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Full text of "Friedrich Engels; eine Biographie"

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Friedrich  Engels 


Eine   Biographie 


Von 


Gustav  Mayer 


Erster  Band 


Berlin 

Verlag  vonjulius  Springer 

1920 


Friedrich  Engels  in  seiner 
Frühzeit 


1820  bis  1851 


Von 


Gustav  Mayer 


Mit  einem  Bildnis 


Berlin 

Verlag  von  Julius  Springer 

1920 


Alle  Rechte, 

insbesondere  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen,  vorbehalten. 

Copyright  1920  by  Julius  Springer  in  Berlin. 


Printed  in  German^ 


Meinem  Vater 


Vorwort. 

Der  Weltkrieg,  den  niemand  so  frühzeitig  vorausgesagt,  nie- 
mand mit  so  wahren  Farben  im  voraus  hingemalt  hatte  wie  Fried- 
rich Engels,  hing  nur  erst  als  eine  Wolke,  die  sich  nicht  notwendig 
entladen  mußte,  am  Himmel,  als  der  größere  Teil  des  ersten  Bandes 
der  Biographie,  den  ich  hier  der  Öffentlichkeit  übergebe,  bereits  auf 
dem  Papiere  stand .  Darauf  hat  die  Weltkatastrophe ,  die  unserer  ganzen 
Generation  Schicksal  wurde,  auch  in  das  Schicksal  dieses  Buches 
eingegriffen.  Sie  hat  der  Arbeit  des  Verfassers  Unterbrechungen  von 
Jahren  und  Monaten  aufgezwungen,  sie  hat  ihn  genötigt,  ganze 
Abschnitte  aufzulösen  und  wieder  neu  zu  gestalten,  weil  die  unge- 
heure Aktualität,  welche  die  Engelsschen  Gedanken  mittlerweile 
gewonnen  hatten,  in  der  ersten,  in  friedlicheren  Zeiten  entstande- 
nen Niederschrift  nicht  überall  zu  ihrem  Recht  gekommen  war. 
Sorgfältig  vermieden  wurde  freilich  auch  jetzt,  in  die  Darstellung 
auf  eine  dem  Historiker  nicht  zukommende  Weise  Gesichtspunkte 
hinein  zu  interpretieren,  die  erst  einer  späteren  Zeit  angehören. 

In  der  sicheren  Hoffnung,  daß  mein  Buch  bald  nachfolgen 
werde,  veröffentlichte  ich  schon  1913  mit  einigen  einleitenden 
Bemerkungen  in  der  Neuen  Rundschau  Engels  wichtige  Jugend - 
briefe  an  die  Brüder  Graeber  und  1914  in  dem  Archiv  für  Geschichte 
der  Arbeiterbewegung  und  des  Sozialismus  den  kleinen  Aufsatz: 
Ein  Pseudonym  von  Friedrich  Engels.  Über  diese  Veröffentlichungen 
sagt  der  nun  heimgegangene  Franz  Mehring  in  seiner  Marx-Bio- 
graphie, daß  sie  den  jungen  Engels  sozusagen  neu  entdeckt  hätten. 
Und  wirklich  möchte  die  Behauptung  nicht  übertrieben  sein,  daß 
bis  zu  den  glücklichen  Funden,  von  denen  ich  dort  zuerst  Kenntnis 
gab,  nur  ein  paar  dürre  Daten  und  wenige  lose,  nicht  weiter  nach- 
prüfbare Vermutungen  über  den  Entwicklungsweg  vorlagen,  den 
Engels  genommen  hatte,  bis  er  durch  seine  Beiträge  zu  den  Deutsch- 
Französischen  Jahrbüchern  in  die  dauernde  Verbindung  mit  Marx 
eintrat.  Weil  selbst  solchen  Männern,  die  Jahrzehnte  hindurch  im 
täglichen  Verkehr  mit  dem  älteren  Engels  gestanden  hatten,  alles 
Material  fehlte,  war  der  Versuch  niemals  unternommen  worden, 
den    scheinbar    endgültig    verschütteten    Weg    auszugraben,    den 


VIII  Vorwort. 

Engels    in   seiner    ,, prähistorischen"    Epoche    selbständig    zurück- 
gelegt hatte. 

Daß  ich  es  überhaupt  versuchen  durfte,  diese  Biographie  in 
Angriff  zu  nehmen,  verdanke  ich  an  erster  Stelle  der  Familie,  aus 
der  Friedrich  Engels  hervorgegangen  ist  und  von  der  ihm  wesent- 
lichere Züge  überkommen  sind,  als  die  oberflächliche  Kunde,  die 
man  bisher  besaß,  vermuten  ließ.  Seitdem  ich  mit  meinem  Plan 
zum  ersten  Mal  an  sie  herantrat,  habe  ich  bei  Herrn  Dr.  med.  Wal- 
ter Engels  in  Wandsbek  und  Herrn  Kommerzienrat  Hermann 
Engels  in  Engelskirchen,  den  Neffen,  sowie  bei  Herrn  Emil  Engels 
in  Engelskirchen,  dem  Großneffen  Friedrich  Engels,  eine  verständ- 
nisreiche, nachhaltige  und  ergiebige  Unterstützung  gefunden. 
Besonderen  Dank  schulde  ich  ferner  Herrn  Eduard  Bernstein;  er 
hat  mir  aus  dem  Engels-Nachlaß,  dessen  einziger  überlebender 
Verwalter  er  seit  Bebeis  Tode  ist,  wichtige  ungedruckte  Dokumente 
und  Briefe  zur  Benutzung  überlassen.  Auch  ermöglichte  er  es,  dem 
Leser  einen  zweiten  abschließenden  Band  dieser  Biographie  in  Aus- 
sicht zu  stellen,  da  er  mir  die  unentbehrliche  volle  Benutzung  des 
Engelsschen  Nachlasses  dafür  zugesagt  hat.  Dem  Vorstand,  den 
die  sozialdemokratische  Partei  vor  ihrer  Spaltung  hatte,  verdanke 
ich  die  Erlaubnis  zur  Benutzung  des  Marxschen  Nachlasses  und 
anderer  handschriftlicher  Bestände  des  Partei-Archivs,  der  Direk- 
tion des  Preußischen  Staatsarchivs  die  Personalakten  des  Ministe- 
riums des  Inneren  und  des  Berliner  Polizeipräsidiums  über  Engels 
und  Marx  sowie  mancherlei  andere  Archivalien. 

Lankwitz,  Im  Juni  1919. 

Gustav  Mayer. 


Inhalt. 

Seite 

I.  Heimat,  Familie,  Jugend i 

II.  Religiöse  Kämpfe 19 

III.  Politische  Anfänge       35 

IV.  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin 58 

V.  Hinwendung  zum  Kommunisrr.us 104 

VI.  Politische  und  soziale  Lehrzeit  in  England       124 

VII.  Die  Arbaiten  aus  der  Zait  des  ersten  englischen  Aufenthalts  .    .    158 
VIII.  Das  Bündnis  mit  Marx.  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  Eng- 
land.   Kommunismus  in  der  Heimat 182 

IX.  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie 234 

X.  In   Belgien  und   Frankreich.     Kommunistenbund  und   Komm^u- 

nistisches  Manifest 262 

XI.  In  der  deutschen  Revolution.    Bei  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung. 

In  Frankreich  und  der  Schweiz       311 

XII.  Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution.  Die  Hoffnung  auf  Ungarn 
und  Frankreich.  Im  revolutionären  Elberfeld.  Bei  der  Reichs- 
verfassungskampagne in  der  Pfalz  und  in  Baden 345 

XIII.  Reaktion  und  Prosperität.  In  London  und  Manchester.  Die 
Beiträge  zur  Revue  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung.  Das  Zir- 
kular des  Kommunistenbundes.    Rückkehr  ins  Kontor 374 


Kapitel  I. 

Heimat,  Familie  und  Jugend. 

Leider  sind  die  Zeiten  dahin,  wo  es  noch  nicht  zu  den  Selten- 
heiten gehörte,  daß  das  gleiche  Geschlecht  durch  viele  Generationen 
mit  dem  gleichen  Boden  verwachsen  blieb,  in  dem  der  einzelne 
mit  seinem  Blut  und  seinen  Instinkten,  mit  seinem  Charakter  wie 
mit  seinen  Erinnerungen  fest  wurzelte.  Aber  dem  Manne,  dessen 
Entwicklung  in  diesem  Buche  darzustellen  ist,  war  solches  Glück 
noch  beschieden.  Die  Grundlage  seines  Wesens  hatten  schon  Väter 
und  Vorväter  unter  dem  Segen  der  Heimat  und  des  Stammes  so 
fest  ausgeprägt,  daß  er  sie  mit  selbstverständlicher  Sicherheit  als 
ein  nie  in  Zweifel  gezogenes  Gut  besitzen  durfte.  Und  diese  Ge- 
sundheit des  Willens  und  diese  Wurzelhaftigkeit  des  Charakters 
überdauerten  jene  Stürme,  die  schon  den  Jüngling  für  immer  von 
dem  Boden  fortführten,  aus  dem  seine  Familie  seit  alters  ihr  leib- 
liches und  geistiges  Brot  gewonnen  hatte  und  bis  heute  zu  gewinnen 
fortfährt. 

Es  war  natürlich,  daß  sich  der  niederfränkische  Volkscharakter 
auf  dem  Gebirge  und  in  den  Nebentälern  des  Rheins  in  größarer 
Unvermischtheit  erhalten  konnte  als  drunten  in  der  reichen  Ebene 
des  Stromes  an  der  Jahrtausende  alten  Völkerstraßs,  wo  der  starke 
keltische  und  romanische  Einschlag  ein  begabtes  und  lebensfrohes 
aber  auch  von  Haltlosigkeit  nicht  freies  Mischblut  hatte  entstehen 
lassen.  Dar  niederbsrgische  Stamm,  dessen  Sohn  Friedrich  Engels 
ist,  unterscheidet  sich  von  den  eigentlichen  Rheinländern  durch 
eine  größere  Nüchternheit  und  Arbeitsamkeit,  aber  auch  durch 
einen  zuverlässigeren  Charakter  und  durch  einen  stärkeren  Un- 
abhängigkeitstrieb. Das  Gemüt  macht  sich  bei  ihm  seltener  geltend 
als  die  Reflexion;  seelisch  nicht  schnell  aus  dem  Gleichgewicht 
zu  bringen,  ist  er  auch  im  Denken  konsequent  und  empfindet 
leicht  ein  Bedürfnis  nach  Systematisierung  seiner  geistigen  Inhalte. 
Was  unsolide  und  flitterhaft  ist,  das  begegnet  bei  ihm  keinem  An- 
klang —  von  den  Künsten  liebt  er  höchstens  die  Musik  — ,  aber 
seine  Wesensart  ist  aus  einem  Guß  und  genau  weiß  er,  was  er  will 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  I 


2  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

und  Weis  er  nicht  will.  Wenn  er  an  Dickköpfigkeit  nicht  hinter 
seinem  westfälischen  Nachbarn  zurücksteht,  so  hat  er  doch  vor 
dem  Niedersachsen  eine  größere  Tatbereitschaft,  geistige  Beweg- 
lichkeit und  Ungebundenheit  voraus,  wogegen  er  wieder  von  Natur 
demokratischer   ist  und  zu  einer  gewissen   Roheit  leichter  neigte 

Eine  Bevölkerung  von  solcher  Veranlagung  bot  den  beiden 
großen  sozialen  Mächten,  die  in  Friedrich  Engels  Jugendzeit  sein 
heimisches  Wuppertal  beherrschten,  einen  Menschenstoff  dar,  wie 
die  ihnen  innewohnenden  Gestaltungstendenzen  ihn  brauchten. 
Durch  Lage  und  Klima  begünstigt  fand  die  eben  in  die  kapitalistische 
Betriebsweise  hinüberwachsende  Textilindustrie  hier  einen  zu- 
verlässigen, von  konservativen  Kräften  beherrschten  Arbeiter- 
stamm vor,  während  die  grüblerische  aber  dabei  unphantastische 
Geistesart  dem  Pietismus  kalvinistischer  Färbung,  der  in  Elberfeld 
herrschte,  aber  auch  in  Barm.en  den  Ton  angab,  und  der  demokra- 
tische Zug  im  Volkstum  der  presbyterischen  Kirchenorganisation 
entgegenkamen.  Die  neuere  Forschung  hat  in  der  strengen  Prä- 
destinationslehre die  Brücke  aufgefunden,  welche  diese  beiden  dem 
Anschein  nach  durch  einen  Abgrund  getrennten  Lebenssphären 
mit  einander  in  fortlaufender  Verbindung  hielt.  Auch  Friedrich 
Engels,  der  diesen  Zusammenhang  in  seiner  Jugend  erlebte,  wollte 
späterhin  in  der  Gnadenwahl  den  religiösen  Ausdruck  der  Tatsache 
entdecken,  ,,daß  in  der  Handelswelt  der  Konkurrenz  Erfolg  cder 
Bankerott  nicht  abhängt  von  der  Tätigkeit  oder  dem  Geschick  der 
einzelnen,  sondern  von  Umständen,  die  von  ihm  unabhängig  sind." 

Di3  Prädestinationslehre  entrückt  bekanntlich  die  Erlösungs- 
möglichkeit der  Seele  dem  Einfluß  des  Glaubens  oder  des  Gott  wohl- 
gefälligen Wandels  des  einzelnen;  eine  dem  Menschen  schlechthin 
unbegreifliche  Macht  hat  im  voraus  über  seine  Erwählung  oder 
ewige  Verwerfung  verfügt.  Trotzdem  ist  eine  fatalistische  Hingabe 
an  den  unabänderlichen  Ratschluß  Gottes  streng  verboten;  ein 
jeder  soll  an  seinen  Gnadenstand  glauben  und  alle  Anfechtungen 
des  Zweifels  zurückweisen.  Der  sicherste  Weg  aber,  der  zu  dieser 
Selbstgewißheit  führt,  ist  die  rastlose,  stetige,  systematische  welt- 
liche Bsrufsarbeit.  Sie  ist  das  wirksamste  asketische  Mittel,  das 
der  Kalvinismus  kennt,  und  der  Erfolg,  den  sie  einträgt,  soll  in  dem 
Gläubigen  das  Gefühl  stärken,  daß  er  zu  der  Schar  der  Erwählten 
gehöre.  Klar  zu  Tage  liegt  die  ungeheure  praktische  Wirkung  einer 
solchen  Hineinverlegung  der  Askese  in  die  Berufstätigkeit,  die  da- 
durch zum  ersten  Mal  eine  religiöse  Wertung  erfährt,  und  ihr  för- 
dernder Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  modern-kapitalistischen 
Geistes.  Wo  aber  allein  die  methodische  Berufsarbeit  zur  Gewiß- 
heit des  Gnadenstands  führt,  da  ist  Zeitvergeudung  eine  der  schlimm- 


Prädestinationslehre  und  Kapitalismus.  3 

sten  Sünden,  da  werden  freie  Geselligkeit  und  Kunstgenuß  schon 
deshalb  verworfen,  weil  sie  der  Arbeit,  die  dem  Ruhme  Gottes 
dient.  Stunden  entziehen.  Tatsächlich  petitionierten  noch  im  An- 
fang des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  evangelischen  Gemeinden 
in  Elberfeld-Barmen  bei  der  Regierung  des  Herzogtums  Berg  gegen 
die  Errichtung  eines  Theaters  in  Elberfeld  mit  der  Begründung, 
daß  der  National-Fleiß,  der  National-Wohlstand  und  eine  National- 
Schaubühne  im  Wuppertal  nicht  nebeneinander  bestehen  könnten. 
Dieweil  aber  die  puritanische  Lebensauffassung  bloß  den  Genuß 
und  nicht  den  Erwerb  des  Reichtums  verbot,  so  war  in  der  Praxis  all 
ihr  Augenmerk  unablässig  auf  dessen  Mehrung  gerichtet,  so  be- 
günstigte gerade  diese  die  ganze  Lebensführung  durch  ringende 
und  regelnde  Frömmigkeit  die  Ausbildung  eines  virtuosen  kapitali- 
stischen Erwerbssinns,  der,  einmal  vorhanden,  auch  dann  nicht 
nachließ,  wenn  sich  der  starre  Prädestinationsglaube,  durch  den  er 
groß  geworden  war,  unter  dem  Einfluß  neuer  Zeitströmungen 
abschwächte. 

Ursprünglich  hatte  ja  der  Pietismus  dem  religi  sen  Erleben 
des  <■  inzelnen  wieder  zu  seinem  Rechte  verhelfen,  durch  eine  stärkere 
Betonung  des  christlichen  Wandels  Glauben  und  Leben  inniger  ver- 
schmelzen wollen.  Als  aber  der  Geist  der  Aufklärung  jugendkräftig 
den  Kontinent  durchbrauste,  konnte  ihm  der  Pietismus,  den  auf 
deutschem  Boden  keine  nennenswerte  separatistische  Kirchen- 
bildung stützte,  nicht  erfolgreich  widerstehen.  Er  erstarkte  erst 
wieder,  nachdem  der  Jammer  der  Fremdherrschaft  den  religiösen 
Drang  des  Volkes  zu  neuem  Leben  erweckt  hatte  und  er  nun 
der  siegreichen  Restauration  dazu  dienen  sollte,  den  Mächten  der 
Vergangenheit  ihre  ins  Wanken  geratene  Herrschaft  noch  einmal 
zu  befestigen.  Während  also  der  ältere  Pietismus  im  Karrpf  gegen 
die  Orthodoxie  aufgekommen  war,  ging  der  jüngere  nunmehr  mit 
dieser  ein  Bündnis  ein,  um  die  Massen  des  Volks  zum  positiven 
Christentum  zurückzuführen.  Am  leichtesten  wurde  es  in  den  von 
früher  her  übrig  gebliebenen  kleinen  pietistischen  Bezirken  des 
Wuppertals,  Westfalens,  Württerrbergs  der  etwas  modernisierten 
Orthodoxie  die  Herrschaft  des  starren  Buchstabenglaubens  auf  das 
persönliche  Erlebnis  der  Bekehrung  durch  die  Bibel  wieder  auf- 
zubauen. Was  den  neuen  Bundesgenossen  vorschwebte,  war  die 
allgemeine  Wiederunterwerfung  des  Lebens  und  Denkens  einer 
seit  lange  schon  verweltlichten  Gesellschaft  unter  den  Geist  des 
strengsten  Christentums.  Ließ  sich  das  Reich  Gottes  für  die  Ge- 
samtheit nicht  verwirklichen,  so  sollte  in  den  kleinen  Kreisen  der 
Erwählten  der  wahre  Geist  des  Glaubens  um  so  reiner  zum  Ausdruck 
kommen.  Man  begreift,  daß  für  solche  Bestrebungen  die  Prädestina- 


4  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

tionslehre  den  günstigsten  Boden  und  die  im  Wuppertal  eingebür- 
gerte presbyterische  Gemeindeorganisation  eine  besonders  passende 
Form  darbot.  Mochte  der  deutschen  theologischen  Wissenschaft, 
die  sich  dem  Einfluß  der  klassischen  Literatur  und  der  idealistischen 
Philosophie  nicht  hatte  entziehen  können,  dieser  stramme  ultra- 
konservative Supranaturalismus,  der  jede  Fühlung  mit  dem  Zeit- 
geist verabscheute  und  für  den  Lessing  und  Herder  nicht  gelebt 
hatten,  als  rückständig  gelten,  hier  im  Wuppertal  behielt  er  trotz- 
dem, von  den  Einheimischen  kaum  ernsthaft  angefochten,  nicht 
bloß  das  Heft  in  der  Hand,  sondern  er  spann,  seitdem  Friedrich 
Wilhelm  Krummachers  machtvolle  Persönlichkeit  sein  Halt  und 
Hort  geworden  war,  die  eigenen  Fäden  sogar  in  die  Ferne  hinaus. 

Bei  keinem  der  anderen  Männer,  die  in  bestimmender  Weise 
der  politischen  Arbeiterbewegung  Deutschlands  Inhalt  und  Rich- 
tung gegeben  haben,  deuten  auf  den  ersten  Blick  Herkunft  und  Um- 
gebung so  wenig  auf  ihre  historische  Laufbahn  hin  wie  bei  Friedrich 
Engels.  Zwar  entstammte  auch  J.  B.  von  Schweitzer  nicht  gleich 
Marx  und  Lassalle  einer  in  Staat  und  Gesellschaft  zurückgesetzten 
Bevölkerungsschicht.  Aber  diesen  Sohn  einer  geadelten  reichs- 
städtischen Patrizierfamilie,  dem  ein  hegendes  Elternhaus  nie- 
mals beschieden  gewesen  war,  brachten  Mittellosigkeit  und  eigene 
Verfehlung  frühzeitig  um  die  sozialen  Vorteile  jener  bevorzugten 
Klasse,  in  die  er  hineingeboren  war.  Was  der  Jugend  Schweitzers 
fehlte:  die  sorgsame,  Verständnis  suchende  Liebe  der  Eltern  zu  ein- 
ander und  zu  ihren  Kindern,  der  gefestigte  und  noch  sich  aus- 
breitende Wohlstand,  der  ernste  sittliche  Geist  und  die  Verinner- 
lichung  der  von  den  Vorfahren  übernommenen  religiösen  Formen, 
alle  diese  menschlichen  und  bürgerlichen  Güter  hatten  sich  bei 
den  Engels  von  Generation  zu  Generation  fortgepflanzt,  und  man 
betrachtet  sie  hier  noch  heute  als  Tugenden,  die  mit  dem  Familien- 
geist unlöslich  verwachsen  wären. 

Schon  um  das  Ende  des  sechzehnten  Jahrhunderts  läßt  sich 
die  Familie  im  Wuppertal  nachweisen,  und  wenn  die  Liebe  zur 
Scholle,  wie  die  Dichter  behaupten,  auf  Treue  als  Grundgefühl 
schließen  läßt,  so  mußte  dieser  Charakterzug  seit  Urvätertagen 
in  ihr  heimisch  sein.  Die  frühesten  Ahnen,  von  denen  die  sorg- 
sam gepflegte  Engelssche  Tradition  erzählt,  mögen  kleine  Frei- 
bauern gewesen  sein,  denn  eine  hörige  Landbevölkerung  hatte 
es  ja  hier  im  Bergischen  niemals  gegeben.  Von  dem  Ertrag  ihrer 
kleinen  Landwirtschaft  werden  der  Familie  keine  reichlichen  Güter 
zugewachsen  sein,  und  so  wird  sie  frühzeitig,  wie  es  des  Landes 
Brauch  war,  ihre  Wiesen  für  das  Bleichen  fremder  Garne  her- 
gegeben   haben.    Von    hier  war  es  bei  dem    Unternehmungssinn, 


Anfänge  der  Familiengeschichte.  5 

der  den  Engels  im  Blute  steckte,  nur  ein  Schritt,  daß  sie  sich 
selbst  auf  den  Handel  mit  Garnen  verlegten.  Den  Wohlstand  der 
Familie  begründete  in  der  zweiten  Hälfte  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts Johann  Caspar  senior,  der  Urgroßvater  unseres  Friedrich 
Engels,  der  gleich  seinem  Vater  Benjamin  in  der  Jugend  noch 
,,mit  der  Kiepe  auf  dem  Rücken"  gegangen  war.  Mit  einem  Kapital 
von  zirka  25  Talern  soll  er  seinen  kleinen  Garnhandel  begonnen 
haben;  aber  er  brachte  es  mit  seinem  rastlosen  Geschäftsgeist  dahin, 
daß  er  eine  mit  Bleicherei  und  Bandwirkerei  verbundene  Spitzen- 
fabrik errichten  konnte,  die  bei  seinem  Tode  bereits  zu  den  großen 
industriellen  Betrieben  Barmens  gehörte.  Zeitlebens  bewahrte 
sich  Johann  Caspar  ein  warmes,  im  Geiste  der  Zeit  und  der  Um- 
gebung natürlich  religiös  und  patriarchalisch  getöntes  Verantwort- 
lichkeitsgefühl für  jene  christlichen  Mitmenschen,  deren  Hände 
Arbeit  ihm  den  eigenen  Besitz  mehren  half.  Noch  als  1846  F.  Gustav 
Kühne  ,,das  deutsche  Manchester**  besuchte,  waren  seine  Verdienste 
hier  so  lebendig  geblieben,  daß  der  jungdeutsche  Reiseschriftsteller 
auf  sie  einen  Hymnus  anstimmen  konnte,  der  sich  freilich  im  Un- 
terton bereits  gegen  den  mißratenen  Urenkel,  den  Kommunisten, 
richtete.  Vom  alten  Engels  erzählt  Kühne,  daß  er  hier  zuerst  auf 
den  Gedanken  gekommen  sei,  den  herumziehenden,  heimat-  und 
besitzlosen  ,, Fabrikpöbel**  seßhaft  zu  machen  und  ihn  nach  dem 
Maß  seines  Fleißes  und  seiner  Führung  zu  Hauseigentümern  mit 
Land  und  Gartenstück  dadurch  heranzubilden,  daß  er  ihm  als  Er- 
sparnis zum  Erwerb  des  Hauses  vom  Wochenlohn  einen  Betrag 
abzog.  Erwägen  wir,  wie  sehr  das  Trucksystem  und  alle  anderen 
Auswüchse  der  zum  Großbetrieb  sich  wandelnden  Manufaktur  viel 
später  noch  in  Blüte  standen,  so  verkleinern  wir  das  soziale  Verdienst 
Johann  Caspars  noch  nicht  durch  die  Feststellung,  daß  er  zugleich 
den  eigenen  Vorteil  wahrnahm,  wenn  er  sich  auf  diese  Weise  einen 
sicheren  und  auf  den  Arbeitsherrn  angewiesenen  Arbeiterstamm 
heranbildete. 

Und  was  der  Alte  geschaffen  hatte,  das  wahrten  und  mehrten 
in  umsichtiger,  fleißiger,  nüchterner  Arbeit  Söhne  und  Enkel.  Jene 
Gegend  des  Bruchs,  dieses  aus  Bauerngehöften  zu  einer  besonderen 
Gemeinde  zusammengewachsenen  Teils  Unterbarmens,  wo  sich, 
von  Arbeiterhäusern,  in  denen  bis  in  die  Nächte  der  Webstuhl  klap- 
perte, umgeben,  das  Familienwohnhaus  der  Engels  erhob,  wurde 
noch  vor  fünfzig  Jahren  im  Volksmunde  der  Stadt,  deren  Bevölkerung 
sich  durch  ihren  niederdeutschen  Charakter  von  der  rheinischen 
des  verschwisterten  Elberfeld  deutlich  abhob,  als  Engels  Bruch 
bezeichnet.  Hier  herrschten  Johann  Caspar  junior  und  Friedrich, 
unseres   Engels   Großvater  und   Vater,  mitsamt  ihren   Brüdern  in 


6  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

patriarchalischem  Geist  über  ihre  Arbeiter.  Johann  Caspar  II.  und 
ein  kinderloser  Bruder,  die  in  friedlichem  Einvernehmen  die  Firma 
Caspar  Engels  und  Söhne  betrieben,  fügten  zu  der  Anfertigung  von 
Kanten,  Langillen  usw.  noch  die  von  seidenen  Bändern  und  einen 
Großhandel  in  Seide.  Dem  zweiten  Johann  Caspar  werden  von 
der  Familientradition  neben  bedeutenden  kaufmännischen  Fähig- 
keiten auch  feiner  Takt  und  echte  Herzensbildung  nachgerühmt, 
die  ihm  bei  seinen  mannigfachen  kirchlichen  und  bürgerlichen 
Ehrenämtern  zugute  kamen.  Das  soziale  Pflichtgefühl  des  Vaters 
scheint  bei  ihm  in  noch  verstärktem  Maße  vorhanden  gewesen  zu 
sein.  Wir  wissen,  daß  er  schon  1796  für  die  Kinder  seiner  Arbeiter 
eine  Schule  errichtete  und  daß  er  bei  der  Dürre  des  Jahres  1816 
in  Barmen  an  der  Spitze  jenes  ,, Kornvereins**  stand,  der  für  die 
notleidende  Bevölkerung  billige  Lebensmittel  beschaffen  wollte. 
Durch  seine  Frau,  die  aus  einer  ursprünglich  holländischen  Familie 
stammte  und  als  eine  feine  aber  dauernd  kränkliche  Dame  geschil- 
dert wird,  gelangte  in  den  kräftigen  Engelsschen  Stamm  ein  bei  ihm 
bis  dahin  nicht  bemerkter  sensitiver  Einschlag,  der  sich  in  den  Nach- 
kommen hie  und  da  in  Epilepsie,  vorwiegender  aber  in  künstleri- 
sches Interesse  umsetzte. 

Nach  des  jüngeren  Johann  Caspar  Tode  ging  die  Firma  auf 
seine  drei  Söhne  über,  die  sich  jedoch  weniger  gut  als  die  vorher- 
gehende Generation  vertrugen.  Deshalb  einigten  sich  Friedrich 
Engels  und  seine  passiver  als  er  veranlagten  Brüder  dahin,  das 
Los  darüber  entscheiden  zu  lassen,  wer  von  ihnen  das  Geschäft 
fortsetzen  solle.  Als  das  Los  gegen  Friedrich  entschied,  begründete 
dieser,  während  die  alte  Firma  allmählich  einschlief,  zuerst  1837 
in  Manchester  und  dann  1841  auch  in  Barmen  und  Engelskirchen, 
gemeinsam  mit  zwei  Brüdern  Ermen  die  an  dem  letzteren  Orte 
heute  noch  bestehende  Baumwollspinnerei  Ermen  &  Engels.  Die 
englische  Firma,  die  heute  Ermen  &  Koby  heißt  und  zu  der  die 
Familie  keine  Beziehungen  mehr  hat,  ist  seither  ganz  anglisiert. 
In  einer  Zeit  starker  industrieller  Entfaltung  und  sich  drängender 
Erfindungen  kam  es  dem  älteren  Friedrich  zugute,  daß  sein  vom 
Vater  ererbter  großzügiger  Unternehmungsgeist  sich  mit  einem 
spezifisch  technischen  Geschick,  das  sich  dann  auch  auf  unseren 
Friedrich  Engels  übertragen  hat,  paarte.  Unter  erheblichen  Schwie- 
rigkeiten gelang  es  ihm,  sein  deutsches  Unternehmen,  das  er  trotzdem 
noch  fast  zwanzig  Jahre  hindurch  nur  von  den  Überschüssen  des 
englischen  durchhalten  konnte,  mit  den  überlegenen  englischen 
Maschinen,  die  damals  von  der  heimischen  Konkurrenz  noch  nicht 
verwandt  wurden,  in  Betrieb  zu  setzen. 

Nicht  bloß  den  tätigen  und  lebensvollen  Geist,  den  hellen  schar- 


Großeltern  und  Eltern.  y 

fen  und  kritischen  Verstand,  sondern  auch  das  liebenswürdige  und 
fröhliche  Naturell,  das  ihm  nachgerühmt  wird,  vererbte  Friedrich 
Engels  sen.  auf  seinen  gleichnamigen  ältesten  Sohn,  den  ihm,  dem 
Vierundzwanzigjährigen,  am  28.  November  1820  seine  um  ein  Jahr 
jüngere  Gattin  schenkte.  Auch  Elise  Engels  war  von  regem  Geist  und 
leichtem  Auffassungsvermögen.  Aber  bei  ihr  gesellte  sich  dazu  noch 
eine  starke  Empfänglichkeit  für  Humor,  die  so  ausgesprochen  blieb, 
daß  ihr  noch  als  alter  Frau  beim  Lachen  die  Tränen  aus  den  Augen 
liefen.  Sie  entstammte  einer  mit  Glücksgütern  nicht  eben  gesegne- 
ten Familie  von  Philologen,  in  der  zwar  nicht  nach  dem  freieren 
Sinn  unserer  klassischen  Dichter  und  Philosophen,  sondern  in  der 
Art  jenes  pietistischen  Christentums,  dem  sie  wie  die  Familie 
Engels  in  landesüblicher  Weise  ergeben  war,  geistige  Güter  immer- 
hin höher  geschätzt  und  liebevoller  gepflegt  wurden  als  in  den 
Barmer  Kaufmannshäusern.  Ihr  Vater,  der  Rektor  van  Haar  in 
Hamm,  nach  seinen  Briefen  ein  Original,  das  sich  gegen  jede  Un- 
gerechtigkeit mit  starkem  Temperament  aufbäumte,  war  mit  einer 
stolzen,  klugen  und  selbstbewußten  Westfälin,  einer  Schwester 
des  Direktors  Snethlage  vom  Joachimsthalschen  Gymnasium  in 
Berlin  verheiratet.  In  dem  Pensionat,  da-  der  Schulmann  dort 
unterhielt,  verweilte  Friedrich  Engels  Mutter  während  der  Zeit 
der  Bafreiungskriege.  Obgleich  van  Haar  ein  kirchlich  gesinnter 
Herr  war,  der  sich  mit  Vorliebe  apokalyptischen  Betrachtungen 
hingab,  so  konnte  er  nicht  verhindern,  daß  seine  zwei  jüngeren 
Töchter  den  Weg  zu  freieren  religiösen  Anschauungen  fanden  und 
in  diesem  Sinne  auf  Neffen  und  Nichten  einwirkten,  wenn  sie,  was 
häufiger  vorgekommen  sein  soll,  die  Mutter,  die  zeitweise  kränkelte, 
bei  ihnen  vertraten.  Aber  die  Familientradition  bestreitet,  worauf 
es  uns  doch  allein  ankommen  könnte,  daß  diese  Tanten  auch  dem 
ältesten   Sohne  der   Schwester  näher  gestanden  hätten. 

Dem  Großvater  van  Haar  verdankte  der  junge  Friedrich,  wie 
wir  aus  einem  an  diesen  gerichteten  Gedicht  des  Dreizehnjährigen 
erfahren,  die  erste  Kenntnis  der  Sagen  des  klassischen  Altertums. 
Von  Theseus  und  vom  hundertäugigen  Argus,  vom  Minotauros  und 
vom  goldenen  Vlies,  von  Kadmos  und  von  Herkules  erzählte  er  dem 
aufhorchenden  Knaben,  der  sich  von  dem  alten  Schulmann  auch  gern 
helfen  ließ,  ,,wenn's  mit  den  Arbeiten  gehapert".  Dennoch  hat  die 
griechische  Sagenwelt  Gemüt  und  Phantasie  des  Kindes  unver- 
gleichlich weniger  beeinflußt  als  die  deutsche,  in  der  ihm,  besonders 
in  der  rheinischen,  Gestalten  begegneten,  mit  denen  er  sich  bluts- 
verwandt fühlte. 

Als  Rektor  van  Haar  im  Jahre  1835  hoffnungslos  erkrankte, 
schrieb  der  Schwiegersohn  aus  Barmen  an  seine  in  Hamm  weilende 


8  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

Gattin:  ,,Der  gute  Vater  ist  in  Gottes  Hand;  wohl  ihm  und  uns,  daß 
wir  ihn  so  ruhig  dem  himm.Hschen  Vater  überlassen  können."  Das 
feste  Bauen  in  Gottes  Ratschluß,  das  sich  in  solcher  Wendung  kund- 
gibt, entsprach  dem  streng  religiösen  Geist,  der  sowohl  bei  den 
Engels  wie  bei  den  Familien,  mit  denen  sie  sich  zu  verschwägern 
pflegten,  durch  die  Generationen  herrschend  blieb. 

Der  Pietismus  hatte  im  Wuppertal  unter  dem  Einfluß  eifer- 
voller Prediger,  die  hier  ein  höheres  Ansehen  genossen  als  irgend- 
wo sonst  in  deutschen  Landen,  zu  Übertreibungen  geführt,  die 
einer  Richtung,  welche  auf  eine  Verinnerlichung  des  religiösen 
Lebens  ausging,  nicht  anstanden.  Besonders  die  liberale  Zeit- 
schriftenliteratur wimmelt  in  Friedrich  Engels  Jugendzeit  förmlich 
von  Klagen  über  Ketzerriecherei  und  Unduldsamkeit  gegen  Anders- 
denkende und  Andersgläubige,  mochten  es  Katholiken  oder  selbst 
Lutheraner  sein,  über  das  selbstgefällige,  unduldsame,  heuchlerische 
Treiben  vieler  ,, Feinen",  über  die  Ächtung  von  Kunst  und  Wissen- 
schaft, über  die  Splitterrichterei,  die  hier  im  ,,Zion  des  Obskurantis- 
mus" gang  und  gäbe  wären.  Da  mochten  manche  Übertreibungen 
mit  unterlaufen,  und  das  Licht,  das  neben  dem  Schatten  stand, 
geflissentlich  übersehen  werden.  Die  Tatsache  aber  bleibt  bestehen, 
daß  die  gesunde  Frohnatur  Friedrichs  bereits  frühzeitig,  anfänglich 
unbewußt,  später  bewußter  wie  sich  zeigen  wird,  unter  einer  wei- 
teren Umgebung  litt,  die  das  Wort  Vergnügen  zu  den  heidnischen 
Gotteslästerungen  zählte,  in  der  die  alten  deutschen  Volkslieder, 
an  denen  die  Seele  des  Knaben  hing,  keinen  Kurs  hatten,  wo  aus 
Weberhäusern  und  Werkstätten  immer  nur  geistliche  Lieder  auf 
die  Straße  hinausklangen  und  ein  frisches  fröhliches  Volkstreiben, 
wie  es  ihm  bei  kurzen  Ausflügen  an  den  Rhein  entgegengetreten 
war,  nirgends  aufkommen  durfte. 

Nun  umfing  ihn  zwar  auch  im  Elternhause  jene  von  den  Ahnen 
übernommene  pietistisch  gefärbte  streng  religiöse  Lebensauffas- 
sung, aber  hier  verband  sich  ihr  eine  so  gediegene  und  nüchterne 
kaufmännische  Gesinnung,  daß  übergroße  Gefühlsseligkeit  oder 
gar  Selbstbespiegelung  neben  der  durch  die  Religion  gebotenen  und 
dem  Familiengeist  gründlich  eingeprägten  berufsheiligen  Betrieb- 
samkeit keinen  Platz  fanden.  Gewiß  war  der  Vater  Friedrichs  ein 
dogmatisch  orthodox  und  konservativ  gerichteter  Mann,  der  die 
höchsten  Ehrenstellen  in  seiner  Kirchengemeinde,  die  ihn  zu  ihren 
Mäzenen  rechnen  durfte,  mit  Recht  bekleidete  und  seine  Kinder 
in  dem  strengen,  buchstabenmäßigen  Bibelglauben  erziehen  ließ, 
dem  alle  Pastoren  und  Lehrer  des  Wuppertals  ausnahmslos  huldigen 
mußten.  Aber  er  war  in  der  Welt  herumgekommen,  hatte  mit 
kritischem  Blick  in  England,  wohin  er  oft  ging,  und  anderswo  Um- 


Pietismus  und  Elternhaus.  C^, 

schau  gehalten  und  war  überdies  von  zu  selbstherrlicher  Natur,  als 
daß  er  sich  von  engherzigen  Vorurteilen,  die  er  als  solche  durch- 
schaute, abhängig  gemacht  hätte.  Wie  wenig  die  Mucker  diesen 
begabten  Geschäftsmann  und  Organisator  zu  den  Ihrigen  rechnen 
konnten,  sieht  man  auch  daran,  daß  er,  musikalisch  wie  fast  alle 
Mitglieder  der  Familie,  selbst  Fagott  und  Cello  spielte,  Kammer- 
musikabende in  seinem  Hause  duldete,  zur  weltlichen  Literatur 
der  Zeit  in  einem  leidlich  unbefangenen  Verhältnis  stand  und  außer- 
halb der  Heimat  sogar  das  Theater  besuchte.  Und  ebensowenig 
wie  der  Vater  war  die  Mutter  Friedrichs  noch  eigentliche  Pietistin. 
Wir  erfahren  von  ihr,  daß  sie  dem  Sohne,  als  er  zwanzig  Jahre  war, 
zu  Weihnachten  Goethe  schenkte  und  daß  sie,  die  so  gern  lachte, 
sich  im  Alter  am  liebsten  an  Fritz  Reuters  köstlichem  Humor 
erbaute. 

Über  die  eigentlichen  Kinderjahre  Friedrichs  besitzen  wir  bloß 
spärliche  Kunde.  Er  war  der  älteste  von  acht  Geschwistern,  unter 
denen  ihm,  wie  er  ihr  in  seinen  Briefen  bezeugt,  die  um  drei  Jahre 
jüngere  Schwester  Marie  am  nächsten  stand.  Barmen  war  damals 
erst  eine  Stadt  von  einigen  zwanzigtausend  Einwohnern,  der  man 
noch  deutlich  ihre  Entstehung  aus  der  Vereinigung  mehrerer  ur- 
sprünglich selbständiger  Ortschaften  anmerkte.  Noch  wurde  das 
Stadtbild  nicht  so  von  den  Fabrikschloten  beherrscht,  daß  nicht 
bald  ein  Stückchen  Fluß,  bald  eine  Reihe  Gärten  dicht  an  der  Straße, 
bald  eine  frische  grüne  Bleiche  heiter  aus  dem  Häuserkomplex 
hervortraten.  Auch  zu  dem  an  holländische  Bauten  erinnernden 
einfachen  aber  doch  patrizierhaft  geräumigen  Hause  der  Engels 
gehörte  ein  großer  Garten  mit  herrlichem  alten  Baumbestand,  in 
dem  die  Kinderschar  des  angesehenen  Fabrikanten  am  liebsten 
ihr  fröhliches  Wesen  trieb.  Daß  Friedrich  von  früh  auf  gut  und 
hilfsbereit  war  und  öfters  all  seine  kleinen  Ersparnisse  für  die 
Armen  hingab,  wird  in  den  Aufzeichnungen  von  Familienmitglie- 
dern hervorgehoben.  Bis  zu  seinem  vierzehnten  Lebensjahr  be- 
suchte er  die  Realschule  in  Barmen,  die  damals  noch  Stadtschule 
hieß  und,  wie  er  selbst  hernach  erzählt,  ganz  in  den  Händen  eines 
beschränkten,  knickerigen  Kuratorium.s  lag,  das  meist  nur  Pietisten 
zu  Lehrern  wählte,  von  denen  einer,  wir  wir  auch  wieder  von  Engels 
selbst  hören,  einem  Quartaner  auf  die  Frage,  wer  Goethe  gewesen 
sei,  die  Antwort  gegeben  haben  soll:  ein  gottloser  Mann.  Das  hin- 
derte jedoch  nicht,  daß  Friedrich  hier  den  Grund  legte  zu  den  hüb- 
schen Kenntnissen  in  Physik  und  Chemie,  die  er  später  besaß  und 
daß  bei  dem  tüchtigen  Lehrer  des  Französischen,  dem  Dr.  Philipp 
Schiff  lein,  seine  ungewöhnliche  Sprachbegabung  zum  ersten  Mal 
in  gute  Zucht  kam.    Das  städtische  Gymnasium  in  Elberfeld,  auf 


10  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

das  er  danach  übersiedelte,  war  Eigentum  der  dortigen  reformierten 
Gemeinde;  es  galt  als  eines  der  besten  der  Monarchie,  ob  leich  den 
verständnislosen  Scholarchen  nachgesagt  wurde,  daß  sie  bei  der 
Besetzung  der  Lehrerposten  einem  reformierten  Stümper  vor  einem 
tüchtigen  Lutheraner  oder  gar  Katholiken  den  Vorzug  gaben.  Doch 
die  neue  Schule  lag  von  dem  Hause  der  Engels  in  Unterbarmen 
recht  weit  entfernt,  und  die  Eltern  wollten  ihren  Friedrich  den 
weiten  Weg  nicht  zweimal  des  Tages  zurücklegen  lassen.  Weil 
überdies  die  Erziehung  des  glänzend  begabten  aber  auch  eigen- 
willigen Sohnes  ihnen  Schwierigkeiten  zu  machen  begann,  so  ent- 
schlossen sie  sich  um  so  eher,  ihn  bei  einem  Lehrer  jener  Anstalt, 
einem  Altpreußen,  klassischen  Philologen  und  Hebraiker,  an  dessen 
lutherischem  Bekenntnis  sie  keinen  Anstoß  nahmen,  dem  Professor 
Hantschke,  in  Pension  zu  geben.  Ein  hübsches  Schlaglicht  auf  diese 
Schwierigkeiten,  die  der  noch  nicht  fünfzehnjährige  Friedrich  seinen 
Eltern,  die  ihn  natürlich  ganz  im  herkömmlichen  Geist  erziehen 
wollten,  schon  damals  bereitete,  wirft  der  uns  zufällig  erhaltene 
Brief  des  Vaters  an  die  in  Hamm  bei  ihrem  sterbenden  Vater  weilende 
Mutter  vom  27.  August  1835:  ,, Friedrich  hat  mittelmäßige  Zeug- 
nisse in  voriger  Woche  gebracht.  Im  Äußeren  ist  er,  wie  Du  weißt, 
manierlicher  geworden,  aber  trotz  der  früheren  strengen  Züchti- 
gungen scheint  er  selbst  aus  Furcht  vor  Strafe  keinen  unbedingten 
Gehorsam  zu  lernen.  So  hatte  ich  heute  wieder  den  Kummer  ein 
schmieriges  Buch  aus  einer  Leihbibliothek,  eine  Rittergeschichte 
aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert,  in  seinem  Sekretär  zu  finden. 
Merkwürdig  ist  seine  Sorglosigkeit,  mit  welcher  er  solche  Bücher 
in  seinem  Schranke  läßt.  Gott  wolle  sein  Gemüt  bewahren,  oft  wird 
mir  bange  um  den  übrigens  trefflichen  Jungen.  Gestern  erhielt 
ich  durch  Friedrich  einen  Brief  von  Dr.  Hantschke  vom  22.  August, 
den  er  wohlweislich  so  spät  erst  an  die  Mägde  gab,  daß  er  mir  erst 
um  V29  Uhr  abends  zukam.  Wahrscheinlich  hat  er  ihn  also  schon 
am  Sonntage  gehabt.  Dr.  Hantschke  schreibt  mir,  daß  ihm  das 
Anerbieten  gemacht  werde,  zwei  Pensionäre  ins  Haus  zu  nehmen; 
daß  er  aber  dieses  ablehnen  werde,  falls  wir  vorzögen,  Friedrich 
länger  als  Herbst  bei  ihm  zu  lassen;  daß  Friedrich  fortwährend  der 
Aufsicht  bedürfe,  daß  der  weite  Weg  seinen  Studien  hinderlich 
sei  pp.  Ich  habe  ihm  gleich  geantwortet,  daß  ich  ihm  sehr  danke, 
daß  er  mir  bsi  dem  vorteilhaften  Anerbieten  dennoch  die  Wahl  lasse 
und  ich  ihn  bäte  den  Friedrich  ferner  bei  sich  zu  behalten,  daß  er 
mich  aber  durch  Mitteilung  seiner  desfalsigen  Bedingungen  ver- 
pflichten werde.  Du  wirst  es  so  mit  mir  gewiß  auch  fürs  beste  hal- 
ten. Auf  Geld  dürfen  wir  bei  dem  Wohle  des  Kindes  nicht  sehen, 
und   Friedrich   ist  so  ein  eigentümlicher   beweglicher   Junge,   daß 


Seelenleben  der  Kindheit,  II 

eine  abgeschlossene  Lebensart,  die  ihn  zu  einiger  Selbständigkeit 
führen  muß,  für  ihn  das  beste  ist.  Noch  einmal  der  liebe  Gott  wolle 
den  Knaben  in  Seinen  Schutz  nehmen,  damit  sein  Gemüt  nicht 
verderbt  werde.  Bis  jetzt  entwickelt  er  eine  beunruhigende  Gedan- 
ken- und  Charakterlosigkeit,  bei  seinen  übrigen  erfreulichen  Eigen- 
schaften." 

Ein  ahnungsvolles  Bangen  um  die  Zukunft  des  ältesten  Sohnes, 
dessen  große  Begabung  er  sieht,  aber  dessen  Wesensart  er  bereits 
jetzt  mit  den  ungeschriebenen  Gesetzen  des  frommen  und  wohl- 
geordneten Hauses  im  Widerspruch  zu  empfinden  scheint,  spricht 
aus  diesen  besorgten  Wendungen  des  Vaters,  die  gleichzeitig  die 
Mutter  zu  beschwichtigen  suchten.  Noch  mochte  es  sich,  wie  bei 
den  Rittergeschichten,  die  der  in  der  Schule  herrschende  pietistische 
Geist  verpönte,  um  Kleinigkeiten  handeln.  Aber  wie  lange  noch? 
und  tiefe  Gegensätze  in  Lebensauffassung  und  Weltanschauung 
taten  sich  auf  und  entfremdeten  für  immer  wenn  auch  vielleicht 
nicht  in  den  Herzen  so  doch  in  den  Gesinnungen  Vater  und  Sohn. 

Vorläufig  freilich  lag  dem  Knaben  bei  aller  kindlich  unbewußten 
Auflehnung  gegen  erstarrte  Formen,  deren  Daseinsberechtigung 
sich  ihm  nicht  erschließen  wollte,  noch  der  Gedanke  fern,  die  Be- 
friedigung für  die  Bedürfnisse,  die  sich  in  seiner  Seele  unklar  an- 
kündigten, außerhalb  der  Sphäre  jener  christlichen  Ideenwelt  zu 
suchen,  die  hier  in  den  Hochburgen  des  Pietismus  jede  einzelne 
Richtung  des  Lebens  durchdrang  und  die  ihn  auf  Schritt  und  Tritt 
umgab.  Es  liegen  von  ihm  Äußerungen  darüber  vor,  daß  er  schon 
als  Sekundaner,  mit  gleichgesinnten  Freunden  oder  allein,  in  dem 
Oppositionsgeist,  den  bei  der  Jugend  zu  weit,  reic  ender  Zwang  so 
leicht  erzeugt,  sich  abgequält  hat,  zwischen  menschlicher  Willkür 
und  wahrem  göttlichem  Gebot  die  Grenze  zu  finden.  Im  Familien- 
kreise fühlte  sich  sein  tieferes  Innenleben  vereinsamt  und  auf  sich 
selbst  zurückgewiesen:  einer  alten  Hausgenossin  ist  im  Gedächtnis 
geblieben,  daß  er  einmal  am  hellichten  Tage  mit  der  Laterne  des 
Diogenes  erschienen  sei  und  nach  Menschen  gesucht  habe.  Während 
des  Konfirmandenunterrichts  ist  der  Sechzehnjährige  dann  durch 
eine  Zeit  tiefster  Gläubigkeit  hindurchgegangen,  hat  noch  einmal 
alle  Zweifel,  die  sich  in  seiner  Seele  einnisten  wollten,  niederge- 
kämpft, seine  Sünden  bereut  und  um  die  ,, Gemeinschaft  mit  Gott" 
heiß  gerungen.  Er  wollte  nicht  länger  mehr,  wie  es  seiner  frischen 
Kindernatur,  der  Gottes  Welt  jeden  Tag  neu  erschien,  entsprochen 
hätte,  in  den  Tag  hineinleben;  er  meinte  es  ernst  und  ehrlich  mit 
der  Einkehr,  der  Abkehr  von  der  Weltlichkeit,  in  die  er,  der  Pie- 
tistensproß, zu  Unrecht  hineingeraten  zu  sein  glaubte.  „Ich  habe 
mein  Liebstes  auf  der  Stelle  gern  weggegeben",  berichtet  er  wenige 


12  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

Jahre  später  auf  diese  Zeit  als  auf  ein  längst  wieder  überwundenes. 
Stadium  zurückblickend,  ,,ich  habe  meine  größten  Freuden,  meinen 
liebsten  Umgang  für  nichts  geachtet,  ich  habe  mich  in  der  Welt 
blamiert  an  allen  Ecken;  ich  habe  ungeheure  Freude  darüber  ge- 
habt." In  „heiligem  Eifer"  erglühte  er  nun,  da  der  alte  Pie- 
tistengeist, es  war  zum  letzten  Mal,  in  ihm  aufflammte,  gegen  jede 
religiöse  Freisinnigkeit,  und  bei  der  Einsegnung,  die  am  12.  März 
1837  in  der  Vereinigten  evangelischen  Gemeinde  Unterbarmens 
erfolgte,  soll  er  sich  ganz  außerordentlich  ergriffen  gezeigt  haben. 
Auch  noch  ein  halbes  Jahr  später  rühmte  in  seinem  Abgangszeugnis 
vom  Gymnasium  der  Pensionsvater,  der  nun  provisorischer  Di- 
rektor war,  neben  der  Reinheit  seines  Gemüts  und  seiner  gefälligen 
Sitte  seinen  „religiösen  Sinn".  Es  war  ihm  damals  Ernst,  , .heiliger 
Ernst"  mit  dem  Wunsche,  den  „stillen,  religiösen  Frieden",  den 
er  herbeisehnte,  in  dem  altbewährten  Glauben  der  Heim.at,  des 
Elternhauses  zu  finden.  Aber  ihm  wurden  Steine  geboten,  wo  sein 
innerer  Sinn  nach  Brot  verlangte:  seit  frühester  Jugend  hatte  man 
von  ihm  in  der  Kirche,  im  Religionsunterricht  und  auch  zu  Hause 
stets  den  ,, direktesten,  unbedingtesten  Glauben  an  die  Bibel  und 
an  die  Übereinstimmung  der  biblischen  Lehre  m.it  der  Kirchen- 
lehre, ja  mit  der  Speziallehre  jedes  Pfarrers"  gefordert.  Ein  so 
starrer  Buchstabenglaube  aber  stieß  seinen  lebendigen  und  früh 
selbständigen  Geist  ab.  Wäre  er  um  diese  Zeit,  da  es  ihm  um  den 
Frieden  mit  dem  Glauben  noch  so  bitter  ernst  war,  einem  weniger 
starren  Christentum,  einem  etwas  liberaleren  Supranaturalismus 
oder  gar  einem  Verkünder  Schleiermacherscher  Religionsauffassung 
begegnet,  er  wäre  —  wenigstens  nimmt  er  es  selbst  an  —  noch 
lange  darin  „hängen  geblieben".  Ein  gütigeres  und  wärmeres 
Christentum,  als  es  die  Krummacher  und  Genossen  damals  im 
Wuppertal  verkündeten,  hätte  ihn,  davon  finden  wir  ihn  überzeugt, 
nicht  so  schnell  verloren.  Der  Denkspruch,  der  dem  Primaner  bei 
der  Einsegnung  ins  Leben  mitgegeben  worden  war,  hatte  gelautet: 
,,  Ich  vergesse,  was  dahinter  ist  und  strecke  mich  zudem,  was  da 
vorne  ist,  und  jage  nach  dem  vorgesteckten  Ziel,  nach  dem  Kleinod, 
welches  vorhält  die  himmlische  Berufung  Gottes  in  Christo  Jesu" 
(Phil.  3,  13.  14).  Nun  fand  dieser  Spruch  eine  andere  Erfüllung, 
als  dem  Geistlichen,  der  ihn  auswählte,  vorgeschwebt  hatte.  Die 
Befriedigung  der  Seele,  die  ihm  der  Glaube  der  Heimat  nicht  länger 
bot,  erkämpfte  Engels  sich  draußen  in  der  Weite.  Er  vergaß  all- 
mählich was  , »dahinten  lag"  und  jagte  nach  einem  neuen  „vor- 
gesteckten" Ziel!  Je  mehr  Kraft  und  Wissen  ihm  zuwuchsen,  um 
so  eifriger  suchte  und  fand  seine  anschlußbedürftige  Seele  ihren 
Halt  bei  geistigen  Strömungen,  die  jenseits  der  Offenbarungsreligion 


Früheste  Berührung  mit  dem  Proletariat.  13 

ein  Gebäude  positiver  Werte  zu  errichten  strebten.  Aber  nur  über 
heißa  Kämpfe  führte  ihn  dieser  Weg  aus  der  alten  in  eine  neue 
Heimat  des  Geistes! 

Wir  gedachten  bereits  früher  kurz  der  anderen  großen  so- 
zialen Macht,  die  neben  einem  streitbaren  und  autoritären  Pietismus 
der  Heimatstadt  Friedrichs  ihr  Gepräge  gab.  Mochte  auch  der 
Freiheitskampf  gegen  die  geistigen  Gewalten,  die  ihn  persönlich 
in  der  Kindheit  eingeschnürt  hatten,  seine  ersten  Jünglingsjahre 
vorwiegend  beherrschen,  nachhaltiger  und  bedeutsamer  wirkten 
auf  ihn  in  der  Folge  doch  jene  Eindrücke,  die  das  Elend  der  Ar- 
beiterbevölkerung in  diesem  früh  industrialisierten  und  damals  in 
der  Blüte  des  kapitalistischen  Aufschwungs  stehenden  Tal  seiner 
Seele  einprägte.  Täglich  führte  den  Knaben  sein  Weg  an  Fabriken 
vorüber,  wo  die  Arbeiter  in  den  niedrigen  Räumen,  die  noch  keine 
Gewerbeinspektoren  kontrollierten,  ,,mehr  Kohlendampf  und  Staub 
einatmeten  als  Sauerstoff",  und  wo  die  Kinder  schon  von  ihrem 
sechsten  Jahre  an  als  Opfer  kapitalistischer  Ausbeutung  einge- 
schlossen waren,  an  den  Häusern  der  Heimarbeiter,  die  vom  Mor- 
gen bis  in  die  Nacht  über  ihren  Webstuhl  gebückt  sich  vom  heißen 
Ofen  das  Rückenmark  ausdörren  ließen,  auch  an  den  ,, Karren- 
bindern", der  lichtscheuen  Hefe  des  Wuppsrtaler  Proletariats,  die 
ohne  eigenes  Dach,  im  Fusel  verkommend  ihr  Lager  in  abgelegenen 
Ställen  oder  auf  Misthaufen  suchten.  Wie  viele  erblickte  er,  die 
ungesunde  Arbeitsbedingungen  der  Schwindsucht  auslieferten,  wie 
unzählige,  die  dem  Alkohol  zum  Opfer  fielen!  Er  erfuhr,  daß  syphi- 
litische und  Brustkrankheiten  ,,in  einer  Ausdehnung,  die  kaum 
zu  glauben  ist",  verbreitet  waren.  Und  all  dies  Elend  sieht  er  nicht 
als  ein  Unbeteiligter.  Er  ist  selbst  der  Sohn  eines  Fabrikanten  und 
horcht  frühzeitig  auf  die  Gesinnungen,  die  in  den  Unterhaltungen 
der  Arbeitgeber  untereinander  zum  Ausdruck  kommen.  Lange 
Jahre,  bevor  er  selbst  Kommunist  wird  oder  auch  nur  vom  Kom- 
munismus gehört  hat,  äußert  er  schon  die  Überzeugung,  daß  der 
Betrieb  der  Fabriken  ,,auf  eine  unsinnige  Weise"  von  den  Inhabern 
gehandhabt  werde,  daß  die  reichen  Fabrikanten  ein  weites  Ge- 
wissen haben  und  daß  ein  Kind  mehr  oder  weniger  verkommen  zu 
lassen  keine  Pietistenseele  in  die  Hölle  bringe,  , »besonders  wenn 
sie  zweimal  Sonntags  in  die  Kirche  geht". 

So  hatte  Engels  von  Kindesbeinen  an  ganz  anders  als  Marx 
im  stillen  Trier  und  als  Lassalle  inmitten  der  östlichen  ökonomisch 
rückständigen  Umgebung  Breslaus  Gelegenheit,  das  Wesen  und 
die  in  dieser  Frühzeit  des  Kapitalismus  sich  besonders  augenfällig 
aufdrängenden  schweren  Schattenseiten  der  Manufaktur  und  des 
Fabriksystems  kennen  zu  lernen.     So  wuchs  er  inmitten  einer  Welt 


14  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

auf,  die  ihn  besonders  prädestinierte,  seinem  Volke  von  der  revolu- 
tionierenden Gewalt  des  zur  vollen  Entfaltung  drängenden  Früh- 
kapitalismus zum  ersten  Male  ein  erschöpfendes  Bild  zu  entwerfen 
und  ihm  durch  den  Reichtum  und  die  erschütternde  Kraft  seiner 
Darstellung  die  Notwendigkeit  umfassende  sozialer  Reformen  in 
die  Ohren  zu  gellen,  mochte  der  Verfasser  selbst  auch  bereits  deren 
Heilkraft   anzweifeln.  — 

Jetzt  aber  kehren  wir  noch  einmal  in  Engels  letzte  Schul- 
jahre zurück.  Wir  kennen  die  Namen  einer  Reihe  von  Kame- 
raden, mit  denen  er  in  den  höheren  Gymnasialklassen  ein  ,, Kränz- 
chen" unterhielt,  wo  eigene  dichterische  und  musikalische  Produk- 
tionen der  Mitglieder  vorgetragen  wurden,  und  m.it  denen  er  auch 
nach  dem  Austritt  aus  der  Schule  so  lange  im  Briefwechsel  blieb, 
bis  ihm  der  Umgang  mit  den  Brüdern  Bauer  und  dem  Kreise  der 
Freien  den  Gedankenaustausch  mit  diesen  braven  Pastorensöhnen 
und  künftigen  Pastoren  erübrigte.  Von  seinen  Lehrern  im  Gym- 
nasium verdankte  er  am  meisten  einem  Dr.  Clausen,  der  ihn  in 
Geschichte  und  Literatur  unterrichtete.  Dieser  bescheinigte  ihm 
im  Abgangszeugnis,  daß  seine  Aufsätze  gute,  selbständige  Gedan- 
ken enthielten  und  daß  er  für  die  Lektüre  der  deutschen  Klassiker 
ein  rühmliches  Interesse  an  den  Tag  gelegt  habe.  Aber  auch  Engels 
stellte  seinem  Lehrer  ein  gutes  Zeugnis  aus.  Er  wäre,  schreibt  er 
in  seinem  anonymen  Erstlingsaufsatz,  der  einzige,  der  in  Elberfeld 
den  Sinn  für  Poesie  bei  der  Jugend  zu  wecken  wisse,  diesen  Sinn, 
,,der  sonst  elend  verkommen  müßte  unter  den  Philistern  des  Wupper- 
tals". Engels  selbst  freilich  besaß  schon  auf  der  Schule  für  alle 
freien  Künste  das  lebendige  Interesse  des  fröhlichen  und  um  die 
Grenzen  seines  Könnens  unbekümmerten  Dilettanten.  Er  kom- 
ponierte, er  dichtete,  er  zeichnete.  Der  rege  Sinn  für  das  Komische, 
den  er  von  der  Mutter  ererbt  hatte,  lebte  sich  besonders  in  seinen 
Karikaturen  aus,  die  mit  erstaunlicher  Lebendigkeit  die  charak- 
teristische Seite  der  Menschen,  deren  seine  Feder  sich  bemächtigte, 
zu  treffen  vermochten.  Die  Lehrer  wußten  um  diese  seine  Fertigkeit, 
deren  Gegenstand  sie  selbst  öfter  gewesen  sein  mochten,  manche 
begünstigten  sie  sogar  und  übersahen,  daß  er  sich  auch  während 
der  Unterrichtsstunden  in  dieser  Kunst  betätigte. 

Die  Familientradition  berichtet  übereinstimmend,  Friedrich 
habe  ursprünglich  Jura  studieren  und  die  Beamtenlaufbahn  ein- 
schlagen wollen.  Weshalb  er  sich  aber  anders  entschied,  darüber 
bestehen  zwei  verschiedene  Versionen.  Nach  der  einen  habe  der 
Vater  sich  einem  Studium  widersetzt  und  unter  Ausnutzung  seiner 
vollen  Autorität  den  Sohn  zum  Kaufmannsberuf  bestimmt,  für  den 


Abschied  von  der  Schule  und  Berufswahl.  15; 

dieser  keine  Neigung  verspürte ;  nach  der  anderen  hätte  Friedrich 
aus  sich  heraus  auf  das  juristische  Studium  verzichtet,  weil  er  mit 
den  freien  Anschauungen,  die  er  damals  schon  gehegt  habe,  nicht 
preußischer  Beamter  habe  werden  wollen.  Uns  will  es  scheinen,  als 
ob  diese  Überlieferungen  Wahres  und  Falsches  vermengen  und  der 
wirkliche  Zusammenhang  sich  etwas  weniger  einfach  darstellt. 
Als  Friedrich  ein  Jahr  vor  dem  Abiturientenexamen  zu  Michaelis 
1837  die  Schule  verließ,  begründete  Direktor  Hantschke,  der  als 
Pensionsvater  und  als  Freund  der  Familie  die  Motive  genau  gekannt 
haben  wird,  diesen  Schritt  in  dem  Abgangszeugnis  mit  dem  Hin- 
weis, daß  sein  Zögling  ,, statt  des  früher  beabsichtigten  Studiums" 
das  Geschäftsleben  ,,als  seinen  äußeren  Lebensberuf  zu  wählen  sich 
veranlaßt  sehe".  Der  Nachdruck  liegt  bei  dieser  Formulierung 
offenbar  auf  den  Wendungen  ,, veranlaßt  sehe"  und  ,, äußerer 
Lebensberuf".  Für  seinen  inneren  und  eigentlichen  Lebensberuf 
hielt  nämlich  der  siebzehnjährige  Primaner  die  Dichtkunst.  Manch- 
mal bestimmt  begabte  Jünglinge,  die  fühlen,  daß  vieles  in  ihnen 
noch  schlummert,  was  erweckt  werden  will,  gerade  der  Reichtum 
der  Kräfte,  die  in  ihrem  Inneren  nach  Betätigung  verlangen,  dazu, 
sich  bei  der  zu  früh  von  ihnen  geforderten  Wahl  des  äußeren  Be- 
rufs, den  sie  mit  dem  inneren  Beruf,  der  weit  vernehmlicher  ertönt, 
zunächst  in  kein  Verhältnis  setzen  können,  einem  gewissen  Fatalis-. 
mus  zu  überlassen.  Und  die  kühle  Erwägung  über  die  Gestaltung 
des  noch  so  fernen  Mannesalters  tritt  zurück  hinter  dem  unmittel-» 
baren  stürmischen  Verlangen  nach  freier  Entfaltung  der  einge^. 
borenen  Kräfte.  So  ungefähr  mochte  auch  der  Fall  für  Friedrich 
Engels  liegen.  Eine  nicht  an  eine  feste  Berufsvorbereitung  gebun^ 
dene  Lebensgestaltung,  etwa  die  des  freien  Schriftstellers,  die  auf 
ihn  damals  gewiß  den  verlockendsten  Zauber  ausübte,  war  durch 
die  kalvinistische  Tradition  der  Familie  ausgeschlossen  und  würde 
ohnedies  vor  der  väterlichen  Autorität,  gegen  die  er  noch  keine 
offene  Auflehnung  wagte,  niemals  Gnade  gefunden  haben.  Gewiß 
hat  der  junge  Feuerkopf,  den  es  vor  allem  ins  Leben  hinausverlangte, 
hin  und  her  geschwankt,  bevor  er  sich,  vom  Vater  gedrängt,  für  den 
Kaufmannsstand  entschied.  Aber  dieser  verurteilte  damals  den 
tüchtigen  Mann  noch  nicht  zu  jener  atemlosen  Rastlosigkeit  späterer 
Tage.  Weshalb  sollte  er,  so  mochte  Friedrich  denken,  nicht  auch 
als  Kaufmann  die  Möglichkeit  behalten,  in  seinen  Mußestunden 
den  Pegasus  zu  tummeln?  Platen  freilich,  dessen  Rhetorik,  die 
einen  Lassalle  bezauberte,  den  liederfrohen  Engels  kalt  ließ,  während 
sein  Charakter  und  seine  Gesinnung  ihm  Achtung  abzwangen,  hatte 
bestritten,  daß  die  Musen  sich  dem  ergeben  könnten,  der  sich  ihnen 
nicht  ganz  ergebe,  daß  es  möglich  wäre,  tagüber  bei  den  Geschäften, 


l6  Heimat,  Familie  und  Jugend. 

und  den  Abend  auf  dem  Helikon  zu  verweilen.  Aber  konnte  ein 
robuster  Wuppertaler  Bauernsproß  nicht  sich  abgewinnen,  was 
der  feinnervige  Aristokrat  für  undurchführbar  erklärte?  Erlebte 
Engels  nicht  jetzt  in  seiner  unmittelbaren  Nähe  eine  lebendige  Wider- 
legung der  Ansicht  Platens?  Seit  dem  Ausgang  des  Monats  Mai 
war  Ferdinand  Freiligrath  bei  einer  Barmer  Firma  als  Kontorist 
beschäftigt.  Wie  ihm  dabei  wirklich  zumute  war,  erfuhren  die 
Fernerstehenden  nicht;  wohl  aber  sickerte  auch  zu  ihnen  durch, 
daß  er  ,, zwischen  Journal  und  Hauptbuch"  seine  Verse  schrieb. 
Ein  preußischer  Bureaukrat  galt  jedem  guten  Rheinländer  als  ein 
lederner  Ofenhocker.  Einem  Fabrikanten  und  Kaufmann  dagegen 
bot  sich  die  Aussicht,  die  Welt  zu  sehen  und  das  Leben  in  seiner 
Fülle  zu  erschauen.  Bald  nach  seiner  Ankunft  in  Barmen  hatte 
sich  Freiligrath  an  den  später  von  ihm  als  aussichtslos  erkannten 
Versuch  gemacht,  in  die  kleinstädtisch  eingebildete,  nüchtern  pro- 
saische und  pietistische  Welt  ,, dieses  vermaledeiten  Nestes"  einen 
freieren  Ton  einzubürgern.  Und  stolz  auf  den  als  Dichter  berühm- 
ten Bsrufsgenossen  überboten  sich  anfangs  die  jungen  Kaufleute 
und  Familiensöhne,  der  ,, grüne  Adel",  wie  Freiligrath  sie  zu  nennen 
beliebte,  darin,  ihn  zu  umschwärmen  und  nachzuahmen. 

Das  war  gerade  die  Zeit,  als  Engels  die  Schule  verließ.  Leider 
wissen  wir  fast  nichts  über  das  folgende  Jahr,  während  dessen  er 
noch  in  der  Heimat  verweilte,  um  in  dem  väterlichen  Geschäft 
die  kaufmännischen  Anfangsgründe  zu  erlernen.  Als  einem  treuen 
Sohn  des  Wuppertals  lag  ihm  die  Hebung  von  Literatur  und  Dich- 
tung auf  diesem  für  die  Kunst  so  wenig  ersprießlichen  Boden  damals 
lebhaft  am  Herzen.  Er  schwärmte  für  Freiligrath,  doch  scheint 
er  diesen  nur  erst  von  weitem  verehrt  und  nachgeahmt  zu  haben. 
Seine  Gedichte  aus  dieser  Zeit  weisen  dessen  Einfluß  deutlich  auf. 
An  Farbigkeit,  Versgewandtheit  und  Kraft  des  Rhythmus  mochte 
der  schon  berühmte  Dichter  ihn  weit  übertreffen,  an  Tiefe  und 
Fülle  der  Gedanken  war  ihm  Engels  überlegen.  Wie  jener  im 
Mohrenfürsten  so  schildert  auch  er  anfänglich  fremdartige 
Gegenden,  die  sein  Auge  nie  erblickt  hatte,  und  gleich  jenem  sucht 
er  poetische  Ausbeute  in  dem  Kontrast  zwischen  dem  Glück  und 
Glanz,  dessen  Neger  und  Indianer  in  der  Freiheit  genossen,  und 
dem  Elend,  das  die  Berührung  mit  europäischer  Kultur  über  sie 
brachte.  Die  holprige,  damals  übrigens  irgendwo  zum  Druck  ge- 
langte Ballade  ,,Die  Baduinen''  ist  eine  bloße  Nachahmung  des 
Leben  des  Negers  und  des  Mohrenfürsten.  Auch  in  dem  in 
Terzinen  geschriebenen  Gedicht  Florida  wandelt  Engels,  wenn 
man  auf  die  Form  und  das  Kostüm  sieht,  in  der  Spur  Freiligraths. 
Aber  in  den  Gedanken  zeigt  sich  bei  ihm  bereits  die  politische  Ader, 


Dichterische  Anfänge.  xy 

die  in  dem  späteren  Revolutionslyriker  noch  schlummerte.  Wieder 
erinnert  hier  Engels  an  das  Unheil,  das  die  Bleichgesichter  den 
Indianern  über  den  Ozean  gebracht  haben  und  wie  die  Unterdrück- 
ten sich  dessen  bewußt  werden  und  der  Geist  der  Rache  in  ihnen 
erwacht.  Sie  beschließen,  daß  der  nächste  Weiße,  der  auf  der  Insel 
lande,  dem  Tode  geweiht  sei.  Das  Schicksal  trifft  einen  deutschen 
Jüngling,  der,  als  Mitglied  der  verbotenen  Burschenschaft  nach 
sechs  Jahren  Gefängnis  zur  Auswanderung  nach  Amerika  begnadigt, 
als  einziger  einem  Schiffbruche  entgangen  war.  Er  wird  gefangen 
und    verurteilt: 

,,Die  Freiheit  dacht*  ich  wieder  hier  zu  finden, 
Und  Freiheitskämpfer  grüßen  mich  mit  Mord, 
So  muß  ich  büßen  meiner  Brüder  Sünden!" 
Ein  Kruzifix,  das  die  Flut  heranspült,  bringt  dem  Sterbenden  die 
letzte  Tröstung! 

Dieses  Gedicht,  das  noch  der  Barmer  Zeit  angehört,  bringt  die 
erste  Anspielung  auf  politische  Zeitverhältnisse.  Wie  Engels  in 
diese  hineinwuchs,  wird  aber  besser  erst  später  im  Zusammenhang 
dargestellt. 

In  die  Welt  der  alten  deutschen  Sagen,  die  gerade  damals  in 
Simrocks  und  Marbachs  billigen  Ausgaben  der  Volksbücher  wieder 
recht  ins  Volk  zurückströmten,  hatte  schon  der  Schüler  sich  mit 
brennenden  Wangen  vertieft.  Doch  zu  keiner  ihrer  Gestallen  fühlte 
der  erwachende  Jüngling  sich  mit  ähnlicher  Begeisterung  hinge- 
zogen wie  zu  Jung-Siegfried,  nach  dessen  Heimatstadt  Xanten, 
wo  ihm  mütterliche  Verwandte  lebten,  wir  ihn  auf  seiner  ersten 
selbständigen  größeren  Reise  andachtsvoll  pilgern  sehen.  Er  fühlte 
den  gleichen  , »Tatendurst",  den  gleichen  ,, Trotz  gegen  das  Her- 
kommen" in  sich,  der  Siegfried  aus  der  Burg  seines  Vaters  trieb; 
,,das  ewige  Überlegen,  die  philiströse  Furcht  vor  der  frischen  Tat" 
war  auch  ihm  ,,von  ganzer  Seele  zuwider",  er  wollte  hinaus  in 
die  freie  Welt,  er  wollte  ,,die  Schranken  der  Bedächtigkeit  umrennen 
und  ringen  um  die  Krone  des  Lebens,  die  Tat".  Ein  dramatisches 
Fragment:  Der  gehörnte  Siegfried  ist  in  seiner  ersten  Szene 
geradezu  der  Niederschlag  der  Kämpfe,  die  sich  im  Zusammen- 
hang mit  der  Berufswahl  im  Schöße  der  Familie  Engels  abgespielt 
haben  mögen.  Da  klagt  denn  Vater  Sieghard,  daß  der  Sohn,  statt 
im  Rat  auf  die  weisen  Worte  der  Greise  zu  lauschen,  lieber  im  Walde 
umherschweife  und  sich  mit  Bären  herumschlage.  Ein  Alter  nimmt 
den  Fant  in  Schutz:  Warum  solle  dem  Achtzehnjährigen  nicht 
der  Sinn  nach  Jagd  und  Streit  stehen  ?  Der  König  lasse  ihn  nur 
gewähren  und  gegen  Drachen  und  Riesen  zu  Felde  ziehen.  Das 
Leben  werde  ihn  schon  in  seine  Lehre  nehmen,   sei   er    älter    ge- 

Mayer,    Friedrich  Engels.  Bd.  I  3 


l8  Heimat,  Familie  xind  Jugend. 

worden,  so  werde  er  die  Weisheit  schätzen  lernen,  in  die  Heimat 
zurückkehren  und  hier  sein  wahres  Glück  finden.  Wirklich  bleibt 
dem  Vater  keine  andere  Wahl,  er  muß  des  Sohnes  Wunsch  erfüllen. 
Da  überläßt  sich  dieser  stürmischem  Jubel: 

„Der  wilde  Bergstrom  gießt  sich  brausend 

Allein  durch  Waldesschlucht  voran, 

Die  Fichten  stürzen  vor  ihm  sausend, 

So  wühlt  er  selbst  sich  eine  Bahn, 

Und  wie  der   Bergstrom  will  ich  sein, 

Die  Bahn  mir  brechend  ganz  allein." 
Noch  freilich  glaubt  der  alte  Rat,  der  sich  für  Jung-Siegfrieds  künf- 
tige  Wiederkehr  eingesetzt  hatte,  den  Vater  trösten  zu  kennen: 

,,Der  Bergstrom  auch  kommt  einst  zu  Tal, 

Dann  kracht  nicht  mehr  der  Bäume  Fall, 

Dann  fließt  er  durch  die  Eb'ne  still, 

Macht  fruchtbar  rings  die  Lande, 

Der  Wellen  Wüten  wird  ein  Spiel, 

Endlich  verrinnend  im  Sande." 
Wir  aber  wissen  heute,  daß  Jung-Siegfried  recht  behalten  hat 
und  nicht  des  Vaters  alter  Freund;  der  ,, wilde  Bergstrom"  Friedrich 
Engels,  einmal  freigelassen,  ergoß  sich  in  Gegenden,  die  weit  ab- 
lagen von  jenen  Gefilden,  in  denen  der  sorgende  Vater  ihn  gern 
zurückgehalten  hätte! 


Kapitel  II. 

Religiöse  Kämpfe. 

Friedrich  Engels  zählte  zehn  Jahre,  als  die  Pariser  Julirevolu- 
tion auch  in  Deutschland  der  liberalen  Bewegung  einen  mächtigen 
Anstoß  gab  und  alle  nach  den  Befreiungskriegen  unterdrückten 
Bestrebungen  zur  Einigung  des  Vaterlandes  und  zur  Beseitigung 
des  mit  bleierner  Schwere  das  Geistesleben  belastenden  Polizeidrucks 
mit  neuer  Hoffnung  erfüllte.  In  seine  Schulzeit  fiel  freilich  auch 
die  erfolgreiche  Gegenoffensive  der  alten  Gewalten,  die  unter  Führung 
Österreichs  und  Preußens,  deren  reaktionäre  Regierungen  die  re- 
volutionäre Flut  diesmal  noch  verschont  hatte,  alle  oppositionellen 
Parteikundgebungen  in  Wort  und  Schrift  noch  einmal  unterdrückte, 
die  verhaßten  Landtage  unter  Überwachung  stellte  und  die  schwarz- 
rot-goldenen  Farben   von   neuem   verbot. 

Es  ist  nicht  bekannt,  wie  viel  oder  wie  wenig  dem  Knaben 
auf  der  Barmer  Bürgerschule  und  dem  Elberfelder  Gymnasium,  von 
den  Bestrebungen  der  radikalen  Elemente  der  Bewegungspartei 
zu  Ohren  kam,  die  in  jenen  Jahren  der  Frankfurter  Zentralbehörde 
zum  Trotz  den  von  Westen  hereinströmenden  politischen  und  ge- 
sellschaftlichen Ideen  Verbreitung  und  Einfluß  zu  erkämpfen  such- 
ten. Hätte  aber  selbst  der  Schüler  vom  Wiederaufleben  der  Dema- 
gogenverfolgung oder  vom  Verbot  der  Schriften  Heines  und  des 
jungen  Deutschland  Kenntnis  erhalten,  so  wären  diese  Vorgänge 
damals  gewiß  kaum  weniger  spurlos  an  ihm  vorübergegangen, 
wie  früher  das  Hambacher  Fest  und  der  Frankfurter  Wachensturm. 
Die  Umgebung,  in  der  er  aufwuchs  und  gegen  die  er  sich  noch  kein 
selbständiges  Urteil  hatte  bilden  können,  brachte  jenen  in  räum- 
licher und  geistiger  Ferne  sich  abspielenden  Vorgängen  schwerlich 
eine  regere  Teilnahme  entgegen.  Im  Familienkreise  und  im  Hause 
des  Lehrers  hörte  Friedrich  unzweifelhaft  mehr  als  von  Politik  von 
den  kirchlichen  Dingen  sprechen.  Am  häufigsten  dürfte  er  daheim 
über  wirtschaftliche  Zeitfragen  Unterhaltungen  beigewohnt  haben: 
das  Zustandekommen  der  Rheinschiffahrtskonvention,  die  Errich- 
tung des  Zollvereins,  die  Begründung  der  Dampfschiffahrtsgesell- 


20  Religiöse  Kämpfe. 

Schaft  für  den  Nieder-  und  Mittelrhein,  die  Eisenbahnpläne,  die  zu- 
nächst die  Verbindung  von  Elberfeld  mit  Düsseldorf  anstrebten, 
dazu  die  technischen  Fortschritte  der  Industrie  selbst  beschäftigten 
die  Fabrikantenklasse  des  erst  seit  dem  Wiener  Kongreß  Preußen 
zugeschlagenen  Großherzogtums  Berg  damals  unvergleichlich  stär- 
ker als  die  Bestrebungen  nach  Preßfreiheit  und  alle  Klagen  über  das 
uneingelöste  Verfassungsversprechen  Friedrich  Wilhelms  III.  Selbst 
über  die  politische  Zerrissenheit  Deutschlands  ereiferte  man  sich 
hier  solange  nicht,  wie  man  die  Aussicht  behielt,  die  mit  ihr  ver- 
knüpften wirtschaftlichen  Mißstände  mit  anderen  Mitteln  zu  be- 
seitigen. Wie  später  der  Elsässer  nach  seiner  Loslösung  aus  dem  fran- 
zösischen Kulturkreis,  so  blickte  der  Rheinländer  noch  mißtrauisch 
und  voll  Hochmut  auf  das  ihm  fremde  preußische  Wesen  und  die  preu- 
ßischen Institutionen  herab.  Besonders  rege  wachte  sein  Argwohn 
darüber,  daß  sein  köstlichstes  Gut,  die  Öffentlichkeit  und  Mündlich- 
keit des  Gerichtsverfahrens,  unangetastet  blieb ;  er  wäre  selbst  vor 
einer  Revolution  nicht  zurückgeschreckt,  meinten  die  Zeitgenossen 
sarkastisch,  wenn  man  von  Berlin  aus,  wie  der  verhaßte  Rheinische 
Justizminister  Kamptz  es  zu  wollen  schien,  den  Versuch  gewagt 
hätte,  den  Code  Napoleon,  das  Gesetzbuch  der  durchgebildeten 
Geldwirtschaft,  das  ihm  seither  ans  Herz  gewachsen  war,  durch 
ein  revidiertes  Allgemeines  Landrecht  zu  ersetzen,  das,  ursprüng- 
lich für  den  agrarischen  Osten  geschaffen,  in  dieser  in  industriel- 
lem und  kommerziellem  Aufschwung  befindlichen  Provinz  in  vieler 
Hinsicht  einen  Rückschritt  bedeutet  haben  würde.  Ungern  sah  der 
Rheinländer  auch,  wenn  man  ihm  zu  viele  ,,Prüß**  als  Beamte 
und  Gymnasiallehrer  ins  Land  schickte,  oder  wenn  im  Düssel- 
dorfer Kunstverein  ,,den  Ostländern"  zu  viele  Bilder  abgekauft 
wurden.  Noch  fühlte  er  sich,  wenigstens  drüben  am  linken  Ufer, 
mit  den  katholischen  und  demokratischen  Belgiern  verwandter 
als  mit  den  zugeschlossenen  und  steifen  Protestanten  aus  dem 
Alt-Preußischen.  Nun  hätte  freilich  den  Wuppertalern  die  religiöse 
Gemeinschaft  den  Anschluß  nach  Osten  erleichtern  sollen,  aber 
selbst  hier  war  man  noch  weit  davon  entfernt,  mit  den  aus  der 
preußischen  Geschichte  heraus  fortwirkenden  Kräften,  mit  der 
Tradition  des  Hohenzollernhauses  und  des  mit  ihr  verwachsenen 
Militarismus  und  Bureaukratismus,  Fühlung  zu  suchen.  Ohne 
eigenes  Zutun  preußisch  geworden,  glaubte  die  Fabrikantenklasse, 
die  im  engen  Bunde  mit  der  Geistlichkeit  hier  den  Ton  angab,  eine 
vaterländische  Gesinnung  bereits  zu  bekunden,  wenn  sie  die  Kräfte 
des  Staates  für  ihre  wirtschaftlichen  Zwecke  in  Anspruch  nahm, 
im  übrigen  aber,  zumal  in  der  geistigen  Sphäre,  die  ihr  nur  aus- 
nahmsweise näher  am  Herzen  lag,  sich  allen  liberalen  Regungen, 


Die  rheinischen  Industriellen  und  der  preußische  Staat.  21 

wie  und  wo  diese  sich  zeigen  mochten,  verschloß.  So  hat  sie  jene 
Bundestagsbeschlüsse,  die  den  modernen  Bestrebungen  von  neuem 
den  Maulkorb  anlegten,  mit  Gleichmut  aufgenommen.  Wahrschein- 
lich hielt  sie  diese  für  notwendig,  um  die  gute  bürgerliche  Ordnung 
vor  den  dunklen  Machenschaften  umstürzlerischer  Bestrebungen,  von 
denen  sie  angeblich  bedroht  war,  zu  behüten.  Die  seit  1830  geil 
ins  Korn  geschossene  oppositionelle  Literatur  war  der  Mehrzahl 
der  Wuppertaler  Bourgeois  kaum  anders  als  vom  Hörensagen  be- 
kannt ;  und  sie  mochten  um  so  eher  geneigt  sein,  diese  für  das  Werk 
einer  gefährlichen  Demagogenclique  zu  halten,  als  die  beiden  ver- 
rufenen Juden  Börne  und  Heine  an  deren  Spitze  genannt  wurden. 

Wie  gern  wüßten  wir  genauer,  zu  welcher  Zeit  und  auf  welchem 
Wege  jene  schöngeistige  Literatur,  die  damals  noch  der  beredtste 
Künder  der  liberalen  Ideen  war,  trotz  aller  Hecken  und  Zäune,  mit 
denen  Familie,  Kirche  und  Stand  ihn  umzogen,  zum  jungen  Engels 
hinübergedrungen  sind.  Vermutlich  waren  die  ersten,  die  dem 
aufhorchenden  langen  Jungen  sie  anpriesen,  ältere  Gefährten,  die, 
früher  als  er  von  der  Schulbank  entlassen,  den  burschenschaftlichen 
Bestrebungen  gewonnen  waren.  Es  fehlt  ja  nicht  an  mannigfachen 
Zeugnissen  dafür,  daß  ebenso  wie  nach  den  Freiheitskriegen  auch 
jetzt  die  Schüler  der  oberen  Gymnasialklassen  sich  für  diese  Ideale 
mitbegeisterten.  Aus  Briefen,  die  Friedrich  nicht  lange  nach  seiner 
Entfernung  aus  Barmen  an  Schwester  Marie  und  an  die  Freunde 
schrieb,  erfahren  wir,  daß  auch  er  mit  den  verbotenen  deutschen 
Farben  frühzeitig  seinen  Kultus  trieb.  ,, Schwarz,  Rot  und  Gold, 
das  sind  die  einzigen  Farben,  die  ich  leiden  mag",  gesteht  er  der 
Schwester  und  holt  den  Vers  eines  , »verbotenen  Studentenlieds** 
an,  in  dem  die  alten  Farben,  friedlicher  noch  als  hernach  im  Sturm 
der    Revolution   von   Freiligrath,  symbolisch   ausgedeutet  werden. 

Konnte  sich  der  eben  dem  Knabenalter  entwachsende  Jüngling 
im  frommen  Wuppertal,  über  dessen  geistige  Enge  zu  klagen  er 
nicht  müde  wird,  von  den  politischen  und  literarischen  Kämpfen 
der  Zeit  auch  nur  erst  eine  unvollständige,  einseitige  Kenntnis  ver- 
schaffen, so  spricht  doch  alles  für  die  Annahme,  daß  er  mit  seinen 
Sympathien  bereits  auf  dem  Wege  in  das  Lager  der  Liberalen,  der 
,, Modernen"  war,  als  ihm  im  September  1837  die  Befreiungsstunde 
schlug  und  er  nun  ,,von  des  Vaters  Burg  herab"  in  die  Ferne  hin- 
ausziehen durfte.  Immer  mächtiger  hatte  sich  in  ihm  daheim  das 
Verlangen  geregt,  den  Zeitgeist  an  seinen  Quellen  zu  belauschen 
und  damit  zugleich  in  das  Chaos  der  eigenen  religiösen  Nöte  Ordnung 
zu  bringen.  Unbehindert  durch  die  Vorurteile  der  Umgebung  wollte 
er  sich  endlich  in  die  zeitgenössische  Literatur  vertiefen  und  auch 
die   Gegner  der   „Krummacherei",  deren   Schriften  im  Wuppertal 


22  Religiöse  Kämpfe. 

kaum  anzutreffen  waren,  kennen  lernen.  Auch  um  seiner  dich- 
terischen Bestrebungen  willen,  die,  wie  wir  nicht  vergessen  wollen, 
zunächst  noch  im  Mittelpunkte  der  Hoffnungen  für  die  eigene  Zu- 
kunft standen,  verlangte  es  ihn  stürmisch  nach  engerer  Fühlung 
mit  den  Problemen  der  Zeit.  Jene  Kenntnisse  freilich,  die  sich  die 
zu  den  Universitäten  abgehenden  Schulfreunde  an  der  sicheren 
Hand  akademischer  Vorlesungen  aneigneten,  mußte  er  in  den  Muße- 
stunden, die  das  Kontor  ihm  ließ,  auf  eigene  Faust  sich  erarbeiten. 
Ging  es  notgedrungen  dabei  unsystematischer  her,  so  konnte  er 
dennoch  dem  unfehlbaren  Instinkt  seines  ,, wurzelhaften"  Wesens 
zutrauen,  daß  dieser  ihn,  schlimmstenfalls  auf  Umwegen,  vor 
die  richtige  Schmiede  führen  würde.  Und  hierin  sollte  er  sich  nicht 
täuschen!  Seine  ungewöhnliche  Spürkraft  und  Aufnahmefähigkeit 
halfen  dem  unverdrossenen  Leser,  der  er  war,  auch  an  der  Hand 
der  Bücher  und  Zeitschriften  sich  den  Weg  zu  bahnen.  Trotz  des 
Fehlens  aller,  zunächst  ihm  noch  versagten,  persönlichen  geistigen 
Anregungen  gesellte  sich  seine  nicht  für  Eigenbrödelei  geschaffene, 
sondern  auf  ein  Zusammenwirken  mit  Gefährten  hinstrebende 
Natur  in  den  nun  folgenden  Jahren  Schritt  für  Schritt  jenen  litera- 
rischen Parteigruppen  bei,  die  sich  als  die  berufenen  Träger  neuer 
auf  die  Eroberung  der  Wirklichkeit  hindrängender  Ideen  betrachten 
durften. 

Der  Vater  unseres  Friedrich  Engels  hatte  gewissenhaft  und 
reiflich  Umschau  gehalten,  bevor  er  —  auch  dann  wohl  nur  schweren 
Herzens  —  schlüssig  wurde,  welcher  fremden  Umgebung  er  die 
kaufmännische  Ausbildung  und,  was  den  Eltern  noch  wichtiger 
war,  die  fernere  Erziehung  von  Charakter  und  Geist  des  eigenwil- 
ligen Sohnes  anvertrauen  sollte.  Die  Wahl,  die  er  dann  getroffen 
hatte,  machte  seiner  väterlichen  Fürsorge  alle  Ehre:  schien  sie  doch 
jede  denkbare  Bürgerschaft  dafür  zu  bieten,  daß  der  Jüngling  im 
häuslichen  wie  im  geschäftlichen  Leben  auch  in  der  Ferne  noch 
von  Gesinnungen  umfangen  blieb,  die  sich  mit  der  Familientradition 
der  Engels  deckten  oder  wenigstens  innig  berührten.  Der  gleiche 
strenge  pietistische  Geist,  der  im  Wuppertal  herrschte,  war,  wenn 
auch  durch  die  Seeluft  ein  wenig  gemildert,  in  Bremen  tonangebend. 
,,Die  Herzen  sind  gescheuert  mit  der  Lehre  von  Johann  Calvin", 
urteilte  damals  der  Bremenser  Eduard  Beurmann  von  seinen  Lands- 
leuten, und  der  radikale  Friedrich  Saß,  ein  geborener  Lübecker, 
vergleicht  sie  gar  mit  einem  unverdaulichen  Pudding  aus  moorigem 
Kalvinismus,  aus  holländischem  Mynheerphlegma  und  Egoismus, 
zusammengerührt  in  hanseatischer  Sauce.  Auch  hier  in  Bremen 
hatten  die  Pietisten  der  Errichtung  eines  ständigen  Theaters  hef- 
tigen   Widerstand   geleistet,   und   noch    immer   füllten   neben   den 


Nach  Bremen  in  die  Lehre. 


«S 


derben  Genüssen  des  Essens  und  Trinkens,  neben  Billard  und  Whist, 
neben  Segel-  und  Pferdesport  ,, Pastoralien**  den  größten  Teil  des 
Interesses  aus,  das  in  der  neu  aufstrebenden  Hansastadt  der  Handel 
den  Großkaufherrn  übrig  ließ.  So  stand  es  wohl  auch  um  den  säch- 
sischen Konsul  Heinrich  Leupold,  Friedrichs  neuen  Prinzipal,  der 
sein  bedeutendes  Exportgeschäft  hauptsächlich  von  schlesischem 
Leinen,  aber  auch  von  anderen  Waren,  besonders  nach  Amerika 
betrieb.  Mochte  er,  der  gebürtige  Schlesier,  sich  um  die  Klüngel- 
politik des  kleinen  Stadtstaats  wenig  bekümmern,  den  Kreisen  der 
Notabein  mußte  man  ihn  zurechnen.  Ein  kirchlich  wie  politisch 
streng  konservativ  gesinnter  Herr  bot  er  dem  Geschäftsfreund, 
dessen  Sohn  unter  den  eigenen  Söhnen  Altersgenossen  vorfand,  die 
sicherste  Gewähr.  Da  er  aber  Bauherr  der  seinem  Hause  benach- 
barten St.  Martinikirche  war,  so  lag  es  nahe,  daß  Friedrich  Engels 
bei  deren  Hauptpastor  G.  G.  Treviranus  als  Pensionär  untergebracht 
wurde. 

Nach  Überwindung  rationalistischer  Jugendeindrücke  hatte 
sich  Treviranus  zwar  der  orthodoxen  Richtung  angeschlossen,  aber 
seiner  ganzen  Anlage  nach  war  er  weniger  wissenschaftlicher  Theo- 
loge als  praktischer  Seelsorger,  der  Bibelgesellschaften  und  Sonntags- 
schulen gründete  und  Vereine  für  arme  Wöchnerinnen,  für  ent- 
lassene Strafgefangene  und  protestantische  Auswanderer  ins  Leben 
rief.  Deshalb  nannte  ihn  Wichern,  der  mit  ihm  befreundet  war, 
einen  „Glaubensmann  der  Tat,  wie  ihn  gerade  die  großen  Städte 
unserer   Tage   gebrauchen**. 

Im  Hause  des  Pensionsvaters  zählte  der  frische  und  umgäng- 
liche Junge,  wie  seine  humorvollen  und  gegenständlichen  Briefe 
an  die  Schwester  bezeugen,  bald  völlig  zur  Familie:  ob  im  Hause 
ein  Schwein  geschlachtet  wurde  oder  ob  es  galt,  den  ,, wohlassortier- 
ten** Weinkeller  des  Pastors  vor  einer  Weserüberschwemmung 
zu  bewahren,  er  mußte  dabei  sein,  die  Pastorin  und  ihre  Tochter 
häkelten  ihm  in  seinen  Lieblingsfarben  schwarz-rot-gold  Geld- 
beutel und  Pfeifentroddel,  und  mit  dem  ,, Pfaffen**  selbst,  dessen 
große  Herzensgüte  er  rühmt,  kam  er  im  täglichen  Leben  trefflich  aus, 
obgleich  sein  lebendiger,  stets  beschäftigter  Geist  von  den  religiösen 
Kämpfen  der  Zeit,  wie  wir  gleich  noch  deutlicher  sehen  werden, 
zu  stark  in  Besitz  genommen  war,  als  daß  jene  praktische,  soziale 
Seite,  die  Wichern  und  Treviranus  am  Christentum  herauskehrten, 
noch  einen  entscheidenden  Einfluß  auf  ihn  hätte  ausüben  können. 
Auch  bei  der  Familie  des  Konsuls,  die  im  Geschäftshaus  wohnte, 
war  er  hier  wie  draußen  auf  ihrem  Landsitz  wohl  gelitten.  Im  Kontor 
brauchte  er  sich  nicht  zu  überarbeiten;  waren  der  alte  oder  der 
junge  Chef  zur  Tür  hinaus,  wurden  stracks  Bierflasche  und  Zigarren- 


24  Religiöse  Kämpfe. 

kiste,  wohl  auch  mal  Lenaus  Faust  oder  ein  angefangener  Brief 
aus  dem  Pult  geholt,  und  nach  dem  Essen  fand  sich  meist  ein  Stünd- 
chen, um  in  der  obersten  Etage  eines  Speichers  in  der  Hängematte, 
die  er  für  diesen  Zweck  dort  angebracht  hatte,  die  Zigarre  im  Munde 
ein  Mittagsschläfchen  zu  halten.  Freie  Tagesstunden  nutzte  Fried- 
rich reichlich  für  körperliche  Bewegung,  die  ihm  auch  späterhin 
unentbehrlich  blieb;  er  verachtete  eine  Jugend,  ,,die  das  kalte  Was- 
ser scheut  wie  ein  toller  Hund"  und  ,,die  sich  eine  Ehre  daraus 
macht,  vom  Militärdienste  frei  zu  kommen";  ihn  sehen  wir  leiden- 
schaftlich fechten,  an  Sonntagen  auf  weiten  Ausflügen  zu  Pferde 
in  die  Umgegend  streifen,  und  wir  erfahren,  daß  er  in  einem  Zuge 
vier  Mal  die  Weser  schwimmend  durchquert.  Des  Abends  treibt 
er  öfter  Musik,  die  einzige  Kunst,  die  in  der  musenfremden  Handels- 
stadt wirkliche  Pflege  findet,  wir  vernehmen,  daß  er  Choräle  kom- 
poniert und  im  Gesangverein  mitwirkt;  aber  auch  die  Union, 
den  Sammelpunkt  der  jüngeren  Handelsgehilfen,  sucht  er  auf, 
um  zu  kneipen  und  m.it  Altersgenossen  zu  schwadronieren,  eifriger 
vielleicht  noch,  weil  die  englischen  und  skandinavischen  Zeitungen, 
die  zu  lesen  er  hier  Gelegenheit  findet,  seinem  Wissensdurst  und 
seiner  ungewöhnlichen  Sprachbegabung  Nahrung  liefern.  Damals 
schon  radebrecht  der  spätere  Polyglott  in  den  Briefen  an  die  Schwester 
und  die  Freunde  spanisch  und  portugiesisch,  italienisch  und  hollän- 
disch neben  französisch  und  englisch  und  rühmt  sich  in  dem  leicht 
bramarbasierenden  Ton,  den  er  Marie  gegenüber  als  älterer  Bruder 
gern  anschlägt,  in  fünfundzwanzig  Sprachen  parlieren  zu  können. 
Das  Gebaren  der  Menschen  an  seinem  neuen  Wohnort  sagte  ihm 
wenig  zu :  dem  lebhaften  Rheinländer  fällt  es  bei  aller  Liebe  zur  platt- 
deutschen Sprache  und  obwohl  er  sich  dem  Reiz  des  Ortskolorits  mit 
offenen  Sinnen  hingibt,  schwer,  sich  mit  dem,, gräßlichabgemessenen" 
Wesen  der  Hanseaten  zu  befreunden.  Und  nun  gar  erst  die  Gesin- 
nungen, die  in  Bremen  obenauf  waren  und  an  deren  Selbstverständ- 
lichkeit hier  kein  Zweifel  geduldet  wurde!  Sie  findet  er,  nachdem 
er  ein  halbes  Jahr  dort  weilte,  genau  so  ,, obskur"  und  ,, mystisch" 
wie  in  Barmen  und  Elberfeld,  ,,Philisterei,  verbunden  m.it  religiöser 
Zelotenwirtschaft"  meint  er,  verhinderten  jeden  Aufschwung  des 
Geistes.  Kein  Wunder  also,  daß  sein  oppositionelles  Gemüt  sich 
nach  außen  Luft  zu  machen  sucht,  anfänglich  noch  kindlich  harm- 
los, indem  er  die  Lehrlinge  und  Volontäre  anderer  Firmen  über- 
redet, sich  mit  ihm  den  Philistern  zum  Ärger  die  Schnurrbarte  stehen 
zu  lassen  und  sich  um  dieses  Rechts  willen  gesellig  zusammen  zu 
schließen;  etwas  später  richtet  er  bereits  an  ein  pietistisches  Lokal- 
blatt in  jenem  salbungsvollen  Ton,  der  ihm  von  Kindheit  an  ge- 
läufig sein  mußte,  unter  falschem  Nam.en  Zuschriften,  deren  Schein- 


Äußeres  und  inneres  Erleben  in  Bremen.  25; 

heiligkeit  er,  als  die  Redaktion  ihm  auf  den  Leim  ging  und  sie  ab- 
druckte, in  frechen   Knittelversen  selbst  aufdeckt. 

Aber  jener  Friedrich  Engels,  der  sich  so  äußert  und  betätigt,, 
bedeutet  am  Ende  doch  für  uns  kaum  viel  mehr  als  eine  Fassade, 
hinter  deren  fest  geschlossenen  Fenstern  der  eigentliche  Friedrich 
Engels,  jener,  auf  den  es  dem  Biographen  ankommt,  ein  strotzend 
reiches  Innenleben  führt.  Ohne  daß  die  Umgebung  es  wahrnimmt, 
setzte  er  sich  damals  in  einer  bunten,  ausgebreiteten,  leidenschaft- 
lich betriebenen  Lektüre  voll  heißen  Atems  mit  Mächten  der  Ver- 
gangenheit und  der  Gegenwart  auseinander,  baute  hohe  Luftschlösser, 
in  denen  er  sich  als  den  Dichter  der  neuen  Generation  erblickte, 
reimte  und  schrieb,  begann  nach  außen  hin  sich  lebhaft  literarisch 
zu  betätigen  und  legte  unter  ergreifenden  Seelenkämpfen  den  Grund 
zu  seiner  philosophischen  Weltanschauung.  Mochte  die  Luft  Bre- 
mens auch  sonst  in  vieler  Hinsicht,  mehr  als  es  Engels  erwünscht 
sein  konnte,  an  die  des  Wuppertals  erinnern,  in  einem  wesentlichen 
Punkte  ging  es  hier  doch  weit  freier  zu:  die  persönliche  Unabhängig- 
keit des  einzelnen  war  größer  als  im  Preußischen,  und  eine  nach- 
sichtigere Zensur  gestattete  den  Buchhändlern,  Schriften  auszu- 
legen und  zu  vertreiben,  die  jenseits  der  schwarz-weißen  Grenz- 
pfähle aufs  strengste  verboten  waren.  Wir  erfahren  bald,  daß  Fried- 
rich einen  ganz  netten  Schmuggel  mit  verbotener  Geistesfracht 
nach  der  Heimat  hin  einrichtet,  aber  auch  daß  er  gern  beim  Anti- 
quar vorspricht  und  sich  von  dorther  den  Genuß  köstUcher  Schätze 
der  Vergangenheit  erschließt.  Jetzt  endlich  fühlt  er  sich  unbehin- 
dert und  kann  lange  Abende  und  Nächte  daran  wenden,  um  gegen 
die  ,, Konfusion",  die  er  in  seinem  Kopf  immer  höher  ansteigen 
fühlt,  nachdrücklich  und  allmählich  erfolgreich  anzukämpfen.  Da 
liest  und  überdenkt  er,  was  die  zeitgenössischen  Schriftsteller  ihm 
zu  sagen  haben  und  gern  und  willig  gibt  er  sich  den  neuen  Eindrücken 
hin,  die  sie  ihm  vermitteln.  Aber  auch  sein  kritischer  Sinn  war 
früh  erwacht;  der  läßt  ihn  das  Gute,  das  ihn  Fördernde  selbst  dort 
herausfinden,  wo  er  im  übrigen  die  Schwäche  erkennt,  die  Un- 
gereimtheit durchschaut.  Von  einem  Autor  findet  er  sich  weiter 
zum  nächsten,  von  den  Neuesten  zu  ihren  Vorläufern,  seinem  Spür- 
sinn genügte  ja  der  kleinste  Hinweis ;  auf  diesem  Wege  entdeckt 
er  sich  jetzt  die  beiden  Erzieher  seiner  nächsten  Jahre.  Durch  Gutz- 
kow wird  er  auf  Börne,  dessen  Meister,  aufmerksam  und  über  David 
Friedrich  Strauß,  dessen  Mythenlehre  ihm  in  seinen  religiösen 
Nöten  ein  kräftiges  Licht  aufsteckt,  gelangt  er  in  den  ihm  dauernd 
viel  bedeutenden  Bannkreis  Hegels.  Börnes  Schriften  bekehrten  ihn, 
wie  sich  noch  zeigen  wird,  endgültig  zum  politischen  Radikalismus, 
Hegel  weist  dem  vom  sicheren   Ufer  des  Väterglaubens  Abgetrie-- 


26  Religiöse  Kämpfe. 

benen  jenseits  des  stürmischen  Meeres  neues  festes  Land.  Und  wir 
werden  sehen,  daß  er  dieses  so  inbrünstig  begrüßte  wie  dereinst  Ko- 
lumbus die  fernen  Linien  einer  neuen  Welt. 

Im  Brennpunkt  der  pietistischen  Lehre,  wie  sie  Friedrich 
Engels  auf  den  Kanzeln  seiner  Heimatstadt  entgegengetreten  war, 
hatte  der  Sündenfall  Adams  gestanden,  der  ein  für  alle  Mal  den 
Menschen  unfähig  gemacht  habe,  aus  eigener  Kraft  das  Gute  zu 
wollen,  geschweige  es  zu  tun.  Vermochte  aber  der  Mensch  das  Gute 
aus  sich  selber  nicht  einmal  zu  wollen,  so  mußte  ihm  die  Befähigung 
dazu  von  Gott  willkürlich  verliehen  worden  sein.  Das  war  in  der 
Tat  die  Auffassung  der  strengen  Prädestinationslehre,  die  der  stimm- 
gewaltige geistliche  Despot  des  Wuppertals  verkündete.  Die  Er- 
wählten werden  selig  ohne  eigenes  Verdienst,  während  die  große 
Schar  der  anderen  auf  ewig  verdammt  bleibt.  Auf  ewig?  Ja,  auf 
ewig!  erwiderte  Friedrich  Wilhelm  Krummacher,  ohne  auch  nur 
mit  der  Wimper  zu  zucken.  Wo  wie  hier  alles  religiöse  Denken  um 
die  Erbsünde  kreiste,  da  war  kein  Boden  für  die  neueren  Bestre- 
bungen, die  es  nach  gegenseitiger  Durchdringung  des  Göttlichen  und 
des  Menschlichen  verlangte.  Der  Pietismus  des  Wuppertals  war 
unbeeinflußt  geblieben  von  der  Entwicklung  der  religiösen  Be- 
wegung im  übrigen  Deutschland,  der  rohe  Dualismus,  an  dem  er 
festhielt,  unberührt  von  dem  Geist  unserer  Dichter  und  Denker. 
Lessings  Fehde  gegen  die  Orthodoxie,  Kants  praktische  Vernunft, 
Herders  Wiedererweckung  des  geschichtlichen  Sinns,  Fichtes  Ich, 
Goethes  und  Schellings  immanente  Erfassung  der  Schöpfung,  die 
Mystik  eines  Novalis  waren  ja  am  Ende  Ausstrahlungen  der  gleichen, 
dem  Mittag  zustrebenden  Sonne,  die  erkennen  ließen,  daß  in  den 
geistig  führenden  Schichten  des  Volkes  neu  geartete  seelische 
Lebensbedürfnisse  wach  geworden  waren.  Ihre  Versöhnung  mit 
dem  alten  Glauben,  die  wichtigste  Aufgabe  der  wissenschaftlichen 
Theologie,  erstrebten  auf  entgegengesetzten  Wegen  Schleiermacher 
und  Hegel,  Gegen  die  Herabwürdigung  der  Religion  zu  einer  bloßen 
Lehre  erhob  Schleiermacher  seine  klangvolle  Stimme,  Hegel  aber 
setzte  dem  bewegungslosen  Subjektivismus,  den  der  Supranaturalis- 
mus  mit  dem  Rationalismus  teilte,  den  immanenten  Gottesbegriff  der 
Spekulation  entgegen.  Mit  beiden  Richtungen  mußte  Engels  sich  aus- 
einandersetzen, nachdem  er  aus  der  rückständigen  Umgrenztheit  der 
Wuppertaler  Zustände  herausgetreten  war.  Damit  begann  sein 
religiöser  Freiheitskampf,  von  dem  uns  seine  aufgefundenen  Briefe 
an  die  Brüder  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber  ein  so  anschauliches 
Bild  geben. 

Als  der  Achtzehnjährige  im  Herbst  1838  zum  ersten  Male  in 
<lie  Fremde  zog,  kannte  er  weder  die  Lehre  Schleiermachers  noch 


Anfänge  religiösen  Zweifels.  27 

die  der  spekulativen  Theologie,  mochte  er  als  fleißiger  Kirchen- 
besucher von  dem  Läxm,  den  seit  drei  Jahren  das  Leben  Jesu  von 
David  Friedrich  Strauß  in  den  Kreisen  der  Orthodoxen  hervorrief, 
auch  in  den  Kanzelreden  Krummachers  und  seiner  Gesinnungs- 
genossen ein  lautes  Echo  vernommen  haben.  Wir  wissen  schon, 
daß  seine  warme,  freiheitsdurstige  Seele  sich  von  jenem  Christentum, 
das  sich  in  seiner  Heimat  breit  machte,  frühzeitig  abgestoßen  fühlte, 
aber  auch  daß  sein  Versuch,  die  Religion  aus  eigener  Kraft  mit  den 
Bedürfnissen  des  Gemüts  besser  in  Einklang  zu  setzen,  scheiterte, 
da  er  nirgends  eine  Stütze  fand.  Nun  verhärtete  sich  sein  Herz,  das 
nach  liebevoll  vertrauender  Hingabe  dürstete,  immer  mehr  gegen 
jenen  engen  und  am  Buchstaben  klebenden  Geist,  der  selbst  in  seiner 
näheren  Umgebung  nirgendwo  auf  einen  hörbaren  Widerspruch 
stieß.  Haßte  er  somit  jetzt  den  ,, verdammten  schwindsüchtigen, 
ofenhöckrigen  Pietismus",  so  war  er  aber  darum  entfernt  noch  nicht 
vom  Glauben  abgefallen.  Selbst  hier  in  Bremen,  wo  nun  die  Ideen  der 
eigenen  Zeit  mit  voller  Stimme  sein  geistiges  Ohr  erreichten,  erwies 
sich  die  christliche  Gemütswelt,  in  der  er  groß  geworden  war,  an- 
fangs noch  so  mächtig  in  ihm,  daß  er  sich  an  sie  sogar  dann  noch 
klammerte,  als  sein  Denken  jetzt  zu  einem  selbständigeren  Leben 
erwachte.  Noch  im  April  1839  bezeichnete  er  sich  als  einen  ehr- 
lichen, gegen  andere  freilich  sehr  liberalen  Supranaturalisten.  Wie 
lange  er  das  noch  bleiben  werde,  wisse  er  nicht,  doch  hoffe  er  es 
zu  bleiben,  wenn  auch  bald  mehr,  bald  weniger  zum  Rationalismus 
hinneigend. 

Gleich  nachdem  er  sich  mit  diesen  Worten  stark  gemacht 
hatte,  fiel  ihm  das  Leben  Jesu  in  die  Hände.  Und  wie  bei  unzähligen 
anderen  Zeitgenossen  erschütterte  dieses  auch  bei  ihm,  je  länger  er 
es  durchdachte,  um  so  nachhaltiger,  den  Glauben  an  die  unmittel- 
bare wörtliche  Inspiration  der  heiligen  Bücher.  Strauß  Mythen- 
lehre gab  ihm  den  Schlüssel  zu  einer  historischen  Betrachtung  der 
biblischen  Urkunden  in  die  Hand.  Am  Ausgang  desselben  Monats 
April,  zu  dessen  Anfang  er  sich  als  liberalen  Supranaturalisten  be- 
zeichnet hatte,  wiederholt  er  zwar  noch  einmal  dieses  Bekenntnis, 
aber  diesmal  fügt  er  hinzu,  daß  er  nunmehr  ,,das  Orthodoxe"  ab- 
gelegt habe.  Er  hoffe  sich  in  Übereinstimmung  mit  der  Bibel  zu 
befinden,  auch  wenn  er  nicht  mehr  glauben  könne,  daß  ein  Rationa- 
list, der  von  ganzem  Herzen  das  Gute  zu  tun  suche  und  der  Erb- 
sünde aus  aller  Kraft  widerstehe,  ewig  verdammt  sein  könne.  Und 
er  fährt  fort:  „Wenn  man  achtzehn  Jahre  alt  wird,  Strauß,  die 
Rationalisten  und  die  Kirchenzeitung  kennen  lernt,  so  muß  man 
entweder  alles  ohne  Gedanken  lesen,  oder  anfangen,  an  seinem 
Wuppertaler   Glauben  zu   zweifeln.      Ich   begreife  nicht,    wie   die 


28  Religiöse  Kämpfe. 

orthodoxen  Prediger  so  orthodox  sein  können,  da  sich  doch  offen- 
bare Widersprüche  in  der  Bibel  finden  .  .  .  Christi  ipsissima  verba, 
worauf  die  Orthodoxen  pochen,  lauten  in  jedem  Evangelium  anders, 
vom  alten  Testament  garnicht  zu  reden.  Aber  in  dem  lieben  Barmen 
wird  einem  das  nicht  gesagt,  da  wird  man  nach  ganz  anderen  Grund- 
sätzen unterrichtet.  Und  worauf  gründet  sich  die  alte  Orthodoxie  ? 
Auf  nichts,  als  auf  —  den  Schlendrian.  Wo  fordert  die  Bibel  wört- 
lichen Glauben  an  ihre  Lehre,  an  ihre  Berichte  ?  Wo  sagt  Ein  Apostel, 
daß  alles,  was  er  erzählt,  unmittelbare  Inspiration  ist?  Das  ist  kein 
Gefangennehmen  der  Vernunft  unter  den  Gehorsam  Christi,  was 
die  Orthodoxen  sagen,  nein,  das  ist  ein  Töten  des  Göttlichen  im 
Menschen,  um  es  durch  den  toten  Buchstaben  zu  ersetzen." 

Nachdem  er  einmal  die  Unmöglichkeit  jener  wörtlichen 
Inspiration,  wie  sie  ihm  daheim  immer  verkündet  worden  war,  er- 
kannt hatte,  tauchte  zunächst  die  Frage  vor  ihm  auf,  wie  weit 
überhaupt  die  Inspiration  der  Bibel  gehe.  Hat  Gott  auf  den  Wort- 
laut der  Heiligen  Bücher  einen  Einfluß  ausgeübt?  Weshalb  faßte 
er  dann  den  Wortlaut  der  Abendmahlslehre  nicht  gleich  so,  daß  der 
Jahrhunderte  währende  unselige  Streit  zwischen  Lutherischen  und 
Reformierten,  den  seine  Allwissenheit  mitsamt  seinen  schlimmen 
Wirkungen  voraussehen  mußte,  vermieden  wurde  ?  ,,Ist  einmal 
Inspiration  da,  so  gelten  hier  nur  zwei  Fälle:  entweder  Gott  hat  es 
absichtlich  getan,  um  den  Streit  hervorzurufen,  was  ich  Gott  nicht 
aufbürden  mag,  oder  Gott  hat  es  übersehen,  was  ditto  unstatthaft 
ist."  Und  hier  zum  ersten  Male  zieht  Engels  die  weitere  Folgerung: 
,,Ist  ein  Widerspruch  da,  so  ist  der  ganze  Bibelglaube  zerstört." 
Seinem  Freunde,  dem  Sohne  eines  orthodoxen  Wuppertaler  Pastors, 
gesteht  er  hier  gerade  heraus,  daß  er  hinfort  nur  noch  jene  Lehre 
für  göttlich  halten  könne,  die  vor  der  Vernunft  aufrecht  bliebe. 
,,Wer  gibt  uns  das  Recht,  der  Bibel  blindlings  zu  glauben?  Nur 
die  Autorität  derer,  die  es  vor  uns  getan  haben."  Die  Bibel  bestehe 
aus  vielen  Stücken  vieler  Verfasser,  von  denen  viele  nicht  einmal 
selbst  Anspruch  auf  Göttlichkeit  machten.  Und  wir  sollten  unserer 
Vernunft  zuwider  eine  solche  annehmen,  bloß  weil  unsere  Eltern 
es  uns  sagen  ?  Die  Bibel  lehre  auch  ewige  Verdammnis  des  Ra- 
tionalisten. Aber  sollte  er  noch  glauben,  daß  ,, Börne,  Spinoza, 
Kant",  Männer,  die  ihr  Leben  lang  nach  der  Vereinigung  mit  Gott 
strebten,  ja,  daß  ein  Gutzkow,  dem  es  das  höchste  Lebensglück  wäre, 
den  Punkt  aufzufinden,  wo  sich  das  positive  Christentum  und  die 
Bildung  der  Zeit  verschwistert  darstellten,  nach  dem  Tode  ewig, 
ewig  von  Gott  entfernt  blieben  ?  ,,Wir  sollen  keine  Fliege  peinigen, 
die  uns  Zucker  stiehlt,  und  Gott  sollte  einen  solchen  Mann,  dessen 
Irrtümer  ebenso  unbewußt  sind,  zehntausendmal  so  grausam  und 


Bruch  mit  der  Orthodoxie. 


29 


in  alle  Ewigkeit  peinigen  ?"  Auch  die  zweideutige  Stellung  der 
Orthodoxie  zur  modernen  Bildung  erregt  nun  sein  Mißfallen.  Wie 
könne  sie  nur  zugleich  darauf  pochen,  daß  das  Christentum  die 
Bildung  überall  hin  mitgebracht  habe,  und  dieser  plötzlich  gebieten 
wollen,  mitten  in  ihrem  Fortschritt  stehen  zu  bleiben?  Wozu  treibe 
man  gar  Philosophie,  wenn  man  mit  der  Bibel  glaube,  daß  Gott 
für  die  Vernunft  unerkennbar  sei?  Die  Orthodoxen  hätschelten 
die  Naturwissenschaft,  wo  diese  zufällig  einmal  zu  ähnlichen  Er- 
gebnissen gelange  wie  die  mosaische  Urgeschichte,  aber  sie  ver- 
dammten sie,  sobald  sie  dieser  widerspräche.  Wo  bleibe  da  die 
Aufrichtigkeit? 

Gerade  weil  Engels  die  Religion  daheim  ausschließlich  in  ihrem 
schwärzesten  Gewände  entgegengetreten  war,  mußte  eine  solche 
Flut  von  Zweifeln  mit  dem  Moment  über  ihn  hereinbrechen,  wo 
er  sich  zu  dem  Bekenntnis  gezwungen  sah,  daß  Menschen  bei  der 
Entstehung  der  heiligen  Bücher  mitgewirkt  hätten.  Das  Studium 
der  Schriften  von  D.  F.  Strauß  hatte  ihn  davon  überzeugt,  daß  die 
in  der  Bibel  vorkommenden  Widersprüche  die  Annahme  einer  wört- 
lichen göttlichen  Inspiration  ausschlössen.  Sobald  aber  sein  klarer 
Geist  diesen  Gedanken  zu  Ende  dachte,  befand  er  sich  bereits  mitten 
im  Strudel  des  theologischen    und  philosophischen  Tageskampfes, 

Doch  noch  einmal  erhob  nun,  wo  die  Zweifel  sich  immer  zahl- 
reicher bei  ihm  einnisteten,  sein  ursprüngliches  religiöses  Empfinden 
laut  seine  Stimme.  Wie  hätte  es  auch  still  verlöschen  können,  jetzt, 
da  alles  in  ihm  wetterte  und  stürmte  ?  Frühzeitig  hatte  seinem  tie- 
feren Gefühl  jene  Sündenlehre  widerstrebt,  die  allen  Andersgläubigen 
das  Heil  verweigerte.  Jetzt  wollte  er  eine  Erlösungslehre  nicht  mehr 
gelten  lassen,  nach  der  eine  Handlung,  die  den  Menschen  als  Un- 
recht erscheinen  würde,  vor  Gott  zur  höchsten  Gerechtigkeit  wurde. 
Ihm  lag  es  fern,  bestreiten  zu  wollen,  daß  das  positive  Christentum 
,,vom  tiefsten  Bedürfnis  der  menschlichen  Natur,  dem  Sehnen  nach 
Erlösung  von  der  Sünde  durch  die  Gnade  Gottes  ausging".  Aber 
durch  die  Unduldsamkeit  und  den  Zwang,  die  es  auf  dem  Wege 
zu  einem  so  hohen  Ziel  übte,  hatte  es  ihn  endgültig  und  für  immer 
zurückgestoßen.  Nun  hoffte  er  auf  eine  ,, radikale  Veränderung 
im  religiösen  Bewußtsein  der  Welt".  Zwar  fühlte  er  sich  noch  von 
Unklarheit  umgeben,  aber  das  Bewußtsein  verließ  ihn  nicht  m.ehr, 
daß  er  sich  jetzt  auf  einem  Wege  befand,  der  ihm  zwar  nach  außen 
„die  größten  Unannehmlichkeiten,  doch  im  Innern  den  Frieden 
zurückbringen  würde". 

Solch'  eine  Seelenverfassung,  die  noch  immer  nach  Aussöh- 
nung mit  dem  wahren  Gehalt  des  Christentums  verlangte,  hätte 
ihn  besonders  empfänglich  stimmen  können  für  die  Lehre  Schleier- 


30  Religiöse  Kämpfe. 

machers,  die  er  im  Frühsommer  1839  kennen  lernte:  „Das  ist  denn 
doch  noch  ein  vernünftiges  Christentum",  ließ  er  sich  im  Juli  zu 
Friedrich  Graeber  vernehmen,  „das  leuchtet  doch  jedem  ein,  auch 
ohne,  daß  man  es  grade  annimmt . . .  Hätte  ich  die  Lehre  früher  ge- 
kannt, ich  wäre  nie  ein  Rationalist  geworden,  aber  wo  hört  man  so 
was  in  unsrem  Muckertale  ?  Ich  habe  eine  rasende  Wut  auf  diese 
Wirtschaft".  Nun  unterstand  das  Verlangen  des  Herzens  in  dem 
klaren  Geist  des  vorwärts  Stürmenden  bereits  dem  noch  heißeren 
Drange  nach  fester  Erkenntnis.  Gerade  dessen  Befriedigung  aber 
versprach  ihm  die  spekulative  Theologie.  Nur  D.  F.  Strauß  und 
der  linke  Flügel  der  Hegeischen  Schule,  das  sah  er  bereits,  konnten 
ihm  auf  theologischem  Gebiete  zu  sicheren  Ergebnissen  von  der 
Art  führen,  wie  er  sie  sich  wünschte.  Deshalb  wollte  er  künftig  nicht 
länger  Zugeständnisse  an  Forderungen  machen,  die  vor  der  Wissen- 
schaft, in  deren  Entwicklung  jetzt  die  ganze  Kirchengeschichte 
läge,  nicht  bestehen  könnten.  Die  Jugendfreunde,  die  ihn  so  auf 
abschüssiger  Bahn  in  die  Nacht  des  Unglaubens  hinabgleiten  sahen, 
wären  ihm  gern  zu  Hilfe  gekommen.  Aber  die  wiederholten  Ver- 
suche, besonders  Friedrich  Graebers,  stießen  bei  ihm  auf  überlegenen 
Widerstand.  Wie  sollte  Engels  jetzt  noch  davon  hören  wollen,  daß 
der  Mensch  allein  durch  Gottes  Gnade  und  nicht  auch  durch  die 
Kraft  der  eigenen  Vernunft  zur  Gewißheit  gelangen  könne  ?  Das 
selige  Gefühl,  das  jeder  habe,  der  sich  in  innige,  herzliche  Beziehung 
zu  Gott  setzt,  möge  er  Rationalist  sein  oder  Mystiker,  wußte  er  zu 
schätzen.  Aber  dieses  selige  Gefühl,  das  war  ihm  unerschütterliche 
Gewißheit  geworden,  schöpfte  gerade  seine  tiefste  Kraft  aus  der 
Aufhebung  jenes  starren  Dualismus,  an  den  der  orthodoxe  Supra- 
naturalismus  sich  festkrampfte.  Noch  einmal  findet  er  im  Juli 
1839  schöne  und  starke  Worte  des  Bekenntnisses  zu  einem  Christen- 
tum, bei  dem  auch  er  Ruhe  zu  finden  vermöchte.  Dieses  Christen- 
tum müßte  in  dem  Bewußtsein  wurzeln,  daß  die  Menschheit  gött- 
lichen Ursprungs  ist  und  daß  der  einzelne  Mensch,  da  er  ein  Teil 
der  Gottheit  ist,  niemals  verloren  gehe,  sondern  nach  unzähligen 
Kämpfen  in  dieser  wie  in  jener  Welt,  vom  Sterblichen  und  Sünd- 
lichen entkleidet,  in  den  Schoß  der  Gottheit  zurückkehre.  Auch 
von  sich  selbst  gesteht  Engels,  den  die  Mächte  seiner  Kindheit  nicht 
auf  einmal  losließen,  daß  er  einen  tiefliegenden  Drang  zur  Sünde 
in  sich  spüre.  Aber  er  könne  als  denkender  Mensch  unmöglich 
glauben,  daß  seine  Sünden  durch  die  Verdienste  eines  Dritten  ge- 
hoben werden.  Die  Sündlichkeit  des  Menschen  sei  dadurch  bedingt, 
daß  die  Idee  der  Menschheit  mit  Notwendigkeit  nur  einer  unvoll- 
kommenen Realisierung  fähig  sei.  Aber  das  dürfe  den  einzelnen 
nicht  abhalten,    danach  zu  streben,    in  sich  diese  Idee  möglichst 


Hinwendung  zur  spekulativen  Theologie.  31 

vollkommen  zu  realisieren  und  damit  an  geistiger  Vollendung  Gott 
möglichst  nahe  zu  kommen.  Für  strafwürdig,  schreibt  er,  erkenne 
auch  er  sich,  und  wenn  Gott  ihn  strafen  wolle,  möge  er  es  tun; 
doch  unmöglich  könne  es  seinem  Glauben  oder  auch  nur  seinem 
Denken  einleuchten,  daß  der  geringste  Teil  von  Geist  für  ewig  von  der 
Vereinigung  mit  Gott  ausgeschlossen  bleiben  solle.  Wohl  wäre  es 
wahr,  daß  alles  Gnade  ist,  was  Gott  tut,  aber  nicht  minder  wahr  sei» 
daß  auch  in  den  Taten  Gottes  die  Notwendigkeit  walte.  Gerade 
die  Einigung  dieser  Widersprüche  mache  einen  bedeutenden  Teil 
von  Gottes  Wesen  aus.  Friedrich  Graeber  hatte  es  als  das  größte 
Glück  des  Gläubigen  gepriesen,  daß  er  niemals  zu  zweifeln  brauche. 
Damit  machte  er  auf  den  Freund  jetzt  keinen  Eindruck  mehr. 
Nicht  zweifeln  zu  können,  erwiderte  ihm  dieser,  sei  nicht  Geistes- 
freiheit, sondern  die  größte  Geistesknechtschaft;  frei  sei  nur  jener, 
der  jeden  Zweifel  an  seinen  Überzeugungen  besiegt  habe.  Dem 
Gefühl  gesteht  der  angehende  Hegelianer  nur  die  Kraft  der  Bestäti- 
gung, nicht  der  Begründung  zu.  Engels  will  nicht  leugnen,  da- 
mals glücklich  gewesen  zu  sein,  als  er  noch  seinen  Kinderglauben 
hatte ;  aber  auch  jetzt  fühle  er  sich  glücklich.  Er  vermisse  weder 
die  Zuversicht  noch  die  Freudigkeit  zum  Beten;  er  kämpfe  und 
bedürfe  deshalb  der  Stärkung.  Die  religiöse  Überzeugung  sei  Sache 
des  Herzens  und  habe  auf  das  Dogma  nur  insofern  Bezug,  als  die-^ 
sem  vom  Gefühl  widersprochen  werden  könne.  Gewiß  vermöge 
der  Geist  Gottes  dem  Gläubigen  durch  das  Gefühl  das  Zeugnis 
von  seiner  Gottkindschaft  zu  geben,  aber  er  vermöge  ihm  nicht 
zu  bezeugen,  daß  er  diese  Kindschaft  dem  Tode  Christi  verdanke. 
Denn  das  Gefühl  sei  nicht  fähig  zu  denken,  das  Ohr  nicht  fähig  zu 
sehen. 

Solche  Worte  lassen  neben  dem  wachsenden  Einfluß  der  auf 
Hegel  fußenden  spekulativen  Theologie  auch  den  tiefwirkenden 
Eindruck  Schleiermachers  erkennen,  dessen  Lehre  Engels  zu  spät  er- 
reicht hatte.  Frühzeitig  gewöhnte  sich  in  solchen  harten  Kämpfen 
seine  Natur,  die  Regungen  des  Gefühlslebens  hinter  einer  dichten 
Hecke  von  Sachlichkeit  und  verwegenem  Humor  zu  verbergen. 
Um  so  aufmerksamer  horchen  wir  auf,  wenn  er  hier  noch  ein- 
mal, von  Schleiermachers  großem  Herzen  im  Innersten  berührt, 
unmittelbar  aus  dem  Gefühl  heraus  seine  Seele  erleichtert:  ,,Ich 
bete  täglich",  schreibt  er,  ,,ja  fast  den  ganzen  Tag  um  Wahrheit,, 
habe  es  getan,  sobald  ich  anfing  zu  zweifeln,  und  komme  doch 
nicht  zu  Eurem  Glauben  zurück;  und  doch  steht  geschrieben: 
Bittet,  so  wird  Euch  gegeben.  Ich  forsche  nach  Wahrheit,  wo  ich 
nur  Hoffnung  habe,  einen  Schatten  von  ihr  zu  finden,  und  doch, 
kann  ich   Eure   Wahrheit  nicht  als  die  ewige  anerkennen.     Und 


32  Religiöse  Kämpfe. 

doch  steht  geschrieben:  Suchet  so  werdet  Ihr  finden.  Wer  ist  unter 
Euch,  der  seinem  Kinde,  das  ihn  um  Brot  bittet,  einen  Stein  bietet? 
Wieviel  mehr  Euer  Vater  im  Himmel?  Die  Tränen  kommen  mir 
in  die  Augen,  indem  ich  dies  schreibe.  Ich  bin  durch  und  durch 
bewegt,  aber  ich  fühle  es,  ich  werde  nicht  verloren  gehen,  ich  werde 
zu  Gott  kommen,  zu  dem  sich  mein  ganzes  Herz  sehnt,  und  das 
ist  auch  ein  Zeugnis  des  heiligen  Geistes,  darauf  lebe  ich  und  sterbe 
ich,  ob  auch  zehntausend  Mal  in  der  Bibel  das  Gegenteil  steht.  Und 
täusche  Dich  nicht,  Fritz,  ob  Du  so  sicher  tust,  ehe  Du  Dich  ver- 
siehst, kommt  auch  so  ein  Zweifel,  und  da  hängt  die  Entscheidung 
Deines  Herzens  oft  vom  kleinsten  Zufall  ab.  —  Aber  daß  auf  den 
inneren  Frieden  der  dogmatische  Glaube  keinen  Einfluß  hat,  weiß 
ich  aus  Erfahrung  .  .  .  Du  liegst  freilich  behaglich  in  Deinem  Glau- 
ben, wie  im  warmen  Bett  und  kennst  den  Kampf  nicht,  den  wir 
durchzumachen  haben,  wenn  wir  Menschen  es  entscheiden  sollen, 
ob  Gott  Gott  ist  oder  nicht ;  Du  kennst  den  Druck  solcher  Last  nicht, 
die  man  mit  dem  ersten  Zweifel  fühlt,  der  Last  des  alten  Glaubens, 
wo  man  sich  entscheiden  soll,  für  oder  wider,  forttragen  oder  ab- 
schütteln; aber  ich  sage  es  Dir  nochmals.  Du  bist  vor  dem  Zweifel 
so  sicher  nicht,  wie  Du  wähnst,  und  verblende  Dich  nicht  gegen 
die  Zweifelnden  .  .  .  Die  Religion  ist  Sache  des  Herzens,  und  wer 
ein  Herz  hat,  der  kann  fromm  sein;  wessen  Frömmigkeit  aber  im 
Verstände  oder  auch  in  der  Vernunft  Wurzel  hat,  der  hat  gar  keinen. 
Aus  dem  Herzen  sprießt  der  Baum  der  Religion,  und  überschattet 
den  ganzen  Menschen  und  saugt  seine  Nahrung  aus  der  Luft  der 
Vernunft;  seine  Früchte  aber,  die  das  edelste  Herzblut  in  sich  tragen, 
das  sind  die  Dogmen;  was  drüber  ist,  das  ist  vom  Übel.  Das  ist 
Schleiermachers  Lehre  und  dabei  bleibe  ich". 

So  wogte  es  in  der  Seele  des  Jünglings,  der  um  seinen  Gottes- 
glauben rang.  Endgültig  hinter  ihm  lag  die  starre  Orthodoxie,  die 
-sich  nicht  scheute,  die  große  Mehrzahl  der  Menschen  den  Flammen 
der  Hölle  auszuliefern.  Noch  hallte  seine  Seele  wider  von  der  ver- 
innerlichten  Erlösungslehre  Schleiermachers,  von  deren  Berufung 
an  das  dem  Menschen  durch  die  Erfahrung  unmittelbar  gegebene 
religiöse  Gefühl.  Aber  sein  so  stark  zur  Betätigung  in  weiten  Lebens- 
kreisen hindrängendes  Wesen  mußte  auf  intellektuellem  Wege  mit 
dem  religiösen  Problem  fertig  werden.  Wie  anders  konnte  er  sonst 
als  Kämpfer  für  die  Ideen  der  Zeit,  zu  denen  er  sich  mit  Begeisterung 
bekannte,  auftreten?  Ihm  war  es  nicht  gegeben,  sich  bei  einer 
Rsligionsphilosophie  zu  beruhigen,  nach  der  nur  das  Gefühl  und 
nicht  auch  die  Vernunft  die  Einheit  des  Universums  erfaßte.  So 
erwies  sich  die  spekulative  Theologie  als  der  stärkere  Magnet: 
^,Ich  bin  jetzt  begeisterter  Straußianer",  schreibt  er  im  Oktober  1839 


Der  neue  Gottesbegriff.  33 

an  Wilhelm  Graeber,  „kommt  mir  jetzt  nur  her,  jetzt  habe  ich  Waf- 
fen, Schild  und  Helm,  jetzt  bin  ich  sicher;  kommt  nur  her,  und  ich 
will  Euch  kloppen  trotz  Eurer  Theologia,  daß  Ihr  nicht  wissen  sollt, 
wohin  flüchten  .  .  .  Wenn  Ihr  den  Strauß  widerlegen  könnt  —  eh 
bien,  dann  werde  ich  wieder  Pietist." 

Den  Briefen  dieses  Herbstes  merkt  man  an,  daß  Engels  sich 
allmählich  mit  der  Abkehr  von  dem  Glauben  der  Eltern  und  der 
Heimat,  die  ihn  anfänglich  überrascht  und  erschüttert  hatte,  ab- 
zufinden beginnt.  Er  bezeugt  uns  im  Oktober:  ,,die  tausend  Haken, 
mit  denen  man  am  Alten  hing,  lassen  los  und  haken  sich  wo  anders 
ein".  Und  in  den  Disputationen  mit  den  Freunden  geht  er  jetzt 
aus  der  Verteidigungsstellung,  in  der  sich  seine  Natur  niemals  be- 
hagte,  zum  entschiedenen  Angriff  über.  Sie  mit  ihrer  Rechtgläubig- 
keit, schreibt  er,  mögen  ihn  immerhin  ganz  und  gar  verloren  geben, 
er  bleibe  doch  dabei,  das  historische  Fundament  der  Orthodoxie 
sei  unwiederbringlich  dahin  und  das  dogmatische  werde  ihm  nach- 
sinken. Wollten  die  Freunde  ihn  nicht  mehr  als  Christen  aner- 
kennen, so  sei  ihm  auch  dieses  nur  ridikül:  lieber  ein  guter  Heide 
als  ein  schlechter  Christ! 

Daß  Freudigkeit  und  das  Gefühl  der  Sicherheit  ihm  wieder- 
gekehrt waren,  verdankte  Engels  stärker  als  Strauß  dessen  großem 
Meister  Hegel.  ,,Ich  bin  jetzt  durch  Strauß  auf  den  strikten  Weg 
zum  Hegeltum  gekommen",  schreibt  er  im  Dezember  1839,  ,,  .  .  ich 
muß  schon  bedeutende  Dinge  aus  diesem  kolossalen  System  in 
mich  aufnehmen".  Daß  er  Hegels  Gottesidee  sich  angeeignet  habe, 
daß  dessen  Geschichtsphilosophie  ihm  aus  der  Seele  geschrieben 
sei,  besagt  schon  ein  Brief  aus  dem  November.  ,,Die  ungeheuren 
Gedanken  packen  mich  auf  eine  furchtbare  Weise",  gesteht  er 
über  ihre  Lektüre.  Und  er  spottet  über  die  Pietisten,  die  ein  System 
stürzen  wollen,  ,,das  aus  Einem  Guße,  keiner  Klammern  bedarf, 
um  sich  zu  halten".  Wie  lange  hatte  er  sich  gesehnt,  einen  großen 
Gedanken  zu  finden,  ,,der  die  Gärung  aufklärt  und  die  Glut  zur 
lichten  Flamme  anhaucht"!  Der  Gott  Hegels,  „des  Haus  nicht  von 
Menschenhänden  gemacht  ist,  der  die  Welt  durchhaucht  und  in 
der  Wahrheit  angebetet  sein  will",  bringt  ihm  Ersatz  für  den  per- 
sönlichen Gott  seines  Kinderglaubens.  Und  der  Gottessucher,  der 
er  noch  war,  erfaßte  diesen  neuen  Gottesbegriff  mit  der  ganzen 
religiösen  Inbrunst  einer  aufgewühlten  jungen  Seele.  Das  erste  Mal> 
als  jener  ihm  aufging,  war  es  ihm  wie  eine  Offenbarung.  Er  ge- 
steht es  uns  selbst  in  einer  im  Stil  der  Zeit  ein  wenig  kapriziös  ge- 
haltenen Beschreibung  einer  Reise,  die  er  im  Frühling  1840  unter- 
nahm. Diese  führte  ihn  durch  Westfalen  zunächst  in  die  Heimat 
und   von  hier  nach   Holland,  anscheinend  auch  schon  zu  einem 

Mayer,  Fritdrich  Engeli.    Bd.  I  3 


34  Religiöse  Kämpfe. 

flüchtigen  ersten  Aufenthalt  nach  England,  von  wo  er  dann  zur 
See  nach  Bremen  zurückgekehrt  sein  mag.  Nur  aus  einem  „Land- 
schaften" überschriebenen  Aufsatz  in  Gutzkows  Telegraph  für 
Deutschland  besitzen  wir  übrigens  Kunde  von  dieser  Reise.  Auf 
dem  Dampfschiff  zwischen  Rotterdam  und  London  überwältigt 
ihn  das  selige  Gefühl,  daß  seine  Seele  nun  hinausfliege  aus  den 
philiströsen  Dämmen,  aus  der  enggeschnürten  kalvinistischen 
Orthodoxie  in  das  Gebiet  des  freiwogenden  Geistes.  Er  sieht  Hel- 
voetsluys  verschwinden,  die  Waalufer  rechts  und  links  in  den  höher 
aufjubelnden  Wellen  versinken,  das  sandige  Gelb  des  Wassers  sich 
in  Grün  verwandeln;  und  da  vergißt  er  „was  dahinter  ist",  und 
mit  frohem  Herzen  stürmt  die  Seele  hinaus  in  die  dunkelgrüne, 
durchsichtige  Flut!  Er  schaut  in  die  Wogen,  wie  sie,  vom  Kiele 
zerteilt,  den  weißan  Schaum  weit  hinausspritzen,  der  Blick  streift 
über  die  ferne,  grüne  Fläche,  wo  die  schäumenden  Wellenhäupter 
in  ewiger  Unruhe  auftauchen,  wo  die  Sonnenstrahlen  aus  tausend 
Spiegeln  in  das  Auge  zurückfallen,  wo  das  Grün  des  Meeres  mit  dem 
spiegelnden  Himmelsblau  und  Sonnengold  zu  einer  wunderbaren 
Farbe  verschmilzt:  ,,Da  entschwinden  Dir  alle  kleinlichen  Sorgen, 
alle  Erinnerungen  an  die  Feinde  des  Lichts  und  ihre  hinterlistigen 
Ausfälle  und  Du  gehst  auf  im  stolzen  Bewußtsein  des  freien,  un- 
endlichen Geistes  I  Ich  habe  nur  einen  Eindruck,  dem  ich  diesen 
vergleichen  konnte;  als  sich  zum  ersten  Male  die  Gottesidee  des 
letzten  Philosophen  vor  mir  auftat,  dieser  riesenhafteste  Gedanke 
des  neunzehnten  Jahrhunderts,  da  erfaßten  mich  dieselben  seligen 
Schauer,  da  wehte  es  mich  an,  wie  frische  Meerluft,  die  vom  reinsten 
Himmel  herniederhaucht;  die  Tiefen  der  Spekulation  lagen  vor 
mir  wie  die  unergründliche  Meerflut,  von  der  das  zum  Boden  strebende 
Auge  sich  nicht  abwenden  kann;  in  Gott  leben,  weben  und  sind 
wir!  Das  kommt  uns  auf  dem  Meere  zum  Bewußtsein;  wir  fühlen,, 
daß  alles  um  uns  und  wir  selbst  von  Gott  durchhaucht  sind;  die 
ganze  Natur  ist  uns  so  verwandt,  die  Wellen  winken  uns  so  ver« 
traut  zu,  der  Himmel  breitet  sich  so  liebeselig  um  die  Erde,  und 
das  Licht  der  Sonne  hat  einen  so  unbeschreiblichen  Glanz,  daß  man 
meint,  es  mit  Händen  greifen  zu  können."  Der  Leser  fühlt  es:  in 
der  Gottheit  lebendiges  Kleid,  das  er  Hegel  dankt,  verweben  sich 
dem  Sprößling  der  Pietistenfamilie  unversehens  auch  leuchtende 
Fäden,  die  der  alte  Jacob  Böhme,  Spinoza,  Goethe  und  Shelley 
ihm  darreichten. 


Kapitel  III. 

Politische  Anfänge. 

Es  ist  ein  gemeinsamer  Zug,  der  durch  alles  geht,  was  das 
geistige  Leben  Deutschlands  in  den  dreißiger  Jahren  in  eine  wach- 
sende fiebrige  Bewegung  versetzte,  daß  überall,  wo  Meinungen  sich 
gegenüberstanden  —  und  es  gab  bald  kein  Gebiet  mehr,  wo  dies 
nicht  der  Fall  war  —  für  oder  wider  die  Autorität  gestritten  wurde. 
Nun  hatte  das  gewaltige  Beispiel  der  großen  französischen  Revolu- 
tion den  konservativen  Staatslenkern  gezeigt,  daß  eine  Schild- 
erhebung gegen  die  Autorität,  mochte  sie  auf  kirchlichem,  staat- 
lichem oder  gesellschaftlichem  Boden  ihren  Ausgangspunkt  neh- 
men, alle  autoritativen  Mächte  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen  droht. 
Zwar  war  es  der  heiligen  Allianz  unter  gewaltigen  Opfern  gelungen, 
die  alte  Staatenordnung  im  wesentlichen  wieder  herzustellen  und 
auch  innerhalb  der  Staaten  den  Einfluß  der  alten  Autoritäten  noch 
einmal  zu  befestigen.  Doch  die  Mächte  der  Revolution,  nur  zeit- 
weise unterjocht,  nicht  endgültig  ausgerottet,  begannen  bald  wieder 
an  den  eisernen  Ketten  zu  rütteln  mit  denen  man  sie  gefesselt 
hatte,  und  die  Kraft,  mit  der  es  geschah,  wurde  der  Schrecken  der 
Machthaber.  Weil  er  sich  der  Mühe  bewußt  blieb,  die  es  gekostet 
hatte,  die  Hydra  zu  bändigen  und  weil  er  den  erzielten  Erfolg 
nicht  ein  zweites  Mal  in  Frage  zu  stellen  wagte,  erblickte  Fürst 
Metternich,  die  Seele  der  siegreichen  Restauration,  in  der  Wiener 
Kongreßakte  einen  Felsstein,  den  man  auf  den  Eingang  zur  Hölle 
gewälzt  hatte.  Sie  wurde  ihm  ein  Rührmichnichtan,  und  die  Auf- 
rechterhaltung des  Status  quo  innerhalb  und  außerhalb  Deutsch- 
lands und  hier  wieder  in  allen  Bereichen  des  Lebens  und  Wirkens 
die  Richtschnur  seiner  Politik.  Der  neugeprägten  konservativen 
Weltanschauung,  die  aus  solcher  geschichtlichen  Konstellation 
ihre  stärkste  Nahrung  sog,  galt  die  unbedingte  Verflochtenheit  aller 
autoritativen  Interessen  als  oberster  Glaubenssatz.  Keine  Solidarität 
drängte  sich  in  diesem  Zusammenhange  unabweisbarer  auf  als 
die  von  Thron  und  Altar.  Für  die  Aufrechterhaltung  der  Ordnung 
auf  Erden  war  ein  allmächtiger  Herrscher  im  Himmel  nicht  min- 

3* 


36  Politische  Anfänge. 

der  unentbehrlich  wie  ein  durch  keine  Verfassung  beschränkter 
Monarch.  Damit  beide  Autoritäten  sich  wechselseitig  stützten, 
wurden  Formulierungen  erfunden,  die  auf  die  engste  Durchdringung 
von  Staat  und  Kirche  abzielten.  So  gelangten  die  Politiker,  Staats- 
rechtlehrer und  Philosophen  der  Romantik,  unter  scharfer  Ab- 
lehnung des  nach  ihrem  Urteil  heidnisch  gewordenen  rationalistischen 
Beamtenstaats  der  Aufklärung,  zu  dem  folgenreichen  Schlagwort 
vom  christlichen  Staat. 

Nicht  minder  jedoch  als  den  herrschenden  war  den  zurück- 
gedrängten und  niedergehaltenen  Elementen  im  Deutschen  Bunde 
die  Einheitlichkeit  der  Autorität  in  allen  Bezirken  menschlichen 
Lebens  und  Schaffens  zum  Bewußtsein  gekommen.  Wenn  die 
Mächtigen  in  Kirche,  Staat,  Gesellschaft,  die  starre  Orthodoxie, 
die  absolute  Monarchie,  den  Adel  eine  Interessengemeinschaft  um- 
schlang, dann  mußte  sich  auch  jenen,  die  auf  eine  Überbrückung 
des  schroffen  Dualismus  zwischen  der  Autorität  und  den  Beherrsch- 
ten hinstrebten,  die  Solidarität  ihrer  Interessen  aufdrängen.  Dem 
liberalen  Protestanten,  dem  philosophischen  Freidenker,  dem  deut- 
schen Juden,  denen  an  der  Gleichberechtigung  aller  Denkweisen 
und  Bekenntnisse  liegen  mußte,  dem  Industriellen,  dem  Kaufmann, 
dem  Arzt,  dem  Anwalt,  die  neben  den  adligen  Großgrundbesitzern, 
neben  Militär  und  Beamtentum  nicht  zu  ihrem  Rechte  kamen, 
dem  demokratischen  Doktrinär,  der  den  freien  Volksstaat  predigte, 
den  Fanatikern  der  Gleichheit  und  Gerechtigkeit,  ihnen  allen  trat 
immer  deutlicher  ins  Bewußtsein,  daß  sie  gegen  einen  gemein- 
samen Feind  für  gemeinsame  Ziele  stritten.  Den  breitesten  Raum 
des  öffentlichen  Interesses  der  Nation  beanspruchten  in  dem  Jahr- 
zehnt nach  dem  Tode  Goethes  und  Hegels  noch  die  philosophischen 
und  religiösen  Probleme ;  zeitweise  aber  tauchten  dahinter  auch 
schon  vereinzelte  gesellschaftliche  Fragen  auf,  die  eine  betrieb- 
same Tagesliteratur,  der  die  Politik  so  gut  wie  verschlossen  blieb, 
mit  Behagen  breittrat.  Die  Jugend  trieb  die  ablehnende  Haltung 
der  Regierungen  gegenüber  den  liberalen  Forderungen  in  hellen 
Haufen  dem  Radikalismus  zu.  Auf  dem  Felde  der  Theorie  und  der 
Belletristik  schmiedete  sie  sich  die  Waffen,  mit  denen  sie  die  Auto- 
rität in  Staat  und  Kirche  in  Zukunft  überwältigen  zu  können  hoffte. 
Noch  auf  lange  hinaus  blieb,  zumal  in  Preußen  und  Österreich,  die 
Bildung  politischer  Parteien  ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Weil 
es  aber  dieser  kampfesfrohen  Generation  ein  Bedürfnis  war,  sich  in 
Reih  und  Glied  mit  Gleichgesinnten  zu  wissen,  so  suchte  und  fand 
sie  einen  Ersatz  in  literarischen  und  philosophischen  Cliquen, 
denen  öfter  die  gemeinsame  Tätigkeit  für  Zeitschriften  der  gleichen 
Richtung    einen  gewissen  Zusammenhalt  gab.      Auf  solche  Weise 


Der  allgemeine  Kampf  gegen  die  Autorität.  gy 

entstanden  und  festigten  sich  auch  die  mit  dem  Namen  Jungdeutsche 
und  Junghegelianer  bezeichneten  Richtungen,  die  auf  norddeut- 
schem Boden  neben  dem  aus  der  Kantischen  Schule  emporgewach- 
senen Liberalismus  Ostpreußens  und  jenem  der  Rheinprovinz, 
der  die  Ansprüche  der  industriell  entwickeltsten  Gebiete  der  Monar- 
chie zum  Ausdruck  brachte,  die  wirksamsten  geistigen  Vorläufer 
der  bürgerlichen  Revolution  wurden. 

Die  Wortführer  der  Reaktion  haben  die  Gefährlichkeit  beider 
Richtungen  frühzeitig  durchschaut.  Für  das  Verbot  der  Schriften 
Heines  und  des  jungen  Deutschland  hat  bekanntlich  Wolfgang 
Menzel  mit  Erfolg  schon  1835  das  Stichwort  ausgegeben.  Das 
,Jung-Hegelsche  Unkraut",  das  mit  seiner  Religion  der  Diesseitig- 
keit den  Atheismus  verbreite,  hätte  Heinrich  Leo  gern  mit  Stumpf 
und  Stiel  ausgerottet  gesehen.  Aber  seine  Denunziation  gegen  Strauß, 
Rüge,  Michelet  fand  erst  Gehör,  als  nach  dem  Thronwechsel  der 
freie  Geist  der  friderizianischen  Zeit  seinen  Einfluß  auf  Preußens 
Kulturpolitik  verlor  und  die  zur  Macht  gelangte  Romantik  den 
selbstherrlichen  Menschengeist,  der  sich  in  der  Hegeischen  Philo- 
sophie göttliche  Ehren  erwies,  vor  dem  persönlichen  Gott  der  Ortho- 
doxie in  den  Staub  niederzuzwingen  versuchte. 

Als  damals  Savigny  den  jungen  Bluntschli  vor  den  ,, Hegelingen 
imd  Jungdeutschländern"  warnen  wollte,  schrieb  er  ihm:  ,,Mit 
Lumpenvolk  soll  man  sich  nicht  mengen."  Auch  die  Evangelische 
Kirchenzeitung  Hengstenbergs  und  die  literarischen  Geheim- 
agenten Metternichs  nannten  Jungdeutsche  und  Junghegelianer 
in  einem  Atem  und  mit  dem  gleichen  Abscheu.  Mit  diesen  Namen 
bezeichnet  man  in  der  zweiten  Hälfte  der  dreißiger  Jahre  alle  jene, 
die  in  norddeutschen  Landen  den  altberechtigten  und  altbefestigten 
Mächten  in  Kirche  und  Staat  unbequem  wurden,  weil  sie  in  der 
verschleierten  Terminologie  der  Philosophie  oder  mit  schöngeistiger 
Keckheit  der  Autorität  die  unbedingte  Botmäßigkeit  aufkündigten. 
Gegen  die  Heiligkeit  des  Überlieferten,  nur  weil  es  überliefert,  des 
Bestehenden,  bloß  weil  es  die  Macht  hatte,  des  Gültigen,  bloß  weil 
es  noch  nicht  gestürzt  war,  wandten  sich  in  der  Tat  das  junge  Deutsch- 
land wie  die  Junghegelianer.  Vorausschreitend  und  doch  mehr 
plänkelnd,  setzte  sich  das  junge  Deutschland,  zögernder,  dafür 
ernster,  fortwirkender  und  aus  der  Tiefe  der  Grundsätze  heraus  die 
Junghegeische  Schule  für  die  Zeitforderungen  ein.  Dennoch  be- 
stand zwischen  diesen  beiden  Richtungen,  die  nun  mit-  und  nach- 
einander auf  Engels  Einfluß  gewannen,  keine  so  tiefreichende 
Übereinstimmung,  wie  die  gemeinsamen  Gegner  sich  einbildeten. 
Mußte  der  ungezügelte  Subjektivismus  von  Schriftstellern,  die  eine 
Befreiung  des  einzelnen  von  allen  Bindungen  als  das  Ideal  priesen, 


38  Politische  Anfänge. 

das  Lob  der  Stunde  sangen  und  die  Sinnenwelt  auf  Kosten  der 
geistigen  Mächte  verherrlichten,  nicht  vielmehr  zurückbeben  vor 
dem  „alles  Individuelle  verzehrenden  Begriff"  (Gutzkow)  einer 
Philosophie,  die  das  Gefühlsleben  des  Individuums  beiseite  ließ  und 
die  ,, Eitelkeiten  der  Ichheit"  zertrümmerte  ?  Die  zwischen  starker 
Anziehung  und  noch  stärkerer  Abstoßung  schwankenden  Gefühle, 
die  Hegel  bei  den  Mitgliedern  des  jungen  Deutschland  auslöste, 
spiegeln  sich  am  anschaulichsten  in  Gustav  Kühnes  Quarantäne  im 
Irrenhause.  Das  magische  Licht,  in  dem  der  mystische  Intellek- 
tualismus Hegels,  seine  Dialektik,  sein  Gottesbegriff  hier  erstrahlt, 
blendete,  als  er  jetzt  davon  getroffen  wurde,  den  jungen  Engels 
um  so  stärker,  als  es  ihn  nicht  abschrecken,  sondern  nur  anziehen 
konnte,  daß  der  große  Denker  auf  Kosten  des  Einzelerlebnisses 
Freiheit  und  Notwendigkeit  im  absoluten  Bewußtsein  vermählte. 
Weil  das  junge  Deutschland  nachdrücklicher  als  die  objektive  Frei- 
heit die  subjektive  Willkür  betonte,  verachteten  die  Junghegelianer 
die  ,, prinziplose  Zerfahrenheit"  ihres  ,, belletristischen  Egoismus". 
Und  der  Herausgeber  ihres  führenden  Organs,  Arnold  Rüge,  trug 
sogar  kein  Bedenken,  das  junge  Deutschland,  mochte  es  im  Kampf 
gegen  die  Romantik  emporgekommen  sein,  in  seinem  berühmten 
Manifest  gegen  die  Romantiker  wegen  seiner  ,, Genialitätspointe" 
diesen  beizurechnen.  Wenn  aus  den  Reihen  des  jungen  Deutsch- 
land die  Befürchtung  laut  wurde,  daß  die  unentrinnbare  Dialektik 
der  Hegeischen  Lehre  der  Jugend  die  Kraft  des  Wollens  und  Han- 
delns rauben  möchte,  so  erwies  diese  Sorge  sich  als  nicht  gerecht- 
fertigt; denn  gerade  der  verjüngten  Schule  Hegels  entwuchsen 
die  revolutionären  Geister,  denen  der  Übergang  vom  Gedanken 
zur  Tat,  mit  dem  das  junge  Deutschland  bloß  getändelt  hatte,  bit- 
terer Ernst  und  Lebenszweck  wurde. 

Man  könnte  das  junge  Deutschland,  dessen  einzelne  Glieder 
bekanntlich  weder  äußerlich  noch  innerlich  so  eng,  wie  ihre  Ver- 
folger annahmen,  miteinander  verknüpft  waren,  in  gewisser  Hin- 
sicht mit  einer  anderen  Bewegung  vergleichen,  die  ein  halbes  Jahr- 
hundert später  die  Teilnahme  des  gebildeten  Publikums  neuen 
Ideen  erstreiten  wollte.  Wie  Holz  und  Schlaf,  wie  die  Hart  und  die 
Hauptmann  der  Stoff-  und  Gefühlswelt  des  modernen  Sozialismus 
die  Literatur  eroberten  und  einer  glatt  und  behäbig  gewordenen 
Romantik  die  ethischen  Forderungen  einer  jungen  Generation  ent- 
gegenschleuderten, so  erkämpften,  auf  den  Spuren  Börnes  und  Heines 
weiterschreitend,  Gutzkow,  Laube,  Wienbarg,  Mundt,  Kühne  und 
ihre  Mitläufer  den  liberalen  Zeitforderungen  das  literarische  Bürger- 
recht. Weil  die  Selbstgenügsamkeit  der  Kunst  vor  den  Stürmen 
der  Zeit  ihren  Reiz  verloren  hatte,  erhoben  sie  die  Forderung  nach 


Das  junge  Deutschland.  39 

einer  Versöhnung  von  Kunst  und  Leben.  Als  Revolutionäre  traten 
sie  auf  gegen  die  seichte  Unterhaltungsliteratur  in  Vers  und  Prosa, 
die  sich  unter  dem  hegenden  Schatten  der  Zensur  behaglich  streckte, 
gegen  die  Almanache  mit  ihren  süßsn  Blumennamen,  aber  auch 
gegen  wirkliche  Dichter,  wenn  sie  sich  in  politischem  Quietismus 
den  Problemen  der  Gegenwart  verschlossen.  Als  sie  im  Aufstieg 
waren,  hatte  Heine,  der  sie  als  seine  Patenkinder  betrachtete,  sie 
gefeiert,  weil  sie  ,,zu  gleicher  Zeit  Künstler,  Tribunen  und  Apostel" 
sein  wollten.  Die  Gewalten,  die  Kirche  und  Staat  beherrschten,  soll- 
ten sie  nicht  verhindern,  die  religiösen  und  sozialen  Gegensätze 
der  eigenen  Zeit  aus  dem  Geist  der  Zeit  heraus  in  ihren  Schriften 
abzuspiegeln.  Aber  sie  hatten  sich  nicht  genügend  Rechenschaft 
davon  abgelegt,  daß  ,, jader  und  alle  Angriffe  auf  die  sozialen  Fragen", 
wie  es  damals  in  einem  Frankfurter  Geheimbericht  an  Metternich 
hieß,  „notwendig  auch  den  auf  die  politischen  in  sich  schließt". 
Als  sie  nach  dem  Verbot  ihrer  Schriften  erkennen  mußten,  wie 
tüchtig  sie  sich  die  Hände  verbrannt  hatten,  von  deren  emsiger 
Arbeit  sie  gut  bürgerlich  zu  leben  hofften,  da  brauste  ihr  Ungestüm 
rasch  ab.  Denn  keine  echte  Bekennernatur  befand  sich  unter  die- 
sen Übergangsmenschen,  die  selbst  darunter  litten,  daß  sie  im 
,, Zwischenräume  auf  der  Brücke"  (Wienbarg)  zweier  Zeiten  schufen. 

Als  sich  der  Jüngling  aus  dem  rückständigen  Wuppertal  jetzt 
voll  Begeisterung  auf  die  zeitgenössische  Literatur  stürzte,  da  er- 
schien ihm  zunächst  freilich  das  junge  Deutschland,  das  ihm  die 
Ideen  der  Zeit  funkelnagelneu  vermittelte,  das  seine  Hauptschlag- 
worte mit  geheimnisvoller  Mystik  umgab  und  sich  mit  der  frivolen 
Weltlichkeit  seiner  geistreichen,  pikanten  Schreibart  von  der  süß- 
lichen Sprechweise  des  heimischen  Pietismus  so  wundervoll  abhob, 
als  die  ,, Königin  der  modernen  Literatur".  Noch  stand  in  seinem 
Planen  und  Denken  der  ästhetische  Gesichtspunkt  an  vorderster 
Stelle,  und  nur  allmählich  setzte  bei  ihm  der  Prozeß  ein,  der  end- 
gültig dem  Inhalt  vor  der  Form  stärkeres  Gewicht  verlieh.  So  träumt 
er  anfangs,  der  poetische  Verkünder  jener  neuen  Ideen  zu  werden, 
die  jetzt  seine  innere  Welt  zu  revolutionieren  beginnen ;  erst  später 
erfaßt  ihn  übermächtig  jener  Drang  zur  Tat,  welcher  der  ganzen 
jungen  Generation  dieser  Jahre  gemeinsam  war.  Da  stellt  er  sich 
beherzt  in  Reih  und  Glied  zu  den  anderen,  die  sich  zutrauten,  den 
,,Tsig  der  großen  Entscheidung"  herbeizuführen. 

An  dem  spielerischen  Feuilletonstil  der  ,, Zustände  und  feinen 
Bezüge",  den  Laube,  Mundt  und  Kühne  kultivierten,  fand  sein 
tieferes  Wesen  gerade  so  lange  Gefallen,  wie  ihre  geschraubte 
„Modernität"  für  ihn  den  Reiz  der  Neuheit  hatte.  Bereits  nach 
einem  Jahre  erklärte  er:   lieber  straff  als  schlaff  1  und  pries  auf 


40  Politische  Anfänge. 

Kosten  der  schwammigen  Manier  gewisser  Moderner  den  männ- 
lichen Knochenbau  des  Stils  eines  Ernst  Moritz  Arndt,  dessen 
Selbstbiographie  ihm  den  Anstoß  zu  einem  für  seinen  damaligen 
Standpunkt  besonders  aufschlußreichen  Artikel  gab.  Unter  den 
Schriftstellern  des  jungen  Deutschland  verdankte  Engels  die  stärkste 
Anregung  Gutzkow,  über  dessen  Philosophie  der  Geschichte  er 
eine  ausführliche  Besprechung  veröffentlichte.  Ihm  bot  er  für  den 
Telegraph  für  Deutschland  zu  Anfang  des  Jahres  1839  seinen  ersten 
schriftstellerischen  Versuch,  eine  Abrechnung  mit  den  geistigen 
und  sozialen  Mächten  des  Wuppertals;  an.  Als  eine  ermunternde 
Antwort  kam,  ließ  er  in  den  nächsten  beiden  Jahren  eine  ganze 
Reihe  von  Aufsätzen  literarischen  und  kritischen  Inhalts,  dazu 
Reisebeschreibungen  und  eigene  Dichtungen  folgen,  die  alle  unter 
dem  sorgsam  gehüteten  Pseudonym  Friedrich  Oswald  abgedruckt 
wurden.  Auf  dessen  Wahrung  legte  der  junge  Autor  großen  Wert, 
weil  die  Briefe  aus  dem  Wuppertal,  mit  denen  er  sich  seine  litera- 
rischen Sporen  verdient  hatte,  in  der  Heim.at  einen  Sturm  der  Ent- 
rüstung erregten.  Einem  Zusammenstoß  mit  dem  Vater  wollte  er 
noch  aus  dem  Wege  gehen. 

Gutzkows  persönliche  Bekanntschaft  machte  Engels  weder  da- 
mals noch  später.  Dieses  Mannes  Selbstbewußtsein  hatte  es,  wie  man 
weiß,  ins  Schrankenlose  gesteigert,  daß  er  jung  an  Jahren  als  das 
Haupt  einer  verbreiteten  Richtung  dastand,  welche  die  Furcht 
der  Machthaber  erregt  hatte.  Jetzt  hielt  er  sich,  wie  Engels  ihm 
späterhin  vorwarf,  in  seiner  Eitelkeit  für  einen  welthistorischen 
Charakter.  Kaum  hatte  er  von  Levin  Schücking  erfahren,  daß 
Engels  auf  einer  Wanderung  durch  Westfalen  im  Frühling  1840 
von  diesem  in  Münster  gut  aufgenom.men,  vielleicht  sogar  mit 
Annette  von  Droste-Hülshoff  zusammengeführt  worden  war,  und 
schon  fiel  er  in  seinem  Antwortbrief  voll  Gehässigkeit  über  den 
,, jungdeutschen  Ladendiener"  her,  der  einen  ,, Schwall  von  ses- 
quipedalen  Worten  an  das  Ephemere"  verschwende.  ,,Wenn  jeder 
Anfänger",  ereiferte  sich  Gutzkow  nicht  eben  geschmackvoll,  „so 
sein  erstes  kritisches  Erbrechen  von  sich  gibt,  wer  kann  das  grün 
gelbe  Zeug  in  einem  honetten  Blatt  abdrucken  ?'*  Aber  wir  fragen, 
was  in  aller  Welt  denn  Gutzkow  zwang,  die  Beiträge  eines  Un- 
bekannten aufzunehmen.  Hatte  er  es  getan  und  fuhr  er  damit 
fort,  so  mußte  er  doch  wohl  spüren,  daß  sich  in  diesen  Einsendungen 
eine  noch  ungereifte,  aber  starke  Persönlichkeit  aussprach.  Auch 
in  seinem  ferneren  Verhalten  zu  Engels  zeigte  Gutzkow  sich  von 
seiner  unerfreulichsten  Seite.  Hätte  er  sich  erinnert,  daß  Wolfgang 
Menzel  sich  einst  seiner  Verdienste  um  ihn  übermäßig  gerühmt 
hatte,  um  ihn  dann  um  so  wirksamer  schnödesten  Undanks  zeihen 


Engels  xond  Gutzkow.  ai 

zu  können,  so  wäre  er  jetzt  vielleicht  Engels  gegenüber  nicht  in 
den  gleichen  Fehler  verfallen.  Dieser  hat  damals  schwerlich  er- 
fahren, wie  abfällig  sich  Gutzkow  über  ihn  aussprach.  Als  er  sich 
aber  bald  danach  über  das  junge  Deutschland  hinaus  entwickelte 
und  sich  nun  öffentlich  mit  diesem  auseinandersetzte,  wobei  er 
auf  die  Grenzen  von  Gutzkows  Talent  hinweisen  mußte,  da  fühlte 
das  Sektenhaupt  sich  tief  beleidigt  und  zieh  in  einem  Brief  an  den 
von  Ergeis  hart  mitgenommenen  Literarhistoriker  Alexander  Jung 
den  Abtrünnigen  des  „geistigen  Vatermords"  an  dem  Meister,  der 
ihn  ,, Denken  und  Schreiben"  gelehrt  habe.  Wenn  übrigens  der 
in  Engels  erwachende  Kämpfer  nun  am  Raufen  einigen  Geschmack 
fand  und  den  reichen  Überschuß  von  Laune  und  Kraft,  den  er 
in  sich  spürte,  auch  mal  ausnahmsweise  an  ,, Ephemeres"  wandte, 
etwa  dem  Renegaten  und  Denunzianten  Joel  Jacoby  auf  den  Leib 
rückte  oder  der  Deutschen  Adelszeitung  Fouques  ein  ironisches 
Requiem  anstimmte,  so  war  Gutzkow,  der  selbst  im  Glashause 
saß,  der  letzte,  der  ihn  deshalb  mit  Steinen  bewerfen  durfte.  Wer 
anders  als  er  und  sein  Kreis  hatten  das  gepflegte,  mit  literarischer 
Polemik  getränkte  Feuilleton  bei  den  Zeitschriften  eingebürgert? 
Engels  liebte  am  jungen  Deutschland  die  Hochwertung  der 
Gegenwart,  des  Lebens  und  der  Tat,  die  Herausstellung  der  Rechte 
und  Ansprüche  der  jungen  Generation  gegenüber  dem  gesättigteren 
Lebensstil  und  der  politisch  wie  sozial  größeren  Genügsamkeit  der 
Generation  von  vor  1830.  Aber  so  stolz  er  sich  zunächst  als  Jung- 
deutscher brüstete,  er  mußte  bald  herausfühlen,  daß  der  echte  Durst 
seiner  Seele  wie  seines  Geistes  nach  anderer  Kühlung  verlangte. 
Stets  werden  literarische  Bewegungen;  die  einer  Reaktion  des 
Wirklichkeitssinns  gegen  die  Romantik,  des  unmittelbaren  Lebens- 
gefühls gegen  metaphysische  Spekulationen  zum  Durchbruch  ver- 
helfen wollen,  der  gebundenen  Rede  die  ungebundene  vorziehen. 
Mochte  beim  jungen  Deutschland  nur  Theodor  Mundts  beschränk- 
tes Talent  mit  der  Prosa  einen  einseitigen  Kultus  treiben,  zum  deut- 
schen Liede  hatten  auch  die  Dramatiker,  Epiker  und  Kritiker 
Gutzkow  und  Laube  kein  unmittelbares  warmes  Verhältnis.  Engels 
hingegen  verehrte  und  liebte  mit  der  ganzen  ursprünglichen  Kernig- 
keit seines  Wesens  wie  die  alten  Volksbücher,  in  denen  er  lebte  und 
webte,  die  deutsche  Lyrik  ,,vom  Ludwigslied  bis  zu  Nikolaus  Lenau". 
Hatte  das  junge  Deutschland  noch  keine  Lyriker  hervorgebracht, 
er  trug  sich  im  geheimen  mit  der  Hoffnung,  diese  Lücke  künftig 
auszufüllen.  Zunächst  schien^  ihm  Karl  Beck  zuvorgekommen 
zu  sein,  dessen  Nächte  ihn  anfangs  so  bezauberten,  daß  er  in  jugend- 
lichem Überschwang  den  ungarischen  Juden,  den^-  Gutzkow  mit 
Byron  verglich,  dem  jungen  Schiller  an  die  Seite  stellte  und  als  den 


'42  Politische  Anfänge. 

künftigen  Goethe  den  Freunden  ausposaunte.  Aber  schon  als  er 
über  Beck  öffentlich  im  Telegraph  schrieb,  befremdete  ihn  ein 
weltschmerzlicher  Ton,  der  dem  lebensfrohen  Rheinländer,  der 
auf  sich  selbst  mit  Vorliebe  das  Wort  , »wurzelhaft"  anwandte, 
nichts  zu  sagen  vermochte.  Ihm  hatte  die  Vergangenheit  keine 
dunklen  Lasten  ins  Leben  mitgegeben ;  was  ihm  die  Väter  geschenkt 
hatten,  durfte  er  ihnen  fröhlich  danken,  und  heiter  und  frei  ent- 
falteten sich  seine  Gaben,  zumal  ein  gütiges  Geschick  den  jungen 
Trieben  Regen  wie  Sonnenschein  zur  gelegenen  Stunde  bescherte. 
In  den  Briefen,  die  Friedrich  von  Bremen  aus  den  früheren 
Schulfreunden  schreibt,  ist  von  zahlreichen  Gedichten,  sogar  Ge- 
dichtheften und  Novellen  die  Rede,  die  sich  nicht  erhalten  haben. 
Auch  liebte  er  zu  improvisieren  und  in  den  Versen,  die  ihm  dann 
schnell  aus  der  Feder  strömten,  finden  sich  manche  wirklich  poe- 
tische Wendungen.  Ein  Brief  an  die  Schwester  schildert  im  August 
1840  einen  Sonnenuntergang: 

,,Die  Sonne  sinkt,  rings  dunkel  wird  das  Land, 
Und  nur  im  Westen  dringt  durch  Wolkenschleier 
Des  Abendrotes  heiß  entflammter  Brand. 
Es  ist  ein  ernst  und  ein  geheiligt  Feuer, 
Das  auf  dem  Grabe  eines  Tages  glüht, 
Der  manches  uns  gebracht,  was  lieb  und  teuer. 
Jetzt  starb  er  hin  und  ihren  Mantel  zieht 
Die  dunkle  Nacht  mit  hellen  Sternenblicken 
Leis  über  unser  irdisches  Gebiet." 
Dabei  machte  er  sich  über  Umfang  und  Tragkraft  seiner  dichteri- 
schen Begabung  keine  großen  Sorgen.    Wohl  schmerzte  es  ihn,  als 
er  in  des  alten  Goethe  Rat  für  junge  Dichter  sich  selbst  „trefflich 
bezeichnet"  fand.    Doch  tröstete  es  ihn  gleich  wieder,  daß  Goethe 
ein  dilettantisches  Talent  als  angenehme  Zugabe  gern  gelten  lassen 
wollte.  — 

,,Was  soll  ich  armer  Teufel  nun  anfangen?"  hatte  er  im  April 
1839  Friedrich  Graeber  gefragt.  ,,Für  meinen  eigenen  Kopf  fort- 
ochsen? Hab*  keine  Lust.  Loyal  werden?  Pfui  Teufel I  ...Also 
ich  muß  ein  junger  Deutscher  werden,  oder  vielmehr  ich  bin  es 
schon  mit  Leib  und  Seele."  Und  wie  erläuterte  er  dies?  „Ich  kann 
des  Nachts  nicht  schlafen  vor  lauter  Ideen  des  Jahrhunderts,  wenn 
ich  an  der  Post  stehe  und  auf  das  preußische  Wappen  blicke,  packt 
mich  der  Geist  der  Freiheit,  jedesmal  wenn  ich  in  ein  Journal  sehe, 
spüre  ich  nach  Fortschritten  der  Freiheit,  in  meine  Poemata  schlei- 
chen sie  sich,  und  verspotten  die  Obskuranten  in  Mönchskapuze 
und  im  Hermelin.  Aber  von  ihren  Floskeln:  Weltschmerz,  welt- 
historisch, Schmerz  des  Judentums  usw.  halte  ich  mich  fern,  denn 


Die  Ideen  des  Jahrhunderts.  a9 

die  sind  jetzt  schon  veraltet.  Und  das  sage  ich  Dir,  Fritz,  so  Du 
einmal  Pastor  wirst,  Du  magst  so  orthodox  werden,  wie  Du  willst, 
aber  wirst  Du  mir  ein  Pietist,  der  aufs  junge  Deutschland  schimpft, 
die  Evangelische  Kirchenzeitung  zum  Orakel  nimmt,  wahrlich, 
ich  sage  Dir,  Du  hast  mit  mir  zu  tun." 

Der  PcLstorensohn  aus  dem  Wuppertal,  der  eben  bei  Hengsten- 
berg Kolleg  hört  und  dem  ob  solcher  verwegenen  Sprache  die  Haare 
zu  Berge  stehen  mochten,  wünschte  dem  Freunde  in  seiner  Ant- 
wort einen  getreuen  Eckart;  der  solle  ihn  vor  der  Umgarnung  des 
Bösen  bewahren,  die  ihm  so  sichtlich  drohte.  Aber  damit  kam  er 
schlecht  bei  ihm  an!  ,,Männeken,  was  schreist  Du  nach  dem  treuen 
Eckart?"  antwortete  der  im  Oktober.  „Sieh,  da  ist  er  ja  schon,  ein 
kleiner  Kerl  mit  scharfem  jüdischem  Profil,  er  heißt  Börne,  laßt 
den  nur  drein  schlagen,  der  chassiert  all  das  Volk  der  Frau  Venus- 
Servilia.  Dann  empfiehlst  Du  Dich  gleichfalls  höchst  demütig." 
Anschlußbedürftig,  wie  seine  gesellige  Natur  auch  in  geistigen 
Dingen  war,  hatte  Engels,  seit  das  öffentliche  Leben  sein  Interesse 
gefangen  hielt,  selbst  sich  öfter  einen  getreuen  Eckart  gewünscht, 
der  ihm  durch  das  Labyrinth  der  Zeit  den  rechten  Weg  wiese.  Aber 
im  engeren  Kreise  des  jungen  Deutschland  fand  er  niemand,  den 
er  als  einen  politischen  Charakter  hätte  verehren  können.  Je 
stärker  sein  Interesse  für  Politik  wurde  und  je  mehr  gleichzeitig 
seine  von  Haus  aus  an  Zucht  gewöhnte  Seele,  in  einen  neuen  aus 
sich  heraus  mächtigen  und  notwendigen  Zusammenhang  hinein- 
verlangend, an  der  Hegeischen  Philosophie  Halt  und  Anschluß 
fand,  um  so  fühlbarer  wurde  ihm,  daß  dieses  für  ihn  nur  ein  Durch- 
gangsstadium bedeutete.  Nicht  von  einem  Tage  zum  andern,  doch 
allmählich  wird  sich  bei  ihm  das  Urteil  herausgebildet  haben,  daß 
Gutzkow  und  seine  Genossen  an  der  Klippe  scheitern  mußten,  daß 
sie  selbst  ,, keine  ganzen  Leute"  waren.  Der  aus  schweren  religiösen 
Kämpfen  eben  bei  Hegel  Ruhe  und  Trost  Findende  empfand,  was 
ihre  ,, ober  flächlich  schillernde  Unphilosophie"  ihm  nicht  hatte 
bieten  können.  Und  ihre  politische  Molluskenhaftigkeit,  über 
die  man  sich  in  den  Kreisen  der  Liberalen  längst  einig  geworden 
war,  kam  ihm  vollends  zum  Bewußtsein,  als  ihm  Börne  entgegen- 
trat. Der  war  ein  anderer  Kerl  als  jene  Halbnaturen,  das  gestand 
Engels  sich,  der  war  ein  ganzer  Mann,  ein  Kämpfer,  der  mit  seinen 
Überzeugungen  stand  und  fiel;  diesem  Eckart  schloß  er  sich  jetzt 
-an  mit  deutscher   Vasallentreue. 

Auf  Börne,  auf  ihn  weit  mehr  als  auf  Heine,  berief  sich  zwar 
auch  das  junge  Deutschland,  wenn  man  es  nach  seiner  Abstammung 
fragte.  Hatte  sich  Heine  die  Herzen  der  freiheitsdürstenden  und 
Gesinnung  heischenden  Jugend  durch  das  ihm  im  Blute  steckende 


^^  Politische  Anfänge. 

Einspännertum,  das  ihn  über  alles  Parteiwesen,  freilich  nicht  aus 
allem  Cliquenwesen  hinaushob,  seit  Jahren  entfremdet,  so  war 
dafür  Börne,  dessen  Grab  man  eben  geschaufelt  hatte,  so  recht  der 
Paladin  nach  dem  Herzen  dieser  zur  Tat  hindrängenden  Jugend. 
Wo  gab  es  in  Deutschland  noch  einen  unabhängigen  Geist  seines 
Ranges,  der  sich  mit  gleicher  Einseitigkeit  der  Politik  verschrieben, 
mit  gleicher  Unerschrockenheit  an  seinem  Standpunkt  festgehalten, 
mit  gleicher  Uneigennützigkeit  und  Rücksichtslosigkeit  gegen  die 
Machthaber  seine  große  schriftstellerische  Begabung  restlos  in 
den  Dienst  der  Zeitideen  gestellt  hätte  ?  Er  selbst  hatte  sich  nicht 
falsch  eingeschätzt,  als  er  für  sich  bloß  das  Verdienst  in  Anspruch 
nahm,  den  schlafenden  Deutschen  die  Bettdecke  fortgezogen,  sie 
aus  den  Federn  getrieben  zu  haben.  Aber  das  junge  Deutschland 
stellte  ihn  auf  ein  höheres  Piedestal:  Laube  erblickte  in  ihm  ,,eine 
fortlebende  und  fortwirkende  politische  Tat",  Gutzkow  den  ,, Sauer- 
teig in  dem  Bildungsstoff  der  Restaurationsperiode",  Theodor  Mundt 
den  ,, verzweifelten  Metaphysiker  der  modernen  Zeitbewegung", 
der  „am  Elend  seines  eigenen  Herzens,  welches  das  Herz  Deutsch- 
lands war"  gestorben  ist.  Und  noch  begeisterter  feierte  ihn  die 
Schar  der  liberalen  Tendenzdichter,  deren  Blütezeit  eben  heran- 
nahte. Karl  Beck  und  Rudolf  Gottschall  besangen  ihn  in  Gedichten 
voll  hohen  Schwungs,  Dingelstedt  und  Herwegh  blickten  andäch- 
tig zu  ihm  auf.  Der  Volksmann  Robert  Blum  pries  sein  , »großes 
der  Freiheit  gewidmetes  Leben"  und  selbst  der  antisemitische  Rüge 
nannte  ihn  einen  herrlichen  Kerl.  Wie  sehr  Lassalle  Börne  bewun- 
derte, erzählt  uns  das  Jugendtagebuch. 

Welches  waren  die  Gedanken  und  Wünsche,  die  Engels  aus 
den  Pariser  Briefen  und  der  Streitschrift  gegen  Menzel  entgegen- 
traten, als  diese  ihm  jetzt  in  Bremen  in  die  Hände  fielen  ?  Für  jene 
Generation  war  es  noch  neu,  daß  ein  Schriftsteller  von  Rang  sich 
auf  das  politische  Gebiet  beschränkte  und  die  theologischen  und 
philosophischen  Kämpfe  daneben  als  Zeitverlust  ansah.  Börne 
verlangte,  wie  man  weiß,  die  Gleichheit  und  Freiheit  aller  Staats- 
bürger, er  forderte,  mehr  stillschweigend  als  ausdrücklich,  die 
Volkssouveränität.  Als  überzeugter  Individualist  sieht  er  den 
Staat,  der  nur  um  der  einzelnen  willen  da  ist,  für  ein  notwendiges 
Übel  an  und  warnt  vor  der  Tyrannei  der  Gesetze,  denen  er  die 
Menschenrechte  überordnet.  Von  der  Begeisterung  für  die  kon- 
stitutionelle Monarchie  hatte  ihn,  wie  viele  andere,  das  Bürger- 
königtum geheilt  und  zum  Republikaner  gemacht.  Nun  erblickte 
er  in  dem  Justemilieu  bloß  noch  eine  Mißgeburt  mit  zwei  Rücken, 
bestimmt,  auf  beiden  Seiten  Prügel  zu  bekommen,  jetzt  wollte  er 
keine  andere  Alternative  mehr  gelten  lassen  als:  absolute  Monarchie 


Börne. 


45 


oder  Republik.  Zwischen  Liberalismus  und  Demokratie  zog  er 
keine  klare  Scheidelinie,  sich  selbst  bezeichnete  er  als  Liberalen 
und  als  Republikaner.  Überhaupt  war  Börne  nicht  der  Mann  der 
Definitionen  und  der  scharfen  begrifflichen  Formulierungen ;  er 
war  so  wenig  ein  philosophischer  wie  ein  historischer  Kopf.  Den 
Patriotismus  im  machtpolitischen  Sinne  lehnte  er  ab,  die  Nationalität 
bedeutete  ihm  nur  eine  Schranke  für  die  Verbrüderung  der  Völker. 
Dennoch  beseelte  ihn  eine  tiefe  Liebe  zu  den  Deutschen,  für  deren 
Freiheit  und  Einheit  sein  Herz  erglühte,  seine  Feder  kämpfte.  Seit- 
dem er  an  einer  Basserung  auf  friedlichem  Wege  verzweifelte,  ver- 
kündete er,  wie  einst  die  Propheten  des  alten  Testaments  den  Köni- 
gen Israels,  den  deutschen  Fürsten  das  Nahen  des  Strafgerichts, 
das  Heraufgrollen  der  Revolution.  Seine  Geschichtsauffassung, 
ausschließlich  aus  der  Gegenwart  abgeleitet  und  ganz  auf  sie  zu- 
geschnitten, beachtete  nur  die  Kämpfe  zwischen  den  Völkern  auf 
der  einen  und  den  Mächten  der  Autorität  auf  der  anderen  Seite. 
Der  Gedanke  an  einen  sozialen  Klassenkampf,  den  Heine  bereits 
heraufkommen  sah,  liegt  ihm  noch  ganz  abseits,  mochte  er  auch 
gelegentlich  die  Ansicht  äußern,  daß  es  dereinst  zum  Kriege  der 
Armen  gegen  die  Reichen  kommen  werde,  weil  die  Ungleichheit 
nicht  fortbestehen  könne.  Was  er  in  den  Pariser  Briefen  über  den 
Saint-Simonismus  schrieb,  war  unerheblich;  die  Gütergemeinschaft 
verurteilte  der  begeisterte  Liberale  als  eine  Lehre,  die  die  Persön- 
lichkeit zerstöre. 

Kein  anderer  Landsmann  hätte  Engels  die  politische  Ge- 
dankenwelt des  westeuropäischen  Radikalismus  wirksamer  ver- 
mitteln können  als  dieser  erste  klassische  Wortführer  eines  deut- 
schen Demokratismus.  Des  Jünglings  Briefe  und  Aufsätze  aus 
den  Jahren  zwischen  1839  und  1842  werden  nicht  müde,  dem 
„riesigen  Kämpfer  für  Freiheit  und  Recht"  zu  huldigen,  der  in 
den  trüben  Zeiten  der  dreißiger  Jahre  die  Nation  gestärkt  und  auf- 
recht erhalten  habe,  diesen  ,, Johannes  Baptista  der  neuen  Zeit", 
der  einen  Streit  von  noch  unabsehbaren  Folgen  hervorgerufen, 
der  mit  Feuer  taufte,  der  die  Spreu  unbarmherzig  aus  der  Tenne 
fegte,  und  in  dessen  Herzen  es  ,,nie  Mitternacht  sondern  immer 
Morgenstunde"  scholl.  Noch  hatte  ihm  kein  Zeitgenosse  die  Herr- 
lichkeit der  Tat,  die  dem  Knaben  Jung-Siegfried  verkörperte,  mit 
gleich  verführerischen  Worten  gepriesen.  Und  für  die  Ermutigung 
und  Stärkung,  die  Börne  ihm,  dem  einsam  Irrenden  brachte,  ist 
Engels  diesem  immer  dankbar  geblieben.  Als  Schriftsteller  stellte 
er  ihn  Lessing  zur  Seite,  und  was  Hegel  für  die  Weltanschauung, 
das  bedeutete  für  die  Politik  ihm  fortan  Börne.  In  einem  Atem 
nennt  er  sie  als  seine  Befreier,  den  ,,Mann  der  politischen  Praxis" 


aS  Politische  Anfänge. 

und  den  „Mann  des  Gedankens".  Ohne  die  direkte  und  indirekte 
Wirkung  Börnes,  meinte  er  1842,  wäre  es  der  aus  Hegel  hervor- 
gehenden freien  Richtung  weit  schwerer  geworden,  sich  zu  konsti- 
tuieren, Börne  und  Hegel  ständen  sich  näher,  als  es  schiene.  Die 
Unmittelbarkeit,  die  gesunde  Anschauung  Börnes  erwies  sich 
als  die  praktische  Seite  dessen,  was  Hegel  theoretisch  wenigstens 
in  Aussicht  stellte.  Nur  müsse  man  die  verschütteten  Gedanken- 
wege zwischen  ihnen  ausgraben.  Darum  bemüht  finden  wir  Engels 
seit  1839.  Die  „Durchdringung  Hegels  und  Börnes  zu  vollenden", 
die  Vermittlung  der  Wissenschaft  und  des  Lebens,  der  Philosophie 
und  der  modernen  Tendenzen  erscheint  dem  werdenden  Jung- 
hegelianer fortab  als  die  Aufgabe  der  Zeit.  -— 

Engels  weilte  erst  wenige  Wochen  in  Bremen,  als  das  politische 
Interesse  des  deutschen  Bürgertums  nach  den  erfolglosen  Anläufen 
vom  Anfang  der  dreißiger  Jahre  zum  ersten  Mal  wieder  in  einige 
Bewegung  kam.  Der  Verfassungsbruch  des  Königs  von  Hannover 
führte  dem  Liberalismus  neue  Kräfte  zu;  in  der  katholischen  Welt 
brachte  die  Gefangensetzung  des  Kölner  Erzbischofs  die  Gemüter 
in  Wallung.  Der  Protest  der  sieben  Göttinger  Professoren  gegen 
die  Tat  des  „alten  Hannoverschen  Lausebocks",  wie  der  respekt- 
lose junge  Bremer  Kontorist  den  Weifenkönig  titulierte,  schlug  um 
so  mächtiger  ein,  als  es  im  nördlichen  Deutschland  einer  der  ersten 
Fälle  war,  wo  Männer  des  Bürgertums  in  einer  über  die  private 
Sphäre  weit  herausgewachsenen  öffentlichen  Angelegenheit  Charak- 
ter bezeigten.  Nun  besaß  Engels  von  Kindheit  an  für  jede  Be- 
währung im  Kampf  warme  Bewunderung.  Jacob  Grimms  Ver- 
teidigungsschrift, die  er  sich  sofort  kaufte,  entzückte  ihn.  Nur 
die  Weser  trennte  Bremen  vom  Schauplatze  jener  Verfassungs- 
kämpfe;  die  öffentliche  Meinung  nahm  hier  besonders  entschieden 
Stellung  gegen  Ernst  August.  Während  Friedrich  am  Jahrestage 
der  Julirevolution  1839  bei  stürmischem  Wellengang  auf  dem 
Flusse  rudert,  gedenkt  er  dieser  „schönsten  Äußerung  des  Volks- 
willens seit  dem  Befreiungskriege"  und  mahnt  die  ,, Fürsten  und 
Könige  Deutschlands"  an  das  Schicksal  Karls  X.  Sein  Blick  streift 
,,mit  zornigem  Mut"  zum  hannoverschen  Ufer,  wo  ,,das  Volk  auf- 
schaut durchbohrenden  Auges  und  das  Schwert  kaum  ruht  in  der 
Scheide".  Da  fragt  er  den  wortbrüchigen  König:  „Ruhst  du  so 
sicher  auf  goldenem  Thron,  wie  ich  in  dem  schwankenden  Boot?" 
Die  Verse  dieses  Gedichts  sind  holprig,  aber  seine  Tendenz  verrät 
die  politische  Stimmung,  die  Engels  erfüllte,  als  der  Name  Börnes 
in  seinen  Briefen  zuerst  auftauchte. 

Am  frühesten  werden  wohl  die  Schriften  des  jungen  Deutsch- 
land seinem   politischen   Denken   rationalistische    Elemente   zuge- 


Politischer  Radikalismus.  47 

führt  haben.  Aber  erst  seit  er  Börne  entdeckt  hat,  pocht  er  mit 
nairer  Begeisterung  auf  das  Naturrecht  eines  jeden  Menschen,  ver- 
donnerte er  ,, alles  was  in  den  jetzigen  Verhältnissen  diesem  wider- 
spricht". Nun  leert  er  die  ganze  Rüstkammer  des  zeitgenössischen 
Liberalismus,  um  sich  mit  Waffen  für  den  Kampf  auszustatten, 
in  den  er  so  freudig  hineinschreitet.  Bald  leugnete  er,  daß  sich  über- 
haupt noch  Gründe  ins  Feuer  führen  ließen  gegen  die  Teilnahme 
des  Volks  an  der  Staatsgewalt,  gegen  die  Abschaffung  der  Zensur ,^ 
gegen  die  Beseitigung  der  Vorrechte  des  Adels  und  die  Entrechtung 
der  Juden.  Auch  was  ihn  zunächst  umgab,  sah  er  in  verändertem 
Lichte ;  er  wetterte  über  die  niederträchtige  Verfassung  der  Hansa-^ 
Stadt,  wo  das  Patriziat  selbst  die  Geldaristokratie  noch  nicht  an  die 
Staatsleitung  heranlassen  wolle.  Mit  noch  größerer  Leidenschaft 
aber  kämpfte  er  ins  Große  und  Weite  gegen  Servilismus  und  Aristo- 
kratenwirtschaft;  und  mit  Börne  ist  er  der  Meinung,  daß  diese 
Übel  nur  noch  mit  dem  Schwert  auszurotten  wären.  Was  immer 
sich  dem  unaufhaltsamen  Zuge  der  neuen  Ideen  entgegensetze,, 
solle  fallen:  zuvörderst  der  Bundestag,  die  absolute  Monarchie^ 
die  Monarchie  überhaupt.  Selbst  eine  Besprechung  der  Deutschen 
Volksbücher  für  den  Telegraph,  die  im  November  1839  erschien,, 
ist  von  dieser  politisch  radikalen  Tendenz,  die  mehr  als  an  die 
literarischen  Jungdeutschen  an  das  politisch-revolutionäre  Jung- 
deutschland der  Mazzinigenossen  auf  Schweizer  Boden  anklingt, 
ganz  durchtränkt:  das  deutsche  Volk,  meint  er  hier,  habe  lange 
genug  die  Griseldis  und  die  Genoveva  vorgestellt,  nun  möge  es  auch 
einmal  den  Siegfried  und  Reinald  spielen!  Und  an  den  Söhnen 
Fortunats  preist  er  die  ungebändigte  Oppositionslust,  die  der  ab- 
soluten, tyrannischen  Gewalt  Karls  des  Großen  jugendkräftig  ent- 
gegentritt. Schon  tauchen  in  seiner  erregten  Phantasie  wie  in  den 
Proklamationen  der  Breidenstein  und  Rauschenplatt  wankende 
Throne,  zitternde  Altäre  und  brennende  Schlösser  auf.  An  einem 
Novembertag  des  Jahres  1839  läßt  er  in  einen  mit  studentischer 
Trinkromantik  untermischten  Brief  an  Wilhelm  Gracber  einen 
poetisch-revolutionären  Dithyrambus  einfließen.  „Alles  andere 
kommt  auf  den  Hund",  heißt  es  darin,  „die  sentimentalen  Lied- 
lein verhallen  ungehört  und  das  schmetternde  Jagdhorn  wartet 
eines  Jägers,  der  es  blase  zur  Tyrannenjagd,  in  den  Wipfeln  aber 
rauscht  der  Sturm  von  Gott,  und  die  Jugend  Deutschlands  steht 
im  Hain,  die  Schwerter  zusammenschlagend  und  die  vollen  Becher 
schwingend;  von  den  Bergen  lohen  die  brennenden  Schlösser,  die 
Throne  wanken,  die  Altäre  zittern,  und  ruft  der  Herr  in  Sturm 
und  Ungewittern,  voran,  voran,  wer  will  uns  widerstehen."  DaS: 
sind  Töne,    die  noch  ganz  an  die  Romantik  der  Unbedingten  der 


^8  Politische  Anfänge. 

Burschenschaft  erinnern,  die  sich  aber  leicht  ummodulieren  ließen, 
sobald  sie,  wie  es  damals  bei  Berührung  der  politischen  Flüchtlinge 
mit  den  wandernden  Handwerksburschen  auf  ausländischem  Boden 
geschah,  mit  den  sozial-revolutionären  Gefühlen  des  Vortrupps 
des  entstehenden  deutschen  Proletariats  zusammenflössen. 

Die  Geschichte  der  letzten  Jahrzehnte  erblickte  Engels  nun 
mit  der  gleichen  Einseitigkeit  wie  Börne  nur  im  Lichte  seiner  demo- 
kratischen Überzeugung.  Den  höchsten  Gewinn  der  Jahre  der 
nationalen  Erhebung  sieht  er  nicht  so  sehr  in  dem  Sturz  der  Fremd- 
herrschaft, die  kurz  oder  lang  von  selbst  zusammengebrochen  wäre, 
da  sie  allein  auf  den  Atlasschultern  Napoleons  ruhte,  wie  darin, 
daß  das  deutsche  Volk  hier  zum  ersten  Male  selbständig  die 
geschichtliche  Bühne  betrat:  ,,Daß  wir  uns  über  den  Verlust  der 
nationalen  Heiligtümer  besannen,  daß  wir  uns  bewaffneten,  ohne 
die  allergnädigste  Erlaubnis  der  Fürsten  abzuwarten,  ja  die  Macht- 
haber zwangen,  an  unsere  Spitze  zu  treten,  kurz,  daß  wir  einen 
Augenblick  als  Quelle  der  Staatsmacht,  als  souveränes  Volk  auf- 
traten, das  war  der  höchste  Gewinn  jener  Jahre  und  darum  mußten 
nach  dem  Kriege  Männer,  die  dies  am  klarsten  gefühlt,  am  ent- 
schiedensten danach  gehandelt  hatten,  den  Regierungen  gefährlich 
erscheinen.**  Genau  wie  Börne  machte  Engels  für  die  Reaktion  im 
Innern,  die  auf  den  großen  nationalen  Aufschwung  gefolgt  war, 
die  ,, Meineidigkeit**  der  Fürsten  verantwortlich.  Der  besondere 
Haß  des  jungen  Rheinländers  gilt  aber  dem  eigenen  Landesherrn. 
Den  alten  König  bedenkt  er  in  einem  Briefe  an  Fritz  Graeber  vom 
Dezember  1839  mit  den  gepfeffertsten  Schimpfwörtern:  ihn  hasse 
er  bis  in  den  Tod ;  und  müßte  er  ihn  nicht  so  sehr  verachten,  so 
haßte  er  ihn  noch  mehr.  ,,0,  ich  könnte  Dir  ergötzliche  Geschichten 
erzählen,  wie  lieb  die  Fürsten  ihre  Untertanen  haben.  Ich  erwarte 
bloß  von  dem  Fürsten  etwas  Gutes,  dem  die  Ohrfeigen  seines  Volkes 
um  den  Kopf  schwirren,  und  dessen  Palastfenster  von  den  Stein- 
würfen der  Revolution  zerschmettert  werden.**  Deutlich  spürt 
man  in  dieser  Tirade  den  Nachhall  der  frischen  Lektüre  des  letzten 
Bandes  der  Pariser  Briefe !  Stolz  auf  die  ihm  von  Börne  eingepflanzte 
republikanische,  demokratische,  revolutionäre  Gesinnung  blickt 
der  Jüngling  jstzt  verächtlich  auf  die  Großen  dieser  Welt.  Er  ver- 
zichtet ein  für  alle  Mal  auf  Ehrenbezeugungen  von  Fürsten:  ,,Was 
soll  all  das?**  schreibt  er  etwas  später.  ,,Ein  Orden,  eine  goldene 
Tabatiere,  ein  Ehrenbecher  von  einem  Könige,  das  ist  heutzutage 
eher  eine  Schande  als  eine  Ehre.  Wir  bedanken  uns  alle  für  der- 
gleichen und  sind  gottlob  sicher,  denn  seit  ich  meinen  letzten  Ar- 
tikel über  E.  M.  Arndt  im  Telegraphen  drucken  ließ,  wird  es  selbst 
dem  verrückten  König  von  Bayern  nicht  einfallen,  mir  eine  solche 


Dichterische  Pläne. 


49 


Narrenschelle  anzuheften,  oder  den  Stempel  des  Servilismus  auf 
den  Hintern  zu  drücken."  Das  ahnungslose  Schwesterlein,  das  sich 
in  einem  vornehmen  Pensionat  in  Mannheim  befindet,  berichtet 
dem  Bruder  mit  dem  Stolz  des  Backfisches,  daß  es  der  Großherzogin 
von  Baden  vorgestellt  worden  wäxe.  Aber  es  kommt  jetzt  schlecht 
damit  an:  ,,Wenn  Dir  nächstens  wieder  so  eine  Allergnädigste  vor- 
gestellt wird",  erwidert  er  ihm  hochnäsig,  ,,so  schreibe  mir  doch, 
ob  sie  hübsch  ist,  sonst  interessieren  mich  solche  Persönlichkeiten 
garnicht." 

Es  wäre  sonderbar  gewesen,  wenn  nicht  auch  Engels  poetische 
Pläne  um  diese  Zeit  den  Bann  der  neuen  Ideen  verspürt  hätten,  die 
ihn  so  leidenschaftlich  erfüllten.  Da  alles  in  einem  Kessel  brodelte, 
wie  hätten  sich  gerade  die  Dichtungen  solchem  Einflüsse  entziehen 
können  ?  Faust  und  den  ewigen  Juden  zählte  er  dem  Tiefsten  zu, 
was  die  Volkspoesie  aller  Länder  aufzuweisen  habe.  Unerschöpflich 
dünken  ihn  diese  Stoffe;  jede  Zeit  könne  sie  sich  aneignen,  ohne 
sie  in  ihrem  Wesen  umzumodeln.  Aber  ihm  paßte  es  nun  nicht 
mehr,  daß  die  Volksbücher  diese  Gestalten  ,,als  Kinder  eines  skla- 
vischen Aberglaubens"  auffaßten.  Sollte  es  nicht  möglich  sein, 
,, diese  beiden  Sagen  dem  deutschen  Volke  zu  retten,  sie  in  ihrer 
ursprünglichen  Reinheit  wieder  herzustellen?"  Daß  er  selbst  sich 
mit  solchen  Plänen  trug,  verrät  ein  Brief  an  Wilhelm  Graeber,  den 
er  in  dem  gleichen  November  1839  schrieb,  als  im  Telegraph  sein 
Aufsatz  über  die  Volksbücher  erschien.  Diesem  gesteht  er,  daß  ein 
großartiger  Stoff,  gegen  den  alle  seine  bisherigen  nur  Kindereien 
gewesen  seien,  sich  in  seinem  Geiste  emporringe.  Er  wolle  die 
modernen  Ahnungen,  die  sich  schon  im  Mittelalter  zeigten,  aber  die, 
unter  den  Fundamenten  der  Kirchen  und  Verliese  vergraben,  da- 
mals vergebens  an  die  harte  Erde  um  Erlösung  pochten,  in  einer 
Märchannovelle  zur  Anschauung  bringen.  Faust,  der  wilde  Jäger, 
der  ewige  Jude  seien  drei  Typsn  jener  geahnten  Geistesfreiheit, 
und  sie  ließan  sich  leicht  in  Verbindung  und  in  eine  Bsziehung  zu 
Johannes  Huß  setzen.  Ausdrücklich  betont  er,  daß  er  besonders 
auf  dieses  Werk  die  Hoffnung  für  seinen  künftigen  Dichterruhm 
baue.  Einige  Wochen  später,  als  er  bereits  Hegel  studierte,  meldet 
er  Fritz  Graeb2r,  daß  die  lyrische  Poesie  des  modernen  Pantheismus, 
nach  der  die  Gegner  höhnisch  gefragt  hatten  und  die  ihn  bei  Shelley 
begeisterte,  erscheinen  werde,  sobald  erst  er  und  gewisse  andere 
Leute    diesen    Pantheismus   richtig   durchdrungen    haben   würden. 

Aber  was  immer  von  solchen  Plänen  begonnen  oder  gar  zur 
Ausführung  gekommen  sein  mag,  es  ist  der  Nachwelt  verloren. 
Aus  diesem  Grunde  schon  verdient  besondere  Aufmerksamkeit 
der   Gedichtzyklus   ,,Ein   Abend",   der   im   August    1840  mit  dem 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  4 


50  Politische  Anfänge. 

charakteristischen  Motto  ,,To-morrow  comes"  aus  Shelley,  dem 
Dichter,  dessen  Übersetzung  er  damals  ernsthaft  plante,  im  Tele- 
graph zum  Abdruck  kam.  Keine  andere  Poesie,  die  sich  von  Engels 
erhalten  hat,  birgt  gleich  starkes  dichterisches  Geäder.  Wir  finden 
den  Jüngling  bei  Sonnenuntergang  im  Pfarrgarten  an  der  Weser, 
und  Calderons  Tragödien  liegen  vor  ihm  aufgeschlagen.  Das  herein- 
brechende Abendrot  ruft  ihm  die  Sehnsucht  wach  nach  jenem 
Morgenrot,  von  dem  seine  Seele  träumt,  nach  dem  Sonnenauf- 
gang der  Freiheit,  der  die  ganze  Erde  in  einen  lichten  Garten  ver- 
wandeln \Aerde.  Da  vertieft  er  sich  in  dieses  Zukunftsbild.  Wie 
über  den  Zusammenhang  von  Religion  und  Landschaft  mochte  er, 
vielleicht  durch  Gutzkows  Zur  Philosophie  der  Geschichte  an- 
geregt, schon  damals  öfter  über  den  Einfluß  des  Klimas  auf  die  Ver- 
schiedenheit von  Menschen  und  Völkern  nachgedacht  haben.  In 
seinem  messianischen  Traum  aber  verschwindet  dieser  Unterschied: 
mit  der  Friedenspalme  schmückt  sich  hier  auch  der  Nordländer, 
und  die  Despoten  des  Südens  trifft  die  Keule  aus  Eichenholz.  Die 
Aloe  sproßt  dann  unter  allen  Himmelsstrichen;  stachelvoll,  plump 
und  unansehnlich  wie  ihre  Blätter  schaue  der  Geist  des  Volkes  heute 
noch  aus;  dereinst  werde  eine  lichte  Blüte,  die  Freiheitsflamme, 
jedes  Hemmnis  überwindend  ,,laut  erkrachend'*  aus  ihr  hervor- 
brechen. Die  Künder  des  neuen  Morgenrots  aber,  die  Vögel,  die 
nicht  mehr  von  den  längst  gesunkenen  Warten  der  Adelsschlösser, 
sondern  von  stolzen  Eichen  die  heraufkommende  Sonne  grüßen, 
werden  die  Dichter  sein. 

,,Und  ich  bin  einer  auch  der  freien  Sänger. 
Die  Eiche  Börne  ist's,  an  deren  Ästen 
Ich  auf  geklommen,  wenn  im  Tal  die  Dränger 
Um  Deutschland  enger  ihre  Ketten  preßten. 
Ja,  einer  bin  ich  von  den  kecken  Vögeln, 
Die  in  dem  Ächermeer  der   Freiheit  segeln; 
Und  wäre  ich  Sperling  nur  in  ihren  Zügen  — 
Ich  wäre  Sperling  lieber  unter  ihnen 
Als  Nachtigall,  sollt  ich  im   Käfig  liegen, 
Und  mit  dem  Liede  einem  Fürsten  dienen." 
Im  Eifer  der  Ausmalung  vermengen  sich  dem  jugendlichen  Dichter 
die  Bilder  mehr  als  statthaft,  und  die  Schiffe,  die  er  auf  der  Weser 
herauf-  und  herunterziehen  sieht,  verwandeln  sich  gar  zu  plötzlich 
in  die  Rosse,  die  er  auf  seinen  Sonntagsritten  nach  Vegesack  oder 
in  die  Bremer  Schweiz  so  gern  tummeln  mochte.    Noch  schlägt  in 
dieser  Zukunftsphantasie  des  dereinstigen  Verkünders  des  Klassen- 
kampfes die  Liebe  überall  unsichtbare  Brücken  zwischen  den  Men- 
schen, die  sich  alle  als  Glieder  einer  Geisteskette  fühlen;  noch  preist 


Der  Gedichtzyklus:  „Ein  Abend".  ej 

er  hier  den  Frieden,  der  dann  die  ganze  Menschheit  umfassen  werde. 
Doch  schon  erscheint  ihm  auch  erforderhch,  daß,  wenn  erst  ,,der 
Freiheit  Lichtstandarte  weht",  die  Schiffe  „nicht  Waren  mehr, 
um  Einz'le  zu  bereichern",  sondern  Saat  tragen,  ,,der  Menschen- 
glück entkeimt".  Sicherlich  steht  dieser  Gedanke  hier  noch  zurück 
hinter  den  Träumen  von  Frieden  und  Freiheit  und  einem  reineren 
Gottesglauben,  dennoch  bleibt  er  ein  Fingerzeig,  daß  Engels  die 
Unvollkommenheit  der  bestehenden  Wirtschaftsordnung  empfun- 
den haben  mußte.  Die  Ideen  des  Saint-Simonismus,  die  das  junge 
Deutschland  ihm  herantrug,  hatten  schon  damals  bei  ihm  Wurzeln 
geschlagen.  Sein  Aufsatz  über  Ernst  Moritz  Arndt,  der  im  Februar 
1841  erschien,  lehnt  jenen  Eigentumsbegriff,  der  den  Fortbestand 
der  Fideikommisse  rechtfertigen  sollte,  mit  dem  ausdrücklichen 
Hinweis  ab,  daß  er  , .unserer  Erkenntnis  längst  nicht  mehr  ent- 
spricht". Bereits  streitet  er  einer  Generation  das  Recht  ab,  über  das 
Eigentum  aller  künftigen  Geschlechter  unbeschränkt  zu  verfügen; 
die  Freiheit  des  Eigentums  würde  zerstört  werden,  wenn  alle  Nach- 
kommen diese  Verfügungsfreiheit  verlören.  Noch  waren  dies  frei- 
lich Gedanken  ohne  viel  Folge,  die  dem  jugendlichen  Poeten  kamen, 
wenn  er  in  den  nächtlichen  Wolkenschleiern  ,,vor  Sonnenaufgang" 
nach  der  Sonne  spähte.  Noch  versteht  er  unter  der  alten  Zeit,  auf 
deren  ,, Zusammenkrachen"  er  hofft,  die  der  Knechtung  der  Geister; 
mit  Börne  kämpft  er  als  Freigesinnter  gegen  die  Pfaffen,  als  Demo- 
krat gegen  Adel  und  Fürsten,  als  Republikaner  gegen  die  Monarchie, 
ohne  schon  zu  ahnen,  daß  diese  mächtigen  Gegensätze  sich  einmal 
in  seinem  Denken  einem  anderen,  der  sich  ihm  jetzt  noch  verhüllt, 
unterordnen  werden!   — 

Zum  ersten  Mal  seit  den  Befreiungskriegen  hat  der  an  der 
orientalischen  Frage  entzündete  europäische  Konflikt  vom  Sommer 
und  Herbst  1840  uns  Deutschen  wieder  ins  Gedächtnis  gerufen,  daß 
die  oberste  Aufgabe  eines  Volk«  s  die  Verteidigung  des  heimischen 
Bodens  ist.  Aber  tiefe  Gegensätze  im  Innern,  die  sich  unaufhalt- 
sam zuspitzten,  weil  unbelehrbare  Machthaber  die  aufwärtsstreben- 
den Klassen  gewaltsam  niederzuhalten  suchten,  ließen  es  nicht 
geschehen,  daß  die  gespaltene  Nation  sich  rückhaltlos  um  das  natio- 
nale Banner  sammelte.  Keine  Stimme  erhob  sich  zwar  dafür,  das 
linke  Rheinufer  den  Franzosen  auszuliefern.  Wollten  diese  es  sich 
in  einem  Kriege  holen,  so  verlangten  alle,  daß  m.an  ihnen  mit  den 
Waffen  begegnete.  Das  forderten  selbst  jene,  die  in  das  auf  allen 
Gassen  gesungene  Lied  Nikolaus  Beckers  nicht  einstimmen  mochten, 
weil  sie,  wie  der  Kreis  der  Hallischen  Jahrbücher,  zu  dem  Engels 
sich  rechnete,  das  ,,deutschtümelnde"  Pathos  von   1813,  das  nun 

4* 


52  Politische  Anfänge. 

neu  erwacht  war,  als  dumpf,  leer,  plump  und  ungebildet  empfan- 
den und  sorgten,  daß  bei  diesem  plötzlich  ausgebrochenen  natio- 
nalen Taumel  die  freiheitlichen  Ideale  geopfert  werden  könnten. 
Unheimlich  war  allen  Radikalen  der  Gedanke,  daß  jene  heilige 
Allianz,  der  man  die  Karlsbader  Beschlüsse  verdankte,  aus  einem 
Krieg  gegen  das  Heimatland  der  Revolution  neue  Kräfte  ziehen 
sollte.  Und  besonders  mißfiel  ihnen,  daß  Preußen,  wie  sie  dachten 
ohne  dringende  Not,  als  Handlanger  jenes  Moskowitertums  auf- 
trat, dessen  Gefährlichkeit  für  Deutschlands  Zukunft  ihnen  Gold- 
manns viel«  beachtetes  Pamphlet  ,,Die  europäische  Pentarchie" 
erst  recht  vor  Augen  gestellt  hatte.  Sollte  man  das  Blut  seiner  Söhne 
opfern,  um  nach  Rußlands  und  Englands  Gebot  den  Thron  des 
Sultans  gegen  den  Khediven  zu  verteidigen  ?  Zur  Zeit  des  Feldzuges 
nach  den  Pyramiden  hatten  unsere  Biedermeier  gesungen: 

,,Laß   Bonapart'   die    Türken   schlagen, 

Sei  er  der  größte  Held  und  Mann, 

Mag  er  sie  aus  Ägypten  jagen. 

Was  gehen  uns  die  Türken  an  ? 

Wir  trinken  auf  der  Menschheit  Wohl." 
Die  Erfahrungen  der  seither  verstrichenen  vierzig  Jahre  hatten 
den  deutschen  Kleinbürger  über  die  Verflochtenheit  der  inter- 
nationalen Vorgänge  nicht  aufgeklärt,  und  so  beklatschte  auch 
jetzt  das  Publikum  im  Berliner  Königlichen  Opernhaus  demon- 
strativ eine  Arie,  deren  Refrain  lautete:  ,,Was  geht  uns  der  Sultan 
an  ?**  Beckers  Rheinlied  verdankte  seine  Popularität  nicht  allein 
der  trotzigen  Entschlossenheit  zur  gemeinsamen  Verteidigung 
vaterländischen  Bodens.  Es  war  auch  neu,  daß  die  deutsche  Einig- 
keit, deren  leiseste  Erwähnung  noch  vor  wenigen  Wochen  m.it 
Festung  oder  Zuchthaus  bedroht  war,  nun  plötzlich  überall  öffent- 
lich   besungen   werden   durfte.  ^t 

Mochte  die  Freiheit  Deutschlands  wirklich  von  außen  bedroht 
werden,  eine  überzeugte  Opposition  konnte  nicht  vergessen,  daß 
auch  im  Innern  die  Freiheit  noch  vergeblich  gefordert  wurde.  Das 
Lied  Der  Rhein,  das  der  junge  Pommer  Robert  Prutz  in  den 
Hallischen  Jahrbüchern  veröffentlichte,  erinnerte  das  deutsche  Volk 
daran,  daß  es  auch  mit  seinen  eigenen  Fürsten  eine  Rechnung  zu 
begleichen  habe.  Und  auch  diesem  Gedicht  verschaffte  seine  Ten- 
denz eine  so  jubelnde  Aufnahme  im  Publikum,  daß  der  reaktionäre 
preußische  Polizeiminister  von  Rochow  den  König  auf  die  Gefähr- 
lichkeit der  junghegelschen  Partei  und  ihres  führenden  Organs 
recht  eindringlich  hinzuweisen  sich  bemüßigt  sah.  Dem  , »freien 
deutschen  Geist",  den  der  Dr.  Prutz  in  seinem  Liede  verherrliche, 
entspreche    jene   von    Hegel   angeblich   erfundene    ,, freie   deutsche 


Engels  in  der  europäischen  Krisis  von  1840.  53 

Wissenschaft",  die  in  der  Religion  von  jedem  positiven  Glaubens- 
inhalt, in  der  Politik  von  allen  geschichtlichen  Überlieferungen 
und  von  jeder  organischen  und  natürlichen  Gliederung  abstrahiere: 
,,Der  Patriotismus,  der  in  diesem  Liede  klingt,  und  den  die  Halli- 
schen Jahrbücher  verkünden,  ist  ein  auflösender,  allen  Widerstand 
unmöglich  machender,  den  Franzosen  die  Arme  entgegenstreckender. 
,,Man  gebe  Freiheit"  sagen  sie,  ,,und  wir  sind  bereit  dem  Auslande 
zu  widerstehen"  —  aber  diese  Freiheit  ist  Auflösung  und  Zügel- 
losigkeit,  die  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  unter  der  Maske  der 
Poesie  und  Philosophie  sehr  deutlich  hervorsieht." 

Doch  die  aufgetürmten  Wogen  der  nationalen  Begeisterung 
verliefen  sich,  bevor  die  reaktionären  Kreise  aus  der  Wiederbe- 
lebung des  Geistes  der  Freiheitskriege  Nutzen  ziehen  konnten,  und 
den  liberalen  Ideen  tat  ihre  französische  Herkunft  keinen  Eintrag. 
Wir  aber  fragen  schon  lange  mit  einiger  Spannung,  wie  sich  denn 
bei  Engels  sein  junger  Radikalismus  damals  mit  seinem  vater- 
ländischen Gefühl  abgefunden  haben  mag.  Da  zeigt  es  sich,  daß 
jene  Gedanken-  und  Gefühlskomplexe,  die  ihm  bis  dahin  Geist 
und  Seele  ausschließlich  erfüllt  hatten,  bei  diesem  frühen  Konflikt 
zwischen  seiner  freiheitlichen  und  seiner  nationalen  Gesinnung  die 
Herrschaft  behielten,  daß  aber  auch  die  nationale  Gesinnung  in 
der  Brust  des  jungen  Kämpfers  mächtig  aufschäumte.  Von  dem 
, »schlechten  Preußenlied"  von  Thiersch  will  er  nichts  wissen  und 
dem  Rheinlied  Nikolaus  Beckers,  das  allgemein  als  die  ,, deutsche 
Marseillaise"  gepriesen  wurde,  zog  er  die  französische,  obgleich 
er  deren  Text  minderwertig  fand,  vor,  weil  diese  in  edler  Form  die 
Menschheit  der  Nationalität  überordnete ;  aber  er  preist  doch  auch 
den  ,, großen  Dichter"  von  Heil  Dir  im  Siegerkranz,  der  die  Liebe 
des  freien  Mannes  besinge.  ,,Sie  sollen  ihn  nicht  haben"  hält  er 
deshalb  besonders  für  ungeeignet,  die  Nationalhymne  des  deutschen 
Volkes  zu  werden,  weil  dieses  Lied  mit  seinem  negativen  Inhalt 
ihm  dafür  zu  bescheiden  ist.  ,, Könnt  Ihr  mit  einem  negierenden 
Volksliede  zufrieden  sein  ?  Kann  deutsches  Volkstum  nur  in  der 
Polemik  gegen  das  Ausland  eine  Stütze  finden?  .  .  .  Und,  —  nach- 
dem Burgund  und  Lothringen  uns  entrissen,  nachdem  wir  Flandern 
französisch,  Holland  und  Belgien  unabhängig  werden  ließen,  nach- 
dem Frankreich  mit  dem  Elsaß  schon  bis  an  den  Rhein  vorgedrun- 
gen und  nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  der  ehemals  deutschen 
linken  Rheinseite  noch  unser  ist,  jetzt  schämen  wir  uns  nicht,  groß 
zu  tun  und  zu  schreien:  das  letzte  Stück  sollt  Ihr  wenigstens  nicht 
haben.  O,  über  die  Deutschen!  Und  wenn  die  Franzosen  den  Rhein 
hätten,  so  würden  wir  doch  mit  dem  lächerlichsten  Stolze  rufen: 
Sie  sollen  sie  nicht  haben,    die  freie  deutsche  Weser    und  so  fort 


54  Politische  Anfänge. 

bis  zur  Elbe  und  Oder,  bis  Deutschland  zwischen  Franzosen  und 
Russen  geteilt  wäre  und  uns  nur  zu  singen  bliebe:  Sie  sollen  ihn 
nicht  haben,  den  freien  Strom  der  deutschen  Theorie,  so  lang  er 
ruhig  wallend  ins  Meer  der  Unendlichkeit  fließt,  so  lange  noch  ein 
unpraktischer  Gedankenfisch  auf  seinem  Grund  die  Flosse  hebt! 
Statt  daß  wir  Buß3  tun  sollten  im  Sack  und  in  der  Asche  für  die 
Sünden,  durch  die  wir  alle  jene  schönen  Länder  verloren  haben, 
für  die  Unei  igkeit  und  den  Verrat  an  der  Idee,  für  den  Provinzial- 
Patriotismus,  der  vom  Ganzen  um  des  lokalen  Vorteils  willen  ab- 
fällt und  für  die  nationale  B2wu3tlosigkeit.  Allerdings  ist  es  eine 
fixe  Idee  bei  den  Franzosen,  daß  der  Rhein  ihr  Eigentum  sei,  aber 
die  einzige  des  deutschen  Volkes  würdige  Antwort  auf  diese  an- 
maßände  Forderung  ist  das  Arndtsche:  Heraus  mit  dem  Elsaß 
und   Lothringen!" 

Selbst  in  diesem  Vorfrühling  eines  neuen  nationalen  Auf- 
schwungs hatten  sich  aus  der  Mitte  des  geteilten  und  gespaltenen 
Volkes,  das  in  seiner  Mehrzahl  froh  war,  wenn  die  Nachbarn  ihm 
seinen  friedlichen  Pflanzenschlaf  ließen,  nur  ganz  wenige  Stim- 
men erhoben,  die  den  Ruf  nach  den  verlorenen  Grenzlanden  er- 
schallen ließen.  Ist  es  nicht  denkwürdig,  daß  neben  dem  Major 
Moltke,  der  sie  künftig  zurückerobern  sollte,  der  spätere  Mitbegrün- 
der des  proletarischen  Internationalismus  dieser  Forderung  Worte 
verlieh?  In  seinem  mehrerwähnten  Aufsatz  über  Arndt  nannte  er 
„die  Wiedereroberung  der  deutschsprechenden  linken  Rheinseite 
eine  nationale  Ehrensache,  die  Germanisierung  des  abtrünnig  ge- 
wordenen Holland  und  Belgiens  eine  politische  Notwendigkeit  für 
uns".  Das  war  ein  kühnes  Bekenntnis  im  Munde  des  deutschen 
revolutionären  Demokraten,  der  genau  wußte,  daß  er  sich  in  den 
Reihen  der  radikalen  Opposition  allein  befand,  wenn  er  hier  den 
Begriff  der  politischen  Notwendigkeit  unter  internationalem  Ge- 
sichtswinkel miteiner  Selbstverständlichkeit  verwandte,  wie  es  damals 
im  weiten  liberalen  Lager  gewiß  erst  wenige  getan  hätten.  Doch 
dieser  angeborene  Sinn  für  das  Reale,  der  sich  so  äußerte,  war  bei 
ihm  unzertrennlich  verschwistert  mit  dem  Bedürfnis,  die  Tatsachen 
der  Erfahrung  ebenso  wie  das  eigene  Leben  in  seiner  Ganzheit  ge- 
nommen in  einen  großen  selbständigen,  aus  sich  heraus  notwendigen 
Zusammenhang  einzugliedern. 

Der  gleiche  starke  Sinn  für  Notwendigkeit  im  objektiven  Wal- 
ten, der  ihn  in  der  geistigen  wie  in  der  praktischen  Welt  vor  allem 
Subjektivismus  bewahrte,  bewahrte  ihn  von  Anfang  an  instinktiv 
davor,  die  internationalen  Probleme  nach  dem  bequemen  Schema 
eines  doktrinären  demokratischen  Kosmopolitismus  ihrer  eigen- 
tümlichen  Kraft   zu   berauben.     ,, Sollen   wir   in   jenen   Ländern", 


I 


Erste  Stellungnahme  in  der  auswärtigen  Politik.  ^5 

fragt  er,  „die  deutsche  Nationalität  vollends  unterdrücken  lassen, 
während  im  Osten  sich  das  Slawentum  immer  mächtiger  erhebt  ? 
Sollen  wir  die  Freundschaft  Frankreichs  mit  der  Deutschheit  unserer 
schönsten   Provinzen   erkaufen ;  sollen  wir   einen   kaum   hundert- 
jährigen Besitz,   der   sich   nicht   einmal  das  Eroberte  assimilieren 
konnte,  sollen  wir  die  Vorgänge  von  1815  für  ein  Urteil  des  Welt- 
geistes in  letzter  Instanz  halten?"     So  weit    näherte  sich  Engels 
scheinbar  einem  Standpunkte,  der  ihn  bei  oberflächlicher  Betrach- 
tung als  einen  Vorläufer  alldeutscher  Bestrebungen,  der  er  niemals 
war,  gelten  lassen  könnte.    Wenn  das  starke  nationale  Gefühl,  das 
sein  Herz  erfüllte,  später  immer  seltener  hervorkam,  wenn  er  schließ- 
lich bei  Überzeugungen  anlangte,  die  ihm  geboten,  solche  Gefühle 
als   Rudimente   einer    überlebten   Gesinnung  aus  seiner   Brust   zu 
reißen,  wenn  sein  urwüchsiges  Volks-  und  Stammesgefühl  obdach- 
los wurde,  weil  es  in  seiner  Weltanschauung  keinen  Platz  mehr  fand, 
so  fällt  dieser  Verlust  gleich  all  den  anderen  an  wertvollen  Menschen, 
die  der  deutsche  Staatsgedanke  im  Vormärz  erlitt,  hauptsächlich 
jener   furchtsam  kleinmütigen   Reaktion  zur   Last,  die  alles   Heil 
bloß  in  der  Anknüpfung  an  die   Reste  der  Vergangenheit  suchte 
und  jene  fruchtbaren  Keime  ungenutzt  ließ,  die  eine  dem  Hegeischen 
Staatsgedanken  geneigte  Jugend  für  eine  großzügige  Entwicklung 
im  freiheitlich-nationalen  Sinne  dargeboten  hätte.    Es  war  das  oft 
beklagte  tragische  Motiv  unserer  inneren  Geschichte,  daß  das  Be- 
dürfnis nach  Einheit  und  das  Verlangen  nach  Freiheit  des  Vater- 
landes, sobald  sie  aus  der  Seele  des  einzelnen  hinaus  in  die  politische 
Praxis  traten,  mit  unfehlbarer  Gewißheit  an  jenen  Scheideweg  ge- 
langten, wo  der  einzelne  wählen  mußte,  welches  von  beiden  Idealen 
er  höher  wertete,  die  nationale  Stärke  oder  die  Freiheit  im  Inneren. 
Dieses   Dilemma  lagerte    sich   jetzt   vor   Engels.     Wohl    hätte    er 
das    Elsaß   gern    für    Deutschland    zurückgefordert;    aber    konnte 
Deutschland  der  verloren  gegangenen  Bevölkerung  das  bieten,  was 
sie  in  Verbindung  mit  der  französischen  Nation  seit  der  großen  Re- 
volution  besessen   hatte,    ,,ein   freies   öffentliches  Leben   in   einem 
großsn  Staate?"    Welche  Lösung  erblickt  er  nun  für  diese  Frage? 
,,Es  kommt  ohne  Zweifel  noch  einmal  zum  Kampfe  zwischen  uns 
und  Frankreich  und  da  wirds  sich  zeigen,  wer  des  linken  Rhein- 
ufers würdig  ist.    So  lange  die  Zersplitterung  unseres  Vaterlandes 
besteht,  so  lange  sind  wir  politisch  Null,  so  lange  sind  öffentliches 
Leben,   ausgebildeter    Konstitutionalismus,    Preßfreiheit,   und    was 
wir  noch  mehr  verlangen,  alles  fromme  Wünsche,  deren  Ausführung 
immer  halb  bleiben  wird."    Also  Einigung  zunächst,  danach  erst 
Freiheit?  Nein,  ganz  so  meint  es  Engels  nicht.  Ein  einiges  Deutsch- 
land, das  sieht  er,  ist  die  Vorbedingung  einer  starken  Auslands- 


56  Politische  Anfänge. 

Politik,  ohne  die  auch  das  Elsaß  nicht  zurückzugewinnen  wäre,  aber 
erstrebbar  und  erreichbar  erscheint  ihm  die  Einigung  ausschließ- 
lich auf  dem  Boden  der  modernen  Zeitgedanken  unter  Aneignung 
der  Ergebnisse  der  französischen  Revolution  mit  einer  Verfassung 
in  der  Art  der  spanischen  von  1812.  Er  spricht  dies  aus,  um  den 
starken  Gegensatz  zu  betonen,  der  ihn  von  jener  beschränkten 
Deutschtümelei  trennte,  deren  Extrem  der  Turnvater  Jahn  dar- 
stellte und  die  das  eigene  Volk  schlechthin  als  das  auserwählte  be- 
trachtete. Ihr  hypertropher  Nationalismus  steigerte  sich  bekannt- 
lich zu  einem  bilderstürmenden  Grimm  gegen  alles  Ausländische, 
zumal  gegen  alles  Französische.  Zwar  bekämpfte  auch  Engels 
die  überflüssigen  Fremdwörter,  die  wahllosen  Übersetzungsfabriken, 
die  ,, verrückten  ausländischen  Gebräuche  und  Moden",  im  Kunst- 
gewerbe ,,die  Rokokogeburten  aus  der  Zeit  des  krassesten  Ab- 
solutismus" und  die  Möbel  im  Stil  der  Renaissance;  auch  er  wollte, 
daß  die  Deutschen  aufhörten,  ,, die  Narren  der  Fremden  zu  sein  und 
zusammenhielten  zu  einem  einigen,  unteilbaren  starken  —  und  so 
Gott  will  freien  deutschen  Volk".  Aber  in  die  ,, Sackgasse  der  Deutsch- 
tümelei" konnte  er  sich  nicht  verirren,  weil  diese  die  ,, ewigen  Re- 
sultate" der  französischen  Revolution  als  welschen  Lug  und  Trug 
verabscheute  und  das  Heil  für  die  Zukunft  allein  von  der  Rückkehr 
in  das  Dickicht  des  Teutoburger  Waldes  erwartete.  Sie  streifte, 
wie  er  ihr  vorwarf,  alles  ab,  was  nicht  auf  vierundsechzig  Ahnen 
rein  deutsch  und  aus  volkstümlicher  Wurzel  entsprossen  war.  Was 
Napoleon  gebracht  habe:  ,, Emanzipation  der  Israeliten,  Geschwo- 
renengerichte, gesundes  Privatrecht  statt  des  Pandekten wesens" 
verdamme  sie  schon  um  des  Urhebers  willen.  Ihm  war  klar,  daß 
die  deutschtümelnde  Richtung  sich  von  der  bewußten  Reaktion 
um  die  Freiheit  ihrer  Gedanken  hatte  prellen  lassen.  Dabei  war  er 
objektiv  genug,  diese  nationalistische  Richtung  als  eine  ,, notwendige 
Bildungsstufe  des  deutschen  Volksgeistes"  anzuerkennen.  Als 
eine  solche  galt  ihm  aber  auch  der  besonders  vom  süddeutschen 
Liberalismus  gepredigte  Kosmopolitismus,  der  aus  Opposition  gegen 
die  Deutschtümelei  die  Nationalunterschiede  fast  ganz  zurück- 
treten ließ  und  nur  auf  die  Bildung  einer  großen,  freien,  alliierten 
Menschheit  hinstrebte.  Nach  seiner  Ansicht  hatten  diese  beiden 
Richtungen,  deren  Extreme  sich  in  der  Burschenschaft  berührten, 
durch  die  Julirevolution  ihre  Zeugungskraft  verloren.  Denn  ,,die 
übergreifende  Bedeutung  der  großen  Woche"  war  eben  die  Resti-  | 

tution  der  französischen  Nationalität  in  ihrer  Stellung  als  Groß- 
macht, wodurch  die  anderen  Nationalitäten  gezwungen  wurden, 
sich  gleichfalls  fester  in  sich  selbst  zusammenzuziehen. 

Soche  Erkenntnis   bewog    Engels   jedoch  keineswegs,   nun   in 


^ 


Weltbürgertum  und  National gefühl.  ^y 

der  durch  die  Rivalität  der  Großmächte  erzeugten  Krisis  von 
1840  die  orientalische  Frage  als  eine  Lebensfrage  für  Deutschland 
zu  betrachten.  Er  glaubte  nicht,  daßMehemed  Ali,  weil  Frankreich 
ihn  unterstützte,  das  deutsche  Volkstum  gefährdete.  Der  Argwohn 
ließ  ihn  nicht  los,  daß  der  eifrig  geschürte  nationale  Haß  gegen 
den  ,, welschen  Erbfeind"  zum  Hauptergebnis  haben  werde,  ,,den 
Russen  Gebietszuwachs  und  den  Engländern  Handelsmacht  genug 
zu  geben,  daß  sie  uns  Deutsche  ganz  einklemmen  und  zerdrücken 
können". 

Acht  Jahre  später  werden  dem  Auslandredakteur  der  Neuen 
Rheinischen  Zeitung  politische  Ideale  anderen  Ursprungs  den 
Maßstab  liefern,  aber  die  Sympathien  und  Antipathien,  die  ihn 
jetzt  für  die  nichtdeutschen  Großmächte  beseelen,  werden  sich 
nicht  mehr  ändern.  ,,Das  stabile  Prinzip  Englands  und  das  System 
Rußlands",  so  schreibt  er  schon  hier,  ,,das  sind  die  Erbfeinde  des 
europäischen  Fortschritts,  nicht  aber  Frankreich  und  seine  Be- 
wegung." Wenn  Engels  es  als  Deutschlands  Aufgabe  nach  außen 
hin  bezeichnet,  die  Zunge  an  der  Wage  des  europäischen  Gleich- 
gewichts zu  bilden,  so  will  er  damit  weniger  den  nationalen  Ehr- 
geiz, der  dessen  damals  noch  nicht  bedurfte,  zur  Genügsamkeit 
ermahnen,  als  ihn  auf  die  entscheidende  Rolle  hinweisen,  die  Deutsch- 
land zufallen  könnte,  wenn  es  sich  erst  seine  Einheit  und  Freiheit 
erkämpft  hätte.  Ihm  selbst,  das  sahen  wir  schon,  standen  die  Ziele 
der  Menschheit  höher  als  die  beschränkteren  der  eigenen  Nation, 
ihm  wie  Börne  galt  nicht  der  Nationalstaat  sondern  das  Welt- 
bürgertum als  das  Ideal  der  Zukunft.  Noch  trägt  sein  übernationaler 
Wertmaßstab  den  harmlosen  Namen  des  europäischen  Fortschritts;, 
trotzdem  schlummern  in  ihm  bereits  die  Keime,  die,  von  vorläufig 
noch  fernen  Gedankenkomplexen  befruchtet,  sich  hernach  zu  dem 
Ideal  einer  in  allen  Ländern  sich  gleichzeitig  vollziehenden  sozialen 
Revolution  entfalten  werden. 


Kapital  IV. 

Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

Die  Regierung  Friedrich  Wilhelms  III.  hatte  bei  der  Besetzung 
•der  akademischen  Lehrstühle  die  Schule  Hegels  bevorzugt,  weil 
diese  dem  Staat  so  hohe  Ehren  erwies  wie  keine  vor  ihr  in  christlichen 
Zeiten.  Und  da  der  Meister  es  verstanden  hatte,  die  Abgründe  seiner 
Spekulation  mit  den  Emblemen  des  christlichen  Dogmas  zu  ver- 
decken, so  schadete  es  ihr  anfangs  weng,  daß  die  Orthodoxen  an 
dem  Gottesbegriff  Hegels  Schönheitsfehler  entdeckten.  Der  preu- 
ßische Beamtenstaat  war  in  dieser  Hinsicht  auch  nicht  rigoros, 
solange  an  den  leitenden  Stellen  noch  Männer  standen,  die  im  Geiste 
der  Aufklärung  und  Kants  groß  geworden  waren.  Vergebens  ver- 
suchten K.  E.  Schubarth,  Heirrich  Leo,  Wdfgang  Menzel  dem 
Kultusminister  Altenstein  begreiflich  zu  machen,  daß  der  Staat 
eine  gefährliche  Schlange  an  seinem  Busen  groß  zöge.  Einem  stär- 
keren Echo  begegneten  diese  Warnungsrufe  erst,  als  die  Aufnahme, 
die  Strauß  mit  dem  Leben  Jesu  fand,  aller  Welt  gezeigt  hatte,  daß  der 
Glauben  an  die  unbedingte  Göttlichkeit  der  Bibel  dem  linken  Flügel 
der  Hegelianer  geschwunden  war.  Seit  1838  machte  Rüge  aus 
den  Hallischen  Jahrbüchern  ein  Sammelbecken  für  alle  Bestrebungen, 
die  in  der  Theorie  wie  in  der  Praxis  die  Befreiung  des  Geistes  von 
dem  überspannten  Autoritätsbegriff  der  überpersönlichen  Mächte 
zum  Feldgeschrei  erhoben.  Damit  aber  begann  ein  ,, Freiheitskrieg" 
ganz  neuer  Art,  der  in  der  jungen  politischen  Lyrik  ein  besonders 
kräftiges  Echo  fand.  Die  Jahrbücher  sollten  dem  in  philosophischer 
Zucht  groß  gewordenen  gebildeten  deutschen  Bürgertum  in  jener 
abstrakten  und  systematisierenden  Form,  die  dieses  vorerst  noch 
liebte,  die  von  uns  schon  erwähnte  Erkenntnis  zu  Gemüt  führen, 
daß  der  Kampf  gegen  eine  Autorität,  die  sich  hartnäckig  auf  die 
Unteilbarkeit  ihrer  Gewalt  versteifte,  in  Wissenschaft,  Kirche  und 
Staat  von  dem  gleichen  Gedanken,  dem  gleichen  Interesse  beherrscht 
wurde.  So  lag  die  Bedeutung  der  Junghegeischen  Schule  für  die 
Entwicklung  des  deutschen  Geisteslebens  vielleicht  mehr  auf  poli- 
tischem als  auf  philosophischem  Gebiet.    Aus  der  Zeitphilosophie 


Die  Politisierung  der  Hegeischen  Lehre.  59 

heraus  schuf  sie  dem  kampffrohen  jungen  Geschlecht  das  theore- 
tische Arsenal  für  seine  allgemeine  Auflehnung  gegen  den  starren 
Dualismus  in  Staat  und  Kirche.  Zum  ersten  Mal  enthüllte  sich  ihm 
jetzt,  daß  auch  die  selbstherrliche  Gedankenwelt  des  Philosophen 
nicht  unberührt  bleibt  von  dem  Wandel  der  politischen  und  gesell- 
schaftlichen Wirklichkeit.  Es  zeigte  sich,  daß  unter  der  Einwirkung 
wechselnder  Einflüsse  verschiedene  Generationen  aus  der  Fülle 
der  Probleme  im  Geistesleben  bald  das  eine  bald  das  andere  heraus- 
greifen, an  jedem  bald  diese  bald  jene  Seite  bevorzugen.  Und 
wenn  in  der  Geschichte  der  Philosophie  auch  die  geniale  Persönlich- 
keit den  Ausschlag  gibt,  so  werden  doch  selbst  hier  nicht  bloß 
Brücken  von  einem  gewaltigen  Gipfel  zum  anderen  geschlagen. 
„Auch  die  Philosophen",  schrieb  Marx  1842  in  der  Rheinischen 
Zeitung,  , »wachsen  nicht  wie  die  Pilze  aus  der  Erde,  sie  sind  die 
Früchte  ihrer  Zeit,  ihres  Volkes,  dessen  subtilste,  kostbarste  und 
unsichtbarste  Säfte  in  den  philosophischen  Ideen  roulieren."  Den 
Junghegelianern,  die  von  Hegel  darauf  vorbereitet  waren,  daß 
auch  Gedankengebäude  dem  Gesetz  der  Veränderung  unterliegen, 
erwies  sich  jetzt  diese  Lehre  des  Meisters,  wie  En2,el3  bald  fest- 
stellte, an  seiner  eigenen  Pi  ilosophie.  Wie  ein  gewaltiger  Dom 
dem  Blick  des  Beschauers,  der  den  Platz  verändert,  wechselnde 
Bilder  zeigt,  so  enthüllten  sich  ihnen  an  Hegels  Philosophie  neue 
Perspektiven,  seitdem  sie  diese  mit  verwandelten  Augen  anblickten. 
Die  resignierte  Stimmung  der  Restaurationsepoche  hatte  Hegel  nicht 
anspornen  können,  aus  der  eigenen  Philosophie  umstürzende  Kon- 
sequenzen für  die  Praxis  zu  ziehen,  der  Kleinmut  einer  Zeit,  die 
aus  der  ungeheuren  Auflösung  der  Revolutionsepoche  mit  Mühe 
zu  stabileren  Formen  den  Weg  zurückfard,  ihn  verleitet,  vergäng- 
lichen, bloß  zeitlich  bedingten  Gestaltungen  einen  absoluten  Charak- 
ter zuzusprechen.  Aber  die  Jugend,  der  aus  dem  Erlebnis  der  Juli- 
tage frische  Spannkraft  zugewachsen  war,  beseelte  ein  empfind- 
licheres Freiheitsbedürfnis.  Ihr  wurde  der  Glaube  wieder  lebendig, 
daß  das  Sclbstbestimmungsrecht  des  einzelnen  in  Religion  und 
Politik  Wirklichkeit  werden  könne.  Daß  der  historische  Hegel  ein 
so  unbezähmbares  Vorwärtsverlangen  nicht  empfunden  hatte,  hielt 
die  jungen  Hegelianer  von  dem  Versuch  nicht  ab,  die  zeitlose  ewig 
gültige  Lehre  des  Philosophen  aus  ihren  empirischen  Schlacken 
herauszulösen  und  zu  ihrer  wesenhaften  Reinheit  emporzuläutern. 
Um  dies  Ziel  zu  erreichen,  entledigten  sie  die  Dialektik  des  Hemm- 
schuhs, den  Hegels  Religions-  und  Rechtsphilosophie  ihrem  un- 
begrenztem Fortwirken  angelegt  hatte  und  zogen  eine  scharfe  Grenze 
zwischen  Religion  und  Staat  als  absoluten  Kategorien  und  als 
historischen  Erscheinungsformen.    Der  Absolutheit,  die  der  Meister 


6o  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

diesen  Sphären  zuerkannt  hatte,  entkleidet  und  in  den  niemals 
sich  stauenden  Fluß  der  Dialektik  zurückgeschleudert,  entpuppten 
sich  ihnen  Religion  und  Politik,  wenn  auch  nicht  formal  so  doch 
inhaltlich,  allmählich  immer  mehr  als  Erzeugnisse  eines  historischen 
Prozesses.  Und  der  Spekulation,  die  Christentum  und  Staat  auf 
diese  Weise  vollständig  in  ihre  Gewalt  bekommen  zu  haben  glaubte, 
wurde  die  Vernunft  mit  ihren  zerstörenden  und  aufbauenden  Kräf- 
ten zur  Herrscherin  der  Welt.  Ihr  allein  noch  wollten  die  Jung- 
hegelianer über  Leben  und  Tod,  über  Bestehen  und  Vergehen  aller 
geschichtlich  gewordenen,  die  Gegenwart  beherrschenden  und  in 
die  kommende  Generation  hinübergreifenden  Gewalten  die  Ent- 
scheidung  einräumen. 

Seitdem  er  Hegels  Lehre  „von  dem  frischen  Hauche  des  Lebens 
angeweht"  sah,  zerteilten  sich  auch  für  Engels  ,,die  matten  Nebel- 
flecke der  Spekulation"  in  ,, leuchtende  Ideensterne".  Er  empfand 
Dankbarkeit  für  den  eben  verstorbenen  Eduard  Gars,  der  die 
Geschichtsphilosophie  Hegels  bis  zur  Gegenwart  fortgeführt  hatte 
und  es  begeisterte  ihn,  daß  Rüge  und  Carl  Friedrich  Koppen 
die  Freisinnigkeit  der  Hegeischen  Lehre  öffentlich  proklamierten. 
Schon  war  ihm  zur  Gewißheit  geworden,  daß  dem  verjüngten  Hegel 
in  den  Kämpfen  der  Zeit  der  Endsieg  verbleiben  müsse,  und  seiner 
,, unerschütterlichen  Zuversicht  auf  die  Idee,  wie  sie  dem  Neu- 
Hegelianismus  eigen"  konnte  es  nichts  anhaben,  daß  jetzt  in  Preußen 
die  in  entgegengesetzte  Richtung  drängenden  Kräfte  zu  Macht 
und  Ansehen  gelangten. 

Das  Leben  Jesu  und  die  Dogmatik  D.  F.  Strauß  hatten  Engels 
vor  zwei  Jahren  aus  der  Inspirationslehre,  in  der  er  sich  wie  in 
einem  Gefängnis  fühlte,  den  Weg  ins  Freie  gewiesen.  Wir  erinnern 
uns,  in  wie  zauberhafter  Beleuchtung  die  Gefilde  der  spekulativen 
Dialektik  sich  ihm  auftaten,  als  er  ihrer  zum  ersten  Male  gewahr 
wurde.  Selig  war  er  damals  über  diese  neue  Welt  des  Begriffs  mit 
ihrem  selbständig  fortzeugenden  Leben,  mit  ihrer  immanenten 
Notwendigkeit;  erst  sie  brachte  ihm  jene  Sicherheit  zurück,  in  der 
die  Glaubenskämpfe  ihn  erschüttert  hatten.  Aber  die  Zeitentwick- 
lung, die  auf  die  volle  Befreiung  des  Gedankens  von  allen  historischen 
Bindungen  hinstrebte  und  der  er  sich  anvertraut  hatte,  war  bei  der 
Straußschen  Mythenlehre  nicht  stehen  geblieben.  Vermochte  sich 
nämlich  das  Dogma  durch  seine  eigene  Geschichte  objektiv  in  den 
philosophischen  Gedanken  aufzulösen,  so  trat  es  auch  an  diesen 
in  aller  Form  die  Herrschaft  im  Reiche  des  Geistes  ab,  so  entledigte 
die  Philosophie  sich  endgültig  der  Vormundschaft  der  Theologie, 
aus  der  Hegel  sie  noch  nicht  einwandfrei  erlöst  hatte.  Strauß  leugnet 
bekanntlich  noch  nicht,  daß  den  Berichten  über  das   Leben  Jesu 


Junghegelianer  und  Aufklärung.  ßl 

ein  historischer  Kern  zugrunde  liege;  er  ließ  jene  Berichte  noch 
als  Erzeugnisse  der  im  Schoß  der  ersten  Gemeinden  unbewußt 
wirksamen  Phantasie  gelten.  Als  freie  und  bewußte  Schöpfungen 
von  Schriftstellern  betrachtete  die  Evangelien  zuerst  Bruno  Bauer. 
Er  verglich  die  Evangelisten  schlechthin  mit  Homer  und  Hesiod, 
die  nach  Herodots  berühmtem  Wort  den  Griechen  ihre  Götter 
gemacht  hatten.  War  aber  das  Selbstbewußtsein  der  Schöpfer  der 
heiligen  Geschichte,  so  gab  dieser  Nachweis  der  „Traditionshypo- 
these" den  letzten  Stoß  und  vollendete  die  ,, Verwesung  des  Buch- 
stabens". Seitdem  Bauer  mit  seinen  radikalen  Folgerungen  her- 
vorgetreten war,  verbreitete  sich  unter  den  jüngeren  Hegelianern 
immer  stärker  die  Anschauung,  daß  man  an  der  Schwelle  einer  so 
fundamentalen  Aufklärungsperiode  stände,  wie  die  Geschichte 
noch  keine  hervorgebracht  habe.  Zwar  fühlten  sie  sich  im  Besitze 
ihrer  Dialektik  erhaben  über  den  unspekulativen  und  dualistischen 
Rationalismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Dennoch  war  es 
nichts  weniger  als  Zufall,  daß  sie  mit  Voltaire,  Diderot  und  den 
Helden  des  Konvents  einen  förmlichen  Kultus  trieben.  Die  Ber- 
liner Freien,  diese  extravagantesten  Junghegelianer,  verkannten 
jedoch  den  Stand  ihrer  eigenen  politischen  Unschuld,  wenn  sie 
sich  als  die  Erben  der  Enzyklopädisten  aufspielten  oder  gar  in  ihren 
eignen  Reihen  nach  den  deutschen  Robespierres  und  Marats  Um- 
schau hielten.  Anfänglich  erstrebten  auch  die  Junghegelianer  bloß, 
daß  die  Vernunft  den  Ansprüchen  des  gebildeten  und  besitzenden 
Bürgertums  Beachtung  und  Anerkennung  sichern  sollte.  Da  sahen 
die  Hallischen  Jahrbücher  noch  im  Protestantismus  das  Prinzip 
der  Geistesfreiheit  und  in  Preußen,  als  dem  Staate  des  Protestantis- 
mus, das  Prinzip  der  Entwicklungsfähigkeit  und  des  Fortschrittes 
verkörpert,  das  schlechthin  zukunftslose  Prinzip  hingegen  in  der 
starren  Autoritätsforderung  des  Katholizismus  und  in  dem  rigo- 
rosen Traditionalismus   Österreichs. 

Ihren  Höhepunkt  erreicht  diese  reformgläubige  Stimmung  bei 
der  hundertsten  Wiederkehr  des  Regierungsantritts  Friedrichs  H. 
Köppens  Jubelschrift:  Friedrich  der  Große  und  seine  Wider- 
sacher genügte  es  nicht,  den  großen  König  als  den  Heros  der 
Gedankenfreiheit  zu  feiern,  sie  sah  in  ihm  sogar  den  Verkünder 
der  Volkssouveränität;  und  die  zeitgemäße  Fortentwickelung  der 
Grundsätze  Friedrichs  wurde  das  Programm,  das  der  Verfasser 
im  Einverständnis  mit  vielen  seiner  Gesinnungsgenossen  dem  neuen 
König,  der  eben  jetzt  den  Thron  bestieg,  ans  Herz  legte.  Keiner  seiner 
Freunde  stand  Koppen  näher  als  der  zweiundzwanzigjährige  Marx, 
dem  die  Schrift  gewidmet  wurde.  Und  auch  dieser  künftig  gefähr- 
lichste Feind  der  Hohenzollernschen  Dynastie  knüpfte  damals  an  den 


62  Bei  den  Jimghegelianern  in  Berlin. 

Geist  Friedrichs  und  der  preußischen  Reformära  noch  Hoffnungen. 
Während  Engels  durch  Börne  unmittelbar  in  die  Politik  hinein- 
gerissen wurde  und  uns  so  von  Anfang  an  als  Republikaner  und 
Revolutionär  entgegentritt,  ist  Marx  mit  der  Hauptgruppe  der 
Junghegelianer  erst  auf  dem  Umweg  über  die  Philosophie  zur 
Politik  gelangt  und  hat  die  Staatsauf fassung  Hegels  als  tiefes 
geistiges  Erlebnis  auf  sich  wirken  lassen.  Engels  lernte  die  Staats- 
lehre Hegels  erst  kennen,  als  diese  durch  Rüge,  Kcppen,  Nau- 
werck  u.  a.  schon  eine  Auslegung  erhalten  hatte,  die  ihn  bei  seiner 
tief  eingefleischten  Abneigung  gegen  Preußen  zur  Vorsicht  mahnen 
mußte. 

Mit  leidenschaftlicher  Anteilnahme  verfolgte  Engels,  dem 
seine  geistige  Einsamkeit  in  Bremen  unerträglich  wurde,  wie  die 
Parteigegensätze  sich  immer  mehr  zuspitzten,  seitdem  Heinrich 
Lecs  Denunziation  gegen  die  ,, Hegelingen"  den  Krieg  zwischen 
der  orthodox-pietistischen  Romantik  und  den  Junghegelianern  zum 
offenen  Ausbruch  gebracht  hatte.  Dem  Fragment  seiner  Literatur- 
komödie Der  gehörnte  Siegfried,  das  im  Frühling  1839  an  Fried- 
rich Graeher  abging,  war  vielleicht  noch  anzumerken,  daß  der 
Dichter  selbst  bei  allem  Abscheu  vor  dem  Pietismus  sich  noch  nicht 
unbedingt  der  Junghegeischen  Richtung  zurechnete.  Leo,  ,,der 
burschikose  Zelot",  und  Mi  helet  werfien  hier  unter  Schimpf- 
worten einander  die  Bibel  und  den  Hegel  an  den  Kopf  und  müssen 
sich  von  Siegfried,  der  die  ,, dürren  Professoren"  auseinandertreibt, 
sagen  lassen,  daß  der  eine  das  Christentum  nicht  töten,  der  andere 
mit  seinem  blinden  Toben  es  nicht  retten  werde.  Kurz  danach  be- 
kannte Engels  sich  schon  offen  als  Junghegelianer.  Noch  aber 
hätte  der  „moderne  Pantheist"  bestritten,  was  er  im  folgenden 
Jahre  mutig  als  der  erste  eingestand,  daß  man  ihn  und  alle,  die 
seine  Überzeugung  teilten,  ebensogut  Atheisten  nennen  könne.  Zu- 
nächst schmückte  sein  Gefühl  noch  den  Gottesbegriff  Hegels  mit 
leuchtenden  Farben.  Sein  letzter  Brief,  der  Ende  Februar  1841  aus 
Bremen  an  Fritz  Cr;  eher  abging,  atmete  ganz  den  Geist  der 
frohen  Erwartung,  die  sich  seit  dem  Tode  des  alten  Königs  der  vor- 
wärts stürmenden  Jugend,  die  jetzt  ihren  Tag  nahe  gekommen 
glaubte,  bemächtigt  hatte.  Mit  übermütigem  Hohn  fordert  er  den 
einstigen  Schulkameraden  heraus,  er  möge  das  verruchte  Straußen- 
nest zerstören  und  all  die  halbausgebrüteten  Straußeneier  mit  seinem 
Sankt-Georgspieß  durchbohren:  ,, Reite  hinaus  in  die  Wüste  des 
Pantheismus,  tapferer  Drachentöter  ....  und  pflanze  das  Banner 
des  Kreuzes  auf  dem  Sinai  der  spekulativen  Theologie  auf!  Laß 
Dich  erflehen,  siehe,  die  Gläubigen  warten  schon  seit  fünf  Jahren 
auf  den,   der  der  Straußschen  Schlange  den  Kopf  zertreten  soll  .  . . 


Abschied  aus  Bremen.  6> 

die  Gefahr  wird  immer  drängender,  das  Leben  Jesu  hat  bereits^ 
mehr  Auflagen  ertebt,  als  alle  Schriften  Her  gstenbergs  und 
Tholu  ks  zusammen  und  es  wird  schon  Comment,  jeden,  der 
kein  Straußianer  ist,  aus  der  Literatur  herauszuschmeißen.  Und 
die  Hallischen  Jahrbücher  sind  das  verbreitetste  Journal  Deutsch- 
lands, so  verbreitet,  daß  Seine  preußische  Majestät  es  nicht  mehr 
ver  ieten  kann,  so  gern  er  es  möchte.  Das  Verbot  der  Hallischen 
Jahrbücher,  die  ihm  alle  Tage  die  größten  Grobheiten  sagen,  würde 
ihm  auf  der  Stelle  eine  Million  Preußen,  die  jetzt  noch  nicht  wissen,, 
was  sie  von  ihm  denken  sollen,  zu  Feinden  machen.  Und  es  ist 
für  Euch  die  höchste  Zeit,  sonst  werdet  Ihr  von  uns,  trotz  der  from- 
men Gesinnung  des  Königs  von  Preußen,  zum  ewigen  Stillschweigen 
verwiesen.  Überhaupt  solltet  Ihr  Euch  ein  wenig  mehr  Courage 
anschnallen,  damit  die  Paukerei  einmal  recht  los  geht.  Aber  da 
schreibt  Ihr  so  ruhig  und  gelassen,  als  ob  die  orthodox-christlichen 
Aktien  loo  Prozent  Agio  ständen,  als  ob  der  Strom  der  Philosophie 
ruhig  und  gelassen  wie  zu  Zeiten  der  Scholastiker  zwischen  seinen 
kirchlichen  Dämmen  flösse,  als  ob  sich  zwischen  den  Mond  derDog- 
m.atik  und  die  Sonne  der  Wahrheit  nicht  die  unverschämte  Erde 
zu  einer  grausigen  Mondfinsternis  eingedrängt  hätte.  Merkt  Ihr 
denn  nicht,  daß  der  Sturm  durch  die  Wälder  fährt  und  alle  abge- 
storbenen Bäume  umschmeißt,  daß  statt  des  ad  acta  gelegten  Teu- 
fels der  kritisch-spekulative  Teufel  erstanden  ist  und  einen  enormen 
Anhang  hat?  Wir  fordern  Euch  ja  alle  Tage  heraus  mit  Übermut 
und  Spott,  laßt  Euch  doch  auch  einmal  du  ch  die  dicke  Haut  —  sie 
ist  freilich  achtzehnhundert  Jahre  alt  und  etwas  lederhart  gewor- 
den —  stechen,  und  besteigt  das  Kampfroß.'* 

Nach  einem  Aufenthalt  von  zwei  und  einem  halben  Jahr 
schied  Engels  zu  Ostern  1841  aus  Bremen  und  damit  aus  einer 
Umgebung,  in  der  er  Freundlichkeit  und  Wohlwollen  in  Fülle,, 
aber  nicht  die  geistige  Förderung,  um  die  ihm  am  meisten  zu  tun 
war,  gefunden  hatte.  Von  jeder  Anregung  durch  das  lebendige 
Wort  abgeschnitten,  hatte  ihn  hier  das  Gefühl  gepeinigt,  daß  er 
seine  Überzeugungen  ,,so  unausgebildet  stehen  lassen"  mußte. 
Er  sehnte  sich  nach  einer  Möglichkeit,  seinen  Geist  ungestörter 
entwickeln  zu  können.  Da  sich  dies  mit  einer  kaufmännischen 
Tätigkeit  nicht  vereinigen  ließ,  so  hoffte  er  jetzt  wohl,  daß  der 
Vater  ihm  das  Studium  doch  noch  gestatten  werde.  Auf  alle  Fälle 
gedachte  er  seiner  Militärpflicht,  der  er  sich  nicht  entziehen  wollte,, 
obgleich  dies  damals  für  reiche  Bürgersöhne  durch  Bestechung 
leicht  erreichbar  war,  in  einer  Universitätsstadt  nachzukommen, 
wo  er  in  seiner  freien  Zeit  Vorlesungen  hören  konnte.  Obgleich 
es  sein  lebensfrohes  Blut  gewaltig  nach  dem  Rhein  lockte,  dessen 


'64  ß^i  ^^°  Junghegelianem  in  Berlin, 

liederreiche  Täler  ihm  Heimatsgefühle  wach  hielten,  so  entschied 
er  sich  nach  reiflicher  Überlegung  dennoch  für  Berlin.  Nicht  um 
die  Hauptstadt  des  preußischen  Staates,  für  den  er  keine  Gefühle 
hatte,  war  ihm  dabei  zu  tun,  sondern  um  die  Universitätsstadt,  die 
wie  keine  andere  im  Strome  der  Gedankenbewegung  stand  und  die 
ihm  als  die  Arena  gerade  jener  geistigen  Kämpfe  erschien,  in  die 
er  sich  leidenschaftlich  verstrickt  fühlte.  Zuerst  begab  er  sich  jetzt 
in  die  Heimat,  wo  er  all  die  trauten  Berührungen  wiederfand,  an 
<ienen  seine  warme  Seele  hing.  Daß  der  Gegensatz  zwischen  dem 
eigenen  in  der  langen  Abwesenheit  kräftig  ausgebildeten  Stand- 
punkt und  der  frommen  Atmosphäre  der  Familie  sich  bei  ihm  stär- 
ker und  schmerzhafter  als  früher  fühlbar  machte,  schließen  wir 
aus  einer  Stelle  in  seinem  schönen  und  stimmungsvollen  Aufsatz 
über  Immermanns  Lebenserinnerungen,  der  im  April  1841  im  Tele- 
graphen erschien  und  den  er  wohl  erst  nach  seiner  Einkehr  ins 
Elternhaus  geschrieben  hat. 

Den  frühen  Tod  dieses  ,, trotz  mancher  Vorurteile  gegen  die 
Rheinländer"  in  Düsseldorf  heimisch  gewordenen  Altpreußen  em- 
pfand Engels  als  einen  harten  Schlag  für  die  sich  eben  frisch  re- 
gende literarische  Jugend  des  Westens,  die  sich  um  Immermanns 
starke  Persönlichkeit  als  um  ihr  Oberhaupt  scharen  wollte.  Auch 
er  hatte  die  Erwartung  geteilt,  daß  der  ehemalige  Romantiker,  der 
sich  in  den  Epigonen  und  im  Münchhausen  so  erfolgreich  der 
Wirklichkeit  zugewandt  hatte,  seine  ,, antimodernen"  Ideen  noch 
ganz  überwinden  werde.  Des  Verstorbenen  Vorliebe  ,,für  das 
Preußsntum"  vermag  er  nicht  zu  teilen.  Er  findet  es  unerklärlich, 
wie  jener  mit  seinem  religiösen  Freisinn  konservativ-preußische 
Ansichten  in  der  Politik  vereinen  konnte.  Besonders  aber  miß- 
billigte er,  da3  der  Dichter  dort,  wo  er  sich  über  das  Familienwesen 
äußerte,  auf  Kosten  der  Gegenwart  die  Vergangenheit  zu  sehr  her- 
ausstrich und  über  die  neuere  Familie,  wie  sie  sich  in  dem  letzten 
Jahrzehnt  herausgebildet  hatte,  nicht  unbefangen  genug  urteilte. 
Wenn  das  altväterliche  Behagen  und  die  Zufriedenheit  mit  dem. 
heimischen  Herd  einem  Ungenügen  an  den  Genüssen  des  Familien- 
lebens gewichen  war,  so  sah  Engels  darin  eher  einen  Gewinn,  weil 
damit  auch  die  Philisterei  der  Hausväterlichkeit  ihren  Glorienschein 
verloren  hatte.  Daß  die  neuere  Familie  sich  einer  gewissen  Unbe- 
haglichkeit  nicht  erwehren  könne,  rühre  nur  daher,  daß  an  sie  An- 
sprüche gestellt  würden,  die  sie  mit  den  eigenen  Rechten  noch  nicht 
zu  vereinigen  wüßte.  Die  Gesellschaft  sei  eben  eine  andere  geworden, 
seit  das  öffentliche  Leben  als  ein  ganz  neues  Moment  hinzugetreten 
wäre.  Ein  Regenerationsprozeß  müsse  durchgemacht  werden,  die 
-alte  Familie  hätte  ihn  nötig. 


Die  neue  Jugend.  65 

Die  Stimmung  des  verwandelt  ins  Elternhaus  Heimgekehrten 
macht  es  erklärlich,  daß  dieser  Aufsatz  über  Immer  mann  in  ein 
stürmisches  Bekenntnis  zu  der  endlich  zum  Worte  gekommenen 
neuen  Jugend  ausklingt,  deren  Mission  es  sein  werde,  über  die 
immer  höher  sich  hinaufgipfelnden  Gegensätze  zu  entscheiden. 
Eindringlich  wirbt  er  noch  um  Verständnis  bei  der  alten  Generation, 
aber  nicht  mehr  ehrfurchtsvoll  bittend  oder  gar  bescheiden  sich 
demütigend,  sondern  von  dem  trotzigen  Gefühl  beseelt,  sich  auf  dem 
einzig  möglichen  Wege  zu  befinden,  der  ihn  aufwärts  führen  könne. 
,,Die  Alten  klagen  zwar  entsetzlich  über  die  Jugend",  schreibt  er, 
,,und  es  ist  wahr,  sie  ist  sehr  unfolgsam;  laßt  sie  aber  nur  ihre 
eigenen  Wege  gehen,  sie  wird  sich  schon  zurechtfinden,  und  die 
sich  verirren,  sind  selbst  schuld  daran.  Denn  wir  haben  einen  Prüf- 
stein für  die  Jugend  an  der  neuen  Philosophie ;  es  gilt,  sich  durch 
sie  hindurchzuarbeiten  und  doch  die  jugendliche  Begeisterung 
nicht  zu  verlieren.  Wer  sich  scheut  vor  dem  dichten  Walde,  in  dem 
der  Palast  der  Idee  steht,  wer  sich  nicht  durchhaut  mit  dem  Schwerte, 
und  küssend  die  schlafende  Königstochter  weckt,  der  ist  ihrer  und 
ihres  Reiches  nicht  wert,  der  mag  hingehen,  Landpastor,  Kaufmann, 
Assessor  oder  was  er  sonst  will,  werden,  ein  Weib  nehmen,  Kinder 
zeugen  in  aller  Gottseligkeit  und  Ehrbarkeit,  aber  das  Jahrhundert 
erkennt  ihn  nicht  als  seinen  Sohn  an."  Engels  selbst  aber  war 
entschlossen,  zu  leben  und  zu  sterben  als  Sohn  des  eigenen  Jahr- 
hunderts, das  in  der  Hegeischen  Philosophie  den  Geist  als  den  ,, ewigen 
König"  auf  den  Thron  gesetzt  hatte.  Er  jubelt,  daß  aus  den  dürren 
Fruchtkapseln  jenes  Systems  die  Samenkörner  nun  so  herrlich 
aufgegangen  waren.  Die  Versöhnung  von  Wissenschaft  und  Leben 
stellt  sich  ihm  als  die  große  Aufgabe  seiner  Generation  dar.  Sie  zu 
lösen  erfordert  eine  jugendliche  Begeisterung,  ,,die  wie  der  Adler  die 
trüben  Wolken  der  Spekulation,  die  dünne,  verfeinerte  Luft  in  den 
oberen  Regionen  der  Abstraktion  nicht  scheut,  wenn  es  gilt,  der 
Wahrheitssonne  entgegen  zu  fliegen".  Dem  Brausekopf  war  es 
nicht  zuwider,  daß  seine  Partei  von  dem  Geist,  der  eben  in  Preußen 
zur  Herrschaft  gelangt  war,  auf  Tod  und  Leben  herausgefordert 
wurde.  Denn  Kampf  war  es,  wonach  ihn  verlangte.  ,,Laßt  uns 
für  die  Freiheit  kämpfen",  rief  er  aus,  , »solange  wir  jung  und  voll 
blühender  Kraft  sind;  wer  weiß,  ob  wir 's  noch  können,  wenn  das 
Alter  uns  beschleicht." 

Für  die  ,, Prosa",  die  in  den  „Kartoffelsteppen"  Ostelbiens 
seiner  wartete,  wollte  er  sich  im  voraus  durch  eine  Reise  ent- 
schädigen, die  ihn  im  Mai  1841  nach  der  Schweiz  und  nach  Nord- 
italien führte,  und  auf  der  er  auch  von  einem  Liebeskummer,  über 
den  wir  nur  eine  Andeutung  besitzen,  Genesung  suchte  und  fand. 

Mayer,  Friedrich  Engels.   Bd.  I  5 


66  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

Wenig  nur  wissen  wir  von  seinen  „Lombardischen  Streifzügen". 
Denn  bloß  der  erste  Abschnitt  einer  Beschreibung  dieser  Reise  er- 
schien im  Dezember  im  Athenaeum,  einem  Wochenblatt  der  Ber- 
liner Junghegelianer,  das  das  neue  Jahr  nicht  erlebte.  Und  dieser 
Abschnitt  führte  erst:  „Über  die  Alpen!"  Die  Reise  ging  von  Basel, 
dessen  patrizierhafte  Behäbigkeit  dem  jungen  Demokraten  mißfiel, 
über  Zürich,  das  ihn  entzückte,  obgleich  er  den  dortigen  „Zions- 
wächtern"  nicht  vergessen  wollte,  daß  sie  die  Berufung  D.  F.  Strauß* 
hintertrieben  hatten,  über  Chur,  wo  sein  starker  Sprachensinn  sich 
erstmalig  dem  Romanischen  zuwandte,  und  über  die  Via  Mala, 
wo  ,,der  wilde  Bergstrom,  Fichten  entwurzelnd,  Felsblöcke  wälzend" 
—  sein  wiederkehrendes  Lieblingsbild!  —  ihm  die  Seele  überwältigte. 
Als  sich  die  Alpenwelt  immer  gewaltiger  vor  ihm  auftürmte,  da 
träumte  ihm  von  einem  Titanenkampf  der  trotzigen  Bergriesen 
gegen  die  alJbezwingende  Herrschaft  der  Menschen.  Aber  auf  ein- 
samer Wanderung  findet  der  Jünger  Hegels  bald  wieder  den  Geist, 
der  hier  in  einer  unzerstörbaren  Straße  der  Natur  seinen  Willen 
aufgezwungen  habe.  Vom  Splügen  zieht  er  über  endlose  Schnee- 
flächen, eine  Einöde  ,, prosaischer  als  die  Lüneburger  Heide",  an 
der  österreichischen  Verzollung,  der  er  seine  Varinas  glücklich  ent- 
zieht, vorbei  durch  das  krokosbesäte  Lirotal  hinab  nach  Chiavenna, 
von  wo  er  ganz  bezaubert  ,,von  einer  nie  gekannten,  lang  geträum- 
ten  Natur"  den   Comersee  erreicht. 

Aus  dieser  frisch  und  lebendig  gehaltenen  Reisebeschreibung 
haftet  dem  Gedächtnis  ein  Satz,  der  die  Abfahrt  von  Zürich  be- 
schreibt: ,, Mitten  im  See  taucht  ein  Eiland  auf  —  Ufnau,  das  Grab 
Ulrich  von  Huttens.  So  kämpfen  für  die  Idee,  und  so  ausruhen 
von  Streit  und  Mühen,  —  wem  das  beschieden  wäre!  umrauscht 
von  den  grünen  Wellen  des  Sees,  die  wie  fernes  Waffengetöse  und 
Schlachtgeschrei  an  das  Grab  des  Helden  schlagen,  bewacht  von 
den  eisgepanzerten,  ewig  jugendlichen  Riesen,  den  Alpen!  Und 
dann  ein  Georg  Herwegh,  der  als  Vertreter  der  deutschen  Jugend 
zu  diesem  Grabe  wallfahrtet  und  seine  Lieder,  den  schönsten  Aus- 
druck der  Gesinnung,  die  die  junge  Generation  begeistert,  darauf 
niederlegt  —  das  wiegt  Statuen  und  Denkmäler  auf!"  Jung-Sieg- 
fried,  Ulrich  von  Hütten,  Georg  Herwegh,  der  mit  seinen  Ge- 
dichten eines  Lebendigen  eben  bei  allen  Liberalen  gewaltige  Be- 
geisterung zündete ;  mit  flammendem  Schwert,  mit  zündendem 
Wort  und  trotzendem  Lied  drängt  sich  der  Zwanzigjährige  kampfes- 
lüstern in  die  Reihen  jener,  die  im  Denken  wie  im  Leben  um  die 
Freiheit  ringen   wollten.    — 

Obgleich  es  die  preußischen  Liberalen  nicht  überraschen  konnte, 
daß  den  neuen  König  sein  religiöser    Hang    und    seine    kulturelle 


Reise  in  die  Schweiz  und  die  Lombardei.  6? 

Einstellung  zu  den  entschiedenen  Wortführern  der  Orthodoxie  und 
einer  historisch-romantischen  Geschichtsauffassung  hinzogen,  so 
hatten  sie  dennoch  fest  erwartet,  daß  mit  seiner  Regierung  eine 
Ära  großer  Reformen  anbrechen  würde.  Daß  Friedrich  Wilhelm 
in  seinem  persönlichen  Bekenntnis  der  strengsten  Kirchlichkeit 
huldigte,  sollte  ihn,  so  hatten  sie  gewähnt,  nicht  abhalten,  den 
drängendsten  politischen  Forderungen  des  Liberalismus  entgegen- 
zukommen. Nach  seinen  ersten  Regierungshandlungen  mußte  es 
scheinen,  als  ob  er  die  öffentliche  Meinung  sich  günstig  zu  stimmen 
wünschte.  Wie  enttäuschten  aber  dann  die  Erklärungen,  mit 
denen  er  die  besonders  stürmisch  aus  Ostpreußen  laut  werdenden 
Wünsche  nach  einer  Verfassung  abfertigte!  Was  der  Oberburg- 
graf von  Brünneck  schon  im  Oktober  1840  mit  Schrecken  fest- 
stellte, daß  der  König  ganz  in  die  Hände  der  Pietisten  geriete, 
wurde  im  Laufe  des  Jahres  1841  den  weitesten  Kreisen  offenbar. 
Am  Ende  konnte  man  sich  nicht  länger  verhehlen,  daß  dem  Monar- 
chen die  Ziele  des  Liberalismus  auf  kulturellem,  kirchlichem  und 
politischem  Gebiet  gleichmäßig  widerstrebten,  weil  in  ihnen  der 
menschliche  Geist  sich  über  die  durch  göttliche  Offenbarung  ge- 
heiligten   überpersönlichen   Gewalten   erheben   wollte. 

Die  Junghegelianer  konnten  jetzt  nicht  umhin,  ihr  Verhältnis 
zum  preußischen  Staat  einer  gründlichen  Revision  zu  unterziehen. 
Auch  sie  hatten  sich  nicht  träumen  lassen,  daß  der  neue  König 
den  Mut  und  die  Neigung  verspüren  könnte,  dem  Zeitgeist,  auf 
dessen  Unwiderstehlichkeit  sie  pochten,  öffentlich  die  Stirn  zu 
bieten,  daß  er  es  wagen  würde,  dem  streng  dualistisch  gefaßten 
Christentum  und  der  historisch-romantischen  Gefühlswelt,  die 
seine  Seele  erfüllten,  mit  den  Machtmitteln  des  Staates  Geltung  zu 
erkämpfen.  Jetzt  erlebten  sie,  während  Savigny  und  F.  J.  Stahl 
herbeigeholt  wurden,  die  Vertreibung  der  Hallischen  Jahrbücher 
aus  Preußen,  Hallische  Studenten  erhielten  einen  Verweis,  weil 
sie  Strauß'  Berufung  an  ihre  Universität  beantragt  hatten,  und  was 
allem  die  Krone  aufsetzte,  Schelling,  Hegels  großer  Gegner,  wurde 
mit  dem  ausdrücklichen  Auftrag,  ihren  Einfluß  zu  brechen,  nach 
Berlin  gezogen.  Nun  unterlag  es  keinem  Zweifel  mehr,  daß  die  in 
Preußen  bis  dahin  verhätschelte  Hegeische  Philosophie  hier  zu 
einer  ecclesia  pressa  werden  sollte.  Wenn  aber  der  Staat  „der  Zu- 
kunft" und  ,,des  Fortschritts"  dem  Beruf,  den  sie  ihm  zuerkannt 
hatten,  untreu  wurde,  wenn  er  statt  sich  zum  ,, Staat  der  Intelligenz" 
fortzuentwickeln,  zum  ,, christlichen  Staat",  zu  einem  verkappten 
Katholizismus  zurückstrebte,  sollten  sie  dann  noch  länger  an  der 
These  festhalten,  daß  Hegels  Staatsgedanken  gerade  in  Preußen 
seine  Verwirklichung  finden  werde  ? 

5* 


68  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

Daß  solche  Zweifel  zuerst  nur  in  abgeschwächter  Form  an  die 
Öffentlichkeit  drangen,  war  nicht  allein  die  Schuld  der  strengen 
Zensur.  Taktische  Erwägungen  mahnten  ebenfalls  zur  Vorsicht.  Für 
Politik  war  bei  der  Mehrzahl  der  Junghegelianer  nur  ein  reflek- 
tiertes Interesse  vorhanden  gewesen,  bis  der  König  durch  die  Zensur- 
instruktion von  Weihnachten  1841  der  Freiheit  des  geschriebenen 
Werts  einige  Zugeständnisse  gemacht  hatte.  Den  Kampf  gegen 
die  positive  Religion  betrachteten  sie  dagegen  als  ihre  eigenste 
Angelegenheit.  Seitdem  Feuerbach  ihnen  das  Losungswort  ge- 
geben hatte,  waren  sie  zum  rücksichtslosen  Sturmlauf  auf  das 
Christentum  gerüstet.  Wäre  es  in  einem  Augenblick,  wo  sie  so 
Kühnes  im  Schilde  führten,  klug  gewesen,  an  ihrer  Staatsgesinnung 
Zweifel  aufkommen  zu  lassen  ?  Und  wenn  der  neue  Kultusminister 
Eichhorn  als  getreuer  Diener  seines  Herrn  sich  jetzt  öffentlich 
und  feierlich  zu  der  These  vom  christlichen  Staat  bekannte,  so  war 
das  für  sie  höchstens  ein  Grund  mehr,  vor  der  Öffentlichkeit  an 
der  entgegengesetzten  These  festzuhalten,  daß  Staat  und  Religion 
getrennte  Gebiete  wären  und  daß  man  sehr  wohl  ein  guter  Bürger 
sein  könne,  ohne  gleichzeitig  ein  guter  Christ  zu  sein.  Noch  im 
Sommer  1842  versicherten  die  Berliner  Freien,  daß  sie  ,,fürs  erste 
wenigstens"  die  Donnerlegion  des  Staats  zu  bleiben  wünschten. 
Mancher  aus  dieser  Schar,  in  deren  Mitte  Engels  jetzt  eintrat, 
mochte  von  Anfang  an  die  Hoffnung  auf  die  freiheitliche  Gestaltung 
Preußens  nur  genährt  haben,  weil  er  auf  den  Rückschlag,  den  er 
mit  Gewißheit  voraussah,  spekulierte.  Sobald  sich  jetzt  heraus- 
stellte, daß  die  neue  Regierung  keineswegs  an  die  freiheitlichen 
Traditionen  der  Reformära  anzuknüpfen  dachte,  fanden  sich 
die  Skeptiker  mit  den  wirklich  Enttäuschten  in  dem  Gedanken  zu- 
sammen, daß  sie  ihren  oppositionellen  Standpunkt  noch  nicht  ge- 
nügend vertieft,  den  Gegensatz  gegen  die  Autorität  noch  nicht 
grundsätzlich  genug  gestaltet  hätten.  Weil  sich  in  der  philoso- 
phischen Sphäre  revolutionäre  Gedanken  noch  am  ehesten  hervor- 
wagen konnten,  wurde  der  Kampf  gegen  alles  ,, Bestehende",  den 
Bruno  Bauer  und  Karl  Marx,  die  den  radikalsten  Flügel  ver- 
traten, bereits  für  unvermeidlich  erachteten,  zunächst  auf  dem 
Schlachtfeld  der  Theorie  zur  Entscheidung  gestellt.  Diesem  Ge- 
schlecht, das  sich  an  der  unaufhaltsamen  Konsequenz  der  Dialek- 
tik berauschte,  dabei  aber  von  einer  Klippe  zur  anderen  ins  Grenzen- 
lose fortgetrieben  wurde,  versank  mit  dem  Protestantismus,  den 
es  unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  zum  Katholizismus  zurückstreben 
sah,  nicht  allein  das  Christentum  sondern  auch  jeder  anders  ge- 
artete Positivismus.  Heute  wissen  wir,  daß  Stirners  zersetzender 
Geist  sich  damals  schon  in  der  Stille  jenem  skeptischen  Anarchismus 


Bei  der  Garde-Fußartillerie.  59 

näherte,  dem  sich  alle  Ideale  als  Selbsttäuschungen  enthüllten,  die 
wie  Spinneweben  zerrissen,  sobald  man  sie  auf  Herz  und  Nieren 
prüfte.  Aber  er  stand  vereinzelt.  Denn  Bruno  Bauer  und  Marx, 
die  von  Bonn  aus  die  ,,Montagne"  proklamierten  und  Rüge  den 
Platz  an  der  Spitze  der  Bewegung  streitig  machten,  fanden  es  zu- 
nächst ausreichend,  den  Sturz  Gottes  und  der  Unsterblichkeit  auf 
ihr  Panier  zu  schreiben.  Verwickelte  aber  die  ,, Theorie",  wozu 
sie  entschlossen  war,  in  den  Sturz  dieser  autoritären  Mächte  auch 
die  Monarchie  und  machte  sie  ebensowenig  vor  dem  Staatsgedanken 
halt,  so  blieb  tatsächlich  für  keinen  Glauben  mehr  Raum  als  für 
den  an  die  Menschheit,  den  Ludwig  Feuerbach  soeben  verkündete. 
Indem  er  die  überirdischen  Ideale  als  bloße  Spiegelungen  irdischer 
Erscheinungen  enthüllte,  lieferte  er  dieser  Jugend,  die  es  ohnehin 
mächtig  verlangte.  Denken  und  Wirklichkeit  zu  vermählen,  bei 
ihrer  ihr  jetzt  zum  Bewußtsein  kommenden  Diesseitigkeit  einen 
starken  Ansporn,  um  ihr  Ethos,  dem  sich  die  Pforten  des  Himmels 
verschlossen,  mit  irdischem  Stoff  zu  erfüllen.  Das  Tatproblem, 
das  sich  dieser  Generation  von  der  Erscheinungswelt  her  schon 
aufdrängte,  richtete  sich  nun  auch  im  Bereich  der  Weltanschauung 
vor  ihr  auf.  Dadurch  erstwurde  sie  empfänglich  für  die  sozialistischen 
und  kommunistischen  Gedankenkeime,  die  vom  Westwind  seit 
längerem  schon  herübergetragen,  üppig  aufschießen  mußten,  so- 
bald sich  die  freiheitlichen  Hoffnungen  auf  Preußen,  die  durch  die 
liberale  Zensurinstruktion  noch  einmal  belebt  worden  waren,  end- 
gültig als  trügerisch   herausstellten. 

Nun  vollzog  sich  dieser  stürmische  Revolutionierungsprozeß 
innerhalb  des  preußischen  philosophischen  Radikalismus  aber 
gerade  während  des  Jahres,  das  Engels  am  Glutofen  dieser  Be- 
wegung zubrachte,  von  ihr  erhitzt  doch  auch  eifrig  an  ihr  mitschü- 
rend. Er  traf  im  Herbst  1841  in  Berlin  ein,  als  jene  ungeheuren 
Gegensätze  mit  voller  Wucht  aufeinander  platzen  wollten.  Eine 
Auseinandersetzung  bereitete  sich  vor,  wie  Deutschland  sie  vielleicht 
seit  der  Reformation  nicht  nr.ehr  erlebt  hatte. 

Die  Kaserne  de^  Garde-Fuß-Artillerie -Regimentes,  bei  dem  er 
als  Freiwilliger  eintrat,  lag  in  nächster  Nähe  der  Universität,  der 
, .Zitadelle  des  geistigen  Berlin",  deren  Halle  er  jetzt  mit  scheuer 
Ehrfurcht  betrat.  Als  fleißiger  Hospitant  bei  berufenen  Lehrern 
gedachte  er  die  Kenntnisse,  die  er  in  den  Mußestunden  seiner  Bremer 
Kaufmannszeit  erworben  hatte,  in  den  Mußestunden,  die  ihm  sein 
Dienstjahr  lassen  würde,  zu  ordnen,  abzurunden,  zu  vervollständigen. 
Leider  fließen  die  Quellen  über  diesen  wichtigen  Abschnitt  seines 
Lebens  weniger  reichlich  als  über  die  veraufgehende  Epoche. 
Die  beiden  einzigen  Briefe,  die  sich  aus  dem  Jahr  auffinden  ließen, 


70  Bei  den  Junghegelianem  in  Berlin. 

sind,  an  die  Schwester  gerichtet,  in  dem  humoristisch-schwadronie- 
renden  Ton  gehalten,  den  Engels  gern  Menschen  gegenüber  an- 
schlug, denen  er  wohlwollte,  die  ihm  aber  auf  die  Gebiete,  die  ihm 
selbst  zunächst  am  Herzen  lagen,  nicht  wohl  folgen  konnten.  Darin 
plaudert  er  zwar  von  mancherlei:  er  spricht  von  seiner  Uniform, 
blau  mit  schwarzem  Kragen,  an  dem  zwei  breite  gelbe  Streifen 
sind  und  mit  schwarzen,  gelbstreifigen  Aufschlägen  nebst  rot  aus- 
geschlagenen Schößen.  ,,Dazu  die  roten  Achselklappen  mit  weißen 
Rändern,  ich  sage  Dir,  das  macht  einen  pompösen  Effekt  und  ich 
könnte  mich  auf  der  Ausstellung  sehen  lassen.  Neulich  habe  ich 
den  Poet  Rückert,  der  hier  jetzt  ist,  schändlich  dadurch  ver- 
biestert gemacht.  Ich  setzte  mich  nämlich,  als  er  Vorlesung  hielt, 
dicht  vor  ihn,  und  nun  sah  der  arme  Kerl  fortwährend  auf  meine 
blanken  Knöpfe  und  kam  ganz  aus  dem  Konzept."  Wieder  rüffelt 
er  die  Schwester,  weil  sie  ihn  gefragt  hatte,  ob  er  nun  auch  schon 
den  neuen  König  gesehen  habe:  ,,Was  schwatzt  Du  mir  in  Deinem 
Brief  so  viel  vom  alten  Fritz  Wilm  und  vom  jungen  Fritzchen  Wilm- 
chen?  Ihr  Frauen  sollt  Euch  nicht  in  die  Politik  mischen,  davon 
versteht  Ihr  nichts."  Er  berichtet  mit  Genugtuung,  daß  er  sich 
bisher  jedesmal  außer  einem  an  dem  allmonatlichen  vorschrifts- 
mäßigen Kirchenbesuche  ,,vorbeigefubelt*'  habe;  er  meldet,  daß 
er  Bombardier  geworden  sei  und  nun  Tressen  und  Litzen  und  einen 
blauen  Kragen  mit  roter  Paspellierung  trage;  er  erzählt  unter 
Scherzen,  daß  die  zwölfte  Kompagnie,  bei  der  er  stehe,  immer  bis 
über  die  Knie  im  Sande  versinke,  wenn  sie  auf  dem  Grützmacher 
exerziere,  auch  mal,  daß  eine  Berliner  Dame,  eine  Gräfin,  den 
Thee,  den  ,,der  große  Lißt",  dessen  Karikatur  er  der  Schwester 
zeichnet,  in  einer  Tasse  stehen  ließ,  in  ihre  Eau  de  Cologne -Flasche 
zum  ewigen  Andenken  gegossen  habe.  Gewiß  wird  das  alles  das 
Schv/esterlein  im  großherzoglichen  Institut  in  Mannheim  amüsiert 
haben,  wir  aber  besäßen  von  ihm  doch  lieber  eingehende  Äußerungen 
über  die  bedeutenden  Menschen,  die  ihm  nun  endlich  entgegen- 
traten, nachdem  er  in  Bremen  so  lange  an  Primanern  und  Hand- 
lungsgehilfen seine  dialektischen  Fechtkünste  hatte  üben  müssen. 
Zum  Glück  fehlen  uns  solche  Beschreibungen  aus  seiner  Feder 
nicht  gänzlich.  Die  Porträts  einiger  Professoren,  deren  Vorlesungen 
er  besuchte,  bewahrt  sein  Tagebuch  eines  Hospitanten  im  Feuille- 
ton der  Rheinischen  Zeitung.  Von  den  Universitätslehrern  soll 
Michelet,  sich  für  den  philosophischen  Artilleristen  stärker  in- 
teressiert haben;  mit  Sympathie  schildert  er  Marheinecke,  den 
Gönner  Bruno  Bauers;  wir  erfahren,  daß  er  Leopold  von 
Hennigs  und  Werders  Vorlesungen  besuchte  und  daß  er  im 
November     Schellings     berühmter    Antrittsrede     beiwohnte.      Von 


Hospitant  an  der  Universität.  71 

seinen  Kumpanen  am  Zech-  und  Diskutiertische  aber  malt  ein 
lebensvolles,  wenn  auch  ins  Allegorische  versetztes  Bild  sein  großes 
cliristliches  Heldengedicht  vom  , »Triumph  des  Glaubens",  das  die 
,,Historia  von  dem  weiland  Licentiaten  Bruno  Bauer**  besingt, 
,,wie  selbiger  vom  Teufel  verführet,  vom  reinen  Glauben  abgefallen, 
Oberteufel  geworden  und  endlich  kräftiglich  entsetzet  ist**. 

Wir  kennen  Vv^esen  und  Richtung  jener  Kämpfe,  deren  Mittel- 
punkt auf  geistigem  Gebiete  die  Hauptstadt  war,  während  in  der 
Politik  Ostpreußen  und  die  Rheinprovinz  die  Führung  hatten. 
Längst  wissen  wir,  daß  Engels  dem  immer  lauter  werdenden  Ver- 
langen nach  der  Freiheit  des  Worts  und  dem  Mitbestimmungsrecht 
des  Volks  leidenschaftlich  zustimmte,  und  es  wird  uns  deshalb  nicht 
wundern,  ihn  auch  in  der  Presse  dafür  eintreten  zu  sehen.  Noch 
stärker  aber  als  diese  politischen  packten  ihn  in  Berlin  anfänglich 
die  auf  dem  Boden  der  Weltanschauung  emporgewachsenen  Gegen- 
sätze, die  zu  vollem  Ausbruch  kamen,  als  jetzt  Schelling  auf  des 
Königs  Geheiß  mit  dem  Angriff  auf  die  radikale  Richtung  begann 
und  Eichhorn  gegen  ihren  Führer,  den  Bonner  Privatdozenten  Bruno 
Bauer,  auf  Grund  seiner  umstürzenden  Kritik  der  Evangelien  ein 
Disziplinarverfahren  eröffnete.  In  diesen  beiden  großen  Schlachten, 
denen  der  ganze  Kreis  der  Junghegelianer  eine  weltgeschichtliche 
Bedeutung  beimaß,  betätigte  Engels  sich  als  einer  der  verwegen- 
sten Rufer  im  Streit,  als  einer  der  hitzigsten  Kämpen  wider  die 
Autorität.  Sein  junges  Herz  schwoll  vor  Stolz,  daß  er  dabei 
sein  durfte,  wo  so  ungeheure  Gegensätze  ausgetragen  wurden,  wo 
Leben  und  Tod  des  Christentums  auf  dem  Spiele  zu  stehen  schien. 
Der  Philosoph  der  Romantik  unterschätzte  offenbar  ganz  gewaltig 
die  Hartnäckigheit  und  die  geistige  Kraft  der  junghegelschen  Be- 
wegung, wenn  er  in  seinen  Briefen  an  Eichhorn  und  an  den 
bayerischen  Minister  von  Abel  die  Hoffnung  aussprach,  daß  es, 
um  die  Gegner  zu  entwaffnen,  keiner,  am  wenigsten  einer  fort- 
gesetzten Polemik  bedürfen,  sondern  hinreichen  werde,  wenn  er 
jener  als  möglich  dartäte,  was  sie  selbst  für  unmöglich  hielte. 
Für  schlechthin  unmöglich  hielten  nun  aber  die  Hegelianer,  daß 
die  Philosophie  der  Offenbarung,  die  der  alte  Schelling  seit  Jahr- 
zehnten angekündigt  hatte,  ohne  mit  ihr  hervorzutreten,  sich  als 
ein  Zaubermittel  ausweisen  würde,  um  die  Kluft  zu  schließen,  die 
sich  seit  dem  Aufkommen  Strauß'  und  Feuerbachs  zwischen 
Wissen  und  Glauben  aufgetan  hatte.  Die  Kunde,  daß  Schelling 
in  seiner  Antrittsvorlesung  seine  Philosophie  der  Offenbarung 
wirklich  enthüllen  v/ollte,  mußte  allen  Junghegelianern  wie  die 
Fanfare  erklingen,  die  sie  zum  Turnier  zusammenrief.  Ihrer  Sieges- 
gewißheit stand  es  außer  Zweifel,  daß  sie  die  Mittel  besaßen,  das 


72  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

„unverschämte  Revenant",  das  ihnen  schon  zu  einer  mythischen 
Persönhchkeit  geworden  war,  in  die  Unterwelt  zurückzubefördern. 

Mit  atemloser  Spannung  erlebte  der  junge  Engels  die  An- 
trittsvorlesung Schellings  :  ,,Wenn  Ihr  jetzt  hier  in  Berlin  irgend 
einen  Menschen,  der  auch  nur  eine  Ahnung  von  der  Macht  des 
Geistes  über  die  Welt  hat,  nach  dem  Kampfplatze  fragt,  auf  dem 
um  die  Herrschaft  um  die  öffentliche  Meinung  Deutschlands  in 
Politik  und  Religion,  also  über  Deutschland  selbst,  gestritten  wird, 
so  wird  er  Euch  antworten,  dieser  Kampfplatz  sei  in  der  Universität, 
und  zwar  das  Auditorium  Nr.  6,  wo  Schelling  seine  Vorlesungen 
über  die  Philosophie  der  Offenbarung  hält."  Mit  Ungeduld  hatte 
der  Jüngling  auf  das  gewartet,  was  der  ,,tote**  Schelling  gegen 
den  ,, lebenden"  Hegel  vorbringen  würde.  Für  die  Leser  des  Tele- 
graph versuchte  er  danach,  dessen  ,, Todesurteil  über  das  Hegeische 
System"  seiner  Kurialsprache  zu  entkleiden.  ScheUing  behaup- 
tete hier  bekanntlich,  daß  Hegel  eigentlich  gar  kein  eigenes  System 
besessen,  sondern  nur  vom  Abfall  seiner  Gedanken  kümm.erlich 
sein  Leben  gefristet  habe:  während  er  sich  mit  der  positiven  Philo- 
sophie beschäftigt,  habe  jener  in  der  negativen  geschwelgt  und  deren 
Vervollständigung  und  Ausarbeitung  in  seinem  Auftrage  über- 
nommen. Wenn  jenem  dennoch  ein  Platz  unter  den  großen  Den- 
kern zukomme,  so  verdiene  er  diesen  bloß  deshalb,  weil  er  der 
einzige  blieb,  der  den  Grundgedanken  der  Identitätsphilosophie 
anerkannte,  während  alle  andern  sie  flach  und  seicht  auffaßten. 
Hegels  Fehler  sei  gewesen,  daß  er  die  halbe  Philosophie  zur  gan- 
zen gemacht  habe.  Trotz  solcher  ,, Schmähungen  auf  den  Grab- 
stein Hegels"  wollte  Engels  den  alten  Schelling,  in  dem  er  den 
Entdecker  des  Absoluten  verehrte,  mochte  er  noch  so  ent- 
schieden von  der  Freiheit  abgefallen  sein,  als  den  Vorgänger  seines 
Meisters  anerkennen.  Als  dessen  Nachfolger  aber  konnte  er  ihn 
nicht  gelten  lassen.  Besonders  empörte  ihn,  daß  Schelling  gewagt 
hatte,  die  ganze  neuere  Entwickelung  der  Philosophie:  Hegel, 
Gans,  Feuerbach,  Strauß,  Rüge,  die  Deutschen  Jahrbücher 
zuerst  von  sich  abhängig  zu  machen  und  danach  als  eine  Galerie 
unnützer  Verirrungen  hinzustellen. 

Wir  merken  schon  diesem  Aufsatz  an,  wie  lebhaft  der  Ver- 
fasser sich  versucht  fühlte,  den  verehrten  Meister  vor  der  Öffent- 
lichkeit gegen  den  großen  Gegner  in  Schutz  zu  nehmen.  War  es 
aber  nicht  ein  an  Größenwahn  grenzendes  Unterfangen,  wenn  der 
junge  Handlungsbeflissene,  der  niemals  regelrechte  philosophische 
Studien  getrieben  hatte,  einen  Schelling  herausforderte  ?  Seine 
unerschöpfliche  Arbeitskraft  und  die  ungewöhnliche  Beweglich- 
keit seines  Geistes  hatten  ihm  ermöglicht,  eine  fortgesetzte  und  bis 


Schellings  Antrittsvorlesung.  73 

in  die  entlegensten  Gebiete  streifende  Lektüre  in  vollem  Maße  für 
seine  geistige  Entwicklung  fruchtbar  zu  machen.  Seine  körperliche 
Dauerhaftigkeit  und  seine  gediegenen  Nerven  hatten  ihm  gestat- 
tet, jede  unbesetzte  Stunde  für  ernste  Studien  auszunutzen.  In 
Hegels  Philosophie  des  Rechts  und  der  Geschichte  hatte  er  sich 
mit  großer  Intensität  vertieft,  und  alle  Kontroversen,  die  dessen 
Schule  im  eigenen  Schoß  und  mit  Gegnern  auskämpften  mußte, 
auf  das  eifrigste  verfolgt.  Berechtigten  ihn  aber  die  Waffen,  die  er 
sich  auf  solche  Weise  verschafft  hatte,  zu  einer  Herausforderung, 
wie  er  sie  jetzt  vorhatte  ?  Von  der  vorhegelschen  Philosophie 
wußte  er  nur  wenig.  Äußerungen  von  ihm,  die  vorliegen,  beweisen, 
wie  unbestimmte  Vorstellungen  er  selbst  von  Kant  hatte;  und 
wir  brauchen  uns  ja  nur  zu  vergegenwärtigen,  wie  Marx  sich 
damals  schon  in  durchwachten  Nächten  mit  den  Griechen,  mit 
Spinoza,  mit  Leibniz  in  hartnäckigem  erschöpfenden  Ringen 
auseinandergesetzt  hatte,  um  gewahr  zu  werden,  wie  leicht  das 
philosophische  Gepäck  wog,  das  Engels  im  Tornister  führte.  Er 
hatte  kürzlich  den  Dilettantismus  gerügt,  mit  dem  Immermann 
sich  über  die  Geschichte  der  Philosophie  verbreitete.  War  er  selbst 
auch  zu  klar  und  zu  gelehrig,  als  daß  er  sich  leicht  in  Widersprüche 
verwickelte,  so  durfte  er  sich  doch  weder  jetzt  noch  später  als  eine 
philosophische  Potenz  ansehen,  die  Systeme  souverän  in  ihre  Ele- 
mente aufzulösen  und  ein  eigenes  System  selbständig  aufzubauen 
berufen  war.  Doch  der  Jüngling,  der  zur  Selbstüberschätzung 
nicht  neigte,  schöpfte  seinen  Mut  aus  dem  Vertrauen,  ,,daß  das 
Schwert  der  Begeisterung  ebensogut  ist,  wie  das  Schwert  des  Genies". 
Und  wenn  etwas  von  der  Keckheit  des  Hirtenknaben  David  in  ihm 
steckte,  der  den  Goliath  herausforderte,  so  war  gleich  riesengroß 
wie  bei  jenem  auch  bei  ihm  der  Glaube  an  den  Sieg  der  guten 
Sache,  für  die  er  nicht  als  selbständiger  Denker  sondern  als  Kämp- 
fer sich  einsetzen  wollte. 

Engels  Erstlingsschrift  erschien  ohne  Angabe  des  Verfassers 
im  April  1842  bei  Robert  Binder  in  Leipzig,  einem  radikalen 
Verleger,  mit  dem  damals  auch  Stirner  in  Verbindung  stand. 
Sie  führte  den  Titel:  „Schelling  und  die  Offenbarung.  Kritik  des 
neuesten  Reaktionsversuchs  gegen  die  freie  Philosophie."  Keine 
der  zahlreichen  Kundgebungen  der  junghegelschen  Richtung, 
gegen  den  in  ihre  Hürde  einbrechenden  Schelling  ist  zu  gleich 
radikalen  Konsequenzen  gelangt.  ,, Dieser  liebenswürdige  junge 
Mensch  überholt  alle  die  alten  Esel  in  Berlin",  urteilte  Rüge, 
der  sie  nicht  Engels  sondern  den  ihm  befreundeten  Bakunin 
zuschrieb.  In  den  Deutschen  Jahrbüchern  hat  sich  schon  im  Juli 
1842    Friedrich    Oswald     als    Verfasser     zu     erkennen     gegeben. 


74  Bsi  ^ßti  Junghegelianern  in  Berlin. 

Und  in  The  New  Moral  World,  dem  Organ  der  Anhänger  Owens, 
rechnete  Engels  es  sich  im  folgenden  Jahre  als  Verdienst  an,  daß 
er  hier  als  der  erste  den  Gegnern  öffentlich  das  Recht  zuerkannt 
habe,  die  Junghegelianer  als  Atheisten  zu  bezeichnen.  Weil  aber 
nur  wenige  wußten,  wer  hinter  diesem  mit  Sorgfalt  gehüteten 
Pseudonym  steckte,  so  ist  die  Öffentlichkeit  weder  damals  noch 
später  auf  die  richtige  Spur  geleitet  worden.  Daß  die  Zensur  andere 
harmlosere  Schelling  befehdende  Broschüren  beanstandete,  diese 
aber  nicht,  erklärt  sich  wohl  daraus,  daß  Engels  sich  sorgfältig 
jeder  politischen  Anspielung  enthielt  und  sich  bei  der  philosophischen 
Polemik  strenger   Sachlichkeit  befleißigte. 

Die  kleine  Schrift,  die  im  Eingang  unverkennbar  an  Bruno 
Bauers  Posaune  des  jüngsten  Gerichts  anklingt,  beginnt  mit  der 
Feststellung,  daß  nun  schon  einige  Monate  verflossen  seien,  ohne 
daß  es  dem  aus  der  kymmerischen  Nacht  Münchens  herbeigeholten 
neuen  Elias  geglückt  wäre,  die  Baalspriester  aus  dem  Tempel  zu 
vertreiben.  Die  Hegeische  Philosophie  lebe,  obgleich  ihr  Odem 
Flammen  der  Gottlosigkeit  und  Rauch  der  Verfinsterung  sei,  nach 
wie  vor  auf  dem  Katheder,  in  der  Literatur  und  in  der  Jugend ;  ihr 
Einfluß  auf  die  Nation  sei  in  raschem  Steigen  und  sie  verfolge  ruhig 
ihren  eigenen  inneren  Entwicklungsgang.  Die  Art,  wie  Schelling 
sich  über  Hegel  ausgesprochen,  habe  die  Schüler  des  letzteren 
jeder  Rücksicht  gegen  dessen  angeblichen  Überwinder  enthoben,  und 
so  dürfe  man  auch  ihm  nicht  verübeln,  wenn  er  in  Befolgung  eines 
demokratischen  Prinzips  ohne  Ansehen  der  Person  vorgehe  und 
nur  die  Sache  und  ihre  Geschichte  im  Auge  behalte.  Engels  er- 
kennt an,  daß  Hegel  zu  wenig  für  die  Popularisierung  seiner  Philoso- 
phie getan  habe.  Der  Kraft  der  Idee  vertrauend  hätte  er  nur  darauf 
geachtet,  alles  Vorstellungsmäßige,  Phantastische,  Gefühlige  ent- 
schieden abzuweisen  und  den  reinen  Gedanken  in  seiner  Selbst- 
schöpfung zu  erfassen.  Erst  bei  seinen  Schülern  habe  die  Lehre 
eine  menschlichere  und  anschaulichere  Gestalt  angenommen,  erst 
sie  hätten  die  bedeutungsvollsten  Lebensfragen  der  Wissenschaft 
und  der  Praxis  zur  Diskussion  gestellt  und  damit  Macht  über  die 
Jugend  gewonnen.  An  Hegels  Weltanschauung  tadelt  er  mit  den 
anderen,  daß  sie  dem  jugendlich  aufbrausenden  Konsequenzen- 
strom der  eigenen  Lehre  unter  dem  Druck  der  Restaurationsepoche 
Dämme  entgegengestellt  habe.  Besonders  die  Religions-  und 
Rechtsphilosophie  würde  anders  ausgefallen  sein,  wenn  Hegel 
sie  dem  Einfluß  der  Zeitströmung  entzogen  und  aus  dem  reinen 
Gedanken  entwickelt  hätte.  Die  Prinzipien  Hegels  seien  immer 
unabhängig  und  freisinnig  gewesen,  aber  die  Folgerungen  hätten 
hie  und  da  ein  illiberales  Aussehen  angenommen.    Der  linke  Flügel 


Schelling  und  die  Offenbarung.  75 

der  Schule,  der  sich  um  Ruges  Jahrbücher  schare,  habe   deshalb 
bloß  die  Prinzipien  beibehalten  und  die  Folgerungen,  wo  sie  sich 
nicht    mehr    rechtfertigen    ließen,    verworfen.     Doch    selbst    diese 
Pachtung   wagte    nicht   gleich   von   Anbeginn,   alle    Konsequenzen 
offen  auszusprechen.    Auch  nach  dem  Erscheinen  des  Leben  Jesu 
habe  sie  noch  geglaubt,  innerhalb  des  Christentums  zu  stehen; 
die   Fragen  nach  der   Persönlichkeit  Gottes  und  der  individuellen 
Unsterblichkeit  seien  noch  nicht  hinreichend  genug  geklärt  gewesen, 
um  ein  rückhaltloses   Urteil  zuzulassen.    Als  sie  dann  die  unaus- 
bleiblichen Konsequenzen  herannahen  sah,  sei  die  Schule  anfäng- 
lich mit  sich  zu  Rat  gegangen,  ob  die  neue  Lehre  nicht  besser  ihr 
esoterisches  Eigentum,  für  die  Nation  aber  ein  Geheimnis  bliebe. 
Erst  Heinrich   Leos  Angriff  öffnete   „den  Hegelingen**  die  Augen 
völlig  über  den  eigenen  Standpunkt  und  weckte  ihnen  den  stolzen 
Mut,  die  Wahrheit  nicht  nur  bis  zu  ihren  äußersten  Folgerungen 
zu  begleiten  sondern  sie  auch  offen  und  verständlich  auszusprechen, 
möge  daraus  folgen  was  da  wolle.    Jetzt  falle  es  niemandem  unter 
ihnen    mehr    ein,    die    Richtigkeit    der    Leoschen    Anklagepunkte 
zu    bestreiten.      Feuerbachs     Wesen     des     Christentums,     Strauß 
Dogmatik   und    die    Deutschen    Jahrbücher    bewiesen    am    besten, 
welche  Früchte  jene  Denunziation  getragen  habe.    Heute  machten 
die  Junghegelianer   keinen  Hehl  mehr  daraus,  daß   das  Christen- 
tum in  ihren  Augen  keine  Schranke  mehr  bedeute.   Die  unerbittliche 
Kritik  der  Vernunft  habe  sich  der  Grundprinzipien  des  Christentums 
ebenso  bemächtigt  wie  all'  des  anderen,  was  man  bisher  Religion 
genannt  habe.    Fortan  erhebe  die  absolute  Idee  den  Anspruch,  die 
Gründerin  einer  neuen  Ära  im  Bewußtsein  der  Menschheit  zu  sein. 
Jene  große  Umwälzung,  deren  Vorläufer  die  französischen  Philo- 
sophen des  achtzehnten  Jahrhunderts  waren,  fände  im  Reiche  des 
Gedankens  erst  jetzt  ihre  Vollendung;  die  Philosophie  des  Protestan- 
tismus, die  mit  Descartes  begonnen  habe,  räume  einer  neuen  Zeit 
das  Feld.    Damit  werde  es  die  heiligste  Pflicht  aller,  die  der  Selbst- 
entwicklung des  Geistes  gefolgt  wären,  so  ungeheure  Resultate  in 
das  Bewußtsein  der  Nation  zu  überführen  und  zum  Lebensprinzip 
Deutschlands  zu  erheben. 

Nach  dieser  vom  radikalsten  Geist  erfüllten  Einleitung  schildert 
Engels,  der  vom  Thronwechsel  zu  reden  ausdrücklich  vermeidet, 
wie  seit  dem  Tode  Altensteins  auf  der  einen  Seite  der  Staat,  auf 
der  anderen  die  Philosophie  ihre  Prinzipien  immer  schroffer  zu 
betonen  angefangen  hätten.  Seit  die  Philosophie  sich  nicht  mehr 
scheute,  „das  Notwendige*'  auszusprechen,  habe  auch  der  christ- 
lich-monarchische Staat  Preußen  seine  Konsequenzen  bestimmter 
geltend  gemacht.    Um  ein  Gegengewicht  gegen  die  bis  dahin  vor- 


^6  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

herrschenden  Tendenzen  zu  schaffen,  wurden  Männer  von  ent- 
gegengesetzter Richtung  berufen,  und  am  Ende  erhielt  Scfielling 
die  Mission,  in  dem  Streit  den  Ausschlag  zu  bringen  und  die  Hegel- 
sche  Philosophie  auf  ihrem  eigensten  philosophischen  Gebiet  zu 
vernichten.  Damit  ist  der  Verfasser  bei  dem  engeren  Thema 
seiner  Broschüre  angelangt,  das  aber  für  uns  ebenso  wie  für  ihn 
zurücktritt  hinter  den  Betrachtungen,  mit  denen  er  es  einleitet 
und  in  die  er  es  ausklingen  läßt.  Hier,  im  Kern  seiner  Darlegungen, 
finden  wir  die  mit  ,, Lauterkeit  und  Aufrichtigkeit"  wiedergegebenen 
Gedanken  aus  Schellings  Vorlesungen  und,  wenn  auch  in  erweiter- 
ter Ausführung,  die  kritischen  Einwendungen,  die  schon  der  Artikel 
im  Telegraph  gegen  sie  erhoben  hatte.  Schelling  bekommt  zu 
hören,  daß  er  Autoritätsglauben,  Gefühlsmystik  und  gnostische 
Phantastereien  in  die  freie  Wissenschaft  des  Denkens  einschm.uggele 
und  damit  die  Einheit  der  Philosophie,  die  Ganzheit  aller  Welt- 
anschauung zu  einem  unbefriedigenden  Dualismus  zerreisse. 
Weil  er  den  Widerspruch,  der  die  welthistorische  Bedeutung  des 
Christentums  ausmache,  auch  zum  Prinzip  der  Philosophie  erhebe, 
erweise  er  sich  unfähig,  das  Universum  als  Vernünftiges  und  Gan- 
zes zu  begreifen.  Aber  der  Deutsche  bedanke  sich  für  seine  Philo- 
sophie, die  sich  auf  einem  holprigen  Wege  durch  die  endlos  lang- 
weilige Sahara  der  Möglichkeit  schleppe,  ohne  zu  einem  anderen 
Ziele  zu  gelangen  als  dahin,  wo  nach  ihrem  eigenen  Geständnis 
die  Welt  für  die  Vernunft  mit  Brettern  zugenagelt  sei. 

Die  Vernunft  nehme  bei  Schelling  zum  wirklichen  Sein  eine 
apriorische  Stellung  ein;  sie  könne  nicht  beweisen,  daß  Etwas 
existiere  sondern  nur,  daß,  wenn  Etwas  existiere,  es  so  und  so  be- 
schaffen sein  müsse.  Sie  erhalte  bei  ihm  also  eine  vorweltliche, 
von  aller  anderen  Existenz  getrennte  Existenz.  Nun  sei  es  aber 
gerade  die  Konsequenz  der  neueren  Philosophie,  wie  Feuerbach 
in  ganzer  Schärfe  zum  Bewußtsein  gebracht  habe,  daß  die  Vernunft 
schlechterdings  nur  als  Geist,  der  Geist  aber  nur  in  und  mit  der 
Natur  existiere  und  nicht  abgesondert  von  ihr  ein  apartes  Leben 
führen  könne.  Die  Existenz  der  Vernunft  beweise  zugleich  die 
Existenz  der  Natur  und  daß  die  Potenz  des  Seins  mit  Notwendigkeit 
sogleich  in  den  Aktus  des  Seins  übergehen  müsse.  Solange  man 
von  aller  Existenz  abstrahiere,  könne  von  Existenz  überhaupt  nicht 
die  Rede  sein.  Knüpfe  man  aber  an  etwas  Existierendes  an,  so  sei 
die  Existenz  der  Folgerungen  selbstverständlich. 

Als  die  Basis  aller  Philosophie  gilt  dem  Hegelianer  die  Existenz 
der  Vernunft,  die  durch  ihre  eigene  Tätigkeit  bewiesen  werde; 
gehe  man  von  ihrer  Existenz  aus,  so  folge  daraus  von  selbst  die 
Existenz  aller  ihrer  Konsequenzen.     Schelling  freilich  scheine  die 


Schelling  und  die  Offenbaning.  yy 

Existenz  der  Vernunft  als  Voraussetzung  aller  Philosophie  nicht 
anerkennen  zu  wollen  und  auf  eine  abstrakte  und  richtige  Immanenz 
des  Denkens  hinzustreben.  Das  Durcheinander  von  Abstraktion  und 
Vorstellung  sei  sogar  das  Charakteristische  seiner  Denkweise. 
Die  Notwendigkeit  der  Welt  passe  nicht  in  seinen  Positivismus. 
Von  der  Sucht  besessen,  platterdings  an  das  Ende  der  Philosophie 
das  Absolute  zu  rücken,  begreife  er  nicht,  daß  Hegel  dies  wirklich 
geleistet  habe.  Besäße  er  eine  Geschichtsphilosophie,  so  würde 
ihm  der  sich  wissende  Geist  nicht  als  Postulat  sondern  als  Resultat 
erscheinen.  Aber  auch  der  sich  wissende  Geist  wäre  noch  lange 
nicht,  was  Schelling  von  der  Idee  behaupte,  der  Begriff  des  per- 
sönlichen Gottes.  Bei  Hegel  sei  die  Realität  der  Idee  nichts  anderes 
als  —  Natur  und  Geist  und  das  Absolute  bloß  die  Einheit  von  Natur 
und  Geist  in  der  Idee.  Schelling  fasse  das  Absolute  immer  noch 
als  absolutes  Subjekt,  das  bei  ihm  allein  in  der  Vorstellung  des  per- 
sönlichen Gottes  seine  Realität  fände.  Zum  ersten  Mal  seit  den 
Scholastikern  spreche  in  ihm  ein  Heros  der  Wissenschaft  den  Ab- 
fall von  der  reihen  Vernunft  offen  aus  und  erkläre  sie  für  eine  Magd 
des  Glaubens.  Die  Versöhnung  von  Glauben  und  Wissen  zu  bringen 
hatte  Schelling  versprochen.  Wähne  er  diese  zu  vollziehen,  in- 
dem er  die  naive  Forderung  erhebe,  man  möge,  um  sich  vom  Zwei- 
fel zu  kurieren,  allen  Zweifel  von  sich  werfen  ? 

Um  in  Berlin  Geschäfte  zu  machen,  hätte  Schelling  statt  des 
Schatzes  seiner  positiven  Philosophie  eine  Widerlegung  des  Leben  Jesu 
und  des  Wesens  des  Christentums  aus  München  mitbringen  müssen. 
Seine  Konstruktion  des  persönlichen  Gottes  und  der  christlichen 
Dreieinigkeit  verflache  wie  gewöhnlich  bloß  Gedanken  Hegels  zur 
barsten  Inhaltslosigkeit,  denn  er  stelle  die  drei  Entwickelungs- 
momente  als  Persönlichkeiten  neben  einander  und  bezeichne  es 
als  die  wahre  Persönlichkeit  einer  Person,  daß  sie  drei  Personen 
sei.  Die  Inkonsequenzen,  Willkürlichkeiten,  kecken  Behauptungen, 
Lücken,  Sprünge,  die  Schelling  sich  bei  seiner  Konstruktion  des 
christlichen  Dogmas  zuschulden  kommen  lasse,  im  einzelnen  auf- 
zuweisen, erscheint  Engels  ebenso  überflüssig  wie  eine  ernst- 
hafte Beschäftigung  mit  der  Offenbarungs-  und  Gotteslehre  seines 
Gegners.  Er  hält  die  Unvereinbarkeit  von  Philosophie  und  Christen- 
tum bereits  für  erwiesen  und  folgert  daraus,  daß  Schelling  sich 
in  einen  noch  schlimmeren  Widerspruch  verstrickt  habe  als  Hegel. 
Dieser  hatte  doch  eine  Philosophie,  wenn  auch  nur  scheinbar  das 
Christentum  darin  steckte ;  was  Schelling  gebe,  sei  weder  Christen- 
tum noch  Philosophie,  und  die  Verwirrung  von  Freiheit  und  Willkür 
stünde  bei  ihm  in  der  schönsten  Blüte.  Nur  jene  Freiheit,  so  be- 
kennt Engels  aus  dem  Geist  der  Schule  und  des  eigenen  Erlebens, 


yS  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

sei  die  wahre,  die  auch  die  Notwendigkeit  in  sich  enthalte,  die  nichts 
anderes  sei  als  Wahrheit,  Vernünftigkeit,  Notwendigkeit.  Der  Gott 
Hegels,  aus  dem  alles  Willkürliche  entfernt  ist,  könne  nun  und 
nimmermehr  eine  einzelne  Person  sein.  Schelling  müsse,  wenn 
er  von  Gott  sprechen  wolle,  das  ,, freie"  Denken  anwenden,  denn 
das  notwendige  Denken  der  logischen  Konsequenz  schließe  jede 
göttliche  Person  aus.  Die  nie  ruhende  Triebkraft  des  Gedankens 
in  der  Hegeischen  Dialektik,  die  alles  von  selbst  mache,  bedürfe 
keiner  göttlichen  Persönlichkeit.  Weil  Schelling  nun  in  seinem 
Alter  in  den  seichten  Hafen  des  Glaubens  eingefahren  wäre,  sei 
das  einst  so  stolze  Schiff  seiner  Philosophie  hoffnungslos  auf  den 
Sand  geraten.  Aber  einen  anderen  Hafen  gebe  es  noch;  dort  läge 
eine  ganze  Flotte  stolzer  Fregatten  bereit  in  das  hohe  Meer  zu  stechen. 
Indem  Hegel  die  alte  Ära  des  Bewußtseins  vollendete,  habe  er 
einer  neuen  die  Wege  geöffnet.  Und  wenn  sein  jüngster  Nach- 
folger ihm  vorwürfe,  daß  er  noch  so  tief  im  Alten  stecke,  so  möge 
Feuerbach  bedenken,  daß  gerade  das  Bewußtsein  über  das  Alte 
schon  das  Neue  sei,  daß  ein  Altes  eben  dadurch  der  Geschichte 
anheimfalle,  daß  es  vollkommen  zum  Bewußtsein  gebracht  werde. 
In  diesem  Sinne  sei  Hegel  allerdings  das  Neue  als  Altes  und  das 
Alte  als  Neues;  Feuerbachs  Kritik  des  Christentums  aber  wäre 
eine  notwendige  Ergänzung  zu  der  durch  Hegel  begründeten  speku- 
lativen  Religionslehre. 

Am  Schlüsse  der  Kampfschrift  läßt  der  Jüngling  die  Begeiste- 
rung für  die  neue  Wahrheit,  die  sein  ganzes  Wesen  erfüllt,  in  feurige 
poetische  Bilder  ausströmen.  Zum  letzten  Mal,  bevor  sich  die  Ge- 
sichtszüge, aus  denen  wir  es  ablesen  konnten,  hinter  dem  Visier  stren- 
ger Sachlichkeit  verbergen,  erhalten  wir  einen  unmittelbaren  Einblick 
in  das  Leben  seiner  Seele.  Ein  neues  Leben  sei  angebrochen,  ruft  er 
jubelnd  aus,  ein  Morgen  weltgeschichtlich  wie  jener,  da  aus  der 
Dämmerung  des  Orients  das  lichte,  freie  hellenische  Bewußtsein 
sich  losrang!  Alles  habe  sich  verändert:  die  Welt,  die  uns  so  fremd 
war,  die  Natur,  deren  verborgene  Mächte  uns  wie  Gespenster  schreck- 
ten, nun  seien  sie  uns  verwandt  und  heimisch  geworden.  ,,Die  Welt, 
die  uns  als  ein  Gefängnis  erschien,  zeigt  sich  nun  in  ihrer  wahren 
Gestalt,  als  ein  herrlicher  Königspalast,  darm  wir  alle  aus-  und  ein- 
gehen. Arme  und  Reiche,  Hohe  und  Niedere.  Die  Natur  schließt 
sich  auf  vor  uns  und  ruft  uns  zu:  Fliehet  doch  nicht  vor  mir,  ich 
bin  ja  nicht  verworfen,  nicht  abgefallen  von  der  Wahrheit,  kommt 
und  sehet,  es  ist  euer  innerstes,  eigenstes  Wesen,  das  auch  mir 
Lebensfülle  und  Jugendschönheit  gibt!  Der  Himmel  ist  zur  Erde 
herniedergekommen  .  .  .  Alle  Zerrissenheit,  alle  Angst,  alle  Spaltung 
ist   verschwunden.     Die    Welt   ist   wieder   ein    Ganzes,  selbständig 


Weihe  für  die  Idee. 


79 


und  frei;  sie  hat  die  Tore  ihres  dumpfen  Klosters  gesprengt,  das 
Bußhemd  abgeworfen  ....  Sie  braucht  sich  nicht  mehr  zu  recht- 
fertigen vor  dem  Unverstand,  der  sie  nicht  erfassen  konnte;  ihre 
Pracht  und  Herrlichkeit,  ihre  Fülle,  ihre  Kraft,  ihr  Leben  ist  ihre 
Rechtfertigung.  Wohl  hatte  Einer  recht,  als  er  vor  achtzehnhundert 
Jahren  ahnte,  daß  die  Welt,  der  Kosmos,  ihn  dereinst  verdrängen 
werde,  und  seinen  Jüngern  gebot,  der  Welt  abzusagen.  Und  das 
liebste  Kind  der  Natur,  der  Mensch,  als  freier  Mann  nach  den  langen 
Kämpfen  des  Jünglingsalters,  nach  der  langen  Entfremdung  zur 
Mutter  zurückkehrend,  .  .  .  hat  auch  die  Trennung  von  sich  selber, 
die  Spaltung  in  der  eignen  Brust  überwunden.  Nach  undenklich 
langem  Ringen  und  Streben  ist  der  lichte  Tag  des  Selbstbewußt- 
seins über  ihm  aufgegangen  ...  Es  ist  ihm  alles  offenbar  geworden, 
und  nichts  war  stark  genug,  sich  gegen  ihn  zu  verschließen.  Jetzt 
erst  geht  ihm  das  wahre  Leben  auf!  Wohin  er  früher  in  dunkler 
Ahnung  strebte,  das  erreicht  er  jetzt  mit  vollem,  freien  Willen. 
Was  außer  ihm,  in  nebelnder  Ferne  zu  liegen  schien,  findet  er  in 
sich  als  sein  eigen  Fleisch  und  Blut.  Das  Kleinod  aber,  das  Heilig- 
tum, das  er  so  gefunden  hat  nach  langem  Suchen,  war  manchen 
Irrweg  wertl  Diese  Krone,  dies  Heiligtum  „ist  das  Selbstbewußt- 
sein der  Menschheit,  der  neue  Gral,  um  dessen  Thron  sich  die  Völker 
jauchzend  versammeln  und  der  alle,  die  sich  ihm  hingeben,  zu 
Königen  macht."  ,,Das  ist  unser  Beruf,  daß  wir  dieses  Grals  Tempel- 
eisen werden,  für  ihn  das  Schwert  um  die  Lenden  gürten  und  unser 
Leben  fröhlich  einsetzen  in  den  letzten,  heiligen  Krieg,  dem  das 
tausendjährige  Reich  der  Freiheit  folgen  wird.  Und  das  ist  die  Macht 
der  Idee,  daß  jeder,  der  sie  erkannt  hat,  nicht  aufhören  kann  von 
ihrer  Herrlichkeit  zu  reden  und  ihre  Allgewalt  zu  verkündigen, 
daß  er  heiter  und  guten  Muts  alles  andere  wegwirft,  wenn  sie  es 
heischt,  daß  er  Leib  und  Leben,  Gut  und  Blut  opfert,  wenn  nur 
sie  durchgesetzt  wird.  Wer  sie  einmal  geschaut  hat,  wem  sie 
einmal  im  stillen  nächtlichen  Kämmerlein  in  all  ihrem  Glänze  er- 
schienen ist,  der  kann  nicht  von  ihr  lassen,  der  muß  ihr  folgen, 
wohin  sie  ihn  führt  und  wäre  es  in  den  Tod.  .  .  .  Und  dieser  Glaube 
an  die  Allmacht  der  Idee,  an  den  Sieg  der  ewigen  Wahrheit,  diese 
feste  Zuversicht,  daß  sie  nimmermehr  wanken  und  weichen  kann 
und  wenn  die  ganze  Welt  sich  gegen  sie  empörte,  das  ist  die  wahre 
Religion  eines  jeden  echten  Philosophen,  das  ist  die  Basis  der  wahren 
positiven  Philosophie,  der  Philosophie  der  Weltgeschichte.  Diese 
ist  die  höchste  Offenbarung,  die  des  Menschen  an  den  Menschen, 
in  der  alle  Negation  der  Kritik  positiv  ist.  Dieses  Drängen  und  Stür- 
men der  Völker  und  Heroen,  über  dem  die  Idee  in  ewigem  Frieden 
schwebt  und  endlich  herniedersteigt  mitten  in  das  Getriebe,  und 


8o  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

seine  innerste,  lebendigste,  selbstbewußte  Seele  wird,  das  ist  die 
Quelle  alles  Heils  und  aller  Erlösung;  das  ist  das  Reich,  in  dem  jeder 
von  uns  an  seinem  Ort  zu  wirken  und  zu  handeln  hat.  Die  Idee, 
das  Selbstbewußtsein  der  Menschheit  ist  jener  wunderbare  Phönix, 
der  aus  dem  Kostbarsten,  was  es  auf  der  Welt  gibt,  sich  den  Scheiter- 
haufen baut  und  verjüngt  aus  den  Flammen,  die  eine  alte  Zeit  ver- 
nichten, emporsteigt.  So  laßt  uns  denn  unser  Teuerstes  und  Lieb- 
stes, alles  was  uns  heilig  und  groß  war,  ehe  wir  frei  wurden,  diesem 
Phönix  auf  den  Scheiterhaufen  tragen!  Laßt  uns  keine  Liebe,  keinen 
Gewinn,  keinen  Reichtum  für  zu  hoch  halten,  als  daß  wir  ihn  nicht 
der  Idee  freudig  opfern  sollten  —  sie  wird  es  uns  alles  vergelten 
tausendfach!  Laßt  uns  kämpfen  und  bluten,  dem  Feinde  unverzagt 
ins  grimmige  Auge  schauen,  und  ausharren  bis  ans  Ende!  Seht 
Ihr  unsere  Fahnen  wehen  von  den  Bergesgipfeln  herab?  Seht 
Ihr  die  Schwerter  unserer  Genossen  blinken,  die  Helm.büsche  flat- 
tern ?  Sie  kommen,  sie  kommen  aus  allen  Tälern,  von  allen  Höhen 
strömen  sie  uns  zu,  mit  Gesang  und  Hörnerschall;  der  Tag  der 
großen  Entscheidung,  der  Völkerschlacht,  naht  heran  und  der  Sieg 
muß  unser  sein!" 

Als  Rüge  bald  nach  dem  Erscheinen  Schelling  und  die 
Offenbarung  in  den  Deutschen  Jahrbüchern  anzeigte,  rühmte  er 
die  Lebendigkeit  und  Klarheit  der  Broschüre,  hob  aber  auch  hervor, 
daß  ihr  Charakter  und  Standpunkt  jugendlich  seien,  wie  die  Lust 
an  bilderreicher  Sprache  am  Anfang  und  Ende  und  das  frische  Feuer 
der  Begeisterung  für  die  große  Entwicklung,  in  der  man  sich  be- 
finde, erkennen  ließen.  Gewiß,  durchaus  jugendlich  ist  die  Be- 
geisterung, die  in  diesen  übervollen  Dithyramben  einherflutet,  aber 
auch  von  einer  seltenen  Reinheit,  Echtheit  und  Freudigkeit  der 
Empfindung  legt  sie  Zeugnis  ab.  Wer  in  so  wahren  Tönen  sein 
ganzes  Wesen  der  Idee  zu  Füßen  legte,  wer  mit  so  hingebendem 
Schwung  sich  zu  ihrem  Priester,  nein,  nicht  zu  ihrem  Priester,  zu 
ihrem  Ritter  weihte,  der  verband  sich  ihrem  Dienst  für  alle  Lebens- 
zeit, der  hatte  der  Beschränkung  auf  den  engen  Kreis  der  bloßen 
privaten  Einzelexistenz  für  immer  abgeschworen.  Mochte  Engels 
über  die  Bedeutung  und  den  Inhalt  des  Grals,  dem  er  sein  Blut  ge- 
lobte, noch  Unklarheit  umgeben,  was  er  war  und  werden  konnte, 
seine  Kraft,  sein  Denken,  sein  Handeln  gelobte  er  unverbrüchlich 
den  Mächten  der  Zukunft. 

Der  Grundton  dieser  Stimmung,  die  in  den  ersten  Monaten  des 
Jahres  1842  ihn  beherrschte,  hatte  sich  nur  noch  vertieft,  seit  er 
ihr  in  den  Aufsätzen  über  Arndt  und  Immermann  zuletzt  dich- 
terisch beseelten  Ausdruck  verliehen  hatte.  Hier  wie  dort  erfüllte 
ihn   wie  ein   wonnereicher    Rausch   das   unaussprechliche   Glücks- 


i 


Verflüchtigung  des  Gottheitsbegriffs.  8i 

gefühl,  der  Jugend  einer  Zeit  anzugehören,  die  mit  weltgeschicht- 
lichen Entscheidungen  schwanger  ging.  Noch  spürt  man  ihm  die 
Seligkeit  an,  nach  schweren  und  einsamen  inneren  Kämpfen  in 
einer  gewaltigen  Weltanschauung  seine  Sicherheit  und  in  deren 
radikalsten  Fortbildnern  die  Gefährten  gefunden  zu  haben,  ohne  die 
er  nun  nicht  mehr  hätte  leben  wollen.  Jetzt,  da  er  sich  geborgen 
fühlt,  läßt  er  hindurchscheinen,  wie  tief  er  gelitten  hatte  unter  der 
ihn  trostlos  dünkenden  Zwiespältigkeit  zwischen  einer  der  Mensch- 
heit entrückten  Gottheit  und  einer  entgötterten  Erdenwelt.  Nun 
aber  ist  alle  Zerrissenheit,  alle  Angst,  alle  Spaltung  geschwunden. 
Was  auß2r  ihm,  in  nebelnder  Ferne  zu  liegen  schien,  findet  er  in 
sich  als  sein  eigen  Fleisch  und  Blut.  In  seinem  Befreiungskampf 
aus  der  Gefühls-  und  Ideenwelt  des  Pietismus  war  ihm  der  Gottes- 
gedanke Hegels  in  so  überirdischer  Verklärtheit  erschienen,  daß  er 
nicht  empfunden  hatte,  wie  viel  von  der  Schönheit,  die  er  da  er- 
blickte, dem  eigenen  Dichterauge  und  dem  noch  nicht  erloschenen 
religiösen  Drang,  den  die  Erziehung  ihm  tief  ins  Herz  gesenkt 
hatte,  angehörte.  Aber  wie  im  Wesen  des  Hegeischen  Gottesbe- 
griffs, so  lag  es  auch  in  der  Entwickelungsrichtung  der  jungen 
Geistesbewegung,  der  E  gtls  sich  verschrieben  hatte,  daß  das 
rationale  Element,  je  stürmischer  und  schneller  sein  dialektischer 
Lauf  wurde,  um  so  mehr  das  Gewand,  das  das  Gefühl  ihm  um- 
getan hatte,  abstreifte.  An  einem  logischen  Pantheismus  wie  dem 
Higelschsn  mußte  die  Dialektik,  sobald  sie  ungehemmt  ihres 
Amtes  waltete,  alles  zermalmen,  was  dem  souverän  gewordenen 
Selbstbewußtsein  den  Weg  noch  versperrte.  Mit  der  Zeit  verflüch- 
tigte sich  auch  bei  Engels  der  Gottesbegriff  Hegels  in  den  dialek- 
tischen Entwickelungsgedanken,  den  die  einseitigen  Verstandes- 
menschen, in  deren  Kreis  er  in  Berlin  trat,  mit  kahler  Schwung- 
losigkeit  zum  Ausdruck  brachten.  Ihm  selbst  freilich  blieb  die  Idee 
auch  jätzt  noch  von  Gefühlen,  die  dem  religiösen  Erleben  entstamm- 
ten, so  erfüllt,  daß  der  Übergang  vom  Gotteskultus  zum  Mensch- 
heitskultus, den  das  Schlußwort  seiner  Broschüre  uns  greifbar  ver- 
anschaulicht, ihm  nicht  wieder  ein  schmerzhaftes,  sondern  ein 
beseligendes  Erlebnis  wurde.  Weil  die  Idee  ihm  in  überirdischem 
Glanz  erscheint,  empfindet  er  es  nicht  als  Verlust,  daß  sein  Gottes- 
begriff in  ihren  Strahlen  nun  vollends  in  Flammen  aufgeht.  Die 
Gottheit,  die  von  ihrem  Weltenthron  herabstieg,  nahm  er  hinfort 
in  seinen  Willen  auf.  Von  der  H^rrschaft  überirdischer  Gewalten 
glaubten  Brun  >  Bau«  r  und  Feuer bach,  aus  dessen  Gedanken 
Engels  erst  später  die  vollen  Konsequenzen  zog,  den  Menschen- 
geist befreit  zu  haben.  Dankbar  empfand  der  Jüngling,  wie  aus 
der  Asche  des  alten  Glaubens  der  neue  Glaube  an  die  Menschheit 

Mayer,  Friedrich  Encels.    Bd.  I  6 


82  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

erwuchs,  der  ihm  zunächst  noch  mit  dem  Glauben  an  die  unbegrenzte 
Entwickelungsfähigkeit  des  Selbstbewußtseins  identisch  erscheint. 
Noch  ahnte  er  nicht,  daß  ihm,  wenn  er  Feuerbachs  Spuren  folgte, 
der  Glaube  an  die  Dialektik  des  Selbstbewußtseins  in  den  Glauben 
an  die  unabsehbare  Entwickelungsfähigkeit  der  menschlichen  Zu- 
stände umschlagen  würde,  und  daß  sich  dem  gewaltigen  Optimismus, 
der  einen  hervorstechenden  Zug  seines  Wesens  ausmachte  und  für 
dessen  adäquate  Ausschöpfung  sein  dichterisches  Talent  nicht  hin- 
reichte, von  hier  aus  der  Weg  zeigen  werde,  der  ihn  aus  der  Sphäre 
des  bloßen  Verstandes,  die  ihn  nicht  völlig  befriedigte,  erlösen  und 
es  ihm  als  Notwendigkeit  enthüllen  würde,  die  Vollendung  der 
Idee  in  der  sozialen  Wirklichkeit  zu  suchen. 

Wir  wissen  nicht  genau,  wer  es  war,  der  Engels  in  den  Kreis 
des  Berliner  philosophischen  Radikalismus  einführte.  Die  Literaten, 
die  sich  hier  zusammenfanden,  bezeichneten  sich  selbst  mit  Vor- 
liebe als  die  Freien ;  das  ist  auch  der  Name,  unter  dem  diese  erste 
für  unsere  Geistes-  und  Parteigeschichte  in  Betracht  kommende 
Gruppe  großstädtischer  Bohemiens  eine  gewisse  Berühmtheit  er- 
langt hat.  Die  Artikel  im  Telegraph,  die  nicht  nur  im  Wuppertal 
beachtet  worden  waren,  reichten  hin,  um  Friedrich  Oswald  Sitz 
und  Stimme  bei  ihnen  zu  geben.  Und  bald  finden  wir  ihn  völlig 
heimisch  in  dieser  Gesellschaft,  aus  deren  Mitte  die  unaufhaltsam 
vorwärts  schreitende  Zersetzung  der  Hegeischen  Lehre  damals 
die  verschiedenartigsten  Gärungsstoffe  in  Freiheit  und  Tätigkeit 
setzte.  Bereits  im  November  gedenkt  der  älteste  Sohn  des  Ober- 
präsidenten Flottwell,  der,  wohl  nicht  zur  Freude  seines  Vaters, 
in  diese  Umgebung  geraten  war,  in  einem  Brief  an  Johann  Jacoby 
des  jungen  Fabrikantensohns  aus  dem  Rheinland,  der  mit  ihm. 
Stirner,  Eichler  und  Mayen  an  einer  ästhetisch-politisch- 
cerevisischen  Kneiperei  teilgenommen  habe.  Nun  bildeten  aber 
trotz  ihrer  engen  räumlichen  Verbindung  die  Freien  so  wenig 
wie  das  junge  Deutschland  eine  fest  gegliederte  Vereinigung,  die 
sich  durch  Statuten  und  ein  offizielles  Programm  gegen  anders 
Denkende  abschloß.  Die  Gerüchte,  daß  sie  sich  als  Partei  konsti- 
tuiert hätten,  um  die  Agitation  für  den  Atheismus  systematisch 
zu  betreiben,  waren  bald  von  Gegnern,  die  ihnen  schaden,  bald 
von  ihnen  selbst,  weil  sie  sich  wichtig  machen  wollten,  in  Umlauf 
gesetzt  worden.  Eine  Revolutionsspielerei,  die  sie  samt  und  sonders 
sofort  auf  die  Hausvogtei  gebracht  hätte,  lag  ihnen  um  so  ferner, 
als  die  meisten  aus  dieser  Schar  von  Literaten,  Journalisten,  Lehrern, 
Studenten,  deren  theoretischem  Radikalismus  ein  gutes  Stück 
Sensationslust  beigemischt  war,  sich  nicht  gerade  durch  persönlichen 
Mut  auszeichneten.  Weder  der  friedfertige  Gymnasiallehrer  Koppen, 


Die  Freien.  83 

„der  gänzlich  gute  Mann",  wie  er  allgemein  hieß,  noch  der 
Mädchenschullehrer  Caspar  Schrridt,  der  ,, bedächtige  Schran- 
kenhasser", wie  Engels  ihn  taufte,  weder  der  im  Grunde  seines 
Herzens  so  gemäßigte  Nauwerk,  weder  der  ängstliche  Ludwig 
Buhl  noch  die  späteren  nationalliberalen  Redakteure  Rutenlerg 
und  Meyen  waren  Naturen  von  revolutionärer  Tatkraft.  Als  echte 
Produkte  vormärzlicher  Dumpfheit  blieben  sie  außer  stände,  Denken 
und  Handeln  bei  sich  in  Einklang  zu  setzen ;  darum  hielten  sie  um 
so  unentwegter  an  dem  Grundgedanken  der  Hegeischen  Philo- 
sophie fest,  der  mit  seiner  Überwertung  der  Vernunft  sie  auf  billige 
Weise  der  ohnehin  nicht  starken  Versuchung  enthob,  die  Faust,, 
die  sie  bei  Stehely  in  der  roten  Stube  grimmig  ballten,  wenn  kein. 
Spion  der  Regierung  am  Nebentisch  saß,  ihrem  vernunftberaubten: 
Gegner  ins  Gesicht  schlagen  zu  müssen.  Engels  gleichaltrig,  mit 
ihm  damals  der  jüngste,  übermütigste  und  revolutionärste  des 
Kreises,  sein  Vertrauter  und  sein  liebster  Zechkumpan  war  Edgar 
Bauer.  Dessen  viel  älterer  Bruder  Bruno  urteilte,  solange  er 
noch  in  Bonn  dozierte,  recht  von  oben  her  über  die  Seichtbeutelei 
der  ,, Berliner  Bier-Literaten",  die  ihrerseits  ihn,  der  nur  in  den 
Ferien  bei  ihnen  Gastrollen  gab,  als  ihren  Führer  verehrten.  Erst  als 
er  nach  seiner  Absetzung  aufs  Neue  in  Berlin  lebte,  trat  er  zu  ihnen 
und  damit  auch  zu  Edgars  Altergenossen  Engels  in  vertrauteren 
Umgang.  Im  Gegensatz  zu  vielen  anderen  Besuchern  des  Kreises 
bedeutete  den  Brüdern  Bauer  ihr  persönliches  Wohlergehen  wenig, 
wo  es  auf  die  Sache  ankam,  für  die  sie  sich  einsetzten.  Ihr  Unglück 
war  nur,  daß  sie  sich  fast  niemals  lange  für  die  gleiche  Sache  ein- 
zusetzen vermochten.  In  diesen  Fanatikern  der  Vernunft  lebten 
schwache  Seelen,  die  in  der  Unsicherheit  ihres  Instinkts  den  poli- 
tischen Willen  um  so  geringer  einschätzten,  als  sie  selbst  wenig 
davon  besaßen.  Ohne  weiteres  räumten  sie  ein,  gesinnungslos  zu  sein ; 
sie  waren  es  aus  Prinzip,  denn  sie  befriedigte  es,  wenn  ihr  Geist 
das  Schlachtfeld  abgab,  auf  dem  die  Gegensätze  der  Zeit  im  dialek- 
tischen Kampf  ihren  Austrag  suchten. 

Allen  diesen  Berliner  Radikalen  war  an  Macht  und  Um- 
fang des  Willens  wie  des  Geistes  der  junge  Doktorand  Karl  Marx 
überlegen,  der  nur  wenige  Monate  vor  dem  Eintreffen  des  kürftigen 
Werkgenossen  aus  ihrer  Mitte  geschieden  war  und  nun  am  Rhein, 
mit  Bruno  Bauer  noch  eng  verbündet,  für  die  Rtvolutionierung 
des  religiösen  Bewußtseins  seine  Kraft  einsetzte.  Erst  die  Er- 
fahrungen, die  er  als  leitender  Geist  der  Rheinischen  Zeitung  sam- 
melte, entfremdeten  ihn  endgültig  der  Gemeinschaft  der  Freien. 
Er  blieb  hinfort  von  der  überlegenen  Wichtigkeit,  die  der  Politik 
als   Kampfgebiet  zukam,   überzeugt,  während  die   Berliner  in  ihr 


84  Bßi  <^en  Junghegelianem  in  Berlin. 

ein  des  philosophischen  Geistes  würdiges  Betätigungsgebiet  nur 
so  lange  erblickten,  wie  sie  über  den  Widerspruch  zwischen  ihren 
überheblichen  Ansprüchen  und  den  realen  Machtverhältnissen 
sich  noch  Täuschungen  hingeben  konnten. 

Dam  jungen  Engels,  den  es  aus  seiner  geistigen  Einsamkeit 
heraus  verlangte,  boten  die  neuen  Gefährten,  die  vor  der  Zeitent- 
wicklung einen  Vorsprung  beanspruchten,  weil  sie  das  Gras  wach- 
sen zu  hören  glaubten  und  für  den  Philister  allezeit  einen  Schaber- 
nack bereit  hielten,  die  Anregung,  die  er  sich  gewünscht  hatte, 
in  Hülle  und  Fülle.  Es  gab  keinen  neuen  Gedanken,  keine  junge 
Bewegung  irgendwo  in  den  vorgeschritteneren  Ländern  Europas, 
die  diesen  eifrigen  Zeitungs-  und  Zeitschriftenlesern  verborgen 
blieb.  Und  die  Schrankenlosigkeit,  die  burschikose  Verwegenheit, 
die  absichtliche  Verspottung  aller  bürgerlichen  Formen,  die  in 
ihrer  Luft  gediehen,  behagten  seiner  freiheitsdurstigen  Seele  nach 
all  der  hanseatischen  Steifheit  und  Wohlanständigkeit  und  als 
Gegengewicht  gegen  den  militärischen  Drill. 

Nun  wurde  es  für  diesen  Kreis  ein  Ereignis,  das  alles,  was  sonst 
in  der  Welt  geschah,  in  den  Schatten  drängte,  als  Bruno  Bauer 
zuerst  im  Oktober  1841  provisorisch,  dann  im  März  1842  end- 
gültig die  Venia  legendi  entzogen  wurde.  Dieser  für  preußische 
Gepflogenheiten  unerhörte  Eingriff  in  die  akademische  Lehrfrei- 
heit erbrachte  jetzt  den  Junghegelianern  den  endgültigen  Beweis, 
daß  Preußen  sein  Schicksal  an  das  des  historischen  Christentums 
schmiedete,  daß  es  sich  mit  ihm  auf  Tod  und  Leben  verband,  daß 
es  ein  christlicher  Staat  sein  wollte;  die  Sache  Bruno  Bauers 
wurde  ihnen  nunmehr  schlechthin  zum  ,, Ereignis  des  Jahrhunderts". 

Wie  sehr  Engels  damals  mit  Bruno  Bauer  und  den  Freien 
solidarisch  empfand,  zeigt  sein  Christliches  Heldengedicht:  ,,Die 
frech  bedräute,  jedoch  wunderbar  befreite  Bibel  oder  Triumph 
des  Glaubens",  das  ohne  Angabe  eines  Verfassers  etwa  im 
April  1842  unter  dem  Deckverlag  von  Joh.  Fr.  Heß,  eines  Setzers 
des  Literarischen  Comptoirs,  dessen  Frötel  sich  als  ,, Blitzableiters" 
bei  besonders  zensurgefährlichen  Neuerscheinungen  bediente,  in 
Neumünster  bei  Zürich  herauskam.  Wie  kurz  vorher  Bruno 
Bauer  seine  Posaune  des  jüngsten  Gerichts,  so  hüllte  Engels 
diese  im  Stil  älterer  theologischer  Dichtungen  gehaltene  Travestie 
des  Goetheschen  Faust  mit  durchsichtiger  Scheinheiligkeit  in  das 
Gewand  eines  orthodoxen  Pietismus.  Heuchlerisch  fleht  er  am 
Eingang  den  Segen  aller  Größen  des  frommen  Heerlagers  Leos, 
Hengstenbergs,  Sacks,  Krummachers  und  des  Wuppertaler 
Liederdichters  Knapp  auf  sein  Werk  hernieder,  dessen  Ab- 
sicht es  sei,  „den  Greuel  der  Lästerung"  mit  Stumpf  und  Stiel  aus- 


Bruno  Bauers  Absetzung.  85 

zurotten.   Gleich  dahinter  vernehmen  wir  das  Gestöhn  der  frommen 
Seelen,  die  Gott  anflehen,  die  immer  frecher  werdende  Schar  der 
Freigeister  und   Lästerer  endlich  zu  vernichten.    Der  Herr  mahnt 
zur  Geduld:  Noch  sei  das  Maß  des  Frevels  nicht  voll,  und  gerade  in 
Berlin   gäbe   es  manche,  die   noch  nicht  aufgehört  hätten,  Gott  zu 
suchen;  freilich  täten  sie  es  auf  besondere  Weise.     Und  wie  bei 
Goethe  auf  Faust,  so  weist  hier  der  Herr  auf  Bruno  Bauer  hin: 
,,Er  glaubt,  doch  er  denkt  nach, 
Wohl  willig  ist  sein  Fleisch, 
Doch  ach  der  Geist  ist  schwach." 
Der  Herr  mahnt  zur  Geduld,  denn  er  hat  die  Hoffnung  noch  nicht 
aufgegeben,    daß   Bauer    der    ,, Narretei"   des   Denkens,   die  seinen 
Sinn  zersplittert,  abschwören  und  in  den  Schoß  des  Glaubens  den 
Weg  zurückfinden  werde.    Gerade   ihm  hätte  er   für  den  letzten 
Entscheidungskampf  die  Führung  der  Gläubigen,  die  Thron  und  Altar 
verteidigen  sollten,   zugedacht. 

Den  Teufel,  der  nun  auftritt,  will  es  dünken,  daß  der  Lizentiat 
auf  eine  gar  besondere  Weise  dem  Herrn  diene.  Und  unter  heiterer 
Verdrehung  des  Vorspiels  im  Himmel  kommt  es  zur  Wette  zwischen 
Gott  und  Mephisto.  Dieser  ist  seines  Sieges  gewiß;  er  glaubt  Bruno 
Bauer  zu  kennen: 

„Ihm  steckt  bei  alledem  der  Hegel  noch  im  Kopf, 
Da  fass'  ich  ihn,  gib  acht,  da  fass'  ich  ihn  beim  Schopf." 
Unterdessen  ist  bei  den  Verdammten  in  der  Hölle,  mit  Hegel, 
Voltaire,  Danton,  Edelmann  und  Napoleon  als  Führern,  eine 
Revolution  ausgebrochen,  weil  sie  nicht  dulden  wollen,  daß 
der  Atheismus,  den  sie  alle  —  Hegel  ,,mit  ganzer  Kraft"  —  ver- 
kündet hatten,  auf  Erden  wieder  in  Mißkredit  komme.  Sie  werfen 
deshalb  dem  Teufel  Tatenlosigkeit  vor;  aber  dieser  beruhigt  sie: 
In  Bruno  Bauer  habe  er  endlich  den  Mann  gefunden,  der  dem 
Geschlecht  der  Frommen  die  Köpfe  abschlagen  werde.  Und  weiter 
geht  die  Faustparodie.  Um  den  Lizentiaten  zu  versuchen,  erscheint 
Mephisto  in  der  düsteren  Studierstube,  wo  der  Verfasser  der  Evan- 
gelienkritik ,,mit  heißem  Bemühn"  über  die  Echtheit  der  Bibel 
und  die  Versöhnung  von  Glauben  und  Wissen  brütet.  Weil  dieser  als 
der  erste  in  seiner  Posaune  des  jüngsten  Gerichts  über  Hegel  den 
Atheisten  und  Christen  den  preußischen  Staatsphilosophen  öffentlich 
als  Atheisten  und  Erzjakobiner  entlarvt  hatte,  mahnt  Mephisto 
ihn  hier,  dem  Beispiel  des  ,, kühnen  Gotteshassers"  Hegel  zu  folgen, 
der  das  Faktum  ohne  viel  Grübeln  über  Bord  geworfen  habe  und  dem 
vor  der  Vernunft  die  Überlieferung  nicht  bestehen  konnte.  Vollends 
gewonnenes  Spiel  hat  der  Versucher  aber  erst  mit  seinem  zweiten 
Argument:    Im    Sandrevier    des    gläubigen    Berlin    werde    Bauer 


86  Bßj  *^^n  Junghegelianern  in  Berlin. 

nimmer  den  Frohsinn  aufbringen,  um  frank  und  frei  den  Unter- 
gang des  Glaubens  zu  verkünden.  Nach  Bonn,  an  den  stolzen, 
grünen  Rhein  wolle  er  ihn  schaffen ;  der  Saft  der  Reben  werde  ihm 
dort  helfen,  auf  den  Trümmern  der  zerstörten  alten  Schranken  den 
freiesten  Gedanken  den  Altar  zu  erbauen. 

In   Bonn  stiftet  der    ,, tolle   Bauer",  der   vom   Katheder  alles 
verkündet,  was  der  Teufel  ihm  einbläst,  alsbald  den  tollsten  Un- 
frieden zwischen  den   Frommen  und  den   Ungläubigen,  zwischen 
Studenten    und    Professoren.      Sack,    das    frommste    Mitglied    der 
frommsten  aller  damaligen  Fakultäten,  der  eifrigste  Gegner  Bauers, 
erhält,  ein  zweiter  Bileam,  durch  den  Mund  seiner  Eselin  den  gött- 
lichen  Auftrag,   in   diesem   Streite   den   Schiedsrichter   zu  spielen. 
Währenddessen  sitzen    in  Leipzig  Arnold  Rüge,  der   Herausgeber, 
Otto    Wigand,    der     Verleger,    und     Robert     Prutz,     der    Dichter 
der  eben  aus  Preußen  verwiesenen  Halleschen  Jahrbücher  in  ge- 
drückter Stimmung  beisammen,  um  über  das  fernere  Schicksal  der 
Zeitschrift  einen  Beschluß  zu  fassen.  Schon  will  Rüge  sich  bescheiden, 
künftig  nur  noch  den  Musenalmanach  herauszugeben,  schon  will  Wi- 
gand bloß  noch  sanftmütige  Belletristik  verlegen  und  der  Dichter  des 
,, Rhein"  nur  noch  Liebeslieder  girren.   Da  bringt  Mephisto  Rat  und 
Hilfe:  Sie  sollten  das  Blatt  in  Deutsche  Jahrbücher  umtaufen;  dann 
werde  es  auch  fernerhin  für  die  Verbreitung  der  Gottlosigkeit  seine 
Segens  volle  Wirksamkeit  fortsetzen  können.  Zwar  kommt  auch  Sack 
auf  seiner  Eselin  geritten,  um  sie  zu  mahnen,  sich  vor  Gottes  Thron 
zu  demütigen,  da  der  Herr  sie  sonst  Hengstenberg  und  seinen  frommen 
Scharen  zum  Fräße  vorwerfen  würde.   Doch  Mephistos  Wort  findet 
Anklang:  alle  Freien,  ,,Germaniens  Auswurf"  ruft  Rüge  nun  zu  den 
Waffen  auf  gegen  die  weltverdunkelnde  Romantik,  die  das  kleine 
Wörtchen  ,,frei"  von  der  Erde  vertilgen  wolle ;  und  zu  einem  Kongreß 
nach  Bockenheim  —  weshalb  wohl  just  nach  Bockenheim  ?  —  folgen 
seinem    Manifest    die    Freien   aus   allen    Gegenden    Deutschlands. 
Die    frechsten,    Atheisten    schlimmer     als     Jakobiner,    entsendet 
Berlin:  den  Schulbakel  in  der  Hand,  die  Brille  auf  der  Nase,  kommt 
Koppen,  den   nur    Rüge    verdorben   habe,  einher  mit  dem  kleinen 
Meyen,   ,,der  schon  seit  Mutterleib  täglich  den  Voltaire  liest". 
,,Doch  der  am  weitsten  links  mit  langen  Beinen  toset, 
Ist  Oswald,  grau  berockt  und  pfefferfarb  behoset. 
Auch  innen  pfefferhaft,  Oswald,  der  Montagnard, 
Der  wurzelhafteste  mit  Haut  und  auch  mit  Haar. 
Er  spielt  ein  Instrument:  das  ist  die  Guillotine, 
Auf  ihr  begleitet  er  stets  eine  Cavatine; 
Stets  tönt  das  Höllenlied,  laut  brüllt  er  den  Refrain: 
Formez  vos  bataillons!    Aux  armes,  citoyens!" 


Das  christliche  Heldengedicht.  87 

Neben  ihm  rast  ,,der  Blutdurst  selbst"  Edgar  Bauer,  ,,von  außen 
Modemann,  von  innen  sanscülottig".  Auch  Stirner,  der  Verächter 
von  Satzung  und  Gesetz,  ist  bei  der  Schar  und  übertrumpft  die  ande- 
ren, die  nur  erst  „ä  bas  les  rois"  rufen,  bereits  mit  seinem  ,,4  bas 
aussi  les  lois".  Hinter  ihm  trippelt  sein  nächster  Freund,  der  seifen- 
scheue und  blutscheue  Ludwig  Buhl  einher,  in  politischen  Fragen 
der  unterrichtetste  Kopf  des  Kreises,  aber  ,,von  innen  schmeidig- 
zart"  und  nur  ,,von  außen  Sansculott".  Sie  alle  führt  jetzt  dem 
bedrängten  Bauer  zur  Hilfe  Arnold  der  Wilde,  der  ,, Atheisten- 
zar** Rüge.  In  Qualm  und  Höllenschauer  gehüllt  tost  der  Verfolgte 
ihnen  entgegen ;  als  Fahne  schwingt  er  einen  Bogen  seiner  ,, Schmach- 
kritik der  Bibel".    Aber 

,,Wer   jaget  hinterdrein  mit  wildem   Ungestüm? 
Ein  schwarzer   Kerl  aus  Trier,  ein  markhaft  Ungetüm. 
Er  gehet,  hüpfet  nicht,  er  springet  auf  den  Hacken 
Und  raset  voller  Wut  und  gleich,  als  wollt'  er  packen 
Das  weite  Himmelszelt,  und  zu  der  Erde  ziehn. 
Streckt  er  die  Arme  sein  weit  in  die  Lüfte  hin. 
Geballt  die  böse  Faust,  so  tobt  er  sonder  Rasten, 
Als  wenn  ihn  bei  dem  Schopf  zehntausend  Teufel  faßten." 
Dem  künftigen  Lebensfreund,  den  er  noch  nicht  persönlich  kennt 
und  den  er  hier  deshalb  so  abschildert,  wie  er  unter  den  Freien, 
die    ihn    bewunderten,    damals    noch    fortlebte,    folgen    ,,patrizier- 
mäfl'gen  Gangs"  der  Kölner  Georg  Jung,  der  Gerant,  und   pfeife- 
rauchend   und    keifend    der    beiden    Bauer    Schwager    Rutenberg, 
dieser  von  der  Zensur  so  überschätzte  Redakteur  der  Rheinischen 
Zeitung.  Zuletzt  naht  noch  aus  Süden  mutterseelenallein  ,,er  selbst 
ein  ganzes  Heer  von  frechen  Atheisten",  ,,ein  grauses  Meteor  um- 
wallt von   Höllendüften",    von  den    Freien  m.it  brüllendem  Jubel 
empfangen    —    Ludwig    Feuerbach.     Wie   es    bei    ihnen    Gewohn- 
heit ist,  schleppen  diese  ihn  sofort  in  ihre  Kneipe,  wo  zunächst  ein 
Toben  losgeht,  dem  der   ,, ordnungsfrohe"  Koppen  vergebens  Ein- 
halt   gebietet.     Die    lautesten   Brüller    sind    Oswald    und    Edgar; 
längst  genügen  ihnen  nicht  mehr  die  Worte,  sie  springen  auf  den 
Tisch  und  verlangen  schreiend  Taten  voll  Kraft  und  Mark.    Ein 
vwldes  Bravo  der  tollen  Schar  begleitet  ihren  Ruf.    Nur  Rüge,  der 
inzwischen  in  Seelenruhe  drei  Beefsteaks  verspeist  hat,  lacht  spöt- 
tisch über  ihre   Forderung,  denn  seine  Ansicht  ist,  daß  noch  für 
lange  Zeit  die  Worte  die  Taten  ersetzen  müßten  und  daß  Geduld 
nötig  sei,  bis  sich  die  Praxis  von  selbst  hinter  die  Abstraktion  stel- 
len würde.   Aber  Oswald  und  Edgar   ,,in  ihrem  Tatenfeuer"  heben 
jetzt  den  tollen  Bruno  auf  einen  Stuhl,  da  brüllt  und  rast  er ;  Marx, 
,,das    Ungetüm",    klettert    auf    Rutenbergs    —     der     Rheinischen 


88  Bei  den  Junghegelianem  in  Berlin. 

Zeitung  —  Schultern,  und  sie  beide,  Bruno  Bauer  und  Marx, 
bedrängen  von  hier  aus  schreiend  Rüge  mit  der  Frage,  wie  lange 
er  noch  meine,  ihren  Durst  bloß  mit  Worten  stillen  zu  können. 
Er  müsse  doch  einsehen,  daß  die  Frommen  sich  zum  Angriff  rüsteten, 
und  daß  ihre  Zweieinigkeit  mit  der  Polizei  nicht  weniger  gefährlich 
sei  als  die  Dreieinigkeit.  Feuerbach,  der  Einsiedler,  schätzt 
Beratungen  und  Vereine  gering;  ihm  dünkt  es  am  würdigsten,  wenn 
der  freie  Mann  für  sich  allein  handelt.  Anders  als  der  Franke 
urteilt  der  Märker  Koppen,  der  Verehrer  Friedrichs  des  Großen. 
Er  preist  die  Organisation,  die  der  Unordnung  wehre  und  Blut- 
vergießen verhindere.  Solche  Worte  tragen  ihm  bei  Edgar  und 
Oswald  den  Namen  eines  verfluchten  Girondisten  ein,  der  sich 
zu  Unrecht  als  Atheisten  ausgebe.  Doch  der  ,, würdevolle"  Stirner 
will  nicht  zulassen,  daß  man  durch  Brüllen  den  Willen  eines  Men- 
schen binde.  Er  erhebt  gegen  Oswald  und  Edgar  den  Vorwurf, 
daß  sie,  da  sie  so  verführen,  noch  zu  sehr  in  die  Sklaverei  eingelebt 
seien.  Wie  der  höllische  Kongreß  bei  dem  immer  lauter  werdenden 
Streit  in  völliger  Verwirrung  auseinanderzugehen  droht,  erscheint 
durch  die  Luft  auf  einem  aus  Exemplaren  der  Deutschen  Jahr- 
bücher zusammengeklebten  Fluggerät  Wigand  und  ermahnt  die 
Schar,  sich  an  der  Einigkeit  und  Stille,  die  im  nahen  Frankfurt,  am 
Sitz  des  Bundestages,  herrsche,  ein  Beispiel  zu  nehmen.  Falls  sie 
aber  glaubte,  der  Freie  könne  „nicht  bestehen,  wo  des  Bundes  Winde 
wehen",  so  mögen  sie  ihm  nach  Leipzig  folgen,  wo  er,  der  Verleger 
der  deutschen  Opposition,  die  schönsten  papierenen  Batterien  auf- 
getürmt habe,  die  kein  Frommer  erstürmen  könne.  Der  Vorschlag 
findet  Anklang,  und  alle  folgen  ihm;  nur  Feuerbach  schlägt  sich 
abseits  in  die   Büsche. 

Während  dessen  hatten  die  ,, Feinen"  und  ,, Auserwählten" 
ihre  Sammlung  in  Halle  vollzogen,  am  Wohnorte  Heinrich  Leos, 
des  grimmigsten  Feindes  der  Hegelingen.  Hier  halten  sie  ihre  An- 
dacht ab.  Erst  singen  sie  das  erbauliche  Lied:  ,,0  Herr,  wir  sind 
vor  Dir  ein  Aas,  ein  Pestgestank,  ein  Rabenfraß,  im  Schinderloch 
der  Sünden."  Nach  einem  hektischen  Schuster,  der  den  Weltunter- 
gang ankündigt,  predigt  Leo  gegen  die  Göttin  der  Vernunft,  die 
große  Hure  von  Babylon,  gegen  die  Revolution;  Bauer  vergleicht 
er  mit  Robespierre,  Rüge  mit  Danton,  Feuerbach  mit  Marat  und 
er  mahnt  die  Frommen,  zu  beten,  zu  beten.  Im  rechten  Augen- 
blick erscheint  wieder  auf  seiner  Eselin  Sack,  um  zu  verkünden» 
daß  Gott  ihm  befohlen  habe,  den  heiligen  Krieg  zu  predigen  gegen 
des  Teufels  List  und  Trug,  der  sich  hinter  Wigands  Bücherballen 
verschanzt  habe.  Wollten  die  Fürsten  und  die  Reichen,  in  irdischer 
Lust  befangen,  auf  ihn  nicht  hören,  so  sollten  die  Armen,  die  Blin- 


Schilderung  der  Freien  und  ihrer  Gegner.  g^ 

den,  die  Krüppel  ihm  und  ihrem  Hauptmann  Leo  in  die  letzte 
Schlacht  folgen.  Der  Höllenmeute  der  Freien,  die  Bruno  Bauer 
ungestraft  „auf  Gottes  Pfaden"  durch  die  Luft  nach  Leipzig  führt,, 
war  Wigand  dorthin  vorausgeeilt,  um  sein  Haus,  den  ,, Guten- 
berg", in  aller  Eile  in  eine  Festung  umzuwandeln.  Seine  Bastionen 
sind  die  Ballen  verbotener  Verlagsartikel,  besonders  die  Werke 
Feuerbachs  und  Bruno  Bauers.  Die  Fahne  der  Frommen,  die 
zum  Angriff  von  Halle  her  heranziehen,  ist  die  Feuersäule,  und 
für  den  Sturm  führen  sie  Jacobs  Himmelsleiter  mit  sich.  Alle  Gegen- 
den Deutschlands,  wo  der  Glauben  noch  blüht,  sind  in  ihrem  Heer 
vertreten:  die  Bremer  führt  Pastor  Mallet,  dessen  Fehde  gegen 
die  liberalen  Prediger  Engels  früher  in  einem  Brief  an  die  Brü- 
der Graeber  parodiert  hatte,  die  Berliner  kommandiert  Hengsten- 
berg, die  Bonner  Nilzsch,  die  Züricher  Strauß  Gegner  Hirzl,  die 
Wuppertaler  natürlich  Krummacher.  Sack  auf  seiner  Eselin 
stürmt  mit  dem  Schlachtruf  der  Pietisten  ,,Hie  Schwert  des 
Herrn  und  Gideon"  als  der  erste  gegen  die  Schanzen  der  Gott- 
losen an,  ihm  folgten  die  anderen.  Tapfer  verteidigen  sich  die 
Freien:  Stirner  wirft  ganze  Ballen  von  Büchern  herab,  die  auf 
die  Frommen  betäubend  wirken,  Rüge  schleudert  ihnen  Bände 
seiner  Jahrbücher  ins  Gesicht,  der  tolle  Bruno  schwingt  die  Posaune; 
,,aus  sicherem  Ort,  wo  ihn  kein  Wurf  bedroht"  wirft  Buhl  rück- 
lings Broschüren  ins  Feld ;  selbst  während  er  wütend  ficht,  bleibt 
Koppen  besorgt,  daß  er  kein  Blut  vergieße,  Edgar  streitet  mit 
Brauerkraft,  Oswalds  Rock  färbt  sich  rot  vom  Blute,  Marx  rast 
und  reckt  die  Glieder  zum  Kampfe.  Aber  alle  Anstrengung  bleibt 
umsonst,  immer  näher  erklingt  das  Halleluja  der  Angreifer.  Schon 
flohen  Buhl  und  Koppen,  Wigand  wurde  von  Hengstenberg  der 
Bart  ausgerissen,  und  Rüge  und  Edgar  sind  in  harter  Bedrängnis^ 
Fast  allein  kämpft  Bruno  noch  rasend  fort  und  wirft  mit  einem 
Bücherballen  glücklich  Sack  zur  Erde.  Da  aber  reist  Leo  als  ein 
zweiter  Simson  die  Säulen  der  ganzen  Bücherbastion  ein,  er  selbst 
stürzt  und  mit  ihm  Bruno  Bauer ;  diesen  bindet  man,  und  Sack,  der 
wieder  vom  Boden  aufgesprungen  ist,  soll  ihn  bewachen.  Inzwischen 
erstürmen  die  Frommen  vollends  die  Burg  der  Freien,  denen 
die  Munition  ausgegangen  ist. 

Doch  als  der  Teufel,  der  hinter  den  Ballen  des  ,, Gutenberg" 
die  Gottlosen  angefeuert  hatte,  jetzt  klagend  in  seinen  Höllen- 
pfuhl flüchtet,  wird  ihm  dort  ein  schlimmer  Empfang  zuteil. 
Hegel  und  seine  Gefährten  verspotten  ihn  nämlich,  weil  er  ohne 
seinen  Schwefeldampf  wirken  zu  lassen,  vor  einem  Amen  davon- 
gelaufen wäre.  Nun  gibt  es  für  die  in  der  Hölle  keinen  Halt  mehr; 
sie    eilen    nach    Leipzig,    um    den    Freien    zu    helfen.      An  ihrer 


^O  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

Spitze  schreitet  Hegel.  Immer  hatte  er  sich  von  seinen  Schülern 
unverstanden  gefühlt;  jetzt  umarmt  er  Bruno,  den  Marat  befreit 
hat,  und  gesteht  ihm:  ,,Ja,  du  hast  mich  gefaßt,  du  bist  mein 
lieber  Sohn."  Weil  der  Teufel,  diese  ,, mythische  Person",  sich  nicht 
Manns  genug  erwiesen  hat,  soll  Bruno  hinfort  die  Führung  im 
Kampfe  gegen  die  Frommen  übernehmen  und  Oberteufel  werden 
Alsbald  wendet  sich  das  Blatt,  die  Pietisten  fliehen.  Sack  auf  seiner 
Eselin  voraus,  dem  Himmel  zu,  und  die  Höllenmeute  der  Hegelingen 
folgt  ihnen  brüllend  nach.  Der  Teufel  aber,  erschreckt,  weil  die 
Freien,  seine  Geschöpfe,  ihn  als  mythische  Person  beiseite 
schieben,  hält  es  nun  für  klüger,  sich  mit  Gott  auszusöhnen  und 
zu  verbünden.  Der  Herr  in  seiner  Güte  verspricht  ihm  Verzeihung, 
wenn  er  sich  im  Blute  der  Lästerer  die  Hände  reinige.  Von  neuem 
eilt  Mephisto  fort,  diesmal  um  den  Frommen  zu  helfen  gegen  die 
Freien,  die  den  Himmel  zu  stürmen  drohen.  Schon  ist  Bruno 
Bauer  von  Stern  zu  Stern  fortgestürmt,  ohne  daß  die  Evangelisten, 
die  sich  ihm  in  den  Weg  stellten,  ihn  zurückhalten  konnten.  Über 
den  Wolken  schweben  auch  bereits  die  der  Hölle  entsprungenen 
Revolutionäre:  Hegel  versengt  mit  seinem  Feuerbrand  die  Flügel 
der  Engel,  und  Voltaire  droht  ihnen  mit  feurig  rotem  Flegel;  die 
Kirchenväter  verbleut  Rüge,  aber  Bruno  Bauer  schlägt  mit  seiner 
Posaune  nicht  nur  den  Erzengel  Michael  sondern  auch  den  Teufel 
zu  Boden.  Dem  wilden  Marx  hält  das  heilige  Lämmlein  das  Kreuz 
entgegen,  ,,der  aber  ballt  die  Faust  und  droht  mit  grimmen  Schlä- 
gen". Nun  verläßt  auch  Maria  ihr  Heiligtum,  sie  will  die  Engel 
zum  Widerstände  gegen  den  Titanen  Bauer  anfeuern,  dessen  sieg- 
reiche Schar  der  Wohnung  des  Herrn  immer  näher  rückt.  Die 
Not  des  Glaubens  hat  ihren  höchsten  Gipfel  erreicht;  da  kommt 
von  Himmelsglanz  umgeben  gelinde  durch  die  Luft  ein  einfach 
Pergamen  geschwebt,  vor  Bauer  fällt  es  nieder  und  der  erbleicht 
darob.  Was  konnte  auf  diesem  Pergamen  stehen  ?  Das  einzige 
Wort:  ,,Abgesetzt!"  Wie  die  Freien  dieses  vernehmen,  geraten 
ihre  Scharen  ins  Wanken,  Grausen  packt  sie  und,  von  den  jauch- 
zenden Engelchören  verfolgt,  fliehen  sie  zur  Erde  zurück.  Die 
Bibel  ist  gerettet,  der  Glaube  hat  triumphiert! 

So  anschaulich  wie  nur  die  packendste  direkte  Beschreibung 
es  vermocht  hätte,  führt  uns  dieses  rebellische,  von  Geist  und  Laune 
sprühende  Pamphlet  die  Berliner  Freien  mitsamt  ihren  auswärtigen 
Bundesgenossen  und  Beschützern  so  vor,  wie  Engels  sie  sah  und 
bewertete,  damals  als  er  selbst  sich  ihnen  zurechnete.  Auch  ihm 
gilt  noch  Bruno  Bauer  als  das  unbestrittene  Oberhaupt  jenes  äußer- 
sten Flügels  der  Hegeischen  Linken,  der  über  den  Standpunkt  der 
Deutschen  Jahrbücher  schon  hinausstrebte,  weil  diese  die  Revolu- 


Das  Hindrängen  zur  Tat.  91 

tion,  die  sich  im  Reich  der  Theorie  vollzogen  hatte,  noch  zu  sehr 
als  esoterischen  Besitz  der  wissenschaftlichen  Welt  betrachteten. 
Arnold  Rüge,  der  vierschrötige  Pommer,  wird  von  Engels  mit 
leichter  Ironie  portraitiert;  er  selbst  läßt  uns  keinen  Zweifel,  daß 
er  mit  seiner  Sympathie  bei  denen  weilt,  die  einen  noch  entschie- 
deneren Standpunkt  einnehmen.  Vollends  als  Girondisten  schildert 
er  Koppen  und  Buhl,  deren  persönlichen  Mut  er  unter  Scherzen 
in  Zweifel  zieht.  Jedoch  auch  Stirner,  der  in  der  Theorie  an  Radikalis- 
mus alle  überbot,  durchschaut  er  bereits  bis  auf  den  Grund  und  ist 
völlig  überzeugt,  daß  dieser  vorsichtige,  gesetzte  Herr,  wenn  es 
einmal  Ernst  werden  sollte,  sich  nicht  exponieren  werde.  In  Feuer- 
bach sieht  er  noch  eine  einsame,  ungesellige  Größe,  die  am  besten 
aus  der  Ferne  verehrt  wird.  Der  Bergpartei,  die  den  revolutionären 
Gedanken  je  schneller  um  so  lieber  in  die  Tat  umsetzen  möchte, 
rechnet  er  Bruno  und  Edgar  Bauer,  Karl  Marx  und  sich  selbst  zu. 

Von  den  Männern  der  Rheinischen  Zeitung  nennt  Engels  neben 
Marx  noch  Georg  Jung  und  Rutenberg,  aber,  das  ist  beachtenswert, 
nicht  Moses  Heß.  Denn  dieser,  den  man  mit  einigem  Recht  den 
Vater  des  deutschen  Sozialismus  genannt  hat,  war  auf  anderen 
Wegen  als  die  Hegelingen  zu  der  Erkenntnis  gelangt,  daß  es  Zeit 
sei,  die  Freiheit  aus  der  Wissenschaft  in  die  Wirklichkeit  zu  über- 
tragen. Keiner  hat  vor  ihm  mit  gleich  deutlichen  Worten  aus- 
gesprochen, daß  die  idealistische  Philosophie,  selbst  in  ihren  fort- 
geschrittensten Vertretern,  hinter  dem  Leben  zurückgeblieben  sei 
und  daß  sie  allein  im  Kommunismus  ihre  notwendige  Ergänzung 
und  ihr  logisches  Ergebnis  finden  könne.  Das  andere  Gefühl 
war  verbreiteter,  daß  ebenso  wie  die  große  Zeit  der  deutschen  Dich- 
tung sich  ihrem  Ende  zuneige,  auch  die  Vorherrschaft  der  Philo- 
sophie einer  politischen  Epoche  das  Feld  zu  räumen  habe.  Das 
„Sprödetun  der  Idee  gegen  die  Wirklichkeit"  rügte  selbst  Carl 
Biedermann,  als  er  1841  im  Freihafen  die  deutsche  Philosophie 
in  ihrer  Stellung  zum  öffentlichen  Leben  und  zur  modernen  Gesell- 
schaft einer  Kritik  unterzog.  Und  der  Stimmung,  daß  man  sich 
an  Worten  übersättigt  habe  und  der  „sachlichen  Welt"  zustreben 
müsse,  gab  Gervinus  in  der  Widmung  des  vierten  Bandes  seiner 
Literaturgeschichte  an  Dahlmann  programmatischen  Ausdruck. 
Wie  Engels  seit  seiner  Knabenzeit  Jung-Siegfried,  so  feierte  dieser 
Shakespeares  Heinrich  Percy  als  „das  göttliche  Abbild  des  Mannes 
von  rein  handelnder  Natur". 

Diese  Erkenntnis,  daß  zwischen  Worten  und  Taten  noch  ein 
weiter  Abgrund  klaffte,  konnte  sich  in  der  Unfreiheit  des  Vor- 
märz, die  beide  fast  gleichmäßig  unterband,  leicht  verwischen. 
Schon  das  junge  Deutschland  war,  obgleich  es  zur  Tat  aufgerufen 


92  Bei  den  Junghegelianem  in  Berlin. 

hatte,  bei  den  Worten  stehen  geblieben.  Engels  war  diese  Schwäche 
der  von  ihm  gefeierten  Bewegung  nicht  verborgen  geblieben.    In 
seiner  Seele  lebte   mehr   von   dem   Geist  Georg  Büchners   als   von 
dem    Gutzkows    und    Laubes.     Endgültigen    Abschied   von   dieser 
Gruppe  nahm  er  im  Juli  1842.     In  einem  Aufsatz  der  Deutschen 
Jahrbücher  erhob  er  in  aller  Form  die  Forderung,  daß  der  ästhe- 
tische Gesichtspunkt  vor  dem  Kampf  der  Prinzipien  und  der  poli- 
tischen Bewegung  zurückzutreten  habe.   Den  Anstoß  zu  diesem  zeit- 
gemäßen  Verlangen,   daß   „das   bißchen   Literatur"   künftig  nicht 
mehr     über  wertet    werden    sollte,    gaben     ihm    Vorlesungen    des 
Herausgebers    des    Königsberger    Literaturblatts    Alexander    Jung 
Über   die   moderne  Literatur   der    Deutschen.    Wie  später  Lassalle 
in    Julian    Schmidt,   so    bekämpfte    Engels    in    dem    Königsberger 
Ästhetiker  die   „Schlaffheit  und   Erbärmlichkeit"  einer  ewig  ver- 
mittelnden und  die  Prinzipien  abstumpfenden  Literaturbewertung, 
die  den  auf  Klärung  und  scharfe  Auseinandersetzung  hindrängenden 
Naturen  der  beiden  Sozialisten  in  gleichem  Maße  ein  Greuel  war. 
Wegen  seines  ewigen  Bekomplimentierens  der  „Modernen"  brand- 
markt er  den  sonst  nicht  verdienstlosen  Jung  als  einen  literarischen 
Kuppler.    „Was  geht  das  die  Literatur  an",  ruft  er  aus,  ,,ob  dieser 
oder  jener  ein  bißchen  Talent  hat,  hier  und  da  eine   Kleinigkeit 
leistet,  wenn  er  sonst  nichts  taugt,  wenn  seine  ganze   Richtung, 
sein   literarischer    Charakter,  seine   Leistungen   im   Großen  nichts 
wert  sind  ?    In  der  Literatur  gilt  jeder  nicht  für  sich  ,  sondern  nur 
in  seiner  Stellung  zum  Ganzen.    Wenn  ich  mich  zu  einer  solchen 
Art  hergeben  wollte,  so  müßte   ich  auch  mit  Herrn  Jung  selbst 
glimpflicher  verfahren,  weil  vielleicht  fünf  Seiten  in  diesem  Buch 
nicht  übel  geschrieben  sind  und  einiges  Talent  verraten."    Engels 
rechnete  Jung,  diesen  ,, marklosen,  sehnsüchtigen  Geist",  der  nur 
,,in  der  Unterwerfung  unter  fremde  Autorität"  sich  befriedigt  fin- 
det, jener  konservativ-liberalen  Richtung  zu,  die  über  die  ,, greu- 
liche   Negation"   der   Junghegelianer   klagte,   nach   dem   positiven 
Messias  schrie  und  ihn  in  Schelling  gefunden  zu  haben  glaubte. 
Solche  ,, Amphibien  und  Achselträger"  waren  ihm  schon  unerträg- 
lich, weil  sie  nicht  einzugestehen  wagten,  daß  die  von  ihnen  ver- 
schriene Negation  auch  ihre  sehr  positiven  Seiten  habe.    In  seinen 
Augen  war  jeder  Fortschritt  negativ  nur  für  den,  der  das  Vernünf- 
tige, weil  es  sich  bewege  und  niemals  stille  stehe,  nicht  für  positiv 
ansehen  wollte,  und  dessen  kraftloses  Epheugemüt  eine  alte  Mauer- 
ritze, ein  Faktum  nötig  hatte,  um  sich  daran  festzuhalten.    Noch 
war   ihm   „der  Gedanke    in  seiner   Entwicklung  das  allein   Ewige 
und  Positive",  die  ,, Äußerlichkeit  des  Geschehens"  bloß  das  ,, Nega- 
tive, Verschwindende  und  der  Kritik  Anheimfallende".    So  bejahte 


Der  Rheinländer  gegen  das  Preußentum.  93 

er  hier  die  viel  umstrittene  Frage,  ob  das  Negative  zugleich  positiv 
sein  könne,  ebenso  entschieden  wie  in  den  Spalten  derselben  Zeit- 
schrift damals  der  junge  Bakunin.  Besser  als  Jungs  kamen  bei  ihm 
Walesrodes  Königsberger  Vorlesungen  über  Glossen  und  Rand- 
zeichnungen zu  Texten  aus  unserer  Zeit  fort,  die  er  im  Mai  in  der 
Rheinischen  Zeitung  anzeigte.  Doch  mißfiel  ihm  an  diesen,  daß 
sie  sich  nicht  kräftig  genug  von  dem  Hintergrund  einer  großan 
Weltanschauung  abhöben,  ,,weil  sich  in  einer  solchen  zuletzt  aller 
Spott  und  alle  Negation  zur  vollsten  Befriedigung  auflöst". 

Die  Gewißheit,  daß  der  positive  Kern  in  der  Überzeugung 
der  entschiedenen  Opposition,  der  er  sich  zuzählte,  einer  unaufhalt- 
samen Entfaltung  entgegenging,  erfüllte  Engels  mit  Siegeszuversicht 
auch  für  den  Kampf  gegen  die  feudale  Weltanschauung,  die  in 
Prtuß  n  tbn  noch  einmal  alle  Macht  an  sich  reißen  wollte. 

Dam  Einfluß  Börnes  hingegeben,  war  Engels,  wie  wir  erkannten, 
schon  als  er  Bremen  verließ,  ein  R  volutionär,  der  das  Vertrauen 
verloren  hatte,  daß  die  freiheitliche  Umgestaltung  Deutschlands 
sich  auf  friedlich2m  Wege  vollziehen  werde.  Wo  er  sich  als  Deut- 
sch3r  fühlte,  empfand  er  zeit  seines  Lebens  als  der  Sohn  eines  älteren 
Kulturgebietes,  der  mit  Mißtrauen  und  unverhohlenem  Wider- 
willen auf  das  Preußentum  herabblickte.  Schon  als  Knabe  ver- 
absche  te  er  die  ,, kalte  herzlose  Bureaukratie**,  die  den  Rhein- 
länder sein  schriftliches  und  geheimes  Gerichtsverfahren,  auf  das 
er  stolz  war,  nicht  ungestört  genießen  lassen  wollte.  Wir  erinnern 
uns  des  Hasses,  mit  dem  er  in  seinen  Briefen  aus  Bremen  den  alten 
König  bedachte,  weil  dieser  sein  dem  Volke  feierlich  gegebenes 
Verfassungs versprechen  gebrochen  und  alle  in  den  Tagen  der  Not 
geweckten  Hoffnungen  so  grenzenlos  enttäuscht  hatte.  Diese 
Abneigung  verstärkte  seines  rheinischen  Landsmanns  Venedey 
Pamphlet  Preußin  und  das  Preußentum.,  das  ihm  in  Bremen 
bald  nach  dem  Erscheinen  in  die  Hände  gefallen  war.  Dasselbe 
wollte  einen  Unterschied  zwischen  Borussentum  und  Russentum 
nur  insofern  anerkennen,  als  das  letztere  noch  die  Knute  schwang. 
Erinnern  wir  uns,  daß  der  einstige  Herausgeber  des  Geächteten, 
dem  sein  langer  Aufenhalt  in  Frankreich  den  Blick  für  die  sozialen 
Klassengegensätze  geschärft  hatte,  auch  die  inneren  Zustände 
Preußens  hier  unter  diesem  für  Engels  noch  neuen  Gesichtspunkt 
betrachtete  und  von  der  preußischen  Regierung  behauptete,  daß 
sie  den  reichen  Kaufleuten,  den  Gelehrten  und  den  adligen  und 
nichtadligen  Gutsbesitzern  an  der  Ausbeutung  der  großen  Massen 
teilzunehmen  gestatte.  Aber  nicht  alles,  was  Venedeys  Schrift  der 
sozialistischen  Gedankenwelt  entnahm,  hat  Engels  sich  damals 
in  Bremen  als  Besitz  angeeignet.    Sein  Brief  an  Fritz  Graeber  vom 


94  Bei  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

29.  Oktober  1839  faßt  zusammen,  was  ihm  als  der  Kern  erschien; 
,, Begünstigung  der  Geldaristokratie  vor  den  Armen,  Streben  nach 
fortwährendem  Absolutismus  und  die  Mittel  dazu:  Unterdrückung 
der  politischen  Intelligenz,  Verdummung  der  Volksmehrzahl,  glän> 
zendes  Außenwesen,  Renommisterei  ohne  Grenzen,  und  der  Schein, 
als  begünstige  er  die  Intelligenz".  Das  begeisterte  Eintreten  der 
Hallischen  Jahrbücher  und  ihres  Kreises  für  den  „Staat  der  Zu- 
kunft" hatte  Engels  in  seiner  Abneigung  gegen  Preußen  so  wenig 
irre  gemacht  wie  in  seiner  republikanischen  Überzeugung.  Wir  ent- 
sinnen uns,  wie  er  an  Immermanns  altpreußischer  und  an  E.  M. 
Arndts  stramm  monarchischer  Gesinnung  Anstoß  nahm. 

An  dem  neuen  Kurs  in  Preußen  erbitterte  ihn  vielleicht  am 
meisten  ,,die  Begünstigung  aller  sogenannten  historischen  Keime". 
Engels  lehnte  von  Anfang  an  und  grundsätzlich  alles  ab,  was  in  der 
Sprache  der  historischen  Rechtsschule  redete.  Für  die  ,, sophistischen 
Goldflitter'*  der  organischen  Staatsauf fassung  und  für  die  Forde- 
rungen, die  man  an  sie  knüpfte,  fehlten  ihm  Sinn  und  Verständnis. 
Die  ,, Phrasen"  von  historischer  Entwicklung,  Organismus,  Benut- 
zung der  gegebenen  Momente  hielt  er  für  nichts  als  schöne  Worte, 
die  es  mit  ihrer  eigenen  Bedeutung  nicht  ernstlich  meinten.  Eine 
besonders  schmähliche  Sophisterie  sah  er  darin,  daß  mit  dem  Be- 
griff des  organischen  Staats  bereits  das  ganze  Ständewesen,  also 
auch  die  Vorherrschaft  des  Adels  und  alles  was  daran  hing,  für  ge- 
geben erachtet  wurde.  ,, Nicht  die  Anhänger  der  Ständeteilung", 
heißt  es  in  dem  Aufsatz  über  Ernst  Moritz  Arndt,  ,,wir,  ihre  Gegner, 
wir  wollen  organisches  Staatsleben.  Es  handelt  sich  vorläufig  gar 
nicht  um  die  Konstruktion  aus  der  Theorie ;  aber  es  handelt  sich 
um  das,  womit  man  uns  blenden  will,  um  die  Selbstentwickelung  der 
Nation.  Wir  allein  meinen  es  ernstlich  und  aufrichtig  mit  ihr; 
aber  jene  Herren  wissen  nicht,  daß  aller  Organismus  unorganisch 
wird,  sobald  er  stirbt;  sie  setzen  die  toten  Kadaver  der  Vergangen- 
heit mit  ihren  galvanischen  Drähten  in  Bewegung  und  wollen  uns 
aufbinden,  das  sei  kein  Mechanismus,  sondern  Leben.  Sie  wollen 
die  Selbstentwicklung  der  Nation  fördern  und  schmieden  ihr  den 
Klotz  des  Absolutismus  ans  Bein,  damit  sie  rascher  voran  kommt. 
Sie  wollen  nicht  wissen,  daß  das,  was  sie  Theorie,  Ideologie  oder 
Gott  weiß  wie  nennen,  längst  in  Blut  und  Saft  des  Volkes  über- 
gegangen und  zum  Teil  schon  ins  Leben  getreten  ist ;  daß  damit  nicht 
wir,  sondern  sie  im  Utopien  der  Theorie  herumirren.  Denn  das,  was 
vor  einem  halben  Jahrhundert  allerdings  noch  Theorie  war,  hat 
sich  seit  der  Revolution  als  selbständiges  Moment  im  Staatsorganis- 
mus ausgebildet." 

Längst  bevor  er  nach   Berlin  kam,  forderte   Engels  mit  den 


Gegen  die  historische  Schule.  g^ 

Liberalen  „eine  große,  einige,  gleichberechtigte  Nation  von  Staats- 
bürgern". Hier  hatte  ihn  in  den  ersten  Monaten  seines  Aufent- 
halts seine  Aktion  gegen  Schelling  und  für  Bruno  Bauer  in  Atem 
gehalten.  Als  aber  um  die  Jahreswende  auf  1842  das  schon  er- 
wähnte liberale  Zensuredikt,  zu  dem  der  König  sich  nach  vielem 
Zögern  entschlossen  hatte,  die  Handhabe  bot,  den  Kampf  für  Frei- 
heit und  Selbstbestimmung  aus  der  esoterischen  Sphäre  der  Theorie 
in  das  Volk  hinauszutragen,  da  war  es  ganz  selbstverständlich, 
daß  er  wie  die  anderen  die  Tagespresse  für  die  Verbreitung  seiner 
Ideen  in  Anspruch  nahm.  Was  er  damals  für  die  Königsberger 
Zeitung  geschrieben  hat,  kann  nicht  erheblich  gewesen  sein.  Aber 
er  wurde  auch  Mitarbeiter  der  Rheinischen  Zeitung,  dieses  ersten 
großen,  über  die  provinziale  Beschränktheit  weit  hinausstrebenden,, 
oppositionellen  Tageblatts,  das  in  Preußen  erscheinen  konnte.  Man 
weiß,  wie  schnell  dessen  Herrlichkeit  vorüberging,  als  hier  Marx 
dem  König  Dinge  zu  hören  gab,  die  seine  durch  die  Zensur  ver- 
zärtelten Nerven  noch  nicht  vertrugen.  Die  Korrespondenz  des 
Blattes  aus  Berlin  kam  fast  ganz  in  die  Hände  der  Freien,  die  damit 
plötzlich  in  den  Besitz  eines  großen  Organs  gelangten,  das  ihre  An- 
sichten nachhaltig  zu  vertreten,  ihre  Beiträge  regelmäßig  aufzu- 
nehmen geneigt  war.  Sie  alle:  Buhl,  Stirner,  Meyen,  Eichler,  Edgar 
Bauer,  Eduard  Flottwell,  Theodor  Mügge  bombardierten  die  Kölner 
Redaktion  mit  ihren  Beiträgen. 

Die  Aufsätze,  die  Engels  für  die  Rheinische  Zeitung  beisteuerte, 
mögen  nicht  von  überragender  Bedeutung  sein,  aber  ihre  Fest- 
stellung ermöglichte,  den  Gang  seines  politischen  Denkens  in  die- 
sem besonders  schnellebigen  und  an  Wendungen  reichen  Jahre  zu 
veranschaulichen.  Er  war  erst  eben  in  Berlin  angekommen,  als 
hier  eine  viel  beachtete  politische  Demonstration  stattgefunden 
hatte,  deren  Folgen  über  den  Kreis  der  zunächst  Beteiligten  weit 
hinausreichten.  Eine  Anzahl  fortgeschrittener  Liberaler  hatte 
dem  badischen  Oppositionsführer  Karl  Theodor  Welcker,  der  sich 
auf  einer  Art  von  Agitationsreise  in  Berlin  befand,  eine  Serenade 
gebracht,  die  bekanntlich  den  Unwillen  des  an  Kundgebungen 
selbständiger  politischer  Gesinnung  noch  ungewohnten  Monarchen 
erregte.  Bei  dem  Festessen,  das  sich  an  jene  Serenade  schloß,  war 
es  nun  zu  einer  wohlvorbereiteten  demonstrativen  Auflehnung  der 
Junghegelianer  gegen  die  überschwängliche  Verehrung  gekommen,, 
die  dem  süddeutschen  parlamentarischen  Liberalismus  in  Preußen 
gezollt  wurde.  Die  Kundgebung  gipfelte  in  einem  Trinkspruch 
Bruno  Bauers  auf  die  Staatsauffassung  Hegels,  die  durch  Kühn-- 
heit,  Liberalität  und  Entschiedenheit  die  der  Süddeutschen  weit 
überrage.     Damit  war   das   Signal  gegeben   zu  einer   prinzipiellen 


tg6  Bei  den  Junghegelianem  in  Berlin. 

Auseinandersetzung  des  Berliner  Kreises  nicht  nur  mit  der  Doktrin 
der  süddeutschen  Konstitutionellen  sondern  in  der  Folge  auch  mit 
dem  Konstitutionalismus  überhaupt.  In  solchen  Zusammenhang 
gehören  die  Ausführungen,  die  Engels  am  12.  April  1842  in  der 
Rheinischen  Zeitung  über  Norddeutschen  und  Süddeutschen  Libe- 
ralismus veröffentlichte.  Sollte  aber  die  Zensur  seinen  Beitrag  durch- 
lassen, so  durfte  er  hier  seine  letzten  Gedanken  noch  nicht  mit  der 
gleichen  Unentwegtheit  aussprechen  wie  bald  hernach  Edgar  Bauer, 
als  er  seine  Kritik  der  badischen  und  der  ostpreußischen  liberalen 
•Opposition  in  einem  Schweizer  Verlag  herausbrachte. 

Das  Verhältnis  von  Theorie  und  Praxis  in  der  Politik  stand 
in  der  Frühzeit  unseres  parteipolitischen  Lebens  im  Mittelpunkte 
der  Erörterung;  den  Kantianern  wie  den  Hegelianern  war  es  noch 
ein  Bedürfnis,  das  sich  späterhin  leider  verloren  hat,  ihre  politischen 
Anschauungen  ihrer  Weltanschauung  ein-  und  unterzuordnen. 
Für  Engels  galt  als  der  wichtigste  Bahnbrecher  des  norddeutschen 
Liberalismus  Börne,  der  die  politische  Theorie  aus  der  Praxis 
herausdestilliert  und  erkannt  habe,  daß  die  Theorie  die  schönste  Blüte 
der  Praxis  sei.  Dem  süddeutschen  Liberalismus  will  er  das  Ver- 
dienst, eine  deutsche  Opposition  begründet  und  so  eine  politische 
Opposition  in  Deutschland  erst  möglich  gemacht  zu  haben,  nicht 
abstreiten.  Doch  er  wirft  ihm  vor,  daß  es  ihm  nicht  geglückt  sei, 
sich  aus  der  bloßsn  Praxis  emporzuarbeiten.  Wie  Bruno  und  Edgar 
Bauer  hält  er  es  für  übertrieben,  daß  man  von  dem  entwickelteren 
parlamentarischen  Leben  bei  den  Süddeutschen  so  viel  Aufhebens 
machte.  Statt  die  weitschichtige,  aus  französischen,  englischen, 
deutschen,  spanischen  Elementen  bestehende  Praxis  zu  einem  ein- 
heitlichen Gedankenbau  auszugestalten,  sei  ihre  Theorie  nach 
1830  eine  Halbheit  und  im  Allgemeinen,  Vagen,  Blauen  stecken 
geblieben.  Um  seinen  obersten  Zweck,  die  gesetzliche  Freiheit,  zu 
erreichen,  habe  der  süddeutsche  Liberalismus  Mittel  angewandt, 
die  einander  bekämpften  und  ausschlössen.  Bald  habe  er  eine  größere 
Unabhängigkeit  der  Einzelstaaten  von  der  Bundesversammlung, 
bald  neben  dieser  eine  allgemeine  Volkskammer  erstrebt.  Die 
Folge  dieser  Unvollkommenheit  sei,  daß  das  Schwergewicht  der 
Opposition  sich  neuerdings  immer  stärker  nach  dem  Norden  ver- 
schoben habe.  Die  Überlegenheit  der  norddeutschen  Richtung 
beruhe  darauf,  daß  sie  ihr  Dasein  nicht  an  ein  einzelnes  Faktum, 
wie  die  Julirevolution,  anknüpfe,  sondern  an  die  Geschichte  der 
ganzen  Welt,  namentlich  an  die  Deutschlands.  Ihre  Quelle  läge 
auch  nicht  in  der  Fremde,  sondern  im  Herzen  des  Vaterlandes. 
Und  da  diese  Quelle  die  deutsche  Philosophie  sei,  so  besäße  der 
norddeutsche     Liberalismus     eine     überlegene     Konsequenz,    eine 


Theorie  und  Praxis.  97 

größere  Bestimmtheit  in  seinen  Forderungen,  ein  festeres  Ver- 
hältnis von  Mittel  und  Zweck.  Als  ein  notwendiges  Produkt  der 
nationalen  Bestrebungen  sei  seine  Gesinnung  national,  während 
die  des  süddeutschen  Liberalismus  zwischen  kosmopolitischen  und 
nationalen  Bestrebungen  hin  und  her  schwanke.  Der  norddeutsche 
Liberalismus  wolle  Deutschland  nach  innen  und  außen  gleich 
würdig  gestellt  sehen,  und  so  gebe  es  für  ihn  nicht  das  komische 
Dilemma,  ob  man  erst  liberal  und  dann  deutsch  oder  erst  deutsch 
und  dann  liberal  sein  solle.  Der  norddeutsche  Liberalismus  werde 
sein  Ziel  erreichen,  weil  er  den  umgekehrten  Weg  eingeschlagen 
habe,  als  der  süddeutsche,  weil  er  von  der  Theorie  auf  die  Praxis 
fortschreite. 

Vor  der  Unterschätzung  der  Kollisionsmöglichkeit  zwischen 
dem  liberalen  und  dem  nationalen  Ideal,  die  er  hier  zum  Ausdruck 
bringt,  hätten  Engels  seine  Erfahrungen  aus  dem  Jahre  1840  be- 
wahren können.  Was  er  hier  sonst  über  die  konkreten  Fragen  und  über 
die  Bewertung  des  Verhältnisses  von  Theorie  und  Praxis  sagt,  ist 
nicht  sein  ausschließliches  Eigentum.  Wir  wissen,  wie  sehr  die 
ganze  Schule  überzeugt  war,  daß  dem  Kampf,  den  sie  auf  theore- 
tischem Boden  mit  Leidenschaft  durchfocht,  weltgeschichtliche 
Bedeutung  zukäme.  ,,Die  Theorie  ist  jetzt  die  stärkste  Praxis", 
hatte  Bruno  Bauer  im  März  1841  an  Marx  geschrieben,  ,,und  wir 
können  noch  garnicht  voraussagen,  in  wie  großem  Sinne  sie  prak- 
tisch werden  wird",  auch  Buhl  nannte  soeben  in  seiner  Broschüre 
über  den  Beruf  der  preußischen  Presse  die  Theorie  den  Johannes, 
welcher  dem  Christus,  der  neuen  Praxis,  immer  vorangehe.  Es  ver- 
riete wenig  geschichtlichen  Sinn,  wollten  wir  solche  Überschätzung 
der  politischen  Theorie  nur  mitleidig  als  törichten  Doktrinaris- 
mus abtun.  In  jedem  Zeitalter  hat  sich  der  Streit  der  Geister  wie 
der  Leiber  der  Waffentechnik  anpassen  müssen,  die  der  Epoche 
gemäß  war.  War  damals  eine  Revolution  denkbar,  wenn  nicht 
zuvor  die  Geister  revolutioniert  wurden  ?  Nicht  die  Überwertung 
der  Theorie  an  sich  hat  später  Männer  wie  Koppen,  Bruno  Bauer, 
Stirner  in  das  Gestrüpp  geführt,  aus  dem  sie  den  Ausweg  nicht 
mehr  fanden,  sondern  ihr  Unvermögen,  die  dem  realen  Leben  nun 
einmal  innewohnenden  eigentümlichen  Kräfte  zu  begreifen,  und 
der  Irrtum,  die  Identität  des  Denkens  und  Seins,  von  der  sie  nicht 
loskamen,  bedeute,  daß  das  großs  Sein  der  Welt  nach  der  Pfeife 
ihres  persönlichen  Denkens  tanzen  müsse.  Für  Engels  bestand 
die  Gefahr,  in  solche  Sackgasse  zu  geraten,  nicht.  So  stark  sein  Be- 
dürfnis nach  Theorie  war,  so  wurzelte  er  doch  zu  fest  in  der  Welt 
der  Sinne,  des  Erlebens,  der  Anschauung,  als  daß  er  sich  in  den 
Schmollwinkel  hätte  zurückziehen  können,  weil  ein  Frost  im  März 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  7 


C)8  Bsi  den  Junghegelianern  in  Berlin. 

die  Saat  seiner  Hoffnungen  traf.  Er  und  Marx  verlachten 
jene  „sentimentalen  Enthusiasten**,  die  aus  lauter  Respekt 
vor  den  Ideen  ,,jede  Berührung  ihres  Ideals  mit  der  gemeinen 
Wirklichkeit"  (Marx)  verabscheuten.  Ihnen  beiden  bedeutete 
die  Idee  niemals  den  Stern,  den  man  nicht  begehren  solle. 
Und  die  Freiheit  wohnte  bei  ihnen  nicht  nur  im  ,, Reich  der 
Träume". 

Durch  Leopold  von  Hennings  Vorlesung  über  preußische 
Finanzverfassung  angeregt,  unternahm  Engels  es,  in  dem  großen 
Rheinischen  Blatt  die  brennende  Tagesfrage  zu  erörtern,  was  Preu- 
ßen von  den  Zeitideen  zu  erwarten  habe  und  was  die  Zeitideen 
Preußen  bieten  könnten.  Auch  hier  bekämpfte  er  die  organische 
Staatslehre  der  historischen  Schule  als  ,, hohle  Phrasen  einer  ver- 
lebten Richtung".  Preußen  sei  ein  Staat,  der  garnicht  schnell  genug 
fortschreiten  könne  und  der  sich  für  eine  rasche  Entwicklung  auch 
besonders  eigene,  weil  er  seit  den  Tagen  der  Invasion  keine  mittel- 
alterlichen Klötze  mehr  an  seinen  Füßen  nachschleppe.  Wer  für- 
der  in  Preußen  noch  von  historischer  Entwicklung  spräche,  könne 
nur  eine  Rückführung  in  das  ancien  regime  anstreben;  er  ver- 
leugne feige  die  glorreichsten  Jahre  der  preußischen  Geschichte 
und  übe  Verrat  am  Vaterlande,  weil  er  damit  ein  neues  Jena  herauf - 
b3schwöre.  Gerade  weil  Preußen  kein  ,, naturwüchsiger"  sondern 
ein  durch  Politik,  durch  Zwecktätigkeit,  durch  den  Geist  entstan- 
dener Staat  sei,  läge  sein  Heil  einzig  in  der  Theorie,  in  der  Wissen- 
schaft, in  der  Entwicklung  aus  dem  Geiste.  Richtig  benutzt  be- 
deute dies  keine  Schwäche,  sondern  es  könne  zu  einer  Haupt- 
stärke werden.  So  hoch  der  selbstbewußte  Geist  über  der 
bewußtlosen  Natur  stehe,  so  hoch  könnte  Preußen,  wenn  es 
nur  wollte,  sich  über  die  ,, naturwüchsigen"  Staaten  erheben. 
Gerade  weil  hier  noch  so  große  Verschiedenheiten  zwischen 
den  Provinzen  obwalteten,  sei  es  eine  Forderung  der  Gerechtig- 
keit, daß  die  preußische  Verfassung  rein  aus  dem  Gedanken 
heraus  erwüchse.  Nur  so  könnten  die  verschiedenen  Provinzen 
mit  einander  schnell  zu  einer  höheren  Einheit  verschmelzen, 
während  es  sonst  noch  Jahrhunderte  dauern  müßte,  bis  eine 
wirkliche  Einheit  zu  stände  käme.  Den  meisten  übrigen  Staaten 
sei  der  Weg,  den  sie  zu  nehmen  hätten,  durch  ihren  National- 
charakter vorgezeichnet;  von  diesem  Zwange  bleibe  Preußen  frei. 
Unter  Hintansetzung  aller  Rücksichten  könnte  es  rein  den  Ein- 
gebungen der  Vernunft  folgen,  von  den  Erfahrungen  der  Nach- 
barn lernen  und  der  Musterstaat  werden,  der  das  vollständigeStaats- 
bewußtsein  des  Jahrhunderts  in  seinen  Institutionen  zum  Ausdruck 
brächte. 


Die  Zukunft  Preußens. 


99 


Auch  diese  Gedanken  waren,  wie  der  erste  Blick  zeigt,  nicht 
ursprüngliches  Eigentum  des  Verfassers.  Auf  die  Quelle  der  ihnen 
zugrunde  liegenden  allgemeinen  Ideen  braucht  nicht  hingewiesen 
zu  werden.  Daß  Preußen  durch  die  Reformära  endgültig  mit  dem 
Mittelalter  gebrochen  habe,  behauptete  die  ganze  liberale  Publi- 
zistik; daß  eine  moderne  Verfassung  das  wirksamste  Mittel  wäre, 
um  den  Provinzialpartikularismus  auf  eine  organische  Weise  zu 
überwinden,  hatte  in  einem  Buch  über  die  Bedeutung  der  Provin- 
zialstände  in  Preußen  vor  kurzem  Ludwig  Buhl  dargetan.  Wir 
dürfen  überdies  Engels  nicht  beim  Wort  nehmen,  wenn  er  sich 
hier  den  Anschein  geben  möchte,  an  die  liberale  Mission  Preußens 
zu  glauben.  Gerade  er  war  längst  überzeugt,  daß  die  persön- 
lichen und  überpersönlichen  Mächte,  die  das  Schicksal  des  Staates 
bestimmten,  ihm  eine  friedliche  Demokratisierung  versagten.  So 
zeigte  er  dies  leuchtende  Ziel  wohl  nur,  um  den  Kontrast,  der 
die  preußische  Wirklichkeit  von  dem  Ideal  trennte,  recht 
schmerzhaft  fühlbar  zu  machen.  Und  er  befolgte  damit  die 
erprobte  revolutionäre  Taktik,  ein  absolutes  politisches  Ideal  als 
in  der  Praxis  erreichbar  hinzustellen,  um  dadurch  bescheidenere 
Reformen  zu  entwerten  und  der  versöhnenden  Wirkung  auf  die 
Massen  zu  entkleiden. 

Keine  andere  der  liberalen  Forderungen  lag  begreiflicherweise 
dem  Berliner  radikalen  Schriftstellerkreis  mehr  am  Herzen  als  die 
Freiheit  der  Presse.  Auch  Engels  hat  mit  einem  umfangreicheren 
Aufsatz  in  der  Rheinischen  Zeitung  sein  Scherflein  Zur  Kritik 
der  Preußischen  Preßgesetze  beigesteuert.  Er  erörterte  hier  mit 
trockener  Sachlichkeit  die  Berechtigung  der  im  Allgemeinen  Land- 
recht Teil  II  T.  20  §  51  und  in  dem  Zensuredikt  vom  18.  Oktober 
1819  gebrauchten  Verbindung  der  Begriffe  ,, frech"  und  ,, unehr- 
erbietig** als  Strafmaßstab  für  die  ,, Verspottung**  der  Landes- 
gesetze. Ihm  erscheint  es  unbillig,  daß  diese  beiden  zu  einem  ein- 
zigen Begriffe  verschmolzen  wurden.  ,, Frechheit**  setze  eine  böse 
Absicht  voraus,  ,,Unehrerbietigkeit**  höchstens  eine  Übereilung. 
Noch  tadelnswerter  wäre,  daß  ,,Unehrerbietigkeit  und  Verspottung**, 
Begriffe,  die  sogar  qualitativ  verschieden  seien,  die  gleiche  Strafe 
treffen  solle.  Solange  das  Wort  ,,Unehrerbietigkeit**  im  Gesetz 
stehen  bleibe,  besage  es,  daß  jeder  Tadel  der  Staatsverhältnisse 
auf  Erregung  von  Unzufriedenheit  ausgehe,  also  strafbar  wäre. 
Dies  aber  würde  mit  den  neueren,  freieren  Zensurverhältnissen  in 
Widerspruch  stehen.  Müßte  nicht  ein  Gesetz  bis  zu  seiner  Auf- 
hebung unabhängig  bleiben  von  dem  Auf  und  Ab  der  polizeilichen 
Praxis?  Unlogisch  wäre  es  auch,  die  ,, Erregung  zum  Mißvergnügen 
und  zur  Unzufriedenheit**  unter  Strafe  zu  stellen;  denn  sei  dieses 

7* 


100  Bei  <Jeii  Junghegelianern  in  Berlin. 

nicht  der  ausgesprochene  Zweck  einer  jeden  Opposition  ?  Wie  könne 
man  etwas  tadeln,  wenn  nicht  in  der  Absicht,  andere  von  der  Un- 
vollkommenheit  des  Getadelten  zu  überzeugen,  also  Unzufrieden- 
heit bei  ihnen  zu  erwecken  ?  Durch  das  Zensurzirkular  vom  24.  De- 
zember 1841  sei  das  Recht,  Unzufriedenheit  zu  erregen,  sank- 
tioniert worden ;  und  der  preußischen  Nation  gereiche  es  zum  Ruhme, 
daß  in  den  Monaten,  seitdem  es  erlassen  wurde,  wirklich  vieles 
geschehen  wäre,  um  Unzufriedenheit  und  Mißvergnügen  zu  er- 
wecken. Wenn  die  preußischen  Publizisten  dabei  mit  richtigem 
Takt  die  Person  des  Königs  aus  dem  Spiele  gelassen,  so  hätten 
sie  damit  nur  das  konstitutionelle  Prinzip  von  der  Unverletzlich- 
keit der  königlichen  Person  antizipiert.  Selbstverständlich  bedeutete 
es  kein  ernsthaftes  Bekenntnis  zum  konstitutionellen  Prinzip, 
wenn  der  Verfasser  in  der  von  der  Zensur  damals  schon  hart 
bedrängten  Zeitung  sich  dieses  Arguments  bediente.  Früher 
als  die  anderen  Freien,  die  erst  seit  kurzem  die  Unzulänglich- 
keit des  Justemilieu  kritisierten,  hatte  er  sich  mit  Börne  von 
diesem    losgesagt. 

Vor  einigen  Monaten  hatte  Marx  Bemerkungen  über  die 
neueste  preußische  Zensurinstruktion  niedergeschrieben,  die  erst 
wesentlich  später  veröffentlicht  wurden.  Zum  ersten  Male  treffen 
wir  so  die  beiden  Männer,  deren  Namen  die  Geschichte  immer  zu- 
sammen nennen  wird,  auf  dem  gleichen  Boden.  Aber  Engels,  der 
hier  nur  in  einem  Zeitungsartikel  einen  Ausschnitt  des  Problems 
behandeln  wollte,  wurde  durch  die  delikate  Situation  dieses  Jahres 
der  beschränkten  Preßfreiheit,  unmittelbarer  noch  durch  die  Zensur, 
verhindert,  seine  letzten  Gedanken  auszusprechen,  während  Marx 
Abhandlung  mit  dem  vollen  Gewicht  seiner  Ansichten  und  Über- 
zeugungen befrachtet  auftritt  und  eine  grundsätzliche  Untersuchung 
des  Gegenstandes  in  dessen  ganzer  Breite  und  Tiefe  anstrebt.  Für 
unsere  Biographie  ist  diese  erste  mächtige  Kundgebung  des  Marx- 
schen  Genius  insofern  bedeutungsvoll,  als  hier  zuerst  bei  einem 
der  beiden  künftigen  Werkgenossen  der  Gedanke  hervortritt,  daß 
der  Staat,  indem  er  Tendenzgesetze  schaffe,  sich  damit  der  Oppo- 
sition wie  eine  Partei  der  anderen  entgegenstelle,  daß  Tendenz- 
gesetze also  nicht  Gesetze  sondern  Privilegien  wären.  Diese  Gegen- 
überstellung brauchte  nur  verallgemeinert,  dialektisch  in  Betrieb 
gebracht  und  auf  Zusammenhänge  angewandt  zu  werden,  die 
man  in  Frankreich  und  England  längst  in  gegensätzlicher  Form 
betrachtete,  und  der  Klassenkampf  enthüllte  sich  als  das  immanente 
Bäwegungsgesetz  der  Gesellschaft.  Die  gleiche  Kontrastierung  von 
Gesetz  und  Privileg  findet  sich  auch  in  einem  etwas  später  geschrie- 
benen aber  früher  und  zwar  ebenfalls  in  der  Rheinischen  Zeitung 


Früheste  geistige  Begegnung  von  Marx  und  Engels.  loi 

veröffentlichten  Marxschen  Aufsatz.  Wenn  dieser  die  Verselbständi- 
gung des  Staatsbegriffs  forderte,  weil  er  seine  Naturgesetze  aus 
der  Vernunft  und  aus  der  Erfahrung  und  nicht  aus  der  Theologie 
zu  entveickeln  habe,  so  sagte  er  Engels,  der  nicht  erst  auf  dem  Um- 
wege über  die  Philosophie  bei  der  Politik  angelangt  war,  damit 
nichts  Neues. 

Wie  anders  Engels  über  das  zeitgenössische  Preußen  urteilte, 
wo  er  ohne  Rücksicht  auf  die  Zensur  seine  Meinung  aus- 
sprechen konnte,  lehrt  uns  sein  Aufsatz  über  Friedrich  Wilhelm 
IV.,  den  er  im  Spätsommer  1842  für  den  Deutschen  Boten  aus  der 
Schweiz  abfaßte.  So  sollte  bekanntlich  eine  Zeitschrift  heißen,  auf 
deren  Zustandekommen  der  politische  Radikalismus  damals  große 
Hoffnungen  setzte,  und  für  die  Mitarbeiter  zu  werben  Herwegh 
jene  Rundreise  durch  Preußen  unternahm,  die  wie  ein  Triumph- 
zug begann,  aber  kläglich  auslief  und  das  Ende  der  kurzen  liberalen 
Preßära  in  Preußen  beschleunigte.  Als  danach  der  Plan  zu  dieser 
Zeitschrift  aus  , »gebietenden  Gründen"  nicht  ausgeführt  werden 
konnte,  wurden  die  für  die  ersten  Hefte  eingelaufenen  Beiträge 
im  Sommer  1843  unter  dem  die  Zensur  verhöhnenden  Titel  Ein- 
undzwanzig Bogen  aus  der  Schweiz  vom  Literarischen  Comptoir 
in  Zürich  als  Sammelband  herausgegeben.  Mit  starken  Worten 
schilderte  Engels  hier  die  Entstehungsgeschichte  des  Kampfes 
zwischen  der  ,,absolutenFreiheit**  und  der  „absoluten  Autorität." 
Auch  Friedrich  Wilhelms  IV.  rätselreiche  Persönlichkeit  wird 
ihm  nur  aus  diesem  Gegensatz  heraus  verständlich.  In  diesem 
Könige  raffe  sich  das  preußische  Prinzip,  dessen  äußerste  Konsequenz 
er  verkörpere,  ein  letztes  Mal  auf,  bevor  es  endgültig  dem  freien 
Selbstbewußtsein  erliege.  Und  die  gedankenmäßige  Entwicklung 
des  alten  Preußen  erhalte  so  ihren  Abschluß.  Um  den  christlichen 
Staat  zu  verwirklichen,  m.öchte  der  König  den  unter  seinem  Vater 
fast  heidnisch  gewordenen  rationalistischen  Beamtenstaat  mit 
christlichen  Ideen  durchdringen.  Aber  logisch  führe  dieser  Weg 
zur  Trennung  der  Kirche  vom  Staat  und  damit  nach  Hegel  über 
den  protestantischen  Staat,  dessen  summus  episcopus  der  König, 
dessen  letztes  Ziel  die  Verschmelzung  von  Staat  und  Kirche  sei, 
weit  hinaus.  Wie  der  Protestantismus  überhaupt  so  bedeute  auch 
das  Episkopat  des  Fürsten  eine  Konzession  an  die  Weltlichkeit, 
eine  Unterordnung  des  Geistlichen  unter  das  Weltliche.  Wolle 
der  Staat  den  Anspruch  der  Christlichkeit  erheben,  so  müsse  er 
auch  der  Kirche  ihre  Selbständigkeit  zurückerstatten.  Weil  aber 
in  Preußen  die  Rückkehr  zum  Katholizismus  unmöglich  und 
auch  die  absolute  Emanzipation  der  Kirche  unausführbar  wäre, 
ohne    die    Grundsäulen    des    Staates    zu    untergraben,    so    bliebe 


102  Bfii  <Icn  Junghegelianern  in  Berlin. 

Friedrich  Wilhelm  IV.  nur  jenes  Vermittlungssystem  übrig, 
dessen  er  sich  bei  den  Kölner  Wirren  bedient  habe,  wo  er  echt 
theologisch  die  vorlauten,  unbequemen  Prinzipien  zurückdrängte 
und  sich  mit  einer  Lösung  abfand,  bei  welcher  der  Staat  mit 
einem  blauen  Auge  davon  kam,  während  die  Kurie  in  nichts 
nachgab. 

Wie  die  Kirchenpolitik,  zeige  auch  die  innere  Politik  des  Königs 
Widersprüche,  die  nur  oberflächlich  verdeckt  seien.  Die  besondere 
Vorliebe,  die  er  für  das  Korporationswesen  bekunde,  bezeichne 
am  deutlichsten  seinen  mittelalterlichen  Standpunkt.  Die  Staats- 
kräfte des  alten  Reichs  habe  einst  das  Nebeneinanderstehen  privi- 
legierter, in  ihren  inneren  Angelegenheiten  mit  einer  gewissen  Frei- 
heit und  Selbständigkeit  ausgestatteter  Verbindungen,  die  sich  aber 
im  übrigen  gegenseitig  bekämpften  und  übervorteilten,  bis  zur 
Auflösung  zersplittert.  Friedrich  Wilhelm  hüte  sich,  den  christ- 
lichen Staat,  zu  dessen  Wiederherstellung  er  sich  berufen  fühle, 
bis  zu  dieser  Konsequenz  durchzuführen.  In  Wahrheit  erstrebe 
er  nur  den  theologischen  Schein,  nicht  die  Not,  den  Druck,  die 
Unordnung  und  Selbstvernichtung  des  christlichen  Staats.  Da  er 
nur  ein  Justemilieu-Mittelalter  wünsche,  so  seien  seine  Bestrebun- 
gen nicht  absolut  illiberal;  er  wolle  seinem  Preußen  alle  möglichen 
Freiheiten  lassen,  aber  eben  nur  in  der  Gestalt  der  Unfreiheit,  des 
Monopols,  des  Privilegiums.  Die  freie  Presse  betrachte  er  als  das 
Monopol  des  vorzugsweise  wissenschaftlichen  Standes,  die  Reprä- 
sentation als  das  Monopol  der  Stände,  nicht  der  Staatsbürger.  So 
kenne  er  keine  allgemeinen  Rechte,  keine  Menschenrechte,  keine 
staatsbürgerlichen  Rechte  sondern  nur  Korporationsrechte,  Pri- 
vilegien. Deren  werde  er  so  viele  gewähren  wie  er  könne,  ohne 
seine  absolute  Gewalt  durch  positiv-gesetzliche  Bestimmungen 
zu  beschränken.  Aber  die  schnarrende  Maschine  des  kalten  preußi- 
schen Beamtenstaats  wolle  von  einer  glänzenden,  vertrauensvollen 
Romantik  nichts  wissen,  und  der  Durchschnitt  des  Volks  stehe  auf 
einer  zu  niedrigen  Stufe  politischer  Bildung,  um  das  System  des 
christlichen  Königs  durchschauen  zu  können.  Dadurch  sehe  dieser 
sich,  im  Widerspruch  zu  seinem  offenen  und  jovialen  Charakter, 
auf  theologische  Mittel  hingedrängt,  mit  deren  Hilfe  er  die  öffent- 
liche Meinung  ausforsche,  um  zu  anstößige  Maßregeln  zu  ver- 
meiden. Und  deshalb  bediene  er  sich  in  seinen  Reden  mit  Geschick 
der  Terminologie  des  Konstitutionalismus,  obgleich  er  diesen  gleich- 
zeitig mit  dem  Ehrennamen  oberflächlich  und  ordinär  belege.  Eine 
solche  Art,  sich  den  Forderungen  der  Zeit  zu  akkommodieren,  nenne 
Bruno  Bauer  kurzweg  Heuchelei.  Werde  es  Friedrich  Wilhelm  IV. 
jemals  gelingen  sein  System  durchzusetzen  ?    Diese  Frage  verneint 


Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen.  103 

Engels  mit  Entschiedenheit.  Von  den  beiden  Forderungen,  auf 
die  sich  die  öffentliche  Meinung  in  Preußen  immer  mehr  konzen- 
triere, werde  das  Volk  dem  König  die  Preßfreiheit,  er  möge  sich 
stellen  wie  er  wolle,  abnötigen;  habe  es  aber  einmal  diese,  so  müsse 
die  Verfassung  in  einem  Jahre  nachfolgen.  Sei  Preußen  dann  im 
Besitz  einer  Repräsentation,  so  lasse  sich  garnicht  absehen,  wel- 
chen Gang  die  Ereignisse  nehmen  würden,  denn  die  jetzige  Lage 
dieses  Staats  habe  viel  Ähnlichkeit  mit  der  Frankreichs  vor  der 
Revolution. 


Kapital  V. 

Hinwendung  zum  Kommunismus. 

Engels  selbst  bestätigt,  daß  ihm  der  Weg  von  dem  revolutio- 
nären Ansturm  auf  das  Prinzip  der  Autorität  zur  Revolutionierung 
der  Wirklichkeit  durch  Feuerbachs  Auflösung  des  spekulativen 
Begriffs  gebahnt  worden  sei.  Nun  bemerkten  wir  aber  schon,  wie 
er  sich  über  die  ganze  Tragweite  der  neuen  Erkenntnis,  die  Feuer- 
bach ihm  vermittelte,  nur  schrittweise  klar  geworden  ist.  Und  es 
währte  deshalb  auch  noch  einige  Zeit,  bis  sich  ihm  als  der  Kern 
der  neuen  realeren  Betrachtungsweise  der  Kommunismus  heraus- 
schälte. Wie  sich  dieser  Prozeß  im  einzelnen  bei  ihm  vollzog, 
müssen  wir  jetzt  darzulegen  versuchen,  obgleich  direkte  Zeug- 
nisse über  diese  wichtigste  Wendung  seines  Lebens  uns  nicht  zur 
Verfügung  stehen. 

Während  Bruno  Bauer  nur  erst  dem  Ursprung  des  Christen- 
tums nachforschte,  warf  Feuerbach  bekanntlich  schon  die  Frage 
nach  dessen  Wesen  auf  und  gab  der  philosophisch-revolutionären 
Jugend  damit  das  Stichwort  zur  Absage  nicht  bloß  an  das  Christen- 
tum sondern  an  die  Religion  überhaupt.  Aus  dem  Sturz  Gottes 
und  der  Unsterblichkeit  zog  dieser  Denker  weiter  reichende  Folge- 
rungen als  Bruno  Bauer  und  die  anderen,  die  mit  ihrem  von  Hegel 
ererbten  Intellektualismus  sich  den  Menschen  völlig  zum.  Selbst- 
bewußtsein spiritualisiert  hatten.  Er  stellte  die  Stärke  des  Willens 
und  die  Fülle  des  Herzens  neben  die  Kraft  des  Gedankens.  Sein 
Wesen  des  Christentums  erklärte  Wahrheit,  Wirklichkeit,  Sinn- 
lichkeit für  gleichberechtigt  und  schuf  so  ein  Weltbild,  das  zu  einem 
positivistischen  Sensualismus  hinstrebte.  An  Hegel  vermißte  Feuer- 
nach die  Anschauung;  ihm  dünkte,  daß  der  Hochgefeierte  zu  sehr 
Inhalt  und  Form  trenne,  daß  er  ein  ,, Professor",  kein  ,, purer,  blan- 
ker Mensch",  wäre,  daß  er  vom  Unendlichen  statt  vom  Endlichen 
ausgehe.  Um  diese  Einseitigkeit  zu  überwinden,  sei  es  geraten, 
auf  den  heimatlichen  Boden  der  Erde  zurückzutreten,  die  Vernunft 
ihrer  Alleinherrschaft  zu  entkleiden  und  die  Liebe  und  den  Willen 
ihr  an  die  Seite  zu  stellen.    Für  Feuerbach  also  hörte  der  Mensch 


Feuerbach  und  Hegel.  105 

auf,  nur  ein  denkendes  Wesen  zu  sein,  und  die  seit  Fichte  in  den 
Hintergrund  verbannte  Tat,  die  für  Engels  immer  die  Krone  des 
Lebens  bedeutet  hatte,  feierte  nun  geräuschvoll  ihre  philosophische 
Auferstehung. 

Wenn  wir  auch  kein  Anzeichen  dafür  besitzen,  daß  der 
von  Hegels  Schule  für  antiquiert  erklärte  Geist  Fichtes  auf 
Engels  stärker  gewirkt  hatte,  so  wissen  wir  dafür,  daß  er  Goethes 
Hochwertung  der  Tat  dankbar  empfunden  hat,  mochte  ihn  auch 
der  Ausklang  des  Faust  unbefriedigt  lassen,  weil  sein  von  Ursprung 
an  soziales  Empfinden  sich  ,, Faust  nicht  mehr  Egoist,  sondern 
sich  aufopfernd  für  die  Menschheit"  als  Erlösungsmotiv  des  ewig 
sich  Bemühenden  gewünscht  hätte.  Der  Schluß  von  Schelling 
und  die  Offenbarung  ließ  uns  schon  erkennen,  wie  ungemein  stark 
bei  ihm  die  Gefühlssaite  anklang,  als  ihm  Feuerbach  im  Verhältnis 
des  einzelnen  zu  seiner  Gattung  das  wahre  Leben  des  Menschen 
enthüllte.  Versprach  ihm  nicht  dieser  Begriff  der  Gattung,  der 
ihm  gerade  nahe  trat,  als  der  Pantheismus  seine  letzte  Farbigkeit 
für  ihn  eingebüßt  hatte,  einen  allumfassenden  irdischen  Zusammen- 
hang als  vollwertigen  Ersatz  für  den  transzendenten,  den  er  end- 
gültig verloren  geben  mußte  ?  Daß  er  angesichts  alles  des  Neuen 
und  Hochwillkommenen,  das  Feuerbach  ihm  bot,  nicht  gleich  be- 
merkte, wie  stark  jener  das  Fundament  der  Hegeischen  Philosophie 
unterminiert  hatte,  wird  uns  noch  verständlicher,  wenn  wir  uns 
erinnern,  daß  jener  keine  Anstalten  machte,  mit  seiner  auflösenden 
Kritik  in  noch  weitere  Bezirke  des  Geistes  überzugreifen.  So 
verhüllte  die  scheinbare  Übereinstimmung  der  Resultate  Feuer- 
bachs und  Bruno  Bauers  zuerst  die  Verschiedenheit  der  Ausgangs- 
punkte und  der  Ziele.  Engels  jubelte  Feuerbach  zu,  ohne  zu  ahnen, 
daß  dieser  Hegels  Weltherrschaft,  die  sich  über  alle  Einzelwissen- 
schaften im  Reiche  des  Geistes  erstreckte,  antastete.  Was  viel 
später  sein  Buch  über  Ludwig  Feuerbach  ausspricht,  das  hat 
er  schon  damals  gedacht:  ein  Bau,  der  auf  so  mächtigen  Quadern 
ruhte,  ließ  sich  nicht  einfach  beiseite  schieben;  wer  die  Form  die- 
ses Systems  vernichten  wollte,  mußte  in  sich  auch  die  Kraft  spüren, 
von  seinem  Inhalt  zu  retten,  was  dauernd  wertvoll  blieb.  Engels 
Aufsatz  im  Telegraph  über  Schellings  Antrittsvorlesung  hatte  dem 
romantischen  Positivismus  entgegengehalten,  daß  der  Grundsatz 
aller  modernen  Philosophie,  das  cogito  ergo  sum,  nicht  im  Sturme 
umgerannt  werden  könne.  Auch  dem  sensualistischen  Positivismus 
Feuerbachs  gestand  er  die  Macht  über  die  Autonomie  des  Selbst- 
bewußtseins nicht  zu,  solange  er  auf  dem  friedlichen  Boden 
Deutschlands  die  Idee  noch  nicht  dem  Wettbewerb  mit  den  robu- 
steren Gewalten  des  ökonomischen  Lebens  hilflos  ausgeliefert  sah. 


I06  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

Nun  war  kurz  vor  dem  Wesen  des  Christentums  bei  Otto 
Wigand,  dem  Verleger  des  philosophischen  Radikalismus,  unter 
dem  Titel:  Die  europäische  Triarchie  ein  merkwürdiges  Buch 
erschienen,  das  unmittelbarer  noch  als  jenes  Werk  von  der 
Philosophie  die  Brücke  zum  Tatproblem  schlagen  v/ollte.  Wie 
Gervinus  die  Deutschen  von  der  Literatur  zur  Politik,  so  wollte 
Moses  Heß  sie  von  der  Philosophie  zur  sozialen  Praxis  bekehren. 
Um  ein  beträchtliches  älter  als  Engels  und  Marx,  aber  wie  sie  Rhein- 
länder, jüdischer  Abstammung  wie  Marx,  gleich  Engels  Sohn  eines 
Industriellen,  mit  dessen  konservativ-religiösen  Anschauungen  er 
nicht  harmonierte,  kam  dieser  Mann,  der  jenen  beiden  die  Welt 
des  Sozialismus  erschließen  sollte,  doch  aus  anderer  Richtung  da- 
her als  sie  und  blieb,  weil  er,  von  anders  gefärbten  Wertungen  er- 
füllt anders  gefaßten  Zielen  zustrebte,  auch  nicht  dauernd  ihr 
Weggenosse.  Von  Marx  hat  man  öfter  gesagt,  daß  er  die  dialek- 
tische Kraft  des  jüdischen  Geistes  in  potenzierter  Gestalt  verkörpere. 
Mit  noch  größerem  Rechte  ließe  sich  von  Heß  behaupten,  daß  in 
ihm  die  im  jüdischen  Gefühlsleben  gärenden,  Vollendung  und  Er- 
füllung suchenden  Kräfte  in  potenzierter  Gestalt  lebendig  wurden 
und  mit  unermüdlicher,  tragisch  zu  nennender  Inbrunst  vergebens 
um  endgültige  Formung  rangen.  Weit  weniger  fest  als  Marx  und 
Engels  stand  dieser  hingebungsvolle  Träumer,  an  dem  selbst  der  per- 
sönliche Gegner  den  milden,  wohlwollenden  Blick  nicht  übersah,  auf 
dem  Boden  der  Wirklichkeit.  Der  ,,gute  Kerl",  dessen  sanguinische 
Harmlosigkeit  die  Zielscheibe  des  Spottes  für  den  Sarkasmus  der 
Gefährten  bildete,  bewegte  sich,  was  Engels  ihm  nicht  verzieh, 
fast  immer  in  Illusionen.  Aber  durch  alle  die  geistigen  Wandlungen, 
denen  der  Beeinflußbare  unterlag,  begleitete  ihn,  zeitweise  mit 
stolzer  Offenheit  zur  Schau  getragen,  zeitweise  versteckter  von 
ihm  eingestanden,  der  alte  messianische  Glaube  der  Ahnen  an  die 
künftige  Vollendung  des  Menschengeschlechts.  Und  für  diesen 
Traum,  den  er  nit  seinem  Herzblut  speiste  und  der  nach  einander 
im  Christentum,  im  Kommunismus,  am  Ende  im  Zionismus  sich 
seine  Erfüllung  suchte,  sog,  bewußt  und  unbewußt,  seine  Seele 
Kraft  und  Leben  aus  der  Überlieferung  des  uralten  Stammes,  dessen 
Blut  der  Kommunistenrabbi,  wie  er  bei  den  Genossen  hieß,  in  seinen 
Adern  fließen  fühlte.  Daß  der  Drang  des  Herzens,  stärker  als  der 
Trieb  nach  Erkenntnis,  den  Grundzug  seiner  Persönlichkeit  aus- 
machte, unterschied  ihn  von  Engels  und  Marx,  die  in  ihm  später 
nur  noch  den  Wirrkopf  sahen  und  darüber  zu  gründlich  vergaßen, 
daß  sie  seiner  ungewöhnlichen  Intuition,  die  weiter  reichte  als 
seine  dialektische  Veranlagung,  Dank  schuldeten.  Der  Verschieden- 
heit der  Begabungen   entsprach  die  Verschiedenheit  der  Tempera- 


Moses  Heß.  107 

mente.  In  einem  Streit  mit  Marx  betonte  Heß  einmal  richtig  den 
Gegensatz  zwischen  dessen  „auflösendem"  und  seinem  eigenen 
,, versöhnendem'*  Naturell,  und  gerecht,  wie  er  stets  sein  wollte, 
fügte  er  hinzu,  daß  sie  beide  vielleicht  ihre  Veranlagung  übertrieben. 
So  großartiger  Einblicke  in  das  Reich  der  Zusammenhänge  Heß 
fähig  war,  so  blieb  es  ihm  doch  versagt,  was  er  stark  und  lebensvoll 
erfaßte  in  logischem  Aufbau  auszugestalten,  energisch  zu  ver- 
knüpfen, rücksichtslos  auszuscheiden,  die  Wünsche  der  Seele  zu 
klarer  Erkenntnis  gerinnen  zu  lassen.  Gleich  die  Europäische 
Triarchie,  die  er  ohne  Angabe  seines  Namens  erscheinen  ließ, 
zeigte  seine  Fehler  wie  seine  Vorzüge.  Weitere  Kreise  rechneten 
Heß  zu  den  Jung-Hegelianern, deren  Schulsprache  er  redete  und  deren 
trichotomische  Formeln  er  handhabte.  Er  aber  wollte  die  Natur 
nicht  wie  Hegel  dem  Geist  unterordnen  und  bekannte  sich  als 
Jünger  Spinozas,  dessen  Parallelisierung  der  geistigen  und  körper- 
lichen Welt  dem  eingeborenen  monistischen  Drang  seines  Wesens 
sichtbar  entgegenkam.  Das  unwiderstehliche  Bedürfnis  nach  Ver- 
einheitlichung von  Weltbild  und  Ethik,  das  ihn  erfüllte,  stillte  ihm 
nur  der  große  Philosoph  seiner  Rasse ;  allein  bei  ihm  entdeckte  er 
auch  die  Kraft,  jene  Kluft  zu  überbrücken,  die  bei  Hegel  die  Welten 
des  Denkens  und  des  Handelns  von  einander  zu  trennen  schien. 
Nicht  nur  sich  selbst,  nein  die  Menschheit  zu  erlösen,  war  das  Ziel, 
das  von  früh  auf  ihm  vorschwebte.  Kein  schöpferischer  Denker, 
weit  eher  ein  Schwärmer,  der  sich  in  die  Kulturen  und  die  großen 
Genien  der  Vergangenheit,  besonders  wo  Wahlverv/andtschaft  ihn 
hinzog,  vertiefte  und  aus  ihrem  Ideenschatz  herausholte,  was  sich 
der  eigenen  Gefühlswelt  amalgamieren  ließ,  besaß  Heß  eine  be- 
merkenswerte Fähigkeit,  das  zu  einander  zu  bringen,  was  im  Hin- 
blick auf  die  tiefsten  Bedürfnisse  der  Zeit  Verbindungen  voll  schöpfe- 
rischer Perspektive  versprach.  Jugendliche  Irrfahrten  in  England 
und  Frankreich  hatten  ihm  für  solche  Aufgabe  noch  besonders 
den  Sinn  geschärft.  Es  war  ihm  unverlöschlich  geblieben,  wie  in 
diesen  Ländern  das  wirtschaftliche  Leben  so  viel  großartiger  dahin- 
flutete  und  das  politische  sich  weit  lebendiger  entfalten  durfte  als 
in  der  Heimat.  Da  wurde  ihm  zur  Gewißheit,  daß  die  Stunde  von 
der  deutschen  Philosophie  heischte,  der  Isolierung  und  Überwertung 
des  Gedankens,  v/orin  sie  zu  ersticken  drohte,  ein  Ende  zu  machen. 
Sobald  er  jedoch  daran  ging,  eine  Philosophie  der  Tat  zu  begründen, 
zeigte  es  sich  ihm,  daß  der  Geist  Spinozas  sich  mit  dem  Saint-Simons 
verschwistern  müßte.  Damit  aber  bahnte  er  in  dem  gleichen  Augen- 
blick, wo  den  Junghegelianern  das  Problem  der  Gattung  durch  Feuer- 
bach nähergerückt  wurde,  deren  Vortrupp  den  Weg  zu  der  Gesell- 
schaftswissenschaft der   Franzosen.    Von  Engels  besitzen  wir  aus 


Io8  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

dem  November  1843  das  ausdrückliche  Geständnis,  daß  Heß  der 
erste  gewesen  sei,  der  ihm  und  seinem  Kreise  den  Kommunismus  als 
die  notwendige  Weiterentwicklung  der  Junghegeischen  Doktrin 
plausibel  machte.  Diese  Weiterentwicklung  habe  es  nicht  hintan 
halten  können,  daß  die  bis  dahin  führenden  Persönlichkeiten  der 
Partei,  Bruno  Bauer  und  Rüge,  ebenso  wenig  wie  Feuerbach  auf 
einen  so  entscheidenden  Schritt  vorbereitet  waren  und  ihn  nicht 
mitmachten. 

So  revolutionär  die  Wirkung  war,  die  von  Feuerbach  auf 
philosophischem  Gebiet  ausging,  so  wenig  war  doch  dieser  Einsiedler, 
der  allen  sozialen  Gruppen,  überhaupt  dem  ganzen  Staats-  und 
Gesellschaftsleben  fern  stand,  dazu  befähigt,  das  Tatproblem  auf 
fruchtbringende  Weise  anzupacken  und  eine  Bewegung  von  fort- 
zeugender Kraft  für  die  Wirklichkeit  ins  Leben  zu  rufen.  Er  ahnte 
garnicht  einmal,  wohin  der  Wind  der  Zeit  den  Samen,  der  seiner 
Lehre  entquoll,  tragen  mußte,  wenn  man  seinen  Gattungsbegriff 
konkretisierte  und  mit  den  sozialen  Problemen  einer  heraufsteigenden 
Epoche,  die  in  Deutschland  erst  die  wenigsten  wahrnahm.en,  in  un- 
mittelbare Verbindung  setzte.  Wo  Feuerbach  versagte,  trat  Heß  in 
die  Bresche.  Er  bemängelte  an  der  Junghegeischen  Geschichtsphilo- 
sophie, daß  sie  sich  garnicht  die  Aufgabe  stellte,  aus  den  beiden 
bekannten  Größen  Vergangenheit  und  Gegenwart  die  unbekannte 
dritte,  die  Zukunft,  abzuleiten  und  mit  Hilfe  der  so  gewonnenen 
neuen  Erkenntnis  auf  ihre  Gestaltung  Einfluß  zu  suchen. 
Dieser  Gedanke  Saint-Simons  ist  hernach  ein  Hauptpfeiler  des 
Marx-Engelsschen  Systems  geworden.  Die  Wahrscheinlichkeit 
spricht  dafür,  daß  er  Engels  hier  zum  ersten  Male  in  voller 
Schärfe  entgegentrat.  Das  Interesse  der  deutschen  literarischen 
Welt  für  den  großen  französischen  Befruchter  der  Sozial- 
wissenschaft war  seit  der  Mitte  der  dreißiger  Jahre  ständig  zurück- 
gegangen. Wie  Engels  den  von  ihm  verehrten  Börne,  doch  mit 
größerem  Recht,  stellte  Heß  Saint-Simon  an  die  Seite  Hegels.  Und 
an  der  Verschiedenheit  seiner  beiden  Heroen  erläuterte  er  den  Lesern 
der  Triarchie  die  Verschiedenheit  der  deutschen  und  der  franzö- 
sischen zeitgenössischen  Entwicklung.  Hegel  mit  seinem  Drang 
nach  Erkenntnis,  meint  er  hier,  begriff  die  Vergangenheit,  Saint- 
Simon  mit  seinem  Trieb  zum  Handeln  ahnte  die  Zukunft.  Was 
dem  zeitgenössischen  Deutschen  die  Welt  des  Gedankens,  das  be- 
deute dem  Franzosen  die  Welt  der  Ethik.  Wie  die  deutsche  Refor- 
mation die  Gedankenfreiheit,  so  habe  die  französische  Revolution 
das  ethische  Prinzip  in  die  Wirklichkeit  eingeführt.  Die  deutsche 
und  französische  Form  der  Freiheit  in  Wechselwirkung  zu  setzen, 
womöglich  sie  zu  verschmelzen,  sei  die  wesentlichste  Tendenz  der 


Die  Bedeutung  der  Europäischen  Triarchie.  109 

Gegenwart.  Nun  beherbergte  aber  der  auserwählte  Erdteil  Europa 
noch  ein  drittes  Volk,  das  sich  mit  dem  deutschen  und  dem  franzö- 
sischen in  die  Sorge  um  die  Zukunft  der  Menschheit  zu  teilen  hatte. 
Die  deutsche  Reformation  und  die  französische  Revolution  zu- 
sammenzufassen und  durch  Verwirklichung  der  Gleichheit  auf 
politisch-sozialem  Gebiet  die  Freiheit  ihrer  Vollendung  entgegen- 
zuführen, diese  Aufgabe  stellte  Heß  der  englischen  Revolution, 
deren  Herannahen  er  voraussagte.  Ihre  Mission  sei,  den  Gegen- 
satz von  Pauperismus  und  Geldaristokratie  zu  beseitigen  und  die 
weltgeschichtliche  Metamorphose,  in  der  sich  das  Verhältnis  der 
herrschenden  und  der  dienenden  Klasse  zu  einander  befände,  ihrer 
Vollendung  zuzuführen.  Mit  diesen  Sätzen  aber  enthüllte  Heß  als 
der  erste  aus  dem  Kreis  des  deutschen  philosophischen  Radikalis- 
mus den  allseitigen  Kampf  gegen  die  Autorität  der  historischen 
Gewalten  als  eine  den  führenden  Kulturstaaten  gemeinsame  Er- 
scheinung, und  er  behauptete,  daß  dieser  weltgeschichtliche  Kampf 
seinen  Abschluß  nur  in  der  sozialen  Sphäre  finden  könne.  Für 
England,  wo  die  Wellen  der  Chartistenbewegung  bereits  hoch 
gingen,  stellte  er  die  politisch-soziale  Revolution  in  sichere  Aus- 
sicht; noch  nicht  mit  der  gleichen  Gewißheit  behauptete  die  Triar- 
chie, daß  die  Klassengegensätze  auch  in  Deutschland  zu  bedroh- 
licher Schroffheit  emporwachsen  müßten.  Auf  das  Industrie- 
proletariat als  auf  eine  internationale  Erscheinung  und  auf  die  mit 
dieser  Erscheinung  auch  für  Deutschland  verknüpften  Gefahren 
hat  mit  voller  Bestimmtheit  zuerst  wohl  Lorenz  Stein  hingewiesen. 
Einer  raschen  Verbreitung  der  fruchtbaren  Gedanken,  die  in 
der  Europäischen  Triarchie  verborgen  waren,  hatte  der  Verfasser 
selbst  die  erdenkbarsten  Hindernisse  in  den  Weg  gestellt.  Denn  er 
zwang  den  Leser,  sich  diese  aus  einem  Wust  geschichtsphilo- 
sophischer  Phantastereien  und  mystisch-sentimentaler  Ausschwei- 
fungen herauszuschälen.  Auch  Engels  dürfte  das  Buch  erst  ge- 
lesen haben,  nachdem  ihm  in  Berlin  durch  andere  Kanäle  die  neuen 
Ideen  bereits  zugeflossen  waren,  für  die  ihn  danach  Heß  durch 
die  eindrucksvolle  Art  seiner  Beweisführung  endgültig  eroberte. 
Als  einer  der  ersten  hatte  hier  auf  die  Wichtigkeit  der  Triarchie 
Ludwig  Buhl  hingewiesen  und  in  seiner  Anzeige  der  Schrift  im 
Athenaeum  im  März  1841  ausgesprochen,  daß  auch  er  die  Be- 
strebungen des  Chartismus  und  der  Anhänger  Owens  als  die  ersten 
Tatrüstungen  der  sich  vorbereitenden  sozialen  Revolution  ansähe. 
Weil  Berlin  ebenfalls  sein  Proletariat  habe,  dessen  völlige  ,, Ent- 
menschung" nur  auf  dem  Wege  der  sozialen  Reform  zu  verhindern 
wäre,  forderte  an  der  gleichen  Stelle  am  24.  Juli  ein  Anonymus 
die  Philosophen  auf,  sich  mit  der  von  Franzosen  und  Engländern 


HO  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

schon  weit  ausgebildeten  Wissenschaft  des  Sozialismus  zu  beschäf- 
tigen, doch  auch  sich  in  die  Praxis  zu  vertiefen  und  für  diese  zu 
wirken.  Ebenfalls  im  Athenaeum,  erhob  damals  der  junge  Konstan- 
tin Frantz  warnend  seine  Stimme:  „Organisiert  diese  Massen", 
rief  er  aus,  ,,oder  sie  organisieren  sich  selbst,  —  aber  zum  Sturm!" 
Hilfe  erwartete  Frantz  allein  vom  Staat,  dieser  müsse  das  Proletariat 
gegen  Willkür  sichern  und  es  zu  Bürgern  machen.  Leider  wurde 
das  Athenaeum  fast  nur  von  den  paar  Freien,  die  es  schrieben, 
und  von  einigen  Dutzenden  ihrer  Bekannten  gelesen.  So  konnten 
die  vereinzelten  Weckrufe  an  das  soziale  Gewissen  des  Staates  und 
der  besitzenden  Klassen,  die  hier  laut  wurden,  kein  nachweisbares 
Echo  erzeugen.  Überdies  hätten  die  Freien  bei  ihrer  doktrinären 
Verzopfung  gewiß  jene  realen  Probleme,  die  zu  einer  schrittweisen 
sozialen  R'form  gehörten,  viel  zu  gering  bewertet,  um  aus  den 
Wolkenschichten  des  absoluten  Ich  zu  ihnen  hernieder  zu  steigen. 
Der  selbstzufriedenen  Dialektik  dieser  extremen  Intellektualisten 
und  Individualisten  bot  die  sozialistische  Gedankenwelt  keine 
lockende  Ausbeute.  Auch  Bruno  Bauer  verfiel  nicht  auf  den  Ge- 
danken, durch  den  Begriff  der  Emanzipation  Philosophie  und  Prole- 
tariat mit  kühnem  Griff  zu  einem  festen  Knoten  zusammen  zu 
schlingen.  Kaum  war  ihm  und  seinem  Bruder  zum  Bewußtsein 
geko  men,  daß  da  ein  Problem  auftauchte,  das  ein  Umlernen 
größten  Stils  von  ihnen  gefordert  hätte,  so  konstatierten  sie  die  un- 
überbrückbare Kluft  zwischen  der  Masse,  der  sie  die  Vernunft  ab- 
sprachen, und  dem  Geist,  als  dessen  Generalpächter  sie  selbst  sich 
ansahen.  Soweit  der  Berliner  philosophische  Radikalismus  sich 
auf  die  Anregungen  einließ,  die  vom  französischen  Sozialismus 
herüberkamen,  und  das  tat  er  auf  seine  Weise,  drehte  er  sich  nur 
mehr  oder  minder  im  Kreise  herum  und  bewies,  daß  es  ihm  un- 
möglich war,  den  eigenen  Schatten  zu  überspringen.  Charakteri- 
stisch dafür  ist  Buhls  Aufsatz  über  die  Weltstellung  der  Revolution, 
der  im  Athenaeum  am  21.  Juli  und  7- August  1841  erschien.  Buhl 
bekannte  sich  darin  zu  dem  Prinzip  der  Gleichheit,  das  die  Seele 
des  französischen  Sozialismus  ausmache  und  forderte,  daß  nach 
der  Organisation  des  Staats  auch  an  die  Organisation  der  Gesell- 
schaft gegangen  werden  müsse.  Aber  aus  der  bloßen  Tatsache  des 
Verfalls  der  Saint-Simonistischen  Schule  schöpfte  er,  kleingläubig 
wie  er  im  Innersten  seines  Herzens  war,  die  Überzeugung,  daß 
für  die  Verwirklichung  dieses  großen  Ideals  die  Zeit  noch  nicht 
reif  sein  könne.  Man  merkt  dem  versprengten  Fortschrittler  an, 
daß  ihm  der  Gedanke  nicht  geheuer  ist,  die  Pöbelherrschaft  auf 
den  Thron  zu  erheben  und  der  rohen  Gewalt  eine  Berechtigung 
einzuräumen;  lieber  möchte  er  die  Aufgabe,  die  Schranken  zwischen 


Die  Freien  und  der  Sozialismus.  Ill 

den  Klassen  niederzureißen,  der  Bildung  vorbehalten.  Entschiedener 
noch  verwarf  Eduard  Meyen  im  Nachwort  zu  einem  Abdruck  von 
Gozlaus  Bericht  über  die  Abreise  der  Fourieristen  nach  Brasilien 
im  Athenaeum  vom  23.  Oktober  jede  Art  von  Sozialismus.  Ihm 
genügte  vollauf  die  Gleichheit  der  Bildung  und  der  Verfassung, 
die  des  Besitzes,  meinte  er,  habe  die  Geschichte  längst  als  eine  Ab- 
straktion verworfen ;  die  Geschichte  wolle  die  Freiheit,  nicht  die 
Gleichheit,  sie  bedürfe  sogar  der  Ungleichheit,  um  in  dem  Menschen- 
geschlecht dieselbe  Abstufung  und  dieselbe  Triebkraft  der  Be- 
wegung wie  in  der  Natur  zu  haben. 

Hatte  in  der  deutschen  Zeitschriften-  und  Broschürenliteratur 
das  Interesse  für  den  Saint-Simonismus  sich  schon  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  erschöpft,  so  hatten  hier  dafür  die  später  hervor- 
getretenen sozialistischen  Bestrebungen  des  Auslandes  Beachtung 
gefunden.  Eine  kritische  Darstellung  von  Fouriers  Sozialtheorie 
war  1840  aus  der  Feder  A.  L.  von  Rochaus,  erschienen,  Lamennais' 
Briefe  eines  Gläubigen,  an  denen  sich  die  wandernden  deutschen 
Handwerksburschen  berauschten,  hatte  Börne  ins  Deutsche  über- 
tragen, auch  von  den  Engländern,  besonders  von  Godwin  und  Owen, 
war  in  deutschen  Zeitschriften  die  Rede  gewesen.  Zuletzt  hatte 
der  Putsch  der  Blanquisten  vom  12.  Mai  1839  die  allgemeine  Auf- 
merksamkeit auf  das  Treiben  der  von  kommunistischen  Gedanken 
erfüllten  Geheimbünde  gelenkt.  Im  Freihafen  waren  1840  und 
1841  von  Franz  Schmidt  über  Die  neueren  Entwürfe  zu  einer 
Regeneration  der  Gesellschaft  und  über  Die  feindlichen  Elemente 
der  Gesellschaft  zwei  Aufsätze  erschienen,  die  dem  jungen 
Engels,  wenn  er  sie  gelesen  hat,  was  anzunehmen  ist,  wertvolle 
Anregungen  bringen  konnten.  Sie  verbreiteten  sich  über  die  ver- 
schiedenen sozialistischen  Systeme  und  über  die  praktischen  Be- 
strebungen der  Chartisten  und  der  Blanquisten.  Ihre  Taktik  ist 
dem  Verfasser  ein  Anzeichen  dafür,  daß  ein  Kampf  der  besitzlosen 
Menge  gegen  Macht  und  Besitz  sich  am  Horizont  mit  Deutlich- 
keit abzeichne.  Den  theoretischen  und  praktischen  Bemühungen 
der  ,, edlen,  für  Menschenwohl  heiß  erglühenden  Herzen"  der  großen 
Utopisten  Frankreichs  und  Englands  wird  hohes  Lob  gezollt  und 
die  Überlegenheit  des  Genossenschaftsgedankens  über  die  herrschen- 
den Formen  der  Produktion  anerkannt.  Weil  es  aber  Schmidt 
zweifelhaft  blieb,  ob  das  Beispiel  der  Rappisten  oder  anderer 
kommunistischer  Sekten  einer  Verallgemeinerung  fähig  wäre, 
findet  man  ihn  zu  guter  Letzt  dem  ,, herannahenden  Sturm"  ratlos 
gegenüber  stehen. 

Dieses  kaum  erwachte  Interesse  der  deutschen  Publizisten 
für  das  soziale  Problem  trat  noch  einmal  in  den  Hintergrund,  als 


112  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

am  Ausgang  des  Jahres  1841  und  besonders  in  den  folgenden  Mona- 
ten die  erweiterte  Preßfreiheit  der  Erörterung  rein  politischer 
Fragen  in  Preußen  endlich  eine  freiere  Bahn  zu  eröffnen  schien. 
Auch  die  Junghegelianer  glaubten  ja  anfänglich,  daß  sie  sich  nun 
auf  dem  geraden  Weg  von  der  Theorie  zur  Praxis,  von  dem  Gedan- 
ken zur  Tat  befänden,  auch  sie  versprachen  sich  goldene  Berge 
von  der  Freiheit  und  Öffentlichkeit  des  politischen  Lebens.  Nun 
mußte  es  sich  zeigen,  ob  durch  die  Adern  des  empirischen  Staats  die 
Säfte  flössen,  die  den  Vernunftstaat  aus  ihm  emportreiben  konnten. 
So  schoß  die  Begeisterung  für  den  Staat  und  für  die  Aufgaben,  die 
er  der  Menschheit  erfüllen  sollte,  hoch  in  die  Halme.  Selbst  Marx 
pries  den  Staat  als  ,,den  großen  Organismus,  in  welchem  die  recht- 
liche, sittliche  und  politische  Freiheit  ihre  Verwirklichung  zu  er- 
halten" habe.  So  hochgemute  Hoffnungen  mußten  erst  wieder 
zu  schänden  werden,  bevor  von  neuem  Raum  werden  konnte  für 
jene  Skepsis  gegenüber  dem  Staat,  die  Moses  Heß  aus  Frankreich 
mitgebracht  hatte,  wo  die  Enttäuschung  über  das  Bürger königtum 
bei  den  breiten  Volksmassen  wie  bei  jenen  aufgeklärten  Geistei-n, 
die  sich  mit  den  gesellschaftlichen  Problemen  ernsthaft  beschäftig- 
ten, eine  entschiedene  Abwendung  von  der  Politik  erzeugt  hatte. 
Leider  bot  der  preußische  Staat  weder  in  seiner  nüchternen 
Wirklichkeit  noch  selbst  in  der  idealisierten  Gestalt,  wie  die  Jung- 
hegelianer ihn  sich  erträumt  hatten,  für  so  weite  und  verschwim- 
mende Ideale,  wie  sie  Heß  vorschwebten,  Aussichten,  die  Hoff- 
nungen wecken  konnten.  Wie  wenig  selbst  entsprachen  der  Ent- 
wicklung zur  Einheit,  die  ihm  seine  metaphysische  Inbrunst 
vorgaukelte,  die  Wünsche  des  Liberalismus,  die  die  Über- 
brückung des  schroffen  politischen  Dualismus  in  Preußen  sich  zum 
Ziele  setzten.  Die  ,, Vereinzelung  des  Menschen  praktisch  aufzu- 
heben" ging  sehr  weit  über  alles  hinaus,  was  Staat  und  Kirche,  die 
Heß  deshalb  beide  als  mittelalterliche  Formen  des  sozialen  Lebens 
verwarf,  zu  leisten  sich  anheischig  machten.  Als  nun  aber  jetzt 
der  Staat  die  Hoffnungen  aller  Freigesinnten  enttäuschte  und  eine 
grenzenlose  Ernüchterung  bei  ihnen  einkehrte,  da  schien  Heß 
der  rechte  Augenblick  gekommen,  um  seine  Gedanken  in  die  Dis- 
kussion zu  werfen  und  auch  in  Deutschland  der  Überzeugung 
Anhänger  zu  gewinnen,  daß  nicht  der  Staat,  sondern  die  Ge- 
sellschaft der  wahre  Kampfplatz  sei,  auf  dem  die  weltgeschicht- 
lichen Entscheidungen  fallen.  Jetzt  hoffte  er  offene  Ohren  zu  fin- 
den für  seine  Überzeugung,  daß  in  Deutschland  ebenso  wie  in  Eng- 
land und  Frankreich  eine  Emanzipation,  die  das  ganze  Volk  um- 
fassen solle,  nur  auf  dem  Boden  der  Gesellschaft  möglich  wäre. 
Die   Wichtigkeit    des  gesellschaftlichen   Problems  neben   oder  gar 


Heine  und  der  Kommunismus.  I13 

vor  dem  politischen  hatte  die  englische  und  die  französische  Er- 
fahrung auch  hier  schon  vernehmlich  verkündet.  Aber  das  junge 
Deutschland,  das  so  groß  im  Aufgreifen  und  so  klein  im  Ausreifen 
war,  hatte  diesen  Gesichtspunkt  bloß  in  verschwommenen  Phrasen 
herausgekehrt  und  ihn  weder  wissenschaftlich  noch  praktisch 
fruchtbar  gemacht.  Immerhin  dankte  Engels,  wie  wir  uns  erinnern 
wollen,  dem  Einfluß  des  Saint-Simonismus  auf  diese  Kreise,  daß 
er  frühzeitig  über  die  Grenzen  des  Eigentums  und  des  Erbrechts 
nachzudenken  begann.  Was  Klassengegensätze  bedeuten,  hatte 
er  als  Kind  im  Wuppertal,  wie  diese  die  Verfassung  beeinflußten, 
am  Bremer  Notabeinstaat  beobachten  können,  Venedeys  Pamphlet 
gegen  Preußen  hatte  ihm  gezeigt,  wie  sich  in  einem  Großstaat  auf 
das  Privileg  des  Besitzes  ganz  allgemein  politische  Privilegien  grün- 
deten. Aber  Erfahrungen  und  Beobachtungen  solcher  Art  mußten, 
das  lag  in  seiner  Natur,  erst  in  der  Not  des  Kampfes  um  die  Welt- 
anschauung in  seiner  Seele  lebendig  werden,  bevor  sie  vom  Zentrum 
seines  Denkens  aus  das  Zentrum  seines  Willens  in  Bewegung 
setzen  konnten.  Früher  und  schärfer  als  das  junge  Deutschland 
hatte  mit  der  Hellsichtigkeit  des  Genius  Heinrich  Heine  die  gesell- 
schaftliche Krisis  begriffen,  ihre  weltgeschichtliche  Tragweite 
erkannt,  in  kristallklare  Sätze  ihren  Sinn  gefaßt.  Der  Gedanke 
von  den  zwei  Nationen  der  Reichen  und  der  Hungerleider,  die  sich 
innerhalb  des  gleichen  Volkes  schroff  bekriegten,  dem  wir  schon 
1821  in  Ratcliff  begegnen,  tauchte  von  neuem,  um  nicht  wieder 
zu  verschwinden,  bei  ihm  auf,  als  die  Julirevolution  ihn  an  den 
Mittelpunkt  des  sozialen  Ideenkampfes  geführt  hatte.  Fortan 
starrte  er  gespannten,  fast  ängstlichen  Blickes  in  den  Hexenkessel, 
dem  die  neuen  seltsamen  Blasen  entstiegen,  und  von  den  Beobach- 
tungen, die  er  anstellte,  floß  manches  in  die  Berichte  hinein,  die 
er  über  die  französischen  Zustände  unter  der  Julidynastie  an  die 
Allgemeine  Zeitung  sandte.  Die  Lesewut  des  jungen  Engels,  da- 
zu die  Bedeutung  der  Allgemeinen  Zeitung  und  die  Berühmtheit 
ihres  Korrespondenten,  machen  es  wahrscheinlich,  daß  ihm  die 
Briefe  nicht  entgingen,  in  denen  der  Dichter,  auf  den  europäischen 
Charakter  der  näherziehenden  sozialen  Revolution  verweisend,  seinen 
Landsleuten  den  Kommunismus  als  den  düsteren  Helden  vorstellte, 
der  nur  noch  des  Stichworts  harre,  um  eine  große,  wenn  auch  nur 
vorübergehende  Rolle  auf  der  Weltbühne  zu  spielen.  Einmal 
hatte  Engels  eine  neue  Lehre  abgelehnt,  obgleich  sie  die  gewaltigen 
Probleme,  die  ihm  zusetzten,  in  ein  verführerisches  Licht  rückte, 
weil  sein  philosophisches  Bewußtsein  Einspruch  erhob.  So  wenig 
wie  damals  als  Schleiermachers  gütige  Lehre  ihn  versuchte,  hätte 
jetzt   das   menschheitbeglückende    Ideal   des    Sozialismus    dauernd 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  8 


XX^  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

über  ihn  Macht  gewonnen,  wenn  die  Entwicklung  seines  Denkens 
in  eine  entgegengesetzte  Richtung  gewiesen  hätte.  Jetzt  aber 
quälte  ihn  gerade  die  Frage,  wie  das  vollkommene  Gattungsbewußt- 
sein Feuerbachs,  unter  dem  er  sich  so  viel  vorstellte  und  das  ihn  so 
mächtig  anzog,  in  die  Wirklichkeit  übertragen  werden  könnte. 
Da  kamen  ihm  die  Schriften  der  französischen  Sozialisten  wie 
gerufen,  und  begierig  lauschte  er  Moses  Heß,  der  ihn  über- 
zeugen wollte,  daß  der  Kommunismus  nur  die  geradlinige  Fort- 
setzung des  Weges  sei,  auf  dem  Feuerbach  die  deutsche  Philosophie 
aus  dem  einseitigen  Intellektualismus  der  junghegelschen  Doktrin 
zu  befreien  begonnen  hatte. 

Heß  hatte  in  der  Rheinischen  Zeitung  schon  im  April  eine 
Kundgebung  französischer  ,, rationalistischer"  Sozialisten  abdrucken 
lassen,  die  sich  als  Kommunistisches  Manifest  bezeichnete.  Der 
Überblick  über  die  Entwicklung  des  Kommunismus  in  Frankreich, 
den  sie  enthielt,  sollte  diesen  dem  deutschen  Publikum  als  eine  be- 
deutsame historische  Erscheinung  vorstellen,  die  jenseits  des 
Rheins  bei  den  Gebildeten  wie  beim  Volke  bereits  zahlreiche  An- 
hänger gewonnen  habe  und  die  man  deshalb  nicht  mehr  mit  einigen 
hochtrabenden  Redensarten  ins  Irrenhaus  verweisen  dürfe,  sondern 
studieren  und  ihrem  inneren  Gehalt  entsprechend  würdigen  müsse. 
Die  Deutschen  vor  der  Oberschätzung  der  politischen  Kampfstätte, 
die  noch  den  Reiz  der  Neuheit  für  sie  hatte,  zu  warnen,  lag,  wie  sich 
schon  zeigte,  Heß  am  Herzen.  Er  glaubte,  dem  Kommunismus 
in  Deutschland  erst  wirklich  Gehör  verschaffen  zu  können,  wenn 
er  das  gebildete  Publikum  über  die  ,, Hohlheit  des  konstitutionellen 
Formalismus",  an  der  freilich  die  führenden  Geister  unter  den  Jung- 
hegelianern längst  nicht  mehr  zweifelten,  aufgeklärt  hätte.  Er 
verschwieg  die  Gründe  auch  nicht,  aus  denen  der  Kommunismus 
dem  Konstitutionalismus  feindlich  gesinnt  war,  sondern  ließ  durch- 
blicken, daß  so  wenig  wie  diese  irgend  eine  andere  Regierungsform 
die  Macht  besäße,  die  vorhandenen  sozialen  Übel  zu  heilen  und  die 
tiefgreifenden  Gegensätze,  die  bestünden,  aufzuheben. 

Hatte  Heßsich  beim  ersten  Anpochen  noch  mit  einem  verhält- 
nismäßig kurzen  Hinweis  begnügt,  so  entwickelte  er  einige  Monate 
später,  am  elften  September,  in  einem  von  dem  Berliner  Kreis, 
dem  auch  Engels  angehörte,  stark  beachteten  Aufsatz  der  Rhei- 
nischen Zeitung  seine  Gedanken  ausführlicher.  Hier  zeigte  er,  wie 
die  beiden  französischen  Revolutionen  keineswegs  dem  ganzen 
Volke,  sondern  lediglich  dem  Bürgertum  die  Macht  verschafft 
hatten.  Der  Gegenwart  aber  legte  er  die  Pflicht  auf  die  Schultern, 
das  ganze  Volk  zu  emanzipieren  und  damit  in  der  Geschichte  ein 
völlig  neues   Prinzip  zur   Herrschaft  zu  bringen.    Gewisse   Ideen, 


Heß  über  Kommunismus  in  der  Rheinischen  Zeitung.  ug 

meinte  er,  lägen  in  der  Luft  einer  geschichtlichen  Epoche,  und  man 
könne  sich  ihrer  nicht  erwehren.  ,,So  dachte  bis  vor  kurzem  noch 
niemand  daran,  daß  in  den  republikanischen  Institutionen  unserer 
Zeit  die  Freiheit  an  dem  Elend  scheitert,  welches  noch  einem  sehr 
großen  Teil  unserer  Gesellschaft  jede  Möglichkeit  einer  freien  Ent- 
wicklung der  Kräfte  abschneidet.  Der  Pauperismus,  die  Ver- 
armung des  Volkes,  hat  erst  in  jüngster  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  zu  ziehen  gewußt,  und  er  hat  den  Bestrebungen  der  Zeit 
eine  ganz  neue  und  eigentümliche  Richtung  gegeben.  Man  fühlt, 
daß  die  freisinnigen  Bestrebungen  bis  jetzt  unzureichend  waren, 
die  Mehrzahl  der  Menschen  aus  einem  Zustande  zu  ziehen,  der 
der  Sklaverei  praktisch  gleich  kommt;  man  macht  plötzlich  die  Ent- 
deckung, daß  es  noch  im  neunzehnten  Jahrhundert  Heloten  gibt. 
Seitdem  ist  es  nicht  mehr  die  Feudalaristokratie,  auch  nicht  mehr 
der  Absolutismus  allein,  was  dem  Zeitgeist  widerspricht:  die  ganze 
Organisation  oder  vielmehr  Desorganisation  unseres  sozialen  Lebens 
erheischt  eine  Reform.  Die  Gesetzgebung  muß  noch  auf  eine  andere 
Weise  als  durch  die  Polizei,  durch  Korrektional-  und  Kriminal- 
gerichte mit  der  armen,  unmündigen  Volksklasse  in  Berührung 
kommen.  Von  den  süßen  Früchten  der  Zivilisation  erhält  diese 
Klasse  wenig,  desto  mehr  von  ihren  herben  zu  kosten.  Das  ist 
eine  große  Ungerechtigkeit  und  ein  ebenso  großes  Unglück.  Alle 
freien  Staatsverfassungen,  von  der  französischen  Republik  an  bis 
herauf  zu  den  Republiken  des  Altertums,  sind  an  dieser  Klippe  ge- 
scheitert und  wenn  die  nordamerikanische  Union  ihre  freien  In- 
stitutionen aufrecht  erhält,  ohne  daß  die  Aufhebung  des  Gegen- 
satzes von  Pauperismus  und  Geldaristokratie  im  Geiste  ihrer  so- 
zialen Institutionen  liegt,  so  hat  sie  eben  nicht  diesem  Geiste,  son- 
dern der  Natur  ihrer  Verhältnisse  ihr  Glück  zu  verdanken." 

Ein  Aufsatz  über  Zentralisation  und  Freiheit,  der  acht  Tage 
später,  also  am  i8.  September  1842,  in  der  Rheinischen  Zeitung 
erschien,  trägt  dasselbe  Korrespondentenzeichen,  dessen  Engels 
sich  bediente.  Ist  dieser  wirklich  der  Verfasser,  wie  wir  annehmen 
möchten,  so  erhielten  wir  hiermit  einen  wertvollen  Einblick  in  seine 
Gedankenwerkstätte  während  der  Wochen,  in  denen  er  sich  end- 
gültig für  den  Kommunismus  entschied.  Der  Hinweis  auf  die  Ge- 
schichtsauffassung der  Franzosen,  die  das  eigentliche  Substrat  der 
Geschichte  in  der  Gesellschaft  erblickten,  dürfte  ihn  schneller  und 
widerstandsloser  überzeugt  haben  als  jene  Gesinnungsgenossen, 
die  Hegels  Rechtsphilosophie  tiefer  erlebt  hatten  und  sich  deshalb 
schwerer  von  seiner  übersteigerten  Wertung  der  Mission  des 
Staats  freimachten.  Dieser  Aufsatz  bekämpft  Hegels  Auffassung, 
daß  der  Staat  die  Realisierung  der  absoluten  Freiheit  sei.   Möge  der 


Il6  Hinwendung  zum  Kommunismixs. 

Staat  die  objektive  Freiheit  realisieren,  die  subjektive,  die  wahre 
Freiheit,  fände  ihre  Verwirklichung  allein  in  der  Geschichte. 
Souveränität  käme  nur  der  Geschichte  zu,  denn  diese  sei  die  Tat 
der  Menschheit,  das  Leben  der  Gattung,  das  absolute  Recht.  Die 
Staatsgewalt  erstrecke  sich  nur  auf  das,  was  allgemein  gelte,  nicht 
auf  jenes,  was  bloß  die  einzelnen  angehe.  Deshalb  könnten  die 
englischen  Arbeiter,  die  bitter  Hunger  litten,  mit  Recht  gegen  ihre 
Verfassung  und  gegen  Sir  Robert  Peel  Klage  erheben,  nicht  aber 
gegen  die  Geschichte,  die  sie  zu  ,, Trägern  und  Vertretern  eines 
neuen  Rechtsprinzips"  mache.  Daß  Engels  im  Sommer  1842  be- 
reits mit  Nachdruck  auf  die  sozialen  Probleme  sein  Augenmerk 
richtete,  zeigt  auch  ein  kleiner  Ausfall  gegen  die  am  ,, toten  abstrak- 
ten Recht"  klaubenden  Widersacher  der  Geschworenengerichte, 
ebenfalls  in  der  Rheinischen  Zeitung,  der  wohl  sicher  auf  ihn  zu- 
rückgeht. Manche  Juristen,  heißt  es  hier,  schrien  Mord  und  Brand 
und  erklärten  die  Sicherheit  von  Leben  und  Eigentum  für  unter- 
graben, wenn  einmal  die  Geschworenen  in  Frankreich  oder  Eng- 
land einen  armen  Proletarier  freisprächen,  der  in  der  Verzweiflung 
des  Hungers  für  einen  Heller  Brot  gestohlen  habe  und  den  Dieb- 
stahl hernach  eingestehe. 

Ebenso  lebhaft  wie  die  neuen  sozialistischen  Gedanken  seinem 
Geiste,  prägten  sich  seiner  Seele  die  Bilder  aus  der  Welt  der  Armut 
ein,  die  ihm  bei  der  Lektüre  der  englischen  und  französischen  Zeit- 
schriften, stärker  vielleicht  noch  in  den  Romanen  Eugene  Sues, 
George  Sands,  Dickens  und  Disraelis  um  diese  Zeit  begegneten. 
Und  diese  Eindrücke  gewannen  bei  ihm  gleich  eine  starke  sinnliche 
Anschaulichkeit,  weil  sie  ihm  sofort  mit  den  zeitweise  vielleicht  zu- 
rückgetretenen, aber  darum  doch  unverwischbaren  Kindheitser- 
innerungen aus  dem  heimischen  Wuppertal  verschmolzen,  wo 
er  die  entsetzlichen  Begleiterscheinungen  des  modernen  Früh- 
kapitalismus in  erschreckender  Sinnfälligkeit  vom  Straßenbild  ab- 
gelesen hatte.  Wie  tief  die  Szenen,  die  er  da  auf  seinem  Schulweg 
oftmals  erlebte,  das  soziale  Empfinden  des  Knaben  geweckt  und 
wach  gehalten  hatten,  beweist  hinreichend  die  von  flammender 
Entrüstung  eingegebene  Schilderung  seiner  Briefe  aus  dem  Wup- 
pertal .  Wenn  sein  Großvater  van  Haar  geraten  hatte,  alle  Ma- 
schinen zu  zerstören  und  von  ihnen  bloß  kleine  Modelle  in  Kunst- 
kabinetten aufzubewahren  (vgl.  dazu  auch  Raumer,  England  im 
Jahre  1833  H.  Seite  11),  so  ist  die  Abneigung  gegen  die  Maschinen 
auf  den  Enkel  übergegangen,  mochte  dieser  auch  einsehen,  daß  es 
kurzsichtig  wäre,  die  Schöpfungen  der  Menschen  statt  der  Menschen 
selbst  zur  Verantwortung  zu  ziehen.  Erinnern  wir  uns  wieder  der 
Anklagen,  die  sich,  Jahre  hindurch  aufgespeichert,  der  Brust  des 


Engels  Jugendeindrücke  aus  dem  Wuppertal.  uy 

Achtzehnjährigen  entrangen,  der  Bitterkeit,  mit  der  er  die  Aus- 
beutung der  Kinder,  die  Überarbeitung  der  Erwachsenen,  alle  die 
schweren  Mißstände,  die  in  der  Fabrik  wie  in  der  Heimarbeit 
jede  Lebenslust  hinmordeten,  geißelte,  so  begreifen  wir  sofort,  wie 
jene  seiner  Phantasie  eingegrabenen  düsteren  Bilder  zu  revolu- 
tionärer Brunst  aufflammten,  als  ihn,  eben  wie  ihn  die  kom.muni- 
stischen  Ideen  packten,  im  August  1842,  die  Kunde  erreichte,  daß 
in  den  riesigen  Tcxtildistrikten  Englands  ein  entrechtetes  Prole- 
tariat zur  Selbsthilfe  geschritten  sei  und  den  Generalstreik  pro- 
klamiert habe.  In  diesen  Tagen,  als  sich  Heß  Voraussage,  daß 
in  England  die  soziale  Revolution  herannahe,  buchstäblich  zu  er- 
füllen schien,  mag  Engels  den  Entschluß  gefaßt  haben,  den  Um- 
stand, daß  der  Vater  an  einer  Fabrik  in  Manchester  beteiligt  war, 
als  eine  Gunst  des  Schicksals  zu  betrachten  und  nach  seiner  heran- 
nahenden Entlassung  vom  Militär  das  soziale  Erdbebengebiet 
Lancashires  aufzusuchen.  Dem  widerspräche  ja  nicht,  daß  ein 
Polizeibericht  aus  den  fünfziger  Jahren  wissen  will,  der  Vater  habe 
den  Sohn,  um  ihn  der  aufklärerischen  Atmosphäre  Deutschlands  zu 
entziehen,  unter  der  Drohung,  er  werde  ihm  sonst  jeden  Zuschuß 
verweigern,  gedrängt,  nach  Manchester  hinüber  zu  gehen. 

In  einem  Aufsatz,  den  er  im  folgenden  Jahre  in  England  für 
das  Organ  der  dortigen  Sozialisten  schrieb,  behauptete  Engels, 
daß  die  Artikel,  in  denen  Heß  in  der  Rheinischen  Zeitung  auf  den 
Kommunismus  hinwies,  ohne  die  gewünschte  Wirkung  geblieben 
seien.  War  aber  dieses  Urteil  gerechtfertigt?  Ließ  sich  von  ihnen 
zuvörderst  etwas  anderes  erwarten,  als  daß  vereinzelte  fortgeschrit- 
tene Geister  auf  die  für  Deutschland  noch  so  neue  Gedankenwelt 
aufmerksam  gemacht  wurden?  War  es  da  nicht  schon  Erfolg 
genug,  daß  es  Heß  gelingen  konnte,  Geister  wie  ihn  und  Marx  von 
der  Wichtigkeit  des  Kommunismus  zu  überzeugen,  ihnen  die  Not- 
wendigkeit darzutun,  sich  eingehender  mit  ihm  zu  beschäftigen? 
Nun  erhielt  aber  Heß  bei  seinem  Versuch,  die  neue  Heilslehre  in 
die  deutsche  Presse  und  in  die  Diskussion  einzuschmuggeln,  plötz- 
lich eine  Unterstützung,  auf  die  er  nicht  hatte  rechnen  können. 
Gerade  als  er  eben  mit  der  vollen  Hingabe  des  Apostels  den  Kom- 
munismus zu  verkünden  begonnen  hatte,  vollendete  nach  einem 
längeren  Studienaufenthalt  in  Paris  der  junge  Lorenz  Stein  mit 
dem  kühleren,  aber  dafür  auf  systematische  Abrundung  bedachten 
Erkenntnisdrang  des  Gelehrten  sein  Werk  über  den  Sozialismus 
und  Kommunismus  des  heutigen  Frankreich.  Nach  allem,  was 
wir  bereits  wissen,  müßten  wir  es  eine  arge  Übertreibung  nennen, 
wollte  jemand  noch  behaupten,  daß  es  erst  dieses  Buches,  das  Mitte 
September   erschien,   bedurft  habe,  um   in   Deutschland  die   Auf- 


XX8  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

merksamkeit  eines  geistigen  Vortrupps  auf  die  Bedeutung  des 
französischen  Sozialismus  hinzulenken.  Den  weiteren  Kreisen 
der  Gebildeten  aber  brachte  erst  dieses  Kompendium  eine  für  den 
ersten  Bedarf  ausreichende  Kenntnis  der  französischen  Bewegung; 
ihnen  erschloß  erst  Stein  das  Verständnis  für  die  Wichtigkeit 
der  neuen  Probleme.  Unter  den  Lesern  des  Buches  gab  es  sicher- 
lich niemanden,  dem  es  so  wenig  Neues  vermittelte,  niemanden  auch, 
der  mit  der  Ablehnung  des  Kommunismus,  zu  der  Stein  gelangte, 
weniger  einverstanden  sein  konnte  als  Moses  Heß.  Dennoch  em- 
pfahl selbst  er  ein  Werk,  das  so  zur  rechten  Stunde  kam,  um  das 
Material,  dessen  Verbreitung  er  wünschen  mußte,  vor  dem  deutschen 
Leser  auszuschütten;  und  noch  später  hat  er  anerkannt,  daß  erst 
der  ,, reaktionäre  Stein"  die  Beschäftigung  mit  dem  Sozialismus 
in  Deutschland  legitim  gemacht,  daß  er  sich  um  dessen  Verbreitung 
größere  Verdienste  erworben  habe  als  die  Junghegelianer,  die  sich 
vor  ihm  gescheut  hätten,  weil  er  ihr  Idol  von  Vernunftstaat  über 
den  Haufen  zu  werfen  drohte.  Nun  kam  freilich  auch  Lorenz  Stein 
von  Hegel  her.  Aber  wie  Heß  so  hatten  auch  ihn  Saint-Simons 
fruchtbare  Anregungen  über  die  praktische  Begrenztheit  des 
Hegeischen  Standpunkt  soweit  aufgeklärt,  daß  er  sich  diesem 
mit  Freiheit  gegenüberstellen  konnte.  Hegel  und  Saint-Simon  ver- 
dankte er  die  Überlegenheit,  mit  der  er  die  einzelnen  Probleme 
unter  den  größten  Gesichtspunkten  begriff,  die  scheinwerferische 
Einseitigkeit,  mit  der  ihm  beim  Vergleich  verschiedener  Kulturen 
alles  Licht  auf  die  wesentlichsten  Stellen  zusammenfloß.  Stein 
kam  keinen  Augenblick  in  die  Versuchung,  als  Politiker  ein  Be- 
kenner  der  Gedankenwelt  zu  werden,  die  zu  beschreiben  er  als 
Gelehrter  sich  vorgesetzt  hatte.  Er  stand  der  preußischen  Bureau- 
kratie  nahe,  steuerte  auf  die  akademische  Laufbahn  los  und  schrieb, 
während  er  in  Paris  sein  Werk  abfaßte,  zugleich  gegen  Bezahlung  Be- 
richte für  den  preußischen  Polizeiminister.  So  scharfen  Blicks  er  die 
Punkte  erkannte,  wo  die  deutsche  Philosophie  und  die  französische 
Gesellschaftswissenschaft  sich  berührten  und  schieden,  so  wenig  ge- 
sonnen war  er,  mit  Heß,  dessen  Gedankengänge  übrigens  bei  ihm  stark 
anklingen,  den  Kommunismus  als  den  Erben  der  deutschen  Philo- 
sophie auf  den  Schild  zu  erheben.  Umgekehrt  betrachtete  er  es 
als  seine  ,, heilige  Pflicht",  den  Regierungen  und  der  öffentlichen 
Meinung  Deutschlands  ein  Licht  aufzustecken  über  diese  der  Hei- 
mat täglich  näher  rückende  Gefahr,  die  mit  der  Zeit  auch  hier  die 
Grundlagen  des  Staats  und  der  Gesellschaft,  deren  Aufrechterhaltung 
er  wünschte,  ,,mehr  wie  der  mächtigste  äußere  Feind"  bedrohen 
könnte.  Auch  Stein  hatte  aus  der  Beschäftigung  mit  dem  Saint- 
Simonismus  die   Überzeugung  gewonnen,  daß  die  deutsche  Philo- 


Das  Werk  Lorenz  Steins.  ng 

Sophie  nur  eine  Philosophie  des  Wissens  keine  Philosophie  der  Tat, 
außer  stände  sei,  der  Zukunft  Ziele  zu  weisen.  Sie  habe  den  „ge- 
waltigsten Widerspruch  unserer  Zeit"  nicht  rechtzeitig  begreifen 
können,  weil  im  Gegensatz  zu  Frankreich  der  Glaube  an  den  ab- 
soluten sittlichen  Charakter  des  Staates  in  Deutschland  unerschüt- 
tert, das  Leben  der  Gesellschaft  hier  noch  zu  keiner  selbständigen 
Entwicklung  gekommen  wäre.  Aber  die  Ausbreitung  des  Kom- 
munismus in  Frankreich  und  England  müsse  auch  in  Deutschland 
dahin  führen,  daß  man  dem  Zustand  der  Gesellschaft  und  dem  Leben 
der  Klassen,  die  sich  in  ihr  immer  deutlicher  kristallisierten,  hin- 
fort eine  größere  Beachtung  schenke.  Ebenso  wie  in  jenen  Ländern 
werde  künftig  auch  bei  uns  nicht  der  Staat  die  Gesellschaft,  sondern 
die  Gesellschaft  den  Staat  gestalten.  Wie  die  Rechtsphilosophie 
den  Deutschen  bedeute  den  Franzosen  der  Sozialismus  den  Punkt, 
wo  aus  dem  Begreifen  des  Seins  sich  das  Gesetz  des  Sollens  ent- 
wickele. In  Frankreich  habe  die  Abstraktion  niemals  so  wie  in 
Deutschland  die  Gewalt  gehabt,  die  sinnliche  Gewißheit  in  ihrem 
unmittelbaren  Festhalten  am  Äußeren  wirklich  zu  erschüttern. 
Während  die  deutsche  Wissenschaft  davon  ausging,  den  Geist  von 
der  Materie,  den  Gedanken  vom  Eindruck  zu  befreien,  habe  die 
französische  von  vornherein  als  Basis  den  ganzen  Menschen,  die 
Einheit  von  Geist  und  Leben  gesetzt.  Wir  Deutschen  begönnen 
langsam,  unsicher  noch,  aber  doch  mit  entschiedener  Richtung, 
einen  Willen  zu  haben,  zu  wollen,  was  wir  zu  leugnen  nicht  ver- 
mögen, ,,und  so  wird  uns  aus  dem  Erkennen  des  Ganges  der  Geschichte 
das  Gesetz  unseres  eigenen  Wollens". 

Marx  hatte  noch  in  der  zweiten  Hälfte  der  vierziger  Jahre  an- 
erkennende Worte  für  ein  Werk,  von  dem  manche  behaupten,  daß 
es  ihm  die  Pforte  zu  der  Problemwelt  aufgetan  habe,  deren  Meister 
er  hernach  wurde.  Engels  dagegen  äußerte  sich  schon  1843  ab- 
fällig über  ,,die  matte  Elendigkeit  des  Steinschen  Buches",  das  in 
seinem  Leben  keine  Epoche  gemacht  haben  kann.  Der  deutsche 
Sprachgebrauch  verstand  bekanntlich  damals  unter  Sozialismus 
die  in  mehr  oder  weniger  akademischer  Form  vorgetragenen  mehr 
oder  weniger  radikalen  Wünsche  für  eine  friedliche  Erneuerung 
der  gesellschaftlichen  Zustände,  unter  Kommunismus  die  auf 
ihren  Umsturz  gerichteten  Bestrebungen,  deren  Träger  die  geheimen 
Verbindungen  der  Proletarier  waren.  Stein  formulierte  den  Unter- 
schied dahin,  daß  der  Sozialismus  ausschließlich  durch  die  Gewalt 
der  Wahrheiten,  die  er  aufstelle,  eine  neue  Gesellschaft  bilden,  der 
Kommunismus  durch  die  Gewalt  der  Masse,  ja  durch  Revolution 
und  Verbrechen,  die  bestehende  Gesellschaft  umstürzen  wolle.  Der 
Sozialismus  erschien  ihm  und  seinesgleichen  salonfähig,  im  Kom- 


J20  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

munismus  sahen  sie  eine  Pest,  die  ausgerottet  werden  müßte. 
Engels  hat  von  Anfang  an,  soweit  deutsche  Zustände  in  Betracht 
kamen,  nicht  unterschieden  zwischen  Soziahsmus  und  Kommunis- 
mus, sondern  zwischen  dem  philosophischen  Kommunismus,  dessen 
Träger  Angehörige  der  gebildeten  Klassen  waren,  und  dem  Kom- 
munismus der  Handwerker,  der  Proletarier.  Der  Bahnbrecher  des 
philosophischen  Kommunismus  in  Deutschland  war  ihm,  wie  wir 
sahen,  Heß;  als  der  Begründer  einer  kommunistischen  Bewegung, 
die  aus  den  Tiefen  des  deutschen  Proletariats  selbst  kam  und  von  der 
er  bisher  nichts  geahnt  hatte,  tauchte  jetzt  eben  vor  seinen  Augen 
Weitling  auf.  Es  war  der  Spätsommer  1842,  als  Engels  zuerst  er- 
fuhr, daß  jenes  neue  Evangelium,  das  er  eben  als  die  logische  Fort- 
entwicklung der  junghegelschen  Doktrin  sich  begreiflich  zu  machen 
suchte,  bei  der  Masse  selbst,  der  es  das  Heil  bringen  wollte,  bereits 
zu  zünden  begonnen  hatte.  Die  Kunde,  daß  wandernde  Handwerks- 
gesellen im  Auslande  den  gerüchtumsponnenen  geheimen  Gesell- 
schaften der  Kommunisten  beigetreten  seien,  war  durch  heim- 
kehrende Reisende,  durch  in  die  Öffentlichkeit  hinübersickernde 
Polizeiberichte  oder  durch  gelegentliche  Zeitungskorrespondenzen 
aus  Frankreich  und  der  Schweiz  seit  der  letzten  Hälfte  der  dreißiger 
Jahre  ab  und  zu  dem  gebildeten  deutschen  Publikum  zugekommen, 
ohne  daß  seine  Aufmerksamkeit  bei  einer  Erscheinung  verweilt 
hätte,  die  ihm  nur  erst  eine  ferne  Kuriosität  bedeutete,  für  deren 
Einschätzung  ihm  im  eigenen  Lande  alle  Anhaltspunkte  fehlten. 
Sogar  Heß  wußte,  als  er  im  Winter  von  1842  auf  1843  nach  Paris 
kam,  wie  er  selbst  erzählt,  nichts  davon,  daß  es  dort  kommunistische 
Vereine  der  deutschen  Handwerker  gab.  Frühzeitiger  unterrichtet 
als  das  Bürgertum  waren  die  Regierungen,  die  mit  der  Wachsam- 
keit eines  Schutzmanns  auch  diese  Bestrebungen  verfolgten,  un- 
ermüdlich bedacht,  ihren  in  erzwungenem  Schlafe  ruhenden  Unter- 
tanen umstürzlerische  Ideen,  wie  immer  sie  lauten  mochten,  fern 
zu  halten.  Kaum  war  dem  Polizeiminister  von  Rochow  zu  Ohren 
gekommen,  daß  ein  durchaus  zuverlässiger  junger  schleswigscher 
Gelehrter  sich  zum  Studium  des  französischen  Sozialismus  und 
Kommunismus  in  Paris  aufhielte,  so  ließ  er  ihm  nahe  legen,  ,,auf 
das  dortige  Verbindungswesen  der  deutschen  Handwerker  und  auf 
den  Zusammenhang  derselben  mit  den  Kommunisten  seine  Auf- 
merksamkeit zu  richten".  Stein,  der  dem  Wunsche  unbedenklich 
nachkam,  hielt  sich  nicht  so  streng  an  sein  Thema,  daß  er  nicht 
auch  dem  Minister  lehrreiche  Privatissima  über  den  Unterschied 
zwischen  der  deutschen  und  der  französischen  Opposition  im  all- 
gemeinen und  der  deutschen  und  französischen  Handarbeiterklasse 
im  besonderen  zukommen  ließ.    Bedenklicher  war,  daß  er  in  seiner 


Das  Hervortreten  des  H^mdwerke^kommunismu^.  12 1 

Beflissenheit  sich  zu  der  Beteuerung  verstieg,  daß  niemand,  der  in 
Deutschland  nur  entfernt  als  vernünftig  angesehen  werden  wolle, 
begreifen  möchte,  wie  ein  Volk,  auch  das  unersättlichste,  noch  nach 
mehr  Freiheit  verlangen  könne,  als  das  französische  unter  seinem 
Bürgerkönigtum    habe! 

Auch  die  preußische  Diplomatie  half  der  Berliner  Regierung 
die  Verbreitung  der  kommunistischen  Irrlehren  unter  ihren  im  Aus- 
land weilenden  Landeskindern  zu  überwachen.  Nicht  weniger 
schenkte  der  König  dem  ,, unheilvollen  Einfluß",  den  diese  Lehren 
,,auf  die  mittellose  Klasse  der  Handwerker  und  Arbeiter  gewinnen" 
konnten,  seine  Aufmerksamkeit,  mochte  er  sich  auch  sagen,  daß 
,,für  jetzt  noch  von  diesen  Umtrieben  eine  ernste  Gefahr  nicht  zu 
besorgen"  wäre.  Zu  einer  Zeit,  als  sich  die  radikale  Presse  des  In- 
landes noch  nicht  einmal  über  die  Orthographie  des  Namens  Weit- 
ling klar  geworden  war,  ließ  die  preußische  Regierung  bereits 
den  gefährlichen  Schneidergesellen  durch  ihre  Spitzel  aushorchen 
und  unterbreitete,  als  im  Januar  1841  Die  Welt  wie  sie  ist  und 
wie  sie  sein  soll  in  den  Felleisen  heimkehrender  rheinischer  Hand- 
werksburschen aufgefunden  wurde,  der  Zentralbehörde  in  Frank- 
furt sofort  die  richtige  Vermutung,  daß  diese  Broschüre  mit  dem 
Bund  der  Geächteten  in  Zusammenhang  stehen  müsse.  Nicht  un- 
möglich ist,  daß  Engels  den  ersten  Hinweis  auf  Weitling  seinem 
einstmaligen  Gönner  Gutzkow  verdankte,  der  sich  noch  immer 
darin  gefiel,  mit  neuen  literarischen  Größen,  für  die  er  dann  einen 
Entdeckerlorbeer  beanspruchte,  vor  dem  Publikum  zu  paradieren. 
Ihm  war  bei  einem  Aufenthalt  in  Paris  der  Hilferuf  der  deutschen 
Jugend  und  dessen  Fortsetzung  Die  junge  Generation  von  den 
Kommunisten  in  die  Hände  gespielt  worden.  Wie  ein  erlesener 
Leckerbissen  wirkten  die  neuen  Gedanken  auf  seinen  feinschmecke- 
rischen Geist,  mochte  er  auch  gestehen,  daß  er  selbst  über  das  Alter 
der  Illusionen  hinaus  sei.  Ihm  hatte  einst  der  früh  vollendete  Georg 
Büchner  versichert,  daß  niemals  die  Literatur  sondern  nur  der 
Hunger  die  Freiheit  verwirklichen  werde.  Erinnerte  sich  Gutzkow 
des  genialen  Freundes,  als  er  jetzt  in  seinen  Briefen  aus  Paris,  die 
im  Spätsommer  1842  herauskamen,  auf  Weitlings  Gedanken  ein- 
ging und  im  Augustheft  des  Telegraph  aus  der  Jungen  Generation 
dessen  Aufsatz  über  die  Regierungsform  des  kommunistischen 
Prinzips  abdruckte  ?  Nun  waren  in  diesem  Sommer  einige  Hefte 
der  Weitlingschen  Zeitschrift  zum  ersten  Mal  in  dem  Kreise  der 
Berliner  Literaten  aufgetaucht  und  hier  vorsichtig  von  einem  op- 
positionellen Stammtisch  zum  anderen  hinübergereicht  worden. 
Gewiß  hat  Engels  in  sie  Einsicht  erhalten.  Er  konnte  auch  den 
Deutschen  Boten  aus  der  Schweiz  erblickt  haben,  den  Herwegh  da- 


X22  Hinwendung  zum  Kommunismus. 

mals  umgestalten  wollte  und  der  in  diesem  August  in  einer  Kor- 
respondenz aus  Lausanne  die  Kommunisten  als  die  „neue  euro- 
päische Partei"  vorstellte,  die  sich  an  die  „armen  Teufel**  der  ver- 
schiedenen Länder  wende  und  die  eine  Zukunft  habe,  weil  die  Not 
von  jeher  die  Mutter  großer  Dinge  gewesen  wäre.  Als  im  Dezember 
des  Jahres  die  Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit  heraus- 
kamen, befand  Engels  sich  nicht  mehr  in  Deutschland.  Aber  er 
hat  sich  das  Buch  damals  trotzdem  sofort  zu  verschaffen  gewußt, 
und  wie  hoch  er  Weitlings  Hauptwerk  bewertete,  zeigte  sich  darin, 
daß  er  größere  Abschnitte  daraus  ins  Englische  übersetzen  wollte 
und  den  britischen  Sozialisten  den  Verfasser  als  den  Begründer 
des  deutschen  Kommunismus  vorgestellt  hat. 

Als  sein  Militärjahr  ablief,  schied  Engels  aus  dem  Kreise  der 
Freien,  in  deren  Mitte  er  viele  übermütige  Stunden  verlebt,  aber 
auch  fruchtbare  Anregungen  in  Fülle  eingesammelt  hatte,,  und 
von  Berlin,  das  er  nur  als  alter  Mann  noch  einmal  wiedergesehen 
hat.  Auf  dem  Wege  nach  Barmen  machte  er  in  Köln  Station,  um 
der  Redaktion  der  Rheinischen  Zeitung,  deren  Mitarbeiter  er  war, 
einen  Besuch  abzustatten.  Hier  begegnete  ihm  zum  erstenmal 
Moses  Heß.  Wird  uns  auch  nicht  ausdrücklich  überliefert,  worüber 
ihre  Unterhaltung  ging,  so  dürfen  wir  doch  mit  Bestimmtheit  ver- 
muten, daß  der  Jüngere  sich  dem  Älteren  als  Adept  des  neuen  Glau- 
bens, den  jener  predigte,  vorstellte,  und  von  ihm  literarische  Winke 
und  Ratschläge  erhielt.  Die  nächsten  Wochen  verbrachte  Engels, 
mit  Zurüstungen  für  die  Übersiedlung  nach  England  eifrig  be- 
schäftigt, im  Elternhause.  Er  verließ  es  im  letzten  Drittel  des  No- 
vember 1842,  wie  der  Vater  hoffte,  um  in  der  Spinnerei  von 
Ermen  &  Engels  in  Manchester  seine  kaufmännische  Ausbildung 
abzuschließen,  wie  er  sich  ausmalte,  um  die  industrielle  Arbeiter- 
bewegung, die  ihm  der  Angelpunkt  der  Zeitgeschichte  werden  sollte, 
in  ihrem  Brennpunkt  zu  studieren,  womöglich  um  die  soziale  Re- 
volution, die  er  am  britischen  Horizont  drohend  heraufziehen  sah, 
tätig  mit  zu  erleben.  Wiederum  fuhr  er  nicht  an  Köln  vorüber,  ohne 
auf  der  Redaktion  des  führenden  Oppositionsblattes  vorzusprechen, 
für  das  er  auch  von  England  aus  zu  schreiben  gedachte.  Nun  war 
die  Rheinische  Zeitung  aber  wenige  Tage  zuvor  mit  ihren  Berliner 
Korrespondenten,  den  Freien,  und  als  Bruno  Bauer  für  sie  ein- 
trat, auch  mit  diesem  hervorragenden  Mitarbeiter  in  einen  Kon- 
flikt geraten,  der  bekanntlich  den  völligen  Bruch  zwischen  den 
resolut  politisch  gewordenen  und  den  in  Religion  und  Philosophie 
stecken  gebliebenen  Radikalen  zur  Folge  hatte,  weil  die  Redaktion, 
wie  Engels  selbst  der  Sachverhalt  in  der  Erinnerung  geblieben  ist, 
sich  weigerte,  , »vorwiegend  ein  Vehikel  für  theologische  Propaganda, 


Erste  Begegnung  mit  Heß  und  Marx.  123 

Atheismus  usw.  statt  für  politische  Diskussion  und  Aktion"  zu 
bleiben.  Da  nun  der  Besucher  bis  vor  kurzem  unter  den  Freien 
gelebt  hatte  und  noch  immer  in  einem  vertrauten,  uns  leider  nicht 
erhaltenen  Briefwechsel  mit  den  Brüdern  Bauer,  vielleicht  auch 
mit  Stirner  stand,  die  ihn  auf  ihrer  Seite  festzuhalten  wünschten,  so 
sahen  jetzt  die  Redakteure,  die  Rüge  und  Herwegh  gegen  alles 
Berlinertum  soeben  noch  besonders  scharf  gemacht  hatten,  in  Engels 
einen  Parteigänger  jener  von  ihnen  in  den  Bann  getanenen  Richtung. 
Besonders  hielt  der  von  Haus  aus  argwöhnische  neue  Chefredakteur 
den  durchreisenden  Mitarbeiter,  der  sich  ihm  vorstellte,  für  einen 
Abgesandten  jener  Clique,  und  so  geschah  es,  daß  diese  erste  Be- 
gegnung zwischen  Engels  und  Marx  kühl,  anscheinend  sogar  frostig 
verlief. 


Kapitel  VI. 

Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

Sobald  Engels  den  Boden  Großbritanniens  betrat,  vertauschte 
er  die  Luft  der  bloß  theoretischen  Kämpfe,  an  denen  er  in  Berlin, 
ohne  daß  sie  seinem  Tatendrang  genug  tun  konnten,  eifrig  teilge- 
nommen hatte,  mit  jener  gewaltigeren  Wirklichkeit,  die  den  großen 
politischen  und  sozialen  Kämpfen  innewohnte,  von  denen  das  in- 
dustrialisierte Inselland  widerhallte.  Neidvolle  Bewunderung  er- 
weckte dem  jungen  Deutschen  schon  die  Wahrnehmung,  wie  jeder 
einzelne  hier  seine  Zeitung  hielt,  seine  Versammlung  besuchte,  an 
seine  Organisation  Zahlung  leistete,  während  die  Heimat  noch  ,,in 
einem  Zustande  vorsintflutlicher  Apathie",  in  der  sozialen  Kind- 
heit, verharrte,  für  die  es  ,,noch  keine  Gesellschaft,  noch  kein  Leben, 
kein  Bewußtsein,  keine  Tätigkeit"  gab.  In  diese  freieren  und  be- 
wegteren politischen  Verhältnisse  untertauchen  zu  dürfen,  muß 
ihm  an  sich  schon  als  ein  großes  Glück  erschienen  sein. 

Seitdem  das  soziale  Problem  mit  in  die  Zukunft  weisender 
Gebärde  an  ihn  herangetreten  war  und  er  sich  entschlossen  hatte, 
es  dort  aufzusuchen,  wo  es  die  Herrschaft  über  die  Wirklichkeit 
schon  am  sichtbarsten  besaß,  hatte  Engels  sich  an  der  Hand  der 
freilich  recht  dürftigen  deutschen  Literatur  über  das  zeitgenössische 
England  auf  die  Eindrücke,  die  seiner  dort  harrten,  vorbereiten 
wollen.  Unzulänglich  dünkte  ihm  diese  Literatur,  weil  sie  ihm  im 
besten  Fall  nur  einzelne  brauchbare  Beschreibungen  und  Ziffern 
darbot;  die  eklektischen  Auffassungen,  die  er  hier  vorfand,  muß- 
ten ihm  von  seinem  vorgeschritteneren  Standpunkt  aus  rückständig 
erscheinen.  Schon  bei  der  Ankunft  in  England  finden  wir  ihn  ja 
ganz  im  Banne  jener  der  Heßschen  Triarchie  zugrunde  liegen- 
den Vorstellung  von  den  drei  Revolutionen,  an  die  der  Fortschritt 
der  Menschheit  geknüpft  wäre,  der  politischen  in  Frankreich,  der 
religiösen  in  Deutschland,  der  sozialen  in  England.  Eine  soziale 
Revolution  aber,  dachte  sich  Engels,  müßte  umfassender  und  ein- 
greifender ausfallen  als  jede  andere,  weil  selbst  die  entlegensten 
Gebiete    menschlicher    Erkenntnis    und     menschlicher    Lebensver- 


Die  englische  soziale  Revolution  und  die  Menschheitsemanzipation.       125 

hältnisse  zu  ihr  beitragen  und  in  ihr  berührt  werden  würden. 
Als  den  großsn  Gegensatz,  den  zu  entwickeln  den  Inhalt  der  Ge- 
schichte von  Anfang  an  bilde,  betrachtete,  wie  wir  uns  erinnern, 
die  Hegeische  Geschichtsphilosophie,  der  Engels  in  Bewunderung 
anhing,  den  Gegensatz  von  Substanz  und  Subjekt,  Natur  und  Geist, 
Notwendigkeit  und  Freiheit.  Diesen  Gegensatz  hatte  für  Heß  das 
achtzehnte  Jahrhundert  bis  zur  vollsten  Schroffheit  gesteigert,  und 
von  der  allgemeinen  Revolution,  die  damals  begann  und  deren  nahe 
bevorstehende  Vollendung  er  England  zudachte,  erwartete  er  und 
mit  ihm  Engels  die  Lösung  des  Gegensatzes  der  ganzen  bisherigen 
Geschichte.  Es  hatte  also  seine  Bekehrung  zum  Kommunismus, 
die,  wie  wir  wissen,  noch  in  der  deutschen  Umgebung  erfolgt  war, 
Engels  zugleich  die  Überzeugung  gebracht,  daß  jene  soziale  Revo- 
lution, die  England  der  Menschheit  schuldete,  die  deutsche  philo- 
sophische und  die  französische  politische  Revolution  zu  universellerer 
Einheit  auf  höherer  Stufe  zusammenfassen  werde.  Und  als  Bekenner 
jenes  neuen  Humanismus,  den  ihn  Feuerbach  lehrte,  erhoffte  er 
jetzt  die  Erfüllung  seines  Menschheitsideals  von  dem  Gang  der 
englischen  Entwicklung.  Damit  aber  treten  die  Fäden  klar  zu  tage, 
die  jene  Bestrebungen,  denen  Engels  in  Berlin  nachgegangen  war, 
mit  den  scheinbar  ganz  anders  gearteten  verknüpfen,  denen  er 
nun  in  der  neuen  Umgebung  mit  all  dem  Feuereifer,  den  wir  stets 
bei  ihm  wahrnahmen,  nachging.  Weil  er  über  den  Kanal  die  feste, 
nicht  mehr  zu  erschütternde  Überzeugung  mitbrachte,  daß  die 
englische  soziale  Revolution  der  Verwirklichung  seines  neuen 
Menschheitsideals  den  Weg  ebnen  werde,  so  gab  sein  klarer  offner 
Blick  sich  den  neuen  Eindrücken  von  vornherein  nicht  unvorein- 
genommen hin.  Vielmehr  lag  das  Ergebnis,  zu  dem  seine  Einzelbeob- 
achtungen sich  verdichten  sollten,  ihm  im  voraus  fest  verankert  da. 
Von  dem  Augenblick  an,  da  er  das  Schiff  verließ,  suchie  er  ja  eigent- 
lich nach  garnichts  anderem  als  nach  den  Sturmzeichen,  die  das 
rasche  Herannahen  der  mit  nun  begreiflicher  Ungeduld  von  ihm 
erwarteten  sozialen  Revolution  ankündigten.  Wohl  prägte  ihm 
auch  jetzt  noch  seine  letzten  Wertungen  der  alte  Freiheits-  und 
Fortschrittsglaube  der  deutschen  Philosophie,  aber  den  Anstoß  zu 
jener  universellen  Revolution,  auf  die  er  seine  Hoffnung  baute,  er- 
wartete er  nicht  mehr  von  der  Gedankenarbeit  der  deutschen  Ge- 
lehrten sondern  von  dem  Aufbegehren  der  englischen  Proletarier - 
massen.  Die  einseitige  Überwertung  der  abstrakten  Vernunft,  der 
die  Mehrzahl  der  Berliner  Junghegelianer  noch  unentwegt  fronte, 
lag  hinter  ihm ;  aber  das  ,,gute  Stück  philosophischen  Hochmuts", 
das  auch  er  noch  mit  sich  herumtrug,  reichte  hin,  um  ihn  von 
einem  Bündnis  mit  dem  ,, bornierten"  Gleichheitskommunismus,  das 


120  Politische  imd  soziale  Lehrjahre  in  England. 

die  Führer  der  revolutionären  deutschen  Arbeiter  in  London  ihm  an- 
trugen, abzuschrecken.  Mochten  Josef  Moll,  Heinrich  Bauer  und 
Karl  Schapper,  diese  „drei  wirklichen  Männer",  denen  er  später 
nahetrat,  auf  ihn,  der  „eben  erst  ein  Mann  werden  wollte",  als  die 
, »ersten  revolutionären  Proletarier",  die  ihm  in  den  Weg  kamen, 
einen  unverlöschlichen  Eindruck  machen,  so  fühlte  er  doch  in- 
stinktiv, daß  er  sich  ihnen  noch  nicht  anschließen  durfte. 

Aber  noch  weit  fremder  als  der  naive  natiirrechtliche  Stand- 
punkt dieser  Männer  mutete  seinen  aus  Hegelscher  Zucht  kom- 
menden Geist  das  anspruchsvolle  Pochen  auf  die  rohe  Empirie 
an,  das  ihm  von  nun  ab  bei  fast  jedem  Gespräch  mit  Eng- 
ländern entgegentrat.  So  geneigt  er  war,  die  Dimensionen  anzu- 
staunen, in  denen  das  politische  wie  das  soziale  Leben  dieses  Volkes 
sich  abspielte,  so  bereitwillig  er  bewunderte,  wie  bei  ihm  alle  Gegen- 
sätze äußere  Gestalt  annahmen,  wie  alles  Leben  und  Zusammen- 
hang, fester  Boden  und  Tat  war,  so  niederdrückend  wurde  ihm  an- 
fangs die  Erkenntnis,  daß  den  Engländern  die  elementarste  philo- 
sophische Schulung  abging ;  und  am  wenigsten  wollte  ihm  in  den 
Sinn,  daß  sie  dies  nicht  einmal  als  eine  Lücke  empfanden.  Wenn  er 
wahrnahm,  bis  zu  welchem  Grade  sie  an  der  handgreiflichen  Wirk- 
lichkeit und  äußerlichen  Praxis  klebten  und  den  bewegenden  Ge- 
danken außer  acht  ließen,  so  hatte  er  den  Eindruck,  daß  sie  die 
Basis  über  der  Oberfläche  vergaßen  und  den  Wald  vor  lauter  Bäu- 
men nicht  sahen.  Besonders  empörte  ihn  in  dieser  frühesten  Zeit 
seines  englischen  Aufenthalts,  wie  die  verstockten  Briten  sich  nicht 
beibringen  lassen  wollten,  „daß  die  sogenannten  materiellen  In- 
teressen niemals  in  der  Geschichte  als  selbständige,  leitende  Zwecke 
auftreten  können,  sondern  daß  sie  stets,  unbewußt  oder  bewußt, 
einem  Prinzip  dienen,  das  die  Fäden  des  historischen  Fortschritts 
leitet".  Das  war  ein  Grundsatz,  an  dem  ihm  in  Deutschland  noch 
niemand    Zweifel  ausgedrückt  hatte. 

Den  Jünger  der  deutschen  Philosophie  verletzte  anfänglich 
das  ihm  ganz  unverständliche  Verharren  der  Engländer  bei  der 
rohen  Empirie.  Er  begriff  es  erst,  als  er  in  der  Folge  begann,  die 
englische  Geschichte  zu  studieren.  Doch  hatten  diese  Erfahrungen 
seiner  ersten  Wochen  in  England  das  Gute,  daß  ihn  die  Gedanken 
über  das  Verhältnis  der  materiellen,  politischen,  sozialen  und  geisti- 
gen Kräfte  zu  einander,  das  Hauptproblem  seiner  künftigen  Ge- 
schichtsauffassung, von  nun  ab  unausgesetzt  zu  beschäftigen  be- 
gannen. Sie  ließen  ihn  nicht  wieder  los,  sie  setzten  ihm  zu,  mochte 
es  auch  seiner  geistigen  Organisation  nicht  ohne  weiteres  ent- 
sprechen, der  Fülle  der  geschichtlichen  Vorgänge  und  Möglich- 
keiten zu  ungeduldig  ihr  Gesetz  abzufordern.    Wir  finden  ihn  zu- 


Die  rohe  Empirie  der  Engländer.  127 

nächst  ganz  ausgefüllt  von  dem  Bestreben,  zu  erforschen,  wie  sich 
hier,  in  dem  Land  seiner  größten  revolutionären  Hoffnung,  jene 
mannigfaltigen  Kräfte  aufeinander  einstellten.  Solange  die  dialek- 
tische Notwendigkeit  des  Zusammenhangs  sich  ihm  nicht  lückenlos 
offenbarte  beunruhigte  es  nämlich  seinen  alten  philosophischen 
Adam  auf  das  heftigste,  die  ideellen  Faktoren  den  materiellen  unter- 
geordnet, das  Prinzip  bei  der  Materie  tributpflichtig  zu  finden.  Und 
dennoch  predigte  die  sinnliche  Gegenwart  ihm  in  seiner  neuen  Um- 
gebung diese  brutale  Wahrheit,  wohin  er  blicken  mochte.  Er  wurde 
in  Manchester  „mit  der  Nase  darauf  gestoßen",  so  bekannte  er  selbst 
später  im  Vorwort  zu  Marx  Enthüllungen  über  den  Kölner  Kom- 
munistenprozeß, ,,daß  die  ökonomischen  Tatsachen,  die  in  der 
bisherigen  Geschichtsschreibung  gar  keine  oder  nur  eine  verachtete 
Rolle  spielen,  wenigstens  in  der  modernen  Welt  eine  geschichtliche 
Macht  sind ;  daß  sie  die  Grundlage  bilden  für  die  Entstehung  der 
heutigen  Klassengegensätze;  daß  diese  Klassengegensätze  in  den 
Ländern,  wo  sie  vermöge  der  großen  Industrie  sich  voll  entwickelt 
haben,  also  namentlich  in  England,  wieder  die  Grundlage  der  poli- 
tischen Parteibildung,  der  Parteikämpfe,  und  damit  der  gesamten 
politischen  Geschichte  sind."  Aber  diese  Erkenntnis,  die  sich  dem 
rückblickenden  Engels  hier  fertig  hinstellt,  hat  sich  bei  dem  so 
ganz  anders  orientierten  Jüngling  nur  allmählich  und  schmerzhaft 
auf  Grund  der  Erfahrungen,  die  er  in  dem  Inselland  sammelte,  her- 
ausgebildet. Selbst  als  er  sich  eingestehen  mußte,  daß  im  zeitge- 
nössischen England  der  Kampf  der  Interessen  und  nicht  der  Prin- 
zipien die  Entwicklung  bestimmte,  lag  es  ihm  noch  fern,  diesen 
Einzelfall  zu  einer  geschichtsphilosophischen  Theorie  zu  erweitern. 
Höchstens  zog  er  nun  schon  die  Folgerung,  daß  die  Interessen  zwar 
die  herannahende  Revolution  eröffnen,  daß  sich  jedoch  hinterher 
die  Prinzipien  aus  den  Interessen  entwickeln  würden.  Er  hatte 
schon  daran  übergenug  zu  tun,  die  Fülle  der  ungeheuren  Wirklich- 
keit, in  deren  Mitte  er  sich  so  plötzlich  wahrnahm,  zu  durchdringen 
und  all  das  Neue  dem  revolutionären  Gesichtspunkte,  den  er  mit- 
gebracht hatte  und  an  dem  er  unbeirrt  festhielt,  systematisch  ein- 
und  unterzuordnen.  Eine  fröhliche  Diskussion  liebte  der  junge  Engels, 
er  bediente  sich  ja  der  Dialektik  mit  nicht  geringerer  Leidenschaft 
als  des  Floretts  und  des  Degens,  die  er  in  Bremen  zu  führen  ge- 
lernt hatte.  Dort  unter  den  Primanern  und  Lehrlingen  hatte  er 
sich  als  der  ,,Promachos"  moderner  Ideen,  später  in  Berlin  als  der  Vor- 
kämpfer des  nach  Taten  verlangenden  radikalsten  Flügels  der  Freien 
hervorgetan.  Nun  imponierte  ihm  die  auf  langer  Tradition  be- 
ruhende Schulung  im  Diskutieren,  die  er  bei  der  englischen  Mittel- 
klasse vorfand.  Aber  gleichzeitig  erboste  ihn  die  kühle  Ablehnung, 


128  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

auf  die  er  bei  den  nüchtern  und  ohne  dogmatische  Voreingenom- 
menheit die  Dinge  betrachtenden  Engländern  jedesmal  stieß,  wenn 
er  mit  seinem  Steckenpferd,  dem  Glauben,  daß  sich  über  dem  Lande 
eine  unabwendbare  Revolution  zusammenzöge,  hervorkam.  Den 
, »national  englischen  Standpunkt  der  unmittelbaren  Praxis"  an- 
zuerkennen und  anzunehmen,  weigerte  er  sich  um  so  entschiedener, 
als  er  dann  in  diesem  für  ihn  wesentlichsten  Punkte  sich  vielleicht 
hätte  für  geschlagen  erklären  müssen.  So  bot  er  alle  Argumente 
auf,  um  die  ihm  zu  seinem  Ärger  immer  wieder  und  allenthalben 
begegnende  Ansicht  zu  widerlegen,  daß  die  englische  Verfassung 
Elastizität  genug  besäße,  die  heftigsten  Stößs  der  Prinzipienkämpfe 
zu  überdauern  und  daß  sie  ohne  Gefahr  für  ihre  Grundlagen  sich 
jeder  von  den  Umständen  ihr  aufgedrungenen  Veränderung  unter- 
werfen könne. 

Aber  selbst  wenn  er  den  begreiflichen  Wunsch  hatte,  die 
politischen  wie  die  sozialen  Zustände  Englands  in  möglichst 
düsteren  Farben  zu  sehen,  durfte  ein  Kritiker,  der  aus  dem  da- 
maligen Preußan  kam,  darum  noch  nicht,  wie  Engels  es  in  seiner 
ersten  Korrespondenz  an  die  Rheinische  Zeitung  tat,  Cobden  und 
Bright  die  Klagen  nachsprechen,  daß  England  bis  über  die  Ohren 
noch  im  Mittelalter  stecke,  daß  es  von  der  Freiheit  bloß  die  Will- 
kür kenne  und  daß  der  Feudalismus  hier  mächtiger  sei  als  auf  dem 
Kontinent. 

Geneigt,  die  Dinge  unter  einfachen  großen  Gesichtspunkten 
zu  betrachten,  dabei  ohne  das  Bedürfnis,  die  Vielfältigkeit  und 
scheinbare  Ordnungslosigkeit  des  langsam  Gewordenen  zu  be- 
wundern, vielmehr  mißtrauisch  gegen  alles  Gerede  von  historischem 
Recht,  wollte  Engels  jetzt  in  den  englischen  Gesetzen  nur  einen 
Wust  verworrener  und  einander  widersprechender  Bestimmungen 
und  im  Unterhause  nichts  als  eine  durch  Bestechung  gewählte, 
dem  Volke  entfremdete,  auf  die  Regierung  in  den  allgemeinen 
Fragen  einflußlose  Korporation  erblicken.  Mochte  sich  ihm,  als 
er  nun  bald  mit  dem  Studium  der  englischen  Verfassungsgeschichte 
begann,  auch  manches  in  ein  günstigeres  Licht  rücken,  mochte  er 
dann  auch  anerkennen,  was  sich  am  Ende  nicht  bestreiten  ließ,  daß 
England  seit  langem  eine  Versammlungsfreiheit  besaß  wie  noch 
kein  anderes  Volk  Europas,  daß  die  Preßfreiheit,  wenn  auch  kein 
Gesetz  sie  festlegte,  nirgends  ausgedehnter  war,  daß,  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  wenigstens,  auch  ein  Vereinsrecht  bestand,  so 
spürt  man  doch  heraus,  daß  er  sich  solche  Zugeständnisse  mühe- 
voll abrang.  Denn  die  ganze  Darstellung  der  Lage  Englands, 
die  er  im  Frühling  1844,  kurz  bevor  er  nach  dem  Kontinent  zurück- 
kehrte, niederschrieb,  gipfelte  darum  doch  in  dem  Nachweis,  daß 


England  ein  Klassenstaat.  129 

das  zeitgenössische  England  ein  niederträchtiger  Klassenstaat  sei, 
dessen  ganze  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Rechtsprechung  aus- 
schließlich der  Geist  der   besitzenden  Schichten  erfülle. 

In  dem  England  der  vierziger  Jahre  war  die  öffentliche  Meinung 
selbstverständlich  längst  daran  gewöhnt,  auch  die  politischen 
Parteien  unter  dem  realistischen  Gesichtspunkte  sozialer  Interessen- 
kämpfe zu  begreifen.  Bereits  in  dem  Jahrzehnt  nach  dem  Ausgang 
der  Kriegsära  hatte  es  als  eine  Binsenwahrheit  gegolten,  daß  sich 
hinter  dem  Kampfe  der  Tories  und  der  Whigs  der  Interessengegen- 
satz zwischen  Grundbesitz  und  mobilem  Kapital  verbarg.  Engels, 
der  sich  zum  ersten  Male  einem  voll  entwickelten  politischen  Partei- 
wesen gegenüber  befand,  war  an  dieses  anfänglich  mit  Vorstellungen 
herangetreten,  die  er  aus  den  bloß  erst  theologischen  und  philoso- 
phischen Parteikämpfen  der  Heimat  ableitete.  Nun  mußte  er  in 
alle  Einzelheiten  hinein  die  Erfahrung  machen,  bis  zu  welchem 
Grade  in  England  die  sozial  -  ökonomische  Sphäre  die  politische 
beeinflußte;  erst  das  Studium  der  englischen  Vergangenheit  ver- 
breitete ihm  das  rechte  Licht  über  solche  Zusammenhänge  in  der 
Gegenwart.  Als  die  zunehmende  Industrialisierung  des  Landes 
jener  bodenbesitzenden  Aristokratie,  deren  Wille  bis  dahin  den 
Staat  beherrscht  hatte,  die  Unmöglichkeit  bewies,  die  Ansprüche 
einer  trotz  ihrem  wachsenden  Reichtum  im  Parlament  und  bei 
der  Leitung  der  Staatsgeschäfte  einflußlos  gebliebenen  Bougeoisie 
länger  zu  überhören,  war  es  bekanntlich  den  vom  Kleinbürgertum 
und  den  Arbeitern  vorwärts  gedrängten  Whigs  unter  schweren 
Kämpfen  gelungen,  die  Reformbill  von  1832  durchzusetzen. 
Diese  hatte  den  Kaufleuten  und  Industriellen,  die  ja  der  liberalen 
Partei  ihren  Charakter  gaben  und  sie  leiteten,  die  großstädtischen 
und  die  Mehrzahl  der  industriellen  Wahlkreise  ausgeliefert;  auf 
dem  platten  Lande  aber  und  in  den  meisten  kleineren  Städten  war 
die  Macht  der  Aristokratie  ungebrochen  geblieben.  Die  Tories  sah 
Engels  im  Anfang  etwas  zu  einseitig  wie  preußische  Junker  an. 
Er  beschreibt  sie  als  eine  mittelalterliche,  konsequent  reaktionäre 
Partei,  die  mit  der  historischen  Rechlsschule  in  Deutschland  frater- 
nisiere und  die  festeste  Stütze  des  christlichen  Staates  bilde.  Diesen 
christlichen  Staat  aber,  den  er  daheim  schon  auf  den  Tod  bekämpft 
hatte,  glaubte  er  in  dem  damaligen  englischen  Staat  verwirklicht 
zu  sehen,  weil  die  Staatskirche  hier  als  ein  integrierender  Bestand- 
teil der  Verfassung  galt  und  weil  noch  imm^r  bigotte  Friedens- 
richter Gefängnisstrafen  über  jene  verhängen  durften,  die  es  unter- 
ließan,  die  Kirche  zu  besuchen  oder  an  der  Existenz  Gottes  Zweifel 
äußerten.  Nun  bewirkte  freilich  die  natürliche  Gegnerschaft  der 
Tories  gegen  die  Machtgelüste  der  liberalen  Industriellen,  die  ihm 

Mayer     Friedrich  Engels     Bd.  I  9 


130  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

als  die  Unterdrücker  der  Fabrikarbeiter  besonders  verhaßt  waren, 
daß  Engels  mit  der  Zeit  in  ihnen  das  geringere  Übel  zu  sehen 
sich  gewöhnte.  Zumal  der  kleinen  Gruppe  philanthropischer 
TorieSjdie  sich  um  Lord  Ashley  scharte  und  der  Disraeli  zugehörte, 
zollte  er  eine  uns  durchaus  verständliche  Anerkennung  dafür,  daß 
sie  die  rechtlose  Arbeiterschaft  gegen  die  Ausbeutung  der  Fabri- 
kanten in  Schutz  nahm.  Hielt  er  auch  die  Ziele  dieser  ,,Rom.an- 
tiker"  für  unausführbar,  so  lobte  er  ihre  gute  Absicht  und  den  Mut, 
mit  dem  sie  sich  gegen  die  herrschenden  Vorurteile  ihrer  Klasse 
aufzulehnen  wagten.  Carlyle,  ,,den  Deutsch-Engländer",  der  ganz 
einsam  stünde,  rechnete  er  übrigens  nicht  zu  ihnen. 

Obgleich  er  mit  den  Whigs,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  in  einigen 
der  wichtigsten  aktuellen  Fragen  übereinstimmte,  entfremdete  Engels 
sich  ihnen  um  so  mehr,  je  gründlicher  sie  sich  ihm  als  die  typische 
Unternehmerpartei  enthüllten.  Da  kam  ihm  bald  die  Erkenntnis, 
daß  die  Fabrikarbeiter,  die  in  ihrer  großen  Überzahl  jenen  zu- 
nächst noch  Gefolgschaft  leisteten,  möglichst  bald  zu  einer  völlig 
selbständigen  Organisation  ihrer  politischen  Bestrebungen  gelan- 
gen sollten.  Nun  genossen  aber  auch  nach  der  Durchsetzung  der 
Reformbill  die  arbeitenden  Massen  wegen  des  indirekten  Zensus, 
an  den  man  das  Wahlrecht  geknüpft  hatte,  noch  immer  keinen 
unmittelbaren  politischen  Einfluß;  bloß  erst  in  einigen  industri- 
ellen Zentren  Nord-  und  Mittelenglands  vermochten  sie  bei  den 
Wahlen  schon  ein  entscheidendes  Gewicht  in  die  Wagschale  zu  legen. 
Wie  sollte  es  da  ausbleiben,  daß  sich  in  ihren  Reihen  der  Ruf  nach 
dem  allgemeinen  Stimmrecht  bald  mit  erneuter  Kraft  erhob  und 
eine  nachhaltige,  nunmehr  zu  ungeheurer  Gewalt  anschwellende 
Bewegung    auslöste  ? 

Doch  bevor  wir  uns  der  Chartistenbewegung  zuwenden,  wollen 
wir  uns  erst  noch  deutlicher  vergegenwärtigen,  wie  sich  Engels 
zu  den  großan  Machtkämpfen  stellte,  die  zumal  seit  dem  Ausgang 
der  dreißiger  Jahre  sich  zwischen  der  alten  agrarischen  und  den 
neuen  industriellen  Herrenschichten  besonders  um  die  Frage  der 
Zölle,  namentlich  der  Getreidezölle,  entwickelt  hatten.  Gerade 
Manchester,  die  Stadt,  wo  er  jetzt  lebte,  war  ja  der  Geburtsort  der 
Anti-Kornzoll-Liga,  dieses  Agitationszentrums  der  Freihandels- 
bewegung. Das  neue  Problem  des  Industriestaats,  dessen  Prototyp 
England  war,  drängte  sich  also  im  Zusammenhang  mit  allen  Pro- 
blemen der  Handelspolitik  dem  Ankömmling  gebieterisch  auf, 
und  wir  finden  ihn  frühzeitig  bemüht,  den  ,, Widerspruch,  der  in 
dem  Begriff  des  Industriestaates  liegt",  zu  enthüllen.  Der  industri- 
ellen Hegemonie  Englands  stellte  der  Fabrikantensohn  aus  dem 
aufstrebenden  Barmen  ein  höchst  ungünstiges  Horoskop.    Um  die 


Das  Problem  des  Industriestaats. 


131 


Quellen  seines  Reichtums  zu  schützen,  trachte  der  bloße  Industrie- 
staat danach,  die  Produkte  anderer  Länder  durch  ständig  steigende 
Prohibitivzölle  seinem  Gebiet  fernzuhalten.  Aber  weder  das  Aus- 
land noch  die  Masse  der  Konsumenten  im  Inlande  ließen  sich  sol- 
ches auf  die  Dauer  gefallen.  Schon  wären  die  französische,  die 
belgische  und  namentlich  die  deutsche  Industrie  bei  der  Herstellung 
von  Massenartikeln  der  englischen  auf  den  Fersen  und  sie  würden 
dieser  den  Todesstoß  versetzen,  sobald  England  auf  den  Hoch- 
schutzzoll, der  zum  Ruin  seiner  Finanzen  führe,  verzichten  müßte. 
Der  Markt  auf  dem  europäischen  Kontinent  sei  mit  Sicherheit  für 
England  verloren ;  diesem  blieben  freilich  noch  Amerika  und  die 
Kolonien,  doch  auch  Amerika  sei  ihm  nicht  sicher,  und  die  Auf- 
nahmekraft der  Kolonien  reiche  nicht  aus.  Schon  aber  bedrohe 
die  deutsche  Industrie  die  englische  nicht  allein  auf  ihrem  heimischen 
Markt;  auch  auf  dem  Weltmarkt  mache  ihre  Konkurrenz  sich 
immer  stärker  bemerkbar,  sie  vermöge  billig  zu  produzieren, 
während  in  England  der  Schutzzoll  alle  Lebensbedürfnisse,  nicht 
zuletzt  den  Arbeitslohn,  auf  eine  unverhältnismäßige  Höhe  herauf- 
geschraubt habe.  Aufrechterhaltung  oder  Beseitigung  der  Korn- 
zölle, das  war  in  England  Kampfschrei  und  Losung,  seitdem  Richard 
Cobden  seine  ,, ungeheure"  Tätigkeit  entfaltete  und  die  Liga  eine 
Massenagitation  so  großen  Stils  betrieb,  wie  Europa  bis  dahin  keine 
erlebt  hatte.  Wir  spüren,  daß  die  Mittel,  deren  diese  sich  bediente 
und  die  packenden  Argumente,  die  sie  für  die  Freigabe  der  Ge- 
treideeinfuhr ins  Treffen  führte,  auch  auf  Engels  ihren  Eindruck 
nicht  verfehlten.  Aber  sein  Interesse  an  der  Freihandelsbewegung 
fand  seine  Grenze,  wo  sie  den  revolutionären  Erwartungen,  die 
seinem  Geist  unbeirrbar  vorschwebten,  in  den  Weg  trat.  Da  er 
nicht  leugnen  konnte,  daß  die  Arbeiterschaft  in  dieser  Frage  mit 
den  Fabrikanten  an  dem  gleichen  Strange  zog,  so  hielt  er  es  für 
angebracht,  die  Führer  der  Whigs  auf  das  große  Interesse  hin- 
zuweisen, das  sie  daran  haben  mußten,  das  Proletariat  mit 
seiner  wuchtigen  Macht  bei  ihren  Fahnen  festzuhalten.  Gewitzigt 
durch  seine  Erfahrungen  bei  der  Reformbill  war  dieses  nicht  ohne 
weiteres  geneigt,  das  Verlangen  nach  Erweiterung  des  Stimmrechts, 
das  seinem  Herzen  noch  näher  lag  als  der  Freihandel,  zurückzu- 
stellen, um  sich  vor  dessen  Wagen  spannen  zu  lassen.  Und  seine 
Führer,  namentlich  O'Brien,  wiederholten  ihm  unaufhörlich,  daß 
die  ganze  Agitation  der  ,, Börsenjobber  und  Volksausbeuter'*  bloß 
darauf  hinauslaufe,  die  Staatsschulden  enorm  zu  steigern  und  die 
Löhne  der  englischen  Textilindustrie  auf  das  Niveau  der  preußischen 
herunterzudrücken.  Noch  weniger  hatten  freilich  die  Arbeiter 
einen  Anlaß,  sich  im  Dienste  der  Tories  für  die  Aufrechterhaltung 


I02  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

der  Getreidezölle  ins  Geschirr  zu  legen.  Daß  die  Korneinfuhr  frei 
werden  müsse,  erschien  Engels  ebenso  notwendig,  wie  daß  die  herr- 
schende konservative  Regierung  ,,auf  friedlichem  oder  gewaltsamem 
Wege"  beseitigt  werde.  Er  sagte  richtig  voraus,  daß  Sir  Robert 
Peel  trotz  des  heftigsten  Widerstandes  eines  Teils  seiner  Partei  sich 
gezwungen  sehen  würde,  mit  der  Herabsetzung  der  Getreidezölle 
einen  Anfang  zu  machen.  Aber  weder  von  diesem  noch  auch  von 
den  Liberalen  erwartete  er  andere  als  ,,Justemilieu-Maßregeln". 
Ein  entschiedenes  Eintreten  für  völlig  freie  Korneinfuhr  nahm  er 
außsr  bei  der  kleinen  Gruppe  der  Radikalen,  deren  namhafteste 
Zeitschrift  der  Examiner  war,  nur  bei  den  Chartisten  wahr,  deren 
Wut  gegen  die  Brotwucherer  er  uns  ausführlich  schildert.  Nun 
redete  Engels  sich  tatsächlich  ein,  daß  schon  bei  diesem  Streit  um 
die  Getreidezölle  die  Revolution,  die  er  mit  so  großer  Ungeduld 
herbsiwünschte,  zum  Ausbruch  kommen  werde,  und  er  hielt  es  für 
ausgeschlossen,  daß  die  Aristokratie,  die  ihre  soziale  Herrschaft 
bedroht  sehen  mußte,  noch  einmal,  wie  bei  der  Reformbill,  frei- 
willig nachgeben  könnte ;  diesmal,  hoffte  er,  werde  sie  standhalten, 
„bis  ihr  das  Messer  an  der  Kehle  sitzt". 

Übr  gens  sah  er  die  führende  Stellung  der  Aristokratie  nicht 
allein  von  selten  der  Industrie  her  bedroht,  sondern  auch  auf  dem 
platten  Lande  selbst  durch  die  Pächter.  Diesen  hatte  die  Agitation 
der  Anti-Kornzoll-Liga  beizubringen  gesucht,  daß  ihre  Interessen 
denen  der  Landlords,  die  nur  ihre  eigenen  selbstsüchtigen  Ziele, 
keineswegs  die  der  gesamten  ackerbautreibenden  Bevölkerung 
verträten,  durchaus  entgegengesetzt  wären.  Engels  versprach  sich 
von  der  politischen  Emanzipation  der  Pächter,  die  in  Wahrheit 
noch  in  weitem  Felde  stand,  die  endgültige  Beseitigung  der  kon- 
servativen Majorität  im  Unterhause,  und  so  rechnete  er  der  Anti- 
Kornzoll-Liga  als  ein  Verdienst  an,  daß  sie  der  Alleinherrschaft 
der  Tories  auf  dem  Lande  ein  Ende  zu  machen  bestrebt  war.  Den- 
noch war  es  mit  allen  Sympathien  für  die  Liga  bei  ihm  vorbei,  so- 
bald diese,  wie  es  in  Lancashire  1843  geschah,  mit  der  National 
Charter  Association  in  Konflikt  geriet.  Sofort  war  sie  ihm  nur  noch 
die  Gründung  der  reichen  Spinner  und  Weber,  die  mit  der  Wurst 
nach  dem  Schinken  würfen  und  durch  Abschaffung  der  Korngesetze 
eine  gute  Handelsperiode  herbeizuzaubern  hofften.  Und  wenn  er 
aufs  Land  hinaus  blickte,  so  beschäftigte  ihn  nunmehr  weit  stärker 
als  der  Gegensatz  zwischen  den  Großgrundbesitzern  und  den  Päch- 
tern der  neu  vor  ihm  auftauchende  Gegensatz  zwischen  den  Pächtern 
und  der  ,, elenden  Klasse"  der  Tagelöhner.  Man  sollte  meinen,  daß 
Engels  die  innerpolitische  Lage  Englands  um  diese  Zeit  ähnlich 
beurteilte  wie  zwanzig  Jahre  später  Lassalle  die  Lage  in  Preußen: 


Der  Kampf  um  die  Kornzölle.  133 

er  sieht  eine  neue  selbständige  Arbeiterpartei  in  die  Erscheinung 
treten,  die  sich  versucht  fühlt,  aus  dem  Gegensatz  zwischen  den 
beiden  alten  historischen  Parte.en  Nutzen  zu  ziehen  und  die  sich 
dabei  mit  wachsendem  Mißtrauen  von  derjenigen  abwendet,  deren 
Reihen  sie  bis  dahin  gestärkt  hatte,  obgleich  deren  Führer  ihre  Arbeit- 
geber, deren  Leitstern  das  Klasseninteresse  jener  war.  Die  Zukunfts- 
aussichten der  Whigs  beurteilte  Engels  angesichts  dieser  Konstella- 
tion jetzt  wesentlich  pessimistischer  als  einige  Monate  früher: 
,,Das  Reich  des  Justemilieus**,  schreibt  er  im  Schweizer  Republi- 
kaner vom  23.  Mai  1843  ,, ist  vorüber,  und  die  Macht  des  Landes  hat 
sich  auf  die  Extreme  verteilt."  Besonders  erbittert  hatte  das  Indu- 
strieproletariat damals  die  ablehnende  Haltung  der  Liberalen  gegen- 
über dem  Gesetzesvorschlag  des  Ministers  des  Inneren  Sir  James 
Graham,  der  die  Arbeitszeit  der  Kinder  in  den  Fabriken  beschränken 
wollte.  Und  als  eifrigen  Besucher  jener  Versammlungen,  in  denen 
die  Chartisten  bei  diesem  Anlaß  in  Lancashire  den  Whigs  ent- 
gegentraten, verdroß  es  Engels,  daß  die  Polizei  hier  den  liberalen 
Fabrikanten,  sobald  sie  als  Redner  ins  Gedränge  kamen,  ihren 
Beistand  lieh.  Nun  war  es  ihm  vollends  ausgemacht,  daß  die  Whigs, 
in  erster  Reihe  die  Partei  der  Arbeitgeber,  seine  Sympathien  nicht 
verdienten. 

Verwundern  kann  es  auf  den  ersten  Blick,  daß  er  für  die  Agi- 
tation O'Connells,  die  seit  der  Mißernte  des  Jahres  1842  die  Masse 
der  armen  Iren  aufs  neue  heftig  entflammte,  nicht  so  große  Teil- 
nahme aufbrachte  wie  andere  Freiheitsschwärmer  auf  dem  Kon- 
tinent. Aber  deren  nationalistische  Tendenz  erschien  ihm  wie 
O'Connor  und  dem  Northern  Star  als  Stümperei  und  Pfuscherei 
im  Vergleich  zu  den  Zielen  der  neuen,  unzählbaren  Partei  der 
Besitzlosen,  die  sich  unter  der  Fahne  der  Volkscharte  sammelte. 
Er  teilte  nicht  einmal  die  unbeschränkte  Bewunderung  für  den 
großen  Agitator,  der  sich  selbst  ein  Bismarck  damals  nicht  entzog, 
und  stimmte  eher  Sebastian  Seiler,  dem  Gesinnungsgenossen  Weit- 
lings zu,  der  ihn  für  einen  ,, Komödianten"  erklärte.  Engels  stieß 
es  ab,  daß  die  revolutionäre  Energie  und  der  ungeheure  persönliche 
Einfluß  des  ,, schlauen  Demagogen"  nur  für  die  ,, elenden  klein- 
lichen Justemilieu-Z wecke",  die  hinter  all  dem  Lärmen  für  Repeal 
steckten,  und  nicht  für  das  wirkliche  Wohl  des  Volkes,  die  Ab- 
schaffung des  Elends,  aufgeboten  würden.  Was  er  bewunderte, 
das  war  die  revolutionäre  Begeisterung  der  Massen,  die  so  blind- 
lings dem  Agitator  Folge  leisteten:  „Was  für  Leute!"  rief  er  aus, 
,, Leute,  die  keinen  Pfennig  zu  verlieren,  die  zu  zwei  Dritteln  keinen 
Rock  am  Leibe  haben,  echte  Proletarier  und  Sansculotten  und  dazu 
Irländer,  wilde,    unbändige   fanatische   Galen.     Wer   die   Irländer 


134  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

nicht  gesehen  hat,  der  kennt  sie  nicht.  Gebt  mir  200  000  Irländer, 
und  ich  werfe  die  ganze  britische  Monarchie  über  den  Haufen." 
Die  intimen,  über  Jahrzehnte  sich  erstreckenden  Beziehungen,  die 
Engels  um  diese  Zeit  mit  der  jungen  irischen  Arbeiterin  Mary  Burns 
anknüpfte,  gaben  seinem  Mitgefühl  für  die  irischen  Proletarier, 
diese  Opfer  ,, einer  fünfhundertjährigen  Unterdrückung",  eine  ganz 
eigene  Wärme,  seinem  Interesse  für  die  B2sserung  ihres  Loses 
eine  besondere  Nachhaltigkeit.  Mit  welcher  Lebendigkeit  versetzte 
er  sich  in  diese  ,, sorglosen,  heiteren,  kartoffelessenden  Natur- 
kinder", die  „von  ihrer  Heide  durch  den  Hunger  nach  England 
getrieben",  in  die  Zivilisation  hineingerissen  werden.  Hier,  in  dem 
mechanischen,  egoistischen,  eisigkalten  Getriebe  erwachen  ihre 
Leidenschaften,  zur  Sparsamkeit  nicht  angehalten,  verjubeln  sie 
schnell,  was  sie  verdienten,  und  Hunger  und  Elend  werden  ihr  un- 
vermeidliches Schicksal.  Die  halbwilde  Erziehung,  danach  die  ganz 
zivilisierte  Umgebung  haben  sie  in  einen  Widerspruch  mit  sich 
selbst  gebracht,  in  eine  Gereiztheit,  in  eine  inwendig  stets  fort- 
glimmende Wut,  die  sie  zu  allem  fähig  machen.  O'Connell  traute 
Engels  zu,  daß  er  mit  den  liberalen  Geldsäcken  unter  einer  Decke 
stecke,  um  das  Toryministerium  Sir  Robert  Peels  zu  stürzen;  er 
sah  in  ihm  keinen  überzeugten  Demokraten.  Am  wenigsten  aber 
konnte  er  ihm  vergeben,  daß  er  seine  Iren  vor  dem  „gefährlichen 
Sozialismus"  gewarnt  hatte.  — 

Weil  die  Tendenz  zur  Großindustrie  in  Deutschland  erst  reich- 
lich zwei  Menschenalter  später  einsetzte,  hatte  sich  bis  gegen  Ende 
der  dreißiger  Jahre  jenen  deutschen  Schriftstellern,  die  England 
bereisten  und  beschrieben,  nur  selten  die  Erwägung  aufgedrängt, 
ob  denn  die  technische  und  soziale  Umwälzung,  die  sie  dort  drüben 
unter  so  heftigen  Wehen  sich  vollziehen  sahen,  dem  lieben  Vater- 
land in  seinem  friedlichen  Pflanzenschlaf  auf  die  Dauer  erspart 
bleiben  werde.  Man  hätte  annehmen  sollen,  daß  wenigstens  ein 
Historiker  von  einigem  Rang,  der  sich  in  England  gründlich 
umschaute,  an  dieser  Fragestellung  nicht  vorübergegangen  wäre. 
Aber  obgleich  Friedrich  von  Raumer  auf  seinen  Studienfahrten 
nach  England  1835  und  1841  auch  die  Fabrikdistrikte  besuchte, 
äußsrte  der  geschäftige  alte  Herr,  der  zu  dem  unverdienten  Ruf 
kam,  die  gründlichste  Auskunft  über  englische  Zustände  erteilen 
zu  können,  solche  Befürchtungen  nirgends.  Auf  das  Dogma  vom 
Gehen-  und  Geschehenlassen  eingeschworen,  raffte  er  sich  nicht 
einmal  zur  Verurteilung  des  Trucksystems  auf,  und  die  grauenvolle 
Ausbeutung  der  kindlichen  Arbeitskraft,  deren  Anblick  Friedrich 
Engels  das  Herz  umwendete,  erschien  ihm  nur  insoweit  anstößig, 


Die  deutsche  Literatur  über  Englands  soziale  Zustände.  jqe 

als  sie  über  Gebühr  die  Zeit  einschränkte,  die  für  die  geistige  Bildung 
der  Jugend  übrig  blieb.  Mit  der  selbstgefälligen  Kurzsichtigkeit 
des  verzopften  Akademikers  pries  er  die  unentwickelten  deutschen 
Zustände  den  Engländern  als  Vorbild  an:  erzeugten  wir  auch  nicht 
so  viel  Barchent  oder  Musselin,  so  erzeugten  wir  desto  mehr  Ge- 
danken und  Gefühle,  meinte  er,  die  Poesie  des  Kinderlebens  sei 
bei  uns  noch  nicht  durch  Maschinenklapperei  aus  der  Welt  ver- 
scheucht. Daß  in  den  durchindustrialisierten  Gegenden  Deutsch- 
lands die  Kinder  bereits  ebenfalls  15  Stunden  und  darüber  schwere 
Fabrikarbeit  verrichten  mußten,  ahnte  der  Geschichtsschreiber  der 
Hohenstaufen  nicht.  Um  so  genauer  wußte  jedoch  Engels  über 
das  Elend  der  Streichjungen  im  Wuppertal  Bescheid,  und  so  be- 
greifen wir,  daß  er  sich  über  die  ,, Jämmerlichkeit"  des  vielgeprie- 
senen Buches  entrüstete.  Auf  seiner  zweiten  Reise  wurde  Raumer 
die  ,, unüberbrückbare"  Kluft  zwischen  arm  und  reich  schon  sicht- 
barer. Aber  er  hielt  sie  doch  für  ,, überbrückbar"  durch  eine  Besserung 
der  religiösen  Erziehung,  der  Armengesetze  und  des  Steuerwesens. 
Ihn  tröstet  über  das,  was  er  sah,  der  Gedanke,  daß  das  Elend  in 
früheren  Zeiten  nicht  geringer,  sondern  nur  von  anderer  Art  ge- 
wesen wäre  und  daß  die  Manufakturen,  die  es  verursacht  hätten, 
nun  einmal  aus  dem  Gang  der  Zeitentwicklung  nicht  auszuschalten 
seien. 

Was  dem  Gelehrten  entging,  hätte  den  Industriellen  und  Groß- 
kaufleuten sich  aufdrängen  müssen,  die  ihr  Geschäft  regelmäßiger 
nach  England  lührte.  Aber  wir  erfahren  nicht,  daß  einer  von  ihnen 
von  der  sozialen  Gegenwart  Englands  auf  die  soziale  Zukunft 
Deutschlands  damals  Schlüsse  gezogen  hätte.  Gustav  Mevissen, 
der  in  der  Rheinischen  Zeitung  über  die  Chartistenbewegung  be- 
richtete, war,  ebenso  wie  Engels,  unter  seinen  Standesgenossen  in- 
sofern eine  weißer  Rabe,  als  er  philosophische  und  politisch-histo- 
rische Studien  neben  seinem  Kaufmannsberufe  trieb.  Mevissen, 
der  die  große  Krise  des  Sommers  1842  in  England  persönlich  mit- 
erlebt hatte,  unterschätzte  zwar  nicht  den  P^ß,  der  dort  zwischen 
den  besitzenden  und  den  besitzlosen  Klassen  klaffte.  Doch  wollte 
er  an  die  Gefahr  einer  Revolution  solange  nicht  glauben,  wie  die 
Mittelklasse  sich  mit  den  radikalen  Wünschen  des  Proletariats  nicht 
solidarisch  erklärte.  Als  Liberaler  sah  auch  er  die  tiefste  Wurzel 
des  Übels  in  der  schlechten  Volkserziehung,  in  der  grenzenlosen 
Unwissenheit  geradezu  die  Quelle  aller  Not.  Dabei  klagte  er,  daß 
die  beiden  alten  Parteien  des  Landes  nicht  einsehen  wollten,  wie 
nur  durchgreifendste  Reformen  einen  gewaltsamen  Umsturz  hint- 
anzuhalten vermöchten.  An  der  Chartistenbewegung  vermißte 
Mevissen  besonders,  daß  sie  von  keinem  großen  und  klaren  Prinzip 


136  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

getragen  würde.  So  wenig  er  Politik  und  Wirtschaft  ausschließlich 
vom  Standpunkt  der  besitzlosen  Klassen  beurteilte,  so  entschieden 
forderte  er  die  Abstellung  der  schlimmsten  Mißstände  als  ein  Gebot 
staatlicher   Selbsterhaltung. 

Nun  aber  gilt  es,  endlich  den  Chartismus  und  den  englischen 
Sozialismus,  der  mit  ihm  nichts  weniger  als  identisch  war,  näher 
ins  Auge  zu  fassen,  um  uns  Rechenschaft  geben  zu  können,  welche 
Wirkungen  diese  Bewegungen  auf  die  Gedankenentwicklung  des 
jungen  Engels  ausgeübt  haben.  Das  Fabrikproletaritat,  ein  Produkt 
der  industriellen  Revolution  und  allmählich  die  köpfereichste  Klasse 
des  Landes  geworden,  erhob  ja  seit  dem  Ende  des  18.  Jahrhunderts, 
ohne  daß  es  dabei  zu  einer  ernsthaften  organisatorischen  Zusammen- 
fassung seiner  Kräfte  kam,  ruckweise  aber  mit  steigendem  Nach- 
druck demokratische  und  sozialistische  Forderungen.  Schon  1819 
hatte  Manchester  eine  gewaltige  Demonstration  für  das  allgemeine 
Wahlrecht  erlebt.  Seither  hatte  die  Arbeiterbewegung  mit  wellen- 
artigen Höhen  und  Tiefen,  ihren  Inhalt  und  ihre  Taktik  oftmals 
wechselnd,  von  politischen  zu  sozialen,  von  sozialen  zu  politischen 
Forderungen  umkehrend,  bald  auf  die  Gewalt  und  bald  bloß  fried- 
licher Agitation  vertrauend,  ständig  und  so  lange  an  Bedeutung 
gewonnen,  bis  sie,  Furcht  erweckend  und  Gefahren  schaffend,  die 
allgemeine  Beachtung  auf  sich  und  auf  die  tieferen  Ursachen,  die 
ihrem  Aufkommen  zugrunde  lagen,  gelenkt  hatte.  Wir  sahen  schon, 
daß  diese  neue  soziale  Macht  in  der  Politik  anfänglich  als  eine 
Hilfstruppe  der  auf  die  Herrschaft  zudrängenden  Mittelklasse  gelten 
konnte.  Eine  Wendung  trat  ein,  als  sie  bei  der  Reformbill,  die  zu 
erkämpfen  sie  geholfen  hatte,  leer  ausging.  Die  enttäuschten  Ar- 
beiter liehen  von  nun  ab  ihr  Ohr  williger  einer  bis  dahin  einfluß- 
losen Minderheit,  die  in  dem  Klassenkampf  gegen  die  Besitzenden 
die  wesentlichste  Aufgabe  des  Proletariats  erblickte.  Und  bei  den 
durch  die  Ergebnislosigkeit  der  politischen  Agitation  Enttäuschten 
wuchs  in  den  dreißiger  Jahren  die  Neigung  antiparlamentarischen, 
revolutionär -syndikalistischen  Lockungen  nachzugeben  oder  auch 
den  friedlichen  sozialistischen  Bestrebungen  Gehör  zu  schenken, 
deren  Verkünder  Robert  Owen  war.  Doch  so  natürlich  ein  solcher 
Rückschlag  war,  von  Dauer  konnte  er  nicht  sein.  Schon  1837 
begann  von  neuem,  diesmal  gewaltigen  Dimensionen  zustrebend,  am 
Ende  aber  doch  vor  Erreichung  des  Zieles  zusammenbrechend,  der 
Sturm  auf  das  allgemeine  gleiche  Stimmrecht,  das  dem  Proletariat 
die  Pforten  des  Unterhauses  sprengen  sollte.  Ihren  revolutionären 
Höhepunkt  fand  die  Chartistenbewegung,  die  diese  Bemühungen 
zusammenfaßte,  in  dem,  ökonomischen  Quellen  entflossenen,  aber 
in  seinem  Verlauf  ganz  von  politischer  Leidenschaft  durchtränkten 


Die  Chartistenbewegung.  i^y 

großen  nordenglischen  Generalstreik  des  Notjahres  1842.  Man- 
chester war  dessen  Mittelpunkt  gewesen.  Als  Engels  im  Dezember 
hier  eintraf,  zitterte  in  den  Arbeitermassen  noch  die  Erregung  nach 
von  Ereignissen,  die  zwar  zu  schweren  Gewalttaten  aber  dank  der 
Weisheit  des  im  Herzen  dem  Proletariat  geneigten  Generals  Sir 
Charles  I.  Napier  nur  zu  geringfügigem  Blutvergießen  geführt 
hatten. 

Das  Urteil,  das  der  Ankömmling  in  seiner  ersten  Korrespon- 
denz an  die  Rheinische  Zeitung  über  diese  Vorgänge  fällte,  ist  be- 
zeichnend für  die  Anschauungen,  mit  denen  er  an  das  Studium  der 
Chartistenbewegung  herantrat.  Er  stellte  zunächst  fest,  daßein  Drittel, 
vielleicht  die  Hälfte  des  englischen  Volkes,  zu  der  von  der  Industrie 
erzeugten  Klasse  der  Nichtbesitzenden,  der  absolut  Armen  gehöre, 
die  sich,  ohne  je  stabilen  Besitz  erwerben  zu  können,  reißend  ver- 
mehre. Wenn  eine  scharfe  Handelskrise,  wie  die  eben  abklingende, 
sie  brotlos  machte,  bliebe  ihr  nichts  übrig,  als  zu  revoltieren.  Ob- 
wohl durch  ihre  Masse  die  mächtigste  soziale  Schicht  des  Landes, 
wäre  sie  noch  nicht  zum  Bewußtsein  dieser  großen  Macht  gelangt. 
Daß  sie  sich  auf  dem  Wege  befände,  dieses  Bewußtsein  zu  erlangen, 
beweise  aber  der  Aufruhr  des  letzten  Sommers,  dessen  Charakter 
man  in  Deutschland  insofern  verkannt  habe,  als  man  mit  der 
Möglichkeit  rechnete,  daß  er  schon  diesmal  zu  ernsthaften  Ergeb- 
nissen führen  könnte.  Weshalb  es  noch  nicht  möglich  war,  sucht 
Engels  dem  Leser  plausibel  zu  machen.  Erstlich  beruhte  diesmal 
der  Anstoß  auf  einem  Irrtum:  weil  einige  Fabrikanten  den  Lohn 
herabsetzen  wollten,  hielten  sämtliche  Arbeiter  der  Baumwollen-, 
Kohlen-  und  Eisenindustrie  ihre  Stellung  für  gefährdet,  was  aber 
gar  nicht  der  Fall  war.  Sodann  wurde  das  ganze  Unternehmen 
ohne  Vorbereitung  ins  Werk  gesetzt,  ohne  Organisation,  ohne  ein- 
heitliche Leitung.  Unter  ökonomischem  Gesichtspunkt  überflüssig, 
waren  diese  Streiks  schon  aussichtslos  geworden,  als  die  Chartisten 
ihnen  nachträglich  eine  politische  Spitze  gaben.  Nun  wollte  Engels 
das  Scheitern  des  ganzen  Unternehmens  am  liebsten  darauf  zu- 
rückführen, daß  dessen  Grundidee,  der  Glaube  an  die  Möglichkeit 
einer  Revolution  auf  gesetzlichem  Wege,  eine  praktische  Unmög- 
lichkeit darstellte.  Dieses  falsche  Idol  hätte  die  Energie  der  Massen 
gelähmt  und  nach  Aufzehrung  der  Ersparnisse  die  allgemeine 
Rückkehr  zur  Arbeit  bewirkt.  Ohne  Nutzen  seien  aber  diese  Wochen 
für  die  Besitzlosen  trotzdem  nicht  geblieben,  denn  sie  hätten  ihnen 
zu  der  Erfahrung  verholfen,  daß  bloß  die  gewaltsame  Umwälzung 
der  bestehenden  unnatürlichen  Verhältnisse,  der  radikale  Sturz 
der  adligen  wie  der  industriellen  Aristokratie  ihre  materielle  Lage 
zu  bessern  vermöchte.    Selbst  wenn  die  Engländer  die  ihnen  eigen- 


X38  Politische  lind  soziale  Lehrjahre  in  England. 

tümliche  Scheu  vor  dem  Gesetz  zunächst  noch  von  einer  gewalt- 
samen Revolution  zurückhalten  sollte,  so  werde  sich  doch  die  Scheu 
vor  dem  Hungertod  als  stärker  erweisen.  Weil  er  eine  Revolu- 
tion herbeisehnte,  zweifelte  Engels  nicht  an  ihrem  Nahen ;  und  seine 
Hoffnungsseligkeit  mußte  es  stärken,  daß  auch  die  Publizistik 
der  Chartisten  vielfach  mit  dieser  Voraussage  arbeitete.  Es  kam 
später  noch  oft  vor,  daß  sein  sanguinisches  Temperament  in 
Unterschätzung  beharrender  sozialer  und  politischer  Kräfte  sich 
zu  falschen  revolutionären   Prophezeiungen   hinreißen  ließ. 

Das  allgemeine  Stimmrecht  bildete  weitaus  die  Hauptforderung 
der  Chartisten.  Sie  wußten,  ,,daß  vor  dem  Sturm  eines  demokra- 
tischen Unterhauses  das  ganze  morsche  Gerüst,  Krone  und  Lords 
und  so  weiter  von  selbst  zusammenbrechen  muß"  (Pariser  Vor- 
wärts, 18.  September  1844).  V7ie  Macaula y,  der  freilich  zu  ent- 
gegengesetzten Schlüssen  kam,  war  Engels  überzeugt,  daß  keine 
konservative  und  keine  liberale  Regierung  sich  jemals  durch  fried- 
liche Agitation  eine  Reform,  die  den  Staat  mit  einem  Schlage  der 
großen  Masse  der  Besitzlosen  ausliefern  müßte,  abringen  lassen 
würde.  Deshalb  werde  der  Kampf  für  das  allgemeine  Stimmrecht 
der  sozialen  Revolution  die  Wege  bahnen.  Und  schon  bald  werde 
man  es  errungen  haben:  mit  der  Abschaffung  der  Korngesetze  werde 
die  Adelsaristokratie  vor  der  Geldaristokratie,  mit  der  Annahme 
der  Volkscharte  die  Geldaristokratie  vor  der  arbeitenden  Dem.okra- 
tie  das  Feld  räumen.  Die  Krisis  nahe,  die  den  ,, christlichen  Welt- 
zustand vernichten"  werde,  ihr  Zeitpunkt  könne,  wenn  auch  nicht 
in  Jahren  und  quantitativ,  so  doch  qualitativ  mit  Bestimmtheit 
vorausgesagt  werden. 

Englands  nächste  Zukunft  gehörte  der  Demokratie,  das  war 
für  Engels  ausgemacht,  doch  nicht  mehr  der  bloß  politischen 
Demokratie.  Daß  ihre  Kräfte  nicht  ausreichten,  die  große  Mensch- 
heitsaufgabe zu  lösen,  darauf  wiesen  in  Deutschland  die  Blätt- 
chen der  zum  Kommunismus  bekehrten  Handwerksgesellen 
schon  seit  längerer  Zeit  hin,  und  ihr  geistiges  Oberhaupt  hatte 
in  seinen  Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit  gerade  eben  vor 
ihrer  Überschätzung  gewarnt  und  sie  einen  untauglichen,  ja  selbst 
gefährlichen  Notanker  für  das  erst  zu  verwirklichende  Prinzip  der 
Gemeinschaft  genannt.  Es  war  ja  nicht  das  erste  und  nicht  das 
letzte  Mal,  daß  eine  leidende  Menschheit  sich  die  notwendige  Be- 
grenztheit aller  politischen  Aktion  eingestand.  So  erschien  jetzt 
auch  Engels  jene  Demokratie,  die  ihren  Inhalt  bloß  im  Gegensatz 
zu  Monarchie  und  Feudalismus  suchte,  als  überlebt,  als  wahrhaft 
lebensträchtig  wollte  er  allein  noch  jene  andere  gelten  lassen,  die 
in  der   Bourgeoisie   und  im  Besitz  ihren  Gegensatz  spürte.    Auch 


Die  Grenzen  der  Demokratie. 


139 


Proudhons  Einfluß,  der  sich  hier  bei  ihm  2U!-i  ersten  Mal  bemerk- 
bar macht,  wirkte  dahin  mit,  daß  er  jetzt  der  bloßan  Demokatie 
die  Kraft  absprach,  die  sozialen  Übel  zu  heilen.  Die  Politik,  erklärte 
Engels,  sei  überhaupt  nicht  der  Boden,  auf  dem  der  Kampf  der 
Armen  gegen  die  Reichen  seinen  Abschluß  finden  könne.  Über 
der  demokratischen  Gleichheit,  dem  ,, letzten  rein  politischen  Mittel", 
das  noch  zu  versuchen  wäre,  erhebt  sich  ihm  der  Sozialismus  als 
ein  über  alles  politische  Wesen  hinausstrebendes  Prinzip. 

Gerade  weil  Engels  selbst  so  überzeugt  war,  daß  die  Char- 
tistenbewegung, mochte  sie  wollen  oder  nicht,  in  die  soziale  Revo- 
lution ausmünden  müsse,  befremdete  es  seinen  deutschen  Idealis- 
mus anfänglich,  daß  der  Chartismus  in  den  Reihen  der  gebildeten 
Klassen  nur  verschwindend  wenige  Anhänger  hatte.  Noch  er- 
klärte sich  ihm  diese  Erscheinung  weniger  aus  dem  widerstreben- 
den Klasseninstinkt  des  englischen  Bürgertums  als  daraus,  daß 
diesem  der  Glauben  an  die  Macht  der  Chartistenbewegung  fehlte. 
Dem  praktischen  Engländer  bedeute,  meinte  er,  die  Politik  ein 
Zahlenverhältnis,  ein  Handelsgeschäft;  deshalb  nehme  er  von  der 
im  stillen  furchtbar  anwachsenden  Macht  des  Chartismus  so  lange 
keine  Notiz,  wie  die  Zahlen,  in  denen  diese  sich  ausdrücke,  für  die 
Mehrheitsverhältnisse  im  Parlament  Nullen  vor  der  Eins  blieben. 
Aber  solche  Superklugheit  übersehe,  daß  es  doch  auch  Dinge  gibt, 
die  über  das  Zahlenverhältnis  hinausreichten. 

Hatte  sich  Engels  schon  daheim  niemals  streng  an  den  in 
Deutschland  üblich  gewordenen  Sprachgebrauch  gehalten,  der 
zwischen  Sozialismus  und  Kommunismus  einen  so  grundsätzlichen 
Unterschied  machte  wie  Lorenz  Steins  Kompendium,  so  fühlte 
er  sich  erst  recht  nicht  bewogen,  die  englischen  Arbeiterkreise, 
mit  denen  er  jetzt  Anknüpfung  suchte  und  fand,  mit  Unterschei- 
dungen zu  plagen,  die  für  sie  gegenstandslos  gewesen  wären.  Denn 
sie  kannten  ja  nur  den  Chartismus  und  daneben  den  englischen 
Sozialismus.  Vom  deutschen  Kommunismus  hatten  sie  bis  vor 
kurzem  nichts  gehört,  aber  auch  die  französische  sozialistische 
Gedankenwelt,  die  in  dem  Fourieristischen  Promethean  vergebens 
um  Einfluß  warb,  hatte  in  ihrer  Mitte  keinen  Anklang  gefunden. 
Eine  kraftvolle  Massenbewegung  des  Proletariats,  bei  der  nicht 
die  ungleiche  Verteilung  des  Eigentums  zur  Sprache  käme,  hat  es 
niemals  gegeben  und  wird  es  niemals  geben,  solange  diese  Ungleich- 
heit fortbesteht.  Doch  macht  es  schon  einen  gewaltigen  Unter- 
schied aus,  ob  die  Überwindung  des  Privateigentums  im  Mittelpunkt 
aller  Forderungen  der  Bewegung  steht  oder  ob  nur  zeitweise  in  der 
Diskussion  Erwägungen  hierüber  auftauchen,  während  das  von 
den  Führern  am  leidenschaftlichsten  gepredigte  Ziel  sich  noch  auf 


1^0  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

politisch-demokratische  Forderungen  beschränkt.  So  aber  lag 
es  noch  beim  Chartismus.  Diese  erste  große  Klassenbewegung  des 
modernen  Industrieproletariats  forderte  in  der  berühmten  Charte, 
die  ihr  den  Namen  gab,  ausschließlich  die  Demokratisierung  der 
Staatsgewalt.  Ob  sie  sich  hierfür  auf  Thomas  Paine  und  William 
Cobbett  berief  oder  bis  zu  Locke  und  Rousseau  zurückging,  stets 
und  ausnahmslos  entnahm  sie  ihre  Argumente  naturrechtlichen 
Quellen.  Sind  aber  auch  naturrechtliche  Gründe  trefflich  geeignet, 
die  Massen  mit  dem  Glauben  an  die  Gerechtigkeit  ihrer  Ansprüche 
zu  erfüllen,  sie  vermögen  ihnen  nicht  die  Gewißheit  beizubringen, 
daß  der  Sieg  ihrer  Sache  in  der  Zukunft  keinem  Zweifel  unterliegt. 
Wenn  Engels  an  den  französischen  Enzyklopädisten  kritisierte, 
daß  sie  noch  keine  Übergänge  machen  konnten,  wenn  er  in  der 
Philosophie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  überhaupt  nur  erst  den 
, .vorletzten  Schritt  zur  Selbsterkenntnis  und  Selbstbefreiung  der 
Menschheit"  sehen  wollte,  so  drückte  sich  darin  bloß  seine  tiefe 
Überzeugung  aus,  daß  es  der  dialektischen  Philosophie,  zu  deren 
Fahne  er  schwor,  vorbehalten  wäre,  der  Menschheit  auf  dem  Weg 
zu  ihrer  letzten  Selbstbefreiung  voranzugehen.  Sollte  also  das  re- 
volutionäre Proletariat  Englands,  wie  er  mit  vollster  Bestimmtheit 
anhaltend  hoffte,  der  Träger  jener  großartigen  Freiheitsverwirk- 
lichung werden,  so  mußte  es  den  Weisungen  folgen,  die  ihm  die 
Philosophie  Hegels  und  Feuerbachs  gab. 

Nun  bestand  ja  aber  abseits  von  der  großen  Klassenbewegung 
des  Proletariats  und  in  dem  entscheidenden  Punkt,  nämlich  dem 
des  Klassenkampfes,  sogar  im  Widerspruch  zu  ihr,  im  damaligen 
England  auch  eine  sozialistische  Bewegung.  Ihr  drückte  ein  ein- 
zelner Mann,  der  zukunftsgläubige  Robert  Owen,  den  Stempel  seines 
Genius  auf.  An  seinen  Namen  knüpften  sich,  das  hat  Engels  auch 
noch  nach  Jahrzehnten  willig  anerkannt,  alle  wirklichen  sozialen 
Fortschritte,  die  damals  und  selbst  noch  später  in  dem  Inselreich 
zustande  kamen.  Im  Innersten  erschüttert  durch  die  Auflösung 
aller  die  Menschen  verknüpfenden  sozialen  Bande  und  durch  den 
schrankenlosen  Egoismus  und  Atomismus,  den  die  industrielle 
Revolution  groß  züchtete,  hatte  er  lange  nach  einem  Heilmittel 
dagegen  gesucht  und  schließlich  geglaubt,  daß  sich  dieses  aus  der 
Krankheit  selbst  ablesen  lassen  müsse.  Aus  der  großindustriellen 
Betriebsart  schöpfte  er  die  Überzeugung,  daß  es  bloß  einer  plan- 
mäßigeren Leitung  bedürfe,  um  auf  genossenschaftlicher  Grund- 
lage die  Solidarität  der  in  furchtbarem  Maße  auseinanderstrebenden 
Interessen  herzustellen.  Auf  diese  Weise  wurde  Owen  der  Apostel 
des  Genossenschaftswesens,  der  unermüdlich  bestrebt  war,  aus 
dieser  auf  Egoismus  aufgebauten  Welt  zu  einer  auf  dem  entgegen- 


Owen  und  der  englische  Sozialismus.  141 

gesetzten  wirtschaftlichen  Prinzip  beruhenden  new  moral  world 
den  Weg  zu  weisen,  indem  er  sozialistische  Kolonien  ins  Leben 
rief  und  so  Oasen  schuf,  wo  die  sympathetischen  Triebe  des  Menschen 
sich  frei  auswirken  und  durch  moralische  und  wirtschaftliche  Erfolge 
beweisen  sollten,  daß  in  Zukunft  die  Solidarität  über  den  Egoismus 
triumphieren  werde.  Das  zentrale  Problem  der  gesellschaftlichen 
Not  sah  Owen  bekanntlich  darin,  daß  die  ungeheure  Steigerung 
der  Produktion  nicht  eine  gleich  starke  Steigerung  der  Konsump- 
tion  ausgelöst  hatte,  und  so  leitete  er  alles  Elend  der  bestehenden 
Welt  aus  dem  unzulänglichen  Prinzip  der  Verteilung  ab.  Der  Kampf 
der  Klassen,  den  der  Chartismus  predigte,  ^ar  in  seinen  Augen 
nicht  das  Mittel,  die  Übel  zu  beseitigen;  sein  unerschütterlicher 
Optimismus  ließ  ihn  bei  dem  Glauben,  daß  es  mit  friedlichen  Mitteln 
gelingen  müsse,  jene  prästabilierte  Harmonie  aller  Interessen,  an 
deren  Möglichkeit  er  nicht  zweifelte,  in  die  Wirklichkeit  zu  über- 
tragen. Mit  seiner  Weltanschauung  wurzelte  Owen  noch  ganz  in 
dem  Rationalismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Die  Welt  war 
ihm  ein  großes  Laboratorium,  der  Mensch  eine  komplizierte  che- 
mische Verbindung.  Eine  völlige  Umgestaltung  der  Welt  müsse 
auch  eine  völlige  Umgestaltung  des  Menschen  ergeben,  eine  ver- 
nunftgemäß2re  Erziehung  sein  Wesen  für  ein  Leben  in  der  Genos- 
senschaft geeigneter  machen.  Auf  die  überzeugende  und  werbende 
Kraft  seiner  Ideen  vertraute  Owen  so  fest,  daß  er  grundsätzlich 
verschmähte,  sich  an  die  politischen  und  sozialen  Leidenschaften 
der  Massen  zu  wenden.  Ebenso  fest  wie  der  junge  Engels  glaubte 
Owen,  daß  die  Geschichte  der  menschlichen  Unvernunft  mit  raschen 
Schritten  ihrem  Ende  zustrebte  und  der  Tag  der  Wiedergeburt  des 
Geistes  herannahte.  Gefühlsmäßig  zog  sie  beide  ähnliches  zum  So- 
zialismus hin.  Aber  über  den  Weg,  dessen  die  Geschichte  zu  seiner 
Ver v^  irklichung  sich  bedienen  würde,  machten  sich  beide  grund- 
verschiedene Vorstellungen. 

Owen,  nicht  weniger  als  fünfzig  Jahre  älter  als  Engels,  hatte 
selbst  einer  großen  Spinnerei  vorgestanden  und  als  Betriebsleiter 
und  Arbeitgeber  den  Weg  zum  Sozialismus  gefunden.  Den  gleichen 
Beruf  und  eine  ähnliche  Mission  schien  seine  Zukunft  auch 
Engels  zuzuweisen.  Trotzdem  bestand,  so  groß  seine  persönliche  Ver- 
ehrung für  Owen  damals  war  und  auch  später  blieb,  für  ihn  nicht 
die  Versuchung,  sich  dessen  Anhängerschaft  anzuschließen.  Zu 
deutlich  empfand  er  den  Gegensatz  der  Temperamente,  der  Welt- 
anschauungen; auf  den  naturrechtlichen  Idealismus  Owens  blickte 
der  Schüler  Hegels  wie  auf  einen  primitiven,  von  der  deutschen 
Philosophie  längst  überwundenen  Standpunkt  herab;  mehr  be- 
deuteten ihm  noch  dessen  soziale  Experimente,  seine  praktischen  Er- 


142  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

folge.  Owens  theoretischer  Deduktion  gestand  er  zwar  ein  „um- 
fassendes" Bestreben  zu,  aber  er  erklärte  sie  für  so  dunkel  und  so 
schlecht  vorgetragen  wie  die  Lehren  eines  „deutschen  Philosophen". 
Am  meisten  imponierte  ihm  dieses  Engländers  mutige  Feindschaft 
gegen  die  Kirche  und  die  Theologen,  daß  er  es  wagte  ,,Ehe,  Religion 
und  Eigentum  die  einzigen  Ursachen  alles  Unglücks  seit  Anfang 
der  Welt"  zu  nennen.  Wegen  ihres  offenen  Kampfes  gegen  die 
verschiedenen  Kirchen,  überhaupt  wegen  ihrer  Ablehnung  der 
Religion  belobte  er  die  englischen  Sozialisten  als  grundsätzlicher  und 
praktischer  als  die  französischen,  die  ihre  sozialistischen  Grund- 
gedanken aus  dem  Christentum  herauslasen  und  dieses,  nachdem 
Saint-Simon  ihnen  darin  vorausgegangen  war,  einer  Erneuerung 
entgegenführen  zu  können  hofften.  Den  stets  von  Tausenden  be- 
suchten sonntäglichen  Veranstaltungen  in  der  von  Owens  An- 
hängern errichteten  großartigen  Manchester  Hall  of  Science  hat 
Engels  während  seines  Aufenthalts  daselbst  oft  beigewohnt,  und 
das  neuartige  Bild,  das  sich  hier  vor  ihm  auf  tat,  hat  im  Anfang 
auf  ihn  einen  starken  Zauber  ausgeübt.  Für  den  jungen  Wupper- 
taler mußte  es  wirklich  ein  neuartiger  Eindruck  sein,  hier  allsonn- 
täglich mit  Witzen  gegen  die  Geistlichen  gespickte  Reden  anzu- 
hören, in  denen  die  Christen  schlechthin  als  ,, unsere  Feinde"  titu- 
liert wurden. 

Über  die  geschäftlichen  Aufgaben,  die  der  Sohn  des  Barmer 
Chefs  damals  bei  Ermen  &  Engels  in  Manchester  zu  erfüllen  hatte, 
wissen  wir  bisher  nichts  Genaues.  Ein  Glück  ist  es,  daß  wir  besser 
über  die  Tätigkeit  unterrichtet  sind,  die  er  außerhalb  des  Kontors 
entfaltete,  und  die,  wie  sie  es  für  ihn  war,  auch  für  uns  die  wich- 
tigere ist.  Mit  dem  fest  zupackenden  Orientierungsbedürfnis,  der 
Frische  und  dem  sicheren  Instinkt,  die  ihm  eigen  waren,  stürzte 
er  sich  damals  in  seinen  Freistunden  in  die  englische  Literatur  der 
Epoche  und  des  Tages ;  allein  schon  die  Zeitungen  und  Zeitschriften, 
die  nicht  wie  im  lieben  Vaterlande  eine  ängstliche  Zensur  verhinderte, 
von  den  öffentlichen  Dingen  anstandslos  zu  reden  und  denen  die 
hochgehenden  Wogen  der  politischen  und  sozialen  Kämpfe  stets 
eine  Fülle  bedeutenden  Stoffes  zuführten,  waren  ihm,  der  zu  lesen 
verstand,  eine  stets  fließende  Quelle  der  Belehrung,  die  er  mit  voller 
Bewußtheit  und  mit  sichtlichem  Nutzen  ausschöpfte.  Das  Studium 
der  englischen  Vergangenheit,  dem  er  sich,  wie  wir  schon  wissen, 
eifrig  hingab,  sollte  ihm  helfen,  noch  gründlicher  die  Gegenwart 
des  Landes  zu  begreifen,  seine  Zukunft  noch  deutlicher  zu  erschauen. 
Shelley  war  schon  frühzeitig  der  englische  Dichter  gewesen,  der 
durch  seinen  Haß  gegen  Christentum  und  Königtum  ihn  vorzüg- 
lich angezogen  hatte.    Damals  hatte  er  Queen  Mab  zu  übersetzen 


Die  Notwendigkeit  ökonomischer  Studien.  1^,3 

begonnen.  Auch  jetzt  reizte  ihn  aus  der  schönen  Literatur  beson- 
ders alles,  was,  durch  die  Kämpfe  der  Zeit  angeregt,  auf  diese  zu- 
rückwirkte, auf  sie  zurückwirken  wollte.  Was  konnte  ihn  da 
stärker  packen  als  die  Schriften  Carlyles,  die  Romane  Disraelis, 
die  Gedichte  Elisabeth  Brownings  und  Thomas  Hoods  ?  Vernahm 
er  hier  nicht  den  Widerhall  der  gewaltigen  sozialen  Erschütterung, 
die  das  englische  Land  durchbebte  und  ihn,  den  Fremdling,  un- 
widerstehlich in  ihre  Kreise  zog?  Eine  noch  beredtere  Sprache 
führten  vielleicht  die  Eindrücke,  die  sein  tägliches  Leben  in  Man- 
chester ihm  lieferte  und  denen  er  sich  mit  atemlosem  Eifer  überließ. 
Mochte  er  aber  von  der  Baumwollbörse  oder  von  den  Streif- 
zügen durch  die  elenden  Arbeiterquartiere,  die  er  eifrig  betrieb, 
heimkehren,  ihm  konnte  nicht  entgehen,  daß  alles,  was  er  erfuhr, 
beobachtete  und  sammelte,  für  ihn  selbst  wie  für  die  Mitwelt  nur 
dann  die  erwünschten  Früchte  tragen  konnte,  wenn  er  sich  gleich- 
zeitig energisch  in  der  ökonomischen  Literatur  umsah,  die  in  Eng- 
land in  Blüte  stand  und  die  er  auf  seinem  bisherigen  Bildungsweg 
vernachlässigt  hatte.  Auf  diese  Weise  also  wurde  die  Kenntnis  der 
Volkswirtschaftslehre  ihm  plötzlich  ebenso  notwendig,  ja  fast  noch 
notwendiger  als  die  der  Philosophie,  auf  die  er  bisher  fast  allein 
gebaut  hatte  und  von  deren  Unentbehrlichkeit  für  ihn  er  auch 
weiterhin   überzeugt  blieb. 

Furchtbare  Eindrücke  müssen  es  gewesen  sein,  die  an  dem 
industriellen  Hauptort  der  damaligen  Welt  auf  die  empfängliche 
Seele  des  jungen  Engels  einstürmten.  Das  starke  soziale  Ethos, 
das  in  den  Tiefen  seiner  Natur  von  Kindheit  an  seine  Wirkung  tat, 
hat  in  der  Geschichtsauffassung,  die  er  hernach  gewann,  eine,  wie 
ihm  dann  dünkte,  so  vollkommene  wissenschaftliche  Auslösung 
gefunden,  daß  er  es  danach  in  der  Regel  für  entbehrlich  hielt,  seinen 
Gefühlen  in  der  Öffentlichkeit  unmittelbaren  Ausdruck  zu  geben. 
Persönlich  aufopfernd,  uneigennützig  und  großen  Idealen  hin- 
gegeben, hätte  Engels  die  ganze  Menschheit  von  Gesinnungen  und 
Trieben  erfüllt  gewünscht,  die  ein  Zusammenwachsen  und  Zusam- 
menwirken jedweder  Bemühungen  ermöglicht,  ein  Zurückdrängen 
alles  Auseinanderstrebenden,  ein  Emporzüchten  alles  Verbindenden 
und  Gemeinsamen  erlaubt  hätten.  Doch  die  Welt  war  nicht  so, 
und  sein  unbestechlicher  Blick,  sein  ruheloser  Erkenntnisdrang, 
seine  ehrliche  klare  Natur  wollten  die  Dinge  nicht  anders  sehen,  als 
wie  sie  wirklich  waren,  mochten  auch  die  eigenen  Wünsche  von 
den  Ergebnissen  der  eigenen  Erkenntnis  wenig  erbaut  sein.  Aus 
den  engen,  vielfach  noch  patriarchalisch  gemilderten  Zuständen 
der  Heimat  plötzlich  auf  die  Straßen  Londons  versetzt,  war  er  er- 
schrocken über  ,,die  brutale  Gleichgültigkeit,  die  gefühllose  Isolierung 


i^^  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

jedes  einzelnen  auf  seine  Privatinteressen",  über  die  „Auflösung 
der  Menschheit  in  Monaden",  die  er  überall  wahrnahm.  Mochte  ein 
Teil  der  sozialistischen  Literatur,  die  er  zuletzt  daheim  gelesen  hatte, 
ihm  ähnliches  schon  verkündet  haben,  erst  hier  kam  nun  mit  voller 
Wucht  die  entsetzliche  Erkenntnis  über  ihn,  daß  die  ,, bornierte 
Selbstsucht"  das  Grundprinzip  der  bestehenden  Gesellschaft  sei. 
Und  die  Eindrücke  der  Weltstadt  verstärkten  die  anderen  und  doch 
so  ähnlichen,  die  ihm  in  den  englischen  Fabrikstädten  entgegen- 
traten: ,, Überall  barbarische  Gleichgültigkeit,  egoistische  Härte 
auf  der  einen  und  namenloses  Elend  auf  der  anderen  Seite,  überall 
sozialer  Krieg  .  .  .  überall  gegenseitige  Plünderung  unter  dem 
Schutze  des  Gesetzes."  Nirgends  in  der  damaligen  Welt  war  die 
Verdrängung  der  Handarbeit  durch  die  Maschine  bereits  so  weit 
gediehen,  hatte  die  Teilung  der  Arbeit  einen  solchen  Höhepunkt 
erreicht  wie  in  der  englischen  Baumwollindustrie.  Nirgends  ließ 
sich  aber  auch  die  Not  des  Industrieproletariats  schon  in  gleich  vol- 
lendeter Klassizität  studieren  wie  hier  in  Manchester  und  seinen 
Nachbarstädten.  Mitgefühl  und  Erkenntnisdrang  wiesen  also  dem 
durch  Kindheitserinnerungen  wohl  vorbereiteten  Jüngling  die  gleiche 
Richtung,  als  er  nun  an  die  Aufgabe  ging,  die  soziale  und  ökono- 
mische Lage  der  neuen  Gesellschaftsklasse  zu  erforschen,  an  deren 
Erlösung  sich  für  ihn  bereits  die  Befreiung  der  Menschheit  knüpfte. 
Je  mehr  sich  bei  ihm  der  Entschluß  festigte,  mit  aller  Kraft,  die  er 
sein  eigen  nannte,  an  diesem  Werke  mitzuwirken,  um  so  mehr 
verdichtete  sich  ihm  der  Plan,  die  Eindrücke  und  die  Kenntnisse, 
die  er  hier  erwarb  und  über  die,  wie  er  sich  bewußt  war,  noch  kein 
anderer  philosophisch  geschulter  Deutscher  in  solchem  Umfang 
verfügte,  zu  einem  Buch  zu  verarbeiten.  Das  Gebiet,  auf  dem  er 
sich  hier  bewegte,  war  ja  für  die  deutsche  zünftige  ökonomische 
Wissenschaft  noch  ziemliches  Neuland.  Und  je  mehr  sich  nun 
sein  Gesichtsfeld  verbreiterte,  um  so  klarer  und  umfassender  wurden 
ihm  die  Begriffe,  unter  die  sich  ihm  der  Stoff  gliederte.  Nicht  bloß 
ein  lokales,  nicht  bloß  ein  zufälliges,  sondern  ein  typisches,  zu 
Folgerungen  und  Schlüssen  berechtigendes  Bild  wollte  er  entwerfen. 
Bald  konnte  er  sich  rühmen,  Manchester  genauer  als  die  meisten 
Einwohner,  genau  so  gut  wie  die  eigene  Vaterstadt  zu  kennen. 
Zum  Schauen  und  zum  Horchen  von  Hause  aus  begabt,  sammelte 
und  sichtete  er  so  ein  weitschichtiges  Material;  doch  währte  sein 
Aufenthalt  in  England  nicht  lange  genug,  als  daß  er  hier  bereits 
daran  hätte  gehen  können,  es  seinen  Absichten  entsprechend  zu- 
sammenzufassen und  mit  der  Ausarbeitung  zu  beginnen. 

Man   hat  die   Frage  aufgeworfen,   ob   Engels  während  dieser 
fünfzehnmonatlichen  sozialen    Lehrzeit   in    England    sich    stärker 


Eindrücke  in  den  Fabrikvierteln.  145 

von  dem  dortigen  Sozialismus  oder  vom  Chartismus  angezogen 
gefühlt  habe.  Ab2r  nur  die  Lückenhaftigkeit  des  Materials,  über 
das  man  bisher  verfügt  hatte,  entschuldigt  eine  so  unpsychologische 
Fragestellung.  Wir  wissen  jetzt,  daß  Engels  schon  aus  Deutschland 
die  Überzeugung  mitbrachte,  daß  die  bloße  politische  Demo- 
kratie das  Elend  der  arbeitenden  Klassen  nicht  aufzuheben  ver- 
möge, sondern  daß  erst  die  Überwindung  des  Privateigentums  die 
Emanzipation  des  Menschen  vollenden  werde.  Er  erkannte,  daß  die 
Chartisten  die  Wirksamkeit  der  rein  politischen  Mittel  noch  über- 
schätzten ;  aber  er  vertraute,  daß  sie  dies  in  kurzer  Zeit  einsehen  und 
daß  eigene  Erfahrung  und  die  Macht  der  Umstände  sie  dann  unfehl- 
bar dem  Sozialismus  in  die  Arme  treiben  würden.  Gleichzeitig 
war  er  jedoch  ein  viel  zu  überzeugter  Revolutionär,  als  daß  die 
unbedingt  friedliche  Taktik  der  englischen  Sozialisten  ihm  nicht 
widerstreben  mußte.  Mit  so  regem  Interesse  er  ihre  genossen- 
schaftlichen Experimente  verfolgte,  so  wenig  verbarg  er  weder 
ihnen  noch  sich  selbst,  daß  diese  nicht  mehr  als  Experimente  be- 
deuteten, denen  einiger  Wert  für  die  Zukunft  aber  kein  beträcht- 
licher für  die  Gegenwart  zukäme.  Weil  er  unverrückbar  an 
der  Überzeugung  festhielt,  daß  das  ihm  vorschwebende  Endziel 
zum  mindesten  in  England  nur  auf  gewaltsamem  Wege  erreichbar 
sei,  mußte  Engels  der  doppelte  Wunsch  beseelen,  daß  der  Chartis- 
mus sich  mit  sozialistischem  Geist  erfülle  und  der  Sozialismus 
sich  mit  chartistischer  Energie  durchtränke.  Die  eine  Richtung 
dünkte  ihm  in  der  Theorie,  die  andere  in  der  Praxis  weiter  fort- 
geschritten. Beide  hatten  seine  Sympathie,  doch  keiner  verschrieb 
er  sich.  Seine  Hoffnung  war  auf  ihre  Verschmelzung  eingestellt. 
Mit  der  gleichen  Aufmerksamkeit  und  der  gleichen  Lernbegierde 
verfolgte  er  den  Northern  Star,  das  Blatt  der  Chartisten,  und  The 
New  Moral  World,  das  Organ  der  Sozialisten,  und  auch  um  die  per- 
sönliche Bekanntschaft  von  führenden  Männern  beider  Richtungen 
finden  wir  ihn  eifrig  bemüht. 

Wir  wissen,  daß  er  bei  den  Sozialisten  Beziehungen  besonders 
zu  dem  Lecturer  John  Watts  in  Manchester  gewann,  dem  „Schnei- 
der und  Doktor  der  Philosophie",  wie  er  im  Heiligen  Max  be- 
titelt wird,  der,  ganz  von  Humes  Skeptizismus  beherrscht,  mit  Vor- 
liebe über  die  Existenz  Gottes  philosophierte  aber  auch  national- 
ökonomische  Fragen  gern  erörterte  und  über  seine  Lieblingsthemata 
Broschüren  veröffenlichte.  Später  hat  sich  ihm  dieser  John  Watts 
als  ein  ziemlicher  Spießbürger  enthüllt;  damals  betrachtete  er  ihn 
noch  als  einen  recht  bedeutenden  Mann  und  liebte  um  so  mehr 
mit  ihm  zu  diskutieren,  als  dieser  es  anscheinend  verstand,  von 
anschaulichen  Tatsachen  auszugehen  und  auf  deren  Boden  seine 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  10 


146  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

Gedanken  grundsätzlich  durchzuführen.  Der  Lecturer  wollte  sich 
von  dem  philosophischen  Milchbart  aus  Deutschland  unter  keinen 
Umständen  davon  überzeugen  lassen,  daß  die  Existenz  Gottes  auch 
noch  auf  anderen  Wegen  beweisbar  sein  könnte  als  durch  greif- 
bare Tatsachen.  Seinerseits  fühlte  sich  Engels  keineswegs  mehr 
berufen,  den  Verteidiger  Gottes  abzugeben ;  um  so  mehr  aber  lag 
ihm  an  dem  Prinzip  der  Dialektik,  deren  Notwendigkeit  a  priori 
der  biedere  Watts  nicht  einzusehen  vermochte.  Seine  platte 
Praxis  beruhigte  sich  vollkommen  bei  dem  Argument,  daß  die 
Existenz  Gottes  den  nicht  mehr  interessieren  könne,  der  dem 
Glauben  entsagt  habe  und  daß  diese  Existenz  überhaupt  von  dem 
Augenblick  an  völlig  gleichgültig  werde,  wo  sie  sich  nicht  durch 
Tatsachen  manifestiere. 

Von  den  Chartisten  suchte  Engels  damals  James  Leach  auf, 
der  als  Fabrikarbeiter  in  Manchester  lebte  und  dank  seiner  Sach- 
kenntnis und  seines  gesunden  Menschenverstands  unter  der  Ar- 
beiterbevölkerung einen  beträchtlichen  Anhang  hatte.  Folgen- 
reicher war  es,  daß  er  im  Sommer  1843  auf  der  Redaktion  des  Nor- 
thern Star  in  Leeds  mit  George  Julian  Harne y  Beziehungen  an- 
knüpfte, der  soeben  unter  O'Connors  Ägide  die  Leitung  dieses  ein- 
flußreichsten Arbeiterblatts  übernommen  hatte.  Harne y  war  nur 
drei  Jahre  älter  als  Engels,  hatte  aber  schon  eine  bewegte  politische 
Vergangenheit  hinter  sich.  In  den  Sturmjahren  hatte  er  der  äußer- 
sten Linken  der  Chartisten  angehört  und  sich,  wie  Engels  bei  den 
Freien,  den  , »Girondisten**  in  der  Partei  widersetzt,  Marat  zu 
seinem  Helden  erhoben  und  heroische  Taten  statt  der  Worte  ver- 
langt. Aber  der  verunglückte  Generalstreik  des  Som.mers  1842 
hatte  ihm  jetzt  zu  denken  gegeben.  Keine  originale  Kraft  wie 
O'Connor  oder  Lovett,  an  Einfluß  sie  nicht  erreichend,  an  Bered- 
samkeit ihnen  nicht  vergleichbar,  war  er  doch  unter  den  leitenden 
Männern  der  Chartisten  derjenige,  der  am  wenigsten  insulare 
Scheuklappen  trug  und  sich  auch  mit  den  politischen  und  sozialen 
Zuständen  des  Kontinents  vertraut  gemacht  hatte.  Deshalb  trat 
er  besonders  in  den  Vordergrund,  als  nach  der  Mitte  der  vier- 
ziger Jahre  der  Gedanke  an  den  Zusammenschluß  der  Proletarier 
aller  Länder  Boden  gewann.  Den  Eindruck,  den  der  deutsche  Fabri- 
kantensohn, als  er  zum  ersten  Male  bei  Harney  anklopfte,  diesem 
zurückließ,  hatte  sich  54  Jahre  später,  als  Engels  starb,  noch  nicht 
verwischt:  Ein  schlanker  junger  Mensch  mit  einem  Gesicht  von 
fast  knabenhafter  Jugendlichkeit  sei  bei  ihm  eingetreten,  dessen 
Englisch  trotz  deutscher  Geburt  und  Erziehung  schon  damals  merk- 
würdig korrekt  gewesen  wäre.  Dieser  habe  ihm  gesagt,  daß  er  regel- 
mäßiger Leser  des  Northern  Star  sei  und  sich  für  die  Chartisten- 


Anknüpfung  mit  Sozialisten  und  Chartisten.  147 

bewegung  eifrig  interessiere.  So  habe  ihre  Freundschaft  begonnen. 
Und  der  greise  Brite  fügte  hinzu,  Engels  sei  noch  mit  72  Jahren 
ebenso  bescheiden  und  ebenso  geneigt  gewesen,  sich  selbst  in  den 
Hintergrund  treten  zu  lassen  wie  damals,  als  er  zweiundzwanzig- 
jährig  auf  dem  Northern  Star  vorsprach.  Schlank  und  elastisch 
ist  Engels  ja  bis  in  sein  Alter  geblieben.  Als  ihn  einige  Jahre 
später  Leßner  kennen  lernte,  fand  er  ihn  eher  einem  jungen 
schneidigen  Gardeleutnant  als  einem  Gelehrten  gleichend. 

Weil  sein  Verkehr  mit  Watts  und  anderen  englischen  Sozia- 
listen Engels  erkennen  ließ,  daß  diese  Insulaner  von  den  Bestre- 
bungen ihrer  Gesinnungsgenossen  auf  dem  Festland  nicht  einmal 
die  lückenhafteste  Vorstellung  besaßen,  wollte  er  ihnen  in  ihrem 
eigenen  Leibblatt  den  Stand  des  kontinentalen  Sozialismus  dar- 
legen. Der  Aufsatz,  der  im  November  1843  in  The  New  Moral  World 
erschien,  führte  den  Titel:  Der  Fortschritt  der  sozialen  Reform  auf 
dem  Kontinent.  Er  ist  wichtig,  weil  wir  aus  ihm  erfahren,  wie  weit 
sein  Verfasser  die  verschiedenen  Strömungen  innerhalb  des  Sozialis- 
mus und  Kommunismus  damals  schon  genauer  kannte  und  wie  er  sie 
bewertete.  Er  bringt  uns  auch  die  Gewißheit,  daß  Engels  jene  re- 
volutionäre Umgestaltung  der  Gesellschaft,  die  zur  Verwirklichung 
der  Gütergemeinschaft  führen  sollte,  nicht  bloß  für  England,  wenn- 
gleich hier  zunächst,  sondern  mit  derselben  Notwendigkeit  und 
Unvermeidlichkeit  auch  in  Frankreich  und  Deutschland  nahen  sah. 
Gerade  der  Umstand,  daß  die  Entwicklung  in  jedem  dieser  drei 
Länder  verschiedene  Wege  ging  und  dennoch  in  allen  dreien  dem 
Kommunismus  zustrebte,  gab  ihm  die  Gewißheit,  daß  der  Geschichte 
diese  Bahn  durch  der  modernen  Zivilisation  immanente  Trieb- 
kräfte gewiesen  wurde.  Die  Unterschiede  zwischen  den  Kom- 
munisten der  einzelnen  Länder,  die  er  nicht  leugnete,  erklärten 
sich  ihm  daraus,  daß  die  drei  Völker  die  Überzeugung,  die  Zukunft 
der  Menschheit  gehöre  dem  Kommunismus,  auf  verschiedenen  Wegen 
erlangt  hätten,  die  Engländer  durch  die  Praxis,  die  Franzosen  durch 
die  Politik,  die  Deutschen  durch  die  Philosophie.  Aber  ihre  Über- 
einstimmung hinsichtlich  des  Endziels  führte  ihn  zu  der  Folgerung, 
daß  die  noch  vorhandenen  Meinungsverschiedenheiten  mit  der 
Zeit  verschwinden  würden,  wie  sie  schon  in  der  Gegenwart  der  An- 
knüpfung der  freundschaftlichsten  Beziehungen  nicht  im  Wege 
stünden.  Und  diese  Sympathien  würden  sich  ganz  von  selbst  her- 
stellen, wenn  die  Kommunisten  eines  jeden  der  drei  Länder  erst 
von  den  Bestrebungen  der  Kommunisten  in  den  anderen  Ländern 
wirkliche  Kenntnis  besäßen.  Danach  schildert  Engels  in  Kürze, 
auf  welchen  Wegen  sich  in  Frankreich  und  Deutschland  die  Ent- 
wicklung zum  Kommunismus  vollzogen  habe.    Frankreich,  führte 

10* 


14.8  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

er  aus,  sei  in  der  Geschichte  der  Menschheit  die  Aufgabe  zugefallen, 
alle  Formen  der  politischen  Entwicklung  durchzumachen,  bevor 
es  in  den  Kommunismus  einmünde.  Seine  große  Revolution  habe 
das  Aufkommen  der  Demokratie  in  Europa  eingeleitet;  aber  die 
politische  Demokratie  für  sich  allein  sei  ein  Widerspruch  in  sich 
selbst,  sei  ,, Heuchelei",  sei  ,, Theologie"  im  Sinne  Feuerbachs  und 
Bruno  Bauers.  Politische  Freiheit,  selbst  politische  Gleichheit  be- 
deuteten in  der  Wirklichkeit  noch  nicht  viel  anderes  als  Sklaverei. 
Jede  Art  von  Regierung  enthalte  einen  Widerspruch,  der  auf  eine 
Lösung  hindränge  und  der  ent-weder  zum  unverhüllten  Despotismus 
oder  zu  jener  wahren  Freiheit  und  Gleichheit  führe,  die  nur  der 
Kommunismus  erfüllen  könne.  Napoleon  und  Babeuf  verkörperten 
die  beiden  Pole,  die  in  der  französischen  Revolution  diese  entgegen- 
gesetzten Entwicklungsmöglichkeiten  andeuteten.  Über  die  Ver- 
schwörung Babeufs  konnte  sich  Engels  kurz  fassen,  da  O'Brien 
schon  1836  Buonarottis  bekannte  Geschichte  dieses  Komplotts 
ins  Englische  übertragen  hatte.  Babeufs  Mißerfolg  erklärte  sich 
ihm  zu  gleichen  Teilen  aus  der  Unreife  der  Zeitverhältnisse  und 
aus  der  Roheit  und  Oberflächlichkeit  des  damaligen  Kommunis- 
mus. Was  er  hierauf  über  den  Saint-Simonismus  auftischt,  den  er 
nur  als  ,, Sozialpoesie"  gelten  lassen  will,  spricht,  was  uns  wichtig 
sein  muß,  nicht  sehr  dafür,  daß  er  diesen  damals  schon  aus  erster 
Quelle  studiert  hätte  oder  sich  ihm  gar  verpflichtet  fühlte.  Die  my- 
stische Gewandung  der  Saint-Simonschen  Schule  stieß  seinen  hellen 
Geist  ab,  und  gegen  ihr  Verteilungsprinzip  erhob  er  unter  Berufung 
auf  Börne  noch  jetzt  die  gleichen  Einwände,  die  er  einst  in  den 
Pariser  Briefen  gelesen  hatte.  Ungleich  stärker  waren  seine  Sym- 
pathien für  Fourier,  der  wissenschaftlicher  und  systematischer 
denke,  und,  wenn  auch  ebenfalls  nicht  frei  von  Mystik,  schon  eine 
wirkliche  Sozialphilosophie  gebe.  Die  optimistischen  Grundgedan- 
ken Fouriers  hatten  es  ihm  sogar  förmlich  angetan.  Am  meisten 
entzückte  ihn  dessen  ,, Entdeckung",  daß  es  jedem  Menschen  ge- 
trost überlassen  bleiben  dürfe,  sich  diejenige  Beschäftigung,  die 
ihm  selbst  die  liebste  sei,  zu  wählen  und  daß  nichtsdestoweniger 
die  Bedürfnisse  aller  ihre  ausreichende  Befriedigung  finden  würden. 
War  dies  richtig,  so  war  ja  die  Überflüssigkeit  alles  Zwanges  nach- 
gewiesen. Die  Bsweise,  die  Fourier  für  die  Notwendigkeit  eines 
freien  genossenschaftlichen  Zusammenwirkens  der  Menschen  bei- 
brachte, brauchten  Lesern,  die  in  Owen  ihren  Meister  verehrten, 
nicht  erst  ans  Herz  gelegt  zu  werden.  Zu  rügen  fand  Engels  an 
Fourier  besonders,  daß  dieser  am  Privateigentum  festhielt  und  nach 
den  heftigsten  Deklamationen  gegen  die  Schäden  des  freien  Wett- 
bewerbes die  Konkurrenz  mitsamt  ihren  schlim.men  Begleitern  am 


Der  Fortschritt  der  sozialen  Reform  auf  dem  Kontinent.         149 

Ende  dennoch  zur  Hintertür  wieder  hineinließ.  Er  tadelte  auch, 
daß  Fourier  ebenso  wenig  wie  Saint-Simon  (und  wie  Owen,  was 
er  aber  aus  Klugheit  unerwähnt  läßt)  seine  Forderungen  in  der 
Politik  zur  Geltung  gebracht  habe.  Die  Folge  sei  gewesen,  daß 
seine  Lehre  nur  Gegenstand  der  Diskussion  in  privaten  Zirkeln  ge- 
blieben, statt  Gemeinbesitz  der  Nation  geworden  sei.  Besonders 
verfehlt  erschien  Engels  diese  Taktik  in  einem  Land  wie  Frankreich, 
wo  ein  Ideal  wirkliche  Bedeutung  oder  gar  den  Sieg  nur  auf  dem 
Weg  über  die  Politik  erlangen  könne.  Diese  französische  Eigentüm- 
lichkeit hätte  die  kommunistische  Partei  Frankreichs  begriffen. 
Sie  habe  sich  erst  gebildet,  als  die  Arbeiter  nach  der  Julirevolu- 
tion zu  der  Erkenntnis  gelangten,  daß  nicht  schon  die  Änderung 
der  Staat^form  sondern  erst  der  Umsturz  der  sozialen  Ordnung  ihre 
Lage  von  Grund  auf  zu  bessern  vermöchte.  Nach  kurzen  Mitteilun- 
gen über  die  verschiedenen  Geheimbünde,  die  in  der  zweiten  Hälfte 
der  dreißiger  Jahre  in  rascher  Folge  sich  in  der  Wirksamkeit  ab- 
gelöst hätten,  charakterisierte  Engels  eingehender  Cabet,  an  dessen 
ikarischem  Kommunismus  er  selbstverständlich  die  starke  Überein- 
stimmung mit  den  Ansichten  Owens  kräftig  betont.  Auch  hebt  er 
hervor,  wie  Cabet  alles  mögliche  ausgeklügelt  hätte,  um  die  Frei- 
heit des  Individuums  zu  sichern,  deren  Gefährdung  die  Gegner 
dem  Kommunismus  vorwürfen.  Da  ihm  besonders  viel  daran  lag, 
die  englischen  Arbeiter  in  dem  Glauben  an  die  Möglichkeit  einer 
streng  legalen  Revolution  wankend  zu  machen,  so  suchte  er  ihnen 
an  dem  Gang  der  französischen  Geschichte  zu  erläutern,  weshalb 
die  dortigen  Kommunisten  republikanisch  gesinnt  wären,  sich  zu 
Geheimbünden  hingezogen  fühlten  und  vor  der  Anwendung  der 
Gewalt  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  nicht  zurückschreckten.  Eben 
hatten  ihn  selbst  Schapper  und  Moll  vergebens  zum  Eintritt  in  den 
Bund  der  Gerechten  bestimmen  wollen,  er  spricht  sich  hier  grund- 
sätzlich gegen  geheime  Gesellschaften  aus,  deren  gesetzwidriges 
Bestehen  überflüssiger  Weise  den  Verfolgungen  den  Mantel  der 
Gesetzmäßigkeit  umhänge.  Die  revolutionäre  Taktik  der  Franzosen 
suchte  er  seinen  Lesern  auch  durch  den  Nachweis  annehmbar  zu 
machen,  daß  die  französische  Verfassung  und  Gesetzgebung  die 
Unterdrückung  der  Armen  durch  die  Reichen  sanktionierten  und 
daß  die  Errichtung  kommunistischer  Kolonien  nach  englischem 
Vorbild  dort  weder  erlaubt  noch  am  Platze  wäre.  Dem  französischen 
Nationalcharakter  käm.e  nämlich  wenig  auf  den  Nachweis  an, 
daß  Pläne  wie  die  Owens  überhaupt  durchführbar  seien,  ihm 
läge  wenig  daran,  daß  ihm  die  Gangbarkeit,  um  so  mehr  aber,  daß 
ihm  die  Gerechtigkeit  eines  Weges  bewiesen  werde.  Man  müsse 
ihm  also  zeigen,  weshalb  Freiheit  und  Gleichheit  allein  durch  den 


jto  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

Kommunismus  ihre  Verwirklichung  finden  könnten.  Engels  ver- 
hehlt nicht,  wie  sehr  es  ihn  ärgerte,  daß  die  Franzosen  noch  immer 
gern  Kommunismus  und  Christentum  identifizierten.  Sollte  er 
unter  Schmerzen  von  der  Religion  seines  Vaterhauses  sich  frei  ge- 
kämpft haben,  nur  um  auf  diesem  Umwege  zu  ihr  zurückkehren 
zu  müssen  ?  Dsr  christliche  Sozialismus  eines  Lamennais  war  so 
wenig  nach  seinem  Geschmack  wie  das  ,,  Armesünder  Christentum" 
des  deutschen  Handwerkerkommunismus.  Daß  einige  Stellen  der 
Bibel  sich  im  Sinne  der  neuen  Heilslehre  auslegen  ließen,  brauchte 
er  noch  weniger  zu  leugnen  als  sein  Antipode  Heinrich  Leo,  der 
sich  damit  tröstete,  daß  ,,ein  Glas  Wein  in  eine  Jauche  gegossen, 
sofort  aufhört  Wein  zu  sein  und  Jauche  wird".  Aber  er  war  der 
Ansicht,  daß  der  allgemeine  Geist  der  heiligen  Schrift  dem  Kommu- 
nismus ,,wie  jeder  vernünftigen  Maßregel"  durchaus  entgegen- 
gesetzt sei.  Von  größerer  Bedeutung  erschien  es  ihm,  daß  Pierre 
Leroux  und  George  Sand,  die  ,, mutige  Vorkämpferin  für  die  Rechte 
ihres  Geschlechts",  dem  Kommunismus  Sympathien  entgegen- 
brachten. Als  das  bedeutendste  und  am  meisten  philosophische 
Werk,  das  es  in  französischer  Sprache  zugunsten  des  Kommunismus 
gäbe,  preist  er  Proudhons  Qu 'est  ce  que  c'est  la  Propriete?,  ein 
Werk,  das  er  später  getadelt  hat,  weil  es  die  bestehenden  gesell- 
schaftlichen Verhältnisse  nicht  hinreichend  kritisierte,  das  er  aber 
J2tzt  recht  bald  den  Engländern  durch  eine  Übersetzung  zugänglich 
gemacht  zu  sehen  wünschte,  da  kein  anderes  mit  gleicher  Kraft 
des  Geistes  und  mit  gleich  echter  Wissenschaftlichkeit  das  Wesen 
des  Privateigentums  aufgedeckt  und  dessen  Widersprüche  dadurch 
enthüllt  habe,  daß  es  dartat,  wie  Konkurrenz,  Unsittlichkeit  und 
Elend  mit  Notwendigkeit  aus  ihm  hervorgingen. 

Proudhons  anarchistische  Theorie  hat  um  die  Zeit,  als  der 
Klassencharakter  des  Staats  Engels  immer  offenbarer  wurde,  auf 
diesen  einen  sichtlichen  Einfluß  ausgeübt.  Dennoch  hat  er  sie  in 
The  New  Moral  World  nur  kurz  auseinandergesetzt,  weil  er  sie 
ausführlicher  erst  im  Zusammenhang  mit  dem  deutschen  Kom- 
munismus zu  behandeln  gedachte,  wozu  er  nachher  nicht 
gekommen  ist.  Von  dem  ,, nahen  Untergang  des  Staats",  dessen 
, .Aushöhlung",  dessen  ,, Unmenschlichkeit",  ist  in  Engels  Auf- 
sätzen und  Schriften  damals  bereits  häufiger  die  Rede.  Ähnliches 
hatte  Proudhon  und  längst  vor  ihm  schon  Godwin,  der  von  Engels 
einmal  erwähnt  wird,  gepredigt;  doch  mehr  als  alle  literarischen 
Einflüsse  bestärkte  Engels  in  dieser  Auffassung  wohl  die  ihm  so 
überraschend  gekommene  Erkenntnis  von  der  Überlegenheit  der 
wirtschaftlichen  über  die  politischen  Kräfte.  Bei  ihm  die  Hoch- 
wertung der  tragenden  weltgeschichtlichen  Bedeutung  des  Staates 


Einfluß  Proudhons.  151 

zu  untergraben,  war  nicht  so  schwierig,  da  er  sich  an  dem  Staats- 
kultus der  Hegeischen  Rechtsphilosophie  niemals  so  wie  die  anderen 
berauscht  hatte.  Erwies  sich  das  Eigentum,  und  davon  hatte 
Proudhon  ihn  jetzt  überzeugt,  wirklich  als  das  mächtigste  Element 
in  der  bisherigen  Geschichte,  als  der  Keim  und  der  entscheidende 
Grund  aller  Revolutionen,  so  ordnete  sich  naturgemäß  nicht  mehr 
die  Gesellschaft  dem  Staat,  sondern  der  Staat  der  Gesellschaft,  die 
Politik  der  Gesellschaftswissenschaft  unter,  so  war  nicht  der  Staat 
sondern  die  Gesellschaft  die  Sphäre,  wo  der  Mensch  ,, wieder  zu  sich 
selbst  kommen",  wo  ,,die  freie  Selbstvereinigung  der  Mensch- 
heit" Wirklichkeit  werden  konnte.  Nun  begreifen  wir  sofort,  wes- 
halb bei  Engels  sich  zunächst  die  Vorstellung  festsetzte,  daß  der 
,, christliche  Staat"  überhaupt  die  letzte  mögliche  Erscheinungs- 
form des  Staates  sei  und  daß  mit  dessen  Fall  der  Staat,  diese  ,, Angst 
der  Menschheit  vor  sich  selber"  verschwinden  müsse.  An  seiner 
Einschätzung  des  ,, ganzen  Staatsplunders"  als  einer  sozialen 
Kategorie,  die  nicht  ,,von  Ewigkeit  her"  da  gewesen  sei  und  die 
wieder  verschwinden  müsse,  hat  Engels  von  nun  ab  festgehalten. 
Als  sich  bei  ihm  der  weltanschauliche  Konflikt  endgültig  in  den 
ökonomischen  materialisiert  hatte,  erwartete  er  die  Überwindung 
des  ganzen  ,, Staates,  also  auch  der  Demokratie"  von  dem  Siege  der 
alle  Klassengegensätze  aufhebenden  proletarisch-kommunistischen 
Revolution. 

Den  Ursprung  der  kommunistischen  Bewegung  in  Deutschland 
verfolgte  Engels  in  seinem  Überblick  für  The  New  Moral  World 
bis  zu  den  Bauerkriegen  hinauf.  Dort  erzählte  er  seinen  Eng- 
ländern, wie  schon  Thomas  Münzer,  auf  den  der  populäre  Kommunis- 
mus so  gern  hinwies,  sich  für  seine  radikalen  sozialen  Forderungen 
auf  das  Urchristentum  berufen  habe  und  wie  Luther  sich  in  poli- 
tischer wie  sozialer  Hinsicht  von  den  Vorurteilen  seiner  Zeit  nicht 
frei  machen  konnte.  Ausführlicher  schilderte  er  den  Handwerker- 
kommunismus, von  dem  in  den  englischen  Zeitungen  seit  derVer- 
haftung  Weitlings  in  Zürich  und  dem  Bericht  Bluntschlis  über  die 
Umtriebe  in  der  Schweiz  einige  Male  die  Rede  gewesen  war.  Weitling 
preist  er,  wie  wir  schon  wissen,  als  den  Gründer  des  deutschen 
Kommunismus,  und  dessen  Junger  Generation  gibt  er  vor  allen 
französischen  kommunistischen  Zeitschriften,  selbst  vor  Cabets 
Populaire,  den  Vorzug.  Selbstverständlich  geißelt  er  die  Parteilich- 
keit des  Züricher  Polizeiberichts ;  aber  so  wenig  wie  Moses  Heß  und 
die  anderen  Gesinnungsgenossen  verbirgt  er  die  helle  Schaden- 
freude darüber,  daß  der  vom  deutschen  Publikum  vorher  kaum 
beachtete  Kommunismus  nun  dank  der  Polizei  zu  einem  Gegen- 
stand allgemeinster   Aufmerksamkeit  geworden  war.    Für  seinen 


152  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

noch  nicht  durch  Enttäuschungen  zur  Vorsicht  gemahnten  Enthu- 
siasmus unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  die  von  Weitling  ins 
Leben  gerufene  Bewegung  sich  bald  der  ganzen  deutschen  Arbeiter- 
klasse bemächtigt  haben  werde.  Trotzdem  setzte  er  noch  größere 
Erwartungen  für  den  Sieg  des  Kommunismus  als  auf  das  Pro- 
letariat auf  die  deutschen  Intellektuellen,  die  er  groteskerweise 
nach  sich  und  seinesgleichen  beurteilte.  Den  Entwicklungsgang 
des  junghegelschen  Denkens  vom  philosophischen  über  den  politi- 
schen zum  sozialen  Radikalismus  seinen  Lesern  aus  dem  englischen 
Kleinbürger-  und  Arbeiterstande  gründlich  verständlich  zu  machen, 
wäre  auf  einen  vergeblichen  Versuch  hinausgelaufen.  So  beschränkte 
Engels  sich  auf  knappe  Andeutungen ;  er  preist  Hegels  Philosophie 
als  das  umfassendste  System,  das  es  je  gegeben  habe,  und  nennt 
es  ihr  besonderes  Verdienst,  daß  es  ihr  gelungen  sei,  die  vielen  Ge- 
biete, die  sie  in  ihr  Bereich  zog,  auf  ein  einziges  Grundprinzip 
zurückzuführen.  Unangreifbar  von  außen  her  habe  sie  ihre  Über- 
windung nur  von  innen  heraus  erleben  können.  Die  Kämpfe  des 
Jahres  1842  hätten  den  Junghegelianern  zum  Bewußtsein  gebracht, 
daß  die  konsequente  Fortentwickelung  der  Gedanken  des  Meisters 
zum  Atheismus  und  Republikanismus  hinleite.  Der  Führung 
in  diesen  Kämpfen  konnten  sie  sich  bemächtigen,  weil  sie  teils 
direkt,  teils  indirekt  die  ganze  liberale  Presse  zu  ihrer  Verfügung 
hatten.  Aber  selbst  ohne  die  Unterdrückung  der  Rheinischen 
Zeitung  und  der  Deutschen  Jahrbücher  hätte  eine  Bewegung,  die 
nur  durch  die  Plötzlichkeit  und  Nachdrücklichkeit,  mit  der  sie  auf- 
trat, Publikum  und  Regierung  anfänglich  überwältigte,  am  Ende 
scheitern  müssen;  denn  keine  starke  Partei  stand  hinter  ihr,  und 
die  große  Masse  der  Bevölkerung,  die  auf  einen  radikalen  Um.- 
schwung  noch  nicht  genügend  vorbereitet  war,  blieb  teilnahmslos. 
Zum  Glück  traf  es  sich,  daß  die  Fürsten  und  Machthaber  ihres 
Sieges  nicht  froh  werden  konnten.  Gerade  in  demselben  Augen- 
blick, als  sie  hoffen  durften,  die  republikanische  Bewegung  end- 
gültig niedergeschlagen  zu  haben,  erhob  sich  nämlich  aus  der  Asche 
der  politischen  Agitation  der  Kommunismus  und  wies  sich  als  die 
konsequente  Fortentwickelung  der  junghegelschen  Philosophie  aus. 
Eine  philosophische  Nation,  wie  es  die  deutsche  sei,  werde  aber 
auf  einen  Standpunkt  niemals  verzichten,  von  dem  sich  heraus- 
gestellt habe,  daß  er  aus  ihrer  eigenen  Philosophie  unvermeidlich 
hervorgehe. 

Auch  in  der  Folgezeit  lag  es  Engels  sehr  am  Herzen,  so 
oft,  so  vollständig,  so  eindrucksvoll,  bis  alle  Zweifel  verstummen 
müßten,  den  Tatbestand  klarzulegen,  daß  der  Kommunismus 
der    legitime  Erbe    der  deutschen  Philosophie    sei.     Hier  jetzt  im 


Der  Kommunismus  als  Erbe  der  deutschen  Philosophie.  153 

Northern  Star  sieht  er  die  Aufgabe  seiner  Partei  darin,  „den 
Nachweis  zu  erbringen,  daß  entweder  alle  philosophischen  An- 
strengungen des  deutschen  Volkes  von  Kant  bis  Hegel  nutzlos, 
schlimmer  als  nutzlos  gewesen  sind,  oder  daß  sie  in  Kommunismus 
auslaufen  müssen ;  daß  die  Deutschen  entweder  ihre  großen  Denker 
verleugnen  oder  den  Kommunismus  annehmen  müssen".  Wie  das 
deutsche  Volk  sich  in  diesem  Dilemma  entscheiden  werde,  ist  natür- 
lich ihm  nicht  zweifelhaft.  In  Übereinstimmung  mit  Heß,  der 
sich  in  Grüns  Anecdotis  einige  Monate  später  ähnlich  ausdrückte, 
setzte  er  seine  Hoffnung  für  die  Errichtung  einer  kommunistischen 
Partei  in  Deutschland  noch  vornehmlich  auf  die  Gebildeten.  Die 
Deutschen  seien  ein  uneigennütziges  Volk ;  und  wenn  Prinzipien  und 
Interessen  bei  ihnen  in  Konflikt  gerieten,  so  würden  sie  —  den 
englischen  Arbeitern  darf  er  freilich  nicht  sagen,  daß  er  meinte 
im  Gegensatz  zu  den  egoistischen  Engländern  —  in  den  meisten 
Fällen  den  Prinzipien  den  Vorzug  geben.  Die  gleiche  Liebe  zum 
abstrakten  Prinzip,  die  gleiche  Vernachlässigung  der  Realität  und 
des  Eigeninteresses,  die  an  der  politischen  Zersplitterung  Deutsch- 
lands die  Schuld  trügen,  bürgten  hier  für  den  Sieg  des  philoso- 
phischen Kommunismus.  So  merkwürdig  es  dem  praktischen  Sinn 
der  Engländer  erscheinen  werde,  daß  eine  die  Zerstörung  des  Privat- 
eigentums anstrebende  Partei  Angehörige  der  besitzenden  Klassen 
zu  ihren  Gründern  habe,  so  sei  es  dennoch  wahr,  daß  in  Deutsch- 
land der  Kommunismus  aus  Mitgliedern  der  akademischen  und  der 
kaufmännischen  Kreise  seine  Bekenner  sammle.  Moses  Heß  ver- 
trat damals  die  Anschauung,  daß  in  Deutschland  im  Gegensatz 
zu  Frankreich  das  „physische  Leiden"  kein  wesentliches  Element 
in  der  sozialistischen  Bewegung  bilde.  Es  wäre  ein  von  der  Reak- 
tion, namentlich  von  Stein,  geschäftig  verbreiteter  Irrtum,  daß  der 
Sozialismus  nur  aus  dem  Proletariat  und  bei  diesem  bloß  aus 
der  Not  des  Magens  hervorgehe.  Die  kommunistische  Agitation 
der  heimkehrenden  Handwerker  stoße  beim  deutschen  Proletariat 
auf  keinerlei  Verständnis,  und  nur  ,,eine  durch  ihre  geistigen  und 
materiellen  Mittel  einflußreiche  Minorität  von  Gebildeten"  sichere 
dem  Kommunismus  hier  eine  Zukunft.  Nun  brauchen  wir  zwar 
nicht  anzunehmen,  daß  Engels  mit  dieser  Auffassung  des  von  ihm 
damals  noch  verehrten  älteren  Gefährten  völlig  übereinstimmte. 
Immerhin  ist  es  höchst  merkwürdig,  daß  auch  er,  der  in  England  für 
den  Sieg  des  Kommunismus  bloß  auf  die  revolutionäre  Aktion  der 
Massen  vertraute,  in  Deutschland,  wo  die  Masse  politisch  und  wirt- 
schaftlich noch  so  rückständig  war,  zunächst  stärker  auf  die  theore- 
tische Arbeit  und  die  aus  dieser  entspringende  kommunistische 
^)  ebd.  S.  220. 


154  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

Propaganda  eines  intellektuellen  Vortrupps  baute.  Hieraus  erklärt 
sich  die  besondere  Genugtuung,  mit  der  er  seinen  englischen  Lesern 
berichtete,  daß  neuerdings  in  Deutschland  alle  Vorbereitungen 
getroffen  würden,  um  eine  aussichtsvolle  Agitation  für  soziale 
Reformen  zu  entfalten,  eine  Zeitschrift  zu  gründen  und  den  Umlauf 
kommunistischer  Literatur  sicher  zu  stellen.  Davon  und  von 
vielem  anderen,  das  ihn  interessierte,  wird  Engels  nähere  Kenntnis 
erhalten  haben,  als  er  im  Sommer  1843  von  Manchester  aus  einen 
Abstecher  nach  Ostende  machte.  Wir  wissen,  daß  er  hier  mit 
Herwegh,  der  mit  Fröbel  und  Rüge  in  nächster  Verbindung  stand, 
zusammengetroffen  ist.  Auch  Gervinus  lernte  er  dort  kennen, 
aber  dessen  Bemühen,  in  dem  jungen  Revolutionär  den  Glauben 
an  die  Möglichkeit  eines  freisinnigen,  Deutschland  nach  innen 
und  außan  fördernden  Preußen  zu  beleben,  hat  keine  Früchte 
getragen. 

Über  den  Fortgang  jener  radikalen  Bestrebungen,  an  denen  er 
sich  in  Berlin  so  eifrig  beteiligt  hatte,  hielt  sich  Engels  selbstredend 
auch  jetzt  fortgesetzt  auf  dem  laufenden.  Die  Gründe,  aus  denen 
er  die  Korrespondenz  für  die  Rheinische  Zeitung  schon  mit  dem 
Ende  des  Jahres  1842  einstellte,  kennen  wir  nicht  mehr.  Vielleicht 
durfte  das  bereits  dem  Tode  geweihte  Blatt  es  nicht  mehr  wagen, 
Beiträge  von  so  , »schlechter  Tendenz",  wie  die  seinen,  der  drei- 
fachen Zensur,  unter  der  es  seufzte,  zu  unterbreiten.  Als  aber  bald 
darnach  die  Rheinische  Zeitung  und  noch  vor  ihr  die  Deutschen 
Jahrbücher  zu  erscheinen  aufhören  mußten,  da  fand  sich  auf 
deutschem  Boden  erst  recht  kein  Blatt  mehr,  das  den  Gedanken- 
gängen eines  Revolutionärs  wie  Engels  die  Spalten  noch  öffnen 
konnte.  Der  Versuch,  den  preußischen  Staat  mit  friedlichen  Mitteln 
auf  die  Bahn  der  Reformen  zu  lenken,  war  gescheitert,  der  Liberalis- 
mus aufs  Haupt  geschlagen ;  noch  einmal  triumphierte  die  Reaktion. 
Von  jenen  Elementen  aber,  die  sich  zu  der  radikalen  Opposition 
des  Jahres  1842  zusammengeschlossen  hatten,  schien  das  Feld 
zunächst  allein  jener  hochmütige  Doktrinarismus  zu  behaupten, 
der  von  Anfang  an  mit  Widerwillen  in  die  niedere  Sphäre  der  Politik 
hinabgestiegen  war  und  nun  selbstgefällig  verkündete,  alles  sei  so 
eingetroffen,  wie  er  es  vorausgesehen  habe.  Die  anderen,  besonders 
Rüge  und  Marx,  die  leitenden  Köpfe  der  beiden  zum  Schweigen  ge- 
brachten Blätter,  erachteten  es  für  eitle  Mühe,  innerhalb  der  Grenzen 
des  deutschen  Bundesgebiets  eine  publizistische  Neugründung  zu 
versuchen.  Marx  zumal  war  fest  entschlossen,  sich  fortan  unter 
deutscher  Zensur  nicht  wieder  schriftstellerisch  zu  betätigen.  Er 
kam  also  mit  Rüge  dahin  überein,  die  Bestrebungen  der  Rheinischen 
Zeitung  und  der   Deutschen   Jahrbücher   verschmelzend,  eine   mit 


Eroberungen  des  Kommunismus  bei  der  deutschen  Intelligenz.     155 

offenem  Visier  kämpfende  revolutionäre  Zeitschrift  auf  auslän- 
dischem Boden  ins  Leben  zu  rufen.  Für  die  geschäftliche  Durch- 
führung eines  solchen  Planes  stellte  sich  ihnen  Julius  Fröbel,  der 
leitende  Kopf  des  Literarischen  Comptoirs  in  Zürich,  der  Verleger 
der  Gedichte  eines  Lebendigen,  der  Anekdota  und  der  Einund- 
rwanzig  Bogen  aus  der  Schweiz,  für  die  Engels  1842  seinen  Aufsatz 
über  Friedrich  Wilhelm  IV.  geschrieben  hatte,  zur  Verfügung. 
Nach  manchem  Schwanken  wurde  entschieden,  die  neue  Zeit- 
schrift in  Paris  und  zwar  möglichst  unter  Mitwirkung  der  führenden 
Geister  der  französischen  Demokratie  erscheinen  zu  lassen.  Für  die 
Zeit  aber,  welche  die  Vorbereitung  eines  so  kühnen  Unternehmens 
erheischte,  stellte  Fröbel  den  deutschen  Radikalen,  damit  ihnen 
der  Mund  nicht  verschlossen  bliebe,  den  eben  in  seinen  Verlag 
übergegangenen  Schweizer  Republikaner  zur  Verfügung,  der  in 
Zürich  den  Kampf  gegen  die  von  Bluntschli  geleitete  Reaktion 
aufnehmen  sollte.  Wir  erinnern  uns,  daß  gerade  in  diesen  Monaten 
der  Kommunismus  in  Deutschland  zum  erstenmal  die  öffentliche 
Aufmerksamkeit  stark  auf  sich  lenkte.  Bruno  Bauer  bezeugt,  daß 
er  anfangs  1843  ein  sehr  verbreitetes  Stichwort  geworden  war. 
Görres  erkannte  ihn  als  die  ,, äußerste  Spitze  der  Verneinung"  der  einen 
allgemeinen  unsichtbaren  Kirche  Christi,  und  Heinrich  Leo  zeterte 
gegen  den  moralischen  Gossengeruch  dieses  ,, Seifenschaums  aus  der 
Gosse".  Leuten  solchen  Schlages  galt  schon  das  Programm,  mit  dem 
Rüge  sich  von  den  Lesern  der  Deutschen  Jahrbücher  verabschiedet 
hatte,  als  ein  , »schwächlicher  Schatten  des  Kommunismus".  Weit 
gründlicher  als  Rüge  hatte  sich  aber  inzwischen  Marx  in  die  neue  Lehre 
vertieft.  Und  Fröbel,  der,  von  Moses  Heß  beeinflußt,  das  Heil  der 
nächsten  Zukunft  von  der  Verschmelzung  des  deutschen  philoso- 
phischen Radikalismus  und  des  französischen  Sozialismus  erwartete, 
sympathisierte  in  der  Schweiz  mit  den  kommunistischen  Bestrebun- 
gen. Als  Gönner  Weitlings  schreckte  er  nicht  davor  zurück,  zur 
Mitarbeit  an  seinem  Blatt,  das  Wert  darauf  legte,  durch  ,, aus- 
gezeichnete politische  Schriftsteller"  von  den  Schicksalen  der  demo- 
kratischen Schwesterparteien  in  England,  Frankreich  und  Deutsch- 
land zu  erfahren,  so  entschieden  Sozialrevolutionäre  Geister  wie 
den  mit  Rüge  befreundeten  Bakunin  und  Friedrich  Engels  zuzu- 
lassen. Im  Juli  1843  hat  der  Republikaner  ein  Programm  ver- 
öffentlicht, wohl  das  erste  sozialistische,  das,  wenn  man  von 
Weitlings  Blättchen  absieht,  in  einer  Zeitung  deutscher  Zunge 
sich  ans  Tageslicht  wagte.  Wie  von  Engels,  wurde  hierin  hervor- 
gehoben, daß  mit  der  Politik  im  engeren  Sinne  des  Wortes  für  die 
Befriedigung  der  schreienden  Bedürfnisse  eines  wahrhaft  mensch- 
lichen Gesellschaftszustandes  noch  wenig  oder  nichts  getan  sei;  es 


1^6  Politische  und  soziale  Lehrjahre  in  England. 

beklagte  die  „niederträchtige  Lieblosigkeit  unseres  öffentlichen 
Lebens",  das  auf  den  Verhältnissen  des  Mein  und  Dein  beruhe,  und 
sagte  voraus,  daß  sich  in  der  Menschenwelt  ein  Kampf  vorbereite, 
vor  dem  alle  kleinen  politischen  Streitigkeiten  verschwinden  würden 
wie  das  Gekeife  einiger  zänkischer  Weiber  vor  dem  Donner  einer 
Völkerschlacht.  Auch  über  die  Verstocktheit  der  Besitzenden,  die 
in  England  und  Frankreich  die  Gesellschaft  in  zwei  zum  blutigen 
Kampf  bereite  feindliche  Heerlager  teilte,  wurde  hier  geklagt  und 
eine  ,, allgemeine  soziale  Katastrophe"  als  unausbleiblich  angekün- 
digt, sobald  das  niedergetretene  und  niedergehaltene  Volk  auf  die 
so  nahe  liegende  Entdeckung  seiner  ungeheuren  Mehrzahl  geriete 
und  sich  zum  Kampfe  erhöbe.  Die  Rettung  versprach  der  Repu- 
blikaner sich  von  der  Beseitigung  jener  „ökonomischen  Hinder- 
nisse", die  der  Entwickelung  der  Demokratie  im  Wege  stünden. 
Das  war  immerhin  ein  Programm,  mit  dem  Engels  sich  befreunden 
konnte,  obgleich  es  Proudhons  ,, Abschaffung  des  Private igentum.s" 
und  Weitlings  ,, unfreie"  Gütergemeinschaft  mit  der  persönlichen 
Freiheit  und  dem  moralischen  Wert  des  Menschen  unverträglich 
fand  und  den  Kommunismus  nur  als  Gegenpol  des  Egoismus, 
das  Eigentum  aber  als  ein  dem  einzelnen  von  der  Gesellschaft  an- 
vertrautes Lehen  aufgefaßt  sehen  wollte. 

Es  lag  nahe,  daß  Engels,  den  Fröbel  aus  seinem  Beitrag  für 
die  Einundzwanzig  Bogen  und  aus  seinem  Christlichen  Helden- 
gedicht kennen  mußte,  der  englische  Korrespondent  des  radikalen 
Blattes  wurde.  Er  ist  es  freilich  nicht  lange  geblieben:  der  erste 
seiner  übrigens  aus  London  datierten  Englischen  Briefe  erschien 
am  i6.  Mai,  der  letzte  schon  am  27.  Juni  1843.  In  Weitlings  Kata- 
strophe hineingezogen,  mußte  Fröbel  von  der  Redaktion  des  Repu- 
blikaner zurücktreten,  als  auch  gegen  ihn  die  Klage  laut  wurde, 
mit  den  Kommunisten  in  politischer  Verbindung  gestanden  und  ihre 
praktischen  Zwecke  gefördert  zu  haben. 

Damit  verlor  Engels  das  letzte  Blatt  deutscher  Sprache,  dem  er 
die  Fülle  der  Eindrücke,  die  er  auf  seinem  Vorposten  in  Manchester 
sammelte,  in  loser  Form,  wie  der  Tag  sie  brachte,  anvertrauen 
konnte.  Die  Auffassung  von  Englands  Vergangenheit  und  Zukunft, 
wie  sie  sich  damals  bei  ihm  bildete,  hat  er  außer  in  seinen  Korre- 
spondenzen für  die  Rheinische  Zeitung  und  den  Schweizer  Re- 
publikaner noch  in  den  Studien  zu  einem  umfassenden  geschicht- 
lichen Werk  über  die  soziale  Geschichte  Englands  zum  Ausdruck 
gebracht,  mit  dem  er  sich  längere  Zeit  getragen  hat,  das  aber,  wie 
so  viele  seiner  literarischen  Projekte,  nicht  zum  Abschluß  gekommen 
ist  und  von  dem  wir  nichts  besitzen  als  die  unter  dem  Titel  Die  Lage 
Englands   in   dem   kurzlebigen    Pariser   Vorwärts   im    Spätsommer 


Die  Beiträge  für  den  Schweizer  Republikaner.  icy 

1844  zum  Abdruck  gelangten  Vorarbeiten.  Eine  solche  Darstellung 
hätte  damals  sicherlich  eine  wissenschaftliche  Lücke  ausgefüllt: 
in  der  Vorrede  zu  seinem  Buch  über  den  französischen  Sozialismus 
und  Kommunismus  hatte  Lorenz  Stein  ausdrücklich  eine  Darstel- 
lung der  volkstümlichen  englischen  Gesellschaft  und  ihrer  Geschichte 
gefordert.  An  äußerer  und  innerer  Geschlossenheit  weit  über 
diesen  flüchtiger  hingeworfenen  Skizzen  standen  aber  die  beiden 
Abhandlungen,  die  neben  der  Lage  der  arbeitenden  Klasse  den 
eigentlichen  literarischen  Ertrag  von  Engels  erstem  englischen 
Aufenthalt  darstellen.  Für  ihre  Veröffentlichung  kam  ihm  sehr 
gelegen,  daß  das  Erscheinen  der  von  Marx  und  Rüge  vorbereiteten 
Zeitschrift  nun  unmittelbar  bevorstand.  Marx  selbst  wandte  sich 
an  ihn  um  seine  Mitwirkung;  jenem  war  es  nicht  verborgen  geblie- 
ben, daß  ihre  Anschauungen  und  Überzeugungen  seit  der  Kata- 
strophe des  politischen  Radikalismus  in  Preußen  sich  in  der  gleichen 
Richtung  fortentwickelt  hatten.  So  kam  es,  daß  die  ersten  Arbeiten, 
die  Engels  mit  seinem  wirklichen  Namen  vor  der  Öffentlichkeit  ver- 
trat, die  ersten  auch,  die  seine  Eigenart  voll  entfaltet  zeigten  und 
seinen  literarischen  Ruf  bsgründeten,  jetzt  in  den  Deutsch-Fran- 
zösischen Jahrbüchern  erschienen. 


Kapitel  VII. 

Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  eng- 
lischen Aufenthalts. 

Am  liebsten  hätte  die  preußische  Regierung  den  Deutsch- 
Französischen  Jahrbüchern,  die  zum  ersten  und  einzigen  Mal  Ende 
Februar  1844  erschienen,  schon  vor  der  Geburt  das  Lebenslicht 
ausgeblasen.  Denn  rechtzeitig  hatten  ihre  öffentlichen  und  ge- 
heimen Agenten  in  Paris  ihr  gemeldet,  wie  ernste  geistige  Kräfte 
gegen  sie  und  die  Grundsätze,  auf  denen  ihr  Dasein  ruhte,  diesmal 
zum  Kampfe  antraten.  Übrigens  war  ihr  nicht  verborgen  geblieben, 
daß  sich  hier  neben  dem  philosophischen  und  politischen  auch  der 
soziale  Umsturz  zum  Angriff  rüstete.  Wie  wenig  der  Minister  des 
Inneren  Graf  Arnim-Boytzenburg  die  Gefährlichkeit  dieses  neuesten 
Gegners  unterschätzte,  zeigte  sein  Erlaß  über  „die  Unzulässigkeit 
der  Verbreitung  kommunistischer  Theorien  durch  den  Druck"  vom 
Januar  1844,  der  unter  Berufung  auf  ein  Erkenntnis  des  Ober- 
zensurgerichts  ,,jene  verderbliche  Theorie"  beschuldigte,  ,,die 
Heiligkeit  des  Eigentums,  welche  die  Basis  der  politischen,  sozialen 
und  sittlichen  Ordnung  aller  Staaten  ohne  Unterschied  der  Regie- 
rungsform bildet",  aufheben  zu  wollen.  Daß  Bluntschlis  berücht'gte 
Kampfschrift  gegen  den  Kommunismus  der  neuen  Heilslehre  keinen 
Abbruch  getan,  sondern  vielmehr  ihr  Gläubige  in  Fülle  erworben 
hatte,  behaupteten  damals  nicht  etwa  bloß  Engels  und  Moses  Heß. 
Auch  der  Gesandte  Heinrich  Friedrich  von  Arnim  in  Paris,  der 
das  Treiben  der  dort  weilenden  Handwerksgesellen  von  Berufs  wegen 
scharf  überwachte,  berichtete  es  im  September  1843  der  preußischen 
Regierung.  Noch  hatten  zwar  jene  beiden  Strömungen,  aus  deren 
Vereinigung  die  deutsche  Sozialdemokratie  emporgewachsen  ist, 
nicht  zu  einander  gefunden:  der  sich  in  realistischer,  positivistischer 
Richtung  ummausernde  philosophische  Radikalismus  und  der  herz- 
hafte, elementare  aber  noch  unbeholfene  Kommunismus  der  wan- 
dernden Handwerksgesellen.  Aber  einander  zu  suchen  hatten  sie 
bereits    begonnen;   die   Notwendigkeit  dieses   Bündnisses  zwischen 


Die  Deutsch-Französischen  Jahrbücher.  159 

dem  Vortrupp  der  revolutionären  Intellektuellen  und  den  Spitzen 
der  zum  Klassenbewußtsein  erwachenden  Proletarier  lag  in  der 
Luft.  Und  Engels  hatte  sie,  wie  uns  bekannt  ist,  schon  klar  erfaßt, 
als  ihm  Marx  Kritik  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie  in  den 
Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  für  diese  Notwendigkeit  den 
streng  dialektisch  formulierten  Beweis  erbrachte.  Auf  einen  solchen 
konnte  der  Jünger  Hegels  nicht  verzichten,  sollte  er  sich  auf  dem  Weg, 
den  er  bereits  mit  Entschiedenheit  eingeschlagen  hatte,  sicher 
fühlen.  Als  ihm  jetzt  diese  Synthese  bei  Marx  fertig  entgegentrat, 
überwältigte  sie  ihn,  obgleich  doch  seine  eigenen  Beiträge  für  die 
Jahrbücher,  in  denen  die  Eindrücke  seines  englischen  Lehrjahrs 
ihren  wertvollsten  Niederschlag  gefunden  haben,  uns  heute  zeigen, 
mit  wie  unentrinnbarer  Folgerichtigkeit  auch  seine  Geistesentwick- 
lung diesem  Ziele  zutrieb. 

Die  Roheit  und  Demoralisation  der  englischen  Arbeiter,  die 
zu  beschönigen  ihm  nicht  einfiel,  hatten  Engels,  wie  wir  wissen, 
nicht  abgehalten,  die  Rettung  des  Inselreichs  nur  noch  von  diesem 
,,auf  dem  Kontinent  unbekannten  Teil  der  Nation"  zu  erhoffen. 
Und  ebenso  entsinnen  wir  uns  seines  Wohlwollens  für  die  Bildungs- 
bestrebungen des  britischen  Sozialismus,  dem  bekanntlich  aus  den 
Reihen  des  Kleinbürgertums  und  der  höheren  Schichten  der  Arbeiter- 
klasse seine  Anhängerschaft  zufloß.  Unverhohlen  verachtete  der 
Jüngling  dagegen  die  englische  Bourgeoisie,  die  in  ihrem  verhärteten 
Materialismus  den  Egoismus  zum  allgemeinen  Prinzip  erhob  und 
als  das  einzige  die  Menschen  zusammenhaltende  Band  gelten  lassen 
wollte.  Sie  schalt  er  unheilbar  durch  den  Eigennutz  verderbt,  keines 
Fortschritts  mehr  fähig,  völlig  verblendet  gegen  jede  Bestrebung, 
die  nicht  bares  Geld  abwerfe.  Was  hatten  doch  daheim  die  liberalen 
Zeitungen  von  der  Freiheit  und  Unabhängigkeit  dieses  englischen 
Bürgertums  hergemacht,  und  wie  wenig  entsprach  nun  die  Wirk- 
lichkeit jenem  geschmeichelten  Bilde!  Gewiß,  lächerlich  wäre  es 
gewesen,  wenn  er  hätte  bestreiten  wollen,  daß  die  englischen  Staats- 
bürger in  politischen  Dingen  sich  einer  Freiheit  erfreuten,  auf  die 
ein  Untertan  des  preußischen  Königs  mit  Neid  blicken  mußte. 
Aber  legte  die  Fesseln,  die  der  Staat  ihm  lockerte,  die  Gesellschaft 
dem  Engländer  nicht  noch  viel  fester  um?  Ein  so  unabhängiger 
Geist  wie  Engels  mußte  förmlich  erschrecken  über  die  geradezu 
chinesisch  abgeschlossenen  Sitten  dieses  angeblich  so  freien  Bürger- 
tums, über  die  Uniformierung  der  Geister,  die  für  alle  Fragen  nur 
zwei  Antworten  zu  kennen  schienen,  eine  Whigantwort  und  eine 
Toryantwort,  über  die  widerspruchslose  Herrschaft  engbrüstiger 
Schwunglosigkeit,  der  gegenüber  ein  jeder  verloren  war,  der  sich 
den  überkommenen  Vorurteilen,  zumal  den   religiösen,   nicht  so- 


l6o      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

gleich  fügte.  Welchen  "Wert,  so  mußte  Engels  sich  fragen,  hatten 
denn  Verfassung,  Parlamentsdebatten,  freie  Presse,  Wahlen  und 
sogar  die  stürmischen  Volksversammlungen,  die  ihm  so  imponierten, 
wenn  ihnen  nicht  einmal  die  Kraft  innewohnte,  unabhängige  Männer 
hervorzubringen  ?  Um  die  edelste  Form  der  Freiheit,  um  die  geistige, 
war  es  in  dem  Eldorado  des  Liberalismus,  so  dünkte  es  dem  Jüngling, 
nicht  besser  bestellt  als  in  dem  heimischen  Muckertal.  Obgleich 
doch  kein  bevormundender  Polizeistaat  sie  niederhielt,  hatte  es  die 
Freiheit  der  öffentlichen  Meinung  auch  hier  zu  nichts  anderem 
gebracht  als  zur  Herrschaft  des  öffentlichen  Vorurteils.  Davor  sah 
er  den  Engländer  kriechen,  ihm  sich  täglich  aufopfern  und  je 
liberaler  er  sein  wollte  nur  um  so  demütiger.  Mit  seiner  aufrichtigen 
und  jugendlich  leidenschaftlichen  Natur,  die  mit  ihren  Ansichten 
nicht  hinter  dem  Berg  zu  halten  gewohnt  war,  hatte  Engels  bei  der 
englischen  Respectability  sicherlich  unerfreuliche  Erfahrungen  ge- 
macht, die  aus  seinen  allgemeinen  Betrachtungen  deutlich  heraus - 
klingen.  Wenn  er  einem  gebildeten  Engländer  zu  sagen  wagte, 
er  wäre  ein  Chartist  oder  Demokrat,  so  wurde  seine  Gesellschaft 
geflohen,  an  seinem  gesunden  Verstand  gezweifelt.  Erklärte  er  gar, 
nicht  an  die  Gottheit  Christi  zu  glauben,  so  fühlte  er  sich  verraten 
und  verkauft,  und  „gesteht  vollends,  daß  ihr  Atheisten  seid  und 
man  tut  am  anderen  Tage,  als  kenne  man  euch  nicht". 

In  dieser  völlig  absprechenden  Beurteilung  des  englischen 
Bürgertums,  dessen  niedriger  Materialismus  ihm  an  den  Besuchern 
der  Baumwollbörse  in  Manchester  abschreckend  entgegengetreten 
sein  mochte,  bestärkte  nun  den  jungen  Deutschen  mächtig  das 
Bild,  das  gerade  eben  einer  der  ersten  Schriftsteller  Englands  von 
seinen  Landsleuten  entworfen  hatte.  Noch  in  der  Lage  der  arbei- 
tenden Klasse  beruft  Engels  sich  bei  der  Schilderung  der  eng- 
lischen Bourgeoisie  ausdrücklich  auf  Past  and  Present.  In  Carlyle 
erkannte  er  den  einzigen  aus  den  gebildeten  Schichten  Englands, 
den  nicht  nur  neuerdings  und  bloß  nebenher  die  ethische  Seite  des 
großen  sozialen  Problems  beunruhigte.  Von  allen  Büchern,  die  dort 
während  seines  Aufenthalts  erschienen,  durfte  in  seinen  Augen 
allein  dieses  den  Anspruch  erheben,  daß  er  sich  mit  ihm  vor  dem 
ernsthaften  deutschen  Publikum  auseinandersetzte.  Und  dem 
Bedürfnis,  über  das,  was  ihm  mit  Carlyle  gemeinsam  war  und  was 
ihn  von  jenem  trennte,  mit  sich  ins  klare  zu  kommen,  verdanken 
wir  den  schönen  Essai:  Die  Lage  Englands  Past  and  Present  by 
Thomas  Carlyle  London   1843. 

Noch  mehr  als  Engels  war  der  ein  Menschenalter  ältere  Carlyle 
in  einer  vom  strengsten  Kalvinismus  erfüllten  Umgebung  auf- 
gewachsen.   Aber  über  den  ernsten  Schotten,  der  als  Geschichts- 


Kritik  des  englischen  Bürgertums.  l6l 

Schreiber  den  Puritanismus  so  tief  erfaßt  hat,  wurde  nicht  wie  über 
das  rheinische  Weltkind  die  Sehnsucht  Herr,  den  Schatten  jenes 
düsteren  Väterglaubens  mit  dem  helleren,  darum  noch  nicht  wär- 
menderen  Licht  der  Weltlichkeit  zu  vertauschen.  In  Wesensart 
und  Anlage  mit  innigeren  Banden  an  die  Religion  der  Väter  ge- 
knüpft, empfand  Carlyle  das  Bedürfnis,  den  tiefsten  Gehalt  des 
neue  Verkörperung  suchenden  Geists  des  alten  Kalvinismus  mit 
dem  seelischen  Verlangen  einer  veränderten  Zeit  in  Einklang  zu 
setzen.  Aber  das  Medium,  auf  das  er  sich  bei  diesem  kühnen  Unter- 
fangen verließ,  war  fast  allein  das  eigene  starke  Innenleben.  Deshalb 
war  ihm  auch  das  Wesentliche  an  aller  Religion  die  gläubige  Ein- 
stellung, nicht  der  Glaube  an  die  Ewigkeit  irgendeines  Dogmas, 
nicht  einmal  der  Glaube  an  einen  persönlichen  Gott,  sondern 
schlechthin  der  Glaube  an  das  Vorhandensein  überpersönlicher 
Werte.  Jenen  Glauben,  der  unter  Cromwell  England  groß  gemacht 
hatte,  sah  er  in  seinen  Tagen  dahin  schwinden.  Materialismus 
war  die  Weltanschauung,  Utilitarismus  die  Ethik  der  herrschenden 
Klasse  geworden,  und  ein  schrankenloser  Atomismus  ertötete 
alle  lebendigen  Formen  der  Vergangenheit,  ein  brutaler  Mammonis- 
mus alles  soziale  Empfinden.  Bedeutete  nun  aber  Mammonismus 
etwas  anderes  als  Ideallosigkeit  und  wäre  Ideallosigkeit  nicht  iden- 
tisch mit  Atheismus  ?  Gleich  Goethe,  dem  er  so  Wesentliches  ver- 
dankt, gleich  Saint-Simon,  mit  dem  ihn  so  sichtbare  Fäden  ver- 
binden, unterschied  Carlyle  in  der  Geschichte  gläubige  und  durch 
ihre  Gläubigkeit  fruchtbare  von  ungläubigen  unfruchtbaren  Zeit- 
altern. Einreißend,  negativ,  chaotisch  erschien  ihm  die  eigene  vom 
Geist  der  französischen  Revoludon  beherrschte  Gegenwart,  bis 
der  deutsche  Idealismus,  der  ihm  ,,die  Wiederherstellung  Gottes" 
anzeigte,  auch  die  positive  Seite  seiner  Epoche  ihm  enthüllt  hatte. 
Der  große  Religiöse,  der  er  war,  mochte  immer  gefühlt  haben, 
daß  die  seine  Umgebung  beherrschende  atomistisch-mechanistische 
Weltanschauung  an  ,,dem  dunklen  Punkt  des  Ich"  scheitern  müsse. 
Aber  vom  ,, Albdruck  des  Materialismus"  befreite  ihn  erst  Kant, 
Goethes  Dasein  und  Werk  befestigten  in  ihm  den  Glauben  an  die 
Göttlichkeit  des  Lebendigen,  Novalis  stärkte  sein  Vertrauen,  daß  es 
nichts  Wirklicheres  geben  könne  als  die  Seele,  Fichte  endlich 
leitete  den  Strom  des  neuen  Geists  in  die  geschichtliche  und  gesell- 
schaftliche Welt.  Tiefsten  Eindruck  machte  es  auf  Carlyle,  daß 
alle  diese  Deutschen  die  höchsten  Weihen  einem  tätigen  Leben 
erteilten.  So  durfte  auch  er  getrost  die  erlösende  Kraft  der 
Arbeit  aus  der  Sphäre  Calvins  in  die  Goethes  mit  hinübernehmen 
und  dies  Symbol  wie  das  andere  von  der  Bekehrungsfähigkeit, 
auf  das  er,  sonderlich  der  Einzelseele  zugewandt,  nicht  ver- 
Mayer, Friedrich  Engeis.  Bd.  I  II 


102      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

ziehten  wollte,  als  fruchtbares  Saatgut  in  die  Furchen  der  Zu- 
kunft streuen. 

Mochte  er  sich  zuweilen  als  den  Arzt  der  kranken  Zeit  empfin- 
den, so  war  doch  Carlyle  nur  ihr  Bußprediger.  ,, Unter  Schmerzen  und 
Feuerflammen"  verkündigte  er  Englands  Untergang,  sofern  es 
nicht  noch  in  letzter  Stunde  den  Weg  zur  Einkehr  fände.  Die 
Sommerinsurrektion  von  1842  habe  die  Lebensfrage  Englands  auf 
eine  für  jedes  ,, denkende  Ohr"  hörbare  Weise  gestellt.  Das  Land 
müsse  sie  beantworten  oder  untergehen. 

Mit  dem  ,, partikularen  Standpunkt"  des  ,, großen  Rhapsoden" 
wollte  der  junge  Engels,  den  so  vieles  von  ihm  trennte,  sich  nicht 
solidarisch  erklären,  aber  dessen  gewaltige  Kritik  hat  ihn  damals 
aufs  stärkste  bewegt,  aufs  ersprießlichste  befruchtet.  Viele  Stellen 
in  Fast  and  Present  fand  er  so  wunderbar  schön,  daß  er  sie  für 
seine  deutschen  Leser  übersetzte,  am  meisten  jene,  die  das  Elend 
des  Proletariats  veranschaulichten  und  die  Unhaltbarkeit  der 
sozialen  Schichtung  der  Gesellschaft  zu  beweisen  trachteten.  Car- 
lyles  Urteil  über  die  Lage  Englands  sich  aneignend  und  es  zusammen- 
fassend, blickte  er  auf  eine  faulenzende  grundbesitzende  Aristokratie, 
auf  ein  die  Arbeit  nicht  leitendes  sondern  nur  ausbeutendes,  dabei 
völlig  in  Mammons  Knechtschaft  versunkenes  Großbürgertum, 
auf  ein  durch  Bestechung  gewähltes  Parlament,  auf  eine  ver- 
schlissene, bröcklige  Religion,  auf  eine  totale  Auflösung  aller 
allgemein  menschlichen  Interessen,  auf  eine  universelle  Verzweif- 
lung an  der  Wahrheit  und  der  Menschheit  und  als  Folge  aus  alle- 
dem auf  eine  vollständige  Isolierung  des  Menschen  auf  seine  rohe 
Einzelheit.  Und  dieser  völlig  vermorschenden  alten  sozialen  Ord- 
nung gegenüberstehend,  siebter  dem  Elend  überlassen,  unterdrückt 
und  vereinzelt  die  rebellische  Arbeiterklasse.  In  der  Beurteilung 
der  englischen  Gegenwart  stimmte  er  also  mit  Carlyle  überein; 
doch  auch  hinsichtlich  der  Zukunft  und  des  einzuschlagenden 
Wegs  ?  Noch  gelten  lassen  will  er  jenes  Behauptung,  daß  es  kein 
Universalmittel  für  die  sozialen  Übel  gebe.  Alle  Sozialphilosophie, 
fügt  er  von  sich  aus  ergänzend  hinzu,  bleibe  sehr  unvollkommen, 
,, solange  sie  noch  ein  paar  Sätze  als  ihr  Endresultat  aufstellt". 
Da  wird  gleich  der  ganze  Gegensatz  offenbar  werden,  der  den 
Politiker  von  dem  Ethiker,  den  Revolutionär  von  dem  Reformator, 
den  Dialektiker  von  dem  voluntaristischen  Pragmatiker,  den  Reali- 
sten von  dem  Idealisten,  den  durch  die  englische  Praxis  ausgeweiteten 
Deutschen  von  dem  durch  den  deutschen  Idealismus  neu  gebildeten 
Engländer  trennt.  Sie  schied  im  Denken,  Urteilen  und  Empfinden 
eine  Kluft,  die  unüberbrückbarer  noch  war,  als  Engels  selbst  da- 
mals annehmen  m.ochte.    Der  bewußte  Dialektiker  wollte  ,, nackte 


Engels  und  Carlyle.  iß^ 

Resultate  ohne  die  Entwicklung,  die  zu  ihnen  hinführte",  durchaus 
nicht  gelten  lassen.  Mochte  Carlyle  manches  Wesentliche  noch  so 
kräftig  aussprechen:  es  blieb  für  Engels  doch  wie  ein  Schwert  ohne 
Griff,  weil  es  nvu-  für  sich  fixiert  war  und  nicht  wieder  Prämisse 
für  eine  weitere  Entwicklung  wurde.  So  turmhoch  sich  Carlyle 
auch  über  die  krasse  Empirie  des  Durchschnittsengländers  erhoben 
hatte,  der  Zauberschlüssel  der  Identitätsphilosophie  war  nicht  in 
seiner  Hand ;  damit  aber  fehlte  ihm  in  den  Augen  seines  jungen 
Kritikers  die  Möglichkeit,  seinen  Kampf  wissenschaftlich  zu  führen. 
Weil  er  nicht  zur  totalen  Versöhnung  des  Gedankens  und  def 
Empirie  gelangte,  bliebe  er  in  einem  schreienden  Widerspruch 
stecken,  der  allein  zu  lösen  wäre,  wenn  er  sich  entschlösse,  den 
deutschen  theoretischen  Standpunkt  bis  zu  seiner  letzten  Konse- 
quenz hin  anzunehmen.  Unter  dieser  letzten  Konsequenz  ver- 
stand aber  Engels  jetzt  den  Atheismus,  wie  ihn  Feuerbach  in  huma- 
nistischer Verbrämung  verkündigte.  In  Feuerbachs  Bann  lebte 
und  dachte  er  jetzt  so  ausschließlich,  daß  er  selbst  in  der  sublimierten 
Gestaltung  eines  Goethe  und  Novalis  den  Gottesbegriff  Carlyle 
nicht  mehr  durchgehen  lassen  wollte.  Für  ihn  hatten  Feuerbachs 
Vorläufige  Thesen  zu  einer  Reform  der  Philosophie  und  Bruno 
Bauers  Entdecktes  Christentum  die  Kritik  des  Pantheismus  in  so 
erschöpfender  Weise  durchgeführt,  daß  ihm  Carlyles  „deutsch- 
pantheistischer"  Standpunkt  nur  noch  als  eine  von  der  Entwick- 
lung bereits  überholte  Vorstufe  zu  dem  Standpunkt  der  Deutsch- 
Französischen  Jahrbücher  galt. 

Wo  Carlyle  über  die  Hohlheit  des  Zeitalters  und  über  die 
Fäulnis  aller  sozialen  Institutionen  klagte,  da  stimmte  sein  Kritiker 
ihm  aus  vollem  Herzen  zu.  Aber  wo  suchte  jener  die  Quelle  dieser 
Unsittlichkeit,  die  alle  Lebensverhältnisse  verpestete  ?  Verkannte 
er  nicht  völlig,  daß  die  religiöse  Heuchelei  der  Urtypus  aller  anderen 
Lüge  und  Heuchelei  war  und  daß  er  mit  größerem  Recht  als  über 
die  Gottlosigkeit  über  die  Gotterfülltheit  des  Zeitalters  hätte  schelten 
sollen  ?  Für  die  Frage :  was  ist  Gott  ?  habe  erst  kürzlich  die  neueste 
deutsche  Philosophie  die  befriedigende  Antwort  gefunden:  Gott  ist 
der  Mensch;  der  Mensch  habe  sich  nur  selbst  zu  erkennen,  alle 
Lebensverhältnisse  an  sich  selbst  zu  messen,  nach  seinem  Wesen 
zu  beurteilen,  die  Welt  nach  den  Forderungen  seiner  Natur  wahr- 
haft menschlich  einzurichten,  so  habe  er  das  Rätsel  der  Zeit  gelöst. 
Carlyle  behauptete,  der  Mensch,  der  seine  Seele  verloren  habe, 
fange  jetzt  an,  diese  zu  vermissen.  Richtig  ausgedrückt  würde  dieser 
Gedanke  lauten:  Der  Mensch  hätte  in  der  Religion  sein  eigenes 
Wesen  verloren,  aber  erst  seitdem  der  Fortschritt  der  Geschichte  die 
Religion  erschüttere,  offenbare  sich  ihm  die  eigene   Leerheit  und 

II* 


164      ^*^  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

Haltlosigkeit.  Sich  retten  und  sein  Wesen  wieder  erobern,  könne 
er  nur,  wenn  er  alle  religiösen  Vorstellungen  gründlich  überwinde 
und  preisgebe,  also  durch  aufrichtige  Rückkehr  nicht  zu  Gott, 
sondern  zu  sich  selbst.  Das  seien  schon  Gedanken  Goethes,  den 
Carlyle  als  den  Propheten  einer  kommenden  neuen  Religion  ver- 
herrliche, und  wer  offene  Augen  habe,  werde  sie  in  seinen  Schriften 
entdecken.  Die  Entwicklung  und  Begründung  dessen,  was  Goethe 
nur  unmittelbar,  in  gewissem  Sinne  also  allerdings  ,, prophetisch", 
ausgesprochen  habe,  sei  erst  der  neuesten  deutschen  Philosophie 
gelungen.  Wer  wie  Carlyle  beim  Pantheismus  stehen  bleibe,  erreiche 
nur  die  letzte  Vorstufe  zu  einer  freien  menschlichen  Anschauungs- 
weise. Nicht  weniger  als  der  Schotte  nahm  auch  Engels  für  sich  in 
Anspruch,  die  Haltlosigkeit  und  den  geistigen  Tod  des  Zeitalters 
zu  bekämpfen:  ,,Mit  allen  diesen  Dingen,"  ruft  er  aus,  ,,führen 
wir  einen  Krieg  auf  Leben  und  Tod,  ebenso  wie  Carlyle,  und  haben 
weit  mehr  Wahrscheinlichkeit  des  Erfolgs  für  uns  als  er,  weil  wir 
wissen,  was  wir  wollen.  Wir  wollen  den  Atheismus,  wie  ihn  Carlyle 
schildert,  aufheben,  indem  wir  dem.  Menschen  den  Gehalt  wieder- 
geben, den  er  durcj^  die  Religion  verloren  hat  .  . .  Wir  wollen  alles, 
was  sich  als  übernatürlich  und  übermenschlich  ankündigt,  aus  dem 
Wege  schaffen, . . .  denn  die  Prätension  des  Menschlichen  und  Natür- 
lichen, übermenschlich,  übernatürlich  sein  zu  wollen,  ist  die  Wurzel 
aller  Unwahrheit  und  Lüge.  Deswegen  haben  wir  aber  auch  der 
Religion  und  den  religiösen  Vorstellungen  ein  für  allemal  den  Krieg 
erklärt  und  kümmern  uns  wenig  darum,  ob  man  uns  Atheisten 
oder  sonst  irgendwie  nennt".  Deutlich  spürt  man  noch  einmal  hier 
den  Verfasser  der  Kampfschrift  gegen  Schelling.  Engels  verwirft 
also  Carlyles  pantheistische  Definition  des  Atheismus.  Aber  selbst 
wenn  diese  richtig  wäre,  behauptet  er,  würden  nicht  er  selbst  und 
seine  Gesinnungsgenossen  sondern  ihre  christlichen  Gegner  die 
wahren  Atheisten  sein:  ,,Uns  fällt  es  nicht  ein,  die  ,ewigen  inneren 
Ursachen  des  Universums'  anzugreifen  .  .  .  Uns  fällt  es  nicht  ein, 
,die  Welt,  den  Menschen  und  sein  Leben  für  eine  Lüge'  zu  er- 
klären .  .  .  Uns  fällt  es  nicht  ein,  die  ,Offenbarung  der  Geschichte* 
zu  bezweifeln  oder  zu  verachten,  die  Geschichte  ist  unser  Eins  und 
Alles,  und  wird  von  uns  höher  gehalten,  als  irgend  von  einer  andern 
früheren  philosophischen  Richtung,  höher  selbst  als  von  Hegel, 
dem  sie  am  Ende  auch  nur  als  Probe  auf  sein  logisches  Rechen- 
exempel  dienen  sollte."  So  reklamierte  er  mit  glühendem  Pathos 
den  Inhalt  der  Geschichte,  aber  er  wollte  in  der  Geschichte  nicht  die 
Offenbarung  Gottes  sondern  des  Menschen  und  nur  des  Menschen 
sehen.  Carlyles  Vorstellung  von  der  Geschichte  als  einem  ewigen 
Gottesbuch,  in  dem  jeder  Mensch  Gottes  Finger  schreibend  sehen 


Gegen  den  Pantheismus.  165 

könne,  findet  er  ebenso  gewaltsam  wie  dessen  Wunsch,  aus  der 
Arbeit,  die  ebenfalls  eine  rein  menschliche  Angelegenheit  sei,  einen 
Kultus  zu  machen.  Ihm  widersteht  es,  fortwährend  ein  Wort  in 
den  Vordergrund  sich  drängen  zu  sehen,  das,  im  besten  Fall  nur  die 
Unendlichkeit  der  Unbestimmtheit  ausdrückend,  den  Schein  des 
Dualismus  aufrecht  erhalte  und  die  Nichtigkeitserklärung  der  Natur 
und  Menschheit  in  sich  schließe.  Weshalb  erst  die  Abstraktion 
eines  Gottes  herbeirufen,  um  die  Herrlichkeit  des  menschlichen 
Wesens  zu  sehen,  um  die  Entwicklung  der  Gattung  in  der  Ge- 
schichte, ihren  unaufhaltsamen  Fortschritt,  ihren  stets  sicheren 
Sieg  über  die  Unvernunft  des  einzelnen  in  voller  Größe  zu  erkennen  ? 
Sei  des  Menschen  eigenes  Wesen  nicht  weit  herrlicher  und  erhabener 
als  das  imaginäre  Wesen  eines  Gottes,  der  doch  nur  das  unklare 
oder  verzerrte  Abbild  des  Menschen  ist  ?  Also  argumentierte  aus 
dem  jungen  Engels  Ludwig  Feuerbach. 

Auf  die  Entschiedenheit  seiner  Stellungnahme  gegen  Carlyles 
Pantheismus  hatte  es  sicherlich  Einfluß,  daß  Engels  dessen  politische 
Anschauungen,  von  denen  er  grundsätzlich  abwich,  in  diesem 
verwurzelt  fand.  Wie  sehr  hatte  sich  der  Zeitgeist  gewandelt,  seit- 
dem Robespierre  den  Atheismus  als  aristokratisch  brandmarkte 
und  im  Jakobinerklub  das  Votum  erzwang,  daß  Gott  und  die  Vor- 
sehung die  Grundlagen  aller  Politik  seien!  Engels  verwirft  den 
Pantheismus  gerade  deshalb,  weil  dieser  noch  etwas  Höheres  aner- 
kenne als  den  Menschen  und  weil,  wer  über  ihn  nicht  hinausgelange. 
Gefahr  laufe,  sich  auch  in  der  Politik  vom  Autoritätsglauben  nicht 
freimachen  zu  können.  Bei  Carlyle  war  die  erbarmungslose  Kritik 
des  einstigen  Tory  an  der  Gesellschaftsauffassung  und  den  sozial- 
politischen Unterlassungssünden  der  liberalen  Partei  ihm  aus  der 
Seele  gesprochen,  aber  mit  seinem  Aristokratismus  vermochte  er 
sich  nicht  abzufinden.  Daß  die  Entwicklung  Englands  auf  die 
Demokratie  hinsteuere,  bestritt  nun  auch  der  Verkünder  der  Helden- 
verehrung nicht,  aber  er  beharrte  bei  dem  Glauben,  daß  die  Neu- 
organisierung des  Chaos  nicht  durch  die  Masse  selbst  sondern  nur 
durch  die  captains  of  industry  und  andere  geborene  Herrscher- 
naturen geschehen  könne,  die  befähigt  und  deshalb  berufen  wären, 
ihre  Mitmenschen  zu  leiten.  Und  diese  Auffassung  verriet  mehr 
Kenntnis  des  Menschen  und  der  Gesellschaft  als  die  Weitlings, 
der  in  seiner  Halbbildung  die  Qualifikation  zum  Führertum  von  der 
besten  Lösung  wissenschaftlicher  Preisaufgaben  abhängig  machen 
wollte.  Es  war  eine  geniale  Erkenntnis  Carlyles,  daß  er  die  Lösung 
des  Problems  des  Führertums  in  der  modernen  Demokratie  als  die 
wichtigste  Frage  bezeichnete,  die  jem.als  der  Menschheit  vorgelegt 
worden  wäre.    Er  blickte  dabei  tiefer  als  Engels,  der  darin  nur  Be- 


l56      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

denklichkeiten  sah,  an  denen  er  einfach  vorüberstürmte.  Mühelos 
erledigte  sich  seinem  unbekümmerten  Optimismus  das  schwierige 
Problem,  dessen  Bewältigung  der  Historiker  der  angestrengten  Arbeit 
von  Jahrhunderten  überantworten  wollte.  Hätte  Carlyle,  so  meinte 
er,  den  Menschen  als  Menschen  in  seiner  ganzen  Unendlichkeit 
begriffen,  so  würde  es  ihm  nicht  eingefallen  sein,  die  Menschheit 
wieder  in  zwei  Haufen:  Schafe  und  Böcke,  Regierende  und  Regierte, 
Aristokraten  und  Canaille,  Herren  und  Dummköpfe  zu  trennen, 
so  würde  er  die  richtige  soziale  Stellung  des  Talents  nicht  im  gewalt- 
samen Regieren  sondern  im  Anregen  und  Vorangehen  gefunden 
haben.  Engels  beschränkte  die  Aufgabe  des  Talents  darauf,  die 
Masse  von  der  Wahrheit  seiner  Ideen  zu  überzeugen,  in  die  Wirk- 
lichkeit übersetzen  würden  sich  diese  ganz  von  selbst  ohne  sein 
Zutun.  Unter  dem  Aspekt  seines  kommunistischen  Ideals  hatte 
die  politische  Demokratie,  wie  wir  wissen,  für  Engels  nur  die 
Bedeutung  einer  Durchgangsstation.  Carlyle  wünschte,  daß  sie  das 
Tor  einem  vervollkommneten  Aristokratismus  öffne,  er  aber 
wünschte,  daß  sie  dem  Reich  wirklicher  menschlicher  Freiheit  den 
Weg  ebne.  Von  neuem  spüren  wir  hier  die  Berührung  seiner  Ge- 
dankenwelt durch  Proudhons  frühe  Schriften.  Gerade  kürzlich  hatte 
Moses  Heß,  der  eifrige  Pionier,  der  wiederum  zur  rechten  Stunde 
antrat,  von  Feuerbachs  Humanismus  zu  Proudhons  Anarchismus 
die  erste  Brücke  geschlagen. 

So  wenig  wie  mit  der  politischen  Einstellung,  konnte  Engels 
sich  mit  den  praktischen  Vorschlägen  Carlyles  zufrieden  geben. 
Ihm  war  es  geradezu  unfaßbar,  wie  jemand  die  Schwächen  einer 
auf  freier  Konkurrenz  beruhenden  Wirtschaftsordnung  so  scho- 
nungslos aufdecken  konnte  und  dennoch  nicht  zu  dem  Schluß  ge- 
langte, daß  das  Privateigentum  die  Wurzel  alles  Übels  ist.  Von  der 
Organisation  der  Arbeit,  die  Carlyle,  von  Saint-Simon  angeregt, 
empfiehlt,  verspricht  er  sich  solange  nichts,  wie  nicht  eine  , »gewisse 
Identität  der  Interessen"  und  damit  der  ,, einzig  menschliche  Zu- 
stand" hergestellt  wäre.  Besonders  verwunderte  ihn  auch,  daß  der 
Engländer  nirgends  die  englischen  Sozialisten  erwähnte,  mit  denen 
ihm  doch  die  Kritik  der  kapitalistischen  Mißstände  und  die  Ab- 
lehnung jedes  Klassenkampfes  gemeinsam  waren.  Daß  der  roman- 
tische Positivist  unmöglich  dem  materialistischen  Skeptizismus  jener 
Geschmack  abgewinnen  konnte,  hätte  ihn  nicht  abhalten  dürfen, 
sich  mit  der  einzigen  Partei,  die  in  England  eine  Zukunft  habe, 
kritisch  auseinanderzusetzen.  Engels  selbst  ging  einem  Vergleich 
beider  Bestrebungen  natürlich  nicht  aus  dem  Wege,  aber  er  ge- 
langte dabei  zu  dem  Ergebnis,  daß  Carlyle  so  einseitig  wäre  wie  die 
Sozialisten.     Beide   hätten    —   wie  ihr   Kritiker    sich   noch   streng 


Kritik  an  Carlyle,  167 

Hegelisch  ausdrückte  —  den  Widerspruch  nur  innerhalb  des 
Widerspruchs  überwunden,  ,,die  Sozialisten  innerhalb  der  Praxis,  Car- 
lyle innerhalb  der  Theorie,  und  auch  da  nur  unmittelbar,  während 
die  Sozialisten  über  den  praktischen  Widerspruch  entschieden  und 
durch  das  Denken  hinausgekommen  sind."  Engels  stellte  mit  Be- 
dauern fest,  daß  die  englischen  Sozialisten  noch  Engländer  blieben, 
wo  sie  bloß  Menschen  sein  sollten,  daß  sie  von  der  philosophischen  Ent- 
wicklung des  Kontinents  nur  den  französischen  Materiahsmus,  nicht 
auch  die  deutsche  Philosophie  in  sich  aufgenommen  hätten.  Doch 
wollte  es  ihm  scheinen,  als  ob  sie  auf  die  Beseitigung  dieser  Lücke  in- 
sofern direkt  hinarbeiteten,  als  sie  die  ,, Aufhebung  der  Nationalunter- 
schiede" sich  zum  Ziel  setzten.  Weil  der  Gedanke  an  einen  inter- 
nationalen Sozialismus  hier  bei  ihm  erst  in  vager  Form  hervortritt, 
so  müssen  wir  uns  um  so  mehr  daran  erinnern,  daß  gerade  er 
damals  bereits  eifrig  am  Werke  war,  eine  Verständigung  zwischen 
den  kommunistischen  Bestrebungen  der  führenden  Länder  anzu- 
bahnen und  zu  fördern.  Und  die  Ansammlung  zahlreicher  freiheit- 
lich gesinnter  politischer  Flüchtlinge  aus  den  noch  von  der  Restau- 
ration beherrschten  kontinentalen  Staaten  bereitete  ja  längst  auf 
englischem  Boden  die  Atmosphäre  vor,  aus  der  heraus  bald  danach 
die  Vereinigung  der  Fraternal  Democrats  sich  entwickeln  und  etwas 
später  das  Kommunistische  Manifest  emporsteigen  konnte. 

Noch  stärker  im  Wuchs,  noch  genialer  im  Wurf,  noch  eigen- 
artiger in  der  Gestalt  als  der  Essai  über  Carlyle  waren  die  Umrisse 
zu  einer  Kritik  der  Nationalökonomie,  die  zweite  Abhandlung,  die 
Engels  zu  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  beisteuerte. 
Vielleicht  weist  sie  auch  noch  unmittelbarer  als  die  andere  auf  das 
zentrale  Erlebnis  dieses  englischen  Lehrjahres  hin.  Auf  den  un- 
verfälschten Blick  und  die  einfache  ungebrochene  Seele  des  Jüng- 
lings hatte  es  einen  geradezu  erschütternden  Eindruck  gemacht, 
zu  beobachten,  wie  hier  im  Mittelpunkt  der  damaligen  Weltindustrie 
neue  technische  Erfindungen  eine  grenzenlose  Steigerung  der  Pro- 
duktion hervorgerufen  hatten  und  die  Masse  des  Volks  nichtsdesto- 
weniger in  Armut  verkam,  weil  ihr  die  Mittel  fehlten,  sich  die  Er- 
zeugnisse der  eigenen  Arbeit  zum  eigenen  Verbrauch  anzueignen. 
Carlyle  hatte  darauf  das  Wort  vom  Midasfluch  geprägt.  Und  war 
es  nicht  in  der  Tat  ,, wunderbarer  als  alle  Wunder  aller  Religionen 
zusammen,  daß  eine  Nation  vor  eitel  Reichtum  und  Überfluß  ver- 
hungern konnte"  ?  Sobald  ihm  aber  erst  diese  Paradoxie  des  Systems 
der  freien  Konkurenz  in  ihrer  vollen  Absurdität  völlig  zum  Be- 
wußtsein gekommen  war,  begann  Engels,  wie  das  so  seine  Art 
war,  sich  rastlos  umzutun  nach  Vorläufern  wie  nach  Gefährten, 
um  bei  den  einen  sich  zu  belehren,  um  mit  den  anderen  zu  beraten, 


l68      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

wie  der  Lindwurm  zu  erlegen  wäre.  Wir  bemerkten  schon,  daß  er 
sich,  als  er  diese  Notwendigkeit  erkannte,  auf  die  Schriften  der 
Nationalökonomen  gestürzt  hatte.  Unsystematisch  mag  der  führer- 
lose Autodidakt  bei  deren  Studium  vorgegangen  sein,  wir  erfahren 
nicht  genau,  in  welcher  Reihenfolge  er  die  Autoren  kennen  lernte, 
doch  wer  weiß,  was  er  sucht,  bahnt  sich  auch  soseinen  Weg.  Als  er 
an  die  Niederschrift  der  Um.risse  ging,  hatte  Engels  sich  schon  durch 
eine  Reihe  der  Hauptwerke  der  klassischen  wie  der  gesellschafts- 
kritischen Nationalökonomie  Englands  und  Frankreichs  hindurch- 
gefunden und  sich  auch  mit  der  vorhandenen  Fachliteratur  über 
die  englische  Textilindustrie  und  ihre  Arbeiterbevölkerung  vertraut 
gemacht.  Aus  diesen  Studien  glaubte  er  nun  die  Gewißheit  erlangt 
zu  haben,  daß  das  geist-  und  herzlose  Räderwerk  der  freien  Kon- 
kurenz,  dessen  Beseitigung  er  so  sehnlich  herbeiwünschte,  in  den 
Lehren  Adam  Smith  und  seiner  Nachfolger  seine  Kodifizierung  und 
Heiligsprechung  gefunden  hatte.  War  es  da  nicht  ein  eitles  Be- 
mühen, auf  die  Aufhebung  des  Privateigentums,  die  einzige  Maß- 
regel, die  nach  seiner  Ansicht  jenen  Midasfluch,  der  auf  der  bürger- 
lichen Gesellschaft  lastete,  lösen  konnte,  zu  hoffen,  solange  nicht  diese 
von  dem  englischen  Bourgeois  für  unumstößlich  gehaltene  Lehre 
von  ihrem  Thron  gestoßen  wäre  ?  Von  neuem  bezeugt  es  uns  das 
Draufgängertum  und  das  noch  unerschütterte  Selbstvertrauen  des 
Dreiundzwanzigjährigen,  der  sich  erst  seit  wenigen  Monaten 
in  der  Welt  der  volkswirtschaftlichen  Probleme  tummelte,  daß  er 
sich  selbständig  an  die  Aufgabe  wagte,  die  herrschende  National- 
ökonomie nicht  bloß  ihrer  Mängel  zu  überführen,  das  hatte  seit 
Sismondi  schon  mancher  getan,  sondern  sie  vor  dem  Richterstuhl 
der  Dialektik,  dem  einzigen,  zu  dem  er  Vertrauen  hatte,  in  aller  Form 
als  ein  ,, System  des  erlaubten  Betrugs"  zu  entlarven. 

Wie  die  politische  Revolution  war  im  achtzehnten  Jahrhundert 
seiner  Ansicht  nach  auch  die  Revolution  der  Ökonomie  im  Gegen- 
satz stecken  geblieben.  Wie  jene  vernachlässigt  hatte,  die  Voraus- 
setzungen des  Staats  zu  prüfen,  so  hatte  diese  es  unterlassen,  nach 
der  Berechtigung  des  Privateigentums  zu  forschen.  Zwar  hatte  es 
einen  Fortschritt  bedeutet,  daß  die  liberale  Ökonomie  den  Kon- 
sumenten ihre  Gunst  zuwandte,  nachdem  der  Merkantilismus, 
stets  nur  auf  eine  günstige  Handelsbilanz  bedacht,  einseitig  den 
Produzenten  begünstigt  hatte.  Zwar  war  es  ein  Fortschritt,  daß  man 
nun  den  Handel  als  ein  die  Nationen  wie  die  Individuen  einigendes 
Band  betrachtete,  nachdem  dieser  in  der  Merkantilzeit  die  Quelle 
aller  Kriege  gewesen  war.  Aber  die  gleißende  Philanthropie,  zu  der 
die  neue  Ökonomie  sich  bekannte,  war  doch  nur  Trugwerk:  sie  war 
genötigt  ihre  eigenen  Voraussetzungen  zu  verraten  und  zu  verleug- 


Die  Umrisse  zu  einer  Kritik  der  Nationalökonomie.  169 

nen,  Sophistik  und  Heuchelei  zu  Hilfe  zu  nehmen,  um  die  Wider- 
sprüche, in  die  sie  sich  verwickelte,  zu  verdecken,  um  zu  den 
Schlüssen  zu  kommen,  zu  denen  sie  nicht  durch  ihre  Voraussetzun- 
gen, sondern  durch  den  humanen  Geist  des  Jahrhunderts  getrieben 
wurde.  Doch  machten  sich  diese  Voraussetzungen  bald  genug 
wieder  geltend,  und  sie  erzeugten  in  der  Malthusschen  Bevölkerungs- 
theorie ein  System  der  Verzweiflung,  das  alle  jene  schönen  Redens- 
arten von  Menschenliebe  und  Weltbürgertum  zu  Boden  schlug, 
und  in  dem  Fabriksystem  eine  moderne  Sklaverei,  die  an  Unmensch- 
lichkeit und  Grausamkeit  der  alten  nichts  nachgab.  Trotzdem  war 
das  auf  Adam  Smith  Wealth  of  Nations  gegründete  System  der 
Handelsfreiheit  ein  notwendiger  Fortschritt  gewesen.  „Es  war  not- 
wendig, daß  das  Merkantilsystem  mit  seinen  Monopolen  und  Ver- 
kehrshemmungen gestürzt  wurde,  damit  die  wahren  Folgen  des 
Privateigentums  ans  Licht  treten  konnten,  es  war  notwendig,  daß 
alle  diese  kleinlichen  Lokal-  und  Nationalrücksichten  zurücktraten, 
damit  der  Kampf  unserer  Zeit  ein  allgemeiner,  menschlicher  wer- 
den konnte ;  es  war  notwendig,  daß  die  Theorie  des  Privateigentums 
den  rein  empirischen,  bloß  objektiv  untersuchenden  Pfad  verließ 
und  einen  wissenschaftlichen  Charakter  annahm,  der  sie  auch 
für  die  Konsequenzen  verantwortlich  machte  und  dadurch  die 
Sache  auf  ein  allgemein  menschliches  Gebiet  herüberführte."  Erst 
die  Begründung  und  Ausführung  der  Handelsfreiheit  habe  die 
Möglichkeit  geschaffen,  ,,über  die  Ökonomie  des  Privateigentums 
hinauszugehen".  Dafür  wäre  man  nun  aber  auch  berechtigt,  ,, diese 
Handelsfreiheit  in  ihrer  ganzen  theoretischen  und  praktischen 
Nichtigkeit  darzustellen". 

Weil  Ricardo  und  Mill  die  dafür  nötige  Ehrlichkeit  nicht  auf- 
gebracht hätten,  nahm  Engels  für  sich  die  Pflicht  in  Anspruch, 
die  Prämissen  dieses  ganzen  Systems,  über  dessen  Widersprüche 
er  sich  klar  geworden  zu  sein  glaubte,  der  strengsten  Prüfung  zu 
unterziehen.  Die  neuere  Ökonomie,  meint  er,  könne  noch  nicht 
einmal  das  Merkantilsystem  richtig  beurteilen,  weil  sie  selbst  noch 
mit  dessen  Voraussetzungen  behaftet  sei.  Erst  wenn  man  sich 
über  den  Gegensatz  dieser  beiden  Systeme  hinweg  auf  einen  Stand- 
punkt erhebe,  der  die  gemeinsamen  Voraussetzungen  beider  kriti- 
siere, ließe  sich  zeigen,  daß  die  Verteidiger  der  Handelsfreiheit 
schlimmere  Monopolisten  seien  als  selbst  die  Merkantilisten.  Wie 
die  Theologie  entweder  zum  blinden  Glauben  zurück-,  oder  zur 
freien  Philosophie  vorwärtsgehen  müsse,  so  müsse  die  Handels- 
freiheit entweder  die  Restauration  der  Monopole,  wie  sich  das  neuer- 
dings bei  Friedrich  List  ankündige,  oder  die  Aufhebung  des  Privat- 
eigentums  produzieren.     Auf   alle    Fälle   müsse   die    Inkonsequenz 


lyo      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

und  Doppelseitigkeit  der  liberalen  Ökonomie  sich  notwendig  wieder 
in  ihre  Grundbestandteile  auflösen.  Ihr  einziger  positiver  Fortschritt 
war  es  gewesen,  daß  sie  die  Grenze  des  Privateigentums,  wenn  auch 
nicht  bis  zur  letzten  Konsequenz,  entwickelt  und  klar  ausgesprochen 
habe.  In  allen  strikt  ökonomischen  Kontroversen,  dort  also,  wo 
es  auf  die  Entscheidung  über  die  kürzeste  Manier,  reich  zu  werden, 
ankam,  hatte  sie  deshalb  auch  das  Recht  auf  ihrer  Seite,  wo  ihr  die 
Monopolisten  gegenüberstanden.  Dagegen  hätten  die  englischen 
Sozialisten  längst  praktisch  und  theoretisch  bewiesen,  daß  sie  auch 
in  ökonomischen  Fragen  ökonomisch  richtiger  zu  entscheiden 
vermögen. 

Bei  seinem  Wagnis,  den  durch  das  System  der  Handelsfreiheit 
in  die  Nationalökonomie  hineingekommenen  Widerspruch  zu  ent- 
hüllen und  danach  die  Konsequenzen  der  beiden  Seiten  dieses  Wider- 
spruchs zu  ziehen,  nimmt  Engels,  dem  es  nun  obliegt,  die  Grund- 
kategorien dieser  Wissenschaft  zu  prüfen,  seinen  Ausgangspunkt 
vom  Handel,  den  er  aus  eigener  Anschauung  und  Tätigkeit  genug- 
sam zu  kennen  glaubte  und  über  den  ihm  überdies  Fourier  kräftige 
und  von  ihm  enthusiastisch  begrüßte  Lichter  aufgesteckt  hatte. 
Jeden  Kaufmann,  der  der  Wahrheit  die  Ehre  geben  wolle,  ruft  er 
als  Zeugen  dafür  an,  daß  es  mit  dem  Handel  in  der  Praxis  nicht 
besser  gestellt  wäre  als  in  der  Theorie,  daß  dieser  nichts  anderes 
sei  als  legaler  Betrug.  Mit  einer  gewissen  unbefangenen  katho- 
lischen Geradheit  habe  das  Merkantilsystem  das  unsittliche  Wesen 
des  Handels  wenigstens  offen  zur  Schau  getragen,  während  seit 
Adam  Smith,  dem  ökonomischen  Luther,  protestantische  Gleisnerei 
dessen  Sittlichkeit  zu  beweisen  trachte.  Diese  Heuchler  rühmten 
sich  ,,die  Barbarei  der  Monopole  gestürzt,  die  Zivilisation  in  ent- 
fernte Weltteile  getragen,  die  Völker  verbrüdert,  und  die  Kriege 
vermindert  zu  haben".  Ja,  das  alles  haben  sie  getan,  aber  wie  haben 
sie  es  getan  ?  ,,Ihr  habt  die  kleinen  Monopole  vernichtet,  um  das 
eine  großa  Grundmonopol,  das  Eigentum,  desto  freier  und  schranken- 
loser wirken  zu  lassen ;  Ihr  habt  die  Enden  der  Erde  zivilisiert,  um 
neues  Terrain  für  die  Entfaltung  Eurer  niedrigen  Habsucht  zu  ge- 
winnen; Ihr  habt  die  Völker  verbrüdert,  aber  zu  einer  Brüderschaft 
von  Dieben,  und  die  Kriege  vermindert,  um  im  Frieden  desto  mehr 
zu  verdienen,  um  die  Feindschaft  der  einzelnen,  den  ehrlosen  Krieg 
der  Konkurrenz,  auf  die  höchste  Spitze  zu  treiben!  Wo  habt  ihr 
etwas  aus  reiner  Humanität,  aus  dem  Bewußtsein  der  Nichtigkeit 
des  Gegensatzes  zwischen  den  allgemeinen  und  individuellen  In- 
teressen getan  ?  Wo  seid  ihr  sittlich  gewesen,  ohne  interessiert  zu 
sein,  ohne  unsittliche,  egoistische  Motive  im  Hintergrund  zu  hegen  ?'* 
So  abgeneigt  finden  wir  Engels  hier  schon,  der  friedenfördernden 


Kritik  der  liberalen  Ökonomie.  17 1 

Wirkung  des  Freihandels  Anerkennung  zu  zollen ;  und  die  Grenzen 
zwischen  egoistischen  und  sittlichen  Handlungen  zieht  er  fast  mit 
der  gleichen  Entschiedenheit  wie  einige  Jahre  vor  ihm  Schopen- 
hauer  in  den   Grundproblemen  der   Ethik. 

Nachdem  die  liberale  Ökonomie,  so  fährt  er  fort,  ihr  Bestes  ge- 
tan habe,  um  , .durch  die  Auflösung  der  Nationalitäten  die  Feindschaft 
zu  verallgemeinern,  die  Menschheit  in  eine  Horde  reißender  Tiere  — 
und  was  sind  Konkurrenten  anders?  —  zu  verwandeln",  nach  dieser 
Vorarbeit  beseitige  sie  mit  der  ,, Auflösung  der  Familie"  durch 
ihre  ,, eigene  schöne  Erfindung,  das  Fabriksystem**  die  letzte  Spur 
gemeinsamer  Interessen  und  vollende  so  deren  ,, Isolierung**.  Aber 
ein  Prinzip,  einmal  in  Bewegung  gesetzt,  arbeite  sich  durch  alle 
seine  Konsequenzen,  mögen  diese  den  Ökonomen  gefallen  oder  nicht, 
von  selbst  hindurch.  Obwohl  die  Ökonomen  selbst  nicht  wüßten, 
welcher  Sache  sie  dienten,  bildeten  sie  mit  allen  ihren  egoistischen 
Räsonnements  ein  Glied  in  der  Kette  des  allgemeinen  Fortschritts 
der  Menschheit.  Und  sie  bahnten  mit  ihrer  Auflösung  aller  Sonder- 
interessen nur  den  Weg  für  den  großen  Umschv/ung,  dem  das  Jahr- 
hundert entgegengehe,  für  die  Versöhnung  der  Menschheit  mit  der 
Natur  und  mit  sich  selbst.  So  bekannte  sich  Engels,  deutlicher  als 
in  dem  Aufsatz  des  New  Moral  World,  aber  weit  zurückbleibend 
hinter  der  prägnanten  Formulierung,  die  Marx  für  diesen  großen 
Gedanken  fand,  zu  der  evolutionistisch  dialektischen  Vorstellung, 
daß  das  Weltalter  des  Kommunismus  mit  Notwendigkeit  aus  dem 
gegenwärtigen  herauswachsen  werde! 

Als  die  nächste  durch  den  Handel  bedingte  Kategorie  erscheint 
ihm  der  Wert.  Auch  bei  dieser  schwierigen  Materie  macht  er  sich 
anheischig,  mit  Hilfe  seiner  dialektischen  Schulung  den  Dingen, 
die  eine  unzulässige  Abstraktion  auf  den  Kopf  gestellt  habe,  wieder 
auf  die  Beine  zu  helfen  und  die  einzelnen  Seiten  des  Problems,  die 
gewaltsam  auseinandergerissen  und  jede  für  das  Ganze  ausgeschrien 
worden  seien,  wieder  in  eins  zu  fügen.  Er  sucht  nachzuweisen,  daß 
der  abstrakte  Wert  und  seine  Bestimmung  durch  die  Produktions- 
kosten Abstraktionen,  nach  Feuerbach  also  Undinge,  wären. 
Doch  schon  Bruno  Hildebrand  hat  ihm  entgegengehalten,  daß  er 
im  Irrtum  sei,  wenn  er  die  englischen  Nationalökonomen,  nament- 
lich Mac  Culloch  und  Ricardo,  einen  abstrakten  Wert  aller  Dinge 
im  Gegensatz  zum  Tauschwert  aufsuchen  lasse.  Bekanntlich 
hatten  die  Engländer  den  größeren  Nachdruck  auf  die  Produktions- 
kosten, der  Franzose  J.  B.  Say  auf  die  Brauchbarkeit  gelegt.  Beider 
Wertdefinition  findet  Engels  lahm  und  schon  deshalb  unbefriedigend, 
weil  sie  nicht  ohne  den  Begriff  der  Konkurrenz,  den  er  beim  Wert- 
begriff eliminiert  zu  sehen  wünschte,  auskamen.    Die  Einseitigkeit 


iy2      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

beider  Auffassungen  glaubte  er  überwunden  zu  haben,  wenn  er 
den  Wert  als  das  Verhältnis  der  Produktionskosten  zur  Brauchbar- 
keit definierte.  Er  sieht  geradezu  eine  Unehrlichkeit  darin,  daß 
die  Ökonomen  zwischen  Wert  und  Preis  nicht  einen  völlig  scharfen 
Trennungsstrich  zogen.  Von  der  Anwendung  des  Werts  für  den 
Tausch  könne  erst  die  Rede  sein,  wenn  entschieden  wäre,  ob  die 
Brauchbarkeit  die  Produktionskosten  aufwiege.  Diese  Basis  sei 
die  einzig  gerechte  Basis  des  Tausches.  Aber  selbst  wenn  man  von 
ihr  ausginge,  könne  der  Tausch  nur  durch  Zwang  zustande  kommen; 
wobei  sich  dann  jeder  für  betrogen  halte.  Nur  durch  Aufhebung 
des  Privateigentums  wäre  Wandel  zu  schaffen,  dann  freilich  werde 
vom  Tausch,  wie  er  jetzt  existierte,  überhaupt  nicht  mehr  die  Rede 
sein  und  die  praktische  Anwendung  des  Wertbegriffs  sich  immer 
mehr  auf  die  Entscheidung  über  die  Produktion  beschränken. 

Die  klassische  Lehre  von  den  Produktionskosten  übernimmt 
Engels  in  der  Fassung  Ricardos,  die  Kapital  und  Arbeit  auf  eine 
identische  Wurzel  zurückführte.  Er  unterscheidet  nur  den  natür- 
lichen, objektiven  Faktor,  den  Boden,  und  den  menschlich  sub- 
jektiven, die  Arbeit.  Diese  schließe  das  Kapital  ein,  aber  auch 
noch  ein  drittes  Element.  Darin  bewies  sich  Engels  als  ein  echter 
Deutscher  seiner  Zeit,  daß  er  neben  dem  physischen  Element  ,,der 
bloßen  Arbeit"  dem  geistigen  Element  ,,der  Erfindung  des  Ge- 
dankens" einen  eigenen  Platz  unter  den  Elementen  der  Produktion 
wie  unter  den  Produktionskosten  einräumte.  Dem  englischen  Na- 
tional äkonomen,  meint  er,  seien  ,,Land,  Kapital,  Arbeit  die  Be- 
dingungen des  Reichtums  und  weiter  braucht  er  nichts.  Die  Wissen- 
schaft geht  ihn  nichts  an.  Ob  sie  ihm  durch  Berthollet,  Davy, 
Liebig,  Watt,  Cartwright  usw.  Geschenke  gemacht  hat,  die  ihn 
und  seine  Produktion  unendlich  gehoben  haben  —  was  liegt  ihm 
daran?  Dergleichen  weiß  er  nicht  zu  berechnen;  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  gehen  über  seine  Zahlen  hinaus". 

Unter  der  Herrschaft  des  Privateigentums,  so  spinnen  sich 
diese  Gedanken  weiter,  habe  alles,  was  nicht  monopolisiert  werden 
könne,  keinen  Preis.  Wäre  der  Boden  so  leicht  zu  haben  wie  die 
Luft,  so  würde  kein  Mensch  Grundzins  zahlen.  Ricardos  Definition 
der  Grundrente  wäre  praktisch  richtig,  ,,wenn  man  voraussetzt, 
daß  ein  Fall  der  Nachfrage  augenblicklich  auf  den  Grundzins  reagiert, 
und  sogleich  eine  entsprechende  Quantität  des  schlechtesten  bebauten 
Landes  außer  Bearbeitung  setzte".  Sie  sei  nicht  haltbar,  weil  dies 
nicht  der  Fall  wäre  und  sie  überdies  die  Kausation  des  Grundzinses 
nicht  einschließe.  So  sei  sie  ebenso  einseitig  und  unzureichend  wie 
die  des  Adam  Smith,  die  Oberst  T.  Perronet  Thompson,  das  radikale 
Parlamentsmitglied,  kürzlich  neu  begründet  habe.    Wie   bei  dem 


Die  Widersprüche  des  Privateigentums.  173 

Wertbegriff  Ricardos  und  Says  sei  es  nötig,  zusammenzufassen,  um 
die  richtige  ,,aus  der  Entwicklung  der  Sache  folgende  und  darum 
alle  Praxis  umfassende  Bestimmung  zu  finden".  Deshalb  definiert 
Engels  den  Grundzins  als  das  Verhältnis  zwischen  der  Ertrags- 
fähigkeit des  Bodens,  der  natürlichen  Seite  (die  wiederum  aus  der 
natürlichen  Anlage  und  der  menschlichen  Bebauung,  der  zur  Ver- 
besserung angewandten  Arbeit  besteht)  —  und  der  menschlichen 
Seite,  der  Konkurrenz.  Mögen  die  Nationalökonomen  über  diese 
,, Definition"  ihre  Köpfe  schütteln,  sie  würden  zu  ihrem  Schrecken 
wahrnehmen,  daß  diese  alles  einschließe,  was  auf  die  Sache  Bezug 
habe.  Der  Grundbesitzer  habe  dem  Kaufmann  nichts  vorzuwerfen; 
er  raube,  indem  er  den  Boden  monopolisiere.  Das  sei  der  letzte 
Schritt  zur  Selbstverschacherung  gewesen,  als  man  die  Erde  ver- 
schacherte, ,,die  unser  Eins  und  Alles,  die  erste  Bedingung  unserer 
Existenz  ist".  Erst  wenn  man  das  Privateigentum  am  Grund  und 
Boden  beseitige,  reduziere  sich  der  Grundzins  auf  seine  Wahrheit, 
und  der  als  Grundzins  vom  Boden  getrennte  Wert  desselben  falle 
dann  in  den  Boden  selbst  zurück. 

,, Wohin  wir  uns  also  wenden,  das  Privateigentum  führt  uns 
auf  Widersprüche" ;  dieser  ganz  im  Geiste  Proudhons  formulierte 
Satz,  das  Leitmotiv  seiner  Kritik  der  Nationalökonomie,  bewahr- 
heitete sich  Engels  besonders,  als  er  nun  auf  das  Verhältnis  von 
Kapital  und  Arbeit  zu  sprechen  kam.  Wohl  hatte  die  liberale 
Nationalökonomie  —  eine  Wissenschaft,  die  ,, unter  den  jetzigen 
Verhältnissen"  richtiger  Privatökonomie  hieße  —  die  Identität 
beider  Faktoren  erkannt;  weil  aber  für  sie  die  öffentlichen  Bezie- 
hungen nur  um  des  Privateigentums  willen  da  waren,  hatte  sie  sich 
dabei  beruhigt,  das  Kapital  als  ,, aufgespeicherte  Arbeit"  anzuer- 
kennen und  jeden  Versuch  unterlassen,  die  Entzweiung  der  Arbeit, 
die  diese  Definition  offenbarte,  zu  überwinden. 

Nachdem  diese  Trennung  bewerkstelligt  war,  teilte  sich  das 
Kapital  nochmals  in  ursprüngliches  Kapital  und  Gewinn  und  der 
Gewinn  wieder  in  Zinsen  und  eigentlichen  Gewinn.  In  den  Zinsen 
wäre  die  Unvernünftigkeit  dieser  Spaltungen  auf  die  Spitze  ge- 
trieben. Das  unbefangene  Volksbewußtsein,  das  in  solchen  Dingen 
meistens  recht  habe,  habe  die  Unsittlichkeit  des  Zinsnehmens, 
dieses  Empfangens  ohne  Arbeit,  längst  durchschaut.  Die  Trennung 
von  Kapital  und  Arbeit  finde  ihre  Vollendung  in  der  Spaltung  der 
Menschheit  in  Kapitalisten  und  Arbeiter,  einer  Spaltung,  die  alle 
Tage  an  Schärfe  zunehme  und  die  sich,  wie  sich  noch  zeigen  werde, 
immer  steigern  müsse.  Nun  sind  aber  für  Engels  Boden,  Kapital 
und  Arbeit  inkommensurable  Größen,  und  es  erscheint  ihm  deshalb 
verfehlt,  den  Anteil,  der  jedem  der  drei  Elemente  an  dem  fertigen 


1^4      I^ie  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

Ertrag  zukomme,  herausrechnen  zu  wollen.  Solange  das  Privat- 
eigentum herrsche,  sei  dies  nicht  zu  vermeiden,  da  entscheiden 
zufällige  Maße,  da  entscheide  die  Konkurrenz,  das  raffinierte  Recht 
des  Stärkeren,  über  den  Anteil.  Die  Arbeit,  „die  Hauptsache  bei  der 
Produktion,  die  Quelle  des  Reichtums",  die  ,, freie  menschliche 
Tätigkeit"  komme  dabei  schlecht  weg.  Wie  vorher  das  Kapital 
von  der  Arbeit  getrennt  wurde,  so  wird  jetzt  die  Arbeit  zum  zweiten- 
mal gespalten.  Das  Produkt  der  Arbeit  tritt  ihr  als  Lohn  gegenüber 
und  wird,  da  es  für  den  Anteil  der  Arbeit  an  der  Produktion  kein 
festes  Maß  gibt,  durch  die  Konkurrenz  bestimmt.  Erst  mit  der 
Aufhebung  des  Privateigentums  fällt  diese  unnatürliche  Trennung 
fort,  die  Arbeit  ist  dann  ihr  eigener  Lohn,  und  die  wahre  Bedeutung 
des  früher  veräußerten  Arbeitslohns  kommt  an  den  Tag:  die  Be- 
deutung der  Arbeit  für  die  Bestimmung  der  Produktionskosten. 

So  zeigt  Engels,  daß,  solange  das  Privateigentum  besteht, 
die  Konkurrenz  die  Hauptkategorie  des  Ökonomen  bleibt.  Ihr 
,, Medusenantlitz"  zu  enthüllen,  ist  für  ihn  höchste  Aufgabe,  eifrigstes 
Ziel,  heiligste  Pflicht.  Schon  hat  er  nachgewiesen,  wie  unter  der 
Herrschaft  des  Privateigentums  die  Produktion  in  zwei  entgegen- 
gesetzte Seiten,  die  natürliche  und  die  menschliche,  auseinander- 
fiel, und  wie  sich  die  menschliche  Tätigkeit  von  neuem  in  zwei 
feindliche  Hälften,  Arbeit  und  Kapital,  auflöste.  Nun  beweist  er 
noch,  daß  das  Privateigentum  weiterhin  ziar  Zersplitterung  jedes 
dieser  Elemente  führt,  weil  es  jeden  auf  seine  rohe  Einzelheit 
isoliert  und  die  gleichen  Interessen  gerade  um  ihrer  Gleichheit 
willen  verfeindet.  In  dieser  Verfeindung  der  gleichen  Interessen 
gerade  um  ihrer  Gleichheit  willen  vollende  sich  die  Unsittlichkeit 
des  bisherigen  Zustands  der  Menschheit ;  und  diese  Vollendung  ist 
die  Konkurrenz. 

Die  liberalen  Ökonomen,  so  fährt  Engels  fort,  hätten  nicht 
begriffen,  einen  wie  hohlen  Gegensatz  sie  konstruierten,  als  sie  dem 
Monopol,  dem  Schlachtruf  der  Merkantilisten,  die  Konkurrenz  als 
Schlachtruf  entgegenstellten.  Strebe  nicht  jeder  Konkurrierende 
nach  dem  Monopol,  möge  er  Arbeiter,  Kapitalist  oder  Grundbesitzer 
sein?  Müsse  nicht  jede  kleinere  Gesamtheit  von  Konkurrenten 
wünschen,  das  Monopol  für  sich  gegen  alle  anderen  zu  besitzen? 
Die  Konkurrenz  beruhe  auf  dem  Interesse,  das  Interesse  erzeuge 
das  Monopol,  die  Konkurrenz  gehe  also  in  das  Monopol  über.  (Wies 
eine  solche  Betrachtung  nicht  schon  in  das  Zeitalter  der  Kartelle 
und  Trusts  hinüber  ?)  Der  dialektische  ,, Widerspruch"  der  Kon- 
kurrenz enthülle  sich  darin,  daß  jeder  einzelne  das  Monopol  wün- 
schen, die  Gesamtheit  als  solche  es  aber  bekämpfen  müsse,  daß  also 
das  allgemeine  und  das  individuelle  Interesse  sich  hier  diametral 


Das  Medusenantlitz  der  Konkurrenz.  175 

entgegenstünden.  Nun  setze  aber  die  Konkurrenz  das  Monopol 
des  Eigentums  voraus ;  deshalb  sei  es  Heuchelei  und  jämmerliche 
Halbheit,  daß  die  Ökonomen,  während  sie  die  kleinen  Monopole 
angriffen,  dieses  Grundmonopol  bestehen  lassen  wollten. 

Auch  bei  der  Konkurrenz  findet  Engels  die  beiden  Seiten, 
Nachfrage  und  Zufuhr,  auseinandergerissen  und  in  den  schroffen 
Gegensatz  verwandelt.  Der  Zufuhr  könne  es  nie  gelingen,  die 
Nachfrage  genau  zu  decken,  weil  in  dem  heutigen  ,, bewußtlosen 
Zustande  der  Menschheit"  kein  Mensch  wisse,  wie  groß  diese  oder 
jene  ist.  So  herrsche  eine  stete  Abwechslung  von  Irritation  und 
Erschlaffung,  ein  ewiges  Schwanken,  das  allen  Fortschritt  aus- 
schlösse. Doch  das  hindere  die  liberalen  Ökonomen  nicht,  dieses  Ge- 
setz wunderschön  zu  finden.  Sie  ignorierten,  daß  es  ein  reines 
Naturgesetz  sei  und  kein  Gesetz  des  Geistes,  und  sie  übersähen, 
daß  es  die  Revolution  erzeuge.  Der  Ökonom  beweise  mit  seiner 
schönen  Theorie,  daß  nie  zuviel  produziert  werden  könne,  die  Praxis 
antworte  ihm  trotzdem  mit  den  Handelskrisen,  die  seit  achtzig 
Jahren  so  regelmäßig  wiederkehrten  wie  die  Kometen  und  mehr 
Elend  und  Unsittlichkeit  im  Gefolge  hätten  als  früher  die  großen 
Seuchen.  Zwar  bestätigten  auch  diese  Handelsrevolutionen  das  Ge- 
setz von  Nachfrage  und  Angebot,  aber  auf  eine  sehr  andere  Weise, 
als  die  Ökonomen  es  glauben  machen  wollten.  ,,Es  ist  eben  ein 
Naturgesetz,  das  auf  der  Bewußtlosigkeit  der  Beteiligten  beruht. 
Wüßten  die  Produzenten  als  solche,  wie  viel  die  Konsumenten  be- 
dürften, organisierten  sie  die  Produktion,  verteilten  sie  sie  unter 
sich,  so  wäre  die  Schwankung  der  Konkurrenz  und  ihre  Neigung  zur 
Krisis  unmöglich."  Diese  Erwägung  führt  Engels  wieder  zu  seiner 
Grundforderung  zurück:  ,, Produziert  mit  Bewußtsein,  als  Menschen, 
nicht  als  zersplitterte  Atome  ohne  Gatlungsbewußtsein,  und  ihr 
seid  über  alle  diese  künstlichen  und  unhaltbaren  Gegensätze  hinaus. 
Solange  ihr  aber  fortfahrt,  auf  die  jetzige  unbewußte,  gedankenlose, 
der  Herrschaft  des  Zufalls  überlassene  Art  zu  produzieren,  so  lange 
bleiben  die  Handelskrisen;  und  jede  folgende  muß  universeller,  also 
schlimmer  werden  als  die  vorhergehende,  muß  eine  größere  Menge 
kleiner  Kapitalisten  verarmen,  und  die  Anzahl  der  bloß  von  der 
Arbeit  lebenden  Klasse  in  steigendem  Verhältnisse  vermehren." 
Das  aber  müsse  endlich  eine  soziale  Revolution  herbeiführen,  wie 
sie   sich   die    Schulweisheit   der    Ökonomen   nicht   träumen    lasse. 

Vielleicht  mußte  manwiderseinen  Willen  Handelsangestelltersein 
oder  gewesen  sein,  um  mit  einem  durch  Haß  aufs  äußerste  geschärften 
Blick  alle  Auswüchse  des  Handels  so  bloßlegen  zu  können,  wie 
es  Fourier  gelungen  war,  dem  Engels,  in  dieser  Hinsicht  noch  Jahre 
hindurch    unter    dem    Einfluß   des    Franzosen,    darin    nacheiferte. 


176      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

Doch  auch  auf  die  engUschen  SoziaUsten  beruft  er  sich,  wo  er  hier 
noch  einmal  in  krassen  Farben  schildert,  wie  das  ewige  Schwanken 
der  Preise  dem  Handel  vollends  die  letzte  Spur  von  Sittlichkeit 
entzieht,  wie  es  einen  jeden  zum  Spekulanten  macht,  der  durch 
den  Verlust  anderer  sich  bereichert  und  erntet,  wo  er  nicht  gesäet 
hat,  und  wie  die  entsittlichende  Wirkung  der  Konkurrenz  in  der 
Börsenspekulation  in  Fonds  ihren  Kulminationspunkt  erreicht, 
weil  hier  ,,die  Geschichte  und  in  ihr  die  Menschheit"  zum  Mittel 
herabgesetzt  werde,  um  die  Habgier  der  kalkulierenden  oder  hasar- 
dierenden  Spekulanten  zu  befriedigen.  So  stehe  es  um  die  Kon- 
kurrenz gegenwärtig.  In  einem  der  Menschheit  würdigen  Zustande 
beschränke  sich  diese  ausschließlich  auf  das  Verhältnis  der  Kon- 
sumptionskraft  zur  Produktionskraft.  Die  Aufgabe,  die  Produk- 
tionskraft mit  der  Masse  der  Konsumenten  in  ein  Verhältnis  zu 
setzen,  überläßt  Engels  wie  Owen  und  Fourier  der  Gemeinde.  Auf  eine 
generelle  Regelung  durch  den  Staat  hinzudrängen,  fällt  ihm  nicht  ein. 
Man  weiß,  daß  die  bürgerliche  Nationalökonomie  die  Krisen 
und  das  Elend  in  deren  Gefolge  aus  der  Malthusschen  Bevölkerungs- 
theorie erklären  wollte,  daß  aber  gegen  diesen  Erklärungsversuch 
von  Godwin  und  Hall  bis  Fourier  alle  jene  sich  aufgelehnt  hatten, 
die  in  dem  optimistischen  Glauben  an  die  Verbesserungsfähigkeit 
der  menschlichen  Einrichtungen  sich  nicht  damit  begnügten,  als 
naturgesetzlich  hinzunehmen,  was  ihnen  lediglich  als  Folge  einer 
fehlerhaften  Gesellschaftsordnung  erschien.  Wir  konnten  nicht 
bezweifeln,  daß  Engels  mit  seinem  aus  den  Schriften  des  englischen 
Sozialismus  neu  genährten  Vertrauen  in  die  unerschöpfliche  und 
durch  die  Fortschritte  der  Wissenschaft  auch  fernerhin  höchster 
Steigerung  fähige  Produktionskraft  der  Erde  und  mit  seinem  durch 
Feuerbach  bestärkten  Glauben  an  die  hohe  Mission,  die  der  Mensch 
auf  ihr  zu  erfüllen  hätte,  diese  ,, infame,  niederträchtige  Doktrin** 
auf  das  leidenschaftlichste  ablehnte.  Die  Malthussche  Theorie 
erscheint  ihm  ebenso  unsinnig,  ja  noch  unsinniger  wie  die  lebendige 
Absurdität,  die  in  dem  Widerspruch  von  Reichtum  und  Elend  zu 
derselben  Zeit  sich  enthülle.  Sie  bedeutet  ihm  ,,eine  scheußliche 
Blasphemie  gegen  Natur  und  Menschheit**  und  den  würdigen 
Schlußstein  des  liberalen  Systems  der  Handelsfreiheit.  Die  unermeß- 
liche Produktionsfähigkeit  brauche  ja  nur  mit  Bewußtsein  und  im 
Interesse  aller  gehandhabt  zu  werden,  und  die  der  Menschheit  zu- 
fallende Arbeit  werde  sich  bald  auf  ein  Minimum  verringern.  Mit 
der  Verschmelzung  der  jetzt  noch  isolierten  Interessen  würde  der 
Gegensatz  zwischen  Übervölkerung  und  Überreichtum  verschwin- 
den und  damit  zugleich  die  , .wahnsinnige  Behauptung"  sich  er- 
ledigen, daß  die  Erde  nicht  die  ausreichende  Kraft  hätte,  die  Menschen 


Gegen  Malthus.  lyy 

2u  ernähren.  In  dieser  Behauptung  erblickt  der  Jünger  Bruno 
Bauers  und  Feuerbachs  die  höchste  Spitze  der  „christlichen  Ökono- 
mie" ( —  ,,und  daß  unsere  Ökonomie  wesentlich  christlich  ist, 
hätte  ich  bei  jedem  Satz,  bei  jeder  Kategorie  beweisen  können 
und  werde  es  seinerzeit  auch  tun"  — ) ;  die  Malthussche  Theorie 
wird  ihm  so  schlechthin  zu  dem  ,, ökonomischen  Ausdruck  für  das 
religiöse  Dogma  von  dem  Widerspruch  des  Geistes  und  der  Natur 
und  der  daraus  folgenden  Verdorbenheit  beider".  Lange  genug 
hatte  er  mit  diesem  Dualismus  in  der  religiösen  Sphäre  gerungen, 
nicht  umsonst  an  dessen  Überwindung  durch  die  Entwicklung  von 
Strauß  bis  Feuerbach  persönlich  regsten  Anteil  genommen;  nun 
hoffte  er  mit  seinen  Umrissen  die  Nichtigkeit  des  gleichen  Wider- 
spruchs auf  ökonomischem  Gebiet  dargetan  und  der  von  der  Theorie 
zur  Verwirklichung  fortschreitenden  Menschheit  damit  einen  Dienst 
erwiesen  zu  haben.  Aber  es  hat  ihm  nicht  genügt,  die  Malthussche 
Theorie  aus  ethischen  Erwägungen  zu  verurteilen;  er  wollte  sie 
auch  ökonomisch  widerlegen,  um  zu  zeigen,  wie  sehr  gerade  sie 
dem  Sozialismus  die  stärksten  Argumente  für  seine  Forderungen 
lieferte.  Diese  Lehre  habe  der  Menschheit  ihre  tiefste  Erniedrigung 
enthüllt,  indem  sie  ihr  ihre  Abhängigkeit  vom  Konkurrenzverhältnis 
bewies  und  ihr  zeigte,  wie  das  Privateigentum  den  Menschen  zu 
einer  Ware  mache,  deren  Erzeugung  und  Vernichtung  ebenso  wie 
die  aller  anderen  Waren  von  der  Nachfrage  abhänge.  Und  diese 
Erniedrigung  der  Menschheit  sei  nur  zu  beseitigen  durch  die  Auf- 
hebung des  Privateigentums,  der  Konkurrenz  und  der  entgegen- 
gesetzten Interessen.  Vorläufig  kämpfe  noch  Kapital  gegen  Kapital, 
Arbeit  gegen  Arbeit,  Grundbesitz  gegen  Grundbesitz  und  jedes  dieser 
Elemente  gegen  die  beiden  anderen.  In  solchem  Kampfe  siegen 
müsse  der  Scärkere:  Grundbesitz  und  Kapital  seien  stärker  als  die 
Arbeit,  denn  um  zu  leben  müsse  der  Arbeiter  arbeiten,  während  der 
Grundbesitzer  seine  Renten,  der  Kapitalist  seine  Zinsen  habe. 
Die  Folge  davon  wäre,  daß  der  Arbeit  nur  das  Allernotdürftigste, 
die  nackten  Subsistenzmittel,  zufielen,  während  der  größte  Teil 
der  Produkte  sich  zwischen  dem  Kapital  und  dem  Grundbesitz 
verteile.  Nicht  weniger  überlegen  sei  das  stärkere  Kapital  und  der 
größsre  Grundbesitz  dem  geringeren  Kapital  und  dem  kleineren 
Grundbesitz.  Sie  verschlängen  jene  nach  dem  Recht  des  Stärkeren. 
Und  in  Handels-  und  Agrikulturkrisen  ginge  diese  Zentralisation 
des  Basitzes  noch  viel  rascher  vor  sich.  Wir  finden  Engels  hier 
schon  völlig  vertraut  mit  dem  zuerst  wohl  von  Sismondi  formu- 
lierten Gesetz  von  der  Einschnürung  der  gesellschaftlichen  Pyramide, 
das  nachher  im  Kommunistischen  Manifest  seinen  bedeutsamen 
Platz  erhielt.    Er  bezeichnet  es  als  ein,  wie  alle  anderen,  dem  Privat- 

May er,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  12 


1^8      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

eigentum  immanentes  Gesetz,  daß  die  Mittelklassen  immer  mehr 
verschwinden  müßten,  bis  die  Welt  nur  noch  in  Millionäre  und 
Paupers,  in  große  Grundbesitzer  und  arme  Tagelöhner  geteilt  wäre. 
„Alle  Gesetze,  alle  Teilung  des  Grundbesitzes,  alle  etwaige  Zer- 
splitterung des  Kapitals  hilft  nichts  —  dies  Resultat  muß  kommen 
und  wird  kommen,  wenn  nicht  eine  totale  Umgestaltung  der  so- 
zialen Verhältnisse,  eine  Verschmelzung  der  entgegengesetzten 
Interessen,  eine  Aufhebung  des  Privateigentums  ihm  zuvorkommt." 
Noch  einmal  faßt  er  das  Ergebnis  seiner  Anklage  zusammen: 
die  freie  Konkurrenz,  die  alle  unsere  Lebensverhältnisse  durch- 
drungen und  die  gegenseitige  Knechtschaft,  in  der  die  Menschen 
sich  jetzt  hielten,  vollendet  habe,  sei  dem  Untergang  geweiht. 
Zwar  stachele  sie  unsere  alt  und  morsch  werdende  soziale  Ordnung 
„oder  vielmehr  Unordnung"  immer  wieder  zur  Tätigkeit  auf,  aber 
bei  jeder  neuen  Anstrengung  verzehre  sie  auch  einen  Teil  der  sin- 
kenden Kräfte.  Selbst  das  moralische  Gebiet  verschone  die  Kon- 
kurrenz nicht.  Die  Regelmäßigkeit,  die  in  der  von  Quetelet  ge- 
pflegten Verbrecherstatistik  zutage  trat,  schien  Engels  zu  beweisen, 
daß  die  Gesellschaft  sogar  eine  Nachfrage  nach  Verbrechen  erzeuge^ 
und  daß  dieser  durch  eine  angemessene  Zufuhr  entsprochen  werde. 
Zu  so  tiefer  Degradation  habe  das  Privateigentum  die  Menschen 
geführt.  Ja  selbst  der  Fortschritt  der  Wissenschaft  richte  sich  unter 
den  jetzigen  Verhältnissen  gegen  die  Arbeit.  Die  letzte  große  Er- 
findung der  Baumwollspinnerei,  die  Selfacting  Mule,  habe  in  großem 
Umfang  Handarbeit  durch  mechanische  Kraft  ersetzt  und  damit 
den  letzten  Rest  von  Kraft  vernichtet,  mit  dem  die  Arbeit  noch 
den  ungleichen  Kampf  gegen  das  Kapital  ausgehalten  habe.  Das 
Argument  der  liberalen  Ökonomen,  daß  im  Endresultat  die  Aus- 
breitung der  Maschinen  dennoch  dem  Arbeiter  zugute  komme,  sei 
nicht  stichhaltig,  solange  die  Erzeugung  der  Arbeitskraft  durch  die 
Konkurrenz  reguliert  werde  und  die  durch  unsere  Zivilisation 
unendlich  gesteigerte  Teilung  der  Arbeit  den  Arbeiter  noch  ,,an 
dieser  bestimmten  Maschine  für  diese  bestimmte  kleinliche  Arbeit" 
festbanne.  Aber  die  Wirkungen  des  Fabriksystems,  von  dessen 
Unsittlichkeit  er  tief  durchdrungen  war,  gehörten  für  ihn  nicht 
mehr  in  den  Rahmen  dieser  theoretischen  Untersuchung.  An 
anderer  Stelle  gedachte  er  ,,die  Heuchelei  des  Ökonomen,  die  hier 
in  ihrem  vollen  Glänze  erscheint",  schonungslos  aufzudecken. 

Wir  wissen  von  Engels  selbst,  daß  sein  Essai  über  Carlyles 
Past  and  Present  nur  eine  allgemeine  Einleitung  zu  der  bereits  er- 
wähnten breiteren  Darstellung  der  Lage  Englands  sein  sollte, 
die  er  nach  dem  schnellen  Eingehen  der  Deutsch-Französischen 
Jahrbücher    in    dem   ebenfalls   sehr   ephemeren   Pariser   Vorwärts 


Die  Lage  Englands.  lyg 

Teröffentlicht  hat.  Aber  auch  zu  seiner  Kritik  der  Nationalökono- 
mie stehen  diese  Aufsätze,  die  an  einem  historischen  Paradigma 
die  Richtigkeit  der  dort  gezogenen  Schlüsse  erhärten  sollten,  in 
einem  so  engen  Zusammenhang,  daß  sich  ihre  wichtigsten  Ergeb- 
nisse, soweit  sie  nicht  schon  früher  in  die  Darstellung  verwoben 
wurden,  ihnen  passend  anschließen.  Wir  bemerkten  schon  früher, 
wie  stark  es  Engels  im  Anfang  beunruhigte,  als  sich  ihm  die  Beobach- 
tung aufdrängte,  daß  scheinbar  ganz  andere  Kräfte  als  auf  dem 
Kontinent  in  England  das  geschichtliche  Leben  beherrschten, 
wie  er  aber  der  immanenten  Vernunft  der  Geschichte  zu  fest  ver- 
traute, als  daß  er  diese  erste  empirische  Feststellung  gleich  für  die 
ganze  Wahrheit  genommen  hätte.  Unruhig  bohrte  er  also  dialektisch 
und  forschte  er  historisch  so  lange,  bis  sich  ihm  dieser  Wider- 
spruch aufzuhellen  begann.  Da  ergab  sich  ihm  etwa  folgendes: 
Bisher  hätte  nur  England  eine  soziale  Geschichte  besessen.  Nur 
hier  hätten  sich  die  Prinzipien  bereits,  bevor  sie  auf  die  Geschichte 
Einfluß  erlangen  konnten,  in  Interessen  verwandelt.  Während  auf 
dem  Kontinent  das  soziale  Element  noch  unter  dem  politischen 
vergraben  bliebe,  wäre  in  England  bereits  alle  Politik  vom  sozialen 
Element  beherrscht  und  erschiene  bloß  deshalb  noch  im  politischen 
Gewände,  weil  man  vorläufig  über  den  Staat  noch  nicht  hinaus- 
gekommen sei.  Der  größte  Teil  Frankreichs  und  besonders  Deutsch- 
lands befände  sich  noch  in  einem  Zustande  sozialer  Kindheit,  wo  es 
,,noch  keine  Gesellschaft,  noch  kein  Leben,  kein  Bewußtsein,  keine 
Tätigkeit"  gebe.  England  habe  diesen  Zustand,  bei  dem  mehr  das 
politische  Movens,  der  Zwang,  als  das  soziale  Movens,  das  Interesse, 
die  Menschen  zusammenhalte,  überwunden  seit  dem  Auftreten  des 
modernen  Industriefeudalismus,  der  die  Spaltung  der  Gesellschaft 
in  Besitzer  und  Nichtbesitzer  herausbildete.  Damit  verwandelte  sich 
alsbald  alle  innere  Politik  in  „versteckten  Sozialismus".  Das  sei 
nämlich  die  Form,  welche  die  sozialen  Fragen  annehmen,  um  in 
allgemeiner  nationaler  Weise  sich  geltend  machen  zu  können. 
Die  soziale  Revolution  habe  das  subjektive  Interesse,  das  der  aus 
den  Ruinen  des  Feudalismus  erwachsene  christliche  Staat  zum 
allgemeinen  Prinzip  erhob,  endgültig  zum  Herrscher  gemacht.  Die 
von  Rechts  wegen  der  ganzen  Menschheit  gehörenden  neu  ge- 
schaffenen Kräfte  wurden  durch  das  Privateigentum  das  Monopol 
weniger  reicher  Kapitalisten  und  damit  das  Mittel  zur  Knechtung 
der  Masse.  Die  neue  Herrschaft  mußte  sich  notwendig  zuerst  gegen 
den  Staat  wenden  und  diesen  auflösen  oder  wenigstens,  da  er  ihr 
unentbehrlich  blieb,  aushöhlen.  Adam  Smith  reduzierte  die  Politik, 
die  Parteien,  die  Religion,  alles  auf  ökonomische  Kategorien,  und 
erkannte  damit  das  Eigentum  als  das  Wesen,  die  Bereicherung  als 

12* 


i8o      Die  Arbeiten  aus  der  Zeit  des  ersten  englischen  Aufenthalts. 

den  Zweck  des  Staates  an.  Nach  ihm  zog  Godwin  die  Notwendig- 
keit des  Staates  selbst  in  Zweifel,  und  Bentham  ging  so  weit,  an  Stelle 
des  freien,  selbstbewußten  und  selbstschaffenden  Menschen  dem 
rohen,  blinden,  in  den  Gegensätzen  befangenen  Menschen  die  Rechte 
der  Gattung  zu  geben.  Damit  aber  vollendete  sich  der  alte,  christ- 
liche, naturwüchsige  Weltzustand:  der  Widerspruch  erreichte  seine 
höchste  Spitze,  auf  der  er  nicht  lange  beharren  werde.  Sei  erst 
mit  der  siegreichen  Durchführung  der  Volkscharte  die  arbeitende 
Demokratie  zur  Herrschaft  gelangt,  so  könne  die  Krisis,  die  den 
christlichen  Weltzustand  vernichte,  nicht  mehr  lange  ausbleiben; 
dann  werde  der  selbstbewußte  Mensch  sich  in  voller  Freiheit  seine 
Welt  schaffen. 

Dem  Staat  sprach  Engels  bei  der  Verwirklichung  dieses  seines 
Zukunftsideals,  dem  er  mit  warmer  Gläubigkeit  anhing,  wie  noch- 
mals mit  Nachdruck  betont  sei,  eine  Mission  nicht  zu.  An  der  Hoch- 
wertung dieser  Institution  hat  er  sich,  wohl  selbst  unter  den  Jung- 
hegelianern in  Berlin,  niemals  aus  vollem  Herzen  beteiligt.  Weder 
der  absolute  preußische  Staat ,  der  zu  seiner  Jugend  im  Rheinland 
halb  als  Fremdherrschaft  empfunden  wurde,  noch  der  plutokratische 
Stadtstaat  Bremen,  dessen  oligarchische  Organisation  er  so  scharf 
kritisierte,  noch  endlich  jetzt  der  Klassenstaat,  den  er  in  England 
vorfand,  hatten  in  ihm  Begeisterung  wecken  können.  Und  mit 
dem  Geist  der  Antike,  der  vorübergehend  den  jungen  Marx  und  der 
dauernd  Lassalle  in  Hegels  Ausprägung  an  das  Staatsideal  glauben 
hieß,  hatte  der  junge  Geschäftsmann,  dem  nur  in  Mußestunden  die 
Wissenschaft  offen  stand,  sich  niemals  tiefer  erfüllt.  So  glaubte  er 
jetzt  wie  Proudhon  an  die  ,,Unvollkommenheit  oder  vielmehr 
Unmenschlichkeit  aller  Staatsformen".  Aber  zu  dem  Schluß,  daß 
der  Staat,  die  ,, Ursache  aller  Unmenschlichkeiten",  selbst  ,, un- 
menschlich" sei  und  verschwinden  werde,  drängte  ihn  wohl  doch 
am  stärksten  eine  aus  dem  Studium  der  englischen  Vergangenheit 
und  Gegenwart  gewonnene  Erkenntnis,  die  er  in  Gedanken  bereits 
verallgemeinerte:  in  England  wären  der  Staat  und  alle  seine  Institu- 
tionen Werkzeuge  in  den  Händen  der  besitzenden  Klasse  zur  Unter- 
drückung der  besitzlosen  geworden.  Vielleicht  am  frühesten  und  am 
deutlichsten  hatte  sich  ihm  diese  Erfahrung  an  der  Rechtsprechung 
enthüllt.  D2r  Ausgang  der  zahlreichen  Prozesse  gegen  die  an  dem 
Generalstreik  von  1842  beteiligten  Chartistenführer  hatte  ihm 
nämlich  handgreiflich  bewiesen,  daß  der  Arme  keineswegs  von 
seinesgleichen,  sondern  in  allen  Fällen  von  seinen  geborenen  Feinden 
gerichtet  wird  (,,denn  in  England  sind  die  Reichen  und  Armen 
in  offenem  Krieg").  Er  hatte  begriffen,  daß  eine  unparteiische  Jury 
ein  Unding  sei,  und  er  glaubte  durchschaut  zu  haben,  daß  das  Ge- 


England  ein  Klassenstaat.  l8i 

schworenengericht,  wie  alles  juristische  Wesen,  keine  juristische 
sondern  eine  politische  Institution  wäre.  Nun  war  er  überzeugt, 
daß  unter  der  Herrschaft  des  Besitzes  die  „ganze  Welt  der  gesetz- 
lichen Barbarei"  auf  den  Proletariern  laste,  während  zugunsten 
,, respektabler"  Verbrecher  die   Legislatur  sich  einmische. 

Wir  sahen  schon:  die  ganze  Verfassung,  die  ganze  öffentliche 
Meinung  Englands  erschienen  diesem  unerbittlichen  Kritiker  als 
ein  Gewebe  von  offener  und  versteckter  Lüge.  Einem  solchen  Zu- 
stand konnte  Dauer  nicht  innewohnen.  Der  Kampf,  der  ihn  be- 
seitigen würde,  habe  begonnen,  die  nächste  Zukunft  Englands  ge- 
hörte der  Demokratie,  nicht  mehr  der  rein  politischen,  die  gesell- 
schaftliche Übel  nicht  zu  heilen  vermöge,  sondern  einer  sozialen 
Demokratie.  Der  Kampf  der  Armen  gegen  die  Reichen  könne 
nicht  auf  dem  Boden  der  Demokratie  oder  der  Politik  überhaupt 
ausgekämpft  werden.  Ein  neues  Element,  ein  über  alles  politische 
Wesen  hinausgehendes  Prinzip,  entwickele  sich:  ,,das  Prinzip  des 
Sozialismus". 

So  pflanzte  Engels  im  Jahre  1844  die  Fahne  der  Sozialdemokratie 
auf.  Er  verließ  im  August  England  im  Besitz  einer  solchen  Fülle 
von  Einsicht  in  den  Zusammenhang  von  Staat  und  Klasse,  einer  so 
reichen  Anschauung  von  den  sozialen  Wirkungen  der  industriellen 
Revolution,  eines  so  scharfen  Verständnisses  für  die  Zukunfts- 
perspektiven, die  der  siegreiche  Kapitalismus  in  seinem  Schöße  barg, 
daß  ihm  auf  dem  Kontinent  kaum  ein  anderer,  sicherlich  niemand 
aus  dem  Kreise  seiner  engeren  Gesinnungsgenossen,  an  Kenntnis 
und  Verständnis  dieser  sich  dort  erst  langsam  herausbildenden 
Zusammenhänge  gleich  kam.  Nicht  zwei  Jahre  waren  es  her,  daß 
er,  ,,ein  milchbärtiger  ausgelassener  Junge"  in  dem  zügellosen 
Kreise  der  Freien  sein  tolles  Wesen  getrieben  hatte.  Die  ernsteren 
Männer,  die  ihm  dort  begegnet  waren,  scheinen  recht  verwunderte 
Gesichter  gezogen  zu  haben,  als  ihnen  jetzt  seine  genialen  Beiträge 
in  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  unter  die  Augen  kamen. 
Der  kluge  Berliner  Arzt  Dr.  Julius  Waldeck  schrieb  damals  seinem 
Vetter  Johann  Jacoby  in  Königsberg:  ,, Engels  hat  an  sich  selbst 
ein  wahres  Wunder  vollbracht,  wenn  man  die  Gereiftheit  und  Männ- 
lichkeit seiner  Gedanken  und  seines  Stils  gegen  sein  vorjähriges 
Wesen  hält."  Der  einsichtige  Beobachter  hatte  sich  nicht  ge- 
täuscht. So  übermütig  sein  rheinisches  Temperament  auch  weiter- 
hin schäumte,  der  Jüngling  war  zum  Mann  geworden.  Und  als  einer, 
der  seinen  Lebensweg  fest  gewählt  hatte  und  die  Aufgabe,  der  er  an- 
gehörte, fortan  kannte,  durfte  er  dem  Größeren  entgegentreten, 
dem  er  der  unentbehrliche  Kampfgenosse  und  der  ihm  der  Lebens- 
gefährte und  darüber  noch  hinaus  sein  Schicksal  wurde. 


Kapitel  VIII. 

Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der 
arbeitenden  Klasse  in  England.  —  Kommu- 
nismus in  der  Heimat. 

Engels  verließ  Manchester  an  einem  der  letzten  Augusttage  des 
Jahres  1844,  um  in  die  Heimat  zurückzukehren.  Diesmal  nahm 
er  den  Weg  übsr  Paris.  Nach  dem  langen  Verweilen  unter  dem 
„schrecklich  bleiernen  Himmel"  in  der  rauchigen  Luft  Lancashires 
erfrischte  das  farbsnfrohe  Treiben  der  Boulevards  seinen  für  jeden 
heiteren  Genuß  so  empfänglichen  Sinn.  Aber  zum  Erlebnis  dieses 
zehntägigen  Aufenthalts  wurden  ihm  nicht  die  Zerstreuungen  der 
frivolen  Stadt,  so  zugänglich  er  diesen  sein  mochte,  auch  nicht  die 
Bakanntschaft  mit  Bakunin,  Barnays,  Ewerbeck,  so  heitere  Stunden 
er  mit  diesen  fröhlichen  Gesellen  verlebte,  nicht  der  erste  Besuch 
jener  Stätten,  die  Babsufs,  Marats,  Robespierres  Geister  ihm 
lebendig  herauf bsschworen,  sondern  einzig  das  Bündnis  mit  Karl 
Marx,  das  er  in  diesen  Tagen  einging.  Jetzt  erst  kam  den  beiden 
Landsleuten,  die  sich  nun  so,  wie  sie  wirklich  waren,  kennen  lernten, 
zum  vollen  Bewußtsein,  wie  wundervoll  sie  einander  ergänzten, 
und  daß  in  diesen  Jahren,  wenn  auch  durch  getrennte  Gefilde,  ihre 
geistige  Entwicklung  die  gleiche  Richtung  genommen  hatte.  Mit 
staunender  Freude  nahmen  sie  wahr,  daß  sie  fortan  Hand  in  Hand 
den  gleichen  Weg  würden  wandern  können,  weil  sie  über  das  Ziel, 
das  winkte,  wie  über  die  Mittel,  es  zu  erreichen,  jeder  unabhängig 
vom  anderen,  zu  übereinstimmenden  Ergebnissen  gelangt  waren. 
Nahe  und  ferne  Aufgaben  türmten  sich  damals  vor  diesen  beiden 
Bahnbrechern  des  deutschen  Kommunismus  in  unabsehbarer  Fülle 
auf;  sie  begriffen,  daß  sie  diese  höchstens  in  gemeinsamem  Schaf  fen 
zu  bewältigen  hoffen  konnten,  weil  dazu  eine  Verbindung  von 
Fähigkeiten  und  Kenntnissen  erforderlich  war,  die  jeder  von  ihnen 
für  sich  nicht  besaß.  Freilich  konnte  dies  Bündnis,  das  die  hochgemute 
Kraftfülle  ihrer  entfalteten  Jünglingsjahre  einging,  seine  Früchte 
nur  tragen,  wenn  es  als  ein  dauerndes  sich  bewährte.  Freundschaften 


Engels  in  Paris.  X83 

schließt  man  niemals  auf  Frist,  aber  nur  die  wenigsten  widerstehen 
dem  Gesetz  der  Veränderung,  das  diese  Welt  regiert.  Nicht  das  ist 
auffällig,  daß  die  beiden  die  Verbindung  zum  Lernen  und  Kämpfen, 
die  sie  eingingen,  sich  vom  ersten  Tage  ab  als  eine  endgültige  vor- 
gestellt haben,  das  Bewundernswerte  ist,  daß  dieses  Bündnis  zweier 
großer  Persönlichkeiten  über  allen  Wechsel  der  Jahre  und  Jahr- 
zehnte stand  hielt,  das  Beispiellose,  daß  ihr  Lebenswerk  zu  einer 
organischen  Einheit  zusammenwuchs  so  restlos,  so  vollkommen, 
wie  vielleicht  nie  zuvor  das  zweier  zeugenden  Geister! 

Ein  und  ein  halbes  Jahr  älter  als  Engels  war  Marx,  ebenfalls 
ein  Kind  der  Rheinlande,  im  krummstabbeherrschten  Trier  als  der 
Sohn  eines  aus  liberalem  Kulturempfinden  vom  Judentum  zum 
Protestantismus  übergetretenen  Anwalts  aufgewachsen.  Von  den 
väterlichen  wie  von  den  mütterlichen  Ahnen  her  steckte  eine  sitzende, 
über  die  Bücher  gebeugte  Lebensweise  ihm  im  Blut.  Die  Vorfahren, 
schriftgelehrte  Rabbiner,  hatten  nach  altem  Brauch  jene  Art  des 
„Lernens"  und  Forschens  betrieben,  die  dem  Verstand  eine  un- 
gemeine Schärfe  verleiht  und  die  Kraft  der  Dialektik  öfter  bis  ins 
Virtuosenhafte  steigert.  Während  man  in  dem  Barmer  Kaufmanns- 
hause, wo  Engels  aufwuchs,  die  politischen  Dinge  vorwiegend  von 
einem  nüchternen  Nützlichkeitsstandpunkt  aus  betrachtete,  ver- 
nahm Marx  von  seinem  hochgesinnten  Vater,  in  der  Rheinprovinz 
damals  eine  Seltenheit,  ein  warmes  Bekenntnis  zur  fridericianischen 
Monarchie.  Noch  aber  schlummerte  das  politische  Interesse  in  dem 
frühreifen  Jüngling,  dessen  ungewöhnliche  Gaben  sich  rasch  jedem 
enthüllten,  der  ihm  auf  seinem  Wege  begegnete.  Und  nur  ein 
unersättlicher  Wissensdrang  beherrschte  mit  dämonischer  Kraft 
diesen  Geist,  der  in  tragischen  Erschütterungen,  von  seinem  Dämon 
gepeitscht,  um  eine  Weltanschauung  rang.  Konnte  ihm  diese  die 
Jurisprudenz  gewähren,  die  er,  einem  in  jeder  Hinsicht  hoch- 
stehenden Mädchen  frühzeitig  fürs  Leben  verpflichtet,  als  Brot- 
studium gewählt  hatte  ?  Durch  nichts  auf  der  Welt  hätte  er  sich 
abhalten  lassen,  tief  in  die  philosophischen  Lehren  der  großen 
Kulturepochen  unterzutauchen,  um  die  Perle  heraufzuholen,  nach 
der  er  mit  titanenhaftem  Trotz  unermüdlich  suchte.  Erst  als  es  ihm 
nicht  glückte,  aus  eigener  Kraft  die  Weltanschauung  aufzubauen,  die 
ihn  befriedigen  konnte,  kapitulierte  er  vor  Hegel.  Ähnliche  Ge- 
fühle, ähnliche  geistige  Bedürfnisse  wie  den  jungen  Engels  machten 
auch  ihn  dem  weltumspannendsten  Denker  der  Epoche  untertänig: 
das  Bedürfnis,  im  Wirklichen  selbst  die  Idee  zu  finden,  dem  quälen- 
den Dualismus  der  Welt  der  Werte  und  der  Welt  des  Geschehens 
ein  Ende  zu  machen. 

Dem  Lebensweg  des  jungen  Marx  im  einzelnen  zu  folgen,  darf 


184     Da3  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

uns  nicht  Aufgabe  werden:  von  1836  bis  1841  hat  er  dem  gleichen 
Kreise  angehört,  in  den  bald  nach  seinem  Scheiden  Engels  ein- 
getreten war.  Wir  wissen,  daß  er  hier  als  der  gleichberechtigt 
Mitstrebende  Bruno  Bauers  und  Köppens  schon  galt,  als  er  außer 
ein  paar  Gedichten  noch  keine  Zeile  hatte  drucken  lassen.  Seine 
Gedichte,  unbeholfener,  schwerfälliger  als  die  Engelsschen,  literarisch 
wertlos,  verdienen  Beachtung  nur  als  Schlüssel  zu  dem  instinktiven 
Leben  eines  sonst  seine  Gefühle  mit  mächtiger  Intelkktualität 
gleich  zu  Gedanken  verdichtenden  Genius.  Das  Gleichnis  für  seinen 
jugendlichen  Tatendrang  hatte  Engels  in  dem  von  den  Bergen 
herabbrausenden  Wildbach,  sein  eigenes  Ebenbild  in  dem  lichten 
Nibelungenhelden  gesucht.  Marx  verwandter  ist  der  Sturm,  der  rast- 
los braust  und  selbst  nicht  weiß,  ob  er  zerstört  oder  schafft,  er  er- 
innert an  Faust  und  Ahasverus,  niemals  an  Jungsiegfried.  Engels 
kam  sich  schon  fast  geborgen  vor,  als  er  aus  der  pietistischen  Stick- 
luft der  Heimat  Anschluß  an  die  spekulative  Theologie  und  Philoso- 
phie gefunden  hatte.  Ihn  befriedigte  es  schon,  auf  den  von  der 
Lokomotive  Zeitgeist  fortgeschleppten  Eisenbahnzug  aufgesprungen 
zu  sein  und  sich  nun  eine  Strecke  mitnehmen  zu  lassen,  er  empfand 
nicht  den  Beruf  in  sich  ,,dem  Zeitgeist  einen  Tritt  nach  dem  andern" 
zu  geben,  ,, damit  er  besser  vorankäme".  Marx  hingegen  ringt  mit 
dem  Zeitgeist  wie  Jakob  mit  dem  Engel  Angesicht  zu  Angesicht. 
Langsam  geht  bei  ihm  die  Arbeit  vor  sich  und  unter  schweren 
Wehen  kommt  sie  zustande,  denn  sein  Denken  bohrt  tief,  weil  es 
niederreißend  und  aufbauend,  souverän  und  schöpferisch  mit  dem 
Stoffe  schaltet.  Engels  ist  von  Natur  praktischer  und  von  schnellerem 
Orientierungsvermögen,  aber  ohne  gründlichere  philosophische 
Durchbildung  und  dialektische  Originalität.  Mit  feinem  Instinkt 
für  das,  was  in  der  Luft  lebt,  findet  er  aus  dem  fertigen  Stoff  die 
verwendbaren  Elemente  heraus  und  weiß  damit  neue  Zusammen- 
hänge herzustellen.  Deutlich  spiegelt  sich  ihre  verschiedene  Art, 
die  geistigen  Probleme  zu  meistern,  in  der  Verschiedenheit  ihres 
Stils.  Een  Sätzen,  die  Engels  schreibt,  merken  wir  an,  daß  er  sie, 
ohne  lange  mit  dem  Gedanken  oder  dem  Ausdruck  gekämpft  zu 
haben,  rasch  und  hemmungslos  aufs  Papier  geworfen  hat:  flüssig, 
elegant,  klar  und  durchsichtig  hingesetzt,  vermögen  sie,  gefällig 
und  leicht  verständlich,  vollkommen  und  restlos  auszudrücken» 
was  der  Verfasser  in  sie  hineinzulegen  wünschte.  Die  Sonnen- 
strahlen eines  gesunden  Humors  durchleuchten  seine  Briefe  und 
durchschmeicheln  sogar  seine  Polemik;  in  den  Schriften  der  Frühzeit 
mangelt  es  selbst  nicht  an  phantasiebewegten,  an  poetisch  kraft- 
vollen Satzgebilden.  Bei  Marx  dagegen  verraten  die  Perioden,  wie 
schon  Koppen  richtig  bemerkt  hat,   daß  ein  ganzes  Magazin  von 


Karl  Marx.  185 

Gedanken  in  sie  ausströmen  will;  sie  lassen  erkennen,  daß  die  un- 
geheure Ernte,  die  er  einfahren  möchte,  noch  reicher  ist  als  alle 
jene  Satzscheunen,  die  sie  bergen  wollen.  Den  unwiderstehlichsten 
Reiz  verleiht  es  seiner  glänzenden,  epigrammatisch  zugespitzten 
Diktion,  daß  die  scharfen,  reliefartig  wirkenden,  im  Gedächtnis 
haftenden  Satzbilder,  in  die  er  seine  Gedanken  prägt,  stets  un- 
gezwungen, wenn  auch  nicht  unerkämpft  dem  Dunkel  der  eigenen 
dialektischen  Werkstatt  entsteigen  und,  so  geii>treich  sie  wirken, 
niemals  bloßer  schriftstellerischer  Aufputz  bleiben.  Auch  die  Anti- 
thesen, in  denen  er  zu  schwelgen  liebt,  sollen  nur  die  neuen,  in 
mühevoller  Gedankenarbeit  heraufgeholten  Ergebnisse  mit  fest 
zupackenden  Klammern  halten,  um  sie  dem  Schreiber  wie  dem 
Leser  zum  dauernden  Besitz  zu  machen.  Die  glänzenden,  öfters 
schwerfälligen,  nur  selten  dunklen  Perioden,  die  sich  bei  ihm  ab- 
wechseln, dampfen  noch  förmlich  von  dem  heißen  Kampf,  der  ihrer 
Niederschrift  vorausgegangen  ist. 

So  verschieden  wie  der  Stil,  so  verschieden  waren  die  Männer! 
D=r  Gegensatz  zeigt  sich  gleich  in  ihrem  Familiengefühl:  bei  Engels 
äußerte  es  sich  naturhaft  und  reflexionslos,  während  wir  es  bei 
dem  jungen  Marx  noch  von  der  historisch  so  begreiflichen  Über- 
zärtlichkeit jener  Generation  deutscher  Juden  angehaucht  finden. 
Überhaupt  war  Engels  in  jeder  Hinsicht  der  Unnervösere,  der 
seelisch  Gleichmäßigere,  der  körperlich  und  geistig  Elastischere, 
der  Unkompliziertere,  Harmonischere,  sonniger  Veranlagte  von 
beiden.  Wie  oft  hat  er  den  hemmungsreicheren  Freund  gescholten, 
daß  er  sich  von  seiner  Stimmung  ,, maßregeln"  ließe,  daß  er  nie  zum 
Abschluß  käme,  daß  er  sich  selbst  nie  Genüge  täte.  Unbeugsame 
Zähigkeit,  seltene  Widerstandsfähigkeit  und  Beharrlichkeit,  eine  un- 
erschöpfliche Arbeitskraft  und  Arbeitslust  waren  ihnen  beiden  eigen. 
Und  nicht  minder  entschieden  begegneten  ihre  Naturen  sich  in  der 
ungeheuren  Sachlichkeit,  der  grenzenlosen  Hingabe,  dem  mächtigen 
Ernst,  der  rücksichtslosen  Ehrlichkeit,  der  fanatischen  Unduldsam- 
keit, dem  unbezähmbaren  Widerwillen  gegen  unechten  Schein  und 
persönliche  Eitelkeit,  womit  sie  die  Sache  betrieben,  zu  deren 
Dienst  sie  sich  verbunden  hatten.  Auch  in  der  Ablehnung  alles 
Irrationalen,  in  der  Feindschaft  gegen  die  Romantik,  in  der  Pietät- 
losigkeit  gegen  das  Hrkommen,  in  der  Abneigung  gegen  Schwär- 
merei und  das  Zurschaustellen  gefühlsmäßiger  Erlebnisse  waren 
sie  eines  Sinnes.  Das  erkennen  wir  auch  aus  ihrem  Briefwechsel, 
der  für  den  Biographen  von  nun  ab  zu  einer  wichtigen  Quelle  wird. 
Der  saloppe,  kraftgenialische  Ton,  auf  den  ihr  schriftlicher  Ge- 
dankenaustausch dauernd  gestim.mt  blieb,  entsprach  am  besten 
der  mit  männlicher  Härte,  mit  Rücksichtslosigkeit  gegen  sich  und 


x86     Ds^  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

andere    gepaarten    seelischen    Schamhaftigkeit,    die    ihnen    beiden 
eignete. 

In  einem  dieser  Briefe  beruft  sich  Engels  einmal  auf  seine 
dem  Freunde  „bekannte  Trägheit  en  fait  de  theorie",  die  sich 
bei  dem  inneren  Knurren  seines  besseren  Ich  beruhige  und  der 
Sache  nie  auf  den  Grund  gehe.  Engels  gehörte  zu  den  Menschen, 
die  über  sich  Bescheid  wußten.  So  sehr  es  ihm  Bedürfnis  war, 
die  politische,  soziale  und  kulturelle  Vielgestaltigkeit  des  geschicht- 
lichen Lebens  unter  einem  großsn  bewegenden  Gesichtspunkte 
im  Zusammenhange  zu  empfinden,  so  wenig  besaß  er  doch  von 
Hause  aus  die  Fähigkeit  zur  systematischen  Durchführung  und 
die  Neigung  zur  Ausgestaltung  solcher  Gedanken.  Daß  er  bei 
Marx  diese  ungeheure  Begabung  zur  Synthese,  die  ihm  abging, 
vorfand,  hat  ihn  diesem  tributpflichtig  gemacht:  er  selbst  konnte 
Bausteine  liefern,  wohl  auch  beim  Zeichnen  des  Grundrisses  helfen, 
niemals  aber  hätte  er  das  Gebäude  aufrichten  können,  in  dem  zu 
wohnen  ihm,  dem  geistige  Obdachlosigkeit  immer  verhaßt  blieb, 
stärkstes  Bedürfnis  war.  Wilhelm  Liebknecht,  der  Engels  so  gut 
gekannt  hat,  rühmt  den  scharfen  Blick  seines  hellen  blauen  Auges. 
Wir  kennen  schon  seinen  angeborenen  Jagdhundinstinkt,  der  rasch 
zupackend  das  Wesentliche  erfaßte  und  nicht  losließ,  diesen  wunder- 
bar schnellen  und  beweglichen  Orientierungssinn,  der  dem  halben 
Autodidakten  als  sicherer  Kompaß  zwischen  allen  Geistesströmun- 
gen der  Zeit  hindurch  den  Weg  wies  und  ihn  stets  gerade  in  den 
Hafen  führte,  wo  eben  die  Ladung  harrte,  die  sein  Gedankenschiff 
als  Fracht  verlangte.  Sicher  und  selbständig  wußte  er  immer  und 
überall  das  Brauchbare  sich  anzueignen,  das  für  ihn  Wertlose  ab- 
zustoßen. Doch  dieses  Ausscheiden  und  dieses  Aneignen  vollzog  sich 
ursprünglich  bei  ihm  instinktiv,  intuitiv;  der  Zwang  zu  polemischer 
Auseinandersetzung  mußte  sich  erst  von  außen  oder  auch  von 
innen  her  seiner  bemächtigt  haben,  um  ihn  zu  vollbewußter  ver- 
standesmäßiger Kritik  aufzurütteln.  Aber  selbst  dann  wurde  die 
Kritik  ihm  nur  selten  zu  dem  Steuer,  das  sein  Schiff  vorwärts  trieb; 
die  eigentlichen  Entscheidungen  waren  schon  in  einer  unmittel- 
bareren, vielleicht  unbewußten  Sphäre  früher  gefallen.  Galt  es  jedoch 
zu  kritisieren,  dann  stand  er  seinen  Mann  wie  nur  einer  und  führte 
seine  Klinge  voll  Lust  und  Geschick.  Dabei  war  er  aber  dann  mehr 
Polemiker  als  eigentlicher  Kritiker:  kämpfen  war  ihm  Leiden- 
schaft, von  der  Rauflust  der  alten  Germanen  besaß  er  sein 
reichliches  Erbteil.  Im  Leben  konnte  er  durch  die  Schärfe 
seines  Urteils  andere  verletzen,  Duellforderungen  ist  er  in  seinen 
jungen  Jahren  nicht  aus  dem  Wege  gegangen.  Und  auch  noch 
späterhin  galt  der  , .General",  der  militärische  Studien  mit  Leiden- 


Engels  und  Marx,  die  Persönlichkeiten.  187 

Schaft    trieb,    den    Freunden    als    der    Carnot    einer    kommenden 
deutschen  Revolution. 

Eigentliche  Reflexion  lag  Engels  wenig  trotz  seiner  pietistischen 
Erziehung.  Mit  seinem  frischen  Draufgängertum,  seinem  beweg- 
lichen, nicht  selten  zu  voreiligen  Schlüssen  geneigten  Geist,  seiner 
auf  Anschauung  eingestellten  Art  des  Erlebens,  fühlte  er  sich 
wohler  bei  einer  an  Geschehenes  oder  Erlebtes  anknüpfenden  Art 
der  Produktion  und  bei  einer  halb  improvisierten  und  deshalb 
stürmisch  auf  das  Resultat  hindrängenden  Untersuchungsweise 
als  bei  Studien,  die  langen  Atem,  strenge  Abstraktion  und  systema- 
tische Durchdringung  weitschichtiger  wissenschaftlicher  Gredanken- 
reihen  erheischten.  Dies  gerade,  worauf  er  verzichtete,  weil  ihm 
am  Anregen  mehr  lag  als  am  Ausführen,  war  Marxens  Stärke. 
So  Großes  auch  für  Engels  die  Bücher  bedeuteten,  in  Bibliotheken 
sich  einzunisten  und  dort  die  Stützen  für  die  theoretische  Sicherung 
seiner  Gesellschafts-  und  Geschichtsauffassung  mühselig  zusammen- 
zusuchen, hätte  seinem  Naturell  nicht  gelegen;  gemäßer  war  ihm, 
nach  Menschen  Umschau  zu  halten,  von  denen  er  lernte  und  An- 
knüpfungen zu  suchen,  Verbindungen  herbeizuführen,  die  der 
Sache,  die  ihm  heilig  war,  förderlich  werden  sollten.  Aber  wie 
seinem  schlanken  biegsamen  Leib  der  Drang  nach  Bewegung  inne- 
wohnte, wie  selbst  grimmige  soziale  und  politische  Gegnerschaft 
den  leidenschaftlichen  Reiter  und  Jäger,  der  er  war,  nicht  abhielt, 
an  den  Fuchsjagden  der  englischen  Gentry  regelmäßig  teilzunehmen, 
sowenig  scheute  er  sich,  bei  Gelegenheit  auch  „auf  das  sehr  kupierte 
Terrain  des  abstrakten  Denkens  parforce  jagen"  zu  gehen.  Doch 
lieber  beschränkte  er  sich  auch  im  Geistigen  auf  die  Übung  seiner 
praktischen  Fähigkeiten,  die  ihm  von  den  Vorfahren  her  im  Blute 
lagen.  Und  mit  gutem  Gewissen  glaubte  er  sich  auf  dieses  Feld 
seiner  eigentlichen  Bsgabung  beschränken  zu  dürfen,  seitdem  ihm 
das  Schicksal  in  dem  bücherverschlingenden,  körperlicher  Bewegung 
abholden  Marx  den  Gefährten  geschenkt  hatte,  der  in  vollendetem 
Maße  jene  Gaben  besaß,  die  bei  ihm  selbst  nicht  hinreichend  aus- 
gebildet waren,  so  gebieterisch  sein  Werk,  sein  Plan,  seine  Aufgabe 
sie  erforderten. 

Die  Leichtigkeit,  mit  der  Engels  sich  jeden  Wissensstoff  an- 
eignen konnte,  darf  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  daß  nur  seine 
bewundernswerte  Gabe,  jede  Stunde  zu  nützen,  seine  ungewöhnliche 
geistige  Geräumigkeit  und  Elastizität  ihm  gestattet  hatten,  aus  sich 
eine  geistig  produktive  Persönlichkeit  zu  machen.  Doch  darf  sie  uns 
auch  nicht  übersehen  lassen,  daß  ein  gewisser  Dilettantismus,  den 
er  auf  manchem  Gebiet,  zumal  in  der  Philosophie,  niemals  ganz 
überwunden  hat,  eine  Folge  seines  unregelmäßigen  Bildungswegs 


l88     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

war.  Aber  selbst  wenn  er  Zeit  und  Gelegenheit  gehabt  hätte,  sich 
philosophischen  Studien  ausgiebiger  hinzugeben,  würde  seine 
eigentliche  Begabung  sich  nicht  just  im  Rfiche  des  abstrakten 
Dankens  entfaltet  haben.  Die  Schöpferkraft  eines  Marx  besaß 
Engels  nicht  und  niemals  hätte  er  wie  jener  selbständig  die  von 
einer  voraufgegangenen  Generation  herüberkommenden  Erkenntnis- 
massen aufzulösen  und  neu  zu  binden  vermocht.  Es  lag  schon  richtige 
Selbstbescheidung  darin,  daß  er  von  früh  an  das  Bedürfnis  empfun- 
den hatte,  einen  Piloten  an  Bord  zu  nehmen,  wenn  Geist  und  Seele 
neue  Küsten  suchten.  So  sichere  Witterung  er  für  die  Richtung 
hatte,  so  wenig  traute  er  sich,  wenn  er  allein  am  Steuer  stand. 
Wir  erinnern  uns,  wie  er  nach  einem  , »getreuen  Eckart"  Aus- 
schau hielt:  nach  Strauß  und  nach  Börne  hatte  er  sich  He  gel  anver- 
traut; wie  er  endlich  Feuerbach  fand,  fühlte  er  sich  geistig  schon 
stark  genug,  um  über  die  Grenzen  dieses  ungeselligen  Denkers 
selbständig  hinauszudrängen.  Dabei  stieß  er  auf  Marx,  der  gerade 
dasselbe  unternahm;  er  schließt  sich  diesem  freudig  an  und  be- 
gnügt sich  hinfort,  das  zu  tun,  wozu  er  ,, gemacht  war,  nämlich 
zweite  Violine  zu  spielen",  zufrieden  eine  gute  erste  gefunden  zu 
haben  und  neben  ihr  sich  zu  halten.  Ob  er  niemals  für  sich  Höheres 
erstrebt,  ob  er  zuzeiten  unter  diesem  Verhältnis  gelitten  hat? 
Engels  selbst  hätte  eine  Frage  wie  diese  unwirsch  abgewiesen,  er 
hat  uns  auf  sie  keine  Antwort  zurückgelassen.  Keine  Äußerung 
von  ihm  liegt  vor,  die  dafür  spräche,  daß  auf  dem  Grunde  seiner 
Seele  diese  schmerzhafte  Stelle  brannte,  daß  dort  unten  eine  tra- 
gische Note  mitklang.  Friedrich  Engels  Denken  kreiste  niemals 
um  die  eigene  Person,  von  seinem  Ehrgeiz  wurde  er  nicht  gequält. 
Und  wie  er  achtzehnjährig  sich  schnell  mit  der  Erkenntnis  abgefun- 
den hatte,  daß  er  kein  Dichter  war,  so  wird  er  später,  als  er  sich 
noch  besser  kennen  gelernt  hatte,  erst  recht  nicht  vom  Apfelbaum 
Trauben  gefordert,  sondern  als  der  Vollblutmensch,  der  er  war, 
lieber  der  reichen  Kräfte  sich  gefreut  haben,  die  er  besaß  und  die  er 
so  erstaunlich  rührte.  Hüten  wir  uns  also,  resignierte  Züge  in  das 
Porträt  hineinzusetzen,  wo  das  Original  uns  nichts  von  solchen 
verrät. 

Das  Ausschlaggebende  bei  dem  Zusammenschluß  der  neuen 
Freunde  war  natürlich  doch,  was  sie  einander  in  jenem  Augenblick 
für  ihre  geistige  Entwicklung  zu  bieten  vermochten.  Dummheit 
und  Aberglauben  hießen  die  Titanen,  auf  die  Marx  als  Jünger  des 
größten  griechischen  Aufklärers  seine  ersten  Pfeile  abgeschnellt 
hatte.  Politisch  ohnmächtig  und  einflußlos  wie  sie  waren,  nah- 
men die  deutschen  Intellektuellen  ihre  geistige  Welt  für  die  Welt 
überhaupt   und    sahen   die    wahre   Praxis    in  der   Theorie.     Dieser 


Marx  geistige  Entwicklung.  189 

,, mystischen  Identität"  war  Marx  frühzeitig  entgegengetreten. 
Dinn  er  verachtete  diese  Menschen,  deren  Scheu  vor  jeder  Be- 
rührung ihres  Ideals  mit  der  Wirkhchkeit  bewirkt  hatte,  daß  die 
Freiheit  den  Deutschen  eine  bloße  Sentimentalität  geblieben  war. 
Schon  seine  Doktorarbeit  verkündigte,  daß  der  freigewordene  Geist 
als  Wille  aus  dem  Schattenreich  des  Amenthes  hervortreten,  zur 
praktischen  Energie  werden  und  sich  gegen  die  weltliche  ohne  ihn 
vorhandene  Wirklichkeit  kehren  solle.  Trotzdem  bedurfte  es  selbst 
bei  ihm  der  allgemeinen  Belebung  der  politischen  Atmosphäre,  die 
nach  dem  preußischen  Thronwechsel  eintrat,  um  ihm  den  untrenn- 
baren Zusammenhang  zwischen  der  Politik  und  seinen  tiefsten 
geistigen  Bedürfnissen  zu  enthüllen.  Er  beteiligte  sich  wie  die 
anderen  Junghegelianer  mit  den  mächtigen  Waffen  seines  Geistes 
an  dem  Sturmlauf  gegen  die  Übergriffe  der  Kirche  in  die  Sphäre 
des  Staats,  auch  er  bekämpfte  die  herrschende  ,, unsittliche,  materielle 
Ansicht  vom  Staat",  die  ,, Gesinnungsgesetze",  die  das  freie  Wort 
des  Schriftstellers  knebelten,  die  Verstocktheit  der  Privilegien,  die 
Stagnation  des  Kastengeists,  die  unerträglich  devote  Natur  der 
Deutschen,  die  aus  lauter  Respekt  vor  den  Ideen  deren  Verwirk- 
lichung versäumte.  Als  leitender  Redakteur  der  Rheinischen  Zeitung 
begreift  er  vollends,  daß  die  Philosophie  „nicht  außer  der  Welt" 
steht,  sondern  daß  ihr  als  der  geistigen  Quintessenz  der  Zeit  vor- 
nehmlich die  Aufgabe  zufalle,  mit  der  wirklichen  Welt  in  Berührung 
und  Wechselwirkung  zu  treten.  Von  den  politischen  Problemen 
waren  die  sozialen  bald  nicht  mehr  zu  trennen.  Bereits  vor  dem 
Erscheinen  von  Lorenz  Steins  Buch  erscheint  ihm  das  Verlangen 
der  Proletarier  am  Reichtum  der  Bourgeoisie  teilzunehmen,  als  ein 
Faktum,  das  ,,in  Manchester,  Paris  und  Lyon  auf  den  Straßen  jedem 
sichtbar  umherlaufe".  Und,  wie  schon  vor  einem  Jahre  im  Athe- 
naeum  Konstantin  Frantz,  beklagte  nun  auch  er,  es  war  der  Oktober 
1843,  daß  die  arme  Klasse  in  dem  Kreis  der  bewußten  Staatsgliede- 
rung noch  keine  angemessene  Stelle  gefunden  habe.  Wer  könnte 
sich  vorstellen,  daß  der  Redakteur  des  großen  radikalen  Blatts 
von  Proudhon,  von  Fourier,  von  Considerant  und  Leroux  damals 
noch  gar  nichts  gewußt  haben  sollte  ?  Eingehender  aber  hatte  sich 
Marx  um  die  Zeit,  als  Engels  sich  schon  entschieden  dem  Kommunis- 
mus zuwandte,  mit  Sozialismus  und  Kommunismus  noch  nicht  be- 
schäftigt. Hätte  er  den  Kampf  der  Klassen  bereits  als  die  treibende 
Kraft  im  geschichtlichen  Leben  erkannt,  als  er  seine  berühmte 
Kritik  des  Holzdicbstahlgesetzes  schrieb,  so  würde  er  sich  nicht  dar- 
über entrüstet  haben,  daß  die  ,, Stände  den  Staat  zu  dem  Gedanken 
des  Privatinteresses  degradieren"  wollten,  so  würde  seinem  Kultus 
der   Staatsidee  schon  damals  eine  Erschütterung  anzuspüren  ge- 


IQO     Das  Bündnis  mit  Mcirx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Wesen  sein.  So  ist  es  die  volle  Wahrheit,  wenn  Marx  zwanzig  Jahre 
nach  ihrem  Zusammenschluß  dem  Freunde  bezeugt:  ,,Du  weißt, 
daß  alles  erstens  bei  mir  spät  kommt  und  zweitens  ich  immer  in 
Deinen  Fußtapfen  nachfolge." 

Nach  der  erneuten  Unterdrückung  der  freien  Presse  in  Preußen 
behandelte  Marx  keinen  Augenblick  wie  die  Brüder  Bauer,  Koppen 
und  Stirner  die  Praxis  als  eine  Sphäre,  in  die  herniederzusteigen 
philosophische  Geister  sich  hätten  hüten  sollen,  weil  in  ihr  die  Ge- 
walt und  nicht  die  Vernunft  herrsche.  Eingedenk  des  Feuerbach- 
schen  Worts,  theoretisch  sei,  was  nur  erst  im  eigenen  Kopf,  prak- 
tisch aber,  was  in  vielen  Köpfen  spuke,  zog  er  gerade  die  entgegen- 
gesetzte Folgerung,  daß  die  Theorie  zur  materiellen  Gewalt  erst 
werde,  wenn  sie  die  Massen  ergreife,  und  daß  es  deshalb  der  Ver- 
ständigung aller  denkenden  und  aller  leidenden  Menschen  bedürfe, 
um  den  neuen  Weltzustand,  wo  der  Mensch  erst  wahrhaft  zum 
Menschen  werde,  zu  verwirklichen.  Nun  führte  auch  ihn  die  Ent- 
täuschung seiner  politischen  Hoffnungen  zu  einer  Kritik  der  Politik. 
Fortan  finden  wir  ihn  bestrebt,  das  wahre  Verhältnis  zwischen 
Staat  und  bürgerlicher  Gesellschaft  aufzudecken,  es  realistischer  zu 
erfassen,  als  Hegel  es  versucht  hatte.  Erst  dabei  enthüllte  sich  ihm 
vollends  die  Bedeutung  der  materiellen  Welt  und  die  Notwendigkeit 
ihrer  Revolutionierung  für  die  Erfüllung  seines  Menschheitsideals. 
Er  erkennt  die  Begrenztheit  jeder  politischen  Revolution,  den  not- 
wendig fragmentarischen  Charakter  der  formalen  Demokratie; 
jetzt  erscheint  ihm  das  Prinzip  des  bisherigen  Staats  als  der  Grund 
der  sozialen  Gebrechen.  Die  überwältigende  Bedeutung  der  so- 
zialistischen Gedankenwelt  für  die  Ausgestaltung  seiner  eigenen 
Anschauungen  ging  ihm  auf,  als  er,  um  mit  Rüge  die  Deutsch- 
Französischen  Jahrbücher  herauszugeben,  im  November  1843  nach 
Paris  übersiedelte.  Seitdem  das  Problem  der  Masse  in  seinen  Ge- 
sichtskreis getreten  war,  hatte  er  begonnen,  es  in  der  Geschichte 
zu  erfassen.  Keine  andere  Epoche  konnte  sich  dafür  ihm  wuchtiger 
aufdrängen  als  die  der  ersten  französischen  Revolution.  Hin- 
gebungsvoll vertiefte  er  sich  in  deren  Studium. 

Nun  wurde  ihm  zur  vollen  Klarheit,  einen  wie  gewaltigen  Teil  an 
allen  Parteikämpfen  die  Interessengegensätze  der  sozialen  Klassen 
beanspruchten.  Wie  in  England  war  damals  auch  in  Frankreich 
die  Einsicht  bereits  verbreitet,  daß  hinter  den  politischen  Gegen- 
sätzen der  Vergangenheit  in  Wahrheit  sich  Klassengegensätze 
verbargen.  Marx  hat  das  Verdienst  der  großen  Historiker  des 
Landes,  besonders  Thierrys  und  Guizots,  um  die  Herausarbeitung 
dieser  Auffassung  zu  allen  Zeiten  anerkannt.  Reichte  Louis  Blanc 
als   Geschichtsschreiber    an    jene   Größeren    nicht   heran,  so  ent- 


Marx  auf  dem  Wege  zum  Kommunismus.  XOt 

hüllte  seine  Histoire  de  dix  ans,  die  eben  erschien,  dafür  mit 
schonungsloser  Offenheit  den  Gegensatz  von  Bourgeoisie  und 
Peuple  auch  als  den  eigentlichen  Inhalt  der  zeitgenössischen  fran- 
zösischen Geschichte.  In  S9lcher  Umgebung  mußte  Marx  jeder 
Zweifel  daran  schwinden,  daß  in  einer  rein  politischen  Revolution, 
wie  es  die  große  französische  in  seinen  Augen  gewesen  war,  immer 
nur  ,,eine  bestimmte  Klasse  von  ihrer  besonderen  Situation  aus 
die  allgemeine  Emanzipation  der  Gesellschaft  unternimmt",  mag 
immerhin  das  ganze  Volk  glauben,  im  Namen  der  allgemeinen 
Rechte  der  Gesellschaft  zu  revolutionieren.  Wie  für  Engels  war 
auch  für  ihn  Feuerbachs  Humanismus  die  umgekehrte  Himmels- 
leiter, auf  deren  Sprossen  er  vom  ,, Jenseits  der  Wahrheit"  zur 
,, Wahrheit  des  Diesseits",  von  der  Kritik  des  Himmels  zur  Kritik 
der  Erde  den  Weg  fand. 

Wie  hätte  dieser  größte  Jünger  Hegels  ohne  eine  weltum- 
spannende Zusammenfassung  aller  geistigen  Inhalte  bestehen 
sollen  ?  Der  Gedanke  der  Emanzipation  beherrschte  das  Zeit- 
alter. Wir  sahen  schon,  wie  Engels  sich  mit  ihm  herum- 
schlug. Diesen  erfüllte  damals  noch  in  sublimerer  Form  aber  doch 
erkennbar,  ähnlich  wie  Godwin,  Owen,  Fourier,  Cabet,  die  seit 
Vico  von  den  Sozialphilosophen  des  i8.  Jahrhunderts  oft  verkündete 
Anschauung,  daß  die  wahren  Gesetze  eines  vernunftgemäßen  Zu- 
sammenlebens der  Menschheit  bisher  verborgen  wären,  daß  sie 
ihr  aber  nur  zum  Bewußtsein  zu  kommen  brauchten,  um  alle  „künst- 
lichen und  unhaltbaren  Gegensätze"  zu  beseitigen  und  die  Ent- 
äußerung des  menschlichen  Wesens,  die  Feuerbach  in  der  Religion 
und  die  er  selbst  eben  in  der  Ökonomie  aufgedeckt  hatte,  zu  über- 
winden, damit  alsdann  der  wahre  Mensch  in  die  Erscheinung  trete. 
Gewiß  auch  Marx  wollte  damals  .,das  wahre  menschliche  Wesen" 
Realität  werden  sehen,  auch  er  forderte  stürmisch,  daß  man  den 
Menschen  zum  wirklichen  Menschen,  zum  Gattungswesen  machen 
müsse.  Aber  seine  angeborene  schöpferische  Dialektik  verschmähte 
es,  nur  auf  ein  paar  allgemeinen  Begriffen  wie  auf  einem  farbigen 
Regenbogen  in  die  Zukunft  hinüberzugleiten.  Bauend  auf  die 
Gabe  produktiver  Kritik,  die  der  Genius  ihm  in  die  Wiege  gelegt 
hatte,  durfte  er  es  ablehnen,  die  Welt  dogmatisch  zu  antizipieren, 
weil  er  sich  zutraute,  aus  der  Kritik  der  alten  Welt  die  neue  zu 
entwickeln.  Noch  schien  es  ihm  nicht  an  der  Zeit,  eine  dogmatische 
Fahne  aufzupflanzen,  nicht  einmal  die  des  Kommunismus,  in  dem 
er  vorläufig  auch  nur  eine  aparte  Erscheinung  des  humanistischen 
Prinzips  erblickte.  Ihm  hieß  das  Gebot  der  Stunde  ausschließlich: 
rücksichtslose  Kritik  alles  Bestehenden,  ohne  Furcht  vor  den 
eigenen  Resultaten,  gleichzeitig  jedoch  auch  ohne  Furcht  vor  denv 


IQ2     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Konflikt  mit  den  vorhandenen  Mächten.  Aber  diese  Kritik  wollte 
nicht  willkürlich  ihren  Weg  nehmen.  Gebieterischer  vielleicht 
noch  als  Engels  beherrschte  ihn  das  Verlangen,  den  Geschichts- 
verlauf in  seiner  immanenten  Vernunft  mit  bewußter  Dialektik  zu 
erfassen.  Wie  Engels  erstrebte  auch  er  eine  Reform  des  Bewußt- 
seins: nur  daß  er  den  Weg  zu  diesem  Ziel  schärfer  abstecken  konnte. 
Nicht  um  „einen  großen  Gedankenstrich  zwischen  Vergangenheit 
und  Zukunft"  handelte  es  sich  für  ihn,  sondern  um  eine  Selbst- 
verständigung der  Zeit  über  ihre  eigenen  Kämpfe  und  Wünsche. 
Er  wollte  der  Zeit  nicht  sagen:  ,,Laß  ab  von  deinen  Kämpfen,  sie 
sind  dummes  Zeug;  wir  wollen  dir  die  wahre  Parole  des  Kampfes 
zuschreien,"  sondern  er  wollte  ihr  zeigen,  warum  sie  eigentlich 
kämpfte.  Aus  den  eigenen  Formen  der  existierenden  Wirklichkeit 
wollte  er  kritisch-dialektisch  die  ,, wahre"  Wirklichkeit  als  ihr 
Sollen  und  ihren  Endzweck  entwickeln,  das  Künftige  im  Gegen- 
wärtigen als  werdend  aufzeigen  und  so  Wert  und  Werden,  Erkennen 
und  Handeln  mit  ehernen  Klammern  aneinanderschmieden. 

Wir  erinnern  uns,  wie  das  Tatproblem  Engels  von  früh  auf  be- 
schäftigt hatte.  Konnte  sich  aber  der  revolutionäre  Schüler  Hegels 
in  seiner  Phantasie  eine  vollkommenere  Lösung  dieses  Problems 
vorstellen,  als  die  von  Marx  in  seinen  denkwürdigen  Beiträgen  zu 
den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  ihm  dargebotene  ?  Wie 
muß  es  Engels  geblendet  haben,  als  ihm  hier  in  all  ihrer  bezwin- 
genden Großartigkeit  und  überraschenden  Neuheit  die  engste  Ver- 
koppelung  des  Gedankens  und  der  Tat,  die  vollständigste  Versöhnung 
von  Theorie  und  Praxis,  die  restloseste  Überantwortung  der  Mensch- 
heitsemanzipation an  den  Geschichtsverlauf  entgegentrat.  Da 
bewährte  sich  an  ihm  das  Wort,  daß  keine  neue  Wahrheit  den 
Menschen  siegreich  erschüttern  könne,  deren  Keim  nicht  schon 
vorher  irgendwie  in  ihm  gelebt  hätte.  Nannte  er  nicht  lange  schon 
die  Geschichte  sein  ein  und  sein  alles,  erwartete  er  nicht  fest  von 
ihrem  ehernen  Ablauf  den  Sieg  der  Revolution,  die  den  Menschen 
die  Versöhnung  mit  sich  selbst  und  der  Natur  bringen  sollte  ?  Ihm 
freilich  galt  bereits  damals  das  englische  Proletariat  als  der  Stoßtrupp 
der  Menschheitsrevolution,  Marxens  Blick  und  Hoffnung  waren  noch 
konzentrierter  auf  Deutschland  gerichtet,  auf  die  Heimat,  die  er 
verlassen  hatte,  um  von  außen  her,  durch  keine  Zensur  länger 
behindert,  die  versteinerten  Verhältnisse  des  unter  dem  Niveau 
der  Geschichte  zurückgebliebenen  Vaterlandes  dadurch  zum  Tanzen 
zu  zwingen,  daß  er  ihnen  ihre  eigene  Melodie  vorsang.  Seine  Ana- 
lyse der  deutschen  Zustände  in  seiner  berühmten  Abhandlung 
Zur  Kritik  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie  kommt  bekannt- 
lich zu  dem  Ergebnis,  daß  für  Deutschland  eine  partielle,  eine  rein 


Marx  über  Philosophie  und  Proletariat.  193 

politische  Revolution,  , »welche  die  Pfeiler  des  Hauses  stehen  läßt", 
ein  utopischer  Traum  wäre,  daß  aber  eine  ,, allgemein  menschliche 
Emanzipation"  hier  Aussicht  auf  Erfolg  haben  würde.  Und  Marx 
begründet  diese  These  mit  blendender  Dialektik.  Die  Theorie  werde 
in  einem  Volke  immer  nur  soweit  verwirklicht,  als  sie  die  Verwirk- 
lichung seiner  Bedürfnisse  sei.  Eine  radikale  Revolution  müsse 
also  die  Revolution  radikaler  Bedürfnisse  sein.  Nun  verkörpere 
aber  keine  Klasse  der  bürgerlichen  Gesellschaft  in  Deutschland 
radikale  Bedürfnisse.  Träger  solcher  sei  allein  das  in  Bildung  be- 
griffene deutsche  Proletariat.  Dieses  könne  sich  in  der  Tat  nicht 
emanzipieren,  ohne  sich  von  allen  übrigen  Sphären  der  Gesellschaft 
und  damit  alle  übrigen  Sphären  der  Gesellschaft  zu  emanzipieren. 
Somit  könne  in  Deutschland  keine  Art  der  Knechtschaft  gebrochen 
werden,  ohne  jede  Art  der  Knechtschaft  zu  brechen.  Das  gründ- 
liche Deutschland  könne  nicht  revolutionieren,  ohne  von  Grund 
aus  zu  revolutionieren.  Die  Emanzipation  des  Deutschen  aber  sei 
die  Emanzipation  des  Menschen.  Der  Kopf  dieser  Emanzipation 
sei  die  Philosophie,  ihr  Herz  das  Proletariat.  Die  Philosophie 
könne  nicht  verwirklicht  werden,  ohne  die  Aufhebung  des  Pro- 
letariats, das  Proletariat  könne  sich  nicht  aufheben,  ohne  die  Ver- 
wirklichung der  Philosophie, 

Erinnern  wir  uns,  mit  welchem  Eifer  Engels  sich  um  den 
Nachweis  bemüht  hatte,  daß  der  Kommunismus  wie  die  Blüte 
aus  der  Frucht  aus  der  Hegeischen  Philosophie  hervor  wachse, 
wie  eifrig  auch  ihn  die  Frage  beschäftigt  hatte,  weshalb  in 
Deutschland  im  Gegensatz  zu  England  die  gebildeten  Schichten 
Träger  des  Sozialismus  wären,  wie  hartnäckig  und  erfolgreich 
er  dem  Zusammenhang  von  Politik  und  Ökonomie  auf  der  Spur 
gewesen  war,  so  begreifen  wir  ohne  weiteres,  weshalb  diese  genialste 
Abhandlung  des  jungen  Marx  so  gewaltig  in  sein  Denken  ein- 
schlug. Ihrer  beider  Beiträge  zu  dem  einzigen  Heft  der  Deutsch- 
Französischen  Jahrbücher  beweisen,  daß  sie  die  Erfüllung  des 
Feuerbachschen  Menschheitsideals,  die  Aufhebung  des  „Kon- 
flikts der  individuell-sinnlichen  Existenz  mit  der  Gattungsexistenz", 
wie  Marx,  die  „Versöhnung  der  Menschheit  mit  der  Natur  und  mit 
sich  selbst",  wie  Engels  es  ausgedrückt  hat,  von  der  Beseitigung 
des  Proletariats  erwarteten.  Mochte  Engels  den  materiellen  Pro- 
duktionsprozeß in  die  bewußte  Kontrolle  des  Menschen  bringen 
wollen,  weil  nur  so  das  Privateigentum,  die  Wurzel  unserer  ver- 
kehrten sozialen  Ordnung,  überwunden  werden  könne,  mochte 
Marx  die  „Auflösung  der  bisherigen  Weltordnung"  von  dem  not- 
wendigen Zusammenklingen  der  materiellen  Interessen  der  Masse 
und  der  geistigen    der   Philosophen  erwarten,    ihnen    beiden  war 

Mayer    Friedrich  Engels.    Bd.  I  I3 


I Q^     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

deutlich  geworden,  daß  das  große  Befreiungswerk,  dem  ihre  Seelen 
entgegenschlugen,  über  die  Sphäre  des  Staates  weit  hinausgriff. 
Nun  war  freilich  seit  Hegels  Rechtsphilosophie  auch  der  deutschen 
Wissenschaft  zum  Bewußtsein  gekommen,  daß  Staat  und  Gesell- 
schaft einander  nicht  deckten.  Aber  die  unentwickelten  gesell- 
schaftlichen Zustände  im  eigenen  Lande  hatten  verhindert,  daß 
man  mit  dieser  Erkenntnis  viel  anfangen  konnte,  und  Hegels  über- 
triebener Staatskultus  hatte  dem  Glauben  an  die  Omnipotenz  des 
Staates  gleichzeitig  eine  mächtige  Stütze  bedeutet.  Unter  fran- 
zösischem und  englischem  Einfluß  war  Engels  zu  der  Erkenntnis 
gelangt,  daß  der  ökonomischen  und  sozialen  Entwicklung  ihre 
eigene,  dem  Staat  gegenüber  primäre  Sphäre  zukomme,  aber  selbst 
bei  diesem  wichtigen  prinzipiellen  Punkt  hatte  es  seiner  ,, Trägheit 
en  fait  de  theorie"  genügt,  eine  solche  Erkenntnis  zu  besitzen  und 
sich  mit  ihrer  Hilfe  die  ihm  so  neuen  englischen  Verhältnisse 
zurechtzulegen.  Daß  die  Politik  und  ihre  Geschichte  generell  aus 
den  sozialen  Verhältnissen  zu  erklären  seien,  diese  Verallgemeine- 
rung, die  hernach  der  Hebel  ihrer  gemeinsamen  Geschichtsauffas- 
sung wurde,  verdankte  er,  wie  er  uns  ausdrücklich  bezeugt,  erst 
Marx.  Die  Zusammenhänge,  die  dessen  kritische  Untersuchung 
der  Menschenrechte  der  französischen  Revolution  bloßlegte,  ent- 
sprachen zwar  nur  seiner  eigenen  Auffassung  des  Verhältnisses 
von  Staat  und  Gesellschaft,  aber  erst  durch  Marx  erhielt  diese  jenen 
Zusammenhang,  jene  Begründung  und  Vertiefung,  auf  die  er, 
nachdem  er  sie  einmal  besaß,  niemals  mehr  hätte  verzichten 
mögen.  Wir  entsinnen  uns,  daß  Engels  die  Demokratie  den  letzten 
politischen  Versuch  genannt  hatte,  der  noch  zu  machen  sei,  bevor 
im  Sozialismus  ein  über  politisches  Prinzip  triumphieren  werde. 
Wie  ähnlich,  aber  doch  wie  ganz  anders  durchgebildet  trat  ihm 
dieselbe  Auffassung  jetzt  bei  Marx  entgegen.  Stärker  noch  als  ihm 
war  es  jenem  Bedürfnis,  zu  erkennen,  wie  die  Entwicklung  in  den 
führenden  Kulturländern,  von  dem  gleichen  immanenten  Gesetz 
beherrscht,  ähnlichen  Zielen  zustrebte.  Marx  aber  durfte  für  das, 
was  er  über  das  Verhältnis  von  Staat  und  Gesellschaft  feststellte, 
um  so  mehr  allgemeine  Gültigkeit  beanspruchen,  als  er  erkannt 
zu  haben  glaubte,  daß  zwischen  dem  jeweiligen  Staat  und  der 
jsweiligen  Gesellschaft  ein  Widerspruch  bestand,  bei  dessen 
dialektischer  Entfaltung  das  eigentliche  Bewegungsgesetz  alles 
geschichtlichen  Lebens  sich  offenbarte  Zwar  war  auch  er  zu  der 
Überzeugung  gelangt,  daß  selbst  im  demokratischen  Staat  nur  der 
,, durch  die  ganze  Organisation  unserer  Gesellschaft  verdorbene" 
Mensch,  der  noch  kein  wirkliches  Gattungswesen  ist,  Souveränität 
erhalte,  daß    überhaupt    innerhalb    der    bestehenden    bürgerlichen 


Ähnlichkeit  des  Entwicklungsgangs  bei  Engels  und  Marx.         igt 

Gesellschaft  jeder  Mensch  im  anderen  Menschen  nicht  die  Ver- 
wirklichung, sondern  im  Gegenteil  die  Schranke  seiner  Freiheit 
fände.  Aber  ebensowenig  wie  Engels  konnte  eine  solche  Erkenntnis 
Marx  bestimmen,  sich,  gleich  der  Mehrzahl  der  französischen  und 
englischen  Sozialisten,  von  der  Politik  als  von  einer  unterhalb  der 
Höhe  des  Prinzips  liegenden  Betätigungswelt  abzuwenden.  Beide 
erkannten  sie  zu  scharf,  daß  der  Staat  , »innerhalb  seiner  Form 
sub  spscie  reipublicae  alle  sozialen  Kämpfe,  Bedürfnisse,  Wahr- 
heiten ausdrückte". 

Die  Ähnlichkeit  der  Anschauungsweise,  zu  der  Marx  das  Studium 
der  französischen  politischen  und  Engels  das  der  englischen  ökono- 
mischen Revolution  geführt  hatte,  erwies  sich  auch  an  der  Skepsis, 
mit  der  sie  beide  die  weltgeschichtliche  Bedeutung  der  Emanzi- 
pation der  bürgerlichen  Gesellschaft  betrachteten.  Nicht  weniger 
als  Engels  war  Marx  darüber  im  Zweifel,  daß  diese  das  bürgerliche 
Leben  vollends  in  seine  Bestandteile  aufgelöst  hatte,  ohne  diese 
Bestandteile  selbst  zu  revolutionieren  und  der  Kritik  zu  unterwerfen, 
daß  jedoch  die  ,, Emanzipation  der  Menschen",  auf  die  sie  hofften, 
erst  Wirklichkeit  werden  könne,  nachdem  der  Mensch  seine  Kräfte 
als  gesellschaftliche  Kräfte  erkannt  und  organisiert  haben  würde. 
Die  Schuld  daran,  daß  die  bürgerliche  Gesellschaft  alle  Gattungs- 
bande der  Menschen  zerrissen  und  durch  den  nackten  Eigennutz 
ersetzt  hatte,  schoben  er  und  Engels  mit  Feuerbach  der  Entäußerung 
aller  nationalen,  natürlichen,  sittlichen,  theoretischen  Verhältnisse 
der  Menschen  durch  das  Christentum  zu.  Mußte  es  Engels  nicht 
als  eine  tiefreichende  Übereinstimmung  empfinden,  daß  auch 
Marx  die  Beseitigung  der  Atomisierung  der  Gesellschaft  durch  die 
Aufhebung  des  ,, Schachers"  als  die  Aufgabe  der  Zeit  proklamierte  ? 

Nun  erst  verstehen  wir  vollständig,  wie  dessen  Beiträge  für  die 
Deutsch-Französischen  Jahrbücher  ihm  just  das  boten,  wonach  ihn  im 
Augenblick  am  meisten  verlangt  hatte  und  was  aus  eigener  Kraft 
zur  vollen  eigenen  Befriedigung  zu  finden,  er  sich  nicht  zugetraut 
hätte.  Für  seine  Annahme,  daß  der  Kommunismus  die  geradlinige 
Fortsetzung  und  die  Vollendung  der  deutschen  Philosophie  sei, 
erhielt  er  erst  hier  den  vollgültigen  Beweis,  für  den  scheinbar 
polaren  Gegensatz  von  Geist  und  Masse  eine  Lösung,  die  ihn  blen- 
dete und  gefangen  nahm.  An  der  Seite  dieses  starken  Denkers, 
der  ihm  mit  tief  bohrender  Dialektik  systematisch  einordnen  und 
beweisen  konnte,  was  er  selbst  nur  in  den  Umrissen  erschaut  und 
skizzenhaft  hingeworfen  hatte,  kam  Engels  sich  geistig  geborgen 
vor  und  fühlte  sich  dabei  so  glücklich  und  so  arbeitsfreudig  wie 
nie  zuvor.  Aber  auch  für  Marx  wurden  Engels  Beiträge  zu  den 
Deutsch -Französischen    Jahrbüchern,    weit    mehr     freilich     noch, 

13* 


196     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

was  der  lebendige  Mensch  an  Anschauungskraft,  an  Kenntnissen, 
an  Erfahrung  ihm  zutrug,  von  epochaler  Bedeutung.  Bis  er  zur 
Rheinischen  Zeitung  kam,  hatte  Marx  sich  ja  ausschließlich  auf 
dem  Boden  abstrakter  Wissenschaft  bewegt  und  der  praktischen 
Welt  ferngestanden.  Aber  auch  danach  hatten  Zeit  und  Gelegen- 
heit sich  nicht  geboten,  Auge  und  Ohr  sich  nicht  spontan  genug 
hergegeben,  um  jene  Fülle  der  Gesichte  zu  erwerben,  deren  Besitz 
dem  unentbehrlich  ist,  der  dem  ökonomischen  Faktor  in  der  Ge- 
schichte eine  primäre  Rolle  einräumt.  Hier  nun  war  es  Engels, 
der  ihm  nicht  nur  wertvolles  Material  herbeitrug,  sondern  ihn  auch 
das  Werkzeug  erst  recht  kennen  lehrte,  dessen  er  für  das  Studium 
der  sozialen  und  ökonomischen  Erscheinungen  bedurfte.  In  die 
praktische  Welt  hineingeboren  und  mit  reichen  Gaben  für  sie  be- 
schenkt, erhob  er  sich  dennoch  über  sie,  um  aus  der  Höhe  des 
Gedankens  sie  zu  überblicken  und  begreifend  zusammenzufassen. 
Nicht  allein  durch  die  Druckerschwärze  mit  Politik  und  Volks- 
wirtschaft vertraut,  durch  persönliche  Wirksamkeit  mit  Groß- 
industrie, Handel  und  Kapital,  durch  eigenste  bei  anderen  Deutschen 
damals  noch  nicht  anzutreffende  gründliche  Beobachtung  mit  dem 
modernen  Proletariat,  wie  es  als  Klasse  leibhaftig  existierte,  in  Be- 
rührung gekommen,  war  er  der  berufene  Gefährte,  mit  dessen  Hilfe 
der  abstraktere  Geist  des  anderen  sich  der  lebendigen  Wirklichkeit 
bemächtigen  und  den  kühnen  Eisenbau,  den  aufzurichten  ihm 
Bestimmung  war,  mit  Wänden  und  mit  Fenstern  versehen  konnte. 
Selbst  auf  jenem  Gebiet,  das  Marx  später  wie  kein  zweiter  be- 
herrscht und  radikal  revolutioniert  hat,  auf  dem  der  National- 
ökonomie, war  Engels  in  dieser  ersten  Zeit  ihrer  Bekanntschaft 
durchaus  der  gebende.  Es  mußte  auf  Marx  starken  Eindruck  machen, 
daß  er  auf  dem  Boden  dieser  von  der  Hegeischen  Schule  so  vernach- 
lässigten Wissenschaft,  über  Proudhon  darin  noch  hinausgehend, 
den  kühnen  Versuch  gewagt  hatte,  alle  ökonomischen  Katego- 
rien als  Gestaltungen  des  Privateigentums  zu  entlarven  und  zu- 
gleich das  notwendige  Herannahen  einer  kommunistischen  Gesell- 
schaftsordnung damit  dialektisch  zu  begründen.  Wäre  solches  eigent- 
lich nicht  Marxens  Aufgabe  gewesen  ?  Wollte  er  beweisen,  daß 
nicht  in  dem  stolzen  Reich  der  Ideen,  sondern  in  dem  irdischen 
Reich  der  Materie  die  Achse  des  historischen  Geschehens  lag  — 
Gedanken,  die  zur  Zeit  der  Deutsch-Französischen  Jahrbücher, 
wenn  auch  noch  nicht  generell  formuliert,  schon  in  ihm  arbeiteten 
—  so  erforderte  die  Welt  der  ökonomischen  Vorgänge  und  die  in 
ihr  wirkende  Gesetzmäßigkeit  seine  konzentrierte  Aufmerksam- 
keit. Diese  Welt  zu  studieren,  war  dem  Denker  Gebot,  der  den 
Fortschritt  der  Kultur  an  die  Aufhebung  des  Proletariats  knüpfte. 


Engels  Bedeutung  für  Marx.  I97 

Der  mußte  nach  den  Gesetzen  forschen,  die  jenes  hervorgebracht 
hatten,  und  nach  den  Entwicklungstendenzen,  von  denen  dessen 
Beseitigung  zu  erhoffen  war.  Die  Winke,  die  er  dabei  von  Engels 
erhielt,  müssen  ihm  in  jenem  Stadium  seines  Denkens  von  un- 
schätzbarem Werte  gewesen  sein.  Ein  neues  Licht  ging  ihm  auf, 
als  dieser  ihm  die  ökonomischen  Kategorien  aus  dem  Privateigen- 
tum ableitete  und  damit  den  Widerspruch  zwischen  der  humanen 
Phraseologie  und  der  entmenschenden  Praxis  des  Systems  der 
freien  Konkurrenz  enthüllte.  Auch  was  Engels  ihm  über  Krisen, 
über  Akkumulation  und  Konzentration  sagen  konnte,  muß  auf 
ihn  mit  der  Stärke  einer  Offenbarung  gewirkt  haben.  Noch  nach 
Jahrzehnten  hat  sich  Marx  beim  Wiederlesen  der  Umrisse  über 
diese  ,, geniale  Skizze"  bewundernd  geäußert.  Noch  1862  hat  er 
festgestellt,  daß  Engels  gegen  die  Grundrententheorie  Ricardos  da- 
mals bereits  den  entscheidenden  Einwand  erhoben  habe,  und  noch 
1868  beim  Beginn  der  Diskussion  mit  Dühring  beruft  er  sich  auf 
das  von  diesem  dort  über  das  Verhältnis  von  Gesellschaftsform  und 
Wertbildung  Gesagte. 

Wie  hätte  es  ausbleiben  können,  daß  die  neuen  Freunde  in 
ihrem  Wunsch,  sich  über  alle  Grundfragen  zu  verständigen,  den 
Fortgang  des  deutschen  philosophischen  Denkens  seit  der  Unter- 
drückung der  Rugeschen  Jahrbücher  eindringlich  durchnahmen 
und  dabei  auch  über  den  Berliner  Kreis,  dem  sie  einstmals  sich 
zugerechnet  hatten,  ihre  Gedanken  austauschten.  Wir  stellten  bei 
Marx  das  Bedürfnis  fest,  die  Gärung  der  eigenen  Gedanken  da- 
durch vorwärts  zu  treiben,  daß  er  sich  gerade  mit  solchen  Richtungen 
rücksichtslos  auseinandersetzte,  deren  Auffassung  bis  vor  kurzem  der 
eigenen  verwandt  gewesen  war.  Mit  leiser  Übertreibung  ließe  sich 
behaupten:  der  Marx  von  heute  focht  gegen  niemanden  leidenschaft- 
licher als  gegen  den  Marx  von  gestern.  Nicht  in  dem  gleichen  Grade 
wie  für  ihn  war,  wir  erinnern  uns  dessen,  für  Engels  die  prinzi- 
pielle Auseinandersetzung  mit  den  einst  Gleichgesinnten  eine  geistige 
Notwendigkeit.  Er  eroberte  nicht  wie  Marx  das  neue  Land  fechtend 
Schritt  vor  Schritt,  so  wenig  er  es  verschmähte,  zurückgebliebenen 
Gefährten  dsis  in  der  Sonne  blitzende  Schwert  entgegenzuhalten! 
Engels  wäre  von  sich  aus  jetzt  nicht  auf  den  Gedanken  gekommen^ 
in  einer  umfangreichen  Schrift  mit  den  Berliner  Junghegelianern 
abzurechnen,  die,  nachdem  die  politische  Praxis  sie  enttäuscht, 
sich  nun  erst  recht  in  der  reinen  Theorie  verschanzt  hatten  und 
von  dort  aus  papierne  Kugeln  auf  die  einstigen  Freunde  abschössen, 
die  mutiger  als  sie  den  Stier  bei  den  Hörnern  packten  und  den 
,,bloß  elementarischen  Stoff",  die  Masse,  nicht  länger  ignorieren 
wollten. 


Iq8     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Wem  sich  das  Selbstbewußtsein  als  eine  bloße  Übermalung 
des  wirklichen  individuellen  Menschen  enthüllte,  wer  sich  darüber 
klar  zu  sein  glaubte,  daß  die  Politik  und  ihre  Geschichte  aus  den 
ökonomischen  Verhältnissen  zu  erklären  seien,  wer  vollends  in  dem 
Industrieproletariat  den  eigentlichen  Träger  der  kommenden 
Menschheitsrevolution  erblickte,  dem  mußte  notwendig  die  ganze 
dem  reinen  Geist  entstammende  Fragestellung  und  Wertungsweise 
der  deutschen  Philosophie  problematisch  werden,  während  sich 
ihm  zu  den  naturv/issenschaftlich  befruchteten  Ideen  des  franzö- 
sischen Positivismus  eine  Verbindung  leichter  herstellte.  Mußte 
nicht  Comtes  Behauptung,  daß  nur  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis der  Gesellschaft  auch  für  ihre  Reorganisation  eine  sichere  Grund- 
lage darbiete,  bei  Marx  und  Engels  lebhaften  Widerhall  finden? 
Wurde  nicht  überhaupt  seit  Saint-Simon  das  französische  Denken 
von  mannigfachen  Kanälen  durchzogen,  die,  ähnlich  wie  sie  beide 
es  anstrebten,  die  Vergangenheit  und  Zukunft  verbanden  ?  War 
man  nicht  in  Frankreich  bereits  allgemein  dahin  gelangt,  die  gesell- 
schaftlichen Kräfte  den  politischen  mit  gewichtigen  Gründen  über- 
zuordnen ?  In  seinem  Artikel  gegen  Rüge,  der  im  Pariser  Vorwärts 
gerade  erschienen  war,  als  Engels  dort  eintraf,  hatte  Marx  das 
Verhältnis  von  Staat  und  Gesellschaft  noch  einmal  scharf  unter 
die  Lupe  genommen,  den  Staat  für  den  tätigen,  selbstbewußten  und 
offiziellen  Ausdruck  der  Gesellschaft  und  den  modernen  Staat  und 
die  moderne  Schacherwelt  für  so  innig  aneinandergeschmiedet  er- 
klärt, wie  den  antiken  Staat  und  die  antike  Sklaverei.  Er  hatte  das 
deutsche  Proletariat  den  Theoretiker  des  europäischen  Proletariats 
genannt  und  noch  einmal  behauptet,  daß  Deutschland  nicht  in  seiner 
ohnmächtigen  Bourgeoisie,  sondern  allein  in  seinem  Proletariat 
das  tätige  Element  seiner  Befreiung  finden  werde.  Wer  aber  mit 
solcher  Überzeugtheit  wie  Marx,  dem  Engels  sich  völlig  darin  an- 
schloß, von  der  sozialen  Revolution,  zu  der  das  deutsche  Volk  einen 
ebenso  klassischen  Beruf  habe,  wie  es  zur  politischen  unfähig  sei, 
das  Heil  der  Menschheit  erwartete,  der  konnte  unmöglich  noch, 
wie  die  selbstbewußten  Nachzügler  Hegels,  die  politischen,  litera- 
rischen und  theologischen  Haupt-  und  Staatsaktionen  für  Inhalt 
und  Wesen  der  Geschichte  ansehen,  der  durfte  nicht  länger  das 
,, theoretische  und  praktische  Verhalten  des  Menschen  zur  Natur, 
die  Naturwissenschaft  und  die  Industrie  aus  der  geschichtlichen 
Bewegung  ausschließen**,  der  konnte  fernerhin  nicht  statt  der  ,, grob- 
materiellen Produktion  auf  der  Erde"  die  ,, dunstige  Wolken- 
bildung am  Himmel"  für  die  ,, Geburtsstätte"  der  Geschichte  halten. 
So  hatte  denn  die  Stunde  geschlagen  für  die  Götterdämmerung  des 
deutschen  klassischen  Idealismus;   Geist  und  Idee  sollten  auf  dem 


Die  Götterdämmerung  des  klassischen  Idealismus.  199 

Thron  der  Zeit,  den  sie  so  lange  ruhmreich  innegehabt  hatten, 
dem  Willen,  dem  Interesse,  der  Masse  den  Platz  räumen.  Doch 
immer  wo  Götter  stürzen,  stürzen  auch  Heiligtümer:  und  der 
Schutt  begräbt  mit  dem  Vermorschten  gleichzeitig  unverlierbare 
Schätze,  die  eine  spätere  Generation  wieder  ans  Licht  fördern  muß. 
Nun  war  zwar  der  spekulative  Idealismus  in  der  karikierten 
Form,  wie  die  Brüder  Bauer  ihn  ausgebildet  hatten,  in  Wahrheit 
kein  Gegner,  der  dem  neuen  ,, realen  Humanismus"  so  gefährlich 
werden  konnte,  wie  Marx  und  Engels  in  der  damals  gemeinsam 
aufgesetzten  Vorrede  zu  ihrem  noch  zu  schreibenden  Buch  glauben 
machen  wollten.  Und  die  Allgemeine  Literaturzeitung  in  Char- 
lottenburg, deren  Ausführungen  den  eigentlichen  Stein  des  An- 
stoßes bildeten,  fristete,  von  der  Öffentlichkeit  kaum  beachtet, 
ein  nur  recht  kümmerliches  Dasein.  Aber  Marx  kam  es  ja  in  erster 
Reihe  auf  „Selbstverständigung"  an,  und  da  ist  es  begreiflich,  daß 
er  sich  in  überschäumender  Kampflust  über  diese  Freunde  von  gestern 
hermachte,  die  mit  hohepriesterlicher  Überhebung  nicht  nur  das 
Selbstbewußtsein  für  kanonisch  erklärten,  sondern  den  spekulativen 
Idealismus  zum  extremen  Subjektivismus  zurückbildeten,  indem 
sie  „die  Kritik",  hinter  der  in  Wahrheit  nur  sie  selbst  und  ein  paar 
bei  ihnen  zurückgebliebene  Genossen  standen,  in  eine  transzendente 
Macht  verwandelten.  Dieser  Glaube  des  Bauerschen  Kreises  an  die 
absolute  Berechtigung  und  die  außerweltliche  Existenz  des  Geistes, 
dessen  Generalpächter  sie  selbst  waren,  wurde  die  eigentliche  Ziel- 
scheibe für  den  vernichtenden  Spott  der  ,, Kritik  der  kritischen 
Kritik".  Allein  diesen  Titel  sollte  das  Pamphlet  ursprünglich  führen. 
Mit  dem  anderen,  zwar  von  Marx  im  vertrauten  Kreise  gebrauchten, 
aber  von  dem  Frankfurter  Verleger,  weil  er  diesen  für  schlagender 
und  epigrammatischer  erachtete,  dem  Buch  eigenmächtig  vor- 
gesetzten Titel  Die  Heilige  Familie  war  Engels,  der  ihn  erst  im 
März  1845  in  Barmen  auf  dem  gedruckten  Exemplar  las,  unzu- 
frieden, weil  er  von  einer  so  absichtlichen  Irreführung  unnötige 
Häkeleien  mit  seinem  frommen  und  damals,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  ohnehin  gegen  ihn  aufgebrachten  Vater  befürchtete.  Wenig 
einverstanden  war  er  auch  damit,  daß  er  ohne  jede  Einschränkung 
neben  Marx  als  Verfasser  genannt  wurde:  ,,Ich  habe  ja  fast  nichts 
davon  gemacht,  und  Deinen  Stil  kennt  doch  jeder  heraus.  Es  sieht 
ohnehin  komisch  aus,  daß  ich  vielleicht  ein  und  einen  halben  Bogen 
und  Du  über  zwanzig  drin  hast."  Ferner  beanstandete  Engels  den 
übergroßen  Umfang  der  Streitschrift.  Die  souveräne  Verachtung, 
mit  der  sie  gegen  die  Literaturzeitung  auftraten,  bildete,  wie  er  richtig 
herausfühlte,  einen  argen  Gegensatz  gegen  die  zweiund zwanzig 
Bogen,  die  sie  ihr  dedizierten.   Auch  fürchtete  er  nicht  ohne  Grund, 


200     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

daß  ,,das  meiste  von  der  Kritik  der  Spekulation  und  des  abstrakten 
Wesens  überhaupt  dem  größeren  Publikum  unverständlich  bleiben 
und  auch  nicht  allgemein  interessieren**  werde.  Davon  abgesehen 
freilich  fand  er  das  Buch  prächtig  geschrieben  und  zum  Krank- 
lachen :  ,,Die  Bauers  werden  kein  Wort  sagen  können."  Er  wünschte, 
daß  bei  einer  Anzeige  der  Schrift  der  Grund  angegeben  werde,  wes- 
halb er  ,,nur  wenig  und  nur  das,  was  ohne  tieferes  Eingehen  auf  die 
Sache  geschrieben  werden  konnte",  beigesteuert  habe.  Sein  ganzer 
Anteil  beschränke  sich  ja  auf  das,  was  er  während  seiner  kurzen 
Anwesenheit  in  Paris  aufs  Papier  bringen  konnte.  So  erspart  Engels 
wenigstens  bei  dieser  ersten  mit  Marx  gemeinsam  unternommenen 
Arbeit  dem  Biographen  die  Mühe,  herauszufinden,  was  an  der 
Heiligen  Familie  sein  geistiges  Eigentum  ist.  In  seinen  Bei- 
trägen setzte  er  sich  besonders  mit  Edgar  Bauer  und  mit  Julius 
Faucher  auseinander,  mit  zwei  ihm  gleichaltrigen  Kumpanen 
der  gemeinsamen  nächtlichen  Kneip-  und  Diskutiergelage  im 
Kreise  der  Freien.  Für  eine  nachfolgende  grundsätzlichere  Aus- 
einandersetzung einen  willkommenen  Auftakt  lieferten  dem  ge- 
naueren Kenner  der  sozialen  Lage  Englands  einige  Irrtümer  und 
Ungenauigkeiten,  die  sich  Faucher  in  der  Literaturzeitung  hatte 
zuschulden  kommxen  lassen.  Daraus,  daß  die  ,, kritische  Kritik 
als  Herr  Julius  Faucher"  nicht  wußte,  daß  die  englischen  Ar- 
beiter seit  1824  das  Koalitionsrecht  besaßen,  und  daß  die  Zentra- 
lisation des  Besitzes  und  deren  Folgen  für  die  arbeitenden  Klassen 
ein  drüben  häufig  erörtertes  Problem  bildeten,  ferner  daraus,  daß 
,,sie"  trotz  ganz  hübscher  Studien  über  die  Geschichte  der  englischen 
Industrie  in  bezug  auf  die  historische  Reihenfolge,  in  welcher  die 
Fortschritte  in  der  Spinnerei  sich  vollzogen  hatten,  Schwupper 
machte,  zieht  Engels  selbstsicher  und  kühn  verallgemeinernd  gleich 
hier  die  Folgerung,  daß  die  kritische  Kritik  die  Geschichte  so, 
wie  sie  wirklich  passiert  ist,  gar  nicht  anerkennen  dürfe,  weil  sie 
damit  die  schlechte  Masse  in  ihrer  ganzen  massenhaften  Massigkeit 
anerkennen  würde.  Die  Kritik,  die  sich  frei  gegen  ihren  Gegenstand 
verhalte  und  für  ihre  Gesetze  rückwirkende  Kraft  beanspruche, 
rufe  der  Geschichte  zu:  Du  sollst  dich  so  und  so  zugetragen  haben! 
Ssi  es  da  ein  Wunder,  daß  die  in  der  Literaturzeitung  vorgetragene 
,, kritische  Geschichte"  von  der  sogenannten  wirklichen  Geschichte 
bedeutend  abweiche  ?  Natürlich  ärgerte  es  Engels,  daß  der  künftige 
deutsche  Bannerträger  des  Freihandels  die  britischen  Arbeiter 
schlankweg  als  begeisterte  Anhänger  der  League  bezeichnete,  aber 
seine  Behauptung,  daß  sie  diese  als  ihren  einzigen  Feind  ansähen, 
schoß  noch  weiter  über  das  Ziel  hinaus.  Noch  ungerechter  war, 
wenn  er  es  Faucher  als  Verbrechen  aufmutzen  wollte,  daß  er  Lord 


Die  Heilige  Familie.  201 

Ashleys  Zehnstundenbill  für  eine  schlappe  Justemilieu-Maßregel 
hielt,  während  die  Fabrikanten,  die  Chartisten,  die  Grundbesitzer, 
,,kurz  die  ganze  Massenhaftigkeit"  Englands  bisher  diese  Maßregel 
für  den  allerdings  möglichst  gelinden  Ausdruck  eines  durchaus 
radikalen  Prinzips  angesehen  hätten,  ,,da  sie  die  Axt  an  die  Wurzel 
des  auswärtigen  Handels  und  damit  an  die  Wurzel  des  Fabrik- 
systems legen,  nein,  nicht  nur  daran  legen,  sondern  tief  hinein- 
hauen würde".  Es  war  ungerecht,  weil  zum  mindesten  die  Industrie- 
arbeiter nach  dem  Zeugnis  V.  A.  Hubers,  der  sich  im  Juli  1844 
bei  ihnen  gründlich  umtat,  der  Bill  weit  eher  Mißtrauen  und  Spott 
als  Dankbarkeit  und  Vertrauen  entgegenbrachten,  sodann  aber  auch, 
weil  er  selbst  sich  von  der  Annahme  der  Bill  keinen  namhaften 
Vorteil  für  das  Proletariat  versprach.  Denn  er  glaubte  ja  damals, 
daß  bis  zum  Siege  der  sozialen  Revolution  jede  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung unwirksam  bleiben  müsse. 

Tiefer  noch  in  den  Kern  des  Themas  der  Heiligen  Familie 
dringt  Engels  dort,  wo  er  ,,die  kritische  Kritik  als  die  Ruhe  des 
Erkennens,  oder  die  kritische  Kritik  als  Herr  Edgar"  ins  Gebet 
nimmt  und  gegen  jene  bequeme  Blasiertheit  vom  Leder  zieht, 
die  nur  Gedankenschöpfungen,  besonders  die  eigenen,  für  ,, Etwas" 
ansehe,  aber  die  manuelle  Arbeit,  sie  besonders,  zu  niedrig  bewerte. 
Weil  alles  Wirkliche,  alles  Lebendige  ihr  unkritisch  und  massen- 
haft erscheine  und  ,, nichts"  bedeute,  übersehe  die  ,, Kritik"  den 
Arbeiter,  der  bloß  ,, einzelnes",  das  heißt  sinnliche,  handgreifliche, 
geist-  und  kritiklose  Gegenstände  schaffe.  Wenn  aber  in  Wahrheit 
der  Arbeiter  heute  nichts  schaffe,  so  rühre  das  nur  daher,  daß 
seine  Arbeit  eine  einzeln  bleibende,  auf  sein  bloßes  individuelles 
Bedürfnis  berechnete  sei,  daß  die  einzelnen  zusammengehörigen 
Zweige  der  Arbeit  in  der  heutigen  Gesellschaftsordnung  gehemmt, 
ja  gegeneinander  gestellt  seien,  daß  die  Arbeit  noch  nicht  organisiert 
wäre.  In  Wirklichkeit  schaffe  der  Arbeiter  alles,  ja  so  sehr  alles, 
daß  er  die  ganze  Kritik  auch  in  seinen  geistigen  Schöpfungen  be- 
schäme ;  wovon  die  englischen  und  französischen  Arbeiter  Zeugnis 
ablegen  kennten.  Die  Tätigkeit  der  Kritik  bestehe  aber  nach  ihrem 
eigenen  Ausdruck  nur  darin,  ,, Formen  aus  den  Kategorien  des 
Bestehenden  zu  bilden"  —  nämlich  aus  der  bestehenden  Hegel- 
schen  Philosophie  und  den  bestehenden  sozialen  Bestrebungen. 
Sie  sei  nur  die  verwelkte  und  verwitterte  Hegeische  Philosophie, 
die  ihren  zur  widerlichsten  Abstraktion  ausgedörrten  Leib  schminke 
und  aufputze  und  in  ganz  Deutschland  nach  einem  Freier  umher- 
schiele I  Sie  sei  niemals  aus  dem  Käfig  der  Hegeischen  Anschau- 
ungsweise herausgekommen  und  habe  den  Anstoß,  den  Feuer bach 
dem  deutschen  Denken  brachte,  gar  nicht  verstanden.    Freudig  er- 


202     Oa-S  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

greift  Engels  die  Gelegenheit,  um  dem  großen  Förderer,  der  ihm  den 
Weg  zur  Gattung  und  deren  Aufgaben  gewiesen  hatte,  ein  Loblied 
anzustimmen.  „Wer  hat  die  Dialektik  der  Begriffe,  den  Götter- 
krieg, den  die  Philosophen  allein  kannten,  vernichtet?  Feuer- 
bach. Wer  hat,  zwar  nicht  ,,die  Bedeutung  des  Menschen"  — 
als  ob  der  Mensch  noch  eine  andere  Bedeutung  habe,  als  die,  daß 
er  Mensch  ist!  —  aber  doch  ,,den  Menschen"  an  die  Stelle  des  alten 
Plunders,  auch  des  ,, unendlichen  Selbstbewußtseins"  gesetzt? 
Feuerbach  und  nur  Feuerbach.  Er  hat  noch  mehr  getan.  Er  hat 
dieselben  Katogorien,  womit  die  Kritik  jetzt  um  sich  wirft,  den 
,wirklichen  Reichtum  der  menschlichen  Verhältnisse,  den  un- 
geheuren Inhalt  der  Geschichte,  den  Kampf  der  Masse  mit  dem 
Geiste'  etc.  etc.  längst  vernichtet."  Hatte  man  aber  einmal  den 
Menschen  als  das  Wesen  und  die  Basis  aller  menschlichen  Fähig- 
keiten und  Zustände  erkannt,  so  konnte  allein  noch  „die 
Kritik"  diesen  wieder  in  eine  Kategorie  verwandeln.  In  Wahrheit 
sei  es  nicht  „die  Geschichte",  die  Kämpfe  kämpfe  und  überhaupt 
irgendetwas  tue,  sondern  der  Mensch,  der  wirkliche,  lebendige 
Mensch  kämpfe  und  tue  alles.  Es  sei  nicht  etwa  „die  Geschichte", 
die  den  Menschen  zum  Mittel  brauche,  um  ihre  —  als  ob  sie  eine 
aparte  Person  wäre  —  Zwecke  durchzuarbeiten,  sondern  sie  sei 
nichts,  als  die  Tätigkeit  des  seine  Zwecke  verfolgenden  Menschen. 
Wenn  „die  Kritik"  den  Kampf  der  Masse  mit  dem  Geist  als  das 
Ziel  der  ganzen  bisherigen  Geschichte  bestimme  und  dem  Geist 
als  das  Wahre  der  Materie  gegenüberstelle,  so  bedeute  dies  nur 
einen  ekelhaften  Rückfall  in  den  von  Feuerbach  ein  für  allemal 
überwundenen  christlich-germanischen  Dualismus.  Und  wenn  sie 
dabei  den  Gegensatz  von  Geist  und  Masse  mit  dem  Gegensatz 
„der  Kritik"  und  „der  Masse"  identifiziere,  so  zeige  sie  damit, 
daß  sich  für  sie  der  ungeheure  Reichtum  der  Geschichte  in  dem 
Verhältnis  der  Menschheit  zu  Herrn  Bauer  erschöpfe.  Diesen  von 
dem  Freunde  angesponnenen  Faden  hat  Marx  hernach  aufgenommen 
und  vollends  offenbar  gemacht,  daß  sich  hinter  solcher  Verzerrung 
der  Hegeischen  Geschichtsphilosophie  bloß  der  kurzatmigste  Sub- 
jektivismus versteckte. 

Bevor  er  die  Feder  niederlegte,  erteilte  Engels  den  Herren 
von  der  Literaturzeitung,  denen  sie  not  taten,  einige  Belehrungen 
über  die  sozialistische  und  kommunistische  Bewegung  in  Frankreich 
und  England.  Er  warnte  davor,  den  verwässerten  Fourierismus 
der  D^mocratie  Pacifique,  der  nur  die  soziale  Lehre  eines  Teils 
der  philanthropischen  Bourgeoisie  sei,  mit  dem  französischen  Kom- 
munismus zu  verwechseln,  diesen  aber,  weil  er  noch  in  eine  Menge 
verschiedener  Fraktionen  gespalten  sei,  wie  Bruno  Bauer  wähnte. 


Feuerbachs  Leistung.  203 

für  erschöpft  zu  halten.  Sein  Tag  komme  erst  und  er  werde  keines- 
wegs der  kritischen  Kritik  zum  Gefallen  in  der  abstrakten  Theorie, 
sondern  in  einer  ganz  praktischen  Praxis  endigen,  die  sich  um  die 
kategorischen  Kategorien  der  Kritik  in  keiner  Weise  bekümmern 
werde.  Die  Kritik  der  Franzosen  und  Engländer  sei  überhaupt 
keine  abstrakte,  jenseitige  Persönlichkeit  außerhalb  der  Mensch- 
heit, sondern  die  wirkliche  menschliche  Tätigkeit  von  Individuen, 
die  als  werktätige  Mitglieder  der  Gesellschaft  fühlten,  dächten  und 
handelten.  Darum  sei  ihre  Kritik  zugleich  praktisch,  ihr  Kommunis- 
mus ein  Sozialismus,  darum  sei  die  lebendige,  wirkliche  Kritik  der 
bestehenden  Gesellschaft  die  Erkenntnis  der  Ursachen  des  „Ver- 
falls". 

Klarer,  umfassender  und  wuchtiger  noch  tritt  freilich  dieser 
letzte  Gedanke  in  der  Heiligen  Familie  dort  hervor,  wo  Marx 
die  weltgeschichtliche  Rolle  des  Proletariats  entwickelt  und  ihm 
mit  prophetischer  Geste  ankündigt,  es  werde  das  Urteil  vollziehen, 
welches  das  Privateigentum  durch  seine  Erzeugung  über  sich  selbst 
verhängt  habe,  es  könne  und  müsse  selbst  sich  befreien,  danach 
aber  werde  es  mit  seinem  bedingenden  Gegensatz,  dem  Privat- 
eigentum, verschwinden,  weil  es  seine  eigenen  Lebensbedingungen 
nicht  aufheben  könne,  ohne  alle  unmenschlichen  Lebensbedingungen 
der  menschlichen  Gesellschaft  aufzuheben.  Zwischen  dem  Bewußt- 
sein der  einzelnen  Proletarier  und  dem  Sein  des  Proletariats  als 
Klasse  zieht  Marx  hier  bereits  streng  die  Grenze  und  spricht  so  in 
nuce  den  ihm  eigentümlich  gehörenden  Gedanken  aus,  daß  das 
Proletariat,  um  sich  zu  befreien,  zum  vollen  Bewußtsein  über  seine 
Klassenlage  wie  über  seine  Weltmission  gekommen  sein  müsse. 
Marx  hat  ja  niemals  beansprucht,  hätte  auch  nicht  beanspruchen 
können,  daß  er  die  Lehre  vom  Klassenkampf  »entdeckt'  habe. 
Wohl  aber  meinte  er,  als  der  erste  nachgewiesen  zu  haben,  daß  die 
Existenz  der  Klassen  bloß  an  bestimmte  Entwicklungskämpfe  der 
Produktion  gebunden  sei,  daß  der  Klassenkampf  notwendig  zur 
Diktatur  des  Proletariats  führe,  daß  aber  diese  nur  den  Übergang 
zu  einer  klassenlosen  Gesellschaft  bedeute. 

So  straff  wie  in  diesen  Sätzen  der  Heiligen  Familie,  die  man  als 
eine  erste  Skizze  für  die  Linienführung  des  Kommunistischen  Ma- 
nifests  ansprechen  mcchte,  hatte  bisher  weder  Marx  noch  Engels  den 
Grundgedanken,  um  dessen  immer  klarere  Herausarbeitung  wir  sie 
in  den  folgenden  Jahren  bemüht  finden,  zum  Ausdruck  gebracht. 
Engels  fehlte  es,  wie  wir  uns  schon  gestanden,  an  dem  eisernen 
Drang  nach  konzentrierter  Bewußtheit,  ohne  den  die  potenzierte 
Verstandesenergie  des  Systematikers  sich  nicht  in  Bewegung  setzt. 
Ohne  Eile  behagte  er  sich  in  dem  Reichtum  des  Details,  sobald 


204     ^^  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

ihm  das  darin  sich  aussprechende  Resultat  mit  ungefährer  Klarheit 
entgegenschimmerte,  ohne  daß  ihn  das  Bedürfnis  übermannte, 
aus  der  Fülle  die  Formel  herauszugestalten.  Wenn,  wie  man  öfters 
behaupten  wollte,  in  ihm  und  in  Marx  auch  vom  bildenden  Künstler 
etwas  steckte,  so  hatte  er  mehr  vom.  Maler,  jener  mehr  vom  Bild- 
hauer in  sich. 

Daß  er  Farbe  und  Kontur  gleich  meisterhaft  beherrschte, 
zeigte  sein  Werk:  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England 
nach  eigner  Anschauung  und  authentischen  Quellen,  das  im  Sommer 
184s  in  Leipzig  bei  Otto  Wigand  erschien.  Dieses  entstand  aus  dem 
aus  England  mitgebrachten  Material  in  den  Herbst-  und  Winter- 
monaten in  Barmen,  wohin  er  sich  eigentlich  in  der  Absicht  be- 
geben hatte,  möglichst  schnell  wieder  zu  Marx  nach  Paris  zurück- 
zukehren. Das  Manuskript  war  gerade  in  die  Druckerei  abgegangen, 
als  er  hier  das  erste  Exemplar  der  Heiligen  Familie  erhielt.  Es 
können  also  die  Gedanken,  die  Marx  dort  für  den  Aufbau  ihrer 
Geschichtsauffassung  beisteuerte,  nicht  mehr  eingewirkt  haben. 
Ihr  gemeinsames  Vorwort  zur  Heiligen  Familie  hatte  ange- 
kündigt, sie  würden  jener  polemischen  Auseinandersetzung  die 
selbständigen  Schriften  folgen  lassen,  worin  sie  ,, versteht  sich, 
jeder  von  uns  für  sich"  ihre  positive  Ansicht  und  damät  ihr  positives 
Verhältnis  zu  den  neueren  philosophischen  und  sozialen  Doktrinen 
darstellen  wollten.  Wir  wissen  nicht,  ob  Engels  bei  diesem  Ver- 
sprechen nicht  noch  an  andere  Projekte  als  an  Die  Lage  der  ar- 
beitenden Klasse  gedacht  hat.  Jedenfalls  ist  es  ihm  in  diesem 
Hauptwerk  seiner  Jugendzeit  gelungen,  seine  positiven  Ansichten 
eindrucksvoll  mit  der  Schilderung  zu  verflechten. 

Der  Schrift  vorgedruckt  war  eine  englisch  abgefaßte  Widmung 
an  die  Arbeiterklasse  Großbritanniens,  deren  Leiden,  Kämpfe, 
Hoffnungen  und  Aussichten  er  seinen  deutschen  Landsleuten  ge- 
treulich habe  darstellen  wollen.  Er  beruft  sich  auf  die  offiziellen 
und  nichtoffiziellen  Dokumente,  die  er  studiert,  mehr  noch  auf  die 
Eindrücke,  die  er  persönlich  mit  Hingebung  gesammelt  habe,  um 
ihre  Lage  und  Beschwerden  kennen  zu  lernen  und  Zeugnis  ablegen 
zu  können  von  ihren  Kämpfen  gegen  die  soziale  und  politische 
Macht  ihrer  Unterdrücker.  Mit  Freude  und  Stolz  erfülle  es  ihn, 
daß  er  in  Manchester  seine  Mußestunden,  statt  an  den  mit  Portwein 
und  Champagner  besetzten  Tafeln  der  Industriellen,  in  Gesellschaft 
schlichter  Arbeiter  verbracht,  auf  das  Studium  ihrer  Lage  ver- 
wandt habe.  Mit  Freude,  weil  es  ihn  beglückt  habe,  so  die  Reali- 
täten des  Lebens  kennen  zu  lernen,  mit  Stolz,  weil  er  so  den  Anlaß 
fand,  einer  unterdrückten  und  verleumdeten  Klasse  gerecht  zu 
werden  und  das  englische   Volk  vor  der  wachsenden  Verachtung 


Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England.  205 

zu  bewahren,  in  die  es  auf  dem  Kontinent  durch  die  brutal  selbst- 
süchtige Politik  seiner  herrschenden  Mittelklasse  gerate.  Auch 
diese  kennen  zu  lernen,  habe  er  reichlich  Gelegenheit  gefunden  und 
so  begreife  und  billige  er,  daß  das  Proletariat  von  ihr,  deren  In- 
teresse dem  seinen  diametral  entgegengesetzt  sei  und  die  nur  seine 
Arbeit  ausbeuten,  es  selbst  aber  dem  Hungertod  überlassen  wolle, 
keinen  Beistand  erwarte.  Die  Mittelklasse  habe  nicht  einmal  ein 
lesbares  Werk  über  die  Lage  der  großen  Mehrheit  der  freigeborenen 
Briten  zustande  gebracht;  einem  Fremden  überlasse  sie  es,  der 
zivilisierten  Welt  von  den  unwürdigen  Verhältnissen,  unter  denen 
die  englische  Arbeiterklasse  lebe,  Kenntnis  zu  geben.  Freilich  sei 
er  für  die  Arbeiter  kein  Fremder,  denn  freudig  habe  er  wahrgenom- 
men, daß  diese  sich  von  dem  vernichtenden  Fluch,  dem  nationalen 
Vorurteil  und  Dünkel,  hinter  denen  sich  nur  Eigennutz  im  großen 
verstecke,  freigehalten  hätten:  ,,Ich  fand,  daß  Ihr  mehr  seid  als 
bloß  Engländer,  bloß  Glieder  einer  einzigen,  vereinzelten  Nation,  ich 
erfand  Euch  als  Menschen,  als  Glieder  der  großen  allgemeinen 
Familie  der  Menschheit,  die  wissen,  daß  ihr  Interesse  und  das  der 
ganzen  menschlichen  Rasse  zusammenfalle.  Und  als  solche,  als 
Glieder  dieser  Familie  der  einen  und  unteilbaren  Menschheit,  als 
menschliche  Wesen  im  nachdruckvollsten  Sinne  des  Wortes,  als 
solche  begrüße  ich  und  viele  andere  auf  dem  Festland  Euren  Fort- 
schritt in  jeder  Richtung  und  wünschen  Euch  schnellen  Erfolg. 
Schreitet  voran,  wie  Ihr  es  bisher  getan  habt.  Viel  bleibt  zu  erdulden, 
seid  stark  und  unerschrocken,  Euer  Sieg  ist  gewiß,  und  kein  Schritt, 
den  Ihr  auf  Eurem  Vormarsch  tut,  wird  verloren  sein  für  unsere 
gemeinsame  Sache,  für  die  Sache  der  Menschheit." 

In  einem  Vorwort  an  die  deutschen  Leser,  das  dieser  Wid- 
mung folgt,  gesteht  Engels,  daß  die  Schrift  ursprünglich  nur  als 
Kapitel  des  von  ihm  geplanten  umfassenderen  Werks  über  die 
soziale  Geschichte  Englands  gedacht  gewesen  sei,  daß  aber  die 
Wichtigkeit  des  Gegenstands  ihn  genötigt  habe,  diesen  selbständig 
zu  bearbeiten.  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  sei  der  tatsächliche 
Boden  und  Ausgangspunkt  aller  sozialen  Bewegungen  der  Gegen- 
wart, die  unverhüllte  Spitze  der  bestehenden  sozialen  Misere,  ihre 
Erkenntnis  also  eine  unumgängliche  Notwendigkeit,  um  den  soziali- 
stischen Theorien  und  den  Urteilen  über  ihre  Berechtigung  einen 
festen  Boden  zu  geben  und  allen  Schwärmereien  und  Phantastereien 
pro  und  contra  ein  Ende  zu  machen.  Besonders  für  Deutschland 
habe  die  Darstellung  der  klassischen  Zustände  des  britischen  Prole- 
tariats große  und  aktuelle  Bedeutung.  Mehr  als  jeder  andere  sei 
der  deutsche  Sozialismus  und  Kommunismus  von  theoretischen 
Voraussetzungen  ausgegangen;  die   deutschen  Theoretiker   hätten 


2o6     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

von  der  wirklichen  Welt  noch  viel  zu  wenig  gekannt,  als  daß  die 
wirklichen  Verhältnisse  sie  unmittelbar  zu  Reformen  dieser  „schlech- 
ten Wirklichkeit"  hätten  treiben  können.  Von  den  öffentlichen 
Vertretern  solcher  Reformen  sei  fast  kein  einziger  anders  als  durch 
die  Feuerbachsche  Auflösung  der  Hegeischen  Spekulation  zum 
Kommunismus  gekommen.  Die  wirklichen  Lebensumstände  des 
Proletariats  wären  so  wenig  gekannt,  daß  selbst  die  wohlmeinenden 
Vereine  zur  Hebung  der  arbeitenden  Klassen,  in  denen  neuerdings 
die  deutsche  Bourgeoisie  die  soziale  Frage  mißhandele,  fortwährend 
von  den  lächerlichsten  Meinungen  über  die  Lage  der  Arbeiter  aus- 
gingen. Seien  auch  die  proletarischen  Zustände  Deutschlands  noch 
nicht  zu  der  Klassizität  ausgebildet  wie  die  englischen,  so  hätten 
wir  doch  im  Grunde  dieselbe  soziale  Ordnung,  die  über  kurz  oder 
lang  auf  dieselbe  Spitze  getrieben  sein  werde,  die  sie  jenseits 
der  Nordsee  bereits  erlangt  habe  —  sofern  nicht  beizeiten  die  Ein- 
sicht der  Nation  Maßregeln  zustande  brächte,  durch  die  das  ganze 
soziale  System  eine  neue  Basis  erhielte.  Dieselben  Grundursachen, 
die  in  England  das  Elend  und  die  Unterdrückung  des  Proletariats 
bewirkt  hätten,  seien  in  Deutschland  vorhanden  und  müßten  hier 
auf  die  Dauer  dieselben  Resultate  erzeugen.  „Einstweilen  wird 
aber  das  konstatierte  englische  Elend  uns  einen  Anlaß  bieten,  auch 
unser  deutsches  Elend  zu  konstatieren  und  einen  Maßstab,  woran 
wir  seine  Ausdehnung  und  die  Größe  der  —  in  den  schlesischen 
und  böhmischen  Unruhen  zutage  gekommenen  —  Gefahr  messen 
können,  welche  von  dieser  Seite  der  unmittelbaren  Ruhe  Deutsch- 
lands droht."  Ausdrücklich  betont  Engels  zum  Schluß,  daß  er  die 
Bezeichnungen  Arbeiterklasse,  besitzlose  Klasse  und  Proletariat 
als  gleichbedeutend  gebrauche,  ebenso  daß  er  das  Wort  Mittel- 
klasse dem  englischen  Sprachgebrauch  entsprechend  anwende, 
wo  es  wie  das  französische  Bourgeoisie  die  besitzende  Klasse,  speziell 
die  von  der  sogenannten  Aristokratie  unterschiedene  Klasse  be- 
deute —  die  Klasse,  die  in  England  und  Frankreich  direkt,  in 
Deutschland  aber  als  öffentliche  Meinung  indirekt  im  Besitze 
der  Staatsmacht  sei. 

Besonderen  Nachdruck  legte  der  Verfasser  auf  die  Feststellung, 
daß  die  Engländer  noch  kein  Buch  besaßen,  das  wie  das  seine  alle 
Arbeiterkategorien  berücksichtigte.  Die  englischen  Schriften,  die 
er  benutzt,  zitiert  er  ausgiebig  —  die  parlamentarischen  Enqueten 
wie  besonders  die  Monographien,  dagegen  scheint  er  die  einschlägige 
französische  Literatur  damals  noch  nicht  gekannt  zu  haben.  Er 
erwähnt  weder  Doktor  Villermes  Tableau  de  l'Etat  physique  et  moral 
des  ouvriers  noch,  was  ihm  Vorwürfe  eingetragen  hat,  das  in  man- 
cher Hinsicht  vortreffliche  Werk  des  früh  verstorbenen  Eugene  Buret, 


Engels  und  Buret.  207 

De  la  misere  des  classes  laborieuses  en  Angle terre  et  en  France. 
Beide  Schriften  waren  1840  erschienen.  Ein  Gelehrter  von  wissen- 
schaftlichem Ruf  Charles  Andler,  möchte  das  Engelssche  Buch  nur 
als  ,,une  refonte  et  une  mise  au  point"  des  Buretschen  gelten  lassen. 
Uns  zeigte  sich  eine  Übereinstimmung  nur  darin,  daß  sie,  wie  es 
gar  nicht  anders  sein  konnte,  für  die  Beschreibung  der  englischen 
Zustände  zum  Teil  auf  dem  gleichen  Quellenmaterial  fußen;  hin- 
sichtlich der  Anlage,  der  Auffassung,  des  Ausgangs-  und  Ziel- 
punkts ergab  sich  uns  nicht  die  mindeste  Ähnlichkeit.  Ein  maß- 
voller Sozialreformer  aus  der  Schule  Sismondis,  der  im  einzelnen 
Careys  Einfluß  erfahren  hat,  schildert  Buret,  wie  er  selbst  bekennt, 
,,ohne  Leidenschaft,  wenn  auch  manchmal  traurigen  Herzens" 
das  gleiche  Elend,  das  Engels  zu  einer  flammenden  Anklageschrift 
gegen  die  ganze  bestehende  Weltordnung  fortgerissen  hat.  Des 
Franzosen  Wertmaßstäbe  bleiben  im  Naturrecht  verankert,  seine 
leitenden  Gesichtspunkte  von  ethischen  Erwägungen  erfüllt  und  von 
dem  Glauben  an  die  Allmacht  einer  weisen  Gesetzgebung  be- 
herrscht, während  der  Deutsche  die  Dinge  historischer  betrachtet 
und  die  ökonomischen  und  sozialen  Entwicklungstendenzen,  über 
die  sich  der  andere  in  optimistischem  Vertrauen  auf  den  Gerechtig- 
keitssinn und  das  wohlverstandene  Interesse  der  Gesellschaft  hin- 
wegsetzt, zur  Erklärung  von  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zu- 
kunft heranzieht.  Während  Engels  die  einzige  Rettung  von  der  Fort- 
bildung der  bestehenden  Zustände  zum  Kommunismus  erwartet, 
setzt  Buret  seine  Hoffnung  auf  die  völlige  Mobilisierung  des  Grund- 
besitzes, auf  Sozialpolitik  und  ein  konstitutionelles  Fabriksystem. 
Obgleich  schon  Lorenz  Stein  Buret  erwähnt  hatte,  scheint  Engels 
das  Werk,  das  ihm  nichts  Entscheidendes  mehr  bieten  konnte,  erst 
auf  der  Durchreise  in  Paris  in  die  Hände  gekommen  zu  sein.  Er 
hat  später  selbst  hervorgehoben,  was  daran  mit  seinen  eigenen 
Eindrücken  übereinstimmte. 

Die  Einleitung  zu  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  schildert 
die  epochemachenden  technischen  Erfindungen  und  ihre  öko- 
nomische, politische  und  soziale  Auswirkung.  Sie  gibt  in  glänzender, 
spannender  Darstellung  einen  tatsachenreichen  Überblick  über  die 
Geschichte  der  englischen  Volkswirtschaft  imZeitalter  der  industriellen 
Revolution,  über  eine  Geschichte,  die  ihresgleichen  nicht  habe  in  den 
Annalen  der  Menschheit.  Sie  erkennt  in  der  Entstehung  des  mo- 
dernen Proletariats  die  bedeutsamste  Folgeerscheinung  dieses  un- 
geheuren Umbildungsprozesses  und  geißelt  die  Verständnislosigkeit 
der  Mittelklasse,  die  nicht  einmal  merke,  daß  der  Boden,  auf  dem 
sie  lebe,  ausgehöhlt  sei  und  in  naher  Frist  mit  der  Sicherheit  eines 
mathematischen    Gesetzes    zusam.menstürzen    werde.     Der    größte 


2o8     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Raum  des  Werks  entfällt  dann  dem  Titel  gemäß  auf  die  Beschrei- 
bung der  Lage  dieses  Proletariats  in  seinen  verschiedenen  Schichten : 
voraus  der  Industriearbeiter,  danach  der  Arbeiter  in  den  Berg- 
werken und  im  Ackerbau.  Besondere  Abschnitte  sind  der  irischen 
Einwanderung,  den  großen  Städten,  der  Wirkung  der  Konkurrenz 
auf  das  Proletariat  gewidmet.  Unter  der  Überschrift  ,, Arbeiter- 
bewegungen" werden  der  Chartismus  und  der  englische  Sozialismus 
behandelt;  ein  Schlußkapitel  untersucht  das  Verhältnis  der  Mittel- 
klasse zum  Proletariat  und  stellt  nach  der  vorausgegangenen  aus- 
giebigen Schilderung  der  sozialen  Krankheit  die  uns  schon  bekannte 
Prognose  für  ihren  Verlauf. 

Dadurch,  daß  das  ganze  reiche  deskriptive  Material  unter 
einem  einheitlichen  Gesichtspunkt  gruppiert  war,  der  auf  einer 
festen,  tief  wurzelnden  Überzeugung  beruhte,  entstand  unter  der 
Feder  des  Verfassers  ein  Bild  von  erschütternder  Wucht,  von  un- 
erhörter Geschlossenheit,  von  unwiderstehlicher  Werbekraft,  das 
—  mochte  seine  Parteirichtung  auch  deutlich  hindurchschimmern, 
darum  nicht  minder  die  Züge  der  Wahrheit  trug.  Man  täte  Un- 
recht, wollte  man  Engels  vorwerfen,  daß  er  das  grenzenlose  Elend 
des  englischen  Proletariats  in  jener  Ära  des  Frühkapitalismus  mit 
weniger  düsteren  Farben  richtiger  gemalt  haben  würde.  Die  offi- 
ziellen Enqueten  und  die  Schriften  zahlreicher  Engländer,  die  nichts 
weniger  als  revolutionäre  Kommunisten  waren,  lehren  uns,  wie 
unmenschliche  Zustände  damals  dort  herrschten.  Dennoch  ist  es 
ein  gewaltiger  Unterschied,  ob  der  Verfasser  einer  solchen  Schilde- 
rung eine  Besserung  der  Verhältnisse  auf  friedlichem  Wege  gar 
nicht  mehr  in  Betracht  zieht,  oder  ob  er  Reformen  noch  für  mög- 
lich und  rechtzeitig  durchführbar  hält.  So  dachten  Victor  Aim6 
Huber,  der  1844  die  englischen  Fabrikdistrikte  besuchte,  und  Bruno 
Hildebrand,  der  sie  1846  in  Augenschein  nahm.  Sie  hielten  nicht 
wie  Engels  alles,  was  das  Proletariat  selbst  auf  friedlichem  Wege 
zur  Verbesserung  seiner  Lage  tun  könne,  für  bedeutungslos.  Sie 
sahen  nicht  wie  jener  im  Proletariat  bloß  das  willenlose  Objekt 
aller  möglichen  Kombinationen  von  Umständen,  das,  solange  die 
gegenwärtige  Gesellschaftsordnung  bestünde,  weder  die  Selbsthilfe 
durch  die  Gewerkschaften,  die  bloß  gegen  kleinere,  einzeln  wirkende 
Ursachen  etwas  zu  erreichen  vermöchten,  noch  andere  Mittel  und 
Maßnahmen  aus  Sklaven  zu  Herren  der  Verhältnisse  machen 
könnten.  Sie  gaben  zu,  daß  die  Engelssche  Darstellung  ,,im  ganzen" 
mit  dem  übereinstimme,  was  sie  selbst  nach  wiederholter  Anschauung 
und  nach  leidlicher  Bskanntschaft  mit  den  authentischen  Quellen 
übsr  die  Lage  des  englischen  Proletariats  in  Erfahrung  gebracht 
hatten,   aber   sie   beanstandeten,    daß   Engels    alles   unbedingt   ins 


Hubers  und  Hildebrands  Kritik.  209 

Schwarze  und  Schwärzeste  malte,  daß  er  die  schlimmen  Züge 
möglichst  scharf  und  grell  hinstellte,  die  besseren  möglichst  ver- 
wischte und  verzerrte.  ,,Die  Einzelheiten  sind  richtig,  aber  das 
Ganze  ist  falsch",  urteilte  Hildebrand.  Huber  beklagte,  daß  die 
Schrift  mit  Galle,  ja  mit  Blut  und  Glut  zu  Mord  und  Brand  aus- 
gemalt wäre.  Hildebrand  bezeichnete  eine  so  einseitige  Schilderung 
bloß  der  Nachtseiten  der  britischen  Industrie  und  Arbeiterwelt  als 
ebenso  unhaltbar,  wie  eine  Statistik  der  menschlichen  Gesundheit, 
die  sich  bloß  auf  die  Beobachtungen  in  den  Hospitälern  gründen 
wollte.  Er  nannte  Engels  den  begabtesten  und  kenntnisreichsten 
unter  allen  deutschen  Sozialschriftstellern,  er  gab  zu,  daß  sein  Werk 
,, weniger  Lärm  als  eine  große  Wirkung"  hervorgebracht  habe, 
aber  er  rügte,  daß  er  ,,die  natürliche  Heilkraft  des  englischen  Staats- 
körpers** übersah  und  —  zusammenfassend  — ,  daß  er  unhisto- 
risch verfahre,  wenn  er  die  ganze  bisherige  Geschichte  nur  als 
den  allmählichen  Sündenfall  des  Menschengeschlechts  betrachte. 
Beiden  bürgerlichen  Kritikern,  dem  ethisch-historischen  wie  dem 
sozial-konservativen,  mißfiel  selbstredend  die  kommunistische  Ge- 
sinnung, die  das  Buch  erfüllte,  mochte  Hildebrand  immerhin  die 
„sittliche  Wärme"  anerkennen,  in  die  sich  die  „Leidenschaft  und 
Wut**  der  früheren  Arbeiten  des  Autors  gewandelt  habe.  Huber 
beunruhigte  besonders,  daß  Engels  alles  Schlechte  an  den  Nicht- 
besitzenden als  Posten  in  die  große  Rechnung  des  proletarischen 
Hasses  gegen  Besitz  und  Besitzende,  gegen  Staat  und  Kirche  an- 
schrieb. Was  er  im  Tiefsten  meinte  offen  und  derb  heraussagend, 
nannte  er  es  eine  moralische  Feigheit,  jede  Verbesserung,  jeden 
Rettungsversuch  von  vornherein  auszuschließen.  Die  Frage,  ob 
„diese  hassenden  Millionen**,  die  ganz  außerhalb  der  politischen 
und  sozialen  Zivilisation  stünden,  den  bestehenden  Verhältnissen 
und  den  durch  diese  Begünstigten  gefährlich  werden  könnten, 
glaubte  er,  nicht  allein  für  die  Gegenwart,  sondern  gleich  auch  für 
die  Zukunft,  soweit  sich  in  diese  hinausblicken  lasse,  verneinen  zu 
dürfen.  Dieser  hochstehende  Konservative  wollte  sich  von  dem 
revolutionären  Autor  nicht  einreden  lassen,  daß  der  ,, Barrikaden- 
popanz" in  den  geordneten  europäischen  Staaten  noch  einmal  in 
Betracht  kommen  könne.  Seinem  mehr  seelsorgerisch  als  politisch 
eingestellten  Blick  erklärt  sich  das  tiefe  Elend  in  dem  Aussehen  der 
Fabrikarbeiter  Lancashires  weniger  aus  der  rein  materiellen  Ent- 
behrung als  aus  der  Unsicherheit  der  Arbeitsgelegenheit  und  der  sitt- 
lichen und  religiösen  Rückständigkeit.  Er  ist  überzeugt,  daß  es  keines 
Umsturzes  der  Gesellschaftsordnung,  nicht  einmal  umfassender  Ver- 
waltungsmaßregeln bedürfe,  um  das  Leben  dieser  Klasse  mensch- 
lich glücklicher  und  in  christlichem  Sinne  würdiger  zu  gestalten. 

Mayer,  Friedrich  Engels,    Bd.  I  I4 


210     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Aber  Engels  hatte  schon  in  seiner  Bremer  Lehrzeit  sich  dem 
Geist  der  Inneren  Mission  entwachsen  gefühlt.  Und  das  namen- 
lose Elend  der  Armen,  die  barbarische  Gleichgültigkeit  und  egoistische 
Härte  der  Besitzenden,  die  ihn  auf  den  Straßen  Londons,  in  Man- 
chester und  Birmingham  zuerst  mit  erschütternder  Gewalt  gepackt, 
hatten  ihn  ein  für  allemal  überzeugt,  daß  ,, bornierte  Selbstsucht" 
das  Grundprinzip  der  bürgerlichen  Gesellschaft  sei  und  daß,  solange 
sie  bestehe,  der  soziale  Krieg  nicht  aufhören  werde.  In  der  Auf- 
fassung, daß  der  Stärkere  den  Schwächeren  überall  unter  die  Füße 
trete  und  ,,daß  die  wenigen  Starken,  das  heißt  die  Kapitalisten, 
alles  an  sich  reißen,  während  den  vielen  Schwachen,  den  Armen, 
kaum  das  nackte  Leben  bleibt",  begegnete  er,  der  eben  die  Aus- 
arbeitung seiner  ,, Anklageakte  gegen  die  englische  Bourgeoisie" 
begonnen  hatte,  sich  mit  Stirners  genial  paradoxem  Werk  Der 
Einzige  und  sein  Eigentum,  dessen  Aushängebogen  der  gemein- 
same Verleger  ihm  übersandte  und  das  ihm  als  „vollkommener 
Ausdruck  der  bestehenden  Tollheit"  erschien.  Stirners  Egoismus 
sei,  schreibt  er  am  19.  November  1844  an  Marx,  nur  das  zum  Be- 
wußtsein gebrachte  Wesen  der  jetzigen  Gesellschaft  und  des  jetzigen 
Menschen.  Weil  er  aber  so  auf  die  Spitze  getrieben,  so  toll  und  zu- 
gleich so  selbstbewußt  wäre,  könne  er  sich  in  seiner  Einseitigkeit 
nicht  einen  Augenblick  halten,  sondern  müsse  gleich  in  Kommunis- 
mus umschlagen.  Um  Stirners  Einseitigkeit  zurückzuweisen,  ge- 
nüge es  ja,  ihm  zu  zeigen,  daß  seine  egoistischen  Menschen  not- 
wendig aus  lauter  Egoismus  Kommunisten  werden  müßten,  daß  das 
menschliche  Herz  von  vornherein  unmittelbar,  in  seinem  Egoismus 
uneigennützig  und  aufopfernd  wäre,  daß  er  also  doch  wieder  auf 
das  hinauskomme,  wogegen  er  ankämpfe.  Für  die  Beurteilung 
des  damaligen  Standpunkts  des  Verfassers  der  Lage  der  arbeiten- 
den Klasse  bleibt  beachtenswert,  daß  ihm  an  Stirners  Prinzip 
eine  Seite  doch  so  wahr  erschien,  daß  er  Marx  vorschlug,  sie 
in  ihre  Theorie  aufzunehmen.  Wahr  dünkte  ihm,  ,,daß  wir 
erst  eine  Sache  zu  unsrer  eigenen,  egoistischen  Sache  machen 
müssen,  ehe  wir  etwas  dafür  tun  können,  daß  wir  also  in 
diesem  Sinne,  auch  abgesehen  von  etwaigen  materiellen  Hoff- 
nungen, auch  aus  Egoismus  Kommunisten  sind,  aus  Egoismus 
Menschen  sein  wollen,  nicht  bloß  Individuen".  Der  Egoismus 
also,  den  er  früher  überhaupt  verworfen  hatte,  gilt  ihm  jetzt 
als  der  unvermeidliche  Ausgangspunkt  auch  aller  altruistischen 
Handlungen;  die  Menschenliebe  schwebe  sonst  in  der  Luft.  Aus- 
drücklich aber  fordert  Engels  die  Ergänzung  des  Stirnerschen  Ver- 
standesegoismus durch  den  Egoismus  des  Herzens.  Stirners  Kritik 
Feuerbachs  billigte  er  insofern,  als  auch  er  jetzt  einräumte,  daß 


Der  Einzige  und  sein  Eigentum.  211 

der  Feuerbachsche  Humanismus  seine  Abstammung  von  der 
Theologie  noch  nicht  verleugnen  könne.  ,,Wir  müssen  vom  Ich, 
vom  empirischen,  leibhaftigen  Individuum  ausgehen",  aber  nicht 
um  wie  Stirner  drin  stecken  zu  bleiben,  sondern  um  ,,uns  von  da 
aus  zu  ,dem  Menschen'  zu  erheben".  ,,Kurz,  wir  müssen  vom 
Empirismus  und  Materialismus  ausgehen,  wenn  unsere  Gedanken 
und  namentlich  unser  ,Mensch*  etwas  Wahres  sein  sollen;  wir 
müssen  das  Allgemeine  vom  Einzelnen  ableiten,  nicht  aus  sich 
selbst  oder  aus  der  Luft  ä  la  Hegel."  Dieses  flüchtig  in  Briefform 
skizzierte  Programm  forderte  also  gegenüber  der  damaligen  geistigen 
Welt  Deutschlands  eine  Revolutionierung  der  Wissenschaft;  wie 
Marx  sich  mit  Feuerbach  auseinandersetzen  würde,  wußte  Engels 
noch  nicht,  die  Heilige  Familie  war  ihm  noch  nicht  zu  Gesicht 
gekommen,  die  berühmten  Thesen  waren  noch  nicht  niedergeschrie- 
ben. Stirners  , »materialistische  Abstraktion"  bedeutete  ihm  nichts 
weiter  als  einen  Anstoß,  der  vorhandene  Gedanken  in  Bewegung 
setzte.  Wenn  sich  Engels  also  gerade  jetzt  von  „den  idealistischen 
Flausen",  die  ihm  bei  Moses  Heß,  mit  dem  er  sich  eben  zusammen- 
gefunden hatte,  so  störten,  vollends  frei  machte,  so  verdankte  er 
diese  Beschleunigung  eines  Prozesses,  für  den  die  Elemente  bei  ihm 
bereits  angesammelt  vorlagen,  vor  allem  der  intensiven  Beschäftigung 
mit  jenen  realen  Dingen,  zu  der  ihn  die  Ausarbeitung  seines  Buches 
nötigte.  In  jenem  Brief  an  Marx  gesteht  er,  daß  ihn  das  ,, theore- 
tische Getratsch"  alle  Tage  mehr  langweile  und  jedes  Wort,  das 
man  noch  über  ., den  Menschen"  verliere,  und  jede  Zeile,  die  man 
gegen  die  Theologie  und  Abstraktion  wie  gegen  den  krassen  Ma- 
terialismus schreiben  oder  lesen  müsse,  ärgere.  ,,Es  ist  doch  etwas 
ganz  anderes,  wenn  man  sich  statt  all  dieser  Luftgebilde  —  denn 
selbst  der  noch  nicht  realisierte  Mensch  bleibt  bis  zu  seiner  Reali- 
sierung ein  solches  —  mit  wirklichen  lebendigen  Dingen,  mit  histo- 
rischen Entwicklungen  und  Resultaten  beschäftigt.  Das  ist  wenig- 
stens das  beste,  solange  wir  noch  allein  auf  den  Gebrauch  der 
Schreibfeder  angewiesen  sind  und  unsere  Gedanken  nicht  unmittel- 
bar mit  den  Händen  oder,  wenn  es  sein  muß,  mit  den  Fäusten  reali- 
sieren können." 

Abgestoßen  durch  die  Unbestimmtheit  jener  allgemeinen  Be- 
griffe vom  Menschen,  vom  wahren  Menschen,  vom  wirklichen  Men- 
schen, vom  Gattungsmenschen,  die  wir  ihn  und  Marx  in  ihren 
Beiträgen  zu  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  noch  un- 
bedenklich hatten  verwenden  sehen,  überdrüssig  auch  des  Miß- 
brauchs, den  die  Mehrzahl  der  durch  Feuerbach  zum  Sozialismus 
gekommenen  Schriftsteller  mit  diesen  Abstraktionen  trieben,  geht 
Engels  in  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse   jenen  Redewendungen 

X4* 


212     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

des  Feuer bachschen  Humanismus  bereits  bewußt  aus  dem  Wege. 
Und  das  wurde  ihm  nicht  mehr  schwer,  seitdem  ihn  mit  Erlöser- 
kraft der  Gedanke  erfaßt  hatte,  daß  aus  der  Unvollkommenheit  der 
herrschenden  sozialen  Ordnung  mit  innerem  Zwang  eine  neue, 
eine  bessere  Ordnung  entstehen  werde.  Wir  wissen  längst,  welche 
überschwänglichen  Hoffnungen  er  an  die  große  englische  soziale 
Revolution  knüpfte,  deren  rasches  Herannahen  er  mit  Sicherheit 
erwartete.  Sollte  sich  aber  selbst  die  bestehende  Monopolwirtschaft 
noch  etwas  länger  behaupten,  so  bewies  ihm  die  Theorie  von  der 
Zentralisation  des  Kapitals,  an  deren  Richtigkeit  er  nicht  zweifelte, 
daß  die  an  verheerender  Wirkung  stets  zunehmende  Kraft  der 
Handelskrisen  sie  zum  Untergang  verurteilte.  Das  Proletariat 
würde  durch  den  fortschreitenden  Ruin  des  kleinen  Mittelstands 
in  geometrischer  Proportion  zunehmen  und  bald  die  ganze  Nation, 
mit  Ausnahme  weniger  Millionäre,  umfassen.  Dann  trete  der  Augen- 
blick ein,  wo  es  die  Leichtigkeit,  die  herrschende  soziale  Macht  zu 
stürzen,  erkennen  und  die  Ravolution  durchführen  werde. 

Als  der  Hebel  des  Aufstiegs  des  Proletariats  hatte  sich  Engels 
auf  britischem  Boden  der  Klassenkampf  enthüllt.  Wie  aber  sollte 
er  diese  brutale  Tatsache  hinnehmen,  wie  sich  mit  ihrer  geschicht- 
lichen Notwendigkeit  abfinden,  ohne  durch  die  neue  Erkenntnis 
mit  dem  humanistischen  Grundgedanken  jenes  klassischen  Idealis- 
mus, der  sein  innerstes  Gefühl,  seine  tiefste  Wertungsweise  nach 
wie  vor  beherrschte,  in  Widerspruch  zu  geraten?  Er  sagte  sich, 
daß  in  der  kapitalistischen  Gesellschaftsordnung  der  ungeheuren 
Masse  der  Menschen,  den  Arbeitern,  allein  die  Alternative  bliebe, 
sich  in  ihr  Schicksal  zu  ergeben  und  das  Interesse  des  Bourgeois 
getreulich  wahrzunehmen,  aber  dann  vertierten  sie,  oder  für  ihre 
Menschheit  zu  kämpfen  und  sie  zu  retten,  aber  das  könne  allein 
im  Kampfe  gegen  die  Bourgeoisie  geschehen.  Nun  erst  fühlte  Engels 
sich  im  Recht,  wenn  er  den  Klassenkampf  als  das  einzige  Mittel  pries, 
das  die  Arbeiter  weiterführte  und  für  die  englische  Gegenwart 
dieses  Mittel  für  fruchtbarer  hielt,  als  ,, Philanthropie  und  allgemeine 
Liebe".  Stärker  als  früher  störte  ihn  nun  die  bürgerliche  Herkunft 
des  englischen  Sozialismus,  die  es  diesem  unmöglich  mache,  sich 
mit  der  Arbeiterklasse  zu  amalgamieren,  während  die  Chartisten 
als  die  wahren  Repräsentanten  des  Proletariats  seinem  Herzen 
jetzt  noch  näher  gerückt  sind.  Daran  aber  hält  er  fest,  daß  die 
Arbeiterklasse  die  Herrscherin  in  England  erst  werden  könne,  wenn 
der  Sozialismus  proletarisch  und  das  Proletariat  sozialistisch  ge- 
worden wäre.  Anzeichen  dieser  nahenden  Verschmelzung  glaubte 
er  wahrzunehmen. 

Als  Engels  drei  Jahre  vor  seinem  Tode  zu  einer  zweiten  Auflage 


Die  künftige  soziale  Revolution.  213 

dieses  Jugendwerkes  das  Vorwort  schrieb,  hat  er  bei  der  unphiloso- 
phischen Generation  von  Lesern,  die  er  im  Beginn  der  Wilhelmi- 
nischen Epoche  vor  sich  sah,  rechtfertigen  zu  müssen  gemeint, 
daß  dieses  überall  die  Spuren  der  Abstammung  des  modernen 
Sozialismus  von  der  deutschen  klassischen  Philosophie  verriet 
und  deshalb  noch  großes  Gewicht  auf  die  Behauptung  legte,  daß  der 
Kommunismus  nicht  eine  bloße  Parteidoktrin  der  Arbeiterklasse 
sei,  sondern  die  Befreiung  der  gesamten  Gesellschaft  zum  Endziel 
habe.  „In  abstraktem  Sinne"  wollte  auch  nach  einem  halben  Jahr- 
hundert des  Kampfes  gegen  die  Bourgeoisie  der  alte  Engels  diese 
Wahrheit  noch  gelten  lassen,  für  die  Praxis  freilich  nannte  er  sie 
jetzt  ,, meist  schlimmer  als  nutzlos".  Solange  die  besitzenden  Klas- 
sen nicht  nur  selbst  kein  Bedürfnis  nach  Befreiung  verspürten,  son- 
dern auch  der  Selbstbefreiung  der  Arbeiterklasse  sich  mit  allen 
Mitteln  widersetzten,  werde  die  Arbeiterklasse  genötigt  sein,  die 
soziale  Umwälzung  allein  einzuleiten  und  durchzuführen.  Der 
junge  Engels  jedoch,  mit  dem  wir  es  zu  tun  haben,  bekannte  sich 
voll  Begeisterung  zu  dem  Glauben,  daß  der  Kommunismus  „eine 
Sache  der  Menschheit,  nicht  bloß  der  Arbeiter"  sei,  daß  er  seinem 
Prinzip  nach  über  dem  Zwiespalt  zwischen  Bourgeoisie  und  Pro- 
letariat stehe  und  daß  er  diesen  Zwiespalt  nur  in  seiner  histo- 
rischen Bedeutung  für  die  Gegenwart  anerkenne,  zum  eigent- 
lichen Ziel  aber  dessen  Aufhebung  habe.  Am  Schluß  seines  Werks 
befaßte  Engels  sich  noch  eingehender  mit  dem  Charakter  der 
künftigen  sozialen  Revolution,  die  sein  Gesellschaftsideal  in  Eng- 
land zum  Siege  führen  sollte.  Würde  diese  eintreten,  bevor  der 
Chartismus  sich  mit  kommunistischem  Geist  ganz  erfüllen  konnte, 
so  werde  der  Krieg  der  Armen  gegen  die  Reichen  der  blutigste  sein, 
der  je  geführt  worden  wäre.  ,, Selbst  der  Übertritt  eines  Teils  der 
Bourgeoisie  zum  Proletariat,  selbst  eine  allgemeine  Besserung 
der  Bourgeoisie  würde  nichts  helfen.  Die  allgemeine  Sinnesänderung 
der  Bourgeoisie  würde  ohnehin  nur  bis  zu  einem  schlaffen  Juste- 
milieu  gehen  können;  die  entschiedener  den  Arbeitern  sich  An- 
schließenden würden  eine  neue  Gironde  bilden  und  als  solche  im 
Lauf  der  gewaltsamen  Entwicklung  untergehen.  Die  Vorurteile 
einer  ganzen  Klasse  streifen  sich  nicht  ab  wie  ein  alter  Rock."  In 
dem  Verhältnis,  fährt  er  fort,  in  dem  das  Proletariat  kommunistische 
und  sozialistische  Elemente  in  sich  aufnehme,  in  demselben  Ver- 
hältnis werde  die  Revolution  an  Blutvergießen,  Rache  und  Wut 
abnehmen.  Weil  der  Kommunist  begreife,  daß  der  einzelne  Bour- 
geois in  den  bestehenden  Verhältnissen  nicht  anders  handeln  könne, 
als  er  handle,  würden  dann  die  Schritte  gegen  die  Bourgeoisie  an 
Roheit  und  Wildheit  verlieren,  und  mit  Hilfe  der  Ereignisse  würde 


214     ^^^  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

die  kommunistische  Partei  imstande  sein,  das  brutale  Element  der 
Revolution  auf  die  Dauer  zu  überwinden  und  einem  neunten  Ther- 
midor  vorzubeugen.  — 

Im  Elternhaus  war  Engels  offensichtlich  mit  dem  Entschluß 
eingetroffen,  den  Kaufmannsberuf  so  schnell  wie  möglich  auf- 
zugeben, um  sich  im  Bunde  mit  Marx  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
und  der  Agitation  im  Dienste  des  Kommunismus  unbehinderter 
widmen  zu  können.  Einmal  in  Barmen,  sah  er,  der  mit  ganzem 
Herzen  an  den  Eltern  hing,  jedoch  bald  ein,  daß  er  im  günstigsten 
Falle  einiger  Monate  bedürfen  würde,  um  einen  Plan,  der  den  Tradi- 
tionen der  Familie  so  ins  Gesicht  schlug,  diesen  auf  irgendeine  Weise 
plausibel  zu  machen.  Sein  ungeduldiges  Verlangen,  schnell  zu 
Marx  zurückzukehren,  zügelte  im  Anfang  eine  Herzensangelegen- 
heit. Als  diese  Engels  eine  schwer  empfundene  Absage  gebracht 
hatte,  stürzte  er  sich  kopfüber  in  die  Ausarbeitung  des  Buches  über 
die  Lage  der  arbeitenden  Klasse.  Anhaltendes  Zusammenwirken 
am  gleichen  Orte  dünkte  den  neuen  Freunden  um  so  erstrebens- 
werter, als  sie  von  der  Notwendigkeit  überzeugt  waren,  zuerst  als 
System,  dann  als  Partei  einen  neuen  Kommunismus  aus  eigenen 
Kräften  schaffen  zu  müssen.  Denn  der  Anschluß  an  eine  der  bestehen- 
den sozialistischen  oder  kommunistischen  Gruppen  konnte  für  sie 
nicht  in  Frage  kommen.  Gleich  die  erste  Fühlungnahme  mit  jenen 
Elementen,  die  sich  in  rheinischen  Städten  selbst  als  Kommunisten 
bezeichneten,  hatte  Engels  in  der  Auffassung  bestärkt,  daß  von 
dem  Ausbau  der  Theorie  auch  der  Erfolg  der  Agitation  abhängen 
werde.  ,, Solange  nicht  die  Prinzipien  logisch  und  historisch  aus 
der  bisherigen  Anschauungsweise  und  der  bisherigen  Geschichte 
und  als  die  notwendige  Fortsetzung  derselben  in  ein  paar  Schriften 
entwickelt  sind,  solange  ist  es  doch  alles  noch  halbes  Dösen  und 
bei  den  meisten  blindes  Umhertappen."  Für  besonders  dringlich 
erachtete  er  es,  die  Zweifel  an  der  praktischen  Durchführbarkeit 
des  Kommunismus,  die  ihm  bei  seiner  Heimkehr  alle  Naselang 
entgegentraten,  zu  widerlegen.  Bedenken  solcher  Art  zum  Schwei- 
gen zu  bringen,  mußte  ja  eine  ,, Lumperei"  sein.  Er  wollte  sich  an- 
heischig machen,  eine  Broschüre,  die  das  erreichte,  in  drei  Teigen 
schreiben  zu  können.  Aber  erst  in  einem  Vortrag,  den  er  nach 
Monaten  in  Elberfeld  hielt,  fand  er  Gelegenheit,  öffentlich  auf  die 
erfolgreichen  Gründungen  kommunistischer  Gemeinschaften  in 
Amerika  hinzuweisen.  Daß  eine  populär  gehaltene  Beschreibung 
jener  kommunistischen  Siedlungsexperimente,  die  im  Dezember 
1844  in  dem  sofort  beschlagnahmten  ersten  Bande  des  Deutschen 
Bürgerbuchs  erschien,  von  ihm  herrührt,  läßt  sich  nicht  beweisen. 


In  der  Heimat.  215 

Der  Hungeraufstand  der  schlesischen  Weber  und  die  Auf- 
lehnung der  böhmischen  Kattundrucker  hatten  seit  dem  Frühling 
dieses  Jahres  1844  die  Aufmerksamkeit  ganz  Deutschlands  auf  die 
bis  dahin  hier  arg  vernachlässigten  sozialen  Fragen  gelenkt.  Auch 
die  liberale  Presse,  die  so  lange  den  Pauperismus  vornehm  ignoriert 
hatte,  hallte  nun  wider  von  Schlagworten  wie  die  Organisation 
der  Arbeit,  Reform  der  Gesellschaft,  Schäden  der  Konkurrenz  und 
der  Monopole.  Sogar  Marx  stellte  fest,  daß  die  Zeitungen  in  Trier, 
Aachen,  Köln,  Wesel,  Breslau,  ja  selbst  in  Berlin  häufig  ganz  ver- 
ständige soziale  Artikel  brachten.  Daß  diese  in  ihrer  Kritik  Maß 
hielten,  dafür  sorgte  ebenso  wirksam  der  Zensor  wie  das  Eigen- 
interesse der  Verleger.  Der  Regierung  war  es  nicht  einmal  un- 
angenehm, daß  auf  solche  Weise  die  Aufmerksamkeit  des  Publi- 
kums von  den  für  sie  vorläufig  noch  brenzlicheren  Fragen  wie  Preß- 
freiheit und  Repräsentations  Verfassung  abgelenkt  wurde.  Die 
Kölnische  Zeitung,  die  stets  der  öffentlichen  Meinung  lieber  folgte, 
als  sie  führte,  veranstaltete  eine  Sammlung  für  die  Hinterbliebenen 
der  in  den  Kämpfen  mit  dem  Militär  im  Eulengebirge  gefallenen 
aufrührerischen  Proletarier;  das  hinderte  sie  aber  nicht,  den  Re- 
dakteur Püttmann,  der  mit  Engels  in  Beziehung  stand,  sogleich  zu 
entlassen,  als  dieser  im  Feuilleton  offen  den  Sozialismus  predigte. 
Anfang  Juni  hatte  Georg  Jung  an  Marx  geschrieben,  daß  in  der 
Kölnischen  Zeitung  sich  jetzt  mehr  Kommunismus  fände  als  weiland 
in  der  Rheinischen:  ,,Alle  Tage  Pauperismus,  Sozialismus  etc.,  der 
hat  da  einen  Fetzen  gepackt,  der  da  —  endlich  glaubt's  der  deutsche 
Philister,  was  man  ihm  so,  ohne  ihn  zu  erschrecken,  täglich  vor- 
summt; ja  am  Ende  würde  er  auch  teilen,  wenn  man  ihm  ein  paar 
Jahre  alle  Tage  sagte:  es  sei  notwendig."  So  war  damals  unter  dem 
Eindruck  des  qualvollen  Todeskampfes  der  Hausindustrie  mit  der 
Maschine,  ähnlich  wie  später  in  den  achtziger  und  neunziger  Jahren 
des  Jahrhunderts,  eine  Elite  des  Bürgertums  vorübergehend  für  einen 
gemäßigten  Sozialismus  empfänglich  geworden.  Diese  Strömung, 
die  sogar  an  Friedrich  Wilhelm  IV.  nicht  ganz  spurlos  vorüberging, 
fand  bekanntlich  ihren  bezeichnendsten  Ausdruck  in  der  Grün- 
dung von  Vereinen  für  das  Wohl  der  arbeitenden  Klassen.  Ihnen 
legte  die  Regierung  solange  keine  Hindernisse  in  den  Weg,  wie  sie 
sicher  zu  sein  meinte,  daß  die  aufkeimenden  kommunistischen 
Bestrebungen,  die  sie  mit  berechtigtem  Mißtrauen  überwachte, 
in  deren  Mitte  keinen  Boden  fanden.  Zur  Beruhigung  der  Stimmung 
der  Rheinländer,  die  besonders  seit  der  Unterdrückung  der  Rhei- 
nischen Zeitung  der  Regierung  zu  vielen  Klagen  Anlaß  gab,  hatte 
es  nicht  eben  beigetragen,  als  ihnen  ein  neuer  Strafgesetzentwurf 
angekündigt  wurde,  der  sie  mit  der  Prügelstrafe  und  anderen  ost- 


2 16     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

elbischen  Kulturgütern  beglücken  wollte.  Als  im  Januar  1844 
der  Polizeiminister  sich  beim  Oberpräsidenten  erkundigte,  ob  man 
sich  für  den  Fall  von  Unruhen  auf  die  Zuverlässigkeit  des  Militärs 
verlassen  dürfe,  hatte  Schaper  diese  Anfrage  so  aufgefaßt,  als  ob 
Arnim  speziell  kommunistische  Umtriebe  befürchte  und  ihm 
geantwortet,  daß  der  kommandierende  General  die-  Besorgnisse 
einer  kommunistischen  Einwirkung  auf  die  Truppen  nicht  teile, 
daß  kommunistische  Bestrebungen  in  der  Rheinprovinz  nirgends 
wahrgenommen  seien,  und  daß  er  auch  nicht  für  wahrscheinlich 
halte,  daß  solche  hier  einen  günstigen  Boden  finden  würden.  Dafür 
stünde  die  niedere  Volksklasse  zu  sehr  unter  dem  Einfluß  der  katho- 
lischen Geistlichkeit,  deren  hierarchische  Tendenz  zu  der  Lehre 
der  Kommunisten  einen  so  entschiedenen  Gegensatz  bilde,  daß  man 
die  katholische  Kirche  geradezu  als  ein  Schutzmittel  gegen  dieses 
Gift  betrachten  könne.  Überhaupt  sei  am  Rhein  nicht  das  Prole- 
tariat, sondern  das  gebildete  Bürgertum  der  Träger  der  Unzu- 
friedenheit. Und  ihm  traue  er  zu,  daß  es  sich  auch  des  Kommu- 
nismus zu  bedienen  bereit  wäre,  um  dadurch  eine  Aufregung  vor- 
zubereiten, welche  es  hernach  in  seinem  entgegengesetzten  Interesse 
ausbeuten  würde.  Über  die  Unempfänglichkeit  des  rheinischen 
Proletariats  für  den  Kommunismus  hätte  sich  der  Oberpräsident 
vermutlich  einige  Monate  später  weniger  zuversichtlich  ausgespro- 
chen. Der  Eindruck,  den  Engels  bei  seiner  Heimkehr  erhielt,  war,  wie 
sein  erster  Brief  aus  der  Heimat  an  Marx  beweist,  der,  daß  es  leicht 
sein  müßte,  eine  solche  Bewegung  unter  den  Arbeitern  ins  Leben 
zu  rufen,  wenn  die  herrschende  Unfreiheit  nicht  jede  Möglichkeit, 
unmittelbar  aufs  Volk  zu  wirken,  unterbinden  würde.  Selbst  das 
ob  seiner  Rückständigkeit  von  ihm  früher  geschmähte  Wuppertal 
könnte  nun,  nachdem  die  Industrie  in  seiner  Abwesenheit  „rasende 
Fortschritte"  gemacht  hätte,  einen  prächtigen  Boden  für  ihre  Be- 
strebungen abgeben,  sobald  es  gelänge,  seine  heißblütigen  Färber 
und  Bleicher  in  Bewegung  zu  setzen.  Die  Arbeiter,  schreibt  er, 
seien  seit  ein  paar  Jahren  auf  der  letzten  Stufe  der  alten  Zivilisation 
angekommen,  sie  protestierten  durch  eine  reißende  Zunahme  von 
Verbrechen,  Räubereien  und  Morden  gegen  die  alte  soziale  Organi- 
sation. Wenn  aber  die  deutschen  Proletarier  sich  nach  demselben 
Gesetz  entwickelten  wie  die  englischen,  so  würden  sie  bald  einsehen, 
„daß  diese  Manier,  als  Individuen  gewaltsam  gegen  die  soziale 
Ordnung  zu  protestieren,  nutzlos  ist,  und  als  Menschen  in  ihrer 
allgemeinen  Kapazität  durch  den  Kommunismus  protestieren. 
Wenn  man  den  Kerls  nur  den  Weg  zeigen  könnte!  Aber  das  ist 
unmöglich." 

In  der  Tat  scheiterten  alle  Versuche,  an  denen  Engels  es  nicht 


Die  Stimmung  in  den  Rheinlanden.  217 

fehlen  ließ,  um  den  heimischen  Proletariern  so  nahe  zu  kommen  wie 
den  englischen,  und  sie,  die  politisch  noch  im  Schlafe  lagen,  zum 
sozialen  Befreiungskampf  aufzurütteln,  an  der  Wachsamkeit  der 
Behcrden,die  selbst  die  bescheidenste  Arbeiterversammlung  nicht  ge- 
duldet hätten,  und  an  dem  konservativen  Sinn  der  Handwerksmeister 
und  Fabrikbesitzer,  die  nicht  nur  stillschweigend  darüber  einig  waren, 
ihre  Leute  vor  kommunistischer  Infektion  zu  bewahren,  sondern 
ihnen  sogar  in  der  Regel  noch  den  Besuch  eines  der  zahlreichen 
Pietistenvereine  zur  strengen  Bedingung  machten.  So  blieb  also  Engels 
und  Heß,  mit  dem  wir  ihn  um  diese  Zeit  eng  verbunden  finden, 
fürs  erste  keine  andere  Wahl,  als  die  vorhandene  Empfänglichkeit 
des  gebildeten  Bürgertums  für  neue  soziale  Ideen,  so  gut  es  ging, 
ihren  Zwecken  dienstbar  zu  machen.  Um  Vereine  zur  Hebung 
der  arbeitenden  Klassen  zu  stiften,  konnte  man,  ohne  die  Polizei 
zu  befragen,  Zusammenkünfte  ansetzen.  An  den  Diskussionen 
über  die  neuen  Probleme,  die  aus  solchem  Anlaß  stattfanden,  be- 
teiligte sich  Engels  um  so  lieber,  als  sie  ihm  die  sicherste  Gelegen- 
heit boten,  mit  Menschen  in  Verbindung  zu  treten,  die  bereits 
einem  entschiedenen  sozialen  Radikalismus  huldigten.  Nach  der 
Kölner  Versammlung,  die  im  November  1844  die  Errichtung  eines 
solchen  Ortsvereins  beriet,  berichtete  er  Marx,  er  entdecke  all- 
mählich einzelne  kommunistische  Cliquen,  die  sich  ganz  im 
stillen  ,,und  ohne  unser  direktes  Zutun"  entwickelt  hätten,  und 
sanguinisch,  wie  er  einmal  war,  ruft  er  aus:  ,,Man  mag  sich  hin- 
drehen und  hinwenden  wohin  man  will,  man  stolpert  über  Kommu- 
nisten." Wie  ungeheuerlich  er  aber  in  den  ersten  Wochen  nach 
seiner  Heimkehr  die  Aussichten  für  ein  schnelles  Wachstum  der 
Bewegung  überschätzte,  beweist  sein  Aufsatz:  Rapider  Fortschritt 
des  Kommunismus  in  Deutschland,  der  am  14.  Dezember  1844 
in  The  New  Moral  World  erschien.  Er  verkündet  hier  den  eng- 
lischen Sozialisten,  daß  sich  in  der  kurzen  Spanne  eines  einzigen 
Jahres  in  Deutschland  eine  starke  sozialistische  Partei  gebildet 
hätte.  Zwar  stütze  diese  sich  nur  erst  auf  die  Mittelklasse,  aber  sie 
hoffe  schon  bald  auch  in  Fühlung  mit  der  Arbeiterklasse  zu  kommen, 
die  immer  und  überall  die  Stärke  und  den  Körper  einer  sozialistischen 
Partei  ausmachen  müße.  Dann  folgen  einige  recht  unbestimmte 
Angaben  über  einen  angeblichen  Plan,  eine  sozialistische  Kolonie  in 
der  Art  von  Harmony  und  Queenwood  in  Deutschland  zu  gründen, 
Mitteilungen  über  die  sozialistischen  Zeitungen,  als  welche  die 
Triersche  und  der  Sprecher  in  Wesel  bezeichnet  werden,  und  über 
die  bedeutendsten  Persönlichkeiten  der  Bewegung,  wobei  er  Marx, 
Heß,  Karl  Grün,  Lüning,  Püttmann  und  sich  selbst  namhaft  macht. 
An  den  Schluß  setzte  er  eine  englische  Übertragung  des  Heineschen 


21 8     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England, 

Weberlieds,  das  der  Vorwärts  jüngst  zum  erstenmal  veröffentlicht 
hatte.  Die  Bemerkung,  daß  auch  dieser  ,, bedeutendste  Dichter 
Deutschlands"  Sozialist  sei,  zeigt  uns,  wie  völlig  er  diesem  sein 
„nichtswürdiges  Werk  über  Börne"  inzwischen  verziehen  hatte. 

Einen  ,, aparten  Spaß"  machte  es  dem  jungen  Engels,  die 
kommunistische  Literatur  in  Deutschland  einzubürgern.  Mochten 
sich  jetzt  die  bürgerlichen  Blätter,  der  Modeströmung  folgend,  mit 
den  sozialen  Problemen  befassen,  so  täuschte  er  sich  doch  nicht 
darüber,  daß  der  neue  Handelsvertrag  mit  Belgien,  der  Ausbau 
der  Eisenbahnen,  die  Ermäßigung  des  Briefportos  dem  Bürgertum 
ganz  anders  am  Herzen  lagen  als  der  Kampf  gegen  die  Ausbeutung 
der  kindlichen  Arbeitskraft  und  die  Hungerlöhne  in  der  Haus- 
industrie. Sollte  die  kommunistische  Bewegung  sich  ausbreiten, 
so  mußte  sie  über  selbständige  Organe  verfügen.  Vorübergehend 
glaubte  Engels  ein  solches  in  dem  Gemeinnützigen  Wochenblatt 
des  Kölner  Gewerbevereins  gefunden  zu  haben,  das  früher  mit  der 
Rheinischen  Zeitung  verknüpft  gewesen  war  und  das  unter  d 'Esters 
Redaktion  im  Februar  und  März  1845  Artikel  über  die  freie  Kon- 
kurrenz und  über  Gewerbe  vereine  brachte,  die  ganz  in  seine  Kerbe 
hieben.  Aber  selbst  wenn  es  auf  diesem  Wege  geblieben  wäre,  hätte 
ein  im  wesentlichen  technisches  Blatt  wie  dieses  nicht  ausgereicht, 
um  ,,den  vielen  Halbwissenden,  die  gern  wollen,  aber  nicht  allein 
fertig  werden  können,  einen  gehörigen  Anhaltspunkt  zu  geben". 
Dem  Deutschen  Bürgerbuch  und  den  Rheinischen  Jahrbüchern  zur 
gesellschaftlichen  Reform,  deren  Herausgeber,  der  „durstige  Kin- 
dervater" Püttmann,  nur  als  eine  Art  Strohmann  für  Heß  und  Engels 
gelten  kann,  und  die  ursprünglich  als  Vierteljahrschriften  gedacht 
waren,  schnitt  der  Zensor  rasch  den  Lebensfaden  durch.  Diesem 
hatte  das  Buch  des  „wahrhaft  wissenschaftlich  gebildeten"  Engels 
die  Hoffnung  geweckt,  daß  vielleicht  die  französischen  Kommu- 
nisten durch  die  ruhigeren  englischen  aus  den  deutschen  Blättern 
verdrängt  werden  könnten;  nun  aber  standen  ihm  die  Haare  zu 
Berge  im  Angesicht  der  ,,fast  dämonischen  Konsequenz",  mit  der 
in  den  ,, gemeingefährlichen"  Jahrbüchern  der  krasseste  Kommunis- 
mus auf  die  deutschen  sozialen  und  politischen  Zustände  an- 
gewandt wurde.  Mit  dem  Bestreben,  der  entstehenden  Partei 
einen  Ausweg  in  die  Öffentlichkeit  zu  bahnen,  in  unmittelbarem 
Zusammenhang  stand  eine  Reise,  die  Engels  Mitte  November  nach 
Westfalen  in  der  Absicht  unternahm,  mit  Dr.  Otto  Lüning  in  Rheda, 
dem  Herausgeber  der  Wochenschrift  Das  Weserdampfboot  und  dem 
um  diesen  sich  gruppierenden  Kreis  bürgerlicher  Sozialisten  Bezie- 
hungen herzustellen.  In  einer  übrigens  ungedruckt  gebliebenen 
kleinen  Satire  hat  er  zwei  Jahre  später  dem  Dampfboot,  dessen 


Kommunistische  Projekte.  210 

weiches  Gemüt  ,, Milchreis  mehr  als  spanischen  Pfeffer  liebe", 
seine  Harmlosigkeit  zum  Vorwurf  gemacht.  Vorläufig  aber  zog 
er  dort,  wo  es  sich  um  die  Erreichung  praktischer  Ziele  handelte, 
zwischen  dem  eigenen  revolutionären  Standpunkt  und  dem  der  an- 
deren, welche  die  soziale  Not  mit  friedlichen  Mitteln  für  überwind- 
bar hielten,  noch  nicht  so  rigoros  den  Trennungsstrich.  Vollends 
Heß  pries  noch  mit  vollen  Backen  die  Menschenliebe  als  die  trei- 
bende, nur  der  Freimachung  bedürftige,  Kraft  der  Geschichte.  Die 
beträchtlichen  Geldmittel  und  die  eigene  Druckerei,  über  die  jene 
Gruppe  verfügte,  stachen  Engels  ins  Auge.  Selbst  als  radikal  be- 
kannte Verleger  entschlossen  sich  nicht  leicht  zu  dem  Opfer,  das 
mit  dem  Verlag  von  Schriften  verbunden  war,  deren  ganze  Auflage 
oft  schon  in  der  Druckerei  beschlagnahmt  oder  doch  nach  dem 
Erscheinen  verboten  und  eingezogen  wurde.  Nur  einem  Geschäft, 
das  überzeugten  Parteigenossen  gehörte,  durfte  man  dieses  Risiko 
häufiger  zumuten.  Der  Berliner  Polizeidirektor  Duncker,  der  im 
Oktober  1845  unerkannt  in  den  Kreis  hineinschnüffelte,  berichtete 
seinem  Chef,  daß  Lüning  und  dessen  Gesinungsgenossen,  der  Par- 
ticulier  von  Baer  in  Rietberg  und  Julius  Meyer  zu  Schloß  Holle, 
außer  mit  anderen  Kommunisten,  die  namhaft  gemacht  werden, 
,,mit  einem  Fabrikanten  Friedrich  Engels  in  Barmen"  in  dem 
engsten  Verkehr  stünden.  Doch  als  früherer  Oberpräsident  in 
Coblenz  durchschaute  der  Minister  von  Bodelschwingh,  daß  hier 
eine  Verwechslung  von  Sohn  und  Vater  vorlag  und  schrieb  an  den 
Rand  des  Aktenstücks:  „Friedrich  Engels  in  Barmen  ist  ein  durch- 
aus zuverlässiger  Mann,  aber  er  hat  einen  Sohn,  der  ein  arger  Kom- 
munist ist  und  sich  als  Literat  umhertreibt;  es  ist  möglich,  daß  er 
Friedrich  heißt."  Die  Verhandlungen  mit  den  westfälischen  Sozia- 
listen, die  hernach  von  Heß  fortgesetzt  wurden,  versprachen  anfangs 
Erfolg.  Verabredet  wurde  die  Gründung  einer  Vierteljahrschrift, 
mit  Marx,  Engels  und  Heß  als  Herausgebern.  Auch  die  Veröffent- 
lichung einer  Bibliothek  von  Übersetzungen  englischer  und  fran- 
zösischer Sozialisten,  zu  der  Engels,  Marx  und  Heß  Einleitungen 
schreiben  wollten,  kam  zur  Erörterung.  Dieses  Projekt,  an  dem 
sie  lange  festhielten,  war  Engels  und  Marx  ungefähr  gleichzeitig 
gekommen.  Marx  scheint  dabei  mehr  an  eine  Quellensammlung 
zur  Geschichte  des  Sozialismus  gedacht  zu  haben,  während  Engels 
größ2ren  Nachdruck  darauf  legte,  „von  vornherein  mit  Sachen  an- 
zufangen, die  von  praktischer,  einschlagender  Wirkung  auf  die 
Deutschen"  seien  und  die  es  ihm  und  dem  Freunde  ersparen  sollten, 
„das  noch  einmal  zu  sagen,  was  andere  vor  uns  gesagt  haben". 
Ursprünglich  gedachte  Marx  die  Franzosen,  Engels  die  Engländer 
zu  übernehmen.    Mit  Owen  wollte   er  den  Anfang  machen,  aber 


220     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

Godwin  fortlassen,  weil  dieser  in  seinen  Resultaten  so  antisozial  wäre. 
Später  hat  er  wohl  beabsichtigt,  zuerst  Fourier  zu  übersetzen,  von 
dessen  Kritik  der  bestehenden  Gesellschaft  er  sich  wegen  ihrer 
Allseitigkeit  eine  ganz  besondere  agitatorische  Wirksamkeit  ver- 
sprach. Aber  das  Fragment  Fouriers  über  den  Handel,  das,  von 
ihm  eingeleitet,  1846  im  Deutschen  Bürgerbuch  erschien,  blieb 
die  einzige   Übertragung,  die  zur  Ausführung  kam. 

Besser  erging  es  einem  anderen  literarischen  Projekt,  das 
Engels  damals  ersann.  Er  und  Heß  wollten  das  gesteigerte  Inter- 
esse des  Publikums  für  die  sozialen  Probleme  ausnutzen,  um 
eine  Monatsschrift  ins  Leben  zu  rufen,  die,  ohne  durch  eine  ein- 
gestandene kommunistische  Tendenz  ihre  Existenz  sofort  zu  ge- 
fährden, über  die  der  Wissenschaft  wie  dem  Publikum  noch  gleich 
unbekannte  Lage  der  arbeitenden  Klasse  Deutschlands  fort- 
laufenden Bericht  erstatten  sollte.  Dies  war,  wie  Huber  feststellte, 
der  erste  bewußte  und  konsequent  durchgeführte  Versuch  der  Tages - 
presse,  die  destruktive  Kritik,  welche  bisher  sich  hauptsächlich  auf 
politischem  oder  religiösem  Gebiet  bewegt  hatte,  auf  die  Verhält- 
nisse des  Besitzes  zur  Besitzlosigkeit,  der  Arbeitgeber  zu  den  Ar- 
beitern anzuwenden:  ,,Ein  Unternehmen,  welches  in  würdigeren 
Händen  ein  wahres  Bedürfnis  der  Zeit  hätte  befriedigen  und  mög- 
liche Verbesserungen  verbreiten  können,  während  es  hier  mit 
gewissenloser  Leidenschaftlichkeit  Wahres,  Unwahres,  Halb- 
wahres, Übertriebenes  zu  kommunistischen  Zwecken  mitbrauchte." 
(Janus  I847  S.  727.)  Dem  Verleger  Julius  Baedecker  in  Elberfeld, 
einem  recht  ängstlichen  Herrn,  stellten  Engels  und  Heß  es  so  dar, 
als  ob  sie  die  Stiftung  eines  unpolitischen  Volksblatts  beabsichtigten, 
das  bloß  Tatsachen  bringen,  an  der  materiellen  und  geistigen  He- 
bung der  unteren  Klassen  arbeiten  und  den  auf  dieses  Ziel  gerich- 
teten neuen  Vereinen  als  Organ  dienen  wollte.  Was  sie  in  Wirklich- 
keit im  Schilde  führten,  verriet  Heß  in  einem  Brief  an  Marx  vom 
17.  Januar  1845,  der  sich  den  Ausspruch  Buhls  zu  eigen  machte: 
„Man  muß  die  Tatsachen  entstellen.**  Die  Redaktion  übernahm 
Heß,  der  zu  diesem  Zweck  nach  Elberfeld  übersiedelte.  Der  Unter- 
titel ,, Organ  zur  Vertretung  der  besitzlosen  Volksklassen  und  zur 
Beleuchtung  der  gesellschaftlichen  Zustände  der  Gegenwart**, 
sollte  auf  Baedeckers  Wunsch  der  Regierung  zeigen,  daß  der 
,, Gesellschaftsspiegel**  bloß  die  Interessen  des  Proletariats  bespre- 
chen, nicht  dessen  Organ  werden  wollte.  Dennoch  war  diese  von  der 
Gefährlichkeit  des  Unternehmens  von  vornherein  überzeugt.  Sollte 
sie  dulden,  daß  ein  Blatt  in  den  Arbeiterkreisen  selbst  Verbreitung 
fand,  das  durch  die  Erörterung  von  Notständen  die  Masse  indirekt 
zur  Selbsthilfe  aufreizte  ?   Jedes  neue  Heft  erregte  ihr  Mißbehagen ; 


Der  Gesellschaftsspiegel.  221 

gegen  Engels  Buch  ,,als  solches"  hatte  sie  nichts  unternehmen 
können,  aber  ,,wenn  der  darin  enthaltene  Stoff  in  solche  Kanäle 
geleitet"  wurde,  ,,so  änderte  sich  die  Sache".  Auf  ihre  Verwarnung 
kroch  der  Verleger  zu  Kreuze,  gab  Heß  preis,  der  über  die  belgische 
Grenze  entwich,  bat  den  Minister,  selbst  einen  Redakteur  zu  er- 
nennen und  war  zufrieden,  als  ihm  ein  ehemaliger  Premier leutnant 
als  Redakteur  empfohlen  wurde.  Nun  hat  Engels,  der,  als  diese  Vor- 
gänge sich  abspielten,  schon  im  Ausland  weilte,  von  der  sichtbaren 
Mitarbeit  am  Gesellschaftsspiegel  vielleicht  um  seiner  am  Orte 
wohnenden  Familie  willen  sich  von  Anfang  an  zurückgehalten.  Im 
Prospekt  glaubt  man  seine  Feder  dort  zu  bemerken,  wo  jener 
, .sogenannte  Sozialismus"  verspottet  wird,  der  heuchlerisch  seine 
Teilnahme  an  den  Leiden  der  Menschheit  zur  Schau  trage,  wenn 
dieselben  einmal  zum  politischen  Skandal  geworden  seien,  der  aber, 
sobald  die  Unruhen  aufhörten,  die  armen  Leute  ruhig  wieder  ver- 
hungern asse.  Später  druckte  der  Gesellschaftsspiegel  nur  Ab- 
schnitte aus  der  Lage  der  arbeitenden  Klasse  ab,  wobei  das  Gedicht 
vom  König  Dampf  um  der  Zensur  willen  einige  Milderungen  erfuhr. 
Sonst  aber  scheint  der  Barmer  Fabrikantensohn  nicht  einmal  zu 
dem  gleich  im  ersten  Heft  abgedruckten  Artikel:  Das  gesegnete 
Wuppertal,  der  dem  von  Heß  angezogenen  Buhischen  Motto  alle 
Ehre  machte,  Material  geliefert  zu  haben.  Und  nach  seiner  Ab- 
reise hat  er,  obgleich  Heß  ihn  um  Beiträge  drängte,  die  Hand  nur 
noch  dort  im  Spiele  gehabt,  wo  es  sich  um  die  Abwehr  von  An- 
griffen auf  die  Heilige  Familie  und  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse 
handelte. 

Seit  er  1838  zum  erstenmal  in  die  Fremde  hinausgezogen  war, 
hatte  er  niemals  wieder  wie  jetzt  Monate  hindurch  im  Elternhause 
zugebracht.  So  kim  ihm  nun  erst  mit  voller  Deutlichkeit  zum  Be- 
wußtsein, wie  unüberbrückbar  die  Kluft  geworden  war,  die  seine 
Überzeugungen  und  Wünsche  von  den  traditionellen  Gesinnungen 
trennte,  die  in  dem  alten  Hause  am  Engelsbruch  maßgebend 
geblieben  waren.  Es  scheint,  daß  er  bis  dahin  seine  publizistische 
Tat  gkeit  für  Ideen,  die  der  stockkonservative  Vater  niemals  billigen 
konnte,  vor  diesem  noch  verborgen  gehalten  hatte.  In  ihrem  Hinweis 
auf  das  Erscheinen  der  Deutsch-Französischen  Jahrbücher,  wo  er, 
wie  wir  wissen,  mit  seinem  Namen  zuerst  hervortrat,  nannte  die 
Barmer  Zeitung,  die  den  Wünschen  der  angesehenen  Familie  Rech- 
nung trug,  ihn  noch  mit  seinem  alten  Pseudonym  Friedrich  Oswald. 
Doch  nun  wollte  er  endlich  mit  dem  Vater  über  die  weitere  Gestal- 
tung seiner  Zukunft  zu  einer  Verständigung  gelangen,  und  da  durfte 
er  die  Rücksichtnahme  auf  diesen  nicht  zu  weit  treiben.  Während 
jenes  Liebeshandels  mit  einem  der  jungen  Mädchen,  die  gleich  nach 


222     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

seiner  Heimkehr  die  Verlobung  seiner  Schwester  Marie  mit  dem  in 
London  ansässigen  Landsmann  Emil  Blank  in  das  elterliche  Haus 
führte,  hatte  er  sich  durch  Heiratsgedanken,  durch  das  Zureden 
des  ihm  persönlich  wie  politisch  näherstehenden  neuen  Schwagers 
und  durch  die  trübseligen  Gesichter  der  Eltern,  die  seine  Pläne 
errieten,  bestimmen  lassen,  noch  einmal  im  Kontor  der  väterlichen 
Fabrik  die  Arbeit  zu  versuchen.  Doch  schon  vierzehn  Tage  reichten 
hin,  ihm  klar  zu  machen,  daß  es  so  nicht  ging:  ,,Der  Schacher  ist 
zu  scheußlich,"  gestand  er  Marx  in  einem  Brief  vom  20.  Januar 
1845,  „Barmen  ist  zu  scheußlich,  die  Zeitverschwendung  ist  zu 
scheußlich,  und  besonders  ist  es  zu  scheußlich,  nicht  nur  Bourgeois, 
sondern  sogar  Fabrikant,  aktiv  gegen  das  Proletariat  auftretender 
Bourgeois  zu  bleiben.  Ein  paar  Tage  auf  der  Fabrik  meines  Alten 
haben  mich  dazu  gebracht,  diese  Scheußlichkeit,  die  ich  etwas 
übersehen  hatte,  mir  wieder  vor  die  Augen  zu  stellen.  Ich  hatte 
natürlich  darauf  gerechnet,  nur  solange  im  Schacher  zu  bleiben, 
als  mir  paßte,  und  dann  irgend  etwas  Polizeiwidriges  zu  schreiben, 
um  mich  mit  guter  Manier  über  die  Grenze  drücken  zu  können, 
aber  selbst  bis  dahin  halte  ich 's  nicht  aus.  Wenn  ich  nicht  täglich 
die  scheußlichsten  Geschichten  aus  der  englischen  Gesellschaft 
hätte  in  mein  Buch  registrieren  müssen,  ich  glaube,  ich  wäre  schon 
etwas  versauert,  aber  das  hat  wenigstens  meine  Wut  im  Kochen 
erhalten.  Und  man  kann  wohl  als  Kommunist  der  äußeren  Lage 
nach  Bourgeois  und  Schacher vieh  sein,  wenn  man  nicht  schreibt, 
aber  kommunistische  Propaganda  im  großen  und  zugleich  Schacher 
und  Industrie  treiben,  das  geht  nicht.  Genug,  Ostern  gehe  ich  hier 
fort." 

Kämpfe  mit  der  Welt,  der  er  entstammt,  bleiben  keinem  durch 
inneres  Gebot  vorwärts  getriebenen  Geist  erspart,  wenn  das  neue 
Gesetz,  dem  er  gehorcht,  in  Widerstreit  gerät  mit  der  Tradition, 
in  der  er  erzogen  wurde.  Das  „erschlaffende  Leben  in  einer  ganz 
radikal  christlich-preußischen  Familie",  von  dem  er  befürchtete,  es 
werde  ihn  noch  dazu  bringen,  das  Philisterium  in  den  Kommu- 
nismus hineinzutragen,  wurde  dem  jungen  Brausekopf  um  so  un- 
erträglicher, je  mehr  sich  in  der  nächsten  Zeit  der  Konfliktsstoff 
zwischen  ihm  und  seinem  , »fanatischen  und  despotischen  Alten" 
anhäufte.  Der  Vater  mochte  nun  wohl  einsehen,  daß  er  seinen 
Lieblingswunsch,  den  ältesten  Sohn  als  seinen  Nachfolger  in  der 
Firma  heranziehen  zu  können,  beiseite  stellen  müsse.  Er  erklärte 
sich  bereit,  Friedrich  für  wissenschaftliche  Studien  im  nahen 
Bonn  die  Gelder  auszusetzen,  doch  lehnte  er  es  mit  Entschieden- 
heit ab,  ihn  für  kommunistische  Zwecke  irgendeiner  Art  zu  unter- 
stützen.   Zu  seinem  Schmerz  hatte  er  in  Erfahrung  gebracht,  daß 


Im  Elternhaus. 


223 


der  Filius  sich  nicht  scheute,  unter  seinem  Dach  kommunistische 
Propaganda  zu  treiben,  und  daß  die  Polizei  den  Besuchern,  die  Fried- 
rich empfing,  auf  die  Spur  gekommen  war.  Der  Konflikt  kam  vollends 
zum  Ausbruch,  als  der  Sohn  dem  angesehenen  Fabrikanten  und 
Kirchenältesten  jetzt  den  Schmerz  antat,  in  öffentlicher  Versammlung 
in  Elberfeld  als  kommunistischer  Redner  aufzutreten.  Engels 
klagte  Marx  am  17.  März,  daß  nun  neben  dem  ,, religiösen  Fana- 
tismus" und  dem  Ärger  über  seine  Erklärung  ,,den  Schacher  defini- 
tiv dranzugehen",  sich  in  dem  Alten  ,,noch  ein  glänzender  Bourgeois- 
fanatismus" entwickelt  habe.  Da  er  ,,in  vierzehn  Tagen  oder  so" 
weggehe,  wolle  er  keinen  Krakeel  mehr  anfangen  und  lasse  alles 
über  sich  ergehen.  Aber  ,,wär's  nicht  um  meiner  Mutter  willen, 
die  einen  schönen  menschlichen  Fonds  und  nur  meinem  Vater 
gegenüber  gar  keine  Selbständigkeit  hat,  und  die  ich  wirklich  liebe, 
so  würde  es  mir  keinen  Augenblick  einfallen,  meinem  fanatischen 
und  despotischen  Alten  auch  nur  die  elendste  Konzession  zu 
machen". 

Einmal  geweckt,  zeigte  sich  die  Teilnahme  an  der  Not  der 
besitzlosen  Volkskreise  im  industriellen  Wuppertal,  wo  die  sozialen 
Schäden  in  jener  industriellen  Frühzeit  so  breit,  so  offen  und  un- 
bestreitbar zutage  lagen,  echter  und  nachhaltiger  als  in  den  Han- 
delsstädten des  Rheintals.  Überdies  war  der  Boden  für  auf  ethische 
Postulate  zurückgehende  Erörterungen  durch  den  herrschenden 
Pietismus  hier  besser  als  dort  vorbereitet.  Beriefen  sich  die  Fabri- 
kanten auf  die  im  Vergleich  zu  den  meisten  übrigen  Gegenden 
Deutschlands  hohen  Arbeitslöhne,  so  bekamen  sie  zu  hören,  daß 
in  den  beiden  Schwesterstädten  auch  alle  Lebensmittel  besonders 
teuer  wären.  Bald  begnügte  man  sich  nicht  mehr,  in  privaten  Ge- 
sprächen solche  und  ähnliche  Antworten  zu  geben.  Die  Erkenntnis, 
daß  eine  dauernde  Besserung  nur  durch  tiefgreifende  Reformen 
zu  erzielen  wäre,  bemächtigte  sich  weiterer  Kreise.  Aber  was  sollte 
eigentlich  geschehen  ?  Darüber  gingen  die  Ansichten  weit  aus- 
einander. Dem  Gesichtskreis  der  Wuppertaler  Großbürger  am 
nächsten  lag  natürlich  die  karitative  Fürsorge  auf  christlicher 
Grundlage.  Doch  gleich  in  den  ersten  Versammlungen,  die  hier 
wie  an  anderen  Orten  einen  Verein,  um  die  Sache  in  die  Wege  zu 
leiten,  begründen  sollten,  ergaben  sich  zur  nicht  geringen  Belustigung 
des  jungen  Engels  stürmische  Gegensätze  zwischen  den  Pastoren 
und  ihrem  stattlichen  Anhang,  welche  die  Bibel  und  die  christliche 
Religion  als  die  einzig  zulässige  Grundlage  für  die  Hebung  der 
Volksmassen  anerkannt  wissen  wollten,  und  den  Rationalisten,  die 
alles  spezifisch  Christliche  aus  den  Statuten  verbannten.  Es  erfolgte 
eine  Spaltung  und  jede  Richtung  ging  gesondert  vor.     Die  durch 


224     ^^^  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

diese  Vorgänge  in  den  kleinstädtischen  Verhältnissen  Elberfeld- 
Barmens  hervorgerufene  Erregung  machten  sich  Engels  und  Heß 
zunutze,  um  ihre  soviel  weitergehenden  Forderungen  einmal  einem 
größeren  Hörerkreis  vorzutragen  als  ihrem  engeren  Anhang,  der 
sich  hauptsächlich  aus  Handelsangestellten,  Agenten,  Literaten, 
aber  weder  aus  Arbeitern  noch  aus  Arbeitgebern  zusammensetzte. 
Für  den  Abend  des  8.  Februar  verabredeten  sie  und  der  Maler  Kött- 
gen,  der  zu  ihnen  hielt,  mit  einer  Anzahl  von  Beamten  und  jungen 
Kaufleuten,  die  sich  über  die  Ziele  und  die  Durchführbarkeit  des 
Kommunismus  näher  zu  unterrichten  wünschten,  eine  private 
Zusammenkunft  in  ein  besseres  Bierlokal.  Dabei  fanden  sich  gleich 
diesmal  mehr  Hörer  ein,  als  sie  erwartet  hatten,  und  einige  Tage 
später,  als  die  Diskussion  fortgesetzt  werden  sollte,  führten  sie  das 
Wort  vor  über  hundert  Menschen.  Ganz  Elberfeld  und  Barmen  von 
„der  Geldaristokratie  bis  zur  6picerie,  nur  das  Proletariat  aus- 
geschlossen, war  vertreten".  So  berichtete  Engels  an  Marx.  Ob- 
gleich auch  die  Staatsanwälte  und  das  ganze  Landgericht  es  sich 
nicht  hatten  nehmen  lassen,  zu  erscheinen  und  der  Obsrprokurator 
sogar  mitdiskutierte,  wurden  der  Polizei  diese  Unterhaltungen  un- 
behaglich. In  Abwesenheit  des  Landrats  wußten  die  städtischen 
Bshörden  anfangs  um  so  weniger,  was  zu  tun  wäre,  als  die  Redner, 
wie  Engels  erzählt,  „schlau  genug  gewesen  waren,  ihnen  keine  Hand- 
habe zu  bieten".  Als  jedoch  bei  einer  dritten  Zusammenkunft  am 
22.  Februar  der  Andrang  ein  ungeheuerlicher  wurde,  verbot  der 
Oberbürgermeister  dem  Besitzer  des  Lokals  dessen  weitere  Her- 
leihung,  und  ein  Reskript  der  Regierung  in  Düsseldorf,  das  Engels, 
Heß  und  Köttgen  zugestellt  wurde,  untersagte,  angeblich  auf  die 
Meldung,  daß  das  nächste  Mal  auch  eine  Arbeiterdeputation  er- 
scheinen würde,  unter  Androhung  von  Gewaltmaßnahmen  end- 
gültig die  weitere  Abhaltung  derartiger  Zusammenkünfte. 

Über  den  Verlauf  dieser  vielleicht  frühesten  sozialistischen 
Versammlungen  auf  deutschem  Boden  besitzen  wir  einen  inte- 
ressanten Bericht  des  Wuppertaler  Lyrikers  Adolf  Schults,  der 
dabei  zugegen  war:  Um  der  Sache  einen  möglichst  harmlosen 
Anstrich  zu  geben,  hatte  man  Harfenmädchen  bestellt,  und  so 
konnte  das  Ganze  für  eine  musikalisch-deklamatorische  Abend- 
unterhaltung gelten.  Zur  Eröffnung  der  Versammlung  wurden, 
nachdem  besagte  HeU-fenistinnen  präludiert,  etliche  Gedichte  von 
Wolfgang  Müller  und  H.  Püttmann  vorgetragen,  deren  Stoff  dem 
sozialen  Leben  der  Gegenwart  entnommen  war  und  die  ihre  Wir- 
kung auf  die  Gemüter  der  Anwesenden  nicht  verfehlten.  Dann 
hätten  Heß  und  Engels  (Schults  spricht  von  Friedrich  Oswald!) 
das  Wort  zu  Vorträgen  ergriffen,  die  aber,  da  beiden  das  eigentliche 


Kommunistische  Agitation.  225 

Redetalent  mangelte,  weit  weniger  Effekt  machten,  als  die  darauf- 
folgenden Reden  zweier  rheinischer  Juristen,  die  sich  mit  ihnen 
verbündet  hatten.  Von  diesen  war  der  eine  der  für  die  Gründung 
sozialer  Vereine  sehr  tätige  Bergenroth  aus  Köln,  der  sich  damals 
unter  anderem  auch  mit  dem  Plan  einer  Arbeiter  •  parkasse  trug, 
deren  Gelder  für  die  Errichtung  von  korporativen  Werkstätten, 
sogenannten  Industriehallen,  flüssig  gemacht  werden  könnten. 
Die  Fabrikanten,  die  sich  aus  Sensationslust  zu  der  zweiten  und 
dritten  Versammlung  zahlreich  eingefunden  hatten,  begnügten  sich, 
mit  unartikulierten  Lauten  und  jeweiligem  Hohngelächter  ihr  Miß- 
fallen auszudrücken.  Die  Verteidigung  der  kapitalistischen  Gesell- 
schaftsordnung überließen  sie  dem  Direktor  ihres  Stadttheaters, 
dem  Lustspieldichter  Roderich  Benedix.  Er  war  der  Opponent, 
der  Friedrich  Engels  bei  seinem  frühesten  öffentlichen  Auftreten 
von  der  Unmöglichkeit  des  Kommunismus  überzeugen  wollte. 
Je  mehr  Gründe  der  Verfasser  der  Zärtlichen  Verwandten  gegen 
die  Notwendigkeit  und  Möglichkeit  einer  wirklichen  Reform  des 
Bestehenden  vorbrachte,  um  so  lauteren  Applaus  spendeten  ihm  die 
,, Besitzenden",  um  so  ostentativer  wurde  dem  wackeren  Verteidiger 
des  Eigentums  von  den  Notabein  zugetrunken.  Selbstverständ- 
lich riefen  des  Lustspieldichters  Einwürfe  lebhafte  Erwiderungen 
der  Kommunisten  hervor,  und  die  Debatten  wurden  zuletzt  sehr 
heftig. 

Die  Reden,  die  Engels  und  Heß  an  diesen  Abenden  hielten, 
kennen  wir  aus  einem  Bericht,  den  sie  selbst  für  die  Rheinischen 
Jahrbücher  niedergeschrieben  haben.  Dieweil  es  ein  Protokoll  nicht 
gab,  glaubte  Engels  sich  berechtigt,  seine  Ausführungen  für  den 
Druck  etwas  auszuweiten  und  abzurunden.  Und  Heß  mag  es  ähnlich 
gehalten  haben.  Auch  schien  es  ihnen  angemessen,  ihre  an  drei 
Abenden  gemachten  Ausführungen  in  der  Darstellung  zu  ver- 
schmelzen. Während  nun  aber  Heß  hier  in  seiner  verschwommenen 
Manier  den  Kommunismus  als  das  Lebensgesetz  der  Liebe  seinen 
Hörern  anpries  und  die  Revolution  für  vermeidbar  erklärte,  wenn 
man  der  Menschlichkeit  zum  Siege  verhelfe,  hatte  Engels,  der  dieses 
Publikum  besser  kannte,  es  für  schicklicher  erachtet,  durch  die 
scharfe  Gruppierung  von  Tatsachen  sich  an  den  Verstand  seiner 
Landsleute  zu  wenden,  an  ihren  praktischen  Sinn,  an  ihren 
kaufmännisch  geschulten  Geist.  Mit  scharfen,  klaren  Strichen, 
mit  ernster  Sachlichkeit  hatte  er  ihnen  die  Unvernunft  des  Systems 
der  freien  Konkurrenz  zu  Gemüte  geführt,  die  mit  ihrem  chaotischen 
Gewoge  jede  Organisation  von  Produktion  und  Verteilung  aus- 
schlösse, den  Mittelstand  vernichte,  die  Krisen  heraufbeschwöre, 
zur    Konzentration   der    Kapitalien   dränge    und   schließlich   dahin 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  I5 


226     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Liige  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

führe,  daß  wenige  Reiche  und  viele  Arme  sich  schroff  und  unver- 
mittelt gegenüberständen,  bis  dann  die  allgemeine  Not  eine  Reor- 
ganisation der  Gesellschaft  nach  vernünftigeren  Prinzipien  erzwin- 
gen werde.    Diesem  Zustand  der  Gegenwart,  an  dessen  Unhaltbar- 
keit  er  keinen  Zweifel  dulden  wollte,  hatte  er  jenen  anderen,  dem  er 
die  Zukunft  zusprach,  entgegengehalten,  den  kommunistischen,  der 
die  Interessen  der  einzelnen  nicht  mehr  trennte  sondern  vereinigte, 
der  die  Klassenunterschiede  aufhob  und  die  Krisen  mit  ihrer  Ver- 
geudung von  Kapital  und  Arbeit  beseitigte.    Den  Fabrikanten  unter 
seinen  Zuhörern  hatte  er  vorgerechnet,  wie  viele  Spekulanten,  Ex- 
porteure,   Kommissionäre,    Spediteure,    die    mit    der    Ware    selbst 
keine   Veränderung  vornehmen,  von  einem   Baumwollballen  leben 
wollten,  bevor  dieser  in  die  Fabrik  käme,  und  wie  ein  solcher  Unfug 
aufhören   werde,   sobald   erst   einmal   eine   Zentralverwaltung   die 
Statistik  gehörig  organisiert  hätte.  Fielen  erst  die  sozialen  Abstufun- 
gen und  Unterschiede  weg,  so  würden  auch  die  Verbrechen  gegen  das 
Eigentum  aufhören,  Ziviljustiz  und  Kriminaljustiz  überflüssig  wer- 
den  und   einfache    Schiedsgerichte   ausreichen.     Polizei   und   Ver- 
waltung fänden  nichts  mehr  zu  tun  in  einer  Gesellschaft,  wo  das 
öffentliche    Interesse   sich    von   dem    jedes   einzelnen   nicht   mehr 
unterscheiden  würde.   Ebensowenig  bedürfe  man  dann  noch  stehen- 
der   Heere:    innere    Unruhen    wären    nicht    mehr    zu  befürchten, 
denn  nur  aus  der  Opposition  der  Interessen  entspränge  die  Furcht 
vor  der  Revolution ;  Angriffskriege  würde  man  nicht  mehr  führen, 
da  man  sich  hüten  werde,  Menschen  und  Kapital  aufs  Spiel  zu  setzen, 
um  bestenfalls  ein  paar  widerwillige  Provinzen  zu  erlangen ;  für 
einen  Verteidigungskrieg  genügten  aber  Miliz  und  Volksbewaffnung. 
Werde    erst    jeder    einen    wirklichen    Herd    zu    verteidigen    haben, 
so  würde  er  mit  einer  Begeisterung,  einer  Ausdauer,  einer  Tapfer- 
keit kämpfen,  vor  der  die  maschinenmäßige  Geschultheit  moderner 
Armeen   wie    Spreu   auseinanderfliegen   müßte.     Auch   widerstrebe 
der  Kommunismus,  obgleich  es  oft  behauptet  worden  sei,  keines- 
wegs der  menschlichen  Natur,  und  ebensowenig  sei  er  eine  Theorie, 
die  bloß  der  Phantasie  entspringe.    Ihn  in  die  Wirklichkeit  zu  über- 
führen, gäbe  es  nun  verschiedene  Wege.  Die   Engländer  würden 
damit    beginnen,    einzelne    Kolonien    zu    errichten    und    es    jedem 
überlassen,  ob  er  diesen  beitreten  wolle  oder  nicht,  die  Franzosen 
würden    den    Kommunismus    wohl    mit    staatlichen    Mitteln    vor- 
bereiten und  durchführen.   Wie  die  Deutschen  es  anfangen  würden, 
darüber    ließe    sich    bei    der    Neuheit   der   sozialen    Bewegung   hier 
zu  Lande  erst  wenig  sagen.    Engels  griff,  genau  wie  Heß  es  damals 
anriet,  drei  Maßregeln  heraus,  deren  Durchführung  notwendig  den 
praktischen  Kommunismus  zur  Folge  haben  müßte.   Die  erste  wäre 


Versammlungen  in  Elberfeld.  227 

eine  allgemeine  und  gleiche  Erziehung  sämtlicher  Kinder  ohne  Aus- 
nahme auf  Staatskosten.  Die  durchweg  gebildete  Arbeiterklasse, 
die  damit  entstünde,  würde  nicht  mehr  gesonnen  sein,  in  ihrer 
heutigen  gedrückten  Stellung  zu  verharren  ;  von  ihrer  Ruhe  und  Be- 
sonnenheit wäre  aber  zu  erhoffen,  daß  eine  friedliche  Umbildung  der 
Gesellschaft  gelingen  werde.  Die  zweite  Maßregel  wäre  eine  totale  Un-;- 
gestaltungdes  Armenwesens  in  der  Absicht, sämtliche  brotlosen  Bürger 
in  Kolonien  unterzubringen,  dort  mit  Agrikultur  und  Industriearbeit 
zu  bsschäftigen  und  ihre  Arbeit  zum  Nutzen  der  ganzen  Kolonie 
zu  organisieren.  Würde  auf  diese  Weise  die  Arbeitskraft  aller 
Brotlosen  zum  Nutzen  der  Gesellschaft  verwendet,  wären  diese 
selbst  aus  demoralisierten,  gedrückten  Paupers  in  sittliche,  unab- 
hängige, tätige  Menschen  verwandelt,  so  hätte  man  damit  eine 
durchgreifende  Reorganisation  der  Gesellschaft  vorbereitet.  Als 
dritte  Maßregel  wäre  erforderlich,  daß  das  Geld  für  die  Durch- 
führung der  beiden  anderen  durch  eine,  die  ungerechten  bisherigen 
Steuern  ersetzende,  allgemeine,  progressive  Kapitalsteuer  aufgebracht 
würde.  Da  das  Prinzip  der  Besteuerung  des  einzelnen  durch  den 
Staat  an  sich  ein  kommunistisches  wäre,  brauchte  der  Staat  mit 
diesem  Prinzip  nur  Ernst  zu  machen,  sich  zum  allgemeinen  Eigen- 
tümer zu  erklären  und  als  solcher  das  öffentliche  Eigentum  zum 
öffentlichen  Besten  zu   verwalten. 

Von  Adolf  Schults  wissen  wir,  daß  Engels  über  die  Durchführ- 
barkeit des  Kommunismus  erst  an  dem  vierten  Abend  sprechen 
wollte,  der  gar  nicht  mehr  stattgefunden  hat.  In  den  Rheinischen 
Jahrbüchern  schließt  er  seine  Rede  mit  der  Versicherung,  daß  es 
nicht  darauf  abgesehen  sei,  den  Kommunismus  über  Nacht  und 
gegen  den  Willen  der  Nation  einzuführen,  daß  aber  die  Zukunft 
ihm  gehöre  und  daß  der  Entwicklungsgang  aller  zivilisierten  Na- 
tionen auf  ihn  zuführe.  Lesen  wir  diese  Elberfelder  Rede  heute,  so 
dürfen  wir  nicht  außer  acht  lassen,  vor  welchem  Publikum  und 
unter  welchen  Umständen  sie  gehalten  wurde.  Einmal  lag  Engels 
daran,  den  vielen  Bekannten,  die  erschienen  waren,  zu  zeigen,  daß 
das  Ideal,  für  das  er  sich  öffentlich  einsetzte,  nicht  bloß  das  Hirn- 
gespinst eines  jugendlichen  Träumers  sei,  sondern  daß  die  Zeit 
seiner  Verwirklichung  zusteuere,  und  daß  es  deshalb  den  Besitzen- 
den nicht  minder  wie  den  Besitzlosen  obliege,  sich  mit  ihm  bei- 
zeiten vertraut  zu  machen.  Dann  aber  war  er  gezwungen,  mit 
Rücksicht  auf  die  eigene  Sicherheit  und  auf  den  Fortbestand  der 
Agitationsmöglichkeit,  die  sich  so  unverhofft  dargeboten  hatte, 
Politik  und  Religion  aus  dem  Spiele  zu  lassen.  Wenn  er  also  von 
seiner  Hoffnung,  auf  revolutionärem  Wege  zum  Ziele  zu  kommen, 
hier  anfänglich  schweigt  und  sogar,  freilich  weniger  vordringlich 

IS* 


228     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

als  Heß,  ein  wenig  die  Friedensschalmei  bläst,  so  wollte  er  damit, 
wie  sich  gleich  zeigen  wird,  nicht  sagen,  daß  er  die  Revolution,  die 
er  für  England  mit  so  großer  Sicherheit  voraussagte,  in  Deutschland 
für  vermeidlich  ansah.  Auch  darin  lag  Absicht,  daß  er  zwischen 
dem  Zukunftsstaat,  der  ihm  vorschwebte,  und  dem  bestehenden 
Staat,  den  er  zu  einer  radikalen  Steuerreform  aufforderte,  keine 
prinzipielle  Grenze  zog.  Man  hüte  sich,  die  Prognose,  die  er  da- 
mals der  deutschen  Entwicklung  stellte,  aus  dieser  ersten  Rede  ab- 
lesen zu  wollen,  für  die  der  Wolf  sich  noch  in  einen  Schafspelz 
hüllte. 

Nun  sollte  Engels,  wie  m.an  ihm  vorhielt,  am  zweiten  Diskus- 
sionsabend nicht  überzeugend  genug  begründet  haben,  weshalb  der 
Kommunismus  ebenso  wie  für  Frankreich  und  England  auch  für 
Deutschland  eine  ökonomische  Notwendigkeit  wäre.  Als  er  in  der 
dritten  Versammlung  auf  diesen  Einwurf  antwortete,  dürfte  er 
schon  gewußt  haben,  daß  die  Tage  dieser  Zusammenkünfte  gezählt 
waren,  und,  fest  entschlossen,  der  Heimat  in  Kürze  den  Rücken 
zu  kehren,  konnte  er  es  nun  sich  leisten,  seine  wahre  Gesinnung 
durchschimmern  zu  lassen.  Ganz  deutlich  wird  er  freilich,  wie  wir 
uns  nicht  verhehlen  wollen,  erst  in  der  Niederschrift  für  den  Druck 
geworden  sein.  Mußte  er  den  Hörern,  die  er  vor  sich  hatte,  wirklich 
erst  beweisen,  daß  auch  Deutschland  sein  Proletariat  habe,  das  sich 
ständig  vermehrte?  Schlesien  und  Böhmen  hätten  selbst  ge- 
sprochen, die  Armut  der  Mosel-  und  Eifelgegend  hätte  schon  die 
Rheinische  Zeitung  geschildert;  im  Erzgebirge  herrschte  seit  un- 
denklichen Zeiten  das  große  Elend,  und  sähe  es  in  der  Senne  und 
in  den  westfälischen  Leinendistrikten  etwa  besser  aus  ?  In  den  eigent- 
lichen Industriebezirken  vollends  sei  das  Proletariat  zu  zahlreich, 
zu  augenscheinlich,  als  daß  man  es  leugnen  werde.  Für  das  platte 
Land  bestreite  man  dessen  Existenz  vielfach.  Aber  der  Großgrund- 
besitz könne  nicht  wirtschaften  ohne  die  proletarischen  Land- 
arbeiter, und  in  den  Gegenden  mit  Kleinbesitz  erzeuge,  hier  die 
ins  Endlose  sich  fortsetzende  Teilung  des  Bodens,  dort  das  An- 
erbenrecht, mit  der  gleichen  Unfehlbarkeit  ein  Proletariat.  Die 
unaufhaltsame  Konzentration  des  Kapitals  und  die  ebenso  unauf- 
haltsame Verarmung  des  Mittelstandes  machten  das  ständig  wach- 
sende Proletariat  zu  einer  immer  drohenderen  Erscheinung.  Ein- 
mal aber  werde  dieses  eine  Stufe  der  Macht  und  Einsicht  erreichen, 
bei  der  es  sich  den  Druck  des  ganzen  sozialen  Gebäudes,  der  fort- 
während auf  seinen  Schultern  laste,  nicht  mehr  gefallen  lassen 
würde.  Dann  werde  es  eine  gleichmäßigere  Teilung  der  sozialen 
Lasten  und  Rechte  verlangen,  und  —  wenn  sich  die  menschliche 
Natur  bis  dahin  nicht  ändere  —  eine  soziale  Revolution  unvermeid- 


Notwendigkeit  des  Kommunismus  für  Deutschland.  229 

bar  sein.  Auf  diese  Fragen  seien  freilich  die  Nationalökonomen  bis- 
her nicht  eingegangen,  sie  kümmerten  sich  nicht  um  die  Vertei- 
lung, sondern  bloß  um  die  Erzeugung  der  Güter. 

Mit  einem  etwas  abrupten  Übergang  bahnte  Engels  sich  den 
Weg  zu  den  damals  nicht  zuletzt  durch  Friedrich  Lists  geniale 
Propaganda  brennend  gewordenen  handelspolitischen  Kämpfen, 
Schon  1844  hatte  er  sich  entschlossen,  List  zu  kritisieren, 
aber  darauf  verzichtet,  als  ihm  mitgeteilt  wurde,  daß  Marx  sich 
mit  einem  ähnlichen  Vorhaben  trüge.  Seither  hatte  er  sich  gesagt 
und  auch  erfahren,  daß  sein  Freund  sich  mehr  auf  die  Voraus- 
setzungen als  auf  die  Konsequenzen  des  großen  Agitators  einlassen 
wollte.  Ihm  war  darum  zu  tun,  die  praktischen  Folgen  eines  natio- 
nalen Systems  der  politischen  Ökonomie  zu  entwickeln.  Er  führte 
also,  was  er  darüber  in  seiner  Rede  gesagt  haben  mochte,  für  die 
Veröffentlichung  noch  weiter  aus,  denn  ihm  lag  daran,  zu  zeigen, 
daß  weder  die  Vorläufer  des  Freihandels,  noch  List,  noch  die  Ver- 
teidiger des  geltenden  ,,Juste-Milieu-Tarifs**  in  der  Lage  sein  würden, 
durch  handelspolitische  Maßregeln  eine  kommende  deutsche  soziale 
Revolution  hintanzuhalten. 

Als  prinzipieller  Gegner  der  kapitalistischen  Gesellschaft  stand 
er  abseits  einer  Diskussion,  die  sich  darum  drehte,  ob  der  deutschen 
Volkswirtschaft,  wie  sie  einmal  war,  Schutzzölle  oder  Freihandel 
zuträglicher  wären.  Das  brauchte  ihn  aber  nicht  abzuhalten, 
hier  zu  bekennen,  daß  die  gesamte  deutsche  Industrie  mit  Aus- 
nahme weniger  Zweige  ruiniert  wäre,  wenn  ihr  der  Zollschutz 
genommen  würde.  Die  plötzlich  brotlos  gewordene  Masse  der  Ar- 
beiter würde  sich  dann  auf  den  Ackerbau  und  die  paar  übrig  geblie- 
benen Industriezweige  stürzen,  der  Pauperismus  überall  aus  dem 
Boden  wachsen,  die  Zentralisation  des  Besitzes  durch  die  Krisis 
beschleunigt  werden  —  die  soziale  Revolution  mit  Notwendigkeit 
heraufziehen.  So  wäre  es  besser,  dem  Rat  Lists  zu  folgen,  der  die 
Wünsche  der  Kapitalisten  in  ein  anerkanntes  System  gebracht 
habe  ?  Dann  bekäme  man  zunächst  Schutzzölle,  hoch  genug,  den 
Fabrikanten  den  inländischen  Markt  zu  sichern,  hierauf  würde 
man  diese,  wie  List  es  fordere,  soweit  heruntersetzen;  daß  die  deutsche 
Industrie  auf  neutralen  Märkten  konkurrenzfähig  werde.  Wie  aber, 
wenn  nun  die  englische  Industrie  den  deutschen  Markt  gleich 
wieder  von  neuem  zu  ihrem  ,,Trcdelmagazin"  machte  und  die 
deutsche  Industrie  von  diesem  Augenblick  ab  alle  Schwankungen, 
alle  Krisen  der  englischen  mitauszuhalten  hätte,  ohne  sich  so 
schnell  erholen  zu  können  wie  jene,  der  die  ganze  Welt  als  Markt 
offen  stünde?  Dann  werde  unsere  Industrie,  so  meint  Engels, 
alle  schlechten  Perioden  der  englischen  bis  auf  die  Hefe  auszukosten 


230     Das  Bündnis  mit  Marx.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England. 

haben,  während  sie  an  deren  Glanzperioden  nur  bescheidenen  Anteil 
nehmen  könnte.  Die  Folge  aber  wäre  derselbe  gedrückte  Zustand, 
in  dem  sich  die  halbgeschützten  Zweige  jetzt  befänden;  Betriebe 
würden  eingehen,  ohne  daß  neue  entstünden,  Maschinen  würden 
veralten,  ganze  Industriezweige  verkommen  und  endlich  verschwin- 
den. ,,Dann  aber  haben  wir  ein  zahlreiches  Proletariat,  das  durch 
die  Industrie  geschaffen  wurde  und  nun  keine  Lebensmittel,  keine 
Arbeit  hat;  und  dann  wird  dies  Proletariat  mit  der  Forderung  an 
die  besitzende  Klasse  treten,  beschäftigt  und  ernährt  zu  werden." 

So  wäre  es  also  vielleicht  noch  das  beste,  an  den  Zöllen,  wie  sie 
einmal  bestehen,  nicht  zu  rühren  ?  Auch  damit,  ruft  Engels,  werde 
man  die  soziale  Revolution  nicht  verhindern.  Der  Aufschwung 
der  deutschen  Industrie  werde  dann  zum  Stillstand  kommen,  sobald 
sie  den  heimischen  Markt  erobert  habe ;  wenn  sie  nicht  mehr  fort- 
schreite, könne  sie  sich  auch  nicht  vervollkommnen.  Die  englische 
Industrie  aber,  die  indes  immer  weiter  vorankomme,  werde  durch 
ihre  Fortschritte  befähigt  sein,  so  wohlfeil  zu  produzieren,  daß  sie 
mit  unserer  zurückgebliebenen  Industrie  trotz  dem  Schutzzoll 
auf  unserem  eigenen  Markte  konkurrieren  könne.  Unsere  endliche 
Niederlage  sei  dann  gewiß:  ein  künstlich  erzeugtes  Proletariat 
werde  wiederum  an  die  Besitzenden  Forderungen  stellen,  welche 
diese,  solange  sie  exklusiv  Besitzende  bleiben  wollen,  nicht  erfüllen 
können. 

Eine  letzte,  freilich  sehr  unwahrscheinliche  Möglichkeit  sah 
Engels  darin,  daß  es  den  Deutschen  dank  den  Schutzzöllen  gelänge, 
ihre  Industrie  so  zu  stärken,  daß  diese  ohne  Schutz  auf  neutralen 
Märkten  gegen  die  Engländer  konkurrieren  könnte.  Aber  ihm, 
der  die  Engländer  kannte,  erschien  es  schon  damals  unmöglich, 
daß  eine  englische  und  eine  deutsche  Industrie  friedlich  nebenein- 
ander bestehen  sollten.  Jede  Industrie  müsse  neue  Märkte  erobern, 
müsse  sich  vergrößern  und  ausbreiten  können,  wolle  sie  nicht 
zurückbleiben  und  untergehen.  Da  aber,  seitdem  China  offen 
stünde,  neue  Märkte  nicht  mehr  erobert,  also  nur  die  vorhandenen 
noch  besser  ausgebeutet  werden  könnten,  so  dürfe  England  fortan 
noch  viel  weniger  als  früher  einen  Konkurrenten  dulden.  Es  müsse, 
das  war  seine  Meinung  wie  die  Louis  Blancs  und  anderer  französischer 
Sozialisten,  um  seine  eigene  Industrie  zu  schützen,  die  aller  anderen 
Länder  niederhalten.  Die  Behauptung  des  industriellen  Monopols 
sei  für  England  nicht  mehr  eine  bloße  Frage  des  größeren  Gewinns, 
sie  sei  ihm  eine  Lebensfrage  geworden.  Es  würde  sich  also  ein 
Kampf  auf  Tod  und  Leben  zwischen  beiden  Industrien  erheben. 
„Die  Engländer  würden  alle  Kräfte  aufbieten,  um  uns  aus  den  bisher 
von  ihnen  versorgten  Märkten   fernzuhalten;  sie  müßten  es,  weil 


Englische  Rivalität  und  deutsche  Revolution.  23 1 

sie  hier  an  dem  gefährlichsten  Punkt  angegriffen  werden."  Engels 
nimmt  an,  daß  es  ihnen  mit  all  den  Vorteilen  einer  hundertjährigen 
Industrie  gelingen  werde^  uns  zu  schlagen.  ,,Sie  werden  unsere 
Industrie  auf  unseren  eigenen  Markt  beschränkt  halten  und  sie 
dadurch  stationär  machen."  So  befände  sich  Deutschland  wiederum 
in  der  Lage,  daß  eine  verfallende  Industrie  ein  durch  sie  künstlich 
erzeugtes  Proletariat  nicht  ernähren  könne:  die  soziale  Revolution 
träte  ein.  Wie  jedoch,  wenn  wider  Erwarten  die  deutsche  über 
die  englische  Industrie  siegte  ?  Im  glücklichsten  Falle,  meinte 
Engels,  würden  wir  dann  die  industrielle  Laufbahn  Englands 
wiederholen  und  am  Ende  stehen,  wo  dieses  jetzt  stehe,  am  Vor- 
abend einer  sozialen  Revolution.  Wahrscheinlicher  wäre  freilich, 
daß  Englands  Ruin  die  massenhafte  Erhebung  seines  Proletariats 
gegen  die  besitzenden  Klassen  noch  beschleunigen  und  daß  diese 
soziale  Revolution  sogleich  eine  europäische  werden  würde.  Dann 
werde  die  Erhebung  des  durch  die  forcierte  Industrie  erzeugten 
Proletariats  auch  in  Deutschland  die  Träume  der  Fabrikanten  von 
einem  industriellen  Monopol  ihres  Landes  zunichte  machen.  Der 
Kampf  der  Konkurrenz  zwischen  Nationen  sei  ein  konzentrierter 
Kampf,  ein  Kampf  von  Massen,  den  nur  der  entschiedene  Sieg  des 
einen  und  die  endgültige  Niederlage  des  anderen  Teils  endigen  könne. 
Wie  immer  ein  solcher  Kampf  zwischen  Deutschen  und  Engländern 
ausgehen  möge,  das  Ergebnis  werde  weder  für  ihre  noch  für  unsere 
Industrie  von  Vorteil  sein:  die  soziale  Revolution  bleibe  unent- 
rinnbar. ,,Mit  derselben  Sicherheit,  mit  der  wir  aus  gegebenen 
mathematischen  Grundsätzen  einen  neuen  Satz  entwickeln  kennen, 
mit  derselben  Sicherheit  können  wir  aus  den  bestehenden  ökono- 
mischen Verhältnissen  und  den  Prinzipien  der  Nationalökonomie 
auf  eine  bevorstehende  soziale  Revolution  schließen." 

Aber  wie  wird  diese  deutsche  soziale  Revolution  aussehen? 
Solch  ein  Kampf,  in  dem  alle  die  Triebfedern  und  Ursachen,  die 
in  den  bisherigen  historischen  Konflikten  dunkel  und  versteckt 
zugrunde  lagen,  unverhohlen  und  offen  zu  ihrer  Wirkung  kämen, 
drohe  heftiger  und  blutiger  werden  zu  wollen  als  alle  seine  Vor- 
gänger. Sein  Ergebnis  könne  ein  zweifaches  sein:  entweder  greife 
die  sich  empörende  Partei  nur  die  Erscheinung,  nicht  das  Wesen, 
nur  die  Form,  nicht  die  Sache  selbst  an,  oder  sie  gehe  auf  die  Sache 
selbst  ein  und  packe  das  Übel  bei  der  Wurzel.  Im  ersteren  Fall 
werde  man  das  Privateigentum  bestehen  lassen  und  nur  anders 
verteikn,  so  daß  die  Ursachen  bestehen  bleiben,  welche  die  Revo- 
lution herbeigeführt  haben.  Weil  aber  die  große  englische  und  die 
große  französische  Revolution  das  erreicht  haben,  was  sie  sich  vor- 
gesetzt hatten,  glaubt  Engels,  im  Vertrauen  auf  die  geschichtliche 


232     Das  Bündnis  mit  Manc.  —  Die  Lage  der  arbeitenden  Klaisse  in  England. 

Erfahrung,  annehmen  zu  dürfen,  daß  auch  der  Aufstand  der  Armut 
nicht  eher  ruhen  werde,  als  bis  er  die  Armut  und  ihre  Ursachen 
gänzlich  abgeschafft  habe.  Und  weil  er  eine  wirkliche  soziale 
Reform  nur  von  der  Proklamation  des  kommunistischen  Prinzips 
erhoffte,  zweifelte  er  nicht,  daß  die  künftige  soziale  Revolution  mit 
der  Durchführung  des  Kommunismus  enden  werde.  Am  Schluß  seiner 
Lage  der  arbeitenden  Klasse  Englands  hatte  er  vorausgesagt^ 
daß  die  kommende  englische  Revolution  um  so  weniger  Greuel 
mit  sich  bringen  werde,  je  mehr  die  Proletariermassen  sich  bereits 
vor  ihrem  Ausbruch  mit  kommunistischem  Geiste  erfüllt  haben 
würden.  Das  gleiche  meint  er,  wenn  er  in  seiner  Elberfelder  Rede 
die  ,, friedliche  Einführung  oder  wenigstens  Vorbereitung  des  Kom- 
munismus" als  das  einzige  Mittel  empfiehlt,  ,, wodurch  wir  einer 
gewaltsamen  und  blutigen  Umwälzung  der  sozialen  Zustände  vor- 
beugen können",  als  das  einzige  Mittel,  um  zu  verhindern,  daß 
brutale  Gewalt,  Verzweiflung  und  Rachgier  die  .,Verm.enschlichung 
der  Lage  der  modernen  Heloten"  übernehmen.  Noch  einmal  prä- 
zisierte Engels  an  dieser  Stelle  das  soziale  Ideal,  das  ihn  erfüllte 
und  das  ihn  zum  Kommunisten  gemacht  hatte.  Er  wünschte  allen 
Menschen  eine  solche  Lebenslage,  daß  ein  jeder  seine  menschliche 
Natur  frei  entwickeln,  mit  seinen  Nächsten  in  einem  menschlichen 
Verhältnis  leben  könne  und  vor  keiner  gewaltsamen  Erschütterung 
seiner  Lebenslage  sich  zu  fürchten  brauche.  Er  war  gewillt,  sein  ganzes 
Leben  dem  Kommunismus  zu  widmen,  weil  er  sich  die  Verwirk- 
lichung des  Menschheitsideals,  dem  er  aus  wärmster  Seele  anhing, 
nur  von  dessen  Siege  versprach.  ,,Das  wahrhaft  menschliche  Leben, 
mit  allen  seinen  Bedingungen  und  Bedürfnissen,"  so  versicherte 
er  den  Ängstlichen  unter  seinen  Hörern,  ,, wollen  wir  so  wenig  zer- 
stören, daß  wir  es  im  Gegenteil  erst  recht  herzustellen  wünschen." 
Was  der  einzelne  aufopfern  müsse,  wäre  kein  wahrhaft  mensch- 
licher Lebensgenuß,  sondern  nur  der  durch  unsere  schlechten  Zu- 
stände erzeugte  Schein  eines  solchen,  es  wäre  etwas,  das  wider 
die  eigene  Vernunft  und  das  Herz  derer  gehe,  die  sich  jetzt  noch 
dieser  scheinbaren  Vorzüge  erfreuten. 

Engels  hatte  es,  wie  sich  begreifen  läßt,  wohlgetan,  sich  über 
die  Dinge,  die  ihn  so  ganz  in  Beschlag  nahmen,  vor  der  Öffentlich- 
keit aussprechen  zu  können.  Es  sei  doch  ein  ganz  anderes  Ding, 
gestand  er  Marx  am  Tage  nach  der  letzten  Versammlung,  vor  den 
wirklichen  leibhaftigen  Menschen  zu  stehen  und  ihnen  direkt, 
sinnlich,  unverhohlen  zu  predigen,  als  dies  verfluchte  abstrakte 
Schreibertum  mit  seinem  abstrakten  Publikum  vor  den  ,, Augen  des 
Geistes"  zu  treiben.  Wäre  Engels  jene  angeborene  Kraft  der  Rede 
verliehen   gewesen,   die   den    Redenden    selbst  so   häufig   fortreißt 


Engels  soziales  Ideal.  233 

und  rerführt,  so  wäre  es  ihm  auch  später  schwerer  geworden,  den 
Drang  nach  unmittelbarer  politischer  Berührung  mit  diesem  Pro- 
letariat, für  das  er  lebte,  so  zu  zügeln,  wie  er,  dieser  Gabe  entbehrend, 
bei  der  allgemeinen  Konstellation  seiner  Lebensgestaltung  und  als 
der  ständige  Arbeitsgefährte  eines  Marx  es  vermocht  hat.  Daß  er 
auf  ein  rasches  Echo,  auf  einen  schnell  sichtbaren  Erfolg  verzichten 
konnte,  erklärte  sich  aus  der  vom  Biographen  immer  wieder  in  den 
Vordergrund  zu  rückenden  Wurzelhaftigkeit  und  Echtheit  seines 
Wesens,  aus  der  Lauterkeit  und  Kraft  seiner  Überzeugung  und  aus 
seiner  völligen  Gefeitheit  gegen  die  Versuchungen  des  gefährlichsten 
die  Männer  verführenden  Däm.ons,  des  Ehrgeizes. 


Kapitel  IX. 

Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie» 

Weil  Engels,  von  der  Polizei  bereits  aufs  Korn  genommen, 
die  Abreise  aus  dem  Elternhause  beschleunigt  hatte,  war  unter 
den  Wuppertaler  Philistern  das  Gerücht  aufgekommen,  daß  der 
ihnen  so  unverständliche  junge  Mann  sich  nach  Amerika  in  Sicher- 
heit gebracht  habe.  Engels  jedoch  war  spornstracks  nach  Brüssel 
geeilt,  wo  sich,  auf  Verlangen  der  preußischen  Regierung  aus 
Paris  ausgewiesen,  Marx  seit  dem  Februar  festgesetzt  hatte. 
Ausschließlich  dieser,  nicht  etwa  die  geistige  Atmosphäre  Belgiens, 
wo  das  Geld  und  die  Kirche  noch  ungestört  gebieten  konnten, 
ohne  daß  sie  einem  völlig  rechtlosen  Proletariat  gegenüber  Gewalt- 
maßregeln anwenden  mußten,  lockte  ihn  hierher.  Ursprünglich 
war  es  seine  feste  Absicht  gewesen,  im  Juni  noch  einmal  nach 
Barmen  zurückzukehren,  um  der  Hochzeit  seiner  Schwester  bei- 
zuwohnen. Aber  am  31.  Mai  mußte  er  ihr  zu  seinem  Bedauern 
mitteilen,  daß  ersieh,  wie  sie  leicht  begreifen  werde,  bei  seinen  ,, son- 
stigen Verhältnissen"  nur  Unannehmlichkeiten  aussetzen  würde, 
wenn  er  ohne  Paß  über  die  Grenze  zu  kommen  versuchte,  —  und 
daß  ihm  auch  Herr  Handy,  der  Direktor  der  belgischen  Sicherheits- 
polizei, davon  abgeraten  habe,  weil  sein  Auswanderungsschein 
^ut  sei,  pour  sortir  de  la  Prusse,  mais  pas  pour  y  rentrer.  ,,So  bin 
ich  genötigt,  hier  zu  bleiben  und  Daine  Hochzeit  hier  allein  und  in 
Gedanken  zu  feiern  —  so  leid  es  mir  tut.  Was  ich  Euch  vor  allem 
wünsche,  ist,  daß  die  Liebe,  die  Euch  zusammengeführt  und  die  Euer 
Verhältnis  zu  einem  so  schönen  menschlichen  und  sittlichen  ge- 
macht hat,  wie  ich  nicht  viele  kenne.  Euch  durch  Euer  ganzes  Leben 
begleiten  möge.  Verlaß  Dich  darauf,  von  den  vielen  Glückwünschen, 
die  man  Euch  darbringen  wird,  ist  keiner  treuer  gemeint,  keiner 
herzlicher  und  wärmer  als  der  meinige!  Du  weißt,  daß  ich  Dich 
immer  am  liebsten  gehabt  habe  von  allen  meinen  Geschwistern, 
daß  ich  immer  zu  Dir  am  meisten  Vertrauen  hatte  .  .  .  Seid 
glücklich!" 

Zum  ersten  Male  in  seinem  Leben  fühlte    sich  Engels  hier  in 


Mit  Marx  in  Brüssel.  235 

Brüssel  frei  von  jeder  Fessel;  keine  ungeliebte  Berufstätigkeit  beengte 
ihn  mehr,  keine  Rücksichtnahme  auf  seine  soziale  Stellung  oder  auf 
das  Urteil  der  Welt  wurde  hier  von  ihm  gefordert.  Mit  ungestümer 
Frische  hat  er  diese  Freiheit  ausgenutzt!  Jetzt  zuerst  lernten  er  und 
Marx  bei  täglicher  Berührung  einander  in  all'  ihren  menschlichen 
Eigenschaften  kennen  und  verstehen.  In  dem  hauptsächlich  von 
Arbeitern  bevölkerten  Vorort  Saint  Josse  ten  Noode,  der  noch  nicht 
wie  heute  in  wenigen  Minuten  vom  Zentrum  der  Stadt  zu  erreichen 
war,  wohnten  sie  —  Marx  mit  seiner  Gattin  —  Haus  bei  Haus; 
nie  wieder  ist  ihre  Arbeitsgemeinschaft  eine  von  den  äußeren  Um- 
ständen so  begünstigte,  so  vollständige  gewesen,  wie  während  dieser 
Jahre  vor  der  Revolution,  in  denen  sie,  untrennbar  einander  gesellt, 
theoretisch  und  praktisch  ihre  historische  Stellung  endgültig  be- 
gründeten. 

Gleich  im  Sommer  1845  unternahmen  beide  Freunde  eine 
gemeinsame  Reise  nach  England ;  bei  Engels  erfolgte  sie  der  Familie 
gegenüber  unter  dem  Aushängeschild,  daß  er  seine  in  Manchester 
zurückgelassenen  Bücher  holen  müsse,  vielleicht  galt  sie  aber  noch 
mehr  der  jungen  irischen  Arbeiterin  Mary  Burns,  die  er  in  Man- 
chester kennen  gelernt  hatte  und  die  bis  zu  ihrem  Tode  seine  nicht 
angetraute  aber  ständige  Gefährtin  wurde.  Marx  begleitete  ihn,  um 
unter  seiner  kundigen  Führung  von  England  einen  ersten  Eindruck 
zu  erhalten  und  für  die  ökonomischen  Studien^  in  die  er  sich,  um  sie 
nie  wieder  aufzugeben,  kopfüber  gestürzt  hatte,  die  auf  dem  Kon- 
tinent schwer  baschaffbare  ältere  englische  Literatur  einzusehen. 
Für  beide  waren  es  ergebnisreiche  Wochen;  noch  1870  erinnerte 
Engels  den  Freund  an  den  Erker  in  der  Bibliothek  von  Manchester, 
durch  dessen  bunte  Scheiben  sie  immer  in  schönes  Wetter  hinaus- 
blickten. Aber  auch  politischen  Zwecken  diente  dieser  Aufenthalt; 
sorgfältig  pflegte  Engels  die  mit  dem  linken  Flügel  der  Chartisten 
früher  angeknüpften  Beziehungen  und  nun  machte  er  auch  Marx 
mit  Harne  y  und  dessen  näheren  Freunden  bekannt.  Er  selbst 
wurde  von  nun  ab  wieder  regelmäßiger  Mitarbeiter  des  Northern 
Star.  In  den  Spalten  dieses  Chartistenblattes  bekämpfte  er  jetzt 
im  September  1845  die  früher  in  The  New  Moral  World,  dem  kürz- 
lich eingegangenen  Organ  der  Anhänger  Owens,  von  ihm  selbst  ver- 
tretene Ansicht,  als  ob  in  Deutschland  die  Revolution  von  der 
intellektuellen  Jugend  ausgehen  könnte.  Wohl  gäbe  es  auch  im 
deutschen  Bürgertum  Demokraten  und  selbst  Kommunisten,  aber 
ihre  soziale  Stellung  als  Ausbeuter  und  Profitmacher,  meinte  er, 
würde  ihnen  den  Kommunismus  bald  genug  austreiben.  Einzig 
die  Arbeiterklasse,  die  sich  seit  den  Weberunruhen  durch  Streiks 
und  Revolten  darauf  vorbereite,  werde  die  große  Revolution  durch- 


236  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

führen.  Und  er  schließt  mit  dem  trotzigen  Geständnis:  ,,Wir 
rechnen  nicht  auf  die  Mittelklassen."  Anscheinend  veranlaßten 
diese  Bemerkungen  Harney,  seinen  Korrespondenten  zu  bitten,  den 
englischen  Arbeitern  eine  ausführlichere  Darstellung  der  ihnen 
so  wenig  bekannten  deutschen  Zustände  zu  geben.  Diesem  Wunsche 
entsprachen  zwei  Anfang  November  in  The  Northern  Star  abge- 
druckte Artikel,  die  uns  auf  das  anschaulichste  die  große  Wandlung 
kennzeichnen,  die  mit  Engels  vorgegangen  war.  Dabei  wollen  wir 
aber  nicht  vergessen,  daß  es  sich  nur  um  eine  flüchtige,  für  primitive 
Leser  bestimmte  Gelegenheitsarbeit  handelte,  die  keinen  Vergleich 
duldet  mit  dem,  was  Marx  um  dieselbe  Zeit  über  denselben  Stoff 
bei  tiefer  schürfender  Untersuchung  ans  Tageslicht  förderte. 

Engels  gibt  den  englischen  Arbeitern,  denen  jeder  Begriff  davon 
fehlte,  einen  Überblick  über  die  deutsche  Entwicklung  seit  dem 
Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts.  Fürsten  und  Adel  kommen 
bei  ihm  schlecht  weg,  dennoch  häuft  er  nicht  auf  sie  allein  die  Schuld 
an  dem  Verlust  vieler  schöner  Provinzen  und  der  inneren  Verwirrung 
und  Rechtlosigkeit.  Würde  das  Bürgertum  sich  während  des 
Niederganges  des  heiligen  römischen  Reiches  wie  in  England  zwi- 
schen 1640  und  1688  und  in  Frankreich  während  der  Revolution 
mit  dem  gemeinen  Volk  gegen  die  Unterdrücker  verbündet  haben, 
so  wäre  nach  dem  Sturz  der  alten  Gewalten  ein  Neuaufbau  möglich 
gewesen.  Aber  das  Bürgertum  habe  versagt,  und  die  leibeigenen 
Bauern  und  das  arbeitende  Volk  hätten  noch  nichts  Selbständiges 
unternehmen  können.  Den  treuesten  Niederschlag  der  Entrüstung 
über  diese  unwürdigen  Zustände  entdeckte  Engels  im  Götz  und 
in  den  Räubern.  Aber  das  waren  Jugenddichtungen  Goethes 
und  Schillers,  älter  geworden,  verzweifelten  sie  an  der  Zukunft 
ihres  Landes.  Dann  sei  die  französische  Revolution,  einem  Donner- 
schlag vergleichbar,  in  das  deutsche  Chaos  hineingefahren:  war 
auch  die  untere  Volksschicht  noch  zu  ununterrichtet  und  zu  unfrei, 
um  sich  zu  erregen,  so  bejubelte  das  ganze  Bürgertum  und  der  bes- 
sere Teil  des  Adels  um  so  lebhafter  die  Nationalversamm.lung,  und 
die  Dichter  besangen  das  Nachbarvolk,  das  verstanden  hatte,  sich 
die  Freiheit  zu  erkämpfen.  Dies  Bild  änderte  sich,  als  nach  dem 
Sturz  der  Gironde  die  Volkssouveränität  Wirklichkeit  werden 
sollte  ;  wofür  man  sich  in  der  Theorie  begeistert  hatte,  davor  schreckte 
man  in  der  Praxis  zurück.  Dann  kam  die  Überschwemmung 
Deutschlands  durch  die  französischen  Heere,  in  deren  Gefolge  aus 
dem  vorsintflutlichen  Urwald  der  christlich-germanischen  Gesell- 
schaft die  Standesherrschaften,  Bistümer  und  Abteien  ausgerodet 
wurden.  Dies  Werk  vollendete  Napoleon ;  er  war  für  Deutschland 
die  Verkörperung  der  Revolution,  der  Verbreiter  ihrer  Grundsätze, 


Die  deutsche  Geschichte  der  letzten  Jahrzehnte.  237 

der  Zerstörer  des  Feudalwesens.  Mit  seinem  Code  führte  er  hier 
ein  Gesetzbuch  ein,  das  ,,im  Prinzip  die  Gleichheit  anerkannte". 
Der  Haß  gegen  den  Korsen  zwang  die  an  ihre  Privatinteressen  ver- 
lorenen Deutschen  sich  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten  zu 
befassen.  Mochte  Napoleon  durch  die  Kontinentalsperre  den 
Grund  zu  einer  deutschen  Industrie  gelegt  haben,  diese  Sperre  ver- 
teuerte dem  Kleinbürger  seinen  Kaffee,  seinen  Zucker  und  seinen 
Schnupftabak,  und  das  reichte  hin,  ihn,  der  für  Bonapartes  große 
Pläne  ohnehin  keinen  Sinn  hatte,  gegen  diesen  aufzubringen.  Er 
verfluchte  Napoleon,  weil  er  seine  Kinder  in  den  Krieg  führte,  aber 
Englands  Aristokratie  und  Bourgeoisie,  die  wahren  Veranlasser 
und  eigentlichen  Nutznießer  aller  jener  Kriege,  für  die  er  damals 
wie  später  dieZeche  bezahlen  mußte,  betrachtete  er  als  seine  Freunde. 
Es  folgte  jener  ,, Freiheitskrieg",  den  man  mit  höchstem  Unrecht 
die  glorreichste  Periode  der  deutschen  Geschichte  genannt  hat, 
während  man  ihn  mit  größerem  Recht  als  ein  verrücktes  Unter- 
nehmen kennzeichnen  könnte,  das  jedem  anständigen  und  intel- 
ligenten Deutschen  für  alle  Zeit  die  Schamröte  in  die  Wangen  treiben 
sollte.  Begeisterung  war  da;  aber  wer  waren  die  Begeisterten? 
Zunächst  die  Bauern,  die  rückständigste  Klasse  des  Volkes,  die  an 
den  Vorurteilen  der  Feudalzeit  klebten  und  die  lieber  auf  dem 
Schlachtfelde  starben,  als  daß  sie  jenen  zu  gehorchen  aufhören 
wollten,  die  ihre  Väter  und  Großväter  als  ihre  Herren  angesehen 
hatten.  Danach  die  Studenten  und  die  andere  Jugend,  die  diesen 
Krieg  als  einen  Prinzipien-  und  Religionskrieg  ansah.  Ferner  eine 
kleine  Zahl  der  erleuchtetsten  Geister,  die  mit  kriegerischen  Vor- 
stellungen gewisse  Gedanken  über  Freiheit  und  liberale  Reformen 
verbanden.  Am  Ende  die  Söhne  der  Händler,  Kaufleute  und  Spe- 
kulanten, die  für  das  Recht  fochten,  auf  dem  billigsten  Markt  ein- 
zukaufen und  Kaffee  ohne  Zichorie  zu  trinken,  aber  solche  Wünsche 
hinter  patriotischen  Phrasen  verbargen.  So  wurde  cie  nationde 
Unabhängigkeit  erkämpft.  Doch  die  Folge  bewies,  daß  nicht  die 
Befreiung  vom  Despotimus  das  Ziel  des  Kam.pfes  gewesen  war, 
sonst  hätten  alle  siegreichen  Völker  nach  Napoleons  Sturz  die  Grund- 
sätze der  Gleichheit  verkündet  und  ihre  Segnungen  ihnen  verliehen 
werden  müssen.  Überall  aber  trat  das  Gegenteil  ein,  nachdem  die 
Revolution  gestürzt  war  und  die  alten  Mächte  den  Sieg  erfochten 
hatten.  Deutschland  blieb  in  seiner  Zersplitterung,  die  es  nach 
außen  hin  zur  Ohnmacht  verurteilte,  war  aber  gerade  deshalb  der 
beste  Absatzmarkt  für  die  Waren  der  englischen  Bourgeoisie,  die 
sich  nun  für  die  während  des  Krieges  gezahlten  Subsidien  über- 
reichlich entschädigte.  Auch  der  Despotismus  bestand  weiter. 
Denn  nur  ein  Ergebnis  der  Furcht  waren  die  Reformen  in  Preußen 


238  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

gewesen,  als  deren  bedeutungsvollste  die  Schaffung  eines  Volks- 
heeres zu  gelten  habe,  das  sich  einst  auch  gegen  die  Regierung 
werde  verwenden  lassen.  Österreich  und  Preußen  herrschten 
fortan  gemeinsam  in  demselben  reaktionären  Geist ;  die  Verfassungen, 
die  sie  den  Mittelstaaten  aufgezwungen  hatten,  sollten  dort  nur  die 
Regierungen  schwächen,  ohne  dem  Bürgertum  oder  gar  dem  Volk 
einen  Anteil  an  der  Macht  zu  gewähren.  Die  Anstrengungen  des 
deutschen  Bürgertums  blieben  bedeutungslos,  solange  diese  sich 
auf  die  südlichen  Staaten  beschränkten;  Wichtigkeit  erhielten  sie 
erst,  seitdem  in  Preußen  das  Bürgertum  aus  seiner  Lethargie  er- 
wachte. Hier  hatte  die  Monarchie  sorglose  Jahre  gehabt  und  alle 
dem  Volke  gegebenen  Versprechungen  solange  uneingelöst  lassen 
können,  bis  die  Furcht  vor  Napoleon  von  der  Furcht  vor  der  Revo- 
lution abgelöst  wurde.  Den  Chartisten,  die  gewohnt  waren,  auf 
ihren  Festversammlungen  der  großen  Demokraten  aller  Länder  zu 
gedenken,  riet  Engels  ab,  sich  unter  den  Deutschen  den  unwissen- 
den und  bigotten  Andreas  Hofer  auszusuchen,  besser  täten  sie,  Thomas 
Münzer,  den  glorreichen  Führer  aus  dem  Bauernkriege,  und  Georg 
Forster,  den  deutschen  Thomas  Paine,  in  ihr  Herz  zu  schließen. 
Den  preußischen  Zuständen  seit  der  Julirevolution  hatte  Engels 
einen  besonderen  Artikel  zugedacht,  der  nicht  zustande  kam. 
Doch  wissen  wir,  daß  nach  seiner  Ansicht  die  Rückständigkeit 
der  ökonomischen  Entwicklung  Preußens  um  1830  verhindert 
hatte,  daß  die  zu  einer  ausgebildeten  Bourgeoisie  passenden  politi- 
schen Formen  Frankreichs  anders  als  in  Gestalt  abstrakter  Ideen, 
an  und  für  sich  gültiger  Prinzipien  und  frommer  Wünsche  bei  dem 
deutschen  Bürgertum  Eingang  fanden.  Erst  seit  1840  hätte  die 
zunehmende  Konkurrenz  des  Auslandes  die  zersplitterten  Lokal- 
interessen stärker  zusammengefaßt  und  in  dem  nun  national  und 
liberal  gewordenen  Bürgertum  das  Verlangen  nach  Schutzzöllen  und 
Verfassung  erzeugt. 

Schon  dieser  Aufsatz  für  das  englische  Arbeiterblatt  verrät, 
wie  eifrig  Engels  damals  bemüht  war,  die  Abwandlungen  der 
politischen  und  sogar  der  Geistesgeschichte  auf  wirtschaftliche  Ur- 
sachen zurückzuführen.  Das  intensive  Studium  des  gesellschaft- 
lichen, staatlichen,  wirtschaftlichen  und  geistigen  Lebens  Englands 
hatte  ihm  ja  den  Blick  für  die  Verflochtenheit  aller  menschlichen 
Lebens-  und  Betätigungssphären  zu  ungewöhnlicher  Hellsichtig- 
keit geschärft  und  das  dialektische  Bedürfnis,  mit  dem  er  an  die 
Ordnung  jener  weitschichtigen  Beobachtungen  herantrat,  war  ihm, 
wie  sich  zeigte,  ein  ständiger  Anreiz  gewesen,  Vergangenheit, 
Gegenwart  und  Zukunft  der  Kulturwelt  unter  Benutzung  der  neu 
erworbenen  Gesichtspunkte  zu  einem  einheitlichen  Prozeß  zusammen- 


Der  Keim  der  neuen  Weltanschauung.  239' 

zufassen.  Wir  brauchen  hier  nicht  aufzuzeigen,  inwieweit  ita- 
lienische und  französische  Soziologen,  englische  Ökonomen,  fran- 
zösische Historiker  und  Sozialisten  der  neuen  Geschichtsauffassung,, 
mit  deren  Begründung  und  Ausgestaltung  wir  Marx  und  Engels 
seit  dem  Sommer  1845  atemlos  beschäftigt  finden,  die  Richtung 
gewiesen  haben.  Einer  Biographie,  die  sich  nicht  in  Ideengeschichte 
auflösen  will,  fällt  bloß  die  Aufgabe  zu,  die  unmittelbaren  Ein- 
wirkungen, so  wie  sie  stattgefunden  haben,  als  funktionellen  Vor- 
gang zur  Anschauung  zu  bringen.  Ebenso  ■'a  enig  liegt  es  in  unserem 
Fall  dem  Biographen  ob,  den  Finger  auf  jede  Einseitigkeit  zu  legen, 
in  die  Engels  beim  Abstecken  und  Umgraben  des  Ackerlandes, 
das  er  hernach  so  fruchtbar  neu  bebauen  half,  verfallen  ist.  Revo-- 
lutionen,  die  diesen  Namen  verdienen,  gehen  in  der  Wissenschaft 
genau  wie  in  der  Wirklichkeit  nicht  ohne  Gewaltsamkeit  ab.  Es 
gibt  eine  andere  Aufgabe  von  eigentümlicher  Schwierigkeit,  der  wir 
uns  nicht  entziehen  dürfen.  Seitdem  das  Denken  und  Arbeiten  der 
beiden  Freunde  ein  vollkommen  gemeinschaftliches  geworden  ist, 
haben  wir  darauf  zu  achten,  daß  wir  die  ursprüngliche  Strömung, 
der  wir  von  der  Quelle  aus  gefolgt  sind,  auch  weiterhin  nach  ihrem 
Zusammenfluß  mit  der  anderen,  noch  mächtigeren,  fest  im  Auge 
behalten. 

Als  den  ,, genialen  Keim  der  neuen  Weltanschauung",  die  ihm 
hinfort  oberster  Leitstern  wurde,  betrachtete  Engels  die  etwa  um 
die  Zeit  seines  Eintreffens  in  Brüssel  von  Marx  entworfenen  Thesen 
über  Feuerbach,  die  zum  erstenmal  dem  Feuerbachschen  Humanis- 
mus, dem  bis  dahin  auch  sie  beide,  ohne  dabei  in  Phrasenhaftig- 
keit  zu  verfallen,  gehuldigt  hatten,  das  ideologische  Röcklein 
auszogen.  Gleich  enthüllte  sich  nunmehr  der  vage  Begriff  des 
abstrakten  Menschentums,  den  Moses  Heß,  Karl  Grün  und  die 
von  ihnen  beeinflußten  paar  sozialistischen  Konventikel,  die  es  in 
Deutschland  gab,  nicht  weiter  zu  konkretisieren  vermocht  hatten, 
als  der  ideologische  Niederschlag  einer  bestimmten  Gesellschafts- 
form: der  bürgerlichen  Gesellschaft.  Dem  bloß  anschauenden 
Materialismus  Feuerbachs  stellte  Marx  den  praktischen  Materialis- 
mus gegenüber,  dem  es  nicht  mehr  genügte,  die  Welt  zu  inter- 
pretieren, sondern  der  sie  verändern  wollte,  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft, die  er  als  den  Kern  jenes  Menschheitskultus  entlarvte, 
die  vergesellschaftete  Menschheit. 

Bald  nach  ihrer  Rückkehr  aus  England  hatten  sich  Marx  und 
Engels  an  die  Ausarbeitung  eines  Werks  gemacht,  das  in  Gestalt 
einer  Abrechnung  mit  der  Philosophie  der  Junghegelianer  die 
allseitige  Herausarbeitung  ihrer  neuen  materialistisch-ökonomischen 
Geschichtsauffassung    bezweckte.      Wie    schon    in    der    Heiligen 


"240  Die  Abrechnxmg  mit  der  deutschen  Ideologie. 

Familie  bekämpften  sie  auch  jetzt  ihr  eigenes  „ehemaliges  philoso- 
phisches Gewissen",  wenn  sie  gegen  Bruno  Bauer,  gegen  Stirner, 
gegen  Feuerbach,  gegen  die  ,, wahren  Sozialisten"  zu  Felde  zogen. 
Gerade  in  der  Auseinandersetzung  mit  diesen  ihren  einstigen  Vor- 
bildern und  Gesinnungsgenossen  gedachten  sie  ihre  neue  Methode 
am  besten  erproben  und  deren  Überlegenheit  über  die  der  anderen, 
die  ihnen  als  antiquiert  galt,  am  schlagendsten  aufweisen  zu  können. 
,,Die  deutsche  Ideologie  (Kritik  der  nachhegelschen  Philosophie 
in  deren  Repräsentanten  Feuerbach,  B.  Bauer  und  Stirner  und 
des  deutschen  Sozialismus  in  seinen  verschiedenen  Propheten)", 
so  lautete  die  Überschrift  eines  auf  fünfzig  Bogen  in  zwei  Oktav- 
bänden berechneten  Manuskripts,  das  sie  zwischen  dem  September 
1845  und  dem  August  1846  beinahe  vollständig  ausarbeiteten. 
Merkwürdig  waren  die  äußeren  Schicksale  dieses  Buches.  Die 
Wachsamkeit  der  Zensur  machte  es  immer  schwieriger,  für  um- 
fangreiche Werke,  deren  Verbot  sich  voraussehen  ließ,  einen  wage- 
mutigen Verleger  zu  finden.  Der  Markt  war,  so  urteilte  Engels, 
nicht  groß  genug,  um  aus  dem  Artikel  verbotene  Bücher  eine  Spe- 
zialität zu  machen,  der  Kampf  der  Buchhändler  mit  der  Polizei 
ein  Guerillakrieg,  der  mit  Profit  nur  geführt  werden  konnte,  wenn 
sich  viele  Verleger  daran  beteiligten.  Anfänglich  hatten  die  Ver- 
fasser bestimmt  erwartet,  daß  ein  dem  westfälischen  Sozialisten- 
kreise nahestehender  Verleger  in  Bielefeld  ihr  Buch  übernehmen 
werde.  Da  sich  diese  Hoffnung  aber  als  trügerisch  erwies,  wandten 
sie  sich  an  verschiedene  Verleger  radikaler  Schriften  in  Bern, 
Herisau,  Konstanz,  Darmstadt,  Bremen  usw.  Am  Ende  war  alles 
vergeblich.  Es  nutzte  nicht  einmal,  daß  sie  sich,  ungern  genug, 
entschlossen,  das  voluminöse  Manuskript  zu  teilen,  um  es  in  kleinen 
Bändchen  bei  verschiedenen  Verlegern  unterzubringen.  Schließlich 
mußten  sie  darauf  verzichten,  alles,  was  sie  hier  geschrieben  hatten, 
gedruckt  zu  sehen.  Und  da  Marx  mittlerweile  sein  Buch  gegen 
Proudhon  vollendete,  für  das  ebenfalls  der  Verleger  noch  fehlte, 
schrieb  Engels  ihm  im  März  1847  aus  Paris  geradezu:  „Wenn  das 
Unterbringen  unserer  Manuskripte  mit  dem  Unterbringen  Deines 
Buches  kollidiert,  so  foutiere  in  Teufels  Namen  die  Manuskripte 
in  eine  Ecke,  denn  es  ist  viel  wichtiger,  daß  Dein  Buch  erscheint." 
Sie  überließen  sie  denn  wirklich  der  „nagenden  Kritik  der  Mäuse". 
Schon  vorher  hatte  Marx  bei  dem  Freunde  angefragt,  ob  er  Gedanken 
ihres  gemeinschaftlichen  Werks  in  seiner  Philosophie  de  la  Misere 
vorwegnehmen  dürfe,  und  die  Antwort  erhalten,  es  verstehe  sich 
von  selbst,  daß  er  aus  der  Publikation  antizipieren  könne,  was  er 
wolle.  Beide  Freunde  grenzten  vom  Anfang  an  ihr  geistiges  Eigentum 
nicht  gegeneinander  ab,  nur  auf  das  Ziel  kam  es  ihnen  an;  dieses 


Das  Manuskript  der  Ideologie.  241 

aber  war  für  alle  Zeit  ein  gemeinsames  geworden.  So  übel  sie  es 
vermerken  konnten,  wenn  ein  Dritter  sich  ihre  Gedanken  ohne 
Angabe  der  Herkunft  aneignete,  so  wenig  bedacht  finden  wir  sie, 
der  Nachwelt  die  Sonderung  ihres  geistigen  Besitzes  zu  erleichtern. 
Für  keinen  Abschnitt  ihres  Lebens  ist  dies  wohl  schwieriger  als  für 
die  Zeit,  in  der  sie  ihre  Geschichtsauffassung  zum  erstenmal 
systematisch  herausarbeiteten.  Weitaus  der  größte  Teil  des  von 
den  Mäusen  übrig  gelassenen  Manuskripts,  von  dem  obendrein 
zweifelhaft  bleibt,  ob  es  eine  endgültige  Reinschrift  darstellt,  ist 
von  Engels  geschrieben  und  von  Marx  nur  mit  Einschiebungen 
und  Verbesserungen  versehen.  Eine  Anzahl  der  Blätter  des  gegen 
Stirner  gerichteten  sehr  umfangreichen  Abschnitts,  des  einzigen, 
der  bisher  teilweise  veröffentlicht  wurde,  zeigt  sogar  die  Handschrift 
Moses  Heß,  der  nach  manchen  Weiterungen  sich  ebenfalls  zu  der  Er- 
kenntnis durchgedrungen  hatte,  daß  die  Begründung  des  Sozialismus 
auf  geschichtlichen  und  ökonomischen  Voraussetzungen  die  Forderung 
der  Stunde  war.  Doch  aus  den  Handschriften  lassen  »sich  in  unserem 
Falle  auf  die  Autorschaft  Schlüsse  nicht  ziehen.  Da  Marx  ebenso 
unleserlich,  wie  Engels  leserlich  schrieb,  übernahm  dieser  in  der 
Regel  gewiß  nicht  nur  die  Herstellung  der  endgültigen  Druck- 
manuskripte, sondern  er  führte  die  Feder  schon,  wenn  sie  einen 
wahrscheinlich  vorher  durchgesprochenen  Zusammenhang  zum 
erstenmal  aufs  Papier  brachten.  Als  der  Hemmungslosere,  Flinkere, 
schneller  Fertige  der  beiden  wird  er  leichtere  Abschnitte  vermutlich 
auch  oft  allein  ausgearbeitet  haben.  Wir  wissen  über  ihn  ja,  daß 
er  größere  Aufsätze,  ja  ganze  Broschüren,  die  er  hernach  verwarf 
oder  für  die  er  den  Verleger  nicht  fand  und  deren  Manuskript  er  nicht 
einmal  aufhob,  in  unglaublich  kurzer  Zeit  aufs  Papier  geworfen 
hat.  So  bleibt  uns,  wollen  wir  den  Anteil  eines  jeden  der  Freunde 
an  dieser  im  verwegensten  Sinne  kollektiven  Arbeit  feststellen, 
nur  übrig,  uns  zu  vergegenwärtigen,  was  wir  über  ihre  Wesens - 
eigenschaften  und  ihren  Bildungsgang  uns  klar  gemacht  haben. 
Engels  hat  wiederholt  bezeugt,  daß  Marx  es  war,  der  für  ihre  Ge- 
schichtsauffassung dieallgemeine  Formulierung  gefundenundihmfer- 
tigvorgelegthabe,alser  imFrühjahr  1845  in  Brüssel  zu  ihm  stieß.  Daß 
die  ökonomische  Produktion  und  die  aus  ihr  mit  Notwendigkeit  fol- 
gende gesellschaftliche  Gliederung  einer  jeden  Geschichtsepoche  die 
Grundlage  für  die  politische  und  intellektuelle  Geschichte  dieser 
Epoche  bilde ;  daß  demgemäß  die  ganze  Geschichte  eine  Geschichte 
von  Klassenkämpfen  gewesen  sei,  daß  dieser  Kampf  aber  jetzt  eine 
Stufe  erreicht  habe,  wo  die  ausgebeutete  und  unterdrückte  Klasse 
sich  nicht  mehr  von  der  sie  ausbeutenden  und  unterdrückenden 
Klasse  befreien  könne,  ohne    zugleich  die  ganze  Gesellschaft  für 

Mayer    Friedrich  Bagels.    Bd.  16 


242  ^^i®  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

immer  von  Ausbeutung,  Unterdrückung  und  Klassenkämpfen  zu 
befreien  —  dieser  Grundgedanke  gehöre  ausschließlich  Marx. 
Engels  fügt  dann,  was  sich  uns  ja  voll  bestätigt  hat,  hinzu,  daß 
auch  er  sich  diesem  Gedanken  schon  mehrere  Jahre  vor  1845  all- 
mählich genähert  hätte  und  daß  man  aus  seinem  Buch  über  die 
Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England  ersehen  könne,  wie  weit 
er  sich  selbständig  in  dieser  Richtung  voranbewegt  habe. 

Wenn  Engels  im  Mai  1845  in  einer  letzten  Korrespondenz 
an  den  New  Moral  World,  der  bald  danach  einging,  Bruno  Bauer 
und  Stirner  ,,die  einzigen  ernsten  Gegner  des  Kommunismus" 
nannte,  so  wollte  er  damit  sagen,  daß  jene  die  einzigen  wären, 
die  diesen  in  Deutschland  vom  Boden  der  Theorie  aus  zu  bekämpfen 
versucht  hätten.  Verlangte  es  also  ihn  und  Marx,  die  Waffen,  die 
sie  sich  neu  geschmiedet  hatten,  im  Gebrauch  zu  erproben,  so  mußten 
sie  sich  genügen  lassen,  die  Genossen  von  gestern  damit  anzugreifen. 
Denn  mit  Gegnern,  die  den  Kommunismus  nur  mit  Gewaltmitteln 
verfolgten  oder  verfolgt  sehen  wollten,  erübrigte  sich  eine  theore- 
tische Auseinandersetzung.  Dennoch  wird  uns  die  enorme  Wichtig- 
keit, die  sie  dieser  Auseinandersetzung  beimaßen,  das  Behagen,  das 
sie  ihnen  verursachte,  das  Wissen  und  die  Zeit,  die  sie  verschwen- 
deten, der  enorme  Scharfsinn,  den  sie  aufwandten,  die  Spitzfindig- 
keit, die  sie  oftmals  aufboten,  erst  recht  verständlich,  wenn  wir 
uns  vergegenwärtigen,  daß  sie  sich  dabei  als  die  Urteilsvollstrecker 
einer  neuen,  anbrechenden  Geschichtsepoche  vorkamen,  die  sich 
gegenüber  den  Epigonen  der  abwelkenden  spekulativen  Philosophie 
als  Richter  aufspielten.  Und  über  das  umständliche  und  reichlich 
barocke  Verfahren,  das  sie  gegen  Stirner,  Bauer  und  Feuerbach 
anzuwenden  für  nötig  befanden,  werden  wir  uns  bereitwilliger 
hinwegsetzen,  wenn  wir  uns  klar  machen,  daß  wir  hier  in  voller 
Leibhaftigkeit  einen  Teil  des  Prozesses  erleben,  der  das  Deutschland 
des  reinen  Gedankens  in  das  Deutschland  der  revolutionären  Aktion 
hinüberführte,  daß  wir  hier  mit  seltener  Unmittelbarkeit  erschauen 
dürfen,  wie  die  Abendröte  des  philosophischen  Zeitalters  in  die 
Morgenröte  eines  jungen  auf  reale  Kämpfe  gestellten  Zeitalters 
übergeht.  ,,Das  Problem,  aus  der  Welt  der  Gedanken  in  die  wirkliche 
Welt  hinabzusteigen,  verwandelt  sich  in  das  Problem,  aus  der 
Sprache  ins  Leben  herabzusteigen."  So  sagen  sie  selbst  in  ihrem 
ungedruckt  gebliebenen  Werk.  Wenn  irgendwer  gehören  also 
Engels  und  Marx  in  die  Reihe  jener  repräsentativen  Deutschen, 
die  ihre  Landsleute,  die  mit  der  Zeit  darin  freilich  zu  gelehrige  Schü- 
ler wurden,  erzogen  haben,  die  Dinge  dieser  Welt  mit  den  Augen 
dieser  Welt  zu  betrachten. 

Bruno  Bauers  Antwort  in  der  Wigandschen  Vierteljahrsschrift 


Das  Thema  der  Ideologie.  243 

auf  die  Angriffe  in  der  Heiligen  Familie  hatte  so  wenig  Stich- 
haltiges vorzubringen  gewußt  und  noch  obendrein  eine  so  hohe- 
priesterliche Unfehlbarkeit  zur  Schau  getragen,  daß  ein  noch- 
maliges ernsthaftes  Turnier  mit  diesem  so  gründlich  in  den  Staub 
gesetzten  Ritter  sich  nicht  mehr  verlohnte.  Bruno  Bauer  habe 
selbst  das  Todesurteil  bestätigt,  das  Marx  und  Engels  in  der 
Heiligen  Familie  über  ihn  gefällt  hätten,  heißt  es  in  einer  kurzen 
aber  kräftigen  Abfertigung,  die  Engels  ohne  Namensunterschrift 
im  November  1845  an  den  Gesellschaftsspiegel  sandte.  Anders  stand 
es  mit  Stirner,  dessen  Hauptwerk  bei  Abfassung  der  Heiligen 
Familie  noch  nicht  vorgelegen  hatte.  Sein  glänzend  geschriebenes 
aber  heillos  paradoxes  Buch  bot  Marx  und  Engels  den  dankbarsten 
Anknüpfungspunkt,  um  ihre  radikale  Umstülpung  des  Verhältnisses 
zwischen  den  materiellen  und  den  ideelen  Vorgängen  an  allen  mög- 
lichen Problemen  zu  veranschaulichen,  und  das  willkommenste 
Indizium,  um  vor  der  Öffentlichkeit  den  Beweis  zu  erbringen,  daß 
die  Berliner  Junghegelianer  sich  in  eine  hoffnungslose  Sackgasse 
verrannt  hatten.  Was  Engels,  noch  bevor  er  Marx  Beiträge  zur 
Heiligen  Familie  kannte,  unter  dem  frischen  Eindruck  der  Lektüre 
dem  Freunde  über  Der  Einzige  und  sein  Eigentum  geschrieben 
hatte,  wurde  nun  der  Auftakt  zu  ihrer  gemeinsamen  Abrechnung 
mit  der  deutschen  Ideologie,  die  in  Stirners  Buch  sich  selbst  über- 
gipfelte. 

Dieser  hatte  darin  sowohl  den  letzten  Glauben  Bruno  Bauers, 
den  an  die  Hoheit  des  Geistes,  wie  den  Feuerbachs  an  den  Gattungs- 
menschen, wie  den  der  wahren  Sozialisten  an  den  wirklichen  Men- 
schen als  Abstraktionen  theologischen  Ursprungs  entlarven  und 
damit  allen  Philosophen  des  Radikalismus,  die  der  übrigen  Welt 
als  die  Todfeinde  der  Religion  galten,  den  in  seinen  und  ihren 
Augen  empfindlichsten  Schimpf  antun  wollen.  Wie  nun  aber, 
wenn  man  es  unternahm,  diese  blasphemischen  Heiligsprechungen 
noch  zu  übertrumpfen,  wenn  man  auch  über  dem  Haupt  dieses 
rebellischsten  aller  Bilderstürmer  den  Heiligenschein  nachwies  ? 
Dann  verwandelten  sich  alsbald  mit  logischer  Konsequenz  „Die 
letzten  Philosophen",  gegen  die  kürzlich  Heß,  von  Marx  und  Engels 
ermutigt,  in  die  Schranken  getreten  war,  auf  dem  Leipziger  Konzil, 
zu  dem  die  Verfasser  der  deutschen  Ideologie  sie  jetzt  entboten, 
in  die  letzten  Kirchenväter.  Der  ,, Heilige  Bruno"  und  der  ,, Heilige 
Max"  plädieren  hier  (nämlich  im  dritten  Band  des  Jahrgangs  1845 
der  in  Leipzig  erscheinenden  Wigandschen  Vierteljahrsschrift) 
„hoffentlich  zum  letztenmal  in  Sachen  des  Allerhöchsten  alias 
Absoluten".  Vor  diese  beiden  Großmeister  der  heiligen  Inquisition 
wird  der  Häretiker  Feuerbach  zitiert,  um  sich  wegen  einer  schweren 

16* 


244  ^^®  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

Anklage  des  Gnostizismus  zu  verantworten.  „Außer  der  Verhand- 
lung dieser  richtigen  Anklagen  wird  noch  ein  Prozeß  der  beiden 
Heiligen  gegen  Moses  Heß  und  des  heiligen  Bruno  gegen  die  Ver- 
fasser der  ,H8iligen  Familie*  entschieden.  Da  diese  Inkulpaten 
sich  indes  unter  den  , Dingen  dieser  Welt*  herumtreiben  und  deshalb 
nicht  vor  der  Santa  Casa  erscheinen,  werden  sie  in  Kontumaz 
verurteilt  zu  ewiger  Verbannung  aus  dem  Reiche  des  Geistes  für  die 
Dauer  ihres  natürlichen  Lebens.  Schließlich  verführen  die  beiden 
Großmeister  wieder  absonderliche  Intriguen  unter-  und  gegenein- 
ander." Nachdem  sie  alle  Opponenten  vom  Leipziger  Konzil  ver- 
jagt haben,  schließen  die  „beiden  großen  Kirchenväter"  einen 
ewigen  Bund  mit  einem  Duett,  in  dem  sie  wie  zwei  Mandarinen 
einander  freundlich  mit  den  Köpfen  zuwackeln  und  heben  das  Konzil 
auf.  Wäre  diese  offenbar  von  Engels  ersonnene  Rahmendichtung 
straff  durchgeführt  worden,  so  würde  vielleicht  ein  lesbares  Buch 
zustande  gekommen  sein.  Weil  die  Verfasser  es  aber  mehr  noch 
zu  ihrer  Salbstverständigung  und  zu  ihrem  eigenen  Frommen  als 
um  der  Welt  willen  schrieben,  so  vernachlässigten  sie  die  Form, 
und  bei  vielem  Witz  und  ungeheurem  Geistreichtum  im  einzelnen 
sprengt  in  dem  Manuskript,  das  uns  vorliegt,  eine  weitschichtige, 
mit  unendlichem  Behagen  sich  ins  Detail  verlierende  Polemik  völlig 
den  ursprünglich  vorgezeichneten  Rahmen.  So  tut  man  den  Ver- 
fassern kein  Unrecht,  wenn  man  ihr  Werk,  das  vielleicht  noch 
Umgestaltungen  erfahren  hätte,  wie  einen  Steinbruch  betrachtet, 
aus  dessen  Material  sich  ihre  Geschichtsauffassung,  wie  sie  sich  in 
dieser  frühesten  ausführlichen  Formulierung  darstellt,  zum  ersten- 
mal im  Zusammenhang  aufbauen  läßt. 

Der  erste  Teil  der  Ideologie  gilt  also  der  Auseinander- 
setzung mit  Bruno  Bauer,  Stirner  und  Feuer bach,  die  aber  von 
Engels  und  Marx  keineswegs  auf  die  gleiche  Stufe  gestellt  werden. 
Der  auf  Feuerbach  bezügliche  Abschnitt  ist  Fragment  geblieben  — 
der  Meister  wird  mit  respektvoller  Achtung  auf  seine  Grenzen 
verwiesen.  Dagegen  werden  Bauer  und  Slirner  mit  souveräner 
Verachtung  behandelt.  Lassalle,  dessen  Bastiat-Schulze  nur  die  Ab- 
schlachtungen,  in  denen  Marx  und  Engels  sich  in  diesen  Jahren 
gefielen,  nachahmt,  hätte  gesagt,  sie  werden  ,, ausgeweidet". 

Von  Sankt  Bruno,  über  den  nicht  mehr  viel  zu  sagen  war, 
heißt  es,  er  bemühe  sich  vergeblich,  seine  sauer  gewordene  Kritik 
vor  der  Vergeßlichkeit  des  Publikums  sicher  zu  stellen.  Noch 
immer  tummle  er  sein  althegelsches  Schlachtroß  und  begreife 
nicht,  daß  die  Frage  vom  Verhältnis  des  Selbstbewußtseins  zur  Sub- 
stanz nur  eine  Streitfrage  innerhalb  der  Hegeischen  Spekulation, 
aber  ohne  Einfluß  auf  das  europäische  Gleichgewicht  sei.     Noch 


Der  Heilige  Bruno.  245 

immer  gelte  diesem  Heiligen  der  abstrakte  und  verhimmelte  Aus- 
druck, zu  dem  eine  wirkliche  Kollision  bei  Hegel  sich  verzerrt, 
für  die  wirkliche  Kollision:  ,,Die  philosophische  , Phrase*  der  wirk- 
lichen Frage  ist  für  ihn  die  wirkliche  Frage  selbst."  Hegels  Theorie 
von  der  Präexistenz  der  schöpferischen  Kategorien  stecke  noch 
immer  ihm  im  Blute.  Derbsten  Spott  lassen  die  Verfasser  nieder- 
hageln auf  ,,die  ganze  Mythologie  der  selbständigen  Begriffe  mit 
dem  Wolkensammler  Zeus,  dem  Selbstbewußtsein  an  der  Spitze". 
Den  Intellektualismus  der  Hegelianer,  den  sie  jetzt  lächerlich 
machen  wollen,  deuten  sie  als  Abscheu  vor  aller  Sinnlichkeit: 
Sankt  Bruno  sei  geistlich  gesinnt  und  hasse  den  befleckten  Rock 
des  Fleisches.  Neben  der  philosophischen  hatte  nun  aber  diese 
Auseinandersetzung  mit  Bruno  Bauer  auch  ihre  politische  Seite. 
Diesem,  der  sich  nach  der  Unterdrückung  der  Deutschen  Jahr- 
bücher und  der  Rheinischen  Zeitung,  wie  wir  schon  wissen,  gleich 
von  der  Politik  abgewandt  und  den  Liberalismus  für  erledigt  er- 
klärt hatte,  mußte  bewiesen  werden,  daß  umgekehrt  der  Liberalismus 
in  Deutschland  eine  praktische  Existenz  und  die  Chance  eines  Er- 
folges erst  erhalten  habe,  seit  dem  wirklichen,  durch  ökonomische 
Verhältnisse  erzeugten  Bürgertum  die  Notwendigkeit,  die  politische 
Macht   zu   erringen,   zum    Bewußtsein   gekommen  sei. 

Mit  einer  Ausführlichkeit,  die  hinter  der  des  kritisierten  Werkes 
selbst  nicht  zurückbleibt,  wird  Stirners  Werk  unter  die  Sonde  ge- 
nommen. Den  Verfassern  genügte  es  auch  nicht,  den  scheinbaren 
Bilderstürmer  als  einen  Heiligen  zu  entlarven,  sie  ruhen  nicht,  bis 
der  sich  so  radikal  gebärdende  ,,ignorante  Schulmeister"  sich  ihnen 
als  der  getreue  Repräsentant  des  zeitgenössischen  deutschen  Klein- 
bürgers enthüllt,  der  danach  trachte,  Bourgeois  zu  werden.  Auch 
Sankt  Max  ist  ein  Heiliger,  weil  er  genau  wie  die  anderen,  die  er 
widerlegt  zu  haben  sich  einbildet,  an  der  Herrschaft  des  Gedankens 
über  die  empirische  Welt  festhält,  weil  auch  er  glaubt,  daß  die 
verschiedenen  Vorstellungen  die  verschiedenen  Lebensverhältnisse 
gemacht,  daß  die  ,, Engrosfabrikanten  dieser  Vorstellungen,  die 
Ideologen",  die  Welt  beherrscht  haben,  weil  auch  für  ihn  die  speku- 
lative Idee  die  treibende  Kraft  der  Geschichte  bleibt.  Wer  auf  diesem 
Standpunkt  verharre,  dem  schrumpfe  die  Geschichte  zur  bloßen 
Geschichte  der  Philosophie  zusammen,  dem  werde  sie  zu  einer 
Geister-  und  Gespenstergeschichte,  während  die  wirkliche,  die  em- 
pirische Geschichte,  die  Grundlage  dieser  Gespenstergeschichte, 
von  ihm  nur  exploitiert  werde,  um  die  Leiber  für  diese  Ge- 
spenster herzugeben.  Im  Grunde  nehme  Stirner  nicht  die  Welt 
sondern  nur  seine  Fieberphantasie  von  der  Welt  als  die  seinige 
und  eigne  sie  sich  an.    Er  nehme  die  Welt  als  seine  Vorstellung 


246  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

von  der  Welt,  und   als  seine  Vorstellung  sei  die   Welt  sein  vor- 
gestelltes Eigentum. 

Dem  sinnlich-übersinnlichen  Verherrlicher  des  Selbstgenusses 
wird  „der  Zusammenhang  jeder  Philosophie  des  Genusses  mit 
dem  ihr  vorliegenden  wirklichen  Genießen"  sowohl  an  historischen 
Beispielen  wie  an  seinem  eigenen  Corpus  vile  nachgewiesen.  Ihm 
wird  gezeigt,  daß  seine  Auffassung  und  Bildung  nicht  nur  deutsch 
sondern  durch  und  durch  berlinisch,  daß  der  gute  Bürger,  von  dem 
sein  Buch  spricht,  der  Berliner  Weißbierphilister  sei:  ,,Das  Berliner 
Lokalresultat  unseres  wackeren  Heiligen,  daß  die  ganze  Welt  in 
der  Hegeischen  Philosophie  alle  jeworden  sei,  befähigt  ihn  nun, 
ohne  große  Unkosten  zu  einem  ,eigenen'  Weltreich  zu  kommen." 
Die  Hegeische  Philosophie  habe  alles  in  Gedanken,  in  das  Heilige, 
in  Spuk,  in  Geist,  in  Geister,  in  Gespenster  verwandelt.  Diese 
überwinde  Stirner  in  seiner  Einbildung  und  stifte  auf  ihren  Leichen 
sein  „eigenes",  „einziges",  ,, leibhaftiges"  Weltreich,  das  Welt- 
reich des  ganzen  Kerls.  Am  deutlichsten  komme  der  kleine  von 
der  Gewerbefreiheit  ruinierte  und  ,, moralisch"  empörte  Handwerks- 
meister bei  ihm  zum  Vorschein,  wo  er  den  ,, redlich  erarbeiteten 
Genuß"  für  das  soziale  Ideal  der  Kommunisten  erkläre.  Diese  so 
grobe  Verkennung  ihres  eigenen  Ideals  bringt  die  Kritiker  vollends 
in  den  Harnisch:  Wer  außer  Stirner  und  einigen  Berliner  Schuster- 
und  Schneidermeistern  denke  an  redlich  erarbeiteten  Genuß? 
Und  nun  gar  den  Kommunisten  diese  Vorstellung  in  den  Mund  zu 
legen,  bei  denen  die  Grundlage  dieses  ganzen  Gegensatzes  von  Arbeit 
und  Genuß  wegfalle!  Weil  sie  den  armen  Schullehrer,  der  niemals 
aus  Deutschland  und  seit  vielen  Jahren  nicht  mehr  aus  Berlin 
herausgekommen  war,  so  genau  kannten,  wurde  es  ihnen  leicht, 
an  der  Hand  ihrer  realistischen  Erklärungsweise  darzutun,  wie  die 
weltferne  Phantasmagorie  vom  Einzigen  und  seinem  Eigentum  sich 
in  seinem  Geist  herausbilden  konnte:  ,,Bei  einem  Individuum  .  .  ., 
dessen  Leben  einen  großen  Umkreis  mannigfalter  Tätigkeiten  und 
praktischer  Beziehungen  zur  Welt  umfaßt,  das  also  ein  vielseitiges 
Leben  führt,  hat  das  Denken  denselben  Charakter  der  Universali- 
tät, wie  jede  andere  Lebensäußerung  dieses  Individuums  .  .  .  Bei 
einem  lokalisierten  Berliner  Schulmeister  oder  Schriftsteller  dagegen, 
dessen  Tätigkeit  sich  auf  saure  Arbeit  einerseits  beschränkt,  dessen 
Welt  von  Moabit  bis  Köpenick  geht  und  hinter  dem  Hamburger 
Tor  mit  Brettern  zugenagelt  ist,  dessen  Beziehungen  zu  dieser  Welt 
durch  eine  miserable  Lebensstellung  auf  ein  Minimum  reduziert 
werden,  bei  einem  solchen  Individuum  ist  es  allerdings  nicht  zu 
vermeiden,  wenn  es  Denkbedürfnis  besitzt,  daß  das  Denken  ebenso 
abstrakt  wird,  wie  dies  Individuum  und  sein  Leben  selbst,  daß  es  ihm. 


Der  Heilige  Max.  247 

dem  ganz  Widerstandslosen  gegenüber,  eine  fixe  Macht  wird,  eine 
Macht,  deren  Betätigung  dem  Individuum  die  Möglichkeit  einer 
momentanen  Rettung  aus  seiner  , schlechten  Welt'  eines  momen- 
tanen Genusses  bietet."  Vielleicht  hätte  diese  Art,  eine  geistige 
Persönlichkeit  zu  , .erraten",  Marx  und  Engels  den  Beifall  ihres 
Antipoden  Nietzsche  eingebracht!  Ihre  Kritik  Stirners  gipfelt  also  in 
dem  Nachweis,  daß  die  von  ihm  gepredigte  Empörung  nur  senti- 
mentale Renommage,  daß  der  wahre  Egoist  der  größte  Konser- 
vative, der  Einzige  ein  ohnmächtiger  Philister,  sein  soziales  Ideal 
reaktionär  sei. 

Glimpflicher  kommt  Feuerbach  davon.  Während  Engels  und 
Marx  in  Bauer  und  Stirner  nur  noch  philosophische  Marktschreier 
sehen,  bei  denen  zwischen  der  wirklichen  Leistung  und  ihrer  Illu- 
sion über  diese  Leistung  ein  tragikomischer  Kontrast  besteht,  er- 
kennen sie  in  Feuerbachs  Philosophie,  selbst  dort,  wo  sie  über  diese 
hinausgehen,  ,, entwicklungsfähige  Keime".  Auch  ihm  müssen 
sie  vorwerfen,  daß  er  in  letzter  Instanz  mit  der  sinnlichen  Welt 
nicht  fertig  werde,  weil  er  sie  durch  die  Brille  des  Philosophen  be- 
trachte. Er  bemerke  nicht,  daß  diese  sinnliche  Welt  kein  unmittel- 
bar von  Ewigkeit  her  gegebenes,  sich  stets  gleiches  Ding,  sondern 
das  Produkt  von  Generationen  sei,  deren  jede  auf  den  Schultern 
der  vorhergehenden  stehe.  Weil  seine  theoretische  Auffassung 
der  sinnlichen  Welt  sich  auf  die  bloße  Anschauung  und  auf  die 
bloße  Empfindung  beschränke,  bleibe  er  bei  dem  Abstraktum  ,,der 
Mensch"  stehen;  er  gelange  nicht  zu  dem  tätigen  Menschen  und 
anerkenne  den  wirklichen  leibhaftigen  Menschen  bloß  in  der  Sphäre 
der  Empfindung.  Liebe  und  Freundschaft  seien  die  einzigen 
menschlichen  Verhältnisse,  die  er  entdecke,  und  ihm  entgehe 
völlig,  daß  die  vielberühmte  Einheit  des  Menschen  mit  der  Natur 
seit  jeher  in  der  menschlichen  Produktionstätigkeit  bestanden  habe. 
Somit  falle  er  gerade  dort  in  den  Idealismus  zurück,  wo  sich  ,  dem 
kommunistischen  Materialisten"  die  Notwendigkeit  und  zugleich 
die  Bedingung  einer  Umgestaltung  sowohl  der  Industrie  wie  der 
gesellschaftlichen  Gliederung  zeige.  Zu  Unrecht  verwandle  Feuer- 
bach auch  das  Wort  Kommunist,  das  den  Anhänger  einer  bestimmten 
revolutionären  Partei  bezeichne,  wieder  in  eine  bloße  Kategorie. 
Mit  seinem  Beweis,  daß  die  Menschen  einander  nötig  hätten  und 
immer  gehabt  hätten,  wolle  er  nur  ein  richtiges  Bewußtsein  über 
ein  bestehendes  Faktum  hervorbringen,  während  es  den  wirklichen 
Kommunisten  darauf  ankomme,  dies  Bestehende  umzustürzen. 
In  Summa  Feuerbach  gehe  so  weit  wie  ein  Theoretiker  überhaupt 
gehen  könne,  ohne  aufzuhören  Theoretiker  und  Philosoph  zu  sein! 
Es  war  nicht  lange  her,  daß  Engels  sich  noch  mit  der  Hoffnung 


248  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

getragen  hatte,  Feuerbach  mitreißen  zu  können,  er  hatte  von 
Barmen  aus  in  dieser  Absicht  an  ihn  geschrieben  und  eine  ihn  nicht 
ganz  entmutigende  Antwort  erhalten.  Jetzt  aber  sagte  er  sich 
bereits,  daß  zwischen  seinem  Kommunismus  und  jenem,  zu  dem 
der  Einsiedler  von  Bruckberg  allenfalls  sich  bekennen  konnte, 
sicherlich  kein  Einklang  herzustellen  wäre.  Über  das  ,,Wie  der 
Ausführung"  würden  sie  sich  niemals  verständigen  können! 
Als  jener  bald  darauf  in  den  Epigonen  einen  Aufsatz  über  das 
Wesen  der  Religion  veröffentlichte,  der  ihm  m.ißfiel,  kam  Engels 
zu  dem  Schluß,  daß  dieser  Denker,  dem  er  einen  so  entscheidenden 
Anstoß  verdankte,  sich  erschöpft  habe,  weil  er  nicht  dahin  gelangt 
wäre,  sich  ,,um  wirkliche  Interessen"  zu  bekümmern. 

Der  zweite  Band  der  Ideologie  beschäftigt  sich  mit  jenen  deut- 
schen Sozialisten,  die  gleich  Engels  und  Marx  über  Feuerbachs 
,, theoretischen"  Humanismus  hinausstrebten,  aber  aus  dem  Ge- 
strüpp der  Phrase  den  Weg  zur  Realität  nicht  fanden,  weil  sie 
in  ihrer  Lokalborniertheit  die  Scheuklappen  nicht  abstreiften, 
nicht  über  die  Grenze  blickten,  sich  nicht  die  Erfahrungen  der 
fortgeschritteneren  westlichen  Länder  aneigneten.  Mit  ihnen  wird 
hier  auf  ähnliche  Weise  abgerechnet,  wie  kurz  vorher  in  der 
Einleitung  zu  dem  Fourierschen  Fragment  über  den  Handel,  das 
Engels  im  zweiten  Band  des  Deutschen  Bürgerbuchs  veröffentlicht 
hatte. 

Wie  ein  roter  Faden  zieht  sich  durch  die  ganze  Ideologie  ebenso 
wie  durch  alle  anderen  Engelsschen  und  Marxschen  Schriften  dieser 
Epoche  der  Ausdruck  lebendigen  Unwillens  über  die  wirtschaft- 
liche, soziale  und  politische  Rückständigkeit  Deutschlands,  über 
die  Ohnmacht,  die  Gedrücktheit,  die  Krähwinkelei  seines  Bürger- 
tums, über  den  kleinbürgerlichen  Charakter  seiner  ganzen  Ent- 
wicklung seit  der  Reformation.  Dies  war  ein  Gefühl,  das  Engels 
und  Marx  mit  allen  jenen  radikal  gesinnten  Deutschen  teilten, 
die  in  England  und  Frankreich  Staaten  von  großartigerem  Gefügc , 
Gesellschaften  von  modernerem  Gepräge  durch  eigene  Anschau- 
ung kennen  lernten.  Und  dafür  haben  sie  mit  Börne,  mit  Heine  und 
manchem  anderen  guten  Deutschen  der  Verständnislosigkeit  später 
geborener  Erbpächter  eines  zu  eng  gegriffenen  Patriotismus  als 
Vaterlandsverräter  gegolten.  Dem  deutschen  Philister  wollte  es 
nicht  ein,  daß  dem  Vaterland  nicht  jene  Liebe  die  heilsamste  ist,  die 
in  bornierter  Selbstzufriedenheit  die  heimischen  Einrichtungen  für 
die  vortrefflichsten  erklärt  und  keinen  Widerspruch  dagegen  duldet,, 
sondern  daß  auf  weite  Sicht  produktiver  vielleicht  doch  jene  andere, 
den  Regierungen  freilich  unbequemere  ist,  die  sich  in  zürnenden, 
zuweilen  selbst  in  verächtlichen  Worten  Luft  macht,  wenn  sie  das 


Deutschlands  Rückständigkeit.  249 

Land,  das  sie  so  gern  an  der  Spitze  aller  anderen  dem  Ideal  ent- 
gegenwachsen sähe,  weit  zurückstehen  sieht  und  kein  anderes 
Mittel  es  vorwärts  zu  treiben  besitzt,  als  die  bitterste  Kritik.  Zu  dem 
Staat  der  HohenzoUern,  wie  er  aus  der  im  ostelbischen  Deutsch- 
land herrschenden  wirtschaftlichen  und  sozialen  Machtverteilung 
erwachsen  war,  hatte  der  Rheinländer,  der  Demokrat,  der  Kom- 
munist Engels  in  der  Tat  kein  Verhältnis.  Trotzdem  hat  er  aber, 
an  Körper  und  Seele  kerndeutsch,  niemals  vergessen,  daß  er  aus 
deutschem  Blut  und  deutscher  Erde,  von  deutscher  Kultur  und 
deutscher  Wissenschaft  stammte.  Und  der  höchste  Wunsch  seines 
Lebens  ist  immer  geblieben,  daß  dieses  Land,  das  er  so  auf  seine 
Weise  liebte,  dem  Zukunftsideal,  an  das  er  glaubte,  womöglich 
vor  allen  anderen  Ländern  entgegenwüchse.  In  jener  Einleitung 
zu  seiner  Übersetzung  des  Fourierschen  Nachlaßfragments  be- 
klagte er,  daß  die  Deutschen  nun  schon  anfingen,  auch  die  kom- 
munistische Bewegung  zu  verderben.  ,,Wie  immer,  auch  hier 
die  Letzten  und  Untätigsten"  glaubten  sie  ihre  Schläfrigkeit  durch 
Verachtung  ihrer  Vorgänger  und  durch  philosophische  Renommage 
verdecken  zu  können.  Kaum  existiere  der  Kommunismus  in 
Deutschland,  so  werde  er  von  einem  ganzen  Heere  spekulativer 
Köpfe  akkapariert,  die  Wunders  meinen,  was  sie  getan  hätten, 
wenn  sie  Sätze,  die  in  Frankreich  und  England  schon  zu  Triviali- 
täten geworden,  in  die  Sprache  der  Hegeischen  Logik  übertrügen, 
und  diese  neue  Weisheit  als  die  ,, wahre  deutsche  Theorie"  in  die 
Welt  schickten,  um  dann  recht  nach  Herzenslust  auf  die  „schlechte 
Praxis",  auf  die  ,, Lächeln  erregenden"  sozialen  Systeme  der  bor- 
nierten Engländer  und  Franzosen  Kot  werfen  zu  können.  Dieser 
allzeit  fertigen  deutschen  Theorie,  die  ein  wenig  in  die  Hegeische 
Geschichtsphilosophie  hineingerochen  und  dann  vielleicht  Feuer- 
bach, einige  deutsche  kommunistische  Schriften  und  Lorenz  Steins 
Buch  durchgeblättert  habe,  konstruiere  sich  ohne  alle  Schwierigkeit 
den  französischen  Sozialismus  und  Kommunismus  zurecht  und 
glaube,  wenn  sie  ihm  eine  untergeordnete  Stelle  anweise,  ihn 
., überwunden",  ihn  in  die  „höhere  Entwicklungsstufe"  der  allzeit 
fertigen  , .deutschen  Theorie"  ,, aufgehoben"  zu  haben.  Es  falle 
ihr  natürlich  nicht  ein,  sich  einigermaßen  mit  den  aufzuhebenden 
Sachen  selbst  bekannt  zu  machen,  Fourier,  Saint  Simon,  Owen 
und  die  französischen  Kommunisten  anzusehen  —  ,,die  mageren 
Auszüge  des  Herrn  Stein  genügen  vollkommen,  um  diesen  brillan- 
ten Sieg  der  deutschen  Theorie  über  die  lahmen  Versuche  des  Aus- 
landes zustande  zu  bringen".  In  Wahrheit  aber  befinde  sich,  so 
führt  die  Ideologie  aus,  unter  all  den  pomphaften  Redensarten, 
die  als  Grimdprinzipien  des  wahren,  reinen,  deutschen,  theoretischen 


250  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

Sozialismus  ausgerufen  würden,  bis  jetzt  nicht  ein  Gedanke,  der 
auf  deutschem  Boden  gewachsen  wäre.  Was  die  Franzosen  und 
Engländer  schon  vor  zehn,  zwanzig,  ja  vierzig  Jahren  sehr  gut  und 
sehr  klar  gesagt  hätten,  das  hätten  die  Deutschen,  die  endlich 
aufhören  sollten,  von  ihrer  Gründlichkeit  soviel  Wesens  zu  machen, 
seit  einem  Jahr  stückweise  kennen  gelernt  und  verhegelt  oder  im 
besten  Fall  nachträglich  noch  einmal  erfunden.  Von  dieser  Ver- 
urteilung in  Bausch  und  Bogen  wollte  Engels  jetzt  seine  eigenen 
früheren  Arbeiten  nicht  ausgenommen  wissen.  Selbst  er  hatte  ja 
der  Ideologie  des  v/ahren  Sozialismus  seinen  Tribut  gezollt,  mochte 
er  sich  auch  von  dessen  Phrasenhaftigkeit  freigehalten  haben. 
Er  befand  sich  voll  im  Recht,  wenn  er  jetzt  den  deutschen  Sozialisten 
vorhielt,  daß  sie  von  den  englischen  Autoren  fast  gar  nichts,  von 
den  Franzosen  nur  das  Schlechteste  und  Theoretischste,  die  Sche- 
matisierung der  künftigen  Gesellschaft,  übernommen,  die  Kritik 
der  bestehenden  Gesellschaft  aber,  die  wirkliche  Grundlage,  die 
Hauptaufgabe  aller  Beschäftigung  mit  sozialen  Fragen,  ruhig  bei- 
seite geschoben  hätten  und  daß  sie  in  ihrer  theoretischen  Über- 
heblichkeit den  einzigen  Deutschen,  der  wirklich  etwas  getan  habe, 
Weitling,  mit  Verachtung  oder  auch  gar  nicht  zu  erwähnen  pflegten. 
Engels  belächelte  Fouriers  kosmologische  Bizarrerien  und  war, 
wie  wir  wissen,  bei  aller  Bewunderung  für  ihn  weit  davon  entfernt, 
dem  genialen  Franzosen  über  seine  Kritik  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft hinaus  zu  folgen.  Aber,  meinte  er  hier,  Fourier  hätte  sich 
die  Zukunft  erst  konstruiert,  nachdem  er  die  Vergangenheit  und 
Gegenwart  richtig  erkannt  habe,  der  deutsche  , »absolute  Sozialismus" 
dagegen  mache  sich  die  vergangene  Geschichte  nach  seinem  Be- 
lieben zurecht,  bevor  er  dann  ebenfalls  der  Zukunft  kommandiere, 
welche  Richtung  sie  nehmen  solle.  Der  deutsche  Sozialismus, 
hatte  Engels  dort  im  Deutschen  Bürgerbuch  ausgerufen,  sei  etwas 
ganz  Ärmliches :  , »Etwas  Menschentum,  wie  man  das  Ding  neuer- 
lich tituliert,  etwas  Realisierung  dieses  Menschentums  oder  viel- 
mehr Ungetüms,  etwas  weniges  über  das  Eigentum  aus  Proudhon 
—  dritte  oder  vierte  Hand  — ,  etwas  Proletariatsjammer,  Organisa- 
tion der  Arbeit,  die  Vereinsmisere  zur  Hebung  der  niederen  Volks- 
klassen, nebst  einer  grenzenlosen  Unwissenheit  über  die  politische 
Ökonomie  und  die  wirkliche  Gesellschaft  —  das  ist  die  ganze  Ge- 
schichte". Am  unerträglichsten  aber  erschien  dem  jugendlichen 
Stürmer,  daß  dieser  Sozialismus  sich  von  der  Politik  zurückhalten 
zu  dürfen  glaubte,  daß  dieser  eklektische  Philanthropismus,  der  sich 
Sozialismus  nannte,  von  politischer  Betätigung  nichts  wissen  wollte. 
Damit  verlor  er  in  seinen  Augen  den  letzten  Tropfen  Blut,  die  letzte 
Spur  von  Tatkraft,  dadurch  bewies  er  eklatant,  daß  er  mit  seiner 


Der  wahre  Sozialismus. 


251 


Langeweile  unfähig  war,  Deutschland  zu  revolutionieren,  das  Pro- 
letariat in  Bewegung  zu  setzen,  die  Massen  denken  und  handeln 
zu  lehren. 

Diese  temperamentvolle  Abfertigung  der  Kreise  der  Trier - 
sehen  Zeitung  und  des  Westfälischen  Dampf boots  sollte  jetzt  im 
zweiten  Band  der  Ideologie  ihre  wissenschaftliche  Begründung 
erhalten.  Das  , »Philosophie  des  wahren  Sozialismus"  überschrie- 
bene  Manuskript  greift  sofort  wieder  das  Leitmotiv  dieses  Werkes 
auf,  indem  es  die  ,, wahren"  Sozialisten  verspottet,  weil  sie  die 
kommunistische  Literatur  des  Auslandes  nicht  als  den  Ausdruck 
einer  wirklichen  Bewegung,  sondern  als  rein  theoretische  Schriften 
ansähen,  die  ganz  wie  sie  es  sich  von  den  deutschen  philosophischen 
Systemen  vorstellten,  aus  dem  reinen  Gedanken  hervorgegangen 
wären.  Sie  lösten,  heißt  es  hier  in  Wiederholung  dessen,  was  Engels 
im  Bürgerbuch  ausgeführt  hatte,  jene  kommunistischen  und  so- 
zialistischen Systeme  von  der  wirklichen  Bewegung,  deren  bloßer 
Ausdruck  sie  wären,  und  brächten  sie  in  einen  willkürlichen  Zu- 
sammenhang mit  der  Philosophie  Hegels  und  Feuerbachs;  sie 
trennten  das  Bewußtsein  bestimmter  geschichtlich  bedingter  Lebens- 
sphären von  diesen  Lebenssphären  und  beurteilten  dieses  Bewußt- 
sein auf  Grund  des  ,, wahren,  absoluten,  das  heißt  deutsch-philoso- 
phischen Bewußtseins".  So  zeige  es  sich  immer  wieder,  daß  der 
wahre  Sozialismus  nichts  anderes  sei  als  bloß  die  Übersetzung 
der  französischen  Ideen  in  die  Sprache  der  deutschen  Ideologen, 
als  die  Verballhornung  des  Kommunismus  zu  deutscher  Ideologie. 
Diese  deutschen  Ideologen  glaubten  noch  immer,  daß  alle  wirklichen 
Spaltungen  in  der  Geschichte  durch  Begriffsspaltungen  hervor- 
gerufen würden.  Und  sie  suchten  die  miserable  Rolle,  welche  die 
Deutschen  in  der  wirklichen  Geschichte  gespielt  hätten  und  noch 
spielten,  dadurch  zu  verdecken,  daß  sie  die  Illusionen,  an  denen  die 
Deutschen  immer  besonders  reich  gewesen  seien,  mit  der  Wirk- 
lichkeit auf  die  gleiche  Stufe  stellten.  Und  weil  die  Deutschen 
überall  und  immer  nur  das  Zusehen  und  Nachsehen  hatten,  glaubten 
sie  sich  berufen,  über  alle  Welt  zu  Gericht  zu  sitzen,  hegten  sie  den 
Wahn,  daß  die  ganze  Geschichte  ihr  letztes  Absehen  in  Deutschland 
erreiche.  Wohl  wäre  nationale  Borniertheit  überall  widerlich,  aber 
sie  sei  es  besonders,  wo  sie  mit  dem  Anspruch  auftrete,  über  die 
Nationalität  und  über  alle  wirklichen  Interessen  erhaben  zu  sein 
und  sich  mit  dieser  Illusion  solchen  Nationalitäten  gegenüber  brüste, 
die  offen  eingestünden,  daß  sie  auf  wirklichen  Interessen  be- 
ruhten. 

Wie  alle  Sekten  der  deutschen  Ideologie  hielten  auch  die  wah- 
ren Sozialisten  sich  für  die  Hauptpartei  der  Zeit  und  vermeinten, 


252  ^^^  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

wenn  sie  nur  das  lange  Garn  ihrer  eigenen  Phantasie  anspönnen, 
die  Kurbel  der  Weltgeschichte  zu  drehen.  Sie  ahnten  gar  nicht, 
daß  die  wirklichen  radikalen  Parteien  im  Ausland,  über  die  hinaus- 
zugehen sie  sich  einredeten,  von  ihrer  Existenz  noch  nicht  einmal 
eine  Ahnung  hätten.  Richtig  angesehen  sei  dieser  deutsche  Sozialis- 
mus nichts  weiter  als  die  Verklärung  des  proletarischen  Kommunis- 
mus und  der  ihm  mehr  oder  minder  verwandten  Parteien  und 
Sekten  Frankreichs  und  Englands  im  Himmel  des  deutschen  Geistes 
und  —  des  deutschen  Gem.ütes.  Da  es  ihm  nicht  um  die  wirklichen 
Menschen,  sondern  um  den  abstrakten  Menschen  zu  tun  sei,  glaube 
er  alle  revolutionäre  Leidenschaft  durch  allgemeine  Menschenliebe 
ersetzen  zu  dürfen.  Schon  hieraus  erhelle,  daß  er  es  nicht  sowohl 
auf  das  Proletariat  abgesehen  habe  als  auf  die  beiden  in  Deutsch- 
land noch  zahlreichsten  Menschenklassen,  auf  die  Kleinbürger 
mit  ihren  philanthropischen  Illusionen  und  auf  die  Ideologen  eben 
dieses  Kleinbürgertums,  die  Philosophen  und  ihr  Gefolge.  Am  deut- 
lichsten verrate  sich  der  kleinbürgerliche  Charakter  des  wahren 
Sozialismus  in  der  metaphysisch -mysteriösen  Einkleidung,  die  er  der 
überlebten  Theorie  des  Saint-Simonismus  vom  wahren  Eigentum  gebe. 
Diese  durch  und  durch  ideologische  Konzeption  spreche  klar  und 
bestimmt  die  Vorstellungen  einer  Klasse  aus,  deren  fromme  Wünsche 
und  wohltätige  Bestrebungen  bloß  auf  die  Aufhebung  der  Eigentums- 
losigkeit  hinausliefen.  Bei  den  in  Deutschland  faktisch  vorliegenden 
Verhältnissen,  besonders  bei  dem  Mangel  wirklicher  praktischer 
Parteikämpfe,  sei  die  Bildung  einer  solchen  Zwischensekte,  die  sich 
um  die  Vermittlung  zwischen  dem  Kommunismus  und  den  herr- 
schenden Vorstellungen  bemühe,  eine  Notwendigkeit  gewesen. 
Aber  diese  bloße  soziale  Literaturbewegung,  die  nicht  auf  Grund 
wirklicher  Parteiinteressen  entstand,  habe  ihre'  Existenzberechtigung 
verloren,  seitdem  sich  eine  kommunistische  Partei  formiert  habe. 
Wolle  sie  trotzdem  fortbestehen,  so  werde  sie  sich  hinfort  immer 
mehr  auf  Kleinbürger  als  Publikum  und  impotente  und  verlumpte 
Literaten  als  Repräsentanten  dieses  Publikums  beschränkt  sehen. 
Das  war  eine  selbstbewußte  Sprache  im  Munde  zweier  junger 
Männer,  die  sich  damit  als  die  Führer  der  deutschen  ,, kommu- 
nistischen Partei"  vorstellten,  von  deren  Gründung  uns  hier  die  erste 
Kunde  wird.  Zu  ihr  rechnen  konnten  sie  eigentlich  nur  sich  selbst, 
vielleicht  noch  eine  Handvoll  Intellektueller,  Arbeiter  hatten  sie 
noch  nicht  hinter  sich.  Dennoch  behaupteten  sie  unerschrocken,  daß 
das  Programm,  also  die  Gesamtheit  der  in  eine  umrissene  Form  zu 
bringenden  Ziele  einer  Partei,  nicht  den  willkürlichen  Gedanken 
einzelner  Sektenstifter,  sondern  einzig  und  allein  den  realen  Lebens- 
verhältnissen einer  sich  zum  politischen  Kampf  zusammenschlie- 


Die  deutsche  kommunistische  Partei. 


253 


ßenden  sozialen  Klasse  entnommen  werden  dürfe.  Das  Ergebnis 
ihres  theoretischen  Klärungskampfes  verhalf  ihnen  auch  zu  einem 
überlegenen  Verständnis  der  Bedürfnisse  der  praktischen  Be- 
wegung. Sie  erkannten,  daß  die  mehr  oder  weniger  utopistischen 
Gedanken  eines  Fourier  oder  Cabet,  die  bis  dahin  die  kommu- 
nistische Bewegung  unter  den  deutschen  Handwerksgesellen  be- 
herrscht hatten,  nur  dem  noch  unentwickelten  Bewußtsein  eines 
erst  enstehenden  Proletariats  entsprachen.  Sie  begriffen,  daß  bei 
den  unentwickelten  Klassenverhältnissen  Deutschlands  die  Kommu- 
nisten die  Grundlagen  ihres  Systems  allein  aus  den  Verhältnissen 
jener  Klasse  ableiten  konnten,  aus  der  sie  selbst  hervorgingen. 
Ihnen  dünkte  es  natürlich,  daß  ,,das  einzige  existierende  deutsche 
kommunistische  System",  das  Weitlings,  eine  Reproduktion  der 
französischen  Ideen  innerhalb  der  durch  die  kleinen  Handwerker- 
verhältnisse beschränkten  Anschauungen  sein  mußte.  Wollten  die 
theoretischen  Vertreter  des  Proletariats  durch  ihre  literarische 
Tätigkeit  etwas  ausrichten,  so  hätten  sie  sich  die  Aufgabe  zu  stellen, 
die  wirklichen  Verhältnisse,  so  wie  sie  lagen,  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Weil  aber  Marx  und  Engels  annahmen,  daß  sich  auch  in 
Deutschland  der  Gegensatz  zwischen  den  ,, wirklichen  Privat- 
eigentümern" und  den  eigentumslosen  Proletariern  täglich  ver- 
schärfte und  auf  eine  Krisis  hindrängte,  so  hielten  sie  es  für  frevelhaft, 
daß  die  wahren  Sozialisten  diesen  Gegensatz  mit  Phrasen  zu  ver- 
tuschen suchten.  Zwar  hätten  sie  die  Befürchtung  für  übertrieben 
gehalten,  daß  die  deutsche  kommunistische  Bewegung  durch  ein 
paar  Phrasenmacher  verdorben  werden  könnte.  Dennoch  erach- 
teten sie  es  für  nötig,  in  einem  Lande,  wo  die  philosophischen 
Phrasen  seit  Jahrhunderten  eine  gewisse  Macht  hatten  und  wo  die 
Abwesenheit  der  scharfen  Klassengegensätze  anderer  Nationen 
ohnehin  dem  kommunistischen  Bewußtsein  weniger  Schärfe  und 
Entschiedenheit  lieh,  um  so  energischer  allen  Redensarten  entgegen- 
zutreten, die  das  Bewußtsein  über  den  totalen  Gegensatz  des  Kom- 
munismus gegen  die  vorhandene  Weltordnung  noch  mehr  abschwä- 
chen und  verwässern  konnten. 

Eines  sicheren  Grundes,  darauf  zu  bauen,  bedurften  die  beiden 
aus  dem  Urwald  der  deutschen  Ideologie  herausbegehrenden  ,, prak- 
tischen Materialisten",  eines  empirisch  greifbaren,  festen  und  nicht 
durch  Abstraktionen  gewonnenen  Ausgangspunkts.  Nun  erschienen 
ihnen  je  länger  je  mehr  als  die  einzigen  Voraussetzungen,  von  denen 
sich  nur  in  der  Einbildung  abstrahieren  ließ,  die  ,, wirklichen  In- 
dividuen, ihre  Aktion  und  ihre  materiellen  Lebensbedingungen, 
sowohl  die  vorgefundenen,  wie  die  durch  ihre  eigene  Aktion  er- 
zeugten", mit  andern  Worten  die  natürlichen  Grundlagen  und  die 


254  ^^®  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

Modifikationen,  die  diese  im  Lauf  der  Geschichte  durch  die  Aktion 
der  Menschen  erfuhren.  Damit  wurde  die  Produktion  von  Lebens- 
mitteln, durch  welche  der  Mensch  sich  vom  Tier  zu  unterscheiden 
beginnt,  für  sie  die  geschichtliche  Urtatsache.  Bestimmte  Indivi- 
duen, die  auf  eine  bestimmte  Weise  produktiv  tätig  sind,  gehen 
dann  unter  dem  Druck  der  Produktionsbedingungen  bestimmte  Ver- 
bindungen miteinander  ein.  Gesellschaft  und  Staat  entstehen  also 
beständig  aus  dem  Lebensprozeß  der  bestimmten  Individuen,  nicht 
der  Individuen,  wie  sie  in  der  eigenen  oder  fremden  Vorstellung 
erscheinen,  sondern  wie  sie  wirklich  sind,  das  heißt  wie  sie  wirken, 
wie  sie  materiell  produzieren.  Der  Zusammenhang  der  gesellschaft- 
lichen und  politischen  Gliederung  mit  der  Produktion  lasse  sich  in 
jedem  einzelnen  Fall  einspruchslos  und  ohne  Spekulation  und  Mysti- 
fikation aufweisen.  Auch  die  Produktion  der  Ideen  und  Vorstellun- 
gen sei  in  den  frühen  Zeiten  unmittelbar  in  die  materielle  Tätigkeit 
und  den  materiellen  Verkehr  der  Menschen  verflochten.  Die  Men- 
schen seien  die  Produzenten  ihrer  Vorstellungen  und  Ideen,  die 
wirklichen  wirkenden  Menschen,  wie  sie  bedingt  sind  durch  eine 
bestimmte  Entwicklung  ihrer  Produktionskräfte  und  des  denselben 
entsprechenden  Verkehrs.  Das  Sein  der  Menschen  sei  ihr  wirklicher 
Lebensprozeß,  und  das  Bewußtsein  könne  nie  etwas  anderes  sein  als 
das  bewußte  Sein.  Daß  in  jeder  Ideologie  die  Menschen  und  ihre 
Verhältnisse  wie  in  einer  Camera  obscura  auf  den  Kopf  gestellt 
erschienen,  sei  genau  so  die  Folge  ihres  historischen  Lebens- 
prozesses, wie  die  Umdrehung  der  Gegenstände  auf  der  Netzhaut 
die  unmittelbare  Folge  ihres  physischen.  Der  Ausgangspunkt  der 
Ideologen  sei,  was  die  Menschen  sagten,  dachten,  sich  einbildeten, 
sich  vorstellten,  und  erst  von  dem  gesagten,  gedachten,  eingebildeten, 
vorgestellten  Menschen  gelangten  sie  zu  dem  leibhaftigen  Menschen. 
Sie  suchten  vom  Himmel  her  die  Erde!  Aber  wäre  nicht  der  um- 
gekehrte Weg  der  richtigere  ?  Da,  wo  die  Spekulation  aufhöre, 
beim  wirklichen  Leben,  beginne  die  wirkliche  positive  Wissenschaft. 
Von  den  wirklichen  tätigen  Menschen  sollte  man  ausgehen  und 
aus  ihrem  wirklichen  Lebensprozeß  die  Entwicklung  der  ideologi- 
schen Reflexe  und  Echos  dieses  Lebensprozesses  begreifen,  zu  denen 
auch  die  Nebelbildungen  im  Gehirne  der  Menschen  als  notwendige 
Sublimate  ihres  materiellen  und  an  materielle  Voraussetzungen 
geknüpften  Lebensprozesses  gehörten.  Damit  verlören  dann  auch 
die  Moral,  die  Religion,  die  Metaphysik  den  Schein  der  Selbständig- 
keit imd  den  Anspruch  auf  eine  aparte  Entwicklung  und  Geschichte, 
denn  die  ihre  materielle  Produktion  und  ihren  materiellen  Verkehr 
entwickelnden  Menschen  änderten  mit  dieser  ihrer  Wirklichkeit 
auch  ihr  Denken  und  die  Produkte  ihres  Denkens.    Sei  man  sich 


Erste  Darstellung  der  neuen  Geschichtsauffassung.  255 

aber  erst  einig,  daß  die  wirkliche  positive  Wissenschaft  erst  beim 
wirklichen  Leben  beginne,  so  verliere  die  Philosophie  als  Dar- 
stellung der  Wirklichkeit  ihr  Existenzmedium,  und  an  ihre  Stelle 
könnte  höchstens  eine  Zusammenfassung  der  allgemeinen  Resultate 
treten,  die  sich  aus  der  Betrachtung  der  historischen  Entwicklung 
der  Menschen  abstrahieren  lasse. 

Aber  die  Geschichte  ?  Erst  wenn  sie  den  tätigen  Lebensprozeß 
darstelle,  höre  diese  auf,  eine  Sammlung  toter  Fakta  zu  sein  wie 
bei  den  selbst  noch  abstrakten  Empirikern,  oder  eine  eingebildete 
Aktion  eingebildeter  Subjekte  wie  bei  den  Idealisten.  Bisher  habe 
die  Geschichtsschreibung  die  wirkliche,  die  materialistische  Basis 
entweder  ganz  und  gar  unberücksichtigt  gelassen  oder  als  eine  mit 
dem  Gesamtverlauf  außer  Zusammenhang  stehende  Nebensache 
betrachtet.  Besonders  die  deutsche  Geschichtsschreibung  habe 
immer  eines  außer  ihr  liegenden  Maßstabes  bedurft,  die  wirkliche 
Lebensproduktion  für  ungeschichtlich  erklärt  und  für  geschichtlich 
nur  das  vom  gemeinen  Leben  getrennte  Extra-Überweltliche. 
Während  die  Franzosen  und  Engländer  wenigstens  die  politische 
Illusion,  ,,die  der  Wirklichkeit  noch  am  nächsten  steht",  als  die 
treibende  Kraft  der  Geschichte  ansahen,  während  dort  wenigstens 
Versuche  gemacht  wurden,  Geschichten  der  bürgerlichen  Gesell- 
schaft, des  Handels  und  der  Industrie  zu  schreiben,  erblickten  die 
Deutschen  das  eigentliche  Agens  in  der  religiösen  Illusion.  Darüber 
vergaßen  sie  alle  anderen  Nationen  und  alle  wirklichen  Ereignisse 
und  hielten  schließlich  die  Leipziger  Büchermesse  und  die  gegen- 
seitigen Streitigkeiten  „der  Kritik",  des  ,, Menschen"  und  des 
,, Einzigen"  für  das  Theatrum  Mundi.  Am  Ende  wähnten  sie  noch 
Elsaß  und  Lothringen  zu  erobern,  wenn  sie  statt  des  französischen 
Staats  die  französische  Philosophie  bestahlen  und  statt  französischer 
Provinzen  französische  Gedanken  germanisierten! 

Haben  sich  aber  einmal,  so  geht  dieser  kühne  Ideenlauf  fort, 
die  herrschenden  Gedanken  von  den  Verhältnissen,  die  aus  der 
gegebenen  Stufe  der  Produktionsweise  entspringen,  abgetrennt, 
und  ist  dadurch  das  Resultat  zustande  gekommen,  daß  in  der  Ge- 
schichte stets  Gedanken  herrschen,  so  wird  es  eine  Leichtigkeit, 
aus  diesen  verschiedenen  Gedanken  sich  den  Gedanken,  den  herr- 
schenden Begriff  zu  abstrahieren  und  die  Geschichte,  wie  Hegel 
es  getan  habe,  als  Theodicee  darzustellen.  Die  bisherige  Geschichts- 
schreibung habe  noch  zu  sehr  jeder  Epoche  das  aufs  Wort  geglaubt, 
was  diese  von  sich  selbst  sagte  und  sich  einbildete,  statt  die  Frage 
zu  stellen,  wie  weit  dabei   Klassenillusionen  mitwirkten. 

Krampfhaft  bemüht,  wie  sie  waren,  die  Produktion  als  den 
überragenden,  ja  bestimmenden  Faktor  des  geschichtlichen  Lebens 


256  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

zu  enthüllen  und  zur  Erkenntnis  und  Anerkennung  zu  bringen, 
beginnen  die  Verfasser  ihre  Beweisführung  tatsächlich  ab  ovo. 
Die  Produktion  des  materiellen  Lebens  ist  für  sie  die  geschicht- 
liche Urtat,  denn  sie  ist  unbestreitbar  die  Voraussetzung  für  die 
Produktion  der  Mittel  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse.  Das  eigene 
Leben,  sagen  sie,  wird  in  der  Arbeit,  das  fremde  in  der  Zeugung 
produziert.  Das  Bewußtsein  aber  sei  von  vornherein  ein  gesell- 
schaftliches Produkt,  das  erst  in  der  Sprache  in  die  Erscheinung 
trete.  Bewußtsein  und  Sprache  entstünden  erst  aus  dem  Bedürfnis 
nach  dem  Verkehr  mit  anderen  Wesen.  Dieses  Bedürfnis  werde 
um  so  intensiver,  je  mehr  die  Zunahme  der  Bevölkerung  die  Pro- 
duktivität ansporne  und  die  Arbeitsteilung  entwickele.  Erst  diese 
fortschreitende  Teilung  der  Arbeit  schaffe  die  Voraussetzungen 
für  die  Entstehung  des  Privateigentums  und  der  Klassenunter- 
schiede. Teilung  der  Arbeit  und  Privateigentum  drückten  Iden- 
tisches aus.  Erst  wo  materielle  und  geistige  Arbeit  sich  sonderten, 
könnte  das  Bewußtsein  sich  von  der  bestehenden  Praxis  emanzi- 
pieren und  sich  einbilden,  wirklich  etwas  vorzustellen  ohne  etwas 
Wirkliches  vorzustellen.  Erst  mit  der  Teilung  der  Arbeit,  die  Pro- 
duktion und  Konsumption  trenne,  könnten  die  drei  Momente  Pro- 
duktionskraft, gesellschaftlicher  Zustand  und  Bewußtsein  in  Wider- 
spruch miteinander  geraten.  Die  Teilung  der  Arbeit  erzeugte  den 
Widerspruch  zwischen  dem  Interesse  der  einzelnen  Individuen 
respektive  Familien  und  dem  gemeinschaftlichen  Interesse  aller 
Individuen,  die  miteinander  verkehren,  erst  sie  bedingte  die  Herr- 
schaft einer  Klasse  über  die  anderen. 

Alle  Kämpfe  innerhalb  des  Staats,  der  Kampf  zwischen  Demo- 
kratie, Aristokratie  und  Monarchie,  die  Kämpfe  ums  Wahlrecht 
und  um  anderes,  seien  nur  die  illusorischen  Formen,  in  denen  die 
wirklichen  Kämpfe  der  verschiedenen  Klassen  miteinander  ge- 
führt würden.  Jede  nach  der  Herrschaft  strebende  Klasse  müsse 
zuerst  die  politische  Macht  erobern.  Dabei  sei  sie  im  Anfang  ge- 
zwungen, ihr  Interesse  als  das  allen  Mitgliedern  der  Gesellschaft 
gemeinschaftliche  hinzustellen,  das  heißt  ideell  ausgedrückt,  ihren 
Gedanken  die  Form  der  Allgemeinheit  zu  verleihen,  sie  als  die  einzig 
vernünftigen  und  allgemeine  Gültigkeit  verdienenden  auszugeben. 
Schon  weil  sie  stets  einer  Klasse  gegenüberstehe,  gebe  sich  die 
revolutionierende  Klasse  selbst  nicht  als  Klasse  sondern  als  Ver- 
treterin der  ganzen  Gesellschaft.  Auch  die  Liberalen  geständen 
nicht,  daß  ihre  Redensarten  nur  der  idealistische  Ausdruck  der 
realen  Interessen  der  Bourgeoisie  seien.  Die  materiell  herrschende 
Klasse  wäre  immer  zugleich  auch  die  herrschende  geistige  Macht. 
Wer  über  die  Mittel  zur  materiellen  Produktion  verfüge,  disponiere 


Die  Trennung  von  Stadt  und  Land.  257 

zugkich  auch  über  die  Mittel  zur  geistigen  Produktion.  Die  eine 
jede  Epoche  beherrschenden  Gedanken  seien  weiter  nichts  als  der 
ideale  Ausdruck  der  in  ihr  herrschenden  materiellen  Verhältnisse. 
Wo  die  königliche  Macht,  die  Aristokratie  und  die  Bourgeoisie  sich 
in  die  Herrschaft  teilten,  werde  die  Teilung  der  Gewalten  als  ewiges 
Gesetz  angesprochen  werden.  Die  Staatsform  sei  also  stets  der 
praktisch-idealistische  Ausdruck  der  Herrschaft  einer  bestimmten 
Klasse,  der  Staat  die  Form,  in  der  die  Individuen  dieser  herrschen- 
den Klasse  ihre  gemeinsamen  Interessen  geltend  machten,  in  der 
die  ganze  bürgerliche  Gesellschaft  einer  Epoche  sich  zusammen- 
fasse, er  sei  die  bürgerliche  Gesellschaft  in  Aktion.  Je  höher  der 
Kapitalismus  sich  entwickele  und  je  stärker  damit  die  Einwirkung 
des  Staates  auf  die  Gestaltung  des  Eigentums  werde,  um  so  mehr 
verschwinde  der  letzte  Schein  einer  Selbständigkeit  des  Staats 
gegenüber  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  Diesem  Anschein  be- 
gegne man  nur  noch  in  Ländern,  wo  sich  die  Stände  noch  nicht 
vollständig  zu  Klassen  entwickelt  hätten,  wo  es  deshalb  noch  kein 
Teil  der  Bevölkerung  zur  Herrschaft  üb2r  die  übrigen  habe  bringen 
können.  Auf  einer  solchen  Übergangsstufe  befinde  sich  Deutsch- 
land, und  daraus  erklärten  sich  sowohl  das  anderwärts  nicht  vor- 
kommende redliche  Beamtenbewußtsein,  die  sämtlichen  kursieren- 
den Illusionen  über  den  Staat,  wie  die  scheinbare  Unabhängigkeit, 
die  hier  die  Theoretiker  gegenüber  den  Bürgern  hätten. 

Als  die  früheste  bedeutende  Arbeitsteilung  der  Geschichte 
ergibt  sich  für  Engels  und  Marx  die  Trennung  von  Stadt  und  Land, 
deren  unmittelbare  Folge  die  starre  Trennung  der  materiellen  und 
der  geistigen  Arbeit  sei.  Auf  die  für  die  Zivilisation  schädliche  Wir- 
kung dieser  Entfremdung  mochte  sie  besonders  nachdrücklich  der 
französische  Sozialist  Pecqueur  aufmerksam  gemacht  haben.  En- 
gels ließ  in  der  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England  erken- 
nen, daß  für  ihn  eine  Landbevölkerung,  die  in  ihrem  stillen 
Pflanzenleben  nichts  von  der  gewaltigen  Bewegung,  die  durch  die 
übrige  Menschheit  ging,  erfahre,  , .arbeitende  Maschinen"  aber 
,,eben  keine  Menschen"  wären.  Nun  galt  es,  die  politische  und  so- 
ziale Auswirkung  jener  ihm  widerstrebenden  unnatürlichen  Tren- 
nung herauszuarbe.ten,  aufzuzeigen,  wie  sich  mit  der  Stadt  zugleich 
die  Notwendigkeit  der  Administration,  der  Polizei,  der  Steuern, 
kurz  des  Gemeindewesens  und  damit  der  Politik  verknüpfte,  wie 
diese  die  Konzentration  der  Bevölkerung,  der  Produktionsinstru- 
mente, der  Genüsse,  der  Bedürfnisse  bewirkte,  und  wie  dagegen 
das  Land  die  Isolierung  der  Menschen,  ihre  Vereinzelung  in  jeder 
Form  darstellte.  Zu  beweisen  galt  jetzt,  daß  die  Überwindung 
dieser  starren  Trennung  notwendig  wäre,  weil  nur  so  die  mit  ihr  zu- 
Mayer, Friedrich  Engeis,  Bd.  I  17 


258  Die  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

sammenfallende  Trennung  von  Kapital  und  Grundeigentum  über- 
wunden werden  könnte.  Um  aber  diese,  die  Ursache  der  ganzen 
kapitalistischen  Entwicklung,  zu  beseitigen,  bedürfe  es  der  Auf- 
hebung des  Privateigentums. 

Eine  noch  recht  skizzenhafte  Übersicht  über  die  allgemeine 
Wirtschaftsgeschichte,  wie  sie  sich  ihnen  unter  dem  Gesichtspunkt 
der  Teilung  der  Arbeit  darstellte,  sollte  den  Beweis  erbringen,  daß 
die  Aufhebung  des  Privateigentums  erst  im  Zeitaller  der  Groß- 
industrie durchführbar  werde.  Als  Engels,  um  sich  für  sein  Büchlein 
über  Feuerbach  zu  inspirieren,  diese  früheste  Darlegung  ihrer  ma- 
terialistischen Geschichtsauffassung  nach  mehr  als  vierzig  Jahren 
wieder  überlas,  fiel  ihm  auf,  wie  unvollkommen  ihre  Kenntnis 
der  ökonomischen  Geschichte  damals  noch  gewesen  wäre.  Aber 
diesen  Eindruck  bildete  er  sich  wohl  hauptsächlich  auf  Grund 
des  Manuskripts  ihrer  unvollendet  gebliebenen  Kritik  Feuerbachs, 
und  er  übersah  damals  vielleicht  die  glänzenden  Abschnitte,  die 
in  dieser  Richtung  der  Heilige  Max  enthielt.  Jene  Skizze  freilich 
zeigt  in  der  Tat  nur  in  ganz  großen  Linien,  wie  die  Kreise,  die  durch 
ihre  Produktion  aufeinander  einwirken,  sich  erweitern,  wie  die 
Arbeitsteilung  interlokal,  am  Ende  international  wird,  wie  die 
Geschichte  der  Landschaften  und  Völker  sich  zur  Weltgeschichte 
dehnt.  Je  mehr  nun  die  Ausbildung  der  Produktionsweise  die 
Nationalitäten  miteinander  verbinde,  um  so  mehr  bringe  sie  diese 
und  die  Individuen  für  ihre  Bedürfnisbefriedigung  unter  die  Knecht- 
schaft des  Weltmarkts,  um  so  vollständiger  lösten  alle  naturwüch- 
sigen Verhältnisse  sich  in  Geldverkehr  auf.  Um  so  eher  freilich 
trete  auch  in  der  Entwicklung  der  Produktivkräfte  der  Moment  ein, 
wo  Maschinerie  und  Geld  sich  nicht  mehr  als  Produktionskräfte 
sondern  als  Dastruktionskräfte  erwiesen,  wo  die  allseitige  Ab- 
hängigkeit, diese  erste  naturwüchsige  Form  des  weltgeschichtlichen 
Zusammenwirkens  der  Individuen,  sich  vollende  und  mit  der  Ent- 
stehung des  Proletariats  der  Totengräber  dieser  alten  Ordnung 
die  Weltbühne  betrete.  Alle  Kollisionen  der  Geschichte  hätten 
ihren  Ursprung  in  einem  solchen  Widerspruch  zwischen  den  Pro- 
duktivkräften  und   der    Verkehrsform. 

Der  Sieg  der  Stadt  über  das  Land,  der  Großindustrie  über  die 
früheren  Betriebsformen  erzeuge  im  allgemeinen  überall  dieselben 
Verhältnisse  zwischen  den  Klassen  der  Gesellschaft  und  vernichte 
zugleich  die  Besonderheit  der  einzelnen  Nationalitäten.  Während 
die  Bourgeoisie  noch  aparte  nationale  Interessen  hätte,  erstehe 
im  Proletariat  eine  Klasse,  die  bei  allen  Nationen  dasselbe  Interesse 
habe,  bei  der  also  die  Nationalität  vernichtet  sei,  eine  Klasse,  die 
wirklich  die  ganze  alte  Welt   los  geworden  sei  und  ihr  feindlich 


Beseitigung  der  Arbeitsteilung.  259 

gegenüberstehe.  Das  Proletarial,  eine  Klasse,  die  gegen  die  herr- 
schende Klasse  keine  besonderen  Klasseninteressen  mehr  durch- 
zusetzen habe ,  werde  der  Träger  jener  Revolution  sein ,  die  den  Klassen 
wie  der  Klassenherrschaft  ein  Ende  mache.  Bei  allen  bisherigen 
Revolutionen  sei  die  Art  der  Tätigkeit  unangetastet  geblieben  und 
immer  nur  eine  andere  Distribution  dieser  Tätigkeit  erfolgt.  Aber 
die  Revolution  des  Proletariats  verwandele  die  allseitige  Abhängig- 
keit, diese  erste  naturwüchsige  Form  des  weltgeschichtlichen  Zu- 
sammenwirkens der  Individuen,  in  die  Kontrolle  und  bewußte 
Beherrschung  der  wirtschaftlichen  Mächte  durch  den  Menschen, 
dem  diese  Mächte  bisher  als  durchaus  fremde  Mächte  imponiert 
und  ihn  beherrscht  hatten.  Kommunistisch  werde  diese  Revolution 
sein,  weil  die  Aufhebung  der  Arbeitsteilung,  welche  die  persön- 
lichen Verhältnisse  in  sachliche  verwandelt  habe,  nur  im  Zustande 
der  Gemeinschaft  durchführbar  sein  werde.  Weil  das  Individuum 
erst  dann  seine  Anlagen  nach  allen  Seiten  ungehindert  auszubilden 
vermöge,  werde  die  persönliche  Freiheit  erst  durch  die  Verwirk- 
lichung des  Kommunismus  ermöglicht.  Nur  in  der  kommunistischen 
Gesellschaft  sei  die  individuelle  und  freie  Entwicklung  der  Individuen 
keine  Phrase.  Im  Staat  und  den  anderen  bisherigen  Surrogaten 
der  Gemeinschaft  existierte  sie  ausschließlich  für  die  in  den  Ver- 
hältnissen der  herrschenden  Klassen  entwickelten  Individuen  und 
auch  nur,  insofern  sie  Individuen  dieser  Klassen  waren.  In  der 
wirklichen  Gemeinschaft  aber  erlangten  die  Individuen  in  ihrer 
Assoziation  und  durch  dieselbe  zugleich  die  Freiheit.  Persönliche 
Freiheit  nannte  man  bisher  das  Recht,  sich  innerhalb  gewisser 
Bedingungen  ungestört  der  Zufälligkeit  erfreuen  zu  dürfen.  Die 
Herrschaft  der  sachlichen  Verhältnisse  über  die  Individuen,  die 
Erdrückung  der  Individualität  durch  die  Zufälligkeit  hätten  in  der 
bürgerlichen  Gesellschaftsepoche  ihre  schärfste  und  universellste 
Form  erhalten.  Künftig  trete  an  die  Stelle  der  Herrschaft  der  Ver- 
hältnisse und  der  Zufälligkeit  über  die  Individuen  die  Herrschaft 
der  Individuen  über  die  Zufälligkeit  und  die  Verhältnisse.  Dazu 
freilich  sei  nötig,  daß  die  Arbeitsteilung  beseitigt  werde  und  daß  das 
Privateigentum  verschwinde.  Wollten  die  Proletarier  auch  ihrerseits 
persönliche  Geltung  bekommen,  so  müßten  sie  ihre  eigene  bisherige 
Existenzbedingung,  die  zugleich  die  Existenzbedingung  der  ganzen 
bisherigen  Gesellschaft  war,  die  Lohnarbeit,  aufheben.  Im  direkten 
Gegensatz  zu  der  Form,  unter  der  die  Individuen  sich  in  der  bisherigen 
Gesellschaft  einen  Gesamtausdruck  gaben,  zum  Staat,  müßten  sie 
diesen  stürzen,  um  ihre  Persönlichkeit  durchzusetzen.  Dies  aber 
könne  nur  auf  revolutionärem  Wege  geschehen,  weil  die  herrschende 
Klasse  die  Macht  nicht  freiwillig  abtrete  und  die  aufsteigende  Klasse 

17* 


200  Di*  Abrechnung  mit  der  deutschen  Ideologie. 

nur  im  Verlauf  einer  Revolution  zu  einer  neuen  Begründung  der 
Gesellschaft  befähigt  werde. 

Der  Kommunismus  unterscheide  sich  von  allen  bisherigen 
Bewegungen  dadurch,  daß  er  die  Grundlage  aller  bisherigen  Pro- 
duktions- und  Verkehrsverhältnisse  umwälze  und  alle  naturwüch- 
sigen Voraussetzungen,  das  heißt  jene,  die  nicht  einem  Gesamtplan 
frei  vereinigter  Individuen  subordiniert  waren,  zum  erstenmal 
mit  Bewußtsein  ihrer  Naturwüchsigkeit  entkleide  und  der  Macht  der 
vereinigten  Individuen  unterwerfe.  Nun  könne  aber  der  moderne 
universelle  Verkehr  nicht  anders  unter  die  Individuen  subsumiert 
werden  als  dadurch,  daß  er  unter  alle  subsumiert  werde.  Die  An- 
eignung könne  nur  vollzogen  werden  durch  eine  Vereinigung,  die 
durch  den  Charakter  des  Proletariats  selbst  wieder  nur  eine  univer- 
selle sein  könne.  Erst  auf  dieser  Stufe  falle  die  endlich  zur  Selbst- 
betätigung gewordene  Arbeit  mit  dem  materiellen  Leben  zusammen, 
und  erst  jetzt,  nachdem  alle  Naturwüchsigkeit  abgestreift  sei,  könne 
die  Entwicklung  der  Individuen  zu  totalen  Individuen,  die  allseitige 
Verwirklichung  des  Individuums  vor  sich  gehen! 

Für  die  Klassenbewegung  des  Proletariats  bedeute  es  keine 
Hemmung,  daß  die  Großindustrie  nicht  in  allen  Ländern  und 
innerhalb  der  Länder  nicht  überall  gleichmäßig  ausgebildet  wäre, 
denn  die  zurückgebliebenen  Länder  unterlägen  der  Einwirkung 
der  fortgeschrittenen,  die  sie  durch  den  Weltverkehr  in  den  inter- 
nationalen Konkurrenzkampf  hineinreiß?n.  Innerhalb  der  Länder 
aber  reißa  das  Industrieproletariat  die  übrige  Masse  um  so  sicherer 
mit  sich  fort,  als  die  von  der  Großindustrie  ausgeschlossenen  Arbeiter 
durch  ihr  Aufkommen  in  eine  noch  schlechtere  Lebenslage  ge- 
rieten. Unzulässig  wäre  es  jedoch,  Proletariat  und  Pauperismus  zu 
identifizieren.  Denn  Pauperismus  bezeichne  nur  die  Lage  eines 
ruinierten,  gegen  den  Druck  der  Bourgeoisie  widerstandslos  ge- 
wordenen Proletariats,  während  ein  revolutionäres  Proletariat,  das 
seine  Lage  begriffen  habe  und  an  deren  Hebung  arbeite,  eine  auf- 
wärts und  vorwärts  strebende  Klasse  sei,  bei  deren  revolutionärer 
Mission  das  Sichverändern  mit  dem  Verändern  der  Umstände  zu- 
sammenfalle. 

Noch  wußte  aber  jenes  Proletariat,  für  das  Engels  und  Marx 
diese  ihm  siegverkündende  neue  Anschauung  der  Menschheit 
und  ihrer  Geschichte  aufbauten,  erst  sehr  wenig  von  ihren  Per- 
sonen und  nichts  von  ihrer  Lehre.  Was  war  da  begreiflicher,  als 
daß  Engels  es  nun  als  seine  nächste  und  wichtigste  Aufgabe  be- 
trachtete, bei  den  auf  dem  freieren  Boden  Frankreichs  und  Belgiens 
weilenden,  von  revolutionärem  Geist  erfüllten  deutschen  Proleta- 
riern   die    ihnen    von   ihren   leitenden    Genossen   eingeimpfte  Ab- 


Engels  und  das  Proletariat.  261 

neigung  gegen  die  Intellektuellen  soweit  zu  überwinden,  daß  sie 
die  neue  werbekräftige  kommunistische  Lehre  von  ihm  entgegen- 
nahmen und,  in  die  Heimat  zurückkehrend,  als  deren  Sendboten  auf 
das  deutsche  Proletariat  einwirkten,  mit  dem  er  selbst  vorläufig  nicht 
in  direkte  Beziehung  treten  konnte  ?  Nicht  minder  wichtig  erschien 
es  freilich  diesem  Bahnbrecher  des  proletarischen  Internationalis- 
mus, auch  die  englischen  und  französischen  Arbeiter  für  die  neue 
Geschichtsauffassung  und  die  auf  diese  sich  gründende  neue  Politik 
und  Taktik  zu  gewinnen.  Aber  der  Weg  zu  ihnen,  das  erkannte  er, 
ging  nur  über  die  Führer ;  in  England  stand  er,  wie  wir  wissen, 
zu  einigen  von  diesen  schon  seit  Jahren  in  Beziehungen,  jetzt  galt 
es  solche  auch  in  Frankreich  zu  suchen. 

Seitdem  sie  sich  so  eine  feste  theoretische  Grundlage  für  die 
von  ihnen  herbeigesehnte  Revolutionierung  der  Gesellschaft  er- 
kämpft hatten,  betrachteten  Engels  und  Marx  als  Feind  des  Kom- 
munismus einen  jeden,  der  noch  wähnte,  das  Proletariat  auch  noch 
auf  anderen  Wegen,  als  den  von  ihnen  angegebenen,  der  Erlösung 
entgegenführen  zu  können. 


Kapitel  X. 

In  Belgien  und  Frankreich.  —  Kommunisten- 
bund  und  Kommunistisches  Manifest. 

Dem  neuen  Kommunismus  standen  zwei  Rivalen  gegenüber, 
die  es  niederzukämpfen  galt,  wenn  er  für  den  Vortrupp  eines  klassen- 
bewußten deutschen  Proletariats  richtunggebend  werden  sollte: 
der  Handwerkerkommunismus  Weitlings  und  der  deutsche  philoso- 
phische Sozialismus,  dessen  betriebsamste  agitatorische  Kraft,  Karl 
Grün,  Marx  Studiengenosse  gewesen  war.  Nun  hatten  zunächst 
beide  Richtungen  noch  einen  ziemlichen  Anhang  unter  jenen 
deutschen  Handwerksgesellen,  die  sich  zu  ihrer  besseren  Ausbildung 
in  Paris  aufhielten,  das  immer  einer  der  Hauptsammelpunkte 
aller  kommunistischen  und  sozialistischen  Bestrebungen  war,  und 
wo  bekanntlich  gerade  in  diesen  Jahren  des  absteigenden  Bürger- 
königtums die  auf  eine  Verjüngung  der  Gesellschaft  hinzielenden 
Bemühungen  in  den  mannigfaltigsten  Gestaltungen  sich  der  Öffent- 
lichkeit kundgaben. 

Mit  der  neuen  Geschichtsphilosophie  des  Kommunismus,  die 
Marx  und  er  sich  aufgebaut  hatten,  glaubte  Engels,  wie  wir  sahen, 
die  „deutsche  Ideologie"  entlarvt,  sie  für  immer  erledigt  zu  haben. 
Trotz  alledem  bekannte  er  sich  nach  wie  vor  zu  dem  Menschheits- 
ideal, das  dem  deutschen  Idealismus  in  seiner  Blütezeit  Kraft  und 
Fülle  verliehen  hatte.  Weshalb  verurteilte  er  denn  die  bestehende, 
weshalb  erstrebte  er  eine  bessere  Gesellschaftsordnung?  Warum 
anders  als  weil  jene  den  Menschen  durch  die  Arbeitsteilung  in  Ein- 
seitigkeit verkrüppeln  ließ,  während  die  Beseitigung  der  Arbeits- 
teilung, die  Aufhebung  des  Privateigentums  und  der  freien  Kon- 
kurrenz, ihm  eine  allseitige  harmonische  Entwicklung  in  Aussicht 
stellten  ?  Den  deutschen  Sozialismus,  dessen  theoretische  Unzu- 
länglichkeit unbestreitbar  war,  verfolgte  er  mit  Spott  und  Nicht- 
achtung nur  deshalb,  weil  jener  in  seiner  Unkenntnis  der  Welt 
und  in  seinem  billigen  Harmoniedusel  noch  nicht  einsehen  wollte, 
daß  dieses  Menschheitsideal  nur  der  Klassenkampf,  nur  die  Revolu- 


Die  Bannbulle  gegen  Kriege.  263 

tjon  verwirklichen  könnten.  Damals,  als  das  sozialistische  Ideal 
noch  unbegriffen  in  seinem  Herzen  träumte,  hatte  auch  Engels 
gedacht,  daß  den  sympathetischen  Trieben  in  der  Menschenbrust 
dereinst  ein  friedlicher  Sieg  beschieden  sein  könnte.  Inzwischen 
hatte  er  die  Verwüstungen  des  englischen  Frühkapitalismus  erlebt 
und  den  Kommunismus  als  den  einzigen  legitimen  Erben  der 
deutschen  klassischen  Philosophie  erkannt.  Wer  jetzt  noch, 
ob  mit  oder  ohne  christliche  Färbung,  allein  von  der  allgemeinen 
Menschenliebe  die  soziale  Erneuerung  erwartete,  der  war  für  ihn 
ein  rückständiger  und,  sofern  er  auf  die  Massen  Einfluß  erstrebte 
oder  gewann,  ein  gefährlicher  Schwärmer.  Nannten  vollends  solche 
Irreführer  und  falschen  Apostel  ihre  ,, Liebesduselei"  Kommunis- 
mus, so  wurde  es  ihm  zur  gebieterischen  Notwendigkeit,  ihren 
Bestrebungen  scharf  entgegenzutreten,  v/eil  sie  geeignet  waren,  das 
Proletariat  um  seine  revolutionäre  Energie  zu  bringen. 

Im  Anfang  des  Jahres  1845  war  bei  Engels  noch  in  Barmen  der 
ehemalige  Studiosus  Hermann  Kriege,  ein  Mitarbeiter  des  West- 
fälischen Dampfboots,  der  sich  persönlicher  Beziehungen  zu  Feuer- 
bach rühmte,  aufgetaucht,  und  von  ihm  mit  warmen  Empfehlungen 
an  Marx  weiter  expediert  worden.  Von  Brüssel  hatte  den  Wirrkopf 
nach  kurzeni  Verweilen  der  Wunsch,  die  Heilswahrheit  der  neuen 
Lehre  auch  in  der  neuen  Welt  zu  verkünden,  nach  New  York  ge- 
führt, wo  er  die  Mittel  reicher  Deutschamerikaner  in  Anspruch 
nahm,  um  ein  Blatt  zu  gründen,  das  er  selbst  als  eine  Fortsetzung 
von  Babeufs  Tribun  du  Peuple  anpries,  das  aber  in  Wirklichkeit 
nur  ein  Ableger  des  wahren  Sozialismus  war,  dessen  verwasche- 
nen Menschheitskultus  er  hier  mit  Predigten  über  den  ,, heiligen 
Geist  der  Gemeinschaft"  ins  Unerträgliche  steigerte.  Gleichzeitig 
trat  er  hier  für  eine  Bodenreform  ein,  die  in  Engels  Augen  nur 
für  ,, bankerotte  Krämer  und  Handwerksmeister  oder  ruinierte  Kot- 
sassen", die  nach  dem  Glück  schielten,  drüben  wieder  Kleinbürger 
und  Bauern  zu  werden,  nicht  aber  für  kommunistische  Arbeiter 
Bedeutung  hatte.  Schon  lange  auf  dem  Sprung,  gründlich  mit 
einer  Richtung  abzurechnen,  die,  jeder  Einsicht  in  die  ökonomische 
Struktur  der  Gesellschaft  bar,  den  Kommunismus  in  belletristische 
Phrasen  aufzulösen  drohte,  entschlossen  sich  Marx  und  Engels 
jetzt,  den  Bruch  ihrer  Partei  mit  dem  wahren  Sozialismus 
öffentlich  zu  vollziehen.  Aus  wem  bestand  nun  aber  eigentlich 
damals  ihre  ,, Partei"?  Die  Kommunistenausräucherung  in  der 
Schweiz  und  Guizots  scharfes  Vorgehen  gegen  die  deutschen  radi- 
kalen Schriftsteller  in  Paris  hatten  in  den  letzten  Jahren  Belgien, 
wo  die  persönliche  Freiheit  auf  dem  Kontinent  noch  am  meisten 
geachtet  wurde,  zu  einem  wichtigen  Sammelpunkt  der  deutschen 


264  1°  Belgien  und  Frankreich. 

Kommunisten  gemacht.    ICarl  Marx,  der  als  der  erste  hier  em- 
getroffen  war,  sah  allmählich  fast  alle  die  Hauptvertreter  dieser 
Richtung  um  sich  versammelt:  außer  Engels  und  Moses  Heß  Weit- 
ling, der  sich  in  London  mit  Moll,  Schapper  und  den  anderen  Häup- 
tern der  dortigen  deutschen  Arbeiterbewegung  nicht  hatte  verstän- 
digen können,  den  früheren  Aktuar  Sebastian  Seiler,  den  ehemaligen 
Artillerieleutnant  Joseph  Weidemeyer,    einen  Schwager    Lünings, 
des    Herausgebers    des    Westfälischen    Dampfboots,    den  Schlesier 
Wilhelm  Wolff,  der  die  preußischen  Kasematten  gründlich  kennen 
gelernt  und  eben  im  Deutschen  Bürgerbuch  den  Weberaufstand  von 
1844  mit  revolutionärer  Glut  beschrieben  hatte.    Auch  Freiligrath 
fand  sich  ein;  mit  Marx  und  Engels  persönlich  befreundet,  konnte 
er  doch  nicht  recht  als  Parteigenosse  angesprochen  werden.  Rechnet 
man  ein  paar  intelligente  und  strebsame  Setzer  und  einige  andere 
Arbeiter  hinzu,  so  mochte  sich  die  ganze  Gruppe,  in  deren  Mitte 
freilich    noch    schwere  Meinungskämpfe    auszutragen    waren,    auf 
etwa  zwanzig  Köpfe  belaufen.    Niemand  hatte  der  geschichtlichen 
Bedeutung  Weitlings  neidloser  und  wärmer  die  ihr  gebührende  An- 
erkennung  gezollt   als    Engels.     Dennoch    mußten   er    und    Marx 
bald   nach  seinem   Auftauchen    in   Belgien  sich  eingestehen,   daß 
einem  ersprießlichen  Zusammenwirken  mit  ihm  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  im  Wege  standen.   Ohne  jede  philosophische  Kultur 
und   ohne   geschichtlichen   Sinn,   neuen  geistigen  Erlebnissen  und 
wirklicher  Belehrung  nicht  mehr  zugänglich,  in  unpraktische  Marot- 
ten eingesponnen,  dabei  voll  Mißtrauen  gegen  die  beiden  jungen 
Intellektuellen,  die  ihn  nicht  als  das  unbestrittene  Oberhaupt  des 
zum    Kommunismus    hinstrebenden    deutschen  Proletariats    gelten 
lassen  konnten,  erblickte  Weitling,  der  die  tieferen  Beweggründe 
der  Vorkämpfe  des  neuen  wissenschaftlichen  Kommunismus  weder 
verstand  noch  verstehen  wollte,  in  Marx  und  Engels  nur  ,,ausge- 
feimte  Intriganten",    die  jeden  ,, anschwärzen",    den  sie  als  Kon- 
kurrenten  für   gefährlich   hielten.     Umgekehrt  wieder  erschien  er 
Engels  als  der  eingebildete  „große  Mann",  der  ein  Rezept  zur  Ver- 
wirklichung des  Himmels   auf  Erden   in  der  Tasche  trug  und  sich 
einredete,  daß  jeder  darauf  aus  sei,  es  ihm  zu  stehlen.  Zu  dem  Bruch,, 
der   unter  solchen  Umständen   unvermeidlich  war,   kam  es  dann, 
als  Marx  und  Engels  im  Mai  1846  den  Erlaß  eines  Zirkulars  gegen 
das    Treiben    Krieges    in    einer    Parteikonferenz    durchsetzten,    bei 
der  Weitling  allein  gegen  solches  Vorgehen  Einspruch  erhob.   Durch 
diese  Niederlage  und  durch  pekuniäre  Not,  die  ihm  bitter  zusetzte,, 
ganz  toll  gemacht,  hat  der  geniale   Schneider,  der  nun  empfand, 
daß  seine  Rolle  in  der  deutschen  Arbeiterbewegung  ziemlich  aus- 
gespielt war,  sich  bald  darauf  zu   Kriege  nach  Amerika  verfügt 


Bruch  mit  Weitling.  265 

und  diesem  die  Vorgänge,  die  den  Konflikt  zum  Austrag  gebracht 
hatten,  auf  seine  Weise  geschildert.  Kriege  erhielt  so  den  wohl 
gerechtfertigten  Eindruck,  daß  die  gegen  ihn  erlassene  ,, Bannbulle" 
unzweifelhaft  ,,das  Fabrikat  von  Friedrich  Engels"  sei.  Als  er 
sich  ebenso  wie  Weitling  im  Revolutionsjahr  noch  einmal  in  die 
rad  kale  Bewegung  in  Deutschland  stürzte,  zeigte  es  sich,  daß  er 
Engels  deswegen  eine  dauernde  Privatranküne  bewahrt  hatte. 
Nun  bestand  aber  der  Hauptvorwurf,  den  jenes  erste  wichtige  Rund- 
schreiben der  jungen  Partei  gegen  den  Volkstribun  erhob,  darin, 
daß  seine  ,, hohle  Deklamation"  im  höchsten  Maße  demoralisierend 
auf  die  Arbeiter  wirken  und  ,,die  kommunistische  Partei  in  Europa 
sowohl  als  in  Amerika"  kompromittieren  müsse.  Er  protestierte 
dagegen,  daß  Kriege  hier  eine  weltgeschichtliche  revolutionäre 
Bewegung  auf  den  Gegensatz  von  Liebe  und  Haß,  von  Kommunismus 
und  Egoismus  reduzierte,  daß  er  die  christliche  Selbstverleugnung 
,, unter  dem  Wirtshausschilde  des  Kommunismus"  von  neuem 
an  den  Mann  bringen  wollte,  kurz,  daß  er  den  Kommunismus  ,, nicht 
als  Zerstörung,  sondern  als  Erfüllung  der  bestehenden  schlechten 
Verhältnisse"  und  der  von  diesen  erzeugten  Illusionen  darstellte.  Als 
Lüning  im  Juliheft  des  Westfälischen  Dampfboots  dies,  in  der  Form 
nur  gegen  seinen  einstigen  eifrigen  Mitarbeiter,  in  der  Sache  freilich 
auch  gegen  ihn  selbst  gerichtete  Rundschreiben  abdruckte,  räumte 
er  ein,  daß  sein  Blatt  damit  ein  Stückchen  Selbstkritik  übe.  Engels 
aber  höhnte  zu  Marx:  ,,Wenn  wir  ihre  ganze  Lumperei  kritisieren, 
so  erklärt  der  Edle  das  für  eine  Selbstkritik."  In  der  Tat  hatte  Lü- 
ning noch  in  einer  Besprechung  von  Engels  Lage  der  arbeitenden 
Klasse  im  zweiten  Band  des  Deutschen  Bürgerbuchs  der  Hoffnung 
Ausdruck  gegeben,  daß  der  Gegensatz  von  Bourgeoisie  und  Pro- 
letariat in  dem  höheren  Begriff  des  Menschentums  seine  befrie-- 
digende  Lösung  finden  werde.  Hatte  er  seither  auch  von  Schritt 
zu  Schritt  der  neuen  Klassenkampf theorie  der  beiden  aufsteigenden 
Parteigrößen  Zugeständnisse  gemacht,  so  mißbilligte  er  doch  die 
rücksichtslose,  herrische  Entschlossenheit,  mit  der  jene  dem  ge-> 
samten  deutschen  Sozialismus  ihre  revolutionäre  Auffassung  auf- 
zuzwingen trachteten.  Und  so  wie  er  und  so  wie  Weitling  empfand 
in  diesem  Punkte  auch  Moses  Heß.  Auch  ihn,  den  Senior  des 
philosophischen  Sozialismus,  der  an  der  Ausarbeitung  der  un- 
veröffentlicht gebliebenen  Schrift  gegen  die  deutsche  Ideologie 
selbst  tätig  Anteil  genommen  und  sich  trotz  des  ursprüngHchen 
Widerstrebens  seiner  auf  Liebe  und  Versöhnung  gerichteten  Natur 
der  ökonomischen  Geschichtsauffassung  genähert  hatte,  berührte 
die  Unduldsamkeit  schmerzlich,  mit  der  die  beiden  jüngeren  Ge«. 
fährten  selbstbewußt  und  selbstsicher  jeden  Standpunkt,  der  von. 


366  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

dem  ihrigen  abwich,  in  Grund  und  Boden  kritisierten.  Heß  hatte 
zwar  jener  Beratung,  in  der  Kriege  in  die  Acht  erklärt  wurde,  nicht 
"beigewohnt,  aber  wohl  hinterher  durchblicken  lassen,  daß  er  gegen 
die  Schärfe  des  Vorgehens  Bedenken  hegte.  Eine  Entfremdung 
zwischen  ihm  und  Marx  und  Engels,  die  nun  schon  in  jeder  Un- 
entschiedenheit  eine  Gefährdung  der  Sache  sahen,  war  eingetreten. 
Noch  am  6.  Mai  hatte  er  aus  Verviers,  wo  er  und  Weitling  damals 
lebten,  Engels  durch  Marx  bestellen  lassen,  daß  er  sich  „trotz 
Bibel  und  armer  Sünder  nach  den  Fleischtöpfen  Egyptens,  das  heißt 
nach  einer  Kneiperei  in  Brüssel  mit  Engels  und  Co.  zurücksehne"; 
nach  jener  Beratung  aber,  am  i6.  Mai,  berichtete  Weitling  Kriege: 
,,Heß  ist  wie  ich  in  die  Acht  erklärt."  Am  29.  Mai  wiederum  schreibt 
Heß  an  Marx:  ,,Du  hast  ein  Recht  darauf  gereizt  zu  sein,  Engels 
nicht ;  mein  Brief  war  ja  gar  nicht  an  ihn  gerichtet ;  und  das  ,, Küssen" 
überlasse  ich  seiner  Mary  .  .  .  Mit  dir  persönlich  möchte  ich  noch 
recht  viel  verkehren;  mit  deiner  Partei  will  ich  nichts  mehr  zu  tun 
haben."  Nun  konnte  freilich  schon  im  September  des  Jahres  Engels 
seinem  Freunde  über  ,,ein  Wiederanknüpfungsschreiben  des  Kom- 
munistenpapas" und  im  Januar  1847  vo^^  einem  Besuch  desselben 
berichten.  Aber  er  erzählt  selbst,  daß  er  ihn  kalt  und  spöttisch  auf- 
genommen hätte.  Auf  eine  ehrliche  Aussöhnung  mit  diesem 
merkwürdigen  Mann,  dem  er  immerhin  Wichtiges  verdankte, 
legte  Engels  nun  keinen  Wert  mehr.  Wir  wissen  nicht  im  einzelnen 
was  zwischen  ihnen  vorgefallen  war.  Der  Jüngere  hatte  den  Älteren 
empfinden  lassen,  daß  er  ihn  zum  alten  Eisen  warf,  und  so  war  es 
menschlich,  daß  sich  bei  diesem  eine  kräftige  Abneigung  gegen 
ihn  herausbildete.  Liebenswürdig  und  zugänglich,  aber  auch  gerade- 
zu, bisweilen  sogar  derb  und  rücksichtslos,  vermochte  Engels  gleich 
leicht  sich  Feinde  und  Freunde  zu  erwerben.  — 

Wir  wissen  schon,  wie  sehr  es  seit  geraumer  Zeit  ihn  wurmte, 
daß  die  theoretische  Seite  ,, leider  Gottes  einstweilen  noch"  Marx 
und  seine  ,, einzige  Force"  ausmache.  Nun  war  neuerdings  Weit- 
lings Stern,  seitdem  er  in  England  geweilt  hatte,  ohne  durch 
die  moderne  Großindustrie  in  seinen  Gedankengängen  neu  be- 
fruchtet zu  werden,  in  den  Kreisen  der  deutschen  Handwerksgesellen 
auf  ausländischem  Boden  im  Erbleichen.  Und  damit  schien  der 
rechte  Augenblick  herangerückt,  um  mit  einem  energischen 
Vorstoß  diese  Kreise  für  die  neue  Lehre  zu  erobern.  Es  war 
sogar  Eile  geboten,  weil  die  Wortführer  des  wahren  Sozialismus, 
voran  Karl  Grün,  der  nach  Marx  Fortgang  aus  Paris  Proud- 
hons  Lehrer  für  deutsche  Philosophie  geworden  war,  sich  unter 
den  ,, Straubingern"  neuerdings  mausig  machten.  Ältere  Be- 
ziehungen   als   Engels  und   Marx    besaß   Moses  Heß    zu  den   Pa- 


Engels  und  die  Pariser  deutschen  Arbeiter.  267 

riser  Gemeinden  des  Bundes  der  Gerechten,  und  auch  Grün  hatte 
vor  ihnen  den  Vorsprung,  daß  er  in  Paris  lebte  und  ständig 
mit  diesen  Leuten  verkehrte.  Weil  Marx  seit  seiner  Ausweisung 
der  Boden  Frankreichs  verschlossen  war,  entschied  sich  Engels 
im  August  1846  seinen  Wohnsitz  nach  der  französischen 
Hauptstadt  zu  verlegen,  in  der  Absicht,  die  dortigen  deutschen 
Proletarier  für  ihren  revolutionären  Kommunismus  zu  gewinnen. 
Nun  entsprachen  jedoch  diese  Schneider,  in  deren  Mitte  hier  die 
Weitlingschen  Gedanken  noch  am  lebendigsten  waren,  und  diese 
Möbelschreiner  und  Gerbergesellen,  um  die  Grün  sich  bemühte, 
keineswegs  dem  Proletariertypus,  auf  den  er  für  die  Verwirklichung 
seines  Zukunftsideals  zählte.  Den  meisten,  die  nach  Paris  gekom- 
men waren,  um  sich  an  diesem  Vorort  der  Mode  und  des  Kunst- 
gewerbes für  ihren  Baruf  konkurrenzfähiger  zu  machen,  saß  der 
alte  Zunftgeist  noch  tief  im  Nacken.  Mochten  sie  hier  unter  sich, 
wo  sie  es  ungestraft  durften,  über  soziale  und  politische  Fragen 
schwadronieren,  sich  auch  schnell  begeistern,  wenn  Genossen, 
die  Cabsts  Reise  nach  Icarien  oder  Weitlings  Garantien  gelesen 
hatten,  ihnen  ein  Schlaraffenland  ausmalten,  in  dem  es  weder  Armut 
noch  stolze  Herren  mehr  geben  würde,  den  Grund  ihres  Herzens 
erfüllte  darum  doch  der  Wunsch,  recht  bald  in  der  Heimat  ehrsamer 
Meister  zu  sein,  die  Frau  Meisterin  heimzuführen  und  eigene  Ge- 
sellen zu  halten.  Der  Boden,  dem  ihre  Lebensbedürfnisse  und  ihr 
Gesichtskreis  entsprachen,  war  das  Handwerk.  Engels  aber,  der 
Wuppertaler ,  der  in  Lancashire  seine  Eindrücke  erhalten  hatte, 
unterschätzte  die  Schwierigkeiten  anfänglich,  die  seiner  Agitation 
daraus  erwuchsen,  daß  dieses  fürs  erste  noch  die  durchaus  vor- 
herrschende gewerbliche  Betriebsform  in  Deutschland  war.  Weil 
das,  was  er  in  Paris  jetzt  den  Handwerksgesellen  vortrug,  im 
wesentlichen  aus  den  um  vieles  entwickelteren  Zuständen  Eng- 
lands abgeleitet  war,  hatte  es  geringere  Anziehungskraft  auf  diese 
Arbeiterschicht.  Denn  ihr  war  der  Weg  zu  wirtschaftlicher  Selbst- 
ständigkeit und  zu  einer  auskömmlichen  selbstgenügsamen  Exi- 
stenz in  der  Regel  noch  nicht  verschlossen,  und  so  hatte  sie  auch 
noch  nicht  jedes  Interesse  am  Fortbestand  der  herrschenden  Ge- 
sellschaftsordnung verloren. 

Obgleich  also  diesen  von  kleinbürgerlichen,  nicht  aber  von 
proletarischen  Idealen  beherrschten  Elementen  Grüns  Phrasen 
von  Menschheitsbeglückung  und  allgemeiner  Harmonie  der  Inter- 
essen besser  einleuchten  mußten,  versuchte  Engels  anfangs  mit 
aller  Energie,  sich  ihrer  zu  bemächtigen.  Einigen  Anhalt  fand 
er  bei  dem  aus  Danzig  stammenden  Arzt  Ewerbeck,  der  in  den 
Pariser    Gemeinden    des    Bundes   der    Gerechten    seit   den    letzten 


268  In  Belgien  und  Frankreich. 

Jahren  zu  den  einflußreichsten  Persönlichkeiten  gehörte.  Ein 
leidlich  rezeptiver  aber  unselbständiger  Geist,  widmete  jener  sich 
mit  gutem  Willen  aber  ohne  rechte  Leidenschaft  einer  Aufgabe, 
an  die  ihn  mehr  der  Zufall  als  Eignung  oder  innerer  Beruf 
herangeführt  haben  mochte.  Da  er  sich  mit  Heß  und  Grün  ver- 
feindet hatte,  über  die  Schneiderclique,  die  auf  Weitling  schwor, 
verärgert  war  und  ohnehin  von  den  Marxschen  und  Engelsschen 
Aufsätzen  in  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  entschei- 
dende Anstöße  erhalten  hatte,  so  kam  Engels  ihm  jetzt  gelegen. 
Mitte  September  konnte  er  dem  Brüsseler  Komitee  berichten,  daß 
er  „diesen  Kerls",  um  die  Fühlung  herzustellen,  bereits  zweimal, 
von  den  ökonomischen  Verhältnissen  ausgehend,  die  deutschen 
Verhältnisse  seit  der  französischen  Revolution  auseinandergesetzt 
habe.  Eine  gewisse  Schläfrigkeit  sei  unter  ihnen  eingerissen,  weil 
sie  dem  Schneiderkommunismus  nichts  entgegenzusetzen  hätten 
als  „Grünsche  menschentümliche  Phrase  und  vergrünten  Proudhon". 
Dagegen  habe  Ewerbeck  nicht  anders  anzukämpfen  gewußt,  als 
indem  er  sie  mit  spitzfindigen  Disquisitionen  über  den  ,, wahren 
Wert"  gequält  und  mit  den  germanischen  Urwäldern,  mit  Hermann 
dem  Cherusker  und  den  scheußlichsten  altdeutschen  Etymologien 
nach  Adelung,  die  alle  falsch  seien,  gelangweilt  hätte.  Bald  danach 
erkannte  Engels,  daß  der  eigentliche  Führer  dieser  Leute  weniger 
Ewerbeck  als  der  Tischler  Friedrich  Adolf  Junge  aus  Düsseldorf  war^ 
der  um  die  gleiche  Zeit  auch  der  preußischen  Regierung  als  einer 
der  aktivsten  Kommunisten  in  Paris  genannt  wurde.  Diesem  ge- 
scheiten aber  „wackelhaften"  und  zu  projektereichen  Kopf,  den  er 
ganz  für  seine  Anschauungen  gewann,  und  der  ebenfalls  beklagte, 
daß  die  Leute  lieber  die  unsinnigsten  Phrasen  als  ,,zum  ökono- 
mischen Argument  vernutzte  Tatsachen"  hören  wollten,  verdankte 
er  wohl  nicht  zuletzt,  daß  er  schon  nach  einem  Monat  dem  Brüsseler 
Komitee  von  einem  ersten  Erfolg  berichten  konnte.  Der  Asso- 
ziationsplan, den  Proudhon  vor  kurzem  in  seinen  Contradictions 
Economiques  entwickelt  hatte,  in  dem  aber  Marx  und  er  nur  eine 
aus  kleinbürgerlichen  Instinkten  erwachsene  Chimäre  sahen, 
war  von  Grün,  dem  Übersetzer  des  Werks,  den  deutschen  Arbeitern 
in  allen  Tonarten  angepriesen  worden.  Nun  kam  Engels  spöttisch 
mit  der  Frage  auf  sie  zu,  ob  sie  wirklich  mit  ihren  proletarischen 
Ersparnissen  Frankreich  und  die  ganze  Welt  aufzukaufen  hofften. 
Drei  Abende  diskutierte  man  über  diesen  „Welterlösungsplan", 
der  den  Arbeitern  den  ,, Stein  der  Weisen"  versprach  und  „das 
Himmelreich"  verhieß,  in  einem  Kreise  von  Schreinern,  der  zum 
Teil  aus  Resten  des  Bundes  der  Gerechten  bestand.  Anfänglich 
hatte  Engels  die  ganze  Clique  gegen  sich,  als  er  ihr  von  der  Not- 


Agitation  in  Paris.  200 

wendigkeit  einer  gewaltsamen  Revolution  sprach  und  behauptete, 
daß  Grün  und  Proudhon  ein  antiproletarisches,  kleinbürgerliches 
Ideal  verföchten.  Über  diesen  Widerstand  ergrimmt  und  durch 
Angriffe  auf  den  Kommunismus  vollends  in  Wut  versetzt,  bean- 
tragte er,  man  möge  darüber  abstimmen,  ob  man  qua  Kommu- 
nisten zusammengekommen  sei  oder  zu  bloßem  Diskutieren.  Im 
ersteren  Falle  möge  man  dafür  sorgen,  daß  Angriffe  auf  den  Kom- 
munismus unterblieben,  im  anderen  Falle  aber,  wenn  man  nur 
schwatzen  wolle,  brauche  er  nicht  wieder  zu  kommen.  Grüns  An- 
hänger, über  solche  Sprache  entsetzt,  erklärten,  sie  seien  „für  das 
Wohl  der  Menschheit"  beisammen,  sie  seien  Männer  des  Fortschritts 
und  nicht  einseitige  Systemfänger.  Bevor  sie  zum  Kommunismus 
endgültig  Stellung  nehmen  könnten,  müßten  sie  erst  einmal  genau 
wissen,  was  dieser  eigentlich  wolle.  Engels  gab  ihnen  darauf  ,,eine 
höchst  simple  Definition":  ,,Ich  definierte  also  die  Absichten  der 
Kommunisten  dahin:  i.  die  Interessen  der  Proletarier  im  Gegen- 
satz zu  den  der  Bourgeois  durchzusetzen;  2.  dies  durch  Aufhebung 
des  Privateigentums  und  Ersetzung  desselben  durch  die  Güter- 
gemeinschaft zu  tun;  3.  kein  anderes  Mittel  zur  Durchführung 
dieser  Absichten  anzuerkennen  als  die  gewaltsame  demokratische 
Revolution."  Am  dritten  Abend  gelang  es  ihm  endlich,  die  große 
Mehrzahl  der  Anwesenden  gegen  ein  paar  ,, treugebliebener  Grünia- 
ner"  auf  seinen  Standpunkt  herüberzuziehen,  und  nun  hoffte  er ,, etwas 
aus  den  Kerls  zu  machen".  Noch  aber  waren  Grün  und  sein  Anhang 
weit  enfernt,  dem  Eindringling  das  Feld  widerstandslos  zu  über- 
lassen. Außer  bei  solchen  abendlichen  Zusammenkünften  im 
engen  Kreis  trafen  sich  in  jenen  Jahren  die  deutschen  Handwerker 
in  Paris  gern  an  Sonntagen  mit  Kind  und  Kegel  in  einem  Restaurant 
an  der  Bannmeile.  Im  Januar  1845  hatte  Adalbert  von  Bornstedt, 
der  ehemalige  Gardeoffizier,  der  damals  die  radikalen  Schrift- 
steller und  Handwerker  in  Paris  für  die  preußische  Regierung  be- 
spitzelte, dieser  in  einer  gegen  Marx  und  Heß  gerichteten  Denun- 
ziation eine  solche  Versammlung  in  der  Avenue  de  Vincennes  ge- 
schildert, wo  der  Königsmord,  der  Haß  gegen  die  Reichen,  die  Ab- 
schaffung des  Privateigentums  offen  verkündet  worden  wären. 
Als  nun  jetzt  in  einer  solchen  Barriereversammlung  ein  eifriger 
Anhänger  Grüns  den  Kommunismus  öffentlich  angriff,  war  Junge 
so  unvorsichtig,  sich  zu  einer  Erwiderung  hinreißen  zu  lassen. 
Doch  ihm  wurde  entgegengehalten,  daß  er  nur  das  Sprachrohr 
eines  Dritten  wäre,  der  plötzlich  wie  eine  Bombe  unter  die  Leute 
gefahren  sei.  In  dieser  Herausforderung  an  die  Kommunisten  er- 
blickte Engels,  mit  welchem  Recht  läßt  sich  nicht  feststellen,  eine 
von  Grün  inspirierte  Denunziation  gegen  sich.    ,,Das  einzige,  Weis 


2^0  In  Belgien  und  Frankreich. 

man  tun  kann,"  schrieb  er  dem  Komitee,  ist,  „auf  der  Barriere  die 
Leute  erklären  zu  lassen,  über  Kommunismus  diskutierten  sie  nicht, 
weil  das  die  ganze  Versammlung  bei  der  Polizei  gefährden  könne." 

Noch  ein  anderer  Umstand  bestimmte  ihn  um  diese  Zeit,  seine 
Agitation  fürs  erste  zu  unterbrechen.  Eine  Anzahl  deutscher 
Handwerker,  die  als  Teilnehmer  an  revolutionären  Krawallen  im 
Faubourg  St.  Antoine  verhaftet  worden  waren,  hatten  bei  ihrem 
Verhör  der  Polizei  allerlei  Geständnisse  gemacht.  Bald  merkte 
Engels,  daß  er  von  Spitzeln  verfolgt  wurde,  und  nicht  geneigt, 
sich  wegen  dieser  ,, Straubinger",  an  deren  Besserungsfähigkeit  er 
ohnehin  zweifelte,  ausweisen  zu  lassen,  erklärte  er  diesen,  er  könne 
jetzt  nicht  mehr  bei  ihnen  schulmeistern  und  sei  zufrieden,  wenigstens 
Grün  aus  dem  Sattel  gehoben  zu  haben.  Marx  aber  gestand  er  in 
einem  vertrauten  Brief,  der  Polizei  dankbar  zu  sein,  daß  sie  ihn 
aus  der  Straubingerei  gerissen  und  ihm  die  Genüsse  dieses  Lebens 
in  die  Erinnerung  gebracht  habe.  ,,Wenn  die  verdächtigen  Indivi- 
duen, die  mich  seit  vierzehn  Tagen  verfolgen,  wirklich  Mouchards 
sind,  wie  ich  es  von  einigen  sicher  weiß,  so  hat  die  Präfektur  in  der 
letzten  Zeit  viel  Entreebillets  für  die  bals  Montesquieu,  Valentino, 
Prado  usw.  ausgegeben.  Ich  verdanke  Herrn  Delessert  ganz  hübsche 
Grisettenbekanntschaften   und    viel    Plaisir." 

In  seinen  erst  nach  Engels  Tode  erschienenen  Lebenserinne- 
rungen behauptet  Stephan  Born,  daß  Engels  damals  im  Umgang 
mit  den  deutschen  Handwerksgesellen  in  Paris  nicht  den  richtigen 
Ton  getroffen  habe.  Er  hätte  nichts  vom  Arbeiter  an  sich  gehabt 
und  es  verschmäht,  eine  Maske  anzulegen,  die  ihm  schlecht  ge- 
standen haben  würde.  Der  junge  Typograph,  der,  wie  bekannt  ist, 
während  der  Revolution  eine  führende  Rolle  in  der  deutschen  Ar- 
beiterbewegung spielte,  war  im  Januar  1847  mit  Empfehlungen 
Berliner  Freunde  bei  Engels  erschienen  und,  im  vertrautesten  Ver- 
kehr, bald  sein  gelehriger  Schüler,  sein  eifrigster  Anhänger  ge- 
worden. Als  sich  ihre  Wege  trennten,  verzerrte  sich  später  Born 
das  Bild  des  einstigen  Freundes  so  sehr,  daß  er  ihn  als  ,, reichen 
Bourgeoissohn"  schildern  v;ollte,  der  sich  anmerken  ließ,  daß  an 
ihn  die  Sorge  des  Lebens  nie  herantrat.  Engels  war  kein  Demagoge. 
Seine  Ehrlichkeit  und  der  ihm  selbstverständliche  Stolz  des  Sohnes 
einer  alten  angesehenen  Familie,  der  sich  zu  verstellen  nicht  gelernt 
hatte,  hielten  ihn  davon  ab,  an  Bildung  und  Charakter  unter  ihm 
stehenden  Menschen  zu  schmeicheln.  So  mag  er  jene  Handwerks- 
gesellen, über  deren  Rückständigkeit  er  sich  ärgerte,  deutlicher,  als 
vielleicht  klug  gewesen  wäre,  seine  geistige  Überlegenheit  haben 
fühlen  lassen.  Aber  nur  jugendliche  Unerfahrenheit,  nicht  bürger- 
liche   Überheblichkeit  verführten  ihn  dazu. 


Stephan  Born,  Harney,  Flocon.  271 

Mit  den  Häuptern  der  französischen  Arbeiterbewegung  nähere 
Beziehungen  anzuknüpfen,  war  die  zweite  Aufgabe,  die  Engels 
sich  bei  seiner  Übersiedlung  nach  Paris  gestellt  hatte.  Wir  machten 
uns  schon  klar,  daß  die  junge  deutsche  kommunistische  Parteigruppe 
die  Aufmerksamkeit  des  französischen  und  englischen  Proletariats 
auf  ihre  Ideen  und  Ziele  nur  lenken  konnte,  wenn  sie  zu  deren 
Führern  und  leitenden  Blättern  die  vorhandenen  Beziehungen 
fester  knüpfte,  oder,  wo  solche  noch  fehlten,  sie  herzustellen  suchte. 
Im  Juli  1846  hatte  Engels  noch  von  Belgien  aus  gemeinsam  mit 
Marx  ,,als  Vertreter  der  Kommunisten  in  Brüssel"  O'Connor  zu 
seinem  Wahlsieg  in  Nottingham  beglückwünscht  und  bei  diesem 
Anlaß  das  Verständnis  des  berühmten  Chartistenführers  und  des 
Northern  Star  für  die  gewaltige  Bedeutung  des  Klassenkampfes 
anerkannt.  (Northern  Star  25.  Juli  1846.)  Nun  hatten  die  beiden 
Freunde  damals  den  Plan  gefaßt,  eine  regelmäßige  Korrespondenz 
zwischen  den  Führern  des  Kommunismus  in  den  verschiedenen 
europäischen  Zentren  ins  Leben  zu  rufen  und  zu  diesem  Zweck 
in  Brüssel  jenes  Komitee  eingesetzt,  an  das  wir  Engels  oben 
Berichte  schicken  sahen.  Während  Harney  und  seine  Gefährten 
ihn  bereits  kannten  und  richtig  schätzten,  hatten  die  von  den 
inneren  Parteikämpfen  ihre  Landes  voll  in  Anspruch  genommenen 
Führer  der  radikalen  Parteien  Frankreichs  den  deutschen  Flücht- 
lingskreis in  Brüssel  bis  dahin  noch  keiner  ernsthaften  Beachtung 
gewürdigt.  Es  war  für  Engels  jetzt  keine  leichte  Aufgabe,  diesen 
Leuten  klar  zu  machen,  daß  hinter  seinen  und  seiner  Freunde 
Bestrebungen  Kräfte  sich  erhoben,  mit  denen  bei  einer  Neugestal- 
tung der  Zukunft  als  ernsthaften  Bundesgenossen  zu  rechnen  sein 
würde.  Wir  erfahren  von  einem  erfolglosen  Versuch,  den  er 
unternahm,  um  den  alten  Cabet,  das  Oberhaupt  des  experimentell 
utopischen  Kommunismus  auf  dem  Kontinent,  von  dem  er  freilich 
nichts  mehr  zu  lernen  hatte,  für  die  Beteiligung  an  der  Korrespon- 
denz zu  gewinnen.  Wenig  geneigt  finden  wir  ihn,  auf  die  Ratschläge 
der  Führer  der  französischen  Radikalen  zu  hören,  mochte  er  sie 
immerhin  gegen  ,, andere  Esel"  wie  Ewerbeck,  Bernays  und  Kon- 
sorten verteidigen.  Erst  einige  Monate  später,  nachdem  er  in- 
zwischen wieder  in  Brüssel  geweilt  hatte,  knüpfte  er  zu  dem  Kreise 
der  R^forme,  zu  Louis  Blanc  und  namentlich  zu  Flocon,  nähere 
Beziehungen  an.  Louis  Blanc  sprach  er  ,, trotz  allem  Wahnsinn" 
eine  gute  Nase  zu ;  in  dessen  Revolutionsgeschichte  sah  er  ,,ein 
tolles  Gemisch  richtiger  Ahnungen  und  grenzenloser  Verrückt- 
heiten", seiner  Entwicklungsfähigkeit  vertraute  er  nicht:  ,,Ein 
Zauber  bleit  ihn  nieder",  —  „die  Ideologie". 

Engels   fühlte  sich,    mochten  auch  seine  Erfolge   nur  mäßige 


2,*J2  In  Belgien  und  Frankreich. 

bleiben,  ungeheuer  wohl  in  dem  lebhaft  pulsierenden  Treiben  einer 
Stadt,  die  er  als  ,,das  Herz  und  Hirn  der  Welt"  und  als  die  ,, Königin 
der  Städte"  verehrte,  und  an  deren  Bevölkerung  er  bewundernd 
pries,  daß  sie  die  Leidenschaft  des  Genusses  mit  der  Leidenschaft 
der  geschichtlichen  Aktion  in  unvergleichlicher  Weise  zu  ver- 
einigen verstünde.  Als  er  im  Herbst  1848  nach  den  Verwüstungen 
der  Junischlacht  wieder  hierher  kam  und  nun  so  vieles  verändert 
fand,  erinnerte  er  sich  wehmütig  der  voraufgegangenen  sorgloseren 
Zeit,  ,,als  die  große  und  kleine  bürgerliche  Jugend  noch  Geld  hatte 
zum  Genießen  und  zum  Verjubeln  und  als  selbst  ein  Teil  der  Arbeiter 
noch  gut  genug  gestellt  war,  um  mit  an  der  allgemeinen  Heiterkeit 
und  Sorglosigkeit  teilnehmen  zu  können".  Unter  den  bedeutenden 
Menschen,  mit  denen  er  jetzt  in  Bärührung  kam,  machte  ihm  niemand 
einen  stärkeren  Eindruck  als  Heinrich  Heine.  Wie  weit  lag  die  Zeit 
hinter  ihm,  wo  sein  jugendlicher  Enthusiasmus  Börne  (den  das 
Rundschreiben  gegen  Kriege  kürzlich  als  einen  katholisierenden 
politischen  Phantasten  abgetan  hatte),  diesen  tyrannischen  Ehe- 
mann der  Freiheit,  ihrem  launischen  Liebhaber  Heine  als  Muster 
entgegengestellt  hatte!  Jetzt  empfand  er  für  den  Dichter  des  revo- 
lutionären Weberlieds,  das  seine  Übersetzung  kürzlich  den  eng- 
lischen Arbeitern  zugänglich  gemacht  hatte,  für  den  Seher,  der 
die  kommende  deutsche  Revolution,  die  die  großa  französische 
in  den  Schatten  stellen  würde,  glorreich  voraussagte,  für  den  großen 
Spötter,  der  so  silberhell  über  die  verrotteten  Zustände  im  lieben 
Vaterland  zu  lachen  wußte,  für  den  Vertrauten  seines  Freundes 
Marx,  eine  aus  Bewunderung  für  den  Genius  und  aus  Mitkid  für 
den  Dulder  gemischte  Sympathie.  ,,Es  macht  einen  höchst  fatalen 
Eindruck,  so  einen  famosen  Kerl  so  Stück  für  Stück  absterben 
zu  sehen,"  klagte  er  im  September  1846  und  fand  es  für  den 
schlimmen  Zustand  des  Patienten  besonders  bezeichnend,  daß  Heine 
ganz  gegen  seine  sonstige  Art  in  seinen  Urteilen  über  Menschen 
äußerst  wohlwollend  gewesen  wäre. 

Für  den  eben  nicht  großen  Anklang,  den  er  mit  seiner  Agitation 
gefunden  hatte,  gedachte  Engels  sich  schadlos  zu  halten,  indem  er 
sich  zunächst  wieder  in  den  theoretischen  Kampf  stürzte.  Da  die 
Ideologie  noch  immer  ungedruckt  dalag,  so  reizte  es  ihn,  während 
Marx  gleichzeitig  gegen  Proudhon  loszog,  noch  einmal  den  wahren 
Sozialismus  vorzunehmen,  der  in  letzter  Zeit,  von  der  absteigenden 
wirtschaftlichen  Konjunktur  begünstigt,  in  der  deutschen  Publi- 
zistik nicht  unbeträchtlich  an  Boden  gewonnen  hatte.  In  einem 
Brief  vom  15.  Januar  1847  schreibt  er  Marx,  dem  er  von  seinem 
Vorhaben  Kenntnis  gibt,  er  werde  diese  seine  speziellen  Gegner 
,,nach  den  Sternbildern  des  Himmels  einteilen".    Wirklich  findet 


Bei  Heine. 


273 


sich  in  seinem  Nachlaß  ein  Manuskript,  das  diesen  Gedanken  mit 
viel  guter  Laune  durchführt.  Püttmann,  Kriege,  Semmig,  Lüning, 
Schnake,  das  Westfälische  Dampf boot,  der  Gesellschaftsspiegel, 
die  Trierer  Zeitung,  die  ,,eine  Milchstraße  der  Sanftmut,  Barmherzig- 
keit und  Menschenliebe"  sei,  werden  hier  auf  die  respektloseste 
Weise  lächerlich  gemacht,  aber  auch  die  Dichter  Moritz  Hartmann, 
Alfred  Meißner,  Louise  Otto,  ja  sogar  Freiligrath  und  Dronke  werden 
als  Spießbürger  entlarvt.  Am  meisten  aber  lag  ihm  daran,  mit  Karl 
Grün  abzurechnen,  in  dem  er  nicht  nur  einen  Konfusionarius  und 
einen  Philister  sondern  einen  literarischen  Industrieritter  sehen 
wollte.  Als  ihm  die  von  Bornstedt  ins  Leben  gerufene  radikal- 
revolutionäre Deutsch-Brüsseler  Zeitung,  deren  er  und  Marx 
trotz  ihres  berechtigten  Mißtrauens  gegen  den  Herausgeber  sich  für 
ihre  Zwecke  bedienten,  jetzt  endlich  die  Möglichkeit  zurückgab, 
in  den  deutschen  Tageskampf  häufiger  einzugreifen,  veröffentlichte 
er  hier  aus  seiner  völligen  Neubearbeitung  des  Manuskripts  gegen 
den  deutschen  Sozialismus  und  seine  Mitläufer  einige  Stücke. 
An  des  einst  von  ihm  so  überschätzten  Karl  Becks  Liedern  vom 
Armen  Mann  möchte  er  im  September  1847  zeigen,  daß  solche 
„philanthropisch-heuchlerische  Kleinbürgerlichkeit**  mit  den  posi- 
tiven Seiten  der  bestehenden  Gesellschaft  völlig  einverstanden  sei 
und  nur  darüber  jammere,  daß  auch  die  negative  Seite,  die  Armut, 
daneben  bestehe.  Beck  und  seinesgleichen  besinge  die  feige  klein- 
bürgerliche Misere,  den  ,, armen  Mann**,  den  pauvre  honteux,  nicht 
den  stolzen,  drohenden,  revolutionären  Proletarier.  Ihr  forcierter 
Baß  schlage  beständig  in  ein  komisches  Falsett  um,  und  ihre  dra- 
m-atische  Darstellung  des  gigantischen  Ringens  eines  Enceladus 
bringe  es  nur  zu  den  possierlichen  Gliederverrenkungen  eines 
Hampelmann.  Noch  vollkommener  erbrachte  dann  Karl  Grüns 
Buch  über  Goethe  vom  menschlichen  Standpunkt  den  schlüssigen 
Beweis  für  Marx  und  Engels  These,  daß  den  Schriftstellern  dieses 
Schlages  ,,der  Mensch**  mit  dem  deutschen  Kleinbürger  identisch 
wäre.  Mehr  als  alles,  was  Engels  gegen  Grün  vorbringt,  interes- 
siert uns  freilich,  was  er  und  Marx,  der  an  der  ursprünglichen  Kon- 
zeption, wenn  auch  in  geringerem  Maße,  beteiligt  gewesen  war, 
gegen  Goethe  einzuwenden  hatten.  Goethe,  meint  Engels,  dessen 
Stil  in  den  Artikeln,  wie  sie  im  November  und  Dezember  1847  in 
dem  Brüsseler  Blatt  erschienen,  ganz  unverkennbar  hervortritt, 
habe  sich  zur  Gesellschaft  seiner  Zeit  bald  feindselig  verhalten, 
bald  sich  ihr  gefügt.  Auf  der  italienischen  Reise  und  in  der  Iphigenie 
suche  er  ihr  zu  entfliehen,  weil  sie  ihm  widerwärtig  ist,  als  Götz, 
Prometheus,  Faust  rebelliere  er  gegen  sie,  als  Mephisto  schütte 
er  seinen  Spott  über  sie  aus.  Dann  aber  feiere  er  sie  wieder  und  ver- 
Mayer, Friedrich  Engeis.  Bd.I  18 


274  ^"  Belgien  und  Frankreich. 

leidige  sie  sogar  gegen  die  andrängende  geschichtliche  Bewegung. 
Fortwährend  bekämpften  sich  in  ihm  der  geniale  Dichter,  den  die 
Misere  seiner  Umgebung  anekele,  und  das  Ratsherrnkind,  der 
Geheimrat.  So  sei  selbst  ein  Goethe  nicht  imstande  gewesen,  die 
deutsche  Misere  zu  besiegen;  selbst  er  sei  von  ihr  besiegt  worden, 
und  dieser  Sieg  der  Misere  über  den  größten  Deutschen  liefere  den 
besten  Beweis  dafür,  daß  sie  ,,von  innen  heraus"  gar  nicht  zu 
überwinden  sei.  Goethes  Temperament,  seine  Kräfte,  seine  ganze 
geistige  Richtung  wiesen  ihn  auf  das  praktische  Leben  an.  Weil 
aber  das  praktische  Leben,  das  er  vorfand,  miserabel  war,  befand 
er  sich  fortwährend  in  dem  Dilemma,  in  einer  Lebenssphäre  zu 
existieren,  die  er  verachten  mußte,  und  doch  an  diese  Sphäre  gefesselt 
zu  sein,  da  er  sich  nur  in  ihr  betätigen  konnte.  Je  älter  er  dann 
wurde,  desto  mehr  zog  sich  der  gewaltige  Dichter,  des  Kampfes 
müde,  hinter  den  unbedeutenden  Minister  zurück.  Zwar  lehnt 
Engels  es  ab,  Goethe  von  einem  moralischen  und  politischen,  über- 
haupt von  einem  anderen  als  vom  ästhetischen  und  historischen 
Standpunkt  aus  zu  kritisieren.  Er  wirft  ihm  nicht  wie  Börne  vor, 
daß  er  sich  nicht  für  die  deutsche  Freiheit  begeistert  habe.  Dennoch 
schmerzt  es  ihn,  daß  der  Dichter,  den  er  so  hoch  verehrt,  sich 
zeitweise  als  Philister  gebärdete,  daß  er  eine  spießbürgerliche  Scheu 
vor  aller  großen  Geschichtsbewegung  nicht  los  geworden  sei  und 
sogar  in  der  französischen  Revolution  nur  den  großen  Eisgang 
habe  sehen  wollen,  der  sein  friedfertiges  Poetenwinkelchen  bedrohen 
könnte.  Ihm  will  nicht  einleuchten,  wie  Goethe  in  derselben  Zeit, 
als  Napoleon  den  großen  deutschen  Augiasstall  ausschwemmte, 
die  menus  plaisirs  eines  winzigen  deutschen  Hofes  mit  feierlichem 
Ernst  zu  betreiben  vermochte.  Zum  Schluß  entschuldigt  sich 
Engels  gewissermaßen  bei  dem  Genius:  ,,Wenn  wir  in  den  vor- 
stehenden Zeilen  Goethe  nur  nach  einer  Seite  hin  betrachtet  haben, 
so  ist  das  lediglich  die  Schuld  des  Herrn  Grün.  Er  stellt  Goethe  nach 
seiner  kolossalen  Seite  hin  gar  nicht  dar.  Über  alle  Sachen,  in  denen 
Goethe  wirklich  groß  und  genial  war,  schlüpft  er  entweder  eilig 
hinweg,  wie  über  die  römischen  Elegien  des  ,Libertins*  Goethe, 
oder  er  gießt  einen  breiten  Strom  von  Trivialitäten  über  sie  aus,  der 
nur  beweist,  daß  er  mit  ihnen  nichts  anzufangen  weiß  .  .  .  Nicht 
das  Gebelfer  Menzels,  nicht  die  beschränkte  Polemik  Börnes  war 
die  Rache  der  Geschichte  dafür,  daß  Goethe  sie  jedesmal  ver- 
leugnete, wenn  sie  ihm  Auge  in  Auge  gegenübertrat.  Nein,  ,so  wie 
Titania  in  Feen-  und  Zauberland,  Klaus  Zetteln  in  den  Armen 
fand',  so  hat  Goethe  eines  Morgens  den  Herrn  Grün  in  seinen  Armen 
gefunden.  Die  Apologie  des  Herrn  Grün,  der  warme  Dank,  den  er 
Goethen  für  jedes  philiströse  Wort  stammelt,  das  ist  die  bitterste 


Engels  über  Goethe.  275 

Rache,  die  die  beleidigte  Geschichte   über  den  größten  deutschen 
Dichter  verhängen  konnte."    — 

Nun  stellten  zwar  der  wahre  Sozialismus  und  der  Hand- 
werkerkommunismus Bestrebungen  vor,  mit  denen  Engels  und 
Marx  um  die  Seele  des  deutschen  Proletariats  zu  ringen  gezwungen 
waren.  Aber  die  Massen,  auf  die  es  am  Vorabend  der  Revolution, 
die  sich  in  Deutschland  vorbereitete,  für  sie  ankam,  standen  nicht 
hinter  solchen  Cliquen  und  Sekten,  sondern  hinter  der  an  Anhang 
lawinenartig  in  allen  deutschen  Gauen  wachsenden  bürgerlichen 
Demokratie.  Um  ihr  Verhältnis  zu  dieser  klar  zu  legen,  empfahl 
es  sich  für  Engels  und  Marx,  zunächst  den  gemeinsamen  Gegner 
scharf  ins  Auge  zu  fassen.  Wo  der  Interessengegensatz  zwischen 
dem  besitzenden  Bürgertum  und  der  besitzlosen  Klasse  sich  scharf 
zuspitzt,  versucht  die  Reaktion  häufig,  den  Proletariern  klar  zu 
machen,  daß  sie  unter  der  gottgewollten  Abhängigkeit  bei  den  Feu- 
dalen immer  noch  besser  aufgehoben  wären  als  unter  den  Fittichen 
ihrer  natürlichen  Feinde,  der  liberalen  Arbeitgeber.  Auch  in  Deutsch- 
land wurde  seit  dem  Weberaufstand  von  1844  ein  großer  Teil  der 
reaktionären  Presse  nicht  müde,  der  besitzlosen  Klasse  diese  alte 
Melodie  vorzusingen,  mit  der  sie  der  unheimlich  anschwellenden 
freiheitlichen  Bewegung  in  deren  Rücken  einen  Feind  großzuziehen 
hoffte.  Um  dieses  Spiel  zu  enthüllen,  veröffentlichten  Engels  und 
Marx  in  der  Deutsch-Brüsseler  Zeitung  vom  12.  September  1847 
einen  Aufsatz,  der  zwar  anonym  erschien,  auf  den  als  auf  eine 
gemeinsame  Kundgebung  sie  sich  aber  in  der  Folge  stets  berufen 
haben,  wo  sie  die  Gefahr  witterten,  daß  die  preußische  Regierung 
oder  die  Klasse,  mit  der  diese  unlöslich  verwachsen  blieb,  als 
Versucher  an  die  Sozialdemokratie  herantreten  wollte.  Rundweg 
erklärten  sie  hier:  ,,Das  Proletariat  fragt  nicht,  ob  den  Bourgeois 
das  Volkswohl  Nebensache  oder  Hauptsache  sei,  ob  sie  die  Prole- 
tarier als  Kanonenfutter  gebrauchen  werden  oder  nicht.  Das  Pro- 
letariat fragt  nicht,  was  die  Bourgeois  bloß  wollen,  sondern  was  sie 
müssen.  Es  fragt,  ob  der  jetzige  politische  Zustand,  die  Herrschaft 
der  Bürokratie,  oder  der  von  den  Liberalen  erstrebte,  die  Herrschaft 
der  Bourgeoisie,  ihm  mehr  Mittel  bieten  wird,  seine  eigenen  Zwecke 
zu  erreichen."  Ein  Blick  auf  die  politische  Stellung  des  Proletariats 
In  England,  Frankreich  und  Amerika  zeige  dem  deutschen  Pro- 
ietarial,  daß  die  Herrschaft  der  Bourgeoisie  ihm  ganz  neue  Waffen 
zum  Kampf  gegen  diese  Bourgeoisie  und  auch  eine  ganz  andere 
Stellung,  die  Stellung  als  anerkannte  Partei,  verschaffen  würde. 
Wie  die  feudale  Klasse  und  die  von  ihr  beherrschte  Regierung, 
hieß  es  ferner  hier,  wolle  auch  die  mit  diesen  verbündete  christ- 
liche Kirche  das  Proletariat  mit  seinen  Lockrufen  ködern.     Aber 

18* 


2^6  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

hätten  etwa  seine  sozialen  Prinzipien  das  Christentum  abgehalten,  die 
antike  Sklaverei  zu  rechtfertigen,  die  mittelalterliche  Leibeigenschaft 
zu  verherrlichen  und  nötigen  Falls,  wenn  auch  mit  etwas  jämmer- 
licher Miene,  die  Unterdrückung  des  modernen  Proletariats  zu 
verteidigen?  Predigten  die  sozialen  Prinzipien  des  Christentums 
nicht  die  Notwendigkeit  einer  herrschenden  und  einer  unterdrückten 
Klasse,  erklärten  sie  nicht  alle  Niederträchtigkeiten  der  Unter- 
drücker gegen  die  Unterdrückten  entweder  für  eine  gerechte  Be- 
strafung der  Erbsünde  und  sonstiger  Sünden  oder  für  Prüfungen, 
die  der  Herr  über  die  Erlösten  nach  seiner  Weisheit  verhänge  ? 
Die  sozialen  Prinzipien  des  Christentums,  so  folgern  Engels  und 
Marx,  predigten  Selbstverachtung,  Erniedrigung,  Unterwürfigkeit, 
kurz  alle  Eigenschaften  der  Kanaille,  aber  das  Proletariat,  das 
sich  nicht  als  Kanaille  behandeln  lassen  wolle,  habe  seinen  Mut, 
sein  Selbstgefühl,  seinen  Stolz,  seinen  Unabhängigkeitssinn  noch 
weit  nötiger  als  sein  Brot.  ,,Die  sozialen  Lehren  des  Christentums 
sind  duckmäuserig  und  das  Proletarial  ist  revolutionär."  Mit  der 
gleichen  trotzigen  Entschiedenheit  aber  wie  der  Kirche  wird  hier 
dem  Königtum  bedeutet,  daß  es  eine  überflüssige  Mühe  wäre,  wollte 
es  noch  einmal  als  Versucher  an  das  Volk  herantreten.  Karls  l. 
und  Ludwigs  XVL  Spuren  sollten  es  abschrecken.  Das  wirkliche 
Volk,  dieser  puer  robustus  sed  malitiosus,  wie  Hobbes  es  nenne, 
würde  von  Seiner  Majestät  vor  allen  Dingen  eine  Verfassung  nebst 
allgemeinem  Stimmrecht,  Vereins-  und  Versammlungsfreiheit, 
Preßfreiheit  und  anderen  unangenehmen  Dingen  erzwingen.  Wenn 
es  aber  das  alles  hätte,  würde  es  dies  dazu  benutzen,  um  so 
rasch  als  möglich  die  Macht,  die  Würde  und  die  Poesie  des  König- 
tums für  überflüssig  zu  erklären. 

Wie  sich  die  junge  kommunistische  Parteigruppe  zu  den  alten 
autoritären  Gewalten  stellen  mußte,  darüber  konnte  eigentlich  ein 
Zweifel  nicht  obwalten.  Bedeutungsvoller  war  es  für  sie,  je  näher 
die  Stunde  der  großen  Abrechnung  mit  jenen  Mächten  heranrückte, 
sich  und  der  Öffentlichkeit  ihr  Verhältnis  zu  der  bürgerlichen 
Demokratie  klar  zu  legen:  einerseits  zu  begründen,  weshalb 
diese,  so  revolutionär  sie  sich  auch  gebärdete,  die  wahren  Ziele 
des  Proletariats  niemals  werde  verwirklichen  können,  andererseits 
aber  jeden  Zweifel  daran  zu  zerstreuen,  daß  sie  bei  der  heran- 
rückenden Auseinandersetzung  diese  trotzdem  als  ihren  nächsten 
und  mächtigsten  Verbündeten  betrachteten.  Den  Anstoß,  nach 
jener  Richtung  hin  Klarheit  zu  verbreiten,  gab  Engels  ein  An- 
griff Karl  Heinzens.  Dieser  bürgerliche  Republikaner,  der  sich 
erst  seit  kurzem  auf  einen  revolutionären  Boden  stellte,  auf 
seinen     gesunden     Menschenverstand     pochend      die     ,, Hegeische 


Abrechnung  mit  Heinzen.  277 

Gaunersprache"  verlachte  und  nur  das  Leben  als  seine  Schule 
gelten  lassen  wollte,  hatte  im  Sommer  1846  im  Bunde  mit 
Rüge,  der  seit  seinem  Bruche  mit  Marx  der  verbissenste  Gegner 
der  jungen  komm.unistischen  Bewegung  und  ihrer  Führer  geworden 
war,  unter  dem  Titel  Die  Opposition  einen  Sammelband  veröffent- 
licht, dessen  sichtbarster  Zweck  es  war,  dem  „deutschen  Kom- 
munismus" das  Wasser  abzugraben.  Während  dort  Rüge  sein 
Mütchen  an  Moses  Heß  kühlte,  der  dem  „Doktor  Graziano"  die 
Antwort  nicht  lange  schuldig  blieb,  und  für  Engels  sogar  noch  ein 
paar  anerkennende  Worte  übrig  hatte,  verdonnerte  Heinzen  den 
ideallosen  Materialismus  des  Kommunismus  und  die  Überheblich- 
keit ihrer  Führer  in  Bausch  und  Bogen.  Namentlich  nannte  er 
es  einen  Unfug,  daß  jene  die  politische  Sphäre  für  zu  eng  er- 
klärten, weil  sich  innerhalb  dieser  wirkliche  soziale  Reformen  nicht 
durchführen  ließen. 

So  ungeistig  Heinzens  Wesen  und  die  Art  seiner  Polemik  waren,  so 
verdiente  einiges  von  dem,  was  er  vorbrachte,  doch  eine  ernsthafte  Er- 
widerung. Mit  Recht  hatte  ihm  Lüning  in  einem  von  der  Zensur  unter- 
drückten Aufsatz,  der  für  das  Novemberheft  des  Westfälischen  Dampf- 
boots bestimmt  war,  bedeuten  wollen,  daß  er  Marx  und  Engels,  die  er 
bis  dahin  noch  nicht  namhaft  gemacht  hatte,  durchaus  mißverstehe, 
wenn  er  ihnen  Verachtung  der  Politik  vorwürfe.  Weit  entfernt  die 
wirklichen  Zustände  zu  ignorieren,  studierten  sie  diese  auf  das  eifrigste 
und  verstünden  von  der  Nationalökonomie  mehr  als  ihr  Angreifer, 
der  seine  Unkenntnis  auf  diesem  Gebiet  selbst  eingestünde.  An- 
fänglich hätten  Engels  und  Marx  die  Anrempelungen  des  alten 
Mitarbeiters  der  Rheinischen  Zeitung  gern  unbeachtet  gelassen, 
weil  sie  —  wie  Marx  es  ausdrückte  —  lieber  mit  Gegnern  zu  tun 
hatten,  die  ökonomisch  und  philosophisch  gebildet  waren,  vielleicht 
auch,  weil  Stefan  Born  ihm  bereits  eine  vom  Standpunkt  der  Partei 
aus  zureichende  Antwort  erteilt  hatte.  Als  aber  Heinzen,  vielleicht 
um  ihre  Antwort  zu  provozieren,  seine  Angriffe  in  die  Spalten  der 
Deutsch -Brüsseler  Zeitung,  die  als  ihr  Organ  gelten  konnte,  verlegte, 
entschloß  sich  Engels  dennoch,  ihn  abzufertigen  und  bei  dieser 
Gelegenheit,  wie  schon  bemerkt  wurde,  das  Verhältnis  seiner  Partei 
zu  dem  bürgerlichen  Radikalismus,  als  dessen  typischer  Vertreter 
ihm  freilich  nicht  Heinzen  sondern  Johann  Jacoby  galt,  klarzustellen. 
Am  3.  und  7.  Oktober  1847  erschien  in  dem  Brüsseler  Blatt  unter 
dem  Titel  Die  Kommunisten  und  Karl  Heinzen  seine  Erwiderung. 
Namentlich  widerlegte  er  hier  die  Behauptung  jenes,  daß  die  Fürsten 
die  Ursache  der  deutschen  Misere  seien,  daß  also  die  Schuld  an 
den  verrotteten  Zuständen  nicht  in  den  Verhältnissen,  sondern  bei 
einzelnen  Persönlichkeiten  zu  suchen  wäre.    Herrn  Heinzen,  meint 


278  In  Belgien  und  Frankreich. 

Engels  hier,  werde  es  nie  gelingen,  den  Haß  des  Fronbauern  gegen 
seinen  Gutsherrn,  des  Arbeiters  gegen  seinen  Arbeitgeber,  auf  die 
gekrönten  Machthaber  abzuwälzen.  „Herr  Heinzen  arbeitet  aber 
allerdings  im  Interesse  des  Gutsherrn  und  Kapitalisten,  wenn  er 
für  die  Exploitation  des  Volks  durch  diese  beiden  Klassen  nicht 
ihnen,  sondern  den  Fürsten  Schuld  gibt ;  und  die  Exploitation  durch 
Gutsherrn  und  Kapitalisten  produziert  doch  wohl  neunzehn  Zwan- 
zigstel alles  deutschen  Elends  ?"  Für  einen  puren  schwarzrotgol- 
denen Schwärmer  erklärt  Engels  jeden,  der  ohne  Rücksicht  auf  die 
Bewegung  in  Frankreich  und  England  und  die  wirkliche  Klassen- 
bewegung in  Deutschland  durch  eine  sofortige  Revolution  die  deutsche 
Republik  herstellen  zu  können  wähne.  Es  müßte  der  deutschen 
Demokratie  nur  Abbruch  tun,  wenn  sie,  wie  Heinzen  es  täte,  ohne 
allen  Sinn  und  Verstand  die  Aufforderung  zur  Revolution  in  die  Welt 
hinausbrülle.  Die  wahre  Aufgabe  der  demokratischen  Publizistik 
in  Deutschland  sollte  vielmehr  sein,  die  Forderungen  ihrer  Partei 
zu  entwickeln  und  zu  begründen,  die  der  Gegner  zu  widerlegen.  Sie 
müßte  die  Notwendigkeit  der  Demokratie  beweisen  an  der  Nichts- 
würdigkeit der  bestehenden  Regierung,  die  mehr  oder  weniger 
den  Adel  repräsentiere,  an  der  Unzulänglichkeit  des  konstitutio- 
nellen Systems,  das  nur  die  Bourgeoisie  ans  Ruder  bringen  würde, 
und  an  der  Unfähigkeit  des  Volks,  sich  zu  helfen,  solange  es 
nicht  die  politische  Gewalt  besitze.  Die  Zeitungen  und  die  Schrift- 
steller sollten  die  Unterdrückung  jener  Schichten,  die  in  Deutsch- 
land das  Volk  bildeten,  der  Proletarier,  Kleinbauern  und  Klein- 
bürger, durch  Bürokratie,  Adel  und  Bourgeoisie  auseinander- 
setzen und  beweisen,  daß  die  Unterdrückung  nicht  früher  auf- 
hören werde,  als  bis  jenen  Schichten  die  Herrschaft  entwunden 
wäre.  Sie  mögen  untersuchen,  welche  Aussichten  für  einen  nahen 
Sieg  der  Demokratie  bestünden,  über  welche  Mittel  diese  verfüge 
und  welche  Bündnisse  für  sie  zulässig  wären,  solange  sie  noch 
nicht  aus  eigener  Kraft  ihren  Willen  durchzusetzen  vermöchte. 
Unter  nachdrücklicher  Berufung  auf  die  Erfahrungen  der  Ge- 
schichte widerspricht  Engels  der  Behauptung  Heinzens,  daß  das 
Heil  von  den  kleinen  Bauern  kommen  könne.  Die  Proletarier 
der  Städte,  sagt  er,  seien  die  Krone  aller  modernen  Demokratie 
geworden,  und  die  Kleinbauern  und  Kleinbürger  hingen  von  ihrer 
Initiative  ab.  Die  praktischen  Maßnahmen,  welche  die  Kommu- 
nisten vorschlügen,  ergäben  sich  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Lauf 
der  Entwicklung;  was  Heinzen  vorbrächte,  seien  nur  willkürlich 
ausgetüftelte,  spießbürgerliche  Weltverbesserungsschwärmereien, 
müßige  Erfindungen  dieses  unwissendsten  Menschen  des  Jahrhun- 
derts,  dem  eine   Stentorstimme,   Gesinnung  und   guter   Wille  das 


Politische  und  soziale  Demokratie.  279 

Fehlen  des  Verstandes  und  der  Klarheit  des  Denkens  nicht  er- 
setzen könnten.  Wäre  er  nicht  ein  schlechter  demokratischer 
Parteischriftsteller,  so  brauchten  die  Kommunisten  garnicht  gegen 
ihn  aufzutreten.  Doch  in  allen  praktischen  Parteifragen  betrach- 
teten auch  sie  sich  als  Demokraten;  sie  wüßten  freilich,  daß  die 
Demokratie  in  den  zivilisierten  Ländern  die  Herrschaft  des  Pro- 
letariats zur  notwendigen  Folge  haben  werde  und  daß  diese  poli- 
tische Herrschaft  des  Proletariats  die  erste  Voraussetzung  für  alle 
kommunistischen  Maßregeln  sei.  Bis  der  Sieg  der  Demokratie 
erfochten  wäre,  blieben  alle  Differenzen  zwischen  beiden  Rich- 
tungen theoretischer  Natur,  und  man  könne  über  sie  diskutieren, 
ohne  dadurch  die  gemeinschaftliche  Aktion  irgendwie  zu  stören. 

Die  Abrechnung  mit  Heinzens  theoretischen  Einwändungen 
gegen  den  Kommunismus  hatte  sich  Engels  für  den  Schluß  auf- 
gespart. Er  irre,  rief  er  jenem  zu,  wenn  er  den  Kommunismus  als 
eine  Doktrin  ansehe,  die  von  einem  bestimmten  theoretischen  Prin- 
zip als  Kern  ausgehe  und  daraus  weitere  Konsequenzen  ziehe. 
Der  Kommunismus  sei  keine  Doktrin  sondern  eine  Bewegung: 
er  gehe  nicht  von  Prinzipien,  sondern  von  Tatsachen  aus.  Er  habe 
nicht  diese  oder  jene  Philosophie,  sondern  die  ganze  bisherige  Ge- 
schichte und  speziell  ihre  gegenwärtigen  tatsächlichen  Resultate 
in  den  zivilisierten  Ländern  zu  seiner  Voraussetzung.  Er  sei  das 
Produkt  der  Großindustrie  und  ihrer  Wirkungen,  der  Herstellung  des 
Weltmarkts,  der  immer  gewaltsameren  und  allgemeineren  Handels- 
krisen, der  Erzeugung  des  Proletariats,  der  Konzentration  des  Ka- 
pitals, des  daraus  folgenden  Klassenkampfes  zwischen  Proletariat 
und  Bourgeoisie.  ,,Der  Kommunismus,  soweit  er  theoretisch  ist, 
ist  der  theoretische  Ausdruck  der  Stellung  des  Proletariats  in  diesem 
Kampfe  und  die  theoretische  Zusammenfassung  der  Bedingungen 
der  Befreiung  des  Proletariats.**  Das  Privateigentum  werde  zu 
bestehen  aufhören,  nicht  etwa,  weil  irgendwelche  Stubenhocker 
es  wünschten,  sondern  weil  der  Zeitpunkt  näher  komme,  wo  für 
die  Industrie,  den  Ackerbau,  den  Austausch  der  gemeinschaftliche 
Betrieb  eine  materielle  Notwendigkeit  werde.  Proudhons  letzte  ge- 
scheiterte Anläufe  hätten  Heinzen  zeigen  müssen,  daß  eine  Refor- 
mierung des  Eigentums  unter  Beibehaltung  der  herrschenden  Wirt- 
schaftsordnung eine  Unmöglichkeit  sei.  Wenn  er  das  alte  Gewäsch 
wiederhole,  daß  der  Kommunismus  die  Individualität  zerstöre,  so 
mögeer  erst  einmal  nachweisen,  wo  an  den  jetzigen  durch  die  Teilung 
der  Arbeit  wider  Willen  zu  Knechten  eines  bestimmten  Berufs  und 
der  diesem  Beruf  ensprechenden  Sitten,  Vorurteile  und  Borniertheiten 
gemachten  Individuen  noch  eine  Individualität  zu  zerstören  wäre. 

Ein   Schimpfgenie   wie    Heinzen  war   der   letzte,    der   eine   so 


28o  In  Belgien  und  Frankreich. 

gründliche  Abfuhr  wie  diese  stillschweigend  eingesteckt  hätte. 
Schon  am  21.  Oktober  erhielt  der  „Repräsentant  der  Kommunisten" 
eine  endlos  lange,  mit  persönlichen  Angriffen  vom  gröbsten  Kaliber 
reichlich  gespickte  Erwiderung,  aus  der  wir  hier  nur  zwei  Sätze 
herausheben  wollen,  die  sich  über  das  Niveau  seiner  sonst  ziemlich 
seichten  Klopffechterei  erheben:  „Bewähren  Sie  Ihren  Seherblick," 
ruft  er  Engels  zu,  , »fassen  Sie  die  Aufhebung  des  Eigentums,  diese 
Ihnen  von  der  Flut  der  Tatsachen  vor  die  Füße  gespülte  , Folge*, 
dreist  beim  Schöpfe  und  zeigen  Sie  uns  die  Folge  dieser  Folge, 
zeigen  Sie  uns,  was  Ihre  Freundin,  die  Geschichte,  aus  dieser  Folge 
machen  wird!  Sie  wollen  nicht?  Sie  sind  grausam!"  Und  zum 
anderen  heißt  es:  „Ist  der  Kommunismus  eine  Bewegung,  eine 
Bewegung  nach  einem  Ziele  .  .  ,  so  steht  bei  seiner  Verwirklichung 
natürlich  die  Bewegung  still  oder  sie  muß  dann  in  eine  neue  Bewe- 
gung übergehen.  0er  Kommunismus  ist  also  am  Ende,  sobald 
er  verwirklicht  ist."  Das  waren  in  der  Tat  Einwände,  welche  an 
die  chiliastische  Wurzel  der  Marx-Engelsschen  Geschichtsausdeutung 
griffen,  die  auf  den  Punkt  hinwiesen,  wo  selbst  bei  ihnen  der  Glauben 
anfing,  weil  das  Wissen  hier  mit  Notwendigkeit  versagen  mußte. 
Freilich  so  ohne  jedes  philosophische  Rüstzeug,  wie  dieser  Angreifer, 
durfte  man  nicht  sein,  wollte  man  Gegner  vom  Wüchse  eines  Marx 
und  Engels,  und  war  es  auch  an  dem  gefährdetsten  Punkte  ihrer 
Position,  in  die  Enge  treiben.  Bei  alledem  war  es  doch  Engels  lieb, 
daß  sich  Marx  erbot,  diesen  ,, elenden  Stümper  und  Schimpfer" 
zum  letzten  Male  und  endgültig  zuzudecken.  Selbst  gestand  er 
nämlich  unumwunden,  daß  er  auf  die  ,, Drecklawine",  die  Heinzen 
auf  ihn  losgelassen,  , »höchstens  durch  Ohrfeigen"  antworten  könnte. 
Sein  viel  weiter  ausholender  Gedankenflug  gab  Marx  das  Recht, 
nachdem  er  den  Angreifer  als  den  Wiederhersteller  der  grobianischen 
Literatur  des  sechzehnten  Jahrhunderts  mit  souveräner  Überlegenheit 
erledigt  hatte,  sich  um  ,,die  paar  dürftigen,  knöchernen  Wahrheiten", 
die  auch  er  in  dem  ,,Brei"  Heinzens  herumschwimmen  sah,  weiter 
nicht  zu  kümmern.  Seiner  Neigung  war  es  gemäßer,  den  Streitpunkt 
an  der  Wurzel  anzupacken  und  dem  unebenbürtigen  Gegner  über  den 
Zusammenhang  zwischen  Gewalt  und  Besitz  eine  so  gründliche  Lek- 
tion zu  erteilen,  daß  selbst  dieser  verbissene  Widersacher,  wenn  es 
ihm  nicht  an  gutem  Willen  fehlte,  einsehen  mußte,  weshalb  der  bloße 
Kampf  für  die  Freiheit  als  solche  noch  nicht  ausreichte,  aller  Gewalt- 
herrschaft für  immer  ein  Ende  zu  machen.    — 

In  dem  Patent  Friedrich  Wilhelms  IV.  vom  3.  Februar  1847, 
das  den  Vereinigten  Landtag  einberief,  begrüßte  Engels,  den  die 
Kunde,  auf  die  er  so  lange  geharrt  hatte,  stürmisch  erregte,  den  Be- 


Karikatur  Friedrich  Wilhelms  IV.  281 

ginn  einer  neuen  Zeit.  In  Preußen  wiederhole  sich,  schrieb  er  am 
6.  März  in  The  Northern  Star,  was  Frankreich  1789  erlebt  hatte. 
Geldmangel  zwinge  die  widerstrebende  Regierung  zur  Einberufung 
der  Generalstände;  das  aber  sei  der  Anfang  der  Revolution.  Denn 
die  liberale  Mehrheit  des  Landtages  werde  die  Genehmigung 
der  Ton  ihr  verlangten  Anleihe  abhängig  machen  von  der  Be- 
willigung ihrer  wichtigsten  Forderungen.  Bis  das  Bürgertum  die 
Herrschaft  im  Staat  errungen  hätte,  müsse  das  Proletariat  dessen 
Sache  vertreten,  als  ob  es  seine  eigene  wäre.  Erst  nach  dem  Sturz 
der  alten  Gewalten  würde  der  Entscheidungskampf  zwischen  Bour- 
geoisie und  Proletariat  beginnen.  Als  sich  Friedrich  Wilhelm  IV.  in 
seiner  Thronrede  vom  11.  April  dem  konstitutionellen  Geist  der  Zeit 
von  neuem  versagte  und  seinem  christlich -romantischen  Ideal  nicht 
abschwor,  sondern  im  höchsten  Pathos  gelobte:  ,,Ich  und  mein 
Haus,  Wir  wollen  dem  Herrn  dienen,"  da  packten  Engels  Grimm, 
Hohn  und  Entrüstung  so  stark,  daß  er  zum  Zeichenstift  griff  und  die 
Szene  im  weißen  Saal  parodierte.  Dafinden  wir  nun  den  König,  vom 
Prinzen  von  Preußen,  von  Bodelschwingh,  Boyen,  Solms-Lych 
und  anderen  Großen  der  Krone  umgeben,  wie  er  mit  himmelndem 
Blick,  die  Hand  zum  Schwüre  erhoben,  den  Herrn  dort  oben  seiner 
Devotion  versichert,  während  den  anwesenden  Landständen  sich 
die  Haare  zu  Berge  sträuben.  Durch  Marx,  dem  er  sie  eingeschickt 
hatte,  gelangte  diese  Zeichnung  in  die  Deutsch-Brüsseler  Zeitung 
vom  6.  Mai,  die  sie  einige  Tage  später  für  das  Werk  eines  geistvollen 
Dilettanten  erklärte.  Schon  im  März  war  Engels  daran  gegangen, 
eine  Broschüre  über  die  preußische  Verfassungsfrage  zu  schreiben, 
bei  der  Marx  nach  Belieben  ,, einlegen  und  weglassen**  sollte,  die  aber 
wie  manches  andere,  was  er  damals  plante  imd  entv/arf,  nicht  an 
die  Öffentlichkeit  kam.  Im  Mai  meldete  Marx  ihm,  daß  die  Ver- 
haftung des  in  Brüssel  ansässigen  deutschen  Buchhändlers  Vogler 
in  Aachen  einstweilen  den  Druck  unmöglich  mache ;  ihm  selbst 
habe  das  erste  Drittel  gut  gefallen,  das  übrige  bedürfe  der  Änderung. 
Weiter  erfahren  wir  nichts  von  der  kleinen  Schrift.  Wahrscheinlich 
war  ihr  Hauptzweck,  in  breiterer  Ausführung,  als  es  in  The  Northern 
Star  möglich  gewesen  war,  dem.  großen  Publikum  den  von  ihm  zu 
wenig  beachteten  wirtschaftlichen  Hintergrund  der  in  schnelleren 
Fluß  geratenen  politischen  Vorgänge  in  Preußen  zu  veranschau- 
lichen. Möglicherweise  ist  ein  im  Engelsschen  Nachlaß  befindliches 
Manuskript,  das  in  die  Zeit  zwischen  Einberufung  und  Zusammen- 
tritt des  Vereinigten  Landtags  weist,  ein  Fragment  dieser  Bro- 
schüre. In  einem  ersten  Teil  wird  noch  einmal  der  nach  der  irrigen 
Ansicht  des  Verfassers  inzwischen  durch  und  durch  reaktionär 
gewordene  wahre  Sozialismus  als  eine  literarische  Clique  gebrand- 


282  In  Belgien  und  Frankreich. 

markt,  von  der  die  deutschen  Kommunisten,  die  das  deutsche  Pro- 
letariat mit  seinen  sehr  deutlichen,  sehr  handgreiflichen  Bedürf- 
nissen repräsentierten,  auf  das  entschiedenste  abrücken  müsse: 
„Unsere  Angriffe,"  heißt  es  hier,  ,,kann  der  deutsche  Status  qua 
gar  nicht 'exploitieren,  weil  sie  sich  noch  viel  mehr  gegen  ihn  als 
gegen  die  Bourgeoisie  richten.  Wenn  die  Bourgeoisie  sozusagen 
unser  natürlicher  Feind,  der  Feind  ist,  dessen  Sturz  unsere  Partei 
ziu"  Herrschaft  bringt,  so  ist  der  deutsche  Status  quo  noch  viel  mehr 
unser  Feind,  weil  er  uns  hindert,  der  Bourgeoisie  auf  den  Leib  zu 
rücken.  Darum  schließen  wir  uns  auch  keineswegs  aus  von  der 
großän  Masse  der  deutschen  Opposition  gegen  den  Status  quo. 
Wir  bilden  nur  ihre  avancierteste  Fraktion  —  eine  Fraktion,  die  zu- 
gleich durch  ihre  unverhohlene  arriöre-pensee  gegen  die  Bourgeoi- 
sie eine  ganz  bestimmte  Stellung  einnimmt.  Der  Zusammentritt  des 
Vereinigten  Landtages,  so  hoffte  hier  Engels,  werde  die  noch  sehr 
unklar  durcheinander  wogenden  und  durch  ideologische  Spitzfindig- 
keiten zersplitterten  Parteien  in  die  Notwendigkeit  versetzen,  prak- 
tisch zu  werden  und  sich  über  die  Interessen,  die  sie  vertreten,  und 
die  Taktik,  die  sie  befolgen  müssten,  aufzuklären.  Auch  die  jüngste 
dieser  Parteien,  die  kommunistische,  habe  die  Aufgabe,  sich  über 
ihre  Stellung,  über  ihren  Feldzugsplan  und  ihre  Mittel  klar  zu 
werden. 

Der    Rest    des    nur    unvollständig    erhaltenenen    Manuskripts 
charakterisiert  den  deutschen  Status  quo  und  die  bedeutsame  Auf- 
gabe, die  bei  der  herannahenden  Umwälzung  der  Bourgeoisie  zu- 
falle.   "Während   in  Frankreich  und  England  die  Städte  das  Land 
beherrschten,   beherrsche  in    Deutschland    das    Land    die    Städte; 
wenn  auch  nicht  mehr    so  vorwiegend,   wie  in  der  Zeit  der    Be- 
freiungskriege, bilde  noch  immer  die  Landwirtschaft  den  entschei- 
denden Nahrungszweig  der  Masse  des  Volks.   Der  politische  Reprä- 
sentant des  Ackerbaus  sei  der  adlige  Großgrundbesitz;    neben  ihm 
stehe  als  die  vorherrschende    gewerbetreibende   Klasse    das  Klein- 
bürgertum.    Die  deutsche   Verfassung    sei  weiter     nichts  als   ein 
Kompromiß  zwischen  diesen   beiden    Klassen,   das  darauf  hinaus- 
laufe, die   Verwaltung    in  den    Händen   einer    dritten  Klasse,  der 
Bürokratie,  niederzulegen.    Niemals  werde  das  Kleinbürgertum  ver- 
mögen, den  Adel  zu  stürzen,  nicht  einmal  sich  ihm  gleichstellen, 
höchstens  ihn  schwächen  können.    Ihn  zu  stürzen  bedürfe  es  einer 
Klasse   mit  umfassenderen   Interessen,   größerem  Besitz,  entschie- 
denerem Mut:  der  Bourgeoisie.    Dar  Kleinbürger  repräsentiere  den 
binnenländischen   und   den  Küstenhandel,   das  Handwerk  die  auf 
der    Handarbeit    beruhende    Manufaktur    —    Erwerbszweige    also, 
die  sich  auf  einem  beschränkten  Gebiet  bewegten,  geringe  Kapita- 


Deutschlands  soziale  Gliederung  am  Vorabend  der  Revolution.       283 

lien  erforderten,  diese  Kapitalien  langsam  umschlügen  und  nur 
eine  lokale  und  schläfrige  Konkurrenz  erzeugten.  Dagegen  reprä- 
sentiere der  Großbürger  den  Welthandel,  der  ein  möglichst  großes 
Gebiet,  möglichst  große  Kapitalien  und  raschen  Umschlag  erfordere 
und  eine  universelle  und  stürmische  Konkurrenz  erzeuge.  Der 
Kleinbürger  finde  seine  Stellung  hinreichend  gesichert,  wenn  er 
bei  indirektem  Einfluß  auf  die  Staatsgesetzgebung  direkt  an  der 
Provinzialverwaltung  beteiligt  und  Herr  seiner  lokalen  Munizipal- 
verwaltung sei.  Hingegen  könne  der  Großbürger  seine  Interessen 
nicht  sicherstellen,  ohne  auch  die  Zentralverwaltung,  die  auswärtige 
Politik,  die  Gesetzgebung  unter  seiner  direkten  Kontrolle  zu  haben. 
Mache  die  herrschende  Klasse  ihm  Konzessionen,  so  bleibe  der 
Kleinbürger  konservativ,  der  Bourgeois  hingegen  werde  so  lange 
revolutionär  sein,  bis  er  selbst  die  Herrschaft  in  den  Händen  habe. 

Das  deutsche  Großbürgertum  —  Engels  sagt  stets  Bourgeoisie  — 
verdanke  seine  Entstehung  Napoleon.  Erst  die  Kontinentalsperre 
und  die  durch  ihren  Druck  in  Preußen  nötig  gewordene  Gewerbe - 
freiheit  hätten  in  Deutschland  zu  einer  Industrie  und  zu  einer  Aus- 
dehnung des  Bergbaus  geführt.  Die  erste  offizielle  Anerkennung 
der  Bourgeoisie  durch  die  Regierung  bedeutete  das  preußische 
Zollgesetz  von  1818,  die  nächste  Konzession  sei  der  Zollverein 
gewesen.  Gegenwärtig  stehe  es  so,  daß  die  Bourgeoisie  sich  ent- 
weder zur  herrschenden  Klasse  machen  oder  auf  ihre  bisherigen 
Eroberungen  verzichten  müsse.  Faktisch  bereits  die  leitende  Klasse 
in  Deutschland,  hänge  sie  in  ihrer  ganzen  Existenz  davon  ab,  daß 
sie  es  auch  rechtlich  werde.  Je  mehr  ihr  Einfluß  wachse,  um  so 
stärker  verschulde  sich  der  Adel,  um  so  sichtbarer  zermürbe  sich 
das  Kleinbürgertum.  Dieses  erscheint  Engels  schon  hier  nächst 
den  Bauern  als  die  miserabelste  Klasse,  die  je  in  die  Geschichte 
hineingepfuscht  habe.  Selbst  in  ihrer  glorreichsten  Zeit,  im  späten 
Mittelalter,  hätte  sie  es  nur  zu  einer  geduldeten  Existenz,  nirgends 
zur  allgemeinen  politischen  Herrschaft  gebracht.  Mit  der  Ent- 
stehung und  dem  Vordringen  des  Großbürgertums  verliere  sie 
selbst  den  Schein  einer  historischen  Initiative.  Sie  spalte  sich 
und  fliehe,  bis  ihr  kein  anderer  Rettungsweg  bleibe,  als  sich  hinter 
den  langen  Linien  des  Proletariats  zu  sammeln  und  dessen  Fahnen  zu 
folgen  oder  sich  auf  Gnade  und  Ungnade  dem  Großbürgertum  zu 
ergeben.  Soweit  sei  es  freilich  in  Deu'^schland  noch  nicht;  hier 
befinde  sich  das  Kleinbürgertum  erst  in  jener  Phase,  wo  es  in  einem 
Moment  der  Verzweiflung  und  Geldklemm.e  den  heroischen  Ent- 
schluß fasse,  dem  Adel  die  Gefolgschaft  zu  verweigern  und  sich 
dem  Großbürgertum  anzuschließen. 

Zu  den  Bauern  rechnet  Engels  die  kleinen  selbständigen  Acker- 


284  ^^  Belgien  und  Frankreich.    * 

Wirte,  Pächter  oder  Eigentümer  mit  Ausschluß  der  Landtagelöhner 
und  Ackerknechte.  Um  die  Interessen  des  Ackerbaus  gegenüber 
der  steigenden  Macht  von  Handel  und  Industrie  zu  schützen,  ord- 
neten sie  sich  dem  Adel,  um  sich  vor  der  Konkurrenz  des  Adels 
und  namentlich  der  bürgerlichen  Grundbesitzer  zu  sichern,  der 
Bourgeoisie  unter.  Von  der  Beschaffenheit  ihres  Besitzes  hänge 
es  ab,  auf  welche  Seite  sie  sich  dabei  endgültig  schlügen.  Die 
großen  Bauern  des  östlichen  Deutschland,  die  selbst  eine  gewisse 
Feudalhoheit  über  ihre  Ackerknechte  ausübten,  besäßen  mit  dem 
Adel  zu  viel  gemeinsame  Interessen,  als  daß  sie  sich  von  ihm  los- 
sagen würden.  Dagegen  neigten  die  kleinen  Grundbesitzer  des 
Westens  und  die  der  Patrimonialgerichtsbarkeit  und  zum  Teil 
noch  den  Fronden  unterworfenen  Kleinbauern  des  Ostens,  die 
zum  Adel  im  direkten  Gegensatz  stünden,  auf  die  Seite  der  Bour- 
geoisie. 

Nun  war  Engels  sich  völlig  bewußt,  daß  ebensowenig  wie 
Kleinbürgertum  und  Bauernschaft  das  Proletariat  bereits  fähig 
war,  die  Herrschaft  in  Deutschland  anzutreten.  Noch  wäre  diesem, 
meinte  er,  die  Gemeinschaftlichkeit  seiner  Interessen  zu  wenig 
zum  Bewußtsein  gekommen,  noch  hinderte  es  seine  Zersplitterung 
in  Ackerknechte,  Tagelöhner,  Handwerksgesellen,  Fabrikarbeiter 
und  Lumpenprolelarier,  seine  Zerstreuung  über  eine  große  dünn- 
bevölkerte Landfläche  mit  wenigen  schwachen  Zentralpunkten, 
sich  als  Klasse  zu  konstituieren.  Noch  beschränkte  es  sich  bloß 
erst  auf  seine  nächsten  alltäglichen  Ziele,  auf  den  Wunsch  nach 
gutem  Lohn  für  gute  Arbeit,  Noch  identifizierten  die  Arbeiter  ihr 
Interesse  mit  dem  ihrer  Arbeitgeber  und  machten  so  jede  einzelne 
Fraktion  des  Proletariats  zu  einer  Hilfsarmee  für  die  sie  beschäf- 
tigende Klasse.  Die  deutschen  Zustände  krankten,  zu  diesem 
Ergebnis  gelangt  Engels  ein  Jahr  vor  Ausbruch  der  Revolution, 
hauptsächlich  daran,  daß  keine  einzige  Klasse  stark  genug  wäre, 
ihren  Produktionszweig  zum  nationalen  Produktionszweig  par 
excellence,  sich  selbst  zur  Vertreterin  der  Interessen  der  ganzen 
Nation  auf  zuwerfen.  Der  allgemeinen  Ohnmacht  und  Verächt- 
lichkeit des  herrschenden  Regierungssystems,  das  sich  in  der 
Bürokratie  spiegle  und  in  der  Kapitalarmut  eine  seiner  Haupt- 
ursachen habe,  entspräche  nach  innen  die  Zerlumpung  des  Landes 
in  achtunddreißig  Lokal-  und  Provinzialstaaten,  nach  außen  die 
schmähliche  Hilflosigkeit  Deutschlands  gegen  Ausbeutung  und 
fremde  Fußtritte.  Besser  werden  könnte  es  nur,  wenn  eine  Klasse 
stark  genug  würde,  um  von  ihrem  Emporkommen  das  Empor- 
kommen der  ganzen  Nation  abhängig  zu  machen.  Diese  Klasse 
könne  nur  die  Bourgeoisie  sein.    Sie  sei  die  einzige,   die  sich  nicht 


Die  Stunde  des  Großbürgertiuns.  285 

auf  abstrakte  Prinzipien  und  historische  Deduktionen  beschränke, 
sondern  sehr  bestimmte,  sehr  handgreifliche,  sofort  ausführbare 
Maßregeln  durchführen  wolle,  die  einzige  auch,  die,  wenigstens 
lokal  und  provinziell,  eine  gewisse  Organisation  besäße  und  eine 
Art  von  Feldzugsplan  habe.  Zunächst  hätte  nur  sie  Aussicht  auf 
Erfolg. 

Die  MoHve,  die  das  deutsche  Bürgertum  zwingen  würden,  sich 
der  Staatsgewalt  zu  bemächtigen,  legte  Engels  hier  in  einer  Sprache 
dar,  mit  deren  Realismus  sich  Johann  Jacoby  und  Rüge  ebenso- 
wenig einverstanden  erklärt  hätten,  wie  Dahlmann  oder  wie  Ger- 
vinus.  Ausgehend  von  seiner  alten  Ansicht,  bei  der  er  beharrt, 
daß  die  deutsche  Industrie  der  englischen  Konkurrenz  mit  Sicher- 
heit erliegen  müßte,  sofern  sie  nicht  höhere  Schutzzölle  erhielte, 
findet  er,  daß  das  herrschende  Beamtentum,  das  sich  um  die  freie 
Entfaltung  und  rasche  Hebung  des  Fabrikwesens  nicht  genügend 
kümmere,  deren  Notwendigkeit  bisher  nicht  erkannt,  um  ihre  Herbei- 
führung sich  nichi  bemüht  habe.  Zollwesen  und  innere  Verwaltung 
aber  seien  die  Gebiete,  auf  denen  das  industrielle  Großbürgertum 
am  direktesten  auf  die  Erlangung  eines  beherrschenden  Einflusses 
angewiesen  sei.  Doch  auch  sonst  erforderten  Gesetzgebung  und 
Verwaltung  in  fast  allen  deutschen  Staaten  eine  durchgreifende 
systematische  Revision  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Klasse, 
die  auf  die  Umwälzung  des  bestehenden  gesellschaftlichen  Zu- 
standes  nicht  länger  verzichten  könne.  Das  Großbürgertum  in 
Preußen  benötige  für  seine  Eigentumsprozesse  zum  mindesten 
des  Schutzes  der  Öffentlichkeit,  für  seine  Kriminalprozesse  der 
Geschworenen,  also  der  steten  Kontrolle  der  Justiz  durch  eine 
Deputation  von  Bourgeois.  Ebensowenig  dürfe  es,  was  der  Klein- 
bürger noch  konnte,  dem  Gutdünken  des  Adels  die  Regulierung 
der  Eigentumsverhältnisse  auf  dem  Lande  anheimstellen;  die 
vollständige  Entwicklung  seiner  Interessen  verlange  die  möglichst 
industrielle  Ausbeutung  auch  des  Ackerbaus,  die  freie  Verkauf lich- 
keit  und  Beweglichkeit  des  Grundbesitzes.  Zufrieden  geben  könne 
es  sich  auch  unmöglich  mit  der  preußischen  Handelsgesetzgebung, 
die  bestimme,  daß  beim  Bankrott  Wechselschulden  vor  allen  Buch- 
schulden aus  der  Masse  abgezahlt  werden.  Eine  solche  Regelung 
vertrete  das  Interesse  der  Bureaukraten  und  aller  Nichtbourgeois 
gegen  die  Bourgeois,  denn  sie  decke  alle  jene,  die,  wie  der  adlige 
Gutsbesitzer,  nur  einmal  im  Jahre  etwas  zu  verkaufen  hätten  und 
den  Ertrag  durch  einen  Wechsel  aus  dem  Handel  zurückzögen. 
Unter  den  Handeltreibenden  seien  wiederum  die  Bankiers  und  die 
Grossisten  besser  geschützt  als  die  Fabrikanten,  die  Wechsel  auf 
alle   Welt  erhielten.    Endlich  müßte  das  Großbürgertum  streben. 


a86  In  Belgien  und  Frankreich. 

auf  die  Verteilung  der  Steuern  und  auf  die  auswärtige  Politik  be- 
stimmenden Einfluß  zu  gewinnen.  Die  Selbsterhaltung  zwinge  es, 
seine  Handelsverbindungen,  seine  Absatzgelegenheiten,  seine  Ver- 
kehrsmittel täglich  auszudehnen.  Auch  dazu  bedürfe  es  der  politi- 
schen Herrschaft,  der  Unterordnung  aller  anderen  Interessen  unter 
das  seine.  Den  schlagendsten  Beweis  aber  für  die  Notwendigkeit, 
daß  es  die  politische  Hegemonie  an  sich  reißen  müsse,  um  sich 
von  dem  Untergang  zu  retten,  liefere  ihm  die  Lage,  in  die  der  deut- 
sche Geld-  und  Warenmarkt  in  der  bestehenden  schweren  Wirt- 
schaftskrisis geraten  sei. 

Während  er  so  die  ökonomischen  Wurzeln  der  heraufziehenden 
deutschen  Revolution  bloßzulegen  trachtete,  ergötzte  sich  Engels, 
dem  ja  der  Schalk  stets  im  Nacken  saß,  gleichzeitig  an  allerhand 
pikanten  Erscheinungen,  die  wie  ein  ausgesuchtes  Hors  d'oeuvre 
dem  großen  Schmaus,  der  ihm  bereits  den  Gaumen  kitzelte,  voraus- 
gingen. So  verfaßte  er  damals  eine  Satire,  die  an  dem  Verhältnis 
des  betagten  Bayernkönigs  zu  der  schönen  Lola  Montez  die  Blößen 
des  Gottesgnadentums  aufdecken  wollte.  Über  das  Schicksal  dieses 
,, Witzes"  herrscht  Ungewißheit.  Es  bleibt  doch  recht  zweifelhaft,  ob 
ein  von  der  Deutsch-Brüsseler  Zeitung  erwähntes  Pamphlet,  das 
im  Herbst  des  Jahres  in  Basel  in  zweiter  Auflage  erschien  und 
—  frei  nach  Bettina  —  den  derben  Titel:  „Lola  Montez  oder  Das 
Mensch,  gehört  dem  Könige"  führte,  mit  dieser  ephemeren  Leistung 
Engels  identisch  ist.  Die  Gerichtsszene,  die  das  saftige  Stücklein 
eröffnet,  erinnert  von  ferne  an  die  Rahmendichtung  des  Leipziger 
Konzils,  auch  das  Gegenteil  von  Prüderie,  das  den  Ton  beherrscht, 
wäre  Engels,  der  in  solchen  Dingen  kein  Blatt  vor  den  Mund  zu 
nehmen  liebte,  wohl  zuzutrauen,  aber  das  „ernsthafte  Nachwort", 
das  die  dritte  ,, verbesserte",  die  einzige  uns  zugängliche  Auflage 
der  Schnurre  begleitet,  ist  in  seinen  politischen  Forderungen  zu 
farblos  und  zu  zahm,  als  daß  man  es  ihm  zuschreiben  könnte. 

Unmittelbar  in  die  Diskussion  jener  Tage  hinein  griff  ein 
vermutlich  von  Engels  verfaßter  Artikel  der  Deutsch-Brüsseler 
Zeitung  vom  6.  Juni,  der  nachweisen  wollte,  daß  alle  Petitionen, 
die  an  den  Vereinigten  Landtag  gelangt  seien,  ausschließlich  die 
Herrschaft  des  Großbürgertums  bezweckten.  Das  Proletariat, 
hieß  es  hier,  werde  seine  Petitionen  dereinst  nicht  auf  einige  Ries 
Papier,  sondern  auf  einige  Ballen  präparierter  Baumwolle  schreiben. 
Der  größte  Kampf,  den  die  Weltgeschichte  je  gesehen  habe,  der 
zwischen  den  besitzenden  und  besitzlosen  Klassen,  könne  erst 
beginnen,  wenn  das  Großbürgertum  sich  am  Staatsruder  fest- 
gesetzt und  die  Überbleibsel  des  Mittelalters  auf  den  Schindanger 
der  Geschichte  geworfen  habe.    Diesen  Gedanken  in  allen  Formen 


Lola  Montez.  287 

zu  variieren,  wurden  Engels  und  Marx  in  jenen  Monaten  nicht 
müde,  doch  betonten  sie  gleichzeitig,  wie  verhängnisvoll  es 
sei,  daß  in  Deutschland  die  Bourgeoisie  die  Zügel  erst  in  dem 
Augenblick  an  sich  reißen  werde,  wo  ihr  Todfeind,  das  Proletariat, 
bereits  seine  Schwingen  zu  regen  begannen  hätte.  Bestimmt  von 
Engels  stammte  am  10.  Juni  der  Artikel  Schutzzoll-  oder  Freihandels- 
system. Über  die  in  dem  Titel  angegebene  Kontroverse  bringt  dieser 
keine  neuen  Gedanken  bei  sondern  wiederholt  nur  die  alte  Über- 
zeugung, daß  in  der  deutschen  Bourgeoisie  der  schutzzöllnerische 
den  freihändlerischen  Flügel  besiegen  werde,  weil  die  deutsche  In- 
dustrie ohne  Schutz  gegen  das  Ausland  sonst  in  einem  Jahrzehnt 
zerquetscht  und  niedergestampft  sein  würde.  Das  Patent  vom 
3.  Februar  wäre  das  noch  mit  vielem  Potsdamer  Dunst  und  Nebel 
umhüllte  Anerkenntnis  der  Macht  des  Bürgertums,  vor  der  sich 
sehr  bald  die  ganze  christlich-germanische  Macht-  und  Spukgestalt 
in  ihr  Nichts  auflösen  werde.  Die  Landtagsverhandlungen  hätten 
gezeigt,  daß  die  preußische  Regierung  unfähig  sei,  die  materiellen 
Interessen  zu  begreifen,  zu  schützen  und  zu  fördern.  Ob  Frei- 
handel oder  Schutzzoll  herrsche,  könne  dem  Proletariat  im  Grunde 
gleichgültig  sein,  unter  beiden  erhalte  es  nur  den  Lohn,  der  gerade 
für  seinen  notdürftigsten  Unterhalt  hinreiche.  Wohl  aber  liege  es 
auch  in  seinem  Interesse,  daß  zunächst  die  Bourgeoisie  zur  un- 
geschmälerten Herrschaft  gelange;  denn  erst  nach  ihrem  Siege 
werde  es  in  den  Endkampf  gegen  diese,  seinen  letzten  und  schlimm- 
sten Feind,  eintreten,  das  Privateigentum  stürzen  und  alle  Klassen 
und  Klassenherrschaft  für  immer  beseitigen. 

Mit  solchen  Gedanken  in  bemerkenswerter  Übereinstimmung 
steht  ein  nach  der  Schließung  des  Vereinigten  Landtags  verfaßter 
Aufsatz,  der  im  September  1847  in  dem  Probeblatt  einer  in  London 
gedruckten  kommunistischen  Zeitschrift  erschien,  auf  deren  Be- 
deutung noch  zurückzukommen  sein  wird.  Jener  Artikel  trägt 
die  Überschrift  Der  preußische  Landtag  und  das  Proletariat  in 
Preußen,  wie  überhaupt  in  Deutschland.  Hat  Engels  diesen  Auf- 
satz geschrieben,  so  war  es  der  erste,  den  er  in  der  Muttersprache 
für  eine  Arbeiterzeitung  schrieb;  dann  müßte  man  sagen,  daß 
dem  Stil  die  Neuheit  der  Aufgabe  anzumerken  ist,  und  daß,  ebenso 
wie  bei  manchen  Artikeln  für  den  Northern  Star,  der  Wunsch 
nach  größter  Popularität  den  Verfasser  zum  Gebrauch  stärkerer 
Kraftausdrücke  verleitet  hat,  als  Engels  sich  sonst  in  für  den 
Druck  bestimmten  Äußerungen  gestattete.  Wahrscheinlicher  dünkt 
uns  aber,  daß  der  Beitrag  nach  den  eingehenden  Gesprächen, 
die  sie  mit  ihm  hatten,  von  Schapper,  Moll  oder  einem  ihrer  jün- 
geren  Genossen   verfaßt   worden   ist.     Dieser    Aufsatz,   der   schon 


288  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

unmittelbar  in  die  Vorgeschichte  des  Kommunistischen  Manifests 
hineinführt,  klang  in  einem  flammenden  Appell  zum  Zusammen- 
schluß aller  Arbeiter  aus:  „Vereinzelt  sind  und  bleiben  wir  schwache 
Sklaven,"  hieß  es  darin,  „der  Not  und  dem  Elend,  dem  Hochmut 
und  der  Gnade  der  Vornehmen  und  Reichen  preisgegeben;  organi- 
siert und  vereinigt  zerbrechen  wir  wie  dürre  Weidenruten  die  Fesseln, 
die  das  Privateigentum  oder  eine  ,chr  istlich -germanische*  Regierung 
uns  angeschmiedet  haben."  Daß  Deutschlands  Schicksal  sich  in 
Preußen  entscheiden  würde,  war  Engels  nicht  zweifelhaft.  Die 
Ansicht,  mit  der  er  in  die  deutsche  Revolution  eintrat,  faßte  er 
am  23.  Januar  1848  zum  letztenmal  prägnant  zusammen:  „Die 
Frage,  wer  in  Preußen  herrschen  soll,  ob  die  Allianz  zwischen 
Adel,  Bureaukraten,  Pfaffen,  mit  dem  König  an  ihrer  Spitze,  oder 
die  Bourgeoisie,  ist  jetzt  so  gestellt,  daß  sie  für  die  eine  oder  andere 
Seite  entschieden  werden  muß.  Auf  dem  Vereinigten  Landtag 
war  noch  ein  Vergleich  beider  Parteien  möglich;  jetzt  ist  er  es 
nicht  mehr.  Es  gilt  jetzt  einen  Kampf  auf  Tod  und  Leben  zwischen 
beiden."  — 

Von  vornherein  begriff  Engels,  daß  die  Revolutionswelle,  die 
heranrauschte,  nicht  allein  Deutschland  sondern  den  größten 
Teil  Europas  überschwemmen  würde.  Und  von  der  gesteigerten 
politischen  Bewegung,  die  sich  allenthalben  kund  gab,  angefeuert, 
durchleuchtete  er  in  dem  Brüsseler  Blatt,  das  sich  ihm  und  Marx, 
je  radikaler  die  Zeitstimmung  wurde,  um  so  bereitwilliger  zur  Ver- 
fügung stellte,  die  inneren  Zustände  auch  der  anderen  Staaten, 
wo  Volksbewegungen  teils  schon  zum  Ausbruch  gekommen  waren, 
teils  sich  ankündigten,  an  der  Hand  seiner  ökonomisch -realistischen 
Betrachtungsweise.  Noch  zeichnete  sich  die  Bewegung  hauptsäch- 
lich in  solchen  Ländern  ab,  die  1830  zurückgeblieben  waren  und 
nun  die  anderen  einholen  sollten,  um  den  Sieg  der  Bourgeoisie  auch 
bei  sich  durchzusetzen.  In  Italien  war  die  freiheitliche  Strömung 
bereits  so  unwiderstehlich  geworden,  daß  der  Mann,  „der  die 
versteinerte  Ideologie  des  Mittelalters  repräsentiert",  der  Papst 
selbst,  es  für  klug  gehalten  hatte,  sich  an  die  Spitze  der  liberalen 
und  nationalen  Bestrebungen  zu  stellen.  Ihre  Ziele  und  ihren  Inhalt 
verglich  Engels  mit  denen  der  Stein-Hardenbergschen  Ära,  doch 
sah  er  voraus,  daß  der  Erfolg  der  Bourgeoisie  in  Italien  weit  ent- 
schiedener ausfallen  werde.  „Alle  reformbegeisterten  Klassen," 
meinte  er,  „von  Fürsten  und  Adel  bis  zu  den  Pfifferari  und  Lazzaroni 
treten  einstweilen  als  Bourgeois  auf  und  der  Papst  ist  vor  der  Hand 
der  erste  Bourgeois  von  Italien.  Aber  alle  diese  Klassen  werden 
sich  sehr  enttäuscht  finden,  sobald  das  österreichische  Joch  einmal 
abgeschüttelt  sein  wird."     Denn  die  Arbeiter  von  Mailand,  Florenz 


Der  Schweizer  Bürgerkrieg.  289 

und   Neapel   würden   dann   entdecken,    daß   ihre    Arbeit  nun   erst 
recht  anfange. 

Kaum  war  im  Hochland  der  erste  Schuß  gefallen,  so  fühlte 
Engels  sich  schon  getrieben,  dem   Schweizer   Bürgerkrieg  in  der 
Deutsch-Brüsseler  Zeitung  vom  14.  November  eine  tiefer  schürfende 
Untersuchung  zu  widmen.    Es  reizte  ihn  offenbar,  an  einem  Bei- 
spiel, das  sich  nicht  so  ohne  weiteres  in  den  Rahmen  seiner  ökono- 
mischen  Geschichtsauslegung   einspannen   ließ,   zu   beweisen,   daß 
diese  auch  in  schwierigen  Fällen  den  richtigen  Gesichtspunkt  zur 
Beurteilung  liefere.    Hier  handelte  es  sich  um  ein  Land,  das  noch 
keine   bedeutende   Industrie  besaß,   welche   die  Bourgeoisie   an  die 
Herrschaft  bringen  konnte.    Die  Bewohner  der  Urkantone  ließ  unser 
Vorkämpfer  des  modernen  Industrieproletariats  nur  als  die  Rudi- 
mente   der    alten    christlich -germanischen    Barbarei    gelten,   deren 
Demokratie    mit   der    Demokratie    der    zivilisierten    Länder   nichts 
zu  tun  habe.   Seit  den  Tagen  Teils  und  Winkelrieds,  meinte  er,  halte 
die    Urschweiz    mit    wirklich    tierischer    Hartnäckigkeit    an    ihrer 
Lokalborniertheit  und  ursprünglichen  Barbarei  fest.  Mit  dem  ganzen 
Starrsinn  roher  Urgermanen  bestehe  sie  auf  der  Kantonalsouveräni- 
tät, das  heiße  auf  dem  Recht,  in  Ewigkeit  nach  Belieben  dumm, 
bigott,  brutal,  widerhaarig  und  käuflich  zu  sein,  mögen  ihre  Nach- 
barn darunter  leiden  oder  nicht.    Doch  die  Zeit  wäre  vorbei,  wo 
störrische  Hirten  mit  ,, wenig  Gehirn  aber  viel  Wade"  sich  dem  An- 
drang der  geschichtlichen  Entwicklung  entgegenstemmen  könnten. 
Sei  auch  die  Invasion  der  Franzosen,  die  doch  sonst  überall  etwas 
Zivilisation  verbreitet  hätten,  an  den  granitenen  Wänden  ihrer  Felsen 
und  ihrer  Schädel  abgeprallt,  so  hätte  dafür  einige  zwanzig  Jahre  später 
die  Invasion  der  Londoner  Lords  und  Squires  und  der  zahllosen  Seifen- 
sieder, Gewürzkrämer,    Lichterzieher   und    Knochenhändler   einige 
Früchte  getragen.    Sie  erzeugte  nämlich  bei  den  ehrlichen  Bewoh- 
nern der  Sennhütten,  die  früher  kaum  gewußt  hätten,  was  Geld 
wäre,  die  habgierigste  und  spitzbübischste  Prellerei,  die  sich  trotz- 
dem aufs  vortrefflichste   mit  den  patriarchalischen   Tugenden  der 
Keuschheit,    Züchtigkeit,    Biederkeit    und    Treue    vertrug.     Nicht 
einmal  ihre  Frömmigkeit  litt  darunter,  denn  der  Pfaffe  absolvierte 
sie  mit  besonderem  Vergnügen,  wo  es  sich  um  Betrügereien  gegen 
britische    Ketzer   handelte.     Dabei   blieben  die  Enkel  Stauf fachers 
und  Winkelrieds  die  Landsknechte,  die  sich  mit  ihrer  käuflichen 
Treue  für  Reaktion  und  Bigotterie  in  fremden  Ländern  totschlagen 
ließen.    Nun  könnten  aber  im  neunzehnten  Jahrhundert  nicht  auf 
die  Dauer   zwei  Teile    eines  und  desselben   Landes  nebeneinander 
herleben,   ohne  sich   zu  beeinflussen.     Mochten  auch   die   radikal 
gesinnten     Kantone     der      industriellen    modern -demokratischen 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  19 


290  ^o  Belgien  und  Frankreich. 

Schweiz  hinter  der  Entwicklung  der  europäischen  Zivilisation 
zurückgeblieben  sein,  sie  mußten  danach  streben,  die  Barbarei 
der  Viehzucht  treibenden  Urkantone  zu  brechen  und  jene  größere 
Zentralisation  zu  erringen,  deren  das  Großbürgertum  bedürfe. 
Zwei  Monate  später  beschäftigte  sich  Engels  noch  einmal  mit  der 
Schweiz,  als  er  sich  die  Frage  vorlegte,  weshalb  in  dem  inzwischen 
beendeten  Sonderbundskrieg  die  Bauern  den  großen  Städten  den 
Sieg  hatten  erkämpfen  helfen.  Sie  seien,  so  erklärte  er  sich  dies, 
ebensogut  Besitzer  wie  die  Bourgeois,  hätten  vor  der  Hand  fast  alle 
Interessen  mit  diesen  gemeinsam,  vermöchten  nichts  gegen  sie, 
aber  vieles  im  Bunde  mit  ihnen  zu  erreichen.  Sie  würden  auch 
noch  fernerhin  der  exploitierte  Arm  des  Bourgeois  bleiben,  ihm 
seine  Schlachten  schlagen,  seine  Kattune  und  Bänder  weben,  sein 
Proletariat  rekrutieren.  In  Zukunft  werde  sich  freilich  einmal 
der  ausgesogene  und  verarmte  Teil  der  Bauernschaft  dem  Prole- 
tariat, das  sich  inzwischen  stärker  entwickelt  haben  würde,  an- 
schließen, und  der  Bourgeoisie,  der  die  Austreibung  der  Jesuiten 
jetzt  in  erster  Reihe  zugute  komme,  den  Krieg  erklären. 

In  dem  Aufsatz  über  Die  Bewegungen  von  1847,  der  diese  Aus- 
führungen enthält,  befaßte  Engels  sich  nur  kurz  mit  jenen  Staaten, 
in  denen  die  Bourgeoisie  bereits  das  Ruder  führte.  Von  dem  neuen 
englischen  Unterhaus  erwartete  er  die  Vollendung  des  Siegs  der 
industriellen  Bourgeoisie  und  die  Beseitigung  des  letzten  Scheins 
der  feudalen  Herrschaft.  Wie  dort,  so  spiele  sich  auch  in  Frankreich 
der  Kampf  immer  mehr  zwischen  einzelnen  Fraktionen  der  Bour- 
geoisie ab:  in  England  zwischen  Fabrikanten  und  Rentiers,  hier 
zwischen  den  Rentiers  und  Börsenspekulanten  auf  der  einen  und 
den  Reedern  und  einem  Teil  der  Fabrikanten,  die  sich  auf  den 
Reformbanketten  mit  dem  Kleinbürgertum  verbrüderten,  auf  der 
anderen  Seite.  Wie  nahe  man  damals  auch  in  Frankreich  dem 
Ausbruch  der  Revolution  war,  ahnte  Engels  nicht. 

Auch  das  österreichische  Problem  schien  auf  den  ersten  Blick 
seiner  neuen  Erkenntnismethode,  die  immer  von  frischem  zu  er- 
proben er  sich  angelegen  sein  ließ,  wenig  entgegen  zu  kommen. 
In  einem  Aufsatz:  Der  Anfang  des  Endes  in  Österreich,  der  am 
27.  Januar  1848  in  der  Deutsch -Brüsseler  Zeitung  erschien,  fragte 
er,  wie  es  denn  käme,  daß  dieser  organisierte  Wirrwarr  von  zehn 
Sprachen  und  Nationen,  dies  planlose  Kompositum  der  widerspre- 
chendsten Sitten  und  Gesetze  nicht  schon  längst  auseinandergefallen 
wäre.  Worauf  beruhe  eigentlich  die  Macht,  die  Zähigkeit,  die  Stabi- 
lität des  Hauses  Österreich?  Und  er  findet  die  Antwort:  Die 
Zivilisation,  welche  Industrie  und  Handel  entwickelte,  den  Einfluß 
der  Städte  hob  und  den  Bürgern  politischen  Einfluß  gab,  sei  in  der 


Der  Anfang  des  Endes  in  Österreich.  201 

Geschichte  stets  der  Seeküste  und  dem  Lauf  der  großen  Flüsse 
gefolgt,  während  die  Binnenländer,  zumal  die  unwegsamen  und 
unfruchtbaren  Hochgebirge,  der  Sitz  des  Feudalismus  blieben. 
Durch  die  böhmischen  und  mährischen  Gebirge  vor  der  deutschen, 
durch  die  Alpen  vor  der  italienischen  Zivilisation  geschützt,  bildeten 
die  süddeutschen  und  südslawischen  Binnenländer  überdies  das 
Flußgebiet  des  einzigen  reaktionären  Stroms  Europas.  Weil  sie 
nach  Südosten  fließe,  brächte  die  Donau  sie  mit  noch  weit  kräftigerer 
Barbarei  in  Verbindung.  Als  die  großen  Monarchien  sich  bildeten, 
schlössen  sich  deshalb,  hauptsächlich  um  der  Verteidigung  willen, 
die  Barbaren  aller  Sprachen  und  Nationen  unter  dem  Hause  Habs- 
burg zusammen,  und  dieses  blieb  solange  unüberwindlich,  wie  die 
Barbarei  seiner  Untertanen  nicht  angetastet  wurde.  Die  einzige 
Gefahr,  die  es  bedrohte,  war  das  Eindringen  der  bürgerlichen  Zivi- 
lisation, das  wohl  zeitweilig,  aber  nicht  dauernd  aufgehalten  wer- 
den konnte.  Gelang  es  Österreich  noch  1823  und  1831  die  ita- 
lienischen Rebellen  mit  Kanonenkugeln  auseinanderzutreiben,  so 
mußte  es  schon  1846  in  den  galizischen  Bauern  ein  bisher  unent- 
wickeltes revolutionäres  Element  in  Bewegung  setzen  und  noch 
offensichtlicher  1847  in  Italien  sich  revolutionärer  Mittel  bedienen. 
Aber  wenn  Österreich  sich  so  vorläufig  vor  Revolutionen  sicherte, 
so  war  es  doch  nicht  gleichzeitig  vor  den  Ursachen  der  Revolutionen 
geschützt.  Was  nützte  es  ihm,  daß  es  sich  gegen  die  Maschinen 
hinter  einem  konsequenten  Prohibitivsystem  verschanzte  ?  Brachte 
ihm  nicht  gerade  d'eses  die  Maschinen  ins  Land  hinein  ?  Die  Folgen 
konnten  nicht  ausbleiben:  die  Preise  der  Industrieprodukte  fielen 
so  rasch  und  so  tief,  daß  zuerst  die  Manufaktur,  allmählich  selbst 
die  alte  feudale  Hausindustrie  zugrunde  gingen  und  die  ganze 
Bevölkerung  der  Manufakturdistrikte  aus  ihrer  angestammten 
Lebensweise  herausgerissen  wurde.  Weil  die  Fronbauern  alte 
Erwerbszweige  verloren,  aber  durch  die  neue  Industrie  neue  Be- 
dürfnisse bekamen,  wurde  die  Ablösung  der  Frondienste  zur  For- 
derung. Wiederum  in  den  Städten,  die  sich  nun  schnell  hoben, 
erwiesen  sich  die  Zünfte  drückend  für  die  Konsumenten,  unerträg- 
lich für  die  Industriellen,  nutzlos  für  die  Zünftigen  selbst.  Die 
Stellung  aller  Klassen  der  Gesellschaft  änderte  sich  total.  Die 
alten  Klassen  traten  mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  vor  den 
beiden  neuen  Klassen,  der  Bourgeoisie  und  dem  Proletariat,  der  Acker- 
bau verlor  an  Gewicht  gegenüber  der  Industrie,  das  Land  gegen- 
über den  Städten.  Auch  der  Bau  von  Eisenbahnen  war  nicht  länger 
zu  vermeiden.  Zwar  baute  die  Regierung  diese  selbst,  um  dem 
wachsenden  Großbürgertum  nicht  noch  mehr  Macht  zu  gewähren; 
da  sie  aber  das  Geld  zu  deren  Bau  von  den  Rothschild  und  Genossen 

19* 


202  I"  Belgien  und  Frankreich. 

entleihen  mußte,  geriet  sie  damit  nur  aus  der  Szylla  in  die  Charyb- 
dis.  Vor  den  Eisenbahnen  sanken  die  Bergscheiden  nieder,  welche 
die  Monarchie  bis  dahin  von  der  Außenwelt  getrennt,  die  jeder 
Provinz  ihre  besondere  Nationalität,  eine  beschränkte  National- 
existenz bewahrt  hatten.  Alpen  und  Böhmerwald  existierten  nicht 
mehr,  die  rückwärtslaufende  Donau  hörte  auf,  die  Pulsader  des 
Reichs  zu  sein.  Hier  schieden  sich,  dort  verschmolzen  sich  die 
Interessen.  Die  Nationalitäten  trennten  sich  an  einer  Stelle,  um 
an  einer  anderen  anzuknüpfen;  und  aus  dem  wüsten  Agglomerat 
einander  fremder  Provinzen  sonderten  sich  bestim.mte  größere 
Gruppen  mit  gemeinsamen  Tendenzen  und  Interessen.  Der  Dampf 
hatte  die  österreichische  Barbarei  zu  Fetzen  zerrissen;  damit  aber 
war  dem  Hause  Habsburg  der  Boden  unter  den  Füßen  entzogen. 
Österreichs  Zerfall  wünschte  Engels  schon  deshalb,  weil  es  die  Deut- 
schen bei  allen  freiheitlich  gesinnten  Völkern  in  den  Ruf  gebracht 
hatte,  überall  die  Unterdrücker  der  Nationen  und  die  Söldlinge  der  Re- 
aktion zu  sein.  Von  dieser  Schmach,  meinte  er,  würden  die  Deutschen 
sich  reinigen,  wenn  sie  selbst  den  Kaiserstaat  zerstörten  und  damit 
die  Hindernisse  forträumten,  die  der  slawischen  und  italienischen 
Freiheit  ebenso  wie  der  eigenen  Einheit  im  Wege  stünden.  Kühn 
sollten  sie  wagen  das  Wort  auszusprechen,  das  selbst  Napoleon 
nicht  auszusprechen  wagte  —  das  Wort:  ,,La  dynastie  de  Habs- 
bourg  a  cesse  de  regner!"  Auch  vier  Wochen  später  wiederholte 
Engels  an  der  gleichen  Stelle,  daß  Österreichs  Sturz  ebenso  im 
deutschen  wie  im  italienischen  Volksinteresse  läge;  die  Deutschen 
mögen,  rief  er  aus,  die  Waffen  ergreifen,  um  der  ganzen  öster- 
reichischen Herrlichkeit  ein  für  allemal  ein  Ende  zu  machen. 

Die  starke  politische  Gärung  in  Mitteleuropa  wurde,  wie  man 
weiß, sehr  verschärft  durch  die  heftige  Wirtschaftskrisis, durch  wieder- 
holte Mißernten  und  die  soziale  Not,  die  in  beider  Gefolge  bereits 
1847  in  verschiedenen  Ländern,  in  Deutschland  besonders  in  Berlin, 
Breslau  und  Stettin,  zu  Hungerrevolten  geführt  hatten.  Immer 
häufiger  ließ  die  herannahende  Revolution  ihre  Sturmfalken  auf- 
steigen. Da  wurde  es  für  die  Demokratien  aller  europäischen  Länder 
ein  drängendes  Gebot,  sich  zu  rüsten,  damit  die  Geschehnisse  sie 
nicht  unvorbereitet  fänden,  sie  nicht  überrumpelten.  Eine  Zusammen- 
fassung der  zerstreuten  Heerkörper  der  entschiedenen  Opposition 
auf  nationaler  wie  auf  internationaler  Grundlage,  vor  kurzem  noch 
aussichtslos  oder  wenig  versprechend,  wurde  jetzt  eine  unmittel- 
bare praktische  Notwendigkeit,  von  deren  rascher  und  möglichst 
weitgreifender  Verwirklichung  unter  Umständen  der  Ausgang  der 
ganzen  europäischen  Bewegung  abhängen  konnte.  In  Frage  kam 
eine  allgemeine   internationale  Zusammenfassung   der   Kräfte  der 


Die  internationale  Demokratie. 


293 


Demokratie,  wie  sie  schon  Mazzini  und  dem  jungen  Europa  vor- 
geschwebt hatte,  unter  kommunistischem  Gesichtspunkt  daneben 
aber  auch  eine  solche  ihres  radikalsten  Flügels,  der  Spitzen  des  zum 
Klassenbewußtsein  erwachenden  Proletariats.  Beide  Bewegungen, 
die  umfassendere  wie  die  engere,  waren  seit  der  Mitte  der  vierziger 
Jahre  allmählich  etwas  stärker  in  Fluß  gekommen,  und  an  beiden 
hatte  sich  Engels  fast  von  der  ersten  Stunde  an  mit  Weitblick  und 
Hingabe  beteiligt.  Wollten  die  demokratischen  Führer  aus  den 
kontinentalen  Staaten  in  ihren  eigenen  Ländern  etwas  ausrichten, 
so  mußten  sie  damals,  sofern  sie  nicht  Urfehde  schwuren,  ihre 
Wirksamkeit  in  das  Ausland  verlegen.  Aber  selbst  wenn  sie  nun 
von  schweizerischem,  von  französischem  oder  belgischem  Boden  aus 
auf  die  Heimat  einzuwirken  versuchten,  mußten  sie,  wie  wir  oft- 
mals sahen,  weil  die  heimische  Regierung  bei  der  fremden  mit  nie 
ruhender  Wachsamkeit  ihre  Ausweisung  durchsetzte,  von  neuem 
zum  Wanderstab  greifen.  Nur  über  den  Kanal,  in  das  Land  der 
ältesten  freiheitlichen  Tradition,  reichte  der  Arm  der  kontinentalen 
Reaktion  nicht.  Aber  selbst  hier  häuften  sich  Hindernisse,  die 
eine  innige  Fühlungnahme  der  Zugewanderten  und  der  Flüchtlinge 
mit  den  ihnen  verwandten  politischen  und  sozialen  Kreisen  des  Gast- 
landes erschwerten.  Die  insulare  Abgeschlossenheit  der  Engländer 
verharrte  damals  noch  in  großer  Unkenntnis  über  die  Vorgänge 
auf  dem  Kontinent.  Wir  entsinnen  uns,  daß  niemand  frühzeitiger 
als  Engels  dies  erkannt  und  dagegen  anzukämpfen  begonnen  hat. 
Wenn  die  Chartisten  auch  schon  vorher  gelegentlich  die  Schicksals - 
gemeirschaft  der  Arbeiter  und  Unterdrückten  aller  Länder  betont  und 
die  freiheitlichen  Bestrebungen  auf  dem  Kontinent  mit  begeisterten 
Cheers  begrüßt  hatten,  so  wußten  doch  nicht  nur  die  Massen,  son- 
dern auch  die  Führer  wenig  davon,  bis  Harne y,  stark  von  Engels 
beeinflußt,  an  die  Spitze  der  Bestrebungen  trat,  die  eine  engere 
Fühlungnahme  zwischen  den  Chartisten  und  den  Englands  Gast- 
freundschaft genießenden  politischen  Flüchtlingen  zum  Ziele 
hatten.  Was  in  den  dreißiger  Jahren  auf  dem  Festland  in  Geheim- 
bünden sich  abgespielt  hatte,  das  kam  jetzt  hier  bei  den  Banketten, 
die  nicht  so  leicht  wie  öffentliche  Versammlungen  polizeiliche 
Einmischung  fürchten  mußten,  zum  Ausdruck:  die  Gemeinsamkeit 
der  demokratischen,  und  was  bei  den  Chartisten  davon  untrennbar 
war,  der  proletarischen  Bestrebungen  in  Europa  wurde  in  Reden 
und  Resolutionen  der  Öffentlichkeit  verkündigt.  Über  ein  solches 
„Fest  der  Nationen",  das  am  22.  September  1845  in  London  den 
Jahrestag  der  Errichtung  der  französischen  Republik  beging,  und 
bei  dem  neben  Harne  y  Weitling  und  der  Franzose  Berrier -Fontaine, 
ein  Anhänger   Cabets,  als  Redner  auftraten,  hatte  Engels  in  den 


294  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

Rheinischen  Jahrbüchern  enthusiastisch  berichtet.  Schon  am 
10.  August  1844  waren  bei  einer  ähnlichen  Gelegenheit  Trinksprüche 
auf  die  Demokratien  aller  Länder  mit  Jubel  aufgenommen  worden, 
diesmal  aber  hatten  kommunistische  Redner  die  Menge  begeistert. 
,,Das  Chartistenmeeting  war  ein  kommunistisches  Fest",  frohlockte 
Engels,  und  voreilig  verallgemeinernd  behauptete  er  daraufhin,  „daß 
die  Demokratie  heutzutage  der  Kommunismus  ist". 

Weil  aber  diese  Behauptung,  wie  Engels  sich  wohl  bald  ein- 
gestand, der  Wirklichkeit  reichlich  vorauseilte,  verschmähte  es 
weder  er  noch  seine  kleine  Partei,  bei  der  von  Harne  y  1845  ins 
Leben  gerufenen  allgemeinen  demokratischen  Vereinigung  der 
Fraternal  Democrats  die  Hand  im  Spiel  zu  haben.  Dar  rührige 
öffentliche  deutsche  Arbeiterbildungsverein  in  London,  der  einen 
Werbebezirk  abgab  für  den  unterirdisch  wirkenden  Bund  der 
Gerechten,  war  bei  diesem  Zusammenschluß  der  auf  englischem 
Boden  weilenden  Demokraten  aus  den  verschiedensten  Ländern 
eine  der  treibenden  Kräfte  gewesen.  An  der  Spitze  des  Vereins, 
den  sie  gegründet,  und  des  Bundes,  den  sie  nach  dem  letzten  un- 
glücklichen Putschversuch  der  Societ6  des  Saisons,  deren  Ableger 
&r  gewesen  war,  1839  hierher  gerettet  hatten,  standen  noch  immer 
Karl  Schapper,  der  baumlange  Pastorensohn  und  Forststudent 
aus  dem  Nassauischen,  der  nun  schon  lange  Jahre  als  Setzer  seinen 
Unterhalt  gewann,  der  kleine  geweckte  fränkische  Schuhmacher 
Heinrich  Bauer  und  der  Uhrmacher  Joseph  Moll  aus  Köln,  die 
schon  1843  Engels  in  den  Bund  der  Gerechten  hatten  hineinziehen 
wollen.  Damals  stieß  er  sich,  wie  wir  schon  sagten,  noch  an  der 
rohen  naturrechtlichen  Ideologie,  die  hier  den  Ton  angab  und  auf 
die  er  vom  Standpunkt  seiner  immanenten  Dialektik  aus  noch  so 
vorurteilsvoll  herabblickte.  Daß  Engels  aber  die  Fäden,  die  ihn 
mit  diesen  erprobten  Revolutionären  und  überzeugten  Kommunisten 
lose  verknüpften,  trotz  allem,  was  sie  damals  schied,  nicht  hatte 
abreißen  lassen,  lohnte  sich  ihm,  als  er  sie  bei  seinem  Aufenthalt 
in  London  im  Sommer  1845  bereit  fand,  für  England  die  Vertretung 
des  kommunistischen  Korrespondenzkomitees  zu  übernehmen,  das 
er  und  Marx  eben  gründen  wollten.  Wahrscheinlich  hatte  er, 
der  frühzeitiger  als  irgendein  anderer  Deutscher  die  Notwendigkeit 
erkannte,  zwischen  den  Kommunisten  der  führenden  Kulturländer 
eine  Verständigung  anzubahnen,  diese  Männer  zum  erstenmal 
mit  Harne y  und  Ernest  Jones  in  Verbindung  gebracht.  Bis  vor 
kurzem  hatte  den  deutschen  Handwerkern  und  Arbeitern  in  Eng- 
land einschließlich  ihrer  Führer  als  oberster  Wegweiser  Weitling 
gegolten.  Wie  dieser  aber  im  Sommer  1844  in  ihrer  eigenen  Mitte 
auftauchte,  entdeckten  sie  rasch,  daß  er  nicht  mehr  auf  der  Höhe 


Anknüpfung  mit  dem  Bund  der  Gerechten.  295 

der  Aufgabe  stand,  die  sie,  aus  dem  Gefühl  heraus,  daß  sie  jetzt 
geleistet  werden  mußte,  zunächst  ihm  zugedacht  hatten.  Seitdem 
sie  sich  in  die  englischen  Verhältnisse  einlebten,  waren  Moll,  Schap- 
per  und  Bauer  in  ihrem  wachen  Klassenbewußtsein  ganz  geblen- 
det durch  die  gigantischen  Machtkämpfe  des  britischen  Industrie- 
proletariats, denen  sie  voll  Spannung  und  Bewunderung  folgten. 
Dabei  bemächtigte  sich  ihrer,  wie  es  nicht  anders  sein  konnte, 
mehr  und  mehr  die  Erkenntnis,  daß  die  holzschnittmäßige  Aus- 
deutung der  großen  ökonomischen  und  sozialen  Zusammenhänge, 
die  Cabet  und  die  Weitling  ihnen  boten,  so  neuen  und  so  umwäl- 
zenden Vorgängen  gegenüber  versagten,  und  daß  mit  den  praktischen 
Vorschlägen  des  französischen  und  des  deutschen  Oberhaupts  des 
kontinentalen  Kommunismus  ebenfalls  für  sie  nichts  anzufangen 
war.  Wie  andere  Kost  wurde  ihnen  geboten,  als  Engels  sie  mit 
seinem  Werk  über  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  beschenkte, 
das  ihnen  die  durch  die  Großindustrie  bewirkte  gewaltige  Revolution, 
die  sie  in  England  vor  sich  sahen,  zum  erstenmal  in  einem  großen 
weltgeschichtlichen  Rahmen  zeigte.  Die  Aufklärungen  und  Ein- 
blicke in  neue  Zusammenhänge,  die  dieses  Buch  ihnen  verschaffte, 
vermehrten  und  verstärkten  noch  die  teils  gedruckten,  teils  litho- 
graphierten Zirkulare,  von  denen  sich  leider  nur  das  Rundschreiben 
gegen  Kriege  erhalten  hat,  die  Engels  und  Marx  von  Brüssel  aus 
ihrem  englischen  Korrespondenzkomitee  zusandten.  Bald  unterlag 
es  für  Schapper  und  seine  beiden  Freunde  aus  dem  Handwerker- 
stand keinem  Zweifel  mehr,  daß  Engels  und  Marx  aus  der  Wirt- 
schaftsrevolution, die  sich  in  England  vollzogen  hatte,  ungleich 
weiter  greifende  und  tiefer  schürfende  Folgerungen  zogen,  als  die 
Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit  und  die  Reise  nach  Ikarien. 
Sie  erkannten,  wie  Marx  im  Herrn  Vogt  sagt,  daß  es  nicht  auf 
die  Durchführung  irgendeines  utopistischen  Systems  ankam,  son- 
dern auf  ,,die  selbstbewußte  Teilnahme"  an  dem  unter  ihren  Augen 
vor  sich  gehenden  Umwälzungsprozeß  der  Gesellschaft.  In  den 
Rundschreiben,  die  sie  im  November  1846  und  Februar  1847  ^^' 
ließen,  spiegelt  sich  ihre  Abkehr  von  der  ,,Systemkrämerei"  und 
ihr  wachsendes  Verlangen  nach  begrifflicher  Klärung  und  ver- 
stäiktem  organisatorischen  Zusammenschluß  aller  kommunisti- 
schen Kräfte.  Wie  Weitling  enttäuschte  diese  Männer  auch  Cabet, 
als  er  1847  in  ihrer  Mitte  erschien  und  keine  Mühe  scheute,  sie 
für  seine  Pläne  zu  gewinnen.  Nicht  auf  einer  fernen  Insel  der 
Seligen,  sondern  auf  heimischer  Scholle  verlangte  es  sie  das  neue 
Jerusalem  zu  erbauen;  nicht  darum  hatten  sie  seit  1830  an  zahl- 
losen revolutionären  Umtrieben  in  Deutschland,  Frankreich  und 
der  Schweiz  teilgenommen,  um  am  Vorabend   eines  neuen  eure- 


296  In  Belgien  und  Frankreich. 

päischen  Ausbruchs  der  revolutionären  Kräfte  dem  französischen 
Utopisten  irgendwo  in  Amerika  sein  Luftreich  des  Traums  ver- 
wirklichen zu  helfen. 

Nun  hatte  schon  vor  Cabets  Besuch,  im  Januar  1847,  der 
engere  Ausschuß  des  Bundes  der  Gerechten  eine  Entscheidung  ge- 
troffen, die  folgenreich  geworden  ist.  Er  hatte  beschlossen,  daß 
Joseph  Moll,  der  unter  diesen  Männern  der  bedeutendste  Geist 
gewesen  zu  sein  scheint,  zu  Marx  nach  Brüssel  und  zu  Engels 
nach  Paris  reisen  sollte,  um  in  aller  Form  ihre  Mithilfe  für  die 
unaufschiebbar  gewordene  politische  Neuorganisation  und  theore- 
tische Neuorientierung  des  Bundes  in  Anspruch  zu  nehmen.  Jenen 
drei  Freunden  und  ihren  jüngeren  Genossen,  dem  Miniaturmaler 
Karl  Pfänder  und  dem  Schneider  Georg  Eccarius,  war  es  nicht 
leicht  geworden,  einen  solchen  Beschluß  der  Mehrzahl  der  Mit- 
glieder mundgerecht  zu  m.achen.  Mochten  die  wissenschaftlichen 
Kommunisten  mit  dem  politischen  Niveau  und  der  geistigen  Auf- 
nahmebereitschaft der  ,, Straubinger"  unzufrieden  sein,  unver- 
gleichlich tiefer  wurzelte  noch  im  Handwerkerkommunismus  das 
Mißtrauen  gegen  die  Studierten.  Doch  die  geschichtliche  Stunde 
war  gekommen,  wo  die  beiden  Bewegungen,  aus  denen  die  deutsche 
Sozialdemokratie  zusammengewachsen  ist,  einander  finden  sollten. 
,,Der  Blitz  des  Gedankens"  hatte  ,,in  den  naiven  Volksboden"  ein- 
geschlagen, und  dem  Vortrupp  des  Freiheitskampfes  der  deutschen 
Arbeiter  ging  zum  erstenmal,  wenn  auch  noch  im  Dämmerlicht, 
die  Wahrheit  des  Marxschen  Wortes  auf,  daß  Deutschland,  nein 
daß  die  Welt  nur  frei  werden  könne,  wenn  die  Philosophie  der  Kopf, 
das  Proletariat  das  Herz  des  großen  Emanzipationskampfes  würde. 
Moll  erklärte  Engels  und  Marx,  daß  der  Bund  sich  von  der  all- 
gemeinen Richtigkeit  ihrer  Auffassungsweise  überzeugt  habe, 
daß  er  mit  der  alten  konspiratorischen  Taktik,  an  der  sie  Anstoß 
nahmen,  brechen  wolle  und  sich  auf  eine  zeitgemäßere  Grundlage 
zu  stellen  beabsichtige.  Wünschten  die  beiden  Freunde,  sich  an 
dieser  Neuorganisation  zu  beteiligen,  was  ihnen  dringend  erforder- 
lich erschien,  so  sahen  sie  sich  genötigt,  jetzt  Molls  Vorschlag  an- 
zunehmen und  in  den  Bund  als  Mitglieder  einzutreten.  Denn  nur 
so  konnten  sie  dem  Kongreß,  auf  dem  dieser  seine  Entscheidung 
treffen  wollte  und  den  er  vorbereitete,  persönlich  beiwohnen.  Daß 
die  politische  Lage  eine  Organisation  der  zum  Kommunismus  hin- 
neigenden deutschen  Arbeiter  erheischte,  und  daß  eine  solche  ihren 
Sitz  im  Ausland  haben  mußte,  solange  daheim  das  Vereins-  und 
Versammlungsrecht  noch  nicht  erstritten  war,  davon  brauchte 
man  sie  nicht  zu  überzeugen.  Eine  völlig  neue  Organisation  ins 
Leben  zu  rufen,  ist  immer  unendlich  schwer,  im  Bund  der  Gerechten 


Molls  Reise  nach  Brüssel  und  Paris.  297 

bot  sich  ihnen  die  einzige  bisher  vorhandene  an  und  versprach 
freiwillig  alles  abzustreifen,  was  sie  bisher  von  ihr  ferngehalten 
hatte.  Sollten  Engels  und  Marx  sich  da  noch  besinnen,  die  Hand 
des  deutschen  Proletariats,  die  sie  lange  vergeblich  gesucht  hatten 
und  die  sich  nun  zum  erstenmal  nach  ihnen  ausstreckte,  freudigen 
Herzens  zu  ergreifen  ?  Sie  traten  in  den  Bund  ein,  Marx  wurde  es 
leicht,  aus  dem  Brüsseler  Freundeskreis  eine  Bundesgemeinde  zu 
machen,  während  Engels  sich  mit  den  drei  Gemeinden,  die  in  Paris 
noch  vorhanden  waren,  in  Beziehungen  setzte.  Der  Kongreß,  der 
die  Reorganisation  vollziehen  sollte,  wurde  für  den  Juli  1847  nach 
London  einberufen.  Engels  mußte  jetzt  alles  daran  liegen,  als 
Delegierter  der  Pariser  Gemeinden  dort  erscheinen  zu  können. 
Aber  seine  Stellung  in  ihrer  Mitte  war  nicht  unbestritten,  und  Stephan 
Born,  der  bei  der  entscheidenden  Abstimmung  den  Vorsitz  führte, 
konnte  ihm  seinen  Wunsch  nur  durch  Anwendung  des  Tricks  er- 
füllen, daß  er  nicht  jene,  die  für,  sondern  nur  jene,  die  gegen  seine 
Entsendung  waren,  die   Hand  erheben  ließ. 

Da  aus  Brüssel  bloß  der  von  den  Arbeitern  vergötterte    aber 
in  seinem  Wesen  zurückhaltende  Wilhelm  Wolff   und  nicht  auch 
Marx  zu  dem  Kongreß  reiste,  so  blieb  es  Engels  vergönnt,  für 
ihre   gemeinsame   Sache  den  ersten  großen    und   wirklich  folgen- 
reichen Sieg  zu  erfechten.    Noch  einmal  mußte  er  dort  in  langen, 
heftigen    Debatten    das    Mißtrauen    der   schwieligen    Faust   gegen 
die    Schreibtischmenschen   niederkämpfen,    bevor    er  bei   der    Um- 
bildung   des    Bundes    in  eine    von    allem    konspiratorischem    Bei- 
werk   befreite    Propagandagesellschaft    die    Führung    übernehmen 
durfte.     Eine   der    Bedingungen,  von  denen    er    und    Marx   ihren 
Eintritt   abhängig    gemacht   hatten,    war  gewesen,  daß   die  neuen 
Statuten  mit  allem  Autoritätsaberglauben  brechen  müßten.   In  dem 
Gegensatz  zwischen  demokratischer  und  autoritativer  Organisations- 
form,  der    sich  durch  die  ganze  Geschichte  der  deutschen  Sozial- 
demokratie zieht,  sind  sie  immer  für  die  demokratische  eingetreten. 
In  einem  Geheimbund,  das  gaben  sie  zu,  war  auf  eine  diktatorisch 
gebietende  Zentralstelle  nicht  gut  zu  verzichten.    Sobald  man  aber, 
wie  jetzt  geschah,  ein  so  weitreichendes  Maß  von  Öffentlichkeit,  wie 
die  Gesetzgebung  der  einzelnen  Länder  zuließ,  zur  Regel  machte, 
konnten   sie   fordern,   daß  die    Gesamtheit   der    Mitglieder   hinfort 
ihre  Behörden  einsetzte  und  absetzte.    Als  seine  oberste  Aufgabe 
bezeichnete  der   Bund  der   Kommunisten,   wie   sich  der   Bund  der 
Gerechten   seit   seiner   Umschmelzung   nannte,    genau    wie  Engels 
es  gefordert  hatte,  den  Sturz  der  Bourgeoisie,  die  Herrschaft  des 
Proletariats,    die    Aufhebung    der    alten,    auf    Klassengegensätzen 
beruhenden  bürgerlichen  Gesellschaft  und  die  Gründung  einer  neuen 


298  In  Belgien  und  Frankreich. 

Gesellschaft  ohne  Klassen  und  ohne  Privateigentum.  Entsprechend 
den  neuen  Grundsätzen  mußten  die  Statuten  wie  das  Programm, 
bevor  sie  endgültige  Form  annahmen,  den  einzelnen  Gemeinden 
des  Bundes  zur  Begutachtung  vorgelegt  werden.  Das  Programm, 
das  aller  künftigen  Propaganda  als  Richtschnur  dienen  sollte, 
hätten  Schappsr  und  sein  Kreis  gern  selbständig  abgefaßt.  Aber  als 
sie  jetzt  an  den  Versuch  gingen,  zeigte  sich  ihnen  bald,  daß  dies 
eine  Aufgabe  war,  die  stärkere  theoretische  Kräfte  erforderte.  So 
ließsri  sie  ihre  Genossen  wissen,  daß  sie  es  für  ratsamer  hielten, 
den  Entwurf,  den  sie  verfaßt  hätten,  den  „Freunden  auf  dem  Fest- 
land" zur  Begutachtung  zu  unterbreiten;  sobald  sie  deren  Ant- 
worten empfangen  hätten,  würden  sie  die  dann  noch  nötigen  Ab- 
änderungen und  Zusätze  vornehmen  und  ihn  danach  veröffent- 
lichen. Diese  Bekanntgebung  finden  wir  in  dem  einzigen  Heft 
jener  Kommunistischen  Zeitschrift,  die,  von  Schapper  redigiert,  im 
September  erschien.  Wie  intensiv  Engels  die  Geister  beeinflussen 
konnte,  wo  er  empfängliche  Zuhörer  fand,  zeigte  sich  hier.  Auch 
aus  vielen  Sätzen  eines  Aufrufs  an  die  Proletarier,  der  dort  veröffent- 
licht wurde,  glaubt  man  seine  Stimme  herauszuhören.  Die  Fraternal 
Democrats  entlehnten  dem  Bunde  der  Gerechten  sein  altes  Motto 
,,Alle  Menschen  sind  Brüder"  zu  einer  Zeit,  als  in  seiner  Mitte  das 
Gemeinsamkeitsgefühl  der  Proletarier  immer  stärker  nach  einem 
sichtbaren  Ausdruck  verlangte.  Auf  der  ersten  Nummer  der  Kom- 
munistischen Zeitschrift,  der  ja  keine  zweite  gefolgt  ist,  begegnet 
uns  jetzt  zum  erstenmal  das  neue  Motto  „Proletarier  aller  Länder 
vereinigt  euch".  Weil  aber  dieses  Blatt  entstand,  unmittelbar  nach- 
dem Engels  zu  jenem  Kongreß  in  London  geweilt  hatte,  so  möchten 
wir  annehmen,  ohne  es  unsererseits  bisher  urkundlich  beweisen 
zu  können,  daß  diese  prägnantere  Formulierung  von  Marx  und 
ihm  geprägt  worden  ist.  Wenn  der  neue  Schlachtruf  auch  nicht 
ausdrücklich  den  älteren  verleugnete,  so  hatte  es  doch  seine  tiefe 
geschichtliche  Bedeutung,  daß  der  Kommunistenbund,  dessen 
Organ  die  Zeitschrift  hatte  werden  sollen,  die  naturrechtliche  Hülle 
abstrerfte  und  das  allgemeine  Bekenntnis  zur  Brüderlichkeit  durch 
den  schrillen  und  trotzigeren  proletarischen  Sammelruf  ersetzen  zu 
müssen  glaubte. 

Von  London  begab  sich  Engels  über  Ostende  nach  Brüssel 
und  vertrat  von  der  zweiten  Augustwoche  bis  in  den  Oktober  Marx 
in  der  demokratischen  Bewegung,  die  wie  in  ganz  Europa,  so  auch 
in  der  belgischen  Hauptstadt,  wenn  auch  eigentlich  nicht  unter 
den  Belgiern  selbst,  immer  stärker  in  Fluß  kam.  Das  erste  homogen- 
liberale Ministerium  Rogier-Fröre-Orban,  das  gerade  in  diesen 
Tagen  ans   Ruder  kam,  war  ein  typisches  Bourgeoisministerium, 


Proletarier  aller  Länder  vereinigt  Euch!  299 

und  der  D6bat  Social,  das  Organ  der  unbeträchtlichen  radikalen 
Gruppe,  mit  der  Marx  und  Engels  sympathisierten,  begrüßte  den 
Regierungswechsel  ganz  in  ihrem  Geiste  mit  der  illusionslosen 
Bemerkung:  ,,Le  seigneur  de  fer  et  du  coton  va  remplacer  le  sei- 
gneur  terrien!  L'ordre  des  avocats  succdde  4  l'ordre  des  j6suites." 
Bei  der  Errichtung  einer  kosmopolitisch-demokratischen  Gesell- 
schaft nach  dem  Vorbild  der  Fraternal  Democrats  verhinderte  En- 
gels sehr  geschickt  Bornstedt,  den  es  wurmte,  daß  seine  kommu- 
nistisch gesinnten  Landsleute  ihn,  den  ,, aristokratischen  homme 
d'esprit"  nur  als  ihr  Werkzeug  behandelten,  sich  Marx  Abwesen- 
heit zunutze  zu  machen,  um  im  Verein  mit  anderen  ihren  Kreis 
auszuschalten.  Auf  dem  Gründungsbankett,  dem  Belgier,  Deutsche, 
Franzosen,  Schweizer,  Polen,  Russen  beiwohnten,  wurde  er,  ob- 
gleich er  sich,  weil  er  so  schrecklich  jung  aussähe,  anfangs  gesträubt 
hatte,  neben  dem  Franzosen  Imbert  zum  Vizepräsidenten  gewählt 
und  in  das  Organisationskomitee  aufgenommen.  Er  toastete  in 
französischer  Sprache  auf  das  Andenken  der  Revolution  von  1792. 
In  dieser  Gesellschaft  stand  von  vornherein  das  Wohl  der  arbeitenden 
Klassen  und  ihr  internationaler  Zusammenschluß  im  Vordergrund 
des  Interesses.  Noch  ausschließlicher  beschäftigte  sich  mit  diesen 
Problemen  aber  natürlich  der  Deutsche  Arbeiterbildungsverein, 
der  ebenfalls  unter  Engels  stärkster  Mitwirkung  Ende  August  ge- 
gründet worden  war  und  schnell  zu  hoher  Blüte  gelangt  ist.  Bevor 
er  in  der  zweiten  Oktobsrhälfte  nach  Paris  abreiste,  setzte  er 
durch,  daß  sein  Platz  an  der  Spitze  der  Demokratischen  Gesellschaft 
für  Marx  freigehalten  wurde.  „Jedenfalls  haben  wir  das  gewonnen," 
schrieb  er  dem  Freunde  am  30.  September,  ,,daß  Du  und  nach  Dir 
ich  als  Repräsentanten  der  deutschen  Demokraten  in  Brüssel  an- 
erkannt sind." 

Um  in  der  Agitation  wirkliche  Erfolge  zu  erzielen,  muß  der 
einzelne  im  Namen  einer  Kollektivität  auftreten  können.  Selbst 
der  bedeutende  Mensch  erreicht  nicht  viel,  solange  er  bloß  im 
eigenen  Namen  sprechen  kann.  Diese  Erfahrung  hatte  Engels 
während  seiner  ersten  Pariser  Wirkungsperiode  machen  müssen. 
Um  wieviel  leichter  erschlossen  sich  ihm  das  zweite  Mal  die  Türen, 
die  er  offen  finden  wollte  1  Weil  der  französische  Sozialismus  in 
fast  allen  seinen  Schattierungen  noch  immer  den  politischen  Kampf 
ablehnte,  konnte  sich  Engels  die  Kampfgenossen  für  die  heran- 
nahende Entscheidungsschlacht  hier  nur  in  den  Reihen  jener 
mehr  oder  weniger  staatssozialistisch  gesinnten  Demokraten  suchen, 
die  sich  um  die  Reforme  scharten,  und  die  gleich  ihm  unter  der 
Führung  eines  Louis  Blanc  und  Ferdinand  Flocon  die  Eroberung 
der  politischen  Macht  durch  die  Demokratie  als  die  erste  Voraus- 


300  In  Belgien  und  Frankreich. 

Setzung  jeder  sozialen  Umgestaltung  ansahen.  Bereit,  mit  jeder 
entschieden  demokratischen  Richtung  des  Bürgertums  Hand  in 
Hand  zu  gehen,  brauchte  Engels  die  Zusammenarbeit  mit  dieser 
Partei,  auf  deren  Programm  die  Abschaffung  der  Lohnarbeit  stand, 
nicht  zu  scheuen,  obgleich  er  wissen  mußte,  wie  abgeneigt  Ledru- 
Rollin,  ihr  parlamentarischer  Führer,  dem  Kommunismus  war, 
und  so  wenig  er  selbst  in  der  Organisation  der  Arbeit  mit  Louis 
Blanc  eine  Zauberformel  für  die  Beseitigung  aller  Not  sah.  Regen 
Eifer  wandte  er  jetzt  an  die  Aufgabe,  zu  diesem  äußersten  linken 
Flügel  der  französischen  Demokratie  womöglich  ebenso  feste  Be- 
ziehungen zu  gewinnen,  wie  er  sie  seit  lange  schon  zu  den  Char- 
tisten besaß.  Durch  frühere  Erfahrungen  gewitzigt  erschien  er 
bei  Louis  Blanc  als  offizieller  Abgesandter  der  Londoner,  Brüsseler 
und  rheinischen  deutschen  Demokraten  und  als  ,, Agent  der  Charti- 
sten" und  verschmähte  es  sogar  nicht,  sich  Johann  Jacobys  und 
der  badischen  Demokraten  als  der  Verbündeten  seiner  Gruppe  zu 
rühmen.  Der  Chef  dieses  „fortgeschrittensten  Flügels  der  deutschen 
Demokratie  sei  Marx,  und  dessen,  bekanntlich  in  französischer 
Sprache  abgefaßte,  Streitschrift  gegen  Proudhon  ihr  Programm". 
Über  die  Aufgaben  und  die  Richtung  der  kommenden  Revolution 
verständigte  Engels  sich  mit  dem  „kleinen  Sultan"  um  so  besser, 
als  er  sich  wohl  hütete,  ihn  fühlen  zu  lassen,  wie  sehr  er  in  theore- 
tischer Hinsicht  auf  ihn  herunterblickte.  Auch  bei  Flocon,  der  die 
R6forme  von  Berufs  wegen  redigierte,  trat  er  zuerst  als  Vertreter  der 
Chartisten  auf,  den  Harne y  sende,  um  sich  zu  erkundigen,  weshalb 
eigentlich  das  französische  Parteiblatt  den  Northern  Star  grund- 
sätzlich ignoriere.  Die  offene  Antwort,  die  er  erhielt,  daß  keiner 
der  Redakteure  Englisch  verstünde,  griff  er  auf,  um  dem  wohl- 
wollenden Franzosen,  der  „nicht  die  blasseste  Laus"  davon  ver- 
stand, den  von  diesem  gern  angenommenen  Vorschlag  zu  machen, 
den  Lesern  seines  Blattes  allwöchentlich  in  einem  Artikel  die  Lage 
in  England  und  Deutschland  darzulegen.  ,, Wenn  das  so  fort  geht," 
schrieb  Engels  hierüber  frohen  Muts  an  Marx,  ,,so  haben  wir  in 
vier  Wochen  diese  ganze  Richtung  gewonnen,"  In  dem  gleichen 
Brief  regte  er  Marx  an,  wenn  sie  demnächst  gemeinsam  zu  dem 
zweiten  Kommunistenkongreß  nach  London  reisten,  bei  denFraternal 
Democrats  eine  französische  Rede  zu  halten,  die  er  in  die  Reforme 
bringen  werde:  „Die  Deutschen  müssen  absolut  etwas  tun,  um 
bei  den  Franzosen  auftreten  zu  können.  Eine  einzige  Rede  wird 
mehr  helfen  als  zehn  Artikel  und  hundert  Besuche." 

Dieser  zweite  Kongreß  des  Kommunistenbundes,  der  bestimmt 
war,  das  Werk  des  ersten  abzuschließen,  sollte  am  30.  November 
beginnen.    Der  von  Schapper  und  Moll  verfertigte  Entwurf  eines 


Der  Kommunistenbund. 


301 


,, Glaubensbekenntnisses"  hatte  in  der  Zwischenzeit  einigen  Ge- 
meinden zur  Begutachtung  vorgelegen,  in  anderen  war  ohne  dessen 
genaue  Kenntnis  über  den  Inhalt  diskutiert  worden.  Die  Pariser 
Gemeinde  behandelte  die  Frage  auf  Grund  eines  „verbesserten 
Glaubensbekenntnisses",  das  Moses  Heß  ihr  unterbreitete.  Dieses 
unterzog  Engels  einer  so  vernichtenden  Kritik,  daß  am  Ende  er 
beauftragt  wurde,  ein  neues  Bekenntnis  auszuarbeiten.  Seine 
Wahl  zum  Delegierten  vollzog  sich  diesmal  ohne  Schwierigkeit, 
nur  noch  der  Form  wegen  hatte  man  ihm  einen  Arbeiter  als  Kan- 
didaten entgegengestellt.  Am  29.  November  fand  in  den  Räumen 
des  Londoner  Arbeiterbildungsvereins  eine  von  den  Brüderlichen 
Demokraten  veranstaltete  Gedenkfeier  an  den  siebzehnten  Jahres- 
tag des  polnischen  Aufstands  statt,  bei  der  Marx  die  Rede  hielt, 
zu  der  Engels  ihn  früher  ermuntert  hatte,  und  deren  Leitmotiv 
die  Untrennbarkeit  des  Befreiungskampfes  der  unterdrückten 
Nationen  von  dem  des  Proletariats  war.  Engels  behandelte  hier 
zum  erstenmal  öffentlich  die  polnische  Frage.  , »Erlaubt  mir,  meine 
Freunde,"  rief  er  aus,,, hier  einmal  ausnahmsweise  in  meiner  Eigen- 
schaft als  Deutscher  aufzutreten.  Wir  deutschen  Demokraten 
haben  nämlich  ein  besonderes  Interesse  an  der  Befreiung  Polens. 
Es  sind  deutsche  Fürsten  gewesen,  die  aus  der  Teilung  Polens 
Vorteil  gezogen  haben.  Es  sind  deutsche  Soldaten,  die  noch  jetzt 
Galizien  und  Polen  unterdrücken.  Uns  Deutschen,  uns  deutschen 
Demokraten  vor  allem,  muß  daran  liegen,  diesen  Flecken  von  unserer 
Nation  abzuwaschen.  Eine  Nation  kann  nicht  frei  werden  und 
zugleich  fortfahren,  andere  Nationen  zu  unterdrücken.  Die  Be- 
freiung Deutschlands  kann  also  nicht  zustande  kommen,  ohne 
daß  die  Befreiung  Polens  von  der  Unterdrückung  durch  Deutsche 
zustande  kommt.  Und  darum  hat  Polen  und  Deutschland  ein 
gemeinschaftliches  Interesse,  und  darum  können  polnische  und 
deutsche  Demokraten  gemeinsam  arbeiten  an  der  Befreiung  beider 
Nationen." 

Darauf  sprach  Engels  die  Hoffnung,  die  ihn  hernach  so  ge- 
trogen hat,  aus,  daß  der  erste  entscheidende  Schlag,  der  in  allen 
europäischen  Ländern  den  Sieg  der  Demokratie  zur  Folge  haben 
werde,  den  Chartisten  glücken  mög.^^,  denen  er  sich  schon  bei  sei- 
nem ersten  Aufenthalt  in  England  offen  angeschlossen  habe.  Der 
Gleichheit  der  Interessen  der  Proletarier  in  allen  Kulturländern 
galt  sein  letztes  Wort,  überall  sollten  sie  sich  verbrüdern  zum 
Kampf  gegen  die  Bourgeoisie.  Mit  „hinreißendem  Beifall"  lohnten 
die  Chartisten  dem  Redner,  der  natürlich  Englisch  sprach,  sein 
Bekenntnis,  das  er  ,,mit  Haut  und  Haaren"  zu  ihnen  gehöre.  Der 
Gedanke,  einen  allgemeinen  demokratischen  Kongreß  einzuberufen, 


302  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

der  damals  in  der  Luft  liegen  mußte,  war  von  den  Fraternal  Demo- 
crats  am  frühesten  angeregt,  aber  von  der  Demokratischen  Gesell- 
schaft in  Brüssel  aufgenommen  worden.  Als  Marx  jetzt  hier  in 
deren  Namen  die  Engländer  für  den  Herbst  1848  nach  dem 
Kontinent  einlud,  willigten  diese  ein  und  erteilten  Engels  die  ihm 
willkommene  Vollmacht,  dem  Comit6  de  la  R6forme  in  Paris  in 
ihrem  Namen  die  Einladung  zu  überbringen.  Den  gleichen  Auftrag 
erhielt  er  am  20.  Dezember  von  der  Brüsseler  Gesellschaft. 

Der  Kongreß  der  Kommunisten  erfüllte  Marx  und  Engels 
alle  Hoffnungen,  die  sie  auf  ihn  gesetzt  hatten.  Namentlich  fand 
auch  ein  Entwurf  zu  dem  offiziellen  Parteimanifest,  den  sie  mit- 
brachten, nach  heftigen  Kämpfen  die  Billigung  der  großen  Mehr- 
heit. Nun  wurden  sie  offiziell  damit  betraut,  es  endgültig  auszu- 
arbeiten. Wie  das  berühmte  Dokument  unter  ihren  Händen  zustande 
gekommen  ist,  erfordert  eine  genauere  Untersuchung.  Als  Engels, 
schon  auf  dem  Sprunge,  nach  London  abzureisen,  in  Paris  das 
„Glaubensbekenntnis",  mit  dessen  Ausarbeitung  die  dortige  Bundes- 
gemeinde ihn  beauftragt  hatte,  aufs  Papier  warf,  stieß  er  sich, 
weil  sie  ihm  zu  theologisch  vorkam,  an  der  Bezeichnung,  die  Schap- 
per  und  Moll  ihrem  Entwurf  gegeben  hatten.  Auch  die  Katechismus - 
form,  die  für  solche  auf  die  Arbeiter  berechneten  programmatischen 
Kundgebungen  damals  üblich  war  und  deren  zuletzt  noch  Consi- 
d6rant  und  Cabet  sich  bedient  hatten,  erschien  ihm  nicht  mehr 
am  Platze  für  ein  Schriftwerk,  in  dem,  wie  es  bei  seiner  und  Marx 
Gedankenrichtung  notwendig  wurde,  „mehr  oder  weniger  Geschichte 
erzählt  werden  mußte".  Deshalb  schlug  er  am  24.  November 
Marx  vor,  diese  Gestaltung  des  Aufbaus  ganz  fallen  zu  lassen 
und  „dem  Ding"  den  Namen  „Kommunistisches  Manifest"  zu  geben, 
der  ja  seit  dem  Manifeste  des  Egaux  von  1796  in  der  französischen 
Parteiliteratur  ebenfalls  Heimatrecht  hatte. 

Über  den  eigenen  Entwurf,  bei  dessen  Abfassung  er  der  Rück- 
sichten auf  seine  Auftraggeber  keineswegs  enthoben  gewesen  war, 
schrieb  er  Marx,  wenige  Tage  bevor  er  sich  mit  ihm  in  Ostende  traf, 
um  gemeinsam  nach  London  zu  reisen,  er  sei  „einfach  erzählend, 
aber  miserabel  redigiert,  in  fürchterlicher  Eile".  Da  er  in  dem 
gleichen  Brief,  der  vom  24.  November  datiert  war,  den  Freund 
mahnen  zu  müssen  glaubte:  „überlege  Dir  doch  das  Glaubensbekennt- 
nis etwas,"  so  müssen  wir  annehmen,  daß  er  so  kurz  vor  dem 
Beginn  des  Kongresses  noch  keine  Kenntnis  davon  hatte,  ob  Marx 
ebenfalls  an  einem  Entwurf  zu  einer  programmatischen  Kundgebung 
arbeitete.  In  späterer  Zeit  pflegte  Engels  bekanntlich  zu  erzählen, 
beide  hätten  sie  ursprünglich  jeder  für  sich  und  unabhängig  von 
einander  einen  Entwurf  aufgesetzt,  danach  erst  habe  die  endgül- 


Die  Gnindsätze  des  Kommunismus. 


303 


tige  gemeinsame  Abfassung  stattgefunden.  Leider  haben  sich  Marx 
Briefe  an  ihn  aus  dieser  Zeit  nicht  erhalten.  Aus  diesen  würden 
wir  wohl  erfahren  haben,  ob  Marx  ebenfalls  einen  fertigen  Ent- 
wurf mitbrachte.  Auf  Grund  des  Materials,  das  bis  heute  vorliegt, 
läßt  sich  nicht  feststellen,  in  welcher  Fassung  ihr  ,, Glaubensbekennt- 
nis" dem  Kongreß  unterbreitet  wurde.  Berücksichtigt  man  alles, 
was  die  Verfasser  selbst  späterhin  darüber  ausgesagt  haben,  und 
sucht  man  für  einige  kleine  Abweichungen  zwischen  ihren  Be- 
richten den  Sinngemäßesten  Ausgleich,  so  möchte  man  schließen, 
daß  sie  nach  ihrem  Zusammentreffen  in  Ostende  den  Engelsschen 
Entwurf  mit  allem,  was  Marx  an  aufgespeicherten  oder  auch  auf- 
gezeichneten Gedanken  mitbrachte,  zu  einem  Manifest  umarbeite- 
ten. Dieses  Urmanifest,  das  mehr  oder  weniger  eine  Skizze  war, 
unterbreiteten  sie  dann  dem  Kongreß  mit  der  Absicht,  ihm,  nach- 
dem dieser  es  gutgeheißen  habe,  hinterher  in  sorgfältiger  Zusammen- 
arbeit die  endgültige  Form  zu  geben,  in  der  es  in  die  Welt  hinaus- 
treten sollte.  Diese  erhielt  es  dann  in  den  letzten  Wochen  des  Jahres 
in  Brüssel,  wo  Engels,  der  am  17.  Dezember  dort  eintraf,  über  die 
Feiertage  bei  Marx  seinen  Aufenthalt  nahm. 

In  dem  Manuskript  der  „Grundsätze  des  Kommunismus**, 
das  Engels  in  Paris  niedergeschrieben  hatte  und  das  noch  in  Kate- 
chismusform abgefaßt  war,  fehlen  bei  drei  von  den  fünfundzwanzig 
Fragen  die  Antworten.  Während  bei  der  Frage:  ,, Wodurch  unter- 
scheidet sich  der  Proletarier  vom  Handwerker  ?**,  der  Platz  dafür 
freigelassen  ist,  findet  sich  bei  den  beiden  anderen;  ,, Wie  wird  die 
kommunistische  Organisation  sich  zu  den  bestehenden  Nationali- 
täten verhalten  ?'*  und  ,,Wie  wird  sie  sich  zu  den  bestehenden  Reli- 
gionen verhalten  ?**  an  der  betreffenden  Stelle  nur  die  etwas  rätsel- 
hafte Notiz  „bleibt**.  Bei  diesem  „bleibt**  aber  ließe  sich  ebensowohl 
an  das  ,, Glaubensbekenntnis'  Schappers  und  Molls  wie  an  einen 
noch  älteren  eigenen  Entwurf,  dessen  überarbeitete  Reinschrift 
der  uns  überkommene  wäre,  denken.  Das  Kommunistische  Mani- 
fest, das  veröffentlicht  wurde,  gehört  heute  der  deutschen  politischen, 
sozialen,  Literatur-  und  Geistesgeschichte  als  ein  Dokument  an, 
dessen  Tragweite  nur  an  den  wirkungsreichsten  Flugschriften 
Luthers  zu  messen  ist.  In  seiner  endgültigen  Form  bezeugt  jede 
Zeile  durch  die,  alle  Vorbilder,  auf  die  man  hingewiesen  hat,  im 
Schatten  lassende  wuchtige  Gedrungenheit  des  Inhalts  und  die 
sorgfältige,  bis  ins  einzelnste  gehende  Gefeiltheit  des  Stils,  daß  es 
nicht  auf  einen  Hieb  eilig  niedergeschrieben  wurde,  sondern  daß 
die  Verfasser,  ihrer  historischen  Mission  bewußt,  für  dies  Schrift- 
stück, das  ihre  Gedanken  zum  erstenmal  in  die  Massen  nicht  nur 
des   deutschen,    nein   des   europäischen    Proletariats   hinaustragen 


304  ^°  Belgien  und  Frankreich. 

sollte,  alles  getan  haben  wollten,  bevor  sie  es  aus  ihrer  Werkstatt 
entließen.  Der  Engelssche  Entwurf  dagegen  ist,  wie  sich  schon 
zeigte,  eine  ganz  ohne  den  Anspruch,  daß  er  etwas  Endgültiges  dar- 
stellen sollte,  hingeworfene  Skizze,  deren  Gewand  der  Verfasser 
selbst,  während  er  noch  an  ihm  arbeitete,  als  unangemessen  verwarf, 
und  auf  dessen  sofortige  Umgestaltung  er  nur  verzichtete,  weil 
die  Umstände  ihm  die  Zeit  dazu  nicht  ließen. 

Das  Manifest  hat  auch  reichlich  den  doppelten  Umfang  der 
„Grundsätze  des  Kommunismus"  und  wendet  sich  von  vornherein 
an  einen  weiteren  und  fortgeschritteneren  Leserkreis.  Engels  hatte 
mit  Bedacht  anfänglich  geringere  Ansprüche  gestellt,  weil  er  auf 
die  deutschen  Straubinger  in  Paris,  jene  ,, alternden  Knoten"  und 
„angehenden  Kleinbürger",  denen  die  ,,Weitlingerei"  und  „Proudho- 
nisterei"  noch  tief  im  Blute  steckte,  Rücksicht  nahm  und  noch 
Moses  Heß  bei  ihnen  ausstechen  wollte.  Im  Brüsseler  Arbeiter- 
bildungsverein hatte  Marx  an  Männern  wie  Stephan  Born  und  Wallau, 
den  beiden  Setzern  der  Deutsch-Brüsseler  Zeitung,  an  dem  Tischler 
Junge,  dem  Stubenmaler  Steingens  und  anderen  eine  Elite  von 
deutschen  Proletariern  vor  sich ;  er  scheint  deshalb  von  vornherein 
eine  moderner  empfindende  und  geistig  höher  stehende  Arbeiter - 
Schicht  ins  Auge  gefaßt  zu  haben.  Sobald  er  in  London  und  in 
Brüssel  jener  gebundenen  Marschroute,  die  ihn  gedrückt  hatte, 
entledigt  war,  wird  Engels  sich  mit  Marx  sofort  darin  einig  gewesen 
sein,  daß  es  nicht  angängig  war,  ein  kommunistisches  Manifest, 
das  die  Pforten  der  Zukunft  sprengen  wollte,  auf  den  Gesichts- 
kreis einer  rückständigen  Schicht  des  Proletariats  einzustellen, 
sondern  daß  sie  das  Recht  und  sogar  die  Pflicht  hatten,  es  den  An- 
sprüchen und  den  Bedürfnissen  des  vorausstrebenden  Teils  der 
Klasse,  die  sie  befreien  wollten,  anzupassen.  Während  somit  die 
Grundsätze  keine  geschichtliche  und  wirtschaftliche  Bildung  vor- 
aussetzten, ist  das  Manifest  trotz  des  sichtbaren  Strebens  nach 
großer  Klarheit  und  Verständlichkeit,  trotz  der  Leidenschaft  und 
Bildhaftigkeit  des  Ausdrucks  doch  in  einer  Sprache  geschrieben, 
die  keinen  Augenblick  verleugnet,  daß  seine  Verfasser  nicht  der 
Arbeiterklasse  entstammen.  Gehen  die  Grundsätze  vom  leibhaf- 
tigen Proletarier,  von  seiner  Not  und  seinen  Hoffnungen  aus, 
hüten  sie  sich  noch  ängstlich,  ihn  durch  Entfaltung  von  Gelehrsam- 
keit kopfscheu  zu  machen,  so  entrollt  das  Manifest  ein  gewaltiges 
Panorama  von  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  und  trägt 
kein  Bedenken,  vor  dem  Leser  mit  unerhörter  Konzentration  eine 
schier  ungeheure  Fülle  gedanklich  geformter  Tatsachen  auszu- 
breiten. Die  Grundsätze  in  ihrer  Katechismusgestalt  hatten  sich 
darauf  beschränkt,  in  schlichter  Form  Rede  und  Antwort  zu  stehen, 


Das  Kommunistische  Manifest  und  die  Deutsche  Ideologie.        305 

das  Kommunistische  Manifest  will  lehren,  verkünden,  anfeuern, 
werben  und  locken. 

In  seiner  endgültigen  Gestalt  trägt  es  zum  überwiegenden  Teil 
den  Stempel  des  Marxschen  Genius,  der  hier  mit  der  mächtigen 
sprachlichen  Prägnanz,  die  ihm  eignete,  die  Worte  wie  flüssiges 
Erz  in  die  herrische  Form  seiner  Denkart  hineinzwingt.  Mochte 
aber  so  auch  Marx  an  vorderster  Stelle  das  Gold  ausmünzen;  den 
Schatz  selbst,  den  sie  hier  in  die  Zukunft  hinausstreuten,  hatte 
Engels  in  ebenbürtiger  Gemeinschaft  mit  ihm  zusammengetragen. 
Im  reichsten  Maß2  schöpft  das  Kommunistische  Manifest,  was 
sich  nun  deutlich  herausstellt,  seine  Gedanken  aus  dem  ungedruckt 
gebliebenen  Manuskript  ihrer  Streitschrift  gegen  die  deutsche 
Ideologie,  wo  sie,  wie  sich  uns  zeigte,  zum  erstenmal  ihre  Deutung 
der  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  der  Kulturmenschheit 
in  geordneter  Darstellung  aufs  Papier  gebracht  hatten.  Wir  finden 
jetzt  hier  kaum  eine  Gedankenreihe,  die  sich  nicht,  mehr  oder  min- 
der ausführlich  skizziert,  auch  dort  schon  feststellen  ließe.  Alles 
was  hier  über  die  Geschichte  und  die  Tendenzen  des  wirtschaft- 
lichen Lebens,  über  die  Entstehung  und  über  die  Aufgabe  des  mo- 
dernen Proletariats,  über  die  Funktion  des  Klassenkampfes,  über 
das  Verhältnis  zwischen  Ökonomie  und  Ideologie  im  allgemeinen, 
wie  zwischen  Ökonomie  und  Politik  im  besonderen,  alles  was  über 
das  dereinstige  Einschrumpfen  der  staatlichen  Sphäre,  über  die 
Notwendigkeit  und  Unvermeidbarkeit  einer  kommunistischen  Re- 
volution gesagt  wird,  wäre  schon  dort  zu  lesen  gewesen,  wenn  das 
Werk  einen  Verleger  gefunden  hätte.  Vielleicht  hatte  sich  seit 
1845  der  Nachdruck  noch  verstärkt,  den  die  Verfasser  auf  die  revo- 
lutionierenden Funktionen  des  Kapitalismus  legten.  Neu  treten 
hier  eigentlich  nur  die  Ergebnisse  der  Studien  hinzu,  die  Marx 
mittlerweile  über  das  Verhältnis  von  Lohnarbeit  und  Kapital  an- 
gestellt hatte,  und  im  Anschluß  an  die  aus  dem  früher  schon  von 
Engels  der  Schule  Ricardos  entlehnten  Lohngesetz  hier  der  Schluß 
gezogen  wird,  daß  dieses  mit  Notwendigkeit  zur  Verelendung 
der  Massen  und  damit  zum  Umsturz  des  Gesellschaftsordnung 
führe. 

Von  den  vier  Abschnitten  des  Kommunistischen  Manifests 
gibt  der  erste  eine  geschichtliche  Darstellung  des  Aufstiegs  des 
Bürgertums,  dem  trotz  des  Siegeszuges,  in  dem  es  begriffen  war, 
ein  schlimmes  Horoskop  gestellt  wird,  weil  im  Proletariat  bereits 
sein  Henker  vor  der  Tür  stehe.  ,, Bourgeois  und  Proletarier"  über- 
schrieben, sucht  er  die  Klassenkampf theorie  und  die  Lohntheorie 
mit  Riesenquadern  auf  wirtschaftsgeschichtlichem  Fundament  auf- 
zubauen.   Der  zweite   Abschnitt   ,, Proletarier  und   Kommunisten" 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  20 


3o6  In  Belgien  und  Frankreich. 

befaßt  sich  mit  den  aus  solchem  Einblick  in  den  ökonomischen 
Verlauf  sich  ergebenden  gegenwärtigen  und  künftigen  Aufgaben 
der  proletarischen  Bewegung,  mit  ihrem  Verhältnis  zum  Kommu- 
nismus, mit  der  Widerlegung  der  beliebtesten  Einwände  gegendessen 
Lehren,  endlich  mit  einer  Schilderung  der  Ziele  und  Wirkungen 
einer  künftigen  Revolution  des  Proletariats.  Eine  allseitige  Kritik 
der  voraufgehenden  sozialistischen  und  kommunistischen  Literatur 
bildet  den  Inhalt  des  dritten  Abschnitts,  während  der  letzte  die 
Stellung  der  Kommunisten  zu  den  verschiedenen  oppositionellen 
Parteien  am  Vorabend  der  europäischen  Revolution  untersucht 
und  für  die  wichtigsten  Länder  ein  kurzes  Aktionsprogramm  auf- 
stellt. Die  Schrift  gipfelt  in  dem  unumwundenen  Geständnis, 
daß  die  Zwecke  der  Kommunisten  nur  erreicht  werden  könnten 
durch  den  gewaltsamen  Umsturz  der  bestehenden  Gesellschafts- 
ordnung. „Mögen  die  herrschenden  Klassen  vor  einer  kommu- 
nistischen Revolution  zittern.  Die  Proletarier  haben  nichts  in  ihr 
zu  verlieren  als  ihre  Ketten.  Sie  haben  eine  Welt  zu  gewinnen. 
Proletarier  aller  Länder  vereinigt  euch." 

Läßt  man  die  Verschiedenheit  der  Form  beiseite,  so  unter- 
scheidet sich  der  Aufbau  des  Engelsschen  Entwurfs  wenig  von  der 
endgültigen  Fassung  des  Manifests.  Auch  er  begann  mit  Definitionen 
des  Kommunismus  und  des  Proletariats,  schilderte  dessen  Ent- 
stehung und  seinen  Gegensatz  zur  Bourgeoisie,  grenzte  es  ab  von 
den  Arbeiterkategorien  früherer  Epochen,  entwickelte  die  Lohn- 
theorie und  bewies  die  Notwendigkeit  einer  neuen  Gesellschafts- 
ordnung, die  nur  eine  kommunistische  sein  könne.  Die  Aussicht 
auf  eine  Verwirklichung  des  Kommunismus  mit  friedlichen  Mitteln 
ward  mit  Rücksicht  auf  die  Straubinger  noch  nicht  gänzlich  von 
der  Hand  gewiesen,  wenn  auch  Entwicklungsgang,  Aufgaben, 
Wirkungen  und  Charakter  der  künftigen  Revolution  ausführlich 
dargelegt  werden.  Den  Einwänden  der  Gegner  des  Kommunis- 
mus wird  nicht  so  sehr  polemisch  begegnet  wie  durch  eine  Dar- 
legung der  segensreichen  Folgen  einer  Beseitigung  des  Privat- 
eigentums, Endlich  wird  auch  versucht,  die  Ziele  des  Kommu- 
nistenbundes von  denen  anderer  sozialer  Richtungen  und  politisch 
radikaler  Parteien  der  verschiedenen  Länder  abzugrenzen.  Dieser 
Übereinstimmung  des  Aufbaus  entspricht  die  des  Inhalts.  Be- 
merkenswerte Widersprüche  zwischen  dem  Engelsschen  Entwurf 
und  der  endgültigen  Fassung  bestehen  nicht.  Beide  bemühen  sich, 
den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  das  Zeitalter  des  Kapitalismus, 
der  freien  Konkurrenz,  der  Herrschaft  des  Bürgertums  durch 
die  Gewalt  der  Produktivkräfte  selbst  in  ein  Zeitalter  der  bewußt 
geleiteten  Gemeinschaft,   des   Kommunismus,   der    Herrschaft  des 


Das  Kommunistische  Manifest  und  der  Engelssche  Entwurf.      307 

Proletariats  umschlagen  müsse.  Mit  der  gleichen  Übersichtigkeit 
betrachten  beide  die  in  den  kontinentalen  Staaten  West-  und  Mittel- 
europas schon  vorhandenen  Entwicklungstendenzen  zur  Großindu- 
strie als  Faktoren,  die  bereits  in  die  politische  Gestaltung  der  näch- 
sten Zukunft  entscheidend  eingreifen  würden.  Beide  unterschätzten 
gleichmäßig  in  hohem  Maße  die  Beharrungskraft  der  älteren  Be- 
triebsweisen und  der  nach  ihrer  Geschichtsauffassung  diesen 
entsprechenden  politischen  Machtformen.  An  diesem  Fehler, 
der  für  ihre  agitatorischen  Zwecke  vielleicht  kein  Fehler  war,  leiden 
in  gleichem  Maße  die  Grundsätze  wie  das  Manifest.  Kein  Gewicht 
ist  darauf  zu  legen,  daß  Engels  in  seinem  Vorentwurf  das  Ideal 
der  allseitigen  Entwicklung  der  Fähigkeiten  jedes  Menschen  stär- 
ker unterstreicht,  während  die  endgültige  Schrift  von  dem  ein- 
zelnen und  seinen  ideellen  Bedürfnissen  weniger  Aufhebens  macht 
und  nur  erwähnt,  daß  nach  dem  Verschwinden  der  Klassengegen- 
sätze der  Lebensprozeß  der  Arbeiter  erweitert  und  bereichert  und 
die  freie  Entwicklung  eines  jeden  die  Bedingung  für  die  freie  Ent- 
wicklung aller  sein  werde.  Diese  Abweichung  erklärt  sich  genau 
so  wie  die  anderen,  die  dem  Manifest  gegenüber  jener  Skizze  eine 
allgemeinere,  anspruchsvollere  und  umfassendere  Form  verliehen. 
Mit  vieler  Konsequenz  läßt  dieses  das  einzelne  Individuum  hinter 
der  Gesellschaft  und  der  Klasse  auch  dort  zurückstehen,  wo  die 
obersten  Worte  der  deutschen  klassischen  Philosophie,  Freiheit 
und  Persönlichkeit,  im  kommunistischen  Sinne  ihre  Ausdeutung 
erhalten:  ,,In  der  bürgerlichen  Gesellschaft,**  heißt  es  hier,  „ist 
das  Kapital  selbständig  und  persönlich,  während  das  tätige  Indivi- 
duum unselbständig  und  unpersönlich  ist.  Und  die  Aufhebung 
dieses  Verhältnisses  nennt  die  Bourgeoisie  Aufhebung  der  Persön- 
lichkeit und  Freiheit.**  Mochte  übrigens  für  den  Stand  des  damaligen 
deutschen  Geisteslebens  eine  so  einseitige  Betonung  der  vom  Indi- 
viduum unabhängigen  Mächte  eine  gesunde  Reaktion  bedeuten, 
in  dieser  Veräußerlichung  der  Begriffe  Freiheit  und  Persönlichkeit 
lag  auf  der  anderen  Seite  doch  auch  die  Gefahr  einer  Vergröbe- 
rung, die,  politisch  und  ökonomisch  in  hohem  Maße  verständlich, 
dennoch  den  feinsten  Verzweigungen  des  seelischen  Lebens  nicht 
gerecht  werden  konnte  und  Kräfte  lahmlegen  half,  deren  Mit- 
wirkung ein  gesunder  Volkskörper  nicht  entbehren  kann,  ohne 
schließlich  einer  Katastrophe  entgegenzutreiben. 

In  praktischer  Hinsicht  radikalisiert  das  Manifest  den  Entwurf, 
indem  es  unter  den  Übergangsmaßregeln,  die  nach  der  Erkämpfung 
der  Demokratie  die  Verwirklichung  des  Kommunismus  in  die  Wege 
leiten  sollten,  die  Enteignung  des  Grundeigentums  fordert,  ohne 
noch,  wie  es  dort  geschehen  war,  ausdrücklich  zu  betonen,   daß 

20* 


3o8  ^^  Belgien  und  Frankreich. 

diese  bloß  allmählich  und  zum  Teil  gegen  Entschädigung  statt- 
finden müßte.  Auch  wird  hier  die  Abschaffung,  dort  bloß  eine 
stärkere  Einschränkung  des  Erbrechts  gefordert.  Die  Organisation 
der  Arbeit,  ein  Zugeständnis  an  Louis  Blanc,  und  die  Errichtung 
großer  gemeinsamer  Paläste  auf  Nationalgütern,  die  helfen  sollten, 
den  Gegensatz  von  Stadt  und  Land  zu  überbrücken,  ein  Zuge- 
ständnis an  die  Kreise  der  Democratie  Pacifique,  hat  das  Manifest, 
das  im  übrigen  diese  Partien  dem  Engelsschen  Entwurf  entlehnte, 
fallen  gelassen.  Bei  der  Kritik  der  verschiedenen  Richtungen  des 
früheren  und  des  zeitgenössischen  Sozialismus  erweitert  und  ver- 
tieft das  Manifest  die  mehr  skizzenhaften  Andeutungen  der  Grund- 
sätze. Der  Abschnitt  über  den  wahren  Sozialismus  schöpft  aus 
den  verschiedenen  gedruckten  und  ungedruckten  Engelsschen  und 
Marxschen  Auseinandersetzungen  mit  dieser  Richtung;  an  dem 
Absatz  über  den  feudalen  und  den  „konservativen  oder  Bour- 
geoissozialismus" mit  dem  scharfen  Ausfall  gegen  Proudhon 
erkennen  wir  den  Verfasser  der  ,, Bannbulle"  gegen  Kriege  ebenso- 
sehr wie  den  des  Elends  der  Philosophie.  Es  wäre  für  unsere 
Biographie  in  diesem  wie  in  früheren  Fällen  wenig  gewonnen, 
wollten  wir  mit  philologischen  Hilfsmitteln  zu  ermitteln  trachten, 
welche  Bestandteile  des  Kommunistischen  Manifests  auf  Engels 
zurückgehen.  Die  gesamte  vorherige  Darstellung  hat  zeigen  wollen, 
welches  Gut  ein  jeder  der  beiden  Freunde  in  ihre  geistige  Gemein- 
schaft hineinbrachte,  und  wie  sie  in  diesen  dem  Ausbau  ihrer  Ge- 
schichtsauffassung gewidmeten  Jahren  in  restlos  kollektiver  Ge- 
dankenarbeit ihr  Werk  durchführten.  Bei  der  großen  Zurückhaltung, 
mit  der  Engels  stets  von  seinem  Anteil  an  der  Herausarbeitung 
ihrer  Lehre  und  damit  auch  an  der  Entstehung  des  Kommunisti- 
schen Manifests  gesprochen  hat,  tun  wir  aber  gut,  als  Ergebnis 
unserer  Darstellung  in  der  Erinnerung  zu  behalten,  daß  er  noch 
früher  als  Marx  den  modernen  Kapitalismus  begriffen,  die  Stellung 
des  Proletariats  ihm  gegenüber  umschrieben,  die  Synthese  zwischen 
deutscher  Philosophie  und  englischer  Nationalökonomie  versucht, 
zum  Kommunismus  sich  bekannt  und  den  internationalen  Zu- 
sammenschluß der  Kommunisten  gefordert  und  gefördert  hat. 

Vollendet  wurde  das  Kommunistische  Manifest  in  den  ersten 
Tagen  des  Jahres  1848;  in  London  hergestellt  kam  es  zur  Versen- 
dung an  die  Gemeinden  wenige  Tage  vor  Ausbruch  der  Februar- 
revolution. Was  bedeutete  es  für  die  Zeitgeschichte  ?  Einen  irgend- 
wie sichtbaren,  unmittelbaren  Einfluß  auf  die  revolutionäre  Ent- 
wicklung hat  es  in  den  Jahren  1848  und  1849  nicht  ausgeübt,  konnte 
es  nicht  ausüben.  Außerhalb  der  erst  nach  Hunderten  zählenden 
Mitgliederschaft  des  Kommunistenbundes  haben  die  kleine  Schrift, 


Bedeutung  des  Kommunistischen  Manifestes.  309 

die  nicht  einmal  in  den  Handel  kam,  nur  ganz  wenige  beachtet. 
Wir  Nachlebenden  aber  erkennen  in  dem  Manifest  ein  Dokument 
von  ungeheurer  Tragweite.  Am  Vorabend  der  europäischen  Re- 
volution, die  bei  aller  Verschiedenheit  der  Forderungen,  der  Träger, 
der  angewandten  Mittel  und  des  Verlaufs  in  überwiegender  Weise 
freiheitlichen,  nationalen,  politischen  Zielen  galt,  werden  hier  die 
Proletarier  der  zivilisierten  Welt  zum  Kampf  für  ihre  gemein- 
samen, von  der  Nationalität  unabhängigen,  Interessen  wach  gerüttelt, 
ergeht  hier  an  sie  im  Namen  der  ersten  internationalen  Kampf- 
organisation ihrer  Klasse  der  Ruf,  das  nationale  Ideal,  das  für  sie 
nichts  bedeuten  könne,  weil  der  Arbeiter  kein  Vaterland  habe, 
dem  erhabenen  Ideal,  das  keine  Grenzpfähle  mehr  kenne,  der 
künftigen  Solidarität  des  Weltproletariats,  unterzuordnen.  Gleich- 
zeitig werden  die  Proletarier  der  einzelnen  Länder  gemahnt,  beim 
Herannahen  einer  revolutionären  Bewegung  ihr  politisches  Handeln 
auf  dieses  ihnen  eigentümliche  übernationale  Ziel  einzustellen. 
In  dem  Augenblick,  wo  fast  überall  in  Europa  die  innerpolitischen 
und  die  nationalen  Gegensätze  auf  eine  Entscheidung  hindrängen, 
erhält  der  Primat  des  Klassenkampfes,  der  dem  Zeitbewußtsein 
nicht  zuletzt  durch  jene  Gegensätze  noch  verdunkelt  wurde,  hier 
seine  Weihe,  seine  soziologische  Begründung  und  seine  erste  Aus- 
deutung für  die  praktische  Nutzanwendung.  Wenn  das  Manifest 
noch  nicht  zugeben  wollte,  daß  die  Kommunisten  gegenüber  anderen 
Arbeiterparteien  eine  besondere  Partei  darstellten,  wenn  es  nach- 
drücklich hervorhob,  daß  diese  keine  von  den  Interessen  des  ganzen 
Proletariats  getrennte  Interessen  verfolgten,  so  bestimmte  Engels 
und  Marx  zu  solchem  Vorgehen  noch  mehr  als  die  Rücksicht  auf 
die  Chartisten,  die  das  Signal  zum  Losbruch  der  Revolution  geben 
sollten,  die  Zahmheit  des  sozialistischen  Denkens  in  Frankreich 
und  die  Rückständigkeit  der  sozialen  und  politischen  Entwicklung 
Deutschlands.  Den  Klassenkampf  zu  schüren,  wo  immer  es  an- 
ginge besondere  politische  Arbeiterparteien  ins  Leben  zu  rufen, 
war  die  Aufgabe,  auf  die  ihr  Blick  gerichtet  blieb.  Daß  Arbeiter- 
parteien, selbst  wo  sie  es  von  vornherein  nicht  waren,  mit  Not- 
wendigkeit kommunistisch  werden  mußten,  war  ihnen  unzweifel- 
haft. Sie  forderten  für  alle  Länder  die  Bildung  des  Proletariats 
zur  Klasse,  den  Sturz  der  Bourgeoisherrschaft,  die  Eroberung 
der  politischen  Macht  durch  das  Proletariat.  Weil  sie  aber  die 
Erfüllung  dieser  weitreichenden  Ziele  von  der  eben  heraufziehenden 
Revolution  nicht  sofort  erwarten  konnten,  setzten  sich,  wie 
wir  wiederholt  sahen,  Engels  und  Marx  zunächst  mit  voller  Kraft 
für  den  Sieg  der  Demokratie  ein,  der  ihren  eigentlichen  Bestrebun- 
gen erst  freie  Bahn  schaffen  sollte. 


210  In  Belgien  und  Frankreich. 

Damals  waren  sie  überzeugt,  daß  die  Herrschaft  der  Bourgeoisie 
höchstens  einige  Jahre  dauern  würde.  Namentlich  Engels  fühlte  sich 
auf  der  sicheren  Warte  seiner  neuen  Geschichtskonstruktion,  von  der 
aus  er  eines  so  weiten  Ausblicks  in  das  ferne  Land  der  Zukunft  genoß, 
seiner  Sache  so  gewiß,  daß  er  dem  Bürgertum  das  unausbleibliche 
Schicksal  seiner  nahenden  Herrschaftszeit  voraussagte.  Überall,  rief 
er  ihm  zu,  stehe  hinter  ihm  das  Proletariat,  an  seinen  Bestrebungen, 
teilweise  auch  an  seinen  Illusionen,  teilnehmend,  wie  in  Italien 
und  der  Schweiz,  schweigsam  und  zurückhaltend,  aber  unter  der 
Hand  seinen  Srurz  vorbereitend,  wie  in  Frankreich  und  Deutsch- 
land, in  offener  Rebellion  bereits  in  England  und  Amerika.  ,,Sie 
mögen  es  vorher  wissen,"  schrieb  er  am  23.  Januar  in  der  Deutsch- 
Brüsseler  Zeitung,  ,,daß  sie  nur  in  unserem  Interesse  arbeiten. 
Sie  können  darum  doch  ihren  Kampf  gegen  die  absolute  Monarchie, 
den  Adel  und  die  Pfaffen  nicht  aufgeben,  sie  müssen  siegen  oder 
schon  jetzt  untergehen.  Ja,  in  sehr  kurzer  Zeit  werden  sie  in 
Deutschland  sogar  unseren  Beistand  anrufen  müssen.  Kämpft 
also  nur  mutig  fort,  ihr  gnädigen  Herren  vom  Kapital!  Wir  haben 
euch  vor  der  Hand  nötig,  wir  haben  sogar  hie  und  da  eure  Herr- 
schaft nötig.  Ihr  müßt  uns  die  Reste  des  Mittelalters  und  die  ab- 
solute Monarchie  aus  dem  Wege  schaffen,  ihr  müßt  den  Patriar- 
chalismus vernichten,  ihr  müßt  zentralisieren,  ihr  müßt  alle  mehr 
oder  v/eniger  besitzlose  Klassen  in  wirkliche  Proletarier,  in  Re- 
kruten für  uns,  verwandeln,  ihr  müßt  uns  durch  eure  Fabriken 
und  Handelsverbindungen  die  Grundlage  der  materiellen  Mittel 
liefern,  deren  das  Proletariat  zu  seiner  Befreiung  bedarf,  zum  Lohn 
dafür  sollt  ihr  eine  kurze  Zeit  herrschen.  Ihr  sollt  Gesetz«  diktieren, 
ihr  sollt  euch  sonnen  im  Glanz  der  von  euch  geschaffenen  Majestät, 
ihr  sollt  bankettieren  im  königlichen  Saal  und  die  Königstochter 
freien,  aber  vergeßt  es  nicht!    —  der  Henker   steht  vor  der  Tür." 


Kapitel  XL 

In  der  deutschen  Revolution. 

Bei   der  Neuen  Rheinischen  Zeitung.    —   In   Frankreich 
und  der  Schweiz. 

Wenn  sich  Friedrich  Engels  in  der  überschäumenden  Kraft 
der  Jahre  zwischen  zwanzig  und  dreißig  bisweilen  eine  größere  Un- 
mittelbarkeit des  Erlebens,  als  der  Kampf  mit  der  Feder  ihm  zu  ge- 
währen vermochte,  gewünscht  hatte,  so  erfüllte  ihm  diese  Sehn- 
sucht in  reichstem  Maße  die  deutsche  Revolution.  An  bunten 
Abenteuern  wie  an  tiefen,  folgereichen  Erlebnissen  beschenkte  diese 
ihn  mit  einem  vollgerüttelten  Maß.  Barrikadenkampf  und  Bürger- 
krieg, sachliche  Kollision  und  tragischer  persönlicher  Konflikt,  Ver- 
haftung und  Ausweisung,  Prozeß  und  Verfolgung,  tiefe  Enttäu- 
schung nach  jubelnder  Hoffnung  —  durch  alles  hat  sie  ihn  hindurch- 
geführt. Über  dieses  alles  aber,  das  vielleicht  einem  Schwächeren 
die  Flügel  zum  Sinken  gebracht  hätte,  triumphierte  die  unanfecht- 
bare Wurzelhaftigkeit  seiner  Natur  und  sein  nicht  zu  erschütterndes 
Vertrauen  auf  die  sieghafte  Wahrheit  seiner  Geschichtsauffassung, 
die  ihm  über  alle  Niederlagen  und  Enttäuschungen  der  Stunde  hin- 
weg den  dereinstigen  Sieg  des  Kommunismus  mit  Sicherheit  verhieß I 

Als  er  um  Neujahr  von  Brüssel  nach  Paris  zurückkehrte,  um 
hier  seine  Wirksamkeit  für  die  kommunistische  Sache  wieder  aufzu- 
nehmen, fand  er  zwar  nach  wie  vor  Flocon  zu  praktischer  Zu- 
sammenarbeit geneigt  aber  doch  etwas  beunruhigt  durch  den  in 
London  gefaßten  Entschluß,  den  Kommunismus  offen  auf  die 
Fahne  zu  schreiben.  Der  Chefredakteur  der  Reforme  befürchtete 
nicht  ohne  Grund,  daß  bei  solchem  Vorgehen  in  dem  Kleinbauern- 
land Frankreich  der  revolutionäre  Gedanke  Schaden  leiden  könnte. 
Als  seinem  Bemühen,  die  deutschen  Handwerksgesellen  in  Paris 
auf  der  neuen  Grundlage  zu  organisieren  der  Erfolg  auch  jetzt  ver- 
sagt blieb,  vertröstete  Engels,  über  die  Unbrauchbarkeit  dieser  schlaf- 
mützigen Lohndrücker  von  neuem  erbost,  Marx  und  sich  selbst  auf 
das  nahe  Erscheinen  des  Kommunistischen  Manifests.  Der  Brüs- 
seler Zeitvmg  kündigte  er  am   14.  Januar   für  die  nächsten  Tage 


312 


In  der  deutschen  Revolution. 


einen  Aufsatz  über  die  preußischen  Finanzen  an,  dessen  Fertig- 
stellung sich  verzögert  haben  wird,  bis  ihn  am  29.  Januar  seine 
Ausweisung  aus  Frankreich,  der  aber  keine  politischen  Motive  zu- 
grunde gelegen  haben  sollen,  überraschte  und  schon  am  31.  Januar 
nach  Brüssel  zurückführte. 

Aber  noch  ehe  ihm  sein  Gepäck  nachfolgen  konnte,  war  der 
Thron  des  Bürgerkönigs  gestürzt,  Frankreich  Republik  geworden. 
An  dem  gleichen  Tage,  an  dem  in  Paris  das  Reformbankett  statt- 
finden sollte,  beleuchteten  in  der  Demokratischen  Gesellschaft  in 
Brüssel  bei  der  Feier  des  zweiten  Jahrestags  des  Krakauer  Auf- 
standes Marx  und  Engels,  ganz  ähnlich  wie  kürzlich  in  London,  an 
Polens  Beispiel  den  engen  Zusammenhang  zwischen  den  nationalen 
und  den  sozialen  Freiheitsforderungen.  Schon  im  Kommunistischen 
Manifest  hatten  sie  in  Übereinstimmung  mit  Mieroslawski  und  Le- 
lewel,  der  in  der  Demokratischen  Gesellschaft  neben  ihnen  wirkte, 
Polens  Befreiung  von  seiner  Demokratisierung  durch  eine  Agrar- 
revolution abhängig  machen  wollen.  Hier  stellte  Engels  in  seiner 
Rede  die  gewagte  Behauptung  auf,  daß  die  Befreiung  der  Polen 
für  die  Demokraten  aller  Länder  aus  einer  Frage  der  bloßen  Sym- 
pathie zu  einer  praktischen  Frage  geworden  wäre,  seitdem  bei  der 
Erhebung  Krakaus  der  Klassenkampf,  die  ,, bewegende  Ursache 
jedes  sozialen  Fortschritts",  in  diesem  Volke  zum  erstenm^al  zur 
Geltung  gekommen  sei.  Und  er  wiederholte,  daß  Deutschland  wie 
Polen  nur  frei  werden  könnten,  wenn  es  glücke,  Deutschland  zu 
revolutionieren,  die  preußische  und  die  österreichische  Monarchie 
zu  Fall  zu  bringen  und  Rußland  über  Dnjestr  und  Dwina  zurück- 
zudrängen. Das  deutsche  Volk,  das  bisher  seinen  polnischen  Brü- 
dern nur  freundliche  Werte  spenden  konnte,  werde  ihnen  bald  mit 
Taten  zu  Hilfe  kommen,  und  beide  Völker  würden  nach  der  ersten 
siegreichen  Schlacht  über  die  Russen,  die  ihre  gemeinsamen  Unter- 
drücker seien,  auf  der  Walstatt  selbst  ihr  Bündnis  besiegeln.  Dem 
Vertrauen  auf  diese  Sckicksalsgemeinschaft  ist  Engels,  wie  sich 
zeigen  wird,  während  des  ganzen  Verlaufs  der  europäischen  Krisis 
treu  geblieben. 

Die  Furcht,  daß  die  Pariser  Ereignisse  in  der  eigenen,  allen 
von  dorther  kommenden  Einflüssen  stets  bereitwillig  offenstehenden, 
Hauptstadt  ihren  Widerhall  finden  könnten,  bewogen  Leopold  L, 
dem  alles  daran  lag,  seinem  Schwiegervater  nicht  ins  Privatleben 
folgen  zu  müssen,  zu  umfassenden  Vorsichtsmaßregeln.  Dazu  aber 
gehörte  auch  die  Abschiebung  der  in  Belgien  herumwimmelnden 
zahlreichen  ausländischen  Revolutionäre.  Weil  unter  diesen  die 
Deutschen  sich  in  der  letzten  Zeit  hervorgetan  hatten,  verbreitete 
sich  unter  der  behäbigen  Brüsseler   Bourgeoisie,  die  für  ihre  Ge- 


Die  Februarrevolution  und  die  deutschen  Arbeiter  in  Paris.       313 

Schäfte  fürchtete,  ein  Deutschenhaß,  dem  die  liberalen  Minister 
Rechnung  trugen,  indem  sie  u.  a.  auch  Marx  und  Wilhelm  Wolff 
verhaften  und  an  die  Grenze  der  neuen  Republik  bringen  ließen, 
wohin  es  diese  aber  ohnedies  zog.  Engels  entging  dem  gleichen 
Lose  offenbar  nur,  weil  seinen  Paß  die  belgischen  Behörden  aus- 
gestellt hatten.  Gezählt  waren  nun  auch  die  Tage  der  Deutsch- 
Brüsseler  Zeitung,  die  in  ihrer  letzten  Nummer  die  Flammen  der 
Tuillerien  und  des  Palais  Royal  als  die  Morgenröte  des  Proletariats 
begrüßte  und  der  frohen  Hoffnung  Ausdruck  gab,  daß  in  einem 
Monat  Deutschland  ebenfalls  eine  Republik  geworden  sein  möge. 
In  so  rosigem  Lichte  Engels  jetzt  die  Zukunft  erblickte,  so  wenig 
vermutete  selbst  er  die  Revolution  in  der  Heimat  schon  so  nahe, 
wie  sie  es  wirklich  war.  ,,Wenn  doch  der  Friedrich  Wilhelm  IV. 
sich  starrköpfig  hielte,"  schrieb  er  noch  am  9.  März  an  Marx  nach 
Paris,  ,,dann  ist  alles  gewonnen,  und  wir  haben  in  ein  paar  Mo- 
naten die  deutsche  Revolution.  Wenn  er  nur  an  seinen  feudalen 
Formen  hielte!  Aber  der  Teufel  weiß,  was  dies  launige  und  ver- 
rückte Individuum  tun  wird!" 

Die  Revolution  in  Frankreich  und  die  schnell  zunehmende 
Gärung  in  Deutschland  und  Italien  bestimmten  jetzt  den  Kom- 
munistenbund, sein  Aktionszentrum  den  entscheidenden  Schau- 
plätzen näherzurücken.  Auf  die  erste  Kunde  von  der  Proklamierung 
der  Republik  in  Paris  übertrug  die  Londoner  Zentralbehörde  ihre 
Befugnisse  dem  leitenden  Brüsseler  Kreise.  Da  ihm  aber  die  Bewe- 
gungsfreiheit inzwischen  genommen  war,  so  gab  er  diese  nach 
Paris  weiter.  Als  Marx  am  4.  März  nach  dem  Zentrum  der  neuen 
revolutionären  Bewegung  abreiste,  trug  er  in  der  Tasche  die  Voll- 
macht, die  Behörde  nach  seinem  Belieben  zusammenzusetzen. 
Daß  er  eben  erst  aus  Frankreich  ausgewiesen  worden  war,  hätte 
Engels  keineswegs  verhindert,  Marx  zu  begleiten,  seitdem  ihr  Freund 
Flocon  der  provisorischen  Regierung  angehörte.  Aber  eine  mo- 
mentane Geldknappheit  hielt  ihn  in  Brüssel  zurück.  Erst  am 
25.  März  hat  er  sich  in  Saint-Josse  ten  Noode  polizeilich  abgemeldet. 
So  fand  er,  da  die  Londoner  noch  vor  ihm  eintrafen,  das  Zentral- 
komitee, in  dem  man  ihm  einen  Platz  offen  gehalten  hatte,  m.it 
Marx  als  Präsidenten  und  Schapper  als  Sekretär  neu  gebildet,  bereits 
vor.  Alsbald  schritt  der  Generalstab  der  noch  so  winzigen  Partei 
an  die  Ausarbeitung  des  Feldzugplanes  für  die  Beteiligung  der 
deutschen  Kommunisten  an  der  inzwischen  auch  in  der  Heimat 
zur  Wirklichkeit  gewordenen  Revolution.  Die  Forderungen  der 
kommunistischen  Partei  in  Deutschland,  die  siebzehn  Punkte  ent- 
hielten, entsprachen  dem  Geist  des  Kommunistischen  Manifests. 
Sie   nahmen  jedoch  Rücksicht  auf  den  zahlenmäßig  noch  geringen 


314 


In  der  deutschen  Revolution. 


Umfang  des  industriellen  Proletariats  in  einem  Lande,  wo  der  Sieg 
der  Demokratie  in  erster  Reihe  von  der  revolutionären  Tatkraft 
und  Freudigkeit  des  Kleinbürgertums  und  der  Bauernschaft  abhing, 
wo  es  also  darauf  ankam,  diesen  ein  Zusammenwirken  mit  den  Ar- 
beitern der  noch  wenig  zahlreichen  Industriezentren  zu  ermög- 
lichen. 

Die  soziale  Struktur  und  das  durch  sie  bedingte  politische 
Kräfteverhältnis  beim  Ausbruch  und  im  Verlauf  einer  deutschen 
Revolution  hatte  Engels  sich  schon  früher  auf  das  genaueste  ver- 
gegenwärtigt. Er  sagte  sich,  daß  die  Klassenzusammensetzung  in 
Deutschland  komplizierter  als  in  irgend  einem  anderen  Lande 
sei,  daß  der  Feudalismus  hier  noch  über  eine  gewaltige  Macht 
verfügte,  daß  das  Großbürgertum  entfernt  nicht  so  reich  und  so 
konzentriert  war  wie  in  Frankreich  und  England.  Er  sah,  daß  die 
große  Mehrheit  der  Lohnarbeiter  hier  nicht  von  modernen  In- 
dustriefürsten, sondern  noch  von  kleinen  Handwerkern  abhing ;  aber 
auf  diesen  Stand  und  auf  seine  politische  Vertretung,  die  demokra- 
tische Partei,  setzte  er  von  Anfang  an  nur  bescheidene  Hoffnungen. 
Doch  auch  in  diesen  wurde  er  noch  enttäuscht.  ,, Demütig  und 
kriecherisch  unterwürfig  unter  einer  starken  feudalen  oder  monar- 
chischen Regierung,"  schrieb  er  1851  von  der  deutschen  demokra- 
tischen Partei,  ,, wendet  sie  sich  dem  Liberalismus  zu,  wenn  die 
Bourgeoisie  im  Aufsteigen  begriffen  ist;  sie  wird  von  heftigen 
demokratischen  Paroxysmen  ergriffen,  sobald  die  Bourgeoisie  für 
sich  die  Herrschaft  errungen  hat,  verfällt  aber  der  jämmerlichsten 
Verzagtheit,  wenn  die  Klasse  unter  ihr,  das  Proletariat,  eine  selb- 
ständige Bewegung  wagt."  Noch  weniger  Illusionen  machte  er  sich 
über  die  eigentliche  Mehrheit  der  Bevölkerung  des  noch  vorwiegend 
agrarischen  Deutschlands,  über  die  kleinen  Freibauern,  feudalen 
Hintersassen  und  Landarbeiter.  Er  war  sich  bewußt,  daß  sie  von 
den  politischen  Streitfragen  noch  völlig  unberührt  in  die  Revolution 
eintraten,  und  daß  solche  Schichten  überhaupt  nur  in  Bewegung 
zu  setzen  waren,  wenn  sie  den  einleitenden  Anstoß  von  der  kon- 
zentrierteren,  aufgeklärteren  und  beweglicheren  Bevölkerung  der 
Städte  erhielten. 

Der  letzte  Abschnitt  des  Kommunistischen  Manifests  läßt  er- 
kennen, daß  Engels  und  Marx  im  Beginn  der  Revolution  ihre  größte 
Hoffnung  auf  die  revolutionäre  Entschiedenheit  des  Großbürger- 
tums setzten.  Von  ihm  erwarteten  sie  bestimmt,  daß  es  mit  den  alten 
autoritären  Gewalten  aufzuräumen  nicht  nach  Jahrzehnten  einer 
neuen  Revolution  überlassen,  sondern  daß  es  gleich  jetzt  als  der 
einzige  Gegner  des  Proletariats  zurückbleiben  würde. 

Die  politischen,  sozialen  und  wirtschaftlichen  Interessen  dieses 


Die  siebzehn  Fordenmgen  des  Kommunistenbundes.  315 

zeitweiligen  Verbündeten,   der  aber  dennoch  sein  natürlicher  und 
letzter   Feind  blieb,  brauchte  der   Kommunistenbund  bei  der  Auf- 
stellung seiner  Richtlinien  nicht  zu  schonen.  Soweit  er  für  die  Ziele,  die 
er  verfocht,  Zuzug  aus  dem  Bürgertum  erwartete,  konnteer  ihn  sich 
allein  von  den  Kleinbürgern  und  den  Bauern  versprechen.  Gleich  die 
erste  der  siebzehn  Forderungen,  daß  Deutschland  eine  einzige  um- 
fassende unteilbare   Republik  werden  müsse,  setzte  ihn  ja  in  den 
schärfsten  Widerspruch  zu  der  mit  den  großbürgerlichen  Interessen 
sich     deutlich     deckenden    konstitutionellen    Partei.      Aber    auch 
mit  dem  meisten  anderen,  was  hier  verlangt  wurde,   konnte  diese 
Klasse  sich  unmöglich   einverstanden  erklären.    Würde  sie    über 
die  allgemeine  Volksbewaffnung,  die  völlige  Trennung  von  Kirche 
und  Staat  und  die  Unentgeltlichkeit  des  Unterrichts  und  der  Rechts- 
pflege mit  sich  haben  reden  lassen,  die  entschädigungslose  Aufhe- 
bung   aller    Feudallasten,    die    Enteignung    der    großen    Landgüter 
hätten   einen    Präzedenzfall    geschaffen,     den    sie    nicht    zulassen 
durfte,  und  mit  der  Verstaatlichung  der  Transportmittel,  der  Berg- 
werke und   Banken  hätte  sie  sich  ins  eigene  Fleisch  geschnitten. 
Vollends  undiskutierbar  waren  für  sie  die  Gleichsetzung  aller  Be- 
amtengehälter, die   Beschränkung  des   Erbrechts,  die   Einführung 
staatlicher   Progressivsteuern,  die   Verstaatlichung  der  bäuerlichen 
Hypotheken    und    Pachtzinsen,    die    Garantierung   eines    Existenz- 
minimums an  alle  Arbeiter.    Es  liege  im  Interesse  des  deutschen 
Proletariats  wie  des  kleinen  Bürger-  und  Bauernstandes,  hieß  es  am 
Schluß    dieser    von    Engels    mitunterzeichneten    Kundgebung,    mit 
aller    Energie   an   der    Durchsetzung   von   Maßregeln   zu   arbeiten, 
deren  Verwirklichung   den  bisher  in  Deutschland  von  einer  kleinen 
Zahl  ausgebeuteten  Millionen  das  Recht  und  die  Macht,  die  ihnen 
als  den  Hervorbringern  alles  Reichtums  gebührt,  verleihen  würde. 
Engels  brannte  danach,  das  Vaterland,  über  dessen  Rückständig- 
keit er  all  die  Jahre  hindurch  soviel  gehöhnt  und  gewettert,    nun, 
da  es  sich  endlich  zum  Kampf  für  die  Freiheit  erhoben  hatte,  wieder- 
zusehen.   Es  verlangte  ihn,  alsbald  mit  den  übrigen  Mitgliedern  des 
Bundes  in  dem  von  der  Zensur   befreiten   Deutschland   vor  aller 
Öffentlichkeit    für  die   Ideale  seiner   Partei   in  die   Schranken   zu 
treten.    Vorerst  aber  mußte  er  sich   wie  die  anderen  noch  in  Paris 
gedulden,  weil  sich  hier  ihnen  eine  Aufgabe  stellte,   der  sie  sich 
nicht  entziehen  wollten.    Auch  Tausende  von  den  Deutschen,  die  bis 
dahin  in  Frankreich  eine  Zuflucht  oder  ihre  Nahrung  gefunden  hatten, 
begehrten  danach,  in  die  Heimat  zurückzukehren,  die  einen,  weil 
die  französische  Revolution  sie  brotlos  gemacht  hatte,  die  anderen 
weil  sie  an  der  deutschen  Revolution  teilnehmen  wollten.    Froh, 
solche  die  Unruhe  vermehrenden  Elemente  auf  gute  Art  loszuwerden, 


31 6  J°  ^^^  deutschen  Revolution. 

begünstigte  die  provisorische  Regierung  durch  Gewährung  von 
Marschquartieren  und  Marschzulagen  bis  an  die  Grenzen  die 
Errichtung  deutscher  revolutionärer  Legionen.  Bornstädt,  der 
einstige  Garde  offizier,  der  ebenfalls  Brüssel  hatte  verlassen  müssen, 
drängte  sich  an  die  Spitze  und  verbündete  sich,  da  er,  anrüchig 
wie  er  war,  eines  populären,  die  Massen  fortreißenden  Namens  be- 
durfte, mit  Georg  Herwegh.  Der  gefeierte  revolutionäre  Dichter, 
dessen  Liederfrühling  so  schnell  gewelkt  war,  prahlte  damit,  daß 
seine  Ungeduld  den  gemächlichen  Parlamentstrab  nicht  einhalten 
könne ;  die  Republik,  die  votieren  zu  lassen,  er  sich  nicht  begnügen 
wolle,  werde  er  zu  machen  suchen.  Marx  und  Engels  aber  nahmen 
die  Verantwortung,  welche  eine  solche  Situation  ihnen  auflud, 
ernster  und  wollten  dem  leichtfertigen  Herwegh,  dem  es  am  meisten 
darauf  ankommen  mochte,  selbst  wieder  ein  Lebendiger  zu  werden, 
nicht  gestatten,  mit  seiner  Freischär lerromantik  die  revolutionäre 
Sache  zu  kompromittieren.  Mitten  in  die  damalige  Gärung  Deutsch- 
lands die  Revolution  von  außen  her  in  Gestalt  einer  Invasion  hinein- 
tragen, das  hieß,  wie  Engels  es  später  ausgedrückt  hat,  die  Re- 
gierungen stärken  und  die  Legionäre  wehrlos  in  die  Hände  der 
Truppen  liefern.  Um  möglichst  viele  Arbeiter  vor  solcher  Lockung 
zu  bewahren,  erwirkten  die  Kommunistenführer  für  die  in  die 
Heimat  verlangenden  Mitglieder  eines  deutschen  Klubs,  den  sie 
zu  diesem  Ende  stifteten,  bei  Flocon  die  gleichen  Marschbegünsti- 
gungen, die  den  Freischärlern  gewährt  werden  sollten.  Wirklich 
beförderten  sie  so  einige  hundert  Arbeiter  nach  Deutschland  zurück, 
darunter  die  große  Mehrzahl  der  Bundesmitglieder. 

Auf  diese  Weise  wurde  es  Anfang  April,  bis  Engels  und  Marx  end- 
lich der  Heimat  zueilen  konnten.  Noch  in  Paris  hatten  sie  von  einem 
an  Heß  adressierten  Brief  Georg  Jungs,  Marx  alten  Gefährten  aus  den 
Tagen  der  Rheinischen  Zeitung,  Kenntnis  erhalten,  der  mit  größter  Be- 
flissenheit ihnen  riet,  sich  sofort  in  ihren  Heimatstädten  Trier  und 
Barmen  um  ein  Mandat  für  die  Berliner  Nationalversammlung  zu  be- 
werben. Obgleich  er  Marx  aufrichtig  bewunderte,  wünschte  Jung, 
der  sich  selbst  noch  für  einen  Sozialisten  hielt,  die  beiden  Freunde, 
deren  rabiaten  Radikalismus  er  nicht  mit  Unrecht  fürchtete,  von 
den  Rheinlanden  fernzuhalten.  Die  Märzerrungenschaften  hatten 
hier  wie  fast  überall  in  Preußen  den  demokratisch  gesinnten  Teil 
des  Bürgertums  nicht  minder  berauscht  wie  den  konstitutionellen. 
Und  nun  hielt  man  es  für  verwegen  und  gefährlich,  den  König, 
der  sich  so  weitreichende  Zugeständnisse  abgerungen  hatte,  mit 
immer  weitergehenden  Forderungen  in  die  Enge  zu  treiben.  Auch 
der  radikale  Kölner  Patrizier  teilte  diese  Ansicht.  Er  war  des  Glau- 
bens, daß  Preußen  mit  einem  Schlage  ein  „Königtum  mit  chartisti- 


Rückkehr  nach  Deutschland.  jiy 

scher  Grundlage"  geworden  wäre  und  als  demokratischer  Staat 
England  den  Rang  abgelaufen  habe.  Mit  einem  Erfolg  von  so 
ungeheurer  Tragweite  wollte  er  sich  vorläufig  zufrieden  geben. 
Verkündeten  aber  Marx  und  Engels  jetzt  in  Köln  ihr  Programm, 
erwählten  sie  gar,  wie  Jung  mit  Recht  vermutete,  diese  Stadt  zum 
Hauptquartier  der  kommunistischen  Propaganda,  so  drohte  hier 
die  Einheitlichkeit  der  freiheitlichen  Bewegung,  für  die  er  fürchtete, 
in  die  Brüche  zu  gehen. 

Wie  sich  ihm  die  Situation  damals  darstellte,  hat  Engels  drei 
Jahre  später  in  einer  amerikanischen  Zeitung  geschildert.  Das 
Großbürgertum,  gestand  er  hier,  habe  sich  von  Anfang  an  in  einer 
schwierigen  Lage  befunden.  Wäre  die  preußische  Revolution  rein 
aus  sich  heraus  zu  ihrer  Reife  gelangt  und  nicht  im  Schlepptau 
jenes  französischen  Umsturzes,  bei  dem  bereits  das  Proletariat  mit 
drohender  Gebärde  seine  sozialen  Forderungen  auf  den  Straßen 
verkündete,  so  hätte  es,  von  den  Massen  weniger  gedrängt,  wahr- 
scheinlich im  Bunde  mit  dem  Volke  den  Feudalismus  restlos  nieder- 
geworfen. Nun  hatte  die  Februarrevolution  in  Frankreich  gerade 
jene  Regierungsform  gestürzt,  welche  das  preußische  Großbürger- 
tum im  eigenen  Lande  aufzurichten  beabsichtigte.  Und  als  dieses 
jetzt  in  Paris  an  der  Spitze  der  Regierung  Männer  wahrnahm, 
die  ihm  als  gefährliche  Gegner  von  Eigentum.,  Ordnung,  Religion 
und  Familie  erschienen,  da  kühlte  sich  seine  revolutionäre  Glut 
schnell  ab,  und  es  suchte  Rettung  vor  diesem  gefährlicheren  Feind 
in  einem  Kompromiß  mit  der  Monarchie.  Wir  alle  begreifen  heute,  in 
welchem  Umfang  diese  Konstellation  dem  deutschen  Bürgertum, 
dem  großen,  aber  auch  dem  kleinen,  zum  Verhängnis  geworden  ist. 
Auch  Engels  hatte  diese  Wirkung  der  Pariser  Februartage,  die  freilich 
erst  nach  den  Junitagen  voll  in  die  Erscheinung  trat,  damals  nicht 
vorausgesehen.  Wenn  das  Kommunistische  Manifest  betonte, 
daß  die  deutsche  bürgerliche  Revolution  nur  das  unmittelbare 
Vorspiel  einer  proletarischen  Revolution  sein  könne,  so  war  das  in 
der  sicheren  Erwartung  geschrieben,  daß  es  vorher  dem  Großbürger- 
tum restlos  gelungen  sein  würde,  die  reaktionären  Klassen  in 
Deutschland  zu  stürzen.  Nun  aber  vernahm  Engels  den  Angstruf  der 
Klasse,  in  der  er  den  wichtigsten  Träger  der  ausgebrochenen  Re- 
volution sah,  über  den  Henker,  der  vor  der  Tür  lauerte,  früher  als 
ihm  erwünscht  sein  konnte.  Noch  bevor  er  den  Boden  der  Heimat 
betreten  hatte,  sagte  ihm  und  Marx  jener  Brief  Jungs,  wie  es  tat- 
sächlich um  die  Stimmung  des  Bürgertums  in  den  Rheinlanden 
bestellt  war.  Und  so  erfuhren  sie,  daß  in  dem  gleichen  Preußen, 
wo  noch  eben  das  Blut  der  Bürger  auf  den  Barrikaden  geflossen 
war,  das  Wort  Republik  dem  rheinischen  Bourgeois   mit  „Raub, 


QlS  In  der  deutschen  Revolution. 

Mord  und  Einfall  der  Russen"  identisch  und  das  Wort  Kommunis- 
mus zum  wahren  Popanz  geworden  war. 

Jung  übertrieb  keineswegs,  wenn  er  dies  schrieb.  Als  der 
Russe  Bakunin  im  April  durch  Köln  reiste,  beobachtete  er,  daß 
die  Bourgeoisie  „verzweifelt  die  Republik  verwerfe",  und  der  ge- 
treue Dronke  berichtete  im  Mai  aus  Frankfurt,  daß  man  fast  ge- 
steinigt würde,  wenn  man  sich  als  Kommunisten  bekenne.  Wer 
wie  Radowitz  oder  gar  wie  Metternich  rechts  stand,  fürchtete  schon, 
daß  selbst  eine  konstitutionelle  Monarchie  notwendig  zur  kom- 
munistischen Republik  führen  müßte.  Doch  keine  Lockungen  und 
keine  Abmahnungen  hätten  die  beiden  rheinischen  Revolutionäre 
in  dem  Entschluß  wankend  machen  können,  ihre  Wirksamkeit  jetzt 
in  die  Hauptstadt  des  von  der  französischen  Revolution  geformten 
und  „in  jeder  Beziehung"  damals  fortgeschrittensten  Teils  Deutsch- 
lands zu  verlegen.  Sie  lockte  nicht  die  preußische  Residenz  „mit  ihrem 
maulfrechen,  aber  tatfeigen  kriechenden  Kleinbürgertum"  und 
ihren  „noch  total  unentwickelten  Arbeitern".  Auch  bestimmte  sie 
dabei  keineswegs  so  entscheidend,  wie  Engels  später  wohl  behauptet 
hat,  die  Erwägung,  daß  nach  dem  Code  Napoleon  Pressevergehen 
vor  die  Geschworenen  gehörten,  von  denen  bei  der  damaligen 
Volksstimmung  niemals  eine  Verurteilung  zu  befürchten,  während 
nach  dem  preußischen  Landrecht  der  Berufsrichter  zuständig  war. 
Denn  dies  würde  höchstens  erklären,  weshalb  sie  verschmähten, 
neben  der  Zeitungshalle  eines  Gustav  Julius,  neben  Ruges  Reform 
und  Helds  Lokomotive  um  die  Gunst  der  Spreephilister  zu  werben, 
nicht  aber,  weshalb  es  sie  nicht  reizte,  in  der  konstituierenden  Ver- 
sammlung den  Leuchten  der  bürgerlichen  Demokratie,  einem 
Waldeck  und  Jacoby,  den  Rang  abzulaufen  und  gleichzeitig  zum 
erstenmal  von  einer  europäischen  Parlamentstribüne  die  Stimme 
der  revolutionären  Sozialdemokratie  ertönen  zu  lassen.  Hätte  die 
Natur  einen  von  ihnen  mit  jener  angeborenen  Rednergabe  begna- 
digt, die  den  mit  ihr  Beschenkten  so  oft  in  ihr  Werkzeug  verwan- 
delt, so  wäre  er  vielleicht  der  Versuchung  erlegen,  nach  dem  Lor- 
beer eines  preußischen  Mirabeau  zu  trachten.  So  aber  konnten 
sie  sich  ganz  nüchtern  die  Frage  vorlegen,  von  welcher  Stelle  aus 
sich  am  nachdrücklichsten  und  erfolgreichsten  für  die  Ausbreitung 
ihrer  Ideen  wirken  ließ.  In  Berlin  hätten  sie,  ohne  Fühlung  mit 
dem  durch  seine  lange  politische  Rückständigkeit  ihnen  unsym- 
pathischen Geist  der  Bevölkerung,  befürchten  müssen,  bei  den 
Massen  keinen  Boden  und,  angesichts  des  überwiegend  agrarischen 
Charakters  der  Monarchie,  in  der  Versammlung  selbst  nicht  den 
kleinsten  Anhang  zu  finden.  In  der  Rheinprovinz  lagen  die  Dinge 
für  sie  günstiger!    Sie  durften  es  verschmerzen,  wenn  sie  die  Ban- 


Köln  oder  Berlin? 


319 


kiers  und  die  Getreidehändler  Kölns  durch  die  Agitation,  die  sie 
entfalten  wollten,  dahin  trieben,  das  Bündnis  mit  der  Reaktion  als 
das  kleinere  Übel  anzusehen.  Mit  der  Feindschaft  dieser  Kreise 
hatte  ihre  Partei  unter  allen  Umständen  zu  rechnen.  Um  so  stärker 
hofften  sie  auf  das  Kleinbürgertum  und  die  Bauern  ihrer  heimat- 
lichen Provinz,  sofern  es  ihnen  gelang,  hier,  wo  sie  den  Boden  so 
genau  kannten  und  über  zahlreiche  Verbindungen  und  eine  wenn 
auch  nur  erst  winzige  Anhängerschaft  verfügten,  eine  neue  Rhei- 
nische Zeitung  ins  Leben  zu  rufen,  die  nicht  mehr  wie  die  alte  nur 
durch  die  Blume  reden,  sondern  unter  dem  Schutz  der  endlich  er- 
rungenen Pressefreiheit  mit  offenem  Visier  die  Forderungen  der 
radikalen  Demokratie  verkünden  konnte.  Als  sie  jetzt  in  Köln 
eintrafen,  fanden  sie  Bestrebungen,  ein  großes  demokratisches 
Blatt  ins  Leben  zurufen,  bereits  im  Gange.  Jungs  Brief  zeigte  uns 
schon,  wie  sehr  es  den  Männern,  die  dabei  an  der  Spitze  standen, 
gegen  den  Strich  gehen  mußte,  ihr  vornehmlich  auf  die  lokalen 
und  provinziellen  Verhältnisse  berechnetes  Projekt  durch  das  Ein- 
greifen der  vom  Ausland  heimkehrenden  Kommunistenführer  in 
einen  programmatisch  erweiterten.  Gefahren  bergenden  Rahmen 
hereinziehen  zu  lassen.  Doch  kein  Sperren  und  Sträuben  half  ihnen. 
„In  vierund zwanzig  Stunden"  erzählt  Engels,  „hatten  wir,  nament- 
lich durch  Marx  das  Terrain  erobert,  das  Blatt  ward  unser". 

Wie  sie  aber  nun  unverzüglich  daran  gingen,  die  für  das  Unter- 
nehmen erforderlichen  Mittel  in  den  mit  Besitz  gesegneten  Bürger- 
kreisen der  Stadt  und  der  Provinz  aufzutreiben,  da  zeigte  sich  ihnen 
alsbald,  wie  richtig  Jung  die  Gesinnungen  der  heimischen  In- 
dustriellen und  Großkauf leute  geschildert  hatte.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  April  finden  wir  Engels  in  Barmen,  Marx  in  Köln  in 
dieser  Richtung  bemüht.  Mochten  sie  selbst  die  mit  der  Demokratie 
sympathisierenden  Geldgeber,  bei  denen  sie  anklopften,  über  den 
umstürzlerischen  Charakter  ihrer  wahren  Bestrebungen  im  Dun- 
keln lassen,  so  trat  ihnen  auch  ohnedies  überall  der  Wunsch  ent- 
gegen, bald  wieder  unter  beruhigten  Verhältnissen  geschäftliche 
Abschlüsse  machen  zu  können,  und  selten  nur  die  Neigung,  Bestre- 
bungen zu  unterstützen,  die  der  Regierung  noch  weitere  Zugeständ- 
nisse abpressen  wollten.  Am  schlimmsten  erging  es  ihnen  natürlich, 
wo  man  von  ihren  sozialen  Ansichten  und  Absichten  Wind  be- 
kommen hatte.  ,,Die  Leute  scheuen  sich  alle  wie  die  Pest  vor  der 
Diskussion  der  gesellschaftlichen  Fragen;  das  nennen  sie  Aufwiegelei. 
Wenn  ein  einziges  Exemplar  unserer  17  Punkte  hier  verbreitet 
würde,  so  wäre  hier  alles  verloren  für  uns.  Die  Stimmung  bei  den 
Bourgeois  ist  wirklich  niederträchtig  .  .  .  Der  Elberfelder  politische 
Klub  erläßt  Adressen  an  die  Italiener,  spricht  sich  für  direkte  Wahl 


320 


In  der  deutschen  Revolution. 


aus,  aber  weist  jede  Debatte  sozialer  Fragen  entschieden  ab,  ob- 
wohl unter  vier  Augen  die  Herren  gestehen,  diese  Fragen  kämen 
jetzt  an  die  Tagesordnung."  Selbst  die  radikalen  Bourgeois,  heißt 
es  in  dem  gleichen  Brief,  worin  Engels  dem  Freunde  über  seine 
geringen  Erfolge  in  den  beiden  Wupperstädten  berichtete,  sähen 
in  ihnen  ihre  zukünftigen  Hauptfeinde  und  scheuten  sich,  eine  Waffe 
schmieden  zu  helfen,  die  sich  bald  gegen  sie  selbst  kehren  würde. 
Marx  hatte  von  Engels  gefordert,  daß  er  auch  seinen  streng  kon- 
servativen Vater  um  die  Übernahme  von  Zeitungsaktien  ersuchen 
sollte.  Aber  für  Friedrich  Engels  senior  war  schon  die  Kölnische 
Zeitung  ein  Ausbund  von  Wühlerei.  „Statt  tausend  Talern,"  klagte 
der  Sohn,  „schickte  er  uns  lieber  tausend  Kartätschenkugeln  auf 
den  Hals."  Etwas  größere  Erfolge  als  Engels  in  Elberfeld  und 
Barmen,  wo  die  dominierenden  Pietistenfamilien  selbst  jetzt  noch 
einem  ,,gottesfürchtigen  Servilismus"  huldigten,  hatte  inzwischen 
in  Köln  Marx  erzielt.  Immerhin  wurde  es  der  erste  Juni,  bis,  auch 
jetzt  noch  auf  unzureichender  und  unsicherer  finanzieller  Grund- 
lage, die  erste  Nummer  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  erscheinen 
konnte.  In  der  Zwischenzeit  hatte  Engels  das  Kommunistische 
Manifest  ins  Englische  übertragen  und  die  Gründung  einer  Bundes- 
gemeinde im  Wuppertal  eingeleitet.  Jetzt  siedelte  er  ebenfalls  nach 
Köln  über,  wo  das  Komitee  des  Kommunistenbundes  seinen  Wohn- 
sitz aufgeschlagen  hatte.  Dieser  wollte  die  neue  Versammlungs- 
und Preßfreiheit  ausnutzen,  um  von  der  Rheinischen  Metropole  her 
die  Gedanken  und  Gesinnungen  des  Manifests  so  weit  wie  irgend 
m.öglich  in  die  Massen  des  Volkes  hineinzutragen.  Bewährte  Männer 
wie  Schapper  und  Moll  setzten  sich  die  Aufgabe,  das  Rheinland 
und  Westfalen  mit  einem  engmaschigen  Netz  von  Arbeitervereinen 
zu  umspannen.  Sie  stellten  ihre  Hauptkraft  der  kommunistischen 
Agitation  unter  den  rheinischen  Arbeitern  zur  Verfügung,  während 
Engels  und  Marx  ihre  Gedanken  in  erster  Linie  auf  das  Vor- 
wärtstreiben der  europäischen  Revolution  richteten.  An  der  noch 
so  rückständigen  deutschen  Arbeiterbewegung,  von  der  ein  ent- 
scheidender Impuls  damals  nicht  zu  erwarten  war,  nahmen  sie 
persönlich  während  der  ganzen  Revolutionszeit  keinen  tätigen 
Anteil,  sie  bezeugten  ihr  nicht  einmal  ein  stärkeres  Interesse.  So 
konnte  an  ihrer  Statt  ihr  Schüler,  der  dreiundzwanzigjährige  Stefan 
Born,  die  Seele  der  Bestrebungen  werden,  die  auf  eine  organisa- 
torische Zusammenfassung  des  ganzen  deutschen  Proletariats  hin- 
zielten. Born  hat  sich  später  nicht  ganz  ohne  Grund  darüber  be- 
schwert, daß  Engels  ihn  damals,  ohne  ihm  ein  Zeichen  des  Mißfallens 
kundzugeben,  ruhig  gewähren  ließ,  während  er  viel  später  seine 
rührigen  Bemühungen  mit  kühler  Kritik  abfertigte.    Dennoch  über- 


Gründung  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung.  321 

treibt  er,  wenn  er  behauptet,  jener  habe  ihm  nicht  verzeihen 
können,  daß  er  die  Verbrüderung  gründete,  ohne  vorher  bei  ihm 
Verhaltungsbefehle  einzuholen. 

In  der  Redaktionsstube  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  hatte 
sich  ein  Stab  glänzender  journalistischer   Begabungen  zusammen- 
gefunden, ,,um  das  radikalste  abes  auch  geist-  und  temperament- 
vollste publizistische  Unternehmen  der  ersten  deutschen  Revolution 
ans  Licht  zu  rufen".    Noch  der  siebzigjährige  Engels  erinnerte  sich 
mit  Wohlgefallen  der  Lust,    die  ihm  die  Mitarbeit  an  der  Tages- 
presse in  jener  bewegten  Zeit  bereitet  hat,   wo  die  Wirkung  eines 
jeden  Wortes  sich  deutlich  vor  Augen  sehen  ließ.    Und  voll  Stolz 
rühmte  der  alte  Kanonier,  daß  die  Artikel  förmlich  einschlugen,  als 
wären  sie  Granaten,  und  wie  die  Sprengladung  platzte.     Hier  wurden 
jetzt  zum  erstenmal  in   der  Geschichte  die  Vorgänge  in  und  außer- 
halb der  deutschen  Grenzen  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Interessen 
des  internationalen  revolutionären  Proletariats  einer  scharfen  Be- 
leuchtimg unterworfen.     Um  Marx,  dessen  überlegnem  Geist  alle 
Gefährten  sich  willig  unterordneten,  als  Chefredakteur,  sammelten 
sich  Friedrich  Engels,  Wilhelm  und  Ferdinand  Wolff,  Ernst  Dronke, 
Georg  Weerth.    Von  Heinrich  Bürgers,  den  man  nicht  ganz  frei- 
willig in  diesen  Stab  eingereiht  hatte,  ging  eine   Wirkung  nicht 
aus,    eine    um  so  gewaltigere    aber     von    Ferdinand    Freiligrath, 
der  die   Leitartikel  der   Neuen  Rheinischen  Zeitung  in  zündende, 
aus  der  ersten  in  die  zweite  deutsche  Revolution  hinüberhallende 
Strophen  umdichtete.    Er  trat  aber  in  die  Redaktion  erst  ein,  als 
Engels  im  September  1848  ihr  zeitweilig  den  Rücken  kehren  mußte. 
Übrigens  wurde  die  Politik  des  Blattes  keineswegs  durch  Redak- 
tionskonferenzen   in    einem    kollegial    demokratischen    Geiste    ge- 
leitet, sie  unterstand  vielmehr,  wie  Engels  bezeugt,  der  unbestrit- 
tenen Diktatur  des  JMarxschen  Genius.    War  Marx  abwesend,    so 
sollte    Engels   ihn   vertreten,    aber   nicht   mit  der   gleichen   Selbst- 
verständlichkeit wie  jenem  ordneten  sich  ihm  die  Kollegen  unter. 
Marx  widmete  seine  ständige  Arbeit  der  deutschen  Politik.     Hier 
verfolgte  er  mit  seiner  tiefbohrenden  Analyse,  welche  die  kühle 
Überlegenheit    der    die    parlamentarischen    Vorgänge    nicht    über- 
schätzenden Beobachtung  mit  der  Leidenschaft  des  um  das  Schicksal 
der  Revolution  besorgten  Kämpfers  vereinigte,  das  ganze  Auf  und 
Ab  der  deutschen  und  preußischen  Verfassungsbewegung  und  das 
Spiel  und  Gegenspiel  der  revolutionären  und  gegenrevolutionären 
Kräfte.    Engels   war  durch  seine  Sprachbegabung   und   seine  gute 
Kenntnis    ausländischer,     zumal    westeuropäischer    Zustände    be- 
sonders berufen,  vom  Standpunkt  der  jungen  Partei  aus  den  Ver- 
lauf der  Revolution  in  den  andern  Ländern  zu  verfolgen.    Die  eine 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.I  21 


322 


In  der  deutschen  Revolution. 


Aufgabe  war  so  wichtig  wie  die  andere.  Die  enge  Verflochtenheit 
der  inneren  und  der  äußeren  Politik  der  Staaten  brauchte  für  En- 
gels und  Marx  nicht  erst  entdeckt  zu  werden,  und  auch  darüber 
bestand  den  beiden  Freunden  kein  Zweifel,  daß  das  Schicksal  der 
europäischen  Revolution  sich  nicht  in  den  einzelnen  Ländern  un- 
abhängig von  den  anderen  entschied. 

Bei  diesem  eng  verbundenen  Wirken  für  eine  gemeinsame 
Aufgabe,  die  an  jeden  Tag  Forderungen  stellte,  die  keinen  Auf- 
schub duldeten,  zeigte  sich  ihnen  immer  von  neuem,  in  wie  seltenem 
Maße  ihre  Naturen  sich  ergänzten.  Selbst  von  mancherlei  Hem- 
mungen und  Schwankungen  der  Stimmung  geplagt,  bewunderte 
Marx,  wie  Engels,  „arbeitsfähig  zu  jeder  Stunde  des  Tages  und  der 
Nacht,  voll  oder  nüchtern,  im  Schreiben  quick  und  unvergleichlich 
rasch  in  der  Auffassung"  seine  Artikel  aufs  Papier  schleuderte,  wie 
leicht  und  sicher  er  die  englischen  und  französischen,  die  belgischen 
und  dänischen,  die  italienischen,  spanischen  und  österreichischen 
Blätter  überwachte  und  mit  wie  unheimlicher  Schnelligkeit  er  das 
herangeholte  Material  ihren  gemeinsamen  großen  Gesichtspunkten 
dienstbar  zu  machen  wußte.  Weil  aber  ihm  selbst  diese  den  Tages - 
Schriftstellern  so  nötige  Begabung  abging,  mußte  Marx,  wenn  er, 
was  öfter  vorkam,  einen  ganzen  Tag  über  einem  Artikel  gehockt 
und  sich  beim  Ziselieren  der  Sätze  nicht  hatte  genug  tun  können, 
sich  von  dem  Freunde  den  Vorwurf,  der  ihn  nicht  verletzen  konnte, 
gefallen  lassen,  daß  er  zum  Journalisten  nicht  geboren  sei.  Dafür 
erwies  er  sich  freilich  als  der  überlegene  politische  Stratege.  Wo 
Engels  sich  leichter  hinreißen  ließ,  eine  Situation  so  zu  bewerten, 
wie  es  seinen  eigenen  Wünschen  am  besten  entsprach,  da  bewahrte 
Marx  die  größere  Kühle  und  Sicherheit  seines  Urteils  vor  übereilten 
Schlüssen.  Den  ,, Überblick,  mit  dem  er  im  gegebenen  Moment,  wo 
rasch  gehandelt  werden  mußte,  stets  das  Riditige  traf  und  sofort 
auf  den  entscheidenden  Punkt  losging"  vermißte  Engels  bei  sich 
selbst.  In  ruhigen  Zeiten,  gestand  er  später,  sei  es  wohl  vorgekom- 
men, daß  die  Ereignisse  einmal  auch  ihm  Marx  gegenüber  recht 
gegeben  hätten,  „aber  in  revolutionären  Momenten  war  sein  Urteil 
fast  unanfechtbar."  In  der  Hitze  des  täglichen  Kampfes  bewährte 
sich  ihr  Bündnis  ebenso  wie  vorher  bei  dem  Aufbau  ihrer  neuen 
Geschichtsauffassung,  deren  Tragkraft  es  nun  zum  erstenmal  an 
einer  großen  weltgeschichtlichen  Situation  zu  erproben  galt.  Ihre 
in  den  Jahren  des  Exils  begründete  Werk-  und  Kampfgemeinschaft 
erhielt  in  der  deutschen  Revolution  die  Feuertaufe. 

Die  Geschlossenheit  und  Einheitlichkeit,  die  sich  in  der  Hal- 
tung der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  von  ihrer  ersten  bis  zu  ihrer 
letzten  Nummer  kund  gibt,  ihre  überzeugte  und  bewußte  Zusam- 


Die  Haltung  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung.  323 

menfassung  der  Probleme  der  inneren  und  der  internationalen 
Politik,  am  meisten  aber  die  intime,  keine  schematische  Arbeits- 
teilung gestattende  Ideen-  und  Lebensgemeinschaft  der  beiden 
führenden  Redakteure  machen  es  dem  Biographen  nahezu 
unmöglich,  den  Engelsschen  Anteil  an  der  Gesamtleistung  der  Re- 
daktion mit  Genauigkeit  herauszuschälen.  Von  einigen  wichtigen 
Artikeln  über  die  östlichen  Probleme  bezeugt  er  uns  selbst,  daß  er  sie 
geschrieben  habe,  aber  sogar  bei  diesen  ist,  ähnlich  wie  um.gekehrt 
bei  m.anchen  zweifellos  von  Marx  verfaßten,  anzunehmen,  daß  sie 
den  Gegenstand  im  voraus  gemeinsam  durchgesprochen  haben. 
Müssen  wir  hier  also  auch  die  Auslandspolitik,  die  Engels  als  seine 
eigentliche  Domäne  betrachtete,  in  den  Vordergrund  rücken,  so 
können  wir  uns  darum  doch  der  Aufgabe  nicht  entziehen,  die  Ge- 
samthaltung der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  mit  einigen  Strichen 
zu  umschreiben. 

Als  im  Juni  ihre  erste  Nummer  herauskam,  hing  für  das  frei- 
heitlich gesinnte  deutsche  Bürgertum  der  Himmel  noch  voller 
Geigen.  Es  waren  kaum  vierzehn  Tage  verflossen,  seitdem  die 
konstituierenden  Parlamente  in  Frankfurt  und  in  Berlin  sich 
zum  ersten  Male  versammelt  hatten,  und  die  große  Masse  des  Volkes, 
politisch  ungeschult  wie  sie  war,  erhoffte  noch  die  sonnigste  Zu- 
kunft, versprach  sich  noch  die  goldensten  Berge  von  dem  Ergebnis 
der  Beratungen.  Den  wenigsten  erst  dämmerte  die  Erkenntnis,  daß 
die  Gewalt  der  öffentlichen  Meinung  die  Gewalt  der  Waffen  nicht 
ersetzen  könnte,  und  wie  zähe  die  Lebenskraft,  wie  ungebrochen 
das  Machtverlangen  der  nur  in  vorübergehender  Betäubung  da- 
liegenden alten  historischen  Gebilde  noch  war.  Als  daher  jetzt  die 
Neue  Rheinische  Zeitung  in  der  vollendeten  Unbekümmertheit,  die 
sie  sich  zum  Grundsatz  m.achte,  damit  begann,  das  von  der  liberalen 
Presse  in  die  Wolken  gehobene  junge  Parlament  in  der  Paulskirche 
mit  Geringschätzung  und  Spott  zu  behandeln  und  es  ein  gelehrtes 
Konzil  nannte,  da  kostete  diese  Offenherzigkeit  sie  sogleich  die 
eine  Hälfte  ihrer  mühsam  zusammengetrommelten  Aktionäre,  die 
andere  Hälfte  aber  kehrte  ihr  den  Rücken,  wie  sie,  beinahe  die 
einzige  Zeitung  Deutschlands,  sich  unterfing,  die  Junirevolution  des 
Pariser  Proletariats  zu  verherrlichen.  Um  ihr  Werk  nicht  im 
Stiche  lassen  zu  müssen,  und  daran  dachten  sie  keinen  Augenblick, 
entschlossen  sich  da  die  Redakteure,  auf  ihre  Gehälter  zu  verzichten. 
Am  Ende  hat  dann  Marx  den  Rest  seines  kleinen  Vermögens  hin- 
gegeben, um  die  Schulden  des  Blattes  zu  tilgen. 

Getreu  ihrem  republikanischen  und  streng  unitarischen  Pro- 
gramm, das  sie  von  der  zumeist  föderalistisch  gesinnten  kleinbürger- 
lichen Demokratie  trennte,  mißbilligte  die  Neue  Rheinische  Zeitung, 

21* 


224  ^^  ^^^  deutschen  Revolution. 

daß  das  Frankfurter  Parlament  nicht  sofort  entschlossen  alle  Brücken 
zur  Vergangenheit  abgebrochen,  die  Volkssouveränität  verkündet 
und  für  sich  das  Recht  in  Anspruch  genommen  hatte,  die  faktisch 
bestehenden  Zustände  diesem  Prinzip  gemäß  umzugestalten.  Am 
stärksten  verargte  sie  ihm,  daß  es  keine  Vorkehrungen  traf,  um 
die  Errungenschaften  der  Revolution  sicherzustellen.  Denn  was 
nützten  die  Beratungen  über  die  beste  Verfassung,  wenn  die  Re- 
gierungen indessen  die  Bajonette  auf  die  Tagesordnung  setzten  ?  Das 
Blatt  sah  eine  Schwäche  der  revolutionären  Sache  schon  darin,  daß 
zum  erstenmal  in  der  Weltgeschichte  die  konstituierende  Ver- 
sammlung einer  großen  Nation  nicht  auf  dem  feuerspeienden 
Boden  der  Hauptstadt  tagte,  nicht  von  deren  revolutionären  Massen 
vorwärts  getrieben  wurde.  Dennoch  hätte  es  diesen  Nachteil  für 
überwindbar  gehalten,  wofern  das  Parlament,  anstatt  den  Aus- 
gangspunkt der  revolutionären  Bewegung  mit  ihrem  Zielpunkt  zu 
verwechseln,  sich  zum  Zentralorgan  der  revolutionären  Bestrebungen 
gemacht  und  gegen  die  Einzelregierungen  den  Kampf  auf  Leben 
und  Tod  aufgenommen  hätte.  Der  strategische  Leitgedanke  bei 
Marx  und  Engels  war  jetzt,  daß  es  darauf  ankäme,  den  Krater 
längere  Zeit  in  Tätigkeit  zu  erhalten,  weil  die  Hauptziele  der  bür- 
gerlichen Revolution,  die  staatliche  Einigung  und  die  Demokrati- 
sierung des  Landes,  erst  recht  aber  ihre  eigenen  noch  weiter  schwei- 
fenden Hoffnungen,  nur  in  entscheidenden  inneren  Kämpfen  im 
Zusammenhang  mit  einem  Volkskrieg  des  revolutionären  gegen  das 
reaktionäre  Europa  der  Verwirklichung  zuzuführen  wären. 

Weil  sie  sich  jedoch  bewußt  blieben,  daß  der  deutsche  Klein- 
bürger sich  aus  dem  schlaffen  und  beschränkten  Philister,  der  er 
bis  zum  März  gewesen  war,  nicht  mit  einem  Male  in  einen  Jako- 
biner verwandelt  haben  könnte,  betonten  sie  die  Notwendigkeit, 
daß  ebenso  wie  die  Staaten  auch  die  Staatsbürger  erst  revolutioniert 
werden  müßten.  Was  nützte  es,  daß  sich  in  Preußen,  dessen  Auf- 
lösung in  Deutschland  sie  forderten,  das  Volk  in  blutigen  Barri- 
kadenkämpfen , .faktisch"  die  Souveränität  errungen  hatte?  Die 
Monarchie  war  trotzdem  nicht  gestürzt  worden,  und  als  das  Groß- 
bürgertum vorübergehend  ans  Ruder  gelangte,  hatte  es  aus  Furcht 
vor  den  Massen  sich  mit  Adel  und  Bureaukratie  verständigt  und, 
um  die  Revolution  am  Weiterschreiten  zu  hindern,  der  Volks- 
souveränität die  Vereinbarungstheorie  entgegengestellt.  Schon  im 
Juni  bei  Camphausens  Rücktritt  rechnete  die  Neue  Rheinische 
Zeitung  mit  der  Möglichkeit,  daß  der  von  diesem  ins  Land  zurück- 
gerufene Prinz  von  Preußen,  der  Chef  der  Konterrevolution,  das 
neue  Ministerium  bilden  und  mit  seiner  im  dänischen  und  pol- 
nischen Krieg  und  in  vielen  kleinen  Konflikten  zwischen  Militär 


Stellungnahme  in  der  inneren  Politik.  325 

und  Volk  zu  einer  brutalen  Soldateska  ausgebildeten  Armee,  auf 
russische  Bajonette  gestützt,  das  Bombardement  von  Prag  in 
rheinischen  Städten  wiederholen  könnte.  Marx  und  Engels  hofften 
freilich,  wenn  sie  es  auch  noch  nicht  so  unverblümt  sagen  durften, 
daß  in  solcher  Lage  das  übrige  Deutschland  gegen  die  preußische 
Regierung  aufstehen  und  selbst  ein  Teil  der  preußischen  Pro- 
vinzen, voran  die  Rheinlande,  sich  auf  die  deutsche  Seite  stellen 
würden.  Sogar  die  Möglichkeit  eines  preußischen  Bauernkrieges 
zogen  sie  in  Erwägung  für  den  Fall,  daß  eine  reaktionäre  Regierung, 
statt  die  Feudallasten  abzuschaffen,  sie  zu  verewigen  trachten 
würde.  Als  es  sich  dann  erwies,  daß  das  Großbürgertum  zunächst 
von  der  Krone  noch  nicht  wieder  abgehalftert  werden  konnte, 
brandmarkte  Marx  das  Ministerium  Auerswald -Hansemann  sofort 
als  den  Platzhalter  der  Reaktion.  Und  aus  der  Art,  wie  dieses 
,, Ministerium  der  Tat"  die  Regelung  der  gutsherrlich -bäuerlichen 
Verhältnisse  in  Angriff  nehmen  wollte,  zog  er  die  Folgerung,  daß 
das  deutsche  Großbürgertum  drauf  und  dran  wäre,  die  Bauern  zu 
verraten,  obgleich  es  einsehen  müßte,  daß  es  ohne  ihre  Bundes- 
genossenschaft dem  Adel  gegenüber  machtlos  sein  würde.  Marx 
nannte  es  eine  Unmöglichkeit,  die  Revolution  im  Prinzip  anzu- 
erkennen, in  der  Praxis  aber  die  Konterrevolution  zu  vollziehen. 
Wolle  das  Großbürgertum  sich  wirklich  die  Herrschaft  erkämpfen, 
so  müsse  es  das  Bündnis  mit  den  breiten  Volksmassen  wenigstens 
so  lange  aufrecht  erhalten  und  mehr  oder  minder  demokratisch 
auftreten,  wie  es  noch  mit  den  Überresten  des  alten  Polizei-  und 
Feudalstaats,  mit  dem  Krautjunkertum  und  der  Soldaten-  und 
Beamtenherrschaft,  im  Kampf  stünde.  Vor  dem  endgültigen  Siege 
über  den  Feudalismus  das  Volk  beiseite  schieben,  hieße  die  Qua- 
dratur des  Zirkels  versuchen. 

Das  Urteil  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  über  den  Verlauf 
der  Ereignisse  in  den  anderen  europäischen  Staaten  und  über  die 
Fülle  wirklicher  und  möglicher  Machtkonflikte,  die  sich  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Revolution  an  der  ganzen  Peripherie  Groß- 
deutschlands auftaten,  entsprach  durchaus  der  Forderung  des 
Manifests,  daß  die  Kommunisten  überall  jede  revolutionäre  Bewe- 
gung gegen  die  bestehenden  gesellschaftlichen  und  politischen  Zu- 
stände unterstützen  sollten.  Ihre  Auslandspolitik  unterschied  sich 
grundsätzlich  von  der  aller  anderen  Parteien:  von  jener  der  Kon- 
stitutionellen, weil  sie  statt  nationalpolitisch  klassenpolitisch  orien- 
tiert war,  von  jener  der  bürgerlichen  Dem.okratie,  weil  sie  mehr 
auf  die  Macht  als  auf  den  Zauber  ideologischer  Schlagworte  ver- 
traute, von  jener  der  Rechten,  mit  der  sie  die  Hochwertung  des 
Machtfaktors  gemeinsam  hatte,  weil  sie  alle  Verhältnisse  umgekehrt 


326  In  der  deutschen  Revolution. 

einschätzte  und  hoffte,  wo  jene  fürchtete,  und  fürchtete,  wo  jene 
hoffte.  Nun  hieße  es  jedoch  die  Dinge  verkennen,  wollten  wir  an- 
gesichts der  Art  von  Auslandspolitik,  die  in  den  Spalten  der  Neuen 
Rheinischen  Zeitung  betrieben  wurde,  nach  allem,  was  wir  schon 
wissen,  noch  der  Fragestellung  einen  Sinn  zugestehen,  ob  diese 
sich  damals  von  doktrinären  oder  von  ,, machtpolitischen"  Erwä- 
gungen leiten  ließ.  Engels  selbst  hätte  mit  vollem  Recht  niemals 
eingeräumt,  daß  die  Urteile  und  die  Taktik,  die  in  meinen  Artikeln 
hervortraten,  eine  solche  Scheidung  zuließen.  Wer  so  fest  über- 
zeugt blieb,  daß  der  Gang  der  Entwicklung  mit  seinem  Ideal  im 
Bunde  war,  bedurfte  keiner  „Realpolitik".  Denn  die  Berücksichti- 
gung der  realen,  insbesondere  der  ökonomischen  Faktoren  bildete 
das  Fundament,  auf  dem  sich  sein  Urteil  über  die  vollendeten,  die 
sich  vollziehenden  und  sich  vorbereitenden  geschichtlichen  Vor- 
gänge aufbaute.  In  der  „eisernen  Wirklichkeit"  erblickte  er  auch 
die  Herrin  über  alle  „moralischen  Kategorien".  So  angesehen  war  er 
Realpolitiker  und  hat  gemeinsam  mit  Marx  weit  stärker,  als  vielen 
zünftigen  Beurteilern  in  Deutschland  bis  vor  kurzem  noch  deutlich 
wurde,  dahin  mitgewirkt,  daß  der  politische  Blick  unseres  Volkes, 
gleichviel  ob  es  ihm  zum  Glück  oder  zum  Unglück  ausschlug,  sich 
aus  den  Wolken  der  Erde  zuwandte.  „Der  Ideologe  denkt  und  der 
Krämer  lenkt"  schrieb  die  Neue  Rheinische  Zeitung,  als  die  große 
Polendebatte  in  der  Paulskirche  ihr  die  Gelegenheit  lieferte,  um 
mit  der  , .ideologischen  Naivität"  Ruges  abzurechnen,  der  die  Völ- 
ker ins  Blaue  hinein  verbrüdern  wolle.  Ebenso  wie  Marx,  der  es 
in  seiner  Londoner  Rede  in  schärfster  Fassung  ausgesprochen  hatte, 
war  Engels  überzeugt,  daß  die  Verbrüderung  der  Völker  so  lange  eine 
Phrase  bleiben  werde,  wie  die  kapitalistischen  Eigentumsverhält- 
nisse, unter  denen  die  Völker  sich  mit  Notwendigkeit  gegenseitig 
ausbeuteten,  fortbestünden.  Trotzdem  blieb  es  unvermeidlich,  daß 
die  Doktrin,  die  sie  beide  aus  ihrer  starken  Berücksichtigung  der 
ökonomischen  Kräfte  gewannen,  wo  es  auf  die  Bewertung  der 
einzelnen  Situationen  ankam,  ihnen  Schlingen  legte.  Feurig,  san- 
guinisch, jung,  wie  sie  waren,  und  noch  unbelehrt  durch  die  große 
Enttäuschung,  der  sie  entgegengingen,  mußten  sie  damals  in 
reichem  Maße  politisches  Lehrgeld  bezahlen,  weil  sie  das  Tempo, 
in  dem  geschichtliche  Vorgänge  sich  vollziehen,  noch  viel  zu  schnell 
nahmen  und  Hemmungen,  Widerstände  und  Gegenströmungen  zu 
niedrig  einschätzten. 

Die  Neue  Rheinische  Zeitung  hoffte  anfänglich,  daß  die  deutsche 
Revolution  das  Kraftwerk  werden  möge,  das  den  revolutionären 
Energien  in  den  anderen  Ländern  den  stärksten  elektrischen  Strom 
zuführen  sollte.    Dafür  aber  hing  sehr  viel  davon  ab,  wie  die  neu 


Die  Unbeliebtheit  der  Deutschen  im  Ausland.  327 

entstehende  Zentralgewalt  sich  zu  den  Freiheitsbestrebungen  jener 
Fremdvölker  stellte,  die  an  die  beiden  deutschen  Großmächte  an- 
grenzten und  zum  Teil  ihnen  Untertan  waren.  Für  Engels  war  es, 
wie  wir  schon  hörten,  ausgemacht,  daß  das  um  seine  innere  Freiheit 
ringende  Deutschland  sich  den  Freiheitswünschen  anderer  Völker 
selbst  dort  nicht  in  den  Weg  stellen  durfte,  wo  diese  Befreiung 
eine  Verkleinerung  des  den  deutschen  Staaten  angegliederten  Ge- 
biets zur  Folge  hatte.  Und  für  gleich  unumgänglich  hielt  er  es, 
daß  das  revolutionäre  Deutschland  endgültig  mit  den  Praktiken 
und  Methoden  der  alten  Diplomatie  brach,  die  dem  deutschen  Volk 
bei  den  anderen  Völkern  den  Ruf  eingetragen  hatten,  daß  es  überall 
der  Träger  und  Scherge  der  Reaktion  sei. 

Unter  diesem  Vorwurf  hatten  die  Deutschen,  die  im  Ausland 
lebten,  besonders  zu  leiden  gehabt;  deutsche  Republikaner  wie 
Wirth  und  Venedey  hatten  ihn  schon  in  den  dreißiger  Jahren  auf- 
genommen, wir  begegnen  ihm  auf  dem  Hambacher  Fest  und  in  den 
Spalten  des  Geächteten.  Auch  Engels  ist  überzeugt,  daß  die 
Deutschen  seit  etwa  siebzig  Jahren  den  anderen  Völkern  gegenüber 
eine  schwere  Schuld  auf  sich  geladen  hätten,  die  sie  nur  sühnen 
könnten,  v/enn  sie  mit  ihrer  Revolution  dem  übrigen  Europa  im 
Freiheitskampf  voranschritten.  Deutsche  Söldner  hätten  für  eng- 
lisches Gold  die  Unabhängigkeit  der  Amerikaner  bekämpft,  deutsche 
Truppen  hätten  sich  ,,wie  eine  tolle  Meute"  gegen  die  französische 
Revolution  hetzen  lassen,  in  Holland,  in  der  Schweiz,  in  Ungarn, 
in  Portugal  hätte  man  die  Deutschen  als  die  Scharfrichter  der  Frei- 
heit hassen  gelernt.  ,,Und  die  Kongresse  nach  1815,  Österreichs 
Züge  nach  Neapel,  Turin,  der  Romagna,  Ypsilantis  Haft,  Frank- 
reichs Unterdrückungskrieg  gegen  Spanien  von  Deutschland  er- 
zwungen, Don  Miguel,  Don  Carlos  von  Deutschland  unterstützt  — 
die  Reaktion  in  England  mit  hannoverschen  Truppen  bewaffnet, 
Belgien  durch  deutschen  Einfluß  zerstückelt  und  thermidorisiert, 
im  tiefsten  Innern  von  Rußland  Deutsche  die  Hauptstütze  des 
Einen  und  der  kleinen  Autokraten  —  ganz  Europa  mit  Koburgern 
überschwemmt!  Mit  Hilfe  deutscher  Soldateska  Polen  beraubt,  zer- 
stückelt, Krakau  gemeuchelt.  Mit  Hilfe  deutschen  Geldes  und 
Blutes  die  Lombardei  und  Venedig  geknechtet  und  ausgesogen, 
mittel-  und  unmittelbar  in  ganz  Italien  jede  Freiheitsbewegung 
durch  Bajonett,  Galgen,  Kerker  und  Galeeren  erstickt."  Die  Fran- 
zosen, behauptet  Engels,  hätten  sich,  selbst  da,  wo  sie  als  Feinde 
kamen,  Anerkennung  und  Sympathie  zu  erhalten  gewußt.  Die 
Deutschen  würden  nirgends  anerkannt,  fänden  nirgends  Sym- 
pathien. Sogar  wo  sie  als  großherzige  Freiheitsapostel  aufträten, 
stoße  man  sie  mit  bitterem  Hohn  zurück.    Er  aber  findet  dies  ge- 


328  In  der  deutschen  Revolution. 

rechtfertigt.  Eine  Nation,  die  sich  in  ihrer  ganzen  Vergangenheit 
zum  Werkzeug  der  Unterdrückung  gegen  alle  anderen  Nationen 
hätte  gebrauchen  lassen,  eine  solche  Nation  müsse  erst  beweisen, 
daß  sie  wirklich  revolutioniert  sei.  Nun  verriet  jedoch  die  Auslands- 
politik, die  in  Frankfurt  oder  gar  in  Berlin  und  Wien  seit  der  Re- 
volution betrieben  wurde,  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  in  keiner 
Weise,  daß  man  sich  fortan  von  neuen,  die  Unabhängigkeit  der 
anderen  Nationen  grundsätzlich  anerkennenden,  Gesichtspunkten 
leiten  lassen  wollte.  Das  revolutionierte  Deutschland,  so  schrieb 
Engels  im  Juni  1848  auf  die  Kunde,  daß  Windischgrätz  Prag  bom- 
bardierte, hätte  zugleich  mit  seiner  eigenen  Freiheit  die  Freiheit  der 
von  ihm  bisher  unterdrückten  Völker  proklamieren  müssen.  Statt 
dessen  habe  es  durch  seine  Soldateska  bloß  die  alte  Unterdrückung 
Italiens,  Polens  und  nun  auch  Böhmens  ratifiziert.  Aber  Restau- 
rationskriege seien  mit  Revolutionen  unvereinbar.  Deutschland 
könne  sich  selbst  nur  in  dem  Maße  befreien,  wie  es  die  Nachbar- 
völker freigebe.  Wie  der  gemeinsame  Raub  an  Polen  die  Staaten 
der  heiligen  Allianz  zusammengekettet  und  der  europäischen  Reak- 
tion ihre  festeste  Stütze  verliehen  habe,  so  werde  von  der  polni- 
schen Revolution  die  demokratische  Gestaltung  der  internationalen 
Verhältnisse  ihren  Ausgangspunkt  nehmen. 

Die  ,, schäbige  Rolle",  die  Deutschland  ,,dank  seinem  Adel  und 
seiner  Bürgerschaft,  dank  seiner  verkümmerten  industriellen  Ent- 
wicklung" in  der  Geschichte  gespielt  habe,  wollte  Engels  auch  einige 
Monate  später,  im  Februar  1849  nicht  beschönigen.  Noch  immer 
möchte  er  ,,den  schmählichen  Anteil  der  Deutschen  an  den  schmäh- 
lichen Kriegen  gegen  die  französische  Revolution  von  1792  bis 
1815",  an  der  Unterdrückung  Italiens  und  Polens  seinem  Volk  nicht 
verzeihen.  Aber  wir  finden  ihn  nun  doch  beeinflußt  durch  die 
Tatsache,  daß  die  slawischen  Völker  Österreichs  sich  inzwischen 
endgültig  der  Gegenrevolution  verschrieben  hatten,  daß  die  Heere 
Diebitschs  und  Paskiewitschs  ausschließlich  slawische  Heere  ge- 
wesen waren,  daß  Windischgrätz  gegen  Prag  hauptsächlich  slawische 
Truppen  verwandt  hatte  und  daß  die  Armeen  der  Österreicher,  die 
sich  in  Italien  zur  Unterdrückung  am  besten  gebrauchen  ließen  und 
deren  Brutalitäten  den  Deutschen  zur  Last  gelegt  wurden,  aus  Slawen 
zusammengesetzt  waren.  Jetzt  verbarg  er  sich  auch  nicht  länger 
mehr,  daß  selbst  in  den  Jahren  1792  bis  1815  hinter  den  Deutschen, 
die  sich  gegen  die  französische  Revolution  als  Söldner  und  Avant- 
garde gebrauchen  ließen,  Rußland  und  England  gestanden  hatten. 

Die  internationale  Politik  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung, 
deren  hauptsächlicher  Wortführer  Engels  war,  mündete  bekannt- 
lich in  die  Forderung  nach  einem  deutschen  Volkskrieg  gegen  Ruß- 


Für  einen  deutschen  Volkskrieg  gegen  Rußland.  329 

land.  Erst  in  einem  solchen  Kriege,  der  die  Nation  zur  straffsten 
Zentralisierung  ihrer  Kräfte  treiben  würde,  erblickte  Engels  den 
vollständigen,  offenen  und  wirklichen  Bruch  mit  jener  schmach- 
vollen Vergangenheit,  den  einzigen  möglichen  Weg,  Deutschlands 
Ehre  und  Interessen  gegenüber  seinen  slawischen  Nachbarn,  na- 
mentlich gegenüber  den  Polen,  zu  retten. 

Noch  andere  wichtige  Beweggründe  halfen  Engels  über  das 
Bedenken  hinweg,  daß  er  die  deutsche  Revolution  auf  eine  so 
gefahrenreiche  Bahn  hinzudrängen  suchte.  Ein  Krieg  wie  der,  auf 
den  er  hinzielte,  mußte  notwendig  ein  Weltkrieg  werden,  in  dessen 
Stürmen  die  beiden  großen  deutschen  Monarchien,  deren  Zertrüm- 
merung er  wünschte,  zugrunde  gehen  konnten.  Durfte  er  diesen 
Ausgang  für  Österreich  schon  von  den  zersetzenden  nationalen 
Kämpfen  in  seinem  Inneren  erhoffen,  so  erwartete  er  für  Preußen 
alles  von  einem  Zwiespalt  zwischen  Dynastie  und  Volk.  Zu  ihm 
würde  es  kommen,  wenn  Friedrich  Wilhelm  IV.  sich  mit  dem  Zaren 
Nikolaus  gegen  die  deutsche  Nation  verbände.  Das  Vorgehen  der 
preußischen  Generäle  in  der  Provinz  Posen  hatte  ihm  bewiesen, 
daß  auf  die  Hilfe  der  Hohenzollern  bei  einer  Erhebung  Polens  gegen 
die  Romanows  nicht  zu  zählen  war.  Aber  standen  nicht  wirklich 
Lebensinteressen  des  preußischen  Staats  auf  dem  Spiel,  wenn  man 
von  ihm,  wie  Engels  es  tat,  verlangte,  daß  Polen  „nicht  nur  die 
Gebiete,  sondern  auch  die  Mündungen  seiner  großen  Ströme"  und 
„wenigstens  an  der  Ostsee  einen  großen  Küstenstrich  besitzen 
müsse  ?"  Eine  Konzession  von  diesem  Umfang,  die  auf  die  Lebens- 
interessen Deutschlands  keinerlei  Rücksicht  nahm,  empfahl 
Engels  freilich  nur  so  lange,  wie  er  damit  rechnete,  daß  Polens 
Befreiung  im  Gefolge  einer  Agrarrevolution  kommen  würde.  Als 
er  sich  hernach  in  dieser  Erwartung  getäuscht  sah,  hat  er  sich  keines- 
wegs mehr  gegen  die  Gefahr  verschlossen,  die  es  für  Deutschland 
bedeutete,  wenn  seine  ,, ohnehin  schon  miserabel  schwache  Grenze 
militärisch  vollständig"  ruiniert  und  „die  ganze  Ostseeküste  bis 
nach  Stettin"  bloßgelegt  würde. 

Zunächst  dämpfte  die  Pariser  Junischlacht  die  überschwäng- 
lichen  Erwartungen,  die  Engels  auf  eine  kriegerische  Entladung 
im  Osten  immer  in  der  Hoffnung  gesetzt  hatte,  daß  das  französische 
dem  deutschen  Volk  gegen  den  Zarismus  zu  Hilfe  kommen  und 
„mit  ihm  den  Krieg  des  Westens  gegen  den  Osten,  der  Zivilisation 
gegen  die  Barbarei"  führen  würde.  Mit  jenem  tieferen  Kultur- 
gefühl, das  der  Rheinländer  vor  den  Ostelbiern  voraus  zu  haben 
beanspruchte,  bemerkte  Engels  besonders  deutlich  jene  zweifel- 
haften Eigenschaften,  die  dem  echten  ,,Borussen  mit  dem  Russen" 
gemeinsam  waren.     Stärker   noch    als  die    „Vereinigung   von   Be- 


330 


In  der  deutschen  Revolution. 


schränktheit  und  Unfehlbarkeit",  das  „unvergleichliche  naseweise 
Besserwissen"  und  die  apodiktische  Grobheit,  wodurch  in  seiner 
Jugend  die  altpreußischen  Beamten  sogar  konservativen  Rheinlän- 
dern als  ein  unerwünschter  Importartikel  erschienen  waren,  hatte 
die  Beständigkeit  des  reaktionären  Ostwindes,  der  ihm  jahraus 
jahrein  von  Berlin  her  ins  Gesicht  geweht  hatte,  bewirkt,  daß 
der  preußische  Staat  ihm  stets  nur  ein  Gefühl  unbeugsamer  Feind- 
schaft einflößen  konnte.  Als  die  Gervinussche  Deutsche  Zeitung 
am  22.  Juni  sich  damit  tröstete,  daß  Preußen  sich  im  schlimmsten 
Fall  mit  dem  momentanen  Verlust  der  Rheinprovinz  abfinden 
müßte,  erwiderte  die  Neue  Rheinische  Zeitung  dem  kleindeutschen 
Blatt  sofort,  daß  die  Rheinprovinz  noch  viel  weniger  ,,vor  einem 
permanenten  Verlust"  der  preußischen  Herrschaft  zurückschrecken 
würde. 

Von  Preußens  Auflösung  als  Folge  eines  Krieges  gegen  Ruß- 
land versprach  Engels  sich  nicht  bloß  eine  Vereinfachung  der  ver- 
zwickten innerdeutschen  Fragestellung,  sondern  darüber  hinaus 
eine  Weitertreibung  der  Entwicklung  in  einer  Richtung,  die  seinen 
eigentlichen  Zielen  zuträglich  war.  Würde  sich  erst  die  Alternative 
herausstellen:  Autokratie  oder  Republik,  so  müßte  sich  zwischen 
den  Mühlsteinen  dieser  beiden  Extreme  der  Konstitutionalismus 
zerreiben.  Der  konstitutionelle  Großbürger  werde  die  Schuld  an 
dem  Kriege,  und  zwar  mit  Recht,  der  Demokratie  zuschieben  und 
schon  aus  diesem  Grunde  sich  ihren  Gegnern  anschließen.  Auch 
nach  der  furchtbaren  Niederlage  des  französischen  Proletariats 
entsagte  Engels  der  Hoffnung  nicht,  daß  es  zu  einem  solchen 
Volkskrieg  kommen  würde ;  noch  im  August  und  September  gab 
die  Neue  Rheinische  Zeitung  der  Überzeugung  Ausdruck,  daß  nur 
ein  solcher  die  wirkliche  Befreiung  und  Einigung  Deutschlands  und 
die  Herstellung  der  Demokratie  auf  den  Trümmern  der  Feudalität 
und  des  kurzen  Kerrschaftstraums  der  Bourgeoisie  bewirken  könne. 
Die  Feldzüge  in  Italien,  Böhmen  und  Posen  verurteilte  Engels 
ganz  konsequent  als  Versuche,  Bevölkerungen,  die  bei  Deutschland 
nicht  verbleiben  wollten,  mit  Gewalt  bei  diesem  festzuhalten.  Da- 
gegen billigte  er,  so  energisch  er  mit  dem  ,, meerumschlungenen 
bürgerlichen  Schoppenenthusiasmus"  jede  Gemeinschaft  ableugnete, 
den  Krieg  gegen  Dänemark,  der  ihm  als  der  erste  Revolutionskrieg 
galt,  den  Deutschland  führte.  Um  aber  die  Angliederung  Schleswigs 
an  Deutschland  verteidigen  zu  können,  stellte  er  einen  Grundsatz 
auf,  der  jeder  Willkür  die  Tür  offen  ließ.  Danach  sollte  der  Besitz  um- 
strittener Gebiete  immer  der  Nation  zufallen,  die  das  Recht  der  Zivili- 
sation gegen  die  Barbarei,  des  Fortschritts  gegen  die  Stabilität  verträte. 
Wie  anfechtbar  und  wie  haltlos  fast  immer  solche  wohlklingenden 


Der  konterrevolutionäre  Fels  im  Meere. 


331 


Kriterien  sind,  zeigte  sich  in  diesem  Fall  darin,  daß  es  gleich- 
zeitig dazu  herhalten  sollte,  Schleswig  den  Deutschen,  Elsaß  und 
Lothringen  den  Franzosen  zuzusprechen  und  diesen  obendrein  für 
früher  oder  später  einen  Anspruch  auf  Belgien  einzuräumen.  An 
dem  Fragenkomplex,  der  durch  den  Waffenstillstand  von  Malmö 
aufgeregt  vvoirde,  interessierte  Engels  am  stärksten,  daß  sich  hier 
noch  einmal  ein  Weg  zu  zeigen  schien,  der  zu  dem  ersehnten  Volks- 
krieg gegen  Rußland  noch  führen  konnte,  obgleich  die  Junischlacht 
mittlerweile  die  französische  Initiative,  auf  die  er  früher  fest  gebaut, 
in  Frage  gestellt  hatte.  Beschloß  das  Frankfurter  Parlament,  jenen 
Waffenstillstand  zu  verwerfen,  so  bedeutete  das  in  seinen  Augen 
einen  Krieg,  in  dem  Deutschland  mit  den  Polen  und  Italienern  den 
,,drei  Großmächten  der  Konterrevolution"  Preußen,  Rußland,  Eng- 
land, gegenüberstehen  würde,  einen  Krieg,  der  „das  Vaterland  in 
Gefahr"  bringen  aber  gerade  dadurch  retten  werde,  daß  er  den  Sieg 
Deutschlands  vom  Sieg  der  Demokratie  abhängig  machte.  Daß 
Engels  in  einem  TriumphPreußens  und  Rußlands  für  die  europäische 
wie  für  die  deutsche  Revolution  und  damit  für  die  deutsche  Einheit 
eine  Gefährdung  gesehen  hätte,  ist  uns  schon  vertraut.  Wie  kam 
es  aber,  daß  ihm  England,  das  gleiche  England,  das  er  noch  vor 
kurzem  für  die  Wiege  der  sozialen  Revolution  angesehen  hatte, 
jetzt  in  einem  so  veränderten  Lichte  erschien  ? 

Den  ausgreifendsten  Hoffnungen  zugänglich,  hatte  er  in  seinem 
stets  gleichbleibenden  Optimismus  anfangs  nicht  bezweifelt,  daß 
die  Flamme  der  Pariser  Februarrevolution  sofort  über  den  ICanal 
hinüberschlagen  werde,  wo  er,  wie  wir  uns  erinnern,  seit  langem 
den  Brennstoff,  den  sie  fressen  sollte,  in  hohen  Stapeln  aufgeschichtet 
sah.  Unbeschreiblich  war  seine  Enttäuschung,  als  der  nach  London 
einberufene  Chartistenkonvent  sich  ohnmächtig  erwies  und  der  alte 
Wellington  am  10.  April  den  Arbeiterführern  unwiderleglich  demon- 
strieren konnte,  daß  in  England  noch  die  simpelsten  militärischen 
Vorkehrungen  genügten,  um  die  riesigsten  politischen  Kundgebun- 
gen des  Proletariats,  sofern  sie  der  Regierung  unbequem  waren, 
an  der  Entfaltung  zu  verhindern.  Als  danach  die  revolutionären 
Versuche  O'Briens  in  Irland  ebenso  vollständig  scheiterten  wie  die 
O'Connors  in  London,  da  mußte  er  sich  schweren  Herzens  mit  dem 
Gedanken  vertraut  machen,  daß  auf  einen  Sturz  der  „freihänd- 
lerisch-hochkirchlichen Tyrannei"  so  bald  nicht  zu  rechnen  war, 
und  daß  die  europäische  Revolution  außerhalb  Rußlands  keinen 
mächtigeren  Gegner  zu  fürchten  hatte  als  den  „unerschütterten 
konterrevolutionären  Fels  im  Meere".  Immer  wieder  von  neuem 
untersuchte  er,  unter  welchem  Zwang  England  die  despotische  Rolle 
zufiel,  die  er  es  in  dem  Staatensystem  der  Welt  ausfüllen  sah.    Und 


332 


In  der  deutschen  Revolution. 


dabei  gelangte  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  dem  Lande  des  Kapital- 
monopols sein  Interesse  an  der  Verteidigung  dieses  spezifisch  mo- 
dernen Monopols  und  an  der  Konservierung  der  bestehenden 
Staatenordnung  und  Klassengesellschaft  seinen  Platz  an  der  Seite 
der  gegenrevolutionären  Mächte  anwies.  Unter  dem  gleichen 
Druck,  den  der  einzelne  englische  Bourgeois  auf  den  einzelnen  eng- 
lischen Proletarier  ausübe,  wünsche  die  englische  Bourgeoisie  als 
Gesamtheit  sich  die  Bourgeoisien  Deutschlands,  Frankreichs  und 
Italiens  zu  erhalten.  Und  in  der  Tat  würden  die  Bourgeoisien  dieser 
Länder  unfehlbar  zu  Proletariern  gegenüber  der  alles  absorbierenden 
englischen  Bourgeoisie  herabsinken,  wenn  sie  auf  Zollschutz  ver- 
zichten und  England,  das  davon  profitierte,  auf  die  Bahn  des  Frei- 
handels folgen  würden.  Die  deutsche  Revolution  habe,  so  meinte 
Engels,  bei  England  die  Befürchtung  geweckt,  daß  es  Deutschlands 
Markt,  wenn  dieses  die  Einigung  erreichte,  für  seine  Ausbeutung 
verlieren  möchte.  Er  kannte  das  englische  Bürgertum  zu  gut,  um 
etwas  anderes  als  Hohn  und  Spott  zu  empfinden  über  die  ,, ideolo- 
gische Naivität"  Ruges,  der,  von  Völkerbundsgedanken  ganz  erfüllt, 
sein  Verlangen  nach  einem  Dreibund  zwischen  Deutschland,  Frank- 
reich und  England  am  22.  Juli  in  der  Paulskirche  auf  die  Behaup- 
tung stützte,  daß  diese  Nationen  eigentlich  dasselbe  dächten,  und 
im  ganzen  auch  dasselbe  wollten.  ,,Weil  in  Frankreich,  England 
und  Deutschland  die  Bourgeoisie  herrscht,  darum  sind  sie  natürliche 
Alliierte,  so  räsonniert  der  Bürger  Rüge.  Und  wenn  die  materiellen 
Interessen  der  drei  Länder  einander  schnurstracks  entgegenlaufen, 
wenn  Handelsfreiheit  mit  Deutschland  und  Frankreich  eine  un- 
umgängliche Lebensbedingung  für  die  englische,  wenn  Schutzzölle 
gegen  England  eine  unumgängliche  Lebensbedingung  für  die  fran- 
zösische und  deutsche  Bourgeoisie  sind,  wenn  diese  Tripelallianz 
in  der  Praxis  auf  die  industrielle  Unterjochung  Frankreichs  und 
Deutschlands  hinausliefe ! !"  Der  „Portier  der  deutschen  Philosophie" 
wie  er  Rüge  jetzt  titulierte,  sollte  begreifen,  daß  sein  philan- 
thropisch-kosmopolitisches Projekt  —  ,, tragische  Ironie  der  Welt- 
geschichte!" —  an  den  ,, schäbigen  Krämerseelen"  scheitern  müßte. 
Seitdem  seine  Hoffnung  auf  das  Nahen  der  proletarischen  Revo- 
lution in  England  ihn  so  bitter  enttäuscht  hatte,  suchte  Ergeis  sich  mit 
der  Erwartung  zu  trösten,  daß  Frankreich,  seinen  revolutionären 
Traditionen  getreu,  den  Platz  an  der  Spitze  des  roten  Reigens  von 
neuem  einnehmen  und  behaupten  werde.  Die  Neue  Rheinische 
Zeitung  hatte  mit  Besorgnis  verfolgt,  wie  die  provisorische  Re- 
gierung eine  Steuerpolitik  trieb,  die  geeignet  war,  in  einem  Bauern- 
land, dessen  industrielles  Proletariat  sich  erst  auf  wenige  große 
Städte  und  Fabrikzentren  beschränkte,  einer  Konterrevolution  die 


Die  Pariser  Junischlacht.  »90 

Wege  zu  ebnen.  Als  aber  im  Juni  die  ersten  Meldungen  über  den 
Beginn  des  blutigen  Ringens  auf  den  Boulevards  eintrafen,  überließ 
sie  sich  dennoch  der  Hoffnung,  daß  bei  dieser  großen  ,, Entschei- 
dungsschlacht zwischen  Bourgeoisie  und  Proletariat"  die  Bour- 
geoisie ihren  Todeskampf  kämpfte!  Als  der  nächste  Tag  noch  keine 
endgültige  Kunde  über  den  Ausgang  des  Schlachtens  brachte,  nannte 
Engels  —  er  war  es  vermutlich  —  in  bebender  Erregung  Ostparis 
und  Westparis  die  Symbole  für  die  zwei  großen  feindlichen  Lager, 
in  die  sich  hier  zum  ersten  Male  die  ganze  Gesellschaft  spalte. 
Aber  die  Hiobsnachrichten  häuften  sich,  und  es  wurde  zur  Gewißheit, 
daß  die  Bourgeoisie  die  Siegerin  geblieben  war.  Da  erhob  das  revo- 
lutionäre Blatt  über  die  „Opfer  der  ersten  entscheidenden  Feld- 
schlacht des  Proletariats"  eine  erschütternde  Totenklage.  Weil  der 
Kampf  sich  innerhalb  einer  Republik  zwischen  nominellen  Republi- 
kanern abgespielt  hatte,  lag  die  Gefahr  sehr  nahe,  daß  man  in 
Kommunistenkreisen  fortab  Kämpfe  um  die  Staatsform  für 
inhaltlos  und  illusorisch  erklären  könnte.  Um  dies  zu  hindern,  be- 
kannte sich  in  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  am  29.  Juni  der 
von  Marx  geschriebene  flammende  Artikel,  der  die  Bilanz  der  blu- 
tigen Woche  zog,  vorbehaltlos  zum  republikanischen  Ideal,  un- 
bekümmert darum,  daß  unter  der  Einwirkung  der  gleichen  Ereig- 
nisse die  Mehrzahl  der  freiheitlich  gesinnten  bürgerlichen  Presse, 
ängstlich  geworden,  zu  der  Anschauung  zurückfand,  daß  bloß  der 
unverrückbare  Stützpunkt,  den  eine  festwurzelnde  Monarchie  ge- 
währte, die  Gesellschaft  vor  der  Diktatur  eines  kommunistischen 
Wohlfahrtsausschusses  bewahren  könne.  Engels  hat  es  noch  nach 
Jahrzehnten  voll  Stolz  gerühmt,  daß  in  jenem  Augenblick,  als  die 
Bourgeois  und  Spießbürger  aller  Länder  die  Besiegten  mit  dem 
Wust  ihrer  Verleumdung  erdrückten,  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
die  Fahne  des  zertretenen  Proletariats  hochgehalten  habe!  Auf  die 
erste  Kunde,  die  den  Sieg  des  Proletariats  in  Frankreich  in  nächste 
Nähe  zu  rücken  schien,  hatte  er  alle  Zweifel,  die  ihn  in  ruhigeren 
Stunden  beschlichen  hätten,  beiseite  gedrängt.  Wenn  einmal  im 
geschichtlichen  Leben  ungeheure  Ereignisse  sich  ehernen  Entschei- 
dungen entgegentürmen,  dann  schweigt  leicht  vor  dem  lauten 
Pochen  des  leidenschaftlich  erregten  Herzens  der  zwischen  Mög- 
lichem und  Unmöglichem  ruhig  abwägende  Verstand.  In  dem 
Augenblick,  als  der  Konflikt  zwischen  Bourgeoisie  und  Proletariat, 
dessen  Austrag  er  nicht  so  schnell  erwartet  hatte,  in  Paris  zur 
Entscheidung  reifte,  überließ  seine  feurige  Jugend  sich  dem  über- 
wältigenden Rausch  der  Stunde.  Sie  nahm  die  Fata  Morgana  für 
greifbare  Wirklichkeit  und  vertraute  darauf,  daß  eine  Revolution, 
wenn  sie   lang  genug    dauere,  alle   Gegensätze   mit  unheimlicher 


324  ^"  ^®^  deutschen  Revolution. 

Schnelligkeit  der  Reife  entgegentreibe.  Vielleicht,  daß  doch  schon 
jetzt  in  einer  einzigen,  langen  und  wechselvollen  Revolutions- 
periode der  große  Entscheidungskampf  mit  dem  endgültigen  Sieg 
des  Proletariats  seinen  Abschluß  fände!  Es  ist  möglich,  daß  die 
Erinnerung  an  diese  Junitage,  die  er  in  atemlosem  Bangen  zu- 
gebracht hatte,  Engels  gegenwärtig  war,  wenn  ihn  später  der  Ge- 
danke beunruhigte,  das  Proletariat  könnte  durch  eine  günstige 
Konstellation  einmal  zur  Macht  kommen,  bevor  alle  ökonomischen 
und  politischen  Voraussetzungen  verwirklicht  wären,  die  der  er- 
folgreichen Durchführung  seiner  eigentümlichen  Mission  voraus- 
zugehen hätten.  Daß  die  Niederlage  der  Pariser  Arbeiter  der  euro- 
päischen Revolutionsbewegung  zum  Verhängnis  werden  konnte, 
haben  Engels  und  Marx  im  Sommer  1848  noch  nicht  in  Erwägung 
gezogen.  Bekanntlich  haben  sie  später  das  unaufhaltsame  Er- 
starken der  gegenrevolutionären  Strömung  in  Europa,  das  nun  ein- 
setzte, ausschließlich  auf  den  Ablauf  der  schweren  Handelskrisis  und 
die  Wiederkehr  der  industriellen  Prosperität  zurückführen  wollen,  die 
sie  so  früh  nicht  hätten  überblicken  können.  Bis  zu  Louis  Napoleons 
Ernennung  zum  Präsidenten,  ja  bis  über  die  reaktionären  Wahlen 
des  Mai  1849  hinaus,  erwarteten  sie  noch  voll  ungebrochener  Zu- 
versicht die  Wiederbelebung  der  europäischen  Revolution  von 
einem  neuen  Ausbruch  des  Pariser  Kraters.  ■  - 

Diese  Hoffnung  bestimmte  hinfort  auch  die  Einschätzung, 
welche  die  revolutionäre  Bewegung  in  Italien  bei  Engels  fand. 
Weiterreichende,  unmittelbare  Wirkungen  konnte  er  sich  von  ihr 
nicht  mehr  versprechen,  seitdem  sich  bei  Custozza  die  Überlegenheit 
der  österreichischen  Waffen  herausgestellt  hatte.  Aber  wenn  die 
Italiener  auch  nicht  die  Macht  besaßen,  sich  aus  eigenen  Kräften 
zu  befreien,  so  warnte  er  sie  dennoch  vor  einem  Bündnis  mit  der 
französischen  Bourgeoisie,  die  ihm  als  der  Eckpfahl  der  Reaktion 
in  ganz  Europa  galt,  und  riet  ihr,  die  kommende  neue  Erhebung 
des  französischen  Proletariats  abzuwarten.  Die  demokratisch- 
soziale  Republik,  die  diese  in  Paris  einsetzen  würde,  werde  der 
Demokratie  nicht  nur  in  Italien,  sondern  auch  in  Deutschland,  in 
Polen  und  Ungarn  den  Weg  zum  Siege  bahnen.  |     ..   ^^ 

So  hoffnungsvoll  er  blieb,  so  wenig  konnte  sich  Engels  ver- 
hehlen, daß  die  Revolution  in  den  Sommermonaten  1848  nicht  den 
Gang  nahm,  den  er  sich  bis  vor  kurzem  versprochen  hatte.  Weil 
das  Bürgertum  in  seiner  Unschlüssigkeit  und  Kopflosigkeit  ihr  die 
Zeit  gelassen  hatte,  erwachte  mittlerweile  auch  in  Deutschland,  wie 
er  nicht  länger  übersehen  konnte,  die  Reaktion  aus  ihrer  zeit- 
weiligen Betäubung.  Und  während  die  Spaltungen  innerhalb  des 
Bürgertums  sich  vertieften  und  die  Massen  in  den  Zentren  des  poli- 


Aus  der  Redaktionsstube  auf  die  Rednertribüne.  335 

tischen  Lebens  immer  ungebärdiger  wurden,  war  der  König  von 
Preußen,  wie  wir  heute  wissen,  bereits  bei  der  Erwägung  angelangt, 
ob  es  „nicht  am  ratsamsten"  wäre,  „die  Roten  zu  unzeitiger  Schild- 
erhebung" zu  nötigen,  bevor  „der  Bürgerkrieg  unter  der  roten 
Fahne"  zum  Ausbruch  käme. 

Solchem  Verlangen  der  Reaktion  arbeitete  die  Gärung  in  die 
Hände,  die  sich  im  September,  als  die  Lage  fast  gleichzeitig  in  Berlin 
und  Frankfurt  schwer  krisenhaft  wurde,  weiter  Kreise  der  Demo- 
kratie bemächtigte.  In  Berlin  glaubte  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
mit  dem  Rücktritt  Hansemanns  die  Stunde  des  Entscheidungskampfes 
zwischen  Reaktion  und  Revolution  nahe  gerückt.  Dem  Frank- 
furter Parlament  rief  Engels  zu,  daß  es  sich  endgültig  von  der  Re- 
volution lossagte,  wenn  es  sich  dazu  erniedrigte,  den  Waffenstill- 
stand mit  Dänemark  gutzuheißen.  Nachdem  er  schon  Mitte  August 
auf  einer  Kölner  Tagung  der  dem.okratischen  Vereine  der  Rhein- 
provinz seinem  Haß  gegen  Bureaukratie  und  Stockpreußentum  die 
Zügel  hatte  schießen  lassen,  drängte  die  Erregung  dieser  Wochen  nun 
auch  ihn  aus  der  Redaktionsstube  auf  die  Rednertribüne.  Ihr  Miß- 
trauen gegen  die  starke  demokratische  Strömung,  die  sich  hier  breit 
machte,  hatte  die  Regierung  frühzeitig  veranlaßt,  aus  den  östlichen 
Provinzen  gewaltige  Truppenmassen  in  die  Rheinprovinz  zu  werfen, 
um  jeden  bewaffneten  Aufstand  im  Keime  ersticken  zu  können. 
Weil  sie  aber  die  geheimen  Wünsche  des  Königs  durchschauten, 
wollten  Marx  und  Engels  nicht  dulden,  daß  eine  erfolglose  Erhebung 
ihres  Anhangs  die  Geschäfte  der  Reaktion  besorgte.  Ein  Losschlagen 
in  Köln,  während  die  Provinz  von  Bajonetten  starrte,  hielten  sie 
mit  Recht  für  hirn-  und  zwecklos  und  „unausführbar".  Im  vollen 
Gefühl  ihrer  Verantwortung  warnte  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
die  Arbeiter  unaufhörlich  davor,  sich  zu  irgend  einem  Putsch- 
versuch hinreißen  zu  lassen.  Schon  aber  hatte  sich  der  Gegensatz 
zwischen  Volk  und  Militär  so  verschärft,  daß  die  Situation  gefähr- 
lich werden  mußte,  sobald  aufregende  politische  Ereignisse  hinzu- 
traten. Bereits  dem  Ministerium  Auerswald -Hansemann  trauten 
Marx  und  Engels  zu,  es  könnte  sich  dazu  hergeben,  das  preußische 
Staatsschiff  in  den  ,, gemeinschaftlichen  Hafen  des  Polizeistaats 
und  der  christlich-germanischen  Politik"  zurückzuführen.  Stürzte 
es  aber,  so  erschien  es  vollends  unmöglich,  die  Entscheidung,  ob 
die  Konterrevolution  oder  die  Volkssouveränität  in  Preußen  trium- 
phieren sollte,  weiter  hinauszuschieben.  Der  Konflikt  zwischen  der 
Nationalversammlung,  die  zum  erstenmal  sich  als  konstituierende 
hinstellte,  und  der  Krone  sei  da,  schrieb  Marx  am  12.  Sep- 
tember. Alles  drehe  sich  nun  darum,  ob  der  König  den  Mut  auf- 
bringen werde,  die  Versammlung  aufzulösen.   Eine  Auflösung  wäre 


336  I"  dsr  deutschen  Revolution. 

der  Staatsstreich.  Wie  man  aber  auf  Staatsstreiche  antwortete, 
hätten  der  29.  Juli  1830  und  der  24.  Februar  1848  gezeigt.  Siege  die 
Nationalversammlung,  setze  sie  das  Ministerium  der  Linken  durch, 
so  sei  die  Macht  der  Krone  neben  der  Versammlung  gebrochen. 
Siege  aber  die  Krone,  käme  es  zu  einem  Ministerium  des  Prinzen 
von  Preußen,  so  werde  man  unter  dem  Schutz  der  Militärdiktatur, 
der  Kanonen  und  der  Bajonette  die  Versammlung  auflösen,  das 
Assoziationsrecht  unterdrücken,  die  Presse  knebeln  und  ein  Wahl- 
gesetz mit  Zensus  dekretieren.  Die  Entscheidung  hänge  ab  von  der 
Haltung  des  Volkes,  namentlich  von  der  Haltung  der  demokratischen 
Partei. 

Auf  den  gleichen  Boden  wie  dieser  Artikel  stellte  sich  am 
Tage  nach  seinem  Erscheinen  eine  große  Volksversammlung,  die 
Heinrich  Bürgers  auf  dem  Frankenplatz  in  Köln  leitete.  Einstimmig 
genehmigte  sie  eine  von  Engels  vorgeschlagene  Adresse  an  die  Ber- 
liner Nationalversammlung,  die  diese  mahnte,  bei  einem  Versuch 
zu  ihrer  Auflösung  ihre  Schuldigkeit  zu  tun  und  selbst  der  Gewalt 
der  Bajonette  nicht  zu  weichen.  Die  Nationalversammlung  habe 
dem  Ministerium  die  Pflicht  auferlegt,  die  gegen  die  reaktionären 
Bestrebungen  der  Offiziere  gerichtete  Verfügung  zur  Beruhigung 
des  Landes  und  zur  Vermeidung  eines  Bruches  mit  der  Versamm- 
lung ohne  weiteres  ergehen  zu  lassen.  Statt  dessen  sei  das  Mini- 
sterium zurückgetreten  und  der  König  habe  den  eben  gestürzten 
Reichsminister  Beckerath  mit  der  Bildung  eines  neuen  Ministeriums 
beauftragt,  dessen  konterrevolutionäre  Gesinnung  keine  Garantie 
böte,  sondern  erwarten  ließe,  daß  es  die  Auflösung  der  Versammlung 
versuchen  werde.  Eine  vom  Volk  zur  Vereinbarung  der  Verfassung 
zwischen  König  und  Volk  gewählte  Versammlung  könne  jedoch 
nicht  einseitig  aufgelöst  werden,  da  ja  die  Krone  sonst  nicht  neben, 
sondern  über  diesem  Parlament  stünde.  Auf  einen  Vorschlag  Wil- 
helm Wolffs,  den  Engels,  Hermann  Becker  und  Dronke  unter- 
stützten, beschloß  man  die  Errichtung  eines  Sicherheitsausschusses, 
der  für  die  in  den  bestehenden  gesetzlichen  Behörden  nicht  ver- 
tretenen Teile  der  Kölner  Bevölkerung  eine  Vertretung  bilden  sollte. 
Die  gleiche  von  Engels  vorgeschlagene  Adresse  fand  auch  die  Billi- 
gung einer  anderen,  von  vielen  Tausenden  besuchten  Volksversamm- 
lung, die  vier  Tage  später  auf  einer  Wiese  bei  Wörringen  am  Rhein 
stattfand,  und  zu  der  die  Kölner  auf  großen  Rheinkähnen,  an  deren 
Bug  statt  der  üblichen  schwarz-rot-goldenen  nun  die  rote  Fahne 
wehte,  den  Strom  herabgefahren  kamen.  Die  rote  Fahne  führte 
ebenfalls  die  Düsseldorfer  Delegation.  Ihr  Obmann  war  der  drei- 
imdzwanzig  jähr  ige  Lassalle,  dem  Engels,  der  wiederum  der 
Sekretär  der  von  Schapper  präsidierten  Kundgebung  war,  dort  zum 


Unruhen  in  Köln.  337 

ersten  Male  begegnet  sein  wird.  Auch  aus  Neuß,  aus  Crefeld  und 
anderen  Orten  der  Gegend  hatten  sich  Delegationen  eingefunden. 
Die  Redner,  zu  denen  neben  Wilhelm  Wolff,  Schapper,  Lasssalle 
auch  Engels  gehörte,  bekannten  sich  offen  zur  demokratisch-sozialen 
Republik.  Außer  an  das  preußische  veranlaßte  Engels  die  Versamm- 
lung, auch  an  das  deutsche  Parlament  eine  Adresse  zu  senden,  die 
für  den  Fall,  daß  die  Berliner  Regierung  den  Beschlüssen  der  Na- 
tionalversammlung und  der  Zentralgewalt  Widerstand  leisten  würde, 
mit  Gut  und  Blut  die  Sache  Deutschlands  gegen  Preußen  zu  ver- 
fechten versprach.  Während  der  Abfassung  und  Annahme  dieser 
Resolutionen  in  Worringen  war  es  noch  unbekannt  gewesen,  daß 
die  Paulskirche  den  Waffenstillstand  von  Malmö  am  Tage  vorher 
bei  der  Wiederholung  der  Abstimmung  genehmigt  hatte.  Kaum 
aber  war  die  Kunde,  daß  infolge  jenes  Beschlusses  in  Frankfurt 
Unruhen  ausgebrochen  waren,  in  Köln  ruchbar  geworden,  so  er- 
klärte hier  eine  vom  Sicherheitsausschuß,  vom  demokratischen 
und  vom  Arbeiterverein  einberufene  neue  Versammlung  die  Mit- 
glieder des  deutschen  Parlaments  für  Volksverräter  und  sprach  den 
Barrikadenkämpfern  am  Main  ihre  Sjrmpathien  aus.  Von  nun  ab 
^^Tirde  auch  am  Rhein  mit  jedem  Tage  die  Stimmung  erregter,  und 
vergebens  riet  die  Neue  Rheinische  Zeitung  den  Arbeitern,  ihr 
Pulver  trocken  zu  halten,  bis  in  Berlin  die  Gegenrevolution  die 
Maske  offen  abgeworfen  hätte.  Sie  konnte  nicht  mehr  verhindern, 
daß  es  am  25.  September  zu  Unruhen  von  nicht  beträchtlicher  Art 
kam.  Am  Morgen  dieses  Tages  waren  nämlich  die  Vorsitzenden 
der  Arbeitervereine,  Schapper,  Moll  und  der  Referendar  Hermann 
Becker,  der  mit  ihnen  den  Zentralausschuß  des  Verbandes  der  demo- 
kratischen Vereine  des  Rheinlandes  bildete,  verhaftet  worden.  Ein 
Volkshaufen  hatte  Moll  wieder  befreit,  und  dieser  trat  nun  am  Nach- 
mittag in  einer  von  der  Polizei  verbotenen,  von  der  Bürgerwehr 
überwachten  Versammlung  auf  dem  Alten  Markt  als  Redner  auf 
Auf  das  falsche  Gerücht,  daß  die  „Preußen"  —  gemeint  war  natür- 
lich das  Militär  —  anrückten,  wurde  mit  dem  Bau  von  Barrikaden 
begonnen.  Aber  keine  Truppen  tauchten  auf.  Trotz  des  unblutigen 
Ausgangs  verhängte  der  Kommandant  der  Festung  den  Belagerungs- 
zustand über  Köln.  Die  Bürgerwehr  verfiel  der  Auflösung,  die  Ver- 
sammlungsfreiheit der  Aufhebung  und  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
nebst  drei  anderen  demokratischen  Blättern  dem  Verbot  für  die 
Dauer  des  Ausnahmezustandes. 

Weil  er  nach  Ansicht  der  Behörden  das  preußische  Bürgerrecht 
nicht  mehr  besaß,  hatte  Marx,  der  wußte,  daß  die  Regierung  nur  nach 
einer  Gelegenheit,  ihn  ausweisen  zu  können,  spähte,  sich  von  allen 
Versammlungen  ferngehalten.    Die  anderen  Redakteure  der  Neuen 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  32 


338 


In  der  deutschen  Revolution. 


Rheinischen  Zeitung,  die  sich  dort  hervorgetan  hatten  und  nun 
ihrer  Verhaftung  gewärtig  sein  mußten,  verspürten  keine  Lust,  die 
Revolutionszeit  in  einem  preußischen  Gefängnis  zu  verbringen. 
Nachdem  Wilhelm  Wolff,  der  weniger  als  Engels  auf  dem  Kerbholz 
hatte,  in  die  Pfalz  abgereist  war,  hielt  auch  Engels  es  für  geraten, 
sich  in  Sicherheit  zu  bringen.  Der  Vater  hatte  sein  revolutionäres 
Hervortreten  in  diesen  Tagen  der  stürmischen  Erregung  als  einen 
harten  Schlag  empfunden.  Als  Redakteur  des  Kölner  Rebellenblatts 
hatte  Friedrich  seine  Artikel  wenigstens  nicht  zu  unterzeichnen 
brauchen.  Nun  aber  war  sein  Name  im  Wupper-  und  Rheintal  in 
aller  Munde.  Er  benutzte  den  Umstand,  daß  die  Eltern  sich  eben  in 
Engelskirchen,  wo  die  väterliche  Fabrik  lag,  aufhielten,  um  sich 
einige  Tage  in  Barmen  zu  verstecken.  Damals  scheint  er  seine  ganze 
Privatkorrespondenz,  die  er  solange  mit  kaufmännischer  Sorgfalt 
aufgehoben  hatte,  darunter  auch  die  ersten  Briefe  Marx,  ver- 
nichtet zu  haben,  für  den  Biographen  ein  nicht  gut  zu  machender 
Verlust.  Eine  Begegnung  mit  dem  Vater,  zu  der  es  dann  doch  noch 
gekommen  zu  sein  scheint,  hinterließ  auf  beiden  Seiten  peinliche 
Gefühle ;  vergebens  hatte  dabei  die  Mutter,  die  beschwichtigend 
zwischen  die  Männer  trat,  noch  einmal  alle  Mittel  liebevoller  Beein- 
flussung erschöpft,  um  Friedrich  vor  einem  Wege  zu  warnen,  der 
ihn  seiner  eng  zusammenhaltenden  Familie  zu  entfremden  drohte. 
Zu  der  Flucht,  die  er  nun  antrat,  hatte  er  sich  mit  Dronke  zu- 
sammengetan. In  Brüssel,  wo  ihn  noch  von  zu  Hause  eine  Geld- 
sendung erreichen  sollte,  hielten  sie,  dem  freiheitlichen  Brauch  des 
Landes  vertrauend,  es  für  überflüssig,  ihren  wahren  Namen  zu  ver- 
heimlichen. Doch  die  belgische  Polizei  erinnerte  sich  ihres  früheren 
Aufenthalts,  beförderte  sie  zunächst  in  das  Gefängnis  der  Petits 
Carmes,  von  dort  in  einem  Zellenwagen  nach  dem  Südbahnhof  und 
per  Schub  als  Vagabunden  über  die  französische  Grenze.  Als  am 
12.  Oktober  die  Neue  Rheinische  Zeitung  wieder  erscheinen  konnte, 
befand  Engels  sich  in  Paris.  Wie  hatte  sich  aber  diese  Stadt,  die 
er  so  liebte,  verändert  seit  jenen  gar  nicht  fernen  Frühlingstagen, 
als  er  sie  voll  der  frohesten  Hoffnungen  verließ.  „Zwischen  dem 
Paris  von  damals  und  von  jetzt,"  schrieb  er  in  ein  wohl  für  das 
Feuilleton  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  bestimmtes  Reisetage- 
buch, ,,lag  der  fünfzehnte  Mai  und  fünfundzwanzigste  Juni,  lag 
der  furchtbarste  Kampf,  den  die  Welt  je  gesehen,  lag  ein  Meer 
von  Blut,  lagen  fünfzehntausend  Leichen.  Die  Granaten  Cavaignacs 
hatten  die  unüberwindbare  Pariser  Heiterkeit  in  die  Luft  gesprengt; 
die  Marseillaise  und  der  Chant  du  Depart  waren  verstummt,  nur  die 
Bourgeois  summten  noch  ihr  Mourir  pour  la  Patrie  zwischen  den 
Zähnen,  die  Arbeiter,  brotlos  und  waffenlos,   knirschten  in  verhal- 


Engels  auf  der  Flucht.  33p 

tenem  Groll;  in  der  Schule  des  Belagerungszustandes  war  die  aus- 
gelassene Republik  gar  bald  honett,  zahm,  artig  und  gemäßigt  ge- 
worden. Aber  Paris  war  tot,  es  war  nicht  mehr  Paris."  Wen  er 
in  der  französischen  Hauptstadt  damals  gesprochen  hat,  ist  uns 
nicht  bekannt.  Die  Neue  Rheinische  Zeitung  brachte  aus  seiner 
Feder  am  14.  Oktober  eine  Auseinandersetzung  mit  einer  von 
Thiers  über  das  Eigentum  veröffentlichten  Broschüre,  in  der  er  diesem 
geistigen  Pfeiler  der  französischen  Bourgeoisie,  wie  Marx  ihn  im 
Antiproudhon  genannt  hatte,  nachweisen  wollte,  daß  die  Mobili- 
sierung des  Grundeigentums,  die  er  bekämpfte,  in  der  sonst  von 
ihm  gepriesenen  englischen  Volkswirtschaft  weit  verbreitet  sei, 
denn  die  Grundrente  wäre  ja  dort  ein  mobiles  übertragbares  Börsen- 
papier wie  jedes  andere. 

Eigentlich  hätte  es  nahe  gelegen,  daß  Engels  die  Klärung  seiner 
Angelegenheit  in  Paris  abgewartet  und  inzwischen  von  dort  aus 
der  Zeitung  über  den  Verlauf  der  Kämpfe,  die  der  entscheidenden 
Präsidentenwahl  vorausgingen,  Bericht  erstattet  hätte.  Doch  ihn 
litt  es  nicht  in  diesem  ,, toten  Paris",  das  sich  auf  die  Auferstehung 
des  Bonapartismus  vorbereitete.  Er  fühlte  stark,  er  müsse  fort, 
gleichviel  wohin.  Er  entschied  sich  zunächst  für  die  Schweiz:  „Geld 
hatt'  ich  nicht  viel,  also  zu  Fuß.  Auf  den  nächsten  Weg  kam's 
mir  auch  nicht  an;  man  scheidet  nicht  gern  von  Frankreich."  So 
finden  wir  Engels,  während  gleichzeitig  in  Berlin  die  Gegenrevolu- 
tion zum  entscheidenden  Streiche  ausholt,  während  Ungarn  sich  von 
Habsburg  lossagt  und  in  Wien  die  Revolution  noch  einmal  in  hellen 
Flamm.en  aufschlägt,  auf  einer  ihn  mit  Behagen,  Gesundheit  und 
Fröhlichkeit  erfüllenden  Wanderung  durch  die  schönsten  Striche 
des  westlichen  Frankreich.  Der  liebevoll  eingehenden  Schilderung 
von  Land  und  Leuten  in  seinem  Tagebuch  spüren  wir  an,  wie  wohl 
es  ihm  tat,  nach  den  Stürmen  der  letzten  Monate,  Seele  und  Geist 
frisch  zu  baden  in  einer  Landschaft,  für  deren  Schönheit  und 
Reichtum  er  den  offensten  Sinn  bezeugte.  Als  er  auf  einen  Trupp 
von  Arbeitern  aus  den  aufgelösten  Nationalwerkstätten  stieß,  der 
einen  Damm  gegen  Überschwemmungen  aufrichten  sollte,  verspürte 
er  selbst  nicht  übel  Lust,  zur  Abwechslung  auf  einige  Zeit  die  Feder 
mit  der  Schaufel  zu  vertauschen.  Aber  er  hatte  keine  Papiere,  und 
da  wäre  er  schön  angelaufen!  Ihn  verwunderte  an  diesen  Leuten, 
daß  zwei  Monate  Entfernung  von  Paris,  anstrengende  Arbeit  und 
gute  Bezahlung  hingereicht  hatten,  sie  der  Politik  zu  entfremden. 
So  sehr  ihn  für  die  bäuerlichen  Bewohner  der  Lande  zwischen 
Seine  und  Loire,  die  er  durchwanderte,  die  gutmütige,  gastfreie 
und  heitere  Art,  mit  der  man  ihm  überall  entgegenkam,  einnahm, 
so  wenig  erfreute  es  ihn  doch,  zu  beobachten,  in  wie  hohem  Grade 

22* 


340 


In  der  deutschen  Revolution. 


entwickelt  ihr  Eigentumssinn  für  die  von  ihren  Vätern  dem  Adel 
und  den  Pfaffen  aberoberte  Scholle  war.  Der  Bauer  als  solcher, 
meinte  er  deshalb,  bleibe  in  Frankreich  wie  in  Deutschland  „der 
Barbar  mitten  in  der  Zivilisation"  und  sein  Gesichtskreis  auf  die 
engsten  in  der  modernen  Gesellschaft  möglichen  Grenzen  beschränkt. 
Die  großen  Bewegungen  der  Geschichte  gingen  an  ihm  vorüber, 
rissen  ihn  von  Zeit  zu  Zeit  mit  sich  fort,  aber  ohne  daß  er  eine 
Ahnung  habe  von  der  Natur  der  bewegenden  Kraft,  von  ihrer  Ent- 
stehung, von  ihrem  Ziel.  Weil  sich  Engels  Rechenschaft  davon 
ablegte,  daß  die  Zukunft  der  Republik  und  der  Revolution  in  Frank- 
reich, ja  in  Europa  von  diesen  französischen  Bauern  abhing,  ver- 
tiefte er  sich  jetzt  bei  täglicher  Berührung  mit  ihnen  in  die  Motive, 
die  in  den  Monaten  seit  dem  Sturz  des  Bürgerkönigtums  dieser 
Klasse  die  Wege  gewiesen  hatten.  Die  Republik,  fand  er,  hätte 
für  sie  anfangs  kaum  einen  anderen  Sinn  haben  können  als  Ver- 
minderung der  Steuern,  vielleicht  auch  hie  und  da  Eroberungskrieg 
und  Rheingrenze.  Sobald  aber  danach  der  Krieg  zwischen  Prole- 
tariat und  Bourgeoisie  losbrach  und  die  Stockung  in  Handel  und 
Industrie  auf  das  Land  zurückwirkte,  dessen  Produkte  im  Preise 
fielen  und  unverkäuflich  wurden,  als  vollends  die  Junischlacht 
bis  in  die  entferntesten  Winkel  des  Landes  Schrecken  und  Angst 
verbreitete,  da  überkam  die  Bauern  eine  fanatische  Wut  gegen  das 
revolutionäre  Paris  und  die  Pariser  Arbeiter,  die,  wie  die  Bourgeois- 
presse täglich  wiederholte,  alles  teilen  wollten!  Überall  bekam  En- 
gels jetzt  zu  hören,  daß  nur  die  Bauern  Frankreich  retten  könnten. 
Produziere  das  flache  Land  nicht  alles,  lebten  die  Städte  nicht  von 
seinem  Korn,  kleideten  sie  sich  nicht  von  seinem  Flachs,  von  seiner 
Wolle  ?  Wer  sonst  könnte  die  rechte  Ordnung  der  Dinge  wieder- 
herstellen? Prüfte  der  aufmerksame  Wanderer,  was  sie  sich  bei 
diesem  Gerede  dachten,  so  ergab  sich  ihm,  daß  sie  sich  darunter 
nichts  Geringeres  vorstellten,  als  die  Erwählung  Louis  Bonapartes  zum 
Präsidenten  der  Republik.  Der  Enthusiasmus  für  diesen  ,, winzigen, 
eitlen,  verworrenen  Toren"  war  bei  allen  Bauern,  wie  Engels  zu 
seinem  Kummer  bemerkte,  nicht  minder  groß  als  ihr  Haß  gegen 
die  Hauptstadt  Nach  den  Eindrücken,  die  er  so  sammelte,  konnte 
es  ihm  nicht  mehr  zweifelhaft  bleiben,  daß  der  Neffe  Napoleons 
im  Dezember  gewählt  werden  würde.  Nun  begriff  er  auch,  daß 
weniger  die  verfehlte  Steuerpolitik  der  republikanischen  Regierung 
als  ihre  Lebenslage  und  gesellschaftliche  Stellung  für  den  Abfall  der 
kleinen  Grundeigentümer  von  der  Sache  der  Revolution  entschei- 
dend waren.  Die  französische  Bauernklasse,  das  lehrte  diese  Wan- 
derung ihn,  stand  dem  Siege  des  französischen  Proletariats  im  Wege, 
und   ein   gewaltsamer    Austrag   des    Gegensatzes    zwischen   beiden 


Bei  den  französischen  Bauern.  341 

Klassen  war  dauernd  nicht  hintanzuhalten,  selbst  wenn  alle  Hypo- 
thekenschulden niedergeschlagen  würden.  Nachdem  er  sich  vier- 
zehn Tage  nur  mit  diesen  Bauern  abgegeben  hatte,  behielt  Engels 
am  Ende  von  ihrer  , .störrischen  Dummheit",  von  ihrem  „Raten 
ins  Blaue  über  alles,  was  jenseits  des  Dorfes  liegt**,  einen  nieder- 
schlagenden  Eindruck. 

Aus  dem  Loire tal  führte  sein  Weg  nach  Burgund,  wo  er 
sich  an  den  ,, süßesten  Trauben  und  den  hübschesten  Mädchen** 
erlabte  und  in  Auxerre  ,,die  rote  Republik  der  burgundischen 
Weinlese",  deren  ,, Blutsäufer"  honette  Republikaner  waren, 
feiern  half!  Als  ein  Feinschmecker  in  allem,  was  Wein  und 
Weib  betrifft,  tritt  Engels  in  diesem  lyrischen  Intermezzo  seines 
tollen  Jahres  vor  uns  auf.  Er  stimmt  einen  wahren  Hymnus  an 
auf  die  Weine  des  Franzmannes  ,,vom  Bordeaux  bis  zum  Bur- 
gunder, vom  Burgunder  zum  schweren  St.  Georges,  Lünel  und 
Frontignan  des  Südens,  und  von  diesem  zum  sprudelnden  Cham- 
pagner.** Er  preist  die  Mannigfaltigkeit  des  Weißen  und  des  Roten, 
vom  Petit  Magon  oder  Chablis  zum  Chambertin,  zum  Chateau 
Larose,  zum  Sauterne,  zum  Roussilloner,  zum  Ai  Mousseux! 
Und  indem  er  alle  Sorten  gewissenhaft  durchkostete,  entdeckt  er 
,,daß  jeder  dieser  Weine  einen  verschiedenen  Rausch  macht,  daß 
man  mit  wenig  Flaschen  alle  Zwischenstufen  von  der  Musardschen 
Quadrille  bis  zur  Marseillaise,  von  der  tollen  Lust  des  Cancans  bis 
zur  wilden  Glut  des  Revolutionsfiebers  durchmachen,  und  sich 
schließlich  mit  einer  Flasche  Champagner  wieder  in  die  heiterste 
Karnevalslaune  von  der  Welt  versetzen  kann!**  Und  dann  die 
Frauen!  Mochten  seine  Landsmänninnen  es  ihm  verargen,  ihm 
lag  nicht  jene  ,,den  Franzosen  so  schreckliche  Grobknochigkeit**, 
die  er  mit  arger  Übertreibung  den  ,, Stolz  der  germanischen  Rasse** 
nennt,  er  liebte  nun  einmal  nicht  das  „grasgrün-  und  feuerrot  ge- 
würfelte Kleid,  das  sich  um  eine  gewaltige  Taille  schlingt**,  er  fand 
mehr  Gefallen  an  den  schlank  gewachsenen  Burgunderinnen  von 
Saint  Brie  und  Vermanton,  bei  denen  er  jetzt  Trauben  lutschend, 
Wein  trinkend,  lachend  und  plaudernd  im  Grase  lag.  Aber  waren 
das  nicht  eben  die  Tage,  in  denen  Windischgrätz  das  revolutionäre 
Wien  erstürmte  und  Jellachich  mit  seinen  Kroaten  in  die  ver- 
wüstete Stadt  triumphierend  einzog  ?  Drängt  sich  uns  da  nicht  die 
Frage  auf:  hätte  auch  der  Mann,  mit  dem  man  ihn  in  jedem  Augen- 
blick vergleicht,  hätte  auch  Marx  wie  der  Taugenichts  Eichendorffs 
in  von  herbstlicher  Mittagsonne  bestrahlter  lieblicher  Landschaft  so 
beschauliche  Tage  verbringen  können,  wo  er  wissen  mußte,  daß  eben 
jetzt  die  eisernen  Würfel  über  die  nächste  Zukunft  der  Sache  ent- 
schieden,  der  sein   Leben  gehörte  ?    An  dem   Freunde,  der  in  so 


342 


In  der  deutschen  Revolution. 


hohem  Maße  fähig  war,  sich  lebhaft  und  heiter  dem  Augenblick 
hinzugeben  und  darüber  Wissen,  Zeit  und  Kräfte  zu  verschwenden, 
hat  Marx,  dem  solche  Harmlosigkeit  nicht  eignete,  öfter  liebevoll 
gerügt,  daß  er  seine  reichen  Gaben  nicht  genügend  zusammenhalte, 
um  für  die  Menschheit  zu  wirken.  Mit  nicht  geringerer  Treue  und 
Hingabe  als  Marx,  stand  Engels  allezeit  zu  der  Fahne,  die  er  so 
früh  voll  Leidenschaft  ergriffen  hatte,  und  er,  in  dem  so  viel  Sol- 
datisches steckte,  hat  kurz  darauf,  als  die  Gelegenheit  sich  bot, 
nicht  gezögert,  mit  seinem  Leben  für  die  Revolution  einzutreten. 
Aber  die  tiefe,  öfters  zu  weitgehende  Bescheidenheit  seines  Wesens 
ließ  bei  ihm  den  Glauben  niemals  Platz  greifen,  daß  just  seine  Mit- 
wirkung große  Wendungen  herbeiführen  oder  verhindern  könne. 
Mit  glänzenden  Nerven  ausgestattet  und  beweglich  wie  nur  einer, 
vermochte  er  zuzeiten  die  Dinge  an  sich  herankommen  zu  lassen, 
und  es  war  vielleicht  ein  Rudiment  alter  religiöser  Gefühle  dabei 
im  Spiel,  wenn  der  Gedanke  von  seiner  eigenen  Unentbehrlichkeit 
ihm  niemals  nahe  getreten  ist.  War  er  bei  einer  Bewegung  be- 
teiligt, in  ein  Unternehmen  verstrickt,  so  war  niemand  so  voll 
Feuer  und  Flamme  wie  er,  dennoch  peitschte  ihn  nicht  der  Dämon, 
der  nirgends  Ruhe  läßt  und  der  dem  bewunderten  und  geliebten 
Freund  die  Gabe  versagte,  sich  an  die  Buntheit  dieser  Welt  verlieren 
zu  können.  Über  Marx  gebot  tyrannisch  sein  Genius,  über  Engels 
waltete  die  mildere  Herrschaft  seines  vollsaftigen  Menschentums. 
Es  war  Ende  Oktober  geworden,  als  der  Wanderer  in  Genf 
eintraf,  von  wo  er  sehr  bald  nach  Lausanne  und,  als  ihm  Marx 
die  Mittel  hierfür  sandte  und  dazu  riet,  nach  Bern  übersiedelte. 
Marx  Brief  ließ  erkennen,  daß  in  der  Zwischenzeit  Versuche 
unternommen  worden  waren,  zwischen  den  Freunden  Zwietracht 
zu  säen.  Sonst  hätte  er,  wo  sie  beide  mit  Gefühlsäußerungen  so 
kargten,  nicht  nötig  gehabt,  zu  beteuern:  ,,Daß  ich  einen  Augen- 
blick Dich  im  Stiche  lassen  könne,  ist  reine  Phantasie.  Du  ver- 
bleibst stets  mein  Intimus  wie  ich  der  Deine."  Jene  Bemühungen 
kamen  von  zwei  verschiedenen  Seiten.  Ein  Mitglied  der  Engelsschen 
Familie  bildete  sich  ein,  den  Flüchtling  den  Wünschen  seiner  An- 
gehörigen wieder  zugänglicher  machen  zu  können,  wenn  er  ihm 
die  Überzeugung  beibrachte,  daß  Marx,  den  er 'für  seinen  Ver- 
führer hielt,  sich  von  ihm  abgewandt  habe.  Auf  der  anderen  Seite 
spannen  damals  Mitglieder  des  Kommunistenbundes,  voran  Ewer- 
beck und  Heß,  mit  denen  er  früher  nicht  glimpflich  umgesprungen 
war,  eine  Intrigue,  um  ihm  Marx  abspenstig  zu  machen.  Ewerbeck 
hatte  sich  sogar  nicht  gescheut,  in  London,  Berlin  und  der  Schweiz 
die  Bundesmitglieder  vor  Engels  zu  warnen.  Der  Schwager,  ein 
adliger  Bourgeois,  gestand  in  seinem  Brief,  daß  ihm  vor  der  Re- 


In  der  Schweiz. 


343 


volution  die  „Gegenwart  dämeligsr  Königs  Verehrer"  widerlich  ge- 
wesen wäre,  daß  ihm  aber  nun  „der  ganze  Dreck"  wie  eine  Szene 
aus  Auerbachs  Keller  vorkäme,  daß  bei  dem  heimischen  Bürgertum 
ein  völliger  Stimmungsumschlag  Platz  gegriffen  und  daß  das  Prole- 
tariat den  „Katzenjammer"  habe.  Nicht  mit  Wissen  des  Vaters, 
der  den  Sohn  besser  kennen  mochte,  wollte  der  Schwager  Engels 
damit  bange  machen,  daß  er  bei  einer  Fortdauer  seiner  friedlosen 
Flüchtlingsexistenz  auf  eine  fernere  Unterstützung  von  zu  Hause 
nicht  zu  fest  hoffen  dürfe.  Die  Preise  seien  furchtbar  gedrückt,  und 
die  Firma  mache  an  manchem  Artikel  Schaden.  ,,Was  hast  Du 
nun  vor,"  erkundigte  sich  dieser  zärtliche  Verwandte.  ,, Schrift- 
stellern wie  bisher  oder  was  sonst  ?  Soviel  ist  sicher,  gehst  Du  nicht 
bald  aus  Deiner  jetzigen  ingrimmerzeugenden  Situation  heraus,  so 
bist  Du  in  fünf  Jahren  Hypochonder." 

Kaum  hatte  Engels  sich  in  der  Schweiz  von  seinen  „Strapazen 
und  Aventüren"  erholt,  so  begann  sich  seiner  eine  Ungeduld  zu 
bemächtigen,  die  ihn  heimwärts  rief.  Das  faule  Hocken  im  Aus- 
land, „wo  man  doch  nichts  Eigentliches  tun  kann  und  ganz  außer- 
halb der  Bewegung  steht",  wurde  ihm  so  unerträglich,  daß  er  fast, 
lieber  als  länger  in  der  freien  Schweiz  zu  bleiben,  freiwillig  nach 
Köln  in  den  Untersuchungsarrest  gegangen  wäre.  Er  bat  Marx,  ihm 
genau  zu  berichten,  wie  es  um  seine  Sache  stünde:  vor  zehn- 
tausend Jurys  wolle  er  sich  stellen,  aber  ,,im  Untersuchungsarrest 
kann  man  nicht  rauchen,  und  da  geh'  ich  nicht  hinein".  Inzwischen 
verbrachte  er  in  Bern  seine  Tage  so  gut  oder  schlecht  es  ging,  aber 
ohne  sich  zu  behagen  in  diesem  ,, sanften  Arkadien",  wo  es  keine  aus- 
wärtige Politik  und  keine  sozialen  Kollisionen  gäbe,  sondern  nur  ein 
stilles  gemütliches  Leben  in  der  „kleinen  geschichtslosen  Bescheiden- 
heit zufriedener  Seelen".  Er  suchte  nun  wieder  Beschäftigung  und 
Abwechslung,  die  ihm  mehr  Befriedigung  bot,  als  wenn  er  nach 
dem  nahen  Neuenburg  hinüberfuhr  und  dort  ungehudelt  auf  einem 
Boden  herumspazierte,  der  de  jure  noch  preußisch  war.  Um  ihn 
zu  zerstreuen  riet  Marx  ihm,  ,, gegen  die  Föderationsrepublik"  und 
über  die  ,, ungarische  Sauce"  zu  schreiben.  Er  ging  in  die  Sitzungen 
des  Nationalrats,  um  vielleicht  noch  einmal  den  Zuständen  der 
Schweiz  Gesichtspunkte  abzugewinnen,  die  in  seine  eigene  Kerbe 
hieben.  Er  glaubte,  den  Eidgenossen  die  Sicherheit  fortziehen  zu 
können,  daß  ihr  Musterlandli  gegen  Revolutionen  und  Klassen- 
kämpfe gefeit  wäre,  als  er  die  Entdeckung  machte,  daß  die 
reaktionäre  Republik  zugrunde  gehen  müsse,  wenn  hinfort  die 
jüngeren  Söhne  der  Bauern  nicht  mehr  in  Rom  und  Neapel 
Söldnerdienste  finden,  sonders  zu  Hause  die  Armee  des  Pauperis- 
mus vermehren  müßten! 


^44  ^^  ^^^  deutschen  Revolution. 

Den  Artikel  über  Ungarn,  den  Marx  ihm  abverlangt  hatte, 
schrieb  Engels  ebenfalls  noch  in  Bern.  Als  dieser  aber  am  13.  Januar 
1849  in  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  erschien,  weilte  er  bereits 
wieder  in  Köln  und  hatte  seine  Tätigkeit  in  der  Redaktion  in  vollstem 
Umfange  aufgenommen.  Obgleich  gegen  ihn  ein  Steckbrief  er- 
lassen worden  war,  erhielt  er  jetzt  vom  Instruktionsgericht  den 
Bescheid,  daß  nichts  „gegen  ihn  vorläge".  Trotzdem  war  es  nicht 
übergroße  Vorsicht  gewesen,  die  im  September  ihn  zur  Flucht  be- 
stimmt hatte ;  nur  war  die  Behörde  mittlerweile  zu  der  Ansicht  ge- 
langt, daß  das  Verfahren  gegen  ihn  und  seine  Schicksalsgenossen 
auf  Grund  von  übertriebenen  Folizeiberichten  angestrengt  wor- 
den war. 


Kapitel  XII. 

Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

Die  Hoffnung  auf  Ungarn  und  Frankreich.  —  Im  revolu- 
tionären Elberfeld.  —  Bei  der  Reichsverfassungskampagne 
in  der  Pfalz  und  in  Baden. 

Auch  in  Engels  Abwesenheit  hatte  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
unerschrocken  wie  kein  anderes  deutsches  Blatt  der  hereinbrechen- 
den Reaktion  die  Zähne  gezeigt.  Für  die  Hoffnungen  und  Er- 
wartungen, mit  denen  sie  in  das  Jahr  1849  eintrat,  hatte  am  Sil- 
vestertage Marx  besonders  kraftvolle  Worte  gefunden.  Die  Nieder - 
kartätschung  des  französischen  Proletariats  im  Juni  1848,  meinte 
er,  habe  den  Sieg  des  Ostens  über  den  Westen,  der  Barbarei  über 
die  Zivilisation  zur  Folge  gehabt.  Im  Augenblick  sei  der  Zar  in 
Europa  allgegenwärtig.  Aber  der  Erdteil  werde  wieder  frei  werden 
unter  der  Losung:  Sturz  der  Bourgeoisie  in  Frankreich,  Triumph 
der  französischen  Arbeiterklasse,  Emanzipation  der  Arbeiterklasse 
überhaupt.  In  engster  Gedankenübereinstimmung  mit  Engels 
hatte  sich  bei  Marx  die  Überzeugung  festgesetzt,  daß  die  Um- 
wandlung der  ,, nationalökonomischen  Verhältnisse"  auf  dem 
europäischen  Kontinent  ein  Sturm  im  Glase  Wasser  bleiben  müsse, 
solange  die  Revolution  nicht  auch  England,  den  konterrevolu- 
tionären Fels  im  Meer,  ergriffen  habe.  Um  aber  den  Tyrannen 
des  Weltmarkts,  der  ganze  Nationen  in  seine  Proletarier  verwandle, 
zu  stürzen,  bedürfe  es  eines  Weltkrieges.  Nur  ein  solcher  könnte 
eine  Lage  schaffen,  die  der  organisierten  Arbeiterpartei  die  erfolg- 
reiche Erhebung  gegen  ihre  riesenhaften  Unterdrücker  ermöglichte. 

Dieser  ,, Inhaltsanzeige  des  Jahres  1849"  aus  der  Feder  des 
Freundes  konnte  der  heimkehrende  Engels  zustimmen,  mochte  er 
auch  selbst,  nach  dem,  was  er  in  Frankreich  gesehen  hatte,  für  die 
nächste  Zukunft  größere  Hoffnungen  als  auf  den  Westen  auf  ein 
Hinübergreifen  der  glutvollen  Erhebung  Ungarns  in  die  kaum  der 
Revolution  entrissenen  deutschen  Gebiete  setzen.  Er  wähnte  jetzt, 
trotz  aller  Rückschläge  der  letzten  Monate,  daß  mit  der  Verjagung 
des  Papstes  im  November  1848  „die  neue  Rebellion,  die  ganze 
Rebellion",  die  Freund  Freiligrath  in  seiner  Reveille  ankündigte, 
der    letzte    und    entscheidende   Akt    der   europäischen  Revolution, 


246  D®""  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

begonnen  habe.  Von  Ungarn  aus  erscholl  jetzt  das  klangvollste 
Signal  dafür  zu  ihm  herüber:  „Zum  erstenmal  seit  1793  wagt 
es  eine  von  der  konterrevolutionären  Übermacht  umzingelte  Nation, 
der  feigen  konterrevolutionären  Wut  die  revolutionäre  Leiden- 
schaft, der  terreur  blanche  die  terreur  rouge  entgegenzustellen. 
Zum  erstenmal  seit  langer  Zeit  finden  wir  einen  wirklich  revolu- 
tionären Charakter,  einen  Mann,  der  den  Handschuh  des  Verzweif- 
lungskampfes im  Namen  seines  Volks  aufzunehmen  wagt,  der  für 
seine  Nation  Danton  und  Carnot  in  einer  Person  ist."  Als  hernach 
im  Londoner  Exil  ihre  Wege  auseinandergingen,  hat  Engels  über 
Kossuth  scharf  abgeurteilt.  Jetzt  bewunderte  sein  jugendlich 
streitbares  Herz  den  revolutionären  Organisator,  und  mochte 
Windischgrätz  als  Sieger  in  Budapest  einziehen,  des  Vertrauens  voll, 
daß  die  europäische  Revolution  hier  ihr  eigentliches  Feldlager  habe, 
richtete  er  die  Blicke  der  Leser  des  revolutionären  Blattes  nach 
Debreczin,  nach  Großwardain,  in  das  Hauptquartier  Bems,  Görgeys 
und  Klapkas.  Kein  anderes  deutsches  Blatt  hat  damals  mit  ähn- 
licher Gründlichkeit  an  den  dramatischen  Ereignissen  in  Ungarn 
teilgenommen.  Erst  die  Verfolgung  der  wechselreichen  Feldzüge 
dieses  Revolutionskrieges,  die  ihm  täglich  oblag,  erweckte  in  Engels 
jene  starke  Anteilnahme  für  die  Problemwelt  des  Generalstäblers, 
die,  dem  Boden  ursprünglicher  Begabung  entsprossen,  sein  Leben 
hindurch  ihm  treu  blieb  und,  in  emsiger  Forschung  von  ihm  lebendig 
erhalten,  dem  , »General",  wie  er  späterhin  im  Londoner  Freundes- 
kreise hieß,  selbst  in  anspruchsvollen  deutschen  Militärblättern 
Anerkennung  verschafft  hat.  Als  er  im  Januar  1848  den  Anfang 
des  Endes  in  Österreich  von  dem  Triumph  der  Maschinen  und  der 
Eisenbahnen  erhoffte,  hatte  Engels  gewünscht,  daß  Deutsche 
das  Haus  Habsburg  stürzen  und  die  Hindernisse  im  Wege  der 
slawischen  und  italienischen  Freiheit  wegräumen  möchten.  Da- 
mals hatte  er  das  Tempo,  in  welchem  eine  beginnende  ökonomische 
Umwälzung  sich  politisch  auswirkt,  überschätzt,  hingegen  die 
Lebenskraft  der  einzelnen  Nationalitäten,  aus  denen  der  „organi- 
sierte Wirrwarr"  der  Donaumonarchie  bestand,  und  ihre  Gegensätze 
viel  zu  wenig  in  seine   Rechnung  eingestellt. 

Auf  die  Befreiung  Vene^^iens  und  der  Lombardei  durch  die  Waffen 
revolutionärer  Deutschösterreicher  durfte  er  nicht  mehr  hoffen,  seit- 
dem aus  ,, Slawenmörsern"  die  Brandraketen  gegen  den  Stefansdom 
geflogen  und  der  siegreiche  Kroat  dem  Olmüizer  Kaiser  das  über- 
wundene Wien  zu  Füßen  gelegt  hatte.  Die  österreichischen  Slawen 
hatten  die  Deutschen  in  die  Knechtschaft  zurückgezwungen; 
sollten  diese  ihnen  dafür  die  Freiheit  bringen?  War  in  solcher  ent- 
scheidenden Stunde  eine  Nation  noch  so  rückständig,  daß  sie  dem 


Der  ungarische  Aufstand,  ^^y 

Freiheitskampf  fortgeschrittener  Völker  in  den  Rücken  fiel,  so 
verwirkte  sie  in  den  Augen  eines  Engels  dadurch  für  Gegenwart 
und  Zukunft  ihr  Schicksal.  Und  wenn  Bakunin  im  Dezember 
in  seinem  Aufruf  an  die  Slawen  unter  der  Parole  der  demokratischen 
und  sozialen  Volksrevolution  die  allgemeine  Völkerverbrüderung 
verlangt  hatte,  so  erklärte  er  es  nach  allem,  was  vorgefallen  war, 
für  absurd,  diese  Forderung  zu  erheben  ,,ohne  Rücksicht  auf  die 
historische  Stellung,  auf  die  gesellschaftliche  Entwicklungsstufe 
der  einzelnen  Völker",  so  proklamierte  er,  im  scharfen  Wider- 
spruch zu  dem  Russen,  die  Allianz  der  revolutionären  gegen  die 
konterrevolutionären  Völker,  so  verweigerte  er  die  Verbrüderung 
solchen  Nacionen,  gegen  die  er  bloß  Rachegefühle  hegen  konnte.  Bei 
den  österreichischen  Slawen  zumal  zog  er  scharf  die  Trennungslinie 
zwischen  den  revolutionären  Polen,  „denen  die  Freiheit  lieber  ist  als 
das  Slawentum",  und  allen  anderen  Völkern,  zu  denen  er  nun  auch 
die  Tschechen  rechnete,  und  denen  er  nur  noch  die  Funktion  zu- 
gestand ,jim  revolutionären  Weltsturm"  unterzugehen.  Im  Juni 
1848  nach  dem  Bombardement  von  Prag  hatte  er  noch  den  ,, tapfe- 
ren' Tschechen  ihren  nahenden  Untergang  als  ein  „unglückliches 
Verhängnis*'  angekündigt,  das  sie  der  vierhundertjährigen  Unter- 
drückung durch  die  Deutschen,  die  sie  dem  Despotismus  in  die  Arme 
getrieben  habe,  verdankten.  Jetzt  hingegen  bestritt  er,  daß  ihnen  oder 
irgendeinem  anderen  slawischen  Volk  des  Donaureiches  durch 
Deutsche  oder  Magyaren  ,, jahrhundertlanges  Unrecht"  wider- 
fahren sei.  Die  sinnlose  Behauptung,  zu  der  sich  jetzt  sein 
Grimm  verstieg,  daß  die  tschechische  Nation  niemals  eine  Ge- 
schichte gehabt  habe,  konnte  er  drei  Jahre  später  in  seinen  Korre- 
spondenzen über  die  Revolution  und  Konterrevolution  in  Deutsch- 
land nicht  mehr  aufrecht  erhalten.  Gründlich  widerlegt  hat  die 
Geschichte  auch  eine  andere  Theorie,  die  er  in  diesem  Zusammen- 
hang damals  aufstellte.  Völker,  die  schon  in  dem  Augenblick,  wo 
sie  die  erste  Zivilisationsstufe  erstiegen,  unter  fremde  Botmäßig- 
keit kämen  oder  die  erst  durch  ein  fremdes  Joch  in  die  erste  Stufe 
der  Zivilisation  hineingezwungen  würden,  behauptete  er  hier, 
hätten  keine  Lebensfähigkeit  und  könnten  nie  zur  Selbständigkeit 
gelangen.  Daß  eine  so  gewagte  Hypothese  der  von  ihm  selbst  mit- 
geschaffenen Geschichtsauffassung  widersprach,  hat  später  niemand 
mit  scharfsinnigeren  und  fruchtbareren  Argumenten  nachgewiesen 
als  seine  eigenen  österreichischen  Schüler.  Geradezu  grotesk  war 
die  Einseitigkeit,  mit  der  wir  Engels  jetzt  unter  den  Nationalitäten 
Österreichs  die  Lebensfähigkeit  einer  Gruppe  zusprechen  und  der 
anderen  aberkennen  sehen.  Er  kann  sich  nicht  genug  tun  in  Aus- 
drücken   hochmütiger    Verachtung    für    die    ,, Völkerabfälle"    und 


348  ^^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

„Völkerruinen",  die  ,,eine  so  erbärmliche  Rolle  in  der  Geschichte 
gespielt"  hätten,  und  in  dem  Spott  über  die  Ideologen,  denen  ,,die 
Beibehaltung  einer  absurden  Nationalität  mitten  im  fremden  Land" 
wichtiger  dünkte  als  die  großen  ökonomischen  und  sozialen  Not- 
wendigkeiten des  geschichtlichen  Lebens.  Im  Juni  1848  hatte 
sich  noch  nicht  endgültig  überblicken  lassen,  wie  die  verschiedenen 
österreichischer  Nationalitäten  zu  der  einzigen  Alternative,  die 
nicht  bloß  in  die  Zukuntt  hinaus,  sondern  auch  in  die  Ver- 
gangenheit hinein  sein  Urteil  bestimmte,  Stellung  nehmen  wür- 
den. Seither  hatten  sie  sich  deutlich  in  zwei  Heerlager  geteilt: 
,,Auf  der  einen  Seite  die  Revolution:  die  Deutschen,  Polen  und 
Magyaren,  auf  der  Seite  der  Konterrevolution  die  übrigen,  die 
sämtlichen  Slawen  mit  Ausnahme  der  Polen,  die  Rum.änen  und  die 
siebenbürgischen  Sachsen."  Bemüht,  diese  Scheidung  nach  Na- 
tionen, die  bei  ihm,  wie  wir  sahen,  zugleich  Tod  und  Leben  für  sie 
bedeutet,  geschichtlich  zu  erklären,  sucht  und  findet  er  jetzt  bei 
den  Deutschen,  die  im  Tatensturm  der  Revolution  die  Sünden  der 
Vergangenheit  abzubüßen  begonnen  hätten,  und  bei  den  Magyaren, 
den  Trägern  seiner  stärksten  revolutionären  Hoffnungen,  auch  in 
der  Vergangenheit  ,,seit  tausend  Jahren"  alle  geschichtliche  Ini- 
tiative. Sie  allein  hätten  beim  Ansturm  der  Türken  die  ganze 
europäische  Entwicklung  vor  dem  Untergang  bewahrt,  und  den 
Dienst,  den  sie  damit  auch  den  ,, zerfallenen,  ohnmächtig  gewordenen 
Nationalitäten"  der  österreichischen  Slawen  geleistet,  würden  diese 
,, selbst  mit  der  Vertauschung  ihrer  Nationalität  gegen  die  deutsche 
oder  magyarische  nicht  zu  teuer  bezahlen". 

Von  einer  unbedingten  und  grundsätzlichen  Anerkennung  des 
Selbstbestimmungsrechts  der  Nationen,  dieses  obersten  Leitsatzes 
der  internationalen  Politik  der  bürgerlichen  Demokratie,  finden  wir 
Engels,  für  den  auch  die  ökonomischen  ,, Lebensfragen"  der  Völker 
schwer  wogen,  weit  entfernt.  Wo  es  sich  ,,um  die  Existenz,  um  die 
freie  Entfaltung  aller  Ressourcen  großer  Nationen"  handelt,  dünkte 
es  ihm  absurd,  aus  bloßer  Sentimentalität  auf  ,, kleinliche  National- 
borniertheiten" Rücksicht  zu  nehmen.  Mochte  der  Haß  gegen 
den  Panslawismus  sein  kampfbereites  Naturell  noch  besonders 
reizen,  diese  Gegensätze  scharf  zu  formulieren,  primär  bestimmend 
waren  für  ihn  die  im  Kommunistischen  Manifest  niedergelegten 
Gedanken,  die  Zugeständnisse  an  nationalistische  Veilletäten 
verboten,  wenn  das  revolutionäre  Interesse  des  industriellen  Pro- 
letariats der  europäischen  Kulturländer  andere  Wege  wies. 

Unter  allen  Einwänden,  die  er  gegen  Bakunin  erhob,  erschien 
ihm  wohl  keiner  durchschlagender  als  der,  daß  außer  den  Polen, 
den    Russen    und    ,, höchstens"    den    Balkanslawen    allen    übrigen 


Revolutionäre  und  konterrevolutionäre  Nationen. 


349 


Slawen  die  ersten  historischen,  geographischen,  politischen  und 
industriellen  Bedingungen  der  Selbständigkeit  und  Lebensfähigkeit 
fehlten,  und  daß  es  auch  ihrem  eigenen  wohlverstandenen  Interesse 
entspräche,  der  von  der  ganzen  ökonomisch-technischen  Entwick- 
lung der  Zeit  gebotenen  Zentralisation  nicht  in  den  Weg  zu  treten. 
So  wie  der  Panslawismus  in  Prag  und  Agram  zuerst  verkündet  wurde, 
bezweckte  er  die  Allianz  aller  kleinen  slawischen  Nationen  und 
Natiönchen  Österreichs  und  der  Türkei  zum  Kampf  gegen  die 
österreichischen  Deutschen,  die  Magyaren  und  die  Türken.  Die 
Türken  waren  für  Engels  eine  ,,ganz  heruntergekommene  Nation**, 
die  keine  Zukunft  hatte,  und  ungern  nur  hätte  er  sie  in  gemein- 
samer Kampffront  mit  Deutschen  und  Magyaren  erblickt.  Doch 
die  antideutsche  und  antimagyarische  Richtung  des  Panslawismus 
reichte  hin,  um  dessen  konterrevolutionären  Charakter  zu  ent- 
hüllen. Weil  jene  slawischen  Völker,  auf  deren  politischen  Zusam- 
menschluß die  Panslawisten  hinstrebten,  auf  verschiedener  Kultur- 
stufe standen  und  ganz  entgegengesetzten  Interessen  gehorchten, 
konnte  er  sich  unter  der  slawischen  Einheit  nichts  anderes  vor- 
stellen als  ».entweder  eine  reine  Schwärmerei  oder  aber  die  russische 
Knute".  Er  dachte  nur  konsequent,  wenn  er  sich  dagegen  auf- 
lehnte, daß  man,  um  aus  den  ,, zerrissenen  Fetzen**  des  österreichi- 
schen Südslawentums  eine  kräftige  und  unabhängige  Nation  zu- 
sammenzustümpern,  Deutschland  und  Ungarn  den  Lebensnerv 
durchschneiden  wollte,  indem  man  sie  vom  Adriatischen  Meer  ab- 
sperrte. Wie  Triest  und  Fiurae  für  die  großdeutsche  und  die  unga- 
rische beanspruchte  er  freilich  die  Ostseeküste  von  Danzig  bis  Riga 
für  die  künftige  polnische  Republik.  Nicht  moralische  Kategorien, 
die  ,,in  historischen  und  politischen  Fragen  durchaus  nichts  be- 
weisen**, will  er  als  ausschlaggebend  gelten  lassen,  sondern  , »welt- 
geschichtliche Tatsachen**.  Eben  erst  hatten  die  Vereinigten  Staaten 
den  Mexikanern  die  kürzlich  entdeckten  reichen  Goldminen  Nord- 
kaliforniens abgenommen.  Die  , .Gerechtigkeit**  litt  darunter, 
Engels  räumte  es  ein,  dennoch  billigte  er  diese  Annexion,  weil  die 
„energischen  Yankees*'  besser  als  die  „faulen  Mexikaner**  verstehen 
würden,  die  schlummernden  Produktivkräfte  zu  entwickeln  und 
damit  erst  den  Stillen  Ozean  der  Zivilisation  zu  erschließen. 

In  der  Krisis  von  1840  hatten  verfliegende  Spuren  noch  darauf 
hingedeutet,  daß  in  seiner  Knabenzeit  alldeutsche  Gefühle,  wohl 
aus  den  Kreisen  der  Burschenschaft  her,  auch  in  seine  Nähe  ge- 
kommen waren.  Gegen  solche  „Phantastereien**  glaubte  er  jetzt 
die  deutsche  Demokratie  für  immer  gefeit.  Die  deutsche  Revo- 
lution, meinte  er,  sei  erst  möglich  geworden,  nachdem  man  sich 
vollständig    von  diesen  Futilitäten    befreit  hatte.    Wenn  ihm  aber 


350  ^^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

der  Pangermanismus  „kindisch  und  reaktionär"  erschien,  sollte 
er  da  den  Panslawismus  günstiger  beurteilen?  War  der  Prager 
Slawenkongreß  etwas  anderes  als  eine  Neuauflage  des  Wartburg- 
festes und  Bakunins  Aufruf  nicht  bloß  eine  Übersetzung  von  „Wir 
hatten  gebauet  ein  stattliches  Haus"  in  slawische  Prosa  ?  Engels 
ist  stets  der  unversöhnliche  Gegner  einer  Richtung  geblieben, 
die  „ungeschehen  zu  machen  strebte,  was  eine  Geschichte  von 
tausend  Jahren  geschaffen  hatte",  und  die  Europa,  wie  er  frühzeitig 
behauptete,  der  Alternative  zudrängte:  Unterjochung  durch  die 
Slawen  oder  Zertrümmerung  Rußlands.  Im  Revolutionsjahr  dünkte 
es  ihm  vollends  reaktionär,  den  Zeiger  der  „europäischen  Bewegung", 
der  nun  einmal  nicht  von  Osten  nach  Westen,  sondern  von  Westen 
nach  Osten  weise,  umstellen  zu  wollen,  nur  damit  sämtliche 
Slawen  „ohne  Rücksicht  auf  die  materiellsten  Notwendigkeiten" 
sich  zu  selbständigen  nationalen  Staaten  zusammenschließen 
könnten.  Den  Slawen  des  Habsburgischen  Reichs  gab  Engels 
zu  verstehen,  daß  ein  Zerfall  der  Monarchie,  der  im  Gefolge  der 
siegreichen  deutschen  und  ungarischen  Revolution  käme,  ihnen 
keine  Früchte  bringen  würde.  Denn  die  Deutschen  und  die  Ma- 
gyaren würden  ihnen  nicht  vergessen,  daß  sie  in  der  Stunde,  als 
das  Schicksal  der  österreichischen  Revolution  von  der  Stellung- 
nahme der  Tschechen  und  Südslawen  abhing,  um  ihrer  klein- 
lichen Nationalhoffnungen  willen  die  Revolution  an  Petersburg 
und  Olmütz  verraten  hatten.  Sie  würden  die  konterrevolutionären 
Slawen  den  Terrorismus  der  revolutionären  Nationen  fühlen  lassen. 
Sie  würden  nicht  dulden,  daß  im  Herzen  Deutschlands  ein  konter- 
revolutionäres tschechisches  Reich  sich  erhöbe,  dessen  Aufgabe 
nur  sein  könnte,  die  Macht  der  deutschen,  polnischen  und  magya- 
rischen Revolution  durch  dazwischen  geschobene  russische  Vor- 
posten an  der  Elbe,  den  Karpathen  und  der  Donau  zu  brechen. 
Unterläge  die  Revolution  jetzt  in  Ungarn,  so  könnte  freilich  für 
den  Augenblick  die  slawische  Konterrevolution  mit  ihrer  ganzen 
Barbarei  die  Monarchie  überfluten.  Aber  beim  ersten  siegreichen 
Aufstand  des  französischen  Proletariats  würden  die  österreichischen 
Deutschen  und  die  Magyaren  blutige  Rache  nehmen.  Und  der  Welt- 
krieg, der  dann  ausbräche,  würde  ,,alle  diese  kleinen  stierköpfigen 
Nationen"  bis  auf  ihre  Namen  beseitigen  und  nicht  nur  reaktionäre 
Klassen  und  Dynastien,  sondern  auch  ganze  reaktionäre  Völker 
vom  Erdboden  vertilgen. 

Dabeiwar  jedoch  Engels  in  diesen  ersten  Monaten  des  Jahres  1849 
keineswegs  so  einseitig  östlich  orientiert,  daß  er  seine  Hoffnung 
für  das  Wiederaufflammen  der  Revolution,  die,  wie  er  meinte, 
nur  im  Weltsturm  siegen  konnte,  ausschließlich  auf  die  ungarische 


Die  österreichischen  Slawen.  351 

Karte  gesetzt  hätte.  Die  Vorgänge  in  Italien  verfolgte  er  ebenfalls 
für  die  Zeitung,  und  seinem  aufmerksamen  Blick  entging  auch 
dort  kein  Ereignis,  das  für  eine  Wendung,  wie  er  sie  herbeiwün- 
schen mußte,  Aussichten  eröffnete.  Als  im  März  1849  Sardinien 
den  Waffenstillstand  vom  9.  August  kündigte,  hoffte  er,  der  Habs- 
burgische Staat  möchte  nicht  mehr  die  Kraft  besitzen,  um  neben 
der  ungarischen  auch  die  italienische  Front  zu  verteidigen.  Weil  er 
aber  bei  der  „unvermeidlichen  Feigheit  der  Monarchie",  die  nie 
den  Mut  habe,  zu  den  äußersten  revolutionären  Mitteln  zu  greifen, 
dem  Haus  Savoyen  mißtraute,  bereitete  er  seine  Leser  darauf  vor, 
daß  Radetzky  noch  einmal  seinen  Einzug  in  Mailand  halten  werde, 
sofern  wiederum  wie  voriges  Jahr  eine  schwankende  Bourgeois- 
regierung den  Aufstand  in  Masse  lähmte.  Diesmal  würden  dann 
aber  die  Franzosen  „über  Barrots  und  Napoleons  Leib  hinweg" 
den  Italienern  zu  Hilfe  eilen.  Als  am  23.  März  bei  Novara  das 
Kriegsglück  von  neuem  für  Österreich  entschied,  legte  die  Neue 
Rheinische  Zeitung  diesem  Ereignis  größere  Bedeutung  bei  als 
der  „deutschen  Kaiserposse",  die  sie  ins  Feuilleton  verwies.  Diese 
,, Niederlage  der  gesamten  italienischen  Revolution",  so  hoffte 
Engels  jetzt,  würde  zu  einem  erneuten  Losbruch  der  europäischen 
Revolution  das  Signal  geben.  Savoyen  werde  sich  Frankreich  in 
die  Arme  werfen,  Barrot  und  Bonaparte  es  zurückweisen.  Das 
Volk  von  Paris  aber  werde  begreifen,  daß  Frankreich  die  Öster- 
reicher in  Turin  und  Genua  nicht  dulden  dürfe.  Das  Volk  von  Paris 
werde  sich  erheben  und  die  französische  Armee  sich  ihm  an- 
schließen. Schon  seit  Wochen  erwartete  Engels  ja,  daß  eine  neue 
französische  Revolution  der  von  den  Russen  bedrohten  unga- 
rischen zu  Hilfe  kommen  und  ganz  Europa  mit  fortreißen  werde. 
Die  ersten  Jahrestage  der  Februar-  und  Märzrevolution 
gaben  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  einen  Anlaß,  ihre  Wünsche 
und  Befürchtungen  zu  präzisieren.  Sie  überraschte  es  nicht,  daß 
Rußland  sich  eben  anschickte,  mit  bewaffneter  Hand  die  ungarische 
und,  sofern  es  nötig  würde,  auch  die  deutsche  Revolution  niederzu- 
schlagen. Sie  hatte  diese  Gefahr  vorausgesehen  und  die  junge 
deutsche  Revolution  antreiben  wollen,  ihr  zuvorzukommen.  Unter- 
warf sich  Österreich  jetzt  freiwillig  der  Oberherrschaft  des  Zaren, 
zahlte  es  diesen  hohen  Preis,  so  rettete  es  sich,  wie  die  Zeitung 
die  Dinge  beurteilte,  doch  nur  für  Monate  vor  dem  Untergange. 
Daß  die  russischen  Truppen,  die  in  der  Walachei  standen,  Ende 
Januar  die  österreichische  Grenze  überschritten  und  Hermann- 
stadt und  Kronstadt  besetzt  hatten,  nannte  Engels  den  „nieder- 
trächtigsten Bruch  des  Völkerrechts,  der  je  in  der  Geschichte 
dagewesen".    „Ein  Jahr    nach  der  europäischen  Revolution    steht 


352  I^sf  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

die  heilige  Allianz  fix  und  fertig  vor  uns  wieder  da  in  voller  Stand - 
rechts-,  Banditen-  und  Polizeigemeinheit  .  .  .  und  ganz  Europa 
wagt  keinen  Finger  zu  rühren."  So  schrieb  er  am  21.  Februar. 
Und  bitter  beklagte  er,  wie  früher  schon,  daß  die  Revolution  in  Frank- 
reich wie  in  Deutschland  nach  ihrem  Siege  zu  milde  aufgetreten 
wäre  und  nicht  verhindert  habe,  daß  die  Konterrevolution  im  Ein- 
verständnis mit  der  Bourgeoisie  dem  Volk  nun  von  neuem  den  Fuß 
auf  den  Nacken  setzen  konnte.  Nun  aber  hörte  er  ja  die  andere, 
die  stärkere  Welle  der  europäischen  Revolution,  ihre  eigentliche 
Hochflut  heranrauschen.  „Das  Jahr  1848,"  schreibt  er  in  einem 
nicht  abgedruckten  Artikel  zum  Jahrestag  der  Berliner  Barrikaden- 
kämpfe, ,,war  das  Jahr  der  Enttäuschung  über  die  revolutionären 
Reminiszenzen,  Illusionen  und  sonstigen  Phrasen.  Das  Jahr  1849 
ist  das  Jahr  der  Enttäuschung  über  die  Allgewalt  der  Militärdikta- 
tur." Statt  vor  der  bloßen  Phrase  der  Republik  anbetend  nieder- 
zusinken oder  um  erbärmliche  Märzerrungenschaften  zu  feilschen, 
werde  die  neue  Revolution,  solche  Hoffnung  hegte  er,  das  Schwert 
nicht  niederlegen,  bis  Rache  genommen  wäre  für  allen  Verrat  und 
alle  Infamien  der  letzten  neun  Monate. 

Und  wirklich  konnte  es  scheinen,  als  ob  die  Ereignisse  Engels 
noch  einmal  ein  Recht  zu  so  weit  ausschweifenden  Hoffnungen 
geben  wollten.  In  den  letzten  Monaten  hatte  er  immer  zwei  Hoch- 
druckgebiete festgestellt,  deren  Vereinigung,  wenn  sie  gelang,  über 
Deutschland  stattfinden  mußte,  das  ungarische  und  das  fran- 
zösische. Aber  wurde  nicht  diese  Vereinigung  unvermeidlich, 
die  Kraft  der  dann  unaufhaltbaren  allgemeinen  europäischen 
Explosion  unwiderstehlich,  wenn  auf  dem  zentralen  Boden  Deutsch- 
lands aus  autochthonen  Quellen  gespeist  jetzt  die  Revolution  von 
neuem  ausbrach  ? 

Daß  das  Verfassungswerk,  mit  dem  es  so  überschwängliche 
Hoffnungen  verband,  glücken  werde,  hatte  das  deutsche  Bürger- 
tum, das  große  wie  das  kleine,  bestimmt  erwartet.  Als  dieses  Werk 
jetzt,  kurz  vor  dem  Hafen,  wie  es  schien,  an  dem  Widerstand 
der  deutschen  Großmächte  scheiterte,  da  klammerten  sich  die 
enttäuschten  Massen,  so  wenig  sie  sich  sonst  für  das  Hohenzollern- 
sche  Kaisertum  begeisterten,  an  die  von  Österreich,  Preußen  und 
Bayern  abgelehnte  Reichsverfassung  als  an  das  einzige  Wahr- 
zeichen, unter  dem  Bürger,  Bauern  und  Arbeiter  in  allen  deutschen 
Gauen  sich  zusammenfinden  konnten,  um  noch  in  letzter  Stunde 
aus  dem  Schiffbruch  des  Einheitswerks  zu  retten,  was  zu  retten  war. 
Für  eine  Reichsverfassung  mit  kleindeutscher  Lösung  und  mit 
Friedrich  Wilhelm  IV.  als  Kaiser  hatte  die  Neue  Rheinische  Zeitung, 
die  den  Frankfurter  ,, Debattierklub"  mit  ostentativer  Nichtachtung 


Hoffnungen  auf  Frjuikfurt  und  Süddeutschland.  oc9 

b/^handelte,  nur  hellen  Hohn,  Überhaupt  hielt  sie  die  , »Gründung 
der  Bourgeoisherrschaft  unter  der  Form  der  konstitutionellen 
Monarchie"  für  unmöglich.  Absr  es  entsprach  ihrer  Taktik,  jede 
Bewegung  zu  fördern,  welche  die  Revolution  vertiefte,  die  Gegen- 
sätze verschärfte,  die  Gesinnungen  radikalisierte,  die  Massen  in 
Erregung  setzte.  Nun  hatten  Marx,  Schapper,  Wilhelm  Wolff, 
Hermann  Becker  und  Anneke  Mitte  April  ihren  Austritt  aus  dem 
Rheinischen  Kreisausschuß  der  demokratischen  Vereine  voll- 
zogen und  kurz  darauf  die  provisorische  Leitung  eines  nur  die 
Arbeitervereine  des  Rheinlands  und  Westfalens  umspannenden 
Bundes  übernommen.  Mit  dieser  Absonderung  der  proletarischen 
von  der  bürgerlichen  Demokratie  parallel  ging  eine  noch  geflissent- 
lichere Hervorkehrung  des  Gegensatzes  zwischen  der  trikoloren 
und  der  roten  RepubUk  in  den  Spalten  der  Neuen  Rheinischen 
Zeitung.  Doch  diese  in  die  Zukunft  weisenden  Gegensätze  mußten 
noch  einmal  zurücktreten,  als  jetzt  der  gemeinsame  Kampf  mit 
der  Reaktion  einem  gewaltsamen  Austrag  zudrängte  und  die  Ein- 
heitlichkeit der  demokratischen  Phalanx  gebieterisch  forderte. 

Während  sich  Marx  von  der  zweiten  Aprilhälfte  bis  über  die 
erste  Maiwoche  auf  einer  Werbereise  befand,  um  die  gänzlich 
geleerte  Kasse  der  Zeitung  neu  auffüllen  zu  können,  schrieb  Engels 
den  Leitartikel  über  die  deutsche  Politik,  die  sich  eben  mit  der 
Bewegung  jenseits  der  Grenzen  so  verheißungsvoll  zu  verflechten 
schien.  Mit  der  Auflösung  der  preußischen  zweiten  Kammer, 
hatte  Radowitz,  der  ihm  als  die  ,, Seele  der  preußischen  Konter- 
revolution" galt,  wie  er  glaubte,  der  sich  entwickelnden  un- 
garisch-polnisch-deutschen Revolution  einen  großen  Dienst  ge- 
leistet. Weil  die  Pläne  zur  Wiederherstellung  des  alten  Regiments 
sich  immer  offener  an  den  Tag  wagten,  zweifelte  er  nicht,  daß 
die  neue  Revolution  nun  schnell  heraufziehen  würde.  Und  ange- 
sichts der  Siege  der  Ungarn,  der  Auflösung  Österreichs,  der  Wut 
des  Volks  in  Preußen  ,, gegen  die  Hohenzollernsch-Manteuffelsche- 
Radowitzsche  Verräterei"  hoffte  er,  daß  Frankfurt  und  Süddeutsch- 
land, wenn  sie  sich  offen  für  die  Reichsverfassung  erhöben,  in 
der  ersten  Zeit  für  die  neue  auf  Ungarn  gestützte  revolutionäre 
Erhebung  den  Mittelpunkt  abgeben  könnten.  Voraussetzung  dafür 
war  freilich,  daß  man  sich  in  Frankfurt  in  der  Stunde  unabwend- 
barer Entscheidung  nicht  scheute,  den  Bürgerkrieg  zu  prokla- 
mieren, und  äußarsten  Falls  der  einen  und  unteilbaren  Republik 
vor  der  Restauration  des  alten  Bundestages  den  Vorzug  gab.  So 
wenig  revolutionäre  Energie  er  den  Männern  der  Paulskirche 
zutraute,  erwartete  Engels  doch,  daß  auch  bei  ihnen  die  Sache 
eine  andere  Wendung  nehmen  würde,  wenn  erst  die  ungarischen 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  23 


254  ^^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

Husaren,  die  polnischen  Landers  und  das  Wiener  Proletariat  ein 
Wort  mitsprächen. 

Das  Gerücht,  daß  russische  Truppen  demnächst  durch  die 
Provinz  Schlesien  nach  Böhmen  marschieren  würden,  riß  ihn  am 
4.  Mai  zu  einem  Wutausbruch  hin,  der  maßloser  war,  als  alles 
was  das  Rheinische  Blatt  bis  dahin  gegen  die  ,, Vorderrussen" 
geschrieben  hatte:  ,,Wir  sind  nur  durch  Gewalt  Preußen  Untertan 
geworden  und  Untertan  geblieben.  Wir  waren  nie  Preußen.  Aber 
jetzt,  wo  wir  gegen  Ungarn  geführt,  wo  preußisches  Gebiet  durch 
russische  Räuberbanden  betreten  wird,  jetzt  fühlen  wir  uns  als 
Preußen,  ja  wir  fühlen,  welche  Schmach  es  ist,  den  Namen  Preußen 
zu  tragen." 

Für  alle  errechenbaren  Möglichkeiten  stets  gewappnet,  hatte 
die  preußische  Heeresleitung,  die  sich  auf  die  Gefahr  eines  fran- 
zösischen Angriffs  berufen  konnte,  wie  wir  schon  wissen,  zeitig 
die  umfassendsten  Vorkehrungen  getroffen,  um  einer  Lossagung 
und  einer  allgemeinen  Erhebung  der  Rheinlande  mit  bewaffneter 
Hand  begegnen  zu  können.  Soweit  nicht  die  Brennpunkte  der  revo- 
lutionären Gärung  wie  Köln  und  Koblenz  an  sich  von  starken 
Zitadellen  und  Forts  beherrschte  Festungen  waren,  erhielten  sie 
wie  jetzt  Aachen  und  Düsseldorf  eine  reichliche  Verstärkung  der 
Garnisonen.  Durch  annähernd  den  dritten  Teil  der  preußischen 
Armee  besetzt,  in  allen  Richtungen  von  Eisenbahnen  durchschnit- 
ten, mit  einer  ganzen  Dampftransportflotte  zur  Verfügung  der 
Militärmacht,  konnte  in  den  Rheinlanden  eine  gewaltsame  Er- 
hebung nur  dann  nicht  aussichtslos  erscheinen,  wenn  Hoffnung 
bestand,  die  Besatzungen  der  Festungen  auf  die  revolutionäre 
Seite  herüberzuziehen  oder  durch  gewaltige  von  außen  eindrin- 
gende Ereignisse  so  zu  terrorisieren,  daß  sie  kopflos  sich  über- 
rumpeln ließen.  Genau  wie  im  September  1848  warnten  die  leitenden 
Männer  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung,  die  sich  über  den  Stand 
der  Dinge  keinen  Illusionen  hingaben,  auch  jetzt  vor  ,,Emeuten". 
Sie  sagten  den  Kölner  Arbeitern,  daß  es  nicht  ihnen  beschieden 
sei,  durch  einen  entscheidenden  Schlag  die  neue  Revolution  zu  be- 
ginnen. Wien,  Böhmen,  Süddeutschland,  Berlin  gärten  und  er- 
spähten den  geeigneten  Augenblick.  Sie  aber  sollten  sich  hüten, 
für  die  Bourgeoisie  die  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen,  vielmehr 
in  Ruhe  die  Entscheidung  der  rheinischen  Gemeinderäte  abwarten, 
die  eben  der  Kölner  zu  einer  außerordentlichen  Tagung  eingeladen 
hatte.  Doch  die  Erregung  in  der  Provinz  wuchs  von  Tag  zu  Tag 
und  erreichte  den  gewaltigsten  Grad,  als  die  preußische  Regierung 
jetzt  durch  die  Einberufung  der  Landwehr  zahlreiche  Bürger  in 
einen   , .Konflikt  der  Pflichten"  trieb,  aus  dem  kein  Ausweg  sich 


Zuspitzung  der  Situation  in  der  Rheinprovinz.  ^55 

finden  ließ.  Gegen  äußere  Feinde  zu  marschieren,  wäre  die  Land- 
wehr bereit  gewesen,  aber  zur  Niederschlagung  der  Bewegung, 
die  man  in  ganz  Deutschland  für  die  Verteidigung  der  Reichs- 
verfassung erwartete,  und  die  im  Königreich  Sachsen  schon  zum 
Ausbruch  gekommen  war,  wollte  sie  sich  nicht  gebrauchen  lassen. 
Die  Gemeinderäte  der  Rheinprovinz  faßten  am  5.  Mai  in  Köln 
unter  dem  Eindruck  dieser  stürmisch  hervortretenden  Gesinnung 
die  geharnischte  Resolution,  daß  die  Einberufung  der  Landwehr 
unter  solchen  Umständen  den  inneren  Frieden  in  hohem  Grade 
gefährde  und  daß  der  „Bestand  Preußens  in  seiner  gegenwärtigen 
Zusammensetzung"  bedroht  wäre,  falls  diese  Verfügung  nicht 
zurückgenommen  würde.  Zur  gleichen  Zeit  forderte  die  Kölner 
Versammlung  das  deutsche  Parlament  zu  schleunigsten  kräftigen 
Anstrengungen  auf,  um  dem  Widerstand  des  Volkes  in  den  einzelnen 
deutschen  Staaten  und  namentlich  auch  in  der  Rheinprovinz  jene 
Einheit  und  Stärke  zu  geben,  die  allein  imstande  sei,  die  wohl- 
organisierte Gegenrevolution  zuschanden  zu  machen.  Daß  die 
Gemeinderäte  aus  nahezu  dreißig  rheinischen  Städten  eine  solche 
Sprache  führten,  weckte  bei  den  Massen  des  unzufriedenen  Klein- 
bürgertums den  Anschein,  daß  nötigenfalls  auch  ,,die  Blüte 
des  vormärzlichen  rheinischen  Liberalismus",  das  rheinische 
Großbürgertum,  aus  der  sich  zuspitzenden  Lage  revolutionäre 
Konsequenzen  ziehen  würde.  Dessen  eigentliche  Gesinnung  kam 
aber  getreuer  als  in  dieser  verwegenen  Resolution  des  Städtetages, 
in  seinem  ständigen  Organ,  der  Kölnischen  Zeitung,  zum  Ausdruck. 
Zwar  machte  auch  die  Rivalin  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  in 
der  Verzweiflung  ihres  Herzens  für  alles  Blut,  das  vergossen  würde, 
die  ,, meineidige  Konterrevolution"  verantwortlich,  gleichzeitig  je- 
doch bat  sie  die  Mitbürger  flehentlich,  den  Boden  der  Mäßigung 
und  Gesetzlichkeit  nicht  zu  verlassen.  Wie  aber  sollte  die  zu  den 
Fahnen  gerufene  Landwehr  es  anstellen,  an  der  Gesetzlichkeit 
festzuhalten,  wenn  sie  sich  nicht  dazu  hergeben  wollte,  deutsches 
Blut  zu  vergießen?  Hatte  Engels  nicht  eigentlich  recht  damit, 
wenn  er  behauptete,  daß  die  Regierung  durch  die  Einberufungen 
die  Feindseligkeiten  schon  eröffnet  hatte? 

Zum  hellen  Aufruhr  gedieh  der  Widerstand  der  Landwehr  in 
den  Hauptorten  des  bergisch-märkischen  Industrie bezirks,  in  Iser- 
lohn, in  Solingen,  in  Hagen  und  in  Elberfeld.  Wie  sorglos  hatten 
die  preußischen  Könige  noch  bis  vor  kurzem  auf  die  unbedingte 
Loyalität  des  frommen  Wuppertals  bauen  können!  Seit  dem  März 
1848  war  es  freilich  auch  dort  vorbei  mit  der  unbestrittenen  Allein- 
herrschaft der  Plutokratie,  die,  auf  den  Pietismus  gestützt,  zum 
Legitimitätsprinzip   schwor.     Namentlich    August   von   der    Heydt, 

23* 


356  Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

der  scharfsichtigste  und  der  einflußreichste  unter  diesen  Geschäfts- 
leuten, hatte  die  Notwendigkeit  erkannt,  durch  rechtzeitige  Zu- 
geständnisse die  Flut  einzudämmen,  die  sich  unwiderstehlich  selbst 
in  dies  umhegte  Gebiet  mit  seinen  noch  halb  latenten,  aber  so 
ungeheuren  sozialen  Gegensätzen  ergoß.  Er  war  an  die  Spitze  der 
konstitutionellen  Bewegung  getreten  und  hatte  damit  erreicht, 
daß  das  Wuppsrtal  gemäßigte  Männer  in  die  Parlamente  wählte, 
und  daß  König  Friedrich  Wilhelm  IV.  sich  bereits  im  Sommer  in 
Eiber feld  wieder  zeigen  durfte.  Am  Ende  vermochte  aber  auch  er 
nicht  zu  verhindern,  daß  sich  hier  wie  allerorten  die  Gegensätze 
zuspitzten,  daß  die  Massen  der  Färber,  Drucker,  Weber  in  Be- 
wegung gerieten  und  daß  die  Demokratie,  von  dem  Bankdirektor 
Hecker  und  dem  Advokaten  Höchster  geführt,  ständig  an  Boden 
gewann.  Dadurch  von  neuem  nach  rechts  gedrängt,  wurde  von 
der  Heydt  der  wichtigste  Sach Verwalter  der  Gegenrevolution 
am  Niederrhein  und  in  Westfalen.  Als  er  zum  Lohn  dafür,  daß  er 
den  Staatsstreich  gefördert  hatte,  Handelsminister  wurde,  gab  seine 
Entfernung  aus  Elberfeld  hier  der  Demokratie  das  Oberwasser; 
die  Gärung,  durch  die  ausgebreitete  Arbeitslosigkeit  stark  ge- 
fördert, wuchs,  und  die  Einberufung  der  Landwehr  gab  nur  den 
letzten  Anstoß  zum  gewaltsamen  Ausbruch.  Für  ein  über  die 
ganze  Provinz  sich  erstreckendes  Komplott  hatte  einer  der  Haupt- 
drahtzieher, der  Zeichenlehrer  Körner  in  Elberfeld,  am  6.  Mai 
Engels  und  seine  Kölner  Parteifreunde  zu  gewinnen  und  ihre 
Bedenken  zu  zerstreuen  gesucht.  Körners  Behauptung,  daß 
allein  Engels  ,,von  dem  bornierten  Standpunkt  eines  doktrinären 
Radikalen  weg  zu  bewegen  gewesen  sei",  ist  nicht  wörtlich  zu 
nehmen.  Ihm  wurde  es  nicht  minder  schwer  als  Marx,  Wilhelm 
Wolff  und  den  anderen,  die  Reichsverfassung  als  sein  Panier  an- 
zuerkennen. 

Am  9.  Mai  begann  in  Elberfeld  der  Barrikadenbau,  das  Gefäng- 
nis wurde  gestürmt,  aus  Barmen,  wo  zur  Freude  des  Königs  die 
Ruhe  gewahrt  blieb,  und  aus  anderen  Orten  der  Gegend  strömten 
unruhige  Gäste  in  Fülle  herbei,  der  feige  Oberbürgermeister  erwies 
sich  als  unfähig,  von  Düsseldorf  kam  Militär,  es  zog  wieder  ab, 
die  städtischen  Behörden  drückten  sich  zur  Seite  und  ein  Sicher- 
heitsausschuß, mit  den  Koryphäen  der  Demokratie  an  der  Spitze, 
übernahm  die  Regierung  der  Stadt,  während  der  Oberpräsident 
von  Eichmann  nach  Berlin  meldete,  daß  sich  in  Elberfeld  die  Armen 
gegen  die  Reichen  erhoben  hätten.  Nun  können  natürlich  an 
Plätzen,  die  nicht  von  vornherein  militärische  oder  politische  Kraft- 
zentren sind,  revolutionäre  Erhebungen,  selbst  wenn  sie  siegreich 
sind,    folgenreich    nur    werden,    wenn  sie  sich  zu  behaupten,    zu 


Engels  revolutionärer  Feldzugsplan.  oe»? 

befestigen  und  auszubreiten  vermögen,  bis  sie  selbst  ein  revolutio- 
näres Kraftzentrum  geworden  sind  oder  an  ein  bestehendes  anderes 
Anschluß  gewonnen  haben.  Wirklich  waren  gleichzeitig  mit  der 
Kunde,  daß  die  Hauptorte  des  bergisch-märkischen  Industrie- 
gebiets im  offenen  Aufruhr  stünden,  bei  der  Neuen  Rheinischen 
Zeitung  die  Nachrichten  eingelaufen,  daß  in  Dresden  der  Aufstand 
sich  hielte,  daß  in  Breslau  Barrikadenkämpfe  stattgefunden  hätten, 
daß  in  der  Pfalz  die  revolutionäre  Bewegung  sich  konsolidierte,  daß 
eine  Militärrevolte  in  Baden  den  Großherzog  zur  Flucht  bestimmt 
habe,  und,  zu  allem  anderen,  daß  die  Ungarn  im  Begriff  stünden, 
die  Leitha  zu  überschreiten.  Niemals  seit  dem  März  1848  schien 
die  Aussicht  auf  einen  allgemeinen  Sieg  der  Revolution  günstiger 
gestanden  zu  haben.  Mußte  in  solcher  Stunde  nicht,  allen  Bedenken, 
die  auch  Engels  sich  nicht  verhehlte,  zum  Trotz,  der  Versuch  gewagt 
werden,  nun  auch  die  Rheinprovinz  zu  insurgieren?  Gelang  es, 
so  wurde  die   Bewegung  damit  vielleicht  unwiderstehlich. 

Durch  alle  diese  Nachrichten,  am  stärksten  wohl  durch  die  sich 
überstürzenden  aus  dem  heimischen  Wuppertal,  tief  erregt,  unter- 
breitete Engels  in  fliegender  Hast,  bereits  auf  dem  Sprunge,  die 
Feder  fortzuwerfen  und  zu  den  Elberfelder  Insurgenten  zu  stoßen, 
den  Freunden  einen  revolutionären  Feldzugsplan.  Um  die  auf- 
gestandenen Bezirke  zu  stützen,  erachtete  er  es  für  nötig,  schleunigst 
dafür  zu  sorgen,  daß  das  linke  Rheinufer  das  rechte  nicht  im  Stiche 
ließ.  Dort  in  den  kleineren  Städten,  in  den  Fabrikorten  und  auf  dem 
Lande  müsse  etwas  unternommen  werden,  um  die  Garnisonen  in 
Schach  zu  halten.  Während  m.an  in  den  Festungen  und  größeren 
Garnisonstädten,  weil  es  sinnlos  wäre,  jeden  unnützen  Krawall 
vermied,  möge  man  alle  disponiblen  Kräfte  in  die  aufständischen 
Bezirke  auf  dem  rechten  Rheinufer  werfen,  die  Insurrektion  von 
hier  aus  weiter  verbreiten  und  mittelst  der  Landwehr  eine  revolu- 
tionäre Armee  zu  organisieren  versuchen.  Nicht  übel  ersonnen, 
litt  dieser  Plan,  wie  alle,  die  damals  in  ähnlicher  Lage  von  ent- 
schlossenen Revolutionären  entworfen  wurden,  daran,  daß  der 
Verfasser  die  Bereitschaft  und  Aufopferungsgeneigtheit  der  großen 
Masse  an  seinem  eigenen  leidenschaftlichen  Ernst  maß.  Aber  dies 
zimperliche  Kleinbürgertum  und  dies  vom  Solidaritätsgedanken 
noch  kaum  erfaßte  Proletariat,  Klassen,  die  von  politischen  Orga- 
nisationsbestrebungen eben  zum  erstenmal  ergriffen  wurden, 
ließen  sich  nicht  in  jagender  Hast  militärisch  organisieren.  Die 
revolutionäre  Energie  der  unzusammenhängenden  Gruppen,  die 
sich  spontan  erhoben  hatten,  verpuffte,  da  ein  allgemeiner  Insurrek- 
tionsplan, wie  er  Engels  vorgeschwebt  hatte,  überhaupt  nicht 
bestand,  noch  bevor  der  Aufruhr  eine  einheitliche  Leitung  erhalten 


358  Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

konnte.     Der    ganze    Aufstand    in   den  Rheinlanden  blieb  ein  par- 
tieller und  wurde  ohne  viel  Mühe  unterdrückt. 

Engels  war  sich  nicht  im  Zweifel  gewesen,  daß  die  Erhebung  nur 
glücken  konnte,  wenn  auch  Republikaner  und  Kommunisten  von 
ihren  besonderen  Forderungen  kein  Aufhebens  machten,  sondern  sich 
der  großen  Reichsverfassungspartei  angliederten,  die  unter  demokra- 
tisch-kleinbürgerlicher Führung  die  Fahne  der  Revolution  ergriffen 
hatte.  Kam  es  ihm  schon  schwer  an,  sein  sachliches  Ziel  zurück- 
zustellen, so  widersprach  es  seinem  Wesen  noch  mehr,  sein  Tempera- 
ment mit  dem  des  bedächtigen, noch  beim  Revolutionieren  philiströsen 
Kleinbürgertums  in  Einklang  zu  setzen.  Sollten  die  rebellischen  Land- 
wehrleute, deren  Zahl  sich  nach  der  Aufwallung  des  ersten  Tages 
nicht  stark  vermehrt  hatte,  der  Kern  einer  rheinischen  Revolutions- 
armee werden,  so  wurde  es  nötig,  die  Landwehrzeughäuser  in  die 
Gewalt  zu  bekommen.  Links  des  Rheins  in  Prüm  glückte  dies  unter 
Führung  Imandts  und  Schilys,  während  Annekes  Anschlag  auf 
Siegburg  scheiterte.  An  dem  erfolgreichen  Überfall  Solinger  Arbeiter 
auf  das  Zeughaus  in  Gräfrath  hat  Engels  nicht,  wie  hernach  die 
Klage  behauptete,  persönlich  teilgenommen,  aber  darum  gewußt 
wird  er  haben.  Zwei  hier  erbeutete  Kisten  mit  Munition  lieferte 
er  dem  Sicherheitsausschuß  in  Elberfeld  ab,  als  er  sich  diesem  am 
II.  Mai  zur  Verfügung  stellte.  Er  hatte  Köln  in  dem  Vertrauen 
verlassen,  daß  das  Wuppertal  ihn  nun  für  alle  Rückständigkeit,  die 
er  diesem  so  reichlich  vorgeworfen  hatte,  entschädigen  wollte.  An 
Ort  und  Stelle  fand  er  aber  die  Zustände  anders,  als  er  gedacht  hatte. 
Nicht,  daß  er  sich  eingeredet  hätte,  das  erst  so  kurze  Zeit  „aus 
der  Versumpfung  des  Schnapses  und  des  Pietismus"  herausgerissene 
Proletariat,  das  noch  keine  Vorstellung  von  den  Bedingungen 
seiner  Befreiung  hatte,  würde  der  Träger  der  Bewegung  sein.  Was 
ihn  enttäuschte,  war  die  weitreichende  Unentschlossenheit,  die 
er  antraf,  was  ihn  überraschte,  das  tiefe  Mißtrauen,  auf  das  er 
von  der  ersten  Stunde  an  bei  jenen  Kleinbürgern  stieß,  die  sich 
auf  dem  Rathaus  in  den  Fauteuils  der  nach  Düsseldorf  entflohenen 
Großindustriellen  breit  machten.  Die  ,, entschiedene  Partei",  zu 
der  er  sich  zählte,  die  einzige,  der  es  mit  der  Verteidigung  ernst 
war,  fand  er  als  eine  Minderheit  vor,  die  sich  in  acht  nehmen 
mußte,  um  nicht  in  eine  schiefe  Stellung  zu  geraten.  Vom  Sicher- 
heitsausschuß der  Militärkommission,  die  für  die  Verteidigung  der 
Stadt  sorgen  sollte,  zugeteilt,  war  er  von  dieser  mit  der  Inspektion 
der  Barrikaden  und  der  Vervollständigung  der  Befestigungen  betraut 
worden  und  sofort  daran  gegangen,  eine  Kompagnie  Pioniere  zu- 
sammenzubringen. Am  folgenden  Tage  bevollmächtigte  man  den 
ehemaligen  Gardebombardier  auch  noch,  die  Kanonen  nach  seinem 


Beim  Aufstand  in  Elberfeld,  ^c^ 

Gutdünken  aufzustellen  und  die  dazu  nötigen  Handwerker  zu 
requirieren.  Auf  seinen  Rat  berief  man  den  ehemaligen  preußischen 
Artillerieoffizier  Otto  von  Mirbach,  der  sich  als  Ingenieur  in  der 
polnischen  Revolution  ausgezeichnet  haben  sollte,  als  Oberbefehls- 
haber. 

Als  ihn  der  Sicherheitsausschuß  bei  seiner  Meldung  über  seine 
Absichten  befragte,  hatte  Engels  erwidert,  als  Sohn  der  Gegend 
betrachte  er  es  als  eine  Ehrensache,  bei  der  ersten  bewaffneten 
Erhebung  des  bergischen  Volks  auf  seinem  Platze  zu  sein.  Auch 
wünsche  er  sich  bloß  militärisch  zu  betätigen;  es  läge  auf  der  Hand, 
daß  jedes  Auftreten  gegen  die  Reichsregierung  vermieden  werden 
müsse.  Dennoch  hatte  die  Kunde  von  dem  Eintreffen  des  berüch- 
tigten Sohns  des  angesehenen  Barmer  Fabrikanten  und  der  Über- 
tragung wichtiger  Befugnisse  auf  einen  Redakteur  der  Neuen  Rhei- 
nischen Zeitung  in  weiten  Kreisen  der  Bürgerschaft  die  Befürch- 
tung geweckt,  daß  das  ,, Kommunistenpack"  die  Führung  der  Be- 
wegung an  sich  reißan  könnte.  ,,Die  Raichsverfassungsmänner", 
hieß  es  hinterdrein  in  der  Spottschrift  eines  legitimistischen  Wupper- 
talers gegen  die  ,,Allerweltsbarrikadenhelden**,  hätten  den  ,, Faden 
gesponnen",  aber  ,,die  roten  Teufel  waren  bei  der  Hand  und  wickel- 
ten ihn  auf  ihre  Spule".  Hätten  die  dreifarbigen  Republikaner 
bei  der  Katzbalgerei  im  Sicherheitsausschuß  nicht  die  Oberhand 
behalten,  so  wäre  es  den  reichen  Leuten  übel  ergangen,  meinte  der 
anonyme  Verfasser.  Das  Gerücht  wurde  verbreitet,  daß  Engels 
über  Nacht  auf  einer  Reihe  von  Barrikaden  die  schwarz-rot -goldenen 
Fahnen  durch  rote  ersetzt  habe,  zu  denen  teils  die  roten  Fenster - 
gardinen  aus  dem  demolierten  Haus  des  Oberbürgermeisters 
von  Carnap,  teils  Stränge  Türkischrotgarns  Verwendung  fanden. 
Soviel  steht  fest,  daß  der  Versuch  gemacht  worden  ist,  die  klein- 
bürgerliche Bevölkerung  gegen  Engels  aufzuhetzen  und  daß  die 
Männer  des  Sicherheitsausschusses  den  ersten  Anlaß  benutzten, 
um  sich  des  , »jungen  Phantasten"  zu  entledigen,  der  die  Dinge 
gar  so  ernsthaft  nahm.  Während  sie  besorgt  blieben,  allem, 
was  bereits  geschehen  war,  zum  Trotz  die  Brücken  nach  rück- 
wärts nicht  vollends  abzubrechen,  verlangte  jener  jetzt  von 
ihnen  die  Entwaffnung  der  Bürgerwehr,  die  sich  neutral  ver- 
halten wollte,  die  Verteilung  ihrer  Waffen  unter  die  revolu- 
tionären Arbeiter  und,  was  sicherlich  das  schrecklichste  war, 
daß  man  bei  den  Bürgern  eine  Zwangssteuer  für  deren  Unter- 
halt erhöbe.  So  unbequem  machte  der  Heißsporn  sich  jenen 
Männern,  die  nachher  beim  Herannahen  der  Gefahr  nicht  nur  das 
Hasenpanier  ergriffen,  sondern  sich  ihren  freiwilligen  Rücktritt 
von  den   Industriellen   für   bares   Geld   genau  so  abkaufen   ließen 


2^0  D®r  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

wie  die  schnapslustigen  Lumpen  Proletarier  die  achtzig  Gewehre, 
die  Engels  aus  dem  Cronenberger  Rathaus  genommen  hatte. 
Höchster  erklärte  am  14.  Mai  beim  Generalappell  dem  jungen 
Mann,  daß  seine  Anwesenheit  die  Bourgeoisie  in  hohem  Grade 
beunruhige,  daß  diese  jeden  Augenblick  fürchte,  er  werde  die  rote 
Republik  proklamieren  und  daß  sie  seine  Entfernung  verlange. 
Da  Engels  sich  schwer  entschloß,  seinen  Posten  zu  verlassen, 
weigerte  er  sich  abzureisen,  wenn  der  Sicherheitsausschuß  ihm  die 
Aufforderung  nicht  schriftlich  zustellte  und  Mirbach  sie  billigte. 
Von  vielen  Seiten  gedrängt,  erklärte  der  von  Engels  empfohlene 
Oberbefehlshaber  anderen  Tags  sich  dazu  bereit.  Den  unter  Waffen 
stehenden  Arbeitern  aber,  die  der  Vorfall  erregte,  gab  Engels, 
nach  Köln  zurückgekehrt,  durch  die  Neue  Rheinische  Zeitung  zu 
bedenken,  daß  die  gegenwärtige  Bewegung  nur  ein  Vorspiel  jener 
tausendmal  ernsthafteren  Bewegung  wäre,  in  der  es  sich  um  ihre, 
der  Arbeiter,  eigenste  Interessen  handeln  werde.  Wenn  erst  diese 
revolutionäre  Bewegung  eintrete,  würden  die  bergischen  und  m.är- 
kischen  Arbeiter,  darauf  mögen  sie  sich  verlassen,  ihn  an  seinem 
Platze  finden,  und  keine  Macht  der  Erde  werde  ihn  dann  bewegen, 
von  seinem  Platz  zurückzutreten. 

Nun  knüpfte  sich  aber  an  diese  Tage  im  aufständischen  Elber- 
feld  für  Engels  noch  eine  andere  Kette  von  Erlebnissen,  über  die 
wir  weniger  vollständig  unterrichtet  sind,  obgleich  sie  tiefer  als 
der  von  seiner  Erinnerung  mit  der  üblichen  Dosis  Humor  gewürzte 
Aufenthalt  zwischen  den  Barrikadenhelden  in  sein  Leben  ein- 
geschnitten hat.  Am  Morgen  des  13.  Mai,  des  einzigen  Sonntags, 
den  er  in  Elberfeld  verbrachte,  scheint  den  Jüngling  der  Teufel 
geritten  zu  haben,  daß  er  der  Versuchung  erlag,  mit  seiner  roten 
Schärpe  geschm.ückt,  nach  Barmen  hinüberzugehen.  Vielleicht 
wollte  er  als  Inspektor  der  Elberfelder  Barrikaden  wirklich  nur  an 
der  Brücke,  die  Elberfeld  von  Unterbarmen  trennte,  nach  dem 
Rechten  sehen.  Vielleicht  hatte  er  aber  auch  die  Absicht,  die  Barmer 
Arbeiter,  die  durch  die  von  den  Fabrikanten  beherrschte  Bürger- 
wehr niedergehalten  wurden,  aufzuwiegeln.  Von  Alexander  Pagen- 
stecher, der  dem  ,, hübschen,  geistreichen,  verkommenen  Men- 
schen" begegnete,  wissen  wir,  daß  er  dort  auf  der  mit  Böllern  be- 
stückten Barrikade  an  der  Haspeler  Brücke  in  seelenvergnügter 
Stimmung  das  Kommando  führte,  und  auf  die  Bemerkung  des 
Deputierten,  die  heranrückenden  Truppen  könnten  die  von  der 
friedlichen  Bevölkerung  vorher  verlassene  Stadt  in  Trümmern  legen, 
die  Antwort  gab,  dahin  werde  es  nicht  kommen,  weil  die  Auf- 
ständischen die  Mutter  und  den  Bruder  des  Ministers  von  der  Heydt 
als  Geiseln   in  ihren  Händen  hätten.    Um  jene  Stunde  scheint  er 


Schwerer  Konflikt  mit  dem  Vater.  361 

nun  auch  seinem  frommen  Vater,  der  sich  vielleicht  gerade  auf  dem 
Kirchgang  befand,  in  den  Weg  gelaufen  zu  sein.  Ernst  von  Eynem 
erzählt,  daß  „der  alte  würdige  Engels"  mit  seinem  auf  „den  Barri- 
kaden stehenden  Sohne"  eine  Begegnung  hatte,  die  bei  allen  guten 
und  wohlgesinnten  Bürgern  höchlichste  Entrüstung  weckte  und 
dem  jungen  Friedrich  als  eine  ,, Untat"  angerechnet  wurde.  Auch 
Fam.ilienbriefe  aus  dem  folgenden  Jahr,  die  sich  erhalten  haben, 
lassen  erkennen,  daß  zwischen  Vater  und  Sohn  damals  ein  schweres 
Zerwürfnis  stattfand,  dem  die  dramatische  Zuspitzung  nicht  ge- 
fehlt hat.  Die  Spuren  dessen,  was  hier  vorgefallen  ist,  und  das 
Bewußtsein  dessen,  was  sie  trennte,  sind  Friedrich  anscheinend 
unverwischbar  geblieben.  Gegen  jede  „Schulmeisterei"  empfind- 
lich geworden,  hielt  er  seit  jenem  Tage  ein  „kühles  Geschäfts - 
Verhältnis"  zwischen  sich  und  seinem  Erzeuger  für  wünschens- 
werter als  allen  ,, Gefühlshumbug".   — 

Das  Fehlschlagen  der  Aufstandsversuche  in  der  Rheinprovinz, 
die  nun  unter  dem  Belagerungszustand  erst  recht  von  Bajonetten 
starrte,  zog  auch  die  Neue  Rheinische  Zeitung  in  den  Strudel 
hinab.  Die  siegreiche  Militärpartei  wollte  gegenüber  der  Kölner 
Hauptwache  nicht  länger  ein  Blatt  dulden,  das  die  Bevölkerung 
in  so  aufreizender  Sprache  zum  Abfall  von  Preußen  hetzte.  „Die 
eine  Hälfte  der  Redakteure,"  erzählte  Engels  später,  ,,war  unter 
gerichtlicher  Verfolgung,  die  andere  als  Nichtpreußen  ausweisbar. 
Dagegen  war  nichts  zu  machen  .  .  .  Wir  mußten  unsere  Festung 
übergeben,  aber  wir  zogen  ab  mit  Waffen  und  Bagage,  mit  klingen- 
dem Spiel  und  der  Fahne  der  letzten  roten  Nummer."  An  der 
Spitze  dieser  berühmten  Nummer,  die  am  19.  Mai  erschien,  steht 
Freiligraths  bekanntes  Abschiedswort  der  Neuen  Rheinischen 
Zeitung,  das  „dem  Throne  zerschmetternden  Volke"  allzeit  Treue, 
Haß  und  Rache  aber  den  „schmutzigen  Westkalmücken"  schwört. 

,,0,  gern  wohl  bestreuten  mein  Grab  mit  Salz 

Der  Preuße  zusammt  dem  Czare   — 

Doch  es  schicken  die  Ungarn,  es  schickt  die  Pfalz 

Drei  Salven  mir  über  die  Bahre  1" 
Rebellischen  Geistes  voll  war  natürlich  auch,  was  Engels  in  dieser 
roten  Nummer  seinen  Landsleuten  zurief.  Auf  die  Ereignisse  in 
Elberfeld  zurückblickend,  bedauerte  er  jetzt,  daß  die  bewaffneten 
Arbeiter  nicht  rücksichtsloser  ihre  Macht  zur  ,, vollständigen  Nieder- 
haltung einer  schamlos  feigen  aber  noch  mehr  perfiden  Bourgeoisie" 
ausgenutzt  hätten,  die  sich  gewiß  nicht  entblöden  werde,  die  von  den 
Lüttringhauser  Bauern  gefangenen  Freischärler,  zu  denen  Mirbach 
gehörte,  „an  die  Hohenzollernschen  Mord-  und  Greuelknechte" 
zu   überliefern.    Welches   Glück,    daß  wenigstens   der    Südwesten 


202  ^^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

Deutschlands  „zu  einer  Pille  geworden"  war,  „die  von  den  Gott- 
begnadeten nicht  so  leicht  verdaut  werden  wird".  Den  badischen 
und  pfälzischen  Soldaten,  die  „den  Eidschwur,  den  sie  gekrönten 
Gaunern  gegenüber  zu  leisten  gezwungen  worden",  zerbrochen 
hätten,  weist  Engels  den  ehrenvollsten  Platz  in  der  deutschen  Ge- 
schichte des  Jahres  1849  zu.  Den  Fall  Livornos,  der  erfolgt  war, 
den  Bolognas,  der  drohte,  beklagt  er.  Allein  den  ,, Riesenvulkan  der 
europäischen  Gesamtrevolution"  sah  er  ,, nicht  bloß  im  Kochen, 
sondern  am  Vorabend  seines  Ausbruchs.  Seine  roten  Lavaströme 
werden  sehr  bald  die  ganze  gottbegnadete  und  raubritterliche  Wirt- 
schaft auf  ewig  begraben;  das  ganze  infame,  heuchlerische,  ver- 
faulte, feige  und  doch  übermütige  Bourgeoistum  aber  wird  von  den 
endlich  klug  und  einig  werdenden  Proletariermassen  in  den  glühen- 
den Krater  als  unbetrauertes  Sühneopfer  hinabgestürzt  werden." 
Wie  recht  Engels  getan  hatte,  das  Erscheinen  der  ,, roten" 
Nummer,  in  der  er  solches  prophezeite,  nicht  mehr  auf  preußischem 
Boden  abzuwarten,  bewies  der  Steckbrief,  der  ihm  am  6.  Juni 
nachfolgte.  Zunächst  begab  er  sich  mit  Marx  und  anderen  Redak- 
teuren des  Blattes  nach  Frankfurt,  in  der  Hoffnung,  das  deutsche 
Parlament  werde  unter  dem  gebieterischen  Zwang,  wählen  zu 
müssen  zwischen  den  ihre  Streitkräfte  sammelnden  Regierungen 
und  dem  für  die  Reichsverfassung  aufstehenden  Volke,  sich  der 
Revolution  anschließen.  Engels  und  Marx  wollten  doch  wenigstens 
den  Versuch  machen,  aus  der  trägen,  ratlosen  Masse  der  Pauls- 
kirche, der  ihre  Ohnmacht  erst  jetzt  offenkundig  wurde,  rote 
Funken  herauszuschlagen.  Alles,  meinten  sie,  könnte  noch  gewon- 
nen werden,  wenn  das  Parlament  und  die  Führer  der  süddeutschen 
Bewegung  nur  jetzt  Mut  und  Entschlossenheit  bekundeten.  Wir 
wissen  nicht  genau,  welche  Führer  der  Linken  sie  mit  ihren  kühnen 
Vorschlägen  bestürmten.  Ein  einziger  Beschluß  der  National- 
versammlung, erklärten  sie,  würde  ausreichen,  um  die  badische 
und  pfälzische  revolutionäre  Armee  zu  ihrem  Schutz  nach  Frank- 
furt zu  rufen.  Engels  war  noch  in  späteren  Jahren  überzeugt, 
daß  ein  solcher  Beschluß  damals  die  Situation  zu  retten  vermocht 
hätte.  Dadurch  würde  das  Parlament  mit  einem  Schlage  das  Ver- 
trauen des  Volkes  zurückerobert  haben.  Der  Abfall  der  hessen- 
darmstädtischen  Truppen,  der  Anschluß  Württembergs  und  Bayerns 
an  die  neue  Revolution  wäre  dann  mit  Sicherheit  zu  erwarten  ge- 
wesen, die  mitteldeutschen  Kleinstaaten  wurden  ebenfalls  hinein- 
gerissen, Preußen  bekam  genug  bei  sich  zu  tun,  und  gegenüber 
einer  so  gewaltigen  Bewegung  in  Deutschland  hätte  Rußland  einen 
Teil  der  Truppen,  mit  denen  es  hernach  die  Ungarn  bezwang,  in 
Polen  zurückhalten  müssen.   Sogar  Ungarn  wäre  also  in  Frankfurt 


In  Frankfurt  und  Karlsruhe.  363 

zu  retten  gewesen,  und  unter  dem  Eindruck  einer  siegreich  fort- 
schreitenden Revolution  in  Deutschland  wäre  der  revolutionäre 
Ausbruch  in  Paris,  auf  den  Engels  und  Marx  damals  noch  von 
Tag  zu  Tag  warteten,  nicht  auf  die  kampflose  Niederlage  der 
, »radikalen  Spießbürger"  vom   12.  Juni   1849  hinausgelaufen. 

Doch  die  beiden  Freunde  mußten  schnell  bemerken,  daß  sie 
in  der  Frankfurter  Atmosphäre  ihre  Worte  in  den  Wind  säten. 
Nur  ganz  wenige  Abgordnete  wie  Johann  Jacob  y  gestanden  sich 
und  anderen,  daß  eine  revolutionäre  Versammlung,  die  sich  defensiv 
verhalte,  verloren  sei.  Der  weitaus  größte  Teil  jener  Volksvertreter 
bestand,  wie  dieser  aufrechte  Ostpreußs  am  19.  Mai  einem  Königs- 
berger Landsmann  schrieb,  ,,aus  Leuten,  die  —  unfähig  für  irgend- 
eine Idee  sich  zu  begeistern  oder  aufzuopfern  —  nur  allein  durch 
ein  Maß  Ehrgefühl  auf  ihrem  Posten  zurückgehalten"  wurden: 
,,Daß  sie  sich  der  zur  Durchführung  der  Reichsverfassung  ent- 
standenen Bewegung  bemächtigen  und  dieselbe  leiten  —  daran  ist 
gar  nicht  zu  denken."  Gerade  während  Engels  in  Frankfurt  weilte, 
griff  die  Fahnenflucht  im  Parlament  reißend  um  sich.  Heinrich 
von  Gagern,  die  ,, fleischgewordene  Paulskirche",  gestand  Jacoby, 
als  dieser  ihn  vorwärts  treiben  wollte,  daß  er  zwar  den  guten  Willen, 
aber  nicht  die  Fäkigkeit  habe,  sich  an  die  Spitze  der  Bewegung  zu 
stellen.  So  verließen  Engels  und  Marx  Frankfurt  am  20.  Mai  un- 
verrichte  teter  Sache,  als  Schild  wache  ihrer  Partei  Wilhelm  Wolff 
zurücklassend,  der  nun  ins  Parlament  eintrat.  Den  Mut,  alles  an 
alles  zu  setzen,  den  sie  hier  nicht  angetroffen  hatten,  htfften  sie 
in  der  Gegend  Deutschlands  vorzufinden,  wo  der  Bruch  mit  den 
Regierungen  bereits  zur  vollendeten  Tatsache  geworden  war. 
Sie  eilten  dem  Herde  des  badisch -pfälzischen  Aufstandes  zu.  Aber 
bald  nach  dem  Überschreiten  der  badischen  Grenze  enthüllte 
sich  ihnen  der  Dilettantismus  seiner  militärischen  Führung.  In 
Mannheim  gewannen  sie  dann  den  Eindruck,  daß  der  erste 
Aufschwung  schon  vorüber  wäre:  von  allen  Seiten  schallte  hier 
ihnen  die  Klage  entgegen,  daß  es  an  einer  tatkräftigen  und  fähigen 
Leitung  mangele.  In  Karlsruhe  angelangt,  verdarben  sie  es  sofort 
mit  dem  Landesausschuß,  als  sie  es  offen  einen  kapitalen  Fehler 
nannten,  daß  die  rebellischen  Truppen  nicht  gleich  im  Anfang  auf 
Frankfurt  marschiert  waren,  und  rügten,  daß  nichts  Einreichendes 
unternommen  worden  war,  um  auch  das  ganze  übrige  Deutschland 
in  die  Bewegung  hineinzureißen.  Sie  sagten  Brentano  und  seinen 
Kollegen  ins  Gesicht,  daß  sie  die  süddeutsche  Erhebung  bereits  für 
verloren  ansähen,  falls  nicht  etwa  entscheidende  Schläge  in  Ungarn 
oder  eine  neue  Revolution  in  Paris  ihr  noch  Hilfe  brächten.  Carl  Blind 
und  Gögg  waren  im  Landesausschuß  die  einzigen,  die  den  Kritikern 


o^A  Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

beipflichteten.  Aufs  stärkste  enttäuscht  über  alles,  was  sie  erlebt 
und  beobachtet  hatten,  beschleunigten  Marx  und  Engels  auch  hier 
ihre  Abreise. 

D'Ester  aus  Köln,  der  ihnen  politisch  näher  stand  als  jene 
badischen  Bezirksgrößen,  befand  sich  in  einflußreicher  Stellung 
bei  der  provisorischen  Regierung  der  Pfalz,  die  sie  in  Speyer  suchten, 
doch  erst  in  Kaiserslautern  trafen.  Aber  obgleich  sich  die  ganze 
„Blüte  der  deutschen  Demokratie"  wie  eine  „rote  Kamarilla"  um 
die  gemäßigteren  Pfälzer  Regenten  geschart  hatte,  konnten  sie  sich 
dem  Eindruck  nicht  mehr  entziehen,  daß  die  Bewegung  des  deut- 
schen Südwesten,  an  deren  selbständige  Kraft  sie  schon  nicht  mehr 
glaubten,  eine  ihnen  zu  wesensfremde  Welt  verkörperte,  als  daß 
sie  an  eine  offizielle  Beteiligung  der  kleinen  kommunistischen 
Partei  hätten  denken  dürfen.  Dem  widersprach  jedoch  keinesv.egs, 
daß  die  einzelnen  Mitglieder,  eine  Reihe  der  Elberfelder  Land- 
sturmmänner und  ein  Teil  der  Setzer  der  Neuen  Rheinischen  Zei- 
tung, sich  den  revolutionären  Scharen,  die  eben  einen  Angriff  der 
preußischen  Armee  gewärtigen  mußten,  anschlössen.  Nur  wenige 
Tage  duldete  es  Marx  und  Engels  in  solcher  Umgebung ;  auf  der  Rück- 
reise wurden  sie  auf  hessischem  Boden,  als  der  Teilnahme  am 
Aufstand  verdächtig,  durch  Militär  aufgegriffen,^  nach  Darmstadt, 
von  da  nach  Frankfurt  transportiert  und  erst  hier  freigelassen. 
Am  31.  Mai  finden  wir  sie  in  Bingen.  Mittlerweile  waren  sie  sich  über 
das,  was  sie  nun  zunächst  vornehmen  konnten,  schlüssig  geworden. 
Marx  wandte  sich  mit  geheimen  Vollmachten  des  in  der  Pfalz 
weilenden  demokratischen  Zentralausschusses  nach  Paris,  wo  die 
Wahlen  zur  Deputiertenkammer,  von  denen  die  Freunde  den  An- 
stoß zum  Wiederausbruch  der  Revolution  erhofften,  jetzt  nahe 
bevorstanden. 

Engels  dagegen  eilte  nach  Kaiserslautern  zurück,  um  von 
dem  revolutionierten  Boden  aus  den  weiteren  Verlauf  der  Dinge 
in  Deutschland  im  Interesse  der  Partei  im  Auge  zu  behalten.  Ob- 
gleich ihm  als  demokratischem  Flüchtling  von  Ruf  bei  dem  un- 
geheuren Mangel  an  tüchtigen  Kräften  fortwährend  Zivil-  und  mili- 
tärische Stellen  in  Menge  angetragen  wurden,  vermied  er,  bei  seinen 
„avancierten  Ansichten",  anfänglich,  für  diese  „soi-disant  Revolu- 
tion" tätig  zu  werden,  die  sich  ihm  mit  jedem  Tage  mehr  als  ein 
immer  lokaler  und  unbedeutender  werdender  Lokalaufstand  mit 
kleinbürgerlicher  Tendenz  offenbarte.  Um  wenigstens  seinen  guten 
Willen  zu  bezeugen,  ließ  er  sich  dazu  herbei,  dem  Kaiserslautener 
Boten,  einem  Blättchen,  das  die  provisorische  Regierung  in  Massen 
verteilen  ließ,  seine  Feder  zur  Verfügung  zu  stellen.  Die  weil  er  aber 
nicht  die  Absicht  hatte,  sich  dabei  zu  „genieren",  so  sagte  er  sich 


Trennung  von  Marx.  oge 

voraus,  daß  gleich  der  erste  Artikel  diesen  gemütlichen  Herrschaften 
die  Lust  benehmen  werde,  von  ihm  weitere  zu  verlangen.  Und 
wirkUch  ist  dieser  vom  2.  Juni  datierte  Beitrag  sein  einziger 
geblieben;  schon  den  zweiten  fand  selbst  d 'Ester  zu  ,, aufregend". 
Engels  verteidigte  in  dem  Boten  die  pfälzische  und  badische  Re- 
volution gegen  den  von  der  konterrevolutionären  Presse  erhobenen 
Vorwurf,  daß  sie  Landesverrat  treibe.  ,,Wenn  ganz  Deutschland  vom 
Njemen  bis  zuden  Alpen  durch  feige  Despoten  an  den  russischen  Kaiser 
verraten  und  verkauft  wird,  das  ist  kein  Landesverrat.  Aber  wenn 
die  Pfalz  sich  der  Sympathien  des  französischen  und  besonders  des 
elsässer  Volkes  erfreut,  wenn  sie  den  Ausdruck  dieser  Teilnahme 
nicht  mit  närrischer  Selbstzufriedenheit  zurückweist,  wenn  sie 
Leute  nach  Paris  schickt,  um  über  die  Stimmung  Frankreichs, 
über  die  neue  Wendung  Auskunft  zu  erhalten,  die  die  Politik  der 
französischen  Republik  nehmen  wird  —  ja,  das  ist  Landesverrat, 
das  ist  Hochverrat,  das  heißt,  Deutschland  an  Frankreich,  an  den 
„Erbfeind",  an  den  Reichsfeind  verkaufen."  Wenn  das  Landes- 
verrat wäre,  fährt  er  fort,  so  sei  das  ganze  badische  und  pfälzische 
Volk  ein  Volk  von  dritthalb  Millionen  Landesverrätern.  Denn  es 
habe  seine  Ravolution  wahrlich  nicht  gemacht,  um  bei  dem  heran- 
nahenden Entscheidungskampf  zwischen  dem  freien  Westen  und 
dem  despotischen  Osten  sich  auf  die  Seite  des  Despoten  zu  stellen. 
Weder  Bürger  noch  Soldaten  wollten  in  den  Reihen  der  Kroaten 
und  Kosaken  gegen  die  Freiheit  fechten.  Wenn  die  Despoten  von 
Olmütz,  Berlin  und  München  noch  Soldaten  fänden,  die  tief  genug 
gesunken  wären,  um  mit  Baschkiren,  Panduren  und  anderem  Raub- 
gesindel unter  einer  Fahne  zu  kämpfen,  so  werde  man  solche  Söld- 
linge nicht  als  deutsche  Brüder  empfangen  und  sich  wenig  darum 
kümmern,  ob  ein  verräterischer  Ex-Reichskriegsminister  an  ihrer 
Spitze  steht.  ,,In  wenig  Wochen,  in  wenig  Tagen  vielleicht  werden 
sich  die  Heeresmassen  des  republikanischen  Westens  und  die  des 
geknechteten  Ostens  gegeneinander  heranwälzen,  um  auf  deutschem 
Boden  den  großen  Kampf  auszufechten.  Deutschland  wird  — 
dahin  haben  die  Fürsten  und  Bourgeois  es  gebracht  —  Deutsch- 
land wird  gar  nicht  gefragt  werden,  ob  es  dies  auch  erlaubt.  Deutsch- 
land macht  den  Krieg  nicht,  es  wird  ohne  seine  Zustimmung  und 
ohne  daß  es  dies  verhindern  kann,  mit  Krieg  überzogen.  Das  ist, 
dank  den  Märzregenten,  Märzkammern  und  nicht  minder  der 
März-Nationalversammlung  die  ruhmvolle  Stellung  Deutschlands 
beim  bevorstehenden  europäischen  Kriege.  Von  deutschen  In- 
teressen, von  deutscher  Freiheit,  deutscher  Einheit,  deutschem 
Wohlstand  kann  gar  nicht  die  Rede  sein,  wo  es  sich  um  die  Freiheit 
oder  Unterdrückung,  das  Wohl  oder  Wehe  von  ganz  Europa  handelt. 


366  I^er  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

Hier  hören  alle  Nationalfragen  auf,  hier  gibt  es  nur  eine  Frage: 
wollt  ihr  frei  sein  oder  wollt  ihr  russisch  sein?"  Wenn  Deutsch- 
land im  vorigen  Jahre  —  wie  er  und  Marx  es  gefordert  hatten  —  den 
Kampf  gegen  russische  Unterdrückung  aufgenommen  hätte,  so 
wäre  dieser  Kampf  auf  russischem  Boden  geführt  worden;  nun 
sei  Deutschland  den  beiden  streitenden  Armeen  als  willenloses 
Terrain  preisgegeben,  und  der  europäische  Freiheitskrieg  werde 
zugleich  zum  deutschen  Bürgerkrieg.  Dies  Schicksal  danke 
Deutschland  der  Verräterei  seiner  Fürsten  und  der  Schlaffheit 
seiner  Volksvertreter.  ,,Wenn  etwas  Landesverrat  ist,  so  ist 
es  dies." 

Wie  aber,  wenn  der  große  Entscheidungskampf  zwischen  dem 
freien  Westen  und  dem  unfreien  Osten,  auf  dessen  Nahen  Engels  all 
sein  Denken  eingestellt  hatte,  ausblieb,  wenn  sich  enthüllte,  daß  in 
Frankreich  der  eigentliche  revolutionäre  Brennstoff,  der  sich  so 
schnell  nicht  ersetzt,  schon  in  der  Junischlacht  aufgebraucht 
worden  war  ? 

Im  Gasthof  zum  Donnersberg,  wo  Engels  in  Kaiserslautern  ab- 
stieg,gab  es  für  seine  hellen  Augen,  die  so  scharf  hin  und  her  zu  blicken 
verstanden,  während  des  ersten  Junidrittels,  das  er  als  Zuschauer 
dort  verlebte,  viel  Interessantes  zu  sehen.  ,,Das  war  eine  allgemeine 
Sonntagsnachmittagslaune  —  ein  wahrer  Picknickhumor  —  äußerst 
liebenswürdig,  aber  wenig  mit  dem  Bild  übereinstimmend,  das 
ich  mir  von  dem  Ernst  dieser  revolutionären  Situation  gemacht 
hatte."  Den  gleichen  Eindruck,  den  Carl  Schurz  von  jenen 
Tagen  in  Kaiserslautern  zurückbehielt,  empfing  auch  Engels.  Sein 
ausgeprägter  Sinn  für  Humor  konnte  sich  nun  für  die  schweren 
und  ernsten  Erlebnisse  der  voraufgegangenen  Wochen  in  reichem 
Maße  schadlos  halten.  Die  ganze  Pfalz,  so  dünkte  es  ihm,  hatte 
sich  in  eine  große  Schenke  verwandelt,  und  selbst  in  den  revolu- 
tionären Bezirken  des  Südens,  deren  behäbiger  Wohlstand  von 
der  Revolution  nichts  erhoffte,  auch  überdies  von  den  Festungen 
Germersheim  und  Landau  in  Respekt  gehalten  wurde,  ließen  die 
behaglichen  Bürger  und  wohlhabenden  Bauern  sich  völlig  in  die 
allgemeine  Schoppenstecherei  hineinreißen.  Von  der  biederen 
Feierlichkeit,  „die  der  spießbürgerliche  Charakter  der  Bewegung 
der  Mehrzahl  ihrer  Teilnehmer  in  Baden  aufgedrückt  hatte", 
war  hier  nichts  zu  spüren.  In  der  Pfalz,  meint  Engels,  war  der 
Mann  nur  nebenbei  ernst.  Die  ,, Begeisterung"  und  der  ,, Ernst" 
dienten  hier  nur  dazu,  die  allgemeine  Lustigkeit  zu  beschönigen. 
,,Daß  die  Preußen  kommen  würden,  daran  glaubten  die  wenigsten, 
daß  sie  aber,  wenn  sie  kämen,  mit  der  größten  Leichtigkeit  wieder 
hinausgeschlagen  würden,  das  stand  allgemein  fest." 


Im  Hauptquartier  der  pfälzischen  Revolution.  367 

Eine  so  harmlose  und  gemütliche  Revolution  wie  diese  pfäl- 
zische war  auf  der  Welt  nirgends  denkbar  als  in  einem  süddeutschen, 
weintrinkenden  Kleinstaat.  Mit  hilfloser  Freundlichkeit  ließen  die 
gutmütigen  Regenten  es  sich  gefallen,  daß  man  sich  über  ihre 
,, bequeme  Manier  des  Revolutionierens"  und  ihre  ,, impotenten 
kleinen  Maßregelchen"  lustig  machte.  Damit  aber  entwaffneten 
sie  in  der  Regel  selbst  einen  so  rigorosen  Kritiker  wie  unseren 
Engels.  Zwar  wiederholte  er  bei  jeder  Gelegenheit,  wieviel,  das 
nun  nicht  mehr  einzuholen  wäre,  versäumt  worden  sei,  wohl  ver- 
wies er  sie,  ohne  mehr  als  höchstens  lässige  Zustimmung  zu  ernten, 
auf  manches,  was  jetzt  noch  geschehen  konnte,  aber  das  geschah 
beim  Schoppen  Wein  und  in  aller  Freundschaft.  Nur  einmal  als 
er  so  seiner  Zunge  freien  Lauf  ließ,  mußte  er  erfahren,  daß  er  den 
Bogen  überspannt  hatte.  Das  war  wenige  Tage  vor  dem  Einrücken 
der  Preußen,  als  er  seinen  alten  Freund  Joseph  Moll  auf  einer  von 
diesem  übernommenen  Mission  nach  Kirchheimbolanden  an  die 
Grenze  begleitet  hatte.  Hier  traf  er  nämlich  am  Wirtshaustisch 
unter  den  Freischärlern  einige  begeisterte  ,, Männer  der  Tat",  die, 
wie  er  erzählt,  gar  keine  Schwierigkeiten  darin  sahen,  mit  wenig 
Waffen  und  viel  Begeisterung  jede  beliebige  Armee  der  Welt  zu 
schlagen.  Als  sie  es  ihm  gar  zu  bunt  trieben,  trat  er  ihnen  mit 
der  scharfen  Ironie,  die  die  Menschen  schon  öfter  verletzt  hatte, 
entgegen  und  spottete  hinterdrein  noch  über  die  ,, heilige  Ent- 
rüstung", die  er  hervorgerufen  hatte.  Plötzlich  sah  er  sich  auf  Be- 
fehl des  hier  anwesenden  Greiner,  des  einzigen  Mitglieds  der  provi- 
sorischen Regierung,  das  ihn  nicht  persönlich  kannte,  verhaftet. 
Nach  einem  , »komischen"  Verhör  durch  Zitz,  den  „Parlaments- 
polterer", der  mit  dem  ,, mutigen"  Bamberger  die  rheinische  Legion 
hergeführt  hatte,  wurde  er  am  nächsten  Morgen  mit  gefesselten 
Händen  unter  der  Anklage  der  Herabwürdigung  des  pfälzischen 
Volkes  und  der  Aufreizung  gegen  die  Regierung  nach  Kaisers- 
lautern überführt.  In  der  drolligsten  Verzweiflung  über  den  offen- 
sichtlichen Mißgriff  ihres  noch  abwesenden  Mitglieds  möchten 
die  Regenten  ihn  bis  zum  Eintreffen  von  Greiners  Bericht  gegen 
Ehrenwort  freilassen.  Er  aber  lehnt  das  ab  und  geht  ungeleitet  — 
das  bedang  er  sich  aus  —  ins  Kantonalgefängnis.  Ob  solcher  Be- 
handlung eines  Parteigenossen  droht  D'Ester  mit  dem  Rücktritt. 
Auch  Tschirner  und  die  anderen,  die  der  entschiedenen  Richtung 
angehörten,  geraten  in  Aufruhr.  Gleichzeitig  kommt  die  Nachricht, 
im  Rheinischen  Korps  seien  wegen  dieser  Angelegenheit  Unruhen 
ausgebrochen.  , »Weniger  als  das  hätte  hingereicht,"  meint  Engels 
schmunzelnd,  ,,den  provisorischen  Regenten,  mit  denen  ich  täg- 
lich zusammen  gewesen  war,    die  Notwendigkeit    zu    zeigen,    mir 


958  ^^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

Satisfaktion  zu  geben."  Nachdem  er  sich  vierundzwanzig  Stunden 
im  Gefängnis  „ganz  gut  amüsiert  hatte",  ließen  diese  ihn  nun  ohne 
alle  Bedingungen  frei,  und  baten  ihn  nur,  daß  er  sich  auch  ferner- 
hin bei  der  Bewegung  beteilige.  Dann  ,, wurden  beiderseits  die 
feierlichen  Gesichter  abgesetzt  und  am  Donnerstag  einige  Schoppen 
zusammen  getrunken". 

Störend  platzte  in  so  idyllisches  Gehabe  der  Einmarsch  der 
Preußen  hinein.  Wie  sehr  bei  Regierung  und  Generalstab  der 
Nachrichtendienst  im  argen  lag,  hatte  Engels  schon  erfahren,  als 
er  eines  Tages  den  Ahnungslosen  die  diesen  ganz  unbekannte 
Kunde  von  der  Zusammenziehung  von  siebenundzwanzig  preußi- 
schen Bataillonen,  neun  Batterien  und  neun  Regimentern  Kaval- 
lerie nebst  ihrer  genauen  Dislozierung  zwischen  Saarbrücken  und 
Kreuznach  überbrachte.  Die  wichtige  Nachricht  hatte  er  aus  einer 
vor  mehreren  Tagen  angekommenen  Nummer  der  Kölnischen 
Zeitung  geschöpft.  Als  die  Preußen  nun  wirklich  von  Saarbrücken 
her  einrückten,  war  die  Überraschung  groß.  Engels,  der  darin 
bloß  noch  eine  interessante  ,, Wendung"  sah,  konnte,  wie  er  nach- 
her Marx  gestand,  nun  doch  der  Lust  nicht  widerstehen,  den  Krieg 
mitzumachen  und  zugleich  die  Neue  Rheinische  Zeitung  honoris 
causa  in  der  badisch -pfälzischen  Armee  zu  vertreten.  So  schnallte 
er  sich  jetzt  „ein  Schlachtschwert  um  und  ging  zu  Willich". 

In  seinen  Augen  war  August  von  Willich  neben  Techow,  dem 
Chef  des  pfälzischen  Generalstabs,  unter  den  ehemaligen  preußischen 
Artillerieoffizieren,  die  sich  der  Revolution  angeschlossen  hatten, 
der  ,, einzige,  der  etwas  taugte".  Und  mochte  Willichs  Begabung  auch 
nur  für  den  Kleinkrieg  ausreichen,  an  der  Spitze  eines  Freiwilligen- 
korps von  sechs-  bis  siebenhundert  Mann  war  er  am  Platze-  ,,Im 
Gefecht  brav,  kaltblütig,  geschickt  und  von  raschem  richtigen 
Überblick,  außer  dem  Gefecht  aber  plus  ou  moins  langweiliger 
Ideologe  und  wahrer  Sozialist."  So  charakterisierte  Engels  ihn, 
gleich  nachdem  er  vom  13.  Juni  bis  zum  12.  Juli  während  des  Feld- 
zugs in  der  Pfalz  und  in  Baden  sein  Adjutant  gewesen  war,  in  einem 
Brief  an  Frau  Marx.  Über  sich  selbst  berichtet  er  hier  der  Gattin 
des  Freundes,  den  er  von  den  Franzosen  verhaftet  glaubte,  wie  er  in 
vier  Gefechten  die  Erfahrung  gemacht  habe,  ,,daß  der  vielgerühmte 
Mut  des  Dreinschlagens  die  allerordinärste  Eigenschaft"  sei,  die  man 
besitzen  könne.  Von  seiner  Kaltblütigkeit  und  Verachtung  jeder 
Gefahr  war,  wie  Wilhelm  Liebknecht  uns  erzählt,  noch  lange  die 
Rede  bei  allen,  die  ihn  damals  im  Feuer  gesehen  haben.  Engels 
selbst  fand  es  nicht  der  Mühe  wert,  davon  zu  reden ;  denn  die  bloße 
rohe  Courage  wollte  er  nicht  höher  eingeschätzt  wissen  als  den 
bloßen  guten  Willen.    Das  Kugelpfeifen,  meinte  er,  sei  eine  ganz 


Als  Willichs  Adjutant.  369 

geringfügige  Geschichte,  er  habe  während  des  Feldzugs  trotz  vieler 
Feigheit  kein  Dutzend  Leute  gesehen,  die  sich  im  Gefecht  feige 
benahmen,  wohl  aber,  wo  jeder  einzelne  ein  Held  an  Courage  war, 
erlebt,  daß  das  ganze  Bataillon  wie  ein  Mann  ausriß. 

Willich  war  die  Aufgabe  zugefallen,  die  von  der  Revolution 
nicht  bezwungenen  Festungen  Landau  und  Germersheim  im  Schach 
zu  halten.  Seines  neuen  Adjutanten  erster  Dienst  bestand  darin, 
daß  er  sich  aussenden  ließ,  um  Munition,  an  der  großer  Mangel  war, 
aus  Kaiserslautern  zu  holen.  Dabei  geriet  er  aber  in  Neustadt 
in  die  Retirade  der  gesamten  pfälzischen  Armee,  die  Kaiserslautern 
bereits  aufgegeben  hatte.  Nachdem  er  sich  schnell  über  alles  unter- 
richtet hatte,  lud  er  möglichst  viele  Fässer  Pulver,  Blei  und  fertige 
Patronen  auf  einen  Leiterwagen,  eifrig  bedacht,  damit  zu  Willich 
zurück  zu  gelangen.  Doch  erst  nach  manchem  Umweg  und  un- 
freiwilligem Aufenthalt  erreichte  er  diesen,  der  inzwischen  nicht 
stehen  geblieben  war,  traf  aber  bei  ihm  von  neuem  den  Vortrab  der 
pfälzischen  Armee  und  auch  die  provisorische  Regierung,  die  er 
erst  verlassen  hatte.  Daß  sie  auf  dem  Rückzug  war,  meinte  er  später, 
war  dieser  Armee  nicht  anzumerken.  ,,Die  Unordnimg  war  von 
Anfang  an  bei  ihr  zu  Hause."  Noch  immer  drohten  die  Bramar- 
basse, die  in  allen  Wirtshäusern  nach  Herzenslust  zechten,  den 
heranrückenden  Preußen  baldigste  Vernichtung  an.  Dabei  würden, 
wie  der  illusionsfreie  Beobachter  erkannte,  bereits  damals  ein  Regi- 
ment Kavallerie  mit  einigen  reitenden  Geschützen  hingereicht 
haben,  das  ganze  rheinpfälzische  Freiheitsheer  in  alle  vier  Winde 
zu  zersprengen  und  total  aufzulösen.  Wenn  die  preußischen  Führer 
langsam  und  methodisch  vorgingen,  so  werde  sie  dazu  hauptsächlich 
die  Rücksicht  auf  den  Geist  ihrer  Truppen  gezwungen  haben. 
Jeder  Erfolg  einer  Insurrektion  halte  nämlich  den  sofortigen  Ab- 
fall der  Land  Wehrregimenter  und  danach  der  halben  Linie  und 
namentlich  der  Artillerie  zur  Folge  gehabt.  Während  aber  das  Gros 
der  Pfälzer  weiterzog,  um  sich  über  die  Knielinger  Brücke  nach 
Baden  hinüber  zu  retten,  war  das  Korps  Willich  dem  von  Pirma- 
sens her  sich  nähernden  Feinde  entgegengerückt,  um  ihn  auf- 
zuhalten, aber  von  diesem  zur  Umkehr  gezwungen  worden. 
Das  war  für  Engels  ein  Glück,  denn  da  eine  preußische  Kolonne 
mittlerweile  Landau  entsetzt  hatte,  so  wären  sie  bei  längerem  Ver- 
weilen im  Weidental  umzingelt  und  dem  Sieger  ausgeliefert  gewesen. 
Erst  nachdem  sie  den  Rheinübergang  der  pfälzischen  Armee  ge- 
deckt hatte,  zog  auch  die  Willichsche  Truppe  am  18.  Juni  hinüber 
nach  Karlsruhe,  wo  sie  ihre  Ausrüstung  vervollständigte  und  ihren 
Bestand  auffüllte.  Unter  den  hier  neu  Eintretenden  bemerkte 
Engels    neben    mehreren  Arbeitern,    die  den  Elberfelder  Aufstand 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  24 


370  Der  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

mitgemacht  hatten,  auch  Kinkel,  der  dann  bekanntlich  bald  darauf 
im  Murgtal,  wo  Moll  fiel,  gefangen  genommen  wurde.  Dem  Pro- 
fessor Kinkel  gesteht  Engels  zu,  daß  er  sich  recht  ,,gut  gemacht" 
habe  ;  schlechter  ist  er  auf  die  Studenten  zu  sprechen,  die  ihre  Fahnen 
verließsn,  wenn  sie  nicht  durch  die  Verleihung  des  Offiziersrangs 
zurückgehalten  wurden,  immer  in  alle  Operationspläne  eingeweiht 
sein  wollten,  aber  murrten,  wenn  der  Feldzug  nicht  alle  Annehm- 
lichkeiten einer  Ferienreise  bot.  Hoch  dagegen  preist  er  den  Mut 
und  die  Hingebung  der  Arbeiter,  die  im  Rtvolutionsheer  stark  ver- 
treten waren,  obgleich  sie  wußten,  „daß  der  Kampf  diesmal  seinen 
direkten  Folgen  nach  nicht  ihrer  eigenen  Sache"  galt.  Die  entschie- 
densten Kommunisten  wären  die  kouragiertesten  Soldaten  gewesen, 
bei  der  ,, offiziellen  Demokratie"  aber  seien  die  kämpfenden  Pro- 
letarier als  pures  Kanonenfutter  angesehen  worden. 

Von  den  militärischen  Maßnahmen  in  Baden  erhielt  Engels 
den  Eindruck,  daß  niemals  kriegerische  Operationen  nachlässiger 
und  dümmer  ausgeführt  worden  seien  als  unter  dem  Kommando 
Sigels.  ,, Alles  wurde  in  Unordnung  gebracht,  jede  gute  Gelegenheit 
versäumt,  jeder  kostbare  Moment  mit  dem  Ausspinnen  riesen- 
hafter aber  unausführbarer  Projekte  vertrödelt."  Als  schließlich 
Mieroslawski  den  Oberbefehl  übernahm,  habe  die  Armee,  desorgani- 
siert, geschlagen,  entmutigt,  mangelhaft  ausgerüstet  einem  vier- 
mal stärkeren  Feinde  gegenübergestanden,  so  daß  dem  „begabten 
Polen"  nichts  übrig  geblieben  sei,  als  zu  Waghäusel  eine  ruhm- 
volle aber  erfolglose  Schlacht  zu  schlagen,  einen  geschickten  Rück- 
zug zu  vollziehen,  ein  letztes  hoffnungsloses  Gefecht  unter  den 
Mauern  von  Rastatt  anzubieten  und  abzudanken.  Daß  die  Pfäl- 
zische Division  der  Schlacht  bei  Waghäusel  fern  geblieben  war, 
ist  ihrem  Befehlshaber,  dem  unfähigen  alten  Polen  Sznayda,  von 
Johann  Philipp  Becker,  Borckheim  und  anderen  revolutionären 
Mitkämpfern  ebenso  wie  von  Engels  arg  verdacht  worden.  Jener 
klammerte  sich  offenbar  an  den  ihm  gewordenen  Auftrag,  Karls- 
ruhe gegen  das  bei  Germersheim  über  den  Rhein  gegangene  Hirsch- 
feldsche  Korps  zu  decken.  Willich,  der  die  Vorhut  seines  Zentrums 
befehligte,  faßte  den,  wie  Engels  zugibt,  ,, passabel  verwegenen" 
Entschluß,  den  Feind,  über  dessen  Stärke  er  sich  Nachrichten  nicht 
verschafft  hatte,  nächtlicher  Weile  anzugreifen,  seine  Reihen  zu 
durchstoßen,  auf  Bruchsal  zu  marschieren  und  sich  womöglich 
in  diese  Festung  hineinzuwerfen.  Wenn  aber  Engels,  der  der 
preußischen  Kriegführung  überall  gern  am  Zeuge  flickt,  darüber 
spottet,  daß  diese  ,, trotz  ihrer  kolossalen  Übermacht"  ihre  pedan- 
tischen Vorpostendienstreglements  „bis  ins  langweiligste  Detail" 
auch  hier  durchführte,  so  ist  ihm  entgegenzuhalten,  daß  Johann 


Bei  den  Kämpfen  in  Baden.  oyj 

Philipp  Becker,  mit  dessen  Beurteilung  des  Feldzugs  er  sonst  in 
allen  wesentlichen  Punkten  übereinstimmt,  gerade  das  Gegenteil, 
nämlich  den  Mangel  an  der  nötigen  Vorsicht,  Willich  und  damit 
auch  ihm  zum  Vorwurf  macht.  Wie  immer  bei  der  Avantgarde, 
wurde  Engels  plötzlich  auf  dreißig  Schritt  Entfernung  von  einer 
preußischen  Feldwache  angerufen.  ,,Ich  höre  das  Werda  und 
springe  vor.  Einer  meiner  Kameraden  sagte:  der  ist  verloren,  den 
sehen  wir  auch  nicht  wieder.  Aber  gerade  mein  Vorgehen  war 
meine  Rettung."  Die  Truppe  war  in  ein  wirksames  feindliches 
Rottenfeuer  geraten,  und  um  die  Verwirrung  voll  zu  machen, 
hatten  in  der  Dunkelheit  die  eigenen  Leute  sich  gegenseitig  be- 
schossen. Aber  die  Preußen  verfolgten  die  Fliehenden  nicht,  und 
so  konnte  es  gelingen,  die  Gruppe  neu  zu  sammeln.  Nun  wurde 
ihr  befohlen,  sich  dem  rechten  Flügel  der  Division  anzuschließen, 
dessen  Oberbefehl  Willich  erhielt,  und  die  in  dem  vom  Feinde  be- 
reits wieder  verlassenen  Bruchsal  am  22.  Juni  in  aller  Eile  sich 
neu  zu  formieren  die  Zeit  fand.  Für  den  unglücklichen  Ausgang 
eines  Gefechts,  das  Anneke,  der  Befehlshaber  des  Zentrums,  am 
folgenden  Tage  bei  Stettfeld  zu  bestehen  hatte,  machen  J.  Ph. 
Becker  und  andere  Willich  verantwortlich,  der,  statt  wie  verabredet 
gewesen  wäre,  Anneke  zu  stützen,  ins  Gebirge  abgerückt  wäre. 
Engels  dagegen  behauptet,  daß  Willich  lediglich  dem  Befehl,  dort 
die  Flanke  zu  decken,  gefolgt  sei,  und  daß  überdies  nun  er  Anneke 
bestimmt  habe,  gleich  darauf  bei  Ubstadt  jenes  Gefecht  anzunehmen, 
das,  so  geringfügig  es  an  sich  gewesen  sein  mag,  nach  Beckers 
und  auch  nach  Schurz  Urteil,  die  preußische  Armee  so  lange  auf- 
hielt, daß  der  bei  Waghäusel  besiegten  Hauptmacht  Mieroslawskis 
der  Rückzug  auf  Rastatt  möglich  wurde.  In  ständiger  Gefahr, 
den  Preußen  oder  den  Bayern  in  die  Hände  zu  fallen,  gelang  es, 
wieder  als  dem  letzten,  auch  Willich  seine  durch  Desertion  stark 
zusammengeschm.olzene  Truppe  nach  Rastatt  zu  führen. 

Die  Schlacht  um  die  Murglinie,  die  der  Erhebung  den  Rest  gab,  hat 
Engels  wiederum  an  der  Seite  Willichs,  der  hier  als  Chef  von  Mersys 
Divisionsstab  auf  dem  rechten  Flügel  stand,  überall  tätig  zur  Stelle, 
miterlebt.  Er  führt  die  Niederlage  der  demoralisierten  und  „mit 
wenig  Ausnahmen  erbärmlich  geführten"  Revolutionsarmee  auf 
die  Verletzung  der  württembergischen  Neutralität  durch  die  Preußen 
und  die  Preisgabe  Gernsbachs  durch  Sigel  zurück,  der  Mieroslawskis 
Befehl,  diese  Schlüsselstellung  um  jeden  Preis  zu  halten,  nicht  aus- 
geführt habe.  Die  völlig  aufgelöste  Armee  nochmals  zu  sammeln, 
habe  sich  als  unmöglich  erwiesen,  weil  die  Führer  der  bürgerlichen 
wie  der  Militärverwaltung,  die  Bewegung  fortan  ihrem  Schicksal 
überlassend,  ratlos  und  vernichtet  die   Flucht  ergriffen.    Der  von 

34* 


372  D^^  Ausgang  der  deutschen  Revolution. 

keinem  Feinde  gestörte  Rückzug  der  eigenen  Gruppe  über  die  in 
reichster  Blumenpracht  prangenden  Höhen  des  Schwarzwaldes 
von  Bühl  über  Allerheiligen  und  den  Hundskopf  nach  Wolfach,  ist 
Engels  als  eine  wahre  Vergnügungstour  in  der  Erinnerung  geblieben. 
In  Wolfach  erfuhren  sie  am  3.  Juni  zu  ihrer  Entrüstung,  daß  die 
nach  Freiburg  verschlagene  Regierung,  die  inzwischen  Sigel  den 
Oberbefehl  übertragen  hatte,  die  Hauptstadt  des  Breisgaus  ohne 
Kampf  aufzugeben  gedachte.  Um  dies  womöglich  nochj  zu  ver- 
hindern, beschlossen  sie,  sofort  dorthin  zu  marschieren.  Aber 
schon  in  Waldkirch  erhielten  sie  die  Nachricht,  daß  es  zu  spät 
wäre,  das  Hauptquartier  befände  sich  bereits  in  Donaueschingen. 
Trotzdem  wünschten  WiUich  und  Engels,  daß  der  Räst  des  Heeres, 
der  noch  über  eine  beträchtliche  Artillerie  verfügte,  dem  Feind  ein 
letztes  Gefecht  anbieten  und  ihn  so  in  die  Versuchung  bringen  möge, 
schweizer  Gebiet  zu  verletzen.  Doch  bei  dem  Kriegsrat  in  Rieden 
am  IG.  Juli  setzte  sich  Willich  allein  mit  Leidenschaft  für  die  Fort- 
führung des  nutzlosen  Kampfes  ein,  während  Sigel,  Johann  Philipp 
Becker  und  die  anderen  den  Übertritt  auf  neutrales  Gebiet  ent- 
schieden. Nunmehr  marschierte  auch  Willichs  Truppe  der  Grenze 
zu,  biwakierte  noch  einmal  auf  deutschem  Boden,  schoß  am  Morgen 
des  12.  Juli  die  Gewehre  ab  und  betrat  ,,die  letzte  der  badisch- 
pfälzischen  Armee"  gleich  danach  das  Gebiet  der  Eidgenossen- 
schaft. 

Im  vorigen  Herbst  war  Engels  in  die  Schweiz  gekommen  mit 
der  sicheren  Erwartung,  die  Heimat  bald  wieder  zu  sehen.  Damals 
stand  der  endgültige  Sieg  der  Reaktion  noch  dahin,  auch  hatte  er 
weniger  auf  dem  Kerbholz  als  jetzt,  wo  er  zum  zweitenmal  als 
Flüchtling  hier  erschien.  Weil  aber  seine  Hoffnung  auf  eine  aber- 
malige Wendung  der  Dinge  keineswegs  erloschen  war,  konnte 
Engels  nicht  ahnen,  auf  wie  lange  Zeit  er  Deutschland  den  Rücken 
gekehrt  hatte,  ja,  daß  er  niemals  wieder  anders  als  zu  flüchtigem 
Aufenthalt  in  der  Heimat  weilen  würde.  Derselbe  Schwager,  der 
ihn  auf  seiner  ersten  Flucht  mit  philiströsen  Zuschriften  bedacht 
hatte,  sandte  ihm  auch  diesmal  statt  des  Geldes,  das  er  von  ihm 
verlangt  hatte,  unerbstene  Ratschläge  und  Vorwürfe.  Er  schrieb 
in  einem  unangenehmen  Gemisch  von  Hohn,  Mitleid  und  Bevor- 
mundung, aus  dem  der  Jubel  über  die  Niederlage  der  Revolution 
aufdringlich  genug  herausklang:  ,,Du  kommst  mir  vor,  wie  ein 
gehetzter  Hund,  der  keine  Stelle  zum  Ausruhen  finden  kann.  Daß 
die  jetzige  Revolution  D-ine  Ansichten  nicht  vertritt,  brauchst 
Du  mir  nicht  zu  sagen.  Du  betrachtest  sie  als  vorbereitend  und 
wirst  halb  und  halb  mit  hineingezogen,  indem  Du  sie  billigst  und 
zu    befördern   suchst.    Für   die    Verwirklichung    Deiner    Ansichten 


Wiederum  im  Exil. 


373 


ist  sie  selbst  von  unberechenbarem  Nachteil  gewesen,  da  sie  dem 
intelligenten  Teil  nur  zu  deutlich  gezeigt  hat,  wie  gewaltig  roh 
und  unreif  .  .  .  unser  gutes  Deutschland  noch  ist  und  welche 
russische  Greuel  eine  soziale  Umwälzung  in  ihrem  Gefolge  haben 
würde  .  .  .  Daß  Du  Dich  an  Deinen  Vater  nicht  wenden  kannst, 
ist  natürlich,  warum  aber  willst  Du  Dich  nicht  an  Deine  Mutter 
wenden?"  , .Hättest  Du  übrigens  Familie  und  Sorge  um  sie,  wie 
ich,"  fuhr  der  Bourgeois  in  seiner  Pauke  zufrieden  fort,  ,, brächtest 
Du  eine  Änderung  in  Dein  ruheloses  Leben  und  hättest  im  engen 
Kreise  der  Deinigen  mehr  von  diesem  kurzen  Leben,  als  Dir  je 
ein  gemütloser  Haufe  feiger  undankbarer  Schreihälse  bieten  kann." 
Der  stärkste  Trumpf  blieb  für  den  Schluß  aufgespart:  „Es  ist  als 
hättest  Du  noch  jetzt  die  undankbare  Idee,  Dich  der  unverbesser- 
lichen Menschheit  zum  Opfer  zu  bringen,  ein  sozialer  Christus 
zu  werden  und  allen  Egoismus  auf  Erreichung  dieses  Zieles  zu 
verwenden.  Jetzt  bist  Du  noch  unverschlissen  und  kannst,  ohne 
Dich  Demütigungen  auszusetzen,  dafür  sorgen,  daß  Du  später  nicht 
allein  stehst  wie  ein  verdrießlicher  Hypochonder."  Wahrscheinlich 
hat  Engels  diesen  Brief,  den  er  sich  aufgehoben  hat,  damals  säuber- 
lich zusammengefaltet  und  dazu  ein  Volkslied  gepfiffen.  Ihm 
erschien  es  nur  billig,  daß  bei  ,,den  Geburtswehen  der  neuen  ge- 
schichtlichen Epoche",  die  er  zu  Beginn  des  Jahres,  von  derselben 
Schweiz  aus,  in  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  angekündigt  hatte, 
auch  dem  einzelnen,  der  sich,  von  Lust  zum  Schaffen  erfüllt,  nicht 
feige  beiseite  drückte,  sein  Anteil  an  der  Qual  des  großen  Werde- 
prozesses zufiel.  Und  er  konnte  diesen  Anteil  um  so  leichteren  Her- 
zens tragen,  als  der  Glaube  unerschütterlich  in  ihm  wurzelte,  daß 
die  Zukunft  mit  ihm  im  Bunde  war. 


Kapitel  XIII. 

Reaktion  und  Prosperität. 

In  London  und  Manchester.  —   Die  Beiträge  zur  Revue 

der    Neuen    Rheinischen    Zeitung.    —    Das    Zirkular   des 

Kommunistenbundes.  —  Rückkehr  ins  Kontor. 

In  der  Schweiz  blieb  Engels  vom  Juli  bis  in  den  September 
1849.  Wir  finden  ihn  in  Vevey,  wohin  man  die  Willichsche  Truppe 
zuerst  geschickt  hatte,  in  Lausanne,  in  Genf  und  auch  in  Bern. 
In  Bern  begegnete  ihm  zum  letztenmal  sein  ehemaliger  Schüler 
Stephan  Born,  dem  er  an  diesem  Tage  aufgeregt  berichtete,  wie 
ihn  auf  einem  Ausflug  in  den  Jura  ein  Schweizer  Landjäger,  dem 
er  kein  Ausweispapier  vorweisen  wollte  oder  konnte,  verhaftet  und 
an  den  Händen  gefesselt  in  die  nächste  Stadt  gebracht  habe.  In 
Genf  kreuzte  seinen  Weg  zum  erstenmal  sein  künftiger  Jünger 
Wilhelm  Liebknecht.  Den  jüngeren  Freischärler  verwunderte  da- 
mals die  souveräne  Nichtachtung,  mit  der  der  ältere,  dessen  Wesen 
ihn  trotzdem  faszinierte,  über  den  Revolutionsfeldzug,  an  dem  sie 
beide  teilgenommen  hatten,  aburteilte.  Erst  von  Vevey  aus  war  es 
Engels  möglich  gewesen,  von  neuem  mit  Marx  in  Verbindung  zu 
treten,  der  sich  über  seinen  Verbleib  die  größten  Sorgen  gemacht 
hatte.  Ihm  schrieb  er,  es  sei  am  Ende  gut,  daß  einer  von  der  Neuen 
Rheinischen  Zeitung  an  dem  Feldzug  teilgenommen  habe,  „weil 
alles  demokratische  Lumpenpack  in  Baden  und  der  Pfalz  war  und 
nun  mit  nichtgetanen  Heldentaten  renommiert";  sonst  würde  es 
wieder  geheißen  haben,  daß  ihre  Partei  zu  feige  wäre,  sich  zu 
schlagen.  ,,Ohne  Deine  Teilnahme  an  dem  Kriege  selbst,"  erwiderte 
Marx,  der  der  gleichen  Meinung  war,  ,, hätten  wir  mit  unseren  An- 
sichten über  diesen  Ulk  nicht  hervortreten  können,"  und  er  er- 
munterte den  Freund,  eine  Geschichte  oder  ein  Pamphlet  über  die 
badisch-pfälzische  Revolution  zu  schreiben.  ,,Du  kannst  dabei 
die  Stellung  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  zur  demokratischen 
Partei  überhaupt  glänzend  herausbeißen."  Und  Engels  scheint 
wirklich  sofort  daran  gegangen  zu  sein,  sein  Erlebnis  aufs  Papier 


Die  Reichsverfassungskampagne.  oyc 

zu  bringen.  Ursprünglich  wollte  er  diese  Schilderung  der  deutschen 
Reichsverfasssungskarrpagne  in  der  Schweiz  als  Broschüre  ver- 
öffentlichen. Als  ihm  aber  Marx  Ende  August  mitteilte,  daß  er, 
von  der  französischen  Regierung  ausgewiesen,  einen  Paß  nach  der 
Schweiz  nicht  bekäme  und  nun  nach  London  gehe,  wo  er  positive 
Aussicht  habe,  ein  deutsches  Journal  zu  stiften,  da  ent.schied  er 
sich,  sein  Manuskript  für  dieses  aufzusparen. 

Keine  andere  Darstellung  der  badisch -pfälzischen  Revolution, 
die,  noch  unter  dem  frischen  Eindruck,  von  Teilnehmern  veröffent- 
licht wurde,  erreicht  an  Lebendigkeit  der  Schilderung,  an  Glanz 
des  Stils,  vor  allem  aber  an  Schärfe  der  Beobachtung  und  Höhe 
und  Weite  des  Blicks,  diese  Schrift,  die  als  ein  Meisterstück  deut- 
scher beschreibender  Prosa  anzusprechen  ist.  Als  Enge  Is  an  die  Nieder- 
schrift ging,  war  das  Material,  das  er  für  seinen  Zweck  hätte  be- 
nutzen können,  begreiflicherweise  noch  so  unvollständig  und  so 
verwirrt,  daß  er  es  vorzog,  sich  ausschließlich  auf  die  Erzählung  dessen 
zu  beschränken,  was  er  selbst  gesehen  und  gehört  hatte.  Auch 
schien  ihm  dies  völlig  hinzureichen,  um,  worauf  es  ihm  am  meisten 
ankam,  den  Charakter  der  ganzen  Kampagne  hervortreten  zu  lassen. 
Wie  die  Junitage  1848  für  den  gesellschaftlichen  und  politischen 
Entwicklungsgrad  Frankreichs,  so  bezeichnend  dünkte  ihn  die 
revolutionäre  Bewegung  zur  Verteidigung  der  Reichsverfassung  für 
den  gesellschaftlichen  und  politischen  Entwicklungsgrad  Deutsch- 
lands und  namentlich  seines  Südens  im  Frühling  1849.  Ihm  lag 
daran,  aU  die  Seele  dieser  Erhebung,  als  die  in  ihr  durchaus  vor- 
herrschende Klasse,  das  Kleinbürgertum  aufzuzeigen,  den  vorzugs- 
weise so  genannten  Bürgerstand.  Dieser  war  es,  der,  wie  er  bissig  be- 
merkte, in  zahllosen  Vereinen  und  Zeitungen  der  Reichsverfassung 
ebenso  mannhafte  wie  unschädliche  Rütlischwüre  geleistet  hatte 
und,  als  die  Bewegung  sich  zuspitzte,  ihr  durch  das  Rumpfparla- 
ment und  die  Reichsregentschaft  die  offizielle  Leitung  lieferte.  Den- 
noch würde  er,  hätte  es  von  ihm  abgehangen,  schwerlich  den 
Rechtsboden  des  gesetzlichen,  friedlichen  und  tugendhaften  Kampfes 
verlassen  und,  statt  der  sogenannten  Waffen  des  Geistes,  die  Mus- 
keten und  den  Pflasterstein  ergriffen  haben. 

Die  Geschichte  aller  politischen  Bewegungen  seit  1830  in 
Deutschland  wie  in  Frankreich  und  England  lehrte  Engels,  daß 
das  Kleinbürgertum  bloß  eine  sehr  geringe  revolutionäre  Ak- 
tionskraft besaß,  und  daß  diese  einen  bestimmteren,  energischeren 
Charakter  nur  erhielt,  wenn  andere  Klassen  die  in  seinem  Interesse 
hervorgerufene  Bewegung  aufnahmen  und  sich  ihrer  womöglich 
zu  bemächtigen  suchten.  War  das  städtische  Proletariat  oder  ein 
Teil  der  Bauern  dazu  geneigt,  so  schloß  sich  der  fortgeschrittenste 


276  Reaktion  und  Prosperität. 

Flügel  des  Kleinbürgertums  ihnen  wohl  für  eine  Zeitlang  an.  Auch 
diesmal  hätten  jene  Elemente,  das  Proletariat  der  größeren  Städte 
an  der  Spitze,  den  Schwur  der  kleinbürgerlichen  Agitatoren,  für 
die  Reichsverfassung  Gut  und  Blut  einzusetzen,  ernsthafter  ge- 
nommen, als  es  vielleicht  gemeint  gewesen  wäre  und  so  das  Klein- 
bürgertum bis  zum  offenen  Bruch  mit  der  bestehenden  Staatsgewalt 
getrieben.  Konnten  die  wahrhaft  revolutionären  Schichten  es  nicht 
verhindern,  daß  sie  von  ihren  krämerhaften  Bundesgenossen  noch 
während  des  Kampfes  verraten  wurden,  so  hatten  sie  wenigstens 
die  Genugtuung,  daß  dieser  Verrat  nach  dem  Siege  der  Gegenrevolu- 
tion von  den  Reaktionären  selbst  gezüchtigt  worden  ist.  Im  Beginn 
der  Bewegung  hätte  sich  freilich  auch  die  entschiedenere  Fraktion 
des  größeren  und  mittleren  Bürgertums  der  unzufriedenen  Klein- 
bürgerschaft angeschlossen,  weil  sie  nicht  dulden  wollte,  daß  die 
bewaffnete  Konterrevolution  die  fast  ausschließliche  Herrschaft  der 
Armee,  der  Bürokratie  und  des  Feudaladels  wiederherstellte.  Aber 
unendlich  zaghafter  als  die  englische  und  die  französische  trat  die 
deutsche  Bourgeoisie  schaudernd  vom  Kampfplatze  zurück,  sobald 
sich  ihr  nur  die  geringste  Aussicht  auf  eine  Rückkehr  der  An- 
archie, „das  heißt  des  wirklichen  entscheidenden  Kampfes"  zeigte. 
Wir  sahen,  wie  Engels  und  Marx  sich  in  Karlsruhe  vergebens 
bemüht  hatten,  die  revolutionären  Führer  zu  bestimmen,  die  In- 
surrektion zu  zentralisieren  und  dem  Aufstand  einen  energischeren 
Charakter  zu  geben.  Dazu  wäre,  wie  sie  dort  vergebens  dargelegt 
hatten,  nötig  gewesen,  durch  sofortige  Abschaffung  aller  Feudallasten 
die  große  ackerbautreibende  Mehrzahl  der  Bevölkerung  Südwest- 
deutschlands für  die  Insurrektion  zu  interessieren.  Sobald  dies  unter- 
blieb, hatte  nach  Engels  Ansicht  der  Aufstand  seinen  allgemein- 
deutschen Charakter  verloren,  er  war  ein  rein  badischer  oder  badisch- 
pfälzischer  Lokalaufstand  geworden.  Brentano  erscheint  ihm  als  der 
vollkommenste  Repräsentant  des  badischen  Kleinbürgertums,  er  habe 
die  Maßregeln  ergriffen,  die  diesem  die  Herrschaft  bewahrten,  aber 
eben  dadurch  die  ganze  Insurrektion  zugrunde  richteten.  Weil  es  in 
Süddeutschland  fast  gar  kein  Großbürgertum  und  daher  auch  nur 
ein  sehr  wenig  zahlreiches,  sehr  zersplittertes,  wenig  entwickeltes 
Proletariat  gab,  habe  in  Ermangelung  des  Gegensatzes  zwischen 
diesen  beiden  Klassen  eine  sozialistische  Agitation  hier  niemals 
recht  Platz  greifen  können.  Und  selbst  das  rote  Band  und  die  rote 
Fahne  bedeuteten  nichts  anderes  als  die  bürgerliche  Republik,  wenn 
es  hochkam,  mit  etwas  Terrorismus  versetzt.  Zumal  für  die  Klein- 
bürger und  Bauern  in  Baden  blieb  immer  die  kleine  bürgerlich- 
bäuerliche Republik,  wie  sie  in  der  Schweiz  seit  1830  bestand,  das 
höchste  Ideal:   „Ein  kleines  Tätigkeitsfeld  für    kleine  bescheidene 


Das  Scheitern  des  Aufstandes  und  seine  Gründe.  377 

Leute,  der  Staat  eine  etwas  vergrößerte  Gemeinde,  ein  ,, Kanton"; 
eine  kleine,  stabile,  auf  Handarbeit  gestützte  Industrie,  die  einen 
ebenso  stabilen  und  schläfrigen  Gesellschaftszustand  bedingt;  wenig 
Reichtum,  wenig  Armut,  lauter  Mittelstand  und  Mittelmäßigkeit, 
kein  Fürst,  keine  Zivilliste,  keine  stehende  Armee,  fast  keine  Steuern; 
keine  aktive  Beteiligung  an  der  Geschichte,  keine  auswärtige  Po- 
litik, lauter  inländischer  kleiner  Lokall. latsch  und  kleine  Zänkereien 
en  famille ;  keine  große  Industrie,  keine  Eisenbahn,  kein  Welt- 
handel, keine  sozialen  Kollisionen  zwischen  Millionären  und  Pro- 
letariern, sondern  ein  stilles,  gemütliches  Leben  in  aller  Gottselig- 
keit und  Ehrbarkeit,  in  der  kleinen  geschichtslosen  Bescheidenheit 
zufriedener  Seelen"  —  so  beschrieb  Engels  das  „sanfte  Arkadien", 
für  dessen  Einführung  der  badische  Kleinbürger  und  Bauer  seit 
Jahren  schwärmte  und  nach  dessen  Bilde  er  sich  die  Zukunft 
seines  engeren  und  weiteren  Vaterlandes  ausmalte.  Könnte  Deutsch- 
land sich  jemals  in  diese  ,, föderierte  Tabak-  und  Bierrepublik"  ver- 
wandeln, so  werde  es,  fügte  er  hinzu,  auf  eine  Stufe  der  Erniedri- 
gung gelangen,  von  der  es  selbst  in  seinen  schmachvollsten  Zeiten 
keine  Ahnung  gehabt  hätte.  Bei  dem  bloß  suspensiven  Veto  des 
Kaisers,  das  das  Werk  der  Paulskirche  vorsah,  hätten  diese  süd- 
deutschen Kleinbürger  hoffen  können,  die  Republik  zu  gelegener 
Zeit  auf  gesetzlichem  Wege  eingeführt  zu  sehen.  Sie  begeisterten 
sich  also  ursprünglich  für  die  Reichsverfassung,  weil  sie  fürchteten, 
daß  eine  Revolution,  und  trüge  sie  auch  ihre  eigene  bürgerlich- 
republikanische Fahne,  ihr  geliebtes  stilles  Arkadien  im  Strudel 
kolossaler  Konflikte  und  wirklicher  Klassenkämpfe  wegschwemmen 
könnte. 

Wie  in  Baden  hätte  auch  in  der  Pfalz  nach  Engels  Meinung 
die  Revolution  nur  Aussicht  auf  Erfolg  gehabt,  wenn  es  ihr  gelungen 
wäre,  die  Bewegung  nach  außen  zu  treiben.  Hier  bestand  von  vorn- 
herein nicht  eine  so  einheitliche  soziale  Gliederung  wie  am  rechten 
Rheinufer;  in  den  über  das  ganze  Ländchen  verteilten  Ackerbau- 
bezirken hatte  die  reaktionäre  Partei,  ebenso  wie  in  einzelnen  Städten, 
von  Anfang  an  in  Speyer,  später  in  Kaiserslautern,  Neustadt,  Zwei- 
brücken, starken  Anhang.  Eine  so  konfuse  Gestaltung  der  Parteien 
wäre  zu  beseitigen  gewesen  durch  einen  direkten  Angriff  auf  das 
in  den  Hypotheken  und  im  Hypothekenwucher  angelegte  Privat- 
eigentum zugunsten  der  verschuldeten  Bauern.  Mit  einer  so  radikalen 
Maßregel  hätte  man  sofort  die  ganze  Landbevölkerung  am  Aufstand 
interessiert.  Weil  sie  aber  ein  viel  größeres  Terrain  und  viel  ent- 
wickeltere gesellschaftliche  Zustände  in  den  Städten  voraussetzte, 
wäre  sie  nur  möglich  gewesen  bei  einer  Ausdehnung  der  Erhebung 
nach  der   Mosel  und   Eiffel,    wo  die   gleichen  Zustände   auf  dem 


378  Reaktion  und  Prosperität. 

Lande  existierten  und  in  der  industriellen  Entwicklung  der  rheini- 
schen Städte  ihre  Ergänzung  fanden. 

Über  das  Scheitern  der  badisch -pfälzischen  Bewegung,  das  er 
klar  vorausgesehen  hatte,  war  Engels  nicht  untröstlich.  Der  Miß- 
erfolg des  13.  Juni  in  Paris  und  Görgeys  Weigerung,  auf  Wien  zu 
marschieren,  würden,  meinte  er,  die  Aussichten  auf  Erfolg  selbst 
dann  vernichtet  haben,  wenn  es  gelungen  wäre,  die  Bewegung  nach 
Hessen,  Württemberg  und  Franken  zu  verpflanzen.  Man  wäre 
ehrenvoller  gefallen,  aber  gefallen  wäre  man.  So  ging  die  Reichs- 
verfassungskampagne an  ihrer  eigenen  Halbheit  und  inneren 
Misere  zugrunde.  Seit  den  Junitagen  laute  die  Frage  für  den  zivili- 
sierten Teil  des  europäischen  Kontinents  nur  noch:  Herrschaft  des 
revolutionären  Proletariats  oder  Herrschaft  der  Klassen,  die  vor 
dem  Februar  herrschten.  Ein  Mittelding  sei  nicht  mehr  möglich. 
Namentlich  in  Deutschland  habe  die  Bourgeoisie  ihre  Unfähigkeit, 
zu  regieren,  erwiesen,  seitdem  sie  ihre  Herrschaft  dem  Volk  gegen- 
über nur  dadurch  erhalten  konnte,  daß  sie  sie  wieder  an  den  Adel 
und  die  Bürokratie  abtrat.  Mit  der  Reichs  Verfassung  versuchte  das 
Kleinbürgertum,  verbündet  mit  der  deutschen  Ideologie,  eine 
unmögliche  Ausgleichung,  die  den  Entscheidungskampf  aufschieben 
sollte.  Der  Versuch  mußte  scheitern;  denn  denjenigen,  denen  es 
ernst  war  mit  der  Bewegung,  war  es  nicht  ernst  mit  der  Reichs- 
verfassung, und  denen  es  ernst  mit  der  Reichsverfassung  war,  war 
es  nicht  ernst  mit  der  Bewegung.  Trotzdem  habe  die  Kampagne, 
obgleich  sie  von  vornherein  politisch  und  militärisch  verfehlt  war, 
bedeutende  Resultate  gehabt.  Vor  allem  habe  sie  die  Situation  ver- 
einfacht: nachdem  sie  verloren  sei,  könne  nur  die  etwas  konsti- 
tutionalisierte  feudal-bürokratische  Monarchie  siegen  oder  die  wirk- 
liche Revolution.  Die  Revolution  aber  könne  in  Deutschland  nicht 
mehr  abgeschlossen  werden,  ehe  die  vollständige  Herrschaft  des 
Proletariats  errungen  wäre.  Sodann  habe  die  Erhebung  in  jenen 
deutschen  Ländern,  wo  wie  in  Baden  die  Klassengegensätze  noch 
nicht  in  scharfer  Form  vorhanden  waren,  ihre  Entwicklung 
beschleunigen  helfen.  Die  Arbeiter  und  Bauern,  die  ihre  ge- 
fallenen und  gemordeten  Brüder  zu  rächen  hätten,  würden  dafür 
sorgen,  daß  bei  der  nächsten  Insurrektion  sie  und  nicht  die  Klein- 
bürger das  Heft  in  die  Hand  bekämen.  Und  wenn  auch  keine 
aufständische  Erfahrung  die  Klassenentwicklung  ersetzen  könne, 
die  nur  durch  einen  langjährigen  Betrieb  der  großen  Industrie  er- 
reicht werde,  so  sei  doch  Baden  durch  den  Aufstand  und  dessen 
Folgen  in  die  Reihe  der  deutschen  Provinzen  getreten,  die  bei  der 
,, bevorstehenden  Revolution"  eine  der  wichtigsten  Stellen  ein- 
nehmen würden.  Zum  Schluß  seiner  Betrachtungen  gedenkt  Engels 


Wiedervereinigung  mit  Marx.  270 

des  tragischen  Endes,  das  infolge  des  Blutdursts  der  Konter- 
revolution jene  Komödie  genommen  habe.  Das  deutsche  Volk, 
versichert  er,  werde  die  Fusilladen  und  die  Kasematten  von  Rastatt 
nicht  vergessen ;  es  werde  die  großen  Herren  nicht  vergessen,  die 
diese  Infamien  befohlen  hätten,  aber  auch  nicht  die  Verräter,  die 
sie  durch  ihre  Feigheit  verschuldeten,  die  Brentanos  von  Karlsruhe 
und  von  Frankfurt. 

Von  Paris  aus  hatte  Marx  am  17.  August  dem  Freunde  eine 
Beurteilung  der  Aussichten  der  revolutionären  Bestrebungen  in 
Frankreich  und  sogar  in  England  zukommen  lassen,  die  sich  später 
als  eitel  Schaum  erwies,  die  aber  in  dem  Zeitpunkt,  als  er  sie  emp- 
fing, für  Engels  einen  rechten  Herzenstrost  bedeutet  haben  wird. 
Trotz  seines  Optimismus,  der  ihn  auch  jetzt  nicht  verließ,  konnten 
seine  revolutionären  Hoffnungen  eine  Stärkung  vertragen  in  diesen 
Augusttagen,  als  er  nach  der  rheinischen,  sächsischen  und  süddeut- 
schen Erhebung  nun  auch  die  um  so  viel  gewaltigere  ungarische, 
auf  die  gerade  er  die  überschwänglichsten  Hoffnungen  gesetzt  hatte, 
zusammenbrechen  sah.  Heute  fragen  wir  uns,  wie  Marx  sich  so  in 
Illusionen  verstricken  konnte,  daß  er  selbst  noch  nach  der  Kapitu- 
lation von  Villagos  mit  der  Möglichkeit  rechnete,  „das  elende 
Preußen"  werde  sich  in  Ungarn  einmischen  und  darüber  ein  Welt- 
krieg sich  entzünden.  Weil  er  nun  aber  gleichzeitig  von  dem  ältesten 
Herd  der  kontinentalen  Revolution  meldete,  der  Bonapartismus 
habe  sich  für  immer  kompromittiert,  der  Windzug  in  der  öffentlichen 
Meinung  Frankreichs  sei  schon  wieder  antireaktionär  und  lasse 
in  Kürze  auf  eine  neue  revolutionäre  Erhebung  hoffen,  weil  er 
berichtete,  daß  in  England  Freihändler  und  Chartisten  sich  zu- 
sammenschlössen, um  der  auswärtigen  Politik  eine  Spitze  gegen 
die  reaktionären  Kontinentalmächte  zu  geben,  so  gab  auch  Engels 
sich  gern  der  Hoffnung  hin,  daß  die  europäische  Revolution,  an 
deren  nahes  Verlöschen  er  keinen  Augenblick  glaubte,  von  den 
Industriearbeitern  des  fortgeschrittenen  Westens  wieder  aufgenom- 
men und  durchgekämpft  werden  würde.  Dachte  er  einmal  so,  dann 
kostete  es  ihn  kein  Opfer,  dem  Wunsch  des  Freundes  zu  willfahren, 
als  dieser,  aus  Frankreich  von  der  Regierung  Bonapartes,  den  er 
so  tief  verachtete,  verdrängt,  ihm  gleich  darauf  seine  Über- 
siedlung nach  England  mitteilte  und  ihn  dringend  aufforderte, 
daß  auch  er  sofort  nach  London  käme.  In  der  Schweiz  sei  seines 
Bleibens  ohnehin  nicht,  denn  was  wollte  er  hier  unternehmen  ? 
Wenn  er  aber  nach  Deutschland  zurückkehrte,  würden  die  Preußen 
ihn  doppelt  erschießen,  erstens  wegen  Badens,  zweitens  wegen  Elber- 
felds.  Marx  hatte  angenommen,  Engels  würde  sich  von  der  fran- 
zösischen Gesandtschaft  in  Bern  einen  Zwangspaß  nach   London 


380  Reaktion  und  Prosperität. 

besorgen.  Dieser  aber  hielt  es  für  sicherer,  gewiß  auch  für  ange- 
nehmer, den  Seeweg  zu  wählen.  Er  hat  sich  in  Genua  auf  einen 
Segler  eingeschifft  und  ist  fünf  Wochen  auf  dem  Wasser  gewesen. 
Diese  ,, große  Weltumseglung"  nutzte  der  immer  Lernbegierige  aus, 
um  sich  einige  nautische  Kenntnisse  anzueignen.  Marx  Schwie- 
gersohn Paul  Lafargue  hat  später  bei  ihm  das  Tagebuch  gesehen, 
in  das  er  damals  die  Veränderungen  im  Stand  der  Sonne,  die  Wind- 
richtungen, die  Beschaffenheit  des  Meeres  u.  a.  aufgezeichnet  hat. 

Mit  Marx  wieder  vereinigt,  widmete  sich  Engels  an  dessen 
Seite  vom  Herbst  1849  bis  zum  Herbst  1850  in  London  hauptsächlich 
der  doppelten  Aufgabe,  die  Monatsschrift  Neue  Rheinische  Zei- 
tung, politisch -ökonomische  Revue,  für  die  jener  in  Hamburg 
einen  Kommissionsverlag  aufgetrieben  hatte,  in  Gang  zu  bringen 
und  am  Leben  zu  erhalten  und  die  durch  die  Revolution  ver- 
sprengten Kräfte  ihrer  Partei  im  Kommunistenbund  neu  zu  organi- 
sieren. Die  Redakteure  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung,  die  sich 
in  London  wieder  zusammenfanden,  mußten  bereits  froh  sein,  daß 
sie  wenigstens  mit  einer  Monatsschrift  an  die  Öffentlichkeit  treten 
konnten.  Dennoch  drückte  gleich  der  Prospekt,  der  zum  Aktien- 
zeichnen einlud,  die  Hoffnung  aus,  dies  Blatt,  das  ihre  Standarte  war, 
möge  bald  als  Wochenschrift  und,  sobald  die  Verhältnisse  eine  Rück- 
kehr nach  Deutschland  gestatteten,  von  neuem  als  Tageszeitung 
wieder  erscheinen  können.  Man  weiß,  daß  es  dazu  nicht  kam. 
Selbst  als  Monatsschrift  hat  dies  letzte  selbständige  publizistische 
Unternehmen  von  Marx  und  Engels  das  Jahr  1850  nicht  zu  über- 
leben vermocht.  Immer  mehr  verebbte  ja  die  revolutionäre  Flut, 
die  Bestellungen  kamen  spärlich,  durch  eine  Kritik  Kinkels,  der 
von  den  weitesten  demokratischen  Kreisen  als  Märtyrer  verehrt 
wurde,  verscheuchten  sie  zahlreiche  Abonnenten;  im  November 
1850  ist  das  letzte  Doppelheft  erschienen.  Von  den  beiden  umfang- 
reicheren Arbeiten,  die  Engels  neben  einer  kürzeren  und  unwich- 
tigeren über  den  englischen  Zehnstundentag  zu  der  Revue  selb- 
ständig beisteuerte,  erschien  die  deutsche  Reichs  Verfassungskam- 
pagne gleichzeitig  mit  Marx  Klassenkämpfen  in  Frankreich  in 
den  drei  ersten  Heften,  der  deutsche  Bauernkrieg  füllte  dann  den 
größeren  Teil  des  fünften  und  sechsten,  des  letzten  Heftes. 

Noch  immer  betrachtete  Engels  alles,  was  „zwischen  Paris 
und  Debreczin,  Berlin  und  Palermo"  in  den  Jahren  1848  und  1849 
sich  ereignet  hatte,  nur  als  die  ersten  Tiralleurgefechte  eines  ver- 
wickelten, weiter  Zeiträume  zu  seiner  Entscheidung  bedürfenden 
sozialen  Endkampfes,  von  dem  jene  Kapazitäten  der  deutschen 
Vulgärdemokratie  nichts  ahnten,  die  er  im  letzten  Sommer  in  der 
Schweiz  so  ausgiebig  hatte  beobachten  können,  wie  sie  in  kindischer 


Die  Revue  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung.  381 

Selbsttäuschung  bei  manchem  Schoppen  Wein  fort  und  fort  darauf 
spekulierten,  daß  ein  neuer  Kampf  oder  besser  noch  die  allgemeine 
Ermüdung  der  Reichsverfassung,  diesem  ,, vollendeten  Ausdruck 
der  Ermattung  und  Entscheidungslosigkeit",  zum  Triumph  ver- 
helfen würde.  Unwiderstehlich  war  bei  ihm  jetzt  das  Verlangen, 
mit  allen  jenen  halben  und  ganzen  Revolutionären  grundsätzlich 
und  entscheidend  abzurechnen,  mit  denen  er,  so  lange  er  selbst  in 
Deutschland  in  der  Schlachtlinie  gestanden  hatte,  zeitweise  hatte 
zusammengehen  müssen.  Gegenüber  diesen  Geistern,  die  lediglich 
nach  ihren  Wünschen  und  ihrem  subjektiven  Standpunkt  an  den 
vergangenen  wie  an  den  kommenden  Ereignissen  herumrieten, 
durften  er  und  Marx  die  theoretische  Überlegenheit,  die  ihre  Ge- 
schichtsauffassung ihnen  verlieh,  unmöglich  preisgeben.  Längst 
glaubten  sie,  wie  wir  wissen,  hinter  das  Geheimnis  des  historischen 
Umwälzungsprozesses  gekommen  und  dadurch  befähigt  und  be- 
rufen zu  sein,  den  Geschehnissen  bereits  während  ihres  Ablaufs 
auf  den  Grund  zu  blicken  oder  wenigstens  doch  die  Richtung,  die 
diese  notwendig  nehmen  mußten,  mit  Sicherheit  zu  erkennen.  Als 
die  Freunde,  aus  dem  Strudel  der  Revolution  emporgetaucht,  nach 
all  dem  Neuen,  das  sie  in  ihr  erlebt  und  erfahren,  jetzt  daran  gingen, 
die  Selbstverständigung,  die  sie  nun  einmal  nicht  entbehren 
konnten,  von  frischem  und  gründlicher,  als  es  ihnen  zuletzt  möglich 
gewesen  war,  aufzunehmen,  da  wurde  ihnen  völlig  offenkundig,  daß 
das  Schicksal  der  politischen  Wendungen  auch  während  des  stür- 
mischen Gewoges  der  Revolutionszeit  von  der  ökonomischen  Sphäre 
her  bestimmt  worden  war.  Sie  gaben  sich  bald  darüber  Rechen- 
schaft, daß  die  Handelskrisis  von  1847  die  eigentliche  Mutter  der 
Februar-  und  Märzrevolution  gewesen  wäre,  und  daß  es  ausschließ- 
lich von  der  Gestaltung  des  Weltmarktes  abhinge,  ob  in  einer 
nahen  oder  ferneren  Stunde  der  Wiederausbruch  des  großen  Kraters 
erfolgen  würde. 

Wie  Marx  die  Klassenkämpfe  in  Frankreich  von  1848  bis 
1850,  so  hatte  Engels  die  Reichsverfassungskampagne  benutzt, 
um  sich  die  Bedingtheit  der  politischen  Begebenheiten,  an  denen 
er  miterlebend  teilgenommen  hatte,  durch  in  letzter  Instanz  ökono- 
mische Ursachen  so  klar  als  möglich  zu  machen.  Aber  auch 
in  die  Geschichte  des  deutschen  Bauernkrieges  vertiefte  Engels 
sich  hauptsächlich,  um  seine  Augen  zu  schärfen,  damit  er  durch 
die  Hülle  der  politischen  Erscheinungsformen  des  geschichtlichen 
Lebens  in  dessen  Herzkammer  dränge,  wo  die  ökonomischen  Kräfte 
pulsierten.  Daneben  sollte  die  großartigste  revolutionäre  Bewegung 
der  deutschen  Vergangenheit  ihm  natürlich  auch  helfen,  über  die 
revolutionäre  Bewegung  der  deutschen  Gegenwart  neues  Licht  zu 


382  Reaktion  und  Prosperität. 

verbreiten.  Ihm  und  den  Landsleuten,  die  ähnlich  wie  er  empfan- 
den, sollte  es  über  die  Unzulänglichkeit  und  Armseligkeit  der  Re- 
volution, die  sie  eben  erlebten,  hinweghelfen,  wenn  er  die  Blicke 
auf  eine  Zeit  richtete,  wo  auch  Deutschland  Charaktere  hervor- 
brachte, die  sich  den  besten  Leuten  der  Revolutionen  anderer  Länder 
an  die  Seite  stellen  konnten,  und  wo  deutsche  Bauern  und  Plebejer 
mit  Ideen  und  Plänen  schwanger  gingen,  vor  denen  ihre  Nach- 
kommen oft  genug  zurückgeschaudert  waren.  Bei  der  momentanen 
Erschlaffung,  die  er  nach  zwei  Jahren  des  Kampfes  überall  wahr- 
nahm, wollte  Engels  die  kräftigen  und  zähen  Gestalten  des  großen 
Bauernkriegs  seinen  Volksgenossen  in  die  Erinnerung  rufen  und 
an  den  zahlreichen  Übereinstimmungen  zwischen  der  vergangenen 
und  der,  wie  er  hoffte,  noch  längst  nicht  abgeschlossenen  Revolution 
ihnen  den  Blick  klären,  die  Gewissen  schärfen,  die  Tatkraft  anspor- 
nen. „Die  Klassen  und  Klassenfraktionen,  die  1848  und  49  überall 
verraten  haben,  werden  wir  schon  1525,  wenn  auch  auf  einer 
niedrigeren  Entwicklungsstufe,  als  Verräter  vorfinden."  Dies  ist 
vielleicht  die  Hauptthese  seiner  Abhandlung,  die  nicht  den  Anspruch 
erhob,  selbständig  erforschtes  Material  zu  liefern,  sondern  den  Stoff, 
namentlich  über  die  Bauernauf sfände  selbst  und  über  Thomas 
Münzer,  aus  Zimmermanns  1843  abgeschlossenem  Geschichtswerk 
entlieh. 

Indem  er  eine  Parallele  zwischen  der  Schichtung  der  deutschen 
Gesellschaft  im  Zeitalter  der  sozialen  Revolution  des  15.  und  der 
des  19.  Jahrhunderts  zieht,  stellt  Engels  für  damals  eine  noch 
größere  Zerklüftung  fest  als  für  seine  Gegenwart.  Fürsten,  Adel, 
Prälaten,  Patrizier,  Bürger,  Plebejer  und  Bauern  bildeten  eine  höchst 
verworrene  Masse  mit  den  verschiedenartigsten,  sich  nach  allen 
Richtungen  durchkreuzenden  Bedürfnissen.  Jeder  Stand  war  den 
anderen  im  Wege  und  lag  mit  den  anderen  in  einem  fortgesetzten, 
bald  offenen,  bald  versteckten  Kampf.  So  wenig  wie  1848  war 
1525  eine  Klasse  der  Gesellschaft  weit  genug  entwickelt,  um  von 
sich  aus  die  gesamten  deutschen  Zustände  neu  zu  gestalten.  Da- 
mals wie  in  der  jüngsten  Vergangenheit  kollidierten  die  Interessen 
der  oppositionellen  Klassen.  Die  deutsche  Bourgeoisie  von  1848, 
zu  weit  entwickelt,  um  sich  den  feudal-bürokratischen  Absolutis- 
mus länger  gefallen  zu  lassen,  war  doch  noch  nicht  mächtig  genug, 
die  Ansprüche  anderer  Klassen  den  ihrigen  sofort  unterzuordnen. 
Dagegen  war  das  Proletariat,  wenn  auch  zu  schwach,  um  auf  ein 
rasches  Überhüpfen  der  Bourgeoisperiode  und  auf  seine  eigene  bal- 
dige Eroberung  der  Herrschaft  rechnen  zu  können,  doch  schon  viel 
zu  entwickelt,  um  auch  nur  für  einen  Moment  in  der  Emanzipation 
der   Bourgeoisie  seine  eigene  Emanzipation  zu  sehen.    Die  Masse 


Der  Deutsche  Bauernkrieg.  383 

der  Nation,  Kleinbürger,  Handwerker,  Bauern,  wurde  von  ihrem 
zunächst  noch  natürlichen  Bundesgenossen,  der  Bourgeoisie,  als 
schon  zu  revolutionär,  und  stellenweise  vom  Proletariat,  als  noch 
nicht  fortgeschritten  genug,  im  Stich  gelassen;  unter  sich  wieder 
geteilt,  kam  auch  sie  zu  nichts  und  opponierte  rechts  und  links 
ihren  Mitopponenten.  Während  in  England  und  Frankreich  die 
großen  Revolutionen  einen  zentralisierten  Staat  vorgefunden  hat- 
ten, war  dies  in  Deutschland  nicht  der  Fall  gewesen.  Als  begeisterter 
Unitarier  war  Engels,  wie  wir  wissen,  der  geschworene  Gegner 
jeder  Art  des  Partikularismus,  den  er  mit  Vorliebe  als  Lokalborniert- 
heit bezeichnete.  Weil  die  Gespaltenheit  des  Landes  mit  der  der 
Klassen  wetteiferte,  sie  sogar  vielleicht  noch  übertraf,  hatten  die 
beiden  Revolutionen  Deutschlands,  die  er  vergleicht,  sich  nicht  in 
einer  großen,  kraftvollen  Bewegung  zusammengefunden.  ,,Die 
hundert  Lokairevolutionen,  die  daran  sich  anknüpfenden  hundert 
ebenso  ungehindert  durchgeführten  Lokalreaktionen,  die  Aufrecht- 
erhaltung der  Kleinstaaterei  sind  Beweise,  die  wahrlich  laut  genug 
sprechen.  Wer  nach  den  beiden  deutschen  Revolutionen  von  1525 
und  1848  und  ihren  Resultaten  noch  von  Föderativrepublik  faseln 
kann,  verdient  nirgends  anders  hin  als  ins  Narrenhaus."  Über  die 
Gründe  die  eine  Zentralisation  der  absoluten  Monarchie  wie  in 
Frankreich  und  die  Verwandlung  der  feudalständischen  Monarchie 
in  eine  bürgerlich-konstitutionelle  wie  in  England  in  Deutschland 
verhindert  hatten,  war  Engels  sich  dabei  durchaus  im  klaren. 

Die  Abhängigkeit  der  religiösen  und  politischen  Ideen  von  der 
ökonomischen  Gestaltung  wird  von  ihm  überall  stark  herausgear- 
beitet, und  die  ideologische  Auffassung  der  Reformationsgeschichte 
findet  in  ihm  einen  ihrer  frühesten  und  scharfsinnigsten  Gegner. 
,, Diese  Ideologen."  meint  er,  ,,sind  leichtgläubig  genug,  alle  Illu- 
sionen für  bare  Münze  zu  nehmen;  d'e  sich  eine  Epoche  über  sich 
selbst  macht,  oder  die  die  Ideologen  einer  Zeit  sich  über  diese  Zeit 
machen."  Auch  die  sogenannten  Religionskriege  des  16.  Jahr- 
hunderts drehten  sich  vor  allem  um  sehr  positive  materielle  Klassen- 
interessen, sie  waren  Klassenkämpfe  ebensogut  wie  die  späteren 
inneren  Kollisionen  in  England  und  Frankreich.  Wenn  diese 
Klassenkämpfe  damals  religiöse  Erkennungszeichen  trugen,  wenn 
die  Interessen,  Bedürfnisse  und  Forderungen  der  einzelnen  Klassen 
sich  unter  einer  religiösen  Decke  verbargen,  so  erklärte  sich  dies 
aus  den  Zeitverhältnissen.  Gerade  die  Ausbreitung  revolutionärer 
religiös-politischer  Ideen  erfüllte,  wie  Engels  hervorhebt,  die  wich- 
tige Funktion,  daß  sie  zum  erstenmal,  freilich  nur  sehr  mühsam  und 
annähernd,  die  Nation  unter  großen  Parteigesichtspunkten  grup- 
pierte.   In  Luther  und  Thomas  Münzer  verkörpern  sich  für  ihn  die 


284  Reaktion  und  Prosperität. 

bürgerliche  und  die  proletarische  Opposition  gegen  die  „mittel- 
alterliche Barbarei"  und  die  jener  entsprechenden  sozialen  Zustände. 
Luther,  behauptet  er,  habe  in  den  Jahren  1517  bis  1525  ganz  die- 
selben Wandlungen  durchgemacht,  die  jede  bürgerhche  Partei 
durchmache,  die,  einen  Moment  an  die  Spitze  der  Bewegung  ge- 
stellt, in  dieser  Bewegung  selbst  von  der  hinter  ihr  stehenden  ple- 
bejischen oder  proletarischen  Partei  überflügelt  werde.  Im  ersten 
Moment  seines  Auftretens  mußten  alle  oppositionellen  Elemente 
vereinigt,  mußte  die  entschiedenste  revolutionäre  Energie  ange- 
wandt, mußte  die  Gesamtmasse  der  bisherigen  Ketzerei  gegenüber 
der  katholischen  Rechtgläubigkeit  vertreten  werden.  ,, Gerade  so 
waren  unsere  liberalen  Bourgeois  noch  1847  revolutionär,  nannten 
sich  Sozialisten  und  Kommunisten  und  schwärmten  für  die  Emanzi- 
pation der  Arbeiterklasse."  Als  aber  der  Blitz,  den  Luther  ge- 
schleudert hatte,  einschlug  und  nun  das  ganze  Volk,  besonders  das 
niedere,  in  Bewegung  geriet,  da  ließ  der  Schützling  des  Kurfürsten 
von  Sachsen,  der  angesehene,  über  Nacht  mächtig  und  berühmt 
gewordene  und  von  Schmeichlern  umgebene  Professor  die  popu- 
lären Elemente  der  Bewegung  fallen  und  schloß  sich  der  bürger- 
lichen, adligen  und  fürstlichen  Suite  an.  Die  Aufrufe  zum  Ver- 
tilgungskrieg gegen  Rom  verstummten,  er  predigte  die  friedliche 
Entwicklung  und  den  passiven  Widerstand.  Die  Augsburgische 
Konfession  war  die  schließlich  erhandelte  Verfassung  der  refor- 
mierten Bürgerkirche.  Es  war  ganz  derselbe  Schacher,  der  sich 
neuerdings  in  deutschen  Nationalversammlungen,  Vereinbarungs- 
versammlungen Revisionskammern  und  Erfurter  Parlamenten  in 
politischer  Form  bis  zum  Ekel  wiederholt  hat.  Der  spießbürgerliche 
Charakter  der  offiziellen  Reformation  trat  damit  offen  hervor.  Das 
Volk  aber,  meint  Engels,  wußte  sehr  gut,  was  es  tat,  wenn  es  be- 
hauptete, Luther  sei  Fürstendiener  geworden. 

Nun  hatte  jedoch  dieser  in  der  Bibel  dem  feudalisierten  Chri- 
stentum der  Zeit  das  bescheidene  Christentum  der  ersten  Jahr- 
hunderte, der  zerfallenden  feudalen  Gesellschaft  das  Bild  einer 
Gesellschaft  entgegengehalten,  die  nichts  von  der  weitschichtigen 
kunstmäßigen  Feudalhierarchie  wußte.  Und  die  Bauern  hatten 
dies  Werkzeug  gegen  Fürsten,  Adel,  Pfaffen  nach  allen  Seiten  hin 
benutzt.  Wenn  der  Wittenberger  Reformator,  durch  die  Sturmflut 
der  bäuerlich-plebejischen  Revolution  erschreckt,  die  Bibel  jetzt 
in  reaktionärem  Geist  auslegte  und  das  Fürstentum  von  Gottes 
Gnaden,  den  passiven  Gehorsam,  selbst  die  Leibeigenschaft  mit  ihr 
sanktionieren  wollte,  so  verriet  er  damit  nicht  nur  die  proletarische 
Bewegung,  sondern  auch  die  bürgerliche  an  die  Fürsten.  Für 
Luthers  Antipoden  Thomas  Münzer  empfand  Engels  weit  stärkere 


Luther  und  Münzer. 


385 


Sympathien.  Wir  erinnern  uns,  daß  er  schon  1843  in  The  New 
Moral  World  sein  Lob  verkündet  hatte.  Hier  sucht  er  sich  jetzt 
diese  historische  Persönlichkeit  dadurch  verständlich  zu  machen, 
daß  er,  ohne  es  ausdrücklich  zu  vermerken,  ihre  Bestrebungen  mit 
denen  in  Parallele  setzt,  die  er  und  Marx  in  ihrer  Zeit  verfolgten. 
,, Unter  dem  Reich  Gottes  verstand  Münzer,**  sagt  er,  ,, nichts  an- 
deres, als  einen  Gesellschaftszustand,  in  dem  keine  Klassenunter- 
schiede, kein  Privateigentum  und  keine  den  Gesellschaftsmitgliedern 
gegenüber  selbständige,  fremde  Staatsgewalt  mehr  bestehe.  Sämt- 
liche bestehenden  Gewalten,  wofern  sie  nicht  sich  fügen  und  der 
Revolution  anschließen  wollten,  sollten  gestürzt,  alle  Arbeiten  und 
alle  Güter  gemeinsam,  und  die  vollständigste  Gleichheit  durch- 
geführt werden.**  Nicht  bloß,  dort,  wo  er  lebte,  den  Kommunismus 
zu  verwirklichen,  sondern  auch  einen  internationalen  Bund  wie  den 
Kommunistenbund  zu  schaffen,  hätte  Münzer  bereits  vorgeschwebt: 
,,Ein  Bund  sollte  gestiftet  werden,  um  dies  durchzusetzen,  nicht  nur 
über  ganz  Deutschland,  sondern  über  die  ganze  Christenheit; 
Fürsten  und  Herren  sollten  eingeladen  werden,  sich  anzuschließen; 
wo  nicht,  sollte  der  Bund  sie  bei  der  ersten  Gelegenheit  mit  den 
Waffen  in  der  Hand  stürzen  oder  töten."  Aber  die  Klasse,  die 
Münzer  repräsentierte,  war  damals  erst  eben  im  Entstehen  be- 
griffen und  zur  Unterjochung  und  Umbildung  der  ganzen  Gesell- 
schaft noch  längst  nicht  fähig.  Der  gesellschaftliche  Umschwung, 
der  seiner  Phantasie  vorschwebte,  war  noch  so  wenig  in  den  ma- 
teriellen Verhältnissen  begründet,  daß  diese  sogar  erst  die  Gesell- 
schaftsordnung vorbereiteten,  die  das  gerade  Gegenteil  seiner  ge- 
träumten Gesellschaftsordnung  war.  Der  Gesellschaftsumsturz,  der 
den  protestantischen  bürgerlichen  Zeitgenossen  so  entsetzlich  vor- 
kam, ging  in  der  Tat  nie  hinaus  über  einen  schwachen  und  un- 
bewußten Versuch  zur  übereilten  Herstellung  der  späteren  bürger- 
lichen Gesellschaft.  Die  Vorwegnahme  des  Kommunismus  durch 
die  Phantasie  wurde  in  der  Wirklichkeit  eine  Vorwegnahme  der 
modernen  bürgerlichen  Verhältnisse.  Dennoch  sieht  Engels  in 
dieser  Vorwegnahme  eine  wichtige  Tat.  Die  Plebejer,  meint  er, 
waren  damals  die  einzige  Klasse,  die  ganz  außerhalb  der  offiziell 
bestehenden  Gesellschaft  stand.  Sie  hatte  weder  Privilegien  noch 
Eigentum;  sie  hatte  nicht  einmal,  wie  die  Bauern  und  Kleinbürger, 
einen  mit  drückenden  Lasten  beschwerten  Besitz.  Sie  war  in  jeder 
Beziehung  besitzlos  und  rechtlos  und  so  zugleich  das  lebendige 
Symptom  der  Auflösung  der  feudalen  und  zunftbürgerlichen  wie 
der  erste  Vorläufer  der  modernen  bürgerlichen  Gesellschaft.  Aus 
dieser  Stellung  erklärt  er  sich,  warum  die  plebejische  Fraktion  schon 
damals  nicht  bei  der  bloßen  Bekämpfung  des  Feudalismus  und  der 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  2^ 


386  Reaktion  und  Prosperität. 

privilegierten  Pfahlbürgerei  stehen  bleiben  konnte,  warum  sie,  we- 
nigstens in  der  Phantasie,  sogar  über  die  kaum  empordämmernde 
modern  bürgerliche  Gesellschaft  hinausgreifen  und  Institutionen, 
Anschauungen  und  Vorstellungen  in  Frage  stellen  mußte,  welche 
allen  auf  Klassengegensätzen  beruhenden  Gesellschaftsformen  ge- 
meinsam sind.  Engels  läßt  durchblicken,  daß  ebenso  wie  das  Kom- 
munistische Manifest  über  die  Ansprüche  und  Anschauungen  des 
Durchschnitts  der  deutschen  Straubinger  hinausgegangen  war,  auch 
Münzer  über  die  unmittelbaren  Vorstellungen  und  Ansprüche  der 
Plebejer  und  Bauern  seiner  Zeit  hinausging  und  ,,sich  aus  der 
Elite  der  vorgefundenen  revolutionären  Elemente  erst*eine  Partei 
bildete,  die,  soweit  sie  auf  der  Höhe  seiner  Ideen  stand  und  seine 
Energie  teilte,  immer  nur  eine  kleine  Minorität  der  insurgierten 
Masse  blieb". 

Daraus,  daß  er  mit  seinen  Ideen  so  weit  über  seine  Zeit  hinaus- 
griff, erklärt  Engels  sich  den  tragischen  Ausgang  Münzers.  Es  sei 
das  Schlimmste,  schreibt  er,  was  dem  Führer  einer  extremen  Partei 
widerfahren  kann,  wenn  er  gezwungen  wird,  in  einer  Epoche  die 
Regierung  zu  übernehmen,  wo  die  Bewegung  noch  nicht  reif  ist  für 
die  Herrschaft  der  Klasse,  die  er  vertritt,  und  für  die  Durchführung 
der  Maßregeln,  die  die  Herrschaft  dieser  Klasse  erfordert.  „Was  er 
tun  kann,  hängt  nicht  von  seinem  Willen  ab,  sondern  von  der 
Höhe,  auf  die  der  Gegensatz  der  verschiedenen  Klassen  getrieben 
ist,  und  von  dem  Entwicklungsgrad  der  materiellen  Existenzbedin- 
gungen, der  Produktions-  und  Verkehrs  Verhältnisse,  auf  denen  der 
jedesmalige  Entwicklungsgrad  der  Klassengegensätze  beruht.  Was 
er  tun  soll,  was  seine  eigene  Partei  von  ihm  verlangt,  hängt  wieder 
nicht  von  ihm  ab,  aber  auch  nicht  von  dem  Entwicklungsgrad  des 
Klassenkampfs  und  seiner  Bedingungen;  er  ist  gebunden  an  seine 
bisherigen  Doktrinen  und  Forderungen,  die  wieder  nicht  aus  dem 
momentanen,  mehr  oder  weniger  zufälligen  Stande  der  Produktions- 
und Verkehrsverhältnisse  hervorgehen,  sondern  aus  seiner  größeren 
oder  geringeren  Einsicht  in  die  allgemeinen  Resultate  der  gesell- 
schaftlichen und  politischen  Bewegung.  Er  findet  sich  so  notwen- 
digerweise in  einem  unlösbaren  Dilemma:  Was  er  tun  kann, 
widerspricht  seinem  ganzen  bisherigen  Auftreten,  seinen  Prinzipien 
und  den  unmittelbaren  Interessen  seiner  Partei;  und  was  er  tun 
soll,  ist  nicht  durchzuführen.  Er  ist  mit  einem  Wort  gezwungen, 
nicht  seine  Partei,  seine  Klasse,  sondern  die  Klasse  zu  vertreten, 
für  deren  Herrschaft  die  Bewegung  gerade  reif  ist."  Dieses  poli- 
tische Glaubensbekenntnis,  das  von  Münzers  Schicksal  ausgehend 
so  stark  auf  die  eigene  Zeit  zielte,  hat  Engels  später  auch  in  seinem 
Verhalten  zu  dem  Auftreten  Lasalles  und  Schweitzers  maßgebend 


Neuorganisation  des  Kommunistenbundes.  387 

geleitet.     „Wer   in  diese  schiefe   Stellung  gerät,"    urteilt  er   kate- 
gorisch, ,,ist  unrettbar  verloren." 

Am  Ende  ist  Engels  aber  doch  weit  entfernt,  der  Bewegung, 
die  er  eben  erlebte,  den  gleichen  tragischen  Ausgang  anzukündigen, 
den  der  Bauernkrieg,  der  an  dem  klaffenden  Gegensatz  zwischen 
bürgerlicher  und  bäurisch-plebejischer  Opposition  scheiterte,  ge- 
nommen hatte.  Die  Revolution  von  1525,  so  schließt  seine  histo- 
rische Parallele,  war  eine  deutsche  Lokalangelegenheit,  die  Re- 
volution von  1848  ist  ein  einzelnes  Stück  aus  einem  großen  euro- 
päischen Ereignis.  Ihre  treibenden  Ursachen  während  ihres  ganzen 
Verlaufs  sind  nicht  auf  den  engen  Raum  eines  einzelnen  Landes 
zusammengedrängt  und  die  Länder,  die  ihr  Schauplatz  waren, 
gerade  am  wenigsten  bei  ihrer  Erzeugung  beteiligt.  „Sie  sind  mehr 
oder  weniger  bewußt-  und  willenlose  Rohstoffe,  die  umgemodelt 
werden  im  Verlauf  einer  Bewegung,  an  der  jetzt  die  ganze  Welt 
teilnimmt,  einer  Bewegung,  die  uns  unter  den  bestehenden  gesell- 
schaftlichen Verhältnissen  allerdings  nur  als  eine  fremde  Macht 
erscheinen  kann,  obwohl  sie  schließlich  nur  unsere  eigene  Bewe- 
gung ist."    — 

Eine  Neuorganisation  des  Kommunistenbundes  war  schon  des- 
halb nötig  geworden,  weil  das  Wiedererstarken  der  reaktionären  Ge- 
walten diesen  von  neuem  zwang,  seine  Tätigkeit  in  eine  unterirdische 
zu  verwandeln.  Da  in  der  Revolution  auch  die  Kommunisten  öffent- 
lich für  ihre  Ziele  eintreten  konnten,  hatten  die  einzelnen  Kreise 
und  Gemeinden  ihre  Verbindungen  mit  der  Zentralbehörde  er- 
schlaffen und  allmählich  einschlafen  lassen.  Während  die  klein- 
bürgerliche Demokratie  sich  in  Deutschland  immer  vollkommener 
organisierte,  büßte  die  Arbeiterpartei  ihren  kaum  gefundenen  Zu- 
sammenhalt zuletzt  beinahe  völlig  ein..  Die  Mitglieder  der  Zentral- 
behörde, die  sich  gegen  Ende  des  Jahres  1849  fast  alle  in  London 
wieder  zusammengefunden  hatten,  rechneten  damals  noch  ohne 
jede  Ausnahme  mit  dem  nahen  Wiederausbruch  der  Revolution 
und  hielten  es  deshalb  für  ungeheuer  wichtig,  daß  dieser  eine  Ar- 
beiterpartei vorfände,  die  selbständig  auftreten  konnte  und  sich 
nicht  mehr  vom  Bürgertum  ins  Schlepptau  nehmen  lassen  mußte. 
Die  Aufgabe,  nach  Deutschland  zu  gehen  und  die  Arbeiter-,  Bauern-, 
Tagelöhner-  und  Turnvereine,  die  es  dort  noch  gab,  aufzusuchen, 
um  in  ihrer  Mitte  Gemeinden  des  Bundes  teils  wieder  ins  Leben 
zu  rufen  teils  neu  zu  schaffen,  übernahm  der  geweckte  Agitator 
Heinrich  Bauer.  Das  Programm  aber,  das  er  seiner  Wirksamkeit 
zugrunde  legen  und  überall  verbreiten  sollte,  hatten  Engels  und 
Marx  im  März  1850  gemeinsam  entworfen.  Sie  erinnerten  hier  die 
deutschen  Proletarier  daran,  daß  die  deutsche  Bourgeoisie,  kaum 

25* 


388  Reaktion  und  Prosperität. 

in  den  Besitz  der  Staatsgewalt  gelangt,  ihre  Macht  dazu  benutzt 
habe,  die  Arbeiter,  ihre  Bundesgenossen  im  Kampfe,  sogleich  in  die 
frühere  unterdrückte  Stellung  zurückzuweisen,  daß  sie  sich  zu 
diesem  Zweck  mit  der  durch  die  Märzbewegung  beseitigten  feudalen 
Partei  verbündete  und  ihr  schließlich  die  Herrschaft  wieder  ab- 
treten mußte.  Freilich  habe  sie  sich  bei  diesem  Verzicht  Bedingungen 
gesichert,  die  ihr  durch  die  Finanzverlegenheiten  der  Regierung  mit 
der  Zeit  die  Herrschaft  dennoch  in  die  Hände  spielen  würden,  sofern 
es  gelänge,  die  revolutionäre  Bewegung  schon  jetzt  in  eine  so- 
genannte friedliche  Entwicklung  einmünden  zu  lassen.  Doch  diesen 
friedlichen  Gang  werde  die  Entwicklung  nicht  nehmen.  Die 
neue  Revolution  stehe  nahe  bevor.  Die  verräterische  Rolle,  die 
1848  das  liberale  Großbürgertum  gegenüber  dem  Volke  gespielt 
habe,  werde  in  der  kommenden  Revolution  den  demokratischen 
Kleinbürgern  zufallen,  die  jetzt  in  der  Opposition  dieselbe  Stellung 
einnähmen  wie  die  liberalen  Großbürger  vor  1848.  Ihre  Partei,  die 
demokratische,  sei  jedoch  den  Arbeitern  weit  gefährlicher,  als  die 
frühere  liberale.  Nicht  nur  die  große  Mehrheit  der  bürgerlichen 
Einwohner  der  Städte,  die  kleinen  industriellen  Kaufleute  und  die 
Handwerksmeister  zählten  zu  ihrem  Gefolge,  sondern  auch  die  Bauern 
und  sogar  das  Landproletariat,  so  lange  es  noch  nicht  in  dem  selb- 
ständigen Proletariat  der  Städte  eine  Stütze  gefunden  habe.  Weit 
entfernt,  im  Interesse  der  besitzlosen  Klassen  die  ganze  Gesellschaft 
umwälzen  zu  wollen,  erstrebten  die  demokratischen  Kleinbürger 
eine  Änderung  der  Zustände  lediglich,  um  die  bestehende  Gesell- 
schaft für  sich  selbst  möglichst  erträglich  und  bequem  zu  machen. 
Dazu  bedürften  sie  einer  demokratischen,  sei  es  konstitutionellen 
oder  republikanischen,  Staatsverfassung,  die  ihnen  und  ihren  Bun- 
desgenossen, den  Bauern,  die  Mehrheit  gibt,  und  einer  demokrati- 
schen Gemeinde  Verfassung,  die  die  direkte  Kontrolle  über  das  Ge- 
meindeeigentum und  eine  Reihe  anderer  Funktionen  in  ihre  Hand 
legt.  Die  Arbeiter  aber  mögen  Lohnarbeiter  bleiben  wie  bisher,  nur 
eine  gesichertere  Existenz  und  bessere  Löhne  sind  für  sie  vorgesehen, 
durch  mehr  oder  minder  versteckte  Almosen  sollen  sie  bestochen 
und  ihre  revolutionäre  Kraft  soll  dadurch  gebrochen  werden,  daß 
ihre  momentane  Lage  ihnen  erträglicher  gemacht  wird.  Doch  ein 
solches  Programm  könne  der  Partei  des  Proletariats  keineswegs  ge- 
nügen. Während  die  demokratischen  Kleinbürger  die  Revolution 
möglichst  rasch  zum  Abschluß  bringen  wollten,  sei  es  ihr  Interesse 
und  ihre  Aufgabe,  die  Revolution  in  einen  Dauerzustand  zu  ver- 
wandeln, bis  alle  mehr  oder  weniger  besitzenden  Klassen  von  der 
Herrschaft  verdrängt,  die  Staatsgewalt  von  den  Arbeitern  erobert 
und  die   Vereinigung  der   Proletarier  nicht  bloß  in  einem   Lande, 


Das  neue  Aktionsprogramm.  ^89 

sondern  in  den  herrschenden  Ländern  der  ganzen  Welt  so  weit 
fortgeschritten  wäre,  daß  wenigstens  die  entscheidenden  produk- 
tiven Kräfte  in  den  Händen  der  Proletarier  konzentriert  seien. 
Mit  einer  bloßen  Veränderung  des  Privateigentums  dürften  sie  sich 
nicht  begnügen,  sondern  nur  mit  seiner  Vernichtung;  nicht  auf  die 
Vertuschung  der  Klassengegensätze  käme  es  ihnen  an,  sondern 
auf  deren  Beseitigung,  nicht  auf  die  Verbesserung  der  bestehenden 
Gesellschaft,  sondern  auf  die  Gründung  einer  neuen. 

Weil  die  kleinbürgerliche  Demokratie  in  der  nächsten  Phase 
der  Revolution  für  einen  Augenblick  zweifellos  den  überwie- 
genden Einfluß  in  Deutschland  erhalten  werde,  habe  das  Pro- 
letariat und  insbesondere  der  Kommunistenbund  sich  eine  drei- 
fache Frage  vorzulegen.  Wie  soll  er  sich  ihr  gegenüber  verhalten, 
solange  auch  die  kleinbürgerliche  Demokratie  noch  unterdrückt  sei, 
wie  in  dem  bevorstehenden  Revolutionskampf,  der  ihr  das  Über- 
gewicht bringen  werde,  wie  endlich  nach  diesem  Kampf,  wenn  sie 
ebenso  über  die  gestürzten  Klassen  wie  über  das  Proletariat  das 
Übergewicht  haben  werde  ?  Im  gegenwärtigen  Augenblick  selbst 
noch  unterdrückt,  böten  die  demokratischen  Kleinbürger  dem 
Proletariat  die  Hand  zur  Herstellung  einer  großen  Oppositions- 
partei, sie  möchten  die  Arbeiter  in  eine  Parteiorganisation  ver- 
wickeln, in  der  sich  hinter  ihren  besonderen  Interessen  allgemeine 
sozialdemokratische  Phrasen  versteckten,  und  wo  von  den  be- 
stimmten Forderungen  der  Arbeiter  um  des  lieben  Friedens  willen 
nicht  die  Rede  sein  dürfe.  Ließe  das  Proletariat  sich  darauf  ein,  so 
würde  es  seine  ganze  selbständige,  mühsam  erkaufte  Stellung  ver- 
lieren und  wieder  zum  Anhängsel  der  bürgerlichen  Demokratie 
herabsinken.  Statt  den  bürgerlichen  Demokraten  als  beifallklat- 
schender Chor  zu  dienen,  sollten  die  Arbeiter,  voran  der  Kom- 
munistenbund, dahin  streben,  neben  den  offiziellen  Demokraten 
eine  selbständige  geheime  und  öffentliche  Organisation  der  Ar- 
beiterpartei herzustellen  und  jede  Gem.einde  zum  Mittelpunkt  und 
Kern  von  Arbeitervereinen  zu  machen,  in  denen  die  Stellung  und 
die  Interessen  des  Proletariats  unabhängig  von  bürgerlichen  Ein- 
flüssen diskutiert  würden.  Für  den  Fall  eines  Kampfes  gegen  den 
gemeinsamen  Gegner  bedürfe  es  keiner  besonderen  Vereinigung. 
Dann  fielen  die  Interessen  beider  Parteien  für  den  Moment  zusam- 
men, und  wie  früher  würde  sich  auch  in  Zukunft  eine  solche  nur  für 
den  Augenblick  berechnete  Verbindung  von  selbst  herstellen.  Wie 
bisher  würde  sich  freilich  auch  bei  diesem  Kampf  die  Masse  der 
Kleinbürger  solange  wie  möglich  untätig  verhalten,  und  danach, 
sobald  der  Sieg  entschieden  sei,  ihn  für  sich  in  Beschlag  nehmen, 
die  Arbeiter  zur  Ruhe  und  Heimkehr   an   ihre  Arbeit  auffordern, 


290  Reaktion  und  Prosperität. 

sogenannte  Exzesse  verhüten  und  das  Proletariat  von  den  Früchten 
des  Sieges  ausschließen.  Es  liege  nicht  in  der  Macht  der  Arbeiter, 
den  kleinbürgerlichen  Demokraten  dies  zu  verwehren,  aber  es  liege 
in  ihrer  Macht,  ihnen  das  Aufkommen  gegenüber  dem  bewaffneten 
Proletariat  zu  erschweren  und  ihnen  solche  Bedingungen  zu  dik- 
tieren, daß  die  Herrschaft  der  bürgerlichen  Demokraten  von  vorn- 
herein den  Keim  des  Untergangs  in  sich  trägt.  Vor  allen  Dingen 
müßten  die  Arbeiter  unmittelbar  nach  dem  Kampf  soviel  nur 
irgend  möglich  der  bürgerlichen  Abwieglung  entgegenwirken  und 
darauf  dringen,  daß  die  unmittelbare  revolutionäre  Aufregung  nicht 
sogleich  nach  dem  Siege  wieder  unterdrückt  werde.  Sie  müßten 
dahin  wirken,  daß  neben  den  Forderungen  der  bürgerlichen  Demo- 
kraten ihre  eigenen  Forderungen  bei  jeder  Gelegenheit  aufgestellt 
werden.  Sie  müßten  Garantien  für  die  Arbeiter  verlangen,  sobald 
die  demokratischen  Bürger  sich  anschickten,  die  Regierung  in  die 
Hand  zu  nehmen.  Sie  müßten  sich  diese  Garantien  nötigenfalls 
erzwingen  und  dafür  sorgen,  daß  die  neue  Regierung  sich  durch 
alle  möglichen  Konzessionen  und  Versprechungen  kompromittiere. 
Sie  müßten  überhaupt  den  Siegesrausch  und  die  Begeisterung  für 
den  neuen  Zustand  in  jeder  Weise  durch  eine  ruhige  und  kaltblütige 
Auffassung  und  durch  unverhohlenes  Mißtrauen  gegen  die  neuen 
Machthaber  so  sehr  wie  möglich  zurückhalten.  Sie  müßten  neben 
den  neuen  offiziellen  Regierungen  zugleich  eigene  revolutionäre 
Arbeiterregierungen,  sei  es  in  der  Form  von  Gemeinde  vorständen, 
Gemeinderäten,  sei  es  durch  Arbeiterklubs  oder  Arbeiterkomitees, 
errichten,  so  daß  die  bürgerlich-demokratische  Regierung  sogleich 
den  Rückhalt  an  den  Arbeitern  verliere  und  sich  von  vornherein  von 
Behörden  überwacht  und  bedroht  sieht,  hinter  denen  die  ganze 
Masse  der  Arbeiter  steht. 

Um  der  siegreichen  Demokratie,  deren  Verrat  am  Proletariat 
mit  der  ersten  Stunde  des  Sieges  beginnen  werde,  energisch  und 
drohend  entgegentreten  zu  können,  müßten  die  Arbeiter  bewaffnet 
und  organisiert  sein.  Die  Bewaffnung  des  ganzen  Proletariats  müßte 
sofort  durchgesetzt,  der  Wiederbelebung  der  alten,  gegen  die  Ar- 
beiter gerichteten  Bürgerwehr  entgegengetreten  werden.  Wo  dies 
letztere  nicht  durchzusetzen  sei,  müßten  die  Arbeiter  versuchen,  sich 
selbständig  als  proletarische  Garde  mit  selbstgewählten  Chefs  und 
eigenem  selbstgewähltem  Generalstabe  zu  organisieren  und  unter 
den  Befehl  nicht  der  Staatsgewalt,  sondern  der  von  den  Arbeitern 
durchgesetzten  revolutionären  Gemeinderäte  treten.  Sobald  danach  die 
neue  demokratische  Regierung  sich  einigermaßen  befestigt  habe, 
werde  ihr  Kampf  gegen  die  Arbeiter  sofort  beginnen.  Um  ihr  mit 
Macht  entgegentreten  zu  können,  müßten  die   Arbeiter   in   Klubs 


Kleinbürgertum  und  Proletariat.  39 1 

selbständig  organisiert  und  zentralisiert  sein.  Die  Zentralbehörde 
des  Kommunistenbunds  beabsichtigte,  sich  nach  dem  Sturz  der 
Reaktion  sofort  nach  Deutschland  zu  begeben,  einen  Kongreß  ein- 
zuberufen und  diesem  die  nötigen  Vorlagen  wegen  der  Zentralisation 
der  Arbeiterklubs  unter  einer  am  Hauptsitze  der  Bewegung  nieder- 
gesetzten Direktion  zu  machen.  Wie  aber  solle  sich  die  Arbeiter- 
partei bei  den  Wahlen  zu  der  Nationalvertretung  verhalten,  die 
sofort  nach  dem  Sieg  der  demokratischen  Revolution  erfolgen  wür- 
den? Hauptsächlich  müßte  sie  dafür  sorgen,  daß  neben  den  bür- 
gerlich-demokratischen Kandidaten  überall  Arbeiterkandidaten,  am 
besten  Bundesmitglieder  aufgestellt  und  gewählt  würden.  Selbst 
dort,  wo  noch  keine  Aussicht  auf  Erfolg  bestünde,  sollte  sie  eigene 
Kandidaten  aufstellen,  um  ihre  Selbständigkeit  zu  bewahren,  ihre 
Kräfte  zu  zählen,  ihren  revolutionären  Standpunkt  vor  die  Öffent- 
lichkeit zu  bringen. 

Der  erste  Punkt,  bei  dem  die  Arbeiterpartei  mit  der  bürgerlichen 
Demokratie  in  Streit  geraten  werde,  dürfte  die  Aufhebung  des  Feu- 
dalismus sein.  Dann  die  Kleinbürger  würden  das  Land  der  Feu- 
dalen den  Bauern  als  freies  Eigentum  geben,  das  heißt  das  Land- 
proletariat bestehen  lassen  und  eine  kleinbürgerliche  Bauernklasse 
bilden  wollen.  Die  Arbeiterpartei  dagegen  müsse  verlangen,  daß 
das  konfiszierte  Feudaleigentum  Staatsgut  bleibe  und  vom  länd- 
lichen Proletariat  auf  genossenschaftliche  Weise  unter  Wahrung 
aller  Vorteile  des  großen  Ackerbaues  bewirtschaftet  werde.  Sodann 
würden  die  Demokraten  entweder  direkt  auf  die  Föderativrepublik 
hinarbeiten  oder  wenigstens,  wenn  sich  eine  unitarische  Gestaltung 
nicht  vermeiden  ließe,  die  Zentralregierung  durch  möglichste  Selb- 
ständigkeit und  Unabhängigkeit  der  Gemeinden  und  Provinzen  zu 
lähmen  suchen.  Die  Arbeiter  aber  müßten  nicht  nur  die  eine  und 
unteilbare  deutsche  Republik,  sondern  auch  in  ihr  die  entschiedenste 
Zentralisation  der  Gewalt  in  den  Händen  der  Staatsmacht  fordern 
und  sich  durch  das  demokratische  Gerede  von  Freiheit  der  Gemein- 
den und  Selbstregierung  nicht  irre  machen  lassen.  Sie  dürften  nicht 
dulden,  daß  ein  Zustand  fortdauere,  unter  dem  die  Deutschen  sich 
um  ein  und  denselben  Fortschritt  in  jeder  Stadt,  in  jeder  Provinz, 
besonders  schlagen  müßten.  Die  Aufgabe  einer  wirklich  revolu- 
tionären Partei  sei  die  Durchführung  der  strengsten  Zentralisation. 

Wären  die  Demokraten  ans  Ruder  gekommen,  so  würden  sie 
sich  genötigt  sehen,  mehr  oder  minder  sozialistische  Maßregeln 
vorzuschlagen.  Welche  Forderungen  müßten  die  Arbeiter  ihnen 
entgegenstellen,  solange  sie,  im  Anfang  der  Bewegung,  noch  keine 
direkt  kommunistischen  Verfügungen  verlangen  könnten  ?  Sie 
müßten  die  Demokraten  dazu  zwingen,  nach  möglichst  vielen  Seiten 


392  Reaktion  und  Prosperität. 

hin  in  die  bisherige  Gesellschaftsordnung  einzugreifen,  ihren  regel- 
mäßigen Gang  zu  stören  und  sich  selbst  zu  kompromittieren  sowie 
möglichst  viele  Produktivkräfte,  Transportmittel,  Fabriken  Eisen- 
bahnen in  den  Händen  des  Staats  zu  konzentrieren  suchen.  Sie 
müßten  die  Reformvorschläge  der  Demokraten  auf  die  Spitze 
treiben  und  sie  so  in  direkte  Angriffe  auf  das  Privateigentum  ver- 
wandeln. Wenn  die  Kleinbürger  vorschlügen,  die  Eisenbahnen  und 
die  Fabriken  anzukaufen,  müßten  sie  fordern,  daß  diese  Eisen- 
bahnen und  Fabriken  als  Eigentum  von  Reaktionären  vom  Staat 
ohne  Entschädigung  konfisziert  würden.  Sie  müßten  alle  Steuer- 
forderungen  der  Demokraten  in  antikapitalistischer  und  konfiska- 
torischer  Richtung  überbieten,  und  wenn  jene  die  Regulierung  der 
Staatsschulden  verlangten,  auf  dem  Staatsbankrott  bestehen.  Wenn 
die  deutschen  Arbeiter  auch  zur  Herrschaft  und  Durchführung  ihrer 
Klasseninteressen  nicht  kommen  könnten,  ohne  eine  längere  revo- 
lutionäre Entwicklung  durchzumachen,  so  hätten  sie  diesmal  doch 
die  Gewißheit,  daß  der  erste  Akt  der  neuen  Revolution  mit  dem 
direkten  Siege  des  französischen  Proletariats  beginnen  und  daß 
dieser  Sieg  den  ihrigen  beschleunigen  werde.  Das  meiste  müßten 
sie  freilich  selbst  tun,  indem  sie  sich  über  ihre  Klasseninteressen 
aufklärten,  sich  durch  die  heuchlerischen  Phrasen  des  Kleinbürger- 
tums an  der  unabhängigen  Organisation  der  Partei  des  Proletariats 
nicht  irre  machen  ließen  und  den  Schlachtruf  erhöben:  Die  Revo- 
lution in  Permanenz! 

So  sehr  die  nächste  Entwicklung  der  Dinge  in  Deutschland  die 
Verfasser  dieses  ersten  ausführlichen  Programms  für  eine  Aktion 
der  noch  kaum  vorhandenen  deutschen  Arbeiterpartei  enttäuschen 
mußte,  so  wenig  war  doch  dieses  Programm  in  den  Wind  hinaus- 
gesprochen. Denn  die  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie 
lehrt  uns,  daß  es  bis  in  die  unmittelbarste  Gegenwart  hinein  seine 
Aktualität  nicht  verloren  hat. 

Als  sie  dieses  Aktionsprogramm  nach  Deutschland  schickten, 
erwarteten  Engels  und  Marx  den  Wiederausbruch  der  Revolution, 
an  deren  Erlöschen  sie  noch  nicht  glauben  wollten,  nach  wie  vor 
von  einer  Erhebung  des  Pariser  Proletariats  im  Gefolge  eines  euro- 
päischen Krieges.  Im  Februar  1850  waren  sie  fest  überzeugt,  daß 
im  Lauf  des  Jahres  die,  wie  sie  annahmen,  aufs  neue  zusamm.en- 
geschlossene  heilige  Allianz  die  Stabilisierung  der  alten  Gewalten 
mit  Waffengewalt  durchführen  würde.  Eine  politische  Übersicht 
am  Schluß  des  zweiten  Hefts  ihrer  Revue,  die  wohl  vorwiegend  auf 
Engels  zurückgeht,  hebt  nachdrücklich  hervor,  wie  sehr  die  beiden 
Revolutions jähre  Rußland  in  die  europäische  Politik  verwickelt 
hätten  und  daß  dieses  hierdurch  genötigt  v/ürde,  seine  alten  Pläne 


Das  kalifornische  Gold. 


393 


auf  Konstantinopel,  wenn  sie  nicht  für  immer  unausführbar  werden 
sollten,  schleunigst  durchzuführen.  Die  Verfaulung  des  österreichi- 
schen Staatskörpers  vollziehe  sich  mit  zunehmender  Schnelligkeit. 
Vergebens  versuche  die  Regierung,  durch  krampfhafte  Zentralisation 
sie  aufzuhalten.  ,,Nur  Ein  Verzweiflungscoup  bleibt  noch  übrig 
und  bietet  eine  geringe  Chance  der  Rettung  —  ein  Krieg  nach 
außen;  dieser  Krieg  nach  außen,  zu  dem  Österreich  unaufhaltsam 
getrieben  wird,  muß  seine  vollständige  Auflösung  rasch  zu  Ende 
führen."  Im  Laufe  dieses  kommenden  Krieges  werde  Rußland  in 
Deutschland  Fuß  fassen,  die  Konterrevolution  energisch  zu  Ende 
führen  und  mit  Preußen  im  Bunde  von  hier  aus  den  neuen  Kreuzzug 
gegen  das  moderne  Babel  antreten.  England  werde  durch  die  Um- 
stände gezwungen  werden,  sich  Rußland  entgegenzustellen.  Ob 
dem  Angriff  auf  Frankreich  Diversionen  gegen  die  Schweiz  oder 
die  Türkei  vorausgehen  würden,  hänge  von  der  Entwicklung  der 
Dinge  in  Paris  ab.  Die  dort  herrschende  Bourgeoisie  habe  es  auf 
die  Beseitigung  des  allgemeinen  Stimmrechts  abgesehen,  aber  der 
Konflikt,  den  sie  damit  heraufbeschwöre,  würde  den  Sieg  der  Re- 
volution beschleunigen.  Den  schwächlichen  Kleinstaaten  will  En- 
gels nach  wie  vor  nicht  v/ohl.  Der  Schweizer  Bundesrat,  der  die 
deutschen  politischen  Flüchtlinge  aus  Liebedienerei  gegen  die 
reaktionären  Regierungen  zu  einem  großen  Teil  seines  Gebiets  ver- 
wiesen hatte,  liefert  ihm  ,,das  frappanteste  und  hoffentlich  das 
letzte  Beispiel  davon,  was  die  angebliche  Unabhängigkeit  und 
Selbständigkeit  kleiner  Staaten  mitten  zwischen  den  modernen 
großen  zu  bedeuten  hat". 

Während  der  Kontinent  mit  Revolution  und  Konterrevolution 
beschäftigt  sei,  mache  England  in  einem  ganz  andern  Artikel: 
in  Prosperität.  Noch  aber  glauben  Engels  und  Marx  nicht  an 
deren  Dauer:  für  das  Ende  des  Frühlings,  spätestens  für  den 
August,  sagen  sie  die  Krisis  voraus,  welche  die  moderne  eng- 
lische Revolution,  die  ihnen  noch  immer  unausbleiblich  erscheint, 
einläuten  würde.  Doch  alle  diese  europäischen  Konstellationen 
treten  für  die  Verfasser  in  den  Schatten  hinter  einem  Ereignis,  das 
ihnen  wichtiger  als  die  Februarrevolution,  folgenreicher  als  die  Ent- 
deckung Amerikas  erscheint:  hinter  der  Entdeckung  der  kalifornischen 
Goldminen,  die  siebzehn  Monate  zuvor  erfolgt  war.  Die  bornierte 
Eifersucht  der  handeltreibenden  Völker  habe  bisher  alle  Vorschläge 
zu  einer  Durchstechung  des  Isthmus  von  Panama  zum  Scheitern 
gebracht.  Nun  aber  sei  die  rührende  Langmut  endgültig  vorüber, 
mit  der  man  dreihundertdreißig  Jahre  lang  den  Handel  nach  dem 
Stillen  Ozean  um  das  Kap  Hörn  geleitet  habe.  Das  kalifornische 
Gold  ergieße  sich  in  Strömen  über  Amerika  und  die  asiatische  Küste 


394  Reaktion  und  Prosperität. 

des  Stillen  Ozeans  und  reiße  die  widerspenstigsten  Barbarenvölker 
in  den  Welthandel,  in  die  Zivilisation.  Was  im  Altertum  Thyros, 
Karthago  und  Alexandria,  im  Mittelalter  Genua  und  Venedig 
waren,  was  bisher  London  und  Liverpool  gewesen  sind,  die  Em- 
porien  des  Welthandels,  das  werden  jetzt  New  York  und  San  Fran- 
zisko,  San  Juan  de  Nicaragua  und  Leon  und  Chagres  und  Panama. 
,,Der  Schwerpunkt  des  Weltverkehrs,  im  Mittelalter  Italien,  in  der 
neueren  Zeit  England,  ist  jetzt  die  südliche  Hälfte  der  nordameri- 
kanischen Halbinsel.  Die  Industrie  und  der  Handel  des  alten  Eu- 
ropas müssen  sich  gewaltig  anstrengen,  wenn  sie  nicht  in  denselben 
Verfall  geraten  wollen,  wie  die  Industrie  und  der  Handel  Italiens  seit 
dem  i6.  Jahrhundert,  wenn  nicht  England  und  Frankreich  dasselbe 
werden  soll,  was  Venedig,  Genua  und  Holland  heute  sind."  Die 
einzige  Aussicht,  daß  die  europäischen  zivilisierten  Länder,  wenn 
der  Atlantische  Ozean  zu  der  Rolle  eines  Binnensees  wie  das  Mittel- 
mcer  herabsinke,  nicht  in  dieselbe  industrielle,  kommerzielle  und 
politische  Abhängigkeit  fallen,  in  der  Italien,  Spanien  und  Portugal 
sich  schon  befänden,  liege  in  einer  gesellschaftlichen  Revolution. 
Sie  müßten,  solange  es  noch  Zeit  sei,  die  Produktions-  und  Verkehrs- 
weise nach  den  aus  den  modernen  Produktivkräften  hervorgehenden 
Bedürfnissen  der  Produktion  selbst  umwälzen  und  dadurch  die  Er- 
zeugung neuer  Produktivkräfte  möglich  machen,  welche  die  Über- 
legenheit der  europäischen  Industrie  sichern  und  so  die  Nachteile 
der  geographischen  Lage  ausgleichen  könnten. 

Wiederum  erwiesen  sich  auf  solche  Weise  Engels  und  Marx  auf 
eine  nahe  Sicht  als  minder  gute  Propheten  als  auf  eine  ferne.  Die 
Beseitigung  des  allgemeinen  Stimmrechts,  die  am  31.  Mai  Gesetz 
wurde,  führte  in  Frankreich  zu  keinem  revolutionären  Ausbruch. 
Das  durch  die  Junischlacht  gelichtete  Pariser  Proletariat  ließ  diese 
Entrechtung  ebenso  ohnmächtig  über  sich  ergehen,  wie  gleich 
darauf  die  Schmälerung  der  Preßfreiheit.  In  England,  und  darüber 
hinaus  in  der  ganzen  Welt,  kam  der  wirtschaftliche  Aufschwung 
keineswegs  zu  schnellem  Stillstand,  und  auch  die  kriegerische 
Aktion  der  Mächte  der  heiligen  Allianz  gegen  den  Westen  setzte 
sich  nicht  in  Bewegung.  Im  Sommer  1850  war  es  soweit,  daß  die 
revolutionäre  Partei  in  allen  Ländern  Europas  vom  Schauplatz  ver- 
drängt war  und  die  Sieger  sich  ohne  Rücksicht  auf  sie  um  die  Früchte 
ihres  Triumphes  streiten  konnten.  In  Deutschland  zumal  ließ  sich 
nicht  mehr  bezweifeln,  daß  die  feudalen  Gewalten  geräuschvoll  und 
schamlos  ihre  Auferstehung  feierten  und  daß,  wie  Lassalle  es  im 
folgenden  Jahre  in  einem  Brief  an  Marx  ausdrückte,  das  Kapital 
sich  darein  fügte,  ,,als  hergelaufener  Roturier  wieder  auf  den  Kut- 
schenschlag des  großen  Grundbesitzes  hinten  aufzusteigen**.    Damit 


Neue  Enttäuschungen.  oqc 

war  endlich  für  Engels  die  Stunde  der  Besinnung  auf  den  objektiven 
Stand  der  Dinge  gekommen.  Gegen  die  Verschwörer  ron  Profession, 
gegen  die  ,,dissoluten  Gewohnheiten"  einer  im  Ausland  herum- 
bummelnden Emigration,  eines  Instituts,  ,, worin  jeder  notwendig 
ein  Narr,  ein  Esel  und  ein  gemeiner  Schurke  wird,  der  sich  nicht 
ganz  von  ihr  zurückzieht",  gegen  die  Romantiker  der  Revolution, 
die,  ohne  tieferen  Einblick  in  das  Zusammenspielen  der  die  Geschichte 
bestimmenden  Faktoren,  den  Umsturz,  den  sie  herbeisehnten,  durch 
spontane  Verschwörungen  bewerkstelligen  zu  können  glaubten, 
empfand  er  eine  unüberwindliche  Abneigung.  Die  Tradition  seines 
Geschlechts  steckte  ihm,  so  eifersüchtig  er  auf  seine  persönliche 
Freiheit  blieb,  zu  tief  im  Blut,  als  daß  ihm  nicht  die  Boheme  als 
solche  widerstanden  hätte.  Mochte  er  einmal  in  Antwerpen,  um 
die  dortigen  deutschen  Bourgeois  vor  den  Kopf  zu  stoßen,  seine 
Freundin  Mary  in  eine  Gesellschaft  mitgebracht  haben,  wo 
er  im  voraus  wissen  konnte,  daß  die  Spießbürger  die  Nase  darüber 
rümpfen  würden,  mochte  er  es  für  überflüssig  halten,  seine  Be- 
ziehungen zu  der  irischen  Arbeiterin,  die  nun  bald  seine  dauernde 
Hausgenossin  wurde,  von  der  Behörde  legitimieren  zu  lassen,  im 
Grunde  anerkannte  er  die  objektiven  Gewalten  als  das,  was  sie 
waren:  er  respektierte  ihre  Stärke,  wo  er  sie  begriff,  tat  alles  um 
sie  zu  untergraben,  wo  er  es  für  nötig  hielt.  Doch  Geringschätzung 
empfand  er  für  die  anspruchsvolle  Selbstüberhebung  losgelöster  In- 
dividuen, denen  er  vorwarf,  daß  sie  selbst  nicht  wüßten,  in  wessen 
Spiel  sie  die  Figuren  wären.  Sobald  die  Erkenntnis  ihm  feststand, 
daß  eine  wirtschaftliche  Krisis  in  nächster  Zeit  nicht  zu  erwarten 
sei,  zog  er  daraus  für  die  Gestaltung  seines  persönlichen  Lebens  wie 
für  seine  politische  Stellungnahme  die  entschiedensten  Konse- 
quenzen. 

Am  Engelsbruch  in  Barmen  beschäftigte  man  sich  begreiflicher- 
weise ernsthaft  mit  der  Frage,  wie  sich  das  Leben  des  ältesten  Sohnes, 
dem  die  Rückkehr  in  die  Heimat  für  lange  versperrt  war,  künftig 
gestalten  sollte.  Schwester  Marie,  von  der  er  sich  am  ehesten  etwas 
sagen  ließ,  schrieb  ihm  darüber,  wohl  im  Auftrag  der  Mutter  und 
mit  Wissen  des  Vaters,  daß  sein  dauerndes  Verweilen  in  London, 
wo  die  meisten  Flüchtlinge  sich  angesammelt  hätten,  ihnen  nicht 
gefahrlos  erschiene ;  sie  fänden  es  für  ihn  nützlicher,  daß  er  nach 
einem  Ort  übersiedelte,  wo  die  „Liebhaberei",  für  die  er  mit  großer 
Lust  und  Liebe  mehrere  Jahre  alle  seine  Kräfte  aufgeopfert  habe, 
weniger  Nahrung  vorfände  und  nicht  so  leicht  wieder  die  Oberhand 
gewinnen  könnte.  Friedrich  hatte  sich,  als  er  dies  Schreiben  erhielt, 
schon  bereit  erklärt,  zunächst  wieder  in  die  kaufmännische  Lauf- 
bahn zurückzukehren.  „Es  ist  nun  der  Gedanke  bei  uns  aufgestiegen," 


396  Reaktion  und  Prosperität. 

bemerkte  dazu  die  Schwester,  die  nicht  nur  für  sich  selbst  sprach, 
,,daß  Du  wohl  für  den  Augenblick  mit  Ernst  Kaufmann  werden 
willst,  um  Dir  dadurch  Deinen  Lebensunterhalt  zu  sichern,  daß 
aber,  sobald  sich  nach  Deiner  Ansicht  wieder  günstige  Chancen 
für  Eure  Partei  darbieten,  Du  den  Kaufmann  wieder  an  den  Nagel 
hängen  und  wieder  für  Eure  Partei  arbeiten  wirst;  mit  einem  Wort, 
daß  Du  nicht  mit  Lust  und  Liebe  Kaufmann  wirst  und  nicht  vorhast, 
es  Dein  Lebelang  zu  bleiben."  Es  gibt  einen  Brief  von  Techow, 
der  im  August  1850  an  seine  Freunde  in  der  Schweiz  über  eine 
Zusammenkunft  mit  Marx  und  Engels  berichtet,  bei  der  diese  ihm 
erklärten,  sie  würden  im  November  nach  Amerika  auswandern:  es 
sei  ihnen  auch  ganz  gleichgültig,  ob  dieses  erbärmliche  Europa  zu- 
grunde gehe,  was  ohne  soziale  Revolution  unausbleiblich  sei.  Nach 
allem,  was  wir  wissen,  scheint  es  nicht,  als  ob  es  Engels  oder  gar 
Marx  mit  einem  solchen  Plan  zu  irgend  einem  Zeitpunkt  sehr  ernst 
gewesen  wäre.  In  Barmen  hätte  man  es  damals  gern  gesehen  und  hat 
sich  in  dieser  Richtung  bemüht,  daß  Friedrich  eine  kaufmännische 
Stellung  in  Kalkutta  übernähme.  Lieber  als  in  die  Tropen  wäre 
dieser  begreiflicherweise  noch  nach  New  York  gegangen,  wohin 
sich  damals  ebenfalls  Fäden  anspannen,  die  aber  Anfang  Januar 
1851  zu  seiner  großen  Genugtuung  zerrissen.  Am  Ende  kam  es 
dann  zu  der  Lösung,  die  von  Anfang  an  die  nächstliegende  gewesen 
wäre.  In  der  Großspinnerei  von  Ermen  und  Engels  in  Manchester 
war  neben  den  Brüdern  Gottfried  und  Peter  Ermen  die  Familie 
Engels  durch  keine  persönliche  Arbeitskraft  vertreten.  Der  jüngere 
Friedrich  Engels  war  in  das  dortige  Geschäft  eingearbeitet.  Wahr- 
scheinlich werden  anfänglich  Bedenken  des  Vaters  zu  überwinden  ge- 
wesen sein,  dessen  strengen  Gesichtspunkten  eine  nur  dilettantische 
Beschäftigung  mit  Dingen,  denen  er  selbst  seine  ganze  Kraft 
widmete,  nicht  zugesagt  hätte.  Als  ihm  aber  Friedrich,  der  sich 
im  November  1850  freiwillig  in  Manchester  einfand,  von  dort 
fortlaufend  ausgezeichnete  und  gründhche  Berichte  schickte,  da 
ging  bei  ihm  schnell  eine  Wandlung  vor.  ,,Ich  kann  mir  denken," 
schrieb  er  am  22.  Januar  1851  dem  Sohn,  ,,daß  der  Aufenthalt  dort 
nicht  der  angenehmste  für  Dich  sein  muß,  für  uns  und  das  Geschäft 
wäre  er  unter  den  merkwürdigen  Verhältnissen  jedenfalls  der  nütz- 
lichste." Am  13.  Februar  setzte  er  dann  das  Siegel  unter  diese 
Wünsche.  ,,  Außer  ordentliche  Freude  machst  Du  mir  übrigens 
durch  Dein  Anerbieten,  ferner  dort  zu  bleiben,  wo  Du  ganz  an 
Deinem  Platze  bist,  und  wo  niemand  mich  besser  vertreten  kann. 
Gewiß  komme  ich,  so  Gott  will,  im  Juni  dorthin." 

Wirklich  sprachen  sich  Vater  und  Sohn,  die  sich  zuletzt  an  jenem 
tragischen  Sonntag  an  der  Haspeier  Brücke  begegnet  waren,  zum 


Wechselnde  Zukunftspläne.  39^ 

erstenmal  wieder  in  Manchester  an  einem  der  letzten  Junitage.  Die 
Mutter,  die  Friedrich  zuvor  in  London,  wo  sie  bei  ihrer  Tochter  Marie 
weilte,  besucht  hatte,  sah  dieser  Zusammenkunft  der  beiden  so  über- 
zeugten und  aufrechten  Männer  nicht  ohne  Sorge  entgegen.  Erfreut 
darüber,  daß  sein  Sozius  ihren  Gatten  bei  ihm  zu  wohnen  eingeladen 
hatte,  schrieb  sie  vertraulich  darüber  an  den  Sohn:  ,, Ich  denke,  es 
ist  vielleicht  doch  besser,  wenn  Ihr  nicht  so  immer  zusammen  seid, 
denn  man  kann  dann  doch  nicht  immer  von  Geschäften  sprechen 
und  es  ist  besser,  daß  Ihr  nicht  auf  die  Politik  kommt,  da  Ihr  so 
sehr  verschiedene  Ansichten  darin  habt."  Zu  einer  innerlichen  Wieder- 
annäherung von  Vater  und  Sohn  ist  es  damals  nicht  gekommen, 
wohl  aber  zu  einer  Verständigung  über  Friedrichs  äußere  Lebens- 
gestaltung. ,,Im  ganzen  kann  ich  mit  dem  Resultat  meiner  Entre- 
venue  mit  dem  Alten  zufrieden  sein,"  berichtete  Engels  Anfang 
Juli  an  Marx.  ,,Er  hat  mich  auf  wenigstens  drei  Jahre  hier  nötig, 
und  Verpflichtungen  für  die  Dauer,  nicht  einmal  auf  die  drei  Jahre, 
habe  ich  keine  eingegangen,  sind  auch  weiter  nicht  verlangt  worden ; 
weder  in  Beziehung  auf  Schriftstellerei,  noch  auf  Hierbleiben  im 
Falle  einer  Revolution.  An  diese  scheint  er  gar  nicht  zu  denken, 
so  sicher  ist  das  Volk  jetzt!  Dagegen  habe  ich  mir  Repräsentations- 
und Tafelgelder  gleich  im  Anfang  ausgemacht  —  zirka  200  Pfund 
jährlich,  was  auch  ohne  große  Schwierigkeiten  bewilligt  wurde. 
Mit  einem  solchen  Salär  geht  die  Sache  schon,  und  wenn  es  bis 
zur  nächsten  Bilanz  ruhig  bleibt  und  das  hiesige  Geschäft  gut  geht, 
wird  er  noch  ganz  anders  bluten  müssen."  Frau  Marx,  deren  jüngstes 
Söhnchen  eben,  wie  Marx  selbst  es  auffaßte,  ,,ein  Opfer  der  bürger- 
lichen Misere"  geworden  war,  unterdrückte  in  ihrem  Dankschreiben 
auf  die  teilnehmenden  Worte  des  Freundes  nicht  den  Ausdruck 
ihrer  Genugtuung  darüber,  daß  sie  Engels  nun  auf  dem  Wege 
glaubte,  ,,ein  großer  Cottonlord  zu  werden".  Diese  hochgesinnte 
Frau,  die  den  harten  Kampf  mit  den  gemeinsten  Lebensnotwendig- 
keiten, die  das  Exil  ihr  und  ihrem  Manne  auferlegte  und  für  den 
sie  im  Grunde  nicht  geschaffen  war,  an  erster  Stelle  auszukämpfen 
hatte,  wußte,  daß  Marx  niemals  einen  verständnisreicheren  und 
opferwilligeren  Freund  finden  konnte,  keinen,  von  dem  Unter- 
stützung anzunehmen  seinen  stolzen  Sinn  weniger  kränkte,  weil 
mit  niemandem  auf  der  Welt  ihn  eine  innigere  Gemeinschaft  des 
Denkens  und  Zielens  umschlang.  Wenn  Engels  trotz  der  Leichtig- 
keit, mit  der  er  schuf  und  schrieb,  auf  eine  ungebundene  geistige 
Betätigung  jetzt  freiwillig  Verzicht  leistete,  ,, Nebel  und  Rauch  in 
Masse"  in  Manchester  von  neuem  in  Kauf  nahm  und  in  das  Kontor, 
das  er  nicht  liebte,  zurückkehrte,  so  tat  er  es  weit  mehr  in  Ge- 
danken an  Marx  als  an  sich  selbst. 


398  Reaktion  und  Prosperität. 

Je  gründlicher  er  die  Jahre  der  schweren  wirtschaftlichen 
Depression,  die  auf  die  kurze  wirtschaftliche  Blütezeit  von  1843 
bis  1845  gefolgt  waren,  zum  Gegenstand  eingehenden  Studiums 
machte,  um  so  schärfer  und  unanfechtbarer  trat  der  Kausalzusam- 
menhang zwischen  der  Kurve,  in  welcher  der  Weltmarkt  sich  ge- 
staltete, und  der  des  politischen  Auf  und  Ab  der  letzten  Jahre  bis 
in  alle  Einzelheiten  ihm  entgegen.  Die  für  1851  von  den  Englän- 
dern vorbereitete  Weltausstellung  erschien  ihm,  wie  die  Übersicht 
über  die  Ereignisse  der  Monate  Mai  bis  Oktober  im  letzten  Doppel- 
heft der  Zeitschrift  geflissentlich  betonte,  von  ganz  anderer  Bedeu- 
tung ,,als  die  absolutistischen  Kongresse  von  Bregenz  und  Warschau, 
die  unsern  kontinentalen  demokratischen  Spießbürgern  so  viel 
Schweiß  auspressen,  oder  als  die  europäisch-demokratischen  Kon- 
gresse, welche  die  verschiedenen  provisorischen  Regierungen  in 
partibus  zur  Rettung  der  Welt  stets  aufs  neue  projektieren".  Diese 
Ausstellung  erbringt  ihm  und  Marx  den  schlagenden  Beweis  von 
der  konzentrierten  Gewalt,  womit  die  moderne  Großindustrie  überall 
die  nationalen  Schranken  niederschlage  und  die  lokalen  Besonder- 
heiten in  der  Produktion,  in  den  gesellschaftlichen  Verhältnissen, 
im  Charakter  jedes  einzelnen  Volks  mehr  und  mehr  verwische. 
Indem  die  Ausstellung  die  Gesamtmasse  der  Produktivkräfte  der 
modernen  Industrie  auf  einem  kleinen  Raum  zusammengedrängt 
zur  Schau  stelle,  während  die  modernen  bürgerlichen  Verhältnisse 
schon  von  allen  Seiten  untergraben  seien,  bringe  sie  zugleich 
das  Material  zur  Anschauung,  das  sich  inmitten  dieser  unter- 
wühlten Zustände  für  den  Aufbau  einer  neuen  Gesellschaft  erzeugt 
habe  und  noch  täglich  erzeuge.  Doch  die  Bourgeoisie  errichte  sich 
ihr  Pantheon  in  einem  Augenblick,  wo  der  Zusammenbruch  ihrer 
ganzen  Herrlichkeit  bevorstehe,  ein  Zusammenbruch,  der  ihr  schla- 
gend nachweisen  werde,  wie  die  von  ihr  erschaffenen  Mächte  ihrer 
Zucht  entwachsen  seien.  Wenn  der  mit  1850  begonnene  neue 
Zyklus  der  industriellen  Entwicklung  denselben  Lauf  verfolge  wie 
der  von  1843  bis  1847,  würde  die  Krise  im  Jahre  1852  ausbrechen. 
Krisen  zeigten  sich  zuerst  auf  dem  Gebiet  der  Spekulation,  sie 
bemächtigten  sich  erst  später  der  Produktion.  Die  Bedeutung  der 
Entdeckung  der  kalifornischen  Goldminen  liege  nicht  allein  in  der 
Vermehrung  der  Goldproduktion,  sondern  ebenso  sehr  in  dem  An- 
sporn, den  der  mineralische  Reichtum  Kaliforniens  den  Kapitalien 
der  ganzen  Welt  gegeben  habe, sich  neue  Wege  zu  suchen.  Ihre  Ten- 
denz, sich  auf  die  überseeische  Dampfschiffahrt  und  auf  die  Kana- 
lisation des  amerikanischen  Isthmus  zu  werfen,  mache  New  York, 
das  die  größte  Masse  des  kalifornischen  Goldes  erhalte,  zum  Zen- 
trum dieser  Spekulation  und  damit  auch  des  nächsten  großen  Zu- 


Vorläufige  Resignation.  399 

sammenbruchs.  Wie  viele  Gesellschaften  dabei  aber  auch  fallieren 
würden,  die  Dampfschiffe,  die  den  atlantischen  Verkehr  verdoppeln, 
die  das  Stille  Meer  aufschließen,  die  Australien,  Neu-Seeland, 
Signapore,  China  und  Amerika  verbinden  und  die  Reise  um  die 
Welt  auf  die  Dauer  von  vier  Monaten  reduzieren,  werden  bleiben. 
Obgleich  Engels  die  Möglichkeit  sieht,  daß  die  ökonomische  Führung 
der  Kulturwelt  künftig  einmal  auf  Amerika  übergehen  könnte,  so 
blieb  ihm  darum  zunächst  doch  England,  zumal  vom  europäischen 
Kontinent  aus  betrachtet,  ,,der  Demiurg  des  bürgerlichen  Kos- 
mos". Auch  für  die  Krisen,  die  zuerst  auf  dem  Kontinent  Revolu- 
tionen erzeugten,  wäre  der  Grund  stets  in  England  gelegt.  Doch 
der  Grad,  in  dem  diese  kontinentalen  Revolutionen  auf  England 
zurückwirkten,  sei  wiederum  das  Thermometer,  an  dem  es  sich 
zeige,  inwieweit  sie  wirklich  die  bürgerlichen  Lebensverhältnisse 
in  Frage  stellten  oder  wie  weit  sie  nur  ihre  politischen  Forma- 
tionen träfen. 

So  wenig  er  also  die  Weltkrisis,  von  der  ihm  selbstredend  sofort 
wieder  revolutionäre  Wirkungen  entgegenstrahlten,  in  weiter  Ferne 
sah,  so  fand  Engels  doch  für  den  Augenblick,  wie  wir  schon  wissen, 
die  allgemeine  Prosperität  der  bürgerlichen  Gesellschaft  so  üppig 
entwickelt,  daß  ihm  für  eine  wirkliche  Revolution  unter  solchen 
Umständen  alle  Voraussetzungen  zu  fehlen  schienen.  Denn  eine 
Revolution,  das  verkündeten  er  und  Marx  hier  unumwunden,  ob- 
gleich sie  wußten,  daß  dieses  Geständnis  sie  in  der  Londoner  Emigra- 
tion um  den  letzten  Rest  ihrer  Anhängerschaft  bringen  konnte, 
wäre  nur  aussichtsreich,  wo  die  modernen  Produktivkräfte  und  die 
bürgerlichen  Produktionsformen  miteinander  in  Widerspruch  ge- 
rieten. ,,Eine  neue  Revolution  ist  nur  möglich  im  Gefolge  einer 
neuen  Krisis.  Sie  ist  aber  auch  ebenso  sicher  wie  diese."  Über  die 
Rückkehr  der  Prosperität  als  die  tiefere  Ursache  des  Mißerfolgs 
der  Revolution  von  1848  und  49  verbreitete  Engels  sich  auch  öf- 
fentlich in  einer  unter  seines  Freundes  Harne y  Vorsitz  tagenden 
Neujahrsfeier  in  London,  bei  der  alle  Organisationen  der  fremden 
politischen  Flüchtlinge  vertreten  waren.  Er  und  Marx  hatten  sich 
seit  ihrer  Ankunft  der  Idee  widersetzt,  die  bunt  zusammengewür- 
felten Flüchtlingsscharen,  die  sich  in  London  zusammengefunden 
hatten,  in  einer  einheitlichen  Organisation  zusammenzufassen. 
Ihnen  stand  damals  der  Sinn  mehr  nach  reinlicher  Scheidung  als 
nach  Verwischung  der  Gegensätze.  Der  Hochmut,  mit  dem  sie  von 
der  gesicherten  Burg  ihrer  Geschichtsauffassung  auf  die  Scharen 
der  Ideologen  herabblickten,  die  sich  über  die  wahre  Situation  auch 
jetzt  noch  täuschten  und  von  dem  Glauben  nicht  abzubringen 
waren,   daß   Revolutionen   sich   machen   ließen,    hatte   bereits   im 


400  Reaktion  und  Prosperität. 

September  eine  Spaltung  des  Kommunistenbundes  herbeigeführt, 
dessen  Mehrzahl  sich  unter  Willichs  und  Schappers  Führung  von 
ihnen  trennte.  Konnten  sie  sich  aber  schon  mit  ihren  nächsten 
Freunden  nicht  mehr  verständigen,  so  waren  sie  erst  recht  nicht 
geneigt,  dem  Europäischen  Zentralkomitee  Zugeständnisse  zu 
machen,  das  unter  Mazzinis,  Ledru  Rollins,  des  Polen  Darasz  und 
Arnold  Ruges  Leitung,  wie  sie  höhnten,  ,, durch  die  Organisation 
einer  Glaubensarmee  und  die  Stiftung  einer  Religion"  den  Sieg  der 
Revolution  herbeizuführen  vermeinte.  Mit  einer  so  ,, ordinären 
Philisteransicht**  wird  am  Schluß  des  letzten  Hefts  der  Revue  der 
Neuen  Rheinischen  Zeitung,  mit  dem  Engels  für  lange  Zeit  von  der 
politischen  Bühne  abtrat,  gründlich  abgerechnet.  Dem  Manifest, 
mit  dem  das  Komitee  herausgetreten  war,  werfen  Engels  und  Marx 
hier  vor,  daß  es  die  Existenz  der  Klassenkämpfe  leugne  und  die 
Kämpfe  der  verschiedenen  Klassen  und  Klassenfraktionen  gegen- 
einander, deren  Verlauf  durch  seine  einzelnen  Entwicklungsphasen 
gerade  die  Revolution  ausmache,  nur  für  die  unglückliche  Folge 
der  Existenz  divergierender  Systeme,  die  leicht  zu  versöhnen  wären, 
hielten.  Für  Politiker  solchen  Schlages  bestehe  die  Revolution  bloß 
im  Sturz  der  vorhandenen  Regierung;  sei  dies  Ziel  erreicht,  so  sei 
,,der  Sieg**  errungen,  Bewegung,  Entwicklung,  Kampf  hörten  auf, 
das  Europäische  Zentralkomitee  herrsche  und  eröffne  das  goldene 
Zeitalter  der  europäischen  Republik  und  der  in  Permanenz  erklärten 
Nachtmütze.  Aber  dieser  Aufruf  zur  Gedankenlosigkeit  sei  ein 
direkter  Versuch  zu  Prellerei  gerade  der  unterdrückten  Klassen  des 
Volkes. 

In  einem  Brief,  den  er  am  13.  Februar  1851  von  Manchester 
aus  dem  Freunde  schreibt,  bringt  Engels  mit  wundervoller  Klarheit 
die  Gesinnung  zum  Ausdruck,  die  ihn  an  diesem  Wendepunkt 
seines  Lebens  erfüllte,  als  ihn  die  siegreiche  Reaktion,  die  so  viel 
länger  herrschen  sollte,  als  er  damals  noch  annahm,  auf  viele 
Jahre  die  Beteiligung  an  der  praktischen  Politik  verleidete:  ,,Wir 
haben  jetzt  endlich  wieder  einmal  —  seit  langer  Zeit  zum  ersten- 
mal —  *',  gestand  er  Marx,  ,, Gelegenheit,  zu  zeigen,  daß  wir  keine 
Popularität,  keinen  support  von  irgend  einer  Partei  irgend  welchen 
Landes  brauchen  und  daß  unsere  Position  von  dergleichen  Lum- 
pereien total  unabhängig  ist.  Wir  sind  von  jetzt  an  nur  noch  für 
uns  selbst  verantwortlich  und  wenn  der  Moment  kommt,  wo  die 
Herren  uns  nötig  haben,  sind  wir  in  der  Lage,  unsere  eigenen  Be- 
dingungen diktieren  zu  können.  Bis  dahin  haben  wir  wenigstens 
Ruhe.  Freilich  auch  eine  gewisse  Einsamkeit  —  mon  dieu,  die 
habe  ich  hier  in  Manchester  seit  drei  Monaten  bereits  genossen  und 
mich   daran   gewöhnt  .  .  .     Wir   können  uns   übrigens   im   Grunde 


Rückkehr  ins  Kontor. 


401 


nicht  einmal  sehr  beklagen,  daß  die  petits  grands  hommes  uns 
scheuen;  hab?n  wir  nicht  seit  so  und  so  viel  Jahren  getan,  als  wären 
Krethi  und  Plethi  unsere  Partei,  wo  wir  gar  keine  Partei  hatten, 
und  wo  die  Leute,  die  wir  als  zu  unserer  Partei  gehörig  rechneten, 
wenigstens  offiziell,  auch  nicht  die  Anfangsgründe  unserer  Sachen 
verstanden?  Wie  passen  Leute  wie  wir,  die  offizielle  Stellungen 
fliehen  wie  die  Pest,  in  eine  ,Partei*  ?  Was  soll  uns,  die  wir  auf 
die  Popularität  spucken,  die  wir  an  uns  selbst  irre  werden,  wenn  wir 
populär  zu  werden  anfangen,  eine  ,Partei*  ?  Wahrhaftig,  es  ist 
kein  Verlust,  wenn  wir  nicht  mehr  für  den  ,richtigen  adäquaten 
Ausdruck'  der  Bornierten  gelten,  mit  denen  uns  die  letzten  Jahre 
zusammengeworfen  hatten.  Eine  Revolution  ist  ein  reines  Natur- 
phänomen, das  mehr  nach  physikalischen  Gesetzen  geleitet  wird, 
als  nach  den  Regeln,  die  in  ordinären  Zeiten  die  Entwicklung  der 
Gesellschaft  bestimmen.  Oder  vielmehr,  diese  Regeln  nehmen  in 
der  Rsvolution  einen  viel  physikalischeren  Charakter  an,  die  ma- 
terielle Gewalt  der  Notwendigkeit  tritt  heftiger  hervor.  Und  sowie 
man  als  der  Repräsentant  einer  Partei  auftritt,  wird  man  in  diesen 
Strudel  der  unaufhaltsamen  Naturnotwendigkeit  hineingerissen. 
Bloß  dadurch,  daß  man  sich  independent  hält,  indem  man  der 
Sache  nach  revolutionärer  ist  als  die  anderen,  kann  man  wenigstens 
eine  Zeitlang  seine  Selbständigkeit  gegenüber  diesem  Strudel  be- 
halten, schließlich  wird  man  freilich  auch  hineingerissen.  Diese 
Stellung  können  und  müssen  wir  bei  der  nächsten  Geschichte  ein- 
nehmen, nicht  nur  keine  offizielle  Staatsstellung,  auch  solange  wie 
möglich  keine  offizielle  Parteistellung,  keinen  Sitz  in  Komitees  usw., 
keine  Verantwortlichkeit  für  Esel,  unbarmherzige  Kritik  für  alle, 
und  dazu  jene  Heiterkeit,  die  sämtliche  Konspirationen  von  Schafs- 
köpfen uns  doch  nicht  nehmen  werden.  Und  das  können  wir.  Wir 
können  der  Sache  nach  immer  revolutionärer  sein  als  die  Phrasen - 
macher,  weil  wir  etwas  gelernt  haben  und  sie  nicht,  weil  wir  wissen, 
was  wir  wollen  und  sie  nicht." 

,,Die  Soldaten  finden  sich  von  selbst,  wenn  die  Verhältnisse 
soweit  sind,"  diese  Überzeugung,  die  er  zu  dem  Freunde  damals 
auch  aussprach,  hielt  Engels  aufrecht  während  der  „ägyptischen 
Gefangenschaft",  in  der  er  von  nun  ab  so  viele  Jahre  im  Kontor 
wie  an  der  Börse  in  Manchester  frondete,  damit  Marx  seine  ge- 
waltige unersetzliche  Kraft,  nicht  in  Alltagsarbeit  verzetteln, 
sondern  für  das  große  Werk  zusammenhalten  konnte,  von  dem 
er  für  ihre  gemeinsame  Aufgabe  so  unendlich  viel  erhoffte. 
Als  ihm  Schwester  Marie  zu  seinem  32.  Geburtstag  eine  kleine 
Gabe  zugedacht  hatte  und  ihn  nach  seinen  Wünschen  anfragte, 
erwiderte   er    ihr   mit  einer    Resignation,   der  wir   selten   bei   ihm 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  I  20 


402  Reaktion  und  Prosperität. 

begegnen,  die  aber  seine  nunmehrige  Lage  uns  begreiflich  macht: 
„Ma  chÄre  soeurl  Mit  Wünschen  gebe  ich  mich  seit  geraumer  Zeit 
nicht  mehr  ab,  dabei  kommt  nichts  heraus.  Außerdem  habe  ich 
wirklich  kein  Talent  dazu,  denn  wenn  ich  mich  einmal  ausnahms- 
weise auf  der  Schwachheit  ertappe,  mir  etwas  zu  wünschen,  so  ist 
es  jedesmal  etwas,  was  ich  doch  nicht  haben  kann,  und  daher  tue 
ich  besser,  mir  das  Wünschen  lieber  vollends  abzugewöhnen.  Wie 
Du  siehst,  verfalle  ich  auch  bei  diesem  Gegenstand  ganz  in  den 
moralischen  Ton  des  Predigers  Salomonis  und  so,  the  less  we  say 
about  it,  the  better  it  will  be.**  Bloß  die  Lieblingsschwester  ver- 
nimmt dies  eine  Mal  den  leisen  melancholischen  Anflug,  hinter 
dem  der  Humor  wie  die  Sonne  durch  die  Wolken,  gleich  wieder 
hindurchbricht.  Kaum  hat  Engels  begriffen,  daß  er  sich  möglicher- 
weise auf  Jahre  in  Manchester  werde  einrichten  müssen,  so  läßt 
er  sich  gleich  seine  Bücher,  die  noch  in  Brüssel  lagerten,  kommen  und 
beginnt  in  den  Mußestunden,  die  dieser  Virtuose  der  Zeitausnutzung 
immer  fand,  zu  ,, ochsen",  wie  er  es  nannte.  Die  künftige  Revolu- 
tion sollte  den  Generalstab  der  Kommunisten  wohl  vorbereitet  an- 
treffen. Angesichts  der  ,, enormen  Wichtigkeit",  die  er  für  diesen 
Fall  der  „partie  militaire"  beimaß,  wandte  er  sich,  seiner  alten  Nei- 
gung gern  nachgebend,  zunächst  hauptsächlich  kriegswissenschaft- 
lichen Studien  zu.  Schon  bevor  der  ehemalige  königlich  preußische 
Landwehrbombardier  sich  1853  die  Fachbibliothek  eines  abgedank- 
ten preußischen  Artillerieoffiziers  ,, anschnallte",  hatte  er  den  ge- 
treuen Joseph  Weydemeyer,  der  ebenfalls  preußischer  Artillerie- 
offizier gewesen  war,  um  eingehendste  Literaturnachweise  an- 
gegangen: ,,Das  Autodidaktenwesen,"  schrieb  er  diesem  am  19.  Juli 
1851,  ,,ist  aber  überall  Unsinn,  und  wenn  man  das  Ding  nicht 
systematisch  betreibt,  so  kommt  man  zu  nichts  Ordentlichem." 

Fortab  blieb  England  die  Warte,  von  der  aus  Engels  die 
Gegenwart  in  ihrer  ganzen  Breite  überschaute  und  in  die  Zukunft 
hinauslugte.  Seine  Wanderjahre  lagen  hinter  ihm.  Eine  große 
Zäsur    in   seinem    inneren    und   äußeren    Leben    war    eingetreten. 


Quellen  und  Nachweise. 

Werke  von  Engels  aus  der  Frühzeit. 

Einen  großen  Teil  der  Aufsätze,  Gedichte,  Schriften  und  Briefe,  deren 
in  unserer  Darstellung  Erwähnung  geschieht,  findet  der  Leser  zum  ersten 
Mal  abgedruckt  in  der  gleichzeitig  mit  dieser  Biographie  in  dem  gleichen 
Verlag  von  mir  herausgegebenen  Sammlung:  Friedrich  Engels  Schriften 
derFrühzeit,  Aufsätze,  Korrespondenzen,  Briefe,  Dichtungen  aus  den  Jahren 
1838  bis  1844.  Über  die  Grenzen,  die  diese  Zusammenstellung  sich  zog,  unter- 
richtet das  Vor  wort.  Nur  aus  Platzgründen  herausgelassen  wurde  die  Broschüre 
Schelling  und  die  Offenbarung,  Kritik  des  neuesten  Reaktionsversuchs 
gegen  die  frei  Philosophie.  Ausgeschlossen  wurde  namentlich  alles,  was 
Mehring  in  seine  bekannte  vortreffliche  Sammlung:  Aus  dem  literarischen 
Nachlaß  von  Karl  Marx,  Friedrich  Engels  und  Ferdinand  Lassalle,  Stuttgart 
1902,  aufgenommen  hatte,  also  die  Heilige  Familie,  die  Beiträge  für  die 
Deutsch-Französischen  Jahrbücher,  für  das  Deutsche  Bürgerbuch,  für  die 
Rheinischen  Jahrbücher,  für  das  Westphälische  Dampfboot,  für  die  Deutsche 
Brüsseler  Zeitung,  für  die  Neue  Rheinische  Zeitung  und  die  Revue  der  Neuen 
Rheinischen  Zeitung.  Beiseite  ließ  ich  ferner,  was  im  Laufe  der  Jahre  selb- 
ständig oder  in  deutschen  sozialistischen  Zeitschriften  neu  oder  zum  ersten 
Male  erschien  und  den  Interessenten  dadurch  zugänglich  gemacht  wurde. 
Hierher  gehören  u.  a.  die  Beiträge  für  The  New  Moral  World  vom  4.  und 
18.  November  1843,  die  in  der  Neuen  Zeit  XXVIH.  Jahrgang  Band  I  S.  427 
bis  431  und  in  dem  Wiener  Kampf  VIL  Jahrgang  (1914)  S.  l62ff.  in  deut- 
scher Übersetzung  erschienen  (über  Engels  anderweitige  Korrespondenzen 
und  Notizen  für  das  englische  Sozialistenblatt  vgl.  dort  auf  S.  162  die  An- 
merkung des  Verfassers  der  Einleitung  N.  Rjasanof f),  ferner  Der  deutsche 
Bauernkrieg,  den  Mehring  1908  als  erstes  Stück  seiner  Sozialistischen  Neu- 
drucke im  Vorwärtsverlag  in  Berlin  herausbrachte,  das  Tagebuch  Von  Paris 
nach  Bern,  das  die  Neue  Zeit  im  Jahrgang  XVH  Bd.  I  veröffentlichte,  die 
•wichtigen  Aufsätze  aus  der  Deutschen  Brüsseler  Zeitung,  die  Rjasanoff  im 
Kampf  vom  I.Februar  und  i.  Juni  1913  und  i.  Dezember  1914  neu  ab- 
druckte. —  Aus  der  Schrift  gegen  die  deutsche  Ideologie  hat  Ed.  Bernstein 
in  den  Jahrgängen  II  bis  IV  der  von  ihm  herausgegebenen  Dokumente  des 
Sozialismus  1903  und  1904  den  weitaus  größten  Teil  des  Heiligen  Max  zum 
Abdruck  gebracht.  Einen  kleinen  Nachtrag  veröffentlichte  er  1918  in  einer 
von  Kurt  Eisner  herausgegebenen  Feuilletonkorrespondenz.  In  den  ganzen 
Rest  des  wissenschaftlich  bisher  unausgebeuteten  umfangreichen  Manuskripts, 
soweit  er  noch  vorhanden  ist,  hat  Herr  Eduard  Bernstein,  dem  ich  dafür 
zu  großem  Dank  verpflichtet  bin,  mich  für  den  Zweck  dieser  Biographie 
Einsicht  nehmen  lassen.  Ferner  war  Herr  Ed.  Bernstein  so  freundlich,  mir 
Engels  Manuskript  über  die  verschiedenen  Schulen  des  wahren  Sozialismus 
und  einige  nicht  abgedruckte  Artikel,  die  dieser  für  die  Neue  Rheinische  2^itung 

26* 


404  Quellen  und  Nachweise, 

geschrieben  hat,  zur  Verfügung  zu  stellen.  Das  Manuskript  des  Leipziger 
Konzils,  von  Engels  Hand,  mit  kleinen  Einschaltungen  von  Marx,  benutzte 
ich  auf  dem  Archiv  der  Sozialdemokratischen  Partei,  wo  es  im  Marxnachlaß 
aufbewahrt  wird.  Von  Engels  Aufsätzen  für  The  New  Moral  World  und 
The  Northern  Star  hatte  Herr  M,  Beer,  dem  ich  für  diese  Freundlichkeit  Dank 
weiß,  noch  vor  dem  Kriege  auf  der  Bibliothek  des  British  Museum  mir  Ab- 
schriften angefertigt.  Der  Krieg  verhinderte  mich  leider,  die  Pariser  Reforme 
auf  Engels  Beiträge  hin  persönlich  durchzusehen.  Nach  allem,  was  Charles 
Andler  (Le  manifeste  communiste  I.  traductian  nouvelle  avec  les  articles  de 
F.  Engels  dans  la  R6forme  1847 — 48,  Paris  1906)  daraus  Engels  vindiziert, 
wird  ersichtlich,  daß  Wesentliches  dort  nicht  zu  finden  wäre.  Vgl.  dazu 
auch  (Mehring),  Einiges  zur  Parteigeschichte,  Neue  Zeit  XX  Bd.  i  S.  545. 
Die  Länge  der  Jahre,  die  unter  dem  Druck  der  Zeitverhältnisse  die  Ab- 
fassung des  vorliegenden  Bandes  gewährt  hat,  ist  einer  völlig  lückenlosen 
Quellenzusammenstellung  nicht  eben  förderlich  gewesen.  Der  Verfasser 
sieht  sich  genötigt,  den  Leser  in  dieser  Hinsicht  um  einige  Nachsicht 
zu  bitten.  Auch  hofft  er,  später  in  die  Lage  zu  kommen,  die  vollständige  Bi- 
bliographie des  jungen  Engels,  die  er  eigentlich  hier  schon  geben  wollte,  auf- 
zustellen. Für  einige  Engelssche  Schriften,  die  an  dieser  Stelle  nicht  na- 
mentlich aufgeführt  wurden,  finden  sich  die  Nachweise  bei  den  einzelnen 
Kapiteln. 

Briefe  von  Engels  aus  der  Frühzeit. 

Die  Briefe  an  die  Brüder  Graeber  werden  zum  ersten  Mal 
vollständig  und  mit  den  sie  begleitenden  Federzeichnungen  Engels  ver- 
öffentlicht in  der  oben  erwähnten  Sammlung:  Friedrich  Engels,  Schriften 
der  Frühzeit  usw.  Berlin  1920.  Julius  Springer.  Auszüge  aus  ihnen 
brachte  der  Verf.  bereits  1913  in  der  Neuen  Rundschau  zum  Abdruck. 
Die  Briefe  an  die  Schwester  Marie,  deren  im  Text  Erwähnung  ge- 
schieht und  die  vorläufig  ungedruckt  bleiben  sollen,  lagen  mir  im  Original 
vor.  Die  Briefe  an  Marx  findet  man  in  dem  von  A.  Bebel  und  Ed. 
Bernstein  herausgegebenen  Briefwechsel  zwischen  Friedrich  Engels  und 
Karl  Marx  1844  bis  1883,  4  Bde.,  Stuttgart  19 13.  Dieser  Briefwechsel,  der 
ausgiebig  benutzt  ist,  wurde  unter  den  Nachweisen  für  die  einzelnen  Kapitel 
nirgends  besonders  zitiert. 

Vorarbeiten. 

Eine  Engelsbiographie,  die  diesen  Namen  auch  nur  entfernt  in  An- 
spruch nehmen  konnte,  gab  es  bisher  nicht.  Die  kleinen  Schriften:  Karl 
Kautsky,  Friedrich  Engels,  sein  Leben,  sein  Wirken,  2.  Aufl.  Berlin  1908 
(größtenteils  verfaßt  schon  1887!)  und  Werner  Sombart,  Friedrich  Engels, 
Ein  Blatt  zur  Entwicklungsgeschichte  des  Sozialismus  (Separatdruck  aus 
der  Zukunft)  Berlin  1895  (35  S.)  wollen  diesen  Anspruch  nicht  erheben. 
Für  den  Entwicklungsgang  des  jungen  Engels  am  aufschlußreichsten  waren 
bisher,  was  das  Tatsächliche  betrifft,  die  Mehringschen  Einleitungen  in 
seiner  schon  erwähnten  Nachlaßausgabe,  für  das  Geistige  Rodolfo  Mondolf  o, 
II  Materialismo  Storico  in  Federigo  Engels,  Genova  1912,  ein  sehr  beachtens- 
wertes Werk.  Weitere  Literaturangaben  erübrigen  sich  an  dieser  Stelle.  Von 
selbst  versteht  sich,  daß  eine  Engelsbiographie  nur  geschrieben  werden 
konnte  unter  Kenntnis  aller  wesentlichen  Literatur  über  die  Geschichte  des 
Sozialismus,  namentlich  des  Marxismus.   Einzelne  Werke  und  Schriften  hier- 


Quellen  und  Nachweise.  ^05 

über  herauszugreifen,  weckte  Bedenken.  Wie  vielen  mag  der  Verfasser  ver- 
pflichtet sein,  ohne  sich  davon  bewiU3te  Rechenschaft  ablegen  zu  können! 
Und  wollte  er,  der  Historiker,  hier  zuerst  die  Schriften  von  Koigen,  Max 
Adler,  Plenge,  Struve,  Plechanoff  nennen,  so  würde  er  mit  Recht  befürchten 
müssen,  Autoren  wie  Kautsky,  Vorländer,  Masaryk  und  manchen  anderen 
hierdurch  seine  Dankbarkeit  zu  versagen. 

Anmerkungen  zu  den  einzelnen  Kapiteln. 

Kapitel  I. 

S.  2  ä.  Über  die  theologischen  Strömungen  der  Zeit  suchte 
ich  mich,  so  gut  ich  konnte,  aus  der  Zeitschriftenliteratur  der  ausgehenden 
dreißiger  und  der  vierziger  Jahre  zu  unterrichten.  Von  Darstellungen  waren 
mir  nützlich  Ch,  Märklin,  Darstellung  und  Kritik  des  modernen  Pietismus, 
Stuttgart  1839,  L.  Hüffel,  Der  Pietismus  geschichtlich  und  kirchlich  be- 
leuchtet, Heidelberg  1846,  Schwarz,  Zur  Geschichte  der  neuesten  Theo- 
logie, Leipzig  1858,  Tröltsch,  Theologie  und  Religionswissenschaft  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  im  Jahrbuch  des  Freien  deutschen  Hochstifts  1902.  Für 
das  Thema  Calvinismus  und  Kapitalismus:  Max  Weber,  Die  pro- 
testantische Ethik  und  der  Geist  des  Kapitalismus  im  Archiv  für  Sozial- 
wissenschaft Band  20  und  21  und  die  daran  anschließende  weitschichtige 
Literatur.  Der  spätere  Engels  über  den  Calvinismus  vgl.  den  Aufsatz 
über  historischen  Materialismus  in  Neue  Zeit  XI  Band  i  (1893).  S.  3  Theater 
in  Eiber feld.  Für  die  Petition  der  evangelischen  Gemeinde  vgl.  Zeitschrift 
des  Bergischen  Geschichtsvereins  1894,  S.  260.  In  dem  Entwurf  eines  Auf- 
rufs gegen  den  Bau  des  neuen  Theaters  (Monatsschrift  des  Berg.  Geschichts- 
vereins 1908,  S.  149)  heißt  es,  das  Theater  habe  „nachteilig  auf  die  Sitten,  auf 
den  Charakter,  Fleiß  und  Wohlstand  besonders  unsrer  großen  arbeitenden 
Volksklassen  eingewirkt". 

S.  4ff.  Die  Familiengeschichte.  Mündliche  und  schriftliche  Mit- 
teilungen von  Herrn  Stabsarzt  Dr.  Walter  Engels,  Wandsbek,  Herrn  Kom- 
merzienrat  Hermann  Engels  und  Herrn  Emil  Engels  in  Engelskirchen, 
von  Frau  Ottilie  Engels  in  Waltersdorf  (Lausitz);  Aufzeichnungen  von 
Frau  Kommerzienrat  Emil  Engels  in  Düsseldorf.  Das  Deutsche  Ge- 
schlechterbuch (Genealogisches  Handbuch  bürgerlicher  Familien)  ent- 
hält in  Band  24,  Görlitz  1913,  einen  von  Emii  Engels  bearbeiteten  Stamm- 
baum der  Familie  Engels.  —  Über  Großvater  van  Haar  vergleiche  besonders 
Aus  Familienbriefen  der  Jahre  1809  bis  18,  mitgeteilt  von  Charlotte  Broicher 
in  Kölnische  Zeitung  vom  24.  bis  28.  Juni  19 13. 

S.  8undl3ff.  Elberfeld-Barmen  in  Engels  Jugendzeit.  Zeit- 
schrift und  Monatsschrift  des  Bergischen  Geschichtsvereins  passim.  Von 
zeitgenössischen  Schilderungen  waren  nützlich:  die  Korrespondenzen  des 
Wuppertaler  Dichters  Adolf  Schults  an  das  Stuttgarter  Morgenblatt,  neu 
abgedruckt  von  Hanns  Wegener  in  der  Monatsschrift  des  Bergischen  Ge- 
schichtsvereins 1913  unter  dem  Titel:  Elberfeld  in  den  vierziger  Jahren  des 
19.  Jahrhunderts.  Ferner:  Elberfeld  im  Jahre  1839  in  Zeitung  für  die  ele- 
gante Welt  1839  Nr.  6off.,  F.  Gustav  Kühne,  Das  deutsche  Manchester, 
Europa  1847,  2.  und  9.  Oktober,  E.  Beurmann,  Deutschland  und  die  Deut- 
schen, Altona  1839,  Band  III,  Kap.  32.  Für  die  Industrie  im  besonderen 
Alfons  Thun,  Die  Industrie  am  Niederrhein  und  ihre  Arbeiter,  Leipzig 
1879,  für  die  Arbeiterverhältnisse:  H.  J.  A.  Körner,  Lebenskämpfe  in  der 
alten  und  neuen  Welt,  Leipzig  1865,  Bd.  I,  Kap.  8  und  Der  Gesellschafts- 


4o6  Quellen  und  Nachweise. 

Spiegel,  redigiert  von  M.  Heß,  Elberfeld  1845  und  46,  für  die  kirchlichen 
Zustände  namentlich  F.W.  Krummacher's  Selbstbiographie,  Berlin  1869. 

S.  9£f.  Die  Kindheit.  Das  Gedicht  an  den  Großvater  van  Haar  vom 
20.  Dezember  1833  findet  man  in  dem  Sammelband  der  Schriften  des  jungen 
Engels  abgedruckt.  Den  Brief  des  Vaters  (S.  10),  der  vom  27.  August  1835 
datiert  ist,  den  Denkspruch  zur  Einsegnung  und  manche  andere  Einzelheit 
verdanke  ich  Herrn  Emil  Engels  jun.  Das  Abgangszeugnis  vom  Gymnasium 
lag  mir  vor.  Wenig  ergiebig  für  die  Frühzeit  sind  die  sehr  zahlreichen  Ne- 
krologe, welche  die  Familie  gesammelt  hat.  Einige  Einzelheiten  bieten  die 
Nekrologe  in  der  Freien  Presse  von  Elberfeld-Barmen  16.  August  1895  und 
in  der  Illustrierten  Zeitung  vom  17.  August  1895.  Etwas  inhaltsreicher,  aber 
von  Fehlern  nicht  frei,  ist  Eleanor  Marx-Aveling,  Friedrich  Engels  in 
Sozialdemokratische  Monatsschrift  Wien  30.  November  1890. 

S.  16.  Freiligrath  in  Barmen.  Buchner,  Ferdinand  Freiligrath, 
Lahr  1882,  Bd.  I,  S.  7off.,  26sff.;  Schleußner,  Ferdinand  Freiligrath  in 
Monatsschrift  des  Bergischen  Geschichtsvereins  September-Oktober  1903; 
wichtiger  als  dieser  Aufsatz  ist  die  dort  angegebene  Literatur. 

Kapitel  IL 

S.  20L  Für  die  politische  und  wirtschaftspolitische  Denk- 
weise der  rheinischen  Kaufmannswelt  in  Engels  Jugend  wurden 
neben  dem,  was  er  selbst  darüber  äußert,  benutzt  Treitschke,  Deutsche 
Geschichte  passim,  Joseph  Hansen,  Mevissen,  Bd.  I,  I96ff.,  Mathieu 
Schwann,  Ludolf  Camphausen  als  Wirtschaftspolitiker,  Essen  i9i5,Schön- 
neshofer,  Geschichte  des  Bergischen  Landes,  2.  Aufl.  Elberfeld  1908.  Auch 
die  rheinische  Tagespresse  jener  Jahre  wurde  mehrfach  eingesehen. 

S.  22  f.  Über  Bremen  in  den  dreißiger  und  vierziger  Jahren 
orientierten  von  zeitgenössischen  Schilderungen:  Alexander  Saltwedel 
(Pseudonym  für  Friedrich  Saß),  Hanseatische  Briefe  in  Der  Freihafen,  Altona, 
Jahrgang  1839,  Eduard  Beurmann,  Deutschland  und  die  Deutschen,  Altona 
1838,  Bd.  II,  Kap.  23;  ferner  Drei  Apriltage  in  Bremen  in  August  Lewald's 
Europa  1841  und  Bremer  Skizzen  im  Feuilleton  der  Rheinischen  Zeitung 
8.  Dezember  1842  ff. 

S.  23  £f.  Die  kirchlichen  Gegensätze  in  Bremen  um  diese  Zeit 
haben  eine  weitschichtige  Broschürenliteratur  hervorgebracht.  Genannt 
seien  hier:  Einige  Worte  über  die  Verfluchungsgeschichte  und  den  Kirchen- 
streit in  Bremen  etc.  in  Hallische  Jahrbücher,  herausgegeben  von  Rüge 
und  Echtermeyer  14.  Mai  1841  ff.  und  Proculejus,  Bewegungen  auf  dem 
religiösen  Gebiete  zu  Bremen,  Deutsche  Jahrbücher  12.  September  1842  f. 
Heute  orientieren  am  bequemsten  die  Bremer  Biographien  des  19.  Jahr- 
hunderts, Bremen  19 12.  Vgl.  hier  besonders  die  Namen  Mallet,  Paniel,  Tre- 
viranus.  Über  Konsul  Leupold  unterrichteten  mich  ein  Brief  seiner 
Tochter  Frau  Sophie  Graef-Leupold  an  Herrn  Emil  Engels  jun.  sowie  ein 
Gespräch  mit  Leupolds  betagtem  Sohn,  den  ich  19 12  in  Genua  aufsuchte. 
Für  Pastor  Treviranus,  seine  Familie  und  sein  Haus  vgl.  außer  den 
Bremer  Biographien  noch  Tiesmeyer,  Georg  Gottfried  Treviranus,  Bremen 
1879.  Für  Wichern  und  Treviranus  vgl.  Wichern,  Briefe  S.  227und01den- 
berg,  Wichern  I  S.  434. 

S.  26  ff.    Für   die   theologischen   Parteiungen   der   Zeit  vgl,  die 
bei  Kap.  I  angegebene  Literatur,  die  Hallischen  und  die  Deutschen  Jahr- 
bücher 1838  bis  43  sowie  natürlich  die  Schriften  von  David  Friedrich  Strauß  . 
Bruno  Bauer,  Ludwig  Feuerbach  u.  a. 


Quellen  und  Nachweise«  407 

Kapitel  III. 

S.  37  ö.  Von  den  zusammenfassenden  Darstellungen  über 
das  sog.  junge  Deutschland  erwies  sich  am  brauchbarsten  noch  immer 
Johannes  Proelß,  Das  junge  Deutschland.  Ein  Buch  deutscher  Geistes- 
geschichte, Stuttgart  1892.  Für  einzelnes  vgl.  H.  H.  Houben,  Gutzkow- 
Funde,  Leipzig  190 1.  Herrn  Dr.  Houben  verdanke  ich  auch  die  interessanten 
brieflichen  Äußerungen  Gutzkows  (S.  40)  über  Engels-Oswald.  Zeitgenös- 
sische Äußerungen  und  Urteile  über  das  junge  Deutschland 
wurden  reichlich  berücksichtigt:  so  Arnold  Ruges  in  Deutsche  Jahrbücher 
1839,  S.  1055  und  1066,  Heines  in  Die  romantische  Schule  (Abschnitt  über 
Jean  Paul)  u.  a.  Für  die  Kritik  der  Junghegeischen  Richtung  am 
jungen  Deutschland  vgl.  E(duard  M(eyen)  in  Hallische  Jahrbücher  1839, 
S.  621,  624ff.,  Rüge,  ibidem  1055  und  1066.  Vgl.  ferner  Karl  Biedermann, 
ibidem  ögsff.  Spätere  Urteile  Engels  über  das  junge  Deutsch- 
land: Revolution  und  Konterrevolution  in  Deutschland,  2.  Aufl.,  Stuttgart 
1907,  S.  15  (Verfasser  Engels,  nicht  Marx)  und  in  dem  Brief  an  Bebel  vom 
16.  Dezember  1879,  abgedruckt  in  Bebel,  Aus  meinem  Leben  Bd.  III,  Stutt- 
gart 19 14,  S.  83.  Über  das  junge  Deutschland  in  der  Schweiz  lag  mir  im 
Geheimen  Staatsarchiv  ein  reichliches  Aktenmaterial  vor.  Der  Zusammen- 
hang dieses  jungen  Deutschland  mit  der  verwandten  literarischen  Bewegung 
ergibt  sich  besonders  anschaulich  aus  der  noch  heute  lesenswerten  Artikel- 
serie Die  Geschichte  der  geheimen  deutschen  Verbindungen  in  der  Schweiz 
in  V.  A.  Hubers  Janus  1847  (auch  separat  gedruckt  mit  dem  Untertitel: 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  modernen  Radikalismus  und  Communis- 
mus,  Basel  1847). 

Savignys  Äußerungen  gegen  die  Hegelingen  und  Jungdeutschländer 
(S.  37)  in  Briefwechsel  I.  K.  Bluntschlis  mit  Savigny,  Niebuhr,  Ranke, 
J.  Grimm  und  Ferdinand  Meyer,  herausgegeben  von  Wilhelm  Oechsli,  Frauen- 
feld 1915,  S.  74.  Für  die  Zusammenstellung  des  jungen  Deutschland 
und  der  Junghegelianer  im  Urteil  der  Gegner:  Jahrbücher  der  Grillparzer- 
Gesellschaft  Bd.  XXI  bis  XXIII,  enthaltend  Literarische  Geheimberichte  aus 
dem  Vormärz,  herausgegeben  von  Karl  Glossy  (auch  besonders  erschienen) 
an  verschiedenen  Stellen,  z.  B.  Bd.  XXIII,  S.  27. 

Für  Heinrich  Leos  Polemik  gegen  die  Junghegelianer  vgl. 
in  erster  Reihe  seine  Kampfschrift:  Die  Heg  klingen.  Aktenstücke  und  Be- 
lege zu  der  sog.  Denunziation  der  ewigen  Wahrheit,  Halle  1838  und  2.  Aufl. 
1839.  Gegen  ihn  u.  a.  Rüge,  Der  Pietismus  und  die  Jesuiten  in  Hallische 
Jahrbücher  5.  Februar  1839  und  an  vielen  anderen  Orten.  Für  Wolf  gang 
Menzel  und  die  Junghegelianer:  Hallische  Jahrbücher  6.  August  1839: 
Dr.  Wolfgang  Menzel  und  Hegel.  Die  für  den  Zweck  unserer  Biographie 
beste  Darstellung  der  Junghegelschen  Philosophie  gewährt:  David 
Koigen,  Zur  Vorgeschichte  des  modernen  philosophischen  Sozialismus  in 
Deutschland  (Zur  Geschichte  der  Philosophie  und  Sozialphilosophie  des 
Junghegelianismus)  Bern  190 1.  Es  ist  bedauerlich,  daß  dieses  Erstlingswerk 
des  begabten  Verfassers  in  einem  Auslandsdeutsch  abgefaßt  ist,  das  die  Be- 
nutzung zu  einer  Qual  macht. 

S.  40.  Die  Wirkung  der  Briefe  aus  dem  Wupperthal,  die  Engels 
im  Telegraph  veröffentlichte,  auf  die  frommen  Kreise  in  der  Heimat  bezeugt 
ein  Brief  seines  Freundes  W.  Blank  an  die  Brüder  Graeber  vom  24.  Mai  1839, 
der  sich  im  Engelsschen  Familienarchiv  befindet.  Das  Pseudonym  Fried- 
rich Oswald  wurde  aufgedeckt  durch  den  Aufsatz:  Gustav  Mayer,  Ein 
Pseudonym  von  Friedrich  Engels  im  Archiv  für  die  Geschichte  des  Sozialis- 


^o8  Quellen  und  Nachweise. 

mus  und  der  Arbeiterbewegung,  herausgegeben  von  Karl  Grünberg,  Bd.  4, 
1914.  Vgl.  auch  die  einführenden  Worte  des  Verfassers  zu  seiner  Publikation 
der  Jugendbriefe  in  der  Neuen  Rundschau  19 13.  Diese  Veröffentlichungen 
ermöglichten  es  Max  Adler,  Friedrich  Engels  Anfänge  in  seinem  Sammel- 
band: Wegweiser.  Studien  zur  Geistesgeschichte  des  Sozialismus  Stuttgart 
19 14,  geistesgeschichtlich  zu  umreißen. 

S.  41.  Die  anfängliche  Überschätzung  Becks  zeigt  sich  auch  bei  Rüge, 
Hallische  Jahrbücher  1839,  S.  1337  und  bei  Gutzkow  in  seinem  Essai: 
Vergangenheit  und  Gegenwart  1830  bis  1838  in  dem  Jahrbuch  der  Literatur. 
Erster  Jahrgang  1839,  Hamburg  1839. 

S.  43  !f.  Für  den  großen  Einfluß  Börnes  in  den  ersten  Jahren 
nach  seinem  Tode  vgl.  die  Angaben  bei  Gustav  Mayer,  Die  Anfänge  des  po- 
litischen Radikalismus  in  PreiJJen  etc.,  Zeitschrift  für  Politik  Bd.  VI, 
S.  9  Anm.,  außerdem  Theodor  Mundt,  Heine,  Börne  und  das  sog.  junge 
Deutschland  in  Der  Freihafen,  Altona  1840,  Heft  4,  S.  i85ff.  und  A.  S(tahr) 
in  der  Anzeige  von  Gutzkows  Börnebiographie  in  Hallische  Jahrbücher 
18.  Dezember  1840. 

S.  51  ff.  Für  die  orientalische  Krisis  von  1840  vgl.  Treitschke, 
Deutsche  Geschichte  Bd.  V  und,  besonders  für  die  innerpolitische  Seite  der 
Frage,  Robert  Prutz,  Zehn  Jahre.  Geschichte  der  neuesten  Zeit  1840  bis 
1850,  Leipzig  1850,  Bd.  L  S.  53.  Der  Bericht  Rochows  an  Friedrich 
V/ilhelm  IV.  vom  26.  Februari84i  befindet  sich  unter  den  Zensurakten  über 
die  Hallischen  und  Deutschen  Jahrbücher  im  Geh.  Staatsarchiv  in  Berlin. 

Kapitel  IV. 

S.  58  ff.  Für  die  politische  Bedeutung  der  Junghegeischen 
Schule  vgl.  die  eben  erwähnte  Abhandlung  des  Verfassers  in  Zeitschrift  für 
Politik  Bd.  VI  und  die  dort  in  den  Anmerkungen  gegebenen  Nachweise.  Das 
Verhältnis  der  Junghegelianer  zu  Hegel  wurde  von  den  Hallischen  und  ihrer 
Fortsetzung,  den  Deutschen  Jahrbüchern  in  zahlreichen  Aufsätzen  dargelegt. 
Von  fachmännischen  Darstellungen  vgl.  J.  E.  Erdmann,  Grundriß  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  und  das  Schlußkapitel  von  Kuno  Fischer,  Hegels 
Leben,  Werke  und  Lehre  Bd.  II,  Heidelberg  190 1. 

S.  59  und  passim  besonders  S.  83f.  Für  Marx  Anfänge  vgl.  in  erster 
Reihe  die  sorgfältigen  Kommentare  Mehr ings  zu  Bd.  I  seiner  Ausgabe  des 
Literarischen  Nachlasses  von  Karl  Marx,  Friedrich  Engels  und  Ferdinand 
Lasalle,  Stuttgart  1901,  Mehring,  Karl  Marx,  Geschichte  seines  Lebens, 
Leipzig  1918  erschien  erst,  als  das  Manuskript  dieses  Buches  nahezu  ab- 
geschlossen war. 

S.  60  ff.  Für  die  Polemik  zwischen  Pietisten  und  Junghege- 
lianern wurde  in  erster  Reihe  die  Broschüren-  und  Zeitschriftenliteratur  der 
Zeit  selbst  benutzt:  K.  E.  Schubarth,  über  die  Unvereinbarkeit  der  Hegel- 
schen  Staatslehre  mit  dem  obersten  Lebens-  und  Entwicklungsprinzip  des 
preußischen  Staats,  Breslau  1839,  Köppens  Erwiderung  darauf  im  Tele- 
graph 1839  Nr.  56  und  58,  Heinrich  Leo,  Sendschreiben  an  Görres,  2.  Aufl. 
mit  Vorwort  Halle  1838  und  Die  Hegelingen  etc.  Halle  1838,  die  Erwiderungen 
auf  diese  Angriffe  in  den  Hallischen  Jahrbüchern,  besonders  A.  Rüge,  Die 
Denunciation  der  Hallischen  Jahrbücher  ibid.  27.  und  28.  Juli  1838,  derselbe, 
Leo  und  die  Evangelische  Kirchenzeitung  gegen  die  Philosophie  ibid.  2,  Ok- 
tober ff.  1838,  derselbe,  Der  Pietismus  und  die  Jesuiten  ibid.  5.  Februar 
1839  ff.,  Ludwig  Feuerbach,  Der  wahre  Gesichtspunkt,  aus  welchem  der 


Quellen  und  Nachweise.  ^09 

Leo-Hegelsche  Streit  beurteilt  werden  muß  etc.  ibid.  12.  März  1839  und 
manches  andere. 

S.  63.  Daß  damals  Begüterte  sich  leicht  dem  Militärdienst  entziehen 
konnten,  betont  Engels,  Gewalt  und  Ökonomie  bei  der  Herstellung  des 
neuen  Deutschen  Reiches  (aus  dem  Nachlaß  von  Bernstein  herausgegeben), 
Neue  Zeit  XIV  i  S.  710. 

S.  66  ff.  Die  Stimmung  der  Liberalen  in  den  ersten  Monaten 
der  Regierung  Friedrich  Wilhelms  IV.  Außer  den  Darstellungen 
bei  Prutz  und  bei  Treitschke  wurde  die  Zeitungsliteratur  jener  Jahre  heran- 
gezogen. Vgl.  ferner:  Von  Preußens  Befreiungs-  und  Verfassungskampf.  Aus 
den  Papieren  des  Oberburggrafen  Magnus  von  Brünneck,  herausgegeben  von 
Paul  Herre,  Berlin  1914.  Besondere  Einblicke  gewährte  dem  Verf.  überdies 
die  Benutzung  des  unveröffentlichten  Nachlasses  Johann  Jacob ys. 

S.  68.  Für  das  Verhältnis  der  preußischen  Regierung  zur 
junghegelschen  Schule  Max  Lenz,  Geschichte  der  Berliner  Universität 
Bd.  III  und  Gustav  Mayer:  Die  Anfänge  des  politischen  Radikalismus  im 
vormärzlichen  Preußen,  Zeitschrift  für  Politik  Bd.  VI. 

S.  69.  Engelsals  Artillerist.  Ungedruckte  Briefe  an  seine  Schwester 
Marie,  ein  ungedruckter  Brief  Eduard  Flottwells  an  Johann  Jacoby  vom  No- 
vember 1841.  Auf  Engels  näheres  Verhältnis  zu  Michelet  wird  hingewiesen  in 
(Merz)  Schelling  und  die  Theologie,  Berlin   1845,  S.  27. 

S.  71  f.  Schellings  Berufung  und  die  Polemik  gegen  ihn. 
Lenz,  Geschichte  der  Universität  Berlin  III,  S.  479  und  IV,  S.  S73ff.;  Aus 
Schellings  Leben.  In  Briefen  Bd.  III,  Leipzig  1870,  S.  168;  Literatur- 
angaben bei  (Merz)  a.  a.  O.  S.  22ff.  und  bei  Kuno  Fischer,  Schelling, 
Bd.  II.  Den  Bäweis,  daß  Schelling  und  die  Offenbarung  von  Engels  stammt, 
bei  Gustav  Mayer,  Ein  Pseudonym  von  Friedrich  Engels  in  Grünbergs  Ar- 
chiv IV  1914.  Heute  überholt  ist  die  zu  ihrer  Zeit  dankenswerte  Betrach- 
tung: , (Schelling  und  die  Offenbarung",  Auch  ein  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Berliner  ,, Freien"  von  Doubleyou  (Pseudonym)  in  Dokumente  des  So- 
zialismus, herausgegeben  von  Eduard  Bernstein  Bd.  I  1902,  S.  436ff. 

S.  82  ff .  Für  den  Kreis  der  Freien  vgl.  besonders  die  Schilde- 
rung bei  J.  H.  Mackay,  Max  Stirner,  Sein  Leben  und  sein  Werk,  3.  Aufl. 
(Privatausgabe),  Berlin-Charlottenburg  I9i4und  Gustav  Mayer  in  Zeitschrift 
für  Politik  VI.  Daß  J.  F.  Heß  ein  Ableger  des  Literarischen  Comptoirs  war, 
ergibt  sich  aus  (Bluntschli),  Die  Kommunisten  in  der  Schweiz  nach  den 
bei  Weitling  vorgefundenen  Papieren.  Wörtlicher  Abdruck  des  Kommissio- 
nalberichtes  an  die  H.  Regierung  des  Standes  Zürich,  Zürich  1843,  S.  59.  Für 
Moses  Heß  vgl.  die  Angaben  bei  Kap.  V. 

S.  95  f.  Der  liberale  Pressefeldzug  von  1842.  Prutz,  Zehn 
Jahre  a.  a.  O.,  Treitschke,  Bd.  V,  a.  a.  O.,  Gustav  Mayer  in  Zeitschrift  für 
Politik  VI.  Von  Darstellungen  Beteiligter:  Bruno  Bauer,  Vollständige  Ge- 
schichte der  Parteikämpfe  in  Deutschland  während  der  Jahre  1842  bis  1846, 
3  Bände,  Charbttenbutg  1847  und  Edgar  Bauer  ,,1842'  in  Literaturzeitung, 
herausgegeben  von  Brun)  Bauer  Bd.  II,  Juli  1844  (beide  Darstellungen  ehr 
parteiisch). 

Daß  Engels  der  Königsberger  Zeitung  gelegentliche  Beiträge  sandte,  er- 
sehe ich  aus  seinem  mir  vom  Adressaten  freundlich  zur  Verfügung  gestellten 
Brief  an  Dr.  Conrad  Schmidt  vom  26.  November  1887.  Die  Geschichte  der 
Rheinischen  Zeitung:  J.Hansen,  Mevissen  Bd.  I,  Mehring,  Nach- 
laß etc.  Bd.  I,  Gustav  Mayer  in  Zeitschrift  für  Politik  VI,  E.  Gothein  in 


410  Quellen  und  Nachweise. 

Die  Stadt  Köln  im  ersten  Jahrhundert  unter  preußischer  Herrschaft  1815 
bis  1915,  Köln  19 16.  S.  97.  Die  Briefe  Bruno  Bauers  an  Marx  konnten  im 
Marx-Nachlaß  eingesehen  werden. 

S.  101.  Der  Deutsche  Bote  aus  der  Schweiz.  G.  Fleury,  Le 
Poöte  Georges  Herwegh,  Paris  1911,  Einundzwanzig  Bogen  aus  der 
Schweiz,  herausgegeben  von  Herwegh  Zürich  1843,  Vorwort,  dazu  unge- 
druckte Briefe  von  Fröbel  und  Folien  an  Johann  Jacoby  und  den  Brief  Her- 
weghs  an  Ludwig  Feuerbach  vom  3.  September  1842. 

Kapitel  V. 

S.  104.  Für  Ludwig  Feuerbachs  Einfluß  auf  den  deutschen 
Sozialismus  war  uns  am  wichtigsten  Friedrich  Engels,  Ludwig  Feuerbach 
und  der  Ausgang  der  klassischen  deutschen  Philosophie,  5.  Aufl.,  Stuttgart 
1910  (verfaßt  1886).  Von  anderen  Darstellungen  vgl.  die  zeitgenössische  von 
Moses  Heß,  Über  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland,  Neue  Anek- 
dota,  herausgegeben  von  Karl  Grün,  Darmstadt  1845  (geschrieben  im  Mai 
1844),  von  modernen  besonders  Koigen  a.a.O.,  und  Emil  Hammacher, 
Zur  Würdigung  des  , .wahren"  Sozialismus  in  Grünbergs  Archiv  Bd.  I. 

S.  108  ff.  Moses  Heß.  Eine  ausführliche  Biographie  bliebe  noch  zu 
schreiben.  Die  Allgemeine  Deutsche  Biographie  berücksichtigt  Heß  ebenso 
wenig  wie  Edgar  Bauer  und  Ludwig  Buhl.  Als  ein  erster  Versuch  recht  ver- 
dienstvoll ist  Theodor  Zlocisti,  Moses  Heß,  eine  biographische  Studie,  Berlin 
o.  J.  Für  die  philosophische  Seite  das  Wichtigste  gibt  Koigen,  daneben  Ham- 
macher a.a.O.,  dem  Politiker  suchen  gerecht  zu  werden  Mehring,  Ge- 
schichte der  deutschen  Sozialdemokratie,  3.  Aufl.,  Stuttgart  1906  und  Georg 
Adler,  Die  Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen  Arbeiterbewegung  in 
Deutschland,  Breslau  1885.  Heß  äußere  Erscheinung  schildert  Arnold  Rüge 
in  Zwei  Jahre  in  Paris,  Leipzig  1846,  Bd.  I,  S.  31,  39.  Einige  Angaben,  die 
verwertet  wurden,  fanden  sich  in  den  Zensurakten  des  Geh.  Staatsarchivs 
unter  verschiedenen  Rubriken.  Ein  Verzeichnis  von  Heß  Aufsätzen  aus 
dieser  Frühzeit  bei  Gustav  Mayer  in  Zeitschrift  für  Politik  VI,  S.  75  Anm. 

S.  109  f.  Das  Athenaeum.  Ein  Exemplar  der  Zeitschrift  findet  sich 
auf  der  Staatsbibliothek  in  Berlin.  Die  Zensurakten  auf  dem  Geh.  Staats- 
archiv, die  benutzt  werden  konnten,  konstatieren  die  überaus  geringe  Ver- 
breitung des  Blattes. 

S.  111.  Fourier  und  die  deutsche  Publizistik.  Das  Buch 
Rochaus  erschien  unter  dem  durchsichtigen  Pseudonym  Churoa,  vgl.  ferner 
Lippert,  Charles  Fourier  in  Hallische  Jahrbücher  19.  September  1839,  R. 
(Paris),  Das  Fouriersche  Sozialsystem,  seine  Anhänger  und  Erklärer,  Frei- 
hafen 1841,  2.  Viertel  Jahrsheft. 

S.  113.  Für  Heinrich  Heines  Ucteil  über  Sozialismus  und  Kommu- 
nismus bis  zum  Beginn  seiner  Freundschaft  mit  Marx,  vgl.  besonders  die 
Briefe  vom  20.  Juni  und  12.  Juli  1842  in  den  Französischen  Zuständen. 
Die  Abweichungen  zwischen  der  Buchausgabe  und  den  Originalkorrespon- 
denzen in  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  dürfen  nicht  übersehen 
werden.  Man  beachte  auch  das  Feuilleton  der  Rheinischen  Zeitung  vom 
14.  März  1843  über  Atta  Troll  und  den  Atta  Troll  selbst. 

S.  114.  Heß  in  der  Rheinischen  Zeitung  über  Kommunis- 
mus. Der  Kommunnismus  in  Frankreich,  19.  und  21.  April  1842  und  Die 
politischen  Parteien  in  Deutschland,  11.  September  1842. 

S.  116.  Der  alte  van  Haar  hat  seine  Philippika  gegen  die  Maschinen 
nach  der  Familientradition  unter  dem  Namen  seines  Schwagers  Snethlage 


Quellen  und  Nachweise.  41  j 

veröffentlicht.  Auf  die  Broschüre  weist  hin  Friedrich  von  Raumer,  England 
in  1835,  Bd.  II,  S.  II.  Der  Artikel  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie 
über  Bernhard  Moritz  Snethlage  erwähnt  die  Schrift  nicht, 

S.  119  f.  Lorenz  Stein,  Daß  sein  Werk  kein  plötzlich  aufsteigender 
Meteor  gewesen  sei,  betonten  bisher  am  nachdrücklichsten  (Guido  Weiß), 
Zur  Geschichte  des  Sozialismus  in  der  von  ihm  herausgegebenen  Zeitschrift 
Die  Waage  1875  S.  584  sowie  F.  Mehring  in  Geschichte  der  deutschen  Sozial- 
demokratie, Bd.  I,  S.  252f,  und  in  Nachlaß  etc.  Bd,  I,  S.  186.  Äußerungen 
von  Heß  über  das  Steinsche  Werk  in  dem  Aufsatz  Die  Philosophie  der  Tat 
in  den  Einundzwanzig  Bogen  aus  der  Schweiz,  S.313  und  in  seinem  Aufsatz 
Über  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland  in  den  Neuen  Anekdota. 
Da  Heß  in  der  Philosophie  der  Tat  auf  die  Kritik  der  Steinschen  Schrift  im 
letzten  Quartal  der  Rheinischen  Zeitung  verweist,  so  ist  nicht  von  der  Hand 
zu  weisen,  daß  diese,  die  im  Beiblatt  vom  16.  März  1843  steht,  obgleich 
einiges  dagegen  spricht,  ihn  zum  Verfasser  hat.  Dort  steht  übrigens  eine 
Charakteristik  der  Revolution,  die  dem  jungen  Lassalle  in  der  Erinnerung 
haften  geblieben  sein  mag:  ,,Jede  Revolution  ist  nicht  selbstzeugend,  son- 
dern sie  bringt  ein  bis  dahin  verborgenes  und  zurückgehaltenes  neues  Leben 
nur  gewaltsam  und  plötzlich  zur  Erscheinung"  etc.  Die  Beziehungen  zwi- 
schen Heß  und  Lassalle  verdienten  eine  genauere  Untersuchung.  Steins  Be- 
richte an  den  preußischen  Minister  des  Innern  befinden  sich  im  Geh,  Staats- 
archiv größtenteils  unter  einer  besonderen  Nummer,  zum  kleineren  Teil 
auch  in  den  Akten  betr.  die  revolutionären  Vereine  unter  den  wandernden 
Handwerksgesellen.  Über  das  Verhältnis  von  Marx  zu  Lorenz  Stein 
gibt  es  eine  ziemliche  Literatur:  vgl.  besonders  Bela  Földes,  Bemerkungen 
zu  dem  Problem  Lorenz  Stein-Karl  Marx  in  den  Jahrbüchern  für  National- 
ökonomie und  Statistik  Bd,  102  (1914),  Peter  von  Struve,  Stein,  Marx  und 
der  ,, wahre  Sozialismus"  (Teil  II  der  Studien  und  Bemerkungen  zur  Ent- 
■wicklungsgeschichte  des  wissenschaftlichen  Sozialismus  in  Neue  Zeit  XV 
Bd.  2,  1897),  Emil  Hammacher,  Das  philosophisch-ökonomische  System 
des  Marxismus,  Leipzig  1909,  S.  62ff.,  Koigen  a.  a,  O,  S,  239 ff,,  Friedrich 
Muckle,  Saint  Simon,  Jena  1908,  S.  327,  Johannes  Plenge,  Marx  und 
Hegel,  Tübingen  19 11,  S.  64ff,  Wie  viele  der  anderen  überschätzt  auch 
Plenge  Steins  Einfluß  auf  Marx  deshalb,  weil  er  Moses  Heß  keine  Beachtung 
schenkt.  Marx  selbst  äußerte  sich  über  Lorenz  Stein  in  seiner  Anzeige  von 
Karl  Grüns  Buch:  Die  soziale  Bewegung  in  Frankreich  und  Belgien  in  dem 
von  Otto  Lüning  herausgegebenen  V/estphälischen  Dampfboot  1847.  Der 
Artikel,  der  den  Untertitel  führt:  Über  die  Geschichtsschreibung  des  wahren 
Sozialismus,  wurde  von  P,  von  Struve  in  der  Neuen  Zeit  XIV  2  (1896)  neu 
abgedruckt.  Engels  über  Stein:  vgl.  Ein  Fragment  Fouriers  über  den 
Handel  in  Deutsches  Bürgerbuch  Darmstadt  1846,  S.  53  (neu  abgedruckt  in 
Mehring,  Nachlaß  etc.,  Bd.  II)  und  Das  Volk,  London  6.  August  1859.  Den 
letzten  Aufsatz  druckte  neu  Nettlau,  Friedrich  Engels  über  Karl  Marx 
in  Sozialistische  Monatshefte  Januar  1900, 

S.  121.  Friedrich  Wilhelm  IV,  und  der  Kommunismus.  Die 
Kabinettsorder  des  Königs  betreffend  die  Umtriebe  der  kommunistischen 
Vereine  in  der  Schweiz,  datiert  Sanssouci  22.  September  1843,  findet  sich 
in  Faszikel  4  der  Acta  betreffend  die  revolutionären  Vereine  der  wandernden 
Handwerksgesellen,  Akten  des  Ministeriums  des  Innern  und  der  Polizei, 
Geh,  Staatsarchiv,  Für  Gutzkow  und  die  Kommunisten:  Gutzkow, 
Briefe  aus  Paris,  2  Bände,  Leipzig  1842,  Telegraph  Jahrgang  1842,  (Bluntschli) 
Die  Kommimisten  in  der  Schweiz  a,  a,  O,    Weitlings  Zeitschriften  in 


A12  Quellen  und  Nachweise. 

Berlin:   Rheinische  Zeitung  30.  September    1842,  Die  Berliner  Familien- 
häuser. 

S.  122.  Bruch  des  politischen  mit  dem  philosophischen 
Radikalismus.  Darstellung  bei  Mehring,  Nachlaß  etc.  I,  S.  191  und  bei 
Gustav  Mayer  in  Zeitschrift  für  Politik,  Bd.  VI,  vgl.  auch  Marx  an  Rüge 
30.  November  1842  in  Dokumente  des  Sozialismus  Bd.  I,  S.  391  ff.  S.  123.  Die 
erste  Begegnung  zwischen  Marx  und  Engels  schildert  ein  von 
dem  verstorbenen  Adressaten  mir  zur  Verfügung  gestellter  Brief  Engels  an 
Mehring  aus  seiner  letzten  Lebenszeit.  Zum  größten  Teil  ist  dieser  Brief  be- 
reits abgedruckt  in  Mehrings  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie 
Bd.  I,  S.  382.  Hier  findet  sich  auch  der  Hinweis  auf  den  damaligen  Brief- 
wechsel zwischen  Engels  und  den  Brüdern  Bauer. 

Kapitel  VI. 

Briefe  von  Engels  aus  der  Zeit  seines  ersten  englischen  Aufent- 
halts ließen  sich  nicht  auffinden.  Um  so  wichtiger  bleiben  seine  Berichte 
an  die  Rheinische  Zeitung  und  den  Schweizer  Republikaner,  die 
bisher  noch  niemals  benutzt  wurden,  sowie  seine  große  Abhandlung  über 
die  Lage  Englands,  die  nun  alle  in  der  Sammlung  der  Schriften  des  jungen 
Engels  ihren  Platz  erhielten.  Einige  Ergänzungen  liefert  dazu  das  zweite 
Kapitel  von  Marx  und  Engels,  Die  Heilige  Familie,  das  die  Überschrift  führt: 
Die  kritische  Kritik  als  Mühleigner  oder  Die  kritiscke  Kritik  als  Herr  Jules  Fau- 
cher, von  Engels.  Reichlich  herangezogen  wurden  natürlich  Engels  Abhand- 
lungen in  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  (Mehring,  Nachlaß  Bd.  I) 
und  sein  Buch  über  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England,  2.  Aufl. 
Stuttgart  1892.  Vgl.  ferner  Engels,  Ludwig  Feuerbach  etc.  S.  47  und 
Engels,  Über  historischen  Materialismus  in  Neue  Zeit  XI  l  (1893). 

S.  125.  Heß  über  England.  Rheinische  Zeitung  19.  April  1842 
Feuilleton  (Das  Rätsel  des  Jahrhunderts)  und  Beiblatt  der  Rheinischen  Zei- 
tung vom  22.  November  1842. 

Chartistenbewegung  und  englischer  Sozialismus  der  vier- 
ziger Jahre.  Das  umfangreichste  Quellen material  verarbeitete  bisher  die 
gründliche  Darstellung  von  M.  Beer,  Geschichte  des  Sozialismus  in  England, 
Stuttgart  1913.  Eine  wesentlich  erweiterte  englische  Ausgabe,  die  dem  Ver- 
fasser noch  nicht  erhältlich  war,  ist  1919  erschienen.  Eine  gute  Ergänzung 
bietet  das  Werk  Hermann  Schlüters,  Die  Chartistenbewegung,  ein  Beitrag 
zur  sozialpolitischen  Geschichte  Englands,  New  York  1916.  Aus  primären 
Quellen  schöpft  auch  Th.  Rothstein,  Verkünder  des  Klassenkampfes  vor 
Marx  in  Neue  Zeit  XXVI  i  (1908).  Aus  der  zeitgenössischen  Literatur  über 
den  Chartismus  sei  hier  nur  erwähnt:  Kaufmann,  Der  Chartismus  in  Eng- 
land, Zeitung  für  die  elegante  Welt  1840  Nr,  66  und  67.  Für  das  Verhältnis 
der  Chartisten  zur  Freihandelsbewegung  vgl.  auch  den  sicher  von  Engels 
herrührenden  gegen  die  Kölnische  Zeitung  polemisierenden  Artikel  der 
Neuen  Rheinischen  Zeitung  ♦*  Köln  31.  Juli  1848  (Mehring,  Nachlaß  III, 
S.  119,  besonders  122). 

S.  129.  Die  Reformbill  von  1832.  Für  Marx  Urteil  über  die  Re- 
formbill vgl.  seinen  Artikel  in  der  Neuen  Oderzeitung  vom  4.  August  1855, 
abgedruckt  in  Gesammelte  Schriften  von  Marx  und  Engels  1852 — 1862,  her» 
ausgegeben  von  N.  Rjasanoff,  Stuttgart  1917,  Bd.  II,  S.  325f. 

S.  130f.  Cobden.  Das  wichtigste  Werk  bleibt  die  Biographie  von 
John  Morley,  Life  of  Richard  Cobden,  2  Bände,  neue  Ausgabe  London  1902. 
Über  die  Antikornzoll -Liga  vgl.  am  bequemsten  den  Artikel  von  E.  Leser 


Quellen  und  Nachwelse.  ^I^ 

über  die  Freihandelsschule  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  und 
die  daselbst  angegebene  Literatur.  S.  133.  Bismarck  und  O'Connell. 
Erich  Marcks  Bismarck,  Bd.  I,  Stuttgart   1909,  S.  164. 

S.  134.  Über  Mary  Burn  erhielt  ich  mündliche  Mitteilungen  von 
Herrn  Eduard  Bernstein  und  von  Herrn  Karl  Kautsky  in  Berlin. 

S.  135.  Deutsche  Reisende  über  das  damalige  England. 
Friedrich  von  Raum  er,  England  im  Jahre  1835,  Leipzig  1836,  2  Bände,  und 
zweite  verbesserte  und  mit  einem  Bande  vermehrte  Auflage,  Leipzig  1842. 
Mevissen  über  die  Chartisten  in  dem  Artikel  Englische  Zustände  in  Rhei- 
nische Zeitung  13.,  18.  und  20.  September  1842.  Dazu  vgl.  Hansen,  Me- 
vissen Bd.  I,  S.  264  ff. 

S.  140  ff.  Über  Robert  Owen:  Heinrich  Herkner,  Owen  im  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften  3.  Aufl.,  M.  Beer  a.  a.  O.,  Helene  Simon 
Robert  Owen,  Jena  1905.  Der  Behauptung  John  Spargos  (John  Spargo,  Karl 
Marx,  Sein  Leben  und  sein  Werk,  Leipzig  19 12),  daß  Engels  mit  Owen  per- 
sönlich eng  vertraut  wurde,  ist  umso  weniger  Glauben  beizumessen,  als  das 
ganze  Werk  des  amerikanischen  Verfassers  von  tatsächlichen  Irrtümern 
wimmelt.     Über   Engels   und   Carlyle  vgl.   die   Angaben   bei   Kap.  VIL, 

S.  145.  Über  John  Watts  äußerte  sich  Engels  später  noch  mehrfach, 
so  in  seinen  Briefen  an  Karl  Marx  vom  19.  September  1846,  17.  Dezember  1850, 
5.  Februar  und  21.  August  1851.  S.  146  f.  James  Leach  nennt  er  seinen 
„guten  Freund"  in  Westphälisches  Dampfboot  1846,  S.  21,  Nachträgliches 
über  die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England.  Auch  Harne y  wird  in  dem 
Briefwechsel  mit  Marx  oft  erwähnt.  Nicht  viel  Inhalt  hat  der  Nekrolog  auf 
Harney  von  Wilhelm  Liebknecht,  Ein  Vorachtundvierziger  in  Neue  Zeit 
XI  I  (1893).  Am  besten  unterrichtet  wohl  auch  über  ihn  Beer  a.  a.  O.  Der 
Nachruf  von  Harney  auf  Engels  wurde  veröffentlicht  im  Londoner  Social 
Democrat  Vol.  I,  1897,  S.  7. 

S.  148.  Fourier  und  Engels.  Engels  hat  sich  auch  späterhin  oft 
über  den  großen  französischen  Sozialisten  geäußert.  Vgl.  besonders  Ein 
Fragment  Fouriers  über  den  Handel  in  Deutsches  Bürgerbuch  Bd.  II,  S.  55 
(neu  abgedruckt  bei  Mehring,  Nachlaß  etc.  Bd.  II,  S.  407 ff.),.  Die  Entwick- 
lung des  Sozialismus  von  der  Utopie  zur  Wissenschaft,  3.  Aufl.  Hottingen- 
Zürich  1883,  besonders  S.  I2f.,  Herrn  Eugen  Dührings  Umwälzung  der 
Wissenschaft,  5.  Aufl.  Stuttgart  1904,  besonders  S.  283  und  3i5f.,  Ursprung 
der  Familie  etc.  7.  Aufl.  Stuttgart  1896,  S.  XXIII,   187  etc. 

S.  150.  Engels  und  Proudhon.  Für  das  Verhältnis  des  jungen 
Engels  zu  Proudhon  wichtig  ist  Marx  Hinweis  in  der  Heiligen  Familie,  Meh- 
rings  Nachlaßausgabe  Bd.  I,  S.  127.  Wie  ablehnend  sich  Engels  später  gegen 
Proudhon  verhielt,  beweist  u.  a.  ein  für  die  Neue  Rheinische  Zeitung  be- 
stimmter Leitartikel  von  Ende  April  1849,  der  aber  nicht  zum  Abdruck  kam. 
Ich  verdanke  seine  Kenntnis  Herrn  Eduard  Bernstein,  der  das  Manuskript 
besitzt.  Dort  wird  von  Proudhon  ,,mit  gutem  Gewissen"  behauptet,  daß 
alles,  was  Qu'est  ce  que  c'est  la  Propri6t6?  und  La  philosophie  de  la  misdre 
,,an  Kritik  der  bestehenden  Verhältnisse"  enthalten,  ,,sich  auf  Null  reduziert". 
Wie  Weitling  ist  auch  Proudhon  jetzt  für  Engels  nur  noch  ,,der  störrische 
hochfahrende  Autodidakt",  der  alle  Autoritäten  vor  ihm  mit  gleicher  Ver- 
achtung behandle,  alle  bisherige  Geschichte  für  Faselei  erkläre  und  ,,sich 
selbst  sozusagen  als  einen  neuen  Messias"  hinstelle.  Über  die  Geschichte 
des  Sozialismus  in  Frankreich.  Neben  den  älteren  Werken  von 
Stein,   Lexis  u.a.  und  den  Artikeln  Sozialismus  von  Karl  Grünberg  im 


^14  .Quellen  und  Nachweise. 

Wörterbuch  der  Volkswirtschaft  und  von  Georg  Adler  im  Handwörterbuch 
der  Staatswissenschaften  3.  Aufl.  vgl.  die  von  Jean  Jaurds  herausgegebene 
Histoire  socialiste,  Paul  Louis,  Geschichte  des  Sozialismus  in  Frankreich, 
deutsch  von  Hermann  Wendel,  Stuttgart  1908  und  natürlich  die  ganze  Lite- 
ratur über  die  einzelnen  bedeutenden  Sozialisten. 

S.  150.  Heinrich  Leo  über  den  Kommunismus.  Evangelische 
Kirchenzeitung  4.  und  8.  November  1843.  Vom  katholischen  Standpunkt 
aus  nahmen  damals  Stellung  in  den  Historisch-politischen  Blättern  für  das 
katholische  Deutschland  1843  Bd.  2  die  Artikel  Über  die  vorherrschenden 
Tendenzen  der  Gegenwart  und  Der  Kommunismus  in  der  Schweiz  und  dessen 
politische  und  kirchliche  Bedeutung. 

S.  151.  Moses  Heß  und  Buntschli.  Daß  Heß  im  Namen  der  deut- 
schen Kommunisten  in  Paris  eine  Dankadresse  an  Buntschli  sandte,  be- 
richtete der  Gesandte  von  Arnim  am  26.  September  1843  an  den  Minister 
des  Auswärtigen  von  Bülow  (Geh.  Staatsarchiv,  Akten  des  Ministeriums  des 
Innern  und  der  Polizei  über  Die  revolutionären  Vereine  unter  den  wandern- 
den Handwerksgesellen).  Auch  der  Gesandte  gibt  zu,  daß  durch  Buntschlis 
Bericht  zum  mindesten  in  Paris  „die  Zwecke  der  Kommunisten  mehr  ge- 
fördert als  gehemmt  worden  seien". 

S.  151  f.  Über  Weitling:  Mehrings  biographische  Einleitung  zur 
Jubiläumsausgabe  der  Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit,  Berlin  1908, 
Kaier,  Wilhelm  Weitling.  Seine  Agitation  und  Lehre  im  geschichtlichen 
Zusammenhang  dargestellt.  Hottingen  und  Zürich  1887,  Georg  Adler, 
Die  Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen  Arbeiterbewegung  in  Deutschland 
a.  a.  O.  Weitere  Literaturangaben  bei  dem  Artikel  Weitling  im  Handwörter- 
buch der  Staatswissenschaften.  Mancherlei  Aufschlüsse  gewährten  die  be- 
reits erwähnten  Akten  des  Geh.  Staatsarchivs  über  die  wandernden  Hand- 
werksgesellen. 

S.  154.  Die  Deutsch-Französischen  Jahrbücher.  Vgl.  die  auf 
Grund  der  Akten  des  Geh.  Staatsarchivs  gegebene  Darstellung  Gustav  Mayers 
Der  Untergang  der  Deutsch-Französischen  Jahrbücher  und  des  Pariser  Vor- 
wärts in  Grünbergs  Archiv  für  die  Geschichte  des  Sozialismus  und  der  Ar- 
beiterbewegung Band  HI  1913.  Dazu  noch  die  Einleitungen  in  Mehrings 
Nachlaßbänden  I  und  H.  Exemplare  des  Pariser  Vorwärts  befinden  sich, 
beide  nicht  ganz  vollständig  aber  sich  ergänzend,  auf  der  Stadtbibliothek  in 
Wien  und  in  der  Bibliotheque  Nationale  in  Paris.  Das  erstere  stand  mir  zur 
Verfügung.  Ein  vollständiges  Exemplar  des  Schweizer  Republikaner  aus  der 
Zeit  von  Fröbels  Redaktion,  das  aus  dem  Nachlaß  von  Herweghs  Schwager 
Gustav  Siegmund  stammt,  befindet  sich  im  Besitz  des  Verfassers.  Rüge  und 
der  Kommunismus.  Ruges  letztes  Programm  in  den  Deutschen  Jahr- 
büchern enthält  die  Abhandlung:  Selbstkritik  des  Liberalismus,  ibid.  2.  bis 
4.  Januar  1843  (vgl.  dazu  u.  a.  Bruno  Bauer,  Vollständige  Geschichte  usw. 
Bd.  III,  S.  23 ff.).  Ein  Licht  auf  Ruges  Stellung  zu  den  kommunistischen 
Gedanken  in  der  voraufgehenden  Zeit  wirft  seine  Anzeige  von  Ernst  Moritz 
Arndts  Erinnerungen  aus  dem  äußeren  Leben  in  den  Hallischen  Jahrbüchern 
9.  Oktober  1841.  Für  die  folgenden  Jahre  vgl.  seinen  Anteil  an  Ein  Brief- 
wechsel von  1843  in  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern,  ferner  Rüge, 
Zwei  Jahre  in  Paris,  Leipzig  1846,  Bd.  I,  seinen  Aufsatz  Der  teutsche  Kom- 
munismus in  Die  Opposition,  herausgegeben  von  K.  Heinzen,  Mann- 
heim 1846,  Rüge,  Briefwechsel  und  Tagebuchlätter  aus  den  Jahren  1835  bis 
1880,  herausgegeben  von  P.  Nerrlich,  Berlin  1886,  Bd.  I,  endlich  auch  Moses 
Heß,  Über  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland  a.a.O. 


Quellen  und  Nachweise.  415 

S.  155.  Engels  und  Herwegh,  Die  Begegnung  in  Ostende  im 
September  1843  wird  erwähnt  in  dem  Buche  ,,1848",  Briefe  von  und  an 
Georg  Herwegh,  herausgegeben  von  Marcel  Herwegh,  München  1896,  S.  88. 
Julius  Fröbel  und  der  Schweizer  Republikaner.  Moses  Heß  in 
Grüns  Neue  Anekdota  S.  216,  GeorgAdler,  Geschichte  etc.  S.  47,  (Bluntschli) 
Die  Kommunisten  in  der  Schweiz  etc.  S.  ygii.  Über  das  Programm  in  Nr.  47 
des  Schweizer  Republikaner  vgl,  besonders  Adler  a.a.O.,  Bruno  Bauer 
a.a.O.  Bd.  ni,  S.  54ff.,  Bluntschli  a.a.O.  S.  54ff.  und  Fröbels  eigene 
Äußerungen  daselbst  S.  63 f.  in  dem  Brief  an  August  Becker. 

Kapitel  VII. 

Die  Literatur  für  dieses  Kapitel  ist  in  weitem  Ausmaß  die  gleiche,  wie 
die  für  das  vorhergehende.  Zu  S.  158  vgl.  Akte  betreffend  die  Maßregeln 
gegen  die  Verbreitung  kommunistischer  Theorien  durch  Druckschriften  (Mi- 
nisterium des  Innern  und  der  Polizei)  Geh.  Staats-Archiv,  ferner,  ebenfalls 
auf  den  Akten  des  Staats- Archivs  beruhend,  den  schon  erwähnten  Aufsatz 
Gustav  Mayer,  Der  Untergang  der  Deutsch-Französischen  Jahrbücher  und 
des  Pariser  Vorwärts  in  Grünbergs  Archiv  III  (19 13). 

Von  Carlyles  Werken  benutzt  wurden  die  Sozialpolitischen  Schriften 
fn  der  dreibändigen  Ausgabe  Paul  Hensels  Göttingen  1895  und  Helden, 
Heldenverehrung  und  das  Heldentümliche  in  der  Geschichte  in  der  alten 
Übersetzung  von  J.  Neuberg,  Berlin  1853.  Aus  der  Literatur  über  Carlyle 
seien  hier  nur  angeführt  Paul  Hensel,  Thomas  Carlyle  Stuttgart  1901 
(Frommanns  Klassiker  der  Philosophie  XI)  und  G.  von  Schulze-Gaever- 
nitz,  Carlyle,  seine  Welt-  und  Gesellschaftsanschauung  2.  Aufl.  Berlin  1897. 

S.  180.  Für  Engels  Stellung  zum  Problem  des  Staats  vgl.  neuer- 
dings, besonders  wegen  der  instruktiven  Aufzählung  aller  seiner  Äußerungen 
dazu  aus  seinen  verschiedenen  Epochen:  Lenin,  Staat  und  Revolution,  Ber- 
lin-Lichterfelde 1919. 

S.  181.  Julius  Waldecks  Brief  an  Johann  Jacoby  (unveröffent- 
licht) ist  vom  9.  Mai  1844  datiert. 

Kapitel  VIIL 

S.  188  ff.  Engels  und  Marx.  Über  ihr  geistiges  Verhältnis 
hat  sich  Engels  selbst  sehr  häufig  geäußert.  Erwähnt  seien  hier:  (Engels), 
Karl  Marx  in  der  von  Guido  Weiß  herausgegebenen  Zukunft  1 1.  und  18.  August 
1869,  Engels  Gedächtnisrede  an  Marx  Grabe,  Sozialdemokrat  (Zürich)  1883 
Nr.  13,  der  Aufsatz  im  Londoner  Volk  vom  6.  und  20.  August  1859,  abge- 
druckt in  Sozialistische  Monatshefte  1900.  Dazu  kommen  das  Vorwort  zur 
dritten  Auflage  von  Marx  Achtzehntem  Brumaire  etc.  1885,  die  Vorrede 
vom  28.  Jvmi  1883  zur  Neuauflage  des  Kommunistischen  Manifests,  Ludwig 
Feuerbach  und  der  Ausgang  der  klassischen  deutschen  Philosophie  5.  Aufl. 
Stuttgart  19 10,  S,  36 — ^37  Anmerkung,  das  Vorwort  von  1885  zu  Marx,  Ent- 
hüllungen über  den  Kommunistenprozeß  S.  7  und  8.  Auch  an  brieflichen 
Äußerungen  fehlt  es  nicht.  Genannt  seien  der  Brief  an  Joh.  Philipp  Becker 
vom  14.  Oktober  1884,  mitgeteilt  von  Rjasanoff  im  Kampf  vom  September 
19 13  (auch  Vorwärts  4.  September  19 13)  und  der  Brief  an  Sorge  vom  15.  März 
1883  in  Briefe  und  Auszüge  aus  Briefen  von  Joh.  Ph.  Becker,  Jos.  Dietzgen, 
Friedr.  Engels,  Karl  Marx  u.  a.  an  F.  A.  Sorge  und  andere,  Stuttgart  1906, 
S.  i86ff.  An  vielen  von  diesen  Stellen  äußert  sich  Engels  auch  über  Marx  ge- 
schichtliche Bedeutung.  Vgl.  hierzu  noch  besonders  den  bei  Marx  Tod  an 
W.Liebknecht  geschriebenen  Brief  in   Wilh.  Liebknecht,  Karl  Marx  zum 


4l6  Quellen  und  Nachweise. 

Gedächtnis  S.  iQf.  Marxverb  eitet  sich  über  sein  Verhältnis  zu  Engels  auf  S.VI 
des  Vorworts  von  Zur  Kritik  der  Politischen  Ökonomie,  Berlin  1859.  Dort 
spricht  er  auch  über  die  Beiträge  zu  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern. 
Ü  er  sein  eigenes  und  Marx  Verhältnis  zu  Hegel  äußerte  Engels 
sich  am  ausführlichsten  1885  im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  seines  Buches 
Herrn  Eugen  Dührings  Umwälzung  der  Staatswissenschaft.  Von  Schilde- 
rungen der  äußeren  Erscheinung  des  jungen  Marx  seien  genannt 
die  von  Karl  Schurz,  Lebenserinnerungen  I,  142 f.  und  die  von  Annenkow 
in  dem  (russischen)  Boten  Europas,  abgedruckt  in  Neue  Zeit  I  (1883)  und  in 
Bakunins  Sozialpolitischem  Briefwechsel  mit  Herzen  und  Ogarjow  Stuttgart 
1895,  S.  400'  Über  die  äußere  Erscheinung  des  jungen  Engels  Harne  ya.  a.  O. 
und  Leßner,  Vor  1848  und  nachdem,  Deutsche  Worte  XVHI  (1898).  Von 
Versuchen  zu  einer  allgemeinen  Wertung  von  Engels  Persönlichkeit 
seien  noch  genannt  W.  Liebknecht,  Friedrich  Engels  im  Neue- Welt-Ka- 
lender für  1897,  Mehring,  Friedrich  Engels  in  Neue  Zeit  XXIH  2  S.  553, 
Mehring,  Karl  Marx.  Geschichte  seines  Lebens  Leipzig  1918,  P.  Lafargue, 
Persönliche  Erinnerungen  an  Friedrich  Engels,  Neue  Zeit  XXHI  2,  S.  551. 

S.  204K.  Die  Lage  der  arbeitenden  Klasse  in  England.  S.204.  Zu 
der  Widmung  an  die  englischen  Arbeiter  sei  bemerkt,  daß  die  erste 
englische  Übersetzung  des  Buches  erst  vierzig  Jahre  später  erschienen  ist. 
Seine  englische  Widmung  wollte  der  Verfasser  damals  apart  abziehen  lassen 
und  an  die  englischen  Parteichefs,  Literaten  und  Parlamentsmitglieder 
verschicken  (Brief  an  Marx  14,  November  1844).  Anzunehmen  ist,  daß  dieser 
Vorsatz  auch  ausgeführt  wurde.  S.  206  ff.  Engels  und  Buret.  Engels 
starke  oder  gar  vollständige  Abhängigkeit  von  Buret  behaupten  namentlich 
Andler,  Le  manifeste  communiste  S.  35  und  S.  79  sowie  Ramus,  Friedrich 
Engels  als  Plagiator  in  Die  Urheberschaft  des  Kommunistischen  Manifests, 
herausgegeben  von  Pierre  Ramus,  Berlin  1906,  Freier-Arbeiter-Verlag. 
S.  208 ff.  Die  deutschen  zeitgenössischen  Rezensenten  der  Lage  der 
arbeitenden  Klasse.  V.A.  Huber  in  Janus  1845  I^»  S.  387,  OttoLüningin 
Deutsches  Bürgerbuch  Bd.  H,  S.  222  und  Bruno  Hildebrand,  National- 
ökonomie der  Gegenwart  und  Zukunft,  Frankfurt  a.  M.  1848  passim.  H. 
nannte  Engels  hier  ,,den  begabtesten  und  kenntnisreichsten  unter  allen  deut- 
schen Sozialschriftstellern".  S.  215.  Über  Püttmanns  Entlassung  vgl.  Heß 
an  Marx  Köln  17.  Jan.  1845.  In  diesem  Brief  findet  sich  das  Zitat  aus 
Buhl.  Auch  Jungs  Brief  an  Marx  vom  2.  Juni  1844  befindet  sich  im 
Marx-Nachlaß.  An  einer  zusammenhängenden  Darstellung  der  sozialen 
Krisis  von  1844  und  der  durch  sie  ausgelösten  ersten  sozialreforme- 
rischen  Bewegung  im  deutschen  Bürgertum  fehlt  es  noch.  Es  wäre  auch 
•wünschenswert,  daß  die  Bestrebungen  der  Vereine  für  das  Wohl  der  arbeiten- 
den Klassen  eine  monographische  Behandlung  erführen.  Briefe  Lassalles  an 
seinen  Vater  aus  dem  Frühling  1844,  die  sich  in  Lassalles  Nachlaß  befinden, 
dürften  zeigen,  daß  der  schlesische  Weberaufstand  und  was  mit  ihm  zu- 
sammenhing, auf  seine  Bekehrung  zum  Kommunismus  starken  Einfluß  aus- 
geübt haben.  Die  wertvollste  Darstellung  dieses  Aufstandes  ist  noch  heute 
die  Wilhelm  Wolf f  s.  Das  Elend  und  der  Aufruhr  in  Schlesien.  1845  im  ersten 
Band  des  Deutschen  Bürgerbuch  erschienen,  wurde  der  Aufsatz  von  Meh- 
ring in  seiner  Ausgabe  von  Wilhelm  Wolffs  Gesammelten  Schriften  Berlin 
i909(SozialistischeNeudruckeni)  wieder  abgedruckt.  Benutzt  wurden  von  mir 
auch  u.  a.  die  Akta  betreffend  die  Unterdrückung  des  im  Juni  1844  unter  den 
Webern  in  Schlesien  stattgehabten  Aufstandes  (Min.  d.  Inn.  Rep.  77  Tit.  507 
Nr.  6  Bd.  L    Geh.  Staats- Archiv).  Vgl.  auch  Ernst  Dronke,  Berlin,  Frank- 


Quellen  und  Nachweise.  ^17 

fürt  1846,  Bd.  I,  S.  283.  S.  216.  Über  die  kommunistische  Agitation  in 
der  Rheinprovinz  waren  aufschlußreich  die  Akten  betreffend  die  Über- 
wachung der  politischen  Stimmung  in  der  Rheinprovinz  (Geh.  Staats-Archiv). 
Auch  über  das  Schicksal  des  Rheinischen  Jahrbuchs  benutzte  ich  Zensur- 
akten auf  dem  Geh.  Staats-Archiv.  Die  Beschlagnahme  des  ersten  Bandes 
wurde  durch  Erlaß  an  alle  Oberpräsidenten  am  25.  September  1845  ange- 
ordnet. S.  219.  Über  den  Kreis  der  Westfälischen  Kommunisten:  Heß 
an  Engels  und  Marx  17.  Juli  1846  (Marx-Nachlaß),  Dunckers  Reisebericht 
vom  18.  Oktober  1845  Geh.  Staats-Archiv.  Duncker  nennt  unter  den  Per- 
sonen, mit  denen  Lüning  und  sein  Kreis  Beziehungen  unterhielten,  außer 
Engels,  Heß,  Köttgen  auch  Bürgers,  Jung,  Bergenroth,  Engels  Schwager 
Blank  junior  u.  a.  S.  220.  Der  Gesellschaftsspiegel.  Vgl.  Mehring,  Nach- 
laß etc.  n,  S.  349ff.  und  die  Zensurakten  des  Geh.  Staats-Archivs.  Bodel- 
schwingh  erhielt  Heft  I  am  27.  Mai  1845;  den  Plan  hatte  Heß  dem  Verleger 
schon  im  Januar  unterbreitet.  Mehring  nimmt  an,  daß  der  vierte  Abschnitt 
des  einleitenden  Kapitels  des  ersten  Hefts,  der  Die  gesellschaftlichen  Zustände 
der  zivilisierten  Welt  überschrieben  ist,  ,, offenbar"  von  Engels  herrühre. 
Aber  dieser  Abschnitt  beruft  sich  für  die  Lage  der  englischen  Industrie- 
arbeiter ausschließlich  auf  Buret,  dem  „strengste  Gewissenhaftigkeit"  und 
,, stete  Angabe  der  Quellen"  nachgerühmt , werden.  War  das  eigne  Werk  auch 
noch  nicht  abgeschlossen,  so  hätte  Engels  doch  schwerlich  verfehlt,  eigene 
Beobachtungen  heranzuziehen.  Auch  der  Stil  läßt  nicht  Engels  als  Verfasser 
erkennen. 

S.223£f.  Die  kommunistischen  Versammlungen  in  Elberfeld. 
Engels  selbst  in  Rheinische  Jahrbücher  Bd.  I,  neu  abgedruckt  bei  Mehring, 
Nachlaß  etc.  Bd.  II,  S.  393,  Der  Kommunismus  in  Rheinland-Westfalen  Ja- 
nus  1847,  S.  722ff.,  Adolf  Schults  B3richte  sind  neu  abgedruckt  bei  Hanns 
Wegener,  Elberfeld  in  den  vierziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts,  Monats- 
schrift des  Bergischen  Geschichtsvereins  1913,  Jos.  Hansen,  Mevissen  Bd.  I, 
S.  356,  Zlocisti,  Moses  Heß  S.  54ff.,  S.  225.  Für  Bergenroths  Projekte  lagen 
zwei  ungedruckte  Briefe  von  ihm  an  Johann  Jacoby  vom  13.  November  und 
2.  Dezember   1844  vor. 

S.  229.  Engels  und  List.  Vgl.  u.a.  Engels  Aufsatz  im  Londoner 
Volk  6.  August  1859  (neu  abgedruckt  bei  M.  Nettlau,  Friedrich  Engels  über 
Karl  Marx  in  Sozialistische  Monatshefte  Januar  1900).  Inwieweit  Engels  in 
Einzelheiten  sich  vielleicht  doch  von  List  bee  nflussen  ließ,  müsste  einmal 
besonders  untersucht  werden. 

Kapitel  IX. 

S.  235.  Von  dem  Gerücht,  daß  Engels  nach  Amerika  gegangen 
sei,  nimmt  ein  undatierter,  aber  wohl  noch  aus  dem  Mai  stammender  Brief 
von  Heß  an  Engels  Kenntnis,  der  noch  allerhand  Mitteilungen  über  das 
Schicksal  des  Gesellschaftsspiegels  enthält.  Engels  in  Belgien  und  Bel- 
gien in  den  vierziger  Jahren.  L.  Bartrand,  Histoire  de  la  Democra- 
tie  et  du  Socialisme  en  Belgique  Bruxelles  1907  passim,  Le  Debat  Social  (Bi- 
bliotheque  Royale  Brüssel),  Isay,  Liberalismus  und  Arbeiterfrage  in  Belgien 
1830 — 52  München  1915,  Michotte,  Etudes  sur  les  th6ories  6conomiques 
qui  domindrent  en  Belgique  de  1830  ä  1886  Louvain  1904,  Karl  Grün,  Die 
soziale  Bewegung  in  Frankreich  und  Belgien  Darmstadt  1845.  Grüns  Fest- 
stellung (S.  45),  daß  die  freilich  noch  einflußlose  belgische  Demokratie  da- 
mals antifranzösisch  war,  wird  mir  bestätigt  durch  das  im  Lassalle-Nachlass 
befindliche  Original  des  im  Herr  Vogt  nur  fragmentarisch  abgedruckten  Briefs 

Mayer,  Friedrich  Engels.    Bd.  1  37 


^l8  Quellen  und  Nachweise. 

Jottrands  an  Marx  vom  19.  Mai  1848.  Folgende  Stelle  hat  Marx  ausgelassen: 
,Je  ne  regarde  pas  comme  entierementinprobable  que  noussoyonsdelivresde 
notre  royaute  avant  que  les  Frangais  fassent  leur  premier  mouve  ment  de  guerre; 
dans  ce  cas  nous  desirerions  fort  que  les  Allemands  fussent  disposes  ä  nous 
appuyer  dans  la  volonte  que  nous  aurons  de  resister  alors  comme  rep  ublique 
a  tout  Invasion  francaise  ä  supposer  que  nous  en  fussions  menaces".  Jottrand 
war  bei  dem  Engels  und  Marx  nahestehenden  Debat  Social  die  leitende  Per- 
sönlichkeit. S.  235  f.  Die  gemeinsame  Reise  nach  England.  Die 
Exzerpte,  die  Marx  in  Manchester  aus  den  älteren  englischen  Ökonomen 
machte,  befinden  sich  in  seinem  Nachlaß.  Engels  Artikel  für  The  New  Moral 
World  und  The  Northern  Star  wurden  noch  vDr  dem  Kriege  für  mich  auf  der 
Bibliothek  des  British  Museum  kopiert.  S.  239  Marx  Thesen  über  Feuer- 
bach hat  Engels  im  Anhang  zu  seinem  Buch  über  Feuerbach  abgedruckt. 

Die  Deutsche  Ideologie.  S.  249  ff.  Vgl.  die  Angaben  auf  S.  403. 
Das  auf  die  Nachwelt  überkommene  Manuskript  dieses  umfangreichen  ge- 
meinsamen Werkes  von  Marx  und  Engels  bedürfte  einer  gründlichen  mono- 
graphischen Untersuchung.  Wahrscheinlich  würde  diese  zu  dem  Ergebnis 
kommen,  daß  zum  mindesten  nicht  alle  Bestandteile  des  vorhandenen  Manu- 
skripts jenem  druckfertigen  Exemplar  angehören,  dem  die  vergebliche  Rund- 
reise zu  zahlreichen  Verlegern  auferlegt  war.  Viele  Blätter  tragen  dafür  zu 
sehr  die  Spuren  eines  ersten  Konzepts,  auch  finden  sich  auf  ihnen  Ausdrücke, 
die  selbst  Marx  und  Engels  niemals  für  druckfähig  angesehen  hätten,  neue 
Zusammenhänge  beginnen  ohne  jeden  Übergang,  vmd  die  Paginierung  ist 
keine  durchgehende.  Dabei  sollte  man  nicht  ignorieren,  daß  Marx  im  Vor- 
wort von  Zur  Kritik  der  politischen  Ökonomie  Berlin  1859,  S.  VI  von  ,,zwei 
starken  Oktavbänden"  spricht,  während  die  uns  erhaltenen  Papiere  Folio-  und 
Quartblätter  sind.  Freilich  zeigen  diese  Blätter  die  Spuren  ,,der  nagenden 
Kritik  der  Mäuse",  von  der  Marx  dort  spricht.  Der  Verfasser  erhebt  keines- 
wegs Anspruch,  mit  diesen  paar  Hinweisen  die  Frage  endgültig  geklärt 
zu  haben. 

S.  242  ff.  Bruno  Bauers  Erwiderung  auf  die  Heilige  Familie  steht  in 
der  Wiga.adschen  Vierteljah-rsschrift  1845,  Bd.  III,  S.  ißSff.,  Engels  erste 
Replik  findet  sich  im  zweiten  Band  des  Gesellschaftsspiegels  unter  Nach- 
richten und  Notizen  auf  S.  6  als  Korrespondenz  aus  Brüssel  vom  20.  No- 
vember. Die  Übereinstimmung  dieser  Korrespondenz  mit  dem  auf  den 
Heiligen  Bruno  bezüglichen  Abschnitt  des  Leipziger  Konzils  drängt  sich  auf. 

Kapitel  X. 

S.  264  f.  Über  den  Bruch  mit  Weitung  wie  über  so  vieles  Tat- 
sächliche, was  sich  auf  die  frühe  Parteigeschichte  bezieht,  hat  Mehr  in  g  die 
erste  Klarheit  verbreitet.  Außer  auf  seine  Einleitungen  in  Bd.  II  der  Nach- 
laßausgabe, auf  seine  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie  und  jetzt 
auf  seinen  Marx  sei  verwiesen  auf  seine  treffhche  Einleitung  zu  seiner  Ju- 
biläumsausgabe von  Weitlings  Garantien  der  Harmonie  und  Freiheit  Berlin 
1908  (Sozialistische  Neudrucke  II).  Benutzt  wurden  femer  einige  im  Marx- 
Nachlaß  vorhandene  Briefe  und  auf  dem  Geheimen  Staats- Archiv  die  Zensur- 
akten über  das  V/estfälische  Dampfboot.  S.  267  ff.  Engels  und  Grün. 
Im  Nachlaß  von  Moses  Heß  findet  sich  ein  Brief  Grüns  an  diesen,  datiert 
Paris  I.  September  1845,  in  dem  es  heißt:  ,,Was  Sie  nun  meine  ,, Streitig- 
keiten" mit  den  Brüsselern  nennen,  so  weiß  ich  da  von  keinen  Streitigkeiten. 
Ich  hatte  Engels  in  Köln  durch  Sie  kennen  gelernt,  und  wie  Sie  gesehen 
haben,  lieb  gewonnen.  Mit  Marx  und  Bürgers  stand  ich  hier  meines  Wissens 


Quellen  und  Nachweise.  41^ 

in  guter  Form,  ich  tat  für  Marx  namentlich  in  den  Zeitungen  und  bei  seinen 
Verlagswerken,  was  ich  konnte.  Nun  mußte  ich  hinterher  erfahren,  daß  dieses 
gute  Vernehmen  bloß  einseitig  gewesen  war,  daß  man  sich  sehr  schroff 
und  wie  Sie  sagen  ,, tadelnd"  über  mich  ausgesprochen  habe.  Wäre  meine 
Korrespondenz  in  der  Triere.  Zeitung  oder  was  sonst  schuld,  so  konnte  ich 
von  Marx,  zumal  als  von  meinem  alten  Universitätsfreunde,  dessen  Tüch- 
tigkeit ich  stets  anerkannte,  wohl  einen  freundlichen  Wink  erhalten."  Un- 
veröffentlichte Briefe  Grüns  an  Proudhon  erwähnt  M.  Nettlau  in  Grün- 
bergs Archiv  VIII,  S.  400.  Eine  monographische  Arbeit  über  Grüns  Stellung 
in  der  deutschen  sozialistischen  Bewegung  gibt  es  noch  nicht,  wäre  aber 
dankbar.  Bis  dahin  vgl.  über  ihn  Koigen  a.a.O.  und  Hammacher,  Zur 
Würdigung  des  ,, wahren"  Sozialismus  in  Grünbergs  Archiv  Bd.  I. 

S.  272  ff.  Das  Manuskript  über  den  deutschen  Sozialismus 
trägt  keine  Überschrift;  es  besteht  aus  10  Blättern  zu  4  Seiten  in  Großoktav. 
Das  Manuskript  war  als  eine  Fortsetzung  des  Abschnitts  der  Ideologie  über 
den  wahren  Sozialismus  gedacht.  Es  beginnt  deshalb  mit  dem  Satz:  ,,Seit 
die  obigen  Schilderungen  wahrer  Sozialisten  geschrieben  wurden,  sind  meh- 
rere Monate  verflossen".  Daß  Adalbert  von  Bornstedt  ein  ,, politischer 
Industrieritter"  war,  wie  ihn  zu  seiner  großen  Entrüstung  die  Elberfclder 
Zeitung  vom  20.  Mai  1847  nannte,  ist  heute  nicht  mehr  zu  bestreiten.  Als 
Spitzel  stand  er  lange  Jahre  in  den  Diensten  der  Preußischen  Regierung.  Engels 
und  Marx  benutzten  ihn,  wußten  wohl  aber  ziemlich  genau,  woran  sie  mit 
ihm  waren.  Dies  zeigt  ein  Brief  Freiligraths,  der  mit  beiden  in  Brüssel  viel 
verkehrte,  vom  7.  März  1845.  Dort  heißt  es:  „Adalbert  von  Bornstedt,  zum 
Schein  auf  preußische  Requisition  aus  Frankreich  ausgewiesen,  ist  im  Ernst 
hier,  um  auf  uns  Flüchtlinge  zu  vigilieren  und  nebenbei,  um  ein  Blatt  für 
Zollvereinsinteressen  zu  gründen.  Ein  sonderbarer  Bursche."  Literarische 
Geheimberichte  aus  dem  Vorinärz,  herausgegeben  von  Karl  Glossy,  Bd.  IV, 
S.  229  (Jahrbuch  der  Grillparzergesellschaft  23.  Jahrgang).  Die  Deutsche 
Brüsseler  Zeitung  wurde  hauptsächlich  nach  dem  Exemplar  von  Herrn 
Dr.  Theodor  Mauthner  in  Wien  benutzt,  dem  für  die  Herleihung  des  überaus 
seltenen  Blattes  großer  Dank  gebührt.  Eingesehen  wurden  auch  die  Exem- 
plare auf  der  Bibliotheque  Royale  in  Brüssel  und  auf  dem  Archiv  der  Sozial- 
demokratischen Partei  in  Berlin. 

S.  277  ff.  Heinzen  und  Engels.  Marx  i\ntwort  an  Heinzen  ist  ab- 
gedruckt bei  Mehring,  Nachlaß  etc.  II,  S.  454.  Engels  Aufsatz  gegen  Heinzen 
wurde  mit  Vorbemerkungen  von  N.  Rjasanoff  neu  gedruckt  im  Wiener 
Kampf  vom  i.  Dezember  19 14.  Heinzen  machte  aus  seinen  Polemiken  die 
Broschüre:  Die  Helden  des  teutschen  Kommunismus.  Dem  Herrn  Karl  Marx 
gewidmet,  Bern  1848.  In  Der  Deutsche  Tribun  Heft  2,  1847  rühmt 
Heinzen  sich,  seine  Angriffe  auf  den  Kommunismus  schon  im  Oktober  oder 
November  1844  in  der  Kölnischen  Zeitung  begonnen  zu  haben.  Schon  vor- 
her habe  er  in  der  Aachener  Zeitung  die  Kommunisten  vor  einem  Bruch 
mit  dem  ,, politischen  Radikalismus"  gewarnt.  Die  kommunistische  Doktrin, 
heißt  es  hier,  entnerve  die  politische  Opposition  total.  ,,Nur  ein  untergeord  - 
netes  Subjekt  kann  Kommunist  sein."  S.  281  ff.  Engels  Karikatur 
auf  Friedrich  Wilhelm  IV.  ist  reproduziert  in  dem  demnächst  erscheinen- 
den Werk  Friedrich  Engels,  Schriften  der  Frühzeit,  herausgegeben  von 
Gustav  Mayer,  Berlin  1919,  Julius  Springer.  Von  Engels  schriftlichen  Bei- 
trägen für  die  Deutsche  Brüsseler  Zeitung  hat  Rjasanoff  neuerdings  einige 
der  wichtigsten  im  Wiener  Kampf  abgedruckt,  nämlich  Die  Bewegung  von 
1847  am  1.  Februar  1913  und  Der  Anfang  vom  Ende  in  Österreich  am  i.  Juni 

27* 


420  Quellen  und  Nachweise. 

19 13.  In  Mahrings  Nachlaßausgabe  Bd.  II  findet  man  Der  Schweizer  Bürger- 
krieg.   Vgl.  dazu  auch  Mehrings  Einleitung  S.  37Sff. 

S.  292  ££.  Die  Anfänge  eines  internationalen  Zusammen- 
schlusses der  Proletarier  und  die  Entstehung  des  Kommunisten- 
bundes. Th.  Rothstein,  Aus  der  Vorgeschichte  der  Internationale  (Er- 
gänzungshefte zur  Neuen  Zeit  Nr.  17)  Oktober  1913,  Georg  Adler,  Die 
Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen  Arbeiterbewegung  in  Deutschland  Bres- 
lau 1885,  Mehring,G2schichtederdeutschenSozialdemokratieBd.I,Mehring, 
Der  Bund  der  Kommunisten,  Neue  Zeit  XXIX,  Bd.  2,  H.  Schmidt  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Bundes  der  Geächteten,  Neue  Zeit  XVI,  i.  Demokratisches 
Taschenbuch  für  das  Deutsche  Volk,  herausgegeben  von  Weller,  Leipzig, 
1849,  S.  264  f.  überhaupt  die  Literatur  über  den  Bund  der  Gerechten  und  den 
Kommunistenbund.  Auch  die  Akten  über  die  Bünde  der  Geächteten  und 
der  Gerechten  auf  dem  Geheimen  Staatsarchiv  wurden  eingesehen.  Engels 
äußert  sich  über  den  Kommunistenbund  hauptsächlich  im  Züricher  Sozial- 
demokrat vom  13.  März  1887,  im  Vorwort  zu  Marx,  Enthüllungen  über  den 
Kommunistenprozeß  zu  Köln  und  in  Brackes  Volkskalender  für  1878.  Diese 
Literatur  gilt  auch  z.  T.  bereits  für  die  Vorgeschichte  des  Kommunistischen 
Manifests.  S.  298.  Die  Kommunistische  Zeitschrift  kam  mir  zum 
ersten  Mal  auf  dem  Geh.  Staats-Archiv  zu  Gesicht;  das  Ex.  findet  sich  am 
Schluß  der  im  übrigen  unwichtigen  Akten  betreffend  die  Herausgabe  der 
Deutschen  Londoner  Zeitung.  Die  Deutsche  Brüsseler  Zeitung  druckte  aus 
der  Zeitschrift  am  19.  September  den  Aufsatz:  Die  deutschen  Auswanderer 
nach.  Die  Anfertigung  einer  Photographie  wurde  mir  bereitwillig  gestattet. 
Daß  Schapper  der  eigentliche  Redakteur  war,  haben  in  London  damals  noch 
lebende  Veteranen  des  Deutschen  Arbeitervereins  vor  Jahren  Herrn  M.  Beer 
bestätigt.  S.  298  f.  Für  die  internationale  demokratische  Bewegung 
in  Brüssel  vgl.  außer  der  Deutschen  Brüsseler  Zeitung  und  dem  Debat  Social 
besonders  Bertrand  a.  a.  O.  Die  einschlägigen  Abschnitte  erschienen  auch 
in  der  Neuen  Zeit  XXIII  2.  Engels  und  Marx  Londoner  Reden  sind 
jetzt  am  bequemsten  zugänglich  in  dem  Abdruck  bei  N.  Rjasanoff,  Marx 
und  Engels  über  die  Polenfrage  in  Grünbergs  Archiv  Bd.  VI,  S.  i7Sff.  und 
französisch  bei  Andler,  Le  Manifeste  Communiste  (Bibliotheque  Socialiste 
Nr.  8),  Paris  1901  S.  76ff.  Vgl.  auch  Dokumente  des  Sozialismus,  heraus- 
gegeben von  Ed.  Bernstein  I,  S.  2i8ff.  und  Mehring,  Einiges  zur  Partei- 
geschichte, Neue  Zeit  XX  Bd.  I  (1902),  S.  545. 

S.  300.  Für  Engels  Mitarbeit  an  der  Reforme  siehe  oben  S.  404. 
Vgl.  auch  zwei  Friedrich  Engels  zugeschriebene  Artikel  in  der  Pariser  R6- 
forme  (1847)  in  Dokumente  des  Sozialismus  Bd.  I,  S.  218.  S.  301  ff.  Für 
die  Geschichte  des  Kommunistischen  Manifests  vgl.  Engels, 
Grundsätze  des  Kommunismus.  Aus  dessen  Nachlaß  herausgegeben  von 
Eduard  Bernstein  Berlin  1914,  die  Einleitungen  der  Verfasser  zu  den  ver- 
schiedenen Auflagen  des  Kommunistischen  Manifests,  Bernstein,  Karl 
Marx  und  sein  Lebenswerk  in  der  Marxnummer  von  Der  wahre  Jakob  Stutt- 
gart, 17.  März  1908,  Leßner,  Erinnerungen  eines  Arbeiters  an  Karl  Marx, 
Neue  Zeit  XI  i,  S.  748.  Mit  Vorsicht  zu  benutzen  sind:  Andler,  Le  Mani- 
feste Communiste.  Introduction  historique  et  commentaire  Tome  II,  Paris 
1910,  besonders  aber  Die  Urheberschaft  des  Kommunnistischen  Manifests, 
herausgegeben  von  Pierre  Ramus  (Mitarbeiter:  Tscher kesoff,  Labriola,  Ramus) 
Berlin  1906  und  W,  Tscherkesoff ,  Precurseurs  de  l'Internationale  (Bi- 
bliotheque des  Temps  Nouveaux  Nr.  i6)  Bruxelles  1899.  Die  dogmenge- 
schichtliche Seite  der  Literatur  über  das  Manifest  brauchte  hier  natürlich 


Quellen  und  Nachweise.  ^2i 

nicht  mehr  besonders  berücksichtigt  zu  werden.  In  NeueZeit  X  Bd.  i,  S.581, 
Der  Sozialismus  in  Deutschland  urteilt  Engels  über  das  Manifest:  ,,Das 
Kommunistische  Manifest  vom  Januar  1848  bezeichnet  die  Verschmelzung 
beider  Strömungen,  eine  Verschmelzung,  vollendet  und  besiegelt  im  Glut- 
ofen der  Revolution,  wo  sie  alle,  Arbeiter  wie  Ex-Philosophen,  ihren  Mann 
redlich  gestanden  haben." 

Kapitel  XI. 

Die  wichtigste  Quelle  für  dieses  und  das  folgende  Kapitel  ist  natürlich 
die  Neue  Rheinische  Zeitung.  S.  312.  Engels  Ausweisung  aus 
Frankreich.  Stephan  Born  behauptet  in  seinen  Erinnerungen  eines  Acht- 
undvierzigers, Leipzig  1898,  S.  71,  es  habe  sich  bei  dieser  Ausweisung  um 
Folgendes  gehandelt:  Engels  sei  von  dem  ihm  befreundeten  deutschen  Kunst- 
maler Ritter  davon  unterrichtet  worden,  daß  ein  französischer  Graf  sich  von 
seiner  Maitresse  getrennt  habe,  ohne  in  irgend  einer  Weise  für  sie  zu  sorgen. 
Diesem  Grafen  habe  Engels  gedroht,  die  ganze  Sache  in  die  Öffentlichkeit 
zu  bringen,  wenn  er  seine  Menschenpflicht  gegen  die  Verlassene  nicht  zu 
erfüllen  gedenke.  Der  Graf  habe  hierauf  eine  Beschwerde  an  den  Minister 
gerichtet  und  dieser  habe  Engels  und  Ritter  ausgewiesen.  Hat  sich  der 
Fall  wirklich  so  verhalten,  so  ist  eine  Ähnlichkeit  mit  Lassalles  Vorgehen  in 
der  Hatzfeldtschen  Angelegenheit  nicht  zu  verkennen.  Leider  gelang  es  mir 
unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  nicht,  der  Angelegenheit  auf  den  Grund 
zu  gehen.  In  der  Sitzung  der  Brüsseler  Demokratischen  Gesellschaft  vom 
20.  Feboiar  antwortete  Engels  auf  einen  von  der  französischen  Regierung 
im  Moniteur  Parisien  veröffentlichten  Artikel  über  seine  Ausweisung.  Aber 
ich  vermochte  augenblicklich  weder  des  Moniteur  Parisien  habhaft  zu  werden, 
noch  festzustellen,  ob  die  Brüsseler  Tagespresse  damals  über  den  Fall  be- 
richtete. Herr  Camille  Huysmans  in  Brüssel  hatte  die  Liebenswürdigkeit, 
wenn  auch  ohne  Erfolg,  das  Wochenblatt  Debat  Social  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt durchzusehen.  S.  312  f.  Für  Engels  Abreise  aus  Brüssel 
nach  Paris  vgl.  Bertrand  a.a.O.,  für  die  Wirkung  der  Pariser  Februar- 
revolution in  Brüssel  benutzte  ich  ebenfalls  Bertrand  sowie  Akten  des  Ministe- 
riums des  Auswärtigen.  Noch  am  9.  Februar  hatte  der  Minister  d'Hoffschmidt 
sich  sehr  sicher  gefühlt.  In  einem  Rundschreiben  von  diesem  Tage  an  die 
belgischen  Vertreter  im  Ausland  hatte  er  Belgien  als  eines  der  ganz  wenigen 
Länder  Europas  gerühmt,  ,,que  n'agite  ou  n^?  menace  aucune  commotion" 
und  stolz  hinzugefügt:  es  gebe  in  Belgien  weder  eine  radikale  noch  eine 
republikanische  Partei.  Die  extremen  Ideen  verkörperten  sich  nur  in  einigen 
Persönlichkeiten  ohne  Einfluß,  ohne  gemeinsames  Band,  ohne  Möglichkeit 
zu  handeln.  Als  aber  am  26.  Februar  um  ein  Uhr  früh  die  Nachricht  von  der 
Pariser  Revolution  eintraf,  bemächtigte  sich  doch  der  Minister  wie  des  Kö- 
nigs große  Erregung.  Für  die  Vorgänge  in  Brüssel  in  diesen  Tagen  vgl. 
Engels  Vorwort  zu  Wilhelm  Wolff,  Die  Schlesische  Milliarde,  neu  abgedruckt 
in  Mehrings  Ausgabe  von  Wolffs  gesammelten  Schriften.  Dazu  Stephan  Born 
a.  a.  0.  S.  75ff.  und  8off.  und  in  der  Festnummer  des  Brüsseler  Peuple  zu 
Marx  25.  Todestag  Bertrand,  Karl  Marx  ä  Bruxelles.  Engels  hatte  sich  in 
Saint  Josse  am  25.  August  1845  polizeilich  angemeldet.  Er  wohnte  dort  Rue 
de  l'Alliance  7,  Marx  im  Nebenhause  Nr,  5.  Der  Wortlaut  des  Beschlusses 
des  von  London  nach  Brüssel  verlegten  Zentralkomitees  des  Kommunisten- 
bundes, dieses  nach  Paris  weiter  zu  verlegen,  findet  sich  in  einer  fehlerhaften 
französischen  Abfassung  im  Geh.  Staats-Archiv  bei  den  Akten  über  Marx. 
S.  313,     Die    siebzehn   Punkte    des   Kommunistenbundes   sind    aus 


422  Quellen  und  Nachweise. 

der  Berliner  Zeitungshalle  vom  5.  April  1848  neuerdings  abgedruckt  forden 
bei  Gustav  Lüders,  Die  demokratische  Bewegung  in  Berlin  im  Oktober  1848 
Berlin  u.  Leipzig  1909  S.  315f.  Die  deutschen  Arbeiter  in  Paris  und 
die  deutschen  Legionen,  Engels,  Zur  Geschichte  des  Bundes  der 
Kommunisten,  Vorwort  zu  Marx,  Enthüllungen  usw.  S.  I2ff.  W.  Lieb- 
knecht, Marx  zum  Gedächtnis,  Nürnberg  1896,  S.  33f.  (Emma  Herwegh), 
Zur  Geschichte  der  deutschen  demokratischen  Legion  aus  Paris.  Von  einer 
Hochverräterin.  Neu  abgedruckt  in  dem  von  Marcel  Herwegh  mit  gewohnter 
Liederlichkeit  herausgegebenen  Sammelsurium:  Briefe  von  und  an  Georg 
Herwegh  1848,  München  1896,  O.  von  Corvin-Wiersbitzki,  Aus  dem  Leben 
eines  Volkskämpfers,  Amsterdam  1861,  Bd.  III  Kap.  i.  Die  Äußerungen 
Herweghs  stehen  in  einem  Brief  an  Joh.  Jacoby  (ungedruckt),  der  nicht  da- 
tiert ist.  ,,Ich  kann  den  Parlamentstrab  nicht  einhalten",  heißt  es  dort, 
„und  gehe  meinen  Sturmschritt  weiter,  ich  mag  die  Republik  nicht  votieren 
lassen,  sondern  will  sie  zu  machen  suchen,  sei's  auch  im  entferntesten  Winkel 
Deutschlands.  Einmal  ein  fait  accompli,  so  nehmtihr  sie  doch  alle  an.  Glückt's 
nicht  und  kommt's  gar  nicht  zum  Versuch,  so  geh'  ich  hin,  wo  ich  herge- 
kommen, was  ich  auch  tun  würde,  wenn's  glückte,  denn  von  der  deutschen 
Freiheit  auch  in  einer  Republik  hab'  ich  keine  gar  großen  Begriffe.  —  Es 
geht  mir  mit  der  Republik  wie  mit  den  Frauen,  ich  liebe  sie  aus  erster  Hand, 
d.  h.  aus  der  Hand  des  Volks  durch  eine  Revolution.  Geht  das  nicht,  nun  so 
bin  ich  vielleicht  auch  nicht  zu  skrupulös,  sie  aus  der  Eurigen  zu  empfangen." 
Nach  Sebastian  Seiler,  Das  Komplott  vom  13.  Juni  1849  oder  der  letzte 
Sieg  der  Bourgeoisie  in  Frankreich,  Hamburg  1850,  S.  21  hätte  Marx  die 
deutschen  Arbeiter  aufgefordert,  in  Paris  zu  bleiben.  S.  S17  ff.  Die  Stim- 
mung in  Deutschland.  Marx  (Verf.  Engels),  Revolution  und  Konter- 
revolution in  Deutschland  2.  Aufl.  Stuttgart  1907,  Jungs  Brief  an  Heß  im 
Marx-Nachlaß,  Dronkes  Brief  an  die  Zentralbehörde  des  Kommunistenbundes 
aus  Coblenz,  5.  Mai  1848  datiert  (Partei- Archiv),  Bakunin  an  Annenkoff 
Köln  17.  April  1848  in  Michael  Bakunins  sozialpolitischem  Briefwechsel  etc. 
S.  9;  Radowitz  über  die  Gefahr  einer  kommunistischen  Republik  Fr.  Mei- 
necke, Radowitz  und  die  deutsche  Revolution  S.  69.  S.  318  ff .  Die  Neue 
Rheinische  Zeitung,  Engels,  Marx  und  die  Neue  Rheinische  Zeitung 
1848 — 49  im  Sozialdemokrat  (Zürich)  13.  März  1884;  über  die  Zustände  auf 
der  Redaktion  vgl.  außer  Engels  ibid.  Wilh.  Liebknecht,  Karl  Marx 
zum  Gedächtnis  S.  iio.  Nach  Liebknecht  (S.  10)  wäre  Marx  noch  im  März 
in  Köln  eingetroffen.  Über  den  Wirkungskreis  der  einzelnen  Redakteure 
vgl.  Engels  Vorwort  zu  W.  Wolff,  Gesammelte  Schriften  S.  20.  Daß  Engels 
auch  über  innerpolitische  Fragen  schrieb,  bezeugt  u.  a.  ein  ungedruckter 
Brief  Lassalles  an  ihn,  der  ihn  in  seiner  Angelegenheit  auffordert,  wieder 
einen  Artikel  zu  schreiben.  Über  die  Kölner  Arbeiterpresse  in  den  Revolutions- 
jahren vgl.  A.  Erdmann,  Die  Arbeiterpresse  in  den  Revolutionsjahren 
1848 — 49,  Rheinische  Zeitung  24.  Juni  1913;  dazu  lagen  mir  noch  vor  un- 
gedruckte Aufzeichnungen  des  früheren  Reichstagsabgeordneten  G.  Schu- 
macher. Eine  gute  zusammenfassende  Darstellung  der  politischen  Haltung 
der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  bei  Herrmann  Oncken,  Lassalle,  2.  Aufl. 
Stuttgart  1912.  Widerspruch  weckend  ist  die  Darstellung  E.  Gothein's  in 
Die  Stadt  Cöln  im  ersten  Jahrhundert  unter  preußischer  Herrschaft  Bd.  I, 
Verfassung  und  Wirtschaftsgeschichte  der  Stadt  Cöln  vom  Untergang  der 
Reichsfreiheit  bis  zur  Errichtung  des  Reiches.  G.  hebt  das  historisch  Bedeut- 
same an  der  Stellungnahme  des  revolutionären  Blattes  überhaupt  nicht  her- 
vor und  unterläßt  es  völlig,  die  leitenden  Ideen,  von  denen  es  ausgeht  und 
die  seiner  Politik  Einheitlichkeit  verleihen,  sichtbar  zu  machen.    S.  322  ff. 


Quellen  und  Nachweise.  423 

über  die  Auslandspolitik  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  ist  während 
der  Kriegszeit  neuerdings  eine  sehr  umfangreiche  Literatur  entstanden,  die 
aber  dem  Historiker  wenig  bringt  und  auf  die  hier  nicht  eingegangen  zu  werden 
braucht.  Die  „historischen  Irrtümer"  in  Engels  und  Marx  damaliger  Auf- 
fassung der  politischen  Geschichte  beleuchtet  von  sozialdemokratischer  Seite 
F.  Mehring  in  seinem  sorgfältigen  Kommentar  zu  den  Polenartikeln  der 
Neuen  Rheinischen  Zeitung  (Nachlaß  etc.  III,  S.  18 ff.).  Für  die  Wandlung 
in  Engels  Urteil  über  die  polnische  Frage  vgl.  jetzt  die  sorgfältige  Zusammen- 
stellung in  Grünbergs  Archiv  VI. 

S.  832  f.  Die  Junischlacht.  Engels  Einleitung  zu  Marx,  Die 
Klassenkämpfe  in  Frankreich.  Dazu  Marx  Darstellung  in  diesem  Werk. 
Ferner  Marx,  Der  Achtzehnte  ßrumaire  des  Louis  Bonaparte,  2.  Aufl.  Ham- 
burg 1869,  S.  8f.,  12,  35.  Hauptsächlich  natürlich  auch  hier  Neue  Rhei- 
nische Zeitung.  S.  ö35.  Friedrich  Wilhelm  IV.  an  General  von  Pfuel  2.  Ok- 
tober 1848  bei  Stern,  Geschichte  Europas  Bd.  VII,  S.  790.  S.  335.  Die 
Septemberkrisis.  Neue  Rheinische  Zeitung,  Carl  Vogt,  Mein  Prozeß 
gegen  die  Allgemeine  Zeitung,  Genf  1859,  S.  150.  Dort  Techows  bekannter 
Brief  vom  26.  August  1850  über  seine  Londoner  Unterhaltungen  mit  Marx 
und  Engels.  Ferner  die  Marx-Akten  im  Geheimen  Staatsarchiv.  Daß  nach 
seiner  Flucht  im  September  ein  Steckbrief  ,, wegen  Komplott"  gegen  ihn  er- 
lassen wurde,  behauptet  Engels  selbst  im  Vorwort  zu  Wilhelm  Wolff  etc. 
S.  2if.  Seine  Personalakten  auf  dem  Geh.  Staats-Archiv,  die  über  das  im 
folgenden  Jahre  gegen  ihn  eingeleitete  Verfahren  ,, wegen  Verbrechen  gegen 
die  Sicherheit  des  Staats"  Aufschlüsse  geben,  erwähnen  davon  nichts.  Über 
Engels  Schicksale  in  Brüssel  vgl.  den  der  dortigen  Nation  vom  7.  Oktober 
entnommenen  Bericht  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  vom  14.  Oktober. 
S.  338  ff.  Engels  in  Frankreich.  Engels,  Von  Paris  nach  Bern,  Neue 
Zeit  XVII,  Bd.  i.  Engels  Polemik  gegen  Thiers  in  Neue  Rheinische  Zeitung 
vom  14.  Oktober.  Wie  abfällig  auch  sonst  die  deutsche  Arbeiterpresse  über 
Thiers  urteilte,  zeigen  die  Pariser  Korrespondenzen  in  dem  von  Stephan  Born 
redigierten  Volk  vom  20.  und  22.  Juli  1848.  S.  342  f .  Engels  in  der  Schweiz. 
Die  Briefe  des  Verwandten  an  Engels  verdanke  ich  Herrn  Eduard  Bernstein, 
den  im  Text  erwähnten  Brief  der  Mutter,  der  vom  23.  November  aus  Barmen 
datiert  ist,  sowie  zahlreiche  andere  Familienbriefe  Herrn  Kommerz'enrat 
Herrmann  Engels  in  Engelskirchen.  Über  die  Intrigen  gegen  Engels  von 
Seiten  der  Pariser  Mitglieder  des  Kcmmunistenfcurdes  gaben  Aufschluß  die 
Briefe  Ewerbecks  an  Heß,  Berlin,  i.  November  und  Köln,  14.  November  1848 
und  Schabelitz  an  Heß,  Basel,  25.  November  1848  im  Heß-Nachlaß  auf  dem 
Archiv  der  Sozialdemokratischen  Partei.  Wertvolle  Stücke  des  Heß-Nach- 
lasses, die  auch  für  Engels  Bedeutung  hätten,  waren  bei  Beginn  des  Krieges 
Herrn  N.  Rjasanoff  geliehen,  der  sie  bis  zur  Drucklegung  unserer  Biographie 
noch  nicht  zurückgestellt  hatte. 

Kapitel  XIL 

Auch  für  den  erstenTeil  dieses  Kapitels  ist  eine  der  wichtigsten  Quellen 
die  Neue  Rheinische  Zeitung.  Daneben  wurden  auch  andere  demo- 
kratische Zeitungen,  wie  die  von  Gustav  Julius  herausgegebene  Berliner 
Zeitungshalle,  benutzt.  Höchst  brauchbar,  aber  für  unsern  Zweck  allein 
selbstverständlich  nicht  ausreichend,  istMehrings  Zusammenstellung  der 
wichtigsten  Leitartikel  des  revolutionären  Kölner  Blattes  in  Nachlaß  etc. 
Bd.  III.  Auf  die  material-  und  geistvollen  Einleitungen,  die  diese  Auswahl 
begleiten,  sei  besonders  hingewiesen.   Für  die  Frage,  was  Engels  in  den  ver- 


A2A  Quellen  und  Nachweise. 

schiedenen  Phasen  der  Revolution  von  dieser  erwartete,  vgl.  die  in  seinem 
Todesjahre  geschriebene  Einleitung  zu  Marx,  Klassenkämpfe  in  Frankreich, 

S.  346.  Engels  und  die  ungarische  Revolution.  Engels  trug 
sich  noch  später  mit  der  Absicht,  ein  Buch  über  die  ungarische  Revolution 
zu  schreiben.  Dazu  vgl.  Freiligraths  Brief  an  Marx  und  Engels  vom  6.  Mai 
1850  bei  Mehring,  Freiligrath  und  Marx  in  ihrem  Briefwechsel,  Ergänzungs- 
heft 12  der  Neuen  Zeit  vom  12.  April  1912.  Daß  Engels  die  Artikel  der  Neuen 
Rheinischen  Zeitung  über  Ungarn  verfaßt  hat,  bestätigt  ausdrücklich  sein 
Brief  an  Weydemeyer  vom  19.  Juni  1851,  veröffentlicht  bei  Mehring,  Neue 
Baiträge  zur  Biographie  von  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  in  Neue  Zeit 
XXV  2.  Vgl.  auch  Erwin  Szabö,  Die  Ungarische  Revolution  von  1848, 
Bemerkungen  zu  Engels  Artikeln  über  Ungarn  in  der  Neuen  Rheinischen 
Zeitung,  Neue  Zeit  XXIII  i,  S.  782ff.  Marx  nennt  Kossuth  in  Herr  Vogt 
S.  121  ,,die  Aeolsharfe,  durch  die  ein  Volksorkan  brauste".  S.  347.  Zu  Ba- 
kunins  Aufruf  an  die  Slawen  vgl.  u.  a.  Mehring,  Nachlaß  etc.  III  a.  a.  O., 
Mehring,  Karl  Marx  a.  a.  O.,  Eduard  Bernstein,  Karl  Marx  und  Michael 
Bakunin  im  Archiv  für  Sozialwissenschaft  Bd.  XXX(i9io).  F.  Brupbacher, 
Marx  und  Bakunin.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  internationalen  Ar- 
beiterassoziation, München  o.  J. 

S.  348  ff.  Engels  unddie  Slawen.  Aus  der  sehr  umfangreichen  Lite- 
ratur sei  hervorgehoben  Otto  Bauer,  Die  Nationalitätenfrage  und  die  Sozial- 
demokratie (Marx-Studien  Bd.  2),  Wien  1907.  Vgl.  auch  Marx (Engels)Revo- 
lution  und  Kontrerevoiution  in  Deutschland,  deutsch  von  Kautsky,  2.  Aufl., 
Stuttgart  1907  (vgl.  dazu  das  Vorwort  des  Herausgebers  S.  XXI)  und  die 
Artikel:  Deutschland  und  der  Panslawismus  in  Neue  Oder-Zeitung  21.  und 
24.  April  1855.  Neu  abgedruckt  in  Gesammelte  Schriften  von  Karl  Marx  und 
Friedrich  Engels  1852 — 1862,  herausgegeben  von  N.  Rjasanoff  Stuttgart  1817, 
Bd.  II,  S.  227 ff.  Auch  der  S.  352  erwähnte,  nicht  abgedruckte  Artikel  vom 
17.  März  1849,  für  den  ich  das  Herrn  Ed.  Bernstein  gehörende  Original  be- 
nutzen konnte,  ergeht  sich  in  slawenfeindlichen  Tiraden.  Er  gibt  einen  Über- 
blick über  Österreichs  Lage  bei  Oktroyierung  der  „Standrechtscharte".  Der 
Staat  befände  sich  in  vollständiger  Auflösung  und  am  Vorabend  des  Banke- 
rotts. S.  352  ff.  Die  Hoffnungen  auf  die  neue  Revolution  waren,  wie 
die  Benutzung  der  demokratischen  Tagespresse  lehrt,  weit  verbreitet.  Für 
den  Kreis  der  Neuen  Rheinischen  Zeitung  vgl.  besonders  Ferd.  Freiligrath, 
Neuere  politische  und  soziale  Gedichte,  Köln  1849  passim,  für  weitere  Engels 
politisch  nahestehende  Kreise  Joh.  Phil.  Becker  und  Chr.  Esselen,  Ge- 
schichte der  süddeutschen  Mairevolution  Genf  1849,  S.  7ff.  S.  352.  Die 
Reichsverfassung  und  die  Sozialdemokraten.  Vgl. u.a.  Lassalle:  „Für 
uns  war  die  Frankfurter  Reichsverfassung  schon  1849,  als  sie  erlassen  wurde, 
nichts  anderes  als  der  letzte  Beweis  für  die  Impotenz  des  Föderalismus"  (Las- 
salles Reden  und  Schriften,  herausgegeben  von  E.  Bernstein  Berlin  1893, 
Bd.  II,  S.  652. 

S.  353.  Für  die  Dauer  von  Marx  Abwesenheit,  während  der 
Engels  die  Zeitung  leitete.  Neue  Rheinische  Zeitung  20.  April,  Marx 
an  Engels  23.  April,  Mehring  in  Nachlaß  III  S.  85f.  und  Wermuth -Stieber, 
Die  kommunistischen  Verschwörurgen  des  19.  Jahrhunderts.  Im  amtlichen 
Auftrag  zur  Benutzung  der  Polizeibehörden  der  sämtlichen  deutschen  Bun- 
desstaaten Bd.  II   1854,  S.  sz- 

S.  354  £f.  Für  die  revolutionäre  Bewegung  des  Frühlings 
1849,  die  Hoffnungen,  die  Engels  auf  sie  setzte  und  seinen  Anteil  an  ihr  bis  zu 
seinem  Übertritt  in  die  Schweiz  ist  die  wichtigste  Queile  Engels,  Die  deut- 


Quellen  und  Nachweise.  a2< 

sehe  Reichsverfassungskampagne  in  Neue  Rheinische  Zeitung,  Politisch- 
ökonomische Revue,  redigiert  von  Karl  Marx,  Hamburg  1850  (wieder  ab- 
gedruckt bei  Mehring,  Nachlaß  etc.  III), 

S.  855  ff.  Engels  im  revolutionären  Elberfeld.  Außer  Engels 
eigener  Darstellung  wurden  hauptsächlich  benutzt  IH.  J.  A.  Körner,  Le- 
benskämpfe in  der  alten  und  neuen  Welt,  2  Bände  Leipzig  1865 — 66,  Alex- 
ander Pagenstecher,  Revolutionäre  Bewegungen  im  Rheinlande  1830  bis 
1850  (Voigtländers  Quellenbücher  Bd.  58),  Leipzig  o.  J.,  Ernst  von  Eynern, 
Friedrich  von  Eynern.  Ein  Bergisches  Lebensbild  in  Zeitschrift  des  Bergischen 
Geschichtsvereins  Bd.  35,  Hanns  Wegener,  Elberfeld  in  den  vierziger  Jahren 
des  19.  Jahrhunderts,  ebendort  Jahrgang  1913,  Bergengrün,  Staatsminister 
August  von  der  Heydt,  Leipzig  1908,  S.  looff.  Für  die  Furcht  vorder  „roten 
Republik"  vgl.  außerdem  a.  a.  O  Joh.  Philipp  Becker  und  Chr.  Esselen  S.  42 
und  das  im  Text  erwähnte  Pamphlet:  Die  große  Schlacht  be  Remlingrade 
oder  der  Sieg  der  Bergischen  Bauern  über  die  Elberfelder  AlJerwelts-Barri- 
kadenhelden  am  17.  Mai  1849,  zehnte  Auflage,  erste  mit  Holzschnitten  Ko- 
blenz 1849.  Erst  während  der  Drucklegung  übersandte  mir  Herr  Emil  Engels 
ein  Exemplar  der  Bekanntmachung  des  Elberfelder  Sicherheitsausschusses 
vom  14.  Mai,  die  Engels  Abreise  zur  Folge  hatte.  Dieser  seltene  Maueran- 
schlag, der  übrigens  unsere  Darstellung  bestätigt,  hat  folgenden  Wortlaut: 

Bekanntmachung. 
Der  Sicherheits-Ausschuß  hat  am  heutigen  Tage  beschlossen: 
i)    Der   Bürger  von  Mirbach  ist  mit  der  Leitung  der  Militär-Angelegen- 
heiten betraut.    Überall  da,  wo  es  sich  um  nicht  bloß  strategische  Maß- 
regeln handelt,  ist  derselbe  verpflichtet,  mit  Doktor  Höchster,  als  Kom- 
missar des  Sicherheitsausschusses  Rücksprache  zu  nehmen. 

2)  Der  Bürger  Friedrich  Engels  von  Barmen,  zuletzt  in  Cöln  "wohnhaft, 
wird  unter  voller  Anerkennung  seiner  bisherigen,  in  hiesiger  Stadt  be- 
wiesenen Tätigkeit  ersucht,  das  Weichbild  der  städtischen  Gemeinde 
noch  heute  zu  verlassen,  da  seine  Anwesenheit  zu  Mißverständnissen 
über  den  Charakter  der  Bewegung  Anlaß  geben  könnte. 

3)  Der  Sicherheits- Ausschuß  erklärt:  allen  Bestrebungen,  welche  sich 
nicht  auf  die  Anerkennung  und  Durchführung  der  deutschen  Reichs-- 
Verfassung  beschränken,  mit  größter  Entschiedenheit  und  mit  allen 
ihm  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  entgegen  treten  zu  wollen.  Gleich- 
zeitig wird  derselbe  alles  aufbieten,  um  die  Sicherheit  der  Person  und 
des  Eigentums  aufrecht  zu  erhalten. 

4)  Nur  die  schwarz-rot-goldene  Fahne  ist  das  Banner,  welches  der  Sicher- 
heits-Ausschuß als  das  Seinige  anerkennt. 

5)  Die  gesamte  bewaffnete  Macht  wird  aufgefordert,  eine  verbindliche  Er- 
klärung dahin  abzugeben,  daß  sie  bereit  sei,  den  Sicherheits-Ausschuß 
zu  dem  unter  3  angegebenen  Zwecke  kräftigst  zu  unterstützen. 

Elberfeld,  den  14.  Mai  1849. 

Der  Sicherheits-Ausschuß. 
Namens  desselben: 
gez.  Körner.       Heintzmann.       Schultze.       Höchster.      D.  Peters. 
Hecker.         Pothmann.         Römer.         Bohnstedt. 
S.  362  f.    Untergang   der  Neuen  Rheinischen  Zeitung,  Engels 
a.  a.  O.,   Marx  Personalakten  auf  dem    Geh.  Staatsarchiv.    Die   Darstellung 
bei  Gothein,  S.  477,  ist  einseitig,  zum  mindesten  unvollständig.  Vgl.  dazu 
Mehring,    Geschichte   der  deutschen  Sozialdemokratie  Bd.  I,   S.  I24ff. 

S.  868.    Aufenthalt    in    Frankfurt.     Engels    a.a.O.     Über    seine 
Unterredung  mit  Gagern  berichtet  Jacoby  in  Briefen  an  seine  Freunde  Si- 


426  Quellen  und  Nachweise. 

mon  Meyerowitz  vom  19.  Mai  1849  und  Adolf  Stahr  vom  22.  Mai  (Jacobys 
Nachlaß).  S.  364.  Den  Aufenthalt  in  Bingen  am  31.  Mai  bezeugt  eine 
an  diesem  Tage  von  hier  aus  erlassene  Erklärung  der  ehemaligen  Redakteure 
der  Neuen  Rheinischen  Zeitung,  die  jede  Gemeinsamkeit  mit  der  von 
Herrmann  Becker  in  Köln  redigierten  Westdeutschen  Zeitung,  die  manchem 
als  Fortsetzung  der  Neuen  Rheinischen  galt,  ablehnte.  Vgl.  dazu  Mehring, 
Neue  Beiträge  zur  Biographie  von  Marx  und  Engels  in  Neue  Zeit  XXV  2, 
Liebknecht,  Friedrich  Engels  im  Neue  Welt- Kalender  für  1897  und  Feld- 
mann  in  März   1901  I. 

S.  365  f.  Engels  in  der  Pfälzer  und  Badischen  Revolution. 
Der  Artikel  für  den  Kaiserslauterner  Boten  wurde  ausgegraben  von  den  Do- 
kumenten des  Sozialismus  Bd.  V  (1905).  Über  Charakter,  anfängliche  Aus- 
sichten und  Zusammenbruch  der  badisch-pfälzischen  Revolution  urteilen 
sehr  ähnlich  wie  Engels  Joh.  Philipp  Becker  und  Esselen  a.  a.  O.,  besonders 
in  den  Kap.  3  und  10.  Vgl.  auch  Carl  Schurz,  Lebenserinnerungen,  Berlin 
1906,  Bd.  I,  Kap.  6.  S.  368f.  Willich.  Für  Engels  Urteil  über  Willich 
vgl.  außer  der  Reichsverfassungskampagne  und  dem  Brief  an  Frau  Marx  vom 
25.  Juli  1849  noch  den  Brief  an  Marx  vom  23.  November  1853,  der  im  Brief- 
wechsel fehlt,  aber  abgedruckt  ist  bei  Karl  Marx,  Der  Ritter  vom  edelmüti- 
gen Bewußtsein  (London  28.  November  1853)  ohne  Angabe  des  Druckortes 
(New  York).  Eine  Abschrift  dieser  sehr  seltenen  kleinen  Schrift  verdanke 
ich  der  Liebenswürdigkeit  Herrn  Ernst  Drehns,  des  Archivars  der  Sozial- 
demokratischen Partei  in  Berlin.  Über  Willichs  militärische  Begabung  ur- 
teilt ähnlich  wie  Engels  auch  Ludwig  Bamberger,  Erlebnisse  in  der  Pfäl- 
zischen Erhebung  im  Mai  und  Juni  1849,  Frankfurt  a.  M.  1849,  S.  47 — 48. 
Für  Willichs  Denkweise  charakteristisch  ist  seine  Schrift:  Im  Preußischen 
Heere.  Ein  Disziplinarverfahren  gegen  Premier-Lieutenant  von  Willich  als 
Folge  der  durch  den  Prozeß  Anneke  in  dieser  Brigade  herbeigeführten  Vor- 
gänge. Mit  Vor- und  Nachwort  Mannheim  1848.  S.  370  £L  Für  die  Badische 
Revolution  vgl.  noch  Marx  (richtig  Engels),  Revolution  und  Konterrevolu- 
tion in  Deutschland,  deutsch  von  Kautsky,  2.  Aufl.  Stuttgart  1907,  S.  120  ff. 
und  Erinnerungen  eines  deutschen  Achtundvierzigers  (Sigmund  Borckheim), 
bearbeitet  von  R.  Ruegg,  Neue  Zeit  VIII  (1890)  bes.  S.  2i4ff.  S.  372.  Der 
Kriegsrat  in  Rieden.  Engels  spottete  später  in  dem  von  Marx  abgedruckten 
Brief  über  die  ,, Dreihundert  Spartaner,  die  kein  Thermopylae  finden  konnten". 
Den  Brief  des  Schwagers  verdanke  ich  Herrn  Eduard  Bernstein. 

Kapitel  Xm. 

Die  Hauptquelle  für  dieses  Kapitel  ist  die  Revue  der  Neuen  Rheinischen 
Zeitung.  Von  Engels  Beiträgen  hat  Mehring  in  der  Nachlaßausgabe  Bd.  III 
außer  der  Reichsverfassungskampagne  urd  einem  Teil  der  Revuen  und 
Bücherbesprechungen,  die  er  mit  Marx  gemeinsam  schrieb,  auch  Die  eng- 
lische Zehnstundenbill  abgedruckt.  Der  deutsche  Bauernkrieg  erschien,  wie 
schon  erwähnt  wurde,  als  erster  Teil  der  ebenfalls  von  Mehring  herausgegebe- 
nen Sozialistischen  Neudrucke.  S.  380.  Für  Engels  Seereise  Lafargue, 
Persönliche  Erinnerungen  an  Engels,  Neue  Zeit  XXIII  a.a.O.  S.  387  ff. 
Die  Ansprache  der  Zentralbehörde  des  Kommunistenbundes 
vom  März  1850  ist  abgedruckt  auf  S.  7Sff  von  Marx  Enthüllungen  über  den 
Kommunistenprozeß  zu  Köln.  Neuer  Abdruck  mit  Einleitung  von  Friedrich 
Engels  und  Dokumenten,  Hottingen-Zünch  1885  (Sozialdemokratische  Bi- 
bliothek IV).  S  .  375  f.  Für  die  Verhandlungen  über  Engels  Zukunfts- 
gestaltung konnte  ich  eine  mir  von  der  Familie  Engels  zur  Verfügung  ge- 
stellte Mappe  mit  Familienbriefen  von  und  an  Engels  benutzen. 


Personenregister 


Abel  71. 

Altenstein  58,  75. 
Andler  207, 
Anneke  353,  358,  371. 
Arndt,  E.  M,,   40,   48, 

51,  54,  80,  94. 
Arnim,  H.  F. von,  158, 

216. 
Arnim-Boytzenburg 

158,  216. 
Ashley  130,  201. 
Auerswald  325,  335. 

Babeuf  148,   182. 

Baedecker,  Julius  220. 

Baer,  von  219. 

Bakunin  73,  93,  155, 
182,  318,  347,  348, 
350. 

Barrot  351. 

Bauer,  Bruno,  14,  61, 
68f.,  70f.,  74,  81,  83, 
84,  85,  86,  88,  89,  90, 
91,  95.  96,  97»  102, 
104,  108,  110,  122, 
123,  148,  155,  163, 
177,  184,  190,  I99f., 
202,  240,  242 ff.,  245, 
247. 

Bauer,  Edgar,   14,  83, 

87.  91,  95,  96,  HO, 
123,   190,   199,  200  ff. 

Bauer,  Heinrich,  126, 
294f.,  387. 

Beck,    Karl,    4if.,    44, 

273. 
Becker,  Hermann,  336, 

337,  353- 

Becker,  Johann  Phi- 
lipp, 370,  371,  372. 

Becker,  Nikolaus,  Sif., 

53. 
Beckerath  336. 
Bern  346. 


Benedix  225. 
Bentham   180. 
Bergenroth  225. 
Bernays  182,  271. 
Berrier-Fontaine 

293- 
Bertholet  172. 

Beurmann  22. 

Biedermann  91. 

Binder  73. 

Bismarck  133. 

Blanc,     Louis,     I90f., 

230,    271,    299,    300, 

308. 
Blank,  Emil,  222. 
Blind,  Carl,  363. 
Blum,  Robert,  44. 
Bluntschli     37,     151, 

155,   158. 
Bodelschwingh    219, 

281. 
Böhme,  Jakob,  34. 
Borckheim  370. 
Born,     Stephan,     270, 

277,    297,    304,    320, 

374- 
Börne,  21,  25,  28,  38 

43«.,  47,  48,  51,  62, 
93,  96,  108,  III,  148, 
188,  218,  248,  272, 
274. 

Bornstedt  269,  273, 
299,  316. 

Boyen  281. 

Breidenstein  47. 

Brentano363,376,379. 

Bright  128. 

Browning,  Elizabeth 
B.,   143. 

Brünneck  67. 

Buonarotti   148. 

Büchner,    Georg,    92, 

121. 


Buhl  83,  87,  89,  91,  95, 

97,  99,  109,  HO,  220, 

221. 
Buret  207. 
Büigers  321,  336. 
Burns,  Mary,  134,  235, 

266,  395. 
Byron  41. 

Cabet    149,    151,    191, 

253,    267,    271,    293, 

295,  296,  302. 
Calderon  50. 
Calvin  22,  160,  161. 
Camphausen  324. 
Carey  207. 
Carlyle,  Thomas,  130, 

143,     160  ff.,     164  ff., 

167,  178. 
Carnap,  von,  359. 
Carnot  187,  348. 
Cartwright  172. 
Cavaignac  338. 
Clausen  14. 
Cobbett,  V/illiam  140. 
Cobden  129,  131. 
Comte   198. 
Consid^rant  180,  302. 
Cromwell  161. 
Mac  Culloch  171. 

Dahlmann  91,  285. 
Danton  85,  88,  346. 
Darasz  400. 
Davy  172. 
Delessert  270. 
Descartes  75. 
Dickens   116. 
Diderot  61. 
Diebitsch  328. 
Dingelstedt  44. 
Disraeli  116,  130,  143. 
Dronke  273,  318,  321, 
336,  338. 


*)  Außer  Friedrich  Engels  selbst  wurde  auch  Karl  Marx,  dessen  Name 
auf  den  meisten  Seiten  vorkommt,  nicht  berücksichtigt. 


428 


Personenregister. 


Droste-Hülshoff   40. 
Dühring   197, 
Duncker,  Polizeidirek- 
tor, 219. 

Eccarius,  Georg,  296. 
Eichhorn  68,  71. 
Eichler  82,  95. 
Eichmann,  v.,  356. 
Engels,    Benjamin,    5. 
»Engels,  Elise, 7f.,  9,  10, 
214,    223,    338,    373, 

395,  397- 
Engels,  Friedrich  sen., 
5ff.,  8f.,  lof,,  14,  22, 
40,  117,  122,  199,214, 

219,    221,    222f.,    320, 

338,    343,    359,    361, 

373,  395,  396f. 
Engels,  Johann  Caspar 

sen.,  5. 
Engels,  Johann  Caspar 

jun.,  5f. 
Engels,   Marie,   9,   21, 

24,   42,   49,   70,    222, 

234,  39Sf-,  397,  40 if- 
Ermen    u.    Engels    6, 

142,  396. 
Ermen,  Gottfried,  396. 
Ermen,  Peter,  396. 
Ernst  August,  König 

V.  Hannover  46. 
d'Ester  228,  364,  365, 

367- 
Ewerbeck   182,   267f., 

271,  342. 
Eynem,  Ernstvon,36i. 

Faucher,  Julius,  20of., 
Feu  er  bach, Ludwig, 68, 
69,  71,72,75,76,  78, 
8if.,87f.,9i,io4f,io7, 
108,  113,  125,  140, 
148,  163,  i65ff.,  171, 
I76f.,  188,  190,  191, 
193,   195,  20if.,  206, 

2I0ff.,     239f.,     242ff., 

247ff.,  251,  258,  263. 
Fichte  26,   105,   161. 
Flocon  271,   299,  300, 

311,  313,  316. 
Flottwell,  Eduard,  82, 

95- 


Forster,  Georg,  238. 

Fouque  41. 

Fourier  iii,  139,  I48f ., 
170,  I75,f.  191,  220, 
248,    249,    250,    253. 

Frantz,  Konstantin, 
110,   189. 

Freiligrath  16,  21, 
264,273,321,345,361. 

Frere-Orban  298. 

Friedrich  II.,  König  v. 
Preußen,  61,   62,   88. 

Friedrich     Wil- 
helm III.,  20,  48,  58, 
66f. 

Friedrich     Wil- 
helm   IV.,    66f.,    68, 
70,71,  loif.,  121,155, 
215,  28of.,   313,  316, 
329,335,336,352.356. 

Fröbel,  Julius,  84,  154, 
i55f. 

Gagern,  Heinrich  von, 

363- 
Gans,  Eduard,  60,  72. 
Gervinus  91,  106,  154, 

285,  330. 
Godwin  iii,  150,  176, 

180,   191,  220. 
Goethe  26,  34,  36,  42, 

84,    105,    161,     163!., 

326,  273  f. 
Gögg  363. 
Görgey  346,  378. 
Görres   155. 
Gottschall,  Rudolf,  44. 
Gozlau  III. 
Graeber,  Friedrich,  26, 

28,  30ff.,  42f,  48,  49, 

62,  89,  93. 
Graeber,  Wilhelm,  26, 

33,  47,  49,  89. 
Grab  am,  Sir  James  133. 
Greiner  367. 
Grimm,  Jacob,  46. 
Grün,   Karl,    153,   217, 

239,  262,  266f.,  268f., 

273f. 
Guizot   190,   263. 
Gutzkow    25,    28,    34, 

38,  4off.,  44,  50,  92, 

121. 


Haar,  van,  Rektor,  7, 

10,   116. 
Hall,  Charles,    176. 
Hansemann  325,  335. 
Hantschke  10,  12,  15. 
Harney    i46f.,    235f., 

271,    293,    294,    300, 

399. 
Hart,   Heinrich,  38. 
Hart,  Julius,  38. 
Hartmann, Moritz  273. 
Haudy  234. 
Hauptmann,  Carl,  38. 
Hauptmann,  Gerhard, 

38. 
Hecker  356. 
Hegel   25,  26,  31,  33, 

36,  38,  40,  43,  45f., 
49,  52,  55,  58,  59,  60, 

62,  65,  67,  72,  73,  74, 
76ff.,  81,  83,  85,  90, 
95,  loi,  104,  105,  107, 
108,  115,  118,  125, 
140,  141,  151,  152, 
153,  159,  164,  180, 
183,  188,  190,  192, 
193,  194,  201,  202, 
206,  211,  244ff.,  249, 
251,  255,  276. 

Heine,  Heinrich,  19,  21, 

37,  38f.,  39,  43,  45, 
113,  2i7f.,  248,  272. 

Heinzen,  Karl,  276f., 

278f.,  280. 
Held  318. 
Hengstenberg  37,  43, 

63,  84,  86,  89. 
Hennig,  Leopold  von, 

70,  98. 

Herder  26. 

Herwegh,  Georg,  44, 
66,  loi,  121,  123,  154, 
316. 

Heß,  Joh.  Friedrich,  84. 

Heß,  Moses,  91,  io6ff., 
112,  114,  ii7f.,  120, 
122,  124,  125,  151, 
153,  155,  158,  166, 
211,    217,    218,    219, 

220f.,    224,    225,    228, 

239,  241,  243f.,  264, 
265ff.,  269,  277,  301, 

304,  316,  342. 


Personenregister. 


429 


H  e  y d  t ,  August  von  der, 

335f-,  360. 
Hildebrand,      Bruno, 

171,   208f. 
Hirzel,  Bernhard   89. 
Hobbes  276. 
Höchster  356,  360. 
Hof  er,  Andreas,  238. 
Holz,   Arno,  38. 
Hood,  Thomas,   143. 
H üb e r  ,V.  A. ,  20 1,  2o8f ., 

220. 
Hume   145. 
Huß  49. 
Hütten  66. 

Imandt  358. 
Immermann  64f.,  73, 

80. 
Jacoby,  Joe!,  41. 
Jacoby,    Johann,    82, 

181,    277,    28s,    300, 

318,  363. 
Jahn  56. 

Jones,  Ernest,  294. 
Julius,  Gustav,  318. 
Jung,    Alexander,    41, 

92,  93- 
Jung,    Georg,    87,    91, 

215,        3i6f.,        318, 

319- 
Junge,  Friedrich  Adolf, 

268,  269,  304. 
Kamptz  20. 
Kant  26,  28,  58,73,153. 

161. 
Karl  der  Große  47. 
Karl  I.,  König  von  Eng- 
land, 276. 
Karl     X.,    König    von 

Frankreich,  46. 
Kinkel  370,  380. 
Klapka  346. 
Knopp  84. 
Koppen,  Carl  Friedrich 

60,   6if.,   83,   86,   87, 

88,   89,    91,   97,    184, 

190. 
Körner  356. 
Kossuth  346. 
Köttgen  224. 
Kriege  263,  264ff.,272, 

273,  308. 


Krummacher,  F.  W., 

4, 12,21,26,27,84,89. 

Kühne,  F.  G.,  5,38,39. 

Lafargue,  Paul,  380. 
Lamennais    iii,    150. 
Lassalle  4,  13,  15,  44, 
92,  132,  180,  244,336, 

337,  386,  394- 
Laube38,39,  41,44,  92 
Leach   146. 
Ledru-Rollin  300,400 
Leibniz  73. 
Lelewel  312. 
Lenau  24,  41. 
Leo,  Heinrich,  37,58,62, 

75,84,88,89,150,155. 
Leopold  L,  König  von  ' 

Belgien  312. 
Leroux,Pierre,i5o,  189. 
Lessing  26,  45- 
Leßner   147. 
Leupold  23. 
Liebig   172. 
Liebknecht,  Wilhelm, 

186,  368,  374. 
Lißt,  Franz,  70 
Li  st,  Friedrich,  169,229. 
Locke   140. 
Louis  Philipp,  König 

von  Frankreich,  312. 
Lovett   146. 
Ludwig  I.  von  Bayern 

48,  286. 
Ludwig  XVL,  König  v. 

Frankreich,  276. 
Lüning  217,  2i8f.,  264, 

265,  273,  277. 
Luther  151,  383^ 

Macaulay  138. 
Mallet  89. 
Malthus    169,    l76f. 
Manteuffel  353. 
Marat  61,  88,  90,   146, 

182. 
Marheinecke  70. 
I  Marx  sen.   183. 
Marx,  Jenny,  183,  235, 

368,  397. 
Mazzini   47,  293,  400. 
Mehemed      Ali       von 

Ägypten  57. 


Meißner,   Alfred,   273. 
Menzel,  Wolfgang,  37, 

40,   44,   58,   274.   . 
Mersy  371. 
Metternich  35, 37,318. 
Mevissen   I35f. 
Meyen,  Eduard,  82,  83, 

86,  95,   III. 
Meyer,  Julius,  219. 
Michelet  37,   62,  70. 
Mi  11,  John  Stuart,  169, 
Mieroslawski  312,370, 

371- 
Mirabeau  318, 
Mirbach,Ottovon,359, 

360,  361. 
Moll,  Josef,    126,    149, 

264,  287,  294f.,  296, 

300 f.,  302,  320,  337, 

367,  370- 
Moltke,  H.  V.,   54. 
Montez,  Lo  a  286. 
Mügge,  95. 
Müller,  Wolfgang,  224. 
Mundt,    Theodor,    38, 

39,  41,  44- 
Münzer,  Thomas,  151, 

238,  382,  383f->  38s, 

386. 
Napier,SirCharles,  137, 
Napoleon  L  48,  56,  85, 

148,  236ff.,  283,  292. 
'  Napoleon,  Louis,  334, 

340,  351,  379. 
Nauwerck  62,  83. 
Nikolaus  L,  Kaiser  von 

Rußland,  329,  365. 
Novalis   26,    161,    163. 
!  Nitzsch  89. 

j  O'Brien  131,  148,  331. 

j  O'Connell     133,'    134. 

O'Connor     133,     146, 

271,  331. 
Otto,  Louise,  273. 
Owen  73,  109,  III,  136, 
I       i4off.,  148,  149,  176, 
191,  219,  235,  249. 

{  Pagenstecher,    Alex- 
I       ander  360. 

Paine,   Th.,    140,    238. 

Paskiewitsch  328. 


430 


Personenregister. 


Pecqueur  257. 

Peel,  Robert,  116,  132, 

134- 

Pfänder  296. 

Platen   15. 

Proudhon  139,  i5of., 
156,  166,  173,  180, 
189,  196,  250,  266, 
268,  269,  272,  279, 
300,  308. 

Prutz,  Robert,  52,  86. 

Püttmann  215,  217, 
218,  224,  273. 

Quetelet  178. 
Radetzky  351. 
Radowitz  318,  353. 
Raumer,  Friedrich  v., 

116,  I34f. 
Rauschenplatt  47. 
Ricardo     169,     ijiii., 

197,  305. 
Robespierre    61,    88, 

165,  182. 
Rochau   III. 

Roch  ow,G.A.v.,S2, 120. 

Rogier,   Charles  298. 

Rousseau,  J.  J.,   140. 

Rückert  70. 

Ruge37,  38,  44,  58,  60, 
62,  69,  72,  73,  75,  80, 
86f.,    88ff.,    91,    108, 

123,    I54>     157,     190, 

198,  277,    285,    318, 
326,  332,  400. 

Rutenberg,  83,87,91. 

Sack,  84,  86,  88f.,  90. 

Saint-Simon,  107,  108, 

118,   142,   i48f.,   161, 

166,  198,  249. 

Sand,  George,  116,  150. 
Saß,  Friedrich,  22. 
Savigny  37,   67. 
Say,  J.  B.,   171,   173. 
Schaper  216. 
Schapper,    Carl,     126, 
149,  264,  287,  294f., 


298,  30of.,  302,  313, 
320,336,337,353,400. 

Schelling26,  67,  7of{., 
73f.,  76ff.,  80,  92,  95, 
105. 

Schifflein  9. 

Schiller  41,  237. 

Schily  358. 

Schopenhauer  171. 

Schlaf  38. 

Schleiermacher  26, 
30,  31  f.,   113. 

Schmidt,  Franz,  iii. 

Schmidt,  Kaspar,  siehe 
Stirner. 

Schnake    273. 

Schubarth,  K.  E.,  58. 

Schücking,  Levin,  40. 

Schults  224,  227. 

Schurz,  Carl,  366,  371. 

Schweitzer,  J.  B.  von, 
4,  386. 

Seiler,Sebast.,i33, 264. 

Semmig  273. 

Shakespeare  91. 

Shelley34,  49,  50,  142. 

Sigel  371,  372. 

Sismondi   177. 

Smith,  Adam,  i68f., 
I70f.,   172,   179. 

Snethlage  7. 

Solms-Lych  281. 

Spinoza  28, 34,  73,  107. 

Stahl,  F.  J.,  67. 

Stein,  Lorenz,  109, 
Ii7ff.,  120,  139,  153, 
157,   189,  207,  249. 

Steingens  304. 

Stirner,  68f.,  73,  82f., 
87,  88,  89,  91,  95,  97, 
123,  190,  2iof.,  240, 
24if.,  243f.,  245ff. 

Strauß,  David  Fried, 
rieh,  25,  27,  29,  30, 
33,  37,  58,  6off.,  63, 
66,  67,  71,  72,  75,  89, 
177,   188. 

Sue  116. 


Sznayda  370. 
Techow  368,  396. 
Thierry  190. 
Thiers  339. 
Thiersch  53. 
Tholuck  63. 
Thompson,  T.  Perro- 

net,  172. 
Treviranus  23. 
Tschirner  367. 

Venedey  93^  113,  327. 
Vico   191. 
Villerme  206, 
Vogler  281. 
Voltaire  61,  85,  86,  90. 
Waldeck,  B.F.L.,  318. 
Waldeck,  Julius,   181. 
Walesrode  93. 
Wal  lau  304. 
Watts,     John,      i4Sf., 

147,   172. 
Weerth  321. 
Weidemeyer  264,  402. 
Weitling    i2off.,    133, 

138,  isif.,  I55f.,  165, 

250,  253,  262,  264f., 

266 ff.,  293,  294,  295. 
Welcker  95. 
Wellington  331. 
Werder,  K.,  70. 
Wichern  23. 
Wienbarg  38,  39. 
Wigand  86,  88f.,   106, 

204,  242. 
Wilhelm,     Prinz    von 

Preußen  281,  324. 
Willich  368,  369,  370, 

371,  372,  400. 
Windischgrätz     328, 

346. 
Wirth  327. 
Wolff,  Ferdinand,  321. 
Wolff,    Wilhelm,    264, 

-~>7,    3^3,   321,    336, 

337,338,353,356,363. 
Zimmermann  382. 
Zitz  367. 


Friedrich  Engels 


Eine  Biographie 


Von 


Gustav  Mayer 


Ergänzungsband  zum  ersten  Bande 


Berlin 

Verlag  von  Julius  Springer 

1920 


Friedrich  Engels 
Schriften  der  Frühzeit 


Aufsätze,  Korrespondenzen,  Briefe,  Dichtungen 

aus  den  Jahren   1838— 1844  nebst   einigen  Karikaturen 

und  einem  unbekannten  Jugendbildnis 

des  Verfassers 


Gesammelt  und  herausgegeben 


von 


Gustav  Mayer 


Berlin 

Verlag  von  Julius  Springer 

1920 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Über- 
setzung in   fremde  Sprachen,  vorbehalten 
Copyright    1920    by    Julius    Springer    in 
Berlin 


Dem  Andenken 

Ludwig   Franks 

gefallen  in  Lothringen 

am  3.  September 

1914 


Vorb  emerkung. 


In  diesem  Bande  findet  der  Leser  Briefe,  Aufsätze,  Korre- 
spondenzen und  Dichtungen  von  Friedrich  Engels  aus  seinem  acht- 
zehnten bis  vierundzwanzigsten  Jahre  vereinigt.  Erst  durch  ihre 
Auffindung  wurde  es  mir  mögHch,  in  dem  kürzlich  im  gleichen 
Verlage  veröffentlichten  ersten  Bande  seiner  Biographie  die  geistige 
Entwicklung  des  jungen  Engels  von  ihren  Anfängen  ab  nachzu- 
zeichnen. Diese  Zeugnisse  einer  von  starkem  innerem  Erleben  und 
unermüdlichem  Vorwärtsstürmen  angefüllten  Jugend  glaube  ich  der 
Öffentlichkeit  übergeben  zu  dürfen,  ohne  auf  wenige  einleitende 
Blätter  noch  einmal  zusammenzudrängen,  was  dort  in  einem  ganzen 
Bande  zur  Darstellung  gelangte.  Dieser  Vorbemerkung  liegt  nur  ob, 
Rechenschaft  abzulegen,  wie  alle  diese  mit  einer  Ausnahme  von 
der  Wissenschaft  bisher  noch  nicht  beachteten  geistigen  Äußerungen 
des  jungen  Engels  zusammenkamen,  mit  welchem  Recht  ich  sie 
ihm  zuschreibe  und  unter  welchem  Gesichtspunkt  ich  sie  aus- 
wählte. 

Bei  einer  Durchsicht  des  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung 
noch  harrenden  Briefwechsels  Johann  Jacob ys,  den  die  Enkel  Guido 
Weiss',  die  ihn  erbten,  der  Königsberger  Stadtbibliothek  überwiesen 
hatten,  stieß  ich  vor  einer  Reihe  von  Jahren  auch  auf  einen  Brief,  in 
dem  Eduard  Flottwell,  der  demokratisch  gesinnte  älteste  Sohn  des 
preußischen  Staatsmanns,  im  November  1841  dem  Verfasser  der' 
Vier  Fragen  von  dem  Berliner  Kreise  der  ,, Freien",  in  dem  er  viele 
Anregungen  fände,  erzählt.  Dabei  gedenkt  er  u.a.  des  ,, bekannten 
Oswald  aus  dem  Telegraphen",  der,  eigentlich  ein  junger  Kaufmann 
aus  der  Rheinprovinz,  soeben  sein  Militärjahr  in  Berlin  abdiene, 
um  hier  Schelling  und  Werder  zu  hören.  Gleich  damals  kam  mir 
die  Vermutung,  daß  dieser  Oswald  Friedrich  Engels  sein  müsse,  auf 
den  alle  jene  Angaben  paßten.  Bei  gründlicherer  Nachforschung 
ergab  sich  aktenmäßige  Gewißheit.  Nun  hatte  freilich  schon  in 
seiner  1885  erschienenen  Geschichte  der  ersten  sozialpolitischen 
Arbeiterbewegung  in  Deutschland  Georg  Adler  einer  Jubiläumsnum- 
mer der  Barmer  Zeitung  zu  ihrem  fünfzigjährigen  Bestehen  die  An- 


VIII  Vorbemerkung. 

gäbe  entnommen,  daß  Engels  in  früher  Jugend  im  Telegraph  Briefe 
aus  dem  Wuppertal,  später  eine  gegen  Schelling  gerichtete  Broschüre 
veröffentlicht  habe  und  daß  auch  ein  Christliches  Heldengedicht  in 
vier  Gesängen,  das  1842  erschien,  ihm  zugeschrieben  wurde.  So 
wenig  wie  Adler  selbst  ist  jedoch  damals  oder  später  irgend  einer 
seiner  zahlreichen  sozialdemokratischen  Kritiker  dieser  Spur  nach- 
gegangen, so  leicht  es  gewesen  wäre,  die  Wahrheit  festzustellen,  da 
Engels  selbst  noch  in  voller  Schaffenskraft  unter  den  Lebenden 
weilte.  Wie  es  mir  dann  gelang,  den  sicheren  Beweis  zu  er- 
bringen, daß  Friedrich  Oswald  niemand  anders  als  Friedrich  Engels 
war,  habe  ich  kurz  vor  Ausbruch  des  Krieges  in  dem  von  Professor 
Carl  Grünberg  in  Wien  redigierten  Archiv  für  die  Geschichte  des 
Sozialismus  und  der  Arbeiterbewegung  darlegt.  Da  der  jugendliche 
Autor  dieses  zu  wiederholten  Malen  dem  Leser  des  vorliegenden 
Bandes  bestätigen  wird,  so  bedarf  es  kaum  mehr  der  Erwähnung, 
daß  seit  dem  Erscheinen  jenes  Artikels  auch  noch  neue  archivalische 
Funde  mir  diese  Tatsache  bekräftigt  haben.  In  den  Briefen  an  die 
Brüder  Wilhelm  und  Friedrich  Graeber  bekennt  sich  Engels  klipp 
und  klar  sowohl  als  Friedrich  Oswald  wie  als  der  Verfasser  jener  dem 
Pietismus  in  dem  ,,Zion  der  Obskuranten"  scharf  ins  Gesicht 
leuchtenden   Briefe  aus  dem  Wuppertal. 

Diese  Briefe,  die  im  März  und  April  1839  in  dem  von  Gutzkow 
in  Hamburg  herausgegebenen  Telegraph  für  Deutschland  erschienen, 
trugen  keine  Unterschrift.  Das  Pseudonym,  dessen  sich  Engels,  bis 
er  1844  in  den  Deutsch -Französischen  Jahrbüchern  zuerst  mit 
seinem  wahren  Namen  hervortrat,  so  vielfach  bedient  hat,  tauchte 
zum  ersten  Mal  im  November  1839  in  der  kleinen  Korrespondenz 
„Aus  Elberfeld**  auf,  die  als  eine  Ergänzung  zu  der  vor  auf  gegange- 
nen Charakteristik  der  Literatur  des  Wuppertals  gedacht  war. 
Daß  hier  statt  Friedrich  Oswald  die  Unterschrift  S.  Oswald  lautete, 
war  zweifellos  nur  ein  Druckfehler.  Schon  der  im  Telegraph  un- 
mittelbar folgende  Aufsatz  über  die  Deutschen  Volksbücher  ist  gleich 
den  zahlreichen  anderen,  die  nach  ihm  erschienen,  mit  Friedrich 
Oswald  gezeichnet.  Desselben  Pseudonyms  bediente  sich  Engels 
für  die  umfangreiche  Besprechung  von  Alexander  Jungs  Vorlesungen 
über  die  moderne  Literatur  der  Deutschen  in  den  Deutschen  Jahr- 
büchern vom  7.  bis  9.  Juli  1 842  und  in  dem  hübschen,  aber  wegen  des 
Erlöschens  des  Blattes  Fragment  gebliebenen  Reisebericht:  Lom- 
bardische Streifzüge  im  Berliner  Athenaeum  vom  4.  und  ii.  De- 
zember 1841.  öfter  verkürzte  er  auch  das  von  ihm  angenom- 
mene und  auf  Rücksicht  auf  seine  frommen  Eltern  sorgfältig  ge- 
hütete Pseudonym.  Die  Initialen  F.  O.  finden  sich  unter  dem 
Aufsatz    Friedrich   Wilhelm  IV.,   König  von  Preußen  in    den   von 


Vorbemerkung.  IX 

Georg  Herwegh  herausgegebenen  Einundzwanzig  Bogen  aus  der 
Schweiz,  unter  dem  Tagebuch  eines  Hospitanten,  das  im  Feuilleton 
der  Rheinischen  Zeitung  vom  14.  und  24.  Mai  1842  steht,  und  unter 
der  Kritik  von  Walesrodes  Glossen  und  Randzeichnungen  zu  Texten 
aus  unserer  Zeit,  die  am  25.  Mai  dort  erschien.  Daneben  ver- 
öffentlichte Engels  aber  in  der  Rheinischen  Zeitung  auch  Bei- 
träge, die  bloß  mit  einem  liegenden,  ganz  selten  mit  einem  stehen- 
den Kreuz  und  zwei  Sternen  zur  Seite  bezeichnet  waren.  Daß  ich 
dies  Zeichen  auffand,  verdanke  ich  Herrn  Professor  Dr.  Joseph 
Hansen  in  Cöln,  der  unter  den  Überresten  des  Archivs  dieser  Zei- 
tung das  Manuskript  eines  Beitrages  aufbewahrt,  auf  das  Dagobert 
Oppenheim  den  Namen  Engels  gesetzt  hatte.  Dieser  Beitrag  ist  die 
Abhandlung  Zur  Kritik  des  preußischen  Preßgesetzes  im  Beiblatt  der 
Nummer  vom  14.  Juli  1842.  Wegen  des  sehr  speziellen  Inhalts  des 
ziemlich  umfangreichen  Artikels  wurde  auf  seinen  Abdruck  hier 
verzichtet.  Nun  ist  es  freilich  mit  Korrespondentenzeichen  eine 
eigene  Sache.  Die  Erfahrung  lehrt,  daß  aus  irgend  welchen  Grün- 
den, z.  B.  um  eine  Autorschaft  zu  verschleiern,  solche  Zeichen  ge- 
wechselt oder  auch  auf  verschiedene  Mitarbeiter  verteilt  werden. 
Wir  haben  deshalb  hier  nur  solche  jenes  Zeichen  führende  Bei- 
träge aus  der  Rheinischen  Zeitung  aufgenommen,  bei  denen 
uns  auch  aus  inneren  Gründen  Engels  Autorschaft  als  völlig  er^ 
wiesen  erschien. 

Einen  unmittelbaren  Hinweis  darauf,  daß  Engels  der  Verfasser 
des  Christlichen  Heldengedichtes  vom  Triumph  des  Glaubens  sei, 
besitzen  wir  bis  jetzt  bloß  in  jenem  Artikel  der  Barmer  Zeitung 
vom  I.  Juli  1884,  dessen  übrige  Angaben  sich  freilich  ausnahmslos 
als  richtig  erwiesen  haben.  Sonst  erwähnt  nur  noch  ein  ziemlich  gut 
unterrichteter,  aus  der  Reaktionszeit  der  fünfziger  Jahre  stammen- 
der Polizeibericht  über  Engels,  den  ich  kürzlich  bei  den  Akten  des 
Berliner  Polizeipräsidiums  fand,  daß  er  als  Einjähriger  ,, einige 
kleine  Broschüren",  darunter  die  gegen  Schelling,  veröffentlicht 
habe.  Trotzdem  erscheint  es  mir  ganz  zweifellos,  daß  niemand  an- 
ders als  Engels  der  Verfasser  der  kecken  Dichtung  sein  kann.  Be- 
merkenswert ist  auch,  daß  schon  vor  siebzehn  Jahren  Eduard 
Bernstein  der  richtigen  Spur  nahe  gewesen  und  ihr  nur  deshalb  nicht 
bis  ans  Ende  gefolgt  ist,  weil  er  sich  damals  von  der  Annahme  nicht 
frei  machen  konnte,  daß  nicht  Engels,  sondern  einer  seiner  Freunde, 
der  wirklich  Oswald  hieß,  die  von  Rüge  Bakunin  zugeschriebene 
Kampfschrift  gegen  Schelling  verfaßt  habe.  (Vgl.  Dokumente  des 
Sozialismus,  herausgegeben  von  Eduard  Bernstein,  Band  I,  S.  552 
und  dazu  ebendort  Double you  [Pappenheim],  Schelling  und  die 
Offenbarung,  auch  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Berliner  „Freien".) 


X  Vorbemerkung, 

Auch  der  Schweizerische  Republikaner  hat  während  der  kur- 
zen Zeitspanne,  die  er  im  Besitz  des  Literarischen  Comptoirs  in 
Zürich  und  Winterthur  der  deutschen  radikalen  Bewegungspartei 
zur  Verfügung  stand,  einige  ungezeichnete  Korrespondenzen  von 
Engels  veröffentlicht.  Dies  ergab  sich  mir,  als  ich  des  einzigen  in 
Deutschland  vorhandenen  Exemplares  des  seltenen  Halbwochen- 
blatts habhaft  wurde.  Daß  die  vier  Briefe  aus  London,  die  hier 
am  i6.  und  23.  Mai  und  am  9.  und  27.  Juni  1843  erschienen,  von 
Engels  herrühren,  lehrte  ein  Vergleich  ihres  Inhalts  und  ihrer  Ten- 
denz mit  den  einschlägigen  Abschnitten  des  Buches  über  die  Lage 
der  arbeitenden  Klasse  in  England.  Auch  beachte  man,  wie  ähnlich 
hier  und  in  Engels  bekanntem  Essay  über  Carlyles  Past  and  Present 
in  den  Deutsch-Französischen  Jahrbüchern  über  das  Schicksal  be- 
richtet und  geurteilt  wird,  das  damals  David  Friedrich  Strauß 
Leben  Jesu  in  England  widerfuhr.  Die  einzige  der  Forschung  schon 
bekannte  Arbeit  von  Engels,  die  in  unserer  Sammlung  Platz  fand, 
sind  die  in  der  Pariser  deutschen  Zeitung  Vorwärts  vom  31.  August 
bis  zum  16.  Oktober  1844  erschienenen  Aufsätze  über  Die  Lage 
Englands.  Sie  hatte  Mehring,  als  er  seine  Ausgabe  der  Gesammelten 
Schriften  von  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels  1841  bis  1850  zusam- 
menstellte, ,,dem  künftigen  Biographen  als  Nachlese  überlassen". 
Da  es  nur  auf  der  Biblioth^que  Nationale  in  Paris  und  auf  der  Wiener 
Stadtbibliothek  noch  annähernd  vollständige  Exemplare  des  Vor- 
wärts gibt,  empfahl  sich  für  unsere  Sammlung  die  Aufnahme 
dieser  niemals  wieder  gedruckten  Artikelserie,  die  als  eine  Vor- 
studie gelten  muß  für  die  Soziale  Geschichte  Englands,  die  Engels 
lange  Zeit  hindurch  geplant,  aber  doch  nicht  zur  Ausführung  ge- 
bracht hat. 

Unsere  Zusammenstellung  möchte  ein  unmittelbares  und  an- 
schauliches Bild  von  dem  geistigen  Werdegang  gewähren,  den  Engels 
genommen  hatte,  bevor  er  mit  Marx  in  Verbindung  trat.  Als  ich 
1913  in  der  Neuen  Rundschau  Auszüge  aus  den  erst  hier  jetzt 
vollständig  wiedergegebenen  Jugendbriefen  Engels  an  die  Brüder 
Graeber  mitteilte,  schrieb  ich  dazu:  ,,Was  wußten  wir  bisher  über 
die  Jugendgeschichte  von  Friedrich  Engels  ?  Ein  paar  dürre  Daten 
besaßen  wir,  weiter  nichts."  Dieser  Feststellung  stimmte  auch  Max 
Adler  zu,  als  ihn  meine  fragmentarischen  Mitteilungen  ermutigten, 
eine  vorläufige  Klarlegung  von  Friedrich  Engels  Anfängen  zu 
versuchen.  Doch  erst  die  hier  vorliegende  Sammlung  seiner 
Jugendschriften  wird  den  vormarxistischen  Engels  völlig  lebendig 
machen.  Auf  eine  restlose  Vollständigkeit  war  es  bei  ihr  nicht  ab- 
gesehen. Da  es  sich  aus  räumlichen  Gründen  empfahl,  eine  Aus- 
wahl zu  treffen,  so  wurden  u.  a.  der  Reisebericht  im  Athenaeum  und 


Vorbemerkung.  XI 

verschiedene  Beiträge  für  die  Rheinische  Zeitung,  deren  in  der  Bio- 
graphie Erwähnung  geschieht,  beiseite  gelassen,  und  der  für  den 
heutigen  Leser  nicht  mehr  hinreichend  interessante  Aufsatz  über 
den  Apostaten  Joel  Jacoby^)  im  Telegraph  vom  April  1840  unter- 
drückt. Wir  gestehen  auch,  daß  wir  die  Almanache,  bei  denen 
Engels  damals  einige  seiner  Gedichte  angebracht  zu  haben  scheint, 
ebensowenig  aufgefunden  haben,  wie  den  Bremer  Stadtboten,  mit 
dem  er  sich  jenen  Spaß  erlaubte,  von  dem  er  in  seinem  Brief  an 
Wilhelm  Graeber  vom  27.  bis  30.  April  1839  berichtet.  Ebensowenig 
ist  es  uns  geglückt,  die  ,, gelegentlichen"  Korrespondenzen  festzu- 
stellen, die  Engels,  wie  er  in  einem  noch  ungedruckten  Brief  an 
Conrad  Schmidt  vom  26.  September  1887  erzählt,  während  seiner 
Berliner  Militärzeit  an  die  Königsberger  Hartungsche  Zeitung  ge- 
richtethat.  Schwerer  als  zu  solchen  Verzichten, bei  denenessichdurch- 
weg  nur  um  Unwesentliches  handeln  konnte,  verstand  ich  mich  da- 
zu, Schelling  und  die  Offenbarung  fortzulassen.  Aber  die  eng  be- 
druckten fünfundfünfzig  Seiten  Großoktav,  die  diese  Broschüre  im 
Original  füllt,  hätten  unter  den  heutigen  Verhältnissen  Umfang  und 
Preis  einer  Publikation,  die  sich  nicht  nur  einen  gelehrten  Leserkreis 
wünscht,  über  die  zulässigen  Grenzen  hinausgetrieben.  In  meiner 
biographischen  Darstellung  hat  die  Kampfschrift  gegen  Schelling  ein- 
gehende Berücksichtigung  gefunden.  Der  Fachmann  wird  Exem- 
plare auf  Bibliotheken  auftreiben,  dem  Laien  aber  mag  als  Ersatz  der 
Aufsatz  dienen,  den  Engels  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  von 
Schellings  Antrittsvorlesung  in  Berlin  an  den  Telegraph  schickte. 
Die  Karikatur,  die  der  Eröffnung  des  Vereinigten  Landtags  gewidmet 
ist,  erschien  in  der  Deutsch-Brüsseler  Zeitung  vom  6.  Mai  1847. 
Wenn  das  Blatt  bemerkte,  sie  wäre  ihm  ,,von  einem  geistvollen 
Dilettanten  in  der  Zeichenkunst**  übersandt  worden,  so  stimmte 
dies  insofern  nicht  ganz  wörtlich,  als  nicht  Engels  selbst,  sondern 
Marx,  wie  dessen  Brief  an  Engels  vom  15.  Mai  beweist,  sie  der 
Redaktion  zugeschickt  hatte.  Eine  Erläuterung  der  Lithographie 
folgte  in  der  Nummer  vom  30.  Mai:  hinter  dem  Steuer  stehe  in 
einer  Art  Souffleurkasten  der  General  von  Thiele,  den  König 
umgeben  Boyen,  Bodelschwingh,  der  Prinz  von  Preußen,  Fürst 
Solms-Lych.  Den  Abgeordneten  aber  stünden  über  das,  was  sie 
anhören  müßten,  die  Haare   zu   Berge. 

Es  erschien  mir  gerechtfertigt,  dem  jungen  Engels  ohne  einen 
weiteren  einleitenden  Kommentar  das  Wort  zu  lassen.  Alle  not- 
wendigen Erläuterungen  findet  der  Leser  in  den  hinter  den  Text 
gesetzten  Anmerkungen.    Mit  Rücksicht  auf  die  der   fremden,  be- 


*)  Vgl.  über  Joel  Jacoby  H.  H.  Houben,  Gutzkow-Funde,  1901,  S.  210  ff. 


XII  Vorbemerkung. 

sonders  der  alten  Sprachen  nicht  kundigen  Leser  wurde,  da  Engels 
es  damals  lieble,  seine  Fingerfertigkeit  in  fremden  Sprachen  in 
seinen  Briefen  zu  erproben,  in  der  Regel  die  deutsche  Übersetzung 
in  Anmerkungen  beigefügt.  Das  dem  Werk  vorgedruckte  Porträt 
des  jungen  Engels  ist  ein  Daguerreotyp  im  Besitz  der  Familie. 

Wenn  er  diesen  Band  dem  Andenken  Ludwig  Franks  widmet, 
der  in  den  ersten,  hoffnungsvolleren  Tagen  des  Krieges  gefallen  ist, 
so  gedenkt  der  Herausgeber  dabei  mit  wehmütiger  Erinnerung  be- 
sonders der  warmen  Teilnahme,  die  der  hingeschiedene  Freund 
allezeit  seinen  Studien  über  die  Geschichte  der  deutschen  Arbeiter- 
bewegung entgegenbrachte. 

Lankwitz-Berlin,  im  August  1919. 

Gustav  Mayer. 


Inhalt. 

Seite 

Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen   1838 — 1841. 

Briefe  an  die  Gebrüder  Graeber  vom  September  1838  bis  Februar  1839  3 

Briefe    aus    dem    Wupperthal 20 

Briefe  an  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber  vom  April  1839  bis  Dezem- 
ber   1839        39 

Die   Deutschen  Volksbücher       98 

Karl     Beck         106 

Retrograde   Zeichen   der   Zeit iio 

Platen iiS 

Requiem   für  die   Deutsche    Adelszeitung 117 

Landschaften          121 

Ein  Abend          127 

St.  Helena           131 

Brief  an  Wilhelm  Graeber  vom  20.  November  1840 132 

Siegfrieds  Heimat 134 

ErnstMoritz    Arndt       139 

Brief  an  Friedrich  Graeber  vom  22.  Februar  1841 152 

Immermanns    Memorabilien       155 

Aus  der  Militärzeit  in  Berlin  1841  — 1842. 

Schelling  über  Hegel      167 

Nord-   und   süddeutscher   Liberalismus 174 

Rheinische  Feste       177 

Tagebuch    eines    Hospitanten 179 

Glossen  und  Randzeichnungen  zu  Texten  aus  unserer  Zeit 185 

Alexander  Jung  und  das  Junge  Deutschland 187 

Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen 200 

Die  frechbedräute  und  doch  wunderbar  befreite  Bibel  oder  der  Triumph 
des  Glaubens.  Das  ist:  Schreckliche  und  doch  wahrhafte  Historia 
von  dem  weiland  Licentiaten  Bruno  Bauer;  wie  selbiger  vom 
Teufel  verführet,  vom  reinen  Glauben  abgefallen,  Oberteufel  ge- 
worden und  endlich  kräftiglich  entsetzet  ist.  Christliches  Helden- 
gedicht in  vier  Gesängen.    Neumünster  bei  Zürich,  Truckts  und 

verlegts  Johann  Friedrich  Heß  Anno  1842 209 


XIV  Inhalt. 

Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England  1842 — 44. 

Korrespondenzen  an  die  Rheinische  Zeitung 243 

I.  London,  30.  November  1842,  II,  London,  3.  Dezember,  III.  Aus 
Lancashire,  19.  Dezember,  IV.  Aus  Lancashire,  20.  Dezember, 
V.  Aus  Lancashire,  22.  Dezember.* 

Briefe    aus    London    an   den   Schweizerischen    Republikaner     ...       254 
I.  16.  Mai  1843,  II.  23.  Mai,  III.  9.  Juni,  IV.  27.  Juni. 

Die  Lage  Englands.     (Pariser  Vorwärts) 266 

Erläuterungen   und    Anmerkungen        304 


Aus  derLehrzeit 
in  Bremen 

1838—1841 


Briefe  an  die  Brüder  Graeber 

September  1838  bis  Februar  1839. 

An  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber. 

[i.  September   1838] 

Den  I.  September.  Herren  Gebrüder  Graeber  aus  Barmen,  der- 
zeit in  Elberfeld.  Indem  ich  mich  zum  Empfange  des  geehrten 
Schreibens  Ihres  Herrn  F.  Graeber  bekenne,  erlaube  ich  mir,  ein  paar 
Zeilen  an  Sie  zu  richten.  Hol  mich  der  Donner,  das  macht  sich. 
Nun  wollen  wir  gleich  mit  der  bildenden  Kunst  anfangen.  Näm- 
lich mein  Hausgenosse,  namens  George  (engl,  ausgesprochen)  Gor- 
rissen, der  erste  Hamburger  Geck,  der  je  existiert  hat;  nehmt  das 
Mittel  [hier  stehen  zwei  Zeichnung.en  am  Bande  von  G.'s  Kopf] 
von  den  beiden  Bildern,  die  da  stehen,  setze  es  auf  einen  schmalen 
Rumpf  und  lange  Beine,  gebt  den  Augen  einen  recht  geflappten 
Blick,  eine  Sprache,  präzise  wie  Kirchner  spricht,  nur  Hamburger 
Dialekt,  und  Ihr  habt  das  kompletste  Bild  von  diesem  Flegel,  das 
es  gibt.  Ich  wollte,  ich  könnte  ihn  nur  so  gut  treffen,  wie  gestern 
Abend,  wo  ich  ihn  auf  eine  Tafel  malte,  und  so  präzise,  daß  ihn 
alle,  sogar  die  Mägde,  erkannten.  Sogar  ein  Maler,  der  hier  im 
Hause  wohnt  und  es  sah,  der  sonst  nichts  gut  findet,  fand  es  sehr 
gut.  —  Es  ist  dieser  G.  Gorrissen,  der  geflappteste  Kerl,  den  die 
Erde  trägt;  alle  Tage  hat  er  neuen  Unsinn  vor,  er  ist  unerschöpf- 
lich in  abgeschmackten  und  langweiligen  Ideen.  Der  Kerl  hat  min- 
destens schon  zwanzig  Stunden  auf  seinem  Gewissen,  die  er  mich 
gelangweilt  hat.   — 

Ich  habe  neulich  Jakob  Grimms  Verteidigungsschrift  mir  ge- 
kauft, sie  ist  ausgezeichnet  schön,  und  eine  Kraft  darin,  wie  man 
sie  selten  findet.  An  einem  Buchladen  habt  ich  neulich  nicht 
weniger  als  sieben  Broschüren  über  die  Kölner  Geschichte  gelesen 
—  NB. hier  habe  ich  schon  Redensarten  und  Sachen  gelesen,  besonders 
in  der  Literatur  bin  ich  in  Übung,  die  man  bei  uns  nie  drucken 
dürfte,  ganz  liberale  Ideen  etc.,  Raisonnements  über  den  alten 
Hannoverschen  Lause -Bock,  ganz  herrlich.  — 

Hier  sind  sehr  schöne  satirische  Bilderbogen.  —  Einen  sah  ich 
schlecht  gemalt,  aber  sehr  bezeichnende  Gesichter.    Ein  Schneider 


4  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

auf  einem  Bock  wird  von  dem  Meister  aufgehalten,  und  die  Schuster 
sehen  zu.  Was  noch  mehr  darauf  passiert,  ist  in  der  Unterschrift 
ausgedrückt: 

Altmeister,  halten  Sie  mein  Roß  nicht  auf!^) 

Entschuldige,  daß  ich  so  schlecht  schreibe,  ich  habe  drei  Fla- 
schen Bier  im  Leib,  hurrah,  viel  kann  ich  auch  nicht  mehr  schrei- 
ben, denn  gleich  muß  der  Brief  auf  die  Post.  Es  schlägt  schon  ^  54 
und  um  4  Uhr  müssen  die  Briefe  da  sein.  Potz  Donnerwetter,  merkst 
Du,  daß  ich  Bier  im  Leibe  habe.  — -) 

Ihr  werdet  die  Güte  haben,  mir  gleich  wieder  was  zu  schmieren, 
meine  Adresse  weiß  der  Wurm,  dem  könnt  Ihr's  auch  geben.  Oh  je, 
was  soll  ich  schreiben?  oh  je,  oh  je,  oh  je,  Jammer  und  Elend! 
Der  Alte,  d.  h.  der  Prinzipal,  geht  eben  heraus  und  ich  bin  ganz 
konfuse,  ich  weiß  nicht  was  ich  schreibe,  mir  dröhnen  allerlei  Töne 
ins  Ohr.  Grüßt  den  P.  Jonghaus  und  den  F.  Plümacher,  sie  sollen 
mir  schreiben  und  nächstens  werde  ich  sie  auch  mit  Signaturen 
langweilen.    Könnt  Ihr's  lesen,  was  ich  dahin  saue  ? 

Was  gibst  Du  mir  für  das  Pfund  Konfusion?  ich  hab'  grade 
eine  Masse  Vorrat.    O  Je. 

Dein  ergebener 

Euer  hochwohlgeboren  ergebener 

F.  Engels.^) 

An  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber. 

.  .  .  den  17.  September.  Die  schwarze  Tinte  zuerst,  dann  fängt 
die  rote  wieder  von  vornen  an.  — 

Carissimi!')  In  vostras  epistolas  haec  vobis  sit  respondentia. 
Ego  enim  quum  longiter  latine  non  scripsi,  vobis  paucum  scribero, 
sed  in  germanico-italianico-latino.  Quae  quum  ita  sint,  so  sollt  Ihr 
auch  kein  Wort  Latein  mehr  kriegen,  sondern  pures,  lauteres, 
reines,  vollkommenes  Deutsch.  Um  nun  gleich  von  einer  bedeutend 
wichtigen  Sache  zu  reden,  will  ich  Euch  erzählen,  daß  meine  spa- 


^)  Das  Folgende  ist  nicht  mehr  zu  lesen;  soweit  erkennbar,  ist  der  Inhalt 
nicht  besonders  wichtig. 

-)  Das  gleiche  gilt  an  dieser  Stelle. 

•^)  Dieser  Brief  ist  sehr  schlecht  erhalten.  Einige  Teile  sind  mit  ganz 
verblichener,  streckenweise  nicht  mehr  lesbarer  roter  Tinte  geschrieben. 
An  den  Schluß  des  Briefes  hat  Engels  mit  schwarzer  Tinte  einen  Roland 
gezeichnet. 

*)  Ihr  Lieben!  Auf  Eure  Briefe  dies  die  Antwort!  Da  ich  nämlich 
lange  nicht  lateinisch  geschrieben  habe,  so  werde  ich  Euch  wenig  schreiben, 
aber  nur  auf  deutsch-italienisch-lateinisch.    Da  dies  sich  so  verhält .  .  . 


An  Friedlich  und  Wilhelm  Graeber.  5 

nische  Romanze  durchgefallen  ist;  der  Kerl  scheint  ein  Antiroman- 
tiker  zu  sein,  so  sieht  er  auch  aus  ;  aber  ein  Gedicht  von  mir  selbsten, 
die  Beduinen,  welches  in  Abschrift  beifolgt,  wurde  eingerückt  in 
ein  anderes  Blatt;  nur  veränderte  mir  der  Kerl  die  letzte  Strophe 
und  richtete  dadurch  eine  heillose  Konfusion  ein,  nämlich  er  scheint 
das:  ,,Zu  unserm  Frack,  Pariser  Schnitt,  Paßt  nicht  der  Wüste 
schlichtes  Hemd,  noch  in  die  Lit'ratur  Eur'  Lied"  weil  es  barock 
erscheint,  nicht  verstanden  zu  haben.  Der  Hauptgedanke  ist  die 
Entgegenstellung  der  Beduinen,  selbst  in  ihrem  jetzigen  Zustande, 
und  des  Publikums,  welches  diesen  Leuten  ganz  fremd  ist.  Des- 
halb darf  dieser  Gegensatz  nicht  bloß  durch  die  nackte  Beschreibung, 
die  in  den  beiden  scharf  geschiedenen  Teilen  gegeben  ist,  ausge- 
drückt werden,  sondern  er  erhält  am  Schluß  erst  rechtes  Leben 
durch  die  Entgegenstellung,  und  die  Schlußfolgerung  in  der  letzten 
Strophe.      Nebenbei    sind    noch    Einzelheiten    darin    ausgedrückt: 

1.  leise  Ironie  über  den  Kotzebue  und  seine  Anhänger,  mit  Ent- 
gegenstellung Schillers,  als  des  guten  Prinzips  für  unser  Theater; 

2.  Schmerz  über  den  jetzigen  Zustand  der  Beduinen,  mit  Entgegen- 
stellung ihres  früheren  Zustandes;  diese  beiden  Nebensachen  laufen 
parallel  in  den  beiden  Hauptgegensätzen.  Nun  nimm  die  letzte 
Strophe  weg,  und  alles  fällt  auseinander ;  wenn  aber  der  Redakteur 
den  Schluß  weniger  auffallend  machen  will  und  schließt:  »Jetzt 
springen  sie  für  Geld  herum  —  nicht  der  Natur  urkräft'ger  Drang, 
das  Aug'  erloschen,  alle  stumm,  nur  einer  singt  'nen  Klaggesang", 
so  ist  der  Schluß  erstens  matt,  weil  er  aus  früher  schon  gebrauchten 
Floskeln  besteht,  und  zweitens  vernichtet  er  mir  den  Hauptgedanken, 
indem  er  den  Nebengedanken:  Klage  um  den  Zustand  der  Beduinen 
und  Gegensatz  des  früheren  Zustands,  an  dessen  Stelle  setzt.  Also 
hat  er  folgendes  Unheil  gestiftet:  i.  den  Hauptgedanken,  2.  den 
Zusammenhang  des  Gedichts  ganz  und  gar  vernichtet.  Übrigens 
kostet  das  dem  Kerl  wieder  einen  Groten  (=V2Sgr')»  denn  er 
wird  Antwort  von  mir  erhalten  in  einer  Predigt.  Ich  wollte  übri- 
gens, ich  hätte  das  Gedicht  nicht  gemacht,  das  Ausdrücken  des 
Gedankens  in  klarer,  anmutiger  Form  ist  mur  ganz  mißlungen ;  die 
Floskeln  von  Str.  —  sind  eben  nur  Floskeln,  Dattelland  und  Bile- 
duldscherid  sind  ein  und  dasselbe,  also  ein  Gedanke  zweimal  mit 
denselben  Worten,  und  welcher  Mißklang:  ,, schallend  Lachen  zollt!" 
und  ,,Mund  gewandt"!  Es  ist  ein  eigentümliches  Gefühl,  wenn 
man  seine  Verse  so  gedruckt  sieht,  sie  sind  einem  fremd  geworden, 
und  man  sieht  sie  mit  viel  schärferen  Augen  an,  als  wenn  sie  ge- 
schrieben sind. 

Ich   mußte   tüchtig   lachen,  als   ich   mich  so   aufs    Öffentliche 
transferiert  sah,  aber  bald  verging  mir  das  Lachen;  als  ich  das  Ver- 


6  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

ändern  merkte,  bekam  ich  die  Wut  und  tobte  barbarisch  — 
Satis  autem  de  hac  re  locuti  sumus!^) 

Ein  ganz  eigentümhches  Buch  fand  ich  heute  morgen  bei 
einem  Antiquar,  einen  Auszug  der  acta  Sanctorum,  leider  nur 
für  die  erste  Hälfte  des  Jahrs,  mit  Porträts,  Lebensbeschreibungen 
der  Heiligen  und  Gebeten;  aber  alles  sehr  kurz.  Es  kostete  mich 
12  Grote,  6  Sgr.,  und  dasselbe  gab  ich  für  Wielands  Diogenes  von 
Sinope,  oder  ^^coxgdrrjg  /xacvöi^ievog.''^)    — 

An  meiner  Poesie  und  deren  Produktionskraft  verzweifle  ich 
alle  Tage  mehr,  seitdem  ich  in  Goethe  die  beiden  Aufsätze  „Für 
junge  Dichter"  gelesen  habe,  in  denen  ich  mich  so  trefflich  bezeich- 
net finde,  wie  es  nur  möglich  ist,  und  aus  dem  es  mir  klar  geworden, 
daß  durch  meine  Reimereien  nichts  für  die  Kunst  getan  ist;  ich 
werde  aber  nichts  destoweniger  fortreimen,  weil  dies  eine  „an- 
genehme Zugabe",  wie  Goethe  sagt,  ist,  auch  wohl  ein  Gedicht  in 
ein  Journal  einrücken  lassen,  weil  andere  Kerls,  die  ebensolche, 
auch  wohl  noch  größere  Esel  sind,  als  ich  bin,  es  auch  tun,  und 
weil  ich  dadurch  die  deutsche  Literatur  weder  heben  noch  senken 
werde;  aber  wenn  ich  ein  tüchtiges  Gedicht  lese,  dann  fährt  mir 
allemal  ein  Grimm  durch  die  Seele:  daß  du  das  nicht  hast  machen 
können!    Satis  autem  de  hac  re  locuti  sumus! 

Meine  cari  amici,  man  vermißt  Euch  doch  sehr!  Wenn  ich 
dran  denke,  wie  ich  oft  in  Eure  Kammer  trat,  und  da  saß  der  Fritz 
so  behaglich  hinterm  Ofen  mit  seiner  kurzen  Pfeife  im  Munde,  und 
der  Wilm  in  seinem  langen  Schläfer  rauschte  durch  die  Kammer 
und  konnte  nichts  rauchen  als  4-Pfennigs-Zigarren,  und  riß  Witze, 
daß  das  Zimmer  bebte,  und  dann  rührte  sich  der  gewaltige  Feld- 
man gleich  dem  ^avdog  MeveXdog^),  und  trat  herein,  und  dann 
kam  der  Wurm  im  langen  Rock,  mit  dem  Stock  in  der  Hand,  und 
es  wurde  gezecht,  dann  ist  der  Teufel  los,  und  jetzt  muß  man  sich 
mit  Briefen  abfinden  —  es  ist  infam.  Daß  Ihr  mir  aber  auch  von 
Berlin  aus  tüchtig  schreibt,  ist  constat  und  naturaliter*) ;  die  Korre- 
spondenz dahin  bleibt  auch  nur  einen  Tag  länger  unterwegs  als 
nach  Barmen.  Meine  Adresse  wißt  Ihr,  sonst  ist  es  auch  einerlei, 
denn  ich  habe  mit  unserm  Briefträger  schon  so  genaue  Bekannt- 
schaft gemacht,  daß  er  mir  die  Briefe  immer  aufs  Kontor  bringt. 
Honoris  causa  könnt  Ihr  aber  doch  allenfalls  draufschreiben : 
St.  Martini  Kirchhof  No.  2.  Diese  Freundschaft  mit  dem  Brief- 
träger rührt  daher,  daß  unsere  Namen  ähnlich  sind,  er  heißt  Engelke. 


^)  Aber  davon  haben  wir  nun  genug  gesprochen! 

2)  Der  rasende  Sokrates. 

')  Der  blonde  Menelaos. 

*)  steht  fest  und  ist  natürlich. 


An  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber.  y 

—  Das  Briefschreiben  wird  mir  heute  etwas  schwer;  ich  habe  vor- 
gestern einen  Brief  an  Wurm  nach  Bilk  und  heute  einen  an  den 
Strücker  expediert,  den  ersten  von  8,  den  zweiten  von  7  Seiten, 
und  jetzt  wollt  Ihr  auch  Eure  Ration  haben.  —  Wenn  Ihr  diesen 
Brief  bekommt,  ehe  Ihr  nach  Cöln  geht,  so  befolgt  folgenden  Auf- 
trag: kommt  Ihr  hin,  so  sucht  die  Streitzeuggasse,  geht  in  die 
Everaertsche  Buchdruckerei,  Numero  51  und  kauft  für  mich  Volks- 
bücher; Siegfried,  Eulenspiegel,  Helena  habe  ich;  am  wichtigsten 
sind  mir  Octavian,  die  Schildbürger  (unkomplet  in  der  Leipziger 
Ausgabe),  Haimonskinder,  Dr.  Faust,  und  was  von  den  übrigen 
mit  Holzschnitten  versehen;  sind  mystische  da,  so  kaufe  sie  auch, 
besonders  die  Sibyllenweissagungen.  Bis  zwei,  drei  Thaler  mögt 
Ihr  immerhin  gehen,  dann  schickt  sie  mir  per  Schnellpost,  gebt 
mir  den  Betrag  an,  so  will  ich  Euch  einen  Wechsel  auf  meinen 
Alten  schicken,  der  es  gerne  bezahlen  wird.  Oder  noch  mehr,  Ihr 
körmt  die  Bücher  meinem  Alten  schicken,  dem  ich  die  ganze  Ge- 
schichte auseinander  setzen  werde,  und  der  meig  sie  mir  zu  Weih- 
nachten schenken,  oder  wie  er  will.  —  Ein  neues  Studium  für  mich 
ist  Jacob  Böhme;  es  ist  eine  dunkle,  aber  eine  tiefe  Seele.  Das 
meiste  aber  muß  entsetzlich  studiert  werden  wenn  man  etwas  da- 
von kapieren  will;  er  ist  reich  an  poetischen  Gedanken,  und  ein 
ganz  allegorischer  Mensch;  seine  Sprache  ist  ganz  eigentümlich, 
alle  Wörter  haben  eine  andre  Bedeutung  als  gewöhnlich;  statt 
Wesen,  Wesenheit  sagt  er  Qual;  Gott  nennt  er  einen  Ungrund 
und  Grund,  da  er  keinen  Grund  noch  Anfang  seiner  Existenz  hat, 
sondern  selbst  der  Grund  seines  und  alles  andern  Lebens  ist.  Bis 
jetzt  habe  ich  erst  drei  Schriften  von  ihm  auftreiben  können,  fürs 
erste  freilich  genug.  —  Doch  hier  will  ich  mein  Gedicht  von  den 
Beduinen  hinsetzen. 

Die  Glocke  tönet,  und  empor 

Der  seidne  Vorhang  rauscht  alsbald; 

Aufmerksam  lauschet  jedes  Ohr 

Jedwedem  Wort,  das  dort  erschallt. 

Doch  heut  ist's  nicht  Kotzebue, 

Dem  sonst  Ihr  schallend  Lachen  zollt. 

Auch  tritt  nicht  Schiller  ernst  hervor, 

Ausgießend  seiner  Worte  Gold. 

Der  Wüste  Söhne,  stolz  und  frei, 

Sie  treten  still  zu  Euch  heran; 

Der  edle  Stolz   —  er  ist  vorbei. 

Die  Freiheit   —  sie  ist  abgetan. 

Da  springen  sie  für  Geld  herum   — 

Der  Knab'  so  in  der  Wüste  sprang, 


8  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

In  Jugendlust  —  doch  alle  stumm, 
Nur  einer  singt  'nen  Klaggesang. 
Man  wundert  sich  ob  ihrer  Kraft; 
Ja,  wie  man  sonst  dem  Kotzebue 
Geklatscht,  wenn  er  sein  Krämchen  pfiff 
Also  klatscht  ihnen  jetzt  man  zu! 
Ihr  Wüstensöhne,  flink  und  stark! 
Ihr  zogt  wohl  sonst  im  Mittagsstrahl 
Hin  durch  Marokko's  sand'ge  Mark 
Und  durch  das  milde  Datteltal! 
Ihr  streiftet  durch  die  Gärten  hin 
Des  Landes  Bileduldscherid, 
Zum  Raube  stand  der  mut'ge  Sinn, 
Zum  Kampfe  ging  der  Rosse  Schritt! 
Ihr  saßt  wohl  sonst  im  Mondenglanz 
Am  Palmenquell  im  dürren  Land 
Und  holder  Märchen  bunten  Kranz 
Flocht  Euch  ein  schöner  Mund  gewandt. 
Ihr  schlummertet  im  engen  Zelt 
Im  Arm  der  Liebe,  träume  voll 
Bis  Morgenlicht  den  Himmel  hellt' 
Und  der  Kameele  Brüllen  scholl! 
Zieht  wieder  heim,  Ihr  Gäste  fremd, 
Zu  unserm  Frack,  Pariser  Schnitt, 
Paßt  nicht  der  Wüste  schlichtes  Hemd, 
Noch  in  die  Lit'ratur  Eu'r  Lied! 

den   i8ten.^) 

Cur  me  poematibus  exanimas  tuis^),  werdet  Ihr  ausrufen!  Aber 
ich  quäle  Euch  jetzt  noch  viel  mehr  damit  oder  vielmehr  darum. 
Der  Guilelmus-*)  hat  noch  ein  Heft  Verse  von  mir,  wie  ich  sie  hin- 
schrieb. Dieses  Heft  bitte  ich  mir  aus  und  zwar  so:  Ihr  könnt  alles 
unbeschriebene  Papier  davon  schneiden  und  mir  sodann  bei  jedem 
Eurer  Briefe  ein  Quartblatt  beilegen,  das  erhöht  das  Porto  nicht. 
Zur  Not  auch  noch  sonst  einen  Fetzen ;  wenn  Ihr  es  pfiffig  verpackt 
und  Ihr  den  Brief  vor  der  Absendung  gut  preßt,  etwa  eine  Nacht 
zwischen  ein  paar  Lexika  legt,  so  merken  die  Kerls  nichts.  —  Das 
einliegende  Blatt  für  Blank  besorgt  Ihr  wohl.  Ich  kriege  eine  furcht- 
bar ausgedehnte  Korrespondenz,  mit  Euch  nach  Berlin,  mit  Wurm 
nach  Bonn,  nach  Barmen  und  Elberfeld  desgleichen,  aber  wenn  ich 

1)  Von  hier  an  ist  der  Brief  mit  einer  roten,  heute  sehr  verblichenen 
Tinte  quer  durch  den  vorhergehenden  Text  geschrieben. 
3)  Warum  quälst  Du  mich  mit  Deinen  Gedichten? 
')  Wilhelm. 


An  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber.  o 

das  nicht  hätte,  wie  sollte  ich  die  unendliche  Zeit  totschlagen,  die 
ich  auf  dem  Comptoir,  ohne  doch  lesen  zu  dürfen,  zubringen  muß? 
—  Vorgestern  war  ich  bei  meinem  Alten  id  est  principalis'),  seine 
Frau  wird  genannt  die  Altsche  (italienisch  alce,  das  Elentier  ge- 
radeso ausgesprochen)  auf  dem  Lande,  wo  seine  Familie  wohnt,  und 
viel  Pläsir  gehabt  habe.  Der  Alte  ist  ein  köstlicher  Kerl,  er  schimpft 
seine  Jungens  immer  polnisch  aus.  Ihr  Ledschiaken,  Ihr  Kaschubenl 
Auf  dem  Rückwege  habe  ich  mich  bemüht,  einem  Philister,  der  mit 
da  war,  einen  Begriff  von  der  Schönheit  der  plattdeutschen  Sprache 
zu  geben,  habe  aber  gesehen,  daß  dies  unmöglich  ist.  Solch  ein 
Philister  ist  doch  eine  unglückliche  Seele,  aber  dabei  doch  über- 
glücklich in  seiner  Dummheit,  die  er  für  die  größte  Weisheit  hält. 
Neulich  Abend  war  ich  im  Theater,  sie  gaben  den  Hamlet,  aber 
ganz  schauderhaft.  Doch  darum  will  ich  lieber  ganz  davon  schwei- 
gen. —  Daß  Ihr  nach  Berlin  geht,  ist  ganz  gut,  an  Kunst  wird  Euch 
da  wohl  so  viel  geboten,  wie  sonst  auf  keiner  Universität,  aus- 
genommen München;  dagegen  die  Poesie  der  Natur,  die  fehlt:  Sand, 
Sand,  Sand!  Hier  ist  es  weit  besser;  die  Straßen  außer  der  Stadt 
sind  meistens  sehr  interessant,  und  durch  die  mannigfaltigen  Baum- 
gruppen sehr  anmutig;  aber  die  Berge,  ja  die  Berge,  das  ist  der 
Donnerwetter.  Ferner  fehlt  in  Berlin  die  Poesie  des  Studenten - 
lebens,  die  in  Bonn  am  größten  ist,  wozu  dann  das  Herumschweifen 
in  der  poetischen  Umgegend  nicht  am  wenigsten  beiträgt.  Nun, 
Ihr  kommt  ja  auch  noch  nach  Bonn.  Mein  lieber  Wilhelm,  ich 
würde  Dir  rasend  gern  auf  Deinen  witzigen  Brief  ebenso  witzig  ant- 
worten, wenn  mir  nicht  überhaupt  aller  Witz,  und  im  besonderen 
jetzt  gerade  die  Lust  fehlt,  die  man  sich  nicht  geben  kann,  und  ohne 
die  alles  erzwungen  ist.  Aber  ich  fühle,  es  geht  mit  mir  zu  Ende, 
es  ist  mir,  als  ob  mir  verschwände  jeder  Gedanke  aus  meinem 
Haupt,  als  wenn  mir  das  Leben  würde  geraubt.  Der  Stamm  meines 
Geistes  ganz  entlaubt,  denn  alle  meine  Witze  sind  geschraubt,  und 
der  Kern  aus  der  Schale  herausgeklaubt.  Und  meine  Makamen, 
die  verdienen  kaum  den  Namen,  während  die  Deinen  Rückert  den 
Ruhm  nahmen,  diese  hier,  die  ich  schreibe,  die  haben  die  Gicht  im 
Leibe,  sie  hinken,  sie  wanken,  sie  sinken,  ja  sie  schon  sanken  in 
in  den  Abgrund  der  Vergessenheit,  nicht  stiegen  in  die  Höhe  der 
Gelesenheit.  Oh  Jammer,  da  sitz'  ich  in  der  Kammer,  und  pochte 
ich  an  mein  Haupt  mit  einem  Hammer,  es  flösse  doch  nur  Wasser 
heraus,  mit  großem  Gebraus.  Doch  das  hilft  nicht  einer  Laus,  der 
Geist  ist  drum  doch  nicht  drin  zu  Haus.  Gestern  Abend,  als  ich  zu 
Bette  ging,  stieß  ich  an  meinen  Kopf,  und  es  läutete,  wie  wenn 


^)  Das  ist  der  Prinzipal. 


10  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

man  an  ein  Gefäß  mit  Wasser  stößt,  und  das  Wasser  an  der  andern 
Seite  ans  Gefäß  klatscht.  Ich  mußte  lachen,  als  mir  die  Wahrheit 
so  derb  unter  die  Nase  gerieben  wurde.  Ja  Wasser,  Wasser!  In 
meiner  Stube  spukt's  überhaupt;  gestern  Abend  hörte  ich  eine 
Totenuhr  in  der  Wand  klopfen,  in  der  Gasse  neben  mir  rumoren 
Enten,  Katzen,  Hunde,  Dirnen  und  Menschen.  Übrigens  verlange 
ich  von  Euch  einen  ebenso  langen,  wenn  nicht  noch  längeren  Brief, 
et  id  post  notas  und  das  nach  Noten. 

Das  ausgezeichnetste  Kirchengesangbuch,  das  es  gibt,  ist  un- 
streitig das  hiesige ;  es  enthält  alle  berühmten  Namen  deutscher 
Poesie:  Goethe  (das  Lied:  der  Du  von  dem  Himmel  bist),  Schiller 
(drei  Worte  des  Glaubens),  Kotzebue  und  viele  andre.  Auch  Kuh- 
pockenlieder,  und  was  des  Unsinns  mehr  ist.  Es  ist  eine  Barbarei 
ohne  gleichen;  wer's  nicht  sieht,  glaubt's  nicht;  dabei  ein  schauder- 
haftes Verderben  aller  unsrer  schönen  Lieder,  ein  Verbrechen,  was 
sich  auch  Knapp  im  Liederschatz  hat  zu  Schulden  kommen  lassen, 
—  Bei  Gelegenheit,  daß  wir  eine  Expedition  Schinken  nach  West- 
indien machen,  fällt  mir  folgende  höchst  interessante  Geschichte 
ein:  Es  schickte  einmal  einer  Schinken  nach  Havanna;  der  Brief 
mit  der  Berechnung  kommt  erst  später  an,  und  der  Empfänger, 
der  schon  gemerkt  hat,  daß  zwölf  Stück  fehlten,  sieht  nun  in  der 

Rechnung    aufgeführt:    Rattenfraß 12  Stück.     Diese    Ratten 

aber  waren  die  jungen  Leute  auf  dem  Comptoir,  die  sich  diese 
Schinken  zu  Gemüte  geführt  hatten ;  jetzt  ist  die  Geschichte  aus.  — 
Indem  ich  mir  erlaube,  den  noch  übrigen  Raum  mit  Aufgreifung 
und  malerischer  Darstellung  von  Äußerlichkeiten  (Dr.  He)  aus- 
zufüllen, bekenne  ich  Euch,  daß  ich  von  meiner  Reise  Euch  schwer- 
lich werde  viel  können  zugehen  lassen,  weil  ich's  dem  Strücker 
und  dem  Wurm  zu  allererst  versprochen;  ich  fürchte  schon,  daß 
ich's  denen  werde  zweimal  schreiben  müssen,  und  dreimal  die 
ganze  Saalbaderei,  mit  vielem  Unsinn  vermischt,  das  wäre  doch  et- 
was zu  viel.  Will  Euch  aber  der  Wurm  das  Heft,  das  er  freilich 
schwerlich  vor  Ende  dieses  Jahres  bekommen  wird,  schicken,  so 
ist  mir's  recht,  sonst  kann  ich  Euch  nicht  helfen,  bis  Ihr  selbst 

nach  Bonn  geht.   —  ^  ,.       ..      t^- 

Dero  ergebenster  Diener 

Friedrich  Engels. 

Grüßt  den  P.  Jonghaus,  er  kann  Euch  einen  Brief  beilegen,  ich 
hätte  ihm  auch  geschrieben,  aber  der  Kerl  ist  gewiß  verrissen.  Bal- 
dige Antwort.    Eure   Berliner  Adresse!!!!!!! 

[Hier  folgen  zwei  Karikaturen:  Ein  Genie  4  la  mode,  ein  Dumm- 
kopf ä  la  mode.] 


An  Friedrich  Graeber 


An  Friedrich  Graeber.  n 

[Bremen]   20.  i.  39. 


Florida. 
I. 
Der  Geist  der  Erde  spricht: 

Dreihundert  Jahre  sind 's,  da  kam  gefahren 

Das  trotz'ge,  weiße  Volk  von  jener   Seite 

Des  Ozeans,  da  ihre  Städte  waren. 

Die  Inseln  wurden  bald  der  Starken  Beute, 

Da  hob  die  Faust  ich  aus  dem  Meer  empor, 

Ob  diese  auch  ihr  kecker  Fuß  beschreite. 

Mit  Wald  war  sie  bedeckt  und  Blumenflor, 

Und  durch  die  tiefen  Tälerfurchen  streifte 

Mein  treu  Geschlecht,  der  braunen  Männer  Chor. 

Der  ew'ge  Vater  mild  hernieder  träufte 

Des  Segens  Fülle    —  da  die  Weißen  kamen, 

Es  naht'  ihr  Schiff,  das  irr  im  Meere  schweifte. 

Und  ihrem  Sinn  gefiel  das  Land,  sie  nahmen 

Es  weg,  wie  sie  die  Inseln  sich  geeignet. 

Für  mein  Volk  brachten  sie  der  Knechtschaft  Samen. 

Den  Furchen  Gränze  haben  sie  verleugnet, 

Sie  maßen  mit  Quadranten  meine  Hand, 

Sie  haben  fremde   Linien  drein  gezeichnet. 

Bald  überschwemmten  sie  das  ganze  Land, 

Ein  Finger  ist's,  den  sie  noch  nicht  bedeckt, 

Wer  dahin  kommt,  ist  in  den  Tod  gerannt. 

Auf  diesen  Finger  hab'  ich  mir  gesteckt 

Jetzt  einen  Ring,  den  meine  Braunen  bilden; 

Sie  haben  ihre  Speere  vorgestreckt, 

Und  schützen  sie  mich  nicht  mit  ihren  Schilden, 

Zerfeilt  den  Ring  der  Weißen  Übermut, 

Dann  ziehe  ich  samt  den  Weißen  und  den  Wilden 

Die  Hand  herab  in  die  empörte  Flut. 

II. 
Der  Seminole  spricht: 

Nicht  Frieden  will  ich  meinen  Brüdern  künden, 
Krieg  sei  mein  erstes  Wort,  mein  letztes  Schlacht, 
Und  wenn  sich  Eure  Blicke  dann  entzünden. 
Wie  Waldbrand,  vom  Orkane  angefacht. 


12  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Dann  sag'  ich,  daß  ihr  einst  mit  Recht  mich  nanntet 

Des  Wortes  Sonne,  der  entweicht  die  Nacht! 

Wie  Ihr  in  wilder  Jagdlust  sonst  entbranntet, 

Unschuld 'ge  Tiere,  die  Euch  flohn  zu  jagen, 

Wie  Ihr  verfolgend  Pfeil  auf  Pfeil  entsandtet. 

So  meint  das  Volk  der  Weißen  Euch  zu  jagen   — 

Daß  sie  das  Wild,  daß  Ihr  die  Jäger  seid. 

Das  lasset  ihnen  Eure  Pfeile  sagen. 

Auf  uns,  die   Roten,  schauen  sie  mit  Neid, 

Und  daß  sich  ihr  verhaßtes  Weiß  nicht  zeige. 

Verhüllen  sie  sich  ganz  mit  buntem  Kleid. 

Sie  nannten  unser  Land  das  blumenreiche, 

Weil  mannigfache  Blumen  hier  erblühen. 

Die  sollen  alle,  blaue,  gelbe,  bleiche. 

Ein  rotes  Kleid  sich  alle  überziehen 

Besprenget  von  der  Weißen  rotem  Blut, 

Und  der  Flamingo  soll  nicht  roter  glühen. 

Zu  ihren  Sklaven  waren  wir  nicht  gut. 

Drum  brachten  sie  die  feigen  Schwarzen  her, 

Sie  sollen  kennen  unsre  Kraft  und  Mut! 

Kommt  nur,  Ihr  Weißen,  lüstet's  Euch  so  sehr, 

Ihr  mögt  die  Huldigung  Euch  selber  holen, 

Aus  jedem  Schilf,  von  jedem  Baume  her 

Erwartet  Euch  der  Pfeil  des  Seminolen! 


III. 
Der  Weiße  spricht: 

Wohlan!  so  will  ich  denn  zum  letzten  Male 
Dem  rauhen  Schicksal  kühn  die  Stirne  bieten, 
Will  frei  entgegenschaun  dem  Mörderstahle! 
Du  bist  mir  wohl  bekannt.  Du  Schicksalswüten ! 
Du  hast  mir  stets  des  Lebens  Lust  verbittert  — 
Meint  Ihr,  daß  mir  der  Liebe  Freuden  blühten? 
Die  hat  durch  Spott  mein  armes  Herz  zersplittert, 
Die  ich  geliebt;  ich  suchte  Trost  im  Streben 
Nach  Freiheit,  und  vor  unserm  Bund  gezittert 
Hat  mancher  König,  Fürsten  sahn  mit  Beben, 
Wie  deutsche  Jünglinge  zusammen  standen   — 
Drauf  hab'  ich  sieben  Jahr  von  meinem  Leben 
Gebüßet  für  die  Schuld  in  ehrnen  Banden. 
Da  brachte  man  mich  hin  zum  schnellen  Schiffe, 
Frei  sollt'  ich  werden,  doch  in  fernen   Landen.    — 


An  Friedrich  Graeber.  Ij 

Die   Küste  winkt!    Da  auf  dem  Felsenriffe 

Zerbirst  das  Schiff,  und  in  die  wilde  Brandung, 

Stürzt  alles  Volk;  daß  ich  allein  ergriffe 

Ein  Brett,  das  sich  mir  bot,  zur  schweren  Landung, 

Das  war  das  erste  Glück,  das  mir  geschehen, 

Die  andern  ruhen  in  der  Flut  Versandung. 

Doch  kann  ich  je  dem  Unheil  wohl  entgehen  ? 

Die  Wilden  stürzen  auf  mich  los,  und  binden 

Mich,  den  zum  Tod,  der  Rache  sie  ersehen. 

Die  Freiheit  dacht'  ich  wieder  hier  zu  finden, 

Und  Freiheitskämpfer  grüßen  mich  mit  Mord, 

So  muß  ich  büßen  meiner  Brüder  Sünden! 

Doch  sieh,  was  schwimmt  heran  zum  Ufer  dort? 

Ein  Kruzifix!  Wie  schaun  so  mild  die  Züge 

Mich  an  des  Heilands!    Ach,  mir  fehlt  sein  Wort, 

Wenn  sterbend  ich  auf  heißem  Sande  liege, 

Da  kommt  er  selbst  zu  mir,  der  Gnadenreiche! 

Ich  murre  hier,  und  für  mich  wird  im  Kriege 

Mit  Höllenwut  Gott  selber  eine  Leiche! 


Da  hast  Du  meinen  Beitrag  fürs  nächste  Kränzchen,  ich  habe 
gesehen,  daß  es  wieder  bei  uns  gewesen  ist,  und  es  tat  mir 
sehr  leid,  daß  ich  nichts  dazu  eingeschickt  hatte.  Jetzt  zur  Beant- 
wortung deines  Briefes.  —  Aha!  Warum  liest  du  die  Zeitung  nicht! 
Da  hättest  Du  bald  gesehen,  was  von  der  Geschichte  in  der  Zeitung 
stand  und  was  nicht.  Das  ist  meine  Schuld  nicht,  wenn  Du  Dich 
blamierst.  In  der  Zeitung  haben  bloß  offizielle  Berichte  des  Senats 
gestanden,  die  freilich  auch  danach  gewesen  sind.  Die  Komödie 
von  Plümacher  muß  sehr  schön  sein,  ich  habe  zweimal  darum  ge- 
schrieben und  er  hat  kein  Wort  davon  verlauten  lassen.  Was  den 
Jonghaus  und  seine  Liebe  anbetrifft,  so  habe  ich  mit  dem  noch  ein  be- 
sonderes Kapitel  drüber  abzumachen.  Ihr  Menschen  laßt  Euch  immer 
durch  ,, Dieses  und  Jenes"  vom  Schreiben  abhalten,  sage  einmal, 
kannst  Du  mir  nicht  alle  Tage,  von  dem  an,  [?]  daß  Du  meinen  Brief 
bekommst,  eine  halbe  Stunde  schreiben  ?,  so  bist  Du  in  drei  Tagen 
fertig.  Ich  muß  alle  diese  Briefe  schreiben,  fünf  Stück,  schreibe  viel 
enger  als  Ihr,  und  bin  doch  in  4  a  5  Tagen  fertig.  Ja  es  ist  schreck- 
lich. Acht  Tage  sollt  Ihr  Zeit  haben,  aber  am  neunten  Tage  nach 
Empfang  meines  Briefes  müßt  Ihr  den  Eurigen  auf  die  Post  geben, 
das  geht  nicht  anders ;  sollte  ich  bei  Wurm  andre  Bestimmungen 
gemacht  haben,  so  andre  ich  sie   hiermit  um,  acht  Tage  Zeit  habt 


14 


Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 


Ihr,  sonst  treten  die  bei  Wurm  angedrohten  Strafen  ein;  keine  Verse 
und  ebenso  langes  Wartenlassen. 


Briefträger:    „Herr   Konsul,    ein  Brief!"     Konsul   Leupold:    „Aha!    Gut." 
Engels:  „Nichts  für  mich?"    Briefträger:  „Nein." 


Da  hast  Du  einen  Holzschnitt  a  la  Volksbücher,  der  Dir  klar  dar- 
stellt, wie  ich  auf  Euch  passe,  das  heißtauf  Eure  Briefe.  Ich  dachte,  ich 
hätte  heute  die  Briefe  noch  weggekriegt  (Sonntag,  den  20.  Januar). 
Aber  es  schlägt  halb  fünf  und  heute  geht  die  Post  schon   um   fünf, 

wieder  ein  Strich  durch  die  Rechnung Für  Peter  J.  habe  ich 

noch  keinen  Brief  anfangen  können.  .  .  . 

Es  ist  merkwürdig,  daß,  wenn  wir  unsre  größten  Dichter  zu- 
sammennehmen, immer  zwei  und  zwei  sich  ergänzen,  so  Klopstock 
und  Lessing,  so  Goethe  und  Schiller,  so  Tieck  und  Uhland.  Jetzt 
aber  steht  Rückert  ganz  allein  da,  soll  mich  einmal  verlangen,  ob 
der  noch  einen  bekommt,  oder  ob  er  so  abstirbt;  es  hat  fast  den  An- 
schein. Als  Liebesdichter  könnte  man  ihn  mit  Heine  zusammen- 
stellen, aber  leider  Gottes  sind  die  zwei  sonst  so  heterogen,  daß  man 
sie  gar  nicht  vereinen  kann.  Klopstock  und  Wieland  sind  doch 
noch  Gegensätze,  aber  Rückert  und  Heine  haben  nicht  die  min- 
deste andere  Ähnlichkeit,  und  stehen  beide  absolut  da.  Die  Ber- 
liner Partei  des  jungen  Deutschlands  ist  doch  eine  saubere  Compag- 
nie!  Da  wollen  sie  unsere  Zeit  umstempeln  zu  einer  Zeit  der  ,, Zu- 
stände und  feinen  Bezüge",  welches  so  viel  bedeutet  als:  wir  schrei- 
ben was  in  die  Welt  hinaus,  und  um  die  Seiten  voll  zu  kriegen, 
schildern  wir  Dinge,  die  nicht  da  sind,  und  das  nennen  wir  Zustände, 
oder  wir  bringen  das  Hundertste  mit  dem  Tausendsten  zusammen 
und  das  geht  unter  dem  Namen  der  ,, feinen  Bezüge".  Dieser  Theo- 
dor Mundt  sudelt  da   was  in   die  Welt  hinein  von  der  Demoiselle 


An  Friedrich  Graeber.  15 

Taglioni,  die  „Goethe  tanzt*',  schmückt  sich  mit  Floskeln  aus 
Goethe,  Heine,  der  Rahel  und  der  Stieglitz,  sagt  den  köstlichsten 
Unsinn  über  Bettina,  aber  alles  so  modern,  so  modern,  daß  es 
eine  Lust  sein  muß  für  einen  Schnipulanten,  oder  für  eine  junge, 
eitle,  lüsterne  Dame,  dergleichen  zu  lesen.  Dieser  Kühne,  Mundt's 
Agent  in  Leipzig,  redigiert  die  Zeitung  für  die  elegante  Welt,  und 
die  sieht  jetzt  aus,  wie  eine  Dame,  deren  Körperbau  für  einen  Reif- 
rock eingerichtet,  und  die  jetzt  in  ein  modernes  Kleid  gesteckt 
wird,  daß  bei  jedem  Schritt  die  holdselige  Krümmung  der  Beine 
durch  das  schmiegsame  Kleid  sichtbar  wird.  Es  ist  köstlich!  Und 
dieser  Heinrich  Laube!  Der  Kerl  schmiert  in  Einem  fort,  Charak- 
tere, die  nicht  existieren,  Reisenovellen,  die  keine  sind,  Unsinn 
über  Unsinn,  es  ist  schrecklich.  Wie  es  mit  der  deutschen  Literatur 
werden  soll,  weiß  ich  nicht.  Drei  Talente  haben  wir:  Karl  Beck, 
Ferdinand  Freiligrath  und  Julius  Mosen ;  der  dritte  ist  wohl  ein  Jude 
und  läßt  in  seinem  Ahasver  den  ewigen  Juden  an  allen  Enden  dem 
Christentume  trotzen ;  Gutzkow,  der  noch  mit  der  Vernünftigste  ist, 
tadelt  ihn  deshalb,  weil  Ahasveros  eine  gemeineNatur  sei,  ein  wahrer 
Schacherjude;  Theodor  Creizenach,  ebenfalls  ein  juif,  packt  nun 
in  der  Zeitung  für  die  elegante  Welt  den  Gutzkow  auf  eine  wütende 
Weise  an,  aber  Gutzkow  steht  ihm  zu  hoch.  Dieser  Creizenach,  ein 
gewöhnlicher  Tagesschreiber,  erhebt  Ahasver  in  alle  H'mmel,  als 
einen  getretenen  Wurm,  und  schimpft  auf  Christus,  als  einen  eigen- 
mächtigen, stolzen  Herrgott,  meint  auch,  freilich  sei  im  Volksbuch 
Ahasver  eben  nur  ein  gemeiner  Kerl,  aber  im  Löschpapier  der  Jahr- 
marktsbuden sei  Faust  auch  nicht  viel  mehr  als  ein  gemeiner  Hexen- 
meister, während  doch  Goethe  die  Psychologie  mehrerer  Jahr- 
hunderte in  ihn  gelegt  habe.  Letzteres  ist  klar,  Unsinn  zu  sein 
(wenn  ich  nicht  irre,  ist  das  eine  ganz  lateinische  Konstruktion), 
aber  mich  rührt  nur  das  wegen  der  Volksbücher.  Freilich,  wenn 
Theodor  Creizenach  darauf  schimpft,  so  müssen  sie  v/ohl  sehr, 
sehr  schlecht  sein,  indessen  wage  ich  zu  bemerken,  daß  im  Volks- 
ahasver  mehr  Tiefe  und  Poesie  ist,  als  in  dem  ganzen  Theodor 
Creizenach  benebst  seinen  löblichen  Konsorten.  Ich  habe  jetzt 
einige  Xenien  in  Arbeit,  von  denen  ich  Dir,  so  viel  davon  fertig, 
hersetze. 

Die  Journale. 
I.  Telegraph. 

Nennst  Du  Dich  selbst  Schnellschreiber,  wer  wird  dann  Zweifel 

noch  hegen. 
Schnellgeschriebenes  sei,  was  Dir  die  Blätter  erfüllt? 


l6  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

2.  Morgenblatt. 
Liest  Du  am  Morgen  mich  durch,  so  hast  Du  vergessen  am  Abend, 
Ob  Du  auf  leeres  Papier  oder  bedrucktes  gesehn. 

3.  Abendzeitung. 

Fehlt  Dir  am  Abend  der  Schlaf,  so  nimm  dies  Blatt  in  die  Hände, 
Lieblicher  Schlummer  erfüllt  sicherlich  Dich  alsobald. 

4.  Literaturblatt. 

Dies  ist  das  krittlichste  Blatt  in  dem  ganzen  Literaturwald, 
Aber  wie  ist  es  so  dürr!  weht  es  der  Wind  doch  herab! 

Andre  fallen  mir  gerade  nicht  ein,  ich  muß  also  wohl  aufhören. 
Ich  muß  mich,  wie  ich  eben  vermerke,  noch  bedeutend  eilen,  wenn 
ich  Schacher  noch  morgen  die  Briefe  wegbekommen  soll;  gleich 
haben  wir  Gesellschaft,  dann  morgen  große  Rennerei  und  Kopie- 
rerei, so  daß  es  nicht  unzweckmäßig  sein  wird,  sehr  schnell  zu 
schreiben. 

Von  Duller  lese  ich  jetzt  Kaiser  und  Papst,  einen  vierbändigen 
Roman.  Duller  hat  einen  übermäßigen  Ruf,  seine  Witteisbacher  — 
Romanzen,  von  denen  viele  in  Hüllstett  stehen,  —  sind  entsetzlich 
schlecht;  er  wollte  Volkstöne  nachahmen  und  wurde  familiär; 
sein  Loyola  ist  ein  scheußliches  Konfusorium  aller  guten  und 
schlechten  Elemente  eines  historischen  Romans,  mit  einer  schlech- 
ten Stilsauce  aufgewärmt;  sein  Leben  Grabbes  ist  entsetzlich  ent- 
stellt und  einseitig;  der  vorliegende  Roman  ist  schon  besser,  ein- 
zelne Charaktere  sind  gut,  andre  wenigstens  nicht  schlecht  ge- 
zeichnet, einzelne  Situationen  sind  ziemlich  gut  aufgefaßt,  und  die 
erfundenen  Personen  sind  interessant.  Aber  das  Maß*)  der  [sie!]  und 
des  Hervortretens  der  Nebenpersonen,  neue,  kühne  Ansichten  der 
Geschichte  fehlen  ihm,  nach  dem  ersten  Bande  zu  urteilen,  gänzlich. 
Es  ist  ihm  nichts,  den  am  besten  gezeichneten  Charakter  am  Ende 
des  ersten  Bandes  zu  töten;  auch  hat  er  eine  große  Vorliebe  für  ab- 
sonderliche Todesarten ;  so  stirbt  einer  vor  Wut,  als  er  eben  seinem 
Feinde  den  Dolch  in  die  Brust  stoßen  will,  und  dieser  Feind  steht 
am  Krater  des  Aetna,  wo  er  sich  eben  vergiften  will,  als  eine  Spalte 
des  Berges  ihn  im  Lavastrome  begräbt.  Dann  schließt  der  Band, 
nachdem  diese  Szene  geschildert:  Die  Wogen  des  Ozeans  schlagen 
über  dem  Scheitel  des  Sonnenhauptes  zusammen.  Ein  sehr  pikanter, 
im  Grunde  aber  abgedroschener  und  alberner  Schluß.  Der  soll  auch 
meinen  Brief  schließen.    Addio,  adieu,  a  dios,  a  deos, 

Dein  Friedrich  Engels. 
1)  Ursprünglich    stand   „die    liebe   Breite";   das   ist    durchgestrichen. 


An  Friedrich  Graeber.  I»r 

An  Friedrich  Graeber. 

(19.  Februar   1839.) 

Et^)  Tu,  Brüte  ?  Friderice  Graeber,  hoc  est  res  quam  nunquam 
de  te  crediderim!  Tu  jocas  ad  cartas  ?  passionahter  ?  O  Tempores 
o  inoria!  Res  dignissima  memoria!  Unde  est  tua  gloria  ?  Wo  ist 
Dein  Ruhm,  und  Dein  Christentum?  Est  itum  ad  Diabolum!  Quis 
est,  qui  te  seduxit?  Nonne  verbum  meum  fruxit  (hat  gefruchtet)? 
O  fiU  mi,  verte,  sonst  schlag  ich  Dich  mit  Rute  und  Gerte,  cartas 
abandona-),facmultabona,etvitamagasintegram,partemrecuperabis 
optimam!  Vides  amorem  meum,  ut  spiritum  faulenzendeum  egi  ad 
hnguam  latinam  et  die  obstupatus:  quinam  fecit  Angelum  ita  tollum, 
nonsensitatis  vollum,  plenum  et,  plus  ancora  viel:  hoc  fecit  enorme 
Kartenspiel!  Geh  in  Dich,  Verbrecher,  bedenke,  was  der  Zweck 
Deines  Daseins  ist!  Räuber,  bedenke,  wie  Du  Dich  an  allem  ver- 
sündigst, was  selig  und  unselig  ist!  Karten!  Die  sind  aus  des  Teufels 
Haut  geschnitten!  O  Ihr  Schrecklichen!  ich  gedenke  Eurer  nur 
noch  in  Tränen  oder  Zähneknirschen!  Ha,  mich  faßt  die  Begeiste- 
rung! Am  neunzehnten  Tage  des  zweiten  Monats  1839,  am  Tage, 
da  Mittag  um  12  Uhr  ist,  faßte  mich  der  Sturm  und  trug  mich  in 
die  Ferne  und  da  sah  ich,  wie  sie  Karten  spielten,  und  da  war  es 
Zeit  zu  essen.  Fortsetzung  folgt.  Und  siehe,  es  erhob  sich  von 
Morgen  ein  greuliches  Donnerwetter,  also,  daß  die  Fenster  klirrten, 
und  die  Schlössen  herniederschmetterten,  sie  aber  spielten  weiter. 
Darob  erhob  sich  ein  Streit  und  der  König  von  Morgen  zog  wider 
den  Fürsten  aus  Abend,  und  die  Mitternacht  hallte  wieder  vom  Ge- 
schrei der  Streiter.  Und  der  Fürst  des  Meeres  machte  sich  auf 
wider  die  Lande  im  Morgen,  und  ein  Schlagen  geschah  vor  seiner 
Stadt,  desgleichen  die  Menschheit  nicht  gesehen.  Sie  aber  spielten 
weiter.  Und  vom  Himmel  herab  stiegen  sieben  Geister.  Der  erste 
trug  einen  langen  Rock,  und  sein  Bart  reichte  ihm  auf  die  Brust. 
Den  nannten  sie  Faust.  Und  der  zweite  Geist  hatte  greises  Haar 
um  das  kahle  Haupt,  und  er  rief:  Wehe,  wehe,  wehe!  Den  nann- 
ten sie  Lear.    Und  der  dritte  Geist  war  hohen  Leibes  und  gewaltig 


*)  Dieses  wie  das  folgende  ist  natürlich  das  reinste  Küchenlatein  im 
Stil  der  Kapuzinerpredigt  in  Wallensteins  Lager:  Und  Du,  Brutus?  Friedrich 
Graeber,  dies  ist  eine  Sache,  die  ich  nie  von  Dir  geglaubt  hätte!  Du  spielst 
Karten?  Leidenschaftlich?  O  Zeiten,  o  Sitten!  Eine  Sache,  die  verdient, 
daß  man  sich  ihrer  erinnert!  ...  Er  ist  zum  Teufel  gegangen!  Wer  ist 
es,  der  Dich  verführt  hat?    Hat  mein  Wort  nicht  gefruchtet? 

2)  Laß  die  Karten  im  Stich,  tue  viel  Gutes  und  führe  ein  reines  Leben, 
dann  wirst  Du  den  besten  Teil  wiedererlangen!  Du  siehst  meine  Liebe  darin, 
wie  ich  den  faulenzenden  Geist  zum  Lateinischen  getrieben  habe  und  sage: 
wer  hat  den  Engels  so  toll  gemacht,  so  voll  von  Unsinn  und  noch  mehr  viel, 
<ias  tat  das  enorme  Kartenspiel! 

Mayer,  Eogels.     Ergänzungsband.  2 


l8  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

anzuschauen,  des  Name  war  Wallenstein.  Und  der  vierte  Geist 
war  wie  die  Kinder  Enaks,  und  trug  eine  Keule,  gleichwie  die  Ce- 
dern  auf  dem  Libanon.  Den  nannten  sie  Herakles.  Und  der  fünfte 
Geist  war  von  Eisen  über  und  über,  und  sein  Name  stand  geschrie- 
ben auf  seiner  Stirn:  Siegfried,  und  an  seiner  Hand  ging  ein  ge- 
waltiger Streiter,  des  Schwert  leuchtete  wie  der  Blitz,  das  war  der 
sechste  und  hieß  Roland.  Und  der  siebente  Geist  trug  einen  Turban 
auf  der  Spitze  seines  Schwertes  und  schwang  eine  Fahne  ob  seinem 
Haupte,  darauf  stand  geschrieben:  Mio  Cid.  Und  die  sieben  Geister 
pochten  an  der  Türe  der  Spieler,  aber  sie  hörten  nicht  darauf.  Und 
siehe,  da  kam  von  Mitternacht  eine  große  Helle,  die  flog  dahin  über 
das  Erdreich,  wie  ein  Adler,  und  da  sie  vorbei  war,  sähe  ich  die 
Spieler  nicht  mehr.  Aber  mit  schwarzen  Zeichen  stand  geschrieben 
auf  der  Türe:  '"''?~id!^)    Und  ich  verstummte. 

Wenn  mein  Brief  an  Wilhelm  noch  nicht  Beweis  genug  für 
meine  Unsinnigkeit  ist,  so  fällt  es  jetzt  hoffentlich  keinem  von  Euch 
mehr  ein,  daran  zu  zweifeln.  Wo  nicht,  so  will  ich  Euch  noch  trif- 
tiger davon  überzeugen.  [Hier  folgt  eine  Karikatur  mit  der  Unter- 
schrift: Zukunft  der  fünf  Kartenspieler!] 

Eben  sehe  ich  im  Telegraphen  eine  Rezension  der  Gedichte 
des  Missionars  Winkler  in  Barmen.  Sie  werden  furchtbar  herunter- 
gemacht; es  gibt  eine  Masse  Proben,  die  eben  einen  Missionars- 
geschmack verraten.  Kommt  das  Blatt  nach  Barmen,  so  ist  es  um 
Gutzkows  Reputation  daselbst,  die  schon  sehr  gering  ist,  getan. 
Diese  Proben  sind  schauderhaft,  ganz  unendlich  ekelhafte  Bilder  — 
Pol  ist  ein  Engel  dagegen.  Herr  Jesu,  heile  du  den  Blutfluß  meiner 
Sünden  (Anspielung  auf  die  bekannte  Geschichte  im  Evangelium) 
und  dergl.  mehr.  Ich  verzweifle  immer  mehr  an  Barmen,  es  ist 
alles  aus  in  literarischer  Beziehung.  Was  da  gedruckt  wird,  ist, 
mit  Ausnahme  der  Predigten,  zum  wenigsten  dummes  Zeug;  reli- 
giöse Sachen  sind  gewöhnlich  Unsinn.  Barmen  und  Elberfeld  sind 
wahrhaftig  nicht  mit  Unrecht  als  obskur  und  mystisch  verschrieen; 
Bremen  steht  in  demselben  Ruf,  und  hat  viel  Ähnlichkeit  damit;  die 
Philisterei  verbunden  mit  religiöser  Zelotenwirtschaft,  wozu  in 
Bremen  noch  eine  niederträchtige  Verfassung  kommt,  verhindern 
jeden  Aufschwung  des  Geistes,  und  eines  der  vorzüglichsten  Hin- 
dernisse ist  F.  W.  Krummacher.  —  Blank  klagt  so  entsetzlich  über 
die  Elberfelder  Prediger,  besonders  Kohl  und  Hermann,  ich  möchte 
wissen  ob  er  recht  hat ;  vor  allem  wirft  er  ihnen  Dürre  vor,  nur  Krum- 
macher sei  eine  Ausnahme.  —  Höchst  komisch  ist,  was  der  Missionar 
über  die  Liebe  sagt.   Paß  mal  auf,  ich  will  ein  derartiges  Ding  machen. 

1)  Berlin. 


An  Friedrich  Graeber. 


19 


Liebeserklärung  eines  Pietisten. 
Ehrbare  Jungfrau!    Ich,  nach  viel  und  schwerem  Ringen, 
Gegen  die   Lust  der  Welt,  die  gegen  mich  tat  dringen, 
Komm  ich  mit  dem  Gesuch,  ob  sie  mich  wollte  nicht 
Nehmen  zu  ihrem  Mann,  in  Ehrbarkeit  und  Pflicht. 
Zwar  liebe  ich  Sie  nicht,  das  war'  zu  viel  verlanget. 
Ich  lieb  in  ihr  den  Herrn,  der    — 

nein,  es  geht  nicht,  man  kann  so  was  nicht  satirisieren,  ohne  das 
Heiligste  mit  in  diesen  Kreis  zu  ziehen,  wo  hinter  sich  dieses  Volk 
versteckt.  Ich  möchte  einmal  solche  Ehe  sehen,  wo  der  Mann 
nicht  seine  Frau,  sondern  Christum  in  seiner  Frau  liebt,  und  liegt 
da  die  Frage  nicht  auf  der  Hand,  ob  er  auch  Christum  in  seiner 
Frau  beschläft  ?  Wo  steht  denn  was  in  der  Bibel  von  dieser  un- 
sinnigen Wirtschaft?  Im  Hohen  Liede  steht:  wie  süß  bist  du,  Liebe 
in  Wollüsten;  aber  freilich  schimpft  man  jetzt  auf  alles  Verteidigen 
der  Sinnlichkeit  trotz  David  und  Salomo  und  Gott  weiß  wem.  Über 
sowas  kann  ich  mich  entsetzlich  ärgern.  Diese  Kerls  rühmen  sich 
noch  obendrein,  die  wahre  Lehre  zu  haben,  und  verdammen  jeden, 
der  nicht  etwa  an  der  Bibel  zweifelt,  sondern  der  sie  anders  aus- 
legt wie  sie.  Es  ist  eine  saubre  Wirtschaft.  Komme  einmal  Einem 
damit,  der  oder  der  Vers  sei  untergeschoben,  die  werden  Dich  schon 
fuchsen.  Gustav  Schwab  ist  der  bravste  Kerl  von  der  Welt,  sogar 
orthodox,  aber  die  Mystiker  halten  nichts  auf  ihn,  weil  er  ihnen 
nicht  immer  geistliche  Lieder  in  der  Weise:  Du  sagst,  ich  bin  ein 
Christ  vorleiert,  und  in  einem  Gedicht  auf  möglichste  Ausgleichung 
zwischen  Rationalisten  und  Mystikern  hindeutet.  Mit  der  religiösen 
Poesie  ist  es  fürs  Erste  am  Ende,  bis  Einer  kommt,  der  ihr  neuen 
Schwung  gibt.  Bei  Katholiken  wie  Protestanten  geht  alles  den 
alten  Schlendian,  die  Katholiken  machen  Marienlieder,  die  Prote- 
stanten singen  die  alte  Leier  in  den  prosaischsten  Ausdrücken 
von  der  Welt.  Diese  gräßlichen  Abstrakta:  Heiligung,  Bekehrung, 
Rechtfertigung,  und  weiß  Gott  was  für  loci  communes  und  breit- 
getretene Floskeln  mehr  sind.  Man  sollte  aus  Ärger  über  die  jetzige 
Poesie,  also  aus  Frömmigkeit,  des  Teufels  werden.  Ist  denn  unsre 
Zeit  so  schofel,  daß  nicht  einmal  Einer  neue  Wege  für  religiöse 
Poesie  bahnen  kann  ?  Übrigens  halte  ich  dafür,  daß  die  zeitgemäßeste 
Art  die  ist,  die  ich  in  Sturm  und  Florida,  über  welches  ich  mir  aus- 
führlichere Rezension  erbitte,  bei  Strafe  des  Nichtmehrgedicht- 
habensollens,  angewandt  habe.  Daß  der  Wurm  die  Briefe  zurück- 
behalten, ist  nicht  verzeihlich. 

Dein  Friedrich  Engels. 


20  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Briefe  aus  dem  W^uppertal. 
I. 

Bekanntlich  begreift  man  unter  diesem  bei  den  Freunden  des 
Lichtes  sehr  verrufenen  Namen  die  beiden  Städte  Elberfeld  und 
Barmen,  die  das  Tal  in  einer  Länge  von  fast  drei  Stunden  einneh- 
men. Der  schmale  Fluß  ergießt  bald  rasch,  bald  stockend  seine 
purpurnen  Wogen  zwischen  rauchigen  Fabrikgebäuden  und  garn- 
bedeckten  Bleichen  hindurch;  aber  seine  hochrote  Farbe  rührt 
nicht  von  einer  blutigen  Schlacht  her,  denn  hier  streiten  nur  theo- 
logische Federn  und  wortreiche  alte  Weiber,  gewöhnlich  um  des 
Kaisers  Bart;  auch  nicht  von  Scham  über  das  Treiben  der  Menschen, 
obwohl  dazu  wahrlich  Grund  genug  vorhanden  ist,  sondern  einzig 
und  allein  von  den  vielen  Türkischrot-Färbereien.  Kommt  man 
von  Düsseldorf  her,  so  tritt  man  bei  Sonnborn  in  das  heilige  Ge- 
biet; die  Wupper  kriecht  trag  und  verschlammt  vorbei  und  spannt 
durch  ihre  jämmerliche  Erscheinung,  dem  eben  verlassenen  Rheine 
gegenüber,  die  Erwartungen  bedeutend  herab.  Die  Gegend  ist  ziem- 
lich anmutig;  die  nicht  sehr  hohen,  bald  sanft  steigenden,  bald 
schroffen  Berge,  über  und  über  waldig,  treten  keck  in  die  grünen 
Wiesen  hinein,  und  bei  schönem  Wetter  läßt  der  blaue,  in  der  Wup- 
per sich  spiegelnde  Himmel  ihre  rote  Farbe  ganz  verschwinden. 
Nach  einer  Biegung  um  einen  Abhang  sieht  man  die  verschrobenen 
Türme  Elberfelds  (die  demütigen  Häuser  verstecken  sich  hinter 
den  Gärten)  dicht  vor  sich  und  in  wenigen  Minuten  ist  das  Zion 
der  Obskuranten  erreicht.  Fast  noch  außerhalb  der  Stadt  stößt  man 
auf  die  katholische  Kirche ;  sie  steht  da,  als  wäre  sie  verbannt  aus 
den  heiligen  Mauern.  Sie  ist  im  Byzantinischen  Stil  nach  einem 
sehr  guten  Plan  von  einem  sehr  unerfahrenen  Baumeister  sehr 
schlecht  ausgeführt;  die  alte  katholische  Kirche  ist  abgebrochen, 
um  dem  linken,  noch  nicht  gebauten  Flügel  des  Rathauses  Platz 
zu  machen;  nur  der  Turm  ist  stehen  geblieben  und  dient  dem  all- 
gemeinen Wohl  auf  seine  Art,  nämlich  als  Gefängnis.  Gleich  dar- 
auf kömmt  man  an  ein  großes  Gebäude  —  auf  Säulen  ruht  sein 
Dach,  aber  seine  Säulen  sind  von  ganz  merkwürdiger  Beschaffen- 
heit; ihrer  Dicke  nach  sind  sie  unten  ägyptisch,  in  der  Mitte  dorisch 
und  oben  jonisch,  und  außerdem  verachten  sie  alles  überflüssige 
Beiwerk,  als  Piedestal  und  Kapital,  aus  sehr  triftigen  Gründen. 
Dieses  Gebäude  hieß  früher  das  Museum;  die  Musen  aber  blieben 
weg  und  eine  große  Schuldenlast  blieb  da,  so  daß  vor  einiger  Zeit 
das  Gebäude  verauktioniert  wurde  und  den  Namen  Kasino  annahm, 
der  auch,  um  alle  Erinnerungen  an  den  ehemaligen  poetischen 
Namen    zu   entfernen,    auf   das    leere    Frontispice    gesetzt   wurde. 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  21 

Übrigens  ist  das  Gebäude  so  plump  in  allen  Dimensionen,  daß  man 
es  abends  für  ein  Kamel  hält.  Von  nun  an  begmnen  die  langweili- 
gen, charakterlosen  Straßen;  das  schöne,  neue  Rathaus,  erst  halb 
vollendet,  ist  aus  Mangel  an  Raum  so  verkehrt  gesetzt,  daß  die 
Front  nach  einer  engen,  häßlichen  Gasse  geht.  Endlich  gelangt 
man  wieder  an  die  Wupper,  und  eine  schöne  Brücke  zeigt,  daß  man 
nach  Barmen  kommt,  wo  wenigstens  auf  architektonische  Schön- 
heit mehr  gegeben  wird.  So  wie  die  Brücke  passiert  ist,  nimmt  alles 
emen  freundlichen  Charakter  an;  große,  massive  Häuser  in  ge- 
schmackvoller, moderner  Bauart,  vertreten  die  Stelle  jener  mittel- 
mäßigen Elberfelder  Gebäude,  die  weder  altmodisch,  noch  modern, 
weder  schön  noch  karikiert  sind;  überall  entstehen  neue,  steinerne 
Häuser,  das  Pflaster  hört  auf,  und  ein  grader  chaussierter  Weg, 
an  beiden  Seiten  bebaut,  setzt  die  Straße  fort.  Zwischen  den  Häu- 
sern sieht  man  die  grünen  Bleichen;  die  hier  noch  klare  Wupper 
und  die  sich  dicht  herandrängenden  Berge,  welche  durch  leicht  ge- 
schwungene Umrisse  und  durch  mannichfaltige  Abwechselung 
von  Wäldern,  Wiesen  und  Gärten,  aus  denen  überall  rote  Dächer 
hervorschauen,  die  Gegend  immer  anmutiger  machen,  je  weiter 
man  kommt.  Halbweg  der  Allee  sieht  man  gegen  die  Front  der 
etwas  zurückliegenden  Unterbarmer  Kirche ;  sie  ist  döS  schönste 
Gebäude  des  Tales,  im  edelsten  Byzantinischen  Stil  sehr  gut  aus- 
geführt. Bald  aber  tritt  das  Pflaster  wieder  ein,  die  grauen  Schiefer- 
häuser drängen  sich  eines  an  das  andere;  doch  herrscht  hier  weit 
mehr  Abwechslung  als  in  Elberfeld,  indem  bald  eine  frische  Bleiche, 
bald  ein  modernes  Haus,  bald  ein  Stückchen  vom  Fluß,  bald  eine 
Reihe  Gärten  dicht  an  der  Straße  das  ewige  Einerlei  unterbrechen. 
Dadurch  bleibt  man  im  Zweifel,  ob  man  Barmen  für  eine  Stad<- 
oder  für  ein  bloßes  Konglomerat  von  allerlei  Gebäuden  halten  soll; 
auch  ist  es  nur  eine  Vereinigung  vieler  Oitschaften,  die  durch  das 
Band  städtischer  Institutionen  zusammengehalten  werden.  Die 
bedeutendsten  dieser  Ortschaften  sind:  Gemarke,  von  jeher  der 
Mittelpunkt  reformierter  Konfession;  Unterbarmen,  nach  Elber- 
feld zu,  unweit  Wupperfeld,  oberhalb  Gemarke,  und  noch  weiter 
Rittershausen,  welches  links  Wichlingshausen  und  rechts  Heking- 
hausen  mit  dem  wunderschönen  Rauhental  neben  sich  hat;  alle 
lutherisch  in  zwei  Kirchen;  die  Katholiken,  zwei  bis  drei  Tausend 
höchstens,  sind  im  ganzen  Tal  zerstreut.  Nachdem  der  Durch- 
reisende nun  Rittershausen  passiert  hat,  verläßt  er  am  Ende  der 
Welt  das  Bergische  und  tritt  durch  den  Schlagbaum  in  das  alt- 
preußische, westfälische  Gebiet  ein. 

Das  ist  die  äußere  Erscheinung  des  Tales,  die  im  allgemeinen, 
mit  Ausnahme  der  trübseligen  Straßen  Elberfelds,  einen  sehr  freund- 


22  '■^^^  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841, 

liehen  Eindruck  macht;  daß  dieser  aber  für  die  Bewohner  verloren 
gegangen  ist,  zeigt  die  Erfahrung.  Ein  frisches,  tüchtiges  Volks- 
leben, wie  es  fast  überall  in  Deutschland  existiert,  ist  hier  gar  nicht 
zu  spüren;  auf  den  ersten  Anblick  scheint  es  freilich  anders,  denn 
man  hört  jeden  Abend  die  lustigen  Gesellen  durch  die  Straßen 
ziehen  und  ihre  Lieder  singen,  aber  es  sind  die  gemeinsten  Zoten- 
lieder, die  je  über  branntweinentflammte  Lippen  gekommen  sind ; 
nie  hört  man  eins  jener  Volkslieder,  die  sonst  in  ganz  Deutschland 
bekannt  sind,  und  auf  die  wir  wohl  stolz  sein  dürfen.  Alle  Kneipen 
sind,  besonders  Sonnabend  und  Sonntag,  überfüllt  und  abends  um 
elf  Uhr,  wenn  sie  geschlossen  werden,  entströmen  ihnen  die  Be- 
trunkenen und  schlafen  ihren  Rausch  meistens  im  Chausseegraben 
aus.  Die  gemeinsten  unter  ihnen  sind  die  sogenannten  Karren- 
binder, ein  gänzlich  demoralisiertes  Volk,  ohne  Obdach  und  sicheren 
Erwerb,  die  mit  Tagesanbruch  aus  ihren  Schlupfwinkeln,  Heu- 
böden, Ställen  etc.  hervorkriechen,  wenn  sie  nicht  auf  Düngerhaufen 
oder  den  Treppen  der  Häuser  die  Nacht  überstanden  hatten.  Durch 
Beschränkung  ihrer  früher  unbestimmten  Zahl  ist  diesem  Wesen 
von  der  Obrigkeit  jetzt  einigermaßen  ein  Ziel  gesetzt  worden. 

Die  Gründe  dieses  Treibens  liegen  auf  der  Hand.  Zuvörderst 
trägt  das  Fabrikarbeiten  sehr  viel  dazu  bei.  Das  Arbeiten  in  den 
niedrigen  Räumen,  wo  die  Leute  mehr  Kohlendampf  und  Staub 
einatmen,  als  Sauerstoff,  und  das  meistens  schon  von  ihrem  sechs- 
ten Jahre  an,  ist  gerade  dazu  gemacht,  ihnen  alle  Kraft  und  Le- 
benslust zu  rauben.  Die  Weber,  die  einzelne  Stühle  in  ihren  Häu- 
sern haben,  sitzen  vom  Morgen  bis  in  die  Nacht  gebückt  dabei,  und 
lassen  sich  vom  heißen  Ofen  das  Rückenmark  ausdörren.  Was 
von  diesen  Leuten  dem  Mystizismus  nicht  in  die  Hände  gerät, 
verfällt  ins  Branntweintrinken.  Dieser  Mystizismus  muß  in  der 
frechen  und  widerwärtigen  Gestalt,  wie  er  dort  herrscht,  notwendig 
das  entgegengesetzte  Extrem  hervorrufen,  und  daher  kommt  es 
hauptsächlich,  daß  das  Volk  dort  nur  aus  ,, Feinen"  (so  heißen  die 
Mystiker)  und  liederlichen  Gesellen  besteht.  Schon  diese  Spaltung 
in  zwei  feindselige  Parteien  wäre,  abgesehen  von  der  Beschaffenheit 
derselben,  allein  im  Stande,  die  Entwicklung  alles  Volksgeistes  zu 
zerstören,  und  was  ist  da  zu  hoffen,  wo  auch  das  Verschwinden  der 
einen  Partei  nichts  helfen  würde,  weil  beide  gleich  schwindsüch- 
tig sind?  Die  wenigen  kräftigen  Gestalten,  die  man  dort  sieht,  sind 
fast  nur  Schreiner  oder  andere  Handwerker,  die  alle  aus  fremden 
Gegenden  her  sind ;  unter  den  eingeborenen  Gerbern  sieht  man  auch 
kräftige  Leute,  aber  drei  Jahre  ihres  Lebens  reichen  hin,  sie  körper- 
lich und  geistig  zu  vernichten;  von  fünf  Menschen  sterben  drei  an 
der  Schwindsucht    und  alles  das  kommt  vom  Branntweintrinken. 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  23 

Dies  aber  hätte  wahrscheinlich  nicht  auf  eine  so  furchtbaie  Weise 
Oberhand  genommen,  wenn  nicht  der  Betrieb  der  Fabriken  auf 
eine  so  unsinnige  Weise  von  den  Inhabern  gehandhabt  würde, 
und  wenn  der  Mystizismus  nicht  in  der  Art  bestände,  wie  er  be- 
steht, und  wie  er  immer  mehr  um  sich  zu  greifen  droht.  Aber  es 
herrscht  ein  schreckhches  Elend  unter  den  niedern  Klassen,  be- 
sonders den  Fabrikarbeitern  im  Wuppertal;  syphilitische  und  Brust- 
krankheiten herrschen  in  einer  Ausdehnung,  die  kaum  zu  glauben 
ist;  in  Elberfeld  allein  werden  von  2500  schulpflichtigen  Kindern 
1200  dem  Unterricht  entzogen  und  wachsen  in  den  Fabriken  auf, 
bloß  damit  der  Fabrikherr  nicht  einem  Erwachsenen,  dessen  Stelle 
sie  vertreten,  das  Doppelte  des  Lohnes  zu  geben  nötig  hat,  das  er 
einem  Kinde  gibt.  Die  reichen  Fabrikanten  aber  haben  ein  weites 
Gewissen,  und  ein  Kind  mehr  oder  weniger  verkommen  zu  lassen, 
bringt  keine  Pietistenseele  in  die  Hölle,  besondere  wenn  sie  alleSonn- 
tage  zweimal  in  die  Kirche  geht.  Denn  das  ist  ausgemacht,  daß 
unter  den  Fabrikanten  die  Pietisten  am  schlechtesten  mit  ihren  Ar- 
beitern umgehen,  ihnen  den  Lohn  auf  alle  mögliche  Weise  verringern, 
unter  dem  Vorwande,  ihnen  Gelegenheit  zum  Trinken  zu  nehmen,  ja 
bei  Predigerwahlen  immer  die  ersten  sind,  die  ihre  Leute  bestechen. 
In  den  niedern  Ständen  herrscht  der  Mystizismus  am  meisten 
unter  den  Handwerkern  (zu  denen  ich  die  Fabrikanten  nicht  rechne). 
Es  ist  ein  trauriger  Anblick,  wenn  man  solch  einen  Menschen,  ge- 
bückten Ganges,  in  einem  langen,  langen  Rock,  das  Haar  auf  Pie- 
tistenart gescheitelt,  über  die  Straßen  gehen  sieht.  Aber  wer  dies 
Geschlecht  wahrhaft  kennen  will,  der  muß  in  eine  pietistische, 
Schmiede-  und  Schusterwerkstatt  eintreten.  Da  sitzt  der  Meister, 
rechts  neben  ihm  die  Bibel,  links,  wenigstens  sehr  häufig  —  der 
Branntwein.  Von  Arbeit  ist  da  nicht  viel  zu  sehen;  der  Meister 
liest  fast  immer  in  der  Bibel,  trinkt  mitunter  eins,  und  stimmt  zu- 
weilen mit  dem  Chore  der  Gesellen  ein  geistlich  Lied  an;  aber  die 
Hauptsache  ist  immer  das  Verdammen  des  lieben  Nächsten.  Man 
sieht,  diese  Richtung  ist  hier  dieselbe  wie  überall.  Ihre  Bekehrungs- 
wut  bleibt  auch  nicht  ohne  Früchte.  Besonders  werden  viele  gott- 
lose Säufer  etc.  bekehrt,  meist  auf  wunderbare  Weise.  Aber  das 
hat  sich  wohl;  diese  Proselyten  sind  alle  entnervte,  geistlose  Men- 
schen, die  zu  überzeugen  eine  Kleinigkeit  ist;  diese  bekehren  sich, 
lassen  sich  jede  Woche  mehrere  Male  zu  Tränen  rühren,  und  treiben 
ihr  ehemaliges  Leben  im  geheimen  fort.  Vor  mehreren  Jahren 
kam  diese  Wirtschaft  einmal  ans  Tageslicht,  zum  Schrecken  aller 
Mucker.  Es  fand  sich  nämlich  ein  amerikanischer  Spekulant  unter 
dem  Namen  Pastor  Jürgens  ein ;  er  predigte  mehrere  Male  und  hatte 
sehr  viel  Zulauf,  v/eil  die  meisten  Leute  glaubten,  er  müsse  als 


24  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Amerikaner  notwendig  braun  oder  gar  schwarz  sein.  Aber  wie  er- 
staunten sie,  als  er  nicht  nur  ein  Weißer  war,  sondern  auch  der- 
gestalt predigte,  daß  die  ganze  Kirche  in  Tränen  zerfloß.  Das  hatte 
übrigens  seinen  Grund  darin,  daß  er  selbst,  wenn  alle  Mittel  der 
Rührung  fehlschlugen,  zu  wimmern  anfing.  Nun  war  eine  Stimme 
des  Staunens  unter  den  Gläubigen,  zwar  opponierten  einige  Ver- 
nünftige, aber  da  wurden  sie  recht  als  Gottlose  verschrieen;  bald 
hielt  Jürgens  Konventikel,  bekam  reiche  Geschenke  von  seinen  an- 
gesehenen Freunden  und  lebte  herrlich  und  in  Freuden.  Seine 
Predigten  wurden  so  stark  besucht  wie  keine  andern ;  seine  Kon- 
ventikel waren  überfüllt,  jedes  seiner  Worte  ließ  Männer  und 
Weiber  weinen.  Jetzt  glaubten  alle,  er  sei  zum  wenigsten  ein  Pro- 
phet und  werde  das  neue  Jerusalem  bauen,  aber  auf  einmal  war 
der  Spaß  vorbei.  Es  wird  plötzlich  offenbar,  was  für  Dinge  in  diesen 
Konventikeln  getrieben  werden;  Herr  Jürgens  wird  festgesetzt  und 
hat  ein  paar  Jahre  in  Hamm  auf  dem  Inquisitoriat  Buße  getan 
für  seine  Frömmigkeit.  Nachher  ist  er  mit  dem  Versprechen  der 
Besserung  entlassen  und  wieder  nach  Amerika  spediert  worden. 
Auch  erfuhr  man,  daß  er  seine  Künste  schon  in  Amerika  angewandt, 
deshalb  von  da  weitergeschickt,  in  Westfalen  schon,  um  nicht  aus 
der  Übung  zu  kommen,  eine  Repetition  angestellt,  wo  er  aus  Gnade 
oder  vielmehr  Schwachheit  der  Behörden  ohne  weitere  Nachfor- 
schungen entlassen  und  sodann  in  Elberfeld  seinem  liederlichen 
Leben  durch  nochmalige  Wiederholung  die  Krone  aufgesetzt.  Als 
nun  offenbar  wurde,  was  da  war  geschehen  in  den  Versammlungen 
dieses  Edlen,  siehe,  da  erhob  sich  wider  ihn  alles  Volk,  und  war 
keiner,  der  etwas  von  ihm  wissen  wollte ;  sie  sind  alle  von  ihm  ab- 
gefallen, vom  Libanon  bis  an  das  Salzmeer,  das  heißt  vom  Ritters- 
hauser  Berg  bis  an  das  Wehr  zu  Sonnborn  in  der  Wupper. 

Der  eigentliche  Mittelpunkt  alles  Pietismus  und  Mystizismus 
ist  aber  die  reformierte  Gemeinde  in  Elberfeld.  Von  jeher  zeichnete 
sie  sich  durch  streng  calvinistischen  Geist  aus,  der  in  den  letzten  Jah- 
ren durch  die  Anstellung  der  bigottesten  Prediger  —  jetzt  wirtschaften 
ihrer  viere  zugleich  dort  —  zur  schroffsten  Intoleranz  geworden 
ist,  und  dem  papistischen  Sinn  wenig  nachsteht.  Da  werden  kom- 
plette Ketzergerichte  in  den  Versammlungen  gehalten ;  da  wird  der 
Wandel  eines  jeden,  der  diese  nicht  besucht,  rezensiert,  da  heißt  es: 
der  und  der  liest  Romane,  auf  dem  Titel  steht  zwar  christlicher 
Roman,  aber  der  Pastor  Krummacher  hat  gesagt,  Romanenbücher 
seien  gottlose  Bücher ;  und  der  und  der  schiene  doch  auch  vor  dem 
Herrn  zu  wandeln,  aber  er  ist  vorgestern  im  Konzert  gesehen, 
und  sie  schlagen  die  Hände  über  dem  Kopf  zusammen  vor  Schreck 
über  die  greuliche  Sünde.    Und  steht  nun  erst  ein  Prediger  im  Rufe 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  25 

eines  Rationalisten  (darunter  verstehen  sie  jeden,  der  nicht  mit 
ihrer  Ansicht  aufs  Haar  übereinstimmt),  so  wird  der  hergenommen, 
und  sie  sehen  genau  zu,  ob  sein  Rock  auch  ganz  schwarz  und  seine 
Hose  recht  von  orthodoxer  Farbe  war;  und  wehe  ihm,  wo  ersieh 
in  einem  etwas  ins  Blaue  fallenden  Rock  oder  mit  einer  rationa- 
listischen Weste  betreten  läßt!  Kommt  nun  gar  einer,  der  die  Prä- 
destination nicht  glaubt,  so  heißt's  gleich:  der  ist  beinahe  so  schlim_m 
als  ein  Lutheraner,  ein  Lutheraner  ist  nicht  viel  besser  als  ein  Kal- 
tholik,  ein  Katholik  und  ein  Götzenanbeter  aber  ist  von  Natur  ver- 
dammt. Und  was  sind  das  für  Leute,  die  so  reden  ?  Unwissendes  Volk, 
die  kaum  wissen,  ob  die  Bibel  chinesisch,  hebräisch  oder  griechisch 
geschrieben  und  nach  den  Worten  eines  einmal  als  orthodox  aner- 
kannten Predigers  alles  beurteilen,  es  mag  dahin  gehören  oder  nicht. 

Dieser  Geist  ist  vorhanden,  seit  die  Reformation  hier  die  Ober- 
hand bekam,  blieb  aber  unbeachtet,  bis  der  vor  einigen  Jahren  ver- 
storbene Prediger  G.  D,  Krummacher  an  eben  dieser  Gemeinde  an- 
fing, ihn  recht  zu  hegen  und  zu  pflegen,  bald  war  der  Mystizismus 
in  der  schönsten  Blüte,  aber  Krummacher  starb,  ehe  die  Frucht 
reif  wurde ;  dies  ist  erst  geschehen,  seit  sein  Bruderssohn,  Dr.  Fried- 
rich Wilhelm  Krummacher,  die  Lehre  so  scharf  ausgebildet  und 
bestimmt  hat,  daß  man  nicht  weiß,  ob  man  das  Ganze  für  Unsinn 
oder  für  Blasphemie  halten  soll.  Nun,  die  Frucht  ist  reif;  es  wird 
sich  keiner  verstehen,  sie  zu  pflücken,  und  so  wird  sie  wohl  mit  der 
Zeit  elendiglich  faul  abfallen  müssen. 

Gottfried  Daniel  Krummacher,  Bruder  des  durch  seine  Para- 
beln bekannten  Dr.  F.  A.  Krummacher  in  Bremen,  starb  vor  etwa 
drei  Jahren  in  Elberfeld  nach  einer  sehr  langen  Amtstätigkeit.  Als 
vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  in  Barmen  ein  Prediger  die  Prä- 
destination nicht  ganz  so  scharf  wie  er  von  der  Kanzel  lehrte, 
fingen  sie,  unter  dem  Verwände,  solch  eine  ungläubige  Predigt  sei 
gar  keine,  an,  in  der  Kirche  zu  rauchen,  Lärm  zu  machen,  und  ihn 
am  Predigen  zu  verhindern,  so  daß  die  Obrigkeit  sich  genötigt  sah, 
einzuschreiten.  Da  schrieb  Krummacher  einen  entsetzlich  groben 
Brief  an  den  Barmer  Magistrat,  wie  Gregor  VII.  an  Heinrich  IV.  ge- 
schrieben haben  würde,  und  befahl,  die  Mucker  ungeschoren  zu 
lassen,  da  sie  nur  ihr  teures  Evangelium  verteidigten;  auch  predigte 
er  davon.  Er  wurde  aber  nur  verlacht.  Dies  bezeichnet  seinen  Geist, 
den  er  bis  an  sein  Ende  bewahrt  hat.  Übrigens  war  er  von  so  merk- 
würdigen Sitten,  daß  tausend  Anekdoten  von  ihm  zirkulieren,  nach 
denen  man  ihn  entweder  für  einen  kuriosen  Sonderling  oder  einen 
herzlich  groben  Menschen  halten  muß. 

Dr.  Friedrich  Wilhelm  Krummacher,  ein  Mann  von  ungefähr 
vierzig  Jahren,  groß,  stark,  von  imposanter  Gestalt,  doch  nimmt  er, 


26  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

seitdem  er  in  Elberfeld  ist,  einen  nicht  unbedeutenden  körperlichen 
Umfang  an.  Sein  Haar  trägt  er  auf  ganz  absonderliche  Weise, 
worin  ihm  alle  seine  Anhänger  nachahmen.  Wer  weiß,  vielleicht 
wird  es  noch  einmal  Mode,  die  Haare  ä  la  Krummacher  zu  tragen; 
doch  würde  diese  Mode  alle  frühern,  sogar  die  Puderperücken,  an 
Abgeschmacktheit  übertreffen.   — 

Als  Student  war  er  Mitarbeiter  an  der  turnenden  Demagogie, 
schrieb  Freiheitslieder,  trug  auf  dem  Wartburgfeste  eine  Fahne  und 
hielt  eine  Rede,  die  großen  Eindruck  gemacht  haben  soll.  Dieser 
flotten  Jahre  gedenkt  er  noch  häufig  auf  der  Kanzel  mit  den  Worten: 
als  ich  noch  unter  den  Hethitern  und  Kananitern  war.  Später  wurde 
er  in  Barmen  von  der  reformierten  Gemeinde  zum  Pfarrer  gewählt, 
und  seine  eigentliche  Reputation  datiert  sich  erst  von  dieser  Zeit. 
Kaum  war  er  da,  so  rief  er  schon  durch  seine  Lehre  der  strengen 
Prädestination  eine  Spaltung,  nicht  nur  zwischen  Lutheranern  und 
Reformierten,  sondern  auch  untern  letztern  zwischen  strengen  und 
gelinden  Prädestinatianern  hervor.  Einmal  kam  ein  alter  steifer 
Lutheraner  ein  wenig  angetrunken  aus  einer  Gesellschaft  und  mußte 
über  eine  baufällige  Brücke  gehen.  Das  mochte  ihm  in  seinem 
Zustande  doch  etwas  gefährlich  dünken,  und  so  begann  er  zu  re- 
flektieren: Gehst  du  hinüber  und  es  geht  gut,  so  ist's  gut,  geht  es 
aber  nicht  gut,  dann  fällst  du  in  die  Wupper  und  dann  sagen  die 
Reformierten,  es  hätte  so  sein  sollen;  nun  soll  es  aber  nicht  so  sein. 
Er  kehrte  also  um,  suchte  eine  seichte  Stelle  und  an  dieser  watete 
er,  bis  an  den  Leib  im  Wasser,  hindurch  mit  dem  seligen  Gefühl, 
die  Reformierten  eines  Triumphes  beraubt  zu  haben. 

Als  in  Elberfeld  eine  Stelle  vakant  wurde,  wählte  man  Krum- 
macher dahin,  und  in  Barmen  schwand  alsbald  aller  Zwist,  wäh- 
rend er  in  Elberfeld  noch  weit  stärker  erregt  wurde.  Schon  Krum- 
machers  Antrittspredigt  erzürnte  die  einen  und  begeisterte  die 
andern;  der  Zwist  steigerte  sich  immer  mehr,  besonders  da  bald 
jeder  Prediger,  wenn  auch  alle  dieselben  Ansichten  hatten,  eine 
eigene  Partei  bekam,  die  sein  einziges  Auditorium  ausmachte. 
Später  wurde  man  der  Sache  überdrüssig,  und  das  ewige  Schreien: 
ich  bin  krummacherisch,  ich  bin  kohlisch  etc.  fiel  weg,  nicht  aus 
Liebe  zum  Frieden,  sondern  weil  die  Parteien  sich  immer  bestimm- 
ter schieden. 

Krummacher  ist  unleugbar  ein  Mann  von  ausgezeichnetem  rhe- 
torischen, auch  poetischem  Talent;  seine  Predigten  sind  nie  lang- 
weilig, ihr  Zusammenhang  ist  sicher  und  natürlich;  vorzüglich 
stark  ist  er  in  dunkelschattigen  Schilderungen  —  seine  Schilderung 
der  Hölle  ist  stets  neu  und  kühn,  wie  oft  sie  auch  vorkommt  — 
und  in  Antithesen.   Dagegen  hält  er  sich  wieder  sehr  häufig  ander 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  27 

biblischen  Phraseologie  und  an  den  darin  gegebenen  Bildern,  die, 
wenn  auch  ihre  Anwendung  meistens  geistreich  ist,  zuletzt  doch 
sich  wiederholen  müssen;  dazwischen  trifft  man  denn  wieder  ein 
höchst  prosaisches  Bild  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  oder  eine 
Erzählung  aus  seinen  eigenen  Schicksalen  und  seinen  unbedeutend- 
sten Erfahrungen.  Alles  bringt  er  auf  die  Kanzel,  es  mag  passen 
oder  nicht;  eine  Reise  nach  Württemberg  und  der  Schweiz  hat  er 
neulich  in  zwei  Predigten  seinen  andächtigenZuhörern  zum  besten 
gegeben;  darin  sprach  er  von  seinen  siegreichen  vier  Disputationen 
mit  Paulus  in  Heidelberg  und  Strauß  in  Tübingen,  freilich  ganz 
anders,  als  Strauß  sich  in  einem  Brief  darüber  ausdrückt.  —  Seine 
Deklamation  ist  stellenweise  sehr  gut  und  seine  gewaltsame,  hand- 
greifliche Gestikulation  oft  ganz  passend  angebracht;  zuweilen 
aber  über  alle  Begriffe  nianiriert  und  abgeschmackt.  Dann  rennt 
er  in  allen  Richtungen  auf  der  Kanzel  umher,  beugt  sich  nach  allen 
Seiten,  schlägt  auf  den  Rand,  stampft  wie  ein  Schlachtroß  und 
schreit  dazu,  daß  die  Fenster  klirren  und  die  Leute  auf  der  Straße 
zusammenfahren.  Da  beginnen  denn  die  Zuhörer  zu  schluchzen; 
zuerst  weinen  die  jungen  Mädchen,  die  alten  Weiber  fallen  mit 
einem  herzzerschneidenden  Sopran  ein,  die  entnervten  Branntwein- 
pietisten, denen  seine  Worte  durch  Mark  und  Bein  gehen  würden, 
wenn  sie  noch  Mark  in  den  Knochen  hätten,  vollenden  die  Disso- 
nanz mit  ihren  Jammertönen,  und  dazwischen  tönt  seine  gewaltige 
Stimme  durch  das  Heulen  hin,  mit  der  er  der  ganzen  Versammlung 
unzählige  Verdammungsurteile  oder  diabolische  Szenen  vormalt. 
Und  nun  gar  seine  Lehre!  Man  begreift  nicht,  wie  ein  Mensch 
dergleichen,  was  mit  der  Vernunft  und  der  Bibel  im  direktesten 
Widerspruch  steht,  glauben  kann.  Demungeachtet  hat  Krum- 
macher die  Doktrin  so  scharf  ausgeprägt  und  in  allen  Konsequenzen 
verfolgt  und  festgehalten,  daß  man  nichts  verwerfen  kann,  sobald 
die  Grundlage  zugegeben  ist,  nämlich  die  Unfähigkeit  des  Menschen, 
aus  eigner  Kraft  das  Gute  zu  wollen,  geschweige  zu  tun.  Daraus 
folgt  die  Notwendigkeit  einer  Befähigung  von  außen,  und  da  der 
Mensch  das  Gute  nicht  einmal  wollen  kann,  so  muß  ihm  Gott  diese 
Befähigung  aufdringen.  Aus  dem  freien  Willen  Gottes  folgt  nun 
die  willkürliche  Verleihung  derselben,  die  sich  auch,  wenigstens 
scheinbar,  auf  die  Schrift  stützt.  —  Auf  solcher  Konsequenz- 
macherei  beruht  die  ganze  Lehre ;  die  wenigen  Erwählten  werden 
nolentes,  volentes  selig,  die  andern  werden  also  verdammt,  auf 
^^ig*  »»Auf  ewig?  —  Ja,  auf  ewig!!**  (Krummacher).  Ferner 
steht  geschrieben:  Niemand  kommt  zum  Vater,  denn  durch  mich; 
die  Heiden  können  aber  nicht  durch  Christum  zum  Vater  kommen, 
weil  sie  Christum  nicht  kennen,  also  sind  sie  alle  bloß  da,  um  die 


28  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Hölle  zu  füllen.  —  Unter  den  Christen  sind  viele  berufen  und  we- 
nige auserwählt;  die  vielen  Berufenen  sind  aber  nur  zum  Schein 
berufen,  und  Gott  hütete  sich  wohl,  sie  so  stark  zu  berufen,  daß  sie 
Folge  leisteten,  alles  zur  Ehre  Gottes,  auf  daß  sie  keine  Entschul- 
digung haben.  Dann  steht  auch  geschrieben:  Die  Weisheit  Gottes 
ist  den  Klugen  dieser  Welt  eine  Torheit;  dies  ist  für  die  Mystiker 
ein  Befehl,  ihren  Glauben  recht  unsinnig  auszubilden,  damit  doch 
ja  dieser  Spruch  in  Erfüllung  gehe.  Wie  das  alles  mit  der  Lehre  der 
Apostel  stimmt,  die  vom  vernünftigen  Gottesdienst  und  vernünf- 
tiger Milch  des  Evangeliums  sprechen,  das  ist  ein  Geheimnis,  das 
der  Vernunft  zu  hoch  ist. 

Solche  Lehren  verderben  alle  Krummacherschen  Predigten; 
die  einzigen,  in  denen  sie  nicht  so  stark  hervortreten,  sind  die 
Stellen,  wo  er  von  dem  Gegensatz  der  irdischen  Üppigkeit  und  der 
Niedrigkeit  Christi  oder  des  Stolzes  der  weltlichen  Fürsten  und 
Gottes  spricht.  Da  bricht  sehr  häufig  noch  ein  Strahl  von  seiner 
früheren  Demagogie  durch,  und  redete  er  dann  nicht  so  allgemein, 
so  würde  die  Regierung  nicht  dazu  schweigen. 

Der  ästhetische  Wert  seiner  Predigten  wird  nur  von  sehr  we- 
nigen in  Elberfeld  gewürdigt;  denn  wenn  man  seine  drei  Kollegen, 
die  fast  alle  ein  gleich  starkes  Auditorium  haben,  gegen  ihn  hält, 
so  erscheint  er  als  Eins,  die  andern  als  lauter  Nullen  dahinter,  die 
nur  dazu  dienen,  seinen  Wert  zu  erhöhen.  Die  älteste  dieser  Nullen 
heißt  Kohl,  dessen  Name  zugleich  seine  Predigten  bezeichnet;  die 
zweite  Herrmann,  kein  Nachkomme  dessen,  dem  sie  jetzt  ein  Denk- 
mal setzen,  das  die  Geschichte  und  den  Tacitus  überleben  soll;  die 
dritte  Ball  —  nämlich  Krummachers  Spielball;  alle  drei  höchst 
orthodox  und  in  den  Predigten  Nachtreter  der  schlechten  Seiten 
Krummachers.  Lutherische  Pfarrer  in  Elberfeld  sind:  Sander  und 
Hülsmann,  die  früher,  als  ersterer  noch  in  Wichlinghausen  stand 
und  in  den  bekannten  Streit  mit  Hülsmann  in  Dahle,  jetzt  in  Len- 
nep,  dem  Bruder  von  Sanders  jetzigem  Kollegen,  verwickelt  war, 
sich  wütend  in  den  Haaren  lagen.  In  ihrer  jetzigen  Stellung  be- 
nehmen sich  beide  würdig  gegen  einander,  die  Pietisten  aber  suchen 
die  Zwietracht  wieder  hervorzulocken,  indem  sie  Hülsmann  immer 
allerlei  Vergehen  gegen  Sander  vorzuwerfen  haben.  Der  Dritte  im 
Bunde  ist  Döring,  dessen  Zerstreutheit  sehr  originell  ist;  er  kann 
keine  drei  Sätze  im  Zusammenhang  sprechen,  dagegen  aus  drei 
Teilen  einer  Predigt  vier  machen,  indem  er  einen  wörtlich  wieder- 
holt, ohne  das  geringste  zu  merken.  Probatum  est.  Von  seinen 
Gedichten  wird  später  die  Rede  sein. 

Unter  den  Barmer  Predigern  ist  nicht  viel  Unterschied ;  alle 
streng  orthodox,  mit  mehr  oder  weniger  pietistischer  Beimischung. 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  29 

Nur  Stier  in  Wichlinghausen  ist  einigermaßen  bemerkenswert. 
Jean  Paul  soll  ihn  als  Knaben  gekannt  und  ausgezeichnete  An- 
lagen in  ihm  entdeckt  haben.  Er  war  als  Pfarrer  in  Frankleben  bei 
Halle  angestellt,  und  gab  in  dieser  Zeit  mehrere  poetische  und  pro- 
saische Schriften  heraus,  eine  Verbesserung  des  Lutherischen  Ka- 
techismus, ein  Surrogat  für  denselben,  und  ein  Hilfsbüchlein  dazu 
für  stupide  Lehrer,  nicht  weniger  auch  ein  Werklein  über  die  Ge- 
sangbuchnot in  der  Provinz  Sachsen,  welches  von  der  Evangelischen 
Kirchenzeitung  ausnehmend  belobt  wurde  und  wenigstens  ver- 
nünftigere Ansichten  über  Kirchenlieder  enthielt,  als  man  im  ge- 
segneten Wuppertal  vernimmt,  wenn  auch  noch  mancher  unbe- 
gründete Machtspruch  darin  vorkommt.  Seine  Gedichte  sind  höchst 
langweilig,  auch  hat  er  sich  das  Verdienst  erworben,  einige  heid- 
nische Gedichte  Schillers  für  die  Orthodoxen  genießbar  zu  machen, 
z.  B.  aus  den  Göttern  Griechenlands: 

Da  ihr  noch  die  Welt  regiertet 

An  der  Sünde  trügerischem  Band, 

Lange  Zeit  manch  Menschenalter  führtet, 

Leere  Wesen  aus  dem  Fabelland! 

Ach,  da  euer  Sünderdienst  noch  glänzte, 

Wie  ganz  anders,  anders  war  es  da! 

Da  man  deine  Tempel  noch  bekränzte, 
3S  Venus  Amathusia! 
Wirklich  sehr  geistreich,  ja  wahrhaft  mystisch!    Seit  einem  halben 
Jahre  ist  Stier  in  Wichlinghausen  an  Sanders  Stelle,  hat  die  Barmer 
Literatur  indes  noch  nicht  bereichert. 

Ein  Ort  bei  Eiber feld,  Langenberg,  gehört  seinem  ganzen 
Wesen  nach  noch  zum  Wuppertal.  Dieselbe  Industrie  wie  dort, 
derselbe  pietistische  Geist.  Dort  steht  Emil  Krummacher, 
Bruder  des  Friedrich  Wilhelm;  er  ist  nicht  so  schroffer  Prädestina- 
tianer  wie  dieser,  ahmt  ihm  aber  sehr  nach,  wie  diese  Stelle  seiner 
letzten  Weihnachtspredigt  zeigt:  ,,Mit  den  irdischen  Leibern  sitzen 
wir  hier  zwar  noch  auf  den  hölzernen  Bänken,  aber  unsere  Geister 
schwingen  sich  mit  Millionen  Gläubigen  auf  den  heiligen  Berg, 
und  nachdem  sie  dort  das  Jauchzen  der  himmlischen  Heerscharen 
vernommen,  gehen  sie  hinab  in  das  arme  Bethlehem.  Und  was 
erblicken  sie  da?  Zuerst  einen  armen  Stall,  und  in  dem  armen, 
armen  Stall  eine  arme  Krippe,  und  in  der  armen  Krippe  ein 
armes,  armes  Heu  und  Stroh,  und  auf  dem  armen,  armen  Heu 
und  Stroh  liegt  wie  das  arme  Kind  eines  Bettlers  in  armen  Win- 
deln der  reiche  Herr  der  Welt." 

Nun  wäre  wohl  noch  das  Missionshaus  zu  besprechen,  aber 
die  in  diesen  Blättern  schon  früher  erwähnten  Harfenklänge  eines 


30  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen,     1838— 1841. 

Exmissionärs  geben  genügend  Zeugnis  davon,  was  für  ein  Geist 
dort  herrscht.  Der  Inspektor  desselben,  Dr.  Richter,  ist  übrigens 
ein  gelehrter  Mann,  bedeutender  Orientalist  und  Naturforscher, 
gibt  auch  eine   ,, erklärte  Hausbibel"  heraus. 

Das  ist  das  Treiben  der  Pietisten  im  Wuppertal;  man  begreift 
nicht,  daß  zu  unsrer  Zeit  dergleichen  noch  aufkommen  kann ;  aber 
es  scheint  doch,  als  könnte  auch  dieser  Fels  des  alten  Obskurantis- 
mus dem  rauschenden  Strome  der  Zeit  nicht  mehr  widerstehen; 
der  Sand  wird  weggespült,  der  Fels  stürzt  und  tut  einen  großen  Fall. 

n. 

In  einer  Gegend,  die  so  von  Pietisterei  erfüllt  ist,  versteht  es 
sich  von  selbst,  daß  diese,  nach  allen  Seiten  sich  ausdehnend,  jede 
einzelne  Richtung  des  Lebens  durchdringt  und  verdirbt.  Ihre  Haupt- 
gewalt übt  sie  aus  auf  das  Unterrichtswesen,  vor  allem  auf  die 
Volksschulen.  Der  eine  Teil  von  diesen  liegt  ganz  in  ihren  Händen; 
es  sind  dies  die  kirchlichen  Schulen,  deren  jede  Gemeinde  eine  hat. 
Freier  schon,  doch  auch  noch  immer  unter  Aufsicht  des  kirchlichen 
Scholarchats,  stehen  die  übrigen  Volksschulen  da,  auf  die  die  Zivil- 
verwaltung einen  bedeutenderen  Einfluß  hat.  Und  da  liegen  die 
hindernden  Einwirkungen  des  Mystizismus  auf  der  Hand ;  denn 
während  die  kirchlichen  Schulen  noch  immer,  wie  weiland  unter 
dem  hochseligen  Kurfürsten  Karl  Theodor,  außer  Lesen  und  Schrei- 
ben und  Rechnen  nur  den  Katechismus  ihren  Schülern  einprägen, 
werden  auf  den  andern  doch  die  Anfangsgründe  einiger  Wissen- 
schaften, auch  etwas  Französisch  gelehrt,  und  viele  der  Schüler, 
dadurch  angeregt,  suchen  sich,  auch  wenn  sie  die  Schule  schon 
verlassen,  weiter  fortzubilden.  Diese  Schulen  sind  in  einem  starken 
Fortschreiten  begriffen  und  haben  seit  dem  Eintritte  des  preußischen 
Gouvernements  die  kirchlichen,  hinter  denen  sie  damals  sehr  zurück- 
standen, weit  überholt.  Die  kirchlichen  Schulen  werden  aber  viel 
stärker  besucht,  da  sie  weit  weniger  Kosten  machen  und  viele 
Eltern  ihre  Kinder  teils  aus  Anhänglichkeit,  teils  weil  sie  in  dem 
Fortschreiten  der  Kinder  ein  Überhandnehmen  des  weltlichen 
Sinnes  sehen,  immer  noch  dahin  schicken. 

Von  höheren  Lehranstalten  ernährt  das  Wuppertal  drei:  die 
Stadtschule  in  Barmen,  die  Realschule  in  Elberfeld  und  das  G3rm- 
nasium  daselbst. 

Die  Barmer  Stadtschule,  sehr  schwach  dotiert  und  deshalb 
sehr  schlecht  mit  Lehrern  besetzt,  tut  indes  alles,  was  in  ihren 
Kräften  steht.  Sie  liegt  ganz  in  den  Händen  eines  beschränkten, 
knickerigen  Kuratoriums,  das  meist  auch  nur  Pietisten  zu  Lehrern 
wählt.    Der   Direktor,  der  dieser   Richtung   auch   nicht  fremd  ist, 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  qi 

versieht  sein  Amt  indes  nach  festen  Prinzipien  und  weiß  sehr  ge- 
schickt jedem  Lehrer  seine  Stelle  anzuweisen.  Auf  ihn  folgt  Herr 
Johann  Jakob  Ewich,  der  nach  einem  guten  Lehr  buche  gut  unter- 
richten kann  und  im  Geschichtsunterricht  eifriger  Anhänger  des 
Nösseltschen  Anekdotensystems  ist.  Er  ist  Verfasser  vieler  päda- 
gogischer Schriften,  deren  größte,  d.h.  dem  Umfange  nach,  den 
Titel  führt:  Human,  Wesel  bei  Bagel,  zwei  Bände,  40  Bogen,  Preis 
I  Rtlr.  Alle  sind  voll  hoher  Ideen,  frommer  Wünsche  und  unaus- 
führbarer Vorschläge.  Man  sagt,  seine  pädagogische  Praxis  solle 
hinter  der  schönen  Theorie  weit  zurückstehen. 

Dr.  Philipp  Schifflein,  zweiter  Oberlehrer,  ist  der  tüchtigste 
Lehrer  der  Schule.  Vielleicht  ist  keiner  in  Deutschland  so  tief  in 
die  grammatische  Struktur  des  modernen  Französischen  einge- 
drungen wie  er.  Er  ging  nicht  vom  Altromanischen  aus,  sondern 
faßte  die  klassische  Sprache  des  vorigen  Jahrhunderts,  besonders 
Voltaires,  auf,  und  ging  von  dieser  zum  Stil  der  neuesten  Autoren 
über.  Die  Resultate  dieser  Forschungen  liegen  in  seiner  ,, Anleitung 
zur  Erlernung  der  französischen  Sprache,  in  drei  Kursen"  vor,  von 
denen  der  erste  und  zweite  schon  in  mehreren  Auflagen  erschienen 
und  der  dritte  jetzt  zu  Ostern  herauskömmt.  Dies  ist  ohne  Zweifel 
neben  der  Knebeischen  die  beste  französische  Sprachlehre,  die  wir 
besitzen;  sie  fand  gleich  beim  Auftreten  des  ersten  Kursus  unge- 
messenen Beifall  und  erfreut  sich  schon  jetzt  einer  fast  beispiel- 
losen Verbreitung  durch  ganz  Deutschland,  bis  nach  Ungarn  und 
den  russischen  Ostsee provinzen  hin. 

Die  übrigen  Lehrer  sind  junge  Seminaristen,  von  denen  sich 
einige  tüchtig  herangebildet  haben,  andere  aber  mit  einem  Chaos 
von  allerlei  Wissenschaften  schwanger  gehen.  Der  beste  von  diesen 
jungen  Lehrern  war  Herr  Köscer,  Freiligraths  Freund,  von  dem 
ein  Abriß  der  Poetik  in  einem  Programme  steht,  worin  er  die  di- 
daktische Poesie  ganz  ausschloß  und  die  ihr  gewöhnlich  zugeteilten 
Gattungen  der  Epik  und  Lyrik  unterordnete ;  der  Aufsatz  zeugte 
von  Einsicht  und  Klarheit.  Er  wurde  nach  Düsseldorf  berufen,  und 
da  die  Herren  vom  Kuratorium  ihn  als  Gegner  allerlei  Pietisterei 
kannten,  ließen  sie  ihn  sehr  gerne  ziehen.  Den  Gegensatz  zu  ihm 
bildet  ein  anderer  Lehrer,  der  auf  die  Frage  eines  Quartaners,  wer 
Goethe  gewesen  sei,  antwortete:  „ein  gottloser  Mann**. 

Die  Elberfelder  Realschule  ist  sehr  gut  fundiert  und  kann  des- 
halb tüchtigere  Lehrer  wählen  und  einen  vollständigeren  Kursus 
einrichten.  Dagegen  herrscht  auf  ihr  jene  fürchterliche  Heft- 
schreiberei, die  einen  Schüler  in  einem  halben  Jahre  stumpf  machen 
kann.  Nebenbei  ist  von  Direktion  wenig  zu  spüren;  der  Direktor 
ist  die  Hälfte  des  Jahres  verreist  und  betätigt  seine  Anwesenheit 


32  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

nur  durch  übertriebene  Strenge.  Mit  der  Realschule  ist  eine  Gewerbe- 
schule verbunden,  auf  der  die  Schüler  ihr  halbes  Leben  verzeich- 
nen. Von  den  Lehrern  ist  Herr  Dr.  Kruse  bemerkenswert,  der  sechs 
Wochen  in  England  war  und  ein  Werklein  über  die  englische  Aus- 
sprache schrieb,  welches  sich  durch  seine  ausgezeichnete  Unbrauch- 
barkeit  bemerklich  macht ;  die  Schüler  stehen  in  einem  sehr  schlech- 
ten Rufe  und  sind  die  Veranlassung  zu  Diesterwegs  Klagen  über 
die  Jugend  Eiber felds. 

Das  Gymnasium  in  Elberfeld  ist  in  sehr  bedrängten  Verhält- 
nissen, aber  anerkannt  eines  der  besten  im  preußischen  Staat.  Es 
ist  Eigentum  der  reformierten  Gemeinde,  hat  von  ihrem  Mystizismus 
wenig  zu  leiden,  weil  die  Prediger  sich  nicht  darum  bekümmern 
und  die  Scholarchen  nichts  von  Gymnasialsachen  verstehen;  desto 
mehr  aber  von  ihrer  Knauserei.  Diese  Herren  haben  nicht  die  ge- 
ringste Idee  von  der  Vorzüglichkeit  der  preußischen  Gymnasial- 
bildung, suchen  der  Realschule  alles,  Geld  wie  Schüler,  zuzuwenden 
und  werfen  doch  dem  Gymnasium  vor,  daß  es  durch  Schulgeld 
seine  Auslagen  nicht  einmal  decken  könne.  Es  wird  jetzt  unter- 
handelt, daß  die  Regierung,  der  es  so  sehr  darum  zu  tun  ist,  das 
Gymnasium  übernimmt;  käme  es  nicht  dazu,  so 'müßte  es  in  we- 
nigen Jahren  aus  Mangel  an  Mitteln  suspendiert  werden.  Die 
Lehrerwahlen  liegen  jetzt  auch  in  den  Händen  der  Scholarchen, 
Leute,  die  zwar  einen  Posten  sehr  korrekt  ins  Hauptbuch  über- 
tragen können,  aber  von  Griechisch,  Latein  oder  Mathematik  keine 
Ahnung  haben.  Das  Hauptprinzip  ihrer  Wahl  ist:  lieber  einen  re- 
formierten Stümper,  als  einen  tüchtigen  Lutheraner  oder  gar 
Katholiken  zu  wählen.  Da  aber  unter  den  preußischen  Philologen 
weit  mehr  Lutheraner  als  Reformierte  sind,  haben  sie  diesem  Prin- 
zips fast  nie  recht  folgen  können. 

Dr.  Hantschke,  königlicher  Professor  und  provisorischer  Di- 
rektor, ist  aus  Luckau  in  der  Lausitz,  schreibt  ein  ciceronianisches 
Latein  in  Versen  und  Prosa,  ist  auch  Verfasser  mehrerer  Predigten, 
pädagogischer  Schriften,  und  eines  hebräischen  Übungsbuches.  Er 
wäre  längst  fester  Direktor  geworden,  wenn  er  nicht  lutherisch 
und  das  Scholarchat  weniger  geizig  wäre. 

Dr.  Eichoff,  zweiter  Oberlehrer,  schrieb  mit  seinem  jüngeren 
Kollegen,  Dr.  Beltz,  eine  Lateinische  Grammatik,  die  aber  in  der 
Allg.  Lit.-Ztg.  von  F.  Hase  nicht  sehr  günstig  rezensiert  wurde. 
Seine  Hauptforce  ist  das  Griechische. 

Dr.  Clausen,  dritter  Oberlehrer,  ohne  Zweifel  der  tüchtigste 
Mann  in  der  ganzen  Schule,  in  allen  Fächern  bewandert,  in  der 
Geschichte  und  Literatur  ausgezeichnet.  Sein  Vortrag  ist  von  sel- 
tener  Anmut;  er  ist  der  einzige,  der  den  Sinn  der  Poesie  in  den 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  oo 

Schülern  zu  wecken  weiß,  den  Sinn,  der  sonst  elendiglich  verküm- 
mern müßte  unter  den  Philistern  des  Wuppertales.  Als  Schrift- 
steller ist  er  meines  Wissens  nur  in  einer  Programmdissertation: 
,,Pindaros  der  Lyriker"  aufgetreten,  die  ihm  einen  großen  Ruf  unter 
den  Gymnasiallehrern  in  und  außerhalb  Preußen  gemacht  haben 
soll.    In  den  Buchhandel  ist  sie  natürlich  nicht  gekommen. 

Diese  drei  Schulen  sind  erst  seit  1820  eingerichtet  worden; 
früher  bestand  nur  in  Elberfeld  und  Barmen  je  eine  Rektoratschule 
und  eine  Menge  von  Privatinstituten,  die  keine  gediegene  Bildung 
geben  konnten.  Ihre  Nachwirkungen  sind  noch  an  den  älteren  Kauf- 
leuten Barmens  zu  spüren.  Von  Bildung  —  keine  Idee ;  wer  Whist 
und  Billard  spielen,  etwas  politisieren,  ein  gewandtes  Kom- 
pliment machen  kann,  das  ist  in  Barmen  und  Elberfeld  ein  gebildeter 
Mann.  Es  ist  ein  schreckliches  Leben,  was  diese  Menschen  führen, 
und  sie  sind  doch  so  vergnügt  dabei ;  den  Tag  über  versenken  sie 
sich  in  die  Zahlen  ihrer  Konti  und  das  mit  einer  Wut,  mit  einem 
Interesse,  daß  man  es  kaum  glauben  möchte;  abends  zur  bestimm- 
ten Stunde  zieht  alles  in  die  Gesellschaften,  wo  sie  Karten  spielen, 
politisieren  und  rauchen,  um  mit  dem  Schlage  Neun  nach  Hause 
zurückzukehren.  So  geht  es  alle  Tage,  ohne  Veränderung,  und 
wehe  dem,  der  ihnen  dazwischen  kömmt;  er  kann  der  ungnädig- 
sten Ungnade  aller  ersten  Häuser  gewiß  sein.  —  Die  jungen  Leute 
werden  brav  von  ihren  Vätern  in  die  Schule  genommen;  sie  lassen 
sich  auch  sehr  gut  an,  ebenso  zu  werden.  Ihre  Unterhaltungs- 
gegenstände sind  ziemlich  einförmig;  die  Barmer  sprechen  mehr 
von  Pferden,  die  Elberfelder  von  Hunden;  wenn's  hoch  kömmt, 
werden  auch  Schönheiten  rezensiert,  und  es  wird  von  Geschäfts- 
sachen geplappert,  das  ist  alles.  Alle  halbe  Jahrhundert  sprechen 
sie  auch  von  Literatur,  unter  welchen  Namen  sie  Paul  de  Kock, 
Marryat,  Tromlitz,  Nestroy  und  Konsorten  verstehen.  In  der  Po- 
litik sind  sie  als  sehr  gute  Preußen,  weil  sie  unter  preußischer  Herr- 
schaft stehen,  a  priori  allem  Liberalismus  gar  sehr  zuwider,  alles, 
so  lange  es  Sr.  Majestät  gefällt,  ihnen  den  Code  Napoleon  zu  lassen; 
denn  mit  ihm  würde  aller  Patriotismus  schwinden.  Das  junge 
Deutschland  kennt  niemand  in  seiner  literarischen  Bedeutung; 
es  gilt  für  eine  geheime  Verbindung,  etwa  wie  die  Demagogie, 
unter  dem  Vorsitz  der  Herren  Heine,  Gutzkow  und  Mundt.  Einige 
der  edlen  Jünglinge  haben  wohl  etwas  von  Heine  gelesen,  vielleicht 
die  Rsisebilder  mit  Übergehung  der  Gedichte  darin,  oder  den  De- 
nunzianten, aber  von  den  übrigen  herrschen  nur  dunkle  Begriffe 
aus  dem  Munde  der  Pfarrer  oder  Beamten.  Freiligrath  ist  den 
meisten  persönlich  bekannt  und  steht  im  Rufe  eines  guten  Kame- 
raden.  Als  er  nach  Barmen  kam,  wurde  er  von  diesem  grünen  Adel 

Mayer,  Engels.     Ergänzungsband.  3 


34  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

(so  nennt  er  das  junge  Kaufmannsvolk)  mit  Besuchen  überhäuft; 
bald  aber  hatte  er  ihren  Geist  erkannt  und  zog  sich  zurück;  aber 
sie  verfolgten  ihn,  lobten  seine  Gedichte  und  seinen  Wein  und  streb- 
ten mit  aller  Gewalt  danach,  mit  einem  Brüderschaft  zu  trinken, 
der  etwas  hatte  drucken  lassen;  denn  diesen  Menschen  ist  ein 
Dichter  nichts,  aber  ein  Schriftsteller  alles.  Nach  und  nach  brach 
Freiligrath  allen  Umgang  mit  diesen  Menschen  ab  und  verkehrt 
jetzt  nur  mit  wenigen,  nachdem  Köster  Barmen  verlassen  hat. 
Seine  Prinzipale  haben  sich  in  ihrer  prekären  Stellung  immer  sehr 
anständig  und  freundlich  gegen  ihn  benommen ;  merkwürdigerweise 
ist  er  ein  höchst  exakter  und  fleißiger  Kontorarbeiter.  Über  seine 
dichterischen  Leistungen  zu  sprechen,  wäre  sehr  überflüssig,  nach- 
dem Dingelstedt,  in  dem  Jahrbuche  der  Literatur,  und  Carriere  in 
den  Berliner  Jahrbüchern  ihn  so  genau  beurteilt  haben.  Indes 
scheinen  mir  beide  nicht  genug  beachtet  zu  haben,  wie  er  bei  allem 
Schweifen  in  die  Ferne  doch  so  sehr  an  der  Heimat  hängt.  Darauf 
deuten  die  häufigen  Anspielungen  auf  deutsche  Volksmärchen, 
z.  B.  S.  54,  die  Unkenkönigin,  S.  87,  Snewitchen  u.  a.,  denen  S.  157 
ein  ganzes  Gedicht  (Im  Walde)  gewidmet  ist,  hin,  die  Nachahmung 
Uhlands  (der  Edelfalk,  S.  82,  die  Schreinergesellen,  S.  85,  auch  das 
erste  der  zwei  Feldherrngräber  erinnert  doch  nur  zu  seinem  Vorteil 
an  ihn),  dann  die  Auswanderer  und  vor  allem  sein  unübertreff- 
licher Prinz  Eugen.  Auf  diese  wenigen  Momente  muß  man  desto 
mehr  achten,  je  mehr  Freiligrath  in  die  entgegengesetzte  Richtung 
sich  verliert.  Einen  tiefen  Blick  in  sein  Gemüt  eröffnet  auch  der 
ausgewanderte  Dichter,  besonders  die  Fragmente,  die  im  Morgen- 
blatt abgedruckt  sind ;  darin  fühlt  er  schon,  wie  er  in  der  Ferne  nicht 
heimisch  werden  kann,  wenn  er  nicht  in  echt  deutscher  Dichtkunst 
wurzelt. 

In  der  eigentlichen  Wuppertaler  Literatur  nimmt  die  Journa- 
listik die  wichtigste  Stelle  ein.  Oben  an  steht  die  Elberfelder  Zeitung, 
redigiert  von  Dr.  Martin  Runkel,  die  sich  unter  seiner  einsichts- 
vollen Leitung  einen  bedeutenden  und  wohlverdienten  Ruf  er- 
worben hat.  Er  übernahm  die  Redaktion,  als  zwei  Zeitungen,  die 
Allgemeine  und  Provinzialzeitung,  zu  einer  verschmolzen  wurden; 
unter  nicht  sehr  günstigen  Auspizien  entstand  das  Blatt;  die 
Barmer  Zeitung  trat  konkurrierend  auf,  aber  Runkel  hat  es  nach 
und  nach  durch  Streben  nach  eigener  Korrespondenz  und  durch 
seine  leitenden  Artikel  zu  einer  der  ersten  Zeitungen  des  preußischen 
Staates  gemacht.  Sie  fand  zwar  in  Elberfeld,  wo  die  leitenden  Ar- 
tikel nur  von  wenigen  gelesen  werden,  wenig,  auswärts  aber  desto 
mehr  Anerkennung,  wozu  der  Verfall  der  Preußischen  Staatszei- 
tung (?)  auch  das  Seinige  beigetragen  haben  mag.    Die  belletristi- 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  ^c 

sehe  Beilage,  Intelligenzblatt,  erhebt  sich  nicht  über  das  Gewöhn- 
liche. Die  Barmer  Zeitung,  deren  Verleger,  Redaktoren  und  Zen- 
soren häufig  wechselten,  steht  jetzt  unter  der  Leitung  von  H.  Pütt- 
mann, der  zuweilen  in  der  Abendzeitung  rezensierend  auftritt.  Er 
möchte  die  Zeitung  wohl  gern  heben,  aber  durch  des  Verlegers 
wohlbegründete  Kargheit  sind  ihm  die  Hände  gebunden.  Das 
Feuilleton  mit  einigen  seiner  Gedichte,  Rezensionen  oder  Auszügen 
aus  größeren  Schriften  angefüllt,  tuts  auch  nicht.  Der  sie  begleitende 
,, Wuppertaler  Lesekreis"  nährt  sich  fast  nur  von  Lewaids  Europa. 
Außer  diesen  erscheint  noch  der  Elberfelder  tägl.  Anzeiger  nebst 
Fremdenblatt,  ein  Kind  der  Dorfzeitung,  unübertrefflich  in  herz- 
brechenden Gedichten  und  schlechten  Witzen,  und  das  Barmer 
Wochenblatt,  eine  alte  Nachtmütze,  dem  die  pietistischen  Esels- 
ohren alle  Augenblick  unter  der  belletristischen  Löwenhaut  hervor- 
schauen. 

Von  der  übrigen  Literatur  ist  die  Prosa  gar  nichts  wert ;  nehme 
ich  die  theologischen  oder  vielmehr  die  pietistischen  Schriften,  einige 
Werklein  über  Barmens  und  Elberfelds  Geschichte,  die  sehr  ober- 
flächlich abgefaßt  sind,  weg,  so  bleibt  nichts  übrig.  Aber  die  Poesie 
findet  reichliche  Pflege  in  dem  ,, gesegneten  Tale"  und  eine  ziem- 
liche Anzahl  von  Poeten  haben  dort  ihren  Wohnsitz  aufgeschlagen. 

Wilhelm  Lange wiesche,  Buchhändler  zu  Barmen  und  Iserlohn, 
schreibt  unter  dem  Namen  W.  Jemand,  sein  Hauptwerk  ist  eine 
didaktische  Tragödie,  der  ewige  Jude,  die  freilich  nicht  an  Mosens 
Bearbeitung  desselben  Gegenstandes  reicht.  Er  ist  als  Verleger  der 
bedeutendste  seiner  Wuppertaler  Kollegen,  was  übrigens  sehr 
leicht  ist,  da  ihrer  zwei,  Hagel  in  Elberfeld,  Steinhaus  in  Barmen, 
nur  echten  Pietismus  verlegen.    Freiligrath  wohnt  in  seinem  Hause. 

Karl  August  Döring,  Prediger  in  Elberfeld,  ist  Verfasser  einer 
Menge  von  prosaischen  und  poetischen  Schriften;  von  ihm  gilt 
Platens  Wort:  Sie  sind  ein  wasserreicher  Strom,  den  niemand  bis 
zu  Ende  schwimmt. 

In  seinen  Gedichten  unterscheidet  er  zwischen  geistlichen 
Liedern,  Oden  und  lyrischen  Gedichten.  Zuweilen  hat  er  schon  in 
der  Mitte  des  Gedichts  den  Anfang  vergessen  und  gerät  dann  in 
ganz  eigentümliche  Regionen;  von  den  Südseeinseln  und  ihren 
Missionären  gerät  er  in  die  Hölle,  und  von  den  Seufzern  der  zer- 
knirschten Seele  nach  dem  Eise  des  Nordpols. 

Lieth,  Vorsteher  einer  Mädchenschule  in  Elberfeld,  Verfasser 
von  Kindergedichten,  die  meistens  in  einer  schon  veralteten  Ma- 
nier geschrieben  sind  und  keinen  Vergleich  mit  denen  Rückerts, 
Gulls  und  Heys  aushalten  können;  doch  finden  sich  auch  einzelne 
hübsche  Sachen  darunter. 

3* 


36  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Friedrich  Ludwig  Wülfling,  unstreitig  der  größte  Dichter  des 
Wuppertals,  ein  Barmer  von  Geburt,  ist  ein  Mann,  in  dem  die  Ge- 
nialität garnicht  zu  verkennen  ist.  Sieht  man  einen  langen  Men- 
schen, von  etwa  fünfundvierzig  Jahren,  in  einen  langen,  rotbraunen 
Rock  verhüllt,  der  halb  so  alt  ist,  wie  sein  Herr,  auf  den  Schultern 
ein  unbeschreibliches  Antlitz,  auf  der  Nase  eine  vergoldete  Brille, 
in  deren  Gläsern  sich  die  strahlenden  Blicke  der  Augen  brechen, 
das  Haupt  gekrönt  mit  einer  grünen  Mütze,  im  Munde  eine  Blume, 
in  der  Hand  einen  eben  vom  Rock  gedrehten  Knopf  —  das  ist  der 
Horaz  Barmens.  Tag  für  Tag  ergeht  er  sich  auf  dem  Hardtberge 
und  wartet,  ob  ihm  nicht  ein  neuer  Reim  oder  eine  neue  Geliebte 
aufstoße.  Bis  in  sein  dreißigstes  Jahr  huldigte  er  Pallas  Athenen 
als  industriöser  Mann,  dann  geriet  er  Aphroditen  in  die  Hände,  die 
ihm  neun  Dulcineen  nach  einander  zuführte ;  diese  sind  seine  Musen. 
Man  spreche  nicht  von  Goethe,  der  allem  eine  poetische  Seite  ab- 
gewann, nicht  von  Petrarca,  der  jeden  Blick,  jedes  Wort  der  Ge- 
liebten in  ein  Sonett  brachte  —  an  Wülfling  reichen  sie  lange  nicht. 
Wer  zählt  die  Sandkörner,  die  der  Geliebten  Fuß  zerknittert?  Das 
tut  der  große  Wülfling.  Wer  besingt  Minchens  (die  Clio  der  neun 
Musen)  in  einer  sumpfigen  Wiese  beschmutzte  Strümpfe .''  Nur 
Wülfling.  —  Seine  Epigramme  sind  Meisterwerke  der  originellsten, 
volkstümlichsten  Grobheit.  Als  seine  erste  Frau  starb,  schrieb  er 
eine  Todesanzeige,  die  alle  Dienstmädchen  zu  Tränen  rührte  und 
eine  noch  weit  schönere  Elegie  ,, Wilhelmine,  schönster  aller  Na- 
men!" Sechs  Wochen  später  verlobte  er  sich  schon  wieder  und  jetzt 
hat  er  die  dritte  Frau.  Der  geistreiche  Mann  hat  alle  Tage  andere 
Pläne.  Als  er  noch  so  recht  in  seiner  poetischen  Blütezeit  stand, 
wollte  er  bald  Knopf macher,  bald  Landmann,  bald  Papierhändler 
werden;  zuletzt  ist  er  in  den  Hafen  der  Lichtzieherei  geraten,  um 
sein  Licht  auf  irgend  eine  Weise  leuchten  zu  lassen.  Seine  Schriften 
sind  wie  der  Sand  am  Meer. 

Montanus  Eremita,  ein  Solinger  Anonymus,  gehört  als  nach- 
barlicher Freund  auch  hieher.  Er  ist  der  poetischste  Historiograph 
des  Bergischen  Landes ;  seine  Verse  sind  weniger  unsinnig  als  lang- 
weilig und  prosaisch. 

Ebenso  Johann  Pol,  Pastor  zu  Hanfeld  bei  Iserlohn,  der  ein 
Bändlein  Gedichte  schrieb. 

Könige  kommen  von  Gott  und   Millionäre  desgleichen, 

Aber  der  Goethe -Poet  kommt  von  den  Menschen  allein. 
Dies  zeigt  den  Geist  des  ganzen  Bandes.    Aber  er  hat  auch  Witz, 
denn  er  sagt:   Die  Dichter  sind   Lichter,  die  Philosophen  sind  der 
Wahrheit  Zofen.     Und  welche  Phantasie  liegt  in  den  beiden  An- 
fangszeilen seiner  Ballade:  Attila  an  der  Marne: 


Briefe  aus  dem  Wuppertal.  o>i 

Gleich  Lawinen  ungeheuer,  schneidend  hart  wie  Schwert  und 

[Kiesel, 
Wälzt  durch  Schutt  und  Städteflammen  sich  nach  Gallien  Godegisel. 
Auch  hat  er  Psalme  gedichtet,  oder  vielmehr  aus  Davidschen  Frag- 
menten komponiert.  Sein  Hauptwerk  ist  die  Besingung  des  Streites 
zwischen  Hülsmann  und  Sander  und  zwar  auf  eine  höchst  originelle 
Weise,  in  Epigrammen.  Da  dreht  sich  alles  um  den  Gedanken,  die 
Rationalisten  wagten    — 

Zu  schmähen  und  zu  lästern  den  Herrn  Herrn. 
Weder  Voß  noch   Schlegel  haben  jemals  einen  so  vollkommenen 
Spondeus  am  Schluß  eines  Hexameters  gehabt.    Er  versteht  die  Ein- 
teilung seiner  Gedichte  noch  besser  als  Döring,  er  teilt  sie  in  „geist- 
liche Gesänge  und  Lieder"  und  ,, Vermischte  Gedichte". 

F.  W.  Krug,  Kandidat  der  Theologie,  Verfasser  von  poetischen 
Erstlingen  oder  prosaischen  Reliquien,  Übersetzer  mehrerer  hol- 
ländischer und  französischer  Predigten,  schrieb  auch  eine  rührende 
Novelle  im  Geschmack  Stillings,  worin  er  unter  andern  einen  neuen 
Beweis  für  die  Wahrheit  der  mosaischen  Schöpfungsgeschichte  auf- 
stellt.   Das  Buch  ist  ergötzlich. 

Zum  Schlüsse  muß  ich  noch  eines  geistvollen  jungen  Mannes 
erwähnen,  der  die  Idee  hat,  da  Freiligrath  Handlungsdiener  und 
Dichter  zugleich  sei,  müsse  er  es  auch  können.  Hoffentlich  wird 
die  deutsche  Literatur  bald  durch  einige  seiner  Novellen  vermehrt 
werden,  die  von  den  besten  nicht  übertroffen  werden  ;  die  einzigen 
Fehler,  die  man  ihnen  vorv.erfen  kann,  sind  Abgedroschenheit  der 
Handlung,  übereilte  Anlage  und  nachlässiger  Stil.  Sehr  gern  würde 
ich  eine  im  Auszug  mitteilen,  wenn  es  die  Dezenz  nicht  verböte; 
doch  wird  sich  vielleicht  bald  ein  Buchhändler  des  großen  D.  (seinen 
ganzen  Namen  wage  ich  nicht  zu  nennen,  weil  ihn  sonst  seine  ver- 
letzte Bescheidenheit  zu  einem  Injurienprozeß  gegen  mich  verleiten 
würde)  erbarmen  und  seine  Novellen  verlegen.  Auch  will  er  ein 
sehr  genauer  Freund  Freiligraths  sein. 

Dies  sind  so  ziemlich  die  literarischen  Erscheinungen  des  welt- 
berühmten Tals  wozu  vielleicht  noch  einige  weinentflammte 
Kraftgenies  zu  zählen  wären,  die  sich  dann  und  wann  reimend  ver- 
suchen, und  die  ich  Herrn  Dr.  Duller  zur  Porträtierung  für  einen 
neuen  Roman  sehr  empfehlen  kann.  Die  ganze  Gegend  liegt  von 
ihnen  mehr  von  Pietismus  und  Philisterei  überschwemmt,  und  was 
daraus  hervorragt,  sind  keine  schönen  blumenreichen  Eilande,  nur 
dürre  nackte  Klippen  oder  lange  Sandbänke,  und  Freiligrath  irrt 
dazwischen  umher  wie  ein  verschlagener  Schiffer. 


38  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

III. 
Es  sind  seit  einiger  Zeit  Klagen  laut  geworden,  bittere  Klagen 
über  die  trostlose  Kraft  dei  Skepsis ;  hier  und  da  schaute  man  trübe 
auf  das  niedergerissene  Gebäude  des  alten  Glaubens,  bang  harrend, 
daß  die  Wolken  zerreißen  möchten,  die  den  Himmel  der  Zukunft 
bedecken.  Mit  einem  ähnlichen  wehmütigen  Gefühle  lege  ich  die 
,, Lieder  eines  heimgegangenen  Freundes**  aus  der  Hand;  es  sind, 
Lieder  eines  Toten,  eines  echten  Wuppertaler  Christen,  an  die 
glückliche  Zeit  erinnernd,  wo  man  selbst  noch  kindlich  glauben 
konnte  an  eine  Lehre,  deren  Widersprüche  man  sich  jetzt  an  den 
Fingern  abzählen  kann,  wo  man  von  heiligem  Eifer  glühte  gegen 
religiöse  Freisinnigkeit  —  einem  Eifer,  über  den  man  jetzt  lächelt 
oder  errötet.  —  Der  Druckort  schon  zeigt,  daß  man  diese  Verse 
nicht  nach  dem  gewöhnlichen  Maßstabe  beurteilen  kann,  daß  hier 
keine  blendenden  Gedanken,  kein  fesselloser  Schwung  eines  freien 
Geistes  zu  finden  sind ;  ja,  es  wäre  unbillig,  etwas  anderes  zu  ver- 
langen, als  Produkte  des  Pietismus.  Der  einzig  richtige  Maßstab, 
den  man  an  diese  Gedichte  legen  darf,  ist  durch  die  frühere  Wupper- 
taler Literatur  gegeben,  an  der  ich  meinen  Unmut  schon  hinläng- 
lich ausgelassen  habe,  um  nun  auch  einmal  von  andrem  Gesichts- 
punkte eines  ihrer  Erzeugnisse  beurteilen  zu  dürfen.  Und  da  ist 
unverkennbar,  daß  in  diesem  Buche  ein  Fortschritt  sich  zeigt.  Die 
Gedichte,  —  die  von  einem,  wenn  auch  nicht  ungebildeten  Laien 
herzurühren  scheinen  —  stehen  den  Gedanken  nach  zum  wenigsten 
gleich  mit  denen  der  Prediger  Döring  und  Pol,  ja  zuweilen  ist  ein 
leiser  Hauch  von  Romantik,  soviel  sich  davon  an  die  calvinistische 
Lehre  anhängen  läßt,  nicht  zu  verkennen.  Was  die  Form  betrifft, 
sind  sie  aber  unstreitig  das  Beste,  was  das  Wuppertal  bis  jetzt  her- 
vorgebracht hat ;  neue  oderseltene  Reime  sind  oft  nicht  ohne  Geschick- 
lichkeit angebracht;  ja,  bis  zum  Distichon  und  zur  freien  Ode  hat 
sich  der  Verfasser  erhoben,  welche  Formen  ihm  aber  zu  hoch  waren. 
Krummachers  Einfluß  ist  unverkennbar ;  seine  Redensarten  und 
Bilder  sind  überall  benutzt;  wenn  der  Dichter  aber  singt: 
Pilger : 

Arme  Schaf  lein  von  Christi  Herde, 

Ich  seh'  ja  nichts  von  seiner  Zierde 

An  dir,  o  Schäflein  still. 
Schaf  lein: 

Gedrückt  ein  Weilchen,  dann  hoch  erhöht 

Das  Schäflein  im  Paradiese  steht. 

Pilger,  schweige,  und  werd'  ein  Lämmlein, 

Die  still  Gebeugten  geh'n  zum  engen  Tor  ein. 

Drum  schweig'  und  bete  und  werd*  ein  Lämmlein, 


Briefe  an  Friedrich  Graeber. 


39 


so  ist  das  keine  Nachahmung  Krummachers,  sondern  schon  er 
selbst!  Dagegen  finden  sich  einzelne  Stellen  dieser  Gedichte,  die 
durch  die  Wahrheit  der  Empfindung  wirklich  rührend  sind  —  ach, 
man  kann  nur  nie  vergessen,  daß  diese  Empfindung  größtenteils 
krankhaft  ist!  Und  doch  zeigt  es  sich  auch  hier,  wie  stärkend  und 
tröstend  eine  wirklich  zur  Herzenssache  gewordene  Religion,  selbst 
in  ihren  traurigsten  Extremen,  überall  wirkt. 

Lieber  Leser,  verzeihe  mir,  daß  ich  dir  ein  Buch  vorführte, 
das  unendlich  wenig  Interesse  für  dich  haben  kann ;  du  bist  nicht 
im  Wuppertal  geboren,  du  standest  vielleicht  nie  auf  den  Bergen 
und  sahst  nie  die  beiden  Städte  zu  deinen  Füßen;  aber  du  hast 
auch  eine  Heimat  und  kehrst  vielleicht  mit  derselben  Liebe  wie  ich 
zu  ihren  unbedeutenden  Erscheinungen  zurück,  wenn  du  deinen 
Zorn  gegen  ihre  Verkehrtheiten  ausgelassen  hast. 


Briefe  an  die  Brüder  Graeber 

von  April  bis  Dezember   1839. 

An  Friedrich  Graeber. 

den  8.  (nisi  erro)  April   1839. 
Teuerster  Fritz. 

Dieser  Brief  —  ja  Du  denkst  wohl,  Du  würdest  Dich  bedeu- 
tend daran  amüsieren,  nein,  dieses  weniger.  Du,  der  Du  mich  nicht 
nur  durch  langes  Wartenlassen,  sondern  auch  durch  die  Entwei- 
hung der  heiligsten  Geheimnisse,  die  je  dem  menschlichen  Genius 
verborgen  blieben,  die  Visionen,  betrübt,  geärgert,  erzürnt  hast. 
Du  mußt  eine  absonderliche  Strafe  haben,  Du  sollst  gelangweilt 
werden,  und  womit?  mit  einem  Aufsatz,  und  worüber?  über  den 
vielbesagten  Hammel:  Literatur  der  Gegenwart, 

Was  hatten  wir  vor  1830?  Theodor  Hell  und  Konsorten, 
Willibald  Alexis,  einen  alten  Goethe  und  einen  alten  Tieck,  c'est 
tout.  Da  tritt  die  Julirevolution,  seit  dem  Befreiungskriege  die 
schönste  Äußerung  des  Volkswillens,  wie  ein  Donnerschlag  herein. 
Goethe  stirbt,  Tieck  verkommt  immer  mehr,  Hell  schläft  ein,  Wolf- 
gang Menzel  fährt  fort,  Schusterkritiken  zu  schreiben,  aber  ein 
neuer  Geist  steht  auf  in  der  Literatur ;  als  Dichter  vor  allen  Grün 
und  Lenau ;  Rückert  bekommt  einen  neuen  Schwung,  Immermann 
bekommt  Bedeutung,  Platen  desgleichen,  aber  das  ist  nicht  genug: 
Heine  und  Börne  waren  schon  vor  der  Julirevolution  abgeschlossene 
Charaktere,  aber  jetzt  erst  bekommen  sie  Bedeutung,  und  auf  ihnen 
fußt  ein  neues  Geschlecht,  das  die  Literaturen  und  das  Leben  aller 


40  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Völker  sich  zu  Nutze  macht,  voran  Gutzkow.  Gutzkow  war  1830 
noch  Student,  arbeitete  zuerst  für  Menzel  am  Literaturblatt,  aber 
nicht  lange ;  ihre  Ansichten  stimmten  nicht,  Menzel  wurde  flegel- 
haft, Gutzkow  schrieb  die  berüchtigte  Wally  (Zweiflerin)  und 
Menzel  verschrie  das  Buch  mit  gräßlichem  Spektakel,  indem  er 
dem  Gutzkow  die  von  der  Wally  ausgesprochenen  Ansichten  als 
seine  eignen  vorwarf,  und  bewirkte  wahrhaftig,  daß  das  unschul- 
dige Buch  verboten  wurde.  An  Gutzkow  schloß  sich  der  freilich 
unbedeutende  Mundt  an,  der  Geldverdienens  halber  allerlei  Unter- 
nehmungen anfing,  worin  er  cum  suibus  noch  Aufsätze  von  Andern 
gab.  Beurmann  kam  bald  hinzu,  ein  scharfsinniger  Kerl  und  feiner 
Beobachter,  ferner  Ludolf  Wienbarg,  F.  Gustav  Kühne,  und  Wien- 
barg erfand  für  fünf  dieser  Schriftsteller  (nisi  erro,  anno  1835)  den 
Namen:  junges  Deutschland.  Gegenüber  stand  der  Menzel,  der 
besser  zu  Hause  geblieben  wäre,  sintemal  ihn  Gutzkow  ebendes- 
wegen zu  Tode  geschlagen  hat,  dann  die  Evangelische  Kirchen - 
Zeitung,  die  in  jeder  Allegorie  eine  Abgötterei  und  in  jeder  Äuße- 
rung der  Sinnlichkeit  eine  der  Erbsünde  findet,  (heißt  der  Hengsten- 
berg vielleicht  so  lucus  a  non  lucendo,  d.  h.  ist  er  ein  Wallach, 
Kastrat,  Eunuch.'').  Diese  Edlen  klagten  das  junge  Deutschland 
an,  sie  wollten  die  Emanzipation  der  Frauen  und  die  Restauration 
des  Fleisches,  nebenbei  wollten  sie  ein  paar  Königreiche  stürzen 
und  Papst  und  Kaiser  in  einer  Person  werden.  Von  allen  diesen 
Angriffen  war  bloß  der  von  Emanzipation  der  Frauen  (im  Goethe- 
schen  Sinne)  gegründet,  und  ließ  sich  auch  nur  auf  Gutzkow  an- 
wenden, der  ihn  später  desavouiert  (als  übermütige  Jugendübereilung) 
hat.  Durch  das  Zusammenhalten  bildeten  sich  ihre  Zwecke  schärfer 
aus;  es  waren  die  ,, Ideen  der  Zeit",  die  in  ihnen  zum  Bewußtsein 
kamen.  Diese  Ideen  des  Jahrhunderts  (so  sprachen  Kühne  und 
Mundt)  sind  nicht  etwa  demagogischer  oder  antichristlicher  Art, 
wie  sie  verschrien  werden,  sondern  sie  basieren  auf  dem  Natur- 
rechte eines  jeden  Menschen  und  erstrecken  sich  auf  alles,  was  in 
den  jetzigen  Verhältnissen  diesem,  widerspricht.  So  gehört  zu  diesen 
Ideen:  vor  allen  die  Teilnahme  des  Volks  an  der  Staatsverwaltung, 
also  das  Konstitutionelle,  ferner  die  Judenemanzipation,  Abschaf- 
fung alles  Religionszwanges,  aller  Adelsaristokratie  etc.  Wer  kann 
was  dagegen  haben  ?  Die  Evangelische  Kirchenzeitung  und  Menzel 
haben  es  auf  dem  Gewissen,  daß  sie  die  Ehre  des  jungen  Deutsch- 
lands so  verschrien  haben.  Schon  1836,  37  war  unter  diesen,  durch 
Einheit  der  Ansicht,  nicht  aber  durch  besondere  Assoziation  ver- 
bundenen Schriftstellern,  die  Idee  klar  und  bestimmt;  durch  ihre 
tüchtigen  Schriften  verschafften  sie  sich  Anerkennung  bei  den  an- 
deren meist  jämmerlichen  Literaten,  und  zogen  alle  jungen  Talente 


Briefe  an  Friedrich  Graeber. 


41 


an  sich.  Ihre  Dichter  sind  Anastasius  Grün  und  Karl  Beck;  ihre 
Kritiker  vor  allen  Gutzkow,  Kühne,  Laube,  und  unter  den  jünge- 
ren Ludwig  Wihl,  Levin  Schücking  etc.;  dazu  versuchen  sie  sich 
im  Roman,  Drama  etc.  In  der  neuesten  Zeit  ist  zwar  Streit  aus- 
gebrochen zwischen  Gutzkow  und  Mundt  nebst  Kühne  und  Laube ; 
sie  haben  beide  Anhänger,  Gutzkow  die  jüngeren,  Wihl,  Schücking 
und  andere,  Mundt  von  den  jüngeren  nur  ein  paar;  Beurmann 
hält  sich  ziemlich  neutral,  so  der  junge,  sehr  talentvolle  Dingel- 
stedt,  neigen  aber  sehr  zu  Gutzkow  hin.  Mundt  hat  durch  den  Streit 
allen  seinen  Kredit  verloren;  der  des  Kühne  ist  bedeutend  gesun- 
ken, weil  er  so  gemein  ist,  alles,  was  Gutzkow  schreibt,  herunter- 
zumachen ;  Gutzkow  dagegen  nimmt  sich  sehr  nobel  und  hält  sich 
meist  nur  über  die  große  Liebe  zwischen  Mundt  und  Kühne,  die 
sich  gegenseitig  loben,  auf.  Daß  Gutzkow  ein  ganz  ausgezeichnet 
ehrenwerter  Kerl  ist,  beweist  sein  letzter  Aufsatz  im  Jahrbuch  der 
Literatur. 

Außer  dem  jungen  Deutschland  haben  wir  nur  wenig  Aktives. 
Die  schwäbische  Schule  war  schon  seit  1820  nur  passiv;  die  Öster- 
reicher —  Zedlitz  und  Grillparzer  interessieren  wenig,  weil  sie  so 
fremdartig  dichten  (Zedlitz  spanisch,  Grillparzer  antik),  unter  den 
Lyrikern  ist  Lenau  schon  hinneigend  zum  jungen  Deutschland  trotz 
seiner  kirchlichen  Stoffe,  Frankl  ein  gemütlicher  Uhland  en  mi- 
niature,  K.  E.  Ebert  ist  ganz  verböhmt;  die  Sachsen  —  Hell, 
Heller,  Herlosssohn,  Morvell,  Wachsmann,  Tromlitz  —  ach  du  mein 
Gott  da  fehlt  der  Witz;  die  Mannheimer  [?]  und  Berliner  (wozu 
Du  nicht  gehörst)  sind  niederträchtig,  die  Rheinländer  —  Lewald 
ist  bei  weitem  der  beste  der  Unterhaltungsschriftsteller;  seine 
Europa  läßt  sich  lesen,  aber  die  Rezensionen  drin  sind  gräßlich^  — 
Hub,  Schnetzler  und  Konsorten  nicht  viel  wert,  Freiligrath  wendet 
sich  noch  einmal  dem  jungen  Deutschland  zu,  das  sollst  Du  sehen, 
Duller  auch,  wenn  er  nicht  vorher  schon  verkommt,  und  Rückert, 
der  steht  wie  der  alte  Vater  da  und  breitet  seine  Hände  segnend 
über  alle. 

Den  9.  April.  Das  ist  dieser  rührende  Aufsatz,  Was  soll  ich 
armer  Teufel  nun  anfangen?  Für  meinen  eignen  Kopf  fortochsen? 
Hab*  keine  Lust.  Loyal  werden?  Pfui  Teufel!  Mich  an  die  säch- 
sische Mittelmäßigkeit  halten  —  ugittugitt  (o  Gott  o  Gott,  hie- 
siger Ausruf  des  Ekels).  Also  ich  muß  ein  junger  Deutscher  wer- 
den, oder  vielmehr  ich  bin  es  schon  mit  Leib  und  Seele.  Ich  kann 
des  Nachts  nicht  schlafen  vor  lauter  Ideen  des  Jahrhunderts ;  wenn 
ich  an  der  Post  stehe  und  auf  das  preußische  Wappen  sehe,  packt 
mich  der  Geist  der  Freiheit;  jedesmal  wenn  ich  in  ein  Journal  sehe, 
spüre    ich    nach    Fortschritten    der    Freiheit;    in    meine    Poemata 


42  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

schleichen  sie  sich  und  verspotten  die  Obskuranten  in  Mönchs - 
kapuze  und  im  Hermelin.  Aber  von  ihren  Floskeln:  Weltschmerz, 
welthistorisch,  Schmerz  des  Judentums  etc.  halte  ich  mich  fern, 
denn  die  sind  jetzt  schon  veraltet.  Und  das  sage  ich  Dir,  Fritz, 
so  Du  einmal  Pastor  wirst.  Du  magst  so  orthodox  werden,  wie  Du 
willst,  aber  wirst  Du  mir  ein  Pietist,  der  aufs  junge  Deutschland 
schimpft,  die  Evangelische  Kirchenzeitung  zum  Orakel  nimmt, 
wahrlich,  ich  sage  Dir,  Du  hasc  mit  mir  zu  tun.  Du  mußt  Pastor 
werden  zu  Gemarke  und  den  verdammten,  schwindsüchtigen,  ofen- 
höckerigen Pietismus  wegjagen,  den  der  Krummacher  zur  Blüte 
gebracht  hat.  Da  werden  sie  Dich  freilich  einen  Ketzer  schelten, 
aber  laß  mal  einen  kommen  und  Dir  aus  Bibel  und  Vernunft  be- 
weisen, daß  Du  Unrecht  hast.  Der  Blank  ist  indessen  ein  verruch- 
ter Rationalist,  schmeißt  das  ganze  Christentum  über  den  Haufen, 
was  soll  daraus  werden  ?  Na,  ein  Pietist  bin  ich  nie  gewesen,  ein 
Mystiker  eine  Zeitlang,  aber  das  sind  tempi  passati ;  jetzt  bin  ich 
ein  ehrlicher,  gegen  Andre  sehr  liberaler  Supernaturalist.  Wie  lange 
ich  das  bleibe,  weiß  ich  nicht,  doch  hoffe  ich  es  zu  bleiben,  wenn 
auch  bald  mehr,  bald  weniger  zuin  Rationalismus  hinneigend. 
Das  muß  sich  alles  entscheiden.  Adios,  Friderice,  schreibe  rascher 
und  viel. 

Do  hest  de  mi  dubbelt. 

Friedrich  Engels.         Friedrich  Engels. 

An  Friedrich  Graeber. 

(27.  4.  bis  I.  5.  1839). 

Fritz  Graeber,  ich  beschäftige  mich  jetzt  sehr  mit  Philosophie 
und  kritischer  Theologie.  Wenn  man  18  Jahr  alt  wird,  Strauß,  die 
Rationalisten  und  die  Kirchenzeitung  kennen  lernt,  so  muß  man 
entweder  alles  ohne  Gedanken  lesen  oder  anfangen,  an  seinem 
Wuppertaler  Glauben  zu  zweifeln.  Ich  begreife  nicht,  wie  die  ortho- 
doxen Prediger  so  orthodox  sein  können,  da  sich  doch  offenbare 
Widersprüche  in  der  Bibel  finden.  Wie  kann  man  die  beiden  Ge- 
nealogieen  Josephs,  des  Mannes  der  Maria,  die  verschiedenen  An- 
gaben bei  der  Einsetzung  des  Abendmahls  (dies  ist  mein  Blut,  dies 
ist  das  neue  Testament  in  meinem  Blut),  bei  den  Besessenen  (der 
erste  erzählt,  der  Dämon  fuhr  bloß  aus,  der  zweite,  er  fuhr  in  die 
Säue),  die  Angabe,  Jesu  Mutter  sei  ausgezogen,  ihren  Sohn  zu 
suchen,  den  sie  für  wahnsinnig  hielt,  obwohl  sie  ihn  wunderbar 
empfangen  etc.,  mit  der  Treue,  der  wörtlichen  Treue  der  Evange- 
listen reimen?  Und  nun  die  Abweichung  beim  Unser  Vater,  in  der 
Reihenfolge    der    Wunder,   die    eigentümlich    tiefe    Auffassung   des 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  ^3 

Johannes,  wodurch  aber  die  Form  der  Erzählung  offenbar  getrübt 
wird,  wie  da?  Christi  ipsissima  verba,  worauf  die  Orthodoxen 
pochen,  lauten  in  jedem  Evangelium  anders.  Vom  alten  Testament 
garnicht  zu  reden.  Aber  in  dem  lieben  Barmen  wird  Einem  das 
nicht  gesagt,  da  wird  man  nach  ganz  andern  Grundsätzen  unter- 
richtet. Und  worauf  gründet  sich  die  alte  Orthodoxie?  Auf  nichts, 
als  auf  —  den  Schlendrian.  Wo  fordert  die  Bibel  wörtlichen  Glauben 
an  ihre  Lehre,  an  ihre  Berichte?  Wo  sagt  ein  Apostel,  daß  alles 
was  er  erzählt,  unmittelbare  Inspiration  ist?  Das  ist  kein  Gefangen- 
nehmen der  Vernunft  unter  den  Gehorsam  Christi,  was  die  Ortho- 
doxen sagen,  nein,  das  ist  ein  Töten  des  Göttlichen  im  Menschen, 
um  es  durch  den  toten  Buchstaben  zu  ersetzen.  Darum  bin  ich 
noch  ein  ebenso  guter  Supranaturalist  wie  vorher,  aber  das  Ortho- 
doxe habe  ich  abgelegt.  So  kann  ich  nun  und  nimmer  glauben, 
daß  ein  P^tionalist,  der  von  ganzem  Herzen  das  Gute  so  viel  wie 
möglich  zu  tun  sucht,  ewig  verdammt  werden  soll.  Das  wider- 
spricht auch  der  Bibel  selbst.  Denn  es  steht  geschrieben,  daß  um 
der  Erbsünde  willen  keiner  verdammt  ist,  sondern  um  seiner  eignen 
Sünde  willen;  wenn  nun  einer  der  Erbsünde  aus  aller  Kraft  wider- 
steht und  tut,  was  er  kann,  so  sind  doch  seine  wirklichen  Sünden 
nur  notwendige  Folge  der  Erbsünde,  also  können  ihn  die  nicht  ver- 
dammen.  — 

Den  24.  April.  Ha,  ha,  ha!  weißt  Du,  wer  den  Aufsatz  im 
Telegraphen  gemacht  hat?  Schreiber  dieses  ist  der  Verfasser,  aber 
ich  rate  Dir,  nichts  davon  zu  sagen,  ich  käme  in  höllische  Schwu- 
litäten. Kohl,  Ball  und  Hermann  kenne  ich  fast  nur  aus  Rezen- 
sionen W.  Blanks  und  Strückers,  die  ich  fast  wörtlich  abgeschrieben 
habe ;  daß  Kohl  aber  kohlt  und  Hermann  ein  schwachmatischer 
Pietist  ist,  weiß  ich  aus  eigner  Anhörung.  Der  D.  ist  der  Kontor- 
jüngling Dürholt  bei  Wittensteins  in  Unterbarmen.  Übrigens  tu 
ich  mir  was  drauf  zu  gut,  daß  ich  darin  nichts  gesagt  habe,  was 
ich  nicht  beweisen  kann.  Eins  nur  ärgert  mich:  daß  ich  den  Stier 
nicht  bedeutend  genug  dargestellt.  Er  ist  als  Theologe  nicht  zu 
verachten.  Bewunderst  Du  aber  nicht  meine  Kenntnis  der  Cha- 
raktere, besonders  Krummachers,  Dörings  (was  über  dessen  Pre- 
digt gesagt,  hat  mir  P.  Jonghaus  erzählt),  und  der  Literatur?  Die 
Bemerkungen  über  Freiligrath  müssen  wohl  gut  sein,  sonst  hätte  sie 
Gutzkow  gestrichen.  Der  Stil  ist  übrigens  hundeschlecht.  —  Der 
Aufsatz  scheint  übrigens  Sensation  gemacht  zu  haben  —  ich  ver- 
pflichte Euch  fünf  auf  Euer  Ehrenwort,  niemanden  zu  sagen,  daß 
ich  der  Verfasser  bin.  Kapiert  ?  Was  das  Schimpfen  betrifft,  so 
habe  ich  das  meistens  auf  Dich  und  Wilhelm  gehäuft,  weil  ich  die 
Briefe  an  Euch  grade   vor  mir   liegen   hatte,  als  mich  die  Lu5;t  zu 


^  Alis  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1 841. 

schimpfen  überkam.  Besonders  soll  F.  Plümacher  nicht  erfahren, 
daß  ich  den  Aufsatz  gemacht  habe.  Was  der  Ball  übrigens  für  ein 
Kerl  ist!  Charfreitag  soll  er  predigen,  hat  keine  Lust  zu  studieren, 
und  lernt  deshalb  eine  Predigt  auswendig,  die  er  im  Menschen- 
freund findet,  und  hält  sie.  Krummacher  ist  in  der  Kirche,  ihm 
kommt  die  Predigt  bekannt  vor,  und  endlich  fällt  ihm  ein,  daß  er 
selbst  die  Predigt  Charfreitag  1832  gehalten  hat.  Andre  Leute, 
die  die  Predigt  gelesen  haben,  erkennen  sie  auch,  Ball  wird  zur 
Rede  gestellt  und  muß  bekennen.  Signum  est,  Ballum  non  tan  tum 
abhorrere  a  Krummacho.  ut  Tu  quidem  dixisti^).  Für  die  ausführ- 
liche Rezension  des  Faust  bin  ich  Dir  sehr  verbunden.  Die  Be- 
arbeitung des  Stücks  ist  wohl  die  elende  Raupachsche,  dieser  Hunds- 
fott mischt  sich  in  alles,  und  verdirbt  nicht  nur  den  Schiller,  indem 
er  dessen  Bilder  und  Gedanken  in  seinen  Tragödien  abdrischt, 
sondern  auch  den  Goethe  dadurch,  daß  er  ihn  malträtiert.  Daß 
meine  Poemata  einen  reißenden  Absatz  haben  werden,  ist  zu  be- 
zweifeln. .  .  .  Dein  Rotgeschriebenes  konnte  ich  nicht  lesen, 
werde  also  weder  5  Sgr.  noch  Zigarren  schicken.  Du  wirst  dieses 
Mal  entweder  die  Canzone  oder  ein  Stück  der  begonnenen,  aber 
unvollendeten  Komödie  bekommen.  Jetzt  muß  ich  gleich  in  die 
Singstunde  gehen,  adieu. 

Den  27.  April.    Fragmente  einer   Tragikomödie: 

Der  gehörnte  Siegfried. 
I. 

Palast  des    Königs   Sieghard. 
Rats  Versammlung. 

Sieghard: 
So  seid  ihr  Treuen  versammelt  wieder, 
Als  Unseres  Reiches  starke  Glieder 
Um  Unsern  hohen  Königsthron. 
Ihr  alle   —  doch  es  fehlt  Unser  Sohn! 
Der  streift  wohl  wieder  fern  im  Wald, 
Wird  nie  verständig,  ist  schon  so  alt. 
Statt  hier  in  Unsrem  Rat  zu  sitzen, 
Wo  Wir  vom  Morgen  zum  Abend  schwitzen, 
Statt  hier  der  Greise  Wort  zu  hören, 
Soll  ihn  der  Vögel  Geschrei  belehren; 


1)  Es  ist  ein  Zeichen  dafür,  daß  Ball  den  Krummacher  nicht  so  verab- 
scheut, wie  Du  gesagt  hast. 


Der  gehörnte  Siegfried.  45 

Statt  hier  der  Weisheit  nachzujagen, 
Will  er  sich  mit  den  Bären  schlagen; 
Und  spricht  er  mit   Unsrer  Majestät, 
Verlangt  er   Krieg  nur  früh  und  spät. 
Wir  hätten   ihm  längst  schon  nachgegeben, 
Hätt'  Uns  Gott  in  seiner  Weisheit  eben 
Nicht  solche  Erkenntnis  zugeteilt, 
Daß  Unser  Verstand  sich  nicht  übereilt. 
Wie  sollte  ganz  verderben  das  Land, 
Hätte  seinen  Willen  solch  ein  Fant! 

Ein  Rat: 
Eure  Majestät  spricht,  wie  immerdar 
Gar  weise  und  trifft  die  Sach'  aufs  Haar. 
Jedennoch  mit  meines  Königs  Urlaub, 
Sag'  ich,  was  ich  in  meiner  Einfalt  glaub. 
Des  Menschen  Weis  ist  mannigfalt. 
Der  Knab'  ist  achtzehn  Jahr  erst  alt. 
Ihm  steht  der  Sinn  nach  Jagd  und  Streit, 
Die  Weisheit  kommt  auch  mit  der  Zeit. 
Denn  Jugendmut  rennt  frei  hinaus, 
Die  Weisheit  bleibet  still  zu  Haus; 
Der  Jugendmut  wird  endlich  zahm. 
Und  seine  stolze   Kraft  wird  lahm. 
Dann  kehrt  zur  Weisheit  er  zurück, 
Und  findt  daheim  bei  ihr  sein  Glück. 
Drum  laßt  den  Jungen  bald  ausreiten. 
Mit  Drachen  und  mit  Riesen  streiten; 
Gar  rasch  ereilt  ihn  das  Alter  doch, 
Das  und  das  Leben,  diese  lehren 
Ihm  beide  wohl  die  Weisheit  noch, 
Dann  wird  er  gern  ihren  Worten  hören. 

Siegfried  (tritt  ein): 
O  Wald,  muß  ich  dich  lassen 
Mit  deinen  Bäumen  frisch  ? 
In  dir  ist  besser  prassen, 
Als  an  des  Königs  Tisch; 
Wo  wohnt  das  Wild  mit  Freuden, 
Als  in  dem  Waldestal? 
Das  grüne  Laubdach  neiden 
Die  goldnen  Hall'n  zumal. 
Ich  seh 's,  Herr  Vater,  Ihr  wollt  schelten, 
Daß  ich  so  lang  umhergeschweift; 


46  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 184 1. 

Muß  ich  es  immer  denn  entgelten, 
Wenn  mir  zu  schnell  der  Eber  läuft? 
Nicht  jagen  soll  ich,  auch  nicht  streiten, 
So  gebt  ein  Roß  mir  und  ein  Schwert; 
Dann  mag  ich  in  die  Fremde  reiten, 
Wie  ich's  so  oft  von  Euch  begehrt! 

Sieghard. 
Steht  dir  der  Sinn  noch  stets  danach  ? 
Wann  willst  du  endlich  weise  werden  ? 
So  lang  dein   Übermut  so  jach. 
Wirst  du  dich  nimmer  klug  gebärden. 
Und  weil  das  doch  das  beste  Mittel, 
Den  Willen  dir  zu  geben  frei, 
So  geh,  ein  derber  Riesenknittel 
Weckt  dich  schon  aus  der  Träumerei. 
Nimm  Schwert  und  Roß  dir,  zieh  hinaus, 
Kehr  bald  und  klüger  in  Unser  Haus. 

Siegfried. 
Habt  ihr's  gehört?    Ein  Schwert,  ein  Roß! 
Was  frag'  ich  da  nach  Helm  und   Brünne  ? 
Was  frag'  ich  nach  der   Knappen  Troß? 
Allein  mit  meinem  kühnen  Sinne! 
Der  wilde   Bergstrom  gießt  sich  brausend 
Allein  durch  Waldesschlucht  voran, 
Die  Fichten  stürzen  vor  ihm  sausend, 
So  wühlt  er  selbst  sich  eine   Bahn, 
Und  wie  der   Bergstrom  will  ich  sein. 
Die   Bahn  mir  brechend  ganz  allein. 

Rat: 
Nicht  gräm'  sich  drob  Eu'r  Majestät, 
Wenn  der  junge  Held  von  hinnen  geht; 
Der  Bergstrom  auch  kommt  einst  zu  Tal, 
Dann  kracht  nicht  mehr  der   Bäume   Fall, 
Dann  fließt  er  durch  die  Eb'ne  still, 
Macht  fruchtbar  rings  die   Lande, 
Der  Wellen  Wüten  wird  ein  Spiel, 
Endlich  verrinnend  im  Sande. 

Siegfried: 
Was  soll  ich  länger  weilen 
Hier  in  dem  alten  Schloß? 


Der  gehörnte  Siegfried.  a*i 

Da  hängt  ein  Schwert  am  Pfeiler, 
Und  draußen  wiehert  ein  Roß; 
Komm  her  von  deiner   Säule, 
Du  altes,  blankes  Schwert, 
Daß  ich  von  hinnen  eile    — 
Leb  wohl,  mein  Vater  wert!    (Ab.) 

II. 

Schmiede    im    Wald. 

Siegfried  tritt  ein. 

Der  Meister  tritt  ein. 

Meister: 
Ihr  seid  hier  in  der  großen  Schmiede, 
Wo  man  die  schönen  Novellen  macht, 
Die  in  Almanachen,  samt  manchem  Liede 
Entfalten  ihre  hehre  Pracht. 
Journale  werden  hier  gehämmert, 
Kritik  und  Poesie  vereinend. 
Vom  Morgen,  bis  der  Abend  dämmert, 
Seht  Ihr  die  Glut  der  Esse  scheinend. 
Doch  geht    —  genießt  erst  Speis  und  Wein   — 
Lehrbursch,  führ  den  Herrn  da  hinein. 

Siegfried  mit  dem  Lehrburschen  ab. 

Meister: 
Wohlan  zur  Arbeit,  ihr  Gesellen, 
Ich  steh'  euch  wirkend  stets  zur  Seite; 
Schlagt  auf  den  Amboß  die  Novellen, 
Daß  sie  recht  gehen  in  die  Breite! 
Durchglüht  die   Lieder  in  der  Essen, 
Daß  sie  das  Feu'r  recht  in  sich  fressen; 
Werft  alles  dann  auf  einen  Kloß, 
Des  Publikums  Magen  ist  gar  groß. 
Und  habt  ihr  nicht  des  Eisens  genug. 
Dafür  weiß  Rat  der  Meister  klug; 
Drei  Helden  von  Scott,  drei  Fraun  von  Goethen, 
Ein   Ritter  von  Fouque,  grimm  und  stählern, 
Mehr  sind  wahrhaftig  nicht  von  Nöten 
Zu  den  Novellen  von  zwölf  Erzählern! 


48  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Für  Lieder  sind   Uhlands  Poesie'n 

Ein  ganzes  Floskelmagazin. 

Drum  schwingt  den  Hammer  mit  aller  Kraft, 

Der  Beste  ist,  wer  das  meiste  schafft! 

Siegfried  (kommt  wieder): 
Dank  Meister,  für  den  guten  Wein, 
Ich  trank  zwölf  Maß  davon  hinein. 

Meister: 
(Verfluchter  Kerl!)  Mich  freut  es  sehr,  daß  Euch  mein 

Rheinwein  hat  gefallen, 
Beliebt's  Euch  nun,  so  tretet  her. 
Ich  mach'  Euch  bekannt  mit  den  Arbeitern  allen. 
Hier  dieser  ist  der  allerbeste, 
Macht  liederliche  und  ehrenfeste 
Erzählungen,  wie  ich's  verlange. 
Läßt  sich  loben  vom  großen  Wolfgange 
Menzel,  der  in  Stuttgart  sitzt, 
Sein  Name  ist:   Herr  von  Tromlitz. 
Der  andre  hier  ist  fast  so  gut, 
Ist  auch  von  adeligem  Blut, 
Das  ist  von  Wachsmann  das  große  C, 
Einen  beßren  ich  hier  nirgends  seh ; 
Kein  Almanach  kann  existieren, 
In  dem  man  ihn  nicht  tut  verspüren. 
Der  wirft  Novellen  zu  Dutzenden 
Ins  Angesicht  dem  Publikum  dem  stutzenden, 
Arbeitet  im  Schweiß  seines  Angesichts, 
Und  was  am  meisten  sagen  will, 
Für  Poesie  tat  er  noch  nichts. 
Für  Geschmacksentnervung  unendlich  viel. 
Denn  Geschmack,  vor  dem  bin  ich  sehr  bang, 
Nur  der  bringt  uns  den  Untergang. 
Da  ist  ein  dritter,  Robert  Heller, 
Sein  Stil  ist  poliert,  wie  ein  zinnener  Teller, 
Für  Silber  hält's  das  Publikum, 
Wir  lassen  es  gerne  also  dumm. 
Zwar  macht  er  nicht  so  viel,  wie  die  beiden 
Und  hascht  auch  wohl  nach  Charakteristik, 
Doch  hat  er  jetzt   —  er  kann  sie  nicht  leiden, 
Aufs  Maul  gegeben  eins  der  Mystik. 
Ihr  wißt  die  vier  Evangelisten, 
Waren  nur  dumme  Pietisten, 


Der  gehörnte  Siegfried.  49 

Die  hat  er  ein  wenig  vorgenommen, 

Sie  entkleidet  des  Ehrwürdigen  und  Frommen, 

Präpariert  zum  Teetischgenuß   — 

Lest  seine  Schwestern  des  Lazarus. 

Auch  weiß  er  gar  anmutig  zu  kosen, 

Mehr  findet  Ihr  in  seinen  Klatschrosen, 

Hier  ist  die  unterhaltende 

Gelehrsamkeit:  der  haarspaltende 

Friedrich  Nork,  der  größte  Poet, 

Der  je  gelebt,  seit  die  Welt  steht. 

Der  dichtet  und  lügt  die  schönsten  Sachen, 

Beweist  Euch  aus  des  Orients  Sprachen, 

Daß  Ihr  ein  Esel,  Elias  die  Sonne, 

Denn  der  Orient  ist  aller  Sprachen  Bronne. 

Doch  Verstand   —  den  findet  bei  ihm  Ihr  nie. 

Noch  tüchtges  Wissen  und  Etymologie. 

Hier  ist  der  wack're  Herloßsohn, 

Der  wohl  verdiente  einen  Thron, 

Ein  Novellist  und  Lyriker, 

Des  Unsinns  Panegyriker, 

Besonders  seinen  Kometenstern 

Lesen  die  Dummen  gar  zu  gern. 

Jetzt  kommen,  unter  Winklers  Leitung, 

Die  Herren  von  der  Abendzeitung; 

Thuringus.  Faber,  von  Großcreutz, 

Schon  in  den  Namen  welch  ein  Reiz! 

Doch  was  soll  ich  sie  alle  loben? 

Das  Publikum,  welches  etwas  verschroben. 

Hat  sie  schon  längst  in  den  Himmel  geschoben, 

Bis  zu  den  Sternen  sie  erhoben.^ 

Noch  einige  sind  grade  abwesend. 

Im  Walde  dürres  Brennholz  lesend; 

Vom  Lehrlingsschwarm  gar  nichts  zu  sagen, 

Die  noch  zu  schwach  auf  den  Amboß  schlagen, 

Doch,  hoff  ich,  werden  alle  gut, 

Haben  sie  nur  einen  Tropfen  Novellistenblut. 

Siegfried: 
Doch  sagt  mir,  Meister,  wie  Ihr  nur  heißt? 

Meister: 

Ich  fühl  den  sächsischen  Literaturgeist 
Verkörpert  in  meiner  Wenigkeit. 

Mayer ,  Engels.    Ergänzungsband.  4 


50  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Doch  wollt  Ihr  sehn,  was  ich  vermag, 

Seht  meiner  Arme  Sehnigkeit, 

Und  meinen  kräftigen  Hammerschlag. 

Ich  glaub',  Ihr  hämmertet  auch  nicht  schlecht; 

Wollt  Ihr  beitreten  unsern  Gesellen? 

Siegfried: 
Topp,  Meister,  's  war  mir  eben  recht, 
'  Dien  Euch  wie  ein  andrer  Schmiedeknecht. 

Meister: 
Ich  geb  Euch  zur  Lehr  bei  Theodor  Hellen. 
Hämmer  zur  Probe  die  zwei  Novellen. 

Siegfried: 
Ha,  wenn  mit  meinen  Fäusten 
Die  Eichen  ich  zerbrach, 
Und  wenn  vor  meinem  dreisten 
Angriff,  der  Bär  erlag, 
Könnt  ich  zur  Erde  ringen 
Den  Stier  in  seiner  Brunst, 
Wie  sollt'  ich  den  Hammer  nicht  schwingen 
Zur  edlen  Schmiedekunst? 
Lehrlingswerk  will  ich  treiben 
Nicht  einen  Augenblick; 
Gesell  will  ich  nicht  bleiben, 
Hier  ist  mein  Meisterstück! 
Gebt  mir  die  Eisenstangen, 
Ein  Hieb   —  sie  sind  entzwei! 
Zu  Staub  sie  all'  zersprangen, 
Das  Schmieden  ist  vorbei! 

Theodor  Hell: 
Gemach!  gemach,  was  soll  das  heißen? 
Gleich  schlag  ich  Euch,  wie  Ihr  das  Eisen! 

Siegfried: 
Was  hast  du  noch  zu  schwatzen  ? 
Was  tust  du  so  entrüstet? 
Da  liegst  du  schon  am  Boden, 
Steh  auf,  wenn's  dich  gelüstet! 

Theodor  Hell: 
Ach  Hülfe,  Hülfe! 


Der  gehörnte  Siegfried.  51 

Meister: 
Junger  Gesell, 
Was  schlagt  Ihr  mir  die  andern  Knechte  ? 
Marsch,  schert  Euch  flugs  mir  von  der  Stell, 
Sonst  zieh  ich  Euch  über  die  Ohren  das  Fell! 

Siegfried: 
Du  wärst  mir  dazu  wahrlich  der  Rechte! 
(Wirft  ihn  nieder.) 

Meister: 
0  weh,  o  weh!  etc. 

Siegfried  wird  in  den  Wald  geschickt,  erschlägt 
den  Drachen  und,  zurückgekehrt,  den  Meister,  jagt  die 
Gesellen      auseinander     und      geht     weg.     — 


III. 

Im    Walde. 

Siegfried: 
Jetzt  hör  ich  wieder,  wie  in  den  Hagen 
Zwei  Männer  auf  einander  schlagen. 
Da  kommen  sie  her   —  's  ist  wahrlich  zum  Lachen, 
Da  wird  keiner  den  andern  verstummen  machen 
Dachte,  es  kämen  zwei  Riesen  mit  Kraft, 
Die  stärksten  Fichten  ihr  Lanzenschaft, 
Da  kommen  zwei  dürre  Professoren, 
Werfen  sich  Bücher  an  die  Ohren. 

(Leo  und  Michelet  kommen.) 

Leo: 
Komm  an,  du  Hund  von  Hegeling! 

Michelet: 
Pietist,  bist  mir  wahrlich  zu  gering! 

Leo: 
Da  hast  du  die  Bibel  an  den  Kopf! 

Michelet: 
Und  du  den  Hegel,  verhallerter  Tropf! 


C2  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Leo: 
Ich  werf  dir  den  Hegel,  du  Läst'rer,  zurück! 

Michelet: 
Und  ich  dir  die  Bibel  ins  Genick  I 

Leo: 
Was  willst  du  noch?    Du  bist  ja  längst  tot? 

Michelet: 
Das  bist  du,  burschikoser  Zelot! 

Siegfried: 
Was  ist  von  eurem  Streit  der  Grund  ? 

Leo: 

Der  Hegeling,  der  lästerliche  Mund, 
Will  die  Bibel  in  Verachtung  bringen, 
Da  muß  man  wohl  auf  ihn  eindringen! 

Michelet: 

Das  lügt  der  ungehobelte  Flegel, 

Er  will  nicht  respektieren  den  Hegel! 

Siegfried: 

Aber  ihr  warft  euch  ja  gegenseitig 
Mit  den  Büchern,  um  die  ihr  streitig? 

Leo: 

S'  ist  einerlei,  er  ist  kein  Christ. 

Michelet: 

So  gut  und  besser,  wie  du  einer  bist. 

Er  schwatzt  von  Dingen,  die  er  nicht  versteht. 

Siegfried: 

Was  wollt  ihr  denn  ?    Eurer  Wege  geht ! 
Wer  hat  den  Streit  denn  angefangen  ? 

Leo: 

Das  tat  ich,  ich  rühm  es  ohne  Bangen. 
Ich  habe  für  Gott  und  mit  Gott  gestritten. 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber.  53 

Siegfried: 

Da  hast  du  auf  lahmem  Pferde  geritten. 

Der  wird  das  Christentum  nicht  töten, 

Du  wirst  es  nicht  retten  aus  den  Nöten, 

Laß  ihn  doch  auf  seine  Art  gewähren, 

Steht  es  dir  doch  frei,  was  andres  zu  lehren! 

Und  laßt  nicht  unsern  Herrgott  entgelten 

Dein  blindes  Toben,  dein  tolles  Schelten! 

Nun  geh  du  hierhin,  du  dahin, 

Und  schlagt  euch  das  Streiten  aus  dem  Sinn! 

Leo  und  Michelet  zu  verschiedenen  Seiten  ab. 

Siegfried: 

Solche  Wut  hab'  ich  nie  gesehn, 

Und  sind  doch  friedliche,  gelehrte  Männer, 

Wie  sie  so  toll  auf  einander  gehn. 

Der  edlen  Wissenschaften  Kenner!   — 

Jetzt  aber  plagt  mich  der  Hunger  wieder, 

Ich  will  drum  gehn  ins  Tal  hernieder. 

Ob  ich  wohl  find'  ein  Haus  oder  Schloß, 

Wo  ich  labe  meine  Glieder, 

Sonst  schafft  mir  Beute  wohl  mein  Geschoß.   — 

So  weit.  Die  Stücke  der  Handlung  habe  ich  ausgelassen,  bloß 
die  Einleitung  und  die  Satirika  abgeschrieben.  Dies  ist  das  letzte, 
jetzt  sollte  der  König  von  Bayern  hergenommen  werden,  aber  da 
stockts.  Die  Abrundung  und  Verwicklung  fehlt  dem  Ding.  —  Bitte 
Wurm,  die  Gedichte  an  den  Musenalmanach  zu  besorgen,  ich  muß 
jetzt  schließen,  die  Post  geht  ab. 

Dein  Friedr.  Engels. 

den  I.  Mai  39. 


An  Wilhelm  Graeber. 

[27.  bis  30.  4.  39.] 

Guglielmo  carissimo!      TtjV^)   oou   ^niooXrjv  evgtjxa  iv    roTg   xibv 
hegcov,   xal  fjdv  juev  ^v  Ifxol  xc    avxov  g^jua.     Tö  de  öixaoxrjQiov  x<bv 


^)  Die  griechischen  und  hebräischen,  aber  auch  die  lateinischen  und 
die  neusprachlichen  Brocken,  mit  denen  der  Briefschreiber  um  sich  wirft, 
enthalten  zahlreiche  Fehler,  die  der  Herausgeber  selbstredend  stehen  ge- 
lassen hat. 


54  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

TiEvre  orovötcoocov,  xal  rtjv  avtcöv  xgioiv  ov  bvvafxai  ycvcooxeiv  rj  av'&evuxijv 
rj  xo^iTierevrrjv.  —  'Eoxiv  yäg  ydgig  vn  iiiov,  el  öidcojui  nouj/nara  iv 
xalg  eig  i\udg  emaroXaig }) 

Daß  Du  St.  Hanor-)  Florida  und  Sturm  nicht  kritisieren  willst, 
verdient  wieder  keinen  Vers ;  die  Behauptung  debilitatis  ingenii  ab- 
horret  ab  usata  tua  veriloquentia.^)  Meam  quidem  mentem  ad  juve- 
nilem germaniam  se  inclinare,  haud  nocebit  libertati ;  haec  enim  clas- 
sis  scriptorum  non  est,  ut  schola  romantica,  demagogia,  etcet,  so- 
cietas  clausa,  sed  ideas  saeculi  nostri,  emancipationem  judaeorum 
servorumque,  constitutionalismum  generalem  aliasque  bonas  ideas 
in  succum  et  sanguinem  populi  Teutonici  intrare  volunt  tentantque. 
Quae  quum  ideae  haud  procul  sint  a  directione  animi  mei,  cur  me 
separare?  Non  enim  est,  quod  tu  dicis:  sich  einer  Richtung  über- 
geben, sed:  sich  anschließen;  sequitur  a  continuation  in  my  room, 
and,  in  writing  a  polyglottic  letter,  I  will  take  now  the  English  lan- 
guage,  ma  no,  il  mio  bello  Italiano,  dolce  e  soave,  come  il  zefiro, 
con  parole,  somiglianti  alle  flori  del  piü  bei  giardino,  y  el  Espaiiol, 
lingua  como  el  viento  en  los  ärboles,  e  o  Portuguez,  como  as  olas 
da  mar  em  riba  de  flores  e  prados,  et  le  Frangais,  comme  le  mur- 
mure  vite  d'un  fönt,  tres  amüsant,  en  de  hollandsche  taal,  gelijk 
den  damp  uijt  eener  pijp  Tobak,  zeer  gemoedlijk:  aber  unser 
liebes  Deutsch   —  das  ist  alles  zusammen: 


1)  Liebster  Wilhelm!  Deinen  Brief  habe  ich  bei  denen  der  anderen 
gefunden,  und  süß  war  mir  seine  Rede.  Aber  den  Richterspruch  der  fünf 
Studenten  und  ihre  Entscheidung  kann  ich  nicht  als  authentisch  oder  kom- 
petent anerkennen.  Denn  es  ist  eine  Liebenswürdigkeit  von  mir,  wenn  ich 
Gedichte  in  meinen  Briefen  an  Euch  gebe. 

2)  Das  Wort  ist  fast  unlesbar  und  unverständlich. 

3)  .  . .  der  geistigen  Schwäche  sticht  ab  von  Deiner  gewohnten  Wahr- 
haftigkeit. Daß  mein  Geist  dem  jungen  Deutschland  zuneigt,  wird  der  Frei- 
heit nicht  schaden;  denn  diese  Schriftstellergruppe  ist  nicht  wie  die  roman- 
tische, demagogische  Schule  usw.  eine  geschlossene  Gesellschaft,  sondern 
sie  wollen  und  versuchen,  daß  die  Ideen  unseres  Jahrhunderts,  die  Eman- 
zipation der  Juden  und  der  Sklaven,  der  allgemeine  Konstitutionalismus 
und  andere  gute  Ideen  in  Saft  und  Blut  des  deutschen  Volkes  eindringen. 
Da  diese  Ideen  von  der  Richtung  meines  Geistes  nicht  fern  sind,  warum  soll 
ich  mich  von  ihnen  trennen?  Es  heißt  nämlich  nicht,  wie  Du  sagst  „sich 
einer  Richtung  übergeben",  sondern  „sich  anschließen".  Die  Fortsetzung 
folgt  in  meinem  Zimmer,  und  da  ich  einen  polyglotten  Brief  schreibe, 
will  ich  jetzt  die  englische  Sprache  herannehmen,  aber  nein,  mein 
schönes  Italienisch,  rein  und  lieblich  wie  der  Westwind,  mit  Worten, 
die  den  Blumen  des  schönsten  Gartens  gleichen,  und  das  Spanische, 
eine  Sprache  wie  der  Wind  in  den  Bäumen  und  das  Portugiesische 
wie  das  Rauschen  des  Meeres  am  Gestade  von  Blumen  und  Wiesen 
und  das  Französische  wie  das  rasche  Murmeln  einer  sehr  lustigen  Quelle 
und  die  holländische  Sprache,  wie  der  Dampf  aus  einer  Tabakpfeife,  sehr 
gemütlich. 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber.  25 

Gleich  den  Wogen,  den  langen,  des  Meers,  ist  die  Zunge  Homeros, 
Äschylos  schleudert  ins  Tal  ein  Feldstück  rasch  nach  dem  andern, 
Romas  Sprache   —  so  spricht  zu  dem  Heer  der  gewaltige  Cäsar, 
Greift  in  die  Fülle  der  Worte   —  sie  liegen,  wie  rohes  Gesteine, 
Scharf  und  kantig    —  daraus  ersteht  cyklopisches  Bauwerk, 
Aber  die  jüngere  Zunge  der  Italer,  lieblich  und  milde. 
Stellet  den  Dichter  inmitten  des  holdesten  Gartens  der  Erde, 
Draus  ein  Füllhorn  pflückte  Petrark,  Ariost  sich  den  Kranz  wand. 
Doch  Hispaniens  Sprache   —  o  horch,  wie  im  laubigen  Wipfel 
Herrscht  der  gewaltige  Hauch,  und  gewalt'ge,  erhabene  Lieder 
Alter  Zeit  draus  rauschen  hervor,  und  die  Trauben  des  Weinstocks, 
Der  am  Stamme  hinauf  sich  wand,  sich  schaukeln  im  Laube! 
Portugals  Zunge    —  das  Rauschen  des  Meers  am  Blumengestade, 
Wo  in  dem  Schilf  aufseufzt  Syrinx  beim  Hauche  des  Zephyrs; 
Und  die  Zunge  der  Franken,  sie  gleitet,  ein  üppiges  Bächlein, 
Munter  dahin,  und  rundet  der  Sandstein,  der  eigensinn'ge 
Bald  sich  im  plätschernden  Flusse  der  nimmer  beruhigten  Wellen. 
Englands  Sprache,  ein  längst  verwittertes,  rasenbehangnes 
Denkmal  riesiger  Hünen,  doch  wuchs  das  Gestrüppe  darüber. 
Sausend  und  heulend  umweht  es  der  Sturm,  und  möchte  es  fällen. 
Aber  die  Sprache  Germaniens   —  sie  tönt,  wie  die  donnernde 

Brandung 
An  den  gezackten  Korallen   —  die  tragen  ein  liebliches  Eiland, 
Dorthin  schallet  das  Rauschen  der  langen  Wellen  Homeros, 
Dort  erdonnern  die  riesigen  Blöcke  aus  Äschylos  Händen, 
Dort  auch  siehst  du  der  Feldherrnhand  cyklopisches  Bauwerk, 
Und  den  duftenden  Garten  der  schönsten  und  edelsten  Blumen, 
Mächtiges  Rauschen  erschallt  dort  laut  aus  waldigem  Wipfel, 
Syrinx  tönet  im  Schilf,  und  die  Bächlein  runden  den  Sandstein, 
Dort  auch  steht  manch'  Hünengebäu,  umsaust  von  den  Winden, 
Das  ist  Germaniens  Zunge,  die  ewige,  wunderumrankte. 

Diese  Hexameter  habe  ich  extempore  hingeschrieben.  Sie 
mögen  Dir  den  Unsinn  auf  der  vorigen  Seite,  aus  dem  sie  hervor- 
gegangen, etwas  erträglich  machen.  Rezensiere  sie  aber  als  Ex- 
temporale. Dan  29.  April.  Kontinuierlich  Deinen  Brief  auf  kon- 
sequente Weise  fortsetzend,  ist  heute  wunderschönes  Wetter,  so 
daß  Ihr,  posito  caso  aequalitatis  temporalis,  heute  wahrscheinlich 
und  von  rechtswegen  alle  Kollegia  schwänzt.  Ich  wollt',  ich 
war  bei  Euch.  —  Ich  hab  Euch  wohl  schon  geschrieben,  daß 
ich  unter  dem  Namen  Theodor  Hildebrand  am  Bremer  Stadt- 
boten meinen  Witz  ausließ,  nun  habe  ich  ihm  mit  folgendem 
Briefe    abgesagt: 


rß  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Stadtbote,  hörs,  doch  ärgre  nicht  dich  drüber, 
Wie  ich  zum  Besten  lange  dich  gehabt; 
Denn  merke  dirs,  man  spottet  dess,  mein  Lieber, 
Der  immer  sich  erzeigt  als  übergeschnappt. 
Dein  blauer  Freudenhimmel  wird  stets  trüber, 
Nun  du  ein  Vierteljahr  herumgetrabt, 
Was  du  zu  sagen,  Edler,  dich  beflissen, 
Das  hast  du  alles  wiederkäuen  müssen. 

Ich  nahm  stets  aus  dir  selber  meine  Themata, 

Du  hast  sie  alle  selbst  mir  präparieret. 

Aus  deinen  Reden  machte  ich  Poemata, 

Darin  ich  dich,  allein  dich  persiflieret. 

Nimm  ihnen  nur  des  Reims,  der  Metrik  Schemata, 

So  wird  dein  Ebenbild  dir  vorgeführet. 

Nun  fluch,  beliebt*  dir,  von  Zorne  wild  entbrannt, 

Auf  deinen  ganz  ergebnen 

Theodor  Hildebrand. 

Du  solltest  auch  anfangen,  ein  wenig  zu  Schriftstellern,  in 
Versen  oder  Prosa,  und  alsdann  an  das  Berliner  Conversations- 
blatt,  wenn  es  noch  existiert,  oder  den  Gesellschafter  schicken. 
Später  treibst  Du's  stärker,  machst  Novellen,  die  Du  erst  in  Jour- 
nalen, dann  allein  drucken  läßt,  bekommst  Ruf,  wirst  als  geist- 
reicher, witziger  Erzähler  genannt.  Ich  sehe  Euch  noch  einmal  — 
der  Heuser  großer  Komponist,  Wurm  schreibt  tiefsinnige  Unter- 
suchungen über  Goethe  und  die  Zeitentwicklung,  Fritz  wird  ein  be- 
rühmter Prediger,  Jonghaus  macht  religiöse  Poemata,  Du  schreibst 
geistvolle  Novellen  und  kritische  Aufsätze,  und  ich  -  werde  Stadt- 
poet von  Barmen,  Leutnant  Simons  malträtierten  (in  Cleve)  An- 
denkens zu  ersetzen.  —  Als  fernere  Poesie  für  Dich  ist  auch  noch 
das  Lied  da  auf  dem  Blatt  für  den  Musenalmanach,  welches  ich  keine 
Lust  habe,  noch  einmal  abzuschreiben.  Vielleicht  schreibe  ich  noch 
eins  dazu.  Heute  (30.  April)  habe  ich  bei  dem  kostbaren  Wetter  von 
7  bis  halb  9  im  Garten  gesessen,  geraucht  und  Lusiade  gelesen,  bis 
ich  aufs  Kontor  mußte.  Es  liest  sich  nirgends  so  gut,  als  im  Garten 
an  einem  klaren  Frühlingsmorgen,  die  Pfeife  im  Munde,  die  Sonnen- 
strahlen auf  dem  Rücken.  Heut  Mittag  werde  ich  diese  Bestre- 
bungen mit  dem  altdeutschen  Tristan  und  seiner  süßen  Reflexion 
über  die  Liebe  fortsetzen,  heut  Abend  geh  ich  in  den  Ratskeller, 
wo  unser  Herr  Pastor  seinen  von  dem  neuen  Bürgermeister  pflicht- 
schuldigst erhaltenen  Rheinv.=ein  zum  besten  gibt.  Bei  solchem  un- 
geheuren Wetter  habe  ich  immer  eine  unendliche  Sehnsucht  nach 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber. 


57 


dem  Rhein  und  seinen  Weinbergen;  aber  was  ist  da  zu  machen  ? 
höchstens  ein  paar  Verse.  Ich  wollte  wohl  wetten,  daß  der  W.  Blank 
Euch  geschrieben  hat,  daß  [ich]^)  die  Aufsätze  im  Telegraphen  ge- 
macht hätte,  und  Ihr  darum  so  drauf  geschimpft  habt.  Die  Szene 
ist  in  Barmen,  was  es  ist  kannst  Du  Dir  denken.  — 


Eben  kriege  ich  einen  W.  Blanks  Brief,  worin  er  mir  schreibt, 
daß  der  Aufsatz  rasenden  Rumor  in  Elberfeld  mache ;  Dr.  Runkel 
schimpft  in  der  Elberfelder  Zeitung  darüber  und  wirft  mir  Unwahr- 
heiten vor ;  ich  will  ihm  eine  Andeutung  zugehen  lassen,  daß  er 
mir  doch  eine  Unwahrheit  nachweisen  soll,  was  er  nicht  kann,  da 
alles  erwiesene  Data  sind,  die  ich  von  Augen-  und  Ohrenzeugen 
habe.  Bl.  schickte  mir  das  Blatt  zu,  das  ich  gleich  mit  der  Bitte, 
meinen  Namen  ferner  geheim  zu  halten,  an  Gutzkow  spedierte. 
Krummacher  hat  neulich  in  seiner  Predigt  dargetan,  daß  die  Erde 
still  steht  und  die  Sonne  sich  um  sie  dreht,  und  das  wagt  der  Kerl 
am  21.  April  1839  in  die  Welt  zu  posaunen,  und  sagt  doch,  der 
Pietismus  führe  die  Welt  nicht  zum  Mittelalter  zurück!  Es  ist  schänd- 
lich! Man  sollte  den  Kerl  chassieren,  oder  er  wird  noch  einmal 
Papst  werden,  eh'  Du  Dich  versiehst,  wo  ihn  aber  das  saffrangelbe 
Donnerwetter  zermalmen  soll.  Dios  lo  sabe,  Gott  weiß,  was  noch 
aus  dem  Wuppertale  wird.  Adios  Dein  baldige  Briefe  erwartender 
oder  wieder  keine  Poemata  sendender 

Friedrich  Engels. 


*)  Dies  Wort  fehlt  im  Text,  ist  aber  hier  offenbar  zu  ergänzen. 


58  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

An  Wilhelm  Graeber. 

(24.  Mai   1839.) 
My  dear  William! 

Heute  —  der  24.  Mai,  und  noch  keine  Zeile  von  Euch!  Ihr 
qualifiziert  Euch  wieder  zum  Nicht-Gedichte -Empfangen.  [Hier  folgt 
ganz  klein  der  Kopf  eines  Gassenjungen,  der  die  Zunge  heraussteckt.] 
Ich  begreife  Euch  nicht.  Indes  sollst  Du  Beiträge  zur  Literatur 
der  Gegenwart  haben. 

Gesammelte  Werke  von  Ludwig  Börne,  i.  u.  2.  Band. 
Dramaturgische  Blätter.  —  Börne,  der  riesige  Kämpfer  für  Frei- 
heit und  Recht,  zeigt  sich  hier  auf  ästhetischem  Gebiete.  Und  auch 
hier  ist  er  zu  Hause;  was  er  sagt,  ist  so  bestimmt  und  klar,  so  aus 
richtigem  Gefühl  für  das  Schöne  hervorgegangen,  und  so  einleuch- 
tend bewiesen,  daß  von  Widerspruch  gar  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Darüber  ist  ein  Meer  des  üppigsten  Witzes  ausgegossen,  und  wie 
Felsen  tauchen  hier  und  da  die  festen,  scharfen  Freiheitsgedanken 
auf.  Die  meisten  dieser  Kritiken  (denn  aus  diesen  besteht  das  Buch) 
sind  gleichzeitig  mit  dem  Erscheinen  der  Stücke  geschrieben  wor- 
den, also  zu  einer  Zeit,  wo  das  Urteil  der  Kritik  darüber  noch  blind 
und  schwankend  umher  tappte;  Börne  aber  sah,  und  durchdrang 
alles  bis  auf  die  innersten  Fäden  der  Handlung.  Am  ausgezeichnet- 
sten sind  die  Kritiken  über  Schillers  Teil  —  ein  Aufsatz,  der  seit 
mehr  denn  zwanzig  Jahren  der  gewöhnlichen  Ansicht  unwiderlegt 
entgegen  steht,  eben,  weil  er  unwiderleglich  ist.  —  Immermanns 
Cardenio  und  Hof  er,  Raupachs  Isidor  und  Olga,  Claurens  Woll- 
markt —  woran  sich  andre  Interessen  knüpfen  —  Houwalds  Leucht- 
turm und  Bild,  die  er  so  vernichtet,  daß  nichts,  gar  nichts  bleibt,  und 
Shakespeares  Hamlet.  Überall  ist  es  der  große  Mann,  der  einen 
Streit  von  noch  unabsehbaren  Folgen  hervorrief,  und  schon  diese 
beiden  Bände  würden  Börne  einen  Platz  neben  Lessing  sichern; 
aber  er  ward  ein  Lessing  auf  andrem  Gebiete,  möge  ihm  in  Karl 
Beck  der  Goethe  folgen! 

Nächte.    Gepanzerte  Lieder  von  Karl  Beck. 

,,Ein  Sultan  bin  ich,  wild  und  sturmbewegt, 
,,Mein  Heer   —  des  Lieds  gepanzerte  Gestalten; 
,,Um  meine   Stirne  hat  der   Gram  gelegt 
,,Den  Turban  in  geheimnisreichen  Falten." 

Wenn  solche  Bilder  schon  in  der  zweiten  Strophe  eines  Prologs 
vorkommen,  wie  wird  dann  erst  das  Buch  selbst  sein  ?  Wenn  ein 
Jüngling  von  zwanzig  Jahren  solche  Gedanken  hegt,  wie  wird  erst 
der  reife  Mann  singen?  —  Karl  Beck  ist  ein  Dichtertalent,  wie  seit 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber. 


59 


Schiller  keines  aufgestanden  ist.  Ich  finde  eine  auffallende  Ver- 
wandtschaft zwischen  Schillers  Räubern  und  Becks  Nächten,  der- 
selbe freiheitglühende  Geist,  dieselbe  ungebändigte  Phantasie,  der- 
selbe jugendliche  Übermut,  dieselben  Fehler.  Schiller  strebte  nach 
Freiheit  in  den  Räubern,  sie  waren  eine  ernste  Mahnung  an  seine 
servile  Zeit;  aber  damals  konnte  sich  solch  ein  Streben  noch  nicht 
bestimmt  gestalten ;  jetzt  haben  wir  im  jungen  Deutschland  eine 
bestimmte,  systematische  Richtung  —  Karl  Beck  tritt  auf  und  ruft 
seiner  Zeit  laut  zu,  diese  Richtung  zu  erkennen  und  sich  ihr  an- 
zuschließen.   Benedictus,  qui  venit  in  nomine  Domini! ^) 

Der  fahrende  Poet.  Dichtungen  von  Karl  Beck.  Der 
junge  Dichter  legt,  kaum  nach  dem  ersten,  schon  ein  zweites  Werk 
vor,  das  dem  ersten  an  Kraft,  Fülle  der  Gedanken,  lyrischem  Schwung 
und  Tiefe  nicht  im  mindesten  nachsteht,  an  gediegener  Form  und 
Klassizität  aber  unendlich  weit  darüber  hinausreicht.  Welch  ein 
Fortschritt,  von  der  ,, Schöpfung"  in  den  Nächten  zu  den  Sonetten 
über  Schiller  und  Goethe  im  fahrenden  Poeten!  Gutzkow  meint, 
die  Sonettform  sei  dem  Effekt  des  Ganzen  schädlich,  ich  aber 
möchte  behaupten,  daß  dieses  Shakespearesche  Sonett  grade  die 
für  dies  eigentümliche  Gedicht  passende  Mitte  zwischen  der  epischen 
Strophe  und  dem  einzelnen  Gedicht  hält.  Es  ist  ja  kein  episches 
Gedicht,  es  ist  rein  lyrisch,  an  losem  epischen  Faden  gereiht,  noch 
loser  als  Byrons  Childe  Harold.  Aber  wohl  uns  Deutschen,  daß 
Karl  Beck  geboren  wurde. 

Blasedow  und  seine  Söhne.  Komischer  Roman  von 
Karl  Gutzkow,  i.  Band.  Diesem  dreibändigen  Roman  liegt  die 
Idee  eines  modernen  Don  Quichotte  zu  Grunde,  eine  zwar  schon  mehr- 
fach benutzte,  doch  meist  schlecht  bearbeitete,  geschweige  erschöpfte 
Idee.  Der  Charakter  dieses  modernen  Don  Quichotte  (Blasedows, 
eines  Landpfarrers),  wie  er  Gutzkow  anfänglich  vorschwebte,  war 
vortrefflich,  in  der  Ausführung  dagegen  ist  wohl  einzelnes  verfehlt. 
Wenigstens  hinter  Cervantes  Darstellung,  die  freilich  auch  das 
Werk  eines  reifen  Mannes  ist,  bleibt  dieser  Roman  des  kaum  dreißig- 
jährigen Gutzkow  (der  ohnedies  schon  seit  drei  Jahren  vollendet 
sein  soll)  sehr  zurück.  Dagegen  sind  die  Nebencharaktere  —  Tobi- 
anus  scheint  Sancho  Pansa  zu  entsprechen  — ,  die  Situationen  und  die 
Sprache  ausgezeichnet.   — 

So  weit  mit  meinen  Rezensionen,  jetzt  werde  ich  fortfahren, 
wenn  Du  geschrieben  hast.  —  Weißt  Du,  wann  Eure  Briefe  ange- 
kommen sind?    Den  —  fünfzehnten  Juni!    Und  die  letzten  kamen 


*)  Gepriesen   sei,   wer   im  Namen   des   Herrn   kommt! 


6o 


Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 


am  fünfzehnten  April  an !  Also  grade  zwei  Monate !  Ist  das  recht  ? 
Ich  dekretiere  hierdurch,  daß  bei  Strafe  des  Nie-wieder-Gedichte- 
Erhaltens  dem  Wurm  aller  Einfluß  auf  die  Absendung  der  Briefe 
entzogen  werden  soll.  Und  wenn  in  gehöriger  Zeit  Wurm  seinen 
Brief  noch  nicht  fertig  hat,  so  laßt  sie  ohne  seinen  abgehen!  Sind 
14  Tage  nicht  genug,  um  zwei  Quartseiten  an  mich  zu  schreiben? 
Es  ist  schändlich.  Du  schreibst  auch  wieder  kein  Datum  dabei, 
das  ist  mir  auch  nicht  recht.  —  Der  Aufsatz  im  Telegraph  ist  mein 
unbestreitbares  Eigentum  und  hat  W.  Blank  über  die  Maßen  ge- 
fallen; in  Barmen  hat  er  auch  bedeutenden  Beifall  erhalten  und  ist 
außerdem  im  Nürnberger  Athenäum  rühmlichst  ziiert  worden. 
Einzelne  Übertreibungen  mögen  drin  sein,  das  Ganze  aber  gibt  ein 
richtiges  Bild  von  vernünftigem  Standpunkt  aus  gesehen.  Wenn 
man  es  freilich  mit  dem  Vorurteil,  es  sei  ein  konfuses  Machwerk, 
liest,  muß  es  wohl  so  erscheinen.  —  Was  Du  von  der  Komödie 
sagst,  ist  justum. 

Justus  judex  ultionis, 

Donum  fac  remissionisP) 

Die  Canzone  ist  von  Euch  nicht  im  mindesten  berührt  worden, 
ist  nachzuholen. 


Was  Leo  und  Michelet  betrifft,  so  kenne  ich  die  Sache  frei- 
lich nur  aus  Leos  Hegelingen  und  mehreren  Gegenschriften, 
ich  habe  daraus  gelernt:  i.  daß  Leo,  der  nach  seinen  eignen 
Worten  seit  elf  Jahren  aller  Philosophie  entsagt  und  deshalb 
kein  Urteil  darüber  hat,  2.  daß  er  den  Beruf  dazu  nur  in  seinem 
eignen  überschwänglichen  und  renommistischen  Hirn  gefunden  hat, 


') 


Gerechter  Richter,  der  straft, 
Erweise  mir  Nachsicht! 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber.  5l 

3.  daß  er  Schlüsse,  die  durch  die  eigentümliche  Hegeische  Dialektik 
notwendig  aus  allgemein  angenommenen  Prämissen  hervorgingen, 
angegriffen  hat,  statt  die  Dialektik  anzugreifen,  ohne  welches  er 
diese  Folgerungen  stehen  lassen  mußte ;  4.  daß  er  die  Gegenschriften 
nur  mit  rohen  Exklamationen,  ja  mit  Schimpfreden  widerlegt  hat; 
5.  daß  er  sich  für  weit  über  seine  Gegner  erhaben  ansieht,  groß 
tut  und  auf  der  nächsten  Seite  wieder  mit  der  grenzenlosesten 
Demut  kokettiert ;  6.  daß  er  nur  vier  angreift  während  er  dadurch 
die  ganze  Schule  angriff,  die  sich  von  diesen  nicht  trennen  läßt; 
denn  mag  Gans  etc.  auch  im  einzelnen  sich  von  diesen  geschieden 
haben,  sie  gehörten  doch  so  innig  zusammen,  daß  Leo  am  wenig- 
sten kapabel  war,  die  Differenzpunkte  als  wichtig  zu  beweisen. 
7.  ist  es  der  Geist  der  Evangelischen  Kirchenzeitung,  die  Leo 
voranging,  der  in  Leos  ganzem  Libell  herrscht;  Schluß:  Leo  hätte 
besser  das  Maul  gehalten.  Was  sind  das  für  ,, bitterste  Erfah- 
rungen" gewesen,  die  Leo  zum  Losbrechen  zwangen  ?  Hat  er  nicht 
schon  in  seiner  Broschüre  über  Görres  sie  angefallen,  und  noch 
heftiger  als  in  den  Hegelingen?  Zu  einem  wissenschaftlichen 
Streit  ist  jeder  berufen,  der  die  Kenntnisse  dazu  hat  (ob  Leo  sie 
hatte  ?) ,  aber  wer  verdammen  will,  der  nehme  sich  in  acht ;  und  hat 
Leo  das  getan?  Verdammt  er  mit  Michelet  nicht  auch  Marheineke, 
dem  die  Evangelische  Kirchenzeitung  wie  einem,  der  unter  ihre 
Polizei  und  Aufsicht  gestellt,  auf  jedem  Schritt  nachspürt,  ob's 
auch  orthodox  ist  ?  Bei  konsequentem  Schließen  hätte  Leo  unend- 
lich viele  verdammen  müssen,  dazu  hatte  er  aber  keine  Courage, 
Wer  die  Hegeische  Schule  angreifen  will,  muß  selbst  ein  Hegel  sein, 
der  an  ihrer  Stelle  eine  neue  Philosophie  schafft.  Und  Leo  zum 
Trotz  dehnt  sie  sich  von  Tage  zu  Tage  mehr  aus.  Und  der  Angriff 
vom  Hirschberger  Schubart  auf  die  politische  Seite  der  Hegeischen, 
kommt  er  nicht  wie  ein  Amen  des  Küsters  zu  dem  pfaffenmäßigen 
Credo  des  Halleschen  Löwen,  welcher  freilich  das  Katzengsechlecht 
nicht  verleugnet?  A  propos,  Leo  ist  der  einzige  akademische  Lehrer 
in  Deutschland,  der  die  Adelsaristokratie  eifrig  verteidigt!  Leo 
neruit  auch  W.  Menzel  seinen  Freund!!! 

Dein  treuer  Freund 

Friedrich  Engels,  junger  Deutscher. 

Seid  Ihr  nicht  mit  Gans'  Leiche  gewesen?   Warum  schreibt  Ihr 
nichts  von  dem? 


02  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

An  Friedrich  Graeber. 

(15.  Juni  39.) 

Fritz  Graeber:  meine  Herren,  hier  sehen  Sie  moderne  Charak- 
tere und  Zustände. 


n'iXiv'+Hitrv' 


Den  15.  Juni.  Heute  kommen  Eure  Briefe  an. 
Ich  dekretiere,  daß  Wurm  nie  mehr  die  Briefe 
wegschicken  soll.  Zur  Hauptsache.  Was  Du  mir 
über  Josephs  Stammbäume  sagst,  so  habe  ich  dies 
der  Hauptsache  nach  schon  gewußt  und  dagegen 
einzuwenden: 

1.  Wo  ist  in  der  Bibel  in  einem  Ge- 
schlechtsregister der  Schwiegersohn  auch 
unter  ähnlichen  Umständen  Sohn  genannt 
worden?  Ohne  solch  ein  Beispiel  kann  ich  dies 
nur  als  eine  gezwungene,  unnatürliche  Erklärung 
ansehen. 

2.  Warum  sagt  Lukas,  der  für  Griechen 
griechisch  schrieb,  für  Griechen, die  diese  jüdische 
Sitte  nicht  kennen  konnten,  nicht  ausdrücklich, 

daß  dem  so  sei,  wie  Du  sagst? 

3.  Was  soll  überhaupt  ein  Geschlechtsregister  Josephs,  das 
ganz  überflüssig  ist,  da  alle  drei  synoptischen  Evangelien  ausdrück- 
lich sagen,  Joseph  sei  nicht  Jesu  Vater?  — 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  5^ 

4.  Warum  nimmt  ein  Mann  wie  Lavater  nicht  seine  Zuflucht 
zu  dieser  Erklärung  und  läßt  lieber  den  Widerspruch  stehen  ?  End- 
lich, warum  sagt  selbst  Neander,  der  doch  gelehrter  ist,  sogar  als 
Strauß,  daß  das  ein  unlösbarer  Widerspruch  sei,  der  dem  griechi- 
schen Bearbeiter  des  hebräischen  Matthaeus  zur  Last  zu  legen  sei  ? 

Ferner  lasse  ich  mich  mit  meinen  übrigen  Sachen,  die  Du 
„elende  Wortklaubereien"  nennst,  nicht  so  leicht  abweisen.  Die 
wörtliche  Inspiration  wird  von  den  Wuppertalern  in  dem  Grade  ge- 
lehrt, daß  Gott  sogar  in  jedes  Wort  einen  besonders  tiefen  Sinn  ge- 
legt haben  soll,  was  ich  oft  genug  von  der  Kanzel  gehört  habe. 
Daß  Hengstenberg  diese  Ansicht  nicht  hat,  glaube  ich  wohl,  denn 
aus  der  Kirchenzeitung  geht  hervor,  daß  er  gar  keine  klaren  An- 
sichten hat,  sondern  bald  hier  etwas  einem  Orthodoxen  zugibt,  was 
er  bald  darauf  einem  Rationalisten  wieder  als  Verbrechen  vorhält. 
Aber  wie  weit  geht  denn  die  Inspiration  der  Bibel?  Doch  wahr- 
lich nicht  so  weit,  daß  der  Eine  Christum  sagen  läßt:  das  ist  mein 
Blut,  und  der  Andre:  das  ist  das  neue  Testament  in  meinem  Blut? 
Denn  warum  ist  dann  Gott,  der  den  Streit  zwischen  Lutherischen 
und  Reform.ierten  doch  vorhersah,  diesem  unseligen  Streit  nicht 
durch  eine  so  unendlich  geringfügige  Einwirkung  zuvorgekommen? 
Ist  einmal  Inspiration  da,  so  gelten  hier  nur  zwei  Fälle:  entweder 
Gott  hat  es  absichtlich  getan,  um  den  Streit  hervorzurufen,  was 
ich  Gott  nicht  aufbürden  mag,  oder  Gott  hat  es  übersehen,  was  dito 
unstatthaft  ist.  Daß  dieser  Streit  etwas  Gutes  hervorgerufen  habe, 
läßt  sich  auch  nicht  behaupten,  und  daß  er,  nachdem  er  300  Jahre 
die  christliche  Kirche  zerrissen,  in  Zukunft  noch  Gutes  wirken  solle, 
wäre  eine  Annahme,  die  ohne  allen  Grund  und  aller  Wahrschein- 
lichkeit zuwider  ist.  Grade  diese  Stelle  beim  Abendmahl  ist  wich- 
tig. Und  ist  ein  Widerspruch  da,  so  ist  der  ganze  Bibelglaube 
zerstört. 

Ich  will  Dir  nur  grade  heraussagen,  daß  ich  jetzt  dahin  ge- 
kommen bin,  nur  die  Lehre  für  göttlich  zu  halten,  die  vor  der 
Vernunft  bestehen  kann.  Wer  gibt  uns  das  Recht,  der  Bibel  blind- 
lings zu  glauben?  Nur  die  Autorität  derer,  die  es  vor  uns  getan 
haben.  Ja,  der  Koran  ist  ein  organischeres  Produkt  als  die  Bibel, 
denn  er  fordert  Glauben  an  seinen  ganzen,  fortlaufenden  Inhalt, 
die  Bibel  aber  besteht  aus  vielen  Stücken  vieler  Verfasser,  von 
denen  viele  nicht  einmal  selbst  Ansprüche  auf  Göttlichkeit 
machen.  Und  wir  sollen  sie,  unsrer  Vernunft  zuwider,  glauben, 
bloß  weil  unsre  Eltern  es  uns  sagen  ?  Die  Bibel  lehrt  ewige  Verdamm- 
nis des  Rationalisten.  Kannst  Du  Dir  denken,  daß  ein  Mann,  der 
sein  Leben  lang  (Börne,  Spinoza,  Kant)  nach  der  Vereinigung  mit 
Gott  strebte,  ja,  daß  einer  wie  Gutzkow,  dessen  höchstes  Lebens- 


64  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

ziel  ist,  den  Punkt  aufzufinden,  wo  sich  das  positive  Christentum 
und  die  Bildung  unsrer  Zeit  verschwistert  darstellen,  daß  der  nach 
seinem  Tode  ewig,  ewig  von  Gott  entfernt  sein  sollte  und  körper- 
lich und  geistig  den  Zorn  Gottes  ohne  Ende  in  den  grausamsten 
Qualen  tragen?  Wir  sollen  keine  Fliege  peinigen,  die  uns  Zucker 
stiehlt,  und  Gott  sollte  einen  solchen  Mann,  dessen  Irrtümer  ebenso 
unbewußt  sind,  zehntausend  mal  so  grausam  und  in  alle  Ewigkeit 
peinigen?  Ferner,  ein  Rationalist,  der  aufrichtig  ist,  sündigt  der 
durch  sein  Zweifeln  ?  Nimmermehr,  Er  müßte  ja  sein  Lebenlang 
die  schrecklichsten  Gewissensbisse  haben;  das  Christentum  müßte, 
wenn  er  nach  Wahrheit  strebt,  sich  ihm  mit  unüberwindlicher 
Wahrheit  aufdrängen.  Geschieht  das  ?  Ferner,  in  welcher  zwei- 
deutigen Position  steht  die  Orthodoxie  zur  modernen  Bildung? 
Man  beruft  sich  darauf,  daß  das  Christentum  die  Bildung  überall 
hin  mitgebracht  habe;  jetzt  plötzlich  gebietet  die  Orthodoxie,  die 
Bildung  solle  mitten  in  ihrem  Fortschritt  stehen  bleiben.  Was 
soll  z.  B.  alle  Philosophie,  wenn  wir  der  Bibel  glauben,  die  die  Un- 
erkennbarkeit  Gottes  durch  die  Vernunft  lehrt?  Und  doch  findet 
die  Orthodoxie  ein  wenig,  nur  ja  nicht  zu  viel,  Philosophie  ganz 
zweckmäßig.  Wenn  die  Geologie  andere  Resultate  bringt  als  die 
mosaische  Urgeschichte  lehrt,  wird  sie  verschrieen  (siehe  den  elenden 
Aufsatz  der  Evangelischen  Kirchenzeitung:  Die  Grenzen  der  Natur- 
betrachtung), bringt  sie  scheinbar  dieselben  wie  die  Bibel,  so 
beruft  man  sich  darauf.  Zum  Beispiel  sagt  ein  Geolog,  die  Erde, 
die  versteinerten  Knochen  bewiesen  eine  große  Flut,  so  beruft 
man  sich  darauf;  entdeckt  aber  ein  andrer  Spuren  eines  verschie- 
denen Alters  dieser  Dinge,  und  beweist,  es  habe  diese  Flut  ver- 
schiedene Zeiten  an  verschiedenen  Orten  gehabt,  so  wird  die  Geo- 
logie verdammt.  Ist  das  aufrichtig?  Ferner:  da  ist  Strauß'  Leben 
Jesu,  ein  unwiderlegliches  Werk,  warum  schreibt  man  nicht  eine 
schlagende  Widerlegung?  warum  verschreit  man  den  wahrhaft 
achtbaren  Mann?  Wie  viele  sind  christlich,  wie  Neander,  gegen 
ihn  aufgetreten,  und  der  —  ist  kein  Orthodoxer.  Ja,  es  gibt  wahr- 
haftig Zweifel,  schwere  Zweifel,  die  ich  nicht  widerlegen  kann. 
Ferner  die  Erlösungslehre:  warum  zieht  man  sich  nicht  die  Moral 
draus,  wenn  sich  Einer  freiwillig  für  den  Andern  stellt,  den  zu 
strafen  ?  Ihr  würdet  es  alle  für  Unrecht  halten ;  was  aber  vor 
Menschen  Unrecht  ist,  das  soll  vor  Gott  die  höchste  Gerechtigkeit 
sein?  Ferner:  Das  Christentum  sagt:  Ich  mache  euch  frei  von 
der  Sünde.  Nun  strebt  dahin  auch  die  übrige,  rationalistische  Welt; 
da  tritt  das  Christentum  dazwischen  und  verbietet  ihnen,  fort- 
zustreben, weil  der  Weg  der  Rationalisten  noch  weiter  vom  Ziel 
abführe.   Wenn  das  Christentum  uns  einen  zeigte,  den  es  in  diesem 


Briefe  an  Friedrich  Graeber. 


65 


Leben  so  frei  gemacht  hat,  daß  er  nicht  mehr  sündigte,  dann  möchte 
es  einiges  Recht  haben,  so  zu  sprechen,  aber  eher  wahrlich  nicht. 
Ferner:  Paulus  spricht  von  vernünftiger,  lauterer  Milch  des  Evan- 
geliums. Ich  begreife  es  nicht.  Man  sagt  mir:  Das  ist  die  erleuch- 
tete Vernunft.  Nun  zeige  man  mir  Eine  erleuchtete  Vernunft, 
der  das  einleuchtet.  Bisher  ist  mir  noch  keine  vorgekommen, 
sogar  den  Engeln  ist's  „ein  hohes  Geheimnis".  —  Ich  hoffe,  Du 
denkst  zu  gut  von  mir,  dergleichen  einer  frevlerischen  Zweifel- 
sucht und  Renommisterei  zuzuschreiben;  ich  weiß,  ich  komme 
in  die  größten  Unannehmlichkeiten  dadurch,  aber  was  sich  mir 
überzeugend  aufdringt,  kann  ich,  so  gern  ichs  möchte,  nicht  zu- 
rückdrängen. Habe  ich  durch  meine  heftige  Sprache  vielleicht 
Deiner  Überzeugung  wehe  getan,  so  bitte  ich  Dich  von  Herzen  um 
Verzeihung;  ich  sprach  nur,  wie  ich  denke,  und  wie  es  sich  mir 
aufdrängt.  Es  geht  mir  wie  Gutzkow;  wo  sich  Einer  hochmütig 
über  das  positive  Christentum  hinwegsetzt,  da  verteidige  ich  diese 
Lehre,  die  ja  vom  tiefsten  Bedürfnis  der  menschlichen  Natur,  dem 
Sehnen  nach  Erlösung  von  der  Sünde  durch  die  Gnade  Gottes,  aus- 
geht; wo  es  aber  darauf  ankommt,  die  Freiheit  der  Vernunft  zu 
verteidigen,  da  protestiere  ich  gegen  allen  Zwang.  —  Ich  hoffe, 
eine  radikale  Veränderung  im  religiösen  Bewußtsein  der  Welt  zu 
erleben;  —  wäre  ich  nur  erst  selbst  im  Klaren!  Doch  das  soll 
schon  kommen,  wenn  ich  nur  Zeit  habe,  mich  ruhig  und  ungestört 
zu  entwickeln. 

Der  Mensch  ist  frei  geboren,  ist  frei! 

Dein  treuer  Freund 

Friedrich  Engels. 

,\n  Friedrich  Graeber. 

12.  bis  27.  Juli  39. 

Fritzo  Graebero  den  I2.  Juli.  Ihr  könntet  Euch  wohl  einmal 
herablassen,  mir  zu  schreiben.  Es  werden  bald  5  Wochen,  daß  ich 
Euren  letzten  Brief  bekam.  —  In  meinem  vorigen  Briefe  warf  ich 
Dir  eine  Masse  skeptischer  Klötze  hin,  ich  würde  das  Ding  anders  an- 
gefaßt haben,  wenn  ich  damals  schon  die  Schleiermachersche  Lehre 
gekannt  hätte.  Das  ist  denn  doch  noch  ein  vernünftiges  Christentum; 
das  leuchtet  doch  jedem  ein,  auch  ohne  daß  man  es  grade  annimmt, 
und  man  kann  den  Wert  anerkennen,  ohne  sich  an  die  Sache  an- 
schließen zu  müssen.  Was  ich  von  philosophischen  Prinzipien  in 
der  Lehre  fand,  habe  ich  schon  angenommen;  über  seine  Erlösungs- 
theorie bin  ich  noch  nicht  im  Reinen,  und  werde  mich  hüten,  sie 
gleich  als  Überzeugung  anzunehmen,  um  nicht  bald  wieder  um- 
Mayer, Engels.    Ergänzungsband.  5 


66  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

satteln  zu  müssen.  Aber  studieren  werd'  ich's,  sobald  ich  Zeit  und 
Gelegenheit  habe.  Hätte  ich  die  Lehre  früher  gekannt,  ich  wäre 
nie  Rationalist  geworden,  aber  wo  hört  man  so  was  in  unserm 
Muckertale  ?  Ich  habe  eine  rasende  Wut  auf  diese  Wirtschaft,  ich 
will  mit  dem  Pietismus  und  dem  Buchstabenglauben  kämpfen,  so- 
lang ich  kann.  Was  soll  das  Zeug  ?  Was  die  Wissenschaft,  in  deren 
Entwicklung  jetzt  die  ganze  Kirchengeschichte  liegt,  verwirft,  das 
soll  auch  im  Leben  nicht  mehr  existieren.  Mag  der  Pietismus  früher 
ein  historisch  berechtigtes  Element  in  der  Entwicklung  der  Theo- 
logie gewesen  sein;  er  hat  sein  Recht  bekommen,  er  hat  gelebt, 
und  soll  sich  nun  auch  nicht  weigern,  der  spekulativen  Theologie 
zu  weichen.  Nur  aus  dieser  läßt  sich  jetzt  etwas  Sicheres  entwickeln. 
Ich  begreife  nicht,  wie  man  noch  versuchen  kann,  den  wörtlichen 
Glauben  an  die  Bibel  zu  halten  oder  die  unmittelbare  Einwirkung 
Gottes  zu  verteidigen,  da  sie  sich  doch  nirgends  beweisen  läßt. 

Den  26.  Juli.  Da  seid  Ihr  ja.  Zur  Sache,  In  Deinem  Briefe 
ist  es  ganz  merkwürdig,  wie  Du  an  der  Orthodoxie  hältst,  und  doch 
dabei  einer  rationalisierenden  Richtung  einzelnes  zugibst,  wodurch 
Du  mir  Waffen  in  die  Hand  gibst.  Josephs  Stammbaum.  Auf 
meinen  ersten  Gegengrund  antwortest  Du  mir:  Wer  weiß,  ob  wir 
nicht  oft  genug  in  den  biblischen  Geschlechtsregistern  Sohn  statt 
Schwiegersohn  und  Neffe  lasen.  Zerstörst  Du  nicht  dadurch  die 
ganze  Glaubwürdigkeit  der  biblischen  Geschlechtsregister  ?  Wie 
das  Gesetz  hier  etwas  beweisen  soll,  begreife  ich  gar  nicht.  —  Auf 
meinen  zweiten  Gegengrund  sagst  Du:  Lukas  habe  für  Theophilus 
geschrieben.  Lieber  Fritz,  was  ist  das  für  eine  Inspiration,  wo 
eine  solche  Rücksicht  auf  die  Kenntnisse  dessen  stattfindet,  an 
den  das  Buch  zufällig  zuerst  geht  ?  Wenn  da  nicht  auch  auf  alle 
zukünftigen  Leser  Rücksicht  genommen  wird,  so  kann  ich  keine 
Inspiration  anerkennen,  überhaupt  scheinst  Du  Dir  über  den  Begriff 
der  Inspiration  noch  nicht  klar  zusein.  Drittens  daß  ein  Geschlechts- 
register des  Joseph  die  Erfüllung  der  Weissagung  darlege,  bin  ich 
nicht  capabel  zu  capieren;  im  Gegenteil  mußte  dem  Evangelisten 
alles  daran  gelegen  sein,  Jesum  nicht  als  Josephs  Sohn  darzustellen, 
diese  Ansicht  zu  zerstören,  und  Joseph  garnicht  so  mit  Dar- 
stellung seines  Geschlechtsregisters  zu  beehren.  —  „Zu  Scigen, 
Jesus  war  ein  Sohn  Marias,  Maria  eine  Tochter  Eli,  wäre  ganz 
gegen  die  Sitte  gewesen."  Lieber  Fritz,  kann  hier  die  Sitte  auch  nur 
den  geringsten  Einfluß  haben?  Siehe  genau  zu,  ob  Du  dadurch 
nicht  wieder  D,  inem  Begriffe  von  Inspiration  zu  nahe  trittst.  Ich 
kann  Deine  Erklärung  wahrlich  nicht  anders  als  so  unendlich  ge- 
zwungen ansehen,  daß  ich  an  Deiner  Stelle  mich  lieber  entschlösse, 
Eines  für  unecht  zu  halten.  —  „Dem  Christentum  müssen  sich  un- 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  67 

auflösliche  Zweifel  entgegenstellen,  und  doch  kann  man  zur  Ge- 
wißheit kommen  durch  Gottes  Gnade."  Diesen  Einfluß  der  gött- 
lichen Gnade  auf  den  einzelnen  bezweifle  ich  in  der  Gestalt,  wie 
Du  ihn  hast.  Wohl  kenne  ich  das  selige  Gefühl,  das  jeder  hat,  der 
sich  in  innige,  herzliche  Beziehung  zu  Gott  setzt,  Rationalist  wie 
Mystiker;  aber  werde  Dir  darüber  klar,  denke,  ohne  Dich  an  bi- 
blische Redensarten  zu  knüpfen,  darüber  nach,  so  findest  Du,  es 
ist  das  Bewußtsein,  daß  die  Menschheit  göttlichen  Ursprungs  ist, 
daß  Du  als  Teil  dieser  Menschheit  nicht  verloren  gehen  kannst, 
und  nach  allen  unzähligen  Kämpfen,  in  dieser,  wie  in  jener  Welt, 
vom  Sterblichen  und  Sündlichen  entkleidet,  in  den  Schoß  der  Gott- 
heit zurückkehren  mußt;  das  ist  meine  Überzeugung,  und  ich  bin 
ruhig  dabei;  insofern  kann  ich  Dir  auch  sagen,  daß  mir  Gottes 
Geist  Zeugnis  gibt,  daß  ich  ein  Kind  Gottes  bin;  und  wie  gesagt, 
ich  kann  nicht  glauben,  daß  Du  es  in  andrer  Art  sagen  könntest. 
Freilich,  Du  bist  viel  ruhiger  dabei,  während  ich  mich  noch  mit 
allerlei  Meinungen  herumschlagen  und  meine  Überzeugung  nicht 
so  unausge bildet  stehen  lassen  kann;  aber  darum  kann  ich  den 
Unterschied  wohl  quantitativ,  nicht  aber  qualitativ  anerkennen.  — 
Daß  ich  ein  Sünder  bin,  daß  ich  einen  tiefliegenden  Hang  zur 
Sünde  habe,  erkenne  ich  wohl  an,  und  halte  mich  durchaus  von 
aller  Werkgerechtigkeit  fern.  Aber,  daß  diese  Sündlichkeit  im 
Willen  des  Menschen  liege,  erkenne  ich  nicht  an.  Wohl  gebe  ich 
zu,  daß  in  der  Idee  der  Menschheit  die  Möglichkeit  zur  Sünde  zwar 
nicht  liege,  aber  in  ihrer  Realisierung  notwendig  liegen  müsse; 
ich  bin  somit  gewiß  so  bußfertig,  wie  es  nur  jemand  verlangen  kann; 
aber,  lieber  Fritz,  daß  durch  die  Verdienste  eines  Dritten  meine 
Sünden  sollen  gehoben  wären  [sie !],  das  kann  kein  denkender  Mensch 
glauben.  Denke  ich  unabhängig  von  aller  Autorität  darüber  nach, 
so  finde  ich  mit  der  neueren  Theologie,  daß  die  Sündlichkeit  des 
Menschen  in  der  notwendig  unvollkommenen  Realisation  der  Idee 
liege;  daß  darum  das  Streben  eines  Jeden  sein  müsse,  die  Idee 
der  Menschheit  in  sich  zu  realisieren,  d.  h.  sich  Gott  gleich  zu 
machen  an  geistiger  Vollendung.  Das  ist  etwas  ganz  Subjektives 
—  wie  soll  die  orthodoxe  Erlösungstheorie,  die  ein  Drittes  setzt, 
etwas  Objektives,  dieses  Subjektive  vollbringen?  Strafwürdig  er- 
kenne ich  mich,  und  wenn  Gott  mich  strafen  will,  so  mag  er's  tun, 
aber  eine  ewige  Entfernung,  auch  nur  des  geringsten  Teils  von 
Geist  von  Gott  —  das  ist  mir  ganz  unmöglich  zu  denken  und  zu 
glauben.  Daß  es  Gnade  von  Gott  ist,  daß  er  uns  annimmt,  das 
ist  freilich  wahr,  es  ist  ja  alles  Gnade,  was  Gott  tut,  es  ist  aber 
zugleich  auch  Notwendigkeit,  alles  was  er  tut.  Die  Einigung  dieser 
Widersprüche  macht  ja  einen  bedeutenden  Teil  des  Wesens  Gottes 

5* 


68  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

aus.  Was  Du  da  weiter  sagst,  Gott  könne  sich  nicht  verleugnen  etc., 
kommt  mir  vor,  als  wolltest  Du  meine  Frage  umgehen.  Kannst 
Du  glauben,  daß  ein  Mensch,  der  nach  Vereinigung  mit  Gott  strebt, 
auf  ewig  von  Gott  verstoßen  sein  soll  ?  Kannst  Du  das  ?  Das  kannst 
Du  nicht,  darum  gehst  Du  um  den  heißen  Brei.  Ist  das  nicht  eine 
sehr  niedrige  Ansicht,  daß  Gott  für  vergangenes  Böse  noch  eine 
Strafe  —  außer  der,  die  in  der  bösen  Tat  selbst  liegt  —  geben  soll? 
Du  mußt  mit  ewiger  Strafe  auch  ewige  Sünde  setzen;  mit  ewiger 
Sünde  ewige  Möglichkeit  zu  glauben,  also  erlöst  zu  werden.  Die 
Lehre  von  der  ewigen  Verdammnis  ist  schrecklich  inkonsequent. 
Ferner:  Das  historische  Glauben  ist  Dir  doch  eine  große  Haupt- 
sache vom  Glauben,  und  der  Glaube  ohne  jenen  nicht  denkbar; 
nun  wirst  Du  mir  aber  nicht  leugnen,  daß  es  Menschen  gibt,  denen 
es  ganz  unmöglich  ist,  diesen  historischen  Glauben  zu  haben. 
Und  von  denen  sollte  Gott  verlangen,  daß  sie  das  Unmögliche 
täten?  Lieber  Fritz,  bedenke,  daß  das  Unsinn  wäre,  und  daß  Gottes 
Vernunft  wohl  höher  ist  als  unsre,  aber  doch  nicht  anders ;  denn 
dann  wäre  es  keine  Vernunft  mehr.  Die  biblischen  Dogmen  sollen 
ja  auch  mit  der  Vernunft  aufgefaßt  werden.  —  Nicht  zweifeln 
können,  sagst  Du,  sei  Geistesfreiheit?  Die  größte  Geistesknecht- 
schaft ist  es,  frei  ist  nur  der,  der  jeden  Zweifel  an  seiner  Über- 
zeugung besiegt  hat.  Und  daß  Du  mich  schlagen  sollst,  verlange 
ich  nicht  einmal;  ich  fordre  die  ganze  orthodoxe  Theologie  auf, 
sie  soll  mich  schlagen.  Hat  die  ganze  1800  Jahre  alte  christliche 
Wissenschaft  dem  Rationalismus  keine  Gegengründe  entgegen- 
stellen können,  und  nur  wenige  seiner  Angriffe  repoussiert,  ja, 
scheut  sie  den  Kampf  auf  rein  wissenschaftlichem  Felde  und  zieht 
lieber  die  Persönlichkeit  der  Gegner  in  den  Staub  —  was  soll  man 
dazu  sagen?  Ja,  ist  die  orthodox-christliche  Lehre  einer  rein  wissen- 
schaftlichen Behandlung  fähig  ?  Ich  sage  nein ;  was  kann  mehr  ge- 
schehen als  ein  bißchen  Rangieren,  Erklären  und  Disputieren? 
Ich  rate  Dir,  einmal  die  „Darstellung  und  Kritik  des  modernen 
Pietismus  von  Dr.  C.  Märklin,  Stuttgart  1839"  zu  lesen;  wenn  Du 
die  widerlegst  (d.  h.  nicht  das  Positive,  sondern  das  Negative  darin), 
so  sollst  Du  der  erste  Theologe  der  Welt  sein.  —  „^ei  einfache 
Christ  kann  hierbei  auch  ganz  stehen  bleiben,  er  weiß,  daß  er  ein 
Kind  Gottes  ist,  und  es  ist  ihm  nicht  nötig,  daß  er  auf  alle  schein- 
baren Widersprüche  Rede  und  Antwort  stehen  könne."  Auf  die 
scheinbaren  ,, Widersprüche"  kann  weder  der  einfache  Christ  noch 
Hengstenberg  Rede  und  Antwort  geben,  denn  es  sind  wirkliche 
Widersprüche ;  aber  wahrlich,  wer  dabei  stehen  bleibt  und  auf  seinen 
Glauben  pocht,  der  hat  gar  keinen  Grund  seines  Glaubens.  Wohl 
kann  das  Gefühl  bestätigen,  aber  begründen  doch  wahrlich  nicht. 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  69 

das  hieße  ja,  mit  den  Ohren  riechen  wollen.  Was  Hengstenberg 
mir  so  verhaßt  macht,  ist  die  wahrhaft  schändliche  Redaktion  der 
Kirchenzeitung.  Fast  alle  Mitarbeiter  sind  anonym,  und  der  Re- 
dakteur hat  also  für  sie  zu  stehen,  packt  ihn  aber  einer  darauf  an, 
der  darin  beleidigt  worden,  so  weiß  Herr  Hengstenberg  von  nichts, 
nennt  den  Verfasser  nicht,  will  aber  auch  keine  Rede  stehen.  So 
ist  es  schon  manchem  armen  Teufel  gegangen,  der  Gott  weiß  von 
welchem  dunklen  Lumen  in  der  Kirchenzeitung  angegriffen  worden 
und  der  von  Hengstenberg,  wenn  er  ihn  drauf  faßte,  zur  Antwort 
bekam,  er  habe  den  Artikel  nicht  geschrieben.  Die  Kirchenzeitung 
hat  dabei  noch  immer  unter  den  pietistischen  Predigern  einen  großen 
Ruf,  weil  die  die  Gegenschrift  nicht  lesen  und  so  hält  sie  sich.  Die 
letzten  Nummern  habe  ich  nicht  gelesen,  sonst  würde  ich  Dir 
Exempla  anführen  können.  Als  die  Zürcher  Geschichte  mit  Strauß 
losbrach,  kannst  Du  Dir  gar  nicht  denken,  wie  greulich  die  Kirchen- 
zeitung Strauß'  Charakter  verleumdet  und  verschrieen  hat,  während 
er  sich  doch  —  darin  haben  alle  Nachrichten  übereingestimmt, 
durchaus  nobel  bei  der  ganzen  Sache  benommen  hat.  Woher 
kommt  z.  B.  der  große  Eifer  der  Kirchenzeitung,  Strauß  mit  dem 
jungen  Deutschland  unter  eine  Rubrik  zu  bringen  ?  Und  bei  vielen 
gilt  das  junge  Deutschland  für  rasend  schlimm,  leider  Gottes.  — 
Wegen  der  Poesie  des  Glaubens  hast  Du  mich  verkehrt  verstanden. 
Ich  habe  nicht  um  der  Poesie  willen  geglaubt,  ich  habe  geglaubt, 
weil  ich  einsah,  so  nicht  mehr  in  den  Tag  hineinleben  konnte, 
weil  mich  meine  Sünden  reuten,  weil  ich  der  Gemeinschaft  mit 
Gott  bedurfte.  Ich  habe  mein  Liebstes  auf  der  Stelle  gern  weg- 
gegeben, ich  habe  meine  größten  Freuden,  meinen  liebsten  Um- 
gang für  nichts  geachtet,  ich  habe  mich  vor  der  Welt  blamiert 
an  allen  Ecken;  ich  habe  ungeheure  Freude  darüber  gehabt,  daß 
ich  an  Plümacher  einen  fand,  mit  dem  ich  davon  reden  konnte, 
ich  habe  gern  seinen  Prädestinationsfanatismus  ertragen;  Du 
weißt  selbst,  daß  es  mir  Ernst  war,  heiliger  Ernst.  Da  war  ich 
glücklich,  das  weiß  ich,  ich  bin  es  jetzt  ebenso  sehr;  da  hatte  ich 
Zuversicht,  Freudigkeit  zum  Beten;  die  hab'  ich  jetzt  auch,  ich 
hab'  sie  noch  mehr,  denn  ich  kämpfe  und  bedarf  der  Stärkung. 
Aber  von  jener  ekstatischen  Seligkeit,  von  der  ich  auf  unsern 
Kanzeln  so  oft  hörte,  habe  ich  nie  was  verspürt;  meine  Religion 
war  und  ist  stiller,  seliger  Friede,  und  wenn  ich  den  nach  meinem 
Tode  auch  habe,  so  bin  ich  zufrieden.  Daß  ihn  Gott  mir  nehmen 
sollte,  das  habe  ich  keinen  Grund  zu  glauben.  Die  religiöse  Über- 
zeugung ist  Sache  des  Herzens,  und  hat  nur  insofern  Bezug  auf 
das  Dogma,  als  diesem  vom  Gefühl  widersprochen  wird  oder  nicht. 
So  mag  Dir  der   Geist  Gottes  durch  Dein  Gefühl  Zeugnis  geben. 


yo  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

daß  Du  ein  Kind  Gottes  bist,  das  ist  sehr  leicht  möglich,  aber  daß 
Du  es  bist  durch  den  Tod  Christi  —  das  doch  gewiß  nicht;  sonst 
wäre  das  Gefühl  fähig  zu  denken.  Deine  Ohren  fähig  zu  sehen.  — 
Ich  bete  täglich,  ja  fast  den  ganzen  Tag  um  Wahrheit,  habe  es 
getan,  sobald  ich  anfing  zu  zweifeln,  und  komme  doch  nicht  zu 
Eurem  Glauben  zurück;  und  doch  steht  geschrieben:  bittet,  so 
wird  Euch  gegeben.  Ich  forsche  nach  Wahrheit,  wo  ich  nur  Hoff- 
nung habe,  einen  Schatten  von  ihr  zu  finden;  und  doch  kann  ich 
Eure  Wahrheit  nicht  als  die  ewige  anerkennen.  Und  doch  steht 
geschrieben:  suchet,  so  werdet  Ihr  finden.  Wer  ist  unter  Euch,  der 
seinem  Kinde,  das  ihn  um  Brot  bittet,  einen  Stein  biete?  Wieviel 
mehr  Euer  Vater  im  Himmel? 

Die  Tränen  kommen  mir  in  die  Augen,  indem  ich  dies  schreibe, 
ich  bin  durch  und  durch  bewegt,  aber  ich  fühle  es,  ich  werde  nicht 
verloren  gehen,  ich  werde  zu  Gott  kommen,  zu  dem  sich  mein 
ganzes  Herz  sehnt.  Und  das  ist  auch  ein  Zeugnis  des  heiligen 
Geistes,  darauf  leb'  ich  und  sterb'  ich,  ob  auch  zehntausendmal 
in  der  Bibel  das  Gegenteil  steht.  Und  täusche  Dich  nicht,  Fritz, 
ob  Du  so  sicher  tust,  eh'  Du  Dich  versiehst,  kommt  auch  so  ein 
Zweifel,  und  da  hängt  die  Entscheidung  Deines  Herzens  oft  vom 
kleinsten  Zufall  ab.  —  Aber  daß  auf  den  inneren  Frieden  der  dog- 
matische Glaube  keinen  Einfluß  hat,  weiß  ich   aus  Erfahrung.  — 

den  27.  Juli. 
Wenn  Du  tätest,  was  in  der  Bibel  steht,  so  dürftest  Du  gar 
nicht  mit  mir  umgehen.  Im  zweiten  Brief  Johannes  (wenn  ich 
nicht  irre)  steht,  man  solle  den  Ungläubigen  nicht  grüßen,  nicht 
einmal  XoiiQi::^)  zu  ihm  sagen.  Dergleichen  Stellen  sind  sehr  häufig 
und  haben  mich  immer  geärgert.  Ihr  tut  aber  lange  nicht  alles, 
was  in  der  Bibel  steht.  Übrigens,  wenn  das  orthodoxe  evange- 
lische Christentum  die  Religion  der  Liebe  genannt  wird,  so  kommt 
mir  das  vor  wie  die  ungeheuerste  Ironie.  Nach  Eurem  Christen- 
tum werden  neun  Zehntel  der  Menschen  ewig  unglücklich  und  ein 
Zehntel  wird  glücklich,  Fritz,  und  das  soll  die  unendliche  Liebe 
Gottes  sein?  Bedenke,  wie  klein  Gott  erscheinen  würde,  wenn 
das  seine  Liebe  wäre.  Das  ist  denn  doch  klar,  daß,  wenn  es  eine 
offenbarte  Religion  gibt,  der  Gott  derselben  zwar  größer,  aber 
nicht  anders  sein  darf,  als  der,  den  die  Vernunft  zeigt.  Sonst  ist 
alle  Philosophie  nicht  nur  eitel,  sondern  sogar  sündlich,  ohne  Phi- 
losophie gibt  es  keine  Bildung,  ohne  Bildung  keine  Humanität, 
ohne  Humanität  wiederum  keine  Religion.  Aber  die  Philosophie 
so  zu  schmähen,  wagt  selbst  der  fanatische  Leo  nicht.    Und  das 

*)  Freue  Dich! 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  yi 

ist  wieder  so  eine  von  den  Inkonsequenzen  der  Orthodoxen.  Mit 
Männern  wie  Schleiermacher  und  Neander  will  ich  mich  schon  ver- 
ständigen, denn  sie  sind  konsequent  und  haben  ein  Herz;  beides 
suche  ich  in  der  Evangelischen  Kirchenzeitung  und  den  übrigen 
Pietistenblättern  vergebens.  Besonders  vor  Schleiermacher  hab' 
ich  ungeheure  Achtung.  Bist  Du  konsequent,  so  mußt  Du  ihn 
freilich  verdammen,  denn  er  predigt  nicht  Christum  in  Deinem 
Sinne,  sondern  eher  im  Sinne  des  jungen  Deutschlands,  Theodor 
Mundts  und  Karl  Gutzkows.  Aber  er  ist  ein  großer  Mann  gewesen, 
und  ich  kenne  unter  den  jetzt  lebenden  nur  einen,  der  gleichen  Geist, 
gleiche  Kraft  und  gleichen  Mut  hat,  das  ist  David  Friedrich  Strauß, 

Ich  habe  mich  gefreut,  wie  Du  Dich  so  rüstig  aufgemacht 
hast,  mich  zu  widerlegen,  aber  Eins  hat  mich  geärgert,  ich  will's 
Dir  nur  grad  heraus  sagen.  Es  ist  die  Verachtung,  mit  der  Du  von 
dem  Streben  zur  Vereinigung  mit  Gott,  von  dem  religiösen  Leben 
der  Rationalisten  sprichst.  Du  liegst  freilich  behaglich  in  Deinem 
Glauben,  wie  im  warmen  Bett,  und  kennst  den  Kampf  nicht,  den 
wir  durchzumachen  haben,  wenn  wir  Menschen  es  entscheiden 
sollen,  ob  Gott  Gott  ist  oder  nicht;  Du  kennst  den  Druck  solcher 
Last  nicht,  die  man  mit  dem  ersten  Zweifel  fühlt,  der  Last  des 
alten  Glaubens,  wo  man  sich  entscheiden  soll,  für  oder  wider,  fort 
tragen  oder  abschütteln;  aber  ich  sage  es  Dir  nochmals,  Du  bist 
vor  dem  Zweifel  so  sicher  nicht,  wie  Du  wähnst,  und  verblende 
Dich  nicht  gegen  die  Zweifelnden,  Du  kannst  einst  selber  zu  ihnen 
gehören,  und  da  wirst  Du  auch  Billigkeit  verlangen.  Die  Religion 
ist  Sache  des  Herzens,  und  wer  ein  Herz  hat,  der  kann  fromm  sein; 
wessen  Frömmigkeit  aber  im  Verstände  oder  auch  in  der  Vernunft 
Wurzel  hat.  der  hat  gar  keine.  Aus  dem  Herzen  sprießt  der  Baum 
der  Religion  und  überschattet  den  ganzen  Menschen  und  saugt  seine 
Nahrung  aus  der  Luft  der  Vernunft ;  seine  Früchte  aber,  die  das  edelste 
Herzblut  in  sich  tragen,  das  sind  die  Dogm.en ;  was  drüber  ist,  das 
ist  von  Übel.    Das  ist  Schleiermachers  Lehre,  und  dabei  bleibe  ich. 

Adieu,  lieber  Fritz,  besinne  Dich  recht  drüber,  ob  Du  mich  wirk- 
lich in  die  Hölle  schicken  willst,  und  schreib  mir  bald  mein  Urteil. 

Dein  Friedrich  Engels. 

An  Friedrich  Graeber. 

(Ende  Juli  oder   Anfang  August  39.) 
Lieber  Fritz! 
Recepi  litteras  tuas  hodie,  et  jamque  tibi  responsurus  sum^). 
Viel  schreiben  kann  ich  Dir  nicht  —  Du  bist  noch  in  meiner  Schuld 

*)  Ich  empfing  heute  Deinen  Brief,  und  schon  bin  ich  dabei,  Dir  zu 
antworten. 


^2  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1S41. 

und  ich  erwarte  einen  langen  Brief  von  Dir.  Ist  Dein  Bruder  W. 
auch  frei  ?  Studiert  Wurm  jetzt  auch  mit  Euch  in  Bonn  ?  Gott  segne 
dem  dicken  Peter  seine  Studia  miUtaria.  Ein  kleines  Poem,  am 
27.  Juli  gemacht,  möge  Dich  üben  im  Liberalismus  und  im  Lesen 
antiker  Metra.    Sonst  ist  nichts  dran. 

Deutsche  Julitage. 
1839. 

Wie  die  Wellen  sich  heben  im  rauschenden  Strom,  wie  der  Sturm 

so  gewaltig  einhergeht! 
Mannshoch  braust  auf  die  geschlagene  Flut,  und  es  sinkt  und  es 

hebt  sich  der  Nachen; 
Von  dem  Rhein  her  wehet  der  sausende  Wind,  der  die  Wolken  ver- 
sammelt am  Himmel, 
Der  die  Eichen  zerbricht  und  den  Staub  auftreibt,  und  die  Wogen 

zerwühlt  in  der  Tiefe. 
Und  Eurer  gedenk'  ich  im  schwankenden  Boot,   Ihr  Fürsten  und 

Könige  Deutschlands, 
Aufs  Haupt  nahm  einst  das  geduldige  Volk  den  vergoldeten  Thron, 

da  ihr  sitzet, 
Trug  euch  im  Triumph,  durchs  heimische  Land  und  verjagte  den 

kühnen  Erobrer 
Da  wurdet   ihr   keck  und   des   Übermuts  voll  da  habt  euer  Wort 

ihr  gebrochen, 
Nun  wehet  der  Sturm  aus  Frankreich  her,  und  es  woget  die  Menge 

des  Volkes, 
Und  es  schwanket  der  Thron,  wie  das  Boot  in  dem  Sturm.,  und  das 

Scepter  erbebt   in  der   Hand  euch. 
Vor  allem  zu  dir,  Ernst  August,  wend  ich  den  Blick  mit  zornigem 

Mute, 
Du  brachst,  ein  Despot,  das  Gesetz  tollkühn,  horch  auf,  wie  die 

Stürme  erbrausen! 
Wie  das  Volk  aufschaut  durchbohrenden  Augs  und  das  Schwert 

kaum  ruht  in  der  Scheide, 
Sprich,  ruhst  du  so  sicher  auf  goldenem  Thron,  wie   ich  in  dem 

schwankenden  Boote  ? 

Das  Faktum  mit  den  hohen  Wellen  in  der  Weser  ist  wahr,  auch 
daß  ich  am  großen  Tage  der  Julirevolution  drauf  fuhr. 
Grüß  Wurm,  er  soll  mir  viel  schreiben. 

Dein  Friedrich  Engels. 


Briefe  an  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber.  yo 

An  Wilhelm  Graeber. 

Br.,  30.  Juli   1839. 

Mein  lieber  Guglielmo! 
Was  hast  Du  für  korrupte  Ansichten  von  mir  ?  Weder  vom 
Spielmann  noch  vom  treuen  Eckart  (oder  wie  Du  schreibst  Eck- 
kardt)  kann  hier  die  Rede  sein,  sondern  bloß  von  Logik,  Vernunft, 
Konsequenz,  propositio  major  und  minor  etc.  Ja,  Du  hast  recht, 
mit  Sanftmut  ist  hier  nichts  auszurichten,  mit  dem  Schwert  müssen 
diese   Zwerge    —    ServiUsmus,   Aristokratenwirtschaft,  Zensur   etc. 

—  weggejagt  werden.  Da  sollte  ich  freilich  recht  poltern  und 
toben,  aber  weil  Du  es  bist,  will  ich  sänftiglich  mit  Dir  fahren,  da- 
mit Du  Dich  nicht  ,, bekreuzest",  wenn  die  ,, wilde  Jagd"  meiner 
regellosen,  poetischen  Prosa  an  Dir  vor  bei  jagt.  Zuerst  protestiere 
ich  gegen  Dein  Ansinnen,  ich  gäbe  dem  Zeitgeist  einen  Tritt  nach 
dem  andern  auf  den  Codex,  damit  er  besser  vorankäme.  Lieber 
Mensch,  was  denkst  Du  Dir  für  eine  Fratze  unter  meiner  armen, 
stumpfneisigen  Gestalt!  Nein,  das  laß  ich  fein  bleiben,  im  Gegen- 
teil, wenn  der  Zeitgeist  daherkommt,  wie  der  Sturmwind,  und  den 
Train  auf  der  Eisenbahn  fortschleppt,  so  spring  ich  rasch  in  den 
Wagen  und  laß  mich  ein  wenig  mitziehen.    Ja,  so  ein  Karl  Beck 

—  die  tolle  Idee,  er  habe  sich  ausgedichtet,  ist  gewiß  von  dem  ver- 
kommenen Wichelhaus,  über  den  der  Wurm  mich  gehörig  instru- 
iert hat.  Dieser  Gedanke,  daß  ein  zweiundzwanzigjähriger  Mensch, 
der  solche  rasenden  Gedichte  gemacht  hat,  nun  plötzlich  aufhören 
soll,  —  nein,  solcher  Nonsens  ist  mir  noch  nicht  vorgekommen. 
Kannst  Du  Dir  denken,  daß  Goethe  nach  dem  Götz  aufgehört  habe, 
ein  genialer  Poet  zu  sein,  oder  Schiller  nach  den  Räubern?  Außer- 
dem soll  sich  die  Geschichte  am  jungen  Deutschland  gerächt  haben! 
Gott  bewahre  mich,  freilich,  wenn  die  Weltgeschichte  dem  Bundes - 
'tage  als  erbliches  Lehn  vom  lieben  Herrgott  anvertraut  ist,  so  hat 
sie  sich  an  Gutzkow  durch  dreimonatliche  Haft  gerächt,  wenn  sie 
aber,  wie  wir  nicht  mehr  zweifeln,  in  der  öffentlichen  Meinung 
(d,  h.  hier  der  literarischen)  liegt,  so  hat  sie  sich  insofern  am  jungen 
I>eutschland  gerächt,  daß  sie  sich  hat  von  ihm  mit  der  Feder  in  der 
Hand  erkämpfen  lassen  und  nun  das  junge  Deutschland  als  Königin 
der  deutschen  modernen  Literatur  thront.  Was  Börnes  Schicksal 
gewesen?  Er  ist  gefallen  wie  ein  Held,  1837  im  Februar,  und  hat 
noch  in  seinen  letzten  Tagen  die  Freude  gehabt,  zu  sehen,  wie  seine 
Kinder,  Gutzkow,  Mundt,  Wienbarg,  Beurmann  sich  aufarbeiteten 
gleich  dem  Donnerwetter  —  freilich  lagen  die  schwarzen  Wolken 
des  Unheils  noch  über  ihren  Häuptern,  und  eine  lange,  lange  Kette 
war  um  Deutschland  gezogen,  die  der  Bundestag  flickte,  wo  sie  zu 
reißen  drohte,  aber  er  lacht  jetzt  auch  der  Fürsten  und  weiß  viel- 


>7A  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841, 

leicht  auch  die  Stunde,  da  ihnen  die  gestohlne  Krone  vom  Kopf 
fällt.  Für  Heines  Glück  will  ich  Dir  nicht  einstehen,  überhaupt 
ist  der  Kerl  seit  längerer  Zeit  ein  Schweinigel,  für  Becks  auch  nicht, 
denn  er  ist  verliebt  und  grämt  sich  über  unser  liebes  Deutschland; 
an  letzterem  partizipiere  ich  auch,  habe  mich  sonst  noch  viel  her- 
umzuschlagen, doch  hat  der  gute  alte  Herrgott  mir  einen  vortreff- 
lichen Humor  geschickt,  der  mich  bedeutend  tröstet.  Männeken, 
bist  Du  denn  glücklich  ?  —  Deine  Ansicht  von  Inspiration  halt' 
nur  ja  geheim,  sonst  wirst  Du  nie  Prediger  im  Wuppertal.  War' 
ich  nicht  in  den  Extremen  der  Orthodoxie  und  des  Pietismus  auf- 
gewachsen, wäre  mir  nicht  in  der  Kirche,  der  Kinderlehre  und  zu 
Haus  immer  der  direkteste,  unbedingteste  Glaube  an  die  Bibel  und 
an  die  Übereinstimmung  der  biblischen  Lehre  mit  der  Kirchen- 
lehre, ja,  mit  der  Speziallehre  jedes  Pfarrers  vorgesprochen  wor- 
den, so  wäre  ich  vielleicht  noch  lange  am  etwas  liberalen  Supra- 
naturalismus  hängen  gebliebsn.  In  der  Lehre  sind  Widersprüche 
genug,  so  viel  als  biblische  Autoren  sind,  und  der  Wuppertaler 
Glaube  hat  somit  ein  Dutzend  Individualitäten  in  sich  aufgenommen. 
Von  wegen  dem  Stammbaum  Josephs  schiebt  Neander  bekanntlich 
den  des  Matthaeus  dem  griechischen  Übersetzer  des  hebräischen 
Originals  zu;  wenn  ich  nicht  irre,  hat  Weisse  sich  in  seinem 
Leben  Jesu  ähnlich  wie  Du  gegen  Lukas  ausgesprochen.  Die  Er- 
klärung des  Fritz  kommt  zuletzt  auf  solche  abnormen  Möglich- 
keiten, daß  sie  für  keine  zu  halten  sein  kann,  ngofiaxog^)  bin 
ich  freilich,  doch  nicht  der  rationalistischen  sondern  der  liberalen 
Partei.  Die  Gegensätze  trennen  sich,  schroff  stehn  sich  die  An- 
sichten gegenüber.  Vier  Liberale  (zugleich  Rationalisten),  ein  Ari- 
stokrat, der  zu  uns  überging,  aus  Angst  aber,  gegen  die  in  seiner 
Familie  eingeerblichten  Grundsätze  anzustoßen,  gleich  wieder  zur 
Aristokratie  lief,  ein  Aristokrat,  der  guter  Hoffnung  ist  —  wie  wir 
hoffen,  und  diverse  Schafsköpfe,  das  ist  der  Zirkus,  in  dem  gestrit- 
ten wird.  Ich  promachiere  als  Kenner  des  Altertums,  des  Mittel- 
alters und  des  modernen  Lebens,  als  Grobian  etc.,  doch  ist  dies 
Promachieren  schon  nicht  mehr  nötig,  meine  Untergebnen  machen 
sich  gut  heraus ;  gestern  hab  ich  ihnen  die  historische  Notwendig- 
keit in  der  Geschichte  von  1789  bis  1839  beigebracht,  und  außer- 
dem zu  meiner  Verwunderung  erfahren,  daß  ich  den  hiesigen  Pri- 
manern allen  um  ein  ziemliches  im  Disputieren  überlegen  sein  soll. 
Sie  haben  sich,  nachdem  ich  gleich  zwei  —  vor  langer  Zeit  schon 
—  aus  dem  Felde  geschlagen  —  entschlossen  und  verschworen, 
mir  den  gescheutesten   auf  den  Hals  zu  schicken,  der  sollte  mich 

1)  Vorkämpfer. 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber.  yg 

schlagen,  und  war  unglücklicherweise  damals  in  den  Horaz  ver- 
liebt, sodaß  ich  ihn  nach  der  Ait  kloppte.  Da  bekamen  sie  die 
greulichste  Angst.  Jener  Ex-Horazomane  steht  jetzt  sehr  gut  mit 
mir  und  erzählte  es  mir  gestern  Abend.  Von  der  Richtigkeit  meiner 
Rezensionen  würdest  Du  Dich  auf  der  Stelle  überzeugen,  wenn  Du 
die  rezensierten  Bücher  läsest.  Karl  Beck  ist  ein  ungeheures  Talent, 
mehr  als  das,  ein  Genie.    Bilder  wie: 

„Man  hört  des  Donners  Stimme  laut  verkünden, 

Was  ins  Gewölk  die  Blitze  hingeschrieben" 
kommen  in  ungeheurer  Masse  vor.    Höre,  was  er  von  seinem  an- 
gebeteten Börne  sagt.    Er  redet  Schiller  an: 

Dein  Posa  war  kein  schaumgeborner  Wahn; 

Ist  Börne  für  die  Menschheit  nicht  gefallen? 

Er  klomm,  ein  Teil,  der  Menschheit  Höh'n  hinan, 

Und  ließ  der  Freiheit  Hüfthorn  laut  erschallen. 

Dort  hat  er  ruhig  seinen  Pfeil  gespitzt. 

Er  zielte,  schoß,  und  tief  im  Apfel  sitzt 

Der  Freiheit  Pfeil   —  tief  in  der  runden  Erde. 

Und  wie  er  das  Elend  der  Juden  schildert,  und  das  Studenten- 
leben, es  ist  kostbar;  und  nun  gar  der  fahrende  Poet!  Mensch, 
habe  doch  Begriffe,  und  lies  ihn!  Sieh  einmal,  wenn  Du  nur  den 
Aufsatz  Börnes  über  Schillers  Teil  widerlegst,  so  sollst  Du  all  das 
Honorar  haben,  was  ich  für  meine  Übersetzung  des  Shelley  zu  be- 
kommen hoffe.  Daß  Du  mir  meinen  Wuppertaler  Aufsatz  so  her- 
untergemacht hast,  will  ich  Dir  verzeihen,  indem  ich  ihn  neulich 
wieder  las  und  über  den  Stil  erstaunte.  Ich  habe  seit  der  Zeit  lange 
nfcht  so  gut  wieder  geschrieben.  Leo  und  Michelet  vergiß  nächstes 
Mal  nicht.  Du  bist  sehr  im  Irrtum,  wie  gesagt,  wenn  Du  meinst, 
wir  jungen  Deutschen  wollten  den  Zeitgeist  auf  den  Strumpf  v/ehen ; 
aber  bedenke  einmal,  wenn  dieses  Jivevjna^)  weht  und  recht  weht, 
wären  wir  nicht  Esel,  wenn  wir  die  Segel  nicht  aufspannten  ?  Daß 
Ihr  mit  Gans'  Leiche  gegangen  seid,  soll  Euch  nicht  vergessen 
werden.  Ich  werde  es  nächstens  in  die  Elegante  Zeitung  rücken 
lassen.  Höchst  komisch  kommt  es  mir  vor,  daß  Ihr  alle  hintennach 
so  schön  um  Verzeihung  bittet  über  Euer  bißchen  Poltern ;  Ihr  könnt 
noch  gar  nicht  donnerwettern,  und  da  kommen  sie  alle  an  —  der 
Fritz  schickt  mich  in  die  Hölle,  begleitet  mich  bis  ans  Tor  und 
schiebt  mich  mit  einem  tiefen  Kompliment  hinein,  um  selbst  wieder 
in  den  Himmel  fliegen  zu  können.    Du  kuckst  alles  doppelt  durcfc 

')  Wind. 


^6  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Deine  Spathbrille  und  siehst  meine  drei  Genossen  für  Geister  aus 
Frau  Venus   Berg  an    —   Manne ken,  was  schreist  Du   nach  dem 
treuen  Eckart  ?  Sieh,  da  ist  er  ja  schon,  ein  kleiner  Kerl,  mit  schar- 
fem, jüdischem  Profil,  er  heißt  Börne,  laß  den  nur  dreinschlagen,  der 
chassiert  all  das  Volk  der  Frau  Venus  Servilia.    Dann  empfiehlst 
Du  Dich  gleichfalls  höchst  demütig  —  sieh,  oller  [?]  Peter  kommt 
auch,  lacht  mit  dem  halben  Gesicht  und  knurrt  mit  dem  halben  Ge- 
sicht, und  hält  mir  erst  die  knurrende,  dann  die  lachende  Seite  hin. 
Im  lieben   Barmen  fängt  jetzt  der   literarische   Sinn  sich  zu 
regen  an.    Freiligrath  hat  einen  Verein  zur  Lektüre  von  Dramen 
gestiftet,  in  dem  seit  Freiligraths  Weggange  Strücker  und  Neuburg 
(Kommis  bei  Langewiesche)  die  Tigo/uayoi^)  liberaler  Ideen  sind.    Da 
hat  denn  Herr  Erich  die  scharfsinnigen  Entdeckungen  gemacht: 
I.  daß  das  junge  Deutschlcnd  in  diesem  Verein  spuke,  2.  daß  dieser 
Verein  in  pleno  die  Briefe  aus  dem  Wuppertale  im  Telegraphen  ab- 
gefaßt habe.    Auch  hat  er  plötzlich  eingesehen,  daß  Freiligraths 
Gedichte  das  fadeste  Zeug  von  der  Welt  seien,  Freiligrath  tief  unter 
de  la  Motte  Fouqu6  stehe,  und  innerhalb  drei  Jahren  vergessen  sein 
werde.    Gerade  wie  jene  Behauptung  von  K.  Beck.   — 
Oh  Schiller,  Schiller,  dem  im  Geistesschwunge 
Das  größte  Herz  im  wärmsten  Busen  schlug, 
Du,  du  warst  der  Prophet,  der  ewig  junge. 
Der  kühn  voran  der  Freiheit  Fahne  trug! 
Als  alle  Welt  sich  aus  dem  Kampf  gestohlen. 
Die  kleinen  Seelen  sich  dem  Herrn  empfohlen, 
Warst  du  verschwenderisch  mit  deinem  Blut; 
Dein  wärmstes  Leben  und  dein  tiefstes  Leben 
Hast  du  für  eine  Welt  dahin  gegeben   — 
Sie  nahm  das  Opfer  kalt  und  wohlgemut; 
Denn  sie  begriff  nicht  deinen  tiefen  Gram, 
Sie  hörte  nur  die  Melodie  der  Sphären, 
Wenn  an  ihr  Ohr  die   Liederwoge  kam, 
Die  du  geschwellt  mit  blutigroten  Zähren! 
Von  wem  ist  das  Ding  ?  Es  ist  von  Karl  Beck,  aus  dem  fahrenden  Poe- 
ten, mit  all  seinen  gewaltigen  Versen  und  seiner  Bilderpracht,  aber 
auch    mit  seiner    Unklarheit,   mit   seinen    überschwänglichen   Hy- 
perbeln und  Metaphern ;  denn  daß  Schiller  unser  größter  liberaler 
Poet  ist,  ist  ausgemacht;  er  ahnte  die  neue  Zeit,  die  nach  der  fran- 
zösischen Revolution  anbrechen  sollte,  und  Goethe  tat  das  nicht, 
selbst  nicht  nach  der  Julirevolution;  und  wenn  es  ihm  zu  nah  kam, 
daß  er  doch  fast:  glauben  mußte,  es  käme  was  Neues,  so  zog  er  sich 

*)  Vorkämpfer. 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber. 


77 


in  seine  Kammer  zurück  und  schloß  die  Tür  zu,  um  behaglich  zu 
bleiben.  Das  schadet  Goethe  sehr ;  aber  er  war  40  Jahr  alt,  als  die 
Revolution  ausbrach,  und  ein  gemachter  Mann,  deshalb  kann  man 
es  ihm  nicht  vorwerfen.    Ich  will  Dir  zum  Schluß  noch  was  malen. 


^Y. 


O    ^ 


^^,        >V.A4M 


Gedichte  schick  ich  in  Masse  bei,  teilt  Euch  drin. 

Dein 
Friedrich  Engels. 


An  Wilhelm  Graeber. 


den  8.  Oktober   1839. 


O  Wilhelm,  Wilhelm,  Wilhelm!  Also  endlich  vernimmt  man 
was  von  Dir?  Nun  Männeken,  nun  sollst  Du  mal  was  hören:  ich 
bin  jetzt  begeisterter  Straußianer.  Kommt  mir  jetzt  nur  her,  jetzt 
habe  ich  Waffen,  Schild  und  Helm,  jetzt  bin  ich  sicher;  kommt 
nur  her  und  ich  will  Euch  kloppen  trotz  Eurer  Theologia,  daß  Ihr 
nicht  wissen  sollt,  wohin  flüchten.  Ja,  Guillermo,  jacta  est  alea, 
ich  bin  Straußianer,  ich,  ein  armseliger  Poete,  verkrieche  mich 
unter  die  Fittiche  des  genialen  David  Friedrich  Strauß.  Hör'  ein- 
mal, was  das  für  ein  Kerl  ist!  Da  liegen  die  vier  Evangelien,  kraus 
und  bunt  wie  das  Chaos;  die  Mystik  liegt  davor  und  betet  an  — 
siehe,  da  tritt  David  Strauß  ein,  wie  ein  junger  Gott,  trägt  das  Chaos 
heraus  ans  Tageslicht  und  —  Adios  Glauben!  es  ist  so  löcherig 
wie  ein  Schwamm.  Hier  und  da  sieht  er  zu  viel  Mythen,  aber  nur 
in  Kleinigkeiten,  und  sonst  ist  er  durchweg  genial.    Wenn  Ihr  den 


yg  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Strauß  widerlegen  könnt  —  eh  bien,  dann  werd'  ich  wieder  Pietist. 

—  Ferner  würde  ich  aus  Deinem  Briefe  lernen  können,  daß  Mengs 
ein  bedeutender  Künstler  war,  wenn  ich's  unglücklicherweise  nicht 
längst  gewußt  hätte.  „Die  Zauberflöte  (Musik  von  Mozart)"  das 
ist  gradeso.  Die  Einrichtung  mit  dem  Lesezimmer  ist  ja  vortreff- 
lich, und  ich  mache  Dich  von  neuesten  literarischen  Erscheinungen 
auf  König  Saul,  Trauerspiel  von  Gutzkow;  Skizzenbuch,  von  dem- 
selben; Dichtungen  von  Th.  Creizenach  (einem  Juden) ;  Deutschland 
und  die  Deutschen  von  Beurmann;  die  Dramatiker  der  Jetztzeit, 
I.  Heft,  von  L.  Wienbarg  etc.  aufmerksam.  Über  den  Saul  bin  ich 
sehr  begierig  ein  Urteil  von  Dir  zu  hören;  in  Deutschland  und  die 
Deutschen  hat  Beurm.ann  meinen  Aufsatz  im  Telegraphen  exzerpiert 
wo  er  vom  Wuppertale  spricht.  —  Dagegen  warne  ich  Dich  vor 
der  Geschichte  des  polnischen  Aufstands  (1830—31)  von  Smitt, 
Berlin  1839,  welche  ohne  Zweifel  auf  direkte  Order  des  Königs 
von  Preußen  geschrieben  ist.  Das  Kapitel  vom  Beginn  der  Revo- 
lution hat  ein  Motto  aus  Thucydides  etwa  dieses  Sinnes:  wir  aber, 
die  wir  uns  nichts  Böses  versehen,  wurden  plötzlich  ohne  alle  Ur- 
sache von  ihnen  mit  Krieg  überzogen!!!!!!  0  Unsinn,  Du  bist 
groß!  Herrlich  dagegen  ist  die  Geschichte  dieses  glorreichen  Auf- 
standes vom  Grafen  Soltyk,  die  deutsch  Stuttgart  1834  herauskam 

—  ja,  bei  Euch  wird  sie  verboten  sein,  wie  alles  Gute.  Eine  andere 
wichtige  Neuigkeit  ist,  daß  ich  eine  Novelle  schreibe,  welche  Ja- 
nuar gedruckt  wird,  wohl  zu  merken,  wenn  sie  die  Zensur  passiert, 
welches  ein  arges  Dilemma  ist.   — 

Ob  ich  Euch  Poeme  schicken  soll  oder  nicht,  weiß  ich  gar  nicht 
einmal,  doch  glaube  ich,  daß  ich  Euch  den  Odysseus  Redivivus  zu- 
letzt geschickt  habe,  und  bitte  mir  Kritik  aus  über  die  letzte  Sen- 
dung. Hier  ist  jetzt  ein  Kandidat  von  dort,  Müller,  der  als  Prediger 
mit  einem  Schiff  in  die  Südsee  gehen  soll,  er  wohnt  bei  uns  im  Hause 
und  hat  ungeheuer  forcierte  Ansichten  vom  Christentum,  was 
Dir  einleuchtend  sein  wird,  wenn  ich  Dir  sage,  daß  er  seine  letzte 
Zeit  unter  Goßners  Einfluß  verlebte.  —  Exaltiertere  Ansichten 
von  der  Kraft  des  Gebets  und  der  unmittelbaren  göttlichen  Ein- 
wirkung aufs  Leben  kann  man  nicht  leicht  haben.  Statt  zu  sagen, 
man  könne  seine  Sinne,  Gehör,  Gesicht,  verschärfen,  Seigt  er: 
wenn  der  Herr  mir  ein  Amt  gibt,  so  muß  er  mir  auch  Kraft  dazu 
geben;  natürlich  muß  brünstiges  Gebet  und  eignes  Arbeiten  den- 
noch dabei  sein,  sonst  geht's  nicht  —  und  so  beschränkt  er  diese 
allen  Menschen  gemeinsame,  bekannte  Tatsache  auf  die  Gläubigen 
allein.  Daß  eine  solche  Weltansicht  doch  gar  zu  kindlich  und  kin- 
disch ist,  müßte  mir  selbst  ein  Krummacher  zugeben.  —  Daß  Du 
bessere   Ansichten   von   meinem  telegraphischen   Artikel  hast,  ist 


Briefe  ein  Wilhelm  Graeber. 


79 


mir  sehr  lieb.  Übrigens  ist  das  Ding  in  der  Hitze  geschrieben,  wo- 
durch es  zwar  einen  Stil  erhalten  hat,  wie  ich  ihn  mir  für  meine 
Novelle  nur  wünschen  mag,  aber  auch  an  Einseitigkeiten  und  an 
halben  Wahrheiten  leidet.  Krummacher  hat  Gutzkow  —  Du 
weißt's  wohl  schon,  in  Frankfurt  am  Main  kennen  gelernt  und  soll 
mirabilia  darüber  fabeln;  —  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Strauß- 
schen  Mythenansicht.  Ich  lege  mich  jetzt  auf  den  modernen  Stil, 
der  ohne  Zweifel  das  Ideal  aller  Stilistik  ist.  Muster  für  ihn  sind 
Heines  Schriften,  besonders  aber  Kühne  und  Gutzkow.  Sein  Meister 
aber  ist  Wienbarg.  Von  früheren  Elementen  haben  besonders  günstig 
auf  ihn  eingewirkt:  Lessirg,  Goethe,  Jean  Paul  und  vor  allem  Börne. 
0,  der  Börne  schreibt  einen  Stil,  der  über  alles  geht.  ,, Menzel  der 
Franzosenfresser*'  ist  stilistisch  das  erste  Werk  Deutschlands,  und 
zugleich  das  erste,  wo  es  darauf  ankommt,  einen  Autor  ganz  und 
gar  zu  vernichten  ;  ist  wieder  bei  Euch  verboten,  damit  ja  kein  besse- 
rer Stil  geschrieben  werde,  als  auf  den  königlichen  Bureaus  geschieht. 
Der  moderne  Stil  vereinigt  alle  Vorzüge  des  Stils  in  sich ;  gedrungene 
Kürze  und  Prägnanz,  die  mit  einem  Worte  den  Gegenstand  trifft, 
abwechselnd  mit  der  epischen,  ruhigen  Ausmalung;  einfache 
Sprache,  abwechselnd  mit  schimmernden  Bildern  und  glänzenden 
Witzfunken,  ein  jugendlich  kräftiger  Ganymed,  Rosen  ums  Haupt 
gewunden,  und  das  Geschoß  in  der  Hand,  das  den  Python  schlug. 
Dabei  ist  denn  der  Individualität  des  Autors  der  größte  Spielraum 
gelassen,  so  daß  trotz  der  Verwandtschaft  keiner  des  andern  Nach- 
ahmer ist.  Heine  schreibt  blendend.  Wienbarg  herzlich  Wcirm  und 
strahlend,  Gutzkow  haarscharf  treffend,  zuweilen  von  einem  wohl- 
tuenden Sonnenblick  überflogen.  Kühne  schreibt  gemütlich -aus- 
malend —  mit  etwas  zu  viel  Licht  und  zu  wenig  Schatten,  Laube 
ahmt  Heine  nach  und  jetzt  auch  Goethe,  aber  auf  verkehrte  Ma- 
nier, indem  er  den  Goetheaner  Varnhagen  nachahmt,  und  Mundt 
ahmt  gleichfalls  Varnhagen  nach.  Marggraf f  schreibt  noch  etwas 
sehr  allgemein  und  mit  vollen  Backen  pustend,  doch  das  wird  sich 
legen,  und  Becks  Prosa  ist  noch  nicht  über  Studien  hinaus.  —  Ver- 
bindet man  Jean  Pauls  Schmuck  mit  Börnes  Präzision,  so  sind  die 
Grundzüge  des  modernen  Stils  gegeben.  Gutzkow  hat  auf  eine 
glückliche  Weise  den  brillanten,  leichten  aber  trocknen  Stil  der 
Franzosen  in  sich  aufzunehmen  gewußt.  Dieser  französische  Stil 
ist  wie  ein  Sommerfaden,  der  deutsche  moderne  ist  eine  Seidenflocke. 
(Dies  Bild  ist  leider  verunglückt.)  Daß  ich  aber  über  dem  Neuen 
das  Alte  nicht  vergesse,  zeigt  mein  Studium  der  gottvollen  Goethe- 
schen  Lieder.  Man  muß  sie  aber  musikalisch  studieren,  am  besten 
in  verschiedenen  Kompositionen.  Z.  B.  will  ich  Dir  die  Reichardt- 
sche  Kornposition  des  Bundesliedes  hersetzen: 


8o  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—  184 1. 


^^ 


f    In     al  -  len  gu-ten  Stun-den,  Er-höht  von  Lieb  und  Wein,| 
l  Soll  die  -  ses  Lied  ver-bun-den  Von  uns  ge-sun-gen  sein./ 


m^t  r  r  r  =r=F=.^^^^=;=£=^^ 


^n  I    '    '  '    r  I — i=^=F— ^— ^— ^^g^=^ 


t 


Uns  hält  der  Gott  zu-sam-men,  der  uns  hier-her    ge- bracht, 


* 


Er-neu-ert    eu  -  re  Flam-men,  er    hat  sie    an -ge- facht. 

Die  Taktstriche  habe  ich  wieder  vergessen,  laß  sie  Dir  vom  Heuser 
machen.  Die  Melodie  ist  herrlich  und  durch  die  stets  im  Akkord 
sich  haltende  Einfachheit  dem  Liede  so  angemessen  wie  keine. 
Herrlich  macht  sich  das  Steigen  V.  6  von  e  bis  zur  Septime  d  und 
das  rasche  Fallen  V.  8  von  h  bis  zur  None  a.  Über  das  Miserere 
von  Leonardo  Leo  werde  ich  dem  Heuser  schreiben.  — 

Ich  werde  Euch  dieser  Tage  einen  guten  Freund,  der  dort  stu- 
dieren wird,  Adolf  Torstrick,  herschicken,  er  ist  fidel  und  liberal  und 
versteht  gut  griechisch.  Die  andern  Bremer,  die  dort  hinkommen, 
sind  nicht  viel  wert.  Torstrick  wird  Briefe  an  Euch  von  mir  be- 
kommen. Nehmt  ihn  gut  auf,  ich  will  wünschen,  daß  er  Euch  ge- 
fallen möge.  Fritz  hat  mir  noch  immer  nicht  geschrieben,  der 
vermicul^)  wollte  von  Elberfeld  aus  schreiben,  ist  aber  unterblieben 
aus  Faulheit,  wofür  Du  ihn  rüffeln  willst.  Sollte  der  Heuser  ankom- 
men, dem  ich  aus  Furcht,  ihn  nicht  mehr  zu  treffen,  nicht  nach 
Elberfeld  schreiben  kann,  so  mach  ihm  Hoffnung,  bald  was  zu  kriegen. 

Dein  Friedrich  Engels. 

An  Wilhelm  Graeber. 

den  20,  Oktober  (1839) 

Herrn  Wilhelm  Graeber.  Ich  bin  ganz  sentimental,  es  ist  ein 
schwieriger  Kasus.  Ich  bleibe  hier,  entblößt  von  aller  Fidelität.  Mit 
Adolf  Torstrick,  dem  Überbringer  dieses,  geht  die  letzte  Fidelität  weg. 
Wie  ich  den  18.  Oktober  gefeiert,  ist  in  meiner  letzten  Heuserlichen 
Epistel  zu  lesen.  Heute  Bierzech,  morgen  Langweile,  übermorgen  geht 
der  Torstrick  weg,  Donnerstag  kommt  der  in  vorerwähnter  Epistel  er- 
wähnte Studio  wieder,  worauf  zwei  fidele  Tage  folgen,  und  dann  —  ein 
einsamer,  greulicher  Winter.  Die  ganze  hiesige  Welt  ist  nicht  zum 
Zechen  zu  bringen,  es  sind  alles  Philister,  ich  sitze  mit  meinem 
Rest   burschikoser    Lieder,   mit    meinem   renommistischen   studio- 

»)  Wurm. 


Briefe  an  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber.  8l 

sistischen  Anhauch  allein  in  der  großen  Wüste,  ohne  Zechgenossen, 
ohne  Liebe,  ohne  FideUtät,  einzig  mit  Tabak,  Bier  und  zwei  zech- 
unfähigen Bekannten.  Sohn,  da  hast  du  meinen  Spieß,  kneip' 
daraus  mein  Cerevis,  So  du  kneipest  comme  il  faut,  wird  dein  alter 
Vater  froh,  möcht'  ich  singen,  aber  wem  soll  ich  meinen  Spieß 
geben,  und  dann  kann  ich  auch  die  Melodie  nicht  recht.  Eine  Hoff- 
nung allein  hab'  ich  noch,  Euch  übers  Jahr,  wenn  ich  nach  Hause 
geh,  in  Barmen  zu  treffen,  und  wenn  in  Dich  und  Jonghaus  und 
Fritz  der  Pfaffe  noch  nicht  zu  sehr  gefahren  ist,  mit  Euch  dort 
herumzukneipen.  Den  21.  —  Heute  einen  furchtbar  langweiligen 
Tag  gehabt.  Auf  dem  Comptoir  halbtot  geochst.  Dann  Singakademie 
gehabt,  ungeheuren  Genuß.  Nun  muß  ich  sehen  daß  ich  Euch  noch 
was  schreibe.  Verse  mit  nächster  Gelegenheit,  ich  habe  keine  Zeit 
mehr  sie  zu  kopieren.  Nicht  einmal  was  Interessantes  zu  essen  ge- 
habt, alles  langweilig.  Dabei  ist  es  so  kalt,  daß  man  es  auf  dem 
Comptoir  nicht  aushalten  kann.  Gottlob,  morgen  haben  wir  Hoff- 
nung, geheizt  zu  bekommen.  Von  Deinem  Bruder  Hermann  werde 
ich  nächstens  wohl  einen  Brief  bekommen,  er  will  meiner  Theologie 
auf  den  Zahn  fühlen  und  meine  Überzeugung  massakrieren.  Das 
kommt  vom  Skeptizismus.  Die  tausend  Haken,  mit  denen  man  am 
Alten  hing,  lassen  los  und  haken  sich  woanders  ein,  und  dann  gibt's 
Disputationen.  Den  Wurm  soll  der  Teufel  holen,  der  Kerl  läßt 
nichts  von  sich  hören,  er  encanaiUisiert  sich  täglich  mehr.  Ich 
vermute,  er  kommt  ans  Branntweintrinken.  Nun  nehmt  mir  den 
Torstrick  freundlich  auf,  laßt  ihn  Euch  von  mir  erzählen,  wenn 
Euch  das  interessiert  und  setzt  ihm  gutes  Cerevis  vor.    Fare  well. 

Dein  Friedrich  Engels. 

An  Friedrich  Graeber. 

[29.  Oktober  39] 

Mein  lieber  Fritz  —  ich  bin  nicht  wie  Pastor  Stier  gesinnt.  — 
Den  29.  Oktober,  nach  einer  flott  verlebten  Messe  und  einer  mit 
schwerer,  furchtbarer  Korrespondenz,  die  durch  Gelegenheit  nach 
Berlin  ging,  sowie  nach  einem  Brief  an  W.  Blank,  der  lange  warten 
mußte,  bin  ich  endlich  so  weit,  mich  mit  Dir  in  aller  Freundschaft 
herumbalgen  zu  können.  Deinen  Exkurs  über  die  Inspiration  hast 
Du  wohl  ziemlich  flüchtig  hingeschrieben,  indem  es  so  wörtlich 
nicht  zu  nehmen  ist,  wenn  Du  schreibst:  die  Apostel  predigten  das 
Evangelium  rein,  und  das  hörte  nach  ihrem  Tode  auf.  Da  mußt 
Du  zu  den  Aposteln  noch  den  Verfasser  der  Apostelgeschichte  und 
des  Ebräerbriefs  rechnen  und  beweisen,  daß  die  Evangelien  wirk- 
lich von  Matthäus,  Markus,  Lukas  und  Johannes  geschrieben  sind, 

Mayer,  Engels,    Ergänzungsband.  6 


82  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

während  doch  von  den  drei  ersten  das  Gegenteil  feststeht.  Ferner 
sagst  Du:  ich  glaube  nicht,  daß  wir  in  der  Bibel  eine  andere  Inspi- 
ration finden  dürfen,  als  wenn  die  Apostel  und  Propheten  auf- 
traten und  dem  Volke  predigten,  Gut,  aber  gehört  nicht  wieder 
eine  Inspiration  zur  richtigen  Aufzeichnung  dieser  Predigten  ?  Und 
gibst  Du  in  diesem  Satz  mir  zu,  daß  uninspirierte  Stellen  in  der 
Bibel  sind,  wo  willst  Du  da  die  Grenze  ziehen?  Nimm  die  Bibel 
zur  Hand  und  lies  —  Du  wirst  keine  Zeile  missen  wollen,  als  da, 
wo  wirkliche  Widersprüche  sind ;  aber  diese  Widersprüche  ziehen 
eine  Masse  Konsequenzen  nach  sich;  z.B.  der  Widerspruch,  daß 
der  Aufenthalt  der  Kinder  Israel  in  Ägypten  nur  vier  Generationen 
gedauert  habe,  während  Paulus  im  Galaterbrief  (nisi  erro)  430 
Jahre  angibt,  was  sogar  mein,  mich  gern  im  Dunkeln  halten  wollen- 
der Pastor  als  Widerspruch  anerkennt.  Du  wirst  mir  nicht  sagen, 
Paulus  Worte  gelten  nicht  für  inspiriert,  weil  er  die  Sache  ge- 
legentlich erwähnt  und  keine  Geschichte  schreibt  —  was  gilt  mir 
eine  Offenbarung,  in  der  solch  überflüssige  und  unnütze  Dinge 
vorkommen.  Ist  aber  der  Widerspruch  anerkannt,  so  können  beide 
gleich  Unrecht  haben,  und  die  alttestamentarische  Geschichte  tritt 
in  ein  zweideutiges  Licht,  wie  denn  überhaupt  die  biblische  Chrono- 
logie —  das  erkennen  alle,  nur  nicht  Pastor  Tiele  zu  Oberneuland 
bei  Bremen,  an  —  unrettbar  verloren  für  die  Inspiration  ist.  Das 
stellt  die  Geschichte  des  alten  Testaments  noch  mehr  ins  Mythen- 
hafte, und  es  wird  nicht  lange  dauern,  bis  dies  auch  auf  den  Kanzeln 
allgemein  anerkannt  ist.  —  Was  den  Josuaschen  Sonnenstillstand 
anbetrifft,  so  ist  der  schlagendste  Grund,  den  Ihr  gebrauchen  könnt, 
daß  Josua,  als  er  dies  sprach,  noch  nicht  inspiriert  gewesen  sei,  und 
später,  als  er  inspiriert  das  Buch  geschrieben  habe,  habe  er  nur 
erzählt.  Erlösungstheorie.  —  >>Der  Mensch  ist  so  gefallen,  daß 
er  aus  sich  nichts  Gutes  zu  tun  vermag."  Lieber  Fritz,  laß  doch  ab 
von  diesem  hyperorthodoxen  und  nicht  einmal  biblischen  Unsinn. 
Wenn  Börne,  der  in  Paris  selbst  knapp  lebte,  alles  Honorar  für 
seine  Schriften  armen  Deutschen  gab,  wofür  er  nicht  einmal  Dank 
empfing,  so  war  das  hoffentlich  doch  etwas  Gutes  ?  Und  Börne 
war  wahrlich  kein  ,,Wiederge borner".  —  Ihr  habt  diesen  Satz 
gar  nicht  einmal  nötig,  wenn  Ihr  nur  die  Erbsünde  habt.  Christus 
kennt  ihn  auch  nicht,  so  wie  so  vieles  aus  der  Lehre  der  Apostel. 
—  Die  Lehre  von  der  Sünde  habe  ich  noch  am  wenigsten  überdacht, 
das  ist  mir  indes  klar,  daß  die  Sünde  der  Menschheit  notwendig  ist. 
Die  Orthodoxie  sieht  richtig  einen  Zusammenhang  zwischen  Sünde 
und  irdischen  Mängeln,  Krankheit  etc.,  sie  irrt  aber  darin,  daß  sie 
die  Sünde  als  Ursache  dieser  Mängel  hinstellt,  was  nur  in  einzelnen 
Fällen  stattfindet.    Diese  beiden,   Sünde  und  Mängel,  bedingen  sich 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  ga 

gegenseitig,  das  eine  kann  ohne  das  andere  nicht  bestehen.  Und  weil 
die  Kräfte  des  Menschen  nicht  göttlich  sind,  so  ist  die  Möglichkeit 
zur  Sünde  notwendig;  daß  sie  wirklich  eintreten  mußte,  war  durch 
die  rohe  Stufe  der  ersten  Menschen  gegeben,  und  daß  sie  seitdem 
nicht  aufhörte,  ist  wieder  ganz  psychologisch.  Sie  kann  auch  gar 
nicht  aufhören  auf  der  Erde,  weil  sie  durch  alle  irdischen  Verhält- 
nisse bedingt  ist,  und  Gott  sonst  die  Menschen  anders  hätte  schaffen 
müssen.  Da  er  sie  aber  einmal  so  geschaffen  hat,  so  kann  er  gar 
keine  absolute  Sündlosigkeit  von  ihnen  verlangen,  sondern  nur 
einen  Kampf  mit  der  Sünde ;  daß  dieser  Kampf  plötzlich  mit  dem 
Tode  aufhören  und  ein  dolce  far  niente  eintreten  werde,  konnte 
nur  die  vernachlässigte  Psychologie  früherer  Jahrhunderte  schlie- 
ßen. Ja,  diese  Prämissen  zugegeben,  wird  die  moralische  Voll- 
kommenheit nur  mit  der  Vollkommenheit  aller  übrigen  geistigen 
Kräfte,  mit  einem  Aufgehen  in  die  Weltseele  zu  erringen  sein,  und 
da  bin  ich  bei  der  Hegeischen  Lehre,  die  Leo  so  heftig  angriff. 
Dieser  letzte  metaphysische  Satz  ist  übrigens  so  ein  Schluß,  von 
dem  ich  selbst  noch  nicht  weiß,  was  ich  davon  halten  soll.  —  Ferner 
kann  nach  diesen  Prämissen  die  Geschichte  Adams  nur  Mythe  sein, 
indem  Adam  entweder  Gott  gleich  sein  mußte,  wenn  er  so  sündlos 
geschaffen  war,  oder  sündigen  mußte,  wenn  er  mit  im  übrigen 
menschlichen  Kräften  geschaffen  war.  —  Das  ist  meine  Theorie 
der  Sünde,  die  indes  noch  an  ungeheurer  Roheit  und  Lückenhaf- 
tigkeit leidet;  wobei  habe  ich  hier  noch  einer  Erlösung  nötig?  — 
,, Wollte  Gott  einen  Ausweg  zwischen  strafender  Gerechtigkeit  und 
erlösender  Liebe  finden,  so  blieb  die  Stellvertretung  als  einziges 
Mittel  übrig."  Nun  seht  einmal,  was  für  Menschen  Ihr  seid.  Uns 
kommt  Ihr  damit,  daß  wir  in  die  Tiefen  der  göttlichen  Weisheit 
unser  kritisches  Senkblei  herabließen,  und  hier  setzt  Ihr  sogar  der 
göttlichen  Weisheit  Schranken.  Ein  größeres  Dementi  hätte  sich 
Herr  Professor  Philippi  nicht  geben  können.  Und  hört  denn  — 
gesetzt  auch  die  Notwendigkeit  dieses  einzigen  Mittels  —  die  Stell- 
vertretung auf,  eine  Ungerechtigkeit  zu  sein?  Ist  Gott  wirklich 
so  streng  gegen  die  Menschen,  so  muß  er  hier  auch  streng  sein  und 
darf  hier  kein  Auge  zudrücken.  Arbeite  Dir  dieses  System  nur  ein- 
mal recht  scharf  und  bestimmt  heraus,  und  die  wunden  Flecke  wer- 
den Dir  nicht  entgehen.  —  Dann  kommt  ein  ganz  pompöser  Wider- 
spruch gegen  die  ,, Stellvertretung  als  einziges  Mittel",  indem  Du 
sagst:  „ein  Mensch  kann  nicht  Mittler  sein,  selbst  wenn  er  durch 
einen  Akt  der  göttlichen  Allmacht  von  aller  Sünde  be- 
freit wäre."  Also  doch  noch  ein  anderer  Weg?  Ja,  wenn  die 
Orthodoxie  keine  besseren  Vertreter  in  Berlin  hat  als  Professor 
Philippi,  so  ist  sie  wahrhaftig  schlimm  dran.    —    Durch  die  ganze 

6» 


^4  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Deduktion  zieht  sich  stillschweigend  das  Prinzip  der  Rechtmäßig- 
keit der  Stellvertretung.  Das  ist  ein  Mörder,  den  Ihr  für  Eure 
Zwecke  geworben  habt,  und  der  Euch  hintennach  selbst  totsticht. 
Ihr  wollt  auch  gar  nicht  recht  dran,  zu  beweisen,  daß  dies  Prinzip 
nicht  mit  der  göttlichen  Gerechtigkeit  streite,  und,  bekennt  es  nur 
ehrlich,  Ihr  fühlt  selbst,  daß  Ihr  diesen  Beweis  gegen  Euer  inner- 
stes Gewissen  führen  müßtet;  deswegen  huscht  Ihr  weg  über  das 
Prinzip  und  nehmt  die  Tatsache,  mit  einigen  schönen  Worten  von 
erbarmender  Liebe  etc.  verbrämt,  stillschweigend  für  vernünftig 
an.  —  ,,Die  Dreieinigkeit  ist  Bedingung  der  Erlösung."  Das  ist 
wieder  so  eine  halbrichtige  Konsequenz  Eures  Systems.  Freilich, 
zwei  Hypostasen  müßte  man  schon  annehmen,  aber  die  dritte  doch 
wohl  nur  weil  es  so  hergebracht  ist. 

„Um  aber  zu  leiden  und  zu  sterben,  mußte  Gott  Mensch  wer- 
den, denn  abgesehen  von  der  metaphysischen  Undenkbar keit,  in 
Gott  als  solchen  eine  Leidensfähigkeit  zu  setzen,  war  ja  auch  die 
durch  die  Gerechtigkeit  bedingte  ethische  Notwendigkeit  vorhanden." 
—  Aber  wenn  Ihr  die  Undenkbar  keit  zugebt,  daß  Gott  leiden  könne, 
so  hat  in  Christus  der  Gott  auch  nicht  gelitten,  sondern  nur  der 
Mensch,  und:  ,, ein  Mensch  könnte  nicht  Mittler  sein".  Du  bist  doch 
noch  so  vernünftig,  daß  Du  nicht,  wie  so  viele,  hier  die  äußerste 
Spitze  der  Konsequenz  ergreifst:  ,,also  muß  Gott  gelitten  haben", 
und  Dich  daran  festhältst.  Und  was  es  mit  der  ,, durch  die  Gerech- 
tigkeit bedingten  ethischen  Notwendigkeit"  für  eine  Bewandtnis 
hat,  steht  auch  dahin.  Wenn  einmal  das  Prinzip  der  Stellvertretung 
anerkannt  werden  soll,  so  ist  es  auch  nicht  nötig  daß  der  Leidende 
gerade  ein  Mensch  sei ;  wenn  er  nur  Gott  ist.  Gott  kann  aber  nicht 
leiden,  ergo  —  sind  wir  so  weit  als  vorher.  I  Das  ist's  eben  bei  Eurer 
Deduktion,  bei  jedem  Schritt  weiter  muß  ich  Euch  neue  Konzessio- 
nen machen.  Nichts  entwickelt  sich  voll  und  ganz  aus  dem  Vor- 
hergehenden. So  muß  ich  Dir  hier  wieder  zugeben,  daß  der  Mittler 
auch  Mensch  sein  mußte,  was  noch  garnicht  bewiesen  ist;  denn  gäbe 
ich  dies  nicht  zu,  so  wäre  ich  ja  nicht  imstande,  mich  auf  das 
Folgende  einzulassen.  ,,Auf  dem  Weg  der  natürlichen  Fortpflan- 
zung konnte  aber  die  Menschwerdung  Gottes  nicht  vorsieh  gehen, 
denn  wenn  sich  auch  Gott  mit  einer  von  einem  Elternpaar  erzeugten 
und  durch  seine  Allmacht  entsündigten?  Person  verbunden  hätte, 
so  hätte  er  sich  doch  nur  mit  dieser  Person  und  nicht  mit  der  mensch- 
lichen Natur  verbunden, und  nahm  im  Leibe  der  Jungfrau  Maria 

nur  die  "menschliche  Natur  an,  in  seiner  Gottheit  lag  die  personbil- 
dende Kraft."  —  Sieh  einmal,  das  ist  reine  Sophisterei,  und  Euch 
durch  die  Angriffe  auf  die  Notwendigkeit  der  übernatürlichen  Er- 
zeugung abgenötigt.    Um  die  Sache  in  ein  anderes  Licht  zu  stellen. 


Briefe  an  Friedrich  Graeber. 


85 


schiebt  der  Herr  Professor  ein  drittes:  die  Persönlichkeit  dazwischen. 
Das  hat  nichts  damit  zu  tun.  Im  Gegenteil,  die  Verbindung  mit  der 
menschlichen  Natur  ist  um  so  inniger,  je  mehr  die  Persönlichkeit 
menschlich  ist  und  der  sie  belebende  Geist  göttlich.  Ein  zweites 
Mißverständnis  liegt  hierbei  im  Hintergrunde  versteckt,  Ihr  ver- 
wechselt den  Leib  und  die  Person;  das  geht  noch  klarer  hervor 
aus  den  Worten:  ,,auf  der  andern  Seite  konnte  Gott  sich  nicht  so 
ganz  abrupt  wie  den  ersten  Adam  in  die  Menschheit  hineinschaffen, 
dann  hätte  er  in  keiner  Verbindung  mit  der  Substanz  unserer  ge- 
fallenen Natur  gestanden.  Also  um  die  Substanz,  um  das  Hand- 
greifliche, Leibliche  handelt  es  sich  ?  Das  Beste  aber  ist,  daß  die 
schönsten  Gründe  für  die  übernatürUche  Erzeugung,  das  Dogma 
von  der  Unpersönlichkeit  der  menschlichen  Natur  in  Christo,  nur 
eine  gnostische  Konsequenz  der  übernatürlichen  Erzeugung  ist. 
(Gnostisch  natürlich  nicht  in  Beziehung  auf  die  Sekte,  sondern  die 
yr'öjois^)  überhaupt.)  Wenn  in  Christus  der  Gott  nicht  leiden  konnte, 
so  konnte  der  personlose  Mensch  noch  viel  weniger  leiden,  und  das 
kommt  denn  bei  dem  Tiefsinn  heraus.  ,,So  erscheint  Christus  ohne 
einzelne  menschliche  Markierung."  Das  ist  eine  Behauptung  in 
den  Tag  hinein ;  die  Evangelisten  haben  alle  vier  ein  bestimmtes 
Charakterbild  von  Jesu,  das  in  seinen  meisten  Zügen  bei  allen  über- 
einstimmt. So  dürfen  wir  behaupten,  daß  der  Charakter  des  Apostels 
Johannes  dem  Christi  am  nächsten  gestanden  habe;  nun  aber,  wenn 
Christus  keine  menschliche  Markierung  hatte,  ist  darin  eingeschlos- 
sen, daß  Johannes  der  vorzügUchste  gewesen  sei ;  und  das  möchte  be- 
denklich zu  behaupten  sein. 

'  So  weit  die  Entgegnung  Deiner  Deduktion.  Sie  ist  mir  nicht 
sehr  gut  gelungen,  ich  hatte  keine  Kollegienhefte,  sondern  nur 
Facturabücher  und  Conti.  Bitte  deshalb  hier  und  daige  Unklar- 
heit zu  entschuldigen.  —  Dein  Bruder  hat  sich  noch  nicht  mit  einem 
Briefe  vernehmen  lassen.  —  Du  reste,  wenn  Ihr  die  Ehrlichkeit 
meines  Zweifels  anerkennt,  wie  wollt  Ihr  solch  ein  Phänomen  er- 
klären? Eure  orthodoxe  Psychologie  muß  mich  notwendig  unter 
die  ärgsten  Verstockten  rangieren,  besonders  da  ich  jetzt  ganz  und 
gar  verloren  bin.  Ich  habe  nämlich  zu  der  Fahne  des  David  Fried- 
rich Strauß  geschworen,  und  bin  ein  Mythiker  erster  Klasse;  ich 
sage  Dir,  der  Strauß  ist  ein  herrlicher  Kerl,  und  ein  Genie  und 
Scharfsinn  hat  er  wie  keiner.  Der  hat  Euren  Ansichten  den  Grund 
genommen,  das  historische  Fundament  ist  unwiederbringlich  ver- 
loren, und  das  dogmatische  wird  ihm  nachsinken.  Strauß  ist  gar 
nicht  zu  widerlegen,  darum  sind  die  Pietisten  so  wütend  auf  ihn; 
Hengstenberg    plagt    sich    in    der    Kirchenzeitung    ungeheuer    ab, 

*)  Gnosis. 


86  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 184 1. 

falsche  Konsequenzen  aus  seinen  Worten  zu  ziehen  und  hämische 
Ausfälle  gegen  seinen  Charakter  daran  zu  knüpfen.  Das  ist's,  was 
ich  an  Hengstenberg  und  Konsorten  hasse.  Was  geht  sie  die  Per- 
sönlichkeit Straußens  an;  aber  da  plagen  sie  sich,  seinen  Charakter 
herabzusetzen,  damit  man  sich  scheuen  möge,  sich  ihm  anzu- 
schließen. Dar  beste  Beweis,  daß  sie  ihn  nicht  widerlegen  können. 
Doch  jetzt  hab*  ich  genug  theologisiert  und  will  mal  anders- 
wohin meinen  Blick  richten.  Wie  großartig  die  Entdeckungen  sind, 
die  der  Deutsche  Bund  aus  der  Demagogie  und  sämtlichen  soge- 
nannten Verschwörungen  machte,  geht  daraus  hervor,  daß  es  auf 
85  Saiten  gedruckt  werden  kann.  Ich  habe  das  Buch  noch  nicht 
gesehen,  doch  las  ich  Auszüge  in  Zeitungen,  die  mir  zeigen,  wie 
kostbare  Lügen  unsre  verfluchte  Behörde  dem  deutschen  Volke 
auftischt.  Mit  der  unverschämtesten  Frechheit  behauptet  der  Deut- 
sche Bund,  die  politischen  Verbrecher  seien  von  ihren  ,, rechtmäßigen 
Richtern"  verurteilt  worden,  da  doch  jeder  weiß,  wie  überall,  be- 
sonders da,  wo  öffentliche  Gerichtsbarkeit  existiert,  Kommissionen 
angeordnet  wurden  —  und  was  da  geschehen,  bei  Nacht  und  Nebel, 
das  weiß  kein  Mensch;  denn  die  Angeklagten  mußten  schwören, 
nichts  über  das  Verhör  auszusagen.  Das  ist  das  Recht,  was  in 
Deutschland  existiert  —  und  wir  haben  über  nichts,  gar  nichts  zu 
klagen!  —  Es  erschien  vor  etwa  sechs  Wochen  ein  vortreffliches 
Buch:  Preußen  und  Preußentum,  von  J.  Venedey,  Mannheim  1839, 
worin  die  preußische  Gesetzgebung,  die  Staatsverwaltung,  Steuer- 
verteilung etc.  einer  strengen  Prüfung  unterworfen  werden,  und  die 
Resultate  leuchten  ein:  Begünstigung  der  Geldaristokratie  vor  den 
Armen,  Streben  nach  fortwährendem  Absolutismus,  und  die  Mittel 
dazu:  Unterdrückung  der  politischen  Intelligenz,  Verdummung  der 
Volksmehrzahl,  Benutzung  der  Religion;  glänzendes  Außenwesen, 
Renommisterei  ohne  Grenzen,  und  der  Schein,  als  begünstige  man  die 
Intelligenz.  Der  Deutsche  Bund  hat  gleich  Sorge  getragen,  das  Buch 
zu  verbieten  und  die  vorrätigen  Exemplare  mit  Beschlag  zu  belegen; 
letzteres  ist  nur  eine  Scheinmaßregel,  da  die  Buchhändler  höch- 
stens gefragt  werden,  ob  sie  Exemplare  hätten,  wo  denn  natürlich 
jeder  rechtschaffene  Kerl  sagt:  Nein.  —  Kannst  Du  das  Buch  Dir 
dort  verschaffen,  so  lies  es  ja,  denn  es  sind  keine  Rodomontaden, 
sondern  Beweise,  aus  dem  preußischen  Landrechte  geführt. 
—  Am  liebsten  möchte  ich,  Du  könntest  Börnes:  Menzel,  der  Fran- 
zosenfresser bekommen.  Dieses  Werk  ist  ohne  Zweifel  das  beste, 
was  wir  in  deutscher  Prosa  haben,  sowohl  was  Stil  als  Kraft  und 
Reichtum  der  Gedanken  betrifft ;  es  ist  herrlich ;  wer  es  nicht  kennt, 
der  glaubt  nicht,  daß  unsere  Sprache  solch  eine  Kraft  besitze^). 

i)J  Der  Schluß  dieses  Briefes  fehlt. 


Briefe  an  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber.  87 

An  Wilhelm  Graeber. 

den  13.  November   1839 
Liebster  Guilielme, 

warum  schreibst  Du  nicht?  Ihr  gehört  sämtlich  in  die  Kategorie 
der  Faulenzer  und  Bärenhäuter.  Aber  ich  bin  ein  anderer  Kerl! 
Nicht  nur,  daß  ich  Euch  mehr  schreibe,  als  Ihr  verdient,  daß  ich 
mir  eine  ausnehmende  Bekanntschaft  mit  allen  Literaturen  der 
Welt  verschaffe ;  ich  arbeite  mir  auch  im  Stillen  in  Novellen  und 
Gedichten  ein  Denkmal  des  Ruhmes  aus,  welches,  wenn  nämlich 
die  Zensur  den  blitzenden  Stahlschimmer  nicht  zu  häßlichem  Rost 
anhaucht,  mit  hellem  Jugendglanz  durch  alle  deutschen  Lande, 
Österreich  ausgenommen,  hinscheinen  wird.  Es  gärt  und  kocht 
in  meiner  Brust,  es  glüht  in  meinem,  bisweilen  besoffenen  Kopfe 
ganz  ausnehmend;  ich  sehne  mich,  einen  großen  Gedanken  zu 
finden,  der  die  Gärung  aufklärt  und  die  Glut  zur  lichten  Flamme 
anhaucht.  Ein  großartiger  Stoff,  gegen  den  alle  meine  bisherigen 
nur  Kindereien  sind,  ringt  sich  in  meinem  Geiste  empor.  Ich  will 
in  einer  ,, Märchen-Novelle"  oder  einem  derartigen  Ding  die  moder- 
nen Ahnungen,  die  sich  im  Mittelalter  zeigten,  zur  Anschauung 
bringen,  ich  will  die  Geister  aufwecken,  die  unter  der  harten  Erd- 
rinde nach  Erlösung  pochten,  vergraben  unter  den  Fundamenten 
der  Kirchen  und  Verließe.  Ich  will  wenigstens  einen  Teil  jener 
Aufgabe  Gutzkows  zu  lösen  versuchen:  der  wahre  zweite  Teil  des 
Faust,  Faust  nicht  mehr  Egoist,  sondern  sich  aufopfernd  für  die 
Menschheit,  soll  noch  erst  geschrieben  werden.  Da  ist  Faust,  da 
ist  der  ewige  Jude,  da  ist  der  wilde  Jäger,  drei  Typen  der  geahnten 
Geistesfreiheit,  die  leicht  in  eine  Verbindung  und  eine  Beziehung 
zu  Johann  Huß  zu  setzen  sind.  Welch  ein  poetischer  Hintergrund, 
vor  dem  diese  drei  Dämonen  schalten  und  walten,  ist  mir  da  ge- 
geben! Die  früher  metrisch  angefangene  Idee  vom  wilden  Jäger 
ist  darin  aufgegangen.  —  Diese  drei  Typen  (Menschen,  warum 
schreibt  Ihr  nicht?  d.  14.  November)  werde  ich  ganz  eigentümlich 
behandeln ;  besonders  verspreche  ich  mir  Effekt  von  der  Auffassung 
Ahasvers  und  des  wilden  Jägers.  Leicht  kann  ich,  um  die  Sache 
poetischer  und  Einzelheiten  bedeutender  zu  machen,  noch  andre  Dinge 
aus  deutschen  Sagen  einflechten  —  doch  das  wird  sich  schon  finden. 
Während  die  gegenwärtig  von  mir  bearbeitete  Novelle  nur  mehr  Studie 
des  Stils  und  der  Charakterschilderung  ist,  soll  diese  das  Eigentliche 
werden,  worauf  ich  Hoffnungen  für  meinen  Namen  begründe. 

Den  15.  November.  Auch  heute  kein  Brief?  was  mach'  ich? 
Was  denk*  ich  von  Euch  ?  Ihr  seid  mir  unbegreiflich.  Den  20.  Novbr. 
Und  wenn  Ihr  heute  nicht  schreibt,  so  kastrier'  ich  Euch  in  Ge- 


88  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

danken,  und  lasse  Euch  warten,  wie  Ihr  tut.  Aug'  um  Auge,  Zahn 
um  Zahn,  Brief  um  Brief.  Ihr  Heuchler  aber  sagt,  nicht  Aug'  um 
Auge,  nicht  Zahn  um  Zahn,  nicht  Brief  um  Brief,  und  laßt  mich 
bei  Eurer  verdammten  christlichen  Sophistik  sitzen.  Nein,  lieber 
ein  guter  Heide,  als  ein  schlechter  Christ. 

Da  ist  ein  junger  Jude  aufgestanden,  Theodor  Creizenach, 
welcher  ganz  vortreffliche  Gedichte  und  noch  bessere  Verse  macht. 
Er  hat  eine  Komödie  gemacht,  in  der  W.  Menzel  und  Konsorten 
aufs  kostbarste  persiffliert  werden.  Es  strömt  jetzt  alles  der  mo- 
dernen Schule  zu  und  baut  Häuser,  Paläste  oder  Hüttlein  auf  dem 
Fundament  der  großen  Ideen  der  Zeit.  Alles  andre  kommt  auf 
den  Hund,  die  sentimentalen  Liedlein  verhallen  ungehört  imd  das 
schmetternde  Jagdhorn  wartet  eines  Jägers,  der  es  blase  zvir  Ty- 
rannenjagd; in  den  Wipfeln  aber  rauscht  der  Sturm  von  Gott,  und 
die  Jugend  Deutschlands  steht  im  Hain,  die  Schwerter  zusammen- 
schlagend und  die  vollen  Becher  schwingend ;  von  den  Bergen 
lohen  die  brennenden  Schlösser,  die  Throne  wanken,  die  Altäre 
zittern,  und  ruft  der  Herr  in  Sturm  und  Unge wittern,  voran,  voran, 
wer  will  uns  widerstehn? 

WIR  FRIEDRICH  ENGELS 

oberster  Poet  im  Bremer  Ratskeller  und  privilegierter 

ZECHER 

Tun  kund  und  zu  wissen  allen  Vergangenen,  Gegenwärtigen 

ABWESENDEN  UND  ZUKÜNFTIGEN 

daß  Ihr  sämtlich  Esel  seid,  faule  Kreaturen,  die  an  dem  Überdruß 
der  eignen  Existenz  dahinsiechen,  mir  nicht  schreibende  Canaillen 
und  so  weiter. 

Gegeben  auf  unsrem  Comptoirbock,* 
zur  Zeit,  da  wir  nicht  den  Katzenjammer  hatten. 

Friedrich  Engels. 

In  Berlin  lebt  ein  junger  Poet,  Karl  Grün,  von  dem  ich  dieser 
Tage  ein  Buch  der  Wanderungen  gelesen  habe,  welches  sehr  gut 
ist.  Doch  soll  er  schon  27  Jahre  alt  sein  und  dafür  könnt'  er  besser 
schreiben.  Er  hat  zuweilen  sehr  treffende  Gedanken,  aber  oft  greu- 
liche Hegeische  Floskeln.  Was  heißt  das  z.  B,:  „Sophokles  ist  das 
hochsittliche  Griechenland,  das  seine  titanischen  Ausbrüche  an  der 
Mauer  absoluter  Notwendigkeit  sich  brechen  ließ.  In  Shakespeare 
ist  der  Begriff  des  absoluten  Charakters  zur  Erscheinung  ge- 
kommen." 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber.  8o 

Vorgestern  Abend  hatte  ich  große  Knüllität  im  Weinkeller  von 
2  Fl.  Bier  und  2}i<i  Fl.  Rüdesheimer  1794er.  Mein  Herr  Verleger 
in  spe  und  diverse  Philister  waren  mit.  Probe  einer  Disputation  mit 
einem  dieser  Philister  über  die  Bremer  Verfassung.  Ich:  In  Bremen 
ist  die  Opposition  gegen  die  Regierung  nicht  rechter  Art,  weil  sie 
in  der  Geldaristokratie,  den  Älter leuten  besteht,  die  sich  der  Rang- 
aristokratie, dem  Senat,  widersetzen.  Er:  Das  können  Sie  doch  so 
ganz  eigentlich  nicht  behaupten.  Ich:  Weshalb  nicht?  Er:  Be- 
weisen Sie  Ihre  Behauptung.  Dergleichen  soll  hier  für  Disputation 
gelten!  O  Philister,  geht  hin,  lernt  griechisch  und  kommt  wieder. 
Wer  griechisch  kann,  der  kann  auch  rite  disputieren.  Aber  solche 
Kerle  disputier' ich  sechs  auf  einmal  tot,  wenn  ich  auch  halb  knüll 
bin,  und  sie  nüchtern.  Diese  Menschen  können  keinen  Gedanken 
drei  Sekunden  in  seine  notwendigen  Konsequenzen  fortspinnen, 
sondern  alles  geht  ruckweise ;  man  braucht  sie  nur  eine  halbe  Stunde 
sprechen  zu  lassen,  ein  paar  scheinbar  unschuldige  Fragen  auf- 
werfen und  sie  widersprechen  sich  splendidamente.  Es  sind  gräß- 
lich abgemessene  Menschen,  diese  Philister;  ich  fing  an  zu  singen, 
da  beschlossen  sie  einstimmig  gegen  mich,  daß  sie  erst  essen  und 
dann  singen  wollten.  Da  fraßen  sie  Austern,  ich  aber  rauchte  ärger- 
lich drauf  los,  soff  und  brüllte,  ohne  mich  an  sie  zu  stören,  bis  ich 
in  einen  seligen  Schlummer  geriet.  Ich  bin  jetzt  ein  ungeheurer 
Spediteur  von  verbotnen  Büchern  ins  Preußische ;  der  Franzosen- 
fresser von  Börne  in  4  Exempl.,  die  Briefe  aus  Paris  von  demselben, 
6  Bände,  Venedey  Preußen  und  Preußentum,  das  strengst  verbotene, 
in  5  Exempl.  liegen  zur  Versendung  nach  Barmen  bereit.  Die  beiden 
letzten  Bände  der  Briefe  aus  Paris  hatte  ich  noch  nicht  gelesen,  sie 
sind  herrlich.  König  Otto  von  Griechenland  wird  fürchterlich  durch- 
genommen; so  sagt  er  einmal:  wenn  ich  der  liebe  Gott  wäre,  so 
würde  ich  einen  kostbaren  Spaß  machen,  ich  ließe  alle  großen  Grie- 
chen in  einer  Nacht  wieder  aufstehen.  Nun  kommt  eine  sehr  schöne 
Beschreibung,  wie  diese  Hellenen  in  Athen  umhergehen,  Perikles. 
Aristoteles  etc.  Da  heißt  es:  König  Otto  ist  angekommen.  Alles 
macht  sich  auf,  Diogenes  putzt  das  Licht  in  seiner  Laterne  und  alle 
eilen  zum  Piraeus.  König  Otto  ist  ausgestiegen,  und  hält  folgende 
Rede:  ,, Hellenen,  schaut  über  euch.  Der  Himmel  hat  die  bay- 
rische Nationalfarbe  angenommen.  (Diese  Rede  ist  gar  zu  schön, 
ich  muß  sie  ganz  abschreiben.)  Denn  Griechenland  gehörte  in  den 
ältesten  Zeiten  zu  Bayern.  Die  Pelasger  wohnten  im  Odenwalde 
und  Inachus  war  aus  Landshut  gebürtig.  Ich  bin  gekommen,  Euch 
glücklich  zu  machen.  Eure  Demagogen,  Unruhestifter  und  Zeitungs- 
schreiber haben  Euer  schönes  Land  ins  Verderben  gestürzt.  Die 
heillose  Preßfreiheit  hat  alles  in  Verwirrung  gebracht.    Seht  nur, 


90  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.    1838— 1841. 

wie  die  Ölbäume  aussehen.  Ich  wäre  schon  längst  zu  euch  herüber- 
gekommen, ich  konnte  aber  nicht  viel  eher,  denn  ich  bin  noch 
nicht  lange  auf  der  Welt.  Jetzt  seid  Ihr  ein  Glied  des  Deutschen 
Bundes ;  rrveine  Minister  werden  euch  die  neuesten  Bundesbeschlüsse 
mitteilen.  Ich  werde  die  Rechte  meiner  Krone  zu  wahren  wissen 
und  euch  nach  und  nach  glücklich  machen.  Für  meine  Zivilliste 
(Gehalt  des  Königs  im  konstitutionellen  Staat)  gebt  ihr  mir  jährlich 
6  Millionen  Piaster,  und  ich  erlaube  euch,  meine  Schulden  zu  be- 
zahlen." Die  Griechen  werden  konfus,  Diogenes  hält  dem  König 
seine  Laterne  ins  Gesicht,  Hippokrates  aber  ließ  sechs  Karren 
Nießwurz  holen  etc.  etc.  Diese  ganze  ironische  Dichtung  ist  ein 
Meisterstück  der  beißendsten  Satire,  und  in  einem  Stil,  der  göttlich 
ist.  Daß  Dir  Börne  weniger  gefällt,  kommt  daher,  daß  Du  eines 
seiner  schwächsten  und  frühesten  \A/erke,  die  Schilderungfen  aus 
Paris,  liest.  Unendlich  höher  stehen  die  Dramaturgischen  Blätter, 
die  Kritiken,  die  Aphorismen,  und  vor  allen  die  Briefe  aus  Paris 
und  der  wundervolle  Franzosen fresser.  Die  Beschreibung  der  Ge- 
mäldesammlung ist  sehr  langweilig,  darin  hast  du  recht.  Aber  die 
Grazie,  die  herkulische  Kraft,  die  Gemütstiefe,  der  vernichtende 
Witz  des  Franzosenfressers  sind  unübertrefflich.  Hoffentlich  sehen 
wir  uns  Ostern  oder  doch  Herbst  in  Barmen,  da  sollst  Du  andere 
Begriffe  von  diesem  Börne  bekommen.  —  Was  Du  über  Torstricks 
Duellgeschichte  schreibst,  ist  freilich  differierend  von  seinen  Nach- 
richten, doch  ist  er  auf  jeden  Fall  der,  der  am  meisten  Unannehm- 
lichkeiten davon  hatte.  Der  Kerl  ist  gut,  lebt  aber  in  Extremen: 
besoffen  hier,  etwas  pedantisch  dort.  — 

Wenn  Du  meinst,  die  deutsche  Literatur  sei  allmählich  einge- 
schlafen, so  bist  Du  bedeutend  irrig.  Denke  nicht,  weil  Du,  wie 
Vogel  Strauß,  Deinen  Kopf  vor  ihr  verbirgst  und  sie  nicht  siehst, 
hörte  sie  auf  zu  existieren.  Au  contraire  entwickelt  sie  sich  an- 
sehnlich, was  Dir  einleuchten  würde,  wenn  Du  mehr  acht  darauf 
gäbst  und  nicht  in  Preußen  lebtest,  wo  die  Werke  von  Gutzkow  etc. 
erst  einer  besondern  und  selten  erteilten  Erlaubnis  bedürfen.  — 
Ebenso  sehr  irrst  Du,  wenn  Du  meinst,  ich  müßte  zum  Christen- 
tum zurückkehren.  Pro  primo  ist  mir  ridikül,  daß  ich  Dir  nicht 
mehr  für  einen  Christen  gelte  und  pro  secundo,  daß  Du  meinst, 
wer  einmal  um  des  Begriffs  willen  das  Vorstellungsmäßige  der 
Orthodoxie  abgestreift  hat,  könne  sich  wieder  in  diese  Zwangsjacke 
bequemen.  Ein  rechter  Rationalist  kann  das  wohl,  indem  er  seine 
natürliche  Wundererklärung  und  seine  seichte  Moralsucht  für  un- 
genügend erkennt,  aber  der  Mythizismus  und  die  Spekulation  kann 
nicht  wieder  von  ihren  morgenrotbestrahlten  Firnen  in  die  nebligen 
Täler  der   Orthodoxie  herabsteigen.    -—    Ich  bin  nämlich  auf  dem 


Briefe  an  Wilhelm  Graeber. 


91 


Punkte,  ein  Hegelianer  zu  werden.  Ob  ich 's  werde,  weiß  ich  frei- 
lich noch  nicht,  aber  Strauß  hat  mir  Lichter  über  Hegel  angesteckt, 
die  mir  das  Ding  ganz  plausibel  darstellen.  Seine  (Hegels)  Ge- 
schichtsphilosophie ist  mir  ohnehin  wie  aus  der  Seele  geschrieben. 
Sieh  doch,  daß  Du  Strauß'  Charakteristiken  und  Kritiken  bekommst, 
die  Abhandlung  über  Schleiermacher  und  Daub  ist  wundervoll. 
So  gründlich,  klar  und  interessant  schreibt  außer  Strauß  kein 
Mensch.  Übrigens  infallibel  ist  er  gar  nicht;  ja  wenn  sein  ganzes 
Leben  Jesu  als  ein  Komplex  von  lauter  Sophismen  sich  heraus- 
stellte, denn  das  Erste,  wodurch  dieses  Werk  so  wichtig  ist,  das 
ist  die  ihm  zu  Grunde  liegende  Idee  des  Mythischen  im  Christen- 
tum; diese  wäre  auch  durch  jene  Entdeckung  nicht  verletzt,  denn 
sie  kann  immer  wieder  neu  auf  die  biblische  Geschichte  angewandt 
werden.  Aber  die  unleugbar  ausgezeichnete  Durchführung  zu- 
gleich mit  der  Idee  gegeben  zu  haben,  das  erhöht  Strauß'  Verdienst 
noch  mehr.  Ein  guter  Exeget  mag  ihm  hier  und  da  einen  Schnitzer 
oder  ein  Verfallen  ins  Extrem  nachweisen  können,  ebenso  gut  wie 
Luther  im  Einzelnen  angreifbar  war;  aber  das  schadet  ja  nichts. 
Wenn  Tholuck  was  Gutes  über  Strauß  gesagt  hat,  so  ist  das  reiner 
Zufall,  oder  eine  gut  angewandte  Reminiszenz;  Tholucks  Gelehr- 
samkeit geht  zu  sehr  ins  Breite,  und  dabei  ist  er  nur  receptiv,  nicht 
einmal  kritisch,  geschweige  produktiv.  Die  guten  Gedanken,  die 
Tholuck  gehabt  hat,  werden  sich  leicht  zählen  lassen,  und  den 
Glauben  an  die  Wissenschaftlichkeit  seiner  Polemik  hat  er  durch 
seinen  Streit  mit  Wegscheider  und  Gesenius  schon  vor  zehn  Jahren 
selbst  zerstört.  Tholucks  wissenschaftliche  Wirksamkeit  ist  in 
keiner  Weise  nachhaltig  gewesen,  und  seine  Zeit  ist  längst  vorbei. 
Hengstenberg  hat  doch  wenigstens  einmal  einen  originellen,  wenn 
auch  absurden  Gedanken  gehabt:  den  von  der  prophetischen  Per- 
spektive. —  Es  ist  mir  unbegreiflich,  daß  Ihr  Euch  um  alles  nicht 
kümmert,  was  über  Hengstenberg  und  Neander  hinausgeht.  Allen 
Respekt  vor  Neander,  aber  wissenschaftlich  ist  er  nicht.  Statt 
Verstand  und  Vernunft  bei  seinen  Werken  tüchtig  arbeiten  zu 
lassen,  auch  wenn  er  einmal  mit  der  Bibel  in  Opposition  käme, 
läßt  er  da,  wo  er  dergleichen  fürchtet,  die  Wissenschaft  Wissenschaft 
sein  und  kommt  mit  der  Empirie  oder  dem  frommen  Gefühl.  Er 
ist  gar  zu  fromm  und  gemütlich,  um  Straußen  opponieren  zu  können. 
Gerade  durch  diese  frommen  Ergüsse,  an  denen  sein  Leben  Jesu 
reich  ist,  stumpft  er  die  Spitzen  auch  seiner  wirklichen  wissenschaft- 
lichen Argumente  ab. 

A  propos  —  vor  ein  paar  Tagen  las  ich  in  der  Zeitung,  die 
Hegeische  Philosophie  sei  in  Preußen  verboten  worden,  ein  be- 
rühmter Hallischer  Hegelianischer  Dozent  sei  durch  ein  Ministe- 


g2  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

rialreskript  bewogen  worden,  seine  Vorlesungen  zu  suspendieren 
und  mehrere  Hallische  jüngere  Dozenten  derselben  Farbe  (wohl 
Rüge  etc.)  seien  bedeutet  worden,  sie  hätten  keine  Anstellung  zu 
erwarten.  Durch  eben  dieses  Reskript  sei  das  definitive  Verbot  der 
Berliner  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik  entschieden  wor- 
den. Weiter  habe  ich  noch  nichts  gehört.  Ich  kann  an  einen  so 
unerhörten  Gewaltstreich  selbst  der  preußischen  Regierung  nicht 
glauben,  obwohl  Börne  dies  vor  5  Jahren  schon  prophezeite,  und 
Hengstenberg  Intimus  des  Kronprinzen  sowie  Neander  erklärter 
Feind  der  Hegeischen  Schule  sein  soll.  Wenn  Ihr  etwas  über  die 
Sache  hört,  so  schreibt  mir  davon.  Jetzt  will  ich  Hegel  studieren  bei 
einem  Glase  Punsch.    Adios.    Dein  baldiges  Schreiben  erwartender 

Friedrich  Engels. 

An  Friedrich  Graeber. 

den  9.  Dezember   1839. 

Liebster  —  soeben  kommt  Dein  Brief  an,  es  ist  erstaunlich, 
wie  lange  man  auf  Euch  Menschen  warten  muß.  Von  Berlin  ver- 
lautet seit  Deinem  und  Heusers  Brief  von  Eiber feld  aus  garnichts. 
Man  sollte  des  Teufels  werden,  sobald  seine  Existenz  erwiesen  wäre. 
Doch  Du  bist  ja  arriviert,  und  es  ist  gut  so. 

Dir  nachahmend,  lasse  ich  die  Theologie  bis  zuletzt,  um  die 
Pyramide  meines  Briefes  würdig  zu  krönen.  Ich  beschäftige  mich 
sehr  viel  mit  schriftstellerischen  Arbeiten;  nachdem  ich  von  Gutz- 
kow die  Zusicherung  erhalten,  daß  ihm  meine  Beiträge  willkommen 
sind,  habe  ich  ihm  einen  Aufsatz  über  K.  Beck  eingeschickt,  und 
dann  mache  ich  viele  Verse,  die  aber  sehr  der  Politur  bedürfen  und 
schreibe  diverse  Prosastücke,  um  meinen  Stil  zu  üben.  ,,Eine  Bre- 
mer Liebesgeschichte"  schrieb  ich  vorgestern,  ,,Die  Juden  m  Bre- 
men" gestern;  morgen  denk'  ich  „Die  junge  Literatur  in  Bremen", 
„Der  Jüngste"  (nämlich  Comptoirlehrling)  oder  ein  andres  dereir- 
tiges  Ding  zu  schreiben.  In  vierzehn  Tagen  kann  man  so  bei  guter 
Laune  leicht  fünf  Bogen  zusammenschmieren,  dann  poliert  man 
den  Stil,  setzt  hier  und  da  zur  Abwechslung  Verse  dazwischen  und 
gibts  als  ,, Bremer  Abende"  heraus.  Mein  Verleger  in  spe  kam 
gestern  zu  mir,  ich  las  ihm  den  ,,Odysseus  Redivivus"  vor,  der  ihn 
ausnehmend  entzückte ;  er  will  den  ersten  Roman  aus  meiner  Fa- 
brik nehmen  und  wollte  gestern  mit  aller  Gewalt  ein  Bändchen  Ge  - 
dichte  haben.  Aber  leider  sind  nicht  genug  da  und  —  die  Zensur! 
Wer  liest  den  Odysseus  durch?  Übrigens  lasse  ich  mich  durch  die 
Zensur  nicht  abhalten,  frei  zu  schreiben;  mag  sie  hintennach  strei- 
chen, so  viel  sie  will,  ich  begeh'  keinen  Kindermord   an  meinen 


Briefe  an  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber. 


93 


eignen  Gedanken.  Unangenehm  sind  solche  Zensurstriche  immer, 
aber  auch  ehrenvoll;  ein  Autor,  der  dreißig  Jahre  alt  wird  oder  drei 
Bücher  schreibt  ohne  Zensurstriche,  ist  nichts  wert,  die  narbigen 
Krieger  sind  die  besten.  Man  muß  es  einem  Buche  ansehen,  daß 
es  aus  einem  Kampf  mit  der  Zensur  kommt.  Übrigens  liberal  ist 
die  Hamburger  Zensur ;  in  meinem  letzten  telegraph.  Aufsatze  über 
Die  Deutschen  Volksbücher  sind  mehrere  sehr  bittre  Sarkasmen 
für  den  Bundestag  und  die  preußische  Zensur,  aber  kein  Buchstabe 
ist  gestrichen  worden. 

Den  II.  Dezember.  —  O  Fritz!  So  faul,  wie  ich  diesen  Augen- 
blick bin,  bin  ich  seit  Jahren  nicht  gewesen.  Ha,  mir  geht  ein 
Licht  auf:  ich  weiß,  was  mir  fehlt  —  ich  muß  tertium  locum  be- 
suchen. 

Den  12.  Dezember.    Was  doch  die  Bremer  für  Ochsen  —  ich 
wollt'  sagen,  gute  Leute  sind!    Bei  dem  jetzigen  Wetter  sind  alle 
Straßen  entsetzlich  glatt,  und  da  haben  sie  vor  den  Ratskeller  Sand 
gestreut,  damit  die  Betrunkenen  nicht  fallen. 
Dieser    nebenstehende    Kerl    leidet    an    Welt- 
schmerz, er  hat  H.  Heine  in  Paris  besucht  und 
ist  von  ihm  angesteckt  worden;  sodann  ging 
er  zu  Theodor  Mundt  und  lernte  gewisse  zum 
Wellschmerzieren  unumgänglich  nötige  Phra- 
sen.   Seit  der  Zeit  ist  er  sichtlich  magerer  ge- 
worden und  wird  ein  Buch  schreiben,  daß  der 
Weltschmerz  das  einzige  sichre  Mittel  gegen 
die  Fettleibigkeit  sei.  — 

Den  20.  Januar.  Ich  wollte  Dir  nicht  eher  schreiben,  als  bis 
über  mein  Hierbleiben  oder  Weggehen  bestimmt  war.  Jetzt  end- 
lich kann  ich  Dir  sagen,  daß  ich  bis  auf  weiteres  noch  hier  bleibe. 

Den  21.  Ich  gestehe  Dir,  keine  große  Lust  zur  Fortsetzung 
des  theologischen  Disputs  zu  haben.  Man  versteht  sich  gegenseitig 
miß,  und  hat  bei  der  Beantwortung  seine  ipsissima  verba,  auf  die  es 
ankommt,  längst  vergessen,  und  kommt  so  zu  keinem  Ziele.  Eine 
gründliche  Erörterung  der  Dinge  erforderte  einen  weit  größeren 
Raum,  und  mir  geht  es  oft  so,  daß  ich  Dinge,  die  ich  in  einem  früheren 
Briefe  sagte,  im  folgenden  nicht  mehr  unterschreiben  kann,  weil  sie 
zu  sehr  der  Kategorie  der  Vorstellung  angehörten,  von  der  ich  mich 
indes  losgemacht  habe.  Ich  bin  jetzt  durch  Strauß  auf  den  strikten 
Weg  zum  Hegeltum  gekommen.  So  ein  eingefleischter  Hegelianer 
wie  Hinrichs  etc.  werde  ich  freilich  nicht  werden,  aber  ich  muß  schon 
bedeutende  Dinge  aus  diesem  kolossalen  Systeme  in  mich  auf- 
nehmen. Die  Hegeische  Gottesidee  ist  schon  die  meinige  geworden, 
und  ich  trete  somit  in  die  Reihe  der  ,, modernen  Pantheisten",  wie 


94 


Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 


Leo  und  Hengstenberg  sagen,  wohl  wissend,  daß  schon  das  Wort 
Pantheismus  einen  so  kolossalen  Abscheu  bei  den  nicht  denkenden 
Pfarrern  erregt.  Da  hab  ich  heut  Mittag  mich  köstlich  ergötzt  an 
einer  langen  Predigt  der  Evangelischen  Kirchenzeitung  gegen 
Märklins  Pietismus.  Die  gute  Kirchenzeitung  findet  es  nicht  nur 
höchst  sonderbar,  daß  sie  zu  den  Pietisten  gezählt  wird,  sondern  sie 
findet  auch  noch  andre  kuriose  Dinge.  Der  moderne  Pantheis- 
mus, d.  h.  Hegel,  abgesehen  davon,  daß  er  schon  bei  den  Chinesen 
und  Parsen  sich  findet,  ist  vollkommen  ausgeprägt  in  der  von  Calvin 
angegriffnen  Sekte  der  Libertiner.  Diese  Entdeckung  ist  wirklich 
gar  zu  originell.  Noch  origineller  ist  aber  die  Durchführung.  Es 
hält  schon  schwer,  Hegel  in  dem  wiederzuerkennen,  was  die  Kirchen- 
zeitung für  seine  Ansicht  ausgibt,  und  das  hat  nun  wieder  eine  an  den 
Haaren  herbeigezogene  Ähnlichkeit  mit  einem  sehr  unbestimmt 
ausgedrückten  Satze  Calvins  über  die  Libertiner.  Der  Beweis  war 
enorm  ergötzlich.  Der  Bremer  Kirchenbote  weiß  dies  noch  besser 
auszudrücken,  und  sagt,  Hegel  leugne  die  Wahrheit  der  Geschichte! 
Es  ist  enorm,  was  zuweilen  für  Unsinn  herauskommt,  wenn  man 
sich  plagt,  eine  Philosophie,  die  einem  im  Wege  liegt  und  die  man 
nicht  mehr  umgehen  kann,  als  unchristlich  darzustellen.  Leute, 
die  Hegel  nur  dem  Namen  nach  kennen  und  von  Leos  Hegelingen 
nur  die  Anmerkungen  gelesen  haben,  wollen  ein  System  stürzen, 
das,  aus  einem  Gusse,  keiner  Klammer  bedarf,  um  sich  zu  halten. 
—  Über  diesem  Briefe  schwebt  ein  eminenter  Unstern.  Gott  weiß, 
wenn  ich  mich  eben  dran  setze,  so  geht  der  Teufel  los.  Immer  be- 
komme ich  Comptoirarbeit. 


Dieses    sind   zwei   Marionetten,  welche   wider  meinen  Willen 
so  steif  sind.    Sonst  wäien's  Menschen.    Hast  Du  Strauß'  Charak- 


Briefe  an  Friedrich  Graeber.  95 

teristiken  und  Kritiken  gelesen  ?  Sieh  daß  Du  sie  bekommst,  die  Auf- 
sätze drin  sind  alle  ausgezeichnet.  Der  über  Schleiermacher  und  Daub 
ist  ein  Meisterstück.  Aus  den  Aufsätzen  über  die  Württemberger 
Besessenen  ist  ungeheuer  viel  Psychologie  zu  lernen.  Ebenso  inter- 
essant sind  die  übrigen  theologischen  und  ästhetischen  Aufsätze. 
—  Außerdem  studiere  ich  Hegels  Geschichtsphilosophie,  ein  enor- 
mes Werk,  ich  lese  jeden  Abend  pflichtschuldigst  darin,  die  unge- 
heuren Gedanken  packen  mich  auf  eine  furchtbare  Weise.  —  Neu- 
lich warf  Tholucks  alte  Tratsche,  der  Literarische  Anzeiger,  in 
ihrer  Albernheit  die  Frage  auf:  warum  doch  der  „moderne  Pantheis- 
mus** keine  lyrische  Poesie  habe,  die  doch  der  altpersische  etc.  habe  ? 
Der  Literarische  Anzeiger  soll  nur  warten,  bis  ich  und  gewisse  noch 
andre  Leute  diesen  Pantheismus  einmal  durchdrungen  haben, 
die  lyrische  Poesie  soll  schon  kommen.  Es  ist  übrigens  sehr  schön, 
daß  der  Literarische  Anzeiger  Daub  anerkennt  und  die  spekulative 
Philosophie  verdammt.  Als  wenn  nicht  auch  Daub  den  Grundsatz 
Hegels  gehabt  hätte:  daß  Menschheit  und '  Gottheit  dem  Wesen 
nach  identisch  seien.  Das  ist  diese  gräßliche  Oberflächlichkeit; 
ob  Strauß  und  Daub  der  Grundlage  nach  übereinstimmen,  das 
kümmert  sie  wenig,  aber  ob  Strauß  nicht  an  die  Hochzeit  zu  Kana 
glaubt,  Daub  aber  doch,  danach  wird  der  eine  in  den  Himmel  ver- 
setzt und  der  andre  als  Kandidat  der  Hölle  bezeichnet.  Oswald 
Marbach,  der  Volksbücherherausgeber,  ist  der  konfuseste  aller 
Menschen,  besonders  aber  (cum  —  tum)  der  Hegelianer.  Wie  ein 
Kind  Hegels  sagen  kann: 

Der  Himmel  ist  auch  auf  der  Erden, 
Ich  fühle  klar  den  Gott  in  mir  zum.  Menschen  werden, 
das  ist  mir  rein  unbegreiflich,  weil  Hegel  die  Gesamtheit  sehr  scharf 
von  dem  unvollkommenen  Einzelnen  unterscheidet.  —  Hegeln 
hat  niemand  mehr  geschader  als  seine  Schüler:  nur  wenige  waren 
wie  Gans,  Rosenkranz,  Rüge  etc.  seiner  würdig.  Aber  ein  Oswald 
Marbach  ist  denn  doch  das  Non  plus  ultra  aller  Mißverstehungs- 
menschen.  So  ein  götthcher  Kerl!  —  Herr  Pastor  Mallet  hat  im 
Bremer  Kirchenboten  Hegels  System  für  eine  „lose  Rede**  erklärt. 
Das  wäre  schlimm,  denn  wenn  die  Blöcke  auseinanderfielen,  diese 
Granitgedanken,  so  könnte  ein  einziges  Fragment  dieses  zyklopi- 
schen Gebäudes  nicht  nur  Herrn  Pastor  Mallet  sondern  ganz  Bremen 
totschlagen.  Wenn  zum  Beispiel  der  Gedanke,  daß  die  Weltgeschichte 
die  Entwicklung  des  Begriffs  der  Freiheit  ist,  mit  aller  seiner  Macht 
in  den  Nacken  eines  Bremischen  Pfarrers  fiele  —  wie  sollt' er  seufzen! 

Den  I.  Februar.    Heute  soll  der  Brief  aber  weg,  das  gehe,  wie 
es  gehe.   Die  Russen  fangen  an,  naiv  zu  werden;  sie  behaupten,  der 


96  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Krieg  gegen  die  Tscherkessen  habe  noch  nicht  so  viel  Menschen- 
leben gekostet,  wie  eine  der  kleineren  Napoleonischen  Schlachten. 
Solche  Naivetät  hätte  ich  einem  Barbaren  wie  Nicolas  nicht  zu- 
getraut. 

Die  Berliner,  wie  ich  höre,  sind  furchtbar  wütend  auf  mich. 
Ich  habe  Tholuck  und  Neander  gegen  sie  ein  wenig  heruntergemacht 
und  Ranke  nicht  unter  die  Superos^)  versetzt,  und  das  hat  sie  rasend 
gemacht.  Dazu  hab'  ich  dem  Heuser  göttlich  tolles  Zeug  über 
Beethoven  geschrieben.  —  Ein  sehr  hübsches  Lustspiel  hab'  ich 
gelesen:  Weh  dem,  der  lügt!  von  Grillparzer  in  Wien,  das  bedeutend 
über  den  gegenwärtigen  Lustspielschlendrian  weg  ist.  Hier  und  da 
blickt  auch  ein  edler,  freier  Geist  hindurch,  dem  die  österreichische 
Zensur  eine  unerträgliche  Last  ist.  Man  sieht  ihm  die  Mühe  an, 
die  es  ihm  kostet,  einen  aristokratischen  Adligen  so  zu  zeichnen, 
daß  der  adlige  Zensor  keinen  Anstand  findet.  0  tempores,  o  moria, 
Donner  und  Doria,  heute  ist  der  fünfte  Februar  da,  es  ist  schändlich, 
daß  ich  so  faul  bin,but  I  cannot  help  it^);  das  weiß  Gott,  ich  tu  jetzt 
nichts.  Mehrere  Aufsätze  hab'  ich  unter  den  Händen,  aber  sie 
rücken  nicht  vor,  und  wenn  ich  abends  Verse  machen  will,  so  habe 
ich  immer  so  viel  gegessen,  daß  ich  mich  vor  Schlaf  nicht  mehr 
halten  kann.  —  Ich  möchte  diesen  Sommer  ungeheuer  gern  eine  Reise 
machen,  ins|Dänische,  Holstein,  Jütland,  Seeland,  Rügen.  Ich 
muß  mal  sehen,  daß  mein  Alter  mir  meinen  Bruder  herschickt,  den 
schlepp  ich  dann  mit.  Ich  hab'  ein  ungeheures  Verlangen  nach  dem 
Meere,  und  welch  eine  interessante  Reisebeschreibung  ließ  sich 
davon  machen  ;]man  könnte  sie  sodann  mit  etlichen  Gedichten  her- 
ausgeben. Es  ist  jetzt  so  göttliches  Wetter  und  ich  kann  nicht  aus- 
gehen, ich  möcht's  ungeheuer  gern,  es  ist  Pech.  — 

Dies  ist  ein  dicker  Zucker makler,  der 
eben  aus  dem  Hause  geht,  und  dessen 
stehende  Redensart  ist:  ,,Nach  meiner  Mei- 
nung nach".  Wenn  er  auf  der  Börse  mit 
einem  gesprochen  hat,  und  weggeht,  so  sagt 
er  regelmäßig:  ,,Sie  leben  wohl!"  Er  heißt 
Joh.  H.  Bergmann.  Es  gibt  rührendes  Volk 
hier.  So  will  ich  Dir  gleich  ein  anderes 
Lebensbild  zeichnen:  Dieser  alte  Kerl  ist  jeden  Morgen  besoffen  und 
tritt  dann  vor  seine  Türe  und  schreit,  seine  Brust  schlagend:  ,,Ick 
bin  Borger!"  d.  h.  Ich  danke  Dir  Gott,  daß  ich  nicht  bin  wie  jene, 
Hannoveraner,  Oldenburger  oder  gar  Franzosen,  sondern  Bremer 
Borger  tagen  baren  Bremer  Kind! 

1)  Die  oberen  Götter. 

2)  Aber  ich  kann  mir  nicht  helfen. 


An  Friedrich  Graeber. 


97 


^  Der  Gesichtsausdruck  der  hiesigen  alten  Weiber 
aller  Stände  ist  wahrhaft  ekelhaft.  Besonders  die 
rechte  mit  der  Stumpfnase  ist  echt  Bremisch. 

Die  Rede  vom  Bischof  Eylert  am  Ordensfeste 
hat  ein  wesentliches  Verdienst;  jetzt  weiß  man, 
was  vom  König  zu  halten  ist,  und  sein  Meineid  ist 
offiziell.  Derselbe  König,  der  anno  1815,  als  er  die 
Angst  kriegte,  seinen  Untertanen  in  einer  Kabinetts- 
ordre  versprach,  wenn  sie  ihn  aus  der  Schwulität 
rissen,  sollten  sie  eine  Konstitution  haben,  derselbe 
lumpige,  hundsföttische,  gottverfluchte  König  läßt 
jetzt  durch  Eylert  verkün- 
digen, daß  niemand  eine  Kon- 
stitution von  ihm  bekommen 
werde,  denn  ,,Alle  für  Einen 
und  Einer  für  Alle  sei  Preu- 
ßens Regierungsprinzip"  und 
,, Niemand  flicke  einen  alten  Lappen  auf  ein  neues  Kleid**.  Weißt 
Du,  warum  Rottecks  vierter  Band  in  Preußen  verboten  ist  ?  Weil  darin 
steht, daß unsre  majestätische  Rotznase  von  Berlin  i8i4die  spanische 
Konstitution  von  1812  anerkannt  hat  und  doch  1823  die  Franzosen 
nach  Spanien  geschickt  hat,  um  diese  Konstitution  zu  vernichten  und 
den  Spaniern  die  edle  Gabe  der  Inquisition  und  Tortur  wiederzubringen. 
1826  ist  zu  Valencia  Ripole  von  Inquisitionswegen  verbrannt  wor- 
den, und  dessen  Blut  und  das  Blut  von  dreiundzwanzigtausend 
edlen  Spaniern,  die  wegen  liberaler  und  ketzerischer  Ansichten  im 
Gefängnis  verschmachtet  sind,  hat  Friedrich  Wilhelm  III.  ,,,,,,der 
Gerechte******  von  Preußen  auf  seinem  Gewissen.  Ich  hasse  ihn, 
und  außer  ihm  hasse  ich  vielleicht  nur  noch  zwei  oder  drei,  ich  hasse 
ihn  bis  in  den  Tod;  und  müßte  ich  ihn  nicht  so  sehr  verachten, 
diesen  Seh  .  .  .  kerl,  so  haßte  ich  ihn  noch  mehr.  Napoleon  war 
ein  Engel  gegen  ihn,  der  König  von  Hannover  ist  ein  Gott,  wenn 
unser  König  ein  Mensch  ist.  Es  gibt  keine  Zeit,  die  reicher  ist  an 
königlichen  Verbrechen  als  die  von  1816  bis  1830;  fast  jeder  Fürst, 
der  damals  regierte,  hatte  die  Todesstrafe  verdient.  Der  fromme 
Karl  X.,  der  tückische  Ferdinand  VII.  von  Spanien,  Franz  von 
Österreich,  diese  Maschine,  die  zu  nichts  gut  war,  als  Todesurteile 
zu  unterschreiben  und  von  Carbonari  zu  träum.en,  Dom  Miguel,  der 
ein  größeres  Luder  ist  als  sämtliche  Helden  der  französischen  Re- 
volution zusammengenommen,  und  den  doch  Preußen,  Rußland 
und  Österreich  mit  Freuden  anerkannten,  als  er  im  Blute  der  besten 
Portugiesen  sich  badete,  und  der  Vatermörder  Alexander  von  Ruß- 
land, sowie  sein  würdiger  Bruder  Nikolaus,  über  deren  scheußliche 

Mayer,  Kngels.     Ergänzungsband.  7 


gg  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Taten  noch  ein  Wort  zu  verlieren  überflüssig  wäre  —  o,  ich  könnte 
Dir  ergötzliche  Geschichten  erzählen,  wie  lieb  die  Fürsten  ihre 
Untertanen  haben  —  ich  erwarte  bloß  von  dem  Fürsten  etwas  Gutes, 
dem  die  Ohrfeigen  seines  Volks  um  den  Kopf  schwirren  und  dessen 
Palastfenster  von  den  Steinwürfen  der  Revolution  zerschmettert 
werden.    Leb  wohl. 

Dein 

Friedrich  Engels. 

Die  Deutschen  Volksbücher. 

Ist  es  nicht  ein  großes  Lob  für  ein  Buch,  wenn  es  ein  Volks- 
buch, ein  deutsches  Volksbuch  ist?  Aber  darum  dürfen  wir  auch 
Großes  von  einem  solchen  Buche  verlangen,  darum  muß  es  allen 
vernünftigen  Ansprüchen  genügen,  und  von  jeder  Seite  in  seinem 
Werte  unangreifbar  sein.  Das  Volksbuch  hat  den  Beruf,  den  Land- 
mann,  wenn  er  abends  müde  von  seinem  harten  Tagewerk  zurück- 
kehrt, zu  erheitern,  zu  beleben,  zu  ergötzen,  ihn  seiner  Mühen  ver- 
gessen zu  machen,  sein  steiniges  Feld  in  einen  duftigen  Rosen- 
garten umzuwandeln;  es  hat  den  Beruf,  dem  Handwerker  seine 
Werkstatt,  dem  geplagten  Lehrjungen  seine  elende  Dachkammer 
in  eine  Welt  der  Poesie,  in  einen  goldenen  Palast  umzuzaubern  und 
ihm  sein  handfestes  Liebchen  in  Gestalt  einer  wunderschönen  Prin- 
zessin vorzuführen;  aber  es  hat  auch  den  Beruf,  neben  der  Bibel 
ihm  sein  sittliches  Gefühl  klarer  zu  machen,  ihm.  seine  Kraft,  sein 
Recht,  seine  Freiheit  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  seinen  Mut, 
seine  Vaterlandsliebe  zu  wecken. 

Sind  also  im  allgemeinen  die  Anforderungen,  die  man,  ohne 
ungerecht  zu  sein,  an  ein  Volksbuch  machen  darf,  reicher,  poetischer 
Inhalt,  derber  Witz,  sittliche  Reinheit,  und  für  das  deutsche  Volks- 
buch kräftiger,  biederer  deutscher  Geist,  Eigenschaften,  die  zu 
jeder  Zeit  sich  gleich  bleiben,  so  sind  wir  daneben  auch  berechtigt,  zu 
verlangen,  daß  das  Volksbuch  seiner  Zeit  entspreche  oder  aufhöre, 
Volksbuch  zu  sein.  Sehen  wir  insbesondere  die  Gegenwart  an,  das 
Ringen  nach  Freiheit,  das  alle  ihre  Erscheinungen  hervorruft,  den 
sich  entwickelnden  Konstitutionalismus,  das  Sträuben  gegen  den 
Druck  der  Aristokratie,  den  Kampf  des  Gedankens  mit  dem  Pietis- 
mus, der  Heiterkeit  mit  den  Resten  düsterer  Askese,  so  sehe  ich 
nicht  ein,  inwiefern  es  Unrecht  wäre,  zu  verlangen,  das  Volksbuch 
solle  hier  dem  Ungebildeteren  zur  Hand  gehen;  ihm,  wenn  auch 
natürlich  nicht  in  unmittelbarer  Deduktion,  die  Wahrheit  und  Ver- 
nünftigkeit dieser  Richtungen  zeigen   —  aber  auf  keinen  Fall  die 


Die  deutschen  Volksbücher. 


99 


Duckmäuserei,  das  Kriechen  vor  dem  Adel,  den  Pietismus  beför- 
dern. Von  selbst  versteht  es  sich  aber,  daß  Gebräuche  früherer 
Zeiten,  deren  Ausübung  jetzt  Unsinn  oder  Unrecht  wäre,  dem  Volks - 
buche  fremd  bleiben  müssen. 

Nach  diesen  Grundsätzen  dürfen  und  müssen  wir  auch  die- 
jenigen Bücher  beurteilen,  die  jetzt  wirklich  deutsche  Volksbücher 
sind  und  gewöhnlich  unter  diesem  Namen  zusammengefaßt  werden. 
Sie  sind  teils  Erzeugnisse  der  mittelalterlichen  deutschen  oder  ro- 
manischen Poesie,  ceils  des  Volksaberglaubens.  Früher  von  den 
höheren  Ständen  verachtet  und  verspottet,  wurden  sie  von  den  Ro- 
mantikern bekanntlich  hervorgesucht,  bearbeitet,  ja  gefeiert.  Aber 
die  Romantik  sah  nur  auf  den  poetischen  Gehalt,  und  wie  unfähig 
sie  war,  ihre  Bedeutung  als  Volksbücher  zu  fassen,  zeigt  Gör  res 
in  seinem  Werk  darüber.  Daß  Görres  überhaupt  seine  Urteile  alle 
dichtet,  hat  er  ja  noch  in  der  neuesten  Zeit  gezeigt.  Doch  beruht 
auf  seinem  Buche  noch  immer  die  gewöhnliche  Ansicht  über  diese 
Bücher,  und  Marbach  beruft  sich  noch  darauf  bei  der  Ankündi- 
gung seiner  Ausgabe.  In  der  dreifachen  neuen  Bearbeitung  dieser 
Bücher  —  durch  Marbach  in  Prosa,  durch  Simrock  eine  prosaische 
und  eine  poetische  —  von  denen  zwei  wieder  für  das  Volk  bestimmt 
sind,  war  die  Aufforderung  gegeben,  die  Gegenstände  dieser  Be- 
arbeitungen nochmals  genau  in  ihrem  volkstümlichen  Werte  zu 
prüfen. 

Das  Urteil  über  den  poetischen  Wert  dieser  Bücher  muß  jedem 
Einzelnen  überlassen  bleiben,  so  lange  die  Poesie  des  Mittelalters 
überhaupt  so  sehr  verschieden  beurteilt  wird ;  daß  sie  aber  wirk- 
lich echt  poetisch  sind,  wird  wohl  keiner  leugnen.  Mögen  sie  also 
auch  als  Volksbücher  sich  nicht  legitimieren  können,  der  poetische 
Gehalt  soll  ihnen  ungeschmälert  bleiben,  ja,  nach  Schillers  Worten: 
Was  unsterblich  im  Gesang  soll  leben. 
Muß  im  Leben  untergehn, 
möchte  vielleicht  mancher  Dichter  einen  Beweggrund  |mehr  finden, 
das,  was  sich  als  unhaltbar  für 's  Volk  erweist,  der  Poesie  durch 
Bearbeitung  zu  retten.  —  Zwischen  denen  dieser  Erzählungen,  die 
deutschen,  und  denen,  die  romanischen  Ursprungs  sind,  findet  sich 
ein  sehr  bezeichnender  Unterschied;  die  deutschen,  echte  Volks- 
sagen, stellen  den  Mann  handelnd  in  den  Vordergrund ;  die  roma- 
nischen heben  das  Weib  entweder  geradezu  duldend  (Genovefa) 
oder  liebend,  also  auch  passiv  gegen  die  Leidenschaft,  hervor. 
Nur  zwei  sind  ausgenommen:  die  Haimonskinder  und  Fortunat, 
beide  romanisch,  aber  auch  Volkssagen,  während  Oktavian,  Melu- 
sine etc.  Produkte  der  Hofpoesie  und  erst  später  durch  die  prosa- 
ische Bearbeitung  ins  Volk  übergegangen  sind.  —  Von  den  komi- 


ioo  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

sehen  ist  auch  nur  eins  nicht  gerade  deutschen  Ursprungs,  Salo- 
mon  und  Morolf,  während  Eulenspiegel,  die  Schildbürger  usw.  uns 
nicht  streitig  gemacht  werden  können. 

Fassen  wir  die  Gesamtheit  dieser  Bücher  ins  Auge,  und  be- 
urteilen wir  sie  nach  den  im  Anfange  ausgesprochenen  Grundsätzen, 
so  ist  es  klar,  daß  sie  nur  nach  einer  Seite  hin  diesen  Ansprüchen 
genügen ;  sie  haben  Poesie  und  Witz  in  reichem  Maße  und  in  einer 
auch  dem  Ungebildetsten  im  allgemeinen  ganz  verständlichen  Form, 
nach  der  andern  Seite  hin  aber  genügt  die  Gesamtheit  gar  nicht, 
einzelne  sprechen  gerade  das  Gegenteil  aus,  andere  genügen  nur 
teilweise.  Die  besonderen  Zwecke,  die  die  Gegenwart  von  ihnen 
verlangen  dürfte,  gehen  ihnen  als  Produkten  des  Mittelalters  natür- 
lich ganz  ab.  Trotz  der  äußeren  Reichhaltigkeit  dieses  Literatur - 
Zweiges  und  trotz  Tiecks  und  Görres'  Deklamationen  lassen  sie  also 
noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig;  ob  diese  Lücke  aber  jemals  aus- 
zufüllen sein  wird,  ist  eine  andere  Frage,  die  ich  mir  nicht  zu  be- 
antworten getraue. 

Um  nun  zu  dem  einzelnen  überzugehen,  so  ist  ohne  Zweifel 
das  wichtigste  die  Geschichte  vom  gehörnten  Siegfried.  Das 
Buch  laß  ich  mir  gefallen,  das  ist  eine  Erzählung,  die  wenig  zu 
wünschen  übrig  läßt,  da  ist  die  üppigste  Poesie,  bald  mit  der  größten 
Naivität,  bald  mit  dem  schönsten  humoristischen  Pathos  vorge- 
tragen ;  da  ist  sprudelnder  Witz  —  wer  kennt  nicht  die  kostbare 
Episode  vom  Kampf  der  beiden  Memmen?  Da  ist  Charakter;  ein 
kecker,  jugendlich-frischer  Sinn,  an  dem  sich  jeder  wandernde 
Handwerksbursche  ein  Exempel  abnehmen  kann,  wenn  er  auch 
nicht  mehr  mit  Drachen  und  Riesen  zu  kämpfen  hat.  Und  werden 
nur  die  Druckfehler  verbessert,  an  denen  besonders  die  mir  vor- 
liegende (Kölner)  Ausgabe  überaus  reich  ist,  und  die  Interpunktion 
richtig  gesetzt,  so  verschwinden  Schwabs  und  Marbachs  Überar- 
beitungen gegen  diesen  echten  Volksstil.  Das  Volk  hat  sich  aber 
auch  dankbar  dagegen  bewiesen ;  keines  dieser  Bücher  ist  mir  so 
häufig  vorgekommen  wie  dieses. 

Herzog  Heinrich  der  Löwe.  —  Von  diesem  Buch  habe  ich 
mir  leider  kein  altes  Exemplar  verschaffen  können,  die  neuere  in 
Einbeck  gedruckte  Ausgabe  scheint  ganz  an  die  Stelle  der  alten  ge- 
treten zu  sein.  Voran  steht  eine  Genealogie  des  braunschweigischen 
Hauses,  die  bis  zum  Jahre  1735  geht,  dann  folgt  die  Biographie  des 
Herzogs  Heinrich  nach  der  Geschichte  und  darauf  die  Volkssage. 
Noch  sind  beigefügt  eine  Erzählung,  die  von  Gottfried  von  Bouillon 
dasselbe  erzählt,  wie  die  Volkssage  von  Heinrich  dem  Löwen,  die 
Geschichte  vom  Sklaven  Andronicus,  welche  einem  palästinischen 
Abt  Gerasimi  zugeschrieben  und  am  Schluß  bedeutend  verändert 


Die  deutschen  Volksbücher.  lOl 

wird  und  ein  Gedicht  aus  der  neueren  romantischen  Schule,  dessen 
Verfasser  mir  nicht  einfällt,  in  dem  die  Sage  vom  Löwen  noch  ein- 
mal erzählt  wird.  So  verschwindet  die  Sage,  auf  der  doch  das  Volks- 
buch beruht,  gänzlich  unter  den  Anhängseln,  mit  denen  es  die 
Freigebigkeit  des  weisen  Herausgebers  ausstattete.  Die  Sage  selbst 
ist  sehr  schön,  aber  das  übrige  kann  nicht  interessieren,  was  geht 
den  Schwaben  die  braunschweigische  Geschichte  an  ?  Und  was  soll 
die  moderne  wortreiche  Romanze  hinter  dem  einfachen  Stil  des 
Volksbuches?  Doch  auch  der  ist  fort;  der  geniale  Bearbeiter,  der 
mir  ein  Pfarrer  oder  Schulmeister  aus  dem  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zu  sein  scheint,  schreibt  folgendermaßen:  ,,So  war  das 
Ziel  der  Reise  erreicht,  das  heilige  Land  lag  vor  Augen,  der  Boden 
wurde  betreten,  an  den  sich  die  bedeutendsten  Erinnerungen  der 
religiösen  Geschichte  knüpfen.  Die  fromme  Einfalt,  die  hieher  ver- 
langensvoll geschaut  hatle,  ging  hier  über  in  inbrünstige  Andacht, 
fand  hier  volle  Befriedigung  und  ward  die  lebhafteste  Freude  in 
dem  Herrn."  —  Man  stelle  die  Sage  in  ihrer  alten  Sprache  wieder 
her,  füge,  um  ein  Buch  voll  zu  machen,  andere  echte  Volkssagen 
hinzu  und  sende  sie  so  unters  Volk,  so  wird  sie  den  poetischen  Sinn 
wach  halten ;  aber  in  dieser  Gestalt  ist  sie  es  nicht  wert,  unter  dem 
Volk  zu  zirkulieren. 

Herzog  Ernst.  —  Der  Verfasser  dieses  Buches  ist  kein  be- 
sonderer Poet  gewesen,  indem  er  alle  poetischen  Momente  im  orien- 
talischen Märchen  vorfand.  Doch  ist  das  Buch  gut  geschrieben 
und  sehr  unterhaltend  für  das  Volk;  das  ist  aber  auch  alles.  An  die 
Wirklichkeit  der  darin  vorkommenden  Phantasiegestalten  wird  doch 
kein  Mensch  mehr  glauben,  man  mag  es  darum  unverändert  in  den 
Händen  des  Volkes  lassen. 

Ich  komme  jetzt  zu  zwei  Sagen,  die  das  deutsche  Volk  schuf 
und  ausbildete,  zu  dem  Tiefsten,  was  die  Volkspoesie  aller  Völker 
aufweisen  kann.  Ich  meine  die  Sage  von  Faust  und  vom  ewigen 
Juden.  Sie  sind  unerschöpflich,  jede  Zeit  kann  sie  sich  aneignen, 
ohne  sie  in  ihrem  Wesen  umzumodeln;  und  wenn  auch  die  Bear- 
beitungen der  Faustsage  nach  Goethe  zu  den  Iliaden  post  Homerum 
gehören  m.ögen,  so  decken  sie  uns  doch  immer  neue  Seiten  daran 
auf  —  von  der  Wichtigkeit  der  Ahasversage  für  die  neuere  Poesie 
gar  nicht  zu  reden.  Aber  wie  enthalten  die  Volksbücher  diese  Sagen! 
Nicht  als  Produkte  der  freien  Phantasie,  nein,  als  Kinder  eines 
sklavischen  Aberglaubens  sind  sie  aufgefaßt ;  das  Buch  vom  ewigen 
Juden  verlangt  sogar  einen  religiösen  Glauben  an  seinen  Inhalt, 
den  es  mit  der  Bibel  und  vielen  abgeschmackten  Legenden  zu  recht- 
fertigen sucht;  von  der  Sage  enthält  es  nur  das  aller  äußerlichste, 
aber  eine  sehr  lange  und  langweilige  christliche  Verm.ahnung  über 


102  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     I838— 1841. 

den  Juden  Ahasverus.  Die  Faustsage  ist  zu  einer  gemeinen  Hexerei- 
geschichle  herabgesunken,  mit  ordinären  Zauber anekdoten  verziert, 
sogar  die  wenige  Poesie,  die  sich  in  der  Volkskomödie  erhalten  hat, 
ist  fast  ganz  verschwunden.  Nicht  nur  aber  sind  diese  beiden  Bücher 
unfähig,  einen  poetischen  Genuß  zu  bieten,  sie  müssen  in  der  gegen- 
wärtigen Gestalt  den  alten  Aberglauben  wieder  befestigen  und  er- 
neuern ;  oder  was  soll  man  anders  von  solchen  Teufeleien  erwarten  ? 
Das  BevAißtsein  der  Sage  und  ihres  Inhalts  scheint  auch  im  Volke 
ganz  zu  verschwinden;  Faust  gilt  für  einen  ganz  gewöhnlichen 
Hexenmeister  und  Ahasver  für  den  größten  Bösewicht  außer  Judas 
Ischariot.  Aber  sollte  es  nicht  möglich  sein,  diese  beiden  Sagen  dem 
deutschen  Volke  zu  retten,  sie  in  ihrer  ursprünglichen  Reinheit 
wieder  herzustellen  und  ihr  Wesen  so  klar  auszudrücken,  daß  auch 
dem  Ungebildeteren  der  tiefe  Sinn  nicht  ganz  unverständlich  ist  ? 
Marbach  und  Simrock  sind  noch  nicht  zur  Bearbeitung  dieser 
Sagen  gekommen;  möchten  sie  bei  diesen  eine  weise  Kritik  vor- 
walten lassen! 

Eine  andere  Reihe  der  Volksbücher  liegt  vor  uns,  es  sind  die 
scherzhaften,  Eulenspiegel,  Salomon  und  Morolf,  der  Pfaft 
vom  Kaienberge,  die  sieben  Schwaben,  die  Schildbürger. 
Das  ist  eine  Reihe,  wie  sie  wenige  Völker  aufzuweisen  haben.  Dieser 
Witz,  diese  Natürlichkeit  der  Anlage  wie  der  Ausführung,  der  gut- 
mütige Humor,  welcher  den  beißenden  Spott  überall  begleitet,  da- 
mit er  nicht  zu  arg  werde,  diese  frappante  Komik  der  Situation 
könnte  wahrlich  einen  großen  Teil  unserer  Literatur  beschämen. 
Welcher  Autor  der  Gegenwart  hätte  Erfindungsgabe  genug,  ein 
Buch  wie  die  Schildbürger  schaffen  zu  können?  Wie  prosaisch 
steht  Mundts  Humor  da,  vergleicht  man  ihn  mit  dem  der  sieben 
Schwaben I  Freilich  gehörte  eine  ruhigere  Zeit  dazu,  dergleichen 
zu  produzieren,  als  die  unsrige,  die,  einem  ruhelosen  Geschäfts- 
manne  gleichend,  stets  die  wichtigen  Fragen  im  Munde  führt,  die 
sie  zu  beantworten  habe,  ehe  sie  an  anderes  denken  könne.  — 
Was  die  Form  dieser  Bücher  betrifft,  so  möchte,  außer  Entfer- 
nung eines  oder  des  andern  mißratenen  Witzes  und  Reinigung  des 
entstellten  Stils,  wenig  an  ihnen  zu  ändern  sein.  Von  Eulenspiegel 
sind  mehrere  mit  preußischem  Zensurstempel  versehene  Ausgaben 
weniger  vollständig;  gleich  im  Anfang  fehlt  ein  derber  Witz,  der 
bei  Marbach  in  einem  sehr  guten  Holzschnitt  dargestellt  ist. 

Einen  schorffen  Gegensatz  hierzu  bilden  die  Geschichten  von 
Genovefa,  Griseldis  und  Hirlanda,  drei  Bücher  romanischen  Ur- 
sprungs, die  alle  ein  Weib  zur  Heldin  haben,  und  zwar  ein  leiden- 
des Weib;  sie  bezeichnen  das  Verhältnis  des  Mittelalters  zur  Reli- 
gion, und  das  auf  sehr  poetische  Weise  —  nur  sind  Genovefa  und 


Die  deutschen  Volksbücher. 


103 


Hirlanda  zu  sehr  über  einen  Leisten  gehauen  Aber,  um  Gottes- 
willen, was  soll  das  deutsche  Volk  heutzutage  damit?  Man  kann 
sich  zwar  unter  Griseldis  das  deutsche  Volk  sehr  schön  vorstellen 
und  unter  Markgrafen  Walther  die  Fürsten  —  aber  da  müßte  denn 
die  Komödie  doch  ganz  anders  schließen  als  es  in  dem  Volksbuch 
geschieht,  man  würde  sich  die  Vergleichung  beiderseits  verbitten 
und  würde  hie  und  da  gutes  Recht  dazu  haben.  Soll  die  Griseldis 
noch  Volksbuch  bleiben,  so  kommt  sie  mir  vor  wie  eine  Petition 
an  die  hohe  deutsche  Bundesversammlung  um  Emanzipation  der 
Frauen.  Man  weiß  aber  hie  und  da,  wie  vor  vier  Jahren  dergleichen 
romanhafte  Petitionen  aufgenommen  wurden,  weshalb  ich  mich 
sehr  wundere,  daß  Marbach  nicht  nachträglich  zum  jungen  Deutsch- 
land gerechnet  worden.  Das  Volk  hat  lange  genug  Griseldis  und 
Genovefa  vorgestellt,  es  spiele  jetzt  auch  einmal  den  Siegfried  und 
Reinald ;  aber  der  rechte  Weg,  es  dahin  zu  bringen,  ist  doch  wohl 
nicht  das  Anpreisen  jener  alten  Demütigungshistorien? 

Das  Buch  vom  Kaiser  Octavianus  gehört  seiner  ersten  Hälfte 
nach  dieser  Klasse  an,  während  es  durch  die  zweite  Hälfte  es  sich 
an  die  eigentlichen  Liebesgeschichten  anschließt.  Die  Geschichte 
von  der  Helena  ist  nur  eine  Nachahmung  des  Oktavian,  oder  beide 
sind  vielleicht  verschiedene  Auffassungen  derselben  Sage.  Die 
zweite  des  Oktavian  ist  ein  vortreffliches  Volksbuch  und  allein  dem 
Siegfried  zur  Seite  zu  stellen;  die  Charakteristik  des  Florens,  sowie 
seines  Pflegevaters  Clemens  und  des  Claudius  ist  ausgezeichnet,  und 
Tieck  hatte  es  hier  sehr  leicht ;  aber  zieht  sich  nicht  überall  der 
Gedanke  hindurch,  daß  adliges  Blut  besser  sei  als  Bürger blut?  Und 
wie  oft  finden  wir  nicht  diesen  Gedanken  noch  im  Volke  selbst  ? 
Wenn  dieser  Gedanke  nicht  aus  dem  Oktavian  verbannt  werden 
kann  —  und  das  halte  ich  für  unmöglich  —  wenn  ich  bedenke, 
daß  er  zuerst  entfernt  werden  muß,  wo  konstitutionelles  Leben  er- 
stehen soll,  so  mag  das  Buch  so  poetisch  sein,  wie  es  will,  censeo 
Carthaginem  esse  delendam. 

Den  genannten  tränenreichen  Leidens-  und  Duldergeschichten 
stehen  drei  andere  gegenüber,  die  die  Liebe  feiern.  Es  sind:  Ma- 
gelone,  Melusina  und  Tristan.  Magelone  sagt  mir  als  Volks- 
buch am  meisten  zu;  Melusina  ist  wieder  voll  von  absurden  Mon- 
strositäten und  fabelhaften  Übertreibungen,  so  daß  man  beinahe 
eine  Donquichotiade  darin  sehen  möchte  und  ich  wieder  fragen  muß: 
was  soll  das  dem  deutschen  Volke  ?  Und  nun  gar  die  Geschichte 
von  Tristan  und  Isolde  —  ihren  poetischen  Wert  will  ich  nicht  an- 
tasten, weil  ich  die  herrliche  Bearbeitung  Gottfrieds  von  Straßburg 
liebe,  wenn  auch  hie  und  da  Mängel  in  der  Erzählung  zu  finden 
sein  möchten,  —  aber  es  gibt  kein  Buch,  das  weniger  dem  Volke 


104  "^"^  ^^^  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

in  die  Hände  gegeben  werden  dürfte  als  gerade  dieses.  Zwar  liegt 
hier  eine  moderne  Frage  wieder  sehr  nahe,  die  Emanzipation  der 
Frauen;  ein  geschickter  Dichter  würde  bei  einer  Bearbeitung  des 
Tristan  jetzt  diese  Frage  gar  nicht  mehr  von  seiner  Arbeit  aus- 
schließen können,  ohne  darum  in  eine  gesuchte  und  langweilige 
Tendenzpoesie  zu  verfallen.  Aber  im  Volksbuch,  wo  von  dieser 
Frage  keine  Rede  ist,  kommt  die  ganze  Erzählung  auf  eine  Ent- 
schuldigung des  Ehebruchs  heraus  —  und  das  in  den  Händen  des 
Volkes  zu  lassen,  ist  doch  sehr  bedenklich.  Indes  verschwindet  das 
Buch  fast  ganz  und  sehr  selten  bekommt  man  ein  Exemplar  davon 
zu  Gesicht. 

Die  Haimonskinder  und  Fortunat,  wo  wir  wieder  den 
Mann  im  Mittelpunkt  der  Handlung  sehen,  sind  einmal  wieder  ein 
paar  rechte  Volksbücher.  Hier  der  heiterste  Humor,  mit  dem  der 
Sohn  Fortunas  alle  seine  Abenteuer  durchficht  —  dort  der  kecke 
Trotz,  die  ungebändigte  Oppositionslust,  die  der  absoluten,  tyran- 
nischen Gewalt  Karls  des  Großen  jugendkräftig  entgegentritt  und 
sich  nicht  scheut,  erlittene  Beleidigungen  mit  eigner  Hand,  auch 
vor  dem  Auge  des  Fürsten,  zu  rächen.  Solch  ein  jugendlicher  Geist 
muß  in  den  Volksbüchern  herrschen,  der  läßt  viele  Mängel  über- 
sehen. Aber  wo  ist  der  in  Griseldis  und  ihren  Verwandten  zu  finden  ? 
Zuletzt  kommt  das  Beste,  der  geniale  hundertjährige  Kalender, 
das  superkluge  Traumbuch,  das  nie  fehlende  Glücksrad  und  ähn- 
liche unsinnige  Kinder  des  leidigen  Aberglaubens.  Mit  welchen 
elenden  Sophismen  Görres  dieses  Zeug  entschuldigt  hat,  weiß  ein 
jeder,  der  sein  Buch  nur  einmal  angesehen  hat.  Alle  diese  traurigen 
Bücher  hat  die  preußische  Zensur  mit  ihrem  Stempel  beehrt.  Frei- 
lich sind  sie  weder  revolutionär  wie  Börnes  Briefe  noch  unsittlich, 
wie  man  von  der  Wally  behauptet.  Man  sieht,  wie  falsch  die  An- 
schuldigungen sind,  als  sei  die  preußische  Zensur  ausnehmend  scharf. 
Ich  brauche  wohl  kein  Wort  mehr  darüber  zu  verlieren,  ob  solches 
Zeug  ferner  unter  dem  Volke  bleiben  solle. 

Von  den  übrigen  Volksbüchern  ist  nichts  zu  sagen;  die  Ge- 
schichten von  Pontus,  Fierabras  usw.  haben  sich  längst  verloren 
und  verdienen  also  diesen  Namen  nicht  mehr.  Aber  ich  glaube 
schon  in  diesen  wenigen  Andeutungen  gezeigt  zu  haben,  wie  un- 
genügend diese  Literatur  erscheint,  wenn  man  sie  im  Interesse  des 
Volkes,  nicht  im  Interesse  der  Poesie  beurteilt.  Was  ihr  nottut, 
sind  Bearbeitungen  einer  strengen  Auswahl,  die  vom  alten  Ausdruck 
nicht  ohne  Not  abgehen  und  gut  ausgestattet  unter  das  Volk  ge- 
bracht werden.  Mit  Gewalt  die  auszurotten,  die  vor  der  Kritik  nicht 
bestehen  können,  dürfte  weder  leicht  möglich  noch  rällich  sein; 
nur  dem  wirklich  Abergläubischen  darf  der  Zensurstempel  versagt 


Die  deutschen  Volksbücher. 


105 


werden.  Die  übrigen  verlieren  sich  von  selbst ;  Griseldis  findet  sich 
selten,  Tristan  fast  gar  nicht.  In  manchen  Gegenden  ist  es  nicht 
möglich,  auch  nur  ein  einziges  Exemplar  aufzutreiben,  z.  B.  im 
Wuppertal;  in  andern,  wie  in  Cöln,  Bremen  usw.  hat  fast  jeder 
Krämer  Exemplare  an  den  Fenstern  für  die  hereinkommenden 
Bauern  aufgehängt. 

Aber  eine  vernünftige  Bearbeitung  ist  das  deutsche  Volk,  sind 
die  besseren  dieser  Bücher  doch  wohl  wert?  Es  ist  freilich  nicht 
jedermanns  Sache,  eine  solche  Bearbeitung  auszuführen;  ich  kerne 
nur  zwei,  die  kritischen  Scharfsinn  und  Geschm.ack  gerug  bei  der 
Auswahl,  Gewandtheit  im  altertümlichen  Slil  bei  der  Ausführung 
besitzen,  das  sind  die  Brüder  Grimm;  ob  sie  aber  auch  Lust  und 
Muße  zu  dieser  Arbeit  haben  würden  ?  Die  Marbachsche  Bearbei- 
tung paßt  gar  nicht  für  das  Volk.  Was  ist  da  zu  hoffen,  wenn  er 
gleich  mit  Griseldis  anfängt  ?  Nicht  nur  fehlt  ihm  alle  Kritik,  auch 
hat  er  sich  zu  Auslassungen  hinreißen  lassen,  die  gar  nicht  not- 
taten ;  dazu  hat  er  den  Stil  recht  matt  und  farblos  gemacht  —  man 
vergleiche  das  Volksbuch  vom  gehörnten  Siegfried  und  jedes  andere 
mit  der  Bearbeitung.  Da  ist  nichts  als  auseinandergerissere  Sätze, 
Wort  Versetzungen,  zu  denen  keine  Veranlassung  war,  als  Herrn 
Marbachs  Sucht,  in  Ermangelung  anderweitiger  Selbständigkeit  hier 
selbständig  zu  scheinen.  Oder  was  trieb  ihn  sonst  dazu,  die  schön- 
sten Stellen  aus  dem  Volksbuch  zu  verändern  und  mit  seiner  un- 
nötigen Interpunktion  zu  versehen  ?  Wer  das  Volksbuch  nicht 
kennt,  für  den  sind  die  Marbachschen  Erzählungen  ganz  gut,  aber 
sobald  man  beide  vergleicht,  sieht  man,  daß  Marbachs  ganzes  Ver- 
dienst die  Verbesserung  der  Druckfehler  ist.  Seine  Holzschnitte 
sind  von  ganz  verschiedenem  Wert.  —  Die  Simrocksche  Bearbeitung 
ist  noch  nicht  weit  genug  gediehen,  um  ein  Urteil  darüber  fällen 
zu  können ;  doch  traue  ich  Simrock  weit  mehr  zu  als  seinem  Neben- 
buhler. Seine  Holzschnitte  sind  auch  durchgängig  besser  als  die 
Marbachs. 

Sie  haben  für  mich  einen  außerordentlichen,  poetischen  Reiz, 
diese  alten  Volksbücher  mit  ihrem  altertümlichen  Ton,  mit  ihren 
Druckfehlern  und  schlechten  Holzschnitten.  Sie  versetzen  mich 
aus  unsern  geschraubten,  modernen  ,, Zuständen,  Wirren  und  feinen 
Bezügen"  in  eine  Welt,  die  der  Natur  weit  näher  liegt.  Aber  davon 
darf  hier  keine  Rede  sein.  Tieck  freilich  hatte  in  diesem  poetischen 
Reiz  sein  Hauptargument  —  aber  was  gilt  Tiecks,  Görres'  und  aller 
andern  Romantiker  Autorität,  wenn  die  Vernunft  dawider  spricht, 
und  wenn  es  sich  um  das  deutsche  Volk  handelt  ? 


1 

I06  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Karl  Beck. 

Ein  Sultan  bin  ich,  wild  und  sturmbewegt, 
Mein  Heer  des  Lieds  gepanzerte  Gestalten; 
Um  meine  Stirne  hat  der  Gram  gelegt 
Den  Turban  in  geheimnisreiche  Falten   — 
Mit  diesen  schwülstigen  Worten  trat  Herr   Beck,  Einlaß  be- 
gehrend, an  die  Reihen  der  deutschen  Dichter;   im  Auge  das  stolze 
Bewußtsein  seines  Berufs,  um  den  Mund  einen  weltschmerzlichen, 
modernen  Zug.    So  streckte  er  die  Hand  nach  dem  Lorbeer  aus. 
Zwei  Jahre  sind  seitdem  vergangen;  bedeckt  der  Lorbeer  versöh- 
nend die  „geheimnisvollen  Falten"  seiner  Stirn  ? 

Es  lag  in  seiner  ersten  Gredichtsammlung  eine  große  Kühn- 
heit. „Gepanzerte  Lieder",  und  eine  „neue  Bibel",  ein  „junges 
Palästina",  —  i^er  zwanzigjährige  Dichter  sprang  aus  Prima  gleich 
in  den  Himmel!  Das  war  ein  Feuer,  wie  es  lange  nicht  loderte, 
ein  Feuer,  das  stark  rauchte,  weil  es  von  allzu  grünem  frischem 
Holze  kam. 

Die  junge  Literatur  entwickelte  sich  so  rasch  und  glänzend, 
daß  ihre  Gegner  einsahen,  wie  man  durch  hochmütiges  Desavou- 
ieren oder  Aburteilen  mehr  verlieren  als  gewinnen  müsse.  Es  war 
hohe  Zeit,  sie  genauer  zu  betrachten  und  ihre  wirklichen  Schwä- 
chen anzugreifen.  Damit  war  denn  die  junge  Literatur  freilich  als 
ebenbürtig  anerkannt.  Und  man  fand  dieser  schwachen  Seiten  — 
ob  wirkliche  oder  scheinbare,  geht  uns  hier  nichts  an  —  bald  eine 
ziemliche  Anzahl;  am  lautesten  aber  wurde  behauptet,  das  gewesene 
junge  Deutschland  wolle  die  Lyrik  stürzen.  Freilich,  Heine  kämpfte 
gegen  die  Schwaben;  Wienbarg  machte  bittere  Bemerkungen  über 
die  alltägliche  Lyrik  und  ihr  ewiges  Einerlei,  Mundt  verwarf  alle 
Lyrik  als  unzeitgemäß  und  prophezeite  einen  Literaturmessias  der 
Prosa;  das  war  zu  arg.  Wir  Deutschen  sind  von  jeher  stolz  gewesen 
auf  unsere  Lieder ;  rühmte  sich  der  Franzose  seiner  selbsterkämpf- 
ten Charte  und  spottete  er  unserer  Zensur,  so  zeigten  wir  stolz  auf 
die  Philosophie  von  Kant  bis  Hegel  und  auf  die  Liederreihe  vom 
Ludwigslied  bis  auf  Nikolaus  Lenau.  Und  dieser  lyrische  Schatz 
sollte  uns  nun  verkümmert  werden.''  Siehe,  da  kommt  die  Lyrik 
der  „jungen  Literatur"  mit  Franz  Dingelstedt,  Ernst  von  der  Haide, 
Theodor   Creizenach  und  Karl  Beck.  , 

Kurz  vor  Freiligraths  Gedichten  erschienen  Becks  ,, Nächte". 
Es  ist  bekannt,  welches  Aufsehen  beide  Gedichtsammlungen  er- 
regten. Zwei  junge  Lyriker  standen  auf,  denen  damals  von  den 
Jüngeren  keiner  an  die  Seite  zu  setzen  war.  Das  Verhältnis  Becks 
und  Freiligraths  zu  einander  wurde   in  der  Eleganten  Zeitung  von 


Karl  Beck. 


107 


Kühne  in  seiner,  von  den  Charakteren  her  bekannten  Manier  be- 
sprochen. Ich  möchte  auf  diese  Kritik  die  Worte  Wienbargs  über 
G.  Pfizer  anwenden. 

Die  Nächte  sind  ein  Chaos.  Alles  liegt  bunt  und  regellos  durch- 
einander. Bilder,  oft  kühn,  wie  seltsame  Felsformationen;  Keime 
eines  künftigen  Lebens,  Übergossen  aber  von  einem  Phrasenn:eer; 
hier  und  da  beginnt  schon  eine  Blume  zu  sprossen,  eine  feste  Insel 
sich  anzusetzen,  eine  Kristallschicht  sich  zu  bilden.  Aber  noch  ist 
alles  Verwirrung  und  Unordnung.  Nicht  auf  Börne,  auf  Beck  selbst 
passen  die  Worte: 

Wie  sich  die   Bilder  wüst  und  blitzend  treiben 
Durch  mein  gewitterschwüles,  zürnend  Haupt! 

Das  Bild,  welches  uns  Beck  in  seinem  ersten  Versuch  von  Börne 
gibt,  ist  entsetzlich  schief  und  unwahr;  Kühne 's  Einfluß  ist  dabei 
nicht  zu  verkennen.  Abgesehen  davon,  daß  Börne  nun  und  nimmer- 
mehr in  solchen  Phrasen  gesprochen  hätte,  kannte  er  auch  den 
ganzen  verzweifelnden  Weltschmerz  nicht,  den  ihm  Beck  zuschreibt. 
Ist  das  der  klare  Börne,  der  feste,  unerschütterliche  Charakter, 
dessen  Liebe  wärmte,  aber  nicht  verbrannte,  am  wenigsten  ihn 
selbst?  Nein,  das  ist  Börne  nicht,  das  ist  nur  ein  unbestimmtes  Ideal 
des  modernen  Dichters,  aus  Heinescher  Koketterie  und  Mundtschen 
Floskeln  zusammengesetzt,  ein  Ideal,  vor  dessen  Realisierung  uns 
Gott  bewahren  möge.  In  Börnes  Haupt  haben  sich  nie  die  Bilder 
wüst  und  blitzend  herumgetrieben,  seine  Locken  haben  sich  nicht 
fluchend  gen  Himmel  gebäumt;  in  seinem  Herzen  scholl  es  nie 
Mittemacht,  sondern  immer  Morgenstunde,  sein  Himmel  war  nicht 
blutig  rot,  sondern  immer  blau.  Börne  war  glücklicherweise  nicht 
so  gräßhch  verzweiflungsvoll,  daß  er  die  ,, achtzehnte  Nacht"  hätte 
schreiben  können.  Schwatzte  Beck  nicht  so  viel  vom  Rot  des  Le- 
bens, mit  dem  sein  Börne  schreibt,  so  würd'  ich  glauben,  er  hätte 
den  Franzosenfresser  nicht  gelesen.  Beck  mag  die  allerwehmütigste 
Stelle  des  Franzosen fressers  nehmen,  und  sie  ist  lichter  Tag  gegen 
seine  affektierte  Sturmnacht  Verzweiflung.  Ist  denn  Börne  an  sich 
nicht  poetisch  genug,  muß  er  erst  mit  diesem  neum.odischen  Welt- 
schmerze gepfeffert  werden  ?  Neumodisch  sage  ich  —  denn  daß 
dergleichen  zur  echten  modernen  Poesie  gehört,  kann  ich  nie 
glauben.  Das  ist  ja  eben  die  Größe  Börnes,  daß  er  erhaben  war 
über  die  jämmerlichen  Floskeln  und  Koteriestichwörter  unserer  Tage. 

Noch  ehe  sich  ein  fertiges  Urteil  über  die  ,, Nächte"  bilden 
konnte,  trat  Beck  schon  mit  einer  neuen  Reihe  Dichtungen  hervor. 
Der  fahrende  Poet  zeigte  ihn  uns  von  anderer  Seite.  Der  Sturm 
hatte  ausgeweht,  das  Chaos  begann  sich  zu  ordnen.  Man  hatte 
keine  so  vortrefflichen  Schilderungen  erwartet,  wie   der  erste  und 


Io8  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

zweite  Gesang  sie  aufwiesen;  man  hatte  nicht  geglaubt,  daß  Schiller 
und  Goethe,  die  unserer  pedantischen  Ästhetik  in  die  Krallen  ge- 
raten waren,  zu  einer  so  poetischen  Zusammenstellung  Stoff  bieten 
könnten,  wie  sie  im  dritten  Gesänge  gegeben  wurde;  daß  Becks 
dichterische  Reflexion  so  ruhig  und  beinahe  philiströs  über  der 
Wartburg  schweben  würde,  wie  sie  es  nun  wirklich  tat. 

Mit  dem  fahrenden  Poeten  war  Beck  förmlich  in  die  Literatur 
eingetreten.  Beck  kündigte  stille  Lieder  an,  und  die  Journale 
berichteten,  daß  er  ein  Trauerspiel:  Verlorene  Seelen,  ausarbeite. 

Ein  Jahr  verging.  Außer  einzelnen  Gedichten  ließ  Beck  nichts 
von  sich  hören.  Die  stillen  Lieder  blieben  aus  und  von  den  ver- 
lornen Seelen  war  nichts  Gewisses  zu  erfahren.  Endlich  brachte 
die  Elegante  novellistische  Skizzen  von  ihm.  Ein  Versuch  in 
Prosa  von  einem  solchen  Autor  konnte  jedenfalls  Beachtung  ver- 
langen. Ich  bezweifle  indes,  daß  dieser  Versuch  selbst  irgend  einen 
Freund  der  Beckschen  Muse  befriedigt  hat.  An  einigen  Bildern  war 
der  frühere  zu  erkennen ;  der  Stil  konnte  bei  sorgsam.er  Pflege  sich 
recht  nett  herausbilden,  das  ist  aber  auch  alles  Gute,  was  von  dieser 
kleinen  Erzählung  zu  sagen  ist.  Weder  tiefe  Gedanken  noch  poe- 
tischer Schwung  erheben  sie  über  die  Sphäre  der  gemeinen  Unter - 
haltungsliteratur ;  die  Erfindung  ziemlich  alltäglich  und  sogar  un- 
schön, die  Ausführung  gewöhnlich. 

In  einem  Konzerte  sagte  mir  ein  Freund,  daß  Becks  stille  Lieder 
angekommen  seien.  Eben  erklang  das  Adagio  einer  Beethovenschen 
Symphonie.  So,  dacht'  ich,  werden  diese  Lieder  sein;  aber  ich  hatte 
mich  getäuscht,  es  war  wenig  Beethoven  und  viel  Bellinisches  La- 
mentieren darin.  Als  ich  das  kleine  Heft  zur  Hand  nahm,  erschrak 
ich.  Gleich  das  erste  Lied  so  unendlich  trivial,  in  einer  so  wohl- 
feilen Manier,  nur  durch  gesuchte  Redeweisen  quasi-originell! 

An  die  ,, Nächte"  erinnert  nur  in  diesen  Liedern  noch  die  enorme 
Träumerei.  Daß  in  den  Nächten  viel  geträumt  wurde,  war  zu  ent- 
schuldigen ;  dem  fahrenden  Poeten  sah  man 's  nach,  aber  jetzt  kommt 
Herr  Beck  aus  dem  Schlafen  gar  nicht  heraus.  Schon  Seite  3  wird 
geträumt;  S.  4,  S.  8,  S.  9,  S.  15,  S.  16,  S.  23,  S.  31,  S.  33,  S.  34, 
S.  35,  S.  40  usw.  überall  Träume.  Dazu  kommt  eine  ganze  Reihe 
Traumbilder.  Es  wäre  lächerlich,  wenn  es  nicht  gar  zu  traurig 
wäre.  Die  Hoffnung  auf  Originalität  mußte  bis  auf  einige  neue 
Versmaße  verschwinden;  dafür  müssen  uns  denn  Heinesche  An- 
klänge entschädigen  und  eine  grenzenlos  kindische  Naivität, 
die  durch  fast  alle  Lieder  sich  höchst  widerwärtig  hindurchzieht. 
Besonders  leidet  die  erste  Abteilung:  ,, Lieder  der  Liebe,  Ihr  Tage- 
buch" daran.  Von  einer  lodernden  Flairime,  von  einem  edeln  kräf- 
tigen Geist,  wie  Beck  sein  will,  hätte  ich  solch  einen  matten,  wider- 


Karl  Beck. 


109 


wärtigen  Brei  nicht  erwartet.  Nur  zwei  oder  drei  Lieder  sind  er- 
träglich. ,,Sein  Tagebuch"  ist  etwas  besser;  da  ist  denn  doch  hier 
und  da  ein  wirkhches  Lied,  das  uns  für  die  vielen  Unsinnigkeiten 
und  Faseleien  entschädigen  kann.  Die  größte  dieser  Faseleien  seines 
Tagebuches  ist  „Eine  Träne**.  Man  weiß,  was  Beck  früher  schon 
in  der  Tränenpoesie  leistete.  Da  ließ  er  „das  Leid,  den  rohen,  blu- 
tigen Korsaren  im  stillen  Meer  der  Träne  kreuzen**,  und  ,,den  Gram, 
den  stummen,  kalten  Fisch",  darin  plätschern,  jetzt  gesellt  sich 
noch  mehr  dazu: 

Träne,  nicht  vergebens 

Bist  du  voll  und  groß. 

Schwimmt  doch  meines   Lebens 

Glück  in  deinem  Schoß.  (!) 

Es  schwimmen  in  dir  so  viel,  so  viel, 

Mein  Lieben  und  mein  Saitenspiel. 

Träne,  nicht  vergebens 

Bist  du  voll  und  groß! 
Wie  albern  ist  das!  Die  Traumbilder  enthalten  noch  das  bessere 
des  ganzen  Heftes,  und  einzelne  Lieder  darunter  sind  wenigstens 
herzlich.  Besonders:  Schlaf  wohl!  das,  nach  der  Zeit  des  ersten 
Abdrucks  in  der  Eleganten  zu  schließen,  unter  die  früheren  dieser 
Lieder  gehören  muß.  Das  Schlußgedicht  ist  eins  der  besseren,  nur 
etwas  phrasenhaft,  und  zum  Schluß  ist  wieder  die  ,, Träne  des  Welt- 
geistes starker  Schild". 

Den  Schluß  machen  Versuche  in  der  Ballade.  Der  Zigeuner - 
könig,  dessen  Anfang  stark  nach  Freiligraths  Schilderungen 
schmeckt,  ist  matt  gegen  die  lebendigen  Gemälde  des  Zigeuner- 
lebens bei  Lenau,  und  der  Phrasenschwall,  der  uns  zwingen  soll, 
das  Gedicht  frisch  und  kräftig  zu  finden,  macht  es  nur  noch  wider- 
wärtiger. Dagegen  ist  ,,Das  Röslein"  ein  hübsch  wiedergegebener 
Moment.  Das  Ungarische  Wachthaus  gehört  in  die  Kategorie 
des  Zigeunerkönigs ;  die  letzte  Ballade  dieses  Zyklus  ist  ein  Exempel, 
wie  ein  Gedicht  fließende  und  volltönende  Verse  und  schöne  Flos- 
keln haben  kann,  ohne  doch  einen  besonderen  Eindruck  zu  hinter- 
lassen. Der  frühere  Beck  hätte  mit  drei  treffenden  Bildern  den 
finstern  Räuber  Janossyk  anschaulicher  hingestellt.  Dieser  muß 
denn  doch  noch  zu  guter  Letzt  auf  der  vorletzten  Seite  träumen, 
und  so  schließt  das  Heft,  aber  nicht  das  Gedicht,  dessen  Fortsetzung 
im  zweiten  Bändchen  versprochen  wird.  Was  soll  das  heißen? 
Sollen  Dichtungen  wie  Journale  schließen  mit  ,, Fortsetzung  folgt**  ? 
Die  Verlorenen  Seelen  hat  der  Verfasser,  nachdem  sie  als  Drama 
von  der  Regie  mehrerer  Theater  für  unaufführbar  erklärt  worden, 
wie  man  hört,  vernichtet;  ein  anderes  Trauerspiel:  ,,Saul**,  scheint 


HO  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

er  jetzt  auszuarbeiten,  wenigstens  hat  die  Elegante  nur  den  ersten 
Akt  und  die  Theater -Chronik  einen  großen  Prospektus  davon  ge- 
geben. Dieser  Akt  ist  schon  in  diesen  Blättern  besprochen  worden^). 
Ich  kann  das  darin  Gesagte  leider  nur  bestätigen.  Beck,  dessen 
regellose,  tastende  Phantastik  ihn  unfähig  macht  zu  plcistischer 
Charakterdarstellung  und  allen  seinen  Personen  dieselben  Phra- 
sen unterlegt,  Beck,  der  in  seiner  Auffassung  Börnes  zeigt,  wie 
wenig  er  einen  Charakter  verstehen  kann,  geschweige  schaffen, 
konnte  auf  keinen  unglücklicheren  Gedanken  kommen,  als  ein 
Trauerspiel  zu  schreiben.  Beck  mußte  die  Exposition  unwillkür- 
lich von  einem  eben  erschienenen  Vorbilde  entlehnen,  mußte  seinen 
David  und  Merob  im  weinerlichen  Ton  „Ihres  Tagebuchs"  sprechen 
lassen,  er  mußte  die  Stimmungsübergänge  im  Gemüte  Sauls  mit 
der  Plumpheit  einer  Jahrmarktskomödie  wiedergeben.  Wenn  man 
Moab  sprechen  hört,  so  erkennt  man  erst  die  Bedeutung,  die  bei 
seinem  Vorbilde  Abner  hat;  dieser  Moab,  dieser  rohe,  blutige  Mo- 
lochjünger, der  dem  Tier  näher  steht  als  dem  Menschen,  sollte 
Sauls  ,, böser  Geist"  sein?  Ein  Naturm.ensch  ist  noch  keine  Bestie, 
und  Saul,  der  gegen  die  Priester  opponiert,  findet  darum  doch  noch 
keinen  Gefallen  an  Menschenopfern.  Dazu  der  Dialog  über  alle 
Maßen  ledern,  die  Sprache  matt,  und  nur  einige  erträlgliche  Bilder, 
die  aber  noch  keinen  Akt  eines  Trauerspiels  stützen  können,  erinnern 
an  Erwartungen,  die  Herr  Beck  nicht  mehr  erfüllen  zu  können 
scheint. 

Retrograde  Zeichen  der  Zeit. 

Nichts  Neues  unter  der  Sonne  1  Das  ist  eine  jener  glücklichen 
Pseudo Wahrheiten,  denen  die  brillanteste  Karriere  zugedacht  war,  die 
von  Mund  zu  Mund  ihren  Triumphzug  um  die  Erde  machten  und  nach 
Jahrhunderten  noch  so  oft  zitiert  werden,  als  kämen  sie  erst  eben 
zur  Welt.  Die  echten  Wahrheiten  sind  selten  so  glücklich  gewesen ; 
sie  mußten  ringen  und  dulden,  sie  wurden  gefoltert  und  lebendig 
begraben  und  jeder  knetete  sie  nach  seinem  Gutdünken  zurecht. 
Nichts  Neues  unter  der  Sonne!  Nein,  Neues  genug,  aber  es  wird 
unterdrückt,  wenn  es  nicht  zu  jenen  geschmeidigen  Pseudowahr- 
heiten  gehört,  die  immer  ein  loyales  „das  heißt  etc."  in  ihrem  Ge- 
folge führen,  und  die  wie  ein  aufflackerndes  Nordlicht  bald  der 
Nacht  wieder  weichen;  steigt  aber  eine  neue,  echte  Wahrheit  am 
Horizonte  morgenrötlich  empor,  so  wissen  die  Kinder  der  Nacht 
wohl,  daß  ihrem  Reich  der   Untergang  droht  und   greifen  zu  den 


1)  November  1839  Nr.  190  Kleine  Chronik. 


Retrograde  Zeichen  der  Zeit,  1 1 1 

Waffen.  Das  Nordlicht  findet  ja  stets  einen  heitern,  das  Morgen- 
rot einen  bewölkten  Himmel,  dessen  Trübe  es  niederzukämpfen 
oder  mit  seinen  Flammen  zu  durchgeisten  hat.  Und  einige  solcher 
Wolken,  die  sich  an  die  Morgenröte  der  Zeit  gehängt  haben,  sollen 
jetzt  vor  uns   Revue  passieren. 

Oder  fassen  wir  unsern  Stoff  anders  an!  Die  Versuche,  den 
Lauf  der  Geschichte  mit  einer  Linie  zu  vergleichen,  sind  bekannt. 
,,Die  Form  der  Geschichte",  heißt  es  in  einem  geistvollen  Werke ^), 
das  gegen  die  Hegeische  Geschichtsphilosophie  geschrieben  ist, 
„die  Form  der  Geschichte  ist  nicht  Auf-  und  Absteigen,  nicht  der 
konzentrische  Kreis  oder  die  Spirale,  sondern  der  epische  PcU-allelis- 
mus,  bald  konvergierend  (so  soll  es  wohl  statt  ,, kongruierend" 
heißen)  bald  divergierend.  Ich  halte  mich  indes  lieber  an  eine 
aus  freier  Hand  gezogene  Spirale,  die  es  mit  ihren  Windungen  nicht 
zu  genau  nimmt.  Langsam  beginnt  die  Geschichte  ihren  Lauf  von 
einem  unsichtbaren  Punkte  aus,  um  den  sie  in  schläfrigen  Win- 
dungen kriecht;  aber  immer  größer  werden  ihre  Kreise,  immer 
rascher  und  lebendiger  der  Schwung;  endlich  schießt  sie  wie  ein 
flammender  Komet  von  Stern  zu  Stern,  ihre  alten  Bahnen  oft  strei- 
fend, oft  durchkreuzend,  und  tritt  mit  jeder  Umkreisung  ihrer 
selbst  dem  Unendhchen  näher.  —  Wer  will  das  Ende  absehen  ?  Und 
axi  jenen  Stellen,  wo  sie  ihre  alte  Bahn  wieder  aufzunehmen  scheint, 
da  erhebt  sich  die  naseweise  Kurzsichtigkeit  und  schreit  frohlockend, 
daß  sie  einmal  einen  Gedanken  gehabt!  Da  haben  wir 's,  es  ist  nichts 
Neues  unter  der  Sonne!  Da  jubeln  unsere  chinesischen  Stillstands- 
helden, unsere  Rückschrittsmandarine  und  machen  Miene,  drei 
Jahrhunderte  als  einen  vorwitzigen  Ausflug  in  verbotene  Regionen^ 
als  einen  Fiebertraum  ausden  Weltannalen  hinauszurezensieren  — 
und  sie  sehen  nicht,  daß  die  Geschichte  nur  den  geradesten  Weg 
einem  neuen,  leuchtenden  Ideengestirn  entgegenbraust,  das  bald 
in  seiner  Sonnengröße  ihre  blöden  Augen  blenden  wird. 

An  einem  solchen  Punkte  der  Geschichte  stehen  wir  jetzt.  Alle 
Ideen,  welehe  seit  Karl  dem  Großen  in  die  Arena  traten,  alle  Ge- 
schmäcke,  die  seit  fünf  Jahrhunderten  einander  verdrängten,  wollen 
ihr  abgestorbenes  Recht  bei  der  Gegenwart  noch  einmal  wieder 
geltend  machen.  Der  Feudalismus  des  Mittelalters  und  der  Ab- 
solutismus Ludwigs  XIV.,  die  Hierarchie  Roms  und  der  Pietismus 
des  vorigen  Jahrhunderts  streiten  sich  um  die  Ehre,  den  freien 
Gedanken  aus  dem  Felde  zu  schlagen!  Man  wird  mir  erlassen,  von 
diesen  ein  Breiteres  zu  reden;  blitzen  doch  gleich  tausend  Schwerter, 

1)  Gutzkow,  Zur  Philosophie  der  Geschichte,  Hamburg  1836,  S.  53 
(Anmerkung  des  Herausgebers). 


112  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

alle  schärfer  als  das  meinige,  gegen  jeden,  der  eine  dieser  Devisen 
auf  dem  Schilde  führt,  und  wissen  wir  doch,  daß  sie  alle  sich  anein- 
ander und  am  diamantharten  Fuße  der  fortschreitenden  Zeit  zer- 
reiben. Aber  jenen  kolossalen  Reaktionen  im  kirchlichen  und 
Sraatsleben  entsprechen  unbemerktere  Bestrebungen  in  Kunst  und 
Literatur,  unbewußte  Rückschritte  zu  früheren  Jahrhunderten, 
die  zwar  nicht  der  Zeit,  aber  doch  dem  Zeitgeschmack  Gefahr 
drohen  und  deren  Zusammenstellung  seltsamerweise  noch  nirgend 
geschehen  ist. 

Man  braucht  eben  nicht  weit  zu  gehen,  um  diese  Erscheinungen 
anzutreffen.  Geht  nur  in  einen  modernen  möblierten  Salon,  so 
werdet  ihr  sehen,  wes  Geisteskinder  die  Formen  sind,  mit  denen 
man  euch  umgibt.  Alle  die  Rokokomißgeburten  aus  der  Zeit  des 
krassesten  Absolutismus  sind  heraufbeschworen  worden,  um  den 
Geist  der  Bewegung  in  die  Form  zu  zwängen,  in  denen  sich  der 
„l'etat  c'est  moi"  behaglich  fühlte.  Unsere  Salons  sind  geschmückt, 
Stühle,  Tische,  Schränke  und  Sophas  im  style  de  la  renaissance, 
und  es  fehlte  nur  noch,  daß  man  Heine 'n  eine  Perücke  aufsetzte 
und  Bettine'n  in  einen  Reifrock  preßte,  um  das  siecle  wieder  voll- 
ständig herzustellen. 

Solch  ein  Zimmer  ist  freilich  dazu  gemacht,  um  darin  einen 
Roman  des  Herrn  von  Sternberg  mit  seiner  merkwürdigen  Vor- 
liebe für  das  Zeitalter  der^Maintenon  zu  lesen.  Man  hat  dem  Geiste 
Sternbergs  diese  Caprice  verziehen,  man  hat  sich  auch  wohl,  aber 
natürlich  umsonst,  nach  tiefern  Gründen  dafür  umgesehen;  ich 
erlaube  mir  indes  zu  behaupten,  daß  gerade  dieser  Zug  Sternbergscher 
Romane,  der  für  den  Augenblick  ihre  Verbreitung  befördert,  ihrer 
Fortdauer  bedeutend  schaden  wird.  Abgesehen  davon,  daß  ein 
ewiges  Hindeuten  auf  die  dürrste,  prosareichste  Zeit,  gegen  deren 
verschrobenes,  zwischen  Himmel  und  Erde  zappelndes  Wesen,  gegen 
deren  Konvenienzmarionetten  unsre  Zeit  und  ihre  Kinder  noch  na- 
türlich sind,  die  Schönheit  einer  Dichtung  eben  nicht  hebt,  so  sind 
wir  doch  zu  sehr  gewohnt,  diese  Zeit  in  spöttischem  Lichte  zu  be- 
trachten, als  daß  sie  uns  auf  die  Dauer  in  andrer  Beleuchtung  zu- 
sagen könnte,  und  eine  solche  Caprice  in  jedem  Sternbergschen 
Romane  wiederzufinden,  wird  am  Ende  doch  überaus  langweilig 
sein.  Für  mehr  als  eine  Caprice  kann  diese  Neigung,  wenig- 
stens in  meinen  Augen,  nicht  gelten,  und  entbehrt  sie  schon  darum 
aller  tieferen  Gründe,  so  glaube  ich  doch,  den  Anknüpfungspunkt 
im  Leben  der  „guten  Gesellschaft"  gefunden  zu  haben.  Herr  von 
Sternberg  ist  ohne  Zweifel  für  sie  erzogen  worden  und  hat  sich  mit 
Behagen  in  ihr  bewegen  gelernt,  hat  vielleicht  seine  eigentliche 
Heimat  in  ihren  Zirkeln  gefunden;  und  da  ist's  kein  Wunder,  wenn 


Retrograde  Zeichen  der  Zeit.  113 

er  mit  einer  Zeit  liebäugelt,  deren  gesellschaftliche  Formen  weit 
bestimmter  und  gerundeter,  wenn  auch  hölzerner  und  geschmack- 
loser waren,  als  die  heutigen.  Weit  kühner  als  bei  Herrn  von  Stern- 
berg ist  der  Geschmack  des  siecle  in  seiner  Mutterstadt  Paris  auf- 
getreten, wo  er  ernsthafte  Miene  macht,  den  Romantikern  den 
kaum  errungenen  Sieg  wieder  zu  entreißen.  Victor  Hugo  kam, 
Alexander  Dumas  kam  und  die  Herde  der  Nachahmer  mit  ihnen ; 
die  Unnatur  der  Iphigenien  und  Nathalien  wich  der  Unnatur  einer 
Lucrezia  Borgia,  auf  einen  Starrkrampf  folgte  ein  hitziges  Fieber; 
man  wies  den  französischen  Klassikern  Plagiate  aus  den  Alten  nach 
—  da  tritt  Dem,  Rachel  auf  und  alles  ist  vergessen,  Hugo  und  Du- 
mas, Lucrezia  Borgia  und  die  Plagiate;  Phädra  und  der  Cid  spa- 
zieren mit  abgemessenen  Schritten  und  geschniegelten  Alexandri- 
nern über  die  Bühne,  Achilles  paradiert  mit  seinen  Anspielungen 
auf  den  großen  Ludwig,  und  Ruy  Blas  und  Mademoiselle  de  belle 
Isle  wagen  sich  kaum  aus  den  Kulissen  hervor,  um  sich  gleich  in 
deutsche  Übersetzungsfabriken  und  auf  deutsche  Nationalbühnen 
zu  retten.  Es  muß  ein  seliges  Gefühl  sein  für  einen  Legitimisten, 
im  Anschauen  Racinescher  Stücke  die  Revolution,  Napoleon  und 
die  große  Woche  vergessen  zu  können ;  die  Glorie  des  ancien  regime 
steigt  aus  der  Erde  hervor,  die  Welt  behängt  sich  mit  Hautelisse- 
Tapeten,  der  absolute  Ludwig  spaziert  in  brokatner  Weste  und 
Allongeperücke  durch  die  gestutzten  Alleen  von  Versailles,  und  ein 
allmächtiger  Mätressenfächer  regiert  den  glücklichen  Hof  und  das 
unglückliche  Frankreich. 

Während  hier  indes  die  Reproduktion  des  Frühern  in  Frank- 
reich selbst  bleibt,  scheint  eine  Eigentümlichkeit  der  französischen 
Literatur  im  vorigen  Jahrhundert  bei  der  gegenwärtigen  deutschen 
sich  wiederholen  zu  wollen.  Ich  meine  den  philosophischen  Dilet- 
tantismus, der  sich  bei  mehreren  neuern  Schriftstellern  ebenso  gut 
wie  bei  den  Enzyklopädisten  zeigt.  Was  hier  der  Materialismus 
war,  beginnt  dort  Hegel  zu  werden.  Mundt  war  der  erste,  der  — 
um  in  seinem  Sprachgebrauch  zu  reden  —  die  Hegeischen  Kate- 
gorien in  die  Literatur  einführte;  Kühne,  wie  immer,  unterließ 
nicht,  ihm  zu  folgen  und  schrieb  die  ,, Quarantäne  im  Irrenhause", 
und  obgleich  der  zweite  Band  der  ,, Charaktere"  von  einem  teil- 
weisen Abfall  von  Hegel  zeugt,  so  enthält  ihr  erster  Band  doch 
Stellen  genug,  in  derben  er  Hegel  ins  Moderne  zu  übersetzen  ver- 
sucht. Leider  gehören  diese  Übersetzungen  aber  zu  denen,  deren 
Verständnis  nicht  ohne  das  Original  gewonnen  werden  kann. 

Die  Analogie  ist  nicht  zu  leugnen;  wird  die  Folgerung,  die  der 
schon  einmal  angezogene  Autor  aus  dem  Schicksal  des  philoso- 
phischen Dilettantismus  im  vorigen  Jahrhundert  zog,  nämlich,  daß 

Mayer,   Engels.     Ergänzungsband.  8 


IjA  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

mit  dem  System  der  Keim  des  Todes  in  die  Literatur  kommt,  wird 
sie  auch  bei  dem  des  gegenwärtigen  Jahrhunderts  sich  bestätigen? 
Werden  die  Wurzeln  eines  Systems,  das  alle  früheren  an  Konse- 
quenz übertrifft,  sich  störrig  quer  über  das  Feld  legen,  das  der 
poetische  Genius  beackert  ?  Oder  entsprechen  diese  Erscheinungen 
nur  der  Liebe,  mit  der  die  Philosophie  der  Literatur  entgegenkommt 
und  deren  Früchte  an  Hotho,  Rötscher,  Strauß,  Rosenkranz  und 
den  Hallischen  Jahrbüchern  so  glänzend  hervortreten?  Dann  frei- 
lich würde  sich  der  Gesichtspunkt  anders  stellen  und  wir  dürften 
auf  jene  Vermittelung  der  Wissenschaft  und  des  Lebens,  der  Philo- 
sophie und  der  modernen  Tendenzen,  Börnes  und  Hegels  hoffen, 
deren  Vorbereitung  früher  schon  von  einem  Teile  des  sogenannten 
jungen  Deutschland  beabsichtigt  wurde.  Außer  diesen  bleibt  nur 
noch  ein  Ausweg  offen,  der  sich  hinter  diesen  beiden  freilich  et- 
was komisch  ausnimmt;  der,  angenommen,  daß  Hegels  Einfluß 
auf  die  schöne  Literatur  ohne  alle  Bedeutung  sein  werde.  Ich  glaube 
indes  nur  wenige  werden  sich  entschließen  können,  diesen  Weg  ein- 
zuschlagen. 

Aber  wir  müssen  noch  weiter  zurück,  als  bis  zu  den  Enzyklo- 
pädisten und  der  Frau  von  Maintenon;  Duller,  Freiligrath  und 
Beck  erlauben  sich,  die  zweite  schlesische  Schule  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  in  unsrer  Literatur  zu  repräsentieren.  Wen  erinnern 
Dullers  Ketten  und  Kronen,  Antichrist,  Loyola,  Kaiser  und  Papst 
in  ihrer  Darstellung  nicht  an  das  himmelstürmende  Pathos  der 
asiatischen  Banise  von  weiland  Ziegler  von  Klipphausen,  oder  an 
den  ,, Großherzog  Arminius  samt  seiner  durchlauchtigsten  Thus- 
nelda" Lohensteins  ?  Beck  nun  gar  hat  jene  guten  Leute  an  Schwulst 
noch  übertroffen;  man  hält  einzelne  Stellen  seiner  Gedichte  fast 
für  nichts  anderes  als  für  Produkte  des  siebzehnten  Jahrhunderts, 
eingetaucht  in  moderne  Weltschmerztinktur;  und  Freiligrath,  der 
auch  zuweilen  Schwulst  von  poetischer  Sprache  nicht  unterscheiden 
kann,  macht  den  Rückschritt  zu  Hofmanswaldau  vollständig,  in- 
dem er  den  Alexandriner  erneuert  und  die  Koketterie  mit  Fremd- 
wörtern wieder  einführt.  Er  wird  dies  aber  hoffentlich  mit  seinen 
ausländischen  Stoffen  ablegen, 

Die  Palme  dorrt,  der  Wüstensand  verweht, 
Ans  Herz  der  Heimat  wirft  sich  der  Poet, 
Ein  anderer  und  doch  derselbe! 
und  täte  Freiligrath  dies  nicht,  wahrlich,  in  hundert  Jahren  würde 
man  seine  Gedichte  für  ein  Herbarium  oder  eine  Streusandbüchse 
halten  und  sie,  den  lateinischen  Versregeln  gleich,  für  den  Schul- 
unterricht in  der  Naturgeschichte  benutzen.     Ein  Raupach  dürfte 
auf  keine  andre  als  eine  solche   praktische   Unsterblichkeit  seiner 


Platen. 


115 


Jamben-Chroniken  rechnen,  aber  Freiligrath  wird  uns  hoffentlich 
Dichtungen  bringen,  die  des  neunzehnten  Jahrhunderts  vollkommen 
würdig  sind.  —  Aber  ist  es  nicht  hübsch,  daß  wir  in  unsrer  Repro- 
duktionsliteratur seit  der  romantischen  Schule  schon  vom  zwölften 
bis  ins  siebzehnte  Jahrhundert  gediehen  sind  ?  Dann  wird  auch 
wohl  Gottsched  nicht  lange  mehr  auf  sich  warten  lassen.  — 

Ich  gestehe  meine  Verlegenheit,  wie  ich  diese  Einzelheiten 
unter  einem  Gesichtspunkt  rangieren  soll;  ich  gestehe,  die  Fäden 
verloren  zu  haben,  mit  denen  sie  sich  an  die  fortrollende  Masse 
der  Zeit  knüpfen.  Vielleicht  sind  sie  noch  nicht  reif  zu  einem 
sichern  Überblick  und  gewinnen  noch  an  Umfang  und  Zahl.  Aber 
es  bleibr  merkwürdig,  daß  wie  im  Leben,  so  in  Kunst  und  Literatur 
diese  Reaktion  hervortritt,  daß  die  Klagen  ministerieller  Blätter 
von  Wänden  widerhallen,  die  das  l'etat  c'est  moi  gehört  zu  haben 
scheinen  und  dem  Geschrei  der  modernen  Dunkelmänner  auf  dieser 
Seite  die  überladene  Dunkelheit  eines  Teiles  der  neuern  deutschen 
Poesie  auf  jener  entspricht. 

Platen. 

Von  den  poetischen  Kindern  der  Restaurationsperiode,  deren 
Kraft  durch  die  elektrischen  Schläge  des  Jahres  1830  nicht  ge- 
lähmt wurde,  und  deren  Ruhm  sich  erst  in  der  gegenwärtigen 
Literaturepoche  begründete,  zeichnen  sich  drei  durch  eine  be- 
zeichnende Ähnlichkeit  aus:  Immermann,  Chamisso  und  Platen. 
Bei  allen  dreien  eine  ungewöhnliche  Individualität,  ein  bedeu- 
tender Charakter  und  eine  Verstandeskraft,  die  ihr  poetisches 
Talent  zum  mindesten  aufwiegt.  Bei  Chamisso  herrscht  bald  Phan- 
tasie und  Gefühl  vor,  bald  der  berechnende  Verstand;  in  den  Ter- 
zinen besonders  ist  die  Oberfläche  durchaus  kalt  und  verständig, 
aber  man  hört  das  edle  Herz  darunter  pochen;  bei  Immermann  be- 
kämpfen sich  diese  beiden  Eigenschaften  und  bilden  jenen  Dua- 
lismus, den  er  selbst  anerkennt  und  dessen  äußerste  Spitzen  seine 
starke  Persönlichkeit  wohl  zusammenbiegen,  aber  nicht  vereinen 
kann;  bei  Platen  endlich  hat  die  poetische  Kraft  ihre  Selbständig- 
keit aufgegeben  und  findet  sich  leicht  in  die  Herrschaft  des  mäch- 
tigen Verstandes.  Hätte  Platens  Phantasie  sich  nicht  anlehnen 
können  an  diesen  Verstand  und  seinen  großartigen  Charakter,  er 
wäre  nicht  so  berühmt  geworden.  Darum  vertrat  er  das  Verstandes - 
mäßige  der  Poesie,  die  Form,  und  darum  ward  ihm  sein  Wunsch 
nicht  gewährt,  mit  einem  großen  Werke  seine  Laufbahn  zu  be- 
schließen. Er  wußte  wohl,  daß  ein  solches  großes  Werk  nötig  sei, 
um  seinem  Ruhme  Dauer  zu  verleihen;    aber  er  fühlte  auch,  daß 

8* 


ii6  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

seine  Kraft  noch  nicht  dazu  ausreiche,  und  hoffte  von  der  Zukunft 
und  seinen  Vorarbeiten;  indessen  verfloß  die  Zeit,  er  kam  aus  den 
Vorarbeiten  gar  nicht  heraus  und  starb  endlich. 

Platens  Phantasie  folgte  ängstlich  dem  kühnen  Schritte  seines 
Verstandes ;  und  als  es  auf  ein  geniales  Werk  ankam,  als  sie  einen 
kühnen  Sprung  wagen  sollte,  den  der  Verstand  nicht  vollbringen 
konnte,  da  mußte  sie  zurückbeben.  Daraus  entsprang  Platens  Irr- 
tum, daß  er  die  Produkte  seines  Verstandes  für  Poesie  hielt.  Für 
anakreontische  Ghaselen  reichte  seine  poetische  Schöpferkraft  aus; 
zuweilen  auch  blitzte  sie  in  seinen  Komödien  wie  ein  Meteor  auf; 
aber  gestehen  wir  uns  nur,  von  dem,  was  Platen  eigentümlich  war, 
ist  das  meiste  Produkt  des  Verstandes,  und  als  solches  wird  es  immer 
anerkannt  werden.  Man  wird  seiner  über  künstelten  Ghasele,  seiner 
retorischen  Oden  müde  werden ;  man  wird  die  Polemikseiner  Komödien 
größtenteils  unberechtigt  finden,  aber  man  wird  dem  Witze  seiner  Dia- 
loge, der  Erhabenheit  seiner  Parabasen  alle  Achtung  zollen  und  seine 
Einseitigkeit  in  der  Größe  seines  Charakters  begründet  finden  müssen. 
Platens  literarische  Stellung  in  der  öffentlichen  Meinung  wird  sich  ver- 
ändern ;  er  wird  weiter  zu  Goethe,  aber  näher  zu  Börne  treten. 

Daß  ihn  auch  seine  Gesinnungen  mehr  zu  Börne  hinziehen,  dafür 
zeugten  außer  einer  Masse  von  Anspielungen  in  den  Komödien 
schon  mehrere  Gedichte  in  der  Gesamtausgabe,  von  denen  ich  nur 
die  Ode  an  Karl  X.  erwähne;  eine  Reihe  Lieder,  die  den  polnischen 
Freiheitskampf  zur  Veranlassung  hatten,  waren  in  diese  Sammlung 
nicht  aufgenommen,  obwohl  sie  für  die  Charakteristik  Platens  von 
hohem  Interesse  sein  mußten.  Jetzt  sind  sie,  als  Anhang  zur  Ge- 
samtausgabe, in  einer  andern  Verlagshandlung  erschienen.  Meine 
Ansicht  über  Platen  finde  ich  darin  bestätigt.  Der  Gedanke  und 
der  Charakter  müssen  hier  mehr  und  auffallender  als  sonst  irgend- 
wo die  Poesie  ersetzen.  Darum  findet  sich  Platen  in  der  einfachen 
Weise  des  Liedes  selten  zurecht;  es  müssen  lange,  gestreckte  Verse 
sein,  deren  jeder  einen  Gedanken  betten  kann,  oder  künstliche 
Odenmetra,  deren  ernster,  gemessener  Gang  einen  rhetorischen  In- 
halt fast  zu  fordern  scheint.  Mit  der  Kunst  des  Verses  kommen 
Platen  auch  die  Gedanken,  und  das  ist  der  stärkste  Beweis  für  den 
verstandesmäßigen  Ursprung  seiner  Gedichte.  Wer  andere  An- 
sprüche an  Platen  macht,  den  werden  diese  Polenlieder  nicht  be- 
friedigen; wer  aber  mit  diesen  Erwartungen  das  Heftchen  in  die 
Hand  nimmt,  der  wird  für  den  mangelnden  poetischen  Duft  durch 
eine  Fülle  erhabener,  mächtiger  Gedanken,  die  auf  dem  Boden  des 
edelsten  Charakters  gewachsen  sind,  und  durch  eine  ,, großartige 
Leidenschaftlichkeit",  wie  die  Vorrede  treffend  sagt,  reichlich  ent- 
schädigt werden.    Schade,  daß  diese  Gedichte  nicht  einige  Monate 


Requiem  für  die  deutsche  Adelszeitung.  ny 

früher  erschienen  sind,  als  das  deutsche  Nationalbewußtsein  sich 
gegen  die  kaiserlich  russische  europäische  Pentarchie  erhob;  sie 
wären  die  beste  Antwort  darauf  gewesen.  Vielleicht  hätte  auch  der 
Pentarchist  hier  manches  Motto  für  sein  Werk  gefunden. 


Requiem  für  die  Deutsche  Adelszeitung. 

Dies  irae,  dies  illa 

Saecla  soluet  in  favilla.    — 

Jener  Tag,  an  dem  Luther  die  Urschrift  des  Neuen  Testamentes 
hervorzog  und  mit  diesem  griechischen  Feuer  die  Jahrhunderte  des 
Mittelalters,  mit  ihrer  HerrHchkeit  und  ihrer  Knechtschaft,  mit 
ihrer  Poesie  und  Gedankenlosigkeit,  zu  Staub  und  Asche  verbrannte, 
jener  Tag  und  die  ihm  folgenden  drei  Jahrhunderte  haben  endlich 
eine  Zeit  geweckt,  „die  so  ganz  der  Öffentlichkeit  angehört,  eine 
Zeit,  von  der  Napoleon,  dem  man  trotz  vieler  Eigenschaften,  die 
namentlich  in  den  Augen  der  Deutschen  verwerflich  sind,  einen 
seltenen  Scharfsinn  nicht  absprechen  kann,  gesagt  hat:  „le  jour- 
nalisme  est  une  puissance".  Ich  führe  diese  Worte  nur  hier  an, 
um  zu  zeigen,  wie  wenig  mittelalterlich,  d.  h.  gedankenlos,  der  Pro- 
spektus  der  Adelszeitung  ist,  dem  sie  entlehnt  sind.  Und  dieser 
Öffentlichkeit  sollte  die  Krone  aufgesetzt,  sollte  das  Bewußtsein 
gegeben  werden  mit  der  deutschen  Adelszeitung.  Denn  das  ist 
klar,  Gutenberg  erfand  den  Druck  nicht,  um  einen  Börne  —  das 
war  ja  ein  Demagoge  —  oder  Hegel  —  der  ist  ja  vorn  servil,  wie 
Heine,  und  hinten  revolutionär,  wie  Schubarth  bewiesen  hat  — 
oder  irgend  einem  andern  Bürgerlichen  seine  verworrenen  Ge- 
danken in  die  Welt  verbreiten  zu  helfen,  sondern  einzig  und  allein, 
um  die  Stiftung  der  Adelszeitung  möglich  zu  machen.  —  Wohl 
ihr,  sie  ist  hinüber!  Sie  tat  nur  einen  verstohlenen,  scheuen 
Blick  in  diese  arge,  unmittelalterliche  Welt  und  ihr  reines  Jung- 
frauen- oder  vielmehr  gnädiges  Fräuleinherz  bebte  zurück  vor  dem 
Greuel  der  Verwüstung,  vor  dem  Schmutz  der  demokratischen  Ca- 
naille, vor  der  schauderhaften  Arroganz  der  Kurunfähigkeit,  vor 
allen  jenen  bejammernswerten  Zuständen,  Bezügen  und  Wirren 
dieser  Zeit,  die  an  den  Toren  freiherrlicher  Schlösser,  wenn  sie  sich 
dort  melden,  mit  der  Hetzpeitsche  begrüßt  werden.  Wohl  ihr,  sie 
ist  hinüber,  sie  sieht  die  Hohlheit  der  Demokratie,  das  Rütteln  am 
Bestehenden,  die  Tränen  der  Hochwohl-  und  Hochgeborenen  nicht 
mehr,  sie  ist  entschlafen.  — 

Requiem  aeternam  dona  ei,  Domine  !^) 

^)  Herr,  gib  ihr  ewige  Ruhe! 


Il8  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Und  doch,  wir  haben  viel  an  ihr  verloren.  Welche  Freude  war 
nicht  in  allen  Salons,  wo  nur  Herren  von  sechzehn  Ahnen  Zutritt 
haben,  welcher  Jubel  in  allen  halbverlorenen  Vorposten  der  recht- 
gläubigen Aristokratie!  Da  saß  der  alte  gnädige  Papa  im  Erblehn- 
stuhl, von  den  Lieblingshunden  umgeben,  in  der  Rechten  die  Erb- 
pfeife, in  der  Linken  die  Erbkarbatsche  und  studierte  andächtig 
den  antediluvianischen  Stammbaum  im  ersten  Buche  Mosis,  als 
die  Tür  aufging  und  der  Prospektus  der  Adelszeitung  hereingebracht 
wurde.  Der  Hochwohlgeborene,  als  ihm  das  Wort  Adel,  mit  großen 
Lettern  gedruckt,  begegnet,  rückt  eilig  die  Brille  zurecht  und  liest 
beseligt  das  Blatt  durch,  er  sieht,  daß  auch  Familiennachrichten 
in  der  neuen  Zeitung  eine  Srelle  finden  und  freut  sich  schon  auf 
seinen  Nekrolog  —  wie  gern  möchte  er  ihn  nicht  selbst  lesen!  — 
wenn  er  einmal  zu  seinen  Ahnen  versammelt  wird.  —  Da  galop- 
pieren die  jungen  Herren  in  den  Schloßhof;  der  Alte  läßt  sie  eilig 
heraufrufen,  Herr  Theoderich  ,,von  der  Neige"  jagt  die  Rosse  mit 
einem  Peitschenhieb  in  den  Stall,  Herr  Siegwart  überrennt  mehrere 
Lakaien,  tritt  der  Katze  auf  den  Schwanz  und  schleudert  ritterlichst 
einen  alten,  suppliziert  habenden  und  abgewiesenen  Bauern  auf 
die  Seite,  Herr  Giselher  befiehlt  den  Dienern  bei  Leibesstrafe  die  An- 
ordnungen zur  Jagd  ja  untadelhaft  zu  treffen  und  so  poltern  die 
jungen  Barone  in  den  Saal.  Die  Hunde,  welche  ihnen  heulend  ent- 
gegenspringen, werden  mit  der  Karbatsche  unter  den  Tisch  getrieben 
und  Herr  Siegwart  von  der  Neige,  der  den  Lieblingshund  mit  gnä- 
digem Fuße  zur  Ruhe  verwiesen,  bekommt  von  dem  entzückten 
Papa  nicht  einmal  den  gewohnten  zornigen  Blick  dafür.  Herr  Theo- 
derich, der  außer  der  Bibel  und  dem  Stammbaum  auch  einiges  im 
Konversationslexikon  gelesen  hat  und  also  die  Fremdwörter  am 
richtigsten  aussprechen  kann,  muß  den  Prospektus  vorlesen  und  der 
Alte  vergißt  bei  seinen  Freudentränen  Ablösungsordnung  und  Adels- 
beschwerung. 

Wie  sittig -bescheiden-herablassend  ritt  die  Gnädige  nicht  herein 
in  die  moderne  Welt  auf  ihrem  weißen  Papierzelter,  wie  kühn  sahen 
ihre  beiden  Ritter  nicht  in  die  Welt  hinaus,  jeder  Zoll  ein  Baron, 
jeder  Blutstropfen  die  Frucht  von  vierundsechzig  ebenbürtigen  Bei- 
lagern,  jeder  Blick  eine  Herausforderung!  Zuerst  Herr  von  Al- 
ven sieben,  der  sein  ritterliches  Streitroß  auf  der  dürren  Heide 
französischer  Romane  und  Memoiren  herumgetummelt  hat,  um 
nun  auch  einen  Tyost  gegen  bürgerliche  Rangen  wagen  zu  können. 
Auf  dem  Schilde  trägt  er  die  Devise:  ,,Ein  wohlerworbenes  Recht 
kann  nie  ein  Unrecht  werden",  und  schreit  mit  starker  Slimme  in 
die  Welt  hinaus:  ,,Der  Adel  hat  vor  Zeiten  die  Gnade  gehabt,  sich 
verdient  zu  machen,    jetzt  ruht  er  auf  seinen   Lorbeeren,  oder  zu 


Requiem  für  die  deutsche  Adelszeitung.  ng 

deutsch,  liegt  auf  der  Bärenhaut,  und  der  Adel  hat  die  Fürsten  und 
somit  auch  die  Völker  kräftiglich  geschützt  und  ich  werde  schon 
Sorge  tragen,  daß  diese  Großtaten  nicht  vergessen  werden  und  meine 
Geliebte,  die  Adelszeitung  —  requiescat  in  pace  —  ist  die  schönste 
Dame  in  der  Welt,  und  wer  das  leugnet,  der"   — 

Da  fällt  der  adlige  Herr  vom  Pferde  und  an  seiner  Stelle  zockelte 
Herr  Friedrich  Baron  de  la  Motte  Fouque  in  die  Schranken. 
Der  alte  ,, lichtbraune"  Rosinante,  dem  wegen  langen  Stallebens  die 
Eisen  abgefallen  waren,  der  in  seinen  besten  Tagen  nie  fett  gewe- 
sene HjTpogryph,  dem  die  romantischen  Sprünge  unter  den  Nord- 
landsrecken längst  vergangen  waren,  fing  plötzlich  an  zu  stampfen; 
Herr  von  Fouque  vergaß  den  jährlichen  poetischen  Kommentar  zum 
Berliner  Politischen  Wochenblatt,  ließ  den  Panzer  scheuren  und  das 
alte  blinde  Roß  hervorführen  und  ging  in  einsamer  Heldengröße 
auf  den  Kreuzzug  der  Ideen  der  Zeit;  damit  aber  der  ehrliebende 
Bürgerstand  nicht  glaube,  gegen  ihn  richte  sich  die  geknickte  Lanze 
des  alten  Recken,  wirft  er  ihm  ein  Vorwort  hin.  Solch  herablassende 
Güte  verdient  Besprechung 

Das  Vorwort  belehrt  uns,  daß  die  Weltgeschichte  nicht,  wie 
Hegel  höchst  irrig  meint,  da  ist,  um  den  Begriff  der  Freiheit  zu 
realisieren,  sondern  allein,  um  zu  beweisen,  daß  es  drei  Stände 
geben  muß,  von  denen  der  Adel  fechten,  der  Bürger  denken,  der 
Bauer  pflügen  soll.  Nun  sollen  das  aber  keine  Kastenunterschiede 
sein,  sondern  die  Stände  sollen  sich  gegenseitig  flicken  und  er- 
frischen, nicht  durch  Mesalliancen,  sondern  durch  Standeserhö- 
hungen. Es  ist  freilich  schwer  zu  begreifen,  daß  der  ,, quellenklare 
See"  des  Adels,  der  aus  den  reinen  Quellen  zusammen  rann,  die 
von  den  Höhen  der  Raubschlösser  sprudelten,  daß  dieser  See  noch 
eine  Erquickung  nötig  haben  soll.  Aber  der  edle  Baron  erlaubt, 
daß  Leute,  welche  nicht  nur  allein  Bürger,  sondern  auch  ,, Reiters - 
knechte"  und  vielleicht  sogar  Schneidergesellen  gewesen 
sind,  den  Adel  erfrischen  sollen.  Wie  aber  die  übrigen  Stände  vom 
Adel  erfrischt  werden  sollen,  das  sagt  Herr  Fouque  nicht.  Wahr- 
scheinlich durch  die  aus  dem  Adel  degradierten  Subjekte  oder,  da 
Herr  Fouque  so  gütig  ist,  zu  gestehen,  daß  der  Adel  eigentlich  inner- 
lich nicht  besser  ist  als  die  Canaille,  so  wird  für  den  Adeligen  die 
Erhebung  in  den  Bürgerstand,  oder  gar  in  den  Stand  der  Bauern 
von  derselben  Ehre  sein,  als  das  Adelsdiplom  für  den  Bürgerlichen  ? 
In  dem  Staate  des  Herrn  Fouque  ist  ferner  dafür  gesorgc,  daß  die 
Philosophie  nicht  zu  sehr  überhand  nimmt;  Kant  wäre  mit  seinen 
Gedanken  über  den  ewigen  Frieden  dort  auf  den  Scheiterhaufen 
gekommen,  denn  beim  ewigen  Frieden  könnten  die  Adligen  gar 
nicht  fechten,  sondern  höchstens  etwa  die  Handwerksburschen. 


120  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Man  sieht,  Herr  Fouque  verdiente  für  seine  gründlichen  Stu- 
dien der  Geschichte  und  Staatswissenschaft  die  Erhebung  in  den 
denkenden,  d.h.  in  den  Bürgerstand:  er  ist  vortrefflich  eingeübt, 
bei  Hunnen  und  Avaren,  bei  Baschkiren  und  Mohikanern,  ja  sogar 
bei  den  Antediluvianern  nicht  nur  ein  verehrliches  Publikum,  son- 
dern auch  einen  hohen  Adel  aufzuspüren.  Er  hat  auch  die  nagel- 
neue Entdeckung  gemacht,  daß  im  Mittelalter,  als  der  Bauer  leib- 
eigen war,  der  Bauernstand  Liebes  und  Gutes  in  bezug  auf  die  beiden 
andern  gab  und  empfing.  Seine  Sprache  ist  unvergleichlich,  er 
schleudert  mit  ,, wurzeltief  eingreifenden  Dimensionen"  um  sich 
und  ,,weiß  Gold  aus  den  an  sich  (Hegel  —  Saul  unter  den  Prophe- 
ten) dunkelsten   Erscheinungen  zu  ziehen".    — 

Et  lux  perpetua  luceat  eis   — 
sie  haben's  wahrlich  nötig. 

Sie  hat  noch  so  manchen  schönen  Gedanken  gehabt,  die  selige 
Adelszeitung,  zum  Exempel  den  über  den  Grundbesitz  des  Adels  und 
noch  hundert  andere,  die  zu  preisen  ein  Ding  der  Unmöglichkeit 
wäre,  aber  ihr  schönster  Gedanke  war  doch,  in  ihrer  ersten  Nummer 
unter  den  Ankündigungen  gleich  eine  Mesalliance  anzuzeigen. 
Ob  sie  mit  gleicher  Humanität  Herrn  von  Rothschild  unter  den 
deutschen  Adel  rechnen  wollte,  hat  sie  nicht  gesagt.  Gott  tröste 
die  beklagenswerten  Eltern  und  erhebe  die  Selige  in  den  himm- 
lischen Grafenstand, 

Und  laß  sie  ruhig  schlafen, 
bis  auf  den  jüngsten  Tag!    — 

Wir  aber  wollen  ihr  ein  Requiem  singen  und  eine  Leichenrede 
halten,  wie  es  eines  braven  Bürgers  Pflicht  ist. 

Tuba  mirum  spargens  sonum 
Per  sepulcra  regionum 
Coget  omnes  ante  thronum. 

Hört  ihr  sie  nicht,  die  Posaune,  die  die  Grabsteine  überbläst 
und  die  Erde  freudig  wogen  macht,  daß  die  Gräber  sich  auftun  ? 
Der  jüngste  Tag  ist  angebrochen,  der  Tag,  dem  keine  Nacht  melir 
folgen  wird;  der  Geist,  der  ewige  König  ist  auf  seinen  Thron  gestie- 
gen und  zu  seinen  Füßen  versammeln  sich  die  Völker  der  Erde, 
Rechenschaft  zu  geben  von  ihrem  Dichten  und  Trachten;  es  geht 
ein  neues  Leben  durch  die  Welt,  daß  die  alten  Völkerstämme  ihre 
laubigen  Zweige  freudig  wiegen  im  Hauche  des  Morgens  und  ab- 
schütteln alle  alten  Blätter  zum  Spiel  des  Windes,  der  sie  zusammen- 
weht zu  einem  großen  Scheiterhaufen,  den  Gott  selbst  mit  seinen 
Blitzen  entflammt.  Das  Gericht  ist  ausgegangen  über  die  Geschlech- 
ter der  Erde,  das  Gericht,  das  die  Kinder  der  Vergangenheit  gern 


Landschaften.  12 1 

niederschlagen  möchten  wie  einen  Erbschaftsprozeß;  aber  unerbitt- 
lich droht  der  ewige  Richter  mit  seinen  durchdringenden  Blicken ; 
das  Pfund,  mit  dem  sie  nicht  gewuchert  haben,  wird  von  ihnen  ge- 
nommen, und  sie  werden  hinausgestoßen  in  die  Finsternis,  wo  kein 
Strahl  des  Geistes  sie  erquickt. 

Landschaften. 

Hellas  hatte  das  Glück,  seinen  landschaftlichen  Charakter  in 
der  Religion  seiner  Bewohner  zum  Bewußtsein  gebracht  zu  sehen. 
Hellas  ist  ein  Land  des  Pantheismus;  alle  seine  Landschaften  sind 

—  oder  waren  es  wenigstens  —  in  dem  Rahmen  der  Harmonie  ge- 
faßt. Und  doch  drängt  sich  jeder  Baum,  jede  Quelle,  jeder  Berg 
zu  sehr  in  den  Vordergrund,  und  doch  ist  sein  Himmel  viel  zu  blau, 
seine  Sonne  viel  zu  strahlend,  sein  Meer  viel  zu  großartig,  als  daß 
sie  sich  mit  der  lakonischen  Vergeistigung  eines  Shelleyschen  Spirit 
of  nature,  eines  allumfassenden  Pan  begnügen  sollten;  jedes  ein- 
zelne macht  auch  in  seiner  schönen  Abrundung  Ansprüche  auf  einen 
besondern  Gott,  jeder  Fluß  will  seine  Njrmphen,  jeder  Hain  seine 
Drjraden  haben  —  und  so  ward  die  Religion  der  Hellenen.  Andere 
Gegenden  waren  nicht  so  glücklich ;  sie  dienten  keinem  Volke  zur 
Grundlage  seines  Glaubens  und  müssen  ein  poetisches  Gemüt  ab- 
warten, das  den  religiösen  Genius,  der  in  ihnen  schlummert,  herauf- 
beschwört. Steht  ihr  auf  dem  Drachenfels  oder  auf  dem  Rochus- 
berg bei  Bingen  und  schaut  ihr  hin  über  das  rebenduftende  Rhein - 
tal,  die  fernen  blauen  Berge  mit  dem  Horizont  verschmolzen,  das 
Grün  der  Felder  und  Weinberge,  vom  Golde  der  Sonne  übergössen, 
das  Blau  des  Himmels  widerstrahlend  aus  dem  Strom  —  da  senkt 
sich  der  Himmel  mit  seinem  Licht  auf  die  Erde  und  spiegelt  sich  in 
ihr,  der  Geist  versenkt  sich  in  die  Materie,  das  Wort  wird  Fleisch 
und  wohnt  unter  uns  —  das  ist  verkörpertes  Christentum.  Im 
graden  Gegensatz  dazu  steht  die  norddeutsche  Heide ;  da  ist  nichts 
als  dürre  Halme  und  demütiges  Heidekraut,  das  im  Bewußtsein 
seiner  Schwäche  nicht  von  der  Erde  aufzukriechen  wagt;  hie  und 
da  ein  ehemals  trotzender,  jetzt  vom  Blitz  zersplitterter  Baum;  und 
je  heiterer  der  Himmel  ist,  desto  schärfer  scheidet  er  sich  in 
seiner  selbstgenügsamen  Herrlichkeit  von  der  armen  verfluchten 
Erde,  die  im  Sack  und  in  der  Asche  vor  ihr  liegt,  desto  zornes- 
heißer blickt  sein  Sonnenauge  auf  den  kahlen,  unfruchtbaren  Sand 

—  hier  ist  die  jüdische  Weltanschauung  repräsentiert. 

Die  Heide  ist  genug  gescholten  worden,  die  ganze  Literatur^) 

*)  Im  dritten  Bande  des  Blasedow  nimmt  sich  der  Alte  der  Heide  an. 
(Anmerkung  des  Verfassers.) 


122  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

hat  ihr  einen  Fluch  zugewälzt  und  sie  nur,  wie  in  Platens  Ödipus, 
zur  Staffage  der  Satire  angewandt,  aber  man  hat  es  auch  verschmäht, 
ihre  seltenen  Reize,  ihre  versteckten  poetischen  Beziehungen  auf- 
zusuchen. Man  muß  eigentlich  in  einer  schönen  Gegend,  auf  Berges- 
höhen und  waldigen  Felsenkronen,  aufgewachsen  sein,  um  das  Ab- 
schreckende, Trostlose  der  norddeutschen  Sahara  recht  zu  emp- 
finden, aber  auch  um  den  verborgenen,  wie  die  lybische  Mirage 
nicht  immer  sichtbaren  Schönheiten  dieses  Gebietes  mit  Lust  nach- 
zuspüren. Die  eigentliche  Prosa  Deutschlands  steckt  nur  in  den 
Kartoffelsteppen  der  linken  Eibseite.  Aber  die  Heimat  der  Sachsen, 
des  tatenreichsten  deutschen  Stammes,  ist  auch  in  ihrer  Öde  poe- 
tisch. In  einer  Sturmnacht,  wenn  die  Wolken  gespenstisch  um  den 
Mond  flattern,  wenn  die  Hunde  sich  von  fern  einander  zubellen, 
dann  jagt  auf  schnaubenden  Rossen  hinein  in  die  endlose  Heide, 
dann  sprengt  mit  verhängten  Zügeln  über  die  verbitterten  Granit- 
blöcke und  die  Grabhügel  der  Hünen ;  in  der  Ferne  blitzt  das  Wasser 
der  Moore  im  Widerscheine  des  Mondes,  Irrlichter  gaukeln  darüber 
hin,  unheimlich  tönt  das  Geheul  des  Sturmes  über  die  weite  Fläche; 
der  Boden  wird  unsicher  unter  euch  und  ihr  fühlt,  daß  ihr  in  den 
Bereich  der  deutschen  Volkssage  gekommen  seid.  Erst  seit  ich 
die  norddeutsche  Heide  kenne,  hab'  ich  die  Grimmschen  ,,Kinder- 
und  Hausmärchen"  recht  verstanden.  Fast  allen  diesen  Märchen 
sieht  man  es  an,  daß  sie  hier  entstanden  sind,  wo  mit  dem  An- 
bruch der  Nacht  das  Menschliche  verschwindet  und  die  grausigen, 
formlosen  Geschöpfe  der  Volksphantasie  über  einen  Boden  hin- 
huschen, dessen  Öde  am  hellen  Mittag  schon  unheimlich  ist.  Sie 
sind  die  Versinnlichung  der  Gefühle,  die  den  isolierten  Bewohner 
der  Heide  erfassen,  wenn  er  in  einer  solchen  wilden  Nacht  durch 
sein  Heimatland  geht  oder  vom  hohen  Turme  die  öde  Fläche  schaut. 
Da  treten  die  Eindrücke,  die  ihm  von  den  Sturmnächten  der 
Heide  aus  seiner  Kindheit  geblieben  sind,  wieder  vor  ihn  hin  und 
gestalten  sich  zu  jenen  Märchen.  Das  Geheimnis  von  der  Entstehung 
des  Volksmärchens  belauscht  ihr  am  Rhein  und  in  Schwaben  nicht, 
während  hier  jede  Blitznacht  —  helle  Blitznacht,  sagt  Laube  — 
davon  mit  Donnerzungen  redet. 

Der  Sommer  faden  der  Apologie  der  Heide  würde,  vom  Winde 
getragen,  sich  wohl  noch  länger  fortspinnen,  wenn  er  sich  nicht 
eben  um  einen  unglücklichen,  mit  hannoverschen  Landesfarben  an- 
gemalten Wegweiser  verwickelt  hätte.  Ich  habe  lange  über  die  Be- 
deutung dieser  Farben  nachgedacht.  Die  königlich  preußischen 
zeigen  zwar  das  nicht  an,  was  Thiersch  in  seinem  schlechten  Preu- 
ßenliede  darin  finden  will;  immerhin  aber  erinnern  sie  in  ihrer 
Prosa  an  die  kalte,  herzlose  Bureaukratie  und  alles  das,  was  dem 


Landschaften. 


J23 


Rheinländer  vom  Preußentum  noch  nicht  recht  einleuchten  will; 
der  schroffe  Abstand  zwischen  Schwarz  und  Weiß  kann  ein  Ana- 
logen bieten  für  das  Verhältnis  zwischen  König  und  Untertanen 
in  der  absoluten  Monarchie ;  und  da  sie  eigentlich  nach  Newton  gar 
keine  Farben  sind,  so  können  sie  andeuten,  daß  die  loyale  Gesinnung 
in  der  absoluten  Monarchie  die  ist,  welche  sich  zu  gar  keiner  Farbe 
hält.  Die  muntre  rote  und  weiße  Fahne  der  Hanseaten  paßte  doch 
wenigstens  vor  Zeiten;  der  französische  Esprit  schillert  in  der  Tri- 
kolore, deren  Farben  sich  auch  das  phlegmatische  Holland  aneig- 
nete, wahrscheinlich  um  sich  selbst  zu  persiflieren;  am  schönsten 
und  bedeutungsvollsten  bleibt  freilich  immer  die  unglückliche 
deutsche  Trikolore.  Aber  die  hannoverschen  Farben!  Denkt  euch 
einen  Stutzer,  der  mit  seinen  weißen  Inexpressibles  eine  Stunde 
lang  über  Stock  und  Stein,  durch  Chausseegräben  und  frischge- 
pflügte Felder  gejagt  ist,  denkt  euch  Lot's  Salzsäule  —  ein  Exempel 
für  das  ehemals  hannoversche  Nunquam  retrorsum,  zur  Warnung 
für  Viele  —  denkt  euch  dieses  ehrwürdige  Denkmal  von  der  un- 
gezogenen" Baduinen  Jugend  mit  Lehm  beworfen,  und  ihr  habt  einen 
hannoverschen  Wappenpfahl.  Oder  bedeutet  das  Weiß  vielleicht  das 
unschuldige  Staatsgrundgesetz  und  das  Gelb  den  Kot,  mit  dem  es 
von  gewissen  feilen  Federn  bespritzt  wird  ?  — 

Wenn  ich  den  religiösen  Charakter  der  Gegenden  festhalte, 
so  sind  die  holländischen  Landschaften  wesentlich  calvinistisch. 
Die  totale  Prosa,  die  Unmöglichkeit  einer  Vergeistigung,  die  auf 
einer  holländischen  Fernsicht  lastet,  der  graue  Himmel,  der  nun 
einmal  einzig  zu  ihr  paßt,  alles  das  erweckt  denselben  Eindruck, 
den  die  unfehlbaren  Beschlüsse  der  Dordrechter  Synode  in  uns 
zurücklassen.  Die  Windmühlen,  das  einzig  Bewegte  in  der  Land- 
schaft, erinnern  an  die  Erwählten  der  Prädestination,  die  sich  einzig 
und  allein  vom  Hauche  der  göttlichen  Fügung  antreiben  lassen; 
alles  andere  liegt  im  ,, Geistlichen  Tod".  Und  der  Rhein  wie  der 
ströznende,  lebendige  Geist  des  Christentums  verliert  in  dieser  dürren 
Orthodoxie  seine  befruchtende  Kraft  und  muß  ganz  und  gar  ver- 
sanden. So  erscheinen,  vom  Rheine  aus  gesehen,  seine  holländischen 
Ufer ;  andre  Teile  des  Landes  sollen  schöner  sein,  ich  kenne  sie  nicht. 
—  Rotterdam,  mit  seinen  schattigen  Kais,  mit  seinen  Grachten 
und  Schiffen,  ist  für  Kleinstädter  aus  dem  Innern  Deutschlands 
eine  Oase;  hier  begreift  man,  wie  die  Phantasie  eines  Freiligrath 
mit  den  scheidenden  Fregatten  zu  fernen,  üppigeren  Gestaden  ziehen 
konnte.  Dann  wieder  die  verdammten  seeländischen  Inseln,  nichts 
als  Schilf  und  Dämme,  Windmühlen  und  glockenspielende  Kirch - 
turoispitzen,  zwischen  denen  sich  das  Dampf boot  stundenlang  hin- 
durchwindet! 


124  "^^^  ^^^  I-ehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Aber  nun,  welch  seliges  Gefühl,  wenn  wir  hinausfliegen  aus 
den  philiströsen  Dämmen,  aus  der  enggeschnürten  calvinistischen 
Orthodoxie  in  das  Gebiet  des  freiwogenden  Geistes!  Helvoetsluys 
verschwindet,  die  Waalufer  versinken  rechts  und  links  in  den  höher 
aufjubelnden  Wellen,  das  sandige  Gelb  des  Wassers  verwandelt 
sich  in  Grün,  und  nun  vergessen,  was  dahinter  ist  und  mit  frohem 
Herzen  hinaus  in  die  dunkelgrüne,  durchsichtige  Flut! 

.    Und  nun  vergiß  der  Schmerzen, 
Die  man  dir  angetan, 
Und  geh*  mit  ganzem  Herzen 
Die  große  freie  Bahn. 
Der  Himmel  beugt  sich  nieder, 
Wird  Eines  mit  dem  Meer   — 
Du  willst  zerrissen  wieder 
Fahren  dazwischen  her  ? 
Der  Himmel  beugt  sich  nieder, 
Umfängt  die  schöne  Welt, 
Selig  der  schönen  Glieder, 
Die  er  umschlungen  hält, 
Als  wollte  sie  ihn  küssen, 
So  hüpfte  die  Welle  auf. 
Und  du,  du  willst  zerrissen 
Vollenden  deinen  Lauf? 
Sieh,  wie  der  Gott  der  Liebe 
Sich  in  die  Welt  versenkt. 
Und  daß  er  ihr  verbliebe, 
Sich  ihr  im  Menschen  schenkt! 
Trägst  du  nicht  allerwegen 
Den  Gott  im  Busen  dein  ? 
So  laß'  ihn  frei  sich  regen. 
Und  seiner  würdig  sein! 

Dann  hänge  dich  in  die  Taue  des  Bugspriets  und  schau  in  die 
Wogen,  wie  sie,  vom  Kiele  zerteilt,  den  weißen  Schaum  weit  hin- 
ausspritzen über  dein  Haupt,  dann  sieh  über  die  ferne,  grüne 
Fläche,  wo  die  schäumenden  Wellenhäupter  in  ewiger  Unruhe  auf- 
tauchen, wo  die  Sonnenstrahlen  aus  tausend  tanzenden  Spiegeln  in 
dein  Auge  zurückfallen,  wo  das  Grün  des  Meeres  mit  dem  spiegeln- 
den Himmelblau  und  Sonnengold  zu  einer  wunderbaren  Farbe  ver- 
schmilzt, da  entschwinden  dir  alle  kleinlichen  Sorgen,  alle  Erinne- 
rungen an  die  Feinde  des  Lichts  und  ihre  hinterlistigen  Ausfälle, 
und  du  gehst  auf  im  stolzen  Bewußtsein  des  freien,  unendlichen 
Geistes!    Ich  habe  nur  einen  Eindruck,  den  ich  diesem  vergleichen 


Landschaften.  125 

konnte;  als  sich  zum  erstenmal  die  Gottesidee  des  letzten  Philo- 
sophen vor  mir  auftat,  dieser  riesenhafteste  Gedanke  des  neunzehn- 
ten Jahrhunderts,  da  erfaßten  mich  dieselben  seligen  Schauer,  da 
wehte  es  mich  an,  wie  frische  Meerluft,  die  vom  reinsten  Himmel 
herniederhaucht;  die  Tiefen  der  Spekulation  lagen  vor  mir  wie  die 
unergründliche  Meerflut,  von  der  das  zum  Boden  strebende  Auge 
sich  nicht  abwenden  kann;  in  Gott  leben,  weben  und  sind  wir! 
Das  kommt  uns  auf  dem  Meere  zum  Bewußtsein;  wir  fühlen,  daß 
alles  um  uns  und  wir  selbst  von  Gott  durchhaucht  sind ;  die  ganze 
Natur  ist  uns  so  verwandt,  die  Wellen  winken  uns  so  vertraut  zu, 
der  Himmel  breitet  sich  so  liebeselig  um  die  Erde,  und  das  Licht 
der  Sonne  hat  einen  so  unbeschreiblichen  Glanz,  daß  man  meint, 
es  mit  Händen  greifen  zu  können.   — 

Die  Sonne  sinkt  im  Nordwest ;  links  von  ihr  erhebt  sich  ein 
leuchtender  Streif  aus  dem  Meere,  die  Küste  von  Kent,  das  süd- 
liche Ufer  der  Themse.  Aut  der  See  liegen  schon  die  Nebel  der 
Dämmerung,  nur  im  Westen  ist,  wie  über  den  Himmel,  auch  über's 
Wasser,  der  Purpur  des  Abends  ausgegossen ;  der  östliche  Himmel 
prangt  in  tiefem  Blau,  aus  dem  die  Venus  schon  hell  heraustritt; 
im  Südwesten  zieht  sich  lang  am  Horizonte  Margate  hin,  in  dessen 
Fenstern  das  Abendrot  sich  spiegelt,  ein  langer,  goldner  Streif  in 
zauberischem  Lichte;  und  nun  schwingt  die  Mützen  und  begrüßt 
das  freie  England  mit  freudigem  Rufe  und  vollem  Glase.  Gute 
Nacht,  auf  fröhliches  Erwachen  in  London! 

Ihr,  die  ihr  über  die  Prosa  der  Eisenbahnen  klagt,  ohne  je 
eine  gesehen  zu  haben,  laßt  euch  fahren  auf  der,  die  von  London 
nach  Liverpool  geht.  Wenn  es  irgend  ein  Land  gibt,  das  gemacht 
ist,  auf  der  Eisenbahn  durchflogen  zu  werden,  so  ist  es  England. 
Keine  blendenden  Schönheiten,  keine  kolossalen  Felsmassen,  aber 
ein  Land  voll  sanfter  Hügelwellen,  das  bei  der  englischen,  nie  ganz 
klaren  Sonnenbeleuchtung  einen  wunderbaren  Reiz  hat.  Man 
staunt  über  die  mannigfachen  Gruppierungen  der  einfachen  Staffage ; 
aus  ein  paar  Hügeln,  Feld,  Bäumen,  weidendem  Vieh  macht  die 
Natur  tausend  anmutige  Landschaften.  Eigentümlich  schön  er- 
scheinen die  Bäume,  mit  denen  alle  Felder,  einzeln  und  in  Gruppen, 
besetzt  sind,  so  daß  die  ganze  Gegend  etwas  parkähnliches  erhält. 
Dann  wieder  ein  Tunnel,  der  den  Wagenzug  für  einige  Minuten  im 
Dunkel  hält,  und  der  in  einen  Hohlweg  ausläuft,  aus  dem  man 
plötzlich  wieder  in  die  lachenden,  sonnigen  Felder  versetzt  wird. 
Auf  einmal  führt  der  Weg  auf  einem  Viadukt  quer  durch  ein  langes 
Tal;  tief  unten  liegen  die  Städte  und  Dörfer,  die  V/älder  und  Wiesen, 
zwischen  denen  der  Fluß  sich  hindurchschlängelt;  rechts  und  links 
Berge,  die  im  Hintergrunde  verschwimmen,  und  über  dem  reizen- 


126  -Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

den  Tale  eine  zauberhafte  Beleuchtung,  halb  Nebel,  halb  Sonnen- 
schein —  doch  kaum  hat  man  das  wunderbare  Gebiet  überschaut, 
so  ist  man  ihm  in  einen  kahlen  Hohlweg  entrückt  und  hat  Zeit, 
das  magische  Bild  in  der  Phantasie  neu  zu  schaffen.  Und  so  geht 
es  fort,  bis  die  Nacht  hereinbricht  und  der  Schlummer  die  schauens- 
matten  Augen  schließt.  O,  es  liegt  eine  reiche  Poesie  in  den  Pro- 
vinzen Britanniens!  Oft  meint  man,  noch  in  den  golden  days  of 
merry  England  zu  sein,  und  Shakespeare  mit  der  Büchse  hinterm 
Hag  schleichen  zu  sehen,  wie  er  noch  nach  fremdem  Wilde  jagte, 
oder  man  wundert  sich,  daß  auf  dieser  grünen  Au  nicht  eine  seiner 
göttlichen  Komödien  wirklich  sich  abwickelt.  Denn  wo  die  Szene 
auch  liegen  mag,  in  Italien,  in  Frankreich  oder  Navarra,  immer 
ist's  im  Grunde  doch  merry  England,  wohin  seine  barocken  Rüpel, 
seine  superklugen  Schulmeister,  seine  liebenswürdig-bizarren  Frauen 
gehören,  überall  merkt  man  dem  Ganzen  an,  daß  nur  der  englische 
Himmel  dazu  paßt.  Nur  einige  Komödien,  wie  der  Sommernachts- 
traum,  haben  das  Südlich-Klimatische  so  vollkommen  wie  Romeo 
und  Julie,  auch  in  den  Charakteren. 

Und  nun  zurück  zu  unserem  Vaterlande!  Das  malerische  und 
romantische  Westfalen  ist  ganz  ärgerlich  geworden  über  seinen 
Sohn  Freiligrath,  der  es  über  dem  freilich  weit  malerischeren  und 
romantischeren  Rhein  ganz  und  gar  vergessen  hat;  trösten  wir  es 
mit  einigen  schmeichelnden  Worten,  damit  seine  Geduld  nicht  eher 
bricht,  als  das  zweite  Heft  erscheint.  Westfalen  ist  von  Bergketten 
gegen  Deutschland  hin  umgeben  und  nur  gegen  Holland  offen, 
gleichsam  als  sei  es  von  Deutschland  ausgestoßen.  Und  doch  sind 
seine  Kinder  echte  Sachsen,  treue,  gute  Deutsche.  Nun,  jene  Berge 
bieten  herrliche  Punkte  dar;  im  Süden  die  Ruhr-  und  Lenne-Täler, 
im  Osten  das  Wesertal,  im  Norden  eine  Bergkette  von  Minden 
nach  Osnabrück  —  überall  die  reichsten  Aussichten,  nur  in  der 
Mitte  des  Landes  eine  langweilige  Sandfläche,  die  man  durch  Gras 
und  Korn  immer  hindurchscheinen  sieht.  Und  dann  die  alten, 
schönen  Städte,  vor  allem  Münster  mit  seinen  gotischen  Kirchen, 
mit  den  Arkaden  seines  Marktes,  mit  Annette  Elisabeth  von  Droste 
Hülshof  und  Levin  Schücking.  Der  letztere,  den  ich  das  Vergnügen 
hatte,  dort  kennen  zu  lernen,  war  so  gütig,  mich  auf  die  Gedichte 
jener  Dame  aufmerksam  zu  machen,  und  ich  kann  diese  Gelegen- 
heit nicht  vorübergehen  lassen,  ohne  einen  Teil  der  Schuld  abzu- 
tragen, die  das  deutsche  Publikum  sich  gegen  diese  Poesien  auf- 
geladen hat.  Es  hat  sich  bei  ihnen  wiederum  bewährt,  daß  die  ge- 
priesene deutsche  Gründlichkeit  es  sich  nur  zu  leicht  mit  der  Wür- 
digung von  Gedichten  macht;  man  blättert  sie  durch,  untersucht, 
ob  die  Reime  rein,  die  Verse  fließend  sind,  ob  der  Inhalt  leicht  zu 


Ein  Abend. 


127 


verstehen  und  an  schlagenden,  wenigstens  blendenden  Bildern  reich 
ist,  und  das  Urteil  ist  fertig.  Aber  Dichtungen  wie  diese,  wo  eine 
Innigkeit  des  Gefühls,  eine  Zartheit  und  Originalität  der  Natur- 
bilder, wie  sie  nur  Shelley  haben  mag,  eine  kühne  Byronsche  Phan- 
tasie im  Gewände  einer  freilich  etwas  steif  drapierten  Form,  einer 
von  Provinzialismen  nicht  freien  Sprache  auftreten,  gehen  spurlos 
vorüber ;  wer  hätte  aber  auch  Lust,  sie  etwas  langsam.er  zu  lesen 
als  gewöhnlich  —  und  da  man  doch  nur  Gedichte  zur  Hand  nimmt, 
wenn  die  Stunde  der  Siesta  kommt,  so  könnte  die  Schönheit  der- 
selben wohl  gar  dem  Schlafe  Abbruch  tun!  Dazu  ist  die  Dichterin 
eine  gläubige  Katholikin,  und  wie  kann  sich  ein  Protestant  dafür 
interessieren!  Aber  wenn  der  Pietismus  den  Mann,  den  Magister, 
den  Oberhelfer  Albert  Knapp  lächerlich  macht,  so  steht  der 
kindliche  Glaube  dem  Fräulein  von  Droste  gut.  Es  ist  eine 
mißliche  Sache  um  die  religiöse  Freisinnigkeit  der  Frauen. 
Die  George  Sands,  die  Mistreß  Shelleys  sind  selten;  nur  zu 
leicht  zernagt  der  Zweifel  das  weibliche  Gemüt  und  erhebt 
den  Verstand  zu  einer  Macht,  die  er  bei  keinem  Weibe  haben 
darf.  Wenn  aber  die  Ideen,  mit  denen  wir  Kinder  des  Neuen 
stehen  und  fallen,  Wahrheit  sind,  dann  ist  auch  die  Zeit  nicht 
mehr  fern,  wo  das  weibliche  Herz  ebenso  warm  für  die  Ge- 
dankenblüten des  modernen  Geistes  schlägt,  wie  jetzt  für  den 
frommen  Glauben  der  Väter  —  und  erst  dann  wird  der  Sieg  des 
Neuen  vor  der  Tür  sein,  wenn  die  junge  Generation  es  mit  der 
Muttermilch  in  sich  aufnimmt. 


Ein  Abend. 


To-morrow  comes! 
Shelley. 


Im  Garten  sitz  ich   —  eben  ist  gesunken 

Des  alten  Tages  Sonne  in  die  Fluten 

Und,  die  von  ihr  beherrscht,  verborgen  ruhten, 

Sprühn  lustig  jetzt,  der  Abendröte  Funken. 

Die  Blumen  stehn  und  schaun  sich  an  so  trübe, 

Daß  ihnen  schwand  der  Sonne  heit'res  Leuchten, 

Die  Vögel  aber  auf  den  unerreichten 

Baumgipfeln  singen  froh  ihr  Lied  der  Liebe. 

Die  Schiffe  ruhen  auf  des  Stromes  Rücken, 

Die  sonst  den  weiten  Ozean  durchfahren. 

Und  fernher  über  dröhnt  das  Holz  der  Brücken, 

D'rauf  heimwärts  ziehn  der  Menschen  müde  Scharen, 


128  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1 841. 

Der  kühle  Trank  braust  auf  im  hellen  Becher, 
Und  vor  mir  liegen  Calderons  Komödien; 
Und  so  berausch  ich  mich,  ein  rechter  Zecher, 
Am  Wein  und  den  gewaltigen  Tragödien. 

2. 

Bleich  wird  das  Abendrot  im  Westen  schon   — 

Geduld,  ein  Morgen  kommt,  ein  Freiheitsmorgen, 

Die  Sonne  steigt,  und  ewig  glüht  ihr  Thron, 

Fern  bleibt  die  Nacht  mit  ihren  trüben  Sorgen. 

Da  sprießen  neu  die  Blumen,  nicht  in  Beeten, 

Nicht  da  allein,  wo  wir  den  Samen  säten, 

Die  ganze  Erde  wird  ein  lichter  Garten. 

Und  alle  Pflanzen  wechseln  ihre  Länder, 

Die  Friedenspalme  schmückt  des  Nordens  Ränder, 

Der  Liebe  Rose  kränzt  die  Frosterstarrten. 

Die  feste  Eiche  wandert  nach  dem  Süden, 

Despoten  trifft  als  Keule  dort  ihr  Ast, 

Und  wer  dem  Lande  wiedergab  den  Frieden, 

Der  sieht  von  ihrem  Laub  sein  Haar  umfaßt. 

Die  Aloe  sproßt  in  aller  Welt  empor   — 

Ihr  ist  der  strenge  Geist  des  Volkes  ähnlich. 

So  stachelvoll,  so  plump  und  unansehnlich, 

Bis  plötzlich,  laut  erkrachend,  bricht  hervor 

Durch  jedes  Hemmnis  eine  lichte  Blüte, 

Die  Freiheitsflamme,  die  verborgen  glühte. 

Den  Duft  verhauchend,  der  zu  Gott  mag  dringen 

Eh'  als  der  Weihrauch,  den  ihm  Heuchler  bringen. 

Und  einsam  stehn  im  Haine  und  vergessen 

Jetzt  ohne  Deutung,  einzig  die  Zypressen. 

3- 
Die  Vögel,  die  dann  auf  den  grünen  Zweigen 
Mit  lautem  Sang  das  Morgenrot  verkünden. 
Die  schon  erkennen,  wenn  die  Wolken  neigen 
Ihr  feuchtes  Haupt  zu  niedern  Tälergründen, 
Daß  bald  die  Sonne  wird  den  Thron  besteigen. 
Das  sind  die  Männer  aus  dem  Dichterreigen; 
Ihr  Wort  wird  fortgetragen  an  den  Winden, 
Die,  frei,  sich  gern  mit  freiem  Wort  verbünden. 
Die  Sänger  stehn  nicht  auf  der  Schlösser  Warten  - 
Die  Adelsschlösser  sanken  längst,  zertrümmert  — 
Von  stolzen  Eichen,  die  im  Sturm  nicht  knarrten, 
Sehn  sie  zur  Sonne  kühn  und  unbekümmert; 


Ein  Abend. 

Ob  sie  der  Strahl  des  Lichtes,  des  langerharrten, 

Auch  blende,  wenn  er  rein  die  Welt  umschimmert, 

Und  ich  bin  einer  auch  der  freien  Sänger ; 

Die  Eiche  Börne  ist's,  an  deren  Ästen 

Ich  auf  geklommen,  wenn  im  Tal  die  Dränger 

Um  Deutschland  enger  ihre  Ketten  preßten. 

Ja,  einer  bin  ich  von  den  kecken  Vögeln, 

Die  in  dem  Äthermeer  der  Freiheit  segeln ; 

Und  war'  ich  Sperling  nur  in  ihren  Zügen   — 

Ich  wäre  Sperling  lieber  unter  ihnen, 

Als  Nachtigall,  sollt'  ich  im  Käfig  liegen, 

Und  mit  dem  Liede  einem  Fürsten  dienen. 

4- 

Dann  trägt  das  Schiff,  das  durch  die  Wogen  schäumt, 
Nicht  Waaren  mehr,  um  einz'le  zu  bereichern. 
Nicht  dient's  dem  gier'gen  Kaufmann  mehr  zu  Speichern, 
Es  bringt  die  Saat,  der  Menschenglück  entkeimt; 
Es  ist  ein  Roß,  das  jugendfroh  sich  bäumt. 
Sein  Reiter  bringt  den  Heuchlern  Tod  und  Schleichern, 
's  ist  Einer  von  den  mut'gen  Gram  verscheuchern, 
*s  ist  ein  Gedanke,  der  von  Freiheit  träumt. 
Die  Flagge  trägt  nicht  mehr  des  Königs  Wappen, 
Dem  sich  das  Schiffsvolk  beugt  mit  Furcht  und  Zittern  - 
Sie  trägt  die  Wölk',  um  die  nach  Ungewittern, 
,     Wenn  sie  der  Blitz  zerriß  mit  seinen  Schlägen, 
Sich  sühnend  will  der  Friedensbogen  legen. 

5- 

Dann  wölbt  die  Liebe  Brücken,  unsichtbare, 
Von  Herz  zu  Herzen;  ob  durch  ihren  Bogen 
Herniederbraust  der  rasche  Strom  der  Jahre, 
Der  Strom  der  Leidenschaften,  schaumumflogen, 
Die  Brücke  wankt  nicht,  die  demantharte. 
Und  d 'rüber  weht  der  Freiheit  Lichtstandarte 
Und  d 'rüber  geht  der  Mensch;  wohin  er  sendet 
Den  Blick,   wohin  sein  Fuß  ihn  möge  trcigen, 
Er  sieht  ein  gastlich  Dach  gen  Himmel  ragen. 
Erquickung  wird  ihm  gerne  stets  gespendet; 
Wo  er  sich  legt,  das  Auge  schlafgeblendet, 
Da  fühlt  er  heimisch  sich  und  sonder  Zagen. 
Zum  Äther  aber  wölbet  neue  Brücken 
Ein  rein'rer  Glaube,  d'rauf  die  Menschen  dreister 

-Mayer,  Engels.     Ergänzungsband.  9 


129 


130  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Zum  Himmel  geh'n,  demütig-stolz  zu  blicken 
In's  Aug'  dem  ew'gen  Urbild  aller  Geister. 
Aus  seinem  Schöße  sind  sie  ausgegangen, 
Zu  seinem  Schöße  kehren  sie  hinwieder, 
Sich  fühlend  als  der  Geisteskette  Glieder, 
Die  ewig  die  Materie  umfangen. 

6. 

Ein  neuer  Wein  wird  dann  die  Becher  füllen, 
Der  Freiheit  Wein,  zu  üppiger  Berauschurg; 
Er  wird  die  Sinne  nicht  in  Nebel  hüllen, 
Gibt  neuen  Sinn  in  glücklicher  Vertauschung, 
Daß  du  vermagst,  die  Melodie  der  Sphären 
Dir  aufzufangen  mit  des  Ohres  Lauschung, 
Daß  in  den  Adern  sich  dein  Blut  verklären, 
Zu  Äther  wird,  der  die  Unendlichkeiten 
Durchströmt,  daß  deine  Blicke  durch  den  hehren 
Uralten  Raum,  wie  kecke  Krieger  schreiten. 
Und  Sterne  sich  erobern  in  der  Höh'; 
Dazwischen,  wie  Irrlichterscheine,  gleiten 
Vorbei  die  Bilder  aus  vergang'nem  Weh'. 

7. 

Und  dann  ersteht  ein  Calderon,  ein  neuer. 
Ein  Perlenfischer  in  dem  Meer  der  Dichtung, 
Von  Bildern  flammt  sein  Lied,  die  Opferfeuer 
Von  duft'ger  Cedernblöcke  hoher  Schichtung; 
Es  rauscht  sein  Sang,  es  rauscht  die  gold'ne  Leier 
Von  des  Tyrannen  blutiger  Vernichtung:       | 
Die  Menschheit  horcht  dem  stolzen  Siegesliede, 
Und  alle  Welt  durchhaucht  der  milde  Friede. 
Auch  jener  singt,  wie  einst  den  Sieg  erstritten 
Die  Menschheit  über  der  Tyrannen  Heere 
Auf  der  Mantibler  Brücke^),  wo  sie  mitten 
Durch  alle  Lanzen  eindrang  in  das  hehre 
Gelobte  Freiheitsland  mit  kühnen  Schritten; 
Wie  da  sie  ward  der  Arzt  der  eignen  Ehre, 
Sie,  die  so  lang*,  gleich  dem  standhaften  Fürsten, 
In  Ketten  mußte  nach  Erlösung  dürsten. 


^)  Alle  in  dieser  Strophe  gesperrt  gedruckten  Bezeichnungen  sind 
Namen  Calderonscher  Dramen,  die  Engels  im  Original  in  der  Anmerkung 
spanisch  anführt. 


Ein  Abend.  131 

Tochter  der   Luft,  stieg  da  die  Freiheit  nieder, 

Zur  Erde  fröhHch  aus  des  Äthers  Raum, 

Sang  ihre  wundervollen  Zauberlieder, 

Da  ward  das   Leben  rings  ein  süßer  Traum. 

Da  glänzte  klar  der  Freude  Becher  wieder 

Und  ungetrübt  voll  wilder  Gärung  Schaum; 

Die  Sonne  scheucht  die  Wolken  wie  die  Sorgen 

Und  bringt,  stets  froh,  April-  und  Maienmorgen. 

8. 
Doch  wann  wird  jene  neue  Sonn'  erstehen. 
Wann  wird  die  alte  Zeit  zusammen  krachen? 
Wir  sah'n  die  alte  Sonne  untergehen. 
Wie  lang  wird  uns  die  finstre  Nacht  umdachen  ? 
Durch  Wolkenschleier  lugt  der  trübe  Mond, 
Der  Nebel  lagert  auf  den  Tälergründen; 
Im  Nebel  ruht,  was  auf  der  Erde  wohnt, 
Wir,  die  wir  wachen,  tappen  wie  die  Blinden. 
Geduld,  die  Wolken,  die  den  Mond  umringen, 
Scheucht  vor  sich  her  die  Sonne  schon  im  Steigen, 
Die  Nebel,  die  sich  durch  die  Täler  schlingen. 
Sind  morgendhauch -geweckte  Geisterreigen. 
Im  Osten  tanzt  der  Morgenstern  empor. 
Blutrote  Strahlen  durch  die  Nebel  schießen  — 
Seht  ihr  nicht  Blumen  schon  den  Kelch  erschließen, 
Schmettert  nicht  schon  der  Vöglein  froher  Chor  ? 
Der  halbe  Himmel  strahlt  im  lichten  Scheine, 
Schneegipfel  werden  Rosenedelsteine; 
Die  gold'nen  Wolken,  die  dort  aufgeschossen, 
Die  Häupter  sind 's  von  edlen  Sonnenrossen; 
Schaut  dorthin,  wo  die  dicht'sten  Strahlen  fließen, 
Die  junge  Sonne  jubelnd  zu  begrüßen! 

Sanct  Helena. 

Fragment. 
Du  stolzer  Fels  in  Meereseinsamkeit, 
Du  harte  Gruft  des  größten  Felsenherzen, 
Das  hier  gedacht  der  selbstgeschaff'nen  Zeit, 
Das  hier  verschied  an  des  Prometheus  Schmerzen; 
Wie  stehst  du  da  im  schwarzen  Priesterkleid, 
Du,  eine  jener  ausgeglühten  Kerzen, 
Die  Gott,  als  er  die  Welt  gesetzt  zusammen, 
Entbrannt,  um  Licht  zu  seinem  Werk  zu  flammen. 

9* 


132  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Wohl  möchten  sie  zu  dir  den  Heros  senden, 
Der  als  ein  neu  Jahrhundert  ward  geboren, 
Mit  seinen  Blitzen  mußt'  Erleuchtung  spenden, 
Mit  seinem  Donner  füllen  alle  Ohren, 
Bis,  ungehört,  sich  in  des  Weltraums  Wänden 
Des  Kindes  erster  Wehschrei  sich  verloren; 
Dann  warf  die  Zeit,  in  ihren  bittern  Scherzen, 
Ihn  zu  den  andern  ausgeglühten  Kerzen. 


Brief  an  Wilhelm  Graeber 

Mein  lieber  Wilhelm! 

Bremen,  20.  November   1840. 

Es  ist  nun  schon  wenigstens  ein  halbes  Jahr  vorbei,  daß  Du 
mir  nicht  geschrieben  hast.  Was  soll  ich  zu  solchen  Freunden 
sagen  ?  Du  schreibst  nicht,  Dein  Bruder  schreibt  nicht,  der  Wurm 
schreibt  nicht,  Grel  schreibt  nicht,  Heuser  schreibt  nicht,  der 
W.  Blank  läßt  keine  Zeile  erblicken,  von  Plümacher  ist  mir  noch 
weniger  etwas  bewußt,  sacre  tonnerre,  was  soll  ich  dazu  sagen  ?  Meine 
Rolle  Kanaster  war  noch  sieben  Pfund  schwer,  als  ich  Dir  zum 
letzten  male  schrieb,  jetzt  ist  kaum  noch  ein  Kubikzoll  davon 
übrig,  und  noch  keine  Antwort.  Statt  dessen  jubiliert  Ihr  in  Bar- 
men herum,  —  wartet  Kerls,  als  ob  ich  nicht  von  jedem  Glase 
Bier  wüßte,  das  Ihr  seitdem  getrunken  habt,  ob  Ihr 's  in  einem 
oder  mehreren  Zügen  getrunken  habt. 

Namentlich  Du  solltest  Dich  schämen,  über  meine  politischen 
Wahrheiten  loszuziehen,  Du  politische  Schlafmütze.  Wenn  man  Dich 
auf  Deiner  Landpfarre,  denn  ein  höheres  Ziel  wirst  Du  doch  wohl 
nicht  erwarten,  ruhig  sitzen  und  jeden  Abend  mit  der  Frau  Pf  äff  in 
und  den  etwaigen  jungen  Pfäfflein  spazieren  gehen  läßt,  ohne  Dir 
eine  Kanonenkugel  vor  die  Nase  zu  schicken,  bist  Du  seelenvergnügt 
und  kümmerst  Dich  nicht  um  den  frevelhaften  F.  Engels,  der  gegen 
das  Bestehende  raisonniert.  O  ihr  Helden!  Aber  ihr  werdet  den- 
noch in  die  Politik  hereingerissen,  der  Strom  der  Zeit  überflutet 
Eure  Idyllenwirtschaft  und  dann  steht  Ihr  da  wie  die  Ochsen  am 
Berge.    Tätigkeit,  Leben,  Jugendmut,  das  ist  der  wahre  Witz! 

Von  dem  großartigen  Ulk,  den  unser  gemeinschaftlicher  Freund 
Krummacher  hier  angeregt  hat,  werdet  Ihr  nun  wohl  schon  gehört 
haben.  Jetzt  ist  es  so  ziemlich  vorbei,  aber  es  ist  arg  gewesen. 
Die  Panieliter  haben  sich  bataillonsmäßig  formiert,  haben  das 
Arsenal  der  Bürgerwehr  gestürmt  und  sind  mit  einer  großen  drei- 
farbigen  Fahne  durch  die   Stadt  gezogen.    Sie  sangen   Ein  freies 


Brief  an  Wilhelm  Graeber. 


133 


Leben  führen  wir  und  Vivat  Paniel,  Paniel  lebe,  Paniel  ist  ein  bra- 
ver Mann.  Die  Krummacherianer  scharten  sich  auf  dem  Domshof, 
besetzten  das  Rathaus,  wo  gerade  der  Senat  Sitzung  hielt,  und  plün- 
derten die  Waffenkammer.  Mit  Hellebarden  und  Morgensternen 
bewaffnet,  stellten  sie  sich  auf  dem  Domshof  in  ein  Karree,  rich- 
teten die  beiden  Kanonen,  die  an  der  Hauptwache  stehen  (Pulver 
hatten  sie  aber  nicht),  gegen  die  Obernstraße,  von  wo  die  Panieliter 
kamen,  und  erwarteten  so  den  Feind.  Dieser  aber,  als  er  vor  den 
Kanonen  angekommen  war,  kamen  von  der  andern  Seite  auf  den 
Markt,  und  besetzten  ihn  [sie!].  Die  600  Mann  starke  Reiterei  okku- 
pierte den  Grasmarkt,  gerade  den  Krummacherianern  gegenüber,  und 
war  des  Kommandos  zum  Einhauen  gewärtig.  Da  trat  der  Bürger- 
meister Smidt  aus  dem  Rathause.  Er  ging  zwischen  die  Parteien, 
stellte  sich  festen  Fußes  auf  den  Stein,  auf  dem  die  Giftmischerin 
Gottfried  hingerichtet  wurde,  und  welcher  gerade  einen  halben  Zoll 
aus  dem  Pflaster  hervorragt,  und  sprach,  zu  den  Krummacherianern 
gewendet:  ,,Ihr  Männer  von  Israel!"  Dann  drehte  er  sich  zu  den 
Panielitern:  ,','ArdQeg  'A{^^vaioi^y/'  Dann  wandte  er  sich  bald  rechts 
bald  links  und  hielt  folgende  Rede:  Sintemal  Krummacher  ein 
Fremder  ist,  so  ziemt  es  sich  nicht,  daß  ein  Streit,  den  er  erregt 
hat,  in  unsrer  guten  Stadt  ausgefochten  werde.  Ich  schlage  also 
den  geehrten  Teilen  vor,  sich  gütigst  auf  die  Bürgerweide  begeben 
zu  wollen,  welche  für  dergleichen  Szenen  ein  sehr  passendes  Ter- 
rain bietet. 

Dies  wurde  billig  befunden,  die  Parteien  zogen  zu  verschiedenen 
Toren  hinaus,  nachdem  Paniel  sich  mit  dem  steinernen  Schilde 
und  Schwerte  Rolands  bewaffnet  hatte.  Den  Oberbefehl  der  Krum- 
macherianer, welche  6239V0  Mann  stark  waren,  übernahm  Pastor 
Mallet,  der  18 13  den  Feldzug  mitgemacht  hat;  er  befahl,  Pulver 
zu  kaufen  und  ein  paar  kleine  Pflastersteine  mitzunehmen,  um  sie 
in  die  Kanonen  zu  laden.  Auf  der  Bürgerweide  angekommen,  ließ 
Mallet  den  Kirchhof  besetzen,  der  daran  stößt  und  von  einem  breiten 
Graben  umgeben  ist.  Er  stieg  auf  das  Monument  des  Gottfried 
Menken  und  befahl  die  Kanonen  auf  dem  Wall  des  Kirchhofs  auf- 
zufahren. Aber  aus  Mangel  an  Pferden  waren  die  Kanonen  nicht 
fortzuschaffen  gewesen.  Inzwischen  war  es  neun  Uhr  abends 
und  pechdunkel.  Die  Heere  biwakierten,  Paniel  in  Schwach- 
hausen, einem  Dorfe,  Mallet  in  der  Vorstadt.  Das  Hauptquartier 
war  in  der  Reitbahn  vor  dem  Herdentore,  welche  zwar  schon  von 
einer  Kunstreiterbande  okkupiert  war,  aber  als  Pastor  Kohlm.ann 
von   Hörn  in  der   Bahn  einen  Abendgottesdienst  hielt,  liefen  die 


1)  Männer  von    Athen. 


134  '^"^  ^^^  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 184 1. 

Reiter  weg.  Dies  geschah  am  17.  Oktober.  Am  18.  morgens  rück- 
ten die  beiden  Armeen  aus.  Paniel,  der  4267^/^  Mann  zu  Fuß  und 
1689^/4  Reuter  hatte,  griff  an.  Eine  Infanteriekolonne,  die  Paniel 
selbst  anführte,  drang  auf  das  erste  Treffen  Mallets  ein,  welches 
aus  seinen  Katechisationsschülern  und  einigen  zelotischen  Frauen 
bestand.  Nachdem  drei  alte  Weiber  gespießt  und  sechs  Katechu- 
menen  erschossen  waren,  stob  das  Bataillon  auseinander  und  wurde 
von  Paniel  in  den  Chausseegraben  geworfen.  Auf  dem  rechten 
Flügel  Paniels  stand  Pastor  Capelle,  der  mit  drei  Schwadronen  Ka- 
vallerie, die  aus  den  jungen  Comptoiristen  gebildet  war,  Mallet  um- 
ging und  ihm  in  den  Rücken  fiel ;  er  besetzte  die  Vorstadt  und  nahm 
dem  Mallet  so  seine  Operationsbasis.  Paniels  linker  Flügel  rückte 
unter  Pastor  Rothes  Befehl  auf  die  Horner  Chaussee  und  drängte 
den  Jünglings  verein,  der  mit  den  Hellebarden  nicht  umzugehen 
wußte,  auf  das  Gros  von  Mallets  Armee  zurück.  Da  hörten  wir, 
unsrer  sechse,  in  der  Fechtstunde  das  Schießen,  stürzten  mit  Fecht- 
jacken, -Handschuhen,  -Masken  und  -Hüten  heraus,  das  Tor  war 
geschlossen,  ein  Angriff  auf  die  Wache  verschaffte  uns  den  Schlüssel, 
und  so  kamen  wir,  das  Rapier  in  der  Hand,  auf  dem  Kampfplatz 
an.  Richard  Roth  von  Barmen  formierte  den  zersprengten  Jüng- 
lingsverein aufs  neue,  während  Höller  von  Solingen  sich  mit  dem 
Rest  der  Katechumenen  in  ein  Haus  warf;  ich  und  drei  andre 
hieben  ein  paar  Panieliter  vom  Pferde,  stiegen  auf,  warfen,  vom 
Jünglingsverein  unterstützt,  die  feindliche  Kavallerie;  Mallets 
Hauptarmee  rückte  vor,  unsre  Rapiere  verbreiteten  Quarten,  Ter- 
zen, Schrecken  und  Tod,  und  in  einer  halben  Stunde  waren  die  Ra- 
tionalisten zerstreut.  Jetzt  kam  Mallet,  um  zu  danken,  und  als 
wir  sahen,  für  wen  wir  gefochten  hatten,  sahen  wir  uns  erstaunt  an. 
Se  non  e  vero,  Ä  come  spero  ben  trovato.^)  Schreibt  nun  aber 
bald.    Und  animiere  den  Wurm,  daß  er  mir  schreibt. 

Fr.  Engels. 

Siegfrieds  Heimat. 

Do  wuchs  in  Niderlanden  eins  riehen  Küneges  kint, 
Sin  vater  hiez  Siegmunt,  sin  muoter  Siglint, 
In  einer  bürge  riche,  diu  witen  was  bekant, 
Niden  bi  dem  Rine,  diu  was  ze  Santen  genant. 

Der  Nibelunge  Not,  20. 

Nicht  allein  oberhalb  Köln  sollte  der  Rhein  besucht  werden, 
und  namentlich  die  deutsche  Jugend  sollte  sich  nicht  dem  reisenden 


1)  Wenn  es  nicht  wahr  ist,  ist  es,  wie  ich  hoffe,  gut  erfunden. 


Siegfrieds  Heimat.  1^5 

John  Bull  gleichstellen,  der  sich  von  Rotterdam  bis  Köln  in  der 
Kajüte  des  Dampfschiffes  langweilt,  und  erst  dann  aufs  Verdeck 
steigt,  weil  hier  sein  Panorama  des  Rheins  von  Köln  bis  Mainz 
oder  sein  Guide  for  traveliers  on  the  Rhine  beginnt.  Die  deutsche 
Jugend  sollte  sich  einen  wenig  besuchten  Ort  zum  Wallfahrtsorte 
wählen,  ich  meine  die  Heimat  Hürnensiegfrieds,  Xanten. 

Römerstadt,  wie  Köln,  blieb  es  im  Mittelalter  klein  und  äußer- 
lich unbedeutend,  während  Köln  groß  wurde  und  einem  kurfürst- 
lichen Erzbistume  den  Namen  gab.  Aber  Xantens  Kathedrale 
blickt  in  herrlicher  Vollendung  weithin  in  die  Prosa  der  holländi- 
schen Sandfläche,  und  Kölns  kolossalerer  Dom  blieb  Torso;  aber 
Xanten  hat  Siegfried  und  Köln  nur  den  heiligen  Hanno,  und  was 
ist  das  Hannolied  gegen  die  Nibelungen! 

Ich  kam  vom  Rheine  her.  Durch  enge,  verfallene  Tore  trat 
ich  in  die  Stadt;  schmutzige,  enge  Gassen  führten  mich  auf  den 
freundlichen  Markt,  und  von  dort  schritt  ich  auf  ein  überbautes 
Tor  in  der  Mauer  zu,  die  den  ehemaligen  Klosterhof  mit  der  Kirche 
umgrenzte.  Über  dem  Tore,  rechts  und  links,  unter  den  beiden 
Türmchen,  standen  zwei  Basreliefs,  unverkennbar  zwei  Siegfriede, 
leicht  von  dem  Schutzpatron  der  Stadt,  dem  über  jeder  Haustüre 
abgebildeten  heiligen  Viktor  zu  unterscheiden.  Der  Held  steht  da, 
im  enganschließenden  Schuppenpanzer,  den  Speer  in  der  Hand, 
auf  dem  Bilde  rechts  dem  Lindwurm  den  Speer  in  den  Rachen 
rennend,  links  den  ,, starken  Zwerg"  Alberich  niedertretend.  Es 
war  mir  auffallend,  diese  Bildwerke  in  Wilhelm  Grimms  deutscher 
Heldensage,  wo  doch  sonst  alles  gesammelt  ist,  was  sich  auf  den 
Gegenstand  bezieht,  nicht  erwähnt  zu  finden.  Auch  sonst  erinnere 
ich  mich  nicht,  von  ihnen  gelesen  zu  haben,  und  doch  gehören 
sie  mit  zu  den  wichtigsten  Zeugnissen  für  die  örtliche  Anknüpfung 
der  Sage  im  Mittelalter . 

Ich  durchschritt  den  hallenden,  gotisch  gewölbten  Torweg  und 
stand  vor  der  Kirche.  Die  griechische  Baukunst  ist  helles,  heiteres 
Bewußtsein,  die  maurische  Trauer,  die  gotische  heilige  Ekstase; 
die  griechische  Architektur  ist  lichter,  sonniger  Tag,  die  maurische 
Sterndur chflimmerte  Dämmerung,  die  gotische  Morgenröte.  Hier 
vor  dieser  Kirche  empfand  ich,  wie  niemals,  die  Gewalt  des  gotischen 
Baustils.  Nicht  zwischen  modernen  Gebäuden,  wie  der  Kölner  Dom, 
oder  gar  verbaut  mit  Häusern,  die  sich  Schwalbennestern  gleich 
daran  gehängt  haben,  wie  die  Kirche  in  den  norddeutschen  Städten, 
erregt  eine  gotische  Kathedrale  den  bewälligendsten  Eindruck, 
sondern  nur  zwischen  waldigen  Bergen,  wie  die  Kirche  von  Alten - 
berg  im  Bergischen  oder  wenigstens  ge<-rennt  von  allem  Fremd- 
artigen, Modernen,   zwischen  Klostermauern  und  alten  Gebäuden, 


136  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

wie  der  Dom  von  Xanten.  Da  erst  empfindet  man  es  tief,  was  ein 
Jahrhundert  vollbringen  kann,  wenn  es  sich  mit  aller  seiner  Macht 
auf  ein  Einziges,  Großes  wirft.  Und  stände  erst  der  Kölner  Dom 
so  frei  und  dem  Blick  von  allen  Seiten,  in  allen  seinen  riesigen 
Dimensionen  so  offen,  wie  die  Kirche  von  Xanten,  wahrlich,  das 
neunzehnte  Jahrhundert  müßte  sterben  vor  Scham,  daß  es  mit  all 
seiner  Superklugheit  dieses  Gebäude  nicht  vollenden  kann.  Denn 
wir  kennen  die  religiöse  Tat  nicht  mehr,  und  darum  wundern  wir 
uns  auch  über  eine  Mistreß  Fry,  die  im  Mittelalter  zu  den  gewöhn- 
lichsten Erscheinungen  gehört  hätte. 

Ich  trat  in  die  Kirche;  es  wurde  gerade  das  Hochamt  gehalten. 
Die  Orgeltöne  brausten  vom  Chor  herunter,  eine  jubelnde  Schar 
herzenerobernder  Krieger,  und  jagten  durch  das  hallende  Schiff, 
bis  sie  sich  in  den  entfernteren  Gängen  der  Kirche  verliefen.  Und 
laß  auch  du  dein  Herz  von  ihnen  bezwingen,  Sohn  des  neunzehn- 
ten Jahrhunderts  —  diese  Klänge  haben  Stärkere  und  Wildere  ge- 
bändigt denn  du!  Sie  haben  die  alten  deutschen  Götter  aus  ihren 
Hainen  vertrieben,  sie  haben  die  Helden  einer  großen  Zeit  über  das 
stürmische  Meer,  durch  die  Wüste  und  ihre  niebesiegten  Kinder 
nach  Jerusalem  geführt,  sie  sind  die  Schatten  tatendürslender,  heiß- 
blütiger Jahrhunderte!  Dann  aber,  wenn  die  Posaunen  das  Wunder 
der  Transsubstantiation  verkünden,  wenn  der  Priester  die  blitzende 
Monstranz  erhebt  und  alles  Bewußtsein  der  Gemeinde  trunken  ist 
vom  Wein  der  Andacht,  dann  stürze  hinaus,  rette  dich,  rette  dein 
Denken  aus  diesem  Meere  des  Gefühls,  das  durch  die  Kirche  wogt, 
und  bete  draußen  zu  dem  Gott,  des  Haus  nicht  von  Menschenhänden 
gemacht  ist,  der  die  Weit  durchhaucht  und  im  Geist  und  in  der 
Wahrheit  angebetet  sein  will. 

Erschüttert  ging  ich  weg  und  ließ  mich  zu  einem  Gasthof, 
dem  einzigen  des  Städtchens,  zeigen.  Als  ich  in  die  Wirtsstube  trat, 
merkte  ich,  daß  ich  in  Hollands  Nachbarschaft  sei.  Eine  seltsam 
gemischte  Ausstellung  von  Gemälden  und  Kupferstichen  an  den 
Wänden,  ins  Glas  geschnittenen  Landschaften  an  den  Fenstern, 
Goldfischen,  Pfauenfedern  und  tropischen  Blattgerippen  vor  dem 
Spiegel  zeigte  recht  deutlich  den  Stolz  des  Wirtes,  Dinge  zu  be- 
sitzen, die  andere  nicht  haben.  Diese  Raritätensucht,  die  in  entschie- 
dener Geschmacklosigkeit  sich  mit  den  Produkten  der  Kunst  und 
Natur,  gleichviel  ob  schön  oder  häßlich,  umgibt  und  die  sich  am 
wohlsten  in  einem  Zimmer  befindet,  das  von  solchen  Unsinnig- 
keiten strotzt,  das  ist  die  Erbsünde  des  Holländers.  Welch'  ein 
Schauder  ergriff  mich  aber  erst,  als  der  gute  Mann  mich  in  seine 
Gemäldesammlung  führte!  Ein  kleines  Zimmer,  die  Wände  rings- 
um dicht  bedeckt  von  Gemälden  geringen  Wertes,  obwohl  er  be- 


Siegfrieds  Heimat.  137 

hauptete,  Schadow  habe  ein  Porträt,  welches  freilich  viel  hübscher 
war,  als  die  übrigen,  für  einen  Hans  Holbein  erklärt.  Einige  Altar- 
bilder von  Jan  van  Kaikar  (einem  benachbarten  Städtchen)  hatten 
lebhaftes  Kolorit  und  vvürden  dem  Kenner  interessant  gewesen  sein. 
Aber  wie  war  dieses  Zimmer  noch  sonst  dekoriert!  Palmenblätter, 
Korallenzweige  und  dergleichen  ragten  aus  jeder  Ecke  hervor, 
ausgestopfte  Eidechsen  waren  überall  angebracht,  auf  dem  Ofen 
standen  ein  paar  von  bunten  Seemuscheln  zusammengesetzte  Fi- 
guren, wie  man  sie  namentlich  in  Holland  häufig  findet;  in  einer 
Ecke  stand  die  Büste  des  Kölner  Wallraf  und  unter  ihr  hing  der 
mumienhaft  ausgedörrte  Leichnam  einer  Katze,  die  mit  einem 
Vorderfuß  einem  gemalten  Christus  am  Kreuz  grade  ins  Gesicht 
trat.  Sollte  einer  meiner  Leser  einmal  nach  Xanten  in  dies  einzige 
Hotel  verschlagen  werden,  so  frage  er  den  gefälligen  Wirt  nach 
seiner  schönen  antiken  Gemme ;  er  besitzt  eine  wunderschöne,  in 
einen  Opal  geschnittene  Diana,  die  mehr  wert  ist  als  seine  ganze 
Gemäldesammlung. 

In  Xanten  muß  man  nicht  versäumen,  die  Sammlung  von  Alter- 
tümern des  Herrn  Notar  Huber  zu  sehen.  Hier  ist  fast  alles  ver- 
einigt, was  auf  dem  Boden  der  Castra  vetera  ausgegraben  und  auf- 
gefunden wurde.  Die  Sammlung  ist  interessant,  doch  enthält  sie 
nichts  von  besonderem  Kunstwert,  wie  das  von  einer  Militärstation, 
wie  Castra  vetera  war,  auch  zu  erwarten  ist.  Die  wenigen  schönen 
Gemmen,  die  hier  gefunden  wurden,  sind  ganz  zerstreut  in  der  Stadt; 
das  einzige  größere  Denkmal  der  Skulptur  ist  eine  etwa  drei  Fuß 
lange  Sphinx  im  Besitz  des  erwähnten  Gastwirts;  sie  ist  von  ge- 
wöhnlichem Sandstein,  schlecht  erhalten,  übrigens  auch  nie  schön 
gewesen. 

Ich  ging  vor  die  Stadt  und  bestieg  einen  Sandberg,  die  einzige 
natürliche  Erhöhung  in  weitem  Kreise.  Das  ist  der  Berg,  wo  nach 
der  Sage  Siegfrieds  Burg  gestanden  hat.  Am  Eingange  eines  Fichten- 
waldes setzte  ich  mich  nieder  und  sah  auf  die  Stadt  herab.  Von 
allen  Seiten  durch  Dämme  umgeben,  lag  sie  in  einem  Kessel,  über 
dessen  Rand  sich  nur  die  Kirche  majestätisch  erhob.  Rechts  der 
Rhein,  der  mit  breiten,  blinkenden  Armen  eine  grüne  Insel  um- 
schließt, links  die  Clevischen  Berge  in  blauer  Ferne. 

Was  ist  es,  das  uns  in  der  Sage  von  Siegfried  so  mächtig  er- 
greift? Nicht  der  Verlauf  der  Geschichte  an  sich,  nicht  der  schmäh- 
lichste Verrat,  dem  der  jugendliche  Held  unterliegt;  es  ist  die  tiefe 
Bedeutsamkeit,  die  in  seine  Person  gelegt  ist.  Siegfried  ist  der  Re- 
präsentant der  deutschen  Jugend.  Wir  alle,  die  wir  ein  von  den 
Beschränkungen  des  Lebens  noch  ungebändigtes  Herz  im  Busen 
treigen,  wissen,   was   das  sagen   will.     Wir   fühlen   alle   denselben 


138  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Tatendurst,  denselben  Trotz  gegen  das  Herkommen  in  uns,  der 
Siegfrieden  aus  der  Burg  seines  Vaters  trieb;  das  ewige  Überlegen, 
die  philiströse  Furcht  vor  der  frischen  Tat  ist  uns  von  ganzer  Seele 
zuwider,  wir  wollen  hinaus  in  die  freie  Welt,  wir  wollen  die  Schran- 
ken der  Bedächtigkeit  umrennen  und  ringen  um  die  Krone  des 
Lebens,  die  Tat.  Für  Riesen  und  Drachen  haben  die  Philister  auch 
gesorgt,  namentlich  auf  dem  Gebiete  von  Kirche  und  Staat.  Aber 
das  Zeitalter  ist  nicht  mehr;  man  steckt  uns  in  Gefängnisse,  Schulen 
genannt,  wo  wir,  statt  selber  um  uns  zu  schlagen,  das  Zeitwort 
schlagen  so  recht  zum  Spott  durch  alle  Modi  und  Tempora  griechisch 
durchkonjugieren  müssen,  und  wenn  man  uns  aus  der  Disziplin 
losläßt,  so  fallen  wir  der  Göttin  des  Jahrhunderts,  der  Polizei,  in 
die  Arme.  Polizei  beim  Denken,  Polizei  beim  Sprechen,  Polizei 
beim  Gehen,  Reiten  und  Fahren,  Pässe,  Aufenthaltskarten  und 
Douanenscheine  —  es  schlage  der  Teufel  Riesen  und  Drachen  tot! 
Nur  den  Schein  der  Tat  haben  sie  uns  gelassen,  das  Rapier  statt  des 
Schwertes,  und  was  soll  alle  Fechterkunst  mit  dem  Rapier,  wenn 
wir  sie  nicht  mit  dem  Schwerte  anwenden  dürfen  ?  Und  wenn  ein- 
mal die  Schranken  durchbrochen  werden,  wenn  die  Philisterei  und 
der  Indifferentismus  einmal  überritten  wird,  wenn  der  Tatendrang 
sich  Luft  macht  —  seht  ihr  dort  jenseits  des  Rheines  den  Turm  von 
Wesel?  Die  Zitadelle  jener  Stadt,  die  eine  Burg  der  deutschen  Frei- 
heit genannt  wird,  sie  ist  ein  Grab  der  deutschen  Jugend  geworden, 
und  sie  muß  der  Wiege  des  größten  deutschen  Jünglings  grade 
gegenüberliegen!  Wer  hat  dort  gesessen  ?  Studenten,  welche  nicht 
umsonst  wollten  fechten  gelernt  haben,  vulgo  Duellanten  und  De- 
magogen. Jetzt,  nach  der  Amnestie  Friedrich  Wilhelms  IV.,  darf 
man  sagen,  daß  diese  Amnestie  ein  Akt  nicht  nur  der  Gnade,  son- 
dern auch  der  Gerechtigkeit  war.  Alle  Prämissen  und  namentlich 
die  Notwendigkeit  zugegeben,  daß  der  Staat  gegen  diese  Verbin- 
dungen einschreiten  mußte,  so  werden  doch  alle,  die  das  Wohl  des 
Staates  nicht  im  blinden  Gehorsam,  in  der  strikten  Subordination 
sehen,  darin  mit  mir  übereinstimmen,  daß  durch  die  Behandlung  der 
Beteiligten  eine  Restitution  derselben  in  Ehren  und  Würden  be- 
dingt war.  Die  demagogischen  Verbindungen  unter  der  Restaura- 
tion und  nach  den  Julitagen  waren  ebenso  erklärlich,  wie  sie  jetzt 
unmöglich  sind.  Wer  hatte  denn  damals  jede  freie  Regung  unter- 
drückt, wer  hatte  das  Pochen  des  jugendlichen  Herzens  unter 
,, provisorische"  Kuratel  gestellt  ?  Und  wie  sind  jene  Unglücklichen 
behandelt  worden?  Kann  man  es  leugnen,  daß  dieser  Rechtsfall 
grade  dazu  gemacht  ist,  um  alle  Nachteile  und  Fehler  der  schrift- 
lichen und  geheimen  Rechtspflege  ins  hellste  Licht  zu  stellen,  um 
den  Widerspruch  zu  beweisen,  daß  besoldete  Staatsdiener  anstatt 


Ernst  Moritz  Arndt. 


139 


unabhängiger  Geschwornen  über  Anklagen  auf  Vergehen  gegen 
den  Staat  zu  richten  haben;  kann  man  es  leugnen,  daß  die  ganze 
Verurteilung  in  Bausch  und  Bogen,  ,,ini  Rummel",  wie  die  Kauf- 
leute sagen,  geschehen  ist  ? 

Doch  ich  will  hinuntergehen  an  den  Rhein  und  lauschen,  was 
die  abendrotumstrahlten  Wellen  der  Muttererde  Siegfrieds  erzählen 
von  seinem  Grabe  zu  Worms  und  vom  versenkten  Horte.  Vielleicht 
daß  eine  gütige  Fee  Morgana  mir  das  Schloß  Siegfrieds  neu  erstehen 
läßt  und  mir  vorspiegelt,  was  seinen  Söhnen  im  neunzehnten  Jahr- 
hundert für  Heldentaten  vorbehalten  sind. 


Ernst  Moritz  Arndt. 

Wie  der  treue  Eckart  der  Sage  steht  der  alte  Arndt  am  Rhein 
und  warnt  die  deutsche  Jugend,  die  nun  schon  manches  Jahr  hin- 
überschaut nach  dem  französischen  Venusberge  und  den  verfüh- 
rerischen, glühenden  Mädchen,  den  Ideen,  die  von  seiner  Zinne 
winken.  Aber  die  wilden  Jünglinge  achten  des  alten  Recken  nicht 
und  stürmen  hinüber  —  und  nicht  alle  bleiben  entnervt  liegen, 
wie  der  neue  Tannhäuser  Heine, 

Das  ist  Arndts  Stellung  zur  deutschen  Jugend  von  heute.  So 
hoch  ihn  alle  schätzen,  so  genügt  ihnen  sein  Ideal  des  deutschen 
Lebens  nicht;  sie  wollen  freieres  Walten,  vollere,  strotzende  Lebens- 
kraft, glühendes,  stürmisches  Pulsieren  in  den  welthistorischen 
Adern^  die  Deutschlands  Herzblut  leiten.  Und  darum  die  Sym- 
pathie für  Frankreich,  aber  freilich  nicht  jene  Sympathie  der  Unter- 
werfung, von  der  die  Franzosen  fabeln,  sondern  jene  höhere  und 
freiere,  deren  Natur  von  Börne  im  Franzosenfresser  der  deutsch- 
tümlichen Einseitigkeit  gegenüber  so  schön  entwickelt  ist. 

Arndt  hat  es  gefühlt,  daß  die  Gegenwart  ihm  entfremdet  ist, 
daß  sie  nicht  ihn  um  seines  Gedankens,  sondern  seinen  Gedanken 
um  seiner  starken,  männlichen  Persönlichkeit  willen  achtet.  Und 
darum  mußte  es  ihm,  dem  von  Talent  und  Gesinnung,  wie  von  der 
Zeitentwicklung  einer  Reihe  von  Jahren  getragenen  Manne  zur 
Pflicht  werden,  seinem  Volke  ein  Denkmal  seines  Bildungsganges, 
seiner  Denkart  und  seiner  Zeit  zu  hinterlassen,  wie  er  in  seinen 
vielbesprochenen  ,, Erinnerungen  aus  dem  äußeren  Leben"  getan  hat. 

Vorläufig  von  der  Tendenz  abstrahiert,  ist  das  Arndtsche  Buch 
auch  ästhetisch  allerdings  eine  der  interessantesten  Erscheinungen. 
Diese  gedrungene,  markige  Sprache  ist  in  unserer  Literatur  lange 
nicht  gehört  worden  und  verdiente  auf  manchen  von  der  jungen 
Generation  einen  dauernden   Eindruck  zu  machen.     Lieber  straff 


140  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

als  schlaff.  Es  gibt  ja  Autoren,  die  das  Wesen  des  modernen  Stils 
darin  sehen,  daß  jede  hervortretende  Muskel,  jede  angespannte 
Sehne  der  Rede  hübsch  mit  weichem  Fleisch  umhüllt  wird,  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  weibisch  zu  erscheinen.  Nein,  da  ist  mir  doch 
der  männliche  Knochenbau  des  Arndtschen  Stils  lieber  als  die 
schwammige  Manier  gewisser  , »moderner"  Stilisten!  Um  so  mehr, 
als  Arndt  die  Absonderlichkeiten  seiner  Genossen  von  18 13  mög- 
lichst vermieden  hat  und  sich  nur  im  absoluten  Gebrauche  des 
Superlativs  (wie  in  den  südromanischen  Sprachen)  dem  Affektierten 
nähert.  Eine  so  horrende  Sprachmengerei,  wie  sie  jetzt  wieder  in 
Aufnahme  gekommen  ist,  darf  man  bei  Arndt  auch  nicht  suchen; 
er  zeigt  im  Gegenteil,  wie  wenig  fremde  Zweige  wir  auf  unseren 
Sprachstamm  zu  pfropfen  brauchen,  ohne  in  Not  zu  kommen. 
Wahrhaftig,  unser  Gedanken  wagen  fährt  auf  den  meisten  Wegen 
besser  mit  deutschen  als  mit  französischen  oder  griechischen  Rossen, 
und  mit  dem  Gespötte  über  die  Extreme  der  puristischen  Richtung 
ist  es  nicht  abgetan. 

Treten  wir  dem  Buche  näher.  Das  mit  echt  dichterischer  Hand 
entworfene  Idyll  des  Jugendlebens  nimmt  den  größten  Teil  des 
Buches  ein.  Der  mag  Gott  immer  danken,  der  seine  ersten  Jahre 
so  verlebt  hat  wie  Arndt!  Nicht  im  Staube  einer  großen  Stadt,  wo 
die  Freuden  des  Einzelnen  von  den  Interessen  des  Ganzen  erdrückt 
werden,  nicht  in  Kleinkinderbewahranstalten  und  philanthropischen 
Gefängnissen,  wo  die  sprossende  Kraft  verdumpft,  nein,  unter 
freiem  Himmel  in  Feld  und  Wald  bildete  die  Natur  den  stählernen 
Mann,  den  das  verweichlichte  Geschlecht  wie  einen  Nordlands- 
recken anstaunt.  Die  große  plastische  Kraft,  mit  der  Arndt  diesen 
Abschnitt  seines  Lebens  schildert,  drängt  einem  fast  die  Ansicht 
auf,  als  seien  alle  idyllischen  Dichtungen  überflüssig,  so  lange 
unsere  Autoren  noch  solche  Idyllen  erleben  wie  Arndt.  Am  be- 
fremdlichsten wird  unserem  Jahrhundert  jene  Selbsterziehung  des 
Jünglings  Arndt  erscheinen,  die  germanische  Keuschheit  mit  spar- 
tanischer Strenge  vereinigt.  Diese  Strenge  aber,  wo  sie  so  naiv, 
so  frei  von  Jahnscher  Renommisterei  ihr  hoc  tibi  proderit  olim^)  für 
sich  hinsummt,  kann  unserer  ofenhockenden  Jugend  nicht  genug 
empfohlen  werden.  Eine  Jugend,  die  das  kalte  Wasser  scheut,  wie  ein 
toller  Hund,  die  bei  dem  geringsten  Frost  drei-,  vierfache  Kleidung 
anlegt,  die  sich  eine  Ehre  daraus  macht,  wegen  Körperschwäche 
vom  Militärdienst  frei  zu  kommen,  ist  wahrlich  eine  schöne  Stütze 
des  Vaterlandes  I  Von  der  Keuschheit  vollends  zu  reden,  gilt  sie 
für  ein  Verbrechen  in  einer  Zeit,  wo  man  gewohnt  ist,  in  jeder 


*)  Dies  wird  dir  einst  nützen. 


Ernst  Moritz  Arndt. 


141 


Stadt  zuerst  nach  dem  „Tor,  wo  die  letzten  Häuser  stehen"  sich 
zu  erkundigen.  Ich  bin  wahrhch  kein  abstrakter  Morahst,  alles  as- 
ketische Unwesen  ist  mir  verhaßt,  ich  werde  nie  mit  der  gefallenen 
Liebe  rechten;  aber  es  schmerzt  mich,  daß  der  sittliche  Ernst  zu 
verschwinden  droht  und  die  Sinnlichkeit  sich  selbst  als  das  Höchste 
zu  setzen  sucht.  Die  praktische  Emanzipation  des  Fleisches  wird 
immer  neben  einem  Arndt  erröten  müssen. 

Mit  dem  Jahre  1800  tritt  Arndt  in  den  ihm  zugeteilten  Beruf. 
Napoleons  Heere  überschwemmen  Europa,  und  mit  der  Macht  des 
Franzosenkaisers  wächst  Arndts  Haß  gegen  ihn;  der  Greifswalder 
Professor  protestiert  im  Namen  Deutschlands  gegen  die  Unter- 
drückung und  muß  fliehen.  Endlich  erhebt  sich  die  deutsche  Na- 
tion und  Arndt  kehrt  zurück.  Dieser  Teil  des  Buchs  wäre  aus- 
führlicher zu  wünschen;  vor  der  Nationalbewaffnung  und  ihren 
Taten  tritt  Arndt  bescheiden  zurück.  Statt  uns  erraten  zu  lassen, 
daß  er  nicht  untätig  war,  hätte  er  uns  seinen  Anteil  an  der  Zeit- 
entwicklung ausführlicher  darstellen,  hätte  er  die  Geschichte  jener 
Tage  vom  subjektiven  Standpunkte  aus  erzählen  sollen.  Die  spä- 
teren Schicksale  werden  noch  weit  kürzer  behandelt.  Bemerkens- 
wert ist  hier  einerseits  die  immer  bestimmtere  Hinneigung  zur  Ortho- 
doxie im  Religiösen,  andererseits  die  mysteriöse,  fast  untertänige, 
und  die  Rute  küssende  Art,  mit  der  Arndt  von  seiner  Suspension 
spricht.  Wen  aber  dies  befremdete,  der  wird  durch  die  jüngst  in 
öffentlichen  Blättern  erlassenen  Erklärungen  Arndts,  in  denen  er 
seine  Restitution  als  einen  Akt  der  Gerechtigkeit,  nicht  als  ein 
Gnadengeschenk  ansieht,  sich  überzeugt  haben,  daß  er  noch  seine 
alte  Festigkeit  und  Entschiedenheit  besitzt. 

Eine  besondere  Wichtigkeit  aber  erhält  das  Arndtsche  Buch 
durch  die  gleichzeitige  Herausgabe  einer  Masse  von  Denkwürdig- 
keiten über  den  Befreiungskrieg.  So  wird  uns  die  ruhmvolle  Zeit, 
wo  die  deutsche  Nation  seit  Jahrhunderten  wieder  zum  ersten  Male 
sich  erhebt  und  auswärtiger  Unterdrückung  in  ihrer  ganzen  Kraft 
und  Größe  sich  gegenüberstellte,  auf  lebendige  Weise  wieder  nahe 
gebracht.  Und  wir  Deutsche  können  uns  nicht  genug  an  jene 
Kämpfe  erinnern,  damit  wir  unser  schläfriges  Volksbewußtsein 
wach  erhalten;  freilich  nicht  in  dem  Sinne  einer  Partei,  die  nun 
alles  getan  zu  haben  glaubt  und  auf  den  Lorbeern  von  1813  ruhend, 
sich  im  Spiegel  der  Geschichte  selbstgefällig  beschaut,  sondern  eher 
im  entgegengesetzten.  Denn  nicht  die  Abschüttelung  der  Fremd- 
herrschaft, deren  emporgeschrobene,  allein  auf  den  Atlasschultern 
Napoleons  ruhende  Unnatur  über  kurz  oder  lang  von  selbst  zu- 
sammenkrachen mußte,  nicht  die  errungene  ,, Freiheit"  war  das 
größte  Resultat  des   Kampfes,   sondern  dies  lag  in  der  Tat  selbst 


142  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

und  in  einem  von  den  wenigsten  Zeitgenossen  klar  empfundenen 
Momente  derselben.  Daß  wir  uns  über  den  Verlust  der  nationalen 
Heiligtümer  besannen,  daß  wir  uns  bewaffneten,  ohne  die  aller- 
gnädigste  Erlaubnis  der  Fürsten  abzuwarten,  ja  die  Machthaber 
zwangen,  an  unsere  Spitze  zu  treten,  kurz,  daß  wir  einen  Augen- 
blick als  Quelle  der  Staatsmacht,  als  souveränes  Volk  auftraten, 
das  war  der  höchste  Gewinn  jener  Jahre  und  darum  mußten  nach 
dem  Kriege  die  Männer,  die  dies  am  klarsten  gefühlt,  am  entschie- 
densten danach  gehandelt  hatten,  den  Regierungen  gefährlich  er- 
scheinen. —  Aber  wie  bald  schlummerte  die  bewegende  Kraft 
wieder  ein!  Der  Fluch  der  Zersplitterung  absorbierte  den  dem 
Ganzen  so  nötigen  Schwung  für  die  Teile,  zerspaltete  das  allge- 
meine Deutsche  in  eine  Menge  provinzieller  Interessen  und  machte 
es  möglich  (sie!),  für  Deutschland  eine  Grundlage  des  Staatslebens 
zu  gewinnen,  wie  sie  Spanien  sich  in  der  Verfassung  von  18 12  ge- 
schaffen hat.  Im  Gegenteil,  der  sanfte  Frühlingsregen  von  all- 
gemeinen Versprechungen,  der  uns  aus  ,,h oberen  Regionen**  über- 
raschte, war  schon  zu  viel  für  unsere  von  der  Unterdrückung 
niedergebeugten  Herzen  und  wir  Narren  bedachten  nicht,  daß  es 
Versprechungen  gibt,  deren  Bruch  vom  Standpunkte  der  Nation 
aus  niemals,  von  dem  der  Persönlichkeit  aus  aber  sehr  leicht  zu 
entschuldigen  sein  soll.  (?)^)  Dann  kamen  die  Kongresse  und 
gaben  den  Deutschen  Zeit,  ihren  Freiheitsrausch  auszuschlafen  und 
sich,  erwachend,  in  dem  alten  Verhältnis  von  Allerhöchst  und 
Alleruntertänigst  wiederzufinden.  Wem  die  alte  Strebenslust  noch 
nicht  vergangen  war,  wer  sich  noch  nicht  entwöhnen  konnte,  auf 
die  Nation  zu  wirken,  den  jagten  alle  Gewalten  der  Zeit  in  die  Sack- 
gasse der  Deutschtümelei.  Nur  wenige  ausgezeichnete  Geister 
schlugen  sich  durch  das  Labyrinth  und  fanden  den  Pfad,  der  zur 
wahren  Freiheit  führt. 

Die  Deutschtümler  wollten  die  Tatsachen  des  Befreiungs- 
krieges ergänzen  und  das  materiell  unabhängig  gewordene  Deutsch- 
land auch  von  der  geistigen  Hegemonie  des  Fremden  befreien.  Aber 
eben  darum  war  sie  Negation  und  das  Positive,  mit  dem  sie  sich 
brüstete,  lag  in  einer  Unklarheit  begraben,  aus  der  es  nie  ganz  er- 
stand;  was  davon  ans  Tageslicht  der  Vernunft  kam,  war  wider- 
sinnig genug.  Ihre  ganze  Weltanschauung  war  philosophisch 
bodenlos,  weil  nach  ihr  die  ganze  Welt  um  der  Deutschen  willen 
geschaffen  war  und  die  Deutschen  selbst  die  höchste  Entwicklungs- 
stufe längst  gehabt  hatten.  Die  Deutschtümelei  war  Negation, 
Abstraktion  im  Hegeischen  Sinne.     Sie  bildete  abstrakte  Deutsche 


')  Dies  eingeklammerte  Fragezeichen  steht  im  Text. 


Ernst  Moritz  Arndt. 


143 


durch  Abstreifung  alles  dessen,  was  nicht  auf  vierundsechzig  Ahnen 
rein  deutsch  und  aus  volkstümlicher  Wurzel  entsprossen  war. 
Selbst  ihr  scheinbar  Positives  war  negativ,  denn  die  Hinführung 
Deutschlands  zu  ihren  Idealen  konnte  nur  durch  Negation  eines 
Jahrtausends  und  seiner  Entwickelung  geschehen,  und  so  wollte 
sie  die  Nation  ins  deutsche  Mittelalter  oder  gar  in  die  Reinheit 
des  Urdeutschtums  aus  dem  Teutoburger  Walde  zurückdrängen. 
Das  Extrem  dieser  Richtung  bildete  Jahn.  Diese  Einseitigkeit 
machte  denn  die  Deutschen  zum  auserwählten  Volk  Israel  und 
mißkannte  alle  die  zahllosen  weltgeschichtlichen  Keime,  die  außer- 
deutschem Boden  entsproßt  waren.  Namentlich  gegen  die  Fran- 
zosen, deren  Invasion  zurückgedrängt  war,  und  deren  Hegemonie 
in  Äußerlichkeiten  darin  ihren  Grund  hat,  daß  sie  die  Form  der 
europäischen  Bildung,  die  Zivilisation,  jedenfalls  von  allen  Völ- 
kern am  leichtesten  beherrschen,  gegen  die  Franzosen  wandte  sich 
der  bilderstürmende  Grimm  am  meisten.  Die  großen,  ewigen  Re- 
sultate der  Revolution  wurden  als  ,, welscher  Tand"  oder  gar  ,, wel- 
scher Lug  und  Trug"  verabscheut;  an  die  Verwandtschaft  dieser 
ungeheuren  Volkstat  mit  der  Volkserhebung  von  1813  dachte 
niemand;  was  Napoleon  gebracht  hatte:  Emanzipation  der  Israe- 
liten, Geschwornengerichte,  gesundes  Privatrecht  statt  des  Pan- 
dektenwesens,  wurde  allein  um  des  Urhebers  willen  verdammt. 
Der  Franzosenhaß  wurde  PfHcht;  der  Fluch  der  Undeutschheit 
fiel  auf  jede  Anschauungsweise,  die  sich  einen  höheren  Gesichts- 
punkt zu  erobern  wußte.  So  war  auch  der  Patriotismus  wesentlich 
negativ  und  ließ  das  Vaterland  ohne  Unterstützung  im  Kampfe  der 
Zeit,' während  er  sich  abmühte,  für  längst  eingedeutschte  Fremd- 
wörter urdeutsche,  schwülstige  Ausdrücke  zu  erfinden.  Wäre  diese 
Richtung  konkret  deutsch  gewesen,  hätte  sie  den  durch  zweitausend- 
jährige Geschichte  entwickelten  Deutschen  genommen,  wie  sie  ihn 
fand,  hätte  sie  das  richtigste  Moment  unserer  Bestimmung,  die 
Zunge  zu  sein  an  der  Wagschale  der  europäischen  Geschichte,  über 
die  Entwickelung  der  Nachbarvölker  zu  wachen,  hätte  sie  das  nicht 
übersehen,  sie  würde  alle  ihre  Fehler  vermieden  haben.  —  Es  darf 
auf  der  andern  Seite  aber  auch  nicht  verschwiegen  werden,  daß 
die  Deutschtümelei  eine  notwendige  Bildungsstufe  unseres  Volks- 
geistes war  und  mit  der  ihr  folgenden  den  Gegensatz  bildete,  auf 
dessen  Schultern  die  moderne  Weltanschauung  steht. 

Dieser  Gegensatz  gegen  die  Deutschtümelei  war  der  kosmo- 
politische Liberalismus  der  süddeutschen  Stände,  der  auf  die  Ne- 
gation der  Nationalunterschiede  und  die  Bildung  einer  großen, 
freien,  alliierten  Menschheit  hinarbeitete.  Er  entsprach  dem  reli- 
giösen  Rationalismus,  mit  dem  er   aus    der   gleichen    Quelle,  der 


144  -^"^  ^^^  Lehrzeit  in  Bremen,     1838 — 1841. 

Philanthropie  des  vorigen  Jahrhunderts,  geflossen  war,  während  die 
Deutschtümelei  konsequent  zur  theologischen  Orthodoxie  hin- 
führte, wohin  fast  alle  ihre  Anhänger  (Arndt,  Steffens,  Menzel)  mit 
der  Zeit  gelangt  sind.  Die  Einseitigkeiten  der  kosmopolitischen 
Freisinnigkeit  sind  von  ihren  Gegnern  oft  —  freilich  selbst  von 
einseitigen  Standpunkten  —  aufgedeckt  worden,  daß  ich  mich  in 
bezug  auf  diese  Richtung  kurz  fassen  kann.  Die  Julirevolution 
schien  sie  anfangs  zu  begünstigen,  doch  wurde  dieses  Ereignis  von 
allen  Parteien  ausgebeutet.  Die  faktische  Vernichtung  der  Deutsch- 
tümelei oder  vielmehr  ihrer  Zeugungskraft,  datiert  von  der  Juli- 
revolution und  war  in  ihr  gegeben.  Aber  ebenso  auch  der  Sturz  des 
Weltbürgertums,  denn  die  übergreifende  Bedeutung  der  großen 
Woche  war  eben  die  Restitution  der  französischen  Nationalität  in 
ihrer  Stellung  als  Großmacht,  wodurch  denn  die  andern  Nationali- 
täten gezwungen  waren,  sich  gleichfalls  in  sich  selbst  fester  zu- 
sammen zu  ziehen. 

Schon  vor  dieser  jüngsten  Welterschütterung  arbeiteten  zwei 
Männer  im  stillen  an  der  Entwicklung  des  deutschen  Geistes, 
welche  vorzugsweise  die  moderne  genannt  wird,  zwei  Männer,  die 
sich  im  Leben  selbst  beinahe  ignoriert  und  deren  gegenseitige  Er- 
gänzung erst  nach  ihrem  Tode  erkannt  werden  sollte,  Börne  und 
Hegel.  Börne  ist  oft  und  mit  dem  größten  Unrecht  zum  Kosmo- 
politen gestempelt  worden,  aber  er  war  deutscher  als  seine  Feinde. 
Die  Hallischen  Jahrbücher  knüpften  neulich  eine  Besprechung  der 
,, politischen  Praxis"  an  Herrn  von  Florencourt;  aber  dieser  ist  wahr- 
lich nicht  ihr  Vertreter.  Er  steht  auf  dem  Punkte,  wo  sich  die  Ex- 
treme der  Deutschtümelei  und  des  Kosmopolitismus  berühren,  wie 
dies  in  der  Burschenschaft  geschah,  und  ist  von  den  späteren  Fort- 
bildungen des  Nationalgeistes  nur  oberflächlich  berührt  worden. 
Der  Mann  der  politischen  Praxis  ist  Börne,  und  daß  er  diesen  Be- 
ruf vollkommen  ausfüllte,  das  ist  seine  historische  Stellung.  Er 
riß  der  Deutschtümelei  ihren  prahlerischen  Flitterstaat  vom  Leibe 
und  deckte  unbarmherzig  auch  die  Scham  des  Kosmopolitismus 
auf,  der  nur  kraftlose  frommere  Wünsche  hatte.  Er  trat  an  die 
Deutschen  mit  den  Worten  des  Cid:  Lengua  sin  manos,  cuemo  osas 
fablar  ?  Die  Herrlichkeit  der  Tat  ist  von  keinem  so  geschildert 
wie  von  Börne.  Alles  ist  Leben,  alles  Kraft  an  ihm.  Nur  von  seinen 
Schriften  kann  man  sagen,  daß  sie  Taten  für  die  Freiheit  sind. 
Man  komme  mir  hier  nicht  mit  ,, Verstandesbestimmungen**,  mit 
,, endlichen  Kategorien"!  Die  Art,  wie  Börne  die  Stellung  der  euro- 
päischen Nationalitäten  und  ihre  Bestimmung  auffaßte,  ist  nicht 
spekulativ.  Aber  das  Verhältnis  Deutschlands  und  Frankreichs  hat 
Börne  zuerst  in   seiner   Wahrheit  entwickelt,  und  damit  der   Idee 


Ernst  Moritz  Arndt. 


145 


einen  größeren  Dienst  getan  als  die  Hegelianer,  die  während  dessen 
Hegels  Enzyklopädie  auswendig  lernten  und  damit  dem  Jahrhundert 
genug  getan  zu  haben  glaubten.  Eben  jene  Darstellung  beweist 
auch,  wie  hoch  Börne  über  der  Fläche  des  Kosmopolitismus  steht. 
Die  verstandesmäßige  Einseitigkeit  war  Börne'n  so  notwendig,  wie 
Hegel'n  der  übergroße  Schematismus ;  aber  statt  dies  zu  begreifen, 
kommen  wir  nicht  über  die  derben  und  oft  schiefen  Axiome  der 
Pariser   Briefe  hinaus. 

Neben  Börne  und  ihm  gegenüber  stellte  Hegel,  der  Mann  des 
Gedankens,  sein  bereits  fertiges  System  vor  die  Nation  hin.  Die 
Autorität  gab  sich  nicht  die  Mühe,  sich  durch  die  abstrusen  For- 
men des  Systems  und  den  ehernen  Stil  Hegels  durchzuarbeiten; 
wie  konnte  sie  auch  wissen,  daß  diese  Philosophie  sich  aus  dem 
ruhigen  Hafen  der  Theorie  auf  das  stürmische  Meer  der  Begeben- 
heiten wagen  werde,  daß  sie  das  Schwert  schon  zücke,  um  geradezu 
auf  die  Praxis  des  Bestehenden  loszuziehen  ?  War  ja  doch  Hegel 
selbst  ein  so  solider,  orthodoxer  Mann,  dessen  Polemik  gerade 
gegen  die  von  der  Staatsmacht  abgelehnten  Richtungen,  gegen  den 
Rationalismus  und  den  kosmopolitischen  Liberalismus  ging!  Aber 
die  Herren,  die  am  Ruder  saßen,  sahen  nicht  ein,  daß  diese  Rich- 
tungen nur  bekämpft  wurden,  um  der  höheren  Platz  zu  machen, 
daß  die  neue  Lehre  erst  in  der  Anerkennung  der  Nation  wurzeln 
müsse,  ehe  sie  ihre  lebendigen  Konsequenzen  frei  entfalten  können. 
Wenn  Börne  Hegel'n  angriff,  so  hatte  er  von  seinem  Standpunkte 
aus  vollkommen  Recht,  aber  wenn  die  Autorität  Hegel'n  protegierte, 
wenn  sie  seine  Lehre  fast  zur  preußischen  Staatsphilosophie  er- 
hob j  gab  sie  sich  eine  Blöße,  die  sie  jetzt  augenscheinlich  bereut. 
Oder  sollte  Altenstein,  der  freilich,  noch  aus  einer  liberaleren  Zeit 
herstammend,  einen  höheren  Standpunkt  behauptete,  hier  so  sehr 
freie  Hand  gehabt  haben,  daß  alles  auf  seine  Rechnung  kam  ?  Dem 
sei,  wie  ihm  wolle,  als  nach  Hegels  Tode  seine  Doktrin  von  dem 
frischen  Hauche  des  Lebens  angeweht  wurde,  entkeimten  der 
„preußischen  Staatsphilosophie"  Schößlinge,  von  denen  keine  Par- 
tei sich  hatte  träumen  lassen.  Strauß  auf  theologischem,  Gans  und 
Rüge  auf  politischem  Felde  werden  epochemachend  bleiben.  Erst 
jetzt  zerteilten  sich  die  matten  Nebelflecke  der  Spekulation  in  die 
leuchtenden  Ideensterne,  die  der  Bewegung  des  Jahrhunderts  vor- 
leuchten sollen.  Man  mag  der  ästhetischen  Kritik  Ruges  immerhin 
vorwerfen,  daß  sie  nüchtern  und  im  Schematismus  der  Doktrin 
befangen  ist;  es  bleibt  sein  Verdienst,  die  politische  Seite  des  Hegel- 
schen  Systems  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem  Zeitgeiste  dar- 
gestellt und  in  die  Achtung  der  Nation  restituiert  zu  haben.  Gans 
hatte  dies  nur  indirekt  getan,  indem  er  die  Geschichtsphilosophie 

Mayer,  Engels.    Ergänzungsband.  10 


1^6  Atis  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

bis  auf  die  Gegenwart  fortführte ;  Rüge  hat  die  Freisinnigkeit  des 
Hegelianismus  offen  ausgesprochen,  Koppen  hat  sich  ihm  zur  Seite 
gestellt;  beide  haben  keine  Feindschaft  gescheut,  haben  ihren  Weg 
verfolgt,  selbst  auf  die  Gefahr  einer  Spaltung  der  Schule  hin,  und 
darum  alle  Ehre  ihrem  Mute!  Die  begeisterte,  unerschütterliche 
Zuversicht  auf  die  Idee,  wie  sie  dem  Neu -Hegelianismus  eigen,  ist 
die  einzige  Burg,  wohin  sich  die  Freigesinnten  sicher  zurückziehen 
können,  wenn  die  von  Oben  unterstützte  Reaktion  ihnen  einen 
augenblicklichen  Vorteil  abgewinnt. 

Das  sind  die  jüngsten  Entwicklungsmomente  des  deutschen 
politischen  Geistes  und  die  Aufgabe  unsrer  Zeit  ist  es,  die  Durch- 
dringung Hegels  und  Börnes  zu  vollenden.  Im  Jung -Hegelianis- 
mus ist  schon  ein  gutes  Stück  Börne  und  manchen  Artikel  der 
Hallischen  Jahrbücher  würde  Börne  wenig  Anstand  nehmen,  zu 
unterschreiben.  Aber  teils  ist  die  Vereinigung  des  Gedankens  mit 
der  Tat  noch  nicht  bewußt  genug,  teils  ist  sie  noch  nicht  in  die  Nation 
gedrungen.  Noch  imm.er  wird  von  mancher  Seite  her  Börne  als  der 
strikte  Gegensatz  Hegels  angesehen ;  aber  ebenso  wenig  wie  Hegels 
praktische  Bedeutung  für  die  Gegenwart  (nicht  seine  philosophische 
für  die  Ewigkeit)  nach  der  reinen  Theorie  seines  Systems  beurteilt 
werden  darf,  ebenso  wenig  paßt  auf  Börne  ein  flaches  Absprechen 
über  seine  nie  geleugneten  Einseitigkeiten  und  Extravaganzen. 

Ich  glaube  hiermit  die  Stellung  der  Deutschtümelei  zur  Gegen- 
wart hinreichend  bezeichnet  zu  haben,  um  zu  einer  detaillierteren 
Besprechung  ihrer  einzelnen  Seiten,  wie  sie  Arndt  in  seinem  Buche 
auseinander  gelegt,  übergehen  zu  können.  Die  weite  Kluft,  die 
Arndten  von  der  jetzigen  Generation  trennt,  spricht  sich  am  klar- 
sten darin  aus,  daß  ihm  gerade  dasjenige  im  Staatsleben  gleich- 
gültig ist,  wofür  wir  Blut  und  Leben  lassen.  Arndt  erklärt  sich 
für  einen  entschiedenen  Monarchisten ;  gut.  Ob  aber  konstitutionell 
oder  absolutistisch,  darauf  kommt  er  gar  nicht  zu  sprechen.  Der 
Differenzpunkt  ist  hier:  Arndt  und  seine  ganze  Genossenschaft 
setzt  das  Wohl  des  Staats  darin,  daß  Fürst  und  Volk  mit  aufrich- 
tiger Liebe  einander  zugetan  sind  und  sich  im  Streben  nach  dem 
allgemeinen  Wohl  entgegen  komm.en.  Für  uns  dagegen  steht  es 
fest,  daß  das  Verhältnis  zwischen  Regierenden  und  Regierten  erst 
rechtlich  geordnet  sein  muß,  ehe  es  gemütlich  werden  und  bleiben 
kann.  Erst  Recht,  dann  Billigkeit!  Welcher  Fürst  wäre  so  schlecht, 
daß  er  nicht  sein  Volk  liebte  und  —  ich  spreche  hier  von  Deutsch- 
land —  von  seinem  Volke  nicht  schon  darum  geliebt  würde,  weil 
er  sein  Fürst  ist?  Welcher  Fürst  aber  darf  sich  rühmen,  seit  1815 
sein  Volk  wesentlich  weiter  gebracht  zu  haben  ?  Ist  es  nicht  alles 
unser  eigenes  Werk,  was  wir  besitzen,  ist  es  nicht  unser  trotz  Kon- 


Ernst  Moritz  Arndt. 


147 


trolle  und  Aufsicht?  Es  läßt  sich  schön  reden  von  der  Liebe  des 
Fürsten  und  des  Volkes,  und  seit  der  große  Dichter  von  „Heil  dir 
im  Siegerkranz"  sang:  ,, Liebe  des  freien  Mann's  sichert  die  steilen 
Höh'n,  wo  Fürsten  steh'n",  seitdem  ist  unendlicher  Unsinn  dar- 
über geschwatzt  worden.  Man  könnte  die  uns  jetzt  von  einer  Seite 
her  drohende  Regierungsart  eine  zeitgemäße  Reaktion  nennen. 
Pairimonialgerichte  zur  Bildung  eines  hohen  Adels,  Zünfte  zur 
Wiedererweckung  eines  ,, ehrsamen"  Bürgerstandes,  Begünstigung 
aller  sogenannten  historischen  Keime,  welche  eigentlich  alte  ab- 
gehauene Strünke  sind.  —  Aber  nicht  nur  in  bezug  auf  diesen 
Punkt  hat  sich  die  Deutschtümelei  von  der  entschiedenen  Reaktion 
um  die  Freiheit  ihres  Gedankens  prellen  lassen,  auch  ihre  Ver- 
fassungsideen sind  Einflüsterungen  der  Herren  vom  Berliner  Po- 
litischen Wochenblatt.  Es  tat  einem  wehe,  zu  sehen,  wie  selbst  der 
gediegene,  ruhige  Arndt  sich  von  der  sophistischen  Goldflitter: 
, »organischer  Staat"  hat  blenden  lassen.  Die  Phrasen  von  histori- 
scher EntWickelung,  Benutzung  der  gegebenen  Momente,  Organis- 
mus und  so  weiter  müssen  ihrer  Zeit  einen  Zauber  gehabt  haben, 
von  dem  wir  uns  keine  Vorstellung  machen  können,  weil  wir  ein- 
sehen, daß  es  meist  schöne  Worte  sind,  die  es  mit  ihrer  eignen  Be- 
deutung nicht  ernstlich  meinen.  Man  gehe  geradezu  auf  die  Ge- 
spenster los.  Was  versteht  ihr  unter  einem  organischen  Staat? 
Einen  solchen,  dessen  Institutionen  sich  mit  und  aus  der  Nation 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  entwickelt  haben,  nicht  aber  aus  der 
Theorie  heraus  konstruiert  sind.  Sehr  schön;  nun  kommt  die  An- 
wendung auf  Deutschland!  Dieser  Organismus  soll  darin  bestehen, 
daß  die  Staatsgenossen  sich  in  Adel,  Bürger  und  Bauern  scheiden, 
benebst  allem,  was  daran  hängt.  Das  soll  alles  in  dem  Wort  Orga- 
nismus in  nuce^)  verborgen  liegen.  Ist  das  nicht  eine  elende,  eine 
schmähliche  Sophisterei?  Selbstentwickelung  der  Nation,  sieht  das 
nicht  gerade  aus  wie  Freiheit?  Ihr  greift  zu  mit  beiden  Händen 
und  erhascht  —  den  ganzen  Druck  des  Mittelalters  und  des  ancien 
regime.  Zum  Glück  kommt  diese  Taschenspielerei  nicht  auf  Arndts 
Rechnung.  Nicht  die  Anhänger  der  Ständeteilung,  wir,  ihre  Gegner, 
wir  wollen  organisches  Staatsleben.  Es  handelt  sich  vorläufig  gar 
nicht  um  die  , »Konstruktion  aus  der  Theorie";  aber  es  handelt  sich 
um  das,  womit  man  uns  blenden  will,  um  die  Selbstentwickelung  der 
Nation.  Wir  allein  meinen  es  ernstlich  und  aufrichtig  mit  ihr; 
aber  jene  Herren  wissen  nicht,  daß  aller  Organismus  unorganisch 
wird,  sobald  er  stirbt;  sie  setzen  die  toten  Kadaver  der  Vergangen- 
heit mit  ihren  galvanischen  Drähten  in  Bewegung  und  wollen  uns 

*)  Im  Kerne. 

10* 


148  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

aufbinden,  das  sei  kein  Mechanismus,  sondern  Leben.  Sie  wollen 
die  Selbstentwickelung  der  Nation  fördern  und  schmieden  ihr  den 
Klotz  des  Absolutismus  ans  Bein,  damit  sie  rascher  voran  kommt. 
Sie  wollen  nicht  wissen,  daß  das,  was  sie  Theorie,  Ideologie  oder 
Gott  weiß  wie  nennen,  längst  in  Blut  und  Saft  des  Volks  über- 
gegangen und  zum  Teil  schon  ins  Leben  getreten  ist;  daß  damit 
nicht  wir,  sondern  sie  im  Utopien  der  Theorie  herumirren.  Denn 
das,  was  vor  einem  halben  Jahrhundert  allerdings  noch  Theorie 
war,  hat  sich  seit  der  Revolution  als  selbständiges  Moment  im 
Staatsorganismus  ausgebildet.  Und,  was  die  Hauptsache  ist,  steht 
die  Entwicklung  der  Menschheit  nicht  über  der  der  Nation? 

Und  die  Ständewirtschaft?  Die  Scheidewand  zwischen  Bür- 
gern und  Bauern  ist  gar  nicht  da,  es  ist  selbst  der  historischen 
Schule  kein  Ernst  damit;  diese  Scheidewand  wird  nur  pro  forma 
hingestellt,  um  uns  die  Absonderung  des  Adels  plausibler  zu  machen. 
Um  den  Adel  dreht  sich  alles,  mit  dem  Adel  fällt  das  Stände wesen. 
Mit  dem  Stande  des  Adels  aber  sieht  es  noch  schlimmer  aus,  als 
mit  seinem  Bestände.  Ein  erblicher,  ein  Majoratsstand  ist  denn  doch 
wohl  nach  modernen  Begriffen  das  Allerunsinnigste.  Im  Mittel- 
alter freilich!  Da  waren  ja  auch  in  den  Reichsstädten  (wie  in  Bre- 
men z.  B.  noch)  die  Zünfte  und  ihre  Privilegien  erblich,  da  gab  es 
reines  Bäckerblut  und  Zinngießerblut.  Freilich,  was  ist  der  Adels- 
stolz gegen  das  Bewußtsein:  Meine  Ahnen  waren  Bierbrauer  bis 
ins  zwanzigste  Glied!  Ein  Schlächter-  oder  nach  bremischem  poe- 
tischerem Namen  Knochenhauerblut  haben  wir  noch  im  Adel, 
dessen  von  Herrn  Fouque  festgesetzter  kriegerischer  Beruf  ja  ein  fort- 
währendes Schlachten  und  Knochenhauen  ist.  Es  ist  eine  lächerliche 
Arroganz  des  Adels,  sich  für  einen  Stand  zu  halten,  da  nach  den  Ge- 
setzen aller  Staaten  ihm  gar  kein  Beruf,  weder  der  kriegerische  noch 
der  des  großen  Grundbesitzes  ausschließlich  zukommt.  Jeder  Schrift 
über  den  Adel  könnte  der  Vers  des  Troubadours  Wilhelm  von  Poitiers 
als  Motto  vorstehen:  ,,dies  Lied  soll  um  ein  Nichts  sich  dreh'n".  Und 
weil  der  Adel  seine  innere  Nichtigkeit  empfindet,  kann  kein  Adliger 
den  Schmerz  darüber  verbergen,  von  dem  sehr  geistreichen  Baron  von 
Sternberg  an  bis  zu  dem  sehr  geistlosen  C.  L.  F.W.  G.  von  Alvens- 
leben.  Jene  Toleranz,  die  dem  Adel  das  Vergnügen  lassen  will,  sich 
für  etwas  Apartes  zu  halten,  falls  er  nur  sonst  keine  Privilegien  in  An- 
spruch nimmt,  ist  sehr  schlecht  angebracht.  Denn  so  lange  der  Adel 
noch  etwas  Apartes  vorstellt,  so  lange  will  und  muß  er  Vorrechte 
haben.  Wir  bleiben  bei  unserer  Forderung:  Keine  Stände,  wohl  aber 
eine  große,  einige,  gleichberechtigte  Nation  von  Staatsbürgern!   — 

Eine  andere  Forderung  Arndts  für  seinen  Staat  sind  die  Ma- 
jorate, überhaupt  eine  den  Grundbesitz  auf  fixe  Verhältnisse  fest- 


Ernst  Moritz  Arndt. 


149 


stellende  Agrargesetzgebung.  Auch  dieser  Punkt  verdient,  ab- 
gesehen von  seiner  allgemeinen  Wichtigkeit,  schon  darum  Beach- 
tung, weil  die  erwähnte  zeitgemäße  Reaktion  auch  in  dieser  Hin- 
sicht die  Dinge  wieder  auf  den  Fuß  vor  1789  zu  setzen  droht.  Sind 
doch  neuerdings  viele  geadelt  worden  unter  der  Bedingung,  ein  den 
Wohlstand  der  Familie  garantierendes  Majorat  zu  stiften!  —  Arndt 
ist  entschieden  gegen  die  unbeschränkte  Freiheit  und  Teilbarkeit  des 
Grundbesitzes ;  er  sieht  als  eine  unvermeidliche  Folge  eine  Teilung 
des  Landes  in  Parzellen,  von  denen  keine  ihren  Mann  ernähren 
kann.  Aber  er  sieht  nicht,  daß  gerade  die  volle  Freigebung  des 
Grundeigentums  die  Mittel  besitzt,  alles  das  im  ganzen  und  großen 
wieder  auszugleichen,  was  sie  im  einzelnen  allerdings  hier  und  da 
aus  dem  Gleise  bringen  mag.  Während  die  verwickelte  Gesetz- 
gebung der  meisten  deutschen  Staaten  und  die  ebenso  verwickel- 
ten Vorschläge  Arndt's  Inconvenienzen  in  den  Agrarverhältnissen 
nie  unmöglich  machen,  sondern  höchstens  erschweren,  hemmen  sie 
zugleich  bei  dem  Eintritt  von  Mißverhältnissen  die  freiwillige  Rück- 
kehr zur  gehörigen  Ordnung,  machen  ein  außergewöhnliches  Ein- 
greifen des  Staats  notwendig  und  hemmen  den  Fortschritt  dieser 
Gesetzgebung  durch  hundert  kleinliche,  aber  nie  zu  umgehende 
Privatrücksichten.  Dagegen  kann  die  Freiheit  des  Grundes  kein 
Extrem,  weder  die  Ausbildung  des  großen  Landbesitzes  zur  Aristo- 
kratie noch  die  Zersplitterung  der  Äcker  in  allzukleine,  nutzlos 
werdende  Stückchen  aufkommen  lassen.  Neigt  sich  die  eine  Wag- 
schale zu  tief,  so  konzentriert  sich  der  Inhalt  der  andern  alsbald 
zur  Ausgleichung.  Und  fliegt  der  Grundbesitz  auch  von  einer  Hand 
in  die  andere  —  ich  will  lieber  das  wogende  Weltmeer  mit  seiner 
großartigen  Freiheit  als  den  engen  Landsee  mit  seiner  ruhigen 
Fläche,  deren  Miniaturwellen  alle  drei  Schritte  von  einer  Land- 
zunge, von  einer  Baumwurzel,  von  einem  Steine  gebrochen  werden. 
Nicht  nur,  daß  die  Erlaubnis  der  Majoratsstiftung  eine  Einwilligung 
des  Staats  in  die  Bildung  einer  Aristokratie  ist,  nein,  diese  Fesse- 
lung des  Grundbesitzes  arbeitet,  wie  alle  unveräußerliche  Erblich- 
keit, geradezu  auf  eine  Revolution  hin.  Wenn  der  beste  Teil  des 
Landes  an  einzelne  Familien  geschmiedet  und  den  übrigen  Staats- 
bürgern unzugänglich  gemacht  wird,  ist  das  nicht  eine  direkte  Her- 
ausforderung des  Volkes  ?  Beruht  nicht  die  Majoratsbefugnis  auf 
einer  Ansicht  vom  Eigentum,  die  unserer  Erkenntnis  längst  nicht 
mehr  entspricht?  Als  ob  eine  Generation  das  Recht  hätte,  über 
das  Eigentum  aller  künftigen  Geschlechter,  welches  sie  augenblick- 
lich genießt  und  verwaltet,  unbeschränkt  zu  verfügen,  als  ob  die 
Freiheit  des  Eigentums  nicht  zerstört  würde  durch  ein  Schalten  mit 
demselben,  welches  alle  Nachkommen  dieser  Freiheit  beraubt!   Als 


ISO  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

ob  eine  solche  Fesselung  des  Menschen  an  die  Scholle  wirklich 
ewigen  Bestand  haben  könnte!  Die  Aufmerksamkeit  übrigens,  die 
Arndt  dem  Grundeigentum  widmet,  ist  eine  wohlverdiente  und  die 
Wichtigkeit  des  Gegenstandes  wäre  einer  ausführlichen  Besprechung 
von  der  Höhe  der  Zeit  wohl  wert.  Die  bisherigen  Theorien  leiden 
alle  an  der  Erbkrankheit  der  deutschen  Gelehrten,  die  ihre  Selb- 
ständigkeit darein  setzen,  jeder  ein  apartes  System  für  sich  zu 
haben.   —   — 

Verdienten  die  retrograden  Seiten  der  Deutschtümelei  schon 
eine  genauere  Prüfung,  teils  um  des  verehrten  Mannes  willen,  der 
sie  als  seine  Überzeugung  verficht,  teils  um  der  Begünstigung  wil- 
len, welche  sie  -neuerdings  in  Preußen  erfahren  haben,  so  muß 
eine  andere  Richtung  derselben  darum  um  so  entschiedener  zurück- 
gewiesen werden,  weil  sie  augenblicklich  unter  uns  wieder  überhand 
zu  nehmen  droht  —  der  Franzosenhaß.  Ich  will  mit  Arndt  und 
den  übrigen  Männern  von  1813  nicht  rechten,  aber  das  servile  Ge- 
wäsch, das  die  Gesinnungslosigkeit  jetzt  in  allen  Zeitungen  gegen 
die  Franzosen  verführt,  ist  mir  durch  und  durch  zuwider.  Es  ge- 
hört ein  hoher  Grad  von  Untertänigkeit  dazu,  um  durch  den  Juli- 
traktat überzeugt  zu  werden,  daß  die  orientalische  Frage  eine  Le- 
bensfrage ist  und  Mehemed  Ali  unser  Volkstum  gefährdet.  Von 
diesem  Standpunkte  aus  hat  denn  Frankreich  freilich  durch  die 
Unterstützung  des  Ägpters  dasselbe  Verbrechen  an  der  deutschen 
Nationalität  begangen,  dessen  es  sich  im  Anfange  dieses  Jahrhun- 
derts schuldig  machte.  Es  ist  traurig,  daß  man  nun  schon  seit  einem 
halben  Jahre  kein  Zeitungsblatt  mehr  in  die  Hand  nehmen  kann, 
ohne  der  franzosenfressenden  Wut  zu  begegnen,  die  neu  erwacht 
ist.  Und  wozu?  Um  den  Russen  Gebietszuwachs  und  den  Eng- 
ländern Handelsmacht  genug  zu  geben,  daß  sie  uns  Deutschen 
ganz  einklemmen  und  zerdrücken  können!  Das  stabile  Prinzip  Eng- 
lands und  das  System  Rußlands,  das  sind  die  Erbfeinde  des  europä- 
ischen Fortschritts,  nicht  aber  Frankreich  und  seine  Bewegung. 
Aber  weil  zwei  deutsche  Fürsten  dem  Traktat  beizutreten  für  gut 
fanden,  ist  die  Sache  plötzlich  eine  deutsche,  Frankreich  der  alte 
gottlose,  ,, welsche"  Erbfeind,  und  die  ganz  natürlichen  Rüstungen 
des  allerdings  beleidigten  Frankreichs  sind  ein  Frevel  an  der  deut- 
schen Nation.  Das  alberne  Geschrei  einiger  französischer  Journa- 
listen nach  der  Rheingrenze  wird  weitläuftiger  Erwiderungen  wert 
gehalten,  die  leider  von  den  Franzosen  gar  nicht  gelesen  werden, 
und  Beckers  Lied:  ,,Sie  sollen  ihn  nicht  haben"  wird  parforce  zum 
Volksliede  gemacht.  Ich  gönne  Becker'n  den  Erfolg  seines  Liedes, 
ich  will  den  poetischen  Inhalt  desselben  garnicht  untersuchen,  ich 
freue  mich  sogar,  vom  linken  Rheinufer  so  deutsche  Gesinnung  zu 


Ernst  Moritz  Arndt.  I^I 

vernehmen,  aber  ich  finde  es  mit  den  in  diesen  Blättern  bereits  dar- 
über erschienenen  Artikeln,  die  mir  eben  zu  Gesichte  kommen, 
lächerlich,  daß  man  das  bescheidene  Gedicht  zur  Nationalhymne 
erheben  will.  ,,Sie  sollen  ihn  nicht  haben";  also  wieder  negativ? 
Könnt  ihr  mit  einem  negierenden  Volksliede  zufrieden  sein  ?  Kann 
deutsches  Volkstum  nur  in  der  Polemik  gegen  das  Ausland  eine 
Stütze  finden  ?  Der  Text  der  Marseillaise  ist  trotz  aller  Begeisterung 
nicht  viel  wert,  aber  wie  viel  edler  ist  hier  das  Übergreifen  über  die 
Nationalität  hinaus  zur  Menschheit.  Und  —  nachdem  Burgund 
und  Lothringen  uns  entrissen,  nachdem  wir  Flandern  französisch, 
Holland  und  Belgien  unabhängig  werden  ließen,  nachdem  Frank- 
reich mit  dem  Elsaß  schon  bis  an  den  Rhein  vorgedrungen  und  nur 
ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  der  ehemals  deutschen  linken 
Rheinseite  noch  unser  ist,  jetzt  schämen  wir  uns  nicht,  groß  zu 
tun  und  zu  schreien:  das  letzte  Stück  sollt  ihr  wenigstens  nicht 
haben.  O  über  die  Deutschen!  Und  wenn  die  Franzosen  den  Rhein 
hätten,  so  würden  wir  doch  mit  dem  lächerlichsten  Stolze  rufen: 
Sie  sollen  sie  nicht  haben,  die  freie  deutsche  Weser  und  so  fort  bis 
zur  Elbe  und  Oder,  bis  Deutschland  zwischen  Franzosen  und  Russen 
geteilt  wäre,  und  uns  nur  zu  singen  bliebe:  Sie  sollen  ihn  nicht  haben, 
den  freien ^Strom  der  deutschen  Theorie,  so  lang  er  ruhig  wallend 
ins  Meer  der  Unendlichkeit  fließt,  so  lange  noch  ein  unpraktischer 
Gedankenfisch  auf  seinem  Grund  die  Flosse  hebt!  Statt  daß  wir 
Buße  tun  sollten  im  Sack  und  in  der  Asche  für  die  Sünden,  durch  die 
wir  alle  jene  schönen  Länder  verloren  haben,  für  die  Uneinigkeit 
und  den  Verrat  an  der  Idee,  für  den  Provinzial-Patriotismus,  der 
vom  Ganzen  um  des  lokalen  Vorteils  willen  abfällt,  und  für  die 
nationale  Bewußtlosigkeit.  Allerdings  ist  es  eine  fixe  Idee  bei  den 
Franzosen,  daß  der  Rhein  ihr  Eigentum  sei,  aber  die  einzige  des 
deutschen  Volkes  würdige  Antwort  auf  diese  anmaßende  Forderung 
ist  das  Arndtsche:  „Heraus  mit  dem  Elsaß  und  Lothringen!" 

Denn  ich  bin  —  vielleicht  im  Gegensatz  zu  vielen,  deren  Stand- 
punkt ich  sonst  teile,  allerdings  der  Ansicht,  daß  die  Wiedererobe- 
rung der  deutschsprechenden  linken  Rheinseite  eine  nationale  Ehren- 
sache, die  Germanisierung  des  abtrünnig  gewordenen  Hollands  und 
Belgiens  eine  politische  Notwendigkeit  für  uns  ist.  Sollen  wir  in 
jenen  Ländern  die  deutsche  Nationalität  vollends  unterdrücken 
lassen,  während  im  Osten  sich  das  Slawentum  immer  mächtiger  er- 
hebt? Sollen  wir  die  Freundschaft  Frankreichs  mit  der  Deutsch - 
heit  unserer  schönsten  Provinzen  erkaufen,  sollen  wir  einen  kaum 
hundertjährigen  Besitz,  der  sich  nicht  einmal  das  Eroberte  assi- 
milieren konnte;  sollen  wir  die  Verträge  von  1815  für  ein  Urteil 
des  Weltgeistes  in  letzter  Instanz  halten? 


1^2  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841- 

Aber  auf  der  andern  Seite  sind  wir  der  Elsässer  nicht  wert, 
so  lange  wir  ihnen  das  nicht  geben  können,  was  sie  jetzt  besitzen, 
ein  freies,  öffentliches  Leben  in  einem  großen  Staate.  Es  kommt 
ohne  Zweifel  noch  einmal  zum  Kampfe  zwischen  uns  und  Frank- 
reich, und  da  wird  sich 's  zeigen,  wer  des  linken  Rheinufers  würdig 
ist.  Bis  dahin  können  wir  die  Frage  ruhig  der  Entwickelung  unserer 
Volkstümlichkeit  und  des  Weltgeistes  anheimstellen,  bis  dahin 
wollen  wir  auf  ein  klares,  gegenseitiges  Verständnis  der  europäischen 
Nationen  hinarbeiten  und  nach  der  innern  Einheit  streben,  die 
unser  erstes  Bedürfnis  und  die  Basis  unserer  zukünftigen  Freiheit 
ist.  So  lange  die  Zersplitterung  unseres  Vaterlandes  besteht,  so  lange 
sind  wir  politisch  Null,  so  lange  sind  öffentliches  Leben,  ausgebildeter 
Konstitutionalismus,  Preßfreiheit  und  was  wir  noch  mehr  verlangen, 
alles  fromme  Wünsche,  deren  Ausführung  immer  halb  bleiben  wird ; 
darnach  also  strebt  und  nicht  nach  Exstirpation  der  Franzosen! 

Aber  dennoch  hat  die  deutschtümliche  Negation  ihre  Aufgabe 
noch  immer  nicht  ganz  vollbracht:  es  ist  noch  genug  über  die  Alpen, 
den  Rhein  und  die  Weichsel  heimzuschicken.  Den  Russen  wollen 
wir  die  Pentarchie  lassen;  den  Italienern  ihren  Papismus  und  was 
daran  klebt,  ihren  Bellini,  Donizetti  und  selbst  Rossini,  wenn  sie 
mit  diesem  groß  tun  wollen  gegen  Mozart  und  Beethoven;  den 
Franzosen  ihre  arroganten  Urteile  über  uns,  ihre  Vaudevilles  und 
Opern,  ihren  Scribe  und  Adam.  Wir  wollen  heimjagen,  woher  sie 
gekommen  sind  alle  die  verrückten  ausländischen  Gebräuche  und 
Moden,  alle  die  überflüssigen  Fremdwörter ;  wir  wollen  aufhören,  die 
Narren  der  Fremden  zu  sein  und  zusammenhalten  zu  einem  einigen, 
unteilbaren,  starken  —  und  so  Gott  will,  freien  deutschen  Volk. 

Brief  an  Friedrich  Graeber. 

(22.  Februar   1841.) 

Ew.  Hochwohlehrwürden  in  spe 

haben  die  Gnade 
gehabt,  habuerunt  gratiam  mir  zu  schreiben  mihi  scribendi  sc.  li- 
teras.  Multum^)  gaudeo,  tibi  adjuvasse  ad  gratificationen  triginta 
thaler orum,  speroque,  te  ista  gratificatione  usum  esse  ad  bibendum 
insanitatem  meam.   XatQe^),  ^vXa^  xov  Xgcoriaviofiov,  fxeyaq  ZiQava- 

1)  Ich  freue  mich  sehr,  Dir  zu  einer  Gratifikation  von  30  Thalern  ver- 
holfen  zu  haben  und  ich  hoffe,  daß  Du  jene  Gratifikation  benutzt  hast,  auf 
meine  Gesundheit  zu  trinken. 

2)  Freue  Dich,  Wächter  des  Christentums,  großer  Straußjäger,  Stern 
der  Orthodoxie,  Beruhigung  der  Trauer  der  Pietisten,  König  der  Exegese!!! 
Im  Anfang  schuf  Gott  Himmel  und  Erde  und  der  Geist  Gottes. .. 


An  Friedrich  Graeber.  153 

oo^doig,  äojQov  tr]^  ()odoöoiiag,  TiatloK;  xTig  tcüv  niexianov  XvTitjg,  ßaot- 
Äevg  rijg  i^T]y/jOca)g! ;! ;! 

DT7N'  nriT  schwebte  über  F.  Graeber,  als  er  das  Unmögliche 
tat  und  bewies,  daß  zwei  mal  zwei  fünf  sind.  Oh  Du  großer  Strau- 
ßenjäger, ich  beschwöre  Dich  im  Namen  der  ganzen  Orthodoxie, 
daß  Du  das  ganze  verruchte  Straußennest  zerstörst  und  all  die  halb- 
ausgebrüteten Straußeneier  mit  Deinem  Sankt  Georgsspieß  durch- 
bohrest! Reite  hinaus  in  die  Wüste  des  Pantheismus,  tapfrer 
Drachentöter,  kämpfe  mit  dem  Leo  rugiens  Rüge,  welcher  umher- 
geht und  suchet,  wen  er  verschlinge,  vernichte  die  verdammte 
Straußenbrut  und  pflanze  das  Banner  des  Kreuzes  auf  dem  Sinai 
der  spekulativen  Theologie  auf!  Laß  Dich  erflehen;  siehe,  die 
Gläubigen  warten  schon  seit  fünf  Jahren  auf  den,  der  der  Straußi- 
schen Schlange  den  Kopf  zertreten  soll,  sie  haben  sich  abgeplackt, 
mit  Steinen  und  Kot,  ja  mit  Mist  nach  ihr  geworfen,  aber  immer 
höher  schwillt  ihr  der  giftstrotzende  Kamm;  da  Dir  das  Wider- 
legen so  leicht  wird,  daß  all  die  schönen  Gebäude  von  selbst  über 
den  Haufen  stürzen,  so  mache  Dich  auf  und  widerlege  das  Leben 
Jesu  und  den  ersten  Band  der  Dogmatik;  denn  die  Gefahr  wird 
immer  dringender,  das  Leben  Jesu  hat  bereits  mehr  Auflagen  er- 
lebt, als  alle  Schriften  Hengstenbergs  und  Tholucks  zusammen,  und 
es  wird  schon  Comment,  jeden,  der  kein  Straußianer  ist,  aus  der 
Literatur  herauszuschmeißen.  Und  die  Hallischen  Jahrbücher  sind 
das  verbreitetste  Journal  Norddeutschlands,  so  verbreitet,  daß  seine 
preußische  Majestät  es  nicht  mehr  verbieten  kann,  so  gern  er  es 
möchte.  Das  Verbot  der  Hallischen  Jahrbücher,  die  ihm  alle  Tage 
die  größten  Grobheiten  sagen,  würde  ihm  auf  der  Stelle  eine  Million 
Preußen,  die  jetzt  noch  nicht  wissen,  was  sie  von  ihm  denken  sollen, 
zu  Feinden  machen.  Und  es  ist  für  Euch  die  höchste  Zeit,  sonst 
werdet  Ihr  von  uns,  trotz  der  frommen  Gesinnungen  des  Königs 
von  Preußen,  zum  ewigen  Stillschweigen  verwiesen.  Überhaupt 
solltet  Ihr  Euch  ein  wenig  mehr  Courage  anschnallen,  damit  die 
Paukerei  einmal  recht  los  geht.  Aber  da  schreibt  Ihr  so  ruhig  und 
gelassen,  als  ob  die  orthodox-christlichen  Aktien  hundert  Prozent 
Agio  ständen,  als  ob  der  Strom  der  Philosophie  ruhig  und  gelassen, 
wie  zu  Zeiten  der  Scholastiker,  zwischen  seinen  kirchlichen  Däm- 
men flösse,  als  ob  sich  zwischen  den  Mond  der  Dogmatik  und  die 
Sonne  der  Wahrheit  nicht  die  unverschämte  Erde  zu  einer  grau- 
sigen Mondfinsternis  eingedrängt  hätte.  Merkt  Ihr  denn  nicht, 
daß  der  Sturm  durch  die  Wälder  fährt  und  alle  abgestorbnen 
Bäume  umschmeißt,  daß  statt  des  alten  ad  acta  gelegten  Teufels 


154  •^"s  ^^^  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

der  kritisch-spekulative  Teufel  erstanden  ist  und  einen  enormen 
Anhang  hat?  Wir  fordern  Euch  ja  alle  Tage  heraus  mit  Übermut 
und  Spott,  laßt  Euch  doch  auch  einmal  durch  die  dicke  Haut  — 
sie  ist  freilich  1800  Jahre  alt  und  etwas  lederhart  geworden  — 
stechen,  und  besteigt  das  Kampfroß.  Aber  alle  Eure  Neander, 
Tholuck,  Nitzsch,  Bleek,  Erdmann  und  wie  sie  heißen,  das  sind  so 
weiche,  gefühlvolle  Kerls,  denen  der  Degen  so  possierlich  stehen 
würde,  die  sind  alle  so  ruhig  und  bedächtig,  so  bange  vor  dem 
Skandal,  daß  gar  nichts  mit  ihnen  anzufangen  ist.  Der  Hengsten- 
berg und  der  Leo  haben  doch  noch  Courage,  aber  der  Hengsten - 
berg  ist  so  oft  aus  dem  Sattel  geworfen  worden,  daß  er  ganz  lenden- 
lahm ist,  und  der  Leo  hat  sich  bei  der  letzten  Rauferei  mit  den 
Hegelingen  den  ganzen  Bart  ausrupfen  lassen,  so  daß  er  sich  jetzt 
mit  Anstand  nicht  mehr  sehen  lassen  kann.  Übrigens  hat  sich 
der  Strauß  gar  nicht  blamiert,  denn  wenn  er  vor  ein  paar  Jahren 
noch  glaubte,  daß  durch  sein  Leben  Jesu  der  Kirchenlehre  kein 
Eintrag  geschähe,  so  hätte  er  allerdings,  ohne  sich  etwas  zu  ver- 
geben, ein  ,, System  der  orthodoxen  Theologie"  lesen  können,  wie 
so  mancher  Orthodoxe  ein  „System  der  Hegeischen  Philosophie" 
liest,  wenn  er  aber,  wie  das  Leben  Jesu  wirklich  zeigt,  glaubte, 
daß  der  Dogmatik  überhaupt  durch  seine  Ansichten  kein  Eintrag 
geschähe,  so  wußte  jeder  vorher,  daß  er  bald  von  solchen  Ideen 
zurückkommen  würde,  wenn  er  nur  einmal  die  Dogmatik  ernst- 
lich vornähme.  Er  sagt's  ja  auch  gerade  heraus  in  der  Dogmatik, 
was  er  von  der  Kirchenlehre  hält.  Es  ist  übrigens  sehr  gut,  daß 
er  sich  in  Berlin  angesiedelt  hat,  da  ist  er  an  seinem  Platze,  und 
kann  durch  Wort  und  Schrift  mehr  wirken  als  in  Stuttgart. 

Daß  ich  als  Poet  auf  den  Hund  gekommen  sein  soll,  wird  von 
mehreren  Seiten  bestritten,  und  übrigens  hat  der  Freiligrath  meine 
Verse  nicht  aus  poetischen,  sondern  aus  Tendenz-  und  räumlichen 
Gründen  nicht  drucken  lassen.  Erstens  ist  er  nicht  eben  liberal,  und 
zweitens  sind  sie  zu  spät  gekommen;  drittens  war  so  wenig  Raum 
da,  daß  von  den  für  die  letzten  Bogen  bestimmten  Gedichten  be- 
deutendes gestrichen  werden  mußte.  Das  Rheinlied  von  N.  Becker 
ist  übrigens  doch  wahrhaftig  ein  ganz  ordinäres  Ding  und  schon 
so  auf  den  Hund  gekommen,  daß  man  es  in  keinem  Journal  mehr 
loben  darf.  Da  ist  doch  der  Rhein  von  R.  E.  Prutz  ein  ganz  andres 
Lied ;  und  andre  Gedichte  von  Becker  sind  auch  weit  besser.  Die 
Rede,  die  er  bei  dem  Fackelzuge  gehalten  hat,  ist  das  Verworrenste, 
was  mir  je  vorgekommen  ist.  Für  die  Ehrenbezeugungen  von  den 
Königen  bedanke  ich  mich.  Was  soll  all  das?  Ein  Orden,  eine 
goldne  Tabatiere,  ein  Ehrenbecher  von  einem  Könige,  das  ist  heut- 
zutage eher  eine  Schande  als  eine  Ehre.    Wir  bedanken  uns  alle 


Immermanns  Memorabilien.  lec 

für  dergleichen  und  sind  gottlob  sicher,  denn  seit  ich  meinen 
Artikel  über  E.  M.  Arndt  im  Telegraphen  drucken  ließ,  wird  es 
selbst  dem  verrückten  König  von  Bayern  nicht  einfallen,  mir  eine 
solche  Narrenschelle  anzuheften  oder  den  Stempel  des  Servilismus 
auf  den  Hintern  zu  drücken.  Je  schuftiger,  je  kriechender,  je  ser- 
viler einer  heutzutage  ist,  desto  mehr  Orden  kriegt  er. 

Ich  fechte  jetzt  wütend  und  werde  Euch  demnächst  alle  zu- 
sammenhauen. Zwei  Duelle  hab*  ich  hier  in  den  letzten  vier 
Wochen  gehabt,  der  Erste  hat  revoziert,  nämlich  den  dummen 
Jungen,  den  er  mir,  nachdem  ich  ihn  geohrfeigt,  aufbrummte,  und 
hat  die  Ohrfeige  noch  ungesühnt  sitzen;  mit  dem  Zweiten  habe  ich 
mich  gestern  geschlagen  und  ihm  einen  famosen  Abschiß  über  die 
Stirn  beigebracht,  so  recht  von  oben  herunter,  eine  ausgezeich- 
nete Prime. 

Fare  well, 

Dein  F.  Engels. 


Immermanns  Memorabilien'). 

Die  Nachricht  vom  Tode  Immermanns  war  ein  harter  Schlag 
für  uns  Rheinländer,  nicht  allein  wegen  der  poetischen,  sondern 
auch  wegen  der  persönlichen  Bedeutung  dieses  Mannes,  obwohl  die 
letztere  noch  mehr  als  die  erstere  erst  recht  sich  zu  entwickeln 
begann.  Er  stand  in  einem  eigenen  Verhältnisse  zu  den  Jüngern 
literarischen  Kräften,  die  neuerdings  am  Rheine  und  in  Westfalen 
erstgjiden  sind ;  denn  in  literarischer  Hinsicht  gehören  Westfalen 
und  der  Niederhein  zusammen,  so  scharf  sie  in  politischer  sich 
bisher  geschieden  haben;  wie  denn  auch  das  ,, Rheinische  Jahr- 
buch" für  Autoren  beider  Provinzen  einen  gemeinsamen  Mittel- 
punkt abgibt.  Je  mehr  der  Rhein  bisher  sich  der  Literatur  fern  ge- 
halten hatte,  desto  mehr  suchten  jetzt  rheinische  Poeten  sich  als 
Vertreter  ihrer  Heimat  hinzustellen  und  wirkten  so  zwar  nicht  nach 
einem  Plane,  aber  doch  auf  ein  Ziel  hin.  Ein  solches  Streben  bleibt 
selten  ohne  das  Zentrum  einer  starken  Persönlichkeit,  der  sich  die 
Jüngern  unterordnen,  ohne  ihrer  Selbständigkeit  etwas  zu  ver- 
geben, und  dieses  Zentrum  schien  für  die  rheinischen  Dichter  Im- 
mermann werden  zu  wollen.  Er  war,  trotz  mancher  Vorurteile  gegen 
die  Rheinländer,  doch  allmählich  unter  ihnen  naturalisiert,  er  hatte 
seine  Versöhnung  mit  der  literarischen  Gegenwart,  der  die  Jünge- 
ren alle  angehören,  offen  vollzogen,  ein  neuer,  frischerer  Geist  war 
über  ihn  gekommen  und  seine  Produktionen  fanden  immer  mehr 


*)  Erster  Band.     Hamburg,  Hoffmann  und  Campe.     1840. 


156  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838 — 1841. 

Anerkennung.  So  wurde  auch  der  Kreis  junger  Dichter,  die  sich 
um  ihn  zusammenfanden  und  aus  der  Nachbarschaft  zu  ihm  her- 
überkamen, immer  größer;  wie  oft  klappte  z.  B.  nicht  Freiligrath, 
als  er  in  Barmen  noch  Fakturen  schrieb  und  Conti  Correnti  rech- 
nete, Memorial  und  Hauptbuch  zu,  um  einen  oder  ein  paar  Tage 
in  Immermanns  und  der  Düsseldorfer  Maler  Gesellschaft  zuzu- 
bringen. So  kam  es,  daß  Immer  mann  in  den  Träumen  von  einer 
rheinisch -westfälischen  Dichterschule,  die  hier  und  da  auftauchten, 
einen  wichtigen  Platz  einnahm;  er  war,  ehe  Freiligraths  Ruhm 
reifte,  der  vermittelnde  Übergang  von  der  provinziellen  zur  ge- 
meinsam deutschen  Literatur.  Wer  ein  Auge  hat  für  solche  Be- 
ziehungen und  Verknüpfungen,  dem  ist  dies  Verhältnis  längst  kein 
Geheimnis  mehr  gewesen ;  vor  einem  Jahre  deutete  unter  andern 
Reinhold  Köstlin  in  der  Europa  darauf  hin,  wie  Immermann  der 
Stellung  entgegen  reife,  die  Goethe  in  seinen  spätem  Jahren  ein- 
nahm. Der  Tod  hat  alle  diese  Zukunftsträume  und  Hoffnungen 
zerrissen. 

Wenige  Wochen  nach  dem  Tode  Immermanns  erschienen 
seine  „Memorabilien".  War  er,  im  kräftigsten  Mannesalter,  schon 
reif  genug,  um  seine  eigenen  Denkwürdigkeiten  zu  schreiben? 
Sein  Schicksal  bejaht,  sein  Buch  verneint  es.  Aber  wir  haben  auch 
die  Memorabilien  nicht  als  den  Abschluß  eines  Greises,  der  seine 
Laufbahn  dadurch  für  geschlossen  erklärt,  mit  dem  Leben  anzu- 
sehen; Immermann  rechnete  vielmehr  nur  mit  einer  frühem,  mit 
der  exklusiv  romantischen  Periode  seiner  Tätigkeit  ab,  und  so  waltet 
freilich  ein  anderer  Geist  über  diesem  Buche,  als  über  den  Werken 
jener  Periode.  Dazu  waren  die  hier  geschilderten  Ereignisse  durch 
den  mächtigen  Umschwung  des  letzten  Dezenniums  so  fern  gerückt, 
daß  sie  sogar  ihm,  ihrem  Zeitgenossen,  als  historisch  abgetan  er- 
schienen. Und  dennoch  glaub'  ich  behaupten  zu  dürfen,  daß  Immer- 
mann nach  zehn  Jahren  die  Gegenwart  und  ihre  Stellung  zu  der 
Angel  seines  Werks,  dem  Befreiungskriege,  höher,  freier  gefaßt 
hätte.  Vorläufig  gilt  es  jedoch,  die  Memorabilien  so  zu  betrachten, 
wie  sie  einmal  sind. 

Hatte  der  frühere  Romantiker  in  den  Epigonen  schon  den 
höhern  Standpunkt  Goethescher  Plastik  und  Ruhe  angestrebt,  ruhte 
der  Münchhausen  bereits  ganz  auf  der  Basis  moderner  Dichtungs- 
weise, so  zeigt  uns  sein  nachgelassenes  Werk  noch  klarer,  wie  sehr 
Immermann  die  neuesten  literarischen  Entwicklungen  zu  würdigen 
wußte.  Der  Stil  und  mit  ihm  die  Form  der  Anschauung  sind  ganz 
modern;  nur  der  durchdachtere  Gehalt,  die  strengere  Gliederung, 
die  scharfgeprägte  Charaktereigentümlichkeit  und  die,  wenn  auch 
ziemlich  verschleierte,  antimoderne  Gesinnung  des  Verfassers  schei- 


Immermanns  Memorabilien.  igy 

den  dieses  Buch  aus  der  Masse  von  Schilderungen,  Charakteren, 
Denkwürdigkeiten,  Besprechungen,  Situationen,  Zuständen  usw., 
von  denen  heuer  unsere  nach  gesunder  poetischer  Lebensluft  schmach- 
tende Literatur  eingedunstet  wird.  Dabei  hat  Immermann  Takt 
genug,  um  selten  Gegenstände  vor  das  Forum  der  Reflexion  zu 
bringen,  die  ein  anderes  Tribunal  ansprechen  dürfen  als  das  des 
baren  Verstandes. 

Der  vorliegende  erste  Band  findet  seinen  Stoff  in  ,,der  Jugend 
vor  fünfundzwanzig  Jahren"  und  den  sie  beherrschenden  Einflüssen. 
Ein  ,, Avisbrief"  leitet  ihn  ein,  in  dem  der  Charakter  des  Ganzen 
aufs  treueste  dargelegt  ist.  Auf  der  einen  Seite  moderner  Stil, 
moderne  Schlagwörter,  ja  moderne  Prinzipien,  auf  der  andern 
Eigentümlichkeiten  des  Autors,  deren  Bedeutung  für  einen  weitern 
Kreis  längst  abgestorben  ist.  Immermann  schreibt  für  moderne 
Deutsche,  wie  er  mit  ziemlich  dürren  Worten  sagt,  für  solche,  die 
den  Extremen  des  Deutschtums  und  des  Kosmopolitismus  gleich 
fern  stehen;  die  Nation  faßt  er  ganz  modern  auf  und  stellt  Prä- 
missen hin,  die  konsequent  auf  Selbstherrschaft  als  Bestimmung 
des  Volks  führen  würden ;  er  spricht  sich  entschieden  gegen  den 
,, Mangel  an  Selbstvertrauen,  die  Wut  zu  dienen  und  sich  wegzu- 
werfen" aus,  an  der  die  Deutschen  kranken.  Und  doch  steht  da- 
neben eine  Vorliebe  für  das  Preußentum,  die  Immermann  nur  auf 
sehr  schwache  Gründe  stützen  kann,  eine  so  frostige,  gleichgültige 
Erwähnung  der  konstitutionellen  Bestrebungen  in  Deutschland, 
die  nur  zu  deutlich  zeigt,  daß  Immermann  die  Einheit  des  moder- 
nen geistigen  Lebens  noch  keineswegs  erfaßt  hatte.  Man  sieht  es 
deutlich,  wie  ihm  der  Begriff  des  Modernen  gar  nicht  zusagen  will, 
weil  er  sich  gegen  manche  Faktoren  desselben  sträubt,  und  wie  er 
diesen  Begriff  doch  wieder  nicht  von  der  Hand  weisen  kann. 

Mit  ,, Knabenerinnerungen"  beginnt  das  eigentliche  Memoire. 
Immermann  hält  sein  Versprechen,  nur  die  Momente  zu  erzählen, 
wo  „die  Geschichte  ihren  Durchzug  durch  ihn  gehalten".  Mit  dem 
Bewußtsein  des  Knaben  wachsen  die  Weltbegebenheiten,  steigert 
sich  der  kolossale  Bau,  von  dessen  Sturz  er  Zeuge  sein  sollte;  an- 
fangs in  der  Ferne  tosend,  brechen  die  Wogen  der  Geschichte  in 
der  Schlacht  bei  Jena  den  Damm  Norddeutschlands,  strömen  über 
das  selbstzufriedene  Preußen  hin,  das  ,,Aprds  moi  ledeluge"^)  des 
großen  Königs  nun  auch  speziell  für  seinen  Staat  bewahrheitend, 
und  überfluten  gleich  zuerst  Immermanns  Vaterstadt,  Magdeburg. 
Dieser  Teil  ist  der  beste  des  Buches;  Immermann  ist  stärker  in  der 
Erzählung  als  in  der   Reflexion,  und    es  ist  ihm  vortrefflich  ge- 


1)  Nach  mir  die  Sintflut! 


158  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

lungen,  die  Spiegelung  der  Weltbegebenheiten  in  der  eigenen  Brust 
aufzufassen.  Dazu  ist  gerade  hier  der  Punkt,  von  dem  an  er  sich 
dem  Fortschritte,  freilich  nur  vorläufig,  unumwunden  anschließt. 
Ihm  ist,  wie  allen  Freiwilligen  von  1813,  das  Preußen  vor  1806 
das  ancien  regime  dieses  Staates,  aber  auch,  was  jetzt  we- 
niger zugegeben  wird,  Preußen  nach  1806  das  durch  und  durch 
wiedergeborne,  die  neue  Ordnung  der  Dinge.  Mit  der  Wiedergeburt 
Preußens  ist  es  aber  eine  eigne  Sache.  Die  erste  Wiedergeburt  durch 
den  großen  Friedrich  ist  bei  Gelegenheit  des  vorigjährigen  Jubi- 
läums so  gepriesen  worden,  daß  man  nicht  begreift,  wie  ein  zwanzig- 
jähriges Interregnum  schon  wieder  eine  zweite  nötig  machen  konnte. 
Und  dann  will  man  behaupten,  daß  trotz  der  zweimaligen  Feuer- 
taufe der  alte  Adam  neuerdings  wieder  starke  Lebenszeichen  von 
sich  gegeben  habe.  In  dem  vorliegenden  Abschnitte  verschont  uns 
Immermann  jedoch  mit  Anpreisungen  des  Status  quo,  und  so  wird 
sich  erst  im  Verlaufe  dieser  Zeilen  näher  herausstellen,  wo  Immer - 
manns  Weg  sich  von  der  Neuzeit  trennt. 

„Die  Jugend  wird,  bis  sie  in  das  öffentliche  Leben  eintritt,  er- 
zogen durch  die  Familie,  durch  die  Lehre,  durch  die  Literatur. 
Als  viertes  Erziehungsmittel  trat  für  die  Generation,  welche  wir 
betrachten,  noch  der  Despotismus  hinzu.  Die  Familie  hegt  und 
pflegt  sie,  die  Lehre  isoliert  sie,  die  Literatur  führt  sie  wieder  ins 
Weite;  uns  gab  der  Despotismus  die  Anfänge  des  Charakters." 
Nach  diesem  Schema  ist  der  reflektive  Teil  des  Buches  eingerichtet 
und  man  wird  ihm  schwerlich  seinen  Beifall  versagen  können,  da 
es  den  großen  Vorteil  hat,  den  Entwicklungsgang  des  Bewußtseins 
in  der  Zeitfolge  seiner  Stufen  aufzufassen.  —  Der  Abschnitt  über 
die  Familie  ist  ganz  ausgezeichnet,  so  lange  er  bei  der  alten  Fa- 
milie stehen  bleibt,  und  es  ist  nur  zu  bedauern,  daß  Immermann 
sich  nicht  mehr  bemüht  hat,  Licht-  und  Schattenpartien  zu  einem 
Ganzen  zu  verbinden.  Die  Bemerkungen,  die  er  hier  gibt,  sind  alle 
im  höchsten  Grade  treffend.  Dagegen  zeigt  seine  Auffassung  der 
neuern  Familie  wieder,  daß  er  die  alte  Befangenheit  und  Verstim- 
mung gegen  die  Erscheinungen  des  letzten  Jahrzehnts  noch  immer 
nicht  losgeworden  war.  Allerdings  weicht  das  ,, alt  väterische  Be- 
hagen", die  Zufriedenheit  mit  dem  heimischen  Herde  immer  mehr 
einer  Mißstimmung,  einem  Ungenügen  an  den  Genüssen  des  Fa- 
milienlebens ;  aber  dagegen  verliert  sich  auch  die  Philisterei  der 
Hausväterlichkeit,  der  Glorienschein  um  die  Schlafmütze  immer 
mehr,  und  die  Gründe  der  Mißstimmung,  die  Immermann  fast  alle 
ganz  richtig  und  nur  zu  grell  hervorhebt,  sind  eben  Symptome  einer 
noch  ringenden,  nicht  abgeschlossenen  Epoche.  Das  Zeitalter  vor 
der  Fremdherrschaft  war  abgeschlossen   und  trug  als  solches  den 


Immermanns  Memorabilien. 


159 


Stempel  der  Ruhe  —  aber  auch  der  Untätigkeit,  und  schleppte  sich 
mit  dem  Keim  des  Verfalls.  Unser  Autor  hätte  ganz  kurz  sagen 
können:  die  neuere  Familie  kann  sich  darum  einer  gewissen  Un- 
behaglichkeit  nicht  erwehren,  weil  neue  Ansprüche  an  sie  gemacht 
werden,  die  sie  mit  ihren  eignen  Rechten  noch  nicht  zu  vereinigen 
weiß.  Die  Gesellschaft  ist,  wie  Immermann  zugibt,  eine  andere 
geworden,  das  öffentliche  Leben  ist  als  ganz  neues  Moment  hinzu- 
getreten, Literatur,  Politik,  Wissenschaft,  alles  das  dringt  jetzt  tiefer 
in  die  Familie  ein,  und  diese  hat  ihre  Mühe,  alle  die  fremden  Gäste 
unterzubringen.  Da  liegt's!  Die  Familie  ist  noch  zu  sehr  nach 
dem  alten  Stil,  um  sich  mit  den  Eindringlingen  recht  zu  verstän- 
digen und  auf  guten  Fuß  zu  setzen,  und  hier  gibt  es  allerdings  eine 
Regeneration  der  Familie  ;  der  leidige  Prozeß  muß  nun  einmal  durch- 
gemacht werden,  und  mir  däucht,  die  alte  Familie  hätte  ihn  wohl 
nötig.  Übrigens  hat  Immermann  die  moderne  Familie  grade  in 
dem  beweglichsten,  modernen  Einflüssen  am  meisten  zugänglichen 
Teile  Deutschlands,  am  Rhein,  studiert,  und  hier  ist  denn  das 
Mißbehagen  eines  Übergangs prozesses  am  deutlichsten  zu  Tage  ge- 
treten. In  den  Provinzialstädten  des  innern  Deutschlands  lebt  und 
webt  die  alte  Familie  noch  fort  unter  dem  Schatten  des  allein- 
seligmachenden Schlafrocks,  steht  die  Gesellschaft  noch  auf  dem 
Fuße  von  Anno  i799j  und  wird  öffentliches  Leben,  Literatur,  Wis- 
senschaft mit  aller  Ruhe  und  Bedächtigkeit  abgefertigt,  ohne  daß 
sich  jemand  in  seinem  Schlendrian  stören  ließe.  —  Zum  Belege 
des  über  die  alle  Familie  Beigebrachten  gibt  der  Verfasser  noch 
,, pädagogische  Anekdoten'*  und  schließt  dann  mit  dem  ,, Oheim", 
einem  Charakterbilde  aus  der  alten  Zeit,  den  erzählenden  Teil  des 
Buches  ab.  Die  Erziehung,  die  der  heranwachsenden  Generation 
von  der  Familie  wird,  ist  abgeschlossen;  die  Jugend  wirft  sich  der 
Lehre  und  Literatur  in  die  Arme.  Hier  beginnen  die  weniger  ge- 
lungenen Partieen  des  Buches.  In  Betreff  der  Lehre  wurde  Immer- 
mann zu  einer  Zeit  von  ihr  berührt,  wo  die  Seele  aller  Wissenschaft, 
die  Philosophie,  und  die  Basis  dessen,  was  der  Jugend  geboten 
wurde,  die  Kenntnis  des  Altertums,  in  einem  windschnellen  Um- 
schwünge begriffen  waren,  und  Immermann  hatte  nicht  den  Vor- 
teil, diesen  Umschwung  bis  zu  seinein  Ziele  lernend  mitmachen  zu 
können.  Als  es  zum  Abschluß  kam,  war  er  der  Schule  längst  ent- 
wachsen. Auch  sagt  er  vorläufig  wenig  mehr,  als  daß  die  Lehre 
jener  Jahre  eng  gewesen  sei,  und  holt  die  tiefgreifendsten  Hebel  der 
Zeit  in  gesonderten  Artikeln  nach.  Bei  Gelegenheit  Fichtes  gibt 
er  Philosophisches  zum  Besten,  was  unsern  Herren  vom  Begriff 
seltsam  genug  vorkommen  mag.  Er  läßt  sich  hier  zu  geistreichen 
Raisonnements  über  eine  Sache  verleiten,  die  zu  durchschauen  ein 


l6o  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838—1841. 

geistreiches  und  poetisches  Auge  nicht  hinreicht.  Wie  werden 
unsere  strikten  Hegelianer  schaudern,  wenn  sie  lesen,  wie  hier  die 
Geschichte  der  Philosophie  auf  drei  Seiten  dargestellt  wirdt  Und 
es  muß  zugestanden  werden,  daß  nicht  leicht  dilettantischer  über 
Philosophie  gesprochen  werden  kann,  als  es  hier  geschieht.  Gleich 
der  erste  Satz,  daß  die  Philosophie  immer  zwischen  zwei  Punkten 
oszilliere,  entweder  im  Ding  oder  im  Ich  das  Gewisse  aufsuche, 
ist  offenbar  der  Folge  des  Fichteschen  ,,Ich"  auf  das  Kantsche 
„Ding  an  sich"  zu  Gefallen  geschrieben  worden  und  läßt  sich  zur 
Not  auf  Schelling,  keinenfalls  aber  auf  Hegel  anwenden.  —  So- 
krates  wird  die  Inkarnation  des  Denkens  genannt  und  ihm  eben 
deshalb  die  Fähigkeit,  ein  System  zu  haben,  abgesprochen;  in  ihm 
sei  die  reine  Doktrin  mit  einem  unbefangenen  Eingehen  in  die 
Empirie  vereinigt  gewesen,  und  weil  dieser  Bund  über  den  Begriff 
hinausging,  habe  er  nur  als  Persönlichkeit,  nicht  als  Lehre  sich 
manifestieren  können.  Sind  das  nicht  Sätze,  die  ein  unter  Hegel- 
schen  Einflüssen  herangewachsenes  Geschlecht  in  die  größte  Ver- 
wirrung bringen  müssen  ?  Hört  da  nicht  alle  Philosophie  auf,  wo  die 
Übereinstimmung  des  Denkens  und  der  Empirie  ,,über  den  Begriff 
hinausgeht"  ?  Welche  Logik  hält  dastand,  wo  die  Systemlosigkeit  der 
,, Inkarnation  des  Denkens"  als  notwendiges  Attribut  beigelegt  wird  ? 

Doch  warum  Immermann  auf  ein  Gebiet  verfolgen,  das  er  selbst 
nur  durchfliegen  wollte  ?  Genug,  eben  so  wenig  er  mit  den  Philo- 
sophemen  früherer  Jahrhunderte  fertig  werden  kann,  eben  so  wenig 
weiß  er  Fichtes  Philosophie  mit  seiner  Persönlichkeit  zu  einigen. 
Dagegen  schildert  er  den  Charakter  Fichte,  den  Redner  an  die 
deutsche  Nation,  und  den  Turnwüterich  Jahn  wieder  ganz  vortreff- 
lich. Diese  Charakterbilder  werfen  mehr  Licht  auf  die  wirkenden 
Kräfte  und  Ideen,  in  deren  Bereich  die  damalige  Jugend  stand, 
als  lange  Auseinandersetzungen.  Auch  da,  wo  die  Literatur  das 
Thema  bildet,  lesen  wir  die  Darlegung  des  Verhältnisses,  in  das  sich 
die  ,, Jugend  vor  fünfundzwanzig  Jahren"  zu  den  großen  Dichtern 
stellte,  weit  lieber,  als  die  schwach  begründete  Beweisführung,  daß 
die  deutsche  Literatur  vor  allen  ihren  Schwestern  einen  modernen, 
nichtromantischen  Ursprung  hat.  Es  wird  immer  gezwungen  er- 
scheinen, wenn  man  Corneille  aus  romantisch -mittelalterlicher  Wur- 
zel aufsprießen  läßt  und  von  Shakespeare  mehr  als  den  rohen  Stoff, 
den  er  vorfand,  dem  Mittelalter  zuweisen  will.  Spricht  hier  viel- 
leicht das  nicht  ganz  reine  Gewissen  des  ehemaligen  Romantikers, 
das  den  Vorwurf  eines  fortwährenden  Kryptoromantizismus  zu- 
rückweisen will? 

Auch  der  Abschnitt  über  den  Despotismus,  nämlich  den  Na- 
poleonischen,  wird    nicht   gefallen.     Die    Heinesche    Napoleonsan- 


Immermanns  Memorabilien.  i6i 

betung  ist  dem  Volksbewußtsein  fremd,  aber  dennoch  will  es  nie- 
manden zusagen,  daß  Immermann  der  hier  die  Unparteilichkeit 
des  Historikers  in  Anspruch  nimmt,  als  beleidigter  Preuße  spricht. 
Er  hat  es  wohl  gefühlt,  daß  hier  ein  Hinausgehen  über  den  natio- 
naldeutschen und  besonders  preußischen  Standpunkt  nötig  sei;  dar- 
um hält  er  sich  im  Stil  möglichst  vorsichtig,  paßt  die  Gesinnung 
dem  Modernen  so  nah  wie  möglich  an  und  wagt  sich  nur  an  Klei- 
nigkeiten und  Nebensachen.  Allmählich  wird  er  aber  kühner,  ge- 
steht, daß  es  ihm  nicht  recht  eingehen  wolle,  wie  Napoleon  zu  den 
großen  Männern  gerechnet  werde,  stellt  ein  vollständiges  System, 
des  Despotismus  auf  und  zeigt,  daß  Napoleon  in  diesem  Handwerke 
ein  ziemlicher  Stümper  und  Böhnhase  gewesen  sei.  Das  ist  aber 
nicht  der  rechte  Weg,  große  Männer  zu  begreifen. 

So  stellt  sich  Immermann,  —  abgesehen  von  einzelnen  Ge- 
danken, die  seiner  Überzeugung  vorausgeeilt  sind  —  allerdings  in 
der  Hauptsache  dem  modernen  Bewußtsein  fern.  Aber  dennoch 
läßt  er  sich  nicht  in  eine  jener  Parteien  einrangieren,  in  die  man 
Deutschlands  geistigen  Status  quo  zu  teilen  pflegt.  Die  Richtung, 
der  er  am  nächsten  zu  stehen  scheint,  die  Deutschtümelei,  weist 
er  ausdrücklich  ab.  Der  bekannte  Immermannsche  Dualismus 
äußerte  sich  in  der  Gesinnung  als  Preußentum  einerseits,  als  Ro- 
mantik andererseits.  Das  erstere  verlief  sich  aber  allmählich,  be- 
sonders für  den  Beamten,  in  die  nüchternste,  maschinenmäßigste 
Prosa,  die  letztere  in  eine  bodenlose  Überschwänglichkeit.  So 
lange  Immermann  auf  diesem  Punkte  stehen  blieb,  konnte  er  sich 
keine  rechte  Anerkennung  erringen  und  mußte  mehr  und  mehr 
einsahen,  daß  diese  Richtungen  nicht  nur  polare  Gegensätze  waren, 
sondern  auch  das  Herz  der  Nation  immer  gleichgültiger  ließen. 

Endlich  wagte  er  einen  poetischen  Fortschritt  und  schrieb  die 
Epigonen.  Und  kaum  hatte  das  Werk  den  Laden  des  Verlegers 
verlassen,  so  gab  es  seinem  Verfasser  Gelegenheit,  einzusehen, 
daß  nur  seine  bisherige  Richtung  einer  allgemeineren  Anerkennung 
seines  Talentes  von  Seiten  der  Nation  und  der  jüngeren  Literatur 
entgegen  gestanden  hatte.  Die  Epigonen  wurden  fast  überall  ge- 
würdigt und  gaben  Veranlassung  zu  Diatriben  über  den  Charak- 
ter ihres  Verfassers,  wie  sie  Immermann  bisher  nicht  gewohnt  war. 
Die  junge  Literatur,  wenn  man  anders  diesen  Namen  für  die  Frag- 
mente einer  Sache  noch  brauchen  darf,  die  niemals  ein  Ganzes 
war,  diese  erkannte  zuerst  die  Bedeutung  Immermanns  und  führte 
ihn  erst  recht  bei  der  Nation  ein.  Er  war  durch  die  immer  schärfer 
werdende  Scheidung  zwischen  Preußentum  und  romantischer  Poe- 
sie sowie  durch  die  verhältnismäßig  geringe  Popularität,  deren  seine 
Schriften  genossen,  innerlich  verstimmt  gewesen  und  hatte  seinen 

Mayer,  Engels.    Ergänzimgsb^nd.  II 


102  Aus  der  Lehrzeit  in  Bremen.     1838— 1841. 

Werken  immer  mehr  den  Stempel  schroffer  Isolierung  unwillkürlich 
aufgedrückt.  Jetzt,  als  er  einen  Schritt  vorwärts  getan  hatte,  kam 
mit  der  Anerkennung  auch  ein  anderer,  freierer,  heiterer  Geist  über 
ihn.  Die  alte  jugendliche  Begeisterung  taute  wieder  auf  und  nahm 
im  Münchhausen  einen  Anlauf  zur  Versöhnung  mit  der  praktisch- 
verständigen Seite  des  Charakters.  Seine  romantischen  Sympathieen, 
die  ihm  noch  immer  im  Nacken  saßen,  beschwichtigte  er  durch 
Ghismonda  und  Tristan ;  aber  welch  ein  Unterschied  gegen  frühere 
romantische  Dichtungen,  namentlich  welche  Plastik  gegen  Merlin 
herrscht  darin! 

Überhaupt  war  die  Romantik  für  Immermann  nur  Form;  vor 
der  Träumerei  der  romantischen  Schule  bewahrte  ihn  die  Nüch- 
ternheit des  Preußentums ;  aber  diese  war  es  denn  auch,  die  ihn 
gegen  die  Zeitentwicklung  einigermaßen  verstockte.  Man  weiß, 
daß  Immermann  in  religiöser  Hinsicht  zwar  sehr  freisinnig,  in  po- 
litischer aber  gar  zu  eifriger  Anhänger  der  Regierung  war.  Durch 
seine  Stellung  zur  jüngeren  Literatur  wurde  er  allerdings  den  po- 
litischen Strebungen  des  Jahrhunderts  näher  gestellt  und  lernte  sie 
von  einer  andern  Seite  kennen ;  wie  indes  die  Memorabilien  zeigen, 
saß  das  Preußentum  noch  gar  fest  in  ihm.  Dennoch  finden  sich 
grade  in  diesem  Buche  so  manche  Äußerungen,  die  mit  der  Grund- 
ansicht Immermanns  so  sehr  kontrastieren  und  so  sehr  auf  mo- 
derner Basis  beruhen,  daß  ein  bedeutender  Einfluß  der  modernen 
Ideen  auf  ihn  gar  nicht  zu  verkennen  ist.  Die  Memorabilien  zeigen 
klar  ein  Bemühen  ihres  Verfassers,  mit  seiner  Zeit  gleichen  Schritt 
zu  halten,  und  wer  weiß,  ob  der  Strom  der  Geschichte  nicht  all- 
mählig  den  konservativ-preußischen  Damm  unterwühlt  hätte,  hinter 
dem  Immermann  sich  verschanzt  hielt.  j^v    ;  ?•   r 

Und  nun  noch  eine  Bemerkung!  Immermann  sagt,  der  Cha- 
rakter jener  Epoche,  die  er  in  den  Memorabilien  schildert,  sei  vor- 
zugsweise jugendlich  gewesen;  jugendliche  Motive  seien  in  Bewe- 
gung gesetzt  und  Jugendstimmungen  angeschlagen  worden.  Ist's 
mit  unserer  Epoche  nicht  ebenso  ?  Die  alte  Generation  in  der  Li- 
teratur ist  ausgestorben,  die  Jugend  hat  sich  des  Worts  bemäch- 
tigt. Von  dem  heranwachsenden  Geschlecht  hängt  mehr  als  je 
unsere  Zukunft  ab,  denn  dieses  wird  über  Gegensätze  zu  entschei- 
den haben,  die  sich  immer  höher  hinaufgipfeln.  Die  Alten  klagen 
zwar  entsetzlich  über  die  Jugend  und  es  ist  wahr,  sie  ist  sehr  un- 
folgsam; laßt  sie  aber  nur  ihre  eignen  Wege  gehen,  sie  wird  sich 
schon  zurechtfinden,  und  die  sich  verirren,  sind  selbst  schuld  daran. 
Denn  wir  haben  einen  Prüfstein  für  die  Jugend  an  der  neuen  Phi- 
losophie ;  es  gilt,  sich  durch  sie  hindurch  zu  arbeiten  und  doch  die 
jugendliche  Begeisterung  nicht  zu  verlieren.    Wer  sich  scheut  vor 


Immermanns  Memorabilien.  163 

dem  dichten  Walde,  in  dem  der  Palast  der  Idee  steht,  wer  sich  nicht 
durchhaut  mit  dem  Schwerte  und  küssend  die  schlafende  Königs- 
tochter weckt,  der  ist  ihrer  und  ihres  Reiches  nicht  wert,  der  mag 
hingehen,  Landpastor,  Kaufmann,  Assessor  oder  was  er  sonst  will, 
werden,  ein  Weib  nehmen,  Kinder  zeugen  in  aller  Gottseligkeit  und 
Ehrbarkeit,  aber  das  Jahrhundert  erkennt  ihn  nicht  als  seinen  Sohn 
an.  Ihr  braucht  darum  keine  Althegelianer  zu  werden,  mit  An  und 
für  sich,  Totalität  und  Diesigkeit  um  euch  zu  werfen,  aber  ihr  sollt 
die  Arbeit  des  Gedankens  nicht  scheuen ;  denn  nur  die  Begeisterung 
ist  echt,  die  wie  der  Adler  die  trüben  Wolken  der  Spekulation,  die 
dünne,  verfeinerte  Luft  in  den  obern  Regionen  der  Abstraktion  nicht 
scheut,  wenn  es  gilt,  der  Wahrheitssonne  entgegen  zu  fliegen.  Und 
in  diesem  Sinne  hat  denn  auch  die  Jugend  von  heute  die  Schule 
Hegels  durchgemacht,  und  manches  Samenkorn  aus  den  dürren 
Fruchtkapseln  des  Systems  ist  herrlich  aufgegangen  in  der  jugend- 
lichen Brust.  Das  aber  gibt  auch  das  größere  Vertrauen  auf  die 
Gegenwart,  daß  ihr  Schicksal  nicht  von  der  tatscheuen  Bedächtig- 
keit, der  gewohnheitsmäßigen  Philisterei  des  Alters,  sondern  von 
dem  edlen,  ungebändigten  Feuer  der  Jugend  abhängt.  Darum  laßt 
uns  für  die  Freiheit  kämpfen,  so  lange  wir  jung  und  voll  glühender 
Kraft  sind;  wer  weiß,  ob  wir's  noch  können,  wenn  das  Alter  uns 
beschleicht! 


11' 


Aus  der  Militärzeit 
i  n  Berlin 

1841— 1842 


Schelling  über  Hegel. 


Wenn  ihr  jetzt  hier  in  Berlin  irgend  einen  Menschen,  der  auch 
nur  eine  Ahnung  von  der  Macht  des  Geistes  über  die  Welt  hat,  nach 
dem  Kampfplatze  fraget,  auf  dem  um  die  Herrschaft  über  die  öffent- 
liche Meinung  Deutschlands  in  Politik  und  Religion,  also  über 
Deutschland  selbst,  gestritten  wird,  so  wird  er  euch  antworten, 
dieser  Kampfplatz  sei  in  der  Universität,  und  zwar  das  Auditorium 
Nr.  6,  wo  Schelling  seine  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der 
Offenbarung  hält.  Denn  für  den  Augenblick  sind  alle  einzelnen 
Gegensätze,  die  der  Hegeischen  Philosophie  jene  Herrschaft  streitig 
machen,  gegen  die  eine  Opposition  Schellings  verdunkelt,  verwischt 
und  zurückgetreten;  alle  die  Angreifer,  die  außerhalb  der  Philo- 
sophie stehen,  Stahl,  Hengstenberg,  Neander,  machen  einem  Streiter 
Platz,  von  dem  man  sich  versieht,  daß  er  den  Unbesiegten  auf 
seinem  eignen  Gebiet  bekämpfen  wird.  Und  der  Kampf  ist  wirk- 
lich eigentümlich  genug.  Zwei  alte  Jugendfreunde,  Stubengenossen 
im  Tübinger  Stift,  treten  sich  nach  vierzig  Jahren  als  Gegner  wieder 
unter  die  Augen;  der  eine  tot  seit  zehn  Jahren,  aber  lebendiger  als 
je  ir^  seinen  Schülern;  der  andere  seit  drei  Dezennien,  wie  jene 
sagen,  geistig  tot,  nun  urplötzlich  des  Lebens  volle  Kraft  und  Gel- 
tung für  sich  ansprechend.  Wer  ,, unparteiisch"  genug  ist,  sich 
beiden  gleich  fremd  zu  wissen,  d.  h.  kein  Hegelianer  zu  sein  — 
denn  zu  Schelling  kann  nach  den  paar  Worten,  die  er  gesagt  hat, 
sich  bis  jetzt  wohl  niemand  bekennen  —  wer  also  diesen  vielbe- 
rühmten Vorzug  der  ,, Unparteilichkeit"  hat,  der  wird  in  der  Todes- 
erklärung Hegels,  die  durch  Schellings  Auftreten  in  Berlin  aus- 
gesprochen ist,  die  Rache  der  Götter  sehen  für  die  Todeserklärung 
Schellings,  die  Hegel  seinerzeit  verkündete. 

Ein  bedeutendes,  bunt  gemischtes  Auditorium  hat  sich  einge- 
funden, um  dieses  Kampfes  Zeuge  zu  sein.  An  der  Spitze  die  No- 
tabilitäten  der  Universität,  die  Koryphäen  der  Wissenschaft,  Män- 
ner, deren  jeder  eine  eigentümliche  Richtung  hervorgerufen  hat, 
ihnen  sind  die  nächsten  Plätze  um  das  Katheder  überlassen,  und 
hinter  ihnen,  durcheinandergewürfelt,  wie  der  Zufall  sie  zusammen- 
führte, Repräsentanten  aller  Lebensstellungen,  Nationen  und  Glau- 


l68  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841  — 1842. 

bensbekenntnisse.  Mitten  zwischen  der  übermütigen  Jugend  sitzt 
hier  und  da  ein  graubärtiger  Stabsoffizier  und  neben  ihm  wohl  gar 
ganz  ungeniert  ein  Freiwilliger,  der  in  anderer  Gesellschaft  sich  vor 
Devotion  gegen  den  hohen  Vorgesetzten  nicht  zu  lassen  wüßte. 
Alte  Doktoren  und  Geistliche,  deren  Matrikel  bald  ihr  Jubiläum 
feiern  kann,  fühlen  den  längstvergessenen  Burschen  wieder  im 
Kopfe  spuken  und  gehen  ins  Colleg,  Judentum  und  Islam  wollen 
sehen,  was  es  für  eine  Bewandtnis  mit  der  christlichen  Offenbarung 
hat;  man  hört  deutsch,  französisch,  englisch,  ungarisch,  polnisch, 
russisch,  neugriechisch  und  türkisch  durcheinander  sprechen  — 
da  ertönt  das  Zeichen  zum.  Schweigen  und  Schelling  besteigt  das 
Katheder. 

Ein  Mann  von  mittlerer  Statur,  mit  weißem  Haar  und  hell- 
blauem, heitern  Auge,  dessen  Ausdruck  eher  ins  Muntere  als  ins 
Imponierende  spielt,  und  vereint  mit  einigem  Embonpoint,  mehr 
auf  den  gemütlichen  Hausvater  als  auf  den  genialen  Denker  schließen 
läßt,  ein  hartes,  aber  kräftiges  Organ,  schwäbisch -bayrischer  Dia- 
lekt mit  beständigem  „Eppes"  für  Etwas,  das  ist  Schellings  äußere 
Erscheinung. 

Ich  übergehe  den  Inhalt  seiner  ersten  Vorlesungen,  um  so- 
gleich zu  seinen  Äußerungen  über  Hegel  zu  kommen,  und  behalte 
mir  nur  vor,  zur  Erläuterung  derselben  das  Nötige  nachzuschicken. 
Ich  gebe  sie  wieder,  wie  ich  sie  in  der  Vorlesung  selbst  nachgeschrie- 
ben habe. 

,,Die  Identitätsphilosophie,  wie  ich  sie  aufstellte,  war  nur  eine 
Seite  der  ganzen  Philosophie,  nämlich  die  negative.  Dieses  Nega- 
tive mußte  entweder  durch  die  Darstellung  des  Positiven  befriedigt 
v/erden  oder,  den  positiven  Gehalt  der  früheren  Philosophieen  ver- 
schlingend, sich  selbst  als  das  Positive  setzen  und  sich  so  zur  ab- 
soluten Philosophie  aufwerfen.  Auch  über  dem  Geschick  des  Men- 
schen schwebt  eine  Vernunft,  die  ihn  in  der  Einseitigkeit  verharren 
läßt,  bis  er  alle  Möglichkeiten  derselben  erschöpft  hat.  So  war  es 
Hegel,  der  die  negative  Philosophie  als  die  absolute  aufstellte.  — 
Ich  nenne  Herrn  Hegels  Namen  zum  ersten  Male.  So  wie  ich  mich 
über  Kant  und  Fichte  frei  ausgesprochen  habe,  die  meine  Lehrer 
gewesen  sind,  so  werde  ich  es  auch  über  Hegel  tun,  obgleich  mir 
dies  eben  keine  Freude  macht.  Aber  um  der  Offenheit  willen,  die 
ich  Ihnen,  meine  Herren,  versprochen  habe,  will  ich  es  tun.  Es 
soll  nicht  scheinen,  als  hätte  ich  irgend  etwas  zu  scheuen,  als  gäbe 
es  Punkte,  worüber  ich  mich  nicht  frei  aussprechen  dürfte.  Ich 
gedenke  der  Zeit,  wo  Hegel  mein  Zuhörer,  mein  Lebenfgenoß  war, 
und  ich  muß  sagen,  daß,  während  die  Identitätsphilosophie  allge- 
mein seicht  und  flach  aufgefaßt  wurde,  er  es  war,  der  ihren  Grund- 


Schelling  über  Hegel.  169 

gedanken  in  die  spätere  Zeit  hinüber  gerettet  und  bis  zuletzt  fort- 
während anerkannt  hat,  wie  mir  dies  vor  allem  seine  Vorlesungen 
über  die  Geschichte  der  Philosophie  bezeugten.  Er,  der  den  großen 
Stoff  schon  bewältigt  vorfand,  hielt  sich  hauptsächlich  an  die  Me- 
thode, während  wir  andern  vorzugsweise  das  Materielle  behaupte- 
ten. Ich  selbst,  dem  die  gewonnenen  negativen  Resultate  nicht  ge- 
nügten, hätte  gern  jeden  befriedigenden  Abschluß,  auch  von  fremder 
Hand,  entgegengenommen." 

,, Übrigens  handelt  es  sich  hier  darum,  ob  Hegels  Stelle  in  der 
Geschichte  der  Philosophie,  die  Stelle,  die  ihm  unter  den  großen 
Denkern  anzuweisen  ist,  eben  diese  ist,  daß  er  die  Identitätsphilo- 
sophie zur  absoluten,  zur  letzten  zu  erheben  versuchte,  was  frei- 
lich nur  mit  bedeutenden  Veränderungen  geschehen  konnte ;  und 
dies  gedenke  ich  aus  seinen  eignen,  aller  Welt  offenstehenden 
Schriften  zu  beweisen.  Wollte  man  sagen,  daß  darin  eben  der 
Tadel  für  Hegel  liege,  so  antworte  ich,  daß  Hegel  getan  hat,  was 
ihm  zunächst  lag.  Die  Identitätsphilosophie  mußte  mit  sich  selber 
ringen,  über  sich  selbst  hinausgehen,  so  lange  jene  Wissenschaft 
des  Positiven,  die  sich  auch  über  die  Existenz  erstreckt,  noch  nicht 
da  war.  Darum  mußte  Hegel  in  seinem  Bestreben  die  Identitäts- 
philosophie über  ihre  Schranke,  die  Potenz  des  Seins,  das  reine  Sein- 
können, hinausführen  und  die  Existenz  ihr  unterwürfig  machen." 

„  ,, Hegel,  der  sich  mit  Schelling  zur  Anerkennung  des  Abso- 
luten erhob,  wich  von  diesem  ab,  indem  er  dasselbe  nicht  in  der 
intellektuellen  Anschauung  vorausgesetzt,  sondern  auf  wissen- 
schaftlichem Wege  gefunden  wissen  wollte.""  Diese  Worte  bilden 
den  Text,  über  den  ich  jetzt  zu  Ihnen  reden  werde.  —  In  obiger 
Stelle  liegt  die  Meinung  zugrunde,  die  Identitätsphilosophie  habe 
das  Absolute  nicht  bloß  der  Sache,  sondern  auch  der  Existenz  nach 
zum  Resultate ;  da  nun  der  Ausgangspunkt  der  Identitätsphiloso- 
phie die  Indifferenz  von  Subjekt  und  Objekt  ist,  so  wird  auch  deren 
Existenz,  als  durch  die  intellektuelle  Anschauung  erwiesen,  an- 
genommen. Auf  diese  Weise  nimmt  Hegel  ganz  arglos  an,  ich  habe 
die  Existenz,  das  Sein  jener  Indifferenz  durch  die  intellektuelle 
Anschauung  beweisen  wollen,  und  tadelt  mich  wegen  des  mangel- 
haften Bev/eises.  Daß  ich  dies  nicht  wollte,  zeigt  die  von  mir  so 
häufig  ausgesprochene  Verwahrung,  die  Identitätsphilosophie  sei 
kein  System  der  Existenz,  und  was  die  intellektuelle  Anschauung 
betrifft,  so  kommt  diese  Bestimmung  in  derjenigen  Darstellung  der 
Identitätsphilosophie,  die  ich  einzig  und  allein  für  die  wissenschaft- 
liche aus  früherer  Zeit  anerkenne,  gar  nicht  vor.  Diese  Darstellung 
befindet  sich  da,  wo  sie  kein  Mensch  sucht,  nämlich  in  der  Zeit- 
schrift für  spekulative  Physik,  zweiten  Bandes  zweites  Heft.    Sonst 


lyo  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

wohl  kommt  sie  allerdings  vor,  und  ist  ein  Erbstück  der  Fichte- 
schen Verlassenschaft.  Fichte,  mit  dem  ich  nicht  geradezu  brechen 
wollte,  gelangte  durch  sie  zu  seinem  unmittelbaren  Gewissen,  dem 
Ich;  ich  knüpfte  daran  an,  um  auf  diesem  Wege  zur  Indifferenz 
zu  gelangen.  Indem  nun  das  Ich  in  der  intellektuellen  Anschau- 
ung nicht  mehr  subjektiv  betrachtet  wird,  tritt  es  in  die  Sphäre 
des  Gedankens  und  ist  so  nicht  mehr  unmittelbar  gewiß  existierend. 
Sonach  würde  die  intellektuelle  Anschauung  selbst  nicht  einmal 
die  Existenz  des  Ich  beweisen  ;  und  wenn  Fichte  sie  zu  diesem  Zwecke 
braucht,  so  kann  ich  mich  doch  nicht  auf  sie  berufen,  um  die  Exi- 
stenz des  Absoluten  daraus  zu  demonstrieren.  So  konnte  mich  Hegel 
nicht  wegen  der  Mangelhaftigkeit  eines  Beweises  tadeln,  den  ich 
nie  führen  wollte,  sondern  nur  deswegen,  daß  ich  nicht  ausdrück- 
lich genug  sagte,  daß  es  mir  überhaupt  um  die  Existenz  nicht  zu 
tun  sei.  Denn  wenn  Hegel  den  Beweis  des  Seins  der  unendlichen 
Potenz  verlangt,  so  geht  er  über  die  Vernunft  hinaus;  sollte  die  un- 
endliche Potenz  sein,  so  wäre  die  Philosophie  nicht  frei  vom  Sein; 
und  hier  ist  denn  die  Frage  aufzustellen,  ob  das  Prius  der  Existen:: 
zu  denken  ist  ?  Hegel  negiert  es,  denn  er  fängt  seine  Logik  mit  dem 
Sein  an  und  geht  sogleich  auf  ein  Existentialsystem  los.  Wir  aber 
bejahen  es,  indem  wir  mit  der  reinen  Potenz  des  Seins  als  nur  im 
Denken  existierend  beginnen.  Hegel,  der  so  viel  von  der  Immanenz 
spricht,  ist  doch  nur  immanent  in  dem  dem  Denken  nicht  Imma- 
nenten, denn  das  Sein  ist  dies  Nichtimmanente.  Sich  ins  reine 
Denken  zurückzuziehen,  heißt  instesondere  sich  von  allem  Sein 
außer  dem  Gedanken  zurückziehen.  Die  Behauptung  Hegels,  die 
Existenz  des  Absoluten  sei  in  der  Logik  bewiesen,  hat  dann  noch 
den  Nachteil,  daß  man  auf  diese  Weise  das  Unendliche  zweimal  hat, 
am  Ende  der  Logik  und  dann  noch  einmal  am  Ende  des  ganzen 
Prozesses.  Überhaupt  sieht  man  nicht  ein,  warum  die  Logik  bei 
der  Enzyklopädie  vorausgeschickt  wird,  anstatt  daß  sie  den  ganzen 
Zyklus  lebend  durchdringt.** 

So  weit  Schelling.  Ich  habe  zum  großen  Teil  und  so  viel  es 
mir  möglich  war,  seine  eigenen  Worte  angeführt  und  kann  dreist 
behaupten,  daß  er  die  Unterschreibung  dieser  Auszüge  nicht  wei- 
gern dürfte.  Zur  Ergänzung  füge  ich  aus  den  vorhergehenden  Vor- 
lesungen bei,  daß  er  die  Dinge  nach  zwei  Seiten  betrachtet,  das  quid 
von  dem  quod,  das  Wesen  und  den  Begriff  von  der  Existenz  trennt; 
ersteres  der  reinen  Vernunftwissenschaft  oder  negativen  Philoso- 
phie, letzteres  einer  neuzugründenden  Wissenschaft  mit  empirischen 
Elementen,  der  positiven  Philosophie,  zuweist.  Von  der  letzteren 
verlautete  bis  jetzt  noch  nichts,  die  erstere  trat  vor  vierzig  Jahren 
in  mangelhafter,  von  Schelling  selbst  preisgegebener  Fassung  auf 


Schelling  über  Hegel.  lyi 

und  wird  von  ihm  jetzt  in  ihrem  wahren,  adäquaten  Ausdruck  ent- 
wickelt. Ihre  Basis  ist  die  Vernunft,  die  reine  Potenz  des  Erkennens, 
welche  die  reine  Potenz  des  Seins,  das  unendliche  Seinkönnen  zu 
ihrem  unmittelbaren  Inhalt  hat.  Das  notwendige  Dritte  hierzu  ist 
nun  die  Potenz  über  das  Sein,  die  sich  nicht  mehr  entäußern  kön- 
nende, und  diese  ist  das  Absolute,  der  Geist,  das,  was  von  der  Not- 
wendigkeit des  Überganges  in  das  Sein  freigesprochen  ist  und 
in  ewiger  Freiheit  gegen  das  Sein  verharrt.  Auch  die  ,,orphische** 
Einheit  jener  Potenzen  kann  das  Absolute  genannt  werden,  als 
das,  außer  dem  nichts  ist.  Treten  die  Potenzen  in  Gegensatz 
zu  einander,  so  ist  diese  ihre  Ausschließlichkeit  die  Endlichkeit. 

Diese  wenigen  Sätze  genügen,  denk  ich,  zum  Verständnis  des 
Vorhergehenden  und  als  Grurdzüge  des  Neuschellingianismus,  so- 
weit diese  hier  und  bis  jetzt  gegeben  werden  können.  Es  bleibt 
mir  nun  noch  übrig,  die  von  Schelling  wohl  absichtlich  verschwie- 
genen Konsequenzen  hieraus  zu  ziehen  und  für  den  großen  Toten 
in  die   Schranken  zu  treten. 

Wenn  man  das  Schellingsche  Todesurteil  des  Hegeischen  Sy- 
stems seiner  Kurialsprache  entkleidet,  so  kommt  folgendes  heraus: 
Hegel  hat  eigentlich  gar  kein  eigenes  System  gehabt,  sondern  vom 
Abfall  meiner  Gedanken  kümmerlich  sein  Leben  gefristet ;  während 
ich  mit  der  partie  brillante,  der  positiven  Philosophie,  mich  be- 
schäftigte, schwelgte  er  in  der  partie  honteuse,  der  negativen,  und 
übernahm,  da  ich  keine  Zeit  hierzu  hatte,  ihre  Vervollständigung 
und  Ausarbeitung,  unendlich  beglückt  dadurch,  daß  ich  ihm  dies 
noch  anvertraute.  Wollt  Ihr  ihn  deshalb  tadeln?  ,,Er  tac,  was  ihm 
zunächst  lag."  Er  hat  dennoch  ,,eine  Stelle  unter  den  großen  Den- 
kern", denn  ,,er  war  der  einzige,  der  den  Grundgedanken  der  Iden- 
titätsphilosophie anerkannte,  während  alle  andern  sie  flach  und 
seicht  auffaßten".  Aber  dennoch  sah  es  schlimm  mit  ihm  aus, 
denn  er  wollte  die  halbe  Philosophie  zur  ganzen  machen.  — 

Man  erzählt  ein  bekanntes  Wort,  angeblich  aus  Hegels  Munde, 
das  aber  nach  obigen  Äußerungen  unzweifelhaft  von  Schelling  her- 
rührt: ,,Nur  einer  meiner  Schüler  verstand  mich,  und  auch  dieser 
verstand  mich  leider  falsch."  — 

Aber  im  Ernste,  dürfen  solche  Schmähungen  auf  den  Grabstein 
Hegels  geschrieben  werden,  ohne  daß  wir,  die  wir  ihm  mehr  ver- 
danken, als  er  Schelling  schuldig  war,  zur  Ehre  des  Toten  eine  Her- 
ausforderung wagen,  und  sei  der  Gegner  noch  so  furchtbar?  Und 
Schmähungen  sind  dies  doch,  da  mag  Schelling  sagen,  was  er  will, 
da  mag  die  Form  scheinbar  noch  so  wissenschaftlich  sein.  O,  ich 
könnte  den  Herrn  von  Schelling  und  jeden  Beliebigen,  wenn  es 
verlangt  würde,  ,,auf  rein  wissenschaftliche  Weise"  so  grundschlecht 


172  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

darstellen,  daß  er  die  Vorzüge  der  „wissenschaftlichen  Methode" 
gewiß  einsehen  würde ;  aber  was  sollte  mir  das  ?  Es  wäre  ohnehin 
frivol,  wollte  ich,  der  Jüngling,  einen  Greis  meislern,  und  vollends 
Schelling,  der,  mag  er  noch  so  entschieden  von  der  Freiheit  abge- 
fallen sein,  immer  der  Entdecker  des  Absoluten  bleibt  und^  sobald 
er  als  Hegeis  Vorgänger  auftritt,  nur  mit  der  tiefsten  Ehrfurcht 
von  uns  allen  genannt  wird.  Aber  Schelling,  der  Nachfolger  Hegels, 
hat  nur  auf  einige  Pietät  Anspruch,  und  wird  von  mir  am  aller- 
wenigsten Ruhe  und  Kälte  verlangen,  denn  ich  bin  für  einen  Toten 
eingetreten,  und  dem  Kämpfenden  steht  etwas  Leidenschaft  doch 
v/ohl  an,  wer  mit  kaltem  Blut  seine  Klinge  zieht,  hat  selten  viel 
Begeisterung  für  die  Sache,  die  er  verficht. 

Ich  muß  sagen,  daß  das  hiesige  Auftreten  Schellings  und  na- 
mentlich diese  Invektiven  gegen  Hegel  wenig  Zweifel  mehr  an  dem 
übrig  lassen,  was  man  bisher  nicht  glauben  wollte,  nämlich  daß 
das  in  der  Vorrede  zu  Riedels  bekannter  jüngster  Broschüre  gezeich- 
nete Porträt  ähnlich  sei.  Wenn  diese  Art,  die  ganze  Entwickelung 
der  Philosophie  in  diesem  Jahrhundert,  Hegel,  Gans,  Feuerbach, 
Strauß,  Rüge  und  die  Deutschen  Jahrbücher  zuerst  von  sich  ab- 
hängig zu  machen  und  sie  dann  nicht  nur  zu  negieren,  nein,  sie 
mit  einer  Floskel,  die  nur  ihn  besser  ins  Licht  stellen  soll,  als  einen 
Luxus,  den  der  Geist  mit  sich  selber  treibt,  ein  Kuriosum  von  Miß- 
verständnis, eine  Galerie  von  unnützen  Verirrungen  darzustellen 
—  wenn  das  nicht  alles  übertrifft,  was  in  jener  Broschüre  Schel- 
ling vorgeworfen  wird,  so  hab'  ich  keine  Ahnung  von  dem,  was  im 
gegenseitigen  Verkehr  Sitte  ist.  Freilich  mochte  es  für  Schelling 
schwer  sein,  einen  Mittelweg  zu  finden,  der  weder  ihn  noch  Hegel'n 
kompromittierte,  und  der  Egoismus  wäre  verzeihlich,  der  ihn,  um 
sich  zu  halten,  zur  Aufopferung  des  Freundes  veranlaßte.  Aber  es 
ist  doch  etwas  zu  stark,  wenn  Schelling  dem  Jahrhundert  zumutet, 
vierzig  Jahre  voll  Mühen  und  Arbeit,  vierzig  Jahre  des  Denkens, 
des  Aufopferns  der  liebsten  Interessen  und  der  heiligsten  Über- 
lieferungen als  vergeudete  Zeit,  verfehlte  Richtung  zurückzuneh- 
men, bloß  damit  e  r  nicht  diese  vierzig  Jahre  zu  lange  gelebt  habe; 
es  klingt  Vvie  mehr  als  Ironie,  wenn  er  Hegeln  eben  dadurch  eine 
Stelle  unter  den  großen  Denkern  anweist,  daß  er  ihn  aus  ihrer  Zahl 
der  Sache  nach  ausstreicht,  ihn  wie  sein  Geschöpf,  seinen  Diener 
behandelt;  und  endlich  erscheint  es  doch  einigermaßen  wie  Ge- 
dankengeiz, wie  kleinlicher  —  wie  nennt  man  doch  die  bekannte 
blaßgelbe  Leidenschaft?  —  wenn  Schelling  alles  und  jedes,  was  er 
bei  Hegel  anerkennt,  als  sein  Eigentum,  ja  als  Fleisch  von  seinem 
Fleisch,  reklamiert.  Es  wäre  doch  sonderbar,  wenn  die  alte  Schel- 
lingsche    Wahrheit  nur    in  der  schlechten   Hegeischen   Form   sich 


Schelling  über  Hegel.  ly^j 

hätte  halten  können  und  dann  fiele  der  Vorv/urf  des  dunkeln  Aus- 
drucks, den  Schelling  seinem  Angegriffenen  vorgestern  machte, 
doch  notwendig  auf  ihn  selbst  zurück,  was  er  freilich  nach  allge- 
meinem Urteil  schon  jetzt  tut,  trotz  der  versprochenen  Deutlich- 
keit. Wer  sich  in  solchen  Perioden  ergeht,  wie  Schelling  es  fort- 
während tut,  wer  Ausdrücke  wie  Quidditativ  und  Quodditativ,  or- 
phische  Einheit  usw.  gebraucht  und  selbst  mit  diesen  noch  so  wenig 
auskommt,  daß  lateinische  und  griechische  Sätze  und  Wörter  jeden 
Augenblick  aushelfen  müssen,  der  begibt  sich  denn  doch  wohl  des 
Rechtes,  über  Hegels  Stil  zu  schelten. 

Am  meisten  zu  bedauern  ist  übrigens  Schelling  wegen  des 
unglücklichen  Mißverständnisses  in  Beziehung  auf  die  Existenz. 
Der  gute,  naive  Hegel  mit  seinem  Glauben  an  die  Existenz  philo- 
sophischer Resultate,  an  die  Berechtigung  der  Vernunft,  in  die  Exi- 
stenz zu  treten,  das  Sein  zu  beherrschen!  Aber  merkwürdig  wäre 
es  doch,  wenn  er,  der  Schelling  denn  doch  gehörig  studiert  und 
lange  persönlichen  Umgang  mit  ihm  gepflogen  hatte,  wenn  alle 
andern,  die  die  Identitätsphilosophie  zu  durchdringen  suchten,  gar 
nichts  gemerkt  hätten  von  dem  Hauptspaß,  nämlich,  daß  das  all 
nur  Flausen  sind,  die  nur  in  Schellings  Kopf  existierten  und  gar 
keine  Ansprüche  darauf  machten,  auf  die  Außenwelt  einigen  Ein- 
fluß zu  haben.  Irgendwo  müßte  das  doch  wohl  geschrieben  stehen, 
und  einer  hätt'  es  doch  gewiß  gefunden.  Aber  man  kommt  wirk- 
lich in  Versuchung,  daran  zu  zweifeln,  ob  dies  von  vornherein 
Schellings  Ansichten  gewesen,  oder  ob  es  spätere  Zutat  sei. 

Und  die  neue  Fassung  der  Identitätsphilosophie }  Kant  be- 
freite das  vernünftige  Denken  von  Raum  und  Zeit,  Schelling  nimmt 
uns  noch  die  Existenz.  Was  bleibt  uns  dann  noch  ?  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  gegen  ihn  zu  beweisen,  daß  die  Existenz  allerdings  in  den 
Gedanken  fällt,  das  Sein  dem  Geiste  immanent  ist  und  der  Grund- 
satz aller  modernen  Philosophie,  das  cogito  ergo  sum,  nicht  so  im 
Sturm  umgerannt  werden  kann ;  aber  man  wird  mir  die  Fragen 
erlauben,  ob  eine  Potenz,  die  selbst  kein  Sein  hat,  ein  Sein  er- 
zeugen kann,  ob  eine  Potenz,  die  sich  nicht  mehr  entäußern  kann, 
noch  Potenz  ist,  und  ob  die  Trichotomie  der  Potenzen  der  aus 
Hegels  Enzyklopädie  sich  entwickelnden  Dreieinigkeit  von  Idee, 
Natur  und  Geist  nicht  auf  eine  merkwürdige  Weise  entspricht  ? 

Und  was  wird  sich  aus  dem  allen  für  die  Philosophie  der  Offen- 
barung ergeben?  Sie  fällt  natürlich  in  die  positive  Philosophie,  in 
die  empirische  Seite.  Schelling  wird  sich  nicht  anders  helfen  können, 
als  durch  die  Annahme  des  Faktums  einer  Offenbarung,  das  er 
vielleicht  auf  irgend  eine  Weise,  nur  nicht  vernünftig,  denn  dazu 
hat  er  sich  ja  die  Türe   versperrt,  begründet.    Hegel   hat  es  sich 


174  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

doch  ein  klein  wenig  saurer  gemacht  —  oder  sollte  Scheiling  an- 
dere Auskunftsmittel  in  der  Tasche  haben  ?  So  läßt  sich  denn  diese 
Philosophie  ganz  richtig  die  empirische  nennen,  ihre  Theologie  die 
positive  und  ihre  Jurisprudenz  wird  wohl  die  historische  sein.  Das 
wäre  freilich  einer  Niederlage  nicht  unähnlich,  denn  das  kannten 
wir  alles  schon,  ehe  Scheiling  nach  Berlin  kam. 

Unsere  Sache  wird  es  sein,  seinen  Gedankengang  zu  verfolgen 
und  des  großen  Meisters  Grab  vor  Beschimpfung  zu  schützen. 
Wir  scheuen  den  Kampf  nicht.  Uns  konnte  nichts  Wünschens- 
werteres geschehen,  als  für  eine  Zeitlang  ecclesia  pressa  zu  sein. 
Da  scheiden  sich  die  Gemüter.  Was  echt  ist,  bleibt  im  Feuer  be- 
währt, was  unecht  ist,  vermissen  wir  gern  in  unseren  Reihen.  Die 
Gegner  müssen  uns  zugestehen,  daß  niemals  die  Jugend  so  zahl- 
reich zu  unsern  Fahnen  strömte,  niemals  der  Gedanke,  der  uns 
beherrscht,  sich  so  reich  entfaltete,  Mut,  Gesinnung,  Talent  so 
sehr  auf  unserer  Seite  war  als  jetzt.  So  wollen  wir  denn  getrost 
aufstehen  gegen  den  neuen  Feind ;  am  Ende  findet  sich  doch  einer 
unter  uns,  der  es  bewährt,  daß  das  Schwert  der  Begeisterung  ebenso 
gut  ist  wie  das  Schwert  des  Genies. 

Scheiling  aber  mag  sehen,  ob  er  eine  Schule  zusammen  be- 
kommt. Viele  schließen  sich  jetzt  bloß  deshalb  an  ihn  an,  weil  sie, 
wie  er,  gegen  Hegel  sind,  und  jeden,  der  ihn  angreift,  und  war'  es 
Leo  oder  Schubarth,  mit  Dank  annehmen.  Für  diese  ist  aber  Schei- 
ling, denk'  ich,  viel  zu  gut.  Ob  er  außerdem  Anhänger  bekommt, 
wird  sich  zeigen.  Ich  glaub'  es  noch  nicht,  obgleich  einige  seiner 
Zuhörer  Fortschritte  machen  und  es  schon  bis  zur  Indifferenz 
gebracht  haben. 

Nord-  und  süddeutscher  Liberalismus. 

*X*  Berlin  im  März.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  da  galt 
der  Süden  unseres  Vaterlandes  für  den  einzigen  Teil  desselben,  der 
einer  entschiedenen  politischen  Gesinnung  fähig  sei;  Baden,  Würt- 
temberg und  Rheinbayern  schienen  die  einzigen  drei  Altäre  zu  sein, 
auf  denen  das  Feuer  des  allein  würdigen,  unabhängigen  Patriotis- 
mus aufflammen  könnte.  Der  Norden  schien  in  eine  träge  Gleich- 
gültigkeit, in  eine  wenn  nicht  servile,  doch  schlaffe  und  zähe  Er- 
mattung zurückgesunken,  in  der  er  sich  von  der  freilich  großartigen 
und  ungewohnten  Anstrengung  der  Befreiungskriege,  an  denen 
der  Süden  keinen  Teil  genommen,  erholen  wollte.  Er  schien  mit 
jener  Tat  genug  und  nun  den  Anspruch  auf  einige  Ruhe  zu  haben, 
so  daß  der  Süden  bereits  auf  ihn  herabzusehen,  seine  Interesse- 
losigkeit zu  schelten,  seine  Geduld  zu  verspotten  begann.    Die  Er- 


Nord-  und  süddeutscher  Liberalismus.  175 

eignisse  in  Hannover  wurden  vom  Süden  ebenfalls  zu  einer  Recht- 
fertigung seiner  Überhebung  gegen  den  Norden  reichlich  ausge- 
beutet. Während  dieser  sich  anscheinend  stiller,  tatenloser  verhielt, 
triumphierte  jener,  pochte  auf  sein  sich  entwickelndes  parlamen- 
tarisches Leben,  auf  seine  Reden  in  den  Kammern,  auf  seine  Oppo- 
sition, die  den  Norden  unterstützen  müsse,  während  er  seine  Exi- 
stenz auch  ohne  diesen  gesichert  wisse.  —  Das  ist  alles  anders  ge- 
worden. Die  Bewegung  des  Südens  ist  eingeschlummert,  die  Zähne 
der  Räder,  die  sich  früher  so  scharf  erfaßten  und  im  Umschwung 
erhielten,  sind  allmählich  abgeschlissen  und  wollen  nicht  mehr 
recht  ineinander  greifen,  ein  Mund  verstummt  nach  dem  andern 
und  die  jüngere  Generation  hat  nicht  Lust,  auf  dem  Pfade  ihrer 
Vorgänger  zu  gehen.  Dagegen  hat  der  Norden,  obwohl  die  äußeren 
Umstände  ihm  lange  nicht  so  günstig  sind  wie  dem  Süden,  obwohl 
die  Tribüne,  wo  sie  nicht  ganz  mangelt,  sich  nie  zur  Bedeutung 
der  süddeutschen  erheben  konnte,  dennoch  seit  mehreren  Jahren 
einen  Fonds  von  gediegener,  politischer  Gesinnung,  von  charakter- 
fester, lebendiger  Energie,  von  Talent  und  publizistischer  Tätig- 
keit aufzuweisen,  wie  ihn  der  Süden  in  seiner  schönsten  Blütezeit 
nicht  zusammenbrachte.  Dazu  kommt,  daß  der  norddeutsche  Libe- 
ralismus unbestreitbar  einen  höheren  Grad  von  Durchbildung  und 
Allseitigkeit,  eine  festere  historische  wie  nationale  Basis  besitzt, 
als  der  Freisinn  des  Südens  jemals  sich  erringen  konnte.  Der  Stand- 
punkt des  ersteren  ist  weit  über  den  des  letzteren  hinaus.  Woher 
kommt  das  ?  Die  Geschichte  beider  Erscheinungen  löst  diese  Frage 
aufs  klarste. 

Als  mit  dem  Jahre  1830  der  politische  Sinn  in  ganz  Europa 
zu  erwachen,  das  Staatsinteresse  in  den  Vordergrund  zu  treten  be- 
gann, entwickelte  sich  aus  den  Tatsachen  und  Anregungen  dieses 
Jahres  in  ihrem  Zusammenstoß  mit  den  wiedererwachenden  Träu- 
men der  Deutschtümelei  das  neue  Produkt  des  süddeutschen  Libe- 
ralismus. Aus  der  unmittelbaren  Praxis  geboren,  blieb  er  dieser 
getreu  und  schloß  sich  ihr  in  seiner  Theorie  an.  Die  Praxis  aber, 
aus  der  er  sich  die  Theorie  konstruierte,  war  bekanntlich  eine  sehr 
weitschichtige,  französische,  deutsche,  englische,  spanische  usw. 
Daher  kam  es,  daß  auch  die  Theorie,  der  eigentliche  Inhalt  dieser 
Richtung,  sehr  ins  Allgemeine,  Vage,  Blaue  hinauslief,  daß  sie  we- 
der deutsch,  noch  französisch,  weder  national,  noch  entschieden 
kosmopolitisch,  sondern  eben  eine  Abstraktion  und  Halbheit  war. 
Man  hatte  einen  allgemeinen  Zweck,  die  gesetzliche  Freiheit,  aber 
gewöhnlich  zwei  gerade  entgegengesetzte  Mittel  dafür.  So  wollte 
man  konstitutionelle  Garantien  für  Deutschland  und  schlug  heute^ 
um  dies  zu  erreichen,   größere   Unabhängigkeit  der   Fürsten  vom 


lyö  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

Bundestage,  morgen  größere  Abhängigkeit,  aber  eine  Volkskammer 
zur  Seite  der  Bundesversammlung  vor:  zwei  Mittel,  von  denen  eins 
unter  den  obwaltenden  Umständen  so  unpraktisch  war  wie  das 
andere.  Man  wollte  heute  zur  Erreichung  des  großen  Zweckes 
größere  Einheit  Deutschlands  und  morgen  größere  Unabhängig- 
keit der  kleinen  Fürsten  gegen  Preußen  und  Österreich.  So,  über 
den  Zweck  immer,  über  die  Mittel  nie  einig,  wurde  die  bei  weitem 
mächtigere  Partei  bald  von  der  Regierung  überholt  und  sah  ihre 
Unklugheit  zu  spät  ein.  Sodann  war  ihre  Kraft  an  eine  momentane 
Aufregung,  an  die  Rückwirkung  eines  bloß  äußerlichen  Ereignisses, 
der  Julirevolution,  geknüpft,  und  als  diese  nachließ,  mußte  auch 
sie  entschlummern. 

Während  dieser  Zeit  war  in  Norddeutschland  alles  weit  ruhiger 
und  dem  Anscheine  nach  untätiger.  Nur  Ein  Mann  strömte  da- 
mals alle  Glut  seiner  Lebenskraft  in  lebendigen  Flammen  aus,  und 
der  galt  mehr,  als  alle  Süddeutschen  zusammen,  ich  meine  Börne. 
In  ihm,  der  über  die  Halbheiten  jener  mit  aller  Energie  seines 
Charakters  hinausging,  kämpfte  sich  diese  Einseitigkeit  ganz  und 
gar  durch  und  überwand  so  sich  selbst.  In  ihm  rang  sich  aus  der 
Praxis  die  Theorie  heraus  und  zeigte  sich  als  die  schönste  Blüte 
jener.  So  trat  er  entschieden  auf  den  Standpunkt  des  norddeut- 
schen Liberalismus  und  ward  sein  Vorläufer  und  Prophet. 

Diese  Richtung,  der  jetzt  die  Herrschaft  über  Deutschland 
nicht  mehr  abzustreiten  ist,  gewann  durch  ihre  Basis  schon  einen 
volleren  Gehalt,  eine  dauerhaftere  Existenz.  Sie  knüpfte  von  vorn- 
herein ihr  Dasein  nicht  an  ein  einzelnes  Faktum,  sondern  an  die 
ganze  Weltgeschichte  und  namentlich  an  die  deutsche;  die  Quelle, 
aus  der  sie  floß,  war  nicht  in  Paris,  sie  war  im  Herzen  Deutsch- 
lands entsprungen;  es  war  die  neuere  deutsche  Philosophie.  Daher 
kommt  es,  daß  der  norddeutsche  Liberale  eine  entschiedene  Kon- 
sequenz, eine  Bestimmtheit  in  seinen  Forderungen,  ein  festes  Ver- 
hältnis von  Mittel  und  Zweck  hat,  das  der  Süddeutsche  bisher  im- 
mer vergebens  anstrebte.  Daher  kommt  es,  daß  seine  Gesinnung 
als  ein  notwendiges  Produkt  der  nationalen  Bestrebungen,  und 
darum  selbst  als  national  erscheint,  daß  sie  Deutschland  nach  innen 
und  außen  gleich  würdig  gestellt  sehen  will  und  nicht  in  das  ko- 
mische Dilemma  kommen  kann,  ob  man  erst  liberal  und  dann 
deutsch  oder  erst  deutsch  und  dann  liberal  sein  solle.  Daher  weiß 
sie  sich  gleich  sicher  vor  den  Einseitigkeiten  dieser  wie  jener 
Partei  und  ist  die  Spitzfindigkeiten  und  Sophistereien  los,  in 
die  diese  durch  ihre  eigenen  inneren  Widersprüche  getrieben 
wurden.  Darum  kann  sie  einen  so  entschiedenen,  so  lebendigen, 
so  erfolgreichen   Kampf  gegen  alle    und    jede   Reaktion   eröffnen, 


Rheinische  Feste. 


177 


wie    der    süddeutsche    Liberalismus    nie,    und    darum    ist    ihr    der 
Sieg   am   Ende   gewiß. 

Indes  ist  der  Süddeutsche  nicht  als  ein  verlorener  Vorposten, 
nicht  als  ein  mißlungenes  Experiment  zu  fassen ;  wir  haben  durch 
ihn  Resultate  errungen,  die  wahrlich  nicht  zu  verachten  sind.  Vor 
allem  war  er  es,  der  eine  deutsche  Opposition  begründete  und  so 
eine  politische  Gesinnung  in  Deutschland  möglich  machte  und  das 
parlamentarische  Leben  erweckte;  der  das  Samenkorn,  das  in  den 
deutschen  Verfassungen  lag,  nicht  einschlummern  und  verfaulen 
ließ  und  den  Gewinn  aus  der  Julirevolution  zog,  der  für  Deutsch- 
land daraus  zu  erzielen  war.  Er  ging  von  der  Praxis  zur  Theorie 
und  kam  damit  nicht  durch ;  so  wollen  wir  es  umgekehrt  anfangen 
und  von  der  Theorie  in  die  Praxis  zu  dringen  suchen  —  ich  wette, 
was  ihr  wollt,  wir  kommen  so  am  Ende  weiter. 

Rheinische  Feste. 

*X*  Berlin,  den  6.  Mai.  Es  gibt  gewisse  Zeiten  im  Jahre, 
wo  den  Rheinländer,  der  sich  in  der  Fremde  herumtreibt,  eine  ganz 
besondere  Sehnsucht  nach  seiner  schönen  Heimat  ergreift.  Diese 
Sehnsucht  stellt  sich  namentlich  im  Frühling,  um  die  Pfingstzeit, 
die  Zeit  des  rheinischen  Musikfestes  ein  und  ist  ein  ganz  fatales 
Gefühl.  Jetzt,  das  weiß  man  leider  nur  zu  genau,  jetzt  wird  es 
grün  am  Rhein ;  die  durchsichtigen  Wellen  des  Stromes  kräuseln 
sich  im  Lenzhauch,  die  Natur  zieht  ihr  Sonntagskleid  an,  und  jetzt 
rüsten  sie  sich  zu  Hause  zur  Sängerfahrt,  morgen  ziehen  sie  aus, 
und  du  bist  nicht  dabei! 

O,  es  ist  ein  schönes  Fest,  das  rheinische  Musikfest!  Auf  voll 
gedrängten,  laubgeschmückten  Dampfschiffen  mit  wehenden  Flag- 
gen, mit  Hörnerschall  und  Gesang,  auf  langen  Eisenbahnzügen 
und  Postwagenreihen  mit  geschwungenen  Hüten  und  wehenden 
Tüchern  kommen  die  Gäste  von  allen  Seiten  herbeigeströmt,  heitere 
Männer  jung  und  alt,  schöne  Frauen  mit  noch  schöneren  Stimmen, 
lauter  Sonntagsmenschen  mit  lachenden  Sonntagsgesichtern.  Das 
ist  eine  Lust!  Alle  Sorgen,  alle  Geschäfte  sind  vergessen  ;  da  ist  auch 
kein  einzig  ernsthaftes  Gesicht  zu  erblicken  in  dem  dichten  Ge- 
dränge der  Ankommenden.  Alte  Bekanntschaften  werden  erneuert, 
neue  geschlossen,  das  junge  Volk  lacht  und  schäkert  und  schwatzt 
in  einem  fort,  und  selbst  die  Alten,  die  von  ihren  lieben  Töchtern 
gewaltsam  überredet  wurden,  trotz  Gicht,  Podagra,  Erkältung  und 
Hypochondrie  das  Fest  mitzumachen,  werden  von  der  allgemeinen 
Lust  angesteckt  und  müssen  lustig  sein,  da  sie  doch  nun  einmal 
mitgegangen   sind.     Alles    bereitet   sich    zur    Pfingstfeier    vor    und 

Mayer,  Engels.    Ergänzungsband.  12 


lyS  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

würdiger  kann  ein  Fest,  das  von  allgemeiner  Ausgießung  des  hei- 
ligen Geistes  sich  herleitet,  nicht  gefeiert  werden,  als  durch  Hingabe 
an  den  göttlichen  Geist  der  Freude  und  des  Lebensgenusses,  dessen 
innersten  Kern  eben  der  Kunstgenuß  bildet.  Und  von  allen  Künsten 
eignet  sich  keine  so  sehr  dazu,  den  Mittelpunkt  eines  solchen  ge- 
selligen Provinziallandtages  zu  bilden,  wo  alle  Gebildeten  der  Um- 
gegend zu  gegenseitiger  Auffrischung  des  Lebensmutes  und  der 
jugendlichen  Fröhlichkeit  sich  zusammenfinden,  als  gerade  die 
Musik.  War  es  bei  den  Alten  die  komische  Darstellung,  der  Wett- 
eifer tragischer  Dichter,  was  bei  den  Panathenäen  und  Bakchos- 
festen  das  Volk  anzog,  so  kann  dem  bei  unseren  klimatischen  und 
sozialen  Verhältnissen  nur  die  Musik  entsprechen.  Denn  wie  uns 
die  bloß  gedruckte,  nicht  zum  Gehör  sprechende  Musik  keinen  Ge- 
nuß gewähren  kann,  so  blieb  den  Alten  die  Tragödie  tot  und  fremd, 
so  lange  sie  nicht  von  der  Th3rmele  und  Orchestra  durch  den  le- 
bendigen Mund  der  Schauspieler  redete.  Jetzt  hat  jede  Stadt  ihr 
Theater,  wo  allabendlich  gespielt  wird,  während  für  den  Hellenen 
nur  an  großen  Festen  die  Bühne  sich  belebte ;  jetzt  verbreitet  der 
Druck  jedes  neue  Drama  über  ganz  Deutschland,  während  bei  den 
Alten  nur  Wenige  das  geschriebene  Trauerspiel  zu  lesen  bekamen. 
Darum  kann  das  Drama  keinen  Mittelpunkt  großer  Versammlungen 
mehr  abgeben ;  eine  andere  Kunst  muß  aushelfen  und  das  kann  nur 
die  Musik;  denn  sie  allein  läßt  die  Mitwirkung  einer  großen  Menge 
zu  und  gewinnt  sogar  dadurch  an  Kraft  des  Ausdrucks  bedeutend ; 
sie  ist  die  einzige,  bei  der  der  Genuß  mit  der  lebendigen  Ausführung 
zusammenfällt,  und  deren  Wirkungskreis  an  Umfang  dem  des  an- 
tiken Dramas  entspricht.  Und  wohl  mag  der  Deutsche  die  Musik, 
in  der  er  König  ist  vor  allen  Völkern,  feiern  und  pflegen,  denn 
wie  es  nur  ihm  gelungen  ist,  das  Höchste  und  Heiligste,  das  innerste 
Geheimnis  des  menschlichen  Gemüts,  aus  seiner  verborgenen  Tiefe 
ans  Licht  zu  bringen  und  in  Tönen  auszusprechen,  so  ist  es  auch 
nur  ihm  gegeben,  die  Gewalt  der  Musik  ganz  zu  empfinden,  die 
Sprache  der  Instrumente  und  des  Gesanges  durch  und  durch  zu 
verstehen. 

Aber  die  Musik  ist  dabei  nicht  die  Hauptsache.  Was  denn  ? 
Nun,  das  Musikfest.  So  wenig  das  Zentrum  einen  Kreis  bildet  ohne 
Peripherie,  so  wenig  ist  die  Musik  dabei  irgend  etwas  ohne  das 
fröhliche,  gesellige  Leben,  das  die  Peripherie  zu  diesem  musika- 
lischen Zentrum  bildet.  Der  Rheinländer  ist  durch  und  durch  san- 
guinischer Natur ;  sein  Blut  rollt  so  leicht  durch  seine  Adern  wie 
frischgegorener  Rheinwein,  und  seine  Augen  sehen  immer  munter 
und  wohlgemut  in  die  Welt  hinaus.  Er  ist  das  Sonntagskind  unter 
den  Deutschen,  dem  die  Welt  immer  schöner  und  das  Leben  immer 


Tagebuch  eines  Hospitanten.  i^q 

heiterer  erscheint  als  den  übrigen ;  er  sitzt  lachend  und  schwatzend 
in  der  Rebenlaube  und  hat  beim  Becher  alle  seine  Sorgen  längst 
vergessen,  wenn  die  andern  erst  stundenlang  beraten,  ob  sie  hin- 
gehen und  desgleichen  tun  sollen  und  darüber  die  beste  Zeit  verstrei- 
chen lassen.  Das  ist  gewiß,  kein  Rheinländer  hat  sich  jemals  eine 
Gelegenheit  zum  Lebensgenüsse  vorübergehen  lassen,  oder  er  ist 
für  den  größten  Narren  gehalten  worden.  Dieses  leichte  Blut  er- 
hält den  Rheinländer  auch  noch  eine  lange  Zeit  jung,  wo  der  eigent- 
liche Norddeutsche  schon  seit  Jahren  ins  Philisterium  der  Gesetzt- 
heit und  Prosa  übergegangen  ist.  Der  Rheinländer  hat  all  sein 
Leben  lang  Spaß  an  lustigen,  übermütigen  Sireichen,  jugendlichen 
Schwänken  oder,  wie  die  weisen,  gesetzten  Leute  sagen,  an  tollen 
Narreteien  und  Verrücktheiten;  die  lustigsten  und  flottesten  Uni- 
versitäten sind  von  jeher  Bonn  und  Heidelberg  gewesen.  Und  selbst 
der  alte  Philister,  der  in  Müh  und  Arbeit,  in  der  Dürre  der  Alltäg- 
lichkeit versauert  ist,  mag  er  auch  frühmorgens  seine  Jungen  für 
ihre  mutwilligen  Spaße  abprügeln,  so  erzählt  er  ihnen  doch  abends 
beim  Schüppchen  behaglich  die  alten  Schnurren,  die  er  selbst  in 
seiner  Jugend  verübt  hat. 

Bei  diesem  ewig  heitern  Charakter  der  Rheinländer,  bei  einer 
so  offenen,  unbefangenen  Sorglosigkeit  ist  es  gar  nicht  zu  verwun- 
dern, daß  auf  dem  Musikfeste  fast  alle  mehr  wollen  als  hören  und 
sich  hören  lassen.  Das  ist  eine  Fröhlichkeit,  ein  bewegtes,  zwang- 
loses Leben,  eine  Frische  des  Genusses,  wie  man  sie  anderswo  large 
suchen  mag.  Lauter  heitere,  wohlwollende  Gesichter,  Freundschaft 
und  Herzlichkeit  für  alle,  die  an  der  allgemeinen  Lust  teilnehmen; 
wie  Stünden  verfliegen  die  drei  Festtage  unter  Trinken,  Singen  und 
Scherzen.  Und  am  Morgen  des  vierten  Tages,  wenn  die  ganze 
Freude  genossen  ist  und  geschieden  werden  muß,  freut  man  sich 
schon  wieder  in  der  Hoffnung  auf  das  nächste  Jahr,  verabredet  sich 
darauf  und  jeder  geht,  noch  imm.er  heiter  und  neu  belebt,  seines 
Weges  und  an  sein  alltäglich  Werk. 


Tagebuch  eines  Hospitanten. 
I. 

In  einer  Stadt  wie  Berlin  würde  der  Fremde  ein  wahres  Ver- 
brechen gegen  sich  selbst  und  den  guten  Geschmack  begehen,  wenn  er 
nicht  alle  Merkwürdigkeiten  in  Augenschein  nehmen  würde.  Und 
doch  geschieht  es  nur  zu  häufig,  daß  das  Allerbedeutendste  in  Ber- 
lin, das,  wodurch  die  preußische  Hauptstadt  sich  so  sehr  vor  allen 
anderen   auszeichnet,  von   Fremden  unbeachtet  bleibt;    ich   meine 

12* 


l8o  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

die  Universität.    Nicht  die  imposante  Fassade  am  Opernplatz,  nicht 
das  anatomische  und  mineralogische  Museum  meint'  ich,  sondern 
die  so  und  so  vielen   Hörsäle  mit  geistreichen  und  pedantischen 
Professoren,  mit  jungen  und  alten,   lustigen  und  ernsthaften  Stu- 
denten, mit  Füchsen  und  bemoosten  Häuptern,  Hörsäle,  in  denen 
Worte  gesprochen  sind  und  noch  täglich  gesprochen  v^rerden,  denen 
mit  der  Grenze  Preußens,  ja  des  deutschen  Sprachgebietes  kein  Ziel 
der  Verbreitung  gesetzt  ist.    Es  ist  der  Ruhm  der  Berliner  Univer- 
sität, daß  keine  so  sehr  wie  sie  in  der  Gedankenbewegung  der  Zeit 
steht  und  sich  so  zur  Arena  der  geistigen  Kämpfe  gemacht  hat. 
Wie   viele  andere    Universitäten,   Bonn,  Jena,   Gießen,  Greifswald 
ja    selbst    Leipzig,     Breslau    und    Heidelberg    haben    sich     diesen 
Kämpfen  entzogen  und  sind  in  jene  gelehrte  Apathie  versunken, 
die   von    jeher    das    Unglück    der    deutschen    Wissenschaft    war! 
Berlin  dagegen  zählt  Vertreter  aller  Richtungen  unter  seinen  aka- 
demischen   Lehrern   und   macht  dadurch   eine   lebendige    Polemik 
möglich,  die  dem  Studierenden  eine  leichte,  klare  Übersicht  über  die 
Tendenzen  der  Gegenwart  verschafft.    Unter  solchen   Umständen 
trieb  es  mich,  von  dem  jetzt  allgemein  gewordenen   Rechte  des 
Hospitierens  Gebrauch  zu  machen,  und  so  ging  ich  eines  Morgens, 
als  grade   das  Sommersemester   begann,   hinein.     Mehrere  hatten 
schon   angefangen   zu   lesen,  die   meisten   begannen   grade   heu<^e. 
Das  Interessanteste,  das  sich  mir  darbot,  war  die  Eröffnung  der 
Vorlesungen  von  Marheineke  über  die  Einführung  der  Hegeischen 
Philosophie   in  die   Theologie.     Überhaupt  hatten  die  ersten  Vor- 
lesungen der  hiesigen  Hegelianer  in  diesem  Semester  ein  ganz  be- 
sonderes Interesse,   weil  manche  schon  im  voraus  auf  direkte  Po- 
lemik   gegen    die    Schellingsche   Offenbarungsphilosophie    rechnen 
ließen,    von  den  anderen  aber    erwartet  wurde,   daß  sie  mit  einer 
Ehrenrettung   der   gekränkten    Manen   Hegels   nicht   zurückhalten 
würden.    Marheinekes  Kolleg  war  zu  augenscheinlich  gegen  Schel- 
ling  gerichtet,  um  nicht  eine  besondere  Aufmerksamkeit  auf  sich 
zu  ziehen.    Das  Auditorium  war  schon  lange  vor  seiner  Ankunft 
gefüllt,  junge  und  alte  Männer,  Studenten  und  Offiziere  und  wer 
weiß  was  sonst  noch  saßen  und  standen  dicht  aneinander  gedrängt. 
Endlich  tritt  er  ein ;  das  Sprechen  und  Summen  verstummt  auf  der 
Stelle,  die  Hüte  fliegen  wie  auf  Kommando  ab. 

Eine  feste,  kräftige  Gestalt,  ein  ernstes,  entschiedenes  Denker- 
antlitz, die  hohe  Stirn  umkränzt  von  Haaren,  die  in  der  sauren  Ar- 
beit der  Gedanken  ergraut  sind;  beim  Vortrage  selbst  ein  nobler 
Anstand,  nichts  von  dem  Gelehrten,  der  seine  Nase  in  dem  Hefte 
vergräbt,  aus  dem  er  liest,  nichts  von  theatralisch-gekünstelter 
Gestikulation;  jugendlich  aufrechte  Haltung,  das  Auge  fest  auf  der 


Tagebuch  eines  Hospitanten.  l8i 

Hörermenge  ruhend;  der  Vortrag  selbst  ruhig,  würdig,  langsam, 
aber  stets  fließend,  schmucklos  aber  unerschöpflich  an  schlagenden 
Gedanken,  von  denen  einer  den  andern  drängt  und  immer  noch 
schärfer  trifft,  als  der  vorhergehende.  Marheineke  imponiert  auf 
dem  Katheder  durch  die  Sicherheit,  die  unerschütterliche  Festig- 
keit und  Würde,  zugleich  aber  auch  durch  den  freien  Sinn,  der  aus 
seinem  ganzen  Wesen  hervorleuchtet."  Heute  aber  trat  er  in  einer 
ganz  eigenen  Stimmung  aufs  Katheder,  imponierte  seinen  Zuhörern 
auf  eine  noch  weit  mächtigere  Weise  als  sonst.  Hatte  er  ein  ganzes 
Semester  lang  die  unwürdigen  Äußerungen  Schellings  über  den 
toten  Hegel  und  seine  Philosophie  geduldig  ertragen,  hatte  er  die 
Vorträge  Schellings  bis  zu  Ende  ruhig  angehört  —  und  das  ist  für 
einen  Mann  wie  Marheineke  wahrlich  keine  Kleinigkeit  —  so  war 
nun  der  Moment  gekommen,  wo  er  den  Angriff  erwidern,  wo  er 
gegen  stolze  Worte  stolze  Gedanken  ins  Feld  führen  konnte.  Er 
begann  mit  allgemeinen  Bemerkungen,  in  denen  er  die  heutige 
Stellung  der  Philosophie  zur  Theologie  in  meisterhaften  Zügen 
schilderte,  erwähnte  Schleiermachers  anerkennend,  von  dessen  Schü- 
lern er  sagte,  sie  seien  durch  sein  zum  Denken  anregendes  Denken 
zur  Philosophie  geführt  worden,  und  diejenigen,  die  einen  andern 
Weg  eingeschlagen  hätten,  hätten  es  selbst  zu  büßen.  Allmählich 
ging  er  zu  Hegels  Philosophie  über,  und  trat  bald  in  eine  leicht  be- 
merkbare Beziehung  zu  Schelling.  ,, Hegel",  sagte  er,  ,, wollte  vor 
allem,  daß  man  sich  in  der  Philosophie  über  seine  eigene  Eitelkeit 
erhebe  und  sich  nicht  etwa  vorstelle,  als  habe  man  etwas  Beson- 
deres gedacht,  bei  dem  es  nun  sein  Bewenden  haben  könne ;  und 
na^mentlich  war  er  der  Mann  nicht,  der  mit  großen  Versprechungen 
und  blendenden  Worten  auftrat,  sondern  er  überließ  es  ruhig  der 
philosophischen  Tat,  für  ihn  zu  sprechen.  Er  ist  nie  der  miles  glo- 
riosus  in  der  Philosophie  gewesen,  der  von  sich  selbst  viel  Rühmens 
machte.  —  —  —  Jetzt  freilich  hält  sich  keiner  für  zu  unwissend 
und  zu  beschränkt,  um  über  ihn  und  seine  Philosophie  absprechen 
zu  können,  und  wer  eine  gründliche  Widerlegung  derselben  in  der 
Tasche  hätte,  würde  unfehlbar  sein  Glück  machen;  denn  wie  sehr 
man  sich  mit  einer  solchen  insinuieren  würde,  sieht  man  an  denen, 
welche  nur  versprechen,  sie  zu  widerlegen,  und  es  hintennach  nicht 
halten." 

Bei  diesen  letzten  Worten  brach  der  Beifall  des  Auditoriums, 
der  sich  bisher  schon  in  einzelnen  Zeichen  kund  getan,  in  eine 
stürmische  Akklamation  aus,  die,  in  einer  theologischen  Vorlesung 
neu,  den  Dozenten  sehr  frappierte  und  in  ihrer  frischen  Ursprüng- 
lichkeit merkwürdige  Vergleiche  zuließ  mit  dem  durch  Suscription 
mühsam  aufgebrachten,  dürren  Vivat  am  Schlüsse  der  von  Mar- 


l82  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841  — 1842. 

heineke  bekämpften  Vorlesungen.  Er  beschwichtigte  den  Zuruf 
durch  Handbewegung  und  fuhr  fort:  „Diese  erwünschte  Wider- 
legung ist  indes  noch  nicht  da  und  wird  auch  nicht  kommen,  so 
lange  noch  Gereiztheit,  Verstimmung,  Neid,  überhaupt  Leidenschaft 
an  der  Steile  der  ruhigen,  wissenschaftlichen  Prüfung  gegen  sie 
aufgewandt  werden;  so  lange  man  Gnostik  und  Phantastik  für 
hinreichend  hält,  um  den  philosophischen  Gedanken  vom  Thron 
zu  stürzen.  Die  erste  Bedingung  dieser  Widerlegung  ist  freilich 
die,  den  Gegner  richtig  zu  verstehen,  und  da  gleichen  freilich  man- 
che der  Feinde  Hegels  dem  Zwerge,  der  gegen  den  Riesen  kämpfte, 
und  dem  noch  bekannteren  Ritter,  der  sich  mit  den  Windmühlen 
herumschlug." 

Dies  ist  der  Hauptinhalt  der  ersten  Marheinekeschen  Vorlesung, 
soweit  er  das  größere  Publikum  interessieren  dürfte.  Marheineke 
hat  wiederum  gezeigt,  wie  mutig  und  unverdrossen  er  immer  auf 
dem  Kampfplatz  ist,  wenn  es  gilt,  die  Freiheit  der  Wissenschaft 
zu  verteidigen.  Er  steht  vermöge  seines  Charakters  und  seines 
Scharfsinns  weit  mehr  als  Nachfolger  Hegels  da  als  Gabler,  dem 
man  gewöhnlich  diesen  Titel  gibt.  Der  große  freie  Blick,  mit  dem 
Hegel  das  ganze  Gebiet  des  Denkens  überschaute,  und  die  Erschei- 
nungen des  Lebens  auffaßte,  ist  auch  Marheinekes  Erbteil.  Wer 
will  ihn  verdammen,  daß  er  seine  langjährige  Überzeugung,  seine 
mühsame  Errungenschaft  nicht  einem  Fortschritte  opfern  will, 
der  erst  seit  fünf  Jahren  ins  Leben  getreten  ist  ?  Marheineke  ist 
lange  genug  mit  der  Zeit  fortgeschritten,  um  zu  einem  wissenschaft- 
lichen Abschluß  berechtigt  zu  sein.  Es  ist  eine  große  Eigenschaft 
an  ihm,  daß  er  sich  selbst  mit  den  äußersten  Extremen  der  Philo- 
sophie auf  gleichem  Boden  weiß  und  ihre  Sache  zur  seinigen  macht, 
wie  er  dies  alle  Tage  seit  Leos  Hegelingen  und  bis  zu  Bruno  Bauers 
Entsetzung  getan  hat. 

Marheineke  wird  übrigens  diese  Vorlesungen  nach  dem  Schlüsse 
derselben  drucken  lassen. 

n. 

In  einem  geräumigen  Hörsaal  saßen  ein  paar  Studenten  zer- 
streut und  erwarteten  den  Dozenten.  Der  Anschlag  an  der  Türe 
zeigte  an,  daß  Professor  von  Henning  um  diese  Stunde  einen 
öffentlichen  Vortrag  über  preußische  Finanzverfassung  be- 
ginnen werde.  Der  durch  Bülow-Cummerow  an  die  Tagesordnung 
gebrachte  Gegenstand  sowie  der  Name  des  Dozenten,  eines  der  äl- 
teren Schüler  Hegels,  zog  mich  an,  und  es  wunderte  mich,  daß  sich 
nicht  mehr  Teilnahme  zu  finden  schien.  Henning  trat  ein,  ein  schlan- 
ker Mann  in  seinen  besten  „Jahren",  mit  dünnem  blondem  Haar, 


Tagebuch  eines  Hospitanten.  183 

und  begann  in  rasch  fließender,  vielleicht  etwas  zu  ausführlicher 
Rede  seinen  Gegenstand  darzustellen. 

,, Preußen",  sagte  er,  ,, zeichne  sich  vor  allen  Staaten  dadurch 
aus,  daß  seine  Finanzverfassung  durchaus  auf  dem  Grunde  der 
neueren  nationalökonomischen  Wissenschaft  erbaut  sei,  daß  es  den 
bis  jetzt  einzigen  Mut  gehabt  habe,  die  theoretischen  Resultate 
eines  Adam  Smith  und  seiner  Nachfolger  praktisch  durchzuführen. 
England  z.  B.,  von  dem  doch  die  neueren  Theorien  ausgegangen, 
stecke  noch  bis  über  die  Ohren  im  alten  Monopol-  und  Prohibitiv- 
system, Frankreich  fast  noch  mehr,  und  weder  Huskisson  in  jenem 
noch  Duchatel  in  diesem  Lande  habe  mit  seinen  vernünftigeren 
Ansichten  die  Privatinteressen  überwinden  können  —  von  Öster- 
reich und  Rußland  gar  nicht  zu  reden,  während  Preußen  das  Prin- 
zip des  freien  Handels  und  der  Gewerbefreiheit  entschieden  aner- 
kannt und  alle  Monopole  und  Prohibitivzölle  abgeschafft  habe.  So 
stelle  uns  diese  Seite  unserer  Verfassung  hoch  über  Staaten,  die  in 
anderer  Beziehung,  in  Entwicklung  der  politischen  Freiheit  uns 
weit  vorausgeeilt  seien.  Wenn  nun  unsere  Regierung  in  finanzieller 
Hinsicht  so  Außerordentliches  geleistet  habe,  so  sei  auf  der  andern 
Seite  auch  anzuerkennen,  daß  sie  ganz  besonders  günstige  Verhält- 
nisse zu  einer  solchen  Reform  vorgefunden.  Der  Schlag  von  1806 
habe  reines  Feld  geschaffen,  worauf  das  neue  Gebäude  aufgeführt 
werden  konnte;  eine  Repräsentativ-Verfassung,  in  der  sich  die  be- 
sonderen Interessen  hätten  geltend  gemacht,  habe  ihr  die  Hände 
nicht  gebunden.  Leider  aber  fänden  sich  immer  noch  alte  Herzen, 
die  in  ihrer  Beschränktheit  und  Grämlichkeit  das  Neue  bekrittelten 
und  ihm  den  Vorwurf  machten,  daß  es  unhistorisch,  aus  der  ab- 
strakten Theorie  heraus,  unpraktisch,  gewaltsam  konstruiert  sei; 
als  ob  seit  1806  die  Geschichte  aufgehört  habe  und  es  ein  Vorwurf 
für  die  Praxis  sei,  mit.  der  Theorie,  der  V/issenschaft  übereinzustim- 
men; als  ob  das  Wesen  der  Geschichte  der  Stillstand,  das  Drehen 
im  Kreise,  nicht  aber  der  Fortschritt  sei,  als  ob  es  überhaupt  eine 
von  aller  Theorie  bare  Praxis  gebe!" 

Es  wird  mir  erlaubt  sein,  diese  letzten  Punkte,  mit  denen  die 
öffentUche  Meinung  in  Deutschland  und  namentlich  in  Preußen 
sich  gewiß  einverstanden  erklären  wird,  näher  zu  betrachten;  es 
ist  sehr  an  der  Zeit,  dem  ewigen  Gerede  einer  gewissen  Partei 
von  ,, historischer,  organischer,  naturgemäßer  Entwicklung",  vom 
,, naturwüchsigen  Staat"  usw.  entschieden  entgegen  zu  treten  und 
vor  dem  Volke  jene  glänzenden  Gestalten  zu  entlarven.  Wenn  es 
Staaten  gibt,  die  allerdings  Rücksichten  auf  die  Vergangenheit  zu 
nehmen  haben  und  zu  einem  langsameren  Fortschritt  genötigt  sind, 
so   findet  dies    auf   Preußen  keine   Anwendung.    Preußen   kann 


184  -^^^  ^^^  Militärzeit  in  Berlin.     1841  — 1842. 

nicht  schnell  genug  fortschreiten,  sich  nicht  rasch  genug 
entwickeln.  Unsere  Vergangenheit  liegt  begraben  unter  den  Trüm- 
mern des  vor  jenaischen  Preußens,  ist  fortgeschwemmt  von  der  Flut 
der  napoleonischen  Invasion.  Was  fesselt  uns  ?  Wir  haben  nicht 
jene  mittelalterlichen  Klötze  mehr  an  den  Füßen  nachzuschleppen, 
die  so  manchen  Staat  am  Gehen  hindern ;  der  Schmutz  vergangener 
Jahrhunderte  klebt  nicht  mehr  an  unseren  Sohlen.  Wie  kann  man 
also  hier  von  historischer  Entwicklung  reden,  ohne  eine  Zurück- 
führung  ins  ancien  regime  im  Sinne  zu  haben  ?  Einen  Rückzug, 
der  der  schmählichste  sein  würde,  der  jemals  dagewesen  ist,  der 
die  glorreichsten  Jahre  aus  der  preußischen  Geschichte  aufs  feigste 
verleugnen  würde,  der  —  bev/ußt  oder  unbewußt  —  Verrat  am 
Vaterlande  wäre,  indem  er  wieder  eine  neue  Katastrophe  wie  die  von 
1806  nötig  machte.  Nein,  es  ist  sonnenklar,  daß  Preußens  Heil 
allein  in  der  Theorie,  der  Wissenschaft,  der  Entwicklung 
aus  dem  Geiste  liegt,  Oder,  um  es  von  einer  anderen  Seite  zu 
fassen,  Preußen  ist  kein  ,, naturwüchsiger",  sondern  ein  durch  Po- 
litik, durch  Zwecktätigkeit,  durch  den  Geist  entstandener  Staat. 
Man  hat  dies  neuerdings  von  französischer  Seite  her  als  die  größte 
Schwäche  unseres  Staates  darstellen  wollen ;  im  Gegenteil  ist  dieser 
Umstand,  wenn  er  nur  recht  benutzt  wird,  unsere  Hauptstärke.  So 
hoch  der  selbstbewußte  Geist  über  der  bewußtlosen  Natur  steht,  so 
hoch  kann  Preußen,  wenn  es  will,  sich  über  die  „naturwüchsigen" 
Staaten  stellen.  Weil  die  provinzielle  Verschiedenheit  in  Preußen 
so  groß  ist,  so  muß,  um  keinem  unrecht  zu  tun,  die  Verfassung 
rein  aus  dem  Gedanken  erwachsen ;  ein  allmähliches  Verschmel- 
zen der  verschiedenen  Provinzen  macht  sich  dann  von  selbst,  in- 
dem die  besonderen  Eigentümlichkeiten  sich  alle  in  die  höhere  Ein- 
heit des  freien  Staatsbewußtseins  auflösen,  während  sonst  ein  paar 
Jahrhunderte  nicht  hinreichen  würden,  um  die  innere  legislative 
und  nationale  Einheit  von  Preußen  hervorzubringen,  und  der 
erste  erschütternde  Stoß  für  den  inneren  Zusammenhalt  unseres 
Staats  Folgen  haben  müßle,  für  die  kein  Mensch  einstehen 
kann.  Den  andern  Staaten  ist  durch  einen  bestimmten  National- 
charakter der  Weg  vorgezeichnet,  den  sie  zu  nehmen  haben; 
wir  sind  frei  von  diesem  Zwange ;  wir  können  aus  uns  machen, 
was  wir  wollen ;  Preußen  kann  mit  Hintansetzung  aller  Rück- 
sichten rein  den  Eingebungen  der  Vernunft  folgen,  kann,  wie 
kein  anderer  Staat,  von  den  Erfahrungen  seiner  Nachbarn  lernen, 
kann,  und  das  tut  ihm  keiner  nach,  als  Musterstaat  für 
Europa  dastehen,  auf  der  Höhe  seiner  Zeit,  das  vollständige 
Staatsbewußtsein  seines  Jahrhunderts  in  seinen  Institutionen  dar- 
stellen. 


Glossen  und  Randzeichnungen  zu  Texten  aus  unsrer  Zeit.         igr 

Das  ist  unser  Beruf,  dazu  ist  Preußen  geschaffen.  Sollen  wir 
diese  Zukunft  um  ein  paar  hohle  Phrasen  einer  verlebten  Richtung 
verschachern?  Sollen  wir  der  Geschichte  selbst  nicht  hören,  die 
uns  den  Beruf  anweist,  die  Blüte  aller  Theorie  ins  Leben  hinüber- 
zuführen ?  Preußens  Basis,  ich  sage  es  noch  einmal,  sind  nicht 
die  Trümmer  vergangener  Jahrhunderte,  sondern  der  ewig  junge 
Geist,  der  in  der  Wissenschaft  zum  Bewußtsein  kommt  und  im  Staat 
seine  Freiheit  sich  selber  schafft.  Und  wenn  wir  vom  Geist  und 
seiner  Freiheit  ließen,  so  verleugneten  wir  uns  selbst,  so  verrieten 
wir  unser  heiligstes  Gut,  so  mordeten  wir  unsere  eigene  Lebens- 
kraft und  wären  nicht  wert,  länger  in  der  Reihe  der  europäischen 
Staaten  zu  stehen.  Dann  würde  die  Geschichte  mit  dem  furchtbaren 
Todesurteil  über  uns  kommen:  ,,Du  bist  gewogen  und  zu  leicht 
gefunden!" 

Glossen  und  Randzeichnungen  zu  Texten 
aus  unsrer  Zeit. 

Königsberg  in  Preußen  hat  sich  seit  mehreren  Jahren  zu  einer 
Bedeutsamkeit  erhoben,  die  für  ganz  Deutschland  erfreulich  sein 
muß.  Durch  die  Bundesakte  formell  von  Deutschland  ausgeschlos- 
sen, hat  sich  das  deutsche  Element  dort  zusammengerafft  und 
macht  Anspruch  darauf,  als  deutsch  anerkannt,  als  Vertreter  Deutsch- 
lands gegen  die  Barbarei  des  slawischen  Ostens  geachtet  zu  werden. 
Und  wahrlich,  die  Ostpreußen  konnten  Deutschlands  Bildung  und 
Nationalität  dem  Slawentum  gegenüber  nicht  besser  vertreten,  als 
sie  es  getan  haben.  Das  geistige  Leben,  der  politische  Sinn  haben 
sich  dort  zu  einer  Regsamkeit  alles  Treibens,  zu  einer  Höhe  und 
Freiheit  des  Standpunktes  aufgeschwungen,  wie  in  keiner  anderen 
Stadt.  Rosenkranz  vertritt  mit  der  Vielseitigkeit  und  Beweglich- 
keit seines  Geistes  die  deutsche  Philosophie  dort  auf  eine  erfreu- 
liche Weise,  und  wenn  er  auch  nicht  den  Mut  der  rücksichtslosen 
Folgerung  hat,  so  stellt  ihn  außer  seinen  Kenntnissen  und  seinem 
Talent  auch  noch  sein  feiner  Takt  und  seine  unbefangene  Auffassung 
sehr  hoch.  Jachm^ann  und  andere  besprechen  auf  freisinnige  Weise 
die  Fragen  des  Tages,  und  jetzt  eben  liegt  uns  in  dem  obigen  Heft 
ein  neuer  Beweis  vor,  welch  einen  hohen  Bildungsgrad  das  dortige 
Publikum  besitzt. 

Es  sind  vier,  vor  einem  großen  Auditorium  gehaltene  humo- 
ristische Vorlesungen,  über  aus  der  unmittelbaren,  lebendigen  Ge- 

^)  Vier  öffentliche  Vorlesungen,  gehalten  zu  Königsberg  von  Ludwig 
Walesrode.     Königsberg,  H.  L.  Voigt,   1842. 


l86  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

genwart  gegriffene  Stoffe,  die  der  talentvolle  Verfasser  hier  ver- 
einigt hat.  In  der  Tat  zeigt  sich  hier- eine  solche  Anlage  zum  Genre - 
malen,  eine  solche  Leichtigkeit,  Eleganz  und  Schärfe  der  Darstel- 
lung, ein  solch  sprühender  Witz,  daß  dem  Verfasser  eine  bedeutende 
Anlage  zum  Humoristen  nicht  abgesprochen  werden  kann.  Er  hat 
den  richtigen  Blick,  der  den  Zeitereignissen  gleich  die  günstige,  trak- 
table  Seite  abgewinnt,  und  weiß  seine  zahllosen  Beziehungen  und 
Anspielungen  auf  eine  so  feine  Art  anzubringen,  daß  der  Getroffene 
selbst  wird  lächeln  müssen;  dazu  drängt  eine  die  andere,  und  zu- 
letzt kann  keiner  auf  den  Spötter  eigentlich  böse  sein,  weil  alle 
etwas  mitbekommen  haben.  Die  erste  Vorlesung :  ,, Die  Masken  des 
Lebens",  führt  uns  München,  Berlin,  den  deutschen  Michel,  die 
Hohlheit  der  Adelsaristokratie,  die  Zerrissenheit  und  eine  Gesell- 
schaft deutscher  Celebritäten  vor. 

Die  zweite  Vorlesung,  „Unser  goldnes  Zeitalter",  verbreitet 
sich  in  derselben  leichten  Weise  über  die  Geldaristokratie ;  die  dritte, 
,, Literarisches  Don  Quixotes-Turnier",  geht  mit  eingelegter  Lanze 
auf  allerlei  Verkehrtheiten  der  Zeit  los,  zuerst  auf  den  deutschen 
politischen  Stil. 

Die  vierte  gibt  ,, Variationen  über  beliebte  Zeit-  und  National- 
melodien", worunter  sich  ein  ,, Ordenskapitel"  befindet. 

Walesrode  hat  durch  diese  vier  Vorträge  seine  Befähigung  zum 
Humoristen  dargetan.  Aber  damit  ist  es  nicht  genug.  Solche  S^'chen 
haben  einmal  das  Recht,  locker,  zersplittert,  einheitslos  sein  zu 
können,  wenn  sie  nur  ihren  Zweck  als  Vorlesungen  erfüllen;  der 
echte  Humorist  würde  noch  mehr,  als  Walesrode  es  getan  hat, 
den  Hintergrund  einer  positiven,  großen  Weltanschauung  hervor- 
gehoben haben,  in  der  sich  zuletzt  aller  Spott  und  alle  Negation 
zur  vollsten  Befriedigung  auflöst.  In  dieser  Beziehung  hat  Wales- 
rode durch  die  Herausgabe  des  obigen  Werkchens  eine  Pflicht  auf 
sich  genommen;  er  muß  die  Erwartungen,  die  er  hier  rege  gemacht 
hat,  sobald  wie  möglich  rechtfertigen,  und  beweisen,  daß  er  ebenso 
sich  konzentrieren,  seine  Anschauungen  zu  einem  Ganzen  ver- 
arbeiten kann,  wie  er  sie  hier  hat  auseinandergehen  lassen.  Und 
das  ist  um  so  nötiger,  als  er  eine  große  Verwandtschaft  mit  den 
Autoren  des  weiland  jungen  Deutschlands  durch  sein  Hervorgehen 
aus  Börne,  durch  seine  Auffassungsweise  und  seinen  Stil  bekundet; 
fast  alle  jener  Kategorie  angehörigen  Autoren  haben  indes  die  er- 
regten Erwartungen  nicht  gerechtfertigt  und  sind  in  eine  Erschlaf- 
fung versunken,  wie  sie  ein  fruchtloses  Streben  nach  innerer  Ein- 
heit zur  Folge  haben  mußte.  Die  Unfähigkeit,  etwas  Ganzes  zu 
liefern,  war  die  Klippe,  an  der  sie  scheiterten,  weil  sie  selbst  keine 
ganzen  Leute   waren.     Walesrode   läßt    indes  hier   und  da  einen 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  187 

höheren,  vollendeteren  Standpunkt  durchblicken  und  berechtigt  so 
zur  Anforderung,  seine  einzelnen  Urteile  untereinander  und  mit 
der  philosophischen  Höhe  der  Zeit  ins  Gleichgewicht  zu  bringen. 
Übrigens  wünschen  wir  ihm  Glück  zu  dem  Publikum,  das 
solche  Vorlesungen  zu  würdigen  verstand,  und  zu  dem  Zensor,  der 
sie  der  Öffentlichkeit  nicht  vorenthielt.  Wir  sind  der  Hoffnung,  daß 
eine  solche  Handhabung  der  Zensur,  wie  dies  Buch  sie  beweist,  alle 
andern  schwankenden  Prinzipien  in  derselben,  für  Preußen  wenig- 
stens, überwinden  und  sich  allgemeine  Geltung  verschaffen  werde ; 
daß  die  Zensur  überall  von  solchen  Männern  ausgeübt  werde,  wie 
es  in  Königsberg  geschieht,  wo,  wie  uns«r  Verfasser  sagt,  die  Zen- 
soren Männer  sind,  ,,die  das  gehässigste  aller  Ämter  mit  schmerzlicher 
Aufopferung  übernommen  haben,  um  es  nicht  in  die  Hände  Solcher 
übergehen  zu  lassen,  die  es  mit  Freuden  übernehmen  möchten". 

Alexander  Jung  und  das  Junge  Deutschland '). 

Je  erfreulicher  die  gewaltige  geistige  Bewegung  ist,  mit  wel- 
cher Königsberg  sich  in  den  Mittelpunkt  der  deutschen  politischen 
Entwicklung  zu  setzen  sucht,  je  freier  und  ausgebildeter  sich  dort 
die  öffentliche  Meinung  beweist,  um  so  seltsamer  erscheint  es,  daß 
an  eben  diesem  Orte  in  philosophischer  Beziehung  ein  gewisses 
Juste-Milieu  sich  geltend  zu  machen  sucht,  das  mit  der  Ma- 
jorität des  dortigen  Publikums  offenbar  in  Widerspruch  geraten 
muß.  Und  wenn  Rosenkranz  immer  noch  manche  respektable  Seite 
hat,  obwohl  auch  ihm  der  Mut  der  Konsequenz  abgeht,  so  tritt  die 
ganze  Schlaffheit  und  Erbärmlichkeit  des  philosophischen  Juste- 
Milieu  in  Herrn  Alexander  Jung  ans  Tageslicht. 

Es  gibt  bei  jeder  Bewegung,  bei  jedem  Ideenkampfe  eine  ge- 
wisse Art  verworrner  Köpfe,  die  sich  nur  im  Trüben  ganz  wohl 
befinden.  So  lange  die  Prinzipien  mit  sich  selbst  noch  nicht  im 
reinen  sind,  läßt  man  solche  Subjekte  mitlaufen;  solange  jeder 
nach  Klarheit  ringt,  ist  es  nicht  leicht,  ihre  prädestinierte  Unklar- 
heit zu  erkennen.  Wenn  aber  die  Elemente  sich  scheiden,  Prinzip 
gegen  Prinzip  steht,  dann  ist  es  an  der  Zeit,  jenen  Unbrauchbaren 
den  Abschied  zu  geben  und  sich  definitiv  mit  ihnen  ins  reine  zu 
setzen;  denn  dann  zeigt  sich  ihre  Hohlheit  auf  eine  erschreckende 
Weise. 

Zu  diesen  Leuten  gehört  auch  Herr  Alexander  Jung.  Sein 
obiges  Buch  bliebe  am  besten  ignoriert;  da  er  aber  außerdem  ein 


^)  Alexander  Jung,  Vorlesungen  über  die  moderne  Literatur  der  Deut- 
schen, Danzig  1842,  Gerhard. 


i88  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

„Königsberger  Literaturblatt"  herausgibt  und  seinen  langweiligen 
Positivismus  auch  hier  allwöchentlich  vors  Publikum  bringt,  so 
mögen  die  Leser  der  Jahrbücher  es  mir  verzeihen,  wenn  ich  ihn 
einmal  aufs  Korn  fasse  und  etwas  ausführlicher  charakterisiere. 

Zur  Zeit  des  weiland  jungen  Deutschlands  trat  er  mit  Briefen 
über  die  neueste  Literatur  auf.  Er  hatte  sich  der  Jüngern  Rich- 
tung angeschlossen  und  geriet  nun  mit  ihr  in  die  Opposition,  ohne 
daß  er  es  wollte.  Welche  Stellung  für  unsren  Vermittler!  Herr 
Alexander  Jung  auf  der  äußersten  Linken!  Man  kann  sich  die  Un- 
behaglichkeit,  in  der  er  sich  befand,  den  Schwall  von  Beschwich- 
tigungen, von  dem  er  sprudelte,  leicht  denken.  Nun  hatte  er  eine 
besondere  Passion  für  Gutzkow,  der  damals  für  den  Erzketzer  galt. 
Er  wollte  seinem  gepreßten  Herzen  Luft  machen,  aber  er  fürchtete 
sich,  er  wollte  nicht  anstoßen.  Wie  sollte  er  sich  helfen?  Er  fand 
ein  Mittelchen,  das  seiner  würdig  war.  Er  schrieb  eine  Apotheose 
Gutzkows  und  vermied  es,  seinen  Namen  darin  zu  nennen;  dann 
setzte  er  darüber:  ,, Fragmente  über  den  Ungenannten".  Wenn  Sie 
erlauben,  Herr  Alexander  Jung,  das  war  feig! 

Seitdem  trat  Jung  wieder  mit  einem  vermittelnden  und  ver- 
worrenen Buche  auf;  Königsberg  in  Preußen  und  die  Extreme  des 
dortigen  Pietismus.  Welch  ein  Titel  schon!  Den  Pietismus  selbst 
läßt  er  gelten,  aber  seine  Extreme  müssen  bekämpft  werden,  ebenso 
gut,  wie  jetzt  im  Königsberger  Literaturblatt  die  Extreme  der  jung- 
hegelschen  Richtung  bekämpft  werden,  wie  alle  Extreme  überhaupt 
vom  Übel  sind  und  nur  die  liebe  Vermittlung  und  Mäßigung  etwas 
taugt.  Als  wenn  nicht  die  Extreme  die  bloßen  Konsequenzen  wären! 
Übrigens  ist  das  Buch  seinerzeit  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  be- 
sprochen worden. 

Jetzt  kommt  er  mit  dem  obigen  Buch  heran  und  gießt  einen 
reichlichen  Eimer  voll  vager,  kritikloser  Behauptungen,  verworr- 
ner  Urteile,  hohler  Phrasen  und  lächerlich  beschränkter  Anschau- 
ungen vor  uns  aus.  Es  ist,  als  wenn  er  seit  seinen  ,, Briefen"  ge- 
schlafen hätte.  Rien  appris,  rien  oublie!  Das  junge  Deutschland 
ist  vorübergegangen,  die  junghegelsche  Schule  ist  gekommen, 
Strauß,  Feuerbach,  Bauer,  die  Jahrbücher  haben  die  allgemeine 
Aufmerksamkeit  auf  sich  gelenkt,  der  Kampf  der  Prinzipien  ist  in  der 
schönsten  Blüte,  es  handelt  sich  um  Leben  oder  Tod,  das  Christen- 
tum steht  auf  dem  Spiele,  die  politische  Bewegung  erfüllt  alles,  und 
der  gute  Jung  ist  noch  immer  des  naiven  Glaubens,  ,,die  Nation" 
habe  nichts  andres  zu  tun,  als  auf  ein  neues  Stück  von  Gutzkow, 
einen  versprochnen  Roman  von  Mundt,  eine  zu  erwartende  Bi- 
zarrer ie  von  Laube  gespannt  zu  sein.  Während  ganz  Deutschland 
widerhallt    vom    Kampfgeschrei,    während    die    neuen    Prinzipien 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  l8o 

zu  seinen  eignen  Füßen  debattiert  werden,  sitzt  Herr  Jung  in  seinem 
Kämmerlein,  kaut  an  der  Feder  und  grübelt  nach  über  den  Begriff 
des  ,, Modernen".  Er  hört  nichts,  er  sieht  nichts,  denn  er  steckt 
bis  über  die  Ohren  in  Bücher  ballen,  für  deren  Inhalt  sich  jetzt  kein 
Mensch  mehr  interessiert,  und  müht  sich  ab,  die  einzelnen  Stücke 
recht  ordentlich  und  nett  unter  Hegeische  Kategorien  zu  rangieren. 

Ans  Tor  seiner  Vorlesungen  stellt  er  als  Wache  den  Popanz 
des  ,, Modernen*'  auf.  Was  ist  das  ,, Moderne**?  Herr  Jung  sagt, 
als  Ausgangspunkte  dafür  setze  er  Byron  und  George  Sand  vor- 
aus, die  nächsten  prinzipiellen  Elemente  der  neuen  Weltzeit  seien 
für  Deutschland:  Hegel  und  die  Schriftsteller  der  sogenannten 
jungen  Literatur.  —  Was  dem  armen  Hegel  nicht  alles  zugeschoben 
wird!  Atheismus,  Alleinherrschaft  des  Selbstbewußtseins,  revolutio- 
näre Staatslehre,  und  jetzt  noch  das  junge  Deutschland.  Es  ist 
aber  geradezu  lächerlich,  Hegel  mit  einer  Koterie  in  Verbindung 
zu  bringen.  Weiß  denn  Herr  Jung  nicht,  daß  Gutzkow  von  jeher 
gegen  die  Hegeische  Philosophie  polemisiert  hat,  daß  Mundt  und 
Kühne  so  gut  wie  gar  nichts  von  der  Sache  verstehen,  daß  nament- 
lich Mundt  in  der  Madonna  und  sonst  das  verrückteste  Zeug,  die 
größten  Mißverständnisse  in  bezug  auf  Hegel  ausgesprochen  hat, 
und  jetzt  erklärter  Gegner  seiner  Lehre  ist?  Weiß  er  nicht,  daß 
Wienbarg  sich  ebenfalls  gegen  Hegel  aussprach  und  Laube  in  seiner 
Literaturgeschichte  Hegeische  Kategorien  fortwährend  falsch  ge- 
brauchte ? 

Jetzt  geht  Herr  Jung  an  den  Begriff  des  ,, Modernen"  und  quält 
sich  auf  sechs  Seiten  damit  herum,  ohne  ihn  zu  bewältigen.  Na- 
türlich! Als  ob  das  ,, Moderne**  jemals  ,,in  den  Begriff  erhoben 
werden*'  könne!  Als  ob  eine  so  vage,  gehaltlose,  unbestimmte 
Phrase,  die  von  oberflächlichen  Köpfen  in  gewisser  geheimnis- 
voller Weise  überall  vorgeschoben  wurde,  jemals  eine  philosophische 
Kategorie  werden  könne!  Welcher  Abstand  von  dem  ,, Modernen'* 
Heinrich  Laubes,  das  nach  aristokratischen  Salons  riecht  und  sich 
nur  in  Gestalt  eines  Dandy  verkörpert,  bis  zu  der  ,, modernen  Wis- 
senschaft" auf  dem  Titel  der  Straußschen  Glaubenslehre!  Das  hilft 
aber  alles  nicht,  Herr  A.  Jung  sieht  diesen  Titel  als  einen  Beweis 
an,  daß  Strauß  das  Moderne,  das  speziell  jungdeutsche  Moderne, 
als  eine  Macht  über  sich  anerkenne  und  bringt  ihn  flugs  mit  der 
jungen  Literatur  unter  einen  Hut.  Endlich  bestimmt  er  den  Begriff 
des  Modernen  als  die  Unabhängigkeit  des  Subjekts  von  jeder  bloß 
äußerlichen  Autorität.  Daß  das  Streben  danach  ein  Hauptmoment 
der  Zeitbewegung  sei,  haben  wir  längst  gewußt,  und  daß  die  ,, Mo- 
dernen" damit  zusammenhängen,  leugnet  keiner  ;  aber  es  zeigt  sich 
hier  recht  glänzend  die  Verkehrtheit,  mit  der  Herr  Jung  platterdings 


igo  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

einen  Teil  zum  Ganzen,  eine  überlebte  Durchgangsepoche  zur 
Blütezeit  erheben  will.  Das  junge  Deutschland  soll  nun  einmal, 
es  mag  biegen  oder  brechen,  zum  Träger  des  ganzen  Zeitinhalts 
gemacht  werden,  und  nebenbei  soll  Hegel  auch  noch  sein  Stück- 
chen abbekommen.  Man  sieht,  wie  Herr  Jung  bisher  in  zwei  Teile 
geteilt  war ;  in  der  einen  Herzkammer  trug  er  Hegel,  in  der  andern 
das  junge  Deutschland.  Jetzt,  als  er  diese  Vorlesungen  schrieb, 
mußte  er  diese  beiden  notwendig  in  Zusammenhang  bringen.  Wel- 
che Verlegenheit!  Die  linke  Hand  karessierte  die  Philosophie,  die 
rechte  die  oberflächliche,  schillernde  Unphilosophie,  und  auf  gut 
christlich  wußte  die  rechte  Hand  nicht,  was  die  linke  tat.  Wie  sollte 
er  sich  helfen?  Statt  ehrlich  zu  sein,  und  von  den  beiden  unver- 
einbaren Liebhabereien  die  eine  fallen  zu  lassen,  machte  er  eine 
kühne  Wendung  und  leitete  die  Unphilosophie  aus  der  Philoso- 
phie ab. 

Zu  diesem  Zwecke  'v^ird  der  arme  Hegel  auf  dreißig  Seiten 
beleuchtet.  Eine  schwülstige,  phrasenstrotzende  Apotheose  ergießt 
ihre  trübe  Flut  auf  das  Grab  des  großen  Mannes ;  sodann  plagt  sich 
Herr  Jung,  zu  beweisen,  daß  der  Grundzug  des  Hegeischen  System.s 
die  Behauptung  des  freien  Subjekts  gegen  die  Heteronomie  der 
starren  Objektivität  sei.  Man  braucht  aber  nicht  eben  bewandert 
im  Hegel  zu  sein,  um  zu  wissen,  daß  er  einen  weit  höheren  Stand- 
punkt in  Anspruch  nimmt,  den  der  Versöhnung  des  Subjekts  mit 
den  objektiven  Gewalten,  daß  er  einen  ungeheuren  Respekt  vor  der 
Objektivität  hatte,  die  Wirklichkeit,  das  Bestehende  weit  höher 
stellte,  als  die  subjektive  Vernunft  des  Einzelnen,  und  gerade  von 
diesem  verlangte,  die  objektive  Wirklichkeit  als  vernünftig  anzu- 
erkennen. Hegel  ist  nicht  der  Prophet  der  subjektiven  Autonomie, 
wie  Herr  Jung  meint  und  wie  sie  als  Willkür  im  jungen  Deutsch- 
land zutage  kommt,  Hegels  Prinzip  ist  auch  Heteronomie,  Unter- 
werfung des  Subjekts  unter  die  allgemeine  Vernunft.  Zuweilen  so- 
gar, z.  B.  in  der  Religionsphilosophie,  unter  die  allgemeine  Unver- 
nunft. Das,  was  Hegel  am  meisten  verachtete,  war  der  Verstand, 
und  was  ist  dieser  andres,  als  die  in  ihrer  Subjektivität  und  Ver- 
einzelung fixierte  Vernunft  ?  Nun  wird  mir  aber  Herr  Jung  ant- 
worten, so  habe  er  das  nicht  gemeint,  er  rede  nur  von  bloß  äußer- 
licher Autorität,  er  wolle  im  Hegel  auch  nichts  andres  sehen  als 
die  Vermittlung  beider  Seiten,  und  das  ,, moderne"  Individuum  wolle 
seiner  Ansicht  nach  weiter  nichts,  als  eben  sich  bedingt  sehen  nur 
,, durch  eigne  Einsicht  in  die  Vernünftigkeit  eines  Objektiven"  — 
dann  bitte  ich  mir  aber  auch  aus,  daß  er  mir  Hegel  nicht  mit  den 
Jungdeutschen  zusammen  bringt,  deren  Wesen  eben  die  subjektive 
Willkür,  die  Marotte,  das  Kuriosum  ist;  dann  ist  ,,das  moderne  In- 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  iqi 

dividuum"  nur  ein  andrer  Ausdruck  für  einen  Hegelianer.  Bei 
einer  so  grenzenlosen  Verwirrung  muß  Herr  Jung  denn  auch  das 
„Moderne"  innerhalb  der  Hegeischen  Schule  aufsuchen,  und  rich- 
tig ist  die  linke  Seite  dazu  vorzugsweise  berufen,  mit  den  Jung- 
deutschen zu  fraternisieren. 

Endlich  kommt  er  zur  , »modernen"  Literatur,  und  es  geht  jetzt 
eine  allgemeine  Anerkennung  und  Loberei  los.  Da  ist  keiner,  der 
nicht  irgend  etwas  Gutes  getan  hätte,  keiner,  der  nicht  ewas  Be- 
merkenswertes repräsentierte,  keiner,  dem  die  Literatur  nicht  ir- 
gend einen  Fortschritt  verdankte.  Dieses  ewige  Bekomplimentieren, 
dieses  Vermittlungsstreben,  diese  Wut,  den  literarischen  Kuppler 
und  Unterhändler  zu  spielen,  ist  unerträglich.  Was  geht  das  die 
Literatur  an,  ob  dieser  oder  jener  ein  bißchen  Talent  hat,  hier  und 
da  eine  Kleinigkeit  leistet,  wenn  er  sonst  nichts  taugt,  wenn  seine 
ganze  Richtung,  sein  literarischer  Charakter,  seine  Leistungen  im 
Großen  nichts  wert  sind  ?  In  der  Literatur  gilt  jeder  nicht  für  sich, 
sondern  nur  in  seiner  Stellung  zum  Ganzen.  Wenn  ich  mich  zu 
einer  solchen  Art  Kritik  hergeben  wollte,  so  müßte  ich  auch  mit 
Herrn  Jung  selbst  glimpflicher  verfahren,  weil  vielleicht  fünf  Seiten 
in  diesen  Buche  nicht  übel  geschrieben  sind  und  einiges  Talent  ver- 
raten. —  Eine  Masse  komischer  Aussprüche  fließen  Herrn  Jung 
mit  einer  großen  Leichtigkeit  und  einer  gewissen  Grandezza  aus 
der  Feder.  So,  von  den  scharfen  Abfertigungen  Pücklers  durch  die 
Kritik  sprechend,  freut  er  sich,  daß  diese  ,,ohne  Ansehen  der  Person 
und  des  Ranges  ihr  Urteil  fälle.  Es  zeugt  dieses  in  Wahrheit  von 
einem  hohen,  in  sich  selbst  unabhängigen  Standpunkt  deutscher 
Kritik."  Welch  eine  schlechte  Meinung  muß  Herr  Jung  von  der 
deutschen  Nation  haben,  daß  er  ihr  dergleichen  so  hoch  anrechnet! 
Als  ob  Wunders  welche  Kourage  dazu  gehörte,  die  Werke  eines 
Fürsten  zu  tadeln! 

Ich  übergehe  dies  Geschwätz,  das  den  Anspruch  macht,  Lite- 
raturgeschichte zu  sein,  und  außer  seiner  innern  Hohlheit  und 
Zusammenhangslosigkeit  auch  noch  grenzenlos  lückenhaft  ist;  so 
fehlen  die  Lyriker  Grün,  Lenau,  Freiligrath,  Herwegh,  so  die  Dra- 
matiker Rosen  [sie !]  und  Klein  usw.  Endlich  kommt  er  dahin ,  worauf 
er  von  vornherein  losgearbeitet  hat,  auf  sein  liebes  junges  Deutsch- 
land, das  für  ihn  die  Vollendung  des  ,, Modernen"  ist.  Er  beginnt 
mit  Börne.  In  Wahrheit  aber  ist  Börnes  Einfluß  auf  das  junge 
Deutschland  so  groß  nicht,  Mundt  und  Kühne  erklärten  ihn  für 
verrückt,  Laube'n  war  er  zu  demokratisch,  zu  entschieden,  und  nur 
bei  Gutzkow  und  Wienbarg  äußerten  sich  nachhaltigere  Wirkun- 
gen. Gutzkow  namentlich  verdankt  Börne 'n  sehr  viel.  Der  größte 
Einfluß,  den  Börne  gehabt  hat,  das  ist  jener  stille  auf  die  Nation, 


192  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

die  seine  Werke  als  ein  Heiligtum  bewahrt  und  sich  daran  gestärkt 
und  aufrecht  erhalten  hat  in  den  trüben  Zeiten  von  1832  bis  40, 
bis  die  wahren  Söhne  des  Pariser  Briefstellers  in  den  neuen,  philo- 
sophischen Liberalen  erstanden.  Ohne  die  direkte  und  indirekte 
Wirkung  Börnes  wäre  es  der  aus  Hegel  hervorgehenden  freien 
Richtung  weit  schwerer  geworden,  sich  zu  konstituieren.  Es  kam 
jetzt  aber  bloß  darauf  an,  die  verschütteten  Gedankenwege  zwi- 
schen Hegel  und  Börne  auszugraben,  und  das  war  so  schwer  nicht. 
Diese  beiden  Männer  standen  sich  näher  als  es  schien.  Die  Un- 
mittelbarkeit, die  gesunde  Anschauung  Börnes  erwies  sich  als  die 
praktische  Seite  dessen,  was  Hegel  theoretisch  wenigstens  in  Aus- 
sicht stellte.  Herr  Jung  sieht  das  natürlich  wieder  nicht  ein.  Börne 
ist  ihm  gewissermaßen  allerdings  ein  respektabler  Mann,  der  sogar 
Charakter  hatte,  was  unter  Umständen  gewiß  viel  wert  ist,  er  hat 
unleugbare  Verdienste,  wie  etwa  Varnhagen  und  Pückler  auch, 
und  hat  namentlich  gute  Theaterkritiken  geschrieben,  aber  er  war 
ein  Fanatiker  und  Terrorist,  und  davor  behüte  uns  der  liebe  Gott! 
Pfui  über  so  eine  schlaffe,  mattherzige  Auffassung  eines  Mannes, 
der  allein  durch  seine  Gesinnung  ein  Träger  seiner  Zeit  wurde! 
Dieser  Jung,  der  das  junge  Deutschland  und  sogar  die  Persönlich- 
keit Gutzkows  aus  dem  absoluten  Begriff  konstruieren  will,  ist 
nicht  einmal  imstande,  einen  so  einfachen  Charakter,  wie  Börne, 
zu  begreifen;  er  sieht  nicht  ein,  wie  notwendig,  wie  konsequent 
auch  die  extremsten,  radikalsten  Aussprüche  aus  Börnes  innerstem 
Wesen  hervorgehen,  daß  Börne  seiner  Natur  nach  Republikaner 
war  und  für  einen  solchen  die  Pariser  Briefe  wahrlich  nicht  zu 
stark  geschrieben  sind.  Oder  hat  Herr  Jung  nie  einen  Schweizer 
oder  Nordamerikaner  über  monarchische  Staaten  sprechen  hören  ? 
Und  wer  will  es  Börne 'n  zum  Vorwurf  machen,  daß  er  ,,das  Leben 
nur  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Politik  betrachtete"  ?  Tut  nicht 
Hegel  dasselbe  .'*  Ist  nicht  auch  ihm  der  Staat  in  seinem  Übergange 
zur  Weltgeschichte,  also  in  den  Verhältnissen  der  innern  und  äußern 
Politik,  die  konkrete  Realität  des  absoluten  Geistes  ?  Und  —  es 
ist  lächerlich  —  bei  dieser  unmittelbaren,  naiven  Anschauung 
Börnes,  die  in  der  erweiterten  Hegeischen  ihre  Ergänzung  findet 
und  oft  aufs  überraschendste  zu  ihr  stimmt,  meinte  Herr  Jung 
dennoch,  Börne  habe  sich  ,,ein  System  der  Politik  und  des  Völker - 
glucks  entworfen",  so  ein  abstraktes  Wolkengebilde,  aus  dem  man 
sich  seine  Einseitigkeiten  und  Verhärtungen  erklären  müsse!  Herr 
Jung  hat  keine  Ahnung  von  der  Bedeutung  Börnes,  von  seinem 
eisernen,  geschlossenen  Charakter,  von  seiner  imponierenden  Wil- 
lensfestigkeit; eben  weil  er  selbst  so  ein  gar  kleines,  weichherziges, 
unselbständiges  Allerweltsmännchen  ist.    Er  weiß  nicht,  daß  Börne 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  ig^ 

einzig  dasteht  als  Persönlichkeit  in  der  deutschen  Geschichte,  er 
weiß  nicht,  daß  Börne  der  Bannerträger  deutscher  Freiheit  war, 
der  einzige  Mann  in  Deutschland  zu  seiner  Zeit;  er  ahnt  nicht,  was 
es  heißt,  gegen  vierzig  Millionen  Deutsche  aufstehen  und  das  Reich 
der  Idee  proklamieren;  er  kann  es  nicht  begreifen,  daß  Börne  der 
Johannes  Baptista  der  neuen  Zeit  ist,  der  den  selbstzufriedenen 
Deutschen  von  der  Buße  predigt  und  ihnen  zuruft,  daß  die  Axt  schon 
an  der  Wurzel  des  Baumes  liege  und  der  Stärkere  kommen  wird, 
der  mit  Feuer  tauft  und  die  Spreu  unbarmherzig  von  der  Tenne 
fegt.  Zu  dieser  Spreu  darf  sich  auch  Herr  A.  Jung  rechnen.  End- 
lich kommt  Herr  Jung  zu  seinem  lieben  jungen  Deutschland  und 
beginnt  mit  einer  erträglichen,  aber  viel  zu  ausführlichen  Kritik 
Heines.  Die  übrigen  werden  sodann  nach  der  Reihe  durchgenom- 
men, zuerst  Laube,  Mundt,  Kühne,  sodann  Wienbarg,  dem  verdien- 
termaßen gehuldigt  wird,  und  endlich  auf  fast  fünfzig  Seiten 
Gutzkow.  Die  ersten  drei  verfallen  der  gewöhnlichen  Juste-Milieu- 
Huldigung,  viel  Anerkennung  und  sehr  bescheidener  Tadel;  Wien- 
barg wird  entschieden  hervorgehoben,  aber  kaum  auf  vier  Seiten, 
und  Gutzkow  endlich  mit  einer  unverschämten  Unterwürfigkeit 
zum  Träger  des  ,, Modernen"  gemacht,  nach  dem  Hegeischen  Be- 
griffsschema konstruiert  und  als  Persönlichkeit  ersten  Ranges  be- 
handelt. 

Wäre  es  ein  junger,  sich  erst  entwickelnder  Autor,  der  mit 
solchen  Urteilen  aufträte,  man  ließe  sich  das  gefallen;  es  gibt 
manchen,  der  eine  Zeitlang  Hoffnungen  auf  die  junge  Literatur 
gesetzt  und  im  Hinblick  auf  eine  erwartete  Zukunft  ihre  Werke 
nachsichtiger  betrachtet  hat,  als  er  es  sonst  vor  sich  selbst  verant- 
worten konnte.  Namentlich  wer  die  jüngsten  Entwicklungsstufen 
des  deutschen  Geistes  in  seinem  eigenen  Bewußtsein  reproduziert 
hat,  wird  irgend  einmal  mit  Vorliebe  auf  die  Produktionen  Mundts, 
Laubes  oder  Gutzkows  geblickt  haben.  Aber  der  Fortschritt  über 
diese  Richtung  hinaus  hat  sich  seitdem  viel  zu  energisch  geltend 
gemacht,  und  die  Gehaltlosigkeit  der  meisten  Jungdeutschen  ist  auf 
eine  erschreckende  Weise  offenbar  geworden. 

Das  junge  Deutschland  rang  sich  aus  der  Unklarheit  einer  be- 
wegten Zeit  empor  und  blieb  selbst  noch  mit  dieser  Unklarheit  be- 
haftet. Gedanken,  die  damals  noch  formlos  und  unentwickelt  in 
den  Köpfen  goren,  die  später  erst  durch  Vermittlung  der  Philo- 
sophie zum  Bewußtsein  kamen,  wurden  vom  jungen  Deutschland 
zum  Spiel  der  Phantasie  benutzt.  Daher  die  Unbestimmtheit,  die 
Verwirrung  der  Begriffe, die  unter  den  Jungdeutschen  selbst  herrschte. 
Gutzkow  und  Wienbarg  wußten  noch  am  meisten,  was  sie  wollten, 
Laube  am  wenigsten.    Mundt  lief  sozialen  Marotten  nach,  Kühne, 

Mayer,  Engels.     ErgaazuQgäbaml.  13 


IQA  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

in  dem  etwas  Hegel  spukte,  schematisierte  und  klassifizierte.  Aber 
bei  der  allgemeinen  Unklarheit  konnte  nichts  Rechtes  zutage  kom- 
men. Der  Gedanke  von  der  Berechtigung  der  Sinnlichkeit  wurde 
nach  Heines  Vorgang  roh  und  flach  gefaßt,  die  politisch -libe- 
ralen Prinzipien  waren  nach  den  Persönlichkeiten  verschieden,  und 
die  Stellung  des  Weibes  gab  zu  den  fruchtlosesten  und  konfusesten 
Diskussionen  Anlaß.  Keiner  wußte,  woran  er  mit  dem  andern  war. 
Auf  die  allgemeine  Verwirrung  der  Zeit  müssen  auch  die  Maß- 
regeln der  verschiedenen  Regierungen  gegen  diese  Leute  geschoben 
werden.  Die  phantastische  Form,  in  der  jene  Vorstellungen  pro- 
pagiert wurden,  konnte  nur  dazu  beitragen,  jenen  wirren  Zustand 
zu  vermehren.  Durch  das  glänzende  Exterieur  der  jungdeutschen 
Schriften,  die  geistreiche,  pikante,  lebendige  Schreibart  derselben, 
die  geheimnisvolle  Mystik,  mit  welcher  die  Hauptschlagwörter  um- 
geben waren,  sowie  durch  die  Regeneration  der  Kritik  und  die  Be- 
lebung der  belletristischen  Zeitschriften,  die  von  ihnen  ausging, 
zogen  sie  bald  jüngere  Schriftsteller  in  Masse  an  sich,  und  es  dauerte 
nicht  lange,  so  hatte  jeder  von  ihnen,  mit  Ausnahme  V/ienbargs, 
seinen  Hof.  Die  alte  schlaffe  Belletristik  mußte  dem  jungen  An- 
dränge weichen,  und  die  ,, junge  Literatur"  nahm  das  eroberte  Feld 
in  Besitz,  teilte  sich  darein  und  —  zerfiel  in  sich  selbst  über  der 
Teilung.  Hier  kam  die  Unzulänglichkeit  des  Prinzips  zum  Vor- 
schein. Jeder  hatte  sich  im  andern  getäuscht.  Die  Prinzipien  ver- 
schwanden, es  handelte  sich  nur  noch  um  Persönlichkeiten.  Gutz- 
kow oder  Mundt,  das  war  die  Frage.  Cliquenwesen,  Häkeleien, 
Streitigkeiten  um  nichts  und  wieder  nichts  begannen  die  Journale 
zu  füllen. 

Der  leichte  Sieg  hatte  die  jungen  Herren  übermütig  und  eitel 
gemacht.  Sie  hielten  sich  für  welthistorische  Charaktere.  Wo  ein 
junger  Schriftsteller  auftrat,  gleich  wurde  ihm  die  Pistole  auf  die 
Brust  gesetzt  und  unbedingte  Unterwerfung  gefordert.  Jeder  machte 
den  Anspruch,  exklusiver  Literaturgott  zu  sein.  Du  sollst  keine 
andern  Götter  haben  neben  mir!  Der  geringste  Tadel  erregte  töd- 
liche Feindschaften.  Auf  diese  Weise  verlor  die  Richtung  allen 
geistigen  Inhalt,  den  sie  noch  etwa  gehabt  hatte,  und  sank  in  den 
reinen  Skandal  herab,  der  in  Heines  Buch  über  Börne  kulminierte 
und  in  infame  Gemeinheit  überging.  Von  den  einzelnen  Persön- 
lichkeiten ist  Wienbarg  unbedingt  die  nobelste;  ein  ganzer,  kräf- 
tiger Mann,  eine  Statue  von  hellglänzendem  Erz  aus  einem  Gusse, 
daran  kein  Rostfleck  ist.  Gutzkow  ist  der  Klarste,  Verständigste; 
er  hat  am  meisten  produziert  und  neben  Wienbarg  auch  die  ent- 
schiedensten Zeugnisse  seiner  Gesinnung  gegeben.  Will  er  auf  dem 
dramatischen  Gebiet  bleiben,  so  sorge  er  indes  für  bessere,  ideen- 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  i^^ 

vollere  Stoffe,  als  er  sie  bisher  gewählt  hat,  und  schreibe  statt  aus 
dem  ,, modernen"  aus  dem  wirklichen  Geist  der  Gegenwart  heraus. 
Wir  verlangen  mehr  Gedankengehalt  als  die  liberalen  Phrasen  des 
Patkul  oder  die  weiche  Empfindsamkeit  des  Werner.  Wozu  Gutz- 
kow viel  Talent  hat,  ist  die  Publizistik;  er  ist  ein  geborener  Journa- 
list, aber  er  kann  sich  nur  durch  ein  Mittel  halten,  wenn  er  sich 
die  neuesten  religions-  und  staatsphilosophischen  Entwicklungen 
aneignet  und  seinen  Telegraphen,  den  er,  wie  es  heißt,  wieder  auf- 
erstehen lassen  will,  der  großen  Zeitbewegung  unbedingt  widmet. 
Läßt  er  aber  die  entartete  Belle tristerei  seiner  Herr  werden,  so  wird 
er  nicht  besser  werden  als  die  übrigen  schönwissenschaftlichen 
Journale,  die  nicht  Fisch  und  nicht  Fleisch  sind,  von  langweiligen 
Novellen  strotzen,  kaum  durchblättert  werden  und  überhaupt  an 
Gehalt  und  in  der  Achtung  des  Publikums  mehr  als  je  gesunken 
sind.  Ihre  Zeit  ist  vorbei,  sie  lösen  sich  alimählich  in  die  politischen 
Zeitungen  auf,  die  das  bißchen  Literatur  noch  ganz  gut  mit  ab- 
fertigen können. 

Laube  ist  bei  allen  seinen  schlechten  Eigenschaften  doch  noch 
gewissermaßen  liebenswürdig;  aber  seine  unordentliche,  prinzip- 
lose Schreiberei,  heute  Romane,  morgen  Literaturgeschichte,  über- 
morgen Kritiken,  Dramen  usw.,  seine  Eitelkeit  und  Flachheit  läßt 
ihn  nicht  aufkommen.  Den  Mut  der  Freiheit  hat  er  ebenso  wenig 
als  Kühne.  Die  ,, Tendenzen"  der  weiland  ,, jungen  Literatur"  sind 
längst  vergessen,  das  leere,  abstrakte  Literaturinteresse  hat  beide 
ganz  in  Anspruch  genommen.  Dagegen  ist  die  Indifferenz  bei  Heine 
und  Mundt  zur  offenen  Apostasie  geworden.  Heines  Buch  über 
Börne  ist  das  Nichtswürdigste,  was  jemals  in  deutscher  Sprache 
geschrieben  wurde ;  Mundts  neueste  Tätigkeit  im  Piloten  nimmt 
dem  Verfasser  der  ,, Madonna"  die  letzte  Spur  von  Achtung  in  den 
Augen  der  Nation.  Man  weiß  hier  in  Berlin  nur  zu  gut,  was  Herr 
Mundt  mit  einer  solchen  Selbstentwürdigung  bezweckt,  nämlich 
eine  Professur ;  um  so  ekelerregender  ist  diese  plötzlich  in  Herrn 
Mundt  gefahrene  Untertänigkeit.  Herr  Mimdt  und  sein  Waffen- 
träger F.  Radewell  mögen  nur  fortfahren,  die  neuere  Philosophie  zu 
verdächtigen,  den  Notanker  der  Schellingschen  Offenbarung  zu  er- 
greifen und  sich  durch  ihre  unsinnigen  Versuche,  selbst  zu  philo- 
sophieren, vor  der  Nation  lächerlich  zu  machen.  Die  freie  Philo- 
sophie kann  ihre  philosophischen  Schülerarbeiten  ruhig  und  un- 
widerlegt  in  die  Welt  gehen  lassen ;  sie  zerfallen  in  sich  selbst.  Was 
den  Namen  des  Herrn  Mundt  an  der  Stirn  trägt,  ist,  wie  die  Werke 
Leos,  mit  dem  Malzeichen  der  Apostasie  gebrandmarkt.  Vielleicht  be- 
kommt er  an  Herrn  Jung  bald  einen  neuen  Hintersassen  ;  er  läßt  sich 
bereits  gut  an,  wie  wir  gesehen  haben  und  noch  weiter  sehen  werden. 

13* 


iq6  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Nachdem  Herr  Jung  nun  den  eigentlichen  Zweck  seiner  Vor- 
lesungen hinter  sich  hat,  drängt  es  ihn  gewaltig,  sich  zum  Schluß 
noch  einmal  recht  dem  Gelächter  der  Nation  preiszugeben.  Er  geht 
von  Gutzkow  auf  David  Strauß  über,  schreibt  ihm  das  eminente 
Verdienst  zu,  ,,die  Resultate  von  Hegel  und  Schleiermacher  und 
des  modernen  Stils"  (ist  das  etwa  moderner  Stil  ?)  in  sich  zusammen- 
gezogen zu  haben,  klagt  dabei  aber  entsetzlich  über  die  greuliche, 
ewige  Negation.  Ja,  die  Negation,  die  Negation!  Die  armen  Posi- 
tivisten  und  die  Juste -Milieu -Leute  sehen  die  negative  Flut  immer 
höher  und  höher  schwellen,  klammern  sich  fest  aneinander  und 
schreien  nach  etwas  Positivem.  Da  jammert  nun  so  ein  Alexander 
Jung  über  die  ewige  Bewegung  der  Weltgeschichte,  nennt  den 
Fortschritt  Negation  und  spreizt  sich  zuletzt  zum  falschen  Pro- 
pheten auf,  der  ,,eine  große  positive  Geburt"  weissagt;  die  er  mit 
den  verschrobensten  Phrasen  im  voraus  beschreibt,  und  die  Strauß, 
Feuerbach  und  was  damit  zusammenhängt,  mit  dem  Schwerte  des 
Herrn  besiegen  werde.  Auch  in  seinem  Literaturblatt  predigt  er 
das  Wort  vom  neuen  ,, positiven**  Messias.  Kann  es  etwas  Unphilo- 
sophischeres geben  als  ein  so  unverholnes  Mißvergnügen,  eine  so 
offne  Unbefriedigung  in  der  Gegenwart  ?  Kann  man  sich  weibi- 
scher imd  kraftloser  betragen,  als  es  Herr  A.  Jung  tut?  Kann  man 
sich  eine  ärgere  Phantasterei  denken  —  die  neuschellingsche  Scho- 
lastik ausgenommen  —  als  diesen  frommen  Glauben  an  den  , »po- 
sitiven Messias**?  Wann  gab  es  eine  größere  —  und  leider  auch 
verbreite tere  Verwirrung  als  diejenige,  welche  jetzt  in  Beziehung 
auf  die  Begriffe  ,, positiv  und  negativ**  herrscht  ?  Man  gebe  sich  nur 
einmal  die  Mühe,  die  verschriene  Negation  näher  anzusehen,  und 
man  wird  finden,  daß  sie  durch  und  durch  selbst  Position  ist.  Für 
diejenigen  freilich,  die  das  Vernünftige,  den  Gedanken,  weil  er  nicht 
still  steht,  sondern  sich  bewegt,  für  nicht  positiv  erklären,  und 
deren  kraftloses  Efeugemüt  einer  alten  Mauerruine,  eines  Fak- 
tums bedarf,  um  sich  an  ihm  zu  halten,  für  sie  ist  freilich  aller 
Fortschritt  Negation.  In  Wahrheit  aber  ist  der  Gedanke  in  seiner 
Entwicklung  das  allein  Ewige  und  Positive,  während  die  Faktizität, 
die  Äußerlichkeit  des  Geschehens  eben  das  Negative,  Verschwindende 
und  der   Kritik  Anheimfallende  ist. 

,,Wer  aber  wird  der  Geber  dieses  unendlichen,  in  unserer  Nähe 
weilenden  Schatzes  sein  ?**  fährt  Herr  Jung  mit  gesteigertem  Pathos 
fort.  Ja,  wer  wird  der  Messias  sein,  der  die  schwachen,  zagenden 
Seelen  aus  dem  Exil  der  Negation,  aus  der  finstern  Nacht  der  Ver- 
zweiflung zurückführen  wird  in  das  Land,  da  Milch  und  Honig 
fließt?  ,,0b  Schelling?  —  —  —  Große,  heilige  Hoffnungen  setzen 
wir  auf  Schelling,  eben  weil  er  so  lange  der  Einsamkeit  vertraut, 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland,  igy 

eben  weil  er  jenen  Ruhesitz  am  Urquelle  des  Denkens  und  Schaf- 
fens entdeckt  hat,  jenen  Herrschersitz,  welcher  die  Zeit  aufhören 
macht,  Zeit  zusein!"  usw.    Ja,  so  spricht  ein  Hegelianer,  und  weiter 
(Königsberger    Literaturblatt    Nr.  4):    ,,^ir    versprechen    uns    von 
Schelling  außerordentlich  viel.    Schelling  wird,  hoffen  wir,  mit  der- 
selben Leuchte  eines  nie  gesehenen,  neuen  Lichtes  durch  die  Ge- 
schichte schreiten,  wie  er  einst  durch  die  Natur  geschritten  ist"  usw. 
Sodann  Nr.  7  eine  Huldigung  für  den  unbekannten  Gott  Schellings. 
Die  Philosophie  der  Mythologie  und  der  Offenbarung  wird  als  not- 
wendig konstruiert,  und  Herr  Jung  ist  selig  in  dem  Bewußtsein, 
Schellings,  des  großen  Schelling  Gedankenbahnen  auch  schon  von 
Ferne  mit  seinem  begeisterten  Auge  nachahmen  zu  können.    Solch 
ein  markloser,  sehnsüchtiger  Geist  ist  dieser  Jung,  daß  er  nur  in 
der  Hingebung  an  einen  andern,  in  der  Unterwerfung  unter  fremde 
Autorität  sich  befriedigt  findet.    Keine  Ahnung  von  Selbständigkeit 
ist  bei  ihm  zu  finden;  sowie  ihm  der  Halt  genommen  wird,  den  er 
umfaßt,  knickt  er  in  sich  selbst  zusammen  und  weint  helle  Tränen 
der  Sehnsucht.    Sogar  an  etwas,  was  er  noch  nicht  kennt,  wirft  er 
sich  weg,  und   trotz  der   ziemlich    genauen   Nachrichten,  die  man 
schon   vor   Schellings   Auftreten    in   Berlin   über  seine   Philosophie 
und  den  speziellen  Inhalt  seiner  Vorlesungen  hatte,  kennt  Herr  Jung 
keine  größere  Seligkeit,  als  zu  Schellings  Füßen  im  Staube  zu  sitzen. 
Er  weiß  nicht,  wie  Schelling  sich  in  der  Vorrede  zu  dem  Cousinschen 
Werk  über  Hegel  ausgesprochen  hat,  oder  vielmehr  er  weiß  es  wohl, 
und  dennoch  wagt  er,  ein  Hegelianer,   sich  an  Schelling  wegzu- 
schenken, wagt  es,  nach  solchen  Antecedentien  den  Namen  Hegels 
noch  in  den  Mund  zu  nehmen,  auf  ihn  gegen  die  neuesten  Entwick- 
lungen   zu   provozieren!      Und   um  seiner   Selbstentwürdigung  die 
Krone  aufzusetzen,  fällt  er  in  Nr.  13  nochmals  anbetend  vor  Schel- 
ling nieder,  der  ersten  Vorlesung  desselben  den  Weihrauch  seiner 
ganzen  Bewunderung  und  Proskynese  zollend.    Ja,  er  findet  es  hier 
alles  bestätigt,  was  er  von  Schelling  ,, nicht  bloß  voraussetzte,  son- 
dern wußte,  jene  wunderbar  frische,  jene  auch  der  Form  nach  voll- 
endete Durchdringung  aller  wissenschaftlichen,  künstlerischen  und 
sittlichen    Elemente,   welche    in   solcher    Vereinigung    antiker    und 
christlicher  Welt  den  so  Verherrlichten  zu  einem  ganz  andern  Prie- 
ster  des    Höchsten   und   seiner    Offenbarung   weihen    mag,   als   es 
Priestern   niedern   Grades   und    Laien    auch   nur   einfallen   kann." 
Freilich  werden  einige  so  verworfen  sein,  ,,daß  sie  aus  Neid  sogar 
die  Größe  wegleugnen,  welche  sich  hier  rein  und  klar,  wie  das  Licht 
der  Sonne,  jedem  offenbart".  ,,Die  ganze  Größe  Schellings,  die  Über- 
legenheit über  alles  Ausgezeichnete  bloß  einseitiger  Richtungen  strahlt 
uns  aus  seiner  ersten  Vorlesung   herrlich   entgegen."   —    —   »Vv^er 


198  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

so  anfangen  kann,  der  muß  gewaltig  fortfahren,  muß  als  Sieger 
enden,  und  wenn  sie  alle  ermüden,  weil  sie  alle,  solchen  Fluges  un- 
gewohnt, sinken,  und  keiner  mehr  zu  folgen,  zu  verstehen  vermag, 
was  Du  von  Ur  an  Begeisterter  sprichst,  so  lauschen  Dir  sicher  die 
Manen  des  mit  Dir  Ebenbürtigen,  des  treuesten,  des  herrlichsten 
Deiner  Freunde,  es  lauschen  Dir  die  Manen  des  alten  Hegel!   ^" 

Was  mag  Herr  Jung  dabei  sich  vorgestellt  haben,  als  er  diesen 
Enthusiasmus  ins  Blaue,  diese  romantische  Schwebelei  zu  Papier 
brachte!  Was  wenigstens  hier  in  Berlin  jeder  im  voraus  wußte  oder 
mit  Sicherheit  schließen  konnte,  davon  ahnt  unser  frommer  „Priester" 
nichts.  Was  aber  jener  ,, Priester  des  Höchsten"  uns  für  ,, Offen- 
barungen" gepredigt,  worin  die  ,, Größe",  der  ,, Beruf,  der  Mensch- 
heit das  Höchste  zu  enthüllen",  der  , »gewaltige  Flug"  bestanden, 
wie  Schelling  „als  Sieger  geendigt"  hat,  das  weiß  jetzt  alle  Welt;  in 
dem  Schriftchen:  „Schelling  und  die  Offenbarung",  als  dessen  Ver- 
fasser ich  mich  hiermit  bekenne,  habe  ich  den  Inhalt  der  neuen 
Offenbarung  in  durchaus  objektiver  Weise  dargelegt.  Herr  Jung 
möge  die  Erfüllung  seiner  Hoffnungen  daran  nachweisen  oder  we- 
nigstens die  Aufrichtigkeit  und  den  —  Mut  haben,  seinen  glänzen- 
den Irrtum  einzugestehen. 

Ohne  mich  auf  die  Kritik  Sealsfields,  mit  der  Herr  Jung  sein 
Buch  schließt,  weiter  einzulassen,  da  ich  vom  belletristischen  Felde 
doch  schon  weit  genug  entfernt  bin,  will  ich  zum  Schlüsse  noch 
auf  einige  Stellen  des  ,, Königsberger  Literatur blatts"  eingehen,  um 
auch  hier  die  Mattherzigkeit  und  marklose  Aufgedunsenheit  Herrn 
Jungs  nachzuweisen.  Gleich  in  Nr.  i  wird,  jedoch  sehr  zurückhal- 
tend, auf  Feuerbachs  Wesen  des  Christentums  hingewiesen,  in 
Nr.  2  die  Negationstheorie  der  Jahrbücher  angegriffen,  jedoch  noch 
mit  Respekt,  in  Nr.  3  wird  Herbarten  gehuldigt,  wie  vorhin  Schel- 
lingen, in  Nr.  4  allen  beiden  und  zugleich  noch  eine  Verwahrung 
gegen  den  Radikalismus  ausgesprochen,  in  Nr.  8  beginnt  eine  aus- 
führliche Kritik  des  Feuerbachschen  Buchs,  in  der  die  Halbheit 
des  Juste-Milieu  ihre  Überlegenheit  über  den  entschiedenen  Radi- 
kalismus geltend  machen  will.  Und  was  sind  die  schlagenden  Ar- 
gumente, die  hier  aufgewandt  werden?  Feuerbach,  sagt  Herr  Jung, 
hätte  ganz  recht,  wenn  die  Erde  das  ganze  Universum  wäre ;  vom 
irdischen  Standpunkte  aus  ist  sein  ganzes  Werk  schön,  schlagend, 
vortrefflich,  unwiderleglich;  aber  vom  universalen,  vom  Welt- 
gesichtspunkt aus  ist  es  nichtig.  Schöne  Theorie!  Als  ob  auf  dem 
Monde  zwei  mal  zwei  fünf  wäre,  als  ob  auf  der  Venus  die  Steine 
lebendig  herumliefen  und  auf  der  Sonne  die  Pflanzen  sprechen 
könnten!  Als  ob  jenseits  der  Erdatmosphäre  eine  aparte,  neue 
Vernunft  anfinge  und  der  Geist  nach  der  Entfernung  von  der  Sonne 


Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  igo 

gemessen  würde!  Als  ob  das  Selbstbewußtsein,  zu  dem  die  Erde 
in  der  Menschheit  kommt,  nicht  in  demselben  Augenblick  Welt- 
bewußtsein würde,  in  welchem  es  seine  Stellung  als  Moment  des- 
selben erkennt!  Als  ob  ein  solcher  Einwand  nicht  nur  ein  Vorwand 
wäre,  um  die  fatale  Antwort  auf  die  alte  Frage  hinauszuschieben 
in  die  schlechte  Endlosigkeit  des  Raumes!  Klingt  es  nicht  seltsam 
naiv,  wenn  Herrn  Jung  mitten  in  die  Hauptreihe  seiner  Argumente 
sich  der  Satz  eingeschmuggelt  hat:  ,,die  Vernunft,  welche  über  jede 
bloß  sphärische  Bestimmtheit  hinausgeht?"  Wie  kann  er  dann, 
bei  zugestandener  Konsequenz  und  Vernünftigkeit  des  Bestrittnen 
vom  irdischen  Gesichtspunkt  aus,  diesen  vom  „universalen"  unter- 
scheiden? Es  ist  aber  eines  Phantasten,  eines  Gefühlsschwärmers, 
wie  Herr  Jung  einer  ist,  vollkommen  würdig,  sich  in  die  schlechte 
Unendlichkeit  des  Sternhimmels  zu  verlieren  und  über  denkende, 
liebende,  phantasierende  Wesen  auf  den  andern  Weltkörpern  sich 
allerhand  kuriose  Hvpothesen  und  wundersame  Träumereien  aus- 
zuklauben. Dabei  ist  es  lächerlich,  wie  er  vor  der  Seichtigkeit  warnt, 
Feuerbach  und  Strauß  nun  ohne  weiteres  des  Atheismus  und  der 
unbedingten  Leugnung  der  Unsterblichkeit  zu  beschuldigen.  Herr 
Jung  sieht  nicht,  daß  diese  Leute  gar  keinen  andern  Standpunkt  in 
Anspruch  nehmen.  Weiter.  In  Nr.  12  droht  uns  Herr  Jung  bereits 
mit  seinem  Zorn;  in  Nr.  26  wird  Leo  konstruiert  und  über  das  un- 
leugbare Talent  des  Mannes  seine  Gesinnung  ganz  und  gar  vergessen 
und  beschönigt;  ja  Rügen  wird  ebenso  sehr  unrecht  gegeben  wie 
Leon.  Nr.  29  erkennt  Hinrichs  nichtssagende  Kritik  der  Posaune 
in  den  Berliner  Jahrbüchern  an  und  erklärt  sich  noch  entschiedener 
gegen  die  Linke;  Nr.  35  vollends  liefert  einen  langen,  grauenvollen 
Artikel  über  F.  Baader,  dessen  somnambule  Mystik  und  Unphilo- 
sophie  ihm  noch  dazu  als  Verdienst  angerechnet  wird  ;  endlich  Nr.  36 
klagt  über  ,, unselige  Polemik",  mit  andern  Worten  offenbar  über 
einen  Artikel  von  E.  Mayen  [sie!]  in  der  Rheinischen  Zeitung,  worin 
Herrn  Jung  einmal  die  Wahrheit  gesagt  wird  —  es  ist  sonderbar! 
In  einem  solchen  Dusel  und  Traumleben  ergeht  sich  Herr  Jung, 
daß  er  glaubt,  er  sei  unser  ,, Kampfgenosse",  er  ,, verteidige  dieselben 
Ideen",  daß  er  glaubt,  es  ,, walteten  zwar  Differenzen"  zwischen 
ihm  und  uns  ob,  ,,doch  stehe  die  Identität  der  Prinzipien  und  Zwecke 
fest".  Hoffentlich  wird  er  jetzt  gesehen  haben,  daß  wir  mit  ihm 
fraternisieren  weder  wollen  noch  können.  Solche  unglückliche 
Amphibien  und  Achselträger  sind  nicht  brauchbar  für  den  Kampf, 
den  nun  einmal  entschiedene  Leute  entzündet,  und  nur  Charaktere 
hindurchführen  können.  Im  Verfolge  obiger  Zeilen  tut  er  sich  noch 
den  Tort  an,  daß  er  in  die  trivialste  Redeweise  von  literarischer 
Despotie  der  Liberalen  verfällt  und  sich  seine  Freiheit  wahrt.    Die 


200  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

soll  ihm  bleiben;  es  wird  ihn  jeder  ruhig  fortfaseln  lassen  bis  in 
alle  Ewigkeit.  Aber  er  wird  uns  erlauben,  für  seine  Unterstützung 
zu  danken  und  ihm  ehrlich  und  offen  zu  sagen,  wofür  man  ihn 
hält.  Sonst  wäre  er  ja  der  literarische  Despot,  und  dazu  ist  er  doch 
etwas  zu  weichherzig.  Dieselbe  Nummer  wird  in  würdiger  Weise 
beschlossen  von  einem  Hilferuf  gegen  „das  selbstsüchtige,  hohle 
Geschrei,  welches  in  rasender  Weise  das  Selbstbewußtsein  zum 
Gott  erhebt",  —  nun  wagt  das  Königsberger  Literaturblatt  es, 
diese  schaudervollen  Ausrufungen  nachzusprechen:  , »Nieder  mit 
dem  Christentum,  nieder  mit  der  Unsterblichkeit,  nieder  mit  Gott!!" 
Doch  es  tröstet  sich  damit,  daß  die  „Träger  bereits  im  Vorhause 
stehen,  um  diejenigen,  welche  noch  bei  so  guter  Stimme  sind,  als 
lautlose  Leichen  herauszutragen".  Also  wieder  die  Kraftlosigkeit 
einer  Appellation  an  die  Zukunft! 

Eine  weitere  Nummer  des  Jungschen  Blattes  ist  mir  noch  nicht 
zu  Gesicht  gekommen.  Ich  denke,  die  gegebnen  Beweise  werden 
genügen,  die  Zurückweisung  des  Herrn  Jung  aus  der  Gemeinschaft 
der  Entschiednen  und  ,, Freien"  zu  begründen;  er  selbst  ist  jetzt 
in  den  Stand  gesetzt,  zu  sehen,  was  man  an  ihm  auszusetzen  hat. 
Noch  eine  Bemerkung  sei  mir  gestattet.  Herr  Jung  ist  unzweifel- 
haft der  charakterschwachste,  kraftloseste,  unklarste  Schriftsteller 
Deutschlands.  Woher  kommt  das  alles,  woher  die  erbauliche  Form, 
die  er  überall  zur  Schau  trägt.''  Solle  es  damit  zusammenhängen, 
daß  Herr  Jung,  wie  es  heißt,  früher  ex  officio  erbaulich  sein  m^ußie  ? 

Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen. 

Unter  den  europäischen  Fürsten,  deren  Persönlichkeit  auch 
außer  ihrem  Lande  Aufmerksamkeit  erregt,  sind  besonders  vier 
interessant:  Nikolaus  von  Rußland,  durch  die  Geradheit  und  un- 
verhohlene Offenheit,  mit  der  er  zum  Despotismus  hinstrebt,  Louis 
Philipp,  der  den  Macchiavell  unserer  Zeit  anpaßt,  Viktoria  von 
England,  das  vollendete  Muster  einer  konstitutionellen  Königin,  und 
Friedrich  Wilhelm  IV.,  dessen  Gesinnung,  wie  sie  sich  in  den  beiden 
Jahren  seiner  Regierung  unverkennbar  und  deutlich  dargelegt  hat, 
hier  einer  genauem  Betrachtung  unterworfen  werden  soll. 

Es  ist  nicht  der  Haß  und  die  Rachlust  einer  von  ihm  zurück- 
gesetzten und  perhorreszierten,  von  seinen  Beamten  unterdrückten 
und  gemißhandelten  Partei,  die  hier  sprechen  sollen,  nicht  der  bittere 
Groll,  den  die  Zensur  genährt  hat,  und  der  die  Preßfreiheit  benutzt, 
um  Skandalgeschichten  und  Berliner  Stadtgeklatsch  an  den  Mann 
zu  bringen.  Der  Deutsche  Bote  beschäftigt  sich  mit  andern  Dingen. 
Aber  bei  der  ehrlosen,  niederträchtigen  Schmeichelei,  mit   der  die 


Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen.  201 

deutschen  Fürsten  und  Völker  täglich  in  den  Zeitungen  regaliert 
werden,  ist  es  durchaus  nötig,  daß  die  Herrschaften  einmal  von 
einem  andern  Gesichtspunkt  angesehen,  ihre  Handlungen  und  Ge- 
sinnungen, rücksichtslos  wie  die  jedes  andern,  beurteilt  werden.  — 

Die  Reaktion  im  Staate  begann  in  den  letzten  Jahren  des  vo- 
rigen Königs,  sich  mit  der  kirchlichen  Reaktion  zu  vereinigen. 
Durch  die  Entwicklung  des  Gegensatzes  zur  absoluten  Freiheit  sah 
sich  der  orthodoxe  Staat  wie  die  orthodoxe  Kirche  genötigt,  auf  ihre 
Voraussetzungen  zurückzugehen  und  das  christliche  Prinzip  mit 
allen  seinen  Konsequenzen  geltend  zu  machen.  So  ging  die  pro- 
testantische Rechtgläubigkeit  auf  den  Katholizismus  zurück,  eine 
Phase,  die  in  Leo  und  Krummacher  ihre  konsequentesten  und  wür- 
digsten Vertreter  findet,  der  protestantische  Staat  auf  die  konse- 
quente christlich -feudalistische  Monarchie,  wie  sie  Friedrich  Wil- 
helm IV.  ins  Leben  zu  rufen  trachtet. 

Friedrich  Wilhelm  IV.  ist  durchaus  ein  Produkt  seiner  Zeit, 
eine  Gestalt,  die  ganz  aus  der  Entwickelung  des  freien  Geistes  und 
seinem  Kampfe  gegen  das  Christentum  und  nur  hieraus  zu  erklären 
ist.  Er  ist  die  äußerste  Konsequenz  des  preußischen  Prinzips,  das 
in  ihm  in  seiner  letzten  Aufraffung,  aber  zugleich  in  seiner  voll- 
kommenen Kraftlosigkeit  gegenüber  dem  freien  Selbstbewußtsein 
zur  Erscheinung  kommt.  Mit  ihm  ist  die  gedankenmäßige  Ent- 
wickelung des  bisherigen  Preußens  abgeschlossen ;  eine  neue  Gestal- 
tung desselben  ist  nicht  möglich,  und  wenn  es  Friedrich  Wilhelm 
gelingt,  sein  System  praktisch  durchzusetzen,  so  muß  Preußen  ent- 
weder ein  ganz  neues  Prinzip  ergreifen  —  und  dies  kann  nur  das 
des  freien  Geistes  sein  —  oder  in  sich  selbst  zusammenstürzen, 
wenn  es  zu  jenem  Fortschritt  nicht  die  Kraft  haben  sollte. 

Der  Staat,  auf  den  Friedrich  Wilhelm  IV.  hinarbeitet,  ist  seinem 
eigenen  Ausspruche  gemäß  der  christliche.  Die  Form,  in  der  das 
Christentum  auftritt,  sobald  es  sich  wissenschaftlich  zergliedern 
will,  ist  die  Theologie.  Das  Wesen  der  Theologie,  namentlich  in 
unserer  Zeit,  ist  die  Vermittelung  und  Vertuschung  absoluter  Ge- 
gensätze. Selbst  der  konsequenteste  Christ  kann  sich  nicht  von  den 
Voraussetzungen  unserer  Zeit  ganz  emanzipieren;  die  Zeit  nötigt 
ihn  zu  Modifikationen  des  Christentums;  er  trägt  Prämissen  in  sich, 
deren  Entwickelung  zum  Atheismus  führen  könnte.  Daher  kommt 
denn  jene  Gestalt  der  Theologie,  die  an  B.  Bauer  ihren  Zergliederer 
gefunden  hat,  und  die  mit  ihrer  innern  Unwahrheit  und  Heuchelei 
unser  ganzes  Leben  durchdringt.  Dieser  Theologie  entspricht  auf 
dem  Gebiete  des  Staates  das  jetzige  Regierungssystem  in  Preußen. 
Ein  System  Friedrich  Wilhelms  IV.,  das  ist  unleugbar,  ein  voll- 
kommen ausgebildetes  System  der  Romantik,  wie  dies  auch  eine 


202  Ans  der  Militärzeit  in  Berlin.     1 841— 1842. 

notwendige  Folge  seines  Standpunktes  ist;  denn  wer  von  diesem 
aus  einen  Staat  organisieren  will,  muß  mehr  wie  ein  paar  abge- 
rissene, zusammenhangslose  Ansichten  zu  seiner  Verfügung  haben. 
Das  theologische  Wesen  dieses  Systems  wäre  also  vorläufig  zu  ent- 
wickeln. 

Indem  der  König  von  Preußen  es  unternimmt,  das  Prinzip  der 
Legitimität  in  seinen  Konsequenzen  durchzusetzen,  schließt  er  sich 
nicht  nur  der  historischen  Rechtsschule  an,  sondern  führt  sie  so- 
gar weiter  fort,  und  kommt  fast  bei  der  Hallerschen  Restauration 
an.  Zuerst,  um  den  christlichen  Staat  zu  verwirklichen,  muß  er 
den  fast  heidnisch  gewordenen  rationalistischen  Beamtenstaat  mit 
christlichen  Ideen  durchdringen,  den  Kultus  heben,  die  Teilnahme 
an  demselben  zu  fördern  suchen.  Dies  hat  er  denn  auch  nicht  unter- 
lassen. Die  Maßregeln  zur  Förderung  des  Kirchenbesuchs  im  all- 
gemeinen und  namentlich  bei  den  Beamten,  die  strengere  Aufrecht- 
erhaltung der  Sonntagsfeier  überhaupt,  die  beabsichtigte  Verschär- 
fung der  Ehescheidungsgesetze,  die  teilweise  schon  begonnene 
Epurierung  der  theologischen  Fakultäten,  das  Gewicht,  welches  ein 
starker  Glaube  gegen  schwache  Kenntnisse  bei  den  theologischen 
Prüfungen  in  die  Wagschale  legt,  die  Besetzung  vieler  Beamten- 
stellen mit  vorzugsweise  gläubigen  Männern  —  und  viele  andere 
weltkundige  Tatsachen  gehören  hierher.  Sie  können  als  Belege 
dienen,  wie  sehr  Friedrich  Wilhelm  IV.  dahin  strebt,  das  Christen- 
tum unmittelbar  in  den  Staat  wieder  einzuführen,  die  Gesetze  des 
Staates  nach  den  Geboten  der  biblischen  Moral  einzurichten.  Das 
ist  aber  nur  das  Erste,  Unmittelbarste.  Das  System  des  christlichen 
Staates  kann  hierbei  nicht  stehen  bleiben.  Der  weitere  Schritt  ist 
nun  die  Trennung  der  Kirche  vom  Staate,  ein  Schritt,  der  über  den 
protestantischen  Staat  hinausgeht.  In  diesem  ist  der  König  summus 
episcopus,  und  vereinigt  in  sich  die  höchste  kirchliche  und  staat- 
liche Macht;  die  Verschmelzung  von  Staat  und  Kirche,  wie  sie  bei 
Hegel  ausgesprochen  ist,  ist  das  letzte  Ziel  dieser  Staatsform.  Wie 
aber  der  ganze  Protestantismus  eine  Konzession  an  die  Weltlich - 
keit  ist,  so  auch  das  Episkopat  des  Fürsten.  Es  ist  eine  Bestätigung 
und  Rechtfertigung  des  päpstlichen  Primats,  indem  es  die  Not- 
wendigkeit eines  sichtbaren  Oberhaupts  der  Kirche  anerkennt;  auf 
der  andern  Seite  erklärt  es  die  irdische,  weltliche  Gewalt,  die  Staats- 
gewalt, für  das  absolut  Höchste  und  ordnet  ihm  die  kirchliche  Ge- 
walt unter.  Es  ist  nicht  etwa  eine  Gleichstellung  des  Weltlichen 
und  Geistlichen,  sondern  eine  Unterordnung  des  Geistlichen  unter 
das  Weltliche.  Denn  der  Fürst  war  eher  Fürst,  als  er  summus 
episcopus  wurde,  und  bleibt  auch  nachher  vorzugsweise  Fürst,  ohne 
je  einen  geistlichen  Charakter  zu  tragen.  Die  andere  Seite  der  Sache 


Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen.  203 

ist  freilich  die,  daß  der  Fürst  jetzt  alle  Gewalt,  irdische  wie  himm- 
lische, in  sich  vereinigt,  und,  als  irdischer  Gott,  die  Vollendung  des 
rehgiösen  Staates  darstellt.   — 

Wie  jene  Unterordnung  aber  dem  christlichen  Geiste  wider- 
spricht, so  ist  es  durchaus  nötig,  daß  der  Staat,  der  den  Anspruch 
der  Christlichkeit  macht,  der  Kirche  ihre  Selbständigkeit  ihm  ge- 
genüber wieder  einräume.  Diese  Rückkehr  zum  Katholizismus  ist 
nun  einmal  unmöglich ;  die  absolute  Emanzipation  der  Kirche  ist 
ebenfalls  unausführbar,  ohne  die  Grundsäulen  des  Staates  zu  unter- 
graben; es  muß  also  hier  ein  Vermittlungssystem  durchgeführt 
werden.  Dies  hat  Friedrich  Wilhelm  IV.  denn  auch  in  Beziehung 
auf  die  katholische  Kirche  bereits  in  Ausführung  gebracht,  und 
was  die  protestantische  Kirche  betrifft,  so  beweisen  auch  hier  son- 
nenklare Tatsachen,  wie  er  in  diesem  Punkte  denkt;  besonders  ist 
die  Aufhebung  des  Unionszwanges  und  die  Befreiung  der  Altluthe- 
raner von  dem  Drucke,  den  sie  erdulden  mußten,  zu  erwähnen. 
Bei  der  protestantischen  Konfession  tritt  nun  ein  ganz  eigenes 
Verhältnis  ein.  Sie  hat  kein  sichtbares  Oberhaupt,  überhaupt  keine 
Einheit,  sie  zerfällt  in  viele  Sekten,  und  so  kann  der  protestantische 
Staat  sie  nicht  anders  frei  lassen,  als  indem  er  die  verschiedenen 
Sekten  als  Korporationen  faßt  und  ihnen  so  für  ihre  inneren  An- 
gelegenheilen absolute  Freiheit  läßt.]  Dennoch  aber  läßt  der  Fürst 
sein  Episkopat  nicht  fallen,  sondern  behält  sich  das  Bestätigungs- 
recht, überhaupt  die  Souveränität  vor,  während  er  auf  der  andern 
Seite  das  Christentum  als  Macht  über  sich  anerkennt  und  konse- 
quent also  auch  vor  der^Kirche  sich  beugen  muß.  So  bleiben  nicht 
nur  die  Widersprüche,  in  denen  der  protestantische  Staat  sich  be- 
wegt, trotz  aller  scheinbaren  Auflösung  bestehen,  sondern  es  tritt 
noch  eine  Vermischung  mit  den  Prinzipien  des  katholischen  Staats 
ein,  die  eine  wunderliche  Verwirrung  und  Prinziplosigkeit  herbei- 
führen muß.    Das  ist  nicht  theologisch.  — 

Der  protestantische  Staat  hat  durch  Altenstein  und  Friedrich 
Wilhelm  III.  durch  das  Verfahren  gegen  den  Erzbischof  von  Köln 
den  Satz  ausgesprochen,  daß  der  konsequente  Katholik  unmöglich 
ein  brauchbarer  Staatsbürger  sein  könne.  Dieser  Satz,  dessen  Be- 
währung die  ganze  Geschichte  des  Mittelalters  ist,  gilt  nicht  nur 
für  den  protestantischen,  sondern  überhaupt  für  jeden  Staat.  Wer 
sein  ganzes  Sein  und  Leben  zu  einer  Vorschule  des  Himmels  macht, 
kann  am  Irdischen  nicht  das  Interesse  haben,  das  der  Staat  von  seinen 
Bürgern  fordert.  Der  Staat  macht  den  Anspruch,  seinen  Bürgern 
alles  zu  sein;  er  erkennt  keine  Macht  über  sich  und  stellt  sich  über- 
haupt als  absolute  Gewalt  hin.  Der  Katholik  erkennt  aber  Gott  und 
seine  Einrichtung,  die  Kirche,  als  das  Absolute  an,  und  kann  sich 


204  ^^^  ^^^  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

also  nie  ohne  inneren  Vorbehalt  auf  den  Boden  des  Staats  stellen. 
Dieser  Widerspruch  ist  unlösbar.  Selbst  der  katholische  Staat  muß 
sich  für  den  Katholiken  dei  Kirche  unterordnen  oder  der  Katholik 
zerfällt  mit  ihm;  wie  viel  mehr  also  wird  er  mit  dem  nichtkatho- 
lischen Staat  zerfallen  sein  ?  In  dieser  Hinsicht  war  das  Verfahren 
der  vorigen  Regierung  vollkommen  konsequent  und  wohlbegründet ; 
der  Staat  kann  nur  so  lange  die  Freiheit  der  katholischen  Kor- 
fession  ungeschmälert  lassen,  als  sie  sich  den  bestehenden  Gesetzen 
unterwirft.  —  Dieser  Zustand  der  Dinge  konnte  dem  christlichen 
Könige  nicht  genügen.  Aber  was  war  zu  machen?  De^  protestan- 
tische Staat  konnte  nicht  hinter  den  katholischen  Hohenstaufen 
zurückbleiben,  und  bei  der  Höhe  des  Bewußtseins,  zu  welcher  Staat 
und  Kirche  sich  aufgeschwungen  hatten,  war  eine  definitive  Lösung 
nur  durch  eine  Unterwerfung  des  einen  oder  des  andern  möglich  — 
eine  Unterwerfung,  die  für  den  sich  beugenden  Teil  einer  Selbst- 
vernichtung gleichgekommen  wäre.  Die  Frage  war  prinzipiell  ge- 
worden, und  vor  den  Prinzipien  hatte  der  einzelne  Fall  als  solcher 
zurücktreten  müssen.  Was  tat  Friedrich  Wilhelm  IV.  ?  Echt  theo- 
logisch drängte  er  die  vorlauten,  vmbequemen  Prinzipien  zurück, 
hielt  sich  rein  an  den  vorliegenden  Fall,  der  nun  ohne  die  Prinzi- 
pien vollends  verwickelt  wurde,  und  suchte  diesen  durch  Vermitt- 
lung aus  dem  Wege  zu  schaffen.  Die  Kurie  gab  nichts  nach  —  wer 
also  das  blaue  Auge  davon  trug,  war  der  Staat.  Das  ist  die  berühmite 
glorreiche  Lösung  der  Kölner  Wirren,  auf  ihren  wahren  Wert 
reduziert. 

Dieselben  nur  oberflächlich  verdeckten  Widersprüche,  die 
Friedrich  Wilhelm  IV.  in  der  Stellung  des  Staats  zur  Kirche  hervor- 
rief, suchte  er  auch  in  den  innern  Verhältnissen  des  Staats  zu  er- 
wecken. Er  konnte  sich  hier  an  die  bereits  bestehenden  Theorien 
der  historischen  Rechtsschule  anlehnen  und  hatte  so  ein  ziemlich 
leichtes  Spiel.  Der  Verlauf  der  Geschichte  hatte  in  Deutschland 
das  Prinzip  der  absoluten  Monarchie  zur  herrschenden  gemacht, 
die  Rechte  der  alten  Feudalstände  vernichtet,  den  König  zum  Gott 
im  Staate  erhoben.  Dazu  waren  in  der  Zeit  von  1807  bis  13  die  Reste 
des  Mittelalters  mit  Entschiedenheit  angegriffen  und  zum  großen 
Teil  weggeräumt  worden.  Wie  viel  auch  seitdem  redressiert  sein 
mochte,  die  Gesetzgebung  jener  Zeit  und  das  unter  dem  Einfluß 
der  Aufklärung  abgefaßte  Landrecht  blieben  die  Grundlagen  der 
preußischen  Gesetzgebung.  Ein  solcher  Zustand  mußte  unerträg- 
lich sein.  Daher  knüpfte  Friedrich  Wilhelm  IV.  überall  an,  wo  er 
noch  etwas  Mittelalterliches  vorfand.  Der  Majoratsadel  wurde  be- 
günstigt und  durch  neue  Adels  Verleihungen,  die  unter  Bedingung 
der  Majoratsstiftung  erteilt  wurden,  verstärkt;  der  Bürgerstand  als 


Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen.  205 

solcher,  getrennt  vom  Adel  und  den  Bauern,  als  aparter,  Handel 
und  Industrie  repräsentierender  Stand  angesehen  und  behandelt, 
die  Sonderung  der  Korporationen,  die  Abschließung  einzelner  Hand- 
werke und  ihre  Annäherung  an  das  Zunftwesen  begünstigt  usw. 
Überhaupt  zeigten  alle  Reden  und  Handlungen  des  Königs  von 
vornherein,  daß  er  eine  besondere  Vorliebe  für  das  Korporations- 
wesen hat,  und  gerade  dies  bezeichnet  seinen  mittelalterlichen  Stand- 
punkt am  besten.  Dies  Nebeneinanderbestehen  privilegierter  Ver- 
bindungen, die  in  ihren  innern  Angelegenheiten  mit  einer  gewissen 
Freiheit  und  Selbständigkeit  verfahren  können,  deren  jede  durch 
gleiche  Interessen  in  sich  verbunden  ist,  die  sich  aber  auch  gegen- 
seitig bekämpfen  und  übervorteilen  —  diese  Zersplitterung  der 
Staatskräfte  bis  zur  völligen  Auflösung  des  Staats,  wie  sie  das  deut- 
sche Reich  darstellt,  macht  einen  der  wesentlichsten  Momente  des 
Mittelalters  aus.  Es  versteht  sich  aber  von  selbst,  daß  Friedrich 
Wilhelm  IV.  nicht  gesonnen  ist,  den  christlichen  Staat  bis  zu  dieser 
Konsequenz  durchzuführen.  Er  glaubt  zwar,  zur  Herstellung  des 
wahrhaft  christlichen  Staates  berufen  zu  sein,  in  Wahrheit  aber 
will  er  nur  den  theologischen  Schein  desselben,  den  Glanz  und 
Schimmer,  nicht  aber  die  Not,  den  Druck,  die  Unordnung  und 
Selbstvernichtung  des  christlichen  Staats,  kurz  ein  Justemilieu- 
Mittelalter;  gerade  wie  etwa  Leo  auch  nur  den  glänzenden  Kultus, 
die  Kirchenzucht  usw.  vom  Katholizismus  will,  nicht  aber  den 
ganzen  Katholizismus  mit  Haut  und  Haar.  Darum  ist  Friedrich 
Wilhelm  auch  nicht  absolut  illiberal  und  gewaltsam  in  seinen  Be- 
strebungen, Gott  bewahre,  er  will  seinen  Preußen  alle  möglichen 
Freiheiten  lassen,  aber  eben  nur  in  der  Gestalt  der  Unfreiheit,  des 
Monopols  und  Privilegiums.  Er  ist  kein  entschiedener  Feind  der 
freien  Presse,  er  wird  sie  geben,  aber  auch  als  Monopol  des  vor^ 
zugsweise  wissenschaftlichen  Standes.  Er  will  die  Repräsentation 
nicht  aufheben  oder  verweigern,  er  will  nur  nicht,  daß  der  Staats- 
bürger, als  solcher,  vertreten  sei;  er  arbeitet  auf  eine  Repräsentation 
der  Stände  hin,  wie  sie  in  den  preußischen  Provinzialständen  schon 
teilweise  ausgeführt  ist.  Kurz,  er  kennt  keine  allgemeinen,  keine 
staatsbürgerlichen,  keine  Menschenrechte,  er  kennt  nur  Korpo- 
rationsrechte, Monopole,  Privilegien.  Deren  wird  er  eine  Masse 
geben,  so  viel,  wie  er  kann,  ohne  seine  absolute  Gewalt  durch  po- 
sitiv-gesetzliche Bestimmungen  zu  beschränken.  Vielleicht  auch 
mehr.  Vielleicht  hat  er  schon  jetzt,  trotz  der  Königsberger  und 
Breslauer  Bescheide,  im  geheimen  die  Absicht,  wenn  er  seine  theo- 
logische Politik  weit  genug  durchgeführt  hat,  das  Werk  durch  Er- 
teilung einer  reichsständisch -mittelalterlichen  Verfassung  zu  krönen 
und  seinen  möglicherweise  andersgesinnten  Nachfolgern  die  Hände 


2o6  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

dadurch  zu  binden.     Konsequent  wäre  es  —  ob  aber  seine  Theologie 
das  zuläßt,  steht  dahin. 

Wie  schwankend  und  haltlos,  wie  inkonsequent  dies  System 
schon  in  sich  selbst  ist,  haben  wir  gesehen ;  die  Einführung  desselben 
in  die  Praxis  muß  notwendigerweise  neue  Schwankungen  und  In- 
konsequenzen herbeiführen.  Der  kalte  preußische  Beamtenstaat, 
das  Kontrollwesen,  die  schnarrende  Staatsmaschine  will  von  der 
schönen,  glänzenden,  vertrauensvollen  Romantik  nichts  wissen. 
Das  Volk  steht  im  Durchschnitt  auf  einer  noch  zu  niedrigen  Stufe 
der  politischen  Bildung,  um  das  System  des  christlichen  Königs 
durchschauen  zu  können.  Der  Kaß  gegen  die  Privilegien  des  Adels, 
gegen  die  Anmaßungen  der  Geistlichkeit  jeder  Konfession  ist  indes 
zu  tief  eingewurzelt,  als  daß  Friedrich  Wilhelm  bei  ganz  offenem 
Verfahren  hieran  nicht  scheitern  müßte.  Daher  das  bisher  befolgte 
ängstliche  Sondierungssystem,  mit  welchem  er  zuerst  die  öffent- 
liche Meinung  ausforschte  und  dann  immer  noch  Zeit  genug  behielt, 
eine  zu  anstößige  Maßregel  zurückzuziehen.  Daher  die  Methode, 
seine  Minister  vorzuschieben  und  bei  zu  gewaltsamen  Handlungen 
derselben  sie  zu  desavouieren,  wobei  nur  das  merkwürdig  ist,  daß 
ein  preußischer  Minister  sich  das  gefallen  läßt,  ohne  seine  Entlassung 
einzureichen.  Namentlich  mit  Rochow  geschah  dies  früher  und  bin- 
nen kurzem  wird  Herr  Eichhorn  an  die  Reihe  kommen,  obwohl  ihn 
der  König  noch  jüngst  tür  einen  Ehrenmann  erklärt  und  seinen  Hand- 
lungen Beifall  gezollt  hat.  Ohne  solche  theologische  Mittel  würde 
Friedrich  Wilhelm  IV.  längst  die  Liebe  des  Volks  verscherzt  haben, 
die  er  sich  bis  jetzt  nur  noch  durch  seinen  offenen,  jovialen  Cha- 
rakter, durch  möglichst  große  Liebenswürdigkeit  und  Leutseligkeit 
und  durch  seinen  rücksichtslosen  Witz,  der  selbst  gekrönte  Häupter 
nicht  verschonen  soll,  erhalten  hat.  Auch  hütet  er  sich  wohl,  die 
zu  anstößigen  oder  gar  die  unvermeidlichen  schlimmen  Seiten 
seines  Systems  herauszukehren;  er  spricht  im  Gegenteil  davon,  als 
wenn  es  lauter  Pracht  und  Herrlichkeit  und  Freiheit  wäre  und  läßt 
sich  nur  da  ganz  gehen,  wo  sein  System  anscheinend  liberaler  ist, 
als  die  bestehende  preußische  Bevormundung ;  wo  er  aber  illiberal 
erscheinen  würde,  hält  er  sich  klugerweise  zurück.  Zudem,  während 
er  den  gewöhnlichen  Konstitutionalismus  stets  mit  den  Ehrennamen : 
oberflächlich  und  ordinär  belegt,  hat  er  sich  dessen  Terminologie 
dennoch  angeeignet,  und  gebraucht  sie  in  seinen  Reden  —  soll  man 
sagen  als  Ausdruck  oder  als  Verdeckung  seiner  Ideen .''  —  mit  vielem 
Geschick.  Genau  so  machen  es  die  modernen  Vermittlungstheo- 
logen, die  sich  ebenfalls  politischer  Redeweisen  mit  Vorliebe  bedienen 
und  sich  so  den  Forderungen  der  Zeit  zu  akkommodieren  wähnen. 
Bruno  Bauer  nennt  das  kurzweg  Heuchelei. 


Friedrich  Wilhelm  IV.,  König  von  Preußen.  207 

Was  die  Finanzverwaltung  unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  be- 
trifft, hat  er  sich  nicht  an  die  Art  von  Zivilliste  halten  können,  die 
sein  Vater  für  sich  festsetzte,  indem  dieser  gesetzlich  bestimmte, 
daß  vom  Ertrage  der  Domänen  jährlich  2^4  Millionen  Taler  für 
den  König  und  sein  Haus  bestimmt,  das  übrige  aber,  gleich  allen 
andern  Einkünften,  zu  Staatszwecken  verwendet  werden  sollte. 
Man  kann  dem  Könige  nachrechnen,  selbst  wenn  man  seine  Privat- 
einkünfte hinzuzählt,  daß  er  mehr  verbraucht  als  214  Millionen  — 
und  doch  sollte  von  diesen  noch  die  Apanage  der  andern  Prinzen 
bestritten  werden.  Bülow-Cummerow  hat  zudem  erwiesen,  daß  die 
sogenannte  Rechnungsablage  des  preußischen  Staats  rein  illusorisch 
ist.  Es  ist  also  durchaus  kein  Geheimnis,  wie  die  Staatseinkünfte 
verwaltet  werden.  Der  vielbesprochene  Steuererlaß  ist  kaum  der 
Rede  wert,  und  hätte  schon  unter  dem  vorigen  Könige  längst  ein- 
treten können,  wenn  dieser  es  nicht  gescheut  hätte,  je  in  die  Not- 
wendigkeit einer  Steuererhöhung  zu  kommen. 

Ich  glaube  hiermit  über  Friedrich  Wilhelm  IV.  genug  gesagt 
zu  haben.  Es  versteht  sich  bei  seinem  unbezweifelt  gutmütigen 
Charakter  von  selbst,  daß  er  in  Dingen,  die  mit  seiner  Theorie  nicht 
in  Berührung  stehen,  aufrichtig  das  tut,  was  die  öffentliche  Stimme 
von  ihm  fordert  und  was  wirklich  gut  ist.  Es  bleibt  nur  noch  die 
Frage,  ob  er  jemals  sein  System  durchsetzen  werde?  Darauf  läßt 
sich  glücklicherweise  nur  mit  Nein  antworten.  Das  preußische  Volk 
hat  seit  einem  Jahre,  seit  der  angeblich  freieren  Bewegung  der  Presse, 
die  im  AugenbUck  wieder  die  unfreiste  geworden  ist,  einen  Auf- 
schwung genommen,  der  mit  der  Geringfügigkeit  jener  Maßregel 
fast  in  gar  keinem  Verhältnis  steht.  Der  Druck  der  Zensur  hält  in 
Preußen  eine  so  ungeheure  Masse  von  Kräften  gefesselt,  daß  die 
geringste  Erleichterung  eine  unverhältnismäßig  starke  Reaktion 
derselben  hervorruft.  Die  öffentliche  Meinung  in  Preußen  konzen- 
triert sich  immer  mehr  auf  zwei  Dinge:  Repräsentatiwerfassurg  und 
besonders  Preßfreiheit;  der  König  mag  sich  stellen,  wie  er  will,  man 
wird  ihm  vorläufig  die  letztere  abnötigen  und  besitzt  man  diese, 
so  muß  die  Verfassung  in  einem  Jahre  nachfolgen.  Ist  aber  eine 
Repräsentation  erst  da,  so  läßt  sich  gar  nicht  absehen,  welchen  Gang 
Preußen  dann  nehmen  wird.  Eine  der  ersten  Folgen  wird  die  Zer- 
störung der  russischen  Allianz  sein,  wenn  der  König  nicht  schon 
früher  genötigt  sein  sollte,  diese  Folge  seines  Prinzips  fahren  zu 
lassen.  Dann  aber  kann  noch  manches  folgen,  und  Preußens  jetzige 
Lage  hat  viel  Ähnlichkeit  mit  der  Frankreichs  vor  —  doch  ich  ent- 
halte mich  aller  voreiligen  Schlüsse. 


2o8 


Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841—42. 


Die 

frech  bedräute, 
jedoch  wunderbar  befreite 

BIBEL. 

Oder 

Der  Triumph  des  Glaubens. 

Das  ist: 

Schreckliche, 

jedoch  wahrhafte  und  erkleckhche 

Historia 

von  dem  weiland  Licentiaten 

Bruno  Bauer; 

wie  selbiger 

vom  Teufel  verführet, 

vom  reinen  Glauben  abgefallen, 

Oberteufel  geworden 

und  endlich 

kräftiglich  entsetzet  ist. 

Christliches  Heldengedicht 

in  vier  Gesängen. 


Neumünster  bei  Zürich. 

Truckts  und  verlegts  Joh.  Fr.  Heß. 

Ao.  1842. 

Mayer,  EngeU.     Ergäüzniigsbaad.  I4 


Erster  Gesang. 

Des  Glaubens  Gloria  recht  herrlich  zu  besingen, 

Entfalt',  o  Seele  mein,  demütiglich  die  Schwingen, 

Des  Glaubens  hohen  Sieg  —  doch  nein!  ist  eigne  Kraft 

Nicht  gleich  dem  schwachen  Rohr  ?    Ein  andrer  gibt  den  Saft ; 

Ein  anderer  verleiht  so  Wollen  wie  Vermögen: 

Ihr  Gläubgen,  fleht  herab  auf  mich  der  Gnade  Segen! 

Ja,  hebe  dein  Gebrüll,  du  Leu  am  Saalestrand, 

Und  falte,  Hengstenberg,  die  sieggewohnte  Hand! 

Du  mit  der  Leier  groß,  und  groß  auf  dem  Katheder, 

O  Sack,  von  deiner  Kraft  ergieß  in  meine  Feder; 

Kr  um  mach  er,  Gottesmann,  des  wahren  Glaubens  Hort, 

0  lehre  mich,  gleich  dir,  verkündigen  das  Wort! 

Und  du,  mein  holder  Knapp!    Ich  trag',  o  fromme  Seele, 

Die  Fackel  deines  Lieds  kühn  in  die  Lästerhöhle! 

Und  du,  der  dem  Geschlecht  der  Spötter,  kühn  und  frei. 

Das  Kreuz  entgegenhielt,  o  Klopstock,  steh'  mir  bei! 

Was  war'  ich  ohne  dich,  Theologus  Johannes! 
Wenn  du  mir  treulich  hilfst,  ich  unternehm's  und  kann  es- 
Vertilgen  helfet  mir,  David  und  He se kiel. 
Den  Greul  der  Lästerung  mit  Stumpf  und  auch  mit  Stiel! 
Auf,  scharet  euch  um  mich,  des  Glaubens  starke  Säulen, 
Beschützt  mich  gegen  Spott  und  frecher  Lästrer  Heulen; 
Hebt  eure  Hände  fromm  zum  Thron  der  Ganden  auf. 
Daß  ich  zum  Preis  des  Herrn  vollende  meinen  Lauf!   — 

Was  störet  auf  einmal  der  Sel'gen  Hosianna? 
Warum  versieget  denn  des  Engelliedes  Manna? 
Weh,  ist  des  Teufels  List  zum  Himmel  eingekehrt 
Und  hat  sein  Pestgestank  die  Freud'  in  Leid  verkehrt? 
Wo  Jubel  nur  und  Preis  und  Loblied  soll  erklingen. 
Was  soll  das  Jammern  dort,  das  Klageliedersingen  ? 
Wer  ist  es,  der  da  klagt?    Wer  schreit  in  Himmelshöh'n ? 
Der  Frommen  Seelen  sind's,  sie  haben  das  Gestöhn: 

,,0  Herr,  erhöre  Herr,  Herr  höre  unser  Schreien! 
Wie  lange  duldest  du  die  Plage  deiner  Treuen? 
Wie  lange  wartest  du,  und  hast  noch  nicht  gerächt, 
O  Herr,  der  Gläub'gen  Blut  am  frevelnden  Geschlecht  ? 


Der  Triumph  des  Glaubens.  2ii 

Ach,  soll  der  Weltlust  Trotz,  der  frechen  Läst'rer  Prahlen 

Im  Glanz  der  Herrlichkeit  stets  auf  der  Erden  strahlen? 

Soll  jeder  Philosoph  stets  sagen:  Ich  bin  Ich? 

Soll  der  Freigeister  Schar  stets  frecher  lästern  dich  ? 

Ach,  immer  lauter  schallt  des   Übermutes  Höhnen, 

O  laß  des  Weltgerichts  Posaune  bald  ertönen! 

Besänft'gend  spricht  der  Herr:  „Noch  ist  nicht  voll  das  Maß, 
Nicht  arg  genug  der  Stank,  der  ausgeht  von  dem  Aas ; 
Und  meine  Streiter  auch  muß  ich  zum  Mut  erziehen, 
Daß  nicht  im  letzten  Kampf  sie  vor  dem  Satan  fliehen. 
Dort  unten  in  Berlin  sind,  die  mich  suchen.  Viel', 
Doch  Viele  fesselt  noch  des  stolzen  Denkens  Pfühl; 
Nicht  glauben  wollen  sie,  sie  wollen  mich  begreifen, 
Mich  fesseln  wollen  sie  mit  des  Gedankens  Reifen. 
Seht  Bruno  Bauer  dort:  er  glaubt,  doch  er  denkt  nach, 
Wohl  willig  ist  sein  Fleisch,  doch  ach,  der  Geist  ist  schwach. 
Nun,  wartet  kurze  Zeit;  bald  weichen  diese  Schlacken, 
Dann  wird  nicht  Satan  mehr  ihn  bei  dem  Denken  packen. 
Er,  der  so  treu  mich  sucht,  er  findet  mich  zuletzt, 
Fromm  wirft  er  von  sich  ab,  was  Eitles  ihn  ergötzt. 
Des  Denkens  Narretei,  die  seinen  Sinn  zersplittert, 
Erkennet  er  als  Wind  —  und  seine  Seel*  erzittert. 
Ja,  die  Philosophie,  sie  wird  ihm  noch  ein  Spott, 
Die  Gnade  bricht  hindurch,  er  glaubet:  Gott  ist  Gott." 

Und  über  dieses  Wort  ward  Seligkeit  dort  oben. 
Zum  Preis  des  starken  Herrn  ein  Loblied  ward  erhoben: 

,,Wohl  würdig  bist  du,  Herr,  zu  nehmen  Ehr'  und  Preis 
Und  Kraft,  geschaffen  ist  durch  dich  der  Welten  Kreis; 
Bald  kommen  wird  dein  Zorn,  die  Bösen  zu  vernichten. 
Die  Knechte  zu  erhöh 'n,  die  deinen  Dienst  verrichten.*' 

Und  weiter  sprach  der  Herr:  ,,Ja,  jener  ist  der  Mann, 
Der  in  dem  letzten  Kampf  die  Gläub'gen  führen  kann. 
Wenn  auf  die  sünd'ge  Welt  dann  meines  Zornes  Schalen 
Herniederstürzen,  sich  die  Meere  blutig  malen, 
Und  wenn  des  Abgrunds  Born  sich  finster  tuet  auf, 
Wenn  der  Heuschreckenschwarm  erscheint  in  hellem  Häuf, 
Wenn  Feuerhagel  dann  zur  Erde  niederprasselt. 
Der  Boden  rings  erbebt,  der  Fels  zusammenrasselt, 
Schwingt  Bruno  Bauer  hoch  die  Fahne  meiner  Schar, 
Nicht  wankend  in  dem  Kampf  für  Thron  und  für  Altar. 

Und  über  dieses  Wort  ward  Seligkeit  dort  oben. 
Zum  Preis  des  starken  Herrn  ein  Loblied  ward  erhoben: 

,,Halleluja!    Und  der  Rauch  gehet  auf  ewiglich! 

14* 


212  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Und  sieh!  Als  noch  das  Lied  ertönte  durch  die  Himmel, 
Da  kam  der  Teufel  an  mit  Stank  und  mit  Getümmel. 
In  seinen  Augen  glomm  der  Hölle  schwarze  Wut, 
Die  Zunge  lechzte  nach  der  Gotteskinder  Blut. 
So  trat  er  frevelnd  hin  zum  Stuhl  des  Allerhöchsten, 
Zu  jenen  Engeln,  die  dem  Throne  stehn  am  nächsten, 
Und  schrie  wie  Donner gr aus:  „Wie  lange  zauderst  du, 
Und  hältst  in  meinem  Haus  mich  auf  in  feiger  Ruh*? 
Du  hast  wohl  Furcht,  daß  ich  am  jüngsten  Tage, 
Wo  um  die  Krone  dieser  Welt 

Wir  kämpfen,  daß  ich  da  dein  Heer  von  Engeln  schlage, 
Erstürme  mir  dein  Himmelszelt? 

Und  hast  du  Mut,  wohlan,  den  Kampf  beschleunige. 
Laß  die  Posaunen  blasen. 
Daß  ich  mein  wildes  Heer  alsbald  vereinige. 
Ich  brenne  schon  vor  Lust,  zu  s^^ürzen  auf  das  deinige. 
Durch  deine  Sphären  hinzurasen!" 

Der  Herr:  „Geduld,  Geduld,  die  Zeit  ist  nicht  mehr  fern. 
Wo  du  erkennen  sollst,  daß  ich  der  Herr  der  Herrn! 
Sieh  auf  die  Erd*  herab,  ob  du  sie  merkst,  die  Zeichen, 
Darob  die  Menschen  all'  erzittern  und  erbleichen? 
Sieh  Krieg  und  Pest  und  Brand  und  Revolution, 
Sieh,  das  Gesetz  verhöhnt,  geschmäht  Religion, 
Die  Gottesläst'rer  blühn,  verlästert  sind  die  Frommen, 
Und  warte  nur,  es  wird  noch  zehnmal  besser  kommen! 
Jetzt  hab'  ich  auserwählt  mir  einen  treuen  Knecht, 
Der  predige  das  Reich  dem  gottlosen  Geschlecht; 
Sie  werden  ihn  verschmähn,  sie  werden  seiner  lachen. 
Das  will  ich  just,  so  kann  ich  bald  ein  Ende  machen. 
Noch  ist  das  Maß  nicht  voll,  doch  lange  währt  es  nicht, 
Wenn  ferner  sie  verschmähn,  wie  jetzt,  das  Gnadenlicht.** 

Der  Teufel:  „Und  wer  ist  ersehn  zu  diesen  Taten?" 
Der  Herr:  „Der  Bauer  ist's."    — 

„Meinst  du  den  Licentiaten  ?* 

,, Denselben." 

„Nun,  der  dient  dir  auf  besond're  Weise. 
Nicht  beten  und  Gesang  ist  seines  Herzens  Speise. 
Nein,  sieh',  von  dir  verlangt  er  deine  schönsten  Sterne, 
Und  dann  begreift  er  sie   —  das  ist  so  seine  Lust. 
Und  aller  Dogmata  spekulativste  Kerne 
Befried'gen  nicht  die  tiefbewegte  Brust." 

Der  Herr:  ,,Wenn  er  mir  jetzt  auch  nur  verworren  dient. 
So  werd'  ich  ihn  gewiß  bald  in  die  Klarheit  führen. 


Der  Triumph  des  Glaubens.  213 

Und  wenn  er  jetzt  auch  noch  zu  denken  sich  erkühnt, 
Verlaß  dich  drauf,  bald  soll  er  die  Vernunft  verlieren." 

Der  Teufel:   ,,Nun,  was  gilt's,  den  will  ich  dir  verführen? 
Er  soll,  ein  Edelstein,  bald  meine  Krone  zieren, 
Ihm  steckt  bei  alledem  der  Hegel  noch  im  Kopf, 
Da  faß'  ich  ihn,  gib  acht,  da  faß*  ich  ihn  beim  Schopf/* 

Der  Herr:   ,, Wohlan,  er  sei  dir  blindlings  überlassen! 
Zieh'  diesen  Gläubigen  von  seinem  Heiland  ab. 
Und  führ'  ihn,  kannst  du  ihn  mit  deinem  Trug  erfassen, 
Auf  deinem  Höllenweg  hohnlachend  mit  hinab, 
Und  steh'  beschämt,  wenn  du   zuletzt  gestehen  mußt,. 
Ein  Gläubiger,  selbst  im  spekulativen  Drange, 
Ist  sich  des  schmalen  Wegs  im  Herzen  stets  bewußt." 

Da  schrie  der  Teufel  froh:  ,, Wohlan,  mir  ist  nicht  bange, 
Gib  acht,  den  Bauer  hast  du  nicht  mehr  allzulange!" 
Und  mit  des  Stuimes  Kraft  fuhr  er  alsbald  hinaus, 
Erfüllend  noch  mit   Qualm  des  Himmels  strahlend  Haus. 

Indes  der  Teufel  dort  mit  Gott  dem  Herrn  verkehret, 
Hat  dei  Verdammten  Schar  sich  in  der  Höll*  empöret. 
Es  tost  der  wilde  Schwärm  im  Aufruhr  fürchterlich, 
Laut  rufend  mit  Gebrüll:  Wo  bist  du,  Teutel  sprich? 
An  ihrer  Spitze  schwingt  zwei  Feuerbränder  Hegel, 
Und  Voltaire  hinterdrein  mit  feurigrotem  Flegel, 
Danton  erhebt  die  Stimm',  es  brüllet  Edelmann, 
Es  ruft  Napoleon:   ,,Auf,  Höllenbrut,  voran!" 
So  rasen  durch  die  Glut  des  Abgrunds  finst're  Geister, 
So  schnauben  sie  voll  Wut  und  rufen  nach  dem  Meister. 
Da  von  des  Himmels  Höh'n  stürzt  eilends  Er  herab 
In  seine  Feuerseen  und  in  sein  Flammengrab. 
,,Was  ist,  so  ruft  er  laut,  was  wollt  ihr,  schnöde  Rotten, 
Wollt  ihr  des  Teufels  Zorn,  des  Teufels  Macht  verspotten  ? 
Ist  euch  nicht  heiß  genug  der  Höllen  Flammenglut, 
Und  tränk'  ich  euch  nicht  satt  in  der  Gerechten  Blut  ? 
,,Nein,  nein,  schreit  Voltaire,  nein,  du  tatenloser  Teufel, 
Hab'  ich  darum  gepflanzt,  geheget  stets  den  Zweifel, 
Daß  überall  nun  durch  spekulative  Nacht 
Das  Wort  Philosophie  wird  in  Verruf  gebracht, 
Daß  mich  Franzosen  selbst,  den  Pfaffen  glaubend,  hassen   — 
Und  das,  du  Teufel,  das  kannst  du  geschehen  lassen  ?" 
,, Weshalb,  spricht  Danton,  hab'  ich  denn  guillotiniert, 
Weshalb,  statt  Gottesdienst,  Vernunftdienst  eingeführt. 
Wenn  wieder  Unsinn  herrscht,  aristokrat'sche  Laffen 
Ins  Reich  sich  teilen  mit  den  hirnverbrannten  Pfaffen  ?" 


214  ^"^  ^^'^  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Und  Hegel,  dem  bisher  der  Grimm  den  Mund  verschloß, 
Urplötzlich  fand  das  Wort,  und  hob  sich  riesengroß: 
„Mein  ganzes  Leben  weiht'  ich  der  Wissenschaft, 
Den  Atheismus  lehrt'  ich  mit  ganzer  Kraft, 
Das  Selbstbewußtsein  hob  zum  Throne  ich, 
Gott  zu  bewältigen,  glaubte  schon  ich. 

Doch  mich  gebraucht  nur  törichter  Mißverstand, 
Und  feige  Geister  haben  mich  umgewandt. 
Den  Unsinn  auf  zukonstruieren. 
Knechteten  schnöde  das  Spekulieren. 

Und  jetzt  da  endlich  kühn  sich  erhob  der  Mann, 
Der  Strauß,  der  halb  schon  mich  zu  verstehen  begann. 
Als  kaum  nach  Zürich  er  berufen. 
Wies  man  ihn  ab  an  der  Aula  Stufen. 

0  Schmach,  vom  ganzen  Kreise  der  Welt  verbannt 
Ist  schon  das  Werkzeug,  welches  ich  klug  erfand, 
Die  Freiheitskampf  er  in,  die  kühne. 
Wehe,  verbannt  ist  die  Guillotine! 

Auf,  sag',  o  Teufel,  hab'  ich  umsonst  gelebt? 
Hab'  ich  vergebens  philosophiert,  gestrebt? 
Wird  bald  der  Mann,  der  rechte,  kommen, 
Welcher  es  köpft,  das  Geschlecht  der  Frommen  ?*'    — 
Das  hört  der  Teufel  an  mit  hämisch -zartem  Grinsen: 
„Still,  still,  du  treu'ster  Knecht,  und  laß  das  eitle  Plinsen. 
Wie,  kennt  ihr  mich  nicht  mehr,  den  Teufel?     Hört  mich  an: 
Gefunden  ist  schon  längst,  gefunden  ist  der  Mann!" 
,,Wer  ist's?    Laß  uns  so  lang  nicht  stehen  auf  der  Lauer!" 
So  rufen  all'.    Und  er:  „Er  heißet  —  Bruno  Bauer!" 
Es  lacht  die  schnöde  Schar.    Sie  wenden  das  Gesicht, 
Und  Hegel,  zornentflammt,  der  wilde  Hegel  spricht: 
,, Willst  du  spotten  noch  und  höhnen,  du  verfluchtester  der  Wichte, 
Kann  der  Bauer  denn  uns  helfen, der  Vernunft  nur  macht  zu  nichte, 
Der  die  Wissenschaft  nur  führet  auf  des  Glaubens  Hochgerichte  ?** 
„0  Hegel  bist  du  blind,"  sprach  drauf  der  Höllenfürste, 
,, Glaubst  du,  daß  Bauer  nur  nach  Glaubensäpfeln  dürste? 
Sein  Durst  ist  viel  zu  groß,  die  machen  ihn  nicht  satt, 
Wer  so  gewaltig  kämpft,  der  wird  so  leicht  nicht  matt. 
Hüllt  er  sich  jetzt  noch  in  des  Glaubens  Bettlermantel, 
Er  wirft  ihn  ab:  gib  acht,  ich  schließ*  mit  ihm  den  Handel." 
„Ich  beuge  mich  vor  dir",  sprach  Hegel  wieder  froh, 
Und  d'rauf  die  ganze  Schar  erhob  ein  wild'  Hailoh. 
Mit  Jubel  führte  sie  den  Herrscher  an  die  Schwelle, 
Und  dieser,  siegbewußt,  entschwebete  der  Hölle.   — 


Der  Triumph  des  Glaubens.  215 

In  frommer  Leute  Haus,  in  düsterem  Gemach, 
Von  Büchern  rings  umstellt,  denkt  Bruno  Bauer  nach, 
Vor  sich  den  Pentateuch,  und  hinter  sich  den  Teufel, 
Bannt  ihn  der  Glaube  vorn  und  hinten  rupft  der  Zweifel: 
, (Schrieb  Moses  dieses  Buch,  ist  echt  es  oder  nicht? 
O  daß  Philosophie  so  selten  deutlich  spricht! 
Da  hab'  ich  nun,  weh  mir,  Phänomenologie, 
Ästhetik,  Logik  und   Metaphysik 
Und  leider  auch  Theologie 
Durchaus  studiert,  nicht  ohne  Glück! 
Heiße  Doktor  und  Lizentiat, 
Lese  Collegia  früh  und  spat, 
Ich  habe  den  Glauben  spekulativ 
Versöhnt  mit  dem  absoluten  Begiiff, 
Mir  ist  nichts  dunkel,  da  ist  kein  Geheimnis, 
Das  ich  nicht  ergründet  hätt'  ohne  Säumnis, 
Ich  habe  begriffen  die  Dogmen  alle 
Von  Schöpfung,  Erlösung  und  Sündenfalle, 
Der  Jungfrau  wunderbare  Empfängnis 
Hab'  ich  begriffen  sonder   Bängnis, 
Den  ganzen  Kram   —  und  mit  all'  dem  Zeugs 
Läßt  sich  nicht  beweisen  die  Echtheit  des  Pentateuchs. 

Wer  hilft  in  dieser  Not,  wer  deutet,  was  mich  quälet  ? 
Wer  reicht  des  Wissens  Brot,  ergänzet,  was  mir  fehlet  ?  — 
Dort  dies  geheimnisvolle  Buch 
Von  des  Philippus  eigner  Hand, 
Ist  mir  es  nicht  Geleit  genug 
Durch  dieser  Zweifel  labyrinth'sches  Land  ? 
Ich  schlag'  es  auf.    Schon  wird  der  Sinn  mir  hell, 
Entgegenrauscht  mir  ein  Kategorienqnell. 
Sieh,  wie  sie  auf-  und  niedersteigen 
Und  sich  die  goldnen  Eimer  reichen! 

Ha,  welch'  eine  Höhe! 

Vermittelt  schon  sehe 

Ich  Glauben  und  Wissen 

In  heiligen  Küssen! 
Tief  unter  mir  die  Mächte  der  Natur! 
Welch*  Schauspiel,  aber  ach!  ein  Schauspiel  nur! 
Denn  wird  der  Schleier  mir  gehoben. 
Der  um  den  Ursprung  ist  des  Pentateuchs  gewoben  ? 

Philippe  erscheine!" 
Ein  Schatten,  dreigekrönt,  tritt  aus  gespaltner  Wand, 
Und  warnend  hob  er  hoch  empor  die  dürre  Hand: 


21 6  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841  — 1842. 

„O  Bauer,  Bauer,  falle  nicht  vom  Pfad  hinab, 
Der  dir  in  Hegels  Logik  vor  gezeichnet  ist! 
Und  wo  in  absoluter  Klarheit  der  Begriff 
Erstrahlt,  da  laß  vorstellungsmäßig  Denken  nicht 
Dem  Geiste  trotzen,  welcher  da  die  Freiheit  ist."  — 
,,Doch  ist  dies  Buch  denn  echt,  wie  lösest  du  die  Frage  ? 
O  weiche  mir  nicht  aus,  o  sprich,  antworte,  sage!" 

,,Du  gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst;  nicht  mir!" 
,, Nicht  dir?    Verschwinde  nicht,  o  laß  dich  halten,  Freund!" 
Er  ruft's,  springt  auf,  und  sieh',  da  steht  vor  ihm  der  Feind. 
,,Haha  haha  haha  haha  haha  haha! 
Da  steht  der  Theolog,  da  stehet  er  nun  da! 
Du  bist  doch  sonst  so  klug,  und  hast  noch  nicht  gesehen, 
Daß  man  dich  immer  läßt  ringsum,  im  Kreise  gehen  ?" 
In  wirrem  Schrecken  greift  jetzt  Biuno  nach  der  Bibel. 
,,Pah,"  lacht  der  Teufel  auf,  ,,was  soll  die  alte  Fibel? 
Pah,  über  solches  Zeug  sind  wir  schon  längst  hinaus. 
Und  dich,  ich  glaub'  es  nicht,  dich  letzet  solch'  ein  Schmaus? 
Wie?    Glaubst  du,  wenn  du  hier  in  dumpfen  Mauern  steckest. 
Wenn  du  aus  krankem  Hirn  Kategorien  heckest, 
Wenn  du  das  Wasser  und  das  Feuer  mischen  willst. 
Mit  ekelem  Gebräu  den  Geist,  den  durst'gen,  stillst, 
Den  Geist,  der  frei  sich  sehnt,  die  Fesseln  zu  zersprengen. 
Die  ihn  in  schalen  Dunst,  in  dumpfen  Kerker  zwängen,  — 
Dann  glaubst  dein  Sehnen  du  gestillt  mit  solcher  Qual? 
Hat  Hegel  dich  gelehrt,  zusammen  Berg  und  Tal 
Zu  bringen,  Schwarz  mit  Weiß,  und  Feuersglut  und  Wasser  ? 
An  Hegel  denke  jetzt,  den  kühnen  Gotteshasser, 
Der  ohne  Grübeln  warf  das  Faktum  über  Bord, 
Vor  der  Vernunft  verwarf  der   Überliefrung  Wort!" 

,,Was  du,  o  Teufel,  sagst,  schön  klingt  es,  eine   Quelle 
Des  reinsten  Himmelslichts,  so  scheint  der   Qualm  der  Hölle ; 
Doch  mich  verführst  du  nicht;  die  Spekulation 
Sie  hat,  o  Teufel,  längst  auch  dich  begriffen  schon. 
Glaubst  du,  wo  meinem  Geist  sich  auf  tut  jedes  Wesen, 
Du  seist  allein  verschont  von  dem  Begriff  gewesen  ? 
Ich  weiß,  mit  schönem  Schein,  mit  gleißnerischem  Wort 
Betörst  du  uns  zuerst,  und  reißest  uns  dann  fort. 
Versprichst  uns  freien  Geist  für  unsre  schönen  Fakta, 
Und  führst  uns  dann  ins  Reich  einseitiger  Abstrakta. 
Zu  dem  Extreme  führt  dein  freier  Geist  mich  hin, 
Da  ich  nichts  andres  weiß  und  denk',  als  daß  ich  bin. 


Der  Triumph  des  Glaubens.  217 

Nicht  jene  kalte  Höh'  kann  mich,  o  Freund,  betören, 
Wo,  was  der  Geist  begreift,  er  einzig  will  zerstören. 
Ein  beutegier 'ger  Schlund,  ein  Moloch  ist  dein  Geist, 
Der  seine  Zähne  stets  dem  Positiven  weis't. 
Du  siehst,  ich  kenne  dich,  ich  kenne  deine  Fahrten, 
Und  was  du  mir  gesagt,  sind   lauter  Redensarten. 
Schau  hier  den  Pentateuch ;  faß  ich  ihn  positiv, 
Hab'  ich  mit  ihm  zugleich  des  Judentums  Begriff." 

Der  Böse  grinst  und  höhnt:  ,,Ha  ist  es  nicht  zum  Lachen.'' 
Wjis  alt  und  rostig  ist,  das  willst  du  glänzend  machen  ? 
Wo  man  in  Läusen  nur  des  Herren  Finger  sieht,  (2.  Mose  8,  19) 
Und  wo  des  Hauses  Bau  den  Herrn  im  Himmel  müht,  (5.  Mose  22,  8) 
Wo  Gottes  Rufen  man  in  allem  will  verspüren, 
In  Maß,  Gewicht  und  Pfand  da  willst  du  spekulieren  ?  (5.  Mose  25) 
Da  mattest  du  dich  ab,  freudlos  und  ohne  Ruh? 
Versuch 's,  wer  stärker  ist,  der  Glauben  oder  du! 
Hinauf!  wo  sich  der  Geist  in  seiner  Herrschaft  fühlet. 
Wo  nicht  er,  gleich  dem  Wurm,  in  altem  Moder  wühlet; 
Dort  thront  er  siegbewußt ;  vor  seinem  höchsten  Recht 
Beugt  sich  der  Glaube  tief,  des  Vorurteiles  Knecht!" 

,,0  Teufel,  was  ich  sonst  in  unbewachten  Stunden 
Zu  denken  kaum  gewagt,  du  sprichst  es  ungebunden. 
Ach!  daß  es  mich  ergreift,  mich  fesselt  mit  Gewalt, 
Daß  quälend  jetzt  der  Ruf  in  meinem  Innern  schallt: 
,,Du  hast  umsonst  gelebt!" 

,,Nur  keine  Zeit  verloren, 
Du  brauchst  zu  wollen  nur,  und  du  bist  neugeboren!" 
,,Doch  was  beginn'  ich  nun?" 

„Wie,  glaubst  du,  daß  du  hier, 
Im  gläubigen  Berlin,  in  diesem  Sandrevier, 
Zu  jener  Höhe  kannst,  zu  jenem  Frohsinn  dringen. 
Dem  Glauben  frank  und  frei  ein  Pereat  zu  bringen  ? 
Ich  führe  dich  nach  Bonn  zum  stolzen  grünen  Rhein, 
Da  wasche  dich  vom  Schlamm  des  Aberglaubens  rein, 
Da  führ'  in  Heiterkeit  ein  neues,  schönes  Leben 
Im  frischen  Bunde  mit  dem  treuen  Saft  der  Reben; 
Wo  alles  Atmen  Sieg,  wo  frisch  die  Brust  sich  hebt. 
Und  wo  der  Freiheit  Glut  in  allen  Adern  bebt!"   — 
,, Wohlan,  ich  folge  dir!"   — 

,,Und  wo  in  voller  Klarheit 
Aus  stolzem  Geisterkampf  ersteht  die  reine  Wahrheit; 
Hoch  auf  den  Trümmern  dort  von  kühn  zerstörten  Schranken 
Bau'  siegreich  den  Altar  der  freiesten  Gedanken!" 


2i8  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Zweiter  Gesang. 

O  weh  dir,  Bonn,  weh  dir,  frommste  der  Fakultäten, 

Tu'  Büß'  in  Asch'  und  Sack,  laß  nimmer  ab  vom  Beten! 

Auf  dem  Katheder,  wo  nur  Fromme  sich  gesetzt, 

Lehrt  durch  des  Teufels  List  der  tolle  Bauer  jetzt. 

Da  steht  er,  schäumt  vor  Wut,  ein  Teufelchen  im  Nacken, 

Ihn  lehrend,  wie  er  soll  die  Theologen  packen. 

Da  heult  er  auf  vor  Grimm,  ein  wasserscheuer  Hund, 

Und  also  spricht  der  Feind  durch  Bauers  Lästermund: 

,,0  laßt  euch  nimmer  durch  der  Theologen  Tücken, 

Durch  ihre  Gleißnerei  und  Hinterlist  berücken! 

0  seht,  wie  sie  den  Sinn  von  jedem  Wort  verdrehen, 

Wie  sie  auf  bösem  Pfad,  im  Dunkeln  schleichend  gehen; 

O  seht  die  schmutz'ge  Angst  dieser  Buchstabenknechte, 

Seht,  wie  sie  selber  stets  sich  schlagen  im  Gefechte! 

Gesalbte   Quälerei  und  Jesuitenlug, 

Sophistik  all'  ihr  Tun  und  gleißend  frommer  Trug! 

Dem  Dorf  Schulmeister  gleich,  dem  aus  der  Schul'  entlaufen 

Die  Kinder,  draußen  sich  nach  Lust  und  Kräften  raufen, 

Wie  der  mit  seinem  Stock  jagt  wütend  hinterdrein, 

Und  jene  vor  ihm  fliehn  mit  Lärmen,  Spott  und  Schrei *n  — 

So  auch  der  Theolog.    Stets  kommt  er  in  die  Brüche, 

Gerät  er  zwischen  des  Grundtextes  Widersprüche. 

Seht,  wie  er  zirkelt,  dreht,  drückt,  dehnt,  preßt,  quetscht  und 

Was  eben  er  gesagt,  im  Augenblick  vergißt,  [mißt, 

Seht,  wie  er  kocht  und  braut  in  seiner  dunst 'gen  Küche, 

Bis  endlich  mit  Geschrei  entfliehn  die  Widersprüche! 

Wie  jagt  er  ihnen  nach!    Wie  schreit  er  hinterdrein: 

Wollt  ihr  wohl  wieder  her?    Wollt  ihr  wohl  artig  sein! 

Wie  schwingt  er  zornentbrannt  des  Glaubens  heil'gen  Bakel, 

Wie  haut  er  mitten  in  den  gottlosen  Spektakel! 

Wie  er  sie  fängt  und  in  den  Hexenkessel  drückt. 

Bis  vor  dem  argen  Qualm  die  Armen  sind  erstickt! 

So  sind  sie  all',  so  sind  auch  die  Evangelisten, 

So  werden  stets  sie  sein,  so  lang'  es  gibt  noch  Christen! 

Wie  ein  Evangelist  den  andern  mißversteht. 

Wie  er  sich  windet,  quält,  den  Sinn  noch  mehr  verdreht, 

Wie  in  des  Widerspruchs  unrettbarer  Verwirrung 

Er  sich  nicht  helfen  kann,  und  stets  vermehrt  die  Irrung, 

Wie  er  des  andern   Schrift  zerstört,  zerreißt,  zerfetzt, 

Und  alledem  die  Krön'  Johannes  aufgesetzt; 

O  seht   — "    Da  hielten  sich  die  Gläubigen  nicht  länger: 


Der  Triumph  des  Glaubens.  219 

,, Hinaus  das  Lästermaul,  hinaus,  am  Galgen  häng'  er! 

Hinaus  mit  ihm,  dafür  ist  nicht  der  Lehrstuhl  da, 

Hinaus  mit  ihm,  hinaus,  hinaus,  Halleluja!" 

Doch  andre  schrie 'n:  ,, Hurrah I    hoch  lebe  Bruno  Bauer, 

Der  freien  Wissenschaft,  des  freien  Denkens  Mauer! 

Schweigt,  fromme  Heuchler,  schweigt,  sonst  zeige   Keilerei, 

Ob  wirklich  euer  Gott  ein  starker  Helfer  sei!" 

„Hinaus  den  Lügner!"  schallt  es  von  der  rechten  Seite, 

,, Hinaus  die  Gläubigen!"  schreit  links  die  Frevlermeute, 

,, Schweigt,  Atheisten,  still!"  —   „Ihr  frommen  Schafe  schweigt, 

Eh'  euch  der  Böcke  Schar  die  harten  Hörner  zeigt!" 

,,Hier  Christus!"  —  ,, Bauer  hier!"  — 

Und  mit  gewalt'gem  Rasseln 
Hört  man  der  Stöcke  Wucht  alsbald  herniederprasseln. 
Die  wilde  Schlacht  entbrennt,  es  hallt  das  Kampfgeschrei. 
Man  wirft  die  Pulte  um,  schlägt  jede  Bank  entzwei; 
Aus  Pulten  bauen  auf,  zum  Schutze  vor  den  Christen, 
Sich  eine  feste  Burg  die  frechen  Atheisten. 
Als  Bomben  werfen  sie,  in  dichter  Schar  vereint. 
Die  Dintenstecher  all',  die  Bibeln  auf  den  Feind. 
Vergebens  stürmen  an  auf  diese  Burg  die  Frommen, 
Der  dritte  Anlauf  selbst  hat  sie  nicht  eingenommen. 
Schon  blutet  manches  Haupt,  und  mancher  Fromme  sank, 
Durch  Atheistenhand  getroffen,  auf  die  Bank; 
Da  wirft  der  Frevler  Hand  die  Mauer  selbst  zur  Erde, 
Daß  rein  des  Kampfes  Feld  endlich  gefeget  werde. 
Sie'  stürzen  schnaubend  auf  die  Gottesstreiter  los. 
Die  Frommen  fliehn  erschreckt  vor  diesem  wilden  Troß: 
Das  Feld  ist  rein.   — 

Es  wogt  die  Flucht  im  Korridore, 
Doch  endlich  steht  die  Schar  der  Frommen  vor  dem  Tore. 
Zur  Hilfe  schickt  der  Herr  Pedelle  jetzt  herbei, 
Es  kommt  der  Rektor  an,  Senat  und  Klerisei. 
Erst  schlichten  wollen  sie,  des  Kampfes  Ursach  wissen; 
Doch  sind  sie  in  den  Strom  alsbald  hineingeiissen. 
Von  neuem  fürchterlich  erbraust  die  wilde  Schlacht; 
Wie  manch'  hochweises  Haupt  wird  windelweich  gemacht! 
Wie  mancher  krumme  Rücken  wird  hier  gerad  geschlagen! 
Wie  senkt  sich  manche  Nase,  die  sonst  so  hoch  getragen! 
Die  Luft  verdunkelt  sich  vom  ausgeklopften  Staub, 
Perücken  fliegen  rings,  dem  frechen  Wind  zum  Raub, 
Die  Philosophen  auch,  die  Herren  Positiven, 
Hei  wie  sie  vor  dem  Stoß  der  Atheisten  liefen! 


220  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1 841— 1842. 

Wie  greifst  du,  kleiner  Sohn  des  großen  Fichte,  aus! 

Zu  mager  bist  du  doch  zum  Atheistenschmaus! 

Wie  wird  Herrn  Brandis,  seht,  trotz  seinem  schnellen  Jagen 

Aus  seinem  Rocke  der  Systemstaub  ausgeschlagen! 

Was  hilft  es  ihnen,  daß  sie  Hegel  widerlegt. 

Wenn  Hegels  wilde  Brut  so  wütend  auf  sie  schlägt? 

Denn  immer  toller  drängt  der  Av,heisten  Rotte, 

Vor  ihren  Stöcken  wird  das  Gottvertrau 'n  zum  Spotte. 

Doch  nein,  sein  Auge  wacht;  denn  in  der  höchsten  Not, 
Die  seine  Gläubigen  mit  ärgstem  Schimpf  bedroht, 
Da  sendet  er,  den  Sieg  der  Bösen  zu  vereiteln. 
Den  stets  getreuen  Sack  mit  glatt  gekämmten  Scheiteln. 
Soeben  kommt  er  her  vom  Weinberge  des  Herrn: 
Am  Kirchenhimmel  glänzt  sein  graues  Aug'  ein  Stern. 
Es  ist  die  Nase  sein  des  Glaubens  starke  Säule, 
Es  triefet  stets  sein  Mund  von  Gottes  Wort  und  Heile. 
Ihn  trägt  die  Eselsmaid,  gar  wunderbar  beschweift; 
Ihn  kümmert  nimmer,  daß  sein  Fuß  am  Boden  schleift. 
Er  hat  mit  Gottes  Kraft  den  Bibeltext  erfunden 
Und  ihn  der  Eselsmaid  dicht  an  den  Schwanz  gebunden. 
Gesenkten  Hauptes  siizt  er  auf  der  Eselin, 
Unmerkbar  führt  der  Geist  das  Tier  zum  Kampfplatz  hin. 
Als  er  das  Tosen  hört,  der  Frechen  Jubilieren, 
Will  er  sein  frommes  Thier  auf  andre  Wege  führen. 
Doch,  die  so  folgsam  sonst,  die  treue   Eselsmaid, 
Sieh',  wie  sie  bäumt  und  stockt  und  springt  und  setzt  und  scheut. 
„Was  hast  du,  Tierchen,  denn?  Was  kommt  dir  in  die  Quere? 
Gehorche  meinem  Zaum,  sei  folgsam  doch  und  höre!" 
Doch  sie  gehorchet  nicht  und    klemmt  ihn  an  die   Wand; 
Da  faßt  zum  ersten  Mal  ergrimmt  den  Stock  die  Hand. 
Er  schlägt  und  schlägt  und  schlägt,  er  schlägt  und  schlägt  sie 
Doch  nimmer  weicht  das  Tier,  er  fällt  zur  Erde  nieder.       [wieder. 
Da  öffnete  der  Herr  der  Eselin  den  Mund, 
Und  seine  Absicht  tat  sie  dem  Erstaunten  kund: 
,,Was  schlägst  du  ?  Sieh'  den  Geist,  der  mir  den  Weg  versperret, 
Der  an  dem  Zaume  mich  zu  jenem  Kampfplatz  zerret! 
Wo  ist  dein  alter  Mut  ?    Auf,  stürz'  in  jenen  Streit, 
Wo  Atheistenwut  der  Glaub 'gen  Heer  bedräut! 
Tu*  auf  dein  Ohr,  o  Sack,  und  hör'  die  sel'ge  Kunde, 
Die  Gott  dir  offenbart  aus  deines  Viehes  Munde: 
Sack  hießest  du  bisher,  und  Beutel  heiß  hinfort. 
So  send'  ich   Beutel,  dich,  den  Streit  zu  schlichten  dort.'* 
Gen  Himmel  schauend,  sprach  der  fromme  Bruder  Beutel: 


Der  Triumph  des  Glaubens.  221 

,,0  Herr,  wie  ist  vor  dir  des  Menschen  Wissen  eitel! 

Die  Tiere  wählest  du  zu  deinem  Sprachrohr  aus ; 

Gehorsam  deinem  Ruf,  stürz  ich  in  Kampfesgraus." 

Er  sprach's  und  schnellgewandt  eilt  er  zum  Ort  der  Schrecken, 

Den  Matte,  Blutende,  Ohnmächtige  bedecken. 

Mit  lautem  Rufe  sprengt  der  Kühne  zwischen  sie 

Und  singt  den  Friedenspsalm  nach  Himmelsmelodie. 

Vor  seinem  Anblick  stehn  die  Kämpfenden  betroffen, 

Doch  Bruder  Beutel  steht,  und  sieht  den  Himmel  offen. 

,,Wie,"  ruft  er,  ,,an  dem  Ort,  wo  sonst  nur  Lobgesang 

Und  Glaubenswort  ertönt,  herrscht  Haß,  Neid,  Mord,  Sturm, 

Ihr  wollet,  wo  ich  seh'  den  Himmel  sich  zerteilen,  [Drang? 

Im  Angesicht  des  Herrn  die  Rücken  euch  zerkeilen  ?" 

Der  Frommen  Herde  lauscht,  zieht  schüchtern  sich  zurück, 

Der  Atheisten  Schar  lacht  drein  mit  frechem  Blick. 

Und  Bruder  Beutel  sprach:  ,,Hier  unten  Mord,  Getümmel, 

Doch  oben  ew'ge  Ruh'  und  Seligkeit  im  Himmel. 

Ich  seh'  die  Cherubim  um  des  Allmächt 'gen  Thron, 

Ich  seh'  das  Gotteslamm,  den  eingebornen  Sohn. 

Ich  seh'  die  Herrlichkeit  des  Herren  niederscheinen, 

Ich  seh'  die  Engelein  zum  Loblied  sich  vereinen. 

Ich  seh'   —  o  Seligkeit!  das  Lamm  tut  auf  den  Mund, 

Und  tut  den  Willen  sein  mir,  seinem  Knechte,  kund: 

,,,,Auf  den  ich  sonst  gehofft,  Bruno,  den  Theologen, 

Um  den  hat  uns  der  Feind  durch  seine  List  betrogen. 

Er,  welcher  betend  sonst  in  seiner  Klause  saß. 

Gibt  jetzt  mein  heilig  Wort  den  Gottlosen  zum  Fraß. 

Ein  wütend  Mordgeschlecht  hetzt  er  auf  meine  Frommen. 

Sein  Wille  soll  geschehn,  der  Fluch  soll  auf  ihn  kommen! 

So  sei  denn  du  erwählt;  zieh*  hin  durch  Berg  und  Tal, 

Und  sammle  du  zum  Kampf  die  Gläubigen  zumal! 

Laß  dich  dein  frommes  Tier  durch  alle  Lande  tragen. 

Und  predige  das  Wort  vom  Kreuze  sonder  Zagen! 

So  zieh*  den  Harnisch  an,  den  Harnisch  deines  Herrn, 

Denn  sieh',  des  Kampfes  Tag,  der  Tag  ist  nicht  mehr  fern. 

Umgürte  mit  dem  Gurt  der  Wahrheit  deine  Lenden, 

Der  Krebs  der  Rechtlichkeit  soll  dir  Bewährung  spenden. 

Gestiefelt  beide  Bein',  marschfertig,  zieh'  hinaus. 

Lösch'  auf  des  Glaubens  Schild  die  Höllenpfeile  aus. 

Setz'  auf  den  Helm  des  Heils,  ihn  trifft  kein  Schlag  des  Spottes, 

Vor  allem  schwinge  kühn  das  Schwert  des  Wortes  Gottes!**  ** 

Ja,  Herr,  ich  folge  di;,  es  zieht  hinaus  dein  Knecht, 

Zu  predigen  das  Wort  dem  sündigen  Geschlecht!** 


222  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Zur  Kirche  war  indes  gewallt  der  Frommen  Haufen, 
Doch  jene  gingen  hin,  wie  immer,  um  zu  saufen. 

Der  Bruder  Beutel   läßt  sein  Tier  nun  fürbaß  gehn, 
Und  singt:  „Ehre  sei  Gott,  dem  Herrn  in  Himmelshöhn, 
Den  Menschen  auf  der  Erd'  ein  süßes  Wohlgefallen!" 
Und  weithin  höret  man  das  fromme  Liedlein  schallen. 
So  zieht  er  selig  fort  und  überläßt  dem  Tier, 
Wohin  es  ihn. des  Wegs  in  Gottes  Namen  führ'. 

Indessen  sitzen  drei  in  Leipzig  still  zusammen, 
Drei  Männer,  längst  schon  reif  für  Satans  Höllenflammen. 
Der  wilde  Rüge  ist's,  der  dort  am  Tische  sitzt, 
Das  sorgenschwere  Haupt  auf  breite  Fäuste  stützt. 
Ein  Recke  wohlbeleibt,  friedfertig  anzuschauen. 
Doch  sind  wie  Schwerter  scharf  die  kampfgewohnten  Klauen. 
Behaglich  glaubst  du  ihn,  dem  Bierphilister  gleich. 
Doch  trägt  er  in  der   Brust  ein  ganzes  Höllenreich. 
O  Rüge,  lache  nur,  bald  kommet  das  Gerichte, 
Da  wird  auch  dir  man  ziehn  die  Maske  vom  Gesichte  I 
Der  andre,  welcher  schaut  ins  Glas  mit  schnödem  Trutz 
Und  Höllengreuel  sinnt,  das  ist  der  grimme  Prutz. 
Kein  menschliches  Gefühl  drang  je  in  seinen  Busen, 
Sein  Denken  und  sein  Tun,  sein  Fühlen  sind  Medusen. 
Den   Unbefangnen  sä't  sein  gleißend  glatter  Reim 
Ins  unschuldvolle  Herz  des  Atheismus  Keim. 
O  Prutz,  o  lache  nur,  bald  kommet  das  Gerichte, 
Da  wird  auch  dir  man  ziehn  die  Maske  vom  Gesichte! 
Der  Dritte  endlich  dort,  der  sich  den  Schnurrbart  streicht, 
Der  Blücher -Wigand  ist's,  an  Kniffen  unerreicht, 
Der  Gotteslästrer  nie  ermüdender  Verleger 
Und  durch  sein  Kapital  der  ganzen  Rotte  Träger. 
Ha!  lache,  Wigand,  nur,  mit  deinem  Bart  von  Blücher, 
Bald  kommet  das  Gericht,  du  bist  dem  Teufel  sicher! 

Sie  sitzen  um  den  Tisch  und  sehn  sich  grollend  an, 
Und  Wigand  spricht:  „Hab'  ich  darum  mein  Geld  vertan, 
Und  mußt  ich  darum  bloß  bis  jetzt  so  viel  bezahlen, 
Daß  man  verbietet  nun  die  Hallischen  Annalen?" 
„O  welche  schlechte  Zeit,"  spricht  Arnold  Rüge  wild, 
„Mit  Mühe  nur  mein  Blatt  des  Zensors  Blutdurst  stillt; 
Zwei  Drittel  Manuskript,  die  muß  er  mind'stens  haben, 
Und  dennoch  wollen  sie  mein  armes  Blatt  begraben!" 
Und  Prutz:  ,,0  wehe  mir,  seit  einem  halben  Jahr 
Ließ  mir  der  Zensor  durch  auch  nicht  ein  einzig  Haar! 


I  Der  Triumph  des  Glaubens.  223 

Aushungern  will  man  mich!    Wird's  besser  nicht,  ihr  Brüder, 

So  dicht'  ich,  wie  zuvor,  beim  Teufel!  Liebeslieder." 

,,Was  soll  man  anders  tun.'"*  spricht  Rüge  wild  danach, 

Ich  bin  beschränkt  schon  auf  den  Musenalmanach. 

Zum  Teufel  Hegelei!    Den  Busen  mir  zu  schwellen, 

Zieht  süße  Lieder  ein,  langweilige  Novellen!" 

,,Und  ich,"  fährt  Wigand  fort,  ,,ich  kriege  Müggen  'ran, 

Nehm*  seinen  neuesten  vierbändigen  Roman. 

Komm'  an  mein  Herz,  o  komm',  sanftmüt'ge  Belletristik, 

Dich  streicht  der  Zensor  nicht,  wie  Hegeische  Sophistik. 

Für  deutsche  Dichter  jetzt  breit'  ich  den  Fittich  aus. 

Kommt,  Minnesänger,  kommt,  Bierfiedler,  in  mein  Haus! 

Gebt  Brüder  mir  die  Hand,  wir  ändern  unsre  Führung, 

Wir  werden  jetzt  loyal,  es  lebe  die  Regierung!" 

Da  tritt  der  Teufel  ein:   ,,Ihr  jämmerlicher  Schund!" 
Fährt  er  die  Freien  an  mit  flammensprühndem  Mund ; 
,,Ist  das  der  Heldenmut,  das  euer  kühnes  Wagen, 
Vor  eines  Zensors  Spruch,  vor  dem  Verbot  zu  zagen  ? 
O  schämen  muß  ich  mich,  daß  ich  auf  euch  vertraut, 
Den  Esel  nicht  erkannt  in  seiner  Löwenhaut! 
Ha,  wartet!    Kann  ich  euch  erst  in  der  Hölle  packen, 
Wie  will  ich  da  mit  Lust  euch  peinigen  und  placken! 
Nein!  das,  du  feiger  Troß,  das  wäre  mir  zu  klein: 
Zum  Himmel  jag'  ich  euch,  zu  Gott  dem  Herrn  hinein!" 
,,So  sei  vernünftig  doch!"  sagt  Wigand  ihm  dagegen, 
,,Was  fangen  wir  denn  an?    Führ*  uns  auf  bessern  Wegen!" 
,,Ihr  seid  wie  Ochsen  dumm,  der  Teufel  zornig  spricht, 
Ihr  sehet  ja  den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht! 
Bindet  den  Hallischen  Annalen  man  die  Hände, 
So  nennt  ihr  Deutsche  sie,  und  alles  ist  zu  Ende. 
Und  mir  nur  überlaßt  die  Sorge  der  Zensur, 
Das  findet  alles  sich,  es  gilt  Courage  nur! 
Wer  mit  dem  Teufel  steht  auf  Du  und  Du  im  Bunde, 
Der  dsirf  nicht  feig  entfliehn  vor  jedem  Lumpenhunde! 
Jetzt  also  fasset  Mut!    Ich  muß  noch  weiter  heut', 
Ihr  wütet  vor  wie  nach  für  die  Gottlosigkeit!" 

Er  sprach  es  und  verschwand.    Da,  wider  alles  Hoffen,, 
Tritt  Bruder  Beutel  ein,  und  sieht  den  Himmel  offen. 
Ihn  trägt  die  Eselin,  die  Gottes  Sprachrohr  ward, 
Sie  wird  ihn  tragen  auch  bei  seiner  Himmelfahrt. 
Zum  Himmel  schaut  er  auf  mit  gott verzückten  Blicken, 
Und  spricht:  ,,0  Lästerschar,  ich  kenne  deine  Tücken I 


224  ^^^  ^^^  Militärzeit  in  Berlin.     1841— 1842. 

So  spricht  dei   Herr  dein  Gott:  Ihr  seid  des  Teufels  Brut, 

Ihr  dürstet  immerdar  nach  dei   Gerechten  Blut; 

Noch  einmal  will  ich  euch  durch  meinen  Knecht  berufen, 

Daß  ihr  euch  demütigt  vor  meines  Thrones  Stufen. 

Tut  Buße,  spricht  der  Herr!    und  kriecht  vor  mir  in  Staub, 

Eh'  ihr  hinfallt  zuletzt  dem  Höllenfeu'r  ein  Raub. 

So  spricht  der  Herr  dein  Gott:  Wollt  ihr  euch  nicht  bekehren. 

So  will  ich  euch  im  Bauch  das  Eingeweid  zerstören; 

Zur  süßen  Speise  geb'  ich  dieses  Schandgeschlecht, 

Euch  meinem  Hengstenberg  und  Beuteln,  meinem  Knecht; 

Es  sei  der  Frommen  Leib  euch  ein  lebendig  Grab! 

So  spricht  der  Herr  dein  Gott!"    —  Und  damit  zog  er  ab. 

Dritter  Gesang. 

Was  seh*  ich!  Wüst  ein  Heer,  das  ganz  von  Lästrung  funkelt, 
Ob  sich  bei  seiner  Schau  die  Sonne  nicht  verdunkelt  ? 
Wer  sind  sie?    Wie  mit  Hast  sie  kommen  Mann  für  Mann! 
Von  Süden,  Norden,  Ost  und  Westen  ziehn  sie  an. 
Germaniens  Auswurf  ist's ;  sie  kommen,  zu  beraten 
Und  zu  berauschen  sich  in  neuen  Freveltaten. 

Schon  fühlten  sie  die  Hand  des  Herren  über  sich, 
Schon  maßen  sie  den  Sturz,  in  den  sie  fürchterlich 
Des  Satans  Kralle  riß  —  schon  wollten  sie  verzagen, 
Den  Atheismus  schon  zu  allen  Teufeln  jagen  ^ 
Da  scholl  des  Arnolds  Ruf,  er  fordert  alle  Frei'n 
Nach  Bockenheim  zusamt  zu  höllischem  Verein: 
,,Auf,  auf,  ihr  Freien  all'!    Was  sitzt  ihr  an  den  Kunkeln, 
Wenn  die  Romantiker  die  Welt  ringsum  verdunkeln  ? 
Wenn  die  Reaktion  sich  reget,  wenn  verschmitzt 
Der  Wissenschaft  schon  halb  sie  in  dem  Nacken  sitzt? 
Der  Bauer  ist  bedroht;  an  wütige  Censoren 
Geht,  was  ihr  denkt  und  schreibt,  zum  größten  Teil  verloren; 
Drum,  Freie  allesamt,  horcht  meinem  Manifest, 
Vorausgesetzt,  daß  es  der  Zensor  drucken  läßt: 
Es  ist  jetzt  hohe  Zeit,  daß  wir  als  Diplomaten 
Die  heil'ge  Allianz  ernst  im  Kongreß  beraten. 
Seht  ihr,  wie  sie  sich  müht,  die  hohe  Polizei, 
Zu  tilgen  überall  das  kleine  Wörtchen  frei? 
Wie  der  Gendarmerie  das  Gotteslamm  sich  eint. 
Und  gleichfalls  nur  zum  Vieh  herabzuwürd'gen  meint? 
Wohlauf,  ihr  Freien,  denn  zum  schönen  Bockenheim, 
Dort  pflanzen  wir  vereint  der  neuen  Taten  Keim!" 


Der  Triumph  des  Glaubens.  225 

Kaum  war  das  Manifest  in  alle  Welt  ergangen, 
Welch'  fürchterlicher  Drang,  welch'  freventlich'  Verlangen 
Erstand  in  frecher  Brust,  nach  Bockenheim  zu  ziehn; 
Die  Frechsten  sendete  vor  Allen  doch  Berlin. 
Schamlos  ziehn  sie  daher,  voran  der  breite  Arnold, 
Ihm  nach  in  wilder  Jagd  ein  wüster  Zug  von  Narr'n  tollt; 
Weit  übertraf  er  noch  den  Jakobinerklub, 
Der  hinter  Arnold  tost,  der  Atheistentrupp. 
Siehst  du  den  Koppen  dort  mit  dem  bebrillten  Haupte, 
Den  gänzlich  guten  Mann   —  wenn 's  Rüge  nur  erlaubte. 
Doch  Arnolds  blinde  Wut  hat  ganz  ihn  angesteckt: 
An  seine  Seite  hat  den  Degen  er  gesteckt, 
Ein  langes,  rost'ges  Ding,  gleich  einem  Teufelsschwanze, 
Umwedelt's  wunderbar  die  Waden  ihm  im  Tanze. 
Ihn  zieren  Epauletts,  ein  Rohr  trägt  seine  Hand, 
Er  braucht's,  den  Wissensdrang  der  Jugend  zornentbrannt 
Herauszupauken.   —  Seht,  ihm  folgt  der  freie  Maien  — 
Europa  kennet  ihn  —  er  ist's,  an  dem  sich  freuen 
Der  Bösen  Böseste ;  geborner  Atheist, 
Der  schon  seit  Mutterleib  täglich  im  Voltaire  liest. 
So  hold,  so  zart,  so  klein  —  o  arger  Teufel  Maien! 
Wer  sind  die  Rangen,  die  an  deiner  Seite  schreien? 
Weh',  deine  Neffen  sind 's!    Auch  sie  verführest  du? 
Gleich  mit  Familie  fährst  du  dem  Teufel  zu  ? 
Doch  der  am  weitsten  links  mit  langen  Beinen  toset, 
Ist  Oswald,  grau  berockt  und  pfefferfarb  behoset, 
Auch  innen  pfefferhaft,  Oswald,  der  Montagnard, 
Der  wurzelhafteste  mit  Haut  und  auch  mit  Haar. 
Er  spielt  ein  Instrument:  das  ist  die  Guillotine, 
Auf  ihr  begleitet  er  stets  eine  Kavatine; 
Stets  tönt  das  Höllenlied,  laut  brüllt  er  den  Refrain: 
Formez  vos  bataillons!   aux  armes,  citoyens! 
Wer  raset  neben  ihm,  bemuskelt  wie  ein  Brauer  ? 
Das  ist  der  Blutdurst  selbst,  es  ist  der  Edgar  Bauer. 
Sein  braunes  Antlitz  ist  von  Bartgesproß  umwallt. 
An  Jahren  ist  er  jung,  an  Listen  ist  er  alt. 
Von  außen  blaubefrackt,  von  innen  schwarz  und  zottig. 
Von  außen  Modemann,  von  innen  sansculottig. 
O  seht  das  Wunder,  seht,  sein  Schatten  selber  trampst, 
Sein  arger  Schatten,  den  er  Radge  zubenambst. 
Seht  Stirner,  seht  ihn,  den  bedächt'gen  Schrankenhasser, 
Für  jetzt  noch  trinkt  er  Bier,  bald  trinkt  er  Blut  wie  Wasser. 
So  wie  die  andern  schrein  ihr  wild:  ä  bas  les  rois! 

Mayer,  Engels.    Ergäczungsbaad.  I5 


226  -Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1 841  — 1842. 

Ergänzet  Stirner  gleich:  ä  bas  aussi  les  lois! 

Es  trippelt  hinterher,  die  grünen  Zähne  weisend, 

Mit  ungekämmtem  Haupt  und  vor  der  Zeit  ergreisend, 

Ein  seifenscheuer  und  blutscheuer  Patriot, 

Von  innen  schmeidig-zart,  von  außen  Sanskulott. 

Arnold  der  Wilde  vorn,  der  Atheisten-Czare, 

Er  schwingt  an  seinem  Stock  diverse  Exemplare 

Der  Hallischen  Annalen ;  ihm  folget  ungezählt 

Der  Schwärm,  den  Satan  sich  zum  Fraß  hat  auserwählt. 

Kaum  sind  zur  Stelle  sie,  da  tost  heran  der  Bauer, 

Gehüllt  in  Qualm  und  Dampf  und  Höllenregenschauer. 

Er  rast  im  grünen  Rock,  ein  schmaler  Bösewicht, 

Den  Höllensohn  verrät  das  lauernde  Gesicht. 

Er  schwingt  die  Fahne  hoch,  daß  rings  die  Funken  flogen 

Von  seiner  Schmachkritik  der  Bibel  einen  Bogen. 

Wer  jaget  hinterdrein  mit  wildem  Ungestüm? 

Ein  schwarzer  Kerl  aus  Trier,  ein  markhaft  Ungetüm. 

Er  gehet,  hüpfet  nicht,  er  springet  auf  den  Hacken 

Und  raset  voller  Wut,  und  gleich,  als  wollt'  er  packen 

Das  weite  Himmelszelt,  und  zu  der  Erde  ziehn, 

Streckt  er  die  Arme  sein  weit  in  die  Lüfte  hin. 

Geballt  die  böse  Faust,  so  tobt  er  sonder  Rasten, 

Als  wenn  ihm  bei  dem  Schopf  zehntausend  Teufel  faßten. 

Patriziermäß'gen  Gangs  ein  Jüngling  folgt  aus  Köln, 

Zum  Himmelreich  zu  arg,  zu  fein  dem  Schlund  der  Höll'n. 

Aristokrate  halb,  und  halb  ein  Sansculotte, 

Ein  feiner  reicher  Herr  mit  faltigem  Jabote; 

Doch  seine  Seele  zählt  der  argen  Falten  mehr, 

In  seiner  Tasche  sitzt  ein  ganzes  Teufelsheer 

Mit  goldigem  Gesicht.    Und  Rtg,  der  schnöde. 

Er  baumelt  hinterher,  mit  seiner  Faust  nicht  blöde. 

Aus  seinem  Munde  steigt  ein  ewig  gleicher  Rauch, 

Ein  Höllentabaksqualm  —  das  ist  sein  schnöder  Brauch. 

Wenn  in  dem  Munde  hängt  die  ellenlange  Pfeife, 

Er  nimmt  sie  nur  heraus,  zu  keifen  sein  Gekeife. 

Doch  wer  von  Süden  dort  kommt  mutterseelallein, 

Verschmähend  jeden  Trost,  er  selber  ein  Verein, 

Er  selbst  ein  ganzes  Heer  von  frechen  Atheisten, 

Er  selbst  ein  ganzer  Schatz  von  argen  Teufelslisten, 

Er  selbst  ein  ganzer  Strom  von  Lästerung  und  Schmach, 

Es  ist,  hilf  Sankt  Johann!    —  der  grause  Feuerbach. 

Er  rast  und  springet  nicht,  er  schwebet  in  den  Lüften, 

Ein  grauses  Meteor,  umwallt  von  Höllendüften. 


Der  Triumph  des  Glaubens.  227 

In  seiner  einen  Hand  den  blinkenden  Pokal, 
Und  in  der  andeien  des  Brotes  labend  Mahl, 
Sitzt  bis  zum  Nabel  er  in  einem  Muschelbecken, 
Den  neuen  Gottesdienst  de;"  Frechen  zu  entdecken. 
Das  Fressen,  Saufen  und  das  Baden,  sagt  er  frei, 
Daß  dies  die  Wahrheit  nur  der  Sakramente  sei. 
Ein  Hoch  empfanget  ihn,  ein   Brüllen,  Jubilieren; 
Man  muß  ihn  auch  sogleich  in  eine   Kneipe  führen. 
Ein  Durcheinanderschrein,  ein  Toben  fängt  hier  an, 
Das  keiner  in  dem  Saus  zu  Woxte  kommen  kann. 

Sie  sitzen  nimmer  still,  sie  schwirren,  drängen,  schieben. 
Vom  bösen  Geiste  stets  im  Kreis  herumgetrieben. 
Es  läßt  sie  nimmer  ruhn  des  Stillstands  toller  Haß, 
Zur  Ordnung  schreiet  man  umsonst  ohn'  Unterlaß. 
Da  faßt  wilder  Grimm  den  gänzlich  guten  Koppen, 
Den  ordnungsfrohen  Mann:  ,,Bin  ich  in  wilden  Steppen? 
Ihr  roher  Hordenschwarm,  vergeßt  ihr  immerdar. 
Was  von  der  Reis'  hieher  der  erste  Anlaß  war? 
O  Arnold,  treuer  Hort,  heb*  an  das  Disputieren, 
O  sage,  willst  du  uns  zu  gutem  Ausweg  führen?" 
Oswald  und  Edgar  schrein  in  brüllendem.  Verein: 
,,Hört,  Hört!    Genug,  genug  das  ordnungslose  Schrein!" 
Still  ward  es  alsobald,  und  Arnold,  der  indessen 
Ganz  in  Harmlosigkeit  drei  Beefsteaks  aufgegessen, 
Den  letzten  Bissen  noch  würgt'  er  in  seinem  Schlund, 
Da  öffnet'  er  alsbald  zum  Reden  seinen  Mund: 
,,]fla,  welch'  treffliche  Schau  rings  im  Verein!  Freie  zum  Kampf 

[bereit 
Und  zu  gehn  in  den  Tod,  immer  am  Platz,  wenn's  die  Idee  gebeut. 
Seht,  die  Reaktion  hält  uns  am  Schopf,  wie  mit  dem  Stock  sie 

[dräut ; 
Doch  sie  bändigt  uns  nicht,  wenn  ihr,  o  Freund',  einig  und  tapfer 
Nicht  länger  lassen  ihn  Oswald  und  Edgar  reden,  [seid.** 

Sie  springen  auf  den  Tisch  und  brüllen  laut  die  Beeden: 
,,Der  Worte  haben  wir  genug  von  dir,  Rüge, 
Gehört;  wir  wollen  heut'  mit  Kraft  und  Mark:  Taten!" 
Ein  wildes  Bravo  schallt,  ein  Echo,  schlechtberaten, 
Es  brüllte  stets  und  stets:  ,,Ha,  Taten,  Taten,  Taten!" 
Und  spöttisch  lächelnd  rief  der  Arnold  nun  darein: 

„Unsere  Taten  sind  nur  Worte  bis  jetzt  und  noch  lange, 
Hinter  die  Abstraktion  stellt  sich  die  Praxis  von  selbst." 
Indessen  hatten  schon  die  beiden  wilden  Schreier 
Gehoben  auf  den  Stuhl  in  ihrem  Tatenfeuer 

15 


228  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841—1842. 

Den  tollen  Bruno;  seht,  es  reiht  sich  eine  Schar 

Um  sie,  man  hebt  ihn  hoch,  da  schwebt  er  gleich  dem  Aar. 

Seht,  wie  die  wilde  Brunst  in  seinen  Augen  funkelt, 

Wie  Zornesfaltenwurf  die  ganze  Stirn  verdunkelt. 

Hört,  wie  es  brüllend  rast.  —  Doch  gegenüber,  weh'! 

Das  schwarze  Ungetüm  erklettert  Rtg. 

Hört,  wie  er  brüllt  und  tost!    Hört  wie  sie  beide  brüllen: 

,,Wie  lange  willst  du  uns  den  Durst  mit  Worten  stillen?" 

Bauer:  ,, Siehst  du.  Verblendeter, 

Siehst  du  die  Frommen, 

Ha,  wie  sie  kommen!" 
Ungetüm:      ,,Ihr  frommes  Heer, 

Wächst  mehr  und  mehr." 
Bauer:  ,, Beutel  zieht  um, 

Verwirrt  das  Publikum." 
Ungetüm:     „Gott  Vater  soll  schon  längst  daran  denken, 

Der  Erd'  einen  neuen  Messias  zu  schenken." 
Bauer:  ,, Nicht  Ein  Lamm  macht  uns  jetzt  Beschwerde, 

Uns  dränget  vom  Lämmern  'ne  ganze  Herde." 
Ungetüm:      ,,Der  heil'ge  Geist 

In  tausend  Gestalten  auf  Erden  reist." 
Beide:  „Uns  plaget  nicht  nur  die  Dreieinigkeit, 

Auch  der  Polizei  und  des  Glaubens  Zweieinigkeit." 
Ungetüm:      „Wenn  sie  nicht  feiern, 

Wollen  wir  leiern  ?" 
Bauer:  ,,Sie  nehmen  die  Waffen, 

Wir  sollen  nun  gaffen  ?"| 
Schon  rief  man  hier  und  dort:  „Wir  sind  zum  Kampf  bereit!" 
Durch  Feuerbach  entbrennt  jedoch  ein  neuer  Streit. 
Er  schrie:  ,,Was  sollen  wir  solange  denn  beraten, 
Wenn  jemand  Taten  will,  so  tu'  er  selber  Taten! 
Sein  eigner  Helfer  steht  für  sich  der  freie  Mann, 
Und  was  er  immer  tut,  hab'  er  allein  getan!" 
Seht,  Koppen  stehet  auf,  es  leuchtet  seine  Brille, 
Vor  seinem  Jovishaupt  sind  rings  die  Freien  stille: 
,,Was  hast,  o  Feuerbach,  du  gegen  den  Verein? 
Es  wird  der  Unordnung  gewehrt  durch  ihn  allein; 
Des  Fortschritts  Strom  wird  dann  in  Ruhe  sich  ergießen. 
Und,  was  das  Beste  ist,  kein  Tröpfchen  Blut  wird  fließen!" 
Edgar  und  Oswald  schrein:  „Verfluchter  Girondist, 
Kraftloser  Schwärmer,  geh',  du  bist  kein  Atheist!" 
Doch  Stirner  würdevoll:  ,,Wer  bindet  ihm  den  Willen? 
Wer  will  hier  ein  Gesetz  aufdrängen  uns  durch  Brüllen? 


Der  Triumph  des  Glaubens.  229 

Den  Willen  bindet  ihr,  ihr  wagt's  und  nennt  euch  frei, 

Wie  seid  ihr  eingelebt  noch  in  die  Sklaverei! 

Weg  Satzung,  weg  Gesetz!"  —  Schon  war  durch  diese  Irrung 

Der  höllische  Kongreß  in  völliger  Verwirrung, 

Da  teilet  sich  das  Dach,  und  Blücher -Wigand  schießt 

Hernieder  in  den  Saal  auf  eignem  Flieggerüst; 

Er  ritt,  o  Teufelsspuk!  hoch  auf  papiernem  Drachen. 

..Was",  ruft  energisch  er,  ,,v/olll  ihr  für  Streiche  machen? 

Hier  seht  mich  fahren 

Auf  Exemplaren 

Der  Deutschen  Jahrbücher, 

Die  ich  mir  geklebt, 

Die  ich  mir  gewebt. 

Ich,  euer  Blücher! 

Wenn  sie  mich  durch  die  Lüfte  tragen, 

Wollt  ihr  verzagen  ? 

Wehe,  wehe! 
Frankfurts  Nähe, 
Gibt  sie  gutes  Beispiel  nicht  ? 
Dort  ist  Einigkeit  und  Stille, 
Und  der  Allerhöchsten  Wille 
Ist  den  Hohen  und  den  Höchsten, 
Ist  den  Kleinen  und  den  Kleinsten 
Leitstern,   Überzeugung,  Licht! 
Wehte   —  v/ehe!   — 
Frankfurts  Nähe 
Euch  herüber  schlechten  Wind  ? 
Kann  der  Freie  nicht  bestehen, 
Wo  des  Bundes  Winde  wehen  ? 
Nun,  so  folget  mir  geschwind! 

Nach  Leipzig  laßt  uns  ziehen,  dort  hab'  ich  aufgetürmt 
Die  schönsten  Batterien,  die  nie  ein  Frommer  stürmt. 
Das  Haus,  in  dem  ich  sonst  mit  Hegelei  gehandelt, 
In  eine  feste  Burg  ist  es  jetzt  umgewandelt. 
Im  Gutenberge  denn,  in  Leipzig  sammelt  euch. 
Das  Zentrum  des  Verlags  sei  Zentrum  auch  vom  Reich." 

,,Ja,  auf  nach  Leipzig  hin!"  so  schallt's  von  allen  Seiten. 
,,Dort  sei  der  Mittelpunkt  für  das  vereinte  Streiten." 
Und  alle  brechen  auf,  und  Wigand  schwebt  voran. 
Und  nur  der  Feuerbach  zieht  einsam  seine  Bahn.  — 

Doch  fort  von  dieser  Schau,  mir  winken  Friedenstale, 
Mir  winkt  die  Stadt  des  Herrn,  winkt  Halle  an  der  Saale, 
O  sel'ge  Stadt,  getreu  bestehst  du  vor  dem  Herrn! 


230  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Des  Teufels  List  zum  Trotz  strahlt  heller  stets  dein  Stern, 

Dir  tut  die  Jauche  nichts,  die  Rüge  ausgeeitert, 

Air  seine  Pläne  sind  an  deiner  Treu'  gescheitert! 

Drum  zog  er  wütend  ab,  und  kehret  nicht  zurück; 

O  danke,  Stadt,  dem  Herrn  für  solchen  Sieg  und  Glück! 

Und  sieh,  die  Gläubigen,  die  Auserwählten  alle 

Versammeln  sich  zu  Lob  und  Preis  mit  süßem  Schalle. 

O  sieh',  welch'  feine  Schar!  sieh*  jenen  Schuster  vorn, 

Sein  hektisch  dürrer  Leib  ist  ihm  der  Andacht  Sporn. 

Sieh  dort  den  Schenkwirt  an  des  Mäßigkeitsvereines, 

Er  schenkt  euch  aus  für's  Geld  Trinkwasser,  klares,  reines. 

Der  Friede  Gottes  hellt  sein  Vollmondsangesicht  - 

O  sehet,  was  vermag  ein  fester  Glaube  nicht! 

Seht  jenes  Mütterchen,  die  Sünde  beugt  sie  nieder, 

Doch  Seligkeit  durchstrahlt  die  abgestorbnen  Glieder. 

Sie  singt  ein  geistlich  Lied  mit  lieblichem  Gekreisch, 

Und  kreuzigt  Tag  und  Nacht  ihr  ausgedörrtes  Fleisch. 

Und  seht,  o  sehet  hier  des  Saalenstrandes  Leuen, 

An  dessen  Glaubenskraft  sich  Gottes  Engel  freuen. 

Im  Glauben  griff  er  an  der  Hegelinge  Schar, 

Im  Glauben  schützte  er  den  Thron  und  den  Altar, 

Im  Glauben  hat  er  die  gottlose  Weltgeschichte 

Verbessert,  umgewandt,  verklärt  im  Himmelslichte. 

O,  komm*,  du  treue  Schar,  geh'  in  das  Kämmerlein 

Und  singe  deinem  Gott  ein  Loblied  zart  und  fein! 

O  hört,  wie  liebelich  das  Liedelein  erschallet. 

Gleich  Opferrauch  empor  zum  Thron  der  Gnaden  wallet: 

O  Herr,  wir  sind  vor  dir  ein  Aas, 
Ein  Pestgestank,  ein  Rabenfraß, 
Im  Schinderloch  der  Sünden! 
Wir  sind  von  Mutterleib  grundschlecht, 
Zertritt  uns,  so  geschieht  uns  recht 
Für  unsre  argen  Sünden! 
Wenn  auch,  dennoch  hast  du  gnädig 
Uns  entledigt 
Von  dem  Krebs,  der  uns  beschädigt. 

Du  läßt  uns  in  den  Himmel  ein 
Zu  deinen  lieben  Engelein 
Und  wäschest  uns  vom  Schlamme. 
Du  hast  den  Bösen  weggejagt. 
Der  uns  stets  Unruh'  hat  gebracht, 
Friß  ihn,  und  ihn  verdamme! 


Der  Triumph  des  Glaubens.  231 

Glühend,  sprühend  in  der   Hölle 

Schlimmster  Stelle 

Laß  ifin  braten 

Für  die  schnöden  Sündentaten! 

Der  Schuster  stellet  sich,  o  sieh',  auf  einen  Stuhl, 

Und  predigt  schrecklich  laut  vom  Höllenschwefelpfuhl: 

,,Seht  ihr  den  grausen  Schlund,  der  qualmend  sich  ergießet, 

Der  Schwefel,  Pech  und  Feu'r  auf  alle  Lande  gießet! 

Seht,  wie  er  kocht  und  braut  und  lauter  Teufel  speit, 

Zu  fressen,  zu  verzehr 'n  die  ganze  Christenheit! 

Seht,  wie  er  weithin  streut  der  Hölle  schwarzen  Samen! 

Groß  ist  der  Herr,  dein  Gott,  die  Welt  geht  unter.    Amen." 

,,Ja  wahrlich,  also  ist's,"  so  ruft  der  Leu  begeistert, 

,,Die  Teufel  ziehen  nackt,  selbst  nicht  die  Scham  verkleistert. 

Die  große  Hure  kommt  vom  schnöden  Babylon, 

Die  Göttin  der  Vernunft,  die  Revolution! 

Bauer  ist  Robespierre,  und   Danton  lebt  in  Rüge, 

Marat  ist  Feuerbach,  o  daß  ihn  Gott  verfluche! 

Drum  nehmet,  Gläubige,  der  Zeiten  wohl  in  Acht! 

Es  kommt  der  Tag  des  Herrn,  o  betet,  betet,  wacht!" 

Er  sprach's  und  siehe  da   —  und  alle  stehn  betroffen   —    — 
Tritt  Bruder  Beutel  ein  und  sieht  den  Himmel  offen. 
Ihn  trägt  die  Eselin,  die  Gottes  Sprachrohr  ward, 
Sie  wird  ihn  tragen  auch  bei  seiner  Himmelfahrt. 
Zum  Himmel  schaut  er  auf  mit  Gottvertraun  und  Stärke 
Utid  spricht:  ,,0  fromme  Schar,  ich  kenne  deine  Werke. 
So  spricht  der  Herr,  dein  Gott:  Gehorchet  meinem  Knecht, 
Den  ich  erwählt,  mein  Heer  zu  führen  in 's  Gefecht. 
Gehorchet  ihm,  gehorcht,  gehorchet  Bruder  Beuteln, 
Er  wird  des  Teufels  List  und  Trug  und  Macht  vereiteln. 
So  spricht  der  Herr;  und  ich  fiel  demutsvoll  auf's  Knie, 
Und  sprach:   Du  rufst,  o  Herr,  ich  folge  dir  und  zieh'. 
So  zog  ich  mutig  aus,  das  Wort  des  Herrn  zu  kündigen, 
Das  angenehme  Jahr  des  Herrn  der  Welt,  der  sündigen. 
Und  in  die  Schlösser  ging  ich,  in  die  reichen,  hin 
Zu  vornehmem  Geschlecht,  zu  Fürst  und   Königin. 
Doch  dies  Geschlecht,  das  stets  nach  ird 'sehen  Gütern  trachtet. 
Nach  eitler   Ehre  geizt,  hat  mich  geschmäht,  verachtet. 
Sie  saßen  um  den  Tisch  in  wilder  Völlerei, 
Genossen  Augenlust  und  Fleischeslust  dabei. 
Da  ging  ich  fort,  den  Staub  von  meinen  Füßen  schüttelnd. 
Doch  zu  mir  sprach  der  Herr,  mich  nachts  vom  Schlafe  rüttelnd: 


232  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

,;  ,,Gehn  nicht  zum  Himmelreich  die  Reichen  ein  so  schwer, 

Als  ein  Kameel  du  machst  gehn  durch  eine  Nadelöhr  ? 

Wie  steht  geschrieben  ?  Geh'  hinaus  auf  die  Landstraßen, 

Die  Armen  führe  her,  die  Blinden  von  den  Gassen, 

Die  Krüppel,  Lahmen  laß  herein  zum  Abendmahl, 

Die  an  den  Zäunen  stehn,  ruf*  an  mit  lautem  Schall. 

Da  sind  die  wahren  Leut',  das  ist  der  Kern  des  Heeres, 

So  geh'  und  sammle  sie,  wirb  Knechte  und  vermehr'  es!"" 

So  sprach  der  Herr,  und  ich,  ich  komme  allsogleich, 

Gehorsam  seinem  Wort,  ihr  Gläubigen,  zu  euch. 

Gehorcht  dem  Ruf  des  Herrn,  bald  wird  der  Morgen  tagen, 

Wo  mit  dem  Teufel  wird  die  große  Schlacht  geschlagen. 

Die  Freien  scharen  sich,  gen  Leipzig  zieht  ihr  Heer, 

Und  Blücher -Wigands  Haus  ist  ihnen  feste  Wehr. 

Dort  hinter  Ballen  stehn  und  Büchern  sie  verschanzet, 

Dort  wird  der  Kampfestanz,  der  heil'ge  Tanz  getanzet. 

Hier  gilt  Beständigkeit  und  starker  Mut  im  Sturm, 

Daß  wir  einnehmen  bald  der  argen  Frevler  Turm. 

So  schart  euch,  Brüder,  denn,  seid  stark  in  Lieb'  und  Hoffen, 

Am  Glauben  haltet  fest!    Ich  seh'  den  Himmel  offen. 

Der  Glauben  ist  das  A  und  auch  das  Omega, 

Im  Glauben  bist  du  groß,  Halle,  Halleluja! 

Im  Glauben  hat  die  Maid  den  Gottessohn  empfangen. 

Im  Glauben  spie  der  Fisch  den  Jonas  aus,  den  bangen. 

Im  Glauben  tat  der  Herr  das  Evangelium  kund. 

Im  Glauben  sprach  zu  mir  der  Herr  durch  Eselsmund. 

Im  Glauben  sah  das  Licht  der  Blinde  wider  Hoffen, 

Im  Glauben  blick'  ich  auf  und  seh'  den  Himmel  offen. 

Im  Glauben  ruf  ich  laut:  credo  ut  intelligam. 

Im  Glauben  halt'  ich  fest  am  rauhen  Kreuzesstamm. 

Im  Glauben  ist  mein  Tun,  im  Glauben  ist  mein  Hoffen, 

Im  Glauben  blick'  ich  auf  und  seh'  den  Himmel  offen: 

Und  zu  mir  spricht  der  Herr:  Laß  meinen  Knecht,  den  Leu'n, 

Von  der  Hallenser  Schar  den  kühnen  Hauptmann  sein. 

Durchziehe  Land  und  Stadt,  geh'  ein  in  alle  Burgen 

Und  wirb  Soldaten  an  und  Kompagniechirurgen. 

Und  ruhe  nimmer  aus,  bei  Tage  wie  bei  Nacht, 

Daß  bald  der  Frommen  Heer  zusammen  sei  gebracht. 

So  spricht  der  Herr,  dein  Gott,  so  sei's  mein  Hort  und  Hoffen! 

Lebt  wohl,  ihr  Brüder  lieb,  ich  seh'  den  Himmel  offen!"   — 


Der  Triumph  des  Glaubens.  233 

Vierter   Gesang. 
Was  seh'  ich!    Sankt  Johann,  erleuchte  meine^ Blicke, 
Daß  deiner  Dichterei  Gewalt  mich  schier  verzücke ; 
Der  mit  geweihtem  Aug'  den  Engel  Michael 
Im  Drachenkampfe  schaut',  o  lautre  meine  Seel'! 
Was  seh'  ich!    Ha,  er  naht,  er  naht  der  Tag  des  Richtens, 
Der  Tag  der  letzten  Schlacht,  der  Tag  naht  des  Vernichtens! 
Was  seh'  ich!    Ein  Gewölk,  das  rings  des  Himmels  Kreis 
Umzog,  es  steigt  herauf,  erst  sacht*,  erst  schmeichelnd-leis ; 
Doch  plötzlich,  wie  der  Leu,  voll  Gier  nach  seiner  Beute, 
Rast  es  gewaltig  an.    Die  ganze  Höllenmeute 
Zischt  durch  der  Wolken  Dunst ;  mit  feuerglüh 'ndem  Schwanz 
Zerpeitschen  sie  die  Luft;  in  wildem  Hexentanz 
Drehn  sie  sich  ruhelos,  in  rasend  gier'gem  Brüllen 
Versuchen  Sie  die  Wut,  die  sie  durchkocht,  zu  stillen. 
Was  seh'  ich!    Schandgeschlecht,  sind  dein  des  Himmels  Höhn, 
Und  darfst  du  ungestraft  auf  Gottes  Pfaden  gehn  ? 
In  eurer  Hand  der  Blitz,  in  eurer  Macht  der  Donner  ? 
Doch,  ich  versteh',  es  führt  voll  Wildheit  euch  der  Bonner! 
Doch  sieh*,  die  Gnad'  des  Herrn  ist  ewig  wachsam  da, 
Und  alles  endiget  mit  einem  Gloria.  —   — 

Da  kommen  sie  heran,  die  wutentbrannten  Freien, 
Bald,  bald  wird  ihren  Stolz  der  Herr  mit  Macht  zerstreuen. 
Da  brausen  sie  heran,  und  Wigand  schwebt  vorauf,, 
Die  andern  hinterdrein  mit  Brüllen  und  Geschnauf. 
Nach  Leipzig  führt  er  sie ;  zu  einem  Platz  der  Waffen 
Hat  er  den  ,, Gutenberg"  in  Eile  umgeschaffen. 
Von  Ballen  aufgetürmt,  prangt  manche   Bastion, 
Wallgang  und  Graben  ist  des  Sturms  gewärtig  schon. 
Von  Bauers  Schriften  sind  getürmt  vier  Raveline, 
Wohl  mit  Geschütz  versehn,  zu  decken  die  Courtine. 
Von  Köppens  ,, Friederich**  liegt  dort  manch  Exemplar, 
Manch  Blatt  Annalen  auch  von  längstvergangnem  Jahr. 
Posaune,  Feuerbach,  geschnürt  in  schwere  Ballen, 
Ziehn  sich  in  langen  Reih'n,  die  Festung  zu  umwallen. 
Als  sp£m*scher  Reiter  liegt  dort  Ruges  ,, Novellist", 
Zum  Schweißabtrocknen  der  ,,verhallerte  Pietist'*. 
Zum  Rückzug  bleibt  das  Haus,  dies  kleine  Stückchen  Hölle, 
Das  jetzt  verwandelt  in  die  stärkste  Zitadelle. 
Die  Fenster  sind  verbaut,  die  Tür  barrikadiert, 
Und  die  Munition  hart  unter 's  Dach  geführt, 
Daß,  kommt  der  Frommen  Schar,  die  Schanzen  einzureißen, 
Die  Frei'n  von  oben  her  ihnen  den  Kopf  zerschmeißen. 


234  ^"^  '^^^  Militärzeit  in  Berlin.     1841—1842. 

Sie  ziehen  mit  Gebrüll  und  wildem  Jubel  ein, 
Und  auf  die  Bastions  verteilen  sich  die  Frei'n. 

Von  Halle  rückten  an  die  frommen  Gottesstreiter, 
Zum  Stürmen  trugen  sie  des  Jakob  Himmelsleiter. 
Die  Feuersäule  wogt  als  Fahne  stolz  voran, 
Die  Büsche  brannten  hell  auf  ihrer  nacht 'gen  Bahn. 
O,  war'  ich  stark  genug,  der  Frommen  Zug  zu  malen 
Und  ihn  mit  heil'gem  Glanz  gar  köstlich  zu  umstrahlen! 
Die  erste  Reihe  führt  der  grimmig  stolze  Leu; 
Er  schreitet  kühn  daher  und  schwinget  sonder  Scheu 
Fünf  Bände  Weltgeschicht'  in  seinen  frommen  Fäusten; 
Sonst  ist  er  waffenlos;  der  Glaube  muß  ihm  leisten, 
Was  aller   Übermut  und  Selbstvertrau 'n  nicht  kann. 
Die  zweite  Reihe  führt  ein  wahrer  Gottesmann, 
Die  Frommen  nennen  ihn  Herr  Julius  van  der  Sünden; 
Ihr  könnt  am  lieben  Mann  nicht  Eine  Waffe  finden; 
Er  schlägt  die  Freien  bloß  durch  seine  Gegenwart, 
Drum  hatten  sich  um  ihn  die  Gläubigsten  geschart, 
Und  ihre  Waffe  war  das  Beten  nur  und  Singen, 
Denn  wenn  von  weitem  nur  des  Himmelssanges  Klingen 
Die  Freien  angehört,  sie  laufen  meilenweit.   — 
Bonn  sendet  Kämpen  auch,  viel  tapfre,  zu  dem  Streit, 
Sie  führet  Bruder  Nichts;  und  andre  ziehn  von  Schwaben, 
Der  ,, Christenbote"  schwebt  als  Fahne  hoch  erhaben. 

Die  Bremer  führt  zum  Kampf  der  tapfre  Mallet  hin, 
Es  führet  Hengstenberg  die  Frommen  von  Berlin. 
Auch  ihr,  die  ihr  den  Strauß  von  Zürich  fortge jaget, 
Es  führet  euch  zum  Kampf  der  Hirzel  unverzaget, 
Der  Pfaff  von  Pfäffikon.    Auch  Basler  ziehn  heran. 
Du  kommst  vom  Wuppertal,  Krummacher,  Gottesmann. 
Die  Scharen  sammeln  sich  auf  Leipzigs  weiten  Plätzen; 
Da  höret  man  von  fern  zu  lieblichem  Ergötzen 
Erbaulichen  Gesang,  der  zu  dem  Herzen  dringt; 
Und  alle  fragen  sich:  Wer  ist  es,  der  da  singt? 
Sieh',  auf  der  Eselin   —  und  alle  stehn  betroffen  — 
Naht  Bruder   Beutel  sich  und  sieht  den  Himmel  offen. 
Sein  Sang  ertönt:  ,,Hie  Schwert  des  Herrn  und  Gideon, 
Auf  Brüder,  sehet  dort  des  Teufels  Schanzen  schon! 
Wie  fürchterlich  sich  auch  der  Höllen  Pforten  türmen, 
Hinauf  in  Gottvertrau'n!    Der  Glaube  wird  sie  stürmen!" 

Und  sieh,  die  Eselin  sprengt  auf  die  Schanzen  ein, 
Die  Schar  der  Gläubigen  eilt  singend  hinterdrein. 
O  welch'  ein  wilder  Sturm!    Verzagt,  ihr  Lästerm.äuler, 


Der  Triumph  des  Glaubens.  235 

Und  heult  zum  Teufel  nun,  ihr  gottvergess'nen  Heuler! 
Sieh,  Bruder   Beutel  fliegt  hinan  den  stolzen  Wall; 
Es  führet  Hengstenberg  zum  Kampf  der  Gläub'gen  Schwall. 
Doch  drinnen  ordnet  an  den  Widerstand  der  Teufel, 
Gibt  guten  Rat  zur  Schlacht  und  scheuchet  feige  Zweifel. 
Seht,  Blücher -Wigand  steht  hoch  auf  dem  Ravelin, 
Von  Maien  unterstützt,  seht,  wie  sie  Feuer  sprühn; 
Seht  Stirner,  wie  er  wirft  mit  ganzen  Bücherballen, 
Daß  scharenweis'  betäubt  die  Frommen  niederfallen; 
Seht  Arnold  auf  dem  Wall,  wie  er  gewaltig  ficht, 
Wie  er  den  Gläub'gen  wirft  Jahrbücher  ins  Gesicht; 
Seht,  wie  in  erster  Reih',  hoch  auf  der  Büchermauer, 
Wild  die  Posaune  schwingt  der  tolle  Bruno  Bauer; 
Seht,  wie  aus  sichrem  Ort,  wo  ihn  kein  Wurf  bedroht, 
Broschüren  rücklings  wirft  ins  Feld  der  Patriot; 
Wie  Koppen  wütend  ficht  mit  seinem  Krötenspieße, 
Und  dennoch  menschlich  sorgt,  daß  er  kein  Blut  vergieße ; 

Wie  streitet  Edgar  wild  mit  Brauerskraft  und  Mut, 
Wie  färbt  der  Pfefferrock  Oswalds  sich  rot  von  Blut! 
O  seht  die  Kölner  Schar!    Im  Kampf  ist  ausgegangen 
Die  Pfeife   Rtgs's,  doch  das  macht  ihm  kein  Bangen, 
Er  faßt  sie  umgekehrt  am  langen,  schwanken  Schlauch, 
Und  schwenkt  den  Wassersack  den  Frommen  um  den  Bauch. 
Der  Jüngling  schleudert  grimm  Goldteufel  rings  hernieder, 
Es  rast  das  Ungetüm  und  reckt  zum  Kampf  die  Glieder. 
Doch  immer  mut'ger  vor  das  fromme  Häuflein  dringt 
Und  immer  herrlicher  das  Halleluja  klingt. 
Seht,  wie  den  Wigand  faßt  auf  seinem  Bücherberg 
Am  langen  blonden  Bart  der  fromme  Hengstenberg; 
Seht,  wie  er  wütend  hat  den  Bart  ihm  ausgerissen, 
Und  in  den  grausen  Kot  Wigand  herabgeschmissen; 
Seht,  Arnold  ist  bedrängt  und  Edgar  hart  bedroht. 
Ins  Haus  flieht  Koppen  schon,  mit  ihm  der  Patriot. 
Halb  eingerissen  ist  die  stolze  Büchermauer, 
Doch  immer  wütend  kämpft  allein  der  tolle  Bauer. 
Auf  Bruder  Beuteln  fliegt  von  seiner  Hand  herab 
Ein  ganzer  Ballen  jetzt  und  wird  des  Frommen  Grab. 
Es  wankt  von  seinem  Schlag  Herr  Julius  van  der  Sünden, 
Da  trotzet  Halles  Leu  den  wilden  Höllenschlünden. 
Ein  Simson,  reißt  er  ein  den  stolzen  Festungswall, 
Er  stürzt,  und  Bauer,  seht,  auch  Bauer  kommt  zu  Fall! 
Da  liegt  er,  eingepreßt  von  seinen  eignen   Ballen,   — 
Ha,  wie  die  Gläub'gen  ihn  lobsingend  überfallen! 


236  Aus  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841 — 1842. 

Seht,  Bruder  Beutel  rafft  sich  von  der  Erd'  empor 
Und  fasset  siegesfroh  des  tollen  Bauer  Ohr, 
Und  spricht:  „0  Gläubige,  der  Herr  erfüllt  mein  Hoffen, 
Der  Herr  ist  unser  Hort,  ich  seh'  den  Himmel  offen! 
Zum  Kampfe,  fort  zum.  Kampf!  o  laßt  den  Bauer  mir; 
Derweil  ihr  jene  schlagt,  bewach'  ich  diesen  hier." 
Sie  binden  Bauer  rasch  und  stürzen  singend  weiter, 
Und  setzen  an  das  Haus  zum  Sturm  die  Jakobsleiter. 
Es  wankt  der  Gutenberg,  es  kracht  die  Türe  schon, 
Schon  geht  den  Freien  aus  oben  die  Munition, 
Schon  ringt  der  Patriot  verzweiflungsvoll  die  Hände, 
Schon  ist  durch  einen  Wurf  gelähmet  Arnolds  Lende, 
Schon  blutet  Maien  stark  aus  Nasenloch  und  Mund, 
Da  eilt  der  Teufel  fort  voll  Angst  zum  Höllenschlund. 

Mit  grausigem  Geheul  flieht  er  in  seine  Tiefen, 
Hei,  wie  die  Bösen  da  in  Angst  zusammenliefen! 
Sie  fragen,  lästern,  dröhn,  und  er  in  grimmem  Zagen: 
,,0  Schmach,  die  Freien  sind  vom  frommien  Heer  geschlagen! 
Nichts  half  mein  Spott  und  Hohn,  nichts  half  mein  Pestgeslank; 
Weh',  sie  besiegten  mich  mit  himmlischem  Gesang! 
Wigand  ist  ohne  Bart,  gefangen  ist  der  Bauer, 
Genommen  ist  mit  Sturm  der  Bücherballen  Mauer!" 
Hei,  wie  von  Angstgebrüll  der  Höllen  Tiefe  dröhnt! 
Hei,  wie  vor  grausem  Schmerz  der  wilde  Hegel  stöhnt! 
Doch  hat  sich  kaum  erholt  der  Schwärm  vom  ersten  Schrecken, 
Erheben  Schimpf  und  Droh'n  die  tollen  Höllenrecken; 
In  Aufruhr  tosen  sie.    ,,Du  willst  ein  Teufel  sein. 
Und  läßt  uns  das  geschehn  ?"  schreit  Hegel  wild  darein. 
,,Wo  war  dein  Schwefeldampf,  wo  war  dein  Brand  und  Feuer  ? 
Vor  einem  Amen  fliehst  du,  feiges   Ungeheuer.'' 
Wir  sehen,  ach,  zu  spät!  vor  Alter  bist  du  schwach, 
Nur  Kindern  läufst  du  noch  und  alten  Vetteln  nach. 
Auf!  rasches  Handeln  hilft,  nicht  weichliches  Geplärre. 
Hier,  Danton!    Voltaire,  auf!    Und  du,  Robespierre! 
Nur  ihr  könnt  helfen  hier,  die  ihr  gewallt  auf  Erden; 
Zum  Himmel  mit  dem  Teufel!    Wir  müssen  Teufel  werden! 
Stets  kraftlos  ist  und  bleibt  das  mythische  Geschmeiß, 
Selbst  tausend  jähr 'ger  Brand  macht  nicht  die  Feigen  heiß. 
Auf,  Bruder  Marat!    Wir,  die  Menschen  einst  gewesen, 
Wir  müssen  einen  Mann  zum  Führer  auserlesen. 
Der  Teufel  ist  und  bleibt  nur  mythische  Person, 
Und  er  ist  unser  Feind,  wie  jeder  Himmelssohn. 
Hinauf,  hinauf  zum  Sieg!"     -  Hei,  wie  in  tollem  Rasen 


Der  Triumph  des  Glaubens.  237 

Sie  aus  der  Hölle  fliehn,  die  blutgewohnten  Äsen! 

An  ihrer  Spitze  schwingt  zwei  Feuer  bränder  Hegel, 

Und  Voltaire  hinter  ihm  mit  feui«grotem  Flegel. 

Danton  erhebt  die  Stimm',  es  brüllet  Edelmann, 

Es  ruft  Napoleon:   ,,Auf,  Höllenbrut  voran!" 

Marat,  in  jeder  Hand  zwei  borst'ge  Höllenkinder, 

Schon  lechzet  er  nach  Blut,  der  wüste  Menschenschinder. 

Robespierre  saust,  von  Grimme  zuckt  sein  Mund   — 

Weh'!  diese  wilde  Schar  speit  aus  der  Höllenschlund. 

Wo  Bruder  Beutel  hält,  der  Bauern  fromm  behütet, 

Da  ist  die  wilde  Jagd  gradhin  zuerst  gewütet. 

Der  Beutel  steht  erschreckt,  es  weint  die  Eselsmaid: 

,,Ach,  Herr,  jetzt  ist  es  aus,  es  kommt  nun  unsre  Zeit." 

Marat  wirft  sein  Geschoß,  und  Beutel  wird  getroffen, 

Zur  Erde  sinkt  er  hin,  und  sieht  den  Himmel  offen. 

Und  Hegel  hat  umarmt  den  tollen  Bauer  schon: 

,,Ja,  du  hast  mich  gefaßt,  du  bist  mein  lieber  Sohn!" 

Die  Bande  löst  er  ihm,  die  Bösen  jubilieren: 

,,Hoch  Bauer,  unser  Held!    Er  soll  zum  Kampf  uns  führen? 

Der  Teufel  ist  entsetzt,  wir  brauchen  einen  Mann." 

So  stürmen  mit  Geschrei  sie  auf  die  Frommen  an. 

Es  wendet  sich  das  Blatt,  die  Frommen  fliehn  betroffen; 

Doch  Bruder  Beutel  sieht,  wie  stets,  den  Himmel  offen. 

Es  trägt  die  Eselin  zum  Himmel  ihn  hinan  — 

O  welch'  ein  Wunder,  seht,  hat  Gott  der  Herr  getan! 

Zum  Himmel  fahren  seht,  o  seht  Elias -Beuteln! 

Der  Gotteslästrer  Plan,  seht  herrlich  ihn  vereiteln. 

Und  hinter  ihm  mit  Glanz  der  Frommen  Heeresschaar, 

Sie  fliehen  mit  Gesang  zum  Himmel  auf  fürwahr. 

Doch  weh'!  die  Höllenbrut,  sie  fähret  hinterdrein: 

Es  stürmen  wütend  nach  mit  Siegesruf  die  Frei'n. 

Dem  Schrecken  sind,  der  Furcht  die  Frommen  nun  zur  Beute, 

Und  ihnen  mit  Gebrüll  stürzt  nach  die  Höllenmeute.  — 

Den  Teufel  unterdes  hat  die  Rebellion, 
Mit  der  die  Trefflichsten  aus  seinem  Haus  geflohn, 
Auf  lange  stumm  gemacht,  und  mit  ihm  staunt  die  Hölle; 
Sie  stehen  regungslos  und  stieren  nach  der  Schwelle, 
Aus  welcher  Hegel  und  die  ganze  Schar  gesaust: 
Bis  endlich  Ihm  der  Zorn  aus  schavm'gem  Munde  braust: 
,, Daran  erkenn'  ich  euch,  ich  Dummer  bin  verraten, 
Die  Tat  ist  teuilischer  als  meine  faden  Taten. 
Zu  frei  sind  diese  Frei'n,  erst  hab'  ich  sie  vei führt, 
Nun  haben  sie  von  mir  sich  schnöd'  emanzipiert. 


238  -A-us  der  Militärzeit  in  Berlin.     1841  — 1842. 

Mit  diesem  Menschenpack  ist  garnichts  anzufangen, 

Nach  frechster  Freiheit  steht  ihr  freventlich  Verlangen: 

Erkennen  diese  Frei'n  kein  Heiliges  mehr  an, 

Am  Ende  ist  es  dann  auch  noch  um  mich  getan. 

Ich  kämpfe  wider  mich  indem  ich  Gott  bestreite, 

Als  mythische  Person  schiebt  man  mich  auch  beiseite. 

Hinauf!  wir  suchen  Gott  in  seinem  Himmelsglanz 

Und  schließen  treuvereint  hochheil'ge  Allianz." 

So  stürzt  er  wild  hinauf,  er  wirft  sich  Gott  zu  Füßen, 

Und  spricht:  ,,0  laß  mich  nicht,  was  ich  gefrevelt,  büßen! 

Vereint  kämpf  ich  mit  dir."    Und  Gott,  der  güt'ge,  sprach: 

„Einstweilen  sehen  wir  dir  deine  Sünden  nach ; 

Geh*,  wasch*  in  Lästrerblut  dir  ab  die  argen  Sünden, 

Und  kommst  du  dann  zurück,  wird  sich  das  Andre  finden.*' 

Voll  Freude  stürmt  er  fort;  er  findet  grimme  Schlacht. 
Ob  Beistand  auch  der  Schar  der  Frommen  ward  gebracht   — 
Ach  dennoch  muß  —  o  Schmach!  —  der  Glauben  unterliegen, 
Es  eilt  die  Frevlerbrut  zu  immer  neuen  Siegen. 
Von  Stern  zu  Sterne  fort  springt  Bauer,  wutentbrannt, 
Und  die  Posaune  schwingt  als  Keule  seine  Hand. 
Entgegen  ziehen  ihm  die  vier  Evangelisten, 
Jedoch  sie  schrecken  nicht  den  frechen  Atheisten; 
Ob  auch  des  Lukas  Ochs  die  Hörner  grimmig  streckt, 
Des  Markus  Löwe  brüllt  —  er  bleibet  unerschreckt; 
Er  scheucht  die  Heil'gen  all'.  —  Wie  wild  der  Hegel  dränget, 
Der  Engel  Flügelein  mit  seinem  Brand  versenget ; 
Wie  mit  dem  Flegel  der  schnöde  Voltaire  dräut; 
Wie  Rüge  wutentbrannt  die  Kirchenväter  bläut; 
Seht  Bauer  einen  Stern  in  seinem  Laufe  packen 
und,  ach!  ihn  schleudern  auf  die  fliehnden  frommen  Nacken; 
Seht,  wie  der  Teufel  sinkt  von  der  Posaune  Schlag, 
Und  vor  ihr  Michael  selbst  nichst  bestehen  mag; 
Seht,  wie  den  Syrius  der  wilde  Hegel  fasset. 
Und  Hengstenbergen  wirft,  daß  er  alsbald  erblasset; 
Seht,  wie  der   Englein  Schar  versengt  die   Flügelein, 
Durchzappelt  das  Gewölk  mit  angsterfülltem  Schrein! 
Das  Lämmlein  hält  das  Kreuz  dem  Ungetüm  entgegen, 
Der  aber  ballt  die  Faust  und  droht  mit  grimmen  Schlägen. 
Die  Magd  Maria  selbst  verläßt  das  Heiligtum 
Und  spornt  die  Engel  an  zu  Kampfesmut  und  Ruhm. 
„Auf,  gegen  Bauer,  auf!  auf,  gegen  den  Titanen! 
Begreifen  wollt'  er  mich,  das  müßt,  das  müßt  ihr  ahn'en.** 
Doch,  wie  sie  fleht  und  ruft,  wie  sie  auch  lieblich  blickt, 


Der  Triumph  des  Glaubens.  239 

Der  Freien  Scharen  sind  stets  weiter  vorgerückt. 

O  seht,  schon  nahen  sie  dem  Heiligtum  des  Herren, 

Schon  kann  die  Gottesschaar  nicht  mehr  den  Weg  versperren ; 

Schon  stößt  an  einen  Stern  die  fromme  Eselin^ 

Und  fällt  auf  ihrer   Flucht  mit  Bruder   Beuteln  hin; 

Schon  nahet  Bauer  ihm  mit  fürchterlichem  Rasen, 

Sein  Lebenslicht  mit  der  Posaune  auszublasen  ; 

Schon  fasset  Rüge  wild  des  Saalestrandes  Leu'n, 

Und  preßt  in  seinen  Mund  ein  Blatt  Annalen  ein   ~~   — 

Da  sieh*!  was  schwebt  heran,  von  Himmelsglanz  umgeben, 

Was  läßt  den  Bauer  so  gewaltiglich  erbeben? 

Es  ist,  ihr  glaubt  es  kaum,  ein  einfach  Pergamen: 

Was  mag  mit  Himmelslicht  darauf  verzeichnet  stehn  ? 

Es  schwebt  gelind  herab,  es  schwebt  vor   Bauer  nieder, 

Und  Bruno  hebt  es  auf;  es  zittern  seine  Glieder  —   — 

Was  ist  es,  was  die  Stirn  mit  kaltem  Schweiß  benetzt? 

Was  murmelt  er  so  dumpf?    Er  murmelt:     -  „Abgesetzt!" 

Kaum  ist  dies  Himmelswort  dem  Höllenmund  entfahren, 

Da  brüllen:  ,, Abgesetzt!"  ringsum  der  Freien  Scharen. 

Sie  stehen  starr  und  stumm,  es  jauchzt  der  Engel  Heer, 

Die  Freien  fliehn  voll  Graus,  die  Engel  hinterher. 

Sie  treiben  im  Triumph  die  Freien  bis  zur  Erde. 

Daß  jeder  Böse  doch  also  bestrafet  werde! 


Aus  der  Zeit  des  ersten 

Aufenthalts  in  England 

1842— 1844 


Mayer,  Engels.    Brgäazongsband.  I6 


Korrespondenzen  an  die  Rheinische  Zeitung. 

I. 

London,  30.  November  (1842). 

Ist  in  England  eine  Revolution  möglich  oder  gar  wahrschein- 
lich ?  das  ist  die  Frage,  von  der  die  Zukunft  Englands  abhängt. 
Legt  sie  dem  Engländer  vor,  und  er  wird  euch  mit  tausend  schönen 
Gründen  beweisen,  daß  von  einer  Revolution  gar  nicht  die  Rede 
sein  kann.  Er  wird  euch  sagen,  daß  England  sich  allerdings  für  den 
Augenblick  in  einer  kritischen  Lage  befindet,  daß  es  aber  in  seinem 
Reichtum,  seiner  Industrie  und  seinen  Institutionen  die  Mittel  und 
Wege  besitzt,  sich  ohne  gewaltsame  Erschütterungen  herauszu- 
arbeiten, daß  seine  Verfassung  Elastizität  genug  hat,  um  die  hef- 
tigsten Stöße  der  Prinzipienkämpfe  zu  überdauern  und  allen  von 
den  Umständen  aufgedrungenen  Veränderungen  ohne  Gefahr  für 
ihre  Grundlagen  sich  unterwerfen  zu  können.  Er  wird  euch  sagen, 
daß  selbst  die  unterste  Volksklasse  wohl  weiß,  daß  sie  bei  einer  Re- 
volution nur  zu  verlieren  hat,  weil  jede  Störung  der  öffentlichen 
Ruhe  'nur  eine  Stockung  des  Geschäfts  und  damit  eine  allgemeine 
Arbeitslosigkeit  und  Hungersnot  nach  sich  ziehen  kann.  Kurz,  er 
wird  euch  so  viel  klare  und  einleuchtende  Dinge  vorbringen,  daß 
ihr  am  Ende  meint,  es  stehe  wirklich  so  schlimm  nicht  mit  Eng- 
land und  man  mache  sich  auf  dem  Kontinent  allerlei  Phantasien 
über  die  Lage  dieses  Staates,  die  vor  der  handgreiflichen  Wirklich- 
keit, vor  der  genaueren  Kenntnis  der  Sache  wie  Seifenblasen  zer- 
platzen müßten.  Und  diese  Meinung  ist  auch  die  einzig  mögliche, 
sobald  man  sich  auf  den  national-englischen  Standpunkt  der  un- 
mittelbaren Praxis,  der  materiellen  Interessen  stellt,  d.h.,  sobald 
man  den  bewegenden  Gedanken  außer  Augen  läßt,  die  Basis  über 
der  Oberfläche  veigißt,  den  Wald  vor  Bäum.en  nicht  sieht.  Es  ist 
eine  Sache,  die  sich  in  Deutschland  von  selbst  versteht,  die  aber 
dem  verstockten  Briten  nicht  beizubringen  ist,  daß  die  sogenannten 
materiellen  Interessen  niemals  in  der  Geschichte  als  selbständige 
leitende  Zwecke  auftreten  können,  sondern  daß  sie  stets,  unbewußt 
oder  bewußt,  einem  Prinzip  dienen,  das  die  Fäden  des  historischen 

16* 


244        ^^^  ^®''  ^®^*  ^^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

Fortschritts  leitet.  Darum  ist  es  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  daß 
ein  Staat  wie  England,  dessen  politische  Exklusivität  und  Selbst- 
genügsamkeit am  Ende  um  einige  Jahrhunderte  gegen  den  Kontinent 
zurückgeblieben  ist,  ein  Staat,  der  von  der  Freiheit  nur  die  Willkür 
kennt,  der  bis  über  die  Ohren  im  Mittelalter  steckt,  daß  ein  solcher 
Staat  nicht  endlich  mit  der,  indessen  fortgeschrittenen,  geistigen  Ent- 
wicklung in  Konflikt  kommen  sollte.  Oder  ist  das  nicht  das  Bild  der 
politischen  Lage  Englands  ?  Gibt  es  ein  Land  in  der  Welt,  wo  der 
Feudalismus  in  so  ungebrochener  Kraft  besteht,  und  nicht  nur  fak- 
tisch, sondern  auch  in  der  öffentlichen  Meinung  unangetastet  bleibt  ? 
Besteht  die  vielgerühmte  englische  Freiheit  in  etwas  anderem  als 
der  rein  formellen  Willkür,  innerhalb  der  bestehenden  gesetzlichen 
Schranken  tun  und  lassen  zu  können,  was  man  Lust  hat?  Und 
was  für  Gesetze  sind  das!  Ein  Wust  von  verworrenen,  einander 
widersprechenden  Bestimmungen,  die  die  Jurisprudenz  zur  reinen 
Sophistik  herabgewürdigt  haben,  die  von  der  Justiz  nie  befolgt  wer- 
den, weil  sie  auf  unsere  Zeit  nicht  passen,  die  es  zulassen,  wenn  an- 
ders die  öffentliche  Meinung  und  ihr  Rechtsgefüht  es  zuließen,  daß 
der  ehrliche  Mann  wegen  der  unschuldigsten  Handlung  zum  Ver- 
brecher gestempelt  wird.  Ist  das  Unterhaus  nicht  eine  rein  durch 
Bestechung  gewählte,  dem  Volke  entfremdete  Korporation?  Tritt 
das  Parlament  nicht  fortwährend  den  Willen  des  Volkes  mit  Füßen  ? 
Hat  die  öffentliche  Meinung  in  allgemeinen  Fragen  den  geringsten 
Einfluß  auf  die  Regierung  ?  Beschränkt  sich  ihre  Macht  nicht  bloß 
auf  den  einzelnen  Fall,  auf  die  Kontrolle  der  Justiz  und  Verwal- 
tung? Das  sind  alles  Dinge,  die  selbst  der  verstockteste  Engländer 
nicht  unbedingt  leugnet,  und  ein  solcher  Zustand  soll  sich  halten 
können  ?   — 

Aber  ich  will  das  Feld  der  Prinzipienfragen  verlassen.  In  Eng- 
land, wenigstens  unter  den  Parteien,  die  sich  jetzt  um  die  Herrschaft 
streiten,  unter  Whigs  und  Tories,  kennt  man  keine  Prinzipienkämpfe, 
man  kennt  nur ".  Konf Ukte  der  materiellen  Interessen.  Es  ist  also 
billig,  daß  auch  dieser  Seite  ihr  Recht  widerfahre.  England  ist  von 
Natur  ein  armes  Land,  das  außer  seiner  geographischen  Lage,  seinen 
Eisenminen  und  Kohlengruben  nur  einige  fette  Weiden,  sonst  keine 
Fruchtbarkeit  oder  einen  anderen  natürlichen  Reichtum  besitzt. 
Es  ist  also  durchaus  auf  Handel,  Schiffahrt  und  Industrie  ange- 
wiesen und  hat  sich  auch  durch  diese  zu  der  Höhe  aufzuschwingen 
gewußt,  die  es  einnimmt.  In  der  Natur  der  Sache  liegt  aber,  daß  ein 
Land,  wenn  es  diesen  Weg  eingeschlagen  hat,  sich  nur  durch  fort- 
währende Steigerung  der  industriellen  Produktion  auf  der  einmal 
erreichten  Höhe  halten  kann;  und  Stillstand  wäre  auch  hier  ein 
Rückschritt. 


An  die  Rheinische  Zeitung.  245 

Es  ist  ferner  eine  natürliche  Folge  aus  den  Voraussetzungen 
des  Industriestaates,  daß  er,  um  die  Quellen  seines  Reichtums  zu 
schützen,  die  industriellen  Produkte  anderer  Länder  mit  Prohibi- 
tivzöllen von  sich  abhalten  muß.  Da  aber  die  inländische  Industrie 
die  Preise  ihrer  Produkte  mit  den  Zöllen  auf  ausländische  Produkte 
erhöht,  so  ist  auch  hierin  die  Notwendigkeit  gegeben,  die  Zölle 
fortwährend  zu  erhöhen,  damit  die  auswärtige  Konkurrenz,  dem 
angenommenen  Prinzip  gemäß,  ausgeschlossen  bleibe.  So  würde 
sich  also  hier  von  zwei  Seiten  her  ein  Proseß  ins  Endlose  ergeben, 
und  der  Widerspruch,  der  in  dem  Begriff  des  Industriestaats  liegt, 
zeigte  sich  schon  hier.  Aber  wir  brauchen  hier  diese  philosophischen 
Kategorien  nicht  einmal,  um  die  Widersprüche  aufzuzeigen,  zwi- 
schen denen  England  eingekeilt  liegt.  Bei  den  zwei  Steigerungen, 
der  Produktion  und  der  Zölle, die  wir  soeben  betrachteten,  haben  noch 
andere  Leute  als  die  englischen  Industriellen  mitzusprechen.  Zu- 
erst das  Ausland,  das  selbst  Industrie  besitzt  und  nicht  nötig  hat,  sich 
zum  Abzugsgraben  für  die  englischen  Produkte  herzugeben,  und 
dann  die  englischen  Konsumenten,  die  sich  eine  solche  Steigerung 
der  Zölle  ins  Unendliche  nicht  gefallen  lassen.  Und  gerade  hier  steht 
jetzt  die  Entwicklung  des  Industriestaats  in  England.  Das  Ausland 
will  die  englischen  Produkte  nicht,  weil  es  selbst  seinen  Bedarf  er- 
zeugt, und  die  engUschen  Konsumenten  verlangen  einstimmig  die 
Aufhebung  der  Prohibitivzölle.  Schon  aus  der  obigen  Entwicklung 
ergibt  sich,  daß  England  hierdurch  in  ein  doppeltes  Dilemma  gerät, 
zu  dessen  Lösung  der  bloße  Industriestaat  nicht  fähig  ist;  aber  auch 
die  unmittelbare  Anschauung  der  Verhältnisse  bestätigt  dies. 

Um  zuerst  von  den  Zöllen  zu  reden,  so  ist  es  selbst  in  England 
anerkannt,  daß  fast  in  allen  Artikeln  die  niedrigem  Qualitäten 
von  den  deutschen  und  französischen  Fabriken  besser  und  billiger 
geliefert  werden;  ebenso  eine  Masse  anderer  Artikel,  in  deren  Fa- 
brikation die  Engländer  gegen  den  Kontinent  zurück  sind.  Mit 
diesen  würde  England  schon  bei  Aufhebung  des  Prohibitivsystems 
sogleich  überschwemmt  werden,  und  die  englische  Industrie  erhielte 
dadurch  den  Todesstoß.  Andererseits  ist  jetzt  die  Maschinenausfuhr 
in  England  freigegeben,  und  da  in  der  Maschinenfabrikation  Eng- 
land bis  jetzt  keine  Konkurrenz  hat,  so  wird  der  Kontinent  durch 
englische  Maschinen  nun  desto  mehr  instand  gesetzt,  mit  England 
zu  konkurrieren.  Das  Prohibitivsystem  hat  ferner  die  Staatsein- 
künfte Englands  ruiniert  und  muß  schon  deswegen  abgeschafft 
werden   —  wo  ist  nun  hier  ein  Ausweg  für  den  Industriestaat  ? 

In  Beziehung  auf  den  Markt  für  die  englischen  Produkte  haben 
Deutschland  und  Frankreich  deutlich  genug  erklärt,  daß  sie,  um 
England   gefällig   zu  sein,   ihre   Industrie   nicht   länger   preisgeben 


246        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

wollen.  Die  deutsche  Industrie  namentlich,  hat  ohnehin  einen  sol- 
chen Aufschwung  genommen,  daß  sie  die  englische  nicht  mehr  zu 
fürchten  hat.  Der  Kontinentalmarkt  ist  für  England  verloren.  Es 
bleiben  ihm  nur  noch  Amerika  und  seine  eigenen  Kolonien,  und 
nur  in  letzteren  ist  es  durch  seine  Navigationsgesetze  vor  fremder 
Konkurrenz  gesichert.  Die  Kolonien  aber  sind  lange  nicht  groß 
genug,  um  alle  Produkte  der  immensen  englischen  Industrie  konsu- 
mieren zu  können,  und  überall  anderswo  wird  die  englische  Indu- 
strie immer  mehr  durch  die  deutsche  und  französische  verdrängt. 
Diese  Verdrängung  ist  freilich  nicht  Schuld  der  englischen  Indu- 
strie, sondern  Schuld  des  Prohibitivsystems,  das  die  Preise  aller 
Lebensbedürfnisse  und  mit  ihnen  den  Arbeitslohn  auf  eine  unver- 
hältnismäßige Höhe  geschraubt  hat.  Dieser  Arbeitslohn  aber  ver- 
teuert gerade  die  englischen  Produkte  so  sehr  gegen  die  Produkte 
der  kontinentalen  Industrie.  So  kann  also  England  der  Notwendig- 
keit nicht  entgehen,  seine  Industrie  zu  beschränken.  Das  kann  aber 
ebenso  wenig  durchgeführt  werden  als  der  Übergang  vom  Prohi- 
bitivsystem zum  freien  Handel.  Denn  die  Industrie  bereichert  zwar 
ein  Land,  aber  sie  schafft  auch  eine  Klasse  von  Nichtbesitzenden, 
von  absolut  Armen,  die  von  der  Hand  in  den  Mund  lebt,  die  sich 
reißend  vermehrt,  eine  Klasse,  die  nachher  nicht  wieder  abzuschaffen 
ist,  weil  sie  nie  stabilen  Besitz  erwerben  kann.  Und  der  dritte  Teil, 
fast  die  Hälfte  aller  Engländer,  gehört  dieser  Klasse  an.  Die  ge- 
ringste Stockung  im  Handel  macht  einen  großen  Teil  dieser  Klasse, 
eine  große  Handelskrisis  macht  die  ganze  Klasse  brotlos.  Was 
bleibt  diesen  Leuten  andres  übrig  als  zu  revoltieren,  wenn  solche 
Umstände  eintreten  ?  Durch  ihre  Masse  aber  ist  diese  Klasse  zur 
mächtigsten  in  England  geworden,  und  wehe  den  englischen  Rei- 
chen, wenn  sie  darüber  zum  Bewußtsein  kommt. 

Bis  jetzt  ist  sie  es  freilich  noch  nicht.  Der  englische  Prole- 
tarier ahnt  erst  seine  Macht,  und  die  Frucht  dieser  Ahnung  war 
der  Aufruhr  des  vergangenen  Sommers.  Der  Charakter  dieses  Auf- 
ruhrs ist  auf  dem  Kontinent  ganz  verkannt  worden.  Man  war  we- 
nigstens im  Zweifel,  ob  die  Sache  nicht  ernstlich  werden  könnte. 
Aber  davon  war  für  den,  der  die  Sache  an  Ort  und  Stelle  mit  an- 
sah, gar  keine  Rede.  Erstlich  beruhte  die  ganze  Sache  auf  einer 
Illusion ;  weil  einige  Fabrikbesitzer  ihren  Lohn  herabsetzen  wollten, 
glaubten  die  sämtlichen  Arbeiter  der  Baumwollen-,  Kohlen-  und 
Eisendistrikte  ihre  Stellung  gefährdet,  was  gar  nicht  der  Fall  war. 
Sodann  war  die  ganze  Sache  nicht  vorbereitet,  nicht  organisiert, 
nicht  geleitet.  Die  Turn-outs  hatten  keinen  Zweck,  und  waren  sich 
über  die  Art  und  Weise  ihres  Verfahrens  noch  weniger  einig.  Daher 
kam  es,   daß  sie  bei  dem  geringsten  Widerstände  von  Seiten  der 


An  die  Rheinische  Zeitung.  247 

Behörden  unschlüssig  wurden  und  die  Achtung  vor  dem  Gesetz 
nicht  überwinden  konnten.  Als  die  Chartisten  sich  der  Zügel  der 
Bewegung  bemächtigten  und  vor  den  versammelten  Volkshaufen 
die  people's-chartres  proklamieren  ließen,  war  es  zu  spät.  Die  ein- 
zige leitende  Idee,  die  den  Arbeitern,  wie  den  Chartisten,  denen  sie 
eigentlich  auch  angehört,  vorschwebte,  war  die  einer  Revolution 
auf  gesetzlichem  Wege,  —  ein  Widerspruch  in  sich  selbst,  eine 
praktische  Unmöglichkeit,  an  deren  Durchführung  sie  scheiterten. 
Gleich  die  erste,  allen  gemeinsame  Maßregel,  die  Stillsetzung  der 
Fabriken,  war  gewaltsam  und  ungesetzlich.  Bei  dieser  Haltlosig- 
keit der  ganzen  Unternehmung  würde  sie  gleich  anfangs  unter- 
drückt worden  sein,  wenn  nicht  die  Verwaltung,  der  sie  durchaus 
unerwartet  kam,  ebenso  unschlüssig  und  mittellos  gewesen  wäre. 
Und  dennoch  reichte  die  geringe  militärische  und  polizeiliche  Macht 
hin,  das  Volk  im  Zaume  zu  halten.  Man  hat  in  Manchester  gesehen, 
wie  Tausende  von  Arbeitern  auf  den  Squares  durch  vier  oder  fünf 
Dragoner,  deren  jeder  einen  Zugang  besetzt  hielt,  eingeschlossen 
gehalten  wurden.  Die  , »gesetzliche  Revolution"  hatte  alles  gelähmt. 
So  verlief  sich  die  ganze  Sache ;  jeder  Arbeiter  fing  wieder  an  zu 
arbeiten,  sobald  seine  Ersparnisse  verbraucht  waren,  und  er  also 
nichts  mehr  zu  essen  hatte.  Der  Nutzen,  der  daraus  für  die  Besitz- 
losen hervorgegangen  ist,  bleibt  aber  bestehen;  es  ist  das  Bewußt- 
sein, daß  eine  Revolution  auf  friedlichem  Wege  eine  Unmöglichkeit 
ist,  und  daß  nur  eine  gewaltsame  Umwälzung  der  bestehenden  un- 
natürlichen Verhältnisse,  ein  radikaler  Sturz  der  adligen  und  indu- 
striellen Aristokratie  die  materielle  Lage  der  Proletarier  verbessern 
kann;  Von  dieser  gewaltsamen  Revolution  hält  sie  noch  die  dem 
Engländer  eigentümliche  Achtung  vor  dem  Gesetz  zurück;  bei  der 
oben  dargelegten  Lage  Englands  kann  es  aber  nicht  fehlen,  daß  in 
kurzer  Zeit  eine  allgemeine  Brotlosigkeit  der  Proletarier  eintritt, 
und  die  Scheu  vor  dem  Hungertode  wird  dann  stärker  sein  als  die 
Scheu  vor  dem  Gesetz.  Diese  Revolution  ist  eine  unausbleibliche 
für  England ;  aber  wie  in  allem,  was  in  England  vorgeht,  werden  die 
Interessen,  und  nicht  die  Prinzipien  diese  Revolution  beginnen  und 
durchführen;  erst  aus  den  Interessen  können  sich  die  Prinzipien 
entwickeln,  d.  h.  die  Revolution  wird  keine  politische,  sondern  eine 
soziale  sein. 

II« 

London,  3.  Dezember, 

Wenn  man  sich  im  stillen  eine  Zeitlang  mit  den  englischen 
Zuständen  beschäftigt,  wenn  man  sich  über  die  schwache  Grund- 
lage,   auf    der    das    ganze    künstliche    Gebäude    der    sozialen    und 


248        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842—1844. 

politischen  Wohlfahrt  Englands  ruht,  Klarheit  verschafft  hat,  und 
nun  auf  einmal  mitten  in  das  englische  Treiben  hinein  versetzt  wird, 
so  staunt  man  über  die  merkwürdige  Ruhe  und  Zuversicht,  womit 
hier  jedermann  der  Zukunft  entgegensieht.  Die  herrschenden 
Klassen,  gleichviel  ob  Mittelstand  oder  Aristokratie,  Whigs  oder 
Tories,  haben  nun  schon  so  lange  das  Land  regiert,  daß  das  Auf- 
kommen einer  anderen  Partei  ihnen  eine  Unmöglichkeit  scheint. 
Man  mag  ihnen  ihre  Sünden,  ihre  Haltlosigkeit,  ihre  schwankende 
Politik,  ihre  Blindheit  und  Verstocktheit,  man  mag  ihnen  den 
schwindelnden  Zustand  des  Landes,  der  eine  Frucht  ihrer  Prinzipien 
ist,  noch  so  sehr  vorhalten,  sie  bleiben  bei  ihrer  unserchütterlichen 
Sicherheit  und  trauen  sich  die  Kraft  zu,  das  Land  einer  besseren 
Lage  zuzuführen.  Und  wenn  eine  Revolution  in  England  unmög- 
lich ist,  wie  sie  wenigstens  behaupten,  so  haben  sie  allerdings  für 
ihre  Herrschaft  wenig  zu  fürchten.  Wenn  der  Chartismus  sich  so 
lange  geduldet,  bis  er  die  Majorität  im  Unterhause  für  sich  gewon- 
nen hat,  kann  er  noch  manches  Jahr  Meetings  halten  und  die  sechs 
Punkte  der  Volkscharte  verlangen;  die  Mittelklasse  wird  sich  nie 
durch  Bewilligung  des  allgemeinen  Stimmrechts  von  der  Besetzung 
des  Unterhauses  ausschließen,  da  sie,  eine  nowendige  Konsequenz 
der  Nachgiebigkeit  in  diesem  Punkte,  alsdann  von  der  Unzahl  der 
Nichtbesitzenden  überstimmt  werden  würde.  Daher  hat  der  Char- 
tismus unter  den  Gebildeten  in  England  noch  gar  keine  Wurzel 
schlagen  können  und  wird  es  auch  so  bald  noch  nicht.  Wenn  man 
hier  von  Chartisten  und  Radikalen  spricht,  so  versteht  man  fast 
durchgängig  die  Hefe  des  Volkes,  die  Masse  der  Proletarier  darunter; 
und  es  ist  wahr,  die  wenigen  gebildeten  Stimmführer  der  Partei  ver- 
schwinden unter  der  Masse.  —  Auch  abgesehen  vom  politischen 
Interesse  kann  der  Mittelstand  nur  Whig  oder  Tory,  nie  Chartist 
sein.  Sein  Prinzip  ist  die  Aufrechterhaltung  des  Bestehenden;  der 
„gesetzliche  Fortschritt"  und  das  allgemeine  Stimmrecht  würden 
bei  der  jetzigen  Lage  Englands  eine  Revolution  unfehlbar  nach 
sich  ziehen.  So  ist  es  denn  ganz  natürlich,  daß  der  praktische  Eng- 
länder, dem  die  Politik  ein  Zahlen  Verhältnis  oder  gar  ein  Handels- 
geschäft ist,  von  der  im  stillen  furchtbar  anwachsenden  Macht  des 
Chartismus  gar  keine  Notiz  nimmt,  weil  sie  sich  nicht  in  Zahlen 
ausdrücken  läßt  oder  doch  nur  in  solchen,  die  in  Beziehung  auf  die 
Regierung  und  das  Parlament  Nullen  vor  der  Eins  sind.  Es  gibt 
aber  Dinge,  die  über  das  Zahlenverhältnis  hinausgehen,  und  daran 
wird  die  Superklugheit  des  englischen  Whiggismus  und  Torieismus 
schön  scheitern,  wenn  ihre  Zeit  gekommen  sein  wird. 


An  die  Rheinische  Zeitung.  249 

III. 

Lancashire,  19.  Dezember^). 

So  kompliziert  die  gegenwärtige  Lage  Englands  erscheint,  wenn 
man,  wie  der  Engländer  es  tut,  am  Allernächsten,  an  der  hajid- 
greiflichen  Wirklichkeit,  an  der  äußerlichen  Praxis  klebt,  so  ein- 
fach ist  sie,  wenn  man  diese  Äußerlichkeit  auf  ihren  prinzipiellen 
Gehalt  reduziert.  Es  gibt  nur  drei  Parteien  in  England,  die  von  Be- 
deutung sind,  die  Aristokratie  des  Grundbesitzes,  die  Aristokratie 
des  Geldes  und  die  radikale  Demokratie.  Die  erstere,  die  der  Tories, 
ist  ihrer  Natur  und  geschichtlichen  Entwicklung  nach  die  rein 
mittelalterUche,  konsequente,  reaktionäre  Partei,  der  alte  Adel,  der 
mit  der  ,, historischen"  Rechtsschule  in  Deutschland  fraternisieit, 
und  die  Stütze  des  christlichen  Staates  bildet.  Die  zweite,  die  Whig- 
partei, hat  ihren  Kern  in  den  Kaufleuten  und  Fabrikanten,  deren 
Mehrzahl  den  sogenannten  Mittelstand  bilden.  Dieser  Mittelstand, 
zu  dem  alles  gehört,  was  gentleman  ist,  d.  h.  sein  anständiges  Aus- 
kommen hat,  ohne  übermäßig  reich  zu  sein,  ist  aber  nur  Mittelstand 
im  Vergleich  mit  den  reichen  Adligen  und  Kapitalisten;  seine  Stel- 
lung aber  gegen  den  Arbeiter  ist  arisiokratisch  und  dies  muß  in 
einem  Lande  wie  England,  das  nur  von  der  Industrie  lebt,  und  also 
eine  Masse  Arbeiter  besitzt,  weit  eher  zum  Bewußtsein  kommen  als 
z.  B.  in  Deutschland,  wo  man  die  Handwerker  und  Bauern  als 
Mittelstand  begreift  und  jene  ausgedehnte  Klasse  der  Fabrikarbeiter 
gar  nicht  kennt.  Hierdurch  wird  die  Whigpartei  in  die  zweideutige 
Stellung  des  juste-milieu  hingedrängt,  sobald  die  Klasse  der  Ar- 
beiter anfängt,  zum  Bewußtsein  zu  kommen.  Und  dies  geschieht 
in  diesem  Augenblick.  Die  radikal-demokratischen  Prinzipien  des 
Chartismus  durchdringen  die  arbeitende  Klasse  täglich  mehr  und 
werden  von  ihr  immer  mehr  als  Ausdruck  ihres  Gesamtbewußt- 
seins erkannt.  Jetzt  indessen  ist  diese  Partei  erst  in  der  Bildung 
begriffen  und  kann  deshalb  noch  nicht  mit  voller  Energie  auftreten. 
—  Daß  außer  diesen  drei  Hauptparteien  noch  allerlei  Übergangs- 
Nüancen  existieren,  versteht  sich  von  selbst,  und  von  diesen  sind 
augenblicks  zwei  von  Bedeutung,  obwohl  sie  allen  prinzipiellen  Ge- 
halts entbehren.  Die  erste  ist  die  Mitte  zwischen  Whiggismus  und 
Torieismus,  wie  sie  durch  Peel  und  Russell  repräsentiert  wird,  und 
der  für  die  nächste  Zukunft  die  Majorität  im  Unterhause,  also  das 
Ministerium,  sicher  ist.  Die  andere  ist  die  Mitte  zwischen  Whiggis- 
mus und  Chartismus,  die  ,, radikale"  Nuance,  die  durch  ein  halbes 
Dutzend  Parlamentsmitglieder  und  einige  Zeitschriften,  namentlich 


1)   In  der  Rheinischen  SJeitung  steht  November.    Das  ist  aber  offenbar 
ein  Druckfehler. 


2CO        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

den  ,,Examiner"  vertreten  ist,  und  deren  Prinzipien,  obwohl  nicht 
ausgesprochen,  der  National-Anti-Corn-Law-League  zugrunde  liegen. 
Die  erstere  Fraktion  muß  durch  die  größere  Entwicklung  des  Char- 
tismus an  Bedeutung  gewinnen,  weil  sie  ihm  gegenüber  die  Einheit 
von  Whig-  und  Toryprinzipien  darstellten,  die  er  grade  behaup- 
tet. Die  andere  muß  dadurch  ganz  in  ihr  Nichts  zurückfallen.  Die 
Stellung  dieser  Parteien  gegeneinander  zeigt  sich  am  klarsten  in 
ihrem  Verhalten  gegen  die  Korngesetze.  Die  Tories  geben  keinen 
Zoll  breit  nach.  Der  Adel  weiß,  daß  seine  Macht,  außer  der  konsti- 
tutionellen Sphäre  des  Oberhauses, hauptsächlich  in  seinem  Reichtum 
liegt.  Durch  eine  Freigebung  der  Korneinfuhr  würde  er  genötigt 
sein,  mit  den  Pächtern  neue  Kontrakte  auf  billigere  Bedingungen 
abzuschließen.  Sein  ganzer  Reichtum  ist  Grundbesitz;  der  Wert 
des  Grundbesitzes  steht  mit  der  Pacht  in  unabänderlichem  Veihält- 
nis,  und  fällt  mit  ihr.  Nun  ist  die  Pacht  augenblicklich  so  hoch, 
daß  selbst  bei  dem  jetzigen  Zoll  der  Pächter  ruiniert  wird ;  eine 
Freigebung  der  Korneinfuhr  würde  diese  Pacht  und  mit  ihr  den  Wert 
des  Grundeigentums  um  den  dritten  Teil  herabsetzen.  Grund  ge- 
nug für  die  Aristokratie,  an  ihrem  wohlerworbenen  Recht,  das  den 
Ackerbau  ruiniert  und  die  Armen  des  Landes  aushungert,  festzu- 
halten. Die  Whigs,  das  allzeit  fertige  juste-milieu,  haben  einen 
festen  Zoll  von  8  Schilling  pro  Quarter  vorgeschlagen;  dieser  Zoll 
ist  gerade  niedrig  genug,  um  fremdes  Korn  hereinzulassen  und  dem 
Pächter  den  Markt  verderben  zu  können,  und  gerade  hoch  genug, 
um  dem  Pächter  allen  Grund  zur  Forderung  neuer  Pachtbedingun- 
gen zu  nehmen  und  für  das  Land  einen  durchschnittlich  ebenso 
hohen  Brot  preis  zu  stellen,  wie  er  jetzt  existiert.  Die  Weisheit  des 
juste-milieu  ruiniert  also  das  Land  noch  weit  sicherer  als  die  Ver- 
stocktheit der  konsequenten  Reaktion.  Die  ,, Radikalen"  sind  hier 
einmal  wirklich  radikal  und  fordern  freie  Korneinfuhr.  Aber  der 
,,Examiner*'  hat  diesen  Mut  auch  erst  seit  acht  Tagen,  und  die 
Anti-Corn-Law-League  war  von  vornherein  so  sehr  bloß  gegen  die 
bestehenden  Korngesetze  und  die  Sliding-Scale  gerichtet,  daß  sie 
bis  zuletzt  immerfort  die  Whigs  unterstützte.  Allmählich  indessen 
ist  die  absolute  Freiheit  der  Korneinfuhr  und  überhaupt  ,, freier 
Handel"  das  Feldgeschrei  der  Radikalen  geworden,  und  die  Whigs 
schreien  gutmütig  mit  nach  ,, freiem  Handel",  worunter  sie  juste- 
milieu-Zölle  verstehen.  Daß  die  Chartisten  von  Kornzöllen  nichts 
wissen  wollen,  versteht  sich  von  selbst.  Was  wird  aber  daraus  wer- 
den ?  Daß  die  Korneinfuhr  frei  werden  muß,  ist  so  gewiß,  wie  daß 
die  Tories  stürzen  müssen,  auf  friedlichem  oder  gewaltsamem  Wege. 
Nur  über  die  Art  dieser  Veränderung  kann  man  streiten.  Wahr- 
scheinlich wird  schon  die  nächste  Parlaments-Session  den  Abfall 


An  die  Rheinische  Zeitung.  251 

Peels  von  der  Sliding-Scale  und  damit  vom  vollen  Torieismus  bringen. 
Der  Adel  vi^ird  in  allem  nachgeben,  was  ihn  nicht  zwingt,  seine 
Pachtsätze  zu  erniedrigen,  weiter  aber  nichts.  Die  Koalition  Peel- 
Russell,  das  parlamentarische  Zentrum,  hat  jedenfalls  die  nächste 
Chance  fürs  Ministerium,  und  wird  die  Entscheidung  der  Kornfrage 
durch  seine  juste-milieu-Maßregeln  so  lange  wie  mögUch  aufhalten. 
Wie  lange  aber,    das  hängt  nicht  von  ihr  ab  sondern  vom  Volke. 


IV. 

Lancashire,  20.  Dezember. 

Die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England  wird  täglich  pre- 
kärer. Für  den  Augenblick  hat  es  freilich  den  Anschein,  als  wäre 
es  so  schlimm  nicht ;  in  den  Baumwolldistrikten  sind  die  meisten 
Leute  beschäftigt,  in  Manchester  kommt  vielleicht  auf  zehn  Arbeiter 
nur  ein  Unbeschäftigter,  in  Bolton  und  Birmingham  mag  das  Ver- 
hältnis dasselbe  sein,  und  wenn  der  englische  Arbeiter  beschäftigt 
ist,  ist  er  auch  zufrieden.  Und  er  kann  es  auch  sein,  wenigstens 
der  Baumwollenarbeiter ;  wenn  er  sein  Los  mit  dem  seiner  Schick- 
salsgenossen in  Deutschland  und  Frankreich  vergleicht.  Dort  hat 
der  Arbeiter  knapp  genug,  um  von  Kartoffeln  und  Brot  leben  zu 
können;  glücklich,  wer  einmal  die  Woche  Fleisch  bekommt.  Hier 
ißt  er  täglich  sein  Rindfleisch,  und  bekommt  für  sein  Geld  einen 
kräftigeren  Braten  als  der  Reichste  in  Deutschland.  Zweimal  des 
Tages  hat  er  Tee,  und  behält  immer  noch  Geld  genug  übrig,  um 
mittags  ein  Glas  Porter  und  abends  brandy  and  water  trinken  zu 
können.  Das  ist  die  Lebensart  der  meisten  Arbeiter  in  Manchester 
bei  einer  täglich  zwölfstündigen  Arbeit.  Aber  wie  lange  dauert 
das!  Bei  der  geringsten  Schwankung  im  Handel  werden  Tausende 
von  Arbeitern  brotlos ;  ihre  geringen  Ersparnisse  sind  bald  verzehrt, 
imd  dann  steht  der  Hungertod  vor  ihnen.  Und  eine  solche  Krisis 
muß  in  ein  paar  Jahren  wieder  eintreten.  Dieselbe  vermehrte 
Produktion,  die  jetzt  den  ,,paupers"  Arbeit  verschafft,  und  die 
auf  den  chinesischen  Markt  spekuliert,  muß  eine  Unmasse  Waren 
und  eine  Stockung  des  Absatzes  hervorbringen,  in  deren  Gefolge 
wieder  eine  allgemeine  Brotlosigkeit  der  Arbeiter  ist.  Sodann 
ist  die  Lage  der  Baumwollenarbeiter  die  beste.  In  den  Kohlen- 
minen haben  die  Arbeiter  die  schwersten  und  ungesündesten  Ar- 
beiten für  einen  geringen  Lohn  zu  verrichten.  Die  Folge  davon 
ist,  daß  diese  Arbeiterklasse  einen  weit  größeren  Ingrimm  gegen 
die  Reichen  hegt  als  die  anderen  working  men,  und  daher  durch 
Raub,  Mißhandlungen  der  Reicheren  etc.  sich  besonders  auszeich- 
net.   So  sind  hier  in  Manchester  die  ,, Bolton  people"  ordentlich  ge- 


252        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

fürchtet,  wie  sie  sich  deiin  auch  bei  den  Sommerunruhen  am  ent- 
schlossensten gezeigt  haben.  In  ähnlichem  Rufe  stehen  die  Eisen- 
arbeiter, wie  überhaupt  alle,  die  schwere  körperliche  Arbeiten  zu 
verrichten  haben.  Wenn  alle  diese  schon  jetzt  knapp  leben  können, 
w£Ls  soll  aus  ihnen  werden,  wenn  die  geringste  Stockung  im  Geschäft 
eintritt  ?  Die  Arbeiter  haben  zwar  Kassen  unter  sich  gebildet,  deren 
Fonds  durch  wöchentliche  Beiträge  vermehrt  wird  und  die  Unbe- 
schäftigten unterstützen  soll;  aber  auch  diese  reichen  nur  dann 
aus,  wenn  die  Manufakturen  gut  gehen,  denn  selbst  dann  sind  noch 
Brotlose  genug  da.  Sowie  die  Arbeitslosigkeit  allgemein  wird,  so 
hört  auch  diese  Hilfsquelle  auf.  Schottland  ist  augenblicklich 
der  Sündenbock,  wo  die  Manufakturen  stocken;  denn  bei  der  Aus- 
dehnung der  englischen  Industrie  gibt  es  immer  einen  oder  den  an- 
deren Bezirk,  der  leidet.  In  der  ganzen  Umgegend  von  Glasgow 
nimmt  die  Arbeitslosigkeit  täglich  zu.  In  Paisley,  einer  verhältnis- 
mäßig kleinen  Stadt,  waren  vor  vierzehn  Tagen  7000  ,,unemployed**; 
jetzt  sind  ihrer  schon  10  000.  Die  ohnehin  schon  geringen  Zusen- 
dungen aus  den  Unterstützungskassen  sind  noch  um  die  Hälfte  ver- 
mindert worden,  weil  die  Fonds  ausgehen;  eine  Meeting  der  Noble- 
men  und  Gentlemen  der  Grafschaft  hat  eine  Suscription  beschlossen, 
die  3000  Pfund  einbringen  soll;  aber  dies  Mittel  ist  auch  schon  ab- 
genutzt, und  die  Herren  selbst  hoffen  im  stillen  nur  auf  einen 
Ertrag  von  höchstens  400  Pfund.  Es  kommt  zuletzt  darauf  alles 
hinaus,  daß  England  sich  mit  seiner  Industrie  nicht  nur  eine  große 
Klasse  von  Besitzlosen  sondern  auch  unter  diesen  eine  immer  nicht 
unbedeutende  Klasse  von  Brotlosen  auf  den  Hals  geladen  hat,  die 
es  nicht  loswerden  kann.  Diese  Leute  müssen  sehen,  wie  sie  sich 
durchschlagen;  der  Staat  gibt  sie  auf,  ja  stößt  sie  von  sich.  Wer 
kann  es  ihnen  verübeln,  wenn  die  Männer  sich  auf  den  Straßenraub 
oder  Einbruch,  die  Weiber  auf  den  Diebstahl  oder  Prostitution 
werfen.  Aber  der  Staat  kümmert  sich  nicht  darum,  ob  der  Hunger 
bitter  oder  süß  ist,  sondern  sperrt  sie  in  seine  Gefängnisse  oder  de- 
portiert sie  in  die  Verbrecherkolonien,  und  wenn  er  sie  freiläßt,  so 
hat  er  das  zufriedenstellende  Resultat,  aus  Brotlosen  Sittenlose  ge- 
macht zu  haben.  Und  der  Humor  von  der  ganzen  Geschichte  ist, 
daß  der  hochweise  Whig  und  ,, Radikale**  fortwährend  nicht  be- 
greift, woher  bei  einer  solchen  Lage  des  Landes  der  Chartismus  her- 
kommt, und  wie  die  Chartisten  nur  glauben  mögen,  daß  sie  auch  nur 
die  geringste  Chance  in  England  haben. 


An  die  Rheinische  Zeitung.  253 

V. 

Lancashire,  22.  Dezember. 

Die  bestehenden  Korngesetze  gehen  ihrem  Ende  rasch  entgegen. 
Das  Volk  hat  eine  wahre  Wut  auf  die  „Brottaxe",  und  die  Tories 
mögen  machen,  was  sie  wollen,  sie  können  gegen  den  Andrang  der 
erbitterten  Masse  nicht  standhalten.  Sir  Robert  Peel  hat  das  Parla- 
ment bis  zum  2.  Februar  vertagt  —  sechs  Wochen  Zeit  für  die  Oppo- 
sition, jene  Wut  noch  mehr  zu  schüren.  Peel  wird  sich  gleich  von 
vornherein  bei  Eröffnung  der  neuen  Session  über  die  Sliding-Scale 
zu  erklären  haben;  man  glaubt  allgemein,  daß  er  in  seiner  Ansicht 
über  sie  wenigstens  wankend  geworden  ist.  Entschließt  er  sich, 
sie  fallen  zu  lassen,  so  wird  die  strengere  Torypartei  das  Ministe- 
rium ohne  Zweifel  verlassen  und  den  gemäßigten  Whigs  Platz 
machen,  so  daß  schon  dann  die  Koalition  Peel-Russell  zustande 
käme.  In  jedem  Falle  wird  die  Aristokratie  sich  hartnäckig  ver- 
teidigen, und  ich  meinerseits  glaube  nicht,  daß  sie  gutwillig  zur 
Freigebung  der  Korneinfuhr  zu  bringen  ist.  Der  englische  Adel 
hat  die  Reformbill  und  die  Emanzipation  der  Katholiken  durch- 
gehen lassen,  aber  die  Selbstüberwindung,  die  ihm  dies  gekostet 
hat,  würde  nichts  sein  gegen  die,  mit  der  er  die  Korngesetze  ab- 
schaffte. Was  ist  die  Schwächung  des  aristokratischen  Einflusses 
auf  die  Wahl  des  Unterhauses  gegen  die  Herabsetzung  des  Vermö- 
gens aller  englischen  Adligen  um  30  Prozent  ?  Und  wenn  schon  die 
beiden  obigen  Bills  solche  Kämpfe  gemacht  haben,  wenn  die  Re- 
formbill nur  mit  Hilfe  von  Volksauf  ständen,  mit  Steinwürfen  in  die 
Fenster  der  Aristokraten  durchgesetzt  wurde,  dann  sollte  der  Adel 
es  bei  dieser  Frage  nicht  darauf  ankommen  lassen,  ob  das  Volk 
mutig  und  stark  genug  ist,  seinen  Willen  durchzuführen?  Ohne- 
hin haben  die  Sommerunruhen  dem  Adel  ja  gezeigt,  wie  wenig  das 
englische  Volk  taugt,  wenn  es  revoltiert.  Ich  bin  fest  überzeugt, 
daß  die  Aristokratie  diesmal  standhalten  wird,  bis  ihr  das  Messer 
an  der  Kehle  sitzt.  Daß  das  Volk  aber  nicht  lange  mehr  von  jedem 
Pfunde  Brot,  das  es  verzehrt,  der  Aristokratie  einen  Penny  (10  Pfen- 
nige Preuß.)  bezahlen  wird,  ist  gewiß.  Dafür  hat  die  Anti-Corn- 
Law-League  gesorgt.  Ihre  Tätigkeit  ist  ungeheuer  gewesen,  einen 
genaueren  Bericht  darüber  behalte  ich  mir  vor.  So  viel  für  heute, 
daß  eines  der  wichtigsten  Resultate,  das  teils  die  Korngesetze,  teils 
die  League  hervorgebracht  haben,  die  Befreiung  der  Pächter  von 
dem  moralischen  Einfluß  ihrer  adligen  Grundbesitzer  ist.  Bisher 
war  niemand  gegen  politische  Verhältnisse  gleichgültiger  gewesen 
als  die  englischen  Pächter,  d.  h.  der  ganze  ackerbautreibende  Teil 
der  Nation.  Der  Landlord  (Gutsbesitzer)  war,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  Tory,  und  jagte  jeden  Pächter  fort,  der  bei  den  Parlaments- 


254         "^"^  '^^^  ^^**  '^^^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

Wahlen  gegen  die  Tories  stimmte.  Daher  kam  es  denn,  daß  die  252 
Parlamentsmitglieder,  welche  das  platte  Land  im  Vereinigten  König- 
reich zu  wählen  hat,  regelmäßig  fast  lauter  Tories  waren,  durch  die 
Wirkungen  der  Korngesetze,  so  wie  durch  die  Publikationen  der 
League,  die  in  Hunderttausenden  von  Exemplaren  verbreitet  wur- 
den, ist  aber  nun  in  dem  Pächter  der  politische  Sinn  geweckt  wor- 
den. Er  hat  eingesehen,  daß  sein  Interesse  nicht  mit  dem  des  Land- 
lords identisch,  sondern  ihm  gerade  entgegengesetzt  ist,  und  daß 
die  Korngesetze  für  niemand  ungünstiger  gewesen  sind,  als  für  ihn. 
Daher  ist  denn  auch  eine  bedeutende  Veränderung  unter  den  Päch- 
tern vorgegangen.  Die  Mehrzahl  derselben  ist  jetzt  Whig,  und  da 
es  den  Landlords  schwer  fallen  dürfte,  jetzt  noch  einen  durch- 
greifenden Einfluß  auf  die  Stimme  der  Pächter  bei  den  Wahlen 
auszuüben,  so  werden  die  252  Tories  wohl  bald  in  ebenso  viel  Whigs 
übergehen.  Wenn  dieser  Übergang  auch  nur  bei  der  Hälfte  ein- 
träte, so  würde  dadurch  schon  die  Gestalt  des  Unterhauses  bedeutend 
verändert  werden,  indem  hierdurch  die  Majorität  des  Unterhauses 
den  Whigs  für  immer  gesichert  wäre.  Und  das  muß  geschehen! 
Vollends  wenn  die  Korngesetze  aufgehoben  wären,  denn  dann  wäre 
der  Pächter  ganz  unabhängig  gegen  den  Landlord,  weil  von  jener 
Aufhebung  an  die  Pachtkontrakte  unter  ganz  neuen  Bedingungen 
geschlossen  werden  müssen.  Die  Aristokratie  hat  Wunders  einen 
klugen  Streich  zu  machen  gemeint,  als  sie  die  Korngesetze  gab; 
aber  das  Geld,  was  sie  dadurch  bekommen  hat,  wiegt  lange  nicht 
den  Nachteil  auf,  den  ihr  jene  Gesetze  gebracht  haben.  Und  dieser 
Nachteil  besteht  eben  darin,  daß  von  nun  an  die  Aristokratie  nicht 
mehr  als  die  Vertreterin  des  Ackerbaus,  sondern  ihrer  eigenen 
selbstsüchtigen  Interessen  dasteht. 

Briefe  aus  London  an  den  Schweizerischen 
Republikaner.   (1843.) 

16.  Mai. 

Die  demokratische  Partei  in  England  macht  reißende  Fort- 
schritte. Während  Whiggismus  und  Toryismus,  Geldaristokratie 
und  Adelsaristokratie  in  der  ,, Nationalplauderstube**,  wie  der  Tory 
Thomas  Carlyle,  oder  in  dem  ,, Hause,  das  sich  anmaßt,  die  Ge- 
meinden von  England  vertreten  zu  wollen",  wie  der  Chartist  Feargus 
O'Connor  sagt,  einen  langweiligen  Zungenstreit  um  des  Kaisers 
Bart  führen,  während  die  Staatskirche  allen  ihren  Einfluß  auf  die 
bigotten  Neigungen  der  Nation  aufbietet,  um  ihr  verrottetes  Gebäude 
noch  etwas  aufrecht  zu  erhalten,  während  die  Anti-Korngesetz-Ligue 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  255 

Hunderttausende  wegwirft,  in  der  wahnsinnigen  Hoffnung,  dafür 
Millionen  in  die  Taschen  der  baumwollspinnenden  Lords  strömen 
zu  sehen  —  während  des  schreitet  der  verachtete  und  verspottete 
Sozialismus  ruhig  und  sicher  voran  und  drängt  sich  allmählich  der 
öffentlichen  Meinung  auf,  während  des  hat  sich  in  ein  paar  Jahren 
eine  neue,  unzählbare  Partei  unter  der  Fahne  der  Volkschartie  ge- 
bildet und  eine  so  energische  Art  der  Agitation  angenommen,  daß 
O'Connell  und  die  Ligue  dagegen  Stümper  und  Pfuscher  sind.  Es 
ist  bekannt,  daß  in  England  die  Parteien  mit  den  sozialen  Stufen 
und  Klassen  identisch  sind,  daß  die  Tories  identisch  mit  dem  Adel 
und  der  bigotten,  streng  orthodoxen  Fraktion  der  Hochkirche  sind, 
daß  die  Whigs  aus  den  Fabrikanten,  Kaufleuten  und  Dissenters, 
im  ganzen  aus  der  höheren  Mittelklasse  bestehen,  daß  die  niedere 
Mittelklasse  die  sogenannten  ,, Radikalen"  ausmacht,  und  endlich 
der  Chartismus  seine  Stärke  in  den  working-men,  den  Proletariern, 
hat.  Der  Sozialismus  bildet  keine  geschlossene  politische  Partei, 
rekrutiert  sich  aber  im  ganzen  aus  der  niedern  Mittelklasse  und  den 
Proletariern.  So  zeigt  England  das  merkwürdige  Faktum,  daß,  je 
tiefer  eine  Klasse  in  der  Gesellschaft  steht,  je  ,, ungebildeter"  sie 
im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  ist,  desto  näher  steht  sie  dem 
Fortschritt,  desto  mehr  Zukunft  hat  sie.  Im  ganzen  ist  dies  der 
Charakter  jeder  revolutionären  Epoche,  wie  dies  namentlich  bei  der 
religiösen  Revolution,  deren  Produkt  das  Christentum  war,  sich 
zeigte:  „selig  sind  die  Armen",  ,,die  Weisheit  dieser  Welt  ist  zur 
Torheit  geworden"  usw.  Aber,  so  deutlich  ausgeprägt,  so  scharf 
abgestuft,  wie  jetzt  in  England,  erschien  das  Vorzeichen  einer 
großen  Umwälzung  wohl  noch  nie.  In  Deutschland  geht  die  Be- 
wegung von  der,  nicht  nur  gebildeten,  sondern  sogar  gelehrten  Klasse 
aus ;  in  England  sind  die  Gebildeten  und  vollends  die  Gelehrten  seit 
dreihundert  Jahren  taub  und  blind  gegen  die  Zeichen  der  Zeit.  Der 
elende  Schlendrian  der  englischen  Universitäten,  gegen  den  unsere 
deutschen  Hochschulen  noch  golden  sind,  ist  wellbekannt;  aber 
welcher  Art  die  Werke  der  ersten  englischen  Theologen  und  selbst 
eines  Teils  der  ersten  englischen  Naturforscher  sind,  was  für  er- 
bärmlich reaktionäre  Schriften  die  Masse  der  wöchentlichen  ,, Liste 
neuer  Bücher"  ausmachen,  das  läßt  man  sich  auf  dem  Kontinent 
nicht  träumen.  England  ist  das  Vaterland  der  Nationalökonomie 
aber  wie  steht  die  Wissenschaft  unter  den  Professoren  und  prak- 
tischen Politikern?  Die  Handelsfreiheit  Adam  Smith's  ist  in  die 
wahnsinnige  Konsequenz  der  Malthusschen  Bevölkerungstheorie 
hineingetrieben  worden  und  hat  nichts  produziert  als  eine  neue  zi- 
vilisiertere  Gestalt  des  alten  Monopolsystems,  die  in  den  heutigen 
Tories  ihre  Vertreter  findet,  und  die  den  Malthusschen  Unsinn  mit 


256        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

Erfolg  bekämpft  hat  —  aber  zuletzt  doch  wieder  auf  Malthussche 
Konsequenzen  getrieben  wird.  Inkonsequenz  und  Heuchelei  auf 
allen  Seiten,  während  die  schlagenden  ökonomischen  Traktate  der 
Sozialisten  und  zum  Teil  auch  der  Chartisten  mit  Verachtung  bei- 
seite gelegt  werden  und  nur  unter  den  niederen  Ständen  Leser  finden. 
Strauß  ,, Leben  Jesu"  wurde  ins  Englische  übersetzt.  Kein  „respek- 
tabler" Buchhändler  wollte  es  drucken;  endlich  erschien  es  heft- 
weise, 3  Pence  das  Heft,  und  zwar  im  Verlage  eines  ganz  unter- 
geordneten, aber  energischen  Antiquars.  So  ging  es  mit  Übersetzun- 
gen von  Rousseau,  Voltaire,  Holbach  usw.  Byron  und  Shelley 
werden  fast  nur  von  den  untern  Ständen  gelesen;  des  letzteren 
Werke  dürfte  kein  „respektabler"  Mann  auf  seinem  Tisch  liegen 
haben,  ohne  in  den  schrecklichsten  Verruf  zu  kommen.  Es  bleibt 
dabei:  selig  sind  die  Armen,  denn  ihrer  ist  das  Himmelreich,  und 
wie  lange  wird's  dauern  —  auch  das  Reich  dieser  Welt. 

Dem  Parlament  liegt  jetzt  Sir  F.  Grahams  Bill  über  die  Er- 
ziehung der  in  Fabriken  arbeitenden  Kinder  vor,  wonach  die  Ar- 
beitszeit derselben  beschränkt,  der  Schulzwang  eingeführt  und  die 
Hochkirche  mit  der  Aufsicht  über  die  Schulen  beschenkt  werden 
soll.  Diese  Bill  hat  natürlich  allgemeine  Bewegung  hervorgerufen 
und  den  Parteien  wieder  Gelegenheit  gegeben,  ihre  Stärke  zu  messen. 
Die  Whigs  wollen  die  Bill  ganz  verworfen  haben,  weil  sie  die  Dis- 
senters  von  der  Jugenderziehung  verdrängt  und  den  Fabrikanten 
durch  die  Beschränkung  der  Arbeitszeit  der  Kinder  Verlegenheiten 
bereitet.  Unter  den  Chartisten  und  Sozialisten  gibt  sich  dagegen 
eine  bedeutende  Zustimmung  zu  der  allgemeinen  humanen  Tendenz 
der  Bill,  mit  Ausnahme  der  auf  die  Hochkirche  bezüglichen  Klau- 
seln, kund.  Lancashire,  der  Hauptsitz  der  Fabriken,  ist  natürlich 
auch  der  Hauptsitz  der  auf  obige  Bill  bezüglichen  Agitationen.  Die 
Tories  sind  hier  in  den  Städten  durchaus  machtlos;  ihre  desfall- 
sigen  Meetings  waren  auch  nicht  öffentlich.  Die  Dissenters  ver- 
sammelten sich  erst  in  Korporationen,  um  gegen  die  Bill  zu  peti- 
tionieren, und  ließen  dann  im  Verein  mit  den  liberalen  Fabrikanten 
Stadtmeetings  berufen.  Ein  solches  Stadtmeeting  wird  vom  ober- 
sten städtischen  Beamten  berufen,  ist  ganz  öffentlich  und  jeder 
Einwohner  hat  das  Recht,  zu  sprechen.  Hier  also  kann,  wenn  der 
Versammlungssaal  groß  genug  ist,  nur  die  stärkste  und  energischste 
Partei  siegen.  Und  in  allen  bis  jetzt  berufenen  Stadtmeetings  haben 
die  Chartisten  und  Sozialisten  gesiegt.  Das  erste  war  in  Stockport, 
wo  die  Resolutionen  der  Whigs  nur  eine  Stimme,  die  der  Chartisten 
das  ganze  Meeting  für  sich  hatten,  und  so  der  whiggische  Mayor 
von  Stockport  als  Präsident  des  Meetings  genötigt  war,  eine  char- 
tistische Petition  zu  unterschreiben  und   an  ein  chartistisches  Par- 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  257 

lamentsmitglied  (Duncombe)  zur  Überreichung  einzusenden.  Das 
zweite  war  in  Salford,  einer  Art  Vorstadt  von  Manchester  mit  etwa 
100 000  Einwohnern;  ich  war  dort.  Die  Whigs  hatten  alle  Vor- 
kehrungen getroffen,  um  sich  den  Sieg  zu  verschaffen ;  der  Bo- 
roughreeve  nahm  den  Präsidentenstuhl  ein  und  sprach  viel  von 
Unparteilichkeit;  als  aber  ein  Chartist  fragte,  ob  Diskussion  erlaubt 
sei,  erhielt  er  zur  Antwort:  ja,  wenn  das  Meeting  vorüber  sei!  Die 
erste  Resolution  sollte  durchgeschmuggelt  werden,  aber  die  Char- 
tisten waren  auf  ihrer  Hut  und  vereitelten  es.  Als  ein  Chartist 
die  Plattform  bestieg,  kam  ein  dissentierender  Geistlicher  und 
wollte  ihn  herunterwerfen.  Alles  ging  indes  noch  gut,  bis  zuletzt, 
als  eine  Petition  im  Sinne  der  Whigs  vorgeschlagen  wurde.  Da  trat 
ein  Chartist  auf  und  schlug  ein  Amendement  vor ;  alsbald  stand  der 
Präsident  und  sein  ganzer  Whigschweif  auf  und  verließ  den  Saal. 
Dis  Meeting  wurde  nichtsdestoweniger  fortgesetzt  und  die  char- 
tistische Petition  zur  Abstimmung  gebracht;  aber  gerade  im  rech- 
ten Augenblick  machten  die  Polizeibeamten,  die  sich  schon  meh- 
rere Male  zugunsten  der  Whigs  ins  Mittel  gelegt  hatten,  die  Lichter 
aus  und  zwangen  das  Meeting,  sich  zu  trennen.  Nichtsdestoweniger 
ließen  die  Whigs  in  der  nächsten  Lokalzeitung  ihre  sämtlichen  Re- 
solutionen als  durchgegangen  einrücken  und  der  Boroughreeve  war 
ehrlos  genug,  seinen  Namen  ,,in  Vertretung  und  auf  Befehl  des 
Meetings"  zu  unterzeichnen!  Das  ist  Whigrechtlichkeit!  Das  dritte 
Meeting  war  zwei  Tage  später  in  Manchester,  und  hier  trugen  die  radi- 
kalen Parteien  gleichfalls  den  glänzendsten  Sieg  davon.  Obwohl  die 
Stunde  so  gewählt  war,  daß  die  meisten  Fabrikarbeiter  nicht  anwesend 
sein  konnten,  war  doch  eine  bedeutende  Majorität  von  Chartisten  und 
Sozialisten  im  Saal.  Die  Whigs  beschränkten  sich  rein  auf  die  Punkte, 
welche  ihnen  mit  den  Chartisten  gemeinsam  waren ;  ein  Sozialist  und 
ein  Chartist  sprachen  von  der  Plattform  und  gaben  den  Whigs  das 
Zeugnis,  daß  sie  sich  heute  als  gute  Chartisten  aufgeführt  hätten.  Der 
Sozialist  sagte  ihnen  geradezu,  daß  er  hergekommen  sei,  um  Opposi- 
tion zu  machen,  wenn  er  die  geringste  Gelegenheit  finde,  aber  es  sei 
alles  nach  seinen  Wünschen  gegangen.  So  ist  es  also  dahin  gekommen, 
daß  Lancashire,  und  namentlich  Manchester,  der  Sitz  des  Whiggismus, 
der  Zentralpunkt  der  Aati-Korngesetz-Ligue,  eine  glänzende  Majo- 
rität zugunsten  der  radikalen  Demokratie  aufzuweisen  hat  und  die 
Macht  der  ,, Liberalen"  dadurch  komplett  im  Schach  gehalten  wird. 

H. 

23.  Mai. 

Die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung  hat  einen  liberalen  Kor- 
respondenten (*)  in  London,  der  den  Whigumtrieben  in  entsetzlich 

May  er  ,  Engels.    Ergänzungsband.  17 


258        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

langen  und  langweiligen  Artikeln  das  Wort  redet.  „Die  Anti-Korn- 
gesetz-Ligue  ist  jetzt  die  Macht  des  Landes",  sagt  dies  Orakel  und 
spricht  damit  die  größte  Lüge  aus,  die  je  von  einem  Parteikorrespon- 
denten gesagt  ist.  Die  Ligue  die  Macht  des  Landes!  Wo  steckt 
diese  Macht }  Im  Ministerium  ?  Da  sitzen  ja  Peel  und  Graham  und 
Gladstone,  die  ärgsten  Feinde  der  Ligue.  Im  Parlament?  Da  wird 
jeder  ihrer  Anträge  mit  einer  Majorität  verworfen,  die  ihresgleichen 
in  den  englischen  Parlamentsannalen  selten  hat.  Wo  steckt  diese 
Macht  ?  Im  Publikum,  in  der  Nation  ?  Die  Frage  kann  nur  so  ein 
gedankenloser,  flatterhafter  Korrespondent  bejahen,  dem  Drury- 
Lane  das  Publikum  und  eine  zusammengetrompetete  Versammlung 
die  öffentliche  Meinung  ist.  Wenn  dieser  weise  Korrespondent  schon 
so  blind  ist,  daß  er  am  hellen  Tage  nicht  sehen  kann,  wie  dies  das 
Erbteil  der  Whigs  ist,  so  will  ich  ihm  sagen,  wie  es  mit  der  Macht 
der  Ligue  steht.  Von  den  Tories  ist  sie  aus  dem  Ministerium  und 
aus  dem  Parlament,  von  den  Chartisten  aus  der  öffentlichen  Mei- 
nung gejagt  worden.  Feargus  O'Connor  hat  sie  in  allen  Städten 
Englands  im  Triumph  vor  sich  hergetrieben,  hat  sie  überall  zu 
einer  öffentlichen  Diskussion  aufgefordert,  und  die  Ligue  hat  den 
Handschuh  nie  aufgenommen.  Die  Ligue  kann  kein  einziges  öffent- 
liches Meeting  berufen,  ohne  aufs  schmählichste  von  den  Chartisten 
geschlagen  zu  werden.  Oder  weiß  der  Augsburger  Korrespondent 
nicht,  daß  die  pomphaften  Meetings  in  Manchester  im  Januar  und 
jetzt  die  Zusammenkünfte  im  Londoner  Drury-Lane -Theater,  wo 
sich  die  liberalen  Gentlemen  gegenseitig  etwas  vorlügen  und  sich  • 
über  ihre  innere  Haltlosigkeit  zu  täuschen  suchen  —  daß  das  alles 
,, übertünchte  Gräber"  sind?  Wer  wird  zu  diesen  Versammlungen 
zugelassen?  Nur  die  Mitglieder  der  Ligue  oder  solche,  denen  die 
Ligue  Billetts  erteilt.  Da  kann  also  keine  Gegenpartei  die  Chance 
einer  erfolgreichen  Opposition  haben,  und  deshalb  bewirbt  sich  auch 
keiner  um  Billetts;  wenn  auch  noch  so  viel  List  angewandt  würde, 
so  könnte  sie  doch  keine  hundert  ihrer  Anhänger  hineinschmuggeln. 
Solche  Meetings,  die  dann  nachher  ,, öffentliche"  genannt  werden, 
hält  die  Ligue  schon  seit  Jahren  und  gratuliert  sich  darin  selbst 
über  ihre  ,, Fortschritte".  Es  steht  der  Ligue  dann  auch  sehr  wohl 
an,  in  diesen  ,, öffentlichen"  Billettversammlungen  über  das  ,, Ge- 
spenst des  Chartismus"  zu  schimpfen,  besonders  da  sie  weiß,  daß 
O'Connor,  Duncombe,  Cooper  usw.  diese  Angriffe  in  wirklich  öffent- 
lichen Meetings  redlich  erwidern.  Die  Chartisten  haben  bis  jetzt 
noch  jedes  öffentliche  Meeting  der  Ligue  mit  glänzender  Majorität 
gesprengt,  aber  die  Ligue  hat  noch  nie  ein  chartistisches  Meeting 
beunruhigen  können.  Daher  der  Haß  der  Ligue  gegen  die  Char-- 
tisten,  daher  das  Geschrei  über   ,, Störung"  eines   Meetings  durch 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  259 

Chartisten  —  d.h.  Auflehnung  der  Majorität  gegen  die  Minorität, 
die  von  der  Plattform  aus  jene  zu  ihren  Zwecken  zu  benutzen  sucht. 
Wo  ist  denn  die  Macht  der  Ligue  ?  —  In  ihrer  Einbildung  und  — 
in  ihrem  Geldbeutel.  Die  Ligue  ist  reich,  sie  hofft  durch  Abschaf- 
fung der  Korngesetze  eine  gute  Handelsperiode  herbeizuzaubern, 
und  wirft  daher  mit  der  Wurst  nach  dem  Schinken.  Ihre  Subskrip- 
tionen tragen  bedeutende  Massen  Geld  ein,  und  damit  werden  alle 
die  pomphaften  Versammlungen  und  der  übrige  Schein  und  Flitter- 
staat aufgebracht.  Aber  hinter  all  dem  gleißenden  Exterieur  steckt 
gar  nichts  Reelles.  Die  „National-Charter-Association",  die  Ver- 
bindung der  Chartisten,  ist  an  Mitgliederzahl  stärker,  und  es  wird 
sich  bald  zeigen,  daß  sie  auch  mehr  Geldmittel  aufbringen  kann, 
obwohl  sie  nur  aus  armen  Arbeitern  besteht,  während  die  Ligue 
alle  reichen  Fabrikanten  und  Kaufleute  in  ihren  Reihen  zählt. 
Und  das  aus  dem  Grunde,  weil  die  chartistische  Assoziation  ihre 
Gelder  zwar  pfennigweise,  aber  von  fast  jedem  ihrer  Mitglieder  er- 
hält, während  bei  der  Ligue  zwar  bedeutende  Summen,  aber  nur 
von  einzelnen  beigetragen  werden.  Die  Chartisten  können  mit 
Leichtigkeit  jede  Woche  eine  Million  Pence  aufbringen  —  es  fragt 
sich  sehr,  ob  die  Ligue  das  durchhalten  könnte.  Die  Ligue  hat  eine 
Kontribution  von  50000  Pfund  Sterling  ausgeschrieben  und  etwa 
70000  erhalten;  Feargus  O'Connor  wird  nächstens  für  ein  Projekt 
125000  Pfund  Sterling  und  vielleicht  bald  darauf  wieder  ebenso  viel 
ausschreiben  —  er  erhält  sie,  das  ist  gewiß  —  und  was  will  dann  die 
Ligue  mit  ihren   ,, großen  Fonds"? 

Weshalb  die  Chartisten  Opposition  gegen  die  Ligue  machen, 
darüber  ein  andermal.  Jetzt  nur  noch  die  eine  Bemerkung,  daß  die 
Anstrengungen  und  Arbeiten  der  Ligue  eine  gute  Seite  haben. 
Dies  ist  die  Bewegung,  die  durch  die  Anti-Korrgesetz-Agitation  in 
eine  bisher  total  stabile  Klasse  der  Gesellschaft  gebracht  wird  — 
in  die  ackerbauende  Bevölkerung.  Bisher  hatte  diese  gar  kein 
öffentliches  Interesse;  abhängig  vom  Grundbesitzer,  der  den  Pacht- 
kontrakt jedes  Jahr  kündigen  kann,  phlcgm.atisch,  unwissend, 
schickten  die  Farmers  jahraus  jahrein  lauter  Tories  ins  Parlament, 
251  aus  658  Mitgliedern  des  Unterhauses  —  und  dies  war  bisher 
die  starke  Basis  der  reaktionären  Partei.  Wenn  ein  einzelner  Far- 
mer sich  gegen  diese  erbliche  Stimmgebung  auflehnen  wollte,  fand 
er  keine  Unterstützung  bei  seinesgleichen  und  konnte  vom  Grund- 
besitzer mit  Leichtigkeit  abgedankt  werden.  Jetzt  indes  gibt  sich 
eine  ziemliche  Regsamkeit  unter  dieser  Klasse  der  Bevölkerung 
kund,  es  existieren  schon  liberale  Farmers,  und  es  gibt  Leute  unter 
ihnen,  welche  einsehen,  daß  das  Interesse  des  Grundbesitzers  und 
das  des  Pächters  in  sehr  vielen  Fällen  sich  gerade  entgegenstehen. 

17* 


200        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844, 

Vor  drei  Jahren  hätte  namentlich  in  eigentlich  ^)  England  kein  Mensch 
einem  Pächter  das  sagen  dürfen,  ohne  entweder  ausgelacht  oder 
gar  geprügelt  zu  werden.  Unter  dieser  Klasse  wird  die  Arbeit  der 
Ligue  Früchte  tragen,  aber  ganz  gewiß  andere  als  sie  erwartet;  denn 
wenn  es  wahrscheinlich  ist,  daß  die  Masse  der  Pächter  den  Whigs 
allmählich  zugeht,  so  ist  es  noch  viel  wahrscheinlicher,  daß  die 
Masse  der  ackerbauenden  Taglöhner  auf  die  Seite  der  Chartisten 
geworfen  wird.  Eins  ohne  das  andere  ist  unmöglich,  und  so  wird 
die  Ligue  auch  hier  nur  einen  schwachen  Ersatz  bekommen  für  den 
entschiedenen  und  totalen  Abfall  der  arbeitenden  Klasse,  den  sie 
in  den  Städten  und  Fabrikbezirken  seit  fünf  Jahren  durch  den 
Chartismus  erlitten  hat.  Das  Reich  des  Justemilieus  ist  vorüber, 
und  die  ,, Macht  des  Landes"  hat  sich  auf  die  Extreme  verteilt.  Ich 
aber  frage  nach  diesen  unleugbaren  Tatsachen  den  Herrn  Korre- 
spondenten der  Allg.  Ztg.  von  Augsburg,  wo  ,,die  Macht  der  Ligue" 
steckt  ? 

III.  ,     . 

9.  Jum. 

Die  englischen  Sozialisten  sind  weit  grundsätzlicher  und  prak- 
tischer als  die  französischen,  was  besonders  davon  herrührt,  daß 
sie  in  offenem  Kampfe  mit  den  verschiedenen  Kirchen  sind  und 
von  der  Religion  nichts  wissen  wollen.  In  den  größern  Städten 
nämlich  halten  sie  gewöhnlich  eine  Hall  (Versammlungshaus),  wo 
sie  alle  Sonntage  Reden  anhören,  häufig  sind  dieselben  polemisch 
gegen  das  Christentum  und  atheistisch,  oft  aber  beschlagen  sie  auch 
eine,  das  Leben  der  Arbeiter  berührende  Seite ;  von  ihren  Lecturers 
(Predigern)  scheint  mir  Watts  in  Manchester  jedenfalls  ein  bedeu- 
tender Mann  zu  sein,  welcher  mit  vielem  Talente  einige  Broschüren 
über  die  Existenz  Gottes  und  über  die  Nationalökonomie  geschrieben 
hat.  Die  Lecturers  haben  eine  sehr  gute  Manier  zu  räsonieren; 
alles  geht  von  der  Erfahrung  und  von  beweisbaren  oder  anschau- 
lichen Tatsachen  aus,  dabei  aber  findet  eine  so  grundsätzliche 
Durchführung  statt,  daß  es  schwer  hält,  auf  ihrem  gewählten  Bo- 
den mit  ihnen  zu  kämpfen.  Will  man  aber  ein  anderes  Terrain 
nehmen,  so  verlachen  sie  einen  ins  Gesicht;  ich  sage  z.  B.:  die  Exi- 
stenz Gottes  ist  nicht  vom  Beweise  aus  Tatsachen  für  den  Menschen 
abhängig,  da  entgegnen  sie:  ,,Wie  lächerlich  ist  Ihr  Satz:  wenn  er 
nicht  durch  Tatsachen  sich  manifestiert,  was  wollen  wir  uns  auch 
um  ihn  bekümmern:  aus  Ihrem  Satze  folgt  gerade,  daß  die  Exi- 
stenz Gottes  oder  die  Nichtexistenz  den  Menschen  gleichgültig  sein 
kann.    Da  wir  nun  für  so  tausend  andere  Dinge  zu  sorgen  haben, 

1)  siel 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  261 

so  lassen  wir  Ihnen  den  lieben  Gott  hinter  den  Wolken,  wo  er  viel- 
leicht existiert,  vielleicht  auch  nicht.  Was  wir  nicht  durch  Tat- 
sachen wissen,  das  geht  uns  gar  nichts  an;  wir  halten  uns  auf  dem 
Boden  ,der  schönen  Fakten*,  wo  von  solchen  Phantasiestücken, 
wie  Gott  und  Religiosa  keine  Rede  sein  kann."  So  stützen  sie  ihre 
übrigen  kommunistischen  Sätze  auf  den  Beweis  von  Tatsachen,  bei 
deren  Annahme  sie  in  der  Tat  vorsichtig  sind.  Die  Hartnäckigkeit 
dieser  Leute  ist  unbeschreiblich  und  wie  die  Geistlichen  sie  herum- 
kriegen wollen,  weiß  der  liebe  Himmel.  In  Manchester  z.  B.  zählt 
die  Kommunisten -Gemeinde  8000  erklärte  für  die  Hall  eingeschrie- 
bene und  an  derselben  bezahlende  Mitglieder,  und  es  ist  keine 
Übertreibung,  wenn  behauptet  wird,  die  Hälfte  der  arbeitenden 
Klassen  in  Manchester  teilen  ihre  Ansichten  über  das  Eigentum; 
denn  wenn  der  Watts  von  dei  Plattform  (bei  den  Kommunisten, 
was  die  Kanzel  bei  den  Christen)  sagt:  heute  geh'  ich  an  dies  oder 
jenes  Meeting,  so  kann  man  darauf  rechnen,  daß  die  Motion,  welche 
der  Lecturer  bringt,  die  Mehrheit  hat. 

Es  gibt  aber  auch  unter  den  Sozialisten  Theoretiker,  oder,  wie 
die  Kommunisten  sie  nennen,  ganze  Atheisten,  während  jene  die 
praktischen  heißen.  Von  diesen  Theoretikern  ist  der  berühmteste 
Charles  Southwell  in  Bristol,  der  eine  streitfertige  Zeitschrift:  ,,Das 
Orakel  der  Vernunft"  herausgab  und  dafür  mit  einem  Jahr  Gefäng- 
nis und  einei  Buße  von  etwa  100  Pfund  gestraft  wurde:  natürlich 
ist  dieselbe  schnell  durch  Subskriptionen  gedeckt  worden;  wie  denn 
jeder  Engländer  seine  Zeitung  hält,  seinen  Führern  die  Bußen 
tragen  hilft,  an  seine  Kapelle  oder  Hall  zahlt,  an  seine  Meeting 
geht.  Charles  Southwell  aber  sitzt  schon  wieder;  es  mußte  nämlich 
die  Hall  in  Bristol  verkauft  werden,  weil  nicht  so  viele  Sozialisten 
in  Bristol  und  darunter  wenig  Reiche  sind,  währenddem  eine  solche 
Hall  ein  ziemlich  kostspieliges  Ding  ist.  Dieselbe  wurde  von  einer 
christlichen  Sekte  gekauft  und  in  eine  Kapelle  umgewandelt.  Als 
die  Hall  zur  Kapelle  geweiht  wurde,  drangen  die  Sozialisten  und 
Chartisten  hinein,  um  die  Sache  mit  anzusehen  und  zu  hören.  Als 
nun  aber  der  Geistliche  anfing,  Gott  zu  loben,  daß  all  das  ruchlose 
Zeug  ein  Ende  genommen  habe,  daß  nun  da,  wo  Gott  sonst  gelästert 
wurde,  der  Allmächtige  nun  gepriesen  werde,  hielten  sie  es  für  einen 
Angriff,  und  da  nach  englischen  Begriffen  jeder  Angriff  eine  Abwehr 
heischt,  schrien  sie:  Southwell,  Southwell,  Southwell  soll  dagegen 
eine  Rede  halten.  Southwell  also  macht  sich  auf  und  beginnt  eine 
Rede:  jetzt  aber  stellen  sich  die  Geistlichen  der  christlichen  Sekte 
an  die  Spitze  ihrer  in  Kolonnen  gestellten  Pfarrkinder  und  stürmen 
auf  Southwell  los,  andere  der  Sekte  holen  Polizei,  da  der  Southwell 
den  christlichen  Gottesdienst  gestört  habe:  die  Geistlichen  packen 


202        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844, 

ihn  mit  eigenen  Fäusten,  schlagen  ihn  (was  in  solchen  Fällen  häufig 
geschieht)  und  übergeben  ihn  einem  Polizeimann.  Southwell  selbst 
befahl  seinen  Anhängern,  keinen  leiblichen  Widerstand  zu  machen; 
als  er  weggeführt  wurde,  folgten  ihm  bei  6000  Mann  mit  Hurrarufen 
und  Lebehoch. 

Der  Stifter  der  Sozialisten  Owen  schreibt  in  seinen  vielen  Büch- 
lein wie  ein  deutscher  Philosoph,  d.  h.  sehr  schlecht,  doch  hat  er 
zuweilen  lichte  Augenblicke,  wo  er  seine  dunkeln  Sätze  genießbar 
macht:  seine  Ansichten  sind  übrigens  umfassend.  Nach  Owen  sind 
„Ehe,  Religion  und  Eigentum  die  einzigen  Ursachen  alles  Unglücks, 
was  seit  Anfang  der  Welt  existiert  hat",  (!!),  alle  seine  Schriften 
wimmeln  von  Wutausbrüchen  gegen  die  Theologen,  die  Juristen 
und  Mediziner,  welche  er  in  einen  Topf  wirft,  ,,Die  Geschwornen- 
gerichte  werden  aus  einer  Klasse  Leuten  besetzt,  welche  noch  ganz 
theologisch,  also  Partei  ist;  auch  die  Gesetze  sind  theologisch  und 
müssen  deswegen  samt  der  Jury  abgeschafft  werden." 

Während  die  englische  Hochkirche  praßte,  haben  die  Sozia- 
listen für  die  Bildung  der  arbeitenden  Klassen  in  England  unglaub- 
lich viel  getan;  man  kann  sich  anfänglich  nicht  genug  wundern, 
wenn  man  die  gemeinsten  Arbeiter  in  der  Hall  of  Science  über  den 
politischen,  den  religiösen  und  sozialen  Zustand  mit  klarem  Be- 
wußtsein sprechen  hört;  aber  wenn  man  die  merkwürdigen  Volks- 
schriften aufspürt,  wenn  man  die  Leccurers  der  Sozialisten,  z.  B. 
den  Watts  in  Manchester  hört,  so  nimmt  es  einen  nicht  mehr  wunder. 
Die  Arbeiter  besitzen  gegenwärtig  in  sauberen,  wohlfeilen  Ausgaben 
die  Übersetzungen  der  französischen  Philosophie  des  verflossenen 
Jahrhunderts,  am  meisten  den  Contrat  social  von  Rousseau,  das 
Systeme  de  la  Nature  und  verschiedene  Werke  von  Voltaire,  außer- 
dem in  Pfennig-  und  Zweipfennig-Broschüren  und  Journalen  die 
Auseinandersetzung  der  kommunistischen  Grundsätze ;  ebenso  sind 
die  Ausgaben  von  Thomas  Payne  und  Shelleys  Schriften  zu  billigem 
Preise  in  den  Händen  der  Arbeiter.  Dazu  kommen  noch  die  sonn- 
täglichen Vorlesungen,  welche  sehr  fleißig  besucht  werden;  so  sah 
ich  bei  meiner  Anwesenheit  in  Manchester  die  Kommunisten-Hall, 
welche  etwa  3000  Menschen  faßt,  jeden  Sonntag  gedrängt  voll  und 
hörte  da  Reden,  welche  unmittelbare  Wirkung  haben,  in  welchen 
dem  Volke  auf  den  Leib  geredet  wird,  auch  Witze  gegen  die  Geist- 
lichen vorkommen.  Daß  das  Christentum  geradezu  angegriffen  wird, 
daß  die  Christen  als  ,, unsere  Feinde"  bezeichnet  werden,  kommt 
oft  vor. 

Die  Formen  dieser  Zusammenkünfte  gleichen  zum  Teil  den 
kirchlichen;  ein  Sängerchor,  von  einem  Orchester  begleitet,  singt 
auf  der  Galerie  die  sozialen  Hymnen,  es  sind  halb  und  ganz  geist- 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  263 

liehe  Melodien  mit  kommunistischen  Texten,  wobei  die  Zuhörer 
stehen.  Dann  tritt  ein  Vorleser  auf  die  Plattform,  auf  welcher  ein 
Pult  und  Stühle  stehen,  ganz  ungeniert  mit  dem  Hut  auf  dem  Kopf, 
macht  mit  dem  Hutlüften  den  Anwesenden  seinen  Gruß  und  zieht 
den  Überrock  aus;  dann  setzt  ei  sich  und  hält  seinen  Vortrag,  wo- 
bei gewöhnlich  viel  gelacht  wird,  da  der  englische  Witz  im  spru- 
delnden Humor  sich  in  diesen  Reden  Luft  macht ;  in  der  einen  Ecke 
der  Hall  ist  ein  Bücher  -  und  Broschürenladen,  in  der  andern  eine 
Bude  mit  Orangen  und  andern  Erfrischungen,  wo  jeder  seine  dahin 
einschlagenden  Bedürfnisse  befriedigen  oder,  wenn  ihn  die  Rede 
langweilen  sollte,  sich  ihr  entziehen  kann.  Zuweilen  werden  Sonn- 
tag abends  da  Teepartien  gegeben,  wo  alle  Alter,  Stände  und  Ge- 
schlechter unter  einander  sitzend  das  gewöhnliche  Abendessen,  Tee 
mit  Butterbrot  zu  sich  nehmen ;  an  Werktagen  werden  oft  Bälle  und 
Konzerte  in  der  Hall  aufgeführt,  wo  man  sich  recht  lustig  macht; 
ebenso  ist  noch  ein  Kaffee  in  der  Halle. 

Wie  kommt  es,  daß  man  diesen  ganzen  Kram  duldet  ?  aber 
einmal  haben  die  Kommunisten  sich  unter  dem  Whigministerium 
eine  Parlamentsakte  verschafft  und  sich  überhaupt  damals  so  fest- 
gesetzt, daß  man  ihnen  jetzt  als  Korporation  nichts  mehr  tun  kann. 
Zweitens  würde  man  den  hervorragenden  einzelnen  sehr  gerne  zu 
Leib  gehen,  aber  man  weiß,  daß  dies  nur  zum  Vorteil  der  Sozia- 
listen ausschlüge,  indem  es  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  auf  sie 
lenkt,  wonach  sie  streben.  Gäbe  es  Märtyrer  für  ihre  Sache  (und 
wie  viele  wären  alle  Augenblicke  dazu  bereit),  so  entstände  Agita- 
tion; Agitation  aber  ist  das  Mittel,  ihre  Sache  noch  mehr  zu  ver- 
breiten, während  jetzt  ein  großer  Teil  des  Volkes  sie  übersieht,  in- 
dem es  sie  füi  eine  Sekte  wie  eine  andere  hält;  Gegenmaßregeln, 
wußten  die  Whigs  sehr  wohl,  wirken  kräftiger  für  eine  Sache  als 
Selbstagitation,  daher  gaben  sie  ihnen  Existenz  und  eine  Form; 
jede  Form  aber  ist  bindend.  Die  Tories  schlagen  hingegen  etwa  los, 
wenn  die  atheistischen  Schriften  zu  arg  ausfallen ;  aber  jedesmal 
zum  Nutzen  der  Kommunisten;  im  Dezember  1840  wurden  South - 
well  und  andere  wegen  Blasphemie  gestraft ;  gleich  erschienen  drei 
neue  Zeitschriften,  eine  ,,Der  Atheist",  die  andere  ,,Der  Atheist  und 
der  Republikaner",  die  dritte,  von  dem  Lecturer  Watts  heraus- 
gegeben: ,,Der  Gotteslästerer".  Einige  Nummern  des  Gottesläste- 
rers haben  großes  Aufsehen  erregt,  und  mancher  studierte  um- 
sonst darauf,  wie  man  diese  Richtung  unterdrücken  könnte.  Man 
ließ  sie  gehen  und  siehe  da,  alle  drei  Blätter  gingen  wieder  ein! 

Drittens  retten  sich  die  Sozialisten  wie  alle  die  andern  Par- 
teien durch  Gesetzumgehen  und  Wortklauben,  was  hier  an  der 
Tagesordnung  ist. 


264        -^"^  ^^^  ^®^*  ^^^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

So  ist  hier  alles  Leben  und  Zusammenhang,  fester  Boden  und 
Tat,  so  nimmt  hier  alles  äußere  Gestalt  an:  während  wir  glauben 
etwas  zu  wissen,  wenn  wir  die  matte  Elendigkeit  des  Steinschen 
Buches  verschlucken,  oder  etwas  zu  sein,  wenn  wir  da  oder  dort 
eine  Meinung  mit  Rosenöl  verduftet  aussprechen. 

In  den  Sozialisten  sieht  man  recht  deutlich  die  englische  Ener- 
gie; was  mich  aber  mehr  in  Erstaunen  setzte,  war  das  gutmütige 
Wesen  dieser,  fast  hätte  ich  gesagt  Kerls,  das  aber  so  weit  von 
Schwäche  entfernt  ist,  daß  sie  über  die  bloßen  Republikaner  lachen, 
da  die  Republik  ebenso  heuchlerisch,  ebenso  theologisch,  ebenso 
gesetzlich  ungerecht  sein  würde,  als  die  Monarchie;  für  die  soziale 
Reform  aber  wollen  sie  samt  Weib  und  Kindern  Blut  und  Gut  ein- 
setzen. 

IV.  ^     . 

27.  Jimi. 

Man  hört  jetzt  von  nichts  als  von  O'Connell  und  der  irischen 
Repeal  (Aufhebung  der  Verbindung  Irlands  mit  England).  O'Con- 
nell, der  alte  schlaue  Advokat,  der  während  der  Whigregierung 
ruhig  im  Unterhause  saß,  und  ,, liberale"  Maßregeln  durchbringen 
half,  damit  sie  im  Oberhause  durchfielen,  O'Connell  hat  sich  auf 
einmal  aus  London  und  der  parlamentarischen  Debatte  fortgemacht 
und  bringt  seine  alte  Repealfrage  wieder  auf.  Kein  Mensch  dachte 
noch  daran;  da  steigt  Old  Dan  in  Dublin  ans  Land  und  rührt  den 
alten  verjährten  Plunder  wieder  auf.  Kein  Wunder,  daß  das  alte 
gärende  Zeug  nun  merkwürdige  Luftblasen  entwickelt.  Da  zieht 
der  alte  Schlaukopf  von  Stadt  zu  Stadt  und  jedesmal  von  einer  Leib- 
garde begleitet,  wie  kein  König  sie  aufzuweisen  hat,  zweimalhundert- 
tausend  Mann  immer  um  sich!  Was  könnte  damit  alles  getan 
werden,  wenn  ein  vernünftiger  Mensch  die  Popularität  O'Connells, 
oder  O'Connell  ein  wenig  mehr  Einsicht  und  etwas  weniger  Egois- 
mus und  Eitelkeit  besäße!  Zweimalhunderttausend  Mann;  und  was 
für  Leute!  —  Leute,  die  keinen  Pfennig  zu  verlieren,  die  zu  zwei 
Dritteln  keinen  ganzen  Rock  am  Leibe  haben,  echte  Proletarier  und 
Sansculotten,  und  dazu  Irländer,  wilde,  unbändige,  fanatische  Galen. 
Wer  die  Irländer  nicht  gesehen  hat,  der  kennt  sie  nicht.  Gebt  mir 
zweimalhunderttausend  Irländer  und  ich  werfe  die  ganze  britische 
Monarchie  über  den  Haufen.  Der  Irländer  ist  ein  sorgloses,  heiteres, 
kartoffelessendes  Naturkind.  Von  der  Heide,  auf  der  er  unter  einem 
schlechten  Dach,  bei  dünnem  Tee  und  schmaler  Kost  herangewach- 
sen ist,  wird  er  in  unsere  Zivilisation  hineingerissen.  Der  Hunger 
treibt  ihn  nach  England.  In  dem  mechanischen,  egoistischen,  eisig- 
kalten Getriebe  der  englischen  Fabrikstätte  erwachen  seine  Leiden- 
schaften.   Was  weiß  der  rohe  Junge,  dessen  Jugend  auf  der  Heide 


An  den  Schweizerischen  Republikaner.  265 

spielend  und  auf  der  Landstraße  bettelnd  verbracht  wurde,  von 
Sparsamkeit  ?  Was  er  verdient,  wird  verjubelt;  dann  hungert  er  bis 
zum  nächsten  Zahltag  oder  bis  er  wieder  Arbeit  findet.  Das  Hungern 
ist  er  so  gewöhnt.  So  kehrt  er  zurück,  sucht  sich  seine  Familie  von 
der  Landstraße  zusammen,  wo  sie  sich  zum  Betteln  zerstreute  und 
zuweilen  wieder  um  den  Teekessel  sammelte,  den  die  Mutter  mit 
sich  führte.  Aber  er  hat  in  England  viel  gesehen,  öffentliche  Mee- 
tings und  Arbeitervereine  besucht,  er  weiß,  was  Repeal  ist  und  was 
es  mit  Sir  Robert  Peel  auf  sich  hat,  er  hat  sich  mit  der  Polizei  ganz 
gewiß  sehr  oft  herumgeschlagen  und  weiß  von  der  Hartherzigkeit 
und  Schändlickheit  der  ,, Peelers"  (Polizeidiener)  viel  zu  erzählen. 
Auch  von  Daniel  O'Connell  hat  er  viel  gehört.  Jetzt  sucht  er  sich 
sein  altes  Haus  mit  einem  Stück  Kartoffelland  wieder  auf.  Die  Kar- 
toffeln sind  reif  geworden,  er  macht  sie  aus  und  hat  nun  für  den 
Winter  zu  leben.  Da  kommt  der  Oberpächter  und  fragt  nach  der 
Pacht.  Ja  du  lieber  Gott,  wo  ist  Geld  ?  Der  Oberpächter  ist  dem 
Grundherrn  für  die  Pacht  verantwortlich,  er  läßt  also  pfänden. 
Der  Irländer  widersetzt  sich  und  wird  eingesteckt.  Man  läßt  ihn 
am  Ende  wieder  laufen,  und  bald  darauf  findet  man  den  Oberpächter 
oder  sonst  jemand,  der  sich  bei  der  Pfändung  beteiligte,  im  Graben 
erschlagen. 

Das  ist  eine  Geschichte  aus  dem  Leben  der  irischen  Proleta- 
rier, wie  sie  alle  Tage  passiert.  Die  halbwilde  Erziehung  und  die 
später  ganz  zivilisierte  Umgebung  bringen  den  Irländer  in  einen 
Widerspruch  mit  sich  selbst,  in  eine  stete  Gereiztheit,  in  eine  stets 
inwendig  fortglimmende  Wut,  die  ihn  zu  allem  fähig  machen. 
Dazu  liegt  die  Last  einer  fünfhundertjährigen  Unterdrückung  mit 
allen  ihren  Folgen  auf  ihm.  Was  Wunder,  daß  er  da,  wie  jeder 
Halbwilde,  bei  jeder  Gelegenheit  blind  und  wülend  dreinschlägt, 
daß  ein  ewiger  Rachedrang,  eine  Wut  des  Zerstörens,  in  seinen 
Augen  brennt,  der  es  ganz  gleichgültig  ist,  wogegen  sie  sich  äußert, 
wenn  sie  nur  dreinschlagen,  nur  zerstören  kann?  Das  aber  ist  noch 
nicht  alles.  Wütender  Nationalhaß  des  Galen  gegen  den  Sachsen, 
altkatholischer,  von  den  Priestern  genährter  Fanatismus  gegen  den 
protestantisch -episkopalen  Hochmut  —  mit  solchen  Elementen  läßt 
sich  alles  durchsetzen.  Und  alle  diese  Elemente  sind  in  O'Connells 
Hand.  Und  über  welche  Massen  hat  er  zu  verfügen!  Vorgestern 
in  Cork  —  150000  Mann;  gestern  in  Nenaph  —  200 000  Mann;  heute 
in  Kilkenny  —  400000  Mann,  so  geht  das  durch.  Ein  Triumphzug 
von  14  Tagen,  ein  Triumphzug,  wie  kein  römischer  Imperator  ihn 
hielt.  Und  wollte  O'Connell  wirklich  das  Beste  des  Volks,  wäre  es 
ihm  um  die  Wegschaffung  des  Elends  wirklich  zu  tun  —  wären  es 
nicht  seine  elenden   kleinlichen   Justemilieuzwecke,  die    hinter  all 


266         Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

dem  Lärmen,  der  Agitation  der  Repeal  stecken,  wahrlich  ich  möchte 
wissen,  was  ihm  Sir  Robert  Peel  verweigern  dürfte,  wenn  er  es  an 
der  Spitze  einer  solchen  Macht  forderte,  wie  er  sie  jetzt  hat.  Aber 
was  richtet  er  aus  mit  all  seiner  Macht  und  seinen  Millionen  waffen- 
fähiger, verzweifelter  Irländer  ?  Nicht  einmal  die  elende  Repeal  der 
Union  kann  er  durchsetzen,  natürlich,  bloß  weil  es  ihm  kein  Ernst 
damit  ist,  weil  er  das  ausgesogene,  zerdrückte  irische  Volk  dazu 
mißbraucht,  den  Toryministern  Verlegenheit  zu  bereiten  und  seine 
Justemilieufreunde  wieder  ins  Amt  zu  bringen.  Das  weiß  auch  Sir 
Robert  Peel  gut  genug,  und  darum  reichen  25000  Mann  Soldaten 
hin,  ganz  Irland  im  Zaum  zu  halten.  Wenn  O'Connell  wirklich 
der  Mann  des  Volks  wäre,  wenn  er  Mut  genug  besäße  und  sich 
nicht  selbst  vor  dem  Volk  fürchtete,  d.  h.  wenn  er  kein  dop- 
pelzüngiger Whig,  sondern  ein  gerader  konsequenter  Demokrat 
wäre,  so  wäre  längst  kein  englischer  Soldat  mehr  in  Irland,  kein  pro- 
testantischer faulenzender  Pf  äff  in  rein  katholischen  Bezirken,  kein 
altnormännischer  Baron  in  seinem  Schloß.  Aber  da  liegt  der  Haken. 
Wenn  das  Volk  für  einen  Augenblick  losgelassen  wäre,  so  würden 
Daniel  O'Connell  und  seine  Geldaristokraten  bald  ebenso  aufs  Trok- 
kene  gesetzt  werden,  wie  er  die  Tories  aufs  Trockene  setzen  will. 
Darum  schließt  sich  Daniel  so  eng  an  die  katholische  Geistlichkeit, 
darum  warnt  er  seine  Irländer  vor  dem  gefährlichen  Sozialismus, 
darum  weist  er  die  angebotene  Unterstützung  der  Chartisten  zurück, 
obwohl  er  zum  Schein  hie  und  da  von  Demokratie  spricht,  wie  Louis 
Philipp  einst  von  den  republikanischen  Institutionen,  und  darum 
wird  er  es  nie  zu  etwas  bringen,  als  zu  einer  politischen  Heranbildung 
des  irischen  Volks,  die  am  Ende  für  niemanden  gefährlicher  ist  als 
für  ihn  selbst. 


Die  Lage  Englands. 

Das  achtzehnte  Jahrhundert. 

Dem  Anscheine  nach  ist  das  Jahrhundert  der  Revolution  an 
England  ohne  viel  Veränderung  vorübergegangen.  Während  auf 
dem  Kontinent  eine  ganze  alte  Welt  zertrümmert  wurde,  während  ein 
fünfundzwanzig  jähriger  Krieg  die  Atmosphäre  reinigte,  blieb  in 
England  alles  ruhig,  wurde  weder  Staat  noch  Kirche  irgendwie  be- 
droht. Und  doch  hat  England  seit  der  Mitte  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts eine  größere  Umwälzung  durchgemacht,  als  irgendein 
anderes  Land,    —  eine  Umwälzung,  die  um  so  folgenreicher  ist,  je 


Die  Lage  Englands.  267 

stiller  sie  bewerkstelligt  wurde,  und  die  deshalb  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  ihr  Ziel  eher  in  der  Praxis  erreichen  wird,  als  die  fran- 
zösische politische  oder  die  deutsche  philosophische  Revolution. 
Die  Revolution  Englands  ist  eine  soziale,  und  daher  umfassender 
und  eingreifender  als  irgend  eine  andere.  Es  gibt  kein  noch  so  ent- 
legenes Gebiet  menschlicher  Erkenntnis  und  menschlicher  Lebens- 
verhältnisse, das  nicht  zu  ihr  beigetragen  und  wiederum  von  ihr 
eine  veränderte  Stellung  empfangen  hätte.  Die  soziale  Revolution 
ist  erst  die  wahre  Revolution,  in  der  die  politische  und  philosophische 
Revolution  ausmünden  müssen ;  und  diese  soziale  Revolution  ist  in 
England  schon  seit  siebenzig  oder  achtzig  Jahren  im  Gange,  und  geht 
eben  jetzt  mit  raschen  Schritten  ihrer  Krisis  entgegen. 

Das  achtzehnte  Jahrhundert  war  die  Zusammenfassung,  die 
Sammlung  der  Menschheit  aus  der  Zersplitter'mg  und  Vereinzelung, 
in  die  sie  durch  das  Christentum  geworfen  war;  der  vorletzte  Schritt 
zur  Selbsterkenntnis  und  Selbstbefreiung  der  Menschheit,  der  aber 
als  der  vorletzte  darum  auch  noch  einseitig  im  Widerspruch  stecken 
blieb.  Das  achtzehnte  Jahrhundert  faßte  die  Resultate  der  bis- 
herigen Geschichte,  die  bis  dahin  nur  einzeln  und  in  der  Form  der 
Zufälligkeiten  aufgetreten  waren,  zusammen  und  entwickelte  ihre 
Notwendigkeit  und  ihre  innere  Verkettung.  Die  zahllosen  durch- 
einandergewürfelten Data  der  Erkenntnis  wurden  geordnet,  geson- 
dert und  in  Kausal  Verbindung  gebracht;  das  Wissen  wurde  Wissen- 
schaft, und  die  Wissenschaften  näherten  sich  ihrer  Vollendung,  d.  h. 
knüpften  sich  auf  der  einen  Seite  an  die  Philosophie,  auf  der  andern 
an  die  Praxis  an.  Vor  dem  achtzehnten  Jahrhunderte  gab  es  keine 
Wissenschaft;  die  Erkenntnis  der  Natur  nahm  ihre  wissenschaft- 
liche Form  erst  im  achtzehnten  Jahrhundert  an,  oder  in  einigen 
Zweigen  ein  paar  Jahre  vorher.  Newton  schuf  die  wissenschaftliche 
Astronomie  durch  das  Gravitationsgesetz,  die  wissenschaftliche 
Optik  durch  die  Zersetzung  des  Lichtes,  die  wissenschaftliche  Mathe- 
matik durch  den  binomischen  Satz  und  die  Theorie  des  Unendlichen 
und  die  wissenschaftliche  Mechanik  durch  die  Erkenntnis  der  Natur 
der  Kräfte.  Die  Physik  erhielt  ebenfalls  im  achtzehnten  Jahrhun- 
dert ihren  wissenschaftlichen  Charakter;  die  Chemie  wurde  durch 
Black,  Lavoisier  und  Priestley  erst  geschaffen;  die  Geographie 
wurde  durch  die  Bestimmung  der  Gestalt  der  Erde  und  die  vielen, 
jetzt  erst  mit  Nutzen  für  die  Wissenschaft  unternommenen  Reisen 
zur  Wissenschaft  erhoben ;  ebenso  die  Naturgeschichte  durch  Buffon 
und  Linne;  selbst  die  Geologie  fing  allmählig  an,  sich  aus  dem  Stru- 
del phantastischer  Hypothesen,  in  dem  sie  verkam,  herauszuarbeiten. 
Der  Gedanke  der  Encyklopädie  war  für  das  achtzehnte  Jahrhundert 
charakteristisch ;   er  beruhte  auf  dem   Bewußtsein,  daß  alle  diese 


268        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

Wissenschaften  unter  sich  zusammenhängen,  war  aber  noch  nicht 
imstande,  die  Übergänge  zu  machen,  und  konnte  sie  daher  nur 
einfach  neben  einander  stellen.  Ebenso  in  der  Geschichte ;  wir  fin- 
den jetzt  zuerst  bändereiche  Kompilationen  der  Weltgeschichte,  noch 
ohne  Kritik  und  vollends  ohne  Philosophie,  aber  doch  allgemeine 
Geschichte  anstatt  der  bisherigen  lokal  und  zeitlich  beschränkten 
Geschichtsfragmente.  Die  Politik  wurde  auf  eine  menschliche  Basis 
gestellt,  und  die  Nationalökonomie  durch  Adam  Smith  reformiert. 
Die  Spitze  der  Wissenschaft  des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  der 
Materialismus,  das  erste  System  der  Naturphilosophie  und  die  Folge 
jener  Vollendung  der  Naturwissenschaften.  Der  Kampf  gegen  die 
abstrakte  Subjektivität  des  Christentums  trieb  die  Philosophie  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  auf  die  entgegengesetzte  Einseitigkeit; 
der  Subjektivität  wurde  die  Objektivität,  dem  Geist  die  Natur,  dem 
Spiritualismus  der  Materialismus,  dem  abstrakt  Einzelnen  das  ab- 
strakt Allgemeine,  die  Substanz  entgegengesetzt.  Das  achtzehnte 
Jahrhundert  war  die  Wiederbelebung  des  antiken  Geistes  gegen- 
über dem  christlichen;  Materialismus  und  Republik,  die  Philosophie 
und  Politik  der  alten  Welt,  erstanden  aufs  neue,  und  die  Franzosen, 
die  Repräsentanten  des  antiken  Prinzips  innerhalb  des  Christen- 
tums, bemächtigten  sich  für  eine  Zeitlang  der  historischen  Initiative. 
Das  achtzehnte  Jahrhundert  löste  also  den  großen  Gegensatz 
nicht,  der  die  Geschichte  von  Anfang  an  beschäftigt  hat  und  dessen 
Entwicklung  die  Geschichte  ausmacht,  den  Gegensatz  von  Substanz 
und  Subjekt,  Natur  und  Geist,  Notwendigkeit  und  Freiheit ;  es  stellte 
aber  die  Seiten  des  Gegensatzes  in  ihrer  ganzen  Schroffheit  und  voll- 
kommen entwickelt  einander  gegenüber  und  machte  dadurch  seine 
Aufhebung  notwendig.  Die  Folge  dieser  klaren,  letzten  Entwick- 
lung des  Gegensatzes  war  die  allgemeine  Revolution,  die  sich  auf 
die  verschiedenen  Nationalitäten  verteilte  und  deren  bevorstehende 
Vollendung  zugleich  die  Lösung  des  Gegensatzes  der  bisherigen 
Geschichte  sein  wird.  Die  Deutschen,  das  christlich-spiritualistische 
Volk,  erlebten  eine  philosophische  Revolution;  die  Franzosen,  das 
antik-materialistische,  daher  politische  Volk,  hatten  die  Revolution 
auf  politischem  Wege  durchzumachen;  die  Engländer,  deren  Natio- 
nalität eine  Mischung  deutscher  und  französischer  Elemente  ist, 
die  also  beide  Seiten  des  Gegensatzes  in  sich  tragen  und  deshalb 
universeller  sind,  als  ein  jeder  der  beiden  Faktoren  für  sich,  wurden 
daher  auch  in  eine  universellere,  eine  soziale  Revolution  hinein- 
gerissen. —  Dies  wird  näherer  Ausführung  bedürfen,  da  die  Stel- 
lung der  Nationalitäten  wenigstens  für  die  neuere  Zeit  in  unserer 
Geschichtsphilosophie  bis  jetzt  sehr  ungenügend  oder  vielmehr  gar 
nicht  behandelt  worden  ist. 


Die  Lage  Englands.  269 

Daß  Deutschland,  Frankreich  und  England  die  drei  leitenden 
Länder  der  gegenwärtigen  Geschichte  sind,  darf  ich  wohl  als  zu- 
gegeben annehmen;  daß  die  Deutschen  das  christlich -spiritualisti- 
sche,  die  Franzosen  das  antik-materialistische  Prinzip,  mit  andern 
Worten,  daß  jene  die  Religion  und  Kirche,  diese  die  Politik  und  den 
Staat  vertreten,  ist  ebenso  einleuchtend,  oder  wird  es  seinerzeit 
schon  gemacht  werden;  die  Bedeutung  der  Engländer  in  der  neueren 
Geschichte  ist  weniger  in  die  Augen  fallend  und  für  unsern  gegen- 
wärtigen Zweck  auch  am  wichtigsten.  Die  englische  Nation 
wurde  gebildet  von  Germanen  und  Romanen  zu  einer  Zeit,  wo 
beide  Nationen  sich  erst  eben  von  einander  geschieden  und  ihre 
Entwicklung  zu  den  beiden  Seiten  des  Gegensatzes  kaum  begonnen 
hatten.  Die  germanischen  und  romanischen  Elemente  entwickel- 
ten sich  neben  einander  und  bildeten  zuletzt  eine  Nationalität,  die 
beide  Einseitigkeiten  unvermittelt  in  sich  trägt.  Der  germanische 
Idealismus  behielt  so  viel  freies  Spiel,  daß  er  sogar  in  sein  Gegenteil, 
die  abstrakte  Äußerlichkeit  umschlagen  konnte ;  die  noch  gesetz- 
liche Verkäuflichkeit  der  Weiber  und  Kinder,  und  der  Handelsgeist 
der  Engländer  überhaupt,  ist  entschieden  auf  Rechnung  des  germa- 
nischen Elements  zu  bringen.  Ebenso  schlug  der  romanische  Ma- 
terialismus in  abstrakten  Idealismus,  Innerlichkeit  und  Religiosität 
um;  daher  das  Phänomen  der  Fortdauer  des  romanischen  Katho- 
lizismus innerhalb  des  germanischen  Protestantismus,  die  Staats- 
kirche, das  Papsttum  der  Fürsten  und  die  durchaus  katholische 
Are  die  Religion  mit  Förmlichkeiten  abzufertigen.  Der  Charakter 
der  englischen  Nationalität  ist  der  ungelöste  Widerspruch,  die  Ver- 
einigung der  schroffsten  Kontraste.  Die  Engländer  sind  das  religi- 
öseste Volk  der  Welt  und  zu  gleicher  Zeit  das  irreligiöseste ;  sie 
plagen  sich  mehr  um  das  Jenseits  als  irgend  eine  andere  Nation,  und 
doch  leben  sie  dabei,  als  ob  das  Diesseits  ihr  Eins  und  Alles  sei; 
ihre  Aussicht  auf  den  Himmel  hindert  sie  nicht  im  mindesten  ebenso 
fest  an  die  ,, Hölle  des  Kein-Geld-Verdienens"  zu  glauben.  Daher 
die  ewige  innere  Unruhe  der  Engländer,  die  das  Gefühl  der  Un- 
fähigkeit, den^)  Widerspruch  zu  lösen  ist,  und  sie  aus  sich  selbst 
heraus  zur  Tätigkeit  treibt.  Das  Gefühl  des  Widerspruchs  die  die 
Quelle  der  Energie,  aber  der  sich  bloß  entäußernden  Energie,  und 
dies  Gefühl  des  Widerspruchs  war  die  Quelle  der  Kolonisation,  der 
Schiffahrt,  der  Industrie  und  überhaupt  der  ungeheuren  praktischen 
Tätigkeit  der  Engländer.  Die  Unfähigkeit,  den  Widerspruch  zu 
lösen,  geht  durch  die  ganze  englische  Philosophie  hindurch  und 
treibt  sie  auf  die  Empirie  und  den  Skeptizismus.    Weil  Bacon  mit 


^)  Im  Text  steht  der  Druckfehler:  der. 


270        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

seiner  Vernunft  den  Widerspruch  von  Idealismus  und  Realismiis 
nicht  lösen  konnte,  mußte  die  Vernunft  überhaupt  dazu  unfähig 
sein,  der  Idealismus  kurzweg  verworfen  und  in  der  Empirie  das  ein- 
zige Rettungsmittel  gesehen  werden.  Aus  derselben  Quelle  geht  die 
Kritik  des  Erkenntnisvermögens  und  die  psychologische  Richtung 
überhaupt  hervor,  in  der  die  englische  Philosophie  sich  von  Anfang 
an  ausschließlich  bewegt  hat  und  die  dann  zuletzt,  nach  allen  ver- 
geblichen Versuchen,  den  Widerspruch  zu  lösen,  ihn  für  unlösbar, 
die  Vernunft  für  unzureichend  erklärt  und  entweder  im  religiösen 
Glauben  oder  in  der  Empirie  Rettung  sucht.  Der  Humesche  Skep- 
tizismus ist  noch  heutzutage  die  Form  alles  irreligiösen  Philoso- 
phierens in  England.  Wir  können  nicht  wissen,  räsoniert  diese 
Anschauungsweise,  ob  ein  Gott  existiert,  wenn  einer  existiert,  so 
ist  jede  Kommunikation  mit  uns  für  ihn  unmöglich,  und  wir  haben 
also  unsere  Praxis  so  einzurichten,  als  ob  keiner  existierte.  Wir 
können  nicht  wissen,  ob  der  Geist  vom  Körper  verschieden  und  un- 
sterblich ist;  wir  leben  also  so,  als  ob  dies  Leben  unser  einziges 
wäre  und  plagen  uns  nicht  mit  Dingen,  die  über  unsern  Verstand 
gehen.  Kurz,  die  Praxis  dieses  Skeptizismus  ist  genau  der  franzö- 
sische Materialismus;  aber  in  der  metaphysischen  Theorie  bleibt 
er  in  der  Unfähigkeit  der  definitiven  Entscheidung  stecken.  — 
Weil  die  Engländer  aber  beide  Elemente,  die  auf  dem  Kontinent  die 
Geschichte  entwickelten,  in  sich  trugen,  darum  waren  sie  imstande, 
selbst  ohne  viel  mit  dem  Kontinent  zu  verkehren,  doch  mit  der 
Bewegung  Schritt  zu  halten,  und  ihr  zuweilen  sogar  voraus  zu  sein. 
Die  englische  Revolution  des  siebzehnten  Jahrhunderts  ist  genau 
das  Vorbild  der  französischen  von  1789.  Im  ,, langen  Parlament" 
sind  die  drei  Stufen,  die  in  Frankreich  als  konstituierende  und  legis- 
lative Versammlung  und  Nationalkonvent  auftraten,  leicht  zu  unter- 
scheiden; der  Übergang  von  konstitutioneller  Monarchie  zur  De- 
mokratie, Militärdespotismus,  Restauration  und  Juste-Milieu-Re- 
volution  ist  in  der  englischen  Revolution  scharf  ausgeprägt.  Crom- 
well  ist  Robespierre  und  Napoleon  in  einer  Person;  der  Gironde, 
dem  Berg  und  den  Hebertisten  und  Baboeuvisten  entsprechen  die 
Presbyterianer,  Independenten  und  Levellers;  das  politische  Resul- 
tat ist  bei  beiden  ziemlich  kläglich  und  die  ganze  Parallele,  die  noch 
viel  genauer  ausgeführt  werden  könnte,  beweist  nebenbei  auch,  daß 
die  religiöse  und  die  irreligiöse  Revolution,  solange  sie  politisch 
bleiben,  beide  am  Ende  auf  Eines  herauskommen.  Freilich  war 
dies  Voraussein  der  Engländer  vor  dem  Kontinent  nur  momentan 
und  glich  sich  allmählich  wieder  aus ;  die  englische  Revolution  en- 
digte im  Justemilieu  und  der  Schöpfung  der  beiden  nationalen  Par- 
teien, während  die  französische  noch  nicht  abgeschlossen  ist  und 


Die  Lage  Englands.  271 

sich  nicht  abschließen  kann,  bevor  sie  bei  demselben  Resultat  an- 
gekommen ist,  bei  dem  die  deutsche  philosophische  und  die  eng- 
lische soziale   Revolution  anzukommen  haben. 

Der  englische  Nationalcharakter  ist  vom  deutschen  sowohl  wie 
vom  französischen  wesentlich  verschieden;  die  Verzweiflung  an  der 
Aufhebung  des  Gegensatzes  und  die  daraus  folgende  totale  Hin- 
gebung an  die  Empirie  ist  ihm  eigentümlich.  Auch  das  reine  Ger- 
manentum verkehrte  seine  abstrakte  Innerlichkeit  in  abstrakte 
Äußerlichkeit,  aber  diese  Äußerlichkeit  verlor  die  Spur  ihres  Ur- 
sprungs nie  und  blieb  der  Innerlichkeit  und  dem  Spiritualismus 
stets  untergeordnet.  Auch  die  Franzosen  stehen  auf  der  materiellen 
empirischen  Seite ;  aber  weil  diese  Empirie  unmittelbare  National- 
richtung, nicht  eine  sekundäre  Folge  eines  in  sich  selbst  zerspalte - 
nen  Nationalbewußtseins  ist,  macht  sie  sich  in  nationaler,  allge' 
meiner  Weise  geltend,  äußert  sie  sich  als  politische  Tätigkeit.  Der 
Deutsche  behauptete  die  absolute  Berechtigung  des  Spiritualismus, 
und  suchte  die  allgemeinen  Interessen  der  Menschheit  daher  in  der 
Religion  und  später  in  der  Philosophie  zu  entwickeln.  Der  Franzose 
stellte  diesem  Spiritualismus  den  Materialismus  als  absolut  berech- 
tigt gegenüber  und  nahm  infolgedessen  den  Staat  als  die  ewige  Form 
dieser  Interessen  an.  Der  Engländer  aber  hat  keine  allgemeinen 
Interessen,  er  kann  von  ihnen  nicht  reden  ohne  den  wunden  Fleck, 
den  Widerspruch  zu  berühren,  er  verzweifelt  an  ihnen  und  hat  nur 
Einzelinteressen.  Diese  absolute  Subjektivität,  die  Zersplitterung 
des  Allgemeinen  in  die  vielen  Einzelnen  ist  allerdings  germanischen 
Ursprungs,  aber  wie  gesagt  von  ihrer  Wurzel  getrennt  und  darum 
bloß  empirisch  wirksam,  und  unterscheidet  eben  die  englische 
soziale  von  der  französischen  politischen  Empirie.  Frankreichs 
Tätigkeit  war  stets  national,  von  vornherein  ihrer  Ganzheit  und  All- 
gemeinheit sich  bewußt;  Englands  Tätigkeit  war  die  Arbeit  unab- 
hängiger, neben  einander  stehenden  Individuen,  die  Bewegung  unver- 
bundener  Atome,  die  selten  und  dann  nur  aus  individuellem 
Interesse,  als  ein  Ganzes  zusammenwirkten,  und  deren  Einheit- 
losigkeit  gerade  jetzt  in  allgemeinem  Elend  und  gänzlicher  Zer- 
splitterung ans  Tcigeslicht  tritt. 

Mit  anderen  Worten,  nur  England  hat  eine  soziale  Geschichte. 
Nur  in  England  haben  die  Individuen  als  solche,  ohne  mit  Bewußt- 
sein allgemeine  Prinzipien  zu  vertreten,  die  nationale  Entwicklung 
gefördert  und  ihrem  Abschluß  nahe  gebracht.  Nior  hier  hat  die 
Masse  als  Masse,  um  ihrer  eignen  Einzelinteressen  willen,  gewirkt; 
nur  hier  sind  die  Prinzipien  in  Interessen  verwandelt  worden,  ehe 
sie  auf  die  Geschichte  Einfluß  haben  konnten.  Die  Franzosen  und 
Deutschen  kommen  auch  allmählich  zur  sozialen  Geschichte,  aber 


272        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

sie  haben  sie  noch  nicht.  Auch  auf  dem  Kontinent  hat  es  Armut, 
Elend  und  sozialen  Druck  gegeben,  aber  das  blieb  ohne  Wirkung 
auf  die  nationale  Entwicklung;  aber  das  Elend  und  die  Armut  der 
arbeitenden  Klasse  des  heutigen  Englands  hat  nationale,  und  mehr 
als  das,  hat  weltgeschichtliche  Bedeutung.  Das  soziale  Moment  ist 
auf  dem  Kontinent  noch  ganz  unter  dem  politischen  vergraben,  hat 
sich  noch  gar  nicht  von  ihm  getrennt,  während  in  England  das  po- 
litische Moment  allmählich  von  dem  sozialen  überwunden  und  ihm 
dienstbar  geworden  ist.  Alle  englische  Politik  ist  im  Grunde  sozialer 
Natur,  und  nur  weil  England  noch  nicht  über  den  Staat  hinausge- 
kommen, weil  die  Politik  ein  Notbehelf  für  es  ist,  nur  darum  äußern 
sich  die  sozialen  Fragen  politisch. 

rS^  So  lange  S:aat  und  Kirche  die  einzigen  Formen  sind,  in  denen 
die  allgemeinen  Bastimmungen  des  menschlichen  Wesens  sich  ver- 
wirklichen, so  lange  kann  von  sozialer  Geschichte  nicht  die  Rede 
sein.  Das  Altertum  und  das  Mittelalter  konnten  daher  auch  keine 
soziale  Entwicklung  aufweisen;  erst  die  Rsformation,  der  erste, 
noch  befangene  und  dumpfe  Versuch  einer  Reaktion  gegen  das 
Mittelalter  brachte  einen  sozialen  Umschwung,  die  Verwandlung 
der  Leibeigenen  in  ,, freie"  Arbeiter,  hervor.  Aber  auch  dieser  Um- 
schwung blieb  ohne  viel  nachhaltige  Wirkung  auf  dem  Kontinent, 
ja  er  setzte  sich  hier  eigentlich  erst  mit  der  Revolution  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  durch,  während  in  England  mit  der  Refor- 
mation das  Gaschlecht  der  Leibeigenen  in  vilains,  bordars,  cottars 
und  so  in  eine  Klasse  persönlich  freier  Arbeiter  verwandelt  wurde, 
und  das  achtzehnte  Jahrhundert  hier  bereits  die  Konsequenzen 
dieser  Umwälzung  entwickelte.  Warum  dies  nur  in  England  ge- 
schah, ist  oben  auseinandergesetzt. 

Das  Altertum,  das  noch  nichts  von  dem  Rechte  des  Subjekts 
wußte,  dessen  ganze  Weltanschauung  wesentlich  abstrakt,  allge- 
mein, substantiell  war,  konnte  deshalb  nicht  ohne  die  Sklaverei  be- 
stehen. Die  christlich-germanische  Weltansicht  stellte  die  abstrakte 
Subjektivität,  daher  die  Willkür,  die  Innerlichkeit,  den  Spiritualis- 
mus dem  Altertum  gegenüber  als  Grundprinzip  auf;  diese  Subjekti- 
vität muß:e  aber,  eben  weil  sie  abstrakt,  einseitig  war,  sogleich  sich 
in  ihr  Gegenteil  verkehren,  und  statt  der  Freiheit  des  Subjekts  die 
Sklaverei  des  Subjekts  erzeugen.  Die  abstrakte  Innerlichkeit  wurde 
abstrakte  Äußerlichkeit,  Wegwerfung  und  Veräußerung  des  Men- 
schen, und  die  erste  Folge  des  neuen  Prinzips  war  die  Wiederher- 
stellung der  Sklaverei  in  einer  andern,  weniger  anstößigen,  aber  dar- 
um heuchlerischen  und  unmenschlicheren  Gestalt,  der  Leibeigen- 
schaft. Die  Auflösung  des  Feudalsystems,  die  politische  Reformation 
d.  h.  die  scheinbare    Anerkennung  der  Vernunft,   und  daher  die 


Die  Lage  Englands.  273 

wirkliche   Vollendung  der    Unvernunft,  hob  diese    Leibeigenschaft 
scheinbar  auf,  machte  sie  aber  in  der  Wirklichkeit  nur  unmensch- 
licher und  allgemeiner.    Sie  sprach  zuerst  aus,  daß  die  Menschheit 
nicht   mehr  durch  Zwang,  d.h.  durch  politische,  sondern  durch 
das  Interesse,  d.  h.  durch  soziale  Mittel  zusammengehalten  werden 
solle,  und  legte  durch  dies  neue  Prinzip  die  Basis  zur  sozialen  Be- 
wegung.  Aber  obwohl  sie  den  Staat  so  negierte,  stellte  sie  ihn  auf  der 
andern  Seite  eist  recht  wieder  her,  indem  sie  ihm  den  bisher  von  der 
Kirche  usurpierten  Inhalt  zurückgab,  und  dadurch  dem  während  des 
Mittelalters  inhaltlosen  und  nichtigen  Staat  die  Kraft  einer  neuen 
Entwicklung  verlieh.  Aus  den  Ruinen  des  Feudalismus  entstand  der 
christliche  Staat,  die  Vollendung  des  christlichen  Weltzustandes  nach 
der  politischen  Seite  hin;  durch  die  Erhebung  des  Interesses  zum  all- 
gemeinen   Prinzip   vollendete   sich  dieser   christliche    Weltzustand 
nach  einer  andern  Seite.  Denn  das  Interesse  ist  wesentlich  subjektiv, 
egoistisch,  Einzelinteresse,  und  als  solches  die  höchste  Spitze  des 
germanisch-christlichen   Subjektivitäts-  und   Vereinzelungsprinzips. 
Die  Folge  der  Erhebung  des  Interesses  zum  Bande  der  Menschheit 
ist,  so  lange  das  Interesse  eben  unmittelbar  subjektiv,  einfach  ego- 
istisch bleibt,  notwendig  die   allgemeine  Zersplitterung,   die   Kon- 
zentrierung der  Individuen  auf  sich  selbst,  die  Isolierung,  die  Ver- 
wandlung der  Menschheit  in  einen  Haufen"  einander  abstoßender 
Atome;  und  diese  Vereinzelung  ist  wiederum  die  letzte  Konsequenz 
des  christlichen  Subjektivitätsprinzips,  die  Vollendung  des  christ- 
lichen Weltzustandes.   —  So  lange  ferner  die  Grundveräußerung, 
das  Privateigentum  bestehen  bleibt,  so  lange  muß  das  Interesse  not- 
wendig Einzelinteresse  sein  und  seine  Herrschaft  sich  als  die  Herr- 
schaft des  Eigentums  erweisen.  Die  Auflösung  der  feudalen  Knecht- 
schaft hat   ,,bare  Zahlung  zum  einzigen   Bande  der   Menschheit" 
gemacht.    Das  Eigentum,  das  dem  Menschlichen,  Geistigen  gegen- 
überstehende natürliche,  geistlose  Element,  wird  dadurch  auf  den 
Thron  erhoben,  und  in  letzter  Instanz,  um  diese  Veräußerung  zu 
vollenden,  das  Geld,  die  veräußerte,  leere  Abstraktion  des  Eigen- 
tums, zum  Herrn  der  Welt  gemacht.    Der  Mensch  hat  aufgehört, 
Sklave  des  Menschen  zu  sein  und  ist  Sklave  der  Sache  geworden; 
die   Verkehrung  der   menschlichen   Verhältnisse   ist  vollendet;  die 
Knechtschaft  der  modernen   Schacherwelt,  die  ausgebildete,  voll- 
kommene, universelle  Verkäuflichkeit  ist  unmenschlicher  und  all- 
umfassender als  die  Leibeigenschaft  der  Feudalzeit ;  die  Prostitution 
ist  unsittlicher,  bestialischer  als  das  jus  primae  noctis.   — 

Höher  kann  der  christliche  Weltzustand  nicht  getrieben  wer- 
den; er  muß  in  sich  selbst  zusammenbrechen  und  einem  mensch- 
lichen, vernünftigen  Zustande  Platz  machen.    Der  christliche  Staat 

M  ayer,  Engels.    Ergänzungsband.  l8 


274        •^"^  ^^^  ^^^  ^®^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

ist  nur  die  letzte  mögliche  Erscheinungsform  des  Staates  überhaupt, 
mit  dessen  Fall  der  Staat  als  solcher  fallen  muß.  Die  Auflösung 
der  Menschheit  in  eine  Masse  isolierter,  sich  abstoßender  Atome 
ist  an  sich  selbst  schon  die  Vernichtung  aller  korporativen,  natio- 
nalen und  überhaupt  besonderen  Interessen  und  die  letzte  notwen- 
dige Stufe  zur  freien  Selbstvereinigung  der  Menschheit.  Die  Voll- 
endung der  Veräußerung  in  der  Herrschaft  des  Geldes  ist  ein  un- 
vermeidlicher Durchgang,  wenn  der  Mensch,  wie  er  denn  jetzt  nahe 
daran  ist,  wieder  zu  sich  selbst  kommen  soll. 

Die  soziale  Revolution  in  England  hat  diese  Konsequenzen 
der  Aufhebung  des  Feudalsystems  so  weit  entwickelt,  daß  die  Krisis, 
die  den  christlichen  Weltzustand  vernichten  wird,  nicht  mehr  fern^) 
sein  kann,  ja,  daß  die  Epoche  dieser  Krisis,  wenn  auch  nicht  nach 
Jahren  und  quantitativ,  so  doch  qualitativ  mit  Bestimmtheit  vor- 
ausgesagt werden  kann;  diese  Krisis  muß  nämlich  eintreten,  so- 
bald die  Korngesetze  abgeschafft  und  die  Volkscharte  eingeführt, 
d.  h.  sobald  die  Adelsaristokratie  durch  die  Geldaristokratie  und 
diese  durch  die  arbeitende  Demokratie  politisch  besiegt  ist. 

Das  sechzehnte  und  siebzehnte  Jahrhundert  hatten  alle  Vor- 
aussetzungen der  sozialen  Revolution  ins  Leben  gerufen,  das  Mittel- 
alter aufgelöst,  den  sozialen,  politischen  und  religiösen  Protestan- 
tismus etabliert,  die  Kolonien,  die  Seemacht  und  den  Handel  Eng- 
lands geschaffen,  und  eine  zunehmende  schon  ziemlich  mächtige 
Mittelklasse  neben  die  Aristokratie  gestellt.  Die  sozialen  Verhält- 
nisse setzten  sich  allmählich  nach  den.  Unruhen  des  siebzehnten 
Jahrhunderts  und  nahmen  eine  feste  Gestalt  an,  die  sie  bis  gegen 
1780  oder  90  hin  behielten. 

Es  gab  damals  drei  Klassen  von  Grundbesitzern,  die  adligen 
Landlords,  noch  die  einzige  und  unangegriffene  Aristokratie  des 
Reichs,  die  ihre  Grundstücke  in  Parzellen  verpachtete  und  die  Ren- 
ten in  London  oder  auf  Reisen  verzehrte ;  die  nicht  adligen  Land- 
lords oder  Country-Gentlemen  (gewöhnlich  Squires  betitelt),  die  auf 
ihren  Landsitzen  lebten,  ihr  Land  verpachteten  und  die  aristokra- 
tische Auszeichnung,  die  ihrer  niedrigen  Geburt,  ihrem  Mangel  an 
Bildung  und  ihrem  bäurisch  derben  Wesen  in  den  Städten  ver- 
weigert wurde,  dafür  von  ihren  Pächtern  und  den  andern  Bewoh- 
nern der  Umgegend  genossen.  Diese  Klasse  ist  jetzt  total  verschwun- 
den. Die  alten  Squires,  die  unter  den  Landleuten  der  Umgegend 
mit  patriarchalischer  Autorität  herrschten,  Ratgeber,  Schiedsrichter, 
alles  in  allem  waren,  sind  ganz  ausgestorben;  ihre  Nachkommen 
nennen  sich  die  unbetitelte   Aristokratie   Englands,  wetteifern  an 


1)  Im  Original  steht:  Herr. 


Die  Lage  Englands.  275 

Bildung  und  feinem  Benehmen,  an  Aufwand  und  aristokratischem 
Wesen  mit  dem  Adel,  der  wenig  mehr  vor  ihnen  voraus  hat,  und 
haben  mit  ihren  ungeschUffenen  und  derben  Voreltern  nur  den 
Grundbesitz  gemein.  —  Die  dritte  Klasse  der  Grundbesitzer  waren 
die  Yeomen,  Eigentümer  kleiner  Parzellen,  die  sie  selbst  bebauten, 
gewöhnlich  auf  die  gute  alte  nachlässige  Weise  ihrer  Vorfahren ; 
auch  diese  Klasse  ist  aus  England  verschwunden,  die  soziale  Re- 
volution hat  sie  expropriiert  und  das  Kuriosum  zustande  gebracht, 
daß  zu  derselben  Zeit,  wo  in  Frankreich  der  große  Grundbesitz  ge- 
waltsam parzelliert  wurde,  in  England  die  Parzellen  von  dem  großen 
Grundbesitz  attrahiert  und  verschlungen  wurden.  Neben  den  Yeo- 
men standen  kleine  Pächter,  die  gewöhnlich  außer  ihrem  Landbau 
noch  Weberei  betrieben ;  auch  sie  sind  im  heutigen  England  nicht 
mehr  zu  finden ;  fast  alles  Land  ist  jetzt  in  wenige  und  große  Güter 
geteilt  und  so  verpachtet.  Die  Konkurrenz  der  großen  Pächter 
schlug  die  kleinen  Pächter  und  Yeomen  aus  dem  Markt  und  ver- 
armte sie;  sie  wurden  Ackerbautaglöhner  und  vom  Arbeitslohn  ab- 
hängige Weber,  und  lieferten  die  Massen,  von  deren  Zufluß  die 
Städte   mit  so  wunderbarer   Schnelligkeit  zunahmen. 

Die  Bauern  führten  also  zu  seiner  Zeit  ein  stilles  und  geruhiges 
Leben  in  aller  Gottseligkeit  und  Ehrbarkeit,  lebten  ohne  viel  Sor- 
gen, aber  auch  ohne  Bewegung,  ohne  allgemeines  Interesse,  ohne 
Bildung,  ohne  geistige  Tätigkeit ;  sie  waren  noch  auf  der  vorgeschicht- 
lichen Stufe.  Die  Lage  der  Städte  war  nicht  viel  anders.  Nur  Lon- 
don war  ein  bedeutender  Handelsplatz;  Liverpool,  Hüll,  Bristol, 
Manchester,  Birmingham,  Leeds,  Glasgow  waren  noch  nicht  der 
Rede  wert.  Die  Hauptindustriezweige,  Spinnen  und  Weben,  wurden 
meist  auf  dem  Lande  und  wenigstens  außerhalb  der  Städte,  in  der 
Umgegend,  betrieben;  die  Anfertigung  von  Metall-  und  Töpfer- 
waren stand  noch  auf  der  handwerksmäßigen  Stufe  der  Entwick- 
lung; was  konnte  also  viel  in  den  Städten  geschehen?  Die  unüber- 
treffliche Einfachheit  des  Wahlsystems  überhob  die  Bürger  aller 
politischen  Sorge,  man  war  nominell  Whig  oder  Tory,  wußte  aber 
sehr  gut,  daß  das  im  Grunde  gleichgültig  sei,  da  man  kein  Stimm- 
recht hatte ;  kleine  Kaufleute,  Krämer  und  Handwerker,  machten 
die  ganze  Bürgerschaft  aus  und  führten  das  bekannte,  dem  heutigen 
Engländer  so  ganz  unbegreifliche  Kleinstädterleben.  Die  Berg- 
werke wurden  noch  wenig  benutzt.  Eisen,  Kupfer  und  Zinn  lagen 
ziemlich  ruhig  in  der  Erde,  und  Kohlen  wurden  nur  für  häusliche 
Zwecke  benutzt.  Kurz,  England  war  damals  in  einem  Zustande, 
in  dem  sich,  schlimm  genug,  der  größte  Teil  Frankreichs  und  be- 
sonders Deutschlands  noch  befindet,  in  einem  Zustande  vorsünd- 
flutlicher  Apathie  gegen  alles  allgemeine  und  geistige  Interesse,  in 

18* 


276        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842—1844. 

der  sozialen  Kindheit,  in  der  es  noch  keine  Gesellschaft,  noch  kein 
Leben,  kein  Bewußtsein,  keine  Tätigkeit  gibt.  Dieser  Zustand  ist 
de  facto  die  Fortsetzung  des  Feudalismus  und  der  mittelalterlichen 
Gedankenlosigkeit,  und  wird  erst  mit  dem  Auftreten  des  modernen 
Feudalismus,  mit  der  Spaltung  der  Gesellschaft  in  Besitzer  und 
Nichtbesitzer,  überwunden.  Wir  auf  dem  Kontinent,  wie  gesagt, 
stecken  noch  tief  in  diesem  Zustande ;  die  Engländer  haben  ihn  seit 
achtzig  Jahren  bekämpft,  und  seit  vierzig  Jahren  überwunden. 
Wenn  die  Zivilisation  eine  Sache  der  Praxis,  eine  soziale  Qualität 
ist,  so  sind  die  Engländer  allerdings  das  zivilisierteste  Volk  der  Welt. 

Ich  sagte  oben,  die  Wissenschaften  hätten  im  achtzehnten 
Jahrhundert  ihre  wissenschaftliche  Form  angenommen  und  in- 
folgedessen einerseits  an  die  Philosophie,  andererseits  an  die  Praxis 
angeknüpft.  Das  Resultat  ihrer  Anknüpfung  an  die  Philosophie 
war  der  Materialismus  (der  eben  so  sehr  Newton  wie  Locke  zu  seiner 
Voraussetzung  hat),  die  Aufklärung,  die  französische  politische  Re- 
volution. Das  Resultat  ihrer  Anknüpfung  an  die  Praxis  war  die 
englische  soziale  Revolution. 

1760  kam  Georg  IH.  zur  Regierung,  trieb  die  Whigs,  die  seit 
Georg  I.  fast  ununterbrochen  im  Ministerium  gesessen  waren,  aber 
natürlich  durchaus  konservativ  regiert  hatten,  hinaus  und  legte  die 
Basis  zu  dem  bis  1830  dauernden  Monopol  der  Tories.  Die  Regie- 
rung erhielt  dadurch  ihre  innere  Wahrheit  wieder ;  in  einer  politisch 
konservativen  Epoche  Englands  war  es  durchaus  billig,  daß  die  kon- 
servative Partei  regieren  sollte.  Die  soziale  Bewegung  absorbierte 
von  nun  an  die  Kräfte  der  Nation,  und  drängte  das  politische  Inter- 
esse zurück,  ja  zerstörte  es;  denn  alle  innere  Politik  ist  von  nun 
an  nur  versteckter  Sozialismus,  die  Form,  die  die  sozialen  Fragen 
annehmen,  um  in  allgemeiner,  nationaler  Weise  sich  geltend  ma- 
machen zu  können.*) 

.  .  .  Diese  Revolutionierung  der  englischen  Industrie  ist  die 
Basis  aller  modernen  englischen  Verhältnisse,  die  treibende  Kraft 
der  ganzen  sozialen  Bewegung.  Ihre  erste  Folge  war  die  schon 
oben  angedeutete  Erhebung  des  Interesses  zur  Herrschaft  über  den 
Menschen.  Das  Interesse  bemächtigte  sich  der  neugeschaffenen 
industriellen  Kräfte  und  beutete  sie  zu  seinen  Zwecken  aus; 
diese,  von  Rechtswegen  der  Menschheit  gehörenden  Kräfte  wurden 
durch  die  Einwirkung  des  Privateigentums   das   Monopol  weniger 


1)  Hier  folgen  Angaben  über  die  Entwicklung,  Technik  und  Entstehung 
der  englischen  Großindustrie,  die  Engels,  wie  er  selbst  hervorhebt,  größten- 
teils dem  Werk  Progres  of  the  Nation  von  G.  Porter,  einem  Beamten  des 
Board  of  Trade  unter  dem  Whigministerium,  entlehnt  hat.  Vgl.  unten  Er- 
läuterungen und  Anmerkungen,  S.  316. 


Die  Lage  Englands.  277 

reicher  Kapitalisten  und  das  Mittel  zur  Knechtung  der  Masse.  Der 
Handel  nahm  die  Industrie  in  sich  auf  und  wurde  dadurch  all- 
mächtig, wurde  das  Band  der  Menschheit;  aller  persönliche  und 
nationale  Verkehr  löste  sich  in  Handelsverkehr  auf,  und  was  das- 
selbe ist,  das  Eigentum,  die  Sache  wurde  zum  Herrn  der  Welt  er- 
hoben. 

Die  Herrschaft  des  Eigentums  mußte  sich  notwendig  zuerst 
gegen  den  Staat  wenden  und  diesen  auflösen  oder  wenigstens,  da 
es  ihn  nicht  entbehren  kann,  aushöhlen.  Adam  Smith  begann  diese 
Aushöhlung  gleichzeitig  mit  der  industriellen  Revolution,  indem  er 
1776  seine  Untersuchung  über  das  Wesen  und  die  Ursachen  des 
Nationalreichtums  herausgab  und  dadurch  die  Finanzwissenschaft 
schuf.  Alle  bisherige  Finanzwissenschaft  war  exklusiv  national  ge- 
wesen; die  Staatswirtschaft  war  als  ein  bloßer  Zweig  des  ganzen 
Staatswesens  angesehen,  dem  Staat  als  solchen  untergeordnet  wor- 
den ;  Adam  Smith  machte  den  Kosmopolitismus  den  nationalen 
Zwecken  Untertan  und  erhob  die  Staatswirtschaft  zum  Wesen  und 
Zweck  des  Staats.  Er  reduzierte  die  Politik,  die  Parteien,  die  Re- 
ligion, alles  auf  ökonomische  Kategorien,  und  erkannte  dadurch 
das  Eigentum  als  das  Wesen,  die  Bereicherung  als  den  Zweck  des 
Staates  an.  Auf  der  andern  Seite  stürzte  William  Godwin  (Political 
Justice,  1793)  das  republikanische  System  der  Politik,  stellte  zu 
gleicher  Zeit  mit  J.  Bentham  das  Utilitätsprinzip  auf,  wodurch  das 
republikanische:  Salus  publica  suprema  lex  zu  seinen  legitimen 
Konsequenzen  gebracht  wurde,  und  griff  das  Wesen  des  Staates 
selbst,  durch  seinen  Satz,  daß  der  Staat  ein  Übel  ist,  an.  Godwin 
faßt  das  Utilitätsprinzip  noch  ganz  allgemein  als  die  Pflicht  des 
Bürgers,  mit  Vernachlässigung  des  individuellen  Interesses  nur  dem 
allgemeinen  Besten  zu  leben ;  Bentham  dagegen  führt  die  wesent- 
lich soziale  Natur  dieses  Prinzips  weiter  aus,  indem  er  in  Überein- 
stimmung mit  der  gleichzeitigen  Nationalrichtung  das  Einzelinter- 
esse zur  Basis  des  allgemeinen  machte,  die  Identität  beider  in  dem 
besonders  von  seinem  Schüler  Mill  entwickelten  Satze :  daß  Menschen- 
liebe nichts  anderes  ist  als  aufgeklärter  Egoismus,  anerkennt  und 
dem  ,, Allgemeinen  Besten"  die  größte  Glückseligkeit  der  größten 
Zahl  substituiert.  Bentham  begeht  hier  in  seiner  Empirie  denselben 
Fehler,  den  Hegel  in  der  Theorie  begangen  hat;  er  macht  nicht 
Ernst  mit  der  Überwindung  der  Gegensätze,  er  macht  das  Subjekt 
zum  Prädikat,  das  Ganze  dem  Teil  Untertan  und  stellt  dadurch  alles 
auf  den  Kopf.  Erst  spricht  er  von  der  Untrennbarkeit  des  allge- 
meinen und  einzelnen  Interesses,  und  nachher  bleibt  er  einseitig 
beim  krassen  Einzelinteresse  stehen ;  sein  Satz  ist  nur  der  empi- 
rische Ausdruck  des  andern,   daß  der   Mensch  die   Menschheit  ist, 


278        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

aber  weil  er  empirisch  ausgedrückt  ist,  gibt  er,  nicht  dem  freien, 
selbstbewußten  und  selbstschaffenden,  sondern  dem  rohen,  blinden, 
in  den  Gegensätzen  befangenen  Menschen  die  Rechte  der  Gattung. 
Er  macht  die  freie  Konkurrenz  zum  Wesen  der  Sittlichkeit,  regu- 
liert die  Beziehungen  der  Menschheit  nach  den  Gesetzen  des  Eigen- 
tums, der  Sache,  nach  Naturgesetzen,  und  ist  so  die  Vollendung  des 
alten,  christlichen,  naturwüchsigen  Weltzustandes,  die  höchste 
Spitze  der  Veräußerung,  aber  nicht  der  Anfang  des  neuen,  durch 
den  selbstbewußten  Menschen  mit  voller  Freiheit  zu  schaffenden 
Zustandes.  Er  geht  nicht  über  den  Staat  hinaus,  aber  er  nimmt 
ihm  allen  Gehalt,  ersetzt  die  politischen  Prinzipien  durch  soziale, 
macht  die  politische  Organisation  zur  Form  des  sozialen  Inhalts, 
und  bringt  dadurch  den  Widerspruch  auf  die  höchste  Spitze. 

Zu  gleicher  Zeit  mit  der  industriellen  Revolution  entstand  die 
demokratische  Partei.  1769  stiftete  J.  Hörne  Jooke  die  Society  of 
the  Bill  of  Rights,  in  der  zuerst  wieder  seit  der  Republik  demokra- 
tische Prinzipien  diskutiert  wurden.  Wie  in  Frankreich,  waren  die 
Demokraten  lauter  philosophisch  gebildete  Männer,  aber  sie  fanden 
bald,  daß  die  höheren  und  Mittelklassen  ihnen  entgegenstanden  und 
nur  die  arbeitende  Klasse  ihren  Grundsätzen  ein  offenes  Ohr  lieh. 
Unter  diesen  fanden  sie  bald  eine  Partei,  und  diese  Partei  war  i794 
schon  ziemlick  stark,  aber  immer  noch  nicht  stark  genug,  um  an- 
ders als  stoßweise  wirken  zu  können.  Von  i797  ^is  1816  war  von 
ihr  keine  Rede;  in  den  bewegten  Jahren  von  1816  bis  1823  war  sie 
wieder  sehr  tätig,  sank  aber  dann  bis  zur  Julirevolution  wieder  in 
die  Untätigkeit  zurück.  Von  da  an  hat  sie  ihre  Bedeutung  neben 
den  alten  Parteien  behalten  und  ist  in  einem  regelmäßigen  Fort- 
schritt begriffen,  wie  wir  dies  später  sehen  werden. 

Das  wichtigste  Resultat  des  achtzehnten  Jahrhunderts  war  für 
England  die  Schöpfung  des  Proletariats  durch  die  industrielle  Re- 
volution. Die  neue  Industrie  erforderte  eine  stets  fertige  Masse  von 
Arbeitern  für  die  zahllosen  neuen  Zweige  der  Arbeit,  und  zwar 
Arbeiter,  wie  sie  bisher  nicht  dagewesen  waren.  Bis  1780  hatte  Eng- 
land wenig  Proletarier,  wie  dies  notwendig  aus  der  oben  dargestell- 
ten sozialen  Lage  der  Nation  hervorgeht.  Die  Industrie  konzen- 
trierte die  Arbeit  auf  Fabriken  und  Städte;  die  Vereinigung  der  ge- 
werblichen und  ackerbauenden  Tätigkeit  wurde  unmöglich  ge- 
macht und  die  neue  Arbeiterklasse  rein  auf  ihre  Arbeit  angewiesen. 
Die  bisherige  Ausnahme  wurde  Regel  und  breitete  sich  allmählich 
auch  außerhalb  der  Städte  aus.  Die  Parzellenkultur  des  Landes 
wurde  durch  die  großen  Pächter  verdrängt  und  dadurch  eine  neue 
Klasse  von  Acker bautaglöhnern  geschaffen.  Die  Städte  verdrei- 
fachten und  vervierfachten    ihre  Bevölkerung,   und  fast  all  dieser 


Die  Lage  Englands.  279 

Zuwachs  bestand  aus  bloßen  Arbeitern.  Die  Ausdehnung  des  Berg- 
baues erforderte  ebenfalls  eine  große  Zahl  neuer  Arbeiter,  und  auch 
diese  lebten  bloß   von  ihrem  Tagelohn. 

Auf  der  andern  Seite  erhob  sich  die  Mittelklasse  zur  entschiede- 
nen Aristokratie.  Die  Fabrikanten  vervielfachten  in  der  industriel- 
len Bewegung  ihr  Kapital  auf  eine  wunderbar  schnelle  Weise ;  die 
Kaufleute  bekamen  ebenfalls  ihr  Teil,  und  das  durch  diese  Revo- 
lution geschaffene  Kapital  war  das  Mittel,  mit  dem  die  englische 
Aristokratie  die  französische   Revolution  bekämpfte. 

Das  Resultat  der  ganzen  Bewegung  war  das,  daß  England 
jetzt  in  drei  Parteien  gespalten  ist,  in  die  Landaristokratie,  die  Geld- 
aristokratie und  die  arbeitende  Demokratie.  Diese  sind  die  einzigen 
Parteien  in  England,  die  einzigen  Triebfedern,  die  hier  wirken,  und 
wie  sie  wirken,  werden  wir  vielleicht  in  einem  späteren  Artikel  dar- 
zustellen versuchen. 

Die  englische  Konstitution. 

Im  vorigen  Artikel  sind  die  Prinzipien  entwickelt  worden, 
nach  denen  die  gegenwärtige  Stellung  des  britischen  Reichs  in  der 
Geschichte  der  Zivilisation  zu  beurteilen  ist,  sowie  die  nötigen  Data 
über  die  Entwicklung  der  englischen  Nation  gegeben  worden,  so 
weit  sie  zu  diesem  Zweck  unumgänglich,  aber  auf  dem  Kontinent 
weniger  bekannt  sind ;  wir  können  somit  nach  Begründung  unse- 
rer Voraussetzungen,  ohne  weiteres  auf  unsern  Gegenstand  selbst 
losgehen. 

Die  Lage  Englands  hat  bisher  allen  übrigen  Völkern  Europas 
beneidenswert  geschienen,  ist  es  auch  für  jeden,  der  auf  der  Ober- 
fläche sich  herumtreibt  und  bloß  mit  dem  Auge  des  Politikers  sieht. 
England  ist  ein  Weltreich  in  dem  Sinne,  wie  ein  solches  heutzutage 
bestehen  kann  und  wie  im  Grunde  alle  andern  Weltreiche  auch  ge- 
wesen sind;  denn  auch  Alexanders  und  Cäsars  Reich  war,  wie  das 
englische,  eine  Herrschaft  zivilisierter  Völker  über  Barbaren  und 
Kolonien.  Kein  anderes  Land  der  Welt  kann  sich  an  Macht  und 
Reichtum  mit  England  messen,  und  diese  Macht  und  dieser  Reich- 
tum liegen  nicht,  wie  in  Rom,  in  der  Hand  eines  einzelnen  Des- 
poten, sondern  gehört^)  dem  gebildeten  Teil  der  Nation.  Die  Furcht 
vor  dem  Despotismus,  der  Kampf  gegen  die  Macht  der  Krone, 
existieren  in  England  seit  hundert  Jahren  nicht  mehr ;  England  ist 
unleugbar  das  freiste,  d.  h.  das  am  wenigsten  unfreie  Land,  Nord- 
amerika nicht  ausgenommen,  und  infolgedessen  hat  der  gebildete 
Engländer  einen  Grad  angeborner  Unabhängigkeit  an  sich,  dessen 

1)  Sic! 


28o        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

kein  Franzose,  geschweige  denn  ein  Deutscher,  sich  rühmen  kann. 
Die  politische  Tätigkeit,  die  freie  Presse,  die  Seeherrschaft  und  die 
riesenhafte  Industrie  Englands  haben  die  dem  Nationalcharakter 
innewohnende  Energie,  die  entschlossene  Tatkraft  neben  der  ruhig- 
sten Überlegung,  so  vollständig  fast  in  jedem  Individuum  ent- 
wickelt, daß  auch  hierin  die  kontinentalen  Völker  unendlich  weit 
hinter  den  Engländern  zurückstehen.  Die  Geschichte  der  englischen 
Armee  und  Flotte  ist  eine  Reihe  glänzender  Siege,  während  Eng- 
land seit  achthundert  Jahren  kaum  einen  Feind  an  seinen  Küsten 
gesehen  hat;  der  Literatur  kann  nur  von  der  altgriechischen  und 
deutschen  der  Rang  streitig  gemacht  werden,  in  der  Philosophie  hat 
England  wenigstens  zwei  —  Bacon  und  Locke — ,  in  den  empiri- 
schen Wissenschaften  unzählbare  große  Namen  aufzuweisen,  und 
wenn  es  sich  darum  handelt,  welches  Volk  am  meisten  getan  hat, 
so  darf  kein  Mensch  leugnen,  daß  die  Engländer  dies  Volk  sind. 

Das  sind  die  Dinge,  deren  England  sich  rühmen  kann,  und  die 
ich  hier  von  vornherein  aufgezählt  habe,  damit  die  guten  Deutschen 
gleich  anfangs  von  meiner  ,, Unparteilichkeit"  sich  überzeugen 
können ;  denn  ich  weiß  sehr  wohl,  daß  man  in  Deutschland  viel  eher 
von  den  Deutschen  als  von  irgend  einer  andern  Nation  rücksichts- 
los sprechen  darf.  Und  diese  eben  aufgezählten  Dinge  bilden  mehr 
oder  weniger  das  Thema  der  ganzen  bändereichen  und  doch  höchst 
unfruchtbaren  und  überflüssigen  Literatur,  die  auf  dem  Kontinent 
über  England  zusammengeschrieben  worden  ist.  In  das  Wesen  der 
englischen  Geschichte  und  des  englischen  Nationalcharakters  ein- 
zugehen, ist  niemand  eingefallen,  und  wie  jämmerlich  die  ganze 
Literatur  über  England  ist,  geht  schon  aus  dem  einfachen  Faktum 
hervor,  daß  das  jämmerliche  Buch  des  Herrn  von  Raumer,  so  viel 
ich  weiß,  in  Deutschland  noch  für  das  beste  über  den  Gegenstand  gilt. 

Fangen  wir,  da  man  bisher  England  nur  von  der  politischen 
Seite  aus  betrachtet  hat,  mit  dieser  an.  Prüfen  wir  die  englische 
Konstitution,  die,  nach  dem  Ausdruck  des  Tory,  „das  vollkommen- 
ste Produkt  der  englischen  Vernunft"  ist,  und  verfahren  wir,  um 
dem  Politiker  noch  einen  Gefallen  zu  tun,  vor  der  Hand  ganz  em- 
pirisch. 

Das  Juste -Milieu  findet  die  englische  Verfassung  besonders 
darin  schön,  daß  sie  sich  historisch  entwickelt  hat;  d.h.  auf  deutsch, 
daß  man  die  alte,  durch  die  Revolution  von  1688  geschaffene  Grund- 
lage beibehalten  und  auf  diesem  Fundament,  wie  sie 's  nennen, 
weiter  gebaut  hat.  Wir  werden  schon  sehen,  welchen  Charakter 
die  englische  Verfassung  dadurch  bekommen  hat;  vorläufig  genügt 
die  emfache  Vergleichung  des  Engländers  von  1688  mit  dem  Eng- 
länder von  1844,  um  zu  beweisen,  daß  ein  gleiches  konstitutionelles 


Die  Lage  Englands.  281 

Fundament  für  beide  ein  Unding,  eine  Unmöglichkeit  ist.  Selbst 
von  dem  allgemeinen  Fortschritt  der  Zivilisation  abgesehen,  so  ist 
schon  der  politische  Charakter  der  Nation  ein  ganz  andrer  als  da- 
mals. Die  Testakte,  die  Habeas  Corpus-Akte,  die  Bill  of  Rights 
waren  Whigmaßregeln,  die  aus  der  Schwäche  und  Überwindung  der 
damaligen  Tories  hervorgingen  und  gegen  diese  Tories,  d.  h.  gegen 
die  absolute  Monarchie  und  den  offenen  oder  verborgenen  Katholi- 
zismus gerichtet  waren.  Aber  schon  in  den  nächsten  fünfzig  Jahren 
verschwanden  die  alten  Tories,  und  ihre  Nachkommen  nahmen  die 
Prinzipien  an,  die  bisher  das  Eigentum  der  Whigs  gewesen  waren; 
seit  der  Thronbesteigung  Georgs  I.  gingen  die  monarchisch -katho- 
lischen Tories  in  eine  aristokratisch-hochkirchliche  Partei  über,  und 
seit  der  französischen  Revolution,  die  sie  erst  zum  Bewußtsein 
brachte,  verflüchtigten  sich  die  politischen  Satzungen  des  Torysmus 
immer  mehr  zu  der  Abstraktion  des  ,, Konservatismus",  der  nackten 
gedankenlosen  Verteidigung  des  Bestehenden  —  ja  selbst  diese  Stufe 
ist  schon  überschritten,  in  Sir  Robert  Peel  hat  sich  der  Torysmus 
zur  Anerkennung  der  Bewegung  entschlossen,  hat  die  Unhaltbar- 
keit  der  englischen  Konstitution  eingesehen  und  kapituliert  nur  noch, 
um  das  verrottete  Machwerk  so  lange  zu  halten  wie  möglich.  — 
Die  Whigs  haben  eine  ebenso  wichtige  Entwicklung  durchgemacht, 
eine  neue,  demokratische  Partei  ist  entstanden,  und  doch  soll  das 
Fundament  von  1688  noch  breit  genug  sein  für  1844!  Die  not- 
wendige Folge  dieser  ,, historischen  Entwicklung"  ist  nun,  daß  die 
inneren  Widersprüche,  die  das  Wesen  der  konstitutionellen  Monar- 
chie ausmachen,  und  die  schon  zu  der  Zeit,  als  die  neuere  deutsche 
Philosophie  noch  den  repubHkanischen  Standpunkt  einnahm,  hin- 
reichend aufgedeckt  worden  sind  —  daß  diese  Widersprüche  in 
der  modernen  englischen  Monarchie  ihre  Spitze  erreichen.  In  der 
Tat,  die  englische  konstitutionelle  Monarchie  ist  die  Vollendung  der 
konstitutionellen  Monarchie  überhaupt,  ist  der  einzige  Staat,  in  dem, 
so  weit  dies  jetzt  noch  möglich,  eine  wirkliche  Adelsaristokratie 
ihren  Platz  neben  einem  verhältnismäßig  sehr  entwickelten  Volks- 
bewußtsein ihre  Stelle  behauptet  hat,  und  in  dem  daher  die  auf  dem 
Kontinent  künstlich  wieder  hergestellte  und  mühsam  aufrecht  er- 
haltene Dreieinigkeit  der  gesetzgebenden  Gewalt  wirklich  existiert. 
Wenn  das  Wesen  des  Staats,  wie  der  Religion  die  Angst  der 
Menschheit  vor  sich  selber  ist,  so  erreicht  diese  Angt  in  der  kon- 
stitutionellen und  namentlich  der  englischen  Monarchie  ihren  höch- 
sten Grad.  Die  Erfahrung  dreier  Jahrtausende  hat  die  Menschen 
nicht  klüger,  sondern  im  Gegenteil  verwirrter,  befangener,  hat  sie 
wahnsinnig  gemacht,  und  das  Resultat  dieses  Wahnsinns  ist  der 
politische  Zustand  des  heutigen  Europas.    Die  reine  Monarchie  er- 


282        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

regt  Schrecken  —  man  denkt  an  den  orientalischen  und  römischen 
Despotismus.  Die  reine  Aristokratie  ist  nicht  weniger  furchtbar  — 
die  römischen  Patrizier  und  der  mittelalterliche  Feudalismus,  die 
venetianischen  und  genuesischen  Nobili  sind  nicht  umsonst  dage- 
wesen. Die  Demokratie  ist  fürchterlicher  als  beide;  Marius  und 
Sulla, ^)  Cromwell  und  Robespierre,  die  blutigen  Häupter  zweier 
Könige,  die  Proskriptionslisten  und  die  Diktatur  reden  laut  genug 
von  den  „Greueln"  der  Demokratie.  Zudem  ist  es  weltbekannt, 
daß  keine  dieser  Formen  sich  je  hat  lange  halten  können.  Was 
also  ist  zu  tun  ?  Statt  geradeaus  vorwärts  zu  gehen,  statt  von  der 
Un  Vollkommenheit  oder  vielmehr  Unmenschlichkeit  aller  Staats - 
formen  den  Schluß  zu  ziehen,  daß  der  Staat  selbst  die  Ursache  aller 
dieser  Unmenschlichkeiten  und  selbst  unmenschlich  sei,  statt  dessen 
beruhigte  man  sich  bei  der  Ansicht,  daß  die  Unsittlichkeit  nur  den 
Staats  formen  anklebe,  folgerte  aus  den  obigen  Prämissen,  daß 
drei  unsittliche  Faktoren  zusammen  ein  sittliches  Produkt  machen 
können,  und  schuf  die  konstitutionelle  Monarchie. 

Der  erste  Satz  der  konstitutionellen  Monarchie  ist  der  vom 
Gleichgewicht  der  Gewalten,  und  dieser  Satz  ist  der  vollkommenste 
Ausdruck  für  die  Angst  der  Menschheit  vor  sich  selbst.  Ich  will 
von  der  lächerlichen  Unvernünftigkeit,  von  der  totalen  Unausführ- 
barkeit  dieses  Satzes  gar  nicht  reden,  ich  will  nur  untersuchen,  ob 
er  in  der  englischen  Konstitution  durchgeführt  ist,  ich  werde  mich, 
wie  ich  versprach,  rein  empirisch  halten,  so  empirisch,  daß  ich  es 
vielleicht  selbst  unsern  politischen  Empirikern  zu  sehr  sein  werde. 
Ich  nehme  also  die  englische  Verfassung  nicht,  wie  sie  in  ,, Black- 
stones Kommentaren",  in  ,,de  Lolma's"  Hirngespinsten  oder  in  der 
langen  Reihe  konstituierender  Statuten  von  ,, Magna  Charta"  bis 
auf  die  Reformbill,  sondern  wie  sie  in  Wirklichkeit  besteht. 

Zuerst  das  monarchische  Element.  Jedermann  weiß,  was  es 
mit  dem  souveränen  König  von  England,  männlichen  oder  weib- 
lichen Geschlechts,  auf  sich  hat.  Die  Macht  der  Krone  reduziert 
sich  in  der  Praxis  auf  Null,  und  wenn  ein  in  aller  Welt  notorisches 
Faktum  noch  des  Beweises  bedürfte,  so  wäre  die  Tatsache,  daß  seit 
mehr  als  hundert  Jahren  aller  Kampf  gegen  die  Krone  aufgehört 
hat,  daß  selbst  die  radikal-demokratischen  Chartisten  ihre  Zeit  zu 
etwas  Besserem  als  zu  diesem  Kampf  anzuwenden  wissen.  Beweis 
genug.  Wo  also  bleibt  das  in  der  Theorie  der  Krone  zugewiesene 
Drittel  der  gesetzgebenden  Gewalt  ?  Dennoch  —  und  hierin  erreicht 
die  Angst  ihren  Gipfel  —  dennoch  kann  die  englische  Konstitution 


1)  Im  Vorwärts  steht  „Scylla",  ein  offenbarer  Druckfehler;  im  Frjinzö- 
sischen  heißt  Sulla  bekanntlich  Sylla. 


Die  Lage  Englands.  283 

nicht  ohne  die  Monarchie  bestehen.  Nehmt  die  Krone,  die  „sub- 
jektive Spitze",  weg,  und  das  ganze  künstliche  Gebäude  fällt  über 
den  Haufen.  Die  englische  Verfassung  ist  eine  umgekehrte  Pyra- 
mide; die  Spitze  ist  zugleich  die  Basis.  Und  je  unbedeutender  das 
monarchische  Element  in  der  Wirklichkeit  wurde,  desto  bedeuten- 
der wurde  es  dem  Engländer.  Nirgends  ist  bekanntlich  die  nicht- 
regierende Persönlichkeit  angebeteter  als  in  England.  Die  eng- 
lischen Journale  übertreffen  an  sklavischem  Servilismus  die  deut- 
schen bei  weitem.  Dieser  ekelhafte  Kultus  des  Königs  als  solchen, 
die  Anbetung  der  ganz  entleerten,  alles  Inhalts  beraubten  Vorstel- 
lung —  nicht  Vorstellung,  des  Wortes:  ,, König"  ist  aber  die  Voll- 
endung der  Monarchie,  wie  die  Anbetung  des  bloßen  Wortes: 
„Gott"  die  Vollendung  dei  Religion  ist.  Das  Wort  König  ist  das 
Wesen  des  Staats,  wie  das  Wort  Gott  das  Wesen  der  Religion  ist, 
wenn  auch  beide  Worte  rein  gar  nichts  bedeuten.  Bei  beiden  ist 
die  Hauptsache,  daß  die  Hauptsache,  nämlich  der  Mensch,  der 
hinler  diesen  Worten  steckt,  ja  nicht  zur  Sprache  komme. 

Sodann  das  aristokratische  Element.  Diesem  geht  es,  wenig- 
stens in  der  ihm  von  der  Verfassung  angewiesenen  Sphäre,  wenig 
besser  als  der  Krone.  Wenn  der  Spott,  mit  dem  das  Oberhaus  seit 
mehr  als  hundert  Jahren  fortwährend  überhäuft  wurde,  allmählich 
so  sehr  ein  Bestandteil  der  öffentlichen  Meinung  geworden  ist,  daß 
dieser  Zweig  der  gesetzgebenden  Gewalt  allgemein  für  ein  Invaliden- 
haus für  ausgediente  Staatsmänner,  daß  das  Anerbieten  einer  Pairie 
von  jedem  noch  nicht  ganz  verschlissenen  Mitgliede  des  Unter- 
hauses für  eine  Beleidigung  angesehen  wird,  so  läßt  sich  leicht 
denken,  in  welcher  Achtung  die  zweite  der  durch  die  Konstitution 
eingesetzten  Staatsmächte  steht.  In  der  Tat,  ist  die  Tätigkeit  der  Lords 
im  Oberhause  zu  einer  bloßen  nichtssagenden  Förmlichkeit  herab- 
gesunken, und  erhebt  sich  nur  selten  zu  einer  Art  von  Energie  der 
Trägheit,  wie  sie  sich  während  der  Whigherrschaft  von  1830 — 40 
zeigte  —  aber  selbst  dann  sind  die  Lords  nicht  scark  durch  sich 
selbst,  sondern  durch  die  Partei,  deren  reinste  Vertreter  sie  sind, 
die  Tories;  und  das  Oberhaus,  dessen  Hauptvorzug  in  der  Theorie 
der  Konstitution  der  sein  soll,  daß  es  von  der  Krone  und  dem  Volk 
gleich  unabhängig  sei,  ist  in  der  Wirklichkeit  von  einer  Partei,  also 
von  dem  Stande  der  Volksmeinung,  und  durch  das  Recht  der  Krone, 
Pairs  zu  ernennen,  auch  von  dieser  abhängig.  Aber  je  ohnmäch- 
tiger das  Oberhaus  ist,  desto  festeren  Boden  erhielt  es  in  der  öffent- 
lichen Meinung.  Die  konstitutionellen  Paiteien,  Tories,  Whigs  und 
Radikale,  schaudern  gleich  sehr  vor  der  Abschaffung  dieser  leeren 
Förmlichkeit  zurück,  und  die  Radikalen  bemerken  höchstens,  daß 
die  Lords,  als  die  einzige  unverantwortliche  Macht  der  Konstitution, 


284         •^^^  ^^''  ^^^*  ^^^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

eine  Anomalie  seien  und  deshalb  die  erbliche  durch  eine  Wahl- 
pairie  zu  ersetzen  sei.  Es  ist  wieder  die  Angst  vor  der  Menschheit, 
die  diese  leere  Form  aufrecht  erhält,  und  die  Radikalen,  die  für 
das  Unterhaus  eine  reine  demokratische  Basis  verlangen,  treiben 
diese  Angst  noch  weiter  als  die  übrigen  beiden  Parteien,  indem  sie, 
um  das  abgenutzte,  überlebte  Oberhaus  ja  nur  nicht  fallen  zu  lassen, 
ihm  durch  Infusion  populären  Blutes,  noch  etwas  Lebenskraft  ein- 
zuhauchen suchen.  Die  Chartisten  wissen  besser,  was  sie  zu  tun 
haben;  sie  wissen,  daß  vor  dem  Sturm  eines  demokratischen  Unter- 
hauses das  ganze  morsche  Gerüst,  Krone  und  Lords  und  so  weiter, 
von  selbst  zusammenbrechen  muß,  und  plagen  sich  daher  nicht, 
wie  die  Radikalen,  mit  der  Form  der  Pairie.  —  Und  wie  die  An- 
betung der  Krone  in  demselben  Verhältnis  gestiegen  ist,  wie  die 
Macht  der  Krone  abnahm,  so  ist  auch  die  populäre  Achtung  vor 
der  Aristokratie  um  so  höher  geworden,  je  unbedeutender  der  po- 
litische Einfluß  des  Oberhauses  wurde.  Nicht  nur,  daß  die  ernie- 
drigendsten  Förmlichkeiten  der  Feudalzeit  beibehalten  wurden,  daß 
die  Mitglieder  des  Unterhauses,  wenn  sie  in  offizieller  Kapazität 
vor  den  Lords  ei scheinen,  mit  dem  Hut  in  der  Hand  vor  den  sitzen- 
den und  bedeckten  Lords  stehen  müssen,  daß  die  offizielle  Anrede 
an  einen  Adligen  lautet:  ,,Möge  es  Eurer  Lordschaft  gefallen"  (Mag 
it  please  your  lordchip)  usw.;  das  Schlimmste  ist,  daß  alle  diese 
Förmlichkeiten  wirklich  der  Ausdruck  der  öffentlichen  Meinung 
sind,  die  einen  Lord  für  ein  Wesen  höherer  Art  ansieht,  und  einen 
Respekt  vor  Stammbäumen,  volltönenden  Titeln,  alten  Familien- 
andenken usw.  hegt,  der  uns  Kontinentalen  ebenso  widerwärtig  und 
ekelerregend  ist,  wie  der  Kultus  der  Krone.  Auch  in  diesem  Zuge 
des  englischen  Charakters  haben  wir  wieder  die  Anbetung  eines 
leeren,  nichtssagenden  Wortes,  die  vollkommen  wahnsinnige,  fixe 
Idee,  als  ob  eine  große  Nation,  als  ob  die  ganze  Menschheit  und  das 
Universum  nicht  ohne  das  Wort  Aristokratie  bestehen  könnte.  — 
Bei  alledem  hat  die  Aristokratie  in  der  Wirklichkeit  dennoch  einen 
bedeutenden  Einfluß;  aber  wie  die  Macht  der  Krone  die  Macht  der 
Minister,  d.  h.  der  Repräsentanten  der  Majorität  des  Unterhauses 
ist,  also  eine  ganz  andere  Richtung  angenommen  hat,  als  die  Kon- 
stitution beabsichtigte,  so  besteht  die  Macht  der  Aristokratie  in 
etwas  ganz  anderem,  als  in  ihrem  Anrecht  auf  einen  erblichen 
Sitz  in  der  Legislatur.  Die  Aristokratie  ist  stark  durch  ihren  un- 
geheuren Grundbesitz,  durch  ihren  Reichtum  überhaupt,  und  teilt 
diese  Stärke  mit  allen  andern,  nicht  adligen  Reichen;  die  Macht  der 
Lords  wird  nicht  im  Oberhause,  sondern  im  Hause  der  Gemeinen 
entwickelt,  und  dies  führt  uns  zu  dem  Bestandteil  der  Legislatur, 
der  nach  der  Konstitution  das  demokratische  Element  vertreten  soll. 


Die  Lage  Englands.  285 

Wenn  die  Krone  und  das  Oberhaus  machtlos  sind,  so  muß  das 
Unterhaus  notwendig  alle  Gewalt  in  sich  vereinigen,  und  das  ist 
der  Fall.  In  der  Wirklichkeit  macht  das  Unterhaus  die  Gesetze 
und  verwaltet  sie  durch  die  Minister,  die  nur  ein  Ausschuß  desselben 
sind.  Bei  dieser  Allmacht  des  Unterhauses  müßte  England  also  eine 
reine  Demokratie  sein,  wenn  auch  nominell  die  beiden  andern 
Zweige  der  Legislatur  bestehen  blieben,  wenn  nur  das  demokra- 
tische Element  selbst  wirklich  demokratisch  wäre.  Aber  davon  ist 
keine  Rede.  Die  Gemeinen  blieben  bei  der  Festsetzung  der  Ver- 
fassung nach  der  Revolution  von  1688  in  ihrer  Zusammensetzung 
ganz  unberührt;  die  Städte,  Flecken  und  Wahlbezirke,  die  das 
Recht  zur  Absendung  eines  Deputierten  früher  gehabt  hatten,  be- 
hielten es  bei;  und  dies  Recht  war  durchaus  kein  demokratisches, 
,, allgemeines  Menschenrecht*',  sondern  ein  ganz  feudalistisches 
Privilegium,  das  noch  unter  Elisabeth  ganz  willkürlich  und  aus 
freier  Gnade  von  der  Krone  vielen  bisher  nicht  vertretenen  Städten 
verliehen  wurde.  Selbst  den  Charakter  der  Repräsentation,  den  die 
Unterhaus  wählen  wenigstens  ursprünglich  hatten,  verloren  sie  bald 
durch  die  „historische  Entwicklung".  Die  Zusammensetzung  des 
alten  Unterhauses  ist  bekannt.  In  den  Städten  war  die  Erneuerung 
des  Deputierten  entweder  in  der  Hand  eines  Einzelnen  oder  einer 
geschlossenen  und  sich  selbst  ergänzenden  Korporation ;  nur  we- 
nige Städte  waren  offen,  d.  h.  hatten  eine  ziemlich  große  Zahl 
Wähler,  und  in  diesen  verdrängte  die  unverschämteste  Bestechung 
den  letzten  Rest  wirklicher  Repräsentation.  Die  geschlossenen  Städte 
waren  meist  unter  dem  Einfluß  eines  Individuums,  gewöhnlich 
eines  Lords;  und  in  den  ländlichen  Wahlbezirken  unterdrückte  die 
Allmacht  der  großen  Grundbesitzer  jede  etwaige  freiere  und  selbst- 
tätige Regung  unter  dem  übrigens  politisch  leblosen  Volk.  Das  alte 
Unterhaus  war  weiter  nichts,  als  eine  geschlossene,  vom  Volk  unab- 
hängige mittelalterliche  Korporation,  die  Vollendung  des  „histo- 
rischen" Rechtes,  die  auch  nicht  ein  einziges  wirklich  oder  schein- 
bar vernünftiges  Argument  für  ihre  Existenz  anführen  konnte,  die 
trotz  der  Vernunft  existierte  und  darum  auch  1794  durch  ihr  Komitee 
leugnete,  daß  sie  eine  Versammlung  von  Repräsentanten  und  Eng- 
land ein  Repräsentativstaat  sei^).  Einer  solchen  Verfassung  gegen- 
über mußte  die  Theorie  des  Repräsentativstaats,  selbst  der  gewöhn- 
lichen konstitutionellen  Monarchie  mit  einer  Repräsentanten-Kam- 
mer, als  durchaus  revolutionär  und  verwerflich  erscheinen,  und  da- 

;      I 

1)  Second  Report  of  the  Committee  of  Secrecy,  to  whom  the  Papers 
referred  to  His  Majesty's  Message  on  the  12.  mai  1784,  were  delivered. 
(Bericht  über  die  Londoner  revolutionären  Gesellschaften,  London  1794.) 
Pag.  68  ff.    (Anmerkung  des  Verfassers). 


286         Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

her  hatten  die  Tories  ganz  Recht,  wenn  sie  die  Reformbill  als  eine 
dem  Geist  und  Buchstaben  der  Konstitution  schnurstracks  zuwider- 
laufende und  die  Konstitution  untergrabende  Maßregel  bezeichneten. 
Die  Reformbill  ging  indes  durch,  und  wir  haben  nun  zu  sehen,  wozu 
sie  die  englische  Verfassung  und  besonders  das  Unterhaus  gemacht 
hat.  Zunächst  sind  die  Verhältnisse  für  die  Wahl  von  Deputierten 
auf  dem  Lande  ganz  dieselben  geblieben.  Die  Wähler  sind  hier 
fast  ausschließlich  selbst  Pächter,  und  diese  sind  von  ihrem  Grund- 
besitzer durchaus  abhängig,  indem  dieser  ihnen,  die  mit  ihm  in 
keinem  kontraktlichen  Verhältnis  stehen,  jeden  Augenblick  die 
Pacht  aufkündigen  kann.  Die  Deputierten  der  Grafschaften  (im 
Gegensatz  zu  den  Städten)  sind  nach  wie  vor  Deputierte  der  Grund- 
besitzer, denn  nur  in  den  aufgeregtesten  Epochen,  wie  1831,  wagen 
die  Pächter  gegen  die  Grundbesitzer  zu  stimmen.  Ja,  die  Reform- 
bill machte  das  Übel  nur  schlimmer,  indem  sie  die  Zahl  der  De- 
putierten für  Grafschaften  vermehrte.  Von  den  252  Grafschafts- 
Deputierten  können  die  Tories  daher  immer  auf  wenigstens  200 
rechnen,  es  sei  denn,  daß  eine  allgemeine  Aufregung  unter  den 
Pächtern  herrsche,  die  das  Einschreiten  der  Grundbesitzer  unklug 
machen  würde.  In  den  Städten  wurde  wenigstens  der  Form  nach 
eine  Repräsentation  eingeführt  und  jedem,  der  ein  Haus  von  wenig- 
stens zehn  Pfund  jährlichen  Mietwertes  bewohnt,  und  direkte  Steuern 
(Armensteuer  etc.)  bezahlt,  das  Stimmrecht  erteilt.  Hierdurch  ist 
die  ungeheure  Majorität  der  arbeitenden  Klassen  ausgeschlossen; 
denn  erstens  wohnen  natürlich  nur  Verheiratete  in  besonderen 
Häusern,  und  wenn  auch  ein  bedeutender  Teil  dieser  Häuser  jährlich 
zehn  Pfund  Miete  kostet,  so  umgehen  doch  die  Einwohner  fast  alle 
die  Bezahlung  der  direkten  Steuern  und  sind  daher  keine  Wähler. 
Die  Zahl  der  Wähler  bei  chartistischem,  allgemeinem  StimmrecLr 
würde  sich  mindestens  verdreifachen.  Die  Städte  sind  somit  in  den 
Händen  der  Mittelklasse,  und  diese  wiederum  ist  in  den  kleineren 
Städten  sehr  häufig  —  direkt  oder  indirekt  —  durch  die  Pächter, 
die  die  Hauptkunden  der  Krämer  und  Handwerker  sind,  von  den 
Grundbesitzern  abhängig.  In  den  großen  Städten  allein  kommt  die 
Mittelklasse  wirklich  zur  Herrschaft  und  in  den  kleineren  Fabrik- 
städten, namentlich  Lancashires,  wo  die  Mittelklasse  an  Zahl  und 
das  Landvolk  an  Einfluß  unbedeutend  ist,  wo  also  schon  eine  Mi- 
norität der  Arbeiterklasse  ein  entscheidendes  Gewicht  in  die  Wag- 
schale legt,  kommt  die  Scheinrepräsentation  einer  wirklichen  einiger- 
maßen nahe.  Diese  Städte,  z.  B.  Ashton,  Oldham,  Rochdale,  Bol- 
ton  usw.  schicken  daher  auch  fast  nur  Radikale  ins  Parlament. 
Eine  Ausdehnung  des  Stimmrechtes  nach  den  Grundsätzen  der  Char- 
tisten würde,  hier  wie  überhaupt  in  allen  Fabrikstädten,  diese  letz- 


Die  Lage  Englands.  287 

tere  Partei  zur  Majorität  der  Wähler  erheben.  Außer  diesen  ver- 
schiedenen und  in  der  Praxis  sehr  komplizierten  Einflüssen  machen 
sich  aber  noch  verschiedene  Lokalinteressen  und  zu  guter  Letzt  ein 
sehr  bedeutender  Einfluß  geltend  —  der  der  Bestechung.  In  dem 
ersten  Artikel  der  gegenwärtigen  Reihe  war  schon  die  Rede  davon, 
daß  das  Unterhaus  durch  sein  Bestechungs-Komitee  erklärte,  es  sei 
durch  Bestechung  gewählt  und  Thomas  Duncombe,  das  einzige 
entschieden  chartistische  Mitglied,  hat  es  dem  Unterhause  längst 
gerade  heraus  gesagt,  daß  kein  einziger  in  der  ganzen  Versammlung, 
er  selbst  nicht,  sagen  könne,  daß  er  durch  die  freie  Wahl  seiner 
Konstituenten,  ohne  Bestechung,  an  seinen  Platz  gekommen  sei. 
Im  vergangenen  Sommer  erklärte  Richard  Cobden,  Mitglied  für 
Stockport  und  Führer  der  Anti-Korngesetz-Ligue,  in  einem  öffent- 
lichen Meeting  in  Manchester,  daß  die  Bestechung  jetzt  einen  höhe- 
ren Grad  erreicht  habe  als  je,  daß  in  dem  torystischen  Carlton-Club 
und  dem  liberalen  Reform-Club  in  London  die  Repräsentation  von 
Städten  förmlich  an  den  Meistbietenden  versteigert  werde  und  diese 
Clubs  als  Unternehmer  handelten  —  gegen  soviele  Pfund  garan- 
tieren wir  dir  diese  Stelle  usw.  —  Und  zu  alledem  kommt  noch  die 
saubere  Manier,  mit  der  die  Wahlen  vorgenommen  werden,  die  all- 
gemeine Trunkenheit,  in  der  das  Votum  abgegeben  wird,  die  Schen- 
ken, in  denen  die  Wähler  auf  Kosten  der  Kandidaten  sich  be- 
rauschen, die  Unordnung,  die  Schlägereien  und  das  Geheul  der 
Masse  an  den  Abstimmungsbuden,  um  die  Nichtigkeit  der  für  sieben 
Jahre  gültigen  Repräsentation  zu  vollenden. 

Wir  haben  gesehen,  daß  die  Krone  und  das  Oberhaus  ihre 
Bedeutung  verloren  haben ;  wir  haben  gesehen,  auf  welche  Weise 
das  allmächtige  Unterhaus  rekrutiert  wird;  die  Frage  ist  jetzt: 
wer  regiert  denn  eigentlich  in  England  ?  —  Der  Besitz  regiert. 
Der  Besitz  regiert  [sie !]  die  Aristokratie,  die  Wahl  der  ländlichen  und 
kleinstädtischen  Deputierten  zu  beherrschen ;  der  Besitz  befähigt 
die  Kaufleute  und  Fabrikanten,  die  Deputierten  für  die  großen  und 
teilweise  auch  die  kleinen  Städte  zu  bestimmen;  der  Besitz  be- 
fähigt beide,  durch  Bestechung  ihren  Einfluß  zu  steigern.  Die 
Herrschaft  des  Besitzes  ist  in  der  Reformbill  durch  den  Zensus 
ausdrücklich  anerkannt.  Und  insofern  der  Besitz  und  der  durch 
den  Besitz  erworbene  Einfluß  das  Wesen  der  Mittelklasse  ausmacht, 
insofern  also  die  Aristokratie  bei  den  Wahlen  ihren  Besitz  geltend 
macht  und  damit  nicht  als  Aristokratie  auftritt,  sondern  sich  der 
Mittelklasse  gleichstellt,  insofern  der  Einfluß  der  eigentlichen  Mittel- 
klasse im  ganzen  viel  stärker  ist  als  der  der  Aristokratie,  insofern 
herrscht  allerdings  die  Mittelklasse.  Aber  wie  und  warum  herrscht 
sie  ?    Weil  das  Volk  über  das  Wesen  des  Besitzes   noch  nicht  im 


288        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

klaren,  weil  es  überhaupt  —  auf  dem  Lande  wenigstens  —  noch 
geistig  tot  ist  und  daher  sich  die  Tyrannei  des  Besitzes  gefallen 
läßt.  England  ist  allerdings  eine  Demokratie,  aber  wie  Rußland 
eine  Demokratie  ist;  wie  das  Volk  unbewußt  überall  herrscht,  und 
in  allen  Staaten  die  Regierung  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  den 
Bildungsgrad  des  Volkes  ist. 

Es  wird  schwer  halten,  uns  von  dieser  Praxis  der  englischen 
Konstitution  zu  ihrer  Theorie  zurückzubringen.  Die  Praxis  steht 
mit  der  Theorie  im  schreiendsten  Widerspruch ;  die  beiden  Seiten 
sind  einander  so  entfremdet,  daß  sie  gar  keine  Ähnlichkeit  mehr 
haben.  Hier  eine  Dreieinigkeit  der  Legislatur,  —  dort  eine  Tyrannei 
der  Mittelklasse;  hier  ein  Zweikammeis ystem  —  dort  ein  allmäch- 
tiges Haus  der  Gemeinen ;  hier  eine  königliche  Prärogative  —  dort 
ein  von  den  Gemeinen  gewähltes  Ministerium;  hier  ein  unabhän- 
giges Oberhaus  mit  erblichen  Gesetzgebern  —  dort  ein  Invaliden- 
haus für  überlebte  Deputierte.  Jeder  der  drei  Bestandteile  der  ge- 
setzgebenden Gewalt  hat  seine  Macht  an  ein  anderes  Element  ab- 
geben müssen:  die  Krone  an  die  Minister,  d.h.  die  Majorität  des 
Unterhauses,  die  Lords  an  die  Torypartei,  also  ein  populäres  Ele- 
ment und  an  die  Pairs  kreierenden  Minister,  d.h.  im  Grund  auch  an 
ein  populäres  Element,  und  die  Geraeinen  an  die  Mittelklasse  oder, 
was  dasselbe  ist,  an  die  policische  Unmündigkeit  des  Volkes.  Die 
englische  Konstitution  existiert  in  der  Wirklichkeit  gar  nicht  mehr, 
der  ganze  langwierige  Prozeß  der  Gesetzgebung  ist  eine  bloße  Farce ; 
der  Widerspruch  von  Theorie  und  Praxis  ist  so  grell  geworden,  daß 
er  sich  unmöglich  noch  lange  halten  kann,  und  wenn  auch  durch 
die  katholische  Emanzipation,  von  der  wir  noch  weiter  zu  reden 
haben  werden,  durch  die  Parlaments-  und  Municipal-Reform  dem 
Scheine  nach  die  Lebenskraft  der  siechen  Verfassung  noch  etwas 
gehoben  wurde,  so  sind  doch  diese  Maßregeln  selbst  schon  das  Ge- 
ständnis, daß  man  an  der  Erhaltung  der  Konstitution  verzweifelt,  und 
bringen  Elemente  in  sie  hinein,  die  mit  ihren  Grundprinzipien  ent- 
schieden im  Widerspruch  stehen,  also  den  Konflikt  noch  dadurch  ver- 
größern, daß  sie  die  Theorie  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  bringen. 

Wir  haben  gesehen,  wie  die  Organisation  der  Gewalten  in  der 
englischen  Verfassung  durchaus  auf  der  Angst  beruht.  Diese  Angst 
zeigt  sich  noch  mahr  in  den  Regeln,  nach  denen  die  Gesetzgebung 
verfährt,  den  sogenannen  Standing  Orders.  Jeder  Gesetzvorschlag 
muß  in  jedem  der  beiden  Häuser  dreimal  in  gewissen  Zwischen- 
räumen gelesen  werden;  nach  dem  zweiten  Lesen  wird  er  einem 
Komitee  übergeben,  das  ihn  im  einzelnen  durchgeht;  in  wichtige- 
ren Fällen  ,, entschließt  sich  das  Haus  in  ein  Komitee  des  ganzen 
Hauses"  zur  Beratung  des  Vorschlags  und  ernennt  einen  Bericht- 


Die  Lage  Englands.  289 

erstatter,  der  nach  Beendigung  der  Beratung  mit  vieler  Feierlich- 
keit demselben  Hause,  das  beraten  hat,  einen  Bericht  über  die  Be- 
ratung abstattet.  Beiläufig,  ist  dies  nicht  das  schönste  Beispiel  der 
, »Transzendenz  innerhalb  der  Immanenz  und  Immanenz  innerhalb 
der  Transzendenz",  das  ein  Hegelianer  sich  nur  wünschen  kann  ? 
,,Das  Wissen  des  Unterhauses  vom  Komitee  ist  das  Wissen  des 
Komitees  von  sich  selbst"  und  der  Berichterstatter  ist  die  ,, absolute 
Persönlichkeit  des  Mittlers,  in  der  beide  identisch  sind."  Jeder  Ge- 
setzvorschlag wird  daher  achtmal  beraten,  ehe  er  die  königliche 
Sanktion  erhalten  kann.  Diesem  ganzen  lächerlichen  Verfahren  liegt 
natürlich  wieder  die  Angst  vor  der  Menschheit  zum  Grunde.  Man 
sieht  ein,  daß  der  Fortschritt  das  Wesen  der  Menschheit  ist,  aber 
man  hat  nicht  den  Mut,  den  Fortschritt  offen  zu  proklamieren ; 
man  gibt  Gesetze,  die  absolute  Geltung  haben  sollen,  die  also  dem 
Fortschritt  Schranken  setzen ;  und  durch  das  vorbehaltene  Recht, 
die  Gesetze  zu  ändern,  läßt  man  den  soeben  geleugneten  Fortschritt 
zur  Hintertür  wieder  hinein.  Aber  nur  ja  nicht  zu  rasch,  nur  ja 
nicht  übereilt!  I>er  Fortschritt  ist  revolutionär,  ist  gefährlich  und 
muß  daher  wenigstens  einen  starken  Hemmschuh  erhalten ;  ehe 
man  sich  zu  seiner  Anerkennung  entschließt,  muß  man  sich  die 
Sache  achtmal  überlegen.  Aber  diese  Angst,  die  in  sich  selbst  nich- 
tig ist  und  nur  beweist,  daß  die  Ängstlichen  selbst  keine  wahren, 
freien  Menschen  sind,  muß  notwendig  auch  in  ihren  Maßregeln 
fehlgreifen.  Statt  eine  umfassendere  Beratung  der  Vorschläge  zu 
sichern,  wird  die  wiederholte  Lesung  derselben  in  der  Praxis  ganz 
überflüssig  und  eine  bloße  Formsache.  Die  Hauptberatung  kon- 
zentriert sich  gewöhnlich  auf  die  erste  oder  zweite  Lesung,  zuweilen 
auch  auf  die  Debatten  im  Komitee,  je  nachdem  es  der  Opposition 
am  besten  konveniert.  In  ihrer  ganzen  Nichtigkeit  erscheint  aber 
diese  Vervielfachung  der  Debatte,  wenn  man  bedenkt,  daß  das 
Schicksal  jedes  Vorschlags  schon  von  vornherein  entschieden  ist, 
und  wo  es  nicht  entschieden  ist,  in  der  Debatte  nicht  über  den 
speziellen  Vorschlag,  sondern  über  die  Existenz  eines  Ministeriums 
beraten  wird.  Das  Resultat  dieser  ganzen,  achtmal  wiederholten 
Posse  ist  also  nicht  etwa  eine  ruhigere  Beratung  im  Hause  selbst, 
sondern  etwas  ganz  anderes,  das  gar  nicht  in  der  Absicht  derer  lag, 
die  die  Posse  einführten.  Die  Langwierigkeit  der  Verhandlungen 
läßt  der  öffentlichen  Meinung  Zeit,  ein  Urteil  über  die  vorgeschla- 
gene Maßregel  zu  bilden  und  im  Notfalle  durch  Meetings  und  Pe- 
titionen dagegen  zu  opponieren,  und  oft,  —  wie  im  vorigen  Jahre 
bei  Sir  James  Grahams  Erziehungsbill  —  mit  Erfolg.  Aber  dies, 
wie  gesagt,  ist  nicht  der  ursprüngliche  Zweck  und  könnte  weit  ein- 
facher erreicht  werden. 

Mayer,  Engels.     Ergänzungsband.  IQ 


290        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

Da  wir  gerade  bei  den  Standing  Orders  sind,  so  können  wir 
noch  einige  Punkte  erwähnen,  in  denen  sich  die  Angst  der  engli- 
schen Verfassung  und  der  ursprüngliche  korporationsmäßige  Cha- 
rakter des  Unterhauses  verraten.  Die  Debatten  des  Unterhauses 
sind  nicht  öffentlich;  die  Zulassung  ist  ein  Privilegium  und 
wird  gewöhnlich  nur  durch  einen  schriftlichen  Befehl  eines  Mit- 
gliedes erwirkt.  Während  der  Abstimmung  werden  die  Galerien 
geräumt;  trotz  dieser  lächerlichen  Geheimniskrämerei,  gegen  deren 
Abschaffung  das  Haus  sich  immer  heftig  gewehrt  hat,  stehen  die 
Namen  der  für  oder  wider  stimmenden  Mitglieder  den  andern  Tag 
in  allen  Zeitungen.  Die  radikalen  Mitglieder  haben  nie  einen  authen- 
tischen Abdruck  der  Protokolle  durchsetzen  können  —  noch  vor 
14  Tagen  fiel  eine  dahin  gehende  Motion  durch ;  —  infolgedessen 
ist  der  Drucker  der  in  den  Zeitungen  erscheinenden  Parlaments- 
berichte für  den  Inhalt  derselben  allein  verantwortlich  und  kann 
von  jedem,  der  sich  durch  einen  Ausspruch  eines  Parlamentsmit- 
gliedes beleidigt  fühlt,  wegen  Veröffentlichung  verleumderischer 
Aussagen  —  gesetzlich  auch  von  der  Regierung  —  belangt  werden, 
während  der  Urheber  der  Verleumdung  durch  sein  parlamenta- 
risches Privilegium  gegen  alle  Verfolgung  sichergestellt  ist.  Diese 
und  eine  Menge  andrer  Punkte  in  den  Standing  Orders  zeigen  den 
exklusiven,  antipopulären  Charakter  des  reformierten  Parlaments; 
und  die  Zähigkeit,  mit  der  das  Unterhaus  an  diesen  Gebräuchen 
festhält,  zeigt  deutlich  genug,  daß  es  keine  Lust  hat,  sich  aus  einer 
privilegierten  Korporation  in  eine  Versammlung  von  Volksreprä- 
sentanten zu  verwandeln. 

Ein  anderer  Beweis  hierfür  ist  das  Privilegium  des  Parlaments, 
die  exzeptionelle  Stellung  seiner  Mitglieder  gegenüber  den  Gerich- 
ten und  das  Recht  des  Unterhauses,  jeden,  den  es  will,  verhaften 
zu  lassen.  Ursprünglich  gegen  die  Übergriffe  einer  seitdem  aller 
Macht  entkleideten  Krone  gerichtet,  hat  dies  Privilegium  in  der 
neueren  Zeit  sich  nur  gegen  das  Volk  gewendet.  1771  erzürnte  sich 
das  Haus  über  die  Frechheit  der  Zeitungen,  die  die  Debatten  ver- 
öffenthchten,  wozu  doch  nur  das  Haus  selbst  berechtigt  sei,  und 
versuchte  durch  Verhaftungen  von  Druckern  und  dann  von  Be- 
amten, die  diese  Drucker  freigelassen  hatten,  dieser  Frechheit  ein 
Ziel  zu  setzen.  Natur hch  mißlang  dies;  aber  der  Versuch  beweist, 
was  es  mit  dem  Privilegium  des  Parlaments  auf  sich  hat,  und  das 
Mißlingen  beweist,  daß  auch  das  Unterhaus,  trotz  seiner  Erhaben- 
heit über  das  Volk,  dennoch  von  diesem  abhängig  ist,  daß  also  auch 
das   Unterhaus  nicht  regiert. 

In  einem  Lande,  wo  ,,das   Christentum  ein  wesentlicher   Be- 
standteil der  Landesgesetze  ist"  (christianity  is  part  and  parcel  of 


Die  Lage  Englands.  291 

the  laws  of  the  land),  gehört  die  Staatskirche  notwendig  zur  Ver- 
fassung. England  ist  seiner  Verfassung  nach  wesentlich  ein  christ- 
licher Staat,  und  zwar  ein  vollständig  ausgebildeter,  starker  christ- 
licher Staat ;  Staat  und  Kirche  sind  vollkommen  verschmolzen  und 
untrennbar.  Diese  Einheit  von  Kirche  und  Staat  kann  aber  nur  in 
einer  christlichen  Konfession,  zur  Ausschließung  aller  andern,  be- 
stehen, und  diese  ausgeschlossenen  Sekten  sind  dadurch  natürlich 
als  Ketzer  bezeichnet  und  der  religiösen  und  politischen  Verfolgung 
verfallen.  So  in  England.  Sie  wurden  also  von  jeher  allesamt  in 
eine  Klasse  zusammengeworfen,  als  Nonconformisten  oder  Dissen- 
ters  von  aller  Teilnahme  am  Staat  ausgeschlossen,  in  ihrem  Kultus 
gestört  und  gehindert  und  mit  Strafgesetzen  verfolgt.  Je  eifriger 
sie  sich  gegen  die  Einheit  von  Kirche  und  Staat  erklärten,  desto 
heftiger  wurde  diese  Einheit  von  der  herrschenden  Partei  verteidigt 
und  zu  einem  Lebenspunkt  des  Staats  erhoben.  Als  der  christliche 
Staat  in  England  noch  in  voller  Blüte  stand,  war  daher  auch  die 
Verfolgung  der  Dissenters  und  besonders  der  Katholiken  an  der 
Tagesordnung,  eine  Verfolgung,  die  zwar  weniger  heftig,  aber  uni- 
verseller, ausdauernder  war  als  die  des  Mittelalters.  Die  akute 
Krankheit  ging  in  eine  chronische  über,  die  plötzlichen,  blutdürsti- 
gen Wutanfälle  des  Katholizismus  verwandelten  sich  in  eine  kalte, 
politische  Berechnung,  die  die  Heterodoxie  durch  einen  gelinderen 
aber  anhaltenden  Druck  auszurotten  suchte.  Die  Verfolgung  wurde 
auf  das  weltliche  Gebiet  herübergezogen  und  dadurch  unerträglicher 
gemacht.  Der  Unglaube  an  die  neununddreißig  Artikel  hörte  auf 
Blasphemie  zu  sein,  aber  anstatt  dessen  machte  man  ihn  zum  Staats- 
verbrechen. 

Aber  der  Fortschritt  der  Geschichte  ließ  sich  nicht  aufhalten ; 
der  Abstand  zwischen  der  Gesetzgebung  von  1688  und  der  öffent- 
lichen Meinung  von  1828  war  so  groß,  daß  in  diesem  Jahre  selbst 
das  Unterhaus  sich  genötigt  sah,  die  drückendsten  Gesetze  gegen 
die  Dissenters  aufzuheben.  Die  Testakte  und  die  religiösen  Para- 
graphen der  Korporations-Akte  wurden  abgeschafft;  die  Emanzi- 
pation der  Katholiken  folgte  im  nächsten  Jahre  trotz  der  wütenden 
Opposition  der  Tories.  Die  Tories,  die  Vertreter  der  Konstitution, 
hatten  volles  Recht  in  dieser  Opposition,  da  keine  einzige  der  libe- 
ralen Parteien,  auch  die  Radikalen  nicht,  die  Konstitution  selbst 
angriffen.  Die  Konstitution  sollte  auch  für  sie  die  Grundlage  blei- 
ben, und  auf  dem  Boden  der  Konstitution  waren  nur  die  Tories 
konsequent.  Sie  sahen  ein  und  sprachen  es  aus,  daß  die  obigen 
Maßregeln  den  Sturz  der  Hochkirche  und  notwendig  auch  den  der 
Konstitution  nach  sich  ziehen  müssen;  daß,  dem  Dissenter  aktives 
Bürgerrecht  geben,  de  facto  die  Hochkirche  vernichten,  die  Angriffe 

19* 


292         Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

auf  die  Hochkirche  sanktionieren  hieß;  daß  es  eine  arge  Inkonse- 
quenz gegen  den  Staat  überhaupt  ist,  wenn  man  dem  Katholiken, 
der  über  der  Staatsgewalt  die  Autorität  des  Papstes  anerkennt,  Teil 
an  der  Verwaltung  und  Gesetzgebung  bewilligt.  Ihre  Argumente 
konnten  von  den  Liberalen  nicht  beantwortet  werden;  die  Emanzi- 
pation ging  dennoch  durch,  und  die  Prophezeiungen  der  Tories 
fangen  bereits  an,  sich  zu  erfüllen. 

Die  Hochkirche  ist  also  auf  diese  Weise  ein  leerer  Name  ge- 
worden und  unterscheidet  sich  von  den  andern  Konfessionen  nur 
noch  durch  die  drei  Millionen  Pfund,  die  sie  jährlich  bezieht,  und 
einige  kleine  Privilegien,  die  gerade  hinreichend  sind,  um  den  Kampf 
gegen  sie  aufrecht  zu  erhalten.  Hierhin  gehören  die  kirchlichen 
Gerichtshöfe,  in  denen  der  anglikanische  Bischof  eine  alleinige,  aber 
sehr  bedeutungslose  Jurisdiktion  übt  und  deren  Bedrückung  be- 
sonders in  den  Gerichtskosten  besteht;  ferner  die  lokale  Kirchen- 
steuer, die  zur  Erhaltung  der  zu  Verfügung  der  Staatskirche  ste- 
henden Gebäude  verwendet  wird ;  die  Dissenters  stehen  unter  der 
Jurisdiktion  jener  Höfe  und  müssen  diese  Steuer  mitbezahlen. 

Aber  nicht  allein  die  Gesetzgebung  gegen  die  Kirche,  sondern 
auch  die  Gesetzgebung  für  sie  hat  dazu  beigetragen,  die  Staats- 
kirche zu  einem  leeren  Namen  zu  machen.  Die  irische  Kirche  ist 
ein  bloßer  Name  von  jeher  gewesen,  eine  vollendete  Staats-  oder 
Regierungskirche,  eine  komplete  Hierarchie,  vom  Erzbischof  ab- 
wärts bis  zum  Vikar,  der  weiter  nichts  fehlt  als  die  Gemeinde,  und 
deren  Beruf  darin  besteht,  für  die  leeren  Wände  zu  predigen,  zu 
beten  und  Litaneien  abzusingen.  Die  englische  Kirche  hat  zwar 
ein  Publikum,  obwohl  sie  auch,  besonders  in  Wales  und  den  Fa- 
brikdistrikten, ziemlich  von  den  Dissenters  verdrängt  worden  ist, 
aber  die  wohlbezahlten  Seelenhirten  bekümmern  sich  eben  nicht 
viel  um  die  Schafe.  ,,Wenn  Ihr  eine  Priesterkaste  in  Verachtung 
bringen  und  stürzen  wollt,  so  bezahlt  sie  gut",  sagt  Bentham,  und 
die  englische  und  irische  Kirche  zeugen  für  die  Wahrheit  dieses 
Ausspruchs.  Auf  dem  Lande  und  in  den  Städten  in  England  ist 
dem  Volke  nichts  verhaßter,  nichts  verächtlicher,  als  ein  church- 
of -England  parson.  Und  bei  einem  so  frommen  Volk  wie  dem 
englischen  will  das  was  bedeuten. 

Es  versteht  sich,  daß,  je  leerer  und  bedeutungsloser  der  Name 
der  Hochkirche  wird,  desto  fester  hängt  die  konservative  und  über- 
haupt entschieden  konstitutionelle  Partei  daran;  die  Trennung  von 
Kirche  und  Staat  könnte  auch  dem  Lord  John  Russell  Tränen  ent- 
locken; es  versteht  sich  ebenfalls,  daß,  je  leerer  dieser  Name  wird, 
desto  ärger  und  fühlbarer  wird  der  Druck.  Die  irische  Kirche  be- 
sonders,   weil   die   bedeutungsloseste,  ist  die   verhaßteste ;   sie  hat 


Die  Lage  Englands.  293 

gar  keinen  Zweck,  als  das  Volk  zu  erbittern,  als  es  daran  zu  erinnern, 
daß  es  ein  unterjochtes  Volk  ist,  dem  der  Eroberer  seine  Religion 
und  seine  Institutionen  aufzwängt. 

England  steht  demnach  jetzt  auf  dem  Übergange  vom  bestimm- 
ten in  den  unbestimmten  christlichen  Staat,  in  den  Staat,  der  keine 
bestimmte  Konfession,  sondern  einen  Durchschnitt  aller  existie- 
renden Konfessionen,  das  unbestimmte  Christentum  zu  seiner  Basis 
macht.  Natürlich  hat  schon  der  alte,  bestimmte,  christliche  Staat 
sich  gegen  den  Unglauben  verwahrt  und  die  Apostasie-Akte  von 
1699  bestraft  ihn  mit  Verlust  auch  des  passiven  Bürgerrechts  und 
mit  Gefängnis;  die  Akte  ist  nie  abgeschafft  worden,  wird  aber  nie 
mehr  in  Ausführung  gebracht.  Ein  anderes  Gesetz,  aus  Ehsabeths 
Zeiten  herrührend,  schreibt  vor,  daß  jeder,  der  Sonntags  ohne  ge- 
hörige Entschuldigung  aus  der  Kirche  bleibt  (wenn  ich  nicht  irre, 
ist  sogar  die  bischöfliche  Kirche  vorgeschrieben,  denn  Elisabeth  er- 
kannte keine  dissentierenden  Kapellen  an)  mit  Geldstrafe  und  re- 
spektive Gefängnis  dazu  anzuhalten  ist.  Dies  Gesetz  kommt  auf 
dem  Lande  noch  häufig  in  Ausführung;  selbst  hier  im  zivilisierten 
Lancashire,  ein  paar  Stunden  von  Manchester,  gibt  es  einige  bigotte 
Friedensrichter,  die  —  wie  M.  Gibson,  Deputierter  für  Manchester, 
vor  vierzehn  Tagen  im  Unterhause  anführte  —  eine  Menge  Leute 
wegen  unterlassenen  Kirchenbesuchs  zu  mitunter  sechswöchent- 
lichem Gefängnis  verurteilten.  Die  Hauptgesetze  aber  gegen  den 
Unglauben  sind  die,  welche  jeden,  der  nicht  an  einen  Gott  oder  eine 
jenseitige  Belohnung  oder  Bestrafung  glaubt,  zur  Ablegung  eines 
Eides  junfähig  machen  und  die  Gotteslästerung  bestrafen.  Gottes- 
lästerung ist  alles,  was  die  Bibel  oder  die  christliche  Religion  in  Ver- 
achtung zu  bringen  strebt,  und  ebenso  die  direkte  Leugnung  der 
Existenz  Gottes;  die  Strafe,  die  darauf  steht,  ist  Gefängnis  —  ge- 
wöhnlich ein  Jahr,  und  Geldstrafe. 

Aber  auch  der  unbestimmte  christliche  Staat  geht  schon  seinem 
Verfall  entgegen,  ehe  er  durch  die  Gesetzgebung  zur  offiziellen  An- 
erkennung gekommen  ist.  Die  Apostasie-Akte  ist,  wie  gesagt,  ob- 
solet^) ;  das  Gebot  des  Kirchenbesuchs  ist  ebenfalls  ziemlich  veraltet 
und  seine  Durchführung  nur  Ausnahme,  das  Blasphemie -Gesetz 
fängt  —  dank  der  Furchtlosigkeit  der  englischen  Sozialisten  und 
besonders  Richard  Carliles  —  ebenfalls  an  zu  veralten  und  wird 
nur  hier  und  da  in  besonders  bigotten  Lokalitäten,  z.  B.  in  Edin- 
burg,  in  Anwendung  gebracht,  und  selbst  eine  Verweigerung  des 
Eides  wird,  wo  es  eben  angeht,  vermieden.  Die  christliche  Partei 
ist  so  schwach  geworden,  daß  sie  selbst  einsieht,  eine  strenge  Hand- 


1)   Im  Original  steht  ,, absolut";  das  ist  offensichtlich  ein  Druckfehler. 


294         •^"^  ^^^  ^®'*  ^^^  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

habung  dieser  Gesetze  werde  in  kurzer  Zeit  ihre  Aufhebung  nach 
sich  ziehen,  und  bleibt  daher  lieber  ruhig,  damit  das  Damoklesschwert 
der  christlichen  Gesetzgebung  wenigstens  über  dem  Haupt  der  Un- 
gläubigen schweben  bleibe  und  vielleicht  als  Drohung  und  Ab- 
schreckung fortwirke. 

Außer  den  bis  jetzt  beurteilten  positiven  politischen  Institutionen 
sind  noch  einige  andere  Dinge  in  den  Bereich  der  Verfassung  zu 
ziehen.  Von  den  Rechten  des  Bürgers  ist  bis  jetzt  kaum  die  Rede 
gewesen;  innerhalb  der  eigentlichen  Konstitution  hat  das  Indivi- 
duum keine  Rechte  in  England.  Diese  Rechte  existieren  entweder 
durch  den  Gebrauch  oder  die  Kraft  einzelner  Statute,  die  mit  der 
Konstitution  in  keinem  Zusammenhang  stehen.  Wir  werden  sehen, 
wie  diese  sonderbare  Trennung  entstanden  ist,  und  gehen  für  den 
Augenblick  zur  Kritik  dieser  Rechte  über. 

Das  erste  ist  das  Recht,  daß  jeder  seine  Meinung  ungehindert 
und  ohne  vorherige  Genehmigung  der  Regierung  veröffentlichen 
darf  —  die  Preßfreiheit.  Es  ist  im  ganzen  genommen  richtig,  daß 
nirgend  eine  ausgedehntere  Preßfreiheit  herrscht  wie  in  England; 
und  doch  ist  diese  Freiheit  hier  noch  sehr  beschränkt.  Das  Libell- 
gesetz, das  Hochverratsgesetz  und  das  Blasphemiegesetz  lasten 
schwer  auf  der  Presse,  und  wenn  Preßverfolgungen  selten  sind,  so 
liegt  das  nicht  am  Gesetz,  sondern  an  der  Furcht  der  Regierung 
vor  der  unausbleiblichen  Unpopularität,  die  die  Folge  von  Schritten 
gegen  die  Presse  sein  würde.  Die  englischen  Zeitungen  aller  Par- 
teien begehen  täglich  Preßvergehen,  sowohl  gegen  die  Regierung 
wie  gegen  Einzelne,  aber  man  läßt  sie  alle  ruhig  passieren,  wartet, 
bis  man  imstande  ist,  einen  politischen  Prozeß  anzufangen,  und 
nimmt  dann  bei  der  Gelegenheit  die  Presse  mit.  So  ist's  mit  den  Char- 
tisten 1842,  so  neulich  mit  den  irischen  Repealern  gegangen.  Die 
englische  Preßfreiheit  lebt  seit  hundert  Jahren  ebensowohl  von  der 
Gnade,  wie  die  preußische  Preßfreiheit  von  1842  tat. 

Das  zweite  ,,angeborne  Recht"  (birthright)  des  Engländers 
ist  das  Recht  der  Volksversammlung,  ein  Recht,  das  bis  jetzt  kein 
anderes  Volk  in  Europa  genießt.  Das  Recht,  obwohl  uralt,  ist  später 
in  einem  Statut  als  ,,das  Recht  des  Volks,  sich  zu  versammeln,  um 
seine  Beschwerden  zu  diskutieren  und  die  Legislatur  um  Abhilfe 
derselben  zu  petitionieren",  ausgesprochen  worden.  Hierin  liegt 
schon  eine  Beschränkung.  Wenn  keine  Petition  das  Resultat  eines 
Meetings  ist,  so  bekommt  dies  dadurch  einen  wo  nicht  geradezu  unge- 
setzlichen, doch  sehr  zweideutigen  Charakter.  In  O'Connells  Pro- 
zeß wurde  es  von  der  Krone  besonders  hervorgehoben,  daß  die 
Meetings,  die  als  ungesetzlich  geschildert  wurden,  nicht  zur  Be- 
ratung von  Petitionen  berufen  waren.    Die  Hauptbeschränkung  ist 


Die  Lage  Englands.  295 

aber  die  polizeiliche ;  die  Zentral-  oder  Lokalregierung  kann  jedes 
Meeting  vorher  verbieten  oder  unterbrechen  und  auflösen,  und  dies 
hat  sie  nicht  nur  bei  Clontarf,  sondern  in  England  selbst  bei  char- 
tistischen und  sozialistischen  Meetings  oft  genug  getan.  Das  aber 
gilt  nicht  für  einen  Angriff  auf  die  angebornen  Rechte  der  Eng- 
länder, weil  die  Chartisten  und  Sozialisten  arme  Teufel  und  also 
rechtlos  sind ;  danach  kräht  kein  Hahn,  außer  dem  Northern  Star 
und  dem  New  Moral  World,  und  daher  erfährt  man  davon  auf  dem 
Kontinent  nichts. 

Ferner  das  Assoziationsrecht.  Alle  Assoziationen,  die  gesetz- 
liche Zwecke  mit  gesetzlichen  Mit:eln  verfolgen,  sind  erlaubt;  sie 
dürfen  aber  nur  jedesmal  eine  große  Gesellschaft  bilden  und  keine 
Zweigassoziation  einschließen.  Die  Bildung  von  Gesellschaften,  die 
sich  in  lokale  Zweige  mit  besonderer  Organisation  teilen,  ist  nur 
zu  wohltätigen,  überhaupt  pekuniären  Zwecken  erlaubt  und  darf 
nur  auf  ein  Zertifikat  eines  dazu  ernannten  Beamten  hin  begonnen 
werden.  Die  Sozialisten  verlangten  ein  solches  Zertifikat  für  ihre 
Assoziation,  indem  sie  einen  derartigen  Zweck  angaben;  den  Char- 
tisten wurde  es  verweigert,  obwohl  sie  die  Konstitution  der  sozia- 
listischen Gesellschaft  wörtlich  in  der  ihrigen  kopierten.  Sie  sind 
jetzt  gezwungen,  das  Gesetz  zu  umgehen,  und  dadurch  in  die  Lage 
versetzt,  daß  ein  einziger  Schreibfehler  eines  einzigen  Mitgliedes 
der  chartistischen  Assoziation  die  ganze  Gesellschaft  in  die  Fallstricke 
des  Gesetzes  verwickeln  kann.  Aber  auch  abgesehen  davon,  ist  das 
Assoziationsrecht  in  seiner  vollen  Ausdehnung  ein  Vorrecht  der 
Reichen;  zu  einer  Assoziation  gehört  vor  allem  Geld,  und  es  ist  der 
reichen  Korngesetz-Ligue  leichter.  Hunderttausende  aufzubringen, 
als  der  armen  chartistischen  Gesellschaft  oder  der  Union  britischer 
Bergleute,  die  bloßen  Kosten  der  Assoziation  zu  bestreiten.  Und 
eine  Assoziation,  die  keine  Fonds  zur  Verfügung  hat,  will  wenig 
bedeuten  und  kann  keine  Agitation  machen. 

Das  Recht  des  Habeas -Corpus,  d.  h.  das  Recht  jedes  Angeklagten 
(ausgenommen  ist  der  Fall  des  Hochverrats),  bis  zur  Eröffnung  des 
Prozesses  gegen  Kaution  freigelassen  zu  werden,  dies  vielgepriesene 
Recht  ist  wiederum  ein  Privilegium  der  Reichen.  Der  Arme  kann 
keine   Bürgschaft  stellen  und  muß  daher  ins  Gefängnis  wandern. 

Das  letzte  dieser  Rechte  des  Individuums  ist  das  Recht  eines 
jeden,  nur  von  seinesgleichen  geiichtet  zu  werden,  und  auch  dies 
ist  ein  Privilegium  der  Reichen.  Der  Arme  wird  nicht  von  seines- 
gleichen, er  wird  in  allen  Fällen  von  seinen  geborenen  Feinden  ge- 
richtet, denn  in  England  sind  die  Reichen  und  die  Armen  in  off- 
nem Krieg.  Die  Geschworenen  müssen  gewisse  Qualifikationen  be- 
sitzen, und  wie  diese  beschaffen  sind,  geht  daraus  hervor,  daß  die 


296         Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  Engleind.     1842 — 1844. 

Jiiryliste  von  Dublin,  einer  Stadt  von  250000  Einwohner,  nur  acht- 
hundert Qualifizierte  stark  ist.  In  den  letzten  Chartistenprozessen 
in  Lancaster,  Warwick  und  Staffort  wurden  die  Arbeiter  von  Grund- 
besitzern und  Pächtern,  die  meist  Tories  und  Fabrikanten  oder 
Kaufleuten,  die  meist  Whigs,  in  jedem  Falle  aber  die  Feinde  der 
Chartisten  und  der  Arbeiter  sind,  gerichtet.  Das  ist  aber  nicht  alles. 
Eine  sogenannte  ,, unparteiliche  Jury"  ist  überhaupt  ein  Unding. 
Als  O'Connell  vor  vier  Wochen  in  Dublin  gerichtet  wurde,  war 
jeder  Jurymann  als  Protestant  und  Tory  sein  Feind.  ., Seinesgleichen" 
wären  Katholiken  und  Repealer  gewesen  —  aber  selbst  diese  nicht, 
denn  sie  waren  seine  Freunde.  Ein  Katholik  in  dei  Jury  hätte  das 
Verdikt,  hä^te  jedes  Verdikt,  mit  Ausnahme  einer  Freisprechung, 
unmöglich  gemacht.  Hier  ist  der  Fall  eklatant;  aber  im  Grunde  ist 
es  in  jedem  beliebigen  Falle  dasselbe.  Das  Geschwornengericht  ist 
seinem  Wesen  nach  eine  politische  und  keine  juristische  Institution; 
aber  weil  alles  juristische  Wesen  ursprünglich  politischer  Natur  ist, 
komimt  in  ihr  das  wahre  Juristentum  zur  Erscheinung;  und  das 
englische  Geschworenengericht,  weil  das  ausgebildetste,  ist  die  Voll- 
endung der  juristischen  Lüge  und  Unsittlichkeit.  Man  fängt  an 
mit  der  Fiktion  des  ,, unparteilichen  Geschwornen";  man  schärft 
den  Geschwornen  ein,  alles  zu  vergessen,  was  sie  etwa  vor  der 
Untersuchung  in  Beziehung  auf  den  vorliegenden  Fall  gehört  haben, 
bloß  nach  dem  hier  im  Gerichtshof  vorgebrachten  Zeugnis  zu  ur- 
teilen —  als  ob  so  etwas  nur  möglich  wäre!  Man  macht  die  zweite 
Fiktion  des  ,, unparteilichen  Richters",  der  das  Gesetz  entwickeln 
und  die  von  beiden  Seiten  vorgebrachten  Gründe  ohne  Parteilich- 
keit, ganz  ,, objektiv"  zusammenstellen  soll  —  als  ob  das  möglich 
wäre!  Ja,  man  verlangt  von  dem  Richter,  daß  er  besonders  und 
trotz  alledem  keinen  Einfluß  auf  das  Urteil  der  Geschwornen  aus- 
üben, ihnen  das  Verdikt  nicht  unter  den  Fuß  geben  soll  —  d.  h.  er 
soll  die  Prämissen  so  legen,  wie  sie  gelegt  werden  müssen,  um  den 
Schluß  zu  ziehen ;  aber  er  soll  den  Schluß  selbst  nicht  ziehen,  er  darf 
ihn  selbst  für  sich  nicht  ziehen,  denn  das  würde  ja  auf  seine  Dar- 
legung der  Prämissen  einen  Einfluß  ausüben  —  alle  diese  und  hun- 
dert andere  Unmöglichkeiten,  Unmenschlichkeiten  und  Dumm- 
heiten verlangt  man,  bloß  um  die  ursprüngliche  Dummheit  und  Un- 
menschlichkeit anständig  zu  verdecken.  Aber  die  Praxis  läßt  sich 
nicht  irre  machen,  in  der  Praxis  kehrt  man  sich  an  all  das  Zeug  nicht, 
und  der  Richter  gibt  der  Jury  deutlich  genug  zu  verstehen,  was  für 
ein  Verdikt  sie  zu  bringen  hat,  und  die  gehorsame  Jury  bringt  das 
Verdikt  auch  regelmäßig  ein. 

Weiter !    Der  Angeklagte  muß  auf  alle  Weise  geschützt  werden, 
der   Angeklagte   ist,  wie    der    König,    heilig  und  unverletzlich  und 


Die  Lage  Englands.  297 

kann  kein  Unrecht  tun,  d.  h.  er  kann  garnichts  tun,  und  wenn 
er  was  tut,  so  hat's  keine  Gültigkeit.  Der  Angeklagte  mag  sein 
Verbrechen  eingestehen,  das  hilft  ihm  garnichts.  Das  Gesetz  be- 
schließt, daß  er  nicht  glaubwürdig  ist;  ich  glaube,  es  war  1819,  als 
ein  Mann  seine  Frau  des  Ehebruchs  bezüchtigte,  nachdem  sie  wäh- 
rend einer  Krankheit,  die  ihr  tödlich  erschien,  ihrem  Mann  den  be- 
gangenen Ehebruch  gestanden  hatte  —  aber  der  Verteidiger  der 
Frau  wandte  ein,  daß  das  Geständnis  der  Angeklagten  kein  Beweis- 
grund sei,  und  die  Klage  wurde  abgewiesen^).  Die  Heiligkeit  des 
Angeklagten  wird  dann  ferner  in  dem  juristischen  Formenwesen 
durchgeführt,  mit  dem  die  englische  Jury  bekleidet  ist,  und  die  den 
rabulistischen  Kniffen  der  Advokaten  ein  so  überaus  ergiebiges  Feld 
bietet.  Es  geht  ins  Unglaubliche,  was  für  lächerliche  Formfehler 
einen  ganzen  Prozeß  umwerfen  können.  1800  wurde  ein  Mann 
wegen  Fälschung  schuldig  befunden,  aber  freigelassen,  weil  sein 
Verteidiger  noch  vor  Urteilsfällung  entdeckte,  daß  in  der  falschen 
Banknote  der  Name  abgekürzt  Bartw,  dagegen  in  der  Anklageakte 
vollständig  Bartholomew  geschrieben  war.  Der  Richter,  wie  ge- 
sagt, nahm  die  Einwendung  für  genügend  an  und  ließ  den  Über- 
führten  frei  2). 

1827  wurde  in  Winchester  ein  Weib  des  Kindesmordes  ange- 
klagt, aber  freigesprochen,  weil  in  dem  Verdikt  der  Totenschau- 
Jury  diese  ,,auf  ihren  Eid"  (The  Jurors  of  our  Lord  the  King  upon 
their  oath  present  that,  etc.)  versicherte,  daß  dies  und  jenes  ge- 
schehen sei,  wo  doch  diese  aus  dreizehn  Männern  bestehende  Jury 
nicht  ejnen  Eid,  sondern  13  Eide  abgelegt  habe,  und  es  also  hätte 
heißen  müssen:  ,,upon  their  oaths"^).  Vor  einem  Jahr  wurde  in 
Liverpool  ein  Junge,  der  Jemandem  an  einem  Sonntagabend  das 
Schnupftuch  aus  der  Tasche  stahl,  auf  der  Tat  ertappt  und  verhaftet. 
Sein  Vater  wandte  ein,  der  Polizeidiener  habe  ihn  ungesetzlich  ver- 
haftet, weil  ein  Gesetz  vorschreibt,  daß  niemand  am  Sonntag  die- 
jenige Arbeit  tun  dürfe,  wodurch  er  sich  seinen  Unterhalt  erwerbe; 
die  Polizei  dürfe  also  niemanden  am  Sonntag  verhaften.  Der  Rich- 
der  war  damit  einverstanden,  examinierte  aber  den  Jungen  weiter, 
und  als  dieser  gestand,  er  sei  ein  Dieb  von  Profession,  wurde  er  um 
5  Schillinge  gestraft,  weil  er  am  Sonntage  seinem  Berufe  nach- 
gegangen sei.  Ich  könnte  diese  Beispiele  verhundertfachen,  aber 
sie  reden  für  sich  selbst  schon  genug.  Das  englische  Gesetz  heiligt 
den  Angeklagten  und  wendet  sich  gegen  die  Gesellschaft,  zu  deren 
Schutz  es  eigentlich  da  ist.     Wie  in  Sparta  wird  nicht  das  Ver- 

1)  Wade,  British  History,  London  1838. 

2)  Ebendaselbst. 

3)  Ebendaselbst. 


298        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842—1844. 

brechen,  sondern  die  Dummheit,  mit  der  es  begangen  wurde,  be- 
straft. Jeder  Schutz  wendet  sich  gegen  den,  den  er  schützen  will; 
das  Gesetz  will  die  Gesellschaft  schützen  und  verletzt  ihn  —  denn 
es  ist  klar,  daß  jeder  der  zu  arm  ist,  der  offiziellen  Rabulisterei 
einen  ebenso  rabulistischen  Verteidiger  entgegenzustellen,  alle  For- 
men gegen  sich  hat,  die  zu  seinem  Schutz  geschaffen  wurden.  Wer 
zu  arm  ist,  um  einen  Verteidiger  oder  eine  gehörige  Anzahl  Zeugen 
zu  stellen,  ist  in  jedem  irgend  zweifelhaften  Fall  verloren.  Er  be- 
kommt nur  die  Anklageakte  und  die  ursprünglich  vor  dem  Friedens- 
richter gemachten  Depositionen  vorher  zu  sehen,  weiß  also  nicht 
das  Detail  dessen,  was  gegen  ihn  vorgebracht  wird  (und  gerade  für 
den  Unschuldigen  ist  das  am  gefährlichsten) ;  er  muß  sogleich,  nach- 
dem die  Anklage  geschlossen  ist,  antworten,  darf  nur  einmal  sprechen, 
erledigt  er  nicht  alles,  fehlt  ein  Zeuge,  den  er  nicht  für  nötig  hielt, 
so  ist  er  verloren. 

Die  Vollendung  des  Ganzen  aber  ist  die  Bestimmung,  daß  die 
zwölf  Geschwornen  in  ihrem  Verdikt  einstimmig  sein  müssen. 

Sie  werden  in  einem  Zimmer  eingesperrt  und  nicht  eher  los- 
gelassen, als  bis  sie  einig  sind,  oder  der  Richter  einsieht,  daß  sie 
nicht  zur  Übereinstimmung  zu  bringen  sind.  Es  ist  aber  durchaus 
unmenschlich  und  geht  so  sehr  gegen  alle  menschliche  Natur  an, 
daß  es  lächerlich  wird,  von  zwölf  Menschen  zu  verlangen,  daß  sie 
über  einen  Punkt  ganz  derselben  Meinung  sein  sollen.  Aber  es  ist 
konsequent.  Das  Inquisitionsverfahren  foltert  den  Angeklagten, 
körperlich  oder  geistig ;  das  Geschwornengericht  erklärt  den  An- 
geklagten für  heilig  und  foltert  die  Zeugen  durch  ein  Kreuzverhör, 
das  dem  des  Inquisitionsgerichts  gar  nichts  nachgibt,  ja  es  foltert 
die  Geschwornen;  es  muß  ein  Verdikt  haben,  und  wenn  die  Welt 
darüber  zugrunde  gehen  sollte;  die  Jury  wird  mit  Gefängnis  be- 
straft, bis  sie  ein  Verdikt  gibt;  und  wenn  sie  wirklich  die  Caprice 
haben  sollte,  ihren  Eid  halten  zu  wollen,  so  wird  eine  neue  Jury 
ernannt,  der  Prozeß  noch  einmal  durchgemacht,  und  so  fort,  bis 
entweder  die  Ankläger  oder  die  Geschwornen  des  Kampfes  müde 
werden  und  sich  auf  Gnade  und  Ungnade  ergeben.  Beweis  genug, 
daß  das  ganze  Juristentum  nicht  ohne  Folter  bestehen  kann  und 
in  allen  Fällen  eine  Barbarei  ist.  Es  kann  aber  garnicht  anders  sein ; 
wenn  man  mathematische  Gewißheit  über  Dinge  haben  will,  die 
keine  solche  Gewißheit  zulassen,  so  muß  man  notwendig  in  Unsinn 
und  Barbarei  geraten.  Die  Praxis  bringt  wiederum  an  den  Tag, 
was  hinter  all  diesen  Dingen  steckt;  in  der  Praxis  macht  die  Jury 
sich's  leicht  und  bricht  ihren  Eid,  wie  das  nicht  anders  geht,  in  aller 
Seelenruhe.  1824  konnte  eine  Jury  in  Oxford  nicht  übereinkommen. 
Einer  behauptete:  schuldig,  elf:  nichtschuldig.    Endlich  wurde  ein 


Die  Lage  Englands.  299 

Vertrag  geschlossen;  der  eine  Dissentient  schrieb  aut  die  Anklage- 
akte: Schuldig,  und  zog  sich  zurück;  dann  kam  der  Vorsitzer  mit 
den  andern,  nahm  das  Papier  auf  und  schrieb  vor  das  Schuldig: 
Nicht  (Wade,  British  History).  Den  andern  Fall  erzählt  Fonblanque, 
Redakteur  des  ,,Examiner",  in  seinem  Werk:  England  under  seven 
Administrations.  Hier  konnte  eine  Jury  auch  nicht  fertig  werden 
und  zuletzt  wurde  zum  Lose  Zuflucht  genommen ;  man  nahm  zwei 
Strohhalme  und  zog;  welche  Partei  das  längste  zog,  deren  Meinung 
wurde  adoptiert. 

Da  wir  einmal  bei  den  juristischen  Institutionen  sind,  so  können 
wir,  um  den  Überblick  über  den  Rechtszustand  Englands  zu  ver- 
vollständigen, uns  die  Sache  noch  etwas  genauer  ansehen.  Der  eng- 
lische Strafcodex  ist  bekanntlich  der  strengste  in  Europa.  Noch 
1810  gab  er  an  Barbarei  der  Carolina  nichts  nach;  Verbrennen, 
Rädern,  Vierteilen,  Herausnehmen  der  Eingeweide  bei  lebendigem 
Leibe  usw.  waren  sehr  beliebte  Kategorien.  Seitdem  sind  zwar  die 
empörendsten  Scheußlichkeiten  abgeschafft,  aber  noch  immer  stehen 
eine  Menge  Roheiten  und  Infamien  unangetastet  auf  dem  Statuten- 
buch. Die  Todesstrafe  steht  auf  sieben  Verbrechen  (Mord,  Hoch- 
verrat, Notzucht,  Sodomie,  Einbruch,  Raub  mit  Gewalt  und  Brand- 
stiftung mit  der  Absicht  zu  morden),  und  auch  auf  diese  Zahl  ist 
die  früher  noch  viel  ausgedehntere  Todesstrafe  erst  1837  beschränkt 
worden ;  aber  außer  ihr  kennt  das  englische  Strafgesetz  noch  zwei 
ausgesucht  barbarische  Strafarten  —  Transportation,  oder  Vertie- 
rung durch  Gesellschaft,  und  einsame  Einsperrung,  oder  Vertierung 
durch  Einsamkeit.  Beide  könnten  nicht  grausamer  und  nieder- 
trächtiger ausgesucht  sein,  um  die  Opfer  des  Gesetzes  mit  systema- 
tischer Konsequenz  körperlich,  intellektuell  und  moralisch  zu  ver- 
derben, und  sie  unter  die  Bestie  herabzudrücken.  Der  transportierte 
Verbrecher  gerät  in  einen  solchen  Abgrund  von  Demoralisation, 
von  ekelhafter  Bestialität,  daß  die  beste  Natur  darin  in  sechs  Mo- 
naten unterliegen  muß ;  wer  Lust  hat,  die  Berichte  von  Augenzeugen 
über  Neu-Süd Wales  undNorfolk-Island  zu  lesen,  wird  mir  recht  geben, 
wenn  ich  behaupte,  daß  alles  oben  Gesagte  noch  lange  nicht  an  die 
Wirklichkeit  reicht.  Der  einsame  Eingekerkerte  wird  wahnsinnig 
gemacht ;  das  Mustergefängnis  in  London  hatte  nach  drei  Monaten 
seines  Bestehens  schon  drei  Wahnsinnige  an  Bedlam  abzugeben, 
von  dem  religiösen  Wahnsinn,  der  gewöhnlich  noch  für  Sinn  gilt, 
gar  nicht  zu  reden.  Die  Strafgesetze  gegen  politische  Verbrecher 
sind  fast  genau  in  denselben  Ausdrücken  abgefaßt  wie  die  preußi- 
schen; besonders  die  ,, Aufreizung  zur  Unzufriedenheit"  (exciting 
discontent)  und  ,, aufrührerische  Sprache"  (seditious  language)  kom- 
men in  derselben  unbestimmten  Fassung  vor,  die  dem  Richter  und 


300         Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842 — 1844. 

der  Jury  einen  so  weiten  Spielraum  lassen.  Die  Strafen  sind  hier 
auch  strenger  als  anderswo;  Transportation  ist  die  Hauptkategorie. 

Wenn  diese  strengen  Strafen  und  diese  unbestimmten  poli- 
tischen Verbrechen  in  der  Praxis  nicht  so  viel  auf  sich  haben,  als 
nach  dem  Gesetz  scheinen  sollte,  so  ist  dies  einerseits  der  Fehler 
des  Gesetzes  selbst,  das  in  einer  solchen  Verwirrung  und  Unklar- 
heit steckt,  daß  ein  geschickter  Advokat  überall  Schwierigkeiten  zu- 
gunsten des  Angeklagten  erheben  kann.  Das  englische  Gesetz  ist 
entweder  gemeines  Recht  (common  law),  d.h.  ungeschriebenes 
Recht,  wie  es  zu  der  Zeit  existierte,  von  welcher  man  anfing,  die 
Statute  zu  sammeln,  und  später  von  juristischen  Autoritäten  zu- 
sammengestellt wurde ;  dies  Recht  ist  natürlich  in  den  wichtigsten 
Punkten  ungewiß  und  zweifelhaft,  oder  Statutarrecht  (statute  law), 
das  in  einer  unendlichen  Reihe  einzelner,  seit  fünfhundert  Jahren 
gesammelter  Parlamentsakten  besteht,  die  sich  gegenseitig  wider- 
sprechen und  an  die  Stelle  eines  ,, Rechtszustandes**  einen  voll- 
kommen rechtlosen  Zustand  stellen.  Der  Advokat  ist  hier  alles ; 
wer  seine  Zeit  recht  gründlich  an  diesen  juristischen  Wirrwarr,  an 
dies  Chaos  von  Widersprüchen  verschwendet  hat,  ist  in  einem  eng- 
lischen Gerichtshofe  allmächtig.  Die  Unsicherheit  des  Gesetzes 
führte  natürlich  zum  Autoritätsglauben  an  die  Entscheidungen 
früherer  Richter  in  ähnlichen  Fällen,  und  hierdurch  wird  sie  nur 
schlimmer  gemacht,  denn  diese  Entscheidungen  widersprechen  sich 
ebenfalls,  und  das  Resultat  der  Untersuchung  hängt  wieder  von  der 
Belesenheit  und  Geistesgegenwart  des  Advokaten  ab.  Andererseits 
ist  die  Bedeutungslosigkeit  des  englischen  Strafgesetzes  aber  wieder- 
um bloß  Gnade  etc.,  Rücksicht  auf  die  öffentliche  Meinung,  die  zu 
nehmen  die  Regierung  durch  das  Gesetz  gar  nicht  gebunden  ist; 
und  daß  die  Legislatur  gar  nicht  gesonnen  ist,  dies  Verhältnis  zu 
ändern,  zeigt  die  heftige  Opposition  gegen  alle  Gesetzreformen. 
Aber  man  vergesse  nie,  daß  der  Besitz  herrscht  und  daß  daher  diese 
Gnade  nur  gegen  ,, respektable"  Verbrecher  ausgeübt  wird;  auf  den 
Armen,  den  Paria,  den  Proletarier  fällt  die  ganze  Wucht  der  gesetz- 
lichen Barbarei,  und  kein  Hahn  kräht  danach. 

Diese  Begünstigung  des  Reichen  ist  aber  auch  im  Gesetze  aus- 
drücklich ausgesprochen.  Während  alle  schweren  Verbrechen  mit 
den  schwersten  Strafen  belegt  sind,  stehen  Geldstrafen  auf  fast 
allen  unterdrückenderen ^)  Vergehen,  Geldstrafen,  die  natürlich  für 
Arme  und  Reiche  dieselben  sind,  aber  dem  Reichen  wenig  oder  nichts 
anhaben  können,  während  der  Arme  sie  in  neun  Fällen  aus  zehnen 
nicht  bezahlen  kann  und  dann  ohne  weiteres  in  ,, default  of  paye- 

')   sie! 


Die  Lage  Englands.  301 

ment"  ein  paar  Monate  auf  die  Tretmühle  geschickt  wird.  Man 
lese  nur  die  Polizeiberichte  im  ersten  besten  englischen  Tagblatte, 
um  sich  von  der  Wahrheit  dieser  Behauptung  zu  überzeugen.  Die 
Mißhandlung  der  Armen  und  die  Begünstigung  der  Reichen  in  allen 
Gerichtshöfen  ist  so  allgemein,  wird  so  offen,  so  unverschämt  be- 
trieben und  so  schamlos  von  den  Zeitungen  berichtet,  daß  man 
selten  eine  Zeitung  ohne  innere  Empörung  lesen  kann.  So  ein 
Reicher  wird  immer  mit  einer  ungemeinen  Höflichkeit  behandelt, 
und  so  brutal  sein  Vergehen  auch  gewesen  sein  mag,  so  ,,tut  es  den 
Richtern  doch  stets  sehr  leid",  daß  sie  ihn  in  eine  gewöhnlich  höchst 
lumpige  Geldstrafe  zu  verurteilen  haben.  Die  Verwaltung  des  Ge- 
setzes ist  in  dieser  Hinsicht  noch  viel  unmenschlicher  als  das  Ge- 
setz selbst;  ,,Law  grinds  the  poor,  and  rieh  men  rule  the  law"  und 
,,there  is  one  law  for  the  poor,  and  another  for  the  rieh"  sind  voll- 
kommen wahre  und  längst  sprichwörtlich  gewordene  Ausdrücke. 
Aber  wie  kann  das  anders  sein?  Die  Friedensrichter  wie  die  Ge- 
schwornen  sind  selbst  reich,  sind  aus  der  Mittelklasse  genommen  und 
daher  parteilich  für  ihresgleichen  und  geborene  Feinde  der  Armen. 
Und  wenn  der  soziale  Einfluß  des  Besitzes,  der  jetzt  nicht  erörtert 
werden  kann,  in  Betracht  genommen  wird,  so  kann  sich  wahrlich 
kein  Mensch  über  einen  so  barbarischen  Stand  der  Dinge  wundern. 

Von  der  direkt  sozialen  Gesetzgebung,  in  der  die  Niederträch- 
tigkeit kulminiert,  wird  später  die  Rede  sein.  An  dieser  Stelle  könnte 
sie  ohnehin   nicht    in    ihrer    vollen  Bedeutung   dargestellt   werden. 

Fassen  wir  das  Resultat  dieser  Kritik  des  englischen  Rechts- 
zustandes zusammen.  Was  vom  Standpunkte  des  ,, Rechtsstaates" 
aus  dagegen  gesagt  werden  kann,  ist  höchst  gleichgültig.  Daß  Eng- 
land keine  offizielle  Demokratie  ist,  kann  uns  nicht  gegen  seine 
Institutionen  einnehmen.  Für  uns  hat  nur  das  Eine  Wichtigkeit, 
das  sich  uns  überall  gezeigt  hat:  daß  Theorie  und  Praxis  im  schrei- 
endsten Widerspruch  stehen.  Alle  Mächte  der  Verfassung,  Krone, 
Oberhaus  und  Unterhaus,  haben  sich  vor  unsern  Augen  aufgelöst; 
wir  haben  gesehen,  daß  die  Staatskirchen  und  alle  sogenannten 
angeborenen  Rechte  der  Engländer  leere  Namen  sind,  daß  selbst 
das  Geschwornengericht  in  der  Wirklichkeit  nur  ein  Schein  ist ;  daß 
das  Gesetz  selbst  keine  Existenz  hat,  kurz  daß  ein  Staat,  der  sich 
auf  eine  genau  bestimmte,  gesetzliche  Basis  gestellt  hat,  diese  seine 
Basis  verleugnet  und  mißhandelt.  Der  Engländer  ist  nicht  frei 
durch  das  Gesetz,  sondern  trotz  dem  Gesetze,  wenn  er  überhaupt 
frei  sein  soll. 

Wir  haben  ferner  gesehen,  welch  ein  Wust  von  Lügen  und  Un- 
sittlichkeit  aus  diesem  Zustande  folgt;  man  fällt  vor  leeren  Namen 
nieder  und  verleugnet  die   Wirklichkeit,   man  will  von  ihr  nichts 


302        Aus  der  Zeit  des  ersten  Aufenthalts  in  England.     1842— 1844. 

wissen,  sträubt  sich  gegen  die  Anmerkung^)  dessen,  was  wirklich  exi- 
stieit,  was  man  selbst  geschaffen  hat;  man  belügt  sich  selbst  und 
führt  eine  konventionelle  Sprache  mit  künstlichen  Kategorien  ein, 
deren  jede  ein  Pasquill  auf  die  Wirklichkeit  ist,  und  klammert  sich 
ängstlich  an  diese  hohlen  Abstraktionen  an,  um  sich  nur  ja  nicht 
gestehen  zu  müssen,  daß  es  im  Leben,  in  der  Praxis  sich  um  ganz 
andre  Dinge  handelt.  Die  ganze  englische  Verfassung  und  die  ganze 
konstitutionelle  öffentliche  Meinung  ist  nichts  als  eine  große  Lüge, 
die  durch  eine  Anzahl  kleiner  Lügen  immer  wieder  unterstützt  und 
verdeckt  wird,  wenn  sie  hier  oder  da  in  ihrem  wahren  Wesen  etwas 
zu  offen  an  den  Tag  kommt.  Und  selbst  wenn  man  zur  Einsicht 
kommt,  daß  all  dies  Gemachte  eitel  Unwahrheit  und  Fiktion  ist,  selbst 
dann  hält  man  noch  fest  daran,  ja  fester  als  je,  damit  nur  ja  die 
leeren  Worte,  die  paar  sinnlos  zusammengestellten  Buchstaben 
nicht  auseinander  fallen,  denn  diese  Worte  sind  ja  eben  die  Angeln 
der  Welt,  und  mit  ihnen  müßte  die  Welt  und  die  Menschheit  in  die 
Nacht  der  Verwirrung  stürzen!  Man  kann  sich  von  diesem  Gewebe 
von  offener  und  versteckter  Lüge,  von  Heuchelei  und  Selbstbetrug 
nur  mit  einem  gründlichen  Ekel  abwenden. 

Kann  ein  solcher  Zustand  von  Dauer  sein  ?  Kein  Gedanke 
daran.  Der  Kampf  der  Praxis  gegen  die  Theorie,  der  Wirklichkeit 
gegen  die  Abstraktion,  des  Lebens  gegen  hohle  Worte  ohne  Be- 
deutung, mit  einem  Wort,  des  Menschen  gegen  die  Menschlichkeit 
muß  sich  entscheiden,  und  auf  welcher  Seite  der  Sieg  sein  wird, 
unterliegt  keiner  Frage. 

Der  Kampf  ist  bereits  da.  Die  Konstitution  ist  in  ihren  Grund- 
festen erschüttert.  Wie  die  nächste  Zukunft  sich  gestalten  wird, 
geht  aus  dem  Gesagten  hervor.  Die  neuen,  fremdartigen  Elemente 
in  der  Verfassung  sind  demokratischer  Natur ;  auch  die  öffentliche 
Meinung,  wie  sich  zeigen  wird,  entwickelt  sich  nach  der  demokra- 
tischen Seite  hin;  die  nächste  Zukunft  Englands  wird  die  Demo- 
kratie sein. 

Aber  was  für  eine  Demokratie!  Nicht  die  der  französischen 
Revolution,  deren  Gegensatz  die  Monarchie  und  der  Feudalismus 
war,  sondern  die  Demokratie,  deren  Gegensatz  die  Mittelklasse  und 
der  Besitz  ist.  Dies  zeigt  die  ganze  vorhergehende  Entwicklung. 
Die  Mittelklasse  und  der  Besitz  herrschen ;  der  Arme  ist  rechtlos, 
wird  gedrückt  und  geschunden,  die  Konstitution  verleugnet,  das 
Gesetz    mißhandelt    ihn;    der    Kampf   der    Mittelklasse    gegen    die 

1)  „Anmerkung"  ist  vermutlich  Druckfehler  für  „Anerkennung". 
Da  das  ursprüngliche  Wort  aber  nicht  völlig  sinnwidrig  ist,  wurde  es  im 
Text  stehen  gelassen. 


Die  Lage  Englands.  303 

Aristokratie  in  England  ist  der  Kampf  der  Armen  gegen  die  Reichen. 
Die  Demokratie,  der  England  entgegen  geht,  ist  eine  soziale  De- 
mokratie. 

Aber  die  bloße  Demokratie  ist  nicht  fähig,  soziale  Übel  zu  heilen. 
Die  demokratische  Gleichheit  ist  eine  Chimäre,  der  Kampf  der  Ar- 
men gegen  die  Reichen  kann  nicht  auf  dem  Boden  der  Demokratie 
oder  der  Politik  überhaupt  ausgekämpft  werden.  Auch  diese  Stufe 
ist  also  nur  ein  Übergang,  das  letzte  rein  politische  Mittel,  das  noch 
zu  versuchen  ist,  und  aus  dem  sich  sogleich  ein  neues  Element,  ein 
über  alles  politische  Wesen  hinausgehendes  Prinzip  entwickeln  muß. 

Dies  Prinzip  ist  das  des  Sozialismus. 


Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

I.  Einführung. 

Für  den  Gang  von  Engels  Leben  und  für  die  Entwicklung  seiner  Ge- 
dankenwelt verweise  ich  den  Leser  auf  das  Werk  Friedrich  Engels,  eine 
Biographie,  Band  I,  das  kürzlich  in  dem  gleichen  Verlage  erschien.  Dort 
wird  des  längeren  geschildert,  wie  Engels  in  einer  Umgebung  aufwuchs,  die 
dam  kirchlich-orthodoxen  und  politisch-konservativen  Geist  entsprach,  der 
das  Wuppertal  damals  auszeichnete.  Als  die  früheste  Niederschrift,  die  sich 
von  seiner  Hand  erhalten  zu  haben  scheint,  sei  hier  ein  Gedicht  wiedergegeben, 
das  der  Dreizehnjährige  seinem  Großvater  mütterlicherseits,  dem  Rektor  van 
Haar  in  Hamm,  zu  Neujahr  1834  sandte. 

Barmen,  20.  Dezember  1833. 
O  du  lieber  Großvater,  der  immer  uns  gütig  begegnet, 
Der  du  noch  immer  uns  halfst,  wenns  mit  den  Arbeiten  gehapert! 
Der  so  schöne  Geschichten  mir,  wenn  du  hier  warst,  erzähltest, 
Von  Cercyon  und  Theseus,  vom  hundertäugigen  Argus; 
Vom  Minoetur,  Ariadne,  von  dem  ertrunknen  Ägaeus; 
Von  dem  goldenen  Vließ,  von  den  Argonauten  und  Jason, 
Von  dem  starken  Herkul,  von  dem  Danaus  und  Kadmos. 
Und  —  ich  weiß  es  nicht  mehr,  was  du  sonst  mir  erzählet; 
Nun,  so  wünsche  ich  dir,  Großvater,  ein  glückliches  Neujahr, 
Dir  ein  Leben  noch  lang,  viel  Freud  und  wenige  Trübsal, 
Alles  Gute,  was  nur  dem  Menschen  kann  je  widerfahren, 
Alles  das  wird  dir  gewünscht  von  deinem  dich 

liebenden  Enkel 

Friedrich  Engels. 

Auch  das  Manuskript  einer  Seeräubernovelle,  die  im  Jahre  1820  in  den 
griechischen  Gewässern  spielt  und  die,  der  Handschrift  nach,  während  der 
Schulzeit  entstanden  ist,  lag  mir  vor.  Ihr  Held  ist  ein  Griechenjunge,  dem  die 
Türken  alle  Angehörigen  erschlagen  haben  und  der  sich  nun  als  Korsar  an 
ihnen  rächt.  Für  einen  Abdruck,  der  sich  auch  nicht  genügend  gelohnt  haben 
würde,  war  sie  zu  umfangreich.  Hauptsächlich  das  liebevolle  Verweilen 
bei  der  Beschreibung  von  allerhand  Waffen  deutet  auf  Interessen,  die  sich 
späterhin  bei  dem  Verfasser  entwickelt  haben.  Aus  dem  Jahre  1835  hat  sich 
dann  noch  ein  Schulheft  erhalten,  in  dem  Engels  die  Vorträge  seines  Ge- 
schichtslehrers  Dr.  Clausen  über  alte  Geschichte  ,,von  Erschaffung  der  Welt 
bis  auf  den  Peloponnesischen  Krieg  4000 — 401"  sehr  fleißig  ausgearbeitet  und 
geschickt  mit  Plänen  und  Zeichnungen  versehen  hat.  Da  finden  wir  fein 
koloriert  die  Umgebungen  von  Karthago,  Jerusalem,  Delphi,  die  Thermopylen 
und  den  Meerbusen  von  Saron.    Da  zeigen  sich  uns  säuberlich  mit  Tinte  ge- 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  305 

zeichnet  die  Pyramiden,  die  „colossale  Sphynx  bei  Cairo",  das  Löwentor  in 
Mycene,  da  stehen  am  Rand  Skizzen  babylonischer  Krieger,  indischer  und  grie- 
chischer Säulenschäfte  und  parsischer  Feueraltäre.  — 

In  einem  Band,  der  das  erste  Regen  der  geistigen  Schwingen  bei  Friedrich 
Engels  aus  der  Vergessenheit  erwecken  soll,  verdient,  weil  es  auf  eine  Weise 
abgefaßt  ist,  die  überdurchschnittliches  Verständnis  verrät,  das  Abgangs- 
zeugnis einen  Platz,  das  der  Siebzehnjährige  erhielt,  als  er  zum  Herbst  1837 
aus  der  Prima  des  Elberfelder  Gymnasiums  schied,  um  sich  kaufmännischer 
Tätigkeit  zu  widmen.  Die  Abschrift  nach  der  es  hier  wiedergegeben 
wird,  erhielt  ich  1913  durch  die  Freundlichkeit  von  Herrn  Oberlehrer 
Dr.  Eggers  in  Elberfeld.  Das  intime  Verständnis  für  den  Zögling,  das  sich 
hier  kundgibt,  schreibt  sich  daher,  daß  Friedrich  Engels  wegen  des  weiten 
Schulwegs  bei  dem  unterzeichneten  Direktor  als  Pensionär  wohnte. 

Abgangszeugnis  für  den  Primaner  Friedrich  Engels,  ge- 
boren den  28.  November  1820  zu  Unter  barmen,  evangelischer  Konfession, 
seit  Herbst  (d.  20.  Oktober)  1834  Schüler  des  Gymnasiums  zu  Elberfeld,  und 
zwar  seit  Herbst  (17.  Oktober)  1836  Mitglied  der  Prima  desselben,  hat  sich 
vorzugsweise  während  seines  Aufenthaltes  in  Prima  eines  recht  gut 
Betragens  befleißigt,  namentlich  durch  Bescheidenheit,  Offenheit  und  Ge- 
mütliches') seinen  Lehrern  sich  empfohlen,  ingleichen  von  guten  Anlagen 
unterstützt  ein  reichliches  Streben,  sich  eine  möglichst  umfassende  wissen- 
schaftliche Bildung  anzueignen,  an  den  Tag  gelegt,  weshalb  dann  auch  die 
Fortschritte  auf  erfreuliche  Weise  hervortraten,  wie  solches  die  nach- 
folgende besondere  Zusammenstellung  der  einzelnen  Lehrfächer  bestimmter 
ausweist. 

I.  Sprachen. 

1.  Lateinisch.  Das  Verständnis  der  betreffenden  Schriftsteller  pro- 
saischer wie  poetischer  Diktion,  namentlich  des  Livius  und  Cicero,  des  Vir- 
gilius  und  Horatius,  wird  ihm  nicht  schwer,  so  daß  er  mit  Leichtigkeit  in  den 
Zusammenhang  größerer  Ganze  einzugehen,  den  Gedankengang  mit  Klar- 
heit aufzufassen  und  mit  Gewandheit  das  Vorliegende  in  die  Muttersprache 
überzutragen  versteht.  Weniger  ist  es  ihm  gelungen,  des  grammatischen 
Teiles  sich  mit  durchgreifender  Sicherheit  zu  bemächtigen,  so  daß  die  schrift- 
lichen Arbeiten,  obwohl  nicht  ohne  sichtbares  Fortschreiten  zum  Besseren, 
doch  in  grammatisch-stilistischer  Beziehung  noch  manches  zu  wünschen 
übrig  ließen. 

2.  Griechisch.  Er  hat  sich  eine  genügende  Kenntnis  der  Formenlehre 
und  der  syntaktischen  Regeln,  insbesondere  aber  eine  gute  Fertigkeit  und 
Gewandheit  im  Übersetzen  der  leichteren  griechischen  Prosaiker  sowie  des 
Homer  und  Euripides  erworben,  und  wußte  den  Gedankengang  in  einem 
platonischen   Dialoge  mit  Geschick  aufzufassen  und  wiederzugeben. 

3.  Deutsch.  Die  schriftlichen  Aufsätze  zeigten  besonders  in  dem 
letzten  Jahre  ein  erfreuliches  Fortschreiten  der  allgemeinen  Entwicklung;  sie 
enthielten  gute,  selbständige  Gedanken  und  waren  meist  richtig  disponiert; 
die  Ausführung  hatte  die  gehörige  Fülle  und  der  Ausdruck  näherte  sich  sicht- 


^)  Ursprünglich  hieß  es  im  Originaltext  ,, durch  Bescheidenheit  und 
Offenheit  des  Gemütes".  Aber  ,,und"  und  ,,des  Gemütes"  sind  in  dem  Zeug- 
nisbuch des  Elberfelder  Gymnasiums  durchgestrichen  und  durch  ein  Wort 
ersetzt,  das  der  Abschreiber  als  ,, Gemütliches"  oder  ,, Gemütlichkeit"  ent- 
ziffert hat. 

Mayer,  Engels.     Ergänzungsband.  20 


3o6  Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

bar  der  Korrektheit.  Für  die  Geschichte  der  deutschen  National- 
literatur und  die  Lektüre  der  deutschen  Klassiker  legte  E.  ein  rühmliches 
Interesse  an  den  Tag. 

4.  Französisch.  Die  französischen  Klassiker  übersetzte  er  mit  Ge- 
wandheit.    In  der  Grammatik  besitzt  er  gute  Kenntnisse. 

II.  Wissenschaften. 

1.  Religion.  Die  Grundlehren  der  evangelischen  Kirche,  desgleichen 
die  Hauptmomente  der  christlichen  Kirchengeschichte  sind  ihm  wohlbekannt. 
Auch  ist  er  in  der  Lektüre  des  Neuen  Testaments  nicht  unerfahren. 

2.  In  der  Geschichte  und  Geographie  besitzt  derselbe  eine  ge- 
nügend übersichtliche  Kenntnis. 

3.  In  der  Mathematik  hat  E.  im  ganzen  erfreuliche  Kenntnisse  er- 
langt; er  zeigte  überhaupt  eine  gute  Auffassungsgabe  und  wußte  sich  mit 
Klarheit  und  Bestimmtheit  mitzuteilen.    Dasselbe  gilt 

4.  von  seinen  Kenntnissen  in  der  Physik. 

5.  Philosophische  Propädeutik.  An  den  Vorträgen  über  empi- 
rische Psychologie  nahm  E.  mit  Interesse  und  Erfolg  teil. 

Der  Unterzeichnete  entläßt  den  lieben  Schüler,  der  ihm  infolge  häus- 
licher Beziehungen  insbesondere  nahegestellt  und  in  dieser  Stellung  durch 
religiösen  Sinn,  durch  Reinheit  des  Gemütes,  gefällige  Sitte  und  andere  an- 
sprechende Eigenschaften  sich  zu  empfehlen  bemüht  "war,  bei  seinem  am 
Schlüsse  des  Schuljahres  (den  15.  Sept.  d.  J.)  erfolgten  Übergange  in  das 
Geschäftsleben,  das  er  statt  des  früher  beabsichtigten  Studiums  als  seinen 
äußeren  Lebensberuf  zu  wählen  sich  veranlaßt  sah,  mit  seinen  besten  Segens- 
wünschen.   Der  Herr  segne  und  geleite  ihn. 

Elberfeld,  den  25.  September  1837. 

Dr.  J.  C.  L.  Hantschke  (Prof.  u.  provisor.  Direktor). 

Nachdem  sich  Engels  in  den  nächsten  Monaten  mit  den  ersten  kauf- 
männischen Anfangsgründen  in  dem  väterlichen  Geschäft  bekannt  gemacht 
zu  haben  scheint,  kam  er  1838  in  die  Großhandlung  des  Konsul  Heinrich  Leu- 
pold  in  Bremen  (gestorben  1865)  und  in  Pension  bei  dem  Pastor  Treviranus 
von  der  Martinikirche,  in  deren  Häusern  ein  ähnlicher  Geist  herrschte  wie  in 
seinem  väterlichen. 

2.  Die    Bremer  Zeit.    1838— 1841. 

Die  Originale  der  Briefe  an  die  Brüder  Friedrich  und  Wilhelm  Graeber 
gehören  dem  Engelsschen  Familienarchiv  in  Engelskirchen  in  der  Rhein- 
provinz. Über  die  beiden  Adressaten  ließ  sich  im  wesentlichen  nur  in  Er- 
fahrung bringen,  daß  sie  später  Pastoren  wurden,  Wilhelm  wirkte  zuletzt  in 
Essen,  wo  er  1893  seine  Abschiedspredigt  hielt.  Die  Brüder  waren  Söhne  des 
Pastor  F.  F.  Gräber  in  Gemarke,  über  den  Friedrich  Wilhelm  Krummacher 
in  seinen  Lebenserinnerungen  urteilt,  daß  er  mehr  Dialektiker  als  Phantasie- 
mensch gewesen  wäre.  In  den  Briefen  ist  jedoch  auch  die  Rede  von  dem 
lebhaften  Briefwechsel  Engels  mit  anderen  Jugendfreunden,  deren  Namen 
dort  häufig  auftauchen.  Leider  hat  sich  aber  davon  nichts  mehr  auffinden 
lassen,  obgleich  Herr  Emil  Engels  in  Engelskirchen,  der  Großneffe  Friedrich 
Engels,  auf  meine  Anregung  mit  der  größten  Sorgfalt  allen  Spuren,  die  sich 
darboten,  nachgegangen  ist.  Es  besteht  keine  Hoffnung,  daß  Engels  Briefe 
an  Wilhelm  Blank,  Peter  Jonghaus,  Heuser,  F.  Plümacher,  Wurm  u.  a.  noch 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  307 

aus  der  Vergessenheit  auftauchen  könnten.  Auch  die  an  ihn  gerichteten 
Briefe  aller  dieser  Wuppertaler  Schulfreunde,  mit  denen  ihn  das  Leben,  von 
Wilhelm  Blank  abgesehen,  bald  auseinandergeführt  hat,  sind  verloren.  Von 
den  hübschen  Zeichnungen,  die  Engels  mit  leichter  und  freigebiger  Hand 
in  die  Briefe  an  die  Brüder  Graeber  hineinsetzte,  sind  die  für  eine  Repro- 
duktion geeignetsten  dem  Text  beigefügt  \worden.  Es  ist  wohl  das  erste 
Mal,  daß  die  Öffentlichkeit  von  dieser  hübschen  Beigabe  des  Engelsschen 
Talents  eine  Anschauung  erhält. 

S.  3.  Die  ersten  Briefe  an  die  Brüder  Graeber  vom  September 
1838  bis  Februar  1839  zeigen  Engels  noch  erfüllt  mit  Reminiszenzen  an  die 
Bierromantik,  die  sich  besonders  in  Provinzstädten  bei  den  Schülern  der 
oberen  Klassen  der  Gymnasien  im  vorigen  Jahrhundert  breit  machte  und 
auch  zu  Anfang  dieses  noch  nicht  ganz  abgestorben  "war.  Im  Vordergrund 
des  geistigen  Interesses  des  Jünglings  stehen  hier  besonders  Fragen  der 
Literatur  und  eigene,  ziemlich  bescheidene,  produktive  Bestrebungen, 

Jakob  Grimm  gehörte  bekanntlich  zu  den  sieben  Göttinger  Professoren, 
die  wegen  ihres  Protestes  gegen  den  Verfassungsbruch  des  Hannoverschen 
Königs  ihre  Stellung  verloren.  Seine  Verteidigungsschrift,  von  der  Engels 
hier  spricht:  Über  meine  Entlassung  ist  1838  in  Basel  erschienen.  Die 
Spur  der  spanischen  Romanze,  von  der  in  dem  Brief  vom  17.  bis  18.  Sep- 
tember gesprochen  wird,  vermochte  ich  nicht  aufzufinden.  Das  Gedicht 
Florida  kann  nicht  gemeint  sein,  Str.  ist  vielleicht  Strücker,  von  dem  noch 
in  dem  Briefwechsel  mit  Marx  die  Rede  ist.  Die  Reise,  die  Engels  für  den 
Herbst  1838  plante,  hat  er  auch  ausgeführt.  Wohin  sie  gegangen  ist,  ließ  sich 
nicht  mehr  mit  Sicherheit  feststellen.  Nicht  ur möglich  wäre,  daß  es  jene  ge- 
wesen ist,  die  ihm  hernach  zu  dem  hübschen  Essay  Landschaften  den  Stoff 
lieferte.  Der  Maler,  von  dem  in  dem  ersten  Briefe  erzählt  wird,  hieß  G.W. 
Feistkorn,  wie  wir  aus  einem  ungedruckten  Brief  an  Schwester  Marie  von 
Weihnachten  1838  erfahren.  Mit  Knapp  ist  hier  und  später  der  Dichter  geist- 
licher Lieder  Albert  Knapp  gemeint.  Im  Telegraph  von  1839  habe  ich  ver- 
gebens nach  der  abfälligen  Beurteilung  der  Gedichte  des  Missionars  Winkler 
gesucht. 

S.  20.  Die  Briefe  aus  dem  Wuppertal,  die  im  März  und  April  1839 
m  dem  von  Gutzkow  herausgegebenen  Telegraph  für  Deutschland  erschienen, 
waren  die  erste  Kampfansage  des  erwachenden  Revolutionärs  an  die  beiden 
sozialen  Mächte,  die  in  seiner  Jugendzeit  sein  Heimattal  beherrschten. 
Zum  ersten  Mal  bäumt  er  sich  hier  öffentlich  gegen  die  Unduldsamkeit  des 
Pietismus  auf,  bereits  aber  auch  gegen  die  Auswüchse  des  Kapitalismus. 
Das  starke  Aufsehen,  das  seine  schonungslose  Kritik  in  den  an  eine  so  respekt- 
lose Sprache  nicht  gewöhnten  Wupperstädten  hervorrief,  bezeugt  ein  Brief 
seines  Freundes  Wilhelm  Blank  (1821  bis  1892)  an  Wilhelm  Graeber.  ,,Man 
ist  hier  ganz  wütend  darüber",  berichtet  Blank  diesem  am  24.  Mai  1839,  ,,und 
alle  Exemplare,  die  sich  hier  fanden,  waren  im  Augenblick  vergriffen.  Merk- 
würdig ist  es,  wie  man  sich  hier  abplagt,  den  Verfasser  zu  finden,  der  Eine  sagt, 
es  ist  Freiligrath,  der  Andere  —  Clausen,  der  Dritte  Holzapfel  und  so  fort,  den 
rechten  raten  sie  aber  nicht,  es  ist  auch  gut,  denn  sie  würden  den  Fr.  Engels, 
wenn  sie  wüßten,  daß  er  es  wäre,  bei  seiner  Rückkehr  entsetzlich  vornehmen. 
Übrigens  hat  der  erste  Lärm  deshalb  schon  ziemlich  abgenommen  und  die- 
jenigen, gegen  welche  der  Angriff  gerichtet,  halten  sich  darüber  erhaben  und 
so  ist  die  Wirkung,  die  er  haben  sollte,  meist  verloren  gegangen."  Der  Tele- 
graph sah  sich  im  Mai  genötigt,  ,, Einige  Berichtigungen  der  Briefe  aus  dem 
Wupperthale"  aufzunehmen,  die  mit  drei  Sternen  gezeichnet  waren.    Darin 


3o8  Erläuterungen  und  Anmerkungen, 

hieß  es  u.  a.,  daß  es  schwerlich  die  der  pietistischen  Partei  zugehörerden  Kauf- 
leute seien,  die  den  Arbeitslohn  ihrer  Weber  verkürzten,  daß  es  mit  der  Sitten- 
losigkeit  auch  nicht  so  arg  wäre,  daß  die  Angaben  über  die  Bildung  der  jungen 
Kaufleute  nicht  der  Wahrheit  entsprächen,  daß  die  Charakteristiken  der  Gym- 
nasiallehrer einseitig  und  schief  seien,  daß  der  Verfasser  von  Musik  nichts  zu 
verstehen  schiene  usw.  Freiligrath  war  bekanntlich  vcm  Mai  1837  bis  August 
1839  Angestellter  in  dem  Barmer  Grcßhandlungshause  I.  P,  von  Eynern  u. 
Söhne,  Seine  Freundschaft  mit  dem  Realschullehrer  Heinrich  Köster,  der  1838 
von  Barmen  an  eine  Töchterschule  in  Düsseldorf  überging,  ist  bekannt.  Das 
Nösseltsche  Anekdotensystem  stammt  von  dem  Gymnasialprofessor  Friedrich 
August  Nösselt,  der  für  Schule  und  Haus  die  biblische  Geschichte,  die  Welt- 
geschichte und  die  Literaturgeschichte  in  zahlreichen  populären  Darstellungen 
behandelt  hat.  Das  Buch  von  J.  J.  Ewich  heißt  mit  genauem  Titel:  Human, 
der  Lehrer  einer  Volksschule,  sein  Wesen  und  Wirken.  Wesel  1829.  Auf  die 
in  jeder  Literaturgeschichte  zu  findenden  Namen  wird  hier  nicht  weiter  ein- 
gegangen. Tromlitz  (1772 — 1839)  war  das  Pseudonym  des  Freiherrn  Karl 
August  von  Witzleben,  der  besonders  historische  Romane  und  Novellen  in  der 
Art  Walter  Scotts  verfaßt  hat.  Hermann  Püttmann,  der  Wuppertaler  Jour- 
nalist und  soziale  Dichter,  ist  späterhin  mit  Engels  in  mannigfacher  Be- 
rührung gewesen.  Er  war  der  Herausgeber  des  Deutschen  Bürgerbuchs  und 
der  Rheinischen  Jahrbücher  zur  gesellschaftlichen  Reform,  an  denen  Engels 
mitgearbeitet  hat.  Jan  Pol  war  Pastor  zu  Heedfeld.  Seine  Gedichte  sind  1837 
erschienen.  Mit  dem  „Denunzianten"  auf  Seite  33  ist  gemeint  die  Schrift: 
Über  den  Denunzianten.  Eine  Vorrede  zum  dritten  Teil  des  Salons  von 
H.  Heine,  Hamburg  1837  bei  Hoff  mann  und  Camoe.  In  dem  gleichen  Ver- 
lage erschien  auch  der  erste  und,  soviel  ich  weiß,  einzige  Jahrgang  des  Jahr- 
buchs der  Literatur,  in  dem  Dingelstedt  über  Freiligrath  schrieb  und  Heine 
zum  ersten  Mal  den  Schwabenspiegel  veröffentlichte.  Der  ,, große"  D.  auf 
Seite  37,  den  Engels  nicht  zu  nennen  ,,wagt",  hieß  Dürfholt,  wie  wir  aus  dem 
Briefe  an  Friedrich  Graeber  vom  27.  April  1839  ersehen.  Teil  HI  der  Briefe 
aus  dem  Wuppertal  erschien  im  Telegraph  erst  im  November  mit  der  beson- 
deren Überschrift:  Aus  Elberfeld,  Dies  ist  der  Beitrag,  der  ,,S,  Owald"  unter- 
zeichnet ist.  Eine  Anmerkung  bestätigt  dott  ausdrücklich,  daß  auch  dieser 
von  dem  ,, Verfasser  der  Briefe  aus  dem  Wupperthal"  stammt. 

S.  39.  Die  Briefe  an  die  Brüder  Graeber  vom  April  bis  De- 
zember 1839  haben  zum  wichtigsten  Inhalt  den  religiösen  Freiheitskampf 
des  jungen  Engels.  Auch  von  seinen  dichterischen  Plänen  und  von  seinen 
literarischen  Interessen  ist  noch  vielfach  die  Rede. 

Über  Theodor  Hell,  der  von  1817 — 1853  in  Dresden  die  Abendzeitung 
herausgab  und  eigentlich  Karl  Gotthelf  Theodor  Winkler  hieß,  hat  Karl  Marx 
in  der  Rheinischen  Zeitung  sich  in  einer  Weise  ausgesprochen,  die  mit  Engels 
Urteil  über  ihn  ganz  übereinstimmt.  Marx  nennt  diesen  ,,Krähwinkler",  der 
sich  humoristischer  Weise  Hell  benamse,  obgleich  man  ihm  nicht  einmal  die 
Helligkeit  der  Sümpfe  um  Mitternacht  nachrühmen  dürfe,  den  Prototyp  der 
deutschen  Literatur  in  ihrer  „Abendblattzeit",  der  traurigen  Zeit  der  strikten 
Zensurobservanz  von  1819  bis  1830,  Diese  ,, Fastenzeit",  fügt  Marx  dort  hinzu, 
werde  die  Nachwelt  überzeugen,  ,,daß  wenn  Heilige  vierzehn  Tage  ohne 
Speise  ausharren  konnten,  ganz  Deutschland,  welches  nicht  einmal  heilig  war, 
über  zwanzig  Jahre  ohne  geistige  Konsumtion  und  Produktion  zu  leben  ver- 
stand," —  Dem  , .Jungen  Deutschland"  widmete  Wienbarg  nicht  1835,  wie 
Engels  annimmt,  sondern  schon  1834  seine  bei  Hoffmann  und  Campe  er- 
schienenen  Ästhetischen    Feldzüge.     Gutzkows    Aufsatz   im   Jahrbuch   für 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  309 

Literatur,  von  dem  Engels  Seite  41  spricht,  war  Über  Vergangenheit  und 
Gegenwart  1830  bis  1838.  Von  den  auf  Seite  41  erwähnten  Schriftstellern 
und  Dichtern  kennt  man  heute  nur  noch  wenig  den  Böhmen  Karl  Egon  Ebert, 
der  gleich  L.  August  Frankl  wesentlich  in  Uhlands  Bahnen  wandelte,  gar 
nicht  mehr  C.  Morvell,  der  eigentlich  C.  F.  Vollmer  hieß  und  unter  dem 
Namen  W.  F.  A.  Zimmermann  auch  naturwissenschaftliche  Schriften  ver- 
öffentlichte, und  Karl  von  Wachsmann,  der  mit  Vorliebe  Räuberromane  an- 
fertigte. Aber  auch  Robert  Heller,  nach  einander  Redakteur  der  Rosen  und 
der  Illustrierten  Jugendzeitung,  1849  bei  der  Gervinusschen  Deutschen  Zeitung 
und  später  noch  bei  den  Hamburger  Nachrichten,  einer  der  beliebtesten  Unter- 
haltungsschriftsteller seiner  Zeit,  der  zahlreiche  Romane  und  Novellen, 
auch  einen  Florian  Geyer  geschrieben  hat,  gehört  heute  den  Toten  an.  So 
wenig  wie  an  ihn  denkt  man  noch  an  den  Böhmen  Karl  Georg  Reginald 
Herloßsohn  (1804 — 1849),  den  Dichter  des  Liedes:  „Wenn  die  Schwalben 
heimwärts  ziehn",  der  eigentlich  Herloß  hieß  und  dessen  historische  Romane, 
deren  er  einige  unter  dem  Namen  Edmund  Foerstermann  und  Heinrich 
Clauren  veröffentlichte  ,  in  den  dreißiger  Jahren  einen  großen  wenn  auch 
nicht  gewählten  Leserkreis  hatten.  Man  verwechsle  jedoch  nicht  diesen 
Clauren  mit  jenem  anderen,  der  eigentlich  K.  G.  S.  Heun  hieß  und  dessen 
Mimili  Wilhelm  Hauff  im  Mann  im  Monde  parodiert.  Die  Lyriker  Ignaz 
Hub  und  August  Schnetzler  gaben,  anfänglich  gemeinsam  mit  Freiligrath, 
das  Rheinische  Odeon  heraus,  einen  Almanach,  zu  dem  auch  Hebbel,  Grabbe, 
Rückert,  Simrock  Gedichte  beisteuerten.  Literaturkomödien  von  der  Art, 
wie  sie  das  Siegfriedfragment  nachahmt,  waren,  seitdem  Platen  in  die  Spuren 
des  Aristophanes  getreten  war,  in  Schwung  gekommen.  Friedrich  Storck 
war  ein  wupperdeutscher  Lokaldichter,  der  auch  noch  später  unter  dem 
Pseudonym  Höarmeckan  allerhand  Dichtungen  veröffentlicht  hat.  Wer  in 
der  Abendzeitung  unter  dem  Pseudonym  Thuringus,  Faber,  von  Großkreuz 
schrieb,  ließ  sich  nicht  feststellen  und  hat  auch  keine  Bedeutung.  Für  Hein- 
rich Leos,  des  ,, Hallischen  Löwen",  Feldzug  gegen  die  ,, Hegelingen"  sei 
hier  bloß  auf  Band  I  der  Engelsbiographie  verwiesen.  Die  Junghegelianer 
wehrten  sich  ihrer  Haut  energisch,  besonders  in  den  Hallischen  Jahr- 
büchern. Noch  vor  Leo  hatte  K.  E,  S.  Schubarth  (1796 — 1861)  auf  den  revo- 
lutionären Keim,  der  in  der  Hegeischen  Lehre  lag,  hingewiesen.  Gegen  seine 
Schrift  Über  die  Unvereinbarkeit  der  Hegeischen  Staatslehre  mit  dem  obersten 
Lebens-  und  Entwicklungsprinzip  des  preußischen  Staats,  Breslau  1839  wandte 
sich  Karl  Friedrich  Koppen  im  Telegraph  vom  April  1839.  Dr.  Martin  Runkel 
war  der  Chefredakteur  der  Elberfelder  Zeitung,  der  auch  in  Almanachen  Ge- 
dichte veröffentlichte.  Der  Deutsche  Musenalmanach  für  1840,  herausgegeben 
von  Theodor  Echter  meyer  und  Arnold  Rüge,  enthielt  keinen  Beitrag  von  Engels. 
Das  Athenaeum  erschien  unter  Redaktion  von  Dr.  Karl  Riedel,  vormals  evan- 
gelischer Pfarrer  zu  Weißenstedt  in  Bayern  (geb.  1804),  ursprünglich  in  Nürn- 
berg und  wurde  1840  von  diesem  nach  Berlin  verlegt,  wo  es  1841  ein  Sammel- 
punkt der  radikalen  Elemente  war  und  von  Heß,  Buhl,  Marx,  Engels  Beiträge 
brachte.  Da  Riedel  aber  durch  seine  Teilnahme  an  der  bekannten  Serenade 
für  den  badischen  Oppositionsführer  Welcker  zum  i.  Januar  1842  aus  Berlin 
ausgewiesen  wurde  und  Eduard  Meyen  oder  Karl  Nauwerck  der  Zensur  als 
Nachfolger  nicht  genehm  waren,  ging  das  Blatt  ein.  Ergeis  veröffentlichte 
hier  seine  Lombardischen  Streifzüge.  Der  Aufsatz  über  die  Grenzen  der 
Naturbetrachtung  findet  sich  in  der  Evangelischen  Kirchenzeiturg  vom 
20.,  23.  und  27.  März  1839.  Bei  der  „Züricher  Geschichte"  mit  Strauß  handelt 
essich  um  den  bekannten  ,,Züriputsch",  der  sich  in  Zürich  abspielte,  als  der 


310  Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

den  Orthodoxen  aufs  tiefste  verhaßte  Verfasser  des  Leben  Jesu  1839  als  Pro- 
fessor der  Dogmatik  und  Kirchengeschichte  nach  Zürich  berufen  wurde. 
Man  weiß,  daß  Strauß  infolge  des  von  den  rechtgläubigen  Eiferern  erhobenen 
Rufs,  die  Religion  sei  in  Gefahr,  sein  Amt  nicht  antreten  konnte.  Von  Engels 
Übersetzung  Shelleys  haben  sich  leider  keine  Spuren  gefunden.  Strücker 
scheint  derselbe  Freund  gewesen  zu  sein,  dem  Engels,  als  er  1849  aus  der 
Heimat  fliehen  mußte,  seine  Papiere  zur  Aufbewahrung  übergab. 

Friedrich  von  Smitt,  der  Verfasser  des  Buches:  Geschichte  des  polnischen 
Aufstands  und  Krieges  in  den  Jahren  1830  und  31,  Berlin  1839,  war  ein  Liv- 
länder.  Der  Pater  Johann  Goßner  war  nach  manchen  Irrsalen,  die  er  als  Kon- 
vertit zu  erdulden  hatte,  Prediger  an  der  Bethlehemkirche,  der  frommsten 
Gemeinde  Berlins,  geworden.  Er  war  ein  feuriger  Kanzelredner  und  hat 
zahlreiche  Missionsgesellschaften,  Kinderbewahranstalten  und  ähnliches  ins 
Leben  gerufen.  Mit  Vermicul  ist  natürlich  Wurm  gemeint.  Johann  Adolf 
Torstrick  (1821 — 1877)  war  der  Sohn  des  Organisten  der  St.  Martinikirche, 
bei  deren  Pfarrer  G.  G.  Treviranus  Engels  in  Bremen  in  Pension  war.  Tor- 
strick fand  später  auf  der  Bibliotheque  Nationale  in  Paris  unveröffentlichte 
Fragmente  von  De  Anima  des  Aristoteles  und  wurde  1876  korrespondierendes 
Mitglied  der  Berliner  Akademie.  Rudolf  Ewald  Stier  (1800 — 1862)  war  seit 
1838  Pastor  in  Wichlinghausen  im  Wuppertal.  Aus  dem  Artikel,  den  Tholuck 
ihm  in  Herzogs  Realenzyklopädie  für  protestantische  Theologie  und  Kirche 
widmet,  wird  ersichtlich,  daß  er  sich  an  die  presbyteriale  Kontrolle,  welche 
die  Rheinischen  Gemeinden  über  ihre  Geistlichen  ausübten,  nicht  gewöhnen 
konnte  und  deswegen  1846  die  Gegend  wieder  verließ.  Friedrich  Adolf 
Philippi  (1809 — 1882),  in  Berlin  als  Sohn  eines  jüdischen  Bankiers  geboren, 
hatte  sich  Hengstenberg  angeschlsosen,  war  seit  1837  Privatdozent  der 
Theologie  in  Berlin  und  ging  1841  als  Professor  nach  Dorpat,  1852  nach 
Rostock.  Die  Nachricht  von  einem  Verbot  der  Berliner  Jahrbücher  für 
wissenschaftliche  Kritik,  des  von  Leopold  von  Henning  herausgegebenen 
Organs  der  Althegelianer,  scheint  sich  damals  ebenso  wenig  bestätigt  zu 
haben  wie  die  von  der  Suspension  Hallischer  jüngerer  Dozenten.  Der  Pastor 
Friedrich  Ludwig  Mallet  an  der  Stephanskirche  in  Bremen  (1792 — 1865) 
wird  von  Zeitgenossen  als  ein  ,, Prediger  ganz  großen  Stils"  geschildert,  ,,im 
Gewissen  sich  fühlend  als  miles  Christi  und  verpflichteter  Verteidiger  der 
Form  des  alten  Glaubens,  der  sich  bindet  an  die  Bibel,  aber  nicht  an  die  Sym- 
bole der  Kirche."  In  dem  Konflikt  zwischen  Krummacher  und  dem  Bremer 
Pastor  Paniel,  über  den  Engels  am  20.  November  1840  an  Wilhelm  Graeber 
berichtet,  stand  Mallet  auf  selten  Krummachers. 

Der  Aufsatz  D i e  deutschen  Volksbücher  (Telegraph  Nov.  1839) 
zeigt  in  höchst  charakteristischer  Weise,  wie  in  Engels  die  politischen  die 
dichterischen  Bestrebungen  zurückzudrängen  beginnen.  Görres  Werk  Die 
Teutschen  Volksbücher.  Nähere  Würdigung  der  schönen  Historien-,  Wetter- 
und Arzneibüchlein,  welche  teils  innerer  Wert,  teils  Zufall  Jahrhunderte  hin- 
durch bis  auf  unsere  Zeiten  erhalten  hat,  war  1807  in  Heidelberg  erschienen. 
Das  Mittelalter  hat  Engels  immer  höchst  einseitig  beurteilt.  Vgl.  z.  B.  Der 
deutsche  Bauernkrieg.  Über  die  Pläne,  die  er  damals  selbst  mit  dem  Stoff  des 
ewigen  Juden  vorhatte,  äußert  er  sich  in  seinem  Brief  an  Wilhelm  Graeber 
vom  13.  November  1839. 

Der  Aufsatz  über  Karl  Beck  (Telegraph  Dez.  1839)  bedeutete  be- 
reits eine  Reaktion  gegen  die  Überschätzung  des  jungen  ungarischen  Dichters, 
die  n  Engels  Briefen  an  die  Freunde  zutage  tritt.  Auch  Gutzkow,  der  Beck 
noch  in  seinem  Aufsatz  Vergangenheit  und  Gegenwart  1830 — 1838  in  dem 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  311 

Jahrbuch  für  Literatur  sehr  gefeiert  hatte,  betonte  jetzt  in  einem  Nachwort 
zu  Engels  Aufsatz  den  „kindischen  Charakter  der  neuen  Dichtungsversuche 
Becks"  und  klagte  über  den  „schmählichen  Abfall  von  den  Hoffnungen", 
die  dieser  früher  erweckt  habe.  Ernst  von  der  Haide  war  das  Pseudonym 
Karl  Grüns,  mit  dem  Engels  späterhin  so  hitzig  um  die  Seelen  der  deutschen 
Arbeiter  in  Paris  gerungen  und  den  er  als  einen  der  hauptsächlichsten  Wort- 
führer des  ,, wahren  Sozialismus"  bekämpft  hat. 

RetrogradeZeichen  derZeit  (Telegraph  Febr.  1840)  isteiner  jener 
Aufsätze  des  Verfassers,  in  denen  besonders  stark  der  vorübergehende  Einfluß 
des  stets  nach  ,, feinen  Bezügen"  und  geistreichen  Bemerkungen  lüsternen 
Stils  des  Jungen  Deutschlands  hervortritt.  Von  Sternberg  ist  der  esthländische 
Dichter  Alexander  Freiher  von  Ungern-Sternberg  (1806 — 1866),  der  frucht- 
bare Verfasser  zahlreicher  zu  ihrer  Zeit  viel  gelesener  Romane,  Novellen, 
Erzählungen  und  Märchen.  Nach  der  Revolution  von  1848  hat  der  reaktionäre 
Baron  in  seinem  Roman  Die  Royalisten  den  geschlagenen  Liberalismus  mit 
fanatischem  Haß  verfolgt.  Heinrich  Gustav  Hothos  Vorstudien  für  Leben  und 
Kunst  waren  1835  in  Stuttgart  erschienen,  von  Heinrich  Theodor  Rötschers 
Abhandlungen  zur  Philosophie  der  Kunst  der  erste  Teil  1837  in  Berlin.  Börne 
und  Hegel  in  Parallele  zu  stellen,  liebte  Engels  in  jenen  Jahren,  wie  sich  an 
verschiedenen  Stellen  seiner  Aufsätze  und  Briefe  zeigt.  (Vgl.  dazu  meine 
Biographie  Band  I  Seite  45f.) 

S.  115.  Platen.  (Telegraph  Febr.  1840.)  Mit  dem  Pentarchisten,  den 
Engels  am  Schlüsse  des  Aufsatzes  nennt,  meint  er  natürlich  den  Verfasser 
des  1839  anonym  erschienenen  Buches:  Die  europäische  Pentarchie,  das  da- 
mals das  größte  Aufsehen  erregte.  Geschrieben  war  es,  wie  sich  später  heraus- 
stellte, von  einem  polnischen  Juden  namens  Goldmann,  der  die  öffentliche 
Meinung  Deutschlands  für  Rußland  günstig  zu  stimmen  und  gegen  die 
preußische  und  österreichische  Regierung  mißtrauisch  zu  machen  suchte. 

S.  117.  Requiem  für  die  Deutsche  Abendzeitung.  (Telegraph 
April  1840.)  Weshalb  Engels  diesem  Blatt  damals  ein  Requiem  anstimmte, 
vermochte  ich  nicht  mehr  festzustellen.  Dem  Katalog  der  Berliner  Staats- 
bibliothek zufolge  ist  die  Zeitung  für  den  deutschen  Adel  von  1840  bis  1844  er- 
schienen. Fouque,  der  im  Januar  1843  starb,  war  nur  von  1840  bis  1842  an  der 
Herausgabe  beteiligt.  Daß  Engels  bei  den  Schneidergesellen,  von  denen  er  auf 
Seite  119  meint,  daß  sie  zuzeiten  ,,den  Adel  erfrischen",  auf  Weitling  anspielt, 
von  dem  bekanntlich  das  Gerücht  ging,  daß  man  ihn  aus  Wien  ausgewiesen 
habe,  weil  er  einer  Erzherzogin  gefährlich  geworden  war,  ist  unwahrscheinlich. 
Auf  jeden  Fall  ahnte  Engels  damals  noch  nicht  das  mindeste  von  Weitlings 
historischer  Bedeutung. 

Zwischen  Platen  und  Requiem  usw.  erschien  im  Telegraph  (April 
1840)  der  Aufsatz  gegen  Joel  Jacoby,  dessen  Abdruck,  wie  wir  in  der  Ein- 
leitung begründeten,  unterlassen  wurde.  Engels  verspottet  darin  den  ,, neuen 
Prophet  Joel",  der  allen  ,, revolutionären,  liberalen,  hegelingischen  und  pro- 
testantischen Bestrebungen"  den  Untergang  weissage  und  mit  einem  Auge 
nach  dem  roten  Adlerorden,  mit  dem  andern  nach  der  Bischofsmütze  schiele. 
So  wie  dieser  Konvertit  und  Denunziant  müsse  jeder  zugrunde  gehen,  der 
gegen  die  absolute  Macht  des  Geistes  in  Opposition  trete. 

S.  121.  Landsc'haften.  (Telegraph  Juli  1840.)  Man  muß  annehmen, 
daß  entweder  ein  Druckfehler  vorliegt  oder  Engels  ein  Lapsus  untergelaufen 
ist,  wenn  er  von  der  linken  Eibseite  spricht.  Dem  Inhalt  nach  müßte  die 
rechte  Eibseite  gemeint  sein.     Das  malerische  und   romantische  Westfalen, 


312  Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

das  Freiligrath  zusammen  mit  Lewin  Schücking  herausgab,  hatte  1839  zu 
erscheinen  begonnen.  Daß  Engels  für  echte  Poesie  einen  Sinn  hatte,  der  ihn 
nicht  leicht  trog,  zeigt  die  warme  Anerkennung,  die  er  Annette  von  Droste- 
Hülshoff,  Deutschlands  stärkster  Dichterin,  zu  einer  Zeit,  als  sie  erst  wenig 
beachtet  wurde,  und  trotz  der  Verschiedenheit  ihrer  Weltanschauungen  ent- 
gegenbrachte. 

S.  127.  Ein  Abend.  (Telegraph  August  1840.)  Über  die  Bedeutung 
dieses  Gedichts  unter  biographischem  Gesichtspunkt  wurde  an  anderer  Stelle 
das  Nötige  gesagt.  Das  Bild  vom  Sonnenaufgang,  angewendet  auf  ein 
neues  soziales  Zeitalter  finden  wir  wieder  bei  Ferdinand  Lassalle  am  Schluß 
seines  Arbeiterprogramms.  Als  später  Gerhart  Hauptmann  seinem  sozialen 
Erstlingsdrama  den  Titel  Vor  Sonnenaufgang  gab,  kannte  er  weder  das 
verschollene  Gedicht  Friedrich  Oswalds,  noch,  wie  er  mir  vor  langen  Jahren 
ausdrücklich  schrieb,  die  Lassallesche  Rede. 

S.  131.  Sankt  Helena.  (Telegraph  Nov.  1840.)  Ursprünglich  beab- 
sichtigte ich,  dies  Fragment  von  der  Sammlung  auszuschließen,  weil  es,  so  wie 
es  dasteht,  nicht  voll  verständlich  ist.  Ich  wage  nicht  mit  Bestimmtheit  zu 
erklären,  wen  Engels  mit  dem  Heros  meinte,  den  die  Zeit  ,,in  ihren  bittern 
Scherzen"  in  dem  neuen  Jahrhundert  ,,zu  den  andern  ausgeglühten  Kerzen" 
geworfen  haben  soll.  Vielleicht,  daß  einem  Leser  der  Sinn  der  holprigen 
Verse  aufgeht? 

S.  132.  Der  Brief  an  Wilhelm  Graeber  vom  20.  November  1840 
persifliert  den  Konflikt  zwischen  Friedrich  Wilhelm  Krummacher  und  dem 
Pastor  der  Bremer  Ansgariuskirche  Karl  Friedrich  Paniel  (1803 — 1856).  Wie 
großen  Staub  dieser  Konflikt  damals  aufwirbelte,  bezeugen  noch  heute  zwei 
starke  Konvolute  auf  der  Bremer  Stadtbibliothek,  die  den  Gegenstand  behandeln. 
Paniel,  ein  Schüler  des  bekannten  Aufklärungstheologen  Paulus,  vertrat  in 
Bremen,  das  wie  Elberfeld  und  Barmen  zu  den  Hochburgen  der  Orthodoxie 
gehörte,  den  christlichen  Rationalismus.  Nun  hatte  bei  einer  Gastpredigt 
auf  der  Kanzel  der  Ansgariuskirche  am  12.  Juli  1840  Krummacher  den 
Rationalismus  auf  das  schärfste  angegriffen,  und  von  da  aus  hatte  sich 
zwischen  Offenbarungstheologie  und  Vernunftglauben  ein  Kampf  entwickelt, 
der  das  ganze  theologische  Deutschland  in  Mitleidenschaft  zog.  Es  verdient 
Beachtung,  wie  sich  hier,  noch  vor  seiner  militärischen  Dienstzeit,  bei  Engels 
mochte  es  auch  nun  erst  in  lächerlicher  Form  sein,  das  Interesse  für  strate- 
gische Probleme  zeigt.  Bei  seiner  tiefwurzelnden  Abneigung  gegen  F.  W. 
Krummacher  wäre  es  übrigens  nicht  ausgeschlossen,  daß  Engels,  von  dem 
wir  wissen,  daß  er  im  Januar  1839  den  Brüdern  Graeber  eine  Reihe  ähnlicher 
Xenien  schickte,  auch  der  Verfasser  des  folgenden  Xenions  war,  das  die 
Rheinische  Zeitung  am   10.  März  1842  veröffentlichte: 

Nomen  et  omen. 
Wie  man  die  Seelen  verkrümmt,  verkrüppelt  des  Göttlichen  Abbild, 
Sage,  wie  nenn  ich  es  doch?  nenne  es  Krummacherei. 

Richard  Roth  war  ein  junger  Barmer,  den  Engels  noch  in  seinem  ersten  Brief 
an  Marx  als  einen  Gesinnungsgenossen  nennt. 

S.  134.  Siegfrieds  Heimat.  (Telegrap  h  Dez.  1840.)  Mistress  Fry 
ist  Elisabeth  Fry  (1780 — 1847),  die  Tochter  eines  reichen  englischen  Quäkers, 
der  ihre  unermüdlichen  Bemühungen  um  die  Humanisierung  des  Gefängnis- 
wesens den  Namen  ,,der  Engel  der  Gefängnisse"  eingetragen  haben.  Der 
holländische  Maler  Jan  van   Calcar  (1460 — 1519)  ist  noch  bekannter  unter 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  313 

dem  Namen  Jan  Joest.  Daß  man  ihn  fast  nur  in  Calcar  kennen  lernen 
könne,  versichert  in  seiner  Deutschen  Geschichte  (Bd.  V,  i)  Lamprecht,  der 
den  großen  Maler  der  altniederländischen  Schule  zurechnet.  Wallraf  ist 
Ferdinand  Franz  Wallraf  (1748  bis  1824),  der  bekannte  Begründer  des 
Wcillraf-Richartz-Museums  in  Cöln. 

S.  139.  Ernst  Moritz  Arndt.  (Telegraph  Jan.  1841.)  Die  Er- 
innerungen aus  dem  äußeren  Leben  waren  1840  erschienen,  und  Rüge  hatte 
sie  schon  im  Oktober  dieses  Jahres  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  besprochen. 
Engels  hatte  ein  Recht,  gegen  jene  Jugend  zu  wettern,  die  sich  eine  Ehre  dar- 
aus machte,  wegen  Körperschwäche  vom  Militärdienst  frei  zu  kommen.  Ob- 
gleich auch  ihm  unter  den  damaligen  Verhältnissen  ein  solcher  Weg  wahr- 
scheinlich offen  gestanden  hätte,  hat  er  daran  nicht  gedacht:  er  wurde  gern 
Soldat  und  war  es  gern.  Bei  seinem  Abgang  vom  Regiment  erhielt  er,  wie 
aus  seinen  Personalakten  auf  dem  Berliner  Polizeipräsidium  ersichtlich  wird, 
ein  gutes  Zeugnis.  Der  auf  Seite  144  erwähnte  Aufsatz  erschien  am  23.  und 
24.  November  1840;  er  war  von  Rüge  und  hieß  Friedrich  von  Florencourt 
und  die  Kategorien  der  politischen  Praxis.  Florencourt  (1803 — 1886)  wird 
von  Engels  ziemlich  richtig  charakterisiert.  Damals  stard  er  bei  den  Libe- 
ralen, aber  die  Revolution  von  1848  hat  ihn  später  auf  die  äußerste  Rechte 
hinübergeführt.  Charles  Adolphe  Adam,  der  bekannte  französische  Kom- 
ponist, hatte  1835  mit  dem  Postillion  von  Lonjumeau  seinen  Hauptschlager 
erzielt. 

S.  155.  Immermanns  Memorabilien.  (Telegraph  April  1841.) 
Leo  rugiens  nannte  Rüge  zuerst  Karl  Rosenkranz  in  seinem  Literaturdrama: 
Das  Zentrum  der  Spekulation,  Königsberg  1840.  In  einem  Brief  an  Rosen- 
kranz vom  3.  Januar  1840  protestierte  Rüge  gegen  diese  Bezeichnung,  weil 
er  eine  Verwechslung  mit  Heinrich  ,Leo  befürchtete.  Für  Nitzsch  und  Bleek 
vgl.  erst  Seite  315.  Der  Rhein  von  Prutzwarim  Dezember  1840  als  Sonderab- 
druck erschienen  und  von  Rüge  sofort  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  ab- 
gedruckt worden. 

3.  Das    Militärjahr    in    Berlin  1841 — 1842. 

S.  167.  Schelling  über  Hegel.  (Telegraph  Dez.  1 841.)  Riedels 
Broschüre,  die  hier  gemeint  ist,  behandelte  Schellings  religionsgeschichtliche 
Ansicht  nach  Briefen  aus  München  und  war  im  August  1841   erschienen. 

S,  174 ff.  Nord-  und  süddeutscher  Liberalismus  erschien  in  der 
Rheinischen  Zeitung  am  12.  April  1842,  Rheinische  Feste  |an  derselben 
Stelle  am  14.  Mai,  Das  Tagebuch  eines  Hospitanten  am  10.  und  24.  Mai. 
William  Huskisson  gehörte  bekanntlich  zu  den  wichtigsten  Vorkämpfern 
der  Handelsfreiheit  in  England.  Als  Präsident  des  Handelsamts  (1824 — 1827) 
gewährte  er  allen  Staaten  den  freien  Handel  mit  den  englischen  Kolonien. 
Graf  Charles  Marie  Tannegui  Duchatel  versuchte  als  französischer  Handels- 
mirüster  seit  1834  eine  durchgreifende  Reform  des  französischen  Zollwesens. 
Die  Glossen  und  Randzeichnungen  zu  Texten  aus  unserer  Zeit, 
Vier  öffentliche  Vorlesungen,  gehalten  zu'  Königsberg  von  Ludwig  Walesrode 
besprach  Engels  in  der  Rheinischen  Zeitung  am  25.  Mai.  Die  ausführlichen 
Zitate  aus  der  Schrift  des  Königsberger  Literaten,  bekanntlich  eines  nahen 
Freundes  Johann  Jacobys,  haben  wir  fortgelassen.  Wenn  Engels  auf  Seite  185 
von  der  ,, Barbarei  des  slavischen  Ostens"  spricht,  so  schlägt  er  damit  den  Ton 
an,  der  nachher  in  der  von  ihm  vertretenen  Auslandpolitik  der  Neuen  Rhei- 
nischen 2^itung  so  vernehmlich  widerhallte.    Wie  Cohen-Walsrode  gehörte 


214  Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

auch  Reinhold  Jachmann,  der  Sohn  des  Biographen  Kants,  dem  Kreise  Ja- 
cobys  und  der  Hartungschen  Zeitung  an.  Eine  vom  25.  Juni  datierte  kleine 
Korrespondenz  der  Rheinischen  Zeitung  über  das  Ende  der  Kriminalistischen 
Zeitung,  die  nur  ein  Jahr  bestanden  hatte,  glaubten  wir,  obwohl  sie  von 
Engels  herrührt,  fortlassen  zu  dürfen. 

S.  187.  Alexander  Jung  und  das  junge  Deutschland.  In  den  von 
Arnold  Rüge  herausgegebenen  Deutschen  Jahrbüchern  vom  7.  bis  9.  Juli  1842 
erschien  der  Aufsatz,  dem  wir  den  vorstehenden  verkürzten  Titel  gaben,  nur 
mit  der  Überschrift  des  Buches,  an  das  Engels  seine  Betrachtungen  anknüpfte. 
Alexander  Jung  (1799 — 1884)  hatte  sich,  worauf  am  Schlüsse  der  Besprechung 
angespielt  wird,  ursprünglich  zum  Geistlichen  bestimmt.  Er  war  ein  frucht- 
barer Schriftsteller,  der  sich  auf  den  verschiedensten  Gebieten,  am  häufigsten 
auf  literaturgeschichtlichem,  versucht  hat.  Reiffenscheids  Artikel  über  ihn 
in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie  Band  50  gibt  darüber  hinreichend 
Auskunft.  Auf  Engels  Angriff  antwortete  er  in  dem  von  ihm  redigierten 
Königsberger  Literaturblatt,  scheinbar  von  oben  herab,  mit  einem  Ar- 
tikel, der  dem  ,, kl  einen"  Oswald  „einige  Bonbons"  darreichen  sollte.  Jungs 
Briefe  über  die  neueste  Literatur  waren  1837  erschienen.  Sein  Buch  über 
Königsberg'  in  Preußen  und  die  Extreme  des  dortigen  Pietismus,  Brauns- 
berg 1840  war  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  1841  Nr.  153  ff.  von  Rüge  in 
dem  Aufsatz:  Restauration  des  Christentums  scharf  angegriffen  worden. 
Wenn  Engels  von  den  Dramatikern  Rosen  und  Klein  spricht,  so  ist  Rosen 
gewiß  ein  Druckfehler  für  Julius  Mosen;  Julius  Leopold  Klein  (1810 — 1876) 
ein  geborener  Ungar,  hatte  1841  das  Trauerspiel  Maria  von  Medici  veröffent- 
licht, dem  er  1842  Luines  und  später  mehrere  andere  folgen  ließ.  Am  be- 
kanntesten geblieben  ist  wohl  seine  Geschichte  des  Dramas  in  13  Bänden 
1865 — 1876.  Engels  Urteil  über  Heinrich  Heine  machte  eine  große  Wand- 
lung durch,  nachdem  er  durch  Marx  Vermittlung  den  Dichter  persönlich 
kennen  gelernt  hatte.  An  dieser  Stelle  beurteilt  er  ihn  noch  ganz  unter  dem 
Eindruck  seiner  Entrüstung  über  dessen  Angriff  auf  den  toten  Börne.  Frie- 
drich Radewell  hatte  1840  eine  Komödie  Till  Eulenspiegel  erscheinen  lassen. 
Die  Posaune  des  jüngsten  Gerichts  über  Hegel,  den  Atheisten  und  Anti- 
christen, in  pietistischer  Gewandung  eine  Verspottung  des  Pietismus,  hatte, 
wie  man  weiß,  Bruno  Bauer  zum  Verfasser.  Eduard  Meyens  Name  wird  von 
Engels  mehrfach  mit  falscher  Orthographie  geschrieben.  Der  fleißige  und 
betriebsame  Literat,  der  sich  mit  seinem  Angriff  auf  Heinrich  Leo,  den  ,,ver- 
hallerten  Pietisten"  kürzlich  in  dem  zwischen  Junghegelianern  und  den 
Orthodoxen  entbrannten  Kampf  hervorgetan  hatte,  schrieb  damals  sehr  viel 
in  die  Hallischen  und  Deutschen  Jahrbücher  und  die  Rheinische  Zeitung. 
Für  den  Kreis  der  Freien  darf  ich  hier  wohl  auf  das  Kapitel  IV  meiner 
Engelsbiographie  verweisen. 

S.  200.  Friedrich  wilhelm  IV.,  König  von  Preußen  erschien  in  den 
von  Georg  Herwegh  1843  veröffentlichten  Einundzwanzig  Bogen  aus  der 
Schweiz,  einem  Bande,  der  die  Aufsätze  zusammenfaßte,  die  ursprünglich 
für  die  ersten  Monatshefte  des  nicht  zustande  gekommenen  Deutschen  Boten 
aus  der  Schweiz  bestimmt  waren.  Zu  den  Mitarbeitern  zählten  außer  Herwegh 
selbst  auch  Bruno  Bauer,  David  Friedrich  Strauß,  der  Königsberger  Witt 
und  besonders  Moses  Heß,  der  die  markantesten  Aufsätze  beisteuerte. 

S.  209.  Die  frech  bedräute,  jedoch  wunderbar  befreite  Bibel 
oder  der  Triumph  des  Glaubens  usw.  hat  zum  Hintergrunde  die  akade- 
mischen Schicksale  Bruno  Bauers,  die  damals  das  größte  Aufsehen  erregten.  Be- 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  315 

kanntlich  hatte  dieser  Privatdozent  der  Theologie  in  Bonn  durch  seine  radikale 
Kritik  der  Evangelien  im  orthodoxen  Lager  einen  Sturm  der  Entrüstung  her- 
vorgerufen.   Der  von  Friedrich  Wilhelm  IV.  eingesetzte  neue  Kultusminister 
Eichhorn  erbat  im  August  1841  von  den  theologischen  Fakultäten  der  preußi- 
schen Universitäten  Gutachten  darüber,  ob  Bauer  nach  den  Bestimmungen 
der  Universitäten,  besonders  aber  der  theologischen  Fakultäten,  die  Licentia 
docendi  verstattet  werden   könne.     Bejahend   antwortete   nur   Königsberg, 
völlig  verneinend  nur  Bonn.   Die  andern  Fakultäten  waren  in  sich  gespalten. 
In  Breslau  und  Berlin  stellte  die  Majorität  sich  auf  den  Boden  des  Bonner 
Gutachtens.    Marheineke,    Bauers    Lehrer,    gab    ein    Separatvotum    ab,    in 
welchem  er  dessen  Belassung  in  der  akademischen  Wirksamkeit  unter  Ver- 
setzung in  die  philosophische  Fakultät  vorschlug.    Im  März  1842  erfolgte 
trotzdem  Bauers  Entfernung  vom  Lehramt.   Das  Gutachten,  auf  Grund  dessen 
die  Absetzung  erfolgte,  hatte  zum  Verfasser  den  Bonner  Theologieprofessor 
Friedrich  Bleek  (1793— 1859),  der  1841  Dekan  der  theologischen  Fakultät 
war.    Eng  verbündet  mit  ihm  waren  die  dortigen  Theologieprofessoren  Karl 
Immanuel  Nitzsch  (1787— 1868),  der  schon  seit  1822  in  Bonn  die  Professur 
für  systematische  und  praktische  Theologie  innehatte  und  1847  nach  Berlin  be- 
rufen wurde,  und  CarlHeinrich  Sack  (1789— 1875).  Seit  1818  außerordentlicher, 
seit  1832  ordentlicher  Professor  in  Bonn  wurde  dieser  1841  Konsistorialrat  in 
Magdeburg.    Sie  alle,  besonders  aber  Sack,  waren  dafür  bekannt,  daß  sie  die 
Hegeische  Philosophie  verabscheuten.    In  Bruno  Bauers  Briefen  an  seinen 
Bruder  Edgar  ist  viel  davon  die  Rede.  Er  spricht  dort  auch  von  Sacks  ,, Elias- 
grimm".   Sack  ließ  damals  ein  Sendschreiben  an  den  Bonner  Geschichtspro- 
fessor Löbell  drucken,  das  seinen  Standpunkt  beleuchtete  (Über  das  Geschicht- 
liche im  alten  Testament,  Ein  Sendschreiben).  In  Bruno  Bauers  ursprünglich 
als  zweiter  Teil  der  Posaune  gedachter  Schrift:   Hegels  Lehre  von  der  Re- 
ligion und  Kunst  wird  Nitzsch  ,,Isachar,  der  beinerne  Esel"  genannt.    Dort 
heißt  es  auf  Seite  72:  ,,So  spricht  Sack  ganz  aus  unserer  Seele  heraus,  ein 
Mann,  der  in  seiner  Art,  auch  ein  Elias  unserer  Zeit  ist,  für  die  Anerkennung 
des  göttlichen  Wortes  unerschrocken  eifert  und  die  falsche  Scham  vor  Eseln, 
die  cfa  sprechen,  in  seinem  Herzen  nicht  kennt.   Unglückliche  Zeit,  welche  es 
nicht  ertragen  kann,  daß  Esel  sprechen!"   Für  ,,er  spielt  nur  ein  Instrument" 
auf  Seite  226  vgl.  ,,Die  Augsburger  spielt  nur  Ein  Instrument  in  ihren  anti- 
philosophischen Katzenkonzerten,  die  eintönige  Pauke"  in  Marx  Artikel  in 
der  Rheinischen  Zeitung  vom  Mai  1842:  Der  leitende  Artikel  in  Nr,  79  der  Köl- 
nischen Zeitung  (neu  abgedruckt  in  Mehrings  Nachlaßausgabe  Band  I,  262). 
Auch  über  den  jüngeren  Fichte  und  Christian  August  Brandis,  die  beiden 
Professoren  der  Philosophie  an  der  Bonner  Universität,  äußert  sich  Bruno 
Bauer  in  jener  Schrift.    Immanuel  Hermann  Fichte  nennt  er  ,, einen  der 
Stifter  und  Bekenner  der  positiven  Philosophie"  der  ,,von  den  Begriffen  nicht 
viel  halte".    Durch  sein  Bestreben,  zwischen  Philosophie  und  Religion  zu  ver- 
mitteln, mußte  der  junge  Fichte  sich  die  Abneigung  der  radikalen  Jung- 
hegelianer zuziehen.    Ein  Neffe  Eduard  Meyens  war  der  bekannte  Schrift- 
steller und  Dichter  Alfred  Meißner,   Unter  dem  Pseudonym  Dr,  Radge  schrieb 
damals  Edgar  Bauer  in  den  Deutschen  Jahrbüchern.    Mit  dem  ,, schwarzen 
Kerl  aus  Trier"  und  dem  „Ungetüm"  ist  natürlich  Karl  Marx  gemeint.   Rtg. 
ist  Dr.  Adolf  Rutenberg,  Schwager   der  Brüder  Bauer,  der  sich  als  angeb- 
licher Anstifter  der  bekannten  Serenade  für  Welcker  den  besonderen  Zorn 
des  Königs  zugezogen  hatte  und  nun  Redakteur  der  Rheinischen  Zeitung  war. 
Wenn  Marx  ihn  „erklettert",  so  soll  das  wohl  besagen,  daß  Marx,  der  selbst 
im  Herbst  1842  leitender  Redakteur  des  Blattes  wurde,  ihn  unter  seinen  Ein- 


3i6  Erläuterungen  und  Anmerkungen. 

fluß  gebracht  hatte.  Mit  Julius  van  der  Sünden  ist  der  Theologieprofessor 
Julius  Müller  in  Halle  gemeint,  dem  1839  sein  Hauptwerk:  Die  christliche 
Lehre  von  der  Sünde  den  Spitznamen  Sündenmüller  eingetragen  hatte.  Auch 
ihm  hat  Bauer  in  der  Schrift  Hegels  Lehre  von  der  Religion  und  Kunst  einen 
Abschnitt  gewidmet.  Rüge  nannte  ihn  am  15.  März  1842  in  einem  Brief  an 
Rosenkranz  eine  „reine  ganz  unverschämt  stupide  Reaktion  gegen  die  Philo- 
sophie". Unter  Nichts  ist  Nitzsch  zu  verstehen.  Hirzel  ist  Bernhard  Hirzel 
(1807 — 1847),  Professor  der  orientalischen  Sprachen  in  Zürich,  dann  Pfarrer 
in  Pfäffikon,  der  am  6.  September  1839  an  der  Spitze  des  bereits  erwähnten 
Züriputsches  gegen  die  Anstellung  David  Friedrich  Strauß  stand.  Später 
mußte  er  wegen  Wechselfälschung  flüchten  und  endete  durch  Selbstmord. 
Über  Johann  Christian  Edelmann  (1698 — 1767),  denn  bekannten  Freidenker, 
mit  dem  er  sich  wesensverwandt  fühlte,  handelt  Bauer  ausführlich  im  ersten, 
1843  erschienenen  Bande  seiner  in  Charlottenburg  bei  seinem  Bruder  Egbert 
verlegten  Geschichte  der  Politik,  Kultur  und  Aufklärung  des  achtzehnten 
Jahrhunderts. 

3.  Der    erste    Aufenthalt    in    England  1842 — 1844. 

S.  243.  Die  Korrespondenzen  an  die  Rheinische  Zeitung,  die 
so  charakteristisch  sind  für  den  Eifer,  mit  dem  Engels  sich  in  die  Ver- 
hältnisse des  Inselreiches  hineinlebte,  wurden  ebenso  wie  die  hinterher 
folgenden  Briefe  aus  London,  die  er  ein  halbes  Jahr  später,  am  16. 
und  23.  Mai  und  9.  und  27.  Juni  1843,  im  Schweizer  Republikaner  ver- 
öffentlichte, im  sechsten  Kapitel  meiner  Engelsbiographie  so  eingehend  be- 
rücksichtigt, daß  der  Leser  wohl  dorthin  verwiesen  werden  darf.  Zur  gründ- 
licheren Orientierung  sei  besonders  genannt  die  Geschichte  des  Sozialismus 
in  England  von  M.  Beer,  Stuttgart  1913.  Dies  Werk  ist  1919  in  London  in 
einer  wesentlich  erweiterten  englischen  Ausgabe  erschienen.  Über  den  auf 
S.  261  erwähnten  Charles  Southwell  erhalte  ich  auf  persönliche  Anfrage  von 
Herrn  Beer  die  freundliche  Auskunft,  daß  er  ein  von  der  Partei  Owens  unter- 
haltener bezahlter  sozialistischer  Agitator  war.  Er  war  —  was'der  Kuriosität 
wegen  bemerkt  sei  —  der  jüngste  von  34  Geschwistern,  Auch  die  Aufsätze: 
Über  die  Lage  Englands  im  Pariser  Vorwärts  von  1844  sind  in  der 
Biographie  eingehend  verwertet.!  Die  bloß  dem  Porterschen  Werk  ent- 
lehnten Angaben  habe  ich  im  Text  fortlassen  zu  dürfen  geglaubt,  weil  sie  sich 
großenteils  in  dem  Einleitungskapitel  zu  Die  Lage  der  arbeitenden 
Klasse  in  England  wiederfinden.  Von  Porters  Progress  of  the  Nation  war 
Band  I  1836,  Band  H  1838,  Band  HI  1843  erschienen.  Von  John  Wades 
Geschichtswerk,  das  Engels  auf  S.  297  dreimal  anführt,  lag  mir  die  gegen 
die  erste  nur  ganz  unwesentlich  veränderte  vierte  Auflage  vor.  Sie  führt  den 
genauen  Titel:  British  History,  chronologically  arranged,  comprehending 
a  classified  analysis  of  events  and  occurrencies  in  Church  and  State  and  of  the 
constitutional,  political,  commercial,  intellectual  and  social  progress  of  the 
United  Kingdom  from  the  first  Invasion  by  the  Romans  to  the  accession  of 
Queen  Victoria.  Second  edition  with  a  suppliment,  London  1843.  Wades 
Buch  ist  ein  ausgezeichnetes  Nachschlagwerk,  das  mit  seinen  vorzüglichen 
Tabellen  und  Registern  von  besonderer  Handlichkeit  ist.  Das  Vorwort  zur 
ersten  Auflage  charakterisiert  den  historischen  Standpunkt  des  Verfassers. 
Er  wendet  sich  gegen  die  im  wesentlichen  biographische  Auffassung  der  Ge- 
schichte, ob  sie  nun  die  Persönlichkeit  des  Fürsten  oder  des  Geschichtsschreibers 
selbst  in  den  Vordergrund  dränge.  Jede  verfassungsmäßige,  moralische  oder 
physische  Veränderung,  heißt  es  hier,  nehme  ihren  Ursprung  in  irgend  einem 


Erläuterungen  und  Anmerkungen.  3I'7 

Bedürfnis  oder  einer  Notwendigkeit  der  Gemeinschaft.  Ein  großer  Bewun- 
derer seines  Volks,  betont  der  Verfasser  mit  Nachdruck,  daß  Englands  Größe 
nicht  das  Werk  einzelner,  sondern  das  langsame  Ergebnis  vereinigter  und 
aufgehäufter  Anstrengungen  ist.  ,,Kein  Solon  oder  Lykurgos  kann  auf  die 
Auszeichnung  Anspruch  erheben,  den  Überbau  seiner  Gesetze  und  Einrich- 
tungen begründet  und  entwickelt  zu  haben."  Die  Nation  sei  ihr  eigener  Bau- 
meister gewesen.  In  England  habe  der  Fürst  bald  aufgehört,  den  Staat  zu  be- 
deuten; unter  den  Angelsachsen  und  den  Normannen  wurde  die  vollziehende 
Gewalt  von  Geistlichkeit  und  Adel  geteilt  und  infolgedessen  wurde  die  eng- 
lische Geschichte  mehr  eine  der  Stände  als  der  Monarchen.  „Je  mehr  diese 
Stände  in  Verfall  kaman,  um  so  mehr  kamen  andere  empor  oder  entwickelten 
sich  aus  ihnen,  indem  sie  die  mittleren  und  arbeitenden  Klassen  bildeten. 
Die  Geschichte  ist  dunkel,  bloß  das  Steigen  und  Fallen  dieser  verschiedenen 
Interessen  läßt  sich  in  seinen  Spuren  genau  und  fortgesetzt  wahrnehmen." 
Daß  Ansichten  wie  diese  auf  den  jungen  Engels  einen  sehr  starken  Einfluß 
ausgeübt  haben,  ist  zweifellos.  Marx  bezeugt  von  sich  ausdrücklich,  daß  er 
sich  Wade  zu  Dank  verpflichtet  fühle.  Auffallenderweise  fehlt  es  bisher  ganz 
an  einer  genauen  Untersuchung  über  den  Einfluß  dieses  englischen  Historikers 
auf  Marx  und  Engels.  Leider  gelang  es  mir  bisher  nicht,  von  John  Wades 
anderem  Werk:  History  and  political  Philosophy  of  the  middle  and  working 
classes,  das,  so  viel  ich  feststellen  konnte,  1834  in  zweiter  und  1842  in  vierter 
erweiterter  Auflage  in  Edinburg  erschienen  ist,  ein  Exemplar  aufzutreiben. 
Seite  280.  Mit  dem ,,  jämmerlichen  Buch  des  Herrn  von  Raumer"  meinte  Engels 
Friedrich  von  Raumer,  England  im  Jahre  1835,  Leipzig  1836,  zwei  Bände 
und  zweite,  verbesserte  und  mit  einem  Bande  vermehrte  Auflage,  Leipzig 
1842.  Seite  258  Thomas  Slingsby  Duncombe  (1796 — 1861)  nennt  M.  Beer 
einen  Freischärler  des  Chartismus.  Ohne  ihre  Endziele  sich  anzueignen, 
unterstützte  er  die  Chartisten  in-  und  außerhalb  des  Parlaments.  Seite  293 
Thomas  Milner  Gibson  (1806 — 1884),  seit  1841  Abgeordneter  von  Manchester, 
war  einer  der  eifrigsten  Mitglieder  der  Anti-Kornzoll-Liga  und  späterhin 
Führer  der  radikalen  Partei  im  Unterhaus.  Von  1846  bis  1848  war  er  Vize- 
präsident und  1859  bis  1866  Präsident  des  Handelsamts.  Seite  293  Richard 
Carlisle  (1790 — 1843)  hatte  im  ganzen  neun  Jahre  und  drei  Monate  im  Kampf 
für  die  Meinungsfreiheit  im  Gefängnis  zugebracht.  William'  Blackstone 
(1723— 1780)  veröffentlichte  zuerst  in  den  Jahren  1765  bis  1769  sein  klas- 
sisches Werk  Commentaries  on  the  laws  of  England.  Eine  Art  Enzyklopädie 
des  englischen  Rechts  ist  sein  zuerst  1754  erschienenes  Werk  An  analysis  of 
the  laws  of  England.  Mit  de  Lolmas  Hirngespinsten  meint  Engels  offenbar 
des  Genfers  Jean  Louis  Delolme  Constitution  de  l'Angleterre,  die  1771  zuerst 
in  französischer  und  im  folgenden  Jahr  in  englischer  Sprache  erschien. 
Seite  296  O'Connels  Verurteilung  in  Dublin  erfolgte  am  30.  Mai  1844.  Daraus 
ergibt  sich,  daß  zum  mindesten  dieser  Abschnitt  der  Abhandlung  Über  die 
Lage  Englands  Ende  Juni  1844  niedergeschrieben  wurde. 


Druck  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig. 


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