und die vorrätigen Exemplare mit Beschlag zu belegen;
letzteres ist nur eine Scheinmaßregel, da die Buchhändler höch-
stens gefragt werden, ob sie Exemplare hätten, wo denn natürlich
jeder rechtschaffene Kerl sagt: Nein. — Kannst Du das Buch Dir
dort verschaffen, so lies es ja, denn es sind keine Rodomontaden,
sondern Beweise, aus dem preußischen Landrechte geführt.
— Am liebsten möchte ich, Du könntest Börnes: Menzel, der Fran-
zosenfresser bekommen. Dieses Werk ist ohne Zweifel das beste,
was wir in deutscher Prosa haben, sowohl was Stil als Kraft und
Reichtum der Gedanken betrifft ; es ist herrlich ; wer es nicht kennt,
der glaubt nicht, daß unsere Sprache solch eine Kraft besitze^).
i)J Der Schluß dieses Briefes fehlt.
Briefe an Friedrich und Wilhelm Graeber. 87
An Wilhelm Graeber.
den 13. November 1839
Liebster Guilielme,
warum schreibst Du nicht? Ihr gehört sämtlich in die Kategorie
der Faulenzer und Bärenhäuter. Aber ich bin ein anderer Kerl!
Nicht nur, daß ich Euch mehr schreibe, als Ihr verdient, daß ich
mir eine ausnehmende Bekanntschaft mit allen Literaturen der
Welt verschaffe ; ich arbeite mir auch im Stillen in Novellen und
Gedichten ein Denkmal des Ruhmes aus, welches, wenn nämlich
die Zensur den blitzenden Stahlschimmer nicht zu häßlichem Rost
anhaucht, mit hellem Jugendglanz durch alle deutschen Lande,
Österreich ausgenommen, hinscheinen wird. Es gärt und kocht
in meiner Brust, es glüht in meinem, bisweilen besoffenen Kopfe
ganz ausnehmend; ich sehne mich, einen großen Gedanken zu
finden, der die Gärung aufklärt und die Glut zur lichten Flamme
anhaucht. Ein großartiger Stoff, gegen den alle meine bisherigen
nur Kindereien sind, ringt sich in meinem Geiste empor. Ich will
in einer ,, Märchen-Novelle" oder einem derartigen Ding die moder-
nen Ahnungen, die sich im Mittelalter zeigten, zur Anschauung
bringen, ich will die Geister aufwecken, die unter der harten Erd-
rinde nach Erlösung pochten, vergraben unter den Fundamenten
der Kirchen und Verließe. Ich will wenigstens einen Teil jener
Aufgabe Gutzkows zu lösen versuchen: der wahre zweite Teil des
Faust, Faust nicht mehr Egoist, sondern sich aufopfernd für die
Menschheit, soll noch erst geschrieben werden. Da ist Faust, da
ist der ewige Jude, da ist der wilde Jäger, drei Typen der geahnten
Geistesfreiheit, die leicht in eine Verbindung und eine Beziehung
zu Johann Huß zu setzen sind. Welch ein poetischer Hintergrund,
vor dem diese drei Dämonen schalten und walten, ist mir da ge-
geben! Die früher metrisch angefangene Idee vom wilden Jäger
ist darin aufgegangen. — Diese drei Typen (Menschen, warum
schreibt Ihr nicht? d. 14. November) werde ich ganz eigentümlich
behandeln ; besonders verspreche ich mir Effekt von der Auffassung
Ahasvers und des wilden Jägers. Leicht kann ich, um die Sache
poetischer und Einzelheiten bedeutender zu machen, noch andre Dinge
aus deutschen Sagen einflechten — doch das wird sich schon finden.
Während die gegenwärtig von mir bearbeitete Novelle nur mehr Studie
des Stils und der Charakterschilderung ist, soll diese das Eigentliche
werden, worauf ich Hoffnungen für meinen Namen begründe.
Den 15. November. Auch heute kein Brief? was mach' ich?
Was denk* ich von Euch ? Ihr seid mir unbegreiflich. Den 20. Novbr.
Und wenn Ihr heute nicht schreibt, so kastrier' ich Euch in Ge-
88 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
danken, und lasse Euch warten, wie Ihr tut. Aug' um Auge, Zahn
um Zahn, Brief um Brief. Ihr Heuchler aber sagt, nicht Aug' um
Auge, nicht Zahn um Zahn, nicht Brief um Brief, und laßt mich
bei Eurer verdammten christlichen Sophistik sitzen. Nein, lieber
ein guter Heide, als ein schlechter Christ.
Da ist ein junger Jude aufgestanden, Theodor Creizenach,
welcher ganz vortreffliche Gedichte und noch bessere Verse macht.
Er hat eine Komödie gemacht, in der W. Menzel und Konsorten
aufs kostbarste persiffliert werden. Es strömt jetzt alles der mo-
dernen Schule zu und baut Häuser, Paläste oder Hüttlein auf dem
Fundament der großen Ideen der Zeit. Alles andre kommt auf
den Hund, die sentimentalen Liedlein verhallen ungehört imd das
schmetternde Jagdhorn wartet eines Jägers, der es blase zvir Ty-
rannenjagd; in den Wipfeln aber rauscht der Sturm von Gott, und
die Jugend Deutschlands steht im Hain, die Schwerter zusammen-
schlagend und die vollen Becher schwingend ; von den Bergen
lohen die brennenden Schlösser, die Throne wanken, die Altäre
zittern, und ruft der Herr in Sturm und Unge wittern, voran, voran,
wer will uns widerstehn?
WIR FRIEDRICH ENGELS
oberster Poet im Bremer Ratskeller und privilegierter
ZECHER
Tun kund und zu wissen allen Vergangenen, Gegenwärtigen
ABWESENDEN UND ZUKÜNFTIGEN
daß Ihr sämtlich Esel seid, faule Kreaturen, die an dem Überdruß
der eignen Existenz dahinsiechen, mir nicht schreibende Canaillen
und so weiter.
Gegeben auf unsrem Comptoirbock,*
zur Zeit, da wir nicht den Katzenjammer hatten.
Friedrich Engels.
In Berlin lebt ein junger Poet, Karl Grün, von dem ich dieser
Tage ein Buch der Wanderungen gelesen habe, welches sehr gut
ist. Doch soll er schon 27 Jahre alt sein und dafür könnt' er besser
schreiben. Er hat zuweilen sehr treffende Gedanken, aber oft greu-
liche Hegeische Floskeln. Was heißt das z. B,: „Sophokles ist das
hochsittliche Griechenland, das seine titanischen Ausbrüche an der
Mauer absoluter Notwendigkeit sich brechen ließ. In Shakespeare
ist der Begriff des absoluten Charakters zur Erscheinung ge-
kommen."
Briefe an Wilhelm Graeber. 8o
Vorgestern Abend hatte ich große Knüllität im Weinkeller von
2 Fl. Bier und 2}i<i Fl. Rüdesheimer 1794er. Mein Herr Verleger
in spe und diverse Philister waren mit. Probe einer Disputation mit
einem dieser Philister über die Bremer Verfassung. Ich: In Bremen
ist die Opposition gegen die Regierung nicht rechter Art, weil sie
in der Geldaristokratie, den Älter leuten besteht, die sich der Rang-
aristokratie, dem Senat, widersetzen. Er: Das können Sie doch so
ganz eigentlich nicht behaupten. Ich: Weshalb nicht? Er: Be-
weisen Sie Ihre Behauptung. Dergleichen soll hier für Disputation
gelten! O Philister, geht hin, lernt griechisch und kommt wieder.
Wer griechisch kann, der kann auch rite disputieren. Aber solche
Kerle disputier' ich sechs auf einmal tot, wenn ich auch halb knüll
bin, und sie nüchtern. Diese Menschen können keinen Gedanken
drei Sekunden in seine notwendigen Konsequenzen fortspinnen,
sondern alles geht ruckweise ; man braucht sie nur eine halbe Stunde
sprechen zu lassen, ein paar scheinbar unschuldige Fragen auf-
werfen und sie widersprechen sich splendidamente. Es sind gräß-
lich abgemessene Menschen, diese Philister; ich fing an zu singen,
da beschlossen sie einstimmig gegen mich, daß sie erst essen und
dann singen wollten. Da fraßen sie Austern, ich aber rauchte ärger-
lich drauf los, soff und brüllte, ohne mich an sie zu stören, bis ich
in einen seligen Schlummer geriet. Ich bin jetzt ein ungeheurer
Spediteur von verbotnen Büchern ins Preußische ; der Franzosen-
fresser von Börne in 4 Exempl., die Briefe aus Paris von demselben,
6 Bände, Venedey Preußen und Preußentum, das strengst verbotene,
in 5 Exempl. liegen zur Versendung nach Barmen bereit. Die beiden
letzten Bände der Briefe aus Paris hatte ich noch nicht gelesen, sie
sind herrlich. König Otto von Griechenland wird fürchterlich durch-
genommen; so sagt er einmal: wenn ich der liebe Gott wäre, so
würde ich einen kostbaren Spaß machen, ich ließe alle großen Grie-
chen in einer Nacht wieder aufstehen. Nun kommt eine sehr schöne
Beschreibung, wie diese Hellenen in Athen umhergehen, Perikles.
Aristoteles etc. Da heißt es: König Otto ist angekommen. Alles
macht sich auf, Diogenes putzt das Licht in seiner Laterne und alle
eilen zum Piraeus. König Otto ist ausgestiegen, und hält folgende
Rede: ,, Hellenen, schaut über euch. Der Himmel hat die bay-
rische Nationalfarbe angenommen. (Diese Rede ist gar zu schön,
ich muß sie ganz abschreiben.) Denn Griechenland gehörte in den
ältesten Zeiten zu Bayern. Die Pelasger wohnten im Odenwalde
und Inachus war aus Landshut gebürtig. Ich bin gekommen, Euch
glücklich zu machen. Eure Demagogen, Unruhestifter und Zeitungs-
schreiber haben Euer schönes Land ins Verderben gestürzt. Die
heillose Preßfreiheit hat alles in Verwirrung gebracht. Seht nur,
90 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
wie die Ölbäume aussehen. Ich wäre schon längst zu euch herüber-
gekommen, ich konnte aber nicht viel eher, denn ich bin noch
nicht lange auf der Welt. Jetzt seid Ihr ein Glied des Deutschen
Bundes ; rrveine Minister werden euch die neuesten Bundesbeschlüsse
mitteilen. Ich werde die Rechte meiner Krone zu wahren wissen
und euch nach und nach glücklich machen. Für meine Zivilliste
(Gehalt des Königs im konstitutionellen Staat) gebt ihr mir jährlich
6 Millionen Piaster, und ich erlaube euch, meine Schulden zu be-
zahlen." Die Griechen werden konfus, Diogenes hält dem König
seine Laterne ins Gesicht, Hippokrates aber ließ sechs Karren
Nießwurz holen etc. etc. Diese ganze ironische Dichtung ist ein
Meisterstück der beißendsten Satire, und in einem Stil, der göttlich
ist. Daß Dir Börne weniger gefällt, kommt daher, daß Du eines
seiner schwächsten und frühesten \A/erke, die Schilderungfen aus
Paris, liest. Unendlich höher stehen die Dramaturgischen Blätter,
die Kritiken, die Aphorismen, und vor allen die Briefe aus Paris
und der wundervolle Franzosen fresser. Die Beschreibung der Ge-
mäldesammlung ist sehr langweilig, darin hast du recht. Aber die
Grazie, die herkulische Kraft, die Gemütstiefe, der vernichtende
Witz des Franzosenfressers sind unübertrefflich. Hoffentlich sehen
wir uns Ostern oder doch Herbst in Barmen, da sollst Du andere
Begriffe von diesem Börne bekommen. — Was Du über Torstricks
Duellgeschichte schreibst, ist freilich differierend von seinen Nach-
richten, doch ist er auf jeden Fall der, der am meisten Unannehm-
lichkeiten davon hatte. Der Kerl ist gut, lebt aber in Extremen:
besoffen hier, etwas pedantisch dort. —
Wenn Du meinst, die deutsche Literatur sei allmählich einge-
schlafen, so bist Du bedeutend irrig. Denke nicht, weil Du, wie
Vogel Strauß, Deinen Kopf vor ihr verbirgst und sie nicht siehst,
hörte sie auf zu existieren. Au contraire entwickelt sie sich an-
sehnlich, was Dir einleuchten würde, wenn Du mehr acht darauf
gäbst und nicht in Preußen lebtest, wo die Werke von Gutzkow etc.
erst einer besondern und selten erteilten Erlaubnis bedürfen. —
Ebenso sehr irrst Du, wenn Du meinst, ich müßte zum Christen-
tum zurückkehren. Pro primo ist mir ridikül, daß ich Dir nicht
mehr für einen Christen gelte und pro secundo, daß Du meinst,
wer einmal um des Begriffs willen das Vorstellungsmäßige der
Orthodoxie abgestreift hat, könne sich wieder in diese Zwangsjacke
bequemen. Ein rechter Rationalist kann das wohl, indem er seine
natürliche Wundererklärung und seine seichte Moralsucht für un-
genügend erkennt, aber der Mythizismus und die Spekulation kann
nicht wieder von ihren morgenrotbestrahlten Firnen in die nebligen
Täler der Orthodoxie herabsteigen. -— Ich bin nämlich auf dem
Briefe an Wilhelm Graeber.
91
Punkte, ein Hegelianer zu werden. Ob ich 's werde, weiß ich frei-
lich noch nicht, aber Strauß hat mir Lichter über Hegel angesteckt,
die mir das Ding ganz plausibel darstellen. Seine (Hegels) Ge-
schichtsphilosophie ist mir ohnehin wie aus der Seele geschrieben.
Sieh doch, daß Du Strauß' Charakteristiken und Kritiken bekommst,
die Abhandlung über Schleiermacher und Daub ist wundervoll.
So gründlich, klar und interessant schreibt außer Strauß kein
Mensch. Übrigens infallibel ist er gar nicht; ja wenn sein ganzes
Leben Jesu als ein Komplex von lauter Sophismen sich heraus-
stellte, denn das Erste, wodurch dieses Werk so wichtig ist, das
ist die ihm zu Grunde liegende Idee des Mythischen im Christen-
tum; diese wäre auch durch jene Entdeckung nicht verletzt, denn
sie kann immer wieder neu auf die biblische Geschichte angewandt
werden. Aber die unleugbar ausgezeichnete Durchführung zu-
gleich mit der Idee gegeben zu haben, das erhöht Strauß' Verdienst
noch mehr. Ein guter Exeget mag ihm hier und da einen Schnitzer
oder ein Verfallen ins Extrem nachweisen können, ebenso gut wie
Luther im Einzelnen angreifbar war; aber das schadet ja nichts.
Wenn Tholuck was Gutes über Strauß gesagt hat, so ist das reiner
Zufall, oder eine gut angewandte Reminiszenz; Tholucks Gelehr-
samkeit geht zu sehr ins Breite, und dabei ist er nur receptiv, nicht
einmal kritisch, geschweige produktiv. Die guten Gedanken, die
Tholuck gehabt hat, werden sich leicht zählen lassen, und den
Glauben an die Wissenschaftlichkeit seiner Polemik hat er durch
seinen Streit mit Wegscheider und Gesenius schon vor zehn Jahren
selbst zerstört. Tholucks wissenschaftliche Wirksamkeit ist in
keiner Weise nachhaltig gewesen, und seine Zeit ist längst vorbei.
Hengstenberg hat doch wenigstens einmal einen originellen, wenn
auch absurden Gedanken gehabt: den von der prophetischen Per-
spektive. — Es ist mir unbegreiflich, daß Ihr Euch um alles nicht
kümmert, was über Hengstenberg und Neander hinausgeht. Allen
Respekt vor Neander, aber wissenschaftlich ist er nicht. Statt
Verstand und Vernunft bei seinen Werken tüchtig arbeiten zu
lassen, auch wenn er einmal mit der Bibel in Opposition käme,
läßt er da, wo er dergleichen fürchtet, die Wissenschaft Wissenschaft
sein und kommt mit der Empirie oder dem frommen Gefühl. Er
ist gar zu fromm und gemütlich, um Straußen opponieren zu können.
Gerade durch diese frommen Ergüsse, an denen sein Leben Jesu
reich ist, stumpft er die Spitzen auch seiner wirklichen wissenschaft-
lichen Argumente ab.
A propos — vor ein paar Tagen las ich in der Zeitung, die
Hegeische Philosophie sei in Preußen verboten worden, ein be-
rühmter Hallischer Hegelianischer Dozent sei durch ein Ministe-
g2 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
rialreskript bewogen worden, seine Vorlesungen zu suspendieren
und mehrere Hallische jüngere Dozenten derselben Farbe (wohl
Rüge etc.) seien bedeutet worden, sie hätten keine Anstellung zu
erwarten. Durch eben dieses Reskript sei das definitive Verbot der
Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik entschieden wor-
den. Weiter habe ich noch nichts gehört. Ich kann an einen so
unerhörten Gewaltstreich selbst der preußischen Regierung nicht
glauben, obwohl Börne dies vor 5 Jahren schon prophezeite, und
Hengstenberg Intimus des Kronprinzen sowie Neander erklärter
Feind der Hegeischen Schule sein soll. Wenn Ihr etwas über die
Sache hört, so schreibt mir davon. Jetzt will ich Hegel studieren bei
einem Glase Punsch. Adios. Dein baldiges Schreiben erwartender
Friedrich Engels.
An Friedrich Graeber.
den 9. Dezember 1839.
Liebster — soeben kommt Dein Brief an, es ist erstaunlich,
wie lange man auf Euch Menschen warten muß. Von Berlin ver-
lautet seit Deinem und Heusers Brief von Eiber feld aus garnichts.
Man sollte des Teufels werden, sobald seine Existenz erwiesen wäre.
Doch Du bist ja arriviert, und es ist gut so.
Dir nachahmend, lasse ich die Theologie bis zuletzt, um die
Pyramide meines Briefes würdig zu krönen. Ich beschäftige mich
sehr viel mit schriftstellerischen Arbeiten; nachdem ich von Gutz-
kow die Zusicherung erhalten, daß ihm meine Beiträge willkommen
sind, habe ich ihm einen Aufsatz über K. Beck eingeschickt, und
dann mache ich viele Verse, die aber sehr der Politur bedürfen und
schreibe diverse Prosastücke, um meinen Stil zu üben. ,,Eine Bre-
mer Liebesgeschichte" schrieb ich vorgestern, ,,Die Juden m Bre-
men" gestern; morgen denk' ich „Die junge Literatur in Bremen",
„Der Jüngste" (nämlich Comptoirlehrling) oder ein andres dereir-
tiges Ding zu schreiben. In vierzehn Tagen kann man so bei guter
Laune leicht fünf Bogen zusammenschmieren, dann poliert man
den Stil, setzt hier und da zur Abwechslung Verse dazwischen und
gibts als ,, Bremer Abende" heraus. Mein Verleger in spe kam
gestern zu mir, ich las ihm den ,,Odysseus Redivivus" vor, der ihn
ausnehmend entzückte ; er will den ersten Roman aus meiner Fa-
brik nehmen und wollte gestern mit aller Gewalt ein Bändchen Ge -
dichte haben. Aber leider sind nicht genug da und — die Zensur!
Wer liest den Odysseus durch? Übrigens lasse ich mich durch die
Zensur nicht abhalten, frei zu schreiben; mag sie hintennach strei-
chen, so viel sie will, ich begeh' keinen Kindermord an meinen
Briefe an Friedrich und Wilhelm Graeber.
93
eignen Gedanken. Unangenehm sind solche Zensurstriche immer,
aber auch ehrenvoll; ein Autor, der dreißig Jahre alt wird oder drei
Bücher schreibt ohne Zensurstriche, ist nichts wert, die narbigen
Krieger sind die besten. Man muß es einem Buche ansehen, daß
es aus einem Kampf mit der Zensur kommt. Übrigens liberal ist
die Hamburger Zensur ; in meinem letzten telegraph. Aufsatze über
Die Deutschen Volksbücher sind mehrere sehr bittre Sarkasmen
für den Bundestag und die preußische Zensur, aber kein Buchstabe
ist gestrichen worden.
Den II. Dezember. — O Fritz! So faul, wie ich diesen Augen-
blick bin, bin ich seit Jahren nicht gewesen. Ha, mir geht ein
Licht auf: ich weiß, was mir fehlt — ich muß tertium locum be-
suchen.
Den 12. Dezember. Was doch die Bremer für Ochsen — ich
wollt' sagen, gute Leute sind! Bei dem jetzigen Wetter sind alle
Straßen entsetzlich glatt, und da haben sie vor den Ratskeller Sand
gestreut, damit die Betrunkenen nicht fallen.
Dieser nebenstehende Kerl leidet an Welt-
schmerz, er hat H. Heine in Paris besucht und
ist von ihm angesteckt worden; sodann ging
er zu Theodor Mundt und lernte gewisse zum
Wellschmerzieren unumgänglich nötige Phra-
sen. Seit der Zeit ist er sichtlich magerer ge-
worden und wird ein Buch schreiben, daß der
Weltschmerz das einzige sichre Mittel gegen
die Fettleibigkeit sei. —
Den 20. Januar. Ich wollte Dir nicht eher schreiben, als bis
über mein Hierbleiben oder Weggehen bestimmt war. Jetzt end-
lich kann ich Dir sagen, daß ich bis auf weiteres noch hier bleibe.
Den 21. Ich gestehe Dir, keine große Lust zur Fortsetzung
des theologischen Disputs zu haben. Man versteht sich gegenseitig
miß, und hat bei der Beantwortung seine ipsissima verba, auf die es
ankommt, längst vergessen, und kommt so zu keinem Ziele. Eine
gründliche Erörterung der Dinge erforderte einen weit größeren
Raum, und mir geht es oft so, daß ich Dinge, die ich in einem früheren
Briefe sagte, im folgenden nicht mehr unterschreiben kann, weil sie
zu sehr der Kategorie der Vorstellung angehörten, von der ich mich
indes losgemacht habe. Ich bin jetzt durch Strauß auf den strikten
Weg zum Hegeltum gekommen. So ein eingefleischter Hegelianer
wie Hinrichs etc. werde ich freilich nicht werden, aber ich muß schon
bedeutende Dinge aus diesem kolossalen Systeme in mich auf-
nehmen. Die Hegeische Gottesidee ist schon die meinige geworden,
und ich trete somit in die Reihe der ,, modernen Pantheisten", wie
94
Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Leo und Hengstenberg sagen, wohl wissend, daß schon das Wort
Pantheismus einen so kolossalen Abscheu bei den nicht denkenden
Pfarrern erregt. Da hab ich heut Mittag mich köstlich ergötzt an
einer langen Predigt der Evangelischen Kirchenzeitung gegen
Märklins Pietismus. Die gute Kirchenzeitung findet es nicht nur
höchst sonderbar, daß sie zu den Pietisten gezählt wird, sondern sie
findet auch noch andre kuriose Dinge. Der moderne Pantheis-
mus, d. h. Hegel, abgesehen davon, daß er schon bei den Chinesen
und Parsen sich findet, ist vollkommen ausgeprägt in der von Calvin
angegriffnen Sekte der Libertiner. Diese Entdeckung ist wirklich
gar zu originell. Noch origineller ist aber die Durchführung. Es
hält schon schwer, Hegel in dem wiederzuerkennen, was die Kirchen-
zeitung für seine Ansicht ausgibt, und das hat nun wieder eine an den
Haaren herbeigezogene Ähnlichkeit mit einem sehr unbestimmt
ausgedrückten Satze Calvins über die Libertiner. Der Beweis war
enorm ergötzlich. Der Bremer Kirchenbote weiß dies noch besser
auszudrücken, und sagt, Hegel leugne die Wahrheit der Geschichte!
Es ist enorm, was zuweilen für Unsinn herauskommt, wenn man
sich plagt, eine Philosophie, die einem im Wege liegt und die man
nicht mehr umgehen kann, als unchristlich darzustellen. Leute,
die Hegel nur dem Namen nach kennen und von Leos Hegelingen
nur die Anmerkungen gelesen haben, wollen ein System stürzen,
das, aus einem Gusse, keiner Klammer bedarf, um sich zu halten.
— Über diesem Briefe schwebt ein eminenter Unstern. Gott weiß,
wenn ich mich eben dran setze, so geht der Teufel los. Immer be-
komme ich Comptoirarbeit.
Dieses sind zwei Marionetten, welche wider meinen Willen
so steif sind. Sonst wäien's Menschen. Hast Du Strauß' Charak-
Briefe an Friedrich Graeber. 95
teristiken und Kritiken gelesen ? Sieh daß Du sie bekommst, die Auf-
sätze drin sind alle ausgezeichnet. Der über Schleiermacher und Daub
ist ein Meisterstück. Aus den Aufsätzen über die Württemberger
Besessenen ist ungeheuer viel Psychologie zu lernen. Ebenso inter-
essant sind die übrigen theologischen und ästhetischen Aufsätze.
— Außerdem studiere ich Hegels Geschichtsphilosophie, ein enor-
mes Werk, ich lese jeden Abend pflichtschuldigst darin, die unge-
heuren Gedanken packen mich auf eine furchtbare Weise. — Neu-
lich warf Tholucks alte Tratsche, der Literarische Anzeiger, in
ihrer Albernheit die Frage auf: warum doch der „moderne Pantheis-
mus** keine lyrische Poesie habe, die doch der altpersische etc. habe ?
Der Literarische Anzeiger soll nur warten, bis ich und gewisse noch
andre Leute diesen Pantheismus einmal durchdrungen haben,
die lyrische Poesie soll schon kommen. Es ist übrigens sehr schön,
daß der Literarische Anzeiger Daub anerkennt und die spekulative
Philosophie verdammt. Als wenn nicht auch Daub den Grundsatz
Hegels gehabt hätte: daß Menschheit und ' Gottheit dem Wesen
nach identisch seien. Das ist diese gräßliche Oberflächlichkeit;
ob Strauß und Daub der Grundlage nach übereinstimmen, das
kümmert sie wenig, aber ob Strauß nicht an die Hochzeit zu Kana
glaubt, Daub aber doch, danach wird der eine in den Himmel ver-
setzt und der andre als Kandidat der Hölle bezeichnet. Oswald
Marbach, der Volksbücherherausgeber, ist der konfuseste aller
Menschen, besonders aber (cum — tum) der Hegelianer. Wie ein
Kind Hegels sagen kann:
Der Himmel ist auch auf der Erden,
Ich fühle klar den Gott in mir zum. Menschen werden,
das ist mir rein unbegreiflich, weil Hegel die Gesamtheit sehr scharf
von dem unvollkommenen Einzelnen unterscheidet. — Hegeln
hat niemand mehr geschader als seine Schüler: nur wenige waren
wie Gans, Rosenkranz, Rüge etc. seiner würdig. Aber ein Oswald
Marbach ist denn doch das Non plus ultra aller Mißverstehungs-
menschen. So ein götthcher Kerl! — Herr Pastor Mallet hat im
Bremer Kirchenboten Hegels System für eine „lose Rede** erklärt.
Das wäre schlimm, denn wenn die Blöcke auseinanderfielen, diese
Granitgedanken, so könnte ein einziges Fragment dieses zyklopi-
schen Gebäudes nicht nur Herrn Pastor Mallet sondern ganz Bremen
totschlagen. Wenn zum Beispiel der Gedanke, daß die Weltgeschichte
die Entwicklung des Begriffs der Freiheit ist, mit aller seiner Macht
in den Nacken eines Bremischen Pfarrers fiele — wie sollt' er seufzen!
Den I. Februar. Heute soll der Brief aber weg, das gehe, wie
es gehe. Die Russen fangen an, naiv zu werden; sie behaupten, der
96 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Krieg gegen die Tscherkessen habe noch nicht so viel Menschen-
leben gekostet, wie eine der kleineren Napoleonischen Schlachten.
Solche Naivetät hätte ich einem Barbaren wie Nicolas nicht zu-
getraut.
Die Berliner, wie ich höre, sind furchtbar wütend auf mich.
Ich habe Tholuck und Neander gegen sie ein wenig heruntergemacht
und Ranke nicht unter die Superos^) versetzt, und das hat sie rasend
gemacht. Dazu hab' ich dem Heuser göttlich tolles Zeug über
Beethoven geschrieben. — Ein sehr hübsches Lustspiel hab' ich
gelesen: Weh dem, der lügt! von Grillparzer in Wien, das bedeutend
über den gegenwärtigen Lustspielschlendrian weg ist. Hier und da
blickt auch ein edler, freier Geist hindurch, dem die österreichische
Zensur eine unerträgliche Last ist. Man sieht ihm die Mühe an,
die es ihm kostet, einen aristokratischen Adligen so zu zeichnen,
daß der adlige Zensor keinen Anstand findet. 0 tempores, o moria,
Donner und Doria, heute ist der fünfte Februar da, es ist schändlich,
daß ich so faul bin,but I cannot help it^); das weiß Gott, ich tu jetzt
nichts. Mehrere Aufsätze hab' ich unter den Händen, aber sie
rücken nicht vor, und wenn ich abends Verse machen will, so habe
ich immer so viel gegessen, daß ich mich vor Schlaf nicht mehr
halten kann. — Ich möchte diesen Sommer ungeheuer gern eine Reise
machen, ins|Dänische, Holstein, Jütland, Seeland, Rügen. Ich
muß mal sehen, daß mein Alter mir meinen Bruder herschickt, den
schlepp ich dann mit. Ich hab' ein ungeheures Verlangen nach dem
Meere, und welch eine interessante Reisebeschreibung ließ sich
davon machen ;]man könnte sie sodann mit etlichen Gedichten her-
ausgeben. Es ist jetzt so göttliches Wetter und ich kann nicht aus-
gehen, ich möcht's ungeheuer gern, es ist Pech. —
Dies ist ein dicker Zucker makler, der
eben aus dem Hause geht, und dessen
stehende Redensart ist: ,,Nach meiner Mei-
nung nach". Wenn er auf der Börse mit
einem gesprochen hat, und weggeht, so sagt
er regelmäßig: ,,Sie leben wohl!" Er heißt
Joh. H. Bergmann. Es gibt rührendes Volk
hier. So will ich Dir gleich ein anderes
Lebensbild zeichnen: Dieser alte Kerl ist jeden Morgen besoffen und
tritt dann vor seine Türe und schreit, seine Brust schlagend: ,,Ick
bin Borger!" d. h. Ich danke Dir Gott, daß ich nicht bin wie jene,
Hannoveraner, Oldenburger oder gar Franzosen, sondern Bremer
Borger tagen baren Bremer Kind!
1) Die oberen Götter.
2) Aber ich kann mir nicht helfen.
An Friedrich Graeber.
97
^ Der Gesichtsausdruck der hiesigen alten Weiber
aller Stände ist wahrhaft ekelhaft. Besonders die
rechte mit der Stumpfnase ist echt Bremisch.
Die Rede vom Bischof Eylert am Ordensfeste
hat ein wesentliches Verdienst; jetzt weiß man,
was vom König zu halten ist, und sein Meineid ist
offiziell. Derselbe König, der anno 1815, als er die
Angst kriegte, seinen Untertanen in einer Kabinetts-
ordre versprach, wenn sie ihn aus der Schwulität
rissen, sollten sie eine Konstitution haben, derselbe
lumpige, hundsföttische, gottverfluchte König läßt
jetzt durch Eylert verkün-
digen, daß niemand eine Kon-
stitution von ihm bekommen
werde, denn ,,Alle für Einen
und Einer für Alle sei Preu-
ßens Regierungsprinzip" und
,, Niemand flicke einen alten Lappen auf ein neues Kleid**. Weißt
Du, warum Rottecks vierter Band in Preußen verboten ist ? Weil darin
steht, daß unsre majestätische Rotznase von Berlin i8i4die spanische
Konstitution von 1812 anerkannt hat und doch 1823 die Franzosen
nach Spanien geschickt hat, um diese Konstitution zu vernichten und
den Spaniern die edle Gabe der Inquisition und Tortur wiederzubringen.
1826 ist zu Valencia Ripole von Inquisitionswegen verbrannt wor-
den, und dessen Blut und das Blut von dreiundzwanzigtausend
edlen Spaniern, die wegen liberaler und ketzerischer Ansichten im
Gefängnis verschmachtet sind, hat Friedrich Wilhelm III. ,,,,,,der
Gerechte****** von Preußen auf seinem Gewissen. Ich hasse ihn,
und außer ihm hasse ich vielleicht nur noch zwei oder drei, ich hasse
ihn bis in den Tod; und müßte ich ihn nicht so sehr verachten,
diesen Seh . . . kerl, so haßte ich ihn noch mehr. Napoleon war
ein Engel gegen ihn, der König von Hannover ist ein Gott, wenn
unser König ein Mensch ist. Es gibt keine Zeit, die reicher ist an
königlichen Verbrechen als die von 1816 bis 1830; fast jeder Fürst,
der damals regierte, hatte die Todesstrafe verdient. Der fromme
Karl X., der tückische Ferdinand VII. von Spanien, Franz von
Österreich, diese Maschine, die zu nichts gut war, als Todesurteile
zu unterschreiben und von Carbonari zu träum.en, Dom Miguel, der
ein größeres Luder ist als sämtliche Helden der französischen Re-
volution zusammengenommen, und den doch Preußen, Rußland
und Österreich mit Freuden anerkannten, als er im Blute der besten
Portugiesen sich badete, und der Vatermörder Alexander von Ruß-
land, sowie sein würdiger Bruder Nikolaus, über deren scheußliche
Mayer, Kngels. Ergänzungsband. 7
gg Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Taten noch ein Wort zu verlieren überflüssig wäre — o, ich könnte
Dir ergötzliche Geschichten erzählen, wie lieb die Fürsten ihre
Untertanen haben — ich erwarte bloß von dem Fürsten etwas Gutes,
dem die Ohrfeigen seines Volks um den Kopf schwirren und dessen
Palastfenster von den Steinwürfen der Revolution zerschmettert
werden. Leb wohl.
Dein
Friedrich Engels.
Die Deutschen Volksbücher.
Ist es nicht ein großes Lob für ein Buch, wenn es ein Volks-
buch, ein deutsches Volksbuch ist? Aber darum dürfen wir auch
Großes von einem solchen Buche verlangen, darum muß es allen
vernünftigen Ansprüchen genügen, und von jeder Seite in seinem
Werte unangreifbar sein. Das Volksbuch hat den Beruf, den Land-
mann, wenn er abends müde von seinem harten Tagewerk zurück-
kehrt, zu erheitern, zu beleben, zu ergötzen, ihn seiner Mühen ver-
gessen zu machen, sein steiniges Feld in einen duftigen Rosen-
garten umzuwandeln; es hat den Beruf, dem Handwerker seine
Werkstatt, dem geplagten Lehrjungen seine elende Dachkammer
in eine Welt der Poesie, in einen goldenen Palast umzuzaubern und
ihm sein handfestes Liebchen in Gestalt einer wunderschönen Prin-
zessin vorzuführen; aber es hat auch den Beruf, neben der Bibel
ihm sein sittliches Gefühl klarer zu machen, ihm. seine Kraft, sein
Recht, seine Freiheit zum Bewußtsein zu bringen, seinen Mut,
seine Vaterlandsliebe zu wecken.
Sind also im allgemeinen die Anforderungen, die man, ohne
ungerecht zu sein, an ein Volksbuch machen darf, reicher, poetischer
Inhalt, derber Witz, sittliche Reinheit, und für das deutsche Volks-
buch kräftiger, biederer deutscher Geist, Eigenschaften, die zu
jeder Zeit sich gleich bleiben, so sind wir daneben auch berechtigt, zu
verlangen, daß das Volksbuch seiner Zeit entspreche oder aufhöre,
Volksbuch zu sein. Sehen wir insbesondere die Gegenwart an, das
Ringen nach Freiheit, das alle ihre Erscheinungen hervorruft, den
sich entwickelnden Konstitutionalismus, das Sträuben gegen den
Druck der Aristokratie, den Kampf des Gedankens mit dem Pietis-
mus, der Heiterkeit mit den Resten düsterer Askese, so sehe ich
nicht ein, inwiefern es Unrecht wäre, zu verlangen, das Volksbuch
solle hier dem Ungebildeteren zur Hand gehen; ihm, wenn auch
natürlich nicht in unmittelbarer Deduktion, die Wahrheit und Ver-
nünftigkeit dieser Richtungen zeigen — aber auf keinen Fall die
Die deutschen Volksbücher.
99
Duckmäuserei, das Kriechen vor dem Adel, den Pietismus beför-
dern. Von selbst versteht es sich aber, daß Gebräuche früherer
Zeiten, deren Ausübung jetzt Unsinn oder Unrecht wäre, dem Volks -
buche fremd bleiben müssen.
Nach diesen Grundsätzen dürfen und müssen wir auch die-
jenigen Bücher beurteilen, die jetzt wirklich deutsche Volksbücher
sind und gewöhnlich unter diesem Namen zusammengefaßt werden.
Sie sind teils Erzeugnisse der mittelalterlichen deutschen oder ro-
manischen Poesie, ceils des Volksaberglaubens. Früher von den
höheren Ständen verachtet und verspottet, wurden sie von den Ro-
mantikern bekanntlich hervorgesucht, bearbeitet, ja gefeiert. Aber
die Romantik sah nur auf den poetischen Gehalt, und wie unfähig
sie war, ihre Bedeutung als Volksbücher zu fassen, zeigt Gör res
in seinem Werk darüber. Daß Görres überhaupt seine Urteile alle
dichtet, hat er ja noch in der neuesten Zeit gezeigt. Doch beruht
auf seinem Buche noch immer die gewöhnliche Ansicht über diese
Bücher, und Marbach beruft sich noch darauf bei der Ankündi-
gung seiner Ausgabe. In der dreifachen neuen Bearbeitung dieser
Bücher — durch Marbach in Prosa, durch Simrock eine prosaische
und eine poetische — von denen zwei wieder für das Volk bestimmt
sind, war die Aufforderung gegeben, die Gegenstände dieser Be-
arbeitungen nochmals genau in ihrem volkstümlichen Werte zu
prüfen.
Das Urteil über den poetischen Wert dieser Bücher muß jedem
Einzelnen überlassen bleiben, so lange die Poesie des Mittelalters
überhaupt so sehr verschieden beurteilt wird ; daß sie aber wirk-
lich echt poetisch sind, wird wohl keiner leugnen. Mögen sie also
auch als Volksbücher sich nicht legitimieren können, der poetische
Gehalt soll ihnen ungeschmälert bleiben, ja, nach Schillers Worten:
Was unsterblich im Gesang soll leben.
Muß im Leben untergehn,
möchte vielleicht mancher Dichter einen Beweggrund |mehr finden,
das, was sich als unhaltbar für 's Volk erweist, der Poesie durch
Bearbeitung zu retten. — Zwischen denen dieser Erzählungen, die
deutschen, und denen, die romanischen Ursprungs sind, findet sich
ein sehr bezeichnender Unterschied; die deutschen, echte Volks-
sagen, stellen den Mann handelnd in den Vordergrund ; die roma-
nischen heben das Weib entweder geradezu duldend (Genovefa)
oder liebend, also auch passiv gegen die Leidenschaft, hervor.
Nur zwei sind ausgenommen: die Haimonskinder und Fortunat,
beide romanisch, aber auch Volkssagen, während Oktavian, Melu-
sine etc. Produkte der Hofpoesie und erst später durch die prosa-
ische Bearbeitung ins Volk übergegangen sind. — Von den komi-
ioo Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
sehen ist auch nur eins nicht gerade deutschen Ursprungs, Salo-
mon und Morolf, während Eulenspiegel, die Schildbürger usw. uns
nicht streitig gemacht werden können.
Fassen wir die Gesamtheit dieser Bücher ins Auge, und be-
urteilen wir sie nach den im Anfange ausgesprochenen Grundsätzen,
so ist es klar, daß sie nur nach einer Seite hin diesen Ansprüchen
genügen ; sie haben Poesie und Witz in reichem Maße und in einer
auch dem Ungebildetsten im allgemeinen ganz verständlichen Form,
nach der andern Seite hin aber genügt die Gesamtheit gar nicht,
einzelne sprechen gerade das Gegenteil aus, andere genügen nur
teilweise. Die besonderen Zwecke, die die Gegenwart von ihnen
verlangen dürfte, gehen ihnen als Produkten des Mittelalters natür-
lich ganz ab. Trotz der äußeren Reichhaltigkeit dieses Literatur -
Zweiges und trotz Tiecks und Görres' Deklamationen lassen sie also
noch sehr viel zu wünschen übrig; ob diese Lücke aber jemals aus-
zufüllen sein wird, ist eine andere Frage, die ich mir nicht zu be-
antworten getraue.
Um nun zu dem einzelnen überzugehen, so ist ohne Zweifel
das wichtigste die Geschichte vom gehörnten Siegfried. Das
Buch laß ich mir gefallen, das ist eine Erzählung, die wenig zu
wünschen übrig läßt, da ist die üppigste Poesie, bald mit der größten
Naivität, bald mit dem schönsten humoristischen Pathos vorge-
tragen ; da ist sprudelnder Witz — wer kennt nicht die kostbare
Episode vom Kampf der beiden Memmen? Da ist Charakter; ein
kecker, jugendlich-frischer Sinn, an dem sich jeder wandernde
Handwerksbursche ein Exempel abnehmen kann, wenn er auch
nicht mehr mit Drachen und Riesen zu kämpfen hat. Und werden
nur die Druckfehler verbessert, an denen besonders die mir vor-
liegende (Kölner) Ausgabe überaus reich ist, und die Interpunktion
richtig gesetzt, so verschwinden Schwabs und Marbachs Überar-
beitungen gegen diesen echten Volksstil. Das Volk hat sich aber
auch dankbar dagegen bewiesen ; keines dieser Bücher ist mir so
häufig vorgekommen wie dieses.
Herzog Heinrich der Löwe. — Von diesem Buch habe ich
mir leider kein altes Exemplar verschaffen können, die neuere in
Einbeck gedruckte Ausgabe scheint ganz an die Stelle der alten ge-
treten zu sein. Voran steht eine Genealogie des braunschweigischen
Hauses, die bis zum Jahre 1735 geht, dann folgt die Biographie des
Herzogs Heinrich nach der Geschichte und darauf die Volkssage.
Noch sind beigefügt eine Erzählung, die von Gottfried von Bouillon
dasselbe erzählt, wie die Volkssage von Heinrich dem Löwen, die
Geschichte vom Sklaven Andronicus, welche einem palästinischen
Abt Gerasimi zugeschrieben und am Schluß bedeutend verändert
Die deutschen Volksbücher. lOl
wird und ein Gedicht aus der neueren romantischen Schule, dessen
Verfasser mir nicht einfällt, in dem die Sage vom Löwen noch ein-
mal erzählt wird. So verschwindet die Sage, auf der doch das Volks-
buch beruht, gänzlich unter den Anhängseln, mit denen es die
Freigebigkeit des weisen Herausgebers ausstattete. Die Sage selbst
ist sehr schön, aber das übrige kann nicht interessieren, was geht
den Schwaben die braunschweigische Geschichte an ? Und was soll
die moderne wortreiche Romanze hinter dem einfachen Stil des
Volksbuches? Doch auch der ist fort; der geniale Bearbeiter, der
mir ein Pfarrer oder Schulmeister aus dem Ende des vorigen Jahr-
hunderts zu sein scheint, schreibt folgendermaßen: ,,So war das
Ziel der Reise erreicht, das heilige Land lag vor Augen, der Boden
wurde betreten, an den sich die bedeutendsten Erinnerungen der
religiösen Geschichte knüpfen. Die fromme Einfalt, die hieher ver-
langensvoll geschaut hatle, ging hier über in inbrünstige Andacht,
fand hier volle Befriedigung und ward die lebhafteste Freude in
dem Herrn." — Man stelle die Sage in ihrer alten Sprache wieder
her, füge, um ein Buch voll zu machen, andere echte Volkssagen
hinzu und sende sie so unters Volk, so wird sie den poetischen Sinn
wach halten ; aber in dieser Gestalt ist sie es nicht wert, unter dem
Volk zu zirkulieren.
Herzog Ernst. — Der Verfasser dieses Buches ist kein be-
sonderer Poet gewesen, indem er alle poetischen Momente im orien-
talischen Märchen vorfand. Doch ist das Buch gut geschrieben
und sehr unterhaltend für das Volk; das ist aber auch alles. An die
Wirklichkeit der darin vorkommenden Phantasiegestalten wird doch
kein Mensch mehr glauben, man mag es darum unverändert in den
Händen des Volkes lassen.
Ich komme jetzt zu zwei Sagen, die das deutsche Volk schuf
und ausbildete, zu dem Tiefsten, was die Volkspoesie aller Völker
aufweisen kann. Ich meine die Sage von Faust und vom ewigen
Juden. Sie sind unerschöpflich, jede Zeit kann sie sich aneignen,
ohne sie in ihrem Wesen umzumodeln; und wenn auch die Bear-
beitungen der Faustsage nach Goethe zu den Iliaden post Homerum
gehören m.ögen, so decken sie uns doch immer neue Seiten daran
auf — von der Wichtigkeit der Ahasversage für die neuere Poesie
gar nicht zu reden. Aber wie enthalten die Volksbücher diese Sagen!
Nicht als Produkte der freien Phantasie, nein, als Kinder eines
sklavischen Aberglaubens sind sie aufgefaßt ; das Buch vom ewigen
Juden verlangt sogar einen religiösen Glauben an seinen Inhalt,
den es mit der Bibel und vielen abgeschmackten Legenden zu recht-
fertigen sucht; von der Sage enthält es nur das aller äußerlichste,
aber eine sehr lange und langweilige christliche Verm.ahnung über
102 Aus der Lehrzeit in Bremen. I838— 1841.
den Juden Ahasverus. Die Faustsage ist zu einer gemeinen Hexerei-
geschichle herabgesunken, mit ordinären Zauber anekdoten verziert,
sogar die wenige Poesie, die sich in der Volkskomödie erhalten hat,
ist fast ganz verschwunden. Nicht nur aber sind diese beiden Bücher
unfähig, einen poetischen Genuß zu bieten, sie müssen in der gegen-
wärtigen Gestalt den alten Aberglauben wieder befestigen und er-
neuern ; oder was soll man anders von solchen Teufeleien erwarten ?
Das BevAißtsein der Sage und ihres Inhalts scheint auch im Volke
ganz zu verschwinden; Faust gilt für einen ganz gewöhnlichen
Hexenmeister und Ahasver für den größten Bösewicht außer Judas
Ischariot. Aber sollte es nicht möglich sein, diese beiden Sagen dem
deutschen Volke zu retten, sie in ihrer ursprünglichen Reinheit
wieder herzustellen und ihr Wesen so klar auszudrücken, daß auch
dem Ungebildeteren der tiefe Sinn nicht ganz unverständlich ist ?
Marbach und Simrock sind noch nicht zur Bearbeitung dieser
Sagen gekommen; möchten sie bei diesen eine weise Kritik vor-
walten lassen!
Eine andere Reihe der Volksbücher liegt vor uns, es sind die
scherzhaften, Eulenspiegel, Salomon und Morolf, der Pfaft
vom Kaienberge, die sieben Schwaben, die Schildbürger.
Das ist eine Reihe, wie sie wenige Völker aufzuweisen haben. Dieser
Witz, diese Natürlichkeit der Anlage wie der Ausführung, der gut-
mütige Humor, welcher den beißenden Spott überall begleitet, da-
mit er nicht zu arg werde, diese frappante Komik der Situation
könnte wahrlich einen großen Teil unserer Literatur beschämen.
Welcher Autor der Gegenwart hätte Erfindungsgabe genug, ein
Buch wie die Schildbürger schaffen zu können? Wie prosaisch
steht Mundts Humor da, vergleicht man ihn mit dem der sieben
Schwaben I Freilich gehörte eine ruhigere Zeit dazu, dergleichen
zu produzieren, als die unsrige, die, einem ruhelosen Geschäfts-
manne gleichend, stets die wichtigen Fragen im Munde führt, die
sie zu beantworten habe, ehe sie an anderes denken könne. —
Was die Form dieser Bücher betrifft, so möchte, außer Entfer-
nung eines oder des andern mißratenen Witzes und Reinigung des
entstellten Stils, wenig an ihnen zu ändern sein. Von Eulenspiegel
sind mehrere mit preußischem Zensurstempel versehene Ausgaben
weniger vollständig; gleich im Anfang fehlt ein derber Witz, der
bei Marbach in einem sehr guten Holzschnitt dargestellt ist.
Einen schorffen Gegensatz hierzu bilden die Geschichten von
Genovefa, Griseldis und Hirlanda, drei Bücher romanischen Ur-
sprungs, die alle ein Weib zur Heldin haben, und zwar ein leiden-
des Weib; sie bezeichnen das Verhältnis des Mittelalters zur Reli-
gion, und das auf sehr poetische Weise — nur sind Genovefa und
Die deutschen Volksbücher.
103
Hirlanda zu sehr über einen Leisten gehauen Aber, um Gottes-
willen, was soll das deutsche Volk heutzutage damit? Man kann
sich zwar unter Griseldis das deutsche Volk sehr schön vorstellen
und unter Markgrafen Walther die Fürsten — aber da müßte denn
die Komödie doch ganz anders schließen als es in dem Volksbuch
geschieht, man würde sich die Vergleichung beiderseits verbitten
und würde hie und da gutes Recht dazu haben. Soll die Griseldis
noch Volksbuch bleiben, so kommt sie mir vor wie eine Petition
an die hohe deutsche Bundesversammlung um Emanzipation der
Frauen. Man weiß aber hie und da, wie vor vier Jahren dergleichen
romanhafte Petitionen aufgenommen wurden, weshalb ich mich
sehr wundere, daß Marbach nicht nachträglich zum jungen Deutsch-
land gerechnet worden. Das Volk hat lange genug Griseldis und
Genovefa vorgestellt, es spiele jetzt auch einmal den Siegfried und
Reinald ; aber der rechte Weg, es dahin zu bringen, ist doch wohl
nicht das Anpreisen jener alten Demütigungshistorien?
Das Buch vom Kaiser Octavianus gehört seiner ersten Hälfte
nach dieser Klasse an, während es durch die zweite Hälfte es sich
an die eigentlichen Liebesgeschichten anschließt. Die Geschichte
von der Helena ist nur eine Nachahmung des Oktavian, oder beide
sind vielleicht verschiedene Auffassungen derselben Sage. Die
zweite des Oktavian ist ein vortreffliches Volksbuch und allein dem
Siegfried zur Seite zu stellen; die Charakteristik des Florens, sowie
seines Pflegevaters Clemens und des Claudius ist ausgezeichnet, und
Tieck hatte es hier sehr leicht ; aber zieht sich nicht überall der
Gedanke hindurch, daß adliges Blut besser sei als Bürger blut? Und
wie oft finden wir nicht diesen Gedanken noch im Volke selbst ?
Wenn dieser Gedanke nicht aus dem Oktavian verbannt werden
kann — und das halte ich für unmöglich — wenn ich bedenke,
daß er zuerst entfernt werden muß, wo konstitutionelles Leben er-
stehen soll, so mag das Buch so poetisch sein, wie es will, censeo
Carthaginem esse delendam.
Den genannten tränenreichen Leidens- und Duldergeschichten
stehen drei andere gegenüber, die die Liebe feiern. Es sind: Ma-
gelone, Melusina und Tristan. Magelone sagt mir als Volks-
buch am meisten zu; Melusina ist wieder voll von absurden Mon-
strositäten und fabelhaften Übertreibungen, so daß man beinahe
eine Donquichotiade darin sehen möchte und ich wieder fragen muß:
was soll das dem deutschen Volke ? Und nun gar die Geschichte
von Tristan und Isolde — ihren poetischen Wert will ich nicht an-
tasten, weil ich die herrliche Bearbeitung Gottfrieds von Straßburg
liebe, wenn auch hie und da Mängel in der Erzählung zu finden
sein möchten, — aber es gibt kein Buch, das weniger dem Volke
104 "^"^ ^^^ Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
in die Hände gegeben werden dürfte als gerade dieses. Zwar liegt
hier eine moderne Frage wieder sehr nahe, die Emanzipation der
Frauen; ein geschickter Dichter würde bei einer Bearbeitung des
Tristan jetzt diese Frage gar nicht mehr von seiner Arbeit aus-
schließen können, ohne darum in eine gesuchte und langweilige
Tendenzpoesie zu verfallen. Aber im Volksbuch, wo von dieser
Frage keine Rede ist, kommt die ganze Erzählung auf eine Ent-
schuldigung des Ehebruchs heraus — und das in den Händen des
Volkes zu lassen, ist doch sehr bedenklich. Indes verschwindet das
Buch fast ganz und sehr selten bekommt man ein Exemplar davon
zu Gesicht.
Die Haimonskinder und Fortunat, wo wir wieder den
Mann im Mittelpunkt der Handlung sehen, sind einmal wieder ein
paar rechte Volksbücher. Hier der heiterste Humor, mit dem der
Sohn Fortunas alle seine Abenteuer durchficht — dort der kecke
Trotz, die ungebändigte Oppositionslust, die der absoluten, tyran-
nischen Gewalt Karls des Großen jugendkräftig entgegentritt und
sich nicht scheut, erlittene Beleidigungen mit eigner Hand, auch
vor dem Auge des Fürsten, zu rächen. Solch ein jugendlicher Geist
muß in den Volksbüchern herrschen, der läßt viele Mängel über-
sehen. Aber wo ist der in Griseldis und ihren Verwandten zu finden ?
Zuletzt kommt das Beste, der geniale hundertjährige Kalender,
das superkluge Traumbuch, das nie fehlende Glücksrad und ähn-
liche unsinnige Kinder des leidigen Aberglaubens. Mit welchen
elenden Sophismen Görres dieses Zeug entschuldigt hat, weiß ein
jeder, der sein Buch nur einmal angesehen hat. Alle diese traurigen
Bücher hat die preußische Zensur mit ihrem Stempel beehrt. Frei-
lich sind sie weder revolutionär wie Börnes Briefe noch unsittlich,
wie man von der Wally behauptet. Man sieht, wie falsch die An-
schuldigungen sind, als sei die preußische Zensur ausnehmend scharf.
Ich brauche wohl kein Wort mehr darüber zu verlieren, ob solches
Zeug ferner unter dem Volke bleiben solle.
Von den übrigen Volksbüchern ist nichts zu sagen; die Ge-
schichten von Pontus, Fierabras usw. haben sich längst verloren
und verdienen also diesen Namen nicht mehr. Aber ich glaube
schon in diesen wenigen Andeutungen gezeigt zu haben, wie un-
genügend diese Literatur erscheint, wenn man sie im Interesse des
Volkes, nicht im Interesse der Poesie beurteilt. Was ihr nottut,
sind Bearbeitungen einer strengen Auswahl, die vom alten Ausdruck
nicht ohne Not abgehen und gut ausgestattet unter das Volk ge-
bracht werden. Mit Gewalt die auszurotten, die vor der Kritik nicht
bestehen können, dürfte weder leicht möglich noch rällich sein;
nur dem wirklich Abergläubischen darf der Zensurstempel versagt
Die deutschen Volksbücher.
105
werden. Die übrigen verlieren sich von selbst ; Griseldis findet sich
selten, Tristan fast gar nicht. In manchen Gegenden ist es nicht
möglich, auch nur ein einziges Exemplar aufzutreiben, z. B. im
Wuppertal; in andern, wie in Cöln, Bremen usw. hat fast jeder
Krämer Exemplare an den Fenstern für die hereinkommenden
Bauern aufgehängt.
Aber eine vernünftige Bearbeitung ist das deutsche Volk, sind
die besseren dieser Bücher doch wohl wert? Es ist freilich nicht
jedermanns Sache, eine solche Bearbeitung auszuführen; ich kerne
nur zwei, die kritischen Scharfsinn und Geschm.ack gerug bei der
Auswahl, Gewandtheit im altertümlichen Slil bei der Ausführung
besitzen, das sind die Brüder Grimm; ob sie aber auch Lust und
Muße zu dieser Arbeit haben würden ? Die Marbachsche Bearbei-
tung paßt gar nicht für das Volk. Was ist da zu hoffen, wenn er
gleich mit Griseldis anfängt ? Nicht nur fehlt ihm alle Kritik, auch
hat er sich zu Auslassungen hinreißen lassen, die gar nicht not-
taten ; dazu hat er den Stil recht matt und farblos gemacht — man
vergleiche das Volksbuch vom gehörnten Siegfried und jedes andere
mit der Bearbeitung. Da ist nichts als auseinandergerissere Sätze,
Wort Versetzungen, zu denen keine Veranlassung war, als Herrn
Marbachs Sucht, in Ermangelung anderweitiger Selbständigkeit hier
selbständig zu scheinen. Oder was trieb ihn sonst dazu, die schön-
sten Stellen aus dem Volksbuch zu verändern und mit seiner un-
nötigen Interpunktion zu versehen ? Wer das Volksbuch nicht
kennt, für den sind die Marbachschen Erzählungen ganz gut, aber
sobald man beide vergleicht, sieht man, daß Marbachs ganzes Ver-
dienst die Verbesserung der Druckfehler ist. Seine Holzschnitte
sind von ganz verschiedenem Wert. — Die Simrocksche Bearbeitung
ist noch nicht weit genug gediehen, um ein Urteil darüber fällen
zu können ; doch traue ich Simrock weit mehr zu als seinem Neben-
buhler. Seine Holzschnitte sind auch durchgängig besser als die
Marbachs.
Sie haben für mich einen außerordentlichen, poetischen Reiz,
diese alten Volksbücher mit ihrem altertümlichen Ton, mit ihren
Druckfehlern und schlechten Holzschnitten. Sie versetzen mich
aus unsern geschraubten, modernen ,, Zuständen, Wirren und feinen
Bezügen" in eine Welt, die der Natur weit näher liegt. Aber davon
darf hier keine Rede sein. Tieck freilich hatte in diesem poetischen
Reiz sein Hauptargument — aber was gilt Tiecks, Görres' und aller
andern Romantiker Autorität, wenn die Vernunft dawider spricht,
und wenn es sich um das deutsche Volk handelt ?
1
I06 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Karl Beck.
Ein Sultan bin ich, wild und sturmbewegt,
Mein Heer des Lieds gepanzerte Gestalten;
Um meine Stirne hat der Gram gelegt
Den Turban in geheimnisreiche Falten —
Mit diesen schwülstigen Worten trat Herr Beck, Einlaß be-
gehrend, an die Reihen der deutschen Dichter; im Auge das stolze
Bewußtsein seines Berufs, um den Mund einen weltschmerzlichen,
modernen Zug. So streckte er die Hand nach dem Lorbeer aus.
Zwei Jahre sind seitdem vergangen; bedeckt der Lorbeer versöh-
nend die „geheimnisvollen Falten" seiner Stirn ?
Es lag in seiner ersten Gredichtsammlung eine große Kühn-
heit. „Gepanzerte Lieder", und eine „neue Bibel", ein „junges
Palästina", — i^er zwanzigjährige Dichter sprang aus Prima gleich
in den Himmel! Das war ein Feuer, wie es lange nicht loderte,
ein Feuer, das stark rauchte, weil es von allzu grünem frischem
Holze kam.
Die junge Literatur entwickelte sich so rasch und glänzend,
daß ihre Gegner einsahen, wie man durch hochmütiges Desavou-
ieren oder Aburteilen mehr verlieren als gewinnen müsse. Es war
hohe Zeit, sie genauer zu betrachten und ihre wirklichen Schwä-
chen anzugreifen. Damit war denn die junge Literatur freilich als
ebenbürtig anerkannt. Und man fand dieser schwachen Seiten —
ob wirkliche oder scheinbare, geht uns hier nichts an — bald eine
ziemliche Anzahl; am lautesten aber wurde behauptet, das gewesene
junge Deutschland wolle die Lyrik stürzen. Freilich, Heine kämpfte
gegen die Schwaben; Wienbarg machte bittere Bemerkungen über
die alltägliche Lyrik und ihr ewiges Einerlei, Mundt verwarf alle
Lyrik als unzeitgemäß und prophezeite einen Literaturmessias der
Prosa; das war zu arg. Wir Deutschen sind von jeher stolz gewesen
auf unsere Lieder ; rühmte sich der Franzose seiner selbsterkämpf-
ten Charte und spottete er unserer Zensur, so zeigten wir stolz auf
die Philosophie von Kant bis Hegel und auf die Liederreihe vom
Ludwigslied bis auf Nikolaus Lenau. Und dieser lyrische Schatz
sollte uns nun verkümmert werden.'' Siehe, da kommt die Lyrik
der „jungen Literatur" mit Franz Dingelstedt, Ernst von der Haide,
Theodor Creizenach und Karl Beck. ,
Kurz vor Freiligraths Gedichten erschienen Becks ,, Nächte".
Es ist bekannt, welches Aufsehen beide Gedichtsammlungen er-
regten. Zwei junge Lyriker standen auf, denen damals von den
Jüngeren keiner an die Seite zu setzen war. Das Verhältnis Becks
und Freiligraths zu einander wurde in der Eleganten Zeitung von
Karl Beck.
107
Kühne in seiner, von den Charakteren her bekannten Manier be-
sprochen. Ich möchte auf diese Kritik die Worte Wienbargs über
G. Pfizer anwenden.
Die Nächte sind ein Chaos. Alles liegt bunt und regellos durch-
einander. Bilder, oft kühn, wie seltsame Felsformationen; Keime
eines künftigen Lebens, Übergossen aber von einem Phrasenn:eer;
hier und da beginnt schon eine Blume zu sprossen, eine feste Insel
sich anzusetzen, eine Kristallschicht sich zu bilden. Aber noch ist
alles Verwirrung und Unordnung. Nicht auf Börne, auf Beck selbst
passen die Worte:
Wie sich die Bilder wüst und blitzend treiben
Durch mein gewitterschwüles, zürnend Haupt!
Das Bild, welches uns Beck in seinem ersten Versuch von Börne
gibt, ist entsetzlich schief und unwahr; Kühne 's Einfluß ist dabei
nicht zu verkennen. Abgesehen davon, daß Börne nun und nimmer-
mehr in solchen Phrasen gesprochen hätte, kannte er auch den
ganzen verzweifelnden Weltschmerz nicht, den ihm Beck zuschreibt.
Ist das der klare Börne, der feste, unerschütterliche Charakter,
dessen Liebe wärmte, aber nicht verbrannte, am wenigsten ihn
selbst? Nein, das ist Börne nicht, das ist nur ein unbestimmtes Ideal
des modernen Dichters, aus Heinescher Koketterie und Mundtschen
Floskeln zusammengesetzt, ein Ideal, vor dessen Realisierung uns
Gott bewahren möge. In Börnes Haupt haben sich nie die Bilder
wüst und blitzend herumgetrieben, seine Locken haben sich nicht
fluchend gen Himmel gebäumt; in seinem Herzen scholl es nie
Mittemacht, sondern immer Morgenstunde, sein Himmel war nicht
blutig rot, sondern immer blau. Börne war glücklicherweise nicht
so gräßhch verzweiflungsvoll, daß er die ,, achtzehnte Nacht" hätte
schreiben können. Schwatzte Beck nicht so viel vom Rot des Le-
bens, mit dem sein Börne schreibt, so würd' ich glauben, er hätte
den Franzosenfresser nicht gelesen. Beck mag die allerwehmütigste
Stelle des Franzosen fressers nehmen, und sie ist lichter Tag gegen
seine affektierte Sturmnacht Verzweiflung. Ist denn Börne an sich
nicht poetisch genug, muß er erst mit diesem neum.odischen Welt-
schmerze gepfeffert werden ? Neumodisch sage ich — denn daß
dergleichen zur echten modernen Poesie gehört, kann ich nie
glauben. Das ist ja eben die Größe Börnes, daß er erhaben war
über die jämmerlichen Floskeln und Koteriestichwörter unserer Tage.
Noch ehe sich ein fertiges Urteil über die ,, Nächte" bilden
konnte, trat Beck schon mit einer neuen Reihe Dichtungen hervor.
Der fahrende Poet zeigte ihn uns von anderer Seite. Der Sturm
hatte ausgeweht, das Chaos begann sich zu ordnen. Man hatte
keine so vortrefflichen Schilderungen erwartet, wie der erste und
Io8 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
zweite Gesang sie aufwiesen; man hatte nicht geglaubt, daß Schiller
und Goethe, die unserer pedantischen Ästhetik in die Krallen ge-
raten waren, zu einer so poetischen Zusammenstellung Stoff bieten
könnten, wie sie im dritten Gesänge gegeben wurde; daß Becks
dichterische Reflexion so ruhig und beinahe philiströs über der
Wartburg schweben würde, wie sie es nun wirklich tat.
Mit dem fahrenden Poeten war Beck förmlich in die Literatur
eingetreten. Beck kündigte stille Lieder an, und die Journale
berichteten, daß er ein Trauerspiel: Verlorene Seelen, ausarbeite.
Ein Jahr verging. Außer einzelnen Gedichten ließ Beck nichts
von sich hören. Die stillen Lieder blieben aus und von den ver-
lornen Seelen war nichts Gewisses zu erfahren. Endlich brachte
die Elegante novellistische Skizzen von ihm. Ein Versuch in
Prosa von einem solchen Autor konnte jedenfalls Beachtung ver-
langen. Ich bezweifle indes, daß dieser Versuch selbst irgend einen
Freund der Beckschen Muse befriedigt hat. An einigen Bildern war
der frühere zu erkennen ; der Stil konnte bei sorgsam.er Pflege sich
recht nett herausbilden, das ist aber auch alles Gute, was von dieser
kleinen Erzählung zu sagen ist. Weder tiefe Gedanken noch poe-
tischer Schwung erheben sie über die Sphäre der gemeinen Unter -
haltungsliteratur ; die Erfindung ziemlich alltäglich und sogar un-
schön, die Ausführung gewöhnlich.
In einem Konzerte sagte mir ein Freund, daß Becks stille Lieder
angekommen seien. Eben erklang das Adagio einer Beethovenschen
Symphonie. So, dacht' ich, werden diese Lieder sein; aber ich hatte
mich getäuscht, es war wenig Beethoven und viel Bellinisches La-
mentieren darin. Als ich das kleine Heft zur Hand nahm, erschrak
ich. Gleich das erste Lied so unendlich trivial, in einer so wohl-
feilen Manier, nur durch gesuchte Redeweisen quasi-originell!
An die ,, Nächte" erinnert nur in diesen Liedern noch die enorme
Träumerei. Daß in den Nächten viel geträumt wurde, war zu ent-
schuldigen ; dem fahrenden Poeten sah man 's nach, aber jetzt kommt
Herr Beck aus dem Schlafen gar nicht heraus. Schon Seite 3 wird
geträumt; S. 4, S. 8, S. 9, S. 15, S. 16, S. 23, S. 31, S. 33, S. 34,
S. 35, S. 40 usw. überall Träume. Dazu kommt eine ganze Reihe
Traumbilder. Es wäre lächerlich, wenn es nicht gar zu traurig
wäre. Die Hoffnung auf Originalität mußte bis auf einige neue
Versmaße verschwinden; dafür müssen uns denn Heinesche An-
klänge entschädigen und eine grenzenlos kindische Naivität,
die durch fast alle Lieder sich höchst widerwärtig hindurchzieht.
Besonders leidet die erste Abteilung: ,, Lieder der Liebe, Ihr Tage-
buch" daran. Von einer lodernden Flairime, von einem edeln kräf-
tigen Geist, wie Beck sein will, hätte ich solch einen matten, wider-
Karl Beck.
109
wärtigen Brei nicht erwartet. Nur zwei oder drei Lieder sind er-
träglich. ,,Sein Tagebuch" ist etwas besser; da ist denn doch hier
und da ein wirkhches Lied, das uns für die vielen Unsinnigkeiten
und Faseleien entschädigen kann. Die größte dieser Faseleien seines
Tagebuches ist „Eine Träne**. Man weiß, was Beck früher schon
in der Tränenpoesie leistete. Da ließ er „das Leid, den rohen, blu-
tigen Korsaren im stillen Meer der Träne kreuzen**, und ,,den Gram,
den stummen, kalten Fisch", darin plätschern, jetzt gesellt sich
noch mehr dazu:
Träne, nicht vergebens
Bist du voll und groß.
Schwimmt doch meines Lebens
Glück in deinem Schoß. (!)
Es schwimmen in dir so viel, so viel,
Mein Lieben und mein Saitenspiel.
Träne, nicht vergebens
Bist du voll und groß!
Wie albern ist das! Die Traumbilder enthalten noch das bessere
des ganzen Heftes, und einzelne Lieder darunter sind wenigstens
herzlich. Besonders: Schlaf wohl! das, nach der Zeit des ersten
Abdrucks in der Eleganten zu schließen, unter die früheren dieser
Lieder gehören muß. Das Schlußgedicht ist eins der besseren, nur
etwas phrasenhaft, und zum Schluß ist wieder die ,, Träne des Welt-
geistes starker Schild".
Den Schluß machen Versuche in der Ballade. Der Zigeuner -
könig, dessen Anfang stark nach Freiligraths Schilderungen
schmeckt, ist matt gegen die lebendigen Gemälde des Zigeuner-
lebens bei Lenau, und der Phrasenschwall, der uns zwingen soll,
das Gedicht frisch und kräftig zu finden, macht es nur noch wider-
wärtiger. Dagegen ist ,,Das Röslein" ein hübsch wiedergegebener
Moment. Das Ungarische Wachthaus gehört in die Kategorie
des Zigeunerkönigs ; die letzte Ballade dieses Zyklus ist ein Exempel,
wie ein Gedicht fließende und volltönende Verse und schöne Flos-
keln haben kann, ohne doch einen besonderen Eindruck zu hinter-
lassen. Der frühere Beck hätte mit drei treffenden Bildern den
finstern Räuber Janossyk anschaulicher hingestellt. Dieser muß
denn doch noch zu guter Letzt auf der vorletzten Seite träumen,
und so schließt das Heft, aber nicht das Gedicht, dessen Fortsetzung
im zweiten Bändchen versprochen wird. Was soll das heißen?
Sollen Dichtungen wie Journale schließen mit ,, Fortsetzung folgt** ?
Die Verlorenen Seelen hat der Verfasser, nachdem sie als Drama
von der Regie mehrerer Theater für unaufführbar erklärt worden,
wie man hört, vernichtet; ein anderes Trauerspiel: ,,Saul**, scheint
HO Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
er jetzt auszuarbeiten, wenigstens hat die Elegante nur den ersten
Akt und die Theater -Chronik einen großen Prospektus davon ge-
geben. Dieser Akt ist schon in diesen Blättern besprochen worden^).
Ich kann das darin Gesagte leider nur bestätigen. Beck, dessen
regellose, tastende Phantastik ihn unfähig macht zu plcistischer
Charakterdarstellung und allen seinen Personen dieselben Phra-
sen unterlegt, Beck, der in seiner Auffassung Börnes zeigt, wie
wenig er einen Charakter verstehen kann, geschweige schaffen,
konnte auf keinen unglücklicheren Gedanken kommen, als ein
Trauerspiel zu schreiben. Beck mußte die Exposition unwillkür-
lich von einem eben erschienenen Vorbilde entlehnen, mußte seinen
David und Merob im weinerlichen Ton „Ihres Tagebuchs" sprechen
lassen, er mußte die Stimmungsübergänge im Gemüte Sauls mit
der Plumpheit einer Jahrmarktskomödie wiedergeben. Wenn man
Moab sprechen hört, so erkennt man erst die Bedeutung, die bei
seinem Vorbilde Abner hat; dieser Moab, dieser rohe, blutige Mo-
lochjünger, der dem Tier näher steht als dem Menschen, sollte
Sauls ,, böser Geist" sein? Ein Naturm.ensch ist noch keine Bestie,
und Saul, der gegen die Priester opponiert, findet darum doch noch
keinen Gefallen an Menschenopfern. Dazu der Dialog über alle
Maßen ledern, die Sprache matt, und nur einige erträlgliche Bilder,
die aber noch keinen Akt eines Trauerspiels stützen können, erinnern
an Erwartungen, die Herr Beck nicht mehr erfüllen zu können
scheint.
Retrograde Zeichen der Zeit.
Nichts Neues unter der Sonne 1 Das ist eine jener glücklichen
Pseudo Wahrheiten, denen die brillanteste Karriere zugedacht war, die
von Mund zu Mund ihren Triumphzug um die Erde machten und nach
Jahrhunderten noch so oft zitiert werden, als kämen sie erst eben
zur Welt. Die echten Wahrheiten sind selten so glücklich gewesen ;
sie mußten ringen und dulden, sie wurden gefoltert und lebendig
begraben und jeder knetete sie nach seinem Gutdünken zurecht.
Nichts Neues unter der Sonne! Nein, Neues genug, aber es wird
unterdrückt, wenn es nicht zu jenen geschmeidigen Pseudowahr-
heiten gehört, die immer ein loyales „das heißt etc." in ihrem Ge-
folge führen, und die wie ein aufflackerndes Nordlicht bald der
Nacht wieder weichen; steigt aber eine neue, echte Wahrheit am
Horizonte morgenrötlich empor, so wissen die Kinder der Nacht
wohl, daß ihrem Reich der Untergang droht und greifen zu den
1) November 1839 Nr. 190 Kleine Chronik.
Retrograde Zeichen der Zeit, 1 1 1
Waffen. Das Nordlicht findet ja stets einen heitern, das Morgen-
rot einen bewölkten Himmel, dessen Trübe es niederzukämpfen
oder mit seinen Flammen zu durchgeisten hat. Und einige solcher
Wolken, die sich an die Morgenröte der Zeit gehängt haben, sollen
jetzt vor uns Revue passieren.
Oder fassen wir unsern Stoff anders an! Die Versuche, den
Lauf der Geschichte mit einer Linie zu vergleichen, sind bekannt.
,,Die Form der Geschichte", heißt es in einem geistvollen Werke ^),
das gegen die Hegeische Geschichtsphilosophie geschrieben ist,
„die Form der Geschichte ist nicht Auf- und Absteigen, nicht der
konzentrische Kreis oder die Spirale, sondern der epische PcU-allelis-
mus, bald konvergierend (so soll es wohl statt ,, kongruierend"
heißen) bald divergierend. Ich halte mich indes lieber an eine
aus freier Hand gezogene Spirale, die es mit ihren Windungen nicht
zu genau nimmt. Langsam beginnt die Geschichte ihren Lauf von
einem unsichtbaren Punkte aus, um den sie in schläfrigen Win-
dungen kriecht; aber immer größer werden ihre Kreise, immer
rascher und lebendiger der Schwung; endlich schießt sie wie ein
flammender Komet von Stern zu Stern, ihre alten Bahnen oft strei-
fend, oft durchkreuzend, und tritt mit jeder Umkreisung ihrer
selbst dem Unendhchen näher. — Wer will das Ende absehen ? Und
axi jenen Stellen, wo sie ihre alte Bahn wieder aufzunehmen scheint,
da erhebt sich die naseweise Kurzsichtigkeit und schreit frohlockend,
daß sie einmal einen Gedanken gehabt! Da haben wir 's, es ist nichts
Neues unter der Sonne! Da jubeln unsere chinesischen Stillstands-
helden, unsere Rückschrittsmandarine und machen Miene, drei
Jahrhunderte als einen vorwitzigen Ausflug in verbotene Regionen^
als einen Fiebertraum ausden Weltannalen hinauszurezensieren —
und sie sehen nicht, daß die Geschichte nur den geradesten Weg
einem neuen, leuchtenden Ideengestirn entgegenbraust, das bald
in seiner Sonnengröße ihre blöden Augen blenden wird.
An einem solchen Punkte der Geschichte stehen wir jetzt. Alle
Ideen, welehe seit Karl dem Großen in die Arena traten, alle Ge-
schmäcke, die seit fünf Jahrhunderten einander verdrängten, wollen
ihr abgestorbenes Recht bei der Gegenwart noch einmal wieder
geltend machen. Der Feudalismus des Mittelalters und der Ab-
solutismus Ludwigs XIV., die Hierarchie Roms und der Pietismus
des vorigen Jahrhunderts streiten sich um die Ehre, den freien
Gedanken aus dem Felde zu schlagen! Man wird mir erlassen, von
diesen ein Breiteres zu reden; blitzen doch gleich tausend Schwerter,
1) Gutzkow, Zur Philosophie der Geschichte, Hamburg 1836, S. 53
(Anmerkung des Herausgebers).
112 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
alle schärfer als das meinige, gegen jeden, der eine dieser Devisen
auf dem Schilde führt, und wissen wir doch, daß sie alle sich anein-
ander und am diamantharten Fuße der fortschreitenden Zeit zer-
reiben. Aber jenen kolossalen Reaktionen im kirchlichen und
Sraatsleben entsprechen unbemerktere Bestrebungen in Kunst und
Literatur, unbewußte Rückschritte zu früheren Jahrhunderten,
die zwar nicht der Zeit, aber doch dem Zeitgeschmack Gefahr
drohen und deren Zusammenstellung seltsamerweise noch nirgend
geschehen ist.
Man braucht eben nicht weit zu gehen, um diese Erscheinungen
anzutreffen. Geht nur in einen modernen möblierten Salon, so
werdet ihr sehen, wes Geisteskinder die Formen sind, mit denen
man euch umgibt. Alle die Rokokomißgeburten aus der Zeit des
krassesten Absolutismus sind heraufbeschworen worden, um den
Geist der Bewegung in die Form zu zwängen, in denen sich der
„l'etat c'est moi" behaglich fühlte. Unsere Salons sind geschmückt,
Stühle, Tische, Schränke und Sophas im style de la renaissance,
und es fehlte nur noch, daß man Heine 'n eine Perücke aufsetzte
und Bettine'n in einen Reifrock preßte, um das siecle wieder voll-
ständig herzustellen.
Solch ein Zimmer ist freilich dazu gemacht, um darin einen
Roman des Herrn von Sternberg mit seiner merkwürdigen Vor-
liebe für das Zeitalter der^Maintenon zu lesen. Man hat dem Geiste
Sternbergs diese Caprice verziehen, man hat sich auch wohl, aber
natürlich umsonst, nach tiefern Gründen dafür umgesehen; ich
erlaube mir indes zu behaupten, daß gerade dieser Zug Sternbergscher
Romane, der für den Augenblick ihre Verbreitung befördert, ihrer
Fortdauer bedeutend schaden wird. Abgesehen davon, daß ein
ewiges Hindeuten auf die dürrste, prosareichste Zeit, gegen deren
verschrobenes, zwischen Himmel und Erde zappelndes Wesen, gegen
deren Konvenienzmarionetten unsre Zeit und ihre Kinder noch na-
türlich sind, die Schönheit einer Dichtung eben nicht hebt, so sind
wir doch zu sehr gewohnt, diese Zeit in spöttischem Lichte zu be-
trachten, als daß sie uns auf die Dauer in andrer Beleuchtung zu-
sagen könnte, und eine solche Caprice in jedem Sternbergschen
Romane wiederzufinden, wird am Ende doch überaus langweilig
sein. Für mehr als eine Caprice kann diese Neigung, wenig-
stens in meinen Augen, nicht gelten, und entbehrt sie schon darum
aller tieferen Gründe, so glaube ich doch, den Anknüpfungspunkt
im Leben der „guten Gesellschaft" gefunden zu haben. Herr von
Sternberg ist ohne Zweifel für sie erzogen worden und hat sich mit
Behagen in ihr bewegen gelernt, hat vielleicht seine eigentliche
Heimat in ihren Zirkeln gefunden; und da ist's kein Wunder, wenn
Retrograde Zeichen der Zeit. 113
er mit einer Zeit liebäugelt, deren gesellschaftliche Formen weit
bestimmter und gerundeter, wenn auch hölzerner und geschmack-
loser waren, als die heutigen. Weit kühner als bei Herrn von Stern-
berg ist der Geschmack des siecle in seiner Mutterstadt Paris auf-
getreten, wo er ernsthafte Miene macht, den Romantikern den
kaum errungenen Sieg wieder zu entreißen. Victor Hugo kam,
Alexander Dumas kam und die Herde der Nachahmer mit ihnen ;
die Unnatur der Iphigenien und Nathalien wich der Unnatur einer
Lucrezia Borgia, auf einen Starrkrampf folgte ein hitziges Fieber;
man wies den französischen Klassikern Plagiate aus den Alten nach
— da tritt Dem, Rachel auf und alles ist vergessen, Hugo und Du-
mas, Lucrezia Borgia und die Plagiate; Phädra und der Cid spa-
zieren mit abgemessenen Schritten und geschniegelten Alexandri-
nern über die Bühne, Achilles paradiert mit seinen Anspielungen
auf den großen Ludwig, und Ruy Blas und Mademoiselle de belle
Isle wagen sich kaum aus den Kulissen hervor, um sich gleich in
deutsche Übersetzungsfabriken und auf deutsche Nationalbühnen
zu retten. Es muß ein seliges Gefühl sein für einen Legitimisten,
im Anschauen Racinescher Stücke die Revolution, Napoleon und
die große Woche vergessen zu können ; die Glorie des ancien regime
steigt aus der Erde hervor, die Welt behängt sich mit Hautelisse-
Tapeten, der absolute Ludwig spaziert in brokatner Weste und
Allongeperücke durch die gestutzten Alleen von Versailles, und ein
allmächtiger Mätressenfächer regiert den glücklichen Hof und das
unglückliche Frankreich.
Während hier indes die Reproduktion des Frühern in Frank-
reich selbst bleibt, scheint eine Eigentümlichkeit der französischen
Literatur im vorigen Jahrhundert bei der gegenwärtigen deutschen
sich wiederholen zu wollen. Ich meine den philosophischen Dilet-
tantismus, der sich bei mehreren neuern Schriftstellern ebenso gut
wie bei den Enzyklopädisten zeigt. Was hier der Materialismus
war, beginnt dort Hegel zu werden. Mundt war der erste, der —
um in seinem Sprachgebrauch zu reden — die Hegeischen Kate-
gorien in die Literatur einführte; Kühne, wie immer, unterließ
nicht, ihm zu folgen und schrieb die ,, Quarantäne im Irrenhause",
und obgleich der zweite Band der ,, Charaktere" von einem teil-
weisen Abfall von Hegel zeugt, so enthält ihr erster Band doch
Stellen genug, in derben er Hegel ins Moderne zu übersetzen ver-
sucht. Leider gehören diese Übersetzungen aber zu denen, deren
Verständnis nicht ohne das Original gewonnen werden kann.
Die Analogie ist nicht zu leugnen; wird die Folgerung, die der
schon einmal angezogene Autor aus dem Schicksal des philoso-
phischen Dilettantismus im vorigen Jahrhundert zog, nämlich, daß
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 8
IjA Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
mit dem System der Keim des Todes in die Literatur kommt, wird
sie auch bei dem des gegenwärtigen Jahrhunderts sich bestätigen?
Werden die Wurzeln eines Systems, das alle früheren an Konse-
quenz übertrifft, sich störrig quer über das Feld legen, das der
poetische Genius beackert ? Oder entsprechen diese Erscheinungen
nur der Liebe, mit der die Philosophie der Literatur entgegenkommt
und deren Früchte an Hotho, Rötscher, Strauß, Rosenkranz und
den Hallischen Jahrbüchern so glänzend hervortreten? Dann frei-
lich würde sich der Gesichtspunkt anders stellen und wir dürften
auf jene Vermittelung der Wissenschaft und des Lebens, der Philo-
sophie und der modernen Tendenzen, Börnes und Hegels hoffen,
deren Vorbereitung früher schon von einem Teile des sogenannten
jungen Deutschland beabsichtigt wurde. Außer diesen bleibt nur
noch ein Ausweg offen, der sich hinter diesen beiden freilich et-
was komisch ausnimmt; der, angenommen, daß Hegels Einfluß
auf die schöne Literatur ohne alle Bedeutung sein werde. Ich glaube
indes nur wenige werden sich entschließen können, diesen Weg ein-
zuschlagen.
Aber wir müssen noch weiter zurück, als bis zu den Enzyklo-
pädisten und der Frau von Maintenon; Duller, Freiligrath und
Beck erlauben sich, die zweite schlesische Schule des siebzehnten
Jahrhunderts in unsrer Literatur zu repräsentieren. Wen erinnern
Dullers Ketten und Kronen, Antichrist, Loyola, Kaiser und Papst
in ihrer Darstellung nicht an das himmelstürmende Pathos der
asiatischen Banise von weiland Ziegler von Klipphausen, oder an
den ,, Großherzog Arminius samt seiner durchlauchtigsten Thus-
nelda" Lohensteins ? Beck nun gar hat jene guten Leute an Schwulst
noch übertroffen; man hält einzelne Stellen seiner Gedichte fast
für nichts anderes als für Produkte des siebzehnten Jahrhunderts,
eingetaucht in moderne Weltschmerztinktur; und Freiligrath, der
auch zuweilen Schwulst von poetischer Sprache nicht unterscheiden
kann, macht den Rückschritt zu Hofmanswaldau vollständig, in-
dem er den Alexandriner erneuert und die Koketterie mit Fremd-
wörtern wieder einführt. Er wird dies aber hoffentlich mit seinen
ausländischen Stoffen ablegen,
Die Palme dorrt, der Wüstensand verweht,
Ans Herz der Heimat wirft sich der Poet,
Ein anderer und doch derselbe!
und täte Freiligrath dies nicht, wahrlich, in hundert Jahren würde
man seine Gedichte für ein Herbarium oder eine Streusandbüchse
halten und sie, den lateinischen Versregeln gleich, für den Schul-
unterricht in der Naturgeschichte benutzen. Ein Raupach dürfte
auf keine andre als eine solche praktische Unsterblichkeit seiner
Platen.
115
Jamben-Chroniken rechnen, aber Freiligrath wird uns hoffentlich
Dichtungen bringen, die des neunzehnten Jahrhunderts vollkommen
würdig sind. — Aber ist es nicht hübsch, daß wir in unsrer Repro-
duktionsliteratur seit der romantischen Schule schon vom zwölften
bis ins siebzehnte Jahrhundert gediehen sind ? Dann wird auch
wohl Gottsched nicht lange mehr auf sich warten lassen. —
Ich gestehe meine Verlegenheit, wie ich diese Einzelheiten
unter einem Gesichtspunkt rangieren soll; ich gestehe, die Fäden
verloren zu haben, mit denen sie sich an die fortrollende Masse
der Zeit knüpfen. Vielleicht sind sie noch nicht reif zu einem
sichern Überblick und gewinnen noch an Umfang und Zahl. Aber
es bleibr merkwürdig, daß wie im Leben, so in Kunst und Literatur
diese Reaktion hervortritt, daß die Klagen ministerieller Blätter
von Wänden widerhallen, die das l'etat c'est moi gehört zu haben
scheinen und dem Geschrei der modernen Dunkelmänner auf dieser
Seite die überladene Dunkelheit eines Teiles der neuern deutschen
Poesie auf jener entspricht.
Platen.
Von den poetischen Kindern der Restaurationsperiode, deren
Kraft durch die elektrischen Schläge des Jahres 1830 nicht ge-
lähmt wurde, und deren Ruhm sich erst in der gegenwärtigen
Literaturepoche begründete, zeichnen sich drei durch eine be-
zeichnende Ähnlichkeit aus: Immermann, Chamisso und Platen.
Bei allen dreien eine ungewöhnliche Individualität, ein bedeu-
tender Charakter und eine Verstandeskraft, die ihr poetisches
Talent zum mindesten aufwiegt. Bei Chamisso herrscht bald Phan-
tasie und Gefühl vor, bald der berechnende Verstand; in den Ter-
zinen besonders ist die Oberfläche durchaus kalt und verständig,
aber man hört das edle Herz darunter pochen; bei Immermann be-
kämpfen sich diese beiden Eigenschaften und bilden jenen Dua-
lismus, den er selbst anerkennt und dessen äußerste Spitzen seine
starke Persönlichkeit wohl zusammenbiegen, aber nicht vereinen
kann; bei Platen endlich hat die poetische Kraft ihre Selbständig-
keit aufgegeben und findet sich leicht in die Herrschaft des mäch-
tigen Verstandes. Hätte Platens Phantasie sich nicht anlehnen
können an diesen Verstand und seinen großartigen Charakter, er
wäre nicht so berühmt geworden. Darum vertrat er das Verstandes -
mäßige der Poesie, die Form, und darum ward ihm sein Wunsch
nicht gewährt, mit einem großen Werke seine Laufbahn zu be-
schließen. Er wußte wohl, daß ein solches großes Werk nötig sei,
um seinem Ruhme Dauer zu verleihen; aber er fühlte auch, daß
8*
ii6 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
seine Kraft noch nicht dazu ausreiche, und hoffte von der Zukunft
und seinen Vorarbeiten; indessen verfloß die Zeit, er kam aus den
Vorarbeiten gar nicht heraus und starb endlich.
Platens Phantasie folgte ängstlich dem kühnen Schritte seines
Verstandes ; und als es auf ein geniales Werk ankam, als sie einen
kühnen Sprung wagen sollte, den der Verstand nicht vollbringen
konnte, da mußte sie zurückbeben. Daraus entsprang Platens Irr-
tum, daß er die Produkte seines Verstandes für Poesie hielt. Für
anakreontische Ghaselen reichte seine poetische Schöpferkraft aus;
zuweilen auch blitzte sie in seinen Komödien wie ein Meteor auf;
aber gestehen wir uns nur, von dem, was Platen eigentümlich war,
ist das meiste Produkt des Verstandes, und als solches wird es immer
anerkannt werden. Man wird seiner über künstelten Ghasele, seiner
retorischen Oden müde werden ; man wird die Polemikseiner Komödien
größtenteils unberechtigt finden, aber man wird dem Witze seiner Dia-
loge, der Erhabenheit seiner Parabasen alle Achtung zollen und seine
Einseitigkeit in der Größe seines Charakters begründet finden müssen.
Platens literarische Stellung in der öffentlichen Meinung wird sich ver-
ändern ; er wird weiter zu Goethe, aber näher zu Börne treten.
Daß ihn auch seine Gesinnungen mehr zu Börne hinziehen, dafür
zeugten außer einer Masse von Anspielungen in den Komödien
schon mehrere Gedichte in der Gesamtausgabe, von denen ich nur
die Ode an Karl X. erwähne; eine Reihe Lieder, die den polnischen
Freiheitskampf zur Veranlassung hatten, waren in diese Sammlung
nicht aufgenommen, obwohl sie für die Charakteristik Platens von
hohem Interesse sein mußten. Jetzt sind sie, als Anhang zur Ge-
samtausgabe, in einer andern Verlagshandlung erschienen. Meine
Ansicht über Platen finde ich darin bestätigt. Der Gedanke und
der Charakter müssen hier mehr und auffallender als sonst irgend-
wo die Poesie ersetzen. Darum findet sich Platen in der einfachen
Weise des Liedes selten zurecht; es müssen lange, gestreckte Verse
sein, deren jeder einen Gedanken betten kann, oder künstliche
Odenmetra, deren ernster, gemessener Gang einen rhetorischen In-
halt fast zu fordern scheint. Mit der Kunst des Verses kommen
Platen auch die Gedanken, und das ist der stärkste Beweis für den
verstandesmäßigen Ursprung seiner Gedichte. Wer andere An-
sprüche an Platen macht, den werden diese Polenlieder nicht be-
friedigen; wer aber mit diesen Erwartungen das Heftchen in die
Hand nimmt, der wird für den mangelnden poetischen Duft durch
eine Fülle erhabener, mächtiger Gedanken, die auf dem Boden des
edelsten Charakters gewachsen sind, und durch eine ,, großartige
Leidenschaftlichkeit", wie die Vorrede treffend sagt, reichlich ent-
schädigt werden. Schade, daß diese Gedichte nicht einige Monate
Requiem für die deutsche Adelszeitung. ny
früher erschienen sind, als das deutsche Nationalbewußtsein sich
gegen die kaiserlich russische europäische Pentarchie erhob; sie
wären die beste Antwort darauf gewesen. Vielleicht hätte auch der
Pentarchist hier manches Motto für sein Werk gefunden.
Requiem für die Deutsche Adelszeitung.
Dies irae, dies illa
Saecla soluet in favilla. —
Jener Tag, an dem Luther die Urschrift des Neuen Testamentes
hervorzog und mit diesem griechischen Feuer die Jahrhunderte des
Mittelalters, mit ihrer HerrHchkeit und ihrer Knechtschaft, mit
ihrer Poesie und Gedankenlosigkeit, zu Staub und Asche verbrannte,
jener Tag und die ihm folgenden drei Jahrhunderte haben endlich
eine Zeit geweckt, „die so ganz der Öffentlichkeit angehört, eine
Zeit, von der Napoleon, dem man trotz vieler Eigenschaften, die
namentlich in den Augen der Deutschen verwerflich sind, einen
seltenen Scharfsinn nicht absprechen kann, gesagt hat: „le jour-
nalisme est une puissance". Ich führe diese Worte nur hier an,
um zu zeigen, wie wenig mittelalterlich, d. h. gedankenlos, der Pro-
spektus der Adelszeitung ist, dem sie entlehnt sind. Und dieser
Öffentlichkeit sollte die Krone aufgesetzt, sollte das Bewußtsein
gegeben werden mit der deutschen Adelszeitung. Denn das ist
klar, Gutenberg erfand den Druck nicht, um einen Börne — das
war ja ein Demagoge — oder Hegel — der ist ja vorn servil, wie
Heine, und hinten revolutionär, wie Schubarth bewiesen hat —
oder irgend einem andern Bürgerlichen seine verworrenen Ge-
danken in die Welt verbreiten zu helfen, sondern einzig und allein,
um die Stiftung der Adelszeitung möglich zu machen. — Wohl
ihr, sie ist hinüber! Sie tat nur einen verstohlenen, scheuen
Blick in diese arge, unmittelalterliche Welt und ihr reines Jung-
frauen- oder vielmehr gnädiges Fräuleinherz bebte zurück vor dem
Greuel der Verwüstung, vor dem Schmutz der demokratischen Ca-
naille, vor der schauderhaften Arroganz der Kurunfähigkeit, vor
allen jenen bejammernswerten Zuständen, Bezügen und Wirren
dieser Zeit, die an den Toren freiherrlicher Schlösser, wenn sie sich
dort melden, mit der Hetzpeitsche begrüßt werden. Wohl ihr, sie
ist hinüber, sie sieht die Hohlheit der Demokratie, das Rütteln am
Bestehenden, die Tränen der Hochwohl- und Hochgeborenen nicht
mehr, sie ist entschlafen. —
Requiem aeternam dona ei, Domine !^)
^) Herr, gib ihr ewige Ruhe!
Il8 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Und doch, wir haben viel an ihr verloren. Welche Freude war
nicht in allen Salons, wo nur Herren von sechzehn Ahnen Zutritt
haben, welcher Jubel in allen halbverlorenen Vorposten der recht-
gläubigen Aristokratie! Da saß der alte gnädige Papa im Erblehn-
stuhl, von den Lieblingshunden umgeben, in der Rechten die Erb-
pfeife, in der Linken die Erbkarbatsche und studierte andächtig
den antediluvianischen Stammbaum im ersten Buche Mosis, als
die Tür aufging und der Prospektus der Adelszeitung hereingebracht
wurde. Der Hochwohlgeborene, als ihm das Wort Adel, mit großen
Lettern gedruckt, begegnet, rückt eilig die Brille zurecht und liest
beseligt das Blatt durch, er sieht, daß auch Familiennachrichten
in der neuen Zeitung eine Srelle finden und freut sich schon auf
seinen Nekrolog — wie gern möchte er ihn nicht selbst lesen! —
wenn er einmal zu seinen Ahnen versammelt wird. — Da galop-
pieren die jungen Herren in den Schloßhof; der Alte läßt sie eilig
heraufrufen, Herr Theoderich ,,von der Neige" jagt die Rosse mit
einem Peitschenhieb in den Stall, Herr Siegwart überrennt mehrere
Lakaien, tritt der Katze auf den Schwanz und schleudert ritterlichst
einen alten, suppliziert habenden und abgewiesenen Bauern auf
die Seite, Herr Giselher befiehlt den Dienern bei Leibesstrafe die An-
ordnungen zur Jagd ja untadelhaft zu treffen und so poltern die
jungen Barone in den Saal. Die Hunde, welche ihnen heulend ent-
gegenspringen, werden mit der Karbatsche unter den Tisch getrieben
und Herr Siegwart von der Neige, der den Lieblingshund mit gnä-
digem Fuße zur Ruhe verwiesen, bekommt von dem entzückten
Papa nicht einmal den gewohnten zornigen Blick dafür. Herr Theo-
derich, der außer der Bibel und dem Stammbaum auch einiges im
Konversationslexikon gelesen hat und also die Fremdwörter am
richtigsten aussprechen kann, muß den Prospektus vorlesen und der
Alte vergißt bei seinen Freudentränen Ablösungsordnung und Adels-
beschwerung.
Wie sittig -bescheiden-herablassend ritt die Gnädige nicht herein
in die moderne Welt auf ihrem weißen Papierzelter, wie kühn sahen
ihre beiden Ritter nicht in die Welt hinaus, jeder Zoll ein Baron,
jeder Blutstropfen die Frucht von vierundsechzig ebenbürtigen Bei-
lagern, jeder Blick eine Herausforderung! Zuerst Herr von Al-
ven sieben, der sein ritterliches Streitroß auf der dürren Heide
französischer Romane und Memoiren herumgetummelt hat, um
nun auch einen Tyost gegen bürgerliche Rangen wagen zu können.
Auf dem Schilde trägt er die Devise: ,,Ein wohlerworbenes Recht
kann nie ein Unrecht werden", und schreit mit starker Slimme in
die Welt hinaus: ,,Der Adel hat vor Zeiten die Gnade gehabt, sich
verdient zu machen, jetzt ruht er auf seinen Lorbeeren, oder zu
Requiem für die deutsche Adelszeitung. ng
deutsch, liegt auf der Bärenhaut, und der Adel hat die Fürsten und
somit auch die Völker kräftiglich geschützt und ich werde schon
Sorge tragen, daß diese Großtaten nicht vergessen werden und meine
Geliebte, die Adelszeitung — requiescat in pace — ist die schönste
Dame in der Welt, und wer das leugnet, der" —
Da fällt der adlige Herr vom Pferde und an seiner Stelle zockelte
Herr Friedrich Baron de la Motte Fouque in die Schranken.
Der alte ,, lichtbraune" Rosinante, dem wegen langen Stallebens die
Eisen abgefallen waren, der in seinen besten Tagen nie fett gewe-
sene HjTpogryph, dem die romantischen Sprünge unter den Nord-
landsrecken längst vergangen waren, fing plötzlich an zu stampfen;
Herr von Fouque vergaß den jährlichen poetischen Kommentar zum
Berliner Politischen Wochenblatt, ließ den Panzer scheuren und das
alte blinde Roß hervorführen und ging in einsamer Heldengröße
auf den Kreuzzug der Ideen der Zeit; damit aber der ehrliebende
Bürgerstand nicht glaube, gegen ihn richte sich die geknickte Lanze
des alten Recken, wirft er ihm ein Vorwort hin. Solch herablassende
Güte verdient Besprechung
Das Vorwort belehrt uns, daß die Weltgeschichte nicht, wie
Hegel höchst irrig meint, da ist, um den Begriff der Freiheit zu
realisieren, sondern allein, um zu beweisen, daß es drei Stände
geben muß, von denen der Adel fechten, der Bürger denken, der
Bauer pflügen soll. Nun sollen das aber keine Kastenunterschiede
sein, sondern die Stände sollen sich gegenseitig flicken und er-
frischen, nicht durch Mesalliancen, sondern durch Standeserhö-
hungen. Es ist freilich schwer zu begreifen, daß der ,, quellenklare
See" des Adels, der aus den reinen Quellen zusammen rann, die
von den Höhen der Raubschlösser sprudelten, daß dieser See noch
eine Erquickung nötig haben soll. Aber der edle Baron erlaubt,
daß Leute, welche nicht nur allein Bürger, sondern auch ,, Reiters -
knechte" und vielleicht sogar Schneidergesellen gewesen
sind, den Adel erfrischen sollen. Wie aber die übrigen Stände vom
Adel erfrischt werden sollen, das sagt Herr Fouque nicht. Wahr-
scheinlich durch die aus dem Adel degradierten Subjekte oder, da
Herr Fouque so gütig ist, zu gestehen, daß der Adel eigentlich inner-
lich nicht besser ist als die Canaille, so wird für den Adeligen die
Erhebung in den Bürgerstand, oder gar in den Stand der Bauern
von derselben Ehre sein, als das Adelsdiplom für den Bürgerlichen ?
In dem Staate des Herrn Fouque ist ferner dafür gesorgc, daß die
Philosophie nicht zu sehr überhand nimmt; Kant wäre mit seinen
Gedanken über den ewigen Frieden dort auf den Scheiterhaufen
gekommen, denn beim ewigen Frieden könnten die Adligen gar
nicht fechten, sondern höchstens etwa die Handwerksburschen.
120 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Man sieht, Herr Fouque verdiente für seine gründlichen Stu-
dien der Geschichte und Staatswissenschaft die Erhebung in den
denkenden, d.h. in den Bürgerstand: er ist vortrefflich eingeübt,
bei Hunnen und Avaren, bei Baschkiren und Mohikanern, ja sogar
bei den Antediluvianern nicht nur ein verehrliches Publikum, son-
dern auch einen hohen Adel aufzuspüren. Er hat auch die nagel-
neue Entdeckung gemacht, daß im Mittelalter, als der Bauer leib-
eigen war, der Bauernstand Liebes und Gutes in bezug auf die beiden
andern gab und empfing. Seine Sprache ist unvergleichlich, er
schleudert mit ,, wurzeltief eingreifenden Dimensionen" um sich
und ,,weiß Gold aus den an sich (Hegel — Saul unter den Prophe-
ten) dunkelsten Erscheinungen zu ziehen". —
Et lux perpetua luceat eis —
sie haben's wahrlich nötig.
Sie hat noch so manchen schönen Gedanken gehabt, die selige
Adelszeitung, zum Exempel den über den Grundbesitz des Adels und
noch hundert andere, die zu preisen ein Ding der Unmöglichkeit
wäre, aber ihr schönster Gedanke war doch, in ihrer ersten Nummer
unter den Ankündigungen gleich eine Mesalliance anzuzeigen.
Ob sie mit gleicher Humanität Herrn von Rothschild unter den
deutschen Adel rechnen wollte, hat sie nicht gesagt. Gott tröste
die beklagenswerten Eltern und erhebe die Selige in den himm-
lischen Grafenstand,
Und laß sie ruhig schlafen,
bis auf den jüngsten Tag! —
Wir aber wollen ihr ein Requiem singen und eine Leichenrede
halten, wie es eines braven Bürgers Pflicht ist.
Tuba mirum spargens sonum
Per sepulcra regionum
Coget omnes ante thronum.
Hört ihr sie nicht, die Posaune, die die Grabsteine überbläst
und die Erde freudig wogen macht, daß die Gräber sich auftun ?
Der jüngste Tag ist angebrochen, der Tag, dem keine Nacht melir
folgen wird; der Geist, der ewige König ist auf seinen Thron gestie-
gen und zu seinen Füßen versammeln sich die Völker der Erde,
Rechenschaft zu geben von ihrem Dichten und Trachten; es geht
ein neues Leben durch die Welt, daß die alten Völkerstämme ihre
laubigen Zweige freudig wiegen im Hauche des Morgens und ab-
schütteln alle alten Blätter zum Spiel des Windes, der sie zusammen-
weht zu einem großen Scheiterhaufen, den Gott selbst mit seinen
Blitzen entflammt. Das Gericht ist ausgegangen über die Geschlech-
ter der Erde, das Gericht, das die Kinder der Vergangenheit gern
Landschaften. 12 1
niederschlagen möchten wie einen Erbschaftsprozeß; aber unerbitt-
lich droht der ewige Richter mit seinen durchdringenden Blicken ;
das Pfund, mit dem sie nicht gewuchert haben, wird von ihnen ge-
nommen, und sie werden hinausgestoßen in die Finsternis, wo kein
Strahl des Geistes sie erquickt.
Landschaften.
Hellas hatte das Glück, seinen landschaftlichen Charakter in
der Religion seiner Bewohner zum Bewußtsein gebracht zu sehen.
Hellas ist ein Land des Pantheismus; alle seine Landschaften sind
— oder waren es wenigstens — in dem Rahmen der Harmonie ge-
faßt. Und doch drängt sich jeder Baum, jede Quelle, jeder Berg
zu sehr in den Vordergrund, und doch ist sein Himmel viel zu blau,
seine Sonne viel zu strahlend, sein Meer viel zu großartig, als daß
sie sich mit der lakonischen Vergeistigung eines Shelleyschen Spirit
of nature, eines allumfassenden Pan begnügen sollten; jedes ein-
zelne macht auch in seiner schönen Abrundung Ansprüche auf einen
besondern Gott, jeder Fluß will seine Njrmphen, jeder Hain seine
Drjraden haben — und so ward die Religion der Hellenen. Andere
Gegenden waren nicht so glücklich ; sie dienten keinem Volke zur
Grundlage seines Glaubens und müssen ein poetisches Gemüt ab-
warten, das den religiösen Genius, der in ihnen schlummert, herauf-
beschwört. Steht ihr auf dem Drachenfels oder auf dem Rochus-
berg bei Bingen und schaut ihr hin über das rebenduftende Rhein -
tal, die fernen blauen Berge mit dem Horizont verschmolzen, das
Grün der Felder und Weinberge, vom Golde der Sonne übergössen,
das Blau des Himmels widerstrahlend aus dem Strom — da senkt
sich der Himmel mit seinem Licht auf die Erde und spiegelt sich in
ihr, der Geist versenkt sich in die Materie, das Wort wird Fleisch
und wohnt unter uns — das ist verkörpertes Christentum. Im
graden Gegensatz dazu steht die norddeutsche Heide ; da ist nichts
als dürre Halme und demütiges Heidekraut, das im Bewußtsein
seiner Schwäche nicht von der Erde aufzukriechen wagt; hie und
da ein ehemals trotzender, jetzt vom Blitz zersplitterter Baum; und
je heiterer der Himmel ist, desto schärfer scheidet er sich in
seiner selbstgenügsamen Herrlichkeit von der armen verfluchten
Erde, die im Sack und in der Asche vor ihr liegt, desto zornes-
heißer blickt sein Sonnenauge auf den kahlen, unfruchtbaren Sand
— hier ist die jüdische Weltanschauung repräsentiert.
Die Heide ist genug gescholten worden, die ganze Literatur^)
*) Im dritten Bande des Blasedow nimmt sich der Alte der Heide an.
(Anmerkung des Verfassers.)
122 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
hat ihr einen Fluch zugewälzt und sie nur, wie in Platens Ödipus,
zur Staffage der Satire angewandt, aber man hat es auch verschmäht,
ihre seltenen Reize, ihre versteckten poetischen Beziehungen auf-
zusuchen. Man muß eigentlich in einer schönen Gegend, auf Berges-
höhen und waldigen Felsenkronen, aufgewachsen sein, um das Ab-
schreckende, Trostlose der norddeutschen Sahara recht zu emp-
finden, aber auch um den verborgenen, wie die lybische Mirage
nicht immer sichtbaren Schönheiten dieses Gebietes mit Lust nach-
zuspüren. Die eigentliche Prosa Deutschlands steckt nur in den
Kartoffelsteppen der linken Eibseite. Aber die Heimat der Sachsen,
des tatenreichsten deutschen Stammes, ist auch in ihrer Öde poe-
tisch. In einer Sturmnacht, wenn die Wolken gespenstisch um den
Mond flattern, wenn die Hunde sich von fern einander zubellen,
dann jagt auf schnaubenden Rossen hinein in die endlose Heide,
dann sprengt mit verhängten Zügeln über die verbitterten Granit-
blöcke und die Grabhügel der Hünen ; in der Ferne blitzt das Wasser
der Moore im Widerscheine des Mondes, Irrlichter gaukeln darüber
hin, unheimlich tönt das Geheul des Sturmes über die weite Fläche;
der Boden wird unsicher unter euch und ihr fühlt, daß ihr in den
Bereich der deutschen Volkssage gekommen seid. Erst seit ich
die norddeutsche Heide kenne, hab' ich die Grimmschen ,,Kinder-
und Hausmärchen" recht verstanden. Fast allen diesen Märchen
sieht man es an, daß sie hier entstanden sind, wo mit dem An-
bruch der Nacht das Menschliche verschwindet und die grausigen,
formlosen Geschöpfe der Volksphantasie über einen Boden hin-
huschen, dessen Öde am hellen Mittag schon unheimlich ist. Sie
sind die Versinnlichung der Gefühle, die den isolierten Bewohner
der Heide erfassen, wenn er in einer solchen wilden Nacht durch
sein Heimatland geht oder vom hohen Turme die öde Fläche schaut.
Da treten die Eindrücke, die ihm von den Sturmnächten der
Heide aus seiner Kindheit geblieben sind, wieder vor ihn hin und
gestalten sich zu jenen Märchen. Das Geheimnis von der Entstehung
des Volksmärchens belauscht ihr am Rhein und in Schwaben nicht,
während hier jede Blitznacht — helle Blitznacht, sagt Laube —
davon mit Donnerzungen redet.
Der Sommer faden der Apologie der Heide würde, vom Winde
getragen, sich wohl noch länger fortspinnen, wenn er sich nicht
eben um einen unglücklichen, mit hannoverschen Landesfarben an-
gemalten Wegweiser verwickelt hätte. Ich habe lange über die Be-
deutung dieser Farben nachgedacht. Die königlich preußischen
zeigen zwar das nicht an, was Thiersch in seinem schlechten Preu-
ßenliede darin finden will; immerhin aber erinnern sie in ihrer
Prosa an die kalte, herzlose Bureaukratie und alles das, was dem
Landschaften.
J23
Rheinländer vom Preußentum noch nicht recht einleuchten will;
der schroffe Abstand zwischen Schwarz und Weiß kann ein Ana-
logen bieten für das Verhältnis zwischen König und Untertanen
in der absoluten Monarchie ; und da sie eigentlich nach Newton gar
keine Farben sind, so können sie andeuten, daß die loyale Gesinnung
in der absoluten Monarchie die ist, welche sich zu gar keiner Farbe
hält. Die muntre rote und weiße Fahne der Hanseaten paßte doch
wenigstens vor Zeiten; der französische Esprit schillert in der Tri-
kolore, deren Farben sich auch das phlegmatische Holland aneig-
nete, wahrscheinlich um sich selbst zu persiflieren; am schönsten
und bedeutungsvollsten bleibt freilich immer die unglückliche
deutsche Trikolore. Aber die hannoverschen Farben! Denkt euch
einen Stutzer, der mit seinen weißen Inexpressibles eine Stunde
lang über Stock und Stein, durch Chausseegräben und frischge-
pflügte Felder gejagt ist, denkt euch Lot's Salzsäule — ein Exempel
für das ehemals hannoversche Nunquam retrorsum, zur Warnung
für Viele — denkt euch dieses ehrwürdige Denkmal von der un-
gezogenen" Baduinen Jugend mit Lehm beworfen, und ihr habt einen
hannoverschen Wappenpfahl. Oder bedeutet das Weiß vielleicht das
unschuldige Staatsgrundgesetz und das Gelb den Kot, mit dem es
von gewissen feilen Federn bespritzt wird ? —
Wenn ich den religiösen Charakter der Gegenden festhalte,
so sind die holländischen Landschaften wesentlich calvinistisch.
Die totale Prosa, die Unmöglichkeit einer Vergeistigung, die auf
einer holländischen Fernsicht lastet, der graue Himmel, der nun
einmal einzig zu ihr paßt, alles das erweckt denselben Eindruck,
den die unfehlbaren Beschlüsse der Dordrechter Synode in uns
zurücklassen. Die Windmühlen, das einzig Bewegte in der Land-
schaft, erinnern an die Erwählten der Prädestination, die sich einzig
und allein vom Hauche der göttlichen Fügung antreiben lassen;
alles andere liegt im ,, Geistlichen Tod". Und der Rhein wie der
ströznende, lebendige Geist des Christentums verliert in dieser dürren
Orthodoxie seine befruchtende Kraft und muß ganz und gar ver-
sanden. So erscheinen, vom Rheine aus gesehen, seine holländischen
Ufer ; andre Teile des Landes sollen schöner sein, ich kenne sie nicht.
— Rotterdam, mit seinen schattigen Kais, mit seinen Grachten
und Schiffen, ist für Kleinstädter aus dem Innern Deutschlands
eine Oase; hier begreift man, wie die Phantasie eines Freiligrath
mit den scheidenden Fregatten zu fernen, üppigeren Gestaden ziehen
konnte. Dann wieder die verdammten seeländischen Inseln, nichts
als Schilf und Dämme, Windmühlen und glockenspielende Kirch -
turoispitzen, zwischen denen sich das Dampf boot stundenlang hin-
durchwindet!
124 "^^^ ^^^ I-ehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Aber nun, welch seliges Gefühl, wenn wir hinausfliegen aus
den philiströsen Dämmen, aus der enggeschnürten calvinistischen
Orthodoxie in das Gebiet des freiwogenden Geistes! Helvoetsluys
verschwindet, die Waalufer versinken rechts und links in den höher
aufjubelnden Wellen, das sandige Gelb des Wassers verwandelt
sich in Grün, und nun vergessen, was dahinter ist und mit frohem
Herzen hinaus in die dunkelgrüne, durchsichtige Flut!
. Und nun vergiß der Schmerzen,
Die man dir angetan,
Und geh* mit ganzem Herzen
Die große freie Bahn.
Der Himmel beugt sich nieder,
Wird Eines mit dem Meer —
Du willst zerrissen wieder
Fahren dazwischen her ?
Der Himmel beugt sich nieder,
Umfängt die schöne Welt,
Selig der schönen Glieder,
Die er umschlungen hält,
Als wollte sie ihn küssen,
So hüpfte die Welle auf.
Und du, du willst zerrissen
Vollenden deinen Lauf?
Sieh, wie der Gott der Liebe
Sich in die Welt versenkt.
Und daß er ihr verbliebe,
Sich ihr im Menschen schenkt!
Trägst du nicht allerwegen
Den Gott im Busen dein ?
So laß' ihn frei sich regen.
Und seiner würdig sein!
Dann hänge dich in die Taue des Bugspriets und schau in die
Wogen, wie sie, vom Kiele zerteilt, den weißen Schaum weit hin-
ausspritzen über dein Haupt, dann sieh über die ferne, grüne
Fläche, wo die schäumenden Wellenhäupter in ewiger Unruhe auf-
tauchen, wo die Sonnenstrahlen aus tausend tanzenden Spiegeln in
dein Auge zurückfallen, wo das Grün des Meeres mit dem spiegeln-
den Himmelblau und Sonnengold zu einer wunderbaren Farbe ver-
schmilzt, da entschwinden dir alle kleinlichen Sorgen, alle Erinne-
rungen an die Feinde des Lichts und ihre hinterlistigen Ausfälle,
und du gehst auf im stolzen Bewußtsein des freien, unendlichen
Geistes! Ich habe nur einen Eindruck, den ich diesem vergleichen
Landschaften. 125
konnte; als sich zum erstenmal die Gottesidee des letzten Philo-
sophen vor mir auftat, dieser riesenhafteste Gedanke des neunzehn-
ten Jahrhunderts, da erfaßten mich dieselben seligen Schauer, da
wehte es mich an, wie frische Meerluft, die vom reinsten Himmel
herniederhaucht; die Tiefen der Spekulation lagen vor mir wie die
unergründliche Meerflut, von der das zum Boden strebende Auge
sich nicht abwenden kann; in Gott leben, weben und sind wir!
Das kommt uns auf dem Meere zum Bewußtsein; wir fühlen, daß
alles um uns und wir selbst von Gott durchhaucht sind ; die ganze
Natur ist uns so verwandt, die Wellen winken uns so vertraut zu,
der Himmel breitet sich so liebeselig um die Erde, und das Licht
der Sonne hat einen so unbeschreiblichen Glanz, daß man meint,
es mit Händen greifen zu können. —
Die Sonne sinkt im Nordwest ; links von ihr erhebt sich ein
leuchtender Streif aus dem Meere, die Küste von Kent, das süd-
liche Ufer der Themse. Aut der See liegen schon die Nebel der
Dämmerung, nur im Westen ist, wie über den Himmel, auch über's
Wasser, der Purpur des Abends ausgegossen ; der östliche Himmel
prangt in tiefem Blau, aus dem die Venus schon hell heraustritt;
im Südwesten zieht sich lang am Horizonte Margate hin, in dessen
Fenstern das Abendrot sich spiegelt, ein langer, goldner Streif in
zauberischem Lichte; und nun schwingt die Mützen und begrüßt
das freie England mit freudigem Rufe und vollem Glase. Gute
Nacht, auf fröhliches Erwachen in London!
Ihr, die ihr über die Prosa der Eisenbahnen klagt, ohne je
eine gesehen zu haben, laßt euch fahren auf der, die von London
nach Liverpool geht. Wenn es irgend ein Land gibt, das gemacht
ist, auf der Eisenbahn durchflogen zu werden, so ist es England.
Keine blendenden Schönheiten, keine kolossalen Felsmassen, aber
ein Land voll sanfter Hügelwellen, das bei der englischen, nie ganz
klaren Sonnenbeleuchtung einen wunderbaren Reiz hat. Man
staunt über die mannigfachen Gruppierungen der einfachen Staffage ;
aus ein paar Hügeln, Feld, Bäumen, weidendem Vieh macht die
Natur tausend anmutige Landschaften. Eigentümlich schön er-
scheinen die Bäume, mit denen alle Felder, einzeln und in Gruppen,
besetzt sind, so daß die ganze Gegend etwas parkähnliches erhält.
Dann wieder ein Tunnel, der den Wagenzug für einige Minuten im
Dunkel hält, und der in einen Hohlweg ausläuft, aus dem man
plötzlich wieder in die lachenden, sonnigen Felder versetzt wird.
Auf einmal führt der Weg auf einem Viadukt quer durch ein langes
Tal; tief unten liegen die Städte und Dörfer, die V/älder und Wiesen,
zwischen denen der Fluß sich hindurchschlängelt; rechts und links
Berge, die im Hintergrunde verschwimmen, und über dem reizen-
126 -Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
den Tale eine zauberhafte Beleuchtung, halb Nebel, halb Sonnen-
schein — doch kaum hat man das wunderbare Gebiet überschaut,
so ist man ihm in einen kahlen Hohlweg entrückt und hat Zeit,
das magische Bild in der Phantasie neu zu schaffen. Und so geht
es fort, bis die Nacht hereinbricht und der Schlummer die schauens-
matten Augen schließt. O, es liegt eine reiche Poesie in den Pro-
vinzen Britanniens! Oft meint man, noch in den golden days of
merry England zu sein, und Shakespeare mit der Büchse hinterm
Hag schleichen zu sehen, wie er noch nach fremdem Wilde jagte,
oder man wundert sich, daß auf dieser grünen Au nicht eine seiner
göttlichen Komödien wirklich sich abwickelt. Denn wo die Szene
auch liegen mag, in Italien, in Frankreich oder Navarra, immer
ist's im Grunde doch merry England, wohin seine barocken Rüpel,
seine superklugen Schulmeister, seine liebenswürdig-bizarren Frauen
gehören, überall merkt man dem Ganzen an, daß nur der englische
Himmel dazu paßt. Nur einige Komödien, wie der Sommernachts-
traum, haben das Südlich-Klimatische so vollkommen wie Romeo
und Julie, auch in den Charakteren.
Und nun zurück zu unserem Vaterlande! Das malerische und
romantische Westfalen ist ganz ärgerlich geworden über seinen
Sohn Freiligrath, der es über dem freilich weit malerischeren und
romantischeren Rhein ganz und gar vergessen hat; trösten wir es
mit einigen schmeichelnden Worten, damit seine Geduld nicht eher
bricht, als das zweite Heft erscheint. Westfalen ist von Bergketten
gegen Deutschland hin umgeben und nur gegen Holland offen,
gleichsam als sei es von Deutschland ausgestoßen. Und doch sind
seine Kinder echte Sachsen, treue, gute Deutsche. Nun, jene Berge
bieten herrliche Punkte dar; im Süden die Ruhr- und Lenne-Täler,
im Osten das Wesertal, im Norden eine Bergkette von Minden
nach Osnabrück — überall die reichsten Aussichten, nur in der
Mitte des Landes eine langweilige Sandfläche, die man durch Gras
und Korn immer hindurchscheinen sieht. Und dann die alten,
schönen Städte, vor allem Münster mit seinen gotischen Kirchen,
mit den Arkaden seines Marktes, mit Annette Elisabeth von Droste
Hülshof und Levin Schücking. Der letztere, den ich das Vergnügen
hatte, dort kennen zu lernen, war so gütig, mich auf die Gedichte
jener Dame aufmerksam zu machen, und ich kann diese Gelegen-
heit nicht vorübergehen lassen, ohne einen Teil der Schuld abzu-
tragen, die das deutsche Publikum sich gegen diese Poesien auf-
geladen hat. Es hat sich bei ihnen wiederum bewährt, daß die ge-
priesene deutsche Gründlichkeit es sich nur zu leicht mit der Wür-
digung von Gedichten macht; man blättert sie durch, untersucht,
ob die Reime rein, die Verse fließend sind, ob der Inhalt leicht zu
Ein Abend.
127
verstehen und an schlagenden, wenigstens blendenden Bildern reich
ist, und das Urteil ist fertig. Aber Dichtungen wie diese, wo eine
Innigkeit des Gefühls, eine Zartheit und Originalität der Natur-
bilder, wie sie nur Shelley haben mag, eine kühne Byronsche Phan-
tasie im Gewände einer freilich etwas steif drapierten Form, einer
von Provinzialismen nicht freien Sprache auftreten, gehen spurlos
vorüber ; wer hätte aber auch Lust, sie etwas langsam.er zu lesen
als gewöhnlich — und da man doch nur Gedichte zur Hand nimmt,
wenn die Stunde der Siesta kommt, so könnte die Schönheit der-
selben wohl gar dem Schlafe Abbruch tun! Dazu ist die Dichterin
eine gläubige Katholikin, und wie kann sich ein Protestant dafür
interessieren! Aber wenn der Pietismus den Mann, den Magister,
den Oberhelfer Albert Knapp lächerlich macht, so steht der
kindliche Glaube dem Fräulein von Droste gut. Es ist eine
mißliche Sache um die religiöse Freisinnigkeit der Frauen.
Die George Sands, die Mistreß Shelleys sind selten; nur zu
leicht zernagt der Zweifel das weibliche Gemüt und erhebt
den Verstand zu einer Macht, die er bei keinem Weibe haben
darf. Wenn aber die Ideen, mit denen wir Kinder des Neuen
stehen und fallen, Wahrheit sind, dann ist auch die Zeit nicht
mehr fern, wo das weibliche Herz ebenso warm für die Ge-
dankenblüten des modernen Geistes schlägt, wie jetzt für den
frommen Glauben der Väter — und erst dann wird der Sieg des
Neuen vor der Tür sein, wenn die junge Generation es mit der
Muttermilch in sich aufnimmt.
Ein Abend.
To-morrow comes!
Shelley.
Im Garten sitz ich — eben ist gesunken
Des alten Tages Sonne in die Fluten
Und, die von ihr beherrscht, verborgen ruhten,
Sprühn lustig jetzt, der Abendröte Funken.
Die Blumen stehn und schaun sich an so trübe,
Daß ihnen schwand der Sonne heit'res Leuchten,
Die Vögel aber auf den unerreichten
Baumgipfeln singen froh ihr Lied der Liebe.
Die Schiffe ruhen auf des Stromes Rücken,
Die sonst den weiten Ozean durchfahren.
Und fernher über dröhnt das Holz der Brücken,
D'rauf heimwärts ziehn der Menschen müde Scharen,
128 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1 841.
Der kühle Trank braust auf im hellen Becher,
Und vor mir liegen Calderons Komödien;
Und so berausch ich mich, ein rechter Zecher,
Am Wein und den gewaltigen Tragödien.
2.
Bleich wird das Abendrot im Westen schon —
Geduld, ein Morgen kommt, ein Freiheitsmorgen,
Die Sonne steigt, und ewig glüht ihr Thron,
Fern bleibt die Nacht mit ihren trüben Sorgen.
Da sprießen neu die Blumen, nicht in Beeten,
Nicht da allein, wo wir den Samen säten,
Die ganze Erde wird ein lichter Garten.
Und alle Pflanzen wechseln ihre Länder,
Die Friedenspalme schmückt des Nordens Ränder,
Der Liebe Rose kränzt die Frosterstarrten.
Die feste Eiche wandert nach dem Süden,
Despoten trifft als Keule dort ihr Ast,
Und wer dem Lande wiedergab den Frieden,
Der sieht von ihrem Laub sein Haar umfaßt.
Die Aloe sproßt in aller Welt empor —
Ihr ist der strenge Geist des Volkes ähnlich.
So stachelvoll, so plump und unansehnlich,
Bis plötzlich, laut erkrachend, bricht hervor
Durch jedes Hemmnis eine lichte Blüte,
Die Freiheitsflamme, die verborgen glühte.
Den Duft verhauchend, der zu Gott mag dringen
Eh' als der Weihrauch, den ihm Heuchler bringen.
Und einsam stehn im Haine und vergessen
Jetzt ohne Deutung, einzig die Zypressen.
3-
Die Vögel, die dann auf den grünen Zweigen
Mit lautem Sang das Morgenrot verkünden.
Die schon erkennen, wenn die Wolken neigen
Ihr feuchtes Haupt zu niedern Tälergründen,
Daß bald die Sonne wird den Thron besteigen.
Das sind die Männer aus dem Dichterreigen;
Ihr Wort wird fortgetragen an den Winden,
Die, frei, sich gern mit freiem Wort verbünden.
Die Sänger stehn nicht auf der Schlösser Warten -
Die Adelsschlösser sanken längst, zertrümmert —
Von stolzen Eichen, die im Sturm nicht knarrten,
Sehn sie zur Sonne kühn und unbekümmert;
Ein Abend.
Ob sie der Strahl des Lichtes, des langerharrten,
Auch blende, wenn er rein die Welt umschimmert,
Und ich bin einer auch der freien Sänger ;
Die Eiche Börne ist's, an deren Ästen
Ich auf geklommen, wenn im Tal die Dränger
Um Deutschland enger ihre Ketten preßten.
Ja, einer bin ich von den kecken Vögeln,
Die in dem Äthermeer der Freiheit segeln ;
Und war' ich Sperling nur in ihren Zügen —
Ich wäre Sperling lieber unter ihnen,
Als Nachtigall, sollt' ich im Käfig liegen,
Und mit dem Liede einem Fürsten dienen.
4-
Dann trägt das Schiff, das durch die Wogen schäumt,
Nicht Waaren mehr, um einz'le zu bereichern.
Nicht dient's dem gier'gen Kaufmann mehr zu Speichern,
Es bringt die Saat, der Menschenglück entkeimt;
Es ist ein Roß, das jugendfroh sich bäumt.
Sein Reiter bringt den Heuchlern Tod und Schleichern,
's ist Einer von den mut'gen Gram verscheuchern,
*s ist ein Gedanke, der von Freiheit träumt.
Die Flagge trägt nicht mehr des Königs Wappen,
Dem sich das Schiffsvolk beugt mit Furcht und Zittern -
Sie trägt die Wölk', um die nach Ungewittern,
, Wenn sie der Blitz zerriß mit seinen Schlägen,
Sich sühnend will der Friedensbogen legen.
5-
Dann wölbt die Liebe Brücken, unsichtbare,
Von Herz zu Herzen; ob durch ihren Bogen
Herniederbraust der rasche Strom der Jahre,
Der Strom der Leidenschaften, schaumumflogen,
Die Brücke wankt nicht, die demantharte.
Und d 'rüber weht der Freiheit Lichtstandarte
Und d 'rüber geht der Mensch; wohin er sendet
Den Blick, wohin sein Fuß ihn möge trcigen,
Er sieht ein gastlich Dach gen Himmel ragen.
Erquickung wird ihm gerne stets gespendet;
Wo er sich legt, das Auge schlafgeblendet,
Da fühlt er heimisch sich und sonder Zagen.
Zum Äther aber wölbet neue Brücken
Ein rein'rer Glaube, d'rauf die Menschen dreister
-Mayer, Engels. Ergänzungsband. 9
129
130 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Zum Himmel geh'n, demütig-stolz zu blicken
In's Aug' dem ew'gen Urbild aller Geister.
Aus seinem Schöße sind sie ausgegangen,
Zu seinem Schöße kehren sie hinwieder,
Sich fühlend als der Geisteskette Glieder,
Die ewig die Materie umfangen.
6.
Ein neuer Wein wird dann die Becher füllen,
Der Freiheit Wein, zu üppiger Berauschurg;
Er wird die Sinne nicht in Nebel hüllen,
Gibt neuen Sinn in glücklicher Vertauschung,
Daß du vermagst, die Melodie der Sphären
Dir aufzufangen mit des Ohres Lauschung,
Daß in den Adern sich dein Blut verklären,
Zu Äther wird, der die Unendlichkeiten
Durchströmt, daß deine Blicke durch den hehren
Uralten Raum, wie kecke Krieger schreiten.
Und Sterne sich erobern in der Höh';
Dazwischen, wie Irrlichterscheine, gleiten
Vorbei die Bilder aus vergang'nem Weh'.
7.
Und dann ersteht ein Calderon, ein neuer.
Ein Perlenfischer in dem Meer der Dichtung,
Von Bildern flammt sein Lied, die Opferfeuer
Von duft'ger Cedernblöcke hoher Schichtung;
Es rauscht sein Sang, es rauscht die gold'ne Leier
Von des Tyrannen blutiger Vernichtung: |
Die Menschheit horcht dem stolzen Siegesliede,
Und alle Welt durchhaucht der milde Friede.
Auch jener singt, wie einst den Sieg erstritten
Die Menschheit über der Tyrannen Heere
Auf der Mantibler Brücke^), wo sie mitten
Durch alle Lanzen eindrang in das hehre
Gelobte Freiheitsland mit kühnen Schritten;
Wie da sie ward der Arzt der eignen Ehre,
Sie, die so lang*, gleich dem standhaften Fürsten,
In Ketten mußte nach Erlösung dürsten.
^) Alle in dieser Strophe gesperrt gedruckten Bezeichnungen sind
Namen Calderonscher Dramen, die Engels im Original in der Anmerkung
spanisch anführt.
Ein Abend. 131
Tochter der Luft, stieg da die Freiheit nieder,
Zur Erde fröhHch aus des Äthers Raum,
Sang ihre wundervollen Zauberlieder,
Da ward das Leben rings ein süßer Traum.
Da glänzte klar der Freude Becher wieder
Und ungetrübt voll wilder Gärung Schaum;
Die Sonne scheucht die Wolken wie die Sorgen
Und bringt, stets froh, April- und Maienmorgen.
8.
Doch wann wird jene neue Sonn' erstehen.
Wann wird die alte Zeit zusammen krachen?
Wir sah'n die alte Sonne untergehen.
Wie lang wird uns die finstre Nacht umdachen ?
Durch Wolkenschleier lugt der trübe Mond,
Der Nebel lagert auf den Tälergründen;
Im Nebel ruht, was auf der Erde wohnt,
Wir, die wir wachen, tappen wie die Blinden.
Geduld, die Wolken, die den Mond umringen,
Scheucht vor sich her die Sonne schon im Steigen,
Die Nebel, die sich durch die Täler schlingen.
Sind morgendhauch -geweckte Geisterreigen.
Im Osten tanzt der Morgenstern empor.
Blutrote Strahlen durch die Nebel schießen —
Seht ihr nicht Blumen schon den Kelch erschließen,
Schmettert nicht schon der Vöglein froher Chor ?
Der halbe Himmel strahlt im lichten Scheine,
Schneegipfel werden Rosenedelsteine;
Die gold'nen Wolken, die dort aufgeschossen,
Die Häupter sind 's von edlen Sonnenrossen;
Schaut dorthin, wo die dicht'sten Strahlen fließen,
Die junge Sonne jubelnd zu begrüßen!
Sanct Helena.
Fragment.
Du stolzer Fels in Meereseinsamkeit,
Du harte Gruft des größten Felsenherzen,
Das hier gedacht der selbstgeschaff'nen Zeit,
Das hier verschied an des Prometheus Schmerzen;
Wie stehst du da im schwarzen Priesterkleid,
Du, eine jener ausgeglühten Kerzen,
Die Gott, als er die Welt gesetzt zusammen,
Entbrannt, um Licht zu seinem Werk zu flammen.
9*
132 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Wohl möchten sie zu dir den Heros senden,
Der als ein neu Jahrhundert ward geboren,
Mit seinen Blitzen mußt' Erleuchtung spenden,
Mit seinem Donner füllen alle Ohren,
Bis, ungehört, sich in des Weltraums Wänden
Des Kindes erster Wehschrei sich verloren;
Dann warf die Zeit, in ihren bittern Scherzen,
Ihn zu den andern ausgeglühten Kerzen.
Brief an Wilhelm Graeber
Mein lieber Wilhelm!
Bremen, 20. November 1840.
Es ist nun schon wenigstens ein halbes Jahr vorbei, daß Du
mir nicht geschrieben hast. Was soll ich zu solchen Freunden
sagen ? Du schreibst nicht, Dein Bruder schreibt nicht, der Wurm
schreibt nicht, Grel schreibt nicht, Heuser schreibt nicht, der
W. Blank läßt keine Zeile erblicken, von Plümacher ist mir noch
weniger etwas bewußt, sacre tonnerre, was soll ich dazu sagen ? Meine
Rolle Kanaster war noch sieben Pfund schwer, als ich Dir zum
letzten male schrieb, jetzt ist kaum noch ein Kubikzoll davon
übrig, und noch keine Antwort. Statt dessen jubiliert Ihr in Bar-
men herum, — wartet Kerls, als ob ich nicht von jedem Glase
Bier wüßte, das Ihr seitdem getrunken habt, ob Ihr 's in einem
oder mehreren Zügen getrunken habt.
Namentlich Du solltest Dich schämen, über meine politischen
Wahrheiten loszuziehen, Du politische Schlafmütze. Wenn man Dich
auf Deiner Landpfarre, denn ein höheres Ziel wirst Du doch wohl
nicht erwarten, ruhig sitzen und jeden Abend mit der Frau Pf äff in
und den etwaigen jungen Pfäfflein spazieren gehen läßt, ohne Dir
eine Kanonenkugel vor die Nase zu schicken, bist Du seelenvergnügt
und kümmerst Dich nicht um den frevelhaften F. Engels, der gegen
das Bestehende raisonniert. O ihr Helden! Aber ihr werdet den-
noch in die Politik hereingerissen, der Strom der Zeit überflutet
Eure Idyllenwirtschaft und dann steht Ihr da wie die Ochsen am
Berge. Tätigkeit, Leben, Jugendmut, das ist der wahre Witz!
Von dem großartigen Ulk, den unser gemeinschaftlicher Freund
Krummacher hier angeregt hat, werdet Ihr nun wohl schon gehört
haben. Jetzt ist es so ziemlich vorbei, aber es ist arg gewesen.
Die Panieliter haben sich bataillonsmäßig formiert, haben das
Arsenal der Bürgerwehr gestürmt und sind mit einer großen drei-
farbigen Fahne durch die Stadt gezogen. Sie sangen Ein freies
Brief an Wilhelm Graeber.
133
Leben führen wir und Vivat Paniel, Paniel lebe, Paniel ist ein bra-
ver Mann. Die Krummacherianer scharten sich auf dem Domshof,
besetzten das Rathaus, wo gerade der Senat Sitzung hielt, und plün-
derten die Waffenkammer. Mit Hellebarden und Morgensternen
bewaffnet, stellten sie sich auf dem Domshof in ein Karree, rich-
teten die beiden Kanonen, die an der Hauptwache stehen (Pulver
hatten sie aber nicht), gegen die Obernstraße, von wo die Panieliter
kamen, und erwarteten so den Feind. Dieser aber, als er vor den
Kanonen angekommen war, kamen von der andern Seite auf den
Markt, und besetzten ihn [sie!]. Die 600 Mann starke Reiterei okku-
pierte den Grasmarkt, gerade den Krummacherianern gegenüber, und
war des Kommandos zum Einhauen gewärtig. Da trat der Bürger-
meister Smidt aus dem Rathause. Er ging zwischen die Parteien,
stellte sich festen Fußes auf den Stein, auf dem die Giftmischerin
Gottfried hingerichtet wurde, und welcher gerade einen halben Zoll
aus dem Pflaster hervorragt, und sprach, zu den Krummacherianern
gewendet: ,,Ihr Männer von Israel!" Dann drehte er sich zu den
Panielitern: ,','ArdQeg 'A{^^vaioi^y/' Dann wandte er sich bald rechts
bald links und hielt folgende Rede: Sintemal Krummacher ein
Fremder ist, so ziemt es sich nicht, daß ein Streit, den er erregt
hat, in unsrer guten Stadt ausgefochten werde. Ich schlage also
den geehrten Teilen vor, sich gütigst auf die Bürgerweide begeben
zu wollen, welche für dergleichen Szenen ein sehr passendes Ter-
rain bietet.
Dies wurde billig befunden, die Parteien zogen zu verschiedenen
Toren hinaus, nachdem Paniel sich mit dem steinernen Schilde
und Schwerte Rolands bewaffnet hatte. Den Oberbefehl der Krum-
macherianer, welche 6239V0 Mann stark waren, übernahm Pastor
Mallet, der 18 13 den Feldzug mitgemacht hat; er befahl, Pulver
zu kaufen und ein paar kleine Pflastersteine mitzunehmen, um sie
in die Kanonen zu laden. Auf der Bürgerweide angekommen, ließ
Mallet den Kirchhof besetzen, der daran stößt und von einem breiten
Graben umgeben ist. Er stieg auf das Monument des Gottfried
Menken und befahl die Kanonen auf dem Wall des Kirchhofs auf-
zufahren. Aber aus Mangel an Pferden waren die Kanonen nicht
fortzuschaffen gewesen. Inzwischen war es neun Uhr abends
und pechdunkel. Die Heere biwakierten, Paniel in Schwach-
hausen, einem Dorfe, Mallet in der Vorstadt. Das Hauptquartier
war in der Reitbahn vor dem Herdentore, welche zwar schon von
einer Kunstreiterbande okkupiert war, aber als Pastor Kohlm.ann
von Hörn in der Bahn einen Abendgottesdienst hielt, liefen die
1) Männer von Athen.
134 '^"^ ^^^ Lehrzeit in Bremen. 1838— 184 1.
Reiter weg. Dies geschah am 17. Oktober. Am 18. morgens rück-
ten die beiden Armeen aus. Paniel, der 4267^/^ Mann zu Fuß und
1689^/4 Reuter hatte, griff an. Eine Infanteriekolonne, die Paniel
selbst anführte, drang auf das erste Treffen Mallets ein, welches
aus seinen Katechisationsschülern und einigen zelotischen Frauen
bestand. Nachdem drei alte Weiber gespießt und sechs Katechu-
menen erschossen waren, stob das Bataillon auseinander und wurde
von Paniel in den Chausseegraben geworfen. Auf dem rechten
Flügel Paniels stand Pastor Capelle, der mit drei Schwadronen Ka-
vallerie, die aus den jungen Comptoiristen gebildet war, Mallet um-
ging und ihm in den Rücken fiel ; er besetzte die Vorstadt und nahm
dem Mallet so seine Operationsbasis. Paniels linker Flügel rückte
unter Pastor Rothes Befehl auf die Horner Chaussee und drängte
den Jünglings verein, der mit den Hellebarden nicht umzugehen
wußte, auf das Gros von Mallets Armee zurück. Da hörten wir,
unsrer sechse, in der Fechtstunde das Schießen, stürzten mit Fecht-
jacken, -Handschuhen, -Masken und -Hüten heraus, das Tor war
geschlossen, ein Angriff auf die Wache verschaffte uns den Schlüssel,
und so kamen wir, das Rapier in der Hand, auf dem Kampfplatz
an. Richard Roth von Barmen formierte den zersprengten Jüng-
lingsverein aufs neue, während Höller von Solingen sich mit dem
Rest der Katechumenen in ein Haus warf; ich und drei andre
hieben ein paar Panieliter vom Pferde, stiegen auf, warfen, vom
Jünglingsverein unterstützt, die feindliche Kavallerie; Mallets
Hauptarmee rückte vor, unsre Rapiere verbreiteten Quarten, Ter-
zen, Schrecken und Tod, und in einer halben Stunde waren die Ra-
tionalisten zerstreut. Jetzt kam Mallet, um zu danken, und als
wir sahen, für wen wir gefochten hatten, sahen wir uns erstaunt an.
Se non e vero, Ä come spero ben trovato.^) Schreibt nun aber
bald. Und animiere den Wurm, daß er mir schreibt.
Fr. Engels.
Siegfrieds Heimat.
Do wuchs in Niderlanden eins riehen Küneges kint,
Sin vater hiez Siegmunt, sin muoter Siglint,
In einer bürge riche, diu witen was bekant,
Niden bi dem Rine, diu was ze Santen genant.
Der Nibelunge Not, 20.
Nicht allein oberhalb Köln sollte der Rhein besucht werden,
und namentlich die deutsche Jugend sollte sich nicht dem reisenden
1) Wenn es nicht wahr ist, ist es, wie ich hoffe, gut erfunden.
Siegfrieds Heimat. 1^5
John Bull gleichstellen, der sich von Rotterdam bis Köln in der
Kajüte des Dampfschiffes langweilt, und erst dann aufs Verdeck
steigt, weil hier sein Panorama des Rheins von Köln bis Mainz
oder sein Guide for traveliers on the Rhine beginnt. Die deutsche
Jugend sollte sich einen wenig besuchten Ort zum Wallfahrtsorte
wählen, ich meine die Heimat Hürnensiegfrieds, Xanten.
Römerstadt, wie Köln, blieb es im Mittelalter klein und äußer-
lich unbedeutend, während Köln groß wurde und einem kurfürst-
lichen Erzbistume den Namen gab. Aber Xantens Kathedrale
blickt in herrlicher Vollendung weithin in die Prosa der holländi-
schen Sandfläche, und Kölns kolossalerer Dom blieb Torso; aber
Xanten hat Siegfried und Köln nur den heiligen Hanno, und was
ist das Hannolied gegen die Nibelungen!
Ich kam vom Rheine her. Durch enge, verfallene Tore trat
ich in die Stadt; schmutzige, enge Gassen führten mich auf den
freundlichen Markt, und von dort schritt ich auf ein überbautes
Tor in der Mauer zu, die den ehemaligen Klosterhof mit der Kirche
umgrenzte. Über dem Tore, rechts und links, unter den beiden
Türmchen, standen zwei Basreliefs, unverkennbar zwei Siegfriede,
leicht von dem Schutzpatron der Stadt, dem über jeder Haustüre
abgebildeten heiligen Viktor zu unterscheiden. Der Held steht da,
im enganschließenden Schuppenpanzer, den Speer in der Hand,
auf dem Bilde rechts dem Lindwurm den Speer in den Rachen
rennend, links den ,, starken Zwerg" Alberich niedertretend. Es
war mir auffallend, diese Bildwerke in Wilhelm Grimms deutscher
Heldensage, wo doch sonst alles gesammelt ist, was sich auf den
Gegenstand bezieht, nicht erwähnt zu finden. Auch sonst erinnere
ich mich nicht, von ihnen gelesen zu haben, und doch gehören
sie mit zu den wichtigsten Zeugnissen für die örtliche Anknüpfung
der Sage im Mittelalter .
Ich durchschritt den hallenden, gotisch gewölbten Torweg und
stand vor der Kirche. Die griechische Baukunst ist helles, heiteres
Bewußtsein, die maurische Trauer, die gotische heilige Ekstase;
die griechische Architektur ist lichter, sonniger Tag, die maurische
Sterndur chflimmerte Dämmerung, die gotische Morgenröte. Hier
vor dieser Kirche empfand ich, wie niemals, die Gewalt des gotischen
Baustils. Nicht zwischen modernen Gebäuden, wie der Kölner Dom,
oder gar verbaut mit Häusern, die sich Schwalbennestern gleich
daran gehängt haben, wie die Kirche in den norddeutschen Städten,
erregt eine gotische Kathedrale den bewälligendsten Eindruck,
sondern nur zwischen waldigen Bergen, wie die Kirche von Alten -
berg im Bergischen oder wenigstens ge<-rennt von allem Fremd-
artigen, Modernen, zwischen Klostermauern und alten Gebäuden,
136 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
wie der Dom von Xanten. Da erst empfindet man es tief, was ein
Jahrhundert vollbringen kann, wenn es sich mit aller seiner Macht
auf ein Einziges, Großes wirft. Und stände erst der Kölner Dom
so frei und dem Blick von allen Seiten, in allen seinen riesigen
Dimensionen so offen, wie die Kirche von Xanten, wahrlich, das
neunzehnte Jahrhundert müßte sterben vor Scham, daß es mit all
seiner Superklugheit dieses Gebäude nicht vollenden kann. Denn
wir kennen die religiöse Tat nicht mehr, und darum wundern wir
uns auch über eine Mistreß Fry, die im Mittelalter zu den gewöhn-
lichsten Erscheinungen gehört hätte.
Ich trat in die Kirche; es wurde gerade das Hochamt gehalten.
Die Orgeltöne brausten vom Chor herunter, eine jubelnde Schar
herzenerobernder Krieger, und jagten durch das hallende Schiff,
bis sie sich in den entfernteren Gängen der Kirche verliefen. Und
laß auch du dein Herz von ihnen bezwingen, Sohn des neunzehn-
ten Jahrhunderts — diese Klänge haben Stärkere und Wildere ge-
bändigt denn du! Sie haben die alten deutschen Götter aus ihren
Hainen vertrieben, sie haben die Helden einer großen Zeit über das
stürmische Meer, durch die Wüste und ihre niebesiegten Kinder
nach Jerusalem geführt, sie sind die Schatten tatendürslender, heiß-
blütiger Jahrhunderte! Dann aber, wenn die Posaunen das Wunder
der Transsubstantiation verkünden, wenn der Priester die blitzende
Monstranz erhebt und alles Bewußtsein der Gemeinde trunken ist
vom Wein der Andacht, dann stürze hinaus, rette dich, rette dein
Denken aus diesem Meere des Gefühls, das durch die Kirche wogt,
und bete draußen zu dem Gott, des Haus nicht von Menschenhänden
gemacht ist, der die Weit durchhaucht und im Geist und in der
Wahrheit angebetet sein will.
Erschüttert ging ich weg und ließ mich zu einem Gasthof,
dem einzigen des Städtchens, zeigen. Als ich in die Wirtsstube trat,
merkte ich, daß ich in Hollands Nachbarschaft sei. Eine seltsam
gemischte Ausstellung von Gemälden und Kupferstichen an den
Wänden, ins Glas geschnittenen Landschaften an den Fenstern,
Goldfischen, Pfauenfedern und tropischen Blattgerippen vor dem
Spiegel zeigte recht deutlich den Stolz des Wirtes, Dinge zu be-
sitzen, die andere nicht haben. Diese Raritätensucht, die in entschie-
dener Geschmacklosigkeit sich mit den Produkten der Kunst und
Natur, gleichviel ob schön oder häßlich, umgibt und die sich am
wohlsten in einem Zimmer befindet, das von solchen Unsinnig-
keiten strotzt, das ist die Erbsünde des Holländers. Welch' ein
Schauder ergriff mich aber erst, als der gute Mann mich in seine
Gemäldesammlung führte! Ein kleines Zimmer, die Wände rings-
um dicht bedeckt von Gemälden geringen Wertes, obwohl er be-
Siegfrieds Heimat. 137
hauptete, Schadow habe ein Porträt, welches freilich viel hübscher
war, als die übrigen, für einen Hans Holbein erklärt. Einige Altar-
bilder von Jan van Kaikar (einem benachbarten Städtchen) hatten
lebhaftes Kolorit und vvürden dem Kenner interessant gewesen sein.
Aber wie war dieses Zimmer noch sonst dekoriert! Palmenblätter,
Korallenzweige und dergleichen ragten aus jeder Ecke hervor,
ausgestopfte Eidechsen waren überall angebracht, auf dem Ofen
standen ein paar von bunten Seemuscheln zusammengesetzte Fi-
guren, wie man sie namentlich in Holland häufig findet; in einer
Ecke stand die Büste des Kölner Wallraf und unter ihr hing der
mumienhaft ausgedörrte Leichnam einer Katze, die mit einem
Vorderfuß einem gemalten Christus am Kreuz grade ins Gesicht
trat. Sollte einer meiner Leser einmal nach Xanten in dies einzige
Hotel verschlagen werden, so frage er den gefälligen Wirt nach
seiner schönen antiken Gemme ; er besitzt eine wunderschöne, in
einen Opal geschnittene Diana, die mehr wert ist als seine ganze
Gemäldesammlung.
In Xanten muß man nicht versäumen, die Sammlung von Alter-
tümern des Herrn Notar Huber zu sehen. Hier ist fast alles ver-
einigt, was auf dem Boden der Castra vetera ausgegraben und auf-
gefunden wurde. Die Sammlung ist interessant, doch enthält sie
nichts von besonderem Kunstwert, wie das von einer Militärstation,
wie Castra vetera war, auch zu erwarten ist. Die wenigen schönen
Gemmen, die hier gefunden wurden, sind ganz zerstreut in der Stadt;
das einzige größere Denkmal der Skulptur ist eine etwa drei Fuß
lange Sphinx im Besitz des erwähnten Gastwirts; sie ist von ge-
wöhnlichem Sandstein, schlecht erhalten, übrigens auch nie schön
gewesen.
Ich ging vor die Stadt und bestieg einen Sandberg, die einzige
natürliche Erhöhung in weitem Kreise. Das ist der Berg, wo nach
der Sage Siegfrieds Burg gestanden hat. Am Eingange eines Fichten-
waldes setzte ich mich nieder und sah auf die Stadt herab. Von
allen Seiten durch Dämme umgeben, lag sie in einem Kessel, über
dessen Rand sich nur die Kirche majestätisch erhob. Rechts der
Rhein, der mit breiten, blinkenden Armen eine grüne Insel um-
schließt, links die Clevischen Berge in blauer Ferne.
Was ist es, das uns in der Sage von Siegfried so mächtig er-
greift? Nicht der Verlauf der Geschichte an sich, nicht der schmäh-
lichste Verrat, dem der jugendliche Held unterliegt; es ist die tiefe
Bedeutsamkeit, die in seine Person gelegt ist. Siegfried ist der Re-
präsentant der deutschen Jugend. Wir alle, die wir ein von den
Beschränkungen des Lebens noch ungebändigtes Herz im Busen
treigen, wissen, was das sagen will. Wir fühlen alle denselben
138 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Tatendurst, denselben Trotz gegen das Herkommen in uns, der
Siegfrieden aus der Burg seines Vaters trieb; das ewige Überlegen,
die philiströse Furcht vor der frischen Tat ist uns von ganzer Seele
zuwider, wir wollen hinaus in die freie Welt, wir wollen die Schran-
ken der Bedächtigkeit umrennen und ringen um die Krone des
Lebens, die Tat. Für Riesen und Drachen haben die Philister auch
gesorgt, namentlich auf dem Gebiete von Kirche und Staat. Aber
das Zeitalter ist nicht mehr; man steckt uns in Gefängnisse, Schulen
genannt, wo wir, statt selber um uns zu schlagen, das Zeitwort
schlagen so recht zum Spott durch alle Modi und Tempora griechisch
durchkonjugieren müssen, und wenn man uns aus der Disziplin
losläßt, so fallen wir der Göttin des Jahrhunderts, der Polizei, in
die Arme. Polizei beim Denken, Polizei beim Sprechen, Polizei
beim Gehen, Reiten und Fahren, Pässe, Aufenthaltskarten und
Douanenscheine — es schlage der Teufel Riesen und Drachen tot!
Nur den Schein der Tat haben sie uns gelassen, das Rapier statt des
Schwertes, und was soll alle Fechterkunst mit dem Rapier, wenn
wir sie nicht mit dem Schwerte anwenden dürfen ? Und wenn ein-
mal die Schranken durchbrochen werden, wenn die Philisterei und
der Indifferentismus einmal überritten wird, wenn der Tatendrang
sich Luft macht — seht ihr dort jenseits des Rheines den Turm von
Wesel? Die Zitadelle jener Stadt, die eine Burg der deutschen Frei-
heit genannt wird, sie ist ein Grab der deutschen Jugend geworden,
und sie muß der Wiege des größten deutschen Jünglings grade
gegenüberliegen! Wer hat dort gesessen ? Studenten, welche nicht
umsonst wollten fechten gelernt haben, vulgo Duellanten und De-
magogen. Jetzt, nach der Amnestie Friedrich Wilhelms IV., darf
man sagen, daß diese Amnestie ein Akt nicht nur der Gnade, son-
dern auch der Gerechtigkeit war. Alle Prämissen und namentlich
die Notwendigkeit zugegeben, daß der Staat gegen diese Verbin-
dungen einschreiten mußte, so werden doch alle, die das Wohl des
Staates nicht im blinden Gehorsam, in der strikten Subordination
sehen, darin mit mir übereinstimmen, daß durch die Behandlung der
Beteiligten eine Restitution derselben in Ehren und Würden be-
dingt war. Die demagogischen Verbindungen unter der Restaura-
tion und nach den Julitagen waren ebenso erklärlich, wie sie jetzt
unmöglich sind. Wer hatte denn damals jede freie Regung unter-
drückt, wer hatte das Pochen des jugendlichen Herzens unter
,, provisorische" Kuratel gestellt ? Und wie sind jene Unglücklichen
behandelt worden? Kann man es leugnen, daß dieser Rechtsfall
grade dazu gemacht ist, um alle Nachteile und Fehler der schrift-
lichen und geheimen Rechtspflege ins hellste Licht zu stellen, um
den Widerspruch zu beweisen, daß besoldete Staatsdiener anstatt
Ernst Moritz Arndt.
139
unabhängiger Geschwornen über Anklagen auf Vergehen gegen
den Staat zu richten haben; kann man es leugnen, daß die ganze
Verurteilung in Bausch und Bogen, ,,ini Rummel", wie die Kauf-
leute sagen, geschehen ist ?
Doch ich will hinuntergehen an den Rhein und lauschen, was
die abendrotumstrahlten Wellen der Muttererde Siegfrieds erzählen
von seinem Grabe zu Worms und vom versenkten Horte. Vielleicht
daß eine gütige Fee Morgana mir das Schloß Siegfrieds neu erstehen
läßt und mir vorspiegelt, was seinen Söhnen im neunzehnten Jahr-
hundert für Heldentaten vorbehalten sind.
Ernst Moritz Arndt.
Wie der treue Eckart der Sage steht der alte Arndt am Rhein
und warnt die deutsche Jugend, die nun schon manches Jahr hin-
überschaut nach dem französischen Venusberge und den verfüh-
rerischen, glühenden Mädchen, den Ideen, die von seiner Zinne
winken. Aber die wilden Jünglinge achten des alten Recken nicht
und stürmen hinüber — und nicht alle bleiben entnervt liegen,
wie der neue Tannhäuser Heine,
Das ist Arndts Stellung zur deutschen Jugend von heute. So
hoch ihn alle schätzen, so genügt ihnen sein Ideal des deutschen
Lebens nicht; sie wollen freieres Walten, vollere, strotzende Lebens-
kraft, glühendes, stürmisches Pulsieren in den welthistorischen
Adern^ die Deutschlands Herzblut leiten. Und darum die Sym-
pathie für Frankreich, aber freilich nicht jene Sympathie der Unter-
werfung, von der die Franzosen fabeln, sondern jene höhere und
freiere, deren Natur von Börne im Franzosenfresser der deutsch-
tümlichen Einseitigkeit gegenüber so schön entwickelt ist.
Arndt hat es gefühlt, daß die Gegenwart ihm entfremdet ist,
daß sie nicht ihn um seines Gedankens, sondern seinen Gedanken
um seiner starken, männlichen Persönlichkeit willen achtet. Und
darum mußte es ihm, dem von Talent und Gesinnung, wie von der
Zeitentwicklung einer Reihe von Jahren getragenen Manne zur
Pflicht werden, seinem Volke ein Denkmal seines Bildungsganges,
seiner Denkart und seiner Zeit zu hinterlassen, wie er in seinen
vielbesprochenen ,, Erinnerungen aus dem äußeren Leben" getan hat.
Vorläufig von der Tendenz abstrahiert, ist das Arndtsche Buch
auch ästhetisch allerdings eine der interessantesten Erscheinungen.
Diese gedrungene, markige Sprache ist in unserer Literatur lange
nicht gehört worden und verdiente auf manchen von der jungen
Generation einen dauernden Eindruck zu machen. Lieber straff
140 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
als schlaff. Es gibt ja Autoren, die das Wesen des modernen Stils
darin sehen, daß jede hervortretende Muskel, jede angespannte
Sehne der Rede hübsch mit weichem Fleisch umhüllt wird, selbst
auf die Gefahr hin, weibisch zu erscheinen. Nein, da ist mir doch
der männliche Knochenbau des Arndtschen Stils lieber als die
schwammige Manier gewisser , »moderner" Stilisten! Um so mehr,
als Arndt die Absonderlichkeiten seiner Genossen von 18 13 mög-
lichst vermieden hat und sich nur im absoluten Gebrauche des
Superlativs (wie in den südromanischen Sprachen) dem Affektierten
nähert. Eine so horrende Sprachmengerei, wie sie jetzt wieder in
Aufnahme gekommen ist, darf man bei Arndt auch nicht suchen;
er zeigt im Gegenteil, wie wenig fremde Zweige wir auf unseren
Sprachstamm zu pfropfen brauchen, ohne in Not zu kommen.
Wahrhaftig, unser Gedanken wagen fährt auf den meisten Wegen
besser mit deutschen als mit französischen oder griechischen Rossen,
und mit dem Gespötte über die Extreme der puristischen Richtung
ist es nicht abgetan.
Treten wir dem Buche näher. Das mit echt dichterischer Hand
entworfene Idyll des Jugendlebens nimmt den größten Teil des
Buches ein. Der mag Gott immer danken, der seine ersten Jahre
so verlebt hat wie Arndt! Nicht im Staube einer großen Stadt, wo
die Freuden des Einzelnen von den Interessen des Ganzen erdrückt
werden, nicht in Kleinkinderbewahranstalten und philanthropischen
Gefängnissen, wo die sprossende Kraft verdumpft, nein, unter
freiem Himmel in Feld und Wald bildete die Natur den stählernen
Mann, den das verweichlichte Geschlecht wie einen Nordlands-
recken anstaunt. Die große plastische Kraft, mit der Arndt diesen
Abschnitt seines Lebens schildert, drängt einem fast die Ansicht
auf, als seien alle idyllischen Dichtungen überflüssig, so lange
unsere Autoren noch solche Idyllen erleben wie Arndt. Am be-
fremdlichsten wird unserem Jahrhundert jene Selbsterziehung des
Jünglings Arndt erscheinen, die germanische Keuschheit mit spar-
tanischer Strenge vereinigt. Diese Strenge aber, wo sie so naiv,
so frei von Jahnscher Renommisterei ihr hoc tibi proderit olim^) für
sich hinsummt, kann unserer ofenhockenden Jugend nicht genug
empfohlen werden. Eine Jugend, die das kalte Wasser scheut, wie ein
toller Hund, die bei dem geringsten Frost drei-, vierfache Kleidung
anlegt, die sich eine Ehre daraus macht, wegen Körperschwäche
vom Militärdienst frei zu kommen, ist wahrlich eine schöne Stütze
des Vaterlandes I Von der Keuschheit vollends zu reden, gilt sie
für ein Verbrechen in einer Zeit, wo man gewohnt ist, in jeder
*) Dies wird dir einst nützen.
Ernst Moritz Arndt.
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Stadt zuerst nach dem „Tor, wo die letzten Häuser stehen" sich
zu erkundigen. Ich bin wahrhch kein abstrakter Morahst, alles as-
ketische Unwesen ist mir verhaßt, ich werde nie mit der gefallenen
Liebe rechten; aber es schmerzt mich, daß der sittliche Ernst zu
verschwinden droht und die Sinnlichkeit sich selbst als das Höchste
zu setzen sucht. Die praktische Emanzipation des Fleisches wird
immer neben einem Arndt erröten müssen.
Mit dem Jahre 1800 tritt Arndt in den ihm zugeteilten Beruf.
Napoleons Heere überschwemmen Europa, und mit der Macht des
Franzosenkaisers wächst Arndts Haß gegen ihn; der Greifswalder
Professor protestiert im Namen Deutschlands gegen die Unter-
drückung und muß fliehen. Endlich erhebt sich die deutsche Na-
tion und Arndt kehrt zurück. Dieser Teil des Buchs wäre aus-
führlicher zu wünschen; vor der Nationalbewaffnung und ihren
Taten tritt Arndt bescheiden zurück. Statt uns erraten zu lassen,
daß er nicht untätig war, hätte er uns seinen Anteil an der Zeit-
entwicklung ausführlicher darstellen, hätte er die Geschichte jener
Tage vom subjektiven Standpunkte aus erzählen sollen. Die spä-
teren Schicksale werden noch weit kürzer behandelt. Bemerkens-
wert ist hier einerseits die immer bestimmtere Hinneigung zur Ortho-
doxie im Religiösen, andererseits die mysteriöse, fast untertänige,
und die Rute küssende Art, mit der Arndt von seiner Suspension
spricht. Wen aber dies befremdete, der wird durch die jüngst in
öffentlichen Blättern erlassenen Erklärungen Arndts, in denen er
seine Restitution als einen Akt der Gerechtigkeit, nicht als ein
Gnadengeschenk ansieht, sich überzeugt haben, daß er noch seine
alte Festigkeit und Entschiedenheit besitzt.
Eine besondere Wichtigkeit aber erhält das Arndtsche Buch
durch die gleichzeitige Herausgabe einer Masse von Denkwürdig-
keiten über den Befreiungskrieg. So wird uns die ruhmvolle Zeit,
wo die deutsche Nation seit Jahrhunderten wieder zum ersten Male
sich erhebt und auswärtiger Unterdrückung in ihrer ganzen Kraft
und Größe sich gegenüberstellte, auf lebendige Weise wieder nahe
gebracht. Und wir Deutsche können uns nicht genug an jene
Kämpfe erinnern, damit wir unser schläfriges Volksbewußtsein
wach erhalten; freilich nicht in dem Sinne einer Partei, die nun
alles getan zu haben glaubt und auf den Lorbeern von 1813 ruhend,
sich im Spiegel der Geschichte selbstgefällig beschaut, sondern eher
im entgegengesetzten. Denn nicht die Abschüttelung der Fremd-
herrschaft, deren emporgeschrobene, allein auf den Atlasschultern
Napoleons ruhende Unnatur über kurz oder lang von selbst zu-
sammenkrachen mußte, nicht die errungene ,, Freiheit" war das
größte Resultat des Kampfes, sondern dies lag in der Tat selbst
142 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
und in einem von den wenigsten Zeitgenossen klar empfundenen
Momente derselben. Daß wir uns über den Verlust der nationalen
Heiligtümer besannen, daß wir uns bewaffneten, ohne die aller-
gnädigste Erlaubnis der Fürsten abzuwarten, ja die Machthaber
zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen Augen-
blick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auftraten,
das war der höchste Gewinn jener Jahre und darum mußten nach
dem Kriege die Männer, die dies am klarsten gefühlt, am entschie-
densten danach gehandelt hatten, den Regierungen gefährlich er-
scheinen. — Aber wie bald schlummerte die bewegende Kraft
wieder ein! Der Fluch der Zersplitterung absorbierte den dem
Ganzen so nötigen Schwung für die Teile, zerspaltete das allge-
meine Deutsche in eine Menge provinzieller Interessen und machte
es möglich (sie!), für Deutschland eine Grundlage des Staatslebens
zu gewinnen, wie sie Spanien sich in der Verfassung von 18 12 ge-
schaffen hat. Im Gegenteil, der sanfte Frühlingsregen von all-
gemeinen Versprechungen, der uns aus ,,h oberen Regionen** über-
raschte, war schon zu viel für unsere von der Unterdrückung
niedergebeugten Herzen und wir Narren bedachten nicht, daß es
Versprechungen gibt, deren Bruch vom Standpunkte der Nation
aus niemals, von dem der Persönlichkeit aus aber sehr leicht zu
entschuldigen sein soll. (?)^) Dann kamen die Kongresse und
gaben den Deutschen Zeit, ihren Freiheitsrausch auszuschlafen und
sich, erwachend, in dem alten Verhältnis von Allerhöchst und
Alleruntertänigst wiederzufinden. Wem die alte Strebenslust noch
nicht vergangen war, wer sich noch nicht entwöhnen konnte, auf
die Nation zu wirken, den jagten alle Gewalten der Zeit in die Sack-
gasse der Deutschtümelei. Nur wenige ausgezeichnete Geister
schlugen sich durch das Labyrinth und fanden den Pfad, der zur
wahren Freiheit führt.
Die Deutschtümler wollten die Tatsachen des Befreiungs-
krieges ergänzen und das materiell unabhängig gewordene Deutsch-
land auch von der geistigen Hegemonie des Fremden befreien. Aber
eben darum war sie Negation und das Positive, mit dem sie sich
brüstete, lag in einer Unklarheit begraben, aus der es nie ganz er-
stand; was davon ans Tageslicht der Vernunft kam, war wider-
sinnig genug. Ihre ganze Weltanschauung war philosophisch
bodenlos, weil nach ihr die ganze Welt um der Deutschen willen
geschaffen war und die Deutschen selbst die höchste Entwicklungs-
stufe längst gehabt hatten. Die Deutschtümelei war Negation,
Abstraktion im Hegeischen Sinne. Sie bildete abstrakte Deutsche
') Dies eingeklammerte Fragezeichen steht im Text.
Ernst Moritz Arndt.
143
durch Abstreifung alles dessen, was nicht auf vierundsechzig Ahnen
rein deutsch und aus volkstümlicher Wurzel entsprossen war.
Selbst ihr scheinbar Positives war negativ, denn die Hinführung
Deutschlands zu ihren Idealen konnte nur durch Negation eines
Jahrtausends und seiner Entwickelung geschehen, und so wollte
sie die Nation ins deutsche Mittelalter oder gar in die Reinheit
des Urdeutschtums aus dem Teutoburger Walde zurückdrängen.
Das Extrem dieser Richtung bildete Jahn. Diese Einseitigkeit
machte denn die Deutschen zum auserwählten Volk Israel und
mißkannte alle die zahllosen weltgeschichtlichen Keime, die außer-
deutschem Boden entsproßt waren. Namentlich gegen die Fran-
zosen, deren Invasion zurückgedrängt war, und deren Hegemonie
in Äußerlichkeiten darin ihren Grund hat, daß sie die Form der
europäischen Bildung, die Zivilisation, jedenfalls von allen Völ-
kern am leichtesten beherrschen, gegen die Franzosen wandte sich
der bilderstürmende Grimm am meisten. Die großen, ewigen Re-
sultate der Revolution wurden als ,, welscher Tand" oder gar ,, wel-
scher Lug und Trug" verabscheut; an die Verwandtschaft dieser
ungeheuren Volkstat mit der Volkserhebung von 1813 dachte
niemand; was Napoleon gebracht hatte: Emanzipation der Israe-
liten, Geschwornengerichte, gesundes Privatrecht statt des Pan-
dektenwesens, wurde allein um des Urhebers willen verdammt.
Der Franzosenhaß wurde PfHcht; der Fluch der Undeutschheit
fiel auf jede Anschauungsweise, die sich einen höheren Gesichts-
punkt zu erobern wußte. So war auch der Patriotismus wesentlich
negativ und ließ das Vaterland ohne Unterstützung im Kampfe der
Zeit,' während er sich abmühte, für längst eingedeutschte Fremd-
wörter urdeutsche, schwülstige Ausdrücke zu erfinden. Wäre diese
Richtung konkret deutsch gewesen, hätte sie den durch zweitausend-
jährige Geschichte entwickelten Deutschen genommen, wie sie ihn
fand, hätte sie das richtigste Moment unserer Bestimmung, die
Zunge zu sein an der Wagschale der europäischen Geschichte, über
die Entwickelung der Nachbarvölker zu wachen, hätte sie das nicht
übersehen, sie würde alle ihre Fehler vermieden haben. — Es darf
auf der andern Seite aber auch nicht verschwiegen werden, daß
die Deutschtümelei eine notwendige Bildungsstufe unseres Volks-
geistes war und mit der ihr folgenden den Gegensatz bildete, auf
dessen Schultern die moderne Weltanschauung steht.
Dieser Gegensatz gegen die Deutschtümelei war der kosmo-
politische Liberalismus der süddeutschen Stände, der auf die Ne-
gation der Nationalunterschiede und die Bildung einer großen,
freien, alliierten Menschheit hinarbeitete. Er entsprach dem reli-
giösen Rationalismus, mit dem er aus der gleichen Quelle, der
144 -^"^ ^^^ Lehrzeit in Bremen, 1838 — 1841.
Philanthropie des vorigen Jahrhunderts, geflossen war, während die
Deutschtümelei konsequent zur theologischen Orthodoxie hin-
führte, wohin fast alle ihre Anhänger (Arndt, Steffens, Menzel) mit
der Zeit gelangt sind. Die Einseitigkeiten der kosmopolitischen
Freisinnigkeit sind von ihren Gegnern oft — freilich selbst von
einseitigen Standpunkten — aufgedeckt worden, daß ich mich in
bezug auf diese Richtung kurz fassen kann. Die Julirevolution
schien sie anfangs zu begünstigen, doch wurde dieses Ereignis von
allen Parteien ausgebeutet. Die faktische Vernichtung der Deutsch-
tümelei oder vielmehr ihrer Zeugungskraft, datiert von der Juli-
revolution und war in ihr gegeben. Aber ebenso auch der Sturz des
Weltbürgertums, denn die übergreifende Bedeutung der großen
Woche war eben die Restitution der französischen Nationalität in
ihrer Stellung als Großmacht, wodurch denn die andern Nationali-
täten gezwungen waren, sich gleichfalls in sich selbst fester zu-
sammen zu ziehen.
Schon vor dieser jüngsten Welterschütterung arbeiteten zwei
Männer im stillen an der Entwicklung des deutschen Geistes,
welche vorzugsweise die moderne genannt wird, zwei Männer, die
sich im Leben selbst beinahe ignoriert und deren gegenseitige Er-
gänzung erst nach ihrem Tode erkannt werden sollte, Börne und
Hegel. Börne ist oft und mit dem größten Unrecht zum Kosmo-
politen gestempelt worden, aber er war deutscher als seine Feinde.
Die Hallischen Jahrbücher knüpften neulich eine Besprechung der
,, politischen Praxis" an Herrn von Florencourt; aber dieser ist wahr-
lich nicht ihr Vertreter. Er steht auf dem Punkte, wo sich die Ex-
treme der Deutschtümelei und des Kosmopolitismus berühren, wie
dies in der Burschenschaft geschah, und ist von den späteren Fort-
bildungen des Nationalgeistes nur oberflächlich berührt worden.
Der Mann der politischen Praxis ist Börne, und daß er diesen Be-
ruf vollkommen ausfüllte, das ist seine historische Stellung. Er
riß der Deutschtümelei ihren prahlerischen Flitterstaat vom Leibe
und deckte unbarmherzig auch die Scham des Kosmopolitismus
auf, der nur kraftlose frommere Wünsche hatte. Er trat an die
Deutschen mit den Worten des Cid: Lengua sin manos, cuemo osas
fablar ? Die Herrlichkeit der Tat ist von keinem so geschildert
wie von Börne. Alles ist Leben, alles Kraft an ihm. Nur von seinen
Schriften kann man sagen, daß sie Taten für die Freiheit sind.
Man komme mir hier nicht mit ,, Verstandesbestimmungen**, mit
,, endlichen Kategorien"! Die Art, wie Börne die Stellung der euro-
päischen Nationalitäten und ihre Bestimmung auffaßte, ist nicht
spekulativ. Aber das Verhältnis Deutschlands und Frankreichs hat
Börne zuerst in seiner Wahrheit entwickelt, und damit der Idee
Ernst Moritz Arndt.
145
einen größeren Dienst getan als die Hegelianer, die während dessen
Hegels Enzyklopädie auswendig lernten und damit dem Jahrhundert
genug getan zu haben glaubten. Eben jene Darstellung beweist
auch, wie hoch Börne über der Fläche des Kosmopolitismus steht.
Die verstandesmäßige Einseitigkeit war Börne'n so notwendig, wie
Hegel'n der übergroße Schematismus ; aber statt dies zu begreifen,
kommen wir nicht über die derben und oft schiefen Axiome der
Pariser Briefe hinaus.
Neben Börne und ihm gegenüber stellte Hegel, der Mann des
Gedankens, sein bereits fertiges System vor die Nation hin. Die
Autorität gab sich nicht die Mühe, sich durch die abstrusen For-
men des Systems und den ehernen Stil Hegels durchzuarbeiten;
wie konnte sie auch wissen, daß diese Philosophie sich aus dem
ruhigen Hafen der Theorie auf das stürmische Meer der Begeben-
heiten wagen werde, daß sie das Schwert schon zücke, um geradezu
auf die Praxis des Bestehenden loszuziehen ? War ja doch Hegel
selbst ein so solider, orthodoxer Mann, dessen Polemik gerade
gegen die von der Staatsmacht abgelehnten Richtungen, gegen den
Rationalismus und den kosmopolitischen Liberalismus ging! Aber
die Herren, die am Ruder saßen, sahen nicht ein, daß diese Rich-
tungen nur bekämpft wurden, um der höheren Platz zu machen,
daß die neue Lehre erst in der Anerkennung der Nation wurzeln
müsse, ehe sie ihre lebendigen Konsequenzen frei entfalten können.
Wenn Börne Hegel'n angriff, so hatte er von seinem Standpunkte
aus vollkommen Recht, aber wenn die Autorität Hegel'n protegierte,
wenn sie seine Lehre fast zur preußischen Staatsphilosophie er-
hob j gab sie sich eine Blöße, die sie jetzt augenscheinlich bereut.
Oder sollte Altenstein, der freilich, noch aus einer liberaleren Zeit
herstammend, einen höheren Standpunkt behauptete, hier so sehr
freie Hand gehabt haben, daß alles auf seine Rechnung kam ? Dem
sei, wie ihm wolle, als nach Hegels Tode seine Doktrin von dem
frischen Hauche des Lebens angeweht wurde, entkeimten der
„preußischen Staatsphilosophie" Schößlinge, von denen keine Par-
tei sich hatte träumen lassen. Strauß auf theologischem, Gans und
Rüge auf politischem Felde werden epochemachend bleiben. Erst
jetzt zerteilten sich die matten Nebelflecke der Spekulation in die
leuchtenden Ideensterne, die der Bewegung des Jahrhunderts vor-
leuchten sollen. Man mag der ästhetischen Kritik Ruges immerhin
vorwerfen, daß sie nüchtern und im Schematismus der Doktrin
befangen ist; es bleibt sein Verdienst, die politische Seite des Hegel-
schen Systems in ihrer Übereinstimmung mit dem Zeitgeiste dar-
gestellt und in die Achtung der Nation restituiert zu haben. Gans
hatte dies nur indirekt getan, indem er die Geschichtsphilosophie
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 10
1^6 Atis der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
bis auf die Gegenwart fortführte ; Rüge hat die Freisinnigkeit des
Hegelianismus offen ausgesprochen, Koppen hat sich ihm zur Seite
gestellt; beide haben keine Feindschaft gescheut, haben ihren Weg
verfolgt, selbst auf die Gefahr einer Spaltung der Schule hin, und
darum alle Ehre ihrem Mute! Die begeisterte, unerschütterliche
Zuversicht auf die Idee, wie sie dem Neu -Hegelianismus eigen, ist
die einzige Burg, wohin sich die Freigesinnten sicher zurückziehen
können, wenn die von Oben unterstützte Reaktion ihnen einen
augenblicklichen Vorteil abgewinnt.
Das sind die jüngsten Entwicklungsmomente des deutschen
politischen Geistes und die Aufgabe unsrer Zeit ist es, die Durch-
dringung Hegels und Börnes zu vollenden. Im Jung -Hegelianis-
mus ist schon ein gutes Stück Börne und manchen Artikel der
Hallischen Jahrbücher würde Börne wenig Anstand nehmen, zu
unterschreiben. Aber teils ist die Vereinigung des Gedankens mit
der Tat noch nicht bewußt genug, teils ist sie noch nicht in die Nation
gedrungen. Noch imm.er wird von mancher Seite her Börne als der
strikte Gegensatz Hegels angesehen ; aber ebenso wenig wie Hegels
praktische Bedeutung für die Gegenwart (nicht seine philosophische
für die Ewigkeit) nach der reinen Theorie seines Systems beurteilt
werden darf, ebenso wenig paßt auf Börne ein flaches Absprechen
über seine nie geleugneten Einseitigkeiten und Extravaganzen.
Ich glaube hiermit die Stellung der Deutschtümelei zur Gegen-
wart hinreichend bezeichnet zu haben, um zu einer detaillierteren
Besprechung ihrer einzelnen Seiten, wie sie Arndt in seinem Buche
auseinander gelegt, übergehen zu können. Die weite Kluft, die
Arndten von der jetzigen Generation trennt, spricht sich am klar-
sten darin aus, daß ihm gerade dasjenige im Staatsleben gleich-
gültig ist, wofür wir Blut und Leben lassen. Arndt erklärt sich
für einen entschiedenen Monarchisten ; gut. Ob aber konstitutionell
oder absolutistisch, darauf kommt er gar nicht zu sprechen. Der
Differenzpunkt ist hier: Arndt und seine ganze Genossenschaft
setzt das Wohl des Staats darin, daß Fürst und Volk mit aufrich-
tiger Liebe einander zugetan sind und sich im Streben nach dem
allgemeinen Wohl entgegen komm.en. Für uns dagegen steht es
fest, daß das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten erst
rechtlich geordnet sein muß, ehe es gemütlich werden und bleiben
kann. Erst Recht, dann Billigkeit! Welcher Fürst wäre so schlecht,
daß er nicht sein Volk liebte und — ich spreche hier von Deutsch-
land — von seinem Volke nicht schon darum geliebt würde, weil
er sein Fürst ist? Welcher Fürst aber darf sich rühmen, seit 1815
sein Volk wesentlich weiter gebracht zu haben ? Ist es nicht alles
unser eigenes Werk, was wir besitzen, ist es nicht unser trotz Kon-
Ernst Moritz Arndt.
147
trolle und Aufsicht? Es läßt sich schön reden von der Liebe des
Fürsten und des Volkes, und seit der große Dichter von „Heil dir
im Siegerkranz" sang: ,, Liebe des freien Mann's sichert die steilen
Höh'n, wo Fürsten steh'n", seitdem ist unendlicher Unsinn dar-
über geschwatzt worden. Man könnte die uns jetzt von einer Seite
her drohende Regierungsart eine zeitgemäße Reaktion nennen.
Pairimonialgerichte zur Bildung eines hohen Adels, Zünfte zur
Wiedererweckung eines ,, ehrsamen" Bürgerstandes, Begünstigung
aller sogenannten historischen Keime, welche eigentlich alte ab-
gehauene Strünke sind. — Aber nicht nur in bezug auf diesen
Punkt hat sich die Deutschtümelei von der entschiedenen Reaktion
um die Freiheit ihres Gedankens prellen lassen, auch ihre Ver-
fassungsideen sind Einflüsterungen der Herren vom Berliner Po-
litischen Wochenblatt. Es tat einem wehe, zu sehen, wie selbst der
gediegene, ruhige Arndt sich von der sophistischen Goldflitter:
, »organischer Staat" hat blenden lassen. Die Phrasen von histori-
scher EntWickelung, Benutzung der gegebenen Momente, Organis-
mus und so weiter müssen ihrer Zeit einen Zauber gehabt haben,
von dem wir uns keine Vorstellung machen können, weil wir ein-
sehen, daß es meist schöne Worte sind, die es mit ihrer eignen Be-
deutung nicht ernstlich meinen. Man gehe geradezu auf die Ge-
spenster los. Was versteht ihr unter einem organischen Staat?
Einen solchen, dessen Institutionen sich mit und aus der Nation
im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben, nicht aber aus der
Theorie heraus konstruiert sind. Sehr schön; nun kommt die An-
wendung auf Deutschland! Dieser Organismus soll darin bestehen,
daß die Staatsgenossen sich in Adel, Bürger und Bauern scheiden,
benebst allem, was daran hängt. Das soll alles in dem Wort Orga-
nismus in nuce^) verborgen liegen. Ist das nicht eine elende, eine
schmähliche Sophisterei? Selbstentwickelung der Nation, sieht das
nicht gerade aus wie Freiheit? Ihr greift zu mit beiden Händen
und erhascht — den ganzen Druck des Mittelalters und des ancien
regime. Zum Glück kommt diese Taschenspielerei nicht auf Arndts
Rechnung. Nicht die Anhänger der Ständeteilung, wir, ihre Gegner,
wir wollen organisches Staatsleben. Es handelt sich vorläufig gar
nicht um die , »Konstruktion aus der Theorie"; aber es handelt sich
um das, womit man uns blenden will, um die Selbstentwickelung der
Nation. Wir allein meinen es ernstlich und aufrichtig mit ihr;
aber jene Herren wissen nicht, daß aller Organismus unorganisch
wird, sobald er stirbt; sie setzen die toten Kadaver der Vergangen-
heit mit ihren galvanischen Drähten in Bewegung und wollen uns
*) Im Kerne.
10*
148 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
aufbinden, das sei kein Mechanismus, sondern Leben. Sie wollen
die Selbstentwickelung der Nation fördern und schmieden ihr den
Klotz des Absolutismus ans Bein, damit sie rascher voran kommt.
Sie wollen nicht wissen, daß das, was sie Theorie, Ideologie oder
Gott weiß wie nennen, längst in Blut und Saft des Volks über-
gegangen und zum Teil schon ins Leben getreten ist; daß damit
nicht wir, sondern sie im Utopien der Theorie herumirren. Denn
das, was vor einem halben Jahrhundert allerdings noch Theorie
war, hat sich seit der Revolution als selbständiges Moment im
Staatsorganismus ausgebildet. Und, was die Hauptsache ist, steht
die Entwicklung der Menschheit nicht über der der Nation?
Und die Ständewirtschaft? Die Scheidewand zwischen Bür-
gern und Bauern ist gar nicht da, es ist selbst der historischen
Schule kein Ernst damit; diese Scheidewand wird nur pro forma
hingestellt, um uns die Absonderung des Adels plausibler zu machen.
Um den Adel dreht sich alles, mit dem Adel fällt das Stände wesen.
Mit dem Stande des Adels aber sieht es noch schlimmer aus, als
mit seinem Bestände. Ein erblicher, ein Majoratsstand ist denn doch
wohl nach modernen Begriffen das Allerunsinnigste. Im Mittel-
alter freilich! Da waren ja auch in den Reichsstädten (wie in Bre-
men z. B. noch) die Zünfte und ihre Privilegien erblich, da gab es
reines Bäckerblut und Zinngießerblut. Freilich, was ist der Adels-
stolz gegen das Bewußtsein: Meine Ahnen waren Bierbrauer bis
ins zwanzigste Glied! Ein Schlächter- oder nach bremischem poe-
tischerem Namen Knochenhauerblut haben wir noch im Adel,
dessen von Herrn Fouque festgesetzter kriegerischer Beruf ja ein fort-
währendes Schlachten und Knochenhauen ist. Es ist eine lächerliche
Arroganz des Adels, sich für einen Stand zu halten, da nach den Ge-
setzen aller Staaten ihm gar kein Beruf, weder der kriegerische noch
der des großen Grundbesitzes ausschließlich zukommt. Jeder Schrift
über den Adel könnte der Vers des Troubadours Wilhelm von Poitiers
als Motto vorstehen: ,,dies Lied soll um ein Nichts sich dreh'n". Und
weil der Adel seine innere Nichtigkeit empfindet, kann kein Adliger
den Schmerz darüber verbergen, von dem sehr geistreichen Baron von
Sternberg an bis zu dem sehr geistlosen C. L. F.W. G. von Alvens-
leben. Jene Toleranz, die dem Adel das Vergnügen lassen will, sich
für etwas Apartes zu halten, falls er nur sonst keine Privilegien in An-
spruch nimmt, ist sehr schlecht angebracht. Denn so lange der Adel
noch etwas Apartes vorstellt, so lange will und muß er Vorrechte
haben. Wir bleiben bei unserer Forderung: Keine Stände, wohl aber
eine große, einige, gleichberechtigte Nation von Staatsbürgern! —
Eine andere Forderung Arndts für seinen Staat sind die Ma-
jorate, überhaupt eine den Grundbesitz auf fixe Verhältnisse fest-
Ernst Moritz Arndt.
149
stellende Agrargesetzgebung. Auch dieser Punkt verdient, ab-
gesehen von seiner allgemeinen Wichtigkeit, schon darum Beach-
tung, weil die erwähnte zeitgemäße Reaktion auch in dieser Hin-
sicht die Dinge wieder auf den Fuß vor 1789 zu setzen droht. Sind
doch neuerdings viele geadelt worden unter der Bedingung, ein den
Wohlstand der Familie garantierendes Majorat zu stiften! — Arndt
ist entschieden gegen die unbeschränkte Freiheit und Teilbarkeit des
Grundbesitzes ; er sieht als eine unvermeidliche Folge eine Teilung
des Landes in Parzellen, von denen keine ihren Mann ernähren
kann. Aber er sieht nicht, daß gerade die volle Freigebung des
Grundeigentums die Mittel besitzt, alles das im ganzen und großen
wieder auszugleichen, was sie im einzelnen allerdings hier und da
aus dem Gleise bringen mag. Während die verwickelte Gesetz-
gebung der meisten deutschen Staaten und die ebenso verwickel-
ten Vorschläge Arndt's Inconvenienzen in den Agrarverhältnissen
nie unmöglich machen, sondern höchstens erschweren, hemmen sie
zugleich bei dem Eintritt von Mißverhältnissen die freiwillige Rück-
kehr zur gehörigen Ordnung, machen ein außergewöhnliches Ein-
greifen des Staats notwendig und hemmen den Fortschritt dieser
Gesetzgebung durch hundert kleinliche, aber nie zu umgehende
Privatrücksichten. Dagegen kann die Freiheit des Grundes kein
Extrem, weder die Ausbildung des großen Landbesitzes zur Aristo-
kratie noch die Zersplitterung der Äcker in allzukleine, nutzlos
werdende Stückchen aufkommen lassen. Neigt sich die eine Wag-
schale zu tief, so konzentriert sich der Inhalt der andern alsbald
zur Ausgleichung. Und fliegt der Grundbesitz auch von einer Hand
in die andere — ich will lieber das wogende Weltmeer mit seiner
großartigen Freiheit als den engen Landsee mit seiner ruhigen
Fläche, deren Miniaturwellen alle drei Schritte von einer Land-
zunge, von einer Baumwurzel, von einem Steine gebrochen werden.
Nicht nur, daß die Erlaubnis der Majoratsstiftung eine Einwilligung
des Staats in die Bildung einer Aristokratie ist, nein, diese Fesse-
lung des Grundbesitzes arbeitet, wie alle unveräußerliche Erblich-
keit, geradezu auf eine Revolution hin. Wenn der beste Teil des
Landes an einzelne Familien geschmiedet und den übrigen Staats-
bürgern unzugänglich gemacht wird, ist das nicht eine direkte Her-
ausforderung des Volkes ? Beruht nicht die Majoratsbefugnis auf
einer Ansicht vom Eigentum, die unserer Erkenntnis längst nicht
mehr entspricht? Als ob eine Generation das Recht hätte, über
das Eigentum aller künftigen Geschlechter, welches sie augenblick-
lich genießt und verwaltet, unbeschränkt zu verfügen, als ob die
Freiheit des Eigentums nicht zerstört würde durch ein Schalten mit
demselben, welches alle Nachkommen dieser Freiheit beraubt! Als
ISO Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
ob eine solche Fesselung des Menschen an die Scholle wirklich
ewigen Bestand haben könnte! Die Aufmerksamkeit übrigens, die
Arndt dem Grundeigentum widmet, ist eine wohlverdiente und die
Wichtigkeit des Gegenstandes wäre einer ausführlichen Besprechung
von der Höhe der Zeit wohl wert. Die bisherigen Theorien leiden
alle an der Erbkrankheit der deutschen Gelehrten, die ihre Selb-
ständigkeit darein setzen, jeder ein apartes System für sich zu
haben. — —
Verdienten die retrograden Seiten der Deutschtümelei schon
eine genauere Prüfung, teils um des verehrten Mannes willen, der
sie als seine Überzeugung verficht, teils um der Begünstigung wil-
len, welche sie -neuerdings in Preußen erfahren haben, so muß
eine andere Richtung derselben darum um so entschiedener zurück-
gewiesen werden, weil sie augenblicklich unter uns wieder überhand
zu nehmen droht — der Franzosenhaß. Ich will mit Arndt und
den übrigen Männern von 1813 nicht rechten, aber das servile Ge-
wäsch, das die Gesinnungslosigkeit jetzt in allen Zeitungen gegen
die Franzosen verführt, ist mir durch und durch zuwider. Es ge-
hört ein hoher Grad von Untertänigkeit dazu, um durch den Juli-
traktat überzeugt zu werden, daß die orientalische Frage eine Le-
bensfrage ist und Mehemed Ali unser Volkstum gefährdet. Von
diesem Standpunkte aus hat denn Frankreich freilich durch die
Unterstützung des Ägpters dasselbe Verbrechen an der deutschen
Nationalität begangen, dessen es sich im Anfange dieses Jahrhun-
derts schuldig machte. Es ist traurig, daß man nun schon seit einem
halben Jahre kein Zeitungsblatt mehr in die Hand nehmen kann,
ohne der franzosenfressenden Wut zu begegnen, die neu erwacht
ist. Und wozu? Um den Russen Gebietszuwachs und den Eng-
ländern Handelsmacht genug zu geben, daß sie uns Deutschen
ganz einklemmen und zerdrücken können! Das stabile Prinzip Eng-
lands und das System Rußlands, das sind die Erbfeinde des europä-
ischen Fortschritts, nicht aber Frankreich und seine Bewegung.
Aber weil zwei deutsche Fürsten dem Traktat beizutreten für gut
fanden, ist die Sache plötzlich eine deutsche, Frankreich der alte
gottlose, ,, welsche" Erbfeind, und die ganz natürlichen Rüstungen
des allerdings beleidigten Frankreichs sind ein Frevel an der deut-
schen Nation. Das alberne Geschrei einiger französischer Journa-
listen nach der Rheingrenze wird weitläuftiger Erwiderungen wert
gehalten, die leider von den Franzosen gar nicht gelesen werden,
und Beckers Lied: ,,Sie sollen ihn nicht haben" wird parforce zum
Volksliede gemacht. Ich gönne Becker'n den Erfolg seines Liedes,
ich will den poetischen Inhalt desselben garnicht untersuchen, ich
freue mich sogar, vom linken Rheinufer so deutsche Gesinnung zu
Ernst Moritz Arndt. I^I
vernehmen, aber ich finde es mit den in diesen Blättern bereits dar-
über erschienenen Artikeln, die mir eben zu Gesichte kommen,
lächerlich, daß man das bescheidene Gedicht zur Nationalhymne
erheben will. ,,Sie sollen ihn nicht haben"; also wieder negativ?
Könnt ihr mit einem negierenden Volksliede zufrieden sein ? Kann
deutsches Volkstum nur in der Polemik gegen das Ausland eine
Stütze finden ? Der Text der Marseillaise ist trotz aller Begeisterung
nicht viel wert, aber wie viel edler ist hier das Übergreifen über die
Nationalität hinaus zur Menschheit. Und — nachdem Burgund
und Lothringen uns entrissen, nachdem wir Flandern französisch,
Holland und Belgien unabhängig werden ließen, nachdem Frank-
reich mit dem Elsaß schon bis an den Rhein vorgedrungen und nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil der ehemals deutschen linken
Rheinseite noch unser ist, jetzt schämen wir uns nicht, groß zu
tun und zu schreien: das letzte Stück sollt ihr wenigstens nicht
haben. O über die Deutschen! Und wenn die Franzosen den Rhein
hätten, so würden wir doch mit dem lächerlichsten Stolze rufen:
Sie sollen sie nicht haben, die freie deutsche Weser und so fort bis
zur Elbe und Oder, bis Deutschland zwischen Franzosen und Russen
geteilt wäre, und uns nur zu singen bliebe: Sie sollen ihn nicht haben,
den freien ^Strom der deutschen Theorie, so lang er ruhig wallend
ins Meer der Unendlichkeit fließt, so lange noch ein unpraktischer
Gedankenfisch auf seinem Grund die Flosse hebt! Statt daß wir
Buße tun sollten im Sack und in der Asche für die Sünden, durch die
wir alle jene schönen Länder verloren haben, für die Uneinigkeit
und den Verrat an der Idee, für den Provinzial-Patriotismus, der
vom Ganzen um des lokalen Vorteils willen abfällt, und für die
nationale Bewußtlosigkeit. Allerdings ist es eine fixe Idee bei den
Franzosen, daß der Rhein ihr Eigentum sei, aber die einzige des
deutschen Volkes würdige Antwort auf diese anmaßende Forderung
ist das Arndtsche: „Heraus mit dem Elsaß und Lothringen!"
Denn ich bin — vielleicht im Gegensatz zu vielen, deren Stand-
punkt ich sonst teile, allerdings der Ansicht, daß die Wiedererobe-
rung der deutschsprechenden linken Rheinseite eine nationale Ehren-
sache, die Germanisierung des abtrünnig gewordenen Hollands und
Belgiens eine politische Notwendigkeit für uns ist. Sollen wir in
jenen Ländern die deutsche Nationalität vollends unterdrücken
lassen, während im Osten sich das Slawentum immer mächtiger er-
hebt? Sollen wir die Freundschaft Frankreichs mit der Deutsch -
heit unserer schönsten Provinzen erkaufen, sollen wir einen kaum
hundertjährigen Besitz, der sich nicht einmal das Eroberte assi-
milieren konnte; sollen wir die Verträge von 1815 für ein Urteil
des Weltgeistes in letzter Instanz halten?
1^2 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841-
Aber auf der andern Seite sind wir der Elsässer nicht wert,
so lange wir ihnen das nicht geben können, was sie jetzt besitzen,
ein freies, öffentliches Leben in einem großen Staate. Es kommt
ohne Zweifel noch einmal zum Kampfe zwischen uns und Frank-
reich, und da wird sich 's zeigen, wer des linken Rheinufers würdig
ist. Bis dahin können wir die Frage ruhig der Entwickelung unserer
Volkstümlichkeit und des Weltgeistes anheimstellen, bis dahin
wollen wir auf ein klares, gegenseitiges Verständnis der europäischen
Nationen hinarbeiten und nach der innern Einheit streben, die
unser erstes Bedürfnis und die Basis unserer zukünftigen Freiheit
ist. So lange die Zersplitterung unseres Vaterlandes besteht, so lange
sind wir politisch Null, so lange sind öffentliches Leben, ausgebildeter
Konstitutionalismus, Preßfreiheit und was wir noch mehr verlangen,
alles fromme Wünsche, deren Ausführung immer halb bleiben wird ;
darnach also strebt und nicht nach Exstirpation der Franzosen!
Aber dennoch hat die deutschtümliche Negation ihre Aufgabe
noch immer nicht ganz vollbracht: es ist noch genug über die Alpen,
den Rhein und die Weichsel heimzuschicken. Den Russen wollen
wir die Pentarchie lassen; den Italienern ihren Papismus und was
daran klebt, ihren Bellini, Donizetti und selbst Rossini, wenn sie
mit diesem groß tun wollen gegen Mozart und Beethoven; den
Franzosen ihre arroganten Urteile über uns, ihre Vaudevilles und
Opern, ihren Scribe und Adam. Wir wollen heimjagen, woher sie
gekommen sind alle die verrückten ausländischen Gebräuche und
Moden, alle die überflüssigen Fremdwörter ; wir wollen aufhören, die
Narren der Fremden zu sein und zusammenhalten zu einem einigen,
unteilbaren, starken — und so Gott will, freien deutschen Volk.
Brief an Friedrich Graeber.
(22. Februar 1841.)
Ew. Hochwohlehrwürden in spe
haben die Gnade
gehabt, habuerunt gratiam mir zu schreiben mihi scribendi sc. li-
teras. Multum^) gaudeo, tibi adjuvasse ad gratificationen triginta
thaler orum, speroque, te ista gratificatione usum esse ad bibendum
insanitatem meam. XatQe^), ^vXa^ xov Xgcoriaviofiov, fxeyaq ZiQava-
1) Ich freue mich sehr, Dir zu einer Gratifikation von 30 Thalern ver-
holfen zu haben und ich hoffe, daß Du jene Gratifikation benutzt hast, auf
meine Gesundheit zu trinken.
2) Freue Dich, Wächter des Christentums, großer Straußjäger, Stern
der Orthodoxie, Beruhigung der Trauer der Pietisten, König der Exegese!!!
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und der Geist Gottes. ..
An Friedrich Graeber. 153
oo^doig, äojQov tr]^ ()odoöoiiag, TiatloK; xTig tcüv niexianov XvTitjg, ßaot-
Äevg rijg i^T]y/jOca)g! ;! ;!
DT7N' nriT schwebte über F. Graeber, als er das Unmögliche
tat und bewies, daß zwei mal zwei fünf sind. Oh Du großer Strau-
ßenjäger, ich beschwöre Dich im Namen der ganzen Orthodoxie,
daß Du das ganze verruchte Straußennest zerstörst und all die halb-
ausgebrüteten Straußeneier mit Deinem Sankt Georgsspieß durch-
bohrest! Reite hinaus in die Wüste des Pantheismus, tapfrer
Drachentöter, kämpfe mit dem Leo rugiens Rüge, welcher umher-
geht und suchet, wen er verschlinge, vernichte die verdammte
Straußenbrut und pflanze das Banner des Kreuzes auf dem Sinai
der spekulativen Theologie auf! Laß Dich erflehen; siehe, die
Gläubigen warten schon seit fünf Jahren auf den, der der Straußi-
schen Schlange den Kopf zertreten soll, sie haben sich abgeplackt,
mit Steinen und Kot, ja mit Mist nach ihr geworfen, aber immer
höher schwillt ihr der giftstrotzende Kamm; da Dir das Wider-
legen so leicht wird, daß all die schönen Gebäude von selbst über
den Haufen stürzen, so mache Dich auf und widerlege das Leben
Jesu und den ersten Band der Dogmatik; denn die Gefahr wird
immer dringender, das Leben Jesu hat bereits mehr Auflagen er-
lebt, als alle Schriften Hengstenbergs und Tholucks zusammen, und
es wird schon Comment, jeden, der kein Straußianer ist, aus der
Literatur herauszuschmeißen. Und die Hallischen Jahrbücher sind
das verbreitetste Journal Norddeutschlands, so verbreitet, daß seine
preußische Majestät es nicht mehr verbieten kann, so gern er es
möchte. Das Verbot der Hallischen Jahrbücher, die ihm alle Tage
die größten Grobheiten sagen, würde ihm auf der Stelle eine Million
Preußen, die jetzt noch nicht wissen, was sie von ihm denken sollen,
zu Feinden machen. Und es ist für Euch die höchste Zeit, sonst
werdet Ihr von uns, trotz der frommen Gesinnungen des Königs
von Preußen, zum ewigen Stillschweigen verwiesen. Überhaupt
solltet Ihr Euch ein wenig mehr Courage anschnallen, damit die
Paukerei einmal recht los geht. Aber da schreibt Ihr so ruhig und
gelassen, als ob die orthodox-christlichen Aktien hundert Prozent
Agio ständen, als ob der Strom der Philosophie ruhig und gelassen,
wie zu Zeiten der Scholastiker, zwischen seinen kirchlichen Däm-
men flösse, als ob sich zwischen den Mond der Dogmatik und die
Sonne der Wahrheit nicht die unverschämte Erde zu einer grau-
sigen Mondfinsternis eingedrängt hätte. Merkt Ihr denn nicht,
daß der Sturm durch die Wälder fährt und alle abgestorbnen
Bäume umschmeißt, daß statt des alten ad acta gelegten Teufels
154 •^"s ^^^ Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
der kritisch-spekulative Teufel erstanden ist und einen enormen
Anhang hat? Wir fordern Euch ja alle Tage heraus mit Übermut
und Spott, laßt Euch doch auch einmal durch die dicke Haut —
sie ist freilich 1800 Jahre alt und etwas lederhart geworden —
stechen, und besteigt das Kampfroß. Aber alle Eure Neander,
Tholuck, Nitzsch, Bleek, Erdmann und wie sie heißen, das sind so
weiche, gefühlvolle Kerls, denen der Degen so possierlich stehen
würde, die sind alle so ruhig und bedächtig, so bange vor dem
Skandal, daß gar nichts mit ihnen anzufangen ist. Der Hengsten-
berg und der Leo haben doch noch Courage, aber der Hengsten -
berg ist so oft aus dem Sattel geworfen worden, daß er ganz lenden-
lahm ist, und der Leo hat sich bei der letzten Rauferei mit den
Hegelingen den ganzen Bart ausrupfen lassen, so daß er sich jetzt
mit Anstand nicht mehr sehen lassen kann. Übrigens hat sich
der Strauß gar nicht blamiert, denn wenn er vor ein paar Jahren
noch glaubte, daß durch sein Leben Jesu der Kirchenlehre kein
Eintrag geschähe, so hätte er allerdings, ohne sich etwas zu ver-
geben, ein ,, System der orthodoxen Theologie" lesen können, wie
so mancher Orthodoxe ein „System der Hegeischen Philosophie"
liest, wenn er aber, wie das Leben Jesu wirklich zeigt, glaubte,
daß der Dogmatik überhaupt durch seine Ansichten kein Eintrag
geschähe, so wußte jeder vorher, daß er bald von solchen Ideen
zurückkommen würde, wenn er nur einmal die Dogmatik ernst-
lich vornähme. Er sagt's ja auch gerade heraus in der Dogmatik,
was er von der Kirchenlehre hält. Es ist übrigens sehr gut, daß
er sich in Berlin angesiedelt hat, da ist er an seinem Platze, und
kann durch Wort und Schrift mehr wirken als in Stuttgart.
Daß ich als Poet auf den Hund gekommen sein soll, wird von
mehreren Seiten bestritten, und übrigens hat der Freiligrath meine
Verse nicht aus poetischen, sondern aus Tendenz- und räumlichen
Gründen nicht drucken lassen. Erstens ist er nicht eben liberal, und
zweitens sind sie zu spät gekommen; drittens war so wenig Raum
da, daß von den für die letzten Bogen bestimmten Gedichten be-
deutendes gestrichen werden mußte. Das Rheinlied von N. Becker
ist übrigens doch wahrhaftig ein ganz ordinäres Ding und schon
so auf den Hund gekommen, daß man es in keinem Journal mehr
loben darf. Da ist doch der Rhein von R. E. Prutz ein ganz andres
Lied ; und andre Gedichte von Becker sind auch weit besser. Die
Rede, die er bei dem Fackelzuge gehalten hat, ist das Verworrenste,
was mir je vorgekommen ist. Für die Ehrenbezeugungen von den
Königen bedanke ich mich. Was soll all das? Ein Orden, eine
goldne Tabatiere, ein Ehrenbecher von einem Könige, das ist heut-
zutage eher eine Schande als eine Ehre. Wir bedanken uns alle
Immermanns Memorabilien. lec
für dergleichen und sind gottlob sicher, denn seit ich meinen
Artikel über E. M. Arndt im Telegraphen drucken ließ, wird es
selbst dem verrückten König von Bayern nicht einfallen, mir eine
solche Narrenschelle anzuheften oder den Stempel des Servilismus
auf den Hintern zu drücken. Je schuftiger, je kriechender, je ser-
viler einer heutzutage ist, desto mehr Orden kriegt er.
Ich fechte jetzt wütend und werde Euch demnächst alle zu-
sammenhauen. Zwei Duelle hab* ich hier in den letzten vier
Wochen gehabt, der Erste hat revoziert, nämlich den dummen
Jungen, den er mir, nachdem ich ihn geohrfeigt, aufbrummte, und
hat die Ohrfeige noch ungesühnt sitzen; mit dem Zweiten habe ich
mich gestern geschlagen und ihm einen famosen Abschiß über die
Stirn beigebracht, so recht von oben herunter, eine ausgezeich-
nete Prime.
Fare well,
Dein F. Engels.
Immermanns Memorabilien').
Die Nachricht vom Tode Immermanns war ein harter Schlag
für uns Rheinländer, nicht allein wegen der poetischen, sondern
auch wegen der persönlichen Bedeutung dieses Mannes, obwohl die
letztere noch mehr als die erstere erst recht sich zu entwickeln
begann. Er stand in einem eigenen Verhältnisse zu den Jüngern
literarischen Kräften, die neuerdings am Rheine und in Westfalen
erstgjiden sind ; denn in literarischer Hinsicht gehören Westfalen
und der Niederhein zusammen, so scharf sie in politischer sich
bisher geschieden haben; wie denn auch das ,, Rheinische Jahr-
buch" für Autoren beider Provinzen einen gemeinsamen Mittel-
punkt abgibt. Je mehr der Rhein bisher sich der Literatur fern ge-
halten hatte, desto mehr suchten jetzt rheinische Poeten sich als
Vertreter ihrer Heimat hinzustellen und wirkten so zwar nicht nach
einem Plane, aber doch auf ein Ziel hin. Ein solches Streben bleibt
selten ohne das Zentrum einer starken Persönlichkeit, der sich die
Jüngern unterordnen, ohne ihrer Selbständigkeit etwas zu ver-
geben, und dieses Zentrum schien für die rheinischen Dichter Im-
mermann werden zu wollen. Er war, trotz mancher Vorurteile gegen
die Rheinländer, doch allmählich unter ihnen naturalisiert, er hatte
seine Versöhnung mit der literarischen Gegenwart, der die Jünge-
ren alle angehören, offen vollzogen, ein neuer, frischerer Geist war
über ihn gekommen und seine Produktionen fanden immer mehr
*) Erster Band. Hamburg, Hoffmann und Campe. 1840.
156 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838 — 1841.
Anerkennung. So wurde auch der Kreis junger Dichter, die sich
um ihn zusammenfanden und aus der Nachbarschaft zu ihm her-
überkamen, immer größer; wie oft klappte z. B. nicht Freiligrath,
als er in Barmen noch Fakturen schrieb und Conti Correnti rech-
nete, Memorial und Hauptbuch zu, um einen oder ein paar Tage
in Immermanns und der Düsseldorfer Maler Gesellschaft zuzu-
bringen. So kam es, daß Immer mann in den Träumen von einer
rheinisch -westfälischen Dichterschule, die hier und da auftauchten,
einen wichtigen Platz einnahm; er war, ehe Freiligraths Ruhm
reifte, der vermittelnde Übergang von der provinziellen zur ge-
meinsam deutschen Literatur. Wer ein Auge hat für solche Be-
ziehungen und Verknüpfungen, dem ist dies Verhältnis längst kein
Geheimnis mehr gewesen ; vor einem Jahre deutete unter andern
Reinhold Köstlin in der Europa darauf hin, wie Immermann der
Stellung entgegen reife, die Goethe in seinen spätem Jahren ein-
nahm. Der Tod hat alle diese Zukunftsträume und Hoffnungen
zerrissen.
Wenige Wochen nach dem Tode Immermanns erschienen
seine „Memorabilien". War er, im kräftigsten Mannesalter, schon
reif genug, um seine eigenen Denkwürdigkeiten zu schreiben?
Sein Schicksal bejaht, sein Buch verneint es. Aber wir haben auch
die Memorabilien nicht als den Abschluß eines Greises, der seine
Laufbahn dadurch für geschlossen erklärt, mit dem Leben anzu-
sehen; Immermann rechnete vielmehr nur mit einer frühem, mit
der exklusiv romantischen Periode seiner Tätigkeit ab, und so waltet
freilich ein anderer Geist über diesem Buche, als über den Werken
jener Periode. Dazu waren die hier geschilderten Ereignisse durch
den mächtigen Umschwung des letzten Dezenniums so fern gerückt,
daß sie sogar ihm, ihrem Zeitgenossen, als historisch abgetan er-
schienen. Und dennoch glaub' ich behaupten zu dürfen, daß Immer-
mann nach zehn Jahren die Gegenwart und ihre Stellung zu der
Angel seines Werks, dem Befreiungskriege, höher, freier gefaßt
hätte. Vorläufig gilt es jedoch, die Memorabilien so zu betrachten,
wie sie einmal sind.
Hatte der frühere Romantiker in den Epigonen schon den
höhern Standpunkt Goethescher Plastik und Ruhe angestrebt, ruhte
der Münchhausen bereits ganz auf der Basis moderner Dichtungs-
weise, so zeigt uns sein nachgelassenes Werk noch klarer, wie sehr
Immermann die neuesten literarischen Entwicklungen zu würdigen
wußte. Der Stil und mit ihm die Form der Anschauung sind ganz
modern; nur der durchdachtere Gehalt, die strengere Gliederung,
die scharfgeprägte Charaktereigentümlichkeit und die, wenn auch
ziemlich verschleierte, antimoderne Gesinnung des Verfassers schei-
Immermanns Memorabilien. igy
den dieses Buch aus der Masse von Schilderungen, Charakteren,
Denkwürdigkeiten, Besprechungen, Situationen, Zuständen usw.,
von denen heuer unsere nach gesunder poetischer Lebensluft schmach-
tende Literatur eingedunstet wird. Dabei hat Immermann Takt
genug, um selten Gegenstände vor das Forum der Reflexion zu
bringen, die ein anderes Tribunal ansprechen dürfen als das des
baren Verstandes.
Der vorliegende erste Band findet seinen Stoff in ,,der Jugend
vor fünfundzwanzig Jahren" und den sie beherrschenden Einflüssen.
Ein ,, Avisbrief" leitet ihn ein, in dem der Charakter des Ganzen
aufs treueste dargelegt ist. Auf der einen Seite moderner Stil,
moderne Schlagwörter, ja moderne Prinzipien, auf der andern
Eigentümlichkeiten des Autors, deren Bedeutung für einen weitern
Kreis längst abgestorben ist. Immermann schreibt für moderne
Deutsche, wie er mit ziemlich dürren Worten sagt, für solche, die
den Extremen des Deutschtums und des Kosmopolitismus gleich
fern stehen; die Nation faßt er ganz modern auf und stellt Prä-
missen hin, die konsequent auf Selbstherrschaft als Bestimmung
des Volks führen würden ; er spricht sich entschieden gegen den
,, Mangel an Selbstvertrauen, die Wut zu dienen und sich wegzu-
werfen" aus, an der die Deutschen kranken. Und doch steht da-
neben eine Vorliebe für das Preußentum, die Immermann nur auf
sehr schwache Gründe stützen kann, eine so frostige, gleichgültige
Erwähnung der konstitutionellen Bestrebungen in Deutschland,
die nur zu deutlich zeigt, daß Immermann die Einheit des moder-
nen geistigen Lebens noch keineswegs erfaßt hatte. Man sieht es
deutlich, wie ihm der Begriff des Modernen gar nicht zusagen will,
weil er sich gegen manche Faktoren desselben sträubt, und wie er
diesen Begriff doch wieder nicht von der Hand weisen kann.
Mit ,, Knabenerinnerungen" beginnt das eigentliche Memoire.
Immermann hält sein Versprechen, nur die Momente zu erzählen,
wo „die Geschichte ihren Durchzug durch ihn gehalten". Mit dem
Bewußtsein des Knaben wachsen die Weltbegebenheiten, steigert
sich der kolossale Bau, von dessen Sturz er Zeuge sein sollte; an-
fangs in der Ferne tosend, brechen die Wogen der Geschichte in
der Schlacht bei Jena den Damm Norddeutschlands, strömen über
das selbstzufriedene Preußen hin, das ,,Aprds moi ledeluge"^) des
großen Königs nun auch speziell für seinen Staat bewahrheitend,
und überfluten gleich zuerst Immermanns Vaterstadt, Magdeburg.
Dieser Teil ist der beste des Buches; Immermann ist stärker in der
Erzählung als in der Reflexion, und es ist ihm vortrefflich ge-
1) Nach mir die Sintflut!
158 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
lungen, die Spiegelung der Weltbegebenheiten in der eigenen Brust
aufzufassen. Dazu ist gerade hier der Punkt, von dem an er sich
dem Fortschritte, freilich nur vorläufig, unumwunden anschließt.
Ihm ist, wie allen Freiwilligen von 1813, das Preußen vor 1806
das ancien regime dieses Staates, aber auch, was jetzt we-
niger zugegeben wird, Preußen nach 1806 das durch und durch
wiedergeborne, die neue Ordnung der Dinge. Mit der Wiedergeburt
Preußens ist es aber eine eigne Sache. Die erste Wiedergeburt durch
den großen Friedrich ist bei Gelegenheit des vorigjährigen Jubi-
läums so gepriesen worden, daß man nicht begreift, wie ein zwanzig-
jähriges Interregnum schon wieder eine zweite nötig machen konnte.
Und dann will man behaupten, daß trotz der zweimaligen Feuer-
taufe der alte Adam neuerdings wieder starke Lebenszeichen von
sich gegeben habe. In dem vorliegenden Abschnitte verschont uns
Immermann jedoch mit Anpreisungen des Status quo, und so wird
sich erst im Verlaufe dieser Zeilen näher herausstellen, wo Immer -
manns Weg sich von der Neuzeit trennt.
„Die Jugend wird, bis sie in das öffentliche Leben eintritt, er-
zogen durch die Familie, durch die Lehre, durch die Literatur.
Als viertes Erziehungsmittel trat für die Generation, welche wir
betrachten, noch der Despotismus hinzu. Die Familie hegt und
pflegt sie, die Lehre isoliert sie, die Literatur führt sie wieder ins
Weite; uns gab der Despotismus die Anfänge des Charakters."
Nach diesem Schema ist der reflektive Teil des Buches eingerichtet
und man wird ihm schwerlich seinen Beifall versagen können, da
es den großen Vorteil hat, den Entwicklungsgang des Bewußtseins
in der Zeitfolge seiner Stufen aufzufassen. — Der Abschnitt über
die Familie ist ganz ausgezeichnet, so lange er bei der alten Fa-
milie stehen bleibt, und es ist nur zu bedauern, daß Immermann
sich nicht mehr bemüht hat, Licht- und Schattenpartien zu einem
Ganzen zu verbinden. Die Bemerkungen, die er hier gibt, sind alle
im höchsten Grade treffend. Dagegen zeigt seine Auffassung der
neuern Familie wieder, daß er die alte Befangenheit und Verstim-
mung gegen die Erscheinungen des letzten Jahrzehnts noch immer
nicht losgeworden war. Allerdings weicht das ,, alt väterische Be-
hagen", die Zufriedenheit mit dem heimischen Herde immer mehr
einer Mißstimmung, einem Ungenügen an den Genüssen des Fa-
milienlebens ; aber dagegen verliert sich auch die Philisterei der
Hausväterlichkeit, der Glorienschein um die Schlafmütze immer
mehr, und die Gründe der Mißstimmung, die Immermann fast alle
ganz richtig und nur zu grell hervorhebt, sind eben Symptome einer
noch ringenden, nicht abgeschlossenen Epoche. Das Zeitalter vor
der Fremdherrschaft war abgeschlossen und trug als solches den
Immermanns Memorabilien.
159
Stempel der Ruhe — aber auch der Untätigkeit, und schleppte sich
mit dem Keim des Verfalls. Unser Autor hätte ganz kurz sagen
können: die neuere Familie kann sich darum einer gewissen Un-
behaglichkeit nicht erwehren, weil neue Ansprüche an sie gemacht
werden, die sie mit ihren eignen Rechten noch nicht zu vereinigen
weiß. Die Gesellschaft ist, wie Immermann zugibt, eine andere
geworden, das öffentliche Leben ist als ganz neues Moment hinzu-
getreten, Literatur, Politik, Wissenschaft, alles das dringt jetzt tiefer
in die Familie ein, und diese hat ihre Mühe, alle die fremden Gäste
unterzubringen. Da liegt's! Die Familie ist noch zu sehr nach
dem alten Stil, um sich mit den Eindringlingen recht zu verstän-
digen und auf guten Fuß zu setzen, und hier gibt es allerdings eine
Regeneration der Familie ; der leidige Prozeß muß nun einmal durch-
gemacht werden, und mir däucht, die alte Familie hätte ihn wohl
nötig. Übrigens hat Immermann die moderne Familie grade in
dem beweglichsten, modernen Einflüssen am meisten zugänglichen
Teile Deutschlands, am Rhein, studiert, und hier ist denn das
Mißbehagen eines Übergangs prozesses am deutlichsten zu Tage ge-
treten. In den Provinzialstädten des innern Deutschlands lebt und
webt die alte Familie noch fort unter dem Schatten des allein-
seligmachenden Schlafrocks, steht die Gesellschaft noch auf dem
Fuße von Anno i799j und wird öffentliches Leben, Literatur, Wis-
senschaft mit aller Ruhe und Bedächtigkeit abgefertigt, ohne daß
sich jemand in seinem Schlendrian stören ließe. — Zum Belege
des über die alle Familie Beigebrachten gibt der Verfasser noch
,, pädagogische Anekdoten'* und schließt dann mit dem ,, Oheim",
einem Charakterbilde aus der alten Zeit, den erzählenden Teil des
Buches ab. Die Erziehung, die der heranwachsenden Generation
von der Familie wird, ist abgeschlossen; die Jugend wirft sich der
Lehre und Literatur in die Arme. Hier beginnen die weniger ge-
lungenen Partieen des Buches. In Betreff der Lehre wurde Immer-
mann zu einer Zeit von ihr berührt, wo die Seele aller Wissenschaft,
die Philosophie, und die Basis dessen, was der Jugend geboten
wurde, die Kenntnis des Altertums, in einem windschnellen Um-
schwünge begriffen waren, und Immermann hatte nicht den Vor-
teil, diesen Umschwung bis zu seinein Ziele lernend mitmachen zu
können. Als es zum Abschluß kam, war er der Schule längst ent-
wachsen. Auch sagt er vorläufig wenig mehr, als daß die Lehre
jener Jahre eng gewesen sei, und holt die tiefgreifendsten Hebel der
Zeit in gesonderten Artikeln nach. Bei Gelegenheit Fichtes gibt
er Philosophisches zum Besten, was unsern Herren vom Begriff
seltsam genug vorkommen mag. Er läßt sich hier zu geistreichen
Raisonnements über eine Sache verleiten, die zu durchschauen ein
l6o Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838—1841.
geistreiches und poetisches Auge nicht hinreicht. Wie werden
unsere strikten Hegelianer schaudern, wenn sie lesen, wie hier die
Geschichte der Philosophie auf drei Seiten dargestellt wirdt Und
es muß zugestanden werden, daß nicht leicht dilettantischer über
Philosophie gesprochen werden kann, als es hier geschieht. Gleich
der erste Satz, daß die Philosophie immer zwischen zwei Punkten
oszilliere, entweder im Ding oder im Ich das Gewisse aufsuche,
ist offenbar der Folge des Fichteschen ,,Ich" auf das Kantsche
„Ding an sich" zu Gefallen geschrieben worden und läßt sich zur
Not auf Schelling, keinenfalls aber auf Hegel anwenden. — So-
krates wird die Inkarnation des Denkens genannt und ihm eben
deshalb die Fähigkeit, ein System zu haben, abgesprochen; in ihm
sei die reine Doktrin mit einem unbefangenen Eingehen in die
Empirie vereinigt gewesen, und weil dieser Bund über den Begriff
hinausging, habe er nur als Persönlichkeit, nicht als Lehre sich
manifestieren können. Sind das nicht Sätze, die ein unter Hegel-
schen Einflüssen herangewachsenes Geschlecht in die größte Ver-
wirrung bringen müssen ? Hört da nicht alle Philosophie auf, wo die
Übereinstimmung des Denkens und der Empirie ,,über den Begriff
hinausgeht" ? Welche Logik hält dastand, wo die Systemlosigkeit der
,, Inkarnation des Denkens" als notwendiges Attribut beigelegt wird ?
Doch warum Immermann auf ein Gebiet verfolgen, das er selbst
nur durchfliegen wollte ? Genug, eben so wenig er mit den Philo-
sophemen früherer Jahrhunderte fertig werden kann, eben so wenig
weiß er Fichtes Philosophie mit seiner Persönlichkeit zu einigen.
Dagegen schildert er den Charakter Fichte, den Redner an die
deutsche Nation, und den Turnwüterich Jahn wieder ganz vortreff-
lich. Diese Charakterbilder werfen mehr Licht auf die wirkenden
Kräfte und Ideen, in deren Bereich die damalige Jugend stand,
als lange Auseinandersetzungen. Auch da, wo die Literatur das
Thema bildet, lesen wir die Darlegung des Verhältnisses, in das sich
die ,, Jugend vor fünfundzwanzig Jahren" zu den großen Dichtern
stellte, weit lieber, als die schwach begründete Beweisführung, daß
die deutsche Literatur vor allen ihren Schwestern einen modernen,
nichtromantischen Ursprung hat. Es wird immer gezwungen er-
scheinen, wenn man Corneille aus romantisch -mittelalterlicher Wur-
zel aufsprießen läßt und von Shakespeare mehr als den rohen Stoff,
den er vorfand, dem Mittelalter zuweisen will. Spricht hier viel-
leicht das nicht ganz reine Gewissen des ehemaligen Romantikers,
das den Vorwurf eines fortwährenden Kryptoromantizismus zu-
rückweisen will?
Auch der Abschnitt über den Despotismus, nämlich den Na-
poleonischen, wird nicht gefallen. Die Heinesche Napoleonsan-
Immermanns Memorabilien. i6i
betung ist dem Volksbewußtsein fremd, aber dennoch will es nie-
manden zusagen, daß Immermann der hier die Unparteilichkeit
des Historikers in Anspruch nimmt, als beleidigter Preuße spricht.
Er hat es wohl gefühlt, daß hier ein Hinausgehen über den natio-
naldeutschen und besonders preußischen Standpunkt nötig sei; dar-
um hält er sich im Stil möglichst vorsichtig, paßt die Gesinnung
dem Modernen so nah wie möglich an und wagt sich nur an Klei-
nigkeiten und Nebensachen. Allmählich wird er aber kühner, ge-
steht, daß es ihm nicht recht eingehen wolle, wie Napoleon zu den
großen Männern gerechnet werde, stellt ein vollständiges System,
des Despotismus auf und zeigt, daß Napoleon in diesem Handwerke
ein ziemlicher Stümper und Böhnhase gewesen sei. Das ist aber
nicht der rechte Weg, große Männer zu begreifen.
So stellt sich Immermann, — abgesehen von einzelnen Ge-
danken, die seiner Überzeugung vorausgeeilt sind — allerdings in
der Hauptsache dem modernen Bewußtsein fern. Aber dennoch
läßt er sich nicht in eine jener Parteien einrangieren, in die man
Deutschlands geistigen Status quo zu teilen pflegt. Die Richtung,
der er am nächsten zu stehen scheint, die Deutschtümelei, weist
er ausdrücklich ab. Der bekannte Immermannsche Dualismus
äußerte sich in der Gesinnung als Preußentum einerseits, als Ro-
mantik andererseits. Das erstere verlief sich aber allmählich, be-
sonders für den Beamten, in die nüchternste, maschinenmäßigste
Prosa, die letztere in eine bodenlose Überschwänglichkeit. So
lange Immermann auf diesem Punkte stehen blieb, konnte er sich
keine rechte Anerkennung erringen und mußte mehr und mehr
einsahen, daß diese Richtungen nicht nur polare Gegensätze waren,
sondern auch das Herz der Nation immer gleichgültiger ließen.
Endlich wagte er einen poetischen Fortschritt und schrieb die
Epigonen. Und kaum hatte das Werk den Laden des Verlegers
verlassen, so gab es seinem Verfasser Gelegenheit, einzusehen,
daß nur seine bisherige Richtung einer allgemeineren Anerkennung
seines Talentes von Seiten der Nation und der jüngeren Literatur
entgegen gestanden hatte. Die Epigonen wurden fast überall ge-
würdigt und gaben Veranlassung zu Diatriben über den Charak-
ter ihres Verfassers, wie sie Immermann bisher nicht gewohnt war.
Die junge Literatur, wenn man anders diesen Namen für die Frag-
mente einer Sache noch brauchen darf, die niemals ein Ganzes
war, diese erkannte zuerst die Bedeutung Immermanns und führte
ihn erst recht bei der Nation ein. Er war durch die immer schärfer
werdende Scheidung zwischen Preußentum und romantischer Poe-
sie sowie durch die verhältnismäßig geringe Popularität, deren seine
Schriften genossen, innerlich verstimmt gewesen und hatte seinen
Mayer, Engels. Ergänzimgsb^nd. II
102 Aus der Lehrzeit in Bremen. 1838— 1841.
Werken immer mehr den Stempel schroffer Isolierung unwillkürlich
aufgedrückt. Jetzt, als er einen Schritt vorwärts getan hatte, kam
mit der Anerkennung auch ein anderer, freierer, heiterer Geist über
ihn. Die alte jugendliche Begeisterung taute wieder auf und nahm
im Münchhausen einen Anlauf zur Versöhnung mit der praktisch-
verständigen Seite des Charakters. Seine romantischen Sympathieen,
die ihm noch immer im Nacken saßen, beschwichtigte er durch
Ghismonda und Tristan ; aber welch ein Unterschied gegen frühere
romantische Dichtungen, namentlich welche Plastik gegen Merlin
herrscht darin!
Überhaupt war die Romantik für Immermann nur Form; vor
der Träumerei der romantischen Schule bewahrte ihn die Nüch-
ternheit des Preußentums ; aber diese war es denn auch, die ihn
gegen die Zeitentwicklung einigermaßen verstockte. Man weiß,
daß Immermann in religiöser Hinsicht zwar sehr freisinnig, in po-
litischer aber gar zu eifriger Anhänger der Regierung war. Durch
seine Stellung zur jüngeren Literatur wurde er allerdings den po-
litischen Strebungen des Jahrhunderts näher gestellt und lernte sie
von einer andern Seite kennen ; wie indes die Memorabilien zeigen,
saß das Preußentum noch gar fest in ihm. Dennoch finden sich
grade in diesem Buche so manche Äußerungen, die mit der Grund-
ansicht Immermanns so sehr kontrastieren und so sehr auf mo-
derner Basis beruhen, daß ein bedeutender Einfluß der modernen
Ideen auf ihn gar nicht zu verkennen ist. Die Memorabilien zeigen
klar ein Bemühen ihres Verfassers, mit seiner Zeit gleichen Schritt
zu halten, und wer weiß, ob der Strom der Geschichte nicht all-
mählig den konservativ-preußischen Damm unterwühlt hätte, hinter
dem Immermann sich verschanzt hielt. j^v ; ?• r
Und nun noch eine Bemerkung! Immermann sagt, der Cha-
rakter jener Epoche, die er in den Memorabilien schildert, sei vor-
zugsweise jugendlich gewesen; jugendliche Motive seien in Bewe-
gung gesetzt und Jugendstimmungen angeschlagen worden. Ist's
mit unserer Epoche nicht ebenso ? Die alte Generation in der Li-
teratur ist ausgestorben, die Jugend hat sich des Worts bemäch-
tigt. Von dem heranwachsenden Geschlecht hängt mehr als je
unsere Zukunft ab, denn dieses wird über Gegensätze zu entschei-
den haben, die sich immer höher hinaufgipfeln. Die Alten klagen
zwar entsetzlich über die Jugend und es ist wahr, sie ist sehr un-
folgsam; laßt sie aber nur ihre eignen Wege gehen, sie wird sich
schon zurechtfinden, und die sich verirren, sind selbst schuld daran.
Denn wir haben einen Prüfstein für die Jugend an der neuen Phi-
losophie ; es gilt, sich durch sie hindurch zu arbeiten und doch die
jugendliche Begeisterung nicht zu verlieren. Wer sich scheut vor
Immermanns Memorabilien. 163
dem dichten Walde, in dem der Palast der Idee steht, wer sich nicht
durchhaut mit dem Schwerte und küssend die schlafende Königs-
tochter weckt, der ist ihrer und ihres Reiches nicht wert, der mag
hingehen, Landpastor, Kaufmann, Assessor oder was er sonst will,
werden, ein Weib nehmen, Kinder zeugen in aller Gottseligkeit und
Ehrbarkeit, aber das Jahrhundert erkennt ihn nicht als seinen Sohn
an. Ihr braucht darum keine Althegelianer zu werden, mit An und
für sich, Totalität und Diesigkeit um euch zu werfen, aber ihr sollt
die Arbeit des Gedankens nicht scheuen ; denn nur die Begeisterung
ist echt, die wie der Adler die trüben Wolken der Spekulation, die
dünne, verfeinerte Luft in den obern Regionen der Abstraktion nicht
scheut, wenn es gilt, der Wahrheitssonne entgegen zu fliegen. Und
in diesem Sinne hat denn auch die Jugend von heute die Schule
Hegels durchgemacht, und manches Samenkorn aus den dürren
Fruchtkapseln des Systems ist herrlich aufgegangen in der jugend-
lichen Brust. Das aber gibt auch das größere Vertrauen auf die
Gegenwart, daß ihr Schicksal nicht von der tatscheuen Bedächtig-
keit, der gewohnheitsmäßigen Philisterei des Alters, sondern von
dem edlen, ungebändigten Feuer der Jugend abhängt. Darum laßt
uns für die Freiheit kämpfen, so lange wir jung und voll glühender
Kraft sind; wer weiß, ob wir's noch können, wenn das Alter uns
beschleicht!
11'
Aus der Militärzeit
i n Berlin
1841— 1842
Schelling über Hegel.
Wenn ihr jetzt hier in Berlin irgend einen Menschen, der auch
nur eine Ahnung von der Macht des Geistes über die Welt hat, nach
dem Kampfplatze fraget, auf dem um die Herrschaft über die öffent-
liche Meinung Deutschlands in Politik und Religion, also über
Deutschland selbst, gestritten wird, so wird er euch antworten,
dieser Kampfplatz sei in der Universität, und zwar das Auditorium
Nr. 6, wo Schelling seine Vorlesungen über die Philosophie der
Offenbarung hält. Denn für den Augenblick sind alle einzelnen
Gegensätze, die der Hegeischen Philosophie jene Herrschaft streitig
machen, gegen die eine Opposition Schellings verdunkelt, verwischt
und zurückgetreten; alle die Angreifer, die außerhalb der Philo-
sophie stehen, Stahl, Hengstenberg, Neander, machen einem Streiter
Platz, von dem man sich versieht, daß er den Unbesiegten auf
seinem eignen Gebiet bekämpfen wird. Und der Kampf ist wirk-
lich eigentümlich genug. Zwei alte Jugendfreunde, Stubengenossen
im Tübinger Stift, treten sich nach vierzig Jahren als Gegner wieder
unter die Augen; der eine tot seit zehn Jahren, aber lebendiger als
je ir^ seinen Schülern; der andere seit drei Dezennien, wie jene
sagen, geistig tot, nun urplötzlich des Lebens volle Kraft und Gel-
tung für sich ansprechend. Wer ,, unparteiisch" genug ist, sich
beiden gleich fremd zu wissen, d. h. kein Hegelianer zu sein —
denn zu Schelling kann nach den paar Worten, die er gesagt hat,
sich bis jetzt wohl niemand bekennen — wer also diesen vielbe-
rühmten Vorzug der ,, Unparteilichkeit" hat, der wird in der Todes-
erklärung Hegels, die durch Schellings Auftreten in Berlin aus-
gesprochen ist, die Rache der Götter sehen für die Todeserklärung
Schellings, die Hegel seinerzeit verkündete.
Ein bedeutendes, bunt gemischtes Auditorium hat sich einge-
funden, um dieses Kampfes Zeuge zu sein. An der Spitze die No-
tabilitäten der Universität, die Koryphäen der Wissenschaft, Män-
ner, deren jeder eine eigentümliche Richtung hervorgerufen hat,
ihnen sind die nächsten Plätze um das Katheder überlassen, und
hinter ihnen, durcheinandergewürfelt, wie der Zufall sie zusammen-
führte, Repräsentanten aller Lebensstellungen, Nationen und Glau-
l68 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
bensbekenntnisse. Mitten zwischen der übermütigen Jugend sitzt
hier und da ein graubärtiger Stabsoffizier und neben ihm wohl gar
ganz ungeniert ein Freiwilliger, der in anderer Gesellschaft sich vor
Devotion gegen den hohen Vorgesetzten nicht zu lassen wüßte.
Alte Doktoren und Geistliche, deren Matrikel bald ihr Jubiläum
feiern kann, fühlen den längstvergessenen Burschen wieder im
Kopfe spuken und gehen ins Colleg, Judentum und Islam wollen
sehen, was es für eine Bewandtnis mit der christlichen Offenbarung
hat; man hört deutsch, französisch, englisch, ungarisch, polnisch,
russisch, neugriechisch und türkisch durcheinander sprechen —
da ertönt das Zeichen zum. Schweigen und Schelling besteigt das
Katheder.
Ein Mann von mittlerer Statur, mit weißem Haar und hell-
blauem, heitern Auge, dessen Ausdruck eher ins Muntere als ins
Imponierende spielt, und vereint mit einigem Embonpoint, mehr
auf den gemütlichen Hausvater als auf den genialen Denker schließen
läßt, ein hartes, aber kräftiges Organ, schwäbisch -bayrischer Dia-
lekt mit beständigem „Eppes" für Etwas, das ist Schellings äußere
Erscheinung.
Ich übergehe den Inhalt seiner ersten Vorlesungen, um so-
gleich zu seinen Äußerungen über Hegel zu kommen, und behalte
mir nur vor, zur Erläuterung derselben das Nötige nachzuschicken.
Ich gebe sie wieder, wie ich sie in der Vorlesung selbst nachgeschrie-
ben habe.
,,Die Identitätsphilosophie, wie ich sie aufstellte, war nur eine
Seite der ganzen Philosophie, nämlich die negative. Dieses Nega-
tive mußte entweder durch die Darstellung des Positiven befriedigt
v/erden oder, den positiven Gehalt der früheren Philosophieen ver-
schlingend, sich selbst als das Positive setzen und sich so zur ab-
soluten Philosophie aufwerfen. Auch über dem Geschick des Men-
schen schwebt eine Vernunft, die ihn in der Einseitigkeit verharren
läßt, bis er alle Möglichkeiten derselben erschöpft hat. So war es
Hegel, der die negative Philosophie als die absolute aufstellte. —
Ich nenne Herrn Hegels Namen zum ersten Male. So wie ich mich
über Kant und Fichte frei ausgesprochen habe, die meine Lehrer
gewesen sind, so werde ich es auch über Hegel tun, obgleich mir
dies eben keine Freude macht. Aber um der Offenheit willen, die
ich Ihnen, meine Herren, versprochen habe, will ich es tun. Es
soll nicht scheinen, als hätte ich irgend etwas zu scheuen, als gäbe
es Punkte, worüber ich mich nicht frei aussprechen dürfte. Ich
gedenke der Zeit, wo Hegel mein Zuhörer, mein Lebenfgenoß war,
und ich muß sagen, daß, während die Identitätsphilosophie allge-
mein seicht und flach aufgefaßt wurde, er es war, der ihren Grund-
Schelling über Hegel. 169
gedanken in die spätere Zeit hinüber gerettet und bis zuletzt fort-
während anerkannt hat, wie mir dies vor allem seine Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie bezeugten. Er, der den großen
Stoff schon bewältigt vorfand, hielt sich hauptsächlich an die Me-
thode, während wir andern vorzugsweise das Materielle behaupte-
ten. Ich selbst, dem die gewonnenen negativen Resultate nicht ge-
nügten, hätte gern jeden befriedigenden Abschluß, auch von fremder
Hand, entgegengenommen."
,, Übrigens handelt es sich hier darum, ob Hegels Stelle in der
Geschichte der Philosophie, die Stelle, die ihm unter den großen
Denkern anzuweisen ist, eben diese ist, daß er die Identitätsphilo-
sophie zur absoluten, zur letzten zu erheben versuchte, was frei-
lich nur mit bedeutenden Veränderungen geschehen konnte ; und
dies gedenke ich aus seinen eignen, aller Welt offenstehenden
Schriften zu beweisen. Wollte man sagen, daß darin eben der
Tadel für Hegel liege, so antworte ich, daß Hegel getan hat, was
ihm zunächst lag. Die Identitätsphilosophie mußte mit sich selber
ringen, über sich selbst hinausgehen, so lange jene Wissenschaft
des Positiven, die sich auch über die Existenz erstreckt, noch nicht
da war. Darum mußte Hegel in seinem Bestreben die Identitäts-
philosophie über ihre Schranke, die Potenz des Seins, das reine Sein-
können, hinausführen und die Existenz ihr unterwürfig machen."
„ ,, Hegel, der sich mit Schelling zur Anerkennung des Abso-
luten erhob, wich von diesem ab, indem er dasselbe nicht in der
intellektuellen Anschauung vorausgesetzt, sondern auf wissen-
schaftlichem Wege gefunden wissen wollte."" Diese Worte bilden
den Text, über den ich jetzt zu Ihnen reden werde. — In obiger
Stelle liegt die Meinung zugrunde, die Identitätsphilosophie habe
das Absolute nicht bloß der Sache, sondern auch der Existenz nach
zum Resultate ; da nun der Ausgangspunkt der Identitätsphiloso-
phie die Indifferenz von Subjekt und Objekt ist, so wird auch deren
Existenz, als durch die intellektuelle Anschauung erwiesen, an-
genommen. Auf diese Weise nimmt Hegel ganz arglos an, ich habe
die Existenz, das Sein jener Indifferenz durch die intellektuelle
Anschauung beweisen wollen, und tadelt mich wegen des mangel-
haften Bev/eises. Daß ich dies nicht wollte, zeigt die von mir so
häufig ausgesprochene Verwahrung, die Identitätsphilosophie sei
kein System der Existenz, und was die intellektuelle Anschauung
betrifft, so kommt diese Bestimmung in derjenigen Darstellung der
Identitätsphilosophie, die ich einzig und allein für die wissenschaft-
liche aus früherer Zeit anerkenne, gar nicht vor. Diese Darstellung
befindet sich da, wo sie kein Mensch sucht, nämlich in der Zeit-
schrift für spekulative Physik, zweiten Bandes zweites Heft. Sonst
lyo Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
wohl kommt sie allerdings vor, und ist ein Erbstück der Fichte-
schen Verlassenschaft. Fichte, mit dem ich nicht geradezu brechen
wollte, gelangte durch sie zu seinem unmittelbaren Gewissen, dem
Ich; ich knüpfte daran an, um auf diesem Wege zur Indifferenz
zu gelangen. Indem nun das Ich in der intellektuellen Anschau-
ung nicht mehr subjektiv betrachtet wird, tritt es in die Sphäre
des Gedankens und ist so nicht mehr unmittelbar gewiß existierend.
Sonach würde die intellektuelle Anschauung selbst nicht einmal
die Existenz des Ich beweisen ; und wenn Fichte sie zu diesem Zwecke
braucht, so kann ich mich doch nicht auf sie berufen, um die Exi-
stenz des Absoluten daraus zu demonstrieren. So konnte mich Hegel
nicht wegen der Mangelhaftigkeit eines Beweises tadeln, den ich
nie führen wollte, sondern nur deswegen, daß ich nicht ausdrück-
lich genug sagte, daß es mir überhaupt um die Existenz nicht zu
tun sei. Denn wenn Hegel den Beweis des Seins der unendlichen
Potenz verlangt, so geht er über die Vernunft hinaus; sollte die un-
endliche Potenz sein, so wäre die Philosophie nicht frei vom Sein;
und hier ist denn die Frage aufzustellen, ob das Prius der Existen::
zu denken ist ? Hegel negiert es, denn er fängt seine Logik mit dem
Sein an und geht sogleich auf ein Existentialsystem los. Wir aber
bejahen es, indem wir mit der reinen Potenz des Seins als nur im
Denken existierend beginnen. Hegel, der so viel von der Immanenz
spricht, ist doch nur immanent in dem dem Denken nicht Imma-
nenten, denn das Sein ist dies Nichtimmanente. Sich ins reine
Denken zurückzuziehen, heißt instesondere sich von allem Sein
außer dem Gedanken zurückziehen. Die Behauptung Hegels, die
Existenz des Absoluten sei in der Logik bewiesen, hat dann noch
den Nachteil, daß man auf diese Weise das Unendliche zweimal hat,
am Ende der Logik und dann noch einmal am Ende des ganzen
Prozesses. Überhaupt sieht man nicht ein, warum die Logik bei
der Enzyklopädie vorausgeschickt wird, anstatt daß sie den ganzen
Zyklus lebend durchdringt.**
So weit Schelling. Ich habe zum großen Teil und so viel es
mir möglich war, seine eigenen Worte angeführt und kann dreist
behaupten, daß er die Unterschreibung dieser Auszüge nicht wei-
gern dürfte. Zur Ergänzung füge ich aus den vorhergehenden Vor-
lesungen bei, daß er die Dinge nach zwei Seiten betrachtet, das quid
von dem quod, das Wesen und den Begriff von der Existenz trennt;
ersteres der reinen Vernunftwissenschaft oder negativen Philoso-
phie, letzteres einer neuzugründenden Wissenschaft mit empirischen
Elementen, der positiven Philosophie, zuweist. Von der letzteren
verlautete bis jetzt noch nichts, die erstere trat vor vierzig Jahren
in mangelhafter, von Schelling selbst preisgegebener Fassung auf
Schelling über Hegel. lyi
und wird von ihm jetzt in ihrem wahren, adäquaten Ausdruck ent-
wickelt. Ihre Basis ist die Vernunft, die reine Potenz des Erkennens,
welche die reine Potenz des Seins, das unendliche Seinkönnen zu
ihrem unmittelbaren Inhalt hat. Das notwendige Dritte hierzu ist
nun die Potenz über das Sein, die sich nicht mehr entäußern kön-
nende, und diese ist das Absolute, der Geist, das, was von der Not-
wendigkeit des Überganges in das Sein freigesprochen ist und
in ewiger Freiheit gegen das Sein verharrt. Auch die ,,orphische**
Einheit jener Potenzen kann das Absolute genannt werden, als
das, außer dem nichts ist. Treten die Potenzen in Gegensatz
zu einander, so ist diese ihre Ausschließlichkeit die Endlichkeit.
Diese wenigen Sätze genügen, denk ich, zum Verständnis des
Vorhergehenden und als Grurdzüge des Neuschellingianismus, so-
weit diese hier und bis jetzt gegeben werden können. Es bleibt
mir nun noch übrig, die von Schelling wohl absichtlich verschwie-
genen Konsequenzen hieraus zu ziehen und für den großen Toten
in die Schranken zu treten.
Wenn man das Schellingsche Todesurteil des Hegeischen Sy-
stems seiner Kurialsprache entkleidet, so kommt folgendes heraus:
Hegel hat eigentlich gar kein eigenes System gehabt, sondern vom
Abfall meiner Gedanken kümmerlich sein Leben gefristet ; während
ich mit der partie brillante, der positiven Philosophie, mich be-
schäftigte, schwelgte er in der partie honteuse, der negativen, und
übernahm, da ich keine Zeit hierzu hatte, ihre Vervollständigung
und Ausarbeitung, unendlich beglückt dadurch, daß ich ihm dies
noch anvertraute. Wollt Ihr ihn deshalb tadeln? ,,Er tac, was ihm
zunächst lag." Er hat dennoch ,,eine Stelle unter den großen Den-
kern", denn ,,er war der einzige, der den Grundgedanken der Iden-
titätsphilosophie anerkannte, während alle andern sie flach und
seicht auffaßten". Aber dennoch sah es schlimm mit ihm aus,
denn er wollte die halbe Philosophie zur ganzen machen. —
Man erzählt ein bekanntes Wort, angeblich aus Hegels Munde,
das aber nach obigen Äußerungen unzweifelhaft von Schelling her-
rührt: ,,Nur einer meiner Schüler verstand mich, und auch dieser
verstand mich leider falsch." —
Aber im Ernste, dürfen solche Schmähungen auf den Grabstein
Hegels geschrieben werden, ohne daß wir, die wir ihm mehr ver-
danken, als er Schelling schuldig war, zur Ehre des Toten eine Her-
ausforderung wagen, und sei der Gegner noch so furchtbar? Und
Schmähungen sind dies doch, da mag Schelling sagen, was er will,
da mag die Form scheinbar noch so wissenschaftlich sein. O, ich
könnte den Herrn von Schelling und jeden Beliebigen, wenn es
verlangt würde, ,,auf rein wissenschaftliche Weise" so grundschlecht
172 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
darstellen, daß er die Vorzüge der „wissenschaftlichen Methode"
gewiß einsehen würde ; aber was sollte mir das ? Es wäre ohnehin
frivol, wollte ich, der Jüngling, einen Greis meislern, und vollends
Schelling, der, mag er noch so entschieden von der Freiheit abge-
fallen sein, immer der Entdecker des Absoluten bleibt und^ sobald
er als Hegeis Vorgänger auftritt, nur mit der tiefsten Ehrfurcht
von uns allen genannt wird. Aber Schelling, der Nachfolger Hegels,
hat nur auf einige Pietät Anspruch, und wird von mir am aller-
wenigsten Ruhe und Kälte verlangen, denn ich bin für einen Toten
eingetreten, und dem Kämpfenden steht etwas Leidenschaft doch
v/ohl an, wer mit kaltem Blut seine Klinge zieht, hat selten viel
Begeisterung für die Sache, die er verficht.
Ich muß sagen, daß das hiesige Auftreten Schellings und na-
mentlich diese Invektiven gegen Hegel wenig Zweifel mehr an dem
übrig lassen, was man bisher nicht glauben wollte, nämlich daß
das in der Vorrede zu Riedels bekannter jüngster Broschüre gezeich-
nete Porträt ähnlich sei. Wenn diese Art, die ganze Entwickelung
der Philosophie in diesem Jahrhundert, Hegel, Gans, Feuerbach,
Strauß, Rüge und die Deutschen Jahrbücher zuerst von sich ab-
hängig zu machen und sie dann nicht nur zu negieren, nein, sie
mit einer Floskel, die nur ihn besser ins Licht stellen soll, als einen
Luxus, den der Geist mit sich selber treibt, ein Kuriosum von Miß-
verständnis, eine Galerie von unnützen Verirrungen darzustellen
— wenn das nicht alles übertrifft, was in jener Broschüre Schel-
ling vorgeworfen wird, so hab' ich keine Ahnung von dem, was im
gegenseitigen Verkehr Sitte ist. Freilich mochte es für Schelling
schwer sein, einen Mittelweg zu finden, der weder ihn noch Hegel'n
kompromittierte, und der Egoismus wäre verzeihlich, der ihn, um
sich zu halten, zur Aufopferung des Freundes veranlaßte. Aber es
ist doch etwas zu stark, wenn Schelling dem Jahrhundert zumutet,
vierzig Jahre voll Mühen und Arbeit, vierzig Jahre des Denkens,
des Aufopferns der liebsten Interessen und der heiligsten Über-
lieferungen als vergeudete Zeit, verfehlte Richtung zurückzuneh-
men, bloß damit e r nicht diese vierzig Jahre zu lange gelebt habe;
es klingt Vvie mehr als Ironie, wenn er Hegeln eben dadurch eine
Stelle unter den großen Denkern anweist, daß er ihn aus ihrer Zahl
der Sache nach ausstreicht, ihn wie sein Geschöpf, seinen Diener
behandelt; und endlich erscheint es doch einigermaßen wie Ge-
dankengeiz, wie kleinlicher — wie nennt man doch die bekannte
blaßgelbe Leidenschaft? — wenn Schelling alles und jedes, was er
bei Hegel anerkennt, als sein Eigentum, ja als Fleisch von seinem
Fleisch, reklamiert. Es wäre doch sonderbar, wenn die alte Schel-
lingsche Wahrheit nur in der schlechten Hegeischen Form sich
Schelling über Hegel. ly^j
hätte halten können und dann fiele der Vorv/urf des dunkeln Aus-
drucks, den Schelling seinem Angegriffenen vorgestern machte,
doch notwendig auf ihn selbst zurück, was er freilich nach allge-
meinem Urteil schon jetzt tut, trotz der versprochenen Deutlich-
keit. Wer sich in solchen Perioden ergeht, wie Schelling es fort-
während tut, wer Ausdrücke wie Quidditativ und Quodditativ, or-
phische Einheit usw. gebraucht und selbst mit diesen noch so wenig
auskommt, daß lateinische und griechische Sätze und Wörter jeden
Augenblick aushelfen müssen, der begibt sich denn doch wohl des
Rechtes, über Hegels Stil zu schelten.
Am meisten zu bedauern ist übrigens Schelling wegen des
unglücklichen Mißverständnisses in Beziehung auf die Existenz.
Der gute, naive Hegel mit seinem Glauben an die Existenz philo-
sophischer Resultate, an die Berechtigung der Vernunft, in die Exi-
stenz zu treten, das Sein zu beherrschen! Aber merkwürdig wäre
es doch, wenn er, der Schelling denn doch gehörig studiert und
lange persönlichen Umgang mit ihm gepflogen hatte, wenn alle
andern, die die Identitätsphilosophie zu durchdringen suchten, gar
nichts gemerkt hätten von dem Hauptspaß, nämlich, daß das all
nur Flausen sind, die nur in Schellings Kopf existierten und gar
keine Ansprüche darauf machten, auf die Außenwelt einigen Ein-
fluß zu haben. Irgendwo müßte das doch wohl geschrieben stehen,
und einer hätt' es doch gewiß gefunden. Aber man kommt wirk-
lich in Versuchung, daran zu zweifeln, ob dies von vornherein
Schellings Ansichten gewesen, oder ob es spätere Zutat sei.
Und die neue Fassung der Identitätsphilosophie } Kant be-
freite das vernünftige Denken von Raum und Zeit, Schelling nimmt
uns noch die Existenz. Was bleibt uns dann noch ? Es ist hier nicht
der Ort, gegen ihn zu beweisen, daß die Existenz allerdings in den
Gedanken fällt, das Sein dem Geiste immanent ist und der Grund-
satz aller modernen Philosophie, das cogito ergo sum, nicht so im
Sturm umgerannt werden kann ; aber man wird mir die Fragen
erlauben, ob eine Potenz, die selbst kein Sein hat, ein Sein er-
zeugen kann, ob eine Potenz, die sich nicht mehr entäußern kann,
noch Potenz ist, und ob die Trichotomie der Potenzen der aus
Hegels Enzyklopädie sich entwickelnden Dreieinigkeit von Idee,
Natur und Geist nicht auf eine merkwürdige Weise entspricht ?
Und was wird sich aus dem allen für die Philosophie der Offen-
barung ergeben? Sie fällt natürlich in die positive Philosophie, in
die empirische Seite. Schelling wird sich nicht anders helfen können,
als durch die Annahme des Faktums einer Offenbarung, das er
vielleicht auf irgend eine Weise, nur nicht vernünftig, denn dazu
hat er sich ja die Türe versperrt, begründet. Hegel hat es sich
174 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
doch ein klein wenig saurer gemacht — oder sollte Scheiling an-
dere Auskunftsmittel in der Tasche haben ? So läßt sich denn diese
Philosophie ganz richtig die empirische nennen, ihre Theologie die
positive und ihre Jurisprudenz wird wohl die historische sein. Das
wäre freilich einer Niederlage nicht unähnlich, denn das kannten
wir alles schon, ehe Scheiling nach Berlin kam.
Unsere Sache wird es sein, seinen Gedankengang zu verfolgen
und des großen Meisters Grab vor Beschimpfung zu schützen.
Wir scheuen den Kampf nicht. Uns konnte nichts Wünschens-
werteres geschehen, als für eine Zeitlang ecclesia pressa zu sein.
Da scheiden sich die Gemüter. Was echt ist, bleibt im Feuer be-
währt, was unecht ist, vermissen wir gern in unseren Reihen. Die
Gegner müssen uns zugestehen, daß niemals die Jugend so zahl-
reich zu unsern Fahnen strömte, niemals der Gedanke, der uns
beherrscht, sich so reich entfaltete, Mut, Gesinnung, Talent so
sehr auf unserer Seite war als jetzt. So wollen wir denn getrost
aufstehen gegen den neuen Feind ; am Ende findet sich doch einer
unter uns, der es bewährt, daß das Schwert der Begeisterung ebenso
gut ist wie das Schwert des Genies.
Scheiling aber mag sehen, ob er eine Schule zusammen be-
kommt. Viele schließen sich jetzt bloß deshalb an ihn an, weil sie,
wie er, gegen Hegel sind, und jeden, der ihn angreift, und war' es
Leo oder Schubarth, mit Dank annehmen. Für diese ist aber Schei-
ling, denk' ich, viel zu gut. Ob er außerdem Anhänger bekommt,
wird sich zeigen. Ich glaub' es noch nicht, obgleich einige seiner
Zuhörer Fortschritte machen und es schon bis zur Indifferenz
gebracht haben.
Nord- und süddeutscher Liberalismus.
*X* Berlin im März. Es ist noch nicht lange her, da galt
der Süden unseres Vaterlandes für den einzigen Teil desselben, der
einer entschiedenen politischen Gesinnung fähig sei; Baden, Würt-
temberg und Rheinbayern schienen die einzigen drei Altäre zu sein,
auf denen das Feuer des allein würdigen, unabhängigen Patriotis-
mus aufflammen könnte. Der Norden schien in eine träge Gleich-
gültigkeit, in eine wenn nicht servile, doch schlaffe und zähe Er-
mattung zurückgesunken, in der er sich von der freilich großartigen
und ungewohnten Anstrengung der Befreiungskriege, an denen
der Süden keinen Teil genommen, erholen wollte. Er schien mit
jener Tat genug und nun den Anspruch auf einige Ruhe zu haben,
so daß der Süden bereits auf ihn herabzusehen, seine Interesse-
losigkeit zu schelten, seine Geduld zu verspotten begann. Die Er-
Nord- und süddeutscher Liberalismus. 175
eignisse in Hannover wurden vom Süden ebenfalls zu einer Recht-
fertigung seiner Überhebung gegen den Norden reichlich ausge-
beutet. Während dieser sich anscheinend stiller, tatenloser verhielt,
triumphierte jener, pochte auf sein sich entwickelndes parlamen-
tarisches Leben, auf seine Reden in den Kammern, auf seine Oppo-
sition, die den Norden unterstützen müsse, während er seine Exi-
stenz auch ohne diesen gesichert wisse. — Das ist alles anders ge-
worden. Die Bewegung des Südens ist eingeschlummert, die Zähne
der Räder, die sich früher so scharf erfaßten und im Umschwung
erhielten, sind allmählich abgeschlissen und wollen nicht mehr
recht ineinander greifen, ein Mund verstummt nach dem andern
und die jüngere Generation hat nicht Lust, auf dem Pfade ihrer
Vorgänger zu gehen. Dagegen hat der Norden, obwohl die äußeren
Umstände ihm lange nicht so günstig sind wie dem Süden, obwohl
die Tribüne, wo sie nicht ganz mangelt, sich nie zur Bedeutung
der süddeutschen erheben konnte, dennoch seit mehreren Jahren
einen Fonds von gediegener, politischer Gesinnung, von charakter-
fester, lebendiger Energie, von Talent und publizistischer Tätig-
keit aufzuweisen, wie ihn der Süden in seiner schönsten Blütezeit
nicht zusammenbrachte. Dazu kommt, daß der norddeutsche Libe-
ralismus unbestreitbar einen höheren Grad von Durchbildung und
Allseitigkeit, eine festere historische wie nationale Basis besitzt,
als der Freisinn des Südens jemals sich erringen konnte. Der Stand-
punkt des ersteren ist weit über den des letzteren hinaus. Woher
kommt das ? Die Geschichte beider Erscheinungen löst diese Frage
aufs klarste.
Als mit dem Jahre 1830 der politische Sinn in ganz Europa
zu erwachen, das Staatsinteresse in den Vordergrund zu treten be-
gann, entwickelte sich aus den Tatsachen und Anregungen dieses
Jahres in ihrem Zusammenstoß mit den wiedererwachenden Träu-
men der Deutschtümelei das neue Produkt des süddeutschen Libe-
ralismus. Aus der unmittelbaren Praxis geboren, blieb er dieser
getreu und schloß sich ihr in seiner Theorie an. Die Praxis aber,
aus der er sich die Theorie konstruierte, war bekanntlich eine sehr
weitschichtige, französische, deutsche, englische, spanische usw.
Daher kam es, daß auch die Theorie, der eigentliche Inhalt dieser
Richtung, sehr ins Allgemeine, Vage, Blaue hinauslief, daß sie we-
der deutsch, noch französisch, weder national, noch entschieden
kosmopolitisch, sondern eben eine Abstraktion und Halbheit war.
Man hatte einen allgemeinen Zweck, die gesetzliche Freiheit, aber
gewöhnlich zwei gerade entgegengesetzte Mittel dafür. So wollte
man konstitutionelle Garantien für Deutschland und schlug heute^
um dies zu erreichen, größere Unabhängigkeit der Fürsten vom
lyö Aus der Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
Bundestage, morgen größere Abhängigkeit, aber eine Volkskammer
zur Seite der Bundesversammlung vor: zwei Mittel, von denen eins
unter den obwaltenden Umständen so unpraktisch war wie das
andere. Man wollte heute zur Erreichung des großen Zweckes
größere Einheit Deutschlands und morgen größere Unabhängig-
keit der kleinen Fürsten gegen Preußen und Österreich. So, über
den Zweck immer, über die Mittel nie einig, wurde die bei weitem
mächtigere Partei bald von der Regierung überholt und sah ihre
Unklugheit zu spät ein. Sodann war ihre Kraft an eine momentane
Aufregung, an die Rückwirkung eines bloß äußerlichen Ereignisses,
der Julirevolution, geknüpft, und als diese nachließ, mußte auch
sie entschlummern.
Während dieser Zeit war in Norddeutschland alles weit ruhiger
und dem Anscheine nach untätiger. Nur Ein Mann strömte da-
mals alle Glut seiner Lebenskraft in lebendigen Flammen aus, und
der galt mehr, als alle Süddeutschen zusammen, ich meine Börne.
In ihm, der über die Halbheiten jener mit aller Energie seines
Charakters hinausging, kämpfte sich diese Einseitigkeit ganz und
gar durch und überwand so sich selbst. In ihm rang sich aus der
Praxis die Theorie heraus und zeigte sich als die schönste Blüte
jener. So trat er entschieden auf den Standpunkt des norddeut-
schen Liberalismus und ward sein Vorläufer und Prophet.
Diese Richtung, der jetzt die Herrschaft über Deutschland
nicht mehr abzustreiten ist, gewann durch ihre Basis schon einen
volleren Gehalt, eine dauerhaftere Existenz. Sie knüpfte von vorn-
herein ihr Dasein nicht an ein einzelnes Faktum, sondern an die
ganze Weltgeschichte und namentlich an die deutsche; die Quelle,
aus der sie floß, war nicht in Paris, sie war im Herzen Deutsch-
lands entsprungen; es war die neuere deutsche Philosophie. Daher
kommt es, daß der norddeutsche Liberale eine entschiedene Kon-
sequenz, eine Bestimmtheit in seinen Forderungen, ein festes Ver-
hältnis von Mittel und Zweck hat, das der Süddeutsche bisher im-
mer vergebens anstrebte. Daher kommt es, daß seine Gesinnung
als ein notwendiges Produkt der nationalen Bestrebungen, und
darum selbst als national erscheint, daß sie Deutschland nach innen
und außen gleich würdig gestellt sehen will und nicht in das ko-
mische Dilemma kommen kann, ob man erst liberal und dann
deutsch oder erst deutsch und dann liberal sein solle. Daher weiß
sie sich gleich sicher vor den Einseitigkeiten dieser wie jener
Partei und ist die Spitzfindigkeiten und Sophistereien los, in
die diese durch ihre eigenen inneren Widersprüche getrieben
wurden. Darum kann sie einen so entschiedenen, so lebendigen,
so erfolgreichen Kampf gegen alle und jede Reaktion eröffnen,
Rheinische Feste.
177
wie der süddeutsche Liberalismus nie, und darum ist ihr der
Sieg am Ende gewiß.
Indes ist der Süddeutsche nicht als ein verlorener Vorposten,
nicht als ein mißlungenes Experiment zu fassen ; wir haben durch
ihn Resultate errungen, die wahrlich nicht zu verachten sind. Vor
allem war er es, der eine deutsche Opposition begründete und so
eine politische Gesinnung in Deutschland möglich machte und das
parlamentarische Leben erweckte; der das Samenkorn, das in den
deutschen Verfassungen lag, nicht einschlummern und verfaulen
ließ und den Gewinn aus der Julirevolution zog, der für Deutsch-
land daraus zu erzielen war. Er ging von der Praxis zur Theorie
und kam damit nicht durch ; so wollen wir es umgekehrt anfangen
und von der Theorie in die Praxis zu dringen suchen — ich wette,
was ihr wollt, wir kommen so am Ende weiter.
Rheinische Feste.
*X* Berlin, den 6. Mai. Es gibt gewisse Zeiten im Jahre,
wo den Rheinländer, der sich in der Fremde herumtreibt, eine ganz
besondere Sehnsucht nach seiner schönen Heimat ergreift. Diese
Sehnsucht stellt sich namentlich im Frühling, um die Pfingstzeit,
die Zeit des rheinischen Musikfestes ein und ist ein ganz fatales
Gefühl. Jetzt, das weiß man leider nur zu genau, jetzt wird es
grün am Rhein ; die durchsichtigen Wellen des Stromes kräuseln
sich im Lenzhauch, die Natur zieht ihr Sonntagskleid an, und jetzt
rüsten sie sich zu Hause zur Sängerfahrt, morgen ziehen sie aus,
und du bist nicht dabei!
O, es ist ein schönes Fest, das rheinische Musikfest! Auf voll
gedrängten, laubgeschmückten Dampfschiffen mit wehenden Flag-
gen, mit Hörnerschall und Gesang, auf langen Eisenbahnzügen
und Postwagenreihen mit geschwungenen Hüten und wehenden
Tüchern kommen die Gäste von allen Seiten herbeigeströmt, heitere
Männer jung und alt, schöne Frauen mit noch schöneren Stimmen,
lauter Sonntagsmenschen mit lachenden Sonntagsgesichtern. Das
ist eine Lust! Alle Sorgen, alle Geschäfte sind vergessen ; da ist auch
kein einzig ernsthaftes Gesicht zu erblicken in dem dichten Ge-
dränge der Ankommenden. Alte Bekanntschaften werden erneuert,
neue geschlossen, das junge Volk lacht und schäkert und schwatzt
in einem fort, und selbst die Alten, die von ihren lieben Töchtern
gewaltsam überredet wurden, trotz Gicht, Podagra, Erkältung und
Hypochondrie das Fest mitzumachen, werden von der allgemeinen
Lust angesteckt und müssen lustig sein, da sie doch nun einmal
mitgegangen sind. Alles bereitet sich zur Pfingstfeier vor und
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 12
lyS Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
würdiger kann ein Fest, das von allgemeiner Ausgießung des hei-
ligen Geistes sich herleitet, nicht gefeiert werden, als durch Hingabe
an den göttlichen Geist der Freude und des Lebensgenusses, dessen
innersten Kern eben der Kunstgenuß bildet. Und von allen Künsten
eignet sich keine so sehr dazu, den Mittelpunkt eines solchen ge-
selligen Provinziallandtages zu bilden, wo alle Gebildeten der Um-
gegend zu gegenseitiger Auffrischung des Lebensmutes und der
jugendlichen Fröhlichkeit sich zusammenfinden, als gerade die
Musik. War es bei den Alten die komische Darstellung, der Wett-
eifer tragischer Dichter, was bei den Panathenäen und Bakchos-
festen das Volk anzog, so kann dem bei unseren klimatischen und
sozialen Verhältnissen nur die Musik entsprechen. Denn wie uns
die bloß gedruckte, nicht zum Gehör sprechende Musik keinen Ge-
nuß gewähren kann, so blieb den Alten die Tragödie tot und fremd,
so lange sie nicht von der Th3rmele und Orchestra durch den le-
bendigen Mund der Schauspieler redete. Jetzt hat jede Stadt ihr
Theater, wo allabendlich gespielt wird, während für den Hellenen
nur an großen Festen die Bühne sich belebte ; jetzt verbreitet der
Druck jedes neue Drama über ganz Deutschland, während bei den
Alten nur Wenige das geschriebene Trauerspiel zu lesen bekamen.
Darum kann das Drama keinen Mittelpunkt großer Versammlungen
mehr abgeben ; eine andere Kunst muß aushelfen und das kann nur
die Musik; denn sie allein läßt die Mitwirkung einer großen Menge
zu und gewinnt sogar dadurch an Kraft des Ausdrucks bedeutend ;
sie ist die einzige, bei der der Genuß mit der lebendigen Ausführung
zusammenfällt, und deren Wirkungskreis an Umfang dem des an-
tiken Dramas entspricht. Und wohl mag der Deutsche die Musik,
in der er König ist vor allen Völkern, feiern und pflegen, denn
wie es nur ihm gelungen ist, das Höchste und Heiligste, das innerste
Geheimnis des menschlichen Gemüts, aus seiner verborgenen Tiefe
ans Licht zu bringen und in Tönen auszusprechen, so ist es auch
nur ihm gegeben, die Gewalt der Musik ganz zu empfinden, die
Sprache der Instrumente und des Gesanges durch und durch zu
verstehen.
Aber die Musik ist dabei nicht die Hauptsache. Was denn ?
Nun, das Musikfest. So wenig das Zentrum einen Kreis bildet ohne
Peripherie, so wenig ist die Musik dabei irgend etwas ohne das
fröhliche, gesellige Leben, das die Peripherie zu diesem musika-
lischen Zentrum bildet. Der Rheinländer ist durch und durch san-
guinischer Natur ; sein Blut rollt so leicht durch seine Adern wie
frischgegorener Rheinwein, und seine Augen sehen immer munter
und wohlgemut in die Welt hinaus. Er ist das Sonntagskind unter
den Deutschen, dem die Welt immer schöner und das Leben immer
Tagebuch eines Hospitanten. i^q
heiterer erscheint als den übrigen ; er sitzt lachend und schwatzend
in der Rebenlaube und hat beim Becher alle seine Sorgen längst
vergessen, wenn die andern erst stundenlang beraten, ob sie hin-
gehen und desgleichen tun sollen und darüber die beste Zeit verstrei-
chen lassen. Das ist gewiß, kein Rheinländer hat sich jemals eine
Gelegenheit zum Lebensgenüsse vorübergehen lassen, oder er ist
für den größten Narren gehalten worden. Dieses leichte Blut er-
hält den Rheinländer auch noch eine lange Zeit jung, wo der eigent-
liche Norddeutsche schon seit Jahren ins Philisterium der Gesetzt-
heit und Prosa übergegangen ist. Der Rheinländer hat all sein
Leben lang Spaß an lustigen, übermütigen Sireichen, jugendlichen
Schwänken oder, wie die weisen, gesetzten Leute sagen, an tollen
Narreteien und Verrücktheiten; die lustigsten und flottesten Uni-
versitäten sind von jeher Bonn und Heidelberg gewesen. Und selbst
der alte Philister, der in Müh und Arbeit, in der Dürre der Alltäg-
lichkeit versauert ist, mag er auch frühmorgens seine Jungen für
ihre mutwilligen Spaße abprügeln, so erzählt er ihnen doch abends
beim Schüppchen behaglich die alten Schnurren, die er selbst in
seiner Jugend verübt hat.
Bei diesem ewig heitern Charakter der Rheinländer, bei einer
so offenen, unbefangenen Sorglosigkeit ist es gar nicht zu verwun-
dern, daß auf dem Musikfeste fast alle mehr wollen als hören und
sich hören lassen. Das ist eine Fröhlichkeit, ein bewegtes, zwang-
loses Leben, eine Frische des Genusses, wie man sie anderswo large
suchen mag. Lauter heitere, wohlwollende Gesichter, Freundschaft
und Herzlichkeit für alle, die an der allgemeinen Lust teilnehmen;
wie Stünden verfliegen die drei Festtage unter Trinken, Singen und
Scherzen. Und am Morgen des vierten Tages, wenn die ganze
Freude genossen ist und geschieden werden muß, freut man sich
schon wieder in der Hoffnung auf das nächste Jahr, verabredet sich
darauf und jeder geht, noch imm.er heiter und neu belebt, seines
Weges und an sein alltäglich Werk.
Tagebuch eines Hospitanten.
I.
In einer Stadt wie Berlin würde der Fremde ein wahres Ver-
brechen gegen sich selbst und den guten Geschmack begehen, wenn er
nicht alle Merkwürdigkeiten in Augenschein nehmen würde. Und
doch geschieht es nur zu häufig, daß das Allerbedeutendste in Ber-
lin, das, wodurch die preußische Hauptstadt sich so sehr vor allen
anderen auszeichnet, von Fremden unbeachtet bleibt; ich meine
12*
l8o Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
die Universität. Nicht die imposante Fassade am Opernplatz, nicht
das anatomische und mineralogische Museum meint' ich, sondern
die so und so vielen Hörsäle mit geistreichen und pedantischen
Professoren, mit jungen und alten, lustigen und ernsthaften Stu-
denten, mit Füchsen und bemoosten Häuptern, Hörsäle, in denen
Worte gesprochen sind und noch täglich gesprochen v^rerden, denen
mit der Grenze Preußens, ja des deutschen Sprachgebietes kein Ziel
der Verbreitung gesetzt ist. Es ist der Ruhm der Berliner Univer-
sität, daß keine so sehr wie sie in der Gedankenbewegung der Zeit
steht und sich so zur Arena der geistigen Kämpfe gemacht hat.
Wie viele andere Universitäten, Bonn, Jena, Gießen, Greifswald
ja selbst Leipzig, Breslau und Heidelberg haben sich diesen
Kämpfen entzogen und sind in jene gelehrte Apathie versunken,
die von jeher das Unglück der deutschen Wissenschaft war!
Berlin dagegen zählt Vertreter aller Richtungen unter seinen aka-
demischen Lehrern und macht dadurch eine lebendige Polemik
möglich, die dem Studierenden eine leichte, klare Übersicht über die
Tendenzen der Gegenwart verschafft. Unter solchen Umständen
trieb es mich, von dem jetzt allgemein gewordenen Rechte des
Hospitierens Gebrauch zu machen, und so ging ich eines Morgens,
als grade das Sommersemester begann, hinein. Mehrere hatten
schon angefangen zu lesen, die meisten begannen grade heu<^e.
Das Interessanteste, das sich mir darbot, war die Eröffnung der
Vorlesungen von Marheineke über die Einführung der Hegeischen
Philosophie in die Theologie. Überhaupt hatten die ersten Vor-
lesungen der hiesigen Hegelianer in diesem Semester ein ganz be-
sonderes Interesse, weil manche schon im voraus auf direkte Po-
lemik gegen die Schellingsche Offenbarungsphilosophie rechnen
ließen, von den anderen aber erwartet wurde, daß sie mit einer
Ehrenrettung der gekränkten Manen Hegels nicht zurückhalten
würden. Marheinekes Kolleg war zu augenscheinlich gegen Schel-
ling gerichtet, um nicht eine besondere Aufmerksamkeit auf sich
zu ziehen. Das Auditorium war schon lange vor seiner Ankunft
gefüllt, junge und alte Männer, Studenten und Offiziere und wer
weiß was sonst noch saßen und standen dicht aneinander gedrängt.
Endlich tritt er ein ; das Sprechen und Summen verstummt auf der
Stelle, die Hüte fliegen wie auf Kommando ab.
Eine feste, kräftige Gestalt, ein ernstes, entschiedenes Denker-
antlitz, die hohe Stirn umkränzt von Haaren, die in der sauren Ar-
beit der Gedanken ergraut sind; beim Vortrage selbst ein nobler
Anstand, nichts von dem Gelehrten, der seine Nase in dem Hefte
vergräbt, aus dem er liest, nichts von theatralisch-gekünstelter
Gestikulation; jugendlich aufrechte Haltung, das Auge fest auf der
Tagebuch eines Hospitanten. l8i
Hörermenge ruhend; der Vortrag selbst ruhig, würdig, langsam,
aber stets fließend, schmucklos aber unerschöpflich an schlagenden
Gedanken, von denen einer den andern drängt und immer noch
schärfer trifft, als der vorhergehende. Marheineke imponiert auf
dem Katheder durch die Sicherheit, die unerschütterliche Festig-
keit und Würde, zugleich aber auch durch den freien Sinn, der aus
seinem ganzen Wesen hervorleuchtet." Heute aber trat er in einer
ganz eigenen Stimmung aufs Katheder, imponierte seinen Zuhörern
auf eine noch weit mächtigere Weise als sonst. Hatte er ein ganzes
Semester lang die unwürdigen Äußerungen Schellings über den
toten Hegel und seine Philosophie geduldig ertragen, hatte er die
Vorträge Schellings bis zu Ende ruhig angehört — und das ist für
einen Mann wie Marheineke wahrlich keine Kleinigkeit — so war
nun der Moment gekommen, wo er den Angriff erwidern, wo er
gegen stolze Worte stolze Gedanken ins Feld führen konnte. Er
begann mit allgemeinen Bemerkungen, in denen er die heutige
Stellung der Philosophie zur Theologie in meisterhaften Zügen
schilderte, erwähnte Schleiermachers anerkennend, von dessen Schü-
lern er sagte, sie seien durch sein zum Denken anregendes Denken
zur Philosophie geführt worden, und diejenigen, die einen andern
Weg eingeschlagen hätten, hätten es selbst zu büßen. Allmählich
ging er zu Hegels Philosophie über, und trat bald in eine leicht be-
merkbare Beziehung zu Schelling. ,, Hegel", sagte er, ,, wollte vor
allem, daß man sich in der Philosophie über seine eigene Eitelkeit
erhebe und sich nicht etwa vorstelle, als habe man etwas Beson-
deres gedacht, bei dem es nun sein Bewenden haben könne ; und
na^mentlich war er der Mann nicht, der mit großen Versprechungen
und blendenden Worten auftrat, sondern er überließ es ruhig der
philosophischen Tat, für ihn zu sprechen. Er ist nie der miles glo-
riosus in der Philosophie gewesen, der von sich selbst viel Rühmens
machte. — — — Jetzt freilich hält sich keiner für zu unwissend
und zu beschränkt, um über ihn und seine Philosophie absprechen
zu können, und wer eine gründliche Widerlegung derselben in der
Tasche hätte, würde unfehlbar sein Glück machen; denn wie sehr
man sich mit einer solchen insinuieren würde, sieht man an denen,
welche nur versprechen, sie zu widerlegen, und es hintennach nicht
halten."
Bei diesen letzten Worten brach der Beifall des Auditoriums,
der sich bisher schon in einzelnen Zeichen kund getan, in eine
stürmische Akklamation aus, die, in einer theologischen Vorlesung
neu, den Dozenten sehr frappierte und in ihrer frischen Ursprüng-
lichkeit merkwürdige Vergleiche zuließ mit dem durch Suscription
mühsam aufgebrachten, dürren Vivat am Schlüsse der von Mar-
l82 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
heineke bekämpften Vorlesungen. Er beschwichtigte den Zuruf
durch Handbewegung und fuhr fort: „Diese erwünschte Wider-
legung ist indes noch nicht da und wird auch nicht kommen, so
lange noch Gereiztheit, Verstimmung, Neid, überhaupt Leidenschaft
an der Steile der ruhigen, wissenschaftlichen Prüfung gegen sie
aufgewandt werden; so lange man Gnostik und Phantastik für
hinreichend hält, um den philosophischen Gedanken vom Thron
zu stürzen. Die erste Bedingung dieser Widerlegung ist freilich
die, den Gegner richtig zu verstehen, und da gleichen freilich man-
che der Feinde Hegels dem Zwerge, der gegen den Riesen kämpfte,
und dem noch bekannteren Ritter, der sich mit den Windmühlen
herumschlug."
Dies ist der Hauptinhalt der ersten Marheinekeschen Vorlesung,
soweit er das größere Publikum interessieren dürfte. Marheineke
hat wiederum gezeigt, wie mutig und unverdrossen er immer auf
dem Kampfplatz ist, wenn es gilt, die Freiheit der Wissenschaft
zu verteidigen. Er steht vermöge seines Charakters und seines
Scharfsinns weit mehr als Nachfolger Hegels da als Gabler, dem
man gewöhnlich diesen Titel gibt. Der große freie Blick, mit dem
Hegel das ganze Gebiet des Denkens überschaute, und die Erschei-
nungen des Lebens auffaßte, ist auch Marheinekes Erbteil. Wer
will ihn verdammen, daß er seine langjährige Überzeugung, seine
mühsame Errungenschaft nicht einem Fortschritte opfern will,
der erst seit fünf Jahren ins Leben getreten ist ? Marheineke ist
lange genug mit der Zeit fortgeschritten, um zu einem wissenschaft-
lichen Abschluß berechtigt zu sein. Es ist eine große Eigenschaft
an ihm, daß er sich selbst mit den äußersten Extremen der Philo-
sophie auf gleichem Boden weiß und ihre Sache zur seinigen macht,
wie er dies alle Tage seit Leos Hegelingen und bis zu Bruno Bauers
Entsetzung getan hat.
Marheineke wird übrigens diese Vorlesungen nach dem Schlüsse
derselben drucken lassen.
n.
In einem geräumigen Hörsaal saßen ein paar Studenten zer-
streut und erwarteten den Dozenten. Der Anschlag an der Türe
zeigte an, daß Professor von Henning um diese Stunde einen
öffentlichen Vortrag über preußische Finanzverfassung be-
ginnen werde. Der durch Bülow-Cummerow an die Tagesordnung
gebrachte Gegenstand sowie der Name des Dozenten, eines der äl-
teren Schüler Hegels, zog mich an, und es wunderte mich, daß sich
nicht mehr Teilnahme zu finden schien. Henning trat ein, ein schlan-
ker Mann in seinen besten „Jahren", mit dünnem blondem Haar,
Tagebuch eines Hospitanten. 183
und begann in rasch fließender, vielleicht etwas zu ausführlicher
Rede seinen Gegenstand darzustellen.
,, Preußen", sagte er, ,, zeichne sich vor allen Staaten dadurch
aus, daß seine Finanzverfassung durchaus auf dem Grunde der
neueren nationalökonomischen Wissenschaft erbaut sei, daß es den
bis jetzt einzigen Mut gehabt habe, die theoretischen Resultate
eines Adam Smith und seiner Nachfolger praktisch durchzuführen.
England z. B., von dem doch die neueren Theorien ausgegangen,
stecke noch bis über die Ohren im alten Monopol- und Prohibitiv-
system, Frankreich fast noch mehr, und weder Huskisson in jenem
noch Duchatel in diesem Lande habe mit seinen vernünftigeren
Ansichten die Privatinteressen überwinden können — von Öster-
reich und Rußland gar nicht zu reden, während Preußen das Prin-
zip des freien Handels und der Gewerbefreiheit entschieden aner-
kannt und alle Monopole und Prohibitivzölle abgeschafft habe. So
stelle uns diese Seite unserer Verfassung hoch über Staaten, die in
anderer Beziehung, in Entwicklung der politischen Freiheit uns
weit vorausgeeilt seien. Wenn nun unsere Regierung in finanzieller
Hinsicht so Außerordentliches geleistet habe, so sei auf der andern
Seite auch anzuerkennen, daß sie ganz besonders günstige Verhält-
nisse zu einer solchen Reform vorgefunden. Der Schlag von 1806
habe reines Feld geschaffen, worauf das neue Gebäude aufgeführt
werden konnte; eine Repräsentativ-Verfassung, in der sich die be-
sonderen Interessen hätten geltend gemacht, habe ihr die Hände
nicht gebunden. Leider aber fänden sich immer noch alte Herzen,
die in ihrer Beschränktheit und Grämlichkeit das Neue bekrittelten
und ihm den Vorwurf machten, daß es unhistorisch, aus der ab-
strakten Theorie heraus, unpraktisch, gewaltsam konstruiert sei;
als ob seit 1806 die Geschichte aufgehört habe und es ein Vorwurf
für die Praxis sei, mit. der Theorie, der V/issenschaft übereinzustim-
men; als ob das Wesen der Geschichte der Stillstand, das Drehen
im Kreise, nicht aber der Fortschritt sei, als ob es überhaupt eine
von aller Theorie bare Praxis gebe!"
Es wird mir erlaubt sein, diese letzten Punkte, mit denen die
öffentUche Meinung in Deutschland und namentlich in Preußen
sich gewiß einverstanden erklären wird, näher zu betrachten; es
ist sehr an der Zeit, dem ewigen Gerede einer gewissen Partei
von ,, historischer, organischer, naturgemäßer Entwicklung", vom
,, naturwüchsigen Staat" usw. entschieden entgegen zu treten und
vor dem Volke jene glänzenden Gestalten zu entlarven. Wenn es
Staaten gibt, die allerdings Rücksichten auf die Vergangenheit zu
nehmen haben und zu einem langsameren Fortschritt genötigt sind,
so findet dies auf Preußen keine Anwendung. Preußen kann
184 -^^^ ^^^ Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
nicht schnell genug fortschreiten, sich nicht rasch genug
entwickeln. Unsere Vergangenheit liegt begraben unter den Trüm-
mern des vor jenaischen Preußens, ist fortgeschwemmt von der Flut
der napoleonischen Invasion. Was fesselt uns ? Wir haben nicht
jene mittelalterlichen Klötze mehr an den Füßen nachzuschleppen,
die so manchen Staat am Gehen hindern ; der Schmutz vergangener
Jahrhunderte klebt nicht mehr an unseren Sohlen. Wie kann man
also hier von historischer Entwicklung reden, ohne eine Zurück-
führung ins ancien regime im Sinne zu haben ? Einen Rückzug,
der der schmählichste sein würde, der jemals dagewesen ist, der
die glorreichsten Jahre aus der preußischen Geschichte aufs feigste
verleugnen würde, der — bev/ußt oder unbewußt — Verrat am
Vaterlande wäre, indem er wieder eine neue Katastrophe wie die von
1806 nötig machte. Nein, es ist sonnenklar, daß Preußens Heil
allein in der Theorie, der Wissenschaft, der Entwicklung
aus dem Geiste liegt, Oder, um es von einer anderen Seite zu
fassen, Preußen ist kein ,, naturwüchsiger", sondern ein durch Po-
litik, durch Zwecktätigkeit, durch den Geist entstandener Staat.
Man hat dies neuerdings von französischer Seite her als die größte
Schwäche unseres Staates darstellen wollen ; im Gegenteil ist dieser
Umstand, wenn er nur recht benutzt wird, unsere Hauptstärke. So
hoch der selbstbewußte Geist über der bewußtlosen Natur steht, so
hoch kann Preußen, wenn es will, sich über die „naturwüchsigen"
Staaten stellen. Weil die provinzielle Verschiedenheit in Preußen
so groß ist, so muß, um keinem unrecht zu tun, die Verfassung
rein aus dem Gedanken erwachsen ; ein allmähliches Verschmel-
zen der verschiedenen Provinzen macht sich dann von selbst, in-
dem die besonderen Eigentümlichkeiten sich alle in die höhere Ein-
heit des freien Staatsbewußtseins auflösen, während sonst ein paar
Jahrhunderte nicht hinreichen würden, um die innere legislative
und nationale Einheit von Preußen hervorzubringen, und der
erste erschütternde Stoß für den inneren Zusammenhalt unseres
Staats Folgen haben müßle, für die kein Mensch einstehen
kann. Den andern Staaten ist durch einen bestimmten National-
charakter der Weg vorgezeichnet, den sie zu nehmen haben;
wir sind frei von diesem Zwange ; wir können aus uns machen,
was wir wollen ; Preußen kann mit Hintansetzung aller Rück-
sichten rein den Eingebungen der Vernunft folgen, kann, wie
kein anderer Staat, von den Erfahrungen seiner Nachbarn lernen,
kann, und das tut ihm keiner nach, als Musterstaat für
Europa dastehen, auf der Höhe seiner Zeit, das vollständige
Staatsbewußtsein seines Jahrhunderts in seinen Institutionen dar-
stellen.
Glossen und Randzeichnungen zu Texten aus unsrer Zeit. igr
Das ist unser Beruf, dazu ist Preußen geschaffen. Sollen wir
diese Zukunft um ein paar hohle Phrasen einer verlebten Richtung
verschachern? Sollen wir der Geschichte selbst nicht hören, die
uns den Beruf anweist, die Blüte aller Theorie ins Leben hinüber-
zuführen ? Preußens Basis, ich sage es noch einmal, sind nicht
die Trümmer vergangener Jahrhunderte, sondern der ewig junge
Geist, der in der Wissenschaft zum Bewußtsein kommt und im Staat
seine Freiheit sich selber schafft. Und wenn wir vom Geist und
seiner Freiheit ließen, so verleugneten wir uns selbst, so verrieten
wir unser heiligstes Gut, so mordeten wir unsere eigene Lebens-
kraft und wären nicht wert, länger in der Reihe der europäischen
Staaten zu stehen. Dann würde die Geschichte mit dem furchtbaren
Todesurteil über uns kommen: ,,Du bist gewogen und zu leicht
gefunden!"
Glossen und Randzeichnungen zu Texten
aus unsrer Zeit.
Königsberg in Preußen hat sich seit mehreren Jahren zu einer
Bedeutsamkeit erhoben, die für ganz Deutschland erfreulich sein
muß. Durch die Bundesakte formell von Deutschland ausgeschlos-
sen, hat sich das deutsche Element dort zusammengerafft und
macht Anspruch darauf, als deutsch anerkannt, als Vertreter Deutsch-
lands gegen die Barbarei des slawischen Ostens geachtet zu werden.
Und wahrlich, die Ostpreußen konnten Deutschlands Bildung und
Nationalität dem Slawentum gegenüber nicht besser vertreten, als
sie es getan haben. Das geistige Leben, der politische Sinn haben
sich dort zu einer Regsamkeit alles Treibens, zu einer Höhe und
Freiheit des Standpunktes aufgeschwungen, wie in keiner anderen
Stadt. Rosenkranz vertritt mit der Vielseitigkeit und Beweglich-
keit seines Geistes die deutsche Philosophie dort auf eine erfreu-
liche Weise, und wenn er auch nicht den Mut der rücksichtslosen
Folgerung hat, so stellt ihn außer seinen Kenntnissen und seinem
Talent auch noch sein feiner Takt und seine unbefangene Auffassung
sehr hoch. Jachm^ann und andere besprechen auf freisinnige Weise
die Fragen des Tages, und jetzt eben liegt uns in dem obigen Heft
ein neuer Beweis vor, welch einen hohen Bildungsgrad das dortige
Publikum besitzt.
Es sind vier, vor einem großen Auditorium gehaltene humo-
ristische Vorlesungen, über aus der unmittelbaren, lebendigen Ge-
^) Vier öffentliche Vorlesungen, gehalten zu Königsberg von Ludwig
Walesrode. Königsberg, H. L. Voigt, 1842.
l86 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
genwart gegriffene Stoffe, die der talentvolle Verfasser hier ver-
einigt hat. In der Tat zeigt sich hier- eine solche Anlage zum Genre -
malen, eine solche Leichtigkeit, Eleganz und Schärfe der Darstel-
lung, ein solch sprühender Witz, daß dem Verfasser eine bedeutende
Anlage zum Humoristen nicht abgesprochen werden kann. Er hat
den richtigen Blick, der den Zeitereignissen gleich die günstige, trak-
table Seite abgewinnt, und weiß seine zahllosen Beziehungen und
Anspielungen auf eine so feine Art anzubringen, daß der Getroffene
selbst wird lächeln müssen; dazu drängt eine die andere, und zu-
letzt kann keiner auf den Spötter eigentlich böse sein, weil alle
etwas mitbekommen haben. Die erste Vorlesung : ,, Die Masken des
Lebens", führt uns München, Berlin, den deutschen Michel, die
Hohlheit der Adelsaristokratie, die Zerrissenheit und eine Gesell-
schaft deutscher Celebritäten vor.
Die zweite Vorlesung, „Unser goldnes Zeitalter", verbreitet
sich in derselben leichten Weise über die Geldaristokratie ; die dritte,
,, Literarisches Don Quixotes-Turnier", geht mit eingelegter Lanze
auf allerlei Verkehrtheiten der Zeit los, zuerst auf den deutschen
politischen Stil.
Die vierte gibt ,, Variationen über beliebte Zeit- und National-
melodien", worunter sich ein ,, Ordenskapitel" befindet.
Walesrode hat durch diese vier Vorträge seine Befähigung zum
Humoristen dargetan. Aber damit ist es nicht genug. Solche S^'chen
haben einmal das Recht, locker, zersplittert, einheitslos sein zu
können, wenn sie nur ihren Zweck als Vorlesungen erfüllen; der
echte Humorist würde noch mehr, als Walesrode es getan hat,
den Hintergrund einer positiven, großen Weltanschauung hervor-
gehoben haben, in der sich zuletzt aller Spott und alle Negation
zur vollsten Befriedigung auflöst. In dieser Beziehung hat Wales-
rode durch die Herausgabe des obigen Werkchens eine Pflicht auf
sich genommen; er muß die Erwartungen, die er hier rege gemacht
hat, sobald wie möglich rechtfertigen, und beweisen, daß er ebenso
sich konzentrieren, seine Anschauungen zu einem Ganzen ver-
arbeiten kann, wie er sie hier hat auseinandergehen lassen. Und
das ist um so nötiger, als er eine große Verwandtschaft mit den
Autoren des weiland jungen Deutschlands durch sein Hervorgehen
aus Börne, durch seine Auffassungsweise und seinen Stil bekundet;
fast alle jener Kategorie angehörigen Autoren haben indes die er-
regten Erwartungen nicht gerechtfertigt und sind in eine Erschlaf-
fung versunken, wie sie ein fruchtloses Streben nach innerer Ein-
heit zur Folge haben mußte. Die Unfähigkeit, etwas Ganzes zu
liefern, war die Klippe, an der sie scheiterten, weil sie selbst keine
ganzen Leute waren. Walesrode läßt indes hier und da einen
Alexander Jung und das junge Deutschland. 187
höheren, vollendeteren Standpunkt durchblicken und berechtigt so
zur Anforderung, seine einzelnen Urteile untereinander und mit
der philosophischen Höhe der Zeit ins Gleichgewicht zu bringen.
Übrigens wünschen wir ihm Glück zu dem Publikum, das
solche Vorlesungen zu würdigen verstand, und zu dem Zensor, der
sie der Öffentlichkeit nicht vorenthielt. Wir sind der Hoffnung, daß
eine solche Handhabung der Zensur, wie dies Buch sie beweist, alle
andern schwankenden Prinzipien in derselben, für Preußen wenig-
stens, überwinden und sich allgemeine Geltung verschaffen werde ;
daß die Zensur überall von solchen Männern ausgeübt werde, wie
es in Königsberg geschieht, wo, wie uns«r Verfasser sagt, die Zen-
soren Männer sind, ,,die das gehässigste aller Ämter mit schmerzlicher
Aufopferung übernommen haben, um es nicht in die Hände Solcher
übergehen zu lassen, die es mit Freuden übernehmen möchten".
Alexander Jung und das Junge Deutschland ').
Je erfreulicher die gewaltige geistige Bewegung ist, mit wel-
cher Königsberg sich in den Mittelpunkt der deutschen politischen
Entwicklung zu setzen sucht, je freier und ausgebildeter sich dort
die öffentliche Meinung beweist, um so seltsamer erscheint es, daß
an eben diesem Orte in philosophischer Beziehung ein gewisses
Juste-Milieu sich geltend zu machen sucht, das mit der Ma-
jorität des dortigen Publikums offenbar in Widerspruch geraten
muß. Und wenn Rosenkranz immer noch manche respektable Seite
hat, obwohl auch ihm der Mut der Konsequenz abgeht, so tritt die
ganze Schlaffheit und Erbärmlichkeit des philosophischen Juste-
Milieu in Herrn Alexander Jung ans Tageslicht.
Es gibt bei jeder Bewegung, bei jedem Ideenkampfe eine ge-
wisse Art verworrner Köpfe, die sich nur im Trüben ganz wohl
befinden. So lange die Prinzipien mit sich selbst noch nicht im
reinen sind, läßt man solche Subjekte mitlaufen; solange jeder
nach Klarheit ringt, ist es nicht leicht, ihre prädestinierte Unklar-
heit zu erkennen. Wenn aber die Elemente sich scheiden, Prinzip
gegen Prinzip steht, dann ist es an der Zeit, jenen Unbrauchbaren
den Abschied zu geben und sich definitiv mit ihnen ins reine zu
setzen; denn dann zeigt sich ihre Hohlheit auf eine erschreckende
Weise.
Zu diesen Leuten gehört auch Herr Alexander Jung. Sein
obiges Buch bliebe am besten ignoriert; da er aber außerdem ein
^) Alexander Jung, Vorlesungen über die moderne Literatur der Deut-
schen, Danzig 1842, Gerhard.
i88 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
„Königsberger Literaturblatt" herausgibt und seinen langweiligen
Positivismus auch hier allwöchentlich vors Publikum bringt, so
mögen die Leser der Jahrbücher es mir verzeihen, wenn ich ihn
einmal aufs Korn fasse und etwas ausführlicher charakterisiere.
Zur Zeit des weiland jungen Deutschlands trat er mit Briefen
über die neueste Literatur auf. Er hatte sich der Jüngern Rich-
tung angeschlossen und geriet nun mit ihr in die Opposition, ohne
daß er es wollte. Welche Stellung für unsren Vermittler! Herr
Alexander Jung auf der äußersten Linken! Man kann sich die Un-
behaglichkeit, in der er sich befand, den Schwall von Beschwich-
tigungen, von dem er sprudelte, leicht denken. Nun hatte er eine
besondere Passion für Gutzkow, der damals für den Erzketzer galt.
Er wollte seinem gepreßten Herzen Luft machen, aber er fürchtete
sich, er wollte nicht anstoßen. Wie sollte er sich helfen? Er fand
ein Mittelchen, das seiner würdig war. Er schrieb eine Apotheose
Gutzkows und vermied es, seinen Namen darin zu nennen; dann
setzte er darüber: ,, Fragmente über den Ungenannten". Wenn Sie
erlauben, Herr Alexander Jung, das war feig!
Seitdem trat Jung wieder mit einem vermittelnden und ver-
worrenen Buche auf; Königsberg in Preußen und die Extreme des
dortigen Pietismus. Welch ein Titel schon! Den Pietismus selbst
läßt er gelten, aber seine Extreme müssen bekämpft werden, ebenso
gut, wie jetzt im Königsberger Literaturblatt die Extreme der jung-
hegelschen Richtung bekämpft werden, wie alle Extreme überhaupt
vom Übel sind und nur die liebe Vermittlung und Mäßigung etwas
taugt. Als wenn nicht die Extreme die bloßen Konsequenzen wären!
Übrigens ist das Buch seinerzeit in den Hallischen Jahrbüchern be-
sprochen worden.
Jetzt kommt er mit dem obigen Buch heran und gießt einen
reichlichen Eimer voll vager, kritikloser Behauptungen, verworr-
ner Urteile, hohler Phrasen und lächerlich beschränkter Anschau-
ungen vor uns aus. Es ist, als wenn er seit seinen ,, Briefen" ge-
schlafen hätte. Rien appris, rien oublie! Das junge Deutschland
ist vorübergegangen, die junghegelsche Schule ist gekommen,
Strauß, Feuerbach, Bauer, die Jahrbücher haben die allgemeine
Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, der Kampf der Prinzipien ist in der
schönsten Blüte, es handelt sich um Leben oder Tod, das Christen-
tum steht auf dem Spiele, die politische Bewegung erfüllt alles, und
der gute Jung ist noch immer des naiven Glaubens, ,,die Nation"
habe nichts andres zu tun, als auf ein neues Stück von Gutzkow,
einen versprochnen Roman von Mundt, eine zu erwartende Bi-
zarrer ie von Laube gespannt zu sein. Während ganz Deutschland
widerhallt vom Kampfgeschrei, während die neuen Prinzipien
Alexander Jung und das junge Deutschland. l8o
zu seinen eignen Füßen debattiert werden, sitzt Herr Jung in seinem
Kämmerlein, kaut an der Feder und grübelt nach über den Begriff
des ,, Modernen". Er hört nichts, er sieht nichts, denn er steckt
bis über die Ohren in Bücher ballen, für deren Inhalt sich jetzt kein
Mensch mehr interessiert, und müht sich ab, die einzelnen Stücke
recht ordentlich und nett unter Hegeische Kategorien zu rangieren.
Ans Tor seiner Vorlesungen stellt er als Wache den Popanz
des ,, Modernen*' auf. Was ist das ,, Moderne**? Herr Jung sagt,
als Ausgangspunkte dafür setze er Byron und George Sand vor-
aus, die nächsten prinzipiellen Elemente der neuen Weltzeit seien
für Deutschland: Hegel und die Schriftsteller der sogenannten
jungen Literatur. — Was dem armen Hegel nicht alles zugeschoben
wird! Atheismus, Alleinherrschaft des Selbstbewußtseins, revolutio-
näre Staatslehre, und jetzt noch das junge Deutschland. Es ist
aber geradezu lächerlich, Hegel mit einer Koterie in Verbindung
zu bringen. Weiß denn Herr Jung nicht, daß Gutzkow von jeher
gegen die Hegeische Philosophie polemisiert hat, daß Mundt und
Kühne so gut wie gar nichts von der Sache verstehen, daß nament-
lich Mundt in der Madonna und sonst das verrückteste Zeug, die
größten Mißverständnisse in bezug auf Hegel ausgesprochen hat,
und jetzt erklärter Gegner seiner Lehre ist? Weiß er nicht, daß
Wienbarg sich ebenfalls gegen Hegel aussprach und Laube in seiner
Literaturgeschichte Hegeische Kategorien fortwährend falsch ge-
brauchte ?
Jetzt geht Herr Jung an den Begriff des ,, Modernen" und quält
sich auf sechs Seiten damit herum, ohne ihn zu bewältigen. Na-
türlich! Als ob das ,, Moderne** jemals ,,in den Begriff erhoben
werden*' könne! Als ob eine so vage, gehaltlose, unbestimmte
Phrase, die von oberflächlichen Köpfen in gewisser geheimnis-
voller Weise überall vorgeschoben wurde, jemals eine philosophische
Kategorie werden könne! Welcher Abstand von dem ,, Modernen'*
Heinrich Laubes, das nach aristokratischen Salons riecht und sich
nur in Gestalt eines Dandy verkörpert, bis zu der ,, modernen Wis-
senschaft" auf dem Titel der Straußschen Glaubenslehre! Das hilft
aber alles nicht, Herr A. Jung sieht diesen Titel als einen Beweis
an, daß Strauß das Moderne, das speziell jungdeutsche Moderne,
als eine Macht über sich anerkenne und bringt ihn flugs mit der
jungen Literatur unter einen Hut. Endlich bestimmt er den Begriff
des Modernen als die Unabhängigkeit des Subjekts von jeder bloß
äußerlichen Autorität. Daß das Streben danach ein Hauptmoment
der Zeitbewegung sei, haben wir längst gewußt, und daß die ,, Mo-
dernen" damit zusammenhängen, leugnet keiner ; aber es zeigt sich
hier recht glänzend die Verkehrtheit, mit der Herr Jung platterdings
igo Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
einen Teil zum Ganzen, eine überlebte Durchgangsepoche zur
Blütezeit erheben will. Das junge Deutschland soll nun einmal,
es mag biegen oder brechen, zum Träger des ganzen Zeitinhalts
gemacht werden, und nebenbei soll Hegel auch noch sein Stück-
chen abbekommen. Man sieht, wie Herr Jung bisher in zwei Teile
geteilt war ; in der einen Herzkammer trug er Hegel, in der andern
das junge Deutschland. Jetzt, als er diese Vorlesungen schrieb,
mußte er diese beiden notwendig in Zusammenhang bringen. Wel-
che Verlegenheit! Die linke Hand karessierte die Philosophie, die
rechte die oberflächliche, schillernde Unphilosophie, und auf gut
christlich wußte die rechte Hand nicht, was die linke tat. Wie sollte
er sich helfen? Statt ehrlich zu sein, und von den beiden unver-
einbaren Liebhabereien die eine fallen zu lassen, machte er eine
kühne Wendung und leitete die Unphilosophie aus der Philoso-
phie ab.
Zu diesem Zwecke 'v^ird der arme Hegel auf dreißig Seiten
beleuchtet. Eine schwülstige, phrasenstrotzende Apotheose ergießt
ihre trübe Flut auf das Grab des großen Mannes ; sodann plagt sich
Herr Jung, zu beweisen, daß der Grundzug des Hegeischen System.s
die Behauptung des freien Subjekts gegen die Heteronomie der
starren Objektivität sei. Man braucht aber nicht eben bewandert
im Hegel zu sein, um zu wissen, daß er einen weit höheren Stand-
punkt in Anspruch nimmt, den der Versöhnung des Subjekts mit
den objektiven Gewalten, daß er einen ungeheuren Respekt vor der
Objektivität hatte, die Wirklichkeit, das Bestehende weit höher
stellte, als die subjektive Vernunft des Einzelnen, und gerade von
diesem verlangte, die objektive Wirklichkeit als vernünftig anzu-
erkennen. Hegel ist nicht der Prophet der subjektiven Autonomie,
wie Herr Jung meint und wie sie als Willkür im jungen Deutsch-
land zutage kommt, Hegels Prinzip ist auch Heteronomie, Unter-
werfung des Subjekts unter die allgemeine Vernunft. Zuweilen so-
gar, z. B. in der Religionsphilosophie, unter die allgemeine Unver-
nunft. Das, was Hegel am meisten verachtete, war der Verstand,
und was ist dieser andres, als die in ihrer Subjektivität und Ver-
einzelung fixierte Vernunft ? Nun wird mir aber Herr Jung ant-
worten, so habe er das nicht gemeint, er rede nur von bloß äußer-
licher Autorität, er wolle im Hegel auch nichts andres sehen als
die Vermittlung beider Seiten, und das ,, moderne" Individuum wolle
seiner Ansicht nach weiter nichts, als eben sich bedingt sehen nur
,, durch eigne Einsicht in die Vernünftigkeit eines Objektiven" —
dann bitte ich mir aber auch aus, daß er mir Hegel nicht mit den
Jungdeutschen zusammen bringt, deren Wesen eben die subjektive
Willkür, die Marotte, das Kuriosum ist; dann ist ,,das moderne In-
Alexander Jung und das junge Deutschland. iqi
dividuum" nur ein andrer Ausdruck für einen Hegelianer. Bei
einer so grenzenlosen Verwirrung muß Herr Jung denn auch das
„Moderne" innerhalb der Hegeischen Schule aufsuchen, und rich-
tig ist die linke Seite dazu vorzugsweise berufen, mit den Jung-
deutschen zu fraternisieren.
Endlich kommt er zur , »modernen" Literatur, und es geht jetzt
eine allgemeine Anerkennung und Loberei los. Da ist keiner, der
nicht irgend etwas Gutes getan hätte, keiner, der nicht ewas Be-
merkenswertes repräsentierte, keiner, dem die Literatur nicht ir-
gend einen Fortschritt verdankte. Dieses ewige Bekomplimentieren,
dieses Vermittlungsstreben, diese Wut, den literarischen Kuppler
und Unterhändler zu spielen, ist unerträglich. Was geht das die
Literatur an, ob dieser oder jener ein bißchen Talent hat, hier und
da eine Kleinigkeit leistet, wenn er sonst nichts taugt, wenn seine
ganze Richtung, sein literarischer Charakter, seine Leistungen im
Großen nichts wert sind ? In der Literatur gilt jeder nicht für sich,
sondern nur in seiner Stellung zum Ganzen. Wenn ich mich zu
einer solchen Art Kritik hergeben wollte, so müßte ich auch mit
Herrn Jung selbst glimpflicher verfahren, weil vielleicht fünf Seiten
in diesen Buche nicht übel geschrieben sind und einiges Talent ver-
raten. — Eine Masse komischer Aussprüche fließen Herrn Jung
mit einer großen Leichtigkeit und einer gewissen Grandezza aus
der Feder. So, von den scharfen Abfertigungen Pücklers durch die
Kritik sprechend, freut er sich, daß diese ,,ohne Ansehen der Person
und des Ranges ihr Urteil fälle. Es zeugt dieses in Wahrheit von
einem hohen, in sich selbst unabhängigen Standpunkt deutscher
Kritik." Welch eine schlechte Meinung muß Herr Jung von der
deutschen Nation haben, daß er ihr dergleichen so hoch anrechnet!
Als ob Wunders welche Kourage dazu gehörte, die Werke eines
Fürsten zu tadeln!
Ich übergehe dies Geschwätz, das den Anspruch macht, Lite-
raturgeschichte zu sein, und außer seiner innern Hohlheit und
Zusammenhangslosigkeit auch noch grenzenlos lückenhaft ist; so
fehlen die Lyriker Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh, so die Dra-
matiker Rosen [sie !] und Klein usw. Endlich kommt er dahin , worauf
er von vornherein losgearbeitet hat, auf sein liebes junges Deutsch-
land, das für ihn die Vollendung des ,, Modernen" ist. Er beginnt
mit Börne. In Wahrheit aber ist Börnes Einfluß auf das junge
Deutschland so groß nicht, Mundt und Kühne erklärten ihn für
verrückt, Laube'n war er zu demokratisch, zu entschieden, und nur
bei Gutzkow und Wienbarg äußerten sich nachhaltigere Wirkun-
gen. Gutzkow namentlich verdankt Börne 'n sehr viel. Der größte
Einfluß, den Börne gehabt hat, das ist jener stille auf die Nation,
192 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
die seine Werke als ein Heiligtum bewahrt und sich daran gestärkt
und aufrecht erhalten hat in den trüben Zeiten von 1832 bis 40,
bis die wahren Söhne des Pariser Briefstellers in den neuen, philo-
sophischen Liberalen erstanden. Ohne die direkte und indirekte
Wirkung Börnes wäre es der aus Hegel hervorgehenden freien
Richtung weit schwerer geworden, sich zu konstituieren. Es kam
jetzt aber bloß darauf an, die verschütteten Gedankenwege zwi-
schen Hegel und Börne auszugraben, und das war so schwer nicht.
Diese beiden Männer standen sich näher als es schien. Die Un-
mittelbarkeit, die gesunde Anschauung Börnes erwies sich als die
praktische Seite dessen, was Hegel theoretisch wenigstens in Aus-
sicht stellte. Herr Jung sieht das natürlich wieder nicht ein. Börne
ist ihm gewissermaßen allerdings ein respektabler Mann, der sogar
Charakter hatte, was unter Umständen gewiß viel wert ist, er hat
unleugbare Verdienste, wie etwa Varnhagen und Pückler auch,
und hat namentlich gute Theaterkritiken geschrieben, aber er war
ein Fanatiker und Terrorist, und davor behüte uns der liebe Gott!
Pfui über so eine schlaffe, mattherzige Auffassung eines Mannes,
der allein durch seine Gesinnung ein Träger seiner Zeit wurde!
Dieser Jung, der das junge Deutschland und sogar die Persönlich-
keit Gutzkows aus dem absoluten Begriff konstruieren will, ist
nicht einmal imstande, einen so einfachen Charakter, wie Börne,
zu begreifen; er sieht nicht ein, wie notwendig, wie konsequent
auch die extremsten, radikalsten Aussprüche aus Börnes innerstem
Wesen hervorgehen, daß Börne seiner Natur nach Republikaner
war und für einen solchen die Pariser Briefe wahrlich nicht zu
stark geschrieben sind. Oder hat Herr Jung nie einen Schweizer
oder Nordamerikaner über monarchische Staaten sprechen hören ?
Und wer will es Börne 'n zum Vorwurf machen, daß er ,,das Leben
nur aus dem Gesichtspunkte der Politik betrachtete" ? Tut nicht
Hegel dasselbe .'* Ist nicht auch ihm der Staat in seinem Übergange
zur Weltgeschichte, also in den Verhältnissen der innern und äußern
Politik, die konkrete Realität des absoluten Geistes ? Und — es
ist lächerlich — bei dieser unmittelbaren, naiven Anschauung
Börnes, die in der erweiterten Hegeischen ihre Ergänzung findet
und oft aufs überraschendste zu ihr stimmt, meinte Herr Jung
dennoch, Börne habe sich ,,ein System der Politik und des Völker -
glucks entworfen", so ein abstraktes Wolkengebilde, aus dem man
sich seine Einseitigkeiten und Verhärtungen erklären müsse! Herr
Jung hat keine Ahnung von der Bedeutung Börnes, von seinem
eisernen, geschlossenen Charakter, von seiner imponierenden Wil-
lensfestigkeit; eben weil er selbst so ein gar kleines, weichherziges,
unselbständiges Allerweltsmännchen ist. Er weiß nicht, daß Börne
Alexander Jung und das junge Deutschland. ig^
einzig dasteht als Persönlichkeit in der deutschen Geschichte, er
weiß nicht, daß Börne der Bannerträger deutscher Freiheit war,
der einzige Mann in Deutschland zu seiner Zeit; er ahnt nicht, was
es heißt, gegen vierzig Millionen Deutsche aufstehen und das Reich
der Idee proklamieren; er kann es nicht begreifen, daß Börne der
Johannes Baptista der neuen Zeit ist, der den selbstzufriedenen
Deutschen von der Buße predigt und ihnen zuruft, daß die Axt schon
an der Wurzel des Baumes liege und der Stärkere kommen wird,
der mit Feuer tauft und die Spreu unbarmherzig von der Tenne
fegt. Zu dieser Spreu darf sich auch Herr A. Jung rechnen. End-
lich kommt Herr Jung zu seinem lieben jungen Deutschland und
beginnt mit einer erträglichen, aber viel zu ausführlichen Kritik
Heines. Die übrigen werden sodann nach der Reihe durchgenom-
men, zuerst Laube, Mundt, Kühne, sodann Wienbarg, dem verdien-
termaßen gehuldigt wird, und endlich auf fast fünfzig Seiten
Gutzkow. Die ersten drei verfallen der gewöhnlichen Juste-Milieu-
Huldigung, viel Anerkennung und sehr bescheidener Tadel; Wien-
barg wird entschieden hervorgehoben, aber kaum auf vier Seiten,
und Gutzkow endlich mit einer unverschämten Unterwürfigkeit
zum Träger des ,, Modernen" gemacht, nach dem Hegeischen Be-
griffsschema konstruiert und als Persönlichkeit ersten Ranges be-
handelt.
Wäre es ein junger, sich erst entwickelnder Autor, der mit
solchen Urteilen aufträte, man ließe sich das gefallen; es gibt
manchen, der eine Zeitlang Hoffnungen auf die junge Literatur
gesetzt und im Hinblick auf eine erwartete Zukunft ihre Werke
nachsichtiger betrachtet hat, als er es sonst vor sich selbst verant-
worten konnte. Namentlich wer die jüngsten Entwicklungsstufen
des deutschen Geistes in seinem eigenen Bewußtsein reproduziert
hat, wird irgend einmal mit Vorliebe auf die Produktionen Mundts,
Laubes oder Gutzkows geblickt haben. Aber der Fortschritt über
diese Richtung hinaus hat sich seitdem viel zu energisch geltend
gemacht, und die Gehaltlosigkeit der meisten Jungdeutschen ist auf
eine erschreckende Weise offenbar geworden.
Das junge Deutschland rang sich aus der Unklarheit einer be-
wegten Zeit empor und blieb selbst noch mit dieser Unklarheit be-
haftet. Gedanken, die damals noch formlos und unentwickelt in
den Köpfen goren, die später erst durch Vermittlung der Philo-
sophie zum Bewußtsein kamen, wurden vom jungen Deutschland
zum Spiel der Phantasie benutzt. Daher die Unbestimmtheit, die
Verwirrung der Begriffe, die unter den Jungdeutschen selbst herrschte.
Gutzkow und Wienbarg wußten noch am meisten, was sie wollten,
Laube am wenigsten. Mundt lief sozialen Marotten nach, Kühne,
Mayer, Engels. ErgaazuQgäbaml. 13
IQA Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
in dem etwas Hegel spukte, schematisierte und klassifizierte. Aber
bei der allgemeinen Unklarheit konnte nichts Rechtes zutage kom-
men. Der Gedanke von der Berechtigung der Sinnlichkeit wurde
nach Heines Vorgang roh und flach gefaßt, die politisch -libe-
ralen Prinzipien waren nach den Persönlichkeiten verschieden, und
die Stellung des Weibes gab zu den fruchtlosesten und konfusesten
Diskussionen Anlaß. Keiner wußte, woran er mit dem andern war.
Auf die allgemeine Verwirrung der Zeit müssen auch die Maß-
regeln der verschiedenen Regierungen gegen diese Leute geschoben
werden. Die phantastische Form, in der jene Vorstellungen pro-
pagiert wurden, konnte nur dazu beitragen, jenen wirren Zustand
zu vermehren. Durch das glänzende Exterieur der jungdeutschen
Schriften, die geistreiche, pikante, lebendige Schreibart derselben,
die geheimnisvolle Mystik, mit welcher die Hauptschlagwörter um-
geben waren, sowie durch die Regeneration der Kritik und die Be-
lebung der belletristischen Zeitschriften, die von ihnen ausging,
zogen sie bald jüngere Schriftsteller in Masse an sich, und es dauerte
nicht lange, so hatte jeder von ihnen, mit Ausnahme V/ienbargs,
seinen Hof. Die alte schlaffe Belletristik mußte dem jungen An-
dränge weichen, und die ,, junge Literatur" nahm das eroberte Feld
in Besitz, teilte sich darein und — zerfiel in sich selbst über der
Teilung. Hier kam die Unzulänglichkeit des Prinzips zum Vor-
schein. Jeder hatte sich im andern getäuscht. Die Prinzipien ver-
schwanden, es handelte sich nur noch um Persönlichkeiten. Gutz-
kow oder Mundt, das war die Frage. Cliquenwesen, Häkeleien,
Streitigkeiten um nichts und wieder nichts begannen die Journale
zu füllen.
Der leichte Sieg hatte die jungen Herren übermütig und eitel
gemacht. Sie hielten sich für welthistorische Charaktere. Wo ein
junger Schriftsteller auftrat, gleich wurde ihm die Pistole auf die
Brust gesetzt und unbedingte Unterwerfung gefordert. Jeder machte
den Anspruch, exklusiver Literaturgott zu sein. Du sollst keine
andern Götter haben neben mir! Der geringste Tadel erregte töd-
liche Feindschaften. Auf diese Weise verlor die Richtung allen
geistigen Inhalt, den sie noch etwa gehabt hatte, und sank in den
reinen Skandal herab, der in Heines Buch über Börne kulminierte
und in infame Gemeinheit überging. Von den einzelnen Persön-
lichkeiten ist Wienbarg unbedingt die nobelste; ein ganzer, kräf-
tiger Mann, eine Statue von hellglänzendem Erz aus einem Gusse,
daran kein Rostfleck ist. Gutzkow ist der Klarste, Verständigste;
er hat am meisten produziert und neben Wienbarg auch die ent-
schiedensten Zeugnisse seiner Gesinnung gegeben. Will er auf dem
dramatischen Gebiet bleiben, so sorge er indes für bessere, ideen-
Alexander Jung und das junge Deutschland. i^^
vollere Stoffe, als er sie bisher gewählt hat, und schreibe statt aus
dem ,, modernen" aus dem wirklichen Geist der Gegenwart heraus.
Wir verlangen mehr Gedankengehalt als die liberalen Phrasen des
Patkul oder die weiche Empfindsamkeit des Werner. Wozu Gutz-
kow viel Talent hat, ist die Publizistik; er ist ein geborener Journa-
list, aber er kann sich nur durch ein Mittel halten, wenn er sich
die neuesten religions- und staatsphilosophischen Entwicklungen
aneignet und seinen Telegraphen, den er, wie es heißt, wieder auf-
erstehen lassen will, der großen Zeitbewegung unbedingt widmet.
Läßt er aber die entartete Belle tristerei seiner Herr werden, so wird
er nicht besser werden als die übrigen schönwissenschaftlichen
Journale, die nicht Fisch und nicht Fleisch sind, von langweiligen
Novellen strotzen, kaum durchblättert werden und überhaupt an
Gehalt und in der Achtung des Publikums mehr als je gesunken
sind. Ihre Zeit ist vorbei, sie lösen sich alimählich in die politischen
Zeitungen auf, die das bißchen Literatur noch ganz gut mit ab-
fertigen können.
Laube ist bei allen seinen schlechten Eigenschaften doch noch
gewissermaßen liebenswürdig; aber seine unordentliche, prinzip-
lose Schreiberei, heute Romane, morgen Literaturgeschichte, über-
morgen Kritiken, Dramen usw., seine Eitelkeit und Flachheit läßt
ihn nicht aufkommen. Den Mut der Freiheit hat er ebenso wenig
als Kühne. Die ,, Tendenzen" der weiland ,, jungen Literatur" sind
längst vergessen, das leere, abstrakte Literaturinteresse hat beide
ganz in Anspruch genommen. Dagegen ist die Indifferenz bei Heine
und Mundt zur offenen Apostasie geworden. Heines Buch über
Börne ist das Nichtswürdigste, was jemals in deutscher Sprache
geschrieben wurde ; Mundts neueste Tätigkeit im Piloten nimmt
dem Verfasser der ,, Madonna" die letzte Spur von Achtung in den
Augen der Nation. Man weiß hier in Berlin nur zu gut, was Herr
Mundt mit einer solchen Selbstentwürdigung bezweckt, nämlich
eine Professur ; um so ekelerregender ist diese plötzlich in Herrn
Mundt gefahrene Untertänigkeit. Herr Mimdt und sein Waffen-
träger F. Radewell mögen nur fortfahren, die neuere Philosophie zu
verdächtigen, den Notanker der Schellingschen Offenbarung zu er-
greifen und sich durch ihre unsinnigen Versuche, selbst zu philo-
sophieren, vor der Nation lächerlich zu machen. Die freie Philo-
sophie kann ihre philosophischen Schülerarbeiten ruhig und un-
widerlegt in die Welt gehen lassen ; sie zerfallen in sich selbst. Was
den Namen des Herrn Mundt an der Stirn trägt, ist, wie die Werke
Leos, mit dem Malzeichen der Apostasie gebrandmarkt. Vielleicht be-
kommt er an Herrn Jung bald einen neuen Hintersassen ; er läßt sich
bereits gut an, wie wir gesehen haben und noch weiter sehen werden.
13*
iq6 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Nachdem Herr Jung nun den eigentlichen Zweck seiner Vor-
lesungen hinter sich hat, drängt es ihn gewaltig, sich zum Schluß
noch einmal recht dem Gelächter der Nation preiszugeben. Er geht
von Gutzkow auf David Strauß über, schreibt ihm das eminente
Verdienst zu, ,,die Resultate von Hegel und Schleiermacher und
des modernen Stils" (ist das etwa moderner Stil ?) in sich zusammen-
gezogen zu haben, klagt dabei aber entsetzlich über die greuliche,
ewige Negation. Ja, die Negation, die Negation! Die armen Posi-
tivisten und die Juste -Milieu -Leute sehen die negative Flut immer
höher und höher schwellen, klammern sich fest aneinander und
schreien nach etwas Positivem. Da jammert nun so ein Alexander
Jung über die ewige Bewegung der Weltgeschichte, nennt den
Fortschritt Negation und spreizt sich zuletzt zum falschen Pro-
pheten auf, der ,,eine große positive Geburt" weissagt; die er mit
den verschrobensten Phrasen im voraus beschreibt, und die Strauß,
Feuerbach und was damit zusammenhängt, mit dem Schwerte des
Herrn besiegen werde. Auch in seinem Literaturblatt predigt er
das Wort vom neuen ,, positiven** Messias. Kann es etwas Unphilo-
sophischeres geben als ein so unverholnes Mißvergnügen, eine so
offne Unbefriedigung in der Gegenwart ? Kann man sich weibi-
scher imd kraftloser betragen, als es Herr A. Jung tut? Kann man
sich eine ärgere Phantasterei denken — die neuschellingsche Scho-
lastik ausgenommen — als diesen frommen Glauben an den , »po-
sitiven Messias**? Wann gab es eine größere — und leider auch
verbreite tere Verwirrung als diejenige, welche jetzt in Beziehung
auf die Begriffe ,, positiv und negativ** herrscht ? Man gebe sich nur
einmal die Mühe, die verschriene Negation näher anzusehen, und
man wird finden, daß sie durch und durch selbst Position ist. Für
diejenigen freilich, die das Vernünftige, den Gedanken, weil er nicht
still steht, sondern sich bewegt, für nicht positiv erklären, und
deren kraftloses Efeugemüt einer alten Mauerruine, eines Fak-
tums bedarf, um sich an ihm zu halten, für sie ist freilich aller
Fortschritt Negation. In Wahrheit aber ist der Gedanke in seiner
Entwicklung das allein Ewige und Positive, während die Faktizität,
die Äußerlichkeit des Geschehens eben das Negative, Verschwindende
und der Kritik Anheimfallende ist.
,,Wer aber wird der Geber dieses unendlichen, in unserer Nähe
weilenden Schatzes sein ?** fährt Herr Jung mit gesteigertem Pathos
fort. Ja, wer wird der Messias sein, der die schwachen, zagenden
Seelen aus dem Exil der Negation, aus der finstern Nacht der Ver-
zweiflung zurückführen wird in das Land, da Milch und Honig
fließt? ,,0b Schelling? — — — Große, heilige Hoffnungen setzen
wir auf Schelling, eben weil er so lange der Einsamkeit vertraut,
Alexander Jung und das junge Deutschland, igy
eben weil er jenen Ruhesitz am Urquelle des Denkens und Schaf-
fens entdeckt hat, jenen Herrschersitz, welcher die Zeit aufhören
macht, Zeit zusein!" usw. Ja, so spricht ein Hegelianer, und weiter
(Königsberger Literaturblatt Nr. 4): ,,^ir versprechen uns von
Schelling außerordentlich viel. Schelling wird, hoffen wir, mit der-
selben Leuchte eines nie gesehenen, neuen Lichtes durch die Ge-
schichte schreiten, wie er einst durch die Natur geschritten ist" usw.
Sodann Nr. 7 eine Huldigung für den unbekannten Gott Schellings.
Die Philosophie der Mythologie und der Offenbarung wird als not-
wendig konstruiert, und Herr Jung ist selig in dem Bewußtsein,
Schellings, des großen Schelling Gedankenbahnen auch schon von
Ferne mit seinem begeisterten Auge nachahmen zu können. Solch
ein markloser, sehnsüchtiger Geist ist dieser Jung, daß er nur in
der Hingebung an einen andern, in der Unterwerfung unter fremde
Autorität sich befriedigt findet. Keine Ahnung von Selbständigkeit
ist bei ihm zu finden; sowie ihm der Halt genommen wird, den er
umfaßt, knickt er in sich selbst zusammen und weint helle Tränen
der Sehnsucht. Sogar an etwas, was er noch nicht kennt, wirft er
sich weg, und trotz der ziemlich genauen Nachrichten, die man
schon vor Schellings Auftreten in Berlin über seine Philosophie
und den speziellen Inhalt seiner Vorlesungen hatte, kennt Herr Jung
keine größere Seligkeit, als zu Schellings Füßen im Staube zu sitzen.
Er weiß nicht, wie Schelling sich in der Vorrede zu dem Cousinschen
Werk über Hegel ausgesprochen hat, oder vielmehr er weiß es wohl,
und dennoch wagt er, ein Hegelianer, sich an Schelling wegzu-
schenken, wagt es, nach solchen Antecedentien den Namen Hegels
noch in den Mund zu nehmen, auf ihn gegen die neuesten Entwick-
lungen zu provozieren! Und um seiner Selbstentwürdigung die
Krone aufzusetzen, fällt er in Nr. 13 nochmals anbetend vor Schel-
ling nieder, der ersten Vorlesung desselben den Weihrauch seiner
ganzen Bewunderung und Proskynese zollend. Ja, er findet es hier
alles bestätigt, was er von Schelling ,, nicht bloß voraussetzte, son-
dern wußte, jene wunderbar frische, jene auch der Form nach voll-
endete Durchdringung aller wissenschaftlichen, künstlerischen und
sittlichen Elemente, welche in solcher Vereinigung antiker und
christlicher Welt den so Verherrlichten zu einem ganz andern Prie-
ster des Höchsten und seiner Offenbarung weihen mag, als es
Priestern niedern Grades und Laien auch nur einfallen kann."
Freilich werden einige so verworfen sein, ,,daß sie aus Neid sogar
die Größe wegleugnen, welche sich hier rein und klar, wie das Licht
der Sonne, jedem offenbart". ,,Die ganze Größe Schellings, die Über-
legenheit über alles Ausgezeichnete bloß einseitiger Richtungen strahlt
uns aus seiner ersten Vorlesung herrlich entgegen." — — »Vv^er
198 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
so anfangen kann, der muß gewaltig fortfahren, muß als Sieger
enden, und wenn sie alle ermüden, weil sie alle, solchen Fluges un-
gewohnt, sinken, und keiner mehr zu folgen, zu verstehen vermag,
was Du von Ur an Begeisterter sprichst, so lauschen Dir sicher die
Manen des mit Dir Ebenbürtigen, des treuesten, des herrlichsten
Deiner Freunde, es lauschen Dir die Manen des alten Hegel! ^"
Was mag Herr Jung dabei sich vorgestellt haben, als er diesen
Enthusiasmus ins Blaue, diese romantische Schwebelei zu Papier
brachte! Was wenigstens hier in Berlin jeder im voraus wußte oder
mit Sicherheit schließen konnte, davon ahnt unser frommer „Priester"
nichts. Was aber jener ,, Priester des Höchsten" uns für ,, Offen-
barungen" gepredigt, worin die ,, Größe", der ,, Beruf, der Mensch-
heit das Höchste zu enthüllen", der , »gewaltige Flug" bestanden,
wie Schelling „als Sieger geendigt" hat, das weiß jetzt alle Welt; in
dem Schriftchen: „Schelling und die Offenbarung", als dessen Ver-
fasser ich mich hiermit bekenne, habe ich den Inhalt der neuen
Offenbarung in durchaus objektiver Weise dargelegt. Herr Jung
möge die Erfüllung seiner Hoffnungen daran nachweisen oder we-
nigstens die Aufrichtigkeit und den — Mut haben, seinen glänzen-
den Irrtum einzugestehen.
Ohne mich auf die Kritik Sealsfields, mit der Herr Jung sein
Buch schließt, weiter einzulassen, da ich vom belletristischen Felde
doch schon weit genug entfernt bin, will ich zum Schlüsse noch
auf einige Stellen des ,, Königsberger Literatur blatts" eingehen, um
auch hier die Mattherzigkeit und marklose Aufgedunsenheit Herrn
Jungs nachzuweisen. Gleich in Nr. i wird, jedoch sehr zurückhal-
tend, auf Feuerbachs Wesen des Christentums hingewiesen, in
Nr. 2 die Negationstheorie der Jahrbücher angegriffen, jedoch noch
mit Respekt, in Nr. 3 wird Herbarten gehuldigt, wie vorhin Schel-
lingen, in Nr. 4 allen beiden und zugleich noch eine Verwahrung
gegen den Radikalismus ausgesprochen, in Nr. 8 beginnt eine aus-
führliche Kritik des Feuerbachschen Buchs, in der die Halbheit
des Juste-Milieu ihre Überlegenheit über den entschiedenen Radi-
kalismus geltend machen will. Und was sind die schlagenden Ar-
gumente, die hier aufgewandt werden? Feuerbach, sagt Herr Jung,
hätte ganz recht, wenn die Erde das ganze Universum wäre ; vom
irdischen Standpunkte aus ist sein ganzes Werk schön, schlagend,
vortrefflich, unwiderleglich; aber vom universalen, vom Welt-
gesichtspunkt aus ist es nichtig. Schöne Theorie! Als ob auf dem
Monde zwei mal zwei fünf wäre, als ob auf der Venus die Steine
lebendig herumliefen und auf der Sonne die Pflanzen sprechen
könnten! Als ob jenseits der Erdatmosphäre eine aparte, neue
Vernunft anfinge und der Geist nach der Entfernung von der Sonne
Alexander Jung und das junge Deutschland. igo
gemessen würde! Als ob das Selbstbewußtsein, zu dem die Erde
in der Menschheit kommt, nicht in demselben Augenblick Welt-
bewußtsein würde, in welchem es seine Stellung als Moment des-
selben erkennt! Als ob ein solcher Einwand nicht nur ein Vorwand
wäre, um die fatale Antwort auf die alte Frage hinauszuschieben
in die schlechte Endlosigkeit des Raumes! Klingt es nicht seltsam
naiv, wenn Herrn Jung mitten in die Hauptreihe seiner Argumente
sich der Satz eingeschmuggelt hat: ,,die Vernunft, welche über jede
bloß sphärische Bestimmtheit hinausgeht?" Wie kann er dann,
bei zugestandener Konsequenz und Vernünftigkeit des Bestrittnen
vom irdischen Gesichtspunkt aus, diesen vom „universalen" unter-
scheiden? Es ist aber eines Phantasten, eines Gefühlsschwärmers,
wie Herr Jung einer ist, vollkommen würdig, sich in die schlechte
Unendlichkeit des Sternhimmels zu verlieren und über denkende,
liebende, phantasierende Wesen auf den andern Weltkörpern sich
allerhand kuriose Hvpothesen und wundersame Träumereien aus-
zuklauben. Dabei ist es lächerlich, wie er vor der Seichtigkeit warnt,
Feuerbach und Strauß nun ohne weiteres des Atheismus und der
unbedingten Leugnung der Unsterblichkeit zu beschuldigen. Herr
Jung sieht nicht, daß diese Leute gar keinen andern Standpunkt in
Anspruch nehmen. Weiter. In Nr. 12 droht uns Herr Jung bereits
mit seinem Zorn; in Nr. 26 wird Leo konstruiert und über das un-
leugbare Talent des Mannes seine Gesinnung ganz und gar vergessen
und beschönigt; ja Rügen wird ebenso sehr unrecht gegeben wie
Leon. Nr. 29 erkennt Hinrichs nichtssagende Kritik der Posaune
in den Berliner Jahrbüchern an und erklärt sich noch entschiedener
gegen die Linke; Nr. 35 vollends liefert einen langen, grauenvollen
Artikel über F. Baader, dessen somnambule Mystik und Unphilo-
sophie ihm noch dazu als Verdienst angerechnet wird ; endlich Nr. 36
klagt über ,, unselige Polemik", mit andern Worten offenbar über
einen Artikel von E. Mayen [sie!] in der Rheinischen Zeitung, worin
Herrn Jung einmal die Wahrheit gesagt wird — es ist sonderbar!
In einem solchen Dusel und Traumleben ergeht sich Herr Jung,
daß er glaubt, er sei unser ,, Kampfgenosse", er ,, verteidige dieselben
Ideen", daß er glaubt, es ,, walteten zwar Differenzen" zwischen
ihm und uns ob, ,,doch stehe die Identität der Prinzipien und Zwecke
fest". Hoffentlich wird er jetzt gesehen haben, daß wir mit ihm
fraternisieren weder wollen noch können. Solche unglückliche
Amphibien und Achselträger sind nicht brauchbar für den Kampf,
den nun einmal entschiedene Leute entzündet, und nur Charaktere
hindurchführen können. Im Verfolge obiger Zeilen tut er sich noch
den Tort an, daß er in die trivialste Redeweise von literarischer
Despotie der Liberalen verfällt und sich seine Freiheit wahrt. Die
200 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
soll ihm bleiben; es wird ihn jeder ruhig fortfaseln lassen bis in
alle Ewigkeit. Aber er wird uns erlauben, für seine Unterstützung
zu danken und ihm ehrlich und offen zu sagen, wofür man ihn
hält. Sonst wäre er ja der literarische Despot, und dazu ist er doch
etwas zu weichherzig. Dieselbe Nummer wird in würdiger Weise
beschlossen von einem Hilferuf gegen „das selbstsüchtige, hohle
Geschrei, welches in rasender Weise das Selbstbewußtsein zum
Gott erhebt", — nun wagt das Königsberger Literaturblatt es,
diese schaudervollen Ausrufungen nachzusprechen: , »Nieder mit
dem Christentum, nieder mit der Unsterblichkeit, nieder mit Gott!!"
Doch es tröstet sich damit, daß die „Träger bereits im Vorhause
stehen, um diejenigen, welche noch bei so guter Stimme sind, als
lautlose Leichen herauszutragen". Also wieder die Kraftlosigkeit
einer Appellation an die Zukunft!
Eine weitere Nummer des Jungschen Blattes ist mir noch nicht
zu Gesicht gekommen. Ich denke, die gegebnen Beweise werden
genügen, die Zurückweisung des Herrn Jung aus der Gemeinschaft
der Entschiednen und ,, Freien" zu begründen; er selbst ist jetzt
in den Stand gesetzt, zu sehen, was man an ihm auszusetzen hat.
Noch eine Bemerkung sei mir gestattet. Herr Jung ist unzweifel-
haft der charakterschwachste, kraftloseste, unklarste Schriftsteller
Deutschlands. Woher kommt das alles, woher die erbauliche Form,
die er überall zur Schau trägt.'' Solle es damit zusammenhängen,
daß Herr Jung, wie es heißt, früher ex officio erbaulich sein m^ußie ?
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen.
Unter den europäischen Fürsten, deren Persönlichkeit auch
außer ihrem Lande Aufmerksamkeit erregt, sind besonders vier
interessant: Nikolaus von Rußland, durch die Geradheit und un-
verhohlene Offenheit, mit der er zum Despotismus hinstrebt, Louis
Philipp, der den Macchiavell unserer Zeit anpaßt, Viktoria von
England, das vollendete Muster einer konstitutionellen Königin, und
Friedrich Wilhelm IV., dessen Gesinnung, wie sie sich in den beiden
Jahren seiner Regierung unverkennbar und deutlich dargelegt hat,
hier einer genauem Betrachtung unterworfen werden soll.
Es ist nicht der Haß und die Rachlust einer von ihm zurück-
gesetzten und perhorreszierten, von seinen Beamten unterdrückten
und gemißhandelten Partei, die hier sprechen sollen, nicht der bittere
Groll, den die Zensur genährt hat, und der die Preßfreiheit benutzt,
um Skandalgeschichten und Berliner Stadtgeklatsch an den Mann
zu bringen. Der Deutsche Bote beschäftigt sich mit andern Dingen.
Aber bei der ehrlosen, niederträchtigen Schmeichelei, mit der die
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. 201
deutschen Fürsten und Völker täglich in den Zeitungen regaliert
werden, ist es durchaus nötig, daß die Herrschaften einmal von
einem andern Gesichtspunkt angesehen, ihre Handlungen und Ge-
sinnungen, rücksichtslos wie die jedes andern, beurteilt werden. —
Die Reaktion im Staate begann in den letzten Jahren des vo-
rigen Königs, sich mit der kirchlichen Reaktion zu vereinigen.
Durch die Entwicklung des Gegensatzes zur absoluten Freiheit sah
sich der orthodoxe Staat wie die orthodoxe Kirche genötigt, auf ihre
Voraussetzungen zurückzugehen und das christliche Prinzip mit
allen seinen Konsequenzen geltend zu machen. So ging die pro-
testantische Rechtgläubigkeit auf den Katholizismus zurück, eine
Phase, die in Leo und Krummacher ihre konsequentesten und wür-
digsten Vertreter findet, der protestantische Staat auf die konse-
quente christlich -feudalistische Monarchie, wie sie Friedrich Wil-
helm IV. ins Leben zu rufen trachtet.
Friedrich Wilhelm IV. ist durchaus ein Produkt seiner Zeit,
eine Gestalt, die ganz aus der Entwickelung des freien Geistes und
seinem Kampfe gegen das Christentum und nur hieraus zu erklären
ist. Er ist die äußerste Konsequenz des preußischen Prinzips, das
in ihm in seiner letzten Aufraffung, aber zugleich in seiner voll-
kommenen Kraftlosigkeit gegenüber dem freien Selbstbewußtsein
zur Erscheinung kommt. Mit ihm ist die gedankenmäßige Ent-
wickelung des bisherigen Preußens abgeschlossen ; eine neue Gestal-
tung desselben ist nicht möglich, und wenn es Friedrich Wilhelm
gelingt, sein System praktisch durchzusetzen, so muß Preußen ent-
weder ein ganz neues Prinzip ergreifen — und dies kann nur das
des freien Geistes sein — oder in sich selbst zusammenstürzen,
wenn es zu jenem Fortschritt nicht die Kraft haben sollte.
Der Staat, auf den Friedrich Wilhelm IV. hinarbeitet, ist seinem
eigenen Ausspruche gemäß der christliche. Die Form, in der das
Christentum auftritt, sobald es sich wissenschaftlich zergliedern
will, ist die Theologie. Das Wesen der Theologie, namentlich in
unserer Zeit, ist die Vermittelung und Vertuschung absoluter Ge-
gensätze. Selbst der konsequenteste Christ kann sich nicht von den
Voraussetzungen unserer Zeit ganz emanzipieren; die Zeit nötigt
ihn zu Modifikationen des Christentums; er trägt Prämissen in sich,
deren Entwickelung zum Atheismus führen könnte. Daher kommt
denn jene Gestalt der Theologie, die an B. Bauer ihren Zergliederer
gefunden hat, und die mit ihrer innern Unwahrheit und Heuchelei
unser ganzes Leben durchdringt. Dieser Theologie entspricht auf
dem Gebiete des Staates das jetzige Regierungssystem in Preußen.
Ein System Friedrich Wilhelms IV., das ist unleugbar, ein voll-
kommen ausgebildetes System der Romantik, wie dies auch eine
202 Ans der Militärzeit in Berlin. 1 841— 1842.
notwendige Folge seines Standpunktes ist; denn wer von diesem
aus einen Staat organisieren will, muß mehr wie ein paar abge-
rissene, zusammenhangslose Ansichten zu seiner Verfügung haben.
Das theologische Wesen dieses Systems wäre also vorläufig zu ent-
wickeln.
Indem der König von Preußen es unternimmt, das Prinzip der
Legitimität in seinen Konsequenzen durchzusetzen, schließt er sich
nicht nur der historischen Rechtsschule an, sondern führt sie so-
gar weiter fort, und kommt fast bei der Hallerschen Restauration
an. Zuerst, um den christlichen Staat zu verwirklichen, muß er
den fast heidnisch gewordenen rationalistischen Beamtenstaat mit
christlichen Ideen durchdringen, den Kultus heben, die Teilnahme
an demselben zu fördern suchen. Dies hat er denn auch nicht unter-
lassen. Die Maßregeln zur Förderung des Kirchenbesuchs im all-
gemeinen und namentlich bei den Beamten, die strengere Aufrecht-
erhaltung der Sonntagsfeier überhaupt, die beabsichtigte Verschär-
fung der Ehescheidungsgesetze, die teilweise schon begonnene
Epurierung der theologischen Fakultäten, das Gewicht, welches ein
starker Glaube gegen schwache Kenntnisse bei den theologischen
Prüfungen in die Wagschale legt, die Besetzung vieler Beamten-
stellen mit vorzugsweise gläubigen Männern — und viele andere
weltkundige Tatsachen gehören hierher. Sie können als Belege
dienen, wie sehr Friedrich Wilhelm IV. dahin strebt, das Christen-
tum unmittelbar in den Staat wieder einzuführen, die Gesetze des
Staates nach den Geboten der biblischen Moral einzurichten. Das
ist aber nur das Erste, Unmittelbarste. Das System des christlichen
Staates kann hierbei nicht stehen bleiben. Der weitere Schritt ist
nun die Trennung der Kirche vom Staate, ein Schritt, der über den
protestantischen Staat hinausgeht. In diesem ist der König summus
episcopus, und vereinigt in sich die höchste kirchliche und staat-
liche Macht; die Verschmelzung von Staat und Kirche, wie sie bei
Hegel ausgesprochen ist, ist das letzte Ziel dieser Staatsform. Wie
aber der ganze Protestantismus eine Konzession an die Weltlich -
keit ist, so auch das Episkopat des Fürsten. Es ist eine Bestätigung
und Rechtfertigung des päpstlichen Primats, indem es die Not-
wendigkeit eines sichtbaren Oberhaupts der Kirche anerkennt; auf
der andern Seite erklärt es die irdische, weltliche Gewalt, die Staats-
gewalt, für das absolut Höchste und ordnet ihm die kirchliche Ge-
walt unter. Es ist nicht etwa eine Gleichstellung des Weltlichen
und Geistlichen, sondern eine Unterordnung des Geistlichen unter
das Weltliche. Denn der Fürst war eher Fürst, als er summus
episcopus wurde, und bleibt auch nachher vorzugsweise Fürst, ohne
je einen geistlichen Charakter zu tragen. Die andere Seite der Sache
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. 203
ist freilich die, daß der Fürst jetzt alle Gewalt, irdische wie himm-
lische, in sich vereinigt, und, als irdischer Gott, die Vollendung des
rehgiösen Staates darstellt. —
Wie jene Unterordnung aber dem christlichen Geiste wider-
spricht, so ist es durchaus nötig, daß der Staat, der den Anspruch
der Christlichkeit macht, der Kirche ihre Selbständigkeit ihm ge-
genüber wieder einräume. Diese Rückkehr zum Katholizismus ist
nun einmal unmöglich ; die absolute Emanzipation der Kirche ist
ebenfalls unausführbar, ohne die Grundsäulen des Staates zu unter-
graben; es muß also hier ein Vermittlungssystem durchgeführt
werden. Dies hat Friedrich Wilhelm IV. denn auch in Beziehung
auf die katholische Kirche bereits in Ausführung gebracht, und
was die protestantische Kirche betrifft, so beweisen auch hier son-
nenklare Tatsachen, wie er in diesem Punkte denkt; besonders ist
die Aufhebung des Unionszwanges und die Befreiung der Altluthe-
raner von dem Drucke, den sie erdulden mußten, zu erwähnen.
Bei der protestantischen Konfession tritt nun ein ganz eigenes
Verhältnis ein. Sie hat kein sichtbares Oberhaupt, überhaupt keine
Einheit, sie zerfällt in viele Sekten, und so kann der protestantische
Staat sie nicht anders frei lassen, als indem er die verschiedenen
Sekten als Korporationen faßt und ihnen so für ihre inneren An-
gelegenheilen absolute Freiheit läßt.] Dennoch aber läßt der Fürst
sein Episkopat nicht fallen, sondern behält sich das Bestätigungs-
recht, überhaupt die Souveränität vor, während er auf der andern
Seite das Christentum als Macht über sich anerkennt und konse-
quent also auch vor der^Kirche sich beugen muß. So bleiben nicht
nur die Widersprüche, in denen der protestantische Staat sich be-
wegt, trotz aller scheinbaren Auflösung bestehen, sondern es tritt
noch eine Vermischung mit den Prinzipien des katholischen Staats
ein, die eine wunderliche Verwirrung und Prinziplosigkeit herbei-
führen muß. Das ist nicht theologisch. —
Der protestantische Staat hat durch Altenstein und Friedrich
Wilhelm III. durch das Verfahren gegen den Erzbischof von Köln
den Satz ausgesprochen, daß der konsequente Katholik unmöglich
ein brauchbarer Staatsbürger sein könne. Dieser Satz, dessen Be-
währung die ganze Geschichte des Mittelalters ist, gilt nicht nur
für den protestantischen, sondern überhaupt für jeden Staat. Wer
sein ganzes Sein und Leben zu einer Vorschule des Himmels macht,
kann am Irdischen nicht das Interesse haben, das der Staat von seinen
Bürgern fordert. Der Staat macht den Anspruch, seinen Bürgern
alles zu sein; er erkennt keine Macht über sich und stellt sich über-
haupt als absolute Gewalt hin. Der Katholik erkennt aber Gott und
seine Einrichtung, die Kirche, als das Absolute an, und kann sich
204 ^^^ ^^^ Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
also nie ohne inneren Vorbehalt auf den Boden des Staats stellen.
Dieser Widerspruch ist unlösbar. Selbst der katholische Staat muß
sich für den Katholiken dei Kirche unterordnen oder der Katholik
zerfällt mit ihm; wie viel mehr also wird er mit dem nichtkatho-
lischen Staat zerfallen sein ? In dieser Hinsicht war das Verfahren
der vorigen Regierung vollkommen konsequent und wohlbegründet ;
der Staat kann nur so lange die Freiheit der katholischen Kor-
fession ungeschmälert lassen, als sie sich den bestehenden Gesetzen
unterwirft. — Dieser Zustand der Dinge konnte dem christlichen
Könige nicht genügen. Aber was war zu machen? De^ protestan-
tische Staat konnte nicht hinter den katholischen Hohenstaufen
zurückbleiben, und bei der Höhe des Bewußtseins, zu welcher Staat
und Kirche sich aufgeschwungen hatten, war eine definitive Lösung
nur durch eine Unterwerfung des einen oder des andern möglich —
eine Unterwerfung, die für den sich beugenden Teil einer Selbst-
vernichtung gleichgekommen wäre. Die Frage war prinzipiell ge-
worden, und vor den Prinzipien hatte der einzelne Fall als solcher
zurücktreten müssen. Was tat Friedrich Wilhelm IV. ? Echt theo-
logisch drängte er die vorlauten, vmbequemen Prinzipien zurück,
hielt sich rein an den vorliegenden Fall, der nun ohne die Prinzi-
pien vollends verwickelt wurde, und suchte diesen durch Vermitt-
lung aus dem Wege zu schaffen. Die Kurie gab nichts nach — wer
also das blaue Auge davon trug, war der Staat. Das ist die berühmite
glorreiche Lösung der Kölner Wirren, auf ihren wahren Wert
reduziert.
Dieselben nur oberflächlich verdeckten Widersprüche, die
Friedrich Wilhelm IV. in der Stellung des Staats zur Kirche hervor-
rief, suchte er auch in den innern Verhältnissen des Staats zu er-
wecken. Er konnte sich hier an die bereits bestehenden Theorien
der historischen Rechtsschule anlehnen und hatte so ein ziemlich
leichtes Spiel. Der Verlauf der Geschichte hatte in Deutschland
das Prinzip der absoluten Monarchie zur herrschenden gemacht,
die Rechte der alten Feudalstände vernichtet, den König zum Gott
im Staate erhoben. Dazu waren in der Zeit von 1807 bis 13 die Reste
des Mittelalters mit Entschiedenheit angegriffen und zum großen
Teil weggeräumt worden. Wie viel auch seitdem redressiert sein
mochte, die Gesetzgebung jener Zeit und das unter dem Einfluß
der Aufklärung abgefaßte Landrecht blieben die Grundlagen der
preußischen Gesetzgebung. Ein solcher Zustand mußte unerträg-
lich sein. Daher knüpfte Friedrich Wilhelm IV. überall an, wo er
noch etwas Mittelalterliches vorfand. Der Majoratsadel wurde be-
günstigt und durch neue Adels Verleihungen, die unter Bedingung
der Majoratsstiftung erteilt wurden, verstärkt; der Bürgerstand als
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. 205
solcher, getrennt vom Adel und den Bauern, als aparter, Handel
und Industrie repräsentierender Stand angesehen und behandelt,
die Sonderung der Korporationen, die Abschließung einzelner Hand-
werke und ihre Annäherung an das Zunftwesen begünstigt usw.
Überhaupt zeigten alle Reden und Handlungen des Königs von
vornherein, daß er eine besondere Vorliebe für das Korporations-
wesen hat, und gerade dies bezeichnet seinen mittelalterlichen Stand-
punkt am besten. Dies Nebeneinanderbestehen privilegierter Ver-
bindungen, die in ihren innern Angelegenheiten mit einer gewissen
Freiheit und Selbständigkeit verfahren können, deren jede durch
gleiche Interessen in sich verbunden ist, die sich aber auch gegen-
seitig bekämpfen und übervorteilen — diese Zersplitterung der
Staatskräfte bis zur völligen Auflösung des Staats, wie sie das deut-
sche Reich darstellt, macht einen der wesentlichsten Momente des
Mittelalters aus. Es versteht sich aber von selbst, daß Friedrich
Wilhelm IV. nicht gesonnen ist, den christlichen Staat bis zu dieser
Konsequenz durchzuführen. Er glaubt zwar, zur Herstellung des
wahrhaft christlichen Staates berufen zu sein, in Wahrheit aber
will er nur den theologischen Schein desselben, den Glanz und
Schimmer, nicht aber die Not, den Druck, die Unordnung und
Selbstvernichtung des christlichen Staats, kurz ein Justemilieu-
Mittelalter; gerade wie etwa Leo auch nur den glänzenden Kultus,
die Kirchenzucht usw. vom Katholizismus will, nicht aber den
ganzen Katholizismus mit Haut und Haar. Darum ist Friedrich
Wilhelm auch nicht absolut illiberal und gewaltsam in seinen Be-
strebungen, Gott bewahre, er will seinen Preußen alle möglichen
Freiheiten lassen, aber eben nur in der Gestalt der Unfreiheit, des
Monopols und Privilegiums. Er ist kein entschiedener Feind der
freien Presse, er wird sie geben, aber auch als Monopol des vor^
zugsweise wissenschaftlichen Standes. Er will die Repräsentation
nicht aufheben oder verweigern, er will nur nicht, daß der Staats-
bürger, als solcher, vertreten sei; er arbeitet auf eine Repräsentation
der Stände hin, wie sie in den preußischen Provinzialständen schon
teilweise ausgeführt ist. Kurz, er kennt keine allgemeinen, keine
staatsbürgerlichen, keine Menschenrechte, er kennt nur Korpo-
rationsrechte, Monopole, Privilegien. Deren wird er eine Masse
geben, so viel, wie er kann, ohne seine absolute Gewalt durch po-
sitiv-gesetzliche Bestimmungen zu beschränken. Vielleicht auch
mehr. Vielleicht hat er schon jetzt, trotz der Königsberger und
Breslauer Bescheide, im geheimen die Absicht, wenn er seine theo-
logische Politik weit genug durchgeführt hat, das Werk durch Er-
teilung einer reichsständisch -mittelalterlichen Verfassung zu krönen
und seinen möglicherweise andersgesinnten Nachfolgern die Hände
2o6 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
dadurch zu binden. Konsequent wäre es — ob aber seine Theologie
das zuläßt, steht dahin.
Wie schwankend und haltlos, wie inkonsequent dies System
schon in sich selbst ist, haben wir gesehen ; die Einführung desselben
in die Praxis muß notwendigerweise neue Schwankungen und In-
konsequenzen herbeiführen. Der kalte preußische Beamtenstaat,
das Kontrollwesen, die schnarrende Staatsmaschine will von der
schönen, glänzenden, vertrauensvollen Romantik nichts wissen.
Das Volk steht im Durchschnitt auf einer noch zu niedrigen Stufe
der politischen Bildung, um das System des christlichen Königs
durchschauen zu können. Der Kaß gegen die Privilegien des Adels,
gegen die Anmaßungen der Geistlichkeit jeder Konfession ist indes
zu tief eingewurzelt, als daß Friedrich Wilhelm bei ganz offenem
Verfahren hieran nicht scheitern müßte. Daher das bisher befolgte
ängstliche Sondierungssystem, mit welchem er zuerst die öffent-
liche Meinung ausforschte und dann immer noch Zeit genug behielt,
eine zu anstößige Maßregel zurückzuziehen. Daher die Methode,
seine Minister vorzuschieben und bei zu gewaltsamen Handlungen
derselben sie zu desavouieren, wobei nur das merkwürdig ist, daß
ein preußischer Minister sich das gefallen läßt, ohne seine Entlassung
einzureichen. Namentlich mit Rochow geschah dies früher und bin-
nen kurzem wird Herr Eichhorn an die Reihe kommen, obwohl ihn
der König noch jüngst tür einen Ehrenmann erklärt und seinen Hand-
lungen Beifall gezollt hat. Ohne solche theologische Mittel würde
Friedrich Wilhelm IV. längst die Liebe des Volks verscherzt haben,
die er sich bis jetzt nur noch durch seinen offenen, jovialen Cha-
rakter, durch möglichst große Liebenswürdigkeit und Leutseligkeit
und durch seinen rücksichtslosen Witz, der selbst gekrönte Häupter
nicht verschonen soll, erhalten hat. Auch hütet er sich wohl, die
zu anstößigen oder gar die unvermeidlichen schlimmen Seiten
seines Systems herauszukehren; er spricht im Gegenteil davon, als
wenn es lauter Pracht und Herrlichkeit und Freiheit wäre und läßt
sich nur da ganz gehen, wo sein System anscheinend liberaler ist,
als die bestehende preußische Bevormundung ; wo er aber illiberal
erscheinen würde, hält er sich klugerweise zurück. Zudem, während
er den gewöhnlichen Konstitutionalismus stets mit den Ehrennamen :
oberflächlich und ordinär belegt, hat er sich dessen Terminologie
dennoch angeeignet, und gebraucht sie in seinen Reden — soll man
sagen als Ausdruck oder als Verdeckung seiner Ideen .'' — mit vielem
Geschick. Genau so machen es die modernen Vermittlungstheo-
logen, die sich ebenfalls politischer Redeweisen mit Vorliebe bedienen
und sich so den Forderungen der Zeit zu akkommodieren wähnen.
Bruno Bauer nennt das kurzweg Heuchelei.
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen. 207
Was die Finanzverwaltung unter Friedrich Wilhelm IV. be-
trifft, hat er sich nicht an die Art von Zivilliste halten können, die
sein Vater für sich festsetzte, indem dieser gesetzlich bestimmte,
daß vom Ertrage der Domänen jährlich 2^4 Millionen Taler für
den König und sein Haus bestimmt, das übrige aber, gleich allen
andern Einkünften, zu Staatszwecken verwendet werden sollte.
Man kann dem Könige nachrechnen, selbst wenn man seine Privat-
einkünfte hinzuzählt, daß er mehr verbraucht als 214 Millionen —
und doch sollte von diesen noch die Apanage der andern Prinzen
bestritten werden. Bülow-Cummerow hat zudem erwiesen, daß die
sogenannte Rechnungsablage des preußischen Staats rein illusorisch
ist. Es ist also durchaus kein Geheimnis, wie die Staatseinkünfte
verwaltet werden. Der vielbesprochene Steuererlaß ist kaum der
Rede wert, und hätte schon unter dem vorigen Könige längst ein-
treten können, wenn dieser es nicht gescheut hätte, je in die Not-
wendigkeit einer Steuererhöhung zu kommen.
Ich glaube hiermit über Friedrich Wilhelm IV. genug gesagt
zu haben. Es versteht sich bei seinem unbezweifelt gutmütigen
Charakter von selbst, daß er in Dingen, die mit seiner Theorie nicht
in Berührung stehen, aufrichtig das tut, was die öffentliche Stimme
von ihm fordert und was wirklich gut ist. Es bleibt nur noch die
Frage, ob er jemals sein System durchsetzen werde? Darauf läßt
sich glücklicherweise nur mit Nein antworten. Das preußische Volk
hat seit einem Jahre, seit der angeblich freieren Bewegung der Presse,
die im AugenbUck wieder die unfreiste geworden ist, einen Auf-
schwung genommen, der mit der Geringfügigkeit jener Maßregel
fast in gar keinem Verhältnis steht. Der Druck der Zensur hält in
Preußen eine so ungeheure Masse von Kräften gefesselt, daß die
geringste Erleichterung eine unverhältnismäßig starke Reaktion
derselben hervorruft. Die öffentliche Meinung in Preußen konzen-
triert sich immer mehr auf zwei Dinge: Repräsentatiwerfassurg und
besonders Preßfreiheit; der König mag sich stellen, wie er will, man
wird ihm vorläufig die letztere abnötigen und besitzt man diese,
so muß die Verfassung in einem Jahre nachfolgen. Ist aber eine
Repräsentation erst da, so läßt sich gar nicht absehen, welchen Gang
Preußen dann nehmen wird. Eine der ersten Folgen wird die Zer-
störung der russischen Allianz sein, wenn der König nicht schon
früher genötigt sein sollte, diese Folge seines Prinzips fahren zu
lassen. Dann aber kann noch manches folgen, und Preußens jetzige
Lage hat viel Ähnlichkeit mit der Frankreichs vor — doch ich ent-
halte mich aller voreiligen Schlüsse.
2o8
Aus der Militärzeit in Berlin. 1841—42.
Die
frech bedräute,
jedoch wunderbar befreite
BIBEL.
Oder
Der Triumph des Glaubens.
Das ist:
Schreckliche,
jedoch wahrhafte und erkleckhche
Historia
von dem weiland Licentiaten
Bruno Bauer;
wie selbiger
vom Teufel verführet,
vom reinen Glauben abgefallen,
Oberteufel geworden
und endlich
kräftiglich entsetzet ist.
Christliches Heldengedicht
in vier Gesängen.
Neumünster bei Zürich.
Truckts und verlegts Joh. Fr. Heß.
Ao. 1842.
Mayer, EngeU. Ergäüzniigsbaad. I4
Erster Gesang.
Des Glaubens Gloria recht herrlich zu besingen,
Entfalt', o Seele mein, demütiglich die Schwingen,
Des Glaubens hohen Sieg — doch nein! ist eigne Kraft
Nicht gleich dem schwachen Rohr ? Ein andrer gibt den Saft ;
Ein anderer verleiht so Wollen wie Vermögen:
Ihr Gläubgen, fleht herab auf mich der Gnade Segen!
Ja, hebe dein Gebrüll, du Leu am Saalestrand,
Und falte, Hengstenberg, die sieggewohnte Hand!
Du mit der Leier groß, und groß auf dem Katheder,
O Sack, von deiner Kraft ergieß in meine Feder;
Kr um mach er, Gottesmann, des wahren Glaubens Hort,
0 lehre mich, gleich dir, verkündigen das Wort!
Und du, mein holder Knapp! Ich trag', o fromme Seele,
Die Fackel deines Lieds kühn in die Lästerhöhle!
Und du, der dem Geschlecht der Spötter, kühn und frei.
Das Kreuz entgegenhielt, o Klopstock, steh' mir bei!
Was war' ich ohne dich, Theologus Johannes!
Wenn du mir treulich hilfst, ich unternehm's und kann es-
Vertilgen helfet mir, David und He se kiel.
Den Greul der Lästerung mit Stumpf und auch mit Stiel!
Auf, scharet euch um mich, des Glaubens starke Säulen,
Beschützt mich gegen Spott und frecher Lästrer Heulen;
Hebt eure Hände fromm zum Thron der Ganden auf.
Daß ich zum Preis des Herrn vollende meinen Lauf! —
Was störet auf einmal der Sel'gen Hosianna?
Warum versieget denn des Engelliedes Manna?
Weh, ist des Teufels List zum Himmel eingekehrt
Und hat sein Pestgestank die Freud' in Leid verkehrt?
Wo Jubel nur und Preis und Loblied soll erklingen.
Was soll das Jammern dort, das Klageliedersingen ?
Wer ist es, der da klagt? Wer schreit in Himmelshöh'n ?
Der Frommen Seelen sind's, sie haben das Gestöhn:
,,0 Herr, erhöre Herr, Herr höre unser Schreien!
Wie lange duldest du die Plage deiner Treuen?
Wie lange wartest du, und hast noch nicht gerächt,
O Herr, der Gläub'gen Blut am frevelnden Geschlecht ?
Der Triumph des Glaubens. 2ii
Ach, soll der Weltlust Trotz, der frechen Läst'rer Prahlen
Im Glanz der Herrlichkeit stets auf der Erden strahlen?
Soll jeder Philosoph stets sagen: Ich bin Ich?
Soll der Freigeister Schar stets frecher lästern dich ?
Ach, immer lauter schallt des Übermutes Höhnen,
O laß des Weltgerichts Posaune bald ertönen!
Besänft'gend spricht der Herr: „Noch ist nicht voll das Maß,
Nicht arg genug der Stank, der ausgeht von dem Aas ;
Und meine Streiter auch muß ich zum Mut erziehen,
Daß nicht im letzten Kampf sie vor dem Satan fliehen.
Dort unten in Berlin sind, die mich suchen. Viel',
Doch Viele fesselt noch des stolzen Denkens Pfühl;
Nicht glauben wollen sie, sie wollen mich begreifen,
Mich fesseln wollen sie mit des Gedankens Reifen.
Seht Bruno Bauer dort: er glaubt, doch er denkt nach,
Wohl willig ist sein Fleisch, doch ach, der Geist ist schwach.
Nun, wartet kurze Zeit; bald weichen diese Schlacken,
Dann wird nicht Satan mehr ihn bei dem Denken packen.
Er, der so treu mich sucht, er findet mich zuletzt,
Fromm wirft er von sich ab, was Eitles ihn ergötzt.
Des Denkens Narretei, die seinen Sinn zersplittert,
Erkennet er als Wind — und seine Seel* erzittert.
Ja, die Philosophie, sie wird ihm noch ein Spott,
Die Gnade bricht hindurch, er glaubet: Gott ist Gott."
Und über dieses Wort ward Seligkeit dort oben.
Zum Preis des starken Herrn ein Loblied ward erhoben:
,,Wohl würdig bist du, Herr, zu nehmen Ehr' und Preis
Und Kraft, geschaffen ist durch dich der Welten Kreis;
Bald kommen wird dein Zorn, die Bösen zu vernichten.
Die Knechte zu erhöh 'n, die deinen Dienst verrichten.*'
Und weiter sprach der Herr: ,,Ja, jener ist der Mann,
Der in dem letzten Kampf die Gläub'gen führen kann.
Wenn auf die sünd'ge Welt dann meines Zornes Schalen
Herniederstürzen, sich die Meere blutig malen,
Und wenn des Abgrunds Born sich finster tuet auf,
Wenn der Heuschreckenschwarm erscheint in hellem Häuf,
Wenn Feuerhagel dann zur Erde niederprasselt.
Der Boden rings erbebt, der Fels zusammenrasselt,
Schwingt Bruno Bauer hoch die Fahne meiner Schar,
Nicht wankend in dem Kampf für Thron und für Altar.
Und über dieses Wort ward Seligkeit dort oben.
Zum Preis des starken Herrn ein Loblied ward erhoben:
,,Halleluja! Und der Rauch gehet auf ewiglich!
14*
212 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Und sieh! Als noch das Lied ertönte durch die Himmel,
Da kam der Teufel an mit Stank und mit Getümmel.
In seinen Augen glomm der Hölle schwarze Wut,
Die Zunge lechzte nach der Gotteskinder Blut.
So trat er frevelnd hin zum Stuhl des Allerhöchsten,
Zu jenen Engeln, die dem Throne stehn am nächsten,
Und schrie wie Donner gr aus: „Wie lange zauderst du,
Und hältst in meinem Haus mich auf in feiger Ruh*?
Du hast wohl Furcht, daß ich am jüngsten Tage,
Wo um die Krone dieser Welt
Wir kämpfen, daß ich da dein Heer von Engeln schlage,
Erstürme mir dein Himmelszelt?
Und hast du Mut, wohlan, den Kampf beschleunige.
Laß die Posaunen blasen.
Daß ich mein wildes Heer alsbald vereinige.
Ich brenne schon vor Lust, zu s^^ürzen auf das deinige.
Durch deine Sphären hinzurasen!"
Der Herr: „Geduld, Geduld, die Zeit ist nicht mehr fern.
Wo du erkennen sollst, daß ich der Herr der Herrn!
Sieh auf die Erd* herab, ob du sie merkst, die Zeichen,
Darob die Menschen all' erzittern und erbleichen?
Sieh Krieg und Pest und Brand und Revolution,
Sieh, das Gesetz verhöhnt, geschmäht Religion,
Die Gottesläst'rer blühn, verlästert sind die Frommen,
Und warte nur, es wird noch zehnmal besser kommen!
Jetzt hab' ich auserwählt mir einen treuen Knecht,
Der predige das Reich dem gottlosen Geschlecht;
Sie werden ihn verschmähn, sie werden seiner lachen.
Das will ich just, so kann ich bald ein Ende machen.
Noch ist das Maß nicht voll, doch lange währt es nicht,
Wenn ferner sie verschmähn, wie jetzt, das Gnadenlicht.**
Der Teufel: „Und wer ist ersehn zu diesen Taten?"
Der Herr: „Der Bauer ist's." —
„Meinst du den Licentiaten ?*
,, Denselben."
„Nun, der dient dir auf besond're Weise.
Nicht beten und Gesang ist seines Herzens Speise.
Nein, sieh', von dir verlangt er deine schönsten Sterne,
Und dann begreift er sie — das ist so seine Lust.
Und aller Dogmata spekulativste Kerne
Befried'gen nicht die tiefbewegte Brust."
Der Herr: ,,Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient.
So werd' ich ihn gewiß bald in die Klarheit führen.
Der Triumph des Glaubens. 213
Und wenn er jetzt auch noch zu denken sich erkühnt,
Verlaß dich drauf, bald soll er die Vernunft verlieren."
Der Teufel: ,,Nun, was gilt's, den will ich dir verführen?
Er soll, ein Edelstein, bald meine Krone zieren,
Ihm steckt bei alledem der Hegel noch im Kopf,
Da faß' ich ihn, gib acht, da faß* ich ihn beim Schopf/*
Der Herr: ,, Wohlan, er sei dir blindlings überlassen!
Zieh' diesen Gläubigen von seinem Heiland ab.
Und führ' ihn, kannst du ihn mit deinem Trug erfassen,
Auf deinem Höllenweg hohnlachend mit hinab,
Und steh' beschämt, wenn du zuletzt gestehen mußt,.
Ein Gläubiger, selbst im spekulativen Drange,
Ist sich des schmalen Wegs im Herzen stets bewußt."
Da schrie der Teufel froh: ,, Wohlan, mir ist nicht bange,
Gib acht, den Bauer hast du nicht mehr allzulange!"
Und mit des Stuimes Kraft fuhr er alsbald hinaus,
Erfüllend noch mit Qualm des Himmels strahlend Haus.
Indes der Teufel dort mit Gott dem Herrn verkehret,
Hat dei Verdammten Schar sich in der Höll* empöret.
Es tost der wilde Schwärm im Aufruhr fürchterlich,
Laut rufend mit Gebrüll: Wo bist du, Teutel sprich?
An ihrer Spitze schwingt zwei Feuerbränder Hegel,
Und Voltaire hinterdrein mit feurigrotem Flegel,
Danton erhebt die Stimm', es brüllet Edelmann,
Es ruft Napoleon: ,,Auf, Höllenbrut, voran!"
So rasen durch die Glut des Abgrunds finst're Geister,
So schnauben sie voll Wut und rufen nach dem Meister.
Da von des Himmels Höh'n stürzt eilends Er herab
In seine Feuerseen und in sein Flammengrab.
,,Was ist, so ruft er laut, was wollt ihr, schnöde Rotten,
Wollt ihr des Teufels Zorn, des Teufels Macht verspotten ?
Ist euch nicht heiß genug der Höllen Flammenglut,
Und tränk' ich euch nicht satt in der Gerechten Blut ?
,,Nein, nein, schreit Voltaire, nein, du tatenloser Teufel,
Hab' ich darum gepflanzt, geheget stets den Zweifel,
Daß überall nun durch spekulative Nacht
Das Wort Philosophie wird in Verruf gebracht,
Daß mich Franzosen selbst, den Pfaffen glaubend, hassen —
Und das, du Teufel, das kannst du geschehen lassen ?"
,, Weshalb, spricht Danton, hab' ich denn guillotiniert,
Weshalb, statt Gottesdienst, Vernunftdienst eingeführt.
Wenn wieder Unsinn herrscht, aristokrat'sche Laffen
Ins Reich sich teilen mit den hirnverbrannten Pfaffen ?"
214 ^"^ ^^'^ Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Und Hegel, dem bisher der Grimm den Mund verschloß,
Urplötzlich fand das Wort, und hob sich riesengroß:
„Mein ganzes Leben weiht' ich der Wissenschaft,
Den Atheismus lehrt' ich mit ganzer Kraft,
Das Selbstbewußtsein hob zum Throne ich,
Gott zu bewältigen, glaubte schon ich.
Doch mich gebraucht nur törichter Mißverstand,
Und feige Geister haben mich umgewandt.
Den Unsinn auf zukonstruieren.
Knechteten schnöde das Spekulieren.
Und jetzt da endlich kühn sich erhob der Mann,
Der Strauß, der halb schon mich zu verstehen begann.
Als kaum nach Zürich er berufen.
Wies man ihn ab an der Aula Stufen.
0 Schmach, vom ganzen Kreise der Welt verbannt
Ist schon das Werkzeug, welches ich klug erfand,
Die Freiheitskampf er in, die kühne.
Wehe, verbannt ist die Guillotine!
Auf, sag', o Teufel, hab' ich umsonst gelebt?
Hab' ich vergebens philosophiert, gestrebt?
Wird bald der Mann, der rechte, kommen,
Welcher es köpft, das Geschlecht der Frommen ?*' —
Das hört der Teufel an mit hämisch -zartem Grinsen:
„Still, still, du treu'ster Knecht, und laß das eitle Plinsen.
Wie, kennt ihr mich nicht mehr, den Teufel? Hört mich an:
Gefunden ist schon längst, gefunden ist der Mann!"
,,Wer ist's? Laß uns so lang nicht stehen auf der Lauer!"
So rufen all'. Und er: „Er heißet — Bruno Bauer!"
Es lacht die schnöde Schar. Sie wenden das Gesicht,
Und Hegel, zornentflammt, der wilde Hegel spricht:
,, Willst du spotten noch und höhnen, du verfluchtester der Wichte,
Kann der Bauer denn uns helfen, der Vernunft nur macht zu nichte,
Der die Wissenschaft nur führet auf des Glaubens Hochgerichte ?**
„0 Hegel bist du blind," sprach drauf der Höllenfürste,
,, Glaubst du, daß Bauer nur nach Glaubensäpfeln dürste?
Sein Durst ist viel zu groß, die machen ihn nicht satt,
Wer so gewaltig kämpft, der wird so leicht nicht matt.
Hüllt er sich jetzt noch in des Glaubens Bettlermantel,
Er wirft ihn ab: gib acht, ich schließ* mit ihm den Handel."
„Ich beuge mich vor dir", sprach Hegel wieder froh,
Und d'rauf die ganze Schar erhob ein wild' Hailoh.
Mit Jubel führte sie den Herrscher an die Schwelle,
Und dieser, siegbewußt, entschwebete der Hölle. —
Der Triumph des Glaubens. 215
In frommer Leute Haus, in düsterem Gemach,
Von Büchern rings umstellt, denkt Bruno Bauer nach,
Vor sich den Pentateuch, und hinter sich den Teufel,
Bannt ihn der Glaube vorn und hinten rupft der Zweifel:
, (Schrieb Moses dieses Buch, ist echt es oder nicht?
O daß Philosophie so selten deutlich spricht!
Da hab' ich nun, weh mir, Phänomenologie,
Ästhetik, Logik und Metaphysik
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, nicht ohne Glück!
Heiße Doktor und Lizentiat,
Lese Collegia früh und spat,
Ich habe den Glauben spekulativ
Versöhnt mit dem absoluten Begiiff,
Mir ist nichts dunkel, da ist kein Geheimnis,
Das ich nicht ergründet hätt' ohne Säumnis,
Ich habe begriffen die Dogmen alle
Von Schöpfung, Erlösung und Sündenfalle,
Der Jungfrau wunderbare Empfängnis
Hab' ich begriffen sonder Bängnis,
Den ganzen Kram — und mit all' dem Zeugs
Läßt sich nicht beweisen die Echtheit des Pentateuchs.
Wer hilft in dieser Not, wer deutet, was mich quälet ?
Wer reicht des Wissens Brot, ergänzet, was mir fehlet ? —
Dort dies geheimnisvolle Buch
Von des Philippus eigner Hand,
Ist mir es nicht Geleit genug
Durch dieser Zweifel labyrinth'sches Land ?
Ich schlag' es auf. Schon wird der Sinn mir hell,
Entgegenrauscht mir ein Kategorienqnell.
Sieh, wie sie auf- und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Ha, welch' eine Höhe!
Vermittelt schon sehe
Ich Glauben und Wissen
In heiligen Küssen!
Tief unter mir die Mächte der Natur!
Welch* Schauspiel, aber ach! ein Schauspiel nur!
Denn wird der Schleier mir gehoben.
Der um den Ursprung ist des Pentateuchs gewoben ?
Philippe erscheine!"
Ein Schatten, dreigekrönt, tritt aus gespaltner Wand,
Und warnend hob er hoch empor die dürre Hand:
21 6 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
„O Bauer, Bauer, falle nicht vom Pfad hinab,
Der dir in Hegels Logik vor gezeichnet ist!
Und wo in absoluter Klarheit der Begriff
Erstrahlt, da laß vorstellungsmäßig Denken nicht
Dem Geiste trotzen, welcher da die Freiheit ist." —
,,Doch ist dies Buch denn echt, wie lösest du die Frage ?
O weiche mir nicht aus, o sprich, antworte, sage!"
,,Du gleichst dem Geist, den du begreifst; nicht mir!"
,, Nicht dir? Verschwinde nicht, o laß dich halten, Freund!"
Er ruft's, springt auf, und sieh', da steht vor ihm der Feind.
,,Haha haha haha haha haha haha!
Da steht der Theolog, da stehet er nun da!
Du bist doch sonst so klug, und hast noch nicht gesehen,
Daß man dich immer läßt ringsum, im Kreise gehen ?"
In wirrem Schrecken greift jetzt Biuno nach der Bibel.
,,Pah," lacht der Teufel auf, ,,was soll die alte Fibel?
Pah, über solches Zeug sind wir schon längst hinaus.
Und dich, ich glaub' es nicht, dich letzet solch' ein Schmaus?
Wie? Glaubst du, wenn du hier in dumpfen Mauern steckest.
Wenn du aus krankem Hirn Kategorien heckest,
Wenn du das Wasser und das Feuer mischen willst.
Mit ekelem Gebräu den Geist, den durst'gen, stillst,
Den Geist, der frei sich sehnt, die Fesseln zu zersprengen.
Die ihn in schalen Dunst, in dumpfen Kerker zwängen, —
Dann glaubst dein Sehnen du gestillt mit solcher Qual?
Hat Hegel dich gelehrt, zusammen Berg und Tal
Zu bringen, Schwarz mit Weiß, und Feuersglut und Wasser ?
An Hegel denke jetzt, den kühnen Gotteshasser,
Der ohne Grübeln warf das Faktum über Bord,
Vor der Vernunft verwarf der Überliefrung Wort!"
,,Was du, o Teufel, sagst, schön klingt es, eine Quelle
Des reinsten Himmelslichts, so scheint der Qualm der Hölle ;
Doch mich verführst du nicht; die Spekulation
Sie hat, o Teufel, längst auch dich begriffen schon.
Glaubst du, wo meinem Geist sich auf tut jedes Wesen,
Du seist allein verschont von dem Begriff gewesen ?
Ich weiß, mit schönem Schein, mit gleißnerischem Wort
Betörst du uns zuerst, und reißest uns dann fort.
Versprichst uns freien Geist für unsre schönen Fakta,
Und führst uns dann ins Reich einseitiger Abstrakta.
Zu dem Extreme führt dein freier Geist mich hin,
Da ich nichts andres weiß und denk', als daß ich bin.
Der Triumph des Glaubens. 217
Nicht jene kalte Höh' kann mich, o Freund, betören,
Wo, was der Geist begreift, er einzig will zerstören.
Ein beutegier 'ger Schlund, ein Moloch ist dein Geist,
Der seine Zähne stets dem Positiven weis't.
Du siehst, ich kenne dich, ich kenne deine Fahrten,
Und was du mir gesagt, sind lauter Redensarten.
Schau hier den Pentateuch ; faß ich ihn positiv,
Hab' ich mit ihm zugleich des Judentums Begriff."
Der Böse grinst und höhnt: ,,Ha ist es nicht zum Lachen.''
Wjis alt und rostig ist, das willst du glänzend machen ?
Wo man in Läusen nur des Herren Finger sieht, (2. Mose 8, 19)
Und wo des Hauses Bau den Herrn im Himmel müht, (5. Mose 22, 8)
Wo Gottes Rufen man in allem will verspüren,
In Maß, Gewicht und Pfand da willst du spekulieren ? (5. Mose 25)
Da mattest du dich ab, freudlos und ohne Ruh?
Versuch 's, wer stärker ist, der Glauben oder du!
Hinauf! wo sich der Geist in seiner Herrschaft fühlet.
Wo nicht er, gleich dem Wurm, in altem Moder wühlet;
Dort thront er siegbewußt ; vor seinem höchsten Recht
Beugt sich der Glaube tief, des Vorurteiles Knecht!"
,,0 Teufel, was ich sonst in unbewachten Stunden
Zu denken kaum gewagt, du sprichst es ungebunden.
Ach! daß es mich ergreift, mich fesselt mit Gewalt,
Daß quälend jetzt der Ruf in meinem Innern schallt:
,,Du hast umsonst gelebt!"
,,Nur keine Zeit verloren,
Du brauchst zu wollen nur, und du bist neugeboren!"
,,Doch was beginn' ich nun?"
„Wie, glaubst du, daß du hier,
Im gläubigen Berlin, in diesem Sandrevier,
Zu jener Höhe kannst, zu jenem Frohsinn dringen.
Dem Glauben frank und frei ein Pereat zu bringen ?
Ich führe dich nach Bonn zum stolzen grünen Rhein,
Da wasche dich vom Schlamm des Aberglaubens rein,
Da führ' in Heiterkeit ein neues, schönes Leben
Im frischen Bunde mit dem treuen Saft der Reben;
Wo alles Atmen Sieg, wo frisch die Brust sich hebt.
Und wo der Freiheit Glut in allen Adern bebt!" —
,, Wohlan, ich folge dir!" —
,,Und wo in voller Klarheit
Aus stolzem Geisterkampf ersteht die reine Wahrheit;
Hoch auf den Trümmern dort von kühn zerstörten Schranken
Bau' siegreich den Altar der freiesten Gedanken!"
2i8 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Zweiter Gesang.
O weh dir, Bonn, weh dir, frommste der Fakultäten,
Tu' Büß' in Asch' und Sack, laß nimmer ab vom Beten!
Auf dem Katheder, wo nur Fromme sich gesetzt,
Lehrt durch des Teufels List der tolle Bauer jetzt.
Da steht er, schäumt vor Wut, ein Teufelchen im Nacken,
Ihn lehrend, wie er soll die Theologen packen.
Da heult er auf vor Grimm, ein wasserscheuer Hund,
Und also spricht der Feind durch Bauers Lästermund:
,,0 laßt euch nimmer durch der Theologen Tücken,
Durch ihre Gleißnerei und Hinterlist berücken!
0 seht, wie sie den Sinn von jedem Wort verdrehen,
Wie sie auf bösem Pfad, im Dunkeln schleichend gehen;
O seht die schmutz'ge Angst dieser Buchstabenknechte,
Seht, wie sie selber stets sich schlagen im Gefechte!
Gesalbte Quälerei und Jesuitenlug,
Sophistik all' ihr Tun und gleißend frommer Trug!
Dem Dorf Schulmeister gleich, dem aus der Schul' entlaufen
Die Kinder, draußen sich nach Lust und Kräften raufen,
Wie der mit seinem Stock jagt wütend hinterdrein,
Und jene vor ihm fliehn mit Lärmen, Spott und Schrei *n —
So auch der Theolog. Stets kommt er in die Brüche,
Gerät er zwischen des Grundtextes Widersprüche.
Seht, wie er zirkelt, dreht, drückt, dehnt, preßt, quetscht und
Was eben er gesagt, im Augenblick vergißt, [mißt,
Seht, wie er kocht und braut in seiner dunst 'gen Küche,
Bis endlich mit Geschrei entfliehn die Widersprüche!
Wie jagt er ihnen nach! Wie schreit er hinterdrein:
Wollt ihr wohl wieder her? Wollt ihr wohl artig sein!
Wie schwingt er zornentbrannt des Glaubens heil'gen Bakel,
Wie haut er mitten in den gottlosen Spektakel!
Wie er sie fängt und in den Hexenkessel drückt.
Bis vor dem argen Qualm die Armen sind erstickt!
So sind sie all', so sind auch die Evangelisten,
So werden stets sie sein, so lang' es gibt noch Christen!
Wie ein Evangelist den andern mißversteht.
Wie er sich windet, quält, den Sinn noch mehr verdreht,
Wie in des Widerspruchs unrettbarer Verwirrung
Er sich nicht helfen kann, und stets vermehrt die Irrung,
Wie er des andern Schrift zerstört, zerreißt, zerfetzt,
Und alledem die Krön' Johannes aufgesetzt;
O seht — " Da hielten sich die Gläubigen nicht länger:
Der Triumph des Glaubens. 219
,, Hinaus das Lästermaul, hinaus, am Galgen häng' er!
Hinaus mit ihm, dafür ist nicht der Lehrstuhl da,
Hinaus mit ihm, hinaus, hinaus, Halleluja!"
Doch andre schrie 'n: ,, Hurrah I hoch lebe Bruno Bauer,
Der freien Wissenschaft, des freien Denkens Mauer!
Schweigt, fromme Heuchler, schweigt, sonst zeige Keilerei,
Ob wirklich euer Gott ein starker Helfer sei!"
„Hinaus den Lügner!" schallt es von der rechten Seite,
,, Hinaus die Gläubigen!" schreit links die Frevlermeute,
,, Schweigt, Atheisten, still!" — „Ihr frommen Schafe schweigt,
Eh' euch der Böcke Schar die harten Hörner zeigt!"
,,Hier Christus!" — ,, Bauer hier!" —
Und mit gewalt'gem Rasseln
Hört man der Stöcke Wucht alsbald herniederprasseln.
Die wilde Schlacht entbrennt, es hallt das Kampfgeschrei.
Man wirft die Pulte um, schlägt jede Bank entzwei;
Aus Pulten bauen auf, zum Schutze vor den Christen,
Sich eine feste Burg die frechen Atheisten.
Als Bomben werfen sie, in dichter Schar vereint.
Die Dintenstecher all', die Bibeln auf den Feind.
Vergebens stürmen an auf diese Burg die Frommen,
Der dritte Anlauf selbst hat sie nicht eingenommen.
Schon blutet manches Haupt, und mancher Fromme sank,
Durch Atheistenhand getroffen, auf die Bank;
Da wirft der Frevler Hand die Mauer selbst zur Erde,
Daß rein des Kampfes Feld endlich gefeget werde.
Sie' stürzen schnaubend auf die Gottesstreiter los.
Die Frommen fliehn erschreckt vor diesem wilden Troß:
Das Feld ist rein. —
Es wogt die Flucht im Korridore,
Doch endlich steht die Schar der Frommen vor dem Tore.
Zur Hilfe schickt der Herr Pedelle jetzt herbei,
Es kommt der Rektor an, Senat und Klerisei.
Erst schlichten wollen sie, des Kampfes Ursach wissen;
Doch sind sie in den Strom alsbald hineingeiissen.
Von neuem fürchterlich erbraust die wilde Schlacht;
Wie manch' hochweises Haupt wird windelweich gemacht!
Wie mancher krumme Rücken wird hier gerad geschlagen!
Wie senkt sich manche Nase, die sonst so hoch getragen!
Die Luft verdunkelt sich vom ausgeklopften Staub,
Perücken fliegen rings, dem frechen Wind zum Raub,
Die Philosophen auch, die Herren Positiven,
Hei wie sie vor dem Stoß der Atheisten liefen!
220 Aus der Militärzeit in Berlin. 1 841— 1842.
Wie greifst du, kleiner Sohn des großen Fichte, aus!
Zu mager bist du doch zum Atheistenschmaus!
Wie wird Herrn Brandis, seht, trotz seinem schnellen Jagen
Aus seinem Rocke der Systemstaub ausgeschlagen!
Was hilft es ihnen, daß sie Hegel widerlegt.
Wenn Hegels wilde Brut so wütend auf sie schlägt?
Denn immer toller drängt der Av,heisten Rotte,
Vor ihren Stöcken wird das Gottvertrau 'n zum Spotte.
Doch nein, sein Auge wacht; denn in der höchsten Not,
Die seine Gläubigen mit ärgstem Schimpf bedroht,
Da sendet er, den Sieg der Bösen zu vereiteln.
Den stets getreuen Sack mit glatt gekämmten Scheiteln.
Soeben kommt er her vom Weinberge des Herrn:
Am Kirchenhimmel glänzt sein graues Aug' ein Stern.
Es ist die Nase sein des Glaubens starke Säule,
Es triefet stets sein Mund von Gottes Wort und Heile.
Ihn trägt die Eselsmaid, gar wunderbar beschweift;
Ihn kümmert nimmer, daß sein Fuß am Boden schleift.
Er hat mit Gottes Kraft den Bibeltext erfunden
Und ihn der Eselsmaid dicht an den Schwanz gebunden.
Gesenkten Hauptes siizt er auf der Eselin,
Unmerkbar führt der Geist das Tier zum Kampfplatz hin.
Als er das Tosen hört, der Frechen Jubilieren,
Will er sein frommes Thier auf andre Wege führen.
Doch, die so folgsam sonst, die treue Eselsmaid,
Sieh', wie sie bäumt und stockt und springt und setzt und scheut.
„Was hast du, Tierchen, denn? Was kommt dir in die Quere?
Gehorche meinem Zaum, sei folgsam doch und höre!"
Doch sie gehorchet nicht und klemmt ihn an die Wand;
Da faßt zum ersten Mal ergrimmt den Stock die Hand.
Er schlägt und schlägt und schlägt, er schlägt und schlägt sie
Doch nimmer weicht das Tier, er fällt zur Erde nieder. [wieder.
Da öffnete der Herr der Eselin den Mund,
Und seine Absicht tat sie dem Erstaunten kund:
,,Was schlägst du ? Sieh' den Geist, der mir den Weg versperret,
Der an dem Zaume mich zu jenem Kampfplatz zerret!
Wo ist dein alter Mut ? Auf, stürz' in jenen Streit,
Wo Atheistenwut der Glaub 'gen Heer bedräut!
Tu* auf dein Ohr, o Sack, und hör' die sel'ge Kunde,
Die Gott dir offenbart aus deines Viehes Munde:
Sack hießest du bisher, und Beutel heiß hinfort.
So send' ich Beutel, dich, den Streit zu schlichten dort.'*
Gen Himmel schauend, sprach der fromme Bruder Beutel:
Der Triumph des Glaubens. 221
,,0 Herr, wie ist vor dir des Menschen Wissen eitel!
Die Tiere wählest du zu deinem Sprachrohr aus ;
Gehorsam deinem Ruf, stürz ich in Kampfesgraus."
Er sprach's und schnellgewandt eilt er zum Ort der Schrecken,
Den Matte, Blutende, Ohnmächtige bedecken.
Mit lautem Rufe sprengt der Kühne zwischen sie
Und singt den Friedenspsalm nach Himmelsmelodie.
Vor seinem Anblick stehn die Kämpfenden betroffen,
Doch Bruder Beutel steht, und sieht den Himmel offen.
,,Wie," ruft er, ,,an dem Ort, wo sonst nur Lobgesang
Und Glaubenswort ertönt, herrscht Haß, Neid, Mord, Sturm,
Ihr wollet, wo ich seh' den Himmel sich zerteilen, [Drang?
Im Angesicht des Herrn die Rücken euch zerkeilen ?"
Der Frommen Herde lauscht, zieht schüchtern sich zurück,
Der Atheisten Schar lacht drein mit frechem Blick.
Und Bruder Beutel sprach: ,,Hier unten Mord, Getümmel,
Doch oben ew'ge Ruh' und Seligkeit im Himmel.
Ich seh' die Cherubim um des Allmächt 'gen Thron,
Ich seh' das Gotteslamm, den eingebornen Sohn.
Ich seh' die Herrlichkeit des Herren niederscheinen,
Ich seh' die Engelein zum Loblied sich vereinen.
Ich seh' — o Seligkeit! das Lamm tut auf den Mund,
Und tut den Willen sein mir, seinem Knechte, kund:
,,,,Auf den ich sonst gehofft, Bruno, den Theologen,
Um den hat uns der Feind durch seine List betrogen.
Er, welcher betend sonst in seiner Klause saß.
Gibt jetzt mein heilig Wort den Gottlosen zum Fraß.
Ein wütend Mordgeschlecht hetzt er auf meine Frommen.
Sein Wille soll geschehn, der Fluch soll auf ihn kommen!
So sei denn du erwählt; zieh* hin durch Berg und Tal,
Und sammle du zum Kampf die Gläubigen zumal!
Laß dich dein frommes Tier durch alle Lande tragen.
Und predige das Wort vom Kreuze sonder Zagen!
So zieh* den Harnisch an, den Harnisch deines Herrn,
Denn sieh', des Kampfes Tag, der Tag ist nicht mehr fern.
Umgürte mit dem Gurt der Wahrheit deine Lenden,
Der Krebs der Rechtlichkeit soll dir Bewährung spenden.
Gestiefelt beide Bein', marschfertig, zieh' hinaus.
Lösch' auf des Glaubens Schild die Höllenpfeile aus.
Setz' auf den Helm des Heils, ihn trifft kein Schlag des Spottes,
Vor allem schwinge kühn das Schwert des Wortes Gottes!** **
Ja, Herr, ich folge di;, es zieht hinaus dein Knecht,
Zu predigen das Wort dem sündigen Geschlecht!**
222 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Zur Kirche war indes gewallt der Frommen Haufen,
Doch jene gingen hin, wie immer, um zu saufen.
Der Bruder Beutel läßt sein Tier nun fürbaß gehn,
Und singt: „Ehre sei Gott, dem Herrn in Himmelshöhn,
Den Menschen auf der Erd' ein süßes Wohlgefallen!"
Und weithin höret man das fromme Liedlein schallen.
So zieht er selig fort und überläßt dem Tier,
Wohin es ihn. des Wegs in Gottes Namen führ'.
Indessen sitzen drei in Leipzig still zusammen,
Drei Männer, längst schon reif für Satans Höllenflammen.
Der wilde Rüge ist's, der dort am Tische sitzt,
Das sorgenschwere Haupt auf breite Fäuste stützt.
Ein Recke wohlbeleibt, friedfertig anzuschauen.
Doch sind wie Schwerter scharf die kampfgewohnten Klauen.
Behaglich glaubst du ihn, dem Bierphilister gleich.
Doch trägt er in der Brust ein ganzes Höllenreich.
O Rüge, lache nur, bald kommet das Gerichte,
Da wird auch dir man ziehn die Maske vom Gesichte I
Der andre, welcher schaut ins Glas mit schnödem Trutz
Und Höllengreuel sinnt, das ist der grimme Prutz.
Kein menschliches Gefühl drang je in seinen Busen,
Sein Denken und sein Tun, sein Fühlen sind Medusen.
Den Unbefangnen sä't sein gleißend glatter Reim
Ins unschuldvolle Herz des Atheismus Keim.
O Prutz, o lache nur, bald kommet das Gerichte,
Da wird auch dir man ziehn die Maske vom Gesichte!
Der Dritte endlich dort, der sich den Schnurrbart streicht,
Der Blücher -Wigand ist's, an Kniffen unerreicht,
Der Gotteslästrer nie ermüdender Verleger
Und durch sein Kapital der ganzen Rotte Träger.
Ha! lache, Wigand, nur, mit deinem Bart von Blücher,
Bald kommet das Gericht, du bist dem Teufel sicher!
Sie sitzen um den Tisch und sehn sich grollend an,
Und Wigand spricht: „Hab' ich darum mein Geld vertan,
Und mußt ich darum bloß bis jetzt so viel bezahlen,
Daß man verbietet nun die Hallischen Annalen?"
„O welche schlechte Zeit," spricht Arnold Rüge wild,
„Mit Mühe nur mein Blatt des Zensors Blutdurst stillt;
Zwei Drittel Manuskript, die muß er mind'stens haben,
Und dennoch wollen sie mein armes Blatt begraben!"
Und Prutz: ,,0 wehe mir, seit einem halben Jahr
Ließ mir der Zensor durch auch nicht ein einzig Haar!
I Der Triumph des Glaubens. 223
Aushungern will man mich! Wird's besser nicht, ihr Brüder,
So dicht' ich, wie zuvor, beim Teufel! Liebeslieder."
,,Was soll man anders tun.'"* spricht Rüge wild danach,
Ich bin beschränkt schon auf den Musenalmanach.
Zum Teufel Hegelei! Den Busen mir zu schwellen,
Zieht süße Lieder ein, langweilige Novellen!"
,,Und ich," fährt Wigand fort, ,,ich kriege Müggen 'ran,
Nehm* seinen neuesten vierbändigen Roman.
Komm' an mein Herz, o komm', sanftmüt'ge Belletristik,
Dich streicht der Zensor nicht, wie Hegeische Sophistik.
Für deutsche Dichter jetzt breit' ich den Fittich aus.
Kommt, Minnesänger, kommt, Bierfiedler, in mein Haus!
Gebt Brüder mir die Hand, wir ändern unsre Führung,
Wir werden jetzt loyal, es lebe die Regierung!"
Da tritt der Teufel ein: ,,Ihr jämmerlicher Schund!"
Fährt er die Freien an mit flammensprühndem Mund ;
,,Ist das der Heldenmut, das euer kühnes Wagen,
Vor eines Zensors Spruch, vor dem Verbot zu zagen ?
O schämen muß ich mich, daß ich auf euch vertraut,
Den Esel nicht erkannt in seiner Löwenhaut!
Ha, wartet! Kann ich euch erst in der Hölle packen,
Wie will ich da mit Lust euch peinigen und placken!
Nein! das, du feiger Troß, das wäre mir zu klein:
Zum Himmel jag' ich euch, zu Gott dem Herrn hinein!"
,,So sei vernünftig doch!" sagt Wigand ihm dagegen,
,,Was fangen wir denn an? Führ* uns auf bessern Wegen!"
,,Ihr seid wie Ochsen dumm, der Teufel zornig spricht,
Ihr sehet ja den Wald vor lauter Bäumen nicht!
Bindet den Hallischen Annalen man die Hände,
So nennt ihr Deutsche sie, und alles ist zu Ende.
Und mir nur überlaßt die Sorge der Zensur,
Das findet alles sich, es gilt Courage nur!
Wer mit dem Teufel steht auf Du und Du im Bunde,
Der dsirf nicht feig entfliehn vor jedem Lumpenhunde!
Jetzt also fasset Mut! Ich muß noch weiter heut',
Ihr wütet vor wie nach für die Gottlosigkeit!"
Er sprach es und verschwand. Da, wider alles Hoffen,,
Tritt Bruder Beutel ein, und sieht den Himmel offen.
Ihn trägt die Eselin, die Gottes Sprachrohr ward,
Sie wird ihn tragen auch bei seiner Himmelfahrt.
Zum Himmel schaut er auf mit gott verzückten Blicken,
Und spricht: ,,0 Lästerschar, ich kenne deine Tücken I
224 ^^^ ^^^ Militärzeit in Berlin. 1841— 1842.
So spricht dei Herr dein Gott: Ihr seid des Teufels Brut,
Ihr dürstet immerdar nach dei Gerechten Blut;
Noch einmal will ich euch durch meinen Knecht berufen,
Daß ihr euch demütigt vor meines Thrones Stufen.
Tut Buße, spricht der Herr! und kriecht vor mir in Staub,
Eh' ihr hinfallt zuletzt dem Höllenfeu'r ein Raub.
So spricht der Herr dein Gott: Wollt ihr euch nicht bekehren.
So will ich euch im Bauch das Eingeweid zerstören;
Zur süßen Speise geb' ich dieses Schandgeschlecht,
Euch meinem Hengstenberg und Beuteln, meinem Knecht;
Es sei der Frommen Leib euch ein lebendig Grab!
So spricht der Herr dein Gott!" — Und damit zog er ab.
Dritter Gesang.
Was seh* ich! Wüst ein Heer, das ganz von Lästrung funkelt,
Ob sich bei seiner Schau die Sonne nicht verdunkelt ?
Wer sind sie? Wie mit Hast sie kommen Mann für Mann!
Von Süden, Norden, Ost und Westen ziehn sie an.
Germaniens Auswurf ist's ; sie kommen, zu beraten
Und zu berauschen sich in neuen Freveltaten.
Schon fühlten sie die Hand des Herren über sich,
Schon maßen sie den Sturz, in den sie fürchterlich
Des Satans Kralle riß — schon wollten sie verzagen,
Den Atheismus schon zu allen Teufeln jagen ^
Da scholl des Arnolds Ruf, er fordert alle Frei'n
Nach Bockenheim zusamt zu höllischem Verein:
,,Auf, auf, ihr Freien all'! Was sitzt ihr an den Kunkeln,
Wenn die Romantiker die Welt ringsum verdunkeln ?
Wenn die Reaktion sich reget, wenn verschmitzt
Der Wissenschaft schon halb sie in dem Nacken sitzt?
Der Bauer ist bedroht; an wütige Censoren
Geht, was ihr denkt und schreibt, zum größten Teil verloren;
Drum, Freie allesamt, horcht meinem Manifest,
Vorausgesetzt, daß es der Zensor drucken läßt:
Es ist jetzt hohe Zeit, daß wir als Diplomaten
Die heil'ge Allianz ernst im Kongreß beraten.
Seht ihr, wie sie sich müht, die hohe Polizei,
Zu tilgen überall das kleine Wörtchen frei?
Wie der Gendarmerie das Gotteslamm sich eint.
Und gleichfalls nur zum Vieh herabzuwürd'gen meint?
Wohlauf, ihr Freien, denn zum schönen Bockenheim,
Dort pflanzen wir vereint der neuen Taten Keim!"
Der Triumph des Glaubens. 225
Kaum war das Manifest in alle Welt ergangen,
Welch' fürchterlicher Drang, welch' freventlich' Verlangen
Erstand in frecher Brust, nach Bockenheim zu ziehn;
Die Frechsten sendete vor Allen doch Berlin.
Schamlos ziehn sie daher, voran der breite Arnold,
Ihm nach in wilder Jagd ein wüster Zug von Narr'n tollt;
Weit übertraf er noch den Jakobinerklub,
Der hinter Arnold tost, der Atheistentrupp.
Siehst du den Koppen dort mit dem bebrillten Haupte,
Den gänzlich guten Mann — wenn 's Rüge nur erlaubte.
Doch Arnolds blinde Wut hat ganz ihn angesteckt:
An seine Seite hat den Degen er gesteckt,
Ein langes, rost'ges Ding, gleich einem Teufelsschwanze,
Umwedelt's wunderbar die Waden ihm im Tanze.
Ihn zieren Epauletts, ein Rohr trägt seine Hand,
Er braucht's, den Wissensdrang der Jugend zornentbrannt
Herauszupauken. — Seht, ihm folgt der freie Maien —
Europa kennet ihn — er ist's, an dem sich freuen
Der Bösen Böseste ; geborner Atheist,
Der schon seit Mutterleib täglich im Voltaire liest.
So hold, so zart, so klein — o arger Teufel Maien!
Wer sind die Rangen, die an deiner Seite schreien?
Weh', deine Neffen sind 's! Auch sie verführest du?
Gleich mit Familie fährst du dem Teufel zu ?
Doch der am weitsten links mit langen Beinen toset,
Ist Oswald, grau berockt und pfefferfarb behoset,
Auch innen pfefferhaft, Oswald, der Montagnard,
Der wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar.
Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine,
Auf ihr begleitet er stets eine Kavatine;
Stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Refrain:
Formez vos bataillons! aux armes, citoyens!
Wer raset neben ihm, bemuskelt wie ein Brauer ?
Das ist der Blutdurst selbst, es ist der Edgar Bauer.
Sein braunes Antlitz ist von Bartgesproß umwallt.
An Jahren ist er jung, an Listen ist er alt.
Von außen blaubefrackt, von innen schwarz und zottig.
Von außen Modemann, von innen sansculottig.
O seht das Wunder, seht, sein Schatten selber trampst,
Sein arger Schatten, den er Radge zubenambst.
Seht Stirner, seht ihn, den bedächt'gen Schrankenhasser,
Für jetzt noch trinkt er Bier, bald trinkt er Blut wie Wasser.
So wie die andern schrein ihr wild: ä bas les rois!
Mayer, Engels. Ergäczungsbaad. I5
226 -Aus der Militärzeit in Berlin. 1 841 — 1842.
Ergänzet Stirner gleich: ä bas aussi les lois!
Es trippelt hinterher, die grünen Zähne weisend,
Mit ungekämmtem Haupt und vor der Zeit ergreisend,
Ein seifenscheuer und blutscheuer Patriot,
Von innen schmeidig-zart, von außen Sanskulott.
Arnold der Wilde vorn, der Atheisten-Czare,
Er schwingt an seinem Stock diverse Exemplare
Der Hallischen Annalen ; ihm folget ungezählt
Der Schwärm, den Satan sich zum Fraß hat auserwählt.
Kaum sind zur Stelle sie, da tost heran der Bauer,
Gehüllt in Qualm und Dampf und Höllenregenschauer.
Er rast im grünen Rock, ein schmaler Bösewicht,
Den Höllensohn verrät das lauernde Gesicht.
Er schwingt die Fahne hoch, daß rings die Funken flogen
Von seiner Schmachkritik der Bibel einen Bogen.
Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut, und gleich, als wollt' er packen
Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehn,
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihm bei dem Schopf zehntausend Teufel faßten.
Patriziermäß'gen Gangs ein Jüngling folgt aus Köln,
Zum Himmelreich zu arg, zu fein dem Schlund der Höll'n.
Aristokrate halb, und halb ein Sansculotte,
Ein feiner reicher Herr mit faltigem Jabote;
Doch seine Seele zählt der argen Falten mehr,
In seiner Tasche sitzt ein ganzes Teufelsheer
Mit goldigem Gesicht. Und Rtg, der schnöde.
Er baumelt hinterher, mit seiner Faust nicht blöde.
Aus seinem Munde steigt ein ewig gleicher Rauch,
Ein Höllentabaksqualm — das ist sein schnöder Brauch.
Wenn in dem Munde hängt die ellenlange Pfeife,
Er nimmt sie nur heraus, zu keifen sein Gekeife.
Doch wer von Süden dort kommt mutterseelallein,
Verschmähend jeden Trost, er selber ein Verein,
Er selbst ein ganzes Heer von frechen Atheisten,
Er selbst ein ganzer Schatz von argen Teufelslisten,
Er selbst ein ganzer Strom von Lästerung und Schmach,
Es ist, hilf Sankt Johann! — der grause Feuerbach.
Er rast und springet nicht, er schwebet in den Lüften,
Ein grauses Meteor, umwallt von Höllendüften.
Der Triumph des Glaubens. 227
In seiner einen Hand den blinkenden Pokal,
Und in der andeien des Brotes labend Mahl,
Sitzt bis zum Nabel er in einem Muschelbecken,
Den neuen Gottesdienst de;" Frechen zu entdecken.
Das Fressen, Saufen und das Baden, sagt er frei,
Daß dies die Wahrheit nur der Sakramente sei.
Ein Hoch empfanget ihn, ein Brüllen, Jubilieren;
Man muß ihn auch sogleich in eine Kneipe führen.
Ein Durcheinanderschrein, ein Toben fängt hier an,
Das keiner in dem Saus zu Woxte kommen kann.
Sie sitzen nimmer still, sie schwirren, drängen, schieben.
Vom bösen Geiste stets im Kreis herumgetrieben.
Es läßt sie nimmer ruhn des Stillstands toller Haß,
Zur Ordnung schreiet man umsonst ohn' Unterlaß.
Da faßt wilder Grimm den gänzlich guten Koppen,
Den ordnungsfrohen Mann: ,,Bin ich in wilden Steppen?
Ihr roher Hordenschwarm, vergeßt ihr immerdar.
Was von der Reis' hieher der erste Anlaß war?
O Arnold, treuer Hort, heb* an das Disputieren,
O sage, willst du uns zu gutem Ausweg führen?"
Oswald und Edgar schrein in brüllendem. Verein:
,,Hört, Hört! Genug, genug das ordnungslose Schrein!"
Still ward es alsobald, und Arnold, der indessen
Ganz in Harmlosigkeit drei Beefsteaks aufgegessen,
Den letzten Bissen noch würgt' er in seinem Schlund,
Da öffnet' er alsbald zum Reden seinen Mund:
,,]fla, welch' treffliche Schau rings im Verein! Freie zum Kampf
[bereit
Und zu gehn in den Tod, immer am Platz, wenn's die Idee gebeut.
Seht, die Reaktion hält uns am Schopf, wie mit dem Stock sie
[dräut ;
Doch sie bändigt uns nicht, wenn ihr, o Freund', einig und tapfer
Nicht länger lassen ihn Oswald und Edgar reden, [seid.**
Sie springen auf den Tisch und brüllen laut die Beeden:
,,Der Worte haben wir genug von dir, Rüge,
Gehört; wir wollen heut' mit Kraft und Mark: Taten!"
Ein wildes Bravo schallt, ein Echo, schlechtberaten,
Es brüllte stets und stets: ,,Ha, Taten, Taten, Taten!"
Und spöttisch lächelnd rief der Arnold nun darein:
„Unsere Taten sind nur Worte bis jetzt und noch lange,
Hinter die Abstraktion stellt sich die Praxis von selbst."
Indessen hatten schon die beiden wilden Schreier
Gehoben auf den Stuhl in ihrem Tatenfeuer
15
228 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841—1842.
Den tollen Bruno; seht, es reiht sich eine Schar
Um sie, man hebt ihn hoch, da schwebt er gleich dem Aar.
Seht, wie die wilde Brunst in seinen Augen funkelt,
Wie Zornesfaltenwurf die ganze Stirn verdunkelt.
Hört, wie es brüllend rast. — Doch gegenüber, weh'!
Das schwarze Ungetüm erklettert Rtg.
Hört, wie er brüllt und tost! Hört wie sie beide brüllen:
,,Wie lange willst du uns den Durst mit Worten stillen?"
Bauer: ,, Siehst du. Verblendeter,
Siehst du die Frommen,
Ha, wie sie kommen!"
Ungetüm: ,,Ihr frommes Heer,
Wächst mehr und mehr."
Bauer: ,, Beutel zieht um,
Verwirrt das Publikum."
Ungetüm: „Gott Vater soll schon längst daran denken,
Der Erd' einen neuen Messias zu schenken."
Bauer: ,, Nicht Ein Lamm macht uns jetzt Beschwerde,
Uns dränget vom Lämmern 'ne ganze Herde."
Ungetüm: ,,Der heil'ge Geist
In tausend Gestalten auf Erden reist."
Beide: „Uns plaget nicht nur die Dreieinigkeit,
Auch der Polizei und des Glaubens Zweieinigkeit."
Ungetüm: „Wenn sie nicht feiern,
Wollen wir leiern ?"
Bauer: ,,Sie nehmen die Waffen,
Wir sollen nun gaffen ?"|
Schon rief man hier und dort: „Wir sind zum Kampf bereit!"
Durch Feuerbach entbrennt jedoch ein neuer Streit.
Er schrie: ,,Was sollen wir solange denn beraten,
Wenn jemand Taten will, so tu' er selber Taten!
Sein eigner Helfer steht für sich der freie Mann,
Und was er immer tut, hab' er allein getan!"
Seht, Koppen stehet auf, es leuchtet seine Brille,
Vor seinem Jovishaupt sind rings die Freien stille:
,,Was hast, o Feuerbach, du gegen den Verein?
Es wird der Unordnung gewehrt durch ihn allein;
Des Fortschritts Strom wird dann in Ruhe sich ergießen.
Und, was das Beste ist, kein Tröpfchen Blut wird fließen!"
Edgar und Oswald schrein: „Verfluchter Girondist,
Kraftloser Schwärmer, geh', du bist kein Atheist!"
Doch Stirner würdevoll: ,,Wer bindet ihm den Willen?
Wer will hier ein Gesetz aufdrängen uns durch Brüllen?
Der Triumph des Glaubens. 229
Den Willen bindet ihr, ihr wagt's und nennt euch frei,
Wie seid ihr eingelebt noch in die Sklaverei!
Weg Satzung, weg Gesetz!" — Schon war durch diese Irrung
Der höllische Kongreß in völliger Verwirrung,
Da teilet sich das Dach, und Blücher -Wigand schießt
Hernieder in den Saal auf eignem Flieggerüst;
Er ritt, o Teufelsspuk! hoch auf papiernem Drachen.
..Was", ruft energisch er, ,,v/olll ihr für Streiche machen?
Hier seht mich fahren
Auf Exemplaren
Der Deutschen Jahrbücher,
Die ich mir geklebt,
Die ich mir gewebt.
Ich, euer Blücher!
Wenn sie mich durch die Lüfte tragen,
Wollt ihr verzagen ?
Wehe, wehe!
Frankfurts Nähe,
Gibt sie gutes Beispiel nicht ?
Dort ist Einigkeit und Stille,
Und der Allerhöchsten Wille
Ist den Hohen und den Höchsten,
Ist den Kleinen und den Kleinsten
Leitstern, Überzeugung, Licht!
Wehte — v/ehe! —
Frankfurts Nähe
Euch herüber schlechten Wind ?
Kann der Freie nicht bestehen,
Wo des Bundes Winde wehen ?
Nun, so folget mir geschwind!
Nach Leipzig laßt uns ziehen, dort hab' ich aufgetürmt
Die schönsten Batterien, die nie ein Frommer stürmt.
Das Haus, in dem ich sonst mit Hegelei gehandelt,
In eine feste Burg ist es jetzt umgewandelt.
Im Gutenberge denn, in Leipzig sammelt euch.
Das Zentrum des Verlags sei Zentrum auch vom Reich."
,,Ja, auf nach Leipzig hin!" so schallt's von allen Seiten.
,,Dort sei der Mittelpunkt für das vereinte Streiten."
Und alle brechen auf, und Wigand schwebt voran.
Und nur der Feuerbach zieht einsam seine Bahn. —
Doch fort von dieser Schau, mir winken Friedenstale,
Mir winkt die Stadt des Herrn, winkt Halle an der Saale,
O sel'ge Stadt, getreu bestehst du vor dem Herrn!
230 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Des Teufels List zum Trotz strahlt heller stets dein Stern,
Dir tut die Jauche nichts, die Rüge ausgeeitert,
Air seine Pläne sind an deiner Treu' gescheitert!
Drum zog er wütend ab, und kehret nicht zurück;
O danke, Stadt, dem Herrn für solchen Sieg und Glück!
Und sieh, die Gläubigen, die Auserwählten alle
Versammeln sich zu Lob und Preis mit süßem Schalle.
O sieh', welch' feine Schar! sieh* jenen Schuster vorn,
Sein hektisch dürrer Leib ist ihm der Andacht Sporn.
Sieh dort den Schenkwirt an des Mäßigkeitsvereines,
Er schenkt euch aus für's Geld Trinkwasser, klares, reines.
Der Friede Gottes hellt sein Vollmondsangesicht -
O sehet, was vermag ein fester Glaube nicht!
Seht jenes Mütterchen, die Sünde beugt sie nieder,
Doch Seligkeit durchstrahlt die abgestorbnen Glieder.
Sie singt ein geistlich Lied mit lieblichem Gekreisch,
Und kreuzigt Tag und Nacht ihr ausgedörrtes Fleisch.
Und seht, o sehet hier des Saalenstrandes Leuen,
An dessen Glaubenskraft sich Gottes Engel freuen.
Im Glauben griff er an der Hegelinge Schar,
Im Glauben schützte er den Thron und den Altar,
Im Glauben hat er die gottlose Weltgeschichte
Verbessert, umgewandt, verklärt im Himmelslichte.
O, komm*, du treue Schar, geh' in das Kämmerlein
Und singe deinem Gott ein Loblied zart und fein!
O hört, wie liebelich das Liedelein erschallet.
Gleich Opferrauch empor zum Thron der Gnaden wallet:
O Herr, wir sind vor dir ein Aas,
Ein Pestgestank, ein Rabenfraß,
Im Schinderloch der Sünden!
Wir sind von Mutterleib grundschlecht,
Zertritt uns, so geschieht uns recht
Für unsre argen Sünden!
Wenn auch, dennoch hast du gnädig
Uns entledigt
Von dem Krebs, der uns beschädigt.
Du läßt uns in den Himmel ein
Zu deinen lieben Engelein
Und wäschest uns vom Schlamme.
Du hast den Bösen weggejagt.
Der uns stets Unruh' hat gebracht,
Friß ihn, und ihn verdamme!
Der Triumph des Glaubens. 231
Glühend, sprühend in der Hölle
Schlimmster Stelle
Laß ifin braten
Für die schnöden Sündentaten!
Der Schuster stellet sich, o sieh', auf einen Stuhl,
Und predigt schrecklich laut vom Höllenschwefelpfuhl:
,,Seht ihr den grausen Schlund, der qualmend sich ergießet,
Der Schwefel, Pech und Feu'r auf alle Lande gießet!
Seht, wie er kocht und braut und lauter Teufel speit,
Zu fressen, zu verzehr 'n die ganze Christenheit!
Seht, wie er weithin streut der Hölle schwarzen Samen!
Groß ist der Herr, dein Gott, die Welt geht unter. Amen."
,,Ja wahrlich, also ist's," so ruft der Leu begeistert,
,,Die Teufel ziehen nackt, selbst nicht die Scham verkleistert.
Die große Hure kommt vom schnöden Babylon,
Die Göttin der Vernunft, die Revolution!
Bauer ist Robespierre, und Danton lebt in Rüge,
Marat ist Feuerbach, o daß ihn Gott verfluche!
Drum nehmet, Gläubige, der Zeiten wohl in Acht!
Es kommt der Tag des Herrn, o betet, betet, wacht!"
Er sprach's und siehe da — und alle stehn betroffen — —
Tritt Bruder Beutel ein und sieht den Himmel offen.
Ihn trägt die Eselin, die Gottes Sprachrohr ward,
Sie wird ihn tragen auch bei seiner Himmelfahrt.
Zum Himmel schaut er auf mit Gottvertraun und Stärke
Utid spricht: ,,0 fromme Schar, ich kenne deine Werke.
So spricht der Herr, dein Gott: Gehorchet meinem Knecht,
Den ich erwählt, mein Heer zu führen in 's Gefecht.
Gehorchet ihm, gehorcht, gehorchet Bruder Beuteln,
Er wird des Teufels List und Trug und Macht vereiteln.
So spricht der Herr; und ich fiel demutsvoll auf's Knie,
Und sprach: Du rufst, o Herr, ich folge dir und zieh'.
So zog ich mutig aus, das Wort des Herrn zu kündigen,
Das angenehme Jahr des Herrn der Welt, der sündigen.
Und in die Schlösser ging ich, in die reichen, hin
Zu vornehmem Geschlecht, zu Fürst und Königin.
Doch dies Geschlecht, das stets nach ird 'sehen Gütern trachtet.
Nach eitler Ehre geizt, hat mich geschmäht, verachtet.
Sie saßen um den Tisch in wilder Völlerei,
Genossen Augenlust und Fleischeslust dabei.
Da ging ich fort, den Staub von meinen Füßen schüttelnd.
Doch zu mir sprach der Herr, mich nachts vom Schlafe rüttelnd:
232 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
,; ,,Gehn nicht zum Himmelreich die Reichen ein so schwer,
Als ein Kameel du machst gehn durch eine Nadelöhr ?
Wie steht geschrieben ? Geh' hinaus auf die Landstraßen,
Die Armen führe her, die Blinden von den Gassen,
Die Krüppel, Lahmen laß herein zum Abendmahl,
Die an den Zäunen stehn, ruf* an mit lautem Schall.
Da sind die wahren Leut', das ist der Kern des Heeres,
So geh' und sammle sie, wirb Knechte und vermehr' es!""
So sprach der Herr, und ich, ich komme allsogleich,
Gehorsam seinem Wort, ihr Gläubigen, zu euch.
Gehorcht dem Ruf des Herrn, bald wird der Morgen tagen,
Wo mit dem Teufel wird die große Schlacht geschlagen.
Die Freien scharen sich, gen Leipzig zieht ihr Heer,
Und Blücher -Wigands Haus ist ihnen feste Wehr.
Dort hinter Ballen stehn und Büchern sie verschanzet,
Dort wird der Kampfestanz, der heil'ge Tanz getanzet.
Hier gilt Beständigkeit und starker Mut im Sturm,
Daß wir einnehmen bald der argen Frevler Turm.
So schart euch, Brüder, denn, seid stark in Lieb' und Hoffen,
Am Glauben haltet fest! Ich seh' den Himmel offen.
Der Glauben ist das A und auch das Omega,
Im Glauben bist du groß, Halle, Halleluja!
Im Glauben hat die Maid den Gottessohn empfangen.
Im Glauben spie der Fisch den Jonas aus, den bangen.
Im Glauben tat der Herr das Evangelium kund.
Im Glauben sprach zu mir der Herr durch Eselsmund.
Im Glauben sah das Licht der Blinde wider Hoffen,
Im Glauben blick' ich auf und seh' den Himmel offen.
Im Glauben ruf ich laut: credo ut intelligam.
Im Glauben halt' ich fest am rauhen Kreuzesstamm.
Im Glauben ist mein Tun, im Glauben ist mein Hoffen,
Im Glauben blick' ich auf und seh' den Himmel offen:
Und zu mir spricht der Herr: Laß meinen Knecht, den Leu'n,
Von der Hallenser Schar den kühnen Hauptmann sein.
Durchziehe Land und Stadt, geh' ein in alle Burgen
Und wirb Soldaten an und Kompagniechirurgen.
Und ruhe nimmer aus, bei Tage wie bei Nacht,
Daß bald der Frommen Heer zusammen sei gebracht.
So spricht der Herr, dein Gott, so sei's mein Hort und Hoffen!
Lebt wohl, ihr Brüder lieb, ich seh' den Himmel offen!" —
Der Triumph des Glaubens. 233
Vierter Gesang.
Was seh' ich! Sankt Johann, erleuchte meine^ Blicke,
Daß deiner Dichterei Gewalt mich schier verzücke ;
Der mit geweihtem Aug' den Engel Michael
Im Drachenkampfe schaut', o lautre meine Seel'!
Was seh' ich! Ha, er naht, er naht der Tag des Richtens,
Der Tag der letzten Schlacht, der Tag naht des Vernichtens!
Was seh' ich! Ein Gewölk, das rings des Himmels Kreis
Umzog, es steigt herauf, erst sacht*, erst schmeichelnd-leis ;
Doch plötzlich, wie der Leu, voll Gier nach seiner Beute,
Rast es gewaltig an. Die ganze Höllenmeute
Zischt durch der Wolken Dunst ; mit feuerglüh 'ndem Schwanz
Zerpeitschen sie die Luft; in wildem Hexentanz
Drehn sie sich ruhelos, in rasend gier'gem Brüllen
Versuchen Sie die Wut, die sie durchkocht, zu stillen.
Was seh' ich! Schandgeschlecht, sind dein des Himmels Höhn,
Und darfst du ungestraft auf Gottes Pfaden gehn ?
In eurer Hand der Blitz, in eurer Macht der Donner ?
Doch, ich versteh', es führt voll Wildheit euch der Bonner!
Doch sieh*, die Gnad' des Herrn ist ewig wachsam da,
Und alles endiget mit einem Gloria. — —
Da kommen sie heran, die wutentbrannten Freien,
Bald, bald wird ihren Stolz der Herr mit Macht zerstreuen.
Da brausen sie heran, und Wigand schwebt vorauf,,
Die andern hinterdrein mit Brüllen und Geschnauf.
Nach Leipzig führt er sie ; zu einem Platz der Waffen
Hat er den ,, Gutenberg" in Eile umgeschaffen.
Von Ballen aufgetürmt, prangt manche Bastion,
Wallgang und Graben ist des Sturms gewärtig schon.
Von Bauers Schriften sind getürmt vier Raveline,
Wohl mit Geschütz versehn, zu decken die Courtine.
Von Köppens ,, Friederich** liegt dort manch Exemplar,
Manch Blatt Annalen auch von längstvergangnem Jahr.
Posaune, Feuerbach, geschnürt in schwere Ballen,
Ziehn sich in langen Reih'n, die Festung zu umwallen.
Als sp£m*scher Reiter liegt dort Ruges ,, Novellist",
Zum Schweißabtrocknen der ,,verhallerte Pietist'*.
Zum Rückzug bleibt das Haus, dies kleine Stückchen Hölle,
Das jetzt verwandelt in die stärkste Zitadelle.
Die Fenster sind verbaut, die Tür barrikadiert,
Und die Munition hart unter 's Dach geführt,
Daß, kommt der Frommen Schar, die Schanzen einzureißen,
Die Frei'n von oben her ihnen den Kopf zerschmeißen.
234 ^"^ '^^^ Militärzeit in Berlin. 1841—1842.
Sie ziehen mit Gebrüll und wildem Jubel ein,
Und auf die Bastions verteilen sich die Frei'n.
Von Halle rückten an die frommen Gottesstreiter,
Zum Stürmen trugen sie des Jakob Himmelsleiter.
Die Feuersäule wogt als Fahne stolz voran,
Die Büsche brannten hell auf ihrer nacht 'gen Bahn.
O, war' ich stark genug, der Frommen Zug zu malen
Und ihn mit heil'gem Glanz gar köstlich zu umstrahlen!
Die erste Reihe führt der grimmig stolze Leu;
Er schreitet kühn daher und schwinget sonder Scheu
Fünf Bände Weltgeschicht' in seinen frommen Fäusten;
Sonst ist er waffenlos; der Glaube muß ihm leisten,
Was aller Übermut und Selbstvertrau 'n nicht kann.
Die zweite Reihe führt ein wahrer Gottesmann,
Die Frommen nennen ihn Herr Julius van der Sünden;
Ihr könnt am lieben Mann nicht Eine Waffe finden;
Er schlägt die Freien bloß durch seine Gegenwart,
Drum hatten sich um ihn die Gläubigsten geschart,
Und ihre Waffe war das Beten nur und Singen,
Denn wenn von weitem nur des Himmelssanges Klingen
Die Freien angehört, sie laufen meilenweit. —
Bonn sendet Kämpen auch, viel tapfre, zu dem Streit,
Sie führet Bruder Nichts; und andre ziehn von Schwaben,
Der ,, Christenbote" schwebt als Fahne hoch erhaben.
Die Bremer führt zum Kampf der tapfre Mallet hin,
Es führet Hengstenberg die Frommen von Berlin.
Auch ihr, die ihr den Strauß von Zürich fortge jaget,
Es führet euch zum Kampf der Hirzel unverzaget,
Der Pfaff von Pfäffikon. Auch Basler ziehn heran.
Du kommst vom Wuppertal, Krummacher, Gottesmann.
Die Scharen sammeln sich auf Leipzigs weiten Plätzen;
Da höret man von fern zu lieblichem Ergötzen
Erbaulichen Gesang, der zu dem Herzen dringt;
Und alle fragen sich: Wer ist es, der da singt?
Sieh', auf der Eselin — und alle stehn betroffen —
Naht Bruder Beutel sich und sieht den Himmel offen.
Sein Sang ertönt: ,,Hie Schwert des Herrn und Gideon,
Auf Brüder, sehet dort des Teufels Schanzen schon!
Wie fürchterlich sich auch der Höllen Pforten türmen,
Hinauf in Gottvertrau'n! Der Glaube wird sie stürmen!"
Und sieh, die Eselin sprengt auf die Schanzen ein,
Die Schar der Gläubigen eilt singend hinterdrein.
O welch' ein wilder Sturm! Verzagt, ihr Lästerm.äuler,
Der Triumph des Glaubens. 235
Und heult zum Teufel nun, ihr gottvergess'nen Heuler!
Sieh, Bruder Beutel fliegt hinan den stolzen Wall;
Es führet Hengstenberg zum Kampf der Gläub'gen Schwall.
Doch drinnen ordnet an den Widerstand der Teufel,
Gibt guten Rat zur Schlacht und scheuchet feige Zweifel.
Seht, Blücher -Wigand steht hoch auf dem Ravelin,
Von Maien unterstützt, seht, wie sie Feuer sprühn;
Seht Stirner, wie er wirft mit ganzen Bücherballen,
Daß scharenweis' betäubt die Frommen niederfallen;
Seht Arnold auf dem Wall, wie er gewaltig ficht,
Wie er den Gläub'gen wirft Jahrbücher ins Gesicht;
Seht, wie in erster Reih', hoch auf der Büchermauer,
Wild die Posaune schwingt der tolle Bruno Bauer;
Seht, wie aus sichrem Ort, wo ihn kein Wurf bedroht,
Broschüren rücklings wirft ins Feld der Patriot;
Wie Koppen wütend ficht mit seinem Krötenspieße,
Und dennoch menschlich sorgt, daß er kein Blut vergieße ;
Wie streitet Edgar wild mit Brauerskraft und Mut,
Wie färbt der Pfefferrock Oswalds sich rot von Blut!
O seht die Kölner Schar! Im Kampf ist ausgegangen
Die Pfeife Rtgs's, doch das macht ihm kein Bangen,
Er faßt sie umgekehrt am langen, schwanken Schlauch,
Und schwenkt den Wassersack den Frommen um den Bauch.
Der Jüngling schleudert grimm Goldteufel rings hernieder,
Es rast das Ungetüm und reckt zum Kampf die Glieder.
Doch immer mut'ger vor das fromme Häuflein dringt
Und immer herrlicher das Halleluja klingt.
Seht, wie den Wigand faßt auf seinem Bücherberg
Am langen blonden Bart der fromme Hengstenberg;
Seht, wie er wütend hat den Bart ihm ausgerissen,
Und in den grausen Kot Wigand herabgeschmissen;
Seht, Arnold ist bedrängt und Edgar hart bedroht.
Ins Haus flieht Koppen schon, mit ihm der Patriot.
Halb eingerissen ist die stolze Büchermauer,
Doch immer wütend kämpft allein der tolle Bauer.
Auf Bruder Beuteln fliegt von seiner Hand herab
Ein ganzer Ballen jetzt und wird des Frommen Grab.
Es wankt von seinem Schlag Herr Julius van der Sünden,
Da trotzet Halles Leu den wilden Höllenschlünden.
Ein Simson, reißt er ein den stolzen Festungswall,
Er stürzt, und Bauer, seht, auch Bauer kommt zu Fall!
Da liegt er, eingepreßt von seinen eignen Ballen, —
Ha, wie die Gläub'gen ihn lobsingend überfallen!
236 Aus der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Seht, Bruder Beutel rafft sich von der Erd' empor
Und fasset siegesfroh des tollen Bauer Ohr,
Und spricht: „0 Gläubige, der Herr erfüllt mein Hoffen,
Der Herr ist unser Hort, ich seh' den Himmel offen!
Zum Kampfe, fort zum. Kampf! o laßt den Bauer mir;
Derweil ihr jene schlagt, bewach' ich diesen hier."
Sie binden Bauer rasch und stürzen singend weiter,
Und setzen an das Haus zum Sturm die Jakobsleiter.
Es wankt der Gutenberg, es kracht die Türe schon,
Schon geht den Freien aus oben die Munition,
Schon ringt der Patriot verzweiflungsvoll die Hände,
Schon ist durch einen Wurf gelähmet Arnolds Lende,
Schon blutet Maien stark aus Nasenloch und Mund,
Da eilt der Teufel fort voll Angst zum Höllenschlund.
Mit grausigem Geheul flieht er in seine Tiefen,
Hei, wie die Bösen da in Angst zusammenliefen!
Sie fragen, lästern, dröhn, und er in grimmem Zagen:
,,0 Schmach, die Freien sind vom frommien Heer geschlagen!
Nichts half mein Spott und Hohn, nichts half mein Pestgeslank;
Weh', sie besiegten mich mit himmlischem Gesang!
Wigand ist ohne Bart, gefangen ist der Bauer,
Genommen ist mit Sturm der Bücherballen Mauer!"
Hei, wie von Angstgebrüll der Höllen Tiefe dröhnt!
Hei, wie vor grausem Schmerz der wilde Hegel stöhnt!
Doch hat sich kaum erholt der Schwärm vom ersten Schrecken,
Erheben Schimpf und Droh'n die tollen Höllenrecken;
In Aufruhr tosen sie. ,,Du willst ein Teufel sein.
Und läßt uns das geschehn ?" schreit Hegel wild darein.
,,Wo war dein Schwefeldampf, wo war dein Brand und Feuer ?
Vor einem Amen fliehst du, feiges Ungeheuer.''
Wir sehen, ach, zu spät! vor Alter bist du schwach,
Nur Kindern läufst du noch und alten Vetteln nach.
Auf! rasches Handeln hilft, nicht weichliches Geplärre.
Hier, Danton! Voltaire, auf! Und du, Robespierre!
Nur ihr könnt helfen hier, die ihr gewallt auf Erden;
Zum Himmel mit dem Teufel! Wir müssen Teufel werden!
Stets kraftlos ist und bleibt das mythische Geschmeiß,
Selbst tausend jähr 'ger Brand macht nicht die Feigen heiß.
Auf, Bruder Marat! Wir, die Menschen einst gewesen,
Wir müssen einen Mann zum Führer auserlesen.
Der Teufel ist und bleibt nur mythische Person,
Und er ist unser Feind, wie jeder Himmelssohn.
Hinauf, hinauf zum Sieg!" - Hei, wie in tollem Rasen
Der Triumph des Glaubens. 237
Sie aus der Hölle fliehn, die blutgewohnten Äsen!
An ihrer Spitze schwingt zwei Feuer bränder Hegel,
Und Voltaire hinter ihm mit feui«grotem Flegel.
Danton erhebt die Stimm', es brüllet Edelmann,
Es ruft Napoleon: ,,Auf, Höllenbrut voran!"
Marat, in jeder Hand zwei borst'ge Höllenkinder,
Schon lechzet er nach Blut, der wüste Menschenschinder.
Robespierre saust, von Grimme zuckt sein Mund —
Weh'! diese wilde Schar speit aus der Höllenschlund.
Wo Bruder Beutel hält, der Bauern fromm behütet,
Da ist die wilde Jagd gradhin zuerst gewütet.
Der Beutel steht erschreckt, es weint die Eselsmaid:
,,Ach, Herr, jetzt ist es aus, es kommt nun unsre Zeit."
Marat wirft sein Geschoß, und Beutel wird getroffen,
Zur Erde sinkt er hin, und sieht den Himmel offen.
Und Hegel hat umarmt den tollen Bauer schon:
,,Ja, du hast mich gefaßt, du bist mein lieber Sohn!"
Die Bande löst er ihm, die Bösen jubilieren:
,,Hoch Bauer, unser Held! Er soll zum Kampf uns führen?
Der Teufel ist entsetzt, wir brauchen einen Mann."
So stürmen mit Geschrei sie auf die Frommen an.
Es wendet sich das Blatt, die Frommen fliehn betroffen;
Doch Bruder Beutel sieht, wie stets, den Himmel offen.
Es trägt die Eselin zum Himmel ihn hinan —
O welch' ein Wunder, seht, hat Gott der Herr getan!
Zum Himmel fahren seht, o seht Elias -Beuteln!
Der Gotteslästrer Plan, seht herrlich ihn vereiteln.
Und hinter ihm mit Glanz der Frommen Heeresschaar,
Sie fliehen mit Gesang zum Himmel auf fürwahr.
Doch weh'! die Höllenbrut, sie fähret hinterdrein:
Es stürmen wütend nach mit Siegesruf die Frei'n.
Dem Schrecken sind, der Furcht die Frommen nun zur Beute,
Und ihnen mit Gebrüll stürzt nach die Höllenmeute. —
Den Teufel unterdes hat die Rebellion,
Mit der die Trefflichsten aus seinem Haus geflohn,
Auf lange stumm gemacht, und mit ihm staunt die Hölle;
Sie stehen regungslos und stieren nach der Schwelle,
Aus welcher Hegel und die ganze Schar gesaust:
Bis endlich Ihm der Zorn aus schavm'gem Munde braust:
,, Daran erkenn' ich euch, ich Dummer bin verraten,
Die Tat ist teuilischer als meine faden Taten.
Zu frei sind diese Frei'n, erst hab' ich sie vei führt,
Nun haben sie von mir sich schnöd' emanzipiert.
238 -A-us der Militärzeit in Berlin. 1841 — 1842.
Mit diesem Menschenpack ist garnichts anzufangen,
Nach frechster Freiheit steht ihr freventlich Verlangen:
Erkennen diese Frei'n kein Heiliges mehr an,
Am Ende ist es dann auch noch um mich getan.
Ich kämpfe wider mich indem ich Gott bestreite,
Als mythische Person schiebt man mich auch beiseite.
Hinauf! wir suchen Gott in seinem Himmelsglanz
Und schließen treuvereint hochheil'ge Allianz."
So stürzt er wild hinauf, er wirft sich Gott zu Füßen,
Und spricht: ,,0 laß mich nicht, was ich gefrevelt, büßen!
Vereint kämpf ich mit dir." Und Gott, der güt'ge, sprach:
„Einstweilen sehen wir dir deine Sünden nach ;
Geh*, wasch* in Lästrerblut dir ab die argen Sünden,
Und kommst du dann zurück, wird sich das Andre finden.*'
Voll Freude stürmt er fort; er findet grimme Schlacht.
Ob Beistand auch der Schar der Frommen ward gebracht —
Ach dennoch muß — o Schmach! — der Glauben unterliegen,
Es eilt die Frevlerbrut zu immer neuen Siegen.
Von Stern zu Sterne fort springt Bauer, wutentbrannt,
Und die Posaune schwingt als Keule seine Hand.
Entgegen ziehen ihm die vier Evangelisten,
Jedoch sie schrecken nicht den frechen Atheisten;
Ob auch des Lukas Ochs die Hörner grimmig streckt,
Des Markus Löwe brüllt — er bleibet unerschreckt;
Er scheucht die Heil'gen all'. — Wie wild der Hegel dränget,
Der Engel Flügelein mit seinem Brand versenget ;
Wie mit dem Flegel der schnöde Voltaire dräut;
Wie Rüge wutentbrannt die Kirchenväter bläut;
Seht Bauer einen Stern in seinem Laufe packen
und, ach! ihn schleudern auf die fliehnden frommen Nacken;
Seht, wie der Teufel sinkt von der Posaune Schlag,
Und vor ihr Michael selbst nichst bestehen mag;
Seht, wie den Syrius der wilde Hegel fasset.
Und Hengstenbergen wirft, daß er alsbald erblasset;
Seht, wie der Englein Schar versengt die Flügelein,
Durchzappelt das Gewölk mit angsterfülltem Schrein!
Das Lämmlein hält das Kreuz dem Ungetüm entgegen,
Der aber ballt die Faust und droht mit grimmen Schlägen.
Die Magd Maria selbst verläßt das Heiligtum
Und spornt die Engel an zu Kampfesmut und Ruhm.
„Auf, gegen Bauer, auf! auf, gegen den Titanen!
Begreifen wollt' er mich, das müßt, das müßt ihr ahn'en.**
Doch, wie sie fleht und ruft, wie sie auch lieblich blickt,
Der Triumph des Glaubens. 239
Der Freien Scharen sind stets weiter vorgerückt.
O seht, schon nahen sie dem Heiligtum des Herren,
Schon kann die Gottesschaar nicht mehr den Weg versperren ;
Schon stößt an einen Stern die fromme Eselin^
Und fällt auf ihrer Flucht mit Bruder Beuteln hin;
Schon nahet Bauer ihm mit fürchterlichem Rasen,
Sein Lebenslicht mit der Posaune auszublasen ;
Schon fasset Rüge wild des Saalestrandes Leu'n,
Und preßt in seinen Mund ein Blatt Annalen ein ~~ —
Da sieh*! was schwebt heran, von Himmelsglanz umgeben,
Was läßt den Bauer so gewaltiglich erbeben?
Es ist, ihr glaubt es kaum, ein einfach Pergamen:
Was mag mit Himmelslicht darauf verzeichnet stehn ?
Es schwebt gelind herab, es schwebt vor Bauer nieder,
Und Bruno hebt es auf; es zittern seine Glieder — —
Was ist es, was die Stirn mit kaltem Schweiß benetzt?
Was murmelt er so dumpf? Er murmelt: - „Abgesetzt!"
Kaum ist dies Himmelswort dem Höllenmund entfahren,
Da brüllen: ,, Abgesetzt!" ringsum der Freien Scharen.
Sie stehen starr und stumm, es jauchzt der Engel Heer,
Die Freien fliehn voll Graus, die Engel hinterher.
Sie treiben im Triumph die Freien bis zur Erde.
Daß jeder Böse doch also bestrafet werde!
Aus der Zeit des ersten
Aufenthalts in England
1842— 1844
Mayer, Engels. Brgäazongsband. I6
Korrespondenzen an die Rheinische Zeitung.
I.
London, 30. November (1842).
Ist in England eine Revolution möglich oder gar wahrschein-
lich ? das ist die Frage, von der die Zukunft Englands abhängt.
Legt sie dem Engländer vor, und er wird euch mit tausend schönen
Gründen beweisen, daß von einer Revolution gar nicht die Rede
sein kann. Er wird euch sagen, daß England sich allerdings für den
Augenblick in einer kritischen Lage befindet, daß es aber in seinem
Reichtum, seiner Industrie und seinen Institutionen die Mittel und
Wege besitzt, sich ohne gewaltsame Erschütterungen herauszu-
arbeiten, daß seine Verfassung Elastizität genug hat, um die hef-
tigsten Stöße der Prinzipienkämpfe zu überdauern und allen von
den Umständen aufgedrungenen Veränderungen ohne Gefahr für
ihre Grundlagen sich unterwerfen zu können. Er wird euch sagen,
daß selbst die unterste Volksklasse wohl weiß, daß sie bei einer Re-
volution nur zu verlieren hat, weil jede Störung der öffentlichen
Ruhe 'nur eine Stockung des Geschäfts und damit eine allgemeine
Arbeitslosigkeit und Hungersnot nach sich ziehen kann. Kurz, er
wird euch so viel klare und einleuchtende Dinge vorbringen, daß
ihr am Ende meint, es stehe wirklich so schlimm nicht mit Eng-
land und man mache sich auf dem Kontinent allerlei Phantasien
über die Lage dieses Staates, die vor der handgreiflichen Wirklich-
keit, vor der genaueren Kenntnis der Sache wie Seifenblasen zer-
platzen müßten. Und diese Meinung ist auch die einzig mögliche,
sobald man sich auf den national-englischen Standpunkt der un-
mittelbaren Praxis, der materiellen Interessen stellt, d.h., sobald
man den bewegenden Gedanken außer Augen läßt, die Basis über
der Oberfläche veigißt, den Wald vor Bäum.en nicht sieht. Es ist
eine Sache, die sich in Deutschland von selbst versteht, die aber
dem verstockten Briten nicht beizubringen ist, daß die sogenannten
materiellen Interessen niemals in der Geschichte als selbständige
leitende Zwecke auftreten können, sondern daß sie stets, unbewußt
oder bewußt, einem Prinzip dienen, das die Fäden des historischen
16*
244 ^^^ ^®'' ^®^* ^^ ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
Fortschritts leitet. Darum ist es ein Ding der Unmöglichkeit, daß
ein Staat wie England, dessen politische Exklusivität und Selbst-
genügsamkeit am Ende um einige Jahrhunderte gegen den Kontinent
zurückgeblieben ist, ein Staat, der von der Freiheit nur die Willkür
kennt, der bis über die Ohren im Mittelalter steckt, daß ein solcher
Staat nicht endlich mit der, indessen fortgeschrittenen, geistigen Ent-
wicklung in Konflikt kommen sollte. Oder ist das nicht das Bild der
politischen Lage Englands ? Gibt es ein Land in der Welt, wo der
Feudalismus in so ungebrochener Kraft besteht, und nicht nur fak-
tisch, sondern auch in der öffentlichen Meinung unangetastet bleibt ?
Besteht die vielgerühmte englische Freiheit in etwas anderem als
der rein formellen Willkür, innerhalb der bestehenden gesetzlichen
Schranken tun und lassen zu können, was man Lust hat? Und
was für Gesetze sind das! Ein Wust von verworrenen, einander
widersprechenden Bestimmungen, die die Jurisprudenz zur reinen
Sophistik herabgewürdigt haben, die von der Justiz nie befolgt wer-
den, weil sie auf unsere Zeit nicht passen, die es zulassen, wenn an-
ders die öffentliche Meinung und ihr Rechtsgefüht es zuließen, daß
der ehrliche Mann wegen der unschuldigsten Handlung zum Ver-
brecher gestempelt wird. Ist das Unterhaus nicht eine rein durch
Bestechung gewählte, dem Volke entfremdete Korporation? Tritt
das Parlament nicht fortwährend den Willen des Volkes mit Füßen ?
Hat die öffentliche Meinung in allgemeinen Fragen den geringsten
Einfluß auf die Regierung ? Beschränkt sich ihre Macht nicht bloß
auf den einzelnen Fall, auf die Kontrolle der Justiz und Verwal-
tung? Das sind alles Dinge, die selbst der verstockteste Engländer
nicht unbedingt leugnet, und ein solcher Zustand soll sich halten
können ? —
Aber ich will das Feld der Prinzipienfragen verlassen. In Eng-
land, wenigstens unter den Parteien, die sich jetzt um die Herrschaft
streiten, unter Whigs und Tories, kennt man keine Prinzipienkämpfe,
man kennt nur ". Konf Ukte der materiellen Interessen. Es ist also
billig, daß auch dieser Seite ihr Recht widerfahre. England ist von
Natur ein armes Land, das außer seiner geographischen Lage, seinen
Eisenminen und Kohlengruben nur einige fette Weiden, sonst keine
Fruchtbarkeit oder einen anderen natürlichen Reichtum besitzt.
Es ist also durchaus auf Handel, Schiffahrt und Industrie ange-
wiesen und hat sich auch durch diese zu der Höhe aufzuschwingen
gewußt, die es einnimmt. In der Natur der Sache liegt aber, daß ein
Land, wenn es diesen Weg eingeschlagen hat, sich nur durch fort-
währende Steigerung der industriellen Produktion auf der einmal
erreichten Höhe halten kann; und Stillstand wäre auch hier ein
Rückschritt.
An die Rheinische Zeitung. 245
Es ist ferner eine natürliche Folge aus den Voraussetzungen
des Industriestaates, daß er, um die Quellen seines Reichtums zu
schützen, die industriellen Produkte anderer Länder mit Prohibi-
tivzöllen von sich abhalten muß. Da aber die inländische Industrie
die Preise ihrer Produkte mit den Zöllen auf ausländische Produkte
erhöht, so ist auch hierin die Notwendigkeit gegeben, die Zölle
fortwährend zu erhöhen, damit die auswärtige Konkurrenz, dem
angenommenen Prinzip gemäß, ausgeschlossen bleibe. So würde
sich also hier von zwei Seiten her ein Proseß ins Endlose ergeben,
und der Widerspruch, der in dem Begriff des Industriestaats liegt,
zeigte sich schon hier. Aber wir brauchen hier diese philosophischen
Kategorien nicht einmal, um die Widersprüche aufzuzeigen, zwi-
schen denen England eingekeilt liegt. Bei den zwei Steigerungen,
der Produktion und der Zölle, die wir soeben betrachteten, haben noch
andere Leute als die englischen Industriellen mitzusprechen. Zu-
erst das Ausland, das selbst Industrie besitzt und nicht nötig hat, sich
zum Abzugsgraben für die englischen Produkte herzugeben, und
dann die englischen Konsumenten, die sich eine solche Steigerung
der Zölle ins Unendliche nicht gefallen lassen. Und gerade hier steht
jetzt die Entwicklung des Industriestaats in England. Das Ausland
will die englischen Produkte nicht, weil es selbst seinen Bedarf er-
zeugt, und die engUschen Konsumenten verlangen einstimmig die
Aufhebung der Prohibitivzölle. Schon aus der obigen Entwicklung
ergibt sich, daß England hierdurch in ein doppeltes Dilemma gerät,
zu dessen Lösung der bloße Industriestaat nicht fähig ist; aber auch
die unmittelbare Anschauung der Verhältnisse bestätigt dies.
Um zuerst von den Zöllen zu reden, so ist es selbst in England
anerkannt, daß fast in allen Artikeln die niedrigem Qualitäten
von den deutschen und französischen Fabriken besser und billiger
geliefert werden; ebenso eine Masse anderer Artikel, in deren Fa-
brikation die Engländer gegen den Kontinent zurück sind. Mit
diesen würde England schon bei Aufhebung des Prohibitivsystems
sogleich überschwemmt werden, und die englische Industrie erhielte
dadurch den Todesstoß. Andererseits ist jetzt die Maschinenausfuhr
in England freigegeben, und da in der Maschinenfabrikation Eng-
land bis jetzt keine Konkurrenz hat, so wird der Kontinent durch
englische Maschinen nun desto mehr instand gesetzt, mit England
zu konkurrieren. Das Prohibitivsystem hat ferner die Staatsein-
künfte Englands ruiniert und muß schon deswegen abgeschafft
werden — wo ist nun hier ein Ausweg für den Industriestaat ?
In Beziehung auf den Markt für die englischen Produkte haben
Deutschland und Frankreich deutlich genug erklärt, daß sie, um
England gefällig zu sein, ihre Industrie nicht länger preisgeben
246 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
wollen. Die deutsche Industrie namentlich, hat ohnehin einen sol-
chen Aufschwung genommen, daß sie die englische nicht mehr zu
fürchten hat. Der Kontinentalmarkt ist für England verloren. Es
bleiben ihm nur noch Amerika und seine eigenen Kolonien, und
nur in letzteren ist es durch seine Navigationsgesetze vor fremder
Konkurrenz gesichert. Die Kolonien aber sind lange nicht groß
genug, um alle Produkte der immensen englischen Industrie konsu-
mieren zu können, und überall anderswo wird die englische Indu-
strie immer mehr durch die deutsche und französische verdrängt.
Diese Verdrängung ist freilich nicht Schuld der englischen Indu-
strie, sondern Schuld des Prohibitivsystems, das die Preise aller
Lebensbedürfnisse und mit ihnen den Arbeitslohn auf eine unver-
hältnismäßige Höhe geschraubt hat. Dieser Arbeitslohn aber ver-
teuert gerade die englischen Produkte so sehr gegen die Produkte
der kontinentalen Industrie. So kann also England der Notwendig-
keit nicht entgehen, seine Industrie zu beschränken. Das kann aber
ebenso wenig durchgeführt werden als der Übergang vom Prohi-
bitivsystem zum freien Handel. Denn die Industrie bereichert zwar
ein Land, aber sie schafft auch eine Klasse von Nichtbesitzenden,
von absolut Armen, die von der Hand in den Mund lebt, die sich
reißend vermehrt, eine Klasse, die nachher nicht wieder abzuschaffen
ist, weil sie nie stabilen Besitz erwerben kann. Und der dritte Teil,
fast die Hälfte aller Engländer, gehört dieser Klasse an. Die ge-
ringste Stockung im Handel macht einen großen Teil dieser Klasse,
eine große Handelskrisis macht die ganze Klasse brotlos. Was
bleibt diesen Leuten andres übrig als zu revoltieren, wenn solche
Umstände eintreten ? Durch ihre Masse aber ist diese Klasse zur
mächtigsten in England geworden, und wehe den englischen Rei-
chen, wenn sie darüber zum Bewußtsein kommt.
Bis jetzt ist sie es freilich noch nicht. Der englische Prole-
tarier ahnt erst seine Macht, und die Frucht dieser Ahnung war
der Aufruhr des vergangenen Sommers. Der Charakter dieses Auf-
ruhrs ist auf dem Kontinent ganz verkannt worden. Man war we-
nigstens im Zweifel, ob die Sache nicht ernstlich werden könnte.
Aber davon war für den, der die Sache an Ort und Stelle mit an-
sah, gar keine Rede. Erstlich beruhte die ganze Sache auf einer
Illusion ; weil einige Fabrikbesitzer ihren Lohn herabsetzen wollten,
glaubten die sämtlichen Arbeiter der Baumwollen-, Kohlen- und
Eisendistrikte ihre Stellung gefährdet, was gar nicht der Fall war.
Sodann war die ganze Sache nicht vorbereitet, nicht organisiert,
nicht geleitet. Die Turn-outs hatten keinen Zweck, und waren sich
über die Art und Weise ihres Verfahrens noch weniger einig. Daher
kam es, daß sie bei dem geringsten Widerstände von Seiten der
An die Rheinische Zeitung. 247
Behörden unschlüssig wurden und die Achtung vor dem Gesetz
nicht überwinden konnten. Als die Chartisten sich der Zügel der
Bewegung bemächtigten und vor den versammelten Volkshaufen
die people's-chartres proklamieren ließen, war es zu spät. Die ein-
zige leitende Idee, die den Arbeitern, wie den Chartisten, denen sie
eigentlich auch angehört, vorschwebte, war die einer Revolution
auf gesetzlichem Wege, — ein Widerspruch in sich selbst, eine
praktische Unmöglichkeit, an deren Durchführung sie scheiterten.
Gleich die erste, allen gemeinsame Maßregel, die Stillsetzung der
Fabriken, war gewaltsam und ungesetzlich. Bei dieser Haltlosig-
keit der ganzen Unternehmung würde sie gleich anfangs unter-
drückt worden sein, wenn nicht die Verwaltung, der sie durchaus
unerwartet kam, ebenso unschlüssig und mittellos gewesen wäre.
Und dennoch reichte die geringe militärische und polizeiliche Macht
hin, das Volk im Zaume zu halten. Man hat in Manchester gesehen,
wie Tausende von Arbeitern auf den Squares durch vier oder fünf
Dragoner, deren jeder einen Zugang besetzt hielt, eingeschlossen
gehalten wurden. Die , »gesetzliche Revolution" hatte alles gelähmt.
So verlief sich die ganze Sache ; jeder Arbeiter fing wieder an zu
arbeiten, sobald seine Ersparnisse verbraucht waren, und er also
nichts mehr zu essen hatte. Der Nutzen, der daraus für die Besitz-
losen hervorgegangen ist, bleibt aber bestehen; es ist das Bewußt-
sein, daß eine Revolution auf friedlichem Wege eine Unmöglichkeit
ist, und daß nur eine gewaltsame Umwälzung der bestehenden un-
natürlichen Verhältnisse, ein radikaler Sturz der adligen und indu-
striellen Aristokratie die materielle Lage der Proletarier verbessern
kann; Von dieser gewaltsamen Revolution hält sie noch die dem
Engländer eigentümliche Achtung vor dem Gesetz zurück; bei der
oben dargelegten Lage Englands kann es aber nicht fehlen, daß in
kurzer Zeit eine allgemeine Brotlosigkeit der Proletarier eintritt,
und die Scheu vor dem Hungertode wird dann stärker sein als die
Scheu vor dem Gesetz. Diese Revolution ist eine unausbleibliche
für England ; aber wie in allem, was in England vorgeht, werden die
Interessen, und nicht die Prinzipien diese Revolution beginnen und
durchführen; erst aus den Interessen können sich die Prinzipien
entwickeln, d. h. die Revolution wird keine politische, sondern eine
soziale sein.
II«
London, 3. Dezember,
Wenn man sich im stillen eine Zeitlang mit den englischen
Zuständen beschäftigt, wenn man sich über die schwache Grund-
lage, auf der das ganze künstliche Gebäude der sozialen und
248 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842—1844.
politischen Wohlfahrt Englands ruht, Klarheit verschafft hat, und
nun auf einmal mitten in das englische Treiben hinein versetzt wird,
so staunt man über die merkwürdige Ruhe und Zuversicht, womit
hier jedermann der Zukunft entgegensieht. Die herrschenden
Klassen, gleichviel ob Mittelstand oder Aristokratie, Whigs oder
Tories, haben nun schon so lange das Land regiert, daß das Auf-
kommen einer anderen Partei ihnen eine Unmöglichkeit scheint.
Man mag ihnen ihre Sünden, ihre Haltlosigkeit, ihre schwankende
Politik, ihre Blindheit und Verstocktheit, man mag ihnen den
schwindelnden Zustand des Landes, der eine Frucht ihrer Prinzipien
ist, noch so sehr vorhalten, sie bleiben bei ihrer unserchütterlichen
Sicherheit und trauen sich die Kraft zu, das Land einer besseren
Lage zuzuführen. Und wenn eine Revolution in England unmög-
lich ist, wie sie wenigstens behaupten, so haben sie allerdings für
ihre Herrschaft wenig zu fürchten. Wenn der Chartismus sich so
lange geduldet, bis er die Majorität im Unterhause für sich gewon-
nen hat, kann er noch manches Jahr Meetings halten und die sechs
Punkte der Volkscharte verlangen; die Mittelklasse wird sich nie
durch Bewilligung des allgemeinen Stimmrechts von der Besetzung
des Unterhauses ausschließen, da sie, eine nowendige Konsequenz
der Nachgiebigkeit in diesem Punkte, alsdann von der Unzahl der
Nichtbesitzenden überstimmt werden würde. Daher hat der Char-
tismus unter den Gebildeten in England noch gar keine Wurzel
schlagen können und wird es auch so bald noch nicht. Wenn man
hier von Chartisten und Radikalen spricht, so versteht man fast
durchgängig die Hefe des Volkes, die Masse der Proletarier darunter;
und es ist wahr, die wenigen gebildeten Stimmführer der Partei ver-
schwinden unter der Masse. — Auch abgesehen vom politischen
Interesse kann der Mittelstand nur Whig oder Tory, nie Chartist
sein. Sein Prinzip ist die Aufrechterhaltung des Bestehenden; der
„gesetzliche Fortschritt" und das allgemeine Stimmrecht würden
bei der jetzigen Lage Englands eine Revolution unfehlbar nach
sich ziehen. So ist es denn ganz natürlich, daß der praktische Eng-
länder, dem die Politik ein Zahlen Verhältnis oder gar ein Handels-
geschäft ist, von der im stillen furchtbar anwachsenden Macht des
Chartismus gar keine Notiz nimmt, weil sie sich nicht in Zahlen
ausdrücken läßt oder doch nur in solchen, die in Beziehung auf die
Regierung und das Parlament Nullen vor der Eins sind. Es gibt
aber Dinge, die über das Zahlenverhältnis hinausgehen, und daran
wird die Superklugheit des englischen Whiggismus und Torieismus
schön scheitern, wenn ihre Zeit gekommen sein wird.
An die Rheinische Zeitung. 249
III.
Lancashire, 19. Dezember^).
So kompliziert die gegenwärtige Lage Englands erscheint, wenn
man, wie der Engländer es tut, am Allernächsten, an der hajid-
greiflichen Wirklichkeit, an der äußerlichen Praxis klebt, so ein-
fach ist sie, wenn man diese Äußerlichkeit auf ihren prinzipiellen
Gehalt reduziert. Es gibt nur drei Parteien in England, die von Be-
deutung sind, die Aristokratie des Grundbesitzes, die Aristokratie
des Geldes und die radikale Demokratie. Die erstere, die der Tories,
ist ihrer Natur und geschichtlichen Entwicklung nach die rein
mittelalterUche, konsequente, reaktionäre Partei, der alte Adel, der
mit der ,, historischen" Rechtsschule in Deutschland fraternisieit,
und die Stütze des christlichen Staates bildet. Die zweite, die Whig-
partei, hat ihren Kern in den Kaufleuten und Fabrikanten, deren
Mehrzahl den sogenannten Mittelstand bilden. Dieser Mittelstand,
zu dem alles gehört, was gentleman ist, d. h. sein anständiges Aus-
kommen hat, ohne übermäßig reich zu sein, ist aber nur Mittelstand
im Vergleich mit den reichen Adligen und Kapitalisten; seine Stel-
lung aber gegen den Arbeiter ist arisiokratisch und dies muß in
einem Lande wie England, das nur von der Industrie lebt, und also
eine Masse Arbeiter besitzt, weit eher zum Bewußtsein kommen als
z. B. in Deutschland, wo man die Handwerker und Bauern als
Mittelstand begreift und jene ausgedehnte Klasse der Fabrikarbeiter
gar nicht kennt. Hierdurch wird die Whigpartei in die zweideutige
Stellung des juste-milieu hingedrängt, sobald die Klasse der Ar-
beiter anfängt, zum Bewußtsein zu kommen. Und dies geschieht
in diesem Augenblick. Die radikal-demokratischen Prinzipien des
Chartismus durchdringen die arbeitende Klasse täglich mehr und
werden von ihr immer mehr als Ausdruck ihres Gesamtbewußt-
seins erkannt. Jetzt indessen ist diese Partei erst in der Bildung
begriffen und kann deshalb noch nicht mit voller Energie auftreten.
— Daß außer diesen drei Hauptparteien noch allerlei Übergangs-
Nüancen existieren, versteht sich von selbst, und von diesen sind
augenblicks zwei von Bedeutung, obwohl sie allen prinzipiellen Ge-
halts entbehren. Die erste ist die Mitte zwischen Whiggismus und
Torieismus, wie sie durch Peel und Russell repräsentiert wird, und
der für die nächste Zukunft die Majorität im Unterhause, also das
Ministerium, sicher ist. Die andere ist die Mitte zwischen Whiggis-
mus und Chartismus, die ,, radikale" Nuance, die durch ein halbes
Dutzend Parlamentsmitglieder und einige Zeitschriften, namentlich
1) In der Rheinischen SJeitung steht November. Das ist aber offenbar
ein Druckfehler.
2CO Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
den ,,Examiner" vertreten ist, und deren Prinzipien, obwohl nicht
ausgesprochen, der National-Anti-Corn-Law-League zugrunde liegen.
Die erstere Fraktion muß durch die größere Entwicklung des Char-
tismus an Bedeutung gewinnen, weil sie ihm gegenüber die Einheit
von Whig- und Toryprinzipien darstellten, die er grade behaup-
tet. Die andere muß dadurch ganz in ihr Nichts zurückfallen. Die
Stellung dieser Parteien gegeneinander zeigt sich am klarsten in
ihrem Verhalten gegen die Korngesetze. Die Tories geben keinen
Zoll breit nach. Der Adel weiß, daß seine Macht, außer der konsti-
tutionellen Sphäre des Oberhauses, hauptsächlich in seinem Reichtum
liegt. Durch eine Freigebung der Korneinfuhr würde er genötigt
sein, mit den Pächtern neue Kontrakte auf billigere Bedingungen
abzuschließen. Sein ganzer Reichtum ist Grundbesitz; der Wert
des Grundbesitzes steht mit der Pacht in unabänderlichem Veihält-
nis, und fällt mit ihr. Nun ist die Pacht augenblicklich so hoch,
daß selbst bei dem jetzigen Zoll der Pächter ruiniert wird ; eine
Freigebung der Korneinfuhr würde diese Pacht und mit ihr den Wert
des Grundeigentums um den dritten Teil herabsetzen. Grund ge-
nug für die Aristokratie, an ihrem wohlerworbenen Recht, das den
Ackerbau ruiniert und die Armen des Landes aushungert, festzu-
halten. Die Whigs, das allzeit fertige juste-milieu, haben einen
festen Zoll von 8 Schilling pro Quarter vorgeschlagen; dieser Zoll
ist gerade niedrig genug, um fremdes Korn hereinzulassen und dem
Pächter den Markt verderben zu können, und gerade hoch genug,
um dem Pächter allen Grund zur Forderung neuer Pachtbedingun-
gen zu nehmen und für das Land einen durchschnittlich ebenso
hohen Brot preis zu stellen, wie er jetzt existiert. Die Weisheit des
juste-milieu ruiniert also das Land noch weit sicherer als die Ver-
stocktheit der konsequenten Reaktion. Die ,, Radikalen" sind hier
einmal wirklich radikal und fordern freie Korneinfuhr. Aber der
,,Examiner*' hat diesen Mut auch erst seit acht Tagen, und die
Anti-Corn-Law-League war von vornherein so sehr bloß gegen die
bestehenden Korngesetze und die Sliding-Scale gerichtet, daß sie
bis zuletzt immerfort die Whigs unterstützte. Allmählich indessen
ist die absolute Freiheit der Korneinfuhr und überhaupt ,, freier
Handel" das Feldgeschrei der Radikalen geworden, und die Whigs
schreien gutmütig mit nach ,, freiem Handel", worunter sie juste-
milieu-Zölle verstehen. Daß die Chartisten von Kornzöllen nichts
wissen wollen, versteht sich von selbst. Was wird aber daraus wer-
den ? Daß die Korneinfuhr frei werden muß, ist so gewiß, wie daß
die Tories stürzen müssen, auf friedlichem oder gewaltsamem Wege.
Nur über die Art dieser Veränderung kann man streiten. Wahr-
scheinlich wird schon die nächste Parlaments-Session den Abfall
An die Rheinische Zeitung. 251
Peels von der Sliding-Scale und damit vom vollen Torieismus bringen.
Der Adel vi^ird in allem nachgeben, was ihn nicht zwingt, seine
Pachtsätze zu erniedrigen, weiter aber nichts. Die Koalition Peel-
Russell, das parlamentarische Zentrum, hat jedenfalls die nächste
Chance fürs Ministerium, und wird die Entscheidung der Kornfrage
durch seine juste-milieu-Maßregeln so lange wie mögUch aufhalten.
Wie lange aber, das hängt nicht von ihr ab sondern vom Volke.
IV.
Lancashire, 20. Dezember.
Die Lage der arbeitenden Klassen in England wird täglich pre-
kärer. Für den Augenblick hat es freilich den Anschein, als wäre
es so schlimm nicht ; in den Baumwolldistrikten sind die meisten
Leute beschäftigt, in Manchester kommt vielleicht auf zehn Arbeiter
nur ein Unbeschäftigter, in Bolton und Birmingham mag das Ver-
hältnis dasselbe sein, und wenn der englische Arbeiter beschäftigt
ist, ist er auch zufrieden. Und er kann es auch sein, wenigstens
der Baumwollenarbeiter ; wenn er sein Los mit dem seiner Schick-
salsgenossen in Deutschland und Frankreich vergleicht. Dort hat
der Arbeiter knapp genug, um von Kartoffeln und Brot leben zu
können; glücklich, wer einmal die Woche Fleisch bekommt. Hier
ißt er täglich sein Rindfleisch, und bekommt für sein Geld einen
kräftigeren Braten als der Reichste in Deutschland. Zweimal des
Tages hat er Tee, und behält immer noch Geld genug übrig, um
mittags ein Glas Porter und abends brandy and water trinken zu
können. Das ist die Lebensart der meisten Arbeiter in Manchester
bei einer täglich zwölfstündigen Arbeit. Aber wie lange dauert
das! Bei der geringsten Schwankung im Handel werden Tausende
von Arbeitern brotlos ; ihre geringen Ersparnisse sind bald verzehrt,
imd dann steht der Hungertod vor ihnen. Und eine solche Krisis
muß in ein paar Jahren wieder eintreten. Dieselbe vermehrte
Produktion, die jetzt den ,,paupers" Arbeit verschafft, und die
auf den chinesischen Markt spekuliert, muß eine Unmasse Waren
und eine Stockung des Absatzes hervorbringen, in deren Gefolge
wieder eine allgemeine Brotlosigkeit der Arbeiter ist. Sodann
ist die Lage der Baumwollenarbeiter die beste. In den Kohlen-
minen haben die Arbeiter die schwersten und ungesündesten Ar-
beiten für einen geringen Lohn zu verrichten. Die Folge davon
ist, daß diese Arbeiterklasse einen weit größeren Ingrimm gegen
die Reichen hegt als die anderen working men, und daher durch
Raub, Mißhandlungen der Reicheren etc. sich besonders auszeich-
net. So sind hier in Manchester die ,, Bolton people" ordentlich ge-
252 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
fürchtet, wie sie sich deiin auch bei den Sommerunruhen am ent-
schlossensten gezeigt haben. In ähnlichem Rufe stehen die Eisen-
arbeiter, wie überhaupt alle, die schwere körperliche Arbeiten zu
verrichten haben. Wenn alle diese schon jetzt knapp leben können,
w£Ls soll aus ihnen werden, wenn die geringste Stockung im Geschäft
eintritt ? Die Arbeiter haben zwar Kassen unter sich gebildet, deren
Fonds durch wöchentliche Beiträge vermehrt wird und die Unbe-
schäftigten unterstützen soll; aber auch diese reichen nur dann
aus, wenn die Manufakturen gut gehen, denn selbst dann sind noch
Brotlose genug da. Sowie die Arbeitslosigkeit allgemein wird, so
hört auch diese Hilfsquelle auf. Schottland ist augenblicklich
der Sündenbock, wo die Manufakturen stocken; denn bei der Aus-
dehnung der englischen Industrie gibt es immer einen oder den an-
deren Bezirk, der leidet. In der ganzen Umgegend von Glasgow
nimmt die Arbeitslosigkeit täglich zu. In Paisley, einer verhältnis-
mäßig kleinen Stadt, waren vor vierzehn Tagen 7000 ,,unemployed**;
jetzt sind ihrer schon 10 000. Die ohnehin schon geringen Zusen-
dungen aus den Unterstützungskassen sind noch um die Hälfte ver-
mindert worden, weil die Fonds ausgehen; eine Meeting der Noble-
men und Gentlemen der Grafschaft hat eine Suscription beschlossen,
die 3000 Pfund einbringen soll; aber dies Mittel ist auch schon ab-
genutzt, und die Herren selbst hoffen im stillen nur auf einen
Ertrag von höchstens 400 Pfund. Es kommt zuletzt darauf alles
hinaus, daß England sich mit seiner Industrie nicht nur eine große
Klasse von Besitzlosen sondern auch unter diesen eine immer nicht
unbedeutende Klasse von Brotlosen auf den Hals geladen hat, die
es nicht loswerden kann. Diese Leute müssen sehen, wie sie sich
durchschlagen; der Staat gibt sie auf, ja stößt sie von sich. Wer
kann es ihnen verübeln, wenn die Männer sich auf den Straßenraub
oder Einbruch, die Weiber auf den Diebstahl oder Prostitution
werfen. Aber der Staat kümmert sich nicht darum, ob der Hunger
bitter oder süß ist, sondern sperrt sie in seine Gefängnisse oder de-
portiert sie in die Verbrecherkolonien, und wenn er sie freiläßt, so
hat er das zufriedenstellende Resultat, aus Brotlosen Sittenlose ge-
macht zu haben. Und der Humor von der ganzen Geschichte ist,
daß der hochweise Whig und ,, Radikale** fortwährend nicht be-
greift, woher bei einer solchen Lage des Landes der Chartismus her-
kommt, und wie die Chartisten nur glauben mögen, daß sie auch nur
die geringste Chance in England haben.
An die Rheinische Zeitung. 253
V.
Lancashire, 22. Dezember.
Die bestehenden Korngesetze gehen ihrem Ende rasch entgegen.
Das Volk hat eine wahre Wut auf die „Brottaxe", und die Tories
mögen machen, was sie wollen, sie können gegen den Andrang der
erbitterten Masse nicht standhalten. Sir Robert Peel hat das Parla-
ment bis zum 2. Februar vertagt — sechs Wochen Zeit für die Oppo-
sition, jene Wut noch mehr zu schüren. Peel wird sich gleich von
vornherein bei Eröffnung der neuen Session über die Sliding-Scale
zu erklären haben; man glaubt allgemein, daß er in seiner Ansicht
über sie wenigstens wankend geworden ist. Entschließt er sich,
sie fallen zu lassen, so wird die strengere Torypartei das Ministe-
rium ohne Zweifel verlassen und den gemäßigten Whigs Platz
machen, so daß schon dann die Koalition Peel-Russell zustande
käme. In jedem Falle wird die Aristokratie sich hartnäckig ver-
teidigen, und ich meinerseits glaube nicht, daß sie gutwillig zur
Freigebung der Korneinfuhr zu bringen ist. Der englische Adel
hat die Reformbill und die Emanzipation der Katholiken durch-
gehen lassen, aber die Selbstüberwindung, die ihm dies gekostet
hat, würde nichts sein gegen die, mit der er die Korngesetze ab-
schaffte. Was ist die Schwächung des aristokratischen Einflusses
auf die Wahl des Unterhauses gegen die Herabsetzung des Vermö-
gens aller englischen Adligen um 30 Prozent ? Und wenn schon die
beiden obigen Bills solche Kämpfe gemacht haben, wenn die Re-
formbill nur mit Hilfe von Volksauf ständen, mit Steinwürfen in die
Fenster der Aristokraten durchgesetzt wurde, dann sollte der Adel
es bei dieser Frage nicht darauf ankommen lassen, ob das Volk
mutig und stark genug ist, seinen Willen durchzuführen? Ohne-
hin haben die Sommerunruhen dem Adel ja gezeigt, wie wenig das
englische Volk taugt, wenn es revoltiert. Ich bin fest überzeugt,
daß die Aristokratie diesmal standhalten wird, bis ihr das Messer
an der Kehle sitzt. Daß das Volk aber nicht lange mehr von jedem
Pfunde Brot, das es verzehrt, der Aristokratie einen Penny (10 Pfen-
nige Preuß.) bezahlen wird, ist gewiß. Dafür hat die Anti-Corn-
Law-League gesorgt. Ihre Tätigkeit ist ungeheuer gewesen, einen
genaueren Bericht darüber behalte ich mir vor. So viel für heute,
daß eines der wichtigsten Resultate, das teils die Korngesetze, teils
die League hervorgebracht haben, die Befreiung der Pächter von
dem moralischen Einfluß ihrer adligen Grundbesitzer ist. Bisher
war niemand gegen politische Verhältnisse gleichgültiger gewesen
als die englischen Pächter, d. h. der ganze ackerbautreibende Teil
der Nation. Der Landlord (Gutsbesitzer) war, wie sich von selbst
versteht, Tory, und jagte jeden Pächter fort, der bei den Parlaments-
254 "^"^ '^^^ ^^** '^^^ ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
Wahlen gegen die Tories stimmte. Daher kam es denn, daß die 252
Parlamentsmitglieder, welche das platte Land im Vereinigten König-
reich zu wählen hat, regelmäßig fast lauter Tories waren, durch die
Wirkungen der Korngesetze, so wie durch die Publikationen der
League, die in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet wur-
den, ist aber nun in dem Pächter der politische Sinn geweckt wor-
den. Er hat eingesehen, daß sein Interesse nicht mit dem des Land-
lords identisch, sondern ihm gerade entgegengesetzt ist, und daß
die Korngesetze für niemand ungünstiger gewesen sind, als für ihn.
Daher ist denn auch eine bedeutende Veränderung unter den Päch-
tern vorgegangen. Die Mehrzahl derselben ist jetzt Whig, und da
es den Landlords schwer fallen dürfte, jetzt noch einen durch-
greifenden Einfluß auf die Stimme der Pächter bei den Wahlen
auszuüben, so werden die 252 Tories wohl bald in ebenso viel Whigs
übergehen. Wenn dieser Übergang auch nur bei der Hälfte ein-
träte, so würde dadurch schon die Gestalt des Unterhauses bedeutend
verändert werden, indem hierdurch die Majorität des Unterhauses
den Whigs für immer gesichert wäre. Und das muß geschehen!
Vollends wenn die Korngesetze aufgehoben wären, denn dann wäre
der Pächter ganz unabhängig gegen den Landlord, weil von jener
Aufhebung an die Pachtkontrakte unter ganz neuen Bedingungen
geschlossen werden müssen. Die Aristokratie hat Wunders einen
klugen Streich zu machen gemeint, als sie die Korngesetze gab;
aber das Geld, was sie dadurch bekommen hat, wiegt lange nicht
den Nachteil auf, den ihr jene Gesetze gebracht haben. Und dieser
Nachteil besteht eben darin, daß von nun an die Aristokratie nicht
mehr als die Vertreterin des Ackerbaus, sondern ihrer eigenen
selbstsüchtigen Interessen dasteht.
Briefe aus London an den Schweizerischen
Republikaner. (1843.)
16. Mai.
Die demokratische Partei in England macht reißende Fort-
schritte. Während Whiggismus und Toryismus, Geldaristokratie
und Adelsaristokratie in der ,, Nationalplauderstube**, wie der Tory
Thomas Carlyle, oder in dem ,, Hause, das sich anmaßt, die Ge-
meinden von England vertreten zu wollen", wie der Chartist Feargus
O'Connor sagt, einen langweiligen Zungenstreit um des Kaisers
Bart führen, während die Staatskirche allen ihren Einfluß auf die
bigotten Neigungen der Nation aufbietet, um ihr verrottetes Gebäude
noch etwas aufrecht zu erhalten, während die Anti-Korngesetz-Ligue
An den Schweizerischen Republikaner. 255
Hunderttausende wegwirft, in der wahnsinnigen Hoffnung, dafür
Millionen in die Taschen der baumwollspinnenden Lords strömen
zu sehen — während des schreitet der verachtete und verspottete
Sozialismus ruhig und sicher voran und drängt sich allmählich der
öffentlichen Meinung auf, während des hat sich in ein paar Jahren
eine neue, unzählbare Partei unter der Fahne der Volkschartie ge-
bildet und eine so energische Art der Agitation angenommen, daß
O'Connell und die Ligue dagegen Stümper und Pfuscher sind. Es
ist bekannt, daß in England die Parteien mit den sozialen Stufen
und Klassen identisch sind, daß die Tories identisch mit dem Adel
und der bigotten, streng orthodoxen Fraktion der Hochkirche sind,
daß die Whigs aus den Fabrikanten, Kaufleuten und Dissenters,
im ganzen aus der höheren Mittelklasse bestehen, daß die niedere
Mittelklasse die sogenannten ,, Radikalen" ausmacht, und endlich
der Chartismus seine Stärke in den working-men, den Proletariern,
hat. Der Sozialismus bildet keine geschlossene politische Partei,
rekrutiert sich aber im ganzen aus der niedern Mittelklasse und den
Proletariern. So zeigt England das merkwürdige Faktum, daß, je
tiefer eine Klasse in der Gesellschaft steht, je ,, ungebildeter" sie
im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist, desto näher steht sie dem
Fortschritt, desto mehr Zukunft hat sie. Im ganzen ist dies der
Charakter jeder revolutionären Epoche, wie dies namentlich bei der
religiösen Revolution, deren Produkt das Christentum war, sich
zeigte: „selig sind die Armen", ,,die Weisheit dieser Welt ist zur
Torheit geworden" usw. Aber, so deutlich ausgeprägt, so scharf
abgestuft, wie jetzt in England, erschien das Vorzeichen einer
großen Umwälzung wohl noch nie. In Deutschland geht die Be-
wegung von der, nicht nur gebildeten, sondern sogar gelehrten Klasse
aus ; in England sind die Gebildeten und vollends die Gelehrten seit
dreihundert Jahren taub und blind gegen die Zeichen der Zeit. Der
elende Schlendrian der englischen Universitäten, gegen den unsere
deutschen Hochschulen noch golden sind, ist wellbekannt; aber
welcher Art die Werke der ersten englischen Theologen und selbst
eines Teils der ersten englischen Naturforscher sind, was für er-
bärmlich reaktionäre Schriften die Masse der wöchentlichen ,, Liste
neuer Bücher" ausmachen, das läßt man sich auf dem Kontinent
nicht träumen. England ist das Vaterland der Nationalökonomie
aber wie steht die Wissenschaft unter den Professoren und prak-
tischen Politikern? Die Handelsfreiheit Adam Smith's ist in die
wahnsinnige Konsequenz der Malthusschen Bevölkerungstheorie
hineingetrieben worden und hat nichts produziert als eine neue zi-
vilisiertere Gestalt des alten Monopolsystems, die in den heutigen
Tories ihre Vertreter findet, und die den Malthusschen Unsinn mit
256 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
Erfolg bekämpft hat — aber zuletzt doch wieder auf Malthussche
Konsequenzen getrieben wird. Inkonsequenz und Heuchelei auf
allen Seiten, während die schlagenden ökonomischen Traktate der
Sozialisten und zum Teil auch der Chartisten mit Verachtung bei-
seite gelegt werden und nur unter den niederen Ständen Leser finden.
Strauß ,, Leben Jesu" wurde ins Englische übersetzt. Kein „respek-
tabler" Buchhändler wollte es drucken; endlich erschien es heft-
weise, 3 Pence das Heft, und zwar im Verlage eines ganz unter-
geordneten, aber energischen Antiquars. So ging es mit Übersetzun-
gen von Rousseau, Voltaire, Holbach usw. Byron und Shelley
werden fast nur von den untern Ständen gelesen; des letzteren
Werke dürfte kein „respektabler" Mann auf seinem Tisch liegen
haben, ohne in den schrecklichsten Verruf zu kommen. Es bleibt
dabei: selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich, und
wie lange wird's dauern — auch das Reich dieser Welt.
Dem Parlament liegt jetzt Sir F. Grahams Bill über die Er-
ziehung der in Fabriken arbeitenden Kinder vor, wonach die Ar-
beitszeit derselben beschränkt, der Schulzwang eingeführt und die
Hochkirche mit der Aufsicht über die Schulen beschenkt werden
soll. Diese Bill hat natürlich allgemeine Bewegung hervorgerufen
und den Parteien wieder Gelegenheit gegeben, ihre Stärke zu messen.
Die Whigs wollen die Bill ganz verworfen haben, weil sie die Dis-
senters von der Jugenderziehung verdrängt und den Fabrikanten
durch die Beschränkung der Arbeitszeit der Kinder Verlegenheiten
bereitet. Unter den Chartisten und Sozialisten gibt sich dagegen
eine bedeutende Zustimmung zu der allgemeinen humanen Tendenz
der Bill, mit Ausnahme der auf die Hochkirche bezüglichen Klau-
seln, kund. Lancashire, der Hauptsitz der Fabriken, ist natürlich
auch der Hauptsitz der auf obige Bill bezüglichen Agitationen. Die
Tories sind hier in den Städten durchaus machtlos; ihre desfall-
sigen Meetings waren auch nicht öffentlich. Die Dissenters ver-
sammelten sich erst in Korporationen, um gegen die Bill zu peti-
tionieren, und ließen dann im Verein mit den liberalen Fabrikanten
Stadtmeetings berufen. Ein solches Stadtmeeting wird vom ober-
sten städtischen Beamten berufen, ist ganz öffentlich und jeder
Einwohner hat das Recht, zu sprechen. Hier also kann, wenn der
Versammlungssaal groß genug ist, nur die stärkste und energischste
Partei siegen. Und in allen bis jetzt berufenen Stadtmeetings haben
die Chartisten und Sozialisten gesiegt. Das erste war in Stockport,
wo die Resolutionen der Whigs nur eine Stimme, die der Chartisten
das ganze Meeting für sich hatten, und so der whiggische Mayor
von Stockport als Präsident des Meetings genötigt war, eine char-
tistische Petition zu unterschreiben und an ein chartistisches Par-
An den Schweizerischen Republikaner. 257
lamentsmitglied (Duncombe) zur Überreichung einzusenden. Das
zweite war in Salford, einer Art Vorstadt von Manchester mit etwa
100 000 Einwohnern; ich war dort. Die Whigs hatten alle Vor-
kehrungen getroffen, um sich den Sieg zu verschaffen ; der Bo-
roughreeve nahm den Präsidentenstuhl ein und sprach viel von
Unparteilichkeit; als aber ein Chartist fragte, ob Diskussion erlaubt
sei, erhielt er zur Antwort: ja, wenn das Meeting vorüber sei! Die
erste Resolution sollte durchgeschmuggelt werden, aber die Char-
tisten waren auf ihrer Hut und vereitelten es. Als ein Chartist
die Plattform bestieg, kam ein dissentierender Geistlicher und
wollte ihn herunterwerfen. Alles ging indes noch gut, bis zuletzt,
als eine Petition im Sinne der Whigs vorgeschlagen wurde. Da trat
ein Chartist auf und schlug ein Amendement vor ; alsbald stand der
Präsident und sein ganzer Whigschweif auf und verließ den Saal.
Dis Meeting wurde nichtsdestoweniger fortgesetzt und die char-
tistische Petition zur Abstimmung gebracht; aber gerade im rech-
ten Augenblick machten die Polizeibeamten, die sich schon meh-
rere Male zugunsten der Whigs ins Mittel gelegt hatten, die Lichter
aus und zwangen das Meeting, sich zu trennen. Nichtsdestoweniger
ließen die Whigs in der nächsten Lokalzeitung ihre sämtlichen Re-
solutionen als durchgegangen einrücken und der Boroughreeve war
ehrlos genug, seinen Namen ,,in Vertretung und auf Befehl des
Meetings" zu unterzeichnen! Das ist Whigrechtlichkeit! Das dritte
Meeting war zwei Tage später in Manchester, und hier trugen die radi-
kalen Parteien gleichfalls den glänzendsten Sieg davon. Obwohl die
Stunde so gewählt war, daß die meisten Fabrikarbeiter nicht anwesend
sein konnten, war doch eine bedeutende Majorität von Chartisten und
Sozialisten im Saal. Die Whigs beschränkten sich rein auf die Punkte,
welche ihnen mit den Chartisten gemeinsam waren ; ein Sozialist und
ein Chartist sprachen von der Plattform und gaben den Whigs das
Zeugnis, daß sie sich heute als gute Chartisten aufgeführt hätten. Der
Sozialist sagte ihnen geradezu, daß er hergekommen sei, um Opposi-
tion zu machen, wenn er die geringste Gelegenheit finde, aber es sei
alles nach seinen Wünschen gegangen. So ist es also dahin gekommen,
daß Lancashire, und namentlich Manchester, der Sitz des Whiggismus,
der Zentralpunkt der Aati-Korngesetz-Ligue, eine glänzende Majo-
rität zugunsten der radikalen Demokratie aufzuweisen hat und die
Macht der ,, Liberalen" dadurch komplett im Schach gehalten wird.
H.
23. Mai.
Die Augsburger Allgemeine Zeitung hat einen liberalen Kor-
respondenten (*) in London, der den Whigumtrieben in entsetzlich
May er , Engels. Ergänzungsband. 17
258 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
langen und langweiligen Artikeln das Wort redet. „Die Anti-Korn-
gesetz-Ligue ist jetzt die Macht des Landes", sagt dies Orakel und
spricht damit die größte Lüge aus, die je von einem Parteikorrespon-
denten gesagt ist. Die Ligue die Macht des Landes! Wo steckt
diese Macht } Im Ministerium ? Da sitzen ja Peel und Graham und
Gladstone, die ärgsten Feinde der Ligue. Im Parlament? Da wird
jeder ihrer Anträge mit einer Majorität verworfen, die ihresgleichen
in den englischen Parlamentsannalen selten hat. Wo steckt diese
Macht ? Im Publikum, in der Nation ? Die Frage kann nur so ein
gedankenloser, flatterhafter Korrespondent bejahen, dem Drury-
Lane das Publikum und eine zusammengetrompetete Versammlung
die öffentliche Meinung ist. Wenn dieser weise Korrespondent schon
so blind ist, daß er am hellen Tage nicht sehen kann, wie dies das
Erbteil der Whigs ist, so will ich ihm sagen, wie es mit der Macht
der Ligue steht. Von den Tories ist sie aus dem Ministerium und
aus dem Parlament, von den Chartisten aus der öffentlichen Mei-
nung gejagt worden. Feargus O'Connor hat sie in allen Städten
Englands im Triumph vor sich hergetrieben, hat sie überall zu
einer öffentlichen Diskussion aufgefordert, und die Ligue hat den
Handschuh nie aufgenommen. Die Ligue kann kein einziges öffent-
liches Meeting berufen, ohne aufs schmählichste von den Chartisten
geschlagen zu werden. Oder weiß der Augsburger Korrespondent
nicht, daß die pomphaften Meetings in Manchester im Januar und
jetzt die Zusammenkünfte im Londoner Drury-Lane -Theater, wo
sich die liberalen Gentlemen gegenseitig etwas vorlügen und sich •
über ihre innere Haltlosigkeit zu täuschen suchen — daß das alles
,, übertünchte Gräber" sind? Wer wird zu diesen Versammlungen
zugelassen? Nur die Mitglieder der Ligue oder solche, denen die
Ligue Billetts erteilt. Da kann also keine Gegenpartei die Chance
einer erfolgreichen Opposition haben, und deshalb bewirbt sich auch
keiner um Billetts; wenn auch noch so viel List angewandt würde,
so könnte sie doch keine hundert ihrer Anhänger hineinschmuggeln.
Solche Meetings, die dann nachher ,, öffentliche" genannt werden,
hält die Ligue schon seit Jahren und gratuliert sich darin selbst
über ihre ,, Fortschritte". Es steht der Ligue dann auch sehr wohl
an, in diesen ,, öffentlichen" Billettversammlungen über das ,, Ge-
spenst des Chartismus" zu schimpfen, besonders da sie weiß, daß
O'Connor, Duncombe, Cooper usw. diese Angriffe in wirklich öffent-
lichen Meetings redlich erwidern. Die Chartisten haben bis jetzt
noch jedes öffentliche Meeting der Ligue mit glänzender Majorität
gesprengt, aber die Ligue hat noch nie ein chartistisches Meeting
beunruhigen können. Daher der Haß der Ligue gegen die Char--
tisten, daher das Geschrei über ,, Störung" eines Meetings durch
An den Schweizerischen Republikaner. 259
Chartisten — d.h. Auflehnung der Majorität gegen die Minorität,
die von der Plattform aus jene zu ihren Zwecken zu benutzen sucht.
Wo ist denn die Macht der Ligue ? — In ihrer Einbildung und —
in ihrem Geldbeutel. Die Ligue ist reich, sie hofft durch Abschaf-
fung der Korngesetze eine gute Handelsperiode herbeizuzaubern,
und wirft daher mit der Wurst nach dem Schinken. Ihre Subskrip-
tionen tragen bedeutende Massen Geld ein, und damit werden alle
die pomphaften Versammlungen und der übrige Schein und Flitter-
staat aufgebracht. Aber hinter all dem gleißenden Exterieur steckt
gar nichts Reelles. Die „National-Charter-Association", die Ver-
bindung der Chartisten, ist an Mitgliederzahl stärker, und es wird
sich bald zeigen, daß sie auch mehr Geldmittel aufbringen kann,
obwohl sie nur aus armen Arbeitern besteht, während die Ligue
alle reichen Fabrikanten und Kaufleute in ihren Reihen zählt.
Und das aus dem Grunde, weil die chartistische Assoziation ihre
Gelder zwar pfennigweise, aber von fast jedem ihrer Mitglieder er-
hält, während bei der Ligue zwar bedeutende Summen, aber nur
von einzelnen beigetragen werden. Die Chartisten können mit
Leichtigkeit jede Woche eine Million Pence aufbringen — es fragt
sich sehr, ob die Ligue das durchhalten könnte. Die Ligue hat eine
Kontribution von 50000 Pfund Sterling ausgeschrieben und etwa
70000 erhalten; Feargus O'Connor wird nächstens für ein Projekt
125000 Pfund Sterling und vielleicht bald darauf wieder ebenso viel
ausschreiben — er erhält sie, das ist gewiß — und was will dann die
Ligue mit ihren ,, großen Fonds"?
Weshalb die Chartisten Opposition gegen die Ligue machen,
darüber ein andermal. Jetzt nur noch die eine Bemerkung, daß die
Anstrengungen und Arbeiten der Ligue eine gute Seite haben.
Dies ist die Bewegung, die durch die Anti-Korrgesetz-Agitation in
eine bisher total stabile Klasse der Gesellschaft gebracht wird —
in die ackerbauende Bevölkerung. Bisher hatte diese gar kein
öffentliches Interesse; abhängig vom Grundbesitzer, der den Pacht-
kontrakt jedes Jahr kündigen kann, phlcgm.atisch, unwissend,
schickten die Farmers jahraus jahrein lauter Tories ins Parlament,
251 aus 658 Mitgliedern des Unterhauses — und dies war bisher
die starke Basis der reaktionären Partei. Wenn ein einzelner Far-
mer sich gegen diese erbliche Stimmgebung auflehnen wollte, fand
er keine Unterstützung bei seinesgleichen und konnte vom Grund-
besitzer mit Leichtigkeit abgedankt werden. Jetzt indes gibt sich
eine ziemliche Regsamkeit unter dieser Klasse der Bevölkerung
kund, es existieren schon liberale Farmers, und es gibt Leute unter
ihnen, welche einsehen, daß das Interesse des Grundbesitzers und
das des Pächters in sehr vielen Fällen sich gerade entgegenstehen.
17*
200 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844,
Vor drei Jahren hätte namentlich in eigentlich ^) England kein Mensch
einem Pächter das sagen dürfen, ohne entweder ausgelacht oder
gar geprügelt zu werden. Unter dieser Klasse wird die Arbeit der
Ligue Früchte tragen, aber ganz gewiß andere als sie erwartet; denn
wenn es wahrscheinlich ist, daß die Masse der Pächter den Whigs
allmählich zugeht, so ist es noch viel wahrscheinlicher, daß die
Masse der ackerbauenden Taglöhner auf die Seite der Chartisten
geworfen wird. Eins ohne das andere ist unmöglich, und so wird
die Ligue auch hier nur einen schwachen Ersatz bekommen für den
entschiedenen und totalen Abfall der arbeitenden Klasse, den sie
in den Städten und Fabrikbezirken seit fünf Jahren durch den
Chartismus erlitten hat. Das Reich des Justemilieus ist vorüber,
und die ,, Macht des Landes" hat sich auf die Extreme verteilt. Ich
aber frage nach diesen unleugbaren Tatsachen den Herrn Korre-
spondenten der Allg. Ztg. von Augsburg, wo ,,die Macht der Ligue"
steckt ?
III. , .
9. Jum.
Die englischen Sozialisten sind weit grundsätzlicher und prak-
tischer als die französischen, was besonders davon herrührt, daß
sie in offenem Kampfe mit den verschiedenen Kirchen sind und
von der Religion nichts wissen wollen. In den größern Städten
nämlich halten sie gewöhnlich eine Hall (Versammlungshaus), wo
sie alle Sonntage Reden anhören, häufig sind dieselben polemisch
gegen das Christentum und atheistisch, oft aber beschlagen sie auch
eine, das Leben der Arbeiter berührende Seite ; von ihren Lecturers
(Predigern) scheint mir Watts in Manchester jedenfalls ein bedeu-
tender Mann zu sein, welcher mit vielem Talente einige Broschüren
über die Existenz Gottes und über die Nationalökonomie geschrieben
hat. Die Lecturers haben eine sehr gute Manier zu räsonieren;
alles geht von der Erfahrung und von beweisbaren oder anschau-
lichen Tatsachen aus, dabei aber findet eine so grundsätzliche
Durchführung statt, daß es schwer hält, auf ihrem gewählten Bo-
den mit ihnen zu kämpfen. Will man aber ein anderes Terrain
nehmen, so verlachen sie einen ins Gesicht; ich sage z. B.: die Exi-
stenz Gottes ist nicht vom Beweise aus Tatsachen für den Menschen
abhängig, da entgegnen sie: ,,Wie lächerlich ist Ihr Satz: wenn er
nicht durch Tatsachen sich manifestiert, was wollen wir uns auch
um ihn bekümmern: aus Ihrem Satze folgt gerade, daß die Exi-
stenz Gottes oder die Nichtexistenz den Menschen gleichgültig sein
kann. Da wir nun für so tausend andere Dinge zu sorgen haben,
1) siel
An den Schweizerischen Republikaner. 261
so lassen wir Ihnen den lieben Gott hinter den Wolken, wo er viel-
leicht existiert, vielleicht auch nicht. Was wir nicht durch Tat-
sachen wissen, das geht uns gar nichts an; wir halten uns auf dem
Boden ,der schönen Fakten*, wo von solchen Phantasiestücken,
wie Gott und Religiosa keine Rede sein kann." So stützen sie ihre
übrigen kommunistischen Sätze auf den Beweis von Tatsachen, bei
deren Annahme sie in der Tat vorsichtig sind. Die Hartnäckigkeit
dieser Leute ist unbeschreiblich und wie die Geistlichen sie herum-
kriegen wollen, weiß der liebe Himmel. In Manchester z. B. zählt
die Kommunisten -Gemeinde 8000 erklärte für die Hall eingeschrie-
bene und an derselben bezahlende Mitglieder, und es ist keine
Übertreibung, wenn behauptet wird, die Hälfte der arbeitenden
Klassen in Manchester teilen ihre Ansichten über das Eigentum;
denn wenn der Watts von dei Plattform (bei den Kommunisten,
was die Kanzel bei den Christen) sagt: heute geh' ich an dies oder
jenes Meeting, so kann man darauf rechnen, daß die Motion, welche
der Lecturer bringt, die Mehrheit hat.
Es gibt aber auch unter den Sozialisten Theoretiker, oder, wie
die Kommunisten sie nennen, ganze Atheisten, während jene die
praktischen heißen. Von diesen Theoretikern ist der berühmteste
Charles Southwell in Bristol, der eine streitfertige Zeitschrift: ,,Das
Orakel der Vernunft" herausgab und dafür mit einem Jahr Gefäng-
nis und einei Buße von etwa 100 Pfund gestraft wurde: natürlich
ist dieselbe schnell durch Subskriptionen gedeckt worden; wie denn
jeder Engländer seine Zeitung hält, seinen Führern die Bußen
tragen hilft, an seine Kapelle oder Hall zahlt, an seine Meeting
geht. Charles Southwell aber sitzt schon wieder; es mußte nämlich
die Hall in Bristol verkauft werden, weil nicht so viele Sozialisten
in Bristol und darunter wenig Reiche sind, währenddem eine solche
Hall ein ziemlich kostspieliges Ding ist. Dieselbe wurde von einer
christlichen Sekte gekauft und in eine Kapelle umgewandelt. Als
die Hall zur Kapelle geweiht wurde, drangen die Sozialisten und
Chartisten hinein, um die Sache mit anzusehen und zu hören. Als
nun aber der Geistliche anfing, Gott zu loben, daß all das ruchlose
Zeug ein Ende genommen habe, daß nun da, wo Gott sonst gelästert
wurde, der Allmächtige nun gepriesen werde, hielten sie es für einen
Angriff, und da nach englischen Begriffen jeder Angriff eine Abwehr
heischt, schrien sie: Southwell, Southwell, Southwell soll dagegen
eine Rede halten. Southwell also macht sich auf und beginnt eine
Rede: jetzt aber stellen sich die Geistlichen der christlichen Sekte
an die Spitze ihrer in Kolonnen gestellten Pfarrkinder und stürmen
auf Southwell los, andere der Sekte holen Polizei, da der Southwell
den christlichen Gottesdienst gestört habe: die Geistlichen packen
202 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844,
ihn mit eigenen Fäusten, schlagen ihn (was in solchen Fällen häufig
geschieht) und übergeben ihn einem Polizeimann. Southwell selbst
befahl seinen Anhängern, keinen leiblichen Widerstand zu machen;
als er weggeführt wurde, folgten ihm bei 6000 Mann mit Hurrarufen
und Lebehoch.
Der Stifter der Sozialisten Owen schreibt in seinen vielen Büch-
lein wie ein deutscher Philosoph, d. h. sehr schlecht, doch hat er
zuweilen lichte Augenblicke, wo er seine dunkeln Sätze genießbar
macht: seine Ansichten sind übrigens umfassend. Nach Owen sind
„Ehe, Religion und Eigentum die einzigen Ursachen alles Unglücks,
was seit Anfang der Welt existiert hat", (!!), alle seine Schriften
wimmeln von Wutausbrüchen gegen die Theologen, die Juristen
und Mediziner, welche er in einen Topf wirft, ,,Die Geschwornen-
gerichte werden aus einer Klasse Leuten besetzt, welche noch ganz
theologisch, also Partei ist; auch die Gesetze sind theologisch und
müssen deswegen samt der Jury abgeschafft werden."
Während die englische Hochkirche praßte, haben die Sozia-
listen für die Bildung der arbeitenden Klassen in England unglaub-
lich viel getan; man kann sich anfänglich nicht genug wundern,
wenn man die gemeinsten Arbeiter in der Hall of Science über den
politischen, den religiösen und sozialen Zustand mit klarem Be-
wußtsein sprechen hört; aber wenn man die merkwürdigen Volks-
schriften aufspürt, wenn man die Leccurers der Sozialisten, z. B.
den Watts in Manchester hört, so nimmt es einen nicht mehr wunder.
Die Arbeiter besitzen gegenwärtig in sauberen, wohlfeilen Ausgaben
die Übersetzungen der französischen Philosophie des verflossenen
Jahrhunderts, am meisten den Contrat social von Rousseau, das
Systeme de la Nature und verschiedene Werke von Voltaire, außer-
dem in Pfennig- und Zweipfennig-Broschüren und Journalen die
Auseinandersetzung der kommunistischen Grundsätze ; ebenso sind
die Ausgaben von Thomas Payne und Shelleys Schriften zu billigem
Preise in den Händen der Arbeiter. Dazu kommen noch die sonn-
täglichen Vorlesungen, welche sehr fleißig besucht werden; so sah
ich bei meiner Anwesenheit in Manchester die Kommunisten-Hall,
welche etwa 3000 Menschen faßt, jeden Sonntag gedrängt voll und
hörte da Reden, welche unmittelbare Wirkung haben, in welchen
dem Volke auf den Leib geredet wird, auch Witze gegen die Geist-
lichen vorkommen. Daß das Christentum geradezu angegriffen wird,
daß die Christen als ,, unsere Feinde" bezeichnet werden, kommt
oft vor.
Die Formen dieser Zusammenkünfte gleichen zum Teil den
kirchlichen; ein Sängerchor, von einem Orchester begleitet, singt
auf der Galerie die sozialen Hymnen, es sind halb und ganz geist-
An den Schweizerischen Republikaner. 263
liehe Melodien mit kommunistischen Texten, wobei die Zuhörer
stehen. Dann tritt ein Vorleser auf die Plattform, auf welcher ein
Pult und Stühle stehen, ganz ungeniert mit dem Hut auf dem Kopf,
macht mit dem Hutlüften den Anwesenden seinen Gruß und zieht
den Überrock aus; dann setzt ei sich und hält seinen Vortrag, wo-
bei gewöhnlich viel gelacht wird, da der englische Witz im spru-
delnden Humor sich in diesen Reden Luft macht ; in der einen Ecke
der Hall ist ein Bücher - und Broschürenladen, in der andern eine
Bude mit Orangen und andern Erfrischungen, wo jeder seine dahin
einschlagenden Bedürfnisse befriedigen oder, wenn ihn die Rede
langweilen sollte, sich ihr entziehen kann. Zuweilen werden Sonn-
tag abends da Teepartien gegeben, wo alle Alter, Stände und Ge-
schlechter unter einander sitzend das gewöhnliche Abendessen, Tee
mit Butterbrot zu sich nehmen ; an Werktagen werden oft Bälle und
Konzerte in der Hall aufgeführt, wo man sich recht lustig macht;
ebenso ist noch ein Kaffee in der Halle.
Wie kommt es, daß man diesen ganzen Kram duldet ? aber
einmal haben die Kommunisten sich unter dem Whigministerium
eine Parlamentsakte verschafft und sich überhaupt damals so fest-
gesetzt, daß man ihnen jetzt als Korporation nichts mehr tun kann.
Zweitens würde man den hervorragenden einzelnen sehr gerne zu
Leib gehen, aber man weiß, daß dies nur zum Vorteil der Sozia-
listen ausschlüge, indem es die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie
lenkt, wonach sie streben. Gäbe es Märtyrer für ihre Sache (und
wie viele wären alle Augenblicke dazu bereit), so entstände Agita-
tion; Agitation aber ist das Mittel, ihre Sache noch mehr zu ver-
breiten, während jetzt ein großer Teil des Volkes sie übersieht, in-
dem es sie füi eine Sekte wie eine andere hält; Gegenmaßregeln,
wußten die Whigs sehr wohl, wirken kräftiger für eine Sache als
Selbstagitation, daher gaben sie ihnen Existenz und eine Form;
jede Form aber ist bindend. Die Tories schlagen hingegen etwa los,
wenn die atheistischen Schriften zu arg ausfallen ; aber jedesmal
zum Nutzen der Kommunisten; im Dezember 1840 wurden South -
well und andere wegen Blasphemie gestraft ; gleich erschienen drei
neue Zeitschriften, eine ,,Der Atheist", die andere ,,Der Atheist und
der Republikaner", die dritte, von dem Lecturer Watts heraus-
gegeben: ,,Der Gotteslästerer". Einige Nummern des Gottesläste-
rers haben großes Aufsehen erregt, und mancher studierte um-
sonst darauf, wie man diese Richtung unterdrücken könnte. Man
ließ sie gehen und siehe da, alle drei Blätter gingen wieder ein!
Drittens retten sich die Sozialisten wie alle die andern Par-
teien durch Gesetzumgehen und Wortklauben, was hier an der
Tagesordnung ist.
264 -^"^ ^^^ ^®^* ^^^ ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
So ist hier alles Leben und Zusammenhang, fester Boden und
Tat, so nimmt hier alles äußere Gestalt an: während wir glauben
etwas zu wissen, wenn wir die matte Elendigkeit des Steinschen
Buches verschlucken, oder etwas zu sein, wenn wir da oder dort
eine Meinung mit Rosenöl verduftet aussprechen.
In den Sozialisten sieht man recht deutlich die englische Ener-
gie; was mich aber mehr in Erstaunen setzte, war das gutmütige
Wesen dieser, fast hätte ich gesagt Kerls, das aber so weit von
Schwäche entfernt ist, daß sie über die bloßen Republikaner lachen,
da die Republik ebenso heuchlerisch, ebenso theologisch, ebenso
gesetzlich ungerecht sein würde, als die Monarchie; für die soziale
Reform aber wollen sie samt Weib und Kindern Blut und Gut ein-
setzen.
IV. ^ .
27. Jimi.
Man hört jetzt von nichts als von O'Connell und der irischen
Repeal (Aufhebung der Verbindung Irlands mit England). O'Con-
nell, der alte schlaue Advokat, der während der Whigregierung
ruhig im Unterhause saß, und ,, liberale" Maßregeln durchbringen
half, damit sie im Oberhause durchfielen, O'Connell hat sich auf
einmal aus London und der parlamentarischen Debatte fortgemacht
und bringt seine alte Repealfrage wieder auf. Kein Mensch dachte
noch daran; da steigt Old Dan in Dublin ans Land und rührt den
alten verjährten Plunder wieder auf. Kein Wunder, daß das alte
gärende Zeug nun merkwürdige Luftblasen entwickelt. Da zieht
der alte Schlaukopf von Stadt zu Stadt und jedesmal von einer Leib-
garde begleitet, wie kein König sie aufzuweisen hat, zweimalhundert-
tausend Mann immer um sich! Was könnte damit alles getan
werden, wenn ein vernünftiger Mensch die Popularität O'Connells,
oder O'Connell ein wenig mehr Einsicht und etwas weniger Egois-
mus und Eitelkeit besäße! Zweimalhunderttausend Mann; und was
für Leute! — Leute, die keinen Pfennig zu verlieren, die zu zwei
Dritteln keinen ganzen Rock am Leibe haben, echte Proletarier und
Sansculotten, und dazu Irländer, wilde, unbändige, fanatische Galen.
Wer die Irländer nicht gesehen hat, der kennt sie nicht. Gebt mir
zweimalhunderttausend Irländer und ich werfe die ganze britische
Monarchie über den Haufen. Der Irländer ist ein sorgloses, heiteres,
kartoffelessendes Naturkind. Von der Heide, auf der er unter einem
schlechten Dach, bei dünnem Tee und schmaler Kost herangewach-
sen ist, wird er in unsere Zivilisation hineingerissen. Der Hunger
treibt ihn nach England. In dem mechanischen, egoistischen, eisig-
kalten Getriebe der englischen Fabrikstätte erwachen seine Leiden-
schaften. Was weiß der rohe Junge, dessen Jugend auf der Heide
An den Schweizerischen Republikaner. 265
spielend und auf der Landstraße bettelnd verbracht wurde, von
Sparsamkeit ? Was er verdient, wird verjubelt; dann hungert er bis
zum nächsten Zahltag oder bis er wieder Arbeit findet. Das Hungern
ist er so gewöhnt. So kehrt er zurück, sucht sich seine Familie von
der Landstraße zusammen, wo sie sich zum Betteln zerstreute und
zuweilen wieder um den Teekessel sammelte, den die Mutter mit
sich führte. Aber er hat in England viel gesehen, öffentliche Mee-
tings und Arbeitervereine besucht, er weiß, was Repeal ist und was
es mit Sir Robert Peel auf sich hat, er hat sich mit der Polizei ganz
gewiß sehr oft herumgeschlagen und weiß von der Hartherzigkeit
und Schändlickheit der ,, Peelers" (Polizeidiener) viel zu erzählen.
Auch von Daniel O'Connell hat er viel gehört. Jetzt sucht er sich
sein altes Haus mit einem Stück Kartoffelland wieder auf. Die Kar-
toffeln sind reif geworden, er macht sie aus und hat nun für den
Winter zu leben. Da kommt der Oberpächter und fragt nach der
Pacht. Ja du lieber Gott, wo ist Geld ? Der Oberpächter ist dem
Grundherrn für die Pacht verantwortlich, er läßt also pfänden.
Der Irländer widersetzt sich und wird eingesteckt. Man läßt ihn
am Ende wieder laufen, und bald darauf findet man den Oberpächter
oder sonst jemand, der sich bei der Pfändung beteiligte, im Graben
erschlagen.
Das ist eine Geschichte aus dem Leben der irischen Proleta-
rier, wie sie alle Tage passiert. Die halbwilde Erziehung und die
später ganz zivilisierte Umgebung bringen den Irländer in einen
Widerspruch mit sich selbst, in eine stete Gereiztheit, in eine stets
inwendig fortglimmende Wut, die ihn zu allem fähig machen.
Dazu liegt die Last einer fünfhundertjährigen Unterdrückung mit
allen ihren Folgen auf ihm. Was Wunder, daß er da, wie jeder
Halbwilde, bei jeder Gelegenheit blind und wülend dreinschlägt,
daß ein ewiger Rachedrang, eine Wut des Zerstörens, in seinen
Augen brennt, der es ganz gleichgültig ist, wogegen sie sich äußert,
wenn sie nur dreinschlagen, nur zerstören kann? Das aber ist noch
nicht alles. Wütender Nationalhaß des Galen gegen den Sachsen,
altkatholischer, von den Priestern genährter Fanatismus gegen den
protestantisch -episkopalen Hochmut — mit solchen Elementen läßt
sich alles durchsetzen. Und alle diese Elemente sind in O'Connells
Hand. Und über welche Massen hat er zu verfügen! Vorgestern
in Cork — 150000 Mann; gestern in Nenaph — 200 000 Mann; heute
in Kilkenny — 400000 Mann, so geht das durch. Ein Triumphzug
von 14 Tagen, ein Triumphzug, wie kein römischer Imperator ihn
hielt. Und wollte O'Connell wirklich das Beste des Volks, wäre es
ihm um die Wegschaffung des Elends wirklich zu tun — wären es
nicht seine elenden kleinlichen Justemilieuzwecke, die hinter all
266 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
dem Lärmen, der Agitation der Repeal stecken, wahrlich ich möchte
wissen, was ihm Sir Robert Peel verweigern dürfte, wenn er es an
der Spitze einer solchen Macht forderte, wie er sie jetzt hat. Aber
was richtet er aus mit all seiner Macht und seinen Millionen waffen-
fähiger, verzweifelter Irländer ? Nicht einmal die elende Repeal der
Union kann er durchsetzen, natürlich, bloß weil es ihm kein Ernst
damit ist, weil er das ausgesogene, zerdrückte irische Volk dazu
mißbraucht, den Toryministern Verlegenheit zu bereiten und seine
Justemilieufreunde wieder ins Amt zu bringen. Das weiß auch Sir
Robert Peel gut genug, und darum reichen 25000 Mann Soldaten
hin, ganz Irland im Zaum zu halten. Wenn O'Connell wirklich
der Mann des Volks wäre, wenn er Mut genug besäße und sich
nicht selbst vor dem Volk fürchtete, d. h. wenn er kein dop-
pelzüngiger Whig, sondern ein gerader konsequenter Demokrat
wäre, so wäre längst kein englischer Soldat mehr in Irland, kein pro-
testantischer faulenzender Pf äff in rein katholischen Bezirken, kein
altnormännischer Baron in seinem Schloß. Aber da liegt der Haken.
Wenn das Volk für einen Augenblick losgelassen wäre, so würden
Daniel O'Connell und seine Geldaristokraten bald ebenso aufs Trok-
kene gesetzt werden, wie er die Tories aufs Trockene setzen will.
Darum schließt sich Daniel so eng an die katholische Geistlichkeit,
darum warnt er seine Irländer vor dem gefährlichen Sozialismus,
darum weist er die angebotene Unterstützung der Chartisten zurück,
obwohl er zum Schein hie und da von Demokratie spricht, wie Louis
Philipp einst von den republikanischen Institutionen, und darum
wird er es nie zu etwas bringen, als zu einer politischen Heranbildung
des irischen Volks, die am Ende für niemanden gefährlicher ist als
für ihn selbst.
Die Lage Englands.
Das achtzehnte Jahrhundert.
Dem Anscheine nach ist das Jahrhundert der Revolution an
England ohne viel Veränderung vorübergegangen. Während auf
dem Kontinent eine ganze alte Welt zertrümmert wurde, während ein
fünfundzwanzig jähriger Krieg die Atmosphäre reinigte, blieb in
England alles ruhig, wurde weder Staat noch Kirche irgendwie be-
droht. Und doch hat England seit der Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts eine größere Umwälzung durchgemacht, als irgendein
anderes Land, — eine Umwälzung, die um so folgenreicher ist, je
Die Lage Englands. 267
stiller sie bewerkstelligt wurde, und die deshalb aller Wahrschein-
lichkeit nach ihr Ziel eher in der Praxis erreichen wird, als die fran-
zösische politische oder die deutsche philosophische Revolution.
Die Revolution Englands ist eine soziale, und daher umfassender
und eingreifender als irgend eine andere. Es gibt kein noch so ent-
legenes Gebiet menschlicher Erkenntnis und menschlicher Lebens-
verhältnisse, das nicht zu ihr beigetragen und wiederum von ihr
eine veränderte Stellung empfangen hätte. Die soziale Revolution
ist erst die wahre Revolution, in der die politische und philosophische
Revolution ausmünden müssen ; und diese soziale Revolution ist in
England schon seit siebenzig oder achtzig Jahren im Gange, und geht
eben jetzt mit raschen Schritten ihrer Krisis entgegen.
Das achtzehnte Jahrhundert war die Zusammenfassung, die
Sammlung der Menschheit aus der Zersplitter'mg und Vereinzelung,
in die sie durch das Christentum geworfen war; der vorletzte Schritt
zur Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung der Menschheit, der aber
als der vorletzte darum auch noch einseitig im Widerspruch stecken
blieb. Das achtzehnte Jahrhundert faßte die Resultate der bis-
herigen Geschichte, die bis dahin nur einzeln und in der Form der
Zufälligkeiten aufgetreten waren, zusammen und entwickelte ihre
Notwendigkeit und ihre innere Verkettung. Die zahllosen durch-
einandergewürfelten Data der Erkenntnis wurden geordnet, geson-
dert und in Kausal Verbindung gebracht; das Wissen wurde Wissen-
schaft, und die Wissenschaften näherten sich ihrer Vollendung, d. h.
knüpften sich auf der einen Seite an die Philosophie, auf der andern
an die Praxis an. Vor dem achtzehnten Jahrhunderte gab es keine
Wissenschaft; die Erkenntnis der Natur nahm ihre wissenschaft-
liche Form erst im achtzehnten Jahrhundert an, oder in einigen
Zweigen ein paar Jahre vorher. Newton schuf die wissenschaftliche
Astronomie durch das Gravitationsgesetz, die wissenschaftliche
Optik durch die Zersetzung des Lichtes, die wissenschaftliche Mathe-
matik durch den binomischen Satz und die Theorie des Unendlichen
und die wissenschaftliche Mechanik durch die Erkenntnis der Natur
der Kräfte. Die Physik erhielt ebenfalls im achtzehnten Jahrhun-
dert ihren wissenschaftlichen Charakter; die Chemie wurde durch
Black, Lavoisier und Priestley erst geschaffen; die Geographie
wurde durch die Bestimmung der Gestalt der Erde und die vielen,
jetzt erst mit Nutzen für die Wissenschaft unternommenen Reisen
zur Wissenschaft erhoben ; ebenso die Naturgeschichte durch Buffon
und Linne; selbst die Geologie fing allmählig an, sich aus dem Stru-
del phantastischer Hypothesen, in dem sie verkam, herauszuarbeiten.
Der Gedanke der Encyklopädie war für das achtzehnte Jahrhundert
charakteristisch ; er beruhte auf dem Bewußtsein, daß alle diese
268 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
Wissenschaften unter sich zusammenhängen, war aber noch nicht
imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur
einfach neben einander stellen. Ebenso in der Geschichte ; wir fin-
den jetzt zuerst bändereiche Kompilationen der Weltgeschichte, noch
ohne Kritik und vollends ohne Philosophie, aber doch allgemeine
Geschichte anstatt der bisherigen lokal und zeitlich beschränkten
Geschichtsfragmente. Die Politik wurde auf eine menschliche Basis
gestellt, und die Nationalökonomie durch Adam Smith reformiert.
Die Spitze der Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts war der
Materialismus, das erste System der Naturphilosophie und die Folge
jener Vollendung der Naturwissenschaften. Der Kampf gegen die
abstrakte Subjektivität des Christentums trieb die Philosophie des
achtzehnten Jahrhunderts auf die entgegengesetzte Einseitigkeit;
der Subjektivität wurde die Objektivität, dem Geist die Natur, dem
Spiritualismus der Materialismus, dem abstrakt Einzelnen das ab-
strakt Allgemeine, die Substanz entgegengesetzt. Das achtzehnte
Jahrhundert war die Wiederbelebung des antiken Geistes gegen-
über dem christlichen; Materialismus und Republik, die Philosophie
und Politik der alten Welt, erstanden aufs neue, und die Franzosen,
die Repräsentanten des antiken Prinzips innerhalb des Christen-
tums, bemächtigten sich für eine Zeitlang der historischen Initiative.
Das achtzehnte Jahrhundert löste also den großen Gegensatz
nicht, der die Geschichte von Anfang an beschäftigt hat und dessen
Entwicklung die Geschichte ausmacht, den Gegensatz von Substanz
und Subjekt, Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit ; es stellte
aber die Seiten des Gegensatzes in ihrer ganzen Schroffheit und voll-
kommen entwickelt einander gegenüber und machte dadurch seine
Aufhebung notwendig. Die Folge dieser klaren, letzten Entwick-
lung des Gegensatzes war die allgemeine Revolution, die sich auf
die verschiedenen Nationalitäten verteilte und deren bevorstehende
Vollendung zugleich die Lösung des Gegensatzes der bisherigen
Geschichte sein wird. Die Deutschen, das christlich-spiritualistische
Volk, erlebten eine philosophische Revolution; die Franzosen, das
antik-materialistische, daher politische Volk, hatten die Revolution
auf politischem Wege durchzumachen; die Engländer, deren Natio-
nalität eine Mischung deutscher und französischer Elemente ist,
die also beide Seiten des Gegensatzes in sich tragen und deshalb
universeller sind, als ein jeder der beiden Faktoren für sich, wurden
daher auch in eine universellere, eine soziale Revolution hinein-
gerissen. — Dies wird näherer Ausführung bedürfen, da die Stel-
lung der Nationalitäten wenigstens für die neuere Zeit in unserer
Geschichtsphilosophie bis jetzt sehr ungenügend oder vielmehr gar
nicht behandelt worden ist.
Die Lage Englands. 269
Daß Deutschland, Frankreich und England die drei leitenden
Länder der gegenwärtigen Geschichte sind, darf ich wohl als zu-
gegeben annehmen; daß die Deutschen das christlich -spiritualisti-
sche, die Franzosen das antik-materialistische Prinzip, mit andern
Worten, daß jene die Religion und Kirche, diese die Politik und den
Staat vertreten, ist ebenso einleuchtend, oder wird es seinerzeit
schon gemacht werden; die Bedeutung der Engländer in der neueren
Geschichte ist weniger in die Augen fallend und für unsern gegen-
wärtigen Zweck auch am wichtigsten. Die englische Nation
wurde gebildet von Germanen und Romanen zu einer Zeit, wo
beide Nationen sich erst eben von einander geschieden und ihre
Entwicklung zu den beiden Seiten des Gegensatzes kaum begonnen
hatten. Die germanischen und romanischen Elemente entwickel-
ten sich neben einander und bildeten zuletzt eine Nationalität, die
beide Einseitigkeiten unvermittelt in sich trägt. Der germanische
Idealismus behielt so viel freies Spiel, daß er sogar in sein Gegenteil,
die abstrakte Äußerlichkeit umschlagen konnte ; die noch gesetz-
liche Verkäuflichkeit der Weiber und Kinder, und der Handelsgeist
der Engländer überhaupt, ist entschieden auf Rechnung des germa-
nischen Elements zu bringen. Ebenso schlug der romanische Ma-
terialismus in abstrakten Idealismus, Innerlichkeit und Religiosität
um; daher das Phänomen der Fortdauer des romanischen Katho-
lizismus innerhalb des germanischen Protestantismus, die Staats-
kirche, das Papsttum der Fürsten und die durchaus katholische
Are die Religion mit Förmlichkeiten abzufertigen. Der Charakter
der englischen Nationalität ist der ungelöste Widerspruch, die Ver-
einigung der schroffsten Kontraste. Die Engländer sind das religi-
öseste Volk der Welt und zu gleicher Zeit das irreligiöseste ; sie
plagen sich mehr um das Jenseits als irgend eine andere Nation, und
doch leben sie dabei, als ob das Diesseits ihr Eins und Alles sei;
ihre Aussicht auf den Himmel hindert sie nicht im mindesten ebenso
fest an die ,, Hölle des Kein-Geld-Verdienens" zu glauben. Daher
die ewige innere Unruhe der Engländer, die das Gefühl der Un-
fähigkeit, den^) Widerspruch zu lösen ist, und sie aus sich selbst
heraus zur Tätigkeit treibt. Das Gefühl des Widerspruchs die die
Quelle der Energie, aber der sich bloß entäußernden Energie, und
dies Gefühl des Widerspruchs war die Quelle der Kolonisation, der
Schiffahrt, der Industrie und überhaupt der ungeheuren praktischen
Tätigkeit der Engländer. Die Unfähigkeit, den Widerspruch zu
lösen, geht durch die ganze englische Philosophie hindurch und
treibt sie auf die Empirie und den Skeptizismus. Weil Bacon mit
^) Im Text steht der Druckfehler: der.
270 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
seiner Vernunft den Widerspruch von Idealismus und Realismiis
nicht lösen konnte, mußte die Vernunft überhaupt dazu unfähig
sein, der Idealismus kurzweg verworfen und in der Empirie das ein-
zige Rettungsmittel gesehen werden. Aus derselben Quelle geht die
Kritik des Erkenntnisvermögens und die psychologische Richtung
überhaupt hervor, in der die englische Philosophie sich von Anfang
an ausschließlich bewegt hat und die dann zuletzt, nach allen ver-
geblichen Versuchen, den Widerspruch zu lösen, ihn für unlösbar,
die Vernunft für unzureichend erklärt und entweder im religiösen
Glauben oder in der Empirie Rettung sucht. Der Humesche Skep-
tizismus ist noch heutzutage die Form alles irreligiösen Philoso-
phierens in England. Wir können nicht wissen, räsoniert diese
Anschauungsweise, ob ein Gott existiert, wenn einer existiert, so
ist jede Kommunikation mit uns für ihn unmöglich, und wir haben
also unsere Praxis so einzurichten, als ob keiner existierte. Wir
können nicht wissen, ob der Geist vom Körper verschieden und un-
sterblich ist; wir leben also so, als ob dies Leben unser einziges
wäre und plagen uns nicht mit Dingen, die über unsern Verstand
gehen. Kurz, die Praxis dieses Skeptizismus ist genau der franzö-
sische Materialismus; aber in der metaphysischen Theorie bleibt
er in der Unfähigkeit der definitiven Entscheidung stecken. —
Weil die Engländer aber beide Elemente, die auf dem Kontinent die
Geschichte entwickelten, in sich trugen, darum waren sie imstande,
selbst ohne viel mit dem Kontinent zu verkehren, doch mit der
Bewegung Schritt zu halten, und ihr zuweilen sogar voraus zu sein.
Die englische Revolution des siebzehnten Jahrhunderts ist genau
das Vorbild der französischen von 1789. Im ,, langen Parlament"
sind die drei Stufen, die in Frankreich als konstituierende und legis-
lative Versammlung und Nationalkonvent auftraten, leicht zu unter-
scheiden; der Übergang von konstitutioneller Monarchie zur De-
mokratie, Militärdespotismus, Restauration und Juste-Milieu-Re-
volution ist in der englischen Revolution scharf ausgeprägt. Crom-
well ist Robespierre und Napoleon in einer Person; der Gironde,
dem Berg und den Hebertisten und Baboeuvisten entsprechen die
Presbyterianer, Independenten und Levellers; das politische Resul-
tat ist bei beiden ziemlich kläglich und die ganze Parallele, die noch
viel genauer ausgeführt werden könnte, beweist nebenbei auch, daß
die religiöse und die irreligiöse Revolution, solange sie politisch
bleiben, beide am Ende auf Eines herauskommen. Freilich war
dies Voraussein der Engländer vor dem Kontinent nur momentan
und glich sich allmählich wieder aus ; die englische Revolution en-
digte im Justemilieu und der Schöpfung der beiden nationalen Par-
teien, während die französische noch nicht abgeschlossen ist und
Die Lage Englands. 271
sich nicht abschließen kann, bevor sie bei demselben Resultat an-
gekommen ist, bei dem die deutsche philosophische und die eng-
lische soziale Revolution anzukommen haben.
Der englische Nationalcharakter ist vom deutschen sowohl wie
vom französischen wesentlich verschieden; die Verzweiflung an der
Aufhebung des Gegensatzes und die daraus folgende totale Hin-
gebung an die Empirie ist ihm eigentümlich. Auch das reine Ger-
manentum verkehrte seine abstrakte Innerlichkeit in abstrakte
Äußerlichkeit, aber diese Äußerlichkeit verlor die Spur ihres Ur-
sprungs nie und blieb der Innerlichkeit und dem Spiritualismus
stets untergeordnet. Auch die Franzosen stehen auf der materiellen
empirischen Seite ; aber weil diese Empirie unmittelbare National-
richtung, nicht eine sekundäre Folge eines in sich selbst zerspalte -
nen Nationalbewußtseins ist, macht sie sich in nationaler, allge'
meiner Weise geltend, äußert sie sich als politische Tätigkeit. Der
Deutsche behauptete die absolute Berechtigung des Spiritualismus,
und suchte die allgemeinen Interessen der Menschheit daher in der
Religion und später in der Philosophie zu entwickeln. Der Franzose
stellte diesem Spiritualismus den Materialismus als absolut berech-
tigt gegenüber und nahm infolgedessen den Staat als die ewige Form
dieser Interessen an. Der Engländer aber hat keine allgemeinen
Interessen, er kann von ihnen nicht reden ohne den wunden Fleck,
den Widerspruch zu berühren, er verzweifelt an ihnen und hat nur
Einzelinteressen. Diese absolute Subjektivität, die Zersplitterung
des Allgemeinen in die vielen Einzelnen ist allerdings germanischen
Ursprungs, aber wie gesagt von ihrer Wurzel getrennt und darum
bloß empirisch wirksam, und unterscheidet eben die englische
soziale von der französischen politischen Empirie. Frankreichs
Tätigkeit war stets national, von vornherein ihrer Ganzheit und All-
gemeinheit sich bewußt; Englands Tätigkeit war die Arbeit unab-
hängiger, neben einander stehenden Individuen, die Bewegung unver-
bundener Atome, die selten und dann nur aus individuellem
Interesse, als ein Ganzes zusammenwirkten, und deren Einheit-
losigkeit gerade jetzt in allgemeinem Elend und gänzlicher Zer-
splitterung ans Tcigeslicht tritt.
Mit anderen Worten, nur England hat eine soziale Geschichte.
Nur in England haben die Individuen als solche, ohne mit Bewußt-
sein allgemeine Prinzipien zu vertreten, die nationale Entwicklung
gefördert und ihrem Abschluß nahe gebracht. Nior hier hat die
Masse als Masse, um ihrer eignen Einzelinteressen willen, gewirkt;
nur hier sind die Prinzipien in Interessen verwandelt worden, ehe
sie auf die Geschichte Einfluß haben konnten. Die Franzosen und
Deutschen kommen auch allmählich zur sozialen Geschichte, aber
272 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
sie haben sie noch nicht. Auch auf dem Kontinent hat es Armut,
Elend und sozialen Druck gegeben, aber das blieb ohne Wirkung
auf die nationale Entwicklung; aber das Elend und die Armut der
arbeitenden Klasse des heutigen Englands hat nationale, und mehr
als das, hat weltgeschichtliche Bedeutung. Das soziale Moment ist
auf dem Kontinent noch ganz unter dem politischen vergraben, hat
sich noch gar nicht von ihm getrennt, während in England das po-
litische Moment allmählich von dem sozialen überwunden und ihm
dienstbar geworden ist. Alle englische Politik ist im Grunde sozialer
Natur, und nur weil England noch nicht über den Staat hinausge-
kommen, weil die Politik ein Notbehelf für es ist, nur darum äußern
sich die sozialen Fragen politisch.
rS^ So lange S:aat und Kirche die einzigen Formen sind, in denen
die allgemeinen Bastimmungen des menschlichen Wesens sich ver-
wirklichen, so lange kann von sozialer Geschichte nicht die Rede
sein. Das Altertum und das Mittelalter konnten daher auch keine
soziale Entwicklung aufweisen; erst die Rsformation, der erste,
noch befangene und dumpfe Versuch einer Reaktion gegen das
Mittelalter brachte einen sozialen Umschwung, die Verwandlung
der Leibeigenen in ,, freie" Arbeiter, hervor. Aber auch dieser Um-
schwung blieb ohne viel nachhaltige Wirkung auf dem Kontinent,
ja er setzte sich hier eigentlich erst mit der Revolution des acht-
zehnten Jahrhunderts durch, während in England mit der Refor-
mation das Gaschlecht der Leibeigenen in vilains, bordars, cottars
und so in eine Klasse persönlich freier Arbeiter verwandelt wurde,
und das achtzehnte Jahrhundert hier bereits die Konsequenzen
dieser Umwälzung entwickelte. Warum dies nur in England ge-
schah, ist oben auseinandergesetzt.
Das Altertum, das noch nichts von dem Rechte des Subjekts
wußte, dessen ganze Weltanschauung wesentlich abstrakt, allge-
mein, substantiell war, konnte deshalb nicht ohne die Sklaverei be-
stehen. Die christlich-germanische Weltansicht stellte die abstrakte
Subjektivität, daher die Willkür, die Innerlichkeit, den Spiritualis-
mus dem Altertum gegenüber als Grundprinzip auf; diese Subjekti-
vität muß:e aber, eben weil sie abstrakt, einseitig war, sogleich sich
in ihr Gegenteil verkehren, und statt der Freiheit des Subjekts die
Sklaverei des Subjekts erzeugen. Die abstrakte Innerlichkeit wurde
abstrakte Äußerlichkeit, Wegwerfung und Veräußerung des Men-
schen, und die erste Folge des neuen Prinzips war die Wiederher-
stellung der Sklaverei in einer andern, weniger anstößigen, aber dar-
um heuchlerischen und unmenschlicheren Gestalt, der Leibeigen-
schaft. Die Auflösung des Feudalsystems, die politische Reformation
d. h. die scheinbare Anerkennung der Vernunft, und daher die
Die Lage Englands. 273
wirkliche Vollendung der Unvernunft, hob diese Leibeigenschaft
scheinbar auf, machte sie aber in der Wirklichkeit nur unmensch-
licher und allgemeiner. Sie sprach zuerst aus, daß die Menschheit
nicht mehr durch Zwang, d.h. durch politische, sondern durch
das Interesse, d. h. durch soziale Mittel zusammengehalten werden
solle, und legte durch dies neue Prinzip die Basis zur sozialen Be-
wegung. Aber obwohl sie den Staat so negierte, stellte sie ihn auf der
andern Seite eist recht wieder her, indem sie ihm den bisher von der
Kirche usurpierten Inhalt zurückgab, und dadurch dem während des
Mittelalters inhaltlosen und nichtigen Staat die Kraft einer neuen
Entwicklung verlieh. Aus den Ruinen des Feudalismus entstand der
christliche Staat, die Vollendung des christlichen Weltzustandes nach
der politischen Seite hin; durch die Erhebung des Interesses zum all-
gemeinen Prinzip vollendete sich dieser christliche Weltzustand
nach einer andern Seite. Denn das Interesse ist wesentlich subjektiv,
egoistisch, Einzelinteresse, und als solches die höchste Spitze des
germanisch-christlichen Subjektivitäts- und Vereinzelungsprinzips.
Die Folge der Erhebung des Interesses zum Bande der Menschheit
ist, so lange das Interesse eben unmittelbar subjektiv, einfach ego-
istisch bleibt, notwendig die allgemeine Zersplitterung, die Kon-
zentrierung der Individuen auf sich selbst, die Isolierung, die Ver-
wandlung der Menschheit in einen Haufen" einander abstoßender
Atome; und diese Vereinzelung ist wiederum die letzte Konsequenz
des christlichen Subjektivitätsprinzips, die Vollendung des christ-
lichen Weltzustandes. — So lange ferner die Grundveräußerung,
das Privateigentum bestehen bleibt, so lange muß das Interesse not-
wendig Einzelinteresse sein und seine Herrschaft sich als die Herr-
schaft des Eigentums erweisen. Die Auflösung der feudalen Knecht-
schaft hat ,,bare Zahlung zum einzigen Bande der Menschheit"
gemacht. Das Eigentum, das dem Menschlichen, Geistigen gegen-
überstehende natürliche, geistlose Element, wird dadurch auf den
Thron erhoben, und in letzter Instanz, um diese Veräußerung zu
vollenden, das Geld, die veräußerte, leere Abstraktion des Eigen-
tums, zum Herrn der Welt gemacht. Der Mensch hat aufgehört,
Sklave des Menschen zu sein und ist Sklave der Sache geworden;
die Verkehrung der menschlichen Verhältnisse ist vollendet; die
Knechtschaft der modernen Schacherwelt, die ausgebildete, voll-
kommene, universelle Verkäuflichkeit ist unmenschlicher und all-
umfassender als die Leibeigenschaft der Feudalzeit ; die Prostitution
ist unsittlicher, bestialischer als das jus primae noctis. —
Höher kann der christliche Weltzustand nicht getrieben wer-
den; er muß in sich selbst zusammenbrechen und einem mensch-
lichen, vernünftigen Zustande Platz machen. Der christliche Staat
M ayer, Engels. Ergänzungsband. l8
274 •^"^ ^^^ ^^^ ^®^ ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
ist nur die letzte mögliche Erscheinungsform des Staates überhaupt,
mit dessen Fall der Staat als solcher fallen muß. Die Auflösung
der Menschheit in eine Masse isolierter, sich abstoßender Atome
ist an sich selbst schon die Vernichtung aller korporativen, natio-
nalen und überhaupt besonderen Interessen und die letzte notwen-
dige Stufe zur freien Selbstvereinigung der Menschheit. Die Voll-
endung der Veräußerung in der Herrschaft des Geldes ist ein un-
vermeidlicher Durchgang, wenn der Mensch, wie er denn jetzt nahe
daran ist, wieder zu sich selbst kommen soll.
Die soziale Revolution in England hat diese Konsequenzen
der Aufhebung des Feudalsystems so weit entwickelt, daß die Krisis,
die den christlichen Weltzustand vernichten wird, nicht mehr fern^)
sein kann, ja, daß die Epoche dieser Krisis, wenn auch nicht nach
Jahren und quantitativ, so doch qualitativ mit Bestimmtheit vor-
ausgesagt werden kann; diese Krisis muß nämlich eintreten, so-
bald die Korngesetze abgeschafft und die Volkscharte eingeführt,
d. h. sobald die Adelsaristokratie durch die Geldaristokratie und
diese durch die arbeitende Demokratie politisch besiegt ist.
Das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert hatten alle Vor-
aussetzungen der sozialen Revolution ins Leben gerufen, das Mittel-
alter aufgelöst, den sozialen, politischen und religiösen Protestan-
tismus etabliert, die Kolonien, die Seemacht und den Handel Eng-
lands geschaffen, und eine zunehmende schon ziemlich mächtige
Mittelklasse neben die Aristokratie gestellt. Die sozialen Verhält-
nisse setzten sich allmählich nach den. Unruhen des siebzehnten
Jahrhunderts und nahmen eine feste Gestalt an, die sie bis gegen
1780 oder 90 hin behielten.
Es gab damals drei Klassen von Grundbesitzern, die adligen
Landlords, noch die einzige und unangegriffene Aristokratie des
Reichs, die ihre Grundstücke in Parzellen verpachtete und die Ren-
ten in London oder auf Reisen verzehrte ; die nicht adligen Land-
lords oder Country-Gentlemen (gewöhnlich Squires betitelt), die auf
ihren Landsitzen lebten, ihr Land verpachteten und die aristokra-
tische Auszeichnung, die ihrer niedrigen Geburt, ihrem Mangel an
Bildung und ihrem bäurisch derben Wesen in den Städten ver-
weigert wurde, dafür von ihren Pächtern und den andern Bewoh-
nern der Umgegend genossen. Diese Klasse ist jetzt total verschwun-
den. Die alten Squires, die unter den Landleuten der Umgegend
mit patriarchalischer Autorität herrschten, Ratgeber, Schiedsrichter,
alles in allem waren, sind ganz ausgestorben; ihre Nachkommen
nennen sich die unbetitelte Aristokratie Englands, wetteifern an
1) Im Original steht: Herr.
Die Lage Englands. 275
Bildung und feinem Benehmen, an Aufwand und aristokratischem
Wesen mit dem Adel, der wenig mehr vor ihnen voraus hat, und
haben mit ihren ungeschUffenen und derben Voreltern nur den
Grundbesitz gemein. — Die dritte Klasse der Grundbesitzer waren
die Yeomen, Eigentümer kleiner Parzellen, die sie selbst bebauten,
gewöhnlich auf die gute alte nachlässige Weise ihrer Vorfahren ;
auch diese Klasse ist aus England verschwunden, die soziale Re-
volution hat sie expropriiert und das Kuriosum zustande gebracht,
daß zu derselben Zeit, wo in Frankreich der große Grundbesitz ge-
waltsam parzelliert wurde, in England die Parzellen von dem großen
Grundbesitz attrahiert und verschlungen wurden. Neben den Yeo-
men standen kleine Pächter, die gewöhnlich außer ihrem Landbau
noch Weberei betrieben ; auch sie sind im heutigen England nicht
mehr zu finden ; fast alles Land ist jetzt in wenige und große Güter
geteilt und so verpachtet. Die Konkurrenz der großen Pächter
schlug die kleinen Pächter und Yeomen aus dem Markt und ver-
armte sie; sie wurden Ackerbautaglöhner und vom Arbeitslohn ab-
hängige Weber, und lieferten die Massen, von deren Zufluß die
Städte mit so wunderbarer Schnelligkeit zunahmen.
Die Bauern führten also zu seiner Zeit ein stilles und geruhiges
Leben in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, lebten ohne viel Sor-
gen, aber auch ohne Bewegung, ohne allgemeines Interesse, ohne
Bildung, ohne geistige Tätigkeit ; sie waren noch auf der vorgeschicht-
lichen Stufe. Die Lage der Städte war nicht viel anders. Nur Lon-
don war ein bedeutender Handelsplatz; Liverpool, Hüll, Bristol,
Manchester, Birmingham, Leeds, Glasgow waren noch nicht der
Rede wert. Die Hauptindustriezweige, Spinnen und Weben, wurden
meist auf dem Lande und wenigstens außerhalb der Städte, in der
Umgegend, betrieben; die Anfertigung von Metall- und Töpfer-
waren stand noch auf der handwerksmäßigen Stufe der Entwick-
lung; was konnte also viel in den Städten geschehen? Die unüber-
treffliche Einfachheit des Wahlsystems überhob die Bürger aller
politischen Sorge, man war nominell Whig oder Tory, wußte aber
sehr gut, daß das im Grunde gleichgültig sei, da man kein Stimm-
recht hatte ; kleine Kaufleute, Krämer und Handwerker, machten
die ganze Bürgerschaft aus und führten das bekannte, dem heutigen
Engländer so ganz unbegreifliche Kleinstädterleben. Die Berg-
werke wurden noch wenig benutzt. Eisen, Kupfer und Zinn lagen
ziemlich ruhig in der Erde, und Kohlen wurden nur für häusliche
Zwecke benutzt. Kurz, England war damals in einem Zustande,
in dem sich, schlimm genug, der größte Teil Frankreichs und be-
sonders Deutschlands noch befindet, in einem Zustande vorsünd-
flutlicher Apathie gegen alles allgemeine und geistige Interesse, in
18*
276 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842—1844.
der sozialen Kindheit, in der es noch keine Gesellschaft, noch kein
Leben, kein Bewußtsein, keine Tätigkeit gibt. Dieser Zustand ist
de facto die Fortsetzung des Feudalismus und der mittelalterlichen
Gedankenlosigkeit, und wird erst mit dem Auftreten des modernen
Feudalismus, mit der Spaltung der Gesellschaft in Besitzer und
Nichtbesitzer, überwunden. Wir auf dem Kontinent, wie gesagt,
stecken noch tief in diesem Zustande ; die Engländer haben ihn seit
achtzig Jahren bekämpft, und seit vierzig Jahren überwunden.
Wenn die Zivilisation eine Sache der Praxis, eine soziale Qualität
ist, so sind die Engländer allerdings das zivilisierteste Volk der Welt.
Ich sagte oben, die Wissenschaften hätten im achtzehnten
Jahrhundert ihre wissenschaftliche Form angenommen und in-
folgedessen einerseits an die Philosophie, andererseits an die Praxis
angeknüpft. Das Resultat ihrer Anknüpfung an die Philosophie
war der Materialismus (der eben so sehr Newton wie Locke zu seiner
Voraussetzung hat), die Aufklärung, die französische politische Re-
volution. Das Resultat ihrer Anknüpfung an die Praxis war die
englische soziale Revolution.
1760 kam Georg IH. zur Regierung, trieb die Whigs, die seit
Georg I. fast ununterbrochen im Ministerium gesessen waren, aber
natürlich durchaus konservativ regiert hatten, hinaus und legte die
Basis zu dem bis 1830 dauernden Monopol der Tories. Die Regie-
rung erhielt dadurch ihre innere Wahrheit wieder ; in einer politisch
konservativen Epoche Englands war es durchaus billig, daß die kon-
servative Partei regieren sollte. Die soziale Bewegung absorbierte
von nun an die Kräfte der Nation, und drängte das politische Inter-
esse zurück, ja zerstörte es; denn alle innere Politik ist von nun
an nur versteckter Sozialismus, die Form, die die sozialen Fragen
annehmen, um in allgemeiner, nationaler Weise sich geltend ma-
machen zu können.*)
. . . Diese Revolutionierung der englischen Industrie ist die
Basis aller modernen englischen Verhältnisse, die treibende Kraft
der ganzen sozialen Bewegung. Ihre erste Folge war die schon
oben angedeutete Erhebung des Interesses zur Herrschaft über den
Menschen. Das Interesse bemächtigte sich der neugeschaffenen
industriellen Kräfte und beutete sie zu seinen Zwecken aus;
diese, von Rechtswegen der Menschheit gehörenden Kräfte wurden
durch die Einwirkung des Privateigentums das Monopol weniger
1) Hier folgen Angaben über die Entwicklung, Technik und Entstehung
der englischen Großindustrie, die Engels, wie er selbst hervorhebt, größten-
teils dem Werk Progres of the Nation von G. Porter, einem Beamten des
Board of Trade unter dem Whigministerium, entlehnt hat. Vgl. unten Er-
läuterungen und Anmerkungen, S. 316.
Die Lage Englands. 277
reicher Kapitalisten und das Mittel zur Knechtung der Masse. Der
Handel nahm die Industrie in sich auf und wurde dadurch all-
mächtig, wurde das Band der Menschheit; aller persönliche und
nationale Verkehr löste sich in Handelsverkehr auf, und was das-
selbe ist, das Eigentum, die Sache wurde zum Herrn der Welt er-
hoben.
Die Herrschaft des Eigentums mußte sich notwendig zuerst
gegen den Staat wenden und diesen auflösen oder wenigstens, da
es ihn nicht entbehren kann, aushöhlen. Adam Smith begann diese
Aushöhlung gleichzeitig mit der industriellen Revolution, indem er
1776 seine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des
Nationalreichtums herausgab und dadurch die Finanzwissenschaft
schuf. Alle bisherige Finanzwissenschaft war exklusiv national ge-
wesen; die Staatswirtschaft war als ein bloßer Zweig des ganzen
Staatswesens angesehen, dem Staat als solchen untergeordnet wor-
den ; Adam Smith machte den Kosmopolitismus den nationalen
Zwecken Untertan und erhob die Staatswirtschaft zum Wesen und
Zweck des Staats. Er reduzierte die Politik, die Parteien, die Re-
ligion, alles auf ökonomische Kategorien, und erkannte dadurch
das Eigentum als das Wesen, die Bereicherung als den Zweck des
Staates an. Auf der andern Seite stürzte William Godwin (Political
Justice, 1793) das republikanische System der Politik, stellte zu
gleicher Zeit mit J. Bentham das Utilitätsprinzip auf, wodurch das
republikanische: Salus publica suprema lex zu seinen legitimen
Konsequenzen gebracht wurde, und griff das Wesen des Staates
selbst, durch seinen Satz, daß der Staat ein Übel ist, an. Godwin
faßt das Utilitätsprinzip noch ganz allgemein als die Pflicht des
Bürgers, mit Vernachlässigung des individuellen Interesses nur dem
allgemeinen Besten zu leben ; Bentham dagegen führt die wesent-
lich soziale Natur dieses Prinzips weiter aus, indem er in Überein-
stimmung mit der gleichzeitigen Nationalrichtung das Einzelinter-
esse zur Basis des allgemeinen machte, die Identität beider in dem
besonders von seinem Schüler Mill entwickelten Satze : daß Menschen-
liebe nichts anderes ist als aufgeklärter Egoismus, anerkennt und
dem ,, Allgemeinen Besten" die größte Glückseligkeit der größten
Zahl substituiert. Bentham begeht hier in seiner Empirie denselben
Fehler, den Hegel in der Theorie begangen hat; er macht nicht
Ernst mit der Überwindung der Gegensätze, er macht das Subjekt
zum Prädikat, das Ganze dem Teil Untertan und stellt dadurch alles
auf den Kopf. Erst spricht er von der Untrennbarkeit des allge-
meinen und einzelnen Interesses, und nachher bleibt er einseitig
beim krassen Einzelinteresse stehen ; sein Satz ist nur der empi-
rische Ausdruck des andern, daß der Mensch die Menschheit ist,
278 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
aber weil er empirisch ausgedrückt ist, gibt er, nicht dem freien,
selbstbewußten und selbstschaffenden, sondern dem rohen, blinden,
in den Gegensätzen befangenen Menschen die Rechte der Gattung.
Er macht die freie Konkurrenz zum Wesen der Sittlichkeit, regu-
liert die Beziehungen der Menschheit nach den Gesetzen des Eigen-
tums, der Sache, nach Naturgesetzen, und ist so die Vollendung des
alten, christlichen, naturwüchsigen Weltzustandes, die höchste
Spitze der Veräußerung, aber nicht der Anfang des neuen, durch
den selbstbewußten Menschen mit voller Freiheit zu schaffenden
Zustandes. Er geht nicht über den Staat hinaus, aber er nimmt
ihm allen Gehalt, ersetzt die politischen Prinzipien durch soziale,
macht die politische Organisation zur Form des sozialen Inhalts,
und bringt dadurch den Widerspruch auf die höchste Spitze.
Zu gleicher Zeit mit der industriellen Revolution entstand die
demokratische Partei. 1769 stiftete J. Hörne Jooke die Society of
the Bill of Rights, in der zuerst wieder seit der Republik demokra-
tische Prinzipien diskutiert wurden. Wie in Frankreich, waren die
Demokraten lauter philosophisch gebildete Männer, aber sie fanden
bald, daß die höheren und Mittelklassen ihnen entgegenstanden und
nur die arbeitende Klasse ihren Grundsätzen ein offenes Ohr lieh.
Unter diesen fanden sie bald eine Partei, und diese Partei war i794
schon ziemlick stark, aber immer noch nicht stark genug, um an-
ders als stoßweise wirken zu können. Von i797 ^is 1816 war von
ihr keine Rede; in den bewegten Jahren von 1816 bis 1823 war sie
wieder sehr tätig, sank aber dann bis zur Julirevolution wieder in
die Untätigkeit zurück. Von da an hat sie ihre Bedeutung neben
den alten Parteien behalten und ist in einem regelmäßigen Fort-
schritt begriffen, wie wir dies später sehen werden.
Das wichtigste Resultat des achtzehnten Jahrhunderts war für
England die Schöpfung des Proletariats durch die industrielle Re-
volution. Die neue Industrie erforderte eine stets fertige Masse von
Arbeitern für die zahllosen neuen Zweige der Arbeit, und zwar
Arbeiter, wie sie bisher nicht dagewesen waren. Bis 1780 hatte Eng-
land wenig Proletarier, wie dies notwendig aus der oben dargestell-
ten sozialen Lage der Nation hervorgeht. Die Industrie konzen-
trierte die Arbeit auf Fabriken und Städte; die Vereinigung der ge-
werblichen und ackerbauenden Tätigkeit wurde unmöglich ge-
macht und die neue Arbeiterklasse rein auf ihre Arbeit angewiesen.
Die bisherige Ausnahme wurde Regel und breitete sich allmählich
auch außerhalb der Städte aus. Die Parzellenkultur des Landes
wurde durch die großen Pächter verdrängt und dadurch eine neue
Klasse von Acker bautaglöhnern geschaffen. Die Städte verdrei-
fachten und vervierfachten ihre Bevölkerung, und fast all dieser
Die Lage Englands. 279
Zuwachs bestand aus bloßen Arbeitern. Die Ausdehnung des Berg-
baues erforderte ebenfalls eine große Zahl neuer Arbeiter, und auch
diese lebten bloß von ihrem Tagelohn.
Auf der andern Seite erhob sich die Mittelklasse zur entschiede-
nen Aristokratie. Die Fabrikanten vervielfachten in der industriel-
len Bewegung ihr Kapital auf eine wunderbar schnelle Weise ; die
Kaufleute bekamen ebenfalls ihr Teil, und das durch diese Revo-
lution geschaffene Kapital war das Mittel, mit dem die englische
Aristokratie die französische Revolution bekämpfte.
Das Resultat der ganzen Bewegung war das, daß England
jetzt in drei Parteien gespalten ist, in die Landaristokratie, die Geld-
aristokratie und die arbeitende Demokratie. Diese sind die einzigen
Parteien in England, die einzigen Triebfedern, die hier wirken, und
wie sie wirken, werden wir vielleicht in einem späteren Artikel dar-
zustellen versuchen.
Die englische Konstitution.
Im vorigen Artikel sind die Prinzipien entwickelt worden,
nach denen die gegenwärtige Stellung des britischen Reichs in der
Geschichte der Zivilisation zu beurteilen ist, sowie die nötigen Data
über die Entwicklung der englischen Nation gegeben worden, so
weit sie zu diesem Zweck unumgänglich, aber auf dem Kontinent
weniger bekannt sind ; wir können somit nach Begründung unse-
rer Voraussetzungen, ohne weiteres auf unsern Gegenstand selbst
losgehen.
Die Lage Englands hat bisher allen übrigen Völkern Europas
beneidenswert geschienen, ist es auch für jeden, der auf der Ober-
fläche sich herumtreibt und bloß mit dem Auge des Politikers sieht.
England ist ein Weltreich in dem Sinne, wie ein solches heutzutage
bestehen kann und wie im Grunde alle andern Weltreiche auch ge-
wesen sind; denn auch Alexanders und Cäsars Reich war, wie das
englische, eine Herrschaft zivilisierter Völker über Barbaren und
Kolonien. Kein anderes Land der Welt kann sich an Macht und
Reichtum mit England messen, und diese Macht und dieser Reich-
tum liegen nicht, wie in Rom, in der Hand eines einzelnen Des-
poten, sondern gehört^) dem gebildeten Teil der Nation. Die Furcht
vor dem Despotismus, der Kampf gegen die Macht der Krone,
existieren in England seit hundert Jahren nicht mehr ; England ist
unleugbar das freiste, d. h. das am wenigsten unfreie Land, Nord-
amerika nicht ausgenommen, und infolgedessen hat der gebildete
Engländer einen Grad angeborner Unabhängigkeit an sich, dessen
1) Sic!
28o Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
kein Franzose, geschweige denn ein Deutscher, sich rühmen kann.
Die politische Tätigkeit, die freie Presse, die Seeherrschaft und die
riesenhafte Industrie Englands haben die dem Nationalcharakter
innewohnende Energie, die entschlossene Tatkraft neben der ruhig-
sten Überlegung, so vollständig fast in jedem Individuum ent-
wickelt, daß auch hierin die kontinentalen Völker unendlich weit
hinter den Engländern zurückstehen. Die Geschichte der englischen
Armee und Flotte ist eine Reihe glänzender Siege, während Eng-
land seit achthundert Jahren kaum einen Feind an seinen Küsten
gesehen hat; der Literatur kann nur von der altgriechischen und
deutschen der Rang streitig gemacht werden, in der Philosophie hat
England wenigstens zwei — Bacon und Locke — , in den empiri-
schen Wissenschaften unzählbare große Namen aufzuweisen, und
wenn es sich darum handelt, welches Volk am meisten getan hat,
so darf kein Mensch leugnen, daß die Engländer dies Volk sind.
Das sind die Dinge, deren England sich rühmen kann, und die
ich hier von vornherein aufgezählt habe, damit die guten Deutschen
gleich anfangs von meiner ,, Unparteilichkeit" sich überzeugen
können ; denn ich weiß sehr wohl, daß man in Deutschland viel eher
von den Deutschen als von irgend einer andern Nation rücksichts-
los sprechen darf. Und diese eben aufgezählten Dinge bilden mehr
oder weniger das Thema der ganzen bändereichen und doch höchst
unfruchtbaren und überflüssigen Literatur, die auf dem Kontinent
über England zusammengeschrieben worden ist. In das Wesen der
englischen Geschichte und des englischen Nationalcharakters ein-
zugehen, ist niemand eingefallen, und wie jämmerlich die ganze
Literatur über England ist, geht schon aus dem einfachen Faktum
hervor, daß das jämmerliche Buch des Herrn von Raumer, so viel
ich weiß, in Deutschland noch für das beste über den Gegenstand gilt.
Fangen wir, da man bisher England nur von der politischen
Seite aus betrachtet hat, mit dieser an. Prüfen wir die englische
Konstitution, die, nach dem Ausdruck des Tory, „das vollkommen-
ste Produkt der englischen Vernunft" ist, und verfahren wir, um
dem Politiker noch einen Gefallen zu tun, vor der Hand ganz em-
pirisch.
Das Juste -Milieu findet die englische Verfassung besonders
darin schön, daß sie sich historisch entwickelt hat; d.h. auf deutsch,
daß man die alte, durch die Revolution von 1688 geschaffene Grund-
lage beibehalten und auf diesem Fundament, wie sie 's nennen,
weiter gebaut hat. Wir werden schon sehen, welchen Charakter
die englische Verfassung dadurch bekommen hat; vorläufig genügt
die emfache Vergleichung des Engländers von 1688 mit dem Eng-
länder von 1844, um zu beweisen, daß ein gleiches konstitutionelles
Die Lage Englands. 281
Fundament für beide ein Unding, eine Unmöglichkeit ist. Selbst
von dem allgemeinen Fortschritt der Zivilisation abgesehen, so ist
schon der politische Charakter der Nation ein ganz andrer als da-
mals. Die Testakte, die Habeas Corpus-Akte, die Bill of Rights
waren Whigmaßregeln, die aus der Schwäche und Überwindung der
damaligen Tories hervorgingen und gegen diese Tories, d. h. gegen
die absolute Monarchie und den offenen oder verborgenen Katholi-
zismus gerichtet waren. Aber schon in den nächsten fünfzig Jahren
verschwanden die alten Tories, und ihre Nachkommen nahmen die
Prinzipien an, die bisher das Eigentum der Whigs gewesen waren;
seit der Thronbesteigung Georgs I. gingen die monarchisch -katho-
lischen Tories in eine aristokratisch-hochkirchliche Partei über, und
seit der französischen Revolution, die sie erst zum Bewußtsein
brachte, verflüchtigten sich die politischen Satzungen des Torysmus
immer mehr zu der Abstraktion des ,, Konservatismus", der nackten
gedankenlosen Verteidigung des Bestehenden — ja selbst diese Stufe
ist schon überschritten, in Sir Robert Peel hat sich der Torysmus
zur Anerkennung der Bewegung entschlossen, hat die Unhaltbar-
keit der englischen Konstitution eingesehen und kapituliert nur noch,
um das verrottete Machwerk so lange zu halten wie möglich. —
Die Whigs haben eine ebenso wichtige Entwicklung durchgemacht,
eine neue, demokratische Partei ist entstanden, und doch soll das
Fundament von 1688 noch breit genug sein für 1844! Die not-
wendige Folge dieser ,, historischen Entwicklung" ist nun, daß die
inneren Widersprüche, die das Wesen der konstitutionellen Monar-
chie ausmachen, und die schon zu der Zeit, als die neuere deutsche
Philosophie noch den repubHkanischen Standpunkt einnahm, hin-
reichend aufgedeckt worden sind — daß diese Widersprüche in
der modernen englischen Monarchie ihre Spitze erreichen. In der
Tat, die englische konstitutionelle Monarchie ist die Vollendung der
konstitutionellen Monarchie überhaupt, ist der einzige Staat, in dem,
so weit dies jetzt noch möglich, eine wirkliche Adelsaristokratie
ihren Platz neben einem verhältnismäßig sehr entwickelten Volks-
bewußtsein ihre Stelle behauptet hat, und in dem daher die auf dem
Kontinent künstlich wieder hergestellte und mühsam aufrecht er-
haltene Dreieinigkeit der gesetzgebenden Gewalt wirklich existiert.
Wenn das Wesen des Staats, wie der Religion die Angst der
Menschheit vor sich selber ist, so erreicht diese Angt in der kon-
stitutionellen und namentlich der englischen Monarchie ihren höch-
sten Grad. Die Erfahrung dreier Jahrtausende hat die Menschen
nicht klüger, sondern im Gegenteil verwirrter, befangener, hat sie
wahnsinnig gemacht, und das Resultat dieses Wahnsinns ist der
politische Zustand des heutigen Europas. Die reine Monarchie er-
282 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
regt Schrecken — man denkt an den orientalischen und römischen
Despotismus. Die reine Aristokratie ist nicht weniger furchtbar —
die römischen Patrizier und der mittelalterliche Feudalismus, die
venetianischen und genuesischen Nobili sind nicht umsonst dage-
wesen. Die Demokratie ist fürchterlicher als beide; Marius und
Sulla, ^) Cromwell und Robespierre, die blutigen Häupter zweier
Könige, die Proskriptionslisten und die Diktatur reden laut genug
von den „Greueln" der Demokratie. Zudem ist es weltbekannt,
daß keine dieser Formen sich je hat lange halten können. Was
also ist zu tun ? Statt geradeaus vorwärts zu gehen, statt von der
Un Vollkommenheit oder vielmehr Unmenschlichkeit aller Staats -
formen den Schluß zu ziehen, daß der Staat selbst die Ursache aller
dieser Unmenschlichkeiten und selbst unmenschlich sei, statt dessen
beruhigte man sich bei der Ansicht, daß die Unsittlichkeit nur den
Staats formen anklebe, folgerte aus den obigen Prämissen, daß
drei unsittliche Faktoren zusammen ein sittliches Produkt machen
können, und schuf die konstitutionelle Monarchie.
Der erste Satz der konstitutionellen Monarchie ist der vom
Gleichgewicht der Gewalten, und dieser Satz ist der vollkommenste
Ausdruck für die Angst der Menschheit vor sich selbst. Ich will
von der lächerlichen Unvernünftigkeit, von der totalen Unausführ-
barkeit dieses Satzes gar nicht reden, ich will nur untersuchen, ob
er in der englischen Konstitution durchgeführt ist, ich werde mich,
wie ich versprach, rein empirisch halten, so empirisch, daß ich es
vielleicht selbst unsern politischen Empirikern zu sehr sein werde.
Ich nehme also die englische Verfassung nicht, wie sie in ,, Black-
stones Kommentaren", in ,,de Lolma's" Hirngespinsten oder in der
langen Reihe konstituierender Statuten von ,, Magna Charta" bis
auf die Reformbill, sondern wie sie in Wirklichkeit besteht.
Zuerst das monarchische Element. Jedermann weiß, was es
mit dem souveränen König von England, männlichen oder weib-
lichen Geschlechts, auf sich hat. Die Macht der Krone reduziert
sich in der Praxis auf Null, und wenn ein in aller Welt notorisches
Faktum noch des Beweises bedürfte, so wäre die Tatsache, daß seit
mehr als hundert Jahren aller Kampf gegen die Krone aufgehört
hat, daß selbst die radikal-demokratischen Chartisten ihre Zeit zu
etwas Besserem als zu diesem Kampf anzuwenden wissen. Beweis
genug. Wo also bleibt das in der Theorie der Krone zugewiesene
Drittel der gesetzgebenden Gewalt ? Dennoch — und hierin erreicht
die Angst ihren Gipfel — dennoch kann die englische Konstitution
1) Im Vorwärts steht „Scylla", ein offenbarer Druckfehler; im Frjinzö-
sischen heißt Sulla bekanntlich Sylla.
Die Lage Englands. 283
nicht ohne die Monarchie bestehen. Nehmt die Krone, die „sub-
jektive Spitze", weg, und das ganze künstliche Gebäude fällt über
den Haufen. Die englische Verfassung ist eine umgekehrte Pyra-
mide; die Spitze ist zugleich die Basis. Und je unbedeutender das
monarchische Element in der Wirklichkeit wurde, desto bedeuten-
der wurde es dem Engländer. Nirgends ist bekanntlich die nicht-
regierende Persönlichkeit angebeteter als in England. Die eng-
lischen Journale übertreffen an sklavischem Servilismus die deut-
schen bei weitem. Dieser ekelhafte Kultus des Königs als solchen,
die Anbetung der ganz entleerten, alles Inhalts beraubten Vorstel-
lung — nicht Vorstellung, des Wortes: ,, König" ist aber die Voll-
endung der Monarchie, wie die Anbetung des bloßen Wortes:
„Gott" die Vollendung dei Religion ist. Das Wort König ist das
Wesen des Staats, wie das Wort Gott das Wesen der Religion ist,
wenn auch beide Worte rein gar nichts bedeuten. Bei beiden ist
die Hauptsache, daß die Hauptsache, nämlich der Mensch, der
hinler diesen Worten steckt, ja nicht zur Sprache komme.
Sodann das aristokratische Element. Diesem geht es, wenig-
stens in der ihm von der Verfassung angewiesenen Sphäre, wenig
besser als der Krone. Wenn der Spott, mit dem das Oberhaus seit
mehr als hundert Jahren fortwährend überhäuft wurde, allmählich
so sehr ein Bestandteil der öffentlichen Meinung geworden ist, daß
dieser Zweig der gesetzgebenden Gewalt allgemein für ein Invaliden-
haus für ausgediente Staatsmänner, daß das Anerbieten einer Pairie
von jedem noch nicht ganz verschlissenen Mitgliede des Unter-
hauses für eine Beleidigung angesehen wird, so läßt sich leicht
denken, in welcher Achtung die zweite der durch die Konstitution
eingesetzten Staatsmächte steht. In der Tat, ist die Tätigkeit der Lords
im Oberhause zu einer bloßen nichtssagenden Förmlichkeit herab-
gesunken, und erhebt sich nur selten zu einer Art von Energie der
Trägheit, wie sie sich während der Whigherrschaft von 1830 — 40
zeigte — aber selbst dann sind die Lords nicht scark durch sich
selbst, sondern durch die Partei, deren reinste Vertreter sie sind,
die Tories; und das Oberhaus, dessen Hauptvorzug in der Theorie
der Konstitution der sein soll, daß es von der Krone und dem Volk
gleich unabhängig sei, ist in der Wirklichkeit von einer Partei, also
von dem Stande der Volksmeinung, und durch das Recht der Krone,
Pairs zu ernennen, auch von dieser abhängig. Aber je ohnmäch-
tiger das Oberhaus ist, desto festeren Boden erhielt es in der öffent-
lichen Meinung. Die konstitutionellen Paiteien, Tories, Whigs und
Radikale, schaudern gleich sehr vor der Abschaffung dieser leeren
Förmlichkeit zurück, und die Radikalen bemerken höchstens, daß
die Lords, als die einzige unverantwortliche Macht der Konstitution,
284 •^^^ ^^'' ^^^* ^^^ ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
eine Anomalie seien und deshalb die erbliche durch eine Wahl-
pairie zu ersetzen sei. Es ist wieder die Angst vor der Menschheit,
die diese leere Form aufrecht erhält, und die Radikalen, die für
das Unterhaus eine reine demokratische Basis verlangen, treiben
diese Angst noch weiter als die übrigen beiden Parteien, indem sie,
um das abgenutzte, überlebte Oberhaus ja nur nicht fallen zu lassen,
ihm durch Infusion populären Blutes, noch etwas Lebenskraft ein-
zuhauchen suchen. Die Chartisten wissen besser, was sie zu tun
haben; sie wissen, daß vor dem Sturm eines demokratischen Unter-
hauses das ganze morsche Gerüst, Krone und Lords und so weiter,
von selbst zusammenbrechen muß, und plagen sich daher nicht,
wie die Radikalen, mit der Form der Pairie. — Und wie die An-
betung der Krone in demselben Verhältnis gestiegen ist, wie die
Macht der Krone abnahm, so ist auch die populäre Achtung vor
der Aristokratie um so höher geworden, je unbedeutender der po-
litische Einfluß des Oberhauses wurde. Nicht nur, daß die ernie-
drigendsten Förmlichkeiten der Feudalzeit beibehalten wurden, daß
die Mitglieder des Unterhauses, wenn sie in offizieller Kapazität
vor den Lords ei scheinen, mit dem Hut in der Hand vor den sitzen-
den und bedeckten Lords stehen müssen, daß die offizielle Anrede
an einen Adligen lautet: ,,Möge es Eurer Lordschaft gefallen" (Mag
it please your lordchip) usw.; das Schlimmste ist, daß alle diese
Förmlichkeiten wirklich der Ausdruck der öffentlichen Meinung
sind, die einen Lord für ein Wesen höherer Art ansieht, und einen
Respekt vor Stammbäumen, volltönenden Titeln, alten Familien-
andenken usw. hegt, der uns Kontinentalen ebenso widerwärtig und
ekelerregend ist, wie der Kultus der Krone. Auch in diesem Zuge
des englischen Charakters haben wir wieder die Anbetung eines
leeren, nichtssagenden Wortes, die vollkommen wahnsinnige, fixe
Idee, als ob eine große Nation, als ob die ganze Menschheit und das
Universum nicht ohne das Wort Aristokratie bestehen könnte. —
Bei alledem hat die Aristokratie in der Wirklichkeit dennoch einen
bedeutenden Einfluß; aber wie die Macht der Krone die Macht der
Minister, d. h. der Repräsentanten der Majorität des Unterhauses
ist, also eine ganz andere Richtung angenommen hat, als die Kon-
stitution beabsichtigte, so besteht die Macht der Aristokratie in
etwas ganz anderem, als in ihrem Anrecht auf einen erblichen
Sitz in der Legislatur. Die Aristokratie ist stark durch ihren un-
geheuren Grundbesitz, durch ihren Reichtum überhaupt, und teilt
diese Stärke mit allen andern, nicht adligen Reichen; die Macht der
Lords wird nicht im Oberhause, sondern im Hause der Gemeinen
entwickelt, und dies führt uns zu dem Bestandteil der Legislatur,
der nach der Konstitution das demokratische Element vertreten soll.
Die Lage Englands. 285
Wenn die Krone und das Oberhaus machtlos sind, so muß das
Unterhaus notwendig alle Gewalt in sich vereinigen, und das ist
der Fall. In der Wirklichkeit macht das Unterhaus die Gesetze
und verwaltet sie durch die Minister, die nur ein Ausschuß desselben
sind. Bei dieser Allmacht des Unterhauses müßte England also eine
reine Demokratie sein, wenn auch nominell die beiden andern
Zweige der Legislatur bestehen blieben, wenn nur das demokra-
tische Element selbst wirklich demokratisch wäre. Aber davon ist
keine Rede. Die Gemeinen blieben bei der Festsetzung der Ver-
fassung nach der Revolution von 1688 in ihrer Zusammensetzung
ganz unberührt; die Städte, Flecken und Wahlbezirke, die das
Recht zur Absendung eines Deputierten früher gehabt hatten, be-
hielten es bei; und dies Recht war durchaus kein demokratisches,
,, allgemeines Menschenrecht*', sondern ein ganz feudalistisches
Privilegium, das noch unter Elisabeth ganz willkürlich und aus
freier Gnade von der Krone vielen bisher nicht vertretenen Städten
verliehen wurde. Selbst den Charakter der Repräsentation, den die
Unterhaus wählen wenigstens ursprünglich hatten, verloren sie bald
durch die „historische Entwicklung". Die Zusammensetzung des
alten Unterhauses ist bekannt. In den Städten war die Erneuerung
des Deputierten entweder in der Hand eines Einzelnen oder einer
geschlossenen und sich selbst ergänzenden Korporation ; nur we-
nige Städte waren offen, d. h. hatten eine ziemlich große Zahl
Wähler, und in diesen verdrängte die unverschämteste Bestechung
den letzten Rest wirklicher Repräsentation. Die geschlossenen Städte
waren meist unter dem Einfluß eines Individuums, gewöhnlich
eines Lords; und in den ländlichen Wahlbezirken unterdrückte die
Allmacht der großen Grundbesitzer jede etwaige freiere und selbst-
tätige Regung unter dem übrigens politisch leblosen Volk. Das alte
Unterhaus war weiter nichts, als eine geschlossene, vom Volk unab-
hängige mittelalterliche Korporation, die Vollendung des „histo-
rischen" Rechtes, die auch nicht ein einziges wirklich oder schein-
bar vernünftiges Argument für ihre Existenz anführen konnte, die
trotz der Vernunft existierte und darum auch 1794 durch ihr Komitee
leugnete, daß sie eine Versammlung von Repräsentanten und Eng-
land ein Repräsentativstaat sei^). Einer solchen Verfassung gegen-
über mußte die Theorie des Repräsentativstaats, selbst der gewöhn-
lichen konstitutionellen Monarchie mit einer Repräsentanten-Kam-
mer, als durchaus revolutionär und verwerflich erscheinen, und da-
; I
1) Second Report of the Committee of Secrecy, to whom the Papers
referred to His Majesty's Message on the 12. mai 1784, were delivered.
(Bericht über die Londoner revolutionären Gesellschaften, London 1794.)
Pag. 68 ff. (Anmerkung des Verfassers).
286 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
her hatten die Tories ganz Recht, wenn sie die Reformbill als eine
dem Geist und Buchstaben der Konstitution schnurstracks zuwider-
laufende und die Konstitution untergrabende Maßregel bezeichneten.
Die Reformbill ging indes durch, und wir haben nun zu sehen, wozu
sie die englische Verfassung und besonders das Unterhaus gemacht
hat. Zunächst sind die Verhältnisse für die Wahl von Deputierten
auf dem Lande ganz dieselben geblieben. Die Wähler sind hier
fast ausschließlich selbst Pächter, und diese sind von ihrem Grund-
besitzer durchaus abhängig, indem dieser ihnen, die mit ihm in
keinem kontraktlichen Verhältnis stehen, jeden Augenblick die
Pacht aufkündigen kann. Die Deputierten der Grafschaften (im
Gegensatz zu den Städten) sind nach wie vor Deputierte der Grund-
besitzer, denn nur in den aufgeregtesten Epochen, wie 1831, wagen
die Pächter gegen die Grundbesitzer zu stimmen. Ja, die Reform-
bill machte das Übel nur schlimmer, indem sie die Zahl der De-
putierten für Grafschaften vermehrte. Von den 252 Grafschafts-
Deputierten können die Tories daher immer auf wenigstens 200
rechnen, es sei denn, daß eine allgemeine Aufregung unter den
Pächtern herrsche, die das Einschreiten der Grundbesitzer unklug
machen würde. In den Städten wurde wenigstens der Form nach
eine Repräsentation eingeführt und jedem, der ein Haus von wenig-
stens zehn Pfund jährlichen Mietwertes bewohnt, und direkte Steuern
(Armensteuer etc.) bezahlt, das Stimmrecht erteilt. Hierdurch ist
die ungeheure Majorität der arbeitenden Klassen ausgeschlossen;
denn erstens wohnen natürlich nur Verheiratete in besonderen
Häusern, und wenn auch ein bedeutender Teil dieser Häuser jährlich
zehn Pfund Miete kostet, so umgehen doch die Einwohner fast alle
die Bezahlung der direkten Steuern und sind daher keine Wähler.
Die Zahl der Wähler bei chartistischem, allgemeinem StimmrecLr
würde sich mindestens verdreifachen. Die Städte sind somit in den
Händen der Mittelklasse, und diese wiederum ist in den kleineren
Städten sehr häufig — direkt oder indirekt — durch die Pächter,
die die Hauptkunden der Krämer und Handwerker sind, von den
Grundbesitzern abhängig. In den großen Städten allein kommt die
Mittelklasse wirklich zur Herrschaft und in den kleineren Fabrik-
städten, namentlich Lancashires, wo die Mittelklasse an Zahl und
das Landvolk an Einfluß unbedeutend ist, wo also schon eine Mi-
norität der Arbeiterklasse ein entscheidendes Gewicht in die Wag-
schale legt, kommt die Scheinrepräsentation einer wirklichen einiger-
maßen nahe. Diese Städte, z. B. Ashton, Oldham, Rochdale, Bol-
ton usw. schicken daher auch fast nur Radikale ins Parlament.
Eine Ausdehnung des Stimmrechtes nach den Grundsätzen der Char-
tisten würde, hier wie überhaupt in allen Fabrikstädten, diese letz-
Die Lage Englands. 287
tere Partei zur Majorität der Wähler erheben. Außer diesen ver-
schiedenen und in der Praxis sehr komplizierten Einflüssen machen
sich aber noch verschiedene Lokalinteressen und zu guter Letzt ein
sehr bedeutender Einfluß geltend — der der Bestechung. In dem
ersten Artikel der gegenwärtigen Reihe war schon die Rede davon,
daß das Unterhaus durch sein Bestechungs-Komitee erklärte, es sei
durch Bestechung gewählt und Thomas Duncombe, das einzige
entschieden chartistische Mitglied, hat es dem Unterhause längst
gerade heraus gesagt, daß kein einziger in der ganzen Versammlung,
er selbst nicht, sagen könne, daß er durch die freie Wahl seiner
Konstituenten, ohne Bestechung, an seinen Platz gekommen sei.
Im vergangenen Sommer erklärte Richard Cobden, Mitglied für
Stockport und Führer der Anti-Korngesetz-Ligue, in einem öffent-
lichen Meeting in Manchester, daß die Bestechung jetzt einen höhe-
ren Grad erreicht habe als je, daß in dem torystischen Carlton-Club
und dem liberalen Reform-Club in London die Repräsentation von
Städten förmlich an den Meistbietenden versteigert werde und diese
Clubs als Unternehmer handelten — gegen soviele Pfund garan-
tieren wir dir diese Stelle usw. — Und zu alledem kommt noch die
saubere Manier, mit der die Wahlen vorgenommen werden, die all-
gemeine Trunkenheit, in der das Votum abgegeben wird, die Schen-
ken, in denen die Wähler auf Kosten der Kandidaten sich be-
rauschen, die Unordnung, die Schlägereien und das Geheul der
Masse an den Abstimmungsbuden, um die Nichtigkeit der für sieben
Jahre gültigen Repräsentation zu vollenden.
Wir haben gesehen, daß die Krone und das Oberhaus ihre
Bedeutung verloren haben ; wir haben gesehen, auf welche Weise
das allmächtige Unterhaus rekrutiert wird; die Frage ist jetzt:
wer regiert denn eigentlich in England ? — Der Besitz regiert.
Der Besitz regiert [sie !] die Aristokratie, die Wahl der ländlichen und
kleinstädtischen Deputierten zu beherrschen ; der Besitz befähigt
die Kaufleute und Fabrikanten, die Deputierten für die großen und
teilweise auch die kleinen Städte zu bestimmen; der Besitz be-
fähigt beide, durch Bestechung ihren Einfluß zu steigern. Die
Herrschaft des Besitzes ist in der Reformbill durch den Zensus
ausdrücklich anerkannt. Und insofern der Besitz und der durch
den Besitz erworbene Einfluß das Wesen der Mittelklasse ausmacht,
insofern also die Aristokratie bei den Wahlen ihren Besitz geltend
macht und damit nicht als Aristokratie auftritt, sondern sich der
Mittelklasse gleichstellt, insofern der Einfluß der eigentlichen Mittel-
klasse im ganzen viel stärker ist als der der Aristokratie, insofern
herrscht allerdings die Mittelklasse. Aber wie und warum herrscht
sie ? Weil das Volk über das Wesen des Besitzes noch nicht im
288 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
klaren, weil es überhaupt — auf dem Lande wenigstens — noch
geistig tot ist und daher sich die Tyrannei des Besitzes gefallen
läßt. England ist allerdings eine Demokratie, aber wie Rußland
eine Demokratie ist; wie das Volk unbewußt überall herrscht, und
in allen Staaten die Regierung nur ein anderer Ausdruck für den
Bildungsgrad des Volkes ist.
Es wird schwer halten, uns von dieser Praxis der englischen
Konstitution zu ihrer Theorie zurückzubringen. Die Praxis steht
mit der Theorie im schreiendsten Widerspruch ; die beiden Seiten
sind einander so entfremdet, daß sie gar keine Ähnlichkeit mehr
haben. Hier eine Dreieinigkeit der Legislatur, — dort eine Tyrannei
der Mittelklasse; hier ein Zweikammeis ystem — dort ein allmäch-
tiges Haus der Gemeinen ; hier eine königliche Prärogative — dort
ein von den Gemeinen gewähltes Ministerium; hier ein unabhän-
giges Oberhaus mit erblichen Gesetzgebern — dort ein Invaliden-
haus für überlebte Deputierte. Jeder der drei Bestandteile der ge-
setzgebenden Gewalt hat seine Macht an ein anderes Element ab-
geben müssen: die Krone an die Minister, d.h. die Majorität des
Unterhauses, die Lords an die Torypartei, also ein populäres Ele-
ment und an die Pairs kreierenden Minister, d.h. im Grund auch an
ein populäres Element, und die Geraeinen an die Mittelklasse oder,
was dasselbe ist, an die policische Unmündigkeit des Volkes. Die
englische Konstitution existiert in der Wirklichkeit gar nicht mehr,
der ganze langwierige Prozeß der Gesetzgebung ist eine bloße Farce ;
der Widerspruch von Theorie und Praxis ist so grell geworden, daß
er sich unmöglich noch lange halten kann, und wenn auch durch
die katholische Emanzipation, von der wir noch weiter zu reden
haben werden, durch die Parlaments- und Municipal-Reform dem
Scheine nach die Lebenskraft der siechen Verfassung noch etwas
gehoben wurde, so sind doch diese Maßregeln selbst schon das Ge-
ständnis, daß man an der Erhaltung der Konstitution verzweifelt, und
bringen Elemente in sie hinein, die mit ihren Grundprinzipien ent-
schieden im Widerspruch stehen, also den Konflikt noch dadurch ver-
größern, daß sie die Theorie mit sich selbst in Widerspruch bringen.
Wir haben gesehen, wie die Organisation der Gewalten in der
englischen Verfassung durchaus auf der Angst beruht. Diese Angst
zeigt sich noch mahr in den Regeln, nach denen die Gesetzgebung
verfährt, den sogenannen Standing Orders. Jeder Gesetzvorschlag
muß in jedem der beiden Häuser dreimal in gewissen Zwischen-
räumen gelesen werden; nach dem zweiten Lesen wird er einem
Komitee übergeben, das ihn im einzelnen durchgeht; in wichtige-
ren Fällen ,, entschließt sich das Haus in ein Komitee des ganzen
Hauses" zur Beratung des Vorschlags und ernennt einen Bericht-
Die Lage Englands. 289
erstatter, der nach Beendigung der Beratung mit vieler Feierlich-
keit demselben Hause, das beraten hat, einen Bericht über die Be-
ratung abstattet. Beiläufig, ist dies nicht das schönste Beispiel der
, »Transzendenz innerhalb der Immanenz und Immanenz innerhalb
der Transzendenz", das ein Hegelianer sich nur wünschen kann ?
,,Das Wissen des Unterhauses vom Komitee ist das Wissen des
Komitees von sich selbst" und der Berichterstatter ist die ,, absolute
Persönlichkeit des Mittlers, in der beide identisch sind." Jeder Ge-
setzvorschlag wird daher achtmal beraten, ehe er die königliche
Sanktion erhalten kann. Diesem ganzen lächerlichen Verfahren liegt
natürlich wieder die Angst vor der Menschheit zum Grunde. Man
sieht ein, daß der Fortschritt das Wesen der Menschheit ist, aber
man hat nicht den Mut, den Fortschritt offen zu proklamieren ;
man gibt Gesetze, die absolute Geltung haben sollen, die also dem
Fortschritt Schranken setzen ; und durch das vorbehaltene Recht,
die Gesetze zu ändern, läßt man den soeben geleugneten Fortschritt
zur Hintertür wieder hinein. Aber nur ja nicht zu rasch, nur ja
nicht übereilt! I>er Fortschritt ist revolutionär, ist gefährlich und
muß daher wenigstens einen starken Hemmschuh erhalten ; ehe
man sich zu seiner Anerkennung entschließt, muß man sich die
Sache achtmal überlegen. Aber diese Angst, die in sich selbst nich-
tig ist und nur beweist, daß die Ängstlichen selbst keine wahren,
freien Menschen sind, muß notwendig auch in ihren Maßregeln
fehlgreifen. Statt eine umfassendere Beratung der Vorschläge zu
sichern, wird die wiederholte Lesung derselben in der Praxis ganz
überflüssig und eine bloße Formsache. Die Hauptberatung kon-
zentriert sich gewöhnlich auf die erste oder zweite Lesung, zuweilen
auch auf die Debatten im Komitee, je nachdem es der Opposition
am besten konveniert. In ihrer ganzen Nichtigkeit erscheint aber
diese Vervielfachung der Debatte, wenn man bedenkt, daß das
Schicksal jedes Vorschlags schon von vornherein entschieden ist,
und wo es nicht entschieden ist, in der Debatte nicht über den
speziellen Vorschlag, sondern über die Existenz eines Ministeriums
beraten wird. Das Resultat dieser ganzen, achtmal wiederholten
Posse ist also nicht etwa eine ruhigere Beratung im Hause selbst,
sondern etwas ganz anderes, das gar nicht in der Absicht derer lag,
die die Posse einführten. Die Langwierigkeit der Verhandlungen
läßt der öffentlichen Meinung Zeit, ein Urteil über die vorgeschla-
gene Maßregel zu bilden und im Notfalle durch Meetings und Pe-
titionen dagegen zu opponieren, und oft, — wie im vorigen Jahre
bei Sir James Grahams Erziehungsbill — mit Erfolg. Aber dies,
wie gesagt, ist nicht der ursprüngliche Zweck und könnte weit ein-
facher erreicht werden.
Mayer, Engels. Ergänzungsband. IQ
290 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
Da wir gerade bei den Standing Orders sind, so können wir
noch einige Punkte erwähnen, in denen sich die Angst der engli-
schen Verfassung und der ursprüngliche korporationsmäßige Cha-
rakter des Unterhauses verraten. Die Debatten des Unterhauses
sind nicht öffentlich; die Zulassung ist ein Privilegium und
wird gewöhnlich nur durch einen schriftlichen Befehl eines Mit-
gliedes erwirkt. Während der Abstimmung werden die Galerien
geräumt; trotz dieser lächerlichen Geheimniskrämerei, gegen deren
Abschaffung das Haus sich immer heftig gewehrt hat, stehen die
Namen der für oder wider stimmenden Mitglieder den andern Tag
in allen Zeitungen. Die radikalen Mitglieder haben nie einen authen-
tischen Abdruck der Protokolle durchsetzen können — noch vor
14 Tagen fiel eine dahin gehende Motion durch ; — infolgedessen
ist der Drucker der in den Zeitungen erscheinenden Parlaments-
berichte für den Inhalt derselben allein verantwortlich und kann
von jedem, der sich durch einen Ausspruch eines Parlamentsmit-
gliedes beleidigt fühlt, wegen Veröffentlichung verleumderischer
Aussagen — gesetzlich auch von der Regierung — belangt werden,
während der Urheber der Verleumdung durch sein parlamenta-
risches Privilegium gegen alle Verfolgung sichergestellt ist. Diese
und eine Menge andrer Punkte in den Standing Orders zeigen den
exklusiven, antipopulären Charakter des reformierten Parlaments;
und die Zähigkeit, mit der das Unterhaus an diesen Gebräuchen
festhält, zeigt deutlich genug, daß es keine Lust hat, sich aus einer
privilegierten Korporation in eine Versammlung von Volksreprä-
sentanten zu verwandeln.
Ein anderer Beweis hierfür ist das Privilegium des Parlaments,
die exzeptionelle Stellung seiner Mitglieder gegenüber den Gerich-
ten und das Recht des Unterhauses, jeden, den es will, verhaften
zu lassen. Ursprünglich gegen die Übergriffe einer seitdem aller
Macht entkleideten Krone gerichtet, hat dies Privilegium in der
neueren Zeit sich nur gegen das Volk gewendet. 1771 erzürnte sich
das Haus über die Frechheit der Zeitungen, die die Debatten ver-
öffenthchten, wozu doch nur das Haus selbst berechtigt sei, und
versuchte durch Verhaftungen von Druckern und dann von Be-
amten, die diese Drucker freigelassen hatten, dieser Frechheit ein
Ziel zu setzen. Natur hch mißlang dies; aber der Versuch beweist,
was es mit dem Privilegium des Parlaments auf sich hat, und das
Mißlingen beweist, daß auch das Unterhaus, trotz seiner Erhaben-
heit über das Volk, dennoch von diesem abhängig ist, daß also auch
das Unterhaus nicht regiert.
In einem Lande, wo ,,das Christentum ein wesentlicher Be-
standteil der Landesgesetze ist" (christianity is part and parcel of
Die Lage Englands. 291
the laws of the land), gehört die Staatskirche notwendig zur Ver-
fassung. England ist seiner Verfassung nach wesentlich ein christ-
licher Staat, und zwar ein vollständig ausgebildeter, starker christ-
licher Staat ; Staat und Kirche sind vollkommen verschmolzen und
untrennbar. Diese Einheit von Kirche und Staat kann aber nur in
einer christlichen Konfession, zur Ausschließung aller andern, be-
stehen, und diese ausgeschlossenen Sekten sind dadurch natürlich
als Ketzer bezeichnet und der religiösen und politischen Verfolgung
verfallen. So in England. Sie wurden also von jeher allesamt in
eine Klasse zusammengeworfen, als Nonconformisten oder Dissen-
ters von aller Teilnahme am Staat ausgeschlossen, in ihrem Kultus
gestört und gehindert und mit Strafgesetzen verfolgt. Je eifriger
sie sich gegen die Einheit von Kirche und Staat erklärten, desto
heftiger wurde diese Einheit von der herrschenden Partei verteidigt
und zu einem Lebenspunkt des Staats erhoben. Als der christliche
Staat in England noch in voller Blüte stand, war daher auch die
Verfolgung der Dissenters und besonders der Katholiken an der
Tagesordnung, eine Verfolgung, die zwar weniger heftig, aber uni-
verseller, ausdauernder war als die des Mittelalters. Die akute
Krankheit ging in eine chronische über, die plötzlichen, blutdürsti-
gen Wutanfälle des Katholizismus verwandelten sich in eine kalte,
politische Berechnung, die die Heterodoxie durch einen gelinderen
aber anhaltenden Druck auszurotten suchte. Die Verfolgung wurde
auf das weltliche Gebiet herübergezogen und dadurch unerträglicher
gemacht. Der Unglaube an die neununddreißig Artikel hörte auf
Blasphemie zu sein, aber anstatt dessen machte man ihn zum Staats-
verbrechen.
Aber der Fortschritt der Geschichte ließ sich nicht aufhalten ;
der Abstand zwischen der Gesetzgebung von 1688 und der öffent-
lichen Meinung von 1828 war so groß, daß in diesem Jahre selbst
das Unterhaus sich genötigt sah, die drückendsten Gesetze gegen
die Dissenters aufzuheben. Die Testakte und die religiösen Para-
graphen der Korporations-Akte wurden abgeschafft; die Emanzi-
pation der Katholiken folgte im nächsten Jahre trotz der wütenden
Opposition der Tories. Die Tories, die Vertreter der Konstitution,
hatten volles Recht in dieser Opposition, da keine einzige der libe-
ralen Parteien, auch die Radikalen nicht, die Konstitution selbst
angriffen. Die Konstitution sollte auch für sie die Grundlage blei-
ben, und auf dem Boden der Konstitution waren nur die Tories
konsequent. Sie sahen ein und sprachen es aus, daß die obigen
Maßregeln den Sturz der Hochkirche und notwendig auch den der
Konstitution nach sich ziehen müssen; daß, dem Dissenter aktives
Bürgerrecht geben, de facto die Hochkirche vernichten, die Angriffe
19*
292 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
auf die Hochkirche sanktionieren hieß; daß es eine arge Inkonse-
quenz gegen den Staat überhaupt ist, wenn man dem Katholiken,
der über der Staatsgewalt die Autorität des Papstes anerkennt, Teil
an der Verwaltung und Gesetzgebung bewilligt. Ihre Argumente
konnten von den Liberalen nicht beantwortet werden; die Emanzi-
pation ging dennoch durch, und die Prophezeiungen der Tories
fangen bereits an, sich zu erfüllen.
Die Hochkirche ist also auf diese Weise ein leerer Name ge-
worden und unterscheidet sich von den andern Konfessionen nur
noch durch die drei Millionen Pfund, die sie jährlich bezieht, und
einige kleine Privilegien, die gerade hinreichend sind, um den Kampf
gegen sie aufrecht zu erhalten. Hierhin gehören die kirchlichen
Gerichtshöfe, in denen der anglikanische Bischof eine alleinige, aber
sehr bedeutungslose Jurisdiktion übt und deren Bedrückung be-
sonders in den Gerichtskosten besteht; ferner die lokale Kirchen-
steuer, die zur Erhaltung der zu Verfügung der Staatskirche ste-
henden Gebäude verwendet wird ; die Dissenters stehen unter der
Jurisdiktion jener Höfe und müssen diese Steuer mitbezahlen.
Aber nicht allein die Gesetzgebung gegen die Kirche, sondern
auch die Gesetzgebung für sie hat dazu beigetragen, die Staats-
kirche zu einem leeren Namen zu machen. Die irische Kirche ist
ein bloßer Name von jeher gewesen, eine vollendete Staats- oder
Regierungskirche, eine komplete Hierarchie, vom Erzbischof ab-
wärts bis zum Vikar, der weiter nichts fehlt als die Gemeinde, und
deren Beruf darin besteht, für die leeren Wände zu predigen, zu
beten und Litaneien abzusingen. Die englische Kirche hat zwar
ein Publikum, obwohl sie auch, besonders in Wales und den Fa-
brikdistrikten, ziemlich von den Dissenters verdrängt worden ist,
aber die wohlbezahlten Seelenhirten bekümmern sich eben nicht
viel um die Schafe. ,,Wenn Ihr eine Priesterkaste in Verachtung
bringen und stürzen wollt, so bezahlt sie gut", sagt Bentham, und
die englische und irische Kirche zeugen für die Wahrheit dieses
Ausspruchs. Auf dem Lande und in den Städten in England ist
dem Volke nichts verhaßter, nichts verächtlicher, als ein church-
of -England parson. Und bei einem so frommen Volk wie dem
englischen will das was bedeuten.
Es versteht sich, daß, je leerer und bedeutungsloser der Name
der Hochkirche wird, desto fester hängt die konservative und über-
haupt entschieden konstitutionelle Partei daran; die Trennung von
Kirche und Staat könnte auch dem Lord John Russell Tränen ent-
locken; es versteht sich ebenfalls, daß, je leerer dieser Name wird,
desto ärger und fühlbarer wird der Druck. Die irische Kirche be-
sonders, weil die bedeutungsloseste, ist die verhaßteste ; sie hat
Die Lage Englands. 293
gar keinen Zweck, als das Volk zu erbittern, als es daran zu erinnern,
daß es ein unterjochtes Volk ist, dem der Eroberer seine Religion
und seine Institutionen aufzwängt.
England steht demnach jetzt auf dem Übergange vom bestimm-
ten in den unbestimmten christlichen Staat, in den Staat, der keine
bestimmte Konfession, sondern einen Durchschnitt aller existie-
renden Konfessionen, das unbestimmte Christentum zu seiner Basis
macht. Natürlich hat schon der alte, bestimmte, christliche Staat
sich gegen den Unglauben verwahrt und die Apostasie-Akte von
1699 bestraft ihn mit Verlust auch des passiven Bürgerrechts und
mit Gefängnis; die Akte ist nie abgeschafft worden, wird aber nie
mehr in Ausführung gebracht. Ein anderes Gesetz, aus Ehsabeths
Zeiten herrührend, schreibt vor, daß jeder, der Sonntags ohne ge-
hörige Entschuldigung aus der Kirche bleibt (wenn ich nicht irre,
ist sogar die bischöfliche Kirche vorgeschrieben, denn Elisabeth er-
kannte keine dissentierenden Kapellen an) mit Geldstrafe und re-
spektive Gefängnis dazu anzuhalten ist. Dies Gesetz kommt auf
dem Lande noch häufig in Ausführung; selbst hier im zivilisierten
Lancashire, ein paar Stunden von Manchester, gibt es einige bigotte
Friedensrichter, die — wie M. Gibson, Deputierter für Manchester,
vor vierzehn Tagen im Unterhause anführte — eine Menge Leute
wegen unterlassenen Kirchenbesuchs zu mitunter sechswöchent-
lichem Gefängnis verurteilten. Die Hauptgesetze aber gegen den
Unglauben sind die, welche jeden, der nicht an einen Gott oder eine
jenseitige Belohnung oder Bestrafung glaubt, zur Ablegung eines
Eides junfähig machen und die Gotteslästerung bestrafen. Gottes-
lästerung ist alles, was die Bibel oder die christliche Religion in Ver-
achtung zu bringen strebt, und ebenso die direkte Leugnung der
Existenz Gottes; die Strafe, die darauf steht, ist Gefängnis — ge-
wöhnlich ein Jahr, und Geldstrafe.
Aber auch der unbestimmte christliche Staat geht schon seinem
Verfall entgegen, ehe er durch die Gesetzgebung zur offiziellen An-
erkennung gekommen ist. Die Apostasie-Akte ist, wie gesagt, ob-
solet^) ; das Gebot des Kirchenbesuchs ist ebenfalls ziemlich veraltet
und seine Durchführung nur Ausnahme, das Blasphemie -Gesetz
fängt — dank der Furchtlosigkeit der englischen Sozialisten und
besonders Richard Carliles — ebenfalls an zu veralten und wird
nur hier und da in besonders bigotten Lokalitäten, z. B. in Edin-
burg, in Anwendung gebracht, und selbst eine Verweigerung des
Eides wird, wo es eben angeht, vermieden. Die christliche Partei
ist so schwach geworden, daß sie selbst einsieht, eine strenge Hand-
1) Im Original steht ,, absolut"; das ist offensichtlich ein Druckfehler.
294 •^"^ ^^^ ^®'* ^^^ ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
habung dieser Gesetze werde in kurzer Zeit ihre Aufhebung nach
sich ziehen, und bleibt daher lieber ruhig, damit das Damoklesschwert
der christlichen Gesetzgebung wenigstens über dem Haupt der Un-
gläubigen schweben bleibe und vielleicht als Drohung und Ab-
schreckung fortwirke.
Außer den bis jetzt beurteilten positiven politischen Institutionen
sind noch einige andere Dinge in den Bereich der Verfassung zu
ziehen. Von den Rechten des Bürgers ist bis jetzt kaum die Rede
gewesen; innerhalb der eigentlichen Konstitution hat das Indivi-
duum keine Rechte in England. Diese Rechte existieren entweder
durch den Gebrauch oder die Kraft einzelner Statute, die mit der
Konstitution in keinem Zusammenhang stehen. Wir werden sehen,
wie diese sonderbare Trennung entstanden ist, und gehen für den
Augenblick zur Kritik dieser Rechte über.
Das erste ist das Recht, daß jeder seine Meinung ungehindert
und ohne vorherige Genehmigung der Regierung veröffentlichen
darf — die Preßfreiheit. Es ist im ganzen genommen richtig, daß
nirgend eine ausgedehntere Preßfreiheit herrscht wie in England;
und doch ist diese Freiheit hier noch sehr beschränkt. Das Libell-
gesetz, das Hochverratsgesetz und das Blasphemiegesetz lasten
schwer auf der Presse, und wenn Preßverfolgungen selten sind, so
liegt das nicht am Gesetz, sondern an der Furcht der Regierung
vor der unausbleiblichen Unpopularität, die die Folge von Schritten
gegen die Presse sein würde. Die englischen Zeitungen aller Par-
teien begehen täglich Preßvergehen, sowohl gegen die Regierung
wie gegen Einzelne, aber man läßt sie alle ruhig passieren, wartet,
bis man imstande ist, einen politischen Prozeß anzufangen, und
nimmt dann bei der Gelegenheit die Presse mit. So ist's mit den Char-
tisten 1842, so neulich mit den irischen Repealern gegangen. Die
englische Preßfreiheit lebt seit hundert Jahren ebensowohl von der
Gnade, wie die preußische Preßfreiheit von 1842 tat.
Das zweite ,,angeborne Recht" (birthright) des Engländers
ist das Recht der Volksversammlung, ein Recht, das bis jetzt kein
anderes Volk in Europa genießt. Das Recht, obwohl uralt, ist später
in einem Statut als ,,das Recht des Volks, sich zu versammeln, um
seine Beschwerden zu diskutieren und die Legislatur um Abhilfe
derselben zu petitionieren", ausgesprochen worden. Hierin liegt
schon eine Beschränkung. Wenn keine Petition das Resultat eines
Meetings ist, so bekommt dies dadurch einen wo nicht geradezu unge-
setzlichen, doch sehr zweideutigen Charakter. In O'Connells Pro-
zeß wurde es von der Krone besonders hervorgehoben, daß die
Meetings, die als ungesetzlich geschildert wurden, nicht zur Be-
ratung von Petitionen berufen waren. Die Hauptbeschränkung ist
Die Lage Englands. 295
aber die polizeiliche ; die Zentral- oder Lokalregierung kann jedes
Meeting vorher verbieten oder unterbrechen und auflösen, und dies
hat sie nicht nur bei Clontarf, sondern in England selbst bei char-
tistischen und sozialistischen Meetings oft genug getan. Das aber
gilt nicht für einen Angriff auf die angebornen Rechte der Eng-
länder, weil die Chartisten und Sozialisten arme Teufel und also
rechtlos sind ; danach kräht kein Hahn, außer dem Northern Star
und dem New Moral World, und daher erfährt man davon auf dem
Kontinent nichts.
Ferner das Assoziationsrecht. Alle Assoziationen, die gesetz-
liche Zwecke mit gesetzlichen Mit:eln verfolgen, sind erlaubt; sie
dürfen aber nur jedesmal eine große Gesellschaft bilden und keine
Zweigassoziation einschließen. Die Bildung von Gesellschaften, die
sich in lokale Zweige mit besonderer Organisation teilen, ist nur
zu wohltätigen, überhaupt pekuniären Zwecken erlaubt und darf
nur auf ein Zertifikat eines dazu ernannten Beamten hin begonnen
werden. Die Sozialisten verlangten ein solches Zertifikat für ihre
Assoziation, indem sie einen derartigen Zweck angaben; den Char-
tisten wurde es verweigert, obwohl sie die Konstitution der sozia-
listischen Gesellschaft wörtlich in der ihrigen kopierten. Sie sind
jetzt gezwungen, das Gesetz zu umgehen, und dadurch in die Lage
versetzt, daß ein einziger Schreibfehler eines einzigen Mitgliedes
der chartistischen Assoziation die ganze Gesellschaft in die Fallstricke
des Gesetzes verwickeln kann. Aber auch abgesehen davon, ist das
Assoziationsrecht in seiner vollen Ausdehnung ein Vorrecht der
Reichen; zu einer Assoziation gehört vor allem Geld, und es ist der
reichen Korngesetz-Ligue leichter. Hunderttausende aufzubringen,
als der armen chartistischen Gesellschaft oder der Union britischer
Bergleute, die bloßen Kosten der Assoziation zu bestreiten. Und
eine Assoziation, die keine Fonds zur Verfügung hat, will wenig
bedeuten und kann keine Agitation machen.
Das Recht des Habeas -Corpus, d. h. das Recht jedes Angeklagten
(ausgenommen ist der Fall des Hochverrats), bis zur Eröffnung des
Prozesses gegen Kaution freigelassen zu werden, dies vielgepriesene
Recht ist wiederum ein Privilegium der Reichen. Der Arme kann
keine Bürgschaft stellen und muß daher ins Gefängnis wandern.
Das letzte dieser Rechte des Individuums ist das Recht eines
jeden, nur von seinesgleichen geiichtet zu werden, und auch dies
ist ein Privilegium der Reichen. Der Arme wird nicht von seines-
gleichen, er wird in allen Fällen von seinen geborenen Feinden ge-
richtet, denn in England sind die Reichen und die Armen in off-
nem Krieg. Die Geschworenen müssen gewisse Qualifikationen be-
sitzen, und wie diese beschaffen sind, geht daraus hervor, daß die
296 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in Engleind. 1842 — 1844.
Jiiryliste von Dublin, einer Stadt von 250000 Einwohner, nur acht-
hundert Qualifizierte stark ist. In den letzten Chartistenprozessen
in Lancaster, Warwick und Staffort wurden die Arbeiter von Grund-
besitzern und Pächtern, die meist Tories und Fabrikanten oder
Kaufleuten, die meist Whigs, in jedem Falle aber die Feinde der
Chartisten und der Arbeiter sind, gerichtet. Das ist aber nicht alles.
Eine sogenannte ,, unparteiliche Jury" ist überhaupt ein Unding.
Als O'Connell vor vier Wochen in Dublin gerichtet wurde, war
jeder Jurymann als Protestant und Tory sein Feind. ., Seinesgleichen"
wären Katholiken und Repealer gewesen — aber selbst diese nicht,
denn sie waren seine Freunde. Ein Katholik in dei Jury hätte das
Verdikt, hä^te jedes Verdikt, mit Ausnahme einer Freisprechung,
unmöglich gemacht. Hier ist der Fall eklatant; aber im Grunde ist
es in jedem beliebigen Falle dasselbe. Das Geschwornengericht ist
seinem Wesen nach eine politische und keine juristische Institution;
aber weil alles juristische Wesen ursprünglich politischer Natur ist,
komimt in ihr das wahre Juristentum zur Erscheinung; und das
englische Geschworenengericht, weil das ausgebildetste, ist die Voll-
endung der juristischen Lüge und Unsittlichkeit. Man fängt an
mit der Fiktion des ,, unparteilichen Geschwornen"; man schärft
den Geschwornen ein, alles zu vergessen, was sie etwa vor der
Untersuchung in Beziehung auf den vorliegenden Fall gehört haben,
bloß nach dem hier im Gerichtshof vorgebrachten Zeugnis zu ur-
teilen — als ob so etwas nur möglich wäre! Man macht die zweite
Fiktion des ,, unparteilichen Richters", der das Gesetz entwickeln
und die von beiden Seiten vorgebrachten Gründe ohne Parteilich-
keit, ganz ,, objektiv" zusammenstellen soll — als ob das möglich
wäre! Ja, man verlangt von dem Richter, daß er besonders und
trotz alledem keinen Einfluß auf das Urteil der Geschwornen aus-
üben, ihnen das Verdikt nicht unter den Fuß geben soll — d. h. er
soll die Prämissen so legen, wie sie gelegt werden müssen, um den
Schluß zu ziehen ; aber er soll den Schluß selbst nicht ziehen, er darf
ihn selbst für sich nicht ziehen, denn das würde ja auf seine Dar-
legung der Prämissen einen Einfluß ausüben — alle diese und hun-
dert andere Unmöglichkeiten, Unmenschlichkeiten und Dumm-
heiten verlangt man, bloß um die ursprüngliche Dummheit und Un-
menschlichkeit anständig zu verdecken. Aber die Praxis läßt sich
nicht irre machen, in der Praxis kehrt man sich an all das Zeug nicht,
und der Richter gibt der Jury deutlich genug zu verstehen, was für
ein Verdikt sie zu bringen hat, und die gehorsame Jury bringt das
Verdikt auch regelmäßig ein.
Weiter ! Der Angeklagte muß auf alle Weise geschützt werden,
der Angeklagte ist, wie der König, heilig und unverletzlich und
Die Lage Englands. 297
kann kein Unrecht tun, d. h. er kann garnichts tun, und wenn
er was tut, so hat's keine Gültigkeit. Der Angeklagte mag sein
Verbrechen eingestehen, das hilft ihm garnichts. Das Gesetz be-
schließt, daß er nicht glaubwürdig ist; ich glaube, es war 1819, als
ein Mann seine Frau des Ehebruchs bezüchtigte, nachdem sie wäh-
rend einer Krankheit, die ihr tödlich erschien, ihrem Mann den be-
gangenen Ehebruch gestanden hatte — aber der Verteidiger der
Frau wandte ein, daß das Geständnis der Angeklagten kein Beweis-
grund sei, und die Klage wurde abgewiesen^). Die Heiligkeit des
Angeklagten wird dann ferner in dem juristischen Formenwesen
durchgeführt, mit dem die englische Jury bekleidet ist, und die den
rabulistischen Kniffen der Advokaten ein so überaus ergiebiges Feld
bietet. Es geht ins Unglaubliche, was für lächerliche Formfehler
einen ganzen Prozeß umwerfen können. 1800 wurde ein Mann
wegen Fälschung schuldig befunden, aber freigelassen, weil sein
Verteidiger noch vor Urteilsfällung entdeckte, daß in der falschen
Banknote der Name abgekürzt Bartw, dagegen in der Anklageakte
vollständig Bartholomew geschrieben war. Der Richter, wie ge-
sagt, nahm die Einwendung für genügend an und ließ den Über-
führten frei 2).
1827 wurde in Winchester ein Weib des Kindesmordes ange-
klagt, aber freigesprochen, weil in dem Verdikt der Totenschau-
Jury diese ,,auf ihren Eid" (The Jurors of our Lord the King upon
their oath present that, etc.) versicherte, daß dies und jenes ge-
schehen sei, wo doch diese aus dreizehn Männern bestehende Jury
nicht ejnen Eid, sondern 13 Eide abgelegt habe, und es also hätte
heißen müssen: ,,upon their oaths"^). Vor einem Jahr wurde in
Liverpool ein Junge, der Jemandem an einem Sonntagabend das
Schnupftuch aus der Tasche stahl, auf der Tat ertappt und verhaftet.
Sein Vater wandte ein, der Polizeidiener habe ihn ungesetzlich ver-
haftet, weil ein Gesetz vorschreibt, daß niemand am Sonntag die-
jenige Arbeit tun dürfe, wodurch er sich seinen Unterhalt erwerbe;
die Polizei dürfe also niemanden am Sonntag verhaften. Der Rich-
der war damit einverstanden, examinierte aber den Jungen weiter,
und als dieser gestand, er sei ein Dieb von Profession, wurde er um
5 Schillinge gestraft, weil er am Sonntage seinem Berufe nach-
gegangen sei. Ich könnte diese Beispiele verhundertfachen, aber
sie reden für sich selbst schon genug. Das englische Gesetz heiligt
den Angeklagten und wendet sich gegen die Gesellschaft, zu deren
Schutz es eigentlich da ist. Wie in Sparta wird nicht das Ver-
1) Wade, British History, London 1838.
2) Ebendaselbst.
3) Ebendaselbst.
298 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842—1844.
brechen, sondern die Dummheit, mit der es begangen wurde, be-
straft. Jeder Schutz wendet sich gegen den, den er schützen will;
das Gesetz will die Gesellschaft schützen und verletzt ihn — denn
es ist klar, daß jeder der zu arm ist, der offiziellen Rabulisterei
einen ebenso rabulistischen Verteidiger entgegenzustellen, alle For-
men gegen sich hat, die zu seinem Schutz geschaffen wurden. Wer
zu arm ist, um einen Verteidiger oder eine gehörige Anzahl Zeugen
zu stellen, ist in jedem irgend zweifelhaften Fall verloren. Er be-
kommt nur die Anklageakte und die ursprünglich vor dem Friedens-
richter gemachten Depositionen vorher zu sehen, weiß also nicht
das Detail dessen, was gegen ihn vorgebracht wird (und gerade für
den Unschuldigen ist das am gefährlichsten) ; er muß sogleich, nach-
dem die Anklage geschlossen ist, antworten, darf nur einmal sprechen,
erledigt er nicht alles, fehlt ein Zeuge, den er nicht für nötig hielt,
so ist er verloren.
Die Vollendung des Ganzen aber ist die Bestimmung, daß die
zwölf Geschwornen in ihrem Verdikt einstimmig sein müssen.
Sie werden in einem Zimmer eingesperrt und nicht eher los-
gelassen, als bis sie einig sind, oder der Richter einsieht, daß sie
nicht zur Übereinstimmung zu bringen sind. Es ist aber durchaus
unmenschlich und geht so sehr gegen alle menschliche Natur an,
daß es lächerlich wird, von zwölf Menschen zu verlangen, daß sie
über einen Punkt ganz derselben Meinung sein sollen. Aber es ist
konsequent. Das Inquisitionsverfahren foltert den Angeklagten,
körperlich oder geistig ; das Geschwornengericht erklärt den An-
geklagten für heilig und foltert die Zeugen durch ein Kreuzverhör,
das dem des Inquisitionsgerichts gar nichts nachgibt, ja es foltert
die Geschwornen; es muß ein Verdikt haben, und wenn die Welt
darüber zugrunde gehen sollte; die Jury wird mit Gefängnis be-
straft, bis sie ein Verdikt gibt; und wenn sie wirklich die Caprice
haben sollte, ihren Eid halten zu wollen, so wird eine neue Jury
ernannt, der Prozeß noch einmal durchgemacht, und so fort, bis
entweder die Ankläger oder die Geschwornen des Kampfes müde
werden und sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Beweis genug,
daß das ganze Juristentum nicht ohne Folter bestehen kann und
in allen Fällen eine Barbarei ist. Es kann aber garnicht anders sein ;
wenn man mathematische Gewißheit über Dinge haben will, die
keine solche Gewißheit zulassen, so muß man notwendig in Unsinn
und Barbarei geraten. Die Praxis bringt wiederum an den Tag,
was hinter all diesen Dingen steckt; in der Praxis macht die Jury
sich's leicht und bricht ihren Eid, wie das nicht anders geht, in aller
Seelenruhe. 1824 konnte eine Jury in Oxford nicht übereinkommen.
Einer behauptete: schuldig, elf: nichtschuldig. Endlich wurde ein
Die Lage Englands. 299
Vertrag geschlossen; der eine Dissentient schrieb aut die Anklage-
akte: Schuldig, und zog sich zurück; dann kam der Vorsitzer mit
den andern, nahm das Papier auf und schrieb vor das Schuldig:
Nicht (Wade, British History). Den andern Fall erzählt Fonblanque,
Redakteur des ,,Examiner", in seinem Werk: England under seven
Administrations. Hier konnte eine Jury auch nicht fertig werden
und zuletzt wurde zum Lose Zuflucht genommen ; man nahm zwei
Strohhalme und zog; welche Partei das längste zog, deren Meinung
wurde adoptiert.
Da wir einmal bei den juristischen Institutionen sind, so können
wir, um den Überblick über den Rechtszustand Englands zu ver-
vollständigen, uns die Sache noch etwas genauer ansehen. Der eng-
lische Strafcodex ist bekanntlich der strengste in Europa. Noch
1810 gab er an Barbarei der Carolina nichts nach; Verbrennen,
Rädern, Vierteilen, Herausnehmen der Eingeweide bei lebendigem
Leibe usw. waren sehr beliebte Kategorien. Seitdem sind zwar die
empörendsten Scheußlichkeiten abgeschafft, aber noch immer stehen
eine Menge Roheiten und Infamien unangetastet auf dem Statuten-
buch. Die Todesstrafe steht auf sieben Verbrechen (Mord, Hoch-
verrat, Notzucht, Sodomie, Einbruch, Raub mit Gewalt und Brand-
stiftung mit der Absicht zu morden), und auch auf diese Zahl ist
die früher noch viel ausgedehntere Todesstrafe erst 1837 beschränkt
worden ; aber außer ihr kennt das englische Strafgesetz noch zwei
ausgesucht barbarische Strafarten — Transportation, oder Vertie-
rung durch Gesellschaft, und einsame Einsperrung, oder Vertierung
durch Einsamkeit. Beide könnten nicht grausamer und nieder-
trächtiger ausgesucht sein, um die Opfer des Gesetzes mit systema-
tischer Konsequenz körperlich, intellektuell und moralisch zu ver-
derben, und sie unter die Bestie herabzudrücken. Der transportierte
Verbrecher gerät in einen solchen Abgrund von Demoralisation,
von ekelhafter Bestialität, daß die beste Natur darin in sechs Mo-
naten unterliegen muß ; wer Lust hat, die Berichte von Augenzeugen
über Neu-Süd Wales undNorfolk-Island zu lesen, wird mir recht geben,
wenn ich behaupte, daß alles oben Gesagte noch lange nicht an die
Wirklichkeit reicht. Der einsame Eingekerkerte wird wahnsinnig
gemacht ; das Mustergefängnis in London hatte nach drei Monaten
seines Bestehens schon drei Wahnsinnige an Bedlam abzugeben,
von dem religiösen Wahnsinn, der gewöhnlich noch für Sinn gilt,
gar nicht zu reden. Die Strafgesetze gegen politische Verbrecher
sind fast genau in denselben Ausdrücken abgefaßt wie die preußi-
schen; besonders die ,, Aufreizung zur Unzufriedenheit" (exciting
discontent) und ,, aufrührerische Sprache" (seditious language) kom-
men in derselben unbestimmten Fassung vor, die dem Richter und
300 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842 — 1844.
der Jury einen so weiten Spielraum lassen. Die Strafen sind hier
auch strenger als anderswo; Transportation ist die Hauptkategorie.
Wenn diese strengen Strafen und diese unbestimmten poli-
tischen Verbrechen in der Praxis nicht so viel auf sich haben, als
nach dem Gesetz scheinen sollte, so ist dies einerseits der Fehler
des Gesetzes selbst, das in einer solchen Verwirrung und Unklar-
heit steckt, daß ein geschickter Advokat überall Schwierigkeiten zu-
gunsten des Angeklagten erheben kann. Das englische Gesetz ist
entweder gemeines Recht (common law), d.h. ungeschriebenes
Recht, wie es zu der Zeit existierte, von welcher man anfing, die
Statute zu sammeln, und später von juristischen Autoritäten zu-
sammengestellt wurde ; dies Recht ist natürlich in den wichtigsten
Punkten ungewiß und zweifelhaft, oder Statutarrecht (statute law),
das in einer unendlichen Reihe einzelner, seit fünfhundert Jahren
gesammelter Parlamentsakten besteht, die sich gegenseitig wider-
sprechen und an die Stelle eines ,, Rechtszustandes** einen voll-
kommen rechtlosen Zustand stellen. Der Advokat ist hier alles ;
wer seine Zeit recht gründlich an diesen juristischen Wirrwarr, an
dies Chaos von Widersprüchen verschwendet hat, ist in einem eng-
lischen Gerichtshofe allmächtig. Die Unsicherheit des Gesetzes
führte natürlich zum Autoritätsglauben an die Entscheidungen
früherer Richter in ähnlichen Fällen, und hierdurch wird sie nur
schlimmer gemacht, denn diese Entscheidungen widersprechen sich
ebenfalls, und das Resultat der Untersuchung hängt wieder von der
Belesenheit und Geistesgegenwart des Advokaten ab. Andererseits
ist die Bedeutungslosigkeit des englischen Strafgesetzes aber wieder-
um bloß Gnade etc., Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die zu
nehmen die Regierung durch das Gesetz gar nicht gebunden ist;
und daß die Legislatur gar nicht gesonnen ist, dies Verhältnis zu
ändern, zeigt die heftige Opposition gegen alle Gesetzreformen.
Aber man vergesse nie, daß der Besitz herrscht und daß daher diese
Gnade nur gegen ,, respektable" Verbrecher ausgeübt wird; auf den
Armen, den Paria, den Proletarier fällt die ganze Wucht der gesetz-
lichen Barbarei, und kein Hahn kräht danach.
Diese Begünstigung des Reichen ist aber auch im Gesetze aus-
drücklich ausgesprochen. Während alle schweren Verbrechen mit
den schwersten Strafen belegt sind, stehen Geldstrafen auf fast
allen unterdrückenderen ^) Vergehen, Geldstrafen, die natürlich für
Arme und Reiche dieselben sind, aber dem Reichen wenig oder nichts
anhaben können, während der Arme sie in neun Fällen aus zehnen
nicht bezahlen kann und dann ohne weiteres in ,, default of paye-
') sie!
Die Lage Englands. 301
ment" ein paar Monate auf die Tretmühle geschickt wird. Man
lese nur die Polizeiberichte im ersten besten englischen Tagblatte,
um sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Die
Mißhandlung der Armen und die Begünstigung der Reichen in allen
Gerichtshöfen ist so allgemein, wird so offen, so unverschämt be-
trieben und so schamlos von den Zeitungen berichtet, daß man
selten eine Zeitung ohne innere Empörung lesen kann. So ein
Reicher wird immer mit einer ungemeinen Höflichkeit behandelt,
und so brutal sein Vergehen auch gewesen sein mag, so ,,tut es den
Richtern doch stets sehr leid", daß sie ihn in eine gewöhnlich höchst
lumpige Geldstrafe zu verurteilen haben. Die Verwaltung des Ge-
setzes ist in dieser Hinsicht noch viel unmenschlicher als das Ge-
setz selbst; ,,Law grinds the poor, and rieh men rule the law" und
,,there is one law for the poor, and another for the rieh" sind voll-
kommen wahre und längst sprichwörtlich gewordene Ausdrücke.
Aber wie kann das anders sein? Die Friedensrichter wie die Ge-
schwornen sind selbst reich, sind aus der Mittelklasse genommen und
daher parteilich für ihresgleichen und geborene Feinde der Armen.
Und wenn der soziale Einfluß des Besitzes, der jetzt nicht erörtert
werden kann, in Betracht genommen wird, so kann sich wahrlich
kein Mensch über einen so barbarischen Stand der Dinge wundern.
Von der direkt sozialen Gesetzgebung, in der die Niederträch-
tigkeit kulminiert, wird später die Rede sein. An dieser Stelle könnte
sie ohnehin nicht in ihrer vollen Bedeutung dargestellt werden.
Fassen wir das Resultat dieser Kritik des englischen Rechts-
zustandes zusammen. Was vom Standpunkte des ,, Rechtsstaates"
aus dagegen gesagt werden kann, ist höchst gleichgültig. Daß Eng-
land keine offizielle Demokratie ist, kann uns nicht gegen seine
Institutionen einnehmen. Für uns hat nur das Eine Wichtigkeit,
das sich uns überall gezeigt hat: daß Theorie und Praxis im schrei-
endsten Widerspruch stehen. Alle Mächte der Verfassung, Krone,
Oberhaus und Unterhaus, haben sich vor unsern Augen aufgelöst;
wir haben gesehen, daß die Staatskirchen und alle sogenannten
angeborenen Rechte der Engländer leere Namen sind, daß selbst
das Geschwornengericht in der Wirklichkeit nur ein Schein ist ; daß
das Gesetz selbst keine Existenz hat, kurz daß ein Staat, der sich
auf eine genau bestimmte, gesetzliche Basis gestellt hat, diese seine
Basis verleugnet und mißhandelt. Der Engländer ist nicht frei
durch das Gesetz, sondern trotz dem Gesetze, wenn er überhaupt
frei sein soll.
Wir haben ferner gesehen, welch ein Wust von Lügen und Un-
sittlichkeit aus diesem Zustande folgt; man fällt vor leeren Namen
nieder und verleugnet die Wirklichkeit, man will von ihr nichts
302 Aus der Zeit des ersten Aufenthalts in England. 1842— 1844.
wissen, sträubt sich gegen die Anmerkung^) dessen, was wirklich exi-
stieit, was man selbst geschaffen hat; man belügt sich selbst und
führt eine konventionelle Sprache mit künstlichen Kategorien ein,
deren jede ein Pasquill auf die Wirklichkeit ist, und klammert sich
ängstlich an diese hohlen Abstraktionen an, um sich nur ja nicht
gestehen zu müssen, daß es im Leben, in der Praxis sich um ganz
andre Dinge handelt. Die ganze englische Verfassung und die ganze
konstitutionelle öffentliche Meinung ist nichts als eine große Lüge,
die durch eine Anzahl kleiner Lügen immer wieder unterstützt und
verdeckt wird, wenn sie hier oder da in ihrem wahren Wesen etwas
zu offen an den Tag kommt. Und selbst wenn man zur Einsicht
kommt, daß all dies Gemachte eitel Unwahrheit und Fiktion ist, selbst
dann hält man noch fest daran, ja fester als je, damit nur ja die
leeren Worte, die paar sinnlos zusammengestellten Buchstaben
nicht auseinander fallen, denn diese Worte sind ja eben die Angeln
der Welt, und mit ihnen müßte die Welt und die Menschheit in die
Nacht der Verwirrung stürzen! Man kann sich von diesem Gewebe
von offener und versteckter Lüge, von Heuchelei und Selbstbetrug
nur mit einem gründlichen Ekel abwenden.
Kann ein solcher Zustand von Dauer sein ? Kein Gedanke
daran. Der Kampf der Praxis gegen die Theorie, der Wirklichkeit
gegen die Abstraktion, des Lebens gegen hohle Worte ohne Be-
deutung, mit einem Wort, des Menschen gegen die Menschlichkeit
muß sich entscheiden, und auf welcher Seite der Sieg sein wird,
unterliegt keiner Frage.
Der Kampf ist bereits da. Die Konstitution ist in ihren Grund-
festen erschüttert. Wie die nächste Zukunft sich gestalten wird,
geht aus dem Gesagten hervor. Die neuen, fremdartigen Elemente
in der Verfassung sind demokratischer Natur ; auch die öffentliche
Meinung, wie sich zeigen wird, entwickelt sich nach der demokra-
tischen Seite hin; die nächste Zukunft Englands wird die Demo-
kratie sein.
Aber was für eine Demokratie! Nicht die der französischen
Revolution, deren Gegensatz die Monarchie und der Feudalismus
war, sondern die Demokratie, deren Gegensatz die Mittelklasse und
der Besitz ist. Dies zeigt die ganze vorhergehende Entwicklung.
Die Mittelklasse und der Besitz herrschen ; der Arme ist rechtlos,
wird gedrückt und geschunden, die Konstitution verleugnet, das
Gesetz mißhandelt ihn; der Kampf der Mittelklasse gegen die
1) „Anmerkung" ist vermutlich Druckfehler für „Anerkennung".
Da das ursprüngliche Wort aber nicht völlig sinnwidrig ist, wurde es im
Text stehen gelassen.
Die Lage Englands. 303
Aristokratie in England ist der Kampf der Armen gegen die Reichen.
Die Demokratie, der England entgegen geht, ist eine soziale De-
mokratie.
Aber die bloße Demokratie ist nicht fähig, soziale Übel zu heilen.
Die demokratische Gleichheit ist eine Chimäre, der Kampf der Ar-
men gegen die Reichen kann nicht auf dem Boden der Demokratie
oder der Politik überhaupt ausgekämpft werden. Auch diese Stufe
ist also nur ein Übergang, das letzte rein politische Mittel, das noch
zu versuchen ist, und aus dem sich sogleich ein neues Element, ein
über alles politische Wesen hinausgehendes Prinzip entwickeln muß.
Dies Prinzip ist das des Sozialismus.
Erläuterungen und Anmerkungen.
I. Einführung.
Für den Gang von Engels Leben und für die Entwicklung seiner Ge-
dankenwelt verweise ich den Leser auf das Werk Friedrich Engels, eine
Biographie, Band I, das kürzlich in dem gleichen Verlage erschien. Dort
wird des längeren geschildert, wie Engels in einer Umgebung aufwuchs, die
dam kirchlich-orthodoxen und politisch-konservativen Geist entsprach, der
das Wuppertal damals auszeichnete. Als die früheste Niederschrift, die sich
von seiner Hand erhalten zu haben scheint, sei hier ein Gedicht wiedergegeben,
das der Dreizehnjährige seinem Großvater mütterlicherseits, dem Rektor van
Haar in Hamm, zu Neujahr 1834 sandte.
Barmen, 20. Dezember 1833.
O du lieber Großvater, der immer uns gütig begegnet,
Der du noch immer uns halfst, wenns mit den Arbeiten gehapert!
Der so schöne Geschichten mir, wenn du hier warst, erzähltest,
Von Cercyon und Theseus, vom hundertäugigen Argus;
Vom Minoetur, Ariadne, von dem ertrunknen Ägaeus;
Von dem goldenen Vließ, von den Argonauten und Jason,
Von dem starken Herkul, von dem Danaus und Kadmos.
Und — ich weiß es nicht mehr, was du sonst mir erzählet;
Nun, so wünsche ich dir, Großvater, ein glückliches Neujahr,
Dir ein Leben noch lang, viel Freud und wenige Trübsal,
Alles Gute, was nur dem Menschen kann je widerfahren,
Alles das wird dir gewünscht von deinem dich
liebenden Enkel
Friedrich Engels.
Auch das Manuskript einer Seeräubernovelle, die im Jahre 1820 in den
griechischen Gewässern spielt und die, der Handschrift nach, während der
Schulzeit entstanden ist, lag mir vor. Ihr Held ist ein Griechenjunge, dem die
Türken alle Angehörigen erschlagen haben und der sich nun als Korsar an
ihnen rächt. Für einen Abdruck, der sich auch nicht genügend gelohnt haben
würde, war sie zu umfangreich. Hauptsächlich das liebevolle Verweilen
bei der Beschreibung von allerhand Waffen deutet auf Interessen, die sich
späterhin bei dem Verfasser entwickelt haben. Aus dem Jahre 1835 hat sich
dann noch ein Schulheft erhalten, in dem Engels die Vorträge seines Ge-
schichtslehrers Dr. Clausen über alte Geschichte ,,von Erschaffung der Welt
bis auf den Peloponnesischen Krieg 4000 — 401" sehr fleißig ausgearbeitet und
geschickt mit Plänen und Zeichnungen versehen hat. Da finden wir fein
koloriert die Umgebungen von Karthago, Jerusalem, Delphi, die Thermopylen
und den Meerbusen von Saron. Da zeigen sich uns säuberlich mit Tinte ge-
Erläuterungen und Anmerkungen. 305
zeichnet die Pyramiden, die „colossale Sphynx bei Cairo", das Löwentor in
Mycene, da stehen am Rand Skizzen babylonischer Krieger, indischer und grie-
chischer Säulenschäfte und parsischer Feueraltäre. —
In einem Band, der das erste Regen der geistigen Schwingen bei Friedrich
Engels aus der Vergessenheit erwecken soll, verdient, weil es auf eine Weise
abgefaßt ist, die überdurchschnittliches Verständnis verrät, das Abgangs-
zeugnis einen Platz, das der Siebzehnjährige erhielt, als er zum Herbst 1837
aus der Prima des Elberfelder Gymnasiums schied, um sich kaufmännischer
Tätigkeit zu widmen. Die Abschrift nach der es hier wiedergegeben
wird, erhielt ich 1913 durch die Freundlichkeit von Herrn Oberlehrer
Dr. Eggers in Elberfeld. Das intime Verständnis für den Zögling, das sich
hier kundgibt, schreibt sich daher, daß Friedrich Engels wegen des weiten
Schulwegs bei dem unterzeichneten Direktor als Pensionär wohnte.
Abgangszeugnis für den Primaner Friedrich Engels, ge-
boren den 28. November 1820 zu Unter barmen, evangelischer Konfession,
seit Herbst (d. 20. Oktober) 1834 Schüler des Gymnasiums zu Elberfeld, und
zwar seit Herbst (17. Oktober) 1836 Mitglied der Prima desselben, hat sich
vorzugsweise während seines Aufenthaltes in Prima eines recht gut
Betragens befleißigt, namentlich durch Bescheidenheit, Offenheit und Ge-
mütliches') seinen Lehrern sich empfohlen, ingleichen von guten Anlagen
unterstützt ein reichliches Streben, sich eine möglichst umfassende wissen-
schaftliche Bildung anzueignen, an den Tag gelegt, weshalb dann auch die
Fortschritte auf erfreuliche Weise hervortraten, wie solches die nach-
folgende besondere Zusammenstellung der einzelnen Lehrfächer bestimmter
ausweist.
I. Sprachen.
1. Lateinisch. Das Verständnis der betreffenden Schriftsteller pro-
saischer wie poetischer Diktion, namentlich des Livius und Cicero, des Vir-
gilius und Horatius, wird ihm nicht schwer, so daß er mit Leichtigkeit in den
Zusammenhang größerer Ganze einzugehen, den Gedankengang mit Klar-
heit aufzufassen und mit Gewandheit das Vorliegende in die Muttersprache
überzutragen versteht. Weniger ist es ihm gelungen, des grammatischen
Teiles sich mit durchgreifender Sicherheit zu bemächtigen, so daß die schrift-
lichen Arbeiten, obwohl nicht ohne sichtbares Fortschreiten zum Besseren,
doch in grammatisch-stilistischer Beziehung noch manches zu wünschen
übrig ließen.
2. Griechisch. Er hat sich eine genügende Kenntnis der Formenlehre
und der syntaktischen Regeln, insbesondere aber eine gute Fertigkeit und
Gewandheit im Übersetzen der leichteren griechischen Prosaiker sowie des
Homer und Euripides erworben, und wußte den Gedankengang in einem
platonischen Dialoge mit Geschick aufzufassen und wiederzugeben.
3. Deutsch. Die schriftlichen Aufsätze zeigten besonders in dem
letzten Jahre ein erfreuliches Fortschreiten der allgemeinen Entwicklung; sie
enthielten gute, selbständige Gedanken und waren meist richtig disponiert;
die Ausführung hatte die gehörige Fülle und der Ausdruck näherte sich sicht-
^) Ursprünglich hieß es im Originaltext ,, durch Bescheidenheit und
Offenheit des Gemütes". Aber ,,und" und ,,des Gemütes" sind in dem Zeug-
nisbuch des Elberfelder Gymnasiums durchgestrichen und durch ein Wort
ersetzt, das der Abschreiber als ,, Gemütliches" oder ,, Gemütlichkeit" ent-
ziffert hat.
Mayer, Engels. Ergänzungsband. 20
3o6 Erläuterungen und Anmerkungen.
bar der Korrektheit. Für die Geschichte der deutschen National-
literatur und die Lektüre der deutschen Klassiker legte E. ein rühmliches
Interesse an den Tag.
4. Französisch. Die französischen Klassiker übersetzte er mit Ge-
wandheit. In der Grammatik besitzt er gute Kenntnisse.
II. Wissenschaften.
1. Religion. Die Grundlehren der evangelischen Kirche, desgleichen
die Hauptmomente der christlichen Kirchengeschichte sind ihm wohlbekannt.
Auch ist er in der Lektüre des Neuen Testaments nicht unerfahren.
2. In der Geschichte und Geographie besitzt derselbe eine ge-
nügend übersichtliche Kenntnis.
3. In der Mathematik hat E. im ganzen erfreuliche Kenntnisse er-
langt; er zeigte überhaupt eine gute Auffassungsgabe und wußte sich mit
Klarheit und Bestimmtheit mitzuteilen. Dasselbe gilt
4. von seinen Kenntnissen in der Physik.
5. Philosophische Propädeutik. An den Vorträgen über empi-
rische Psychologie nahm E. mit Interesse und Erfolg teil.
Der Unterzeichnete entläßt den lieben Schüler, der ihm infolge häus-
licher Beziehungen insbesondere nahegestellt und in dieser Stellung durch
religiösen Sinn, durch Reinheit des Gemütes, gefällige Sitte und andere an-
sprechende Eigenschaften sich zu empfehlen bemüht "war, bei seinem am
Schlüsse des Schuljahres (den 15. Sept. d. J.) erfolgten Übergange in das
Geschäftsleben, das er statt des früher beabsichtigten Studiums als seinen
äußeren Lebensberuf zu wählen sich veranlaßt sah, mit seinen besten Segens-
wünschen. Der Herr segne und geleite ihn.
Elberfeld, den 25. September 1837.
Dr. J. C. L. Hantschke (Prof. u. provisor. Direktor).
Nachdem sich Engels in den nächsten Monaten mit den ersten kauf-
männischen Anfangsgründen in dem väterlichen Geschäft bekannt gemacht
zu haben scheint, kam er 1838 in die Großhandlung des Konsul Heinrich Leu-
pold in Bremen (gestorben 1865) und in Pension bei dem Pastor Treviranus
von der Martinikirche, in deren Häusern ein ähnlicher Geist herrschte wie in
seinem väterlichen.
2. Die Bremer Zeit. 1838— 1841.
Die Originale der Briefe an die Brüder Friedrich und Wilhelm Graeber
gehören dem Engelsschen Familienarchiv in Engelskirchen in der Rhein-
provinz. Über die beiden Adressaten ließ sich im wesentlichen nur in Er-
fahrung bringen, daß sie später Pastoren wurden, Wilhelm wirkte zuletzt in
Essen, wo er 1893 seine Abschiedspredigt hielt. Die Brüder waren Söhne des
Pastor F. F. Gräber in Gemarke, über den Friedrich Wilhelm Krummacher
in seinen Lebenserinnerungen urteilt, daß er mehr Dialektiker als Phantasie-
mensch gewesen wäre. In den Briefen ist jedoch auch die Rede von dem
lebhaften Briefwechsel Engels mit anderen Jugendfreunden, deren Namen
dort häufig auftauchen. Leider hat sich aber davon nichts mehr auffinden
lassen, obgleich Herr Emil Engels in Engelskirchen, der Großneffe Friedrich
Engels, auf meine Anregung mit der größten Sorgfalt allen Spuren, die sich
darboten, nachgegangen ist. Es besteht keine Hoffnung, daß Engels Briefe
an Wilhelm Blank, Peter Jonghaus, Heuser, F. Plümacher, Wurm u. a. noch
Erläuterungen und Anmerkungen. 307
aus der Vergessenheit auftauchen könnten. Auch die an ihn gerichteten
Briefe aller dieser Wuppertaler Schulfreunde, mit denen ihn das Leben, von
Wilhelm Blank abgesehen, bald auseinandergeführt hat, sind verloren. Von
den hübschen Zeichnungen, die Engels mit leichter und freigebiger Hand
in die Briefe an die Brüder Graeber hineinsetzte, sind die für eine Repro-
duktion geeignetsten dem Text beigefügt \worden. Es ist wohl das erste
Mal, daß die Öffentlichkeit von dieser hübschen Beigabe des Engelsschen
Talents eine Anschauung erhält.
S. 3. Die ersten Briefe an die Brüder Graeber vom September
1838 bis Februar 1839 zeigen Engels noch erfüllt mit Reminiszenzen an die
Bierromantik, die sich besonders in Provinzstädten bei den Schülern der
oberen Klassen der Gymnasien im vorigen Jahrhundert breit machte und
auch zu Anfang dieses noch nicht ganz abgestorben "war. Im Vordergrund
des geistigen Interesses des Jünglings stehen hier besonders Fragen der
Literatur und eigene, ziemlich bescheidene, produktive Bestrebungen,
Jakob Grimm gehörte bekanntlich zu den sieben Göttinger Professoren,
die wegen ihres Protestes gegen den Verfassungsbruch des Hannoverschen
Königs ihre Stellung verloren. Seine Verteidigungsschrift, von der Engels
hier spricht: Über meine Entlassung ist 1838 in Basel erschienen. Die
Spur der spanischen Romanze, von der in dem Brief vom 17. bis 18. Sep-
tember gesprochen wird, vermochte ich nicht aufzufinden. Das Gedicht
Florida kann nicht gemeint sein, Str. ist vielleicht Strücker, von dem noch
in dem Briefwechsel mit Marx die Rede ist. Die Reise, die Engels für den
Herbst 1838 plante, hat er auch ausgeführt. Wohin sie gegangen ist, ließ sich
nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Nicht ur möglich wäre, daß es jene ge-
wesen ist, die ihm hernach zu dem hübschen Essay Landschaften den Stoff
lieferte. Der Maler, von dem in dem ersten Briefe erzählt wird, hieß G.W.
Feistkorn, wie wir aus einem ungedruckten Brief an Schwester Marie von
Weihnachten 1838 erfahren. Mit Knapp ist hier und später der Dichter geist-
licher Lieder Albert Knapp gemeint. Im Telegraph von 1839 habe ich ver-
gebens nach der abfälligen Beurteilung der Gedichte des Missionars Winkler
gesucht.
S. 20. Die Briefe aus dem Wuppertal, die im März und April 1839
m dem von Gutzkow herausgegebenen Telegraph für Deutschland erschienen,
waren die erste Kampfansage des erwachenden Revolutionärs an die beiden
sozialen Mächte, die in seiner Jugendzeit sein Heimattal beherrschten.
Zum ersten Mal bäumt er sich hier öffentlich gegen die Unduldsamkeit des
Pietismus auf, bereits aber auch gegen die Auswüchse des Kapitalismus.
Das starke Aufsehen, das seine schonungslose Kritik in den an eine so respekt-
lose Sprache nicht gewöhnten Wupperstädten hervorrief, bezeugt ein Brief
seines Freundes Wilhelm Blank (1821 bis 1892) an Wilhelm Graeber. ,,Man
ist hier ganz wütend darüber", berichtet Blank diesem am 24. Mai 1839, ,,und
alle Exemplare, die sich hier fanden, waren im Augenblick vergriffen. Merk-
würdig ist es, wie man sich hier abplagt, den Verfasser zu finden, der Eine sagt,
es ist Freiligrath, der Andere — Clausen, der Dritte Holzapfel und so fort, den
rechten raten sie aber nicht, es ist auch gut, denn sie würden den Fr. Engels,
wenn sie wüßten, daß er es wäre, bei seiner Rückkehr entsetzlich vornehmen.
Übrigens hat der erste Lärm deshalb schon ziemlich abgenommen und die-
jenigen, gegen welche der Angriff gerichtet, halten sich darüber erhaben und
so ist die Wirkung, die er haben sollte, meist verloren gegangen." Der Tele-
graph sah sich im Mai genötigt, ,, Einige Berichtigungen der Briefe aus dem
Wupperthale" aufzunehmen, die mit drei Sternen gezeichnet waren. Darin
3o8 Erläuterungen und Anmerkungen,
hieß es u. a., daß es schwerlich die der pietistischen Partei zugehörerden Kauf-
leute seien, die den Arbeitslohn ihrer Weber verkürzten, daß es mit der Sitten-
losigkeit auch nicht so arg wäre, daß die Angaben über die Bildung der jungen
Kaufleute nicht der Wahrheit entsprächen, daß die Charakteristiken der Gym-
nasiallehrer einseitig und schief seien, daß der Verfasser von Musik nichts zu
verstehen schiene usw. Freiligrath war bekanntlich vcm Mai 1837 bis August
1839 Angestellter in dem Barmer Grcßhandlungshause I. P, von Eynern u.
Söhne, Seine Freundschaft mit dem Realschullehrer Heinrich Köster, der 1838
von Barmen an eine Töchterschule in Düsseldorf überging, ist bekannt. Das
Nösseltsche Anekdotensystem stammt von dem Gymnasialprofessor Friedrich
August Nösselt, der für Schule und Haus die biblische Geschichte, die Welt-
geschichte und die Literaturgeschichte in zahlreichen populären Darstellungen
behandelt hat. Das Buch von J. J. Ewich heißt mit genauem Titel: Human,
der Lehrer einer Volksschule, sein Wesen und Wirken. Wesel 1829. Auf die
in jeder Literaturgeschichte zu findenden Namen wird hier nicht weiter ein-
gegangen. Tromlitz (1772 — 1839) war das Pseudonym des Freiherrn Karl
August von Witzleben, der besonders historische Romane und Novellen in der
Art Walter Scotts verfaßt hat. Hermann Püttmann, der Wuppertaler Jour-
nalist und soziale Dichter, ist späterhin mit Engels in mannigfacher Be-
rührung gewesen. Er war der Herausgeber des Deutschen Bürgerbuchs und
der Rheinischen Jahrbücher zur gesellschaftlichen Reform, an denen Engels
mitgearbeitet hat. Jan Pol war Pastor zu Heedfeld. Seine Gedichte sind 1837
erschienen. Mit dem „Denunzianten" auf Seite 33 ist gemeint die Schrift:
Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Teil des Salons von
H. Heine, Hamburg 1837 bei Hoff mann und Camoe. In dem gleichen Ver-
lage erschien auch der erste und, soviel ich weiß, einzige Jahrgang des Jahr-
buchs der Literatur, in dem Dingelstedt über Freiligrath schrieb und Heine
zum ersten Mal den Schwabenspiegel veröffentlichte. Der ,, große" D. auf
Seite 37, den Engels nicht zu nennen ,,wagt", hieß Dürfholt, wie wir aus dem
Briefe an Friedrich Graeber vom 27. April 1839 ersehen. Teil HI der Briefe
aus dem Wuppertal erschien im Telegraph erst im November mit der beson-
deren Überschrift: Aus Elberfeld, Dies ist der Beitrag, der ,,S, Owald" unter-
zeichnet ist. Eine Anmerkung bestätigt dott ausdrücklich, daß auch dieser
von dem ,, Verfasser der Briefe aus dem Wupperthal" stammt.
S. 39. Die Briefe an die Brüder Graeber vom April bis De-
zember 1839 haben zum wichtigsten Inhalt den religiösen Freiheitskampf
des jungen Engels. Auch von seinen dichterischen Plänen und von seinen
literarischen Interessen ist noch vielfach die Rede.
Über Theodor Hell, der von 1817 — 1853 in Dresden die Abendzeitung
herausgab und eigentlich Karl Gotthelf Theodor Winkler hieß, hat Karl Marx
in der Rheinischen Zeitung sich in einer Weise ausgesprochen, die mit Engels
Urteil über ihn ganz übereinstimmt. Marx nennt diesen ,,Krähwinkler", der
sich humoristischer Weise Hell benamse, obgleich man ihm nicht einmal die
Helligkeit der Sümpfe um Mitternacht nachrühmen dürfe, den Prototyp der
deutschen Literatur in ihrer „Abendblattzeit", der traurigen Zeit der strikten
Zensurobservanz von 1819 bis 1830, Diese ,, Fastenzeit", fügt Marx dort hinzu,
werde die Nachwelt überzeugen, ,,daß wenn Heilige vierzehn Tage ohne
Speise ausharren konnten, ganz Deutschland, welches nicht einmal heilig war,
über zwanzig Jahre ohne geistige Konsumtion und Produktion zu leben ver-
stand," — Dem , .Jungen Deutschland" widmete Wienbarg nicht 1835, wie
Engels annimmt, sondern schon 1834 seine bei Hoffmann und Campe er-
schienenen Ästhetischen Feldzüge. Gutzkows Aufsatz im Jahrbuch für
Erläuterungen und Anmerkungen. 309
Literatur, von dem Engels Seite 41 spricht, war Über Vergangenheit und
Gegenwart 1830 bis 1838. Von den auf Seite 41 erwähnten Schriftstellern
und Dichtern kennt man heute nur noch wenig den Böhmen Karl Egon Ebert,
der gleich L. August Frankl wesentlich in Uhlands Bahnen wandelte, gar
nicht mehr C. Morvell, der eigentlich C. F. Vollmer hieß und unter dem
Namen W. F. A. Zimmermann auch naturwissenschaftliche Schriften ver-
öffentlichte, und Karl von Wachsmann, der mit Vorliebe Räuberromane an-
fertigte. Aber auch Robert Heller, nach einander Redakteur der Rosen und
der Illustrierten Jugendzeitung, 1849 bei der Gervinusschen Deutschen Zeitung
und später noch bei den Hamburger Nachrichten, einer der beliebtesten Unter-
haltungsschriftsteller seiner Zeit, der zahlreiche Romane und Novellen,
auch einen Florian Geyer geschrieben hat, gehört heute den Toten an. So
wenig wie an ihn denkt man noch an den Böhmen Karl Georg Reginald
Herloßsohn (1804 — 1849), den Dichter des Liedes: „Wenn die Schwalben
heimwärts ziehn", der eigentlich Herloß hieß und dessen historische Romane,
deren er einige unter dem Namen Edmund Foerstermann und Heinrich
Clauren veröffentlichte , in den dreißiger Jahren einen großen wenn auch
nicht gewählten Leserkreis hatten. Man verwechsle jedoch nicht diesen
Clauren mit jenem anderen, der eigentlich K. G. S. Heun hieß und dessen
Mimili Wilhelm Hauff im Mann im Monde parodiert. Die Lyriker Ignaz
Hub und August Schnetzler gaben, anfänglich gemeinsam mit Freiligrath,
das Rheinische Odeon heraus, einen Almanach, zu dem auch Hebbel, Grabbe,
Rückert, Simrock Gedichte beisteuerten. Literaturkomödien von der Art,
wie sie das Siegfriedfragment nachahmt, waren, seitdem Platen in die Spuren
des Aristophanes getreten war, in Schwung gekommen. Friedrich Storck
war ein wupperdeutscher Lokaldichter, der auch noch später unter dem
Pseudonym Höarmeckan allerhand Dichtungen veröffentlicht hat. Wer in
der Abendzeitung unter dem Pseudonym Thuringus, Faber, von Großkreuz
schrieb, ließ sich nicht feststellen und hat auch keine Bedeutung. Für Hein-
rich Leos, des ,, Hallischen Löwen", Feldzug gegen die ,, Hegelingen" sei
hier bloß auf Band I der Engelsbiographie verwiesen. Die Junghegelianer
wehrten sich ihrer Haut energisch, besonders in den Hallischen Jahr-
büchern. Noch vor Leo hatte K. E, S. Schubarth (1796 — 1861) auf den revo-
lutionären Keim, der in der Hegeischen Lehre lag, hingewiesen. Gegen seine
Schrift Über die Unvereinbarkeit der Hegeischen Staatslehre mit dem obersten
Lebens- und Entwicklungsprinzip des preußischen Staats, Breslau 1839 wandte
sich Karl Friedrich Koppen im Telegraph vom April 1839. Dr. Martin Runkel
war der Chefredakteur der Elberfelder Zeitung, der auch in Almanachen Ge-
dichte veröffentlichte. Der Deutsche Musenalmanach für 1840, herausgegeben
von Theodor Echter meyer und Arnold Rüge, enthielt keinen Beitrag von Engels.
Das Athenaeum erschien unter Redaktion von Dr. Karl Riedel, vormals evan-
gelischer Pfarrer zu Weißenstedt in Bayern (geb. 1804), ursprünglich in Nürn-
berg und wurde 1840 von diesem nach Berlin verlegt, wo es 1841 ein Sammel-
punkt der radikalen Elemente war und von Heß, Buhl, Marx, Engels Beiträge
brachte. Da Riedel aber durch seine Teilnahme an der bekannten Serenade
für den badischen Oppositionsführer Welcker zum i. Januar 1842 aus Berlin
ausgewiesen wurde und Eduard Meyen oder Karl Nauwerck der Zensur als
Nachfolger nicht genehm waren, ging das Blatt ein. Ergeis veröffentlichte
hier seine Lombardischen Streifzüge. Der Aufsatz über die Grenzen der
Naturbetrachtung findet sich in der Evangelischen Kirchenzeiturg vom
20., 23. und 27. März 1839. Bei der „Züricher Geschichte" mit Strauß handelt
essich um den bekannten ,,Züriputsch", der sich in Zürich abspielte, als der
310 Erläuterungen und Anmerkungen.
den Orthodoxen aufs tiefste verhaßte Verfasser des Leben Jesu 1839 als Pro-
fessor der Dogmatik und Kirchengeschichte nach Zürich berufen wurde.
Man weiß, daß Strauß infolge des von den rechtgläubigen Eiferern erhobenen
Rufs, die Religion sei in Gefahr, sein Amt nicht antreten konnte. Von Engels
Übersetzung Shelleys haben sich leider keine Spuren gefunden. Strücker
scheint derselbe Freund gewesen zu sein, dem Engels, als er 1849 aus der
Heimat fliehen mußte, seine Papiere zur Aufbewahrung übergab.
Friedrich von Smitt, der Verfasser des Buches: Geschichte des polnischen
Aufstands und Krieges in den Jahren 1830 und 31, Berlin 1839, war ein Liv-
länder. Der Pater Johann Goßner war nach manchen Irrsalen, die er als Kon-
vertit zu erdulden hatte, Prediger an der Bethlehemkirche, der frommsten
Gemeinde Berlins, geworden. Er war ein feuriger Kanzelredner und hat
zahlreiche Missionsgesellschaften, Kinderbewahranstalten und ähnliches ins
Leben gerufen. Mit Vermicul ist natürlich Wurm gemeint. Johann Adolf
Torstrick (1821 — 1877) war der Sohn des Organisten der St. Martinikirche,
bei deren Pfarrer G. G. Treviranus Engels in Bremen in Pension war. Tor-
strick fand später auf der Bibliotheque Nationale in Paris unveröffentlichte
Fragmente von De Anima des Aristoteles und wurde 1876 korrespondierendes
Mitglied der Berliner Akademie. Rudolf Ewald Stier (1800 — 1862) war seit
1838 Pastor in Wichlinghausen im Wuppertal. Aus dem Artikel, den Tholuck
ihm in Herzogs Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche
widmet, wird ersichtlich, daß er sich an die presbyteriale Kontrolle, welche
die Rheinischen Gemeinden über ihre Geistlichen ausübten, nicht gewöhnen
konnte und deswegen 1846 die Gegend wieder verließ. Friedrich Adolf
Philippi (1809 — 1882), in Berlin als Sohn eines jüdischen Bankiers geboren,
hatte sich Hengstenberg angeschlsosen, war seit 1837 Privatdozent der
Theologie in Berlin und ging 1841 als Professor nach Dorpat, 1852 nach
Rostock. Die Nachricht von einem Verbot der Berliner Jahrbücher für
wissenschaftliche Kritik, des von Leopold von Henning herausgegebenen
Organs der Althegelianer, scheint sich damals ebenso wenig bestätigt zu
haben wie die von der Suspension Hallischer jüngerer Dozenten. Der Pastor
Friedrich Ludwig Mallet an der Stephanskirche in Bremen (1792 — 1865)
wird von Zeitgenossen als ein ,, Prediger ganz großen Stils" geschildert, ,,im
Gewissen sich fühlend als miles Christi und verpflichteter Verteidiger der
Form des alten Glaubens, der sich bindet an die Bibel, aber nicht an die Sym-
bole der Kirche." In dem Konflikt zwischen Krummacher und dem Bremer
Pastor Paniel, über den Engels am 20. November 1840 an Wilhelm Graeber
berichtet, stand Mallet auf selten Krummachers.
Der Aufsatz D i e deutschen Volksbücher (Telegraph Nov. 1839)
zeigt in höchst charakteristischer Weise, wie in Engels die politischen die
dichterischen Bestrebungen zurückzudrängen beginnen. Görres Werk Die
Teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter-
und Arzneibüchlein, welche teils innerer Wert, teils Zufall Jahrhunderte hin-
durch bis auf unsere Zeiten erhalten hat, war 1807 in Heidelberg erschienen.
Das Mittelalter hat Engels immer höchst einseitig beurteilt. Vgl. z. B. Der
deutsche Bauernkrieg. Über die Pläne, die er damals selbst mit dem Stoff des
ewigen Juden vorhatte, äußert er sich in seinem Brief an Wilhelm Graeber
vom 13. November 1839.
Der Aufsatz über Karl Beck (Telegraph Dez. 1839) bedeutete be-
reits eine Reaktion gegen die Überschätzung des jungen ungarischen Dichters,
die n Engels Briefen an die Freunde zutage tritt. Auch Gutzkow, der Beck
noch in seinem Aufsatz Vergangenheit und Gegenwart 1830 — 1838 in dem
Erläuterungen und Anmerkungen. 311
Jahrbuch für Literatur sehr gefeiert hatte, betonte jetzt in einem Nachwort
zu Engels Aufsatz den „kindischen Charakter der neuen Dichtungsversuche
Becks" und klagte über den „schmählichen Abfall von den Hoffnungen",
die dieser früher erweckt habe. Ernst von der Haide war das Pseudonym
Karl Grüns, mit dem Engels späterhin so hitzig um die Seelen der deutschen
Arbeiter in Paris gerungen und den er als einen der hauptsächlichsten Wort-
führer des ,, wahren Sozialismus" bekämpft hat.
RetrogradeZeichen derZeit (Telegraph Febr. 1840) isteiner jener
Aufsätze des Verfassers, in denen besonders stark der vorübergehende Einfluß
des stets nach ,, feinen Bezügen" und geistreichen Bemerkungen lüsternen
Stils des Jungen Deutschlands hervortritt. Von Sternberg ist der esthländische
Dichter Alexander Freiher von Ungern-Sternberg (1806 — 1866), der frucht-
bare Verfasser zahlreicher zu ihrer Zeit viel gelesener Romane, Novellen,
Erzählungen und Märchen. Nach der Revolution von 1848 hat der reaktionäre
Baron in seinem Roman Die Royalisten den geschlagenen Liberalismus mit
fanatischem Haß verfolgt. Heinrich Gustav Hothos Vorstudien für Leben und
Kunst waren 1835 in Stuttgart erschienen, von Heinrich Theodor Rötschers
Abhandlungen zur Philosophie der Kunst der erste Teil 1837 in Berlin. Börne
und Hegel in Parallele zu stellen, liebte Engels in jenen Jahren, wie sich an
verschiedenen Stellen seiner Aufsätze und Briefe zeigt. (Vgl. dazu meine
Biographie Band I Seite 45f.)
S. 115. Platen. (Telegraph Febr. 1840.) Mit dem Pentarchisten, den
Engels am Schlüsse des Aufsatzes nennt, meint er natürlich den Verfasser
des 1839 anonym erschienenen Buches: Die europäische Pentarchie, das da-
mals das größte Aufsehen erregte. Geschrieben war es, wie sich später heraus-
stellte, von einem polnischen Juden namens Goldmann, der die öffentliche
Meinung Deutschlands für Rußland günstig zu stimmen und gegen die
preußische und österreichische Regierung mißtrauisch zu machen suchte.
S. 117. Requiem für die Deutsche Abendzeitung. (Telegraph
April 1840.) Weshalb Engels diesem Blatt damals ein Requiem anstimmte,
vermochte ich nicht mehr festzustellen. Dem Katalog der Berliner Staats-
bibliothek zufolge ist die Zeitung für den deutschen Adel von 1840 bis 1844 er-
schienen. Fouque, der im Januar 1843 starb, war nur von 1840 bis 1842 an der
Herausgabe beteiligt. Daß Engels bei den Schneidergesellen, von denen er auf
Seite 119 meint, daß sie zuzeiten ,,den Adel erfrischen", auf Weitling anspielt,
von dem bekanntlich das Gerücht ging, daß man ihn aus Wien ausgewiesen
habe, weil er einer Erzherzogin gefährlich geworden war, ist unwahrscheinlich.
Auf jeden Fall ahnte Engels damals noch nicht das mindeste von Weitlings
historischer Bedeutung.
Zwischen Platen und Requiem usw. erschien im Telegraph (April
1840) der Aufsatz gegen Joel Jacoby, dessen Abdruck, wie wir in der Ein-
leitung begründeten, unterlassen wurde. Engels verspottet darin den ,, neuen
Prophet Joel", der allen ,, revolutionären, liberalen, hegelingischen und pro-
testantischen Bestrebungen" den Untergang weissage und mit einem Auge
nach dem roten Adlerorden, mit dem andern nach der Bischofsmütze schiele.
So wie dieser Konvertit und Denunziant müsse jeder zugrunde gehen, der
gegen die absolute Macht des Geistes in Opposition trete.
S. 121. Landsc'haften. (Telegraph Juli 1840.) Man muß annehmen,
daß entweder ein Druckfehler vorliegt oder Engels ein Lapsus untergelaufen
ist, wenn er von der linken Eibseite spricht. Dem Inhalt nach müßte die
rechte Eibseite gemeint sein. Das malerische und romantische Westfalen,
312 Erläuterungen und Anmerkungen.
das Freiligrath zusammen mit Lewin Schücking herausgab, hatte 1839 zu
erscheinen begonnen. Daß Engels für echte Poesie einen Sinn hatte, der ihn
nicht leicht trog, zeigt die warme Anerkennung, die er Annette von Droste-
Hülshoff, Deutschlands stärkster Dichterin, zu einer Zeit, als sie erst wenig
beachtet wurde, und trotz der Verschiedenheit ihrer Weltanschauungen ent-
gegenbrachte.
S. 127. Ein Abend. (Telegraph August 1840.) Über die Bedeutung
dieses Gedichts unter biographischem Gesichtspunkt wurde an anderer Stelle
das Nötige gesagt. Das Bild vom Sonnenaufgang, angewendet auf ein
neues soziales Zeitalter finden wir wieder bei Ferdinand Lassalle am Schluß
seines Arbeiterprogramms. Als später Gerhart Hauptmann seinem sozialen
Erstlingsdrama den Titel Vor Sonnenaufgang gab, kannte er weder das
verschollene Gedicht Friedrich Oswalds, noch, wie er mir vor langen Jahren
ausdrücklich schrieb, die Lassallesche Rede.
S. 131. Sankt Helena. (Telegraph Nov. 1840.) Ursprünglich beab-
sichtigte ich, dies Fragment von der Sammlung auszuschließen, weil es, so wie
es dasteht, nicht voll verständlich ist. Ich wage nicht mit Bestimmtheit zu
erklären, wen Engels mit dem Heros meinte, den die Zeit ,,in ihren bittern
Scherzen" in dem neuen Jahrhundert ,,zu den andern ausgeglühten Kerzen"
geworfen haben soll. Vielleicht, daß einem Leser der Sinn der holprigen
Verse aufgeht?
S. 132. Der Brief an Wilhelm Graeber vom 20. November 1840
persifliert den Konflikt zwischen Friedrich Wilhelm Krummacher und dem
Pastor der Bremer Ansgariuskirche Karl Friedrich Paniel (1803 — 1856). Wie
großen Staub dieser Konflikt damals aufwirbelte, bezeugen noch heute zwei
starke Konvolute auf der Bremer Stadtbibliothek, die den Gegenstand behandeln.
Paniel, ein Schüler des bekannten Aufklärungstheologen Paulus, vertrat in
Bremen, das wie Elberfeld und Barmen zu den Hochburgen der Orthodoxie
gehörte, den christlichen Rationalismus. Nun hatte bei einer Gastpredigt
auf der Kanzel der Ansgariuskirche am 12. Juli 1840 Krummacher den
Rationalismus auf das schärfste angegriffen, und von da aus hatte sich
zwischen Offenbarungstheologie und Vernunftglauben ein Kampf entwickelt,
der das ganze theologische Deutschland in Mitleidenschaft zog. Es verdient
Beachtung, wie sich hier, noch vor seiner militärischen Dienstzeit, bei Engels
mochte es auch nun erst in lächerlicher Form sein, das Interesse für strate-
gische Probleme zeigt. Bei seiner tiefwurzelnden Abneigung gegen F. W.
Krummacher wäre es übrigens nicht ausgeschlossen, daß Engels, von dem
wir wissen, daß er im Januar 1839 den Brüdern Graeber eine Reihe ähnlicher
Xenien schickte, auch der Verfasser des folgenden Xenions war, das die
Rheinische Zeitung am 10. März 1842 veröffentlichte:
Nomen et omen.
Wie man die Seelen verkrümmt, verkrüppelt des Göttlichen Abbild,
Sage, wie nenn ich es doch? nenne es Krummacherei.
Richard Roth war ein junger Barmer, den Engels noch in seinem ersten Brief
an Marx als einen Gesinnungsgenossen nennt.
S. 134. Siegfrieds Heimat. (Telegrap h Dez. 1840.) Mistress Fry
ist Elisabeth Fry (1780 — 1847), die Tochter eines reichen englischen Quäkers,
der ihre unermüdlichen Bemühungen um die Humanisierung des Gefängnis-
wesens den Namen ,,der Engel der Gefängnisse" eingetragen haben. Der
holländische Maler Jan van Calcar (1460 — 1519) ist noch bekannter unter
Erläuterungen und Anmerkungen. 313
dem Namen Jan Joest. Daß man ihn fast nur in Calcar kennen lernen
könne, versichert in seiner Deutschen Geschichte (Bd. V, i) Lamprecht, der
den großen Maler der altniederländischen Schule zurechnet. Wallraf ist
Ferdinand Franz Wallraf (1748 bis 1824), der bekannte Begründer des
Wcillraf-Richartz-Museums in Cöln.
S. 139. Ernst Moritz Arndt. (Telegraph Jan. 1841.) Die Er-
innerungen aus dem äußeren Leben waren 1840 erschienen, und Rüge hatte
sie schon im Oktober dieses Jahres in den Hallischen Jahrbüchern besprochen.
Engels hatte ein Recht, gegen jene Jugend zu wettern, die sich eine Ehre dar-
aus machte, wegen Körperschwäche vom Militärdienst frei zu kommen. Ob-
gleich auch ihm unter den damaligen Verhältnissen ein solcher Weg wahr-
scheinlich offen gestanden hätte, hat er daran nicht gedacht: er wurde gern
Soldat und war es gern. Bei seinem Abgang vom Regiment erhielt er, wie
aus seinen Personalakten auf dem Berliner Polizeipräsidium ersichtlich wird,
ein gutes Zeugnis. Der auf Seite 144 erwähnte Aufsatz erschien am 23. und
24. November 1840; er war von Rüge und hieß Friedrich von Florencourt
und die Kategorien der politischen Praxis. Florencourt (1803 — 1886) wird
von Engels ziemlich richtig charakterisiert. Damals stard er bei den Libe-
ralen, aber die Revolution von 1848 hat ihn später auf die äußerste Rechte
hinübergeführt. Charles Adolphe Adam, der bekannte französische Kom-
ponist, hatte 1835 mit dem Postillion von Lonjumeau seinen Hauptschlager
erzielt.
S. 155. Immermanns Memorabilien. (Telegraph April 1841.)
Leo rugiens nannte Rüge zuerst Karl Rosenkranz in seinem Literaturdrama:
Das Zentrum der Spekulation, Königsberg 1840. In einem Brief an Rosen-
kranz vom 3. Januar 1840 protestierte Rüge gegen diese Bezeichnung, weil
er eine Verwechslung mit Heinrich ,Leo befürchtete. Für Nitzsch und Bleek
vgl. erst Seite 315. Der Rhein von Prutzwarim Dezember 1840 als Sonderab-
druck erschienen und von Rüge sofort in den Hallischen Jahrbüchern ab-
gedruckt worden.
3. Das Militärjahr in Berlin 1841 — 1842.
S. 167. Schelling über Hegel. (Telegraph Dez. 1 841.) Riedels
Broschüre, die hier gemeint ist, behandelte Schellings religionsgeschichtliche
Ansicht nach Briefen aus München und war im August 1841 erschienen.
S, 174 ff. Nord- und süddeutscher Liberalismus erschien in der
Rheinischen Zeitung am 12. April 1842, Rheinische Feste |an derselben
Stelle am 14. Mai, Das Tagebuch eines Hospitanten am 10. und 24. Mai.
William Huskisson gehörte bekanntlich zu den wichtigsten Vorkämpfern
der Handelsfreiheit in England. Als Präsident des Handelsamts (1824 — 1827)
gewährte er allen Staaten den freien Handel mit den englischen Kolonien.
Graf Charles Marie Tannegui Duchatel versuchte als französischer Handels-
mirüster seit 1834 eine durchgreifende Reform des französischen Zollwesens.
Die Glossen und Randzeichnungen zu Texten aus unserer Zeit,
Vier öffentliche Vorlesungen, gehalten zu' Königsberg von Ludwig Walesrode
besprach Engels in der Rheinischen Zeitung am 25. Mai. Die ausführlichen
Zitate aus der Schrift des Königsberger Literaten, bekanntlich eines nahen
Freundes Johann Jacobys, haben wir fortgelassen. Wenn Engels auf Seite 185
von der ,, Barbarei des slavischen Ostens" spricht, so schlägt er damit den Ton
an, der nachher in der von ihm vertretenen Auslandpolitik der Neuen Rhei-
nischen 2^itung so vernehmlich widerhallte. Wie Cohen-Walsrode gehörte
214 Erläuterungen und Anmerkungen.
auch Reinhold Jachmann, der Sohn des Biographen Kants, dem Kreise Ja-
cobys und der Hartungschen Zeitung an. Eine vom 25. Juni datierte kleine
Korrespondenz der Rheinischen Zeitung über das Ende der Kriminalistischen
Zeitung, die nur ein Jahr bestanden hatte, glaubten wir, obwohl sie von
Engels herrührt, fortlassen zu dürfen.
S. 187. Alexander Jung und das junge Deutschland. In den von
Arnold Rüge herausgegebenen Deutschen Jahrbüchern vom 7. bis 9. Juli 1842
erschien der Aufsatz, dem wir den vorstehenden verkürzten Titel gaben, nur
mit der Überschrift des Buches, an das Engels seine Betrachtungen anknüpfte.
Alexander Jung (1799 — 1884) hatte sich, worauf am Schlüsse der Besprechung
angespielt wird, ursprünglich zum Geistlichen bestimmt. Er war ein frucht-
barer Schriftsteller, der sich auf den verschiedensten Gebieten, am häufigsten
auf literaturgeschichtlichem, versucht hat. Reiffenscheids Artikel über ihn
in der Allgemeinen Deutschen Biographie Band 50 gibt darüber hinreichend
Auskunft. Auf Engels Angriff antwortete er in dem von ihm redigierten
Königsberger Literaturblatt, scheinbar von oben herab, mit einem Ar-
tikel, der dem ,, kl einen" Oswald „einige Bonbons" darreichen sollte. Jungs
Briefe über die neueste Literatur waren 1837 erschienen. Sein Buch über
Königsberg' in Preußen und die Extreme des dortigen Pietismus, Brauns-
berg 1840 war in den Hallischen Jahrbüchern 1841 Nr. 153 ff. von Rüge in
dem Aufsatz: Restauration des Christentums scharf angegriffen worden.
Wenn Engels von den Dramatikern Rosen und Klein spricht, so ist Rosen
gewiß ein Druckfehler für Julius Mosen; Julius Leopold Klein (1810 — 1876)
ein geborener Ungar, hatte 1841 das Trauerspiel Maria von Medici veröffent-
licht, dem er 1842 Luines und später mehrere andere folgen ließ. Am be-
kanntesten geblieben ist wohl seine Geschichte des Dramas in 13 Bänden
1865 — 1876. Engels Urteil über Heinrich Heine machte eine große Wand-
lung durch, nachdem er durch Marx Vermittlung den Dichter persönlich
kennen gelernt hatte. An dieser Stelle beurteilt er ihn noch ganz unter dem
Eindruck seiner Entrüstung über dessen Angriff auf den toten Börne. Frie-
drich Radewell hatte 1840 eine Komödie Till Eulenspiegel erscheinen lassen.
Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Anti-
christen, in pietistischer Gewandung eine Verspottung des Pietismus, hatte,
wie man weiß, Bruno Bauer zum Verfasser. Eduard Meyens Name wird von
Engels mehrfach mit falscher Orthographie geschrieben. Der fleißige und
betriebsame Literat, der sich mit seinem Angriff auf Heinrich Leo, den ,,ver-
hallerten Pietisten" kürzlich in dem zwischen Junghegelianern und den
Orthodoxen entbrannten Kampf hervorgetan hatte, schrieb damals sehr viel
in die Hallischen und Deutschen Jahrbücher und die Rheinische Zeitung.
Für den Kreis der Freien darf ich hier wohl auf das Kapitel IV meiner
Engelsbiographie verweisen.
S. 200. Friedrich wilhelm IV., König von Preußen erschien in den
von Georg Herwegh 1843 veröffentlichten Einundzwanzig Bogen aus der
Schweiz, einem Bande, der die Aufsätze zusammenfaßte, die ursprünglich
für die ersten Monatshefte des nicht zustande gekommenen Deutschen Boten
aus der Schweiz bestimmt waren. Zu den Mitarbeitern zählten außer Herwegh
selbst auch Bruno Bauer, David Friedrich Strauß, der Königsberger Witt
und besonders Moses Heß, der die markantesten Aufsätze beisteuerte.
S. 209. Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel
oder der Triumph des Glaubens usw. hat zum Hintergrunde die akade-
mischen Schicksale Bruno Bauers, die damals das größte Aufsehen erregten. Be-
Erläuterungen und Anmerkungen. 315
kanntlich hatte dieser Privatdozent der Theologie in Bonn durch seine radikale
Kritik der Evangelien im orthodoxen Lager einen Sturm der Entrüstung her-
vorgerufen. Der von Friedrich Wilhelm IV. eingesetzte neue Kultusminister
Eichhorn erbat im August 1841 von den theologischen Fakultäten der preußi-
schen Universitäten Gutachten darüber, ob Bauer nach den Bestimmungen
der Universitäten, besonders aber der theologischen Fakultäten, die Licentia
docendi verstattet werden könne. Bejahend antwortete nur Königsberg,
völlig verneinend nur Bonn. Die andern Fakultäten waren in sich gespalten.
In Breslau und Berlin stellte die Majorität sich auf den Boden des Bonner
Gutachtens. Marheineke, Bauers Lehrer, gab ein Separatvotum ab, in
welchem er dessen Belassung in der akademischen Wirksamkeit unter Ver-
setzung in die philosophische Fakultät vorschlug. Im März 1842 erfolgte
trotzdem Bauers Entfernung vom Lehramt. Das Gutachten, auf Grund dessen
die Absetzung erfolgte, hatte zum Verfasser den Bonner Theologieprofessor
Friedrich Bleek (1793— 1859), der 1841 Dekan der theologischen Fakultät
war. Eng verbündet mit ihm waren die dortigen Theologieprofessoren Karl
Immanuel Nitzsch (1787— 1868), der schon seit 1822 in Bonn die Professur
für systematische und praktische Theologie innehatte und 1847 nach Berlin be-
rufen wurde, und CarlHeinrich Sack (1789— 1875). Seit 1818 außerordentlicher,
seit 1832 ordentlicher Professor in Bonn wurde dieser 1841 Konsistorialrat in
Magdeburg. Sie alle, besonders aber Sack, waren dafür bekannt, daß sie die
Hegeische Philosophie verabscheuten. In Bruno Bauers Briefen an seinen
Bruder Edgar ist viel davon die Rede. Er spricht dort auch von Sacks ,, Elias-
grimm". Sack ließ damals ein Sendschreiben an den Bonner Geschichtspro-
fessor Löbell drucken, das seinen Standpunkt beleuchtete (Über das Geschicht-
liche im alten Testament, Ein Sendschreiben). In Bruno Bauers ursprünglich
als zweiter Teil der Posaune gedachter Schrift: Hegels Lehre von der Re-
ligion und Kunst wird Nitzsch ,,Isachar, der beinerne Esel" genannt. Dort
heißt es auf Seite 72: ,,So spricht Sack ganz aus unserer Seele heraus, ein
Mann, der in seiner Art, auch ein Elias unserer Zeit ist, für die Anerkennung
des göttlichen Wortes unerschrocken eifert und die falsche Scham vor Eseln,
die cfa sprechen, in seinem Herzen nicht kennt. Unglückliche Zeit, welche es
nicht ertragen kann, daß Esel sprechen!" Für ,,er spielt nur ein Instrument"
auf Seite 226 vgl. ,,Die Augsburger spielt nur Ein Instrument in ihren anti-
philosophischen Katzenkonzerten, die eintönige Pauke" in Marx Artikel in
der Rheinischen Zeitung vom Mai 1842: Der leitende Artikel in Nr, 79 der Köl-
nischen Zeitung (neu abgedruckt in Mehrings Nachlaßausgabe Band I, 262).
Auch über den jüngeren Fichte und Christian August Brandis, die beiden
Professoren der Philosophie an der Bonner Universität, äußert sich Bruno
Bauer in jener Schrift. Immanuel Hermann Fichte nennt er ,, einen der
Stifter und Bekenner der positiven Philosophie" der ,,von den Begriffen nicht
viel halte". Durch sein Bestreben, zwischen Philosophie und Religion zu ver-
mitteln, mußte der junge Fichte sich die Abneigung der radikalen Jung-
hegelianer zuziehen. Ein Neffe Eduard Meyens war der bekannte Schrift-
steller und Dichter Alfred Meißner, Unter dem Pseudonym Dr, Radge schrieb
damals Edgar Bauer in den Deutschen Jahrbüchern. Mit dem ,, schwarzen
Kerl aus Trier" und dem „Ungetüm" ist natürlich Karl Marx gemeint. Rtg.
ist Dr. Adolf Rutenberg, Schwager der Brüder Bauer, der sich als angeb-
licher Anstifter der bekannten Serenade für Welcker den besonderen Zorn
des Königs zugezogen hatte und nun Redakteur der Rheinischen Zeitung war.
Wenn Marx ihn „erklettert", so soll das wohl besagen, daß Marx, der selbst
im Herbst 1842 leitender Redakteur des Blattes wurde, ihn unter seinen Ein-
3i6 Erläuterungen und Anmerkungen.
fluß gebracht hatte. Mit Julius van der Sünden ist der Theologieprofessor
Julius Müller in Halle gemeint, dem 1839 sein Hauptwerk: Die christliche
Lehre von der Sünde den Spitznamen Sündenmüller eingetragen hatte. Auch
ihm hat Bauer in der Schrift Hegels Lehre von der Religion und Kunst einen
Abschnitt gewidmet. Rüge nannte ihn am 15. März 1842 in einem Brief an
Rosenkranz eine „reine ganz unverschämt stupide Reaktion gegen die Philo-
sophie". Unter Nichts ist Nitzsch zu verstehen. Hirzel ist Bernhard Hirzel
(1807 — 1847), Professor der orientalischen Sprachen in Zürich, dann Pfarrer
in Pfäffikon, der am 6. September 1839 an der Spitze des bereits erwähnten
Züriputsches gegen die Anstellung David Friedrich Strauß stand. Später
mußte er wegen Wechselfälschung flüchten und endete durch Selbstmord.
Über Johann Christian Edelmann (1698 — 1767), denn bekannten Freidenker,
mit dem er sich wesensverwandt fühlte, handelt Bauer ausführlich im ersten,
1843 erschienenen Bande seiner in Charlottenburg bei seinem Bruder Egbert
verlegten Geschichte der Politik, Kultur und Aufklärung des achtzehnten
Jahrhunderts.
3. Der erste Aufenthalt in England 1842 — 1844.
S. 243. Die Korrespondenzen an die Rheinische Zeitung, die
so charakteristisch sind für den Eifer, mit dem Engels sich in die Ver-
hältnisse des Inselreiches hineinlebte, wurden ebenso wie die hinterher
folgenden Briefe aus London, die er ein halbes Jahr später, am 16.
und 23. Mai und 9. und 27. Juni 1843, im Schweizer Republikaner ver-
öffentlichte, im sechsten Kapitel meiner Engelsbiographie so eingehend be-
rücksichtigt, daß der Leser wohl dorthin verwiesen werden darf. Zur gründ-
licheren Orientierung sei besonders genannt die Geschichte des Sozialismus
in England von M. Beer, Stuttgart 1913. Dies Werk ist 1919 in London in
einer wesentlich erweiterten englischen Ausgabe erschienen. Über den auf
S. 261 erwähnten Charles Southwell erhalte ich auf persönliche Anfrage von
Herrn Beer die freundliche Auskunft, daß er ein von der Partei Owens unter-
haltener bezahlter sozialistischer Agitator war. Er war — was'der Kuriosität
wegen bemerkt sei — der jüngste von 34 Geschwistern, Auch die Aufsätze:
Über die Lage Englands im Pariser Vorwärts von 1844 sind in der
Biographie eingehend verwertet.! Die bloß dem Porterschen Werk ent-
lehnten Angaben habe ich im Text fortlassen zu dürfen geglaubt, weil sie sich
großenteils in dem Einleitungskapitel zu Die Lage der arbeitenden
Klasse in England wiederfinden. Von Porters Progress of the Nation war
Band I 1836, Band H 1838, Band HI 1843 erschienen. Von John Wades
Geschichtswerk, das Engels auf S. 297 dreimal anführt, lag mir die gegen
die erste nur ganz unwesentlich veränderte vierte Auflage vor. Sie führt den
genauen Titel: British History, chronologically arranged, comprehending
a classified analysis of events and occurrencies in Church and State and of the
constitutional, political, commercial, intellectual and social progress of the
United Kingdom from the first Invasion by the Romans to the accession of
Queen Victoria. Second edition with a suppliment, London 1843. Wades
Buch ist ein ausgezeichnetes Nachschlagwerk, das mit seinen vorzüglichen
Tabellen und Registern von besonderer Handlichkeit ist. Das Vorwort zur
ersten Auflage charakterisiert den historischen Standpunkt des Verfassers.
Er wendet sich gegen die im wesentlichen biographische Auffassung der Ge-
schichte, ob sie nun die Persönlichkeit des Fürsten oder des Geschichtsschreibers
selbst in den Vordergrund dränge. Jede verfassungsmäßige, moralische oder
physische Veränderung, heißt es hier, nehme ihren Ursprung in irgend einem
Erläuterungen und Anmerkungen. 3I'7
Bedürfnis oder einer Notwendigkeit der Gemeinschaft. Ein großer Bewun-
derer seines Volks, betont der Verfasser mit Nachdruck, daß Englands Größe
nicht das Werk einzelner, sondern das langsame Ergebnis vereinigter und
aufgehäufter Anstrengungen ist. ,,Kein Solon oder Lykurgos kann auf die
Auszeichnung Anspruch erheben, den Überbau seiner Gesetze und Einrich-
tungen begründet und entwickelt zu haben." Die Nation sei ihr eigener Bau-
meister gewesen. In England habe der Fürst bald aufgehört, den Staat zu be-
deuten; unter den Angelsachsen und den Normannen wurde die vollziehende
Gewalt von Geistlichkeit und Adel geteilt und infolgedessen wurde die eng-
lische Geschichte mehr eine der Stände als der Monarchen. „Je mehr diese
Stände in Verfall kaman, um so mehr kamen andere empor oder entwickelten
sich aus ihnen, indem sie die mittleren und arbeitenden Klassen bildeten.
Die Geschichte ist dunkel, bloß das Steigen und Fallen dieser verschiedenen
Interessen läßt sich in seinen Spuren genau und fortgesetzt wahrnehmen."
Daß Ansichten wie diese auf den jungen Engels einen sehr starken Einfluß
ausgeübt haben, ist zweifellos. Marx bezeugt von sich ausdrücklich, daß er
sich Wade zu Dank verpflichtet fühle. Auffallenderweise fehlt es bisher ganz
an einer genauen Untersuchung über den Einfluß dieses englischen Historikers
auf Marx und Engels. Leider gelang es mir bisher nicht, von John Wades
anderem Werk: History and political Philosophy of the middle and working
classes, das, so viel ich feststellen konnte, 1834 in zweiter und 1842 in vierter
erweiterter Auflage in Edinburg erschienen ist, ein Exemplar aufzutreiben.
Seite 280. Mit dem ,, jämmerlichen Buch des Herrn von Raumer" meinte Engels
Friedrich von Raumer, England im Jahre 1835, Leipzig 1836, zwei Bände
und zweite, verbesserte und mit einem Bande vermehrte Auflage, Leipzig
1842. Seite 258 Thomas Slingsby Duncombe (1796 — 1861) nennt M. Beer
einen Freischärler des Chartismus. Ohne ihre Endziele sich anzueignen,
unterstützte er die Chartisten in- und außerhalb des Parlaments. Seite 293
Thomas Milner Gibson (1806 — 1884), seit 1841 Abgeordneter von Manchester,
war einer der eifrigsten Mitglieder der Anti-Kornzoll-Liga und späterhin
Führer der radikalen Partei im Unterhaus. Von 1846 bis 1848 war er Vize-
präsident und 1859 bis 1866 Präsident des Handelsamts. Seite 293 Richard
Carlisle (1790 — 1843) hatte im ganzen neun Jahre und drei Monate im Kampf
für die Meinungsfreiheit im Gefängnis zugebracht. William' Blackstone
(1723— 1780) veröffentlichte zuerst in den Jahren 1765 bis 1769 sein klas-
sisches Werk Commentaries on the laws of England. Eine Art Enzyklopädie
des englischen Rechts ist sein zuerst 1754 erschienenes Werk An analysis of
the laws of England. Mit de Lolmas Hirngespinsten meint Engels offenbar
des Genfers Jean Louis Delolme Constitution de l'Angleterre, die 1771 zuerst
in französischer und im folgenden Jahr in englischer Sprache erschien.
Seite 296 O'Connels Verurteilung in Dublin erfolgte am 30. Mai 1844. Daraus
ergibt sich, daß zum mindesten dieser Abschnitt der Abhandlung Über die
Lage Englands Ende Juni 1844 niedergeschrieben wurde.
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.
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